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Full text of "Gesammelte Schriften Bd.6"

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Walter Benjamin 
Gesammelte Schriften 

VI 

Herausgegeben von 
Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser 



Suhrkamp 



Die Editionsarbeiten wurden durch 

die Stiftung Volkswagenwerk, die Fritz Thyssen Stiftung 

und die Hamburger Stiftung zur Forderung 

von Wissenschaft und Kultur ermoglicht. 

Die vorliegende Ausgabe ist text- und seitenidentisch 

mit Band VI der gebundenen Ausgabe 

der Cesammelten Schriften Walter Benjamins. 



Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek 

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation 

in der Deutschen Nationalbibliografie 

http://dnb.ddb.de 

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 936 

Erste Auflage 1991 

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1985 

Suhrkamp Taschenbuch Verlag 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das 

des offentlichen Vortrags, der Obertragung 

durch Rundfunk und Fernsehen 

sowie der Ubersetzung, auch einzelner Teile. 

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form 

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) 

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages 

reproduziert oder unter Verwendung 

elektronischer Systeme verarbeitet, 

vervielfaltigt oder verbreitet werden. 

Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 

Printed in Germany 

Umschlag nach Entwurfen von 

Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 

ISBN3-518-28S36-X 

34 5 6 7 8 - 09 08 07 06 05 04 



Inhaltsiibersicht 



Sechster Band 



Fragmente vermischten Inhalts 7 

Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 9 

Zur Moral und Anthropologic 54 

ZurGeschichtsphilosophie, Historik und Politik 90 

ZurAsthetik 109 

Charakteristiken und Kritiken 130 

Zur Literaturkritik 161 

Zu Grenzgebieten 185 

Betrachtungen und Notizen 195 

Autobiographische Schriften 213 

Lebenslaufe 215 

Aufzeichnungen 1906-1932 229 

Berliner Chronik 465 

Aufzeichnungen 1933-1939 520 

Anhang 

Wandkalender der »LiterarischenWelt«fur 1927 545 

Protokolle zu Drogenversuchen 558 

Memorandum zu der Zeitschrift»Krisis und Kritik« 619 

Anmerkungen derHerausgeber 623 

Alphabetisches Verzeichnis der Fragmente vermischten 

Inhalts 829 

Inhaltsverzeichnis . 834 



Fragmente vermischten Inhalts 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 



Das Urteil der Bezeichnung 

Als Beispiel eines Urteils der Bezeichnung diene das Urteil 

a bezeichnet die Seite BC eines Dreiecks. 
Uber das Subjekt a dieses Urteils ist Folgendes zu bemerken: Es 
bedeutet einen lautlich und schriftlich fixierbaren Komplex, nicht 
aber den ersten Buchstaben des Alphabets, mit dem es vielmehr 
lediglich ubereinstimmt. Auf Grund dieser seiner Bedeutung kann 
dies Subjekt unter der Voraussetzung seiner Identitat nicht Subjekt 
in irgend einem andern Urteil sein, das mit dem ersten in irgend 
einem logischen Zusammenhang steht. Denn in einem etwaigen 
Urteil a gleich 52 ist das Subjekt ein anderes als in dem vorgenannten 
Urteil. Dies erhellt daraus, dafi in dem ersten Urteil a ein lautlich 
und schriftlich fixiertes Zeichen, im zweiten aber die Seite BC eines 
Dreiecks bedeutet. - Dergestalt ist also die logische Struktur des 
Subjekts im Urteil der Bezeichnung prinzipiell verschieden von der 
Subjektsstruktur in den ubrigen Urteilen. In diesen letzten namlich 
kann nur ein Subjekt, welches identisch auch Subjekt anderer 
Urteile die in einem moglichen logischen Zusammenhang mit die- 
sem stehen, prinzipiell sein kann, vorkommen. - Eine Pradikation, 
in welche das Subjekt gestellt wird und die die Copula »bezeichnet« 
ausdriickt(,) ist in den Urteilen der Bezeichnung anders als in den 
ubrigen. Die Kategorie der Bezeichnung ist vollig von alien andern 
auf die eine Pradikation sich griinden kann, also etwa von der der 
Substanz, Causalitat u.s.f . verschieden und zwar in dem Sinne, dafi 
Bezeichnungsurteile daher niemals logische Beziehungen unterein- 
ander oder mit andern Urteilen eingehen konnen. Dies ubersieht 
Russell in seinem Paradoxon, dessen Auflosung sich folgenderma- 
fien gestaltet: 

Russell bezeichnet ein Wort, dem man seine Bedeutung als Pradikat 
beilegen kann (in welchem Sinne dies gemeint sein konne, bleibt 
dahingestellt) als pradikabel. Er bezeichnet ein Wort bei dem dies 
nicht der Fall ist als impradikabel. Im Urteil ausgedriickt mufite 
diese Bezeichnung lauten: 

Pradikabel bezeichnet das Pradikat eines Urteils welches aus- 



10 Fragmente vermischten Inhalts 

sagt, dafi einem Wort seine eigne Bedeutung als Pradikat 

beigelegt werden konne. 
Impradikabel bezeichnet das Pradikat nicht beigelegt 

werden konne. 
Die Subjekte in diesen beiden Urteilen sind Zeichen, d.h. siebedeu- 
ten nichts als lautlich und schriftlich fixierte Komplexe. Als Zeichen 
konnen diese Komplexe nur in den genannten Urteilen als Subjekte 
auftreten; ein anderes Pradikat als das dort genannte Pradikat der 
Bezeichnung kann ihnen nicht beigelegt werden. Bildet man etwa 
das Urteil: Impradikabel ist pradikabel oder impradikabel, welches 
dem Russellschen Paradoxon zugrunde liegt, so bedeutet in ihm das 
Subjekt: das Urteil (»)einem Wort kann seine eigne Bedeutung 
nicht beigelegt werden ( « ) und da dieses Subjekt ein Urteil und kein 
Wort ist, so erweist sich das Urteil welches dem Russellschen Para- 
doxon zugrunde liegt als falsch, bzw. sinnnlos da es dem Subjekt 
einen Begriff disparater Ordnung pradiziert. 
Die besondere logische Struktur des Urteils der Bezeichnung mufi 
sich auch mit Beziehung auf das Pradikat exponieren lassen. D.h. 
die logische Struktur des Terminus » bezeichnet « mufi auch unmit- 
telbar und nicht wie oben mit Rucksicht auf das Subjekt formulier- 
bar sein. 

Von den Urteilen der Bezeichnung sind die der Bedeutung durch- 
aus zu unterscheiden. In ihrer Sphare gehen die logischen Untersu- 
chungen uberhaupt vor. Die essentielle Logizitat eines Urteils 
kommt nicht in der Formulierung »Es ist wahr, dafi . . .« zum Vor- 
schein, sondern in der Umformung ins Bedeutungsurteil ( »)S ist P 
bedeutet, dafi S P ist («). - 

Die uneigentliche Bedeutung, die Bezeichnung ist, ist von der 
eigentlichen zu unterscheiden. S ist P bezeichnet nicht, sondern 
bedeutet, dafi S P ist. »Impradikabel« bezeichnet das Pradikat eines 
bestimmten Urteils, »unnahbar« aber bedeutet etwas. Woher diese 
Verschiedenheit der Worte. In der Bedeutung liegt Representation 
vor, in der (Bezeichnung) nicht. 

Die Logik fragt in ihren Problemen nicht nach dem Recht, sondern 
nach der Bedeutung dieses Rechts. Was bedeutet es, dafi ich so 
schliefien darf (oder warum darf ich so schliefien?, nicht: darf ich so 
schliefien?) Was bedeutet Identitat. Die Logik also analysiert auf 
Urteile der Bedeutung hin. 
Die Sprache beruht mit auf Bedeutung, sie ware nichts wenn sie 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 1 1 

(nicht) auch Bedeutung hatte. Hier ist in diesem doppelten Vor- 
kommen von Bedeutung in der Logik auf die sprachliche Natur der 
Erkenntnis, welche in der Sprachphilosophie geklart wird, keimhaft 
und andeutend hingewiesen, ( fr i ) 

LOSUNGSVERSUCH DES RUSSELLSCHEN PARADOXONS 

Einem Zeichen kann nichts pradiziert werden. Das Urteil, in dem 
eine Bedeutung einem Zeichen zugeordnet wird, ist kein pradizie- 
rendes. Russell verwechselt Bedeutungs- und Pradikatsurteil. ( fr 2 ) 



Der Grund der intentionalen Unmittelbarkeit, die jedem Bedeu- 
tenden, also zunachst dem Worte, eignet, ist der Name in ihm. Das 
Verhaltnis von Wort, Name und Gegenstand der Intention ist fol- 
gendes : 

1) weder das Wort noch der Name ist identisch mit dem Gegen- 
st(and) der Intention 

2) der Name ist etwas (ein Element) am Gegenstand der Intention 
selbst, was sich aus ihm herauslost; daher ist der Name nicht zu- 
fallig 

3) das Wort ist nicht der Name, jedoch kommt im Wort der Name, 
gebunden an andere Elemente oder an ein andres Element (welche? 
welches? Zeichen?) vor. 

Das Verhaltnis des Zeichens zu den genannten drei Begriffen: 

4) das Zeichen bezeichnet nicht den Gegenstand der Intention und 
nichts am Gegenstand der Intention {-) folglich 

5) das Zeichen bezeichnet nicht den Namen als welcher etwas am 
Gegenstand der Intention ist (Vielleicht gibt es Zeichen von Namen, 
dies waren jedoch Zeichen im uneigentlichen Sinn, Symbole) 

6) das Zeichen bezeichnet das Wort, d. h. das unmittelbar jedoch 
nicht notwendig (wie der Name) auf den Gegenstand der Intention 
Hindeutende. 

Diese Verhaltnisse des Zeichens zu den genannten Begriffen bleiben 

davon unberiihrt, ob im Wort der Name an ein Zeichen oder an ein 

andres Element gebunden ist. 

Eigentumliche Natur des Namens, kraft welcher dieser im Wort 

gebunden vorkommen kann. 

Symbole sind nicht echte Zeichen, sind nicht einmal als Zeichen von 



12 Fragmente vermischten Inhalts 

Namen sinnvoll zu bezeichnen, sondern sind Annexe zu Namen, 
Namen zweiter Ordnung, d.h. solche die nicht in der Lautspra- 
che bestehen, in welcher die Namen erster Ordnung beruhen. 
(Schwachste Abartung der Symbole, der Namen zweiter Ordnung: 
Wappen) 

unmittelbar und rein unmittelbar und unrein 

Intentio prima Intentio secunda 

Der reine Name Das bedeutende Wort 

(bezieht sich auf die (enthalt den Namen 

substantia oder das gebunden, bezieht sich 

Wesen. 1st jedoch nicht undeutlich auf das Wesen) 

bedeutend, sondern etwas 
an der Sache selbst, was 
sich auf ihr Wesen 
bezieht) 

mittelbar 
Intentio tenia 
Das blofie Zeichen 
(bezieht sich auf 
das Bedeutende) 

Anm. Begriffe sind keine Intentionen, sondern Gegenstande von Intentio- 
nen, sofern sie mit einem gewissen erkenntnistheoretischen Stellungsindex 
versehen sind. Dieser letzte kann ausnahmslos in jedem Falle sowohl vor- 
handen sein wie auch fehlen. Wir denken (neben andern Gegenstanden) 
bisweilen Begriffe, jedoch niemals denken wir in Begriffen, sondern in In- 
tentionen. 

Im Urteil: Dieser Satz gehort der Mathematik an bezeichnet das 
Subjekt »dieser Satz« keinen allgemeinen Begriff (wie etwa »Satz« 
es tut), sondern etwas Singulares. Entweder ist also » dieser Satz« 
(als das Urteilssubjekt) kein Begriff, oder aber es gibt nicht nur All- 
gemeines, sondern auch Singulares kennzeichnende Begriffe. Im 
ersten Fall miifite man zur Annahme von Bedeutetem schreiten, 
( dem ) keine Begriffe zuzuordnen waren ; namUch de { m ) als singu- 
laren bedeute(te)n Gegen( stand). Riehl erkennt Singulares kenn- 
zeichnende Begriffe an(.) 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 1 3 

Auffallend dafi alle Logiker mit der Auffassung der Worte als Zei- 
chen sogleich bei der Hand, wahrend die Sprachtheoretiker dies 
garnicht zugeben. 

Bedeutung und Begriff einerseits, Wort und sprachliches Zeichen 
andrerseits werden bei Riehl (Beitrage zur Logik {I 1., p) 3) syn- 
onym gebraucht. 

Zwei Begriffe sind - wie Riehl richtig ausfuhrt - niemals identisch. 
So ist z. B. der Begriff des gleichseitigen Dreiecks mit dem Begriff 
des gleichwinkligen Dreiecks nicht identisch. Das Urteil Das 
gleichseitige Dreieck ist gleichwinklig lafit sich also nicht in der 
Form aussprechen: Der Begriff des gleichseitigen Dreiecks ist der 
Begriff des gleichwinkligen. Das gleichseitige Dreieck als Begriff 
hat uberhaupt nichts mit dem gleichwinkligen als Begriff zu tun. 



I Der Gegenstand: 

II Der Begriff : 

III Das Wesen : 


Dreieck 
Dreieck 
Dreieck 


(reiner Name) 
IV Das Wort : 
V Das Zeichen : 


Dreieck 



Das Urteil bezieht sich auf den Gegenstand durch den Begriff. Am 
Begriff wird zum Zwecke der Erkennbarkeit des Gegenstandes die 
Identifikation vorgenommen. 

Ich meine: »diesen Tisch« 

DieserTischistdasGemeinte M ist S 

Dieser Tisch ist aus Holz M ist P 



S ist nicht P 
Das Gemeinte bedeutet: 

1) Der Gegenstand auf den sich das 
Meinen bezieht 

2) Der Gegenstand, den das Meinen in eben die- 
ser Beziehung hervorbringt =£ (man konnte 
ihn etwa die Meinheit nennen) 

Die Beziehung des Begriffs zum Gegenstand ist keine intentionale, 
sondern ein Abstammungsverhaltnis; der Begriff stammt vom Ge- 



14 Fragmente vermischten Inhalts 

genstand ab; ist mit ihm verwandt. Er ist ein verwandter Gegen- 
stand. Die Begriffe sind diejenigen Gegenstande, welche die Aus- 
sagen iiber Urgegenstahde vorbereiten. Diese Aussagen selbst 
erfolgen in Urteilen, nicht in Begriffen. Die Begriffe sind im Urteil 
aufgehoben. (Urteile sind auch nicht Intentionen, sondern Gegen- 
stande, Satze an sich.) 

Beziehungen zwischen Begriffen sind niemals Gegenstand von 
Urteilen, sondern nur von Definitionen. ( f r 3 ) 



I Der Gegenstand : Dreieck 



II DerBegriff 


: Dreieck 


III Das Wesen 


: Dreieck 


IV Das Wort 


: Dreieck 


V Der Name 


: Dreieck 


VI Das Zeichen 


: ^ 



Zu VI Das Zeichen bezieht sich niemals auf den Gegenstand, weil 
ihm keine Intention einwohnt, der Gegenstand aber nur der Inten- 
tion erreichbar ist. Das Zeichen bezieht sich niemals notwendig auf 
das Bezeichnete; es bezieht sich also nicht auf den Gegenstand, weil 
dieser nur der notwendigen, innerlichen intentio sich erschliefit. 
Das Zeichen bezieht sich auf das den Gegenstand Bedeutende; es 
bezeichnet das den Gegenstand Bedeutende, also etwa das Wort 
»Dreieck« oder auch die mathematische Zeichnung des Dreiecks 
(die mathematischen Gegenstande werden namlich nicht durch 
Worte allein bedeutet). 

Zu V Den Namen »Dreieck« gibt es ebensowenig, wie es iiber- 
haupt Namen fur die allermeisten Gegenstande in der Sprache gibt. 
Diese kennt nur Worter fur sie, in welchen die Namen verborgen 
liegen. Kraft des Namens haben die Worter ihre Intention auf den 
Gegenstand; sie haben durch den Namen an ihm teil{.) Der Name 
ist in ihnen nicht rein, sondern an ein Zeichen gebunden (s. unter 
IV). Der Name ist das Analogon der Erkenntnis des Gegenstandes 
im Gegenstande selbst. Der Gegenstand zerlegt sich in Name und 
Wesen. Der Name ist uberwesentlich, er bezeichnet das Verhaltnis 
des Gegenstandes zu seinem Wesen. (?) 

Zu IV Mitteilung, Symbol, Zeichen und Name im Wort. Aus die- 
sen vier Elementen ist das Wort zu konstruieren. 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 1 5 

Wort ist ein Sprachelement von unvergleichlicher Einfachheit und 
von hochster Bedeutung. Die Theorie des Begriffs hat zur Grund- 
lage zu machen, dafi das Wort dessen Basis in irgend einem Sinne ist. 
Von hier aus wachsen dem Begriff aufierordentliche Krafte, hochst 
bedeutende Beziehungen seiner logischen Funktion zur Metaphy- 
sik zu. Das Urteil kann jene elementare Bedeutung im metaphysi- 
schen Zusammenhang, die der Begriff durch die Basis des Wortes 
hat, in dieser Weise (wenngleich vielleicht auf einem ganz andern 
Plan) nicht erlangen, weil der Satz, der seine Basis ist, nicht in so 
unvergleichlicher Eindeutigkeit gepragt liegt. 
Im Wort liegt » Wahrheit* {,) im Begriff intentio oder allenfalls 
Erkenntnis, Wahrheit keinesfalls. { fr 4 ) 

Das Skelett des Wortes 

Es ist eine Intention auf »Tisch« n moglich, aber auch eine Inten- 
tion auf das Wort ohne Vorstellung: » - Tisch -« (Ubrigens Schul- 
fall einer intentionalen Umstellung){.) 

Skelett des Wortes. Ausdruckslos im Maximum ist die postulierte 
aber ungefundene Bedeutung im nur virtuellen Wortbild. Aus- 
driicklich im Maximum ist der empirisch sich vordrangende, grin- 
sende Bedeutungsschein, der auf dem Lautbild beruht. 
Schwachung der symbolischen und mitteilenden Kraft im Wortske- 
lett. (Das Wort grinst) ( fr 5 ) 



Es ist seltsam, da£ bei mehrfachem Hinsehen auf ein Wort unter 
Umstanden sich die Intention auf seine Bedeutung verliert, um 
einer andern, der Intention auf das, was man das Wortskelett mit 
Grund nennen kann, Platz zu machen. [Zeichenmaftig kann man 
das Skelett eines behebigen Wortes z.B. des Wortes »Turm« fol- 
gendermafien bezeichnen: » - Turm -«.] 

Die sprachlichen Gebilde, so auch das Wort, teilen eine Mitteilbar- 
keit mit und symbolisieren eine Nicht-Mitteilbarkeit. Ein Wort 
teilt also nicht die Sache mit, die es scheinbar bezeichnet; sondern 
dasjenige, was es in Wahrheit bedeutet. So bezeichnet das Wort 
»Turm« nicht etwa »einen« Turm, und ebensowenig »den« Turm, 
sondern es bedeutet etwas und zwar ohne es zu bezeichnen. Das 
Wort »Turm« bedeutet etwas, das heifk nichts anderes als es teilt 



1 6 Fragmente vermischten Inhalts 

etwas mit. Wenn ich etwas bezeichne, so teile ich es nicht mit, abstra- 
hiere vielmehr uberhaupt von seiner Mitteilbarkeit, um es einem 
andern Zusammenhang einzureihen. Wenn ich die drei Ecken des 
Dreiecks mit ABC bezeichne, so bedeuten diese Buchstaben nicht 
die Dreiecksecken, d.h. sie teilen sie nicht mit. Das genaue Verhalt- 
nis von Bedeutung und Bezeichnung bleibt zu untersuchen. Man 
wird vermuten durfen, dafi es Inhalte, Gegenstande gibt, denen es 
wesentlich ist, uberhaupt nicht bezeichnet, sondern nur bedeutet 
werden zu konnen, z.B. Gott, das Leben, die Sehnsucht. Hochst 
problematisch ist, ob es auch Gegenstande gibt, fur die das Gegenteil 
zutrifft, die nur bezeichnet, nicht aber bedeutet werden konnen? 
Hochst wahrscheinlich gibt es solche nicht, da die Moglichkeit der 
Bezeichnung eines Gegenstandes auf seiner Bedeutbarkeit beruhen 
diirfte. 

Wenn man nun sagt, das Wort »Turm« bedeutet »Turm« (nicht 1 : 
bezeichnet »Turm«) so meint man damit zweierlei, weil die Bedeu- 
tung nur unter zwei Bedingungen besteht, deren Erfullung diese 
ermoglicht. Man meint erstens, dafi das Wort »Turm« etwas mitteilt, 
zweitens dafi es etwas symbolisiert, weder das Mitgeteilte, noch das 
Symbolisierte selbst sind aber »Turm«» »Turm« ist einzig und allein 
das Bedeutete. Das Wort »Turm« teilt erstens eine Mitteilbarkeit 
seiner selbst mit. Es teilt als Wort mit, dafi es mitteilbar ist, und dieses 
»es« ist ein geistiges Wesen. Es ist etwas (U)rsprungliches und ein 
Wort teilt also mit, dafi ein bestimmtes, urspriingliches geistiges 
Wesen mitteilbar ist. Damit allein aber bedeutet es noch nichts. Es 
teilt zwar etwas mit, etwas ganz (B)estimmtes und Endgultiges, 
namlich eine Mitteilbarkeit, dasjenige aber von dem es die Mitteil- 
barkeit mitteilt, teilt es selbst nicht mit, das bedeutet es. Und um den 
Gegenstand seiner Bedeutung zu bestimmen, bedarf es also einer 
andern virtus im Wort als der mitteilenden . ( f r 6 ) 



Wenn sich in einer Region nur eine Existenz prasentiert in einer 
blofien Hindeutung, so ist jene Hindeutung nicht ein Symbol, son- 
dern ein Zeichen. 

Wenn sich in ihr ein Sinn gesattigt erfullt in einer blofien Hindeu- 
tung, so ist jene Hindeutung ein Symbol. 

1 wie die vulgare Sprachtheorie meint 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 17 

Graphik - Sprache 

Gibt es in jener Region einen Sinn, welcher sich erfiillt mit der blo- 

fien Hindeutung ^w/denselben? 

Ein Symbol bezeichnet einen Sinn innerhalb einer Region, welcher 

sich bis zur Sattigung erfiillt durch die blofie Hindeutung auf den- 

selben. 

Die Sprache liegt iiber jener Sphare (Wahrheit) in welcher sich der 

Sinn ihrer Hindeutung erfiillt. (Schopferisches Verhaltnis?) 

Wie ist der Symbolische Charakter des Systems hinsichtlich der 

absoluten Welt der Sprache moglich? 

Worin besteht der symbolische Charakter des Systems { ? } 

<M 

Uber das Ratsel und das Geheimnis 

Das Ratsel entsteht da, wo mit Nachdruck eine Intention darauf 
sich regt, ein Gebild oder einen Vorf all, der nichts Sonderbares oder 
schlechterdings uberhaupt garnichts zu enthalten scheint, der sym- 
bolisch-bedeutenden Sphare anzunahern. Da nun im Kern des 
Symbols das Geheimnis steht, so wird man versuchen, jenem Ge- 
bild oder Vorfall eine » geheimnis voile* Seite abzugewinnen. Dieser 
Versuch aber ist - gegeniiber »profanen« Gegenstanden in einem 
engern Sinn - verurteilt, sein Ziel nie zu erreichen. Wenn er deren 
geheimnisvolle Seite in einer Darstellung einzufangen sucht, welche 
sich auf sie als das Ratsel auf seine Losung bezieht, so bricht der 
Schein des Geheimnisses nur solange nicht, als die Losung aussteht. 
Er ist m.a.W., da die Losung objektiv feststeht, nur subjektiv. 
Objektiv ist allein jene Intention auf das Geheimnis, das Unlosbare 
im Gebild oder Vorfall, welche zuletzt enttauscht wird. Dennoch 
wird sie nicht ganz enttauscht, sofern es fur jenen subjektiven 
Schein des Geheimnisses von Gebild oder Vorfall allerdings doch 
zuletzt einen objektiven Grund gibt. Nur liegt der nicht darin, dafl 
Gebild oder Vorfall Geheimnis waren, sondern darin, dafi sie(,) 
wie alles Seiende, am Geheimnis Anteil haben, ein Anteil{,) der 
niemals beim (P)rofanen zu selbstandiger Existenz zu bringen ist, 
sondern immer in Gebundenheit steht: im Ratsel an die Losung -im 
Wort an die Bedeutung. Denn eben als Wort steht alles Seiende aus 
der symbolischen Kraft des Wortes im Stande des Geheimnisses, 
und das »Ratselwort« ist in einem fur das Wesen des Ratsels konsti- 



1 8 Fragmente vermischten Inhalts 

tutiven Doppelsinn nicht nur dessen Losung, als Vereitelung{,) 
sondern Intention, (namlich) zugleich auch deren Bedingung, 
deren Grundlage und die »Erlosung« der versteckten Intention aufs 
Unlosbare in ihm. Weil namlich imWort, welches als solches schon 
»Ratselwort« ist, ein symbolischer{,) jenseits des in ihm mitge- 
teilten griindender Kern, das Symbol einer Nicht-Mitteilbarkeit 
ruht. 

Losen liefien sich daher viele Ratsel durch das blofie Bild, erlosen 
aber nur durch das Wort. - Vielleicht sind fiir diesen Sachverhalt 
bezeichnender als Ratsel, welche, wie Buchstabenratsel, Homony- 
men, Silbenratsel u. dgl. schon vom Worte im Bau der Aufgabe aus- 
gehen und die zum Teil wohl relativ jung sein mogen, solche(,) 
welche, wie Ratsel primitiver Volker stets oder oft, von Sachverhal- 
ten ausgehen, welche als solche noch nicht im Wort zu stehen brau- 
chen. Nach denen die Frage gelost aber nur werden kann im Worte, 
das in seiner ganzen Unmittelbarkeit hereinbrechend umso krafti- 
ger der versteckten Intention des Ratsels zur Erlosung verhilft. 
Geheimnis vermag (e)ben sich letzten Endes nur in Akten durch 
das Lebendige, das sie vollzieht, zu denken, nicht aber in Dingen. 
Woraus folgt, daft sich das Symbol, welches ein Geheimnis ist, nur 
in einem Akt aus dem Lebendigen, das vollzieht beruhend denken 
lafit. Diese(s) Lebendige ist immer Gott(.) 
Die Namengebung des Adam an die Tiere in der Genesis richtetsich 
gegen die mythische Auffassung des Namens als eines Ratsels, das 
zu raten aufgegeben wird, wie z.B. in der »Regentrude« von 
(Theodor) Storm und sonst in Marchen es vorkommt. Der jiidi- 
sche Name (der hebraische) ist ein Geheimnis. 
S. Wolfgang Schultz: Ratsel (aus dem hellenischen Kulturkreise. 
Gesammelt und bearbeitet, 2 Tie., Berlin 1 909- 19 1 2 ) { fr 8 ) 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 
Das Wort 



bedeutet 
einen be- 
stimmten 
Lautkom- 

plex 



Impradikabel 

/ \ 

bezeichnet 
das P be- 



stimmter 

Urteile 



Dreisilbig (A) 

/ \ 

bedeutet bezeichnet 

Dreisil- (nichts) 
big 



Das Zeichen 

Dreisilbig (B) 

/ \ 



19 



schattig 

/ \ 
bedeutet bezeichnet 
schattig (nichts) 



bed(eutet) 
einen 
Lautkom- 
plex 



bez(eichnet) 
das P be- 
st (immter) 
U(rteile) 



Impradikabel ist Impradikabel oder Pradikabel 



/ 

bedeutet 
daft Impra- 
dikabel Im- 
pradikabel 
oder Pradi- 
kabel ist. 
Also etwas 
Falsches. 
Denn ein be- 



\ 

bezeichnet 

(nichts, da 
es dem Wesen 
eines Zei- 
chens zuwi- 
derlauft{,) 
eine(?)Ur- 
teilsform(an) 
jene(?) abzu- 
geben) 



stimmter 
Lautkomplex 
ist weder das P eines U(rteils) wel- 
ches aussagt, daft, noch da (ft) nicht 
einem Wort seine eigne Bedeutung 
als P beigelegt werden kann./ 
Man kann auch den Beweis umkehren 
und das »Impradikabel« und »Pradikabel« 
des Pradikats ihren Bedeutungen nach 
d.i. als blofie Lautkomplexe auffassen, 
immer aber muE man entweder S oder P 
so verstehen, sonst mufke das U die 
Form haben( :) Impradikabel lautet 
Impradikabel oder Pradikabel {,) und 
dies Urteil ist ebenfalls falsch. 



Dreisilbig ist Dreisilbig 

/ \ 

bedeutet bezeichnet 
das Zei- (wieder nichts) 
chen 

»Dreis{ilbig)«, welches 
das P eines best(immten) 
U bezeichnet, hat dieje- 
nige lautkomplexliche 
Eigentumlichkeit, welche 
im Worte Dreisilbig be- 
deutet wird./ Oder (xx) 
umkehrt wie oben durch- 
strichen(.) Jedoch nicht: 
Dreisilbig lautet Drei- 
*<ilbig.) 



20 Fragmente vermischten InhaJts 

Das Urteil 

Dreisilbig ist dreisilbig (oder nicht-dreisilbig) ist im Gegensatz zu 
» Impradikabel ist Pradikabel od(er) Impradikabel* sinnvoll weil 
das Zeichen dreisilbig ein Attribut aus der Sphare der Zeichen 
bedeutet, das Zeichen Impradikabel dagegen ein Attribut aus der 
Sphare der Urteile. 

Impradika(be)l bezeichnet das und das 

Impradikabel ist funfeckig{ ?) 

Identisches Subjekt{,} jedoch keine logische Beziehung 

dazwischen. Identitat des Subjekts nur in der 

Sphare der Zeichen, in welcher keine log. Bez. zu stiften 

sind. Doch log. Bez ( . ) : BC bezeichnet (?) BCfolglich einfa- 

cher{?) 

Das Zeichen Dreisilbig ist nicht dasselbe wie das Wort »Dreisil- 
big« ( . ) Dieses hat die Intention auf die Bedeutung, jenes nicht. Der 
lautschriftliche Komplex ist in der Tat nur ein Zeichen, nicht fur 
Dreisilbig, sondern fur das Wort, welches kraft urspriinglicher 
Intention Dreisilbig bedeutet. 

Das Wort ist nun eben nicht Zeichen, sondern das Bezeichnete, und 
nicht die Bedeutung, sondern das Bedeutende, was eben das Zei- 
chen mangels seiner intentionalen Unmittelbarkeit nie sein kann. 
Nur das Bedeutende kann in intentionaler Unmittelbarkeit an das 
Bedeutete heran. Denn zum Bedeuteten gibt es kraft seines Wesens 
nur einen einzigen Zugang. (Beweis!) Das Bezeichnende kann nicht 
an das Bedeutete selbst, sondern allein heran an das Bedeutende, 
gleichviel ob es fixiert sei oder nicht. Voraussetzung jeder Bezeich- 
nung ist also das Correlat des Bedeuteten in der Sphare des Bedeu- 
tenden. Eben jenes Correlat gleichviel ob bekannt oder nicht wird 
bezeichnet; nicht das Bedeutete selbst (,) auf das einzig jenes inten- 
tional unmittelbare Correlat auftrifft. - Die Ordnung, Sphare jener 
Correlate, die Sphare des Bedeutenden ist die Sprache (im Sinne des 
Logos). 

Die Logik hat als Grundhypothese: jedes Bedeutete (jeder Gegen- 
stand) ist erkennbar (besteht fur die Erkenntnis) nur durch sein 
Correlat mit der Sphare des Bedeutenden. Logik ist Bedeutungs- 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 21 

analyse. In der Sphare des Bedeutenden werden alle logischen 
Grundkategorien vollendet. 



B a C 

BC bezeich(n)en a. Hier ist das Bedeutende, welches bezeichnet 

wird a > durch jene Seite wird zwar die echte Dreiecksseite 

bedeutet, jedoch durch die Bezeichnung jener Seite die echte Drei- 
ecksseite nicht bezeichnet. 

Zeichen Bedeutendes Name 

BC ist diese Kategorie durch die beiden Adonai 

Schneekoppe andern gebildet, oder ist etwas Walter Benjamin 

(Zeichen, Selbstandiges in ihr< ?) (Name, in dem 

in dem ein Schatten (Bedeutendes, in ihm ein Zeichen ge- 

Name ist stets ein Name gebunden. Ist bunden ist) 

gebunden ist) er aber an ein Zeichen gebunden ?) { f r 9 ) 



Schemata zur Habilitationsschrift 



1) Begriff 
1) Wesen 
3) Wort 
[4) Name 
5) Zeichen] 



1) Symbol 

2) Bedeutung 

3) Zeichen (Siegel) 

4) Darstellung 

Wie verhalt sich zu diesen 
das Kunstwerk (z. B. Klee)? 



Begriff 



Wort 



Wesen 



Konfusionsschema 
Wahrheit gesehn 

imaginarerGe^enstan 




Lebrsdtze iiber Symbolik 

1) Nichts Gegenstandliches als solches korrespondiert mit 
Gott 

2) Nichts Gegenstandliches und nichts Symbolisches er- 
reicht Gott 

3) Gewisse Gegenstande erfiillen sich nur in einer zugeord- 
neten objektiven Intention und weisen dann auf Gott. 
Dies sind Gegenstande der hochsten Ordnung. 

4) Der Gegenstand des Symbols ist imaginar. Ein Symbol be- 
deutet nichts, sondern ist, nach seinem Wesen, die Einheit 



instand 

Sprache 
mehrfach 



einfach 



22 



Fragmente vermischten Inhalts 



derZeichen und derihren Gegenstand vollendenden Inten- 
tion. Diese Einheit ist eine objektiv intentionale, ihr Ge- 
genstand imaginar. 

5) Man darf nicht fragen, was ein Symbol bedeutet, sondern 
allein wie, im Bereiche welcher objektiven Intention und 
welcher Zeichen es entstanden ist. 

6) Es gibt eine grofie Mannichfaltigkeit objektiver Intentio- 
nen.(Gedachtnis-Andenken,Treue(imDarstellen)-Ab- 
bild { , ) Philosophie - Wahrheit, Bufie - Reinigung u. s. f .) 



Andenken 
= Abendmahl 



Zu 4) 

Aquivokationen im Symbolbegriff 

Man nennt Symbol 

1) die Totalitat (z.B. das Kreuz Christi) 

2) den sinnlichen Teil derselben (2. B, das 
Kreuz) 

Nun deckt sich das eigentlich gegenstdnd- 
liche Moment von 1) mit 2). Daher mufi man 
sagen, dafi das Symbol (als 2) identisch mit 
sich selbst (1) im Modus des Bedeuteten ist. 
(Also das Kreuz ist das Kreuz Christi. Oder: 
Luther : Das Brot ist der Leib Christi) Statt ist 
»bedeutet« zu sagen, ware noch falscher. 
Was die Totalitat ist: aulSer der Identitat lafit 
sich nichts von ihr aussagen. Die imaginare 
Natur des Gegenstandes zeigt sich im Versie- 
gen des pradikativen Urteils. Daher das grie- 
chische auu£aM,ELV letzten Endes nicht 
wichtig, weil es nur auf die eigentliche Ge- 
genstandlichkeit im Symbol zutrifft. 



Richtige Terminologie 

1) Symbol: das Kreuz Christi 

2) Symbolisierendes: ein Kreuz 

3) Symbolisiertes: ein imagi- 

narer Gegenstand 



Symbol 

Wahrnehmung 

Erkenntnis 

(frio) 



Wenn nach der Theorie des Duns Scotus die Hindeutungen auf 
gewissen modi essendi nach MafSgabe dessen(,) was diese Hindeu- 
tungen bedeuten, fundiert sind, so entsteht natiirlich die Frage, wie 
sich von dem Bedeuteten irgend ein Allgemeineres und Formaleres 
als sein und also des Bedeutenden modus essendi irgendwie abspalten 
lasse( , ) um als Fundament des Bedeutenden zu gelten. Und wie man 
von der volligen Correlation zwischen Bedeutendem und Bedeute- 
tem hinsichtlich dieser Fundierungsfrage zu abstrahieren vermoge, 
so dafi also der Zirkel vermieden wird: Das Bedeutende zielt hin auf 
das Bedeutete und beruht zugleich auf ihm. - Diese Auf gabe ist durch 
die Betrachtung des Sprachbereichs zu losen. Soweit Sprachliches 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 23 

sich aus dem Bedeuteten abheben und gewinnen lafit(,) ist dies als 
dessen modus essendi und damit als das Fundament des Bedeuten- 
den zu bezeichnen. Der Sprachbereich erstreckt sich als kritisches 
Medium zwischen dem Bereich des Bedeutende(n) und dem des 
Bedeutete(n). So dafi also gesagt werden kann: Das Bedeutende 
zielt hin auf das Bedeutete und griindet zugleich hinsichtlich seiner 
Materialbestimmtheit auf diesem, aber nicht uneingeschrankt, son- 
dern nur hinsichtlich des modus essendi, den die Sprache bestimmt. 

<f"i> 

Sprache und Logik I 

Blatt verloren gegangen 
zu Hause nachzusuchen 
Es enthielt 

1) Die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Systems und die 
Lehre vom Erloschen der Intention in der Wahrheit, erlautert am 
verschleierten Bilde zu Sais 

2) Auseinandersetzung iiber den Begriff des Wesens als des Kenn- 
zeichens der Wahrheit. 



II 

(...) so sind die Charaktereigenschaf ten im Menschen f remd 
disparat zu einander zu stellen, so ertont die Harmonie der Spharen 
aus ihren nicht sich beriihrenden Umlaufen. Jedes Wesenhafte ist 
eine Sonne und verhalt sich zu seinesgleichen dieser Sphare, wie 
eben Sonnen zu einander sich verhalten. Dies gilt auch im Bereich 
der Philosophic, in der allein die Wahrheit zur Erscheinung 
kommt, namlich mit einem der Musik verwandten Tonen. Eben 
diesen harmonischen Begriff von Wahrheit gilt es zu gewinnen, 
damit das f alsche Merkmal der Dichtigkeit, welches ihrem Trugbild 
eignet, aus dem echten Begriff der Begriff (sic) der Wahrheit 
schwinde. Die Wahrheit ist nicht dicht. Vieles, was man in ihr zu 
finden erwartet, fallt in ihr aus. 

Die Beziehung dieser Dinge auf die Form des Systems bleibt zu 
untersuchen. S. a. iiber die »verschleiernde Macht des Wissens« in 
den Notizen zur »Neuen Melusine«. 
Das Verhaltnis der Begriffe - und dieses herrscht in der Sphare der 



24 Fragmente vermischten Inhalts 

Erkenntnis - untersteht dem Schema der Subsumption. Die Unter- 
begriffe sind im Oberbegriff enthalten - d.h. das Erkannte verliert 
in irgend einem Sinne seinen selbstandigen Bestand urn dessentwil- 
len, als was es erkannt wird. In der Sphare der Wesen verhalt sich 
das oberste zu den andern nicht einverleibend. Sondern es durch- 
waltet sie. Eben damit ist die regionale Trennung zwischen beiden, 
ihre Disparatheit so unreduzierbar wie die zwischen Konig und 
Volk. Das Verhaltnis der Legitimitat weiterhin, wie es zwischen 
diesen beiden waltet, besitzt kanonische Geltung fur das Verhaltnis 
zwischen der Einheit des Wesens und der Vielheit der Wesen. (Die 
Einheit des Wesens ist die eines Wesens von der gleichen Art wie die 
Wesen, von deren Vielheit die Rede ist. Aber doch ist es nicht die 
Einheit der Wesen.) Es tritt namlich am Verhaltnis von Konig und 
Volk recht deutlich hervor, dafi in der Wesenssphare als Fragen sol- 
che der Legitimitat, das heifit aber der Echtheit und letzten Endes 
damit des Ursprungs sind. Dieses Ursprungsverhaltnis ist ein ganz- 
liches (sic) anderes als das (p)seudo-urspriingliche Verhaltnis 
zwischen Oberbegriff und Unterbegriff : hier ist die Abstammung 
nur Schein, insofern die Art und Anzahl der Spezifikationen eines 
Oberbegriffs in Unterbegriffe beim Zufall liegt. Dagegen gehort 
jeder Wesenheit von Anfang an eine begrenzte - und zwar be- 
stimmte - Vielheit von Wesenheiten an, die aus der Wesenseinheit 
nicht etwa im deduktiven Sinne abstammen, sondern in der Empirie 
dieser Wesenseinheit zugeordnet sind als die Bedingung von deren 
Darstellung und Entfaltung. Die Wesenseinheit durchwaltet eine 
Wesensvielheit in der sie erscheint, der gegeniiber sie aber immer 
disparat bleibt. Die vollkommene Durchwaltung dieser Art darf die 
Integration der Erscheinungen zu Systerrien von Wesensvielheiten 
genannt werden. 

Die Vielheit der Sprachen ist eine derartige Wesensvielheit. Die 
Lehre der Mystiker vom Verfall der wahren Sprache kann also 
wahrheitsgemafi nicht auf deren Auflosung in eine Vielheit, welche 
der urspriinglichen und gottgewollten Einheit widersprache, hin- 
auslaufen, sondern - da die Vielheit der Sprachen sowenig wie die 
der Volker ein Verfallsprodukt, ja soweit davon entfernt ist es zu 
sein, dafl gerade eben diese Vielheit allein deren Wesenscharakter 
ausspricht, - sie kann nicht auf deren Auflosung in eine Vielheit 
gehen, sondern mu6 vielmehr sprechen von einer zunehmenden 
Ohnmacht der integralen Herrschgewalt, welche man eben im 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 2 5 

Sinne der Mystiker einer offenbarten Wesenseinheit sprachlicher 
Art der Bedeutung wird zuweisen wollen, dafi jene nicht sowohl 
(als) die urspriingliche eigentlich gesprochene, als vielmehr (als) 
die urspriinglich aus den gesprochenen alien sich vernehmbar 
machende Harmonie von ungleich grofierer sprachlicher Gewalt als 
jede Einzelsprache sie besessen, erschienen ware. 

Sprache und Logik III 

»In einem gewissen Sinne darf man bezweifeln, ob Platons Lehre 
von den >Ideen< moglich gewesen ware, wenn nicht der Wortsinn 
dem nur seine Muttersprache kennenden Philosophen eine Vergott- 
lichung des Wortbegriffs, eine Vergottlichung der Worte, nahege- 
legt hatte: Platons >Ideen< sind im Grunde, wenn man sie einmal von 
diesem einseitigen Standpunkt beurteilen darf, nichts als vergott- 
lichte Worte und Wortbegriffe.* (Hermann) Giintert: Von der 
Sprache der Gotter und Geister (...) Halle 1921 p 49 
»In alten Zeiten besteht das Ansehen des Priesters und Zauberers, 
des Medizinmanns oder Schamanen zum guten Teil darauf (sic!), 
dafi er die Formeln und Worte der Geistersprache kennt und ver- 
steht, und dieses hohere >Wissen< wurde auch fast uberall angstlich 
geheim gehalten: sowohl Druiden als Brahmanen und Schamanen 
wufiten genau, worauf ihre Macht beruhte.« aaO P35 - Nichts 
wiirde es rechtfertigen einen solchen Zusammenhang des Wissens 
in der Sprache als ein blofies Agglomerat von Zauberformeln zu 
bezeichnen; vielmehr verbiirgt ein Wissen die Schlagkraft dieser 
Formeln, ein theoretisches Wissen, das an die Sprache gebunden ist. 
Dafi ein reiner Typus solchen Wissens jenseits zauberischer Tiefen 
sich in der Wahrheit als das System darstellt, das hat die Einsicht ins 
Verhaltnis von Sprache und Logik zu erweisen. 
Tabu, das auf gewisse Worte gelegt wird, kann zu deren Aussterben 
fiihren. (S.) aaOpiz 

»In alten Zeiten vollends ist der Name und das Wort etwas ahnli- 
ches wie eine seelische Substanz, jedenfalls etwas Reelles, Wirkli- 
ches, Seiendes, etwas, das Leib und Seele an Bedeutung als gleich- 
wertig gait. Aus der altindischen, besonders der buddhistischen 
Philosophic ist der Ausdruck namarupa - »Name und Aussehen« 
zur Bezeichnung des Wesens eines Dinges bekannt/ 1 ^ in der 
Mimamsa-Lehre begegnet der ahnliche Begriff namaguna - »Name 



26 Fragmente vermischten Inhalts 

und Eigenschaft«.^ S. ^S. Oldenberg, Buddha '1906, 46. 262 ff. 
und Weltanschauung der Brahman. -Texte 1919, 105. ^Sat. Br XI, 
2,3,1 heifit es: »Das Weltall reicht so weit als Gestalt und Name, 
(cit) Giintert aaO p 5 

»Die bekannte Zweideutigkeit und Dunkelheit der Orakel beruht 
allein auf ... Umschreibungen, die das Gemeinte nur andeuten, 
aber nicht scharf und klar ausdriicken. In diesem Sinne ist das 
beruhmte Wort EI, das dem Ankommling vom Tempel in Delphi 
ratselhaft entgegenleuchtete, fiir die ganze Praxis der Pythia be- 
zeichnend. >H6lzerne Mauern< statt >Schiffe< zu sagen ist also eine 
Stileigentumlichkeit der sakralen Rede, und es ist uberraschend, 
dafi diese Ausbildung besonderer Umschreibungen in religios 
gehaltener Rede, dieser sakralen Metaphern, bei HOMER eben in 
den Ausdriicken der Gottersprache beginnt. 6 &va|, ov to uav- 
teiov eoti fev AeXqpoig, ovxe Xeyet, oute xqwctei, dXka or)[xaivEt, 
sagt HERAKLEITOS.* aaO p 1 2 1 - Auch die Sprache der Philoso- 
phic ist umschreibend in irgend einem Sinne; sie halt Abstand von 
der gewohnlichen. Und auch in diesem Zusammenhang ist es 
bedeutend, dafi auf beispielhafte Erlauterung die philosophische 
Darlegung sich ihrem Wesen nach nicht einlassen kann. »Sie spricht 
nicht die Menschensprache. « ( f r 1 2 ) 

Reflexionen zu Humboldt 

Humboldt ubersieht selbstverstandlich uberall die magische Seite 
der Sprache. Er ubersieht aber eigentlich auch die massenpsycholo- 
gische und individualpsychologische (kurz: die anthropologische, 
besonders im pathologischen Sinn). Ihn beschaftigt an ihr nur das 
Objektiv-Geistige im Hegelschen Sinne. Man darf wohl sagen, 
soweit die dichterische Seite der Sprache sich (sic) ohne die Beriih- 
rung einer Sphare, die man zur Not magisch nennen darf (Mallarme 
erschliefit sie am tiefsten){,) nicht vollig zu durchdringen ist, 
soweit durchdringt er sie in der Tat nicht. (Vgl. zu dieser be- 
schrankten Ansicht(Akademie-Ausgabe, Bd.) IV, 431) 
Humboldt erklart (IV, 20) das Wort fiir den bedeutendsten Teil der 
Sprache, fiir das, was in der lebendigen Welt das Individuum sei. 
Hat diese Ansicht nicht etwas Willkurliches? Man konnte vielleicht 
das Wort auch mit dem Zeigefinger an der Hand der Sprache oder 
mit dem Knochengeriist am Menschen vergleichen? 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 27 

Wahrscheinlich ist es von einiger Wichtigkeit, zu zeigen, dafi Hum- 
boldt in seinen Ideen nirgends nackt Dialektisches zum Durch- 
bruch kommen lafit, dafi er immer vermittelt. 
Es liegt in Stil und Gedankenfortschritt bei Humboldt etwas Storri- 
sches. Vgl. Steinthal iiber Humboldts Prosa. Satze wie V, p2, 16 
v.o. 

Humboldt spricht von dem »feinen, und nie vollig zu begreifenden 
Wechselverhaltnis des Ausdrucks und des Gedankens.« V, pj, 6f. 
v.u. (f ri 3) 



THESEN UBER DAS IDENTITATSPROBLEM 

1.) Alles Nicht-Identische ist unendlich, aber damit ist nicht ge- 

sagt, dafi alles Identische endlich sei. 

2.) Die Moglichkeit, dafi Unendliches identisch sei, wird im fol- 

genden in suspenso gelassen und noch nicht erortert. 

3 .) Das nicht-identisch Unendliche kann auf zweierlei Weise nicht- 

identisch sein. 

a.) es ist potentiell identisch, dann kann es nicht aktuell uniden- 
tisch sein. Dies ist das (aktuell) Aidentische. Das Aidentische liegt 
jenseits von Identitat und Unidentitat, ist aber in der Verwandlung 
nur der ersten, nicht der zweiten fahig. 

b.) es ist nicht potentiell identisch, ist aktuell unidentisch. 
3.) Anmerk(un)g: Es ist zu untersuchen, welche Arten des mathe- 
matischen Unendlichen unter a, welche unter b fallen. 
4.) In die Identitatsbeziehung kann nur a) nicht b) und nicht einmal 
der unter 2) gedachte Fall des Unendlichen eintreten. 
5.) Die Identitatsbeziehung wird als fiir das Objekt eines Urteils 
gultig vorausgesetzt, hat jedoch fiir das Urteilssubjekt selbst nicht 
die selbe Form wie fiir das nichtendliche allgemeine a des Satzes a ist 
a. Gibt man der Giiltigkeit der Identitatsbeziehung fiir das Urteils- 
subjekt dennoch diese Form, so entsteht die Tautologie. 
6.) Die Beziehung der Tautologie zum Identitatsproblem lafit sich 
noch anders fassen: sie entsteht namlich bei dem Versuch, die Iden- 
titatsbeziehung als Urteil aufzufassen. 
7.) Die Identitatsbeziehung lafit sich nicht als Urteil fassen, da das 



28 Fragmente vermischten Inhalts 

erste a des Satzes a ist a so wenig Urteilssubjekt wie sein zweites 
Urteilspradikat ist, andernfalls von dem ersten noch irgend etwas 
anderes als das zweite a aussagbar, dieses aber noch irgend einem 
andern als dem ersten a zuordenbar sein miifite. 
8.) Die Identitatsbeziehung ist nicht umkehrbar. Der Beweis dieses 
Satzes ist noch zu liefern. Dagegen kann der Satz plausibel gemacht 
werden z. B. durch den sprachlichen Unterschied zwischen ich und 
selbst. Die Redensart »ich selbst« betont die Identitat des Ich, oder 
wenn auch wahrscheinlich nicht diese selbst, so doch ein Analogon 
in der Sphare der Person. Dabei ist dies ich selbst nicht umkehrbar, 
das selbst ist sozusagen nur der innere Schatten des Ich. 
9.) Das Problem der Identitat lafit sich also auch so stellen, dafi eine 
Nicht-Umkehrbarkeit einer Beziehung besteht, die durch keine der 
drei Relationskategorien (Substanz, Causalitat, Wechselwirkung) 
logisch ermoglicht wird. 

[Stadium der Identifikation. Raum und Zeit. Sprunghafter Uber- 
gang zwischen A und a (a), stetiger zwischen a (a) und a.] 
10.) Der Satz der Identitat lautet »a ist a«, nicht »a bleibt a«. Er sagt 
nicht die Gleichheit von zwei zeitlich oder raumlich verschiedenen 
Stadien von a aus. Aber auch nicht die Identitat eines iiberhaupt 
raumlich oder zeitlich bestimmten a kann er aussagen, denn jede 
solche Bestimmung wiirde die Identitat schon zur Voraussetzung 
haben. Das a, dessen Identitat mit a in der Identitatsbeziehung aus- 
gesagt wird, ist also eines jenseits von Raum und Zeit. 
11.) Die Philosophic lehnt gewohnlich die Beschaftigung mit dem 
Identitatsproblem auf Grund folgender Uberlegung ab. 1) Aussa- 
gen iiberhaupt sind nur von Identischem moglich, folglich mufi 2) 
in jeder Untersuchung iiber Identitat diese schon vorausgesetzt 
werden, folglich ist der Satz a ist a eine Selbstverstandlichkeit im 
Bezirk des Denkens, von der nicht abgesehen werden kann. Satz 1) 
und 2) sind in der Tat im Bezirk des Denkens Selbstverstandlichkei- 
ten, von denen nicht abgesehen werden kann, sie sind logische Ele- 
mentargesetze. Dafi aber der Satz a ist a aus ihnen folge, ist ein 
entscheidender Irrtum. Denn die ersten beiden Satze sagen nur, dafi 
Aussagen nur von Identischem moglich, dieses bei jeder Aussage 
vorausgesetzt sei. Doch folgt daraus nicht, dafi dieses Identische ein 
mit sich selbst Identisches sei und grade dies, dafi es Identitat mit 
sich selbst gebe, sagt der Satz »a ist a« aus. Sein erstes a ist also 
genauso{ ?) an und fur sich ein Identisches, aber nicht ein mit sich 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 29 

selbst (d.h. dem zweiten a) Identisches, und ebenso ist das zweite a 
an und fur sich ein Identisches, aber weder ein mit dem ersten a 
noch folglich ein mit sich selbst Identisches. Wie sich die Identitat 
mit sich selbst - denn ihre Moglichkeit bezeugt der Satz der Identi- 
tat und sie ist sein eigentlicher Inhalt - sich von einer andersartigen 
Identitat unterscheide, und ob diese andersartige etwa eine rein for- 
mallogische Identitat des Gedachten als solchen im Gegensatz zu 
der des Gegenstandes mit sich selbst sei, mufi dahin gestellt bleiben. 
Nur gemafi dem Satze »a ist a« ist a mit sich selbst identisch, und nur 
das a dieses Satzes, nicht der konkrete Gegenstand (siehe 5), jaauch 
nicht das aktuell Unidentische (siehe 3 b) ist mit sich selbst iden- 
tisch. Das zweite hat nur an der formallogischen Identitat als 
Gedachtes, das erste noch an einer andern metaphysischen Identitat 
teil. 

(In dem Vorstehenden ist falsch die Bezeichnung der gegenstandli- 
chen Ur-Identitat a ist a als Identitat mit sich selbst. a ist a sagt nur 
aus, dafi es uberhaupt gegenstandliche Identitat gibt, wahrend 
»Id{entitat) mit sich selbst« bereits eine (die einzige oder nur eine 
unter andern) fundierte gegenstandliche Identitat ist.) (fr 14) 



ElDOS UND BEGRIFF 

(Zu P. Linke: Das Recht der Phanomenologie Kantstudien 1916) 

P.F. Linke will die Abstraktionstheorien der Begriffe als Losung 
von Scheinproblemen erweisen indem er zeigt dafi die eidetischen 
Gegenstande unmittelbar gegeben sind. Es ist aber nicht ausgespro- 
chen - und wohi uberhaupt nicht klar gesehen - dafi Begriff und 
Wesen garnicht dasselbe sind. Es gibt Wesen von Begriffen (natur- 
lich auch ein Wesen des Begriffs) und Begriffe von Wesen (natiirlich 
auch einen Begriff des Wesens). Beide Spharen, die des Begriffs und 
die des Wesens{ ? ) decken sich nicht einmal partial sondern uber- 
haupt nicht(,) vielmehr entsprechen sie sich in jedem Fall: es gibt 
ein Wesen von jedem Begriff und einen Begriff von jedem Wesen. 
Der Unterschied beider lafk sich an einem Beispiel aufzeigen: ich 
vergegenwartige mir zunachst das Eidos dieses roten Loschblattes 
vor mir. Dazu sehe ich davon ab dz& es in diesem wirklichen Zeit- 
verlauf und an diesem wirklichen Raumort seine Stelle hat. Es ist 



30 Fragmente vermischten Inhalts 

wesenhaft ein an einer bestimmten Zeitstelle existierendes und 
wesenhaft ein an einem bestimmten Raumort existierendes (,) aber 
all diese Worte in Anfiihrungszeichen. Daft die Raumstelle, der Zeit- 
punkt(,) an dem sich das Loschblatt notwendig jeweils befinden 
mufi »wirklich« sind(,) ist unwesentlich, davon wird abgesehn, das 
verfallt der Reduktion. / Ich bilde darauf den Begriff von diesem 
Loschblatt: dabei ist es fur diesen Begriff wesentlich, d.h. gehort 
mit zu seinem Inhalt daft dieses Loschblatt an einem On des wirkli- 
chen Raumes in einer bezw. mehreren Einheiten der wirklichen Zeit 
existiert. An sich sind natiirlich Begriff wie Wesen (ihrem Wesen 
nach) zeitlos: aber zum Begriff dieses Loschblatts gehort daft es an 
diesem Punkt der wirklichen Zeit, des wirklichen Raumes existiert, 
m.a.W. das {$)inguY£r-tatsdchliche ist fur den Begriff wesentlich, 
fur das Wesen aber ist es gerade unwesentlich. Zum Wesen dieses 
Loschblatts gehort es, daft, wenn es in der Wirklichkeit gegeben ist, 
es ein singular tatsachliches ist; eidetisch ist es gerade kein tatsachli- 
ches, sondern ein innerhalb einer eidetischen Zeit an einem eideti- 
schen Ort eidetisch existierendes, gleichgultig ob es tatsachlich Zeit 
tatsachlich Ort tatsachlich Existieren gibt. Aber- dies ist nun klar- 
zum Begriff dieses Loschblatts gehort daft der Ort an dem es exi- 
stiert nicht nur eidetisch »bestimmter Ort« sondern tatsachlicher, 
singular- tatsachlicher bestimmter Ort sei. Will man aber sich so zu 
retten suchen daft man den Inhalt dieses Begriffs dennoch als Wesen 
in Anspruch nimmt und die ganze Bestimmung »singular-tatsach- 
lich bestimmter Ort« in Anfiihrungszeichen setzt - so steht in den 
Anfiihrungszeichen etwas Widersinniges, eidetisch Widersinniges, 
denn das singular (T)atsachliche kann niemals Wesen sein. 
Damit erweist sich wenn auch die eidetischen Gegebenheiten der 
Phanomenologie unmittelbar gegeben sind eine Theorie des Begrif- 
fes nach wie vor (als) notwendig. Nur daft das vorliegende Beispiel 
schon so gewahlt war daft die meisten Theorien des Begriffes (und 
auch die, gegen die nach Linke die Phanomenologie protestiert) vor 
ihm versagen, das heifit durch dasselbe widerlegt werden. Denn 
allerdings: in welchem Sinn sollte sich der Begriff dieses singular 
tatsachlichen Loschblatts, dieses Loschblatts hier und jetzt durch 
Verwischungs- oder Typisierungs- oder Aufmerksamkeitsvor- 
gange auch nur psychologisch - geschweige logisch - erklaren las- 
sen. Oder will man behaupten es gabe von diesem einen einzigen 
und einzigartigen Loschblatt keinen Begriff, der auch seine Einzig- 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 3 1 

artigkeit was sein Existieren in wirklicher Zeit und wirklichem 
Raum angeht enthalt? / Aber obwohl Begriff und Wesen nicht das- 
selbe ist(,) mufi fur den Begriff dennoch in Anspruch genommen 
werden was Linke vom Wesen in Anspruch nimmt: es braucht sich 
nicht auf Vergleichung zu griinden. Auch der Begriff ist auf seinen 
einen Gegenstand gegriindet, er ist einfach Begriff »von« diesem 
Gegenstande - und er kann sogar wenn dieser sein Gegenstand ein 
singular- tatsachlicher ist(,) Begriff auch von diesem singular- tat- 
sachlichen sein. Ein Eidos aber von einem singular-tatsachlichen 
Gegenstand ist niemals Eidos auch des (S)ingular-tatsachlichen 
daran. Dies ist allem Anschein nach der einzige Unterschied zwi- 
schen Begriff und Wesen, der - wenn Begriff und Wesen auch 
immer, wenn sich der Begriff nicht auf ein (S)ingular-tatsachliches 
als seinen Gegenstand bezieht, inhaltlich zusammenfallen werden - 
doch bedeutet dafi sie ihrer Form nach niemals dasselbe sind. Das 
driickt sich auch noch auf eine besonders merkwiirdige Weise so 
aus: wenn etwa der Begriff der Tugend und das Wesen der Tugend 
inhaltlich zusammenstimmen sollten, so lafit sich doch diesem 
Begriff gleich Wesen der Tugend sofort ein andrer Begriff - vom 
Begriff aus gesehen: iiberordnen, vom Wesen aus gesehen correlativ 
zuordnen: namlich der Begriff des Begriff s der Tugend oder der 
Begriff des Wesens der Tugend. Ein Wesen des Wesens der Tugend 
aber gibt es nicht, man mufite denn Wesen mit Begriff verwechseln. 
Und gerade dieser Sachverhalt deutet darauf hin dafi man die Rede 
von einer inhaltlichen Gleichheit von Begriff und Wesen nicht 
genau nehmen darf: sie bedeutet nur(,) beide konnen sich auf ein 
Identisches beziehen, aber es besagt immer etwas toto genere ver- 
schiednes ob ich von einem Wort sage es bezeichnet den Begriff 
oder das Wesen einer Sache. Beide - mogen sie sich auch - wie tat- 
sachlich stets aufier in Fallen wie dem erorterten Beispiel - auf das- 
selbe beziehen - sind selbst, das heifit ihrem Wesen nach, von ganz 
verschiedner Struktur. Von welcher Verschiedenheit, das hat eben 
was den Begriff angeht die nach wie vor durchaus erforderliche 
Begriffstheorie auszumachen. In dieser wird freilich - und darin ist 
Linke zuzustimmen - die Rede von der »Allgemeinheit« der 
Begriffe eine minder grofte Rolle spielen mussen als bisher. { fr 1 5 ) 



32 Fragmente vermischten Inhalts 

Wahrnehmung ist Lesen 

In der W^rnehmung ist das Niitzliche (Gute) wahr. Pragmatis- 
mus. Wahnsinn ist eine der Gemeinschaft fremde Wahrnehmung. / 
Die Bezicht(ig)ung des Wahnsinns gegen die grofien wissenschaft- 
lichen Reformatoren. Unfahigkeit der Menge zwischen Erkenntnis 
und Wahrnehmung zu unterscheiden. Wahrnehmung bezieht sich 
auf Symbole. / Friihere Behandlung des Wahnsinns. (fr 16) 

Uber die Wahrnehmung in sich 

Wahrnehmung ist Lesen 

Lesbar ist nur in der Flache (E)rscheinendes. 

(...) 

Flache die Configuration ist - absoluter Zusammenhang ( f r 1 7 ) 

Notizen zur Wahrnehmungsfrage 

Es gibt drei Configurationen in der absoluten Flache: Zeichen, 
Wahrnehmung, Symbol. Das erste und dritte mussen in der Form 
des zweiten erscheinen. 

Das Zeichen kann gelesen und geschrieben werden 

die Wahrnehmung kann nur gelesen 

das Symbol weder gelesen noch geschrieben werden. 
Im ubrigen sollen die Verhaltnisse mit Beziehung aufs Symbol noch 
nicht bestimmt werden. Bestimmt werden soil 

1) die Beziehung der Wahrnehmung zum Zeichen 

2) die Beziehung des Schriftzeichens zur Sprache 

[Satz: Alle Erscheinungen auf einer Flache konnen als Configura- 
tionen in der absoluten aufgefafit werden] 

Zu 1) Zeichen ist eine solche Configuration in der absoluten Fla- 
che, der prinzipiell unendlich vieles als durch sie Bedeutetes zuge- 
ordnet werden kann, der jedoch bei ihrem jedesmaligen Vorkom- 
men nur ein nach Mafigabe des Zusammenhanges in welchem sie 
vorkommt aus den unendlich viel moglichen (B)edeuteten not- 
wendig zuzuordnen ist. 

Die Wahrnehmung unterscheidet sich vom Zeichen durch Folgen- 
des: sie ist nicht Configuration in der absoluten Flache sondern die 
configurierte absolute Flache. Daraus folgt dafi bei ihr von »Vor- 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 3 3 

kommen« im obigen Sinne nicht mehr gesprochen werden kann 
und { , ) da damit das fur die Eindeutigkeit des jeweilig Zuzuordnen- 
den das Kriterium verschwindet{,) auch nicht mehr von Bedeu- 
tung(,) welche diese Eindeutigkeit zur Voraussetzung hat. 
Der Wahrnehmung ist nicht eine prinzipiell unendliche Anzahl von 
moglichen Bedeutungen sondern eine solche von unendlich vielen 
moglichen Deutungen zuzusprechen. Die Deutung ist dem was 
gedeutet wird nicht transparent. Die Deutung bezieht sich auf das 
Gedeutete, welches vorliegt, die Bedeutung bezieht sich auf das 
Ztedeutete welches nicht vorliegt. Die Deutung ist in ihrem Verhalt- 
nis zur Bedeutung bestimmt, das Schema derselben, der Kanon der 
Moglichkeit der macht da(fi) ein Bedeutendes etwas bedeute(n) 
kann. Dieses Schema (der Bedeutungskanon) ist die Bedeutung 
einer Bedeutbarkeit. Wenn wir einer Configuration in der Flache 
die Bedeutung ihrer Bedeutbarkeit zuordnen so deuten wir sie. 
Etwas deuten heifit demselben als einem Bedeutenden die Bedeut- 
barkeit als Bedeutendes zuordnen. Die Deutungsmoglichkeiten der 
Wahrnehmung sind unendlich, aber ebenfalls mit Hinblick auf 
irgend ein noch zu bestimmendes »jeweils und jedesmal« (was nicht 
das Vorkommen betrifft) einfach. Die Deutung einer Configura- 
tion in der absoluten Ebne heifit ihr Schliissel. Die Wahrnehmung 
ist, zum Unterschied von der Schrift nicht in ein Bedeutendes zu 
verwandeln, das heifit ihr Schliissel ist nicht anwendbar. Das Wahr- 
nehmungsproblem miindet so in das Problem des »reinen Schlus- 
sels«. 

Das Wahrgenommene ist ein reiner Schliissel der configurierten 
absoluten Flache. ( f r 1 8 ) 

Uber die Wahrnehmung 

/ Erfahrung und Erkenntnis 

Es ist moglich die hochsten Bestimmungen die Kant von der 
Erkenntnis gegeben hat festzuhalten und dennoch seiner erkennt- 
nistheoretischen Auffassung von der Struktur der Naturerkenntnis 
oder Erfahrung zu widersprechen. Diese hochsten Bestimmungen 
der Erkenntnis beruhen im System der Kategorien. Bekanntlich hat 
Kant aber diese Bestimmung nicht als einzige aufgestellt sondern 
die Geltung der Kategorien fur die Erfahrung der Natur von ihrer 
Beziehung auf raum-zeitlich bestimmte Zusammenhange abhangig 



34 Fragmente vermischten Inhalts 

gemacht. Auf dieser Abhangigkekserklarung der Geltung der Kate- 
gorien beruht Kants Gegensatz zur Metaphysik. Die Behauptung es 
sei Metaphysik moglich kann nun allerdings mindestens drei ver- 
schiedene Bedeutungen haben von denen Kant die positive Mog- 
lichkeit der einen behauptete, und die der beiden andern bestritt. 
Kant hat eine Metaphysik der Natur geschrieben und darin denjeni- 
gen Teil der Naturwissenschaft behandelt welcher rein ist, d.h. 
nicht aus der Erfahrung sondern blofi aus der Vernunf t a priori her- 
vorgeht, indem die Erkenntnis sich zum System der Natur 
bestimmt; sie untersucht dann was zum Begriff des Daseins eines 
Dinges uberhaupt oder eines besonderen Dinges gehort. In diesem 
Sinne ware die Metaphysik der Natur etwa als apriorische Konstitu- 
tion der Naturdinge auf Grund der Bestimmungen der Naturer- 
kenntnis uberhaupt zu bezeichnen. Diese Bedeutung der Metaphy- 
sik konnte nun leicht zu ihrem ganzlichen Zusammenf alien mit dem 
Begriff der Erfahrung fuhren und nichts furchtete Kant so sehr wie 
diesen Abgrund. Er suchte ihn zunachst im Interesse der Gewifiheit 
der Naturerkenntnis und vor allem im Interesse der Integritat der 
Ethik zu vermeiden indem er alle Naturerkenntnis und also auch die 
Metaphysik der Natur nicht nur auf Raum und Zeit als auf Ord- 
nungsbegriffe in ihr bezog sondern diese zu toto coelo von den 
Kategorien unterschiednen Bestimmungen machte. So war von 
vornherein ein einheitliches erkenntnistheoretisches Zentrum ver- 
mieden dessen allzu machtige Gravitationskraft alle Erfahrung in 
sich hatte hineinreifien konnen; und andrerseits war nun selbstver- 
stand (lich) das Bedurfnis nach irgend einem fundus aposteriori- 
scher Erfahrungsmoglichkeit geschaffen, d. h. wenn auch nicht der 
Zusammenhang, so doch die Kontinuitat von Erkenntnis und 
Erfahrung zer(r)issen. Es ergab sich als Ausdruck der Trennung 
der Anschauungsformen von den Kategorien die sogenannte 
»Materie der Empfindungen* die sozusagen kunstlich von dem 
belebenden Zentrum des kategorialen Zusammenhangs durch die 
Anschauungsformen in denen sie unvollstandig absorbiert wurde, 
ferngehalten wurde. So war die Trennung von Metaphysik und 
Erfahrung, das heifit nach Kants eigenem Sprachgebrauch von rei- 
ner Erkenntnis und Erfahrung durchgefiihrt. 
Die Furcht vor einem schwarmerischen Vernunftgebrauch, vor den 
Ausschweifungen des auf keine Anschauung mehr bezognen Ver- 
standes, die Sorge um die Wahrung der Eigenart ethischer Erkennt- 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 3 5 

nis waren jedoch vielleicht nicht die einzigen Motive dieser Grund- 
anlage der Kritik der reinen Vernunft. Hinzu kam sei es als mach- 
tige Komponente sei es als Resultante dieser Motive die entschie- 
dene Absage gegen den dritten Begriff der Metaphysik (wenn 
namlich der zweite die schranken/ose Anwendung der Kategorien, 
also das was Kant mit einem transzendenten Gebrauch meint, 
bezeichnet) { . ) Dieser dritte Begriff von der Moglichkeit der Meta- 
physik ist der Begriff von der ZWazierbarkeit der Welt aus dem 
obersten Erkenntnisprinzip oder -zusammenhang mit andern Wor- 
ten der Begriff der Spekulativen Erkenntnis im pragnanten Sinne 
des Wortes. Es ist uberaus merkwiirdig daft Kant im Interesse der 
Aprioritat und Logizitat da eine scharfe Diskontinuitat u{nd) 
Trennung macht wo aus dem gleichen Interesse die vorkantischen 
Philosophen die innigste Kontinuitat und Einheit zu schaffen such- 
ten, namlich durch spekulative Deduktion der Welt die innigste 
Verbindung zwischen Erkenntnis und Erfahrung zu schaffen. Der- 
jenige Erfahrungsbegriff den Kant mit dem Erkenntnisbegriff, 
iibrigens doch niemals in der Weise der Kontinuitat in Beziehung 
setzt hat bei weitem nicht die Fiille des Erfahrungsbegriffes der frii- 
hern Philosophen. Es ist namlich der Begriff der wissenschaftlichen 
Erfahrung. Und auch diesen Begriff suchte er, teils von der Ver- 
wandtschaft mit dem vulgaren Erfahrungsbegriff so sehr als mog- 
lich zu losen, teils eben{ ,) da diese Losung nur unvollstandig mog- 
lich war, vom Zentrum des Erkenntniszusammenhanges in einem 
gewissen Abstand zu halten, und eben diesen beiden im Grunde 
negativen Bestimmungen jenes Begriffs der »wissenschaftlichen 
Erfahrung« hatte die Lehre von der Aprioritat von den beiden 
Anschanungsiormen (Geniige) zu leisten, im Gegensatz zur 
Aprioritat von Kategorien und eben dadurch auch im Gegensatz 
zur Aprioritat der andern, scheinbaren Anschauungsformen. 
Daft Kants Interesse einer Unterbindung der leeren phantastischen 
Gedankenfliige sich noch anders erfullen liefie als durch die Lehre 
der transzendentalen Aesthetik darf angenommen werden. Viel 
wichtiger und schwieriger dagegen ist die Frage seiner Stellung zur 
spekulativen Erkenntnis. Denn in dieser Beziehung ist allerdings 
der Gedankengang der transzendentalen Aesthetik der Wider- 
spruch der sich jeder Umbildung des transzendentalen Idealismus 
der Erfahrung in einen spekulativen Idealismus entgegenstellt. 
Worauf beruhte Kants Widerstand gegen die Idee einer spekulati- 



}6 Fragmente vermischten Inhalts 

ven d. h. den Inbegriff der Erkenntnis deduktiv erfassenden Meta- 
physik? Diese Frage ist um so berechtigter als die Bestrebungen der 
neukantischen Schule auf die Aufhebung der strengen Unterschei- 
dung zwischen Anschauungsformen und Kategorien dringen; mit 
der Aufhebung dieses Unterschiedes aber scheint tatsachlich die 
Umbildung der transzendentalen Philosophic der Erfahrung zu 
einer transzendentalen aber spekulativen Philosophic anzuheben, 
wenn unter spekulativem Denken ein solches verstanden wird wel- 
ches die gesamte Erkenntnis deduziert aus ihren Prinzipien. Es ist 
nun vielleicht die Vermutung erlaubt dafi in einer Zeit in der die 
Erfahrung in der Tat in eine aufierordentliche Flachheit und Gottlo- 
sigkeit versunken war das philosophische Interesse wenn es aufrich- 
tig war an der Rettung dieser Erfahrung fur den Erkenntnisinbegriff 
kein Interesse mehr haben konnte. Es ist zuzugeben dafi vielleicht 
jeder spekulativen Metaphysik vor Kant eine Verwechslung zwi- 
schen zwei Begriffen der Erfahrung zum Grunde lag( ;) aber nicht 
gerade aus dieser Verwechslung heraus hat etwa Spinoza das drin- 
gende Interesse der Deduzierbarkeit der Erfahrung gehabt, wah- 
rend Kant in seiner Zeit aus eben derselben Verwechslung sie ableh- 
nen mufite. Es ist namlich der unmittelbare und naturliche Begriff 
der Erfahrung zu unterscheiden von dem Erfahrungsbegriff des 
Erkenntniszusammenhanges. Mit andern Worten diese Verwechs- 
lung bestand in der Verwechslung der Begriff e: Erkenntnis der 
Erfahrung und Erfahrung. Fur den Begriff der Erkenntnis ist nam- 
lich die Erfahrung nichts aufier ihr liegendes Neues, sondern nur sie 
selbst in einer andern Form, Erfahrung als Gegenstand der 
Erkenntnis ist die Einheitliche und Kontinuierliche Mannichfaltig- 
keit der Erkenntnis. Die Erfahrung selbst kommt, so paradox dies 
klingt, in der Erkenntnis der Erfahrung garnicht vor, eben weil 
diese Erkenntnis der Erfahrung, mithin ein Erkenntniszusammen- 
hang ist. Die Erfahrung aber ist das Symbol dieses Erkenntniszu- 
sammenhanges und steht mithin in einer vollig andern Ordnung als 
dieser selbst. Vielleicht ist der Ausdruck Symbol sehr unglucklich 
gewahlt, er soil lediglich die Verschiedenheit der Ordnungen aus- 
driicken die vielleicht auch in einem Bilde zu erklaren ist: Wenn ein 
Maler vor einer Landschaft sitzt und sie wie wir zu sagen pflegen 
abmalt, so kommt diese Landschaft selbst auf seinem Bilde nicht 
vor; man konnte sie hochstens als das Symbol seines kunstlerischen 
Zusammenhanges bezeichnen und freilich wiirde man ihr damit 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 37 

eine hohere Dignitat als dem Bilde zusprechen, und auch gerade das 
wiirde sich rechtfertigen lassen. / Die vorkantische Verwechslung 
von Erfahrung und Erkenntnis der Erfahrung beherrscht auch noch 
Kant, aber das Weltbild hatte sich verandert. War namlich friiher 
das Symbol der Erkenntniseinheit das wir Erfahrung nennen ein 
hohes gewesen, war die fruhere Erfahrung wenn auch in wechseln- 
der Fiille Gott nahe und gottlich gewesen so ward die Erfahrung der 
Aufklarung in steigendem Mafie dieser Fiille beraubt. Unter dieser 
Konstellation muflte das philosophische Grundinteresse der Dedu- 
zierbarkeit der Welt, das fundamentale Interesse der Erkenntnis 
(S)chaden nehmen, weil eben jene Verwechslung bestand zwi- 
schen Erfahrung und Erkenntnis der Erfahrung. Es bestand kein 
Interesse mehr an der Notwendigkeit der Welt sondern das ganze 
Interesse warf sich auf die Betrachtung ihrer Zufalligkeit, Undedu- 
zierbarkeit, da man auf jene gottlose Erfahrung stieft, von der man 
irrtumlich glaubte daft die friihern Philosophen sie hatten deduzie- 
ren wollen oder deduziert hatten. Man versaumte nach der Art jener 
»Erfahrung« zu fragen die doch nur dann hatte deduziert werden 
konnen wenn sie Erkenntnis gewesen ware. Die Verschiedenheit 
von »Erfahrung« und Erkenntnis der Erfahrung hat Kant so wenig 
wie seine Vorganger erkannt. Deduzierbar sollte jene »leere gott- 
lose Erfahrung« nicht mehr sein, es bestand kein Interesse mehr 
dafiir, so wie trotz allem Interesse auch die gottlichste Erfahrung 
nie deduzierbar gewesen ist noch sein wird, und weil Kant nicht 
jene leere Erfahrung deduzieren wollte, erklarte er die Nicht-Dedu- 
zierbarkeit der Erfahrung in der Erkenntnis. Damit ist nun deutlich 
dafi alles von der Frage abhangt wie sich der Begriff »Erfahrung« in 
dem Terminus »Erkenntnis von Erfahrung« zum bloften Begriff 
»Erfahrung« verhalte. Zuvorderst ist zu sagen dafi der Sprachge- 
brauch im Obigen kein falscher war, das heifit dafi in der Tat die 
»Erfahrung« die wir in der Erfahrung erfahren dieselbe, identische 
ist, die wir in der Erkenntnis der Erfahrung erkennen. Unter dieser 
Voraussetzung muft gefragt werden: worin beruht die Identitat der 
Erfahrung in beiden Fallen und worin besteht in beiden Fallen die 
Verschiedenheit des Verhaltens zu ihr, da sie in der Erfahrung 
erfahren, in der Erkenntnis aber deduziert wird. 

Philosophic ist absolute Erfahrung deduziert im systematisch sym- 
bolischen Zusammenhang als Sprache. 



38 Fragmente vermischten Inhalts 

Die absolute Erfahrung ist, fur die Anschauung der Philosophic, 
Sprache; Sprache jedoch als symbolisch-systematischer Begriff ver- 
standen. Sie spezifiziert sich in Spracharten, deren eine die Wahr- 
nehmung ist; die Lehren iiber die Wahrnehmung sowie iiber alle 
unmittelbaren Erscheinungen der absoluten Erfahrung gehoren in 
die Philosophischen Wissenschaften im weitern Sinne. Die ganze 
Philosophic mit Einschlufi der philosophischen Wissenschaften ist 
Lehre. 

Notizen 

Im Sein der Erkenntnis sein heifit Erkennen. { fr 19 } 



zum verlornen abschluss der notiz uber die symbolik in 
der Erkenntnis 

In ihm war die Goethesche Naturforschung als Reprasentantin der 
echten in Symbolen vollzognen theoretischen Erkenntnis gefafit. 
Nicht in poetischen Analogien haben sich Goethe die Symbole 
erschlossen, in denen die Natur erkennbar ist sondern in seheri- 
schen Einsichten. Das Urphanomen ist ein systematisch-symboli- 
scher Begriff. Es ist als Ideal Symbol {.) 

Es war auch in jenem verlornen Abschlufi als Idee aufierdem 
bezeichnet. Aber in welchem Sinne? Im rein- theoretischen Sinne, 
in welchem aus der Idee die Begriffe derivieren. Im Sinne der Idee 
als Aufgabe. - Das Ideal dagegen stellt die Beziehung zur Kunst, 
oder eigentlicher zu reden, zur Wahrnehmung dar. 
Wahrnehmung ist in den beschreibenden Naturwissenschaften 
konstitutiv. Das heifit: in der Physik und Chemie lafit sich im theo- 
retischen Bezirk von der Anschaubarkeit abstrahieren, in den bio- 
logischen Wissenschaften nicht. Wo es sich um das Leben handelt, 
handelt es sich um Anschaubarkeit, um Wahrnehmung. Im Leben 
liegt ein Moment irreduktibler Wahrnehmung, im Gegensatz zu 
den physikalischen und chemischen Phanomenen. 
Es war auch in Hinblick auf Goethes Naturforschung und Dich- 
tung die Natur als das Chaos der Symbole bezeichnet, das religios, 
apokalyptisch nicht durchwaltet und geordnet ist. So besonders mit 
Hinsicht auf den zweiten Teil des Faust. 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 39 

/ Zu jenem Aufsatz ist nachzutragen: 

(Die) Ontologie dient keineswegs der Erkenntnis des Wahren, 
sofern man irgend etwas innerhalb diese(r) Ontologie oder inner- 
halb einer aufieren Welt unter Wahrheit versteht. Es ist, urn dies 
zu verdeutlichen, entscheidend, die radikale Verschiedenheit der 
Wahrheit von Wahrheiten oder besser Erkenntnissen zu begreifen. 
Die Wahrheit ist nichts in der Ontologie Befangnes und Einge- 
schlossnes, sondern sie beruht auf dem Verhaltnis der Ontologie zu 
den iibrigen beiden Gliedern des Systems. Das System hat diejenige 
Struktur, dafi die Erkenntnisse der Ontologie an ihm an den Wan- 
den hangen. Die Ontologie ist nicht der Palast. Um im Bilde zu 
bleiben : die Erkenntnisse der Ontologie mussen die Dimension von 
Gemalden bewahren. Um das Bild zu erklaren: alle Erkenntnisse 
mussen durch ihren latenten symbolischen Gehalt Trager einer 
gewaltigen symbolischen Intention sein, welche sie unter dem 
Namen der Ontologie dem System selbst einordnet, dessen ent- 
scheidende Kategorie Lehre, auch Wahrheit^,) nicht Erkenntnis 
ist. Die Aufgabe der Ontologie ist es die Erkenntnisse so mit sym- 
bolischer Intention zu laden, dafi sie sich in Wahrheit oder Lehre 
verlieren, in ihr aufgehen, ohne sie doch zu begriinden, da deren 
Begriindung Offenbarung, Sprache ist. 

Um auf das Bild zuruckzukommen: die Wande des Palastes so mit 
Bildern auszufiillen, bis die Bilder scheinen die Wande zu sein. 
Diese gewaltige Intention auf symbolische Schwangerung aller 
Erkenntnisse ist der Grund der Kantischen Mystik. Seine Termino- 
logie ist mystisch, sie ist absolut bestimmt aus dem Bestreben, den 
in ihr ermittelten Begriffen von Ursprung an die symbolische 
Ladung, die unscheinbar verherrlichende Dimension der echten 
Erkenntnis, des Gemaldes im Palast zu geben. Alle Akribie ist nur 
der Stolz auf das Mysterium dieser ihrer Geburt, welches die Kritik 
nicht auszutilgen vermag, obwohl sie es nicht begreift. Dies ist 
Kants Esoterik. // Die Rolle des Systems, dessen Notwendigkeit 
nur denjenigen Philosophen evident ist, die wissen dafi die Wahr- 
heit nicht ein Erkenntniszusammenhang, sondern eine symbolische 
Intention ist (die ihrer Systemglieder auf einander), spielt bei Platon 
genau der DIALOG. < fr 20 ) 



40 Fragmente vermischten Inhalts 

Nachtrage zu: Uber die Symbolik in der Erkenntnis 

Es ist vom Bereich der Philosophic und der philosophischen Er- 
kenntnis, die radikal auf Wahrheit und zwar auf die Totalitat dersel- 
ben es absieht, grundsatzlich die Einsicht in die Wahrheiten oder in 
eine einzelne Wahrheit zu unterscheiden, welche nicht nur gesetz- 
mafiig und unfehlbar jeder genauen Betrachtung eines Kunstwerks 
sich erschliefit, sondern sich vermutlich auch hier und da jedem 
Kunstler in seinem Schaffen einstellen wird. Jene Wahrheiten ent- 
halten »Wahrheit«(,) namlich diejenige, auf welche der Philosoph 
es absieht, aber sie deuten nicht, wie die philosophische (in niedrer) 
durch die philosophische Systematik (in hoherer Intention) auf sie 
hin. Fur jene unphilosophische, namlich kiinstlerische oder in 
engerm Sinne musische Einsicht in Wahrheiten ist Goethes Gedan- 
kenwelt reprasentativ. Es darf aber mit dem gleichen Recht an Jean 
Paul erinnert werden, in anderer Hinsicht an Balzacs Maximen uber 
die Menschen, in besonders »theoretischer« aber nichtsdestoweni- 
ger unphilosophischer Absieht treten Humboldts Einsichten in 
Sprache, Kandinskys in Farben hervor. (fr 21 ) 

Versuch eines Beweises, dass die wissenschaftliche Beschrei- 
bung eines Vorgangs dessen Erklarung voraussetzt 

Der Beweis dieses Satzes soil hier versuchsweise zunachst nur fiir 
das Gebiet der Physik gefiihrt werden als der fiir die Wissenschaft 
vom Naturgeschehen bestehenden Grundlage. 

Die Frage der physikalischen Beschreibung ist zugleich die des 
Experimentes. Denn eine physikalische Beschreibung eines Vor- 
ganges ist aufzufassen als die Darstellung eines Experimentes, da sie 
sonst fiir die Physik belanglos ware. Es ist also der logische Ort des 
Experimentes in der Physik zu untersuchen, 
Ein gelungenes Experiment gibt dem Forscher nichts weiter an als 
bestimmte Mafizahlen fiir eine Gleichung, in der diese bestimmten 
Zahlen allgemein, d.h. unbestimmt geblieben waren. Dennoch 
besteht der Sinn des Experimentes natiirlich keineswegs in der 
Ermittelung dieser bestimmten einzelnen Zahlen als solcher, viel- 
mehr priift das Experiment nach, ob die Aufstellung des betreffen- 
den physikalischen Gesetzes ein mefibares Element in einem Natur- 
vorgang betrifft. (Beispielsweise betrifft das Fallexperiment das 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 41 

mefibare Moment g am freien Falle.) Es mufi also vor dem Experi- 
ment das betreffende Naturgesetz feststehen, und das Experiment 
priift lediglich, ob die diesem Naturgesetz zu Grunde liegende 
Hypothese fur jene unsere zufallige Wirklichkeit, in der das Experi- 
ment angestellt wird, gilt. Diese Hypothese, deren Geltung fur die 
(zufallige) Erf ahrung im Experiment gepriift wird, ist nun aber kei- 
neswegs auf Grund oder an Hand einer vorgangigen Beobachtung 
oder Beschreibung der betreffenden Naturerscheinung aufgestellt. 
Selbstverstandlich handelt es sich hier nicht darum, die Abfolge der 
Dinge in der Psyche des Forschers festzustellen, sondern nur um 
die Frage, ob die Beobachtung oder aufmerksame Beschreibung 
eines Naturvorganges logisch den Rechtsgrund fur die Aufstellung 
einer Hypothese iiber denselben abgeben mufi. Wenn erwiesen 
werden kann, daft dies nicht der Fall ist, so fallt jede andere wissen- 
schaftliche Dignitat der Beschreibung und Beobachtung als die im 
Experiment liegende fort. Der logische Ursprung der Hypothese 
liegt nun aber nicht in der Erfahrung, sondern in der Aufgabe: unter 
der Voraussetzung, daft es Phanomene iiberhaupt gebe, dieselben 
zu retten, d. h. in ihnen ein Moment der Notwendigkeit, ein mathe- 
matisches Moment, zu erfassen und festzuhalten. In dieser Voraus- 
setzung allerdings liegt ein Moment der Zufalligkeit, und zwar 
darum, weil wir Notwendigkeit nur in der Sphare der Mathematik 
absolut denken konnen. Darum ist die Erfahrung insofern zufallig, 
als wir die Notwendigkeit (die Mathematizitat) der Erscheinungen 
nicht unmittelbar denken konnen. Es gilt daher immer noch das 
platonische Problem, daft wenn wir eine Welt denken wollen, wir 
ta (paivousva acu^eiv miissen. Das tut die Hypothese. Mit Bezie- 
hung auf die mathematischen Satze denkt die Hypothese Erschei- 
nungen vom Hochstmaft an Mathematizitat. Die Physik ist also die 
Wissenschaft von wenn auch nur moglichen Erscheinungen, deren 
Wesentliches das Hochstmaft von Mathematizitat vor allem Denk- 
baren ist. Bis hierhin gelangt die Physik ohne jeden Rekurs auf 
Erfahrung, mithin auch ohne Beobachtung oder Experiment. Es 
besteht nun aber eine unvergleichliche Moglichkeit, die Notwen- 
digkeit der physikalischen Gesetze zu iiberprufen. Das ist die 
Frage, ob sie in unserer Erfahrung (unserer Erscheinungswelt) gel- 
ten, d.h. das Experiment. Der Wert der physikalischen Gesetze 
besteht nun aber so wenig darin, daft sie unmittelbar fur unsere 
Erfahrung gelten, daft diese Geltungsart vielmehr nur symptoma- 



4* Fragmente vermischten Inhalts 

tisch fur eine andere Geltungsart, ihre eigentliche, ist. Wenn nam- 
lich in unserer durchaus zufalligen Erfahrungswelt ein physikali- 
sches Gesetz gilt, so besagt das, daft es das Hochstmafi an Mathema- 
tizitat der Erscheinungen iiberhaupt (Mathematizitat konnen nur 
die Erscheinungen iiberhaupt haben) besitzt. Wenn unsere Erfah- 
rungswelt nicht so durchaus zufallig ware, so wiirde die Geltung 
eines physikalischen Gesetzes in ihr nichts fur seine Notwendigkeit 
besagen; aber unsere Erscheinungswelt gibt, weil sie zufallig ist, nur 
auf die Frage nach dem schlechthin (N)otwendigen der Erschei- 
nungen, namlich auf die mathematische, Antwort. Ware unsere 
Erscheinungswelt nicht zufallig, so konnten wir keine Physik 
haben, ebensowenig aber wiirden wir sie brauchen. 
Im Experiment wird also die Frage nach der systematischen Digni- 
tat (d. h. der Mathematizitat) einer Hypothese beantwortet, in der 
Form der Antwort auf die Frage nach ihrer Geltung fur unsere 
Erfahrung. Prinzipiell jedoch ist eine Physik ohne Experiment 
moglich, denn es bleibt dabei, daft das Experiment lediglich ein 
methodologisches Mittel der Nachpriifung der Relation der Hypo- 
these zur Mathematik ist, welche prinzipiell auch im Denken mufi 
aufgefunden werden konnen. 

Die Hypothese geht also in ihrem Rechtsgrund nicht auf Beobach- 
tung zuriick. Folglich ist der einzige Ort, an dem die Erfahrung in 
die Physik eintritt, der des Experimentes, welches erstens ein prin- 
zipiell umgehbares methodologisches Hilfsmittel ist, zweitens, 
falls es zu einer Verifikation des Naturgesetzes werden soil, das- 
selbe, d. h. seine eigene Erklarung voraussetzt. Wenn also die Beob- 
achtung nicht als logische Quelle der Hypothese in Frage kommt, 
ferner auch das Experiment (die Beobachtung) oder seine Beschrei- 
bung die Giltigkeit des betreffenden Naturgesetzes (seine Erkla- 
rung) zur Voraussetzung seines Gelingens hat, so setzt die wissen- 
schaftliche Beschreibung eines Vorganges dessen Erklarung 
voraus. 

Beschreibung und Erklarung: die Darstellung eines bestimmten 
Experiments ist die Beschreibung eines physikalischen Vorgangs, 
das physikalische Gesetz, welches im Experiment verifiziert wird, 
dessen Erklarung. { fr 22 ) 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 43 

Begriffe lassen sich iiberhaupt nicht denken, sondern nur Urteile. 
D.h. Urteile sind Denkgebilde. 

Aber kann der Mensch als empirisches Wesen iiberhaupt denken? 
1st Denken iiberhaupt in dem Sinne eine Tatigkeit wie hammern, 
nahen, oder ist es keine Tatigkeit auf etwas hin, sondern ein tran- 
szendentes Intransitivum, wie gehen ein empirisches? ( fr 23 ) 



Analogie und Verwandtschaft 

Vorbemerkung: Die Unklarheit der folgenden Ausfuhrung hat ihren 
Grund zum grofien Teil darin, daft der Begriff der Ahnlichkeit, der unbe- 
dingt zu Analogie und Verwandtschaft gehort, aus der Diskussion gelassen 
bezw. nicht von dem der Analogie unterschieden ist. Er ist mit dem der 
Analogie nicht identisch. Analogie ist vermutlich eine metaphorische Ahn- 
lichkeit, d.h. eine Ahnlichkeit von Relationen, wahrend im eigentlichen 
Sinne (unmetaphorisch) ahnlich nur Substanzen sein konnen. Die Ahnlich- 
keit zweier Dreiecke z.B. miifke (sich) demgemafi als Ahnlichkeit irgend 
einer »Substanz« an ihnen erweisen, deren Manifestation dann die Gleich- 
heit (nicht Ahnlichkeit!) gewisser Relationen an ihnen ist. Weder aus Ana- 
logie noch aus Ahnlichkeit kann Verwandtschaft zureichend erschlossen 
werden; wahrend aber die Ahnlichkeit in gewissen Fallen Verwandtschaft 
anzukiindigen vermag, findet dies niemals in der Analogie statt. 

Die Analogie begriindet in keinem Falle Verwandtschaft. So sind 
Kinder ihren Eltern nicht durch das verwandt, worin sie ihnen ahn- 
lich sind [fehk Trennung von Analogie und Ahnlichkeit !](,) auch 
sind sie ihnen nicht in dem Ahnlichen verwandt; sondern die Ver- 
wandtschaft bezieht sich ungeteilt auf das ganze Wesen, ohne einen 
besondern Ausdruck zu suchen. [Ausdrucksloses der Verwandt- 
schaft]. Ebensowenig wie die Analogie begriindet der Causalzu- 
sammenhang Verwandtschaft. Die Mutter ist dem Kinde verwandt, 
weil sie es geboren hat — das ist aber kein Causalzusammenhangjder 
Vater ist mit dem Kinde verwandt, wohl weil er es gezeugt, aber 
jedenfalls nicht durch dasjenige an der Zeugung, was Ursache der 
Geburt ist oder scheint. D. h. das Gezeugte (der Sohn) ist im Zeu- 
genden (dem Vater) anders bestimmt als die Wirkung durch die 
Ursache - namlich nicht durch Causalitat sondern durch Verwandt- 
schaft. Das Wesen der Verwandtschaft ist ratselhaft. Es ist, was der 
Verwandtschaft der Gatten und der Eltern zu Kindern (der Wahl- 
verwandtschaft und der Blutsverwandtschaft) gemeinsam ist; es ist 



44 Fragmente vermischten Inhalts 

auch was der Verwandtschaft der Mutter und des Vaters zum Kinde 
gemeinsam ist. 

Es bedarf eines eigentiimlich ruhigen und ungetriibten Blickes um 
die Verwandtschaft zu sehen. Leicht lafit der fluchtigere Blick sich 
durch die Analogie einfangen. (Gustav Theodor) Fechner war ein 
Beobachter von Analogie; Nietzsche (sein Aphorismus »Der 
Augenschein ist gegen den Historiker* [in der Morgenrote?] 
beweist es) ein Entdecker von Verwandtschaften. Die Analogie ist 
ein wissenschaftliches, ein rationales Prinzip. So wertvoll sie ist, 
kann sie nicht nuchtern genug betrachtet werden. Sie lafit sich 
ergriinden und das Gemeinsame im Analogen lafit sich entdecken. 
[Sein Subjekt wird vermutlich eine Relation sein]. Das Gefiihl darf 
sich von der Analogie nicht leiten lassen, weil es sie nicht zu bestim- 
men vermag. Im Reich des Gefuhls ist Analogie garkein Prinzip, 
der Anschein davon entsteht allein, wenn es nicht genau genug mit 
der Rationalitat der Analogie genommen wird. Analog sind Schiffs- 
steuer und Schwanz - das ist nur fiir den schlechten Dichter ein 
Stoff, ein Gegenstand jedoch fur den Nachdenkenden (Techniker). 
Vater und Sohn sind verwandt, das ist eine Beziehung, die nicht 
in der ratio konstituiert, wenn auch durch sie begriffen werden 
kann. 

Die Verwechslung von Analogie und Verwandtschaft ist eine totale 
Perversion. Sie besteht darin, dafi entweder die Analogie als Prinzip 
einer Verwandtschaft oder aber die Verwandtschaft als Prinzip 
einer Analogie betrachtet wird. So verfahren Menschen, welche 
sich beim Anhoren der Musik etwas vorstellen, eine Landschaft, 
eine Begebenheit, ein Gedicht im Sinne der ersten Verwechslung. 
Sie suchen etwas einer Musik (rational) (A)naloges. Das gibt es 
selbstverstandlich nicht, es sei denn, dafi man sie mafilos vergrobere 
und stofflich auffasse. Wohl ist die Musik selbst rational zu erfassen, 
jedoch nicht durch Analoges, sondern durch Allgemeines, Gesetz- 
liches. Von der Musik zum Analogen iiberzugehen ist unmoglich, 
sie erkennt allein Verwandtschaft an. Und es ist das reine Gefiihl, 
welches verwandt der Musik ist; das ist erkennbar und in ihm die 
Musik. Die Pythagoreer versuchten durch Zahlen sie zu erkennen. 
(- Ein Fall der Substitution der Ahnlichkeit fiir die Verwandtschaft 
ist die naturrechtliche Argumentation, welche von »allem, was 
Menschenantlitz tragt« ausgeht. Im Antlitz der Menschen ist Ver- 
wandtschaft zu suchen - keineswegs kann dieser Augenschein das 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 45 

Prinzip einer Verwandtschaft sein, ohne doch zum Gegenstand 
einer Analogie herabgewiirdigt werden zu diirfen, Nicht das Ahnli- 
che stiftet Verwandtschaft. Allein da, wo es iiber Analogie sich 
erhaben erweist - was letzten Endes uberall sich erweisen mochte- 
kann es Ankiindiger der Verwandtschaft sein, welche allein im 
Gefuhl (weder in der Anschauung noch in der ratio) unmittelbar 
vernommen werden kann, streng und bescheiden aber begriffen 
werden darf in der ratio. Umittelbar wird im Gefuhl des Volkes die 
Verwandtschaft der Menschen vernommen.) 
Die Verwandtschaft als ein Prinzip der Analogie zu betrachten, ist 
das eigentiimliche einer modernen Auffassung der Autoritat und 
der Familienzusammengehorigkeit. Diese Auffassung erwartet 
Analogie bei verwandten Menschen zu finden und betrachtet An- 
gleichung als ein Ziel der Erziehung, auf welches hinzuwirken 
Sache der Autoritat sei. Wahre Autoritat ist wiederum ein unmittel- 
bares Gefuhlsverhaltnis, das nicht in den Analogien des Betragens, 
der Berufswahl, des Gehorchens seinen Gegenstand findet, son- 
dern hochstens sich in ihnen anzukiindigen vermag. 
Der Typus welcher durch die Verwechslung von Analogie und Ver- 
wandtschaft in beiden Richtungen definiert wird, ist der Sentimen- 
tale. In der echten Verwandtschaft sucht er nur das Anheimelnde, 
aber auf den breiten Wellen der Analogie, unter denen er keinen 
Grund ahnt, lafk sein steuerloses Gefuhl sich schaukeln. So Wallen- 
stein, wenn er beim Tode von Max sagt »Die Blume ist hinweg aus 
meinem Leben«. Er bedauert die Blume, iiber die er mit Aufwen- 
dung aller Mittel etwas aussagt. Aber nur was seinem Leiden ver- 
wandt ist darf Wallenstein f iihlen, nicht was ihm analog ware. 

<fr 24 > 

Erkenntnistheorie 

Wahrheit eines Sachverhalts ist die Funktion der Konstellation des 
Wahrsezws samtlicher iibrigen Sachverhalte. Diese Funktion ist 
identisch mit der Funktion des Systems. Das Wahnem (das als sol- 
ches naturlich unerkennbar ist) hangt mit der Unendlichen Aufg^e 
zusammen. Es ist aber nach dem Medium zu fragen, in welchem 
Wahrsein und Wahrheit im Zustande der Ungeschiedenheit sind. 
Welches ist dieses neutrale Medium? 
Zwei Dinge sind zu uberwinden 



46 Fragmente vermischten Inhalts 

i) die falsche Disjunktion: Erkenntnis sei entweder im Bewufltsein 

eines erkennenden Subjekts oder im Gegenstand (bezw. mit ihm 

identisch) 

2) der Schein eines erkennenden Menschen (z. B. Leibniz, Kant) 

1) Die Ronstitution der Dinge im Jetzt der Erkennbarkeit und 

2) die Einschrankung der Erkenntnis im Symbol sind die beiden 
Aufgaben der Erkenntnistheorie. 

Zu 1) Der Satz: Die Wahrheit gehort in irgendeinem Sinne zum 
vollendeten Weltzustand {,) wachst katastrophal zu jenem andern, 
wachst um die Dimension des »jetzt«: Die Welt ist jetzt erkennbar. 
Die Wahrheit besteht im » Jetzt der Erkennbarkeit*. Nur in dies em 
ist Zusammenhang [systematisch, begrifflich] (Zusammenhang 
unter sich und mit dem vollendeten Weltzustand). Das Jetzt der 
Erkennbarkeit ist die logische Zeit, welche anstatt des zeitlosen Gel- 
tens zu begriinden ist. Vielleicht gehort der Begriff der » Allgemein- 
giiltigkeit« in diesen Zusammenhang (.) 

Zu 2) Die Handlung, wie die Wahrnehmung treten nur gebrochen, 
uneigentlich, unreal in das Jetzt der Erkennbarkeit ein. Eigentlich, 
ungebrochen sind sie im vollendeten Weltzustand. Auch die Wahr- 
heit ist eigentlich, ungebrochen im vollendeten Weltzustand, aber 
sie allein ist auch ungebrochen im Jetzt der Erkennbarkeit. Sie ent- 
halt m. a. W. ungebrochen nur sich selbst. Die Handlung ist - im 
Zusammenhang mit dem vollendeten Weltzustand - nicht 61^ jetzt 
(oder »bald«) geschehende, Forderung kann nichts Jetzt fordern, 
befehlen. Sie treten gebrochen, in Symboliscben Begriffen in das 
Jetzt der Erkennbarkeit ein, denn dieses Jetzt ist von Erkennbarkeit 
ganz allein erfullt und durchwaltet. Das Jetzt der Handlung (,) ihr 
eigentliches Bestehen im vollendeten Weltzustand ist nicht auch, 
wie das der Wahrheit im Jetzt der Erkennbarkeit. Jenes Bestehen im 
vollendeten Weltzustand ist eben daher ohne Zusammenhang, auch 
ohne Zusammenhang mit diesem, wirklich aber sprunghaft, unzu- 
sammenhangend, unerkennbar schlechthin. Die Symbolischen 
Begriff e: Urphanomene. { fr 25 ) 

Wahrheit und Wahrheiten Erkenntnis und Erkenntnisse 

Erkenntnis im gegenstandlichen Sinne wird als der Inbegriff aller 
Erkenntnisse definiert. Soil der Begriff dieser Allheit in dieser Defi- 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 47 

nition stringent und absolut sein und sich auf die Totalitat der 
Erkenntnisse iiberhaupt, nicht nur auf samtliche Erkenntnisse eines 
bestimmten Gebietes beziehen, so bezeichnet der Begriff der 
Erkenntnis einen chimarischen Vereinigungsort. Nur der Begriff 
von Erkenntnissen in ihrer Vielheit ist stichhaltig, deren Einheit 
liegt nicht in ihrer eignen Sphare, ist nicht Inbegriff, nicht Urteil. 
Meint man mit Einheit eine Einheit nicht nur von Erkenntnissen 
sondern auch als Erkenntnis, so gibt es keine Einheit der Erkennt- 
nisse. 

Den von einem chimarischen Inbegriff der Erkenntnis so oft usur- 
pierten Platz des Systems nimmt von rechts wegen die Wahrheit 
ein. Die Wahrheit ist der Inbegriff der Erkenntnisse als Symbol Sie 
ist aber nicht der Inbegriff aller Wahrheiten. Die Wahrheit spricht 
sich im System oder in dessen begrifflichem Titel aus. Die Wahrhei- 
ten aber sprechen sich weder systematisch noch begrifflich, 
geschweige etwa wie die Erkenntnisse urteilsformig aus sondern in 
der Kunst. Die Kunstwerke sind der Ort der Wahrheiten. Soviel 
echte Werke soviel letzte Wahrheiten. Diese letzten Wahrheiten 
sind nicht Elemente sondern echte Teile, Stucke oder Bruchstucke 
der Wahrheit, die jedoch von sich aus keine Moglichkeit ihrer 
Zusammensetzung an die Hand geben, sondern von sich aus{,) 
nicht durch einander zu erganzen sind. Die Erkenntnisse dagegen 
sind nicht Teile, nicht Bruchstucke der Wahrheit(,) also nicht vom 
gleichen Wesen wie diese, sondern tiefere, gleichsam minder orga- 
nisierte Materie aus welche(r) der hohere (Teil) sich (als au(s) 
Elementen?) aufbaut. 

Die chimarische Natur eines Inbegriffs der Erkenntnisse ist zu er- 
weisen. 

Zum Verhaltnis von Erkenntnis und Wahrheit Goethe( :) Materia- 
lien zur Geschichte der Farbenlehre Erste Abteilung Griechen und 
Romer, Betrachtungen ... »Da im Wissen sowohl als in der Refle- 
xion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das 
Innre, dieser das Aufiere fehlt, so miissen wir uns die Wissenschaft 
notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von 
Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im Allgemei- 
nen, im Uberschwanglichen zu suchen, sondern, wie die Kunst sich 
immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die 
Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandel- 
ten erweisen.« Gleich darauf wird von der Wissenschaft im Sinne 



48 Fragmente vermischten Inhalts 

eines Kunstwerks, »von welchem Gehalt es auch sei« gesprochen. 
(Goedeke X361) 

Ein zutreffendes Urteil wird als eine Erkenntnis bezeichnet. Diese 
Erkenntnis darf ich als »richtig« beurteilen. Nicht aber darf ich 
dasselbe, was ich hier als » richtig* beurteile, auch als »wahr« beur- 
teilen. Wenn ich ein Urteil richtig nenne, so meine ich das Urteil 
als Ganzes, unverandert, so wie es dasteht. Sage ich aber, es ist 
wahr, so meine ich, dafi es wahr ist, dafi dieses Urteil richtig ist. 
Die Richtigkeit des Urteils hat auf die Wahrheit eine Beziehung 
und dies meine ich, wenn ich sage »Dieser Satz ist wahr«. Die 
Richtigkeit einer Erkenntnis ist niemals mit der Wahrheit iden- 
tisch, aber jede Richtigkeit hat eine Beziehung auf die Wahrheit. 
Und zwar sind alle Falle von Richtigkeit schlechthin gleichartig. 
Das Urteil»jede Fliege hat sechs Beine« ist genau auf gleiche Art 
richtig, wie das Urteil »2 x 2 = 4«. Die Wahrheit dieser Satze aber 
ist eine verschiedenartige. Denn die Richtigkeit des zweiten 
Urteils steht in einer tiefern Beziehung zur Wahrheit als die des 
ersten. 

Erkenntnis und Wahrheit sind niemals identisch; es gibt keine 
wahre Erkenntnis und keine erkannte Wahrheit. Jedoch sind 
gewisse Erkenntnisse unnachlafilich zur Darstellung der Wahrheit 
erfordert. (fr 26) 

Arten des Wissens 

I Das Wissen der Wahrheit 

Dieses gibt es nicht. Denn die Wahrheit ist der Tod der intentio 

II Das erlosende Wissen 

Dieses gibt es als das Wissen, mit dem die Erlosung bewufit und 

daher vollendet wird 

Dieses gibt es aber nicht als das Wissen, welches die Erlosung her- 

beifuhrt 

III Das lehrbare Wissen 

Seine bedeutendste Erscheinungsform ist die Banalitat 

IV Das bestimmende Wissen 

Dieses das Handeln bestimmende Wissen gibt es. Es ist jedoch 
nicht als »Motiv«, sondern kraft seiner sprachlichen Struktur 
bestimmend. Das sprachliche Moment in der Moralitat hangt mit 
dem Wissen zusammen, Fest steht, dafi dieses das Handeln 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 49 

bestimmende Wissen zum Schweigen fiihrt. Es ist daher als solches 
nicht lehrbar. Mit dem Begriff des Tao diirfte dieses bestimmende 
Wissen sehr verwandt sein. Dagegen ist es dem Wissen der Sokrati- 
schen Tugendlehre strikt entgegen gesetzt. Denn dieses ist fur das 
Handeln motivierend, nicht den Handelnden bestimmend. 
V Das Wissen aus Einsicht oder Erkenntnis 
Dieses ist ein hochst ratselhaftes. Es ist etwas, das im Bezirke des 
Wissens der Gegenwart im Bezirke der Zeit gleich sieht. Es existiert 
nur in einem unfafibaren Ubergang. Wozwischen? Zwischen der 
Ahnung und zwischen dem Wissen der Wahrheit. { fr 27) 



Intentionsstufen 

Intention Gegenstand 

Denken Erkenntnis 

Wahrnehmen Wahrnehmung 

[Phantasie Paradies - Elysium] 

Objektive Intention Symbol 

Fur die Gegenstande des Wahrnehmens und der Phantasie ist ihr 
Verhaltnis zum Kunstwerk anzugeben. Das Kunstwerk ist Gegen- 
stand weder der reinen Wahrnehmung noch der reinen Phantasie, 
sondern Gegenstand einer mittleren Intention. 
Die Hierarchie der Intentionsstufen ist nicht etwa erkenntnisma- 
fiig, sondern geschichtsphilosophisch zu verstehen. Daher ist auch 
die Bedeutung der Phantasiegegenstande in dieser Hinsicht zu 
untersuchen. Vielleicht gehort auch die Untersuchung ihres Objek- 
tivitatscharakters hierher. 

Phantasie ist diejenige Wahrnehmungsintention, welche nicht auf 
der Erkenntnisintention aufgebaut ist. (Traum, Kindheit) Reine 
Gegenstande dieser Intention (noch?) nicht gegeben, [Aber es gibt 
noch andere Wahrnehmungsintentionen die so bezeichnet werden 
konnen: Sehertum, Hellsicht] 

Gibt es einen logischen Progreft von Fragestellung zu Fragestellung 
wie es ihn von Fragestellung zu Antwort und von Antwort zu Ant- 
wort gibt? 

Die Ordnung der Fragestellungen widerstrebt dem Aristoteli- 
schen Ordnungsprinzip der Begriffspyramide. ((Karl) Mannheim: 



50 Fragmente vermischten Inhalts 

(Die) Strukturanalyse der Erkenntnistheorie (Berlin 1922) in den 
Erganzungsheften (scil. Nr. 57) der Kant-Studien ist zu verglei- 
chen) (fr28) 

2u{m Thema) Einzelwissenschaft und Philosophie 

(1)) Es ist darzulegen, dafi die »Widerspriiche«, durch deren 
Nachweis die Einzelwissenschaft die Philosophie zu diskreditieren 
strebt, ganz ebenso in den Einzelwissenschaften vorliegen. Und 
zwar an jedem ihrer Punkte. Auch widersprechen sie dem Begriff 
der Wahrheit nicht, denn Wahrheit gibt es nicht iiber eine Sache, 
sondern in ihr. Und die Wahrheit in einer Sache vermag je nach 
Zusammenhang und zeitlicher Struktur in grundverschiednen Pra- 
sentationen einer Sache, die nur scheinbar, namlich hinsichtlich 
eines Standpunktes iiber ihr, nicht aber hinsichtlich eines solchen in 
ihr sich widersprechen{,) evident zu werden. 

2) Der Blick mufi die Sache so treffen, daft er etwas in ihr erweckt, 
was der Intention entgegenspringt. Wahrend der Berichterstatter in 
der Attitude des banalen Philosophen und Einzelwissenschaftlers 
sich im Abschildern des Gegenstandes ergeht, auf den sein Blick 
sich richtet, springt dem intensiven Beschauen aus der Sache selbst 
etwas entgegen, fuhrt in dasselbe, bemachtigt sich seiner und etwas 
anderes, namlich die intentionslose Wahrheit, spricht aus dem Phi- 
losophen. 

3) Diese Sprache der intentionslosen Wahrheit (d.i. der Sache 
selbst) hat Autoritat. Und zwar ist diese Autoritat der Sprechart der 
Mafistab der Sachlichkeit. Er, nicht die empirische Sache, in der die 
intentionslose Wahrheit ja steht und an der sie demzufolge, da sie 
die Sache aufierhalb ihrer selbst nicht vorfindet, sich auch nicht 
messen kann. Diese Autoritat steht vielmehr durchaus zum land- 
laufigen Begriff der Sachlichkeit darum im Gegensatz, weil ihr Gel- 
ten, das der intentionslosen Wahrheit(,) historisch, also durchaus 
nicht zeitlos ist, sondern an einen jeweiligen historischen Standort 
der Sache (ge)bunden und variabel mit ihm ist. »Zeitlosigkeit« ist 
also als ein Exponent (de)s biirgerlichen Wahrheitsbegriffs zu ent- 
larven. In der Autoritat (ist) Zeit genau mitgedacht, indem die 
Autoritat da ist und verschwunde(n) ist, je nach zeitlichen Kon- 
stellationen. Indessen entsteht sie nicht, ind(em) eine Meinung all- 
mahlich »Recht(«) bekommt und es dann hat. Vielmehr wird sie 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 5 1 

sprunghaft geboren aus einem bestimmten durch den Blick er- 
weckten Insichgehen der Sache selbst. 

4) Diese Autoritat bewahrt sich an Aufierungsformen und zwar 
dem Legitimismus jedweder Autoritat entsprechend an unsachli- 
chen. Dergestalt ist moment (an) die akademische Akribie als 
unsachlichste Instrumentation des wekgespannten philosophi- 
schen Gedankenbogens und zugleich als Biirge{?) einer souvera- 
nen Beherrschung aller Mittel fur die Bildung einer diese Akribie 
verabschiedenden Autoritat entscheidend. So ist sie in meiner 
Barockarbeit aufzufassen. Soweit die Wahrheit intentionslos ist, 
reiftt sie den ganzen aufterlich gewordenen Induktionsapparat in 
die Sache selbst zuriick und handhabt ihn, geborgen in dem Inner- 
sten der Sache im Interesse der Autoritat souveran, spielerisch, mit 
Willkur. 

5) Die »Sachlichkeit« der Wissenschaft ist demgemaft von genau 
dergleichen Art wie die vorgebliche der Kritik { . ) ( f r 29 ) 



Die unendliche Aufgabe 

a) als Begriindung der Autonomic Die unendliche Aufgabe ist 
nicht (als Frage) gegeben. Die unendliche Anzahl aller moglichen 
Fragen iiber die Welt und das Sein wlirde nicht die Wissenschaft 
nezessitieren. Die Wissenschaft ist eine ihrer Form nach (nicht ih- 
rer Materie nach) unendliche Aufgabe. Was heiftt der Form nach 
unendliche Aufgabe? Es heiftt nicht eine Aufgabe deren Losung 
(der Zeit nach oder sonst wie) unendlich ist. Unendlich ist dieje- 
nige Aufgabe die nicht gegeben werden kann. Wo liegt aber die 
unendliche Aufgabe wenn sie nicht gegeben werden kann? Sie liegt 
in der Wissenschaft selbst, oder vielmehr sie ist diese. Die Einheit 
der Wissenschaft beruht darin daft sie nicht auf eine endliche Frage 
die Antwort ist, sie kann nicht erfragt werden. Die Einheit der 
Wissenschaft beruht darin, daft ihr Inbegriff von hoherer Machtig- 
keit ist, als der Inbegriff aller der an Zahl unendlichen endlichen, 
d. h. gegebnen, stellbaren Fragen fordern kann. Das heifit die Ein- 
heit der Wissenschaft beruht darin daft sie unendliche Aufgabe ist. 
Als solcher kann man ihr von auften auch in der Form der Frage 



52 Fragmente vermischten Inhalts 

nicht beikommen, sie ist autonom. / Die Wissenschaft selbst ist 
nichts als unendliche Aufgabe. 

b) als Begriindung der Methode: Die Einheit der Wissenschaft 
besteht in der Unendlichkeit ihrer Aufgabe. Das heifit die Wissen- 
schaft ist die von ihrer Aufgabe durchwaltete Losung. Die Aufgabe 
der Wissenschaft ist die Losbarkeit schlechthin. Der Wissenschaft 
aufgegeben ist diejenige Aufgabe deren Losung selbst immer noch 
in ihr bleibt, das heifit aber deren Losung methodisch ist. Die Auf- 
gabe die der Wissenschaft aufgegeben ist ist die der Losbarkeit. 

Wie gestaltet sich beim Begriff der unendlichen Aufgabe die Bezie- 
hung der Aufgabe zur Losung? 

Die Einheit der Wissenschaft selbst ist weder endlich noch unend- 
lich, als Aufgabe aber ist sie unendlich. 

Es ist Unsinn zu sagen : daft die Aufgabe der Wissenschaft unendlich 
ist!! 

Die Unendlichkeit der Aufgabe lafit alle Qualitaten der Wissen- 
schaft Asformale{>) nicht materiale erscheinen: 
Autonomic (formal: keine gegebnen Aufgaben 

material: Unabhangigkeit von andern Werten) 
Methode (formal: jeder Fortschritt, jede Losung der Wissen- 
schaft ist methodisch 
material: jede Losung stellt eine neue Aufgabe) 

Der Wissenschaft entspricht keine unendlich zahlreiche Analysis, 
sondern sie ist eine unendliche absolute (nicht relative) Synthesis. 
Die Wissenschaft ist weder Losung noch besteht sie aus Auf gabew : 
daher »unendliche Aufgabe « ( . ) (fr 30) 

Uber die transzendentale Methode 

In irgendwelchen Begriffen werden »synthetische Urteile a priori« 
wie sie in diesen, d. h. dafi sie in denselben moglich seien nachge- 
wiesen. Die Wissenschaft die sich auf diesen Begriffen aufbaut ist 
dann giltig, weil die Frage ob diese Begriffe mit einem Gegenstand 
als »zutreffend« tibereinstimmen, eben indem sie a priori synthe- 
tisch sind(,) entfallt. Die Urteile solcher Wissenschaft sind richtig, 
wenn sie in ihr zu beweisen sind, mit Rucksicht auf die Grundbe- 
griffe. - In der Mathematik geht Giltigkeit und Richtigkeit ineinan- 



Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 53 

der iiber weil zu den Grundbegriffen (vielleicht) nichts hinzu- 
tritt. 

Dies ist fur die verhangnisvolle Verwechslung von Giltigkeit und 
Richtigkeit, die bei Kant schon ausgesprochen in den Prolegomena 
und der Kritik der praktischen Vernunft beginnt und bei seinen 
Nachfolgern zum Faktizitatsschwindel fuhrt(,) von Wichtigkeit. 
Wenn er namlich bewiesen hat, wie und also daft gewisse Begriffe 
synthetisch a priori sind so glaubt er in diesen Beweis die Richtig- 
keit der Wissenschaft oder ethischen Uberzeugung eingeschlossen 
zu haben. Bei seinen Nachfolgern die ebensowenig erkennen daft 
nicht Wissenschaft sondern Sprache die zu untersuchenden Begriffe 
gibt y wird, unter dem Einflufi des Positivismus die Uberzeugung 
besonders vordringlich, daft die Wissenschaft das darreichende Fak- 
tum sei, die dann natiirlich auf Grund dieses Irrtums wenn sich die 
Begriffe als giltig erweisen in ihren Urteilen falschlich f\ir ohne wei- 
teres richtig gehalten wird . { f r 3 1 ) 

ZWEIDEUTIGKEIT DES BEGRIFFS DER »UNENDLICHEN AuFGABE« IN 
DER KANTISCHEN SCHULE 

Erste Bedeutung dieses Begriffs: Das Ziel liegt in unendlicher Feme 
in dem Sinne, daft das ganze Ausmafi seiner Entfernung fortschrei- 
tend von jedem Punkte des Weges aus ermessen wird, wie ein Gip- 
f el, dem man sich nahert, immer ferner zu riicken scheint, indem die 
erst verborgnen trennenden Tiller von andern Gipfel { n ) aus unter- 
wegs sich eroffnen. Der Ort des Ziels aber, wenn auch entfernt, 
bliebe konstant, ja denkbar ist, daft der Fortschritt nicht einmal in 
der Einsicht in die UnendKchkeit des Ziels eine Veranderung 
bringt, daft es gleichsam in einer Ebene von Anfang an dem Blick 
offen liegt. Immer aber ware eine solche Unendlichkeit nur empi- 
risch und daher nie apriorisch zu behaupten. 
Zweite Bedeutung des Begriffs. Es kann auf grund der erreichten 
Einsicht das vorher intendierte Ziel, das erreicht oder erreichbar 
wurde, einem andern nun erst ermefibaren neuen und entferntern 
Platz machen und auf diese Weise nicht scheinbar sondern wirklich 
das Ziel ganz unabsehbar in die Feme fliichten. 
Gemeint zu sein scheint bei den Neukanti ( an ) ern stets diese 
zweite, nicht apriorische aber vollkommen leere Art der Unend- 
lichkeit ihrer Aufgabe, (fr3^) 



Zur Moral und Anthropologic 



Zur Moral 

Bayerisches Gebet: . . . Und lafi dich [Gott] auch um das bitten, 
worum du gebeten werden wills t. - Hier liegt nicht nur die gewohn- 
liche Intention des Beters vor (die sich adaquat im vorhergehenden 
Teil des Gebets ausdruckt), sondern noch eine zweite Intention, auf 
dessen Form, deren Verhaltnis zur ersten dies ist: Gott solle das 
Gebet nicht sowohl nach seiner betenden Intention verstehen, als 
nach der Intention, jene erste betende Intention absolut zu machen, 
d.h. ihren Ausdruck derart zu steigern, dafi das intentionierte Cor- 
relat (das ehrfurchtig Erbetene) wegfallt, und dennoch das Gebet 
auf Grund der ersten absoluten, correlatlosen Intention vor Gott 
besteht. 

So beim Zwangsneurotiker: die Handlung (beispielsweise das Ord- 
nen von Gegenstanden auf einem Tisch) soil seinen ( sic ) Sinn noch 
beibehalten, wenn von jedem verniinftigen intentionierten Correlat 
solchen Ordnens abgesehen wird, die Ordnungshandlung absolut 
erscheint. So beim Dogma: nicht auf das Correlat der ersten Inten- 
tion, nicht auf das im Bekenntnis Gemeinte kommt es an, sondern 
auf die zweite Intention: selbst beim Fortf alien des intentionalen 
Correlats des in der ersten Intention Gemeinten (etwa Fortfall 
wegen subjektiver Unglaubigkeit) dennoch die voile virtus des 
Dogmas, die also nicht im subjektiven Uberzeugtsein gesehn wird, 
aufrechtzuerhalten. Hier wird also die zweite eigentliche Intention 
auf ein solches intentionales Correlat der ersten gerichtet, welches, 
wie auch immer die erste Intention sich schwache und verringere, 
(k)raft des bloften Ausdrucks derselben erobert, innegehabt 
wird. 

Jene zweite Intention ist nun stets im eminenten Sinne auf ein abso- 
lut handlungsmafiiges d.h. ein moralisches Moment in den sonst 
moralisch im strengen Sinne indifferenten Zonen der jeweiligen 
ersten Intention gerichtet und daher fur die Einsicht in das Wesen 
der Moral von hochstem Wert. Auch von hochstem Wert fur die 
Bestimmung des Verhaltnisses von Handlung zu Tat und Wort, die 
allein in den genannten ersten Intentionen vorkommen. (fr 33) 



Zur Moral und Anthropologic 5 5 

Alle Unbedingtheit des Willens fiihrt ins Bose hinab: Ehrgeiz, 
Wollust sind unbedingte Willensrichtungen. Die naturliche Totali- 
tat des Willens mufi, wie die Theologen stets einsahen, zerschlagen 
werden. Der Wille mufi in tausend Stiicke zerspringen. Die so viel- 
faltig gewordnen Willensmomente bedingen sich gegenseitig: der 
irdische, bedingte Wille entsteht. Alles was iiber ihnen die (hochste) 
Einheit der Intention verlangt, ist nicht Gegenstand des Willens: 
verlangt nicht die Willens'mtention. Andacht aber darf unbedingt 
sein. ( f r 3 4 ) 



Zur Kantischen Ethik 

Man kann die Unabschliefibarkeit der unteilbaren Einheit, des Indi- 
viduums, welches das Subjekt der Ethik ist, in gewissem Sinne in 
der Kantischen Ethik wiederfinden. Die Lehre von den »verniinfti- 
gen Wesen« als Subjekte(n) der Ethik hat mit ihr wenigstens das 
Eine gemeinsam, dafi sie die Anzahl der ethischen Subjekte von der 
der menschlichen Leiber unabhangig macht, ohne freilich zu erken- 
nen, dafi diese Anzahl die komparative, konkurrente Einheit ist. 
Deren Konstituentien sind nur die Menschen - und ihre Briider y 
(z.B. auf andern Sternen). 

Der Begriff der »Neigung«, den Kant fur einen ethisch indifferen- 
ten oder wider-ethischen halt, ist durch einen Bedeutungswandel 
zu einem der hochsten Begriffe der Moral zu machen, in der er viel- 
leicht berufen ist, an die Stelle zu treten, welche die »Liebe« inne 
hatte. < f r 3 5 ) 



Die Spontaneitat des Ich ist durchaus zu unterscheiden von der 
Freiheit des Individuums. Die Frage nach der Willensfreiheit wird 
haufig und falschlich auch auf die Spontaneitat bezogen, so dafi es 
also auch eine Frage nach der Freiheit der Denkakte oder der blofien 
leiblichen Aktionen gebe. Eine solche gibt es aber nicht. Frei kann 
das Individuum nur in Beziehung auf seine Handlungen gedacht 
werden. Die Frage nach der Spontaneitat des Ich gehdrt in einen 
ganz andern (biologischen ? ?) Zusammenhang. ( f r 3 6 ) 



$6 Fragmente vermischten Inhalts 

Der Cynismus 

Im Cyniker lebt keine Moral weil sein Verhaltnis zu dem Mitmen- 
schen wesentlich und einzig auf Opposition beruht. Der Cyniker 
verletzt nicht den Moralismus seiner Mitmenschen, sondern die 
Moral in ihnen. Der Beweggrund seines Verhaltens ist nicht Moral 
sondern Machtwille. Der Schein seines moralischen Interesses 
beruht darauf, dafi er eine bestimmte Art der Verletzung der Moral 
in dem Mitmenschen fur den sichersten Weg erkennt eine Macht 
iiber ihn zu gewinnen, die ihm auf andere Weise wegen seiner Min- 
derwertigkeit unerreichbar bleibt. 

Der Cyniker bestimmt namlich seine Lebensweise in Wahrheit 
nicht von sich aus sondern aus dem Bestreben den Mitmenschen 
durch seine Person unheilbar zu verletzen. Seine Macht findet er in 
der Ohnmacht der Scham des Mitmenschen ausgepragt und befrie- 
digt. Diese verletzt er durch seine Lebensweise und diese Lebens- 
weise ist allein dazu bestimmt. Er weifi dafi die Scham ein Affektist 
der sich nie gegen das richtet was ihn wachruft sondern gegen den 
der ihn hat. Der Cyniker begehrt durch die Ohnmacht andrer stark 
zu sein, die Ohnmacht der andern ist aber nicht ihre Ohnmacht vor 
dem Cyniker, sondern ihre Ohnmacht vor sich selbst. Da sie die 
Wunde ihres Gefuhls{,) die Scham nicht heilen konnen. Der Cyni- 
ker gibt nur das Argernis und lafit am Selbstvorwurf, an der Scham 
dessen, der es nimmt, (sich) geniigen. 

Der Cyniker lebt innerlich davon, dafi er am Edelsten schmarotzt 
und dieses Schmarotzen befriedigt ihn nur, dafi (sic) der Edle lei- 
det. (fr 37 ) 



Soviel heidnische Religionen, soviel naturliche Schuldbegriffe. 
Schuldig ist stets irgendwie das Leben, die Strafe an ihm der Tod. 
Eine Form der natiirlichen Schuld die der Sexualitat, 
an Genufi und an der Erzeugung des Lebens 
Eine andere die des Geldes, an der blofien Moglichkeit zu 
existieren 

Andere Arten der natiirlichen Schuld? 
Jiidisch( :) nicht das Leben, sondern allein der handelnde Mensch 
kann schuldig werden. (Sittliche Schuld. - Ist dieser Ausdruck 
gestattet?) ( f r 3 8 ) 



Zur Moral und Anthropologic 57 

Die drei grossen geistigen Wurzeln der Sunde 

Der Schein der Freiheit in dem Ungehorsam gegen Gottes Gebote 
Der Schein der Selbststandigkeit in der secessio aus der Gemein- 
schaft (der Guten) 
Der Schein der Unendlichkeit in dem leeren Abgrund des Bosen 

<fr 39) 

Uber den »Kreter« 

Der Kreter-Schlufi ist in seiner klassischen griechischen Form 
bekanntlich leicht aufzulosen. Wenn Epimenides sagt, alle Kreter 
seien Liigner und selbst Kreter ist, so folgt daraus keineswegs, dafi 
mit seiner ersten Behauptung Epimenides eine Unwahrheit gesagt 
habe. Denn weder liegt es im Begriffe des Liigners, dafi ein solcher 
jedesmal wenn er den Mund auftut, sich von der Wahrheit entferne, 
noch auch, dafi er, gesetzt er tate dies, gerade das kontrare Gegen- 
teil der Wahrheit aussage, vielmehr kann es beim contradiktori- 
schen bleiben. Es darf also aus den beiden Pramissen nicht der 
Schlufi gezogen werden, dafi alle Kreter die Wahrheit sagen, aus 
dem dann die Folgerung, dafi auch Epimenides mit seiner ersten 
Behauptung sie gesagt habe{,) die ursprungliche erste Pramisse 
wieder herstellen wiirde und so in infinitum fortgefahren werden 
konnte. 

Dagegen lafit sich in Anlehnung an den alten Trugschlufi ein wahr- 
haft fruchtbares Problem exponieren. Urn dieses zu entwickeln, 
sind die Erwagungen, die im vorigen Fall die Losung bedingen, zu 
vereiteln und zu diesem Ende mufi es heifien: Epimenides sagt, dafi 
alle Kreter jedesmal wenn sie den Mund auftun, das kontrare 
Gegenteil von dem sagen, was wahr ist. Epimenides ist ein Kreter. 
Aus diesen Pramissen ware nun in der Tat jene oben gliicklich abge- 
wendete Widerspruchskette in Schlussen und Folgerungen zu ent- 
falten. Zugleich aber erhellt, dafi die syllogistische Form nicht die 
diesem Problem urspriinglich angepafite ist. Vielmehr ist das ganze 
Dilemma in Form einer einf achen Folgerung aus einem Urteil auf- 
zurollen. Und jenes Urteil, in seiner formelhaftesten reduziertesten 
Form hatte zu lauten: »Ausnahmslos jedes meiner Urteile pradi- 
ziert das kontrare Gegenteil von der Wahrheit.* Hieraus ware dann 
in der Tat zu folgern: »Also auch dieses « »Also pradiziert aus- 



58 Fragmente vermischten Inhalts 

nahmslos jedes meiner Urteile wahrheitsgemafi.« »Also auch das 
obige erste.« Wobei mit der Ruckkehr zum Ausgangspunkt der Zir- 
kel stets von neuem angetreten werden miifite. 
Dieser »Trugschlufi« ist intralogisch unauflosbar. 
Hierzu ist zunachst dreierlei zu bemerken. 1) Diirfte dieses Urteil 
aus Quelle unaufldslich ihm widersprechender Folgerungen das 
einzige seiner Art sein. 2) Konstituiert es jene unlosliche Kette von 
Widerspruch im logischen Gebiet, ohne an sich - d. h. im ontologi- 
schen Gebiet - irgendwie unsinnig oder widersinnig zu sein. Viel- 
mehr hatte man sich die Wirksamkeit jenes cartesianischen Geistes 
der Tauschung nur aus der Sphare der Wahrnehmung in die der 
Logik versetzt zu denken, und er konnte seinen Trug garnicht bes- 
ser, ja garnicht anders entfalten, als indem er das fragliche Urteil 
sich zu eigen machte. Also ist dieses Urteil nicht schlechthin wider- 
sinnig. 3) Ist es ohne weiteres klar, dafi jenes Urteil nur im Geiste 
eben dessen, von dem es gilt, zu seinen widerspriichlichen Folge- 
rungen fiihrt, wahrend es von jedem andern iiber den, von dem es 
gilt, dafi jedes seiner Urteile das kontrare Gegenteil von der Wahr- 
heit pradiziere, geurteilt werden kann, ohne zu widerspriichlichen 
Folgerungen zu fuhren. 

Zusammenfassend ist zu sagen: jenes Urteil scheint logisch unan- 
fechtbar zu sein, sofern es keine logische Instanz gibt, welche die 
Rechtmafiigkeit seiner selbst und der aus ihm fliefienden Folgerun- 
gen aufheben konnte. Denn damit der Satz des Widerspruchs diese 
Kraft ausiiben konnte, wurde erfordert, dafi jenes Urteil ein Wider- 
spruch in jedem Sinne ist. Dies ist jedoch, wie oben unter 2) gezeigt 
worden, nicht der Fall. Andererseits besteht dennoch die Forde- 
rung, die Giiltigkeit jenes Urteils zu entkraften. Und zwar sowohl 
im ontologischen wie auch im logischen Bereich. Wahrend es aber 
ontologisch Gegenstand der Discussion nur werden kann, wo sei- 
nem Subjekt eine ontologisch ausgezeichnete Stellung zugebilligt 
werden sollte, wie etwa im Falle des Cartesischen Geistes der Tau- 
schung, mufi die logische Widerlegung unter alien Umstanden, 
wegen der Widerspruche, zu welchen dieser Satz in seinen Folge- 
rungen fiihrt (,) gefordert werden. 

Die logische Unanfechtbarkeit dieses Satzes - denn ist er einmal 
zugegeben, so stehen die Folgerungen fest - mufi sich also als Schein 
erweisen lassen, widrigenfalls die ganze Logik zusammen fallt. Und 
zwar ist hier, wenn iiberhaupt Schein, so echter d.h. objektiver 



Zur Moral und Anthropologic 59 

Schein gegeben. Ein solcher der nicht, wie die moderne Auffassung 
vom Schein einzig es gelten lassen will, aus zufalliger oder notwen- 
diger Unangemessenheit der Erkenntnis an die Wahrheit entsteht, 
vielmehr einer, der nicht in der Wahrheit aufgelost, sondern nur 
durch diese vernichtet werden kann. Mit einem Wort: Schein aus 
einem selbststandigen Prinzip des Scheins, in der Tat aus einem 
Prinzip der Tauschung oder besser : der Luge. Dieser Schein ist, wie 
jenes Kreter-Problem erweist, von so gewaltiger metaphysischer 
Intensitat, dafi er bis in die Tiefen der formalen Logik hinein seine 
Wurzeln zu erstrecken vermag. Er ist also objektiv nicht allein als 
Gegenbild der Wirklichkeit, sondern, da er in einer Sphare ganz 
jenseits derselben noch angetroffen wird, namlich in der formalen 
Logik, objektiv als Gegenbild der Wahrheit. — 
Und wie vermochte er vernichtet zu werden? Innerhalb der Logik 
wie gesagt ist dies nicht, vielmehr nur in der Metaphysik mdglich. 
Und hier hatte die Losung allerdings an die »Ich-Form« des Urteils 
anzuschlieften, die, wie oben gezeigt wurde, konstitutiv fur das- 
selbe ist. Sein logischer Schein konstituiert sich in seiner Subjektivi- 
tat. Hier zeigt sich die Notwendigkeit, Subjektivitat nicht lediglich 
als alogische Instanz in kontradiktorischen Gegensatz zur Objekti- 
vitat und Allgemeingiiltigkeit zu setzen, sondern genauer als den 
kontraren Gegensatz der Objektivitat der Geltung die »Zer-Gel- 
tungstendenz« der Subjektivitat entgegen zu setzen. Subjektivitat, 
so hatte die metaphysische Thesis zur Auflosung jenes logischen 
Scheines zu lauten, ist nicht alogisch, sondern antilogisch. Diesen 
Satz mufi die Metaphysik begriinden. 

Vgl. (A.) Riistow: Der Liigner (Theorie, Geschichte und Auflo- 
sung, 1910) <fr4°> 

Grundlage der Moral 

Das hochste moralische Interesse des Subjekts ist: sich selbst 
anonym zu bleiben. »Seigneur, donnez-moi de contempler mon 
cceur et mon corps sans degout«, heifit es bei Baudelaire. Dieser 
Wunsch ist erfullbar nur, wenn das Subjekt sich selbst anonym 
bleibt. In der guten Tat vermeidet es, die Bekanntschaft mit sich 
selbst zu machen. In der schlechten lernt es sich kennen - und 
griindlich. Die Anonymitat des moralischen Subjekts beruht dem- 
nach auf einem doppelten Vorbehalt. Erstens: von mir habe ich 



60 Fragmente vennischten Inhalts 

alles zu erwarten, mir traue ich alles zu, Und zweitens: ich traue 
mir zwar alles zu, aber ich kann mir nichts nachweisen. { f r 4 1 ) 



NOTIZEN UBER »OBJEKTIVE VeRLOGENHEIT« I 

Objektive Verlogenheit ist: nicht die Situation der Entscheidung 
erkennen. 

Dies als Prinzip der praktischen (nicht theoretisch-dogmati- 
schen) katholischen Autoritat, der Rechtsprechung in der Kir- 
chendisziplin und des Beichturteils. (Im Islam: kedman) Katholi- 
sche, schlechte, Verschiebung des jiingsten Gerichts (namlich der 
Entscheidung); jiidischer, guter, Aufschub des jiingsten Gerichts 
(siehe Scholems Notizen uber Gerechtigkeit) 
Warum »objektive« Verlogenheit? 1) Sie herrscht objektiv weltge- 
schichtlich in dieser Zeit. Alles was nicht ganz grofi ist, ist in uns- 
rer Zeit unecht. 2) Es ist nicht die subjektive, vom Einzelnen klar 
verantwortete Luge. Sondern dieser ist »bona fide«. 
Versuch einer Disposition 
I Die Luge 
A Begriffliche Untersuchungen 

1 Richtigkeit - Unrichtigkeit 

2 Wahrheit - Unwahrheit (»eine« Unwahrheit) 
B Wahrheit und Luge 

1 Wahrheit und Rede 

2 Die Luge (»die« Unwahrheit) 
C Unrichtigkeit [und Unwahrheit] 

1 Unwahrheiten als Formen gewaltloser Konvention 

2 Unwahrheiten als blanke Waffen (Kinder, Frauen) 
D Richtigkeit als »Verrat« 

II Die objektive Verlogenheit 
Sehr reiner Typus der objektiven Verlogenheit des Zeitalters: der 
»falsche Bote« in Borchardts Verkundigung 
Zur Luge: Knut Hamsun: Der Erzschelm (in »Sklaven der 

Liebe«) 

Maxim Gorki: Erinnerungen an Tolstoi / Joh. Bojer: 

Die Macht der Luge (?) 

Liliencron: Leben und Luge / Nietzsche 



Zur Moral und Anthropologic 61 

Anatole France: »dans cet Orient, terre du mensonge« 

Le genie latin p 2 

R. von Ihering: Der Zweck im Recht Bd II (wich- 

»Ich verkehre nicht mit jemandem, der seine Ehrlichkeit nach 
auflen verlegt.« Fritz Heinle 

Eine Untersuchung iiber den Wert, die Macht und die Notwendig- 
keit der Schmeichelei gehort hierher. Die Schmeichelei die grofite 
weltliche Macht neben dem Gelde oder nach ihm. - Auch Lob der 
Klugheit in diesem Zusammenhange. 

Nur Menschen, die frei von Ehrlichkeit sind, konnen wahrhaft ver- 
zeihen - so namlich, dafi sie das Angetane vergessen. 
Die Kunst des Widerrufens. - »Ich nehme alles zuriick und 
behaupte das Gegenteil.« Musterhaft Fenelons Widerruf nach sei- 
ner Verurteilung durch den romischen Stuhl in der Kontroverse mit 
Bossuet. - Die Verleugnung seiner eigensten Uberzeugung als der 
Ausdruck innrer Vornehmheit und Klarheit. - Was vermag zuletzt 
mein eignes Wissen? - Und ist selbst mein auflerstes und klarstes 
Wissen den Preis meines Lebens wert? Diese Fragen sind entschei- 
dend. Die jiidische Anschauung verwirft die Propaganda, und das 
Einsetzen des eignen Lebens fur ein Wissen lafk sich nie, fur einen 
Glauben nur in aufierster Bedrangnis wagen. Nur Biifien oder Dul- 
den, nie der Geist darf das Leben in die Schanze schlagen. 
Die Verleugnung ist gerade der tiefsten Uberzeugung adaquat. 
Gegenstand der Uberzeugung ist namlich einzig das bestimmende 
Wissen. Dieses Wissen, welches die Okonomie des moralischen Le- 
bens bestimmt, unterscheidet sich dadurch von allem andern, dafi es 
nicht in Motivzusammenhange eintreten kann. Wenn ich also 
Zeuge einer unmoralischen Handlung bin, so wird, je tiefer meine 
Uberzeugung von deren Unmoral ist, desto weniger es mir gegeben 
sein, mich iiber sie moralisch zu entriisten, weil das bestimmende 
desjenigen Wissens, welches Gegenstand meiner Uberzeugung ist, 
es verhindert, daft dieses als Gegenstand in meine Argumentation 
eintritt. Das bestimmende Wissen kann mich den Wissenden sei es 
(durch) Fremde, sei es nur durch mein Wesen, nicht durch meine 
Worte, nur ausdruckslos nicht ausdriicklich, nicht motivartig 
bestimmen. Da nun im Innersten der Uberzeugung je inniger sie ist, 
desto tiefer die Klarheit iiber das Romantische, Dunkle ihres 
Wesens waltet, so wird gerade die tiefe Uberzeugung am wenigsten 



6l Fragmente vermischten Inhalts 

das bestimmende Wissen an die Stelle des gebietenden setzen, am 
wenigsten das Menschliche fiir Gottliches erklaren. Dies fiihrt 
dahin, dafi der Uberzeugte stumm wird und nur im tiefsten Ver- 
schweigen, also wahrend er das Unsittliche mit Worten billigt, sei- 
ner Uberzeugung gerecht wird und demnach, durch die Art des 
Billigens tiefer als durch verwerf ende Worte verurteilt. Im bestim- 
menden Wissen wohnt Wahrheit: sie wirkt der Intention der 
Erkenntnis entgegen und entbietet gegen das Ausdriickliche das 
Schweigen. / Die Uberzeugung ist wie die Hoffnung, wie die Aus- 
sdhnung, eines jener durchaus menschlichen moralischen Phano- 
mene, an deren Leben das kontemplative Genie Anteil hat. Der 
Banause kennt keine Uberzeugung. Er verurteilt die Verleugnung. 
Er kann nicht liigen. { f r 42 ) 

NOTIZEN ZU EINER ARBEIT UBER DIE LtJGE II 

Vergleich: Die Tatsachen (Sachverhalte) sind Schlangen (einem 
Lebendigen) vergleichbar, die man nicht tatscheln darf . Man mufi 
den Weg vermeiden wo Schlangen liegen, darf sie nicht beruhren, 
wenn man nicht bereit ist, ihnen mit dem bemannten Blick des 
Magiers ins Auge zu schauen; so darf man nicht die Sachverhalte 
beruhren, wenn es nicht mit der letzten und strengsten Intention 
auf Wahrheit geschieht. Andernfalls hat man sie zu umgehen. 
Die Luge ist diatetische Lebensnotwendigkeit fur jeden Menschen, 
dem nicht standig ohne Unterbrechung die letzte strenge Intention 
auf Wahrheit gegenwartig ist. Werden ohne sie die Sachverhalte 
beriihrt, so entsteht eine Verschmutzung und Verstopfung des 
Lebens. Nicht zufallig, da8 das schrankenlose AHes-Heraus-Sagen 
sich nicht selten bei Menschen findet, die auch aufterlich unreinlich 
sind (Vegetarier-Typus){;) Gegensatz hierzu der aufierlich ge- 
pflegte Typus des Diplomaten. 

Wahrend jedenfalls die Sachverhalte nicht ohne die Intention auf 
Wahrheit beriihrt werden diirfen, ist umgekehrt es moglich, dafi 
jene Intention, um die Wahrheit zu treffen, zur Luge (nicht 
Unwahrheit) greifen kann. So etwa in einem sittlich gerechtfertig- 
ten Fall des Auf-die-Probe-Stellens: jemand, um die Wahrheit noch 
zu ihrem Recht kommen zu lassen, bezichtige sich falschlich, um 
dem andern die notwendige, sonst nicht mogliche Gelegenheit zur 
Verzeihung zu geben. Oder: der Fall der sexuellen Aufklarung ist 



Zur Moral und Anthropologic 63 

dafiir typisch, wie das Treffen (Aufklatschen) auf die Sachverhalte 
die Intention der Wahrheit vereiteln kann. 
Zu unterscheiden: Wahrheit - Un wahrheit von 

Richtigkeit- Falschheit. Das Wort »Luge« steht 
sowohl fiir Falschheit in Angaben als fiir Unwahrheit, es deckt nur 
im letztern Falle ein moralisch Negatives, dagegen ist es im ersten 
Falle, wenn dieser nicht in Tateinheit mit dem letzten liegt, positiv. 
Und wie sich unter gewissen Bedingungen Falschheit in den Anga- 
ben mit Wahrheit vertragt, so auch Richtigkeit mit der Unwahrheit. 
(Dies sichtbar am Beispiel von der sexuellen Aufklarung) Ebenso ist 
Unwahrheit durchaus moglich in Verbindung mit der sogenannten 
bona fides, welche fiir den modernen Menschen aufierordentlich 
leicht beschaffbar ist (anders beim mittelalterlichen) { . ) Unwahr- 
heit in Verbindung mit Richtigkeit und (oder) bona fides konstitu- 
iert die »objektive Verlogenheit* im Gegensatz zur (guten oder 
schlechten) subjektiven Luge. 
Definition der Unwahrheit bleibt noch zu geben. 
Die Luge ist nicht in den zehn Geboten untersagt(.) 
Die Unschuld der Luge dargelegt an gewissen Liigen von Kin- 
dern{.) 

Notwendigkeit der Luge als Priifstein des Rechts der autoritaren 
Gewalten - der staatlichen, der elterlichen Gewalt. Diese Gewalten 
sind nur echt, wenn sie der Luge sich iiberlegen erweisen, welche 
andernfalls in deren Bekampfung solange legitim ist, als sie Erfolg 
hat. Nicht die Forderung der Wahrheit, wohl aber die der Ehrlich- 
keit ist grundsatzlich als Sachwalterin ohnmachtiger und daher 
unberechtigter Autoritaten zu bestreiten. Uberall verrat die Unord- 
nung der Ehrlichkeit einen faktisch und sittlich unhaltbaren 
Anspruch des Fordernden. - Andrerseits aber denunziert sich jed- 
wede revolutionare Bewegung, welche nicht die Luge methodisch 
ihren Anhangern als Grundlage ihres Kampfes zur Pflicht macht als 
unfrei und von den gefahrlichsten Suggestionen der Machthaber 
fasziniert. Diese sind die Anmutung der Ehrlichkeit sowie des soge- 
nannten Mutes der Uberzeugung an den Gegner. Beide laufen nur 
darauf hinaus, diesen wehrlos in ihre Hande zu lief em. Die todes- 
mutige Bekenntnisbereitschaft ist einzig und allein in den Dingen 
des Bekenntnisses selbst an ihrem Orte. Es gibt nur ein religioses, 
kein politisches Marty num. Im Bereich der Politik ist vielmehr fiir 
den Tatigen die Wahrung des eignen Lebens und dessen seiner 



64 



Fragmente vermischten Inhalts 



Freunde eine unerlafiliche Maxime. Jede Rebellion, insbesondere 
jeder Anarchismus, der jenen zum Schutze der Gesellschaft aufge- 
stellten moralischen Idolen Tribut zollt, ist selbst den Ideologien 
jeder ihrer Borniertheiten verpflichtet: ist nur ein umgekehrter, 
aber ebenso fibelhafter Patriotismus. 

Die Luge hat eine konstitutive Beziehung zur Rede (sodafi Luge 
durch Schweigen unsittlich ist). Die Wahrheit hat eine solche Bezie- 
hung nicht zur Rede, sondern zum Schweigen. (fr 43 ) 



Adinrvfitty 




<fr44> 



PSYCHOLOGIE 

Ein Grunddogma der heutigen Wissenschaft ist, dafi Wahrheit iiber 
jedes beliebig eingeschrankte Gebiet zu ermitteln sei (Spezialisten- 
tum). Dafi endlich durch maximale Einschrankung des Gebietes 
Wahrheit sich gleichsam von selbst mechanisch ergabe, gleichsam 



Zur Moral und Anthropologic 65 

als ob in lebendigen Zentren durch Kontraktion von aufien Bewe- 
gung ausgelost werde. Gewisse Einschrankungen sind jedoch der 
Wahrheit feindlich und eine solche unwahre Einschrankung und 
Gebietsdefinition liegt z.B, der Psychologie zugrunde. Eine ihrer 
Hypothesen in jeder ihrer Gestalten lautet: der Mensch ist unter 
Abstraktion von seiner moralischen Bestimmung erkennbar. Die- 
ser Satz ist, so scheinbar er sich macht, falsch. 
Jede bisherige Psychologie und jede Forschungsweise, welche sich 
versucht fiihlen kann, ihren Namen anzunehmen, fiihrt in ihren 
erkenntnistheoretischen oder allgemeinern philosophischen Vor- 
aussetzungen ins Bodenlose. Sie erhebt namlich zuletzt die Frage: 
wie kommen im Menschen seehsche Verhaltungsweisen zu Stande? 
Diese Frage ist in zweifacher Hinsicht falsch. Erstens gibt es keine 
seelische Verhaltungsweise im Sinne irgend einer von Grund aus 
von leiblicher wesensverschiednen, oder auch nur in ihrer Erschei- 
nung wesensverschiednen. Die angebliche Differenz, daft fremdes 
Seelenleben uns im Gegensatz zum eignen nur mittelbar durch 
Deutung fremder Leiblichkeit gegeben sei(,) besteht nicht. Frem- 
des wie eignes Seelenleben ist uns unmittelbar und zwar immer in 
einer bestimmten Verbindung oder mindestens auf einem bestimm- 
ten Grunde von Leiblichkeit gegeben. Fremdes Seelenleben wird 
nicht prinzipiell anders als eignes wahrgenommen, es wird nicht 
erschlossen, sondern im Leiblichen, das ihm als Seelenleben zuge- 
hort, gesehen. Nur die Grade des In-Erscheinung-Tretens von 
Leiblichem sind verschieden. Folglich ist der Gegenstand der Psy- 
chologie nicht die Welt der Selbstwahrnehmung. Aber eine Wahr- 
nehmungswelt freilich. Und nur das. Die Psychologie ist sozusagen 
(wenn namlich dies eine endgiiltige erkenntnistheoretische Katego- 
rie ist) eine beschreibende Wissenschaft, keine erklarende. Die 
Wahrnehmung, die in ihr beschrieben ist, ist eine reine, und zwar 
die reine (apokalyptische) Wahrnehmung vom Menschen. Desjeni- 
gen am Menschen, was nach der moralischen Katastrophe, nach der 
Umkehr und Reinigung in ihm ubrig bleibt. Dies ist nichts »Innerli- 
ches« {- i)nnerlich ist nut das Moralische (und auch dieser Satz ist 
naturlich eine Metapher) (-), sondern etwas Aufterliches: seine 
Wahrnehmung, die er den Mitmenschen gibt. Diese aber ist erst 
rein, erst aufierlich, erst ganz wahrnehmbar und also erst ganz 
Wahrnehmung nach der moralischen Restitution des Menschen. 
Also ist die Voraussetzung der Psychologie die Moral, die Kon- 



66 Fragmente vermischten Inhalts 

struktion des reinen Menschen setzt die Lehre von gereinigten 
unbedingt voraus. 

Die Beziehung der Menschengestalt zur Sprache d.h. wie Gott 
sprachlich ihn gestaltend in ihm wirkt ist der Gegenstand der Psy- 
chologic Hierher gehort auch das Leibliche, indem Gott unmittel- 
bar - und vielleicht unverstandlich - sprachlich in ihm wirkt. 

»Was die wache Seele irr durchlief 

Ward schon reiner Schein aus meinen Landen.« 

Weil die Sprache der Kanon der Wahrnehmung ist und der wahr- 
nehmbare Mensch der Gegenstand der Psychologies,) ist die 
Beziehung der Menschengestalt zur Sprache der Gegenstand der 
Psychologic Diese ist(,) solange das Moralische problematisch 
bleibt(,) verborgen. (Wenn ich mit einem Menschen spreche, und 
es steigt ein Zweifel an ihm in mir auf , triibt sich sein Bild, ich sehe 
ihn noch, aber ich kann ihn nicht mehr wahrnehmen). { fr 45 ) 

Zum Wahrnehmungsproblem 

In Berlin sagt man in familiarer Ausdrucksweise von jemandem, 
den man fiir unzurechnungsfahig halt: der gehort nach Dalldorf, in 
Wien: . . . nach Steinhof, in Paris spricht man im gleichen Sinne von 
Charenton. Uberall ist also die Anschauung noch lebendig geblie- 
ben, dafi die Ausstofiung aus der Gemeinschaft, der vollige Zerfall 
zwischen Gemeinschaft und Einzelnem Menschen wesentlich an 
der Geisteskrankheit sei. Auch befinden sich die Anstalten fiir die 
Kranken vielleicht auch mit aus diesem Grunde nicht, wie andere 
Krankenhauser, innerhalb der Stadte. 

Sonntagskinder im Marchen sehen Zaubergarten wo andern Leuten 
nichts auffallt, sie stofien auf Schatze wo andere achtlos voruberge- 
hen. Dies kann nicht so verstanden werden, dafi die Zaubergarten 
oder Schatze sich selbst fiir andere Menschen unsichtbar, fiir Sonn- 
tagskinder aber sichtbar machen, oder dafi plotzlich vor solchen 
Dingen die Wahrnehmung anderer Wesen ermattet, die der Sonn- 
tagskinder aber sich steiger(t). Sondern die einzig mogliche Mei- 
nung solcher Stellen ist, dafi Sonntagskinder iiberhaupt eine andere, 
glucklichere, Wahrnehmung hatten als Alltagsmenschen, ohne dafi 
eine von beiden falsch, daher auch ohne dafi eine von beiden wahr 



Zur Moral und Anthropologic 6y 

sei. Die Wahrnehmung wird nicht von dieser Alternative be- 
troffen. 



Wahrnehmung und Leib 

Wir sind durch unsere Leiblichkeit, letzten Endes am unmittelbar- 
sten durch unsern eignen Leib, in die Wahrnehmungswelt, also in 
eine der hochsten Sprachschichten hineingestellt. Jedoch blind, 
unvermogend zumeist, hier wie da Naturleib(,) Schein von Sein 
nach Maften der messianischen Gestalt zu scheiden. Sehr bedeutsam 
ist es, dafi uns der eigne Leib in so vieler Beziehung unzuganglich: 
wir konnen unser Gesicht, unsern Riicken nicht sehen, unsern gan- 
zen Kopf nicht, also den vornehmsten Teil des Leibes, wir konnen 
uns nicht mit den eignen Handen aufheben, konnen uns nicht 
umschlingen u.a.m. Wir ragen in die Wahrnehmungswelt gleich- 
sam mit den Fuften hinein, nicht mit dem Haupt. / Daher die Not- 
wendigkeit, daft im Augenblick der reinen Wahrnehmung unser 
Leib sich uns verwandle; daher die erhabne Qual des Exzentrischen 
an seinem Leibe. 

Es gibt eine Geschichte der Wahrnehmung, welche zuletzt die 
Geschichte des Mythos ist. Nicht immer war der Leib des Wahr- 
nehmenden nur die Vertikalkoordinate zur horizontalen der Erde. 
Schon der nur allmahlich errungene aufrechte Gang des Menschen 
lafit fruhere andersartige Wahrnehmungsarten absehen. Aber auch 
im iibrigen ist dies moglich und notwendig. Nicht immer wird das 
Wissen um gemessene Distanzen die Gesichtswahrnehmung be- 
herrscht haben (Fall eines Kindes(,) das ohne Greiforgane an 
einem Ort unbeweglich(,) sich seine Gesichtswelt bilden wiirde: 
andere Hierarchie der Enriernungen){ . ) Die Geschichte der Wahr- 
nehmung kommt aus den Elementen der Naturveranderung und 
der Veranderung des Leibes zustande, aber erst sie gibt diesen die 
geistige Bedeutung und Kronung (Bewaltigung, Synthese()) im 
Mythos. In ihm erbauen und wandeln sich langsam die grofien 
Dispositionen der Wahrnehmung, welche die Art bestimmen, wie 
zu einander Leib und Natur stehen: rechts, links - oben, unten- 
vorn, hinten. { fr 46) 



68 Fragmente vermischten Inhalts 

Zwei Gatten sind Elemente, zwei Freunde die Fiihrer der Ge- 

meinschaft. 

Die Freundschaft gehort in die Ordnung geniushafter Einsamkeit. 

In die anarchische. -Nur dort hat sie die ihrem Wesen gemafie herr- 

schende Stellung. 

Freundschaft und Liebe sind in sich nicht verschieden, nur in ihrer 

Stellung zur Gemeinschaf t. Und aufierdem freilich darin daft es kein 

Sakrament gibt das Freundschaft in die gottliche Ordnung iiber- 

fiihrt. Dies ist das (B)eispiellose, das was die Freundschaft gefahr- 

lich macht: ein sakramentloses Wahlverhaltnis. 

Die moderne Gesellschaft kennt Freundschaft iiberhaupt nicht, sie 

ist dem Griechentum eigen, in dem der Genius zur reinsten histori- 

schen Gestalt kam. Auch in seiner Mythologie spielt sie eine Rolle. 

Spielt sie im Judentum eine Rolle? 

Was heute Freundschaft heifit verdient diesen Namen nicht. Es 

mufite an der heutigen pseudoreligiosen (ja aber auch an der religio- 

sen?) Ordnung zu Grunde gehen. 

Wie stehen Freundschaft und Liebe in der Ordnung des Genius zu 

einander? 



Uber die Ehe 

Der Eros, die Liebe hat die einzige Richtung auf den gemeinsamen 
Tod der Liebenden. Sie spult sich ab, wie der Faden in einem Laby- 
rinth, das sein Zentrum hat in »des Todes Kammer«. Nur dort tritt 
in die Liebe die Wirklichkeit des Geschlechtes ein, wo der Todes- 
kampf selbst zum Liebeskampfe wird. Das Geschlechtliche an sich 
selbst dagegen flieht den eignen Tod wie das eigene Leben und 
blindlings ruft es fremden Tod wie fremdes Leben auf dieser Flucht 
hervor. Sie geht ins Nichts, in jenes Elend, wo das Leben nur ein 
Nicht-Tod und der Tod nur ein Nicht-Leben ist. So mufi das Boot 
der Liebe hindurch zwischen der Scylla des Todes und der Charyb- 
dis des Elends und vermochte dies nimmermehr wenn nicht Gott an 
dieser Stelle seiner Fahrt es verwandelnd unzerstorbar machte. 
Denn wie die Sexualitat der werdenden Liebe ganz fremd, so mufi 
sie der wahrenden ganz eigen sein. Niemals ist sie die Bedingung 
ihres Seins und stets die ihrer irdischen Dauer. Gott aber macht in 
dem Sakramente der Ehe die Liebe gegen die Gefahr der Sexualitat 
wie gegen die des Todes (gefeit). Der Gefahr der Geschlechtlich- 



Zur Moral und Anthropologic 69 

keit namlich iiberhebt er die Gatten, weil er sie zu bejahen, genauer 
sie zu verantworten sie iiberhebt. Denn der Mensch vermag nicht 
seine Triebe zu verantworten, und auch niemals ganz dasjenige was 
sie ihn tun heiften. Aber fiir die Sexualitat spricht nur in der Ehe die 
Gatten Gott der Verantwortung ganz ledig, und so bleibt uberall 
aufier derselben die ungeheure Gefahr der Sexualitat, die doch zum 
Leben gehort und durch die selbst der Pfad der Askese nur den 
Frommen sicher hindurchfiihrt. 

(Was in jener geheimnisvollen Verwandlung der Liebe durchs 
Sakrament das Bleibende ausmacht, ist das Weibliche.) (fr 47) 

Uber die Scham 

Auf die geheimste Bedeutung der Rote, welche mit der Scham uber 
den Menschen kommt, fuhrt die folgende Bemerkung von Goethe: 
»Wenn bei Affen gewisse nackte Teile bunt, mit Elementarfarben, 
erscheinen, so zeigt dies die weite Entfernung eines solchen Ge- 
schopfs von der Vollkommenheit an: denn man kann sagen, je edler 
ein Geschopf ist, je mehr ist alles Stoffartige in ihm verarbeitet; je 
wesentlicher seine Oberflache mit dem Innern zusammenhangt, 
desto weniger konnen auf derselben Elementarfarben erscheinen. 
Denn da, wo alles ein vollkommenes Ganzes zusammen ausmachen 
soil, kann sich nicht hier und da etwas Spezifisches absondern.« 
(Farbenlehre Didaktischer Teil 666.) Die erhabne Unbestimmbar- 
keit, ja Unscheinbarkeit mit der unter alien ubrigen Wesen, was die 
Farbe angeht, der Mensch auftritt, von dem sich in diesem fast ent- 
farbten Tone seines Korpers die Natur fast zuruckzuziehn und in 
dem wiederum ihre Anmut mehr zu triumphieren scheint als in der 
Pracht, wird in der Rote der Scham vernichtet. Aber nicht durch 
niedere Gewalt. Denn jene Rote der Scham befleckt die Haut nicht, 
in ihr erscheint nicht innerer Zwiespalt, innere Zersetzung auf der 
Oberflache. Sie kiindet garnichts Innerliches an. Tate sie's so ware 
sie wahrlich wiederum Anlaft genug zu neuer Scham, des so in sei- 
ner hinfalligen Seele entdeckten Menschen, anstatt - wie sie's in 
Wahrheit doch ist - mit ihrer Rote alien Grund der Scham, alles 
Innere verloschen zu machen. Die Schamrote steigt nicht aus dem 
Innern hoch (und jene aufsteigende Rote der Scham von der man 
zuweilen spricht ist nicht in dem, der sich schamt), sondern von 
aufien von oben her ubergiefk sie den Beschamten und loscht in ihm 



JO Fragmente vermischten Inhalts 

die Schande und entzieht ihn zugleich den Schandern. Denn in jener 
dunklen Rote, mit der die Scham ihn iibergiefit, entzieht sie ihn wie 
unter einem Schleier den Blicken der Menschen. Wer sich schamt 
der sieht nichts, allein auch er wird nicht gesehen. 
Diese wunderbare Macht der Scham zeigt in der Farbe sich sichtbar. 
Was unterscheidet ihre Rote von jenen bunten denunzierenden Far- 
ben der Natur, die Goethe beim Affen erkannte und denen der 
menschliche Korper so sehr entzogen ist, dafi es einer tiefen gehei- 
men Beziehung fahig ist, wenn in Hogarths pedantischer »Analyse 
der Schonheit* zu lesen ist: »Um Verwirrungen zu vermeiden und 
weil ich schon genug iiber den zuriickgehenden Schatten gesagt 
habe, will ich jetzt nur die Natur und Wirkung der ersten Tonung 
der Fleischfarbe beschreiben, Denn die Zusammensetzung dieser 
Farbe, wenn sie recht verstanden wird, umschliefit alles, was von 
der Farbe eines jeden Gegenstandes iiberhaupt gesagt werden 
kann.« (ed. Leitner p 1 8 1) Was unterscheidet die Schamrote von der 
bunten Scham eines Affen und was den Ton der menschlichen Haut 
von dem einer tierischen? Goethe bemerkt, dafi die Farben an den 
organischen Wesen Ausdruck ihres Inneren sind. Das bedingt eine 
sehr merkwurdige, eigentumliche und in gewisser Hinsicht trii- 
bende Veranderung des Grundwesens der Farbe in der organischen 
Welt. Triibend: weil es dem reinen Wesen der Farbe nicht ent- 
spricht Ausdruck eines Farbigen, Ausdruck vom Innern eines Far- 
bigen zu sein. Denn der reine Ausdruck, die reine Bedeutung, die 
reine »sinnlich-sittliche Wirkung« wie Goethe sagt, haftet an der 
Farbe, nicht an der Farbung. Und noch genauer: nicht an der Far- 
bung, nicht auch durchaus an der Farbe, im tiefsten Grunde viel- 
mehr an dem Farbenden. Nicht am blauen Ding, nicht am toten 
Blau, sondern am blauen Schein, am blauen Glanz, am blauen 
Strahl. Diese drei halten und enthalten von der Farbe das einfa- 
che(?) Geistige. Sie aber erscheinen als Glanz und Schein in der 
organisch tieferstehenden Welt der Pflanzen viel reiner, als in der 
hohern der Tiere. Der Strahl aber schiefk nur aus der anorganischen 
auf und aus der hochsten organischen: aus der Sonne und aus dem 
Antlitz. Als Strahl aber ist die Farbe niemals Ausdruck eines 
Innern, sondern stets seine Wirkung. Und mag sie als Schein und 
Glanz Ausdruck sein, so verrat sie, je reiner sie es ist, desto weniger 
vom Innern, wie eben in der Welt der Pflanzen sichtbar wird. Je 
mehr hingegen die Farbe dennoch Ausdruck des Innern wird und je 



Zur Moral und Anthropologic 71 

weniger sie das Licht der Oberflache bleibt, desto triiber erscheint 
sie desto ungeistiger. So an den meisten Tieren. Nirgends aber, 
weder an Tieren noch Pflanzen, weder auf getriibten noch glanzen- 
den Farben kann das farbende Licht erscheinen, allein auf dem 
Menschenantlitz, wenn es zu strahlen ganz aufhdrt, versammelt es 
sich mit der dunklen Rote. Die Farbe der Scham ist rein: ihr Rot ist 
nicht Farbiges noch Farbe sondern Farbendes. Es ist das Rote der 
Vergangnis von der Palette der Phantasie. Denn jenes eigentliche 
reinste Farbende Licht ist kein anderes als das farbige, vielfarbige 
der Phantasie, Ihr eignen die Farben, in denen ein Wesen erscheint, 
ohne Ausdruck eines Innern zu sein. Und erst diese farbige Erschei- 
nung ist rein und wirkt um dessentwillen unvergleichlich machtig: 
nicht aufs Verstehen, dem sie nichts verrat, sondern auf die Seele, 
der sie alles sagt. Ausdruckslos bedeutende Erscheinung ist die 
Farbe der Phantasie. Ausdruckslos bedeutende Erscheinung des 
Vergehens die Rote der Scham. { fr 48 } 



Tod 

Das Individuum stirbt, d.h. es geschieht eine Streuung; das Indivi- 
duum ist eine unteilbare aber unabgeschlossene Einheit, Tod ist im 
Bereich der Individualist nur eine Bewegung (Wellenbewegung). 
Das historische Leben vergeht immer an irgend einem Ort; es ist 
aber das unsterbliche im ganzen. Auf das scheinbar game (ge- 
schlossne) Individuum kommt es nicht an. Dieses ist die eigentliche 
wahre Meinung der Seelenwanderung(.) 
Die Person wird Petrefakt(.) Greisentum. 
Treue wahrt nur die Person (.) 
Der Mensch wird frei{.) 

Der Leib vergeht, zerspringt als Manometer, das im Augenblick der 
hochsten Spannung gesprengt wird und mit dem Auseinanderfall 
der Bindung hinfallig, uberfliissig wird. { fr 49 ) 

Zu Ignatius von Loyola 

Die jesuitische Askese scheint, nach den Exercitien des Loyola zu 
schlie&en, ihr Eigentiimliches weder in der Pein des Fleisches noch 
des Gewissens zu haben, sondern in der des Bewuikseins. Dieses 
kann namlich, und zwar nur in Stellvertretung moralischer Ausein- 



72 Fragmente vermischten Inhalts 

andersetzung, Reinigung und Klarung, eine eigentiimliche Qual, 
als Bufiqual aus sich entwickeln. So verfahrt es im Zwangsgriibeln, 
Zwangsdenken, Zahlzwang des Neurotikers. Und genau wie bei 
diesem liegt die asketische Qual der Exercitien nicht in dem ernsten 
oder brennenden Gehalt dessen, was da bedacht wird, sondern in 
der bis zum (M)afilosen gesteigerten Qual der intentio selbst. 
Diese Qual des intellectualen Bewufitseins ist durch ihre vollige 
Substanzlosigkeit zur autoritaren Reglung pradestiniert. Sie hat 
kein Verhaltnis mehr zum Wesen des Menschen und sie entsiihnt, je 
nachdem wie man es ansehen will, mystisch oder mechanisch wie 
ein Sakrament. Die in jene rein intentionale Zone verlegte Spannung 
der Bufiqual lafit zugleich das moralische Leben in einer gewissen 
Stumpfheit beruhen, in welcher es nicht mehr auf eigne Impulse 
sondern auf sorgfaltig ausgewogene Reizungen der geistlichen 
Autoritat reagiert. ( f r 5 o ) 

Uber Liebe und Verwandtes. (Ein europaisches Problem) 

(Uber die Ehe s. im andern Heft (s.o., 68 f.)) Diese Zeit nimmt teil 
am Vollzuge einer der gewaltigsten Revolutionen, welche es im 
Verhaltnis der Geschlechter gegeben hat. Nur aus dem Wissen um 
dieses Geschehen kann einer befugt sein, heute liber Erotik und 
Sexualitat zu handeln; denn dabei ist die Einsicht unerlafilich, dafi 
jahrhundertealte Formen und damit gleich alte Erkenntnis der 
Beziehung der Geschlechter giiltig zu sein aufhoren. Nichts steht 
dieser Einsicht machtiger im Wege als die Meinung von der Unver- 
anderlichkeit jener Beziehung in ihren tiefern Schichten, der Irrtum 
dafi von Wandlungen, von Geschichte nur die ephemeren Formen, 
die erotischen Moden betroffen waren, weil der tiefere und ver- 
meintlich unveranderliche Grund darunter die Domane ewiger 
Naturgesetze sei. Aber wie auch nur den Umkreis dieser Fragen 
ahnen und nicht wissen, dafi die Revolutionen in der Natur die 
gewaltigste Bezeugung der Geschichte sind? Mag in aller vor-apo- 
kalyptischen Welt ein Bodensatz und Urgrund unveranderlichen 
Lebens wohnen, so liegt doch dieser unendlich viel defer, als die 
banale Phraseologie derer ahnen lafit, die uber den ewigen Kampf 
der Geschlechter zu schreiben pflegen. Mag selbst dieser Kampf zu 
dem ewigen Bestand gehoren, so sicherlich nicht darum seine For- 
men. Woran aber er vielleicht immer sich entziindet und entziinden 



Zur Moral und Anthropologic 73 

wird, das ist die im Weib gegebne Einheit von Erotik und von 
Sexualitat, welche da auf Grund der traurigsten Verschleierung 
naturlich scheint, wo der Mann sie nicht, in einer schopferischen 
Liebe ohnegleichen(,) als ubernatiirlich zu erkennen vermag. Und 
immer wieder entbrennt aus diesem seinen Unvermogen der 
Kampf, wenn die historischen Formen solcher Schopfung, wie auch 
heute wieder, abgestorben sind. Demi unfahig wie nur je scheint der 
europaische Mann jener Einheit des weiblichen Wesens gegeniiber- 
zustehen, welche alien Wachen und Bessern seines Geschlechtes 
fast ein Grauen abzwingt, da auch sie der Einsicht in den hohern 
Ursprung jenes Wesens verschlossen (bleiben), wo sie es als uber- 
natiirlich nicht sehen, als natiirlich blindlings fuhlen und fliehen 
mussen. Und eben unter dieser Blindheit des Mannes verkiimmert 
das ubernaturliche Leben des Weibes zum naturlichen und als sol- 
ches zugleich unnatiirlichen. Denn dieses allein entspricht der selt- 
samen Zersetzung, die heute von den Urtrieben des Mannes her das 
Weibliche nur unter den simultanen Bildern der Dime und der 
unberiihrbaren Geliebten zu erfassen vermag. Diese Unberiihrbar- 
keit aber (ist) ihm ebensowenig unmittelbar seelisch gesetzt wie 
das niedrige Begehren, auch sie (ist) im tiefsten triebhaft und geno- 
tigt, so dafi - wenn heute wie einst das grofie giiltige Symbol fur die 
irdische Dauer der Liebe die eine, die einzige Liebesnacht ist vor 
dem Tode {-) dies, wie friiher die Nacht des Besitzes, so heute die 
Nacht der Ohnmacht und Entsagung geworden ist, das klassische 
Liebeserlebnis der jiingren Generation und giiltig - wer weifi auf 
wieviele Generationen hinaus? Beides aber, Ohnmacht wie Begier, 
ein neuer, unerhorter Weg des Mannes, dem der alte Weg, durch 
den Besitz des Weibes zur Erkenntnis fiihrend verstellt ist und der 
den neuen sucht, durch dessen Erkenntnis zu seinem Besitze zu 
kommen. Aber: similia a similibus cognoscentes. So sucht er sich 
dem Weibe ahnlich, ja ihm gleich zu machen. Und hier setzt die 
ungeheure und im tiefern Sinne fast planmafiige Metamorphose des 
Mannlichen ein, als eine der grofiten, welche je gewesen sein 
mogen: die Verwandlung der mannlichen Sexualitat in die weibliche 
durch den Durchgang durch das Medium des Geistes. Nun ist es 
Adam der den Apfel bricht, aber er ist der Eva gleich. Die alte 
Schlange kann verschwinden und im wieder gerein{i)gten Garten 
Eden bleibt nichts zuriick als die Frage ob er das Paradies ist oder 
die Holle. 



74 Fragmente vermischten Inhalts 

Der Blick verliert sich im Dunkel jenes grofien verwandelnden Stro- 
mes der menschlichen Physis, in eine Zukunft, der es vielleicht 
gesetzt ist, von keinem Propheten durchdrungen, von dem Gedul- 
digsten aber errungen zu werden. Hier fliefit der dunkle Strom, der 
heute fur die Edelsten das vorbestimmte Grab sein kann. Dariiber 
aber ftihrt der Geist als die einzige Briicke, die ihn iiberspannt und 
auf der das Leben in seinem Triumphwagen ihn uberschreiten wird, 
zu dessen Vorspann vielleicht nur Sklaven auf gespart bleiben. 

<frsi> 



In dem sexuellen Schuldgefuhl, das wenigstens bei Mannern im 
Umgang mit Frauen wohl die Regel ist (ob auch bei Frauen, und ob 
im gleichgeschlechtlichen Umgang bei einem oder beiden Ge- 
schlechtern weifi ich nicht), ist ein sehr wichtiges Indizium fiir frii- 
here Weltzustande gegeben (-) fiir die Weltzustande selbst, nicht 
nur fiir das Bild, das sich Gleichzekige von ihnen machten. Auf 
Grund historischer Verhaltnisse ist dieses Schuldgefuhl nicht zu 
erklaren, wenn man den Irrtum dafi Schuldgefuhl durch Angst ent- 
stehen konne, von vornherein abweist; (nur das Umgekehrte ist 
moglich). Das sexuelle Schuldgefuhl ist ahnlich dem bei einer 
Beschworung: das Gefiihl der Schuld beim Eintritt in einen Bezirk, 
der eine iiberwaltigende, bose Macht auf den Eintretenden ausiibt. 
Dies Gefiihl ist nicht aus der einfachen psychischen Natur des sexu- 
ellen Rauschzustands zu begreifen, da dieser durchaus unter 
Umstanden keine schrankenlose Macht iiber den Menschen ausiibt. 
Es mufi sich also auf ein in Vorzeiten ausgebildetes Gefiihl beim 
Betreten dieser oder verwandter Regionen griinden. Das elemen- 
tare Gefiihl beim Betreten solcher ubermachtiger Regionen in der 
Verschwdrung, wenn man vom Schuldgefuhl absieht, ist das 
Grauen. Dies ist denn auch als wichtige Komponente im sexuellen 
Schuldgefuhl bewahrt geblieben und es bleiben nur die Fragen, ob 
diejenigen Machte auf die das Grauen sich bezog in diesem Akt 
noch heute bestehen, und ob das Schuldgefuhl in dieser Art des 
Grauens in der sexuellen Beschworung von Ursprung an mitwal- 
tete. Die Gegenwart jener Machte ist, wenn auch eine hochst abge- 
schwachte, noch zu vermuten. Die Antwort auf die zweite Frage 
mufi dahingestellt bleiben. (fr 52) 



Zur Moral und Anthropologic 75 

Die Dirne 

In der Dirne sind zwei entgegengesetzte Prinzipien ausgepragt. Das 
anarchische Lustprinzip und das hierarchische Prinzip des Gottes- 
dienstes, heifte dieser Gott nun im eigentlichen Sinne so, wie fur die 
Hierodulen{,) oder heifte er Geld. Beide Prinzipien haben in dieser 
Gestalt ein auf und ab, eine Geschichte ihrer Auspragung. Dahin 
gehort, daft die moderne Kokotte dem hieratischen Typus zu- 
zuzahlen ist, die Dirne eine besonders reine Auspragung beider 
Prinzipien in sich vereinigt: Ziigellosigkeit und Gehorsam (aus 
Not). - Zu bedenken, daft diese Antinomie zweier welthistorischer 
Prinzipien (kurz: des revolutionaren und des theokratischen) in 
dem Weib erscheint. ( fr 5 3 ) 

Uber das Grauen I 

Am leichtesten stelk sich Grauen beim Erwachen aus einem 
Zustand tiefer Kontemplation und Konzentration, wie tiefes Sin- 
nen, Versunkenheit in Musik oder Schlaf, ein. Unvergleichlich viel 
starker und leichter als von alien andern Wahrnehmungen kann es 
von solchen des Gesichts ausgelost werden. Hier wiederum am 
machtigsten durch die Wahrnehmung sehr nahestehender weibli- 
cher Personen (und zwar vermutlich gleicherweise so fur Manner 
wie fur Frauen){.) So daft sich also als eidetischer Idealfall des 
Grauens die Erscheinung der Mutter fur den in tiefem Sinnen abwe- 
senden und durch sie erweckten Menschen ergeben wiirde. Wieweit 
in dieser Beschreibung die »Versuchsbedingungen« noch unexakt 
angegeben und daher Grauen unter solchen Bedingungen noch 
nicht ohne weiteres evident erscheint, kann die folgende Analyse 
aufklaren. 

Vor allem bedarf der vorausgesetzte Zustand der Versunkenheit 
naherer Bestimmung. Es gibt Zustande der Versunkenheit, gerade 
in ihrer Tiefe, welche dennoch den Menschen nicht geistesabwe- 
send, sondern hochst geistesgegenwartig machen. Der Mensch in 
der Gegenwart des Geistes aber ist dem Grauen nicht unterworfen. 
Die einzige Art von Geistesgegenwart, welche Bestand hat und 
nicht untergraben zu werden vermag, ist die in der heiligen Versun- 
kenheit, etwa der des Gebetes. In dieser Versunkenheit erscheint 
dem Menschen so leicht nichts gespenstisch - und wenn ihm iiber- 



j6 Fragmente vermischten Inhalts 

haupt dann Gespenster erscheinen konnen, was sehr fraglich ist, so 
wiirden sie jedenfalls kein Grauen auslosen. Diese Art der Versun- 
kenheit also ist, weit entfernt Grauen zu begiinstigen, der sicherste 
Schutz gegen dieses. 

Welche Art der Versunkenheit aber steht der heiligen gegenuber, 
welche pradisponiert zum Grauen? Diejenige in der der Mensch 
nicht in Gott und damit auch nicht in sich selbst vdllig versunken ist, 
sondern in Fremdes und daher nur unvollstandig versunken ist. Urn 
dieses unvollstandige, wenngleich tiefe, aber immer geistesabwe- 
sende Versunkensein in einem bildlichen Schema auszusprechen : die 
Seele bildet einen Strudel in welchen aus alien Gliedmafien und 
Bezirken des Leibes die geistigen Momente hineingezogen werden 
und nun den Leib depotenziert unter Abwesenheit des Geistes, also 
eigentlich entleibt und vielmehr nur den Korper zuriicklassen. Mit 
dieser Abwesenheit des Geistes verfluchtigt sich aber (was nur ein 
anderes Wort fur diese ist) der Leib, und der Korper bleibt ohne die 
scheidende, unterscheidende Distanz des leiblichen (und) des gei- 
stigen zuriick, was sich darin ausspricht dafi der menschliche Korper 
im Zustande der Geistesabwesenheit keine bestimmte Grenze hat. 
Das Wahrgenommene, vor allem das im Gesicht Wahrgenommene 
bricht nun in ihn hinein{,) auch aus dem fremden Korper fallt der 
Geist-Leib in den Strudel und es bleibt in der Gesichtswahrnehmung 
des Grauens neben dem Gefuhl : das bist du beim Anblick des andern 
(»du« weil keine Grenze da ist) andererseits das Gefuhl: das ist dein 
Doppel(,) auf den »andern« nun aber entgrenzten und entleiblich- 
ten Korper bezogen. Dabei zeigt sich deutlich, dafi das Urphanomen 
des Doppels, um dazusein nicht einer Gleichheit oder Ahnlichkeit 
der doppelten Gegenstande bedarf, sondern dafi vielmehr umge- 
kehrt Gleichheit etwas ist, was eben unter der Herrschaft des doppelt 
sich leicht einstellt. Ein Mensch kann im hochsten Schrecken dazu 
kommen, den nachzumachen, vor dem er erschrickt. 
Grauen ist eine Erscheinung, die nur unter vier Augen gleichsam, 
d. h. nur fur ein Subjekt und nur vor einem andern (im letzten Fall 
nicht numerisch, aber wesentlich einem) sich einstellen kann. Dies 
wieder die Funktion des Doppels, deren Zusammenhang mit dieser 
Sphare des Gespenstischen, des depotenzierten Leibes allerdings 
noch unklar ist. 

Ein bildliches Schema, eine Darstellung der Existenzmodalitat des 
Leibes im Falle des Gebetes ware noch zu finden. 



Zur Moral und Anthropologic 77 

Sehr wichtig: mit der Depotenzierung des Leibes im Grauen fallt 
auch der Gegenpol der Sprache weg, und zwar nicht nur die akusti- 
sche, sondern Sprache im weitesten Sinn, als Ausdruck, dessen 
Moglichkeit von hier aus als unbegreifliche Gnade, dessen 
Gewohnheit als nachtwandlerisches Gehen auf einem Seile er- 
scheint. 



Uber das Grauen II 

Die Sprachlosigkeit im Grauen ein Urerlebnis. Plotzlich im Vollbe- 
sitz aller ubrigen Krafte, inmitten von Menschen, am hellen Tag 
von Sprache, von jeder Ausdrucksmdglichkeit verlassen zu sein. 
Und das Bewufitsein: dafi diese Sprachlosigkeit, Ausdrucksohn- 
macht so tief im Menschen wohnen, wie andererseits das Vermogen 
der Sprache ihn durchdrungen hat, dafi auch diese Ohnmacht von 
Ahnen her als Atavismus ihm uberkommen sei. (fr 54) 

Lernen und Uben 

Diese Fragestellung, sowie einige fur sie wertvolle Hinweise ver- 
danke ich Herrn Dr. {Karl) Mannheim. 

Lernen ist die Form der Tradition, des geistigen Lebens der Ge- 

samtheit 
Uben " " " "Erfahrung(,) " " * des Ein- 

zelnen 
Lernen hat Stetigkeit (relative Stetigkeit der Fortschritte) 
Uben ist unstetig (der Fortschritt erfolgt ruckweise, plotzlich) 
Die Ubung findet sich iiberall dort ein, wo der Einzelne - wenn 
auch auf Grund von Unterweisung- die eigene Erfahrung sucht: in 
der religio sen Erotik, in der mystischen Askese (indisch - neuplato- 
nisch) Im Uben behauptet der Einzelne nicht seiner Verantwor- 
tung, sondern seinem Vermogen nach, sich selbst. Diese Haltung 
aber ist in der hochsten Schicht des Daseins, in welcher seinem Ver- 
mogen nach nur noch das Volk - das »auserwahlte« - (sich) 
behaupten darf, unstatthaft. Daher ist die schrankenlose Tendenz 
der Askese auf das Hochste heidnisch. Mit Recht sagt Vauvenar- 
gues (in den Maximen) »Les choses que Ton sait le mieux sont celles 
qu'on n'a pas apprises« - es gibt jedoch eine Verfiigbarkeit liber 
Wissen, die dem Menschen in iiberirdischer Zeit nicht mehr 



78 Fragmente vermischten Inhalts 

zusteht. Ubung - oder ihre aufierste Steigerung zu hochsten Zwek- 
ken, Askese - fafit namlich nicht Wissen ins Auge, sondern die 
Fahigkeit iiber solches zu verfiigen; sie kann nicht ganz ohne Wis- 
sen sein, will aber nicht auf dessen Haben hinaus, sondern auf sein 
Einsehen. Der Mensch jedoch soil vor Gott nichts mehr einsehen, 
und wenn Wissen vor diesem bestehen bleibt, so nur als das Inneha- 
ben der Gemeinschaft zu der der Einzelne zahlt. Das innerste 
Haben kommt vom Lernen, das aufierste vom Uben. ( fr 5 5 ) 



Schemata zum psychophysischen Problem 

/ Geist und Leib 

Sie sind identisch, lediglich als Betrachtungsweisen, nicht als 
Gegenstande verschieden. Die Zone ihrer Identitat bezeichnet der 
Terminus »Gestalt«. Geistleiblich ist in jedem Stadium ihres Da- 
seins die Gestalt des Geschichtlichen, Geistleiblichkeit also irgend- 
wie die Kategorie ihres »Nu«, ihrer augenblicklichen Erscheinung 
als verganglich-unverganglicher. Leib und Geist in dem mit Leib 
identischen Sinne sind also die hochsten Formkategorien des Welt- 
geschehens, nicht aber die Kategorie seiner ewigen Inhalte, zu der 
die Betrachtungsweise der georgischen Schule sie macht. Unser 
Leib ist also nicht ein in den geschichtlichen Prozeft an sich selbst 
Einbezogenes, sondern nur das jeweilige In-ihm-stehen, seine Mo- 
dification von Gestalt zu Gestalt ist nicht die Funktion des ge- 
schichtlichen Geschehens selbst, sondern der jeweihgen, abgezog- 
nen Bezogenheit eines Lebens auf dieses. Ein Leib mag somit allem 
Realen zukommen, nicht aber als Substrat oder Substanz seines 
eigensten Seins, wie es der Korper ist, sondern a(l)s eine Erschei- 
nung in der Belichtung des historischen »Nu«. Der leibhafte Geist 
ware vielleicht am schicklichsten das »ingenium« zu nennen. 
Allgemein lafit sich sagen: Alles Reale ist Gestalt sofern es im histo- 
rischen Prozefi in der Weise betrachtet wird, daft es sich sinnhaft auf 
das Ganze desselben in seinem »Nu« ( , ) im Innersten seiner zeitli- 
chen Gegenwart bezieht. Alle Gestalt derart vermag sich in zwei 
identischen Arten, die vielleicht in einem polaren Verhaltnis stehen, 
zu manifestieren: als ingenium und als Leib. 



Zur Moral und Anthropologic 79 

II Geist und Korper 

Wahrend Leib und ingenium allem Realen aus seiner Gegenwarts- 
beziehung zum geschichtlichen Prozefi zukommen kann (nur nicht 
Gott) ist Korper und der ihm zugehdrende Geist nicht auf Bezie- 
hung, sondern auf Dasein schlechthin gegriindet. Korper ist eine 
unter den Realitaten, die im historischen Prozefi selbst stehen. Wie 
er vom Leib sich unterscheidet, wird am Beispiel des Menschen 
zunachst verdeutlicht werden konnen. Alles wovon der Mensch an 
sich selbst irgend wie Gestaltwahrnehmung hat, das ganze seiner 
Gestalt sowohl wie die Glieder und Organe sofern sie ihm gestaltet 
erscheinen, gehort zu seinem Leibe. Alle Begrenzung, die er an sich 
selbst sinnlich wahrnimmt gehort als Gestalt ebenfalls zu diesem. 
Daraus folgt, daft die sinnlich wahrgenommene Einzelexistenz des 
Menschen Wahrnehmung von einer Beziehung ist, in der er sich 
findet, nicht aber Wahrnehmung von einem Substrat, einer Sub- 
stanz seiner selbst, wie der Korper sinnlich eine solche darstellt. 
Dieser manifestiert (sich) dagegen in eigentumlicher Polaritat 
zwiefach: als Lust und als Schmerz. In diesen beiden wird keinerlei 
Gestalt, keinerlei Begrenzung wahrgenommen. Wenn wir also um 
unsern Korper nur oder vornehmlich durch Lust und Schmerz wis- 
sen, so wissen wir von keiner Begrenzung desselben. Hierbei ist es 
nun geboten, unter den Modificationen des Bewufkseins Umschau 
nach solchen zu halten, denen jene Begrenzung ebenso fremd ist, 
wie den Lust- und Schmerz-Zustanden, welche in ihrer hochsten 
Steigerung den Rausch ausmachen. Solche Zustande sind zunachst 
die der Wahrnehmung. Allerdings mit Unterschied nach Graden. 
Am grenzenlosesten angelegt ist vielleicht die Gesichtswahrneh- 
mung, die man, etwa im Gegensatz zur mehr zentripetal gerichteten 
Geschmacks- und besonders Tastwahrnehmung formlich zentrifu- 
gal nennen konnte. Die Gesichtswahrnehmung zeigt den Korper 
wenn nicht unbegrenzt, so doch von schwankender gestaltloser Be- 
grenzung. 

Allgemein ist also zu sagen: Soweit wir von Wahrnehmung wissen, 
wissen wir von unserm Korper, der im Gegensatz zu unserm Leibe 
ohne bestimmte gestaltete Begrenzung sich erstreckt. Dieser Kor- 
per nun ist zwar nicht das letzte Substrat unsres Seins, aber dennoch 
Substanz zum Unterschied vom Leibe welcher nur Funktion ist. 
Der Korper ist in hoherm Sinne objektiv und daher mufi noch mehr 
als an der Klarung des mit dem Leibe identischen ingenium an der 



80 Fragmente vermischten Inhalts 

Klarstellung der an den Korper gebundenen, ihm verhafteten geisti- 
gen »Natur« des lebenden Wesens gelegen sein. Hier liegt das 
schwere Problem nun darin, dafi die »Natur«, deren Zugehorigkeit 
zum Korper behauptet wird, doch wieder im starksten Mafie auf 
Einschrankung und Einzelheit des lebenden Wesens hinweist. Jene, 
eingeschrankte Realitat, welche durch die Fundierung einer geisti- 
gen Natur in einem Korper konstituiert wird, heifit die Person. Die 
Person ist nun in der Tat eingeschrankt, aber nicht gestaltet. Sie hat 
daher ihre Einzigkeit, welche man ihr freilich in einem gewissen 
Sinne beilegen darf, gleichsam nicht von sich selbst, vielmehr aus 
dem Umkreis ihrer maximalen Ausdehnung her. So steht es 
zugleich mit ihrer Natur und ihrem Korper: sie sind nicht auf 
gestaltete Weise begrenzt, aber begrenzt dennoch durch ein Maxi- 
mum von Ausdeutung (sic), das Volk. 

/// Leib und Korper 

Der Mensch gehort mit Leib und Korper universellen Zusammen- 
hangen an. Mit beiden jedoch ganz verschiednen: mit dem Leib der 
Menschheit, mit dem Korper Gott. Beider Grenzen gegen die 
Natur sind schwankend, beider Umsichgreifen bestimmt das Welt- 
geschehen aus den tiefsten Griinden her. Der Leib, die Funktion 
der geschichtlichen Gegenwart im Menschen, wachst zum Leibe 
der Menschheit. Die »Individualitat« als Prinzip des Leibes steht 
hoher als die einzelner leiblicher Individualitaten. Die Menschheit 
als Individuality ist die Vollendung und zugleich der Untergang des 
leiblichen Lebens. Untergang: denn mit ihr erreicht dasjenige 
geschichtliche Leben, dessen Funktion der Leib ist, sein Ende. In 
dieses Leben des Leibes der Menschheit, und somit in diesen Unter- 
gang und in diese Erfullung vermag die Menschheit (,) aufier der 
Allheit der Lebenden, noch partiell die Natur: (U)nbelebtes, 
Pflanze und Tier durch die Technik einzubeziehen, in der sich die 
Einheit ihres Lebens bildet. Zuletzt gehort zu ihrem Leben, ihren 
Gliedern alles was ihrem Gliick dient. 

Die leibliche Natur geht ihrer Auflosung entgegen, die korperliche 
dagegen ihrer Auferstehung. Auch iiber diese liegt die Entschei- 
dung beim Menschen. Der Korper ist fur den Menschen das Siegel 
seiner Einsamkeit und es wird - auch im Tode - nicht zerbrechen, 
weil diese Einsamkeit nichts als das Bewufitsein seiner unmittelba- 
ren Abhangigkeit von Gott ist. Was nun jeder Mensch im Bereich 



Zur Moral und Anthropologic 8 1 

seiner Wahrnehmung, seiner Schmerzen und seiner hochsten Lust 
umspannt, ist in der Auferstehung mit ihm gerettet. (Diese hochste 
Lust hat naturlich mit dem Gliick nichts zu tun) Schmerz ist das 
regierende(,) Lust das wertende(?) Prinzip des Korpers. 
Es gibt also in der Naturgeschichte die beiden grofien Verlaufe: 
Auflosung und Auferstehung. 

IV Geist und Sexualitat I Natur und Korper 
Geist und Sexuaiitat sind die polaren Grundkrafte der » Natur* des 
Menschen. Die Natur ist nichts, was jedem einzelnen Korper 
besonders zugehort. Sie ist vielmehr in ihrem Verhaltnis zur Singu- 
larity des Korpers vergleichbar dem Verhaltnis der Stromungen im 
Meere zum einzelnen Wassertropfen. Zahllose solcher Tropfen 
sind von der gleichen Strdmung ergriffen. So ist auch die Natur 
zwar keineswegs in alien, aber jeweilen in sehr vielen Menschen 
dieselbe. Und zwar im eigentlichen Sinne dieselbe und identische, 
nicht nur die gleiche. Sie ist nicht konstant sondern ihre Strdmung 
wechselt mit den Jahrhunderten und stets wird eine mehr oder 
weniger grofte Zahl solcher Stromungen sich gleichzeitig finden. 
Sexualitat und Geist sind die beiden vitalen Pole dieses natiirlichen 
Lebens, welches in den Korper miindet und in ihm sich differen- 
ziert. Also ist auch der Geist, ganz wie die Sexualitat im Ursprung 
etwas Natiirliches und erscheint im Verlaufe als ein K6rperlich.es. 
Der Gehalt eines Lebens ist davon abhangig, wieweit es dem Leben- 
den gelingt, seine Natur korperlich auszupragen. Im vollkommnen 
Verfall der Korperlichkeit, wie die gegenwartige abendlandische 
Welt ihn erfahrt, bleibt als letztes Werkzeug ihrer Erneuerung die 
Pein der Natur, die im Leben sich nicht mehr fassen lafit und in 
wilden Stromen iiber den Korper dahinbraust. Die Natur selbst ist 
Totalitat und die Bewegung in das Unergriindliche der totalen Vita- 
litat hinab ist Schicksal. Die Bewegung aus diesem Unergnindli- 
chen hinauf ist Kunst. Weil aber die totale Vitalitat in der Kunstihre 
einzige versohnliche Wirkung hat, mufi jede andere Aufierungs- 
form zur Vernichtung fiihren. Die Darstellung der totalen Vitalitat 
im Leben lafit das Schicksal im Wahnsinn munden. Den(n) alle 
lebendige Reaktivitat ist an Differenzierung gebunden, deren vor- 
nehmstes Instrument der Korper ist. Diese seine Bestimmung ist als 
wesentlich zu erkennen. Der Korper als Differenzierungsinstru- 
ment der vitalen Reaktionen und nur er ist zugleich seiner psychi- 



82 Fragmente vermischten Inhalts 

schen Belebtheit nach erfafibar. Alle psychische Regsamkeit ist in 
ihm diff erenziert zu lokalisieren, wie die alte Anthroposophie, etwa 
in der Anal(o)gie des Korpers zum Makrokosmos dies unternahm. 
Eine der wichtigsten Determinationen der Differenziertheit hat der 
Korper in der Wahrnehmung; die Zone der Wahrnehmungen zeigt 
zudem am deutlichsten die Variabilitat, der er als Funktion der 
Natur unterworfen ist. Andert die Natur sich, so andern sich die 
Wahrnehmungen des Korpers. 

Der Korper ist ein moralisches Instrument. Er ist geschaffen zur 
Erfullung der Gebote. Danach wurde er bei der Schopfung einge- 
richtet. Selbst seine Wahrnehmungen bezeichnet es(,) wiewek sie 
ihn seiner Pflicht entziehen oder uberfuhren. 

V Lust und Schmerz 

In den physischen Unterschieden zwischen Lust und Schmerz ist 
ihr metaphysischer ablesbar enthalten. Unter diesen physischen 
Unterschieden bleiben zuletzt zwei als elementare und irreduktible 
ubrig. Es sind, von der Lust aus gesehen, ihr blitzartiger und ihr 
gleichformiger Charakter, die sie vom Schmerz, und von ihm aus 
gesehen sein chronischer und vielfaltiger Charakter, der ihn von der 
Lust unterscheidet. Nur der Schmerz, niemals jedoch die Lust, 
kann chronisches Begleitgefuhl konstanter organischer Prozesse 
werden. Nur er, niemals die Lust, ist aufierster Differenzierung je 
nach der Natur des Organs, von welchem er ausgeht, fahig. Dies 
Hegt in der Sprache angedeutet, welche im Deutschen fur das Maxi- 
mum der Lust nur die Superlative des Siifien oder der Wonne kennt, 
von denen sogar nur der erste ganz eigentlich und unzweideutig 
sinnlich ist. Der niedrigste Sinn also, der Geschmackssinn, leiht die 
Bezeichnung seiner positiven Organempfindung zum Ausdruck 
jeglichen sinnlichen Genusses. Ganz anders die Bezeichnungen des 
Schmerzes. In den Wortern: Schmerz, Weh, Qual, Leiden ist tiber- 
all aufs deutlichste ausgepragt - was im Bereich der sprachlichen 
Bezeichnung fiir die Lust nur etwa im Wort »Wonne« angedeutet 
liegt - dafi im Schmerz ohne alle Metaphorik unmittelbar mit dem 
Sinnlichen das Seelische betroffen ist. Moglicherweise hangt es eben 
hiermit zusammen, dafi die Schmerzgefuhle in so ungleich hoherm 
Mafie als die Lustgefuhle echter, also nicht nur gradmafiiger Varia- 
bilitat fahig sind. Ganz sicher aber besteht ein Zusammenhang zwi- 
schen dieser ungebrochneren Geltung des Schmerzgefuhls fiir das 



Zur Moral und Anthropologic 83 

gesamte Wesen des Menschen und seiner Fahigkeit der Permanenz. 
Und diese Permanenz wiederum fiihrt unmittelbar ins Bereich der 
jenen physischen genau entsprechenden und sie erklarenden meta- 
physischen Differenzen dieser beiden Gefuhle. Nur das Schmerz- 
gefiihl namlich ist, wie im Physischen so im Metaphysischen, der 
ununterbrochnen Durchfuhrung, einer gleichsam thematischen 
Behandlung fahig. Das Wesen des Menschen ist das vollkommenste 
Instrument des Schmerzes; nur im menschlichen Leiden kommt der 
Schmerz zu seiner reinsten adaquaten Erscheinung, nur im mensch- 
lichen Leben miindet er. Der Schmerz allein unter alien Korperge- 
fiihlen ist fur den Menschen gleichsam ein schiffbarer Strom mit nie 
versiegendem Wasser, der ihn ins Meer fiihrt. Die Lust erweist sich 
uberall da, wo der Mensch ihr Folge zu geben trachtet, als eine 
Sackgasse. Sie ist in Wahrheit eben ein Vorzeichen aus einer andern 
Welt, nicht wie der Schmerz eine Verbindung zwischen den Wel- 
ten. Daher ist die organische Lust intermittierend, wahrend der 
Schmerz permanent werden kann. 

Mit diesem Verhaltnis von Lust und Schmerz hangt es zusammen, 
dafl fur die Wesenserkenntnis eines Menschen der Anlafi seines 
hochsten Schmerzes gleichgultig, der Anlafi seiner hochsten Lust 
jedoch sehr wichtig ist. Denn jeder{,) auch der nichtigste Schmerz 
lafk sich bis zum auftersten religiosen hinauffuhren, die Lust aber ist 
keiner Veredlung fahig und hat ihren ganzen Adel allein von Gna- 
den ihrer Geburt, will sagen ihres Anlasses. 

VI Nahe und Feme 

Dieses sind zwei Verhaltnisse, die in Bau und Leben des Korpers 
ahnlich bestimmend sein mogen wie andere raumliche (oben und 
unten, rechts und links u.s.w.). Besonders aber treten sie im Leben 
des Eros und der Sexualitat hervor. Das Leben des Eros entziindet 
sich an der Feme. Andererseits findet eine Verwandtschaft zwi- 
schen Nahe und Sexualitat statt. - Uber die Feme waren die Unter- 
suchungen iiber den Traum von Klages zu vergleichen. Noch unbe- 
kannter als das Wirken der Feme in korperlichen Verbindungen ist 
das der Nahe. Die Erscheinungen, die mit diesem zusammenhan- 
gen sind vielleicht schon vor Jahrtausenden verworfen und deklas- 
siert worden. - Ferner z.B. besteht eine genaue Beziehung zwi- 
schen Dummheit und Nahe: Dummheit ruhrt letzten Endes von zu 
naher Betrachtung der Ideen her [Die Kuh vorm neuen Tor]. Aber 



84 Fragmente vermischten Inhalts 

eben diese allzu nahe (geistlose) Betrachtung der Ideen ist ein 
Ursprung der dauernden (nicht intermittierenden) Schonheit. So 
verlauft die Beziehung zwischen Dummheit und Schonheit. 

Literatur 

(Ludwig) Klages: Vom Traumbewufitsein Ztschr. fiir Pathopsy- 

chologie III Bd 4 Heft 19 19 (s. dort weiteres) 

(ders.) Geist und Seele Deutsche Psychologie Bd I Heft 5 u Bd II 

Heft 6 

{ders.) Vom Wesen des Bewufitseins (J. A. Barth) 

(ders.) Mensch und Erde (Georg Miiller) 

(ders.) Vom kosmogonischen Eros (Georg Miiller) 

VI Nahe und Feme (Fortsetzung) 

Je weniger in den Banden des Schicksals ein Mann befangen ist, 
desto weniger bestimmt ihn das Nachste, sei es durch Umstande sei 
es durch Menschen. Vielmehr hat ein dergestalt freier Mensch seine 
Nahe ganz zu eigen; er ist es, der sie bestimmt. Die eigne Bestimmt- 
heit seines schicksalsmafiigen Lebens dagegen kommt ihm vomFer- 
nen. Er handelt nicht mit »Rucksicht« auf das Kommende, als ob es 
ihn einhole; sondern mit »Umsicht« nach dem Entfernten, dem er 
sich fiigt. Daher ist das Befragen der Sterne - selbst allegorisch ver- 
standen - defer gegriindet, als das Griibeln urns Folgende. Denn das 
Entfernte, das den Menschen bestimmt, soil die Natur selber sein 
und sie tut es desto ungeteilter je reiner er ist. Mag sie also mit ihrem 
kleinsten Vorzeichen den Neurotiker schrecken, mit den Sternen 
die Damonischen lenken, so bestimmt sie mit ihren tiefsten Harmo- 
nien - und nur durch diese - allein den Frommen. Sie alle aber nicht 
in ihrem Handeln sondern in ihrem Leben, welches allein ja schick- 
salhaft sein kann. Und hier, nicht aber im Bereiche der Handlung, 
ist an ihrem One die Freiheit. Eben deren Macht entbindet den 
Lebendigen von der Bestimmung durch das einzelne Naturgesche- 
hen und erlaubt ihm, vom Dasein der Natur das seinige leiten zu 
lassen. Geleitet aber wird er als ein Schlafender. Und der voll- 
kommne Mensch allein in solchen Traumen, aus denen er im Leben 
nicht erwacht. Denn je vollkommener der Mensch ist, desto defer 
ist dieser Schlaf - desto fester und desto mehr beschrankt auf einen 
Urgrund seines Wesens. Mithin ein Schlaf, dem nicht durch die 
Gerausche aus der Nahe und durch die Stimmen seiner Mitwelt 



Zur Moral und Anthropologic 8 5 

Traume komme { n ) , in dem die Brandung und die Spharen und der 
Wind vernommen werden. Dieses Meer von Schlaf im tiefen 
Grunde aller menschlichen Natur hat nachts die Flutzeit: jeder 
Schlummer besagt nur, daft es einen Strand bespiilt, von dem es sich 
bei wacher Zeit zuriickzieht. Was zuriickbleibt: die Traume (,) 
sind - wie wunderbar geformt - doch nur das Tote aus dem Schofie 
dieser Tiefen. Das Lebendige bleibt in ihm und auf ihm geborgen: 
das Schiff des wachen Lebens und die Fische als stumme Beute in 
den Netzen der Kiinstler. 

So ist das Meer Symbol der menschlichen Natur. Als Schlaf - im 
tiefern, iibertragnen Sinne - tragt sie das Lebensschiff mit ihrer 
Stromung, die von Wind und Sternen, aus der Feme her, geleitet 
wird, als Schlummer, im eigentlichen Sinne, steigt sie nachts wie die 
Flut gegen den Strand des Lebens auf, an dem sie die Traume zu- 
riicklafk. 

Nahe [und Feme?] sind iibrigens fur den Traum nicht weniger 
bestimmend als fur die Erotik. Dennoch aber in abgeschwachter, 
deteriorierter Weise. Das Wesen dieser Differenz ware noch ausfin- 
dig zu machen. An sich findet im Traum die aufierste Nahe gewifi 
statt; - und - vielleicht! - doch auch die aufterste Feme? 
Was das Problem der Traumwirklichkeit betrifft, so ist festzustel- 
len: die Bestimmung des Verhaltnisses der Traum welt zur Welt des 
Wachens d. h. der wirklichen Welt, ist streng von der Untersuchung 
seines Verhaltnisses zur wahren Welt zu unterscheiden. In Wahr- 
heit oder in der »wahren Welt« gibt es Traum und Wachen als sol- 
che iiberhaupt nicht mehr; sie mogen hochstens Symbole ihrer 
Darstellung sein. Denn in der Welt der Wahrheit hat die Welt der 
Wahrnehmung ihre Wirklichkeit verloren. Ja, vielleicht ist die Welt 
der Wahrheit iiberhaupt nicht Welt irgend eines Bewufkseins. 
Damit soil gesagt sein: das Problem des Verhaltnisses von Traum 
zum Wachen ist kein »erkenntnistheoretisches« sondern ein »wahr- 
nehmungstheoretisches«. Wahrnehmungen aber konnen nicht 
wahr oder falsch sein, sondern sind problematisch nur hinsichtlich 
der Zustandigkeit ihres Bedeutungsgehalts. Das System solcher 
moglichen Zustandigkeiten iiberhaupt ist die Natur des Menschen. 
Problem ist hier also was in der Natur des Menschen de(n) Bedeu- 
tungsgehalt der Traumwahrnehmung, was in ihr de(n) der wachen 
Wahrnehmung betreffe. Fur die »Erkenntnis« sind beide auf genau 
die gleiche Weise, namlich lediglich als Objekte, belangvoll. - Ins- 



86 Fragmente vermischten Inhalts 

besondere ist der Wahrnehmung gegeniiber die iibliche Fragestel- 
lung nach der Uberlegenheit einer dieser Wahrnehmungsarten 
gemafi dem grofiern Reichtum der Kriterien, denen gegeniiber sie 
Stich hake, sinnlos, weil erst aufgezeigt werden mtifite i) dafi es 
Bewufitsein von Wahrheit uberhaupt gibt 2) dafi es durch ein sol- 
ches Stichhalten einer relativen Mehrzahl von Kriterien gegeniiber 
gekennzeichnet sei. In Wirklichkeit ist 1) die Komparation in wahr- 
heitstheoretischen Untersuchungen sinnlos 2) fur das Bewufitsein 
iiberhaupt zunachst einzig die Beziehung zum Leben zustandig, 
nicht aber zur Wahrheit. Und dem Leben gegeniiber ist keine der 
beiden Bewufitseinsarten »wahrer« sondern es besteht nur ein 
Unterschied ihrer Bedeutung fur dasselbe. 

Vollkommnes Gleichgewicht z wischen Nahe und Feme in der voll- 
endeten Liebe »Kommst geflogen und gebannt«. - Dante versetzt 
Beatrice unter die Sterne. Doch es konnten ihm die Sterne in 
Beatrice nahe sein. Denn in der Geliebten erscheinen dem Manne 
die Krafte der Feme nah. Dergestalt sind Nahe und Feme die Pole 
im Leben des Eros: daher ist Gegenwart und Trennung in der Liebe 
entscheidend. - Der Bann ist der Zauber der Nahe. 
Der Eros ist das Bindende in der Natur, deren Krafte ungebunden 
iiberall sind, wo er nicht waltet. »Ein grofier Damon, Sokrates, [ist 
der Eros] denn alles Damonische ist mitten zwischen Gott und 
Sterblichem. - Welche Kraft hat es? fragte ich. - Zu verkiinden und 
zu iiberbringen Gottern was von Menschen und Menschen was von 
Gottern kommt. Von den Einen Gebete und Opfer, von den andern 
Auftrage und Antworten auf die Opfer. In der Mitte von beiden ist 
es erfiillend, so dafi das All selbst in sich selbst gebunden ist. Durch 
dies Damonische geht auch Weissagung und die Kunst der Priester 
in den Opfern und den Weihen und den Gesangen und in aller 
Wahrsagung und Bezauberung. Gott verkehrt nicht mit Menschen, 
sondern durch dies ist der ganze Umgang und das Gesprach Got- 
tern mit Menschen im Wachen und im Schlafe.« Symposion 202/ 
203 {. ) Der Typus und das Urphanomen der Bindung aber, welches 
in jeder Besondern Bindung sich vorfindet, ist die von Nahe und 
Feme. Sie ist daher vor alien andem das urspriingliche Werk des 
Eros. 

Besondere Beziehung von Nahe und Feme auf die Geschlechter. 
Fur den Mann sollen die Krafte der Feme die bestimmenden sein, 
wahrend es die Krafte der Nahe sind aus denen er bestimmt. Sehn- 



Zur Moral und Anthropologic 



87 



sucht ist ein Bestimmt- Werden. Welches ist die Kraft, aus der her- 
aus der Mann seine Nahe bestimmt? Sie ist verloren gegangen. Flug 
ist die Bewegung aus Sehnsucht. Welches ist die bannende Bewe- 
gung, die die Nahe bestimmt? Bann und Flug vereinigt in dem 
Traumtypus vom niedrigen Fliegen iiber der Erde. (Nietzsches 
Leben ist typisch fur die blofie Fernenbestimmtheit, die das Ver- 
hangnis der hochsten unter den fertigen Menschen ist.) Infolge die- 
ses Versagens der bannenden Kraft vermogen sie nichts sich »fern 
zu halten«. Und alles was in ihre Nahe dringt ist ungebunden. 
Daher ist die Nahe der Bereich des Ungebundnen geworden, wie es 
in der nachsten Nahe der Gatten in der Sexualitat furchtbar genug 
zum Vorschein kommt und von Strindberg erfahren worden ist. 
Aber der unverletzte Eros hat bindende, bannende Gewalt auch im 
Nachsten. 

»Die Verlassenen« von Karl Kraus, ein Gegenstiick (Gegensatz?) 
zu Goethes »Seliger Sehnsucht«. Hier die Bewegung des Fliigel- 
schlags und des Fluges, dort der gebannte Stillstand des Gefuhls. 
Goethes Gedicht machtige unaussetzende Bewegung, Kraus (') 
Gedicht ungeheuer aussetzend und einhaltend in der mittleren Stro- 
phe, die als der Abgrund des Geheimnisses die erste und letzte von 
einander trennt. So ist der Abgrund die Urtatsache, die in jeder 
innigsten erotischen Nahe erfahren wird. ^£r 56) 



Soteriologie 

Soziale Umstande 
Erlosung daraus 
Vollige Heilung 



(Soteriologie und Medizin) 

Medizin 

Erhaltung oder Besserung des 
lebensmoglichen Lebens{.) 
Welches dazu gehore, ist eine 
Frage erst dann, wenn es eine 
theoretische, praktisch aber 
ersichtlich indifferent (e) ist 



Das Verfahren 
der Medizin 
ist Heilung 
(Genauigkeit) 
ihr Erfolg 
Hilfe 



Fragmente vermischten Inhalts 



Geist 

Symptomkomplex 
Nicht der On 
menschlicher 
sondern nur so- 
teriologischer 
Heilung, denn 
der Geist ist 
der Bezirk der 
Unmittelbarkeit 



Korper 

Therapeutische Handhabe 

Chirurgisch 

Biochemisch 

Biophysisch 

Indirektheit 



Nicht alles Kranke ist heilungsnotwendig, 

geschweige heilungsmoglich. 
Schmerz als geistige Symptom-Ankundigung 



Die Theorie 
von Gesundheit 
und Krankheit 
fuhrt darauf, 
dafi Geist und 
Korper nicht 
in der Krank- 
heitsdefinition, 
sondern nur in 
der Bedeutung 
fur die Erfas- 
sung der 
Krankheit zu 
unterscheiden 
sind. 



<fr 5 7> 



Zur Theorie des Ekels 

Es gibt keinen Menschen, der frei von Ekel ware; nur das ist denk- 
bar, dafi einer nie im Leben dem Anblick, dem Geruch, dem 
Geschmack oder sonstigen Sinneseindruck begegnet, der seinen 
Ekel hervorruft. Fur jeden Menschen ware geradezu das Tier, das 
seinen Ekel am scharfsten aufruf t, wenn man ihn nur genau kennte, 
erschlieftbar. Vielleicht ein winziges Lebewesen, ein Bazillus, den 
man nur unterm Mikroskop bemerkt. ( f r 5 8 ) 



Zur Erfahrung 

Der Typus des Mannes, der Erfahrungen macht, ist das exakte 

Gegenteil vom Typus des Spielers. 

Erfahrung sind gelebte Ahnlichkeiten. 

Kein grofierer Irrtum{,) als Erfahrung im Sinne der Lebenserfah- 

rung nach dem Schema derjenigen konstruieren zu wollen, die den 

exakten Naturwissenschaften zugrunde liegt. Nicht die im Lauf der 



Zur Moral und Anthropologic 89 

Zeiten festgestellten Kausalverkniipfungen sondern die Ahnlich- 
keiten, die gelebt wurden, sind hier mafigebend. 
Die meisten Menschen wollen keine Erfahrungen machen. Auch 
hindern sie daran es zu tun ihre Uberzeugungen. 
Die Identitat von Erfahrung und Beobachtung ist zu erweisen. S. 
den Begriff der »romantischen Beobachtung« in meiner Disserta- 
tion. -Beobachtung aufVersenkungberuhend. (fr 59) 



Henri Damaye: Psychiatrie et civilisation (Paris 1934) 

1) Verfasser schiebt die soziale Biologie in den Vordergrund 

2) Er verschlieftt sich der Einsicht in ihre Verbindung mit der Po- 
litik 

3) Er laftt jede Abwehr gegeniiber derzeitigen faszistischen Vorsto- 
ften in sozialbiologischer Hinsicht vermissen 

4) Sein Standpunkt ist der des wissenschaftlichen Positivism us. 
Wenn er auf dieser Grundlage zu interessanten Hypothesen den 
somatischen Ursprung und die somatische Heilbarkeit der Psycho- 
sen betreffend kommt, so ist ihm auf der andern Seite dadurch 
offenbar zu alien Errungenschaften der Psychoanalyse der Zugang 
verschlossen 

5) Sein philosophischer Standpunkt ist ein liberaler Optimismus, 
ein Glaube einerseits an den Fortschritt, andererseits an die Natur 
und das ihr Gemafte als unfehlbarer Maftstab. Er beruft sich aus- 
driicklich auf Rousseau, dessen philosophische Erkenntnisse vom 
neunzehnten Jahrhundert zu unrecht verachtet worden seien 

<fr6o) 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 



Das Heidentum ist eine damonische Gemeinschaft: aber wie steht 

diesezu Gott {-, ) 

aber in ihm sind Elemente die in die Sphare geniushafter Einsamkeit 

hineinragen. 



Offenbarung 



im Judentum 
Volk - Gesetz 
im Christentum 
Menschheit - niemand 

in der Mystik 

Einzelner - Schau, Stimme 



i) Mensch 

2) nicht Gesetz 

1) Genius einsam 

2) Erzwingung der 
Gemeinsch(aft) 

Heidentum entsteht wenn die Sphare des geniushaft Menschlichen, 
der Urphanomene der Kunst, Musisches und fjLnxavnQ die sym- 
bolisch fiir das Dasein der Heiligkeit sind{,) zur Sphare der Gei- 
stigkeit selbst erhoben wird, zur damonischen Gemeinschaft. / Das 
Heidentum steht in der Sphare des Damonischen und des Genius- 
haften. 

Kunst - symbolischer Erkenntnisgrad der Wahrheit 

- Symbol des Daseins der Heiligkeit 
Das Musische: die Vollkommenheit der die Schonheit accidentiell 

ist 
Die UTjxavTj: die Unvollkommenheit der die Schonheit wesent- 

lich ist. 

Verhaltnis des Ausdruckslosen zur Mechane und zum Musischen? 

<fr6,> 



Die historischen Zahlen sind Namen 

Reihe der historischen Zahlen 

Das Problem der historischen Zeit mufi in Korreladon zu dem des 

historischen Raumes (Geschichte auf dem Schauplatz) gefafit wer- 

den. <fr6i) 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 9 1 

Die Kosmogonie leistet die Zerlegung der »Natur« in historisch 
differente Begriffe. 

Natur: Chiffre, Schein und Schauplatz 
Chiffre und Schauplatz: das Erhabne - die Erde 
Schein und Schauplatz: das Schone - der Himmel 

<fr6j> 



Zum Problem der Physiognomik und Vorhersagung 

Die Zeit des Schicksals ist die Zeit, die jederzeit gleichzeitig (nicht 
gegenwartig) gemacht werden kann. Sie stent unter der Ordnung 
der Schuld, die in ihr den Zusammenhang bestimmt. Sie ist eine 
unselbstandige Zeit und es gibt in ihr weder Gegenwart noch Ver- 
gangenheit noch Zukunft. { fr 64 ) 



Die Ethik, auf die Geschichte angewendet, ist die Lehre 
von der Revolution 

auf den Staat angewendet die Lehre 
von der Anarchie 

noch andere Anwendungen? 



Weltbiirgertum 
Weltgeschichte 
Weltgericht 



Gottesgeschichte 



A Reine Ethik Freiheitslehre 

Angewandte Ethik I Geschichte : Lehre von der Revolution 
II Staat: Lehre von der Anarchie 



B Reine Rechtsphilosophie 

Angewandte I Geschichte: Lehre von der Welt- 

Rechtsphilosophie geschichte als Entwicklung 
II Lehre von der Herrschaft 
(Monarchic - Demokratie) 



9 2 Fragmente vermischten Inhalts 

C Reine Moral Handlungslehre Lehre von der Gerechtigkeit 
Angewandte Moral I Geschichte: Lehre vom Weltgericht 
II Moral: Lehre von der Theokratie 

In drei Momenten unterscheidet sich die Weltgeschichte von der 

Gottesgeschichte: 

i In ihr ist getrennt, was in der Gottesgeschichte eins ist 

2 In ihr hat zeitlichen Index was in der Gottesgeschichte kei- 

nen hat (z.B. Revolution - Anfang 
Weltgericht - Ende) 

3 In ihr findet alles in der Zeit statt 

(zeitliche Revolutionen, zeitliche Weltgerichte) 

Die hochste Kategorie der Weltgeschichte, um die Einsinnigkeit des 
Geschehens zu verburgen ist die Schuld. Jedes weltgeschichtliche 
Moment verschuldet und verschuldend. Niemals konnen Ursache 
und Wirkung fur die Struktur der Weltgeschichte entscheidende 
Kategorien sein, denn sie konnen keine Totalitat bestimmen. Die 
Logik hat den Satz zu erweisen, dafi keine Totalitat als solche Ursa- 
che oder Wirkung sein kann. Es ist ein Fehler der rationalistischen 
Geschichtsauffassung, irgend eine historische Totalitat (d.h. einen 
Weltzustand) als Ursache oder Wirkung anzusehen. Ein Weltzu- 
stand ist aber immer nur Schuld (mit Beziehung auf irgend einen 
spatern) { . ) Ob er auch verschuldet ist in Beziehung auf einen frii- 
hern (analog wie jedes mechanische Stadium Ursache und Wirkung 
ist) ist aber zu untersuchen. [Leicht moglich, dafi nicht.] Nochmals : 
Keine Totalitat ist Ursache oder Wirkung, keine Ursache oder Wir- 
kung Totalitat. D.h. eine Totalitat kann ein Ursach-Wirkungs- 
System in sich enthalten, niemals aber durch dasselbe bestimmt 
definiert werden. 

Der Aufriihrer Das historische Individuum 

Der Herrscher Die historische Person 

Die Relation zwischen Weltgeschichte und Gottesgeschichte ist 
methodisch zu erforschen und darzulegen durch die Erforschung 
der Reihe der historischen Zahlen. 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 93 

»Moral« Titel des zweiten Teils des Systems. »Moralphilosophie« 
ist eine dumme Tautologie. Moral ist nichts anderes als die Bre- 
chung der Handlung in der Erkennbarkeit; etwas aus dem Bezirk 
der Erkenntnis. Nicht ist Moral: Gesinnung. {fr 65 ) 



Arten der Geschichte 

Naturgeschichte Kosmogonie 

Weltgeschichte Stufenleiter der Phanomene 

Gottesgeschichte Einsinniger Wirkungszusammenhang 

von deren Standpunkt aus ist 
Naturgeschichte - Schopfungsgeschichte 
Weltgeschichte - Offenbarung 

Naturgeschichte gibt es nur als Kosmogonie oder als Schopfungsge- 
schichte, die Herdersche Konzeption von ihr ist falsch, vom irdi- 
schen Standpunkt aus gesehen ( , ) aber die Erde ist, weil Menschen 
auf ihr leben schon ein ^e/fgeschichtliches Individuum. 
Der Phanomenzusammenhang gilt nicht nur fur die Himmelswelt 
sondern auch fur die irdische Natur (fur sie gilt auch schon der 
weltgeschichtliche Zusammenhang), auch fur den Anthropos als 
Phanomen, z.B. als Geschlechtswesen, bis zur Grenze der Ge- 
schichte. 

Die Naturgeschichte erreicht den Menschen nicht, die Weltge- 
schichte ebensowenig, sie kennt nur das Individuum, der Mensch 
ist weder Phanomen noch Wirkung sondern Geschopf . ( f r 66 ) 

Methodische Arten der Geschichte 

Allgemein ist Geschichte ein einsinniger Verlauf 
I Pragmatische Geschichte, verlauft zeitlich, in Kampfen 

II Phanomen-Geschichte behandelt die Reihe der phanomeno- 

logischen (nicht zeitlichen) Voraus- 
setzungen der Phanomene; auch sie 
ist einsinnig (Anwendungsgebiete 
z,B. Natur- und Kunstgeschichte) 

III Philologie behandelt denjenigen Verlauf, der 

weder wesentlich zeitlich ist noch 
wesentlich gesonderte Phanomene 



94 Fragmente vermischten Inhalts 

aufweist: den terminologischen. Die 
Philologie ist Verwandlungsge- 
schichte, ihre Einsinnigkeit beruht 
darauf dafi die Terminol ( ogie } nicht 
Voraussetzung sondern Stoff einer 
neuen usf. wird. In der Philologie 
hat der Gegenstand die hochste Kon- 
tinuitat. Die Einsinnigkeit ist in ihr 
besonders modifiziert, da sie letzten 
Endes zum Zyklischen neigt. Diese 
Geschichte hat ein Ende aber kein 
Ziel. (Beispiel : Geistesgeschichte, 
Geschichte der Aufklarung) 

Hochst wahrscheinlich konnen Phanomengeschichte und pragma- 
tische Geschichte mit einander keine fruchtbare Verbindung einge- 
hen, dagegen Philologie und pragmatische Geschichte (Quellen- 
kunde) und Philologie und Phanomen- Geschichte (Interpretation); 
die Verbindung ist umso enger, je alter die Pragmata und Pheno- 
mena sind. Literaturgeschichte und Geschichte der Philosophic 
sind Interpretationswissenschaften und konnen ohne strenge Philo- 
logie und ausgebildete Phanomenlehre (welche mit Beziehung auf 
die Natur Morphologie heifit, fur Philosophic und Kunst in der 
Logik liegt) nicht bestehen. Mit demselben Recht oder vielmehr 
Unrecht wie man Literatur- und Philosophiegeschichte Hilfswis- 
senschaften der Geistesgeschichte nennen wiirde, gabe man der 
Urkundenlehre die Bezeichnung einer Hilfswissenschaft der Ge- 
schichte. Methodisch untergeordnet haben sie doch vollig selbst- 
standigen Wert. (fr 67) 

Die Fahne 

Zu untersuchen: Fahne und aufgerollter Himmel. Der Himmel die 

Fahne uber der Welt. Damit ware die Immanenz der Erde aus dem 

solaren und weitern kopernikanischen System getilgt. Himmel und 

Erde werden wieder polar { . ) 

Die Fahne bei der Auferstehung - Christus halt sie: gehort zu den 

Bestimmungen des eschatologischen Ortes. 

Die Fahne uber der Welt. Fahnenstange - Turm. Turm bis in den 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 95 

Himmel (Babel) (.) 1st friiher die Fahnenstange stufenartig (turm- 
artig, nicht saulenartig) aufgebaut gewesen? (fr 68 ) 

Man unterschatzt heute Briefwechsel, weil sie auf den Begriff des 
Werkes und der Autorschaft vollig schief bezogen werden; wah- 
rend sie in Wahrheit dem Bezirk des »Zeugnisses« angehoren, des- 
sen Beziehung auf das Subjekt so bedeutungslos ist, wie die Bezie- 
hung irgend eines pragmatisch-historischen Zeugnisses (Inschrift) 
auf die Person seines Urhebers. Die »Zeugnisse« gehoren zur 
Geschichte des Fortlebens eines Menschen und eben, wie in das 
Leben das Fortleben mit seiner eignen Geschichte hereinragt, lafit 
sich am Briefwechsel studieren. (Nicht so an den Werken, in ihnen 
vermischen sich nicht Leben und Fortleben, sondern die Werke 
sind wie eine Wasserscheide.) Fiir die Nachkommenden verdichtet 
sich der Brieiwechsel eigentiimlich (wahrend der einzelne Brief mit 
Beziehung auf seinen Urheber an Leben einbiiften kann) : die Briefe, 
wie man sie hintereinander in den kiirzesten Abstanden liest, veran- 
dern sich objektiv aus ihrem eignen Leben. Sie leben in einem 
andern Rhythmus als zur Zeit, da die Empfanger lebten, und auch 
sonst verandern sie sich. ( fr 69 ) 



Zur Geschichtsphilosophie der Spatromantik 
und der historischen schule 

Die Unfruchtbarkeit, die dieser Geschichsphilosophie trotz ihrer 
bedeutenden Gedanken in gewisser Hinsicht anhaftet, riihrt aus 
einem ihrer charakteri ( sti ) sch modernen Ziige her. Sie teilt namlich 
mit vielen wissenschaftlichen Theorien der Neuzeit den Absolutis- 
mus der Methode. Es ist seit dem Mittelalter die Einsicht in den 
Reichtum von Schichten, in dem sich die Welt und ihre besten 
Gehalte aufbauen, verloren gegangen. Und zwar sind diese Schich- 
ten zu einem Teil geradezu ontologische, d. h. sie verlaufen in einer 
Skala vom Sein zum Schein. - Die Geschichtsphilosophie der 
Restauration verliert an Gewicht in dem Mafc, in welchem man das 
»Wachstum« der Historie zu deren einziger Bewegung erhebt. Und 
im gleichen Mafie treten scheinhafte Einsichten an Stelle einer Ein- 
sicht in den Schein, der auch in der Historie waltet. - Was eigentlich 
das Problem dieser Geschichtsphilosophie gebildet hat, lafit sich 



96 Fragmente vermischten Inhalts 

formulieren als die Frage nach dem Verhalten zu ihrem Wachstum. 
Ihr philosophisches Genie liegt darin, dafi theoretische und prakti- 
sche Haltung identisch waren, in dem Verhalten, das sie einzig 
anerkannte. Es war die Beobachtung. Diese gait der Romantik nicht 
wie den Heutigen als ein lediglich theoretisches Verhalten. Darf 
man vielmehr eine friih- und eine spatromantische Theorie der 
Beobachtung (unterscheiden), in deren Zentrum fur die erste die 
Reflexion liegt, fur die zweite die Liebe, so ist die Uberzeugung von 
der wirkenden Kraft derselben beiden gemeinsam. Der spatroman- 
tischen Auffassung gait die Kontemplation als eine Sonne, unter 
deren Strahl das Geliebte sich zu frischem Wachstum entfaltete. In 
dem Mafie aber als man ihm Strahlung entzog blieb es dunkler und 
ward ohnmachtiger. In den Abstufungen dieser Verhaltungsweisen 
waren nicht allein wissenschaftliche sondern praktische Stellung- 
nahmen gegeben. Denn jene Macht, die hier der Beobachtung ver- 
liehen wird, ist es im Grunde, welche der Blick des Vaters in der 
Erziehung in Anspruch nimmt. Nicht sowohl der Wachsamkeit des 
vaterlichen Auges als seiner Kraft der Strahlung oder seiner Trii- 
bung mufi das heranwachsende Kind inne sein. Und wie diese 
gewaltlose Leitung, welche freilich nicht spater einsetzen darf als 
die Geburt, in den wesentlichen Dingen mehr als alles andere iiber 
das Kind vermag (mehr als Handgreiflichkeiten und vor allem mehr 
als die Gewalt des vielgeriihmten Beispiels), so ist sie auch fur den 
Vater bedeutungsvoller als die Uberlegung. Denn indefl sein Blick 
folgt, lernt sein Auge sehen, was dem Kinde gemafi ist. Und nur 
dem, welchen der Anblick vieler Dinge vieles gelehrt, wohnt die 
Kraft der Kontemplation inne: Ganz in diesem Sinne waren die 
Forscher der historischen Schule eingestellt. Allein es kann nicht 
fehlen, daft die Hypothese, welche den Grund ihrer Anschauung 
bildet, versagt, je deutlicher die Betrachtung der Geschichte auf 
eine Universalitat Anspruch erhebt, der die vaterliche Liebe nicht 
pflichtig ist. Denn sie hat es in der Tat wesentlich(,) wenn nicht 
nur(,) mit dem Wachstum zu tun. Allem menschlichen Wachstum 
gegeniiber ist ihre Haltung vorbildlich. Anders der Historiker: 
seine erzieherische Befugnis ist um so schwankender begriindet als 
das Feld seiner Betrachtung unabsehbar ist, und bei weitem nicht 
allein der Mutterboden friedlichen Wachstums sondern der Bann- 
kreis blutiger Entscheidungen. Deren eigne Sphare zu verkennen 
geht nicht an, in ihr ist eine jener Regionen zu erblicken, deren 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 97 

eigentiimliche Gebietshoheit in den ihr entsprechenden Kategorien 
das moderne Denken nicht mehr festzuhalten vermochte, geschwei- 
ge daft es den ganzen Himmel der Geschichte nach seinen Spharen 
geordnet, hatte tragen konnen. Allzuvieles stiirzte in der »organi- 
schen« Betrachtung in einander. Aber sie verrat die eigene Be- 
schranktheit am Ende, wenn sie im Ideal eines ungebrochenen Na- 
turzustandes und im Mafistab einer »schonen« Volksentwicklung 
offenkundig den Bereich wahrhaft historischer, d. i. religios-prag- 
matischer, Betrachtung verlafit und einer Haltung anheimfallt, die 
zwischen ethischem und dem asthetischen Betrachten hilflos 
schwankt, eine Verfehlung, der keine Anschauung entgeht, der die 
Kraft mangelt, die Welt in ihren Schichtungen zu erkennen. Deren 
Zusammenhang erhellt die Theologie nur unter der Bedingung, dafi 
vermittelnde Philosopheme ihre natiirliche Spannung nicht auf losen . 

Uber die Chronik. Fur sie ist das angedeutete Kategoriensystem das 

zutreffende. 

Verhaltnis von historischer Kontemplation und historischer Kon- 

struktion. (^70) 

Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt 

Man pflegt in den Institutionen des Rechts, die es gestatten Faktum 
und Urteil mit Beziehung auf Zeiten, die lange zuriickliegen, fest- 
zustellen, nichts als die zu hochster Pragnanz gelangten Intentionen 
der Moral selbst zu erblicken. Was aber dem Recht dieses Interesse 
und diese Macht iiber langst Vergangnes verleiht, ist - weit entfernt 
die Gegenwart der Moral in ihm zu reprasentieren - eine Tendenz, 
die es von der moralischen Welt auf das genaueste abgrenzt; dieje- 
nige auf Vergeltung. Wenn im modernen Recht die Vergeltung - 
gleich als scheue sie, iiber den Bereich eines Menschenlebens hin- 
auszugreifen - in einem Zeitraum von dreifiig Jahren, einem 
Menschenalter{,) sich sogar im aufiersten Falle des Mordes 
begrenzt, so ist es aus altern Rechtsformen bekannt, dafi bis in die 
Folge fernerer Geschlechter diese vergeltende Gewalt hineinzurei- 
chen vermochte. Die Vergeltung steht im Grunde indifferent der 
Zeit gegenuber, sofern sie durch die Jahrhunderte unvermindert in 
Kraft bleibt und noch heute wird eine eigentlich heidnische Vorstel- 
lung sich in diesem Sinne das jiingste Gericht zurechtlegen: als den 



9$ Fragmente vermischten Inhalts 

Termin, an welchem allem Aufschub Einhalt, aller Vergeltung Ein- 
bruch geboten wird. Allein dieser Gedanke, der des Aufschubs 
gleich als leeren Saumens spottet, begreift nicht, welche unermefili- 
che Bedeutung jener standig zuriickgedrangte, von der Stunde jeder 
Untat so unablassig ins Zukiinftige fluchtend(e), der Gerichtstag 
hat. Diese Bedeutung erschliefk sich nicht in der Welt des Rechts, 
wo die Vergeltung herrscht, sondern nur, wo ihr, in der morali- 
schen Welt, die Vergebung entgegentritt. Diese aber findet, um 
gegen die Vergeltung zu streiten, ihre machtige Gestaltung in der 
Zeit. Denn die Zeit, in welcher Ate dem Verbrecher folgt, ist nicht 
die einsame Windstille der Angst, sondern der vorm immer nahen- 
den Gericht daherbrausende laute Sturm der Vergebung, gegen den 
sie nicht ankann. Dieser Sturm ist nicht nur die Stimme in der der 
Angstschrei des Verbrechers untergeht, er ist auch die Hand, wel- 
che die Spuren seiner (Untat) vertilgt, und wenn sie die Erde 
darum verwiisten miifite. Wie der reinigende Orkan vor dem 
Gewitter dahinzieht, so braust Gottes Zorn im Sturm der Verge- 
bung durch die Geschichte, um alles dahinzufegen, was in den Blit- 
zen des gottlichen Wetters auf immer verzehrt werden mufite(.) 
Was in diesem Bilde gesagt ist, mufi sich klar und deutlich in Begrif- 
fen fassen lassen: die Bedeutung der Zeit in der Okonomie der 
moralischen Welt, in welcher sie nicht allein die Spuren der Untat 
ausloscht, sondern auch in ihrer Dauer - jenseits alien Gedenkens 
oder Vergessens - auf ganz geheimnisvolle Art zur Vergebung hilft, 
wenn auch nie zur Versohnung. { f r 7 1 ) 



Geschichte ist Chock zwischen Tradition und der politischen 
Organisation {.) (^7^) 



1) Welt und Zeit 

In dem Offenbar- Werden des Gottlichen ist die Welt - der Schau- 
platz der Geschichte - einem groften Dekompositionsprozefi, die 
Zeit - das Leben des Darstellers - einem groften Erfiillungsprozeft 
unterworfen. Der Weltuntergang - die Zerstorung und Befreiung 
einer (dramatischen) Darstellung. Erlosung der Geschichte vom 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 99 

Darstellenden. / Aber vielleicht ist in diesem Sinne der tiefste 
Gegensatz zu »Welt« nicht »Zeit« sondern »die kommende 
Welt«. 

2) Katholizismus - Prozeft des Heraufkommens der Anarchie 
Das Problem des Katholizismus ist das der (falschen, irdischen) 
Theokratie. Der Grundsatz ist hier: echte gottliche Gewalt kann 
anders als zerstorend nur in der kommenden Welt (der Erfiilltheit) 
sich manifestieren. Wo dagegen gottliche Gewalt in die irdische 
Welt eintritt, atmet sie Zerstorung. Daher ist in dieser Welt nichts 
Stetiges und keine Gestaltung auf sie (zu) grtinden, geschweige 
denn Herrschaft als deren oberstes Prinzip, (Im iibrigen vgl. die 
Notizen zur Kritik der Theokratie) 

3) a Meine Definition von Politik: die Erfullung der ungesteiger- 
ten Menschhaftigkeit 

b Es darf nicht heiften: durch die Religion erlassne, sondern 
muli heiften durch sie erforderte Gesetzgebung des Profanen. Die 
mosaischen Gesetze gehoren wahrscheinlich ausnahmslos nicht zu 
ihr. Sondern diese gehoren der Gesetzgebung iiber das Gebiet der 
Leiblichkeit im weitesten Sinne an (vermutlich) und haben eine 
ganz besondere Stellung; sie bestimmen Art und Zone unmittelba- 
rer gottlicher Einwirkung. Und ganz unmittelbar da wo diese Zone 
sich ihre Grenze setzt, wo sie zuriicktritt, grenzt das Gebiet der 
Politik, des Profanen, der im religiosen Sinne gesetzlosen Leiblich- 
keit an. 

c Die Bedeutung der Anarchie fur den profanen Bezirk ist aus 
dem geschichtsphilosophischen Ort der Freiheit zu bestimmen. 
(Schwieriger Erweis: hier scheint die Grundfrage der Zusammen- 
hang von Leiblichkeit und Individualist) 

4) Das Soziale ist in seinem jetzigen Stande Manifestation gespen- 
stischer und damonischer Machte, allerdings oft in ihrer hochsten 
Spannung zu Gott, ihrem aus sich selbst (H)erausstreben. Gottli- 
ches manifestiert sich in ihnen nur in der revolutionaren Gewalt. 
Nur in der Gemeinschaft, nirgends in den »sozialen Einricht(un- 
g)en« manifestiert sich Gottliches gewaltlos oder gewaltig. (In die- 
ser Welt ist hoher: gottliche Gewalt als gottliche Gewaltlosigkeit. 
In der kommenden gottliche Gewaltlosigkeit hoher als gottliche 
Gewalt.) Dergleichen Manifestation ist nicht in der Sphare des 
Sozialen, sondern der offenbarenden Wahrnehmung und zuletzt 
und vor allem der Sprache, zuallererst der heiligen zu suchen. 



ioo Fragmente vermischten Inhalts 

5) a Es handelt sich nicht um »Verwirklichung« der gottlichen 
Gewalt. Dieser Prozeft ist einerseits selbst die hochste Wirklichkeit 
und die gottliche Gewalt andrerseits hat ihre Wirklichkeit in sich. 
(Schlechte Termini!) 

b Die Frage nach der Manifestation ist zentral 
c »Religios« ist Unsinn. Zwischen Religion und Konfession 
besteht kein wesentlicher Unterschied, aber das letzte ist ein enger, 
in den meisten Zusammenhangen unzentraler Begriff. (fr 73 ) 

Kapitalismus als Religion 

Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h. der Kapitalis- 
mus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, 
Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort 
gaben. Der Nachweis dieser religiosen Struktur des Kapitalismus, 
nicht nur, wie Weber meint, als eines religios bedingten Gebildes, 
sondern als einer essentiell religiosen Erscheinung, wiirde heute 
noch auf den Abweg einer mafllosen Universalpolemik fiihren. Wir 
konnen das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Spater wird dies 
jedoch iiberblickt werden. 

Drei Ziige jedoch sind schon der Gegenwart an dieser religiosen 
Struktur des Kapitalismus erkennbar. Erstens ist der Kapitalismus 
eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben 
hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kul- 
tus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theolo- 
gie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine 
religiose Farbung. Mit dieser Konkretion des Kultus hangt ein 
zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer 
des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans 
reve et sans merci. Es gibt da keinen »Wochentag«(,) keinen Tag 
der nicht Festtag in dem fiirchterlichen Sinne der Entfaltung alien 
sakralen Pompes(,) der aufiersten Anspannung des Verehrenden 
ware. Dieser Kultus ist zum dritten verschuldend. Der Kapitalis- 
mus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsuhnenden, sondern 
verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im 
Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbe- 
wufitsein das sich nicht zu entsiihnen weifi, greift zum Kultus, um 
in ihm diese Schuld nicht zu suhnen, sondern universal zu machen, 
dem Bewufksein sie einzuhammern und endlich und vor allem den 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 101 

Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen{,) um endlich ihn 
selbst an der Entsiihnung zu interessieren. Diese ist hier also nicht 
im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser 
Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich miilke halten konnen, 
noch in der Absage an sie. Es liegt im Wesen dieser religiosen 
Bewegung, welche der Kapitalismus ist(,) das Aushalten bis ans 
Ende(,) bis an die endliche vollige Verschuldung Gottes, den 
erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch 
gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhorte des Kapitalis- 
mus, daf? Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen 
Zertrummerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum reli- 
giosen Weltzustand aus dem die Heilung zu erwarten sei. Gottes 
Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Men- 
schenschicksal einbezogen. Dieser Durchgang des Planeten 
Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Ein- 
samkeit seiner Bahn ist das Ethos das Nietzsche bestimmt. Dieser 
Mensch ist der Ubermensch, der erste der die kapitalistische Reli- 
gion erkennend zu erfiillen beginnt. Ihr vierter Zug ist, daft ihr 
Gott verheimlicht werden mufi, erst im Zenith seiner Verschul- 
dung angesprochen werden darf. Der Kultus wird vor einer unge- 
reiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie 
verletzt das Geheimnis ihrer Reife. 

Die Freudsche Theorie gehort auch zur Priesterherrschaft von die- 
sem Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. Das Verdrangte, die 
siindige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender 
Analogie das Kapital, welches die Holle des Unbewuftten ver- 
zinst. 

Der Typus des kapitalistischen religiosen Denkens findet sich 
grofiartig in der Philosophic Nietzsches ausgesprochen. Der Ge- 
danke des Ubermenschen verlegt den apokalyptischen »Sprung« 
nicht in die Umkehr, Siihne, Reinigung, Bufte, sondern in die 
scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber sprengende, diskonti- 
nuierliche Steigerung. Daher sind Steigerung und Entwicklung 
im Sinne des »non facit saltum« unvereinbar. Der Ubermensch ist 
der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchge- 
wachsne, historische Mensch. Diese Sprengung des Himmels 
durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die religios (auch fur Nietz- 
sche) Verschuldung ist und bleibt{,) hat Nietzsche pr(a)ju- 
diziert. Und ahnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus 



102 Fragmente vermischten Inhalts 

wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (siehe 
die damonische Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialis- 
mus. 

Kapitalismus ist eine Religion aus blofiem Kult, ohne Dogma. 
Der Kapitalismus hat sich - wie nicht allein am Calvinismus, son- 
dern auch an den ubrigen orthodoxen christlichen Richtungen zu 
erweisen sein mufi - auf dem Christentum parasitar im Abendland 
entwickelt, dergestalt, dafi zuletzt im wesentlichen seine Geschich- 
te die seines Parasiten, des Kapitalismus ist. 
Vergleich zwischen den HeiHgenbildern verschiedner Religionen 
einerseits und den Banknoten verschiedner Staaten andererseits. 
Der Geist, der aus der Ornamentik der Banknoten spricht. 
Kapitalismus und Recht. Heidnischer Charakter des Rechts So- 
rel Reflexions sur la violence p 262 

Uberwindung des Kapitalismus durch Wanderung Unger Poli- 
tik und Metaphysik S 44 

Fuchs: Struktur der kapitalistischen Gesellschaft o.a. 
Max Weber: Ges. Aufsatze zur Religionssoziologie 2 Bd 1919/20 
Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der chr. Kirchen und Gruppen 
(Ges.W.11912) 

Siehe vor allem die Schonbergsche Literaturangabe unter II 
Landauer: Aufruf zum Sozialismus p 144 

Die Sorgen: eine Geisteskrankheit, die der kapitalistischen Epoche 
eignet. Geistige (nicht materielle) Ausweglosigkeit in Armut, 
Vaganten- Bettel- Monchtum. Ein Zustand der so ausweglos ist, ist 
verschuldend. Die »Sorgen« sind der Index dieses Schuldbewufit- 
seins von Ausweglosigkeit. »Sorgen« entstehen in der Angst 
gemeinschaftsmafiiger, nicht individuell-materieller Ausweglosig- 
keit. 

Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen 
des Kapitalismus begunstigt, sondern es hat sich in den Kapitalis- 
mus umgewandelt. 

Methodisch ware zunachst zu untersuchen, welche Verbindungen 
mit dem Mythos je im Laufe der Geschichte das Geld eingegangen 
ist, bis es aus dem Christentum soviel mythische Elemente an sich 
ziehen konnte, um den eignen Mythos zu konstituieren. 
Wergeld / Thesaurus der guten Werke / Gehalt der dem Priester 
geschuldet wird(.) Plutos als Gott des Reichtums 
Adam Muller: Reden iiber die Beredsamkeit 18 16 S j6ff 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 103 

Zusammenhang des Dogmas von der auflosenden, uns in dieser 
Eigenschaft zugleich erlosenden und totenden Natur des Wissens, 
mit dem Kapitalismus: die Bilanz als das erlosende und erledigende 
Wissen. 

Es tragt zur Erkenntnis des Kapitalismus als einer Religion bei, sich 
zu vergegenwartigen, dafi das urspriingliche Heidentum sicherlich 
zu allernachst die Religion nicht als ein »hoheres« »moralisches« 
Interesse, sondern als das unmittelbarste praktische gefafk hat, dafi 
es sich mit andern Worten ebensowenig wie der heutige Kapitalis- 
mus iiber seine »ideale« oder »transzendente« Natur im klaren 
gewesen ist, vielmehr im irreligiosen oder andersglaubigen Indivi- 
duum seiner Gemeinschaft genau in dem Sinne ein untriigliches 
Mitglied derselben sah, wie das heutige Burgertum in seinen nicht 
erwerbenden Angehbrigen. ( fr 74 ) 



Hitlers herabgeminderte Mannlichkeit - 

zu vergleichen mit dem femininen Einschlag des Verelendeten 

wie ihn Chaplin darstellt 
soviel Glanz um so viel Schabigkeit 
Hitlers Gefolgschaft 

zu vergleichen mit Chaplins Publikum 
Chaplin - die Pflugschar, die durch die Massen geht; das Gelachter 

lockert die Masse auf 

der Boden des dritten Reiches wird festgestampft und da 

wachst kein Gras mehr 
Verbot der Marionetten in Italien, der Chaplinfilme im dritten 

Reich - 

jede Marionette kann Mussolinis Kinn und jeder Zoll von 

Chaplin den Fiihrer machen 
Der arme Teufel will ernst genommen werden und sogleich mufi er 

die ganze Holle aufbieten 
Chaplins Gefugigkeit liegt vor aller Augen, Hitlers nur vor denen 

seiner Auftraggeber 
Chaplin zeigt die Komik von Hitlers Ernst; wenn er den feinen 

Mann spielt, dann wissen wir, welche Bewandtnis es mit dem 

Fiihrer hat 
Chaplin ist der grofite Komiker geworden, weil er das tiefste 

Grauen der Zeitgenossen sich einverleibte 



104 Fragmente vermischten Inhalts 

Das modische Leitbild Hitlers ist nicht der Militar sondern der 
bessere Herr, die feudalen Herrschaftsembleme sind aufier 
Kurs; es blieb nur die Herrenmode. Chaplin halt sich auch an 
die Herrenmode. Er tut es, um die Herrenkaste beim Wort 
zu nehmen. Sein Stockchen ist der Stab, um den sich der 
Parasit rankt (der Vagabund ist so gut ein Schmarotzer wie 
der Gent) und seine Melone, die auf dem Kopf keinen festen 
Ort mehr hat, verrat, dafi die Herrschaft der Bourgeoisie 
wackelt. 

Man hatte unrecht, die Figur Chaplins nur psychologisch zu deu- 
ten. Es ist selten, dafi so volkstiimliche Gestalten nicht einige 
Requisiten oder Embleme mit sich fuhren, die von aufien her 
ihnen den richtigen Akzent verleihen. Diese Rolle spielt fur 
Chaplin die Ausstaffierung mit dem Stockchen und der Me- 
lone. 

»Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder.« Hitler nahm 
den Reichsprasidententitel nicht an; er sah es darauf ab, die 
Einmaligkeit seiner Erscheinung den Leuten einzupragen. 
Diese Einmaligkeit kommt seinem magisch versetzten Pre- 
stige zustatten. (fr 75) 



Das Recht zur Gewaltanwendung 
Blatter fur religiosen Sozialismus 1 4 

Zul 
1) Es »ist der Rechtsordnung wesentlich die Tendenz, gegen den 
Versuch, sie zu brechen, unter Anwendung von Zwang zu reagie- 
ren, den richtigen Zustand zwangsweise zu erhalten bezw. wieder- 
herzustellen.(«) 

Die Begriindung dieses richtigen Satzes mit Hinweis auf die inten- 
sive Verwirklichungstendenz des Rechts ist schief. Es handelt sich 
um eine untergeordnete Wirklichkeit{,) auf die das Recht es 
absieht. Um den gewalttatigen Rhythmus der Ungeduld, in wel- 
chem das Recht existiert und sein Zeitmafi hat, im Gegensatz zum 
guten(?) Rhythmus der Erwartung, in welchem das messianische 
Geschehen verlauft. 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 105 

2) »Nur der Staat hat ein Recht zur Gewaltanwendung« (und jede 
Gewaltanwendung seinerseits bedarf eines besondern Rechtes) 

Wenn der Staat als das oberste Rechtsinstitut begriffen und gesetzt 
ist, so folgt aus Satz 1) die notwendige Geltung von Satz 2). Und 
zwar ist es hierfur belanglos, ob der Staat sich aus eigner oder frem- 
der Machtvollkommenheit als oberstes Rechtsinstitut einsetzt, 
m.a.W. Satz 2) gilt auch fur die irdische Theokratie. Eine andere 
Bedeutung des Staates aber hinsichtlich der Rechtsordnung als eine 
der beiden im vorher gehenden Satz bezeichneten ist nicht 
denkbar. 



lull 

Kritische Moglichkeiten 1, 2 

A) Das Recht zur Gewaltanwendung fur den Staat und fur den ein- 
zelnen leugnen 

B) Das Recht zur Gewaltanwendung fur den Staat und fur den ein- 
zelnen unbedingt anerkennen 

C) Das Recht zur Gewaltanwendung fur den Staat anerkennen 

D) Das Recht zur Gewaltanwendung nur fur den einzelnen aner- 
kennen. 

Zu A) Diese Anschauung ist die vom Referenten als ethischer 
Anarchismus bezeichnete. Seine Widerlegung desselben ist in kei- 
ner Weise aufrecht zu erhalten. Denn 1) ist eine »zwangsweise« her- 
beigefiihrte Hohe des Kulturniveaus, welche die Anwendung von 
Gewalt angeblich rechtfertigen soil, eine contradictio in adjecto(.) 
2) ist es ein typisch moderner und auf sehr mechanistischen Denk- 
gewohnheiten beruhender Irrtum, dafi die Ordnung irgend eines 
kulturellen Status sich von Minimaldaten aus aufbauen lasse, wie 
die Sicherung der physischen Existenz eines ist. Vielleicht lassen 
sich in der Tat Indices eines kulturellen Status erkennen, die zum 
Ziele des Strebens gesetzt werden konnen: aber das sind gewifi nicht 
die Minimaldaten. 3) ist durchaus falsch, dafi der Kampf urns Da- 
sein im Rechtsstaat zu einem Kampf urns Recht wird. Vielmehr 
zeigt die Erfahrung aufs deutlichste das Umgekehrte. Und dies ist 

1 Anm. Im Sinne dieser Disjunktionen steht der Einzelne nicht im Gegensatz zur lebendigen 
Gemeinschaft; sondern zum Staat. 

2 Fur den Staat gelten die hier aufgestellten Moglichkeiten gegeniiber sowohl andern Staaten wie 
Biirgern. 



106 Fragmente vermischten Inhalts 

notwendig so, weil das Recht nur scheinbar um der Gerechtigkeit 
willen, in Wahrheit um des Lebens willen sich behauptet. Und zwar 
um das eigne Leben gegen die eigne Schuld zu behaupten. (I)m 
Recht kommt die eigentlich normative Kraft im entscheidenden 
Falle stets dem Faktischen zu. 4) beruht die Erwagung, dafi der 
Zwang trotz allem was der Ethiker dagegen haben mag, »Einflufi 
auf die innere Haltung der Menschen« habe{,) auf einer plumpen 
Quaternio terminorum, insofern als »innere Haltung« dabei mit 
»sittlicher Haltung* verwechselt wird. Sonst ist namlich dies Argu- 
ment in einer ethischen Erwagung nicht beweiskraftig. - Dagegen 
ist der sog. »ethische Anarchismus* aus ganz andern Uberlegungen 
hinfallig. S. meinen Auf satz » Leben und Gewalt «. 
2u B) Diese Anschauung, die der Referent in II unter 2) auffiihrt, 
ist in sich selbst widerspruchsvoll. Denn der Staat ist nicht eine Per- 
son neben andern, sondern das oberste Rechtsinstitut, das, wo 
es{,) wie im obigen Satz ethisch anerkannt wird, eine unbedingte 
Anerkennung der Gewaltanwendung fur einzelne ausschliefit. Der 
Referent scheint dennoch auf diesem Standpunkt zu stehen, da er 
ohne dem Staat abzusagen, doch eventuell Gewalt des einzelnen 
ihm gegeniiber anerkennt. 

Zu C) Dieser Satz kann im Prinzip vertreten werden, wo die 
Anschauung waltet, dafi die sittliche Ordnung je die Form einer 
Rechtsordnung, die dann nur durch den Staat vermittelt gedacht 
sein kann, annimmt. Das jeweils geltende Recht beansprucht die 
Anerkennung dieses Satzes ohne sie zu vollziehen. (Ihr Vollzug ist 
hinsichtlich des gegenwartigen Standes kaum vorstellbar.) 
Zu D) Diese Anschauung, deren sachliche Unmoglichkeit dem 
Referenten so sehr ausgemacht scheint, dafi er sich nicht einmal ihre 
logische Mbglichkeit als eines eigentumlichen Standpunktes klar 
macht, sondern sie eine inkonsequent einseitige Anwendung des 
ethischen Anarchismus nennt, mufi vertreten werden wo einerseits 
zwar (im Gegensatz zu A) kein prinzipieller Widerspruch zwischen 
Gewalt und Sittlichkeit, andrerseits aber (im Gegensatz zu C) ein 
prinzipieller Widerspruch zwischen Sittlichkeit und Staat (bezw. 
Recht) erblickt wird. Die Darlegung dieses Standpunkts gehort zu 
den Aufgaben meiner Moralphilosophie, in deren Zusammenhang 
der Terminus Anarchismus sehr wohl fur eine Theorie gebraucht 
werden darf, welche das sittliche Recht nicht der Gewalt als solcher, 
sondern allein jeder menschlichen Institution, Gemeinschaft oder 



Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 107 

Individualist abspricht{,) welche sich ein Monopol auf sie zu- 
spricht oder das Recht auf sie auch nur prinzipiell und allgemein in 
irgend einer Perspektive sich selbst einraumt, anstatt sie als eine 
Gabe der gottlichen Macht, als Machtvollkommenheit im einzelnen 
Falle zu verehren. 

Zwei Bemerkungen zum Nachwort des Herausgebers. 

I) Der »ethische Anarchismus« ist in der Tat als politisches Pro- 
gramm, d. h. als ein Plan des Verhaltens, welcher mit Hinsicht auf 
das Werden eines neuen weltburgerlichen Zustands gefafit ist, 
widerspruchsvoll. Den iibrigen Ausfiihrungen gegen denselben ist 
jedoch vieles zu entgegnen. 1) Wenn da gesagt ist, dafi »jeder Nicht- 
Vollreife« in der Tat kein andres Mittel hat, dem gewaltsamen 
Angriff zu begegnen, so ist zu erwidern, dafi der Voll-Reife dies 
sehr oft genau so wenig hat (und uberhaupt hat dies mit Reife nichts 
zu tun) und der »ethische Anarchismus« will auch nichts weniger 
vorschlagen, als ein Mittel gegen die Gewalt. 2) Gegen die »Geste« 
der Gewaltlosigkeit, wo sie etwa ins Marty rium ausmiindet{,) ist 
garnichts zu besagen. In der Moral, ja von allem moralischen Han- 
deln gilt schrankenlos Mignons Wort »So lafit mich scheinen{,) bis 
ich werde«. Kein Schein verklart so wie dieser. 3) Was die Progno- 
sen liber den politischen Erfolg dieser Widerstandslosigkeit sowie 
iiber die ewige Herrschaft der Gewalt auf Erden angeht, so ist, ganz 
besonders der letzten These gegemiber - sofern unter Gewalt die 
physische Aktion verstanden ist (-), die grofite Skepsis nicht abzu- 
weisen. 

Hingegen (so hinfallig »ethischer Anarchismus« als Politik ist) ver- 
mag (wie schon soeben unter 2) angedeutet) ein Handeln das ihm 
gemaft ist, die Moralitat des Einzelnen oder der Gemeinschaft zu 
hochster Hohe zu erheben, wo sie leiden, weil ihnen gewaltsamer 
Widerstand nicht gottlich geboten scheint. Wenn Gemeinden gali- 
zischer Juden sich in ihren Synagogen niederschlagen lieften ohne 
Gegenwehr, so hat das mit »ethischem Anarchismus« als politi- 
schem Programm nichts zu tun, sondern hier tritt das blofSe »Nicht- 
Widerstehen dem B6sen« als moralische Handlung in heiliges 
Licht. 

II) Uber das Recht zur Gewaltanwendung eine allgemein verbind- 
liche Entscheidung zu fallen ist notwendig- und moglich(,) weil 
die Wahrheit iiber die Moral nicht Halt macht vor der Chimare der 



io8 Fragmente vermischten Inhalts 

moralischen Freiheit. - Es ist aber, wenn man sich auf die argumen- 
tatio und dissertatio ad hominem einlafit und also von dem soeben 
(B)ehaupteten absieht, eine subjektive Entscheidung fur Anspruch 
oder Verzicht auf gewalthaftes Handeln in abstracto nicht eigent- 
lich ins Auge zu fassen, weil eine wahrhaft subjektive Entscheidung 
wohl nur angesichts bestimmter Ziele des Wunsches vorstellbar 
scheint. (f r 7^) 



Zur Asthetik 



Aphorismen zum Thema {Phantasie und Farbe) 

Das Anschauen der Phantasie ist ein Schauen innerhalb des Kanon, 
nicht ihm gemafi, daher rein aufnehmend, unschopferisch. 

Kunstwerke sind nur in der Idee schon. In dem Mafie sind sie es 
nicht, als sie gemafi dem Kanon sind, statt in ihm. (Musik, Futuri- 
stische Malerei - streben ins Innere?) 

Verhaltnis des kunstlerischen Kanons zur Phantasie auGerhalb der 
Farbe? Alle Kiinste beziehen sich endlich auf Phantasie. 

Die Farbe ist schon, aber es hat keinen Sinn, schone Farben hervor- 
zubringen, weil Farbe Schonheit als Eigenschaft, nicht als Erschei- 
nung im Gefolge ist. 

Farbe nimmt in sich auf, indem sie farbt und sich hingibt. 

Farbe mufi gesehen werden. 

Die Farben geben keine Harmonielehre aufzustellen, weil in die- 
se(r) doch die Zahl nur der Ausdruck unendlicher Moglichkeiten, 
die nur systematisch zusammengefaftt werden, ist. Es gibt zu einem 
Grundton Oktave bis None und so fort in immer reichrer Entfal- 
tung. Die Harmonie der Farbe ist eine einzige in einem bestimmten 
Medium, sie entbehrt des Vielfachen, weil sie ungeschaffen, nur in 
der Anschauung besteht. Harmonielehre ist nur im Ubergang zu 
Licht und Schatten moglich, also mit Beziehung auf den Raum. 

Zur malerischen Farbe: sie entspringt als einzelne in der Phantasie, 
aber ihre Reinheit wird durch die Beziehung zum Raume verfalscht 
und so entsteht Licht und Schatten. Diese sind ein Mittleres zwi- 
schen der reinen Phantasie und der Schopfung und in ihnen beste- 
hen die malerischen Farben. 

Farbe verhalt sich zu Optik nicht, wie Linie zu Geometric 



i io Fragmente vermischten Inhalts 

In der Plastik ist die Farbe Eigenschaft. Gefarbte Statuen, zum 
Unterschied von der Malerei. ( fr 77 ) 



Die Farbe vom Kinde aus betrachtet 

Die Farbe ist etwas Geistiges, etwas dessen Klarheit geistig ist oder 
dessen Vermischung Nuance, nicht Verschwommenheit ist. Der 
Regenbogen ist ein reines kindliches Bild. In ihm ist die Farbe ganz 
Kontur, sie ist die Grenzbezeichnung fur den kindlichen Men- 
schen, nicht der schichthafte Uberzug der Substanz, wie fur den 
Erwachsenen. Dieser abstrahiert von der Farbe als dem triigeri- 
schen Deckmantel individuell einzelner Dinge in Zeit und Raum. In 
der konturierenden Farbe sind die Dinge nicht versachlicht, son- 
dern erfullt von einer Ordnung in unendlichen Nuancen; die Farbe 
ist das Einzelne, aber nicht als tote Sache und eigensinnige Indivi- 
dualist, sondern als Befliigeltes, welches von einer Gestalt zur 
andern iiberfliegt. Kinder machen Seifenblasen. Auch die Bunten 
Stiicke des Stabchenspiels, Ausnahsachen, Abziehbilder, Teespiele, 
sogar Ziehbilderbucher und in geringerm Mafie auch Papierflecht- 
arbeiten beziehen sich auf diese Natur der Farbe. 
Kinder haben Freude an der Veranderung der Farbe im beweglichen 
Ubergang von Nuancen (Seifenblase) oder in der deutlichen und 
ausdrucklichen Qualitatssteigerung von Farben auf Oldrucken, 
Malerauslagen, Abziehbildern und Laterna magica. Die Farbe ist 
fur sie von feuchter Art, das Medium aller Veranderungen und nicht 
Symptom. Ihr Auge ist nicht auf das Plastische gerichtet, das sie 
durch Tasten feststellen. Vermutlich ist bei Kindern die Differen- 
ziertheit innerhalb einer Sinnesauffassung (Gesicht, Gehor u.s.f.) 
grofter als beim Erwachsenen, der die sogar entwickelte Korrespon- 
denz verschiedner Sinnesvermogen hat. Die kindliche Auffassung 
der Farbe bringt den Gesichtssinn zur hochsten kunstlerischen 
Ausbildung, zur Reinheit, indem sie ihn isoliert, sie erhebt diese 
Bildung zu einer geistigen, da sie die Gegenstande nach ihrem farbi- 
gen Geha,Jt anscHaut und folglich nicht isoliert, sondern sich die 
zusammenhangende Anschauung der Phantasiewelt in ihnen si- 
chert. Phantasie ist nur durch solche Anschauung von Farben und 
im Umgang mit ihnen ganz zu entwickeln, zu befriedigen, in Zucht 
zu halten. Wo sie sich aufs Plastische wirft wird sie iippig, wo sie auf 
die Geschichte geht, nicht minder und in der Tonkunst bleibt sie 



Zur Asthetik 1 1 1 

unfruchtbar. Phantasie kann sich namlich niemals auf die Form 
beziehen, die Sache des Gesetzes ist, sondern nur die lebendige 
Welt vom Menschen aus schopferisch im Gefiihl anschauen. Dies 
geschieht in der Farbe, die deshalb auch nicht einzeln und rein sein 
darf, wo sie stumpf bleibt, sondern niianciert, bewegt, willkiirlich 
und immer schon bleibt, wo sie nicht die Gegenstande illustrieren 
will. Sofern ist das Austuschen eine reinere padagogische Funktion 
als das Malen, wenn es die Durchsichtigkeit und Frische hat und 
nicht eine klecksige Haut der Dinge zeigt. Erwachsene, produktive 
Menschen finden an der Farbe keinen Halt, fur sie ist sie nur in 
gesetzlichen Beziehungen moglich, denn sie haben eine Weltord- 
nung zu geben, aber nicht die innersten Griinde und Wesensarten 
aufzufassen, sondern eben sie zu entwickeln. Die Farbe im Leben 
des Kindes ist der reine Ausdruck (seiner) reinen Empfanglichkeit, 
sofern sie sich auf die Welt richtet. Sie enthalt die Anweisung zu 
einem Leben des Geistes, welches schopferisch ebenso wenig sich 
auf Umstande und Zufalle bezieht als die Farbe, wenngleich auf- 
nehmend, vom Dasein toter kausaler Substanzen mitteilt. 
Die Farbigkeit der Kinderzeichnung geht von der Buntheit aus. Die 
besondere und hochste Durchsichtigkeit der Farbigkeit iiberhaupt 
wird angestrebt und es gibt keine Beziehung auf Form, Flache, 
Konzentration zum Raum. Das reine Sehen ist namlich nicht auf 
den Raum und auf den Gegenstand gerichtet, sondern auf die 
Farbe, die gewift im hochsten Grade gegenstandlich aber nicht 
raumgegenstandlich erscheint. Die Malerei als Kunst geht von der 
Natur aus durch Sammlung auf die Form hin. Die Gegenstandlich- 
keit der Farbe beruht nicht auf der Form, sie geht ohne die 
Anschauung empirisch zu streifen sogleich auf den geistigen 
Gegenstand durch Isolierung des Sehens. Sie hebt die intellektuel- 
len Verbindungen der Seele auf und schafft die reine Stimmung 
ohne darum die Welt aufzugeben. Die Buntheit affiziert nicht ani- 
malisch weil standig die ungebrochne Phantasie-Tatigkeit des Kin- 
des der Seele entspringt. Weil sie dies aber rein sehen, ohne sich 
seelisch verdutzen zu lassen, ist es etwas Geistiges: der Regenbogen 
/ bezieht es sich nicht auf eine ziichtige Abstraktion, sondern auf ein 
Leben in der Kunst. 

Die kunstlerische Ordnung ist paradiesisch, weil noch nirgends an 
Verschmelzung im Gegenstand der Erfahrung aus Anregung 
gedacht ist, die Welt vielmehr farbig im Zustande der Identitat, 



1 1 2 Fragmente vermischten Inhalts 

Unschuld, Harmonie ist. Die Kinder schamen sich nicht, denn sie 
haben keine Reflexion, sondern nur Schau. ( fr 78 ) 

Uber die Flache des unfarbigen Bilderbuches 

Nicht unbedingt ist das Charakteristische dieser Flache allein in 
unfarbigen Bilderbuchern zu finden. Wo die Koloristik der Leich- 
tigkeit ermangelt und ohne Phantasie ist, mit andern Worten, wo 
allein um der Naturtreue willen die Bilder gefarbt sind, da findet 
sich auch in farbigen Bilderbuchern das Charakteristische dieser 
Flache. Dafiir bietet das typische Anschauungsbilderbuch, welches 
in deutschen Schulen gebraucht wurde oder noch gebraucht wird 
und das farbige Bilder hat, ein Beispiel. Man glaubt, der Nutzen 
solcher Bucher bestehe darin, sei es das Kind in den abgebildeten 
Dingen die wirklichen wiedererkennen zu lehren, sei es an Hand 
der abgebildeten es in den Bereich der wirklichen einzufiihren und 
mit diesen vertraut zu machen. Wie vergeblich und falsch das letzte 
ware, braucht nicht gesagt zu werden. Daft aber auch der erste Vor- 
gang in seinen wesentlichen Stiicken etwas anderes ist, als man 
anzunehmen pflegt, bedarf der Ausfuhrung. 
Wollte man dem Kinde - um einen exemplarischen Fall zu konstru- 
ieren - neben die Abbildung eines Balls einen, dieser Abbildung bis 
ins kleinste gleichenden wirklichen legen, so konnte es nicht damit 
sein Bewenden haben, dafi das Kind hier irgendwie die Gleichheit 
des Abgebildeten mit dem Wirklichen »erkennt«. Vielmehr wiirde 
sich hierbei das Erkennen erst als echt und klar erweisen, wenn das 
Kind die Gleichheit beider Balle auf seine Weise aussprache, oder- 
wo ihm noch alle Worte fehlen - den Namen zu wissen verlangen 
wiirde. Es zeigt sich also, daft die Abbildung, und zwar gerade in 
ihrem naturalistischen Sinne, nicht unmittelbar und sprunglos auf 
die Wirklichkeit verweist, daft der Sinn sich mit solchem Verweise 
nicht zufrieden geben wiirde. Er verlangt vielmehr das Wort. Und 
zwar ruft das Bild dieses nicht etwa an sich hervor - die Behaup- 
tung, dafi eine Madonna von Perugino auf das Wort verwiese, ware 
gewifi hochst problematisch - sondern allein das lediglich und 
schlechthin abbildende Bild verlangt dergestalt unerbittlich nach 
dem Worte, eine Bemerkung, die sich vielleicht an gewissen Details 
Rousseauscher Bilder verifizieren lafit, die im ganzen als Kunst- 
werke nicht lediglich und schlechthin abbildend sind, im einzelnen 



Zur Asthetik 1 1 3 

aber aus der Kraft ihres eigentumlichen Stils bisweilen diesen Cha- 
rakter haben. Man erinnere sich an Rousseaus Luftschiffe und Tele- 
grafenstangen. Diese Angewiesenheit der schlechthin abbildenden 
Darstellung aufs Wort findet in der Moglichkeit sie zu beschreiben 
ihren klaren Ausdruck. Nur die abbildende(n) Darstellungen, 
nicht das Kunstwerk, noch die Erscheinungen der Phantasie sind 
beschreibbar. Mit der stummen Aufforderung der Beschreibung, 
die in dergleichen Darstellungen liegt, rufen sie im Kinde das Wort 
wach. Wie aber das Kind diese Bilder im Worte beschreibt, be- 
schreibt es sie in Gedanken. Und zwar urn so gebundener, je weni- 
ger sinnfallig dem Ohr(,) um so sinnfalliger dem Tastsinn, den 
Augen. Es wohnt in diesen Bildern. Deren Flache ist nicht, wie die 
der Kunstwerke, ein Noli me tangere - weder ist sie's an sich, noch 
fur das Kind. Sie ist vielmehr nur gleichsam andeutend bestellt und 
einer unendlichen Verdichtung fahig. Das Kind dichtet in sie hin- 
ein. Und so kommt es, daft es auch in der andern sinnlichen Bedeu- 
tung des Wortes diese Bilder mit Vorliebe »beschreibt«. Es bekrit- 
zelt sie, es dichtet in diese Bilder hinein, es lernt an ihnen zugleich 
mit der Sprache die Schrift und zwar eine dichtende, schaffende 
Schrift: Hieroglyphik. - Die echte Bedeutung jener schlichten gra- 
phischen Kinderbucher mit ihren naturalistischen Zeichnungen 
liegt also weit ab von der toten und stumpfen Drastik, um de- 
rentwillen die rationalistische Padagogik sie empfiehlt. Aber auch 
hier bestatigt es sich, daft der »Philister oft in der Sache recht hat, 
wenn auch nie in den Griinden«. Denn keine andern Bilder als diese 
konnen das Kind in Sprache und Schrift einfiihren, eine Einsicht, in 
deren Ahnung man den ersten Worten in den alten Fibeln das treu 
gezeichnete Bild dessen beigab, was sie bedeuten. 
In der Welt dieser farblosen Bilder erwacht das Kind, wie es in der 
Welt der farbigen seine Traume austraumt, die voller Erinnerungen 
sind. ( f r 79 ) 

Zur Malerei 

Jede Malerei ist notwendig und korrelativ beides: Phantasie und 
Abbild. Diese beiden Arten von Kunstwesenheit, welche sich viel- 
leicht auch an andern, vielleicht an alien Kunstwerken unterschei- 
den lieften, sind jedoch dadurch fur die Malerei von entscheidender 
Bedeutung, daft in einem Bilde jeweils die eine oder die andere das 



1 14 Fragmente vermischten Inhalts 

Primat haben muE. Dies erklart sich aus der Art und Weise, wie im 
Bilde dem Geheimnis der Ort{,) auf den das Bild verweist{,} 
irgendwie im visuellen Raum einer Anschauung bestimmt ist. Wo 
dann an diesem metaphysischen Ort entweder der reine Abbild- 
Charakter oder der reine Phantasie-Charakter als »Schliissel« { , ) als 
Entratselung des korrelativ entgegengesetzten Bildraums auf- 
taucht. So liegt bei Tizian und Macke das Abbildhafte, bei der alten 
deutschen und niederlandischen Malerei das Phantasiehafte im ver- 
borgnen Bildraum. Ob dennoch restlos der entscheidende maleri- 
sche Gegensatz der Bildraume sich von diesen Kategorien aus erfiil- 
len lafit? (Gainsborough?) 

Wesentliches Schema 

Abbild Phantasie 

oder 

AUWAA 

<fr 80) 

Gedanken uber Phantasie 

Das Licht der Ideen kampft mit dem Dunkel des schopferischen 
Grundes und in diesem Kampfe erzeugc es das Farbenspiel der 
Phantasie. (fr8i) 

Phantasie 

Fur die Gestalten der Phantasie besitzt die deutsche Sprache kein 
eignes Wort. Einzig und allein das Wort »Erscheinung« darf man in 
einer gewissen Bedeutung vielleicht fur ein solches ansehen. Und in 
der Tat hat die Phantasie es nicht mit Gestalten, mit Gestaltung 
nicht zu tun. Sie gewinnt zwar ihre Erscheinungen diesen ab, aber 
sie sind als solche ihr sowenig zugeordnet, dafi man sogar die 
Erscheinungen der Phantasie bezeichnen darf als Entstaltung des 
Gestalteten. Es ist aller Phantasie eigen, dafi sie um die Gestalten ein 
auflosendes Spiel treibt. Die Welt der jungen Erscheinungen, wel- 
che dergestalt mit der Auflosung des Gestalteten sich bildet, hat ihre 





Zur Asthetik 1 1 5 

eigenen Gesetze, welche die der Phantasie sind, deren oberstes eines 
ist, dafi die Phantasie, wo sie entstaltet, dennoch niemals zerstort. 
Die Erscheinungen der Phantasie vielmehr entstehen in jenem 
Bereich der Gestalt, da diese sich selbst auflost. Phantasie lost also 
nicht selbst auf, denn wo sie dies versucht, wird sie phantastisch. 
Phantastische Gebilde entstehen, wo die Entstaltung nicht wahr- 
haft vom Innern der Gestalt selbst aus sich vollzieht. (Die einzig 
legitime Form des Phantastischen ist die Groteske, in welcher die 
Phantasie nicht zerstorend entstaltet, sondern zerstorend iiberstal- 
tet. Die Groteske ist eine Grenzform im Bereich der Phantasie, sie 
steht, wo diese an ihrer aufiersten Grenze wieder Gestaltung zu 
werden sucht.) Allen phantastischen Gebilden 1st ein Moment des 
Konstruktiven eigen - oder (vom Subjekt aus gesprochen) der 
Spontaneitat. Echte Phantasie dagegen ist unkonstruktiv, rein ent- 
staltend - oder (vom Subjekt aus gesehen) rein negativ. 
Die phantasievolle Entstaltung der Gebilde unterscheidet sich von 
allem zerstorerischen Verfall der Empirie durch zwei Momente: Sie 
ist erstens zwanglos, kommt aus dem Innern, ist frei und daher 
schmerzlos, ja leise beseeligend - und zweitens fuhrt sie niemals in 
den Tod, sondern verewigt den Untergang den sie herauffuhrt in 
einer unendlichen Folge von Ubergangen. Was das erste dieser 
Momente angeht, so besagt es, daft der subjektiven Konzeption der 
Phantasie durch reine Empfangnis der objektive Bereich ihrer Ent- 
staltung als Welt schmerzloser Geburt entspricht. Alle Entstaltung 
der Welt wird also in ihrem Sinne eine Welt ohne Schmerz phanta- 
sieren, welche dennoch vom reichsten Geschehen durchflutet ware. 
Diese Entstaltung zeigt ferner - wie das zweite Moment besagt - die 
Welt in unendlicher Auflosung begriffen, das hetfk aber: in ewiger 
Vergangnis. Sie ist gleichsam das Abendrot uber dem verlassnen 
Schauplatz der Welt mit seinen entzifferten Ruinen. Sie ist die 
unendliche Auflosung des gereinigten, von aller Verfuhrung entla- 
denen schonen Schemes. Ebenso aber wie der Schein rein ist in sei- 
ner Auflosung 1 ist er es in seinem Werden. Im Morgenrot erscheint 
er anders aber nicht uneigentlicher als im Abendrot. So gibt es einen 
reinen Schein, den werdenden, auch im Morgenalter der Welt. Es 
ist der Glanz, der liber den Dingen des Paradieses liegt 2 . Endlichist 
ein dritter reiner Schein der geminderte, geloschte oder gedampfte: 

1 Diese Reinheit der vergehenden Natur correspondiert der untergehenden Menschheit. 

2 An Otto Runge zu denken{.) 



1 1 6 Fragmente vermischten Inhalts 

das graue Elysium, wie die Bilder von Marees es zeigen. Dieses sind 
die drei Welten des reinen Scheins, welche der Phantasie ange- 
horen. 

Entstaltung aber kennt nicht allein die Lichtwelt, wenn sie auch an 
ihr, als reiner Schein, am ersten sinnfallig werden kann. Entstaltung 
gibt es im Akustischen (wie die Nacht die Gerausche zu einem ein- 
zigen grofien Summen depotenziert), im Taktischen (wie die Wol- 
ken im Blau oder im Regen sich auflosen), Alle Erscheinungen der 
Entstaltung in der Natur sind zu ubersehen, um die Welt der Phan- 
tasieerscheinungen zu umschreiben. 

Reine Empfangnis liegt jedem Kunstwerk zu Grunde. Und sie rich- 
tet sich immer auf ein Zweif aches: auf die Ideen und die sich Ent- 
staltende Natur. Damit liegt Phantasie jedem Kunstwerk zu 
Grunde. Vielleicht, ja wahrscheinlich, in verschiedenem Mafie. 
Jedoch ist sie stets unfahig ein Kunstwerk zu konstruieren, weil sie 
sich als Entstaltendes immer auf ein Gestaltetes aufierhalb ihrer 
selbst beziehen muli, welches denn, wo es in das Werk eintritt, not- 
wendigerweise grundlegend werden mufi. Wo es aber ins Werk 
nicht eintritt, sondern in sentimentaler oder pathetischer oder iro- 
nischer Distanz davon gehalten wird, fassen solche Gebilde die 
Welt der Gestalten als einen Text, zu dem sie den Kommentar oder 
die Arabeske hergeben. Sie sind sowenig reine Kunstwerke wie das 
Ratsel, weil sie aus sich herausfuhren. Diese Kritik gilt von den 
meisten Werken Jean Pauls, der die grofke Phantasie hatte, in die- 
sem Geist der reinen Empfangnis zugleich den Kindern sehr nahe- 
stand und zuletzt eben daher der geniale Lehrer der Erziehung war. 
- In den Ausdruck des Werkes aber vermag allein die Sprache bis- 
weilen die Phantasie aufzunehmen, denn nur die kann im glucklich- 
sten Falle die entstaltenden Machte in ihrer Gewalt behalten. Jean 
Paul entglitten sie meist, Shakespeare ist - in seinen Komodien - ihr 
unvergleichlicher Gewalthaber. Diese Macht der Sprache iiber die 
Phantasie ist zu ergriinden; zugleich die ganze Verschiedenheit der 
romantischen Ironie von eigentlicher Phantasie zu zeigen, wie sehr 
es auch zwischen beiden einen Ubergang von der friihern zur spa- 
tern Romantik gab. 

[Der genaue Gegensatz zur Phantasie ist das Sehertum. Auch reines 
Sehertum kann nicht ein Werk begriinden und doch geht Sehertum 
in jedes grofte Kunstwerk ein. Sehertum ist der Blick fur werdende 
Gestaltung, Phantasie der Sinn fur werdende Entstaltung. Seher- 



Zur Asthetik 1 1 7 

turn ist Genie der Ahnung, Phantasie Genie des Vergessens. Die 

Wahrnehmungsintention der beiden nicht auf der Erkenntnisinten- 

tion aufgebaut (sowenig wie etwa Hellsicht) in beiden aber auf ver- 

schiedene Weise. 

Phantasie kennt nur stetig wechselnden Ubergang. 

Im grofien Spiele der Naturvergangnis wiederholt sich ewig die 

Naturauferstehung als ein Akt. (Sonnenaufgang) / Phantasie ist im 

letzten Welttag und im ersten.] 

Die reine Phantasie hat es nur mit der Natur zu tun, Sie schafft keine 

neue. Reine Phantasie ist daher keine erfindende Kraft. (fr 82 ) 



Die Reflexion in der Kunst und in der Farbe 

Die Reflexion in der Kunst geht durch das Geistige als Medium zur 
Konstruktion. Die Farbe bleibt reflektiert im Geistigen als einzelne 
Erscheinung. Die Welt ist nicht Schopfung, nicht Dasein, sondern 
fromm im Geiste. Reine Farben - weifl - konnen allein die unmittel- 
barste symbolische Bedeutung haben. 

Die Farbe ist schon, aber es hat keinen Sinn, schone Farben hervor- 
zubringen, weil Farbe Schonheit als Eigenschaft, nicht als Erschei- 
nung im Gefolge ist. Die Farbe ist immer nur Eigenschaft, selbst auf 
der Palette: Ausdruck in die Welt aufgenommen zu sein und als 
Schonheit sie zu durchdringen aber sich aufzugeben. Farbe nimmt 
in sich auf, indem sie farbt und sich hingibt. / Ein getuschter Boden 
sammelt die Summe seiner Schonheit in dem man ihn sieht. Farbe 
muft gesehen werden. Demut. 
Aufnehmen - Sonnenuntergang. 

(...) barkeit. Die Farbe ist daher ursprunglich fur sich, das heiflt: 
sie bezieht sich nicht auf Dinge, aber auch nicht etwa auf ihre 
Erscheinung in Farbflecken; sondern sie bezieht sich auf die hochste 
Konzentration des Sehens. Daher die Lust und die Farbe in der 
Weifie {Stabchenspiel) so wichtig, weil sie von der Natiirlichkeit am 
weitesten absteht. Die Farbe ist undimensional wie die Natur, aber 
ihr steht nur das Sehen bei. »Ich sehe« heiflt ich nehme wahr und 
auch »Es sieht aus« (meist von Farben) {.) Dafiir ist die Farbe der 



1 1 8 Fragmente vermischten Inhalts 

Ausdruck. /Das Aussehen der Farben und ihr gesehen Werden ist 
gleich / Das heifit: die Farben sehen sick. {Im Innern ein weifier 
Fleck.) 

Die Arbeit geht darauf{,) Farbe und Form als verschieden zu zei- 
gen. Daft sie die Farbe dem Geruch und Geschmack ((einer Sache 
u(nd) eines Menschen)) nahert, hangt mit der Einsicht in eine 
besondere Welt - die des Kindes und der Dichter zusammen. Bau- 
delaire. 

Die malerische Farbe kann nicht fur sich gesehen werden, sie hat 
Beziehung, ist substantiell als Oberflache oder Grund, irgendwie 
im Schattiert( en) und auf Licht und Dunkel bezogen. Die Farbe im 
Sinne der Kinder (?) steht ganz fur sich, (ist) auf keinen hohern 
Farbbegriff zu beziehen. 
/ Ware ich von Stoff , ich wiirde mich farben / ( fr 83 ) 



Die Farbe hat kein natiirliches Medium des Ausdrucks(.) 
Sie ist daher { , ) von der Seite der Natur betrachtet, nur an den Din- 
gen: Eigenschaft{.) 

Von sich selbst aus gesehen, projiziert sie entweder - in der Male- 
rei - den Raum in die Dinge oder - in ihrem eignen Bereich - geht 
ganz auf das geistige Wesen der Dinge, nicht auf die Substanz. Dies 
indem sie sie farbig iiberwaltigt - unniiancierte Einzelfarbe - oder 
der Form nichts zugibt, konturiert, und die Form durch die Nuance 
iiberwindet: Farbanderung bei gleichbleibender Helligkeit. Mit 
dem Fortfallen der Farbe fallt die Konstruktion fort, damit die 
Schopfung, Farbe kann nur noch rezipiert werden. Damit gehort 
sie der Natur an, aber als unempirisches, formloses rein Rezipier- 
tes. Die Farbe gehort einer nur aufgenommnen geistigen Welt an- 
macht sie aus. Daher ihre Bedeutung fur das Kind, der Erwachsene 
deutet sie symbolisch. Die Farbe in ihrer eignen Welt ist eine gei- 
stige Rezeption; Harmonie: der Regenbogen. Der Mensch tritt ihr 
nur im selbstvergessnen Weben der Phantasie gegeniiber. Da ver- 
weilt er im Stande der Unschuld: weil er nicht das Geistige bewegt 
und die Verbindung mit dem Ich in d(ie) Schopfung zerstorend 
bringt. Das Leben in der Farbe ist die Verheiftung der kindlichen 
geistigen Welt. 



Zur Asthetik 



119 



Aphorismen 

Die Farbe ist schon, aber es hat keinen Sinn, schone Farben hervor- 
zubringen, weil Farbe Schonheit als Eigenschaft, nicht als Erschei- 
nung im Gefolge ist. 

Farbe mufi gesehen werden. 

Farbe nimmt in sich auf, indem sie farbt und sich hingibt. 

In der Plastik ist die Farbe Eigenschaft - zum Unterschied von der 
Malerei. (^84) 



Verhaltnis der Utopie (Scheerbart) zu Phantasie und Grotes- 
ke 

Komik in der rationalen Auflosung der Phantasiegebilde. Bei der 
Einwirkung der Begrifflichkeit auf die Phantasie entsteht Komik 
oder Sinnlichkeit. (In der Erklarung oder im Traum) 
Gegen das Phantasiegebilde als in Wahrheit phantastisches Gebilde 

(fr8 5 ) 



SCHEIN 



Die Entstaltung 

Entstaltung / Kunst 

Sprache 
Reine Phantasie 
Sich farben 



Griin 
Blau Gelb 

paradiesisch Rot/elysisch 
^Schatten 



Die Phantasie 

I Entstaltung 
1 Entstaltung und Idee Groteske 
z Entstaltung und Sprache (Jean Paul Shakespeare) 



120 Fragmente vermischten Inhalts 

II Sich farben 

i Entstaltung und Farbe, Scham Schamlosigkeit und Phantastik 
2 Reines Licht 
Schein a elysisches Ahnung die Bedeutung des Grau fur die 

Farben 
Glanz b paradiesisches Erinnerung (iiber der Phantasie, bestimmter) 
Strahl c seraphisches /angelegte Farbe 

Traum 

Phantastisches im Traum 

Nicht reine Entstaltung, sondern Gestaltiibergang 

(im Gegensatz zu Farbiibergang) 
Intermittierendes Licht der Traume, kein Grau 
Unechte Dammerung 



Moglichkeit der elysischen Farbe bei Marees durch die Umkehrung des 
Verhaltnisses: die Farbe entsteht aus dem Grau, nicht das Grau aus der 
Farbe. <fr86> 



Erroten in Zorn und Scham 

Zorn von innen - auch physiologisch aus einem andern Sy- 
stem^) 

Farbe kann als »farbiges Licht« nicht in Formen erscheinen. Dies 
hangt mit dem formlosen Erscheinen der Phantasie zusammen. 
Das Mal( :) die Flache auf der von innen und auften her etwas zur 
Erscheinung kommen kann. Die Mauer. Das menschliche Ant- 
litz. 

Gold und die Farbe des Menschenantlitzes als wichtige Farben des 
Mais. Sind die Farben des Mal(s) immer und notwendig - wie die 
beiden genannten es sind - strahlungsfahig? 
Hochentwickeltes Schamgefuhl bei Kindern. Dafl sie sich so haufig 
schamen hangt damit zusammen, dafi sie soviel Phantasie haben, 
besonders im f riihesten Alter. ( fr 8 7 ) 



Zur Asthetik 



Schemata 



Schein 
Glanz 

Strahl 



elysisches 

paradiesisches 

seraphisches 



>Licht 



Gefarbtwerden Sich farben 
paradiesisch elysisch 

Morgenhimmel Abendhimmel 



Farbenraum 

der Phantasie des Mais 

Buntheit Gold 

Die Welt der Phantasie 
gesucht betrachtet 

die Wege zu ihr Wesen 

ihr 



Phantasieerscheinung 
Gestaltet Rein 

Sprache (Shakespeare) Farbe 



Phantasie 



entstaltend 
schlicht 
Scham 

zusammenhan- 
gend (Welt) 



iiberstaltend 
grotesk 

Schamlosigkeit 
zusammen- 

hanglos 

(einzeln) 



Phantasie 
rein 

Phantasiewelt 
mit der Idee 
vertraglich, 
doch bei ihr 
unsichtbar 



unrein 
Traumwelt 
durch Sinnlichkeit 
und Begriffe ge- 

trubt 



Scham 
naturhches 
Korrektiv 



Reue 
ubernatiirli- 
ches Korrek- 



<fr88> 



Zur Phantasie 

Herbst und Winter 

Im Herbst ist der Zusammenhang der auftretenden und wechseln- 
den Farbung mit dem Untergang zu Tage liegend. (Vgl. (Christian 
Friedrich) Heinle: Ware ich von Stoff, ich wiirde mich farben) Die 
tiefere Farbung begleitet den eigentlich irdischen Untergang. (So 



122 Fragmente vermischten Inhalts 

das Phosphoreszieren fauliger Korper.) Werden spricht sich aus in 
Gestaltung (junge Knospen) Vergehen in Farbung. Dagegen 
bezeichnet das sich Entfarben eine nicht irdische, und das will sagen 
nicht ewige Art des Unterganges, sondern solchen, der mit dem 
Werden in einer iiberirdischen Sphare zusammenfallt. So das sich 
Entfarben, Erbleichen des Menschen im Tode. So das Erbleichen 
der Natur im Winter; dieses letzte steht hinweisend fur diejenigen 
Naturerscheinungen, welche einst mit dem animalischen Leben 
aufhoren, und nicht in die ewige Vergangnis hinuntergehen sol- 
len. 

Zusammenhang der Phantasie mit der Scham 
»Er wird rot - er mochte vergehen«{.) Andererseits: Tendenz auf 
Schamlosigkeit in der Phantastik (Groteske) 

Farblosigkeit des hohern Lichts. »Farbloses Licht der Vernunft« . 
In Rot kulminieren die Farben der Phantasie 
Dagegen: blau (Farbe der Ideen?) 

Reine Phantasie - zum Unterschied von der Traumphantasie zum 
Beispiel. Uber die Art der Farbigkeit der Traumwelt. Reine Phanta- 
sie nur aufierhalb des Menschlichen. / Farbigkeit der Ruinen: Ein- 
gehen in die Landschaft, Bewachsenheit. / Rostfarbe (f** 89) 



Zu (Richard) Miiller-Freienfels: Gefuhlstone der Farbenempfin- 
dungen (Zeitschrift fur Psychologie und Physiologie der Sinnesor- 
gane I Abt Bd 46 p (241-274) 

Vollkommen bodenloser undiff erenzierter Lustbegriff in dieser Ar- 
beit. 

Demgegeniiber Einschrankung der Fragestellung in der meinigen 
notig. 

Er behauptet Farbenempfindung(en) seien zu schwach zur Aus- 
lbsung bedeu tenderer Gefiihle - dazu bediirfe es der Farbenvor- 
stellung. Diese aber (- und die) von ihr ausgehenden Vorstellungs- 
gefuhle - scheinen ihm ganz falschlich nur durch gegenstandlich 
geformte, nicht durch blofie Farben erweckt werden zu (konnen.) 

Im »Westostlichen Divan« heifit es von Gott: »Da erschuf er Mor- 
genrote, / Die erbarmte sich der Qual; / Sie entwickelte demTriiben 
/ Ein erklingend Farbenspiel, I Und nun konnte wieder lieben / Was 



Zur Asthetik 123 

erst auseinander fiel.« (Wiederfinden Buch Suleika). Das Einende, 
was hier mit Beziehung auf Licht und Finsternis von der Morgen- 
rote ausgesagt wird, das harmonisch erklingende Farbenspiel eignet 
durchaus den Farben der Phantasie, die zwischen Aufgang und 
Untergang spielen, (Die gleiche versohnende Macht im Regenbo- 
gen als dem Symbol des Friedens.) 

Tuschen, anlegen 

Bei den Chinesen ist »Hoa, malen soviei als Kua, anhangen; man 
hangt fiinf Farben an die Dinge { « ) (Pfizmaier Sitzungsber. d. phi- 
lologisch-historischen Kl. d. Wiener Ak. d. W. 1871 p 164O) 

Rost hangt etymologisch mit Rot zusammen (Wackernagel, Glos- 
sar) (fr*9o) 

Zu einer Arbeit uber die Schonheit farbiger Bilder in 

KlNDERBUCHERN 

Bei Gelegenheit des Lyser 

Vgl. den Dialog uber den Regenbogen. Dort ist die angelegte Farbe 
auf den getuschten Bildern von der Farbe der Malerei, die das Mai 
macht, unterschieden. Was im Mai erscheint, spricht durch die 
Wahrnehmung das ganze metaphysische Wesen des Menschen ver- 
wandt an, und die Phantasie spricht in ihm nicht losgelost von der 
notwendig moralisch mitbestimmten und giiltigen Sehnsucht des 
Menschen. Umgekehrt streift die Malerei, wo in ihr die Farbigkeit, 
das durchsichtig oder gluhend Bunte der Farbe ihre Beziehung zur 
Flache beeintrachtigt, wie sehr sie auch entziickt, den leeren Effekt, 
in dem die Phantasie dem Herzen ausgespannt ist und lastlos dahin- 
jagt (ein Bild des Dosso Dossi schwebt mir vor)( . ) - In den Bildern 
der Kinderbucher bewirkt es jedoch meist der Gegenstand und die 
grofie Selbststandigkeit der graphischen Unterlage (als Holzschnitt 
oder Kupfer) daft an eine Synthese von Herz und Phantasie, sol- 
cherart wie sie die Malerei im Mai findet, nicht gedacht werden 
kann. Vielmehr darf, ja mufi die Phantasie hier losgebunden sein, 
damit sie in ihrer Sphare dasjenige hervorbringen kann, worauf der 
Geist der Zeichnung anspielt. 

Die Kinderbucher dienen nicht dazu, ihre Betrachter in die Welt der 
Gegenstande, Tiere und Menschen, in das sogenannte Leben 



1 24 Fragmente vermischten Inhalts 

unmittelbar einzufuhren, Wenn es vielmehr irgend iiberhaupt 
etwas wie die platonische Anamnesis gibt, so hat es bei den Kindern 
statt, deren Anschauungsbilderbuch das Paradies ist. Am Erinnern 
lernen sie; was man ihnen an die Hand gibt, soil die Farbe des Para- 
dieses wie die Fliigel der Schmetterlinge ihren Schmelz noch an sich 
tragen, soweit iiberhaupt Menschen sie einem Blatte zu verleihen 
verstehen. Sie lernen in der Erinnerung an ihre erste Anschauung. 
Und sie lernen am Bunten, weil im phantastischen Spiel der Farbe 
die Heimat der sehnsuchtslosen Erinnerung ist, welche ohne Sehn- 
sucht bleiben kann, weil sie ungetriibt ist. Insofern ist auch die pla- 
tonische Anamnesis eigentlich nicht ganz die eigentumliche Erinne- 
rungsform der Kinder. Sie ist nicht ohne Sehnsucht und Bedauern 
und diese Spannung zum Messianischen hin ist das Eigentum der 
Wirkung eigentlicher Kunst, deren Vernehmender nicht aus der 
Erinnerung allein lernt sondern aus der Sehnsucht, die sie zu friihe 
befriedigt und daher zu langsam. 

Wenn unsere heutigen Maler die Buntheit in Tuschzeichnungen 
wieder erwecken, so darf uns dies nicht zur Seligkeit, nicht zur 
befreiten Freude in deren Betrachtung verfuhren, und selten wird, 
wo dies dennoch der Fall ist, der Maler ((Richard) Seewald) ganz 
ohne Schuld sein. Vollige Abkehr vom Geiste der wahren Kunst ist 
die Bedingung unter welcher die Farbe allein bewegt werden kann, 
in de(r) die Phantasie wohnt. Unvergleichlich aber ist die Beruhi- 
gung, welche uns uberkommt, wo wir solche Bilder ohne Namen 
und bescheiden wirklich den Kindern gewidmet finden. Soweit das 
Paradies von der - wenn auch zogernden Apokalypse entfernt ist, 
soweit diese von Kunst. 

Dem Erwachsenen ist die Sehnsucht nach dem Paradies die Sehn- 
sucht der Sehnsuchten. Nicht die nach Erfullung; die, ohne Sehn- 
sucht zu sein. 

Das graue Elysium der Phantasie ist fur den Kiinstler die Wolke in 
der er ausruht und die Wolkenwand seiner Gesichte. Den Kindern 
offnet sie sich und buntere zeigen sich hinter ihr. 

Motto: Griine Schimmer schon im Abendrot 

Fritz Heinle 
Disposition: 1) Reine Farbe und Mai 

2) Raum Farbe und Phantasie 

3) Reine Farbe und Erinnerung 



ZurAsthetik 125 

4) Das Paradies 

5) Die Kinder und die Erinnerung ans Paradies 
Momente des Stils in den (Heinrich) Hoffmannschen Kinder- 
biichern 

Phantastik und Ironie, beide durchaus romantisch. Aber die 
Phantasie Jean Pauls, nicht diejenige Tiecks, hochste Uber- 
schwenglichkeit. Ferner Ablehnung jedes synthetischen Prin- 
zips. Starkste Vereinzelung durch Farbe. Gorres, Kritik der 
Blumenstraufte. (nicht zu finden!) 
Siehe den »Untergrund« in getuschten Kinderbiichern im Gegen- 
satz zu dem von Bildern »Zeichen und Mal« . { fr 9 1 ) 



Die Form u(nd) d(er) Gehalt jedes Kunstwerkes ist, wenn man 
sie in hochster Genauigkeit fafit{,) stets etwas Einmaliges und 
Erstmaliges. Der Stoff ist es seinem Begriff nach nie, indem er ein- 
mal in- und einmal aufterhalb des Kunstwerks gedacht wird. Jeder 
Stoff eines Kunstwerks ist, sofern sein Bestehen in demselben 
gesondert gedacht wird, etwas Wiederholtes im Verhaltnis zu dem 
vorbildlichen zugrunde liegenden Stoff. Eine ganz andere Frage ist 
freilich ob ein »Stoff« wahrer Kunstwerke iiberhaupt existiert. 
Wieweit der Begriff des Urbildes der in Beziehung auf das wahre 
Kunstwerk gilt den des stofflichen Vorbildes ausschliefk oder 
umfafk ware in diesem Sinne zufragen. 

Der Inhalt eines Kunstwerkes ist entweder einmalig und erstma- 
lig oder seinem Wesen nach Wiederholung. So ist das lyrische 
Gedicht Typus des ein- und erstmaligen Gehalts: es ist eine 
urspriingliche Erscheinung im Medium der Sprache. Dagegen ist 
als aufterster Gegensatz dazu der Roman eine Reflexion im 
Medium der Sprache und ist seinem Gehalt nach unbedingt und 
wesensmaftig Wiederholung; und zwar eines Geschehens, dessen 
Sphare sowohl allgemein wie in jedem einzelnen Fall besonders zu 
bestimmen ist. Allgemein ist diese Sphare jedenfalls nicht die der 
Realitat. 

Ewiger Gehalt des Romans sind daher diejenigen metaphysischen 
Erscheinungen welche nicht primar sprachlich auftreten konnen, 
deren urspningliches Wesen kontradiktorisch der sprachlichen 



1 26 Fragmente vermischten Inhalts 

Schicht im Sinne des Ausgesprochenen und Aussprechbaren (natiir- 

lich nicht im allerweitesten Sinne) entgegengesetzt ist. Solcher Art 

ist nach der Definition der Humor, daher ist er ein ewiger Stoff des 

Romans und die Prosa seine einzige sprachliche sekundare Aus- 

drucksform. 

Anderer ewiger Gehalt des Romans ist zu suchen. { fr 92 ) 



Die Musik ist die Vollkommenheit der die Schonheit accidentiell 

ist. 

Die Poesie 1st die Unvollkommenheit der die Schonheit wesentlich 

ist. (fr 93 ) 



Der Kan on als Form ist begrifflich zu definieren. Jedoch ist die 
Form nur die eine Seite des Kanons, die andere ist Inhalt, nicht 
begrifflich zu fassen. / Das vollendete Musikwerk ist Kanon, in der 
Sprache und nicht mehr horbar; der tojtog des Kanons ist die Spra- 
che. Vollendung der Musik bricht sich im Poetischen, im Unvollen- 
deten. - Der Kanon ist in der Anschauung. { fr 94 ) 



Die aktuell messianischen Momente im Kunstwerk treten als sein 
Inhalt, die retardierenden als seine Form in Erscheinung. Inhalt 
kommt auf uns zu. Form verharrt, lafit uns an sich heran. Die retar- 
dierenden (formalen) Momente der Musik liegen wahrscheinlich in 
der Erinnerung, an der das Horen sich staut. Jedenfalls hat jede 
Kunstart und jedes Kunstwerk in sich ein Moment, an dem das Ver- 
nehmen sich staut und dieses ist das Wesentliche seiner Form. 

<fr95> 



Das Medium, durch welches Kunstwerke auf spatere Zeiten wir- 
ken, ist immer ein anderes als das, durch das sie in ihrer Zeit wirk- 
ten, es wechselt auch in jenen spatern Zeiten den aken Werken 
gegeniiber immer wieder. Immer aber ist dieses Medium verhaltnis- 
mafiig diinner als dasjenige auf das diese Werke zur Entstehungszeit 
auf ihre Zeitgenossen wirkten. Kandinsky driickt das so aus, dafi er 
sagt, der Ewigkeitswert der Kunstwerke trete den spateren Genera- 



Zur Asthetik 127 

tionen, da sie fur den Zeitwert der Werke weniger empfanglich, 
lebendiger vor Augen. Doch kann man dieses Verhaltnis vielleicht 
nicht gut durch den Begriff des »Ewigkeitswerts« bezeichnen. Es 
gilt zu untersuchen, welche Seite des Werkes es eigentlich ist (von 
Werten abgesehen), die so den spatern heller zutage liegt als den 
Zeitgenossen. 

Fur den Schopfer ist das Medium um sein Werk so dicht, daft er es 
vielleicht in Beziehung auf die Einstellung, die das Werk vom Men- 
schen erfordert, nicht durchdringen kann, sondern nur gleichsamin 
einer indirekten. Der Komponist wurde seine Musik vielleicht 
sehen, der Maler sein Bild horen, der Dichter sein Gedicht abtasten 
wenn er ihm ganz nahe zu kommen sucht. ( fr 96 ) 



Zu den Schiffen, Bergwerken, Kreuzigungen in der Flasche, wie 

auch zum Panoptikum. 

»Beim Lesen der Worte von Goethe, worin die Art der Banausen 

und so mancher Kunstkenner, Kupferstiche und Reliefs abzuta- 

sten, geriigt wird, ist ihm die Erkenntnis aufgestiegen, daft, was 

beriihrt werden soil, kein Kunstwerk sein darf, und was ein Kunst- 

werk ist, dem Zugriff entzogen sein mu6.« Franz Gliick iiber Adolf 

Loos » Adolf Loos. Das Werk des Architekten« Hg. von Heinrich 

Kulka Wien 193 1 p9 

So sind diese Dinge in der Flasche dadurcb Kunstwerke, daft sie der 

Beriihrung entzogen sind? (iryy) 



Die Erkenntnis, daft die erste Materie, an der sich das mimetische 
Vermogen versucht, der menschliche Korper ist, ware mit grofie- 
rem Nachdruck, als es bisher geschehen ist, fur die Urgeschichte 
der Kiinste fruchtbar zu machen. So sollte man sich fragen, ob die 
friiheste Mimesis der Objekte in der tanzerischen und bildnerischen 
Darstellung nicht weitgehend auf der Mimesis der Verrichtungen 
beruht, in denen der primitive Mensch zu diesen Objekten in Bezie- 
hung trat. Vielleicht zeichnet der Mensch der Steinzeit das Elentier 
nur darum so unvergleichlich, weil die Hand, die den Stift fiihrte, 
sich noch des Bogens erinnerte, mit dem sie das Tier erlegt hat. 

<fr 9 8> 



1^8 Fragmente vermischten Inhalts 

Zu einer Arbeit uber die Idee der Schonheit 

Nicht jede Form ist schon. Die Form ist (wahrscheinlich) friiher, 

gewifi spater noch als die Schonheit. 

Die eigentliche Zeit der Schonheit ist bestimmt vom Verfall des 

Mythos bis zu seiner Sprengung. Eine solche erfolgte zum ersten 

Male zur Zeit der Volkerwanderung. Der Mythos vor dem Verfall 

wie nach seiner Sprengung ist der Schonheit fremd. 

Schonheit hat das latente Wirken des Mythos zur Voraussetzung. 

Die Schonheit einer Dichtung behauptet sich trotz einer Aufwei- 

sung mythischer Elemente. Aber » schon* ware sie ohne solche Ele- 

mente nicht. 

Durchs Christentum fugte sich ein neuer Rahmen um die Welt des 

Mythos, wie sie zur Zeit der Volkerwanderung gesprengt ward. Die 

stretta der Gotik, wie der Mythos sich wieder in den stachligen 

Rahmen fugt: Schonheit als der Rahmen, der die von innen 

gesprengte Welt des Mythos wieder zusammenhalt. Damit ent- 

spricht die Gotik, das Barock etc. der griechischen Zeit, wo die 

Schonheit sich im Verfall der Mythen bildete. 

Wie die mythologischen Motive »schon« werden? Das Problem der 

homerischen Dichtung ist damit gesetzt. { f r 99 ) 



Reinheit und Strenge sind Kategorien des Werkes 
Schonheit und Ausdrucksloses solche der Kunst 

Reinheit ist Reinheit des Gehalts Universalitat 

Strenge ist Strenge der Form Beschrankung 

Schonheit ist Schonheit des Wahrgenommenen Totalitat 

Ausdrucksloses ist Ausdrucksloses des Symbols Singularitat 



(fr 100) 



Schonheit 



Ihre Idee Ihr Ideal 

Die Anschauung des Geheimnisses Die scheme Natur (der Leib) 



Zur Asthetik 1 29 

Die Kunst sucht der Idee der Schonheit zu geniigen und ihr Ideal zu 
erreichen{ . ) Im Ideal stellt sich die Schonheit als Leib, in der Kunst 
als Mitteilung dar. Die Kunst teilt von der Schonheit nur mit. 

T ..« <r ---^ Gestalt (Ideal der Schonheit) nicht lebend! 
— Korper (Ausdruck des Erhabnen) 

Mensch<r" Leib ( Entblofiun 8) 

- Sprache (Offenbarung) 

■"Mitteilung (Kunst) 

-Ausdrucksloses (Wahrheit) 



Sprache* 



Nichts eigentlich Lebendiges ist wahrhaft schon. Daher ist das 
wesenhaft Schone Schein, wo es sich an das eigentlich Lebendige 
heftet. (frioi) 



Schonheit und Schein 

I Alle(s) Lebendige was schon ist, ist scheinhaft 
II Alle(s) Kunstartige was schon ist, " " 

weil irgendwie lebendig 
III Es bleiben also nur natiirliche tote Dinge, die vielleicht ohne 
scheinhaft zu sein, schon sein konnen (fr 102 ) 



Charakteristiken und Kritiken 



Der Humor 

Der Humor ist die Rechtsprechung ohne Urteil, d.h. ohne Wort. 
Wahrend Witz essentiell auf dem Wort beruht - daher seme von 
Schlegel betonte Verwandtschaft mit der Mystik - beruht der 
Humor auf der Vollstreckung. Der humorvolle Akt ist der Akt 
einer urteilslosen Vollstreckung. Die Sprache hat Worte die ihren 
Wortcharakter gegen die Vollstreckung hin verlieren; etwa die in 
den Texten punktierten. Insofern ist das Schimpfwort, als wortfor- 
miger Akt der Vollstreckung gegen den Humor vorgeschoben. - 
Man lacht im Humor nicht tiber einen Menschen: vielmehr gehort 
das Gelachter, und zwar das laute, in den Humor hinein. Es ist 
Teilnahme am Vollstreckungsakt. Unbelachter Humor ist keiner. 
Im Humor lafit man dem Objekt als solcbem Gerechtigkeit wider- 
fahren. Es ist der paradoxe Fall einer Rechtsprechung die das Recht 
ohne Beachtung des Wesens der Person iiberhaupt, gegen Personlo- 
ses, wortlos vollzieht. Daher das »Ungeheure« jeden Humors. Man 
kann auf zweierlei Weise rechtsprechen: entweder unter Wahrung 
der Integritat der Person oder unter ausdriicklicher Ignorierung der 
Person{.) Beides verletzt nicht ihre Integritat was rechtswidrig 
ware. Friedlanders Frau beklagt sich bei ihm iiber das Schreien ihres 
Sauglings. Seine Antwort: Schmeifi es doch weg{,) ist ein klassi- 
sches Beispiel des Humors. Es geschieht dem Kinde unter Ignorie- 
rung der Person in ihm Gerechtigkeit, es darf schreien. Der Despot 
ist das ideale Subjekt des Humors weil bei ihm Urteil und Vollstrek- 
kung vereint liegen. Wenn das Wort nicht mehr vermittelt ist der 
Humor da. / Das andere Subjekt ist das Volk, oder besser die Masse 
als ganze, bei der es ebenso liegen kann. // Es ist prinzipiell nichts 
Ungebildetes daran zu lachen iiber die wortlose Vollstreckung (,) 
wenn einem Mann der Wind den Hut fortblast. Nur gegenwartig 
macht die Distanz, die man von der Masse in der Sphare des Wortes 
hat, es dem hochstehenden einzelnen unmoglich in der Sphare des 
Humors in sie einzugehen. 

Zu untersuchen ist das Gelachter in seiner Relation zum richtenden 
Wort{,) in welcher Fragestellung die tiefste Problematik des 
Humors erreicht ist. { fr 103 ) 



Charakteristiken und Kritiken 1 3 1 

Bei der Betrachtung der Romantik ist nicht zu vergessen daft diese 
Menschen nicht sowohl in irgend einer Hinsicht vollkommne Ein- 
sichten gehabt haben, als daft sie nicht den liignerischen Schein 
davon je zu erzeugen strebten. Wo sie ihren urspriinglichen Inten- 
tionen untreu werden, da suchen sie eine falsche Kontinuitat, wel- 
che sie etwa aus dem Objekt konstruieren(,) niemals vorzutau- 
schen. Darum ist dieser Boden erfreulich, seine Quellen sind nicht 
vergiftet, hier besteht nirgends die objektive Verlogenheit die unser 
Geistesleben beherrscht. Aber wie sehr ihre Begriffe fur uns neu zu 
denken(,) zu pragen und zum Teil unzulanglich sind zeigt nichts 
vielleicht so leicht wie ihr Verhaltnis zur Publizistik. Das Problem 
der Publizitat in dem Sinne in dem zuerst George, und noch nicht 
Nietzsche, es aufgestellt hat war ihnen ganz unbekannt. Geschrieb- 
nes war fiir sie im Grunde Gedrucktem gleich. Sonst hatte zum 
Beispiel Wilhelm Schlegel bei der Unzahl seiner gedruckten und 
daher vertagten Kritiken von nichtigen den Unrat endlich merken 
miissen. - Auch der verhaltnismaftig geringe Fleift, die geringe 
Intensitat ihrer Arbeit und die Spannungsarmut ihres fraternisie- 
renden Lebens machen den Unterschied von der Gegenwart deut- 
lich. Ihre Lauterkeit ruft uns zu ihr zuriick. (fr 104) 

Lucinde 

Zu bewundern ist das »romanische Deutsch« dieses Werkes. Aber 
um welchen Preis ist diese Klarheit erkauft. Die Philologie ist 
dahinter gekommen, daft es sich um einen Schliisselroman handelt. 
((Carl) Enders, Friedrich Schlegel (Die Quellen seines Wesens 
und Werdens, Leipzig 1913)) Gewifi nicht mit dem Wunsche, das 
Publikum moge den Schliissel suchen oder gar finden, aber doch so, 
daft die Beziehungen auf das Leben uberall von nackter Eindeutig- 
keit sind. Und es ergibt sich, daft Schlegel nicht Erlebtes gedichtet 
hat, sondern daft er gedichtet hat, weil er erlebte. Daft sein Leben, 
zusammen mit gewissen klugen Theoremen, der zureichende 
Grund seines Dichtens gewesen ist. Dessen Form, in einem ver- 
ruchten Sinne. Wahrend Leben, hochstes wie geringstes, nicht der 
Erzeuger, sondern die Wehmutter der wahren Dichtung ist. Daher 
fehlt diesem Buch von der Liebe die wahre Sehnsucht, es zeichnet 
die Linien einer fnihern, ja einer alien Erfullung nur nach. Es ist wie 
eine Reliefkarte der Liebe, auf der die Erhebungen sich wohl sehen 



132 Fragmente vermischten Inhalts 

lassen, aber die Tiefen (die Schatten) nicht ausgedriickt werden. 
Schatten, Tiefe, Sehnsucht: das fehlt diesem zu friih vom Leben 
beriihrten Buche. Die Kehrseite daran ist: das unerreichte »romani- 
sche Deutsche, eine fur das Deutsche fast unangemessene, nicht 
mystische sondern mystisch wirkende Klarheit. Schlegels schwach- 
ste Dichtung, die vom Alarcos wie von den guten Gedichten iiber- 
troffenwird. (fr 105) 



Strindberg: Nach Damaskus 

Dieses Drama bewegt zu einer Untersuchung der Welt der Hand- 
lungen, im Sinne der Moral. Es scheint namlich diese Welt darzu- 
stellen und aus ihr strahlt ratselhaft dieses Grundgesetz hervor: die 
guten und die bosen Handlungen sind ganz benachbart, sie wohnen 
bei einander. Der Mensch kann vielleicht fiihlen, wo in ihm selbst 
ein Zug zum Bosen oder Guten sich regt, aber um keinen Preis kann 
er dem Wandel der Personen in der Welt der Handlungen mit der 
moralischen Beurteilung folgen. Diese nehmen, wie im Zwielicht, 
bald himmlische Gestalt und bald die teuflischste in seinen Augen 
an. Das moralische Auge erblindet, wenn es auf sie schaut, anstatt in 
die personenlose, menschliche Welt der Handlung sich innerlich zu 
vertiefen. (fr 106) 



Negativer Expressionismus 

Exzentriks(.) 

Clown und Naturvolker - Aufhebung der innern Impulse und des 
Leibzentrums. Neue Einheit aus Kleid, Tatowierung und Leib. 
Promiskuitat der Kleidung von Mann und Weib, der Arme und 
Beine. Dislocierung der Scham. Expression des wahren Gefiihls: 
der Verzweiflung(,) Ent-stellung. Folgerichtiges Finden defer 
Ausdrucksmoglichkeit: der Mann, dem man den Stuhl, auf dem er 
sitzt, wegzieht, bleibt sitzen. - Geschlechtslosigkeit, volliger Ver- 
fall der Eitelkeit. Mannliches Genie in der Prostitution. 
-Zusammenhangmit (Francis) Picabia(.) (fr 107) 



Charakteristiken und Kritiken 133 

Kasperletheater 

Kasperl, die lustige Person, die sich auf der Biihne ausgelassen 
bewegt, »tanzt« und die Leute totschlagt. (Diese Figur diirfte viel- 
leicht mit dem Skys im Tarok zusammenhangen.) Die eckigen 
Bewegungen Kasperls. 

Sollte dies nicht die Amalgamierung des Hanswurst mit dem Tod 
der mittelalterlichen Totentanze sein? Lustigkeit und Tod gehen 
nicht nur im Totentanz Verbindung ein, wo sie noch zahm ist. Son- 
dern mein Traum von »spafihaften Raubmordern« deutet wohl auf 
noch andere Verbindungen, die zu suchen sind. Rethelscher Toten- 
tanz, weniger harmlos, schrecklicher{.) Dann hatte sich der kleine 
Tod der Totentanze auf der kleinen Biihne der Marionetten, wo die 
Figuren skelettartig sich bewegen eingebiirgert. 
Es gilt, Zuverlassiges iiber den Ursprung des Kasperletheaters zu 
erfahren, bei dem vielleicht dem genannten Zusammenhang eine 
Bedeutung als Komponente zukommt, wahrend die andere wohl in 
den Hanswurstpossen gesucht werden muft. ( fr 108 ) 

Baudelaire II 

Ein Bild, zur Bezeichnung von Baudelaires Anschauung der Dinge. 
Vergleichen wir die Zeit einem Photographen - die irdische Zeit 
einem Photographen der das Wesen der Dinge aufnimmt. Aber 
nach der Beschaffenheit dieser irdischen Zeit und ihres Apparates 
bekommt er nur das Negativ des Wesens auf die Platte. Und nie- 
mand kann diese Platten lesen, niemand aus dem Negativ des 
Wesens, wie die Zeit es von den Dingen zeigt, das wahre Wesen, 
wie es ist, herauslesen. Und das Elixier der Entwicklung ist unbe- 
kannt. Da ist Baudelaire: auch er hat nicht das Lebenswasser, in 
dem diese Platten gebadet werden miissen, um das wahre Bild zu 
zeigen. Aber er, er allein, vermag mit unendlicher Anstrengung sei- 
nes Geistes diese Platten zu lesen. Er allein vermag aus dem Negativ 
des Wesens eine Ahnung seines Bildes zu gewinnen. Und aus dieser 
Ahnung spricht das Negativ des Wesens in all seinen Dichtungen. 
Bei Baudelaire liegt zugrunde die alte Vorstellung, daft Erkennen 
Schuld sei. Seine Seele ist der Adam, dem Eva (die Welt) vor Urzei- 
ten den Apfel reichte, von dem er afi. Da trieb der Geist ihn aus dem 
Garten aus. Er hatte es sich nicht geniigen lassen am Wissen von der 



134 Fragmente vermischten Inhalts 

Welt, er wollte ihr Gut und Bose erkennen. Und die Moglichkeit 
dieser Frage, die er doch nie lost, erkauft er mit ewiger Reue 
(Remord). Seine Seele hat diese mythische Vorgeschichte, von der 
er weifi und durch die er zugleich mehr als andere weifl von der 
Erlosung. Er lehrt uns in der Paradiesesgeschichte vor allem wort- 
lich das Wort vom Erkennen verstehen. 

Baudelaire als Literat. Von daher nur ist liber seine Beziehung zu 
Jeanne Duval zu reden. Fur ihn als Literaten war der hedonische 
und hieratische Charakter in der Lebensform der Dime lebendig. 

Baudelaire III 

Der Doppelsinn des »Schon ist hafllich / hafilich schon«(.) Die 
Hexen meinen es im Sinne der Vermischung, und in diesem ist es 
nur moralisch zu verstehen. Auf die Gegenstande von Baudelaires 
Dichtung aber ist es nicht im Sinne der Vermischung, sondern der 
genauen Verkehrung zu beziehen, also nicht in der sittlichen Sphare 
sondern in der der Anschauung zu vergegenwartigen. Nicht die 
verworfne Verwirrung des Urteils sondern die erlaubte Verkehrung 
der Anschauung spricht sich in dieser Dichtung aus. 
Eine Schule von Panegyrikern jungfranzosischer Dichtung, welche 
doch nicht ganz exakt den Unterschied zwischen La morgue und 
Laforgue angeben konnten. 

Die Bedeutung der von Baudelaire fur sich selbst ersonnenen 
Lebenslegende ( . ) 

Eckart von Sydow: Die Kultur der Dekadenz. (Dresden:) Sybil- 
len-Verlag (1921) 

Hans Havemann: Der Verworfne (Zweemann-Verlag) 
DerSouffleurll, 3 p 1 /Nouveauxpretextes vonGide (Paris 191 1 ) 
Uber » Spleen et Ideal« ( . ) Dieser Titel ist nach der Fiille der in ihm 
ruhenden Beziehungen nicht iibersetzbar. Eine doppelte Bedeu- 
tung wohnt schon jedem der beiden Worte fur sich genommen inne. 
Spleen wie Ideal sind nicht nur geistige Wesenheiten sondern 
ebensowohl die Intention auf diese, wie George sie in seiner Uber- 
setzung »Triibsinn und Vergeistigung« zum Ausdruck gebracht 
hat. Aber sie bedeuten doch eben nicht diese Intention allein und 
vor allem wird die Vorstellung der thronenden und strahlenden 
Geistigkeit, wie sie unter vielen andern das Sonnett L'Aube spiritu- 
elle hervorruft, durch den Ausdruck »Vergeistigung« nicht er- 



Charakteristiken und Kritiken 135 

reicht. Aber auch Spleen selbst lediglich als Intention verstanden, 
nicht als Urbild, ist mehr als Triibsinn. Oder vielmehr ist Triibsinn 
nur zuletzt - zuerst aber eben jener verhangnisvoll scheiternde, vor- 
bestimmt vergebliche Aufflug zum Ideal, der daher zuletzt - mit 
dem klagenden Rufe des Ikarus - ins Meer des eignen Triibsinns 
wieder hinabstiirzt. Im altesten und im jungsten Fremdwort seiner 
Sprache hat Baudelaire bezeichnet, welches der Anteil der Ewigkeit 
und welches der der Zeit an jenen beiden aufiersten Geistesreichen 
ist. Und birgt jener Titel nicht zugleich den Doppelsinn des Urbilds 
und der Intention mit einer geheimnisvollen Verschrankung in 
sich? Will er nicht sagen, daft gerade dem Triibsinnigen unverriick- 
bar das Ideal vor Augen steht und dafi an den Bildern des Triibsinns 
das Vergeistigende sich am hellsten entfacht? { fr 109 ) 

Uber den Dilettantismus 

Die Grundlage des Dilettantismus ist das sinnliche Moment in den 
Kiinsten. Dieses wirkt zerstorend, namlich verfiihrerisch, wo es 
schlechthin rezeptiv aufgenommen wird. Das schlechthin rezeptive 
Verhaken namlich gilt der schlechthin geistigen Erscheinungsweise 
des Kunstwerks, welche in ihrer Losgelostheit fiktiv und deren 
Beschworung einzig und allein Sache des souveranen Meisters ist. 
In jedem andern Empfangenden aber wird die Phantasie aus der 
eigentlichen und echten Rezeptivitat heraus (also ohne in ihr sich zu 
befriedigen) zu gewissen sinnlichen Spontaneitaten zu bestimmen 
wissen. Deren urspriingliche ist der Tanz. Urspriinglich sind nur 
diejenigen Kiinste, deren reines Auffassen sich im Tanze bestatigt. 
Die fernere Ausbildung dieser Spontaneitaten auf Grundlage der 
Phantasie ist Sache des Dilettanten. Niemals wird diese Schule ihn 
zu Kollisionen mit der Kunst fiihren, da deren Lehrgang nicht 
Phantasie sondern Sprache zu Grunde legt. Der Schiiler lernt pro- 
duzierend, der Dilettant erfahrt lernend seine Spontaneitat. Fur die 
grundsatzliche Erkenntnis seines Bereiches ist Beobachtung des 
Verhaltens von Schizophrenen wertvoll. Diese suchen die Sponta- 
neitat aus dem Bann der Phantasie zu befreien, um sie an Sprache zu 
binden, ein Versuch der mit dem ganzlichen Anheimfall der Spra- 
che an die Physis endet, in seinem Ablauf jedoch Physis und Spra- 
che, die er einander so beispiellos nahe bringt{,) auf das markante- 
ste durch einander beleuchtet. ( fr 1 1 o ) 



136 Fragmente vermischten Inhalts 

Gegen die Theorie des »verkannten Genies* . Man mufi nachweisen, 
dafi das eine moderne Erfindung ist. Dafi es friiheren Epochen 
bewufit war, wie das, was Schiller in den Worten aussprach: »Denn 
wer den Besten seiner Zeit genug getan, der hat gelebt fiir alle Zeiten« 
auch in der Umkehrung wahr bleibt, dafi mithin auch von der Nach- 
welt nichts zu erhoffen hat, wer nicht den Besten der Mitwelt genug 
tat. - Die Rentnergesinnung in dieser modernen Konzeption ist 
nachzuweisen. Das »Genie« zahlt im Verborgenen das Kleingeld der 
Werke heimlich irgendwo ein, um mit dem Tode als Ruhm den 
Versicherungsbetrag im Jenseits ausbezahlt zu erhalten. Auch wie 
solche Auff assung zur Untuchtigkeit erzieht, wie sie lehrt, den wah- 
ren Beriihrungen aus dem Wege zu gehen, sollte entwickelt werden. 
Endlich ist die geschichtliche Probe auf diese Spiefierlegende zu 
machen. Sie wird zeigen, dafi mit verschwindenden Ausnahmen die 
»Grofien« in irgendeiner ihrer Lebensepochen in einer Atmosphare 
sich bewegten, die ihnen selber als ein Dasein in der Gemeinschaft 
der erlesensten Geister ihrer Zeit{,) als eine Biirgschaft des Wertes 
ihres Daseins erscheinen mufite. Freilich gibt es Geister, die alle 
Strahlen absorbieren und selbst in diesem Kreise nach auflen nicht in 
Erscheinung treten. Aber nicht darauf sondern auf die innere Biirg- 
schaft des Ruhmes kommt alles an. Ein Genius mag unbeachtet 
gelebt haben und gestorben sein; selten wird er von seinesgleichen 
unter den Zeitgenossen verkannt worden sein. Selbst ein Mann wie 
Holderlin hat zeitweise in der Reihe seiner grofiten Zeitgenossen und 
so{ ,) dafi der voile Strahl ihrer Aufmerksamkeit ihn traf, gelebt. 
Zu diesem Gegenstand das Moskauer Tagebuch nachschlagen. Es ist 
zu entwickeln, wie dem biirgerlichen Mysterium vom verkannten 
Genie die neue russische Mentalitat das Mysterium des Erfolges ent- 
gegensetzt. Freilich wird man sich dort im ganzen bei einer Praxis der 
Erfolgsverehrung beruhigen, ohne der grofiartigen Struktur dieses 
neuen Opportunismus-eines Opportunismus mit gutem Gewissen 
- auf den Grund zu gehen. Formuliert man aber theoretisch, so hatte 
das wichtigste Axiom dieser neuen Mystik zu lauten: ein Werk ist 
nicht beriihmt, weil es grofi ist - es ist grofi, weil es beriihmt ist. 
Gesetzt, dem sei so, haben die grofien Werke innerlich, funktionell 
den lebendigsten Zusammenhang, den lebendigsten Anteil an den 
Veranderungen des Kollektivs, sie wandeln sich realiter mit ihm, 
denn sie leben in ihm. Man kann im entschiedensten Sinne von ihrem 
Nachleben sprechen und es ist z.B. durchaus richtig, wenn in der 



Charakteristiken und Kritiken 137 

Vorrede zum »Jahrhundert Goethes« davon gesprochen wird, dafi 
Byrons Gedichte vonjahr zujahr schlechterwerden. (fr 11 1 ) 



Einige der Bucher, von denen man spricht. Sie werden selbstver- 
standlich langst nicht mehr von Schriftstellern geschrieben. Ford 
und Schleich, Wilhelm II und {-) so heifien heute die Leute 

der grofien Auflagen. In Frankreich handelt es sich um Frauen. 
Ungefahr gleichzeitig lassen Yvette Guilbert und Josephine Baker 
ihre Memoiren erscheinen. Die eine am Ende ihrer Laufbahn, die 
andere am Anfang. Man mufi, um so zu debiitieren, schon sehr frei 
von Aberglauben sein. Frau Josephine Baker hat sich klug und sehr 
vorsichtig eingerichtet, tat nichts, als dafi sie einen jungen, routi- 
nierten Journalisten vier funf mal zum Tee bei sich sah, und ihm 
erzahlte, wie es ihr bisher gegangen ist. Im ganzen recht gut. So gut, 
dafi es den Reizen ihres Buches stellenweise fast abtraglich wurde. 
Aber es hat einen unbezahlbaren Anfang, in dem die Tanzerin aus 
ihrem Tageseinlauf einige Musterstiicke publiziert. Um alle die 
Verehrer zu befriedigen oder ihnen zu wehren, miifite Josephine die 
tausend Arme der buddhistischen Chamunda(?) haben. Da sie 
aber davon nur zwei hat, so wird sie wohl mit einem mittleren Ver- 
fahren sich begniigen mussen. Natiirlich gibt es nicht nur grelle 
oder schattierte Annaherungsbriefe von Verehrern und Verehrerin- 
nen sondern auch Einladungen zu Borsencoups und Finanzgeschaf- 
ten, Bitten um Photos, ja um ein Eintrittsbillet, von einem . . ., der 
einst bessere Tage gesehen hat. ( fr 1 1 2 ) 

Chaplin 

Nach der Auffiihrung von Zirkus. Chaplin erlaubt es dem Zu- 

schauer nie, iiber ihn zu lacheln. Der mufi sich vor Lachen biegen 

oder tieftraurig sein. 

Chaplin griifit mit seiner Melone und es sieht aus als wenn der Dek- 

kel eines iiberlaufenden Kessels sich hebt. 

Seine Kleider sind impragniert gegen alle Schicksalsschlage. Er sieht 

aus wie einer, der vier Wochen nicht aus den Kleidern gekommen 

ist. Er kennt kein Bett, wenn er sich irgendwo hinlegt, so ist es ein 

Schubkarren oder eine Wippe. 

Durchnafit, verschwitzt, in viel zu engen Kleidern ist Chaplin das 



138 Fragmente vermischten Inhalts 

sinnfallige Exempel der Goetheschen Wahrheit: Der Mensch ware 
nicht der Vornehmste auf der Erde, wenn er nicht zu vornehm fiir 
sie ware. 

Das ist das erste Alterswerk von Chaplin. Er ist alter geworden, seit 
seinen letzten Filmen, aber er spielt sich auch so. Und das Ergrei- 
fendste an diesem neuen Film ist, zu fuhlen, dafi er den Kreis der 
Wirkungsmoglichkeiten nun iiberblickt, entschlossen ist, mit ihnen 
und nur mit ihnen seine Sache zu Ende zu fuhren. 
Uberall geht die Variante seiner grdfken Motive in voller Herrlich- 
keit auf. Die Verfolgung wird nun in einen Irrgarten verlegt, das 
unerwartete Auftauchen mufi einen Zauberer verbliiffen, die Maske 
des Unbeteiligtseins macht ihn zur Marionette vor einer Jahr- 
marktsbude. Am grofiartigsten die Komposition des Schlusses: er 
wirft Confetti iiber das gliickliche Brautpaar und man denkt, nun 
ist's aus. Dann steht er wieder da als die Circuskolonne sich in 
Bewegung setzt, schliefit hinter ihnen die Wagentiir - und man 
denkt: nun ist's aus. Dann sieht man ihn in der Furche des Kreises, 
den ehemals die Armut beschrieb, zunickbleiben und man denkt, 
nun ist's aus. Dann kommt als Grofiaufnahme sein durch unddurch 
zerknitterter Leib, wie er auf einem Stein in der Arena Platz nimmt; 
nun glaubt man den Schlufi mit Handen zu greifen, und dann erhebt 
er sich und man sieht ihn von hinten, wie er langsam sich weiter und 
weiter entfernt, mit dem Gang Charlie Chaplins, seine eigene wan- 
delnde Echtheitsmarke(,) wie am Ende der ubrigen Filme sich das 
Signet der Ursprungsfirma einstellt. Und hier nun, an der einzigen 
Stelle, wo kein Einschnitt ist und man ihm mit den Blicken ewig 
folgen mochte, hier eben ist Schlufi ! ( f r 1 1 3 ) 

Hans Henny Jahnn: Perrudja 

An ein Werk, das mit soviel Konventionen bricht wie das vorlie- 
gende(,) wird man strenge Mafistabe anlegen miissen - denn es 
kommt von vornherein nur fiir eine kleine urteilsfahige Leser- 
schicht in Betracht, zugleich aber Mafistabe, die die notige Weite 
haben, jeder lebendigen Tendenz, die sich in ihm abzeichnen sollte, 
gerecht zu werden. Wenn das Gutachten trotzdem zu ein (em) 
absolut und vorbehaltlos ablehnenden Ergebnis kommt, so ist 
wichtiger als alle Einwande im Einzelnen, dafi das Buch den Leser 
fiir das, was es ihm zumutet(,) nirgends durch neue Perspektiven, 



Charakteristiken und Kritiken 139 

Bild- oder Denkwerte entschadigt, und selbst in der an sich schon 
exzentrischen Produktion des Dichters eine extreme aber auf keine 
Weise entwicklungsfahige Position einnimmt. Die Darstellung der 
sexuellen Phanomene auch und gerade in ihren Abweichungen von 
der Norm, auch und gerade nach ihrer physiologischen Seite ist 
allerdings ein im besten Sinne aktuelles Thema. Es ist nur erstaun- 
lich, wie wenig der Dichter sich davon Rechenschaft gab, daft hier 
mit blofier Darstellung nichts geschehen ist, da{8) das Erscheinun- 
gen sind, die erst in Zusammenhangen an{s) Licht treten, die iiber 
die individuellen Ekstasen oder Angste hinausgreifen, in kollektiven 
Zusammenhangen sich erhellen. Gleichviel ob man hier an die 
mythischen Intuitionen eines Bachofen oder eines Freud denkt - 
gewift stehen einem Dichter andere Wege offen - er wird der 
Erscheinungen des Geschlechts nur habhaft werden, sofern er nicht 
nur eine ganze Welt in ihrem Lichte sondern auch sie im nuchternen 
Lichte der Umwelt zu zeigen vermag. So fallt nun vor allem auf, mit 
wie wenig gliicklicher Hand der Dichter an alles herantritt, was 
aufterhalb sei(nes) Helden liegt. 

Dieses Norwegen ist nichts weiter als eine einzige Isolierzelle, die 
Menschen und Vorgange gegen jede soziale, physische und meta- 
physische Wirklichkeit absperrt, an der sie sich ausrichten konnten. 
Dem entspricht durchaus die krampfhafte Gebarde, mit der ein 
kleines Stuckchen der heutigen Welt - der Trust, der im letzten 
Drittel des Buches genannt wird - wie durch einen Spalt sich in die 
Handlung hineinzwangt. Im ubrigen bleibt er, einmal im Innern 
dieser Welt{,) ein phantastisches Versatzstiick, nichts sonst. Die 
moralischen Konflikte, die in Perrudja als dem Besitzer des Unter- 
nehmens auftauchen, versanden einfach (soweit die Handlung bis 
zum Ende des Manuscriptes sich absehen lafit). Im ubrigen sind sie 
so naiv und grob, sowohl ihrer Formulierung wie ihren Vorausset- 
zungen nach, daft man sich auch von ihrer Entfaltung nichts 
Erspriefiliches versprechen konnte. Gerade die Gleichmaftigkeit, 
mit der in diesem Roman ein Nebel nicht nur iiber dem physiolo- 
gisch-geschlechtlichen Geschehen sondern genau so iiber dem 
sozialen und wirtschaftlichen verbreitet ist - der geheimnisvolle 
Reichtum(,) der Perrudja auf ebenso geheimnisvolle, an Maeter- 
lincksche Dramen erinnernde Weise zukommt - verrat, daft der 
Autor an eine solche Darstellungsweise gebunden ist. 
Der Stil des Buches ist durchaus als expressionistisch zu bezeich- 



140 Fragmente vermischten Inhalts 

nen. Die Sprache ist geschwollen, weniger im Sinne des Vokabu- 
lars als der Syntax und also auf eine viel bedenklichere Art. Die 
zahllosen Subjektsatze ohne Pradikat machen die logische Struktur 
immer wieder undurchschaubar. Der Leser wird sich auch bei der 
Berechnung der verschiednen Moglichkeiten nicht aufhalten son- 
dern iiber solche Stellen hinweghasten wie der Reiter iiber den 
Bodensee. Dadurch wird die Lektiire zu einer so grofien Anstren- 
gung, dafi man das Buch, zumal angesichts seiner Ausdehnung(,) 
als unlesbar bezeichnen kann. Nun bringt die Form des sogenann- 
ten monologue interieur, deren Hauptvertreter Joyce ist, freilich 
ebenfalls eine Auflockerung der Syntax zustande, die an sich der 
expressionistischen bei Jahnn ahnelt. Nur ist eben die Welt des 
Verfassers, der sich mit seinem Helden identifiziert(,) in ihrer 
monomanischen Enge ebensoweit von der von James Joyce ent- 
fernt wie seine sprachliche Unsicherheit von der Sprachkraft des 
Iren. 

Die sprachlichen Nachlassigkeiten und Unarten des Werkes sind 
leider fur den (G)eist(?) des Ganzen viel charakteristischer als 
die Anomalien, hinter denen man, genauso wie hinter solchen des 
Empfindens und Denkens, mit einem gewissen Recht erwarten 
konnte, auf neue, reiche Welten zu stofien. Aber was verrat eine 
Passage wie »Er konnte nicht wissen, dafi der Freund manches 
gedacht, fur dessen Wirklichmachung er nur zu schwach war« 
anderes als den Einflufi des Zeitungsdeutsch (Reduzierung des 
Verbums). Was soil man sich unter einem Satze wie dem folgenden 
denken: »Mit einer viehischen Attitude der Unterwelt platzte das 
Fieber der Labartu in den Adern Khosros zu eiternden Schwaren.« 
Was von der oden Umstandlichkeit einer Ausdrucksweise, in der 
es heifit: Es habe einen Furcht (x). Ein Unfall sei daraus entstan- 
den. Oder: Es sei Dunkel in ihm dariiber, welche Anspriiche er 
(xxx). 

Diese anmafiende Humorlosigkeit gewinnt in einem Werke, in 
dem die Vorgange des Geschlechtslebens einen derartig breiten 
Raum einnehmen, ganz besondere Bedeutung. Man darf sagen, 
dafi der Humor den Passierschein des Geistes fur die Welt des 
Sexus darstellt. Mit kanonischer Strenge, todlichem Ernst lafit sich 
ein Gesetzbuch der sexualen Moral schreiben, nie und nimmer 
aber das wirkliche Geschehen in dem Bereiche der Sexualitat auf 
eine Weise darstellen, die ernst wirkt. Wenn es vielmehr irgendein 



Charakteristiken und Kritiken 141 

Bereich gibt, in dem die Humorlosigkeit auf die Dauer nicht zu 
ertragen ist, so ist es die einlafiliche Darstellung korperlicher Pha- 
nomene, und der sexuellen zumal. 

Hierzu ist freilich eine Souveranitat erforderlich, die diesem Buche 
mehr als alles andere {a)bgeht. Der Verfasser ist so vollig den 
Erfahrungen, von denen er ausgeht, verf alien, dafi er durchaus 
verabsaumt, sie irgendwie in eine Welt, die einem Dritten ihn 
naher bringen konnte, einzufiigen. Perrudja erscheint hier als eine 
Apotheose der Kreatur, unter volliger Abstraktion von allem, was 
solchen Menschen aus seinen wirklichen Lebensverhaltnissen be- 
greiflich und interessant machen konnte. Jedes Detail ist, oft mit 
den gewaltsamsten sprachlichen Mitteln, ins Archaische oder 
Mythische abgebogen. In diesem Sinne weist das Werk Ziige auf, 
die sich etwa mit Biichern von Alfred Brust vergleichbar machen, 
dem Jahnn in der Tat von alien heutigen Autoren am nachsten 
steht. Nur setzt(?) das Konnen und wohl auch die intellektuelle 
Schulung, die bei Brust unvergleichlich viel grofier ist, eine Kluft 
zwischen beiden. Brust ist ein Autor, der so grofie dichterische 
Schonheiten in seinen Biichern hat, daft man es selten bereut ihm 
zu folgen. An Perrudja konnte einen nur ein stoffliches Interesse 
fesseln. 

Wo dieser Mangel an Souveranitat, an Humor, an Helle am tiefsten 
verstimmt, das(?) ist an den Stellen, da der Autor an den Ketten 
reifk, die ihn (an) die sexuellen Themen binden. E(r) bricht sie 
nie. Man braucht nur zu erinnern(,) welche Weltweite und welche 
formale Vollendung Strindberg noch in seinen getrubtesten Epo- 
chen solchen Motiven abgewann{ ,) um der Zuchthausluft, die man 
hier atmet, inne zu werden. 

In diesem Punkte ist das Werk, so gering es an konkreten sachli- 
che(n) Gehalten sonst sein mag, der Heimatkunst vergleich- 
b(ar.) 
Es ist Heimatkunst der analen Zone. ( f r 1 1 4 ) 

Zu Dostojewski 

Es hat keiner so wie er begriffen, wie ahnungslos jene Meinung der 
Spiefier ist: das Gute sei zwar- bei aller mannlichen Tugend dessen, 
der es iibt - von Gott inspiriert und das fromme Leben danke sein 
Bestes ihm; das Bose aber, das stamme ganz aus unsrer Spontanei- 



142 Fragmente vermischten Inhalts 

tat, darin seien wir selbststandig und ganz und gar auf uns gestellte 
Wesen. Keiner hat wie er auch in dem gemeinsten Tun, und gerade 
in ihm, die Inspiration gesehen{ .) Er hat noch die Niedertracht als 
etwas so im Weltlauf, doch auch in uns selber Praformiertes, uns 
Nahgelegtes wenn nicht Aufgegebnes erkannt wie der idealistische 
Bourgeois die Tugend. Sein Gott hat nicht nur Himmel und Erde 
und Mensch und Tier geschaffen, sondern auch die Gemeinheit, die 
Rache, die Grausamkeit. Und sie alle sind bei ihm ganz urspning- 
lich, vielleicht nicht »herrlich« aber »ewig neu« wie am ersten Tage 
und himmelweit entfernt von den Klischees, in denen dem Philister 
die »Sunde« erscheint. ( f r 1 1 5 ) 

Zu Knut Hamsun ( 1 ) 

Es gehort zur Sache, daft niemand anders als abgerissen von diesem 
Mann reden kann. Und wer andres versucht - ein gewisser Berend- 
sohn hat ein Buch liber ihn geschrieben - beweist damit allein seine 
Unzustandigkeit. 

Zu dem wenigen, das sich sagen lafit, dies: ich fuhr vor einigen 
Tagen - Ende Juli 1929 - von Miinchen nach Berlin. Was ist nicht 
um diese Zeit, in diesen letzten Tagen des Juli, fur ein unablassiges 
Treiben auf alien Feldern. Ich sah hinaus, dachte, wie diese Leute 
ihre Arbeit tun und nicht daran denken ob sie weiter dringt, hinaus- 
dringt, nicht wollen, dafi sie es tut. Welche Gewalt der Rahmen hat, 
der ihr Tagwerk umspannt. Dem gegeniiber sah ich diesen leiden- 
schaftlichen Hang der Geistigen(,) uferlos hinauswirken, wirken, 
weiterwirken, fortwirken, offentlich werden zu wollen und mir 
schien an ihm etwas Minderwertiges. Ich dachte auch daran, wie 
nichts von dem, was im Mittelpunkte des Daseins dieser Menschen 
steht{,) uns zuganglich, ja auch dem Worte nach nur bekannt sei 
und ihnen nichts von dem, was unser Wichtigstes ist(,) auch nur 
dem Namen nach angehort. 

Hat man diese Fremdheit ermessen und sich vor Augen gefiihrt, wie 
lange Generationen der Bauer schwieg{,) dann steht Hamsun vor 
einem: der zahnlose Mund so unabsehbarer Geschlechter von Bau- 
ern, der nun sich aufzutun begann und langsam sein Wort iiber 
unser Leben sagt: in seiner Sprache zum ersten Mai sein Urteil iiber 
uns ergehen lafk. Hamsuns Sprache iiberbnickt einen so grofien 
Raum des Nichtverstehens wie keines andern. 



Charakteristiken und Kritiken 143 

Seine Biicher gehoren zu denen, von denen niemand begreift, dafi 
sie abbrechen. Niemand will es dulden. Und wenn alle Figuren 
einer Hamsunschen Geschichte gestorben waren - der Leser fande 
keine Ruhe und fragte nach Sohnen, Eltern, Enkeln{,) Schwa- 

gern(.) <frn6> 



Zu Knut Hamsun (2) 

Immer hat er seinen Einfaltigsten und Armsten - Bauern, Hauslern 
und Bettlern - die ganze unnennbare Briichigkeit, Kompliziertheit 
und Abgriindigkeit gegeben, die unsere »grofien« Romanciers, die 
nichts wissen und nur Probleme im Kopf haben, fur Fluch und Vor- 
recht des dekadenten Grofistadtmenschen gehalten haben. 
Immer haben die verschwiegensten Aussprachen seiner Menschen 
eine so unverbriichliche Scham, dafi jeder hergelaufne, zerlumpte 
Stromer dazu treten konnte ohne dafi (die) Redenden auch nur die 
Stimme zu senken brauchten. 

Immer ist der Gedanke unfafilich, das Buch, das man gerade gelesen 
hat, sei von einem Manne, der Biicher schreibt. Unvorstellbar, dafi 
er mehr als dieses eine gemacht habe. Denn sie sind nicht geschrie- 
ben sondern sind Aufgeschriebnes, das einem in die Hande fallt wie 
ein Testament oder ein Rezept. 

Wie er die »Landstreicher« erzahlt: so als ob er der Wirklichkeit 
kein Wort glaubt, als ob er ihr nicht iiber den Weg traut. 
Dafi sein Erzahlen etwas von der alten incantation hat. Wie er als 
Burger einer ganz andern Welt unter die heutigen Menschen gefal- 
len ist, die ihm grenzenlos gefahrlich, bedrohlich scheinen und wie 
er nun, aus Notwehr und urn sie sich vom Leibe zu halten, zu erzah- 
len beginnt, natiirlich Geschichten aus jener Welt in der er eigent- 
lichzuHauseist. (irn?) 



Zur Kritik von Ludwig, Strachey, Maurois etc. 

Der Versuch, diese neue Biographik von der »Wissenschaft« aus zu 
kritisieren, wird nicht zum Ziel fuhren. So kann bestenfalls gezeigt 
werden, was an diesen Werken falsch, nicht was an ihnen verderbt 
ist. Keine wissenschaftliche Widerlegung kann den Insti(n)kt 



144 Fragmente vermischten Inhalts 

bekraftigen, der in gesunden Lesern sich gegen diese Werke 
emport. Die Kritik mufi von deren Wirkung ausgehen. Sie mufi in 
ihren Mittelpunkt den Nachweis stellen, dafi diese Biicher das 
gelobte Leben ihrer Helden zum Komfort des lesenden Publikums 
machen. Es gibt zwei Arten der Biographik. Die neuere Mode- 
biographik eines Ludwig unterscheidet sich von der klassischen 
eines Plutarch ganz einfach so: Plutarch stellt seinen Helden bild- 
lich, oft vorbildlich, immer aber dem Leser durch und durch aufier- 
lich hin. Ludwig sucht seinen Helden dem Leser und vor allem sich, 
dem Autor, innerlich zu machen. Er verleibt ihn sich ein, er saugt 
ihn aus, es bleibt nichts. Der Erfolg dieser Werke liegt darin; sie 
verhelfen einem jeden zu einem kleinen »inneren Napoleon*, einem 
»inneren Goethe«. Wie man geistvoll, aber durchaus richtig 
bemerkt hat, dafi es wenige Leute gibt, die nicht einmal in ihrem 
Leben aufs Haar Millionare geworden waren, so kann man auch 
von den meisten sagen, dafi ihnen die Gelegenheit ein grofier Mann 
zu werden, nicht gefehk hat. Ludwigs Geschick ist, seine Leser auf 
schlupfrigen Wegen zu diesen Wendepunkten zuriickzufuhren und 
sie - die Trummerf elder ihres Daseins - im rosigen Projektionslicht 
des Heldenlebens vor ihnen erstrahlen zu lassen. { fr 1 1 8 ) 

Zu Micky-Maus 

Aus einem Gesprach mit (Gustav) Gliick und (Kurt) Weill. - 

Eigentumsverhaltnisse im Micky-Maus-Film: hier erscheint zum 

ersten Mai, dafi einem der eigne Arm, ja der eigne Korper gestohlen 

werden kann. 

Der Weg eines Akts im Amt hat mehr Ahnlichkeit mit einem von 

jenen, die Micky-Maus zuriicklegt(,) als mit dem des Marathon- 

laufers. 

In diesen Filmen bereitet sich die Menschheit darauf vor, die Zivili- 

sation zu uberleben. 

Die Micky-Maus stellt dar, dafi die Kreatur noch bestehen bleibt, 

auch wenn sie alles Menschenahnliche von sich abgelegt hat. Sie 

durchbricht die auf den Menschen hin konzipierte Hierarchie der 

Kreaturen. 

Diese Filme desavouieren, radikaler als je der Fall war, alle Erfah- 

rung. Es lohnt sich in einer solchen Welt nicht, Erfahrungen zu 

machen. 



Charakteristiken und Kritiken 145 

Ahnlichkek mit dem Marchen. Niemals seitdem sind die wichtig- 
sten und vitalsten Ereignisse unsymbolischer, atmospharenloser 
gelebt worden. Der unermefiliche Gegensatz zu Maeterlinck und 
zu Mary Wigman. Alle Micky-Maus-Filme haben zum Motiv den 
Auszug, das Furchten zu lernen. 

Also nicht »Mechanisierung«, nicht das »Formale«, nkht ein »Mifi- 
verstandnis* hier fiir den ungeheuren Erfolg dieser Filme die Basis, 
sondern dafi das Publikum sein eignes Leben in ihnen wiederer- 
kennt. ( f r 119) 



Hofmannsthal mit ( Aleco) Dossena zusammenzuriicken. Auch 
Dossena falschte ohne es zu wissen. Er machte seine Sache, dann 
traten die andern dazu und sagten : was fiir ein beispielloser Giotto 
oder welch unvergleichlicher archaischer Torso. Urn sodann, nach- 
dem sie diese Zuschreibung so vollzogen hatten, den Kiinstler zu 
entlarven. Hofmannsthal falschte ohne es zu wissen, aber freilich 
erfullt von den Werken, die aufs neue in ihm lebendig wurden. Nir- 
gends taucht die Frage dringlicher auf, was eigentlich der Impuls 
des Falschers ist, aber das ist keine Frage, dafi ihn die groften Werke 
der Vergangenheit durchaus mit eben diesem Impuls erfullten. 
Darum ist »Ubersetzung« fiir das was er mit dem Odipus, der Elek- 
tra, mit dem geretteten Venedig, mit Jedermann, mit dem Leben ein 
Traum und sovielem andern vornahm, garkein adaquater Begriff. 
Er tat mit diesen Werken nichts anderes als was er beispielsweise an 
der Goetheschen Novelle oder an dem Marchen mit der Frau ohne 
Schatten vornahm, die ja gewifi keine Ubersetzung ist. Sie lafit aber 
zugleich erkennen, worum sichs hier handelt, was das Gemeinsame 
all dieser Arbeiten ist. Sie sind in jedem Falle die nahezu das Uner- 
tragliche streifende Verdichtung der eigensten Charakterzuge jener 
Werke. So goethisch ist keine Novelle wie die Frau ohne Schatten, 
so Calderonsch kein calderonsches Drama wie der Turm. Und 
wenn es fiir das eigentiimlich Kiihle, die Lebensferne seiner Sachen 
irgend einen Ausdruck gibt so ist es dieser. Sie haben alle Stoffe 
ihrer Urbilder in aufierster und sublimiertester Verdichtung aufzu- 
weisen, aber es fehlt ihnen die wahre Assimilierbarkeit. Sie sind, 
wenn man so sagen darf, wohl nahrhaft nur nicht efibar. Essen nam- 
lich heifit doch: sich einverleiben. Und einzuverleiben ist nur weni- 
ges was Hofmannsthal schrieb. - Man konnte sein Genie mit einem 



146 Fragmente vermischten Inhalts 

Wort - und hatte damit schon den Tatbestand der Falschung nah 
umschrieben - zitierend nennen. Der grofie Falscher, der wenig 
oder nichts mit dem zu tun hat, dem Falschung eine schlechthin 
merkantile Sache ist, zitiert ihr Urbild. Und das ist Hofmannsthals 
Fall: er zitiert nicht Zeilen, schone Stellen oder dergleichen sondern 
das ganze grofie Werk, das ganze grofie Urbild insgesamt. Er erhebt 
es in den Stand der Anfuhrung, aber auch in den Stand der Erschei- 
nung. Denn in der Tat zitiert der Falscher auch in jenem andern 
Sinne die Werke: er beschwort sie. Und zwar war fur Hofmanns- 
thal solche Beschworungskunst untrennbar mit der Bildung ver- 
bunden, der er ihre verlorene Autoritat aus der geschichtlichen 
Magie wieder geben zu konnen hoffte. Das Unternehmen, Bildung 
auf Magie zu griinden(,) bringt alles Grofie und Chimarische die- 
ser Natur am starksten zum Ausdruck. Legitim war diese Bildung 
gewifi, nur lebensfahig war sie nicht mehr. So lange als nur irgend 
denkbar stellte (sich) fur Hofmannsthal alles wesentliche Gesche- 
hen in den Reflexen am Uberkommenen aus. Er hatte einen untriig- 
lichen Instinkt fiir die Aktualitaten, die am Entlegensten auftreten. 
Als die Aktualitat aber sich an den »ewigen Besitztiimern* nicht 
mehr spiegelte, war Hofmannsthal seines eigentlichen Organs und 
Ausdrucks beraubt. Sein Herrscher- und Bildungsideal bekam chi- 
marische Ziige, in denen die humanistisch protestantische Geistes- 
haltung immer mehr mit der habsburgisch imperialen Idee zerfiel. 
Seine Helena war die Bildung, die er in der politischen Pfalz des 
Nachkriegsdeutschland als schones aber ohnmachtiges Bildnis 
beschwor. (fr 120) 



Schema zu einem Nachruf auf Jose (ph) Roth wie ich ihn in Erin- 
nerung an meine Begegnung mit ihm im Hotel am Zoo - den ersten 
Abend, da ich meine Wohnung auf immer verliefi - schreiben 
konnte. Die Figuren, die zum Betrieb eines Hotels gehoren, wiirde 
ich eine nach der andern vorbeiziehen lassen. Angefangen beimStu- 
benmadchen, eingeschrumpft, auf der Hut vor Gas ten, die es zu 
sehr beanspruchen oder die ihm nachstellen; der Kellner, geschwat- 
zig oder unfreundlich - zeitraubend auf jeden Fall, denn er be- 
schlagnahmt einen mit seinen Informationen oder er lafit einen 
lange warten; der Stammgast, ausweichend oder intim - aber 
immer den Eindruck nahelegend, wenn er nicht so aus dem Rahmen 



Charakteristiken und Kritiken 147 

fiele, dann tate man selber es, denn einer miisse die Last der Verlegen- 
heit auf sich nehmen; der gerant, hoflich solange man das Zimmer 
bezahlen kann, aber in seiner Hoflichkeit immer der Eventualitat 
Rechnung tragend, dafi es in Balde nicht mehr der Fall ware, -diese 
Reihe von Figuren vervollstandigt; und dann Roth zwischen ihnen 
wie der Saaldiener im Museum, wie der Warter im Zoologischen 
Garten, wie der Manager in der Artistenloge. ( fr 1 2 1 ) 



NOTIZEN ZU EINER KRITIK VON FRANZ MaRC 

Wesentliche Stelle: Brief e I p 50 
Marc beruft sich auf Hereditat statt auf Tradition (.) 
Seine »Abstraktion« ist nicht im Sinne des Denkens sondern etwa 
in dem des »Doppels« der Hellsicht zu verstehen{.) 
In hellseherischem Training sucht er sein Nervensystem dahin zu 
bringen, die Welt so zu sehen, wie die Tiere es tun. 
Aber diese Tiere malt er wie Tizian eine Prinzessin make. Haben 
seine Tiere Namen? Ist ihre Einzelheit Typik oder Individualist? 
Er wiifite das wohl kaum zu beantworten! 

Ihm fehlt die Vorstellung der Tierheit, auch die vom Ort der Tiere 
und vom Verhaltnis des Menschen zu ihnen (.) 
Im Grunde kommt dies von dem Ausfallen aller prophetischen 
Kategorien, wahrend doch einzig die erloste Welt eine Vorstellung 
vom Wesen der Tiere und ihrem wahren Verhaltnis zu den Men- 
schen zu gewahren vermag. (fr 122) 

Zu (Scheerbart:) »Munchhausen und Clarissa« 

Hochst bedeutend ist die Ironie 1) indem alles Munchhausen in 

den Mund gelegt wird (Episode mit dem verlornen photographi- 

schen Apparat()) 2) indem alles in der dekadenten Adelsfamilie 

spielt. 

Die Transponierung des tatigen Radomonteurs (sic) in die viel 

grofiere Flunkerei der Kontemplation. 

Schone Betonung des Kontemplativen durch die Darstellung von 

Miinchhausens auffallender Bequemlichkeit. 



148 Fragmente vermischten Inhalts 

Die Umwelt der »Stube« aus der hier alles erwachst stellt die Dinge 

vielleicht noch seelenhafter in den Raum als der Lesabendio. 

Genial ist die nachdriickliche Betonung des Miihevollen in der kon- 

templativen Representation. 

Winterszeit. 

Das Annoncendeutsch. 

»Im vorigen Jahrhundert sind so viele Dinge umgekrempelt wor- 

den. Aber die Menschen selber sind nicht umgekrempelt worden. 

Und so passen alle Menschen eigentlich nicht in unsre Zeit hinein. 

Der aire Munchhausen miifite kommen und die Menschen um- 

krempeln.« p8 

Schizophrener Typ der australiatischen Plastiken. Sprengung des 

Kontemplativen in der Kunst. Die ewig (durch schopferische Aus- 

bildung) in Atem haltende Architektur wird der Kanon aller Her- 

vorbringungen (vgl. hierzu meine Rezension von Bloch; auch 

Beziehung von Architektur zu Handschrift). 

Scheerbarts Utopie des Leibes ist verwandt der exzentrischen 

Rebellion gegen seine Konvention. Doch hat diese letztere auch 

noch andere Motive. 

Die Beschreibung der Tempel in Melbourne und Campanellas Son- 

nenstaat{.) 

Da die Erde mit der Menschheit zusammen einen Leib bildet, so ist 

sie naturlich belebt. Daher die Hbhlenwesen, ( f r 1 2 3 ) 

(Leon) Daudet 

Der Glanz, die Frische, in dem bei ihm die Biicher dastehen 

sein Begriff der literarischen Kritik 

seine grofte transparente Leidenschaft fiir eine deutliche eigne Welt 

von Motiven 

Klarung der literarischen durch Abspaltung der posteriorischen( ?) 

Aktivitat 

Intuition in das Wesen der Romantik 

Meridionales Temperament 

Crepuscule - heure de la grande conception litteraire 

Genie der Klassifikation / Genie der Anekdote 

Keit(h)sches Tempo: Schnelligkeit, Verwerfung, Besinnung - 

Liebe (fr 124) 



Charakteristiken und Kritiken 149 

(JOUHANDEAU:) LES PlNCENGRAIN 

Wildensbacher Kreuzigung 
Mythologien parasitar auf dem Christentum 
Mademoiselle Zeline / bayrische Glasmalerei. Die Seele als Instru- 
ment der Krankheit 
Biblischer Einfluft auf den Stil 

Eine Heilige im Hurenhaus sterben zu lassen - auf geradem Wege 
(Melanie Lenoir) 

Zumeist Geschichten von Frauen. 

Exotischer als orientalische Erzahlungen. Hochste Fo{l)klori- 
stik 

Strenge Disziplin der Novellensammlung 

Die Buhne zwischen Kloster und Hurenhaus: dennoch keine Sym- 
bolik 

Die religiosen Gehalte in Verwesung 
Vergleich mit Munch. - Nachzuschlagen Glaser: Munch 
Menschen, in deren Innerm es aussieht, wie im untersten Grunde 
einer beschatteten Zisterne, in die in Jahrhunderten keine Sonne 
hinabdringt So steht auch in ihnen der Bodensatz von Jahrhunder- 
ten christlicher Disziplin: Schimmel hat sich dariibergezogen und 
wenn diese Menschen den Mund auftun haucht es einen kiihl an wie 
aus der Tiefe des modrigsten Kellers. 
Biblische Mottos 

Menschen { ?), welche die Gabe haben jede Stube zu verwandeln in 
die sie treten 

Rezensionen im Mercure und der Nouvelle Revue 
Rolle der Frau in der okkulten Religionstradition 
Reprasentationsportrats im Stile von Henri Rousseau. Man weift 
nicht, welches Reich? welcher Thron? welcher Sieg? Aber ein 
Staatswesen, dessen Ratschliisse und dessen Embleme alle in den 
Raum dieser gedrangten Kleinburgerzimmer hineingehen. Wir 
haben es mit einer Folklore des Wohnens zu tun. Welche Depots 
die Mobel darstellen oder welche Masken. Was sich an Mobeln 
hochrankt. Schlinggewachse, die eines Morgens den Erwachenden 
ausweglos verstrickt halten. 
Adrienne Mesurat - die gleiche Un welt : conception laique ( f r 1 2 5 ) 



150 Fragmente vermischten Inhalts 

Franzosische Buchkritiken 

Hauptthemata: 

1) Stellung Frankreichs zu den europaischen Problemen 

a) Katholizismus 

(Jaques) Maritain und (Albert) Thibaudet / (Marcel) Brion / 
(Julien) Benda / andere hist(orische) Bucher (Verlag Plon) / Streit 
der Action Frangaise mit dem Vatikan 

b) Rufiland 

(Georges) Duhamel / (Luc) Durtain / russisches Kinobuch / 

c) Deutsche iiber Paris 

(Kurt) Tucholsky (:) Paris-Kapitel in 5 PS (Berlin 1928) / (Wal- 
ter) Mehring: Paris in Brand (Roman, Berlin 1929) 
(Walter) Benjamin: Einbahnstrafie (Berlin 1928) / (Rainer M.) 
Rilke: (Die Aufzeichnungen des) Make (Laurids Brigge, Leipzig 
1910) 

d) Die neuen franzosischen Klassiker 

(Comte de) Lautreamont / (Guillaume) Apollinaire / (Jean) 
Cocteau und (Giorgio di) Chirico 

e) Sonderkapitel: (Andre) Gide 

Der deutscheste der franzosischen Autoren / Gide und der Begriff 
des »dessin« / »(xxx) petit Jean-Jaques« / Si le grain ne meurt (Paris 
1926) / (Oscar) Wilde / Gide und (Marcel) Jouhandeau 

f) Gesellschaftskritik Gide: Kongo (s. Voyage au Congo, Paris 
1927; Le retour du Tschad, Paris 1928 ) / Thibaudet: (La) Republi- 
que des professeurs (Paris 1927) 

g) Anatole France ist zu beriihren. Erstens der Itineraire ( de Paris a 
Buenos Ayres, Paris 1927) von J(ean) J(aques) Brousson, zwei- 
tens die instruktive These von (Charles) Maurras: France habe 
iiberall da und nur da die Hohe seiner Mittel erreicht, wo er die 
Lehren und Gesinnungen der partisans de Pordre dargestellt habe. 
Maurras also lafk den iiblichen gegen France gerichteten Syllogis- 
mus seiner politischen Freunde nicht gelten; anstatt zu schliefien: 
es gibt keine Schonheit ohne Wahrheit 

Nun ist der Skeptiker, Antikatholik, Kommunist France von der 
Wahrheit so weit wie nur moglich entfernt 

Folglich konnen seine Sachen nicht im wahren Sinne des Wortes 
schon sein 



Charakteristiken und Kritiken 1 5 1 

schliefit Maurras: 

Es gibt keine Schonheit ohne Wahrheit 

Nun ist das Werk von Anatole France von Schonheit voll 

Folglich mufi es im Kern seines Wesens wahr sein { fr 1 26 ) 



Schemata und Glossen zum Jugendstil I 

St(anislaw) Przybyszewski: Das Werk des Edvard Munch Berlin 

1894 

Hugo von Hofmannsthal (Loris) : Uber die Personen in Ibsens Dra- 

men Berlin 1930 

A(dolf) E(duard) Zucker: La vie d'Ibsen (le constructeur) Paris 

1930 

Wichtig ist der Begriff des »Motivs«. Um 1905 gab es in der Har- 
denbergstrafie ein Restaurant namens »Motivhaus«. Die Geschich- 
te dieses Lokals ware zu ermitteln. 

Titel des langst geplanten Aufsatzes: Die singende Blume oder die 
Geheimnisse des Jugendstils. Zu diesem Aufsatz finden sich einige 
Materialien in den Notizen zur Passagenarbeit, vor allem Stellen, 
die Salvador Dali in einem einschlagigen Aufsatz in dem »Surrea- 
lisme au service de la revolution* geschrieben hat. Aufierdem ware 
ein Aufsatz ausfindig zu machen, der- wenn ich nicht irre von Mar- 
tin - vor Jahren in der Frankfurter Zeitung veroffentlicht wurde 
und in dem der Ursprung von Jugendstilmotiven aus technischen 
Bauformen behauptet wird. So sollen etwa Profile eiserner Trager 
als ornamentale Motive an Fassaden auftreten. 
Weiter ist heranzuziehen Ernst Blochs Aufsatz »Wissende Augen«, 
der das Verhaltnis des Kleinburgers zum Leib behandelt. 
Ferner von Else Jerusalem: Der heilige Skarabaus. (Roman, Berlin 
1909) 

Die Rezension des »Tagebuchs einer Verlorenen« von Kurt Aram. 
Erschienen in der Frankfurter Zeitung am 5 Juli 1905 

Die Geburt des plein airs aus dem Geiste des Interieurs. 
Der nackte Mensch als Pflanzenkontur. B lumen im Anfang von 
Dorian Gray. »Faire catlaya* bei Proust. In Proust verlauft sich die 
Linie des Jugendstils, Jugendstil - Blumen - Tapeten. Die Tapeten- 



I J2 Fragmente vermischten Inhalts 

welt. Der Blumenbogen des Jugendstils von »Les Lesbiennes« zu 

»Sodome et Gomorrhe«. 

Der Jugendstil in der Malerei. Manet, der spezifische Staubgehalt in 

der Atmosphare seiner Bilder. 

Das ewige Leben der Blume im neunzehnten Jahrhundert. Von den 

»Fleurs du mal« iiber die »schlechten Mutter* Segantinis bis zur 

Asphaltblume und zur »Berliner Pflanze«. Die Herkunft der Blume 

aus dem beschrankten Hausrat- der Welt der Straminstickerei. Die 

Apotheose der Blume bei Odilon Redon. 

(Walter) Crane und Fidus. 

Die drei Linien des Jugendstils. Die Linie des Lasters (Baudelaire - 

Beardsley - Wilde) Die Linie der Emanzipation (Ibsen, Nietzsche) 

Die Linie der Priesterschaft (Mallarme, George). 

Lieder vom »kleinen Cohn« 
Bruno Wille: Die Abendburg 

Felix Lorenz: Der Klex. Ein Drunter- und Driiberbrettl-Buch Ber- 
lin 1902 

Die Insel der Blodsinnigen. Die Tollheiten der Moderne. (Fortset- 
zung: Der Drehwurm im tjberbrettl) Berlin 1901 

Aus dem »Tagebuch einer Verlorenen* 

»Herrgott und Fahnenreich« - »westliches Berliner Ausland« - 

»Landluft geniefien« - »zugealtert« 

»Des Lebens Friihling nennen sie die Jugend« 

»Wo ist die Frau, die in der Geachteten den gleichberechtigten 

Menschen sieht? - Sie ware . . . eine singende Blume. « 

»man . . . hinge nur als Tautrane still und rein an einem Olblatt des 

Friedens« 

»Wenn's gut geht, werde ich noch mal dekoriert und komme in die 

Woche. Singular. Mit dem Plural ist es wohl endgiiltig aus.« 

Gesunder Menschenverstand - die hochste Tugend dieser Verfas- 

serin. 

Vollig subalterner Horizont, aber jene uberraschenden Nahsich- 

ten, die einen adaquaten Ausdruck im Vokabular finden. 

Die namenlose Durchschnittlichkeit dieses Buches allein tuts nicht. 

Veraltet ist dieses Buch, aber durchaus nicht unlesbar. Weil die 



Charakteristiken und Kritiken 153 

unsagliche Platitude der Denkungsart, der Gesinnung sich mit einer 
Extravaganz nicht nur des Stils sondern auch der Sache verbindet. 
Es zieht die kiihne, nun schon verblaflte, Kurve der Emanzipation 
bis ans Ende. 

Komplettes Inventar des Sexualgewerbes von der Heiratsvermittle- 
rin, der Vorsteherin einer diskreten Entbindungsanstalt bis zur 
Kuppelwirtin und zum Strichjungen. 

Man kann sagen, dafi die Munchener »Jugend« das Zentralorgan 
dieser geheimnisvollen »Emanzipationsbewegung« gewesen ist, die 
in der Stimmung jener Verse lebt: »Stell auf den Tisch die duftenden 
Reseden, die letzten roten Astern hoi herbei!« 
In der Blume bindet sich an die Idee der Jugend die des Perversen. 
Und erst damit sind wir ins eigentliche Zentrum des Jugendstils 
eingedrungen. Merkwiirdig nun, wie diese Verspannung von Per- 
version und Idealismus nicht nur in den Hohen der Literatur son- 
dern noch in Niederungen des Inseratenwesens eine Rolle spielt. 
»Wissende Augen« - auch hier eine Anerkennung der Emanzipa- 
tion verbunden mit Perversion. 
Der idealistisch-perverse Blumenblick Odilon Redons. 
Diese Emanzipation war Stilangelegenheit durch und durch: die 
»ideale Forderung«, »in Schonheit sterben«, »Heimstatten fiir 
Menschen*, »eigene Verantwortung* der Frau vom Meer. 
(Wilhelm) Speyer sagt einiges Ausgezeichnete iiber Ibsen, woran 
man anschliefien mufi. Vor allem: zwei Verzeichnisse anfertigen; 
das Verzeichnis der »Werke«, an denen seine Helden schaffen und 
das Verzeichnis seiner Requisiten: Ibsen war Apotheker. Der phar- 
mazeutische Geruch um seine Frauengestalten. Sie schlafen nie mit 
ihren Mannern: gehen immer »Hand in Hand« mit ihnen irgend 
etwas Schrecklichem entgegen. Wir kamen darauf, Ibsens Art, das 
Wesentliche herauszustellen, mit der heutigen zu vergleichen. Bei 
uns gilt das Geriist, die Armatur, der Aufbau. Bei Ibsen herrscht die 
»Essenz«. Es gibt iiberhaupt im Jugendstil nur das »Eigentliche«: 
die blofie Linie. Friihlings- und Herbstpflanze ohne Blatter und 
Wurzeln. Wird nicht die Herbstzeitlose modisch? (fr 127) 



»Idealrealismus« die Schule von (Otto) Heuschele. Biindnis der 
Universitatsphilosophie ((Eduard) Spranger, (Emil) Utitz) mit 



154 Fragmente vermischten Inhalts 

dem neuen Eklektizismus. Beziehung dieses neuen Eklektizismus 

auf Holderlin. 

Nicht dafi »der notige Abstand nicht zu gewinnen sei« ist der 

eigentliche Grund, warum sich »wissenschaftlich« nicht iiber die 

Gegenwart handeln lafit, sondern weil dieser Abstand hier vom 

Ubel ware. Die einzig wirklich formende Kraft fur die Betrachtung 

der Gegenwart ist die Polemik. 

Wie man vielleicht die Verdienste des Verfassers in seiner editori- 

schen Tatigkeit respektieren konne. 

Dafi man solche Biicher lesen mufi, um die trostlose Lebensferne 

nicht nur der Aesthetik sondern auch dieser Dichtung, der sie sich 

widmet, erfassen zu konnen. 

Eine kindische Konstruktion von Utitz p 52 

Die Monade »gleichsam durch Fenster auslugend« p 54 

»Ja, die Philosophic unserer Tage mufi uberhaupt in starker Uber- 

einstimmung mit dem jungen Dichterwillen gesehen werden« p 

54 

Die ewig gleiche, bis zum Ekel gleiche, Charakteristik der jeweili- 

gen »Endglieder« der Entwickung. 

»Wie heifits gleich in Klaus Manns >Kindernovelle<?(«) 

Das Informiertseinwollen um jeden Preis; es bedeutet den Sieg des 

Journalismus in der Literaturgeschichte. Wie denn uberhaupt dies 

Buch dadurch interessant ist, dafi es eine der starksten akademi- 

schen Positionen raumt. 

Auch sehr kennzeichnend fur eine Literaturgeschichte im luftleeren 

Raum. 

Es ist die Sprache derer, die alles mitgemacht, die nicht eine Bro- 

schiire, nicht einen Roman sich versagt haben (nur allenfalls nicht 

dazu kamen) und denen das viele, das sie dennoch nicht kennen, 

nicht zum Grunde ihrer Kraft und Sicherheit sondern nur ihrer 

Unbildung wird. 

Es ist geradezu erstaunlich, wie die akademische Wissenschaft hier 

»mit allem geht«, »mitgeht«. Hier wo es nur auf das schamlose, 

nackte Verstehen ankommt, und nirgends, wie den weit zuriicklie- 

genden Epochen gegeniiber, aus der forschenden, kommentieren- 

den Erkenntnis dem ganzen Unternehmen Haltung und Fassung 

kommt. 

Dafi ein solcher Arrivist Kafkas Prozefi nur als einen »aktivistischen 

Roman* auffassen kann, darf nicht wundernehmen. {fr 128) 



Charakteristiken und Kritiken 155 

Es ist im hochsten Grade fesselnd, bei Kant - und zumal in den 
Altersschriften (-) den Niederschlagen einer Denkerfahrung von 
einer einzig dastehenden Genauigkeit und Bestimmtheit nachzu- 
gehen. Was ein lebender Autor - Paul Valery in der Gestalt sei- 
nes Monsieur Teste - auf spielende und phantastische Art ver- 
sucht hat: den Habitus des Denkenden bis in seine geringsten 
physiologischen und physiognomischen Einzelheiten hinein zu 
verfolgen, ist bei Kant mit einer hochst vertrauenswiirdigen 
Anspruchslosigkeit und einem Radikalismus, der es mit den Be- 
funden der Behavioristen aufnehmen kann, versucht worden. Da- 
bei scheint er nach einer indirekten Methode vorgegangen zu 
sein, insofern er die Denkgewohn(hei)t zunachst in vieler Hin- 
sicht als eine gefahrliche und die Gesundheit schwer bedrohende 
entwickelt. Seine Fragestellung ist eigentlich: wie kann der Den- 
ker seinen ihn sehr bedrohenden Berufsgefahren aus dem Wege 
gehen. Das Auffallendste an diesen Untersuchungen ist vielleicht 
die souverane Verachtung der Lacherlichkeit, mit welcher Kant 
an sie herangeht. 

Zu untersuchen ware, ob nicht die Kasuistik in der »Metaphysik 
der Sitten« das Geheimfach ist, in dem Kant seine politisch kom- 
promittierenden Gedanken aufstapelt. 

Es ware aufschlufireich, die Bedeutung der »Menschenwiirde« fur 
Kant zu bedenken. Die aufierordentlich fadenscheinige Beschaf- 
fenheit seiner Erlebnisse lenkte sein Denken keinen Augenblick 
von dem abstrakten Menschenbilde ab, in dessen Namen die 
Aufklarung ihre Ethik aufstellte, und zwar ebensosehr um dem 
konkreten Untertanen moglichst wenig Abbruch zu tun wie um 
pathetisch von ihm Abstand zu halten. Im Denkerleben Kants 
aber hat dieser Abstand sein absolutes Maximum erreicht, derge- 
stalt dafi der abstrakte Mensch ganzlich Burger der intelligiblen, 
der konkrete ganzlich Burger der monarchischen Welt ist(,) und 
der Hoheit in der Darstellung und Idee des ersten, der seine 
Mannesjahre gewidmet waren, entspricht die Kindlichkeit, mit 
welcher im Greisenalter der zweite sich auslebt. Denn das eben 
ist das sonderbare Schauspiel dieses Daseins, daft es in seinem 
volligen Verfall zugleich sich auslebt, im strengen Doppelsinne 
des Wortes. 

»Noch habe ich das Gefuhl fur Humanitat nicht verloren« - es ist 
nichts aufschlufireicher als zu sehen, wie eng hier Humanitat und 



156 Fragmente vermischten Inhalts 

burgerliches Zeremoniell einander zugeordnet sind. Das erst zeigt, 
dafi der Begriff der Humanitat nicht erfafit werden kann, ohne ein 
Gefiihl fiir die Enge der Burgerstube, in die hier die weite Welt 
eingeht. (VgL meine Bemerkung zum Brief von Kants Bruder.) 

Im »Mutmafilichen Anfang der Menschengeschichte* spricht Rant 
vom »Trieb sich mitzuteilen« und beklagt seine Wirkung »an Kin- 
dern und an gedankenlosen Leuten, die durch Schnarren, Schreien, 
Pfeifen, Singen und andere larmende Unterhaltungen (oft auch der- 
gleichen Andachten) den denkenden Teil des gemeinen Wesens 
storen.« 

»Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal 
rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den 
ubrigen Tieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Wert 
(pretium vulgare). Selbst, dafi er vor diesen den Verstand voraus hat 
und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur einen 
aufieren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus), namlich eines 
Menschen vor dem anderen, d.i. ein Preis, als einer Ware, in dem 
Verkehr mit diesen Tieren als Sachen, wo er doch noch einen niedri- 
gern Wert hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld«. Aus sol- 
chen Stellen erhellt, dafi Kant auch nicht im entferntesten daran 
dachte, irgendwo in der physiognomischen Erscheinung des Men- 
schen (die doch zu seiner Natur mitgehort) einen Ausdruck seines 
moralischen Wesens zu suchen. Das ist in doppelter Hinsicht auf- 
schlufireich. Einerseits zeigt es diesen, physiognomisch im aller- 
hochsten Grade markanten Mann als ganzlich blind in Dingen der 
Physiognomik, andererseits ist wahrscheinlich solche Blindheit die 
Vorbedingung fiir den phantastischen Siegeszug der phantastischen 
Physiognomik, die zu Kants Lebzeiten von Lavater ihren Ausgang 
nahm. 

Erbaulicher Wert lateinischer Sprichworter fiir Kant. Leben p 258 
p 262 p 299 

Lampes Zeugnis: »Er hat sich treu, aber fur mich nicht mehr pas- 
send verhalten.« 
Zeitungsanekdote Leben p 262 

Bedeutung der Gewohnheit bei Kant; Zusammenhang mit der defi- 
nitorischen Genauigkeit. »Seit mehr als einem halben Jahrhundert 
keine lebendige Seele beim Tee.« 
»Der Name Lampe mufi nun vollig vergessen werden.« 



Charakteristiken und Kritiken 157 

»Kant fand es anstofiig ... seinen Diener Kaufmann zu nennen, 

weil er zwei gebildete Kaufleute wochentlich an seinen Tisch 

zog.« 

Geschichte von der Grasmiicke und dem Friihling: » Auf den Appe- 

ninen mufi noch eine grofie Kalte sein.« {266) 

»Junius, Julius und August sind die drei Sommermonate* p 268 

Flotenmusik (der Uhr), Kinderverse und Trauertraume. Die einst 

ausgeschlossene Welt drangt nun, ihre Frechsten und Kleinsten 

voran, zur Tiir hinein. 

Kant um Reisewetter betend p 274 

Schwalbengeschichte p 293 

Verhaltnis zur Sprache und Metakr ( it ) ik p 294 ( f r 1 29 ) 



Projekte 

Fur den Uhu: Das Aufgehen der allgemeinen Bildung in der Re- 
klame 

Zusammenstellung aller Prophezeiungen fur die 
nachsten 50 bis 100 Jahre aus Wirtschaft, Bevolke- 
rungsstatistik, Technik, Meteorologie, Kriegswis- 
senschaft, Heilkunde, Erziehung usw. 
Seefahrt als Wissenschaft 
Kaspar Hausers ioojahriger Todestag 

Fur die Literarische Welt: Gracian 

Portrats der Verschollnen: Senna Hoy, Friedrich 
von Schennis, (Max) Gretor, Donald Wedekind, 
Gaulke, (Franz von) Baader, (Jacob) vanHoddis, 
Bernhard Kiihler 

Rundfunk Horspiel iiber die Anfange des Spirit (i)smus 

Theater Versailler Verhandlungen ohne die Deutschen 

(fn 3 o) 



La Traduction - Le pour et le contre 

Als ich vor paar Tagen bei den Bouq ( u ) inisten vorbeikam, fiel mir 
zufalligdiefr(an)z(6sische) Ubers(etzung) einesd(eu)tsch(en) 
ph(ilosophischen) Buchs in die Hand. Ich blatterte darin wie man 
eben in den Buchern am Quai blattert, suchte die Stellen heraus, die 



158 Fragmente vermischten Inhalts 

mich oft und ausfiihrl(ich) beschaftigt hatten - welche Uberra- 

schung. Die Stellen waren nicht da. 

Sie meinen, Sie haben sie nicht gefunden? 

Doch(,) gefunden habe ich sie schon. Aber als ich ihnen ins 

Gesicht sah, hatte ich das peinliche Gefiihl, sie erkennen mich 

ebensowenig wie ich sie erkenne. 

Von welchem Philosophen sprechen Sie eigentlich? 

Ich spreche von Nietzsche. Sie wissen, dafi . . . ihn iibersetzt hat. 

Die Ubersetzung ist, soviel ich weifi, sehr geschatzt. 

Sicher nicht zu Unrecht. Aber was mich an den Stellen, die mir 

vertraut gewesen waren, befremdete, war nicht ein Mangel der 

Ubersetzung sondern etwas, was vielleicht sogar ihren Vorzug dar- 

stellt: Der Horizont und die Welt um den iibersetzten Text selbst 

war ausgewechselt und selbst franzosisch. 

Die Welt um einen philosophischen Text herum scheint mir die jen- 

seits aller nationalen Charaktere befindliche Welt des Gedankens zu 

sein. 

Es gibt keine Gedankenwelt, die nicht eine Sprachwelt ware, und 

man sieht nur das an Welt, was durch die Sprache vorausgese{t)zt 

ist. 

Sie meinen das im Sinne Humboldts, der iiberzeugt war, dafi jeder 

zeit seines Lebens unterm Banne seiner Muttersprache stiinde. Sie 

sei wirklich die Sprache, die fur ihn denkt und sieht. 

Glauben Sie wirklich, dafi Neologismen, wie sie Nietzsches Spra- 
che auszeichnen, eine echte gedankliche Tragweite haben? 
Eine gedankliche, weil eine historische. Wenn Nietzsche die deut- 
sche Sprache glanzend mifibraucht, so racht er sich daflir, dafi nie- 
mals eine deutsche Sprachtradition - es sei denn in der diinnen 
Schicht der literarischen Expression - wirklich zustande gekom- 
men ist. Die Freiheiten, die die Sprache liefi, nahm er sich nochein- 
mal, um sie ihr vorzuhalten. Und der Mifibrauch der deutschen 
Sprache bedeutet letz(t)lich die Kritik an der Unfertigkeit des 
deutschen Menschen. Wie kann diese Sprachsituation in eine andere 
iibersetzt werden? 

Das hangt - so erstaunlich es klingen mag - von der Art ab, in der 
die Ubersetzung eingesetzt wird. Tauschen wir uns nicht: sie ist vor 
allem einmal eine Technik. Und warum sollte sie als solche sich 
nicht mit andern Techniken kombinieren lassen. Ich denke da in 



Charakteristiken und Kritiken 1 59 

erster Linie an die Technik des Kommentars. Die Ubersetzung 
bedeutender Werke wird umso weniger Chancen haben zu gelin- 
gen, je mehr sie ihre technisch dienende Funktion zu der einer selb- 
standigen Kunstform zu erheben bestrebt sein wird. 
Diese gluckliche Form der Ubersetzung, die im Kommentar 
Rechenschaft von sich ablegt und das Faktum der verschiedenen 
Sprachsituation mit zum Thema macht, ist der Neuzeit leider in 
wachsendem Mafi verloren gegangen. Sie hatte ihre Blute in einer 
Epoche, die von den Aristotelesiibersetzungen des Mittelalters bis 
zu den zweisprachigen kommentierten Klassikerausgaben des sieb- 
zehnten Jahrhunderts reicht. Und gerade weil die Verschiedenheit 
der Sprachsituation zugestanden war, konnte die Ubersetzung 
wirksam, zum Bestandteil der eignen Welt werden. Aber allerdings 
scheint mir die Anwendung dieser Technik auf poetische Texte 
uberaus problematisch. 

Was spricht fur Ubersetzen 

Fortschritte der Wissenschaft im internationalen Mafistab (Das 

Lateinische, Leibnizsche Universalsprache) 

Padagogischer Wert der grofien Schriftwerke der Vergangenheit 

Befreiung vom Vorurteil der eignen Sprache (Der Sprung iiber die 

eigne Sprache) 

Kontrolle der gleichzeitigen Geistesbewegungen in den verschied- 

nen Volkern. »Ist es also ein Manko, dafi es mehrere Sprachen 

gibt?« Verneinung{.) Wilhelm von Humboldt : Verschiedenheit 

des Sprachbaus 

Grenze: Ubersetzungsunbedurftigkeit der Musik. Lyrik: der Mu- 

sik am nachsten - grofite Ubersetzungsschwierigkeiten. 

Grenze der Ubersetzung in der Prosa - Beispiele 

(Wert schlechter Ubersetzungen: produktive Miflverstandnisse) 

Das Faktum dafi ein Buch iibersetzt wird, schafft in gewissem Sinn 

schon sein Mifiverstandnis. Jean Christophe - ausgesucht wird 

meist das, was auch in der eignen Literatur geschrieben werden 

konnte. 

(Karl Christian Friedrich) Krause in Spanien. 

Mifiachtung der Nuancen 

Eine gewisse Brutalitat im Geistesbild 

Hochste Gewissenhaftigkeit mit grofiter Brutalitat verbinden 

Jenes von Stresemann lacherlich gemeinte Wort: »Man spricht 



160 Fragmente vermischten Inhalts 

Franzosisch in alien Sprachen* ist ernster als er meinte, denn der 
Sinn der Ubersetzung ist iiberhaupt: die fremde Sprache in der eig- 
nen zu reprasentieren. (fr 13 1 ) 



Zur Literaturkritik 



Programm der literarischen Kritik 

i) Die vernichtende Kritik mufi sich ihr gutes Gewissen wieder 
erobern. Dazu mufi die Funktion der Kritik iiberhaupt wieder 
ganz neu ins Bewufitsein geriickt werden. Es ist allmahlich 
dahin gekommen, dafi sie die Erschlaffung und die Harmlosig- 
keit selber geworden ist. Unter diesen Umstanden hat selbst die 
Korruption noch ihr Gutes: namlich iiberhaupt ein Gesicht, 
eine deutliche Physiognomic 

2) Ein Hauptirrtum ist, dafi man durch den Apell (sic) an die 
private Ehrlichkeit des Rezensenten der Korruption entgegen- 
wirken konne. Unter den heutigen Umstanden hat(?) der 
Schadling zu all seinem Treiben nur selten die bona fides {,) 
und je hoher der Kaufpreis desto weniger kommt er sich 
gekauft vor. 

3) Ehrliche Kritik vom unbefangenen Geschmacksurteil aus ist 
uninteressant und im Grunde gegenstandslos. Entscheidend an 
einer kritischen Tatigkeit ist, ob ihr ein sachlicher Aufrifi (stra- 
tegischer Plan) zu Grunde liegt, der dann seine eigene Logik 
und seine eigene Ehrlichkeit in sich hat. 

4) Den vermifit man heute fast uberall, weil die politische Strate- 
gic mit der kritischen nur in den grofiten Fallen sich deckt, den- 
noch ist letzten Endes das als Ziel anzusehen. 

5) In solchen Zusammenhang ist die folgende kritische Aufkla- 
rungsarbeit einzustellen. Deutschlands Leserkreis ist von 
hochst eigentiimlicher Struktur: er zerfallt in zwei, einander 
etwa gleiche, Halften: das »Publikum« und die »Zirkel«. Diese 
beiden Teile iiberdecken sich nur wenig. Das »Publikum« sieht 
in der Literatur ein Instrument der Unterhaltung, der Belebung 
oder Vertief ung der Geselligkeit, einen Zeitvertreib im hoheren 
oder im mindren Sinne. Die »Zirkel« sehen in ihr die Biicher 
des Lebens, Quellen der Weisheit, Statuten ihrer kleinen, 
alleinseligmachenden Verbande. Die Kritik hat - sehr zu Un- 
recht - bisher sich fast nur mit dem beschaftigt, was in das 
Blickfeld des »Publikums« fiel. 

6) Die Literatur der »Zirkel« zu verfolgen, diese schreckliche, 



1 62 Fragmente vermischten Inhalts 

nicht gefahrlose Aufklarungsarbeit ware zugleich eine Vorstu- 
die zur Entwicklungsgeschichte des Sektenwesens im Deutsch- 
land des 2oten Jahrhunderts . Es ist auf den ersten Blick garnicht 
zu ubersehen, worauf diese ungeheuer heftige und geschwinde 
Entfaltung des Sektierertums zuriickgeht. Man kann nur vor- 
hersehen, dafi es die eigentliche Form der Barbarei ist, der 
Deutschland verfallen wird, wenn der Kommunismus nicht 
siegt. Dafi aber ein Versuch, den Leib aus alten Kollektivzusam- 
menhangen zu losen, in neue einzustellen, diesem plotzlichen 
Virulentwerden aller rituellen Verstellungskomplexe zugrunde 
liegt und dafi, was sie zu Erscheinungsformen des Irrsinns macht 
gerade ihre Beziehungsiosigkek zur kollektiven Aktivitat ist, 
das diirfte als sicher angesehen werden. 

7) Die Kritik hat ferner anders als bisher ihre Durchschlagskraft 
durch eine richtige Einstellung auf die Produktionsverhalt- 
nisse auf dem Biichermarkt sich zu sichern. Bekanntlich 
erscheinen viel zu viel Bucher. Und, was schlimmer ist, 
infolge dessen erscheinen zu wenig gute Bucher. Auch treten 
von denen, die einmal erschienen sind, zu wenig in die 
Erscheinung. Die Kritik hat bisher, um ein Buch zuriickzu- 
weisen, sich im wesentlichen an dessen Autor gehalten. Dafi 
sie damit nicht viel erreicht, liegt auf der Hand. Sie kann ihren 
Urteilen keine Exekution folgen lassen. Ganz davon abgese- 
hen, dafi fur einen schlechten Autor, der erledigt ist, neun 
neue aufstehen. Anders wenn die Kritik in gewissen Grenzen 
den Grundsatz der (wirtschaftlichen) Verantwortung des Ver- 
legers festhalt und den Verleger schlechter Bucher als Ver- 
schwender des ohnehin geringen Kapitals denunziert, das der 
Biicherproduktion zur Verfiigung steht. Hier handelt es sich 
natiirlich nicht darum, den Kaufmann im Verleger zu treffen, 
der mit schlechten Buchern Geschafte macht wie andere 
Geschaftsleute mit schlechter Ware{,) sondern den schlecht- 
berichteten Idealisten, der mit seinem Mazenatentum das 
Gefahrlichste stiitzt. 

8) Eine gute Kritik setzt sich aus zwei Bestandteilen maximal 
zusammen: der kritischen Glosse und dem Zitat. Durch Glos- 
sierung wie auch durch Zitate allein lassen sich sehr gute Kritiken 
mach(en). Unbedingt zu vermeiden ist die »Inhaltsangabe«. 
Dagegen ist die reine Zitatenkritik als ganze auszuarbeiten. 



Zur Literaturkritik 163 

9) Theorie des verkannten Genies (s.fr in, i36f.) isthieremzu- 
setzen. 

10) Ursachen der bisherigen Toleranz in der Kritik{.) 

1 1 ) Prognose fur die Universitaten. In zehn Jahren werden die Ka- 
theder reinlich zwischen Hochstaplern und Sektierern sich auf- 
geteilt haben. Die Eroberung von Lehrstuhlen durch die Schule 
Georges war das erste Symptom. Es ergibt sich (Gesprach mit 
Christiane von Hofmannsthal) daft zwar noch Hochschulleh- 
rer leben, die exaktes Wissen und exakte Fertigkeiten besitzen, 
aber schon ist es unmoglich fur sie geworden, dieses Wissen 
mitzuteilen und weiterzugeben. »Die Studierenden lernen 
nichts, aber sie konnen iiber die Strafie gehen wie ihre Leh- 
rer. ( « ) Und das illustriert uns die Wahrheit, daft die Tradier- 
barkett des Wissens eine Eigenschaft ist, die nicht von dessen 
Reichtum und Exaktheit abhangt. Vielmehr verrat gerade in ihr 
sich klarer als irgendsonstwo dessen moralische Struktur. 

12) Was es gabe, wenn unter den Zwolf, die in Deutschland beim 
Publikum eine Stimme haben, einer es wagen wiirde, gegen 
seine Mitverschwornen laut zu werden. Hier beruht alles auf 
der Gewiftheit, daf$ keiner dem andern sein Spiel verderbe. 

13) Historischer Riickblick: Verfall der literarischen Kritik seit der 
Romantik. Dabei spielt u. a, eine Rolle das Fehlen einer Kollek- 
tivinstanz grofier Gegenstande und Schlagworte. Jedes Kriti- 
kergeschlecht sah sich schon selber als »Generation« in all ihrer 
Bedingtheit, als kummerliche Statthalterin der »Nachwelt«. 
So, eingeklemmt zwischen die Produktiven und die Nach- 
welt(,) wagte sie nicht sich zu ruhren und versank im Epigo- 
nentum. {Friedrich Theodor) Vischer die letzte Etappe{.) 

14) Je starker ein Kritiker ist, desto intensiver kann er die ganze 
Person seines Gegners(,) bis in die Einzelheiten der Physio- 
gnomic herein, verarbeiten. 

15) Kritische Verfahrungsarten. Gefahr ihrer Vielfalt. 

1 Nur vom Autor sprechen - nur vom Werk sprechen 

2 Werk im Verhaltnis zu andern Werken des Autors - 
Werk an sich selbst 

3 Werk literarhistorisch nach Gehalt oder Stil ableiten 
oder vergleichen 

4 Werk nach seiner Wirkung aufs Publikum, polemisch, 
prognostisch, referierend 



164 Fragmente vermischten Inhalts 

5 Werk als Reprasentant einer These - These als Reprasen- 
tant eines Werkes 

16) Funktion der Kritik, heute vor allem: Die Maske der »reinen 
Kunsu zu liiften und zu zeigen, dafi es keinen neutralen Boden 
der Kunst gibt. Materialistische Kritik als Instrument dazu(.) 

17) Die Gefahr im Loben: Der Kritiker bringt sich um seinen Kre- 
dit. Jedes Lob ist, strategisch gesehen, eine Blankobiirgschaft. 

1 8) Grofie Kunst im Lobe. Aber auch grofie Kunst, durch Tadel 
scheinbar Nebensachliches wichtig zu machen. 

19) Der Kritiker mufi dem Publikum das Gefiihl zu geben wissen, 
wo es ihn zu erwarten hat. Wann er das Wort ergreif en wird und 
in welchem Sinne. 

20) Die Raumfrage. Hier ist vom Stil der Kritik zu handeln und 
anzuschliefien an meine Gesprache mit (Bernhard) Reich. 

21) Wir wissen nicht, was Hofmannsthal, Thomas Mann, Wasser- 
mann voneinander, ja wir wissen nicht einmal was die Wortfiih- 
rer der jiingeren Generation Leonhard Frank, (Alfred) Doblin, 
( Arnolt) Bronnen von diesen Alteren denken. Und nicht, dafi 
das so interessant oder so mafigebend ware, oder dafi wir es uns 
nicht zur Not ausdenken konnten. Aber es wiirde die Atmo- 
sphare reinigen. Es wiirde den ganzlich amorphen Haufen der 
Leute, die von »ihrer Feder leben« endlich so weit artikulieren, 
dafi Parteinahme und Auseinandersetzung zustande kommen, 
die unserm Literaturbetrieb in einem gradezu unf afilichen Mafie 
fehlen. Gegensatz dazu die Theaterkritik, die heute eben darum, 
und nur darum, denn das Theater ist nicht wichtig, einen bedeu- 
tenden Platz im offentlichen Interesse einnimmt. 

22) Uber die unwahrhaftige und unhaltbare Fiktion als hatte die 
literarische Kritik auch heute noch Mafistabe von der reinen 
aesthetischen Forschung zu erwarten und als sei ihre Sache im 
Grunde nur deren Anwendung. Die Kritik hat keine Notiz 
davon genommen, dafi die Zeiten der Aesthetik in jedem Sinne 
und zumal dem von F. Th. Vischer voriiber sind. 

23) »Die Gabe des Urteils ist seltener als die schopferische Gabe«. 
(Oskar) Loerke 

24) Stefan Zweig in Bottcherstrafie (Bremen, hg. von L. Roselius) 
I,i 

25) Bilderkritik (Prochainement Ouraitre(?)) Erzahlungskritik 
(Zauberberg) 



Zur Literaturkritik 1 6 5 

26) Aktuelle Themen der Kritik: Der Kriegsroman in Deutschland 
((Arnold) Zweig, (Ernst) Glaser, (Ludwig) Renn, (Erich 
Maria) Remarque). Entlarvung von Jakob Wassermann. 

27) Die Gruppierung, vielmehr Parteiung, die durch Deutschland 
geht. Die Autoren, die unter dem Expressionismus debutiert 
haben(,) und die anderen. 

28) Zur Frage der Kriegsromane. Die Rechtsparteien haben die 
Erfahrung des Krieges sogleich bar einkassieren konnen. Ihre 
Weltanschauung ist durch ihn nicht erschiittert worden. Die 
der Kommunisten ebensowenig. Anders die der Mittelpar- 
teien, besonders der Grofibourgeoisie und, anders, der Klein- 
burger, das mufi man sich gegenwartig halten, wenn man die 
Frage beantworten will: Welchem (oder wessen) Interesse 
dient die vogue der Kriegsromane? Je mehr die »Objektivitat«, 
das »Dokumentarische« dieser Literatur betont werden, desto 
uberzeugter sollte man nach den tief verborgenen Tendenzen 
forschen, denen sie dienen. Tief verborgen sind freilich diese 
Tendenzen nicht alle: Zum Bejspiel ist da die pazifistische auf- 
fallend deutlich. Aber gerade sie verlangt nahere Analyse. 

29) Weiteres zum Kriegsroman. Verborgen ist an dieser pazifisti- 
schen Tendenz daft und wie sie dem gegenwartigen Stande des 
Kapitalismus dient. Und genauso schwer durchschaubar wie 
diese pazifistische Ideologic als Instrument des Imperialismus 
ist, genauso schwer ist es, sich Rechenschaft davon zu geben, 
wie eigentlich diese Tendenz mit der scheinbar »objektiven« 
und »dokumentarischen« Wirklichkeit des Krieges in einen 
Einklang gebracht ist. Diese Ideologic ist in der »sachlichen 
Darstellung« versteckt wie Ostereier in den Ritzen eines Sofas. 
Formelhaft kann man geradezu sagen: Die vorgebliche Wirk- 
lichkeit des Krieges in jenen neuen Romanen verhalt sich zu 
seiner wahren (d. h. aber: gegenwartig aktuellen) Wirklichkeit 
so wie die pazifistische Ideologic zu den Notwendigkeiten der 
heutigen Wirtschaft. Beide decken sich nur scheinbar. 

30) Weiteres zum Kriegsroman. Die Biicher iiber den Krieg, die 
jetzt erscheinen, sind z.T. schon unmittelbar nach dem Krieg 
entstanden. Damals wollte sie niemand. Sie vertrugen sich 
nicht mit den damaligen Interessen, denen vielmehr die grofien 
Memoirenbucher entsprachen. Andererseits war - formal - der 
Ausdruck der damaligen Lebensverhaltnisse (Inflation) der 



1 66 Fragmente vermischten Inhalts 

Expressionismus. Die Kritik der neuen Kriegsbiicher ware in 
einer Darstellung des Ubergangs des Expressionismus zur 
»Neuen Sachlichkeit« implizit enthalten. Dabei wiirde sich 
ergeben, dafi die »Neue Sachlichkeiu die Konsolidierung der 
Schuld ist, die der Expressionismus einging. Er ging sie bei der 
Metaphysik ein. Die »Neue Sachlichkeit« ist der Zinsen- 
dienst. 

31) Buchkritik muE sich ein Programm zu Grunde legen. Die 
immanente Kritik kann, als eine, die ihre Mafistabe im Werke 
improvisiert, zu einzelnen gliicklichen Resultaten fiihren. Aber 
notwendiger als das ist ein Programm. Das hat semen Ausgang 
in der Einsicht zu nehmen, dafi die aesthetischen Kategorien 
(Mafistabe) samt und sonders aufier Kurs gekommen sind. Sie 
konnen auch durch eine noch so virtuose »Entwicklung« der 
alten Aesthetik nicht hervorgebracht werden. Vielmehr ist der 
Umweg iiber eine materialistische Kritik notig, der die Biicher 
in den Zusammenhang der Zeit einstellt. Ein(e) solche Kritik 
wird dann zu einer neuen, bewegten, dialektischen Aesthetik 
fiihren. Waren doch auch in der alten Aesthetik die hochsten 
zeitkritischen Einsicht(en) eingeschlossen. Aber der heutige 
Kritiker nimmt diese alten Begriffe und Schemata im gleichen 
Sinne fur absolut wie die Werke. Er ist fest iiberzeugt, es miisse 
jeden Augenblick alles geben. 

32) Atomisierung der heutigen Kritik. Das Buch aufierhalb der 
Zusammenhange der Zeit, des Autors, der Stromungen. Das ist 
aber eine hypothetische Arbeitsbasis nur fur gewisse Glucks- 
falle der improvisierenden, immanenten Kritik. 

33) Verhaltnis von Buch- zu Filmkritik umgekehrt als es sein 
miifite. Buchkritik mufke von der Filmkritik lernen. Anstatt 
dessen imitiert die Filmkritik meist die Buchkritik. 

34) Miftbrauch, den die Dichter mit ihrem Namen und ihrem Ein- 
flufi treiben. Es ist, verglichen mit der Lage der Dinge in Frank- 
reich geradezu besturzend, wie unsere bekanntesten Dichter 
nicht den kleinen Finger riihren, um beim Aufbau der Buchkri- 
tik mitzutun. 

3 5 ) »Quand on soutient un mouvement revolutionnaire ce serait en 
compromettre le developpement que d*en dissocier les divers 
elements au nom du gout.« Miindliche Aufierung von Apolli- 
naire. 



Zur Literaturkritik 167 

36) Mit der Atomisierung der Kritik hangt das Aussterben der kri- 
tischen Portratkunst zusammen. 

37) Man mache sich zur Maxime: Keine Kritik ohne mindestens ein 
Zitat aus dem Werk, das besprochen wird. 

38) Ein Bild von dem, was Kritik ist: Pflanzen aus dem Garten der 
Kunst in die fremde Erde des Wissens versetzen, um die kleinen 
Verfarbungen und Veranderungen der Form, die da an ihnen in 
Erscheinung treten, aufmerksam zu erfassen. Das Wichtigste 
ist der zarte Griff, die Behutsamkeit, die das Werk mit den 
Wurzeln aushebt{, die) dann das Erdreich des Wissens heben. 
Alles iibrige kommt von selbst weil es die Vorziige am Werke 
selbst sind, die allein Kritik im hochsten Sinne heifien diirfen. 

39) Wie nachhaltig miissen sich die Zeiten geandert haben. Vor 
hundert Jahren schrieb Borne: »nach einem Buche iiber ein 
Buch sind sie [die Deutschen] am meisten liistern; . . . Wer sie 
zum Guten hinziehen will, der thue ja nichts, sondern schreibe, 
und wer seines Erfolgs gewisser sein will, der recensire.« (Lud- 
wig) Borne: Gesammelte Schriften (Vollstandige Ausgabe 
[hg. von Karl Griin], Bd.) 6 (Wien 1868), 3 

40) Hochst kennzeichnend fur die heutige Kritik: fast nie kompro- 
mittiert sie einen Autor mehr als wenn sie lobt. Und das ist im 
ganzen ja in der Ordnung, sofern sie namlich das Nichts wur- 
dige vorzugsweise lobt. Dem Bedeutenden geht (es) aber nicht 
anders. Siehe den Fall Hofmannsthal. (fr 132) 

Zur Charakteristik der neuen Generation 

1) Diese Leute machen nicht den mindesten Versuch, fur das, was 
sie tun(,) sich irgendwelche theoretischen Grundlagen zu si- 
chern. Sie sind nicht nur ganz stumpf den sogenannten grofien 
Problemen, den Fragen der Politik, der Weltanschauung gegen- 
uber: sie kennen ebensowenig grundsatzliches Nachdenken 
iiber die Fragen der Kunst. 

2) Sie sind ungebildet. Nicht nur in dem Sinne, dafi sie nur sehr 
weniges kennen sondern vor allem dafi sie nicht imstande sind, 
diese ihre verschwindenden Kenntnisse irgend planmafiig zu 
erweitern. Noch nie ist eine Generation von Schriftstellern so 
unberiihrt von den Notwendigkeiten, von der Technik wissen- 
schaftlicher Arbeit geblieben wie diese. 



1 68 Fragmente vermischten Inhalts 

3) Wahrend diese Schriftsteller munter von Werk zu Werk schrei- 
ten, sieht man nicht, wo eigentlich in ihren Arbeiten eine Ent- 
wicklung, vor allem wo eine Stetigkeit stattfinde aufier im Tech- 
nischen. Ihre Bemiihungen und ihr Ehrgeiz scheinen sich darin 
zu erschopfen, einen neuen Stoff, ein dankbares Thema heran- 
zuschaffen und damit basta. 

4) Es hat immer eine Unterhakungsliteratur - will sagen eine Lite- 
ratur gegeben, die keinerlei Verpflichtungen der Zeit und den 
Ideen gegeniiber, die sie bewegten, auf sich nahm als hochstens 
die, solche Ideen in einer angenehmen, modisch konfektionier- 
ten Form dem Konsum zuzuftihren. Solche Konsumentenlitera- 
tur mag es geben, sie hat zumindest in der biirgerlichen Gesell- 
schaft ihren On und ihre Berechtigung. Was aber noch nie 
geschah, in der biirgerlichen sowenig wie in einer andern Gesell- 
schaftsordnung, ist dafi diese reine Konsumtions- und Genuft- 
Literatur identisch mit der avant-garde, der technisch und arti- 
stisch vorgeschobensten, wurde. Genau auf diesen Stand aber 
hat uns die Produktion der neuesten Schule gebracht. 

5) Die wirtschaftlichen Notwendigkeiten in Ehren: sie mogen den 
Schriftsteller notigen, viel Minderwertiges zu produzieren. Da 
wird es sich denn aber in den Niiancen zeigen, von welchem 
Schlage er ist. Es gibt kaum eine noch so fragwurdige Feuilleton- 
schreiberei, die man nicht durch gewisse sachliche und mehr 
noch stilistische Vorbehalte vor der tiefsten Stufe der Erniedri- 
gung bewahren konnte. Was er kann macht die technische Qua- 
litat eines Autors; was er nicht fertig bringt ist die Grundlage 
seiner moralischen oder sachlichen. Das Erstaunliche ist nun, 
wie ganzlich die heilsamen, schutzenden Vorbehalte und nicht 
sowohl die moralischen als die einfachen sprachlichen, dieser 
Schule fremd sind. Wie vollig selbstverstandlich ihnen, z.B., 
jederzeit die Exponierung eines grerizenlos verzartelten, in sich 
vergafften, gewissenlosen - kurz feuilletonistischen Ichs ist. Wie 
der Arrivismus das was sie schreiben bis in die kleinsten Details 
kennzeichnet. ( f r 1 3 3 ) 

Tip fur Mazene 

Der Tiefstand der deutschen Buchkritik ist niemandem ein Ge- 
heimnis. Seine Griinde schon eher. Aber unter ihnen steht an erster 



Zur Literaturkritik 



i6 9 



Stelle mangelnde Kameradschaft, mangelnde Gegnerschaft, man- 
gelnde Deutlichkeit im Verkehr der Schreibenden miteinander. 
Daher die erstaunliche Verwaschenheit unserer Richtungen und 
Reprasentanten und die trostlose Wiirde einer Kritik, die nur der 
Ausdruck der stickigen Enge ist, in der sie betrieben wird. Humor 
will Ellenbogenfreiheit und Luftraum. Ein kluger Mazen, der der 
deutschen Dichtung aufhelfen will, sollte darauf verzichten, neue 
Talente zu entdecken. Kleist- und Schillerpreistrager zu lancieren. 
{U)nd anstatt dessen folgendem Vorschlage nahetreten: Erstellung 
eines Lunaparks des deutschen Schrifttums. Das Terrain braucht 
nicht grofi zu sein, seine Moglichkeiten sind unbeschrankt: Berg- 
und Talbahn durch den deutschen Roman: beginnend in Prager 
Kafkagrotten, mit jahem Falle in die Ludwig Wolfsschlucht 
schiefien - an Samiel Fischer und dem Freischiitz-Hauptmann vor- 
bei(.) 

Literarische Wut(Wirts?)bude: Nietzsche, Goethe, Brecht, (ab- 
gebrochen) 

Nach dieser Zeremonie wird ein Chorfuhrer vortreten und unge- 
fahr folgendes sagen: 
Nichts Nennenswertes { . ) { f r 1 34 ) 





(Antithesen) 




Kritisierbar 


Unkritisierbar 


Prima: des Wahr 


- {Geschmacksurteil 


Primat des 


Inhaltsangabe 


heitsgehalts 




Sachgehalts 






Journalismus 


musisch 


banausisch 


Wahrheitsgehalt 




Sachgehalt 


Literatur- 


als Vorbild 




als Urbild 


geschichte 


Glosse 


Reaktion 


Zitat 


Belegstelle 


Strategisch 


Publizistik 






Gesellschaft 


Originalitat 


Natur (goe- 


Konvention 


(platonisch) 




thisch) 




herrschend 


anmafiend 


dienend 


unselbstandig 


Polemik (Mini- 


Regel} 


Darstellung 


Mafl 


mum von Dar- 




(Minimum 




stellung) 




von Kritik) 





Die Negation der Kritik, die die Antithesis ausspricht ist in 
etwas Position des Werks. Der Kommentar stellt die dialekti- 
sche Uberwindung der Antinomien in der Kritik dar. Erst in 



170 Fragmente vermischten Inhalts 

diesem Stadium ist das Werk vollkommen kriusierbar und 
unkritisierbar zugleich. Erst in diesem Stadium ist die Kritik 
daher reine Funktion vom Leben, bezw. Fortleben des Wer- 
kes. Erst in diesem Stadium werden Zitat und Glosse ihre 
Formcharaktere. Wahrend Goethes Theorie in all em Wesent- 
lichen mit der der mediaten Kritik zusammenfallt, ist die 
Beziehung der platonischen zur romantischen aufzu- 
hellen<.> <fn 3 5> 



I 

Erste Form der Kritik, die es verweigert zu urteilen. Hier ist zu- 
nachst der subjektive Standpunkt des Kritikers darzulegen. Im An- 
schlufi an Lesen. Sealsfield: Es gibt nicht Schoneres als auf dem Sofa 
liegen und einen Roman lesen. Sprachlosigkeit des grofien Physio- 
(g)nomikers. Lesen die hochste traditionelle Physio (g)nomik. 
Hier also sehr insistierend. Dann aber die objektive Wahrheit als 
Gegenstiick dieser subjektiven Auffassung. Namlich die Goethi- 
sche Einsicht, dafi alle klassischen Werke eigentlich sich garnicht 
beurteilen liefien. Unbedingt die Auslegung dieses Satzes versu- 
chen. Verschiedne Ansatze: z.B. dafi die klassischen Werke als 
Fundamente unseres Urteils nicht dessen Gegenstande sein kon- 
nen. Dies aber ist aufierst oberflachlich. Tiefer eingreifend: dafi die 
Exegese die Gedanken die Bewunderung der Enthousiasmus ver- 
gangener Generationen den klassischen Werken sich innigst stoff- 
lich verbunden habe { n, ) sie vollig erinnert habe { n, ) sie zu Spiegel- 
galerien der spateren Menschen gemacht habe{n), oder ahnlich. 
Hier nun auf dieser hochsten Stufe der Untersuchung die Theorie 
des Zitats zu entwickeln - des Zitats, von welchem vorher nur in der 
technischen Untersuchung der Kritik die Rede gewesen ist. Dafi auf 
dieser hochsten Stufe der Untersuchung sich ergibt( : ) strategische, 
polemische Schulkritik und exegetisch kommentierende Kritik 
heben als Gegensatze in einer Kritik sich auf, die zum einzigen 
Medium das Leben, Fortleben der Werke hat. 



II 

So wenig die Kritik von der Literaturgeschichte zu kommen hat, so 
todlich mufi an ihr die ausschliefiliche Beschaftigung mit dem 
Neuen und Aktuellen sich auswirken. Hinweis, dafi in dieser Lehre 



Zur Literaturkritik 171 

von der Kritik als einer Erscheinungsform des Lebens der Werke 
der Zusammenhang mit meiner Theorie der Ubersetzung geftihrt 
ist. { f r 1 3 6 ) 



Die Aufgabe des Kritikers 

Daft das Lesen nur einer von hundert Zugangen zum Buch ist. 
Immer zuletzt (in gewissem Umfange) als Kontrollmaftnahme not- 
wendig(,) aber oft nichts als Kontrollmaflnahme. Was heifit(:) 
Sinn fur die Aura um ein Buch haben? Vielleicht heiflt es, vergessen 
konnen. Ein Wort, ein Gesprach iiber ein Buch, einen Blick in seine 
Seiten alsbald vergessen, sie gewissermafien dem Unbewufken zur 
Beurteilung iiberweisen. Das Unbewufke, das ja die Kraft hat, aus 
den fliichtigsten Eindriicken, den Bildern Extrakte zu ziehen, die 
wir im Traume oft kennen lernen. So hat der wahre Kritiker oft 
seine Wachtraume zu einem Buch noch bevor er es kennen lernt. Im 
iibrigen hat er mit dem guten Verleger nirgends mehr Ahnlichkeit 
als gerade hierin. Und daher war es auch kein Zufall, da£ wir diesen 
Dingen gerade im Gesprache mit einem berliner Verleger auf die 
Spur kamen. 

Uber den schrecklichen Irrglauben, daft das wesentlich zum Kriti- 
ker Befahigende die »eigene Meinung« sei. Es sagt uberhaupt 
nichts, die Meinung von jemandem, von dem man nicht weifi, wer 
er ist, iiber irgend etwas zu erfahren. Je bedeutender ein Kritiker, 
desto mehr wird das nackte Aussprechen seiner Meinung zu den 
Ausnahmefallen bei ihm gehoren. Ja desto mehr absorbiert die Ein- 
sicht die Meinung. Ein groEer Kritiker ermoglicht vielmehr 
andern{,) eine Meinung uber das Werk auf Grund seiner Kritik zu 
fassen{,) als daft er selbst eine gabe. Diese Bestimmtheit, die die 
Figur des Kritikers hat, soil aber moglichst keine private, sondern 
eine sachlich-strategische sein. Man soil vom Kritiker wissen: 
wofiir steht der Mann. Er soil es zu erkennen geben. 
Untersuchen, warum der Begriff des Geschmacks veraltet ist. Friih- 
zeit des Kapitalismus, in der er entstand. Heutige Spatzeit. Lexikon 
der Literaturgeschichte. 

Im Abschnitt »Technik des Kritikers « sind einige Hauptgegen- 
stande: Theorie des kritischen Zitats. Lob und Tadel. Theorie der 
Polemik. 
Zum Abschnitt »Aufgabe des Kritikers« Kritik der geltenden Gro- 



172 Fragmente vermischten Inhalts 

fien, Kritik der Sekten. Physiognomische Kritik. Strategische Kri- 

tik. 

Dialektik der Kritik: Das Urteil und die Vorgange im Werk selber. 

Max Dessoir : Kunstphilosophische Studien ( recte : Beitrage zur all- 

gemeinen Kunstwissenschaft, Stuttgart 1929) (fr 137) 



Es kommt doch bei fast allem, was wir bisher von materialistischer 

Literaturgeschichte haben, auf ein dickfelliges Nachziehen der 

Linien in den Werken heraus, deren sozialer Gehalt - wenn nicht 

soziale Tendenz - stellenweise zu Tage liegt. Dagegen geht die 

detektivische Erwartung der Soziologen, die zu befriedigen gerade 

dieser Methode gelingen mochte, fast immer leer aus. 

Belastung der Literaturgeschichte durch Wertung. Uber den wis- 

senschaftlichen Wert meiner Theorie des Ruhms der grofien Wer- 

ke. 

Geniefibarkeit aller Kunstwerke: nicht einfach auf Basis dessen, dafi 

sie erlautert werden, sondern dadurch, dafi sie - gerade durch diese 

Erlauterungen - receptacula nicht nur der abstrakten oder kleinen 

Wahrheitsgehalte sondern der mit Sachgehalten durchwachsnen 

Wahrheitsgehalte werden. 

Beim wahren Kritiker ist das eigentliche Urteil ein letztes, das er 

sich abringt, niemals die Basis seines Unternehmens. Im Idealfalle 

vergifit er zu urteilen. 

Dazu, dafi die Kritik dem Werke innerlich ist: Kunst ist nur Durch- 

gangsstadium der grofien Werke. Sie sind etwas anderes gewesen 

(im Zustande ihres Werdens) und sie werden zu etwas anderem 

werden (im Zustande der Kritik) . ( f r 1 3 8 ) 



Notwendig ware es, von neuem die Verbindung von Forschung 
und Lehre zu revidieren, auf der der uberkommene akademische 
Betrieb beruht. Fur diejenigen Gehalte, die die Akademie heute 
noch mitzuteilen hat, ist solche Verbindung durchaus nicht immer 
die richtige Form. Sie eignet sich fur Gegenstande, die im Zentrum 
des gegenwartigen Daseins stehen; fur Gebiete, die eben erst 
Motive der Forschung geworden, eben erst im Begriff sind, ein 
lebendiges Dasein im Bildungskreis der Gegenwart zu gewinnen. 
Dagegen sollten Gehalte, deren wissenschaftliche Durchdringung 



Zur Literaturkritik 173 

und Eroberung schon lange zuriickliegt, von den Formen, in wel- 
chen solche Durchdringung vorging, sich emanzipieren, urn iiber- 
haupt noch irgend einen Wert und irgendeine Physiognomie zu ge- 
winnen. Mit andern Worten, es sollten gerade in ihnen Forschung 
und Lehre wieder auseinander treten und beide neue, strenge 
Eigenformen ausbilden. Die schlechte Totalitat der Methode solite 
verschwinden, urn einem unternehmenderen Forscher auf der 
einen, vor allem aber einem weniger banalen, durchdachteren Lern- 
betrieb auf der andern Seite Platz zu machen. Kurz, man solite mit 
einer gewissen Intransigenz gerade bei diesen Gebieten viel weniger 
eine Belebung des Lehrbetriebs durch die Forschung denn eine - 
sehr vermittelte - der Forschung durch den Lehrbetrieb anstreben. 
Das sind Erkenntnisse, die einem, fiir die Literaturgeschichte - 
durch das Studium des »Aufrisses der deutschen Literaturge- 
schichte« und der »Philosophie der Literaturwissenschafu {-,) 
sehr nahe gelegt werden. Die eine zeigt die Unfruchtbarkeit der 
suffisanten Totalmethode, die andere die Untauglichkeit der For- 
schung, den Lehrbetrieb zur Zeit, in ihrer gegenwartigen Verfas- 
sung, fruchtbar zu gestalten. Und wenn der andere, oben angeregte 
modus etwas hergeben soil, so nur darum, weil der Lehrbetrieb 
grundsatzlich jedenfalls die Moglichkeit hat, sich auf neue Schich- 
ten von Lernenden so einzustellen, dafi eine Neugruppierung des 
Lehrstoffs in einer Weise, die den Anlafi zu ganz neuen Erkenntnis- 
sen gibt, durch sie veranlafit werden konnte. 
In welchem Sinne »Aufrisse«, »Leitfaden« u. a. Priifsteine fiir den 
Stand einer Wissenschaft sind, dafi es die strengsten sind und wie 
deutlich gerade an ihnen sich jede Halbheit schon phraseologisch 
verrat. {fr 139) 



Kritik als Grundwissenschaft der Literaturgeschichte. Dafi bei 
{Franz) Mehring die Dichtungen nur als Dokumente auftauchen. 
Der Nachteil der popularisierenden Behandlung seiner Stoffe wirkt 
sich darin aus, dafi er stets nur solche gewahlt sich (hat), die sich 
leicht dieser Behandlung boten. So fehlt jede, fast jede Darstellung 
der Romantik. 

Magische Kritik als eine Erscheinungsform der Kritik auf ihrer 
obersten Stufe. Ihr gegeniiber steht auf dieser Stufe die wissen- 
schaftliche (literarhistorische) Abhandlung. 



174 Fragmente vermischten Inhalts 

(Max) Dessoir: Gesammelte Abhandlungen (recte: Beitrage zur 

allgemeinen Kunstwissenschaft) Ferdinand Enke Stuttgart { 1929). 

Don eine Arbeit iiber Kritik. 

Die grundsatzliche Scheidung von Literargeschichte und Kritik ist 

abzulehnen. 

Die Lehre vom Leben der Werke ist durchaus mit Hinweis auf die 

wichtigsten Arbeiten von Wiesengrund - Wozzeck, Neue Tempi 

u.a. - durchzufuhren. Sie steht in engster Beziehung sowohl zu 

dem Faktum, daft Werke sich nicht beurteilen lassen{,) wie zu der 

strategisch beurteilenden Haltung der Kritik. 

Zwei Arten, wenn man will, der transzendenten Kritik: die sich an 

die Autoren, die sich ans Publikum richtende. 

Zur Lehre vom Fortleben der Werke - Wiesengrunds Theorie der 

Schrumpfung. Diese Schrumpfung ist in eine doppelte Beziehung 

zu setzen. 1 ) zu meiner Theorie der Verpackung. Die Lehre von den 

Trummern, die die Zeit anrichtet ist zu erganzen durch die Lehre 

vom Verfahren des Abmontierens, das Sache des Kritikers ist. 2) ist 

die Schrumpfung im Anschlufi an die Wahlverwandtschaftenarbeit 

zu definieren als das Eingehn der Wahrheitsgehalte in die Sachge- 

halte. Mit dieser Formel ist die »heilige Nuchternheit« jenes Fortle- 

bens dargestellt. 

Die ganze Kritik der materialistischen Literaturkritik dreht sich 

darum, daft ihr die »magische«, nichturteilende Seite fehlt, daft sie 

immer (oder fast immer) hinter das Geheimnis kommt. 

Zur Theorie der Schrumpfung s. Wiesengrund: Neue Tempi. 

Die dritte Abteilung, die Lehre von dem Fortleben der Werke (,) 

steht unter dem beherrschenden Gedanken, daft dieses Fortleben 

den Gebietscharakter »Kunst« als einen Schein entlarvt. (fr 140) 



Notwendigkeit, mit dem vermittelnden Charakter des biirgerli- 
chen Schrifttums ernst zu machen. Damit verwischen sich freilich 
die Unterschiede zwischen politischer und nichtpolitischer Dich- 
tung, desto deutlicher aber treten die von opportunistischer und 
radikaler Schriftstellerei hervor. 

Man hat auch darauf hinzuweisen, daft in Wirklichkeit auch die 
Wirkung der »unmittelbaren Meinung« mittelbar ist, wie jede Wir- 
kung von einem Schrifttum es sein muft, das nicht aus politischer 
Betatigung selbst erwachsen ist. Schaden dieser unfreiwilligen Mit- 



Zur Literaturkritik 175 

telbarkeit - der das klare Bewufksein davon fehlt, an welche Klasse 

sie sich wendet. Nutzen der freiwilligen Mittelbarkeit. 

Uber den Originalitatsanspruch den die Form des Feuilletons 

jedem aufdrangt. 

Neue Sachlichkeit und Kriegsbiicher(.) 

Originalitat und unbefangene Harmlosigkeit zugleich nehmen die 

Kerls in Anspruch. 

Zur falschen Kritik. 

Die ganze Darstellung dieses Teils ist unter den Begri (bricht ab; 

Forts, s.fr 142) (fri4i) 

Falsche Kritik 

Die ganze Darstellung dieses Teils ist unter den Begriff der objekti- 
ven Korruption zu stellen und an den gegenwartlgen Verhaltnissen 
auszurichten. 

Die Unterscheidung der personlichen und sachlichen Kritik, mit 
deren Hilfe die Polemik diskreditiert wird, ist ein Hauptinstrument 
der objektiven Korruption. Der gesamte thetische Teil gipfelt in 
einer Rettung der Polemik. Damit ist schon gesagt, dafi hier das Bild 
von Karl Kraus als des einzigen Bewahrers polemischer Kraft und 
polemischer Technik in dieser Zeit erscheint. Daft Kraus sich an den 
Personen, dem was sie sind mehr als dem was sie tun, dem was sie 
sagen mehr als dem was sie schreiben { , ) und an ihren Biichern - die 
fur die landlaufige Kritik den einzigen Gegenstand bilden - am 
wenigsten ausrichtet, das ist die Voraussetzung seiner polemischen 
Meisterschaft. Der Polemiker setzt seine Person ein. Kraus ist wei- 
ter gegangen. Er bringt das Opfer seiner Person. Dessen Bedeutung 
ist zu entwickeln. 

Der Expressionismus als Basis der objektiven Korruption. (Kraus 
ist immer intransigent gegen ihn gewesen.) Der Expressionismus ist 
die Mimikri der revolutionaren Geste ohne revolutionares Funda- 
ment. Er ist bei uns nur modisch, niemals kritisch uberwunden 
worden. Daher haben sich seine samtlichen Perversionen in der 
neuen Sachlichkeit, die ihn abloste, in veranderter Gestalt durchset- 
zen konnen. Beide Stromungen geben ihre Solidaritat als Versuche 
zu erkennen, das Erlebnis des Krieges vom Standpunkt der Bour- 
geoisie zu bewaltigen. Der Expressionismus versucht es im Zeichen 
des Menschlichen; nachher unternahm man's im Zeichen des Sach- 



I j6 Fragmente vermischten Inhalts 

lichen. Die Produktionen der neuen deutschen Autoren sind die 
Marksteine eines Weges, von dem aus an jedwedem Punkte die 
Schwenkung ebensowohl nach links wie nach rechts sich vollziehn 
lafit. Sie bedeuten die hochste Alarmbereitschaft einer Kaste zwi- 
schen den Klassen. Der tendancisme sans tendance, der seit dem 
Expressionismus unserer Literatur das Geprage gibt, kennzeichnet 
sich am besten in der Tatsache, dafi es iiberhaupt keine Kampfe 
zwischen den Schulen mehr gibt. Jeder will ja nur das eine bewei- 
sen: dafi er die jeweils neueste Manier beherrscht. Daher sind es 
unter den neuen Manifesten immer wieder die alten Namen und 
selten hat man eine Epoche gesehen, in der das Alter so unmanier- 
lich der Jugend nachdrangt. 

Es wird nicht behauptet, dafi es der Kritik wesentlich oder auch nur 
dienlich sei, in jedem Falle unmittelbar an politischen Ideen sich 
auszurichten. Ganz unbedingt ist dies aber fur die polemische Kri- 
tik erforderlich. Je detaillierter das Personliche hier in den Vorder- 
grund geschoben wird, desto genauer mufi die Folie, das Bild der 
Zeit von der es sich abhebt, zwischen dem Kritiker und seinem 
Publikum vereinbart sein. Jedes echte Zeitbild ist aber politisch. Es 
ist die kritische Misere Deutschlands, dafi die politische Strategic 
selbst im extremen Fall des Kommunismus sich nicht mit der litera- 
rischen deckt. Das Ungliick des kritischen und, vielleicht, auch des 
politischen Denkens. 

Wenn in der guten Polemik die personliche Note vorherrscht, so ist 
das nur die extreme Auspragung der allgemeinen Wahrheit, dafi die 
blofie kritische Sachlichkeit, die - von Fall zu Fall und ohne Hinter- 
gedanken - nichts weiter als ihr jeweiliges Urteil zu sagen weifi, 
immer belanglos ist. Diese »Sachlichkeit« ist ja nichts als die Kehr- 
seite de{r) Planlosigkeit und Unmafigeblichkeit des Rezensierbe- 
triebs, mit dem der Journalismus die Kritik zu Grunde gerichtet 
hat. 

Es entspricht dieser Sachlichkeit, die man die neue, jedoch auch die 
gewissenlose, nennen konnte, dafi in ihren Produkten zuletzt die 
sogenannte bona fides immer auf die »temperamentvolle« Reaktion 
eines kritischen Originals herauskommt. Dies unbefangene, vorur- 
teilslose Wesen, auf das die burgerliche Kritik sich so viel zu gut tut 
und dessen Gestikulation bei Alfred Kerr am aufdringlichsten her- 
auskommt, ist ja in Wahrheit nur die servile Beflissenheit, mit der 
der Feuilletonist dem Bedarf nach Charakterkopfen, Temperamen- 



Zur Literaturkritik 177 

ten, Originalen, Personlichkeiten entgegenkommt. Die Ehrlichkeit 
des Feuilletonrezensenten ist Effekthascherei; und je tiefer der 
Brustton der Uberzeugung desto stinkender ist ihr A tern. 
Im Grunde ist die Reaktion des Expressionismus weit eher patholo- 
gisch als kritisch gewesen: er suchte die Zeit, in der er entstanden 
ist, zu iiberwinden, indem er sich zu ihrem Ausdruck machte. Da 
war der Negativismus von Dada weit revolutionarer. Und bis zum 
Mouvement Dada setzt sich auch noch eine solidarische Grundhal- 
tung der deutschen Intelligenz mit der franzosischen durch. Wah- 
rend es aber dort zur surrealistischen Entwicklung kam, wurde von 
der jiingsten deutschen Literaturgeneration das Denken gekappt 
und die Flagge der neuen Sachlichkeit aufgezogen. Die wahren Ten- 
denzen dieser letzten Bewegung lassen sich nur bei einem Vergleich 
mit dem Surrealismus erkennen. Beides sind Erscheinungen eines 
Riickgangs auf 1 88 5 . Auf der einen Seite Riickgang auf Sudermann, 
auf der andern auf Ravachol. Immerhin ist da ein Unterschied. 
»Quand on soutient un mouvement revolutionnaire ce serait en 
compromettre le developpement que d'en dissocier les divers ele- 
ments au nom du gout* hat Apollinaire gesagt. Er hat damit 
zugleich der journalistischen Kritik, die fortfahrt sich im Namen 
des Geschmacks zu aufiern, das Urteil gesprochen. Denn es 
bezeichnet ja das iibliche Rezensentenwesen: sich hemmungslos 
den eigenen Reaktionen zu uberlassen (das Resultat ist die 
beriihmte »eigne Meinung*) und dabei doch den langst vergangnen 
Zustand zu fingieren, als gabe es noch eine Aesthetik. In Wahrheit 
hat aber jede Kritik heut mit der Einsicht einzusetzen, daft Mafi- 
stabe samt und sonders ihren Kurs verloren haben. Sie konnen auch 
durch eine noch so virtuose Entwicklung der alten Aesthetik nicht 
hervorgebracht werden. Vielmehr mufl die Kritik sich - jedenf alls 
zuvorderst, im ersten Stadium - ein Programm zu Grunde legen, 
das nun, wenn es den Aufgaben, die vor ihr stehen, gewachsen sein 
soil, nicht anders als politisch-revolutionar sein kann. (Apollinaires 
Satze sind nichts weiter als die Forderung eines solchen Pro- 
gramme. ) Waren doch auch in der alten Aesthetik, etwa Hegels, die 
hochsten zeitkritischen Einsichten eingeschlossen. Aber die heutige 
Kritik nimmt diese Begriffe und Schemata im gleichen Sinn absolut 
wie die Werke. 

Charakteristik einer echten mittelbaren Wirksamkeit des revolutio- 
naren Schrifttums am Werk von Karl Kraus durchzufiihren. Der 



178 Fragmente vermischten Inhalts 

konservative Schein in einem solchen Schrifttum. Indem es sich 
namlich urn das Beste, das die Burgerklasse hervorgebracht hat, 
gruppiert, lehrt es exemplarisch, dafi das Wertvollste, das diese 
Klasse in die Welt gesetzt hat, in deren Lebenskreise ersticken mufi 
und nur in einer revolutionaren Haltung konserviert wird. Es lehrt 
aber auch, wie die Methoden, mit denen das Biirgertum seine Wis- 
senschaft aufbaute, heute eben diese Wissenschaft stiirzen, wenn sie 
nur streng und ohne Opportunismus gehandhabt werden. 
Dafi mit der »Neuen Sachlichkeit« die Kritik endlich die Literatur 
bekommen hat, die sie verdient. 

Nichts kennzeichnet unsern Literaturbetrieb mehr als der Versuch 
mit geringem Einsatz grofie Wirkung hervorzurufen. Der publizi- 
stische Hasard ist an die Stelle der literarischen Verantwortlichkeit 
getreten. Es ist absurd, wie die neusachlichen Literaten es tun, poli- 
tische Wirkungen ohne den Einsatz der Person zu beanspruchen. 
Dieser Einsatz mag praktisch sein und (in) einer parteipolitisch 
disziplinierten Tatigkeit bestehen; er mag literarisch sein und in der 
grundsatzlichen Publizitat des Privatlebens, der polemischen All- 
gegenwart bestehen, wie sie die Surrealisten in Frankreich, Karl 
Kraus in Deutschland durchfuhren. Die linken Literaten leisten 
keines von beiden. Dafur mufi man dann darauf verzichten, um 
(das) Programm »politischer Dichtung« mit ihnen zu konkurrie- 
ren. Denn wer dem vermittelnden Charakter, zumal der vermit- 
telnden Wirkung des ernsten burgerlichen Schrifttums sich nahert, 
erkennt, die Unterschiede politischer und nichtpolitischer Dich- 
tung verwischen sich hier. Desto deutlicher aber treten die opportu- 
nistischer und radikaler Schriftstellerei hervor. 
Fur alle Runstbetrachtung gilt die Maxime, dafi eine Analyse, die 
nicht auf verborgene Beziehungen im Werke selbst stofit, mithin die 
nicht im Werke selbst genauer sehen lehrt und nicht nur an ihm - an 
ihrem eigentlichen Gegenstand vorbeigeht. Im Werke sehen lernen, 
das bedeutet genauer Rechenschaft sich abzulegen, wie sich im 
Werke Sachgehalt und Wahrheitsgehalt durchdringen. Es kann auf 
alle Falle eine Kritik nicht anerkannt werden, die sich an keinem 
Punkte mit der Wahrheit, die sich im Werk verbirgt, solidarisch 
macht, um sich nur an das Aufierliche zu halten. Das ist aber leider 
der Fall, in dem sich beinahe alles befindet, was bei uns von marxi- 
stischer Kritik bekannt wurde. Fast immer kommt es auf ein dick- 
felliges Nachziehen der Linien in den Werken hinaus, da sozialer 



Zur Literaturkritik 1 79 

Gehalt - wenn nicht soziale Tendenz - stellenweise zu Tage liegt. 
All das fuhrt aber nicht in das Werk hinein, es fuhrt einzig zu Fest- 
stellungen an ihm. Dagegen geht die Hoffnung des Marxisten, im 
Innern des Werkes sich mit dem Blick des Soziologen umzutun, leer 
aus, die deduktive Aesthetik, die niemand dringlicher als der Mar- 
xismus zu fordern hatte, ist noch nicht geschaffen. Erst im Innern 
des Werkes selbst, da wo Wahrheitsgehalt und Sachgehalt sich 
durchdringen, ist die Kunst-Sphare definitiv verlassen und an seiner 
Schwelle verschwinden auch alle aesthetischen Aporien, der Streit 
um Form und Inhalt u.s.w. 

Der Aufbau des Schlufkeils gruppiert sich um diese Thesen: 1) Es 
gibt ein Fortleben der Werke 2) Das Gesetz dieses Fortlebens ist 
die Schrumpfung 3) Im Fortleben der Werke geht ihr Kunstcharak- 
ter zuriick 4) Die vollendete Kritik durchbricht den Raum der Aes- 
thetik. $) Technik der magischen Kritik 

Gegensatz der Kategorien: Totalitat (Gestaltqualitat) und Echtheit. 

<fn 4 2> 



Zur Kritik der »Neuen Sachlichkeiu. Mit dem Expressionismus 
setzte die Politisierung der Intelligenz energisch ein. Es liefie sich 
entwickeln, wie die Bewegung selbst ebensosehr Ausdruck dieser 
Politisierung wie der Versuch ist, sie im idealistischen Sinne zu 
bestimmen und dies ungeachtet einer Tendenz zur Praxis. Diese 
idealistische Haltung wurde revidiert und das Ergebnis war die neue 
Sachlichkeit. Aber es wurde auch die revolutionare Praxis revidiert, 
zu der der Expressionismus bescheidene Anfange (Beispiele!) gezei- 
tigt hatte. Diese Revision lieft sich nun selbstverstandlich nicht 
unverhiillt vornehmen. Die praktischen Tendenzen bildeten sich 
also, der »Stabilisierung« entsprechend zuriick, gleichzeitig aber 
proklamierte man die absolute politische Wichtigkeit der linken 
Schriftstellerei. Und zwar glaubte man diese Wichtigkeit besser gar- 
ment dartun zu konnen als indem man diesem gesamten Schrifttum 
eine unmittelbare Wirkung zusprach. Die erste Folge war, daft jede 
theoretische Besinnung iiber Bord geworfen wurde. Theorie und 
Besinnung scheinen nicht nur sondern sind ja der unmittelbaren 
Wirkung abtraglich. Es ware durchaus Zeit sich dariiber klar zu 
werden, daft die beliebte Berufung auf Fakten offenkundig zwei 
Fronten hat. Einerseits richtet sie sich gewifl gegen die wirklich- 



180 Fragmente vermischten Inhalts 

keitsfremde Fiktion, gegen die »Belletristik«, andererseits aber 
gegen die Theorie. Die Erfahrung beweist es. Niemals hat eine 
Generation junger Dichter an der theoretischen Legitimierung ihrer 
Geltung sich dermafien desinteressiert wie die heutige. Alles was 
iiber argumentatio ad hominem etwa herausginge, liegt bereits jen- 
seits ihres Horizon tes. Wie sollte sie aber auch zu einer theoreti- 
schen Durchleuchtung ihrer Stellung gelangen, da diese Stellung 
eben in sich verkehrt ist und jede scharfe Einsicht in sie selber aus- 
schliefit. Diese Einsicht ware Einsicht in die klassenmafiige Lage der 
Schriftsteller. Und eine solche wird von vornherein vereitelt durch 
den Anspruch auf eine unmittelbar politische Wirkung ihrer Schrif- 
ten, wie diese Schriftsteller ihn erheben. Dieser Anspruch soil hier 
genaustens gepriift werden. 

Der Anspruch auf unmittelbar politische Wirkung wird sich nicht 
allein als ein Bluff, er wird zu gleicher Zeit sich als Versuch erwei- 
sen, eine fast aussichtslose Situation durch vollig aussichtslose 
Manover zu liquidieren. Kurz er ahnelt keinem Anspruche mehr als 
dem Miinchhausens, sich am eignen Zopfe aus dem Sumpfe gezo- 
gen zu haben. Diese linksradikale Belletristik und Reportage mag 
sich gebarden wie sie will - sie kann niemals die Tatsache aus der 
Welt schaffen, dafi selbst die Proletarisierung des Intellektuellen 
beinahe niemals einen Proleten schafft. Warum? Weil ihm die Biir- 
gerklasse, in Gestalt der Bildung, von Kindheit auf ein Produk- 
tionsmittel mitgab, das ihn, auf Grund des Bildungsprivilegs mit 
ihr, und das, vielleicht noch mehr, sie mit ihm solidarisch macht. 
Diese Solidaritat mag sich im Vordergrund verwischen, ja zerset- 
zen; fast immer aber bleibt sie stark genug, den Intellektuellen von 
der standigen Alarmbereitschaft, der Frontexistenz des von der 
Proletarierklasse Politisierten streng auszuschliefien und damit 
stark genug, fur alles was er schreibt, die Krafte ihm zu entziehen, 
die aus der am eigenen Leibe erfahrnen kampferischen Praxis kom- 
men. Diese Krafte, die nur die kampferische Praxis ungemindert 
schenkt, heifien : Theorie und Erkenntnis . Es ist am deutlichsten aus 
Lenins Schriften zu lernen, wie sehr der literarische Ertrag politi- 
scher Praxis von dem riiden Fakten- und Reportierkram entfernt 
ist, der uns heut als politisches Schrifttum aufgeschwatzt wird, und 
in wie eminentem Grad er theoretisch ist. (fr 143 ) 



Zur Literaturkritik 1 8 1 

(Motivliste) zum geplanten Vortrage bei Dalsace 

Kleine Form 

Einpackende und auspackende Literatur 

Negative Selektion 

Dichtung und Literatur 

Zivilisationsliterat (Th Mann) 

Versaumte Aufgaben der Kritik 

Stoff und Form als Objekt der Kritik 

Todesmystik ((Florens Christian) Rang) 

Episches Theater 

Proletarische Literatur ({Johannes R.) Becher) 

Schrifttum als geistiger Raum 

Schule Georges 

Partei und Intellektuelle 

Entlarvung 

Destruktion von innen 

Einfluft Frankreichs (Zola; Surrealismus) 

Jugend ( ( Giinther ) Grundel ; { Heinrich ) Mann ; ( Wilhelm ) 

Speyer) 

Lesebuchstil und Flaubert 

Existentielle Philosophic ((Karl) Barth; (Martin) Heidegger) 

Kriegsromane 

Gegen die Kunst ((Erich) Unger) 

Generation des Expressionismus 

Revolution von 191 8 

Jugendbewegung ((Hans) Bliiher) 

Literatur und Theorie (»Bilde, Kiinstler . . .«) 

(fr 144) 

Schemata 

Tendenz und Didaktik 
Expressionismus und Sozialdemokratie 
Roman und Belletristik 
Roman und Erzahlung 
Illusion und Schulung 
Kiirzester Weg und Umweg 
Gesinnung und Konstruktion 



1 8 2 Fragmente vermischten Inhalts 

Mode und Konstruktion 

Strapazierung und Schulung des Lesers (fr 145) 

Die Umfunktionierung (Produktionsseite) 

Theoretiker: Brecht, (Sergej) Tretjakoff 
Elemente: Auflosung des Werkcharakters durch 
Kollektivarbeit 
Didaktische Transparenz 
Einbeziehung der Kritik 
Varianten 
Nicht schopferisch sondern fortschrittlich 
Nicht Belieferung des Produktionsapparats 
sondern Besetzung 
Umfunktionierung im Drama 

Das epische Theater 
Umfunktionierung im Roman 

Das Lesebuch 

Die Umfunktionierung (Konsumseite) 

Der Leser wird 

nicht iiberzeugt sondern unterwiesen 
nicht als Publikum sondern als Klasse erfafit 
weniger aufgeregt als erheitert 
weniger in seinem Bewuiksein als in seinem 
Verhalten verandert 
Die Umfunktionierung als spezifische Aufgabe des Intellektuellen 
Sein Weg zum Kommunismus nicht der nachste 

sondern der weiteste 
Umfunktionierung als Aufgabe des Spezialisten 
Destruktion von innen 
Kulturbolschewismus {fri46) 

WlDERSTANDE GEGEN DIE UMFUNKTIONIERUNG 

I Der Expressionismus 

(Carl) Sternheim (Iwan) Goll (Gottfried) Benn (Leonhard) 

(Georg) Kaiser (Max) Krell (Ernst) Jiinger Frank 

(Kasimir) Edschmid (Richard) Hiil- (Ludwig) Ru- 

senbeck biner 



Zur Literaturkritik 1 8 3 

II Die neue Sachlichkeit 

(Erich) Kastner (Heinrich) Hau- 

(Kurt) Tucholsky ser 

(Hermann) Kesten (Manfred) Haus- 

( Walter) Mehring mann 

(Albert) Ren- 
ger-Patzsch 
III Outsider 

(Kurt) Hiller (Werner) Hege- 

( Erich) Unger mann 

(Siegfried) Kra- (Alfred) Doblin 

cauer (fr 147) 



Das Schopferische ((Julien) Benda - (Adolf) Loos - Destruk- 

tive Charaktere) 

Was fremd an diesen Dingen - was nicht 

Fortschritt 

Reportage - Neue Sachlichkeit (Kriegsliteratur) <fr 148) 



Die technische Fragestellung liquidiert die unfruchtbare Al- 
ternative von Form und Inhalt. 

Der Techniker imstande, die Hindernisse zu sehen, die seiner Tech- 
nik von der gegen wartigen Produktivordnung in den Weg gelegt 
werden. Von hier aus lafit sich seine Opposition gegen diese Ord- 
nung erwecken. Und das ist das erste. Denn ein Schriftsteller der in 
unmittelbarster Ausubung seines Berufs mit der bestehenden 
Gesellschaft in Konflikt kommt - nur der wird in jeder Hinsicht 
davor gesichert sein, an gewissen Stellen ihren ideologischen Vor- 
spiegelungen zum Opfer zu fallen. ( fr 1 49 ) 



Zur Krisis der Kunst 

Der Dadaismus betonte das Authentische: ging gegen die Illusion 
an. (^150) 



184 Fragmente vermischten Inhalts 

Zum »Alexanderplatz« 

Der Romancier wird zum Erzahler. Ende der Romanform. Ver- 
wandtschaft des Erzahlers mit dem Lesebuchstil. Der Romancier 
wendet sich an den Leser, den er gefangen nimmt. Der Erzahler 
hangt den Stoff in das Gedachtnis des Epikers ein. (f r r 5 1 ) 



Zu Grenzgebieten 



Zur Graphologie 

i) Die charakterologische Deutung einer Handschrift erschopft 
nicht ihren Sinn{.) 

2) Es ist also nicht aller Sinn, welcher in einer Handschrift aufweis- 
bar ist, charakterologisch deutbar. Vergleich mit der Archi- 
tektur. 

3) Die universale Beschreibung einer Handschrift mufi in der durch 
sie erforderten sprachlichen Erhellung in durchsichtigster Meta- 
phorik bereits die Beschreibung von dem Charakter des Schrei- 
bers enthalten. Eine derartige Beschreibung der Handschrift, 
welche demnach allein Rechenschaft von der Deutung zugleich 
mit der Deutung selbst ablegt, ist demnach das letzte Ziel jeder 
graphologischen Analyse. 

4) Die »Theorie« (im goetheschen Sinne) welche sonach jede voll- 
endete Analyse von der Deutung gibt, indem sie die Einheit von 
handschriftlichem und charakterologischem Befunde sprachlich 
evident macht, hat also keinerlei Kausalverhaltnisse zum Gegen- 
stand. 

5) Wichtigkeit der handschriftlichen Norm (des Schulvorbildes) 
fur jede Deutung. Unmoglichkeit die Handschrift zu deuten, 
ohne eine Vorstellung von dem normalen Aussehn (Vorbild) der 
Buchstaben und Worte. Daher unmoglich, die Handschrift zu 
deuten, wenn man sie auf den Kopf stellt. Daher keine blofte 
graphische Kurve der Impulse (wie beim Barometer etwa) son- 
dern Auseinandersetzung mit einer virtuellen Vorzeichnung. 

6) Hohenlage der Schriftphysiognomik im Vergleich zu der des 
Ganges, des Mienenspiels, der Gestikulation, sofern in der 
Handschrift das Phanomen des schriftlich-sprachlichen Aus- 
drucks besonders tiefen Einblick in die durch den »Charakter« 
an der »Natur« vollzogne Differentiation gestattet. ( fr 1 5 2 ) 

ElNIGES ZUR VOLKSKUNST 

Volkskunst und Kitsch miissen einmal als eine einzige groEe Bewe- 
gung angesehen werden, die hinter dem Riicken von dem, was man 



1 86 Fragmente vermischten Inhalts 

grofie Kunst nennt, bestimmte Inhalte wie Stafetten von Hand zu 
Hand gehen lassen. Sie sind zwar im einzelnen von der groGen 
Kunst abhangig, wenden aber doch auch das Ubernommene auf 
ihre Weise und wenden es ihrem Ziel, ihrem »Kunstwollen« zu. 
Worauf dieses »Kunstwollen« geht? Nun, garnicht auf Kunst son- 
dern auf viel primitivere, zwingendere Anliegen. Fragt man sich, 
was Kunst im neueren Sinne auf der einen (,) Volkskunst und 
Kitsch auf der andern (Seite) bedeuten, so lautet die Antwort: alle 
Volkskunst bezieht den Menschen in sich hinein: sie spricht ihn nur 
so an dafi er erwidern mufl. Und zwar erwidert er mit Fragen: »Wo? 
und wann war es?« In ihm taucht die Vorstellung auf, es miisse in 
seinem Dasein diesen selben Raum und Ort und diesen Augenblick 
und Sonnenstand schon einmal gegeben haben. Die Situation, die 
hier vergegenwartigt wird, wie einen altgewohnten Mantel sich 
umzuschlagen - das ist die tiefste Verfiihrung, die der Refrain des 
Volksliedes weckt, in dem ein Grundzug aller Volkskunst als Nie- 
derschlag im Werk fafibar wird. 

Es ist namlich nicht nur das Bild unseres Charakters so diskontinu- 
ierlich, so sehr Improvisation, dafi wir uns jeder Suggestion des 
Graphologen, der Chiromantin und ahnlicher Praktiker gerne fii- 
gen - sondern die gleiche intensive Phantasie ( , ) die das Dunkel des 
Ich, des Charakters blitzartig aufhellt und fur die Interpolation der 
uberraschendsten dunkelsten oder hellsten Ziige den Raum schafft, 
waltet auch unserm Schicksale gegeniiber. Wenn wir (e)rnst 
machen, dann stofien wir in und auf die Uberzeugung, unendlich 
viel mehr erlebt zu haben als worum wir wissen. Da ist das Gele- 
sene, das wachend oder schlafend Getraumte und wer weifi wie und 
wo wir noch sonst uns Bezirke des Schicksals erschlossen. 
Das ungewufit Erlebte klingt auf seine Weise an, wo wir uns in die 
Welt der Primitiven: ihre Mobel, ihre Ornamentik, ihre Lieder und 
Bilder fiigen. Auf seine Weise - das heilk ganz anders als grofie 
Kunst uns betrifft. Nie werden wir die Versuchung, unsere Uhr zu 
ziehen und nach dem Sonnenstande auf dem Bilde vor uns sie zu 
richten, vor einem Gemalde von Tizian oder Monet verspuren. 
Aber bei Bildern in Kinderbiichern, bei Malereien von Utrillo, die 
in diesem Sinn durchaus die Primitive wieder einholen, kann uns 
das leicht geschehen. Das hiefie, wir finden uns in die Situation hin- 
ein wie in eine gewohnte, vergleichen auch eigentlich weniger den 
Sonnenstand mit der Uhr als mittels der Uhr diesen und einen frii- 



Zu Grenzgebieten 187 

heren. Das deja vu wird vom pathologischen Ausnahmefall, den es 
im zivilisierten Leben darstellt, zu einer magischen Fahigkeit, in 
deren Dienst sich die Volkskunst (und nicht minder der Kitsch) 
stellt. Sie kann es, weil das deja vu im tiefsten ja durchaus etwas 
anderes ist als die intellektuelle Erkenntnis : es sei die neue Situation 
die gleiche wie die alte. Naher wiirde schon kommen: im Grunde 
die alte. Aber auch das ist irrig. Denn die Situation wird uberhaupt 
nicht als von einem Auftenstehenden erlebt: sie hat sich uns iiberge- 
stiilpt, wir haben uns in sie gehiillt: wie immer man es auch fafit: es 
kommt auf die Urtatsache der Maske hinaus. So offnet denn die 
Primitive mit alien ihren Geraten und Bildern uns ein unendliches 
Arsenal von Masken - Masken unseres Schicksals - mit denen wir 
aus unbewuftt durchlebten, hier aber endlich wieder eingebrachten 
Momenten und Situationen herausstehen. 

Nur der verarmte verodete Mensch kennt keine Art sich zu verwan- 
deln als die Verstellung. Verstellung sucht das Arsenal der Masken 
in uns selber. Wir aber sind zumeist sehr arm daran. In Wahrheit ist 
die Welt voller Masken, wir ahnen nicht, in welchem Grade einst 
die unscheinbarsten Mobel (z.B. ein romanischer Sessel) es waren. 
In der Maske sieht der Mensch aus der Situation heraus und bildet in 
ihrem Innern seine Figuren. Diese Maske uns darzureichen und den 
Raum{,) die Figur unseres Schicksals in ihrem Innern zu bilden, 
das ist es, womit die Volkskunst uns entgegenkommt. Und nur von 
hier aus laJSt sich deutlich und grundlegend sagen, was sie von der 
eigentlichen »Kunst« im engeren Sinn unterscheidet: 

Die Kunst lehrt uns in die Dinge hineinsehen{.) 
Volkskunst und Kitsch erlauben uns, aus den Dingen her- 
aus zu sehen. (1T153) 

(Tele)pathie 

Zwei Moglichkeiten fur experimentelle Erforschung. 1 ) Je mehr die 
Gepflogenheit der Kriminalpolizei{,) in schwierigen und wichti- 
gen Fallen zur Verfolgung von Verbrechern Medien hinzuzuzie- 
hen, sich ausbreiten wird, desto mehr wird der Schutz gegen ein 
solches Vorgehen eine vitale Angelegenheit der Verbrecher werden. 
Ihnen also wird sich exakt die Frage prasentieren konnen, ob es 
Mafiregeln gebe, welche eine Handlung davor bewahren konne, in 
das Blickfeld eines Telepathen zu fallen, und gegebenenfalls welche. 



1 8 8 Fragmente vermischten Inhalts 

Insbesondere ob diese Mafiregeln auf den aufiern Vollzug der 
Handlung oder auf die Intention des Handelnden Bezug haben oder 
auf beides. - 2) Der Spielsaal ist ein vorziigliches Laboratorium tele- 
pathischer Experimente. Der gliickliche Spieler stent, wie hier 
angenommen werden soil, in einem Kontakt telepathischer Art und 
zwar sei weiter angenommen, dieser Kontakt bestehe zwischen ihm 
und der Kugel{,) nicht aber dem die Kugel bewegenden Diener. 
Ware dieses der Fall, so ware es Aufgabe des Spielers, jenen Kontakt 
durch keinen andern storen (zu) lassen. Wer nun bedenkt, wie hef- 
tig und leidenschaftlich Neid, Anlehnungsbediirfnis, Neugierde im 
Spielsaal den Spieler auf seinen Kollegen zu verweisen ver(mogen), 
kann die Schwierigkeit ermessen, dergleichen Intentionen in sich 
abzuleiten und sich so alien feindlichen Suggestionen zu entziehen. 
Jene gespannte in sich lockere Haltung des Spielers lafit sich nicht 
aufierlich durch Entetement erzwingen, wie es der verlierende Spie- 
ler haufig versucht, um derart seinen Verlust nur zu steigern. Viel- 
leicht darf man sich das Schema solcher Isolierung des glucklichen 
Spielers folgendermafien vorstellen 




<f"54> 



NOTIZEN ZU EINER THEORIE DES SPIELS 



Einiges steht fest: mafigebend ist die motorische Innervation und 
zwar desto maflgebender je mehr sie von der optischen Wahrneh- 
mung emanzipiert ist. Daraus folgt ein Hauptgebot fur den Spieler: 
die Hand schonen, um sie den leisesten Innervationen gefiigig zu 
machen. Die Grundverfassung des Spielers mull gewissermaften ein 



Zu Grenzgebieten 189 

feinstes Geflecht von Hemmungen darstellen, die nur die allerun- 
scheinbarsten, geringfugigsten Innervationen durch ihre Maschen 
hindurchlassen. - Fest stent ferner, daft der Verlierende geniiftlich 
ein gewisses Gefiihl der Leichtigkeit, um nicht zu sagen der Erleich- 
terung empfindet. Umgekehrt lastet Gewonnenhaben auf dem 
Spieler. (Dabei ist nicht sein Zustand wahrend des Spiels sondern 
der nach dem Spiele gemeint.) Von dem Gewinnenden kann man 
sagen, daft er mit dem Gefiihl der Hybris kampft, das immer iiber 
ihn zu kommen droht. Er versetzt sich vielleicht selber nicht ohne 
Absicht in einen depressiven Zustand. - Ein anderes Faktum: der 
echte Spieler setzt seine wichtigsten, gewohnlich auch erfolgreich- 
sten Einsatze im letzten Augenblick. Er inspiriert sich, so konnte 
man denken, an einem bestimmten charakteristischen Gerausch, 
das die Kugel erst unmittelbar(,) bevor sie ins Fach fallt, hervor- 
ruft. Aber es liefte sich auch vertreten, daft im letzten Augenblick, 
da alles drangt, im kritischen Momente der Gefahr (des Verpassens) 
erst sich die Fahigkeit einfindet, auf dem Brett sich zurechtzufin- 
den, das Brett umsichtig zu lesen - wenn dies nicht wieder ein Aus- 
druck aus dem Bereiche der Optik ware. - Der Spieler kann von den 
Gewinnummern den Eindruck haben, sie versteckten sich. Das 
kommt daher, weil - hypothetisch gesagt - er jede Gewinnummer 
vorher weift bis auf die, die er mit optischem oder rationalem Wach- 
bewufttsein (zufalhg) besetzt hatte. Bei den andern die doppelte 
Moglichkeit: entweder er hat sie in motorischer Innervation (Inspi- 
ration) richtig gesetzt, oder er hat sie zwar vorher gewuftt aber die- 
ses Wissen nicht motorisch zu entdecken (zu entbloften, manifest 
zu machen) verstanden. Und daher dann das Gefiihl: die Nummer 
hat sich versteckt. - Sowie eine gewinnende Nummer klar vorher- 
gesehen aber nicht besetzt wurde, wird der Unkundige das als einen 
Beleg dafiir auffassen, daft er vorzuglich in Form sei und nur das 
nachste Mai beherzter, schneller zu verfahren habe. Wer das Spiel 
kennt, weift dagegen, daft ein einziger solcher Vorfall geniigen muft, 
ihn zu bewegen, schleunigst abzubrechen. Er ist namlich das Zei- 
chen, daft der Kontakt der motorischen Innervation mit dem 
»Schicksal« gelost ist. Nur dann tritt das »Kommende« namlich als 
solches mehr oder weniger klar und deutlich ins Bewufttsein. -Fest 
steht weiter, daft niemand soviel Chancen hat, richtig zu setzen, wie 
der, der soeben einen nennenswerten Gewinn gehabt hat. Das 
besagt: die richtige Reihe beruht keineswegs auf einem Vorherwis- 



190 Fragmente vermischten Inhalts 

sen des Kommenden, sondern auf einer richtigen motorischen 
Disposition, die durch jede Bestatigung, wie ein Gewinn sie dar- 
stellt, in ihrer Unmittelbarkeit, Sicherheit, Hemmungslosigkeit 
gesteigert wird. - Gluck des Gewinnens: das sehr merkwiirdige 
Glucksgefiihl des Gewinnenden : vom Schicksal belohnt zu sein, es 
erfaik zu haben. Vergleich: die Liebesbezeugung einer Frau, die 
vom Manne wahrhaft befriedigt wurde. Geld und Gut, sonst das 
Massivste, Beschwerteste, kommt hier vom Schicksal wie die lieb- 
kosende Erwiderung einer vollig gegliickten Umarmung. - Weiter 
ist anzumerken: das Gefahrmoment, das im Spiel neben dem Lust- 
moment (des Akts mit der Nummer) das wichtigste ist, kommt 
nicht sosehr durch die Drohung zu verlieren als nicht zu gewinnen 
zustande. Die besondere Gefahr, mit der der Spieler es zu tun hat, 
liegt in der schicksalhaften Kategorie des »Zu Spat«, des »Verpafit« 
beschlossen. Das konnte Aufschlusse uber den Typus des Spielers 
geben. - Endlich das Beste, was man bisher iiber das Spiel gesagt 
hat: es stellt das Moment der Beschleunigung in den Mittelpunkt, 
der Beschleunigung und der Gefahr. Man hat dem, was Anatole 
France im Jardin d'Epicure p 14H sagt, das zu kombinieren, was 
hier beriihrt ist: die blitzschnelle Innervation in der Gefahr: den 
Grenzfall in dem Geistesgegenwart zur Divination wird, also einen 
der hochsten, seltensten Augenblicke des Lebens, erzeugt das Spiel 
experimentell. 

Vgl. zu diesem Gegenstand: Der Weg zum Erfolge in 13 Thesen 
und Alain : Les idees et les ages (Paris i92/):Lejeu (fr 155) 



Neben dem eigentlichen Tagebuch herlaufend, sollen hier eine 
Anzahl von Notizen uber das Spiel stehen. 

Ich mbchte eine These voranstellen, die der Sache von auften bei- 
kommt, aber darum nicht weniger wichtig ist: die primitivste Ver- 
bindung (Vorbedingung?) eines auf langere Sicht erfolgreichen 
Spiels ist die Klarheit des Spielers iiber seine eigne okonomische 
Existenz. Es kommt nichts haufiger vor, als da{6) Leute, gerade 
um dem Bewulksein ihrer wirtschaftlichen Lage zu entgehen, das 
Spiel als ein Rauschmittel handhaben. Diese Leute mussen verlieren 
und vielleicht ist fur sie in der Tat der Verlust ein starkeres Rausch- 
mittel als Gewinn. Da reiche Leute es leichter haben, ihre wirt- 
schaftliche Lage illusionslos zu betrachten als arme{,) so bestatigt 



Zu Grenzgebieten 191 

sich, unabhangig von alien spieltechnischen Erwagungen, schon 
von hier aus, dafi deren Gewinnchancen grofier sind. 
Wie gewisse Zellen die Eigentumlichkeit haben, je nach Bedarf im 
Korper Formen anzunehmen, so dafi sich aus den gleichen Finger 
oder Nase, Flosse oder Schwanz bilden kann, so haben die grofien 
Leidenschaften es an sich, vikariierend fiir ganz andere Lebensfor- 
men eintreten zu konnen. Vielleicht kann man weitergehen als Ana- 
toli e) France in seiner tiefen Bemerkung iiber diese Dinge und zei- 
gen, dafi das Spiel nicht nur fiir die Religion sondern auch fiir die 
Liebe, ja die Ehe, fiir den Beruf, ja fiir ein schopferisches Dasein 
eintreten kann. Am wunderbarsten ist aber, dafi es nicht nur der 
Zukunft - in den Fiebern der Erwartung - sondern auch des Ver- 
gangnen sich bemachtigt. Ja, ist nicht diese seine Macht, das Antlitz 
der Vergangenheit zu verandern, vielleicht die grofite iiber das Herz 
des Spielers? Ich denke mir manchmal, die meisten unter ihnen 
mogen Stiefkinder der Liebe, der elterlichen oder der geschlechtli- 
chen sein und hier am Tische suchen sie beim Schicksal urn eine 
Adoption nach, die sie mehr adelt als der Ursprung, der sie aus- 
stiefi. 

Kleines Register des Aberglaubens / Psychologische und ontologi- 
sche Betrachtung des Spiels / Spiel am Meer(.) 
Warum die Angstlichen die unbezwinglichste Neigung zum Hasard 
haben? Vielleicht weil die Vogelstrauflpolitik ihre Sache ist oder sie 
den Anblick der Zukunft nur in grotesken Verkurzungen zu ertra- 
gen im Stande sind. {fri56) 



Kind und Pferd - Kentaur 
Ghandarve - das Unfertige 
Golem - desgleichen 
Die Hefe des Unfertigen 
Das Fruchtwasser 

Das Unordentliche gehort dem Mikrokosmos an. (Felix) Noegge- 
rath schlagt den Ausdruck Diathese fiir das Unordentliche vor. Es 
diirfte eine dialektische Konfiguration darstellen. Das Unfertige 
dagegen ist dem Makrokosmos zugehorig. 

Die Indifferenz. Das Kind geht nach hinten so selbstverstandlich 
wie nach vorn. Die Schritte nach vorn setzen sich erst auf Grund 



192 Fragmente vermischten Inhalts 

eines Ausleseprozesses durch. Dafi das Kind das Pferd hinter sich 
herschleppt, ist also zum Teil ein Ausdruck seiner Indifferenz gegen 
vorn und hinten. Zum andern Teil freilich ist darin vielleicht eine 
Art Stellver{tre)tung im Riicken - etwas wie ein selbstandiger 
lebendiger Riicken zu suchen. 

Lust, Pferdchen zu ziehen: Einen Zug anzufuhren. Auf dem eignen 
Wege gefolgt zu werden. Einen Larm nach sich zu ziehen. - 
Eins kann der Erwachsene: gehn - aber eins kann er nicht mehr- 
gehnlernen. (fr 157) 

ZUR ASTROLOGIE 

Versuch, eine Anschauung von der Astrologie sich unter Ausschal- 
tung der magischen »Einflufi«-Lehre, der »Strahlenkrafte« u.s.w. 
zu verschaffen. So ein Versuch mag vorlaufig sein, wenn man will. 
Er ist sehr wichtig, weil er die Aura um diese Untersuchungen rei- 
nigt. Und man stofk auf diese Forschungen notwendig, wenn man 
sich die Frage vorlegt, wo im Laufe der Geschichte sich die Begriffe 
eines realen Humanismus gebildet haben. Vielleicht nirgends um- 
fassender als in der Astrologie. Welche Intensitat sie dem Begriffe 
der Melancholie verschafft hat, habe ich gezeigt. Gleiches liefie sich 
von vielen andern Begriffen zeigen. 

Der Ansatz sieht so aus: Man geht von der » Ahnlichkeit* aus. Man 
sucht sich klar zu machen, dafi was wir von Ahnlichkeiten wahr- 
nehmen konnen, etwa in den Gesichtern untereinander, in Archi- 
tekturen und Pflanzenformen, in gewissen Wolkenformen und 
Hautausschlagen, nur winzige Teilansichten aus einem Kosmos der 
Ahnlichkeit sind. Man geht weiter und sucht sich klar zu machen, 
dafl diese Ahnlichkeiten nicht nur durch zufallige Vergleiche unse- 
rerseits in die Dinge hineingetragen werden sondern dafi sie alle - 
wie die Ahnlichkeit zwischen Eltern und Kindern - Aus wirkungen 
einer eigens in ihnen wirkenden, einer mimetischen Kraft sind. Und 
ferner: dafi die Gegenstande nicht nur, die Objekte, dieser mimeti- 
schen Kraft ohne Zahl sind, sondern dafi dies gleicherweise von den 
Subjekten, von den mimetischen Zentren gilt, deren jedes Wesen 
eine Mehrzahl besitzen konnte. Zu alledem hat man zu bedenken, 
dafi weder die mimetischen Zentren noch die mimetischen Gegen- 
stande, ihre Objekte, im Zeitlauf unveranderlich die gleichen 
geblieben sein konnten, daft im Lauf der Jahrhunderte wie die 



Zu Grenzgebieten 193 

mimetische Kraft so auch die mimetische Anschauungsweise aus 
gewissen Feldern, vielleicht um sich in andere zu ergiefien, 
geschwunden sein konnte. Ganz ohne Zweifel hat z.B. die Antike 
im Physiognomischen einen weit scharferen mimetischen Sinn 
gehabt als die heutigen Menschen, die nur noch Gesichts-( ,) kaum 
mehr Leibahnlichkeiten erkennen. Man denke ferner daran, wie in 
der Antike die Physiognomik auf den Tierahnlichkeiten begriindet 
wurde. 

Riicken diese Uberlegungen der Astrologie schon nahe(,) so steht 
doch die entscheidende noch aus. Wir miissen namlich als Erfor- 
scher der alten Uberlieferungen damit rechnen, dafi sinnfallige 
Gestaltung, mimetischer Objektcharakter bestanden habe, wo wir 
ihn heute nicht einmal zu ahnen fahig sind. Z. B. in den Konstella- 
tionen der Sterne. Man wird vor allem einmal das Horoskop als eine 
originare Ganzheit, die in der astrologischen Deutung nur analy- 
siert wird, begreifen miissen. Der Gestirnstand stellt eine charakte- 
ristische Einheit dar und erst an ihrem Wirken im Gestirnstand wer- 
den die Charaktere z.B. der einzelnen Planeten erkannt. (Das Wort 
Charakter ist hier vorlaufig. Es mufite Wesen heifien.) Man mufi 
damit rechnen, dafi prinzipiell Vorgange am Himmel von friihern 
Lebenden, sei es von Kollektivis, sei es von einzelnen, nachgeahmt 
werden konnten. Ja, man mufi in dieser Nachahmung die zunachst 
einzige Instanz erblicken, die der Astrologie den Erfahrungscha- 
rakter gab. Ein Schatten davon riihrt noch den heutigen Menschen 
in siidlichen Mondnachten an, in denen er wohl erstorbene mimeti- 
sche Krafte in seinem Dasein sich riihren fuhlt, indessen die Natur 
in deren Vollbesitz dem Monde sich anverwandelt. Doch geben 
diese seltenen Augenblicke keinen Begriff von den formenden Ver- 
heifiungen, die in Gestirnkonstellationen gelegen haben. 
Wenn aber wirklich das mimetische Genie eine lebensbestimmende 
Kraft der Alten gewesen ist, dann ist es kaum anders moglich ( , ) als 
den Vollbesitz dieser Gabe, die vollendetste Auffassung insbeson- 
dere der kosmischen Sinnesgestalt dem Neugebornen beizulegen, 
der ja noch heute, in seinen ersten Lebensjahren vor aller Augen 
(das) aufierste mimetische Genie in der Erlernung der Sprache be- 
weist. 

Das sind die vollstandigen Prolegomena einer jeden rationalen 
Astrologie. ( f r 1 5 8 ) 



194 Fragmente vermischten Inhalts 

Wer einen andern hoflich begriifien will, der wird in seinen Ziigen, 
wie schattenhaft es auch sei, einen Anflug von Lacheln haben. In 
diesem Ausdruck kommt mehreres zusammen. Was ihm zugrunde- 
liegt aber ist wohl dies: das Lacheln diirfte die hochste Stufe mimi- 
scher Bereitschaft darstellen. Man mochte sagen, vom Lacheln aus 
lafit sich dank einer winzigen Abschattung jeder in den ersten 
Momenten einer Begriifiung angezeigte Ausdruck darstellen. Es 
bleibt nur die Frage, ob dieser Disponibilitat nicht noch eine ver- 
borgenere Bedeutung zu eigen ist. Erschopft sich diese hochste 
Bereitschaft zur Anpassung in der an das jeweils fallige Mienen- 
spiel( ? ) Oder liegt darunter nicht eine andere, welche von weit gro- 
fierer Bedeutung ware? Ist nicht im Lacheln das Einverstandnis ver- 
borgen, sich dem ahnlich zu machen, an den es gerichtet ist? Das 
»zauberhafte« Lacheln kame in diesem Falle zu seinem Epitheton 
mit dem vollsten Recht: es erwiese die Meisterschaft in der Mimesis 
in Gestalt einer Anverwandlung. Der Angelachelte fiihlt sich zum 
Vorbild erhoben und so beriickt. ( fr 1 59 ) 



Betrachtungen und Notizen 



Die Landschaft von Haubinda 

Auf einer sehr sanften Hohe steht ein Haus, es wird wohl im Friih- 
ling sein. Es regnet dann Nachts, der Boden ist am Morgen kotig, in 
Lachen spiegelt sich der Himmel weifi. Das Haus ist Haubinda, wo 
Schuler leben. Man nennt es einen Fachwerkbau, seine gleichgiiltige 
Hohe, die blicklos iiber den Waldern der Ebne steht, ist derThron. 
Der Weg von der Haustiir senkt sich zum Garten, dann bewegt er 
sich nach links und bege(g)net der schwarzen Landstrafie, die er 
begleitet. Beete liegen zu Seiten des Weges, die braune Erde liegt 
of fen, dahinter steht dann (nie darfst Du ihn vergessen) der Wald. 
Sehr schwer von Regen. Von hier steigt nun derselbe Weg hinauf, 
der von oben sich senkte. Er ist bewegungslos aber er leitete die 
vielen Schuler oft zum Gartenbau, wo Getreide in der Sonne zu 
binden war und man dann schlafrig heimkehrte, trag wie Tiere. 
Vor der Erinnerung weicht diese Nahe. Sie verbirgt sich in uns, das 
Haus und die herrlichen (V)ierzehnjahrigen mit den roten Miitzen 
sind zu nahe um sie zu sehen. Die Flammen einer Nacht schlagen 
iiber den Waldern in der sehr fernen Ebne. Dahinter liegen Dorfer 
mit Namen, die von der Welt Ende her sind. Damals brannte eines. 
Am Morgen sprach man davon. Meist war die Ebne fur den Sonntag 
aufgebaut. (x) Dorfchen standen darin, nur um zu lauten. Alle 
Klange trafen das Herz unter den Pappeln dcs Gutes. Ein Klavier 
begann den Feierabend. Morgen am Sonntag werden die Jungen mit 
den roten Miitzen in alle Winkel dieser Landschaft wandern. Zwi- 
schen Baumen werden (?) sie allein sein. Das Haus ruckelte dann 
auswarts(P). Aber innen war vor seinem Schranke, in dem er (x) 

von Col in dem leeren Korridor, ein sehr schmutziger Junge 

Der Mond stand iiber dem Wald von Haubinda, iiber keinem 
andern. Damals traten die Gelieb(t)en aus der Hiitte von Col, wo 
sie Limonade getrunken hatten. Sie hatten sie aus erweichten Bon- 
bons bereitet und sie schmeckte siift und fade. Die Hiitte war jetzt 
leer - { abgebrochen ) ( f r 1 60 ) 



196 Fragmente vermischten Inhalts 

(NOTIZEN i) 

Der judische Gedanke: die Integritat der Schuld; Gegensatz zur 
christlichen »Siinde«. Das Leben ist Schuld ist antik und jiidisch, 
die »Erbsunde« ist christlich(.) 

Das Traurige in der Gestalt der Centauren: das Belebende, die 
Gewalt, die Schopfung aus Entwicklung und Gegensatzlichem. Die 
festere, einmalige, ze>ortgeborene judische Schopfung (.) 

Das Luziferische: Luzifer ist schon. Die Schonheit des Bosen ein 
Problem noch jenseits des Daseins des Bosen (Theodizee)( .) Auch 
der bewegende Gedanke Baudelaires. Das Bose ist das Gute als 
Teilhaftes, Abgesondertes, ohne Totalitat. Alles Gute mufi Totali- 
tat haben. Totalitat der Gemiitsart: Heiterkeit, Traurigkeit, Ernst. 
Die Holle gehort Gott an, Gott umfafit sie, nur sie hat sich von ihm 
geschieden. Die Holle ein »Werk der hochsten Liebe«(.) Der 
Selige ist der Mensch der in sich selbst Totalitat hat und als solcher 
der gottlichen Ordnung angehort. Derselben Ordnung gehort der 
Verdammte an, aber nur das ungeheuerste Ubermafi der Schmerzen 
kann dem schlechten, halben Menschen Totalitat verleihen. / Erkla- 
rung des Luziferischen: Von der Religion aus ist das wesentlich 
Schone das Bose. Das Schone driickt vom Bosen aus, dafi es eine 
hochste Totalitat ist die ihm fehlt. 

Die Zwerge, moralische Gestalten, die also dem Marchen angeho- 
ren. Sie schaden dem Menschen indem sie ihm seine biirgerlichen 
Tugenden entwenden. ( f r 1 6 1 ) 

Der Ruhm des lebenden Kunstlers ist eine Funktion seines Verhal- 
tens, nicht seines Schaffens. Dieses Verhalten aber wird im Fall des 
Erfolges nicht sowohl bestimmt durch die Ruhmsucht, deren 
na(c)ktes Vorwiegen vielmehr neben der Kunst auch den Kunstler 
leicht zu Fall bringt(,) als durch den Willen im Publikum zu herr- 
schen. Dieser politisch sich inspirie(re)nde Wille, der gleiche wel- 
cher im grofien Schauspieler lebt, an dem Ruhm gleichfalls ganzlich 
losgelost von den Werken sichtbar wird, ist geboren aus dem sou- 
veranen Gefiihl von der sittlichen Notwendigkeit, im Schaffen sich 
leiblich tragen zu lassen von der feilen und armen Menge: der Ruhm 



Betrachtungen und Notizen 197 

des leben(den) Kunstlers entspringt da rein, wo er die Anspruche 
seiner Zivilliste durchzusetzen bestimmt ist. ( fr 1 62 ) 



Betrachtung des Buches als einer Sache. Die heutigen haben ihren 
Lohn dahin. Das Buch darf nicht auf seinen Autor, es mufi auf seine 
Dynastie weisen. Die heutigen Biicher insbesondere gedeihen nur 
im Schatten grofier Werke. Dies mufi schon ihr Titel erweisen, eine 
Andeutung ihrer Verborgenheit. Die subjektive Verantwortungs- 
losigkeit der Verfasser immer gleich grofi; die objektive (d.i. die 
Tendenz der schlechten Biicher zur Geltung) niemals so umfassend. 
Niemals fruher war ein Buch dadurch dafi es Buch ist (das heifit 
durch die blofie und illegitime Offentlichkeit seines Inhalts) gerich- 
tet - das Buch sucht sich unsachlich zur Geltung zu bringen. Larm 
des Sortiments ; Weihe des Antiquariats. { fr 1 63 ) 



Erster italienischer (Hohenzug?) bei Sonne. Alles wie seit Jahr- 
hunde(rten) auf mein Kommen vorbereitet. Das stellt sich natiir- 
lich nur beim einsamen Gang dar, da ich durch keine f remde (?) 
Zwischengegenwart von dem getrennt bin, was vor mir liegt. Eine 
Stimme geht los: tausendmal ausgeloster {?), mechanischer als 
jedes Grammophon. Voll mit all der Herrlichkeit (L)ebender, die 
Marionetten darstellen{,} oder eines Schauspielers, der einen 
Schauspieler spielt. Diese ganze Strafie voll akustischer Fallturen. 
Jeder meiner Schritte lost einen Streit, ein Lied, den klatschenden 
Schlag eines Waschbretts aus. - Seligkeit, wenn man das erste buon 
giorno auslost. 

Reichtum der Volkssprache: das Volk lafit es niemals beim Ausein- 
andergehen mit dem Grufie bewenden wie hohere Klassen. Beim 
arrivederla f angt das Finale erst an { ? ) und streckt sich eine gute 
Weile iiber den Weg hin wie Konfetti. 

Jedes Gerausch bereichert die Stille. Es gibt ein Schweigen der 
Hahne, ein Schweigen der Axt, ein Schweigen der Grillen, Hunde, 
das der nie wahrnimmt, der in Gesellschaft ist, weil diese Gerausche 
nicht zu ihm dringen. Gerausche sind scheu; sie suchen nur den 
Einsamen auf. 

Jede Stimme schuttert iiber die Gasse als wurde eine Tracht von 
Brettern hier abgeladen ( . ) Bretterf uhre ( . ) { f r 1 64 ) 



198 Fragmente vermischten Inhalts 

Regel zur Beherrschung des Mienenspiels: einen andern Muskel 
beachten{.) <fr 165) 



Zu EINER BESCHREIBUNG VON DANZIG 

Das Merkwiirdigste sind nicht die Giebel, sondern die Strafien sel- 
ber{,) da wo sie noch alt sind. Nicht nur, dafi sie den Unterschied 
von Biirgersteig und Fahrdamm naturlich nicht kennen. Was den 
ganz besonderen Zug in diese Strafien bringt und den Biirgerstolz 
ihrer alten Anwohner unvergleichlich zur Schau tragt, das sind die 
Gebilde aus Briicken und Treppen - winzige nordische Rialtos - 
die von der Strafienmitte die kleinen Graben fiir Abwasser und 
Regenbache iiberquerend - an die Schwelle der Haustiiren fuhren. 
Ehemals schoben die Hauser mit kleinen Vorbauten sich diesen 
Briicken entgegen und was davon in Gestalt untersetzter schmaler 
Mauern stehen blieb, gibt durch seine (x) dem Betrachter heute 
noch Ratsel auf . Sie sind wie schdne steinerne Mobelteile, Fullun- 
gen aus steinernen Schranken, haben nicht{s) von der reprasentati- 
ven Fassade sondern kommen mit ihren zarten ornamentalen 
Rokokoreliefs wie aus dem Innersten der Danziger Stube heraus. 
Die Langgasse, der Langgarten: hier sind die alten Hauser zugut in 
Stand gehalten. Sie sind etwas zu lebhaft getiincht, man glaubt 
ihnen ihr Dasein im Raum um so weniger als sie ganz wie moderne 
Bauten fugenlos eins ans andere gesetzt sind, so dafi die Strafie pure 
Fassade bleibt. Durch die vielfach durchbrochenen Giebel sieht 
man wie durch Schlusselldcher in den Himmel hinein. Ja diese alten 
und doch unzuverlassig wirkenden Hauser verhangen hier wie 
Vexierschlosser den Himmel. 

Spezialitaten: Likorflaschen, glaserne und irdene in Form von 
Briicken. Auch sonst altertumliche Flaschen, zumal fiir Machandel. 
Nahe beim Hafen sah ich sogar ein lustiges buntes Blechmannchen 
als Aushangeschild einer Kneipe. (fr 166) 



»Tausende, die hier liegen, sie wufiten von keinem Homerus;/Selig 
sind sie gleichwohl, aber nicht eben wie du« - das hat Morike einmal 
als Inschrift iiber das Grab eines Kaufmanns gesetzt. Ahnlich mag 
man sagen, dafi Tausende und Hunderttausende die Traurigkeit des 
ausgehenden Jahres im Silvesterabend kennen, aber nicht so wie 



Betrachtungen und Notizen 199 

die, denen in der winterlichen Ode jener Stunden eine Erinnerung 
an Warme lebt. Im iibrigen gibt es wohl nichts auf der Welt, was 
gerade weil es den Menschen und seine wache Gefuhlswelt selber 
kaum deutlich betrifft unmittelbar iiber die Natur selber eine so un- 
nennbare Traurigkeit ausgiefit, wie der Silvesterabend (nicht mehr 
die Nacht). Es ist, als wenn der Mensch von seinem gesegneten 
Tische die Neige der Zeit, um seinen Becher auszuschwenken, in 
Natur vergieftt, die nun mit Zeit besprenkelt verraten und hilflos 
dasteht. Mit der Trauer der Schergen steht in diesen Stunden ihr der 
Mensch gegeniiber, weist ihr das Fenster, in dem Weltabend sich 
spiegelt. Silvester ist dieses Fenster des Jahres, dieser entfernte Wie- 
derschein und um seine unnennbare Trauer deutlich zu fassen ist es 
genug, in den Kalendern der kommenden Jahre das Auge auf dem 
letzten Datum ruhen zu lassen. (fr 167) 



Uber die Art der Italiener, zu diskutieren 

Einerseits oberflachlich. 

Aber auf der anderen Seite mit einem sicheren Instinkt dafiir, dafi 
»aufhoren« bei alien guten Dingen ein »abbrechen« sein mufi. So 
wie man willkurlich (schliefilich) beim Malen eines Bildes, beim 
Dichten einer Dichtung ein Ende setzt, so tun sie es(,) aus einer 
tiefen Erfahrung vom Wesen des kunstlerischen Verhaltens heraus, 
beim Diskutieren. Und in der Tat ist merkwurdig, wie die »Lehre« 
eines unterbrochenen, abgebrochenen Gesprachs einem nachlauft 
wie ein Hundchen, das einen verlor. Wahrend man gerade da zu- 
letzt mit leeren Handen steht, wo man bis ans Ende gegangen ist. - 
Man denkt bei diesem { A)bbrechen auch an die Bauweise der Siid- 
italiener: Neubauten halbvollendet lange stehen zu lassen. Auch an 
die pragmatische Gesinnung: Diskutieren doch zuletzt als eine zu 
nichts verpflichtende rhetorische Schule zu nehmen. Der Italiener 
begibt sich in die Praxis wie in seine wahre Romerheimat zuriick, 
der Deutsche in die Diskussion wie in seine warme gotische Stube 
hinein. - Russische Diskussion ist durch den enormen Ahteil des 
Kollektivs an ihr sehr verandert worden. Der Deutsche geht jus- 
qu'au bout - der Italiener bricht ab, der Franzose endet in einer 
Vignette und Arabeske. ( f r 1 68 ) 



200 Fragmente vermischten Inhalts 

Gedacht ist alles. Es kommt darauf an bei diesen vielen kleinen 
Gedanken Station zu machen. In einem Gedanken iibernachten. 
Habe ich in ihm genachtigt, so weifi {ich) etwas von ihm, von dem 
dem Erbauer nichts ahnte. ( fr 1 69 ) 



Zur Entbindung der traumatischen Energie in den Dingen. 
(Ernst) Joel erzahlt von einer anatomischen Fuhrung. Er steht mit 
seiner Gruppe vor dem Skelett eines Schadels. Mochte darauf hin- 
weisen, wie tief die Augenhohle geht und wo das Gehirn beginnt. 
Nun war gerade kurz vordem durch die Zeitungen der Bericht von 
der traurigen und sensationellen Geschichte zweier junger Manner 
aus der »Roten Garde « gegangen, von denen der eine sich das Leben 
genommen, der andere(,) der, bei dem Versuche das zu tun, sich 
blind geschossen hatte. Davon spricht Joel und zeigt: {»)... er hat 
sich namlich dorthin geschossen. Dahin hatte er sich schiefien miis- 
sen, um das Gehirn zu treffen. Denn die Augenhohle hort erst bier 
auf«. (irijo) 



(NOTIZEN 2) 

Die scheinbar »bleibenden« Werke zucken durch jede Gegenwart 
nur blitzhaft. »Hamlet« hat eine der grofiten Geschwindigkeiten, 
ist am schwersten zu fassen. 

Kind vor dem Gute Nacht Kufi im Bett(.) 

Schreibendes Kind 

Die schreibende Hand hangt im Geriist der Linien wie ein Athlet im 
schwindelnden Gestange der Arena (des Schnurbodens). Maus, 
Hut, Haus, Zweig, Bar, Eis und Ei fallen die Arena, ein blasses, 
eisiges Publikum, sehen sie ihren gefahrlichen Nummern zu. 
Saltomortale des s / Beachte die Hand, wie sie auf dem Blatt die 
Stelle sucht wo sie ansetzen will, Schwelle vo(r)m Reich der 
Schrift. Die Hand des Kindes geht beim Schreiben auf die Reise. 
Eine lange Reise, mit Stationen, wo sie iibernachtet. Der Buchstabe 
zerfallt in Stationen. Angst und Lahmung der Hand, Abschiedsweh 



Betrachtungen und Notizen 201 

von der gewohnten Landschaft des Raumes: denn von nun an darf 
sie sich nur in der Flache bewegen. 

Uber die Hierarchie der Sinne unterm Gesichtspunkt des Trostes / 

Kritiken in Form von Geschichten / Thomas Mann / Hamsun 

Lesen - um zu wissen, was in einem Buch steht, um zu wissen, was 
einer schreibt und wie, um sich iiber einen Gegenstand zu belehren, 
um Kritiken zu kritisieren, um zu lesen. 

Fur den Schriftsteller mag es manchmal gefahrlich oder entbehr- 
lich sein, sich mit dem Publikum auseinanderzusetzen. Es gibt 
Falle, in welchen er darauf verzichten konnte. Unerlafilich aber ist 
fur jeden Autor, der im geringsten Geltung erringen will, eine 
genaue strategische Position innerhalb seiner Generation zu bezie- 
hen. Denn er mag leidenschaftliche Gegner unter den jungern und 
altern besitzen: wo er todlich zu treffen ist, das wissen doch nur 
seine Altersgenossen. Beim Aufbau des kritischen Lebens aber gal- 
ten zu unterscheiden: Literarische Namen, die von den altern, die 
von gleichaltrigen, die von den jungern gemacht werden. Einen 
Wertunterschied wird man freilich mit dieser Gruppierung noch 
nicht zum Ausdruck bringen. 

Unterscheidung Sainte-Beuves: intelligence-glaive und intelligen- 
ce-miroir{.) 

Zum Fall Borchardt diesen Nachtrag: Wenn die Aufgabe gestellt 
ware, Borchardts Schrifttum aus jener eigentiimlichen Erfahrung 
des Scheines heraus zu konstruieren, die kaum je so marktschreie- 
risch, so verzweifelt aber auch kaum je so vollendet und ihrer Voll- 
endung bewufit sich herausschrie, so hiefie das zugleich ihn in Zu- 
sammenhange einstellen, die alles andere als literarhistorische sind. 
Wer - hatte man zu fragen - hat vor ihm diese Erfahrung in solcher 
sinnlichen Bestimmtheit und Fulle gekannt. Man kame auf Hof- 
mannsthal, eben darum sein grofier Erzieher. Man stiefie aber zu- 
letzt auch auf Goethe. Und man deutet ein historisches Phanomen 
erstaunlicher Art an, mit der Behauptung, dafi eben die Goethesche 
Eroberung einer Scheinwelt in Hofmannsthal und Rudolf Bor- 



202 Fragmente vermischten Inhalts 

chardt ihre erschreckend gelehrigen, erschreckend festgelegten 
Diadochen gehabt hat. Diese Goethesche Welt - unter denen des 
Meisters nur eine - ihnen die einzige, schiebt sich in einer Halluzi- 
nation des Zeitsinns ihnen vor die wirkende und werdende; wah- 
rend sie selber allerdings wirkungs- und wandellos und darum nicht 
ohne Eignung ist, mit einer griechischen Vorwelt so verwechselt zu 
werden, wie Goethe es selber doch niemals getan hat. Dafi weder 
Hofmannsthal noch Borchardt in ihrer Sache der Ironie den gering- 
sten Raum gonnen, wird in diesem Zusammenhange ebenfalls auf- 
schlufireich: unscheinbare Verkehrung, freiwillige Minderung blei- 
ben das einzige, was in der Scheinwelt unvollziehbar ist. Daher 
denn auch die Feindschaft Hofmannsthals gegen Keller. Der An- 
spruch auf Wirkung aber, den besonders Borchardt um so intran- 
sigenter erhebt als er die Herrschaft des Schemes, imperialistisch, 
auch auf das Reich der Wissenschaft erweitert, ist selbst ein verrate- 
risches Anzeichen. Denn wirken kann, im Reiche der Formen und 
als Form, d.h. also im strengsten Sinn des Wortes: unpolitisch, 
heute nur das durchaus Verborgene, Unscheinbare, das scheinbar, 
und bis zu einem gewissen Grade sogar wirklich, der Wirkung Ent- 
sagende. 

Darstellung der siidlichen Nacht, darauf beruhend, dafi die Erde 
unter dem Mondlicht alle vergangenen Stadien ihres Lebens noch 
einmal durchmacht. Vielleicht sogar auch die kunftigen im Traume 
vorwegnimmt. 

Gedanke und Stil. Der Stil ist das Sprungseil, das der Gedanke neh- 
men mufi, um ins Reich der Schrift vorzudringen. Der Gedanke 
mufi alle Krafte zusammenreifien. Aber der Stil ihm entgegenkom- 
men und nachlassen, wie das Seil in den Handen der Kinder, welche 
es schwingen, wenn eines unter ihnen zum Sprunge ansetzt. 

Dialektik des Gliicks: ein zweifacher Wille: das Unerhorte, nie 
Dagewesene, der Gipfel der Seligkeit. Und: Ewiges Noch-Einmal 
der gleichen Situation, ewige Restauration des ursprunglichen, 
ersten Gliicks. 

Wir wollen die Ruhe auskosten, wenn sie uns aus einem Kruge 
gegossen wird, der mit den schreiendsten Farben bemalt ist. 



Betrachtungen und Notizen 203 

Auch Biicher beginnen, wie die Woche, mit einem Ruhetag zum 
Gedachtnisse ihrer Schopfung. Die Vorrede ist dieser Sonntag der 
Biicher. 

{Karl) Valentins Komik: Umgehungsmarsche, um dem judischen 
Witz in die Flanke zu fallen. 

Wirkung und Fruchtbarkeit gegensatzlich. Dunstfeuchte, Nahe, 
Verschwommenheit im Fruchten, Trockenheit, Umrifi, Abstand 
imWirken. (hiji) 



Die grosse Kunst, auf der Erde es enger werden zu lassen. In 
Wirklichkeit. Oder wo wir stehn: in der Erinnerung. »Ah! que le 
monde est grand a la clarte des lampes! / Au{x) yeux du souvenir 
que le monde est petit !« Das ist die geheimnisvolle Kraft der Erinne- 
rung, Ndbe zu zeugen. Ein Zimmer, das wir bewohnen, dessen 
samtliche Wande sind uns naher als dem Besucher. Das ist das 
Heimliche am Heim. In Kinderzimmern, an welche wir uns erin- 
nern sind uns die Wande naher zusammengeruckt als in Wahrheit, 
als wenn wir sie heute sahen. Ihr Anblick zerreifk uns, weil wir uns 
an die Wande geheftet haben. Da ist der grofie Reisende, der mit der 
anamnesis die Stadte und Lander bereist und der, weil alles ihm 
naher an einander und also ihm selber, der mitten darinnen ist, auf 
den Leib riickt, mit alien Sinnen die Nuancen als das Wahre auf- 
nimmt, von dem der distanzierte Romantiker ebenso wenig weifi 
wie der Positivist. ( fr 1 72 ) 

MlLIEUTHEORETIKER 

Bedenkt (man,) wie lange der Glaube an Verkleidungen gelebt hat, 
wie unbedenklich die Posse aller Jahrhunderte, die hohe Komodie 
Shakespeares und noch die Kriminalgeschichte des ausgehenden 
i9 ten Jahrhunderts mit Verwechslungen durch Verkleidung arbei- 
tet, so mufi es sehr iiberraschen, wie seit kurzem die Menschen 
durchaus nicht mehr gewillt sind, auf derlei sich einzulassen. In 
Dingen der Verkleidung verstehen sie nicht den mindesten Spafi 
und Verwechslungen sind im modernen Roman verpont. Und die- 
ses sture Haften an der unverwechselbare(n), einmaligen Leiblich- 



204 Fragmente vermischten Inhalts 

keit in genau dem Augenblick, da Philanthropen, Proustschuler, 
Psychoanalytiker uns versichern, dafi alle Moglichkeiten in jedem 
lieg(en) und obendrein nichts abgelebter und spiefiiger sei, als 
Glaube an die Einheit der Personlichkeit. Was steckt dahinter? 

<fn 7 3> 



Sollte nicht der Intensitat, mit der wir als Kinder die Welt, aber 
auch Bilder, Reime etc aufnehmen, sich etwas von Vorahnung bei- 
mischen? So dafi vieles im spatern Leben, was uns erinnert, nicht 
sowohl an wirkliche Situationen als an Vorahnungen uns erinnert. 

<fri 7 4> 



Der Ritus lehrt: die Kirche hat sich nicht durch Ubenvindung der 
mann-weiblichen Liebe sondern der homosexuellen aufgebaut. 
Dafi der Priester nicht mit dem Chorknaben schlaft - das ist das 
Wunder der Messe. 

(Dom von Siena 28 Juli 1929) 

<fri7S> 



Penthesilea; einmal konnte es, in neueren Zeiten, der Willkiir 
gelingen, die hellenische Gestalt zu iiberrennen. Es bedurfte der 
dynamischen Kraft des Dramas dazu. 

Der Dialog in der Sage 

Das epitheton ornans verbunden mit den impressionistischen epi- 

theta(.) 

Subalterne Anschauhchkeit »Seiner Taten sind soviel als iiber ihm 

Friichte hangen* oder die Prodikosallegorie{.) 

Grundlage der Sagenform: Mit jedem Satze ein neues Geschehen. 

Kein Dialog. Und kein Raum fur die Meinung. 

Wirtschaft(P), nicht »wie bei arme Leute«. Da gibt es Stimmen 

vom Jenseits. { fr 1 76 ) 



Betrachtungen und Notizen 205 

Lesen 

Wie die ersten Seiten eines neuen Buches nirgends besser als an 
fremdem Ort (in der Eisenbahn, im Coupe) sich erschliefien. »Rei- 
selektiire* - das sind die Biicher, welche aus dem Anreiz ihres 
Umschlags, des Titels und der ersten Seite leben. Auch davon, dafi 
sie aufgeschnitten werden wollen. 

Die letzten Seiten eines schon bekannten Buches, die tun sich nie- 
mals so wie in der eignen Stube, am Abend, auf . Es gibt Menschen, 
und darunter solche, die eine ganze Bucherei besitzen, die niemals 
recht an ein Buch herankommen, weil sie nichts zum zweiten Mai 
lesen. Und doch ist es nur dann, dafi man wie klopfend ein Gemauer 
absucht, und stellenweise auf einen hohlen Widerhall trifft, einhalt 
( ? ) und auf Schatze stofit, die der friihere Leser, der wir doch einst 
gewesen sind, in ihr vergraben hatte . ( f r 1 77 ) 



(Notizen 3) 

Man heftet Rosen, Veilchen, Chrysanthemen auf Pelze. Ich wiifite 
nichts, was Frauen besser zwischen Tier und Blume anweist, anstatt 
der falschen, banalen zwischen Engel und Bestie. Ja Frauen sind 
Geschopfe in Blumenpelze(n), ein reifiendes Beet, ein Haufe von 
geschminkten blutgefullten Kelchen. Die ebenholzumranderte 
Uhr, die aus goldnem Pflanzengeschlinge als Frucht herausblickt 
und altklug mehr als Jahreszeiten (wissen ?) 

Ortega y Gasset( . ) Die Ideen Nietzsches werden ( ,) je weiter sie in 
der Welt herumkommen, desto provinziel ( 1 ) er . ( f r 1 78 ) 



Der grosse Autor kann dem Gegenstande nichts abfragen, weil er 
unter seiner Feder lebendig wird, gewissermafien hort er nicht zu, 
erwacht zu seinem eignen Sinnen und Trachten, desavouiert, was 
man im Stillen von ihm denken konnte - er ist garnicht mehr wie- 
derzuerkennen. ( fr 1 79 ) 



»Suche allem im Leben eine Folge zu geben* - ganz sicher eine der 
abscheulichsten Maximen, der man bei Goethe zu begegnen, nicht 



2o6 Fragmente vermischten Inhalts 

vermuten wiirde; das Postulat des Fortschritts in seiner windigsten 
Observanz. Nicht die Folge fuhrt auf das Fruchtbare des richtigen 
Verhaltens, erst recht nicht ist sie seine Frucht. Friichte zu haben ist 
vielmehr das Merkmal der bosen Tat; die Taten der Guten haben 
keine »Folge«, die man ihnen (nur ihnen ganz allein) zuordnen 
konnte. Das Fruchtbare der Tat ist, wie es sich gehort, in ihrem 
Innern. Vo(n) neuem ins Innere einer Verhaltungsweise eingehen- 
das macht die Probe auf ihre Fruchtbarkeit. Wie aber? (fr 1 80) 

Das Licht 

Mit der Geliebten war ich zum ersten Male und in einem fremden 
Dorf allein. Ich wartete vor meinem Nachtquartier, das nicht das 
ihre war. Wir wollten noch einen Abendspaziergang machen. War- 
tend ging ich die Dorfstrafie auf und ab. Da sah ich in der Feme, 
zwischen Baumen, ein Licht. »Dies Licht, so dachte ich bei mir, 
sagt denen, die es allabendlich vor Augen haben, nichts. Es mag zu 
einem Leuchtturm oder Bauernhof gehoren. Mir aber, dem hier 
Fremden, sagt es viel.« Und damit machte ich kehrt, um von neuem 
die Dorfstrafie abzuschreiten. So ging es zwei, drei Mai, und immer 
wenn ich nach einer Weile wieder umbog, lockte das Licht zwi- 
schen den Baumen meinen Blick an. Dann aber kam ein Augen- 
blick, in dem es mir halt gebot. Das war kurz ehe die Geliebte kam. 
Ich hatte mich wieder umgewandt und gesehen: das Licht, das ich 
zu ebner Erde gesichtet hatte, war das des Monds gewesen, der nun 
langsam iiber die f ernen Wipf el herauf geriickt war. ( f r 1 8 1 ) 

Zum Sprichwort 

Zu Grunde zu legen das Bild von den Frauen, die auf dem Kopf, 
ohne sie mit der Hand zu beriihren, schwere, gefullte Gefafie 
tragen. 

Den Rhythmus, in dem sie das tun, lehrt das Sprichwort. 
Es spricht aus ihm ein noli me tangere der Erfahrung. 
Damit bekundet es seine Kraft, Erfahrung in Tradition zu verwan- 
deln. 

Sprichworter sind nicht anwendbar auf Situationen. Sie haben viel- 
mehr eine Art von magischem Charakter: sie verwandeln die Situa- 
tion. Es ist kaum im Vermogen des Einzelnen gelegen, seine Erfah- 



Betrachtungen und Notizen 207 

rungen ganz von Erlebnis zu reinigen. Aber das Sprichwort, indem 
es sich ihrer bemachtigt, bewirkt das. 

Es macht die erlebte Erfahrung zu einer Welle in der atmenden 
Kette ungezahlter Erfahrungen, die von Ewigkeit her kommen. 
(Jean ) Paulhan : Experience du proverbe { f r 1 8 2 ) 



Zu den Reflexionen iiber Kultur der Stimme ist iiberaus dienlich 
eine Bemerkung von Herault de Sechelles: »L'idee qu'on parle a des 
inferieurs en puissance, en credit et surtout en esprit, donne de la 
liberte, de Passurance, de la grace meme.« 

Das Wort eines Zeitgenossen iiber Herault auf dem Wege zur Guil- 
lotine: »I1 avait moins l'air d'aller a l'echafaud que de revenir d'un 
banquet. « 

Um sich iiber die Ignoranz seiner Mitarbeiter zu moquieren, 
schickt er im Laufe der Beratungen fur die Constitution, die er mit 
Saint-Just und Couthon in sechs Tagen abfassen mufite, auf die 
Bibliotheque Nationale, um die »Gesetze des Minos« holen zu las- 
sen, (fr 183) 

Notizen (4) 

Die Beziehung meines Begriffs des Ursprungs wie die Trauerspiel- 
arbeit und der Essay iiber Kraus ihn entwickelt zu Rosenzweigs 
Begriff der Offenbarung ist zu untersuchen. 

Geistesgegenwart haben heifit: Im Augenblick der Gefahr sich 
gehen lassen. 

Das schwache Schaffen: er schuf; aber: er schaffte fort. 

Die grofie Masse der Geistigen - und vor allem der Schongeistigen - 
ist in trostloser Lage. Schuld ist an dieser Lage aber nicht Charakter, 
Stolz und Unzuganglichkeit. Die Journalisten, Romanciers und 
Literaten sind meist zu jedem Kompromifi bereit. Nur wissen sie es 
nicht. Und eben das ist der Grund ihrer Mifierfolge. Denn weil sie 
es nicht wissen oder wissen wollen, dafi sie kauflich sind, datum 
verstehen sie nicht (,) von ihren Meinungen, Erfahrungen, Verhal- 
tungsweisen jene Teile, fur die der Markt Interesse hat, zu losen. Sie 



zo8 Fragmente vermischteii Inhalts 

suchen vielmehr ihre Ehre darin, an jeder Stelle ganz sie selbst zu 
sein. Weil sie sich sozusagen nur im Stuck verkaufen wollen werden 
sie so unverkauflich wie ein Kalb es ware, welches der Schlachter 
einer Hausfrau nur als ungeteiltes Ganzes wiirde iiberlassen wollen. 

Der Markt nimmt auch die schlechteste Ware auf . Von jedem Liefe- 
ranten aber nur seine beste. 

Zwei Motti zu Brecht: 

»Das hat Dein guter Genius Dir eingegeben, wie mir dunkt, dafi Du 
das Drama epischer behandelt hast.« Holderlin: Samtliche Werke 
(hg. von Norbert von Hellingrath u.a., Bd. $,) Miinchen und 
Leipzig 19 1 3 p 316 Brief an Bohlendorff vom 4 Dezember 1801 
» Wo das Denken aufhort, haben die Spitzkopf e ebenso sehr gewon- 
nen, als wo das Verkehrtdenken anfangt.« (Oskar) Planer und 
(Camillo) Reifimann: Johann Gottfried Seume Leipzig 1898 p 
538 Aus der Vorrede zu »Mein Sommer 1805* 

Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos. 

(fn8 4 > 

(NOTIZEN 5) 

Ahnlichkeit der Existenz der Leute, die ihre Scham eingebufit 
haben, mit der Existenz eines clochards. Ihre Angewiesenheit auf 
Narkotika. ((Pierre-Etienne) Flandin, Reconly (?), (Hans) 
Frank, Goebbels) 

Rue de 1'harmonie, Querstrafie der rue Castagnary. Die Munizipa- 
litaten haben begriffen, wohin es mit den Idealen der Bourgeoisie 
gekommen ist. 

Paulhan - il a une petite inquietude de tout repos. 

Wievieles von dem, was heute ein Buch ausmacht, ist wohl von 
denen, die die darin befindlichen Texte gemacht haben, als Buch 
gedacht gewesen? Bei der Verfassung von Texten von ihrer Bestim- 
mung, ein Buch zu bilden, abzusehen, kann die Arbeit sehr erleich- 
tern. 



Betrachtungen und Notizen 209 

Die Feme ist das Land der erfullten Wiinsche. 

Die kiinftigen Anrainer der Graber, die ich heute gesehen habe. 

Friedhof in Rouvray: ein besonders einfacher Grabstein: vier oder 
fiinf Namen mit den Jahreszahlen und darunter »Regrets« gab mir 
den Gedanken: eine Familie von halben Analphabeten. Und ob 
nicht die geringe Verbreitung der Kunst zu lesen und zu schreiben 
den Dokumenten fruher Zeiten, sei es durch ihre geringere Zahl, sei 
es durch ihren haufig lakonischen Charakter eine hohere »Histori- 
zitat* verschafft habe. 

Unterwegs nach Rouvray, auf die Kirche zusteuernd. Von weitem 
auf solche Kirche zuzuwandern ist dem zu vergleichen, dem Vor- 
trag einer alten Klaviersonate auf dem Klavier zu folgen. Im Auto 
den Weg in der gleichen Richtung zuriicklegen heifit diese Sonate in 
Orchesterbearbeitung horen. { f r 1 8 5 ) 



Die Verfasser der unverganglichen Schriften haben deren Verges- 
sen ihr Opfer bereits bei deren Niederschreiben gezollt. Kaum ein 
Satz, in welchem sie nicht ein Wort, kaum ein Absatz, in dem sie 
nicht einen Gedanken geopfert hatten. (fr 186) 

(Notizen 6) 

Ich gebrauche die Redewendung »Vor dem Krieg« mit einem 
gewissen Heimweh; ich frage mich, ob es nicht das letzte Mai ist, 
dafi sie mir zur Verfugung steht. 

Als Freud gefragt wurde, wie er die unangenehmen Traume mit 
seiner Theorie, dafi jeder Traum eine Wunscherfullung sei, verein- 
bare, sagte er: »Diese Traume erfiillen uns den Wunsch, iiber Unan- 
nehmlichkeiten getrostet zu werden, denen das Erwachen uns 
gegeniiberstellt. Aus ihnen erwachend finden wir eine Lage vor, die 
im Vergleich zu der getraumten ertraglich ist.(«)Es ist verfuhre- 
risch, das namenlose Grauen gewisser Traume, auch halbwacher 
oder gar wacher Zustande sich nach diesem Vorbild zurechtzule- 
gen. Kommt es nicht, mochte man fragen, aus der Notwendigkeit, 



210 Fragmente vermischten Inhalts 

das Grauen vor dem Tod, der uns gewifi ist, durch ein noch tieferes 
Grauen vor Dingen, die uns ungewifi, vielleicht erspart sind, zu 
beschwichtigen? 

Das Sterben des Marines, auch des geliebtesten, empfindet man als 
das eines Einzelnen. Unzahlige sind ihm vorangegangen und es 
werden ihm unzahlige folgen; aber er, der stirbt, war ein einzelner. 
Anders beim Gedanken an den Tod eines jungen Madchens: er zeigt 
uns mit einer jeden all die vielen dahingerafft, unter denen unsere 
Wahl sie ergriffen hatte. Und wie unschlussig! scheint es uns. Denn 
(die) Niegesehnen, auf immer Verschwundnen - scheint es nicht 
als wenn jede einzelne unter ihnen uns ebenso unwiderruflich geru- 
fen hatte, wie sie selber vom Tod ist gerufen worden. Das alles und 
mehr (stent) in dieser Inschrift von einem Grabe in der Camargue: 
»Ich habe gelebt und vor mir haben andere junge Madchen gelebt. - 
Aber genug. Wer dies gelesen hat{,) moge, seines Weges gehend, 
dies wunschen: dafi, Corrina, die Erde dir leicht sei. - Und ihr, die 
ihr auf Erden lebt, seid glucklich.« (fr 1 87) 



Ich kenne einen, der immer exakt antwortet. Es ist ein Esel: sein 
point d'honneur liegt in seiner Akribie. In seiner Akribie und in 
seiner Zuriickhaltung. (Ein Wort zuviel geht ihm, sozusagen, zu 
sehr ins Geld.) Ich diktiere ihm in die Schreibmaschine. In einer 
Pause kommt mir der Gedanke an einen gewissen L. Im Jahre 1937 
hat er sich aus Oesterreich mit genauer Not retten konnen. Seine 
Frau, Mitglied der sozialdemokratischen Partei und aktiv wie er, 
hat der Kinder wegen, die spater ins Ausland gelangt sind, die 
Grenze nicht mit ihm iiberschreiten konnen. Ich frage: »Ist Frau L 
nun noch aus Oesterreich herausgekommen?* - Er: »Ja.« - Ich: 
»Gottseidank! Sie hat wirklich Gliick gehabt!« Er - nach einer 
Pause, in der er sichtlich mit sich gerungen hat: »Sie ist aus Oester- 
reich herausgekommen. Aber wohin? Nach Deutschland, ins Kon- 
zentrationslager.« - Was mufi es ihn gekostet haben, diese Erkla- 
rung nachzuschicken, die doch niemand von ihm verlangt hatte! 

<fn88) 



Betrachtungen und Notizen 2 1 1 

Warum die deutschen Gelehrten einen so 
schlechten stil schreiben 

Notwendigkeit bei der Erorterung dieser Frage bis auf Kant 
zuriickzugehen. Die lahmende Wirkung des Konformismus. Die 
Bereitschaft zu einem kleinen KompromifL Das Bewufksein, 
Belegstellen herzugeben, ist ihnen fremd. Sie sind niemals unter 
einer Kuppel zkiert worden. - He gels Stil jenseits von gutem und 
schlechtem Deutsch. - Heidegger, der das » Anecken« imitiert. {-) 
Wer das Bewufksein hat, anzuecken, exponiert zu sein, achtet auf 
seinen Stil. Wer auf der Biihne auftritt, achtet auf seinen Gang. Wer 
auf der weltpolitischen Biihne eines Tages einzuspringen gefafit sein 
mufi, achtet auf seinen Gang, auf sein Auftreten. Der Schrifts teller, 
der damit rechnet, zitiert zu werden, achtet auf seinen Stil. { fr 1 89 ) 



Autobiographische Schriften 



Lebenslaufe 

<i> 

Lebenslauf 

Ich bin am 15 Juli 1892 in Berlin als Sohn des Kaufmanns Emil 
Benjamin und seiner Frau Pauline, geb. Schoenflies geboren. Beide 
Eltern sind am Leben. Ich bin mosaischer Konfession. Meine 
Schulbildung erhielt ich auf dem gymnasialen Zweige der Kaiser- 
Friedrich-Schule in Charlottenburg. Dieser Lehrgang war durch 
einen zweijahrigen Aufenthalt in dem Landerziehungsheim Hau- 
binda in Thuringen von meinem vierzehnten bis funfzehnten 
Lebensjahr unterbrochen. Die Reifepriifung bestand ich Ostern 
1912. Ich studierte an den Universitaten Freiburg i.B., Berlin, 
Munchen und Bern. Meine Hauptinteressen galten der Philoso- 
phic, der deutschen Literatur-, sowie der Kunstgeschichte. Dem- 
entsprechend horte ich besonders die Professoren Cohn, Kluge, 
Rickert und Witkop in Freiburg, Cassirer, Erdmann, Gold- 
schmidt, Hermann und Simmel in Berlin, Geiger, von der Leyen 
und Wolfflin in Munchen sowie Haberlin, Herbertz und Maync in 
Bern. Im Juni 19 19 habe ich in Bern mit einer Arbeit »Der Begriff 
der Kunstkritik in der deutschen Romantik* summa cum laude pro- 
moviert. Hauptfach war Philosophic, Nebenfacher: neuere deut- 
sche Literaturgeschichte und Psychologic Da der Schwerpunkt 
meiner wissenschaftlichen Interessen in der Aesthetik liegt, gestal- 
tete der Zusammenhang zwischen meinen literarhistorischen und 
philosophischen Arbeiten sich immer enger. Aus einem Studium 
der sprachtheoretischen Gedanken und Tendenzen der Parnassiens 
ging der Versuch einer Baudelaire-Ubersetzung hervor, deren 
Schwerpunkt ich in einer sprachtheoretischen Vorrede »Uber die 
Aufgabe des Ubersetzers« sehe. Von einer andern Seite her beschaf- 
tigte mich der Zusammenhang des Schonen mit dem Schein in seiner 
besonderen sprachlichen Auspragung. Dies war eines der Motive, 
von welchen meine Studie iiber »Goethes Wahlverwandtschaften« 
ausgeht, der ich eine weitere iiber die »Neue Melusine« folgen zu 
Iassen gedenke. Eine konkrete literarhistorische Auspragung suchte 
ich sprachtheoretischen Gedankengangen in gewissen Abschnitten 



21 6 Autobiographische Schriften 

meiner Abhandlung »Ursprung des deutschen Trauerspiels* zu 
geben. In dem dort versuchten knappsten Anschlufi aesthetischer 
Problemstellungen an die grofien Werke des deutschen Schrifttums 
sehe ich die Methode meiner folgenden Arbeiten vorgezeichnet. 

(id 

Ich bin am 15. Juli 1892 in Berlin geboren. Mein Vater war Kauf- 
mann. Ich habe den Schulgang eines humanistischen Gymnasiums 
durchgemacht, unterbrochen von einem zweijahrigen Aufenthalt in 
dem Landerziehungsheim Haubinda in Thiiringen. 
Mit dem Sommersemester 19 12 bezog ich die Universitat, um Phi- 
losophic zu studieren. Das 1. und 3. Semester studierte ich in Frei- 
burg LB., das 2. Semester sowie das 4. und die folgenden in Berlin. 
Im Jahre 19 16 bezog ich die Universitat Miinchen, vom Winterse- 
mester 1917/18 an studierte ich in Bern und beendete daselbst Juni 
19 19 meine Studien mit dem Doktorexamen, das ich summa cum 
laude bestand. 

Meine Dissertation behandeke den »Begriff der Kunstkritik in der 
deutschen Romantik«. Die Priifung erstreckte sich auf Philosophic 
(im HauptfachQ), deutsche Literaturgeschichte und Psychologie 
(()in den Nebenfachern). Im besonderen und in immer wiederhol- 
ter Lektiire habe ich mich in meiner Studienzeit mit Platon und 
Kant, daran anschliefiend mit der Philosophic der Marburger 
Schule beschaftigt. Allmahlich trat das Interesse am philosophi- 
schen Gehalt des dichterischen Schrifttums und der Kunstformen 
fur mich in den Vordergrund und fand zuletzt im Gegenstand mei- 
ner Dissertation seinen Ausdruck. 

Diese Richtung beherrschte auch meine folgenden Arbeiten, in 
denen ich mich um einen immer konkreteren Anschlufi an das 
Detail, aus Griinden nicht nur der Exaktheit, sondern des Gehalts 
meiner literarischen Untersuchungen, bemiihte. Den Gedanken, 
ein Werk durchaus aus sich selbst heraus zu erleuchten, versuchte 
ich in meiner Schrift »Goethes Wahlverwandtschaften* durchzu- 
fiihren. Dem philosophischen Gehalt einer verschollenen und ver- 
kannten Kunstform, der Allegorie, war meine nachste Arbeit 
»Ursprung des deutschen Trauerspiels« gewidmet. 
Schon zu Beginn meiner Studienzeit setzte eine intensive Beschafti- 
gung mit der franzosischen Literatur ein. Ihr Ertrag waren einzelne 



Lebenslauf e 217 

Ubersetzungen - Baudelaire, Proust -, vor allem aber die wieder- 
holte Beschaftigung mit den sprachphilosophischen Problemen der 
Ubersetzung, denen ich mich in einem Essay »Uber die Aufgabe 
des Ubersetzers« (Vorwort meiner Baudelaire-Ubertragungen) zu 
nahern suchte. 

Im Mittelpunkt meines Arbeitsplans fur die kommenden Jahre ste- 
hen zwei Themata, die sich, wenn schon auf verschiedene Weise, an 
mein letztes Buch anschliefien. Das erste: In entsprechender Weise 
wie ich den philosophischen, moralischen und theologischen 
Gehalt der Allegorie mich darzustellen bemiihte, den des Marchens 
als eine{r) zumindest gleichfundamentalen und urspriinglichen 
Uberlieferungsform bestimmter Gehalte zu entwickeln. Das zweite 
Thema, zu dem ich seit langem Vorstudien mache, ist die Darstel- 
lung der klassischen franzosischen Tragodie als Gegenstiick zu mei- 
ner Behandlung der deutschen. 

Meine Lehrtatigkeit wiirde nach Moglichkeit den Zusammenhang 
mit den eben genannten bevorstehenden Arbeiten wahren. Unbe- 
schadet grofierer mehr oder weniger literar-historisch orientierter 
Kurse wiirde ich Wert auf intensive Behandlung einzelner Texte 
in Ubungen legen. Ich denke beispielsweise an eine Reihe von 
Ubungen, die im Laufe von etwa zwei Jahren die wichtigsten Ty- 
pen des europaischen Dramas der Blutezeit scharf miteinander zu 
konfrontieren hatten. Am Ende eines solchen Studienganges hatte 
deutlich herauszutreten, wie die nach Aufbau und Tendenz vollig 
verschiedenen Schopfungen eines Gryphius, Shakespeare, Racine, 
Calderon fur ebenso viele philosophisch und moralisch streng 
unterschiedene, nationell und theologisch bedingte Auffassungen 
des Wirklichen stehen. Ferner sehe ich einen besonders wichtigen 
und dankbaren Gegenstand fiir Ubungen gegebenenfalls auch Vor- 
lesungen in der Geschichte des anonymen Schrifttums, indem ich 
die Geschichte der Enzyklopadien und Lexika, der Kalender und 
Anthologien, der Zeitschriften, Flugblatter und der Kolportage zur 
Charakteristik der einzelnen literarhistorischen Epochen heranzie- 
hen wiirde. 

(in) 

Ich bin am 15. Juli 1892 in Berlin geboren. Mein Vater war Kauf- 
mann. Ich habe den Schulgang eines humanistischen Gymnasiums 



218 Autobiographische Schriften 

durchgemacht, unterbrochen von einem zweijahrigen Aufenthaltin 
dem Landerziehungsheim Haubinda in Thiiringen. 
Mit dem Sommersemester 19 12 bezog ich die Universitat, um Phi- 
losophic zu studieren. Das erste und dritte Semester studierte ich in 
Freiburg i.B., das zweite Semester sowie das vierte und die folgen- 
den in Berlin. Im Jahre 19 16 bezog ich die Universitat Miinchen; 
vom Wintersemester 1917/18 an studierte ich in Bern und beendete 
daselbst im Juni 19 19 meine Studien mit dem Doktorexamen, das 
ich summa cum laude bestand. 

Meine Dissertation behandelt den »Begriff der Kunstkritik in der 
deutschen Roman tik«. Die Priifung erstreckte sich auf Philosophic 
im Hauptfach, deutsche Literaturgeschichte und Psychologie in 
den Nebenfachern. Im besonderen und in immer wiederholter Lek- 
tiire habe ich mich in meiner Studienzeit mit Platon und Kant, daran 
anschliefiend mit der Philosophic Husserls und der Marburger 
Schule beschaftigt. Allmahlich trat das Interesse am philosophi- 
schen Gehalt des dichterischen Schrifttums und der Kunstformen 
fur mich in den Vordergrund und fand zuletzt im Gegenstand mei- 
ner Dissertation seinen Ausklang. 

Diese Richtung beherrschte auch meine folgenden Arbeiten, in 
denen ich mich um einen immer konkreteren Anschlufi an das 
Detail aus Griinden nicht nur der Exactheit, sondern des Gehalts 
meiner literarischen Untersuchungen bemiihte. Den Gedanken, ein 
Werk durchaus aus sich selbst heraus zu erleuchten, versuchte ich in 
meiner Schrift »Goethes Wahlverwandtschaften* durchzufiihren. 
Dem philosophischen Gehalt einer verschollenen und verkannten 
Kunstf orm, der Allegorie, war meine nachste Arbeit »Ursprung des 
deutschen Trauerspiels« gewidmet. 

Schon zu Beginn meiner Studienzeit setzte eine intensive Beschafti- 
gung mit der franzosischen Literatur ein. Ihr Ertrag waren einzelne 
Ubersetzungen - Baudelaire, Proust - vor allem aber die wieder- 
holte Befassung mit den sprachphilosophischen Problemen der 
Ubersetzung, denen ich mich in einem Essay »Uber die Aufgabe 
des t)bersetzers« (Vorwort meiner Baudelaire-Ubertragungen) zu 
nahern suchte. 

Wie Benedetto Croce durch Zertrummerung der Lehre von den 
Kunstformen den Weg zum einzelnen konkreten Kunstwerk 
(fr)eilegte, so sind meine bisherigen Versuche bemiiht, den Weg 
zum Kunstwerk durch Zertrummerung der Lehre vom Gebietscha- 



Lebenslaufe 219 

rakter der Kunst zu bahnen. Ihre gemeinsame programmatische 
Absicht ist(,) den Integrationsprozefi der Wissenschaft, der mehr 
und mehr die starren Scheidewande zwischen den Discipline^,) 
wie sie den Wissenschaftsbegriff des vorigen Jahrhunderts kenn- 
zeichnen, niederlegt, durch eine Analyse des Kunstwerks zu for- 
dern, die in ihm einen integralen, nach keiner Seite gebietsmafiig 
einzuschrankenden Ausdruck der religiosen, metaphysischen, 
politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche erkennt. 
Dieser Versuch, den ich in grofierem Mafistabe in dem erwahnten 
»Ursprung des deutschen Trauerspiels« unternahm, kniipft einer- 
seits an die methodischen Ideen Alois Riegls in seiner Lehre vom 
Kunstwollen, andererseits an die zeitgenossischen Versuche von 
Carl Schmitt an, der in seiner Analyse der politischen Gebilde einen 
analogen Versuch der Integration von Erscheinungen vornimmt, 
die nur scheinbar gebietsmafiig zu isolieren (sind). Vor allem aber 
scheint mir eine derartige Betrachtung Bedingung jede( r) eindring- 
lich physiognomische(n) Erfassung der Kunstwerke in dem worin 
sie unvergleichbar und einmalig sind. Insofern steht sie der eideti- 
schen Betrachtung der Erscheinungen naher als ihre{r) histori- 
schen. 

Im Mittelpunkt meines Arbeitsplans fur die kommenden Jahre ste- 
hen zwei Gegenstande, die sich, wennschon auf verschiedene 
Weise, an mein letztes Buch anschliefien. Der erste: in entspre- 
chender Weise wie ich den philosophischen, moralischen und theo- 
logischen Gehalt der Allegorie mich darzustellen bemiihe, den des 
Marchens als eine gleichfundamentale und urspriingliche Uberliefe- 
rungsform bestimmter Gehalte-namlich als Entzauberung der fin- 
steren Gewalten, die sich in der Sage verkorpern - zu entwickeln. 
Das zweite Thema, zu dem ich seit langem Vorstudien mache, ist 
die Darstellung der klassischen franzosischen Komodie als Gegen- 
stiick zu meiner Behandlung des deutschen Barockdramas. Dane- 
ben besteht der Plan eines Buches liber die drei grofien Metaphysi- 
ker unter den Dichtern der Gegenwart: Franz Kafka, James Joyce, 
Marcel Proust. Endlich hoffe ich, dafi es mir gegeben sein wird, das 
Goethebild, wie ich es in der Arbeit iiber die Wahlverwandtschaf- 
ten entworfen habe, durch zwei Studien zu vervollstandigen, von 
denen die eine Pandora, die andere Die neue Melusine zum Gegen- 
stand machen sollen. 



220 Autobiographische Schriften 

(IV) 

Skovsbostrand per Svendborg, den 4. 7. 34 
per Adr. Brecht 

An das Danske Komite til St0tte 
for landsflygtige Aansarbejdere 
z. Hd. des Herrn Prof. Aage Friis 
Kopenhagen, Solsortvej 61 

Sehr geehrter Herr! 

Zur Unterstiitzung und Begriindung der Bitte, die ich am Schlusse 
dieses Briefes an Sie zu richten mir erlaube, gestatte ich mir, Ihnen 
die folgenden Mitteilungen iiber mich zu machen: 
Im Marz 1933 habe ich, deutscher Staatsbiirger, im 41. Lebensjahr 
stehend, Deutschland verlassen miissen. Durch die politische 
Umwalzung war ich als unabhangiger Forscher und Schriftsteller 
nicht nur mit einem Schlage meiner Existenzgrundlage beraubt, 
vielmehr auch - obwohl Dissident und keiner politischen Partei 
angehorig - mginer personlichen Freiheit nicht mehr sicher. Mein 
Bruder ist im gleichen Monat schweren Mifihandlungen ausgesetzt 
und bis Weihnachten in einem Konzentrationslager festgehalten 
worden. 

Von Deutschland habe ich mich nach Frankreich begeben, da ich 
dort auf Grund meiner vorhergehenden wissenschaftlichen Arbei- 
ten ein Wirkungsfeld zu finden hoffte. 

Im folgenden verzeichne ich die wichtigsten Daten meiner Ausbil- 
dung und meiner wissenschaftlichen Tatigkeit: Nach Absolvierung 
des humanistischen Gymnasiums habe ich in Deutschland und in 
der Schweiz Literaturwissenschaft und Philosophic studiert und im 
Jahr 19 19 in Bern den Doktor der Philosophic mit dem Pradikat 
summa cum laude gemacht. Nach meiner Riickkehr nach Deutsch- 
land wandte ich mich literaturwissenschaftlichen Arbeiten auf dem 
Gebiet des deutschen und franzosischen Schrifttums zu. Um mir 
fur diese Forscherarbeit die notigen wirtschaftlichen Grundlagen 
zu sichern, habe ich nebenher eine regelmafiige Tatigkeit als literari- 
scher Referent fur wissenschaftliche Publikationen an der Frank- 
furter Zeitung sowie am Siidwestdeutschen Rundfunk in Frankfurt 
versehen. Aufierdem bin ich gelegentlich Mitarbeiter einiger weni- 
ger angesehener Zeitschriften gewesen, die im deutschen Sprachge- 



Lebenslaufe 221 

biet zwischen 1920 und 1930 erschienen sind. Ich nenne vor allem 
die Neue Schweizer Rundschau und die Neuen Deutschen Bei- 
trage. 

Der Herausgeber der letztgenannten Zeitschrift war Hugo von 
Hofmannsthal, dem ich in den letzten sieben Jahren seines Lebens 
freundschaftlich verbunden war und der meinen Arbeiten eine ganz 
besondere Schatzung entgegengebracht hat. Von meiner Beschafti- 
gung mit dem franzosischen Schrifttum legt neben kritischen 
Arbeiten meine Ubersetzung des Werkes von Marcel Proust - von 
der in Deutschland vor dem Umsturz noch zwei Bande (Verlag R. 
Pieper, Munchen) erscheinen konnten - Zeugnis ab. Daneben habe 
ich eine Ubersetzung der Tableaux Parisiens von Baudelaire (Verlag 
Richard Weifibach, Heidelberg) erscheinen lassen, die als Einlei- 
tung eine umfangreiche Theorie der Ubersetzung enthalt. 
Meine selbstandigen wissenschaf tlichen Publikationen sind : 

Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (Verlag 

A. Francke, Bern, 1920) 

Ursprung des deutschen Trauerspiels (Verlag Ernst Rowohlt, 

Berlin, 1928) 

Goethes Wahlverwandtschaften (Verlag der Bremer Presse, 

Munchen, 1924/25) 
Daneben nenne ich einen Band philosophischer Reflexionen 

Einbahnstrafie (Verlag Ernst Rowohlt, Berlin, 1928) 
sowie meinen Artikel »Goethe« in der grofien russischen Sowjet- 
Enzyklopadie. 

Uber einen Sammelband meiner Abhandlungen zur Literaturwis- 
senschaft bestand mit meinem Verleger Ernst Rowohlt ein Vertrag, 
der in Folge der politischen Umstande nicht mehr zur Ausfuhrung 
kommen konnte. 

In Folge meines eiligen Aufbruchs aus Deutschland ist meine 
Sammlung der uber meine Schriften erschienenen Rezensionen in 
Berlin zuriickgeblieben; eine umfangreiche zusammenhangende 
Darstellung meiner Schriften, die in der Frankfurter Zeitung 
erschienen ist, hoffe ich mir noch zu verschaffen und werde ich mir 
gestatten, Ihnen nachzureichen. 

Meine Hoffnung auf Griindung einer selbstandigen Existenz in 
Paris ist leider nicht in Erfiillung gegangen. Nichtsdestoweniger 
habe ich mir die notigsten Mittel durch pseudonyme Arbeiten in der 
Frankfurter Zeitung (gezeichnet Detlef Holz oder K. A. Stempflin- 



222 Autobiographische Schriften 

ger) eine zeitlang beschaffen konnen. Mit dem Ende des Friihjahrs 
hat sich auch diese Moglichkeit mir verschlossen. Ich habe Frank- 
reich verlassen miissen, da der Aufenthalt fiir mich dort zu teuer 
war. In Paris bin ich mit dem, ebenfalls fliichtigen, grofien Samm- 
ler und Kulturhistoriker Eduard Fuchs ubereingekommen, die 
GrundUnien seiner Lebensarbeit, deren dokumentarisches Material 
von der Berliner Polizei beschlagnahmt und zum grofien Teil ver- 
nichtet worden ist, in einer zusammenfassenden und abschliefien- 
den Darstellung festzuhalten. Diese Darstellung beschaftigt mich 
gegenwartig. 

In Danemark habe ich bei der mir befreundeten Familie Brecht ein 
provisorisches Unterkommen gefunden. Ich kann aber die Gast- 
freundschaft der Familie Brecht nur auf kurze Zeit in Anspruch 
nehmen. Auf der anderen Seite bin ich vollkommen vermogenslos; 
mein einziger Besitz ist eine kleine Arbeitsbibliothek, die im Hause 
von Herrn Brecht Aufstellung gefunden hat. 
Ich habe mir erlaubt, Ihrem Flilfskomite diese Tatsachen in der 
Hoffnung zu unterbreiten, dafi es Ihnen moglich ist, meine gegen- 
wartige Lage in etwas zu erleichtern. 
2u jeder weiteren Auskunft stehe ich Ihnen zur Verfugung. 

Mit vorziiglicher Hochachtung 

ergebenst 

(Walter Benjamin) 

<v> 

Curriculum Vitae 

Je suis ne a Berlin le 15 juillet 1892. Apres avoir frequente le gym- 
nase et passe deux ans comme interne dans une ecole du type des 
»Landerziehungsheime« je fis mon examen en 191 2. Puis j'ai etudie 
la philosophic et la litterature allemande et franc, aise aux Universites 
de Fribourg (Allemagne), Berlin, Munich et Berne. C'est a cette 
derniere Universite que j'ai fait mon examen en docteur en philoso- 
phic pendant l'ete de l'annee 1919. J'ai passe cet examen avec la 
mention summa cum laude. Pendant les annees qui suivaient j'ai 
continue a m'occuper de travaux de philologie, de critique, et de 
traduction. A cote des travaux nombreux que je fis paraitre surtout 
dans la chronique litteraire de la »Frankfurter Zeitung« et dans la 
»Literarische Welt«, j'ai fait paraitre un livre sur les origines de la 



Lebenslaufe 



223 



tragedie allemande, qui a ete tres favorablement remarque par la 
critique litteraire aussi bien qu'universitaire. Un ouvrage sur les 
»Affinites electives« de Goethe, m'ayant valu l'attention de Hugo 
von Hofmannsthal. Celui-ci publia plusieurs de mes essais dans ses 
»Neue Deutsche Beitrage«, qui n'etaient ouverts qu'a une elite 
d'ecrivains allemands. Comme traducteur je me suis occupe surtout 
de Baudelaire et de Marcel Proust. J'ai fait paraitre plusieurs 
volumes de la grande ceuvre de Proust en collaboration avec Franz 
Hessel. Ayant ete porte depuis longtemps vers les recherches 
bibliographiques, j'ai entrepris, a la demande d'un grand collection- 
neur allemand, une bibliographic des ouvrages etant ecrits par le 
philosophe et physicien Lichtenberg ou traitant de lui. Cet ouvrage, 
bien qu'etant termine, n'a pas pu paraitre a cause des recents evene- 
ments d'Allemagne. J'ajouterai enfin que j'ai collabore a la »Ency- 
clopaedia judaica«. 

Walter Benjamin 



Sejours a partir du 19 mars 1933 

19 mars 1933 - 5 avril 1933 

8 avril 1933 - 25 sept. 1933 

6 octobre 1933-26 octobrei933 

26 octobre 1933 - 23 mars 1934 

17 avril 1934 - 23 juin 1934 

15 juillet 1934- 20 octobrei934 

20 octobre 1934-27 fevrier 1935 



5 mars 1935 -21 avril 1935 
21 avril 1935-12 juillet 1935 

12 juillet 1935- 1 octobre 193 5 
1 octobre 1935 - 20 octobre 1937 
20 octobre 1937-26 Janvier 1938 
z6 Janvier 1938 jusqu'a present 



Paris, Hotel Istria, 29, rue 

Campagne-Premiere 

Ibiza, San Antonio 

Paris, Hotel Regina de Passy 

Paris, Palace Hotel, 1, rue du Four 

Paris, Hotel Floridor, 28, Place 

Denfert-Rochereau 
Skovsbostrand (Danmark) 
Nice, Hotel du Petit Pare; 
Monaco, Hotel de Marseille; 
San Remo, Villa Verde 
Paris, 7, Villa Robert Lindet 
Paris, Hotel Floridor, 28, Place 

Denfert-Rochereau 
Paris, 7, Villa Robert Lindet 
Paris, 23, rue Benard 
Paris, 7, Villa Robert Lindet 
Paris, 10, rue Dombasle 



Choix de mes essais sur les lettres frangaises (en allemand) 
Paul Valery a PEcole Normale; Die Literarische Welt, 1926. 

Entretien avec Colette; idem, 1927 

Entretien avec Benjamin Cremieux; idem, 1927 



224 



Autobiographische Schriften 



Entretien avec Andre Gide; 

Andre Gide et PAllemagne; 

Marcel Proust; 

Le surrealisme; 

Julien Green; 

Journal d*un sejour a Paris; 

Paul Valery; 

Andre Gide: Oedipe; 

La position sociale de l'ecri- 
vain frangais; 



idem, 1928 
Deutsche Allgemeine Zeitung, 1928. 
Die Literarische Welt, 1929. 

idem, 1929 
Neue Schweizer Rundschau, 1930. 
Die Literarische Welt, 1930. 

idem, 193 1 
Blatter des Hessischen Landes- 
theaters, 1931. 

Zeitschrift fur Sozialforschung, 
1934- 



Mes traductions principales 

Charles Baudelaire: Tableaux parisiens, Heidelberg, 1923, Weifibach. 

Honore de Balzac: Ursule Mirouet, Berlin, Rowohlt. 

Marcel Proust: A 1'ombre des jeunes filles en fleurs, Berlin, Die 

Schmiede. 

Marcel Proust: Le cote de Guermantes, Munich, Piper. 

Marcel Jouhandeau: Mademoiselle Celine, Berlin, 1930, Kiepenheuer. 



Mes publications frangaises 
Marseille, 
L'CEuvre d'art a 
Tepoque de sa repro- 
. duction mecanisee. 
L'angoisse mythique 
chez Goethe. 
Peintures chinoises 
a la Bibliotheque 
Nationale. 



Cahiers du Sud, Janvier 1935. 
Zeitschrift fur Sozialforschung 1936, 1 



Cahiers du Sud, mai 1937. 
Europe, Janvier 1938. 



Bibliographic 

Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (Bern 1920) 

Charles Baudelaire: Tableaux Parisiens, deutsche Ubertragung mit einer 
Vorrede iiber die Aufgabe des Ubersetzers (Heidel- 
berg 1923) 

Goethes Wahlverwandtschaften (Munchen 1924/25) 

Marcel Proust: Im Schatten der jun^en Madchen - Gegend um Guerman- 
tes ( sic ) , deutsche Ubertragung von Walter Benjamin und 
Franz Hessel (Berlin) 

Einbahnstrafie (Berlin 1928) 

Ursprung des deutschen Trauerspiels (Berlin 1928) 



Lebenslaufe 225 

Les personnalites ayant appuye ma demande 

Louis Aragon, directeur de Ce Soir. 

Jean-Richard Bloch, directeur de Ce Soir. 

C. Bougie, directeur de l'Ecole Normale Superieure. 

Jean Cassou, conservateur adjoint au Musee du Luxembourg. 

Andre Gide. 

Louis Guilloux. 

Lucien Levy-Bruhl, membre de Plnstitut. 

Henry Lichtenberger, professeur a la Sorbonne. 

Adrienne Monnier. 

Jean Paulhan, directeur de la Nouvelle Revue Frangaise. 

Jules Romains, president du Pen-Club. 

Paul Valery de rAcademie Frangaise. 

<vi> 

Curriculum Vitae Dr. Walter Benjamin 

Ich bin am 1 5. Juli 1892 als Sohn des Kaufmanns Emil Benjamin in 
Berlin geboren. Meinen Unterricht erhielt ich auf einem humanisti- 
schen Gymnasium, das ich im Jahre 19 12 mit dem Abschlufiexamen 
verlieft. Ich studierte an den Universitaten Freiburg i. B., Miinchen, 
Berlin Philosophic, daneben deutsche Literatur und Psychologic 
Das Jahr 19 17 fiihrte mich in die Schweiz, wo ich meine Studien an 
der Universitat Bern fortsetzte. 

Entscheidende Anregungen kamen mir in meiner Studienzeit von 
einer Reihe von Schriften, die zum Teil meinem engeren Studien- 
gebiet fern lagen. Ich nenne Alois Riegls »Spatromische Kunst- 
industrie«, Rudolf Borchardts » Villa «, Emil Petzolds Analyse von 
Holderlins »Brod und Wein«. Einen nachhaltigen Eindruck hinter- 
liefien mir die Vorlesungen des Miinchener Philosophen Moritz 
Geiger sowie des Berliner Privatdozenten fur finnisch-ugrische 
Sprachen, Ernst Lewy. Die Ubungen, die der letztere iiber Hum- 
boldts Schrift »t)ber den Sprachbau der V6lker« abhielt sowie die 
Gedanken, die er in seiner Schrift »Zur Sprache des alten Goethe« 
entwickelte, erweckten meine sprachphilosophischen Interessen. 
Im Jahre 19 19 bestand ich an der Universitat Bern mit dem Pradikat 
summa cum laude meine Doktorpriifung. Meine Dissertation ist als 
Buch unter dem Titel »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen 
Roman tik« (Bern 1920) erschienen. 
Nach meiner Riickkehr nach Deutschland erschien als erste Buch- 



226 Autobiographische Schriften 

publikation daselbst eine Ubertragung der »Tableaux Parisiens« 
von Baudelaire (Heidelberg 1923). Das Buch enthalt eine Vorrede 
iiber »Die Aufgabe des Ubersetzers«, die den ersten Niederschlag 
meiner sprachtheoretischen Reflexionen darstellte. Von vornherein 
ist das Interesse fur die Philosophic der Sprache neben dem Kunst- 
theoretischen vorherrschend bei mir gewesen. Es veranlafite mich 
wahrend meiner Studienzeit an der Universitat Miinchen der Mexi- 
kanistik mich zuzuwenden - ein Entschlufi, dem ich die Bekannt- 
schaft mit Rilke verdanke, der 191 5 ebenfalls die mexikanische 
Sprache studierte. Das sprachphilosophische Interesse hatte auch 
an meinem zunehmenden Interesse fur das franzosische Schrifttum 
Anteil. Hier fesselte mich zunachst die Theorie der Sprache wie sie 
aus den Werken von Stephane Mallarme hervorgeht. 
In den ersten Jahren nach dem Friedensschlufi war meine Beschafti- 
gung mit der deutschen Literatur noch vorwaltend. Als erste der 
einschlagigen Arbeiten erschien mein Essay »Goethes Wahlver- 
wandtschaften* (Miinchen 1924/25). Diese Arbeit trug mir die 
Freundschaft von Hugo von Hofmannsthal ein, der sie in seinen 
»Neuen Deutschen Beitragen« publizierte. Hofmannsthal hat sei- 
nen lebhaftesten Anteil auch meinem nachsten Werk geschenkt, 
dem »Ursprung des deutschen Trauerspiels* (Berlin 1928). Dieses 
Buch unternahm, eine neue Anschauung vom deutschen Drama des 
siebzehnten Jahrhunderts zu geben. Es macht sich zur Aufgabe, 
dessen Form als »Trauerspiel« gegen die Tragodie abzuheben und 
bemiiht sich, die Verwandtschaft aufzuzeigen, die zwischen der 
literarischen Form des Trauerspiels und der Kunstform der Allego- 
rie besteht. 

Im Jahre 1927 trat ein deutscher Verlag mit dem Antrag an mich 
heran, das grofie Romanwerk von Marcel Proust zu iibersetzen. Ich 
hatte die ersten Bande dieses Werkes im Jahre 19 19 in der Schweiz 
mit leidenschaftlichem Interesse gelesen und ich nahm diesen 
Antrag an. Die Arbeit gab den Anstofi zu mehrfachem ausgedehn- 
ten Aufenthalt in Frankreich. Mein erster Aufenthalt in Paris fallt in 
das Jahr 1913; ich war 1923 dorthin zuriickgekehrt; von 1927 bis 
1933 verging kein Jahr, wahrend dessen ich nicht mehrere Monate 
in Paris verbracht hatte. Im Laufe der Zeit trat ich zu einer Anzahl 
der fiihrenden franzosischen Schriftsteller in Beziehung; so zu 
Andre Gide, Jules Romains, Pierre Jean Jouve, Julien Green, Jean 
Cassou, Marcel Jouhandeau, Louis Aragon. In Paris stiefi ich auf 



Lebenslaufe 227 

die Spuren Rilkes und gewann Fiihlung mit dem Kreis um Maurice 
Betz, seinen Ubersetzer. Gleichzeitig unternahm ich es, das deut- 
sche Publikum durch regelmafiige Berichte, die in der »Frankfurter 
Zeitung« und in der »Literarischen Welt« erschienen sind, iiber das 
franzosische Geistesleben zu unterrichten. Von meiner Uberset- 
zung Prousts konnten vor dem Machtantritt Hitlers drei Bande 
erscheinen (Berlin 1927 und Munchen 1930). 
Die Epoche zwischen zwei Kriegen zerfallt fiir mich naturgemafi in 
die beiden Perioden vor und nach 1933. Wahrend der ersten Periode 
lernte ich auf langeren Reisen Italien, die skandinavischen Lander, 
Rutland und Spanien kennen. Der Arbeitsertrag dieser Periode 
liegt, abgesehen von den erwahnten Schriften in einer Reihe von 
Charakteristiken der Werke bedeutender Dichter und Schriftsteller 
unserer Zeit vor. Hierher gehdren umfangreiche Studien iiber Karl 
Kraus, Franz Kafka, Bertok Brecht sowie iiber Marcel Proust, 
Julien Green und die Surrealisten. Der gleichen Periode gehort ein 
aphoristischer Sammelband »Einbahnstrafie« (Berlin 1928) an. 
Nebenher beschaftigten mich bibliographische Arbeiten. Im Auf- 
trage verfafke ich eine vollstandige Bibliographie des Schrifttums 
von und iiber G, Chr. Lichtenberg, die nicht mehr im Druck 
erschienen ist. 

Ich verliefl Deutschland im Marz 1933. Seither sind meine grofteren 
Studien samtlich in der Zeitschrift des »Institute for Social Re- 
search« erschienen. Mein Aufsatz »Probleme der Sprachsoziolo- 
gie« (»Zeitschrift fiir Sozialforschung«, Jg. 1935) gibt einen kriti- 
schen Uberblick iiber den gegenwartigen Stand der sprachphiloso- 
phischen Theorien. Der Essay »Carl Gustav Jochmann« (a.a.O., 
Jg. 1939) stellt einen Nachklang meiner Untersuchungen zur 
Geschichte der deutschen Literatur dar. (In den gleichen Zusam- 
menhang gehort eine Sammlung deutscher Briefe aus dem neun- 
zehnten Jahrhundert, die ich 1937 in Luzern publiziert habe.) Einen 
Niederschlag von Studien zur neuen franzosischen Literatur gibt 
meine Arbeit »Zum gegenwartigen gesellschaftlichen Standort des 
franzosischen Schriftstellers« (a. a. O., Jg. 1934). Die Arbeiten iiber 
»Eduard Fuchs, den Sammler und den Historiker« (a. a. O., Jg. 
1937) sowie iiber »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen 
Reproduzierbarkeit« (a. a. O., Jg. 1936) stellen Beitrage zur Sozio- 
logie der bildenden Kunst dar. Die letztgenannte Arbeit sucht 
bestimmte Kunstformen, insbesondere den Film, aus dem Funk- 



228 Autobiographische Schriften 

tionswechsel zu verstehen, dem die Kunst insgesamt im Zuge der 
gesellschaftlichen Entwicklung unterworfen ist. (Einer analogen 
Problemstellung auf literarischem Gebiet geht mein Aufsatz »Der 
Erzahler* nach, der 1936 in einer schweizer Zeitschrift erschienen 
ist.) Meine letzte Arbeit »Uber einige Motive bei Baudelaire* 
(a. a. O., Jg. 1939) ist ein Bruchstiick aus einer Folge von Untersu- 
chungen, die sich die Aufgabe stellen, die Dichtung des neunzehn- 
ten Jahrhunderts zum Medium seiner kritischen Erkenntnis zu ma- 
chen. 



Aufzeichnungen 1906-1932 



Pfingstreise von Haubinda aus 

Schon ein paar Wochen vor den Pfingstferien hatte ich mit einem 
Kameraden eifrig Plane fur eine Pfingstreise nach der frankischen 
Schweiz gemacht, die wir vielleicht zusammen unternehmen woll- 
ten. Dabei half uns der Zimmergenosse des betreffenden Kamera- 
den der schon mehrere Male die frankische Schweiz besucht hatte, 
ja, er war es eigentlich, der uns auf unseren Gedanken brachte. - 
Nachdem wir von Hause die Erlaubnis und das notige Geld bekom- 
men hatten entschlossen wir uns fest die Tour zu unternehmen. - 
Es war uns nicht lieb, als wir erfuhren, dafi auch andere Schuler 
diese Tour, allerdings zu Rad (nicht wie wir zu Fufi) unternehmen 
wollten und als uns ein anderer seine Begleitung anbot lehnten wir 
sie ab. 

Es war an einem regnerischen Morgen anfang Juni, als wir die 
bekannte Zone des Haubindaner Drecks verliefien. In Begleitung 
von einigen anderen Schiilern, die andere Reiseziele hatten gingen 
wir nach Streufdorf, der nachsten Bahnstation bei unserem Heim. 
Da die Haubindaner Uhr bedeutend vor ging hatten wir bei stro- 
mendem Regen unter dem Dache des Guterschuppens eine 3 /« Std. 
auf den Zug zu warten. Der »\^artesaal« war um diese Zeit noch 
geschlossen. Endlich einige Minuten vor Sechs kam der Zug, der 
nur 3 tcr und vierter Klasse besafi. Wahrend der Fahrt beschaftigte 
sich mein Reise(-) und Leidensgenosse Hellmut Kautel mit einem 
kleinen niedlichen aber hinterlistigen Burschen der zu Ostern aus 
Altenburg ( ? ) zu uns heriibergekommen war. In Hildburghausen 
tranken wir Kaffee, weil wir lange Wartezeit hatten. - 
Unser nachstes Reiseziel war Lichtenfels von wo aus wir nach 
Pegnitz fahren wollten, welche Strecke wir von Lichtenfels einzu- 
schlagen hatten wufken wir nicht. Von Pegnitz aus hatten wir einen 
3-4 stiindigen Marsch bis Pottenstein, ein Ort der in der Mitte der 
frank. Schweiz lag und von dem aus wir Touren machen wollten. - 
Unsere Ferien dauerten eine Woche. - 

Der Zug kam(.) Kautel, ich und ein anderer Schuler, der bis 
Coburg fuhr, stiegen ein. Die Gegend die der Zug durchfuhr war 



230 Autobiographische Schriften 

nicht schon und so machten wir uns bald an unsere reichlichen Vor- 
rate, mit denen wir in Haubinda versorgt worden waren. Auf einer 
der folgenden Stationen stieg ein Mann mit seiner Fr(au) (xx) ein, 
der jedem der im Coupee war und auch alien, die spater einstiegen 
erzahlte dafi er gestern mit s( einer) F(rau) in dem furchtbaren 
Regen von Eisfeld nach der Station gelaufen sei. In Coburg verab- 
schiedeten wir uns von dem einen Kameraden und dann begannen 
wir uns ein wenig zu unterhalten, aber wir waren sehr miide. U. a. 
dachte ich auch daran dafi man vielleicht auch Niirnberg (?) besu- 
chen konne, aber Kautel der stets vorsichtig war riet davon ab. In 
Lichtenfels langweilten wir uns sehr, wir konnten des schlechten 
Wetters wegen nichts anfangen. Schliefilich (?) setzten wir uns in 
den Wartesaal 4 tcr Klasse (weil dort niemand war) und lasen. Als wir 
spater einen wortkargen Beamten nach der Route nach Pegnitz 
fragten, deutete er uns an, dafi man iiber Bayreuth fahren miisse. - 
Auf der Fahrt nach Bayreuth argerte ich mich iiber Kautel und ent- 
deckte eine Eigenschaf t an ihm die mich die ganzen Ferien hindurch 
argerte. Er war namlich aufierordentlich schiichtern im Verkehr mit 
fremden Leuten, ganz gl(eich) ob Privatleuten oder Beamten. Ich 
bat ihn auf der nachsten Station den Schaffner zu fragen, ob wir im 
richtigen Zuge waren, er antwortete verstimmt es ware i(h)m ganz 
gleich, wenn ich wolle, so solle ich ihn fragen. Uberhaupt war er 
launenhaft und bildete sich stets ein, abgespannt zu sein. Ubrigens 
war er sonst gutmiitig und riicksichtsvoll. Von Bayreuth aus, wo 
wir nur kurzen Aufenthalt hatten, fuhren wir nach Schnabelwaid 
und von da aus benutzten wir den D-Zug von Frankfurt a. M. um 
nach Pegnitz zu kommen. In dem Gewuhl auf dem Bahnhof in 
Schnabelwaid kamen Kautel und ich in verschiedene Abteilungen 
aber wir fanden uns in Pegnitz wo wir um 3 l A Uhr ankamen gleich 
wieder. 

Ich bin ein schlechter Fufiganger und schon in Haubinda hatte ich 
ein wenig Angst vor diesem Marsch. Das Wetter war triibe und 
regnerisch. Nachdem wir uns in einer Handlung des Ortes noch mit 
einigen notwendigen Dingen versehen hatten gingen wir los. Nach- 
dem wir 10 Minuten gegangen waren kamen wir an eine Abzwei- 
gung der Chaussee die am Ende von Pegnitz war, der Fufiweg nach 
Pottenstein, der erheblich kiirzer als die Chaussee war ging dort 
ab. 
Kautel wollte der Kiirze halber lieber den Fufiweg gehen aber ich 



Pfingstreise von Haubinda aus 23 1 

meinte dafi ich schon auf der Chaussee schlecht genug gehen konne, 
um so mehr auf dem Fufiweg von dem uns gesagt wurde, dafi er sehr 
schlecht sei. Schliefilich gab Kautel nach und wir gingen die Chaus- 
see. Bei dem nachsten Dorf entschlossen wir uns aber doch den 
Fufiweg zu benutzen, der Bequemlichkeit wegen, denn von da aus 
stieg die Chaussee. Wir hatten nur eine kleine nicht ausfuhrliche 
Karte aufier einem Kompafi bei uns und nachdem wir den Fufiweg 
eine Weile gegangen waren wufiten wir garnicht wo wir waren. Wir 
gingen ein Stuck durch schonen Wald bis wir auf eine Wiese kamen 
auf der ein Junge Kiihe hutete. Als wir ihn nach dem Weg fragten 
schien er unser Hochdeutsch nicht zu verstehen, auch mit der Karte 
die Kautel ihm gab, verstand er nicht umzugehen. Ebenso war es 
mit einer Frau die wir spater trafen. - 

Trotzdem wir annehmen konnten dafi die Schiiler die trodelten eher 
in Pottenstein sein konnten als wir und daft sie uns das beste und 
billigste Quartier dort, da(s) wir uns hatten sagen lassen, wegneh- 
men konnten, waren wir sehr lustig, ich noch lustiger als Kautel, 
das Gehen fiel mir garnicht mehr schwer und es war mir fast gleich 
ob ich heute nach Pottenstein kommen wiirde oder nicht. Ubrigens 
hatte ich mich schon vorher darauf gefafit gemacht im Freien tiber- 
nachten zu miissen. 

Nachdem wir die Frau so erfolglos befragt hatten machten wir die 
erste kurze Pause beim Gehen um uns einmal ganz genau auf der 
Karte umzusehen. Mit ihrer und des Kompafi's Hilfe, sahen wir, 
dafi wir mehr rechts gehen mufiten. Wir bogen in die erste Abzwei- 
gung des Weges nach rechts ein. Die ganze Landschaft veranderte 
sich plotzlich { , ) anstatt in der Waldlandschaft bef anden wir uns auf 
einem freien Platz der malerisch von Felsen umgrenzt wurde. Wenn 
man ein wenig genauer zusah konnte man an vielen Stellen Hoh- 
len{ ?) sehen. Ich hatte wohl Lust gehabt hier gleich herumzuklet- 
tern aber dazu fehlte doch die Zeit. Wir waren jetzt in der Nahe 
eines Dorfes und als wir seinen Namen erfahren hatten fanden wir 
uns zurecht. - 

Kurz hinter dem Dorf legten wir uns hin um von unserm Proviant 
etwas zu verzehren. Es war 5 l A. Dann gingen wir weiter aber ich 
merkte, dafi ich nicht mehr so gut gehen konnte, da(s) Ausruhen 
hatte mich merken lassen (wie) miide ich war. 



232 Autobiographische Schriften 

Tagebuch Pfingsten 1911 

11.4.11. Uberall in Deutschland werden jetzt die Acker bestellt. - 
Man sollte auf der Reise doch nicht seinen schlechtesten Anzug 
anziehen, denn das Reisen ist ein internationaler Kulturakt: man 
tritt aus seiner Privatexistenz in die Offentlichkeit. - Ich las wah- 
rend der Fahrt Anna Karenina: Reisen und Lesen - ein Dasein zwi- 
schen zwei neuen aufschlufi- und wunderreichen Wirklichkeiten. - 
Ein Thema: Religion und Natur (Naturreligion). Der Bauer mufi 
religios sein. Alljahrlich erlebt er das Wunder, dafi er aussaet und 
erntet. Dem Grofistadter geht mit der Natur vielleicht auch die 
Religion verloren; an ihre Stelle tritt das Sozialgefuhl. - 
Das sind einige Gedanken, die ich wahrend der Fahrt dachte. Von 
Halle bis Grofiheringen geniefit man das Saaletal; dann aber nur 
Acker, Acker, die sich schneiden, heben und senken und dazwi- 
schen Dorfer mit der breiten Chaussee. 

In Frottstadt hat man plotzlich das Gebirge vor sich. Es lag in 
durchsichtigen Nebeln in ganz verschiedenen Hohenabstufungen. 
Von Waltershausen aus geht die Bahn durch schonen Wald. 
(Alfred) Steinfeld iiberraschte mich schon in Reinhardsbrunn. 
Von da gingen wir eine viertel Stunde bis zu unserer Pension (Kof- 
fer). Der Wirt ist anscheinend ein freundlicher, gemutlicher Mann. 
Er abboniert die »Jugend« und das »Israelitische Familienblatt*. Im 
Annoncenteil herrschen Solomonsche u. Fakeles und Wiirste und 
Sederschiisseln. [Diese verwendet man zum Passahfest und sie 
haben verschiedene Abteilungen fur Verschiedenes. So sagt Stein- 
feld.] Nachmittags gingen wir den Herzogsweg - an der Miihle vor- 
bei zum Wasserfall, zuriick an Dorothea- Waldemar-Lottchen- 
August-Ruheplatzen vorbei durchs Dorf. Immer nach Spittelers 
Rat: nicht die Natur anglotzend, sondern redend, iiber Berlin, 
Theater, Sprachverhunzung. Jetzt mache ich Schlufi, um den Plan 
fiir morgen mit Steinfeld zu entwerfen. 
Das Objekt war friedlich. 

Vorpostengefechte mit dem 2 ten Backenzahn oben. 
Ichhoffe...! 

12. 4.1 1. Heute ist Jontew. Eben habe ich in der Hagadda gelesen. - 
Beim Essen sagt Herr Chariz immer: »Ja, was soil man an Jontew 
machen« (d.h. kochen) Man sagt nicht: guten Tag, sondern: gut 
Jontew. Beim Abendbrot stand ein dreiarmiger Leuchter auf dem 



Tagebuch Pfingsten 1 9 1 1 233 

Tisch. Gott sei Dank wurde nicht Seder gemacht. Es ware wohl sehr 
interessant gewesen und es hatte mich vielleicht auch ergriffen aber 
es ware mir fur mich wie unheiliges Theater vorgekommen. - 
Immerhin, heute Abend bin ich in der Weltgeschichte wohl an 500 
Jahre zuriickgereist. 

Regen und Sturm leiteten den Festabend ein. Wir besuchten Salo- 
mon und gingen mit ihm spazieren. Wie geniefibar die Menschen 
allein sind. Und draufien, steht man ihnen auch so selbststandig, 
iiberlegen und gleichgestellt gegeniiber. (Denn eben wo die Worte 
fehlen, da stellt ein Paradox . , . u.s.w.) 

Heute vormittag schleifte ich meinen Korper uber die Seebachsfel- 
sen zum Spiefiberghaus, Dann war er brav und wir stiegen mit- 
sammt dem Gottlob auf sein bemoostes Haupt. Unten liegt Fried- 
richroda, gegeniiber ein koketter Berg, der sein(e) Spitze schief 
aufgesetzt hat (no varum rerum cupidus) und die Ebene mit Dorfern 
u. Hohenbahn. - Als wir nach Friedrichroda hinuntergingen 
frohnte St. seinem Hauptvergniigen, Psychologie an harmlosen 
Objekten zu treiben. Diesmal wars eine Bauernfrau. In der Riege 
trug sie leider Kase( ?) . 

Am Nachmittag fand eine Revoke des Objekts statt. Drei Bananen, 
die sich auf dem Luftwege zu St. begaben, der im Bett lag, zerschlu- 
gen seinen Kneifer. Mein Taschenmesser begab sich auf ahnliche 
Weise unters Bett, wo es am dunkelsten ist. 
Der Zahn erliefi Amnestie fur ein paar Bonbons. Auch sonst fiihrte 
er sich lobenswert. 

ij.4.11. Heute war der Abend die Krone des Tages. Morgen fand 
nicht statt, da wir uns mit Aufgebot aller Krafte des Willens und des 
Intellekts von der Notwendigkeit des Aufstehens erst um 9 l A Uhr 
iiberzeugten. Zum Kaffee gabs Matze und so wird (es) bleiben. 
Denn gestern war Jontew und wir leben in der Passahwoche. Dann 
gings zum Abtsberg. Unten lag die Ebene mit Sonne und Wolken- 
schatten. Bis zu einer Bank marschierten wir; dann zuriick und 
rechts den Wald hinauf zur Schauenburg. Nichtsahnend vorbei an 
der Alexandrinenruh und der Gansekuppe. Es handelte sich um den 
Novellenschlufi de(s) Romans, darin um die Landschaft in der 
Dichtung. Wenn Steinfeld und ich zusammen sind entsteht ein(e) 
philosophisch-literarische Spannung. - Statt einer Beschreibung, 
Charakteristik und Statistik des Mittagsbrots (»Was soil man am 
Jontew machen«) folgt eine solche des Herren des Hauses: 



234 Autobiographische Schriften 

Ein Spiefier, der 9 Jahre in Berlin verlebt hat, nicht soviel Takt 
besitzt mit seinen Gasten ein Gesprach zu beginnen, sondern seine 
lange Weile durch leise Pfiffe und Rackeln manifestiert. Gutmiitig 
und, was die Umgebung Friedrichrodas anbetrifft, aufschlufireich. 
-Nachmittags fanden hausliche Szenen im Bett statt; draufien herr- 
liche grofie Schneeflocken, drinnen wurde Graphologie gesimpelt. 
Ich sah Brief e von Steinfelds Eltern. 

Dann gingen wir, erstanden den Simplizissimus (auf dem Riickweg 
eine Kokusnufi) in der Richtung des Bahnhofs uber Friedrichroda 
hinaus. Wege und Wiesen waren nafi, alles wundervoll frisch. Ein 
Stuck Chaussee durch so eine sanfte Hiigellandschaft, die ich sehr 
Hebe, weil Haubinda da lag, dann einen Waldweg hinauf an einem 
Bergriicken entlang. Da lag eine Schonung: ganz kleine Tannen und 
grofiere Sprofilinge voll welker Blatter. Nach dem Regen war ein 
wundervoller Sonnenuntergang. Friedrichroda lag in Sonnendunst; 
der Wald war rot uberstrahlt und einzelne Zweige und Stamme am 
Wege gliihten. 

Aus Wolkengluten erhebt sich neu 

Eine junge Welt; 

Purpur umsaumte Nebelberge, 

Wollen Riesenleiber gebaren 

die goldenen Strome brechen sich Bahn, 

Fliefien aus dichte(m) Wolkenhimmel 

Durch die abendklaren Liifte 

Nieder zu der stillen Erde. 

Senken sich in Fels und Acker, 

Gliihnde Goldesadern Ziehen 

Durch der Erde schwere Tiefen. 

Morgen wird Herbert (Blumenthal-Belmore) kommen; (xx). 
14.4.11. Heute kam Blumenthal. Das Bild ist geandert. Wir gingen 
mit ihm spazieren, es gab eine voriibergehende Mifistimmung zwi- 
schen Steinfeld und mir; der ganze Weg litt, da wir vorher ziemlich 
intim verkehrt hatten, unter der Gegenwart eines Dritten. Spater, 
zu Hause, sprach ich mit Steinfeld daruber und hoffentlich gleicht 
sich alles aus. 

Von heute vormittag datiert der bis jetzt starkste landschaftliche 
Eindruck der Reise. Wir kletterten an einem Bergmassiv herum, 
kamen zu mehreren Felsen mit schoner Aussicht und auch zu 



Tagebuch von Wengen 235 

einem, auf den die Sonne sehr heifi schien, der freie Aussicht auf den 
Inselsberg und in ein schones Waldtal liefi. Vorher hatten wir uns 
immer noch losgerissen, aber hier konnten wir nicht gehen. Wir 
legten uns hin und blieben eine viertel Stunde. Es war 2 l A Uhr, als 
wir gingen, um r /» Uhr wurde schon gegessen, Blumenthal kam 
um 3 '/. Auf dem Riickweg, der durch den »ungeheuren Grund« 
fiihrte und unerwartet lang wurde, ging ich schliefilich voraus und 
erreichte Herbert an der Post. - 

Am Abend sahen wir wieder, in derselben Gegend wie gestern, 
einen sehr schonen Sonnenuntergang. Folgende Unterhaltung: 
Ich: Gestern abend waren wir spazieren und haben auch Dings ge- 
sehen. 

Herbert: Was, Dings? 
Ich: Na, Sonnenuntergang. 

1y4.11. Durch nachtliche Gesprache und morgendlichen Schlaf 
gehen die Vormittagsstunden verloren. Um 11 Uhr gingen wir 
heute los und gelangten nach langeren Streitigkeiten auf einen Stein 
am schroffen Abhange eines Tales. Wir stiegen hinunter und kamen 
durch ziemlich eiligen Marsch noch zu rechter Zeit zum Essen. 
Nachmittags Bummel in der Umgegend. Schlufi: friih zu Bett. 
Denn morgen gehts auf den Insel(s)berg. 

Tagebuch von Wengen 

Ich lege das Tagebuch in Riickblicken an, teils, weil ich erfahrungs- 
gemafi nicht jeden einzelnen Tag zum Schreiben Zeit finde, teils 
weil der Riickblick schon manches klart. Also ich beginne mit dem 
Riickblick auf Weggis. Ort: der Schreibsalon des Hotel Belvedere 
in Wengen. Links in der Ecke zwei Backfische mit einem etwas 
albernen Herrn in meinem Alter; sie schreiben eine Karte an ihren 
Konfirmationspfarrer; draufien im Vestibiil ein gespanntes Publi- 
kum, worunter sehr viel Kinder, die auf die Vorfuhrungen der 
musikalischen Medien Prof. Matteo u. Frau Tuoselli (zu verwech- 
seln mit Tosulli!) harren. 

Wir reisten liber Basel. Um 10 Uhr abends stiegen wir in den italie- 
nischen Expreft um, der in einer sehr weiten, einsamen Bahnhofs- 
halle stand. Ein ganz leeres Coupe II schlofi der Schaffner fur uns 
auf. Nach / 4 Stunde verliefi der Zug die Halle und fuhr in die regne- 
rische, von groften Gaslaternen aufgehellte Nacht hinaus, zwischen 



2}6 Autobiographische Schriften 

Mauern mit Reklameauf schriften. Die Fahrt war schon: Wie von 
Zeit zu Zeit runde waldige Berge in ganz verschwommenen Umris- 
sen auftauchten. Hier und da Lichter und vor alien Dingen die wei- 
fien Landstrafien. 

Am nachsten Morgen ein ganz kurzer Aufenthalt an der Luzerner 
Kurpromenade bei der Musik. Dann im Dampfer nach Weggis. Am 
Nachmittag ein Spaziergang nach Hertenstein. Papa und ich alleine, 
denn Crzellitzers und die anderen ruderten. Je heifier die Strafie fiir 
Papa wurde, um so schoner wurde sie fiir mich. Man hat, sowie man 
sich umdreht, den Rigi vor sich. Der schonste Teil der Strafie liegt 
nicht am See, sondern im Hinterland, wo der Weg um einen Hiigel 
biegt. 

- Jetzt kommt ein sehr interessantes Intermezzo, da hinter mir Frau 
Tuoselli, wie ich vermute, (eine Dame in seidener, schwarzer Flit- 
terrobe, genaueres steht noch nicht fest) hereingetreten ist, und ab 
und zu auf einem Klavier bekannte und wenig beriickende Weisen 
spielt. Hinter das genauere werde ich noch zu kommen suchen. 
Augenblicklich steht die Dame an der geoffneten Tur (wenn sie es 
ist?) 

Jetzt wieder Weggis: In Hertenstein entdeckte ich »limonade 
gazeuse«, die mir von da aus auf vielen Spaziergangen als lockende 
Belohnung vorschwebte. Georg und Crzellitzers fuhren trotz dro- 
henden Gewitters mit dem Boote nach Weggis. Als sie unterwegs 
waren, brach das Ge witter aus. Sehr beangstigend, mit aufieror- 
dentlich starken Blitzen, Gelb graue Wolken senkten sich schnell 
tief an den Bergen und der See bekam Schaumkamme. Der Riick- 
weg war wenig angenehm, da wir grofte Angst ausstanden; und 
obwohl wir wesentlich kurzer gingen, kam er mir viel langer vor. 
Am Sonnabend ging mein Geburtstag ziemlich sang- und klanglos 
voriiber, da ich die Geschenke schon in Berlin erhalten hatte und 
Mama auch nicht einmal, wie ich heimlich vermutet hatte, ein klei- 
nes Reservegeschenk (einen Fiillfederhalter hatte ich mir gewunscht 
und nicht bekommen) zuriickbehalten hatte. Nur Onkel Fritz hatte 
eine Bonbonniere gestiftet. 

Nachmittags waren wir auf dem Biirgenstock. Eine Bergbahn, 
Hotels, ein langsam steigender Weg am Felsen entlang und dann ein 
120 m hoher Fahrstuhl bis auf die Piazza. Anfangs in den Felsen 
hineingebaut, dann aber ganz frei neben dem Felsen sich erhebend. 
Von unten sieht die Anlage schwindelnd aus; ist man jedoch drin- 



Tagebuch von Wengen 237 

nen, so fiihlt man sich vollkommen sicher; denn erstens bewegt sich 
der Fahrstuhl in einem starken Eisengeriist und aufierdem kann 
man nicht in die Tiefe sehen. Aber auch oben, auf der Briicke, die 
vom Ende des Fahrstuhls auf den Felsen fiihrt, fuhlte ich mich ganz 
schwindelfrei. Abstieg. Und der Abend beschwor bei zwei Fla- 
schen Asti eine leise Feierlichkeit herauf. 

Sonntag wurde ruhig bei Tolstoi, Burckhardt und lateinischer For- 
menlehre verbracht. Am Vormittag stieg ich heldenhaft einen hei- 
fien Hiigel hinan urn unter einem Baume einsam ein Buch zu genie- 
fien. Und es war schon, wenn das Buch auch nur die lateinische 
Formenlehre war. 

Montag vormittag erblickte ich die Mythen, an deren einen ich noch 
eine ganz blasse Erinnerung von meinem ersten Aufenthalt in Brun- 
nen her (5 Jahre) bewahrt hatte. Mit anderen hatten wir ein Motor- 
boot gemietet, mit der Absicht zur Felsplatte zu fahren und ein 
Snick der Axenstrafte zu gehen. Es wurde zu spat; und Mama, 
Georg und ich fuhrten die Absicht am nachsten Tage aus. (Es ist die 
Dame) 

Wir hatten Gliick. Wundervoll klar war alles am Nachmittag und 
auf dem zweiten Platz des Schiffes wurden Jungen und Madchen 
von der Volksschule befordert. Ich stand vorn und horte zu; sehr 
schon begeistert von den Liedern die sie sangen. Mir fiel ein: Im 
Volkslied kommt das Volk zum Bewufksein seiner selbst. Das 
macht seine machtige, allgemeine Wirkung aus; das macht es so 
unsympathisch und falsch, wenn anstatt selbstverstandlicher Ein- 
fachheit (das einzig durchaus originelle wird wohl meist nur Spra- 
che oder Dialekt sein), ein nationales Protzen sich breit macht. 
Am Riitli stiegen die Kinder aus; es war ein Geistlicher (die man 
iiberhaupt dort viel sieht) unter ihnen, dessen imposante Dummheit 
sich unverhullt in seinem Lacheln offenbarte, 
Und an der Tellsplatte stiegen wir aus. Der epische Fluft der Erzah- 
lung mull hier unterbrochen werden, durch einen wissenschaftlich 
getreuen, doch feuilletonistisch erheiternden Modenbericht. So 
ungefahr stelle ich mir einen Zweig der Familie Eckel vor, die ihre 
beruhmte Alpenfahrt macht. Mann, Frau, Tochter. Das Familien- 
merkmal - sozusagen - des Mannes war ein Monokel. Im Knopf- 
loch eine Georgine von imposanter Grofie. Die Gattin - die Signal- 
stange der Familie, die »Achtung« rief. »Achtung« rief der Hut, 
Von ganz normalen Dimensionen. Verhaltnismaftig normal auch 



238 Autobiographische Schriften 

die Labz(?)-Spitzengarnitur. Normal, weil in Mode. Uber den 
Spitzen, auf der angenehmen Wolbung des Hutes jedoch befand 
sich das Auffallende. Zunachst weifi und seltsam zwischen hell und 
dunkelrot. Bei naherer Beachtung ein Vogel, ein vollstandiger 
Vogel, der als Bekleidungsstiick am Kopf und an den Fliigelenden 
in besagtem merkwurdigen Rot erglanzte. Alles iibrige weifi mit 
Spitzen. Der Ausdmck eines beleidigten Dienstmadchens kronte 
das ganze. Die Tochter war charakterisiert durch die Mutter. 
Ebenso dienstmadchenhaft vornehm, ebenso dick, nur noch mit 
einer fast tragischen Note in einem naiven Lacheln. Dieselbige 
Familie safi auch auf dem Dampfer, mit dem wir von Fluelen zu- 
riickfuhren. 

Also zunachst zur Tellsplatte. Was die Platte betrifft, so ist sie von 
einem Gitter umgeben und von den Fiifien ioooder patriotisch oder 
poetisch durchgliihter Waller wohl noch ebener gemacht als Tell sie 
vorfand. Den Hintergrund schmuckt ein Raubtierkafig, der aber 
statt Lowen oder Tigern fromme Altarlichter und sterbensblasse 
Wandgemalde (deren Zeichnung nicht schlecht ist) in seinem schau- 
erlich niichternen Innern birgt. Hinauf zur Axenstrafie. Ein ziem- 
lich steiler Aufstieg brachte mich durch grofie Anstrengung in mei- 
nen gewohnten Wanderzustand, so dafi ich nunmehr schnell und 
leicht die grofie Strafie, die teils eben geht, spater sich senkt, ver- 
folgte. Die iiblichen grofien Bogen der Bergstrafien, vorwiegend 
einer nach innen. Links die ganz steilen Felswande, die oben an 
einen tiefblauen Himmel zu stofien scheinen. Und deutlich sieht 
man in der grofiten Hohe schwankendes Geholz, Laubbaume, leise 
wehen oder in der grofien Schwule unbewegt stehen. Unten geht, 
am Rande des Sees, oft durch Tunnel die Gotthardbahn . . . nach 
Italien. Uber ein halbes Jahr? Der See, den von driiben hohe, zum 
Teil schneebedeckte Berge einfassen, in leisem, windgekrauseltem 
Farbenspiel. Wo der Wald sich spie{ge)lt ein marchengoldnes 
griin, wo die Sonne das Wasser trifft, seegriin, wie von Tang 
gefarbt. Und den Bergen driiben sieht man geradezu ins Gesicht, 
d. h. man sieht ihre schroffen Abstiirze und Schluchten. Uber ihnen 
erscheinen Wolken, die sich bis Fluelen recht stark verdichten. Die 
Axenstrafie fiihrt durch Tunnel, in denen arme Ansichtskartenver- 
kaufer ihren » Bazar « aufgeschlagen haben. Drei grofie Fenster sind 
in den langsten dieser Tunnel gesprengt; unerwartet of met sich der 
See. 



Tagebuch von Wengen 239 

Eine ganz starke Wanderstimmung iiberkommt mich. Als ob ich 
schon den ganzen Tag gehe, Morgen und Mittag der Sonne erblickt 
habe. Das machen die Berge; der Himmel iiber ihnen, der so blau ist 
und vor allem ihr gewaltiger Linienrhyt(h)mus. Sie scheinen wie 
ewige Weltwanderer, die dahinziehen und wenn man mit ihnen 
wandert, so glaubt man selber aus Fernen zu kommen. 
Bis sich das beruhigtund mafiigt; die ersten Hauser von Fluelenjein 
alkoholfreies Restaurant weckt Kulturgedanken; und ein normales 
Bewufltsein erwacht bei einer Flasche »Limonade gazeuse«. Leider 
ist sie abgestanden. 

Am Mittwoch friih ein entzuckender, wenn auch ganzlich riih- 
rungsloser Abschied von Franz, Robert und Jete. Franz hat etwas 
Gravitatisches, Robert ist fiir sein Alter erstaunlich schelmisch; 
mehr wohl im Ausdruck als sonst; aber sehr lieb. Jete ist 2 Jahre. 
Mehr kann man zum Lobe eines Menschen wohl kaum sagen. 
Mit dem Dampfboot nach Alpnachstad iiber den Teil des Sees, den 
wir noch nicht befahren hatten. Am Bahnhof ein erstes »Abenteuer 
der Seele«. (Und damit hier ein erstes schiichternes Bekenntnis) 
Vom Warteraum aus besah ich mir im Korridor Reklamebilder, 
dabei sah ich ein Madchen an einer Tiir zum Stationsraum lesend, 
ganz fluchtig, ein rosa Kleid mit schwarzem, glanzendem Giirtel. 
Sie schien mir sehr hubsch. Wahrscheinlich die Tochter des Sta- 
tionsvorstehers. Ich streifte sie nur sehr schnell mit dem Blick; denn 
im gleichen Korridor saften auf einer Bank zwei altere Tanten in 
schwarz. Daher ging ich. Noch zwei Mai besichtigte ich eingehend 
und aufmerksam die bunten Plakate. Das Madchen stand noch da, 
aber ich konnte es nicht ansehen. 

Nachher, als der Zug die Station verliefi, sah ich sie. Es war ein 
kurzes Abenteuer der Seele und fand mit diesem Anblick seinen 
Schlufl. Sie war nicht besonders hubsch. 

Die Brunigbahn ist schon. Ich genofl die Fahrt mit 2 Schweizer 
Knaben und mehreren Herrn auf der Plattform des Wagens. Vom 
Briinig nach Meiringen - Brienz. Mit dem Schiff nach Interlaken. 
Mit zwei Franzosen (ein alterer Herr und eine junge Dame), deren 
Gesprach ich zu meiner Genugtuung verstehen konnte, mit der 
herrlichen Bergbahn von Lauterbrunnen nach Wengen. Was da 
Erinnerung, was voriibergehender Verdrufi oder Genufi sein wird, 
und gewesen sein wird, weijl ich nicht. 
Fiir den folgenden, am 2 5 tcn hier in Wengen begonnenen Teil dieses 



240 Autobiographische Schriften 

Pseudotagebuches trage ich schwere Bedenken. Nur die bestandig 
im einzeken wechselnden und doch im Grunde sehr ahnlichen 
Stimmungen der Hochgebirgsnatur sind festzuhalten; noch dazu 
unter moglichster Ausschaltung der pragmatischen, unwichtigen 
Begleitumstande. Und diese feinsten Grunde verschiedener Natur- 
eindriicke festzuhalten ist schwer und manchmal und fiir manchen 
unmoglich. Und vielleicht wird da doch wieder an einzelnen Stellen 
im pragmatischen, im gewohn lichen, begleitenden Erlebnis, der 
einzige Schliissel und Ausdruck liegen. 

Mit leichterem und gleich reizendem kann ich beginnen. Mit dem 
eindrucksvollen Merkmal des Tages als ich mit meinen Geschwi- 
stern 10 Minuten in dem bestrickend kunstgewerblichen Vestibul 
des Hotels zubrachte und eine Entscheidung der Eltern liber die 
Wohnung erwartete (die imponierenden Blatter der Times und des 
Matin musternd) und mit dem zweiten Genrebild: Einem tagebuch- 
beflissenen Jiingling in dem allmahlich sich leerenden Schreibzim- 
mer (nur ein vornehmer Herr mit lang ausgezogenem Bart legt seine 
abendliche Patience) wahrend im erleuchteten Vestibul ein Zaube- 
rer seine scharf accentuirten Reden vor dem Publikum halt und bis 
in meine stille Ecke sendet. 

Danach wohnte ich dieser Vorstellung bei, ohne weitere tief ere oder 
denkwurdige Gefiihle, Gedanken oder Erinnerungen daran zu be- 
wahren. 

Ein harmlos angelegter Spaziergang des folgenden Vormittags ent- 
wickelte sich zu einem etwas langeren Gang, der mit einer Bergtour 
wenigstens das Ziel und die Anstrengung gemein hat. Man 
erklomm auf heifien, steilen Hugelriicken und zuletzt auf kurzem 
braunen, mit Wurzeln durchquertem Waldweg das Lauberhorn, 
das diese Bemuhungen mit einem Ausblick auf Interlaken lohnt. 
Es wechselte nun mit ziemlicher Regelmafiigkeit eine Reihe von 
Tagen der Beschaulichkeit mit solchen, die von mehr oder weniger 
langen, harmlosen Touren ausgefiillt werden; wahrend die Lektiire 
der »Anna Karenina«, der »Kultur der Renaissance*, einiger Zei- 
tungsfeuilletons und Vormittage, die in mehr oder weniger beque- 
mer Lage auf dem Waldboden verbracht werden die beschaulichen 
Tage darstellen. Nicht zu vergessen ein bandwurmartig anwachsen- 
der Briefwechsel mit Herbert, so wie auch im iibrigen ein mit der 
Intelligenz von Berlin- W gefuhrter leider reger Briefwechsel, der 
dadurch nicht interessanter wird, daft die Umstande Veranlassung 



Tagebuch von Wengen 241 

zu mehrfach wiederholten Schilderungen identischer Urbilder 
geben. Ferner bringt jeder Tag eine Stunde der Gottin des Examens 
zum Opfer. Desgleichen jede Nacht ihr einen Traum. 
Und nun erst gelangen wir in medias res, wobei die Sache die Alpen- 
welt darstelk. Da Sinn und Verstand weder fur noch gegen eine 
chronologische Aufzeichnung sprechen, so wahle ich sie. Oder 
trotzdem. Auch das bleibt dahin gestellt. Denn die Niederschrift 
eines Tagebuches kostet schon an sich genug geistige Arbeit. 
Ich mui! also beginnen mit Ausflug und Fahrt in den Jungf rautun- 
nel. Leider ist der Schreibtisch nicht besetzt und am 28 d.M. des 
Abends setzte ich mein Werk fort. 

Die Bahn (eine Bergbahn mit offenen Wagen) geht nach Wengen- 
Scheidegg und wieder sendet dem riickwarts sitzenden die Bergwelt 
nur kurze, blendende Griifie. In einer langen, ausgedehnten Men- 
schenkolonne geht's zu Fufl von Scheidegg nach dem Eigerglet- 
scher. 250 m Steigung. Ich berechne immer eifrig Hohengewinnste 
und Verluste; kann mich geruhsam dariiber argern daft erworbene 
30 m in 1 Min. in einem kleinen Abstieg wieder geraubt werden, 
bleibe weit hinter den Eltern und dann hinter Nachfolgenden 
zuriick und gelange schlieftlich recht erschopft auf die Hohe. Miih- 
sam mufi ich eine Ubelkeit unterdriicken. Merkwiirdig, wie gereizt 
die Anstrengung mich macht. Auf eine Frage nach meinem Befin- 
den antworte ich fast frech. Die errungene Hohe, die Nahe der 
Gletscher lafit Mama endlich den zuriickgedammten Wunsch nach 
einer Fahrt mit der Jungfraubahn wach werden. Sogar Papa wird 
ergriffen und eine Fahrt nach Station Eismeer beschlossen. Wobei 
ich ein Opfer meines etwas aufruhrerischen Herzens zuriickbleiben 
soil. Sofort stand bei mir fest mit Aufwand aller Diplomatik wenig- 
stens etwas zu erreichen. Und nach ganz kurzem Kampf setzte ich 
eine Fahrt nach Eigerwand durch. Dora sollte dort mit mir bleiben 
und der nachste Zug sollte uns zuriickbringen. 
Noch ist Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Wir verlassen das festungs- 
mafiig duster gebaute Bahnhofs(-) und Restaurationsgebaude und 
auf Schuttabhangen hinab zum Eigergletscher. Bald haben wir 
Schnee unter den Fiiflen und vor uns Eis und Schneemassen, den 
Gletscher und eine ziemlich schneefreie braun-schwarze Felswand. 
Man ist mitten in der Gletscherwelt. Aber das Kulturbewufksein 
wird wach erhalten durch zahlreiche Bewunderer am selben Orte, 
durch eine Eisgrotte mit Eintritt nach Belieben, durch Manner, die 



242 Autobiographische Schriften 

angelegentlichst eine Rodelfahrt in Schlitten empfehlen, die gegen 
eine Gebiihr auszuleihen sie gern bereit sind. Riickweg und Fahrt in 
der Jungfraubahn, Leis, ganz leise enttauschend. Nur vage Ahnun- 
gen der Gletscherwelt stehen dem Fahrgast in eine(r) endlosen, 
vom elektrischen Licht der Coupees erhellten Tunnelfahrt frei. 
Und dann der kuhle Tunnel, mit etwas satterer Belichtung, wo der 
Zug halt: Station Eigerwand in bunten Gluhbirnen oben an der 
Wolbung zu lesen. Uberrascht und erfreut, doch etwas zu entdek- 
ken laufe ich zu, auf den Fleck, wo Tageslicht griifit. Ein Ausblick, 
wie viele Ausblicke. Ein Stuck Felsenwand, Dunkelheit und 5 m 
entfernt, noch so ein Loch im Felsen mit eisernem Gitter davor. 
Ebenso zur anderen Seite. Die Fahrgaste verlaufen sich allmahlich; 
kehren in ihre Coupees zuriick. Nicht genug damit: das Schicksal 
hatte mir noch eine kleine Liebesgabe zugedacht, die ich aber 
sogleich als solche erkannte und die mich daher nicht sehr argern 
konnte. Zwei junge Damen, die auch auf der Station bleiben woll- 
ten, aber durch lockende Schilderungen des Eismeers von dem 
Bahnbeamten bewogen wurden, im letzten Augenblick einzustei- 
gen. Der Zug fahrt ab. Meine Schwester(,) ich ein Fernrohr . . . 
und nach einiger Zeit der Bahnbeamte die einzigen. Wir entwickeln 
unser Lunch. Der Bahnbeamte schenkt Dora einen Glimmerstein; 
dann nahert es sich und wir bewundern entflammt nach seinen Wei- 
sungen im Fernrohr in plotzlicher Deutlichkeit die Umgegend. 
Tandlhorn(?), Schyn(ige) Platte, Grindelwald u.s.w. Ich fiihle 
mich zu einer Erkenntlichkeit bewogen; habe aber kein Kleingeld 
bei mir und helfe mir, indem ich eine Karte kaufe. Hoffentlich 
gehorte ihm der Stand und wahrscheinlich, da er doch Dora etwas 
vom Bestande geschenkt hatte. Unter sparlichem Unterhalten mit 
Dora vergehen die letzten 1 o Minuten kalter Einsamkeit, das Lunch 
geht aus, die letzten Augenblicke; soeben fahrt der Zug ein, Abfahrt 
und Ankunft wieder im Eigergletscher. 

Von der Sommerreise 191 1 

Ich will hier nachtraglich einiges herausheben und aufheben, da 
mancherlei und nicht zum wenigsten auch die Schwierigkeit der 
Aufgabe, eine leise, liebevolle Schilderung auch des Alltages einer 
Reise, und des gemafligten, schon bewegten Schwankens und Trau- 
mens in Efwartung und befriedigtem Genuft verhindert hat. 



Von der Sommerreise 191 1 243 

Am reichsten an unverhiillten inneren Freuden und beinahe 
andachtigen Festen war der Aufenthalt am Genfer See. Die erste Be- 
nihrung aus der Feme von einem Hochplateau, in dem sich nahern- 
den niedersteigenden Eisenbahnzug. Unten gewahre ich eine leere 
Tiefe. Wohl wenige oder keine Landschaften im Gebirge gibt es, die 
eine gleich ruhige, befreite Spannung gewahren, wie der erste weite 
Ausblick auf die See oder eine grofie Wasserflache. Die Eltern 
orientierten sich und uns an den Aufenthaltsorten ihrer fruheren 
Reise am See. Schlofi Chillon, deutlich in der Vorstellung durch 
biirgerliche Mondscheindrucke suchen wir noch vergebens. Ein 
farbenvoller Sonnenuntergang spielt schon am Himmel. Wir fahren 
durch Weinpflanzungen, halten an kleinen Orten mit franzosi- 
schen, zusammengesetzten Namen; die ratselvolle Feme des Sees 
ist verdrangt durch das imposante Bild der Badestadt Montreux- 
Vevey-Territet in der Tiefe. Die Bahn immer zwischen Weinhiigeln 
und ab und zu eine niedrige Mauer oder ein Schlofiturm. Bis die 
Einfahrt mit schamlosen Hotel-Rucken in prassenden Aufschriften 
das Bild bestauben, aber nicht verdrangen. 

Von einem Zimmer-Balkon des Eisenbahnhotels geniefte ich in 
jener durchaus selbstbefriedigten Ruhe nach einer langeren Reise 
Fortgang und Ende des Sonnenuntergangs. Mir noch unbewufit 
lafit eine Musikkapelle auf der nuchternen Hotel-Terrasse nach dem 
Bahnhof hinaus italienische Stimmung entstehen und wachsen. 
'A Stunde spater gehe ich nach dem Abendbrot auf der Terrasse ein 
paar Schritt hin und her - nur wenige Schritt, (dann gleich zu Bett) 
und die Stimmung ist schon da, stark gegenwartig. Die sehr niich- 
terne Bahnhofs-Terrasse mu6 nach dem See zu abfallen und mit 
Palmen bestanden sein. Die Musik ist durch eine langere Pause 
unterbrochen und die Luft sehr lind. An den See will ich nicht mehr 
gehen. Morgen. Ich bin miide und weifi alles, habe ja diese Land- 
schaft schon erfafit und geniefte sie ganz. Und so schliefk der Tag. 
Mit der Aussicht auf morgen, den Uberflufi, der kommt ohne 
ersehnt zu werden. 

Dieses »Morgen« stand im Zeichen der Sonne. Ein Gang durch die 
heifte, helle Stadt. Zuerst hinunter zum See, der liegt unbewegt, 
blau - die hohe Lage{ ?) des gegemiberliegen(den) Ufer(s) deckt 
ein leichter Dunst. Dunst iiberall, er verwehrt den deutlichen Blick 
in die Feme und gibt See und Land eine ebene weite Ruhe. Doch die 
Sonne vertreibt uns vom Ufer mit der Briistung und dem Eisenge- 



244 Autobiographische Schriften 

lander vor dem See und Baumen, deren Schatten recht tief sich von 
alle dem Licht absetzt. Zuriick zur Stadt. Gegenstandlicher wirds in 
Farbe und Form. 10 Uhr. In der Vormittagshitze formen sich alle 
Gebaude hell und kantig; das weifie oder gelbe Pflaster sogar strahlt 
Licht aus. Und doch wieder, gerade durch dies Licht, gerade in 
dieser Klarheit, marchenhaft seltsam . . . marchenhaft hell. Ganz 
verlassene Hotelfassaden, schimmernde Juweliersladen{?) an der 
StraKe . . . vornehm luxurios erscheinen sie, als waren sie fur sich da. 
Denn Badepublikum gibt es nicht. Ein dicker Schlachter stent in 
Hemdsarmeln vor der Tur und ein paar Einheimische beleben die 
Strafien - oder heben gerade urn so deutlicher die Einsamkeit her- 
vor. Die Weinberge, kahle Felsenpartien oberhalb der Stadt er- 
scheinen als die gegenstandliche Atmosphare. Die Strafie hat eine 
Briistung; darunter sieht man das G{e)leise der Simplonbahn und 
manchmal fauchen und poltern Ziige driiber hin. Der Weg hat ein 
Ziel . . . das Ziel ist Schlofi Chillon. Im Burggraben . . . im friiheren 
Burggraben liegt der Schienenstrang der Simplonbahn. Ich war 
mifitrauisch diesem Schlofi gegeniiber . . . wie alien Schlossern 
gegeniiber seit ich die Wartburg sah . . . und noch ganz besonders in 
manchen unklaren Erinnerungen an Mondschein-Romantik. Doch 
meine Enttauschung war grofi und angenehm. Uberall interessant 
. . . stellenweise, in den tiefen{?) Felsgemachern ist der Eindruck 
stark und wurdig. Ganz besonders fiel mir in drei Zimmern die 
neuerdings freigelegte durchaus modern, im geschmacklosen und 
schonen Sinne wirkende Bemalung auf. 

Auf dem Vorderperron der Tram stehend, hoffte ich die Fahrt nach 
Vevey recht zu erschopfen. Doch nur bis zu einer Schokoladenfa- 
brik an der Landstrafie blieb der Blick frei. Fabrikschlufi ... ich 
stand gedrangt in einem Haufen von Arbeitern und Arbeiterinnen, 
die einen angenehmen, intensiven Schokoladengeruch aus der 
Fabrik mitbringen. Die Strafte geht am See entlang. In bestaubten 
Garten, oft hinter grauen Steinmauern, liegen Landhauser. Auf 
dem See liegt Dunst. Auf alles driickt die Hitze ihre schwer und hell 
machende, und in der Feme lichtdampfende Hand. Unvermittelt 
liegt das Aristokratenviertel hinter mir. Jetzt - so denke ich mir die 
Strafien einer italienischen Landstadt. Eng, mit wenig verlocken- 
(den) Blicken ins Innere der Hauser, unsauberen Auslagen, Men- 
schen aus demselben Milieu. Unangenehm sind mir solche Strafien 
als Kultureuropaer. Sehr interessant, noch mehr, fesselnd, sind sie 



Von der Sommerreise 191 1 245 

mir aus individuelleren Grunden. So(?) ganz unvermittelt aus all 
dem Schatten taucht plotzlich em Lichterreich auf, blendend wie 
eine nahe Sonne . . . der Markt von Vevey. Der weifle, h'elle Platz 
mit fliichtig aufgerichteten, braunen, gelben und farblosen Buden 
strahlt sein Licht zuriick auf die umgebenden Hauser, alle ohne 
bestimmte Farbung, in den feinsten Niiancen von weifi zu leuchten- 
derem und verwaschenem gelb. Buntes schmutziges Papier liegt 
massenhaft am Boden. Aus dieser ganzen Lichtflille aber hebt sich 
hinten abschliefiend und beherrschend der fein sanft gebogene, ma- 
fiig hohe Mont Pelerin. Dunkle Waldflachen wechseln mit hellen, 
angebauten Saatfeldern, graue Flecke, Hauser, stellenweise viel- 
leicht kleine Dorfer heben sich heraus. Und in diesem gleichen wei- 
fien Ton, der alles beherrscht und alle Farbenpracht, die das Leid 
wohl sonst entwickeln mag, mildert, spannt sich der Himmel. 
Am Nachmittag bringt eine Fahrt auf dem See mir wieder diese 
seine seltsam ruhige, fast wesenlose und tief beruhigende Erschei- 
nung vor Augen. Gewitterwolken stehen am Himmel, ganz gelb 
erstrahlt das Wasser an einer Stelle von ihrer Spiegelung, einige 
bewegtere Schaumwellen erheben sich, aber vergebens erhoffe ich 
ein kleines sturmisches Abenteuer. Die Ufer liegen klarer zu beiden 
Seiten. Weiter entfernt von der hochgebirgsartigen franzosischen 
Seite, fahren wir an dem hugeligen Lande vorbei, das Schweizer 
Gebiet ist. Keine bewegte, sondern im wesentlichen eine langsam 
aufsteigende Linie stelk es dar . . . die Dorfer am Bergriicken ganz 
gedrangt in der Entfernung, nehmen bisweilen die sonderbarsten, 
farbenstarksten Gestalten an. 

Auf dem Dampfer sind zwei ungefahr 20Jahrige Schwestern. Die 
eine sehe ich am Schiffsende stehen . . . mit anmutigem, weite(m) 
Schwung wirft sie Brot ins Wasser, das die Mowen, die dem Damp- 
fer folgen, schnappen. Darin ist sie ganz vertieft und sichtlich 
dadurch erfreut. Von allem anderen abgesehen ... ein seltenes und 
liebenswiirdiges Schauspiel, seiten leider auch auf Reisen, in so 
naturlicher Beschaftigung einen Erwachsenen eifrig handelnd zu 
sehen. ... Ol aber ein sehr feines, ein fein-schones Gesicht . . . es 
lafit sich nicht sagen . . . um Gotteswillen kein rundweg schones 
Gesicht . . . man denkt an Wiirde und Hermelin. Sondern bei allem 
Ernst erscheint die Fahigkeit fein zu lachen, bei aller Grundlichkeit 
erscheint verborgen gluhendes Feuer. Alles lebendig und gar nicht 
»interessant«. Denn sie hatte sich umgedreht und ich sah nun auch 



246 Autobiographische Schriften 

eine schone Eigentiimlichkeit der Kleidung: iiber einer einfachen 
weifien Bluse ein dunkler Sammetschlips, grofi, frei herunterhan- 
gend . . . wie farbig-stark das wirkt! Das alles die Entdeckung wohl 
kaum einer Sekunde. Ich wende mich und begegne nach wenigen 
Schritten ihrer Schwester. Gleich gekleidet, die gleichen hellblon- 
den Locken zu Seiten der Schlafen eng gewunden{ ?), gleich grofie 
dunkle Augen und dieselbe siifie Farbe des Gesichts. Das alles 
macht mich sehr vergniigt . . . fron. 

Ouchy . . . das ist die Hafenstadt von Lausanne. Ich argere mich, 
daft ich erst einige Zeit nach ihnen ans Land komme ... ich sehe . . . 
ein junger Mann, wohl der Bruder, begleitet sie. Ich folge ihnen mit 
den Augen ... sie gehen, wir zogern, bald habe ich sie verloren. 
Dann folgen auch wir dem Trott, die gepflasterte Allee hinunter . . . 
wir sind an der Bahn, die hinauf fahrt nach Lausanne. Gott sei 
Dank: sie sind noch da. Wie uberall betrachte ich die Plakate und 
werfe ab und zu einen vergniigten Blick auf sie. - Ob sie wohl in 
mein Coupee kommen . . . Bitte sehr, wozu weifit du das, verweise 
ich eine Regung der Vernunft, es kann alles sein. Es war aber 
nicht . . . 

Lausanne hat . . . glaube ich gegen 60000 Einwohner. Doch ist es 
eine richtige Grofistadt, konzentriert auf kleinem Raum. Die 
Geschaftsstralten - bewegte, belebte, larmende Strafien , - der 
Grofistadt, die Schmutzwinkel der Grofistadt . . . wohl nur die 
Reprasentationsgemacher der Grofistadt fehlen. Denn der Dom . . . 
in seiner aufieren Wirkung . . . trotz schonen Baus, soweit ich mich 
erinnere, durch Restauration in seiner Tonung verdorben, repra- 
sentiert nicht, ebensowenig wie einige nuchterne schlofiartige 
Gebaude. Das sahen Georg und ich in Eile . . . nach Baedeker, wah- 
rend die Eltern und Dora in einem Cafe warteten. Es war sehr heifi. 
Vielleicht trug auch diese lastende Schwiile zum Eindruck der Stadt 
bei. Vielleicht komprimierte sie sozusagen Hauser und Strafien, daft 
alles Enge enger, alles Gedrangte gedrangter erschien. Viel wird 
gebaut. Auf dem Bauplatz steht ein halber Abbruch, ein halber 
Aufbau. Strafienlarm, viele Cafes, laute Musik aus dem Cafe Cur- 
saal, das uns mit einer Portion Eis erfrischte. Eine starke, packende 
Stadt, durch ihren teuflisch reinen Stadtcharakter . . . weder Zweck- 
mafiigkeits- noch Schonheitsrucksichten haben hier gelichtet. 
Papa ging mit uns zum Hafen hinunter zu Fufi. Durch neuange- 
baute Gegenden . . . kein Haus versperrt hier noch den Blick zum 



Von der Sommerreise 1911 247 

Himmel, nur die Strafien, denen die Hauser noch fehlen und nur 
die einzelnen Hauser in ihrer Niichternheit oder in albernem Putz 
verraten die Stadt. Und nur eine Stelle mit offenkundigen Armen- 
ansiedelungen bei einer Fabrik. Es ist gut fur den Augenblick, daft 
man in die Wohnungen in dem schwarzen Bau trotz der geoffne- 
ten Fenster nicht sehen kann. ...Es ist ein richtiger berliner Vor- 
stadtabend. 

Die Riickfahrt zeigt den See . . . ruhig, wie vorher ... in der Dam- 
merung alles noch ruhiger, die Ufer verblafk. Aber heute nach der 
Dunkelheit wird er lebendiger. Der erste August ... an den Ufern 
feiert man das Unabhangigkeitsfest mit Feuer und Feuerwerk. 
Auch im See liegen und rudern einige Boote mit Lampions. 
Urn Montreux, um einer stellenweise, besonders in ihrem letzten 
Teil von Martigny nach Chamonix herrlichen Eisenbahnfahrt wil- 
len, wiirde der nachste Morgen hier keine Stelle finden. . . . Soil ich 
jetzt einen ehrerbietigen Grufl stammeln . . . oder sollen wir in 
burschikoser Laune alles als naturlich ansehen und kaum ein 
behendes Danke rufen. In diesem Zwiespalt folgen wir dem 
Instinkt, der heifk uns ein leises aber inniges Danke lacheln ... ein 
Danke einem lieben, schalkhaften, (oder ernsteren) wir haben ja 
dariiber gar kein Urteil - ein Danke diesem Schicksal, das ich nicht 
als Zufall entweihen kann. 

Am Vormittag, noch nicht spat, fuhren wir von Montreux ab. Der 
Morgen war bis jetzt in vielleicht kaum bewufiter, heller Freude 
unter Reisevorbereitungen verstrichen. Ein sehr liebenswurdiger 
Traum hatte riickblickend den Aufenthalt in Wengen vollendet. 
Und am Morgen hatte ich, so will ich sagen, in der einen Hand den 
Traum und in der anderen die feinen Bilder der beiden Madchen 
von gestern. Vergniigt betrachtete ich sie wechselseitig. . . . Dann 
saft ich im Zug und sah, wie immer, zum Fenster hinaus. - Was 
vorher war(?) vielleicht jetzt gedacht, will sagen fliichtiger 
Gedanke war, weifi ich nicht: Schade ... wo sie wohl wohnten, an 
welchem Orte, vielleicht in Lausanne? Das waren wohl die fluchti- 
gen Gedanken. Ich sah hinaus . . . ob ich dabei im Stillen vermu- 
tete . . . ob ein ganz verstohlner Advokat Parallelen zog . . . sieh' 
nun hat sich Wengen so hubsch vollendet . . . sieh' das phantasiere 
ich wahrscheinlich alles . . . Uber aller Phantasie erhoben aber 
steht der Augenblick, als ich sie sah . . . vor einem Schaufenster, 
vor dem auch ich gestern gestanden hatte . . . Der Satz ist schon 



248 Autobiographische Schriften 

vorbei . . . aber ich freue mich . . . freue mich . . . sehr, wie ein Baby, 
dem der liebe Gott selber einen Schnuller geschenkt hat. 

Noch ist herauszuheben der grofie, iiberraschende, nachtig (sic) 
schone Schlufi meiner Reise: Genf. Die Fahrt dahin steht mir in 
Erinnerung in ihrer pressenden, driickenden schauerlichen Enge in 
einem Coupee II Kl. blau, nicht griin wie bei uns; und Ausblicke 
auf ausgestorbene, wasserlose Landschaften, Chausseen, deren 
Glut bis ins Coupee dringt, faulste Schlafrigkeit und o Hohn! als 
Reiselektiire die Novellen Henri Stendhal Beyles . . . starke Ver- 
biindete der Nachmittagshitze. Dazwischen Reiseplane in unserer 
vagen Art, voll Reizen{?) mit Uberraschungen von Minute zu 
Minute . . . bleiben wir in Genf? nein - seit neuest{ ?) weiter in den 
Schwarzwald und ich, mit meinen Gedanken an eine vorzeitige 
Ruckreise. Schliefilich waren wir dann doch in Genf - unbestimmt 
auf wie lange. - Ja! und von der Fahrt ist noch so eine recht roh 
pragmatische Erinnerung nachzuholen. Auf einer Station war ein 
Wagen mit einem ziemlich engen vergitterten Fenster zu sehen und 
dahinter ein Mensch mit blassem Gesicht. Die Schaustellung eines 
Gefangenentransports. 

Am ersten Abend nach dem Abendbrot machte ich mit Georg einen 
Gang am Wasser, am schonen Quai du Montblanc. Was wir jetzt in 
Dammerung oder in hellem elektrischen Licht sahen (dicht uns zur 
Seite weite Hotelfronten) unfern des Sees ein Teil der beleuchteten 
Stadt, hatten wir noch nicht bei Tage gesehen. Der Anblick war also 
eine erste eindruckliche Bekanntschaft. Die Luft sehr warm . . . sehr 
viele Menschen im Freien . . . und auch, dafi ich mit Georg allein 
war . . . alles gab eine lassig-befreite Stimmung, Ahnung und 
Wunsch nach Studentenleben . . . vielleicht romanhaftem Studen- 
tentum. 

Der spate Abend . . . Y* des morgens dem Studium »der Religion ( « ) 
von Simmel gewidmet. Am Morgen auf einer Bank dem Wasser 
gegeniiber der Badeanstalt, wo Mama, Georg und Dora badeten; 
wieder war es heifi . . . Spazierganger und Beschaftigte kommen 
vorbei ... ich lese und sehe auf, so recht im Genufi des Mufliggan- 
ges, ich, selbst in halber und manchmal ungeduldiger Arbeit, halber 
Arbeit zusehend. 

Dann noch am Vormittag gingen wir alle - aufier Papa - durch ein 
paar Straften am Ufer, schon hier von buntem, und bei aller 



Von der Sommerreise 191 1 249 

Geschaftigkeit manchmal trag siidlich anmutendem Leben einge- 
nommen. Markt . . . Blumenmarkt mit Musik, um den Pavilion 
hocken ein paar Jungen. Um die Ecke wieder Markt, Obst, 
Gemiise, Schokolade . . . aber das ist auch wohl alles, was sich nen- 
nen lafit. Sonst richtige, wenn auch nicht sehr breite Geschafts- 
straften. 

Fur den Nachmittag hatte Papa aus Hoflichkeitsriicksichten den 
Sohn eines Bekannten zu uns aufgefordert. Wir verlassen mit ihm 
das Hotel ... da hore ich, indirekt, verspatet wie oft, Papa hat 
beschlossen, heute Nacht 1 Uhr nach Deutschland abzufahren. Das 
erste war Schrecken und Arger iiber die Zeit, die ich am Vormittag 
verloren hatte. Nun wiirde ich die Stadt nicht mehr sehen konnen. 
Das Zweite, da(fl) ich erklarte, mich von einer Dampferpartie der 
anderen emanzipieren zu wollen, um wenigstens noch jetzt die 
Stadt sehen zu konnen. Der junge Mann erklart, in Genf sei nichts 
zu sehen . . . er erklarte dies kategorisch, welche(n) modus er iiber- 
haupt bevorzugte. Die Universitat sei nichts - garnichts. Aber das 
Museum? Na ja! aber schliefilich doch auch nichts. Im iibrigen wars 
dazu etwas spat. Hochstens . . . ja, wenn ich das sehen wollte . . . 
Vergniigungsetablissement so u{nd) so, ein herrlicher Saal . . . fer- 
tig. Ein Blick auf die Abbildung im Fuhrer belehrte mich vollauf . . . 
Also - na ja. Und essen sollte ich bei . . . Ja, ja, ich durchblatterte 
den Fuhrer noch mal, sah mir die Abbildungen der Sehenswiirdig- 
keiten an - nein wirklich, es schien kein Ziel zu geben. Und 4 Std. 
bummeln? Ich kann nicht ordentlich bummeln. »Ich fahre mit. Ein 
paar Stationen zu einem Genfer Vorort, einem Dorf, wo man 20 
Min auf den Dampfer zur Riickfahrt wartet. Ein kleiner lockender 
Hugelweg fuhrte 100 Schritt zwischen zwei wuchernden Garten - 
ganz drinnen (x) , . .irgend wohin. Nur blauer Himmel war zu 
sehen, aber ich beschlofi eine Entdeckung - und gleich stehe ich am 
Saume der griinsten Wiese ... ein paar alte Eichbaume stehen hier 
am Saum{,) einzelne Biische auf der Wiese . . . der ganz blaue Him- 
mel und hier spielt die Sonne Versteck und berichtet aus dem Gras 
und den Biischen, eine ganz entziickende Wiese . . . geradezu meine 
Wiese - hier fiir mich. Hinten geht eine Chaussee; aber weitere Ent- 
deckungsreisen verbietet die Zeit. Wohin auch? Ich sehe mich 
satt. 

Auf der Riickfahrt, wie wir uns Genf nahern, stehe ich allein, vorn 
und will das ganze Bild, und vor allem die Berge, die ich nun fiir 



2 5 Autobiographische Schrif ten 

lange Zeit zum letzten Mai sehe, die Berge, die hier nicht so for- 
dernd, majestatisch sind, sondern gleichfarbig und in beruhigender 
Entfernung, nicht zerrissen - mehr als ruhige Mauer sich erheben - 
in mich einzufangen. - Und die noch unbeleuchtete Stadt im Schein 
der untergehenden Sonne. 

Spater wollten wir alle aufier Papa uns noch die Stadt ansehen. Ich 
safi im Schreibzimmer und schrieb fur Papa einen Brief und es 
machte sich, dafi ich die andern verfehlte. Ich wurde nicht gerufen 
und sie gingen ohne mich. Als ich den Brief beendet hatte, ging ich 
hinaus und horte, dafi sie eben fort waren. So wollte ich allein 
gehen. WiUkiirlich wahlte ich die Richtung rechts vom Hotel, wo 
ich noch nicht gegangen war, um sie vielleicht noch zu erreichen. Es 
war schon ziemlich dunkel. Jetzt geradeaus, dann an einem 
beleuchteten Restaurant vorbei - draufien safien Leute und tranken 
Bier - eine breite Querstrafie. Hier war es weniger hell beleuchtet 
und Baume die in zwei Reihen zu beiden Seiten der Strafie standen, 
machten es noch dunkler. Dann - ich bemerke es schon an der 
neuen Lichtfiille, wieder eine Geschaftsstrafie. Sie war sehr belebt 
und ich gab nun meine Hoffnung, die anderen zu finden auf und sah 
mich auch nicht mehr nach ihnen um. Recht viel wollte ich wenig- 
stens in der kurzen Zeit noch in mich aufnehmen. Ich lenkte wieder 
in die Strafien, durch die ich am Vormittag gegangen. Dort aber sah 
ich, wie die Uferbeleuchtung langs dem Wasser immer sparlicher 
wurde, weiter hinauf, noch einem Teil der Stadt zu, den ich noch 
nicht kannte. Dorthin . . . Auf dem geradesten Wege - an erleuchte- 
ten Cafes am Ufer, aus denen bumbsende, gemeine Musik klang - 
vorbei. Nun war es schon viel dunkler . . . Ein Platz mit Baumen, 
iiber den die Strafienbahn fahrt - ich biege ab iiber eine Briicke - 
unter mir liegt das Wasser, das hier naturlich auch dunkler ist und 
aus der Entfernung sehe ich noch die Lichtpalaste vom Quai du 
Montblanc. Eine kurze, feige Versuchung, die breite Strafie langs 
des anderen Ufers einzuschlagen, unterdriicke ich. Immer hinein in 
die dunkelsten Strafien. Ein Denkmalskolofi am Portal eines stattli- 
chen . . . wohl offentlichen Gebaudes taucht auf. Ich werfe nur 
einen fluchtigen Blick darauf ... ein paar Schiffer stehen ausgelas- 
sen johlend in der Nahe - ich will nicht, dafi man den Fremden in 
mir erkenne. Jetzt gehts immer schneller, denn (in) io Minuten 
mufi ich zu Hause sein. Aber doch weiter und weiter die dunkle 
Strafie hinauf. Sie ist nicht eng, aber gerade darum wirkt die breite 



Von der Sommerreise 1 9 1 1 251 

Dunkelheit um so seltsamer. Endlich liegt - mir zu Seite - eine 
Gasse, in tieferem Dunkel vielleicht noch, nur der verschwommene 
triib-gelbe(?) Schein einiger Laternen dringt durch. Das lockt 
mich. Ich gehe jetzt sehr schnell; das tu ich in einer fremden Stadt 
immer - schnell und zielbewufit - selbst wenn ich kein Ziel kenne. 
Und hier ists vielleicht auch wirklich geraten. Ein paar grohlende 
Strafienjungen - ich erkenne Leute, die vor den Tiiren sitzen - wie- 
der Kinder auf der Gasse - alles dunkel alles schmutzig. Dann von 
irgend wo ein hellerer Schein - schnell, erlost gehe ich darauf zu - 
ein Platz mit Baumen ein Denkmal - wie ich naherkomme - nein, 
eine Bediirfnisanstalt. Und dahinter das breite Wasser der Rhone 
und noch weiter schon greller Glanz vom Kurhaus. Auf geraden 
Wegen gehts eilends ins Hotel. In Schweift gebadet wacht ich auf. 
Ein paar Strafien nur und mir wars, als hatte ich im Traum die Stadt 
genommen. 

Die anderen waren schon da. Wir setzten uns zum Abendbrot auf 
die Terrasse - es war noch immer sehr heifi. Aber der machtige rote 
Vollmond tauchte jetzt auf. . . . Schliefilich ging der junge Herr. 
Dann ging (ich) ins dunkle Lesezimmer, beleuchtete es noch ein- 
mal und fand franzosische Biicherschatze vor - will sagen ein gutes 
franzosisches Journal. Als einzige Gaste nahmen Georg und ich in 
dem kleinen Vestibiil Platz. Noch las ich eine kleine Novelle. Dann 
ging ich hinaus fur die letzten Minuten, war da und dort auf dem 
Platz um noch einmal Bergumrisse, noch einmal den schonen 
Mond, noch einmal in die Richtung des Montblanc zu blicken. Es 
war ganz dunkel, doch noch belebt wegen der Hitze am Tage. Dann 
safien wir auch schon im Hotelomnibus. Die Fahrt war so kurz wie 
eindrucksvoll. Es war fur diesmal das letzte Mai auf Schweizer 
Boden. Schrecklich ist diese Schnelligkeit des Automobils und dies 
maschinenmafiig nichtssagende bequeme Fahren. Als fuhre man 
grade in die Ferien. Aber drauften sehe ich doch wenigstens holpri- 
ges Pflaster und besonders dunkle Schatten, wo Tiiren und Fenster 
sind. 

Also stehe ich in dem stillen Bahnhof vor dem Zuge . . . morgen in 
Berlin . . . unten noch eine Strafie im Mondschein zu sehen . . . Ja 
und morgen war ich wirklich in Berlin. 



2 5 2 Autobiographische Schrif ten 

Meine Reise in Italien Pfingsten 1912 

Aus dem Tagebuch, das ich schreiben will, soil erst die Reise erste- 
hen. In ihm mochte ich das Gesamtwesen, die stille, selbstverstand- 
liche Synthese, deren eine Bildungsreise bedarf und die ihr Wesen 
ausmacht, sich entwickeln lassen. Um so unabweislicher ist mir 
dies, als durchaus keine Einzelerlebnisse mit Macht den Eindruck 
dieser ganzen Reise pragten. Natur und Kunst gipfelten iiberall 
gleichmafiig in dem, was Goethe die »Soliditat« nennt. Und keine 
Abenteuer, keine Abenteuerlust der Seele s tell ten einen wirksamen 
oder reizvollen Hintergrund dar. 

Am Freitag, den 24*° Mai morgens um 4/1 Uhr sollte unser Zug 
gehen; doch gab es starke Verspatung. Fruher als punktlich stand 
ich schon vor viertel in der Morgenkiihle vor (Erich) Katz' Haus 
und stiefi schuchtern mehrere mifttonende Pfiffe aus, die mich aber 
nicht bemerkbar machten. - Bei dieser Gelegenheit ist zu bemer- 
ken, dafi als Reisepfiff : »Wintersturme wichen dem Wonnemond« 
festgesetzt war, eine Melodie von der ich mir nur traurige Variatio- 
nen aneignen konnte. - Nach einigen Minuten des Wartens kam 
( Franz ) Sachs aus unserem Haus gestiirzt - er rannte iiber die ganz 
leere Strafie und ich rief ihm iiber die Strafie zu. Gleich darauf waren 
wir drei alle zusammen. Unangenehm war, daft sich nun heraus- 
stellte, es sei garnicht mehr so friih. Eilschritt wurde angeschlagen 
und je mehr mir die Dringlichkeit der Zeit zum Bewufksein kam, 
desto mehr blieb ich zuriick. Joel, Sachs Reisegefahrte, uberraschte 
mich mit »Guten Morgen« von hinten, trat an mich heran, mein 
Stock flog zu Boden, er hob ihn auf ; ich war aufgelost, als wir alle, 
auch Simon und Bbrnstein am Bahnhof zusammentrafen. 
Die langeren Minuten, die wir nun noch auf den Zug warten mufi- 
ten, hatte ich mit meiner Ubelkeit zu tun. Die Fahrt nach Basel 
suchte ich dann, um mich fiir die Eindriicke des Tages frisch zu 
erhalten, zum Schlafen zu benutzen. Doch wurde meine Aufmerk- 
samkeit ofters durch die Touristen, auch Studenten, die mit uns 
fuhren, beschaftigt, sowie durch Simon und Katz die draufien im 
Gang des D-Zuges sich mit den Sprachfuhrern abgaben oder die 
Landschaft, die regnerisch war, ansahen. 

In Basel bereits zeigte sich Simons uberlegenes Reisegenie. Nach 
einigem Suchen fanden wir uns auf dem Bahnhof und Simon lenkte 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 12 253 

nicht, gleich den genufigierigen Haufen der iibrigen Reisenden 
gleich in den Wartesaal zum Friihstiick. Sondern wir begaben uns 
mit unserm Gepack auf den nachsten Bahnsteig, warteten auf un- 
sern Zug und belegten Platze. Hier zum erstenmale nahm Katz den 
Kampf mit seinem jeder Schilderung und jedem Gewichtsmafi spot- 
tenden »Handkoffer« eingehiillt in braunes Leinentuch, auf, den er 
nun taglich mehrmals mit Aufbietung aller Glieder und Krafte 
schleppen, heben, herunternehmen mufite. Darauf gingen wir zum 
Friihstiick: Wartesaal II Klasse, Franc 1.40. Es war durchaus keine 
Zeit, dem Preis entsprechend zu essen. Unter mehrmaligem, ener- 
gisch betontem »Sollen mich gern haben!« »Die sollen mich gern 
haben!« »Na, etwa nicht? !« ergriff Simon die umliegenden Brot- 
chen und steckte sie mit Butter und Marmelade beladen in seinen 
Mantel. Ahnlich Katz und ich. Am Fruhstuckstisch begriifke 
Simon einen jungen, liebenswiirdigen freiburger Studenten, einen 
Freund seines Freundes Bloch nebst Gesellschaft. Er reiste auch in 
unserer Richtung und wir fanden ihn spater in Venedig wieder. 
Im Wagen saften wir mit 2 Italienern, die spater, wenn wir im Gange 
waren, unseren Baedeker und Sprachfiihrer ungeniert lasen. Aufier- 
dem entsinne ich mich eines Franzosen, der in seiner Ecke schlief 
oder Zeitung las. Die Landschaft war durch dicke Wolken und Re- 
gen reizlos. Simon erzahlte eine sehr hubsche Geschichte von einem 
priiden Herrn und seinem Pudel, etwas wurde gequatscht, ein 
bi(fi)chen im Baedeker oder Sprachfiihrer geblattert - Simon sang. 
Ganz ungeniert Studentenlieder vermischt mit Stumpfsinn. Er ist 
oft impulsiv hochst vergniigt und besitzt die Fahigkeit zu harmlo- 
sem Blodsinn. Kurz vor Luzern kamen nach einem Besuch von mir 
im anderen Coupee Sachs, Joel und Bornstein zu uns. Als Simon 
wieder die Geschichte von dem Pudel verzapfen wollte, verulkte ich 
die Pointe. Er war gekrankt, argerlich und wollte nicht weiter 
erzahlen. In den ersten Tagen war ich natiirlich sehr aufmerksam 
um Spannungen zu vermeiden und nahm mir das ad notam. Inner- 
lich ernste aber unberechenbare und schroffe Menschen, sind fur 
mich, gleich ob jung oder erwachsen, im Umgang immer peinlich; 
wenn sie eine gewisse Verschlossenheit und Distance wahren, bin 
ich sehr vorsichtig. Simon hat von diesem Typus etwas. Aus diesem 
Grunde wachte ich auch in diesen ersten Tagen sehr aufmerksam, 
dafi keine Gruppe zwischen z weien, die standige Spannung gegeben 
hatte, entstiinde. Daft die ganze Reise so aufierordentlich harmo- 



254 Autobiographische Schriften 

nisch und personlich fein verlief , ist sicher einer gewissen inneren 
Zuriickhaltung unser aller zu danken. 
In Luzern bei stromendem Regen verliefien uns die andern. 
Die Fahrt am Vierwaldstattersee folgte, die mich ganz desorien- 
tierte und bei tiefen Wolken an alien Bergen nicht viel Schones 
hatte. Schliefilich versenkte uns der gleichmafiige Regen in Apathie 
und trieb uns zu Lektiire, bis die groflartigen Strecken der Gott- 
hardbahn begannen. Hier ist die Natur nicht auf Schonheit, son- 
dern auf fast architektonische Grofiartigkeit gestellt, die, wo eben 
die Windungen der Bahn oder das Felsbett der Reufi sichtbar wer- 
den, wirken mufi. Doch gibt es allerdings Mittel, die einem allzu 
elementaren Eindruck vorbeugen konnen. Man hat sie gefunden. In 
metergrofien hohen roten Blechbuchstaben steht an Waldern, Fel- 
sen, Matten und Gehoften: Pneu Continental. Plakate von Choko- 
ladenfirmen konkurrieren, doch erfolglos. - Ubrigens regnet es 
weiter; Simon flucht und jammert abwechselnd. Die letzte Hoff- 
nung ist der Gotthard. Mich regte das Wetter nicht so auf: mir war 
ein wenig schwul vor der Besteigung des M. Mottarone am folgen- 
den Tage und der Madonna del Sasso, die fiir diesen Nachmittag 
noch in Aussicht genommen war. Bei Regen waren wir ja nicht an 
den Seen geblieben, sondern gleich in die Stadte gefahren. Jedenfalls 
ein ziemlich feiger und alberner Gedankengang. - Hinterm Gott- 
hard aber war es ganz wunderschon. Ein herrlicher Blick auf Berge, 
deren Gipfel Neuschnee trugen erweiterte sich dauernd wahrend 
der Fahrt; die Landschaft hinter dem Gotthard hat noch jetzt, selbst 
fiir den, der sie auf der Bahn gerauschvoll durcheilt auf eine Strecke 
hin den urspninglichen Charakter tiefer Einsamkeit. Das einzig 
ungemiitliche waren italienische Aufschriften an Hausern, die iiber 
das »Ristorante« hinaus kaum verstandlich waren. 
Bellinzona - schones Wetter der erste Eindruck - ist die erste 
Etappe dieses grofien Reisetages. Hinter dem Bahnhof finden wir 
auf einem kleinen griinen Platz eine Bank. Wir legen das Gepack ab, 
Simon zieht mit Meyers Sprachfiihrer aus, Brot einzukaufen. Post- 
karten, die ich suche, sind nicht zu finden; dagegen trifft mich auf 
dem Bahnhof hocherfreut ein Mitglied der Freiburger »Rotte 
Corah« an. Doch mein hoflicher Grufi weist alles Weitere zuriick. 
Bei der Bank ist ein Brunnen. Hier darf man noch Wasser 
trinken! 
In der Lokalbahn von Bellinzona nach Locarno schlafe ich dann 



Meine Reise in Italien Pfingsten 1 9 1 2 255 

fortwahrend ein. Mit aller Miihe betrachte ich schliefilich mit offe- 
nen Augen den See . . . Auf dem Wege vom Bahnhof Locarno bis 
zum Hafen bemerke ich mit Zufriedenheit, dafi nicht ich immer der 
letzte sein werde, denn mein Vulkanfiber-Koffer tragt sich ausge- 
zeichnet, wahrend Katz seinen Quaderstein kaum 30 Schritte hin- 
tereinander schleppen kann. - Simon hat seinen teuren Bambus- 
stock in der Bahn vergessen! Er lauft zuriick; wir warten am heifien 
Ufer mit der Steinbriistung. 

Ich setze mich auf die Briistung. Das war der erste Augenblick ruhi- 
gen Genusses. Vor uns blitzen die Boote am Ufer in ihrer Holz- 
farbe. Der See ist blau, die Berge treten, in einen ganz feinen 
Schleier gehullt auf der Seeseite weit zuriick. An unserm Ufer sehen 
wir die heifien Abhange mit Villen und Hotels hinauf ; dort liegt 
auch, ein grofier gelbbrauner Bau auf einem Felsen, Madonna del 
Sasso. - Simon kommt mit dem Stock zuriick und wir gehen aufs 
geratewohl zur Madonna del Sasso hinauf. Nach einer Weile begeg- 
nen wir auf einem schmalen steilen Weg zwischen Villen einem 
Brieftrager. »Dove...?« Wir miissen zuriick und er geht voran, 
sehr schnell. Ein Graben kommt - ich falle beim Springen; als ich 
glucklich herausgekrabbelt bin sind die anderen verschwunden. Ich 
nehme einen Weg, der sich aber bald verlauft, gehe zuriick auf 
einem zweiten. Endlich hore ich irgendwo von unten die »Winter- 
sturme«. Bei der Drahtseilbahn auf M. del Sasso komme ich heraus 
und finde Katz und Simon, die auf mich warten. So schnell verges- 
sen ein solches Intermezzo ist - es ist fur ein paar gegenwartige 
Minuten unangenehm; denn in 2 Std. ging der Dampfer von 
Locarno nach Stresa, wir hatten uns einzurichten mit unserer Zeit.- 
Der Weg geht in Windungen bei der Drahtseilbahn herauf, mafiig 
steil und gepflastert; zu Seiten hohe Biische, manchmal starke Duft- 
wellen (denn alles bluht hier) und in grofieren oder kleineren 
Abstanden ganz minderwertige Kapellen. Doch beleben sie den 
kurzen Weg, der besonders schon ist angesichts eines grofien Via- 
dukts der Drahtseilbahn, das aus dem Griin hervorsteigt. - Oben 
geniefien wir zuerst die Aussicht von einem Umgang am Fufi der 
Klosterkirche. Schon hier zeigt sich das Charakteristische im Land- 
schaftsbild des Lago maggiore - »das Weitlaufige« mochte man es 
nennen. Die Berge treten vom See zuriick, oder beriihren sie ihn, so 
sind sie ganz sanft geneigt, die Bewaldung tritt zuriick vor Hausern 
und freien Anpflanzungen. Sieht man durch den Krimstecher die 



256 Autobiographische Schriften 

einzelnen Wege am See mit den scharfen Schatten der kleinen 
Baume, so steigert sich der Eindruck der Hitze fast zum Sichtbaren. 

- In der Kirche selbst fallt aufier mittelmafiigen und pathetischen 
schlechten Gemalden nichts auf . Durch das Klostergewolbe selbst 
steigt man dann weiter hinauf . In einer Nische sitzen betende Mon- 
che. Leibhaftig! Ich habe ein Gefiihl als sahe ich plotzlich im Tier- 
garten eine Palme oder trafe einen Lowen in der Leipziger Strafie. 
Im Laufe der Reise habe ich mich dann an diesen Eindruck 
gewohnt, der zuerst eine Art Sturmlauf gegen mein Kulturbild lief. 

- Oben setzten wir uns dann zu Bier und Limonade hin, nachdem 
wir uns umstandlich iiber den Preis verstandigt hatten. Die Kellne- 
rin konnte nur italienisch und demgemafi verlief denn auch der erste 
Akt des Zahlens. Sehr schuchtern bringt man zuerst das Wort: 
pagare iiber die Lippen. Eine Sprache, die man nicht einigermafien 
beherrscht, zu sprechen, klingt unnatiirlich und fast liignerisch fiir 
den Menschen selbst. Auf dem Riickwege kauften wir Kirschen, 
wobei wir dann zum ersten Male im Gewicht betrogen wurden. 
Wie in vielem anderen, brachte dieser Tag auch im Mittagessen die 
erste Ubung eines dauernden Brauches. Es war schon gegen 4 Uhr, 
als Simon, kaum auf dem Schiffe angekommen, begann, die erste 
Verteilung der Vorrate vorzunehmen, die er in Freiburg auf 
gemeinsame Kosten eingekauft hatte. Wir erfuhren das iibliche hors 
d'oeuvre: Brot mit Sardellenbutter - 1 bis 2 Scheiben, schnell und 
gleichmafiig verabreicht. Darauf Brot mit Wurst in grofieren Men- 
gen. Kirschen. Zum Schlufi: 2 Bonbons aus der Tute. Durch die 
lakonische Bestimmtheit dieses Menus erwarben wir die offenbaren 
Sympathien einer alteren Dame, die neben Simon safi. Sie begann 
eine Unterhaltung, zunachst italienisch, bot Simon Cakes an, wor- 
auf er »no« erwiderte. Auf einen Einspruch von mir meinte er: »Zu 
so einer alten Schachtel kann ich doch nicht >Grazie< sagen!« Darauf 
fing die Dame an, fliefiend Deutsch zu sprechen. Sie wohnte am See 
selbst in einer eigenen Villa. Auf der nachsten Station stieg sie aus - 
nachdem sie uns triibe Wetterprophezeiungen gegeben hatte. Wah- 
rend der folgenden Stunden blieb unsere Aufmerksamkeit zwischen 
der Schonheit des Sees und der Wolken, die sich naherten geteilt. 
Gegen Abend war die Aussicht nach dem Gotthard verdeckt und 
der See wurde nebelig. Es wurde ziemlich kiihl und der Wolken 
wegen friiher als zu berechnen war dunkel. Anderthalb Stunden 
sahen wir die Lichter von Stresa in geringer Entfernung vor uns. 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 1 2 257 

Aber wir naherten uns ermudend langsam, das Schiff fuhr in Zick- 
zacklinien von einem Ufer zum andern. Wir wurden miide - Simon 
und ich hatten noch eine langere Unterhaltung liber Schiller - bis 
wir an der gespenstig dunklen traurigen Isola madre hielten. Wir 
machten uns fertig. In Stresa fanden wir den Hausdiener des 
Hotels, das wir in Aussicht genommen hatten, am Bahnhof. Doch 
war kein Platz mehr fiir drei Personen. Man fiihrte uns in ein neben- 
liegendes Hotel. Den Eingang bildete eine grofie Halle, eine dunkle 
Treppe, die vom Hof aufstieg folgte, mit zwei Lichtern ging der 
Wirt durch eine Reihe von Wohnzimmern, die nichts von Hotel- 
raumen hatten, und kam schliefilich zu zwei Schlafzimmern. Der 
Preis (2 fr. pro Bett) entsprach unseren Wlinschen. Der Wirt, ein 
dicker, altmodisch aussehender, aber sehr gef alliger Mann hatte den 
Vorzug, da£ man sich franzosisch mit ihm verstandigen konnte. Bei 
schonem Wetter sollten wir am nachsten Morgen zeitig zur Bestei- 
gung des Monte Motarone geweckt werden. Sonst um 9/1 Uhr. Er 
verabschiedete sich, kam aber gleich noch einmal wieder, um die 
Richtung nach den Toiletten zu beschreiben. Ich erinnere mich 
nicht mehr, da ich sie wahrend meines Aufenthaltes nicht kennen 
lernte. - Nach Abrechnung mit Simon und Regulierung der Kasse 
waren wir schnell im Bett. In der eigentiimlich erfullten Stimmung 
nach einem Reisetage, und besonders einem so langen, horte ich 
noch kurze Zeit durch das offene Fenster das Rauschen des Sees. 
Am nachsten Morgen war ich zuletzt beim Frtihstuck. Wir waren 
um 9/4 geweckt worden, doch war das Wetter, wie wir unten sahen 
recht schon und wir argerten uns. Doch war nichts weiter anzufan- 
gen. Aber Friihstuck mit eigentiimlicher Butter und dem starken 
Kaffee dieser Gegenden wurde genossen, darauf eine Gondel 
gemietet, die uns zur Isola madre, dann zur Isola bella fuhr. Auch 
das Gepack wurde mitgenommen, da wir von Isola bella aus mit 
dem Dampfer weiter wollten. Der See war ruhig, doch noch ohne 
die blaue Farbe, die man auf den Bildern sieht; die Ufer aber und die 
Kette des (Monte Ceneri) und Simplon, die am Vorabend bedeckt 
gewesen war, lagen ganz klar. Es ist sehr schon, in einer Gondel zu 
fahren, wenn man die Insel vor sich hat, sich ganz, ganz langsam 
nahert, und viel, viel Zeit hat. Daft wir auf den M. Mottarone ver- 
zichtet hatten war uns nun ganz lieb; wir hatten diese Fahrt sonst 
nicht gehabt. - Die Fiihrung auf der Isola madre hatte ein Gartner, 
deren es, wie wir zu unserm Staunen erfuhren, zur Pflege des gro- 



258 Autobiographische Schrif ten 

fieri Parks nur drei gibt. Er nannte in einem Sprachenkonglomerat 
die Namen der Pflanzen, schnitt auf seinem Rundgang zugleich 
welke Zweige ab(,) raumte Unkraut fort und vergewisserte sich 
seines Trinkgelds, indem er von Zeit zu Zeit drei Blumen fur jeden 
von uns abschnitt. Da der Gartner auf Isola bella das gleiche Verf ah- 
ren hatte, besafien wir ein paar Stunden spater einen ganz schonen 
und kostbaren Straufi. Der Rundgang auf der Isola madre war eine 
botanische Offenbarung, Pflanzen von denen ich niemals eine Vor- 
stellung hatte- aufier der, dafi sie in ganz fernen Landern wachsen - 
standen vor mir. Von einem solchen Reichtum in den Formen von 
Baumen und Palmen, von der Grofie mancher Gewachse, wie der 
Erika, die ich dort sah, von der Farbenstarke mancher Blumen, 
hatte ich niemals eine Ahnung gehabt. Dazu kommt die Schonheit, 
in der das alles harmonisch oder uberraschend angeordnet ist. Der 
blaue Himmel, der Blick auf den See und die Ufer - und wieder die 
Insel: zwei ganze schone Welten scheinen nebeneinander zu ste- 
hen. 

Auf Isola bella ist man nicht gleich im Park, sondern mufi schnell 
ein Schlofi mit viel ermudendem Prunk, der oft kleinlich oder prot- 
zig ist, bewundern. Schon sind einzelne Raume, einzelne Schranke, 
alle Blicke auf den Park. - Der Tag hatte schon einiges Geld geko- 
stet; der Fuhrer durchs Schlofi bekam diesmal, trotz alien Klim- 
perns kein Trinkgeld. - Im Park hatte wieder ein Gartner die Fuh- 
rung. Alles ist hier kiinstlich. Der Aufbau von Statuen, Grotten und 
Ter(r)assen unterbricht aufdringlich die Natur. Eine Gartenkunst, 
die an sich kunstvoll sein mag, unmittelbar nach dem Anblick der 
Isola madre aber sehr ungliicklich wirkt. Auch fehlt der Isola bella 
im ganzen das Vornehme, Isolierte ihrer Nebenbuhlerin. Ein gro- 
fies Hotel, Verkaufsbuden und Hauser, ja, auch die Nahe des 
Ufers, benachteiligen sie gegeniiber der Isola madre. 
Auf der Dampferfahrt nach Luino konnten wir den See schon ganz 
blau sehen. Zwei Kapuzinermonche und unter vielen Marktleuten 
eine schone Italienerin fuhren eine Strecke auf dem Schiff . In Luino 
machte Simon Einkaufe, Katz und ich warteten auf einer Bank am 
Quai. Eine ganze Weile dauerte es, bis Kutscher und Gepacktrager 
merkten, dafi wir wufiten, was wir wollten, d.h. nichts von ihnen. 
Die dritter Klasse Wagen der Kleinbahn von Luino nach Ponte 
Tresa sind wie unsere 4 ter Klasse Wagen gebaut und erleichtern so 
den Genufi der Fahrt nicht. Die Bahn biegt bald in ein ganz schma- 



Meine Reise in Italien Pfingsten 191 2 259 

les, ganz unbewohntes, von ganz griinen Hiigeln umschlossenes 
Tal ein. In einer offeneren durch Hauser und Hiigel belebten 
Gegend tritt sie heraus und halt in Ponte Tresa am Luganer See. 
Der italienischen Natur des Lago maggiore mit seinen weiten, 
schlaffen Zugen und blassen Farben der Ufer, tritt hier Schweizer 
Art entgegen. Die Berge bis hoch hinauf dunkel bewaldet oder 
schroff, felsig kahl. Oft verschwindet das Ufer, wenn die Berge 
senkrecht zum See abstiirzen. Und die Gebirge bilden nicht wech- 
selnd verbundene Ketten, sondern oft genug einzelne Berge von 
willkiirlichen Formen wie den steilen S. Salvatore bei Lugano. Die 
Fahrt war sehr sturmisch; der See zeigte Schaumkamme auf seiner 
ganzen Flache; es ist ein Anblick, der unglaublich und iiberra- 
schend wirkt. Mit uns auf dem Hinterdeck fuhr eine grofte Anzahl 
junger Leute mit einem Fiihrer, streng hochtouristisch gekleidet. 
Das Gesprach drehte sich um Geologie, sie hatten samtlich geologi- 
sche Karten. Augenscheinlich eine Studienreise. Ein sehr freier, 
kameradschaftlicher Ton beherrschte alle; die Unterhaltung beweg- 
te sich gleichmaftig ruhig zwischen den Gruppen. Einzelne der jun- 
gen Menschen fielen mir in ihrem Ernst auf; besonders einer stu- 
dierte seine Karte, aft etwas Chokolade und blickte nur auf, um 
anderen etwas anzubieten. Es war wohl der jiingste. 
Das erste Hotel, an das wir uns in Lugano wandten, ein deutsches 
war wiederum besetzt. Doch wies man uns an ein zweites benach- 
bartes. Wir fanden gute Zimmer, in denen man sich mit einigem 
Behagen ausruhen konnte. Vor dem Abendbrot schrieb ich Karten 
auf einer Ter(r)asse. 

Aufter uns saften noch zwei andere junge Leute, Touristen am Tisch 
und ein dicker Herr am Tafelende - neben ihm seine Frau, die leider 
Zahnschmerzen hatte. Dies veranlaftte den einen der jungen Herren 
zu zahntechnischen Erorterungen, in denen er, als hoheres Seme- 
ster der Zahnkunde, energisch den Satz verfocht, es sei iiblich, die 
Nerven kranker Zahne auszuziehen. Einigermaften kindisch sprach 
er dauernd von seinem Chef. Der Mann der leidenden Dame fiihlte 
sich aufterordentlich wohl. Mehrfach betonte er die Nahe der 
Jugend, die er geniefte, daft es frohlich hergehen miisse unter jungen 
Leuten; er versuchte sich durch Anstoften und »Prost« nach alien 
Seiten in verspatete Illusionen zu versetzen. Im iibrigen war er ein 
Original und gab eine vorziigliche Beschreibung seines Besuches in 
einer katholischen Kirche. »Da wa'n Priester. Kommt a auf mich 



i6o Autobiographische Schriften 

zu, fragt >was mein Begehr ware< >was mein Begehr ware<«, indem er 
sich vor Lachen schuttelte brachte er das in ausgezeichnet aufdring- 
lich lispelndem Ton vor. »Mache ich so.« Dabei fuhr er mit dem 
dummsten Gesichtsausdruck mit seinen Handen umher und schlug 
das kath(olische) Kreuz. - Auf die Dauer fiel er etwas auf die Ner- 
ven - wir standen als die ersten auf und gingen zum See hinunter. 
Die Straflen fallen ganz steil zum Ufer ab. Unten ging es zuerst bei 
bequemem Gesprach uber Musik auf der Hauptpromenade entlang 
bis sie in eine ziemlich dunkle Strafie mit kleinen Hotels miindet. 
Nach wenigen Schritten hdren die Hauser auf; vorn erhebt sich die 
starke dunkle Silhouette des S. Salvatore auf dem Lichter den Weg 
der Drahtseilbahn bezeichnen; rechts hinter einer kleinen Steinbrii- 
stung das Ufer und der See. Ab und zu tasten breite Streifen der 
Scheinwerfer in Funktion(?) die Flache ab. Es wird sehr viel 
geschmuggelt. Wir setzen uns auf die Briistung und lassen die Beine 
uber den Strand baumeln. Am anderen Ufer erhebt sich der M. Bre. 
Einzelne Lichter von Hausern - schamlos aber eine Art Lichtpla- 
kat: Von Zeit zu Zeit wird in grofien belichteten Buchstaben das 
Wort: M. Bre sichtbar. - Das gibt den Gegenstand unseres Gespra- 
ches: welche Moglichkeiten sich wohl bei konsequenter Durchfuh- 
rung des Prinzips ergeben? Soil man Bergsilhouetten elektrisch 
beleuchten? oder die ganze Kuppe? Vielleicht kann man (eine) 
Aktiengesellschaft zur elektrischen Bergbenennung und Gebirgs- 
taufe griinden? 

Der Riickweg verlangsamt sich, als die steile Strafie anfangt, Es ist 
gegen 10 Uhr - aber die Geschafte sind noch of fen. Auf der Hohe 
stehen wir bei einer Kirche, die ganz hell vom Mond beleuchtet ist. 
Und gleich darauf sind wir zu Hause. Seltsam! wie die One sich so 
bei halber Beleuchtung zu verschieben scheinen. Plotzlich, ohne es 
zu wissen - bin ich irgendwo - gerade zu Hause! - 
Der steile Anstieg hat mich etwas ermiidet. In dem Zimmer, das 
Katz und ich bewohnen, steht ein Korbsessel. Ich riicke ihn vors 
Fenster und lehne mich hinein und sitze so gegen eine Viertel- 
stunde, wahrend Katz sich auszieht. Im Fenster sehe ich nur wenig. 
Hinten schliefit der Bahnhofshugel ab; von unten kommen die 
G(e)leise einer Drahtseilbahn und iiberall stehen Baume - auch 
seitwarts ist ein Teil eines Hauses zu sehen - und die Laternen der 
Drahtseilbahn. Schon ist da{fi) man den ziemlich vollen Mond 
nicht sieht. Ich warte - ob er noch hinter dem Haus und ein paar 



Meine Reise in Italien Pfingsten 191 2 261 

Baumen aufsteigt und sehe jetzt nur, wie er allem die Farben gibt. 
Niemals vielleicht nach dem Abiturium ist mir so stark wie jetzt, 
das Unglaubliche in den Sinn gekommen, dafi ich nicht mehr Schii - 
ler bin, keine Antworten geben muE, dafl mein Morgen keinem 
unterstellt ist und meine Gedanken kein{e) Fassung und Befriedi- 
gung im Aufsatze mehr finden. Das alte Bewufitsein emporte sich 
noch einmal gegen das neue, das nun doch einziehen mufi. - Katz 
gibt mir einen sanft gemeinten, aber in diesem Zusammenhange 
doch sehr aufreizend wirkenden Schlag auf die Schulter. Ich gehe 
aber doch noch nicht zu Bett, sondern setze mich jetzt zu seinem 
Arger hin und schreibe noch 3-4 Karten an Verwandte. 
Die Unternehmungen des nachsten Morgens verwirrten sich etwas. 
Da der Schalterdienst (am Pfingstsonntag) mehr als lassig war, ver- 
zogerte sich durch Sorge um das Gepack unser Marsch nach Gan- 
dria- wo wir dann schliefilich einen spateren Dampfer als beabsich- 
tigt war, nehmen mufken. Wetter und Weg waren gliihend heift; 
wir hatten den heifiesten Tag der ganzen Reise. Die Chaussee steigt 
liber die Ufer und bald biegt ein engerer Weg zwischen Villen, spa- 
ter zwischen Gebusch und hohen Felsen ein. Der Weg ist hier in den 
Fels gesprengt und an einer Stelle sogar als Tunnel durch einen 
gewaltigen vorspringenden Block gefuhrt. Ganz tief unten liegt 
immer der gedrangte blaue See und den Ruckblick beherrscht der 
groteske S. Salvatore. Massig in seinem ganzen Aufbau, so daft sein 
gebogener Fels als Zipfel mit dem Haus darauf wie eine kuhne Para- 
doxic wirkt. Gandria. Das sind Hauserruinen, Steinhaufen, Glut, 
griine Anpflanzungen in den kleinen Hafen, Treppenstufen von der 
Hohe eines halben Meters. Das Dorf stiirzt von der Hohe zu(m) 
Ufer herab. Unaufhaltsam, von Haus zu Haus. Unten kommt der 
ganz kleine Dampfer. Wie er vorwarts rutscht auf dem glatten See! 
Aber wir bekommen ihn nicht mehr, trotzdem wir atemlos von 
Stufe zu Stufe, durch die schmutzigen Torwege hin und her rennen. 
Wir finden das Ufer nicht. Unten fahrt schon der Dampfer ab, wah- 
rend eine Frau uns auf »a la stazione« den Weg zuriick weist. - Ich 
war miide, schon von Zeit zu Zeit zuriickgeblieben und finde mich 
plotzlich allein in diesem Zaubernest. Von unten kommen Reisende 
und klettern zur Hohe hinauf. Ich hinterher, in dem Wunsch, einen 
Uberblick zu bekommen und die Dampferstation zu sehen. Da 
muftten ja wohl die anderen warten. Es geht hoher und hoher- die 
Reisenden sind schon in irgend einer Seitengasse verschwunden - 



262 Autobiographische Schriften 

hoher und hoher. Irgendwo biege auch ich ab. Es scheint unmog- 
lich auf den Weg zu kommen, von dem wir eben heruntergelaufen 
sind. Auf den Stufen brennt die Sonne, als wenn die Steine zerfallen 
sollten. Auf den Beinen kann ich nur mehr mit Miihe stehen. Mit 
den Handen, immer behindert durch den Stock klettere ich hoch. 
Auf einmal bin ich vor einem Haus, hier ist der Weg zuende. Nir- 
gends in der ganzen Gegend sieht man Menschen. Auf der schmalen 
Mauer eines Weingartens spaziere ich jetzt zuriick und bin gefafit 
jeden Augenblick herunter zu fallen. Aber ich will immer weiter, 
bis ich in der Breite liber das Dorf hinausgekommen bin und viel- 
leicht iiber den Abhang zum Ufer kommen kann. Bald habe ich 
denn auch die Hauser hinter mir, der Abhang liegt vor mir. Grasbo- 
den - aber so steil, dafi ich hinunter rutschen mufi und nicht gehen 
kann. Ich lande in einer Weinanpflanzung, die ich absuche bis ich 
auf eine kleine Treppe sto&e, die nach unten fiihrt. Wie ich sie hin- 
unterstiirzen will, falle ich erschopft hin, die zweite Ubelkeit folgt 
und ich ruhe mich drei Minuten aus. Dann die Treppe hinunter, ich 
lande auf einer Gasse, die zum See abfallt - da, ein Schild, ein 
Restaurant, in dem die anderen sitzen. Ich lasse mir von meiner 
Erschopfung wenig merken - und erhole mich bei einer Limonade- 
Simon wird im Gesprach zur Graphologie bekehrt. Und nach einer 
Stunde kommt der Dampfer auf dem wir Gandria verlassen, eins 
der einzigartigsten Nester sicher, auch um Mittag verrufen, in dem 
Simon seinen teuren Stock endgiiltig stehen liefi und nicht wieder 
bekam. Die Fahrt genofi ich in begreiflicher Miidigkeit nur teil- 
weise. Die Eisenbahnstrecke von Porlezza nach Menaggio, das 
schon am Comer See liegt, ist im letzten Teil schon, wo die Bahn in 
Kurven, an Cypressen und weifien Hausern vorbei zum See 
absteigt. In 20 Min ist man dann mit dem Dampfer in Bellagio, wo 
sich die Wege trennen mogen. Denn nun kommt der Individualis- 
mus der Rassen zu schrankenloser Herrschaft. Uns 3 aber fiihrte er 
in das Hotel de la Suisse. - Nach kurzer Ruhe kam noch eine stille 
Bootfahrt auf dem schonen See zu stande. 

Die Ufer haben das Dunkle und Felsige vom Luganer See; sind aber 
doch nicht so von Bergen erftillt und lassen auch dem Auge Spiel- 
raum in einem von Baumen und hellen Villen belebten Vorder- 
grunde. In der Feme sieht man Schneeberge. Es schien uns im Boot, 
als hatten wir die schonste Vereinigung des Lago Maggiore und des 
Luganer-Sees vor uns. 



Meine Reise in Italien Pfingsten 1912 263 

Beim Abendbrot auf der Ter{ r)asse sahen wir das Dunkeln auf dem 
See. Wir blieben lange sitzen, von einem Gesprach liber Kunst, das 
ich mit Simon hatte, gefesselt. Und schliefilich gingen wir sogar 
noch ans Ufer, wo eine Italiener-Gesellschaft, Sanger und Musi- 
kanten, Volkslieder und Arien spielen. Das gab eine merkwiirdige 
Fortsetzung des wissenschaftlichen Gespraches mit der Energie im 
Kampf um das Recht gefuhrt auf einem dunklen Weg, unterbro- 
chen durch die Aufmerksamkeit, die man dem Gesang und den 
roten und weifien Kleidern der Italiener geben mufke. Erst gegen 19 
Uhr oder noch spater als wir schon lange in den Betten auf unserm, 
diesmal gemeinsamen Zimmer lagen, endete notgedrungen die 
Unterhaltung. Simon hatte sie durch die grobsten Ausfalle gegen 
moderne Dichtung recht stark belebt. 

Friih am nachsten Morgen waren wir in Cadenabbia und bald in der 
Villa Carlotta. Sie hat einen schonen klassischen Aufgang - hinter 
dem kraftig geschwungenen gufieiser(n)en Toreingang ein rundes 
Bassin, auf dem Seerosen schwimmen und dann symmetrisch abfal- 
lende Terrassen, an denen sich Rosen heraufranken. Vom Schlosse 
selbst bekommt man nur den Eingangsraum zu sehen, in dem Pla- 
stiken stehen. Hauptsachlich Canovas. Und es ist interessant, wie- 
viel scheuer und schoner Amor und Psyche hier in ihrer ersten 
Umarmung zu sehen sind, als in all den unendlich vielen spateren, 
in denen sie doch keinen neuen Ausdruck ihrer alten, uraken Liebe 
finden - die sogar schon vor Canova war. - Daneben sah ich, wie 
sehr auch Thorwaldsens Alexanderzug in seiner Kraft an einigen 
Stellen wenigstens, das klassizistisch-siifiliche vieler Abdrucke wi- 
derlegt. 

Der Park war an vielen Stellen schon abgebliiht. Die einzelnen 
Pflanzenungeheuer griiften hier den, der vom Lago maggiore 
kommt schon als harmlose Bekannte - aber eine neue Variation 
haben sie doch in einer urwaldartigen Schlucht gefunden, wo in 
enger Fiille Unterholz, Bambus- und vor allem dicke Farnbaume 
mit schwarzen Stammen stehen. - Wir wenden den Blick und fin- 
den die Bliiten der Azaleen, wie sie in einzelnen Biischen aus den 
Rasenrandern auf den Weg sich drangen - es ist unmoglich, die ein- 
stigen Farben der abgebliihten Felder in denen nur die Blatter ste- 
hen, sich vorzustellen. Die letzte Schonheit des Parks kann aber 
nicht genossen werden, denn die Sonne, die anfangs noch schien, ist 
nun vollstandig verschwunden und der Himmel grau bedeckt. - 



264 Autobiographische Schriften 

Das nahm auch der Dampferfahrt nach Como manches von ihrem 
Reiz. Der See ist hier weit und manchmal einformig, bis man sich 
wieder dem Ufer nahert, wo man dann die einzelnen Dorfer im 
Genauen sieht, die engen Strafien und Hafen, die von den Felsen 
sich senken und Briicken zwischen manchmal schon baufalligen 
Hausern. Von oben stiirzen einzelne starke Bache tosend in den 
See. Wenig interessant ist die Dampfergesellschaft - nur fallt dem 
Neuling, der eben die ersten Kilometer in Italien fahrt, auf mit wel- 
cher Haufigkeit und absichtlicher Intensitat die Leute spucken. 
Meist rauchen sie einen furchtbaren Tabak. - Je mehr das Schiff sich 
Como nahert, desto flacher werden die Ufer. Cypressen stehen am 
See neben den vielen Villen. Ein pyramidenfdrmiger Bau mit der 
Inschrift: Philipp Frank fallt auf - das aufdringliche Grabmal eines 
Sonderlings. Auch in Como ist es heifi und bedeckt. Nach einigem 
Zogern verzichten wir auf die Fahrt auf einen nahen Aussichts- 
punkt; entwickeln vielmehr auf einer Bank am Ufer unsern Pro- 
viant, zu gleichen Teilen aus Eingekauftem und Mitgebrachtem 
bestehend. Althergebrachtes Mittagessen verteilt Simon unter dem 
regelmafiigen Zeremoniell. In unserer unbekummerten Ruhe erre- 
gen wir die Aufmerksamkeit der Hafenwache. Die Stadt ist durch 
irgend etwas Aufterordentliches belebt. Musik wird von einem 
andern Teil des Hafens horbar, grofie und kleine Menschentrupps, 
fast alle mit italienischen Fahnchen im Knopfloch marschieren vor- 
bei, z.T. Touristen. Doch erfuhren wir den Anlafl zu alle dem 
nicht. Als ein leiser Regen sich erhob, brachen wir zum Dom auf. 
Ein weifier Marmorbau, dessen Fassade durch tiefe Nischen, in 
denen Figuren stehen, sehr eindringlich geteilt und belebt wird. 
Uber dem gotischen Portal liegt der Kreis eines ungeheuren Rund- 
fensters. Wir betrachten noch die Seiten, die nichts von der steilen 
Schonheit und Gliederung der Front haben, und gehen dann hinein. 
Kalt und nuchtern ist der Eindruck; auch hat der Dom im innern 
wohl keine grofien Schonheiten im einzelnen. Mit der Elektrischen 
bringen wir unser Gepack und uns zur Bahn, und es findet sich auch 
hier Gelegenheit, uns 20 Centesimi zu viel abzunehmen. 
Mailand begriifk den Fremden nicht italienisch, vielmehr ubereuro- 
paisch. Mit alien Mitteln bringt man ihm das Sensationelle zum 
Bewufksein: hier ist die erste italienische Stadt, die du betrittst und 
die grofke. Die Aufdringlichkeit der Hoteldiener kann nicht uber- 
troffen werden und wir spiirten sie ganz besonders. Unter Simons 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 12 265 

Fiihrung stellten wir am Hauptportal unsere Koffer ab und studier- 
ten die Karte. Einer nach dem andern kam mit der Phrase »deut- 
sches Hotel«, die er kaum sprechen konnte und einem schmutzigen 
Zettel, der das Hotel anpries. Wir nahmen alles entgegen und Simon 
betont grandseigneurmaftig sein: Wir werden darauf zuriickkom- 
men - jawohl - wir sind orientiert. 

Wir haben unser Hotel nach dem Baedeker gewahlt und gehen liber 
den Platz - Gepacktrager und Hotelangestellte folgen. Als das 
Schreien vergeblich bleibt - geht einer nach dem andern fort. Zufal- 
lig treffen wir dann unsern Hoteldiener. - 

In dem deutschen Gasthof gab man uns ein Zimmer mit drei Betten, 
dessen uberaus groteske Geschmacklosigkeit nicht iibergangen 
werden darf. An der Langswand stehen in Abstanden von l A Meter 
die drei Betten nebeneinander, zwei Nachttische dazwischen. Das 
eigentliche Bett ist aber Nebensache. Beherrschend ist ein unge- 
heuer langer holzerner Aufbau dariiber. Vollig zwecklos stellt er die 
Vereinigung von allerlei geraden und krummen Linien in einen 
plumpen oberen Bogen vor und dies Spiel von Sinnlosigkeit und 
vehementer Hafilichkeit wird lebhaft gesteigert durch kleine Auf- 
bauten der Nachttische in ahnlicher Art und durch das dritte und 
letzte Bett, das die Scheuftlichkeiten der beiden andern in seinem 
Aufbau variiert. Das Ganze erweckt schliefSlich den unliberwindli- 
chen Eindruck eines Gotzentempels, und in ihrer dummen aus- 
druckslosen Hohe scheinen diese Uberbauten auf glaubiger Vereh- 
rung der Schlafer zu bestehen, die zitternd zu ihren Fiiften ent- 
schlafen. 

Doch das war erst viele Stunden spater. Wir waren fruh angekom- 
men und wollten am Nachmittag den Campo santo, abends, wenn 
moglich ein Theater besuchen. Es war zwischen der lustigen Witwe 
und »Gloria« einer fiinfaktigen Tragodie d'Annunzios zu wahlen. 
Und wir entschlossen uns fur diese in der Hoffnung, sie wiirde 
einen Stoff aus dem italienischen Kriege recht bunt-pantomimisch 
behandeln. Wie wir so etwas irgendwo gelesen zu haben glaub- 
ten. 

Es war an diesem Tage sehr hei£. Wir fuhren in einer breiten, niich- 
ternen und schattenlosen Allee auf den Campo santo zu. Ein groEes 
ausdrucksloses Gitter grenzt am Ende der Strafie einen Hof ab, auf 
dem weit ausladend eine Halle in weifien und roten Steinen sich 
erhebt. Der Bau wirkt unruhig in den Farben und unaussprechlich 



l66 Autobiographische Schriften 

leer mit seinen weiten maurischen Bogen, die aneinander stofien 
ohne durch architektonische Gliederungen irgend Ausdruck zu 
erhalten. Beherrschend fur den Eindruck ist die gewaltige Ausdeh- 
nung. Auch schien die Sonne prall auf den Platz als wir ihn sahen, 
und dieses Werk, das Millionen gekostet haben mag, wirkt nicht 
anders als die Vorhalle zu einer Kolonialausstellung. Doppelt pein- 
lich beriihrt dies alles, wenn man an seinen Zweck denkt. - 
Doch sollten wir bald merken, dafi Weihe iiberhaupt nicht das Zei- 
chen des Ortes ist. Die Mailander, gebildete und ungebildete 
machen hier in der Halle oder dem steinernen Garten ihren Nach- 
mittagsspaziergang. - In der Haupthalle sind uberall an den Wan- 
den Biisten der grofien italienischen Toten mit Gedenktafeln ange- 
bracht. Der Stein ist recht schmutzig. Gegeniiber vom Eingang 
stent der graue Steinsarkophag mit der Inschrift Alessandro Man- 
zoni - darauf ein eherner Lorbeerkranz. Sehr ernst wirkt ein(e) 
gewisse tempelahnliche Form des Sarkophags, der giebelartig 
zulauft. Die anstofiende Halle ist schon ganz hell; und alien drangte 
sie in ihrer Anlage die Erinnerung an das Antilopenhaus im Berliner 
Zoologischen Garten auf. Die Wande sind in kleine Facher geteilt, 
in die meist Tafelchen mit Blumen, Photographien der Toten und 
Gedenkworten eingelegt sind. Hier sind Aschenreste der Toten. 
Unsagbar kleinlich wirkt diese Anlage. Jedes Fach mit seine(n) 
besonderen Tafeln, Blumen {,) Bildern. Dann in den anstofienden 
Raumen folgen wieder die banalsten Statuen. Unser Schritt 
beschleunigt sich immer mehr - bis wir schlie&ich noch einmal 
durch ein ganz modernes Grabmal aufgehalten werden. Zwei Mad- 
chen - in Bronze dargestellt, verlassen den grauen Gedenkstein am 
Grabe ihrer Eltera. Die altere hat die Hand ihrer kleinen Schwester 
gefafit, die noch halb gewendet steht und ein paar Blumen auf den 
hohen Stein legt, den sie kaum erreicht. Uberaus schon ist die 
ruhige, weiche Modellierung der kindlichen Korper, die sich in dem 
warmen Ton der Bronze belebt und doch nicht aufdringlich gegen 
den Stein abheben. 

Der Friedhof liegt vor uns, Nicht eigentlich ein Friedhof sondern 
ein ganz blendend helles, aufreizendes Marmorfeld. Dazwischen 
einige Geriiste, an besonders hohen Grabmalern wird gebaut. Hier 
mufi vor allem eingeschaltet werden, dafi jeder Mailander fur eine 
bestimmte und naturlich sehr hohe Summe sich einen Begrabnis- 
platz kaufen kann, auf dem er sich ein Grabdenkmal errichten lafk. 



Meine Reise in Italien Pfingsten 1912 i6y 

Der Tod, der ein Demokrat und Verbiindeter der Armen ist hat sich 
geracht. Eine ganz furchtbare Anhaufung von Haftlichkeit und 
protziger Banalitat ist entstanden - man mufi ins Mystische und 
Phantastische schweifen, um eine Erklarung zu finden. Gewifi: 
jeder Bau im einzelnen ist so gemein wie prunkvoll; aber wie dieses 
Zusammenwirken geschah, diese gesteigerte und iiberraschende 
Scheufilichkeit, das ist kaum zu vermuten. Dieser unselige Mailan- 
der Friedhof ist nicht mehr ein Denkmal des Geldes, sondern des 
Mammons. Da sind Saulen, aus deren Innern Trauergenien krie- 
chen, Kapellen, die im abenteuerlichsten Glanz bunter Scheiben 
innen erleuchtet sind, wiiste, unverstandliche Totenallegorien in 
Unmengen von Marmor ausgefiihrt, grofSe Pyramiden (von) Men- 
schen sind auf ihrem Grabmal dargestellt, wie sie im Familienkreise 
sitzen - Kreuze, auf denen die Photographien der Toten, die sich 
auf den meisten Grabern befinden, angebracht sind oder unsinnige 
Darstellungen von Liebe, Glaube und Hoffnung in ihrem Symbol: 
Anker, Saule o.a. 

Am Ende des Friedhofs liegt ein Krematorium, mit einer Urnen- 
halle im Stile derjenigen, die wir anfangs sahen. Wir hielten uns bei 
alle dem nicht lange auf, aber gingen umher, vom Entsetzen ins 
Lachen und wieder zuriickfallend ins fassungslose Schweigen. - 
Schliefllich verweilten wir noch zwei Minuten am Grabmal des 
Manzoni, aber das konnte den Eindruck einer fast physischen 
Ubelkeit, den wir mitnahmen nicht heben. 

Die Bahn brachte uns zum Dom. Sicher ist man bei seiner Betrach- 
tung ganz vom Wetter abhangig und wir hatten Gliick, indem wir 
diese grofte und doch auf ihrem breiten Fundament so schlanke 
Steinmasse gegen den blauen Himmel sahen, der im Kontrast zu 
dem Marmor noch dunkler aussah. Spater gingen wir hinein. Der 
Raum wirkt grofi und doch diszipliniert durch die starken Saulen 
mit ihre(n) Doppelkapitalen, die die Wucht der Schafte noch ver- 
starken. Die Scheiben haben satte Farben und besonders erinnere 
ich mich an den warmen gelben Lichtton, den die untergehende 
Sonne auf den Fuftboden warf, durch eines dieser Fenster hindurch. 
Dem Innern kommt der Mangel an alien aufdringlichen Altarbil- 
dern sehr zu statten - auch stehen keine Banke im Dom, das alles 
erhoht das Bewufksein, sich in einem freien, grofi gegliederten 
Raum zu finden, den das Licht iiberall gedrangt erfiillt. Man konnte 
wohl kaum zu giinstigerer Zeit hinkommen als wir. Das Dach woll- 



268 Autobiographische Schriften 

ten wir erst am nachsten Tage besteigen und so gingen wir zum 
Teatro Olympico, um die nicht ganz billigen Billets zum Abend zu 
holen. Nach dem Abendbrot schlenderten wir wieder zum Theater 
zuriick. Zu alledem hatten wir viel Zeit, denn die Vorstellung 
begann erst um 9 Uhr. Spater merkte ich ubrigens, dafi ich bei die- 
sem Abendbrot sehr wahrscheinlich meine Brieftasche verloren 
habe ; zufallig war kaum etwas von Wert darin - trotz meiner Nach- 
frage habe ich sie nicht wiedererhalten. 

Wenn man ubrigens in Mailand eines schonen Fruhlingsabends ins 
Theater geht, so ist das nicht anders, als in Berlin - besser in Char- 
lottenburg, wenn man durch den Kurfurstendamm und die Grol- 
mannstr(afie) zum Schillertheater geht. Dann allerdings trennen 
sich die Wege und man wird im Schillertheater niemals etwas, wie 
d'Annunzios: Gloria zu sehen bekommen. 

Wenn man ins Theater hineinkommt, - die Garderobe nimmt man 
mit sich - sieht man sich einem erleuchteten Vorhang gegeniiber. 
Wir hatten einen unnotig guten Platz und konnten aus der Nahe die 
grofie Anzahl von Reklamen, die diesen Vorhang vollstandig fiillen, 
lesen, soweit das Italienisch reichte. - Es fullte sich langsam, die 
Herren rauchen im Theater. Bei den Damen fallt auf, dafi viele 
alleine hinkommen. - Um im Einzelnen den Verlauf des Stiickes zu 
erzahlen, habe ich nicht genug verstanden. Immerhin ergaben 
mimisches Spiel und vage Hypothesen der Zwischenakte, dafi es 
sich um den Kampf eines Mannes zwischen Ruhm und Liebe han- 
delte. Das Stuck liegt im Rohesten und nahrt sich nur von heroi- 
schen od(er) sentimentalen Affekten. Dementsprechend ist das 
Spiel grob und wo wir es naher verfolgen konnten, wirkt es platt 
und unkunstlerisch. Sehr spafihaft war, die genaue Kopie einer 
Sonne aus dem Fiesko hier wiederzufinden. Wie wir nachher merk- 
ten war es eine Premiere und am Schlufi wurde denn auch beschei- 
den gezischt, neben vielem Beifall. - Abgesehen vom Kiinstleri- 
schen waren wir auch durch die mangelnde Ausstattung u(nd) 
Pantomime durchaus nicht auf die Kosten gekommen. Nur die pha- 
nomenale Schlechtigkeit des Stiickes war interessant und die Beob- 
achtung, dafi mitten im Spiel, 2 Min vor dem Fallen des Vorhangs, 
ein Klingelzeichen auf dieses Ereignis aufmerksam macht. Beim 
zweiten Klingelzeichen fallt dann der Vorhang wirklich. - 
Der nachste Morgen - gegen l Az ging unser Zug von Mailand nach 
Verona - war dem Domdach, der Brera und dem Abendmahl 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 12 269 

gewidmet. Im Dom kamen wir gerade zu einer hubschen Feier. Die 
kleinen 5-6jahrigen Kinder erhalten ihr erstes Sakrament (oder 
etwas ahnliches). Sie sind alle in weiften Kleidern erschienen und 
sitzen sich in 2 Reihen gegeniiber - hinter ihnen die Eltern, zwi- 
schen den Stuhlreihen aber bewegt sich eine Art Prozession vorbei, 
worunter der Erzbischof von Mailand, der die Kinder segnet. 
Jedenfalls ist dieser Zug in schonen Ornaten, mit Lichtern - nicht 
zu vergessen, die Festkleidung der Kinder selbst, geeignet, ihnen 
einen friihen und darum nachhaltigen religiosen Eindruck zu 
geben. Als wir nach einiger Zeit vom Dache herunterkamen war die 
Feier gerade zu Ende. Die Kinder drangten sich aus der Kirche und 
da war die von Hunderten von Handen wiederholte Bewegung des 
Kreuzschlagens in ihrem Schema wenig anmutig. - Auf das Dach 
fuhrt zunachst eine bequeme Treppe - spater geht man iiber die 
glatten Steine selbst bis zu einer Briistung. Treppen durchziehen 
iiberall die abfallenden Teil-Dacher und bilden Absatze. Die Mar- 
mormasse ist so ausgedehnt, dafi man auch von oben nur nach 
bestimmten Richtungen den Platz am Fufie des Doms sehen kann. 
Auf alien Seiten erheben sich kleine und groftere Turme, Briistun- 
gen, Gelander, auf und in denen Heilige stehen. Hier kann man den 
Glauben an die Menschheit gewinnen, wenn man bedenkt, welche 
Massen heiliger Menschen gelebt haben miissen, damit dieser Dom 
gebaut werden konnte. Der Anblick ist durch diese Fiille natiirlich 
imposant und gewinnt noch viel, wenn man in einzelnen Teilen die 
Ornamente in ihren schonen Variationen verfolgt. - Wir schritten 
nicht das ganze Dach ab, sondern stiegen nachdem wir einen kleine- 
ren Teil betrachtet hatten, auf geradem Wege wieder hinunter. 
Die Brera ist in ihrer Fiille italienischer Kunst aller Zeiten ohne Vor- 
kenntnisse oder Fiihrer in kurzer Zeit nicht zu geniefien. Also ver- 
weilte ich nach Gefallen bei einzelnen Bildern und fand eine grofie 
{Menge) schoner. Wenn man hineinkommt, hat man stark ange- 
griffene und doch noch farbige Tafeln Luinis vor sich. Nach einiger 
Zeit folgt der wohl unstreitig schonste der Sale der Brera: Mehrere 
Madonnen und eine groftartige Pieta Bellinis. Daneben der 
beruhmte Christus Mantegnas. Weiterhin fiel mir noch Gentile da 
Fabriano auf in seinen architektonisch genau gegliederten, naiv und 
darum um so eindriicklicher erZahlten Szenen. Uberaus traurig ist 
die moderne Malerei der Brera; im wesentlichen schlechter Piloty. 
Bei der immerhin schnellen Betrachtung zu der wir gezwungen 



270 Autobiographische Schriften 

waren, haftet doch fast nur der Gesamteindruck, einzelne Schon- 
heiten verblassen. Und eben das will fur den Laien bei der Brera 
nicht das Beste besagen. - Jedenfalls hatte mich die Galerie, die wir 
iibrigens einzeln durchschritten, so sehr gefesselt, dafi ich es bei 
Lionardos Abendmahl zu biiflen hatte. Wir waren hundert Schritt 
auf der Strafte gegangen, als mir einfiel, dafl ich meinen Stock ver- 
gessen hatte - noch jetzt, indem ich es schreibe durchzuckt mich der 
unangenehme Schreck dieses Augenblickes. Katz und Simon konn- 
ten bei der knappen Zeit nicht warten - bei mir aber stand natiirlich 
fest, dafi ich das Abendmahl sehen wollte. Sie konnten mir nur 
einige vage Andeutungen geben, ich ohne Plan, ohne Sprachfiihrer, 
die sie natiirlich besafien, muike sehen, wie ich durch kam. Ich 
trennte mich - an der Bahn wollten wir uns wieder treffen. Ich 
zweifelte einen Moment, ob ich iiberhaupt versuchen sollte, nach St 
Maria dell{e) Grazie zu kommen. Ich eile zur Brera, habe natiirlich 
erst eine langweilige Prunktreppe hinaufzugehen, empfange mei- 
nen Stock und ziehe noch eine Erkundigung ein. Auf der Strafte 
kommt eine Bahn. Ich (schreiend): St. Maria dell(e) Grazie? Der 
Schaffner nickt und ich springe auf, trotzdem ich vorher gehort 
hatte, dafi durch diese Strafie keine Bahn nach dem Kloster fahrt. 
Ich fahre - und fahre, der Schaffner hat natiirlich in Anbetracht 
meiner Hilflosigkeit ein Trinkgeld bekommen. Ich habe das Gliick, 
daft einer Dame der Schirm hinfallt und hebe ihn auf. Der Lohn 
folgte auf dem Fufie. Denn plotzlich sind wir am Dom - und der 
Wagen halt. Ich verfiige nur iiber 4 Worte: St Maria dell(e) Grazie. 
Das sage ich denn auch. Vielleicht sogar mehrere Mai. Die Dame 
will gerade aussteigen, hort es und versteht die Sache und sagt dem 
Schaffner irgend etwas. Ich frage franzosisch: »Combien de 
temps ?« er nickt, ich will verzweifelt absteigen - er winkt mit der 
Hand. Schliefilich driickt er mir einen Zettel in die Hand mit einigen 
Zahlen und italienischem Text, der mich wohl veranlassen sollte, 
die betreffenden Strafienbahnen zu benutzen. Darauf schiebt er 
mich sanft und eine gewisse Richtung andeutend aus dem Wagen. 
Von hier aus irrte ich wild umher. Viele Haltestellen sind auf dem 
Platz - hier kommt diese Bahn vorbei da eine andere. Ich gehe der 
Richtung nach, frage an jeder Straftenecke einen Menschen, frage 
die Kondukteure, iiberall bekomme ich Antwort, nirgend verstehe 
ich sie. Schlieftlich nickt ein Schaffner auf meine Frage, ich springe 
auf und gerate noch fast unter den Wagen. Es ist inzwischen nach 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 12 271 

viertel zwei - kurz nach zwei geht der Zug. Ich weifi nur, daft ich 
das Abendmahl sehen will - weil es zu albern ist, wegen eines ver- 
gessenen Stockes Lionardos Bild nicht zu sehen. Unsinnig frage ich 
den Schaffner auf franzosisch, wie lange man fahrt. Er versteht 
naturlich nicht. Endlich halt er und zeigt eine Richtung. Ich sehe 
eine Kirche, im Dauerlauf stiirze ich hinein - es ist dunkel, irgend 
jemanden sehe ich und gehe auf ihn zu: Lionardo da Vinci? Er zeigt 
hinaus, ich laufe aus der Kirche ins Nebengebaude, bezahle - mufi 
auch meinen Stock noch abgeben. Es ist ganz ungeheuerlich, daft 
ich jetzt mein Billet habe und ich mufi in diesem Loch warten, bis 
einer von den Mannern langsam auf steht und zur Sperre geht. 
Dahinter ist der grofie Raum und Lionardos Bild. Die kahle Verfal- 
lenheit fesselt. Die Bilder scheinen die Produkte irgendeiner ratsel- 
haften Verwesung, die hier aus den Wanden heraustritt. Ich sehe 
nur Lionardos. Eine Mauer halt den Beschauer in 2 Meter Abstand. 
Ich stehe davor, mein SchweiiS trieft, der Kneifer fallt mir zu Boden, 
ich hebe ihn erschrocken auf, kann ihn nicht aufsetzen. In die 
Tasche - die Brille wird aufgesetzt. Ich kann nicht mehr empfinden 
als den Raum und das Bewufksein, so grofi und blaft nun das vor mir 
zu sehen, was ich so oft als Abbildung bewunderte. Das alles hat 
kaum eine halbe Minute gedauert. Ich laufe hinaus und die Leute in 
Livree, die im Vorraum sitzen, stutzen. Ich laufe wieder, stiirze 
mich in die nachste Bahn, steige nach zwei Minuten wieder ab und 
rufe eine Droschke. Der Mann hat einen sterbenden Gaul vorge- 
spannt. »Presto(«) und ich klopfe mit dem Stock auf den Boden. 
Gott, er fahrt mich um (sic), ich sehe, daft er notorisch einen 
Umweg macht. Aber ich kann mich nicht ausdriicken und schreie 
nur Presto. Jetzt suche ich den Kneifer, wiihle alle Taschen durch 
und er ist nicht da. Ich bin wirklich erschopft. Schliefilich sitzt er im 
Futter. - Im Hotel ist niemand mehr. Sie haben meinen Koffer 
schon mit zur Bahn genommen. Ich laufe die 3 Minuten zur Bahn, 
auf dem Perron sehe ich endlich Simon. Doch ich habe noch keine 
Ruhe, sondern muE Katz suchen, der sich jetzt verloren hat. Kaum 
sitzen wir endlich, so fahrt der Zug. - Die Fahrt nach Verona 
konnte fur meine Erschopfung nicht lang genug sein. Und anfangs 
verweigere ich auch die Annahme der Mittagsration. 
In Verona entschlossen wir uns noch im letzten Augenblick, an der 
ersten kleineren Station auszusteigen. Wir sehen uns auf einem 
freien, aber ziemlich unbelebten Platz. Nur die Bahnhofslungerer 



272 Autobiographische Schriften 

sind da und wir haben die gewohnte Unannehmlichkeit, sie los zu 
werden. Nach einiger Uberlegung, der Baedeker gab uns hier wenig 
Hilfe, entschloft Simon sich mit einem (ungefahr i6jahrigen) Hotel- 
diener vorauszugehen. Katz und ich warteten und nach funf Minu- 
ten waren beide wieder zuriick; das Hotel war gewahlt. Durch die 
Porta Nuova, ein schones an tikes Portal sieht man einen Corso. 
Eine breite Strafie, deren niedrige bunte Hauser wenig Schatten 
geben. Und das ist das erste Stadtbild, das ganz deutlich »Italien« 
sagt. In dieser Strafie liegt nicht weit vom Tor unser Gasthaus. Ein 
italienisches Gasthaus, der Bahnhofsdiener - und er schien der 
Geist der Wirtschaft zu sein, radebrecht das Deutsche gerade 
soweit, urn mit Heimatklangen Fremde zu gewinnen. Durch eine 
dunkle Stube gehn wir hinein. Kleine Tische mit weifien Tischtii- 
chern und Servietten stehen da und iiberall sitzen Fliegen. Es geht 2 
kurze enge Treppen und einen ganz schmalen Gang im Dunkeln 
entlang. Ein Zimmerchen mit 2 Betten, Fenster nach der StrafSe 
nehmen Katz und ich. Simons Zimmer habe ich nicht gesehen. Wir 
verlangen Wasser und ruhen einen Augenblick. Es klopft. In der 
Tiir erscheint ein schmutziger Junge, der einzige Gast, den wir eben 
im Speisezimmer bemerkten, und halt eine Zigarrenschachtel mit 
Postkarten. Man befordert ihn hinaus. - Wir sind bald im Freien, 
denn die Zimmer verlocken nicht. Dagegen wecken sie mein Mifi- 
trauen und ich schiitte Mengen von Insektenpulver unter das 
Laken. 

Die breite Strafie, an der unser Hotel liegt, erstreckt sich von der 
Porta nuova zum Amphitheater. Nachmittags erfullen MiiKiggan- 
ger sie. An einer kleinen Kirche vorbei, die mit einem Vorhang 
gegen die Strafie abgeschlossen ist, gelangen wir auf den Platz. Die 
gewohnlichen Anlagen, ein Springbrunnen, spielende Kinder mit 
ihren Madchen. Ein grofier dunkler steinerner Bau ragt auf: das 
Amphitheater. In einem Bogen ist der Stand fur Postkarten und 
Billetverkauf . Wir treten ein und haben die Stille der groften aufstei- 
genden Arena vor uns. Nur an einer Stelle wird die Linie des Hori- 
zonts durch grofie Trummerpfeiler unterbrochen, Reste eines 
Arkadenumbaus, d«r zu Goethes Zeiten noch stand. Treppen sind 
zwischen den meterhohen Absatzen geschlagen. Wir steigen hinauf 
bis zum Rand. Die Sonne senkt sich, vor uns haben wir Dacher, 
schmutzig und baufallig. Einige Kirchturme erheben sich; die Anla- 
gen der Forts auf den Hiigeln sind schon in Abendnebel gehullt. 



Meine Reise in Italien Pfingsten 1912 273 

Doch ist es noch ganz hell. Wie wir hinuntersehen, bemerken wir 
besonders schwarz die grofien Zugangsoffnungen, die in die Arena 
miinden. Um ganz ruhig zu schauen, setzen wir uns oben auf den 
Rand. Die Fassungsgrofie des Theaters wird abgeschatzt, dann 
berechnen wir und ich war am nachsten mit 40000 Personen. Wir 
sitzen noch eine Zeit lang schweigend, dann gehen wir am Rande 
herum. Neben den Arkaden, die noch durch Steinbogen mit dem 
Arenabau verbunden sind, steigen wir hinunter, um uns die friihere 
Lage wiederherzustellen. Doch ist nicht alles klar. Immer die 
Dacher vor Augen, setzten wir den Rundgang fort, manchmal 
sehen wir in einen der Eingangsschliinde hinein. Leider konnen wir 
nicht warten, bis die Arena von der untergehenden Sonne wieder- 
strahlt, nur ihren obersten Rand sehen wir beleuchtet, Im Verlassen 
sehen wir eine Dame, die den Bau mit einem Fiihrer besichtigt - wie 
winzig die Leute auf dem Grunde des steinernen Kraters sich bewe- 
gen, Wir gehen noch ein wenig in den aufieren Bogengangen umher 
und sehen die Keller und Gefangmsse fur wilde Tiere und Men- 
schen. Ein paar Postkarten werden gekauft. 
Durch ein paar Straften geht es auf den Marktplatz. Zwei Saulen mit 
alten Adelssymbolen erheben sich. Hauser umdrangen ihn ganz 
dicht. Die Marktbuden stehen, beherrscht von einem Holzgeriist 
fur Musiker. Es ist spate Dammerung. Hohe Hauser, schmal und 
eines mit breiter Palastfront, saulengegliedert mit dem regen aber 
undeutlichen Marktleben, verwirren uns stumm. Ich hore ungedul- 
dig, wie Simon im Fiihrer nach Namen sucht und Himmelsrichtun- 
gen feststellt. Hierher wollen wir gleich zuriickkehren. Doch erst 
geht es zur Post, wo ich in diirftigem Italienisch Marken kaufe und 
zu meinem Erstaunen noch keinen Brief der Eltern vorfinde. Einen 
zweiten Platz mussen wir erst lange suchen. 2 Palastfronten und ein 
Tor mit Barockwappen, auf der Seite eine Einfahrtsmauer begren- 
zen ihn. Es gilt nur noch, den freien Vorbau(?) eines Palastes mit 
diinnen Saulen und den gleichmafligen Bogenrundungen zu sehen. 
Davor Taubenscharen. Und wie das Tor sich vom blauen Himmel 
abhebt. Es ist dunkel. Der Markt, zu dem wir zuriickkehren, hat 
Budenlichter. Musikanten steigen mit ihren Instrumenten auf das 
Podium. Nicht weit davon setzen wir uns an einen Tisch vor dem 
Restaurant. Ich muE immer wieder die Dacher und den Himmel 
sehen; ein paar Frauen, die vorbeigehen. Eine Bude mit griinen, 
roten und gelben Getranken, die in der Nahe steht. Die ersten 



274 Autobiographische Schriften 

Klange der Musik werden erwartet. Dann sehe ich beim Spiel der 
Kapelle Gehen und Stehen der dunklen Menschen auf dem dunklen 
Platz wie rhyt(h)misch geordnet. Der Kellner betriigt mich urn 
einen Lire; Gegenstand vieler Scherze als wir schliefilich nach 
Hause gehen. Dabei schieben wir unsere in der Warme des Abends 
sich dehnende Begier an den Cafes vorbei. Ich mit der starksten, 
hake die anderen mit Spott zuriick. Jetzt finde ich keine andere Ant- 
wort, wie: aus Sparsamkeit und gespielter gleichgiiltiger Enthalt- 
samkeit. 

Der nachste Morgen bot uns gefallig die italienische Sonne unserer 
Reise. Ich kam zuletzt in das Entree, das Efiraum ist. An meinem 
Platz stand ein dickes Tafichen Chokolade. Ist das alles? J a. In 
einem Schluck trinke ich aus. Kleines Geback, lacherlich gering. 
Etwas Butter bleibt beim Schmieren iibrig. Argerlich will ich es in 
meiner Butterdose mitnehmen. Simon wehrt. Die Rechnung zeigt 
widerliche Geldschneiderei. Simon lafit sich verdachtige Summen 
analysieren. Es kommt Schwindel heraus. Beschwerde bleibt 
erfolglos. Da wird die bisher unsichtbare Instanz, der Wirt herge- 
holt. Hilflos miissen wir zusehen, wie der Wirt vom Piccolo italie- 
nisch instruiert wird. Als wir zu Wort kommen, verweigern wir i 
Lire, die das Factotum fur Koffertragen verlangt. Simon wird ener- 
gisch. Der Piccolo ergreift einen Besen und verstellt den Ausgang. 
Ein paar anwesende ebenfalls deutsche Touristen bleiben neutral. 
Im Wunsche eine Streiterei zu vermeiden, zahlen wir den Lire und 
entfernen uns fluchend. 

Am Bahnhof geben wir das Gepack fur 3'Stunden ab und gehen 
zwischen Stadt und Befestigungen auf der Landstrafie auf S. Maria 
Maggiore zu. Seltsam wirken diese Hugelwallungen, diese bald 
steilen, bald abgeschragten Mauern, die manchmal so geringen 
Hohenunterschiede der Anlagen - alles von feinem Sinn, doch ganz 
verborgen fur den Laien. Ein wuchtiges dreiteiliges Festungsportal 
allerdings uberrascht in seinem Giebelschmuck und seiner Breite. - 
In der Folge wird mein Gedachtnis von den einzelnen Bauwerken 
nur noch sehr unvollkommenes berichten konnen. Am ehernen 
zweifliigeligen Portal von St. Maria Maggiore sind ganz primitive 
Reliefs aus der biblischen Geschichte. Innen gibt vor allem eine hol- 
zerne rote und goldene Balustrade, von holzgeschnitzten Aposteln 
gekront, die Gliederung des Baus. Unter der Balustrade, die sich 4 
Meter iiber dem Boden mit Stufungen{ ?) erhebt, fiihren Stufen in 



Meine Reise in Italien Pfingsten 191 2 275 

die Krypta. Wir fuhren mit der elektrischen Bahn durch die Stadt 
und sahen noch andere Gebaude. Die Haltestellen der Bahnen sind 
unbestimmt oder schlecht bezeichnet, man steigt von anderer Seite 
ein als bei uns, ich bin an diesem Vormittag wohl 3 Mai der Bahn 
nachgelaufen, wahrend die anderen schon darin safien. Als wir zum 
2 ten Male am Markt friihstiickten, entschlossen wir uns noch, das 
Teatro Romano, das urspninglich nicht in unserm Plane lag, anzu- 
sehen. Auf dem Wege dahin gingen wir iiber eine Holzbriicke. Man 
sieht die Stadt und den Flufi hinunter und die Berge mit den Castel- 
len. Hauser in alien Farben scheinen iiber einander geschichtet und 
grenzen an den Fluft. 

Das Teatro Romano ist von der Strafie aus eine abgezaunte Bau- 
oder Triimmerflache. In der Verwalterbude wie gewohnlich ein 
kleines Museum von Funden auf dem Platze. An dem Theater selbst 
ist das eigenartigste sein Verfall. Deutlich bemerkt man, wie einTeil 
der verfallenden Mauer nach dem anderen in die Hauser, die hier 
gebaut wurden, als Mauerwand eingefugt wurde. Einige Buhnen- 
pfeiler sind, glaube ich, noch erhalten, die Marmorstufen in Resten. 
Der gesamte Anblick ist ganz ungegliedert, die vollkommene 
Trummerstatte. - Wir fahren zur Porta Nuova zuriick, von dort mit 
der Eisenbahn zum Hauptbahnhof, wo wir den Zug nach Vicenza 
bekommen. 

In Vicenza ist ein verstaubter, griiner heifter Platz am Bahnhof. Am 
Rande eines breiten Kiesweges eine Bank. Wir setzten uns und das 
selbstverstandliche Mittagsbrot (es mufi noch einmal genannt sein) 
Sardellenbutterbrot, Wurstbrot, Bonbons wird von Simon bereitet. 
Uber uns liegt auf der Rasenanlage ein Junge, halbnackt auf dem 
Bauch, der ab und zu sein Bein hochstreckt und danach greift; die 
einzige Bewegung. Ein paar andere winken ihm, nach lange 
gewechselten Rufen steht er auf. Sie spielen und klettern auf einen 
Baum. Wurstschalen, die wir auf den Boden geworfen haben essen 
sie ab; ich rauche eine Zigarette an, lege sie auf die Bank. Dann gehe 
ich und sehe, wie sie sich darum balgen. Bis zum Eingangstor von 
Vicenza geht man 3 Min auf einer breiten Vorstadtstrafte, langwei- 
lig, von kleinen Hausern und von einem Park begrenzt. An einem 
Gebaude kleben Theaterplakate. Hinter dem Tor offnet sich bald 
nach rechts eine Strafie und in drei Saulen steht das erste Fragment 
palladischer Grofte da. Eine ganz schmale hohe Fassade, deren 
schonstes 3 Saulen sind, die unbekurnmert um horizontale Gliede- 



2j6 Autobiographische Schriften 

rungen aufsteigen, am Kapital durch zwei Blattranken verbunden. 
Nicht rein, aber deutlich erscheint hier gerade durch das Bizarre, 
Unvollendete Palladios Absicht; denn was man sieht, ist nur ein 
kleiner Teil der geplanten Fassade, dessen Hohe die Saulen starker 
betont, als es der vollendete Bau getan hatte. 
Ein paar Nebenstrafien weiter steht die Basilika Palladiana. Erhabe- 
ner kann kein architektonischer Eindruck sein, als die doppelhohe 
marmorne Bogenreihe, mit der undurchdringlichen Dunkelheit des 
Innern. Der Farbeindruck, des in allem Schmutz immer noch 
leuchtenden Marmors und der dunklen Bogentiefen macht die 
Gewalt des Eindruckes und die Hohe und Ausdehnung dieser 
Bogenreihen nimmt dem Bilde alles Romantisch-unklare; so dafi 
hier im Ungeheuren und Deutlichen zugleich das Erhabene erschei- 
nen mufi. 

Auf dem Platz stehen auch auf der Gegenseite alte Gebaude, doch 
ohne Schonheit. Man geht durch Bogengange auf die andere Seite - 
in die Hallen selbst kann man nur mit besonderer Erlaubnis (scs 
Geld) - sie ist einfacher- es riecht iiberall schlecht in den Winkeln - 
Obstfrauen sitzen mit Korben herum. An den Fronten zweier Pala- 
ste, aus dem i2 ten Jahrh(undert) glaube ich, eines gotischen und 
eines romanischen vorbei, durch Nebenstrafien, die zum grofiten 
Teil von schiefen und baufalligen Hausern in klassischen Stilen 
gebildet werden, kommen wir zum Museo civico. Fur mich als 
Laien ist der Bau gleichfdrmig und wenig anziehend. Wahrend wir 
uns auf einer Bank ausruhen beginnt es von dem dicht bedeckten 
Himmel zu regnen. Wir gehen auf das Teatro Olimpico, einem 
Rundbau dem Museo schrag gegeniiber zu, wo ein Miifiigganger 
uns empfangt und fur sein Trinkgeld den Pfortner herausklingelt. 
Palladio hat ein Theater fur klassische Auffiihrungen gebaut und 
jedes Jahr einmal wird der Raum auch zu diesem Zwecke benutzt. 
Von rechts, von der Buhnenseite betritt man einen hohen ungefahr 
halbrunden Saal, den wir durch Reparaturen verdunkelt fanden. 
Die Zuschauerreihen, hohe holzerne Stufen steigen in 13 Reihen 
steil amphitheatralisch an. Ein Einschnitt und darauf eine sehr 
breite Rampe trennen sie von der Buhne, die nur von einem kleinen 
Teil der Platze ganz iiberschaut wird. Am Ende der Rampe erhebt 
sich ein Torbogen in palladianischer Architektur, hinter dem sich 
der sehr weite Prospekt einer Strafie zeigt. Eine aufierordentliche 
starke perspektivische Illusion ist durch ein allmahliches Aiisteigen 



Meine Reise in Italien Pfingsten 191 2 277 

des Biihnenbodens erreicht worden. Zwei kleinere Logenoffungen 
zu beiden Seiten offnen entsprechende kleinere Ansichten. Das 
Theater ist in der Geschlossenheit des Raumes schon, bedeutend 
aber wird es, indem augenscheinlich die Moglichkeit gegeben ist, 
den Ubergang von der Strafie in das Haus auf offener Scene zu 
geben, indem der Schauspieler aus dem Strafienprospekt vor die 
sehr ausgedehnte Tor-Architektur, die als Zimmerwand betrachtet 
werden kann, sich begibt. Damit ist eine neue Moglichkeit fur die 
Auf fuh rung, ja fur das Drama gegeben. 

Als wir aus dem Theater heraustraten, standen wir Schutzlose im 
starksten Regen, und trotzdem wir unentwegt die alten Gebaude 
der Stadt aufsuchten - den Strohhut nahm ich unter den Arm, war 
die Betrachtung in der klebrigen Nasse und der Umschau nach 
Zufluchtsorten gestort. Zwar sind mir noch StrafSenbilder, aber 
nicht mehr Palaste in ihren architektonischen Einzelheiten im 
Gedachtnis geblieben. Peinlich war die erfolglose Suche nach einer 
beruhmt-haftlichen Jesuitenkirche. 

Einen groften Teil der 5 Stunden, die wir uns fur Vicenza vorbehal- 
ten hatten, mufken wir wegen des starken Regens lesend und Kar- 
ten schreibend in der Bahnhofshalle zubringen. So sahen wir die 
Villa Rotonda, die weit aufierhalb der Stadt liegt, nicht. 
Starker als an anderer Stelle werden Mangel sich bei der Erinnerung 
an Venedig ergeben wegen der Menge und Gleichartigkeit der Ein- 
driicke, die nicht jeden Tag vollig gegen den vorherigen verander- 
ten. - Auf einem Damm in einer unabsehbaren Wasserflache, die 
nur durch Pfosten und andere Dammbauten unterbrochen wird, 
fahrt der Zug nach Venedig ein. Es hieft schnell aussteigen, um den 
Dampfer zu erreichen. Simon und Katz sind darauf, ich werde 
zuriickgehalten, da ich meine Lire wechseln mufi, der Dampfer 
fahrt ab und ein paar heftige Armbewegungen niitzen wenig, ihr 
Schreien verstehe ich nicht. Ich warte auf das nachste Boot und 
iiberlege. Vermutlich sind sie an der nachsten Haltestelle ausgestie- 
gen, um auf mich zu warten. Wenn nicht, werden sie mich an unse- 
rer Absteig- Stelle empfangen. Zur Not: welche Hotels hatten wir 
ins Auge gefafit. Ich erinnere mich nur unbestimmt. Das Schiff 
kommt; um besseren Uberblick an den Stationen zu haben, stelle 
ich mich an die Spitze. Mein staunendes Schauen wird unangenehm 
durch die Unsicherheit der Lage abgelenkt. Es dammert und der 
Himmel ist bezogen. Ein breites graues Wasser am Rande links 



278 Autobiographische Schriften 

noch grofie Hotels, rechts schon graue, braune gleichgiltige Hau- 
ser, von denen manchmal ein dunkles Gold leuchtet. An der nach- 
sten Station stehen sie nicht, der Dampfer fahrt stampfend ab. Die 
Reihe der Palaste - alles hier sind alte Palaste - bricht sich an einer 
Ecke. Das Wasser ist unwahrscheinlich; im Innern verstehe ich 
nicht das natiirliche Sein der Menschen auf dem Schiff und das Was- 
ser. Dagegen kann ich die Palaste fast ohne Verwunderung anneh- 
men. Das Seltsamste ist, dafi sie im Wasser wurzeln. Es wird dunk- 
ler und die Fahrt lang. Wie klangreiche Namen die Stationen haben: 
Bragora, St. Zaccaria. Ich mufi Anschlufi an die Reisenden suchen. 
Dem Gesprach einiger Deutscher hore ich zu. Ich nehme nicht ohne 
Absicht einen etwas hilflosen Ausdruck an. Ein alter Hoteldiener, 
auf der schmutzigen Mutze den Vermerk »Aurora« fiihrt seinem 
Hotel ein paar Touristen zu und will mich mit nehmen. Ich frage 
ihn nach einigen Hotels, in denen Simon und Katz vielleicht sein 
konnten. Er weifi nicht recht was ich meine. Ich behalte die Deut- 
schen im Auge. Endlich steige ich doch in der fremden Stadt mit 
dem Mann von der »Aurora« und seinen Touristen aus. Doch in 
dem Hotel sind sie nicht. Ich versichere mich, ob eventuell fur die 
Nacht ein Zimmer zu haben ist; man verfehlt nicht, zu bejahen, 
noch das letzte sei frei; dann frage ich nach dem Markusplatz, wo 
das eine der Hotels war, in denen ich Simon und Katz vermutete. Es 
ist dunkel, die Laternen und Lichter brennen. Mit meinem Koffer 
gehts die Riva (degli) Schiavoni entlang, angerufen von Gondolie- 
res, verfolgt von Strafienjungen; einer, dem ich mein »niente« erwi- 
dere, stofit meinen Koffer mit dem Fufi. Ich mufi schnell gehen, 
wenn ich lange ausruhte, wiirden sie in Scharen kommen. Ich stol- 
pere miide aber energisch liber die Briicken. Dann biege ich zum 
Markusplatz ein. Zuerst frage ich nach dem Hotel einen Schutz- 
mann, (auf franzosisch) er weifi nichts und fragt einen Kellner. Ich 
bekomme eine unbestimmte Antwort, nach der ich mich nicht 
zurechtfinde. Von aller Schonheit um mich sehe ich nichts und will 
den Platz verlassen, zur »Aurora« zuriickkehren. Plotzlich hore ich 
hinter mir unseren Pfiff. Simon. Katz ist noch einmal zum Bahnhof 
gefahren, um mich dort zu suchen. Wir warten auf der leise schwan- 
kenden Anlegestelle auf ihn. Vereint gehen wir ins Hotel Sand- 
wirth, Riva Schiavoni, wo schon Zimmer gemietet waren. Bald 
gehe ich zum sparlichen Abendbrot hinunter, bei dem wir Fritz 
Bale, dem wir schon in Basel begegnet waren, treffen. Schliefilich 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 12 279 

gingen wir glaube ich noch ein paar Schritt an der Riva am Kanal auf 
und ab. 

Morgens durften wir niemals spat aufstehen. Unser Friihstiick 
bekamen wir fur ca 1 L in einem Cafe 3 Minuten vom Hotel entfernt 
an der Riva. Es war selten so sonnig, wie ich es mir zu einem Friih- 
stiick am Canale grande gewiinscht hatte. Nach dem Friihstiick 
begann sofort das Tagesprogramm und bei alien Kunstbetrachtun- 
gen war ein Fiihrer von Semrau fur die venezianischen Runstdenk- 
maler unentbehrlich. Ich geriet zufallig in einer Buchhandlung, in 
der ich mir mehrere englische Bucher vorlegen liefi, auf ihn und er 
niitzt mir noch jetzt, um mir Erinnerungen wachzurufen. Spater 
schaffte auch Katz ihn sich an, - Nach dem Kaffee sahen wir uns auf 
dem Markusplatz um. Ich erstaunte, eine helle, nuchterne Realitat 
zu finden. Ein Feriengefuhl durchzuckte mich: Spazierganger und 
Tauben, die nicht die unwahrscheinlich mafigebende Rolle spielen, 
die Reisemythen ihnen gegeben haben. Arme Venezianer stehen 
herum und verkaufen Tiiten mit Taubenf utter, die sehr lang sind 
und wenig zu enthalten scheinen und mufiige Damen schiitten die 
Tiiten aus, eine plumpe Bewegung. Wie anmutig dagegen die Kin- 
der, die ihre Freude in der Bewegung mitteilen konnen. - Der 
Bogen unter dem Uhrturm geht auf eine enge dunkle Geschafts- 
strafte, die sehr belebt ist. Wir wollen die Frarikirche sehen und das 
ermudende Laufen und Suchen, an das wir uns in Venedig zu 
gewohnen hatten, beginnt. Als wir dann nach Fragen, hin- und her 
Irren und Sackgassen, die auf kleine Kanale fiihren, die Frarikirche 
vor uns hatten, da war auch das fur mich charakteristisch venezia- 
nisch, daft man der Kirche in ihrer verbauten Umgebung nur mit 
Muhe eine verniinftige Frontansicht abgewinnen kann. Als wir sie 
hatten, folgten wiraufmerksam den kleinen Belchrungen, die Lubke 
iiber das Portal gibt. - Keine zweite venezianische Kirche haben wir 
im Innern so gewissenhaft betrachtet wie diese erste, die besonders 
lehrreich ist. Fur die Geschichte des italienischen Wandgrabes fin- 
det man gute Beispiele, desgleichen fur friihe venezianische Madon- 
nenmalerei. (Vivarini - Bellini) Ein sehr schoner geschnitzter 
Monchschor. Eine bemerkenswerte ScheuBlichkeit, Grabmal Ti- 
zians, stellt plastisch einige seiner Gestalten dar. 
Am gleichen Vormittage besuchten wir die ersten Sale der Accade- 
mia. Im zweiten Saale, der Statte der »Assunta« und des »Wunders 
des heiligen Markus« von Tintoretto horten wir die gute Erklarung 



280 Autobiographische Schriften 

des Leiters einer deutschen Kunst-Schule mit an, der wir noch 
ofters begegneten. Die Schuler safien am Boden oder standen. 
Besonders fiel mir bei einer spateren Begegnung ein schrecklich 
schwarz-grau angezogenes Madchen auf, das ich im Dogenpalast 
bei der Erklarung der Deckengemalde ausgestreckt am Boden lie- 
gen sah. Ein Streit iiber die Gestalt des Markus auf Tintorettos Bilde 
fiihrte die asthetischen Konflikte zwischen Simon und mir von der 
Poesie auf die Malerei iiber, wo mich seine Gedanken manchmal 
fast zur Raserei brachten. Da er Katz(') und meine Art, die Bilder 
sehr genau zu betrachten, nicht teilte, trennten wir uns fur die 
Besichtigungen oft. Aus diesen Salen Bilder zu nennen, mag nicht 
viel Sinn haben: immerhin nenne ich die beiden Gemalde der Acca- 
demia, die mich nach der Erinnerung am tiefsten ergriffen haben: 
Pitatis Gastmahl des Reichen und Tizians Pieta. Beide vor allem in 
ihren Farben, Pitatis gluhende Sonnigkeit der Farben, wahrend 
Tizians Gemalde dammerig verschattet ist, so dafi Semrau an Rem- 
brandt erinnert. 

Das Mittagessen aus den ublichen Bestandteilen wird auf dem Zim- 
mer gegessen, dazu etwas Siphon bestellt, in den man Zitronensaft 
schiittet. - Mit einer Gondel fuhren wir quer iiber den Kanal nach 
der Redentore-Kirche. Kriippel und Miifiige, die Centesimi haben 
wollen helfen bei an und ausbooten, machen die Kirchentiir auf und 
empfangen uns wenn wir herauskommen mit vorgestreckter Hand. 
Die Kirche ist, soweit ich mich erinnere als Rundbau von sehr klarer 
Gliederung im Innern gebaut. Die Seitenschiffe werden zu Kapel- 
len. Ich glaube, es war diese Kirche, deren Nischen anstatt durch 
Heiligen-Statuen durch bemalte Pappkulissen ausgefiillt waren. 
Der Raum schien mir wiirdig, doch wie so viele italienische Kirchen 
entspricht er nicht deutschen Begriffen von der heimlichen Stim- 
mung eines Anbetungsortes. Durch abgelegene Gegenden, aus 
denen wir oft freien Blick iiber das Lagunenmeer hatten, kamen wir 
zur St Maria del Gesuita »sinnlos prachtig*, wie Semrau schreibt, 
iiberladen mit eingelegtem bunten Marmor. 
Von dort gingen wir ein paar Minuten auf einem schmalen Stein- 
pflaster dicht an einem kleinen Kanal vorbei, zum Platze des Col- 
leoni-Denkmals. Zuerst sahen wir uns die Kunstdenkmaler der Kir- 
che S. Giovanni e Paolo an, die an diesem Platz liegt. Leider hatten 
wir uns durch eine ungeschickte Einteilung des Fiihrers tauschen 
lassen; in dieser Kirche, die wir nur fliichtig besuchen wollten, fan- 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 12 281 

den wir neben der Markuskirche eine der bedeutendsten Venedigs, 
wie der Fiihrer denn auch bei naherer Durchsicht angab. Die Zeit 
war in doppelter Beziehung ungiinstig zum Besuch. Erstens brach 
die Dammerung ein und zweitens waren wir durch die Eindriicke 
der Accademia und Frari-Kirche am Vormittag schon hinreichend 
beschaftigt. Dennoch mufken wir uns entschlieften hineinzugehen, 
da wir vielleicht ohne grofie Opfer an Zeit in diesen entfernten 
Stadtteil nicht wieder gekommen waren. Die Besichtigung war ne- 
ben der Beleuchtung durch Restaurationen, die den Platz der Ge- 
malde wohl teilweise verandert hatten, erschwert. Neben Gemal- 
den besitzt diese Kirche, wie die Frari-Kirche viele bedeutende 
Wandgraber. - An der Fassade der Scuola di S(an) Marco, die wir 
kurz betrachteten, nachdem wir die Kirche verlassen hatten, fielen 
mir primitiv gebildete Lowen auf, die in flachen Nischen standen, 
die durch perspektivische Bemalung tief wirken sollten. Hochst 
naive Darstellung! - Dem Colleoni-Denkmal widmeten wir die 
intensivste Betrachtung. Unaufhorlich betrachteten wir es von alien 
Seiten, machten uns auf immer neue Leistungen der Darstellung 
aufmerksam. Wir bemerkten vorziiglich die Vollendung des Denk- 
males, Simons Fernglas liefl uns vieles sehen, was dem blofien Auge 
entgangen ware. Man sieht nicht den Platz, auf dem die Kinder spie- 
len und vergifit die Dunkelheit. Blick und Bewegung des Colleoni 
haben die unvergleichlichste Realitat und eine brutale Kraft. Die 
Geschlossenheit der Erscheinung ist von jeder Seite, sogar vom 
Riicken hochst ausdrucksvoll. Seken werden Fremde so Iange vor 
dem Colleoni gestanden haben, wie wir. Vielleicht 'A Stunde. Unser 
Abendbrot wird wohl im Cafe Bavaria eingenommen worden sein 
und es wird wohl in Spaghetti bestanden haben - wie fast immer. - 
Am gleichen Abend sah ich das grofie Schauspiel der Illumination 
des Markus-Platzes. Ich werde nicht diese erste Illumination zu 
schildern versuchen, sondern eine zweite, an die ich mich besser 
erinnere. 

Der Vormittag des zweiten Tages gait dem Markus-Dom. Durch 
unsern Fiihrer wurden wir befahigt, mit etwas Verstandnis zu 
sehen. Am Markus-Dom besteht das Verstandnis nicht nur im Ent- 
decken der Schonheit, sondern auch in der Unterscheidung grell- 
bunter, pathetischer Mosaike auf prallem Goldgrund von der stei- 
fen Mafiigung der Bewegung und den gedampften Farben der alten 
Mosaike, die eben durch diese neuen stellenweise rechtunglucklich 



282 Autobiographische Schriften 

erganzt sind. Im Innern scheiterte eine vollstandige Besichtigung an 
dem hohen Eintrittsgeld, das man fur die Besichtigung des Chors 
und einzelner Kapellen nimmt. - Am Nachmittag fuhren wir nach 
Chioggia hinaus. Auf dem Dampfer kam ich mit einem sehr 
geweckten italienischen Arbeiter ins Gesprach. Er horte an unserer 
Unterhaltung, dafi wir Deutsche waren, und da er selbst mehrere 
Jahre in Deutschland und in deutschen Sprachgebieten gearbeitet 
hatte, interessierten wir ihn. Er konnte soviel Deutsch, dafi eine 
notdurftige, mit Mifiverstandnissen gewiirzte, Unterhaltung zu 
stande kam. Ein Interviu jedoch, das ich xiber denTripoliskrieg ver- 
suchte, um mich iiber die Stimmung »in den niederen Schichten« zu 
unterrichten, mifilang. Der Italiener lobte sehr die deutschen Ver- 
haltnisse, vor denen der Schweiz, Osterreichs und vor allem Ita- 
liens. Er nannte die hohen Preise Venedigs fur Kleider und Schuhe, 
die geringen Lohne und hohe Arbeitszeit. Von deutscher Sprache 
schien er am besten einige erotische Gassenhauer zu beherrschen, 
die er uns vergnugt vorsang, in der Erwartung, auf viel Verstandnis 
zu stofien. In einem schmutzigen Fischerdorf stieg er aus, viele 
Menschen, hauptsachlich Frauen standen am Landungsplatz. Von 
seinem Elternhaus, wo er wohnt, bis zu seiner Fabrik hat er 18 km 
mit dem Rad zu fahren. - Die Fahrt nach Chioggia begleiten in der 
Entfernung Damme, auch Kas telle. Man sieht Lagunen, hinter 
denen das offene Meer liegt. Gegen Ende der Fahrt, wo wir allein 
auf dem Verdeck waren, gab es Balgerei, bei der ich mit dem Schiffs- 
tau gefesselt wurde. Von der Einfahrt sieht Chioggia aus, wie eine 
kleine Stadt. Am Ufer hat man sogleich ein kleines Hotel zur rech- 
ten Hand. Ein Mann steht davor, und ruft mit »Caffe, chioccolata« 
zum Besuch an (sic) . Simon hat wieder die Ruhe unter dem »G6n- 
dola«-Geschrei der Schiffer seinen Plan im Baedeker zu studieren. 
Wir gehen iiber eine Briicke, auf der schmutzige Menschen in den 
widerlichsten Haltungen sitzen - manche haben verschwollene 
Gesichter. Die aufdringlichen Anerbietungen beginnen wieder. Die 
Briicke geht auf eine dunkle Gasse, durch die man mit ausgestreck- 
ten Armen wohl kaum gehen konnte. Widerlicher Geruch. Vor den 
Tiiren hocken auf dem Pflaster netzflickende Weiber. Ein paar Kin- 
der liegen herum. Wir endigen vor einem kleinen Kanal mit Briicke. 
Simon glaubt sich geirrt zu haben: wir miissen noch einmal zuriick 
durch die schauderhafte Gasse iiber die Briicke. Dann noch einmal, 
weil unser erster Weg doch richtig war. Uber eine Briicke gehen wir 



Meine Reise in Italien Pfingsten 191 2 283 

und werfen einen Blick in eine dunkle Kirche. Zuriick und am 
Rande des kleinen Kanals entlang. Durch Torbogen sieht man in 
dunkle Gassen. Das Bild der schmutzigen Weiber und schmutzigen 
Kinder ist immer das selbe. Auf dem Pflaster liegt ein Mann; man 
mufi um ihn herum gehen. Simon fragt: »Hast Du schon einen 
Mann hier gesehen, der vorn die Hosen geschlossen hatte?« Manche 
Frauen haben unaufgebundenes Haar. Man kann nur von Lappen 
reden die sie irgendwo angesteckt haben. Wir hatten uns vorgenom- 
men, noch einmal durch eine der kleinen Gassen zu gehen und tun 
es auch. Dann haben wir die breite Hauptstrafte Chioggias vor uns. 
Wir gehen hindurch. Der Geruch ist wegen der grofien Breite nicht 
so schlimm. Einzelne hiibsche Kinder sind zu sehen. Vor ein paar 
Rasenflecken mit schmutzigen Banken steht auf einem Schild 
»Giardino publico«. Ein Madchen mit Kindern ist darin. Am Ende 
der breiten Strafle ist ein Tor mit einem verwaschenen Marienbild in 
einer Nische. Dahinter ein freier Platz. Es findet vielleicht Kartof- 
fel-Markt statt. Man sieht Wagen„ Menschen, sehr viel Kartoffel- 
sacke. Hier kehren wir um und gehen durch die Hauptstrafte zum 
Schiff zuriick. Auf dem Weg spreche ich mit Simon etwas iiber Lite- 
ratur; mich hat mancher Anblick von Chioggia an Zeichnungen 
Kubins erinnert. - Auf der Riickfahrt vertiefe ich mich mit Simon 
ganz in asthetische Gesprache. Den letzten Teil der Fahrt sitzen wir 
in der Kabine, da es schon kalt und dunkel ist. Es gelingt mir, ihm 
meine Ansicht vom Kunstgenufi begreiflich zu machen, ohne daft er 
sie annimmt. In Venedig essen wir (ausnahmsweise und zum letzten 
Male) in unserm Hotel schlecht und teuer. Danach (?) gehen wir 
noch an der Riva auf und ab, und fiihren unser Gesprach, an dem 
nun auch Katz teilnimmt, zu einem Ende. Wir erkennen eine 
grundlegende Zweiheit im asthetischen Urteil: Das Urteil iiber das 
Werk, das zeitlos und iiber den Meister, das zeitlich bedingt ist. 
Am folgenden Vormittag sahen wir den Dogenpalast. Schon im 
Hofe auf der Gigantentreppe sahen wir die Kunstschule von der 
Accademia kommen. Den Vortragen des Fuhrers folgten wir bei 
den Wandgemalden oft mit Gewinn. Seinen Schulern hatte sich 
auch der unangenehme Freiburger Student, Korach(?), ange- 
schlossen. Durch eine sehr kiihle Begriifiung vermied ich alles wei- 
tere. - Unangenehm ist es, wenn man bisweilen die plapperig- 
gelehrigen Erklarungen eines »Fremdenfuhrers« hort, der mit alien 
mythologischen Namen die Bilderscenen erklart. Der Mann sprach 



284 Autobiographische Schriften 

manchmal in einem Raum mit dem Fuhrer der Kunstschule unbe- 
kummert laut. - Gegen ein besonderes Eintrittsgeld sahen wir 
zuletzt den Fliigel des Palastes, an dem die Seufzerbrucke liegt, 
nachdem wir vorher, ohne es zu ahnen, in den Bleikammern gewe- 
sen waren, die jetzt zu einer Galerie von Bildnissen des Dogenpala- 
stes und Markusplatzes geworden sind. In diesem zweiten Fliigel 
sind die Schlafzimmer des Dogen, mit schonen Marmorofen, alte 
geographische Karten und Globus, Miinz(-) und Gemmensamm- 
lungen und eine Glyptothek mit interessanten und z.T. wenig 
bekannten Kopfen romischer Kaiser. Kurz vor dem Aufgang zur 
Seufzerbrucke hangt ein unvollendeter oder schon etwas verblafiter 
Christophorus von Tizian, der mir den unheimlichen Eindruck vie- 
ler Darstellungen dieses Heiligen gab. Dann besichtigt man die 
Seufzerbrucke, d.h. man bringt seinen Korper in einen dunklen 
Gang, in dem viele jammerliche und mutige Menschen gestanden 
haben. Bei der iibrigen Aufzeichnung des Tages laufen mangels 
genauer Erinnerung oder Aufzeichnung vielleicht chronologische 
Ungenauigkeiten mit unter. Am Vormittag sahen wir vielleicht 
noch St. Maria Formosa mit Palmas schonem Bilde der HI. Barbara, 
S. Giovanni Crisostomo und S. Salvatore, an die ich trotz Abbil- 
dungen im Semrau nicht die geringste Erinnerung mehr bewahre. - 
Nachmittags nahmen wir uns mit umstandlichem und punktlichem 
Vertrag eine Gondel, Es dauerte nicht lange, bis der Mann mit 
Murano begann. Simon wehrte mit Hilfe des italienischen Worter- 
buches energisch ab. Nach einiger Zeit hielt die Gondel naturlich 
doch vor der Fabrik. Wir stiegen nicht aus, sondern riefen dem 
Mann, der auf die Fremden lauert, auf italienisch zu, dafi wir nichts 
brauchten. Darauf winkte er dem Gondoliere ab, der in wiistes 
Schimpfen ausbrach. Er nahm Rache und fuhr uns nicht zu der Kir- 
che, die wir gewiinscht hatten, sondern durch viele schone Neben- 
kanale. Nach einer Stunde dieser, bei aller Schonheit aufreibenden 
Fahrt, wiinschten wir auszusteigen. Doch setzte uns der Mensch 
trotz dringender deutlicher Bitten erst einige Minuten nach Ablauf 
der Stunde ab. Die Absicht war klar. Aber wir verweigerten die 
Mehrforderung des Mannes, der fur eine Fahrzeit liber eine Stunde 
tarifmaflig 3 L forderte, untersnitzt von umstehenden Gondolie- 
ren. Er ging mit uns zum Schutzmann. (Es war in belebter Gegend 
am Rialto.) Der Gondoliere tragt die Sache dem Schutzmann italie- 
nisch vor, wir beklagen uns franzosisch. Es bildet sich ein Auflauf. 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 12 285 

Der Schutzmann fordert uns zum zahlen auf . Wir weigern uns und 
beginnen von neuem. Aus der umgebenden Menschenmenge tritt 
ein gebildeter Herr vor, der die Sache augenscheinlich verfolgt 
hatte. Als er den Schutzmann zur Rede stellt, drangt sich der durch 
den Haufen und lauft fort. Durch heftiges Winken und Rufen holt 
der Herr ihn zuriick. Nun klart sich alles. Der Schutzmann hat sich 
geirrt; selbstverstandlich. Der Gondoliere verstummt, empfangt 
durch Simon seine 2 Lire ohne das ubliche Trinkgeld und entfernt 
sich fluchend. Muhsam irrten wir durch die Strafien und endigten in 
einer Buchhandlung, wo wir einen vorziiglichen Plan von Venedig 
kauften, der durch das Los spater mir zufiel. - Vom Rest des Tages 
weifi ich nichts mehr. 

Es fiel mir auf, wie schnell Venedig mich ais etwas ganz Reales und 
ganz Selbstverstandliches umgab, wie sehr ein 2 od(er) 3tagiges 
Leben auch das Fremdeste und Schonste zum Angenehmen oder 
Unangenehmen, Praktischen oder Widrigen macht. Dabei mag der 
immerhin groftstadtische Zug venezianischen Lebens, das dem 
Grofistadter vertraut entgegen kommt, mitwirken. 
Vielleicht fand die geschilderte Gondelfahrt, die wir mit einer 
Besichtigung von St. Maria (della) Salute unterbrachen, auch erst 
am folgenden Tage statt und es ware dann anstatt dieser Fahrt einer 
Dampferfahrt auf dem Canale grande zu gedenken, auf der wir 
wahrend der Hin- und Riickfahrt die Palaste des Canale nach dem 
Fiihrer einigermafien kennen lernten. Wir versaumten, kurz vor der 
Endstation auszusteigen, so daft wir die Besichtigung einiger Fres- 
ken Tiepolos in einem Palast oder e{iner) Kirche, die wir sonst 
vielleicht unternommen hatten, versaumten. - Am Nachmittage 
fuhren wir mit einem Bekannten Simons, den wir getroffen hatten, 
nach dem Lido. Von der Landungsbriicke aus geht eine breite schat- 
tenlose Strafie, die man in jedem deutschen Badeort finden konnte, 
gerade auf das Badeetablissement zu. Auch durchfahrt eine Elektri- 
sche diese Villenstrafie. Vor dem Restaurant-Eingang des Lido hat 
man Eintritt zu zahlen. Dann hat man eine Art Wintergarten vor 
sich, in dem Strohmobel fur die Wartenden stehen - zu beiden Sei- 
ten des Raumes offnen sich Bazare. Hinter diesem Raum liegt das 
Cafe und weiter die Ter(r)asse mit dem Blick auf das Adriatische 
Meer. Nach dem Kaffeetrinken und einem kleinen Aufenthalt jen- 
seits des Badestrandes, bekam einer nach dem anderen beim An- 
blick des stark bewegten Meeres und der Badenden selbst zum 



286 Autobiographische Schriften 

Baden Lust. Ich entschlofi mich als letzter, da ich sah, dafi meine 
Weigerung die anderen nicht hinderte und ich nicht allein warten 
wollte. Vorher hatte ich einige Bedenken wegen meiner Gesundheit 
gehabt und das Bad strengte mich denn auch sehr an. Es war starker 
Wellenschlag, der Himmel aber bedeckt und wenn man aus dem 
Wasser an den Strand kam sehr kalt. Am nachsten Tage badeten 
Katz und ich allein - soweit ich mich entsinne. Es war etwas war- 
mer, bevor ich ins Wasser ging lag ich nackt im Sande, warf mich 
auch wieder auf den Boden, als ich aus dem Meere herauskam und 
wurde iiber und iiber so mit Sand bedeckt, dafi ich zur Sauberung 
noch einmal ins Wasser mufite. Diesmal tranken wir nach dem 
Baden Kaffee - wobei man starken Hunger mit kleinen teuren 
Kuchen stillen mufi. - Zum Abend hatten wir uns alle vier in einem 
Bierrestaurant verabredet, als aber Simon und ich nach viertelstiin- 
digem Warten (und nachdem wir eine Tiite Kirschen gegessen hat- 
ten) die anderen nicht fanden afien wir allein in der Capello Nero. 
Es war an diesem Abend die zweite, zugleich, wie wir horten, letzte 
Illumination des Markus-Platzes. Am Tage bemerkte man an den 
Fassaden Gliihlampen, die die Saulen, Logen, Fenster und Gesimse 
umgaben. Diese Einrichtung stammt noch von der Feier der Wie- 
dererrichtung des eingestiirzten Kampanile, soil aber jetzt beseitigt 
werden. Als wir aus der Merceria auf den Platz hinaustraten, 
herrschte das Bild, das wir schon kannten. Lange irrten wir auf der 
Suche nach einem giinstig gelegenen Tisch vor einem der beiden 
grofien Cafes am Markusplatz. Als wir ihn endlich gefunden, 
trennte ich mich von Simon, aus dem Bierrestaurant die anderen zu 
uns zu holen. Ich fand sie. - Es war schwer iiber den Platz zu kom- 
men, der voller Menschen ist. In der Mitte sitzt auf einer holzernen 
Tribune die Militarkapelle, die mit der Nationalhymne eroffnet. 
Darauf: die Aufforderung zum Tanz. Hundertstimmiges Johlen 
und Pfeifen ubertont die ersten leisen Takte. Die Kapelle beginnt 
von neuem , . . dasselbe erfolgt. Niemand weifi, worum es sich han- 
delt. Aber das Volk beruhigt sich nicht, bis die Nationalhymne wie- 
derholt wird. Auch dann storte sie wieder das Webernsche Stuck. 
Die Kapelle spielt 5 mal hintereinander die Nationalhymne und 
darauf ein lautes, schwerer zu storendes, anderes Snick. - Wir trin- 
ken nach einem Vorsatz, der auf der ganzen Reise uns begleitet 
hatte, eine Flasche Asti. Simon trinkt bescheidener mit, trotz unse- 
res Zuspruchs, denn er ist knapp mit dem Gelde. Heute brennen 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 12 287 

vor den drei Eingangsbogen der Markuskirche nicht 3 rote Feuer, 
die wahrend der ersten Illumination einigemale aufleuchteten. Nur 
unter dem Dach des Kampanile gliihen unsichtbare rote Birnen. 
Der Platz ist ubertaghell, der Himmel scheint dicht iiber ihm in 
ganz tiefer Schwarze zu liegen. Man glaubt in einer Stadt zu sein, die 
zum Saal geworden ist. Die Leute bewegen sich in dieser Helle wie 
in einem Fest. Neben unserem Tisch sitzen Deutsche, Breslauer, 
mit denen wir ein wenig sprechen. Von Zeit zu Zeit erloschen alle 
Birnen auf einige Sekunden. Ein betriibtes Murmeln durchlauft den 
Platz, lautes Johlen, wenn alles wieder aufleuchtet. Weifie Gliihbir- 
nen erleuchten die Fassaden bis auf den Mittelstock des Atrio, des- 
sen Bogenofmungen stets mit braunen Portieren verhangt sind; 
braun-gelbe Gliihbirnen kranzen jetzt diese Bogen. An den Tischen 
laufen Jungen vorbei, die Karten von der Illumination verkaufen. 
Die Bilder geben natiirlich garkeinen Eindruck von der Helligkeit 
des Platzes. Vor 12 Uhr erloschen die Lampen. Simon holteseinen 
Koffer aus dem Hotel. Katz und der andere Herr waren noch ein- 
mal zum Marktplatz gegangen, um Simons Badezeug, das er vom 
Lido dorthin gebracht und vergessen hatte, zu holen. Ich stand 
allein an der Riva und wie oft in einer plotzlichen und im Zusam- 
menhange der letzten Tage seltenen Einsamkeit, wurde ich wieder 
der Ungewiftheit meiner Studentenzeit und meines spateren Lebens 
bewuftt. Die anderen kamen mit dem Badezeug, Simon mit seinem 
Koffer. Er liefl sich zu dem groften Dampfer iibersetzen, der um 1 
Uhr nach Triest abfuhr. Katz und ich kehrten ins Hotel zuriick. 
Am nachsten Morgen fuhren wir zur Accademia heriiber, besich- 
tigten die letzten (Sale,) wobei leider bei Neuordnungen unser 
Fiihrer nicht immer ausreichte und trafen fur kurze Zeit auch wie- 
der Simons Freund. Da wir nach langem Suchen kein Brotgeschaft 
fanden, aften wir diesen Mittag in der Kapello Nero Risotto. Am 
Nachmittag fuhren wir zum Lido heraus und nach der Riickkehr 
fuhren wir noch nach S{an) Giorgio maggiore hiniiber, um den 
Kampanile zu besteigen. Er gibt einen schonen Blick iiber Forts, die 
in der Nahe liegen, Stadt und Lagunen. Der Abstieg war unange- 
nehm, da bis zur Schlieftung der Kirche nur noch wenige Minuten 
waren, und wir es nicht mit Treppen, sondern einer Art abschussi- 
ger Huhnerleiter zu tun hatten, die in sozusagen eckige(n) grofien 
Spiralwindungen durch vollstandige Dunkelheit fiihrte. Am Abend 
wurde gepackt. 



288 Autobiographische Schriften 

Wir waren sehr friih am nachsten Morgen am Bahnhof, tranken 
dort noch Kaffee und ich verstandigte mich mit einem Beamten 
iiber Zuschlagfahrkarten, die wir wegen der Verbindung zwischen 
Venedig und Padua brauchten. Im Coupee mit uns saflen entziik- 
kende Hochzeitsreisende, gegen die ich mich liebenswiirdig envies, 
indem ich meist zum Fenster hinaussah. In Padua fanden wir uns 
mit einiger Miihe zurecht, an einer Briicke orientierten wir uns am 
Stadtplan und standen bald in der Madonna dell' Arena, die ihren 
Namen wohl von dem Platz hat, den jetzt noch Triimmer eines 
alten Theaters auszeichnen. Die Kirche ist nicht{s) als ein Tonnen- 
gewolbe, das bis hoch hinauf von Giottos Bildern bedeckt ist. Ein 
Mann sitzt an einem Tisch, auf dem 2 grofie Bikher mit den Photo- 
graphien der Fresken liegen, langweilt sich, empfangt die Fremden 
und gibt ihnen eine Tafel, auf der der Name der Vorgange und ihr 
Bildplatz an der Decke zu finden sind. Auch gibt er ihnen einen 
Karton, der das Suchen erleichtert, indem er Licht abhalt. Man muE 
stets aufwarts blicken und die Betrachtung ist anstrengend. - Nach 
dem Plan gingen wir weiter zum Gattamelata mit einem Abstecher 
zur Universitat, die in belebterer Gegend liegt. 
Wir kauften Kirschen. Kurz vor der Universitat sah ich ein Cigar- 
rengeschaft, das ich aber im Zuruckgehen, als ich mir ein paar Ziga- 
retten kaufen wollte, nicht mehr fand. Die Universitat ist von aufien 
wohl kaum mehr als ein gleichgultiges altes Gebaude. Im Hof sind 
an der Steinwand die schwarzen Bretter, soweit ich mich erinnere 
auch ein paar alte Wappen - wir hielten uns nicht lange auf. Von 
dort verirrten wir uns ein wenig, fanden bald wieder und standen in 
greller Sonne auf einem weitlaufigen, leeren Platz vor dem Gatta- 
melata. Wir hatten diesmal kein Fernglas mit. Neben allem 
erschwerte der blendende Himmel sehr die Betrachtung, wir kro- 
chen an winzigen Schattenflecken herum, einmal setzte( ?) ich mich 
auf eine niedrige Mauer. Von einer verstandigen Wiirdigung war 
keine Rede. Der Gattamelata erschien mir als f einer pfaf(f)ischer 
Diplomat und ich bemerkte nichts von der Wucht des Colleoni. - In 
unserer Tageseinteilung waren wir schwankend geworden, da die 
Stadtbesichtigung bis jetzt viel weniger Zeit, als veranschlagt, geko- 
stet hatte. Wir entschlossen uns in irgendeinem Hotel oder Restau- 
rant ein Kursbuch zu verlangen, wenn moglich einen friiheren Zug 
als beabsichtigt zu nehmen, sonst aber noch weiter in die Stadt zu 
gehen, wo eine von Baedeker bezeichnete Kirche lag. Nach einem 



Meine Reise in Italien Pfingsten 19 12 289 

Hotel, das in der Nahe lage, suchten wir im Baedeker vergebens, 
Wir gingen zuriick und kamen an einer kleinen Osteria vorbei. 
Mutig ging ich mit Katz hinein, stoberte in einem Hof hinter dem 
Haus die Wirtsfrau auf, bestellte limonata gaz(z)osa und verlangte 
orario. Auf einem Fetzen, den die Frau mir reichte, waren nur 
Lokalziige zu ersehen. Ich ging in den dunklen Kuchenraum 
zuriick und flehte: orario Milano, Padua-Milano. Ein Mann, viel- 
leicht ihr Sohn stellte sich ein, zog einen Fahrplan aus der Tasche 
und gab mir Auskunft. Ein friiherer brauchbarer Zug fuhr. Wir 
bezahlten und gingen in der Richtung des Bahnhofs um eine letzte 
Rirche mit Fresken Mantegnas zu besichtigen. Die Kirche im 
Innern der Stadt gaben wir auf; nachher argerte ich mich dariiber, 
da wir bei den geringen Entfernungen Paduas auch sie noch hatten 
sehen konnen. Unsere letzte Kirche, ein oder Bau, enthalt in einem 
Seitenraum die plastisch und machtig gemalten Fresken, zum Teil 
sehr beschadigt. Besonders wuchtig die Architektur auf diesen Bil- 
dern, die Farben sind stumpf und starke Schatten heben die Bilder 
hervor. Im gleichen Raum ist ein altes Grabmal deutscher Studen- 
ten, die in Padua studierten. Ein lateinischer Vers, uns nur teilweise 
verstandlich, beklagt die Dahingegangenen. Der Kuster bekam sein 
Trinkgeld und bald waren wir wieder am Bahnhof. Wir fuhren mit 
dem Personenzuge nach Mailand, gleichmafiige Fruchtfelder unter 
bedecktem Himmel bilden die Landschaft. - Ein Italiener aus dem 
Volke safi neben mir und versuchte eine Unterhaltung - doch er 
konnte nicht deutsch, ich nicht italienisch und es kam eine stok- 
kende Gebardensprache heraus. Kurz vor Mailand stiegen viele 
Arbeiter und Frauen ein, der Wagen war iiberf iillt und doch ging es 
anstandig zu. Ein Geistlicher verteilt einen kleinen violetten Zettel. 
Der Hausdiener vom Helvetia-Hotel, das wir von der Hinreise her 
kannten, war nicht am Bahnhof. Nach kurzem Zogern lieften wir 
das Handgepack an der Bahn und gingen zu Fufi zum Hotel. Von 
hier ab rechneten wir angstlich mit dem italienischen Gelde, um 
moglichst ohne nochmals zu wechseln, auszukommen. So hatte 
Katz ein bescheidenes Abendbrot. 

Sehr schon war die Ruckreise des nachsten Tages, auf einer Strecke, 
die uns zum grofien Teil noch fremd war. Ein interessantes Ge- 
sprach, das ich liber allgemeine Bildung fiihrte, klarte mir halb 
unbewuflte Ideen, indem ich sie aussprechen mulke. Die Fahrt war 
voller Zweifel. Durch einen letzten Tag am Vierwaldstattersee 



290 Autobiographische Schriften 

wollten wir den Ubergang von Italien zu Freiburg mildern und in 
ganz anderer Umgebung unsere Eindriicke zur Ruhe kommen las- 
sen. Doch dachten wir nur an einen Aufenthalt bei gutem Wetter. 
Die Reise aber fuhrte durch regnerische Gebiete. Immerhin war bis 
zum Gotthard alles ungewifi. Und als wir aus dem Tunnel heraus- 
kamen versprach wirklich die Sonne schonstes Wetter. Ich ging in 
den Speisesaal, um mein letztes italienisches Geld auszugeben; 
bekam fur 35 cts. einen Sandwich, irrte mich, indem ich zuviel 
Trinkgeld gab und bekam vom Kellner einen wertlosen Schweizer 
Frc. zuriick. Wutschnaubend ging ich, den letzten Bissen noch im 
Munde, in meinen Wagen zuriick, denn Altdorf war nahe. Im 
Wagen erfuhren wir, dafi der Zug entgegen dem Fahrplan, der uns 
in Venedig vorgelegen hatte, in Fliielen hielt. Unser Plan war 
dadurch umgestofien: wir hatten die Moglichkeit noch an diesem 
Nachmittag bequem nach Brunnen zu gehen, wahrend wir ur- 
spriinglich in Altdorf ubernachten und am nachsten Morgen nach 
Brunnen oder bis Tellspl(atte) gehen wollten, um am Abend in 
Freiburg zu sein. Nun stiegen wir in Fliielen aus und gingen die 
Axenstrafie hinauf. Nur ganz kurze Zeit hatten wir den schonsten 
Blick auf Fliielen. Sehr schnell zogen schwere Wolken herauf, die 
die Sonne verdeckten und uns den Weg verdarben. Bei dieser Wen- 
dung des Wetters entschlossen wir uns, wenn moglich noch am glei- 
chen Abend mit dem letzten Zug in Freiburg zu sein. Da wir einen 
Dampfer auf die Tellsplatte zusteuern glaubten, liefen wir hinunter. 
Wir hatten uns getauscht, sahen den Fahrplan nach und stellten fest, 
dafi vor kurzer Zeit der Dampfer abgefahren war, der uns die 
schnelle Riickkehr nach Freiburg noch ermoglicht hatte. Ein wenig 
verstimmt durch die Tiicke des Wetters, das uns durch ein paar Son- 
nenstrahlen aus dem Zug gelockt hatte, warteten wir. Ich rauchte 
eine Zigarette und studierte iiberlegen eine gleichfalls wartende 
Touristenfamilie. Hohnisch langsam fuhr das Schiff an, das spitze 
Riel(Kind?) sah aus, als wiifite es, dafi gerade dieser Dampfer uns 
nichts mehr nutzen konne. Letzte Moglichkeiten wurden erwogen. 
Aber die direkte Fahrt nach Luzern war uns genommen, da ich mei- 
nen Handkoffer von Fliielen nur nach Brunnen aufgegeben hatte 
und ich ihn nicht liegenlassen wollte. In Brunnen gingen wir, soviel 
ich weifi in den Schweizer Hof . Ich habe mich doch sehr nach deut- 
scher Sprache und deutschen Aufschriften und Menschen gesehnt, 
denen man etwas sicherer gegeniiberstande. Katz afi ein wenig, wir 



Meine Reise in Italien Pfingsten 1912 291 

gingen spazieren. In einem Geschaft kaufte ich ein paar Karten (ver- 
gebens versuchte ich, den schlechten Franc los zu werden) setzte 
mich ans Ufer und schrieb ein paar Zeilen an Dora und Sachs. Ich 
kaufte Zigaretten. Wir gingen am See entlang bis zum Ende des 
Ortes. Es dammerte schon. Als wir iiber eine Bretterbriicke gingen 
hatten wir die Mythen vor uns. Im Ort ging ich erst in eine kleine 
Backerei, nachher in ein grofieres Geschaft und kaufte viel Choko- 
lade, die ich schmuggelte. Im Hotel gab es ein sehr gutes Abend - 
brot; ein alterer Herr saf5 am Tisch mit uns. Nach dem Essen gingen 
wir noch auf eine halbe Stunde fort, die Axenstrafie hinauf. Es war 
ganz dunkel und unterdessen war schones warmes Wetter gekom- 
men. Auf der Hohe iiber Brunnen setzten wir uns auf die Mauer- 
briistung und sahen hinab. Die Lichter des Ortes lagen rechts unter 
uns an der Bucht, wie ein blitzender Hering schofi ein- oder zwei- 
mal ein Scheinwerfer aus den Bergen. Wir waren sehr froh, dafi ein 
Zufall uns die Ruckkehr verwehrt und hier festgehalten hatte und 
ich konnte mich schwer auf den Weg machen zum Hotel zuriick. 
Vor 8 Uhr waren wir am nachsten Morgen auf dem Schiff. Es war 
schlechtes Wetter, der Himmel wolkig, die Berge halb verhangt. 
Irgendein katholischer Festtag war, zur Feier wurden Bollerschusse 
gelost. Wahrend der Fahrt iiber den See entstand ein Gesprach iiber 
Asthetik zwischen Katz und mir, das wir auf der Fahrt von Luzern 
nach Basel wieder aufnahmen. In Luzern war Zeit, iiber die Briicke 
an der Promenade entlang zu gehen. Ich beobachtete fast unglaubig 
Reisende, die schon jetzt eintreffen. Solange man in der Schule ist, 
scheint alles natiirliche Leben an alien Orten auf die Ferien 
beschrankt. Ein Menschenstrom und Gesange machten uns auf eine 
Prozession aufmerksam. Wir standen und sahen eingekeilt auf einer 
breiten hohen Kirchentreppe viele weiflgekleidete Kinder, sie wer- 
den aufgestellt. Unter Gesangen, mit frommen Fahnen kommen 
andere Ziige. Eine Nonne fiihrt sie herauf. Auf der Treppe steht 
Militair. Ein Zug Priester, wieder Kinder, dann Nonnen. Es ist 
nicht abzuwarten. Die Hauser zeigen Kruzifixe und Blumen vor 
den Fenstern, aus denen die Menschen sehen. - 
Auf der Fahrt furchte ich, mein Schmuggel wiirde entdeckt. Ich 
verabrede alles umstandlich mit Katz. Schliefilich in Basel kommt 
ein Beamter in den Wagen und fragt nur, ob ich Groftgepack 
habe. 
Wie wir nahe bei Freiburg sind iiberkommt mich schon ein biftchen 



292 Autobiographische Schriften 

Ekel und Sehnsucht nach Italien. Am friihen Nachmittag kommen 
wir an. 



MOSKAUER TAGEBUCH 

9 Dezember (1926). Angekommen bin ich am 6 Dezember. Im 
Zuge hatte ich mir fur den Fall, dafi niemand am Bahnhof sein 
sollte, einen Hotelnamen nebst Adresse eingepragt. (An der Grenze 
hatte man mich mit der Angabe, zweiter Klasse sei nicht zu haben, 
erster nachzahlen lassen.()) Es war mir angenehm, dafi mich nie- 
mand aus dem Schlafwagen steigen sah. Aber auch an der Sperre 
war niemand, Ich war nicht allzu aufgeregt. Da tritt mir, wahrend 
ich aus dem weifirussisch-baltischen Bahnhof trete, (Bernhard) 
Reich entgegen. Der Zug war ohne eine Sekunde Verspatung einge- 
troffen. Uns und die beiden Koffer verstauten wir in einen Schlit- 
ten. Tauwetter war an diesem Tage eingetreten, es war warm. Wir 
waren durch die breite schnee- und schmutzstrahlende Twerskaja 
erst einige Minuten gefahren, da winkte Asja (Lacis ) vom Weg aus. 
Reich stieg ab und ging die paar Schritt zum Hotel zu Fufie, wir 
fuhren. Asja sah nicht schon, wild unter einer russischen Pelzmutze 
aus, das Gesicht durch das lange Liegen etwas verbreitert. Im Hotel 
hielten wir uns nicht auf und tranken Tee in einer der sogenannten 
Konditoreien in der Nahe des Sanatoriums. Ich erzahlte von 
Brecht. Dann ging Asja, die wahrend der Ruhepause entwichen 
war, um unbemerkt zu bleiben, zum Sanatorium einen Nebenauf- 
gang hinauf, Reich und ich iiber die Haupttreppe. Hier zum zwei- 
ten Male Bekanntschaft mit der Sitte des Galoschenablegens. Das 
erste Mai im Hotel, wo ubrigens nur gerade die Koffer in Empfang 
genommen wurden; ein Zimmer versprach man uns fiir den Abend. 
Asjas Zimmergenossin, eine breite Textilarbeiterin, sah ich erst am 
folgenden Tage, sie war noch abwesend. Hier blieben wir zum 
ersten Male unter einem Dach einige Minuten allein. Asja sah mich 
sehr freundlich an. Anspielung auf das entscheidende Gesprach in 
Riga. Dann begleitete mich Reich ins Hotel, wir afien ein wenig auf 
meinem Zimmer, und gingen dann ins Theater Meyerhold. Es war 
erste Generalprobe des »Revisors«. Mir ein Billet zu verschaffen 
gelang trotz Asjas Versuch nicht. Ich ging also noch eine halbe 
Stunde die Twerskaja in der Richtung auf den Kreml hinauf und 
wieder zuriick, vorsichtig an den Ladenschildern buchstabierend 



Moskauer Tagebuch 293 

und auf dem Glatteise schreitend. Dann kam ich sehr miide (und 
wahrscheinlich traurig) auf mein Zimmer. 

Am 7 ten morgens holte mich Reich ab. Gang: Petrowka (zurpolizei- 
lichen Anmeldung) Institut der Kamenewa (wegen eines 1,50 Rubel 
Platzes in dem gelehrten Institut; ferner mit dem dortigen deut- 
schen Referenten, einem groften Esel, gesprochen) danach durch 
die ulitza Gerzena zum Kreml, vorbei an dem ganz miftgluckten 
Leninmausoleum bis zum Blick auf die Isaakskathedrale. Zuriick 
iiber die Twerskaja und in den Twerskoi-Boulevard zum Dom Ger- 
zena, dem Sitz der proletarischen Schriftstellerorganisation Wap. 
Gutes Essen, von dem mich die Anstrengung, die das Gehen in der 
Kalte mich gekostet hatte, wenig geniefien liefi. Kogan wurde mir 
vorgestellt und hielt mir einen Vortrag iiber seine rumanische 
Grammatik und sein russisch-rumanisches Worterbuch. Reichs 
Berichte, denen ich nur wahrend der langen Gange aus Miidigkeit 
oft nur mit halbem Ohr folgen kann, sind unendlich lebendig, voll 
von Belegen und Anekdoten, scharf und sympathisch. Geschichten 
von einem fiskalischen Beamten, der Ostern Urlaub nimmt und sei- 
nem Dorfe als Pope den Gottesdienst halt. Ferner: Die Gerichtsur- 
teile gegen die Schneiderin, die den alkoholischen Mann erschlug 
und den Hooligan, der auf der Strafie einen Studenten und eine Stu- 
dentin anfiel. Ferner: Geschichte von dem weifigardistischen Stuck 
bei Stanislawski; wie es zur Zensur kommt und nur einer davon 
Notiz nimmt und mit dem Vermerk, es muftten Anderungen eintre- 
ten, es zuruckgibt. Darauf Monate spater, nach Vornahme dieser 
Anderungen schliefilich Vorstellung vor der Zensur. Verbot. Sta- 
nislawski bei Stalin: er sei ruiniert, in dem Stiicke stecke sein ganzes 
Kapital. Stalin kommt »es sei nicht gefahrlich«. Premiere unter 
Opposition von Kommunisten, die durch Miliz entfernt werden. 
Geschichte von der Schliisselnovelle, die den Fall Frunse behandelt, 
der angeblich gegen seinen Willen und auf Stalins Befehl sei operiert 
worden ... Dann die politischen Informationen: Entfernung der 
Opposition aus den leitenden Stellen. Damit identisch: Entfernung 
zahlreicher Juden zumal aus den mittleren Chargen. Antisemitis- 
mus in der Ukraine. - Nach Wap gehe ich, vollig erschopft, 
zunachst allein zu Asja. Dort wird es bald sehr voll. Es kommt eine 
Lettin, die neben ihr auf dem Bett sitzt, Schestakoff mit seiner Frau, 
zwischen den beiden letzten und andererseits Asja und Reich ent- 
steht, russisch, der heftigste Disput iiber Meyerholds Revisorauf- 



294 Autobiographische Schriften 

fuhrung. Im Mittelpunkt steht die Verwendung von Samt und 
Seide, vierzehn Kostume fur seine Frau; iibrigens dauert die Auf- 
fiihrung 5/2 Stunden. Nach dem Essen kommt Asja zu mir; auch 
Reich ist bei mir. Asja erzahlt vor dem Fortgehen die Geschichte 
von ihrer Krankhek. Reich bringt sie ins Sanatorium zuriick und 
kommt darauf wieder. Ich liege im Bett - er will arbeiten. Aber er 
unterbricht sich sehr bald und wir sprechen iiber die Situation des 
Intellektuellen - hier und in Deutschland; sowie iiber die Technik 
der augenblicklich in diesen beiden Landern falligen Schriftstellerei. 
Dazu iiber Reichs Bedenken, in die Partei einzutreten. Sein standi- 
ges Thema ist die reaktionare Wendung der Partei in kulturellen 
Dingen. Die linken Bewegungen, die zur Zeit des Kriegskommu- 
nismus benutzt wurden, werden ganzlich fallen gelassen. Erst ganz 
kiirzlich sind (gegen Trotzki) die proletarischen Schriftsteller als 
solche staatlich anerkannt worden, doch indem man gleichzeitig 
ihnen zu verstehen gab, dafi sie auf staatliche Unterstiitzung in kei- 
nem Fall rechnen konnen. Dann der Fall Llelewitsch - das Vorge- 
hen gegen die linke Kulturfront. Llelewitsch hat eine Arbeit iiber 
die Methode marxistischer Literaturkritik verfaSt. - Man legt in 
Rufiland das grofite Gewicht auf die streng niiancierte politische 
Stellungnahme. In Deutschland wird politischer Hintergrund, vage 
und allgemein, ausreichend sein, der aber unerlafilich auch dort 
gefordert werden (sollte). - Methode fur Rufiland zu schreiben: 
breit Material zu exponieren und moglichst nichts weiter. Der Bil- 
dungsgrad des Publikums ist so niedrig, dafi Formulierungen 
unverstanden bleiben miissen. Dagegen verlangt man in Deutsch- 
land nur die: Resultate. Wie man zu ihnen gekommen ist, will nie- 
mand wissen. Damit hangt zusammen, dafi deutsche Zeitungen 
dem Referenten nur einen winzigen Raum zur Verfiigung stellen; 
hier sind Artikel von 500 bis 600 Zeilen keine Ausnahme. Dieses 
Gesprach zog sich lange hin. Mein Zimmer ist gut geheizt und 
geraumig, der Aufenthalt darin angenehm. 

8 Dezember. Am Vormittag war Asja bei mir. Ich gab ihr 
Geschenke, zeigte ihr fliichtig mein Buch mit der Widmung. 
Nachts hatte sie infolge von Herzerregung nicht gut geschlafen. 
Auch den Umschlag zum Buche, den {Sascha) Stone gemacht hat, 
zeigte (und schenkte) ich ihr. Er gefiel ihr sehr gut. Danach kam 
Reich. Spater ging ich mit ihm zum Wechseln auf die Staatsbank. 
Wir sprachen kurz dort den Vater von Neumann. 10 Dezember. 



Moskauer Tagebuch 295 

Dann durch eine neuerbaute Passage in die Petrowka. In der Pas- 
sage ist eine Ausstellung der Porzellanmanufaktur. Reich halt sich 
aber nirgends auf . In der StraKe, wo das Hotel Liverpool liegt, sehe 
ich zum zweiten Male die Konditoreien. (Hier trage ich die 
Geschichte von (Ernst) Tollers Moskauer Aufenthalt nach, die ich 
am ersten Tage zu horen bekam. Er wurde mit unglaublichem Auf- 
wand empfangen. Schilder kiindigen in der ganzen Stadt sein Kom- 
men an. Man gibt ihm einen Stab von Personal, Ubersetzerinnen, 
Sekretarinnen, hubschen Frauen bei. Vortrage von ihm werden 
angekiindigt. Doch zu dieser Zeit ist in Moskau eine Tagung der 
Komintern. Unter den deutschen Vertretern ist (Paul) Werner, der 
Todfeirid von Toller. Er veranlafit oder verf afk in der Prawda einen 
Artikel: Toller habe die Revolution verraten, sei Schuld am Schei- 
tern einer deutschen Raterepublik. Die Prawda vermerkt kurz 
redaktionell dahinter: Verzeihung, wir wufken das nicht. Toller ist 
in Moskau darauf unmoglich. Er begibt sich, um einen grofiange- 
kiindigten Vortrag zu halten zu einem Versammlungsort - das 
Gebaude ist verschlossen. Das Institut der Kamenewa benachrich- 
tigt ihn: Verzeihung, der Saal war heute nicht zu haben. Man hat 
vergessen, Ihnen zu telefonieren.) Mittag wieder im Wap. Eine Fla- 
sche Mineralwasser kostet 1 Rubel. Danach gehen Reich und ich zu 
Asja. Zu ihrer Schonung arrangiert Reich, sehr gegen ihren Willen, 
und meinen, zwischen ihr und mir im Spielzimmer des Sanatoriums 
eine Dominopartie. Ich komme mir vor, neben ihr sitzend, wie eine 
Figur aus einem Roman von Jacobsen. Reich spielt mit einem 
beruhmten alten Kommunisten Schach, einem Mann, der im Krieg 
oder im Biirgerkrieg ein Auge verloren hat und ganzlich zerstort 
und aufgebraucht ist, wie viele der besten Kommunisten aus dieser 
Zeit, wenn sie nicht schon tot sind. Asja und ich sind noch nicht 
lange in ihr Zimmer zuriickgekehrt, als Reich kommt, um mich zu 
Granowski abzuholen. Ein Stuck die Twerskaja hinunter begleitet 
uns Asja. In einer Konditorei kaufe ich ihr Halwa und sie kehrt um. 
Granowski ist ein lettischer Jude aus Riga. Seine Schopfung ist ein 
chargiertes antireligioses und dem aufieren Anschein nach gewisser- 
mafien antisemitisches Possentheater, das aus einer Chargierung 
der Jargonoperette hervorgegangen ist. Er wirkt ganz westlich, 
steht einigermafSen skeptisch zum Bolschewismus und das Ge- 
sprach dreht sich hauptsachlich urns Theater und um Besoldungs- 
fragen. Die Rede kommt auf Wohnungen. Sie werden hier nach □ 



296 Autobiographische Schriften 

m bezahlt. Der Preis des Quadratmeters richtet sich nach der Hohe 
der Besoldung des Mieters. Aufierdem betragt der Preis fur alles 
was liber einen Anteil von 13 □ m fur den Einzelnen hinausgeht, 
sowohl fur Miete als Heizung das Dreifache. Man hatte uns nicht 
mehr erwartet und start eines grofien Essens gab es ein improvisier- 
tes kaltes Abendessen. Gesprach bei mir mit Reich iiber die Enzy- 
klopadie. 

9 Dezember. Vormittags kam wie der Asja. Ich gab ihr einige 
Sachen, dann gingen wir bald spazieren. Asja sprach iiber mich. 
Beim Liverpool machten wir Kehrt. Ich ging dann nach Hause, wo 
Reich schon war. Eine Stunde arbeiteten wir jeder - ich an der 
Redaktion des Goethe- Artikels. Darauf zum Kamenewa-Institut, 
um Hotel-Ermafiigung fiir mich zu erwirken. Sodann zum Essen. 
Diesmal nicht im Wap. Das Essen war hervorragend, besonders 
eine Suppe von roten Ruben. Sodann zum Liverpool mit seinem 
freundlichen Besitzer, einem Letten. Es war etwa 12 Grad. Nach 
dem Essen war ich ziemlich erschopft und konnte nicht mehr zu 
Fufi, wie ich die Absicht gehabt hatte, zu Llelewitsch kommen. Wir 
muftten ein kleines Stuck fahren. Dann geht es bald durch ein gro- 
fies Garten- oder Parkgrundstuck, in dem uberall Hauserkomplexe 
liegen. Ganz hinten ein schones schwarzweifies Holzhaus mit Lle- 
lewitschs Wohnung im ersten Stock. Wir begegnen beim Eintritt ins 
Haus Besmensky, der eben herauskommt. Eine steile Holzstiege 
und hinter einer Tiir zunachst die Kiiche mit offnem Feuer. Sodann 
ein primitiver Vorplatz, der von Manteln voll hangt, dann durch 
eine Stube, scheinbar mit Alkoven, in Llelewitschs Arbeitszimmer. 
Seine Erscheinung ist nur schwer darzustellen. Ziemlich hoch 
gewachsen, in blauer russischer Bluse, bewegt er sich wenig (schon 
das kleine Zimmer voll Menschen bannt ihn auf den Stuhl vor dem 
Schreibtisch.{)) Das Merkwiirdige ist sein langes scheinbar unarti- 
kuUertes Gesicht mit breiten Flachen. Das Kinn zieht sich so lang, 
wie ich es wohl bei keinem Menschen aufier dem kranken Grommer 
gesehen habe, hinunter und ist nur sehr wenig eingeschnitten. Er 
wirkt sehr ruhig aber die ganze zehrende Schweigsamkeit des fana- 
tischen Menschen scheint an ihm spiirbar. Er erkundigt sich bei 
Reich mehrfach nach mir. Gegenuber auf dem Bett sitzen zwei 
Menschen, der eine in schwarzer Bluse ist jung und sehr schon. 
Hier sind nur Angehorige der literarischen Opposition versammelt 
um die letzte Stunde vor seinem Fortgehen bei ihm zu sein. Er wird 



Moskauer Tagebuch 297 

verschickt. Zuerst war Nowosibirsk die Order. »Sie brauchen« 
sagte man ihm »nicht eine Stadt mit ihrem immerhin begrenzten 
Wirkungskreis sondern ein ganzes Gouvernement.« Aber es gelang 
ihm, das abzuwenden und nun sendet man ihn »zur Verfiigung der 
Partei« nach Saratow, vierundzwanzig Stunden von Moskau, ohne 
dafi er noch weifi, ob er dort Redakteur, Verkaufer in einer staatli- 
chen Produktionsgenossenschaft oder was sonst wird. Im Neben- 
raum halt sich die meiste Zeit iiber unter wieder anderen Besuchern 
seine Frau auf, ein Wesen mit hdchst energischem aber ebenso har- 
monischem Ausdruck, klein, von siidnissischem Typus. Sie beglei- 
tet ihn fur die ersten drei Tage. Llelewitsch hat den Optimismus des 
Fanatikers: er bedauert, die Rede nicht horen zu konnen, die 
Trotzki am folgenden Tage vor der Komintern zu gunsten Sino- 
wjeffs halten wird, meint, die Partei stiinde vor einem Umschwung. 
Beim Abschied auf der Diele lasse ich ihm durch Reich ein paar 
freundliche Worte sagen. Dann gehen wir zu Asja. Vielleicht gab es 
erst jetzt die Dominopartie. Am Abend wollten Reich und Asja zu 
mir kommen. Aber es kam nur Asja. Ich gab ihr Geschenke: Bluse, 
Hose. Wir sprechen. Ich bemerke, dafi sie im Grunde nichts ver- 
gifit, was uns angeht. (Nachmittag{s) sagte sie, sie findet dafi es gut 
mit mir steht. Es sei nicht wahr, dafi ich in einer Krise bin.) Bevor 
sie fortgeht, lese ich ihr aus der »Einbahnstrafie« die Stelle von den 
Runzeln. Ich helfe ihr dann in die Galoschen. Reich kam erst als ich 
schlief, um Mitternacht, mir Nachricht zu geben, damit ich am 
nachsten Morgen Asja beruhigen konnte. Er hatte die Vorbereitun- 
gen fiir seinen Umzug getroffen. Denn er wohnt mit einem Ver- 
riickten zusammen und die ohnehin schwierigen Wohnangelegen- 
heiten sind dadurch unertraglich kompliziert. 
10 Dezember. Am morgen gehen wir zu Asja. Da in der Friihe 
Besuche nicht erlaubt sind, sprechen wir sie im Vestibiil eine 
Minute. Sie ist nach dem Kohlensaurebad, das sie zum ersten Male 
nahm und das ihr sehr gut tat{ , ermudet) . Darauf wieder zum Insti- 
tut der Kamenewa. Der Schein, der mir Ermafiigung bei den Hotels 
erwirkt, sollte fertig sein, ist es aber nicht. Dafiir gibt es im gewohn- 
ten Vorzimmer mit dem unbeschaftigten Herrn und dem Fraulein 
eine recht ausgedehnte Unterhaltung iiber Theaterfragen. Am fol- 
genden Tage soil ich von der Kamenewa empf angen werden und fiir 
den Abend bemiiht man sich um Theaterbillets. Leider sind fiir das 
Operettentheater keine zu bekommen. Reich setzt mich im Wap 



298 Autobiographische Schriften 

ab; ich bleibe dort mit meiner russischen Grammatik zweieinhalb 
Stunden; dann erscheint er wieder, mit Kogan, zum Essen. Nach- 
mittags bin ich bei Asja nur kurz. Sie hat Streit wegen der Woh- 
nungsangelegenheiten mit Reich und schickt mich fort. Ich lese auf 
meinem Zimmer Proust, fresse dazu Marzipan. Abends gehe ich ins 
Sanatorium, begegne am Eingang Reich, der fort war, um sich Ziga- 
retten zu holen. Im Gang warten wir einige Minuten, dann kommt 
Asja. Reich setzt uns in die Elektrische und wir fahren ins musikali- 
sche Studio. Der Administrator empfangt uns. Er legt uns ein, fran- 
zosisches, Anerkennungsschreiben von Casella vor, fiihrt uns 
durch alle Raume (im Vestibul ist viel Publikum schon lange vor 
Anfang versammelt, Leute, die von ihren Arbeitsstatten direkt ins 
Theater kommen) zeigt uns auch den Konzertsaal. Im Vestibul liegt 
ein aufierordentlich auffallender, wenig schoner Teppich. Wahr- 
scheinlich ein kostbarer Aubusson. Echte alte Bilder hangen an den 
Wanden (eines ist ungerahmt). Hier, wie ubrigens auch im offiziel- 
len Empfangsraum des Institutes fiir die Kulturbeziehungen zum 
Ausland sieht man sehr wertvolle Mobel. Unsere Platze sind in der 
zweiten Reihe. Man gibt die »Zarenbraut« von Rimski-Korsakoff - 
die erste Oper, die neuerdings von Stanislawski einstudiert wurde. 
Gesprach iiber Toller, wie Asja ihn ausfuhrte, wie er ihr etwas 
schenken wollte und sie den billigsten Giirtel sich aussuchte, wie er 
torichte Bemerkungen machte. In einer Pause gehen wir ins Vesti- 
bul. Es gibt aber drei. Sie sind viel zu lang und ermiiden Asja. 
Gesprach iiber den ockergelben italienischen Shawl, den sie tragt. 
Ich erklare ihr, sie geniert sich vor mir. In der letzten Pause tritt der 
Administrator zu uns heran. Asja redet mit ihm. Er ladt mich zur 
nachsten Neueinstudierung (Eugen Onegin) ein. Am Schlufi ist die 
Beschaffung der Garderobe sehr schwierig. Zwei Theaterdiener bil- 
den mitten auf der Treppe einen Kordon, um den Zustrom der 
Leute zu den winzigen Garderoberaumen zu regeln. Nach hause 
sowie ins Theater in der kleinen, ungeheizten elektrischen Bahn mit 
vereisten Fenstern. 

// Dezember. Einiges zur Signatur von Moskau. Vor allem be- 
stimmt mich in den ersten Tagen die schwierige Gewohnung an den 
Gang auf vollig vereisten Strafien. Ich mufi so sehr auf meine 
Schritte achten, dafi ich wenig umherblicken kann. Das wurde bes- 
ser als Asja mir gestern vormittag (ich schreibe dies am i2 ten ) Galo- 
schen einkaufte. Das war nicht so schwierig als Reich vermutet 



Moskauer Tagebuch 299 

hatte. Fiir die Bauweise der Stadt sind die vielen ein- und zweistok- 
kigen Hauser charakteristisch. Sie geben ihr das Aussehen einer 
Sommervillenstadt, man verspiirt bei ihrem Anblick doppelt die 
Kalte. Oft findet sich ein bunter Anstrich von schwachem Farbton: 
vor allem rot, aber auch blau, gelb (und, wie Reich sagt auch) griin. 
Der Biirgersteig ist auffallend schmal, man ist mit dem Boden 
ebenso geizig als verschwenderisch mit dem Luftraum. Dazu liegt 
an der Hauserkante das Eis so dicht, dafi ein Teil von dem Trottoir 
unbenutzbar bleibt. Ubrigens profiliert es sich selten deutlich gegen 
den Fahrdamm: Schnee und Eis nivellieren die verschiedenen 
Schichten der Strafie. Man begegnet sehr haufig, vor staatlichen 
Laden Kordons; urn Butter und andere wichtige Waren stellt man 
sich an. Es gibt eine Unzahl Laden und noch weit mehr Handler, 
die nichts als einen Waschkorb mit Apfeln, mit Mandarinen oder 
mit Cacaouets vor sich stehen haben. Um die Ware vor der Kalte zu 
schutzen liegt sie unter einem wollne(n) Tuche, auf welchem die 
zwei, drei Musterexemplare zu sehen sind. Fulle von Broten und 
anderem Geback: Brotchen in alien GroSen, Brezeln, und, in den 
Konditoreien, sehr prunkvollen Torten. Aus Zuckergufi sind phan- 
tastische Aufbauten oder Blumen gebildet. In einer Konditorei war 
ich gestern Nachmittag mit Asja. Es gibt in Glasern Schlagsahne 
dort. Sie nahm ein Glas mit einem Baiser, ich Kaffee. Wir safien 
mitten im Raum an einem Tischchen uns gegenuber. Asja erinnerte 
an meine Absicht, gegen die Psychologie zu schreiben und ich hatte 
von neuem festzustellen, wie sehr bei mir die Moglichkek, solche 
Themen in Angriff zu nehmen von dem Kontakt mit ihr abhangt. 
Im ubrigen konnten wir diese Stunde im Cafe nicht so ausdehnen, 
wie wir es gehofft hatten. Ich kam aus dem Sanatorium nicht um 
vier Uhr fort sondern erst um flint. Reich wollte, dafi wir ihn erwar- 
teten, er war nicht sicher, ob er Sitzung habe. Endlich gingen wir. 
Auf der Petrowka sahen wir Auslagen an. Ein herrliches Holzwa- 
rengeschaft fiel mir auf. Asja kaufte mir drinnen auf meine Bitte eine 
ganz kleine Pfeife. Ich will dort spater fiir Stefan und Daga Spielsa- 
chen einkaufen. Es gibt jene vielfach geschachtelten russischen Eier, 
Kastchen, welche sich in einanderlegen lassen, geschnitzte Tiere aus 
schonem weiche(n) Holz. In einem anderen Schaufenster waren 
russische Spitzen zu sehen und gestickte Tiicher, von denen Asja 
mir sagte, daft die Bauernfrauen auf ihnen die Eisblumen am Fenster 
nachbilden. Das war an dem Tag schon unser zweiter Spaziergang. 



300 Autobiographische Schriften 

Vormittags war Asja zu mir gekommen, hatte erst an Daga 
geschrieben und dann gingen wir bei sehr schonem Wetter einige 
Schritte auf der Twerskaja. Im Umkehren machten wir vor einem 
Geschaft halt, wo Weihnachtskerzen lagen. Asja sprach davon. 
Spater mit Reich wieder im Institut der Kamenewa. EndUch 
bekomme ich meine Ermafiigung fiirs Hotel. Abends wollte man 
von dort aus mich in Cement schicken. Reich hielt spater eine Vor- 
stellung bei Granowski fiir besser, denn Asja wollte ins Theater 
gehen und » Cement* ware fiir sie zu aufregend gewesen. Jedoch als 
endlich alles soweit war, ging es Asja nicht gut genug, so dafi ich 
allein ging, wahrend Reich und sie auf mein Zimmer gingen. Es gab 
drei Einakter, von denen die beiden ersten indiskutabel waren, der 
dritte, eine Rabbinerversammlung, eine Art chorischer Komodie 
zu judischen Melodien schien weit besser, doch verstand ich den 
Vorgang nicht und war vom Tag und von den endlosen Pausen so 
miide, dafi ich stellenweise einschlief. - Reich schlief diese Nacht in 
meinem Zimmer. - Mein Haar ist hier sehr elektrisch. 
12 Dezember. Am Morgen ging Reich mit Asja spazieren. Sie 
kamen dann zu mir - ich war mit Anziehen noch nicht ganz fertig. 
Asja safi auf dem Bett. Ich hatte grofie Freude davon, wie sie meine 
Koffer auspackte und ordnete; dabei behielt sie ein paar Krawatten 
fiir sich, die ihr gefielen. Dann erzahlte sie wie sie Schundliteratur, 
als sie klein war, verschlungen hatte. Sie verbarg die kleinen Hefte 
vor ihrer Mutter unter den Schulbiichern, einmal hatte sie aber ein 
grofies zusammenhangendes Buch »Laura« bekommen, das fiel 
ihrer Mutter in die Hande. Ein anderes Mai rannte sie mitten in der 
Nacht von Hause fort, um sich bei einer Freundin die Fortsetzung 
von einer Kolportagegeschichte zu holen. Deren Vater offnete ganz 
verstort - er fragte, was sie denn wolle und da sie sah, was sie ange- 
richtet habe, erwiderte sie, das wisse sie selber nicht. - Mittags mit 
Reich im kleinen Kellerrestaurant. Der Nachmittag im verodeten 
Sanatorium war qualend. Bei Asja wieder standiger Wechsel zwi- 
schen du und Sie. Es ging ihr nicht gut. Nachher spazierte man die 
Twerskaja entlang. Dabei ka(m) es dann, spater, als man in einem 
Cafe safi, zwischen Reich und Asja zu einer grofien Auseinander- 
setzung, in der Reichs Hoffnung deutlich wurde, sich ausschliefi- 
lich auf russische Ziele zu konzentrieren, die deutschen Verbindun- 
gen daher fallen zu lassen. Abends mit Reich auf meinem Zimmer 
allein: ich studierte den Fiihrer und er schrieb an der Vorrezension 



Moskauer Tagebuch 301 

des »Revisors«. - Es gibt keine Lastwagen in Moskau, keine Fir- 
menwagen etc. Die kleinsten Einkaufe wie die grofiten Sendungen 
mufi man auf den winzigen Schlitten durch »Istwostschik« befor- 
dern lassen. 

13 Dezember. Am Vormittag verbesserte ich meine Orientierung 
in der Stadt durch einen grofien Spaziergang iiber die inneren Bou- 
levards zur Hauptpost und zuriick iiber den Ljubjanka Platz zum 
Dom Gerzena. Ich loste das Geheimnis des Mannes mit der Schrift- 
tafel: er verkauft Buchstaben, die man in den Galoschen befestigt, 
um sie vor Verwechselungen zu schiitzen. Hier Helen mir beim Spa- 
ziergang wieder die vielen Geschafte im Schmuck des Weihnachts- 
baums auf, wie ich sie eine Stunde vorher bei einem kurzen Gange 
mit Asja auch uberall in der Jamskaja Twerskaja gefunden hatte. 
Hinter den Scheiben der Auslage sieht er manchmal noch glanzen- 
der aus als am Baum. Auf diesem Spaziergange in der Jamskaja 
Twerskaja begegneten wir einem Trupp Komsomolzen, die mit 
Musik marschierten. Diese, ahnlich wie die der Sowjettruppen, 
scheint aus einer Kombination des Pfeifens mit dem Gesang zu 
bestehen. Asja sprach von Reich. Sie trug mir auf, ihm die letzte 
Nummer der Prawda mitzubringen. Am Nachmittag las Reich bei 
Asja uns seine Vorbesprechung von Meyerholds Auffuhrung des 
Re visors vor. Sie ist sehr gut. Wahrend er (vorher) in Asjas Zimmer 
auf dem Stuhle einschlief, las ich ihr einiges aus der »Einbahn- 
strafte*. Auf meinem grofien Rundgang am Vormittag bemerkte ich 
sonst noch: Marktweiber, Bauernfrauen, die ihren Korb mit Waren 
neben sich stehen haben (manchmal auch einen Schlitten, wie die, 
die hier im Winter als Kinderwagen dienen). In diesen Korben lie- 
gen Apfel, Bonbons, Ntisse, Zuckerfiguren, halb unterm Tuche 
versteckt. Man denkt, eine zartliche Grofimama hat vor dem Weg- 
gehen im Hause Umschau gehaken nach allem, womit sie ihr Enkel- 
kind uberraschen konnte. Das hat sie zusammengepackt und bleibt 
nun unterwegs, um sich ein bifichen auszuruhen, auf der Strafie 
stehen. Ich begegnete wieder den Chinesen, die kiinstliche Papier- 
blumen verkaufen, wie ich sie Stefan aus Marseille mitbrachte. Hier 
scheinen aber noch haufiger papierne Tiere von der Form exotischer 
Tiefseefische zu sein. Dann gibt es Manner, die Korbe voll Holz- 
spielzeug haben, Wagen und Spaten, gelb und rot sind die Wagen, 
gelb oder rot die Schaufeln der Kinder. Andere gehen mit Bundeln 
von bunten Windfahnen iiber der Schulter herum. All das ist 



302 Autobiographische Schriften 

schlichter und solider als in Deutschland gearbeitet, sein bauerli- 
cher Ursprung ist deutlich sichtbar. An einer Ecke fand ich eine 
Frau, die Baumschmuck verkaufte. Die Glaskugeln, gelbe und rote, 
funkelten in der Sonne, es war wie ein verzauberter Apfelkorb, wo 
Rot und Gelb je in verschiedene Fruchte gefahren sind. Auch gibt es 
hier eine unmittelbarere Beziehung von Holz und Farbe als sonst 
wo. Man merkt das an den primitivsten Spielsachen so gut als an den 
kunstvollsten Lackarbeiten. - An der Mauer von Kitai Gorod ste- 
hen Mongolen. Wahrscheinlich ist in ihrer Heimat der Winter nicht 
weniger rauh und sind ihre zerlumpten Pelze nicht schlechter als die 
der Eingeborenen. Aber doch sind das hier die einzigen, die man, 
des Klimas wegen, unwillkurlich bemitleidet. Sie stehen nicht mehr 
als funf Schritt einer vom andern entfernt und handeln mit Leder- 
mappen; ein jeder mit genau der gleichen Ware wie die anderen. Es 
mufi dahinter wohl eine Organisation stecken, denn so einander die 
aussichtsloseste Konkurrenz zu machen, kann nicht ihr Ernst sein. 
Hier wie in Riga gibt es eine hubsche primitive Malerei auf Laden - 
schildern. Schuhe aus einem Korb fallend (sic), mit einer Sandale 
im Maul rennt ein Spitz davon. Vor einem tiirkischen Speisehaus 
sind zwei Schilder, Pendants, die Herren im halbmondgeschmuck- 
ten Fez vor einem gedeckten Tische darstellen. Asja hat recht, wenn 
sie sagt, dafi es charakteristisch ist, wie das Volk uberall, auch bei 
den Reklamen, irgend einen wirklichen Vorgang will dargestelk 
sehen. - Am Abend mit Reich bei Illesch. Spater kam noch der 
Direktor des Revolutionstheaters dazu, das am 30 tcn Dezember die 
Urauffuhrung von Illeschs Stuck bringen soil. Dieser Direktor ist 
ein ehemaliger roter General, der an Wrangels Vernichtung ent- 
scheidenden Anteil hat und in Trotzkis Armeebefehl zweimal 
genannt wurde. Spater hat er eine politische Dummheit begangen, 
die seine Karriere zum Stillstand brachte und da er friiher einmal 
Literat war, gab man ihm diesen leitenden Theaterposten, auf dem 
er aber nicht viel leisten soil. Er scheint ziemlich dumm. Das 
Gesprach war nicht sonderlich belebt. Auch war ich, auf Reichs 
Anweisung, behutsam im Reden. Man sprach von Plechanoffs 
Kunsttheorie. Das Zimmer enthalt nur wenige Mobel, am meisten 
fallt ein gebrechliches Kinderbett und eine Badewanne auf. Der 
Junge war als wir kamen, noch auf, wird spater schreiend ins Bett 
gebracht, schlaft aber solange wir da sind, nicht ein. 
14 Dezember (geschrieben am 1 j ten ). Heute werde ich Asja nicht 



Moskauer Tagebuch 303 

sehen. Im Sanatorium spitzt die Lage sich zu; gestern abend 
erlaubte man ihr den Ausgang erst nach langem Parlamentieren und 
heute friih kam sie nicht, mich, wie verabredet war, abzuholen. Wir 
wollten einen Stoff fur ihr Kleid besorgen. Ich bin erst eine Woche 
hier und mufi schon mit immer erhohten Schwierigkeiten, sie zu 
sehen, geschweige denn allein zu sehen, rechnen. - Gestern vormit- 
tag kam sie eilig, aufgeregt mehr noch verstorend als verstort, wie so 
oft, als hatte sie Angst eine Minute in meinem Zimmer zu bleiben, 
zu mir. Ich begleitete sie zum Haus einer Kommission, zu der sie 
eine Vorladung hatte. Sagte ihr, was ich am Abend vorher erfahren 
hatte: dafi Reich eine neue Stelle als Theaterkritiker bei einer hochst 
wichtigen Zeitschrift in Aussicht habe. Wir gingen iiber die Sado- 
waja. Im ganzen sprach ich sehr wenig, sie erzahlte, sehr aufgeregt, 
von ihrer Arbeit mit den Kindern auf dem Kinderplatz. Zum zwei- 
ten Male horte ich die Geschichte, wie einem Kind auf ihrem Kin- 
derplatz von einem anderen der Schadel war eingeschlagen worden. 
Merkwiirdigerweise verstand ich diese ganz einfache Geschichte 
(die fur Asja bose Folgen hatte haben konnen; aber die Arzte nah- 
men an, das Kind wiirde gerettet werden) erst jetzt. Es geht mir so 
ofter: ich hore kaum, was sie sagt, weil ich so intensiv auf sie sehe. 
Sie entwickelte ihren Gedanken: wie die Kinder in Gruppen geteilt 
werden miifiten, weil es auf keinen Fall gelingen kann, die wildesten 
- die sie die begabtesten nennt - mit den andern zusammen zu 
beschaftigen. Sie fuhlen sich von dem gelangweilt, was normale 
Kinder ganz ausfiillt. Und es ist sehr einleuchtend, daft Asja, wie sie 
sagt, mit den wildesten Kindern die grofiten Erfolge hat. Auch 
sprach Asja von ihrer Schriftstellerei, drei Artikeln in der lettischen 
kommunistischen Zeitung, die in Moskau erscheint: diese Zeit- 
schrift kommt auf illegalen Wegen nach Riga und dort an dieser 
Stelle gelesen zu werden ist sehr niitzlich fur sie. Das Haus der 
Kommission stand an dem Platz, wo der Straflnoi-Boulevard auf 
die Petrowka stolk. Die ging ich iiber eine halbe Stunde wartend auf 
und ab. Als sie endlich herauskam gingen wir zu der Staatsbank, wo 
ich zu wechseln hatte. An diesem Morgen fiihlte ich sehr viel Kraft 
und es gelang mir darum, von meinem moskauer Aufenthalt und 
seinen verschwindend geringen Chancen biindig und ruhig zu spre- 
chen. Das machte Eindruck auf sie. Sie erzahlte, der Arzt, der sie 
behandelt und gerettet habe, hatte mit allem Nachdruck ihr verbo- 
ten, in der Stadt zu bleiben und ihr befohlen, in ein Waldsanatorium 



304 Autobiographische Schriften 

zu gehen. Sie aber sei geblieben, der traurigen Waldeinsamkeit 
wegen, die sie furchte und meiner Ankunft halber. Wir blieben vor 
einem Pelzgeschaft stehen, wo Asja schon bei unserm ersten Gange 
iiber die Petrowka halt gemacht hatte. Es hing da an der Wand ein 
herrliches mit bunten Perlen besetztes Pelzkostiim. Um nach dem 
Preise zu fragen, traten wir ein und wir erfuhren, das sei tungusi- 
sche Arbeit (nicht also ein Kostiim der »Eskimossen«, wie Asja ver- 
mutet hatte). Zweihundertfiinfzig Rubel sollte es kosten, Asja 
wollte es haben. Ich sagte: »Wenn ich es kaufe, mufi ich gleich 
abreisen.« Aber sie liefi sich das Versprechen von mir geben, spater 
einmal ihr ein grofies Geschenk zu machen, das fiir das ganze Leben 
ihr bliebe. Zur Gosbank geht es von der Petrowka durch eine Pas- 
sage, in der ein grofies Kommissionsgeschaft fiir Antiquitaten ist. 
Im Schaufenster stand ein selten herrlicher Empireschrank in einge- 
legter Arbeit. Weiter nach dem Ende zu wurde bei holzernen Aus- 
stellungsgeriisten Porzellan verpackt oder ausgewickelt. Wahrend 
wir zur Omnibushaltestelle zuriickgingen, einige sehr gute Minu- 
ten. Darauf meine Audienz bei der Kamenewa. Nachmittags irre 
ich durch die Stadt; zu Asja kann ich nicht kommen, Knorrin ist bei 
ihr - ein sehr wichtiger lettischer Kommunist, der Mitglied von der 
obersten Zensurbehorde ist. (Und so auch heute; wahrend ich dies 
schreibe, ist Reich allein bei ihr,) Mein Nachmittag endet im fran- 
zosischen Cafe auf Staleschnikow vor einer Tasse Kaffee. - Zur 
Stadt: die byzantinische Kirche scheint keine eigene Form des Kir- 
chenfensters ausgebildet zu haben. Ein zauberischer Eindruck, der 
wenig anheimelt; die profanen, unscheinbaren Fenster, die aus den 
Turmen und Versammlungsraumen der Kirchen in byzantinischem 
Stil wie aus Wohnraumen auf die Strafie gehen. Hier wohnt der 
orthodoxe Priester wie der Bonze in seiner Pagode. Der untere Teil 
an der Basiliuskathedrale konnte der Grundstock eines herrlichen 
Bojarenhauses sein. Die Kreuze iiber den Kuppeln aber sehen oft 
wie riesenhaft in den Himmel gestellte Ohrgehange aus. - Luxus, 
der sich in der verarmten leidenden Stadt wie Zahnstein in einem 
erkrankten Munde festgesetzt hat: das Schokoladengeschaft von N. 
Kraft, das vornehme Modenmagazin auf der Petrowka, wo grofie 
Porzellanvasen kalt, scheufilich zwischen den Pelzen herumstehen. 
- Der Bettel ist nicht ag(g)ressiv wie im Suden, wo die Aufdring- 
lichkeit des Zerlumpten noch immer einen Rest von Vitalitat verrat. 
Hier ist er eine Korporation von Sterbenden. Die Strafienecken, 



Moskauer Tagebuch 305 

jener Viertel zumal, in denen Auslander geschaftlich zu tun haben, 
sind mit Lumpenbiindeln belegt wie Betten in dem grofien Lazarett 
»Moskau«, das unter freiem Himmel daliegt. Anders organisiert ist 
der Bettel in den Trambahnen. Bestimmte Schleifenlinien haben auf 
der Strecke langeren Aufenthalt. Dann schieben sich Bettler hin- 
durch oder in eine Waggonecke stellt sich ein Kind und f angt an zu 
singen. Dann sammelt es sich Kopeken ein. Sehr selten sieht man 
jemanden geben. Der Bettel hat seine starkste Grundlage verloren, 
das schlechte gesellschaftliche Gewissen, das soviel weiter als das 
Mitleid die Taschen offnet. - Passagen. Sie haben, wie es sich nir- 
gend sonst findet, verschiedene Stockwerke, Emporen, in denen es 
gewohnlich ebensoleer aussieht, wie in denen der Dome. - Das 
grofie Filzschuhwerk, in dem die Bauern und wohlhabende Damen 
herumgehen, lafit den enganliegenden Stiefel als intime Bekleidung 
mit alien Peinlichkeiten des Korsetts erscheinen. Die Wali{n)kis 
sind Prunkgewander der FuSe. Noch zu den Kirchen: sie stehen 
wohl meist ungepflegt, so leer und kalt wie ich die Basiliuskathe- 
drale im Inneren fand. Aber die Glut, die von den Altaren nur ver- 
einzelt noch in den Schnee hinausleuchtet ist wohl bewahrt geblie- 
ben in den holzernen Budenstadten. In ihren schneebedeckten 
engen Gangen ist es still, man hort nur den leisen Jargon der Klei- 
derjuden, die da ihren Stand neben dem Kram der Papierhandlerin 
haben, die versteckt hinter silbernen Kasten thront, Lametta und 
wattierte Weihnachtsmanner vor ihr Gesicht gezogen hat, wie eine 
Orientalin ihren Schleier. Am schonsten sah ich solche Buden auf 
der Arbatskaja Plotschtad. - Vor einigen Tagen auf meinem Zim- 
mer Gesprach iiber den Journalismus mit Reich. (Egon Erwin) 
Kisch hat ihm einige goldene Regeln verraten, zu denen ich noch 
neue formuliere. 1) Ein Artikel mufi soviel Namen enthalten als 
irgend moglich. 2) Der erste und der letzte Satz miissen gut sein; auf 
die Mitte kommt es nicht an. 3) Die Phantasievorstellung die ein 
Name wachruft als Hintergrund der Schilderung benutzen, welche 
ihn darstellt, wie er wirklich ist. Ich mbchte hier mit Reich zusam- 
men das Programm einer materialistischen Enzyklopadie schrei- 
ben, zu der er ausgezeichnete Ideen hat. - Nach sieben Uhr kam 
Asja. (Reich ging aber mit ins Theater.) Man gab »Die Tage der 
Turbin« bei Stanislawski. Dekorationen im naturalistischen Stile 
hervorragend gut, das Spiel ohne besondere Mangel noch Verdien- 
ste, das Drama von Bulgakoff eine durchaus revoltierende Provoka- 



306 Autobiographische Schriften 

tion. Besonders der letzte Akt, in welchem sich die Weifigardisten 
zu den Bolschewiken »bekehren« ist ebenso abgeschmackt in der 
dramatischen Fabel als verlogen in der Idee. Der Widerstand der 
Kommunisten gegen die Auffiihrung ist begriindet und einleuch- 
tend. Ob dieser letzte Akt auf Veranlassung der Zensur hinzugefiigt 
wurde, wie Reich vermutet oder urspriinglich da war, ist nicht 
belangvoll fiir die Einschatzung des Stiicks. (Das Publikum sehr 
merkbar von dem unterschieden, welches ich in den beiden anderen 
Theatern sah. Es waren wohl so gut wie keine Kommunisten dort, 
nirgends war eine schwarze oder blaue Bluse zu sehen.()) Die 
Platze lagen nicht zusammen und ich safi neben Asja nur wahrend 
des ersten Bildes. Dann setzte Reich sich zu mir; er meinte, das 
Ubersetzen sei ihr zu anstrengend. 

jj Dezember. Reich ging nach dem Aufstehen einen Augenblick 
fort und ich hoffte, Asja allein begriifien zu konnen. Aber sie kam 
iiberhaupt nicht. Nachmittags erfuhr Reich, es sei ihr am Morgen 
schlecht gegangen. Er liefi mich aber auch am Nachmittag nicht zu 
ihr. Vormittags blieben wir eine Zeit lang zusammen; er iibersetzte 
mir die Rede, die Kamenew vor der Komintern gehalten hat. - Man 
kennt eine Gegend erst, wenn man sie in moglichst vielen Dimen- 
sionen erfahren hat. Auf einen Platz muft man von alien vier Him- 
melsrichtungen her getreten sein, um ihn inne zu haben, ja auch 
nach alien diesen Richtungen ihn verlassen haben. Sonst springt er 
einem drei, vier Mai ganz unvermutet in den Weg, ehe man gefafit 
ist, auf ihn zu stofien. Ein Stadium weiter und man sucht ihn auf, 
benutzt ihn als Orientierung. So auch die Hauser. Was in ihnen 
steckt, erfahrt man erst, wenn man an anderen entlang sich bis zu 
einem ganz bestimmten durchzufinden sucht. Aus den Torbogen, 
an den Rahmen der Haustiir springt in verschieden grofien, schwar- 
zen, blauen, gelben und roten Buchstaben, als Pfeil (das) Bildvon 
Stiefeln oder frisch gebiigelter Wasche, als ausgetretene Stufe oder 
als soliderTreppenabsatz ein stumm in sich verbissenes, streitendes 
Leben an. Man mufi auch in der Tram die Strafien durchfahren 
haben, um aufzufangen, wie sich dieser Kampf durch die Etagen 
fortsetzt um dann endlich auf Dachern in sein entscheidendes Sta- 
dium zu treten. Bis dahin halten nur die starksten altesten Parolen 
der Firmenschiider durch und erst vom Flugzeug aus hat man die 
industrielle Elite der Stadt (hier einige Namen) vor Augen. - Am 
Vormittag in der Basiliuskathedrale. In warmen heimeligen Farben 



Moskauer Tagebuch 307 

strahlt die Aufienseite liber den Schnee. Der ebenmafiige Grundrifi 
hat einen Aufbau entstehen lassen, der von keiner Richtung aus in 
seiner Symmetric ubersehbar ist. Immer behalt er sich etwas zuriick 
und iiberrumpeln konnte die Betrachtung diesen Bau nur von der 
Hohe des Flugzeuges aus, gegen welches ihre Erbauer sich zu sal- 
vieren vergaflen. Man hat das Innere nicht nur ausgeraumt, sondern 
wie ein erlegtes Wild es ausgeweidet, und der Volksbildung als 
»Museum« schmackhaft gemacht. Mit der Entfernung der kiinstle- 
risch z. T. wahrscheinlich zum grofien Teil - nach den verbliebenen 
Barockaltaren zu schliefien - wertlosen Inneneinrichtung, ist das 
bunte vegetabilische Geschlinge, das durch alle Gange und Wol- 
bungen als Wandmalerei fortwuchert, hoffnungslos blofigestellt; 
traurige(rweise) hat es eine gewifi viel altere Bemalung des Steins, 
die sparsam in den Innenraumen die Erinnerung an die farbigen 
Spiralen der Kuppeln wachhielt in eine Spielerei des Rokoko ver- 
zerrt. Die gewolbten Gange sind eng, weiten sich plotzlich auf 
Altarnischen oder runde Kapellen, in die von oben aus den hohen 
Fenstern so wenig Licht dringt, dafi einzelne Devotionalien, die 
man stehen lieft, kaum zu erkennen sind. Es gibt aber ein helles 
Zimmerchen, durch das ein roter Flurteppich lauft. In ihm hat man 
Ikonen der Schulen von Moskau und von Novgorod aufgestellt, 
dazu einige wahrscheinlich unschatzbare Evangeliare, Wandteppi- 
che die Adam und den Christus unverhiillt, doch ohne Geschlechts- 
organe, weifilich auf griinem Grunde erscheinen lassen. Hier wacht 
ein dickes Weib vom Aussehen einer Bauerin: ich hatte gerne die 
Erklarungen gehort, die sie einigen Proletariern die kamen zu die- 
sen Bildern gab. - Vorher ein kurzer Gang durch die Passagen, die 
die »oberen Handelsreihen« heifien. Ich versuchte ohne Erfolg aus 
dem Schaufenster eines Spielzeugladens sehr interessante Figuren, 
tonerne, bunt gefarbte Reiter einzukaufen. Zum Essen Fahrt in der 
Tram langs der Moskwa, vorbei an der Erloserkathedrale, iiber den 
Arbatskajaplatz. Nachmittags nochmals in der Dunkelheit dahin 
zuriick, in den Reihen der Holzbuden spaziert, dann durch die 
Frunsestrafte am Kriegsministerium vorbei, das sehr elegant wirkt, 
endlich verirrt. Nach Hause mit der Tram. (Zu Asja wollte Reich 
alleine gehen.) Abends iiber ganz frisches Glatteis zu Panski. In der 
Tiir seines Hauses stofit er auf uns, im Begriffe, mit seiner Frau ins 
Theater zu gehen. Auf Grund eines Miftverstandnisses, das erst am 
folgenden Tage sich aufklart, bittet er uns in den nachsten Tagen auf 



308 Autobiographische Schriften 

sein Biiro zu kommen. Darauf in das grofie Haus beim Strafinoi- 
platz, um einen Bekannten von Reich aufzusuchen. Im Fahrstuhl 
treffen wir dessen Frau, die uns sagt, der Mann sei in einer Ver- 
sammlung. Da aber in dem gleichen Hause, einer Art riesigem 
Boardinghouse, die Mutter von Sophia wohnt, so entschliefien wir 
uns, dort guten Abend zu sagen. Wie alle Zimmer, die ich bisher sah 
(die bei Granowski, bei Illesch) ist das ein Raum mit wenig Mobeln. 
Deren trostlose, kleinbiirgerliche Figur wirkt noch um vieles nie- 
derschlagender, weil das Zimmer diirftig mobliert ist. Zum klein- 
biirgerlichen Einrichtungsstil aber gehort das Komplette: Bilder 
miissen die Wande bedecken, Rissen das Sofa, Decken die Kissen, 
Nippes die Konsolen bunte Scheiben die Fenster. Von alledem ist 
wahllos nur das eine oder andere erhalten. In diesen Raumen, wel- 
che aussehen wie ein Lazarett nach der letzten Musterung, halten 
die Menschen das Leben aus, weil sie durch ihre Lebensweise ihnen 
entfremdet sind. Ihr Aufenthalt ist das Biiro, der Klub, die Strafie. 
Der erste Schritt in diesem Zimmer lafit die erstaunliche Be- 
schranktheit in Sophias resoluter Natur als Mitgift dieser Familie 
erkennen, von der sie sich doch, wenn nicht losgesagt, so losgelost 
hat. Ich erfahre von Reich auf dem Riickwege deren Geschichte. 
Sophias Bruder ist eben der General Krylenko, der zuerst zu den 
Bolschewiken sich schlug und der Revolution ganz unschatzbare 
Dienste geleistet hat. Da seine politische Begabung gering war, so 
hat (man) ihm spater den reprasentativen Posten eines obersten 
Staatsanwalts gegeben. (Er war auch der Anklager im Prozefi Kin- 
dermann.) Vermutlich ist auch die Mutter organisiert. Sie mufi um 
siebenzig Jahre sein und zeigt noch Spuren grower Energie. Unter 
der haben nun Sophias Kinder zu leiden, die zwischen Groftmutter 
und Tante hin- und her geschoben werden und die Mutter nun 
schon jahrelang nicht gesehen haben. Sie stammen beide aus deren 
erster Ehe mit einem Adligen, der im Burgerkriege auf Seite der 
Bolschewiken stand und gestorben ist. Die jiingere Tochter war da 
als wir kamen. Sie ist hervorragend schon, von hochster Bestimmt- 
heit und Anmut in ihren Bewegungen. Sie scheint sehr verschlos- 
sen. Gerade war ein Brief von ihrer Mutter gekommen, und weil sie 
ihn geoffnet hatte, gab es Streit mit der Groftmutter. Aber er war an 
sie adressiert. Sophia schreibt, daft man in Deutschland ihr den Auf- 
enthalt nicht langer gestatten will. Von ihrer illegalen Arbeit ahnt 
die Familie; sie ist eine Kalamitat und die Mutter zeigt sich sehr 



Moskauer Tagebuch 309 

beunruhigt. Vo(m) Zimmer herrlicher Blick liber den Twerskoi- 
Boulevard auf eine grofte Lichterreihe. 

16 Dezember. Ich schrieb am Tagebuch und glaubte nicht mehr, 
daft Asja noch kommen wiirde. Da klopfte sie. Als sie hereinkam, 
wollte ich sie kiissen. Wie meist, miftlang es. Ich holte die Karte an 
(Ernst) Bloch hervor, die ich begonnen hatte und gab sie ihr, um 
heranzuschreiben. Neuer vergebUcher Versuch ihr einen Kuft zu 
geben. Ich las, was sie geschrieben hatte. Auf ihre Frage, sagte ich 
ihr: »Besser, als wie Du an mich schreibst.« Und fur diese »Unver- 
schamtheit« kiifite sie mich doch, umarmte mich sogar dabei. Wir 
nahmen einen Schlitten in die Stadt und gingen in viele Geschafte 
der Petrowka, um Stoff zu ihrem Kleide, ihrer Uniform zu kaufen. 
So nenne ich es, weil das neue genau denselben Schnitt haben soil 
wie das alte, das aus Paris stammt. Zuerst in einem Staatsmagazin, 
gab es in der oberen Halfte der Langswande aus Pappfiguren 
gestellte Bilder zu sehen, die fur Vereinigung von Arbeiter- und 
Bauernschaft warben. Die Darstellungen in dem siiftlichen Ge- 
schmack, der hier verbreitet ist: Sichel und Hammer, ein Zahnrad 
und anderes Handwerkszeug sind, unsagbar widersinnig, aus sam- 
metuberzogener Pappe nachgebildet. In diesem Laden gab es nur 
Ware fur Bauern und Proletarier. Neuerdings unter dem »Regime 
6konomie« stelk man in staatlichen Fabriken keine anderen mehr 
her. Die Tische sind umlagert. Andere Laden, die leer sind, verkau- 
fen Stoffe nur gegen Bezugsscheine oder - frei - zu unerschwingli- 
chen Preisen. Ich kaufe durch Asja bei einem Straftenhandler eine 
kleine Puppe, Stanka-Wanka, fur Daga ein, hauptsachlich um bei 
dieser Gelegenheit fur mich selbst auch eine zu bekommen. Dann 
bei einem anderen eine Taube aus Glas fur den Weihnachtsbaum. 
Gesprochen haben wir, soviel ich weift, nicht viel. - Spater mit 
Reich ins Biiro von Panski. Er aber hatte uns in der Meinung 
bestellt, daft es sich um Geschaftliches handle. Weil ich einmal da 
war, schob er mich in den Vorfuhrungsraum ab, wo zwei amerika- 
nischen Journalisten Filme gezeigt wurden. Leider ging, als ich 
nach zahllosen Praliminarien endlich hinaufgelangte, die Auffiih- 
rung des »Potemkin« gerade zu Ende; ich sah nur den letzten Akt. 
Es folgte »Nach dem Gesetz« - ein Film, der nach einer Erzahlung 
von London gemacht ist. Die Premiere, die vor wenigen Tagen in 
Moskau stattgefunden hatte, war ein Mifterfolg gewesen. Technisch 
ist dieser Film gut - sein Regisseur Kulischoff hat einen sehr guten 



310 Autobiographische Schriften 

Namen. Doch fuhrt die Fabel durch gehaufte Grafilichkeiten ihr 
Motiv ins Absurde. Angeblich sollte dieser Film eine anarchistische 
Tendenz gegen das Recht uberhaupt haben. Gegen Ende der Vor- 
fiihrung kam Panski selbst in den Vorfuhrungsraum hinauf und 
nahm mich schliefilich noch in sein Buro mit. Das Gesprach hatte 
sich dort noch lange ausgedehnt, wenn ich nicht Angst gehabt hatte, 
Asja zu versaumen. Zum Mittagessen war es ohnehin zu spat ge- 
worden. Als ich ins Sanatorium kam, war Asja schon fort. Ich ging 
nach Hause und sehr bald kam Reich, kurz nach ihm auch Asja. Sie 
hatten fiir Daga Walinki u.a. eingekauft. Wir sprachen in meinem 
Zimmer und kamen dabei auch auf das »Klavier« als Mobel, das in 
der Kleinburgerwohnung das eigentliche dynamische Zentrum der 
in ihr herrschenden Traurigkeit und Zentrum aller Katastrophen in 
der Wohnung ist. Von dem Gedanken war Asja elektrisiert; sie 
wollte mit mir dariiber einen Artikel schreiben, Reich den Gegen- 
stand in einem Sketch verarbeiten. Einige Minuten blieben Asja und 
ich allein. Ich erinnere mich nur noch, daft ich die Worte: »auf ewig, 
am liebsten« sagte und daft sie darauf so lachte, dafi ich sah: sie hates 
verstanden. Abends afi ich mit Reich in einem vegetarischen 
Restaurant, wo die Wande mit propagandistischen Aufschriften 
bedeckt waren. »Kein Gott - die Religion eine Erfindung - keine 
Schopfung* etc. Vieles, was sich auf das Kapital bezog, konnte 
Reich mir nicht iibersetzen. Nachher, zu hause, gelang es mir end- 
lich, (Joseph) Roth telefonisch durch Vermittlung von Reich zu 
sprechen. Er erklarte am folgenden Nachmittag abzureisen und 
nach einigem Uberlegen blieb nichts iibrig, als eine Einladung zum 
Abendessen urn l A 1 2 in seinem Hotel anzunehmen. Anders hatte 
ich kaum mehr darauf rechnen konnen ihn zu sprechen. Sehr ermii- 
det setzte ich mich gegen viertel zwolf in den Schlitten. Reich hatte 
mir den Abend iiber aus eigenen Arbeiten vorgelesen. Sein Versuch 
liber den Humanismus, der freilich noch in einem ersten Stadium 
sich befindet, beruht auf der fruchtbaren Fragestellung: wie konnte 
die franzosische Intelligenz, eine Vorkampferin der grofien Revolu- 
tion so bald nach 1 792 verabschiedet und zu einem Instrumente der 
Bourgeoisie werden? Mir kam in dem Gesprach dariiber der 
Gedanke, die Geschichte der »Gebildeten« miisse materialistisch 
als Funktion und im strengen Zusammenhange mit einer 
»Geschichte der Unbildung« dargestellt werden. Deren Beginn 
liegt in der Neuzeit, da die mittelalterlichen Formen der Herrschaft 



Moskauer Tagebuch 311 

aufhoren, Formen einer, wie auch immer beschaffenen (kirchli- 
chen) Bildung der Beherrschten zu werden. Cuius regio eius religio 
zertriimmert die geistige Autoritat der weltlichen Herrschaftsfor- 
men. Eine solche Geschichte der Unbildung wiirde lehren, wie in 
den ungebildeten Schichten ein jahrhundertelanger Prozefi die 
revolutionare Energie aus deren religioser Verpuppung herausbil- 
det und die IntelHgenz wiirde nicht nur immer als das von der Bour- 
geoisie sich scheidende Heer der Uberlaufer sondern als vorge- 
schobner Posten der » Unbildung* sich zu erkennen geben. Die 
Schlittenfahrt erfrischte mich sehr, Roth safi bereits im geraumigen 
Speisesaal. Mit larmender Musikkapelle, zwei Riesenpalmen, die 
nur bis zu halber Hohe dcs Raumes hinaufragen, mit bunten Bars 
und Biifetts und farblos, vornehm angerichteten Tischen empfangt 
er den Besucher als weit nach dem Osten vorgeschobenes europa- 
isches Luxushotel. Ich trank zum ersten Mai in Rutland Wodka, 
wir aften Kaviar, kaltes Fleisch und Kompott. Wenn ich den ganzen 
Abend iiberschaue, macht Roth mir einen weniger guten Eindruck 
als in Paris. Oder - und das 1st wahrscheinlicher- ich wurde in Paris 
derselben, damals noch verdeckten, Dinge inne, deren zu Tage lie- 
gende Erscheinung mich diesmal frappierte. Wir setzten ein bei 
Tisch begonnenes Gesprach intensiver auf seinem Zimmer fort. Er 
begann damit, mir einen grofien Artikel iiber russisches Bildungs- 
wesen vorzulesen. Ich sah mich im Zimmer um, der Tisch war 
bedeckt mit den Resten eines scheinbar ausgiebigen Tees, den hier 
zu mindest drei Personen mufiten eingenommen haben. Roth lebt 
scheinbar auf groflem Fufte, das Hotelzimmer - ebenso europaisch 
wie das Restaurant eingerichtet - mufi viel kosten, ebenso seine 
grofte Informationsreise, die sich bis nach Sibirien nach dem Kau- 
kasus und der Krim ausdehnte. In dem Gesprache, das auf seine 
Vorlesung folgte, notigte ich ihn schnell, Farbe zu bekennen. Was 
dabei sich ergab, das ist mit einem Wort: er ist als (beinah) iiber- 
zeugter Bolschewik nach Rutland gekommen und verlafk es als 
Royalist. Wie ubiich, mufi das Land die Kosten fur die Umfarbung 
der Gesinnung bei denen tragen, die als rotlich-rosa schillernde 
Politiker (im Zeichen einer »linken« Opposition und eines dummen 
Optimismus) hier einreisen. Sein Gesicht ist von vielen Falten 
durchzogen und hat ein unangenehmes witterndes Aussehen. Das 
fiel mir zwei Tage spater als ich im Institut der Kamenewa ihm wie- 
derbegegnete (er hatte seine Abreise verschieben miissen) wieder 



312 Autobiographische Schriften 

auf. Seine Einladung zu den Schlitten nahm ich an und fuhr gegen 
zwei Uhr in mein Hotel zuriick. Stiickweise, vor den grofien Hotels 
und vor einem Cafe in der Twerskaja, gibt es Nachtleben in der 
Strafie. Die Kalte macht, daft sich an diesen Stellen Menschen rudel- 
weise zusammenballen. 

i j Dezember. Besuch bei Daga. Sie sieht besser aus als ich sie friiher 
je sah. Die Disziplin des Kinderheims wirkt stark auf sie. Ihr Blick 
ist ruhig und beherrscht, das Gesicht viel voller und weniger ner- 
vos. Die frappante Ahnlichkeit mit Asja ist geringer geworden. Ich 
wurde in der Anstalt selbst herumgefuhrt. Sehr interessant waren 
die Klassenzimmer mit ihren stellenweise dicht von Zeichnungen 
und Pappfiguren bedeckten Wanden. Eine Art Tempelmauer, an 
der die Kinder als Geschenke an das Kollektivum eigene Arbeiten 
stiften. Rot herrscht an diesen Flecken vor. Sie sind durchsetzt mit 
Sowjetsternen und Leninkopfen. In den Klassen sitzen die Kinder 
nicht vor Schulpulten sondern an Tischen auf langen Banken. Sie 
sagen »Strasstweitje« wenn man hereinkommt. Da sie nicht von der 
Anstalt eingekleidet werden, so sehen viele sehr armlich aus. In der 
Nahe des Sanatoriums spielen andere Kinder von den Bauernhofen, 
welche daneben liegen. Hin- und Ruckfahrt von Mytischtin im 
Schlitten gegen den Wind. Nachmittags im Sanatorium bei Asja, 
sehr verstimmt. Dominopartie zu sechs im Spielzimmer. Zum 
Abendbrot, mit Reich, in einer Konditoreja eine Tasse Kaffee und 
einen Kuchen. Friih zu Bett. 

1 8 Dezember. Am Morgen kam Asja. Reich war schon fort. Wir 
gingen den Stoff einkaufen, vorher zur Gosbank wechseln. Schon 
im Zimmer sagte ich Asja von der Verstimmung des letzten Tages, 
Es wurde an diesem Morgen gut, so sehr das moglich war. Der Stoff 
war sehr teuer. Auf dem Riickweg gerieten wir in eine Filmauf- 
nahme. Asja erzahlte mir, wie man das schildern musse, wie die 
Menschen hierbei sofort den Kopf verlieren, stundenlang mitlau- 
fen, dann verstort ins Amt kommen und nicht sagen konnen, wo sie 
gewesen sind. Es kommt einem wahrscheinlich vor, wenn man hier 
beobachtet, w{ie) oft, um endlich zustande zu kommen, hier eine 
Sitzung angesetzt werden mufi. Daft nichts so eintrifft, wie es ange- 
setzt war und man es erwartet, dieser banale Ausdruck fur die Ver- 
wicklung des Lebens, kommt hier in jedem Einzelfall so unver- 
briichlich und so intensiv zu seinem Recht, daft der russische Fata- 
lismus sehr schnell begreiflich wird. Wenn langsam sich im Kollek- 



Moskauer Tagebuch 3 1 3 

tivum zivilisatorische Berechnung durchsetzt, so wird dies vorder- 
hand die Einzelexistenz nur verwickelter machen. In einem Hause, 
wo es nur Kerzen gibt, ist man besser versehen als wo elektrisches 
Licht angelegt ist, aber die Kraftzentrale allstiindlich gestdrt ist. 
Auch gibt es hier Leute, die sich urn Worte nicht kummern und die 
Dinge ruhig so nehmen wie sie sind, Kinder z. B., die auf der Strafte 
sich Schlittschuhe anschnallen. Hasard, den eine Fahrt in der 
E(l)ektrischen hier bietet. Durch die vereisten Scheiben kann man 
nie erkennen, wo man sich befindet. Erfahrt man es, so ist der Weg 
zum Ausgang durch eine Masse dichtgekeilter Menschen versperrt. 
Denn da man hinten einzusteigen hat aber vorn den Wagen verlafk, 
so hat man sich durch die Masse hindurchzuarbeiten und wann man 
damit zu stande kommt, das hangt vom Gliick und von der riick- 
sichtslosen Ausniitzung der Korperkrafte ab. Demgegenliber gibt 
es manchen Komfort, den man in Westeuropa nicht kennt. Die 
staatlichen Lebensmittel-Geschafte stehen bis abends elf Uhr offen 
und die Hauser bis Mitternacht oder noch langer. Es gibt zu viel 
Mieter und Untermieter: man kann nicht jedem Hausschliissel 
geben. - Man hat bemerkt, dafi die Leute auf der Strafie hier »in 
Serpentinen« gehen. Das ist ganz einfach die Folge der Ubervolke- 
rung der engen Biirgersteige, so eng, wie man nur hier und da in 
Neapel sie findet. Die Trottoirs geben Moskau etwas Landstadti- 
sches oder vielmehr den Charakter einer improvisierten Grofistadt, 
der ihre Stellung iiber Nacht zufiel. - Wir kauften einen guten brau- 
nen Stoff . Darauf ging ich ins » Institute, liefi mir einen Ausweis fur 
Meyerhold geben und traf auch Roth. Im Dom Gerzena spielte ich 
nach dem Essen mit Reich Schach. Da kam Kogan mit dem Repor- 
ter heran. Ich erfand, ein Buch machen zu wollen, welches die 
Kunst unter der Diktatur behandeln solle ( wolle?) : die italienische 
unterm Regime des Facismus und die russische unter der proletari- 
schen Diktatur. Ferner sprach ich iiber die Bucher von Scheerbart 
und Emil Ludwig. Reich war mit diesem Interview aufs hochste 
unzufrieden und erklarte, ich habe, durch iiberfliissige theoretische 
Auseinandersetzungen mir gefahrliche Blofien gegeben. Bisher ist 
dieses Interview noch nicht erschienen (ich schreibe am 2i ten ), man 
mufi die Wirkung abwarten. - Asja ging es nicht gut. Eine Kranke, 
die infolge von Genickstarre wahnsinnig geworden ist und die sie 
schon aus dem Krankenhaus kannte, war in das Zimmer neben dem 
ihren gelegt worden. In der Nacht stiftete dann Asja unter den 



314 Autobiographische Schriften 

andern Frauen einen Aufruhr an und das hatte den Erfolg, dafl die 
Kranke fortgeschafft wurde. Reich brachte mich in das Theater 
Meyerhold, wo ich mit Fanny Jelowja zusammentraf. Aber das 
Institut steht mit Meyerhold schlecht; es hatte ihn daher nicht ange- 
rufen und wir bekamen keine Karten. Nach einem kurzen Aufent- 
halte in meinem Hotel fuhren wir in die Gegend der Krassnie 
worota, urn einen Film zu sehen, von dem mir Panski erklart hatte, 
er werde den Erfolg des »Potemkin« schlagen. Zunachst waren 
keine Platze mehr frei. Wir losten unsere Karten zur nachsten Vor- 
stellung und gingen in das nahgelegene Zimmer der Jelowja, umTee 
zu trinken. Auch dieses war kahl, wie alle, die ich bisher gesehen 
habe. An der grauen Wand die grofie Photographie, die Lenin zeigt, 
wie er die »Prawda« liest. Auf einer schmalen Etagere standen ein 
paar Biicher, an der Schmalwand, neben der Tiire zwei Reisekorbe 
und an den beiden Langswanden ein Bett, gegenuber ein Tisch und 
zwei Stuhle. Der Aufenthalt in diesem Zimmer bei einer Tasse Tee 
und einem Snick Bro(t) war an diesem Abend das Beste. Denn der 
Film erwies sich als unertragliches Machwerk und wurde noch dazu 
so rasend schnell abgerollt, dafi man ihn weder sehen noch verste- 
hen konnte. Wir gingen bevor er zu Ende war. Die Riickfahrt in der 
Strafienbahn war wie eine Episode aus der Inflationszeit. In meinem 
Zimmer traf ich noch Reich an, der wieder bei mir ubernachtete. 
79 Dezember. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie der Vormit- 
tag verlief. Ich glaube, dafi ich Asja sah und dann, nachdem ich siein 
das Sanatorium zuriickgebracht hatte, in die Tretjakovgalerie 
wollte. Aber ich fand sie nicht und irrte bei schneidender Kalte am 
linken Ufer der Moskwa zwischen Baustellen, Exerzierplatzen und 
Kirchen umher. Ich sah, wie Rotarmisten exerzierten und Kinder 
mitten zwischen ihnen Fufiball spielten. Madchen kamen aus einer 
Schule. Gegenuber der Haltestelle, an der ich dann endlich eine 
Elektrische nahm, um zuriickzufahren, stand eine leuchtende rote 
Kirche mit langer roter Mauer gegen die Strafie, Turm und den 
Kuppeln. Noch matter machte mich dies Umherirren, weil ich ein 
unhandliches Packchen mit drei Hauschen aus Buntpapier trug, 
welche ich fur den riesigen Preis von je 30 Kopeken aus einem 
Kramladen in einer Hauptstrafie des linken Ufers mir mit grofiter 
Miihe verschafft hatte. Nachmittag bei Asja. Ich ging fort, um ihr 
Kuchen zu holen. Als ich im Gehen in der Tiire stand, fiel mir 
Reichs merkwiirdiges Gebaren auf, er antwortete nicht auf mein 



Moskauer Tagebuch 3 1 5 

»Adieu«. Ich schob das auf erne Verstimmung. Denn wahrend er 
einige Minuten das Zimmer verlassen hatte, hatte ich Asja gesagt, er 
hole wohl Kuchen und als er zuriickkam, war sie enttauscht. Als ich 
einige Minuten spater mit Kuchen wiederkam, lag Reich auf dem 
Bett. Er hatte einen Herzanfall gehabt. Asja war sehr aufgeregt. Mir 
fiel auf, da£ sie bei diesem Unwohlsein von Reich sich ahnlich ver- 
hielt, wie ich es friiher tat, wenn Dora krank war. Sie schimpfte, 
suchte auf unkluge provokatorische Art zu helfen und tat wie einer, 
der dem andern zum Bewufksein bringen will, welches Unrecht er 
hat, krank geworden zu sein. Reich erholte sich langsam. Aber zum 
Theater Meyerhold mufite ich infolge dieses Zwischenfalls allein 
gehen. Spater brachte Asja Reich in mein Zimmer. Er ubernachtete 
in meinem Bett und ich schlief auf dem Sofa, das mir Asja zurecht- 
gemacht hatte. - Der »Revisor« dauerte trotzdem er gegen die Erst- 
auffiihrung um eine Stunde verkurzt worden war, noch immer von 
Va 8 bis nach 12. Das Snick hatte drei Abteilungen von insgesamt 
(wenn ich nicht irre) 16 Bildern. Durch zahlreiche Aufterungen von 
Reich war ich in etwas auf das Gesamtbild dieser Auffiihrung vor- 
bereitet. Dennoch nahm mich der ungeheure Aufwand, der getrie- 
ben wurde, wunder. Und zwar schienen mir nicht die reichen 
Kostiime das Bemerkenswerteste zu sein, sondern die dekorativen 
Aufbauten. Mit ganz wenigen Ausnahmen spielten die Szenen sich 
auf dem winzigen Raum einer schiefen Ebene ab, die jedesmal von 
einem andern Mahagoniaufbau im Empirestil und mit anderem 
Ameublement bestellt war. Es kamen auf diese Weise viele entziik- 
kende Genrebilder zu stande und das entsprach der undramati- 
schen, soziologisch analysierenden Grundrichtung dieser Auffiih- 
rung. Man mifit ihr hier grofie Bedeutung bei, als der Adaptation 
eines klassischen Stiicks fur das revolutionise Theater, aber zu- 
gleich sieht man den Versuch als miftgluckt an. So hat auch die Par- 
tei Parole gegen die Inszenierung ausgegeben und die gemaftigte 
Besprechung des Theaterkritikers der »Prawda« ist von der Redak- 
tion zuriickgewiesen worden. Im Theater war der Beifall sparlich 
und vielleicht geht auch das mehr auf die offizielle Losung zuriick 
als auf den urspriinglichen Eindruck des Publikums. Denn eine 
Augenweide war die Auffiihrung sicher. Aber dergleichen hangt 
wohl zusammen, mit de(r) allgemeinen Vorsicht bei offentlicher 
MeinungsauEerung, die hier herrscht. Fragt man eine Person, mit 
der man erst wenig bekannt ist, nach ihrem Eindruck von einem 



3 1 6 Autobiographische Schrif ten 

sehr gleichgliltigen Theaterstuck oder Film so erfahrt man nur: 
»Hier wird gesagt, das sei so und so« oder »man hat sich meistens in 
dem und dem Sinne ausgesprochen*. Das Regieprinzip der Auffiih- 
rung, die Konzentrierung der szenischen Vorgange auf einen sehr 
kleinen Raum fuhrt zu einer hochst luxuriosen Haufung aller 
Werte, nicht zuletzt des Schauspielermaterials. Bei einer Festszene, 
die als Regieleistung ein Meisterstiick war, fand dies seinen Hohe- 
punkt. Auf dem kleinen Felde waren, zwischen papierenen, nur 
angedeuteten Pilastern gegen funfzehn Menschen in gedrangter 
Gruppe versammelt. (Reich sprach von der Aufhebung der linearen 
Anordnung.) Im ganzen kommt die Wirkung eines Tortenaufbaus 
heraus (ein sehr moskoviter Vergleich - es gibt nur hier Torten, die 
ihn verstandlich machen) besser noch die Gruppierung der tanzen- 
den Puppchen auf einer Spieluhr, deren Musik der Gogolsche Text 
macht. Es gibt zudem viel richtige Musik im Stuck und eine kleine 
Quadrille, die gegen Schlufi vorkam, wiirde in jedem biirgerlichen 
Theater ein Attraktionsstiick sein; in einem proletarischen erwartet 
man sie nicht. Dessen Formen treten am deutlichsten in einer Szene 
heraus, bei der eine langgestreckte Ballustrade die Biihne teilt; vor 
ihr steht der Revisor, hinter ihr die Masse, die all seinen Bewegun- 
gen folgt und ein sehr ausdrucksvolles Spiel mit seinem Mantel ent- 
wickelt - bald mit sechs oder acht Handen ihn halt, bald ihn dem an 
der Briistung lehnenden Revisor uberwirft. - Die Nacht auf dem 
harten Bette verlief ganz gut. 

20 Dezember. Ich schreibe am 23 ten und weifi vom Vormittag nichts 
mehr. Anstatt ihn aufzuzeichnen, einiges iiber Asja und unser Ver- 
haltnis zu einander, trotzdem Reich neben mir sitzt. Ich bin vor 
eine fast uneinnehmbare Festung geraten. Allerdings sage ich mir, 
dafi schon mein Erscheinen vor dieser Festung, Moskau, einen 
ersten Erfolg bedeutet. Aber jeder weitere, entscheidende scheint 
fast uniiberwindlich schwierig. Reichs Position ist stark, durch die 
offenkundigen Erf olge, die er nach einem iiberaus schweren halben 
Jahre, in dem er, sprachunkundig, hier gefroren und vielleicht auch 
gehungert hat, einen nach dem andern verzeichnen kann. Heut 
morgen sagte (er) mir, nach einem halben Jahr hoffe er hier eine 
Stellung zu haben. Er findet sich weniger leidenschaftlich, aber 
leichter als Asja in die Moskauer Arbeitsverhaltnisse. In der ersten 
Zeit nach ihrer Ankunft aus Riga wollte Asja sogar gleich nach 
Europa zuriick, so aussichtslos schien der Versuch, hier eine Stelle 



Moskauer Tagebuch 3 1 7 

zu bekommen, ihr zu sein. Als es ihr dann gelang, wurde sie, nach 
einigen Wochen Arbeit auf ihrem Rinderplatz, von der Krankheit 
zuriickgeworfen. Hatte sie nicht ein oder zwei Tage vorher die Ein- 
tragung in eine Gewerkschaft erhalten, so hatte sie ohne Pflege dar- 
gelegen und ware vielleicht gestorben. Es ist sicher, daft sie einen 
Drang nach Westeuropa auch jetzt noch hat. Das ist nicht nur der 
Drang nach Reisen, fremden Stadten, und den Annehmlichkeiten 
einer mondanen Boh{e)me, sondern auch der Einfluft der befrei- 
enden Durchbildung, den ihre eigenen Gedanken in Westeuropa, 
hauptsachlich im Umgange mit Reich und mir erfahren haben. Wie 
es uberhaupt moglich war, daft Asja hier in Rutland so zu scharfen 
Einstellungen gelangt ist, wie sie sie nach Westeuropa schon mit- 
brachte, ist in der Tat, wie Reich neulich sagte, fast ratselhaft. Fiir 
mich ist Moskau jetzt eine Festung; das harte Klima, das mich sehr 
angreift, so gesund es mir ist, die Unkenntnis der Sprache, Reichs 
Anwesenheit, Asjas sehr eingeschrankte Lebensweise sind ebenso- 
viele Bastionen und nur die ganzliche Unmoglichkeit, weiter vor- 
zudringen, Asjas Kranksein, zum mindesten ihre Schwache, die 
alles Personliche, was sie betrifft, etwas in den Hintergrund schiebt, 
bewirkt, daft mich dies alles nicht vollstandig niederdriickt. Wie- 
weit ich den Nebenzweck meiner Reise, der to(d) lichen Melan- 
cholic der Weihnachtstage zu entgehen, erreiche, steht noch dahin. 
Daft ich mich ziemlich kraftig halte, kommt auch daher, daft ich 
trotz allem eine Bindung Asjas an mich erkenne. Das Du zwischen 
uns scheint sich zu behaupten, und ihr Blick, wenn sie lange mich 
ansieht - ich erinnere mich nicht, daft eine Frau so lange Blicke und 
so lange Kiisse gewahrte - hat nichts von seiner Gewalt iiber mich 
verloren. Heute sagte ich ihr, daft ich jetzt ein Kind von ihr haben 
mochte. Seltene aber spontane Bewegungen, die bei der Beherr- 
schung, die sie in erotischen Dingen sich jetzt auferlegt, nicht 
bedeutungslos sind, sagen daft sie mich gern (hat) . So fing sie mich, 
als ich gestern, um einem Streit zu entgehen, ihr Zimmer verlassen 
wollte, gewaltsam ab und fuhr mit den Handen durchs Haar. Sie 
nennt auch oft meinen Namen. Einmal sagte sie mir in diesen 
Tagen, es sei nur meine Schuld, daft wir jetzt nicht auf einer » wiisten 
Insel« lebten und schon zwei Kinder hatten. Daran ist etwas Wah- 
res. Drei oder viermal habe ich mich einer gemeinsamen Zukunft, 
direkter oder indirekter, entzogen: als ich in Capri nicht mit ihr 
»floh« - aber wie? - mich weigerte, von Rom aus sie nach Assisi und 



3 1 8 Autobiographische Schriften 

Orvieto zu begleiten, im Sommer 1925 nicht mit nach Lettland 
kommen und (im) Winter nicht mich verpflichten wollte, in Berlin 
auf sie zu warten. Es waren nicht nur okonomische Erwagungen 
dabei im Spiel, sogar nicht allein meine fanatische Reisesucht, die in 
den letzten zwei Jahren sich gemindert hat, sondern auch Furcht 
vor f eindlichen Elementen in ihr, denen ich mich nur heute erst eher 
gewachsen fuhle. Auch sagte ich in diesen Tagen ihr, hatten wir 
damals uns mit einander verbunden, ich weifi nicht, ob wir jetzt 
nicht schon lange entzweit waren. (A) lies, was sich jetzt aufier und 
in mir abspielt, wirkt zusammen, mir den Gedanken, von ihr 
getrennt zu leben, weniger unertraglich erscheinen zu lassen als er 
bisher mir war. Vor allem freilich spricht dabei die Furcht mit, spa- 
ter, wenn Asja einmal gesund ist und in gefestigten Verhaltnissen 
mit Reich hier lebt, nur unter groften Leiden an die Grenze unseres 
Verhaltnisses stofien zu konnen. Ob ich aber dem werde entgehen 
konnen, weifi ich noch nicht. Denn ganz mich von ihr zu losen, 
habe ich jetzt keinen genauen Anlafi, vor(aus ) gesetzt auch, dafi ich 
fahig dazu ware. Am liebsten ware ich mit ihr durch ein Kind ver- 
bunden. Ob ich aber, selbst heute, dem Leben mit ihr mit seiner 
erstaunlichen Harte und, bei all ihrer Sufiigkeit, ihrer Lieblosigkeit 
gewachsen ware, weifi ich nicht. - Hier ist das Leben im Winter um 
eine Dimension reicher: der Raum verandert sich buchstablich, je 
nachdem er heifi oder kalt ist. Man lebt auf der Strafie wie in einem 
frostigen Spiegelsaal, jedes Einhalten und Besinnen wird unglaub- 
lich schwer: es braucht schon einen halbtagigen Vorsatz, um einen 
Brief in den Kasten zu stecken und trotz der strengen Kalte bedeutet 
es eine Willensleistung, in ein Geschaft einzutreten, um etwas zu 
kaufen. Bis auf ein riesenhaftes Lebensmittelgeschaft an der Twer- 
skaja, wo tafelfertige Gerichte so leuchtend dastehen, wie ich sie 
nur aus Abbildungen in den Kochbiichern meiner Mutter kenne, 
und wie sie nicht iippiger zur Zeit des Zarismus da figuriert haben 
konnen, sind auch die Laden nicht zum Aufenthalt geeignet. 
Zudem sind sie provinziell. Schilder, die weithin lesbar den Namen 
der Firma tragen, wie sie in den Hauptstrafien der westlichen Stadte 
ublich sind, kommen sehr selten vor; meist wird allein die Waren- 
gattung angegeben und manchmal sind die Schilder, mit Uhren, 
Koffern, Stiefeln, Pelzen, etc. bemalt. Auch hier haben die Leder- 
handlungen das tradi{ti)onelle, ausgebreitete Fell, auf ein Blech- 
schild gepinsek. Hemden sind gewohnlich auf eine Tafel gemalt, 



Moskauer Tagebuch 3 1 9 

iiber der »Kitaiskaja Pratschetschnaja« steht - chinesische Wasche- 
rei. Man sieht viele Bettler. Sie flehen in langen Reden die voruber- 
gehenden an. Einer beginnt jedesmal, wenn ein Passant, von dem er 
sich etwas verspricht, vor ihm vorbeigeht, ein leises Heulen. Ich sah 
auch einen Bettler genau in der Haltung des Ungliicklichen, dem 
der heilige Martin mit dem Schwert seinen Mantel durchschneidet, 
kniend mit einem vorgestreckten Arme. Kurz vor Weihnachten 
saften an immer der gleichen Stelle in der Twerskaja zwei Kinder an 
der Mauer des Revolutionsmuseums im Schnee, mit einem Fetzen 
bedeckt, und wimmerten, Im iibrigen scheint es ein Ausdruck von 
dem wandellosen Elend dieser Bettelnden, vielleicht aber auch ist es 
die Folge einer klugen Organisation, dafi von alien Moskauer Insti- 
tutionen sie allein verlafilich sind, und unveranderlich ihren Platz 
behaupten. Denn sonst steht alles hier im Zeichen der Remonte. In 
den kahlen Zimmern werden allwochentlich die Mobel umgestellt - 
das ist der einzige Luxus, den man sich mit ihnen gestatten kann, 
und zugleich doch ein radikales Mittel die »Gemutlichkeit« samt 
der Melancholie, mit der sie bezahlt wird, aus dem Haus zu vertrei- 
ben. Die Amter, Museen und Institute andern fortwahrend ihren 
On und auch die Straftenhandler, die anderswo ihre bestimmten 
Platze haben, tauchen alltaglich anderswo auf. Alles{:) Schuh- 
creme, Bilderbiicher, Schreibzeug, Kuchen und Brote, selbst 
Handtiicher werden auf offener Strafie verkauft, als herrsche nicht 
Moskauer Winter mit 25 Grad Frost sondern ein neapolitanischer 
Sommer. - Nachmittags sagte ich bei Asja, ich wolle in der »Litera- 
rischen Welt« iiber Theater schreiben. Es gab einen kurzen Streit, 
aber dann bat ich sie, Domino mit mir zu spielen. Und schliefilich 
sagte sie zu: »Wenn Du bittest. Ich bin schwach. Ich kann nichts 
abschlagen, worum man mich bittet.« Nachher aber als Reich kam, 
brachte Asja von neuem die Sprache auf jenes Thema und es kam zu 
einem auflerst heftigen Zank. Nur vor dem Weggehen als ich aus 
einer Fensternische aufstand und Reich auf die Strafie nachfolgen 
wollte, nahm Asja dann doch meine Hand und sagte: »Es ist nicht 
so schlimm.« Abends noch kurze Auseinandersetzung dariiber auf 
meinem Zimmer. Er ging dann nach Hause. 
2 1 Dezember. Ich ging den ganzen Arbat entlang und kam auf den 
Markt am Smolensk- Boulevard. Es war an diesem Tage sehr kalt. 
Ich aft im Gehen Schokolade, die ich unterwegs mir gekauft hatte. 
Der Markt war mit Weihnachtsbuden, Spielzeug- und Papierstan- 



320 Autobiographische Schriften 

den in seiner ersten Reihe bestanden, die an der Strafie entlanglief. 
Dahinter Verkauf von Eisenwaren, Wirtschaftsartikeln, Schuhen 
u.s.w. Er ahnelte etwas dem Markte an der Arbatskaja Plotschtad, 
nur waren glaube ich keine Lebensmittel hier. Noch ehe man aber 
an die Buden gelangt ist, saumen den Weg so dicht, dafi man bei- 
nahe nicht vom Fahrdamm auf das Trottoir gelangen kann, Korbe 
mit Efiwaren, Baumschmuck und Spielsachen. An einer Bude 
kaufte ich eine Kitschpostkarte ein, anderswo eine Balalaika und ein 
papiernes Hauschen. Auch hier begegnete ich den Strafien mit 
Weihnachtsrosen, Gruppen heroischer Blumen, die aus Schnee und 
Eis kraftig herausleuchten. Es fiel mir schwer, mit meinen Sachen 
bis zum Spielzeugmuseum durchzufinden. Vom Smolenskboule- 
vard war es in die Ulitza Krapotkina verlegt und als ich es endlich 
gefunden hatte, war ich so erschopft, dafi ich fast an der Schwelle 
umgekehrt ware: ich hielt die Tiir, die nicht gleich nachgab, fur 
verschlossen. Nachmittag bei Asja. Abends zu einem schlechten 
Stuck (Alexander I und Iwan Kusmitsch) im Theater Korsch. Der 
Autor erwischte Reich in einer Pause - er bezeichnete den Helden in 
seinem Stuck als Geistesverwandten des Hamlet - und wir entka- 
men, seine Achtsamkeit betrugend, nur mit Miihe den letzten 
Akten. Nach dem Theater kauften wir, wie ich mich zu erinnern 
glaube, noch Essen. Reich schlief bei mir. 

22 Dezember. In den Besprechungen mit Reich gerate ich auf man- 
ches Wichtige. Wir sprechen oft am Abend lange iiber Rufiland, 
Theater und Materialismus. Reich ist sehr enttauscht von Plecha- 
noff . Ich suchte ihm zu entwickeln, welcher Gegensatz zwischen 
materialistischer und universalistischer Darstellungsweise besteht. 
Die universalistische sei immer idealistisch, weil undialektisch. Die 
Dialektik namlich dringe notwendig in der Richtung vor, dafi sie 
jede Thesis oder Antithesis, auf die sie stofie, wieder als Synthese 
triadischer Struktur darstelle, sie komme auf diesem Wege immer 
tiefer ins Innere des Gegenstandes hinein und stelle ein Universum 
nur in ihm selber dar. Jeder andere Begriff eines Universums sei 
gegenstandslos, idealistisch. Ich suchte ferner das unmaterialisti- 
sche Denken von Plechanoff an der Rolle zu erweisen, welche bei 
ihm die Theorie spielt und berief mich auf einen Gegensatz von 
Theorie und Methode. Die Theorie schwebt, im Bestreben Allge- 
meines darzustellen, iiber der Wissenschaft, wahrend fur die 
Methode charakteristisch ist, dafi jede prinzipielle allgemeine 



Moskauer Tagebuch 3 2 1 

Untersuchung sofort wieder einen ihr eigenen Gegenstand findet. 
(Beispiel d(ie) Untersuchung der Beziehung der Begriffe Zeit und 
Raum in der Relativitatstheorie.) Ein andermal Gesprach iiber den 
Erfolg als das entscheidende Kriterium der »mittleren« Schrifts tel- 
ler und iiber die eigentumliche Struktur der »Grofie« bei den grofien 
Schriftstellern - die »grofi« seien weil ihre Wirkung historisch sei, 
nicht aber umgekehrt historische Wirkung durch ihre schriftstel- 
lerische Gewalt besaften. Wie man diese »grofien« Schrifts teller nur 
durch die Linsen der Jahrhunderte sahe, die vergrofiernd und far- 
bend auf sie ausgerichtet seien. Ferner: wie dies zu einer absolut 
konservativen Haltung gegenuber den Autoritaten fiihre und wie 
doch eben diese konservative Haltung einzig und allein sich mate- 
rialistisch begriinden lasse. Wir unterhielten uns ein anderes Mai 
iiber Proust (ich las ihm aus der Ubersetzung etwas vor), dann iiber 
russische Kulturpolitik: das »Bildungsprogramm« fur die Arbeiter, 
aus dem heraus man ihnen die ganze Weltliteratur nahe zu bringen 
suche, die Preisgabe der linken Schriftsteller, die in der Zeit des 
heroischen Kommunismus die Fiihrung gehabt hatten, die Fdrde- 
rung reaktionarer Bauernkunst (die Ausstellung des Acher). Dies 
alles schien mir wieder einmal sehr aktuell als ich am Vormittag 
dieses Tages mit Reich auf dem Biiro der »Enzyklopadie« war. Die- 
ses Unternehmen soil auf dreifiig bis vierzig Bande angelegt sein 
und ein eigener Band fur Lenin reserviert werden. Es safi da (als wir 
zum zweiten Mai (kamen), unser erster Gang dahin war vergeb- 
lich) hinter seinem Schreibtisch ein sehr wohlwollender junger 
Mann, dem Reich mich vorstellte und meine Kenntnisse empfahl, 
Als ich sodann das Schema zu meinem » Goethe* ihm auseinander- 
setzte, zeigte sich seine intellektuelle Unsicherheit sofort. Manches 
an diesem Entwurf verschuchterte ihn und er kam schliefilich darauf 
hinaus, ein soziologisch untermaltes Lebensbild zu fordern. Im 
Grunde aber kann man materialistisch nicht ein Dichterleben schil- 
dern sondern nur seine historische Nachwirkung. Denn dies Dasein 
und selbst das blofie zeitliche ceuvre eines Kiinstlers bietet, wenn 
man von seinem Nachleben abstrahiert, der materialistischen Ana- 
lyse gar keinen Gegenstand. Wahrscheinlich ist auch hier dieselbe 
unmethodische Universalitat und Direktheit, die die vollig idealisti- 
schen, metaphysischen Fragestellungen in Bucharins »Einfiihrung 
in den historischen Mater ialismus« kennzeichnet. Nachmittags bei 
Asja. Es liegt in ihrem Zimmer neuerdings eine jiidische Kommuni- 



322 Autobiographische Schriften 

stin, die ihr sehr gut gefallt und mit der sie viel spricht. Mir ist deren 
Anwesenheit weniger angenehm, weil ich jetzt, selbst wenn Reich 
nicht zugegen ist, Asja kaum mehr allein spreche. Abends zu 
Hause. 

23 Dezember. Ich war am Vormittag im Kustarny-Museum. Es 
gab wieder sehr schdnes Spielzeug zu sehen; die Ausstellung ist 
auch hier vom Leiter des Spielzeugmuseums angeordnet. Am 
schonsten sind vielleicht die Pappmachefiguren. Sie stehen oft auf 
einem kleinen Sockel, entweder einem winzigen Leierkasten, an 
dem man dreht oder auf einer schiefen Ebene, die sich zusammen- 
driicken lafit und einen Laut von sich gibt. Es gibt auch sehr grofie 
Figuren aus dieser Masse, die leicht ins groteske spielende Typen 
darstellen und schon einer Verfallsperiode angehoren. Im Museum 
war ein armlich gekleidetes, sympathisches Madchen, die mit zwei 
kleinen Jungen, deren Gouvernante sie war, franzosisch iiber das 
Spielzeug sich unterhielt. Alle drei waren Russen. Das Museum hat 
zwei Sale. Der grofiere, in dem auch das Spielzeug stent, enthalt 
sonst Muster von lackierten Holzarbeiten und Textilien, der klei- 
nere alte Holzschnitzereien (und) Kasten in Form von Enten oder 
anderen Tieren, Handwerkszeug etc. und schmiedeeiserne Arbei- 
ten. Mein Versuch irgendwelche Gegenstande vom Charakter der 
alten Spiel waren in dem Magazin aufzutreiben, das unten in einem 
grofien Saale untergebracht und an das Museum angeschlossen ist, 
mifilang. Ich sah dort aber ein so grofies Lager von Baumschmuck 
wie nirgends sonst bisher. - Danach war ich im Institut der Kame- 
newa, urn mir Karten fiir »Ljeft« abzuholen und traf mit Basseches 
zusammen. Wir gingen ein Stuck mit einander und es war halb vier 
als ich endlich zum Dom Gerzena kam. Reich kam noch spater als 
ich schon fertig mit Essen war. Ich bestellte wieder Kaffee, wie 
schon einmal und schwor mir, ihn nicht wieder anzuriihren. Nach- 
mittags gab es eine Dominopartie zu vieren, wo ich mit Asja zum 
ersten Male Partei bildete. Wir gewannen sehr glanzend gegen 
Reich und ihre Zimmerkollegin. Mit der traf ich mich dann nachher 
im Theater Meyerhold, wahrend Reich Sitzung des »Wapp« hatte. 
Sie sprach, um sich mit mir zu verstandigen jiddisch. Bei langerer 
Ubung ware es schon gegangen, aber furs erste hatte ich nicht viel 
davon. Der Abend ermudete mich sehr, denn wir kamen, wohl 
durch eine Verfehlung oder auch durch ihre Unpunktlichkeit zu 
spat, mufken den ersten Akt stehend vom Rang aus ansehen. Dazu 



Moskauer Tagebuch 323 

kam das Russisch. Asja schlief nicht, bevor ihre Zimmergenossin 
nach Hause kam. Dann aber, so erzahlte sie am nachsten Tag, hat- 
ten sie deren regelmafiige Atemziige zum Schlafen gebracht. Die 
beriihmte Harmonikaszene im Ljefi ist wirklich sehr schon, aber 
durch Asjas Erzahlung war sie in meine Vorstellung schon so herr- 
lich sentimental und romantisch getreten, daft ich mich in die Biih- 
nenwirklichkeit der Stelle nicht gleich hineinfand. Auch sonst ist 
diese Auffiihrung voll von den herrlichsten Einfallen: das Spiel des 
angelnden Exzentrik-Komodianten, der die Illusion des zappeln- 
den Fischs mit dem Spiele der zuckenden Hand wachruft, die Lie- 
besszene, die sich am Rundlauf entwickelt, das ganze Spiel auf dem 
Steg, der von einem Geriist auf die Biihne hinabfuhrt. Ich begriff 
zum ersten Mai deutlicher die Funktion der konstruktivistisch ein- 
gerichteten Szene, die mir bei Tairoff in Berlin, geschweige denn 
etwa aus Fotographien bei weitem nicht so deutlich wurde. 
24 Dezember. Einiges liber mein Zimmer. Alle Mobel in ihm tra- 
gen eine Blechmarke: » Moskauer Gasthofe«, dann die Inventar- 
nummer. Die Gasthofe stehen samtlich unter Verwaltung des Staa- 
tes (oder der Stadt?). Die Doppelfenster in meinem Zimmer sind 
jetzt, winters, verkittet. Man kann nur eine kleine Klappe oben off- 
nen. Der kleine Waschtisch ist aus Blech, das unten lackiert, oben 
sehr blank ist und er tragt einen Spiegel. Das Becken ist auf dem 
Grunde mit Abfluftlochern versehen, die man nicht schlieEen kann. 
Aus einem Hahn fliefit ein diinner Wasserstrahl. Geheizt wird der 
Raum von auften, aber durch eine besondere Lage des Zimmers ist 
auch der Fufiboden warm und bei maftig kaltem Wetter herrscht 
sowie das Fensterchen zu ist, druckende Hitze. Morgens vor 9 Uhr, 
wenn geheizt ist, klopft immer ein Angestellter und fragt, ob auch 
die Klappe geschlossen ist. Das ist das einzige, worauf man sich hier 
verlassen kann. Das Hotel hat keine Kuche, so daft man nicht ein- 
mal eine Tasse Tee haben kann. Und als wir einmal, am Vorabend 
des Tages, da wir zu Daga fuhren, darum baten, geweckt zu wer- 
den, entspann sich zwischen dem Schweizer (das ist der russische 
Name fur den Hoteldiener) und Reich eine shakespearesche Unter- 
haltung iiber das Motiv »wecken«. Der Mann, auf die Frage, ob wir 
geweckt werden konnten : » Wenn wir daran denken, dann werden 
wir wecken. Wenn wir aber nicht daran denken, dann werden wir 
nicht wecken. Eigentlich, meistens denken wir ja daran, dann wek- 
ken wir eben. Aber gewifl, wir vergessen (es) auch manchmal, 



324 Autobiographische Schriften 

wenn wir nicht daran denken. Dann wecken wir nicht. Verpflichtet 
sind wir ja nicht, aber wenn es uns noch zur rechten Zeit einfallt, 
dann tun wir es doch. Wann wollen Sie denn geweckt sein? - Um 
sieben. Dann wollen wir das aufschreiben. Sie sehen ich tue den 
Zettel dahin, er wird ihn doch finden? Natiirlich, wenn er ihn nicht 
findet, wird er nicht wecken. Aber meistens wecken wir ja.« Am 
Ende wurden wir natiirlich dann nicht geweckt und man erklarte: 
»Sie waren ja wach, was sollten wir da noch wecken. « Es scheint 
von solchen Schweizern eine ganze Menge in dem Hotel zu geben. 
Sie sind in einem Stiibchen im Erdgeschofi. Unlangst fragte Reich, 
ob Post fur mich da sei. Der Mann sagte »nein«, obwohl die Brief e 
ihm vor der Nase lagen. Als man ein andermal mich telefonisch im 
Hotel zu erreichen suchte, hiefi es: »Er ist inzwischen ausgezogen.« 
Auf dem Flur ist das Telefon und ich hore im Bett oft noch nach 1 
Uhr nachts laute Gesprache. Dies Bett hat in der Mitte eine grofie 
Kute und bei der leisesten Bewegung knarrt es. Da Reich oft in der 
Nacht so laut schnarcht, dafi ich aufwache, ware das Schlafen 
schwierig, wenn ich nicht immer todmiide ins Bett kame. Am 
Nachmittage schlafe ich hier ein. Die Rechnung muli man alltaglich 
zahlen, weil auf jede, die den Betrag von 5 Rubeln iibersteigt, eine 
Steuer von 10% liegt. Welch ungeheure Zeit- und Kraftverschwen- 
dung das bedeutet, versteht sich von selbst. - Reich und Asja hatten 
sich auf der Strafie getroffen und kamen zusammen. Asja fuhlte sich 
schlecht und hatte der Birse f iir den Abend abgesagt. Man wollte bei 
mir sein. Sie hatte ihren Stoff bei sich, und wir gingen fort. Ich 
brachte sie, bevor ich ins Spielzeugmuseum ging, zu ihrer Schneide- 
rin. Unterwegs traten wir bei einem Uhrmacher ein. Asja gab ihm 
meine Uhr. Es war ein Jude, der Deutsch konnte. Als ich mich dann 
von Asja verabschiedet hatte, nahm ich mir zum Museum einen 
Schlitten. Ich furchtete, zu spat zu kommen, weil ich noch immer 
an russisches Zeitmafi mich nicht gewohnt habe. Fuhrung durchs 
Spielzeugmuseum. Der Leiter tow(aritsch) Bartram schenkte mir 
seine Schrift »Vom Spielzeug zum Kindertheater«, die mein Weih- 
nachtsgeschenk fur Asja wurde. Danach in die Akademie; aber 
Kogan war abwesend. Ich hatte mich, um zuriickzufahren, an einer 
Omnibushaltestelle postiert. Da sah ich an einer geoffneten Tiir die 
Aufschrift »Museum« und wufite bald, dafi ich die »zweite Samm- 
lung der neuen Kunst des Westens* vor mir hatte. Dies Museum lag 
nicht in meinem Besichtigungsplan. Weil ich nun aber davor stand, 



Moskauer Tagebuch 325 

ging ich hinein. Vor einem aufierordentlich schonen Bilde von 
Cezanne kam mir der Einfall, wie die Rede von »Einfuhlung« 
sprachlich schon falsch ist. Mir schien, soweit man ein Gemalde 
erfafk, dringt man durchaus nicht in seinen Raum ein, vielmehr 
stofit dieser Raum, zunachst an ganz bestimmten, unterschiednen 
Stellen, vor. Er offnet sich uns in Winkeln und Ecken, in denen wir 
sehr wichtige Erfahrungen der Vergangenheit glauben lokalisieren 
zu konnen; es ist etwas unerklarlich Bekanntes an diesen Stellen. 
Dies Bild hing an der Mittelwand des ersten der beiden Cezanne- 
Sale, genau dem Fenster gegemiber im vollen Licht. Es stellte eine 
Chaussee dar, wo sie durch Wald lauft. An einer Seite hat sie eine 
Hausergruppe. Nicht ganz so aufierordentlich wie die grofie 
Cezanne-Sammlung ist die Renoir-Kollektion dieses Museums. 
Immerhin sind sehr schone, besonders friihe Bilder auch in ihr. In 
den ersten Salen aber benihrten am starksten mich zwei Bilder von 
den Pariser Boulevards, die als Pendants einander gegeniiber han- 
gen. Das eine ist von Pissarro, das andere von Monet. Beide geben 
die breite Strafie von erhohtem Standort aus, der bei dem ersten in 
der Mitte, bei dem zweiten seitlich liegt. So seitlich, dafi die Silhou- 
etten zweier Herren, die sich vom Gitter eines Balkons auf die 
Strafte hinabbeugen, seitlich, als seien sie dicht neben dem Fenster, 
in welchem gemalt wird, ins Bild hineinragen. Und wahrend bei 
Pissarro der graue Asphalt mit den unzahligen Equipagen iiber den 
grofiten Teil der Bildflache sich breitet, ist sie bei Monet zur Halfte 
von einer leuchtenden Hauswand eingenommen, die halb durch 
herbstlich gelbe Baume schimmert. Am Fufie dieses Hauses sind 
vom Laub fast ganz verborgen Stuhle und Tische eines Cafes wie 
landliche Mobel im sonnigen Wald zu erraten. Pissarro aber gibt 
den Ruhm von Paris; die Linie der schornsteinbesaten Dacher wie- 
der. Ich fiihlte eine Sehnsucht nach dieser Stadt. - In einem hinteren 
Kabinett neben Zeichnungen von Louis Legrand und Degas ein 
Bild von Odilon Redon. - Nach der Autobusfahrt begann ein lan- 
ges Umherirren und eine Stunde nach der festgesetzten Zeit kam ich 
endlich in dem kleinen Kellerrestaurant an, in dem ich mit Reich 
verabredet war. Wir mufiten uns, weil es schon gegen vier Uhr war, 
gleich trennen und gaben uns im groflen Lebensmittelladen auf der 
Twerskaja Rendezvous. Es war nur wenige Stunden vorm Weih- 
nachtsabend und der Laden war uberfiillt. Wahrend wir Kaviar, 
Lachs, Obst kauften, begegnete uns Basseches, mit Paketen, ver- 



326 Autobiographische Schriften 

gniigter Laune. Reichs Stimmung dagegen war schlecht. Er war 
sehr unwillig iiber mein verspatetes Kommen und ein chinesischer 
Papierfisch, den ich vormittags auf der Strafie erstanden hatte, und 
zu alien iibrigen Sachen mit herumschleppen mufite, stimmte, als 
Zeugnis einer Sammelmanie ihn nicht heiterer. Endlich hatten wir 
noch Kuchen und SiiRigkeiten, so wie ein schleifengeschmiicktes 
Baumchen beisammen und mit alledem fuhr ich im Schlitten nach 
hause. Es war langst dunkel geworden. Die Fulle von Menschen, 
durch die ich mit Baum und Paketen mich hatte drangen mussen, 
hatte mich miide gemacht. Im Zimmer legte ich mich aufs Bett, las 
Proust und afi von den gezuckerten Nussen, die wir gekauft hatten, 
weil Asja sie gern hat. Nach sieben kam Reich, etwas spater auch 
Asja. Sie lag den ganzen Abend iiber auf dem Bett und neben ihr safi 
Reich auf einem Stuhl. Als dann nach langem Warten endlich auch 
ein Samovar gekommen war - erst hatte man vergeblich darum 
gebeten, weil angeblich ein Gast sie samtlich auf dem Zimmer ein- 
geschlossen hatte und fort war - als zum ersten Male sein Summen 
mir ein russisches Zimmer erfullte und ich Asja die gegeniiber lag, 
dicht ins Gesicht sehen konnte, da hatte ich nahe bei dem Tannen- 
baumchen im Topf zum ersten Mai seit vielen Jahren das Gefiihl, 
am Weihnachtsabend geborgen zu sein. Wir sprachen iiber die 
Stelle, die Asja annehmen sollte, spater kamen wir auf mein Trauer- 
spielbuch, und ich las die Vorrede vor, die gegen die Universitat 
Frankfurt gerichtet ist. Fur mich kann wichtig werden, dafi Asja 
meinte, ich solle trotz allem ganz einfach schreiben: Abgelehnt von 
der Universitat Frankfurt a/M. An diesem Abend waren wir uns 
sehr nah. Asja lachte sehr iiber manches was ich ihr sagte. Ande- 
re { s ) , wie der Gedanke eines Artikels : Die deutsche Philosophic als 
Werkzeug der deutschen Innenpolitik, erregte sie zu heftiger 
Zustimmung. Sie wollte sich nicht zum Gehen entschlieften, fiihlte 
sich gut und miide. Schliefilich war es aber noch nicht elf Uhr als sie 
ging. Ich legte mich gleich zu Bett, weil mein Abend erfullt, wenn 
auch noch so kurz gewesen war. Ich sah, daft es fiir uns keine Ein- 
samkeit gibt, wenn gleichzeitig der Mensch, welchen wir lieben, 
wenn auch an einem andern Ort, wo wir ihn nicht erreichen kon- 
nen, einsam ist. So scheint im Grunde das Gefiihl von Einsamsein 
ein reflexives Phanomen zu sein, das uns nur trifft wenn es von uns 
bekannten Menschen, am meisten von dem Menschen den wir lie- 
ben, wenn sie sich ohne uns gesellig vergniigen, auf uns zuriick- 



Moskauer Tagebuch 327 

strahlt. Und sogar der an sich, im Leben uberhaupt, Vereinsamte, 
flihlt sich nur einsam im Gedanken an die, wenn auch unbekannte, 
Frau oder an einen Menschen, die nicht einsam sind und in deren 
Gemeinschaft auch er es nicht ware. 

2 j Dezember. Ich habe mich resigniert, mit dem wenigen Rus- 
sisch, das ich herstammeln kann, auszukommen und vorlaufig nicht 
weiter zu lernen, weil ich hier meine Zeit zu notig zu anderem brau- 
che: zum Ubersetzen und fur Artikel. Falls ich wieder einmal nach 
Rufiland komme, wird es freilich nicht moglich sein, ohne dafi ich 
einige Sprachkenntnis mitbringe, die ich dann vorher mir erwerben 
miifite. Aber weil ich nun keinen Offensivplan fur die Zukunft auf- 
stelle, ist mir das nicht unbedingt gewifi geworden: es konnte in 
anderen Verhaltnissen, die noch ungunstiger als die jetzigen sind, 
vielleicht allzu schwer fur mich werden. Das mindeste ware, eine 
zweite Reise nach Rufiland, sehr fest in literarischen und finanziel- 
len Zusammenhangen zu verankern. Die Unkenntnis des Russi- 
schen ist mir bisher nie storender und qualender gewesen, als am 
ersten Weihnachtsfeiertag. Wir waren bei Asjas Zimmergenossin zu 
Tisch - ich hatte das Geld fur eine Gans gegeben und das war vor 
einigen Tagen Anlafi zu Streit zwischen Asja und mir gewesen. Nun 
kam die Gans in einzelnen Portionen auf Tellern auf den Tisch. Sie 
war schlecht gekocht, zahe. Gegessen wurde auf einem Schreib- 
tisch, um welchen sechs bis acht Personen safien. Es wurde nur 
russisch gesprochen. Gut war die kalte Vorspeise, ein Fisch auf 
jiidische Art, auch die Suppe. Ich ging nach Tisch ins Nebenzimmer 
und schlief ein. Danach lag ich noch, sehr traurig, eine zeitlang 
wach auf dem Sofa und mir erschienen, wie dann so oft, Bilder aus 
jener Zeit, wo ich von Munchen als Student nach Seeshaupt heraus- 
kam. Hin und wieder versuchten dann spater wohl Reich oder Asja 
mir vom Gesprach ein Stuckchen zu ubersetzen, aber dadurch 
wurde es doppelt anstrengend. Eine Zeit lang sprach man dariiber, 
dafi an der Kriegsakademie ein General, der friiher Weifigardist 
gewesen sei und jeden im Burgerkrieg gefangenen Rotarmisten habe 
aufhangen lassen, Professor geworden sei. Man stritt dariiber wie 
das zu beurteilen sei. Am orthodoxesten und sehr fanatisch war im 
Gesprache eine junge Bulgarin. Endlich gingen wir, Reich mit der 
Bulgarin voran, Asja mit mir ihnen folgend. Ich war vdllig 
erschopft. An diesem Tage ging keine Strafienbahn. Und da wir, 
Reich und ich, mit dem Autobus nicht mitkommen konnten, blieb 



328 Autobiographische Schriften 

uns nichts xibrig, als die lange Strecke bis zum zweiten Michad zu 
Fufi zu gehen. Reich wollte, um sein Material iiber »Die Gegenre- 
volution auf der Biihne« zu vervollstandigen, dort die Orestie 
sehen. Man gab uns Platze in der Mitte der zweiten Reihe. Parfum- 
geruch empfing mich schon beim Eintritt in den Saal. Ich sah keinen 
einzigen Kommunisten in blauer Bluse, wohl aber einige Typen, die 
in jedem Album von George Grosz Platz finden konnten. Die Auf- 
fuhrung hatte durchweg den Stil eines vollig verstaubten Hofthea- 
ters. Dem Regisseur fehke nicht nur jedwedes fachliche Konnen, 
sondern der Vorrat primitivster Informationen, ohne die man an 
eine aschyleische Tragodie nicht herangehen kann. Ein verschosse- 
nes Salon-Griechentum scheint seine armliche Phantasie ganz aus- 
zufiillen. Fast ohne Unterbrechung dauerte Musik an, darunter viel 
Wagner: Tristan, der Feuerzauber. 

26 Dezember. Asjas Sanatoriumsaufenthalt scheint zu Ende zu 
gehen. In den letzten Tagen haben Lieges tunden im Freien ihr gut 
getan. Sie freut sich, wenn sie im Sack liegt und in der Luft die 
Raben schreien hort. Auch glaubt sie, dafi die Vogel sich genau 
organisiert haben und von dem Fiihrer iiber das, was sie zu tun 
haben, verstandigt werden; bestimmte Schreie, denen eine lange 
Pause vorher(geht), sind, meint sie, Befehle, die von alien befolgt 
werden. Ich habe Asja in den letzten Tagen kaum allein gesprochen, 
aber in den wenigen Worten, die wir wechseln, glaube ich ihre Nahe 
zu mir so deutlich zu fiihlen, dafi ich sehr beruhigt bin und mich gut 
fuhle. Ich weifi kaum etwas, das heilsam, aber mit solcher Gewalt 
auf mich einwirkt, wie die geringsten Fragen, die sie iiber meine 
Angelegenheiten an mich stellt. Gewifi tut sie das nicht oft. An die- 
sem Tage aber erkundigte sie sich z.B. mitten bei Tisch, wahrend 
sonst russisch gesprochen wurde, bei mir, was fur Post ich am Vor- 
tag erhalten habe. Vor Tische hatte man zu drei Parteien Domino 
gespielt. Nach dem Essen aber war es weit besser als am Vortage. 
Man sang kommunistische Umdichtungen (kaum als Parodien 
gemeinte, wie ich vermute) von jiddischen Liedern. Bis auf Asja 
waren wohl alle im Zimmer Juden. Es war auch ein Gewerkschafts- 
sekretar aus Wladiwostok dabei, der zum siebten Gewerkschafts- 
kongreft hier nach Moskau gekommen war. So war eine ganze Kol- 
lektion Juden von Berlin bis Wladiwostok am Tische versammelt. 
Asja brachten wir friihzeitig nach Hause. Ich lud dann Reich vor 
dem Nachhausegehen zu einer Tasse Kaffe ein. Und er begann: Je 



Moskauer Tagebuch 329 

mehr er sich umsahe, sahe er, Kinder seien eine grofie Plage. Bei der 
Genossin war auch ein kleiner, iibrigens aufierordentlich artiger 
Junge zu Besuch gewesen, der aber endlich, als alle beim Domino 
safien, und man schon an zwei Stunden auf das Essen gewartet 
hatte, zu weinen begonnen hatte. In Wirklichkeit hatte aber Reich 
natiirlich Daga im Sinne. Er sprach von Asjas chronischen Angstzu- 
standen, die meistenteils sich mit Daga beschaftigten und er rollte 
noch einmal die ganze Geschichte ihres Aufenthaltes in Moskau 
auf. Ich hatte im Umgang mit ihr schon oft seine grofte Geduld 
bewundert. Und es kam auch jetzt nichts von Verstimmung, kein 
Groll nur eben die Spannung heraus, die sich in dem Gesprache mit 
mir loste. Dafi Asjas »Egoismus« gerade jetzt, da alles fur sie darauf 
ankomme, die Dinge ruhig gehen und sich treiben zu lassen, versage 
beklagte er. Die Unruhe iiber den nachsten Aufenthalt, der 
Gedanke an Ubersiedlung, die moglicherweise bevorstand, quake 
sie sehr. Ihre Anspruche gehen im Grunde jetzt auf ein paar 
Wochen ruhiger und bequemer biirgerlicher Existenz, wie sie auch 
Reich in Moskau ihr natiirlich nicht schaffen kann. Mir war imtibri- 
gen ihre Unruhe noch nicht aufgefallen. Ich sollte sie erst am folgen- 
den Tage bemerken. 

2j Dezember. Asjas Zimmer im Sanatorium. Wir sind fast taglich 
von vier bis sieben dort. Gewohnlich beginnt gegen funf fur eine 
Stunde oder eine halbe in einem benachbarten Raume eine Patien- 
tin, mit Zitherspielen sich zu beschaftigen. Sie kommt nie iiber trau- 
rige Akkorde hinaus. Musik pafk zu diesen kahlen Wanden sehr 
schlecht. Aber Asja scheint das monotone Gezupfe nicht sehr zu 
storen. Sie liegt gewohnlich, wenn wir kommen, auf dem Bett. Ihr 
gegeniiber steht auf einem Tischchen Milch, Brot und ein Teller mit 
Zucker und Eiern, die Reich gewohnlich mitbekommt. An diesem 
Tage gab sie ihm eines fur mich mit und schrieb darauf »Benjamin«. 
Uber dem Kleid hat Asja einen grauen wollnen Sanatoriumskittel. 
Im iibrigen gibt es in dem ihr reservierten komfortableren Teile des 
Zimmers drei ungleiche Stiihle, darunter den tiefen Sessel, auf dem 
ich meist sitze sowie den Nachttisch mit Zeitschriften, Buchern, 
Arzeneien, einer kleinen bunten Schale, die ihr wahrscheinlich 
gehort, dem Cold Cream, den ich ihr aus Berlin mitbrachte, einem 
Handspiegel, den ich ihr einmal geschenkt habe und lange lag da 
auch der Deckelentwurf der »Einbahnstrafte«, den Stone fur mich 
gemacht hatte. Asja arbeitet oft an einer Bluse, die sie sich machen 



330 Autobiographische Schrif ten 

will, zieht Faden aus einem Stoff aus. - Lichtquellen der Moskauer 
Strafie. Das sind: der Schnee, der die Beleuchtung so stark reflek- 
tiert, dafi die Strafien fast alle hell sind, die starken Karbidlampen in 
den Verkaufsbuden und die Blendlaternen der Autos, welche auf 
hunderte von Metern voraus ihren Schein durch die Strafien werfen. 
In andern Grofistadten sind diese Autolichter verboten: hier lafit 
sich nichts Aufreizenderes denken als diese freche Betonung der 
wenigen Fahrzeuge, die im Dienste einiger Nepleute (freilich auch 
fur die Machthaber) die allgemeine Schwierigkeit der Fortbewe- 
gung iiberwinden. - Fiir diesen Tag ist wenig wichtiges zu vernier- 
ken. Vormittag bei der Arbeit zu Hause. Nach dem Essen spielte 
ich Schach mit Reich, in zwei Partien wurde ich geschlagen. Asja 
war an diesem Tag in der schlechtesten Stimmung, es kam deut- 
licher als ich es je beobachten konnte, die bose Scharfe heraus, die 
ihr Spiel von Hedda Gabler so iiberzeugend machen mufi. Sie dul- 
dete nicht einmal die kleinste Frage nach ihrem Ergehen. Schliefilich 
blieb garnichts iibrig als sie allein zu lassen. Aber unsere - meine 
und Reichs - Hoffnung, sie wurde uns zum Dominospiel nachfol- 
gen erfullte sich nicht. Vergeblich wandten wir uns jedesmal um, 
wenn jemand ins Spielzimmer trat. Nach der Partie gingen wir wie- 
der in ihr Zimmer aber bald zog ich mich mit einem Buche nochmals 
ins Spielzimmer zuriick, um erst ganz kurz vor sieben wieder zu 
erscheinen. Asja entliefi mich sehr unfreundlich, aber dann sandte 
sie mir durch Reich ein Ei nach, auf das sie »Benjamin« geschrieben 
hatte. Wir waren noch nicht lange auf meinem Zimmer, als sie ein- 
trat. Es war ein Umschwung in ihrer Stimmung erf olgt, sie sah alles 
wieder in besserem Licht und sicher tat ihr das Verhalten vom 
Nachmittag leid. Aber wenn ich alles in allem die letzte Zeit iiber- 
blicke, so finde ich, dafi ihre Besserung, zumindest die ihres nervo- 
sen Zustands, seit meiner Ankunft kaum vorangeschritten ist. - Am 
Abend hatten Reich und ich ein langes Gesprach iiber meine 
Schriftstellerei und iiber den Weg, den sie in Zukunft einzuschlagen 
habe. Er meinte, ich entliefie meine Sachen in einem zu spaten Sta- 
dium. In dem gleichen Zusammenhange formulierte er sehr zutref- 
fend, in der grofien Schriftstellerei sei das Verhaltnis der Satzanzahl 
iiberhaupt zur Menge schlagender, pragnanter, formulierter Satze 
wie 1 130 - bei mir wie 1 :2. Dies alles ist richtig. (Und in dem letzten 
liegt sogar vielleicht der Uberrest von jenem starken Einflufi, den 
f riiher einmal Philipp Keller auf mich gehabt hat. ( ) ) Ich mufite ihm 



Moskauer Tagebuch 3 3 1 

aber dennoch Gedanken entgegenhalten, welche seit meiner lange 
zuriickliegenden Schrift iiber »Sprache iiberhaupt und die Sprache 
des Menschen« mir niemals zweifelhaft geworden sind: ich verwies 
ihn auf die Polaritat aller sprachlichen Wesenheit: Ausdruck und 
Mitteilung zugleich zu sein. Hier mufite anklingen, was iiber 
»Sprachzerstorung« als eine Tendenz der gegenwartig(en) russi™ 
schen Literatur von uns schon oft war beriihrt worden. Denn die 
nicks ichtslose Ausbildung des Mitteilenden in der Sprache fiihrt 
eben unbedingt auf Sprachzerstorung hinaus. Und auf anderem 
Wege endet dort, namlich im mystischen Schweigen die Erhebung 
ihres Ausdruckscharakters ins Absolute. Die aktuellere Tendenz 
von beiden scheint augenblicklich die auf Mitteilung mir zu sein. 
Aber in irgend einer Form ist immer ein Kompromift notig. Die 
kritische Situation meiner eigenen Autorschaft aber gab ich zu. Ich 
sagte ihm, da nur konkrete Aufgaben und Schwierigkeiten mich 
wirklich weiterzubringen vermochten, nicht aber blofte Uberzeu- 
gungen noch auch abstrakte Entschlieftungen, so sahe ich hier kei- 
nen Ausweg vor mir. Hier aber verwies er mich auf meine Auf- 
zeichnungen iiber Stadte. Das war mir sehr ermutigend. Ich 
begann, zuversichtlicher an eine Darstellung Moskaus zu denken. 
Urn abzuschliefien las ich ihm mein Portrait von Karl Kraus vor, 
weil auch auf ihn die Rede gekommen war. 

28 Dezember. Ich glaube, soviele Uhrmacher wie in Moskau gibt 
es in keiner Stadt. Das ist umso seltsamer, als die Leute hier nicht 
viel Aufhebens von der Zeit machen. Es wird aber wohl historische 
Griinde haben. Wenn man beachtet, wie sie sich auf der Strafte 
bewegen, so wird man selten jemanden eilen finden, es miiflte denn 
gerade sehr kalt sein. Aus Schlendrian geht man in Serpentinen. 
(Sehr bezeichnend ist, daft, wie Reich mir erzahlte, irgendwo in 
einem Clublokal an der Wand, mahnend, ein Schild hangt, auf wel- 
chem steht: Lenin hat gesagt, daft Zeit Geld ist. Um diese Banalitat 
auszusprechen, mufi also hier die hochste Autoritat herangezogen 
werden.()) Ich holte an diesem Tage meine Uhr ab, die repariert 
worden war. - Am Morgen schneite es und auch tagsiiber fiel oft 
Schnee. Spater trat etwas Tau wetter ein. Ich verstehe, daft Asja 
Schnee in Berlin vermiftte und unter dem nackten Asphalt litt. Hier 
geht der Winter, wie ein Bauer in weifter Schafwolle, unter einem 
dichten Schneepelz dahin. - Morgens erwachten wir spat und gin- 
gen dann in Reichs Zimmer. Es ist ein Snick Kleinbiirgerwohnung, 



332 Autobiographische Schrif ten 

wie man es sich nicht schrecklicher traumen kann. Bei Anblick der 
hundert Decken, Konsolen, gepolsterten Mobel, Gardinen kann 
man vor Beklemmung kaum atmen; die Luft mufi dick von Staub 
sein. In einer Fensterecke stand ein hoher Weihnachtsbaum, Selbst 
der war hafllich mit seinen mageren Asten und einem unformlichen 
Schneemann als Bekronung. Mir nahm der ermiidende Weg von der 
Trambahnstation und der Schrecken dieses Raumes den Uberblick 
uber die Lage und ich stimmte Reichs Vorschlag, im Januar dies 
Zimmer mit ihm zu beziehen, etwas voreilig zu. Solche Kleinbiir- 
gerzimmer sind Schlachtfelder, iiber die der verheerende Ansturm 
des Warenkapitals siegreich dahingefegt ist, es kann nichts Mensch- 
liches mehr da gedeihen. Aber meine Arbeit wurde ich, bei meiner 
Neigung zu Hohlenraumen, vielleicht nicht schlecht in diesem 
Raume erledigen. Nur will iiberlegt sein, ob ich die ausgezeichnete 
strategische Position meines jetzigen Zimmers aufgeben oder selbst 
um den Preis sie beibehalten soil, dariiber den taglichen Kontakt 
mit Reich, der mir fur meine Informationen sehr wichtig ist, zu 
vermindern. Sodann liefen wir lange durch Vorstadtstrafien: Ich 
sollte durch eine Fabrik gefiihrt werden, in der vor allem Baum- 
schmuck hergestellt wird. Die »Prarie der Architektur«, wie Reich 
Moskau genannt hat, hat in diesen Strafien noch wilderen Charakter 
als im Zentrum. Zu beiden Seiten der breiten Allee wechseln Bauten 
im Stile der baurischen holzernen Dorfhauser mit Jugendstilvillen 
oder der nuchternen Fassade eines sechsstockigen Hauses. Der 
Schnee lag hoch und entstand plotzlich eine Stille, so konnte man 
glauben, tief drinnen in Rufiland in einem iiberwinternden Dorfe zu 
sein. Hinter einer Reihe von Baumen stand eine Kirche mit blauen 
und goldenen Kuppeln, und, wie immer, vergitterten Fenstern an 
ihrer Strafienmauer. Ubrigens tragen die Kirchen hier oft noch Hei- 
ligenbilder an ihrer Fassade, wie man es in Italien nur an den altesten 
sieht. (z.B. Sto. Freginiano in Lucca (recte: S. Frediano)). Zufallig 
war die Arbeiterin gerade abwesend und die Fabrik bekamen wir 
nicht zu Gesicht. Bald trennten wir uns. Ich ging Kusnetzki-Most 
hinunter und sah die Buchladen an. In dieser Strafte liegt Moskaus 
grdfke Buchhandlung (dem Anscheine nach zu schlieften). Ich sah 
auch auslandische Literatur in den Fenstern, jedoch zu unver- 
schamten Preisen. Die russischen Bucher kommen so gut wie aus- 
nahmslos nur ungebunden auf den Markt. Das Papier ist hier drei- 
mal so teuer als in Deutschland, hauptsachlich Importware, und 



Moskauer Tagebuch 333 

man spart an der Ausstattung der Biicher soviel es mir (erschien). 
Ich kaufte unterwegs - nachdem ich auf der Bank gewechselt hatte - 
eine der warmen Pasteten, die uberall auf den Strafien zu haben 
sind. Nach wenigen Schritten stiirzte ein kleiner Junge sich auf 
(mich), dem ich ein Stiick davon gab, als ich endlich verstanden 
hatte, dafi er nicht Geld sondern Bro(t) wolle. - Mittags gewann 
ich die Schachpartie gegen Reich. Nachmittags bei Asja, wo es ganz 
farblos, wie in den letzten Tagen war, da Asja durch Angstzustande 
abgestumpft ist, beging ich den grofien Fehler, Reich gegen sehr 
torichte Vorwiirfe in Schutz zu nehmen. Am folgenden Tag sagte er 
mir sodann, dafi er allein zu Asja gehen werde. Am Abend dagegen 
schien er sich sehr freundlich verhalten zu wollen. Zu der General- 
probe von Illeschs Stiick zu gehen, wie wir geplant hatten, war es zu 
spat und da Asja nicht mehr kam, gingen wir, urn einer »Gerichts- 
verhandlung« im Krestanski-Club (?) beizuwohnen. Bis wir dort- 
hin kamen, war es halb neun und wir erfuhren, dafl man schon seit 
einer Stunde begonnen habe. Der Saal war iiberfiillt und niemand 
wurde mehr hereingelassen. Aber eine kluge Frau machte sich 
meine Anwesenheit zu nutze. Sie merkte, dafi ich fremd sei, stellte 
Reich und mich als Auslander vor, deren Fuhrung sie habe und 
brachte so sie selber und mich unter. Wir traten in einen rot ausge- 
schlagenen Saal, in dem gegen dreihundert Menschen Platz hatten. 
Er war dicht gefiillt, viele standen. In einer Nische eine Leninbliste. 
Die Verhandlung fand auf der Estrade der Biihne statt, die rechts 
und links von gemalten Proletarierfiguren, einem Bauern und 
einem Industriearbeiter, eingerahmt wurde. Am oberen Buhnen- 
rahmen die Sowjetembleme. Die Beweisaufnahme war schon been- 
det, als wir kamen, ein Sachverstandiger hatte das Wort. Er safi mit 
seinem Kollegen an einem Tischchen, ihm gegeniiber der Tisch des 
Verteidigers, beide die Schmalseite zur Biihne gewandt. Der Tisch 
des Richterkollegiums stand frontal zum Publikum, vor ihm safi in 
schwarzer Kleidung auf einem Stuhle, einen dicken Stock in Han- 
den, die Angeklagte, eine Bauerin. Alle Mitwirkenden waren gut 
gekleidet. Die Anklage lautete auf Kurpfuscherei mit todlichem 
Erfolge. Die Bauerin hatte bei einer Entbindung (oder Abtreibung) 
Beistand geleistet und durch einen Fehler den ungliicklichen Aus- 
gang herbeigefiihrt. Die Argumentation bewegte sich in aufterst 
primitiven Bahnen um diesen Vorfall herum. Der Sachverstandige 
gab sein Gutachten ab: die Schuld am Tode der Frau sei allein auf 



■i 34 Autobiographische Schriften 

den Eingriff zuriickzufuhren. Der Verteidiger pladierte: kein boser 
Wille, auf dem Lande fehle es an sanitarer Hilfe und Aufklarung. 
Der Staatsanwalt beantragt die Todesstrafe. Die Bauerin in ihrem 
Schlufiwort: immer sterben Menschen. Danach wendet der Vorsit- 
zende sich ans Publikum: sind Fragen vorhanden? Auf der Estrade 
erscheint ein Komsomolz und pladiert fur aufierst strenge Bestra- 
fung. Danach zieht das Gericht sich zur Beratung zuriick - eine 
Pause entsteht. Die Urteilsverkiindung wird von alien stehend 
angehort. Zwei Jahre Gefangnis unter Zubilligung mildernder Um- 
stande. Von Einzelhaft wird daher abgesehen. Der Vorsitzende 
weist seinerseits auf die Notwendigkeit hygienischer Versorgungs- 
und Bildungszentralen auf dem Lande hin. Man ging auseinander. 
Ich hatte bisher niemals ein derartig einfaches Publikum in Moskau 
beisammen gesehen. Es waren wahrscheinlich viele Bauern darun- 
ter, denn dieser Klub dient ganz besonders den Bauern. Man fiihrte 
mich durch die Raume hindurch. Im Lesesaal fiel mir, genau wie in 
dem Kindersanatorium, auf, dafi die Wande ganz mit Anschau- 
ungsmaterial bedeckt sind. Hier waren es besonders Statistiken, die 
zum Teile, mit Bildchen farbig illustriert, von Bauern selber waren 
gestellt worden (Dorfchronik, landwirtschaftliche Entwicklung, 
Produktionsverhaltnisse und kulturelle Institutionen waren aufge- 
zeichnet) aber auch Werkzeugbestandteile, Maschinenstiicke, Re- 
torten mit Chemikalien etc. sind uberall an den Wanden hier ausge- 
stellt. Neugierig trat ich vor eine Konsole, von der zwei Negermas- 
ken heruntergrinsten. Aber beim Naherkommen erwiesen sie sich 
als Gasmasken. Endlich brachte man mich auch in die Schlafraume 
des Klubs. Er ist fur Bauern und Bauerinnen, einzelne und ganze 
Gesellschaften, bestimmt, die eine »Kommandirowka« in die Stadt 
bekommen. In groften Zimmern stehen meist sechs Betten; die 
Kleider legt ein jeder die Nacht iiber auf sein eigenes. Die 
Waschraume wieder miissen woanders (g)elegen sein. Die Zimmer 
selber haben keine Waschgelegenheit. An den Wanden sind Bilder 
von Lenin, Kalinin, Rykow u. a. Hier geht der Kultus insbesondere 
mit dem Leninbilde unabsehbar weit. Man findet auf Kusnetzki- 
Most ein Geschaft, in dem er Spezialartikel ist und in alien Grofien, 
Haltungen und Materialien zu haben ist. Im Unterhaltungszimmer 
des Klubs, wo gerade Radiokonzert zu horen war, ist ein sehr aus- 
drucksvolles Reliefbild, das ihn in Lebensgrofte, bis zur Brust, als 
Redner zeigt. Aber ein bescheideneres Bildchen von ihm hangt auch 



Moskauer Tagebuch 335 

in Kiichen, Waschekammern u.s.w. der meisten offentlichen Insti- 
tute. Das Haus hat fur iiber vierhundert Gaste Platz. Unter der 
zunehmend lastigen Begleitung der Fuhrerin, die uns hineingehol- 
fen hatte, gingen wir fort und entschlossen uns, als wir endlich 
allein waren, noch eine Piwnaja aufzusuchen, in der es gerade 
Abendunterhaltung gab. Vor der Tiir bemiihten sich, als wir eintra- 
ten, einige Leute um den Abtransport eines Betrunkenen. In dem 
nicht allzugrofien, dennoch aber nicht ganz vollbesetzten Raume 
saften einzelne Personen sowie kleine Gruppen beim Bier. Wir nah- 
men ziemlich nahe an der brettenen Estrade Platz, die hinten von 
einer suftlich verschwommen(en) Aue, mit einem Stuckchen wie in 
Luft zergehender Ruine abgeschlossen wurde. Aber fur die ganze 
Lange der Biihne reichte dieser Prospekt nicht aus. Nach zwei 
Gesangsnummern kam die Hauptattraktion des Abends, eine »In- 
szenirowka« - d.h. ein im Grunde anderswoher, aus Epik oder 
Lyrik stammender Stoff furs Theater bearbeitet. Hier schien der 
dramatische Rahmen fur eine Anzahl Liebes- und Bauerngesange 
gegeben zu werden. Zuerst trat nur eine Frau auf und lauschte 
einem Vogel. Dann kam aus der Kulisse ein Mann und so ging es 
weiter bis die ganze Biihne voll war und alles mit einem Chorgesang 
unter Tanz endete. Dies alles unterschied sich nicht sehr von geselli- 
ger Familienvergniigung, aber mit dem Untergang dieser Veranstal- 
tungen in der Wirklichkeit sind sie wahrscheinlich dem Kleinbiirger 
auf der Biihne nur anziehender geworden. Zum Bier gibt es eine 
eigentiimliche Zukost: winzige Stuckchen getrocknetes Weiftbrot, 
Schwarzbrot, mit einer Salzkruste uberbacken und getrocknete 
Erbsen in Salzwasser. 

29 Dezember. Rutland beginnt dem Mann aus dem Volke Gestalt 
anzunehmen. Ein grower Propagandafilm »Der sechste Teil der 
Welt« steht bevor. Auf der Strafte, im Schnee, liegen Landkarten 
von SSSR, aufgestapelt von Straftenhandlern, die sie dem Publikum 
anbieten. Meyerhold verwendet die Landkarte in »Dajosch- 
Europa« - der Westen ist darauf ein kompliziertes System kleiner 
russischer Halbinseln. Die Landkarte ist ebenso nahe daran, ein 
Zentrum neuen russischen Bilderkults zu werden wie Lenins Por- 
traits. Indessen geht der alte in den Kirchen fort. Ich trat an diesem 
Tage auf meinem Rundgang in die Kirche der Kasaner Muttergottes 
ein, von der mir Asja gesagt hatte, daft sie sie liebt. Sie liegt an einer 
Ecke des roten Platzes. Man tritt zuerst in ein geraumiges Vorzim- 



3 3 6 Autobiographische Schrif ten 

mer mit einigen sparlichen Heiligenbildern. Hauptsachlich scheint 
es einer Frau zu dienen, die die Kirche iiberwacht. Es ist duster; sein 
Halbdunkel eignet zu Konspirationen. In solchen Raumen kann 
man sich liber die bedenklichsten Geschafte, wenn es sich trifft auch 
iiber Pogrome beraten. Daran stofit der eigentliche Andachtsraum. 
Im Hintergrunde hat er ein paar Treppchen, die zu der schmalen, 
niedrigen Estrade fiihren, auf der man an den Heiligenbildern sich 
entlangschiebt. In kurzem Abstand folgt Altar auf Altar, ein glim- 
mendes rotes Lichtchen bezeichnet jeden. Die Seitenflachen wer- 
den von sehr grofien Heiligenbildern eingenommen. Alle Teile der 
Wand, die so nicht von Bildern bedeckt sind, sind mit leuchtendem 
Gold uberzogen. Von der siifilich bemalten Decke hangt ein kri- 
stallner Kronleuchter herab. Von einem der Stuhle am Eingang des 
Raumes betrachtete ich mir die Zeremonien. Es sind die der alten 
Bilderverehrung. Die grofien Heiligenbilder werden durch Bekreu- 
zigen begriifit, ein Kniefall, bei welchem die Stirne den Boden 
beruhren mufi, folgt und unter neuer Bekreuzigung wendet der 
Betende oder Biifiende sich zu dem nachsten. Vor kleinen Heiligen- 
bildern, die einzeln oder in Reihen auf kleinen Puken, unter Glas 
liegen, bleibt der Kniefall fort; man beugt sich iiber sie und kiifit das 
Glas. Ich trat hinzu und bemerkte, dafi neben kostbaren alten Stiik- 
ken auf ein und demselben Pult die Dutzendware wertloser 
Oldrucke lag. Moskau hat viel mehr Kirchen als man zu Anfang 
annimmt. Der Westeuropaer sucht sie in ihren Turmen, hoch oben. 
Man mufi sich erst gewohnt haben, die langen Mauern und Haufen 
niedriger Kuppeln zu breiten Komplex(en) von Klosterkirchen 
oder Kapellen zusammenzufassen. Dann wird auch klar, warum an 
vielen Stellen Moskau so abgedichtet wie eine Festung aussieht: 
niedrige Tiirme kennzeichnen im Westen den profanen Wohnbau. 
Ich kam vom Postamt, hatte dann telegrafiert und endlich auf einem 
langen Rundgang durch das Polytechnische Museum vergebens 
nach der Ausstellung von Zeichnungen Geisteskranker gesucht. Ich 
entschadigte mich durch einen Gang langs der Buden, die an der 
Mauer von Kitai Gorod stehen. Hier ist das Zentrum des Antiqua- 
riatsmarkts. Nach Interessantem aus aufierrussischer Literatur hier 
nachzuspuren ware fruchtlos. Aber auch russische Ausgaben aus 
alterer Zeit kommen hier (nach den Einbanden zu schliefien) nicht 
vor. Dennoch miissen im Laufe dieser letzten Jahre ungeheure 
Bibliotheken aufgelost worden (sein). Aber vielleicht nur in 



Moskauer Tagebuch 337 

Leningrad? Und nicht in Moskau, wo sie seltener gewesen sein 
mogen? In einer der Buden auf dem Kitai-Projo kaufte ich Stefan 
eine Harmonika. - Weiteres zum Strafienhandel. Alle Weihnachts- 
artikel (Lametta, Kerzen, Kerzenhalter, Baumschmuck, auch 
Weihnachtsbaume) werden noch nach dem 24"" Dezember angebo- 
ten. Ich denke bis zur zweiten, kirchlichen Weihnachtsfeier. - Ver- 
haltnis der Preise in den Buden zu denen in den staatlichen Geschaf- 
ten. Berliner Tageblatt vom 20 November am 8 Dezember gekauft. 
Auf Kusnetzki-Most ein Knabe, der Tongefafie, winzige Teller und 
Schiisselchen, an einander schlagt, um ihre Soliditat zu beweisen. 
Auf Ochotni Rjad eine merkwiirdige Erscheinung: Frauen, in off- 
ner Hand auf einer Lage Stroh ein einziges Stuck rohes Fleisch, ein 
Huhn oder dergleichen(,) stehen und bieten es den Passanten an. 
Das sind Verkauferinnen ohne Konzession, Sie haben kein Geld, 
die Konzession fur einen Stand zu bezahlen und keine Zeit, um die 
fur einen Tag oder eine Woche sich anzustellen. Wenn ein Milizio- 
nar kommt, dann laufen sie einfach mit ihrer Ware davon. - Vom 
Nachmittag weift ich nichts mehr. Abends mit Reich zu einem 
schlechten Film (mit Ilinski) in der Nahe meines Hotels, 
jo Dezember. Der Weihnachtsbaum steht noch immer in meinem 
Zimmer. Allmahlich komme ich auch zur Systematik der Gerau- 
sche, die mich hier umgeben. Die Ouverture setzt am friihen Mor- 
gen ein und bringt samtliche Leitmotive: zuerst das Stampfen auf 
der Treppe, die meinem Zimmer gegeniiber, ins Souterrain fiihrt. 
Wahrscheinlich kommt von dort das Personal zur Arbeit herauf. 
Dann beginnt das Telefon im Flur und setzt bis gegen ein oder zwei 
Uhr nachts nur selten ab. Es ist in Moskau vorziiglich, besser als in 
Berlin oder Paris. In drei bis vier Sekunden ist jede Verbindung 
gelost. Besonders viel hore ich eine laute Kinderstimme ins Telefon 
sprechen. Die vielen Nummern gewohnen das Ohr, das sie hort, an 
die russischen Zahlen. Dann kommt gegen neun Uhr ein Mann, 
klopft an eine Zimmertur nach der andern und fragt, ob die Klappe 
geschlossen ist. Um diese Zeit wird geheizt. Reich vermutet, dafi 
kleine Mengen von Kohlengas durch die Klappe, auch wenn sie 
geschlossen ist, bei mir einstromen. Nachts ist es oft so erstickend 
im Zimmer, dafi das wohl moglich ist. Ubrigens kommt auch vom 
Fufiboden her Warme, er hat, wie vulkanische Erde, ganz heifte 
Stellen. Ist man nun noch nicht aus dem Bett, so durchschiittert den 
Schlaf ein rhythmisches Klopfen, als wiirden riesenhafte Beefsteaks 



338 Autobiographische Schriften 

bearbeitet; das ist das Holzspalten im Hofe. Und bei alledem atmet 
mein Zimmer Ruhe. Ich habe selten einen Raum bewohnt, in dem 
das Arbeiten leichter fallt. - Notizen zur Lage Rufilands. In Ge- 
sprachen mit Reich habe ich ausgefiihrt, wie zwiespaltig zur Zeit die 
Lage Ruftlands ist. Nach aufien sucht die Regierung den Frieden, 
um Handelsvertrage mit imperialistischen Staaten zu fiihren; vor 
allem aber sucht sie (im Innern), den militanten Kommunismus zu 
suspendieren, sie strebt einen Kiassenfrieden auf Zeit einzusetzen, 
das biirgerliche Leben zu entpolitisieren, soweit das nur moglich 
ist. Andererseits wird in Pionierverbanden, im Komsomolz die 
Jugend »revolutionar« erzogen. Das bedeutet, das Revolutionare 
kommt ihr nicht als Erfahrung, sondern als Parole zu. Man macht 
den Versuch, die Dynamik des revolutionaren Vorgangs im Staats- 
leben abzustellen - man ist, ob man will oder nicht, in die Restaura- 
tion eingetreten, will aber dem ungeachtet revolutionare Energie in 
der Jugend wie elektrische Kraft in einer Batterie aufspeichern. Das 
geht nicht. Es mufi daraus in jungen Menschen, oft der ersten Gene- 
ration, die eine mehr als notdiirftige Bildung erhalt( , ) der Kommu- 
nistenhochmut entwickelt (werden), fiir den es schon ein eignes 
Wort in Rufiland gibt. Die aufierordentlichen Schwierigkeiten der 
Restauration treten sehr greifbar auch im Bildungsproblem heraus. 
Man hat, um der katastrophalen Unbildung zu begegnen, die Parole 
ausgegeben, Kenntnis der russischen und westeuropaischen Klassi- 
ker miisse verbreitet werden. (Nebenbei gesagt ist es vor allem 
darum, daf? der Meyerholdschen Einstudierung des »Revisor« und 
ihrem MiEerfolg so grofte Bedeutung beigemessen worden ist.) 
Und wie sehr diese Parole not tut laflt sich ermessen, wenn man 
hort, daft vor kurze(m), in einer Debatte Lebidinski zu Reich iiber 
Shakespeare geaufiert hat: der habe vor der Erfindung der Buch- 
druckerkunst gelebt. Andererseits: diese burgerlichen Kulturwerte 
selbst sind mit dem Verfalle der burgerlichen Gesellschaft in ein 
auflerst kritisches Stadium getreten. Sie konnen, so wie sie heute 
vorliegen, in den Handen der Bourgeoisie sich wahrend der letzten 
hundert Jahre gestaltet haben, nicht expropri(i)ert werden, ohne 
zugleich ihren letzten, wenn auch noch so fragwiirdigen, ja schlech- 
ten Belang einzubuflen. Diese Werte haben gewissermaften, wie 
kostbares Glas einen weiten Transport durchzumachen, den sie 
unverpackt nie libers tehen werden. Verpacken heifk aber unsicht- 
bar machen und ist mithin der Gegensatz zur Popularisierung dieser 



Moskauer Tagebuch 339 

Werte, die offiziell von der Partei gefordert wird. Jetzt zeigt sich in 
Sowjet-Rufiland, dafi diese Werte genau in eben der entstellten, 
trostlosen Gestaltung popularisiert werden, die sie zuletzt dem 
Imperialismus zu danken hat. Ein Mann wie (Oskar) Walzel ist 
zum Mitglied der Akademie ernannt worden und in »Wetschernie 
Moskwa« schreibt Kogan, deren Vorsitzender, einen Artikel iiber 
westliche Literatur, der vollig kenntnislos Beliebiges zusammen- 
koppelt (Proust und Bronnen!) und an Hand einiger Namen »In- 
formationen« iiber das Ausland zu geben sucht. Wahrscheinlich 
sind aber die einzigen Kulturverhaltnisse des Westens, fur welche 
Rutland ein so lebendiges Verstandnis mitbringen {kann), dafi die 
Auseinandersetzung mit ihnen verlohnt, die Amerikas. Die kul- 
turelle Volkerverstandigung als solche, d.h. ohne die Grundlage 
konkreter wirtschaftlicher Beziehungen ist ein Interesse der pazifi- 
stischen Spielart des Imperialismus und fur Rutland Restaurations- 
erscheinung. Ubrigens wird durch Rufilands Abschniirung vom 
Ausland die Schwierigkeit der Information sehr erhoht. Genauer 
gesagt: die Fuhlung mit dem Ausland geht im Wesentlichen durch 
die Partei und betrifft hauptsachlich politische Fragen. Die Groft- 
bourgeoisie ist vernichtet; das neu entstehende Kleinbiirgertum ist 
materiell und geistig nicht in der Lage, Beziehungen zum Auslande 
zu vermitteln. Zur Zeit kostet das Visum fur eine Reise ins Ausland, 
die nicht im staatlichen oder Partei-Auftrage unternommen wird, 
200 Rubel. Unzweifelhaft weif? man in Rutland iiber das Ausland 
weit weniger als man im Ausland (etwa mit Ausnahme der romani- 
schen Lander) von Rutland weifi. Man ist hier aber vor allem damit 
beschaftigt, in dem ungeheueren Territorium selbst den Kontakt 
der einzelnen Nationalitaten mit einander, vor allem aber den Kon- 
takt der Arbeiter und Bauern unter sich herzustellen. Man kann 
sagen, mit dem wenigen, was man von fremder Kultur in Rutland 
weift, ist es wie mit dem Tscherwoneff : in Rutland selbst ist er sehr 
teures Geld und im Ausland notiert man ihn nicht. Es ist hochst 
bezeichnend, daft ein sehr maftiger russischer Filmschauspieler, 
Ilinski, ein skrupelloser, wenig grazioser Nachahmer Chaplins hier 
den Ruf eines groften Komikers ganz einfach darum hat, weil Chap- 
lins Filme so teuer sind, dafi man (sie) hier nicht zu sehen kriegt. 
Die russische Regierung namlich legt im allgemeinen fur fremde 
Filme nur wenig an. Sie rechnet mit dem Interesse der konkurrie- 
renden Industrien, den russischen Markt fiir sich zu erobern und 



340 Autobiographische Schriften 

kauft im Ramsch ein, lafit sich Filme gewissermafien als Reklame- 
muster, Werbeproben halb geschenkt geben. Der russische Film 
selbst aber ist, wenn man von den Spitzenleistungen absieht, im 
Durchschnitt nicht allzu gut. Er kampft um die Stoffe. Die Film- 
zensur namlich ist streng; ganz im Gegensatz zur Theaterzensur, 
beschneidet sie, wahrscheinlich mit Riicksicht aufs Ausland, ihm 
den Stoffkreis. Ernsthafte Kritik an Sowjetmannern ist hier, anders 
als im Theater, unmoglich. Unmoglich aber ist auch Darstellung 
des bourgeoisen Lebens. Fur die amerikanische Groteskkomodie 
ist hier ebensowenig Raum. Sie beruht auf einem hemmungslosen 
Spiele mit der Technik. Alles Technische aber hat hier Weihe, nichts 
wird ernster genommen als Technik. Vor allem aber weifi der russi- 
sche Film nichts von Erotik. Die Bagatellisierung des Liebes- und 
Sexuallebens gehort bekanntlich zum kommunistischen Kredo. 
Tragische Liebesverwicklungen im Film oder Theater dargestellt 
wiirde als gegenrevolutionare Propaganda angesehen. Bleibt die 
Moglichkeit einer satirischen Gesellschaftskomodie, deren Ziel- 
scheibe im wesentlichen das neue Biirgertum ware. Ob auf dieser 
Basis der Film, eine der vorgeschobensten Maschinerien imperiali- 
stischer Massenbeherrschung expropriiert werden kann, das ist sehr 
die Frage. - Vormittags gearbeitet, darauf mit Reich in den Gos- 
film. Panskij war aber abwesend. Wir fuhren alle zum Polytechni- 
schen Museum. Der Eingang zu der Ausstellung von Bildern Gei- 
steskranker war in einer Seitenstrafie. Die Ausstellung selbst bot 
mafiiges Interesse; das Material war kiinstlerisch fast ohne Aus- 
nahme uninteressant, aber gut angeordnet und wissenschaftlich 
sicherlich verwendbar. Eine kleine Fiihrung fand wahrend unserer 
Anwesenheit statt: man erfuhr aber nur, was schon auf kleinen Zet- 
teln neben den ausgestellten Sachen vermerkt war. Reich fuhr von 
dort aus ins Dom Gerzena, ich kam nach, um vorher im Institut mir 
fiir den Abend Karten zu Tairoff geben zu lassen. Der Nachmittag 
bei Asja wieder eintonig. Reich verschaffte sich im Sanatorium (von 
dem Ukrainer) leihweise einen Pelz fiir den nachsten Tag. Ins Thea- 
ter kamen wir noch rechtzeitig. Man gab »Lieben unter Ulmen« 
von O'Neill. Die Auf fiihrung war sehr schlecht, besonders enttau- 
schend, vollig uninteressant die Koonen. Interessant (wie Reich 
aber richtig nachwies, untunlich) war die Zerstiicklung in einzelne 
Szenen (Kinofizierung) durch Fallen des Vorhangs und Beleuch- 
tungswechsel. Das Tempo war viel schneller als sonst hier iiblich 



Moskauer Tagebuch 341 

und wurde durch die Dynamik der Dekoration noch gesteigert. Sie 
gab drei Raume zugleich im Querschnitt: zu ebner Erde eine grofie 
Stube mit Blick ins Freie und Ausgang. An gewissen Stellen sah man 
ihre Wande in einem Winkel von 180 sich aufheben und dann 
schien von alien Seiten das Freie herein. Zwei andere Raume waren 
im ersten Stock und in einem mit Latten gegens Publikum abge- 
schlossenen Verschlage fiihrte die Treppe hinauf. Das Auf- und 
Absteigen der Figuren quer durch dies Gatter zu verfolgen war 
spannend. Der Asbestvorhang zeigt in sechs Rubriken den Spiel- 
plan der nachsten Tage. (Montag ist hier spielfrei). Ich schlief auf 
Reichs Bitte nachts auf dem Sofa und versprach ihn am nachsten 
Morgen zu wecken. 

31 Dezember. An diesem Tage fuhr Reich zu Daga. Gegen zehn 
Uhr kam Asja (ich war noch nicht fertig) und wir gingen zu ihrer 
Schneiderin. Dieser ganze Ausflug war stumpf und farblos. Mit 
Vorwiirfen begann er: daft ich Reich mit mir herumschleppe und 
ermiide. Spater gestand sie mir, die ganze(n) Tage habe sie gegen 
mich eine Wut, der Seidenbluse wegen, die ich ihr mitgebracht 
habe. Sie sei beim ersten Male, da sie sie iibergezogen, gerissen. 
Dummerweise sagte ich noch, dafi ich bei Wertheim sie gekauft 
habe. (Eine halbe Luge - was immer dumm ist.) Im ubrigen aber 
konnte ich umso weniger etwas sagen, als schon die zermiirbende 
und standige Erwartung einer Nachricht aus Berlin auf mich zu wir- 
ken begann. Am Ende setzten wir fur wenige Minuten uns in ein 
Cafe. Aber es war so gut, als flatten wir es nicht getan. Asja dachte 
nur an das eine: punktlich ins Sanatorium zuruckzukehren. Woran 
es liegt, da£ in den letzten Tagen alles Lebendige aus unserm 
Zusammensein und unsern Blicken aufeinander gewichen ist, weifi 
ich nicht. Die Unruhe, in der ich bin, macht es mir aber unmoglich 
das zu vertuschen. Und Asja verlangt eine so ungeteilte, beschwo- 
rende Aufmerksamkeit, wie ich sie, ohne jedwede Ermutigung und 
Freundlichkeit von ihr nicht aufbringen kann. Ihr selber geht es 
Dagas wegen schlecht, von der Reich Nachricht brachte, die 
zumindest sie nicht zufriedenstellte. Ich denke daran, meine Nach- 
mittagsbesuche seltner zu machen. Denn auch das Zimmerchen, in 
dem jetzt nur seiten noch drei, meist vier, und wenn Asjas Zimmer- 
genossin Besuch hat, noch mehr Menschen sind, bedriickt mich: ich 
hore viel russisch, verstehe nichts, schlafe ein oder lese. Am Nach- 
mittag brachte ich Asja Kuchen mit. Sie schalt nur darauf, ihre 



342 Autobiographische Schriften 

Laune war die schlechteste. Reich war schon eine halbe Stunde vor 
mir zu ihr gegangen (ich hatte einen Brief an (Franz) Hessel fertig 
schreiben wollen) und was er von Daga berichtete, erregte sie sehr. 
Die ganze Zeit uber blieb es sehr trist. Ich entfernte mich friih, um 
ins Theater Meyerhold zu gehen und Karten fiir sie und mich fur 
»Dajosch Ewropa« zu holen, das am Abend gegeben wurde. Vor- 
her noch einen Augenblick ins Hotel, um die Nachricht zu geben, 
man beginne um 3 / 4 8. Ich sah bei der Gelegenheit nach Post: es war 
nichts da. Mittags hatte mich Reich mit Meyerhold verbunden, der 
mir Karten bewilligt hatte. Mit grofier Miihe schlug ich mich nun, 
um sie abzuholen, zum zweiten Direktor durch. Uberraschender 
Weise kam Asja zur Zeit. Sie hatte ihr gelbes Tuch wieder mit. Ihr 
Gesicht hat in diesen Tagen eine unheimliche Glatte. Als wir vor 
Anfang der Vorstellung vor einem Anschlagzettel standen, sagte 
ich: »Eigentlich ist Reich ein fabelhafter Kerl.« »?« »Wenn ichheute 
Abend allein irgendwo sitzen mufite, ich wurde vor Trubsal mich 
aufhangen.« Aber auch diese Worte belebten unser Gesprach nicht. 
Die Revue war sehr interessant und einmal fuhlten wir - ich weifi 
nicht mehr an welcher Stelle das war - uns wieder einander naher. 
Doch - es war die Szene »Cafe Riche« mit der Musik und den Apa- 
chentanzen. »Funfzehn Jahre«, so sagte ich Asja, »geht nun diese 
Apachenromantik durch ganz Europa, und wohin sie kommt, fal- 
len die Leute ihr zu.« In den Pausen sprachen wir Meyerhold. Er 
liefi uns in der zweiten von einer Dame ins »Museum« fuhren, wo 
die Modelle seiner Dekorationen aufbewahrt werden. Dort sah ich 
die vorziigliche Einrichtung fiir den »Cocu magnifique«, die 
beruhmte Deko ration von »Bubus« mit ihrer Bambuseinfassung 
(die Rohre begleiten Auftreten und Abgang der Schauspieler sowie 
alle wichtigen Stellen des Stiicks mit lauterem oder leiserem 
Anschlagen), dem Schiffsvorderteil von »Rischi Kitai* mit Wasser 
im Vordergrunde der Buhne und anderes. Ich trug mich in ein Buch 
ein. Im letzten Akt storte Asja das Schiefien. Auf der Treppe, als 
wir, wahrend der ersten Pause Meyerhold suchten (erst ganz am 
Ende der Pause fanden wir ihn) ging ich auf einen Augenblick 
voran. Da fuhlte ich an meinem Halse Asjas Hand. Mein Rockkra- 
gen hatte sich umgelegt und sie klappte ihn wieder zurecht. Mir 
wurde bei dieser Beriihrung inne, wie lange schon mich keine Hand 
freundlich beriihrt hat. Um halb zwolf waren wir wieder auf der 
Strafie. Asja schalt, dafi ich nichts besorgt hatte, sonst, sagte sie, 



Moskauer Tagebuch 343 

ware sie noch, um Sylvester zu feiern, zu mir gekommen. Verge- 
bens forderte ich sie auf, noch in ein Cafe einzutreten. Auch, dafi 
Reich vielleicht Essen besorgt habe, liefi sie nicht gelten. Traurig 
und schweigsam begleitete ich sie nach Haus. Der Schnee hatte an 
diesem Abend Sternglanz. (Ich habe auch, ein andermal, auf ihrem 
Mantel, Schneekristalle gesehen, wie sie wahrscheinlich in 
Deutschland nie vorkommen.) Fast aus Trotz und mehr um sie zu 
erforschen als aus einem wahren Gefuhle heraus, bat ich, vorm 
Hause angekommen, sie noch um einen Kufi, im alten Jahr. Aber 
sie gab ihn nicht. Ich kehrte um, nun, um die Jahreswende doch 
einsam, aber nicht traurig. Denn ich wufite auch Asja allein. 
Schwach Iautete eine Glocke gerade als ich vor meinem Hotel stand. 
Ich blieb eine Weile und horte sie an. Reich offnete enttauscht, Er 
hatte viel eingekauft: Portwein, Halwa, Lachs, Wurst. Nun ver- 
stimmte es mich von neuem, dafi Asja nicht zu mir gekommen war. 
Aber bald brachte ein lebendiges Gesprach uns iiber die Stunde hin- 
weg. Und wahrend ich auf dem Bette lag, verzehrte ich viel und 
trank ein paar gute Schluck Portwein, so dafi ich zuletzt die Unter- 
haltung nur mehr muhsam, mechanisch durchfiihrte. 
ijannar. Auf den Strafien verkauft man Neujahrsstraufie. Im Vor- 
ubergehen sah ich auf dem Strastnoiplatz einen, der lange Gerten in 
der Hand hielt, die mit griinen, weifien, blauen, roten Papierbliiten 
bis an die Spitze beklebt waren, je an einem Zweig eine Farbe. Ich 
mochte uber »Blumen« in Moskau schreiben und dabei nicht nur 
von den heroischen Weihnachtsrosen, sondern auch de(n) riesen- 
haften Stockrosen der Lampenschirme sprechen, die stolz erhoben 
von den Handlern durch die Stadt getragen werden. Dann von den 
sufien Zuckerbeeten auf Torten. Es gibt aber auch Torten als Fiill- 
horner, aus denen Knallbonbons sich drangen oder Pralines in bun- 
tem Papier. Kuchenbrote in Form einer Lyra. Der »Zuckerbacker« 
aus den alten Jugendschriften scheint nur in Moskau noch zu iiber- 
leben. Nur hier gibt es Gebilde aus nichts als gesponnenem Zucker, 
sufie Zapfen an denen die Zunge fur die bittere Kalte Revanche 
nimmt. Auch von dem, was der Frost hier eingibt, ware zu reden, 
den baurischen Tikhern, auf denen die Muster, die mit blauer 
Wolle ausgenaht sind, Eisblumen von den Scheiben nachbilden. 
Das Inventar der Strafien ist unerschopflich. Ich bemerkte die 
blauen Brillen der Optiker, durch die der Abendhimmel plotzlich 
sich siidlich farbt. Dann die breiten Schlitten mit den drei Fachern, 



344 Autobiographische Schriften 

fur Cacaoeuts, Haselniissen und Semitschki (Sonnenblumenkor- 
ner, die nun, nach der Verordnung des Sowjets, an offentlichen 
Platzen nicht mehr gekaut werden durfen()). Dann sah ich einen 
Handler mit kleinen Schlitten fur Puppen. Endlich die Zinnbehalter 
- man darf auf der Strafie nichts fortwerfen. Ferner noch zu den 
Schildern: einzelne lateinische Aufschriften: Cafe, Tailleur. Das 
Schild jeder Bierstube: Piwnaja - gemalt auf einen Hintergrund, in 
dem ein stumpfes Griin am oberen Rande allmahlich und verwa- 
schen in schmutziges Gelb iibergeht. Sehr viele Ladenschilder tre- 
ten im rechten Winkel auf die Strafie heraus. - Am Neujahrsmorgen 
blieb ich lange zu Bett. Reich stand nicht spat auf. Wir sprachen 
wohl iiber zwei Stunden. Woriiber eigentlich ist mir entfallen. 
Gegen Mittag gingen wir aus. Da wir das Kellerrestaurant geschlos- 
sen fanden, in dem wir an Feiertagen gewohnlich essen, so gingen 
wir ins Hotel Liverpool. Es war an diesem Tage aufierordentlich 
kalt, ich hatte Schwierigkeit, vorwarts zu kommen. Bei Tische hatte 
ich eine gute Ecke, rechts neben mir das Fenster auf einen Hof vol- 
ler Schnee. Es ist mir jetzt gelungen, das Trinken bei Tisch nicht zu 
entbehren. Wir bestellten das kleine Menu. Es wurde nur leider zu 
rasch serviert, ich hatte gern in dem holzgetafelten Raum mit den 
wenigen Tischen noch langer gesessen. Es war keine Frau im Lokal. 
Mir war das sehr wohltuend. Ich bemerke, wie das grofie Ruhebe- 
durfnis, das jetzt mit der Losung meiner qualenden Abhangigkeit 
von Asja mich uberkommt, iiberall Quellen findet, an denen es sich 
befriedigt. Naturlich, bekanntermaflen, vor allem Essen und Trin- 
ken. Selbst die Vorstellung meiner langen Ruckreise hat etwas 
Wohltatiges fiir mich bekommen (so lange nicht, wie in den letzten 
Tagen, die Unruhe um die Dinge zu Hause hineinspielte), die Vor- 
stellung, in einem Kriminalroman zu lesen (ich tue das ja kaum 
mehr, aber ich spiele mit dem Gedanken) und das tagliche Domino- 
spiel im Sanatorium, in dem sich manchmal meine Spannung gegen 
Asja austragt. An diesem Tage aber spielten wir, soviel ich weifi, 
nicht. Ich bat Reich, fiir mich Mandarinen zu kaufen, die ich dann 
Asja schenken wollte. Das tat ich nicht so sehr, weil sie am Vor- 
abend mich drum gebeten hatte, sie ihr am nachsten Tage zu brin- 
gen - da hatte ich ihr das sogar abgeschlagen - als um auf unserem 
Eilmarsch durch die Kalte Gelegenheit zum Ausruhen zu bekom- 
men. Aber Asja nahm die Tiite (auf die (ich), ohne es ihr zu sagen, 
»Frohliches Neujahr* geschrieben hatte) sehr miirrisch hin (und die 



Moskauer Tagebuch 345 

Aufschrift bemerkte sie nicht). Abends zu Hause, geschrieben und 
gesprochen. Reich begann im Barockbuch zu lesen. 
2]anuar. Ich friihstiickte sehr ausgiebig. Denn da wir auf Mittages- 
sen nicht rechnen konnten, hatte Reich einige Einkaufe gemacht. 
Auf ein Uhr war die Pressevorstellung von Illeschs Stuck »Atten- 
tat« im Theater der Revolution angesetzt. Aus eine(r) schiefen 
Riicksicht auf das Sensationsbediirfnis des Publikums hatte man 
ihm den Obertitel: »Kaufen Sie einen Revolver « gegeben und so die 
Schlufipointe, in der ein weiflgardistischer Attentater im Augen- 
blick da sein Anschlag von den Kommunisten entdeckt wird, 
wenigstens den Revolver an sie loszuschlagen sucht, von vornher- 
ein vernutzt. Das Stiick hat eine wirksame Szene im Sinne des 
Grand-Guignol und im iibrigen grofie politisch-theoretische 
Ambitionen. Denn es soil in ihm die ausweglose Lage des Kleinbiir- 
gertums geschildert werden. Die prinzipienlose, unsichere und mit 
hundert kleinen Effekten ins Publikum schielende Auffuhrung, 
brachte das nicht heraus. Sie gab sogar die grofien Trumpfe preis, 
die ihr das packende Milieu eines Konzentrationslagers, eines 
Cafes, einer Kaserne im verfallenden, schmutzigen, trostlosen 
Osterreich des Jahres 19 19 sicherte. Die Einrichtung des Buhnen- 
raumes war so haltlos, wie ich sie kaum je gesehen habe: Auftritte 
und Abgange mufken ganz unwirksam bleiben. Man konnte sehr 
deutlich beobachten, was aus Meyerholds Buhne wird, wenn ein 
ahnungsloser Regisseur es versucht, sie zu ubernehmen. Das Haus 
war ganz vergeben. Es gab sogar bei dieser Gelegenheit etwas wie 
Toiletten zu sehen. Illesch wurde herausgerufen. Es war sehr kalt. 
Ich hatte Reichs Mantel an, da er im Theater aus Prestigegriinden 
anstandig auftreten wollte. In der Pause machten wir die Bekannt- 
schaft von Gorodetzki und seiner Tochter. Am Nachmittag, bei 
Asja, geriet ich in eine endlose politische Diskussion hinein, an der 
auch Reich sich etwas beteiligte. Der Ukrainer und Asjas Zimmer- 
genossin machten die eine, sie selber und Reich die andere Partei. Es 
ging wieder um die Opposition in der Partei. Aber in dem Streit war 
keine Verstandigung, geschweige denn Einigung zu erreichen; fur 
den Verlust an ideologischem Prestige, den nach Asjas und Reichs 
Ansicht der Austritt der Opposition aus der Partei bedeuten mufke, 
hatte(n) die anderen kein Verstandnis. Worum aber dieser ganze 
Streit ging, erfuhr ich erst, als ich unten mi(t) Reich eine Zigarette 
rauchte. Das russische Gesprach unter fiinf Menschen (denn auch 



346 Autobiographische Schriften 

eine Freundin von Asjas Zimmergenossin war da) das mich bei seite 
sitzen liefi, hatte mich wieder einmal deprimiert und ermiidet. Ich 
war entschlossen, wenn es dauern sollte, fortzugehen. Aber als wir 
wieder heraufkamen, entschlofi man sich, Domino zu spielen. 
Reich und ich bildeten Partei gegen Asja und den Ukrainer. Es war 
Sonntag nach Neujahr, die »gute« Schwester hatte die Aufsicht und 
daher blieben wir denn iiber das Abendessen hinaus dort und spiel- 
ten mehrere erbitterte Partien. Ich f unite mich dabei sehr wohl, der 
Ukrainer hatte gesagt, ich gefalle ihm gut. Als wir endlich gingen, 
tranken wir noch etwas Warmes in einer Konditorei. Zu Hause 
folgte ein langes Gesprach iiber meine Position als freier Schriftstel- 
ler, aufierhalb von Partei und Beruf. Was Reich zu mir sagte, war 
richtig, ich hatte jedem anderen, der mir gegeniiber das vorgebracht 
hatte, was ich sagte, dasselbe erwidert. Und ich erklarte ihm das 
auch of fen. 

j Januar. Wir gingen von Hause friih fort in die Fabrik, in der 
Reichs Zimmerwirtin arbeitet. Es gab da sehr viel zu sehen, wir 
hielten uns gegen zwei Stunden auf. Mit der Lenin-Ecke beginne 
ich. Ein weifigetunchter Raum ist an der Hinterwand rot ausge- 
schlagen, von der Decke hangt rote Borte mit vergoldeten Fransen 
herab. Links gegen diesen roten Hintergrund ist die Gipsbuste 
Lenins gestellt - sie ist so weifi wie die getiinchten Wande. Aus dem 
Nebensaal, in dem die Lamettafabrikation untergebracht ist, ragt 
eine Transmission ins Zimmer hinein. Das Rad lauft um und durch 
ein Loch in der Wand gleiten die ledernen Riemen. An den Wanden 
hangen Werbeplakate und die Portraits beriihmter Revolutionare 
oder Bilder, die stenographisch die Geschichte des russischen Pro- 
letariats zusammenfassen. Die Zeit von 1905- 1907 ist im Stile einer 
riesenhaften Ansichtspostkarte behandelt. Sie zeigt, einander iiber- 
schneidend, Barrikadenkampfe, Gefangniszellen, den Aufstand der 
Eisenbahner, den »schwarzen Sonntag* vor dem Winterpalais. 
Viele Anschlage richten sich gegen die Trunksucht. Auch die 
Wandzeitung behandelt das Thema. Programmafiig erschiene sie 
jeden Monat, in Wirklichkeit aber seltener. Sie hat im ganzen den 
Stil kindlicher bunter Witzblatter: Bilder, Prosa oder Reime dazwi- 
schen in abwechslungsreicher Verteilung. Vor allem aber gilt die 
Zeitung einer Chronik des Kollektivs, das in dieser Fabrik versam- 
melt ist. Daher verzeichnet sie einzelne anstoftige Vorgange sati- 
risch, aber auch mit statistischen Illustrationen die Bildungsarbeit, 



Moskauer Tagebuch 347 

die im letzten Zeitabschnitt geleistet worden ist. Andere Plakate an 
der Wand gelten der hygienischen Aufklarung: Gazetiicher gegen 
die Fliegen werden empfohlen, die Vorteile des Milchkonsums wer- 
den dargestelk. Es arbeiten hier (in drei Schichten) insgesamt 150 
Personen. Haupterzeugnisse sind: Gummibander, gespultes Garn, 
Bindfaden, Silberlitzen und Chnstbaumschmuck. Es ist die einzige 
Fabrik dieser Art in Moskau. Aber ihr Aufbau ist wohl weniger 
Resultat einer »vertikalen« Organisation als Zeugnis des Tiefstands 
in der industriellen Differenzierung. Man kann hier, wenige Meter 
voneinander in ein- und demselben Raume, den gleichen Arbeits- 
vorgang maschinell und im Handbetriebe verfolgen. Rechts rollt 
eine Maschine lange Faden Garn auf kleine Spulen ab, links kurbelt 
die Hand einer Arbeiterin ein grofies Holzrad: beides der gleiche 
Prozefi. Der grofite Teil der Angestellten sind Bauerinnen, und 
unter ihnen nicht viele Parteimitglieder. Sie sind nicht uniform 
gekleidet, haben nicht einmal Arbeitsschurzen, sondern sitzen an 
ihrem Platz, als hatten sie mit hauslichen Verrichtungen zu tun. 
Hausmutterlich, geruhig beugen sie den ins wollene Tuch gewickel- 
ten Kopf liber die Arbeit. Aber sie sind umgeben von Plakaten, die 
alle Schrecken des Maschinenbetriebs beschworen. Da ist ein 
Arbeiter dargestelk wie sein Arm zwischen die Speichen eines 
Triebrads gerat, ein anderer, der mit dem Knie zwischen zwei Kol- 
ben geraten ist, ein dritter, der in der Trunkenheit Kurzschluft 
durch falsche Bedienung seiner Schaltung verursacht. Die Herstel- 
lung des feineren Christbaumschmucks ist ganz auf Handarbeit 
angewiesen. In einem hellen Atelierraum sitzen drei Frauen. Die 
eine schneidet die versilberten Faden zu kurzen Sriickchen zurecht, 
ergreift ein Biindel davon und wickelt es mit einem Draht, der lang- 
sam sich von einer Rolle abspult, zusammen. Wie einen Spalt 
durchlauft dieser Draht ihre Zahne. Dann zupft sie glanzende Biin- 
del zur Sternform zurecht und so kommt es an eine Kolleg(in) , die 
einen papiernen Schmetterling, Vogel oder Weihnachtsmann dar- 
auf klebt. In einer anderen Ecke dieses Saals sitzt eine Frau, die 
Kreuze aus Lametta, eines in der Minute, auf ahnliche Weise her- 
stellt. Als ich mich, um ihr zu (zu) sehen, uber das Rad beuge, das sie 
dreht, kann sie vor Lachen nicht an sich halten. Anderswo stellt man 
silberne Litzen her. Diese Fabrikations-Arbeit fiir das exotische 
Rutland, es sind Litzen fiir persische Turbans. (Unten Lamettafa- 
brikation : der Mann, der mit dem Schleif stein den Faden bearbeitet. 



348 Autobiographische Schriften 

Die Drahtstiicke werden auf den zweihundertsten oder dreihun- 
dertsten Teil ihrer Starke gebracht und danach versilbert oder mit 
andern metallischen Farben iiberzogen. Gleich darauf kommen sie 
ins Dachgeschofi des Hauses, wo sie bei starker Hitze getrocknet 
werden.) - Spater kam ich an der Arbeitsborse vorbei. Um Mittag 
postieren sich Garkiichen vor ihrem Eingang, hier werden heifie 
Kuchen und gebratene Wurst in Scheiben verkauft. Von der Fabrik 
aus fuhren wir zu Gnedin. Er wirkt langst nicht mehr so jugendlich 
wie vor zwei Jahren auf dem Abend in der russischen Botschaft, als 
ich seine Bekanntschaft machte. Aber klug und sympathisch noch 
immer. Ich antwortete sehr vorsichtig auf seine Fragen. Nicht nur 
weil hier die Leute im allgemeinen empfindlich sind und Gnedin 
besonders an den kommunistischen Ideen hangt, sondern weil eine 
vorsichtige Aufierungsweise geeignet ist, einen hier als ernstzuneh- 
menden Gesprachspartner zu beglaubigen. Gnedin ist Referent im 
Aufienministerium fur Zentraleuropa. Seine nicht unbedeutende 
Karriere (er hat schon eine grofiere Chance ausgeschlagen) soil 
damit zusammenhangen, dafi er ein Sohn von P. ist. Vor allem bil- 
ligte er sehr, dafi ich betonte, wie unmoglich der Vergleich von rus- 
sischen Lebensverhaltnissen mit denen Westeuropas im Einzelnen 
sei. Auf der Petrowka kam ich um eine Aufenthaltsverlangerung 
von sechs Wochen ein. Nachmittags wollte Reich allein zu Asja. Ich 
blieb also zu Hause, afi etwas und schrieb. Gegen sieben kam Reich. 
Wir gingen zusammen ins Theater Meyerhold und trafen dort Asja. 
Der Abend stand fiir sie und Reich im Zeichen der Diskussionsrede, 
die Reich auf ihren Wunsch halten sollte. Es kam aber nicht dazu. 
Immerhin mufite er iiber zwei Stunden im Kreis der iibrigen, die 
sich zur Diskussion gemeldet hatten, auf dem Podium aushalten. 
An einer langen griinen Tafel safien Lunatscharski, Pelsche, der 
Leiter der kiinstlerischen Abteilung im Glaw-Polit-Proswet, Dis- 
kussionsleiter, Majakowski, Andre Bjely, Levidoff und viele 
andere. In der ersten Parkettreihe Meyerhold selber. Asja ging in 
der Pause und ich begleitete sie noch ein Stuck, da ich allein den 
Reden ja doch nicht folgen konnte. Als ich zuriickkam, sprach mit 
demagogischer Heftigkeit ein Redner der Opposition. Aber trotz- 
dem im Saale Meyerholds Gegner die Mehrheit hatten, konnte er 
das Publikum doch nicht gewinnen. Und als endlich Meyerhold 
selber auftrat, begriifite ihn ein sturmischer Beifall. Zu seinem 
Ungliick aber verliefi er sich dann ganz auf sein rednerisches Tern- 



Moskauer Tagebuch 349 

perament. Dabei kam eine Rankiine zum Vorschein, die alle 
abstiefi. Als er dann endlich einen der Kritiker verdachtigte, nur 
darum ihn angegriffen zu haben, weil er als ehemaliger Angestellter 
Meyerholds mit seinem Chef Differenzen gehabt habe, war jeder 
Kontakt mit der Masse verloren. Die Flucht auf sein Dossier und 
eine Anzahl sachlicher Rechtfertigungen angefochtener Momente 
aus der Vorstellung halfen ihm nicht mehr. Schon wahrend seiner 
Rede gingen viele und auch Reich sah die Unmoglichkeit, jetzt noch 
einzugreifen, ein und kam noch ehe Meyerhold geendet hatte, zu 
mir. Als er endlich schlofl, gab es ganz diirftigen Beifall. Wir warte- 
ten den weiteren Verlauf, der nicht viel und nichts Neues mehr 
bringen konnte, nicht ab sondern gingen. 

4 Januar. Mein Besuch bei Kogan fallig. Aber am Morgen telefo- 
nierte Niemen mich an und teilte mir mit, um halb zwei solle ich 
mich im Institute einfinden, es sei Kremlbesichtigung. Vormittags 
blieb ich zu Hause. Im Institut versammelten sich funf oder sechs 
Personen, aufier mir scheinbar samtlich Englander. Es ging dann 
unter Fiihrung eines wenig sympathischen Herrn zu Fufl in den 
Kreml. Man ging rasch, es machte mir die grofite Miihe zu folgen; 
schliefilich mufite am Kremleingang die Gesellschaft auf mich war- 
ten. Das erste was innerhalb der Mauer frappiert, ist das ubermafiig 
gepflegte Auftere der Regierungsgebaude. Ich kann es einzig mit 
(dem) Eindruck vergleichen, den man von alien Bauten in der klei- 
nen Musterstadt Monaco erhalt, eine privilegierte Siedlung in der 
nachsten Nahe der Regierenden. Sogar der helle weifte oder creme- 
gelbe Anstrich der Fronten ist ahnlich. Wahrend dort aber im schar- 
fen Spiele von Licht und Schatten alles Partei nimmt, herrscht hier 
die ausgeglichene Helle des Schneefelds, aus der die Farben gelafi- 
ner heraustreten. Als es dann spater allmahlich dunkler wurde, 
schien dies Feld sich weiter und weiter zu dehnen. Nahe den strah- 
lenden Fenster(n) der Amtsgebaude hoben sich Tiirme und Kup- 
peln gegen den Nachthimmel: uberwundene Denkmaler, die 
Posten stehen vor den Toren der Sieger. Lichtbundel aus den iiber- 
mafiig hellen Autolampen jagen auch hier durch Dunkel. In ihrem 
Schein scheuen die Pferde der Kavalleristen, die hier im Kreml ein 
grofies Ubungsfeld haben. Fufiganger schlagen sich muhsam zwi- 
schen Autos und ungeberdigen Gaulen durch. Lange Folgen von 
Schlitten, auf denen man Schnee abtransportiert, einzelne Reiter. 
Stumme Rabenschwarme haben im Schnee sich niedergelassen. 



350 Autobiographische Schriften 

Vorm Kremltore stehen in blenden(dem) Licht die Posten in den 
frechen ockergelben Pelzen. Uber ihnen funkelt das rote Licht, das 
den Verkehr in der Durchfahrt regelt. Alle Farben Moskaus schie- 
fien hier, im Zentrum der russischen Macht, prismatisch zusam- 
men. Der Klub der Rotarmisten sieht auf dies Feld hinaus. Wir gin- 
gen hinein bevor wir den Kreml verliefien. Die Raume sind hell und 
sauber, sie scheinen etwas einfacher und strenger als die anderer 
Klubs gehalten. Im Lesesaal stehen viele Schachtische. Durch 
Lenin, welcher selber spielte, ist in Rutland das Schach sanktio- 
niert. An der Wand hangt ein holzneres Relief: die Karte Europas in 
vereinfacht schematisiertem Umrifi. Dreht man an einer Rurbel, die 
daneben angebracht ist, so erleuchten sich, einer nach dem anderen 
in Rufiland und im iibrigen Europa in chronologischer Folge die 
Punkte, an denen Lenin gelebt hat. Aber der Apparat funktionierte 
schlecht, es leuchteten immer viele Orte zugleich auf. Der Klub hat 
eine Leihbibliothek. Mir machte ein Anschlag Freude, der in Text 
und hiibschen bunten Zeichnungen verdeutlichte, auf wieviel Arten 
nicht ein Buch sich verderben lafit. Im iibrigen war die Fuhrung 
schlecht organisiert. Es war gegen halb drei, als man endlich im 
Kreml ankam und als dann nach der Besichtigung der Oruschejnaja 
Palata endlich die Kirchen betreten wurden, war es so dunkel, dafi 
man innen nichts mehr erkennen konnte. Allerdings bleiben sie 
durch die winzigen hoch angebrachten Fenster in jedem Fall auf die 
Beleuchtung im Inneren angewiesen. Zwei Kathedralen wurden 
betreten: die Archangels- und die Uspenski-Kathedrale. Diese 
letzte ist Kronungskirche der Zaren gewesen. In ihren zahlreichen 
aber sehr kleinen Raumen, mufite die Macht in der hochsten Ent- 
haltung sich reprasentieren. Die Spannung, die dadurch in diese 
Zeremonien gekommen sein mufi, ist heute schwerlich mehr vor- 
stellbar. Hier in den Kirchen trat der lastige Manager der Besichti- 
gung zuriick und sympathische alte Kustoden leuchteten langsam, 
mit Kerzen, die Wande ab. Zu erkennen war trotzdem wenig. Auch 
kann das Vielerlei der aufterlich wahrscheinlich gleichformigen Bil- 
der dem Ungeschulten nichts sagen. Immerhin war es noch hell 
genug, die herrlichen Kirchen von aufien zu sehen. Besonders erin- 
nere ich eine Galerie am groften Kreml-Palais, die dicht mit kleinen 
farbig glanzenden Kuppeln bestanden war; ich glaube, daft sie die 
Gemacher der Prinzessinnen enthielt. Der Kreml ist einmal ein 
Wald gewesen - die Kirche des Erlosers im Walde heifk die alteste 



Moskauer Tagebuch 3 5 1 

seiner Kapellen. Er ist dann spater ein Wald von Kirchen geworden 
und wie die letzten Zaren auch gerodet haben, um Platz fur neue 
belanglose Bauten zu schaffen - es ist noch immer genug geblieben, 
um ein Labyrinth von Kirchen zu schaffen. Auch hier haben viele 
Heiligenbilder aufien an der Fassade Posten bezogen und blicken 
von den obersten Gesimsen unter dem blechernen Wetterdach wie 
gefluchtete Vogel hinunter. Aus ihren geneigten Retorten-Kopfen 
spricht Triibsal. Leider wurde die meiste Zeit an diesem Nachmit- 
tag den grofien Sammlungen des Oruschejnaja-Palata zugewandt. 
Ihre Pracht ist verwirrend, aber sie zerstreuen nur, wo man alle 
Kraft auf die grofiartige Topographie und die Architektur des 
Kreml selbst richten mochte. Leicht ubersieht man eine Grundbe- 
dingung seiner Schonheit: keiner der weiten Platze tragt ein Denk- 
mal. Dagegen gibt es in Europa beinahe keinen Platz, dem nicht im 
Lauf des i9 ten Jahrhunderts die geheime Struktur durch ein Denk- 
mal profaniert und verletzt worden ware. Besonders fiel mir in den 
Sammlungen eine Kalesche auf, die ein Fiirst Rasumofski einer 
Tochter Peters des Grofien zum Geschenk gegeben hat. Ihre ausla- 
dende, wogende Ornamentik konnte auf festem Lande einen 
schwindeln machen, ehe man sich vorstellt, wie sie iiber Landstra- 
fie(n) schaukeln mag; erfahrt man aber, dafi sie aus Frankreich zur 
See kam, so ist das Miftbehagen vollkommen. All dieser Reichtum 
ist auf eine Art erworben, die keine Zukunft hat - nicht nur ihr Stil 
sondern ihre Erwerbsform selber ist tot. Sie miissen auf den letzten 
Besitzern gelastet haben, und es (ist) vorstellbar, dafi das Gefuhl, 
dariiber zu verfiigen, sie beinahe um den Verstand bringen konnte. 
Jetzt aber hangt am Eingang dieser Sammlungen ein Lenin-Bild, 
wie an einem Orte, wo friiher den Gottern geopfert wurde, von 
bekehrten Heiden ein Kreuz erstellt wurde. - Der Rest des Tages 
war ziemlich verfehlt. Zum Essen kam es nicht mehr, (es) war 
gegen vier als ich den Kreml verliefi. Dennoch war Asja als ich zuihr 
kam, von der Schneiderin noch nicht zuriick. Ich fand nur Reich 
und die ganz unvermeidliche Genossin vor. Reich aber konnte nicht 
langer warten und gleich danach erschien Asja. Leider kam spater 
die Rede auf das Barockbuch, sie brachte das ubliche vor. Dann las 
ich etwas aus der »Einbahnstrafie«. Am Abend waren wir bei Goro- 
dinski (?) eingeladen. Aber auch hier, wie damals bei Granowski 
kamen wir um das Abendessen. Denn ehe wir gingen, kam Asja, um 
Reich noch zu sprechen und als wir mit einer Stunde Verspatung an 



352 Autobiographische Schriften 

Ort und Stelle erschienen, trafen wir nur seine Tochter. Mit Reich 
war an diesem Abend nichts anzufangen. Wir irrten lange nach 
einem Restaurant umher, in dem ich noch ein wenig hatte essen 
konnen, gerieten dabei in ein aufierst primitives Sep are mit rohen 
Holzverschlagen und kamen endlich in einer unsympathischen 
Piwnaja bei der Lubjanka zu schlechtem Essen. Dann eine halbe 
Stunde bei Illesch - er selber war fort und seine Frau machte uns 
vorzuglichen Tee - und dann nach Hause. Ich hatte gerne noch in 
Reichs Begleitung den »sechsten Teil der Erde« im Kino gesehen, 
aber er war zu miide. 

j Januar. Moskau ist die stillste von alien Grofistadten und im 
Schnee ist sie es doppelt. Das Hauptinstrument im Orchester der 
Strafie, die Autohupe, ist hier schwach besetzt; es gibt wenig Autos. 
Ebenso gibt es, im Vergleich zu anderen Zentren, sehr wenig Zei- 
tungen, im Grunde nur ein Boulevardblatt, die einzige Abendzei- 
tung, die taglich gegen drei Uhr erscheint. Endlich aber sind hier 
auch die Ausrufe der Verkaufer sehr leise. Der Strafienhandel ist 
zum grofien Teile illegal und lenkt die Aufmerksamkeit nicht gerne 
auf sich. Auch wendet er an die Passanten sich weniger mit Ausru- 
fen als mit Reden, gesetzten, wenn nicht gefliisterten, in denen 
etwas vom bittenden Tone der Bettler liegt. Nur eine Kaste zieht 
hier laut durch die Strafien: das sind die Lumpenhandler mit dem 
Sack auf dem Rucken; ihr melancholischer Ruf durchzieht ein oder 
mehrmals wochentlich jede Moskauer Strafie. Mit diesen Strafien ist 
eins sonderbar: das russische Dorf spielt in ihnen Versteck. Tritt 
man durch irgend eine der grofien Torfahrten - oft sind sie durch 
schmiedeeiserne Gitter verschliefibar, aber ich habe nie eines ver- 
sperrt gefunden - dann steht man a(m) Beginn einer geraumigen 
Siedlung, die oft so breit und ausladend angelegt ist, als ob der 
Raum in dieser Stadt nichts kostet. So offnet sich ein Gutshof oder 
ein Dorf. Der Grund ist uneben, Kinder fahren in Schlitten, schau- 
feln den Schnee, Schuppen fur Holz, Gerat oder Kohlen fiillen die 
Winkel, Baume stehen herum, primitive Holzstiegen oder Anbau- 
ten geben der Seitenfront oder Ruckfront von Hausern, die nach 
der Strafie sich sehr stadtisch prasentieren, das Aufiere eines russi- 
schen Bauernhauses. So wachst die Strafie um die Dimension der 
Landschaft. - Moskau sieht freilich iiberall nicht recht wie die Stadt 
selbst aus sondern eher wie ihr Weichbild. Der aufgeweichte 
Grund, die Bretterbuden, lange Transporte von Rohmaterialien, 



Moskauer Tagebuch 353 

Vieh, das zum Schlachter getrieben wird, diirftige Schenken trifft 
man in den zentralsten Teilen der Stadt an. Das wurde mir sehr 
deutlich als ich an diesem Tage die Sucharewskaja entlang ging. Ich 
wollte den beriihmten Sucharewspark sehen. Der ist mit seinen 
mehr als hundert Buden wie der Nachfahre einer grofien Messe. 
Vom Viertel der Alteisenhandler geriet ich hinein. Es liegt als nach- 
stes an der Kirche (Nikolas jewsk-Kathedrale) deren blaue Kuppeln 
sich liber den Markt heben. Die Leute haben hier ihre Ware einfach 
im Schnee liegen. Man findet alte Schlosser, Meterstabe, Hand- 
werkszeug, Kiichengerat, elektrotechnisches Material u.a.m. An 
Ort und Stelle fiihrt man auch Reparaturen aus; ich sah iiber einer 
Stichflamme loten. Sitze gibt es hier nirgends, alles steht aufrecht, 
schwatzt oder handelt. Der Markt zieht sich bis zur Sucharewskaja 
hinunter. Beim Schreiten iiber die vielen Platze, Alleen aus Buden, 
wurde mir klar, wie diese Anordnung von Markt und Messe, die 
hier herrschte, auch grofte Teile der Moskauer Strafte bestimmte. Es 
gibt Uhrmachergegend und Konfektionsviertel, Zentren fur den 
elektrotechnischen Bedarf und den Maschinenhandel und dann 
wieder Straftenziige, in denen nicht ein Laden sich findet. Hier auf 
dem Markt laflt die architektonische Funktion der Waren sich 
erkennen: Tiicher und Stoffe bilden Pilaster und Saulen, Schuhe, 
Walinki, die an Schniiren gereiht iiberm Verkaufstische hangen 
werden zu Dachern der Bude, grofie Garmoschkas bilden tonende 
Mauern, Memnonsgemauer gewissermaften. Hier fand ich, in der 
Gegend der Spielzeugbuden, endlich auch meinen Samowar als 
Weihnachtsbaumschmuck. Zum ersten Male sah ich in Moskau 
Stande mit Heiligenbildern. Die meisten sind nach alter Weise mit 
Silberblech iiberzogen, in das die Falten des Madonnenmantels 
gestanzt sind. Nur Kopf und Hande allein sind farbige Flachen. Es 
gibt auch kleine Glaskasten, in denen das Haupt des heiligen Jo- 
seph^) mit leuchtenden Papierblumen garniert zu sehen ist. Dann 
diese Blumen, grofie Straufie, in Freiheit. Sie leuchten mehr als 
bunte Decken oder rohes Fleisch iiber den Schnee. Weil aber die- 
se^) ganze Verkaufszweig zum Papier- und Bilderhandel gehort, 
kommen diese Buden mit Heiligenbildern neben die Stande mit 
Papierwaren zu stehen, so daft sie iiberall von Leninbildern flan- 
kiert werden, wie ein Verhafteter von Gendarmen. Weihnachtsro- 
sen auch hier. Sie allein haben keinen bestimmten Platz und tauchen 
bald zwischen Lebensmittel(n), bald zwischen Webwaren oder 



354 Autobiographische Schriften 

Geschirrbuden auf. Aber sie uberstrahlen alles, rohes Fleisch, 
bunte Decken und glanzende Schusseln. Gegen die Sucharewskaja 
verengt der Markt sich zu einem schmalen Gang zwischen Mauern. 
Da stehen Kinder; sie verkaufen hauswirtschaftlichen Bedarf, 
kleine Bestecke, Tiicher u. dgl., zwei sah ich an der Mauer stehen 
und singen. Hier traf ich auch zum ersten Male seit Neapel auf einen 
Zauberverkaufer. Er hatte eine kleine Flasche vor sich in der ein 
grofier Affe aus Stoff safi. Man begriff nicht, wie er hineingefunden 
hatte. In Wirklichkeit hatte man nur ein kleines Stofftier, wie dieser 
Mann es zum Verkaufe anbot, in die Flasche zu setzen. Das Wasser 
liefi es aufschwellen. Ein Neapolitaner verkaufte Blumenstraufie 
von der gleichen Art. Ich spazierte noch ein wenig iiber die Sado- 
waja und fuhr dann gegen halb eins zu Basseches. Er erzahlt viel, 
manches Instruktives, dabei aber dauernde Wiederholungen und 
Mitteilungen ohne Interesse, aus denen nur sein Wunsch nach 
Anerkennung spricht. Aber er ist gefallig und mir durch Informa- 
tionen, Verleihung von deutschen Zeitschriften und Nachweis 
einer Sekretarin nutzlich. - Nachmittags ging ich nicht sogleich zu 
Asja: Reich wollte sie allein sprechen und bat mich um halb sechs zu 
kommen. Ich kann zu Asja in der letzten Zeit fast nichts mehr 
reden. Erstens war ihre Gesundheit von neuem sehr angegriffen. Sie 
hat Temperaturen. Aber das wiirde sie zu einem ruhigen Gesprache 
vielleicht nur geneigter machen, ware nicht, neben der weit diskre- 
teren von Reich die lahmende Gegenwart ihrer Zimmergenossin, 
die laut und leidenschaftlich spricht, jedem Gesprache die Richtung 
gibt und zudem soviel Deutsch versteht, daft sie, was etwa mir von 
Energie noch iibrig bleibt, still legt. In einer der seltenen Minuten 
als wir allein waren, fragte mich Asja, ob ich nochmals nach Rut- 
land kommen wiirde. Ich sagte, nicht ohne etwas Russisch. Und 
auch dann hinge es von manchem anderem noch ab, vom Geld, von 
meinem Ergehen, von ihren Brief en. Die hingen wieder, sagte sie 
ausweichend - aber ich weift ja, daft sie fast immer ausweicht, von 
ihrer Gesundheit ab. Ich ging und brachte auf ihre Bitte noch Man- 
darinen und Halwa, die ich unten im Sanatorium der Schwester 
ablieferte. Fur den Abend wollte Reich mein Zimmer, um dort mit 
seiner Ubersetzerin zu arbeiten. Allein zu »Dentsch y Notsch« bei 
Tairoff zu gehen, vermochte ich mich nicht entschliefien. Ich sah 
mir den »sechsten Teil der Erde« an (in dem Kinotheater am Arbat.) 
Aber mir entging vieles. 



Moskauer Tagebuch 355 

6Januar. Zu Doras Geburtstag hatte ich am Nachmittag des Vor- 
tags ein Telegramm abgesandt. Dann war ich noch die ganze Mjas- 
sitzkaja bis an das rote Tor hinauf gegangen und hatte danach eine 
der breiten Seitenstraften eingeschlagen, die von dort ausgehen. Auf 
diesem Gang entdeckte ich, schon in der Finsternis, die Moskauer 
Hoflandschaft. Ich war nun einen Monat in Moskau. Dieser Tag 
verlief so farblos, dafi fast nichts einzutragen. Morgens beim Kaf- 
feetrinken in der sympathischen kleinen Konditorei, an die ich mich 
wahrscheinlich noch oft erinnern werde, setzte mir Reich den 
Inhalt des Kinoprogramms auseinander, das ich am Vorabend 
erstanden hatte. Dann ging ich zum Diktieren zu Basseches. Er 
hatte eine hubsche sympathische Daktylographin zu meiner Verfu- 
gung, die hervorragend arbeitet. Aber sie kostet drei Rubel die 
Stunde. Ob ich das werde durchfiihren konnen, weifi ich noch 
nicht. Nach dem Diktat begleitete er mich ins Dom Gerzena. Wir 
a£en zu dreien. Sofort nach dem Essen ging Reich zu Asja. Ich 
muike noch etwas bei Basseches zuriickbleiben, und mir geiang 
auch, fur den nachsten Abend mir ein Rendezvous zum »Storm« 
mit ihm zu geben. Endlich begleitete er mich noch bis zum Sanato- 
rium. Oben war es trostlos. Alles sturzte sich auf die deutschen 
Zeitschriften, die ich unvorsichtigerweise mit herauf genommen 
hatte. Zuguterletzt erklarte Asja, zur Schneiderin gehen zu wo lien 
und Reich, dafi er sie dorthin begleiten werde. Ich sagte Asja durch 
die Tur »Auf Wiedersehen« und trollte mich nach Hause. Meine 
Hoffnung, sie am Abend noch bei mir eintreten zu sehen, ging nicht 
in Erfiillung. 

7 Januar. In Rutland hat der Staatskapitalismus viele Ziige der 
Inflation konserviert. Vor allem Rechtsunsicherheit im Innern. Der 
Nep ist auf der einen Seite konzessioniert, auf der andern doch nur 
im Staatsinteresse zugelassen. Einem Umschwung in der Finanzpo- 
litik, ja auch nur einer voriibergehenden offiziellen Demonstration, 
kann jeder Nep-Mann fristlos zum Opfer fallen. Dennoch sammeln 
sich in manchen Handen - vom russischen Standpunkt gesehen: 
ungeheure - Vermdgen. Ich horte von Leuten, die mehr als 300000 
Rubeln Steuern zahlen. Solche Burger stellen das Gegenstiick zum 
heroischen Kriegskommunismus, den heroischen Nepp. Sie kom- 
men in den meisten Fallen ganz unabhangig von den eigenen Dispo- 
sitionen in diese Bahn. Denn eben das Charakteristische der Nepp- 
zeit ist Beschrankung der staatlichen Voranlagen fur Innenhandel 



356 Autobiographische Schriften 

auf die strikten Bedarfsgegenstande. Das schafft fiir die Operatio- 
nal des Nepp-Manns eine sehr giinstige Konjunktur. Zum Gesicht 
der Inflation gehoren auch die Bezugsscheine, mit den (en) allein 
viele Warengattungen in den Staatsgeschaften beziehbar sind, daher 
das Anstellen. Die Wahrung ist fest, aber in der Gestalt dieser 
Scheine, der Preistafeln in vielen Auslagen, nimmt das Papier im 
Wirtschaftsleben immer noch grofien Raum ein. Selbst die Achtlo- 
sigkeit in der Kleidung ist Westeuropa nur im Zeichen der Inflation 
bekannt geworden. Freilich beginnt die Konvention des lassigen 
Anzugs erschiittert zu werden. Aus einer Uniform der herrschen- 
den Klasse droht er zum Zeichen des im Existenzkampf Schwache- 
ren zu werden. In den Theatern wagen sich schuchtern wie Noahs 
Taube nach dem wochenlangen Regen die ersten Toiletten heraus. 
Aber noch immer gibt es viel Uniformes, Proletarisches im Auftre- 
ten: die westeuropaische Form der Kopfbedeckung, der weiche 
oder steife Hut, sind scheinbar ganzlich verschwunden. Es herrscht 
die russische Pelzkappe oder die Sportmiitze, die auch sehr viel von 
Madchen in kleidsamen, aber provozierenden Varianten (mit weit 
vorstofienden Schirmen) getragen wird. Im allgemeinen nimmt man 
sie in offentlichen Lokalen nicht ab, auch sonst ist der Grufi locke- 
rer geworden. In der iibrigen Kleidung herrscht bereits orientali- 
sche Vielfaltigkeit. Pelzjoppen, Samtjacketts und Lederjacken, 
stadtische Eleganz und dorfliche Tracht gehen bei Mannern und 
Frauen durch einander. Hier und da, wie in andern Grofistadten 
auch - trifft man (bei Frauen) noch baurische Nationaltracht an. - 
Vormittags blieb ich an diesem Tage lange zu Hause. Sodann zu 
Kogan, dem Vorsitzenden der Akademie. Ich war von seiner Be- 
langlosigkeit nicht betroffen; man hatte mich allerseits darauf vor- 
bereitet. Im Biiro der Kamenewa nahm ich Theaterkarten. Wah- 
rend der nicht enden wollenden Wartezeit durchblatterte ich ein 
Werk iiber das russische Revolutionsplakat, mit vielen vorziigli- 
chen, teilweise farbigen Abbildungen. Mir fiel dabei auf, dafi - so 
wirksam viele dieser Plakate sind - unter ihnen nichts ist, was nicht 
sehr zwanglos aus den Stilelementen eines, zum Teil noch nicht ein- 
mal sehr vorgeschobenen, burgerlichen Kunstgewerbes sich erkla- 
ren liefie. Im Dom Gerzina traf ich Reich nicht an. Bei Asja war ich 
anfangs allein, sie war sehr matt, tat vielleicht auch nur so, so dafl 
wir nicht ins Gesprach kamen. Dann erschien Reich. Ich ging, um 
mit Basseches den Theaterbesuch am Abend zu vereinbaren und da 



Moskauer Tagebuch 357 

ich ihn telefonisch nicht zu erreichen vermochte, muftte ich hinge- 
hen. Den ganzen Nachmittag Kopfschmerzen. Spater gingen wir 
dann mit seiner Freundin, einer Operettensangerin, zu »Storm«. 
Die Freundin schien sehr schuchtern, aufterdem nicht auf dem 
Posten und fuhr gleich nach dem Theater nach Hause. »Storm« 
stellt Vorgange aus dem Kriegskommunismus dar, die urn eine 
Typhuseped{e)mie auf dem Lande gruppiert sind. Basseches iiber- 
setzte hingebend und es wurde besser als sonst gespielt, so daft ich 
viel von dem Abend hatte. Dem Stuck fehlt, wie den russischen 
(nach Reich) immer, eine Handlung. Es schien mir nur das informa- 
torische Interesse einer guten Chronik zu haben und dieses Inter- 
esse ist kein dramatisches. Gegen 12 Uhr aft ich mit Basseches im 
»Krujock« auf der Twerskaja. Da aber erster Weihnachtsfeiertag 
(nach alter Rechnung) war, ging es im Klub nicht allzu lebhaft zu. 
Das Essen war vorzuglich ; der Wodka mit einer Krauteressenz ver- 
setzt, die ihn gelb farbte und leichter trinkbar machte. Plan einer 
Berichterstattung iiber franzosische Kunst und Kultur fur russische 
Blatter besprochen. 

8 Januar. Vormittags Geld gewechselt und danach diktiert. Ein 
Referat iiber die Diskussion bei Meyerhold ist vielleicht einigerma- 
fien gegliickt, dagegen kam ich mit einem Moskauer Bericht furs 
»Tagebuch« nicht weiter. In der Friihe gab es eine Auseinanderset- 
zung mit Reich, weil ich (mit) Basseches (etwas gedankenloser 
Weise) in das Dom Gerzena gekommen war. Neue Belehrung, wie 
groft die Vorsicht ist, die man hier anwenden mufi. Sie ist eines der 
sinnfalligsten Symptome fur die durchdringende Politisierung des 
Lebens. Ich war sehr froh, in der Gesandtschaft, beim Diktieren, 
Basseches nicht zu sehen, der noch im Bett war. Urn nicht ins Dom 
Gerzena zu miissen, kaufte ich mir Caviar und Schinken ein und aft 
zu Hause. Als ich gegen halb fiinf zu Asja kam war Reich noch nicht 
da. Er blieb noch iiber eine Stunde aus und sagte mir spater, daft er, 
auf dem Wege zu Asja, von neuem einen Herzanfall gehabt habe. 
Asja ging es schlechter und sie war so mit sich selber beschaftigt, 
daft Reichs Verspatung ihr nicht sehr auffiel. Sie hat wiederTempe- 
raturen. Fast ununterbrochen war die nachgerade unausstehliche 
Genossin im Zimmer und erhielt spater selbst noch Besuch. Ihr 
Verhalten ist iibrigens standig freundlich - ware nicht ihre Anwe- 
senheit um Asja. Ich las Asja den Entwurf fur das »Tagebuch« vor 
und sie machte dazu einige sehr zutreffende Bemerkungen. Es klang 



3 5 8 Autobiographische Schriften 

sogar zuletzt aus dem Gesprache eine gewisse Freundlichkeit her- 
aus. Dann spielten wir, im Zimmer, Domino. Reich kam. Darauf 
zu vieren. Abends hatte Reich Sitzung. Gegen sieben trank ich in 
unserer gewohnten Conditorei mit ihm Kaffee, dann ging ich nach 
Hause. Mir wird immer mehr klar, dafi ich fur die nachste Zeit ein 
festes Geriist meiner Arbeit brauche. Als solches kommt naturlich 
Ubersetzen nicht in Frage. Vorbedingung fur dessen Konstmktion 
ist wiederum Stellungnahme. Was mich vom Eintritt in die K.P.D. 
zuruckhalt sind ausschliefilich aufierliche Bedenken. Es ware jetzt 
der richtige Zeitpunkt, den zu verpassen vielleicht gefahrlich ist. 
Denn gerade weil moglicherweise die Zugehorigkeit zur Partei fiir 
mich nur eine Episode ist, ist es nicht geraten sie zu verschieben. 
Sind und bleiben die aufierlichen Bedenken, unter deren Druck ich 
mich frage, ob nicht eine linke Aufienseiterstellung durch intensive 
Arbeit sachlich und okonomisch so zu lasieren ware, dafi sie mir 
weiter die Moglichkeit umfassender Produktion in meinem bisheri- 
gen Arbeitskreis sichert. Aber ob diese Produktion ohne Bruch in 
ein neues Stadium uberzufiihren ist, das ist eben die Frage. Und 
selbst dann miifite das »Geriist« noch durch aufiere Umstande, etwa 
einer Redakteursstelle, gestutzt sein. Jedenfalls scheint die kom- 
mende Epoche fiir mich von den vorhergehenden sich darin zu 
unterscheiden, dafi die Bestimmung durch Erotisches nachlafit. 
Daran, mir das bewufit zu machen, hat die Beobachtung von Reichs 
und Asjas Verhaltnis einen gewissen Anteil. Ich bemerke, dafi 
Reich alien Schwankungen Asjas gegeniiber fest und von Verhal- 
tungsweisen, die mich krank machen wxirden, wenig beeinflufit ist 
oder scheint. Und selbst das letzte ist schon sehr viel. Dies liegt an 
dem »Gerust«, das er fiir seine Arbeit hier gefunden hat. Zu den 
realen Beziehungen, in die sie ihn versetzt, kommt freilich hinzu, 
dafi er hier Angehoriger der herrschenden Klasse ist. Diese Neufor- 
mung einer ganzen Herrschaftsgewalt macht ja das Leben hier so 
aufierordentlich inhaltsreich. Es (ist) so in sich abgeschlossen und 
ereignisreich, arm und im gleichen Atem voller Perspektiven, wie 
das Goldgraberleben in Klondyke. Es wird von friih bis spat nach 
Macht gegraben. Die ganze Kombinatorik der westeuropaischen 
Existenz einer Intelligenz ist uberaus armlich im Vergleich mit den 
zahllosen Konstellationen, die hier im Laufe eines Monats an den 
Einzelnen herantreten. Freilich kann ein gewisser Rauschzustand 
die Folge sein, so dafi ein Leben ohne Sitzungen und Kommissio- 



Moskauer Tagebuch 359 

nen, Debatten, Resolutionen und Abstimmungen (und das alles 
sind Kriege oder zumindest Manover des Machtwillens) sich gar 
nicht mehr denken lafit. Aber es ist (x) mit der dies das Schrifttum, 
das so ganz unbedingt auf Stellungnahme dringt, das die Frage 
stellt, ob man im feindlichen und exponierten, unwirtlichen und 
zugigen Zuschauerraume aushalten oder so oder so seine Rolle auf 
der drohnenden Biihne hinnehmen will. 

9 Januar. Weitere Erwagung: in die Partei gehen? Entscheidende 
Vorziige: feste Position, ein, wenn auch nur virtuelles Mandat. 
Organisierter, garantierter Kontakt mit Menschen. Dagegen steht: 
Kommunist in einem Staate zu sein, wo das Proletariat herrscht, 
bedeutet die vdllige Preisgabe der privaten Unabhangigkeit. Man 
tritt die Aufgabe, das eigene Leben zu organisieren sozusagen an die 
Partei ab. Wo aber das Proletariat unterdriickt wird, heifit es, zur 
unterdriickten Klasse sich schlagen mit alien Konsequenzen, die das 
friiher oder spater haben kann. Das Verfuhrerische der Schrittma- 
cher-Position - wenn man in ihr keine Kollegen hatte, deren Wir- 
ken bei jeder Gelegenheit einem selber das Zweifelhafte dieser Stel- 
lung demonstriert. In der Partei: der gewaltige Vorzug, die eigenen 
Gedanken gleichsam in ein vorgegebnes Kraftfeld proj(i)zieren 
konnen. Uber das Auftenstehen aber und seine Zulassigkeit ent- 
scheidet schliefilich die Frage, ob man sich aufierhalb mit nachweis- 
barem eigenem und sachlichem Nutzen postieren konne, ohne zum 
Biirgertum uberzugehen, bezw. die Arbeit zu schadigen. Ob eine 
konkrete Rechenschaft fur meine fernere Arbeit, besonders die wis- 
senschaftliche, mit ihren formalen und metaphysischen Grundla- 
gen sich geben lafit. Was »Revolutionares« in ihrer Form sei und ob 
es in ihr sei, Ob mein illegales Incognito unter den burgerlichen 
Autoren einen Sinn hat. Und ob es entscheidend forderlich fur 
meine Arbeit, gewissen Extremen des »Materialismus« aus dem 
Wege zu gehen, oder ob ich die Auseinandersetzung mit ihnen in 
der Partei suchen mull. Der Kampf geht hier um all die Vorbehalte, 
die in der spezialisierten Arbeit stecken, die ich bisher leistete. Und 
er mufi mit dem Eintritt in die Partei- zumindest einem experimen- 
tellen - enden, wenn auf dieser schmalen Basis diese Arbeit nicht 
dem Rhythmus meiner Uberzeugungen folgen und meine Existenz 
organisieren kann. Solange ich reise, ist der Eintritt in die Partei 
freilich kaum zu erwagen. - Es war Sonntag. Vormittags iibersetzt. 
Mittags im kleinen Restaurant in der Bolschaja Dimitrowka. Nach- 



}6o Autobiographische Schriften 

mittags bei Asja, die sich sehr schlecht fiihlte. Abends allein im 
Zimmer, iibersetzt. 

iojanuar. Es gab am Morgen eine hochst unangenehme Auseinan- 
dersetzung mit Reich. Er kam namlich auf meine Anregung zuriick, 
das Referat iiber die Diskussion bei Meyerhold ihm vorzulesen. Ich 
hatte jetzt schon nicht mehr das Bediirfnis dazu, tat es mit instinkti- 
vem Widerstreben aber doch. Nach den vorangegangenen Unter- 
haltungen iiber die Referate an die »Literarische Welt« konnte ja 
auch nichts Gutes dabei heraus kommen. Ich las also rasch. Aber 
ich war, auf meinem Stuhl, der mich ins Licht sehen (liefi,) derart 
ungliicklich postiert, dafi ich den Erfolg aus dem allein schon vor- 
ausgewufk hatte. Reich horte in krampfhaft gelassener Haltung zu 
und es bedurfte als ich geendet hatte, nur weniger Worte. Der Ton 
in dem er sie sprach, entfachte augenblicklich den Streit, der um so 
auswegloser war, als das, was ihm eigentlich zu Grunde lag, nicht 
mehr beriihrt werden konnte. Mitten in dem Wortwechsel klopfte 
es - Asja kam. Sie ging bald wieder. Wahrend ihrer Anwesenheit 
sprach ich wenig; ich ubersetzte. In der schlechtesten Verfassung 
ging ich, um bei Basseches Brief e und einen Artikel zu diktieren, die 
Sekretarin ist mir ganz sympathisch, wenn auch ziemlich damen- 
haft. Als ich horte, sie wolle wieder nach Berlin zuriick, gab ich ihr 
meine Karte. Mir lag nicht daran, Mittags mit Reich zusammenzu- 
treffen. Ich kaufte also einiges ein und afi auf dem Zimmer. Auf dem 
Wege zu Asja trank ich Kaffee und spater als ich von ihr nach Hause 
ging, tat ich's noch einmal. Asja fiihlte sich schlecht, wurde fruh 
miide, so daft ich sie allein liefi, damit sie schlafen konne. Aber es 
gab ein paar Minuten, in denen wir allein im Zimmer waren (oder in 
denen sie so tat, als ob wir es waren). Da sagte sie, wenn ich noch- 
mals nach Moskau kame und sie wiirde gesund sein, dann brauchte 
ich ja nicht so einsam herum zu gehen. Aber wenn sie hier nicht 
gesund wiirde, dann wiirde sie nach Berlin kommen, ich miifke ihr 
eine Ecke in meinem Zimmer geben mit einem Wandschirm, und sie 
wiirde sich bei deutschen Arzten behandeln lassen. Am Abend war 
ich allein zu Hause. Reich kam spat und erzahlte noch einiges. 
Soviel aber stand inf olge des Zwischenf alls am Morgen mir fest, dafi 
ich auf Reich nichts mehr von meiner Anwesenheit bauen woll(te) 
und wenn sie sich ohne ihn nicht nutzbringend organisieren liefte, 
Abfahrt das einzig Verniinftige sei. 
ii Januar. Asja soil von neuem Einspritzungen bekommen. Sie 



Moskauer Tagebuch 3 6 1 

wollte sich an diesem Tag in die Klinik begeben und am Vortag war 
abgemacht worden, sie werde mich abholen, damit ich sie im Schlit- 
ten hinbrachte. Aber sie kam erst gegen zwolf Uhr. Die Einsprit- 
zung hatte man ihr schon im Sanatorium gemacht. Sie war davon in 
etwas erregtem Zustand und als wir auf dem Korridor allein waren 
(ich hatte zu telefonieren und sie auch) umschlang sie meinen Arm 
in einer Anwandlung des alten Ubermuts. Reich hatte im Zimmer 
Post gefafk und machte nicht Miene zu gehen. Selbst also als nun 
Asja wieder einmal vormittags zu mir ins Zimmer kam, war es voll- 
standig zwecklos. Es half nichts, dafi ich mein Fortgehen um einige 
Minuten verzogerte. Sie erklarte nicht, mitgehen zu wollen. Ich liefi 
also Reich und sie allein, ging auf die Petrowka (konnte jedoch mei- 
nen Pafi noch nicht erhalten) und dann ins Museum fur Malkultur. 
Dieser kleine Vorfall bestimmte mich, endgiiltig die Abreise, zu der 
ohnehin die Zeit heranriickt, zu beschlieften. Im Museum gab es 
recht wenig zu sehen. Spater hone ich, Larionoff, Gontscharowa 
seien beriihrnte Namen. Mit ihren Sachen ist nichts los. Sie scheinen 
ebenso wie die meisten andern Sachen, die in den drei Salen hangen, 
vollstandig beeinflufit von gleichzeitigen pariser und berliner Bil- 
dern und kopieren sie ohne Geschick. - Mittags hielt ich mich stun- 
denlang im Kulturbiiro auf, um fur das Malaia Theater Karten fur 
Basseches, seine Freundin und mich zu holen. Da es aber nicht 
gelang, gleichzeitig das Theater telefonisch zu avisieren, so wurde 
dann am Abend der Ausweis nicht anerkannt. Basseches war ohne 
die Freundin gekommen. Ich ware gern mit ihm in ein Kino gegan- 
gen, aber er wollte essen und so begleitete ich ihn in das Savoy. Es ist 
viel bescheidener als die Bolschaia Moskowskaja. Ubrigens war es 
mit ihm recht langweilig. Er ist nicht imstande, von anderen Ange- 
legenheiten als seinen privatesten zu reden; tut er es doch, so mit 
dem sichtlichen Bewufttsein, wie informiert er sei und wie vorziig- 
lich er andere zu informieren wisse. Er blatterte und las immerzu in 
der »Roten Fahne«. Ein Stuck begleitete ich ihn nachher im Auto 
und fuhr direkt nach Hause, wo ich noch iibersetzte. - Am Vormit- 
tag dieses Tages kaufte ich den ersten Lackkasten (auf der Petrow- 
ka) ein. Es kamen nun ein paar Tage, wo ich, wie das ofter mir geht, 
bei(m) Gehen durch die Strafien nur auf eines achtete: namlich in 
diesem Falle auf die Lackkasten. Eine kurze, leidenschaftliche Ver- 
liebtheit. Ich mochte drei kaufen - bin mir iiber die Verteilung der 
beiden, die ich inzwischen habe, noch nicht ganz einig. An diesem 



362 Autobiographische Schriften 

Tage kaufte ich das Kastchen mit den beiden Madchen, welche am 
Samowar sitzen. Es ist sehr schon - nur tritt nirgends das reine 
Schwarz, das oft an diesen Arbeiten das schonste ist, (hervor). 
12 Januar. An diesem Tage kaufte ich im Kustarny-Museum einen 
grofieren Kasten, auf dessen Deckel vor dem schwarzen Grund, 
eine Zigarettenverkauferin gemalt war. Neben ihr steht ein diinnes 
Baumchen und daneben ein Junge. Es ist eine Winterszene, denn 
am Boden liegt Schnee. Zwar kann man an Schneeluft auch bei den 
beiden Madchen denken, denn die Stube, in der sie sitzen, hat ein 
Fenster, in dem frostblaue Luft zu stehen scheint. Aber das ist nicht 
sicher. Dieser neue Kasten war viel teurer. Ich suchte ihn unter 
einer grofien Auswahl heraus; es war viel unschones dabei: sklavi- 
sche Kopien alter Meister. Besonders teuer scheinen Kasten zu sein, 
die Gold in der Bemalung haben (und auch das geht wohl auf altere 
Vorbilder zuriick), mir aber gef alien die nicht. Das Sujet auf dem 
grofieren Kastchen ist wohl ganz neu; wenigstens steht »Mossel- 
prom« auf der Schiirze der Handlerin. Ich weifi, dafi ich schon ein- 
mal sehr lange in der Rue du faubourg Saint-Honore im Schaufen- 
ster eines vornehmen Geschaft(es) solche Kasten sah und lang 
davor stand. Damals wies ich aber die Versuchung, mir eines zu 
kaufen, mit dem Gedanken zuriick, ich musse es von Asja bekom- 
men - oder vielleicht auch nur aus Moskau. Die Leidenschaft geht 
auf den starken Eindruck zuriick, den in Blochs Wohnung, die er 
mit Else in Interlaken hatte, ein solcher Kasten immer ausgeiibt 
hatte; ich kann von da aus ermessen, wie unvergefilich solche Bilder 
auf dem schwarzlackierten Grunde sich Kindern einpragen miissen. 
Aber das Sujet auf Blochs Kasten habe ich vergessen. - Am gleichen 
Tage fand ich tolle Postkarten, wie ich sie lange gesucht hatte, alte 
Ladenhiiter aus der zaristischen Zeit, hauptsachlich Bilder in farbi- 
ger Kartonpressung, dann Ansichten aus Sibirien (mit deren einer 
ich Ernst zu mystifizieren suche) u.s.w. Es war in einem Geschaft 
auf der Twerskaja, da der Besitzer deutsch konnte, fiel die Anstren- 
gung fort, mit der ich sonst hier einkaufe und ich nahm mir Zeit. 
Ubrigens war ich an diesem Tage friih auf und von Hause fortge- 
gangen. Denn gegen 10 Uhr war Asja erschienen. Sie hatte Reich 
noch zu Bett gefunden. Eine halbe Stunde war sie geblieben und 
hatte uns Schauspieler karikiert und den Sanger nachgemacht, der 
das Cabaret-Lied von »San-Francisco« gedichtet hatte und von dem 
sie es, wahrscheinlich ofter, gehort hatte. Ich kannte das Lied schon 



Moskauer Tagebuch 363 

aus Capri, dort sang sie es manchmal. Anfanglich hatte ich gehofft, 
sie am Vormittag begleiten und dann mit ihr noch in einem Cafe 
sitzen zu konnen. Aber es wurde zu spat. Ich ging mit ihr fort, 
setz(t)e sie in die Bahn und ging dann allein. Dieser Morgenbesuch 
wirkte wohltatig auf den ganzen Tag. Zuerst freilich war ich in der 
Tretjakoff-Galerie etwas unzufrieden. Denn die beiden Sale, auf die 
ich mich am meisten gefreut hatte, waren geschlossen. Dagegen 
brachten die anderen Sale eine herrliche Uberraschung: ich konnte 
durch dieses Museum gehen, wie sonst noch nie durch eine unbe- 
kannte Sammlung; ganz entspannt und einer Lust an kindischer 
Betrachtung dessen hingegeben, was die Bilder erzahlten. Denn das 
Museum besteht zur Halfte aus Bildern russischer Genremalerei; 
der Griinder hat gegen 1830 (?) mit Ankaufen begonnen, und fast 
nur Zeitgenossisches benicksichtigt. Spater ist der Kreis seiner 
Sammlung bis gegen 1900 erweitert worden, Und da- von den Iko- 
nen abgesehen - die friihesten Sachen aus der zweiten Halfte des 
XVIII Jahrhunderts zu sein scheinen, so gibt dieses Museum im 
ganzen die Geschichte der russischen Malerei im XIX Jahrhundert. 
Das war eine Epoche, in der Genrebild und Landschaftsmalerei 
herrschten. Was ich sah, laflt mich annehmen, dafi die Russen unter 
den europaischen Volker(n) die Genremalerei am intensivsten aus- 
gebildet haben. Und diese Wande voll erzahlender Bilder, Darstel- 
lungen von Szenen aus dem Leben der verschiedensten Stande, 
machen die Galerie zu einem grofien Bilderbuch. Es waren denn 
auch hier noch viel mehr Besucher, als in alien andern Sammlungen, 
die ich sah. Man braucht nur zu sehen, wie sie sich (durch) die 
Raume bewegen, in Gruppen, manchmal um einen Fiihrer, oder 
allein stehen, (um) die grofie Unbefangenheit zu erkennen in der 
nichts von der trostlosen Gedriicktheit der seltenen Proletarier zu 
merken ist, die man in westlichen Museen finden kann, um zu 
gewahren: einmal dafi hier das Proletariat wirklich Besitz von den 
biirgerlichen Kulturgiitern zu nehmen begonnen hat, zweitens, daft 
gerade diese Sammlung ihm hochst vertraut und ansprechend ent- 
gegenkommt. Er findet in ihr Sujets aus seiner Geschichte{:) 
» Arme Gouvernante trifft in dem Haus des reichen Kaufmanns ein« 
»Ein Konspirator von Gendarmen iiberrascht«, und dafi derglei- 
chen Szenen ganz im Geist der biirgerlichen Malerei gegeben sind, 
das schadet nicht nur nicht - es macht sie fur ihn selber viel besser 
zuganglich. Kunsterziehung wird ja (wie Proust bisweilen sehr gut 



364 Autobiographische Schriften 

zu verstehen gibt) nicht gerade durch Betrachtung der »Meister- 
werke* gefordert. Vielmehr das Kind oder der Proletaries der sich 
eben bildet, erkennt, mit Recht, ganz anderes als Meisterwerke, 
denn der Sammler an. Solche Bilder haben fur ihn eine sehr vor- 
iibergehende aber solide Bedeutung und der strengste Mafistab ist 
nur der aktuellen Kunst gegeniiber im Recht, die sich auf ihn, seine 
Klasse und seine Arbeit bezieht. - In einem der ersten Sale stand ich 
lange vor zwei Bildern von Schtschedrin, dem Hafen von Sorrent 
und einem anderen Gemalde aus der Gegend; beide zeigten die 
unaussprechliche Silhouette von Capri, die mir immer mit Asja 
(ver)bunden sein wird. Ich wollte ihr eine Zeile schreiben, aber ich 
hatte den Bleistift vergessen. Und diese Versenkung in das Sujet 
gleich zu Anfang meines Gangs durch die Sammlung bestimmte 
auch den Geist meiner ferneren Betrachtung. Ich sah gute Portraits 
von Gogol, Dostojewski, Ostrowski, Tolstoi. In einem unteren 
Geschofi, zu dem Treppen hinunterfuhrten, gab es viel von 
Wereschtschagin zu sehen. Aber ich hatte dafur kein Interesse. - 
Sehr froh gestimmt trat ich aus dem Museum. Im Grunde war ich in 
dieser Stimmung schon eingetreten und daran hatte am meisten die 
ziegelrot angestrichene Kirche schuld, die an der Haltestelle der 
Trambahn stand. Es war ein kalter Tag, nur vielleicht nicht so kalt 
wie damals als ich zum ersten Male hier nach dem Museum umher- 
geirrt war und, zwei Schritt nur von ihm entfernt, es doch nicht 
auffinden konnte. Endlich gab dann dieser Tag zuletzt noch eine 
gute Minute bei Asja. Reich war kurz vor sieben gegangen, sie hatte 
ihn hinunterbegleitet, war lange geblieben und als sie endlich wie- 
der eintrat, war ich zwar noch allein aber es blieben uns nur wenige 
Minuten. Was dann vorfiel, weifi ich nicht mehr: plotzlich konnte 
ich Asja sehr freundlich ansehen und empfand, wie sie sich zu mir 
hingezogen fuhlte. Einen Augenblick erzahlte ich ihr von dem, was 
ich tagsiiber getan hatte. Aber ich mufite fort. Ich gab ihr die Hand 
und sie hielt sie mit ihren beiden Handen. Sie hatte jetzt gern weiter 
mit mir gesprochen und wenn wir uns fest bei mir verabreden konn- 
ten wollte ich, sagte ich ihr, die Vorstellung bei Tairoff nicht sehen, 
zu der ich zu gehen vorgehabt hatte. Zuletzt aber war sie dochzwei- 
felhaft, ob der Arzt sie auch fortgehen liefie. Wir besprachen, dafi 
Asja mich an einem der folgenden Abende besuchen solle. - Bei 
Tairoff gab es »Tag und Nachu nach einer Operette von Lecocq. 
Ich traf den Amerikaner, mit dem ich mich verabredet hatte. Aber 



Moskauer Tagebuch 365 

von seiner Ubersetzerin hatte ich wenig, sie wandte sich nur an ihn. 
Und (da) die Handlung einigermafien kompliziert war, so mufite 
ich mich an die hiibschen Ballettszenen halten. 
13 Januar. Der Tag war bis auf den Abend verfehlt. Aufierdem 
beginnt es jetzt, sehr kalt zu werden: Durchschnittstemperatur um 
16° Reaumur. Ich fror entsetzlich. Selbst meine Handschuhe helfen 
mir nichts, denn sie haben Locher. Zu Anfang des Vormittags ging 
es noch: ich fand das Reiseburo in der Petrowka, als (ich ) die Hoff- 
nung darauf schon aufgegeben hatte und ich erfuhr auch die Fahr- 
preise. Sodann wollte ich mit Autobus 9 zum Spielzeugmuseum 
fahren. Da aber beim Arbat der Wagen einen Defekt bekam, und 
ich (irrigerweise) glaubte, er werde dort lange stehen bleiben, so 
stieg ich aus. Gerade hatte ich im Voriiberfahren mit Sehnsucht den 
Arbatskaja-Markt betrachtet, auf dem ich zuerst die schonen Weih- 
nachtsbuden Moskaus kennengelernt hatte. Diesmal war mir das 
Gliick auf andere Weise hier gunstig. Als ich am Vorabend namlich 
miide und abgespannt in der Hoffnung, vor Reich in meinem Zim- 
mer zu sein, nach Hause gekommen war, war doch Reich schon da. 
Ich war verstimmt, auch jetzt nicht allein zu sein (seit der Auseinan- 
dersetzung iiber meinen Meyerhold-Artikel reizte Reichs Anwe- 
senheit mich oft) und machte mich sofort iiber die Lampe her, um 
sie auf einen Stuhl neben meinem Bett zu stellen, wie mir das ofter 
schon gelungen war. Die provisorische ( Verbindung) mit der elek- 
trischen Leitung loste sich wieder einmal; ungeduldig beugte ich 
mich iiber den Tisch, um in so unbequemer Lage zu versuchen, den 
Kontakt wiederherzustellen und nach langerem Basteln brachte ich 
Kurzschlufl zustande. - An eine Reparatur war in diesem Hotel 
nicht zu denken. Bei dem Licht von der Decke her zu arbeiten, war 
unmoglich und damit die Frage der ersten Tage wieder aktuell. Als 
ich im Bett lag, fiel mir ein »Kerzen«. Aber auch das war sehr 
schwierig. Reich um Besorgungen zu bitten, wurde immer untunli- 
cher; er hatte selbst eine Unzahl von Dingen zu erledigen und seine 
Laune war schlecht. Blieb, mit einer Vokabel bewaffnet, sich allein 
auf den Weg zu machen. Aber selbst diese Vokabel hatte ich erst 
von Asja mir holen miissen. Daher war es wirklich ein Glucksfall, 
daft ich hier, in der Auslage einer Bude, unverhofft Kerzen fand, auf 
die ich einfach zeigen konnte. Damit aber war die gluckliche Seite 
des Tags schon erledigt. Ich fror sehr, Ich wollte die Graphik-Aus- 
stellung im Dom Petschat ansehen: geschlossen. Ebenso das 



366 Autobiographische Schriften 

Museum fur Ikonographie. Jetzt begriff ich: es war Sylvester nach 
dem alten Kalender. Schon als ich aus dem Schlitten stieg, den ich 
mir nach dem ikonographischen Museum genommen hatte, da es 
weit, in einer Gegend, die ich nicht kannte, lag und ich vor Kalte 
kaum mehr weiterkonnte, sah ich, dafi es geschlossen war. In sol- 
chen Fallen, da man nur wegen sprachlicher Ohnmacht etwas Sinn- 
loses tun mufi, wird einem der ungeheure Kraft- und Zeitverlust, 
den dieser Zustand mk sich bringt, doppelt bewufit. Ich fand, in 
einer anderen Richtung die Trambahn naher als ich geglaubt hatte 
und fuhr nach Hause. - Im Dom Gerzena war ich friiher als Reich. 
Als er dann kam, begriifite er mich mit den Worten: »Sie haben 
Pech!« Er war namlich in dem Biiro der Enzyklopadie gewesen und 
hatte mein Expose iiber Goethe dort abgegeben. Zufallig war 
gerade Radek dazugekommen, hatte das Manuscript am Tische lie- 
gen sehen und es aufgegriffen. Mifitrauisch hatte er sich erkundigt, 
von wem es sei. »Da kommt ja auf jeder Seite zehnmal >Klassen- 
kampf< vor. ( « ) Reich wies ihm nach, das sei nicht richtig und sagte, 
man konne iibrigens Goethes Wirken, welches in eine Zeit von gro- 
fien Klassenkampfen falle, nicht entwickeln, ohne dies Wort zu 
gebrauchen. Radek: »Es kommt nur darauf an, dafi es an der richti- 
gen Stelle geschieht.* Die Aussichten fur die Annahme dieses Expo- 
ses sind hiernach aufierst gering. Denn die armseligen Leiter dieses 
Unternehmens sind viel zu unsicher, um auch dem schlechtesten 
Witz irgendeiner Autoritat gegeniiber die Moglichkeit eigner Mei- 
nung sich zu behaupten. Reich war der Zwischenf all unangenehmer 
als mir. Mir wurde er es vielmehr erst am Nachmittag, als ich mit 
Asja dariiber sprach. Sie begann namlich gleich, etwas rmisse an 
dem, was Radek sage, schon richtig sein, gewifi, ich werde etwas 
schon f alsch gemacht haben, wisse nicht, wie man hier etwas angrei- 
fen miisse und dergleichen mehr. Nun sagte ich ihr auf den Kopf zu, 
aus ihren Worten spreche nur die Feigheit und ein Bedurfnis unbe- 
dingt, um jeden Preis, den Mantel nach dem Winde zu hangen. Ich 
ging als Reich gekommen war, bald aus dem Zimmer. Denn da ich 
wufite, er werde dariiber berichten, wollte ich machen, dafi ers 
nicht in meinem Beisein tate. Fur diesen Abend erhoffte ich Asjas 
Besuch. So sagte ich denn in der Tiire, trotz Gegenwart von Reich, 
noch ein Wort davon, Ich kaufte allerhand ein: Caviar, Kuchen, 
Siifiigkeiten, auch fiir Daga, zu der Reich am folgenden Tage hin- 
ausfahren sollte. Dann setzte ich mich in mein Zimmer und afi 



Moskauer Tagebuch 3 6y 

Abendbrot und schrieb. Kurz nach acht hatte ich schon die Hoff- 
nung auf das Rommen von Asja aufgegeben. Ich hatte sie aber lange 
nicht mehr so erwartet (auch, den Umstanden nach, sie ja gar nicht 
erwanen konnen.) Und gerade hatte ich begonnen, diese Erwar- 
tung in einem schematischen Bild fur sie aufzuzeichnen, da klopfte 
es. Sie war es, und ihre erste Mitteilung, man habe sie nicht herlas- 
sen wollen. Zuerst verstand ich das von meinem Hotel. Hier ist 
namlich ein neuer Sowjetduschi eingezogen, der es streng nehmen 
soil. Aber es gait von Iwan Petrowitsch. So war auch dieser Abend, 
vielmehr diese knappe Stunde, von alien Seiten beschnitten und ich 
lag im Gefecht mit der Zeit. Im ersten Gang war ich allerdings sieg- 
reich. Schnell zeichnete ich das Schema, das mir im Kopf lag und als 
ich es ihr erklarte, driickte sie ihre Stirn fest gegen meine. Dann las 
ich das Expose vor; und auch das ging sehr gut, es gefiel ihr, sie fand 
es sogar aufterordentlich klar und sachlich. Ich sprach mit ihr von 
dem, was eigentlich fur mich das Interessante an dem Thema »Goe- 
the« ausmacht: wie so ein Mann, der so durchaus in Kompromissen 
existiert habe wie Goethe, dennoch so Aufierordentliches habe lei- 
sten konnen. Hier erwidere ich, dafi bei einem proletarischen Dich- 
ter das entsprechende ganz undenkbar sei. Aber der Klassenkampf 
der Bourgeoisie sei grundverschieden von dem proletarischen 
gewesen. »Untreue« »Kompromifi« in diesen beiden Bewegungen 
konne man nicht schematisch einander gleichsetzen. Ich erwahnte 
auch Lukacs* These, der historische Materialismus sei im Grunde 
nur auf die Geschichte der Arbeiterbewegung selber anwendbar. 
Asja wurde aber schnell mude. Da griff ich auf das »Moskauer 
Tagebuch« zuriick und las ihr auf gut Gliick vor, worauf mein Blick 
gerade fiel. Das ging aber weniger gut aus. Ich war gerade auf die 
Ausfiihrungen liber kommunistische Erziehung geraten. »Das ist ja 
alles Unsinn« sagte Asja. Sie war unzufrieden und sagte, dafi ich 
Rutland garnicht kennte. Naturlich bestritt ich das nicht. Nun fing 
sie selbst zu sprechen an; was sie sagte, war wichtig, aber das Spre- 
chen erregte sie sehr. Sie redete davon, wie sie anfangs selbst Rut- 
land garnicht begriffen habe, in den ersten Wochen nach ihrer 
Ankunft nach Europa habe zuriickkehren wollen und gemeint 
habe, in Rutland sei alles aus, die Opposition habe ganz und gar 
recht. Allmahlich sei ihr aufgegangen, was hier vor sich gehe: die 
Umstellung der revolutionaren Arbeit in die technische. Jetzt 
werde jedem Kommunisten begreiflich gemacht, die revolutionare 



368 Autobiographische Schriften 

Arbeit dieser Stunde sei nicht der Kampf, der Biirgerkrieg, sondern 
Elektrifizierung, Kanalbau, Fabrikeinrichtung. Und diesmal er- 
wahnte nun ich selber Scheerbart, wegen dessen ich von ihr und von 
Reich hier bereits soviel auszustehen hatte: kein anderer Autor habe 
so den revolutionaren Charakter der technischen Arbeit herauszu- 
stellen gewufit. (Es tut mir nur leid, dafi ich diese gute Formel nicht 
in dem Interview zum Ausdruck brachte). Mit alledem hielt ich sie 
einige Minuten iiber ihre Zeit hinaus fest. Dann ging sie und, wie es 
manchmal geschieht, wenn sie sich mir nah fiihlt, forderte sie mich 
nicht auf, sie zu begleiten. Ich blieb im Zimmer. Die ganze Zeit 
hatten die beiden Kerzen auf dem Tisch gestanden, die seit dem 
Kurzschlufi abends immer bei mir brennen. Spater, als ich schon zu 
Bett lag, kam Reich. 

i4januar. Dieser Tag und der folgende wurden unangenehm. Die 
Uhr steht auf »Abfahrt«. Es wird immer kalter (bleibt zum minde- 
sten standig iiber zwanzig Grad) und die Erledigung der noch ver- 
bleibenden Obliegenheiten wird schwieriger. Auch wurden die 
Vorzeichen von Reichs Krankheit, die inzwischen ausgebrochen ist 
(was ihm fehlt, weifi ich noch nicht) deutlicher, so dafi er immer 
weniger fur mich tun kann. An diesem Tage war er, gut verpackt, zu 
Daga hinausgefahren. Ich benutzte den Vormittag, um die drei 
Bahnhofe, die am Kalantschewskaja-Platz liegen, mir anzusehen: 
den Kursker Bahnhof, den Oktoberbahnhof, von dem die Ziige 
nach Leningrad abgehen und den Jaroslawski-Bahnhof, von diesem 
aus gehen die Ziige nach Sibirien ab. Der Speisesaal des Bahnhofs ist 
dicht mit Palmen bestellt und von ihm aus geht der Blick auf einen 
blaugetunchten Warteraum. So kommt man sich wie in dem Anti- 
lopenhaus im Zoo vor. Ich trank dort Tee und dachte an die 
Abreise. Vor mir hatte ich einen schonen roten Beutel mit herrli- 
chem Krimtabak, den ich in einer der Buden vor dem Bahnhof 
gekauft hatte. Spater trieb ich neue Spielsachen auf. Am Ochotny 
Rjad stand ein Handler mit holzernen Spielwaren. Mir fallt auf, dafi 
gewisse Waren schubweise hier im Strafienhandel erscheinen. So 
sah ich hier zum ersten Male Holzaxte fur Kinder mit Brandmale- 
rei, von denen ich dann anderswo an ein em der folgenden Tage 
einen ganzen Korb voll bemerkte. Ich kaufte das possierliche Holz- 
modell einer Nahmaschine, deren »Nadel« durch Drehen einer 
Kurbel in Bewegung gesetzt wird, und eine Schaukelpuppe aus 
Papiermache auf Musikkasten, ein schwaches Exemplar einer Spiel- 



Moskauer Tagebuch 369 

zeuggattung, die ich in den Museen gefunden hatte. Danach konnte 
ich es vor Kalte nicht mehr aushalten und wankte in eine Kaffee- 
stube. Das schien ein Lokal von besonderem Geprage zu sein: in 
dem kleinen Raum standen einige Rohrmobel; durch eine ver- 
schlieflbare Liicke der Wand schob man die Speisen aus der Kuche 
herein und auf einem grofien Ladentisch prangten Sakuskas: Auf- 
schnitt, Gurken, Fische. Auch eine Auslage gab es, wie in den fran- 
zosischen und italienischen Restaurants. Ich wufite keine der Spei- 
sen zu bezeichnen, die mich gelockt hatten und warmte mich bei 
einer Tasse Kaffee. Dann ging ich hinaus und sah mich in den obe- 
ren Handelsreihen nach der Auslage des Geschafts um, in dem die 
Tonpuppe(n) mir an einem der ersten Tage auf gef alien waren. Sie 
standen noch drin. Beim Passieren des Durchgangs, der von dem 
Revolutionsplatz auf den Roten Platz fiihrt sah ich mich nach den 
Strafienhandler(n) genauer um, suchte mir Einiges zu merken, was 
mir bisher entgangen war: Verkauf von Damenwasche (Miedern), 
von Krawatten, Shawls, von Kleiderbiigeln. - Ich erreichte endlich, 
ganzlich erschopft, gegen zwei Uhr, das Dom Gerzena, wo es aber 
Essen erst gegen halb drei gibt. Um das Paket mit Spielsachen loszu- 
werden fuhr ich nach dem Essen nach Hause. Gegen halb fiinf war 
ich im Sanatorium. Als ich eben die innere Treppe heraufkam, 
begegnete mir Asja, fertig zum Ausgehen. Sie wollte zur Schneide- 
rin. Ich sagte ihr unterwegs, was ich inzwischen von Reich (der 
gleich nach mir mein Zimmer betreten hatte) iiber Dagas Ergehen 
gehort hatte. Das lautete giinstig. So gingen wir neben einander als 
plotzlich Asja die Frage stellte, ob ich ihr nicht Geld geben konne. 
Aber ich hatte erst am Vortage mit Reich besprochen, mir 150 M 
zur Rtickreise von ihm zu borgen, sagte ihr also, ich hatte keines, 
ohne noch zu wissen, wozu sie es notig hatte. Sie erwiderte, wenn 
man Geld von mir notig habe, so konne man es nie haben, ging auf 
Vorwiirfe iiber, sprach von dem Zimmer in Riga, das ich ihr hatte 
nehmen sollen u.s.w. Ich war an diesem Tage sehr erschopft, 
zudem durch das Gesprach, das sie sehr ungeschickt begonnen 
hatte aufierst aufgebracht. Es ergab sich, daft sie Geld wollte, um 
eine Wohnung zu nehmen, von der sie gehort hatte, dafi sie zu 
haben sei. Ich wollte schon einen andern Weg einschlagen, aber sie 
hielt mich, klammerte sich an mich, wie sie es kaum je getan hat, 
sprach aber dabei stets im gleichen Sinne weiter. Ich sagte schliefi- 
lich, aufier mir vor Zorn, sie habe mich belogen. Denn brieflich 



370 Autobiographische Schriften 

habe sie mir zugesagt, gleich mir das Geld fur meine berliner Ausla- 
gen zu ersetzen, und bisher hatten weder sie noch Reich mit einem 
Sterbenswort davon (g)esprochen. Das machte sie sehr betroffen. 
Ich wurde heftiger, verfolgte meinen Angriff weiter und schliefilich 
ging sie mitten darin fort, schneller die Strafie entlang. Ich folgte ihr 
nicht, bog vielmehr senkrecht ab und ging nach Hause. - Fiir den 
Abend war ich mit Gnedin verabredet. Er sollte mich abholen und 
zu sich nach Hause nehmen. 2 war kam er, aber wir blieben auf 
meinem Zimmer. Er bat mich um Verzeihung, dafi er mich nicht zu 
sich nahm: seine Frau stehe vor einem Examen, so dafi sie keine Zeit 
habe. Unser Gesprach dauerte bis gegen elf, ungefahr drei Stunden. 
Ich begann mit der Erklarung meiner Betriibnis und Verstimmung, 
noch weniger von Rufiland kennen gelernt zu haben, als ich erwar- 
tet hatte. Und wir einigten uns bald, dafi nur, sehr viele Menschen 
zu sprechen, von den Verhaltnissen ein Bild geben konne. Er war 
iibrigens bemiiht, mir vor meiner Abreise noch dies oder jenes 
zuganglich zu machen. So traf er fiir den ubernachsten Mittag - 
einen Sonntag - mit mir fiir das Theater des Proletkult eine Verabre- 
dung. Aber als ich dann kam, fand ich ihn nicht da und ging wieder 
nach Hause. Auch versprach er mir, zu einer Klubvorstellung mich 
einzuladen, die aber noch nicht anberaumt war. Das geplante Pro- 
gramm bestand in einigen sozusagen experimentellen Vorfuhrun- 
gen neuer Zeremonien fiir Namengebung, Eheschliefiung u.s.w. 
Hier will ich einfiigen, dafi ich vor einiger Zeit von Reich d(ie) 
Namen der Babys in der kommunistischen Hierarchie erfuhr. Sie 
heifien von der Zeit ab, wo sie schon auf das Leninbildnis zeigen 
konnen »Oktjabrs«. Noch eine seltsame Vokabel lernte ich am glei- 
chen Abend kennen. Das ist der Ausdruck »gewesene Leute« fiir 
die von der Revolution depossedierten Biirgerkreise, die sich den 
neuen Verhaltnissen nicht haben anpassen konnen. Weiter sprach 
Gnedin von dem unaufhorlichen Organisationswandel, der noch 
auf Jahre hinaus bestehen bleiben werde, Jede Woche treten organi- 
satorische Veranderungen ein und man bemiiht sich, die besten 
Methoden herauszufinden. Auch iiber das Eingehen des Privatle- 
bens wurde gesprochen. Es bleibt eben keine Zeit. Gnedin erzahlte, 
dafi er in der Woche keinen Menschen bis auf die sieht, mit denen er 
in der Arbeit zu tun hat und seine Frau und sein Kind. Und 
Umgang, der fiir den Sonntag dann verbleibt, ist labil, denn wenn 
man nur drei Wochen aufter Kontakt mit Bekannten gekommen ist, 



Moskauer Tagebuch 371 

kann man schon ganz iiberzeugt sein, sehr lange nichts mehr von 
ihnen zu horen, weil inzwischen bei ihnen neue Bekanntschaften 
sich an die Stelle der alten gesetzt haben. Spater begleitete ich Gne- 
din zur Bahn und wir sprachen auf der Strafte noch von Zollangele- 
genheiten. 

jj Januar. Vergeblicher Weg ins Spielzeugmuseum. Es war ge- 
schlossen, trotzdem, nach dem Fiihrer, es Sonnabend geoffnet ist. 
Am Morgen kam endlich die »Literarische Welt« - durch Hessel -, 
auf die ich schon so ungeduldig gewartet hatte, dafi ich jeden Tag 
telegrafisch in Berlin um ihre Zusendung bitten wollte. Asja ver- 
stand den »Wandkalender« nicht, Reich schien er nicht sonderlich 
zu gefallen. Vormittags irrte ich wieder herum, suchte zum zweiten 
Male vergeblich in die graphische Ausstellung einzudringen und 
schlug mich endlich, wiederum halb erfroren, in die Schtschukin- 
Galerie durch. Der Griinder war ebenso wie sein Bruder, Textilin- 
dustrieller und vielfacher Millionar. Beide waren Mazene. Von 
einem stammt der Bau des Historischen Museums (sowie ein Teil 
von dessen Sammlungen) von dem anderen diese grofiartige Galerie 
neuer franzosischer Kunst. Wenn man durchfroren die Treppe hin- 
aufsteigt, erblickt man oben, im Stiegenhaus die beriihmten Wand- 
bilder von Matisse, nackte Gestalten in rhythmischer Anordnung 
auf einem Hintergrund von gesattigtem rot, so warm und strahlend, 
wie man ihn bei russischen Ikonen findet. Matisse, Gauguin und 
Picasso waren die grofien Passionen dieses Sammlers. Von Gauguin 
sind in einem Saal 29 Gemalde an die Wande gepfercht. (Ich machte 
iibrigens von neuem die Erfahrung - soweit das fliichtige Durch- 
streifen dieser grofien Sammlung diese Bezeichnung gestattet - dafi 
Gauguins Bilder mich feindlich anmuten, und dafi alles Gehassige 
aus ihnen mir entgegenschlagt, was der Nichtjude gegen Juden fiih- 
len kann. ()) - Picassos Werden kann man wahrscheinlich nirgends 
entfernt so von den friihen Bildern des Zwanzigjahrigen bis 19 14 
verfolgen, wie hier. Er mufi oft monatelang, z. B. wahrend der » gel- 
ben Periode« nur fur Schtschukin gemalt haben. Seine Bilder fiillen 
drei aneinanderstofiende Kabinette. Im ersten die Friihzeit, und 
unter diesen friihen Bildern zumal zwei, die mir auffielen: ein pier- 
rotartig gekleideter Mann, der mit der rechten Hand etwas wie 
einen Becher umspannt und ein Bild » Absinth trinkerin«. Dann die 
kubistische Periode um 191 1 als Montparnasse im Werden war und 
endlich die gelbe Periode, u. a. mit der Amitie und Studien dazu. 



372 Autobiographische Schriften 

Unweit davon hat Derain ein ganzes Zimmer. Neben sehr schonen 
Bildern seiner gewohnten Art sah ich ein ganz und gar befremdli- 
ches »le samedi«. Das grofie diistere Bild zeigt um einen Tisch 
Frauen in flamischer Tracht bei hauslicher Beschaftigung versam- 
melt. Figuren und Ausdruck erinnern aufs starkste an Memling. Bis 
auf das kleine Zimmer mit den Rousseaubildern sind die Sale sehr 
hell. Fenster mit grofien ungeteilten Scheiben gehen auf die Strafie 
und auf den Hof des Hauses hinaus. Hier gewann ich zum ersten 
Male eine fluchtige Vorstellung von Malern wie Van Dongen oder 
Le Fauconnier. Auf einem Bildchen von Marie Laurencin - ein 
Frauenkopf mit der zugehorigen, ins Bild hineinragenden Frauen- 
hand, aus der sich eine Blume entwickelt, erinnerte mich in derphy- 
siologischen Bildung an (Thankmar von) Munchhausen und 
machte mir seine verflossene Liebe zu Marie Laurencin evident. - 
Mittags erfuhr ich von Niemen, mein Interview sei erschienen. So 
ging ich mit der »Wetschernie Moskwa« und der »Literarischen 
Welt* versehen zu Asja. Aber der Nachmittag fiel dennoch nicht 
gut aus. Reich kam erst sehr viel spater. Asja iibersetzte fur mich das 
Interview. Ich hatte inzwischen eingesehen - nicht zwar dafi es 
»gefahrlich« erscheinen konne, wie Reich es vermutet hatte, wohl 
aber - dafi es in seinem Abschlufi weniger durch die Erwahnung von 
Scheerbart als durch die unsichere und unprazise Art dieser Erwah- 
nung schwach sei. Leider kam diese Schwache denn auch zum Vor- 
schein, wahrend der Anfang, die Konfrontation mit der italieni- 
schen Kunst, gut herauskam. Ich denke, es bleibt im ganzen doch 
niitzlich, dafi es erschienen ist. Vom Anfang war Asja gef esselt, aber 
das Ende war ihr mit Recht argerlich. Das beste ist, dafi es sehr grofi 
aufgemacht wurde. Ich hatte, des Streites am Vortage wegen, unter- 
wegs Kuchen fiir Asja gekauft. Sie nahm sie. Spater erklarte sie, 
gestern, nachdem wir uns getrennt hatten, habe sie nichts mehr von 
mir wissen wollen, gemeint wir wiirden uns nicht mehr (oder lange 
nicht mehr) sehen. Aber am Abend war sie, zu ihrer eigenen Ver- 
wunderung, anders gestimmt, und hat gefunden, dafi sie uberhaupt 
nicht lange auf mich bose sein kann. Wenn etwas vorgef alien sei, 
dann ende es immer so, dafi sie zuletzt nicht frage, ob nicht sie mich 
beleidigt habe. Leider, wie, weifi ich nicht mehr kam es dann spater, 
dieser Worte ungeachtet, doch zum Streit. 

i$>Januar (Fortsetzung). Kurz: nachdem ich Asja die Zeitung und 
die Zeitschrift gezeigt hatte, fiel das Gesprach wohl wieder auf das 



Moskauer Tagebuch 373 

Mifilungene an meinem Hiersein zuriick und als dann gar nochmals 
auf meine berliner Besorgungen die Rede kam und Asja eines daran 
ausstellte, verlor ich die Selbstbeherrschung und rannte wie ver- 
zweifelt zum Zimmer hinaus. Noch im Gang aber besann ich mich- 
besser gesagt, fiihlte ich, nicht die Kraft zum Weggehn zu haben 
und kam wieder zuriick mit den Worten: »Ich mochte hier noch ein 
wenig ganz ruhig sitzen.« Dann fanden wir uns sogar langsam ins 
Gesprach zuriick und als Reich kam, waren wir zwar beide 
erschopft aber ruhig. Hiernach nahm ich mir vor, es unter keinen 
Umstanden mehr zu solchem Streit kommen zu lassen, Reich sagte, 
er fiihle sich nicht wohl. In der Tat hatte der Krampf im Kinnbacken 
angehalten oder war schlimmer geworden. Er konnte nicht mehr 
kauen. Das Zahnfleisch war geschwollen und bald bildete sich ein 
Geschwur. Trotzdem, so sagte er, musse er diesen Abend in den 
deutschen Klub gehen. Er war namlich zum Mittler zwischen der 
deutschen Gruppe des Mapp und den moskauer Kulturdelegierten 
der Wolga-Deutschen gemacht worden. Als wir dann allein im 
Vestibiil waren, sagte er mir, er habe auch Fieber. Ich fiihle es an 
seiner Stirn und erklarte, keinesfalls konne er in den Klub gehen. Er 
schickte also mich hin, um fur ihn abzusagen. Das Haus lag nicht 
weit ab, aber ich hatte es mit so schneidendem Winde zu tun, dafi 
(es) mir kaum gelang, vorwarts zu kommen. Und endlich fand ich 
das Haus nicht. Erschopft kam ich zuriick und blieb zu Hause. 
16 Januar. Meine Abreise hatte ich auf Freitag, den 2i ten festge- 
setzt. Die Nahe des Termines machte meine Tage sehr anstrengend. 
Es waren viele Dinge kurz nach einander zu erledigen. Fur den 
Sonntag hatte ich mir zweierlei vorgenommen. Namlich nicht nur 
gegen 1 Uhr im Proletkulttheater Gnedin zu treffen, sondern vor- 
her in das Museum fur Malerei und Ikonographie (Astrauchoff) zu 
gehen. Das erste Vorhaben gelang schliefilich, das zweite nicht. 
Wieder war es sehr kalt, die Scheiben der Trambahn durch eine 
dicke Eisschicht ganz undurchsichtig. Ich fuhr zunachst weit iiber 
die Haltestelle hinaus, an der ich aussteigen mufke. Dann wieder 
zuriick. Im Museum traf es sich gliicklich, daft ein Kustode, der 
anwesend war, Deutsch sprach und mit mir die Sammlung durch- 
ging. Dem unteren Stockwerk, in dem russische Bilder vom Ende 
des vorigen und vom Anfang dieses Jahrhunderts hangen, widmete 
ich nur zum Schlufi ein paar Minuten. Ich tat gut, gleich anfangs in 
die Ikonensammlung hinaufzugehen. Sie ist im ersten Stock des 



374 Autobiographische Schriften 

niedrigen Hauses in schonen hellen Raumen untergebracht. Der 
Besitzer der Sammlung lebt noch. Die Revolution hat nichts an sei- 
nem Museum geandert, ihn zwar enteignet, als Direktor der Samm- 
lung ( aber) belassen. Dieser Astrauchoff ist Maler und hat vor vier- 
zig Jahren die ersten Ankaufe gemacht. Er war vielfacher Millionar, 
reiste iiberall herum und wollte endlich auch zum Sammeln fruher 
russischer Holzplastik ubergehen, als der Krieg ausbrach. Das alte- 
ste Stiick seiner Sammlung, ein byzantinisches Heiligenportrait, 
mit Wachsfarben auf eine Holztafel gemalt, geht ins sechste Jahr- 
hundert zuriick. Der grofite Teil der Bilder stammt aus dem fiinf- 
zehnten und sechzehnten. Ich lernte unter Anweisung meines Fiih- 
rers die Hauptunterschiede der Stroganoffschen und der Novgoro- 
der Schule kennen und bekam manche ikonographische Erklarung. 
Zum ersten Male bemerkte ich die Allegorie des besiegten Todes am 
Fufie des Kreuzes, die auf den hiesigen Ikonen so haufig ist. Auf 
schwarzem Grunde (wie gespiegelt in einer schlammigen Pfiitze) 
ein Totenkopf . Andere ikonographisch sehr merkwiirdige Darstel- 
lungen sah ich einige Tage darauf in der Ikonensammlung des histo- 
rischen Museums. So ein Stilleben der Marterwerkzeuge, auf dem 
Altar, um den sie gruppiert sind, spaziert der heilige Geist als Taube 
auf einem in herrlichem Rosa gemalten Tuche. Dann zwei schreck- 
liche Fratzen mit der Gloriole zu Christi Seiten: offenbar die Scha- 
cher, die so als eingegangen in das Paradies bezeichnet werden. Eine 
andere Darstellung - Mahlzeit dreier Engel, die ofter auftritt und im 
Vordergrunde immer die Schlachtung eines Lamms verkleinert und 
gleichsam emblematisch enthullt, war mir unklar. Ganz unzugang- 
lich sind mir natiirlich im Stofflichen die gemalten Legenden. Als 
ich dann aus dem ziemlich kxihlen Geschofi wieder herunterkam, 
war im Kamin inzwischen ein Feuer gemacht worden und das 
wenige Personal safi ringsherum und vertrieb sich den Sonntagvor- 
mittag. Gern ware ich geblieben, mufite aber hinaus in die Kalte. 
Die letzte Wegstrecke vom Telegraphenamt - dort war ich ausge- 
stiegen - bis zum Theater des Proletkult war furchterlich. Dann 
stand ich eine Stunde lang im Vorraum postiert. Mein Warten war 
aber ganz umsonst. Einige Tage spater horte ich dann, in genau 
demselben Raume sei auch Gnedin (gewesen) und habe auf mich 
gewartet. Es ist fast unerklarlich, wie das zugegangen sein kann. 
Dafi ich, erschopft wie ich war und bei meinem schlechten 
Gedachtnis fur Physiognomien ihn, in Mantel und Mutze, nicht 



Moskauer Tagebuch 375 

wiedererkannte, ist denkbar, aber dafi es ihm ebenso gegangen sei, 
klingt unglaublich. Nun fuhr ich zuriick, wollte urspriinglich in 
unserem Sonntagskeller essen, fuhr aber iiber die rechte Station hin- 
aus und fiihlte mich endlich so matt, daft ich lieber als ein Stuck zu 
Fufi zu gehen ganz auf das Mittagessen verzichten wollte. Dann 
aber nahm ich am Triumfalnaja-Platz meinen Mut zusammen und 
of mete die Tiir einer Stalowaja, die ich nicht kannte. Es sah sehr 
wirtlich aus und das Essen, das ich mir geben liefi, war nicht 
schlecht; der Borschtsch freilich nicht zu vergleichen mit dem, den 
wir sonst sonntaglich gewohnt waren. So hatte ich Zeit gewonnen, 
mich lange auszuruhen, bevor ich bei Asja erschien. Als sie mir 
dann beim Eintritt ins Zimmer gleich sagte, Reich sei krank, kam 
das mir nicht iiberraschend. Er hatte schon am Vorabend sich nicht 
mehr zu mir begeben sondern in das Zimmer von Asjas Genossin im 
Sanatorium. Nun lag er fest und bald ging Asja mit Manja zu ihm. 
Ich trennte mich von ihnen vor der Tiir des Sanatoriums. Da fragte 
Asja, was ich am Abend vorhabe. (»)Nichts, sagte ich, ich bleibe 
zu Hause.« Sie erwiderte nichts. Ich ging zu Basseches. Er war nicht 
da; es lag ein Zettel da, in dem er mich bat zu warten. Mir war es so 
eben recht; ich safi im Sessel mit dem Riicken dem nahen Ofen 
zugewandt, liefi mir Tee geben und sah deutsche Zeitschriften 
durch. Es dauerte eine Stunde bis er kam. Dann aber bat er mich, 
iiber den Abend zu bleiben. Ich kombinierte, sehr unruhig. Einer- 
seits wollte ich gern wissen, wie dieser Abend, zu dem ein weiterer 
Gast erwartet wurde, sich entwickeln werde. Auch war Basseches 
dabei, mir ein paar niitzUche Informationen iiber den russischen 
Film zu geben. Endlich erwartete ich auch ein Abendbrot. (Diese 
Erwartung wurde spater betrogen.) Asja telefonisch zu bestellen, 
daft ich bei Basseches bliebe, war unmoglich; es meldete sich nie- 
mand im Sanatorium. Endlich wurde ein Bote dorthin abggefertigt: 
Ich hatte Angst, er mochte zu spat kommen, ohne daft ich freilich 
gewulk hatte, ob schliefilich Asja wiirde zu mir kommen wollen. 
Am nachsten Tage sagte sie mir, das habe sie vorgehabt. Aber auf 
alle Falle bekam sie den Brief zur Zeit. Er lautete: »Liebe Asja ich 
bin abends bei Basseches. Morgen komme ich um 4 Uhr. Walter«. 
» Abends « und »bei« hatte ich erst in einem Worte geschrieben, 
dann einen schragen trennenden Strich dazwischen gezogen. Und 
so kam es, dafi Asja im ersten Augenblick »Ich bin abends frei« las. 
- Es erschien spater ein Dr. Kroneker, der in einer grofien russisch- 



}j6 Autobiographische Schriften 

oesterreichischen Gesellschaft als dsterreichischer Angestellter hier 
arbeitet. Von Basseches hone ich, er sei Sozialdemokrat. Ermachte 
aber einen klugen Eindruck, ist sehr weit gereist, und sprach sach- 
lich. Die Unterhaltung kam auf den Gaskrieg. Ich sprach dariiber 
und es machte auf beide Eindruck. 

ijjanuar. An meinem Besuche bei Basseches an dem Vortage war 
das Wichtigste, dafi mir gelang, ihn zu veranlassen, mir bei den 
Abreiseformalitaten behilflich zu sein. Also hatte er mich gebeten, 
am Montag (den i6 ten ) friih ihn abzuholen. Ich kam und er lag noch 
im Bett. Es war sehr schwer, ihn herauszuholen. Und es war viertel 
eins als wir schliefilich auf dem Triumfalnaja-Platz standen; schon 
um elf war ich bei ihm erschienen. Vorher hatte ich in der gewohn- 
ten kleinen Konditorei Kaffee getrunken und einen Kuchen geges- 
sen. Das war gut, denn durch die Menge der Besorgungen kam ich 
an diesem Tage um das Mittagessen. Zuerst gingen wir auf eine 
Bank in der Petrowka, weil Basseches Geld abheben mufite. Ich 
selber wechselte und behielt nur noch 50 Mark zuruck. Danach zog 
Basseches mich mit sich in ein kleines Kabinett, um einem Bankdi- 
rektor, den er kannte, mich vorzustellen. Es war ein Dr. Schick, 
Direktor der Aufienabteilung. Dieser Mann hatte sehr lange in 
Deutschland gelebt, dort studiert, stammt zweifellos aus sehr rei- 
chem Hause und hat neben der Ausbildung im Fach immer kiinstle- 
rische Interessen gepflegt. Er hatte mein Interview in der »Wet- 
schernie Moskva« gelesen. Zufallig kannte er von seiner deutschen 
Studienzeit her Scheerbart personlich. Der Kontakt war also sofort 
hergestelk und die kurze Besprechung endete mit einer Einladung 
zum Essen fur den 2o ten . Danach in der Petrowka, ich erhielt mei- 
nen Pafi. Sodann, im Schlitten, zum Narkomprofi, wo ich zum 
Grenziibertritt meine Papiere mir versiegeln liefi. Endlich gliickte 
an diesem Tage mein wichtiger Anschlag: ich konnte Basseches ver- 
anlassen, sich nochmals in einen Schlitten zu setzen und mit mir in 
das staatliche Warenhaus »Gum« in den oberen Handelsreihen zu 
fahren, wo die begehrten Puppen und Reiter waren. Wir kauften 
mit einander alles was noch davon vorhanden war und die zehn 
besten Stiicke suchte ich mir heraus. Jedes kostete nur 10 Kopeken. 
Meine scharfe Beobachtung hatte mich nicht betrogen: im Laden 
sagte man uns, diese Waren, die in Wjatka gemacht werden, kom- 
men nicht mehr nach Moskau herein: sie haben hier keinen Markt 
mehr. Was wir aufkauften waren also die letzten Stiicke. Dazu 



Moskauer Tagebuch 3 77 

kaufte Basseches noch Bauernstoff . Er ging mit seinen Paketen zum 
Essen ins Savoy, wahrend ich nur eben Zeit hatte, zu Hause alles 
abzustellen. Dann war es vier Uhr und ich mufite zu Asja. Man 
blieb nicht lange auf ihrem Zimmer, sondern ging zu Reich. Manja 
war schon dort. Aber es waren doch wieder ein paar Minuten, die 
wir auf diese Weise allein fur uns hatten. Ich bat Asja, am Abend zu 
mir zu kommen - bis halb elf sei ich frei - und sie versprach, nach 
Moglichkeit es zu tun. Reich ging es viel besser. An das, was beiihm 
gesprochen wurde, erinnere ich mich nicht mehr, Gegen sieben gin- 
gen wir fort. Nach dem Abendessen wartete ich auf Asja vergeblich 
und gegen viertel elf fuhr ich zu Basseches. Aber auch dort war 
niemand. Es hiefi, er sei den ganzen Tag nicht zuriickgekommen. 
Die Zeitschriften dort kannte ich oder sie widerten mich an. Ich war 
gerade im Begriff, nach halbstiindigem Warten die Treppe herun- 
terzugehen, als mir seine Freundin begegnete und-warum weifi ich 
nicht genau: vielleicht weil sie im Klub nicht allein mit ihm sein 
wollte- mich dringend aufforderte, noch zu warten. Ich tat es. Bas- 
seches kam dann auch; er hatte der Rede beiwohnen miissen, die 
Rykow auf dem Kongresse der Aviachim gehalten hatte. Ich liefi 
ihn meinen Fragebogen zum Gesuch um das Ausreisevisum ausfiil- 
len und damit gingen wir. Schon in der Elektrischen wurde ich 
einem Dramatiker, Komodienschreiber, vorgestellt, der auch in 
den Klub ging. Kaum hatten wir im iiberfiillten Raum einen Tisch 
gefunden und uns zu dreien daran plaziert, als, zum Zeichen, es 
beginne das Konzert, das Licht ausging. Man mufite aufstehen. Ich 
nahm mit Basseches im Vorzimmer Platz. Nach einigen Minuten 
erschien - im Smoking, eben von einem Diner kommend, das eine 
grofie englische Gesellschaft in der Bolschaia Moskowskaja gege- 
ben hatte - der deutsche Generalkonsul. Er war gekommen, um 
sich mit zwei Damen, welche er dort getroffen hatte, Rendezvous 
( zu geben ) , hielt sich aber, da sie nicht kamen, an uns. Eine Dame - 
angeblich eine ehemalige Prinzessin - sang mit sehr schoner Stimme 
Volkslieder. Ich stand bald im dunklen Speisesaal, vor dem Durch- 
gang zum erhellten Musiksaal, bald safi ich im Vorzimmer. Einiges 
sprach ich mit dem Generalkonsul, der sich durchaus zuvorkom- 
mend benahm. Aber sein Gesicht war roh, von Intelligenz nur sehr 
oberflachlich angeschliffen und er pafite durchaus zu dem Bild, das 
ich seit meiner Seereise und den Zwillingsgestalten Frank und Zorn 
mir vom deutschen Auslandsvertreter mache. Beim Essen waren 



378 Autobiographische Schriften 

wir nun vier, denn auch der Botschaftssekretar nahm mit uns am 
Tische Platz und hier konnte ich ihn sehr bequem beobachten. Das 
Essen war gut, es gab wieder den gewurzten Wodka, Vorspeisen, 
zwei Gauge und Eis. Das Publikum war das Schlechteste. Wenig 
Kiinstler - von welcher Art immer - desto mehr Nep-Bourgeoisie. 
Es ist auffallend, wie diese neue Bourgeoisie durchaus verfehmt 
sogar bei den Vertretern der auslandischen ist - nach den Worten 
des Generalkonsuls iiber sie zu schliefien, die mir in diesem Fall 
ehrlich gemeint zu sein scheinen. Die ganze povere Natur dieser 
Klasse zeigte sich bei dem nachfolgenden Tanz, der einem unap- 
petitlichen kleinstadtischen Schwof glich. Getanzt wurde sehr 
schlecht. Leider dehnte sich durch die Tanzlust der Freundin von 
Basseches das Vergnugen bis vier aus. Mich hatte der Wodka 
to(d)mude gemacht, der Kaffee nicht ermuntert und dazu hatte ich 
Leibschmerzen. Ich war froh, als ich endlich im Schlitten safi und 
ins Hotel fuhr; gegen halb fiinf kam ich zu Bett. 
18 Januar. Am Vormittag besuchte ich in Manjas Zimmer Reich. 
Ich hatte ihm einiges zu bringen. Daneben aber kam ich in der 
Absicht, durch Freundlichkeit die Reibungen der letzten Tage vor 
seiner Erkrankung beizulegen. Indem ich aufmerksam dem 
Expose, das er fur ein Buch iiber Politik und Theater, das er in 
einem russischen Verlag erscheinen lassen will, folgte, gewann ich 
ihn. Wir besprachen daneben den Plan eines Buches uber Theater- 
fa au ten, wie er mit Poelzig es hatte schreiben konnen und wie es 
jetzt, nach den mehrfachen theaterwissenschaftlichen Untersu- 
chungen iiber Szenenbild und Kostiim bestimmt auf grofies Inter- 
esse stofien wiirde. Bevor ich ging, holte ich ihm von der Strafie 
noch Zigaretten herauf und nahm einen Auftrag fur das Dom Ger- 
zena entgegen. Dann ging ich ins Historische Museum. Hier blieb 
ich langer als eine Stunde in der aufierordentlich reichen Ikonen- 
sammlung, wo ich in grofier Menge auch spatere Werke des XVII 
und XVIII Jahrhunderts fand. Wie lange aber das Chris tuskind 
braucht, um die Bewegungsfreiheit auf dem Arm der Mutter zu 
gewinnen, die es in jenen Epochen ausiibt. Und ebenso dauert es 
Jahrhundertelang, bis sich die Hand des Kindes und die Hand der 
Gottesmutter finden: die Maler von Byzanz stellen sie nur einander 
gegeniiber. Fliichtig durchschritt ich nachher die archaologische 
Abteilung und verweilte nur noch vor einigen Tafeln vom Athos. 
Beim Verlassen des Museums kam ich dem Geheimnis der erstaun- 



Moskauer Tagebuch 379 

lichen Wirkung der Blagoweschtschenski-Kathedrale ein wenig 
naher, die mein erster grofier einzeln zu bezeichnender Eindruck in 
Moskau gewesen war. Es ist an dem, dafi der rote Platz wenn man 
vom Revolutionsplatz her ihn betritt, ein wenig ansteigt und die 
Kuppeln der Kathedrale allmahlich so wie hinter einem Berg auf- 
tauchen. Es war an diesem Tage sonnig und schon und ich erblickte 
sie wieder mit grofier Freude. Im Dom Gerzena bekam ich kein 
Geld fur Reich. Als ich um viertel funf vor Asjas Zimmerture stand, 
war drinnen al(le)s dunkel. Zweimal klopfte ich leise und da mir 
drinnen niemand Antwort gab, ging ich ins Spielzimmer, um zu 
warten. Ich las die Nouvelles Litteraires. Als aber auch eine Viertel- 
stunde spater keine Antwort kam, offnete ich und fand niemanden 
vor. Verstimmt - dafi Asja schon so friih, ohne auf mich zu warten, 
fortgegangen war, ging ich zu Reich, um dennoch den Versuch zu 
machen, fur den Abend mich mit ihr zu verabreden. Mit ihr ins 
Malaia Theater zu gehen, wie ich es vorgehabt hatte, hatte Reich mir 
unmdglich gemacht, indem er sich, am Morgen, dagegen geaufiert 
hatte. (Als ich dann spater wirklich die Billetts fur diesen Abend 
erhielt, konnte ich keinen Gebrauch davon machen.) Oben legte ich 
meine Sachen gar nicht ab und blieb sehr schweigsam. Manja 
erklafte wieder irgend etwas, hochst eifrig und mit schrecklich lau- 
ter Stimme. Sie zeigte Reich einen statistischen Atlas. Plotzlich 
wandte sich Asja an mich und sagte mir unvermittelt, am letzten 
Abend sei sie nicht gekommen, sie hatte grofie Kopfschmerzen 
gehabt. Ich lag im Paletot auf dem Sofa und rauchte die kleine 
Pfeife, die ich in Moskau ganz ausschliefilich benutzte. Schliefilich 
gelang mir, (bei) Asja irgend wie anzubringen, sie solle nach dem 
Abendbrot zu mir kommen, wir wiirden fortgehen oder ich wiirde 
ihr die lesbische Szene vorlesen. Und darauf nahm ich mir vor nur 
noch wenige Minuten (zu bleiben), damit es nicht den Anschein 
hatte, ich sei nur gekommen, um das zu sagen. Also stand ich bald 
auf, sagte, ich wolle gehen. »Wohin?« »Nach Hause.« »Ich dachte, 
Du kommst noch mit in das Sanatorium. « »Bleibt Ihr nicht bis sie- 
ben hier?« fragte ich etwas scheinheilig. Ich hatte ja am Vormittag 
gehort, dafi bald Reichs Sekretarin kommen solle. Schliefilich blieb 
ich wohl, ging aber nicht mit Asja ins Sanatorium. Ich hielt ihr 
Kommen abends fur wahrscheinlicher, wenn ich ihr jetzt die Zeit 
gab, sich auszuruhen. Indessen kaufte ich Caviar, Mandarinen, 
Konfekt, Kuchen fur sie ein. Auch hatte ich zwei Tonpuppen auf 



380 Autobiographische Schriften 

dem Fensterbrett, wo ich die Spielsachen verstaue, stehen, von 
denen sie eine sich aussuchen sollte. Und wirklich kam sie- erst mit 
der Erklarung: »Ich kann nur fiinf Minuten bleiben und mufi gleich 
wieder zuriick sein.« Aber diesmal war es nur Scherz. Gewifl hatte 
ich gefiihlt, da8 sie in den letzten Tagen - unmittelbar nach den 
heftigen Streitigkeiten - sich starker zu mir hingezogen gefiihlt 
hatte. Aber ich wufite nicht, in welchem Grad. Ich war guter Laune 
als sic kam, denn ich hatte eben viel Post mit einigen angenehmen 
Nachrichten von (Willy) Wiegand, (Arthur) Miiller-Lehning, 
Else Heinle erhalten. Die Brief e lagen noch auf dem Bette, wo ich 
sie gelesen hatte. Dann schrieb mir Dora, es gehe Geld ab und so 
beschlofi ich, meinen Aufenthalt noch etwas zu verlangern. Das 
sagte ich ihr, und darauf fiel sie mir um den Hals. Ich war durch eine 
wochenlange sehr schwierige Konstellation der Dinge von der 
Erwartung solcher Geste so meilenweit entfernt, dafi es Zeit 
brauchte, bis sie mich glucklich machte. Ich war wie ein Gefafi mit 
engem Halse, in das man Flussigkeit aus einem Eimer schuttet. So 
hatte ich mich willentlich allmahlich verengt, dafi ich fur voile 
starke Eindriicke von auften kaum mehr zuganglich war. Aber das 
wich dann im Laufe des Abends von mir. Erst bat ich Asja noch 
unter den herkommlichen Beteuerungen um einen Kufi. Dann aber 
war es auf einmal, als kehre man eine elektrische Schaltung um, und 
nun forderte sie, wahrend ich sprach oder vorlesen wollte, immer 
von neuem, dafi ich sie kiisse. Wir holten Zartlichkeiten, die beinah 
vergessen waren, herauf. Unterdessen gab ich ihr, was ich zu 
(e)ssen gebracht hatte und die Puppen; sie wahlte eine und jetzt 
steht sie gegeniiber von ihrem Bett im Sanatorium. Auch kam ich 
noch einmal auf den Aufenthalt in Moskau zu sprechen. Und da sie 
am Vortage, als wir zu Reich auf dem Wege waren, wirklich mir die 
entscheidenden Worte gesagt hatte, so brauchte ich sie nur zu wie- 
derholen: »In meinem Leben ist Moskau nun einmal so angelegt, 
dafi ich es nur durch Dich erfahren kann - das ist wahr, ganz abgese- 
hen von Liebesgeschichten, Sentimentalitat etc.« Dann aber, und 
auch das hatte sie mir zuerst ausgesprochen, sind ja sechs Wochen 
nur eben die Zeit, in einer Stadt sich ein wenig heimisch zu machen, 
zumal wenn man die Sprache nicht kennt und Widerstand durch 
diese auf Schritt und Tritt erfahrt. Asja liefi mich die Brief e wegrau- 
men und legte sich aufs Bett. Wir kiifiten uns viel. Aber die tiefste 
Erregung ging mir von der Beruhrung ihrer Hande aus, von denen 



Moskauer Tagebuch 3 8 1 

sie mir ja auch friiher schon sagte, wie alle, die an sie gebunden 
seien, die starksten Krafte von ihnen ausstrahlen fiihlten. Ich legte 
die rechte Innenhand ganz dicht an ihre linke und so blieben wir 
lange. Asja erinnerte an den schonen ganz winzigen Brief, den ich 
ihr einmal nachts in der via Depretis in Neapel gegeben hatte, als wir 
vor einem kleinen Cafe auf der fast menschenleeren Strafie am 
Tische safien. Ich will in Berlin nachsehen, dafi ich ihn finde. Dann 
las ich die lesbische Szene aus Proust vor. Asja begriff den wilden 
Nihilismus darin: wie Proust gewissermafien in das wohlgeordnete 
Kabinett im Inneren des Spiefiers dringt, das die Aufschrift »Sadis- 
mus« tragt und erbarmungslos alles zu Stiicken haut, so daft von der 
blitzblanken, arrangierten Konzeption der Lasterhaftigkeit nichts 
bleibt, vielmehr an alien Bruchstellen das Bose uberdeutlich 
»Menschlichkeit«, ja »Giite«, seine wahre Substanz zeigt. Und 
wahrend ich das Asja auseinandersetzte, wurde mir klar, wie sehr 
das mit der Tendenz meines Barockbuches ubereingeht. Ganz wie 
mir am Abend vorher, als ich einsam im Zimmer las und auf die 
aufSerordentliche Darlegung iiber die Caritas des Giotto geriet, mir 
klar wurde, daft Proust an ihr eine Auffassung entwickelt, die sich 
mit allem dem deckt, was unter dem Begriff der Allegorie ich selbst 
zu erfassen suchte. 

79 Januar. Zu diesem Tag ist fast nichts zu bemerken. Da die 
Abreise hinausgeriickt war, erholte ich mich etwas von den Besor- 
gungen und den Besichtigungen der letzten Tage. Reich hatte zum 
ersten Mai wieder bei mir geschlafen. Morgens kam Asja. Sie muftte 
aber bald weiter, zu einer Besprechung die auf ihre Anstellung sich 
bezog. In der kurzen Zeit ihrer Anwesenheit gab es ein Gesprach 
iiber den Gaskrieg. Erst widersprach sie mir dabei heftig; aber 
Reich griff ein. Am Ende sagte sie, ich solle das schreiben, was ich 
gesagt habe und ich nahm mir vor, einen Artikel iiber die Frage fin- 
die »Weltbiihne« zu verfassen. Kurze Zeit nach Asja ging auch ich. 
Ich traf Gnedin an. Unser Gesprach war fliichtig; wir stellten das 
Miftgeschick vom Sonntag mit einander fest, er lud mich fur den 
nachsten Sonntag abend zu Wachtangoff ein und gab mir dann noch 
einige Weisungen fur die Gepackverzollung. Auf dem Hin- und 
Riickweg zu Gnedin passierte ich das Tscheka-Gebaude. Davor 
geht immerzu ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonette auf und ab. 
Sodann zur Post; ich telegrafierte um Geld. Mittag aft ich in unserm 
sonntaglichen Keller, fuhr dann nach Hause und ruhte mich aus. Im 



382 Autobiographische Schriften 

Vestibiil des Sanatoriums begegnete mir von der einen Seite Asja 
und gleich darauf, von der anderen, Reich. Asja mufite baden. Ich 
spielte solange mit Reich auf ihrem Zimmer Domino. Dann kam 
Asja und erzahlte von den Aussichten, die ihr der Vormittag eroff- 
net hatte, der Moglichkeit, die Stelle einer Hilfsregisseurin in einem 
Theater auf der Twerskaja zu bekommen, in welchem zweimal in 
der Woche fur proletarische Kinder gespielt wird. Abends war 
Reich bei Illesch. Ich ging nicht mit. Gegen elf erschien er auf mei- 
nem Zimmer; nun war aber nicht mehr Zeit, wie wir es geplant 
hatten, in ein Kino zu gehen. Kurzes, ziemlich ergebnisloses 
Gesprach iiber die Leiche im vorshakespeareschen Theater. 
2oJanuar. Vormittags schrieb ich langere Zeit auf meinem Zimmer. 
Da Reich um ein Uhr auf der Enzyklopadie zu tun hatte, so wollte 
auch ich bei dieser Gelegenheit hingehen, weniger um mein Goe- 
the-Expose durchzudriicken (darauf machte ich mir durchaus keine 
Hoffnung) als um einem Vorschlag Reich(s) nachzukommen und 
in seinen Augen nicht indolent zu erscheinen. Auch hatte er andern- 
falls bei der Ablehnung des Goethe-Exposes mangelndem Eifer bei 
mir die Schuld geben konnen. Ich konnte mir schwer das Lachen 
verbeifien, als ich dann endlich dem betreffenden Professor gegen- 
iibersafi. Kaum hatte er meinen Namen erfahren, so sprang er auf, 
holte mein Expose heran sowie zu seiner Unterstiitzung einen 
Sekretar. Der begann, mir Artikel iiber Barock anzubieten. Ich 
machte die Ubertragung des Schlagwortes »Goethe« zu der Bedin- 
gung jeder anderen Mitarbeit. Dann zahlte ich meine erschienenen 
Schriften auf, stellte, wie Reich mich angewiesen hatte, mein Ver- 
mogen ins Licht und als ich gerade dabei war, trat Reich ein. Er 
nahm aber entfernt von mir Platz und sprach mit einem anderen 
Beamten. Mir sagte man Bescheid in wenigen Tagen zu. InrVor- 
zimmer hatte ich dann noch lange auf Reich zu warten. Wir gingen 
endlich; er erzahlte mir, daft man erwage, Walzel den Artikel » Goe- 
the* anzutragen. Wir gingen zu Pansky. Es ist unglaubhaft - aber 
dennoch moglich - daft er, wie Reich mir spater sagte, siebenund- 
zwanzig Jahre alt ist. Die Generation, die in der Revolutionszeit 
aktiv war, wird alt. Es ist als hatte die Stabilisierung der staatlichen 
Verhaltnisse in ihr eigenes Leben eine Ruhe, ja Gleichgiiltigkeit ein- 
ziehen lassen, wie man gewohnlich sie erst im Alter gewinnt. Ubri- 
gens ist Pansky durchaus nicht liebenswurdig und die Moskauer 
sollen es iiberhaupt nicht sein. Fur den kommenden Montag stellte 



Moskauer Tagebuch 383 

er mir die Vorfuhrung einiger Filme in Aussicht, die ich vor Abfas- 
sung eines Artikels gegen Schmitz, um den die »Literarische Welt« 
mich gebeten hatte, sehen wollte. Wir gingen essen. Nach dem 
Essen ging ich nach Hause, weil Reich zunachst allein mit Asja spre- 
chen wollte. Spater kam ich noch auf eine Stunde herauf und ging 
dann zu Basseches. Der Abend bei dem Bankdirektor Maximilian 
Schick brachte die eine grofte Enttauschung, daft es kein Abendbrot 
gab. Ich hatte mittags fast nichts gegessen und war ausgehungert. So 
frafi ich denn ganz unverschamt von dem Geback, als endlich der 
Tee serviert wurde. Schick ist aus sehr reicher Familie, hat in Mun- 
chen, Berlin und Paris studiert und bei der russischen Garde 
gedient, Jetzt bewohnt er mit Frau und einem Kind ein Zimmer, aus 
welchem freilich durch Portieren und Verschlage drei gemacht sind. 
Er ist wahrscheinlich ein recht gutes Muster von dem, was man hier 
einen »gewesenen Menschen« nennt. Er ist das nicht nur in soziolo- 
gischer Beziehung (in der ist er es nicht einmal durchaus, denn er hat 
eine sicherlich nicht unansehnliche Stellung). »Gewesen« ist seine 
produktive Periode. Er schrieb Gedichte etwa in der Zukunft und 
Artikel in heute langst verschollenen Zeitschriften. Aber er halt an 
seinen alten Passionen fest und hat in seinem Arbeitszimmerchen 
eine nicht allzu grofte aber erlesene Bibliothek franzosischer und 
deutscher Werke aus dem XIX Jahrhundert stehen. Von manchen, 
sehr wertvollen dieser Bucher erzahlte er Einkaufspreise, die bewei- 
sen, daft sie vom Handler fur Makulatur gehalten wurden. Beim Tee 
versuchte ich, Informationen liber die neue russische Literatur von 
ihm zu erhalten. Diese Muhe war ganz vergeblich. Er geht in seinem 
Verstandnis kaum iiber Brjussoff hinaus. Dabei safl immer eine 
kleine ganz niedliche Frau, der man es ansieht, daft sie nicht arbei- 
tet. Sie interessiert sich aber auch fur Bucher nicht und es traf sich 
gut, daft Basseches sich etwas mit ihr beschaftigte. Fur einige Gefal- 
ligkeiten, die er in Deutschland sich von mir erhofft, uberhaufte er 
mich mit wertlosen, uninteressanten Kinderbiichern, die ich nicht 
alle ablehnen konnte. Nur eines nahm ich gern mit, das zwar auch 
kaum Wert besitzt, aber hubsch ist. Beim Fortgehen lockte mich 
Basseches mit dem Versprechen, mir ein Hurencafe zeigen zu wol- 
len, gliicklich noch bis in die Twerskaja. Ich sah zwar im Cafe nichts 
Bemerkenswertes, kam aber jedenfalls dazu noch etwas kalten 
Fisch und einen Krebs zu essen. In einem Galaschhtten fuhr er mich 
bis an die Kreuzung der Sadowaja und der Twerskaja zuriick. 



384 Autobiographische Schriften 

21 Januar. Das ist der Todestag Lenins. Alle Vergniigungslokale 
bleiben geschlossen. Der Feiertag fiir Laden und Biiros ist aber, aus 
Riicksicht auf das »Regime 6konomie« erst am folgenden Tag 
einem Sonnabend, der ohnehin nur halber Arbeitstag ist. Friih fuhr 
ich zu Schick auf die Bank und dort erfuhr ich, dafi fiir Sonnabend 
der Besuch bei Muksin festgesetzt wurde, bei dem ich eine Kinder- 
buchersammlung ansehen sollte. Gewechselt und ins Spielzeugmu- 
seum gefahren. Diesmal kam ich endlich einen Schritt weiter. Fiir 
Dienstag versprach man mir Auskunft iiber die Photographien, die 
ich anfertigen lassen wollte. Dann aber bekam ich Bilder zu sehen, 
zu denen Negative vorhanden sind. Da sie sehr viel weniger kosten, 
so bestellte ich ungefahr zwanzig davon. Auch diesmal studierte ich 
besonders die Tonwaren aus Wjatka. - Mich hatte am Vorabend, als 
ich gerade am Fortgehen war, Asja aufgefordert, um zwei Uhr Mit- 
tags mit ihr in das Kindertheater zu kommen, das in der Twerskaja, 
im Hause des Kino »Ars« spielt. Aber als ich hinkam, war das Thea- 
ter verlassen; ich sah, dafi man an diesem Tage schwerlich spielen 
werde. Endlich verwies mich auch mit der Bemerkung, dafi das 
Theater geschlossen sei, der Aufseher aus einem Vestibul, in dem 
ich mich warmen wollte. Nachdem ich draufien eine Weile gestan- 
den hatte, kam Manja mit einem Zettel von Asja. Darauf stand, sie 
habe sich geirrt und die Auffuhrung sei Sonnabend, nicht Freitag. 
Hierauf kaufte ich mit Manjas Unterstiitzung Kerzen ein. Meine 
Augen waren schon ganz entziindet vom Kerzenlicht. Weil ich fiir 
die Arbeit Zeit sparen wollte, ging ich nicht in das Dom Gerzena 
(das iibrigens an diesem Tage vermutlich geschlossen hatte) sondern 
in d{ie) Stolowaja in meine(r) Nahe. Das Essen war teuer aber 
nicht schlecht. Auf dem Zimmer aber schrieb ich nicht am Proust, 
wie ich mir das vorgesetzt hatte, sondern an einer Entgegnung auf 
den schlechten und frechen Nekrolog, den Franz Blei iiber Rilke 
verfafit hatte. Spater las ich ihn bei Asja vor und was Asja dariiber 
sagte, veranlafite mich, noch am gleichen Abend und am folgenden 
Tage ihn umzuarbeiten. Ubrigens ging es ihr nicht gut. - Spater afi 
ich mit Reich im gleichen Restaurant, in dem ich mittags gewesen 
war. Er ging zum ersten Male dort hinein. Dann kauften wir etwas 
ein. Am Abend war er bis gegen halb zwolf bei mir und wir gerieten 
in ein Gesprach, in dem wir einander ausfiihrlich alles berichteten, 
was wir von unserer Knabenlektiire behalten hatten. Er safi im Ses- 
sel, ich lag auf dem Bett. Ich kam in diesem Gesprach der merkwiir- 



Moskauer Tagebuch 385 

digen Tatsache auf die Spur, dafi ich als Junge schon mich in der 
Lektiire abseits von dem hielt, was allgemeiner Lesestoff war. Der 
»Neue deutsche Jugendfreund« von Hoffmann ist fast die einzige 
damals typische Jugendlektiire, die ich auch las. Daneben naturlich 
die ausgezeichneten Hoffmann-Bande, Lederstrumpf, Schwabs 
Sagen des klassischen Altertums. Aber weder habe ich von Karl 
May mehr als einen Band gelesen noch kenne ich den »Kampf um 
Rom«, noch die Seeromane von Worishoffer. Auch von Gerstacker 
las ich nur einen Band und der muE eine etwas schwiile Liebesge- 
schichte enthalten haben (oder las ich ihn nur, weil ich das von 
einem Buch des Verfassers gehort hatte?) namlich, die Regulatoren 
von Arkansas. Auch entdeckte ich, dafi meine ganze Kenntnis der 
klassischen dramatischen Literatur auf das Lesekranzchen zuriick- 
geht. 

22 Januar. Ich war noch nicht gewaschen, safi aber schreibend am 
Tisch als Reich kam. An diesem Morgen war ich zur Geselligkeit 
noch weniger als an anderen aufgelegt. Ich liefi mich auch in der 
Arbeit nur wenig storen. Als ich aber gegen halb zwei fortgehen 
wollte und Reich mich fragte »wohin« erfuhr ich, dafi auch er in das 
Kindertheater ging, zu dem Asja mich eingeladen hatte. Mein gan- 
zer Vorzug also war, schon einen Tag friiher eine halbe Stunde ver- 
geblich vor dem Portal gestanden zu haben. Nichtsdestoweniger 
ging ich voraus, um in dem gewohnten Cafe etwas Warmes zu trin- 
ken. Aber auch Cafes waren an diesem Tage geschlossen und dieses 
noch dazu in der »Remonte« begriffen. So ging ich also langsam die 
Twerskaja bis zum Theater entlang. Spater kam Reich, dann auch 
Asja mit Manja. Da wir eine Gesellschaft zu vieren geworden 
waren, war mein Interesse an der Sache nur noch sehr gering. Bis 
zum Ende konnte ich sowieso nicht bleiben, weil ich um halb vier 
bei Schick sein mufite. Ich forcierte auch nicht, in der Bahn Platz 
neben Asja zu nehmen, sondern safi zwischen Reich und Manja. 
Asja hielt Reich an, mir zu ubersetzen, was gesagt wurde. Das Snick 
schien von der Griindung einer Conservenfabrik zu handeln und 
einen stark chauvinistischen Einschlag gegen England zu haben. In 
der Pause ging ich. Nun bot mir Asja sogar, um mich zum Bleiben 
zu veranlassen, den Platz neben sich an, aber ich wollte nicht zu spat 
und vor allem nicht erschopft bei Schick ankommen. Er selber war 
noch garnicht ganz fertig. Im Omnibus sprach er von seiner Pariser 
Zeit, wie Gide ihn einmal besucht hatte u.s.w. Der Besuch bei 



386 Autobiographische Schriften 

Mufikin war lohnend. Ich sah zwar nur ein wirklich bedeutendes 
Kinderbuch, einen Schweizer Kinderkalender auf 1837, ein schma- 
les Bandchen mit drei sehr schonen kolorierten Tafeln, aber von 
russischen Kinderbiichern sah ich so viel, dafi ich mir einen Begriff 
vom Stande der Illustration in ihnen machen konnte. Sie hangt im 
allerstarksten Mafi von der deutschen ab. Zu vielen Biichern wur- 
den die Illustrationen in lithographischen Anstalten Deutschlands 
hergestellt. Viele deutsche Biicher wurden kopiert. Die russischen 
Ausgaben des Struwwelpeter, die ich dort sah, sind sehr roh und 
unschon. Muskin legte Zettel in die einzelnen Biicher und ver- 
merkte darauf die Angaben, die ich ihm machte. Er ist Leiter der 
Abteilung des Gosverlages, die sich mit Kinderbiichern beschaftigt. 
Einige Stiicke seiner Produktion zeigte er mir, es waren Biicher 
dabei, zu denen er selber den Text gemacht hatte. Ich setzte ihm 
meinen grofien Plan iiber das Dokumentarwerk »Die Phantasie« 
auseinander. Er schien nicht viel davon zu begreifen und iiberhaupt 
machte er einen mittelmafiigen Eindruck. Zu sehen, wie seine 
Bibliothek gehalten war, war ein Jammer. Er hatte keinen Platz, die 
Biicher aufzustellen, wie es notig ist, und alles stand und lag auf 
Regalen im Korridor durcheinander. Der Teetisch war ziemlich 
reich bestellt und ohne daft man mich ermuntert hatte, afi ich sehr 
viel, da ich an diesem Tage weder Mittag- noch Abendessen hatte. 
Wir blieben gegen zweieinhalb Stunden. Zum Schlufi gab er mir 
noch zwei Biicher des Verlages mit, die ich im Stillen Daga ver- 
sprach. Abends zu Hause am Rilke und am Tagebuche gearbeitet. 
Aber- wie auch jetzt eben - mit so schlechtem Schreibmaterial, dafi 
mir nichts einfallt. 

2jjanuar. (Ich habe lange nicht am Tagebuch geschrieben und mufi 
zusammenfassend berichten.) An diesem Tage bereitete Asja alles 
zum Verlassen des Sanatoriums vor, Sie kam zur Rachlin; und 
damit endlich in ein angenehmes Milieu. Ich konnte in den folgen- 
den Tagen ermessen, welche Moglichkeiten sich mir in Moskau 
geboten hatten, wenn ein solches Haus sich f riiher fur mich geoff net 
hatte. Jetzt war es zu spat, um irgendwelche dieser Moglichkeiten 
auszunutzen. Die Rachlin wohnt im Hause des Zentralarchivs, in 
einer grofien sehr sauberen Stube. Sie lebt mit einem Studenten, der 
aber sehr arm sein und aus Stolz nicht bei ihr wohnen soil. Am 
zweiten Tage unserer Bekanntschaft, das war am Mittwoch, machte 
sie mir schon einen kaukasischen Dolch zum Geschenk, eine sehr 



Moskauer Tagebuch 387 

schone Silberarbeit, wenn auch nicht kostbar und fur Kinder 
bestimmt. Asja behauptete, dieses Geschenk hatte ich ihr zuzurech- 
nen. Fiir meine Begegnungen mit Asja waren die Tage ihres Aufent- 
halts bei der Rachiin iibrigens kaum giins tiger als die im Sanato- 
rium. Denn es war da immer ein roter General, der erst zwei 
Monate verheiratet war, aber Asja auf alle erdenkliche Art den Hof 
machte und sie bat, mit ihm nach Wladiwostok zu fahren. Dorthin 
war er namlich kommandiert. Seine Frau, so sagte er, wolle er hier 
in Moskau lassen. In diesen Tagen, genau gesagt am Montag, erhielt 
Asja einen Brief von Astachoff aus Tokio von Elvira aus Riga nach- 
gesandt. Sie sagte mir am Donnerstag, als wir gemeinsam Reich ver- 
liefien, ganz genau seinen Inhalt, sprach auch am Abend dieses 
Tages noch mit mir davon. Astachoff scheint sehr an sie zu denken 
und da sie einen Schal mit Kirschbluten von ihm wollte, so hat er - 
sagte ich ihr- wahrscheinlich ein halbes Jahr lang in Tokio nichts in 
den Auslagen beachtet als Shawls mit Kirschbluten. Am Vormittag 
dieses Tages diktierte ich die Notiz gegen Blei und einige Briefe. 
Nachmittags war ich sehr gut gestimmt, sprach mit Asja, erinnere 
mich aber nur noch, daft Asja, als ich eben ihr Zimmer verlassen 
hatte, um mit ihrem Koffer zu mir nach Hause zu gehen, noch ein- 
mal aus der Tiir trat und mir die Hand gab. Ich weifi nicht, was sie 
von mir erwartete, vielleicht garnichts. Ich begriff erst am nachsten 
Tage, dafi Reich eine ganze Intrigue angezettelt hatte, um mich den 
Koffer tragen zu lassen, weil er sich unwohl fuhlte. Am iibernach- 
sten Tage, nach der Ubersiedlung von Asja, legte er sich in Manjas 
Zimmer zu Bett. Aber der grippeartige Zustand besserte sich 
schnell. Ich blieb in den Geschaften meiner Abreise also weiter ganz 
auf Basseches angewiesen. Eine Viertelstunde nach meinem Fort- 
gang aus dem Sanatorium trafen wir uns an der Omnibushaltes telle. 
Ich war am Abend mit Gnedin im Theater Wachtangoff verabredet, 
mufite aber vorher mit Reich noch zu dessen Ubersetzerin herange- 
hen, um wenn moglich sie fiir den nachsten Vormittag zu gewin- 
nen, wo ich im Goskino Filme zu sehen bekommen sollte. Das 
gelang auch. Darauf setzte mich Reich in einen Schlitten und ich 
fuhr zu Wachtangoff. Eine Viertelstunde nach Beginn der Vorstel- 
lung kamen Gnedin und seine Frau. Ich war gerade dabei, mich 
endgiiltig zum Aufbrechen zu entschliefien und hatte mich in Erin- 
nerung an den letzten Sonntag im Proletkulttheater schon gefragt, 
ob Gnedin verriickt sei. Nun gab es auch keine Karten mehr. 



388 Autobiographische Schriften 

Schliefilich gelang es ihm doch, noch welche aufzutreiben; wir 
safien aber nicht zusammen und es traten wahrend der verschiede- 
nen Akte alle moglichen Permutationen unter uns ein, denn zwei 
Sitze lagen beieinander, einer fur sich. Gnedins Frau war breit, 
freundlich und still und hat trotz sehr ausgeglichener Ziige einigen 
Charme. Beide begleiteten mich nach dem Theater noch zum Smo- 
lensk-Plotschad, wo ich die Bahn nahm. 

24januar. Dieser Tag war iiberaus anstrengend und wenn ich auch 
zuletzt fast iiberall zu meinen Zwecken kam, verdriefilich. Es 
begann mit einem endlosen Antichambrieren im Goskino. Nach 
zwei Stunden begann die Vorfiihrung. Ich sah »Matj«, »Potemkin« 
und einen Teil vom »Prozefi um drei Millionen*. Diese Sache 
kostete mich einen Tscherwonez, weil ich aus Riicksicht auf Reich 
der Frau, die er mir vermittelt hatte, etwas geben wollte, sie aber 
keine Summe nannte und ich sie schliefilich funf Stunden hatte 
beanspruchen mussen. Es war sehr anstrengend, so lange in dem 
kleinen Raume, in dem wir meist die einzigen Zuschauer waren 
ohne Musikbegleitung soviel Film vor sich abrollen zu sehen. Im 
Dom Gerzena traf ich Reich. Er ging nach dem Essen zu Asja, ich 
erwartete die beiden bei mir, um dann mit ihnen gemeinsam zur 
Rachlin zu fahren. Aber zunachst kam nur Reich. Da ging ich weg, 
um meinen Geldbrief von der Post, die in der Nahe lag, abzuholen. 
Das dauerte gegen eine Stunde. Die Szene ware eine Beschreibung 
wert. Die Beamtin stellte sich mit diesem Briefe an, als ob ich ihr 
leibliches Kind ihr wegnehmen wolle und ware nicht nach einiger 
Zeit eine Frau an den Schalter getreten, die ein wenig franzosisch 
sprechen konnte, so ware ich unverrichteter Dinge wieder abgezo- 
gen. Erschopft kam ich im Hotel an. Nach einigen Minuten brachen 
wir mit Koffer, Manteln und Decke beladen zur Rachlin auf. Asja 
war unterdessen direkt hingefahren. Dort fand sich also eine grofie 
Gesellschaft zusammen, aufier dem roten General war eine Freun- 
din der Rachlin da, die mir eine Bestellung an eine pariser Freundin, 
eine Malerin mitgeben wollte. Es blieb weiterhin anstrengend. 
Denn die Rachlin - ein nicht unsympathisches Wesen - redete sehr 
viel auf mich ein; indessen fiihlte ich unbestimmt, wie sehr der 
General sich fur Asja interessiere und war dauernd bestrebt auf das, 
was zwischen den beiden vorging, zu achten. Dazu kam dann noch 
Reichs Anwesenheit. Ich mufite die Hoffnung, ein Wort mit Asja 
allein reden zu konnen, aufgeben; die wenigen, die ich im Fortge- 



Moskauer Tagebuch 389 

hen wechselte, waren bedeutungslos. Darauf ging ich noch einen 
Augenblick zu Basseches heran, urn Abreisetechnisches zu bespre- 
chen, und dann nach Hause. Reich schlief in Manjas Zimmer. 
25 Januar. Die Wohnungsnot bringt hier einen sonderbaren Effekt 
hervor: geht man abends durch die Strafien so sieht man, anders als 
in anderen Stadten, in grofien und kleinen Hausern fast jedes Fen- 
ster erleuchtet. Ware der Lichtschein, der aus diesen Fenstern 
dringt, nicht so ungleichmafiig, so konnte man an eine Illumination 
sich erinnert fuhlen. Noch eines habe ich in den letzten Tagen 
bemerkt: es ist nicht nur der Schnee, der einem Sehnsucht nach 
Moskau wiirde machen konnen, sondern auch der Himmel. In kei- 
ner andern Grofistadt hat man soviel Himmel iiber sich. Das 
machen die oft sehr niedrigen Hauser. Der weite Horizont der rus- 
sischen Ebene ist in dieser Stadt immer zu fuhlen. Neu und erfreu- 
lich war auf der Strafie ein Knabe, der ein Brett mit ausgestopften 
Vogeln vor sich her trug. Also auch solche Vogel verkauft man hier 
auf der Strafle. Noch viel merkwiirdiger war mir, dieser Tage einem 
»roten« Leichenzug auf der Strafle zu begegnen. Sarg, Wagen, Auf- 
zaumung der Pferde waren rot. Ein anderesmal sah ich einen 
Wagon der Elektrischen, der mit politischen Propagandabildern 
bemalt war, leider fuhr er schnell vorbei, so daft ich Einzelheiten 
nicht erkennen konnte. Es bleibt immer erstaunlich, wieviel Exoti- 
sches aus der Stadt herausspringt. Mongolische Gesichter sehe ich 
jeden Tag soviel ich will in meinem Hotel. Aber neulich standen 
davor auf der Strafte Figuren in roten und gelben Manteln, buddhi- 
stische Priester, wie mir Basseches sagte, die augenblicklich in Mos- 
kau einen Kongrefl abhalten. Die Schaffnerinnen in der Elektri- 
schen dagegen erinnern mich an primitive Volker im Norden. Sie 
stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen, wie Samoje- 
denfrauen auf ihrem Schlitten. - An diesem Tag konnte verschiede- 
nes positiv erledigt werden. Der Vormittag ging iiber Reisevorbe- 
reitungen hin. Ich hatte torichterweise meine Paflbilder versiegeln 
lassen, und liefl mich nun von einem Schnellphotographen am 
Straftnoi-Boulevard aufnehmen. Dann andere Gange. Am Vor- 
abend hatte ich, von der Rachlin aus, mich mit Illesch in Verbin- 
dung gesetzt und verabredet, ihn gegen zwei Uhr aus dem Narkom- 
proft abzuholen. Nach einiger Miihe fand ich ihn auf. Wir verloren 
viel Zeit, indem wir zu Fufl vom Ministerium zum Goskino gingen, 
wo Illesch mit Panski zu sprechen hatte. Ich war kurz vorher 



39° Autobiographische Schriften 

ungliickseligerweise auf den Gedanken gekommen, durch das Gos- 
kino mir Bilder vom »Sechsten Teil der Welt* zu verschaffen und 
trug diesen Wunsch Panski vor. Da bekam ich nun die abstrusesten 
Dinge zu horen: der Film solle im Ausland garnicht genannt wer- 
den; es seien Ausschnitte fremdlandischer Filme hineinmontiert 
worden, man wisse nicht einmal aus welchen eigentlich, miisse 
Unannehmlichkeiten befurchten - kurz er machte ein furchtbares 
Aufhebens. Weiter kam noch dazu, dafi er mit aller Gewalt Illesch 
veranlassen wollte, in der Angelegenheit der Verfilmung von 
» Attentat « sich sogleich mit ihm auf den Weg zu machen. Anstandi- 
gerweise blieb aber Illesch bei seiner Ablehnung, so dafi in einem 
nahegelegenen Cafe (Lux) mein Gesprach mit ihm schliefilich zu 
stande kam. Es brachte den erwarteten Ertrag; ich erhielt von ihm 
ein sehr interessantes Schema der gegenwartigen literarischen 
Gruppierung in Rufiland auf Grund der politischen Orientierung 
der verschiedenen Autoren. Danach ging ich sofort zu Reich. 
Abends war ich wieder bei der Rachlin, Asja hatte mich gebeten zu 
kommen. Ich war aufierst erschopft und nahm einen Schlitten. 
Oben fand ich den unvermeidlichen Iljuscha vor, der einen Berg 
von Siifiigkeiten eingekauft hatte. Ich selber brachte zwar nicht 
Wodka mit, wie Asja mich gebeten, denn den bekam ich nicht 
mehr, aber Portwein. An diesem Tage wie vor allem am folgenden 
hatten wir lange Telefongesprache, die sehr unseren berlinischen 
ahnelten. Asja liebt sehr, ins Telefon wichtige Dinge zu sagen. Sie 
sprach davon, im Grunewald bei mir wohnen zu wollen und war 
sehr unzufrieden, dafi ich sagte, das werde nicht gehen. Von der 
Rachlin also bekam ich an diesem Abend den kaukasischen Sabel 
geschenkt. Ich blieb, bis auch Iljuscha ging; ganz zufrieden war ich 
wohl nicht; spater am meisten, als Asja den Platz neben mir auf 
einem Sessel mit zwei Sitzen einnahm, wo die, welche dort Platz 
genommen haben, einander den Rucken zukehren. Aber sie kniete 
auf ihrem Sitz und hatte meinen seidenen pariser Kragenschoner 
umgenommen. Leider hatte ich schon zu Hause Abendbrot geges- 
sen, so dafi ich von den vielen Siifiigkeiten, die auf dem Tisch stan- 
den, nicht viel nehmen konnte. 

26Januar. An all diesen Tagen herrschte herrliches warmes Wetter. 
Moskau riickt mir wieder viel naher. Ich bekomme, wie in den 
ersten Tagen meines Aufenthaltes, Lust russisch zu lernen. Da es so 
warm ist und auch die Sonne nicht blendet, so sehe ich mich besser 



Moskauer Tagebuch 3 9 1 

auf den Strafien um und betrachte jeden Tag als doppelt und drei- 
fach geschenkc, weil er so schon ist, weil Asja mir jetzt ofter nahe ist 
und weil ich selbst ihn iiber die geplante Dauer meines Aufenthalts 
hinaus mir gegonnt habe. Ich sehe also auch vieles neue. Vor allem 
wieder andere Verkaufer: einen Mann, der Kinderpistolen in einem 
Biindel vorn die Schulter herunterhangen hat, hin und wieder aus 
einer, die er in der Hand halt, knallt, dafi es durch die klare Luft die 
Strafie entlang schallt. Auch viele Korbverkaufer mit allerhand 
Korbarten, bunten, die denen etwas ahnlich sehen, welche man 
iiberall auf Capri kaufen kann, doppelte Henkelkorbe mit einem 
strengen Quadratmuster, auf denen vier bunte Tupfen in der Mitte 
der Quadrate sitzen. Ich sah auch einen Mann mit einem grofien 
Reisekorb, durch dessen Geflecht sich griin und rot gefarbte Stroh- 
bander zogen; aber das war kein Verkaufer. - An diesem Morgen 
versuchte ich vergeblich, auf dem Zollamte meinen Koffer abferti- 
gen zu lassen. Da ich den Pafi nicht hatte (er war zur Erteilung des 
Ausreisevisums abgeliefert) so nahm man den Koffer zwar an, fer- 
tigte ihn jedoch nicht ab. Im ubrigen konnte ich vormittags nichts 
erledigen, aft in dem kleinen Kellerrestaurant und ging nachmittags 
zu Reich, dem ich auf Asjas Wunsch Apfel mitbrachte. Ich sah Asja 
an diesem Tage nicht, hatte aber, nachmittags und abends, zwei 
lange Telefongesprache mit ihr. Abends an der Erwiderung auf den 
Potemkin-Aufsatz von Schmitz geschrieben. 
2j]anuar. Ich trage immer den Mantel von Basseches. - Das war ein 
wichtiger Tag. Vormittags war ich nochmals im Spielzeugmuseum 
und es besteht nun eine Chance, dafi die Sache mit den Photogra- 
phien in Ordnung kommt. Ich sah die Gegenstande, die Bartram in 
seinem Arbeitszimmer hat. Sehr auffallend war eine rechteckige 
Wandkarte, schmal aber lang, die die Geschichte als eine Reihe von 
Stromen, verschiedenfarbigen kurvenreichen Bandern allegorisch 
vorstellte. Ins Strombette waren jeweilen die Daten und Namen in 
chronologischer Folge eingetragen. Die Karte stammte aus dem 
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, ich hatte sie einhundert- 
funfzig Jahre friiher angesetzt. Daneben gab es ein interessantes 
Spielwerk, eine Landschaft, welche an der Wand in einem glasernen 
Kasten hing. Das Werk war entzwei, auch die Uhr ausgebrochen, 
bei deren Schlagen friiher Windmuhlen, Brunnenziige, Fensterla- 
den und Personen sich bewegt hatten. Rechts und links hingen 
daneben, auch unter Glas, ahnliche Reliefkompositionen, der 



}$i Autobiographische Schriften 

Brand von Troja und Moses, wie er Wasser aus dem Felsen schlagt. 
Sie waren jedoch nicht beweglich. Sonst noch Kinderbiicher, eine 
Spielkartensammlung und vieles andere mehr. Das Museum war an 
diesem Tage (Donnerstag) nicht geoffnet und ich gelangte zu Bar- 
tram durch einen Hof. Man hat neben sich eine besonders schone 
alte Kirche. Es gibt im Stil der Kirchturme hier eine ganz erstaunli- 
che Verschiedenheit. Ich vermute, die schmalen, zierlichen, die von 
der Form eines Obelisken sind, mogen aus dem achtzehnten Jahr- 
hundert stammen. Diese Kirchen stehen auf den Hof en nicht anders 
als Dorfkirchen in der Mitte einer architektonisch nur sparlich 
bestellten Landschaft. Sofort darauf ging ich nach Hause, um einer 
riesigen Tafel mich zu entledigen - eines seltenen aber beschadigten 
und leider auf Karton geklebten Einblattdruckes, den Bartram mir 
als Duplikat aus seiner Sammlung zum Geschenk gegeben hatte. 
Darauf zu Reich. Dort traf ich Asja und Manja, die gerade gekom- 
men waren. (Die Bekanntschaft der reizenden Dascha, einer ukrai- 
nischen Judin, die in diesen Tagen fiir Reich kocht, machte ich erst 
beim folgenden Besuch.) Ich kam in eine gereizte Atmosphare und 
vermied nur mit Muhe, dafl sie sich nicht schon iiber mir entlud. 
Die Ansatze bekam ich zu fuhlen aber die Gegenstande waren zu 
belanglos, als daft ich Lust hatte, sie zu erinnern. So kam es denn 
gleich nachher zwischen Reich und Asja zu einem Ausbruch, als 
Asja ihm, maulend und argerlich, das Bett machte. Endlich gingen 
wir. Asja war innerlich mit den verschiedenen Bemuhungen 
beschaftigt, welche sie gerade unternahm, um zu einer Stelle zu 
kommen und davon sprach sie unterwegs. Ubrigens gingen wir 
zusammen nur bis zu der nachsten Haltestelle der Elektrischen. 
Eine gewisse Hoffnung bestand, sie am Abend zu sehen, ein Tele- 
fongesprach sollte jedoch erst entscheiden, ob sie nicht Knorrin 
aufzusuchen hatte. Ich hatte mich gewohnt, so wenig Hoffnung wie 
moglich auf solche Verabredungen zu setzen. Und als sie mich dann 
am Abend anrief , dafi sie Knorrin wegen zu grofier Miidigkeit abge- 
sagt hatte, nun aber unerwartet von der Schneiderin die Nachricht 
erhalten hatte, sie musse noch an diesem Abend kommen, ihr Rleid 
abzuholen, denn am nachsten sei niemand mehr in der Wohnung - 
die Schneiderin sollte ins Krankenhaus kommen - da machte ich mir 
garkeine Hoffnung mehr, sie am Abend zu sehen. Es kam aber 
anders: Asja bat mich, vorm Hause der Schneiderin sie zu treffen, 
und versprach, nachher mit mir noch irgendwo hin zu gehen. Wir 



Moskauer Tagebuch 393 

dachten an eines der Lokale am Arbat. Beinahe gleichzeitig kamen 
wir beim Hause der Schneiderin an, das neben dem Theater revolu- 
zie liegt. Davor mufite ich dann fast eine Stunde warten - und 
glaubte zuletzt bestimmt, Asja durch eine ganz kurze Abwesenheit 
bei der Besichtigung eines Hofes an diesem Hause, das deren nicht 
weniger als drei hatte, verfehlt zu haben. Seit zehn Minuten hatte 
ich mir wiederholt, mein Warten sei ohne alle Vernunft, als sie end- 
lich doch kam. Zum Arbat fuhren wir. Und dort gingen wir nach 
kurzem Schwanken in ein Gasthaus namens »Prag«. Wir stiegen die 
breite Treppe hinauf, die im Bogen von unten in den ersten Stock 
fuhrte und kamen in einen sehr hellen Saal, mit vielen Tischen, die 
zumeist unbesetzt waren. Am rechten Ende erhob sich eine Estrade 
und von da kam mit groflen Zwischenpausen Orchestermusik oder 
die Stimme eines Konferenziers oder Lieder eines ukrainischen 
Chores. Wir wechselten gleich zu Anfang den Platz, es zog Asja am 
Fenster. Sie schamte sich, weil sie mit zerrissenen Schuhen in ein so 
»feines« Lokal gekommen war. Bei der Schneiderin hatte sie das 
neue Kleid angezogen, das aus altem schwarzen von Motten bereits 
angef ressenen Stoffe gemacht worden war. Es stand ihr sehr gut, im 
ganzen ahneke es dem blauen, Anfangs sprachen wir von Asta- 
choff. Asja bestellte Schaschlik und ich ein Glas Bier. So safien wir 
uns gegeniiber, dachten manchmal an meine Abreise, sprachen 
davon und sahen uns an. Hier sagte es mir nun Asja, vielleicht zum 
ersten Male rund heraus, dafi sie eine Zeitlang sehr gerne mich hatte 
heiraten wollen. Und wenn es nicht geschehen sei, so hatte, wie sie 
denke, nicht sie verspielt sondern ich. (Vielleicht sagte sie nicht 
gerade so ein scharfes Wort »verspielt« ; ich weifi es nicht mehr.) Ich 
sagte, mich heiraten zu wollen - bei diesem Willen seien auch ihre 
Damonen im Spiel gewesen. - Ja, sie habe daran gedacht, wie 
unglaublich komisch das sei, wenn sie als meine Frau zu meinen 
Bekannten gekommen ware. Nun aber, nach der Krankheit, habe 
sie keine Damonen mehr. Sie sei ganz passiv. Jetzt werde aber nichts 
mehr aus uns werden. Ich: Aber ich halte an Dir fest, ich werde 
auch, wenn Du in Wladiwostok bist, nach Wladiwostok kommen. 
- Willst Du da auch beim roten General den Hausfreund spielen? 
Wenn er so dumm ist wie Reich, und Dich nicht herausschmeifit. 
Ich habe nichts dagegen. Und wenn er Dich herausschmeifk habe 
ich auch nichts dagegen. - Ein anderes Mai sagte sie: »Ich habe Dich 
schon sehr gewohnt (sic) .« Ich sagte ihr aber zuletzt: »Als ich her- 



394 Autobiographische Schriften 

kam, habe ich Dir in den ersten Tagen gesagt, jetzt wxirde ich Dich 
sofort heiraten. Ich weifi aber doch nicht, ob ich es tun wiirde . Ich 
glaube, ich wiirde es nicht aushalten. ( « ) Und nun sagte sie etwas 
sehr Schones: Warum nicht? Ich bin ein treuer Hund. Ich habe so 
eine barbarische Stellung, wenn ich mit einem Mann lebe - es ist ja 
falsch, aber da kann ich nichts machen. Wenn Du mit mir zusam- 
men warest, dann wiirdest Du das alles nicht kennen, die Angst, 
oder Traurigkeit, was Du so oft hast. - So sprachen wir vieles. Ob 
ich nur immer den Mond ansehen und dabei an die Asja denken 
wolle. Ich sagte, dafi ich hoffe, es werde, wenn wir das nachste Mai 
uns sehen, besser werden. - Dafi Du dann wieder vierundzwanzig 
Stunden auf mir liegen kannst? - Ich sagte, daran hatte ich gerade 
jetzt nicht gedacht, sondern ihr naher zu sein, mit ihr zu reden. 
Wenn ich ihr naher sei, dann werde erst dieser andere Wunsch wie- 
derkommen. »Ganz angenehm« sagte sie. - Mich machte das 
Gesprach den folgenden Tag, ja schon die Nacht durch, sehr unru- 
hig. Mein Wille zu reisen war aber doch eben starker als der Trieb 
zu ihr gewesen, wenn auch wahrscheinlich nur, wegen der vielen 
Hemmungen, auf die dieser letzte traf . So wie er noch jetzt auf sie 
trifft. Das Leben in Rufiland ist mir zu schwer innerhalb der Partei 
und aufierhalb ihrer viel chancenloser aber kaum weniger schwer. 
Sie aber wurzelt doch mit sehr viele(m) hier in Rufiland. Freilich, 
dann gibt es wieder ihre Sehnsucht nach Europa, die sehr mit dem 
zusammenhangt, was ihr an mir anziehend scheinen konnte. Und in 
Europa mit ihr zu leben, das konnte, wenn sie dafiir zu gewinnen 
ware, eines Tages mir das Wichtigste, Nachstliegende werden. In 
Rufiland - das glaube ich nicht. Wir fuhren im Schlitten bis zu ihrer 
Wohnung, dicht aneinander gedrangt. Es war dunkel. Das war das 
einzige Dunkel, das wir in Moskau gehabt hatten - auf offener 
Strafie und auf dem schmalen Sitz eines Schlittens. 
2 8 Januar. Bei herrlichem Tauwetter friih ausgegangen, um die 
Strafien rechts vom Arbat kennenzulernen, wie ich es langst schon 
vorhatte. Ich kam also auf den Platz, wo friiher der Hundezwinger 
der Zaren gestanden hatte. Er wird von niedrigen Hausern gebildet, 
die teilweise saulengetragne Portale haben. Dazwischen stehen aber 
auf einer Seite hafiliche hohe Hauser, die neuer sind. Hier ist das 
»Museum der Lebensweise der vierziger Jahre« - kurz ein niedriges 
dreistockiges Haus dessen Raume sehr geschmackvoll im Stile der 
Wohnung eines reichen Burgers aus der Zeit gehalten sind. Es gibt 



Moskauer Tagebuch 395 

schone Mobel, mit vielen Anklangen an den Stil Louis Philippe, 
Kastchen, Leuchter, Trumeaus, Wandschirme (einen sehr eigen- 
tiimlichen, der dickes Glas zwischen holzernem Fachwerk hat). All 
diese Raume hat man so eingerichtet, als seien sie noch eben 
bewohnt gewesen, Papier, Zettel, Schlafrocke, Shawls liegen auf 
Tischen oder hangen iiber den Stiihlen. Immerhin hat man dies alles 
sehr schnell durchschritten. Ich fand zu meinem Erstaunen kein 
eigentliches Kinderzimmer (daher auch kein Spielzeug), vielleicht 
hat{ te) man damals keine besonderen Spielzimmer? Oder fehlte es? 
Oder war es im abgesperrten obersten Geschofi? Danach spazierte 
ich weiter durch Seitenstraflen. Endlich kam ich wieder auf den 
Arbat, blieb an einem Biicherstand stehen und fand ein Buch von 
Victor Tissot aus dem Jahre 1882 »La Russie et les Russes«. Ich 
kaufte es fur 25 Kopeken, es bot immerhin eine Chance, einige Tat- 
sachen und Namen kennen zu lernen, die mir fur meine Auffassung 
von Moskau und den geplanten Artikel iiber die Stadt von Nutzen 
sein konnten. Ich legte dieses Buch zu Hause ab, dann ging ich zu 
Reich. Diesmal ging es besser mit unserm Gesprach; ich hatte mir 
fest vorgenommen, es zu keiner Spannung kommen zu lassen. Wir 
sprachen iiber » Metropolis « und die Ablehnung, die der Film in 
Berlin, wenigstens bei den Intellektuellen, gefunden hatte. Reich 
wollte alle Schuld an dem mifigliickten Experiment den iiberspann- 
ten Forderungen der Intellektuellen zuschieben, die zu solchen 
Wagnissen antreiben. Ich bestritt das. Asja kam nicht- sie sollte erst 
am Abend kommen. Aber eine Zeit lang war Manja dort. Dann war 
auch Dascha im Zimmer, eine kleine ukrainische Jiidin, die dort 
wohnt und jetzt fur Reich kocht. Sie gefiel mir sehr gut. Die Mad- 
chen sprachen jiddisch, ich verstand aber nicht, was sie sagten. Zu 
Hause wieder angelangt, rief ich Asja an und bat sie, zu mir zu 
kommen, nachdem sie Reich verlassen habe. Sie kam auch spater 
wirklich. Sie war sehr mude und legte sich gleich auf das Bett. Ich 
war zuerst sehr befangen, konnte kaum ein Wort aus der Kehle 
bringen vor Furcht, sie sogleich wieder fortgehen zu sehen. Ich 
holte mein grofies Mauseblatt vor, das Bartram mir zum Geschenk 
gemacht hatte und zeigte es ihr. Dann sprachen wir auch vom Sonn- 
tag: ich versprach, doch zu Daga sie zu begleiten. Wir kufiten uns 
wieder und sprachen davon, in Berlin zusammen zu leben, zu heira- 
t(en), mit einander wenigstens einmal zu fahren. Asja sagte, es sei 
ihr noch von keiner Stadt der Abschied so schwer geworden wie 



396 Autobiographische Schriften 

von Berlin, ob das mit mir zusammenhange? Zusammen nahmen 
wir zur Rachlin einen Schlitten. Es lag nicht einmal genug Schnee in 
der Twerskaja, um dem Schlitten schnelle Fahrt zu erlauben. Desto 
besser ging es in den Seitenstrafien: er nahm einen Weg, den ich 
nicht kannte, wir kamen an einem Bad vorbei und sahen einen wun- 
dervollen abgelegnen Winkel Moskaus. Asja erzahlte mir von den 
russischen Badestuben; dafi es die eigentlichen Zentren der Prosti- 
tution sind, wie sie in Deutschland es im Mittelalter waren, hatte ich 
schon erfahren. Ich erzahlte ihr von Marseilles. Niemand war bei 
der Rachlin zu Besuch als wir kurz vor zehn dort hinkamen. Es war 
ein schoner ruhiger Abend. Sie erzahlte allerlei Einzelheiten aus 
dem Archiv. Unter anderm, dafi man in den chiffrierten Stellen aus 
dem Briefwechsel einiger Mitglieder der Zarenfamilie die unbe- 
schreiblichste Pornographie gefunden hatte. Gesprach, ob man das 
zu veroffentlichen habe oder nicht. Ich kam auf die Wahrheit der 
klugen Bemerkung von Reich, der die Rachlin und Manja unter die 
Kategorie der »moralischen« Kommunisten begriffen hatte, die 
immer in mittleren Stellungen bleiben werden und niemals die 
Moglichkeit der eigentlich »politischen« vor sich haben. Ich safi auf 
dem grofien Diwan dicht neben Asja. Es gab Griitze mit Milch und 
Tee. Ich ging gegen dreiviertelzwolf. Auch nachts war das Wetter 
wundervoll warm. 

iqjanuar. Der Tag war fast in jeder Einzelheit verfehlt. Morgens 
erschien ich gegen elf Uhr bei Basseches und fand ihn wider Erwar- 
ten schon wach, bei der Arbeit. Darum kam ich aber urns Anti- 
chambrieren doch nicht herum. Diesmal gab es eine Verzogerung 
dadurch, dafi seine Post verlegt worden war; und bis man sie ent- 
deckte, verging zumindest eine halbe Stunde. Darauf wurde noch 
auf die Fertigstellung einer Maschinenabschrift gewartet und in der 
Zwischenzeit bekam ich wie gewohnlich irgendwelche frisch ent- 
standenen Leitartikel im Manuscript zu lesen. Kurz, die ohnehin 
schwierigen Formalitaten der Abreise wurden durch diesen Weg, 
sie zu erledigen, noch muhseliger. Es stellte sich im Laufe dieser 
Tage heraus, wie ganzlich verkehrt der Rat von Gnedin, in Moskau 
mein Gepack verzollen zu lassen, gewesen war. Und wenn ich dann 
mitten in den unausdenklichen Schwierigkeiten und in den Chika- 
nen, denen ich durch ihn ausgesetzt wurde, an ihn dachte, pragte 
sich mir fester als je meine alte Reisemaxime ein: Niemals auf den 
Rat eines Menschen zu achten, der ihn ungefragt abgibt. Dazu 



Moskauer Tagebuch 397 

gehort natiirlich komplementar die Praxis, wenn man schon seine 
Angelegenheiten (so wie ich das tat) in die Hand eines anderen legt, 
sich strikt nach dessen Ratschlagen zu rich ten. So aber sprang mir 
denn schliefilich, am letzten entscheidenden Tage der Abreise Bas- 
seches ab und ich hatte eine unausdenkliche Miihe, am 1 Februar, 
wenige Stunden vor meiner Abfahrt, mit dem Diener, den er mir 
mitgegeben hatte, die Aufgabe des Koffers zu bewerkstelligen. An 
dies em Vormittag konnte fast garnichts ausgerichtet werden. Wir 
holten aus der Miliz den Pafi mit dem Ausreisevisum. Viel zu spat 
kam mir der Gedanke, es sei Sonnabend und kaum Aussicht, dafi 
das Zollamt langer als ein Uhr geoffnet sei. Als wir endlich am Nar- 
komindel standen war es nach zwei. Denn wir waren in aller Ruhe 
zu Fufi die Petrowka hinunterspaziert, dann noch in das Verwal- 
tungsgebaude des Bolschoi Theater, wo ich durch Basseches Ver- 
mittlung Karten fiir das Ballett am Sonntag zugesichert bekam, end- 
lich in die Staatsbank gegangen. Als wir endlich gegen halb drei am 
Kalantschewskajaplatz waren, hiefi es denn auch, soeben seien die 
Beamten fortgegangen. Ich nahm mit Basseches in einem Auto 
Platz und lieft mich, um zur Rachlin zu fahren, an einer Haltes telle 
der Tram absetzen. Es war verabredet worden, dafi ich um halb drei 
sie abhole, um mit ihr zu den Leninbergen hinauszufahren. Sie und 
Asja waren zu Hause. Die Nachricht, dafi ich Karten zum Ballett 
erhalten werde, nahm Asja nicht so vergmigt auf, wie ich erwartet 
hatte. Wichtiger sei es, zum Montag Billetts zu bekommen. Im 
»Grofien Theater« werde man den »Revisor« geben. Ich war durch 
die Fehlschlage des Vormittags so sehr erschopft und gereizt, daft 
ich nichts zu erwidern vermochte. Indessen lud die Rachlin mich 
ein, nach der Ruckkehr von unserem Gange bei ihr zu essen. Ich 
sagte zu und vergewisserte mich, dafi Asja noch da sein werde. Mit 
diesem Spaziergang ging es nun aber so: In der Nahe des Hauses 
fuhr die Elektrische uns gerade vor der Nase fort, Wir gingen in der 
Richtung des Revolutionsplatzes weiter - wahrscheinlich gedachte 
die Rachlin dort zu warten, weil wir mehr Linien zur Verfiigung 
hatten. Ich weift es aber nicht. Die paar Schritt strengte mich zwar 
nicht das Gehen, wohl aber die Unterhaltung mit ihren Halb- oder 
Mifiverstandnissen so an, dafi ich aus lauter Schwache »ja« sagte, als 
sie mich fragte, ob wir auf einen voriiberkommenden Strafienbahn- 
wagen, der in Fahrt war, aufspringen wollten. Mein Fehler war 
schon, ihre Aufmerksamkeit durch meinen Blick auf diesen Wagen 



398 Autobiographische Schriften 

gelenkt zu haben, der ihr sonst sicher entgangen ware. Als sie dann 
auf der Plattform stand und gleich darauf die Bahn etwas schneller 
lief, rannte ich zwar noch ein paar Schritte neben ihr her, sprang 
aber nicht auf. Sie rief mir zu »Ich warte (auf) Sie da« und ich ging 
langsam iiber den Roten Platz auf die Haltestelle der Trambahn zu, 
welche in seiner Mitte liegt. Sie mufite mich dort wohl einen Augen- 
blick friiher erwartet haben, denn als ich kam war sie bereits nicht 
mehr zu finden. Sie hatte sich, wie spater herauskam, in der Nahe 
nach mir umgesehen. Ich stand indessen dort und begriff nicht, wo 
sie sich aufhalten konne. Endlich erklarte ich mir ihren Zuruf so : Sie 
wolle an der Endstation der Trambahn auf mich warten, bestieg den 
nachsten Wagen der betreffenden Linie und fuhr ungefahr eine 
halbe Stunde lang in ziemlich gerader Linie durch die jenseits der 
Moskwa gelegene Stadt bis an die Endstation. Vielleicht hatte ich es 
auf sblche einsame Fahrt im Grunde auch angelegt. Tatsache ist, 
dafi eine gemeinsame mit ihr mir wahrscheinlich, wohin immer sie 
mich gefuhrt haben mochte, weit weniger genufireich gewesen 
ware. Dafiir war ich zu miide. Nun aber war ich bei dieser aufge- 
drungenen und beinah ziellosen Fahrt durch einen mir ganz frem- 
den Teil der Stadt sehr glucklich. Jetzt erst ermafi ich die voile Ahn- 
lichkeit gewisser Vorstadtteile mit napolitaner Hafenstrafien. Ich 
sah auch den grofien moskauer Sender, der anders als alle, die ich 
sonst sah, geformt ist. Die Chaussee, die die Bahn entlangfuhr, 
hatte zur Rechten ab und zu Herrenhauser, zur Linken einzelne 
Schuppen oder Hauschen, meist freies Feld. Was vom Dorfe in 
Moskau steckt, das tritt in den Vorstadtstraften plotzlich ganz 
unverkleidet, deutlich und unbedingt heraus. Es gibt auch vielleicht 
keine Stadt, in der die riesenhaften Platze so dorflich gestaltlos und 
immer wie vom schlechten Wetter, tauendem Schnee oder Regen 
aufgelost daliegen. An einem solchen Platze, allerdings keinem 
stadtischen, ja kaum mehr einem dorfartigen, vor einer Wirtschaft 
endete die Strecke, naturlich war die Rachlin nicht dort. Ich fuhr 
sogleich zuriick und hatte noch gerade die Energie, nach Hause 
zuruckzukehren, anstatt der Einladung zum Essen, die sie mir 
gegeben hatte, zu folgen. Ans telle eines Mittagessens afi ich ein paar 
von den staatlichen Waffeln. Kaum war ich zu Hause, so rief die 
Rachlin an. Ich war grundlos gereizt gegen sie, hielt mich gewisser- 
mafien in Defensivstellung und wurde also doppelt angenehm 
durch ihre freundlichen, einlenkenden Worte uberrascht. Vor allem 



Moskauer Tagebuch 399 

ersah ich aus ihnen, daft sie den Vorfall nicht in allzu lacherlicher 
Form vor Asja wurde kommen lassen. Aber sogleich zum Essen zu 
ihr zu kommen, schlug ich doch ab; dazu war ich zu miide. Wir 
verblieben, ich solle um sieben Uhr kommen. Zu meiner ange- 
nehmsten Uberraschung war ich mit Asja und ihr allein. Ich weift 
nicht mehr, wovon die Rede war. Nur daran entsinne ich mich, daft 
als ich ging - die Rachlin war, mir voraus, aus dem Zimmer gegan- 
gen - Asja mir eine Kufthand nachwarf. Dann ein vergeblicher Ver- 
such, in einem Restaurant am Arbat etwas Warmes zu essen. Ich 
wollte Suppe bestellen und man brachte zwei kleine Scheiben 
Kase. 

jojanuar. Ich trage einiges iiber Moskau nach, das mir erst hier in 
Berlin aufging (wo ich seit dem 5 ten Februar diese Eintragungen, 
beginnend mit dem 29 Januar zu Ende fiihre). Berlin ist fur den, der 
aus Moskau kommt, eine tote Stadt. Die Menschen auf der Strafte 
erscheinen einem ganz trostlos vereinzelt, jeder hat es sehr weit zum 
andern und ist inmitten eines groften Snicks Strafte vereinsamt. 
Weiterhin: mir kam, wie ich vom Bahnhof Zoo in den Grunewald 
fuhr, die Gegend, durch die ich muftte, geputzt und gescheuert, 
unmaftig gereinigt, unmaftig komfortabel vor. Es ist mit dem Bilde 
der Stadt und der Menschen dasselbe wie mit dem Bilde der geisti- 
gen Zustande: die neue Optik, die man auf sie gewinnt, ist der 
unzweifelhaf teste Ertrag eines russischen Aufenthalts. Mag man 
auch Ruftland noch so wenig kennen lernen - was man lernt, ist 
Europa mit dem bewuftten Wissen von dem, was sich in Ruftland 
abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fallt dem einsichts- 
vollen Europaer als erstes in Ruftland zu. Darum ist andererseits 
auch der russische Aufenthalt fur die auslandischen Besucher ein so 
sehr genauer Priifstein. Es wird jeden notigen, seinen Standpunkt 
zu wahlen und genau zu prazisieren. Der wird im allgemeinen an 
schnellfertigen Theorien um so fruchtbarer sein, je mehr er abseitig 
und privat, und dem Format des russischen Geschehens unange- 
messen ist. Wer defer in die russischen Zustande eindringt, wird 
sich sobald zu Abstraktionen, wie sie dem Europaer ohne Miihe 
eingehen, nicht gedrungen fiihlen. - In den letzten Tagen von mei- 
nem Aufenthalt schienen mir die mongolischen Verkaufer mit den 
bunten Papierwaren wieder haufiger aufzutreten. Ich sah einen 
Mann - keinen Mongolen zwar sondern einen Russen - neben 
Korbwaren kleine Kafige feilhalten, die aus Glanzpapier gemacht 



400 Autobiographische Schriften 

waren und im Innern papierne Vogelchen enthielten. Aber auch ein 
wirklicher Papagei, ein weifier Aron, begegnete mir: auf der Mjafi- 
nitzkaja safi er auf einem Korbe, in dem eine Frau Weifiwaren zum 
Verkaufe an Passanten aufbewahrte. - Anderswo sah ich Kinder- 
schaukeln im Strafienhandel. Moskau ist so gut wie befreit vom 
Glockengelaute, das eine so unwiderstehliche Traurigkeit in den 
Grofistadten zu verbreiten pflegt. Auch das ist etwas, was man erst 
nach der Riickkehr erkennen und lieben lernt. - Als ich am Jaro- 
slawski-Bahnhof ankam, war Asja schon dort. Ich hatte mich ver- 
spatet, weil ich auf die Tram eine Viertelstunde hatte warten miissen 
und am Sonntag morgen kein Autobus ging. Zum Friihstucken war 
keine Zeit mehr. Der Tag, zumindest der Vormittag ging unter 
Beklemmungsanf alien dahin. Erst auf der Ruckfahrt vom Sanato- 
rium kam ich ganz zum Genufi der herrlichen Schlittenfahrt. Das 
Wetter war ganz milde, und die Sonne lag uns im Riicken, ich 
konnte, als ich die Hand auf Asjas Riicken legte, sogar fiihlen, sie 
warmte. Unser Istwosschik war ein Sohn des Mannes, der Reich 
immer fuhr. Diesmal erfuhr ich, die entziickenden kleinen Haus- 
chen, an denen man anfangs entlangfuhr seien nicht Datschen son- 
dern Hauser wohlhabender Bauern. Asja war wahrend der Fahrt 
sehr gliicklich, um so schmerzhafter war der Ruckschlag bei ihrer 
Ankunft. Daga war nicht draufien unter den Kindern, die in der 
warmen Sonne im tauenden Schnee spielten. Drinnen rief man nach 
ihr. Mit verweintem Gesicht, zerrissenen Schuhen und Striimpfen, 
so gut wie barfufi, kam sie die steinerne Treppe hinunter ins Vesti- 
biil. Es stellte sich heraus, dafi das Paket mit Striimpfen, das ihr 
zugesandt worden war, sie nicht erreicht hatte und dafi im Laufe der 
vergangenen vierzehn Tage man sich uberhaupt kaum um sie 
bekummert hatte. Asja war so erregt, dafi sie kaum ein Wort her- 
ausbringen, auch gegen die Arztin nicht auftreten konnte, wie sie es 
gewollt hatte. Sie safi beinahe die ganze Zeit neben Daga auf einer 
holzernen Bank im Vorraum und nahte verzweifelt an Schuhen und 
Striimpfen. Aber auch das warf sie spater sich vor: dafi sie die 
Schuhe zu flicken gesucht habe. Es waren vdllig zerrissene Haus- 
schuhe, die das Kind nicht mehr warmen konnten. Und sie befiirch- 
tete, man mochte sie ihr nun wieder iiberziehen anstatt sie in Schu- 
hen oder in Walinki laufen zu lassen. Wir hatten uns vorgenommen, 
fiinf Minuten in unserm Schlitten mit Daga spazieren zu fahren; 
aber das war nicht moglich. Wir waren schon langst von alien 



Moskauer Tagebuch 40 1 

Gasten die letzten als Asja immer noch safi und nahte und Dagazum 
Essen gerufen wurde. Wir gingen; Asja in der trostlosesten Verf as- 
sung. Da wir gerade einige wenige Minuten nach Abgang eines 
Zuges am Bahnhof ankamen, hatten wir beinah eine voile Stunde 
lang zu warten. Wir spielten erst lange: wo sitzen? Asja beharrte auf 
einem Platze, an welchem ich durchaus nicht sitzen wollte. Als sie 
aber dann schliefilich nachgab, blieb ich eigensinnig und beharrte 
beim einmal gewahlten Platze. Wir liefien uns Eier, Schinken und 
Tee geben. Auf der Riickfahrt sprach ich von dem Dramenstoff , auf 
welchen mich das Stuck von Illesch gebracht hatte: die Geschichte 
von einem Waren-Transport in der Revolutionszeit (etwa einer fur 
die Gefangenen bestimmten Lebensmittelsendung) auf die Biihne 
zu bringen. Wir fuhren von der Bahn im Schlitten zu Reich, der in- 
zwischen das neue Quartier bezogen hatte. Am nachsten Tage zog 
dann auch Asja ein. Wir blieben sehr lange oben und warteten auf 
das Essen. Reich befragte mich wieder wegen des Aufsatzes iiber 
Humanismus und ich erklarte ihm, wie man nach meiner Meinung 
ganz besonders darauf achten miisse, dafi mit dem eigentlichen 
Siege der Bourgeoisie und dem Verfall der Stellung der Literaten 
zusammenfallt das Auseinandertreten der beiden ehemals geeinten 
(zumindest in der Gestalt des Gelehrten vereinigten) Typen von 
Literat und Gelehrtem. Es ist festzuhalten, dafi im Zeitalter der sich 
vorbereitenden Revolution die einflufireichsten Literaten minde- 
stens zu gleichen Teilen Gelehrte wie Dichter gewesen seien. Ja, 
wahrscheinlich hatten sogar Gelehrte das Ubergewicht gehabt. Ich 
begann die Schmerzen im Rucken zu fuhlen, die mir in den letzten 
Moskauer Tagen noch zusetzten. Endlich kam das Essen, das die 
Nachbarin brachte. Es war sehr gut. Wir gingen danach, Asja und 
ich, um jeder noch nach Hause zu gehen und abends uns im Ballett 
zu treffen, Vorbei an einem, der betrunken auf der Strafie lag und 
eine Zigarette rauchte. Ich setzte Asja in die Bahn und fuhr dann 
selber ins Hotel. Hier fand ich die Theaterkarten vor. Man gab am 
Abend »Petruschka« von Strawinski, »Die Sylven* - ein Ballett von 
einem unbedeutenden Komponisten, und »Spanisches Caprichio« 
von Rimski-Korsakoff . Ich war friih da und wahrend ich im Vesti- 
biil auf Asja wartete: mit dem Bewufitsein, dieses ist der letzte 
Abend jetzt in Moskau, an dem wir uns allein sprechen werden, 
hatte ich nur den einen Wunsch, einmal ganz friih mit ihr im Thea- 
ter zu sitzen und lange auf das Hochgehen des Vorhangs zu warten. 



402 Autobiographische Schriften 

Asja kam spat, immerhin nahmen wir unsere Platze noch eben 
gerade zur rechten Zeit ein. Hinter uns safien Deutsche; in der glei- 
chen Reihe wie wir war ein japanisches Ehepaar mit zwei Toch- 
ter(n) zu sehen, die ihr blendendschwarzes Haar auf japanische 
Art trugen. Wir safien in der siebenten Reihe von der Buhne. Im 
zweiten Ballett trat die beriihmte, nun schon alte Balletteuse Gelzer 
auf, die Asja in Orel gekannt hatte. Die »Sylven« sind ein vielfach 
lappisches Ballett, aber sie geben eine vorziigliche Vorstellung von 
dem Stil, den dies Theater fruher hatte. Vielleicht stammt dieses 
Stiick aus der Zeit von Nikolaus I. Es gibt ein Vergnugen, das dem 
der Paraden aufierst ahnelt. Zum Schlufi das herrlich einstudierte, 
windschnell voriibereilende Ballet von Rimski-Korsakoff. Es gab 
zwei Pausen. Ich hatte mich in der ersten von Asja getrennt und 
versucht, vor dem Theater noch ein Programm zu bekommen. Als 
ich zuriickkam, sah ich sie mit einem Manne im Gesprach an der 
Wand stehen. Mit Schrecken sagte ich mir, wie unverschamt ich ihn 
fixiert habe, als ich von Asja erfuhr, das sei Knorrin gewesen. Er 
duzt sie immer- mit Gewalt und ihr bleibt nichts iibrig, als auchihn 
zu duzen. Auf seine Frage, ob sie allein im Theater sei, hatte sie ihm 
erwidert: »Nein«{,) sie sei mit einem Journalisten aus Berlin hier. 
Sie hatte ihm schon fruher mich erwahnt. Asja hatte an diesem 
Abend das neue Kleid an, zu welchem ich den Stoff ihr geschenkt 
hatte. Uber den Schultern trug (sie) das gelbe Umschlagetuch, das 
ich aus Rom ihr nach Riga mitgebracht hatte. Da auch die Farbe 
ihres Gesichtes teils von Natur teils von Krankheit und der Auf re- 
gung dieses Tages ein Gelb war, in das kein Schimmer von Rot sich 
mischte, so bildete ihre ganze Erscheinung die Grenze dreier eng 
benachbarter Farbtone. Mir blieb nach dem Theater nur eben noch 
Zeit, fur den folgenden Abend mich mit ihr zu besprechen. Da ich 
den ganzen Tag abwesend sein mufite, wenn ich den Ausflug nach 
Troitza wirklich durchfuhren wollte, blieb nur der Abend. Sie aber 
wollte ihre Wohnung nicht verlassen, weil sie am ubernachsten 
Tage in der Friihe wieder zu Daga hinauszufahren vorhatte. So 
wurde derm besprochen, daft ich bestimmt am Abend kommen 
sollte und sogar das ward nur mit knapper Not vereinbart. Mitten 
im Gesprache wollte Asja auf einen Trambahnwagen springen -liefl 
aber davon ab. Wir standen im Getriebe auf dem grofien Theater- 
platz. Unwillen uber sie und Liebe zu ihr sprangen windschnell in 
mir um; schliefilich grufiten wir uns(,) sie von der Plattform ihrer 



Moskauer Tagebuch 403 

Tram herab - ich zuriickbleibend, vielmehr erwagend, ob ich nicht 
ihr nach, noch zu ihr aufspringen solle. 

31 Jannar. Meine Abreise war durch Bestellung des Platzes, die ich 
am 3o ten veranlafit hatte, nun auf den i ten unwiderruflich festgesetzt. 
Es gait aber endlich, den Koffer zu verzollen. Wie vereinbart war 
ich also um 3 / 4 8 bei Basseches, um dann so zeitig mit ihm auf dem 
Zollamt zu sein, dafi der Zug, der um zehn (fuhr), noch zu errei- 
chen sei. In Wirklichkeit ging der Zug erst um halb elf. Das erfuhren 
wir aber nicht zeitig genug, um diese halbe Stunde mehr noch aus- 
niitzen zu konnen. Nur hatten wir es ihr zu verdanken, dafi unser 
Ausflug nach Troitza iiberhaupt noch zustande kam. Denn wenn 
der Zug um 10 Uhr wirklich abgegangen ware, so hatten wir ihn 
iiberhaupt nicht mehr erreicht. Die Formalitaten im Zollamt zogen 
sich qualvoll in die Lange und wir wurden an diesem Tage nicht 
fertig. Natiirlich hatte ich wieder ein Auto zu zahlen. Die ganze 
Veranstaltung war umsonst, denn von den Spielwaren nahm man 
nicht einmal Notiz und hatte es sicher an der Grenze ebensowenig 
getan als hier. Der Diener war mit um hier am Zollamt meinen Pafi 
in Empfang zu nehmen und sogleich zum polnischen Konsulat zu 
fahren um dort das Visum fur mich einzuholen. Also: wir erreich- 
ten nicht nur den Zug sondern hatten zwanzig Minuten im Waggon 
auf den Abgang zu warten. Ich aber sagte mir, nicht ohne Arger, 
indessen hatten wir die Verzollung erledigen konnen. Da aber Bas- 
seches schon verstimmt genug war, so liefi ich mir nicht viel mer- 
ken. Die Fahrt war eintonig. Ich hatte vergessen, mir Lekture mit- 
zunehmen und schlief wahrend eines Teiles der Reise. Nach zwei 
Stunden langten wir an. Noch hatte ich von meiner Absicht, hier 
Spielsachen zu kaufen, nicht gesprochen. Ich fiirchtete, ihm mochte 
die Geduld reifien. Da ergab es sich, dafi gleich die ersten Schritte 
uns an einem Spielwarenlager vorbeifuhrten. Nun riickte ich also 
mit der Sprache heraus. Aber gleich mit mir in das Magazin hinein- 
zugehen, dazu vermochte ich ihn nicht zu veranlassen, Vor uns lag 
etwas erhoht der grofie festungsartige Komplex der Klosterge- 
baude. Weit groftartiger war dieser Anblick als ich ihn vermutet 
hatte. In seiner stadtisch wehrhaften Geschlossenheit konnte er an 
Assisi erinnern; mir aber fiel merkwurdigerweise zuerst Dachau 
ein; dort hebt sich der Berg mit der Kirche ganz ahnlich als Stadt- 
krone aus der Stadt wie hier die langgestreckten Wohnbauten mit 
der groften Kirche in ihrer Mitte. An diesem Tage war es ziemlich 



404 Autobiographische Schriften 

tot: die zahlreichen Buden der Schneider, Uhrmacher, Backer, 
Schuster, die unten an dem Fufi des Klosterhiigels sich entlangzie- 
hen waren alle geschlossen. Auch hier war das schonste, warmste 
Winterwetter; die Sonne kam freilich nicht zum Vorschein. Der 
Anblick des Spielwarenmagazins hatte den Wunsch, neues Spiel- 
zeug hier aufzutreiben, in den Vordergrund treten lassen und 
machte mich bei der Besichtigung der Klosterschatze ungeduldig; 
ich hatte die Alliiren eines Typs von Reisenden, den sonst niemand 
mehr hassen kann als ich. Desto liebenswiirdiger war unser Fuhrer, 
der Verwalter des Museums, das aus dem Kloster war gemacht wor- 
den. Mein Drangen hatte freilich noch andere Griinde. In den mei- 
sten der Raume, wo die unschatzbaren Webereien, Silber- und 
Goldgerate, Manuscripte, Devotionalien in glasernen Schreinen 
aufbewahrt wurden, von denen ein Diener, welcher uns voranging, 
die Vorhange und Tiicher fortzog, war es schneidend kalt und auf 
diesem einstiindigen Rundgang holte ich mir wahrscheinlich die 
Keime einer schweren Erkaltung, die in Berlin, nach meiner Riick- 
kehr, zum Ausbruch kam. Endlich hat die unabsehbare Menge der 
Kostbarkeiten, deren eigentlicher Kunstwert dazu sich meist nur 
sehr speziellen Kennern erschliefien kann, durchaus etwas Ab- 
stumpfendes, ja sie fordert zu einer Art von Brutalitat in der Besich- 
tigung geradezu heraus. Basseches hatte dazu den Drang nach 
»kompletter« Durchmusterung von allem, was es zu sehen gab und 
liefl sich sogar in die Gruft hinabfiihren, in der unter Glas die 
Gebeine des heiligen Sergius liegen, der dieses Kloster gegriindet 
hat. Mir ist nicht moglich, noch so unvollkommen aufzuzahlen, 
was alles zu sehen war. Gegen eine Mauer gelehnt stand das 
beriihmte Bild von Rubloff, das zum Wahrzeichen dieses Klosters 
geworden ist. Spater sahen wir in der Kathedrale selbst den leeren 
Platz an der Ikonostase, wo es gehangen hatte und von dem es zu 
Zwecken der Konservierung entfernt worden war. Die Wandbilder 
der Kathedrale sind ernstlich gefahrdet. Denn da die Zentralhei- 
zung nicht benutzt wird, im Friihling also eine jahe Erwarmung der 
Mauern stattfindet, so entstehen in der Wand Spriinge und Risse, 
durch die Feuchtigkeit eindringt. In einem Wandschrank sah ich die 
riesige goldene mit Edelsteinen liber und uber ausgelegte Metallver- 
kleidung, die fur das Bild Rubloffs spacer gestiftet wurde. Sie lafit 
am Korper der Engel nichts frei als die unbekleideten Stellen: 
Gesicht und Hande. Uber alles andere legt sich die massive Gold- 



Moskauer Tagebuch 405 

schicht und Hals und Arme miissen, wenn sich die Schablone iibers 
Bild legt, wie eingeprefit in schwere metallische Ketten den Engeln 
etwas von chinesischen Verbrechern geben, die in Halseisen ihre 
Untaten biifien. Im Zimmer unseres Fiihrers endete der Rundgang. 
Der alte Mann war verheiratet, denn im Zimmer zeigte er die Olbil- 
der seiner Frau und seiner Tochter an der Wand. Jetzt lebt er in 
diesem grofien hellen monchischen Raume allein, nicht ganz von 
der Welt abgeschnitten, denn es besuchen viele Auslander das Klo- 
ster. Auf einem kleinen Tisch lag eine eben ausgepackte Sendung 
von wissenschaftlichen Buchern, die aus England gekommen 
waren. Auch hier Eintragung in ein Gastebuch. Die Sitte scheint in 
Rufiland auch unter der Bourgeoisie sich weit langer gehalten zu 
haben als hier, zumindest, wenn ich daraus einen Schluft ziehen 
darf, dafi auch bei Schick mir so ein Album vorgelegt wurde, in das 
ich mich eintragen muftte. - Aber war nicht weit groftartiger als alles 
im Innern die Anlage des Klosters selber. Wir hatten ehe wir den 
weiten Raum mit seiner wehrhaften Umfassung betreten hatten, 
vor dem Portal Halt gemacht. Rechts und links war auf zwei Bron- 
zetafeln eingetragen, was man an unentbehrlichen Daten zur 
Geschichte des Klosters kennt. Schoner und schlichter als die 
gelbrosa getonte Kirche im Rokokostil, die in der Hofmitte sich 
erhebt, umgeben von kleineren alteren Bauten - darunter dem Mau- 
soleum des Boris Godunoff - schlichter sind die langen Wirtschafts- 
und Wohngebaude, die sich im Rechteck um den riesigen Freiplatz 
herumziehen. Am schonsten das grofie bunte Refektorium. Der 
Blick aus den Fenstern des Innern fiihrt bald auf diesen Freiplatz, 
bald auf Schachte, Gange zwischen den Mauern, ein Labyrinth 
festungsartiger Steinwalle. Es hat auch einen unterirdischen Gang 
hier gegeben, den zwei Monche mit Preisgabe ihres Lebens, um 
wahrend einer Belagerung das Kloster zu retten, in die Luft spreng- 
ten. Wir a£en in einer Stolowaja, die schrag dem Eingang in den 
Klosterhof gegeniiberliegt. Sakuska, Wodka, Suppe und Fleisch. 
Mehrere grofte Stuben waren mit Menschen angefiillt. Es gab wirk- 
liche Typen aus dem russischen Dorf, bezw. der Kleinstadt - Serge- 
jevo ist vor kurzem zur Stadt erklart worden. Wahrend wir afien 
kam ein Hausierer, der Drahtgestelle zu verkaufen hatte, welche im 
Handumdrehn sich von einem Lampenschirm in einen Teller oder 
einen Aufsatz fur Obst verwandeln lieEen. Basseches meinte, dies 
Gewerbe stamme aus Kroatien. Ich selber fand eine sehr alte Erin- 



406 Autobiographische Schriften 

nerung beim Anblick dieser eher unschonen Spielerei in mir sich 
regen. Mein Vater mufi wohl wie ich klein war bei einem Aufenthalt 
in der Sommerfrische (in Freudenstadt?) so etwas einmal gekauft 
haben. Vom Kellner liefi sich Basseches unterm Essen Adressen von 
Spielzeughandlern angeben und sodann machten wir uns auf den 
Weg. Wir hatten aber noch nicht zehn Minuten marschiert als eine 
kurze Auskunft, die Basseches einholte, uns veranlafite umzukeh- 
ren und uns in einen Schlitten zu setzen, der gerade leer dort ent- 
langfuhr. Das Gehen nach dem Essen hatte mich angestrengt, so 
dafi ich nicht einmal fragen mochte, was eigentlich unser Umkehren 
veranlafit hatte. Soviel schien sicher, dafi wir dort in den Magazinen 
nahe der Bahn die grofite Chance hatten, meinen Wunsch zu erful- 
len. Sie lagen beide dicht neben einander. Das erste enthielt Holz- 
waren. Man machte Licht, als wir es betraten, es dunkelte schon. 
Wie ich es erwartet hatte, konnte ein Lager holzerner Spielsachen 
mir nicht sehr viel Unbekanntes zeigen. Ich kaufte einige Stiicke 
mehr auf Drangen von Basseches als mit eigner Entschliefiung, 
freue mich aber nun, es getan zu haben. Auch hier verloren wir Zeit, 
ich mufite lange warten, bis ein Tscherwonez in der Nahe war 
gewechselt worden. Nun brannte ich vor Unruhe, das Lager der 
Papiermachespielzeuge zu sehen; ich furchtete, man mochte dort 
schon geschlossen haben. Das war nun nicht der Fall. Wohl aber 
war es, als wir glucklich dort waren, innen im Hause schon ganz 
finster und hier gab es im Lagerraum keinerlei Beleuchtung. Wir 
mufiten auf gut Gliick auf den Gestellen herumtasten. Ab und zu 
schlug ich ein Streichholz an. So fiel mir einiges sehr Schone in die 
Hande, das mir wohl anders nicht geworden ware, denn dem Mann 
konnten wir natiirlich nicht begreiflich machen, was ich suchte. Als 
wir endlich im Schlitten safien, hatten wir jeder zwei gro£e Pakete - 
Basseches dazu noch einen Haufen Broschiiren, die er im Kloster 
gekauft hatte, um sich mit Material fur einen Artikel zu versehen. 
Die lange Wartezeit in der triibselig erhellten Bahnhofsrestauration 
kiirzten wir uns noch einmal mit Tee und Sakuska. Ich war miide, 
begann auch, mich etwas unwohl zu fiihlen. Nicht ohne Zusam- 
menhang damit stand die Angst, mit der ich an das Viele dachte, was 
in Moskau noch zu erledigen war. Die Ruckfahrt war pittoresk. Im 
Waggon brannte eine Laterne, aus der unterwegs das Stearinlicht 
gestohlen wurde. Unweit von unsern Platzen stand ein eiserner 
Of en. Unter den Banken lagen, aufs Geratewohl verstreut, grofie 



Moskauer Tagebuch 407 

Holzklotze, Ab und zu aber ging jemand vom Personal auf einen 
Sitz zu, hob ihn auf und entnahm dem so geoffneten truhenartigen 
Behalter weiteren Brennstoff. Es war 8 Uhr als wir in Moskau anka- 
men. Das war mein letzter Abend, Basseches nahm ein Auto. Vor 
meinem Hotel lieft ich halten, um zuvorderst einmal die gekauften 
Spielwaren abzustellen und in aller Eile die Manuscripte an mich zu 
nehmen, die ich nach einer Stunde Reich heraufzubringen hatte. Bei 
Basseches langwierige Instruktion seines Dieners, den ich gegen 
halb zwolf abzuholen versprach. Sodann setzte ich mich auf die 
Bahn, erriet mit Gluck die Haltestelle, an der ich auszusteigen 
hatte, um zu Reich zu gehen und war eher dort als ich gehofft hatte. 
Sehr gern hatte ich freilich einen Schlitten benutzt, aber das war 
unmoglich: ich kannte weder den Namen der Strafie, in welcher 
Reich wohnte noch fand ich auf dem Stadtplan den des nahegelege- 
nen Platzes. Asja lag schon im Bett. Sie sagte, daft sie lange auf mich 
gewartet habe, nun aber garnicht mehr auf mich gezahlt habe. So 
hatte (sie) sogleich mit mir fortgehen wollen, um mir ganz in der 
Nahe eine Kaschemme zu zeigen, in die sie durch Zufall geraten 
war. Auch ein Bad war unweit von hier. Sie war auf das alles gesto- 
fien, als sie vom Wege abgekommen war und durch Hofe und 
Nebengassen sich hierher durchgeschlagen hatte. Reich war auch 
im Zimmer, es wuchs ihm allmahlich ein Bart. Ich war sehr 
erschopft, so sehr daft ich auf einige der gewohnten angstlichen 
Erkundigungen von Asja (nach ihrem Schwammchen etc.) unter 
ausdriicklicher Betonung meiner groften Abspannung ziemlich 
grob wurde. Aber es gab sich alles sehr schnell. Ich berichtete von 
meinem Ausfluge so gut es eben in der Kiirze gehen wollte. Dann 
kamen die Auftrage fur Berlin: Anrufe an die allerverschiedensten 
Bekannten. Spater ging Reich hinaus, Heft mich eine Weile mit Asja 
allein und horte im Radio die Ubertragung der Auffiihrung des 
»Revisors« mit Tschechow im groften Theater. Am nachsten Mor- 
gen sollte Asja zu Daga fahren und ich muftte mit der Moglichkeit 
rechnen, vor meiner Abreise sie nicht mehr zu sehen. Ich kiiftte sie. 
Als Reich hereinkam, ging Asja ins Nebenzimmer, um Radio zu 
horen. Ich blieb nicht mehr sehr lange. Bevor ich ging aber zeigte 
ich noch die Ansichtskarten, die ich vom Kloster mir nach Hause 
mitgenommen hatte. 

/ Februar. Morgens ging ich noch einmal in meine gewohnte Con- 
ditorei, bestellte Kaffee und aft dazu eine Pastete. Dann ins Spiel- 



40 8 Autobiographische Schriften 

zeugmuseum. Nicht alle Photos, die ich bestellt hatte, waren ange- 
fertigt worden. Ich nahm es nicht schwer, denn auf diese Weise 
gelangte ich in dem Augenblick, da ich Geld am allernotwendigsten 
hatte, in den Besitz von 10 Tscherwonjez. (Die Photographien 
namlich hatte ich vorher bezahlt.{)) Ich hielt mich im Spielzeug- 
museum nicht lange auf, fuhr vielmehr schleunigst in das Institut 
der Kamenewa, wo ich von Dr. Njemen mich verabschiedete. Von 
dort im Schlitten zu Basseches. Von dort mit dem Diener ins Fahr- 
kartenbiiro und dann im Auto weiter zum Zollamt. Was von neuem 
dort durchzumachen war, ist nicht zu beschreiben. Vor einem Kas- 
senschalter, { an dem) gerade Tausende durchgezahlt wurden, hatte 
man zwanzig Minuten zu warten. Im ganzen Hause wollte niemand 
funf Rubel wechseln. Es war sehr notig, dafi dieser Koffer, in dem 
nicht nur die schonen Spielsachen sondern auch all meine Manu- 
scripte waren, den Zug erreichte, zu dem ich selbst das Billett hatte. 
Denn da man ihn nicht weiter als bis zur Grenze aufgeben konnte, 
so war meine Anwesenheit an der Grenze zur Zeit seines Eintref- 
fens unerlafilich. Endlich gelang das. Aber von neuem hatte ich die 
Erfahrung zu machen, wie den Leuten das Knechtstum noch in den 
Knochen steckt. So wehrlos war dieser Diener aller Schikane und 
Indolenz der Zollbeamten gegeniiber. Ich atmete auf, als ich mit 
einem Tscherwonez ihn entlassen konnte. Selber hatte die Aufre- 
gung meine Schmerzen im Riicken wieder geweckt. Ich war froh, 
einige ruhige Stunden vor mir zu haben. Langs am schlenderte ich an 
der schonen Budenreihe des Platzes vorbei, kaufte mir wieder einen 
roten Beutel mit Krimtabak und bestellte mir dann im Restaurant 
des Jaroslawski-Bahnhofs ein Mittagessen. Auch besafl ich noch 
Geld genug, urn Dora zu telegraphieren und ein Dominospiel fur 
Asja zu kaufen. Mit aller gesammelten Aufmerksamkeit machte ich 
diese letzten Wege in der Stadt; und sie machten mir Freude, weil 
ich mehr, als es zu Zeiten meines Aufenthaltes meist der Fall gewe- 
sen war, mich gehen lassen konnte. Kurz vor drei Uhr war ich wie- 
der im Hotel. Der Schweizer sagte mir, dafi eine Dame dagewesen 
sei. Sie habe gesagt, sie werde wiederkommen. Ich ging in mein 
Zimmer, sodann gleich ins Contor hinauf, um zu zahlen. Erst als 
ich wieder herunterkam, bemerkte ich auf dem Schreibtisch einen 
Zettel von Asja. Sie habe lange auf mich gewartet, noch nichts 
gegessen und sei in der Stolowaja nebenan. Ich solle sie holen. Ich 
eilte auf die Strafie und sah sie mir entgegenkommen. Sie hatte 



Tagebuch meiner Loire-Reise 409 

nichts als ein Stuck Fleisch gegessen, war noch hungrig und ehe ich 
sie noch in mein Zimmer gefiihrt hatte, lief ich wieder zum Platz 
hinaus, holte ihr Mandarinen und Naschereien. In der Eile hatte ich 
meine Zimmerschliissel mitgenommen; Asja safi im Vorraum. Ich 
sagte: »Warum bist Du nicht reingegangen? Der Schliissel steckt 
doch!« Und mir fiel die seltene Freundschaft in ihrem Lacheln auf, 
als sie »nein« sagte. Diesmal war Daga in guter Verfassung gewesen, 
mit der Arztin hatte Asja eine sehr scharfe erfolgreiche Aussprache 
gehabt. Nun lag sie bei mir im Zimmer auf dem Bette, ermudet aber 
es ging ihr gut. Ich safi bald bei ihr, bald am Tische, wo ich ihr 
Ku verts mit meiner Adresse schrieb, bald trat ich zum Koffer und 
packte das Spielzeug, meine Einkaufe vom vergangenen Tage aus 
und zeigte sie ihr. Sie hatte grofie Freude daran. Unterdessen aber- 
nicht unverursacht auch durch meine grofie Erschopfung - kamen 
die Tranen mir immer naher. Noch besprachen wir einiges. Wie ich 
ihr schreiben konne und wie nicht. Ich bat sie, mir einen Tabakbeu- 
tel zu machen. Zu schreiben. Endlich, wie nur noch Minuten blie- 
ben, begann meine Stimme unsicher zu werden und Asja sah, daft 
ich weinte. Zuletzt sagte sie: Weine nicht, sonst muii ich zuletzt 
auch weinen und wenn ich einmal zu weinen anfange, hore ich nicht 
so schnell auf wie Du. Wir umarmten uns fest. Dann ging es hinauf 
ins Comptoir, wo es nichts zu tun gab (aber auf den Sowjeduschi 
wollte ich nicht warten), das Zimmermadchen erschien - ich schlich 
mich ohne Trinkgeld zu geben davon, mit meinem Koffer zur 
Hoteltur hinaus und Asja, mit Reichs Mantel unterm Arme, folgte 
mir. Gleich liefi ich sie einen Schlitten anrufen. Aber als ich einstei- 
gen wollte und schon nochmals Abschied genommen hatte, hieft ich 
sie bis zur Ecke der Twerskaja mitfahren. Da stieg sie aus, ich rift 
wahrend der Schlitten schon anzog, noch einmal hier auf offner 
Strafte ihre Hand an meine Lippen. Sie stand noch lange und 
winkte. Ich winkte aus dem Schlitten zuriick. Erst schien sie abge- 
wandt zu gehen, dann sah ich sie nicht mehr. Mit dem groften Kof- 
fer auf meinem Schofte fuhr ich weinend durch die dammernden 
Strafien zum Bahnhof. 

Tagebuch meiner Loire-Reise 

12 August 1927 Ich werde mich mit Stkhworten begniigen. Die 
bekannte Qual der Einsamkeit, die mich besonders auf Reiseniiber- 



410 Autobiographische Schrif ten 

kommt, nimmt zum ersten Male die Zuge des Alt-Seins an. L. ist 
nicht mitgekommen. Die Chancen fur ein Mifiverstandnis sind 
nicht mehr als 10%. 90% Chancen bestehen dafur, dafi ich auf die 
banale Art genasfuhrt bin. Freilich habe ich absichtlich die Mog- 
lichkeit dazu gegeben. Das erscheint jetzt als Fehler. Ware sie 
gekommen, so ware es die Grundlage des Vergniigens an dieser 
Reise gewesen, 

Ich kann uberzeugt sein, dafi ich jetzt, einsam, alle Platze finde, an 
denen es mit ihr reizend gewesen ware. So sitze ich nun in einer 
kleinen ganz stillen und sehr guten Wirtschaft, Hotel St Catherine 
in Orleans. Der Tisch hat genau die Breite, an dem es gut ist, einan- 
der gegeniiberzusitzen. Die elektrischen Birnen im Raum sind so 
schwach, dafi ich kaum schreiben kann. 

Bis mittags habe ich geschwankt, ob ich iiberhaupt, nun, allein, 
fahre. Wenn nicht Scholem heute ankame, hatte ich es wahrschein- 
lich nicht getan. Aber ich bin geflohen. Ich konnte jetzt seine 
manchmal etwas ostentative Selbstsicherheit einfach nicht er- 
tragen. 

Heute nachmittag sah ich die Kathedrale von Orleans undnotiere: 
moderne farbige Scheiben, die garnichts bedeuten. Dagegen oben in 
den Emporen weifie Scheiben. Auch die Rose iiber dem Portal ist 
weifi: eine Polarsonne. Hinter den weifien Scheiben der Seiten- 
schiffe sieht man verdammernd die Strebepfeiler wie Gestade von 
Brockennebel. Im Querschiff haben Fensterrosen grelle barbari- 
sche Farben in Rot und Gelb. - Eine unglaubliche Schonheit der 
Aufienseite: der Chor hat aufien eine Basis aus Stein aus der heraus 
sich die Pilaster und Schafte heben. Sie wurzeln gleichsam im Mau- 
erstein, 

Wahrend ich durch die Kathedrale ging, probte der Organist. 
Ich konnte iiber alles und gerade das Unwichtigste, weinen: dafi ich 
nicht franzosisch auf dieser Reise spreche. (Uberhaupt nichts!) 
Weinen, wenn ich an Rue de Reuilly denke, eine fur mich zauber- 
hafte Vokabel, die ich nicht mehr handhaben kann. 
1 j August. Auf dem Bahnhof in Orleans, im Zug nach Blois. Ich 
schlief besser als ich dachte. Vom Hotel aus ging ich nochmals zur 
Kathedrale. Diesmal naherte ich mich ihr von der Seite des Hotel de 
Ville, dem gegeniiber sich altere Hauser auf einer schonen Rampe 
erheben. In der Kathedrale erfuhr ich, welche Bewandtnis es mit 
dem roten Hut hat, der von der Decke herabhangt. Es ist der Hut 



Tagebuch meiner Loire-Reise 411 

eines Kardinals (wahrscheinlich des zu Fiifien der Statue der Jeanne 
ruhenden Kardinals Touchet) der dort hangt und hangen bleibt, bis 
er von selber herunterfallt. - Von weitem, vo(m) Boulevard St Vin- 
cent aus gesehen sind die Strebepfeiler gebrochene Stiicke aus der 
Dornenkrone Christi. Nirgends sah ich eine so dornige Kathedrale 
wie diese mit ihrer eiskalten Rose. 

Beim Gang durch die Stadt, in der ich alle Kirchen aufsuchte, die im 
Fiihrer stehen, fiel mir ein, L. kann sehr gut wirklich fort gewesen 
sein, namlich eine Reise mit ihrem Freund gemacht haben. Mdg- 
lichkeit erwogen, kurz vor der Abreise nach Berlin nochmals in 
ihrer Wohnung vorzusprechen oder das Hotel in der Rue de la Cha- 
pelle, wenn moglich beobachten. 

Orleans ist ein Zentrum des Angelsports. Ein sehr verfuhrerisches 
Geschaft mit samtliche(m) Bedarf dazu »Le Pecheur Moderne« in 
der Rue de Bourgogne. 

In Blois. Hier auf der Terrasse hinter der Kathedrale St Louis mufi 
man sitzen, um die beriihmte franzosische clarte, die franzosische 
limpidite, die Ordnung in vollendeter Einstimmigkeit von Land- 
schaft, Gartenkunst, Architektur vor sich zu haben. Gottseidank 
ist der Himmel ganz voller Regenwolken, die Sonne ist verschwun- 
den. In mir habe ich noch immer die Bitterkeit, ein aufgeriihrter 
Grund, der sich nicht wieder setzen will. Es war ein ganz untriigli- 
cher Instinkt in mir, der mich hiefi, gerade diese Reise mit L., mit 
einer Pariserin zu machen. Als Landschaft entzieht sich die Abwe- 
sende mir zum zweiten Male und in jeder Minute von neuem. Land- 
schaften, Hofe stelle ich als Rahmen um sie herum, die alle leer 
bleiben. Und die winzige Einfliisterung meiner Eigenliebe, das alles 
sei Verfehlung, nicht Arrangement, macht die Sache noch schlim- 
mer. Immerhin will (ich) nach der Riickkehr, meine Bemiihung, 
sie wiederzufinden, nicht zu weit gehen lassen. In Paris kann ich auf 
sie verzichten, kann sie sogar, wie die Dinge nun liegen, kaum brau- 
chen. Am meisten habe ich wahrend der Fuhrung im Schlofi von 
Blois gelitten. Hier hatte ihr Erstaunen alles ertraglich wenn nicht 
freundlich gemacht. So sah ich in den leeren Raumen, an deren 
Wanden Bemalung die ehemalige Bespannung mit Gobelins oder 
korduansischem Leder nachahmt, nur, dafi ich fast der einzige war, 
der allein war. Ich bin garnicht weit ab vom Weinen; wozu das alles, 
nicht nur diese Vorbereitungen sondern dies Sich-Verandert- 
Haben, wenn nicht einmal der einfaltigste kleine Reiseplan, den 



4 1 2 Autobiographische Schrif ten 

jeder Commis durchfiihren kann, mir gliickt. Soil ich nie wieder mit 
einer Frau, die ich begehre, reisen? 

i$ August Ich beobachte mit Erstaunen den Einflufi des Komforts 
auf meine triibe Stimmung. Da ich . . . 

Am gleichen Tag, abends. Kurz, ich habe ein luxurioses, ausge- 
zeichnetes Zimmer, das mir, so gut es geht, L's Stelle vertreten 
mufi. Ich werde sie vermutlich nicht wiedersehen und ich werde 
auch nur sehr moderierte Anstrengungen in dieser Hinsicht 
machen. Aber ich habe mich dabei uberrascht, dafi ich mir ihr 
Gesicht hervorzurufen suche, und zwar um das darin zu finden 
(jenes Kalte, jedem Kontakt mit mir sich Versagende) in dem ich 
den Ursprung der augenblicklichen Lage zu sehen habe. Diese 
Bemiihung war heute nachmittag unter den Baumen vorm Cafe 
Universel, im Riicken der groften Balzac-Statue, die den Meister im 
Schlafrock zeigt. 

Nur der Anblick der Bauwerke gibt wirklich das Gefiihl, angekom- 
men zu sein: hier (in Tours, oder sonstwo, und nirgend anders) zu 
sein. Ich stand hinterm Chore von Saint-Gatien. Mein Blick ging 
auf die ganz tote graue und unscheinbare Aufienseite der beriihmten 
Glasfenster, wie ich vorher die Fassade sitzend, von einer Bank aus 
betrachten konnte, so nun die Riickseite an eine Mauer lehnend. Es 
gab mir einen Chock. Gegen diese Ruhe, diese Gegenwart, die im 
Anblick grofier Architekturen eingelost wird, ist all unser tagliches 
Treiben Eisenbahnfahren, das nun plotzlich, mit einem Ruck ein- 
halt. Da sind wir: nichts bringt uns weiter. Tours hat die heitersten 
kindlichste(n) Rosen, die ich je sah, zumal die lachende iiberm 
Portal. Danach durch kleine, untersetzte Strafien hinterm Dom. 
Aber welche Namen: Rue Racine, Rue Montaigne. Und jener Platz 
ist der des Gregor von Tours. Eine Frau trug Zeitungen aus und sie 
stofit ins Horn: ein letzter Uberrest des mittelalterlichen Ausrufers 
- wahrscheinlich. Die Hauser sind zweistockig, aber viel niedriger 
noch sind die Mauern der Hofe, in denen die Tiiren sind. 
In der Kathedrale wurde ich plotzlich heiter, mir fiel ein, heute vor 
einem Monat war ich in Chartres - noch nicht ein Monat seit ich L. 
kenne - zwischen diesen beiden Kathedralen war sie (diese rose 
parisienne) wunderbar eingepflanzt. Und damit gut. Sie hatte ihren 
Ort. 

1 6 August Ich bin nochmals in St Gatien gewesen. Die Scheiben 
miissen von Anfang an verschossenen Sammetgewandern so ahn- 



Notizen von der Reise nach Frankfurt 30 Mai 1928 413 

lich gesehen haben wie jetzt. Ubrigens ist diese Rose ein unuber- 
tref fliches Symbol der kirchlichen Denkungs weise : aufien verschie- 
fert, schuppig, beinahe aussatzig, innen bluhend, rauschhaft und 
golden. Wenn man ans andere Ufer der Loire hiniiberkommt, sieht 
St Gatien nicht gotisch, wie es sich gebiihrte, iiber Giebel hiniiber 
sondern erhebt sich iiber dem Laubwerk der Baume auf den Loire- 
Inseln und auf der Uferpromenade. - Gestern sah ich auf einem 
Dach zwei Kaminhauben hoch iiber die Stadt sich heben: ein neues 
Paradies, das Vergil mit pathetischer Geberde einem frostig in sich 
zuriickschauernden Dante zeigt. - Die Kathedrale geht vorn auf die 
place du quatorze juillet hinten auf die place St Gregoire de Tours 
hinaus; ruht mit dem Haupt gewissermaflen auf einem Kissen und 
mit den Fiifien im Wasser. Zu den Strafiennamen: auf dem Schilde 
der Rue Auguste Comte steht neben der Jahreszahl die Angabe 
»Positiviste«. Was miissen die ausgezeichneten Leute sich darunter 
denken. - (Hinter der Kathedrale: Rue du petit coupidon) 
Ich hatte auf dieser Reise ein Photo von L. machen lassen. Im iibri- 
gen habe ich meinen nicht allzu zerstorten Gleichmut mir mit der 
Annahme wiederverschafft, ihr Fortbleiben sei Einflufl eines Drit- 
ten. Denn, meine Eigenliebe, auch die Wahrscheinlichkeit, lafit 
nicht zu, dafi sie mich von Anfang bis zu Ende betrogen habe. Und 
anzunehmen, dafJ eine fehlerhafte Verabredung schuld sei, wiirde 
mich rasend machen. 

Ich habe nie eine Stadt wie Tours gesehen (es sei denn Heidelberg) 
die der Landschaft so sehr das Ihre lafk. Kaum dafi in die Loire-Ufer 
ein leichtes Grau (sich) mischt, wo sie die Stadt durchziehen. Und 
ins Land hinein zieht der Boulevard Grammont sich wie durch fest- 
lich bebaute, besiedelte Wiesen. Die grofie steiner(n)e Briicke 
schwingt niedrig wie eine Hand, die ihn streichelt, sich iiber den 
FlufS. Alles ist niedrig aufter ein paar hohen Tiirmen. Es ist eine 
Stadt a la portee des enfants; mir macht es Vergniigen, daran zu 
denken, daft der grofie katholische Jugendschriftenverlag Mame in 
Tours ist. 

Notizen von der Reise nach Frankfurt 30 Mai 1928 

Zur Beisetzung von Onkel Arthur (Schoenflies). Plotzlich bei der 
Trauerfeier fiel mir ein, dafi er als »Goldonkel« eine meiner friihe- 
sten Erinnerungen ist - die Erinnerung freilich besteht eben in 



414 Autobiographische Schriften 

nichts als dem Namen. Ich setze mir fest vor, mir von Mama einen 
Stammbaum der Schoenflies darstellen zu lassen. 1st Albert der 
letzte? Wichtig ware, geschichtlich und biologisch dem stark zum 
Deutsch-Christlichen neigenden Judentypus dem Onkel Arthur 
angehorte, nachzugehen. Allerdings habe ich diesen Typus bei nie- 
mandem im Entferntesten ahnlich gewinnend gefunden. 
Der »Verlust«, der einen so viel jiingeren - der Akersunterschied 
war vierzig Jahre - mit dem Tode eines Mannes wie Arthur Schoen- 
flies betrifft, hat - natiirlich fur den Fall, dafi uberhaupt irgend ein 
Verhaltnis bestand - etwas ganz Eigentiimliches. Man verliert einen 
Unterredner, vor dem (man) gewifi das Allermeiste, das Aller- 
wichtigste, was einen betrifft, nicht beriihren konnte, der aber den 
Gesprachen mit einem Jiingeren jenen Frieden des Alters mitteilte, 
der von zweierlei Umstanden ausgeht. Einmal ist in seinem, wenn 
auch aufs Allgemeine eingeschrankten Gesprachsbereiche, jede 
Bestatigung iiber die Kluft der Generationen weg unendlich viel 
belangvoller, zwingender als die durch Menschen unserer Genera- 
tion. (Und dazu kommt, dafi wir in solchen Begegnungen Revanche 
fur die Gewalttatigkeiten nehmen, die die zwischen diesen beiden 
Generationen liegende unserer Eltern an uns begin g( en).) Vor 
allem ist dies das Kostbare, mit vorriickenden Jahren, da die alteren 
Generationen uns verlassen(,) immer Seltnere: das Gesprach, dem 
aller Kalkiil des Wettbewerbs, alle Strategic der Beziehungen fern 
bleibt, weil der Anteil des Alteren, wenn er wirklich besteht, auf 
fast nichts sonst als auf Wohlwollen gegriindet sein kann. Mir kam 
dieser Gedanke, als ich dem Gefiihl der Erfrischung und Friedlich- 
keit nachhing, das in den Gesprachen mit Onkel Arthur in den letz- 
ten Jahren iiber mich kam. 

Unter den Schriftstellern gibt es zwei Typen: der eine hat von Haus 
aus einen gewissen Kontakt mit dem Publikum; er kommt von 
selbst dazu, immer das zu behandeln, was in engem, einsichtigen 
Zusammenhang mit dem steht, was jeweils die Leser beschaftigt. 
Der andere lost sich nicht von einer engen umschriebnen, nur inn 
betreffenden Innenwelt los, einem Reiche, das, so wie es ist, mit 
ihm entsteht und vergeht, entwickelt die verschiedensten Themen 
immer nur als Chronik oder als Gesetzesbuch dieser Innenwelt und 
kann auf eine Anteilnahme des Publikums nicht eher zahlen, als bis 
es ihm gelungen ist, dem von dieser seiner Denk- und Erfahrungs- 
welt einen Begriff zu geben. Dann kommt ein Punkt, an dem die 



Verstreute Notizen Juni bis Oktober 1928 415 

Leute beginnen sich fur jede Aufierung des Mannes zu interessie- 
ren, nicht, wie das bei den »Prominenten« der Fall ist, weil sie von 
ihm kommt, sondern weil sie einen neuen Schliissel zu einem ande- 
ren Tore dieser Innenwelt ihm an die Hand gibt. Dieses objektive 
Interesse, nicht an dem Manne sondern an seiner Welt in einem 
Publikum zu erwecken, ist vielleicht schwerer als alles andere. Es 
erringen zu wollen, ist unzeitgemafi. Im Grenzfall der genialen 
Autorschaft aber stofien diese beiden idealen Typen zusammen: der 
grofie Autor- ein deutliches Beispiel dafiir ist Goethe -macht seine 
Innenwelt von Anfang zur offentlichen Angelegenheit, die Zeitfra- 
gen ohne Rest zu Fragen seiner personlichen Erfahrungs- und 
Denkwelt. 

Die Kurve eines Lebens unter diesem Gesichtspunkt zu zeichnen: 
in welchem Verhaltnis steht die Zahl der Lebenden, die er kennt zu 
den Toten, die er gekannt hat? Definiert (wird dies Verhaltnis) 
durch Uberwiegen der letztern. 

(Verstreute Notizen Juni bis Oktober 1928) 

/ Juni 1928 Ich habe eben das »Panorame de la litterature alle- 
mande« von (Felix) Bertaux bekommen. Sitze im Cafe und schlage 
das Buch bei »Kafka« auf. Wahrend ich die ersten Worte lese ruft 
die Garderobiere, die hinter mir steht, dem Kellner zu: »Haben Sie 
ein paar Sechser?« »Nicht einen. « »Konnen Sie behalten.« Und geht 
mit undurchdring(lichem Gesicht) voriiber. Ist das nicht wie eine 
Stelle von Kafka? Wie wurde der sich an die Brust dieser banalen 
Situation legen, um den Herzschlag darin zu horen. 

19 September. Ich blieb abends zu hause, trotz einer Verabredung 
mit (Gustav) Gliick, Doris (von Schonthan) etc. Ich ging friih 
schlafen und nahm mir die »Exotischen Novellen« von (Johannes 
V. ) Jensen ins Bett, die schon monatelang auf meinem Schreibtisch 
lagen. Bald wahrend ich las, mufke ich an die besondere Intensitat 
denken, mit der Doris mir das Buch genannt hatte. Ich kam auf den 
Gedanken, da6 es wohl in ihrer Liebe zu Thankmar (von Miinch- 
hausen) eine Rolle gespielt haben konnte und bekam Lust, es zu 
stehlen. » Arabella« heifk die Geschichte, um die es sich handelt. Sie 
ist wirklich sehr gut und hat das Zeug, mehr als einen Menschen zu 
betreffen. Es ist eine Geschichte voller Falltiiren, in denen mancher 



4 1 6 Autobiographische Schrif ten 

in die Tiefe friiherer Erlebnisse hinabsteigen kann. Ich notierte mir, 
in Erinnerung an die »Stehbierhalle« dieses Fragment; »Richard 
war ein junger Mann, der Sinn fur alles Gleichartige in der Welt 
hatte . . .« Aber etwas anderes betraf mich so, dafi ich einen Impuls 
fuhlte, gleich an Asja (Lacis) zu schreiben. Nur kann ich ja den 
Brief nicht absenden und das lahmte mich. »Und doch gab es einen 
einzigen Augenblick, wahrend dessen sie zogerten, eine von jenen 
lautlosen Schicksalspausen, den en man erst spater anmerkt, dafi sie 
den Keim zu einem ganz anderen Lebensverlauf enthalten haben als 
dem, der uns zuteil geworden ist.« Dafi so das Schicksal aussetzt 
wie ein Herz und Raum fur etwas ganz anderes freigibt, kann 
manchmal die Gestalt eines Traumbildes annehmen, das den Erwa- 
chenden mit jenem lenauschen Weh zuriicklafit und auch von ihm 
erst - also » spater « - als Keim eines ganz andern Schicksalverlaufes 
begriffen wird. So ging es mir vor einigen Monaten als ich imTraum 
entschlossen, neben einem Wegweiser, mich wandernd nach »Per- 
sien« aufzubrechen entschlofi, ich weifi nicht, ob auf Asjas Geheifi 
oder in der Gewifiheit, dort Asja zu finden. »Persien« - dahin ging 
es durch eine Ebene, die niemand absieht, und dies Ziel war russi- 
sches Rufiland. Noch ins Erwachen ragte dieser Wegweiser als 
Wegscheide des Schicksals hinein. 

10 Oktober 1928 Es hilft nichts; mir entgeht zu viel. Ich mufi doch 
eine Art von Tagebuch schreiben, in das ich die wichtigsten 
Gesprachsmotive dieser Tage eintrage. Da war eben ein Abend mit 
(Ernst) Joel. Soweit die Rede vom Haschisch war - er nannte 
meine marseiller Notiz das Schonste, was es dariiber gibt, notiere 
ich nichts. Wichtig sind Fragmente eines Gesprachs, das wir iiber 
seine Ausstellung im Gesundheitshaus hatten. Technik dieser Aus- 
stellungen. Die Veranschaulichung, die neben ihren gewaltigen 
Chancen auch ein Risiko lauft: das der Verdummung. Verdum- 
mend wirkt namlich jede Veranschaulichung, in der das Moment 
der Uberraschung fehlt. Was zu sehen ist, darf nie dasselbe oder 
einfach mehr, oder weniger sein, als was die Beschriftung sagt, son- 
dern es mufi etwas Neues, einen Trick der Evidenz mit sich fuhren, 
den man mit Worten grundsatzlich nicht erzielen kann. Unterm 
Begriff der Vergegenwartigung lafit sich die gleiche Forderung von 
einer andern Seite erheben: nicht Abbildung sondern Aktualisie- 
rung des Raumes oder der Zeit, in der das Ding funktioniert. Her- 



Verstreute Notizen Juni bis Oktober 1928 417 

anzuziehen: die Parodie oder Variante des Volksbuchs z. B. Struw- 
(w)elpeter - das fait divers, die Spiele, die Reklame etc. Ent- 
scheidend ist hier die Erkenntnis, daft alte und neue Volksbildung 
einander entgegenstehen, Der friihere Begriff beruhte auf dem 
Schlagwort: Popularisierung. Man ging von der Gelehrsamkeit 
irgendeines angesehenen Professors aus und glaubte mit den Han- 
den zu greifen, wie in solchem Falle die Qualitat in Quantitat 
umschlage. Die neue Volksbildung geht von der Tatsache des Mas- 
senbesuches aus und laftt die Quantitat in Qualitat umschlagen, 
d.h. man erwartet von der Gestalt der Dinge, in der sie sich am 
anschaulichsten fur uns darstellen lassen, auf die Wissenschaft anre- 
gend und belebend zu wirken. 

12 Oktober Nochmals das Veranschaulichungsproblem. Diesmal 
mit (Ernst) Bloch und (Alfred Sohn-)Rethel. Das Schema des 
Geburtstagstisches. Einsichten, Zusammenhange als Gescbenke 
darstellen. Das heiftt: sie so darstellen, daft sie jenen Weg vom 
Gabentisch durch den Geber auf den Beschenkten zu nehmen. Nun 
ist bei Ausstellungen scheinbar der Geber nicht da. Die Dinge miis- 
sen diesen Kreis eben so blitzschnell und blitzhell durchschiefien, 
daft der Geber iiberblendet wird. Lenin als Geber. Der Aufsatz in 
»Europe« (scil. Ephime Zozoulia, Decouverte de Lenine, in: Eu- 
rope, No 66, 15 juin 1928, S. 178-187). - Die Technik der Veran- 
schaulichung als wissenschaftliches Experiment, als heuristisches 
Prinzip. Ferner. die demonstratio ad hominem: ein politisches 
Prinzip. Die Metapher aus den Dingen entbinden heiftt, ihren 
anthropologischen Kern entdecken und das ist wiederum identisch 
mit der Darstellung ihrer politischen Bedeutung. Dieser anthropo- 
logische Kern betrifft die Masse als den Beschenkten. Und diese 
Betroffenheit ist gebunden an die iiberraschende Bindung der 
gerade in Frage stehenden, entdeckten Metapher an die gerade gege- 
bene Ausdrucksform (Bild, Sprache und so in immer engeren Kate- 
gorien()) ; die Metapher wird schlieftlich, genau gesehen, die einzig 
mogliche Erscheinungsform des Dinges. Der Weg zu ihr vorzu- 
dringen: leidenschaftliches Spiel mit den Dingen. Auf demselben 
Wege dringen die Kinder zum Herzen vor. 

Das Groftmutterliche an Lenin: die Mutter zeigt ihr Gefuhl dem 
Kind durch Lebensfiirsorge; die Groftmutter durch Geschenke. 
Abgrenzung der Geschenkwelt von dem Essen. Bewirtung ist kein 



4 1 8 Autobiographische Schriften 

Geschenk. Geschenk u.a. an den Besitz, in irgend einem Sinne, 
gebunden. 



NOTIZ UBER EIN GESPRACH MIT BALLASZ (EnDE 1 929) 

Es fing ganz harmlos an. Irgend eine sprachphilosophische Frage. 
Mich agazierte nur sofort, dafi er die Tatsache, dafi Worte von glei- 
chem Begriffswert in den verschiedenen Sprachen auf verschiedene 
Art meinen (das ist natiirlich nicht seine Formulierung gewesen) wie 
eine aufierordentliche Entdeckung vortrug. Ich fuhlte sofort, dieser 
Mann kann nur Falsches vorbringen. Nun meine alte Taktik in sol- 
chen Fallen: Entweder Widerspruch um jeden Preis. Und so ent- 
wickle ich nachher eine ganze Theorie der Dichtung im sprachphilo- 
sophischen Sinne, die nur darum so fruchtbar wurde, weil der Mann 
die Gemeinplatze der my stischen Sprachphilosophie vorbrachte, zu 
denen mich in Gegensatz zu setzen fur mich ebenso schwierig wie 
niitzlich war. Oder die Meinungen eines solchen Mannes, falls sie 
namlich richtig sind, ihm entfuhren, ihm ausspannen wie eine 
Geliebte. So begann es. Er brachte eine sehr richtige Beobachtung 
iiber das Fremdwort vor : dafi es namlich als solches immer aus seiner 
natiirlichen Sprachbewegung herausgerissen und ein starres Gebilde 
sei. Ich dachte, nicht gerade genau, aber vage, an Polgars Wort, daft 
ich sogar die deutschen Worte so anwende als seien es Fremdworter 
(eine erstaunliche Intuition, die vom Stil ausgehend in meine Tiefe 
dringt) und bejahte die Feststellung von (Bela) Ballasz ganziiber- 
trieben und enthusiastisch, machte mir das derart erzeugte 
Gesprachsgedrange zu nutze und entfiihrte mir jenen Gedanken 
unter der vollig undurchsichtigen, ihn mir zu eigen machenden Ver- 
hiillung: Fremdworter sind kleine linguistische Grabkammern. - 
Die Theorie der Dichtung, die ich seiner banalen Sprachmystik ent- 
gegenstellte, drehte sich um den Gegensatz der magisch-metapho- 
risch-kosmischen Sphare der urspriinglichen Wortwerdung aus dem 
Bilde und der einverleibend-intentionalen-anthropologischen 
Dichtung, die ich als die Bezwingerin, die befriedende, pazifizie- 
rende Siegesmacht dem Mythos und der Magie gegenuberstelke. Die 
Entdeckung des intentionalen Charakters des Wortes geschieht viel 
spater als die seiner magischen Exekutive, die die alteste Praxis ist. 
Und diese intentionale Natur des Wortes entfaltet sich erst im Satze, 
und in der Dichtung vielleicht am friihesten. 



Reisenotizen 419 

Reisenotizen {1930) 

Traurigkeit der Leute in Rorwik. Musik am Strande, vielmehr am 
Quai. Weiter nordlich von Rorwik sind die Baumpflanzungen, 
welche man in den Dorfern antrifft, schon eingefriedet. Diese 
Leute, die so sehr fremd anmuten, machen, dafl sich die Phantasie 
zu Erinnerungen aus nordischen Biichern fliichtet. Vielleicht bin 
ich auch in ihnen nie einem Mann wie dem Blonden begegnet, der 
gestern in Rorwik die Miinzen einsammelte, einer Mischung von 
Intellektuellem und Clown. Eine Geige und eine Ziehharmonika 
waren die Instrumente. Auch das Lustige klang traurig. Und aben- 
teuerlich war eine Tanzmusik, die von schrillen, provozierenden 
Worten des Blonden (der selbst nicht spielte) angekiindigt wurde. 
Als die aus war, und der Dampfer abzufahren begann, stieg der 
Blonde eine Art Sturmlauf hinauf, der hart am Rande des Wassers 
steil in die Hohe fiihrte und nahm traurig die beiden Fahnen ab, die 
rechts und links an seinem Ende aufgesteckt waren. Das sah danach 
au{s,) als (ob) diese Festvorbereitungen - denn es waren mehr 
Vorbereitungen als ein Fest oder eigentlich etwas wie eine triste 
Friihgeburt von Fest - dem Schiff mit seinen Touristen galten. Aber 
dann war es wieder erstaunlich, wie der Blonde beim Sammeln 
kaum auf die zahlungsfahigen Passagiere zu rechnen schien sondern 
mit seiner Miitze in die Reihen der Armen eindrang, welche sich am 
Quai versammelt hatten. Was da vorging war ungewifi und iiberbe- 
stimmt zugleich, wie hier alle Dinge erscheinen, wenn die weifie 
Dammerung sie gewinnt. Ubrigens war es in der Tat um die Dam- 
merung, gegen halb elf Uhr abends. 

Bergen. Uberall gibt es Gebalk und Knacken darin und in den Fen- 
stern sieht es nach Bratapfeln aus. Alle Dinge sind blank, Holz ist 
Holz, Messing ist Messing, Spiegel Spiegel; sie sind da und heben 
alle den Finger wie zuverlassige leise Kinder, die alles gelernt haben. 
Alles ist vertreppt und verwinkelt und wo noch ein bifkhen Him- 
mel zu sehen ware, sind gerade zwei Fahnenstangen von jeder Seite 
der Strafte im Begriff, sich zu senken. »Halt, wenn das Nahen der 
Wolke bemerkbar wird.« Sonst ist der Himmel durch Sakraments- 
hauschen gut vertreten, holzerne Zellchen, gotische, rote, in denen 
ein Klingelzug hangt, mit dem man die Feuerwehr herbeirufen 
kann. In den belebteren Teilen der Stadt sind sie schon durch andere 
Apparate ersetzt, aber im Norden begegnet man ihnen wieder. Fur 



420 Autobiographische Schriften 

vor dem Hause ist nirgends was (sic) vorgesehen (aufier natiirlich 
bei den vornehmeren Hausern der Villen vor stadt). Wo Biirgerhau- 
ser vorn einen Garten haben ist er so dicht bestellt, dafi die Men- 
schen nicht in Versuchung kommen, darin miiflig zu gehen. Viel- 
leicht kommt es daher, dafi die Madchen hier so auf der Schwelle zu 
stehen, in der lure zu lehnen wissen, wie man es im Suden nicht 
sieht. Das Haus hat noch strenge Grenzen. Ich sah eine Frau, die 
wollte wohl vor der Tiir sitzen, aber ihren Stuhl hatte sie nicht etwa 
rechtwinklig sondern parallel zur Hausfront in die Nische der Tiir 
gestellt. Und das hatte mich nicht mehr gewundert, wenn ich schon 
fruher die mittelalterlichen Schlafgelegenheiten der Stadt im Han- 
seatischen Museum gesehen hatte. Das sind namlich Schranke, bald 
mit drehbaren Tiiren und bald mit Schiebladen, bis zu vier Men- 
schen konnten in den verschiednen Fachern ein und derselben 
Truhe so untergebracht werden. Fiir die Liebe war vielleicht 
schlecht gesorgt, fiir die gluckliche namlich. Aber desto besser kann 
ein ungliicklicher Liebhaber auf seine Kosten gekommen sein, 
wenn es namlich einer war, an dessen Bettstatt ich die Innenseite der 
Tiir mit einem grofien Frauenbildnis ausgefullt sah. Eine Frau 
trennte ihn von der Welt; mehr hat noch kein Gliicklicher auf der 
Hohe des Daseins behaupten konnen. Wenn das Meer die Campa- 
gna ist liegt Bergen im Sabiner Gebirge. Und so ist es, denn das 
Meer liegt im tiefen Fjord immer glatt und die Berge haben die For- 
men der romischen. Die Stadt freilich ist nordisch. 

Konigsportrat im Hanseatischen Museum: Ein Kopf, der wie eine 
Zwiebel aus einer Krone scheint hervorgezogen zu sein, der viel- 
leicht an dieser Krone nur ein Geschwulst ist. Zauberhafteste Har- 
monie zwischen der Unfahigkeit eines Malers und der Konigstreue 
eines Untertanen. 

Wahrend das Schiff Bodo verlafk. Dort uberraschte mich dies : wah- 
rend der Baum und die Baume im Norden schuehtern werden, kann 
man in Blumen einer ungeahnte(n) Harte begegnen. Sie sind gewifi 
nicht heftiger als im gemafiigten KUma gefarbt, eher blasser. Aber 
wieviel entschiedner hebt sich ihre Farbe von allem Umgebenden 
ab. Die kleinen: Stiefmiitterchen und Reseden sind wilder, die gro- 
fien, und vor allem die Rosen, bedeutungsvoller. In den Fenstern 
stehen sehr viel (mehr) Topfe als bei uns. Sie stehen gegen die 
Scheiben gedrangt, weniger ein Grufi als ein Wall gegens Aufien. 



Reisenotizen 421 

Wenn die Sonne durchbricht, hort alle Gemiitlichkeit auf, Ich 
glaube nicht, dafi man auf Norwegisch sagen kann, daft sie es gut 
meint. Sie nutzt die Augenblicke ihrer wolkenlosen Herrschaft 
despotisch. Alles gehort ja hier zehn Monate des Jahres dem Dun- 
kel. Kommt sie, so herrscht sie die Dinge an, entreifk sie als ihr 
Eigentum der Macht und sie stehen atemlos, zitternd in ihrem har- 
ten Lichte. Es ist wohl so, daft der Mensch in den Visionen des 
Rausches nichts zu sehen bekommt, worauf er nicht unter irgend 
einem Breitengrade, zu irgend einer Tageszeit, an irgend einer Stelle 
in der Natur stofien konnte. Blumen, wie sie hier vorkommen, ste- 
hen vielleicht im Haschisch- oder Meskalinrausch vor den Augen 
des Abwesenden. Und das ist Bodo? Ja, denn das Fiskermuseum 
war geschlossen und ich sah nur durch hohe blanke Scheiben in 
einen schwarzen, von Netzen durchquerten Raum. Die steinerne 
Kirche aus dem dreizehnten Jahrhundert liegt weit ab. Und ichhabe 
nicht einmal ein Reiseandenken gekauft, das ich mir wie kein ande- 
res gewiinscht hatte: das kleine porzellanene Rauchservi(ce), des- 
sen drei Teile auf einem Grunde, wo sich Sepia langsam gegen das 
Kobalt des oberen Randes verlor(,) schwarze Palmen in Wusten- 
sand zeigten. 

Svolvasr. Die Straflen sind leer und hinter den Fenstern smd die 
Papierrouleaux heruntergezogen. Schlafen die Menschen? Es ist 
nach Mitternacht; aus einer Wohnung kommt das klappernde 
Gerausch einer Mahlzeit, aus einer andern Grammophonmusik. 
Jedes laute Wort, das iiber die Strafie hallt, macht diese Nacht in 
einen Tag umschlagen, der nicht im Kalender steht. Du bist unbe- 
fugt in die Magazine der Zeit gedrungen, und blickst auf Stapel 
unbenutzter Tage, die sich die Erde vor Jahrtausenden auf dies Eis 
legte. Der Mensch verbraucht in vierundzwanzig Stunden seinen 
Tag, diese den ihre(n) nur alle Halbjahr. Darum blieben die Dinge 
so unvernutzt. Weder Zeit noch Hande haben die Blumen in den 
windstillen Garten und die Boote im glatten Wasser beriihrt. Zwei 
Dammerungen begegnen sich iiber dir, teilen sich in ihren Besitz 
wie in den der Wolken und schicken dich mit leeren Handen nach 
Hause. 



422 Autobiographische Schriften 

Mai-Juni 193 i 

Juan les Pins 4 Mai morgens A 1 

Die Bogen, die mir von diesem Papier noch bleiben, will ich einem 
Tagebuch vorbehalten. In der Annahme, dafi das Bevorstehende 
nicht vielen Aufhebens wert sei, soil es sich dem Vergangnen 
zuwenden. Der Anlafi, der mich bestimmt, ist vielfacher Art. Das 
Wichtigste aber: ich bin miide. Miide vor allem den Kampf(,) den 
Kampf um das Geld, von dem ich nun noch einmal einige Reserven 
gesammelt habe, um hier sein zu konnen. Miide aber auch der{ ?) 
Aspekte meines personlichen Lebens, mit dem ich streng genom- 
men gerade jetzt - wenn ich von meiner wirtschaftlichen Lage ein- 
mal absehe - nicht Grund habe, unzufrieden zu sein. Aber gerade 
der Friede, den ich innerlich in einem Grade habe, der bei mir 
immer selten gewesen ist, fuhrt mich dazu, die Sonde tiefer in das 
Dasein zu senken, das ich jetzt fuhre. Sodann diese Mudigkeit: sie 
lafit nicht nur manches Vergangene auftauchen; es ist vor allem, dafi 
in solchen Dingen meiner Vergangenheit, die mir jetzt hin und wie- 
der vor Augen stehen, das, was sie zu Momenten gerade meines 
Lebens machte, sie mir zueignete, deutlich wird, wahrend gerade 
darauf friiher mein Blick nie fiel. Endlich verbindet sich diese 
Mudigkeit auf seltsame Weise mit dem, was mir die Unzufrieden- 
heit mit meinem Dasein hervorruft. Es ist eine wachsende Abnei- 
gung, auch Mangel an Vertrauen hinsichtlich der Wege, die ich die 
Menschen meiner Stellung und meiner Art in Deutschland einschla- 
gen sehe, um der trostlosen geistespolitischen Lage Herr zu wer- 
den. Was mich qualt ist die Undeutlichkeit und die Unexaktheit der 
Parteiungen unter den wenigen mir nahe stehenden Leuten, was 
meinen innern Frieden, der auch Friedfertigkeit ist, verletzt ist das 
Mifiverhaltnis zwischen der Scharfe, mit welcher solche Meinungs- 
verschiedenheiten vor mir- wenn auch langst nicht immer an sich - 
ausgefochten werden und den oft sehr geringen sachlichen Diffe- 
renzen. Gerade die durchgehenden Charaktere in der Lage der 
Schriftsteller sind ja die trostlosen, die aber werden im Interesse der 
Standesehre fast niemals ganz zum Vorschein gebracht. Oft habe 
ich mich gefragt, ob diese besondere Friedfertigkeit nicht mit dem 
Geiste der Betrachtung zusammenhangt, in den der Gebrauch von 
Rauschgiften einfuhrt. Der universale Vorbehalt de(r) eignen 
Lebensweise gegeniiber, zu dem die Betrachtung der Dinge in 



Mai-Juni 193 1 423 

Westeuropa jeden Schriftsteller - ohne Ausnahme wie mir scheint - 
notigt ist auf bittre Art demjenigen verwandt, den das Gift dem 
Berauschten seinen Mitmenschen gegeniiber eingibt. Und um nur 
den Kreis der Gedanken und Bewegungen, unter deren Herrschaft 
ich dieses Tagebuch beginne ganz abzuschreiten, ist nur noch die 
Andeutung der wachsenden Bereitschaft notig, mir das Leben zu 
nehmen. Einer Bereitschaft, die von keiner akuten Panik eingege- 
ben ist sondern so tief sie mit meiner Kampfmiidigkeit an der oko- 
nomischen Front zusammenhangt, doch so nicht moglich ware, 
ohne das Gefiihl, ein Leben gelebt zu haben, dem seine hochsten 
Wiinsche erfiilk wurden, welche ich freiiich jetzt erst, gewisserma- 
ften als den urspriinglichen Text einer spaterhin mit den Schriftzii- 
gen meines Schicksals bedeckten Seite, erkannt habe. 
Morgens am gleichen Tage. Da stehe ich bei den Wiinschen. Die 
Leute wurden den Satz, daft jedem seine tiefsten Wiinsche in Erfiil- 
lung gehen, weniger anzweifeln, wenn sie sich sagten, daft diese 
Wiinsche beinahe immer unbewuftt, mit andern Worten andere 
sind als von denen sie wissen und von denen sie dann mit Recht 
beklagen mogen, deren Erfiillung sei ihnen versagt worden. Das 
Marchen bringt das mit dem Motiv der drei Wiinsche sehr klar zum 
Ausdruck. Wir haben keinen Anlaft iiber die Torheit, den kurzen 
Atem dessen, der von dieser Wundergabe Gebrauch macht, zu 
staunen. Der sind wir selber. Nur daft uns unsere tiefsten Wiinsche 
nie gegenwartig wie dem Begnadeten im Marchen, dem sie erfullt 
werden, sondern nur als vergangen in der Erinnerung und oft als 
dem Genarrten, dem sie leider erfullt worden sind, gegeniibertre- 
ten. Das eigentliche Kennzeichen dieser Wiinsche war aber, daft fur 
das Begehrte kein Preis zu hoch war: auch erkennt man die tiefsten 
Wiinsche riickblickend daran{?) vielleicht am besten, wie gut sie 
von dieser schrankenlosen Bereitschaft Gebrauch machten, wie 
teuer ihre Erfiillung erkauft wurde. Von den drei groftten Wun- 
schen meines Lebens habe ich den nach weiten, vor allem aber lan- 
gen Reisen zuerst erkannt. Auch ist er mir am ehesten vor der Erfiil- 
lung bewuftt gewesen, sei es auch nur durch einen ungeheuerlichen 
Riickstoft. Am Anfang war das vielleicht nur der gebieterische 
Impuls aus Deutschland zu fliehen, der wahrend der Kriegsjahre 
viele Menschen so ergriff wie in der Inflation und im Wiederaufbau 
der nach dem Auto. Dann kam der Augenblick, daft ich soviel bei- 
sammen hatte, um zur Not einige Zeit im Ausland verbringen zu 



424 Autobiographische Schriften 

konnen: ich war mit mehreren Freunden fur Capri verabredet. Sehr 
genau ist mir der Chok noch in Erinnerung, mit dem ich auf einem 
Achtuhrabendblatt in der Hand einer Zeitungsfrau Ecke Friedrich- 
strafie-Unter den Linden die Aufschrift las: Sperre der Auslandsrei- 
sen. Es war da eine Verordnung herausgekommen, die Auslandsrei- 
sen nur noch unter Hinterlegung einer Summe, die vielleicht das 
Zehnfache meiner Reisekasse betrug, gestatteten. In zwei bis drei 
Tagen sollte die Verordnung in Kraft treten. Mir war es ausge- 
macht, dafi unter diesen Umstanden der mit den Freunden verein- 
barte Abreisetermin, der an sich zufallig ganz kurz vor dem Ablauf 
der Frist lag, fur mich nicht mehr in Frage kommen konne. Erst als 
ich in Capri oder Neapel meinen Koffer auspackte, bemerkte ich, in 
was fur einer sinnlosen Bestiirzung ich Hals iiber Kopf, was mir an 
Dingen gerade in die Hand fiel, verstaut hatte: viel Notwendiges 
fehlte, hundertfach Uberflussiges war vorhanden. Die eigentliche 
Entscheidung iiber diese Fahrt aber brachte nicht mein schneller 
Entschlufi, Berlin zu verlassen - denn das gelang schliefilich auch 
meinen Freunden, die sich erst einige Tage spater aufmachten -son- 
dern fiinf oder sechs Wochen spater, als meine Mittel erschopft 
waren, die Bereitschaft, alles ohne Ausnahme auf mich zu nehmen, 
nur um die Insel nicht verlassen zu mussen. Sehr ernstlich habe ich 
damals den Gedanken, in einer der grofien Hohlen zu wohnen, in 
Frage gezogen und die Bilder, die mir dabei vorschwebten, waren so 
lebhaft, dafi ich heute garnicht mehr genau weifi, ob sie auf blofien 
Phantasien beruhten oder eine der Abenteuergeschichten, von denen 
die Insel ja voll ist, Ahnliches von jemandem aus der Kriegszeit 
berichtete. So ging dieser Wunsch in Erfullung, mit dem Aufenthalt 
auf der Insel und spater durch ihn. Denn ich glaube, lange auf Capri 
gelebt zu haben, ist eine Anwartschaft auf weite Reisen, so sehr 
glaubt wer dort lange gelebt hat, dafi alle Faden durch seine Hand 
laufen und dafi ihm zu seiner Zeit alles Notige zuf alien wird. 
Juan les Pins j Mai morgens 

Ehe ich mit den drei Wiinschen fortfahre, will ich eine Bemerkung 
iiber Hemingway aufzeichnen. Das ganz Gluckliche, ganz Bedeu- 
tende kann man sich oft nicht besser einsichtig machen als indem 
man es ganz nah ans ganz Mifilungne, ganz Banale heranhalt. So 
Hemingway an den schlechten Schriftsteller. Der schlechte Schrift- 
steller ist der Schriftsteller, der immer mehr sagt als er denkt. Der 
gute Schriftsteller - hier hat man sehr vorsichtig vorzugehen, wenn 



Mai-Juni 193 1 425 

man zu wirklichen Ergebnissen kommen will - ist der Schriftsteller, 
der nicht mehr sagt als man (sic) denkt. Diese Definition wird man 
gern im Sinn (der) Vertreter des »Klaren und Einfachen« lesen und 
meinen, der gute Schriftsteller sei eben, der genau sagt, was er 
denkt. Eben diesen hochst naheliegenden Abweg aber gilt es zu 
meiden. Es ist die Grundlage aller Einsicht in Dinge des Stiles, daft 
es dies: Sagen was man denkt uberhaupt nicht gibt. Das Sagen ist 
namlich nicht nur ein Ausdruck sondern vor allem eine Realisierung 
des Denkens, die es den tiefsten Modifikationen unterwirft genau 
so wie das Gehen auf ein Ziel zu nicht nur der Ausdruck eines Wun- 
sches es zu erreichen sondern seine Realisierung ist und ihn den 
tiefsten Modifikationen aussetzt. Wie aber diese Modifikationen 
ausf alien, ob sie den Wunsch veredeln, prazisieren oder ihn 
unscharf und allgemein werden lassen, das hangt vom Training des 
Schreibenden ab. Je mehr er seinen Korper in Zucht hat, je genauer 
er seinen Korper aufs Gehen beschrankt, die iiberflussigen ausfah- 
renden und schlenkernden Bewegungen meidet, desto mehr wird 
sein Gang selber zu einem Kriterium des Wunschziels, wird es ver- 
edeln oder es fallen lassen, wenn es der Miihe nicht wert ist. Es ist 
der Zauber von Hemingway diese Erscheinungen, die sonst nur das 
geiibte Auge an einem streng und geistvoll trainierten Korper 
erkennt, im Stil sichtbar zu machen. Man trate ihm zu nahe, wenn 
man in diesem das Hauptgewicht auf einzelne bestimmte Leistun- 
gen im technischen Sinn - etwa seine Kunst des Fortlassens oder 
seine Dialogtechnik - legte: seine Prosa gibt das grofte Schauspiel 
der Erziehung zu richtigen Gedanken durch richtiges Schreiben: er 
sagt nicht mehr als er denkt und so kommt die ganze Kraft seines 
Schreibens dem was er wirklich denkt zugute. 
Wie ich am $ ten Mai nachts todmiide im Autobus vom Casino de la 
Lot.ee in Nizza nach Juan-les-Pins zuriickfuhr, kam mir eine auf- 
schluftreiche etymologische Betrachtung in den Sinn. Die Franzo- 
sen sagen allure, wir: Haltung. Beide Worte sind aus dem » Gehen « 
genommen. Um aber das gleiche - in wie begrenztem Sinn es das 
gleiche ist, sagt aber diese Bemerkung, zu bezeichnen, spricht der 
Franzose vom Gange selbst - allure -, der Deutsche von seiner 
Unterbrechung - Haltung. 

Auf der Herreise ubernachtete ich mit Egon (Wissing) in Basel. 
Wir hatten ein gemeinsames Zimmer und obwohl es nach zwei, 
wenn nicht nach drei war, als wir zu Bett gingen, auch unser Zug am 



426 Autobiographische Schriften 

nachsten Morgen um sieben fuhr, sprachen wir noch von dem und 
jenem. Es kam, dafi ich dabei zum ersten Mai aussprach, was mir 
gerade in den letzten Wochen hin und wieder aufgefallen war. Egon 
machte eine Bemerkung, die sich im gleich ablehnenden Sinne wie 
meine eignen fruhern Aufierungen mit dem Bauhausstile beschaf- 
tigte. Dafi seine Kritik dabei von asthetischen Bedenken gegen die 
Formensprache des Bauhausmobiliars ausging, gab mir das Stich- 
wort, anzudeuten wie er mir - ohne dafi meine Anschauungsweise 
sich schon ganzlich bestimmt hatte - einen merkwiirdigen Durch- 
blick auf das beriihmte hochherrschaftliche Wohnen gegeben hatte. 
In der Tat erschliefien sich die Absichten der Bauhausleute und ahn- 
liche viel weniger aus den Theorien, die sie proklamieren als aus den 
verborgenen Gesetzlichkeiten, die das Wohngebaren der unmittel- 
bar vorhergehenden Generationen bestimmten. Betritt einer das 
biirgerliche Zimmer der achtziger Jahre so ist bei aller »Gemiitlich- 
keit«, die es vielleicht ausstrahlt, der Eindruck »hier hast du nichts 
zu suchen« der starkste. Hier hast du nichts zu suchen, denn hier ist 
kein Fleck, auf dem nicht der Bewohner seine Spur schon hinterlas- 
sen hatte. Was das bedeutet, wird durch ein schones Wort von Brecht 
deutlich genug beleuchtet. »Verwische die Spuren « heifit der Refrain 
im ersten Gedichte aus dem »Lesebuch fur Stadtebewohner«. Hier 
im biirgerlichen Zimmer ist das entgegengesetzte Verhalten zu 
einem Ethos im strengsten Sinne, das heifit zu einer Gewohnheit 
geworden. Ja dieses Spuren hinterlassen ist nicht nur Gewohnheit 
sondern das Urphanomen der Gewohnheiten insgesamt, das eben 
im Wohnen beschlossen ist. Wirklich ist, was zwischen den Mobeln 
des Bauhauses moglich ist, nur ein Hausen verglichen mit dem Da- 
sein in der biirgerlichen Wohnung, deren Interieur den Bewohner 
notigt das Maximum von Gewohnheiten anzunehmen, ja, mit die- 
sen Gewohnheiten mehr das Interieur in welchem er lebt zu zele- 
brieren als sich selber gerecht zu werden. Das versteht jeder, der die 
absurde Verfassung noch kennt, in die die Angehorigen jenes Zeit- 
alters gerieten, wenn im Haushalt etwas entzwei ging. Selbst ihre 
Art sich zu argern - und diesen Affekt, der allmahlich rudimentar 
zu werden beginnt, konnten sie formlich virtuos spielen lassen - 
war vor allem die Reaktion des aus seinen Gewohnheiten Exmittier- 
ten. Da hat nun die moderne Bauart, was auch sonst von ihr zu 
sagen sein moge, dies(e) Raume zu Wege gebracht,.in denen es 
schwer ist Spuren zu hinterlassen (daher sind Glas und Metall so 



Mai-Juni 193 1 427 

wichtig geworden) die es fast unmoglich machen, Gewohnheiten 
anzunehmen (daher sind die Raume leer und oft schon ver- 
schiebbar.) 

6 Mai abends. Gestern mit Gert { Wissing) und Egon zusammen- 
gelegen. Man sprach iiber Erfahrungen in der Liebe und mir wurde 
es zum ersten Male im Laufe dieses Gespraches deutlich, dafi ich 
mich jedesmal, wenn eine grofie Liebe Gewalt iiber mich bekam, 
von Grund auf und so sehr verandert habe, dafi ich sehr erstaunt 
war mir sagen zu miissen: der Mann, der so ganz unvermutbare 
Dinge sagte und ein so unvorhergesehenes Verhalten annahm, der 
sei ich. Das beruht aber darauf, dafi eine wirkliche Liebe mich der 
geliebten Frau ahnlich macht und ich freute mich, wie nachdriick- 
lich Gert das bestatigte, freilich indem sie es als das eigentlich Kenn- 
zeichnende der weiblichen Liebe darstellte. Am gewaltigsten war 
diese Verwandlung ins Ahnliche - die so unerlafilich ist, dafi sie in 
der kirchlichen Auffassung durch das Sakrament der Ehe eigentlich 
gewahrleistet wird, denn nichts macht Menschen einander ahnli- 
cher als miteinander in der Ehe leben - kurz am Gewaltigsten war 
diese Erfahrung in meiner Verbindung mit Asja { Lacis) , so dafi ich 
vieles in mir erstmals entdeckte. Im ganzen aber bestimmen die drei 
grofien Liebeserlebnisse meines Lebens dieses nicht nur nach der 
Seite seines Ablaufs, seiner Periodisierung sondern auch nach der 
Seite des Erlebenden. Ich habe drei verschiedene Frauen im Leben 
kennen gelernt und drei verschiedene Manner in mir. Meine Lebens- 
geschichte schreiben, hiefie Aufbau und Verfall dieser drei Manner 
darstellen und den Kompromifi zwischen ihnen - man konnte auch 
sagen: das Triumvirat, das mein Leben jetzt darstellt. 
Sanary 13 Mai 193 1 Ob sich nicht das Gef alien an der Bilderwelt aus 
einem diistern Trotz gegen das Wissen nahrt? Ich sehe in die Land- 
schaft hinaus: da liegt das Meer in seiner Bucht spiegelglatt; Walder 
ziehen als unbewegliche stumme Masse an der Kuppe des Berges 
herauf ; droben verfallene Schlofimauern wie sie schon vor Jahrhun- 
derten standen; der Himmel strahlt wolkenlos, in »ewiger Blaue«, 
wie man es nennt. So will der Traumer es, der sich in diese Land- 
schaft vertieft: dafi dieses Meer in milliarden und abermilliarden 
Wellen in jedem Augenblick sich hebt und senkt, die Walder von 
den Wurzeln bis ins letzte Blatt jeden Augenblick von neuem erzit- 
tern, in den Steinen der Schlofiruine ein ununterbrochnes Stiirzen 
und Rieseln waltet, im Himmel Gase, eh sie sich zu Wolken ballen 



428 Autobiographische Schriften 

unsichtbar streitend durcheinander wallen, dafi und wie die Wis- 
senschaft diese Bewegung bis ins Innerste der Materie verfolgt; in 
den Atomen nur Elektronensturme sehen will, all das mufi er ver- 
gessen, will er leugnen: um sich den Bildern zu uberlassen, an denen 
(er) Frieden haben will, Ewigkeit, Ruhe, Dauer. Jede Miicke, die 
ihm urns Ohr summt, jeder Windstofi, der ihn durchschauert, jede 
Nahe die ihn trifft, straft ihn Liigen aber jede Feme baut seinen 
Traum wieder auf, an jedem verdammernden Berggrat reckt er sich 
hoch, an jedem erleuchteten Fenster entglimmt er von neuem. Und 
am vollkommensten scheint er, wenn ihm gelingt, der Bewegung 
selber ihren Stachel zu nehmen, das Zittern der Blatter iiber ihn in 
den Wipfel, das Huschen der Vogel zu seinen Haupten in den 
Vogelzug zu verwandeln. So der Natur im Namen abgeblafiter Bil- 
der Einhalt zu gebieten - das ist die schwarze Magie der Sentimenta- 
litat. Sie unter neuem Anruf erstarren zu machen aber die Gabe der 
Dichter. 

Abends mit (Wilhelm) Speyer ein kleines Gesprach am Kamin- 
feuer. Wie ich die ( ?) Flamme um die Holzscheite zungeln sah und 
wir gerade iiber einen Roman sprachen, gingen mir beide Gegen- 
stande der Betrachtung in eins zusammen. Auf einmal schien mir, 
als stelle die Schichtung der Holzer das wahre Vorbild der Kompo- 
sition in Romanen dar: so locker muE die Handlung, so ganz und 
gar auf Verzehrbarkeit eingerichtet, so sehr das Gegenteil aller 
architektonischen, geschweige denn monumentalen Konstruktion 
sein. Die Deutschen freilich haben in ihren Romanen von der Idee 
der Architektur sich niemals frei machen konnen. Selbst Gottfried 
Keller fehlt die kunstgerechte Hand seine Fabelkloben wie Balzac 
oder Dostojewski zu schichten. Der eigentliche Widerpart dieser 
Roman technik - aus welcher dann auch Bucher hervorgehen, die 
den Leser wie ein Kaminfeuer warmen - ist der grofle Konstrukteur 
Flaubert, an dessen Werken dem Leser nicht anders wird, wie vor 
dem herrlichsten Delfter Ofen, in dem kein Feuer brennt. 
Jnan-les-Pins 17 Mai 19J 1 Versuch einiges von dem f estzuhalten, 
was in Gesprachen, teils mit Wilhelm teils mit Maria Speyer, soweit 
sie sich um Eva Hermann drehten, beriihrt wurde. 
21 Mai. Mit Speyer im Wagen nach Saint-Paul (de Vence). Man 
miifke einmal zehn Tage an diesem aufierordentlichen Platz leben. 
Leider kann ein Ort heute so vergraben und in sich verschlossen 
aussehen wie er will, von irgend einer Seite her stellt sich seine Preis- 



Mai-Juni 193 1 429 

gegebenheit doch sehr bald heraus. So hatte ich noch kaum zu 
Speyer- wir waren eine Weile allein, Wissings und Speyers Frau vor 
uns - gesagt: Quel bonheur que c.a ne soit pas encore decouvert par 
les cineastes, da erschienen auf dem Marktplatz Willi Fritsch und 
die Lilian Harvey in grofterer Gesellschaft. Im iibrigen ist dieser 
On ja wirklich in genauem Sinne nicht fiir unentdeckt zu halten, 
wie kame er sonst zu einem beriihmten Tea-Room, den zwei junge 
Madchen, Freundinnen, Lesbierinnen, unterhalten und in dem 
Kerzen den Innenraum erhellen und altmodische Kupferkessel, 
Schopfloffel und ahnliche Geratschaften der Sache »cachet« geben. 
Immerhin ein sehr liebenswertes und geschmackvolles. Auch geht 
dieser Teesalon mit einem Ansichtskartenverkauf und einem Anti- 
quitatengeschaft zusammen. Daneben gibt es aufierhalb des Ones, 
vor dem Stadttor noch zwei Gasthauser; von denen sehen wir die 
Colombe d'or, eine wunderbar gepflegte Herberge, die ihren Gar- 
ten in Ter(r)assen gegen den Talboden zu senkt und Tische unter 
bliihenden Orangenbaumen mitten in Blumenplantagen fiir die 
Gaste bereitstehen hat. Die berliner Filmgesellschaft polterte ohne 
etwas zu sehen um den Marktplatz, der allein durch die uniiberbiet- 
bare Okonomie eines winzigen Arkadenganges und eines einzelnen 
Empirebrunnens alien Notwendigkeiten der Representation geniigt 
und die winzigen Dimensionen der Stadt gerade in seiner Beschei- 
dung zu den allergrofken Ehren bringt. Freilich nimmt er unbe- 
merkt seine Revanche, auf dem schmalen Raum namlich hat er, wie 
ich mit einem Mai entdeckte, Platz fiir zwei Sonnenuhren. Eine 
Inschrift hat keine von beiden. - Einiges erinnert an San Gimi- 
gnano, aber die Autoritat der Festung ist in dieser Stadt starker. Sie 
hat nirgends Platz fiir die Entfaltung irgendwelchen Prunkes, ja 
auch nur der Gemachlichkeit gelassen. Schon der Marktplatz ist 
winzig. Im iibrigen ist im Geflecht der einander kreuzenden Stra- 
iten eigentlich - sieht man von einer Stelle vor der Kirche und den 
Gegenden an der Umwallung ab, iiberhaupt kein Fleck, der mehr 
als ein anderer zum Verweilen einliide. Der strenge ungebrochene 
Gegensatz von Haus und Strafte beherrscht die Architektur voll- 
kommen, alle Vermittlungen sind vermieden, sogar die scheinbar 
unentbehrliche der Laden ist eigentlich unsichtbar geworden. So 
einhellig schliefien sich die Fassaden der Hauser aneinander, denen 
man kaum ansieht, daft sie bewohnt werden, geschweige denn 
Arbeits- oder Verkaufsstatten. Allenfalls erblickt man auf dem 



430 Autobiographische Schriften 

Boden einer Stube Mann und Frau mit dem Sortieren von Orangen- 
bluten oder ihrem Trocknen beschaftigt. Gewifi hatte man jene 
zehn Tage, die ich mir fiir Saint-Paul wunschte, ndtig um den Ort 
kennen zu lernen. Es gibt in solcher Stadt fast nichts, was sich nicht 
versteckt und was zu entdecken nicht wert ware: von den schmalen 
Schachten zwischen den Hausern, die wie ein Kamin die griine Tie- 
fe des Landes draufien einfassen und von den Sonnenuhren, deren 
gleich zwei rechtwinklig an zwei Giebelwanden des Marktplatzes 
aneinanderstofien bis zu den Blicken durch die grandiose Wolbung 
der Torfahrten und das gefranste Triimmerprofil der Stadtmauer. 
In einem Hof, der im Voriiberschreiten uns stutzen machte und 
iiber dem wir den Himmel nicht sehen - wir standen schrag und die 
Hauser waren hier hoch - hatte man an die Ruckwand ein Plakat mit 
dem einzigen Wort »Cinema« angeschlagen. Der Maler hatte die 
Buchstaben vielleicht auf einer Schablone gepinselt, vielleicht aber 
auch eigens entworfen: auf keine Weise hatte eine andere Schrift 
besser als diese klobige, rustikale sich in dem stumpfen Braun und 
Grau dieses schattigen Gevierts sehen lassen konnen. Ware dies ein 
Lyonischer (?) Klosterhof gewesen, die Monche hatten einen 
Weihspruch iiber dem Portal nicht unerbittlicher stilisieren kon- 
nen. Lange standen wir auf der alten Stadtmauer und sahen ins 
Land, das unter bedeckte(m) Himmel dalag. In der eintonigen 
Beleuchtung traten alle Linien die die Arbeit in die Landschaft 
gegraben hatte, starker heraus. Hecken und Ackerfurchen zogen 
eigensinnig ihre Striche und Winkel. Aber man hatte diese 
Gewachse alle beim Namen kennen miissen, um ihre Geometrie zu 
entratseln. Ja vor dieser im hochsten Sinn kultivierten Landschaft 
steht der unkundige Stadter wie der Europaer vor einer chinesi- 
schen Schriftseite. Und wenn man denkt, dafS solche Unkenntnis 
die einzig gemeinsame Grundlage der meisten Beschreibungen ist. 
Je weiter diese provenzalischen Gehofte auseinanderliegen, desto 
bewundernswerter sind sie zumeist gebaut, desto mehr fallt aber 
auch ins Auge, wie bestimmt und gefugig sie sich der Landschaft 
einbetten und wie sehr ihre Formen naturlich verglichen mit den 
unerbittlich regelrechten der Baumpflanzungen, Beete und Acker 
sind. Die Stadt hat die Grandezza, die die Landarbeit den Dorfern 
verleiht: vor Feierabend ist fast niemand auf ihren Strafien zu 
sehen. 
j Juni 193 1- Vor der Potiniere in Le Lavandou. Es weht ein recht 



Mai-Juni 193 1 43 1 

kalter Wind, Ich bin am Orte mit Brecht, (Emil) Hesse-Burri, der 
(Elisabeth) Hauptmann, Brentanos und Marie Grofimann zusam- 
men. Natiirlich liefie sich allerlei iiber die Gesprache mit Brecht 
aufzeichnen. Es wurden die verschiedensten Gegenstande gestreift: 
die internationale Gesellschaft materialistischer Freunde der hegel- 
schen Dialektik; die Idee zu einem Kriminaldrama; der Prozefi 
gegen Friedrich Schiller; am Ende sogar - gestern - in einem ein- 
stiindigen Gesprach, dem Marie Grofimann beiwohnte, Proust. Ich 
ziehe aber vor eine andere Szene zu beschreiben, weil mir das Ver- 
halten von mir, das in ihr herausgestellt wurde, recht undurch- 
schaubar ist. Ich hatte einen einsamen Spaziergang nach St Clair 
gemacht. Es war der erste seit langer Zeit, der erste Spaziergang, 
nicht nur der erste einsame, seit langem. Unterwegs waren mir 
Heckenrosen in die Augen gefallen. Ich brach eine ab; sie ent- 
tauschte mich nicht, denn sie duftete wunderbar. Ich entfernte am 
untern Ende die Dornen und trug sie so in der Hand, Auf dem 
Ruckweg kam ich an einem Busch Pfingstrosen vorbei. Sie erinner- 
ten mich sehr an den Straufi, den mir vor vielen Jahren Jula ( Cohn ) 
einmal zum Geburtstag geschenkt hatte: er hatte aus nichts als nur 
Pfingstrosen bestanden. Ich brach mit Miihe einen kleinen Ast ab 
und tat ihn, mit der Heckenrose zusammen, zwischen die Seiten 
von Jouhandeaus » Journal du coiffeur «, das ich mit mir hatte. 
Unterwegs als ich an der Villa Mar-belo vorbeikam, wo Brecht und 
die andern wohnten, fiel mir ein hinaufzugehen. Obwohl ich mir 
sagte, man miisse dort noch bei Tisch sein, tat ich's; und in der 
etwas labilen Verfassung, in die mich dieser erste einsame Spazier- 
gang, nach so langer Zeit, gebracht hatte, geschah es wohl nicht 
zum wenigsten, weil ich es miide war, einem hubschen Madchen in 
roter Strandjacke und blauen Hosen zu folgen, die vor mir in der 
Dammerung auf der grofien Strafte ging. Das Schlimmste war, daft 
sie mit einemmal bei einem Manne, der ihr begegnet war, stehen 
blieb und daft ich an ihr hatte vorbei miissen. Ich schlug also den 
Seitenweg zur Villa ein und betrat den Vorraum. Man hatte mich 
kommen sehen und in der Tiir zum Speisezimmer kam mir Brecht 
entgegen. Trotz meiner Bitte nahm er nicht mehr am Tisch Platz 
sondern ging gleich mit mir in den Nebenraum. Hier blieben wir, 
teils allein, teils in Gesellschaft der andern, meist freilich nur der 
Frau Groftmann, ungefahr zwei Stunden in Gesprachen, bis es mir 
Zeit schien zu gehen. Wie ich nun mein Buch wieder nahm, schau- 



432 Autobiographische Schriften 

ten daraus die B lumen hervor und als man nun scherzhaft auf sie 
hinwies, wurde meine Verlegenheit um so grofier als ich mich vor 
dem Betreten des Hauses gefragt hatte, was das Erscheinen mit Blu- 
men denn solle und ob ich sie nicht lieber fortwerfen solle. Ich hatte 
es aber, weifi Gott warum, nicht getan; bestimmt war ein Gefiihl 
von Trotz dabei gewesen. Natiirlich sah ich, dafi keine Moglichkeit 
bestehen wiirde, der Hauptmann meine Rose zu schenken, so 
wollte ich sie denn aber wenigstens aufziehen wie eine Fahne. Nun 
mufite dieses Vorhaben recht griindlich mifigliicken. Ironisch 
machte ich, unter seinen ironischen Scherzen, die Pfingstrose 
Brecht zum Geschenk, die Heckenrose immer noch zuriickhaltend. 
Aber natiirlich nahm der sie nicht an. Ich liefi sie schliefilich neben 
mir in einem grofien Topf voll blauer Blumen verschwinden. Die 
Heckenrose aber warf ich von oben her unter die andern, wo sie wie 
eine botanische Kuriositat sich vom Stamm einer der blauen abzu- 
zweigen schien. Und da blieb sie recht deutlich sichtbar. Das Blu- 
menbuschel hatte endlich doch meine Fahne gehifit und mufite fur 
die einspringen, der sie bestimmt war. 

Am Abend vorher Gesprach mit Brecht, (Bernard von) Brentano, 
Hesse im Cafe du Centre. Die Rede kommt auf Trotzki; Brecht 
meint, es liefie sich mit gutem Grund behaupten, dafi Trotzki der 
grofite lebende Schriftsteller von Europa ware. Man erzahlt Episo- 
den aus seinen Buchern. Brecht gibt folgende Anekdote dazu: Es 
handelt sich da um einen bestimmten Bericht aus Lenins ersten 
Leningrader Tagen in Trotzkis Buch. Trotzki erzahlt, wie ganzlich 
isoliert Lenin unmittelbar nach seiner Ankunft in der Partei gestan- 
den habe und wie es schliefilich bei einer besonders wichtigen 
Abstimmung dahin gekommen sei, dafi Lenin erklart habe, er 
werde gehen, wenn man ihn uberstimme. Davon sprach Brecht mit 
( Ossip M . ) Brick und fragte ihn mit einiger Unruhe, wie er denn zu 
dieser monstrosen Uberlieferung sich stelle; was er zu diesen undis- 
ziplinierten Worten Lenins sage. Und nun Bricks Antwort - Brecht 
zitierte sie mit grofier Bewunderung: »Das war so wie wenn der 
Stamm den Blattern erklaren wollte: ich gehe.« 
6Juni. Brecht sieht in Kafka einen prophetischen Schriftsteller. Er 
erklart von ihm, er verstehe ihn wie seine eigne Tasche. Wie er das 
aber meint, ist nicht so leicht zu ermitteln. Fest steht ihm jedenfalls, 
dafi Kafka nur ein einziges Thema hat, dafi der Reichtum des 
Schriftstellers Kafka genau der Variantenreichtum von seinem 



Mai-Juni 193 1 433 

Thema sei. Dies Thema ist, im Sinne Brechts, aufs allgemeinste als 
das Staunen zu bezeichnen. Das Staunen von einem Menschen, der 
ungeheure Verschiebungen in alien Verhaltnissen sich anbahnen 
fuhlt ohne den neuen Ordnungen sich selber einfiigen zu konnen. 
Denn diese neuen Ordnungen - so glaube ich Brecht richtig ver- 
standen zu haben- sind durch die dialektischen Gesetze bestimmt, 
die das Dasein der Massen sich selber und dem einzelnen diktiert. 
Der Einzelne aber, als solcher, muE mit.einem Staunen, in das sich 
freilich panisches Entsetzen mischt, auf die fast unverstandlichen 
Entstellungen des Daseins antworten, die das Heraufkommen die- 
ser Gesetze verrat. - Kafka, scheint mir, ist davon so beherrscht, 
daft er iiberhaupt keinen Vorgang in unserm Sinn unentstellt dar- 
stellen kann. Mit andern Worten, alles, was er beschreibt, macht 
Aussagen iiber etwas anderes als sich selber. Der dauernden visio- 
naren Gegenwart der entstellten Dinge erwidert der untrostliche 
Ernst, die Verzweiflung im Blick des Schriftstellers selbst. Dieser 
Haltung wegen will Brecht ihn als den einzig echten bolschewisti- 
schen Schriftsteller gelten lassen. Die Fixierung Kafkas an sein eines 
und einziges Thema kann beim Leser den Eindruck der Verstockt- 
heit hervorrufen. Im Grunde ist dieser Eindruck aber nur ein 
Anzeichen davon, daft Kafka mit einer rein erzahlenden Prosa 
gebrochen hat. Vielleicht beweist seine Prosa nichts; auf jeden Fall 
ist sie so beschaffen, daft sie in beweisende Zusammenhange jeder- 
zeit eingestellt werden kann. Man konnte an die Form der Hagada 
erinnern : so nennen die Juden Geschichten und Anekdoten des Tal- 
mud, die der Erklarung und Bestatigung der Lehre - der Halacha, 
dienen. Die Lehre als solche ist freilich bei Kafka nirgends ausge- 
sprochen. Man kann nur versuchen, sie aus dem erstaunlichen, aus 
Furcht gebornen oder furchterweckenden Verhalten der Leute ab- 
zulesen. 

Es konnte uber Kafka einigen Aufschluft geben, daft er die ihn am 
meisten interessierenden Verhaltungsweisen oft Tieren beilegt. Sol- 
che Tiergeschichten kann man dann eine gute Weile lesen ohne 
iiberhaupt wahrzunehmen, daft es sich hier garnicht um Menschen 
handelt. Stoftt man dann erstmals auf den Namen des Tiers - die 
Maus oder den Maulwurf - so wacht man, wie mit einem Chock mit 
einmal auf und sieht: daft man vom Kontinent des Menschen schon 
weit entfernt ist. So weit, wie eine kiinftige Gesellschaft von ihm 
entfernt sein wird. Ubrigens ist die Welt der Tiere, in deren Gedan- 



434 Autobiographische Schriften 

ken Kafka die seinigen einhiillt, beziehungsvoll. Es sind immer sol- 
che die im Erdinnern, wie Ratten und Maulwiirf e, oder wenigstens, 
wie der Kafer in der »Verwandlung« Tiere, die auf dem Boden, 
verkrochen in seine Spalten und Ritzen leben. Solche Verkrochen- 
heit scheint dem Schriftsteller fiir die isolierten, gesetzunkundigen 
Angehorigen seiner Generation und seiner Umwelt allein ange- 
messen. 

Brecht stellt den Kafka - die Figur des K. - dem Schweyk gegen- 
iiber: der, welchen alles und der, den nichts wundert. Schweyk 
macht die Probe auf die Ungeheuerlichkeit des Daseins, in welches 
er gestelk ist, indem ihm garnichts unmoglich scheint. Er hat die 
Zustande als derart gesetzlos kennen gelernt, dafi er ihnen langst 
nirgends mehr mit der Erwartung von Gesetzen entgegentritt. 
Kafka dagegen stofit schon allenthalben auf das Gesetz; ja mankann 
sagen, dafi er sich die Stirn an ihm blutig stofit (s. den Maulwurf vgl. 
auch (Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, Berlin 193 1) p 
213) aber es ist nirgends mehr das Gesetz der Dingwelt, in der er 
lebt, und uberhaupt keiner Dingwelt. Es ist das Gesetz einer neuen 
Ordnung, zu der alle Dinge, in denen es sich auspragt, windschief 
stehen, das alle Dinge, alle Menschen entstellt, an denen es in 
Erscheinung tritt. 

yjuni. Im Gesprach mit Brentano machte Brecht vor einigen Tagen 
eine Bemerkung, die mir des Festhaltens wen scheint. Brentano 
suchte gerade wieder eine seiner Rodomontaden iiber die Revolu- 
tionierung der geistigen Arbeiter, die Situation der Intelligenz 
u.s.w. an den Mann zu bringen, als Brecht ziemlich heftig einfiel. 
Wo denn die Lage der Intelligenz eigentlich schlecht sei und was die 
Revolution ihnen denn eigentlich in Aussicht zu stellen habe. »Die 
Intelligenz, sagte er, die uberarbeitet sich keinesfalls. Und wenn es 
schon einige Arzte oder Anwalte gibt, die schuften, was ist dabei. 
Das ist eine Arbeit, die ihnen liegt, sie ist mit der des Proletariers 
unter keinen Umstanden zu vergleichen. Und schlieftlich, dafi die 
Leute sich fragen, was sie mit sechzig Jahren machen, wenn sie sich 
nichts zuriickgelegt haben - ja, rief er ganz aufgebracht, das ist 
wirklich zu viel verlangt. In Gottes Namen, dann krepieren sie 
eben. Viel zu spat. Taten sies lieber jetzt schon. « Wir streiften ein 
oder zwei Tage spater den gleichen Gedanken als ich von der 
Anspruchslosigkeit der Surrealisten sprach, die in Frankreich eine 
Gruppierung erleichtert, die die weitgehenden Forderungen deut- 



Mai-Juni 1931 435 

scher Schriftsteller ausschliefien. Allerdings ist es eben nur fiir ein 
Kollektiv richtig, seine Anspriiche niedrig zu halten; fiir den Ein- 
zelnen, meistens, falsch. 

8 Juni. Ein wirklich merkwiirdiger Nachmittag mit Brecht. Ein 
Diskurs iiber die »Satze« wie er jetzt beinahe taglich von Brecht zu 
horen ist, nahm durch einen Einwand, den ich ihm machte, eine 
sonderbare Wendung. Ich trat seiner Suche nach den »Vorstellun- 
gen« entgegen und verlangte an dessen Stelle, ich weifi selbst nicht 
mehr wie, die Untersuchung von Verhaltungsweisen. Mein Vor- 
schlag ging auf meinen Lieblingsgegenstand, das Wohnen. Darauf 
ging Brecht sehr lebhaft ein und kam zu einer aufiergewohnlichen 
Darstellung seiner Art zu wohnen, dem ich dann eine andere - ohne 
mich gerade privat auf sie festzulegen - gegenuberstellte. Ubrigens 
wurden die Gedankengange im ganzen aufgezeichnet. Ich wieder- 
hole sie auswendig. Beide Verhaltungsweisen wurden als dialek- 
tisch erkannt und in ihrer Polaritat dargestellt. Brecht ging vom 
»mitahmenden« Wohnen aus. Das ist ein Wohnen, das seine Um- 
welt »gestaltet«, sie passend, gefiigig und gefiigt anordnet; eine 
Welt, in der der Wohnende auf seine Weise zu Haus ist. Dem stellte 
er die andere Art seines Wohnens entgegen, die Haltung, sich iiber- 
all nur als Gast zu fiihlen; dann lehnt er ab, Verantwortung fiir das 
zu tragen, was ihm dient; er fiihlt sich von dem Sessel, auf dem er 
Platz nimmt eingeladen und, im gegebnen Augenblicke, auch wie- 
der ausgeladen. Ich komme nun dazu, das Wohnen in der Dialektik 
eines ganz anderen Aspekts zu zeigen. Es gelingt mir auch, Brecht 
den Eindruck zu nehmen, meine Darstellung sei nur eine Um- 
schreibung seiner eignen Bemerkungen. Ich unterscheide das Woh- 
nen das dem Wohnenden das Maximum und dasjenige, das ihm das 
Minimum von Gewohnheiten mitgibt. Beide Extreme sind patho- 
logist. Wahrscheinlich unterscheiden sie von den von Brecht 
bezeichneten sich schon dadurch, daft sie auseinanderzutreten stre- 
ben, wahrend die andern eine Neigung haben, zusammenzukom- 
men. Das Wohnen, das dem Wohnenden das Maximum von 
Gewohnheiten mitgibt, ist das, wie die Vermieterinnen moblierter 
Zimmer sichs vorstellen. Der Mensch wird eine Funktion der Ver- 
richtungen, die die Requisiten von ihm verlangen. Hier waltet ein 
ganz anderes Verhaltnis des Wohnenden zur Dingwelt als im mitah- 
menden Wohnen. Hier werden die Dinge (ob sie Eigentum im juri- 
stischen Sinne sein mogen oder nicht) ernst genommen, fiir das mit- 



436 Autobiographische Schriften 

ahmende Wohnen leisten sie ungefahr was eine Buhneneinrichtung 
leistet. Man konnte auch sagen: das eine findet in einer Einrichtung 
statt, das andere in einem Interieur. Schwerer ist es, den Faktor der 
Gewohnheit im mitahmenden Wohnen zu bestimmen, wahrend er 
fur das Gastwohnen vollkommen in einem Wort von Nietzsche 
definiert ist: »Ich liebe die kurzen Gewohnheiten. « Die vierte Art 
des Wohnens endlich, das Wohnen, das dem Wohnenden das Mini- 
mum von Gewohnheiten mitgibt, ist das Hausen. Auch diese Vor- 
stellung findet sich im Gemut der Zimmervermieterin am vollkom- 
mensten ausgebildet. In ihrer Mitte steht der schlechte Zimmerherr 
und die Abnutzung. Denn das Hausen ist das zerstorende Wohnen, 
ein Wohnen, das gewifl keine Gewohnheiten aufkommen lafit, weil 
es die Dinge, ihre Stiitzpunkte, fortschreitend wegraumt. 
iojuni. Vor einigen Tagen ein Gesprach mit Speyers Frau, die von 
Eva Hermann aus den Tagen ihrer tiefsten Niedergeschlagenheit 
dieses erstaunliche Wort berichtet: »Wenn ich schon unglucklich 
bin, habe ich darum doch nicht notig mit einem Gesicht voll Run- 
zeln herumzulaufen.« Mir wurde mit diesem Satz manches klar ; vor 
allem, dafi die peripherische Beriihrung, die ich zu der Welt dieser 
Geschopf e - Gert, Eva Hermann u.s.w. - in der letzten Zeit gewon- 
nen habe, nur ein spater und schwacher Nachklang von einem 
Grunderlebnis meines Daseins: dem des Scheins ist. Ich sprach das 
gestern in einer Unterhaltung mit Speyer aus, der seinerseits auch 
viel uber diese Menschen nachzudenken begonnen hat und die 
erstaunliche Bemerkung machte, sie hatten eigentlich keine Ehre im 
Leib oder vielmehr: ihr Ehrenkodex sei, alles auszusprechen. Das 
ist sehr zutreffend und im Grunde auch nur ein Beweis, wie tief die 
Verpflichtung ist, die sie gegenuber dem Schein fuhlen. Denn dieses 
Aussprechen ist zunachst gewifi dazu geschaffen, das Ausgespro- 
chene zu vernichten oder vielmehr, vernichtet es zum Gegenstand 
zu machen; erst scheinhaft wird es ihnen assimilierbar. Auch spra- 
chen wir davon, wie sehr die Haltung dieses Kreises das Komple- 
ment von jener der falsch Gefestigten, der falsch Wissenden, der 
Menschen, die sich ihren Vers auf alles machen konnen sei. Der 
Mikrokosmos einer falschen Kindheit, in welchem diese Menschen 
sich von dem Dasein abkapseln entspricht den falschen Riesenma- 
fien, in denen jene andern (die am sinnfalligsten vielleicht von Law- 
rence verkorpert werden) das Dasein erf ahren. Speyers Freund Max 
Mohr mufi so ein Typ sein. Alles, was nach Mykene kam, ist 



Mai-Juni 193 1 437 

ihm Verfall und heutzutage scheint ihm die Hochtouristik noch am 
meisten Gewahr fur Gesundung zu geben. 

12 Juni, Gestern abend mit Speyers oben in Mar belo. Es war die 
erste eigentliche Beriihrung von Brecht und Speyer und fur mich 
sehr angenehm, daft sie gut verlief. Gefurchtet hatte ich freilich nach 
Brechts Verhalten an den vorangehenden Tagen ohnehin nichts. 
Aber es war ein besonderer Glucksfall, daft Brecht auf seine Kna- 
benjahre zu sprechen kam und damit auf Dinge, denen Speyer 
besonderes Verstandnis entgegenbringt. Vor allem erzahlte er von 
der strategischen Schule, durch die er gegangen war: die Schlachten 
zwischen den Schulklassen auf der Bleich am Lech und die Zinnsol- 
datenschlachten im Garten. Was er dabei nebenher von seinem Da- 
sein in der Schule erzahlte, erinnert ganz auffallend an die Haltung, 
die Kraus der Schule gegemiber eingenommen hat. »Wir haben« 
sagte er »alles gelernt, was wir spater gebraucht haben. Der Lehrer 
war fur uns der Mensch schlechtweg: wachsam, bose, unberechen- 
bar, ungerecht. Und die Durchstechereien, die Schwindeleien, die 
Ausfliichte ihm gegeniiber - das wollte alles gelernt sein. Wir mufi- 
ten die englischen Auf gaben in der Mathematikstunde und die deut- 
schen in der englischen Stunde machen - das wollte alles gelernt 
sein.{«) Vor allem aber erzahlte er wie gesagt von den Schlachten 
mit Zinnsoldaten. ( » )Es gab da Treffen, in denen vier- bis fiinftau- 
send solcher Soldaten engagiert war(en). Gekampft wurde nach 
festen Regeln: Fuftvolk durfte mit jeder Bewegung um die eigene 
Lange, Reiterei um das Doppelte ihrer eignen Lange vorriicken. 
Brauchbar waren naturlich nur Soldaten im Angriff, andere Zinn- 
soldaten hatten dem Kampf jede Illusion genommen.« Brecht er- 
zahlte von einem Marsch, der historische Beruhmtheit bekommen 
hat: da war es einem seiner Freunde gelungen, einen Truppenkor- 
per von 300 Mann ganz ohne Deckung so iiber eine Wiese zu brin- 
gen, daft zuletzt noch 180 das Ziel erreichten. Indessen wurden die 
Truppen aus Kanonen, mit kleinen Pulverladungen - Krackern - 
beschossen, wobei es darauf ankam, der Soldaten von der Breitseite 
habhaft zu werden, weil sie andernfalls ja nicht umfielen. Wenn 
man bedenkt, daft die blofte Handarbeit jenes Marsches eigentlich 
Stunden hatte beanspruchen miissen, eine ganz grofte Leistung. Bei 
diesen Kampfen wurden mit Pappstreifen Dorfer markiert, Fliisse 
auf Pontons uberschritten, Baumwurzeln stellten Gebirge dar. 
Ubrigens versichert Brecht, er habe zu jener Zeit eine ganze Anzahl 



43 8 Autobiographische Schriften 

der grofiten Schlachten der Weltgeschichte auswendig gekannt, den 
bellum gallicum durchgearbeitet, alle Schlachten Friedrichs des 
Grofien studiert, und Waterloo, glaubt er, bekame er heut noch 
zusammen. 

Heute morgen erschien er bei mir schon um neun und der Zufall gab 
es, dafi er mit der Erzahlung seiner Jugendgeschichten gewisserma- 
fien fortfuhr. Freilich ging es um spatere Jahre. Er kam »sehr aufge- 
kratzt« wie er selber sagte, weil namlich die politischen Nachrich- 
ten aus Berlin ihn in seiner Uberzeugung, in Deutschland werde 
man auf eine revolutionare Situation noch jahrelang zu warten 
haben, erschuttert hatten. Es konne ein sehr plotzlicher Umschlag 
eintreten. Und diese Prognose stiitzte er auf einige sehr interessante 
Thesen iiber Massen, die ich hier einfach auffuhre. Die Intelligenz 
der Kapitalisten wachst im Verhaltnis zu ihrer Absonderung, die 
der Massen im Verhaltnis zu ihrem Zusammenschlufi. Der Wirk- 
lichkeitssinn der Proletarier ist unbestechlich. Man konne den Pro- 
letariern Zusicherungen machen soviel man wolle, wenn sie zu dem 
Ergebnis kommen, der Betreffende konne sie nicht halten auch 
wenn er's wolle, so gehen sie dariiber zur Tagesordnung iiber, sehr 
im Gegensatz zu den Intellektuellen. Im iibrigen sei der Kapitalis- 
mus jetzt an einem Punkt angekommen, wo vielleicht auch seine 
gutgemeinten Versprechungen bei den Massen keinen Kredit mehr 
finden. - Die Masse wolle privat behandelt werden, das sei im 
Umgang mit ihr der dialektische Hauptsatz. Fur all diese Erfahrun- 
gen berief Brecht sich aber auf die Zeit, da er, zu Beginn der Revolu- 
tion in Miinchen eine Lazarettstation fur Geschlechtskranke unter 
seiner effektiven Leitung gehabt habe, obwohl er der Form nach 
nur Unterarzt gewesen sei. Von alien Stationen sei diese die einzige 
gewesen, deren Kranke in der Tat aus den Baracken nicht herausge- 
kommen seien - eine Vorschrift, die man sonst nirgends habe 
durchfuhren konnen. Sehr spaftig erzahlte Brecht von den verschie- 
denen Methoden, mittels deren er es soweit gebracht habe. Zu- 
nachst suchte er die Masse aus sich selbst zu organisieren und die 
kliigsten und kraftigsten als Obmanner auf seine Seite zu bringen. 
Des weiteren stellte er mit dieser Masse sich in eine Einheksfront 
der Illegalitat: er verschaffte den Leuten Decken durch Betrug, 
Kohlen durch Einbruch etc. Vor allem kam ihm aber zu statten, dafi 
er die Einspritzungen geschickter als andere Arzte zu verabfolgen 
wufke. »Ich konnte sie geschickt machen - ich konnte sie aber auch 



Mai-Juni 193 1 439 

ungeschickt machen.« Und da spielte er mir eine herrliche Solo- 
szene, wie er wahrend der Vorbereitungen zur Einspritzung bei 
einem, der etwas auf dem Kerbholz hatte, sich langsam in einen 
Erregungszustand hineinspielte, so dafi der Betreffende schon wah- 
rend des Auswaschens der Spritze sich eine Vorstellung von der 
Unannehmlichkeit der Prozedur durch den aufs tiefste erregten 
Arzt machen konnte. Bisweilen ist er auch zu Kollektiv-Maflnah- 
men geschritten; hat einem ganzen Schlafsaal eine Nacht die Dek- 
ken einziehen lassen u.s.w. - KollektivmaEnahmen bringt er, mit 
einer sehr merkwiirdigen Begriindung, auch wahrend unserer 
Unterhaltung liber die deutsche Situation in Vorschlag. Wenn er in 
einem berliner Exekutivkomitee safie: er wiirde einen Funftageplan 
ausarbeiten, auf Grund dessen in der genannten Frist wenigstens 
200000 Berliner zu beseitigen seien. Sei es auch nur, weil man damit 
»Leute hineinzieht«. »Wenn das durchgefuhrt ist, so weifi ich, da 
sind mindestens 50000 Proletarier, als Ausfuhrende, beteiligt.« 
1 j Juni 193 1 Aus mehreren Unterhaltungen mit Brecht, die das 
epische Theater betrafen und teils in Gegenwart von Speyer, teils 
von Carola Neher stattfanden, halte ich fest: Unter den Neueren 
scheint Brecht neben Strindberg fur den grofiten Techniker Georg 
Kaiser zu halten und besonders den »Geretteten Alkibiades« fur ein 
Haupt- und Schulstiick des epischen Theaters. Kaiser charakteri- 
siert er als den letzten idealistischen Dramatiker, bei dem die thea- 
tralische Technik aber bereits einen Standar(d) erreicht hat, der sie 
fur die Zwecke des Idealismus unbrauchbar macht. Er ist der Dra- 
matiker vor dem Umschlag. Andere Beispiele des epischen Theaters 
aus Calderon und Shakespeare. Ich wies besonders auf »Die grofie 
2enobia« und »Eifersucht das grofite Scheusal« hin und Brecht bat 
mich, gelegentlich Inhaltsangaben dieser Stucke zur Publikation 
herzustellen, dann aber Shakespeare. Wieder kam er auf seine Lieb- 
lingsstelle, die grofte Ansprache der Mutter an den Sohn; die Rede, 
die Coriolan bewegen soil, von Rom abzuziehen und diesen Zweck 
erreicht, trotzdem sie elender und briichiger garnicht hatte ausfallen 
konnen. »Es ist ein Wunder, sagt Brecht von Shakespeare, wo er 
diese Rede hat auftreiben konnen; er mufS weift Gott lange danach 
gesucht haben.« Und doch ist es eben diese Rede, die die Mutter 
zum Ziel fuhrt und wie das moglich ist, spricht Coriolan mit dem 
Satz aus, mit dem er aus der Situation das Fazit zieht. »Ich saft zu 
lang« sagt er und sonst nichts. Andere Beispiele aus Shakespeare. 



44© Autobiographische Schriften 

Ich spreche von Glosters Sprung von der Klippe, die keine ist, weil 
mir an dieser Stelle zuerst die Ahnung von andern Moglichkeiten 
der Buhne, als Freytag sie in seiner »Technik des Dramas« kennt, 
aufdammerte. Vielleicht ware es garnicht das Schlechteste, einmal 
die Gesetze des epischen Theaters an der Auseinandersetzung mit 
diesem Buch zu entwickeln. Auch ein sehr wichtiges entnahm ich 
de{m) Hinweis aus einem Gesprach von Brecht mit der Neher auf 
der Fahrt von Le Lavandou nach Marseille. Brecht entwickelte 
einen Wunsch, kleine Aufzeichnungen von Leuten zu bekommen, 
die iiber das »Verhalten« der Menschen auf Grund von Beobach- 
tungen berichteten. Es scheint, dafi die Neher seit einiger Zeit der- 
gleichen Versuche gemacht hat. Brecht ermunterte sie sehr, fortzu- 
fahren. Sie solle elnfach schreiben, was sie habe feststellen konnen. 
»Und vor alien Dingen: keine Pointen, Sonst sind die Sachen gleich 
wertlos.« Ich glaube, hieraus liefie sich nicht nur viel iiber das epi- 
sche Theater sondern auch manches iiber Brecht entwickeln: er 
scheint nichts so zu meiden und in Acht zu tun als alle Unterneh- 
mungen und Verhaltungsweisen, die ihren Lohn dahin haben. - 
Sehr kurios ist, was Brecht zu Ehren des epischen Theaters iiber 
»Romeo und Julia« zu sagen hat. Wir gingen von einer Bemerkung 
aus, die Speyer mir vor Jahren iiber das Stiick gemacht hatte: wie 
hochst bezeichnend und unglaublich kiihn zugleich es sei, dafi 
Shakespeare den Romeo als hei&esten Liebhaber der Rosaline ein- 
fiihre, um ihn fur Julia entflammt zu zeigen. Brecht variierte das 
nun gleich erstaunlich: der Romeo erscheine eben nicht nur als hei- 
fiester sondern auch als gliicklichster Liebhaber, namlich total 
erschopft, ganz ohne im Besitz seiner mannlichen Krafte zu sein. 
Und wollte man Brecht glauben so schien das wirklich das »epi- 
sche« Thema dieses Stiickes zu sein, namlich dafi die beiden nicht 
zueinander finden und zwar eben vor allem ganz physiologisch; wie 
ja der Akt »bekanntlich« nicht zustande komme, wo die Partner nur 
sexuelle Absichten hatten, so scheitere die Sache fur Romeo und 
Julia daran, dafi sie zu sehr dahinter her, zu erpicht darauf seien. 
2 1 Juni. Am letzten Tag unserer Fahrt von Marseille nach Paris 
machten wir im Freien Station. Brentanos blieben an der Strafie; ich 
ging etwas hoher, eine Boschung hinauf und legte mich unter einen 
Baum, Es ging gerade ein Wind; der Baum war eine Weide oder eine 
Pappel, jedenfalls ein Gewachs mit sehr biegsamen, leicht bewegten 
Asten. Wahrend ich in das Laubwerk sah und seine Bewegung ver- 



Tagebuch vom 7. 8. 193 1 bis zum Todestag 441 

folgte, kam mir mit einem Mai der Gedanke, wieviel Bilder, Meta- 
phern der Sprache allein in einem einzigen Baume nisten. Diese 
Aste, und mit ihnen der Wipfel, wiegen sich erwagend und biegen 
sich ablehnend, die Aste zeigen, je nachdem der Wind went, sich 
zuneigend oder hochfahrend, die Blattermasse straubt sich gegen 
die Zumutungen des Windes, erschauert vor ihnen oder kommt 
ihnen entgegen, der Stamm hat seinen guten Grund, auf dem er fufit 
und ein Blatt wirft seinen Schatten aufs andere. 
Nachtrag zu Brechts Untersuchungen liber das Wohnen und die 
Vorstellungen im allgemeinen: Wohnen im Hotel, - Vorstellung, 
das Leben sei ein Roman. 

Tagebuch vom siebenten August 
neunzehnhunderteinunddreissig bis zum todestag 

Sehr lang verspricht dieses Tagebuch nicht zu werden. Heute kam 
die ablehnende Antwort von (Anton) Kippenberg und damit ge- 
winnt mein Plan die ganze Aktualitat, die ihm die Ausweglosigkeit 
nur geben kann. »Ein Mittel, ebenso bequem aber etwas weniger 
endgultig« miifite ich finden - sagte ich heute zu I. Die Hoffnung 
darauf ist sehr klein geworden. Wenn aber etwas die Entschlossen- 
heit, ja den Frieden, mit denen ich an mein Vorhaben denke, noch 
steigern kann, so ist es kluge, menschenwiirdige Verwendung der 
letzten Tage oder Wochen. Die eben zuriickliegenden liefien in die- 
ser Hinsicht manches vermissen. Unfahig, etwas zu unternehmen 
lag ich auf dem Sofa und las. Oft verfiel ich, am Ende der Seiten, in 
so tief e Abwesenheit, daft ich umzublattern vergafS ; meist mit mei- 
nem Plan beschaftigt, ob er unumganglich sei, ob besser hier im 
Atelier oder im Hotel ins Werk zu setzen u.s.w. 
Ich las »Friedensfest« und »Einsame Menschen«. Ungesittet beneh- 
men die Leute sich in diesem Friedrichshagner Milieu. Aber so kin- 
disch scheinen sich die Menschen in dieser »Neuen Gemeinschaft« 
Bruno Willes oder Bolsches eben benommen zu haben. Der heutige 
Leser fragt sich, ob er einer Generation von Spartiaten angehore, 
soviel mehr Zucht und vor allem so viel mehr Gabe von sich selber 
ab-, iiber sich selbst hinwegzusehen besitzt er. Was fur ein roher 
Patron ist nicht dieser Johannes Vockerath, den Hauptmann mit 
sichtlicher Sympathie darstellt; die Unerzogenheit und Indiskre- 
tion scheint eine Voraussetzung dieses dramatischen Heldentums. 



44 2 Autobiographische Schriften 

Zugleich aber kann man an diesen Figuren ablesen, wie hinfallig 
dramatische Figuren werden, denen der Autor zu gerne zuhort. 
Wer sich nach vierzig Jahren ihnen zuwendet, um sich in sie hinein- 
zuversetzen, der findet garkein Unterkommen, dem starrt aus 
jedem Fenster schon ein Wort, schon eine Redewendung entgegen; 
diese Menschen sind Mietskasernen abgelebter Reaktionen und 
Gefiihle. Und so kann man an ihnen ein Gesetz der wirklich grofien 
dramatischen Figur ablesen : sie hat Hohlraume, uninteressante Zel- 
len, die ihr das Leben verbiirgen, Kammern des Schweigens oder 
leere Prunkgemacher des Pathos, in denen nach Jahrzehnten oder 
Jahrhunderten sich der Gast noch unterbringen, wenn nicht hei- 
misch machen kann. - Eine grofie Merkwiirdigkeit anderer Art ist 
in diesen hauptmannschen Stucken die Krankheit. Hier wie bei 
Ibsen scheinen die Krankheiten im Grunde Decknamen fur die 
Krankheit der Jahrhundertwende, das mal de siecle, zu sein. In 
jenen halb verpfuschten Bohemiens wie Braun und Dr. Scholz ist 
die Sehnsucht nach Freiheit am starksten, andererseits scheint es oft 
so als ob die intensivere Befassung mit der Kunst, mit der sozialen 
Frage und ahnliches die Menschen krank macht. Mit andern Wor- 
ten: Krankheit ist hier ein soziales Emblem, etwa wie Wahnsinn es 
bei den Alten gewesen ist. Die Kranken haben ganz besondere 
Kenntnis vom Zustand der Gesellschaft; in ihnen schlagt die private 
Hemmungslosigkeit gewisserma&en in die inspirierte Witterung 
der Atmosphare um, in der die »Zeitgenossen« atmen. Die Zone 
dieses Umschlagens aber ist die »Nervositat«. Es ware wichtig fest- 
zustellen, ob nicht selbst dies Wort zum Modewort im Jugendstil 
geworden ist. Die Nerven jedenfalls sind inspirierte Faden, gleichen 
jenen Fasern, die sich mit unbefriedigten Verjiingungen, mit sehn- 
suchtsvollen Buchten um Mobiliar und Fassade zogen. Die Figur 
des Bohemiens, der Emanzipierten - der Naturalismus sah sie am 
liebsten in Gestalt einer Daphne, wie sie unter dem Nahen der ver- 
folgenden Wirklichkeit in ein Bundel von blofigelegten, pflanzen- 
haften, in der Luft der Jetztzeit erschauernder Nervenfasern sich 
verwandelt. 

Gestern Abend eine Zusammenkunft mit (Albert) Salomon und 
(Hajo) Holborn. Das Gesprach drehte sich um Methodenfragen 
der Geschichte. Es fiel ein ausgezeichnetes Wort von Huizinga: die 
Geschichte (der Durchschnittshistoriker) beantwortet mehr als ein 
Weiser fragt. Mein Versuch eine Konzeption von Geschichte zum 



Tagebuch vom 7. 8. 193 1 bis zum Todestag 443 

Ausdruck zu bringen, in der der Begriff der Entwicklung ganzlich 
durch den des Ursprungs verdrangt ware. Das Historische, so ver- 
standen, kann nicht mehr im Flufibett eines Entwicklungsverlaufes 
gesucht werden. Es tritt, wie ich wohl schon an anderer Stelle 
bemerkt habe, hier fur das Bild des Flufibetts das des Strudels ein. In 
solchem Strudel kreist das Friiher und Spater- die Vor- und Nach- 
geschichte eines Geschehens oder besser noch eines status um die- 
sen. Die eigentHchen Gegenstande einer solchen Geschichtsauffas- 
sung sind daher nicht bestimmte Ereignisse sondern bestimmte 
unwandelbare status begrifflicher oder sinnlicher Art: also die russi- 
sche Agrarverfassung, die Stadt Barcelona, die Bevolkerungsver- 
schiebungen in der Mark Brandenburg, das Tonnengewolbe u.s.w. 
1st diese Anschauung also bestimmt durch die Entschiedenheit, 
womit sie sich gegen die Moglichkeit des evolutionistischen und 
universalen Elements in der Geschichte ausspricht, so ist sie im Inn- 
nern von einer fruchtbaren Polaritat bestimmt. Die beiden Pole 
einer solchen Auffassung sind das Geschichtliche und das Politi- 
sche, man konnte scharf pointieren: das Geschichtliche und das 
Geschehen. Beide liegen auf ganzlich verschiednen Ebnen. Niemals 
kann zum Beispiel davon gesprochen werden, dafi wir Geschichte 
erlebten: ebensowenig in dem Sinne als riicke eine Darstellung das 
Geschichtliche uns so nahe, dafi (es) wie ein Geschehn wirke - 
solche Darstellung ware wertlos - noch in dem Sinne als erlebten 
wir Geschehnisse, die bestimmt seien, Geschichte zu werden, sol- 
che Auffassung ist journalistisch. 

Ich verleihe mir vor Toresschlufi einen Titel, den Lichtenberg 
erdacht hat »Professor philosophiae extraordinariae«. 
12 August. Im Gesprach mit (Gustav) Gliick ergab sich mir der 
eigentliche Grund fur die Haltung, die Kraus meiner »Essay- 
Reihe* gegenuber eingenommen hat. Gewifi mag fiir sie die Riick- 
sicht auf die Anhanger eine Rolle gespielt haben. Aber den wahren 
Schliissel seines Verhaltens gibt doch erst der »Fall DiebokU im 
letzten Hefte der Fackel. Hatte namlich meine Arbeit an noch so 
versteckter Stelle den Namen Diebold enthalten und, auch nur 
schattenhaft, auf dessen Verunglimpfung von Kraus Bezug genom- 
men, er hatte das Ruhmlichste iiber sie - die Stelle und die Arbeit - 
zu sagen gewufit. Nun aber hat er in ihrer ganzen Ausdehnung den 
Namen Diebold vergebens gesucht und er war nicht gewillt, meines 
Aufsatzes wegen seine Politik gegen die Frankfurter Zeitung zu 



444 Autobiographische Schriften 

andern - um so weniger als sie ihm fur diese keine Waff e in die Hand 
gab. 

Je alter man als Schriftsteller wird desto mehr wird einen hin und 
wieder beim Lesen ein Wort frappieren, das man selber noch nie 
geschrieben hat. So ein Wort kann eine ganze Periode herauffiihren. 
Aber nicht nur je langer je mehr werden einen solche Worter frap- 
pieren sondern auch desto ofter. Denn dieser Sinn fur den Stempel- 
glanz der Worte erwacht sehr spat, je ofter man auf abgegriffne ja 
auf solche stofit, die Spuren unserer eignen Griffe schon an sich 
haben. 

Am 1 6 August bei {Willy) Haas. Es ergab sich da in der kleinen, 
dem Hause vorgebauten Glas veranda - anwesend waren die Frau, 
Tritsch, (Artur) Rosen und (Peter) Huchel - ein Gesprach, aus 
dem mir einiges des Festhaltens wert scheint. Indem ich von der 
Protestversammlung gegen die Zensur, die in den Schubertsalen am 
dreizehnten stattgefunden hatte, berichtete, ergab sich die nahelie- 
gende Aussprache iiber Marxismus und Kunst. Dabei konnte ich 
nun die Dialektik dieses Verhaltnisses entwickeln. Ich stellte zwei 
Thesen auf, die seit jeher - genauer seit dem Aufgang des Kapitalis- 
mus - mit einander im Streite liegen: 

die Kunst dem Volke die Kunst den Kennern 
Offenkundig ist, dafi vorerst alles zugunsten der zweiten These 
spricht. Vor allem hat es sich jederzeit erwiesen, dafi eine Kunst- 
iibung die sich mehr an das undifferenzierte Genufibediirfnis von 
Konsumenten als an die kritische Mitarbeit von Kennern wendet, 
sehr bald durchaus verrohend wirkt. In der jiingsten Zeit ist das am 
auffallendsten am Roman festzustellen. Der Roman scheint von 
vornherein deutlicher auf Konsum, auf ein unproduktives Genie- 
fien zu zielen als die iibrigen Formen der Kunst. Ich habe, an ande- 
rer Stelle, diese Analogie, die der Roman zur Speise hat, genauer 
durchfiihren konnen. Die Zeiten sind langst voriiber, in denen diese 
Speise einen Nahrwert besafi und die »Volksturnlichkeit« der 
Kunst, die heute im wesentlichen von den Erfolgsromanen repra- 
sentiert wird, hat schon langst nichts Produktives oder Nahrendes 
mehr- wie der Roman es in den Zeiten der beginnenden Emanzipa- 
tion der Burgerklasse gehabt hat - sie ist vielmehr der Ausdruck 
einer restlosen Eingliederung dieser Art Schrifttum in den Waren- 
umlauf geworden; sie dient einzig und allein dem Komfort. Die 
Romantiker haben bereits vor hundert Jahren durch die gewagte- 



Tagebuch vom 7. 8. 193 1 bis zum Todestag 445 

sten technischen Anlagen versucht, der Kennerschaft im Romanle- 
ser zu ihrem Recht zu verhelfen; das Ergebnis aber ist gewesen, dafi 
sie so den Roman um jede Volkstumlichkeit gebracht haben. Die 
Antinomie ist also gerade auf dem breitesten Produktionsfeld des 
burgerlichen Schrifttums unversohnlich. Auf der anderen Seite 
jedoch erschliefit auf die Dauer jede Klasse und jede gesellschaftli- 
che Schicht ihre Lebens- und Sprachformen einzig dem, der fiir sie 
tatig ist, der die Stoffe, die sie ihm zufiihrt, in verwandelter Gestalt 
ihr wieder zur Verfugung stellt. Das bedeutet: jede Kunstiibung, 
die auf Volkstumlichkeit von vornherein und in ihrer ganzen Breite 
verzichtet, wird mehr als billig der Marktbewegung fiir die Luxus- 
ware, und das will sagen dem Diktat der Mode anheimfallen. Nun 
liegt es naturlich so, dafi jede bluhende Literatur zwischen den 
Extremen der volkstiimlichsten und der esoterischsten Dichtung 
immer eine ganze Reihe von Ubergangen gekannt hat. Das Ent- 
scheidende aber war, daft diese vermittelnden Stufen nicht nur 
aufterlich, dem Erfolge oder den Auflageziffern nach eine Konti- 
nuitat aufwiesen, sondern da£ eine solche innere Kontinuitat zwi- 
schen den bestimmten Provinzen des Schrifttums an und fiir sich, 
von innen her, bestand. Bei uns besteht sie in keiner Weise und das 
besagt, daft gerade die wichtigsten Aufgaben: die Arbeit an den 
neuen Kunstformen unter Heranziehung des ganzen Arsenals der 
proletarischen Lebens- und Sprachformen unlosbar, ja man darf 
beinah sagen, unformulierbar geworden ist. Diese Verhaltnisse 
haben zur sogenannten Krise der Kunst und zu der Forderung ihrer 
Abschaffung, schliefllich zu der Formulierung gefiihrt, der Journa- 
lismus habe an ihre Stelle zu treten. So abstrus diese Parole nun un- 
ter der Klassenherrschaft der Bourgeoisie ist, so grofi ist die Bedeu- 
tung der Tatsache, dafi sie unter ihr schon entstehen konnte und ihr 
prognostischer Wert. Die restlose Assimilierung der Literatur 
durch die Zeitung - die sich in Gestalt der Fortsetzungen ja sogar 
den Roman angeeignet hat und ihn in dieser neuen Form zusehends 
verwandelt - ist namlich ein dialektischer Prozeft, der Untergang 
des Schrifttums unter den heutigen gesellschaftlichen Verhaltnis- 
sen, aber die Formel seiner Wiederherstellung unter veranderten. 
Und da die heutigen mit den veranderten sich im Grunde bereits 
durchdringen, so lafk sich hier schon vielerlei ablesen. Allerdings: 
erste Folge der publizistischen Alleinherrschaft der Zeitung ist, die 
Eingliederung der literarischen Produktion in die der Waren auch 



446 Autobiographische Schriften 

an alien den Stellen manifest zu machen, an denen sie es bisher noch 
nicht war. Die zweite aber verhalt sich zu dieser ersten schon dia- 
lektisch. Indem namlich das Schrifttum an Breite gewinnt was die 
Kunst an Tiefe verliert, beginnt die Trennung zwischen Autor und 
Publikum, die der Journalismus auf korrupte Weise aufrecht erhalt, 
auf anstandige Art durchbrochen zu werden. Der Lesende ist jeder- 
zeit bereit ein Schreibender, namlich ein Beschreibender und ein 
Vorschreibender zu werden; von jeder sachlichen Kennerschaft aus 
bahnt sich ein Zugang zum Schreibenkonnen: kurz, die Arbeit 
selbst kommt zu Worte; ihre Darstellung macht einen Teil des Kon- 
nens, der zu ihrer Ausfuhrung selbst verlangt wird; die literarische 
Kennerschaft wird nicht im (Konsum sondern in) der Praxis des 
Arbeitsganges fundiert und damit volkstiimlich; die Volkstiimlich- 
keit des Schreibens wird nicht auf Konsum sondern auf Produktion 
abgestellt, also fachmannisch. Es ist, mit einem Wort, die Literari- 
sierung der Lebensverhaltnisse, welche der unlosbaren Antinomie 
Herr wird, unter der heute das gesamte Kunstschaffen steht und es 
ist der Schauplatz der tiefsten Erniedrigung des gedruckten Wortes, 
also die Zeitung, auf dem in einer neuen Gesellschaft seine Wieder- 
herstellung von statten gehen wird. Ja sie ist nicht die verachtlichste 
List der Idee. Die Not - die mit ungeheurem atmospharischen 
Druck heute gerade das Schaffen der Besten komprimiert, daft es im 
dunklen Bauche eines Feuilletons wie in dem eines holzernen Pfer- 
des Platz hat, um eines Tages das Troja dieser Presse in Brand zu 
setzen. 



Spanien 1932 

Die ersten nachzudenkenden Bilder in San Antonio: die Interieurs, 
die in offnen Turen, deren Perlvorhange gerafft sind, sich auf tun. 
Noch aus dem Schatten schlagt das Weifi der Wande blendend her- 
vor. Und vor der riickwartigen stehen gewohnlich streng ausgerich- 
tet und symmetrisch in der Stube zwei bis vier Stiihle. Wie sie so 
dastehen, anspruchslos in der Form, aber mit auffallend schonem 
Geflecht und iiberaus reprasentabel, lafit sich manches von ihnen 
ablesen. Kein Sammler konnte kostbare Teppiche oder Bilder mit 
grofierem Selbstbewufitsein an den Wanden seines Vestibiils aus- 
stellen als der Bauer diese Stiihle im kahlen Raum. Sie sind aber auch 
nicht nur Stiihle; im Augenblick haben sie ihre Funktion geandert, 



Spanien 1932 447 

wenn der sombrero iiber der Lehne hangt. Und in diesem neuen 
Arrangement wirkt der geflochtene Strohhut nicht weniger kostbar 
als der Stuhl. So wird es denn wohl iiberhaupt so sein, dafi in unse- 
ren wohlbestellten, mit alien erdenklichen Bequemlichkeiten ver- 
sorgten Raumen kein Platz fur das wahrhaft Kostbare ist weil kein 
Platz fur Geratschaften. Kostbar konnen Stiihle und Kleider, 
Schlosser und Teppiche, Schwerter und Hobel sein. Und das 
eigentliche Geheimnis ihres Wertes ist jene Niichternheit, jene 
Kargheit des Lebensraumes, in dem sie nicht nur die Stelle, an die 
sie gehoren, sichtbar einnehmen konnen, sondern den Spielraum 
haben, die Fiille von verborgenen immer wieder iiberraschenden 
Funktionen erfullen zu konnen, um derentwillen das Kostbare dem 
gemeinen Ding uberlegen ist. 

Ein Traum aus der ersten oder zweiten Nacht meines Aufenthalts in 
Ibiza: Ich ging spat abends nach Hause - es war eigentlich nicht 
mein (Haus), vielmehr ein prachtiges Mietshaus, in welches ich, 
traumend, Seligmanns einlogiert hatte. Da begegnete mir, aus einer 
Seitenstrafie schnell auf mich zueilend, in nachster Nahe des Haus- 
portals, eine Frau, die im Voriibergehen, ebenso schnell wie sie sich 
bewegte, fliisterte: Ich geh zum Tee, ich geh zum Tee! Ich folgte der 
Versuch { ung ) , ihr nachzugehn nicht, trat vielmehr in das Haus von 
S' ein, wo sich aber alsbald ein unangenehmer Auftritt ergab, in 
dessen Verlauf der Sohn des Hauses mich an der Nase fafite. Unter 
entschiednen Protestworten warf ich die Haustiir hinter mir zu. 
Kaum war ich wieder im Freien, als aus derselben Strafie, mit den- 
selben Worten, dasselbe Frauenzimmer auf mich zu schnellte und 
diesmal folgte ich ihr. Zu meiner Enttauschung aber lieft sie sich 
nicht ansprechen, sondern eilte immer gleich schnell eine etwas 
abschiissige Gasse entlang bis sie vor einem eiser(n)en Gitter eng- 
ste Fuhlung mit einem ganzen Haufen von Dirnen bekam, die da 
offenbar vor ihrem Quartier standen. Ein Schutzmann war nicht 
weit davon postiert. Mitten in soviel Verlegenheiten erwachte ich. 
Da fiel mir ein, daft die erregende seltsam gestreifte Seidenbluse des 
Madchens in den Farben Griin und Violett geglanzt hatte: den Far- 
ben von Fromms Akt (vgl. Taschenbuch I Blatt 22) 

Noch ein Traum (dieser in Berlin, einige Zeit vor der Reise). Mit 
Jula war ich unterwegs, es war ein Mittelding zwischen Bergwande- 



44 8 Autobiographische Schriften 

rung und Spaziergang, das wir unternommen hatten und nun 
naherten wir uns dem Gipfel. Seltsamerweise wollte ich das an 
einem sehr hohen, schrag in den Himmel stofienden Pfahl erken- 
nen, der, an der iiberkragenden Felswand aufragend, sie iiber- 
schnitt. Als wir dann oben waren, war das aber garkein Gipfel son- 
dern eher ein Hochplateau, iiber das eine breite, beiderseits von 
altertiimlichen ziemUch hohen Hausern gebildete Strafie sich zog. 
Nun aber waren wir mit einem Mai nicht mehr zu Fufi sondern 
safien in einem Wagen, der durch diese Strafie fuhr, nebeneinander, 
auf dem nickwartigen Sitz, wie mir scheint; vielleicht aber anderte 
auch, wahrend wir in ihm saften, der Wagen die Fahrtrichtung. Da 
beugte ich mich zu Jula um sie zu kiissen. Sie bot mir aber nicht den 
Mund sondern die Wange. Und wahrend ich sie kiifite, bemerkte 
ich, dafi diese Wange aus Elfenbein und ihrer ganzen Lange nach 
von schwarzen, kunstfertig ausgespachteken Riefen durchzogen 
wurde, die mich durch ihre Schonheit ergriffen. 

Die Wirtschaft auf der Insel ist ganz archaisch. Vor fiinfzig Jahren 
hat man hier noch kein Brot gekannt; das Volksnahrungsmittel war 
Mais. Und noch heute gibt es nicht mehr als vier bis sechs Kiihe, 
manche behaupten, wegen der Futtermittel, Don Rossiglio aber, 
Fischereiunternehmer und Deputierter, (behauptet,) wegen der 
Ruckstandigkeit der Bewohner. Wie lange wird diese Riickstandig- 
keit erhalten bleiben? Noch bewassert man die Felder nach alter 
arabischer Weise mit Schopfradern, die von Maultieren betrieben 
werden. Noch drischt man das Getreide unter den Hufen der 
Pferde, welche an langen Ziigeln auf der Tenne getrieben werden. 
Aber schon stehen in Ibiza und San Antonio unf ertige Hotelbauten, 
in denen den Fremden fliefiendes Wasser in Aussicht gestellt wird. 
Die Zeit bis zu ihrer Fertigstellung ist kostbar geworden. Noch sind 
die Wege einsam: der Spazierganger der vom Rascheln der Eidech- 
sen, die Eidechsen die vom Schritt des Spaziergangers auffahren 
sind, fur eine kurze Weile noch, unter sich. Aber gerade diese 
unscheinbaren Eidechsen sind es, mit denen das Neue hier anfing. 
Man erinnert sich auch der Terrarien, die vor einigen Jahren in der 
Kakteenecke der Boudoirs oder Wintergarten sich ansiedelten. 
Eidechsen begannen ein internationaler Modeartikel zu werden. 
Unter den heutigen Tierhandlern sind nun diese Inseln, die Pityu- 
sen ob ihrer Eidechsen wegen ebenso renommiert wie sie es unter 



Spanien 1932 449 

den antiken Generalen ihrer Schleuderer wegen waren. Und so 
setzte sich eines Tages ein Mann hier fest, um sich mit einem kleinen 
Eidechsenversand durchs Leben zu schlagen. Es gibt viele Arten 
Eidechsen zu fangen: sie scheinen aber alle auf der grofien Neugier 
dieser Tiere zu beruhen. Wer weifl, welche biologische Ursache 
diese Neugierde haben mag: die des Nahrungstriebs jedenfalls 
kaum. Denn einerseits bleiben sie ohne weiteres drei, vier Wochen, 
ohne etwas zu fressen (weswegen sie sich so leicht verschicken las- 
sen), andererseits werden sie nicht miide, auch das Ungenieftbarste, 
etwa eine Hand, zu beaugen, wenn sie ihnen merkwiirdig ist. Mit 
dieser Neugier rechnet man, wenn man Fallen stellt. Das einfachste 
ist eine tiefe, offene Konservenbiichse mit einem stark aromatischen 
Koder - Rase, Fisch, Wurst - auf dem Grunde in den Boden zu 
graben; nach einigen Tagen findet man in ihr eine Anzahl der Tiere, 
die an den glatten Wanden nicht wieder heraufklettern konnten. 
Andere, mifkrauischere, muE man in haardiinnen Schlingen fan- 
gen, die mit irgendeinem aromatischen Stoffe bestrichen sind, 
damit das Tier sie beschnuppert. Die sonderbarste Fangart aber soil 
im Altertume geiibt worden sein. In eine Schlinge namlich habe 
man eine grofie Speichelblase hineinfallen lassen und nun diese nun, 
als einen Spiegel gleichsam dem Tiere entgegengehaken. Im Augen- 
blick, da das Tier in die Hohlung vorstiefi, zog der Fanger die 
Schlinge zu. Es ist aber nicht jener erste Fanger gewesen, der das 
alles zu erzahlen wufite; vielmehr scheint der seine Berufsgeheim- 
nisse nur gegen gutes Geld preisgegeben zu haben, soviel man 
wenigstens aus der Niederlassungsgeschichte des zweiten entneh- 
men kann. Eines weiteren Tags namlich stellte es sich heraus, dafi 
auf dem Kontinent die Krise den Eidechsen, soweit sie zum Ameu- 
blement gehorten, den Garaus gemacht hatte. Und ungefahr um 
dieselbe Zeit - im Jahre 1922 - war es, dafi in Stuttgart ein mufiiger 
Bildhauer, der in der Inflation sein Vermogen verloren hatte, mit 
betnibten Gedanken sich an das selten benutzte Radio setzte. Die- 
ser Bildhauer war ein unruhiger Geist, von denen einer, die zur 
rechten Zeit ihren Eltern davongelaufen sind{ , ) und als er funfzehn 
Jahre alt war, da lebte er schon als einziger Weifier in einem siidame- 
rikanischen Indianerdorfe. Das Schiff das ihn als Schiffsjungen auf 
Fahrt genommen hatte, war gescheitert, die iibrige Mannschaft 
nach Deutschland spediert, ihm aber die weitere Seefahrt von zu 
Haus untersagt worden. Und weil ihm das nicht pafite, blieb er bei 



4 5 Autobiographische Schrif ten 

den Indianern, wie sehr der deutsche Konsul in Pernambuco ihn 
auch vor den vielen Sandflohen im Indianerdorf warnte. Dieser 
also, der sich beizeiten gekriimmt hatte, safl am Radio. Vor dem 
Mikrophon aber stand ein ehemals in Spanien internierter Deut- 
scher, der bei der Generositat der Spanier wahrend des Krieges 
recht gut das Land hatte kennen lernen konnen. Er war auch nach 
Ibiza gekommen und sprach nun iiber »Eine vergessene Insel«. So 
kam J . . ., der Bildhauer auf die Insel, zunachst nur zu einem kur- 
zen informatorischen Aufenthalt: als er die Verhaltnisse giinstig, 
die Eidechsen mannigfach, die Einheimischen zuvorkommend 
fand, kehrte er zuriick und begann sich niederzulassen. Seinem 
Vorganger zahlte er tausend Mark fur die Kundenliste und die Ver- 
bindlichkeit, keinerlei Handel mit Tieren mehr auf der Insel zu trei- 
ben. Inzwischen aber hatte die Weltkrise ihren Lauf genommen und 
die Eidechsen aus den Wintergarten und Boudoirs ausquartiert. Die 
Auftrage blieben aus, wenigstens bis auf die der Handler, deren 
Preise den Fang nicht lohnen. Denn jede Fahrt auf eine der einsa- 
men, unbewohnten Inseln, auf denen die selteneren, zum Teil noch 
unbeschriebenen Arten vorkommen, bedeutet zwei bis drei Tage 
Arbeit, dazu ein Risiko fur den Kahn, der dort nirgends Anker- 
grund finden kann. J . . . aber, der nun einmal installiert war, sah 
seinen Traum, eine zivilere, gewissermafien emanzipierte Form, 
seinen Lebensunterhalt auf dieser Insel zu bestreiten, zerronnen. 
Sie hatte mit ihren alten Uberlieferungen, ihren archaischen 
Lebensformen, das letzte Wort behalten. Er wurde Fischer und 
wenn er heute eine Zigarette entziindet, benutzt er, wie jeder andere 
Feuerstein und Ziindschnur. »Im Boot« sagt er »ist es das Beste. 
Streichhblzer blast der Wind aus, aber je mehr er weht, desto besser 
glimmt sie.« 

Es regnet und das Licht, das alle Dinge hier vom Himmel her so 
schonungslos beansprucht, verzieht sich, um sie der Erde zuriick- 
zugeben. - Die weifien Hauser in ihren Kaktushecken von einem 
Getiimmel stiirmender griiner Geister bedrangt. 

Von der Ehrlichkeit der Einheimischen und vom Gegenteil. Zwei 
Geschichten. Ein Fremder, der nach mehrmonatliche(r) Anwe- 
senheit sich Freundschaft und Vertrauen auf der Insel erworben 
hatte, sieht den letzten Tag seines Aufenthalts gekommen. Es trifft 



Spanien 1932 451 

sich, daft es ein gliihend heifier ist und, einmal mit seinen Reisevor- 
bereitungen am Ende, beschliefit er, sich der Sorge urn seine Sachen 
moglichst bald zu entledigen, um noch ein zwei Stunden den kiihlen 
Schatten auf der Terrasse eines ibizenkischen Weinhandlers zu 
genieften. Auf dem Schiff verspricht man ihm, sein Gepack, ein- 
schlieftlich seiner Jacke in Verwahrung zu nehmen, und merklich 
entlastet, begibt sich der Fremde zu seinem Weinhandler, dem er 
auch in Hemds'armeln herzlich willkommen ist. Muhelos kommt er 
mit den ersten copitas eines landlaufigen Weifien zu Rande. Aber je 
weiter ihm so im Trinken die Zeit vorriickt, desto schwerer scheint 
ihm der Abschied (zu) werden, zumal so ein sang- und klangloser. 
Fragen stofien ihm auf, nach dem schonen Portal der Kurie zu 
Ibiza, nach den seltsamen Entfiihrungs- und Verbringungssitten, 
von denen niema(nd) genaueres gehort hat, nach der Herkunft 
jener seltsamen Namen, mit denen die Fischer hier die Berge 
bezeichnen und die ganz verschieden sind von den Namen, die sie 
von den Bauern bekommen. Zur rechten Zeit erinnert er sich, den 
Namen seines Weinschenken schon einmal als einer Autoritat fur 
die Chronik der Insel haben nennen zu horen. Er mochte in letzter 
Stunde doch noch dies und jenes unter Dach und Fach bringen, 
vielleicht auch iiber die Einsamkeit des herannahenden letzten 
Abends hinwegkommen. Er bestelk eine Flasche vom besten und 
wahrend der Wirt sie vor seinen Augen entkorkt, hat sich das 
Gesprach zwischen ihnen schon angesponnen. Nun hat der Fremde 
in den vergangnen Wochen die fanatische Gastfreundschaft der 
Inselbewohner hinreichend kennen gelernt, um zu wissen, daft man 
die Ehre, ihnen etwas vorzusetzen, von langer Hand und gleichsam 
notariell stipulieren mufi. So ist es also sein erstes, den Wirt freund- 
lich zu bitten, sein Gast zu sein und in diesem Punkte bleibt er auch 
bei der zweiten und dritten Flasche fest, um so mehr, als er so mit 
gutem Gewissen die eine oder andere seiner Auskiinfte in der 
Gestalt von Stichworten sich notieren kann. Um aber auf die Noti- 
zen des Fremden zuriickzukommen: da gibt es Motive, die es an 
Kraft mit denen Stendhals aus den italienischen Novellen aufneh- 
men konnen. Welches Bild: das mannbare Madchen, am Feiertag 
von Bewerbern umgeben, der Vater aber seiner Tochter streng die 
Frist fur das Gesprach mit ihren Freiern setzend: eine Stunde, 
anderthalb im Hochstfalle und mogen es auch dreiftig und mehr 
sein, so daft ein jeder, was er sagen will, in einige Minuten zu dran- 



45 2 Autobiographische Schriften 

gen hat. Uberm Gesprach ist es kiihl geworden, der Wirt lafit es sich 
nicht nehmen, dem Fremden eine seiner eigenen Jacken umzugeben 
und die letzte Flasche wird angebrochen. Die gute Halfte wartet 
noch auf sie, da drohnt eine Sirene in ihr Gelage. Es ist der Damp- 
fer, der zehn Minuten entfernt klar zur Ausfahrt, an der Mole liegt 
und das Gepack des Fremden schon an Bord hat. Uber die Dacher 
gewahrt man im blassen Abendhimmel sein Toplicht. Dafi zu Kom- 
plimenten nicht mehr viel Zeit bleibt, sieht auch der Wirt ein und so 
handigt er ohne viel Widerstreben, getreu der getroffenen Abrede, 
dem Fremden die Rechnung ein. Der aber schrickt, noch ehe er 
einen Blick auf sie geworfen, zusammen. Seine Brieftasche, die 
unabanderlich in der hinteren Tasche der Hose verwahrt wird, ist 
fort. Blitzschnell streift er mit einem Blick den Wirt. Dessen biede- 
res Gesicht driickt Bestiirzung aus. Unmoglich, dafi er das Porte- 
feuille hat. Mit den zuvorkommendsten Wendungen bittet er, die- 
sem Zwischenfall keine Bedeutung beizumessen. Ohnehin sei es 
ihm unlieb gewesen, in seinem eignen Hause der Gast des Herrn 
sein zu mussen. Und was die Brieftasche angehe, die werde sich 
ganz bestimmt im Jackett an Bord finden. Fur den Fremden ist aber 
auch dies nur ein halber Trost. Die Scheine sind nicht klein, die er 
drin verwahrt hat und es sind auch nicht wenige. Auf Bord gehen 
seine schlimmsten Erwartungen in Erfullung. Die Jacke ist leer und 
er weifi nun, was er von der geruhmten Ehrlichkeit der Bevolkerung 
zu halten hat. Vor d{ie) Alternative gestellt, die Schiffsbesatzung 
oder den Wirt zu verdachtigen, entscheidet er sich in einer schlaflo- 
sen Nacht fur d(as) Schiffsvolk. Aber er irrte. Der Wirt war es, der 
die Brieftasche hatte. In Deutschland kaum angekommen erhielt er 
den Beweis davon in Gestalt folgenden Telegrammes: {^Briefta- 
sche eben erst in Jackett entdeckt, das Sie bei mir umnahmen. Geld- 
betrag folgt.« 

Nicht abraten. Wer um Rat gefragt wird, tut gut, zuerst des Fragen- 
den eigne Meinung zu ermitteln, um sie sodann ihm zu bekraftigen. 
Von eines andern grofierer Klugheit ist keiner so leicht uberzeugt 
und wenige wiirden daher um Rat f ragen, geschahe es mit dem Vor- 
satz, einem fremden zu folgen. Es ist vielmehr ihr eigener Ent- 
schlufi, der im Stillen gefafit ist, den sie noch einmal, gleichsam von 
der Kehrseite, als »Rat« des andern kennen lernen wollen. Diese 
Vergegenwartigung erbitten sie von ihm und sie haben recht. Denn 



Spanien 1932 453 

das Gefahrlichste ist, was man »bei sich« beschlofi, ins Werk zu 
setzen, ohne es die Aussprache, wie einen Filter, passieren zu las- 
sen. Darum ist dem, der Rat sucht, schon halb geholfen und wenn 
er Verkehrtes vorhat so ist, ihn skeptisch zu bestarken besser als 
ihm iiberzeugt zu widersprechen. 

Daft der Schiiler den Inhalt seines Buchs unterm Kopfkissen am 
Morgen auswendig weift, der Herr den Seinigen es im Schlafe gibt 
und die Pause schopferisch ist - dem Spielraum zu geben ist das A 
und O aller Meisterschaft und ihr Kennzeichen. Dieser Lohn eben 
ist es, vor den die Gotter den Schweift gesetzt haben. Denn Kinder- 
spiel ist Arbeit, welche maftigen Erfolg erzielt, mit der verglichen, 
die das Gliick herbeiruft. So rief Rastellis ausgestreckter kleiner 
Finger den Ball herbei, der wie ein Vogel auf ihn heraufhupfte. Die 
Ubung von Jahrzehnten, die dem vorherging, hat in Wahrheit 
weder den Korper noch den Ball »unter seine Gewalt« sondern dies 
zustande gebracht: daft beide hinter seinem Riicken sich verstandig- 
ten. Den Meister durch Fleift und Miihe bis zur Grenze der 
Erschopfung zu ermiiden, so daft endlich der Korper und ein jedes 
seiner Glieder nach ihrer eigenen Vernunft handeln konnen: das 
nennt man iiben. Es ist eine posthypnotische Suggestion, die hier, 
im Binnenraum des Korpers gleichsam, wirksam wird, indem der 
Wille ein fur alle Mai zugunsten der Organe abdankt: zum Beispiel 
der Hand. So kommt es vor, daft einer nach vergeblichem Suchen 
das Vermiftte sich aus dem Kopf schlagt, dann eines Tages etwas 
Anderes sucht und so das erste ihm in die Hand fallt. Die Hand hat 
sich der Sache angenommen und im Handumdrehn ist sie einig mit 
dem Objekt geworden, das sich dem verbiftnen Willen entzog. 

Es ist eine sonderbare Marotte, daft die Reiseschriftsteller sich auf 
das Schema der »Erfullung« festgelegt haben, jedem Lande den 
Dunst, den die Feme darum gewoben hat, jedem Stande die Gunst, 
die die Phantasie des Miiftiggangers ihm leiht, erhalten zu wollen. 
Die Einebnung des Erdballs durch Industrie und Technik hat so 
grofte Fortschritte gemacht, daft von rechtswegen die Desillusionie- 
rung den schwarzen Hintergrund der Schilderung machen miiftte, 
von dem dann das wirklich sonderbare Inkommensurable der nach- 
sten Nahe - der Menschen im Verkehr mit ihresgleichen, mit dem 
Lande - um so scharfer sich abheben konnte. Man muft zugeben, 
daft in Deutschland die Reportagen, insofern man sie als eine Art 



454 Autobiographische Schrif ten 

umgewandter Reisebeschreibungen ansieht, das gleiche zum Aus- 
druck bringen. Es ist nichts als eine Sache von Zeit und Studium, so 
die nachste Nahe auch des Entfernteren gegenstandlich zu machen. 
Dazu hat dann freilich die Disziplin zu treten, welche es dem Autor 
verbietet, Effekte aus der ersten Begegnung zu schlagen, der, wenn 
sie nicht als Impression verwertet, sondern als Samenkorn dem 
Schofie des Gewohnten eingesenkt wird, spater der wunderbare 
Baum entwachsen kann, dessen Friichte das Aroma der »nachsten 
Nahe« haben. 

Kleine Notizen iiber die Insel. - Ab und zu klingt es hohl, wenn 
man auftritt. Kann sein, daf? es hohle Stellen in der Lava sind (wenn 
die Insel namlich wirklich vulkanisch ist); es wird aber auch 
behauptet, das seien Graber. 

Es gibt hier eine besondere Art von Hunden, die anderwarts nicht 
vorkommen sollen. Sie heifien Galybs. 

Ganz hubsch Jokischs Erzahlung von der Behandlung seines Mobi- 
liars beim Zoll. Da er Protektion hatte, nahm man die Mobel soweit 
wie moglich auseinander und verzollte sie ihm als Bretter. Als ich 
bei ihm war erzahlte er auch, wie er dahintergekommen sei, dafi die 
Ameisen Eidechsen fressen. Es herrschte namlich einige Tage nach- 
dem er seine Fallen gelegt hatte, ohne Unterlafi Sturm. Als er dann 
wieder an die Platze kam, traf er in einer Buchse die Eidechsen, die 
drei bis vier Wochen ohne Futter gut existieren konnen, ganz mun- 
ter an. In die andern waren Ameisen gekommen und hatten alle 
Tiere umgebracht. Manchmal beiften die Eidechsen einander auch 
selbst. Ein andermal verlor er einige gute Kunden dadurch, dafi ihm 
die Eidechsen in dem Lager, das er ihnen bei sich zu Hause in ver- 
schiednen Gehegen eingerichtet hatte, durcheinander kamen. Seit- 
dem halt er kein Lager von Tieren mehr. 
Buch uber die Balearen von Erzherzog Johann Salvator. 

Geschichte der Einsamkeit. »Wieviel Erde braucht der Mensch zum 
leben?« fragt, in einer seiner Volkserzahlungen, Tolstoi. Die Ana- 
choreten haben die Antwort darauf gegeben: ihr auf das kleinste 
Fleckchen Erde eingeschranktes Leben hat sich iiber die Welt ver- 
breitet. Die Namen aller Engel und aller Teufel, die sich um ihre 
Seele oder um ihr Lager bewarben, drangen, vom Athos oder 
Montserrat herab, in die Welt, die sich vor der Schwelle ihrer 



Spanien 1932 455 

Klause verfliichtigte. Auf dem noch unerforschten Erdball vertra- 
ten sie den Anspruch ihres Glaubens auf die noch unbetretnenBrei- 
ten und noch unbelehrten Kreaturen. Sie waren die magischen Vor- 
lauf er der Mission. So zeitlos aber ist auch die Einsamkeit nicht, daft 
sie nicht mit der Zeit sich andert, wenn auch langsam. Heme ist sie 
nur noch ein Abfallprodukt der Gemeinschaft. Klausner gibt es 
nicht mehr und wer sich absondert, entdeckt keine neue Gemein- 
schaft sondern die alte. So hatte einer, der mit der Welt nicht 
zurechtkam, sich ins Innerste einer entlegnen Insel zuriickgezogen. 
Wenige storten ihn auf, nichts aber wunderte sie so sehr wie die 
Beschlagenheit des Mannes in alien Vorfallen und Intrigen des 
Kustenlandes. Es war als hatte die Einsamkeit sein Ohr gescharft 
und der Wind ihm die Skandalgeschichten zugetragen, die der 
Groftstadter am Telefon in sich aufnimmt. Wer von diesem Einsied- 
ler Abschied genommen hatte, der fragte sich: »Wieviel Klatsch 
braucht der Mensch zum leben?« 

Es ist nichts Neues, daft Hochstapler mitunter spielend zum Ziele 
kommen, wenn sie nur erst einen Namen sich beigelegt haben, der 
auf die Kreise, auf die sie es abgesehen haben, gleichsam betaubend 
wirkt. Selten aber diirfte es vorkommen, daft dies nicht der Name 
irgendeines regierenden oder ehemals regierenden Hauses ist - 
»regiert haben sie ja alle einmal( « ) , wie es bei Fontane heiftt - son- 
dern der Name einer abgelegnen Insel. Gewift, auch das ist nicht 
neu - es geht auf die Zeiten von Marco Polo oder noch von Athana- 
sius Kircher zuriick, wo man durch Kenntnis ferner Lander und 
weite Reisen sich ein erstaunliches Renom(m)ee schaffen konnte- 
daft aber »im Zeichen des Weltverkehrs« eine arme Mittelmeerinsel 
zur Operationsbasis eines Hochstaplers werden kann, verlohnt 
vielleicht einen naheren Bericht. Nun sind es freilich andere Gei- 
ster, die der Magie des Namens »Ibiza« als etwa eines »Hohenhal- 
ters«(?) unterliegen. Aber zweierlei rmissen sie schon gemein 
haben, namlich die Phantasie und die Ungeduld, kurz einen leiden- 
schaftlichen Drang, aus den Umstanden, unter denen sie leben, her- 
auszukommen. So auch zwei Freunde, Schriftsteller und Verleger, 
die aber keinerlei berufliche Beziehung zu einander unterhielten. 
(Schluftfehlt.) 



456 Autobiographische Schriften 

Die Ciudad de Valencia, die den Verkehr zwischen Barcelona und 
Ibiza besorgt, geht jeden Montag um sechs Uhr abends vom Fest- 
land ab und fahrt die Nacht durch. Es ist ein schones neues Motor- 
schiff, dem man eine grofiere Bestimmung zuschreiben mochte als 
die Versorgung dieses kleinen Inselverkehrs. Und wirklich schien 
mir das Bild des Schiffes zu schrumpfen als ich es am nachsten Tage 
an der Mole von Ibiza die Stunde der Riickfahrt erwarten sah, denn 
ich hatte mir eingebildet, von dort nehme es seinen Kurs nach den 
kanarischen Inseln. So stand ich gegen sechs Uhr abends auf dem 
leeren Promenadendeck neben der Steuermannskabine und suchte 
mir alle Aspekte des unvergleichlichen Bildes zusammen, das grofie 
Stadte von der Hohe des Schiffs her bieten. Die Sonne sank uber der 
Stadt und sie schien zu schweigen. Alles Leben hatte sich in die 
unfafibaren Ubergange zwischen dem Laub der Baume, dem 
Cement der Bauten und dem Fels der entfernten Berge zuriickgezo- 
gen, Ich stand und dachte an den beriihmten Gemeinplatz des 
Horaz - »Doch wer flieht, und miifit er vom Vaterlande fluchten, 
sich selber ?« - und daran, wie sehr er bestreitbar ist. Denn ist Reisen 
nicht Uberwindung, Reinigung von eingesessenen Leidenschaften, 
die der gewohnten Umwelt verhaftet sind und damit eine Chance, 
neue zu entfalten, was doch gewifi eine Art von Verwandlung ist. 
Ich jedenfalls war mir soeben solch einer neuen bewufit geworden 
und die zehn Tage auf See, die hinter mir lagen, waren genug gewe- 
sen sie zu entfachen: diesmal wollte ichs ganz aufs Epische absehen, 
an Fakten, an Geschichten sammeln was ich nur finden konnte und 
eine Reise daraufhin erproben, wie sie von aller vagen Impression 
gereinigt, verlaufen mag. Man denke nicht, daft das eine Sache der 
Reisebeschreibung ist; es ist eine Sache der Reisetechnik, iibrigens 
einer guten alten wie sie vor der Herrschaft des Journalismus die 
Regel war. So stand ich und iiberlegte, als ich tief unten am Kai 
einen untersetzten Mann mit dem massivsten Gesicht, das je unter 
einer Kapitansmiitze stak, entdeckte oder vielmehr erkannte: Kapi- 
tan V . . . von dem Frachtboot, mit dem ich vor zehn Stunden hier 
im Hafen eingelaufen war. Wer einsamen Aufbruch aus fremden 
Stadten gewohnt ist, der weift, oder wird ermessen, was das Auftau- 
chen eines bekannten Gesichts - und sei es sonst auch keines von 
den erwiinschten - gerade in solchem Moment bedeutet, wenn die 
bevorstehende Abfahrt alle Schwierigkeit langeren Gesprachs aus 
dem Wege raumt, gleichzeitig aber auch ihm irgend ein Taschen- 



Spanien 1932 457 

tuch, eine Hand, einen Hut zur Verfugung stellt, in den der 
obdachlose Blick sich nisten kann, ehe er auf die Meeresflache hin- 
ausschweift. Hier aber hatten mir wenige willkommener als der 
Kapitan sein konnen, auf dessen Schiff ich ein wenig heimisch 
geworden war, und das erste Exemplar meiner Geschichtensamm- 
lung gliicklich eingebracht hatte. Dafi es mit diesem Kapitan eine 
besondere Bewandtnis, und nicht die frohlichste habe, das war mir 
schon bald nach Hamburg deutlich geworden. Er hatte so ein Ver- 
haltnis zu Tom - ein Hund, den er von einem Deutschen in Genua 
sich geliehen hatte, wie man es nur bei Sonderlingen trifft. Und was 
konnte man sich von seinem Tag fur ein Bild machen, da er die 
Abendmahlzeit und das Friihstuck ausliefi, so dafi sein Arbeitstag 
sich eigentlich von Mittag bis Mittag hinzog, denn die Nachtruhe ist 
ja fur einen Kapitan, wenn die See bewegt ist, etwas Prekares. Und 
wir hatten von Hamburg ab iiber vier Tage Sturm. Im iibrigen war 
er bei aller Zuruckhaltung niemals unfreundlich und nachdem er die 
obligaten Seemannsscherze noch in der Elbmiindung (vor einem 
ziemlich undankbaren Publikum, denn unter den drei Passagieren 
war nur einer Neuling) angebracht hatte, kam es ihm auch gelegent- 
lich auf fiinf Minuten einer ernsthafteren Plauderei nicht an. So 
bekam ich Fingerzeige genug, im Geiste die Geschichte der Reede- 
rei, mit der wir fuhren, bis auf die Zeiten des Sklavenhandels 
zuriickverfolgen zu konnen, ihre Anfange als Schiffsmakler, ihren 
Handel mit den ersten Dampfbooten mir zu vergegenwartigen, 
nicht zu vergessen die spateren Auswanderertransporte, jene Mas- 
sen elender Passagiere, die fur die deutsche Schiffahrt viel mehr 
bedeuteten als die Gaste der Luxusklasse auf der Bremen oder 
Europa. Aber das blieben doch vereinzelte Momente und nicht in 
solchen Gesprachen war es, in denen ich (mir) von der Geschichte 
dieses Schiffs und von den Kraften und Interessen die seine Fahrt 
durch zeitlose Wogen regieren, soviel erzahlen lieft, dafi es, als ich 
in Barcelona von Bord ging, gleichsam als Zifferngeschiebe vor mei- 
nem Auge stand: vom Erstehungspreis, der Tonnage, den Gehal- 
tern der Offiziere, dem Baujahr, den Satzen fur die Frachten und 
Quaigebiihren bis zum Lohn des letzten Schiffsjungen herunter, 
der am Tage der Heimkunft abgemustert und erst zur Ausfahrt wie- 
der angemustert wird. Urn aber nur die erste und letzte Zahl hier zu 
nennen; so hat mein Schiff im Jahre zweiundzwanzig seinen Kaufer 
(der freilich nicht sein Besteller war) nicht sehr viel mehr als 25 000 



458 Autobiographische Schriften 

Mark gekostet. Und 25 Mark ist das Monatsgehalt eines Schiffsjun- 
gen. Doch auch der Kapitan solcher Schiffe hat nichts zu lachen. Ja, 
als der Frachtverkehr noch bei den Seglern lag, wo die Kapitane 
selbst in den Hafen die Frachten abschliefien, da war es noch etwas 
anderes. Heme aber ist seine Stellung gedriickter; nicht nur dem 
Reeder, oft auch dem Inspektor gegeniiber. Und was die Chancen 
angeht, in diese immerhin begehrte Position aufzuriicken, so 
scheint da ein amerikanischer Offizier manchen seiner deutschen 
Kollegen aus dem Herzen gesprochen zu haben, wenn er sich gegen 
eine gewisse Art von Marineschriftstellern wendet und behauptet, 
sie malten in den rosigsten Farben ein richtiges Hurra-Zeug. Gewifi 
haben die Seeleute auf unsern heutigen Dampfern mehr Bequem- 
lichkeiten, und ihr Leben ist bedeutend angenehmer als friiher auf 
den Segelschiffen. Damals gait noch der ake Seemannsschnack: 
Ausscheiden aus der Seefahrt und auf einen Dampfer gehen! »Aber 
um zur Sache zu kommen: Welche Aussichten bietet der Seemanns- 
beruf heute? Ich glaube, annehmen zu diirfen, dafi jeder Reeder in 
den letzten Jahren von jungen Leuten uberlaufen worden ist, die 
zur See fahren wollen. Aber was ist deren hauptsachliche Arbeit an 
Bord? Deck scheuern, Farbe waschen, Messing putzen! Die einzige 
Gelegenheit, etwas weniger Prosaisches zu tun, ist, einen Gegen- 
stand, der sich an Deck losgearbeitet hat oder losgewaschen ist, 
wieder an Ort und Stelle zu bringen und festzuzurren. Nur ein klei- 
ner Prozentsatz halt durch und wird es vielleicht zum Schiffsoffi- 
ziers-Patent bringen, aber um dann herauszufinden, dafi auch bei 
der Seeschiffahrt die Tatsache zu verzeichnen ist, dafi das Angebot 
die Nachfrage iibertrifft. Im Seemannsberuf herrscht genau so wie 
am Lande dieselbe scharfe Konkurrenz um jede Stelle, derselbe ver- 
zweifelte Kampf urns Dasein in einer Welt, wo die Maschine die 
Menschenkraft verdrangt.« Ich habe mir den Weg vom Seglerschul- 
schiff bis zum Steuermannsexamen, vom Schiffsjungen bis zum 
Schiffsoffizier in alien seinen Stadien erzahlen lassen und mir auch 
das Lehrbuch besehen, aus welchem man zum Examen paukt: 
wahrscheinlich das einzige in alien Wissenschaften, das von sich 
sagen kann, im Jahre in Gebrauch zu sein (sic). Die erste Auflage 
ist von 1854. Man macht sich auch sonst nicht leicht von der 
Bucherwelt einen Begriff, die solch ein Dampfer von Quo vadis bis 
zur Logarythmentafel beherbergt. Vor allem sind da die Hilfsbii- 
cher der Navigation - neben den Seekarten, deren winzige feine 



Spanien 1932 459 

Zifferscharen das Dasein steiler unterseeischer Gebirge verraten, 
die Handbiicher aller Kiisten, mit denen das Schiff es auf seinem 
Kurs zu tun hat oder doch zu tun bekommen konnte. Baedeker von 
Orten, welche die, die ihn benutzen, in den seltensten Fallen betre- 
ten. Denn hier ist jeder Gipfel und jede Landzunge, jeder Turm und 
Siedlung vor allem einmal Signal, Anhaltspunkte fur die Ortsbe- 
stimmung des Schiffs und fur die Ofhziere, wenn sie vor dem 
Examen stehn oft nichts anderes als Angaben{ ?) fur die »Peilungs- 
aufgaben«, die sie mit so und so viel hundert Stuck in Heften bele- 
gen miissen, wenn sie das Steuermannsexamen machen wollen. 
Wenn die Dunkelheit kommt, treten an ihre Stelle die Leuchtfeuer, 
wie sie mit ihrer Farbung und dem Zeitmafi ihres Kommens und 
Verschwindens im Verzeichnis stehen oder das Schiff fahrt ohne 
andere Weisung als die Sternbilder seinen Kurs auf Wasserstraflen, 
die so ausgefahren sind wie Feldwege. Es kamen dann die besten 
Stunden: die langen, wahrend deren die einzige Abwechslung eine 
Anderung der Haltung ist, die man, gelehnt an das Gelander der 
Kommandobriicke, vornimmt oder die der Schritte { , ) mit welchen 
man hin und wieder den Platz vor dem Steuer abschreitet, zu dessen 
Bedienung alle drei Stunden einer der Leichtmatrosen heruber- 
kommt, um seinen Kameraden abzulosen. Keiner ist mir so gut 
erinnerlich, wie der Islandfahrer, der wo hi schon ein paar Nachte 
mit leisem Groll die Aufmerksamkeit verfolgt hatte, die ich dem 
schenkte, was der dritte Offizier von seinen Fahrten zu berichten 
hatte. Da brach es, wahrend dieser abseits im Dunkeln iibers Reling 
in die Feme blickte, aus ihm heraus: ein kleiner Katarakt von 
Namen und von Ziffern, die zwei Prozent die er als Islandfahrer 
von der Losung( ?) hatte, die Millionen iiber welche er damals - es 
war im Jahre 1922 - verfiigte, mit welcher Plage aber der Verdienst 
erkauft wird und wie sie bisweilen so miide waren, daft sie iiber dem 
Teller in Schlaf fielen. Ich reichte ihm eine Zigarette heriiber, dabei 
mufite es sein Bewenden haben. Gegen zehn war es gewohnlich, da 
tauchte ich aus der Kabine des Funkers auf. Das Deck war aufge- 
raumt, die Sterne standen am Himmel. Langsam bewegte sich das 
Gesprach, wie eine Lunte aber so glomm es immer auf ein Aben- 
teuer, eine Geschichte zu. Wir hatten - mein Partner und ich selber 
- bald die beste Art gefunden, uns die Nacht zu verkiirzen( ?) und 
niemals ging ich in meine Kabine, ohne i(m) Kartenhause noch 
eine Weile seine Gastfreundschaft bei einer Tasse Kaffee oder van 



460 Autobiographische Schriften 

Houtens Cacao genossen zu haben. Und die Preistarife des Freiha- 
fens losten die Abenteuer von den Kiisten des Panamakanals oder 
Schleswigs ab. Mein Gastfreund war von Hause friih fortgekom- 
men, mit siebzehn hatte er den Lehrkurs auf einem der Segler, wel- 
che Leist nach Chile gehen lafit, um den Salpeter zu holen und die 
den Kurs u{m) Feuerland und um Kap Horn mit seinen Stiirmen 
nehmen, hinter sich, mit achtzehn hatte er schon seine Braut, weil 
er einen Ring, den er an Land erstanden, hatte verwerten wollen. 
Die Anlage erwies sich als gliicklich, denn vierzehn Tage war er bei 
seiner kunftigen Schwiegermutter einquartiert und ob, selbst nach 
streng biirgerlichem Mafistab, seine Braut, als er verschwand, sich 
zu beklagen hatte, ist mir in dieser Nacht nicht deutlich geworden. 
Denn nicht nur hier verbot sich vieles Fragen; hier hatte Neugier 
meine Taktlosigkeit entschuldigen konnen, nichts aber meine 
Unwissenheit, wenn ichs mich hatte versehen lassen, die Art und 
Weise der nautischen Manover, die Schiffersprache, den Wert der 
Chargen und die Namen der Leute und Gerate, die ich nicht ver- 
stand, erklaren zu lassen. Es war fur Fragen nicht der rechte Augen- 
blick. Die Nachte in dieser Woche waren dunkel, undeutlich sahen 
wir uns selber und undeutlich nur erschien der Umrifi der 
Geschichten, wie Schiffe, die bei Nacht das unsere kreuzten. Ich 
konnte sie nicht wiedererzahlen und unter allem am wenigsten »die 
Fahrt der Prival«, die es am meisten verdienen wiirde. Da aber die 
Seemannsdramen einmal an der Tagesordnung sind, greift vielleicht 
jemand diesen Komodienstoff auf, dem sich selbst aus der neuesten 
Geschichte, wenige an die Seite stellen lassen. Es war im Jahre 19 19, 
als sich einige Hamburger Reeder darauf besannen, Segler, Salpe- 
terschiffe, welche irgendwo in Chile, wo sie fiinf Jahre f ruher vom 
Weltkriege waren iiberrascht worden, vor Anker lagen, in die Hei- 
mat zuriickzufuhren. Die Rechtslage war ganz einfach; die Segler 
waren deutsches Eigentum geblieben und nun handelte sichs nur 
darum, die notige Bemannung bereitzustellen, um sie in Rio de 
Janeiro zu iibernehmen. Seeleute gab es auch genug, die auf den 
deutschen Hafen auf Heuer warteten. Aber doch war bei der Sache 
ein kleiner Haken. Denn wie wollte man die Mannschaft an Ort und 
Stelle befordern? Soviel war klar: sie konnten in Hamburg selbst 
nur als Passagiere an Bord gehen und unter dienstlichen Befehl erst 
am Bestimmungsorte gestellt werden, Immerhin war ebenso klar, 
dafi es sich da um Leute handelte, denen gegeniiber nicht leicht mit 



Spanien 1932 461 

jenen Machtvollkommenheiten auszukommen war, wie sie das See- 
recht Kapitanen ihren Passagieren gegeniiber einraumt. Und dabei 
darf das Jahr nicht aufier acht bleiben: 19 19, wo nicht nur der 
Kriegsflotte die revolutionare Stimmung der Kieler Tage noch in 
den Knochen steckte. Die Reeder selber wuftten das am besten und 
hatten zunachst einmal die hoheren Chargen der »Prival« mit ihren 
kliigsten und entschlossensten Offizieren besetzt. Sie waren aber 
noch weiter gegangen und der Verlauf der Reise zeigte schnell, dafi 
ihre Sorgfalt berechtigt gewesen war. Denn man war noch keine 
zwolf Stunden hinter der Nordseeausfahrt, als die Anzeichen einer 
Gruppierung unter dem neuen Kollektiv sich bemerkbar machten, 
die wahrend einer Fahrt von mehr als drei Wochen sich noch 
bedrohlich entfalten konnte. (Auf) Deck und (in) Kajiiten, selbst 
d(en) Mannschaftsraume(n), d(er) Offiziersmesse und (auf) 
Treppen tagten von friih bis spat die verschiedensten Vereinigungen 
und Zirkel, auf der Hohe von Finisterre waren drei Spielklubs und 
zwei Ringe mit ununterbrochnen Boxkampfen in Betrieb. In (der) 
Offiziersmesse, deren Wande mit primitiven aber drastischen 
Zeichnungen geschmiickt worden waren, steppten die Herren aus 
(dem) Publikum zum Klang eines Grammophons, auf den Stiegen 
hatte sich eine Bordborse etabliert, wo die Tauschgeschafte mit 
Zigarrenkisten, Dollarnoten, Feldstechern, Nacktphotos und Mes- 
sern im Zeichen der beginnenden Inflation sich abwickelten, kurz, 
das Schiff war in eine schwimmende Magic City verwandelt und 
man hatte meinen sollen alle Verrufenheit des Hafenlebens lasse 
sich, auch ohne Frauen aus der Erde - oder vielmehr den Balken - 
stampfen. Der Kapitan - einer jener Typen, die ein Mindestmafi an 
Bildung und Bucherwissen mit einem Hochstmafi an Kultur ver- 
binden - behielt bei alledem doch seine Ruhe, und verlor sie auch 
nicht, als eines schonen Nachmittags auf der Hohe von Dover vor 
ihm, am Heck, die Frieda, ein gutgewachsenes aber schlecht beleu- 
mundetes Madchen aus Sankt Pauli eine Zigarette im Mund einsam 
auf und niederspazierte. Zweifellos gab es Leute an Bord, die wuf$- 
ten, wo sie bisher gesteckt hatte und eben diese waren sich auch 
liber die Maftregeln einig, die zu ergreifen gewesen waren, falls das 
Kommando die geringsten Anstalten gemacht hatte, den iiberzahli- 
gen Passagier zu entfernen. Das Nachtleben wurde von nun an noch 
viel lebendiger und wer im Larm der hundertfiinfzig Schiffsinsassen 
zu seiner Ruhe kommen wollte, der mufke wohl oder libel bis zur 



462 Autobiographische Schriften 

Erschopfung getobt haben. Man hatte aber nicht 19 19 schreiben 
miissen, wenn nicht bald zu alien diesen Divertissements das politi- 
sche sich gesellt hatte. Hier war nun mit der Moglichkeit, die Stim- 
mung der »Passagiere« konne auf die »Mannschaft« ubergreifen, 
nicht zu scherzen. Schon liefien sich Stimmen horen, die diese 
Expedition zum Anfang eines neuen Lebens in einer neuen Welt 
machen, von einer Heuer im Bestimmungshafen, nun gar von einer 
Riickkehr in die Heimat nichts wissen wollten. Andere sahen den 
langersehnten Augenblick naher kommen, wo die Rechnung mit 
den Herrschenden sollte bereinigt werden. Unverkennbar: Es 
wehte ein scharferer Wind. Man hatte auch bald heraus, wo er her- 
kam: es war da ein gewisser Richard Schwenke, ein langer Kerl von 
schlapper Haltung, der sein rotes Haar gescheitelt trug und von 
dem man nur wufite, dafi er als Steward verschiedene Linien befah- 
ren hatte. Schon in der ersten Nacht begegnete man ihm auf Schritt 
und Tritt; er trat in die Tanzbar, und zog den einen oder anderen in 
ein so lautes zankisches Gesprach, dafi wenn die Platte ausgelaufen 
war, sich alles um ihn herumstellte; im Boxring zog er provokato- 
risch Auskiinfte iiber die politische Gesinnung der Preiskampfer ein 
und immer war der roteste sein Mann. So arbeitete er, wahrend die 
Masse ihren primitiven Lustbarkeiten (nachging,) sich in die 
Arme, unermudlich an der Politisierung des Schiffes: am vierten 
Tage war es ihm gelungen, eine Vollversammlung anzusetzen und 
schon vom nachsten Abend ab herrschte Wahlfieber. Und was gab 
es da nicht alles zu wahlen: eine Menagekommission, eine beson- 
dere Inspektionskolonne, ein politisches Tribunal, ein Bordsekre- 
tariat- kurz ein vollkommener revolutionarer Apparat wurde in ein 
paar Tagen aus dem Boden gestampft ohne dafi Blut flofi, ohne dafi 
es auch nur zu ernstlichen Zusammenstofien mit dem Schiffskom- 
mando gekommen ware. Leider aber ergaben sich umso haufiger 
Intriguen innerhalb der revolutionaren Leitung. Und sie waren um 
so verdriefilicher, als, wenn man naher zusah, eigentlich jeder 
irgendwie zu dieser Leitung gehorte. Wer keinen Posten hatte 
durfte ihn doch von der nachsten Wahl bereits erwarten und eigent- 
lich verlief kein Abend ohne dafi hier eine, dort eine Abstimmung 
nachzupriifen oder ein Referat iiber neue Mifistande zu debattieren 
gewesen ware. Als endlich das Aktionskomitee beauftragt wurde, 
den Plan zu einem Handstreich in der Vollversammlung vorzutra- 
gen, hatte die Mascot Callao bereits im Riicken. Und am Morgen 



Spanien 1932 463 

des Tages der fur die letzte Vorbereitung angesetzt war, stieg der 
Lotse von Rio das Fallreep herauf. Die letzten Peilungen im Schiffs- 
journal erwiesen sich als falsch und achtundvierzig Stunden vor der 
Zeit, die man im Ausschufi sich errechnet hatte, lag der Dreimaster, 
als wenn nichts gewesen ware, an der Mole. Soweit mein Freund. 
Die erste Woche ging zu Ende. Wir traten ins Kartenhaus, wo in 
zwei tiefen Steinguttassen der Kakao schon auf uns wartete. Ich war 
schweigsam geworden und erst nach einer kleinen Weile drang mir 
ins Bewufitsein, dafi mein nachtlicher Gastfreund eine Frage an 
mich gerichtet hatte. Ich blickte auf ihn. »Ja, wie gesagt, Sie haben 
doch verstanden? - und als ich schwieg, denn ich wufite nicht, was 
ich sagen sollte: Sie haben recht - mir gings auch erst nachher auf. 
Aber als ich zufallig eines Tags in Hamburg zum Reeder ins Kontor 
befohlen bin und da de{m) Schwenke in der Tiir begegne - in der 
Hand hielt er noch die dicke Zigarre, die er sich beim Chef drinnen 
in Gang gesetzt hatte - da habe ich die Geschichte mit der Mascot 
erst recht begriffen.« Nicht viele konnte ich wiedererzahlen, aber 
keine war da, aus der mir nicht ein Name oder ein Bild vor Augen 
stand, als ich die Treppe hinunterlief, um vor der Abfahrt noch ein 
paar Worte mit dem Kapitan zu tauschen. Der Mann war mir recht 
deutlich erst seit ein paar Stunden, genauer gesagt, seit dem Vor- 
abend, da ich in Alicante vor der Abfahrt in der Kabine mit ihm vor 
einer Flasche zusammengesessen und er mir die Geschichte seines 
Sohnes erzahlt hatte, der als Seemann begonnen hatte um heute 
einen kleinen Zigarrenladen zu versorgen. Was aber dazwischen lag 
war ein Augenblick, wie ihn jeder erleben kann der zusieht, wie ein 
Schiff, das seine Fracht geloscht hat, zur Abfahrt klar macht. Ich 
weift nicht wie die grofien eisernen Querbalken heifien die dann von 
neuem in die Rahmen eingelassen werden, die den oberen Rand des 
Frachtraums umspannen. Aber das weifi ich, dafi sie nicht breiter 
als zwanzig Zentimeter sind, und dafi die Matrosen, die auf ihnen 
balancierend die Bretter uber d{en) dreifiig Meter tiefe(n) Fracht- 
raum decken, schwindelfrei sein miissen. Sie sind es ja wohl auch, 
aber hin und wieder sturzt eben doch einer ab und so war es auch 
seinem Sohn gegangen. Nun behilft er sich im Laden mit seinem 
Kunstbein. 

Wenn man gute zwei Stunden in der Richtung auf San Antonio zu 
gemacht hat, so trifft man unter den letzten abgelegnen fincas an 



464 Autobiographische Schriften 

denen der Weg sich vorbeizieht auf einem kleinen Hugel, oberhalb 
San Antonios, das man unten in der Bucht liegen sieht, auf ein stilles 
Gehoft, dessen Bauart sich eigentumlich von der der andern fincas 
unterscheidet - man wufite freilich nicht gleich zu sagen, worm. 



Berliner Chronik 



Fur meinen lieben Stefan 

Da will ich mir die zuriickrufen, die mich in die Stadt eingefuhrt 
haben. Denn gerade das Kind, dem seine einsamen Spiele die nach- 
ste Nahe zur Stadt wachsen lassen, braucht und sucht sich Fiihrer in 
deren weitere { m ) Umkreis und die ersten sind wohl - fur ein wohl- 
gebornes Biirgerkind, wie ich eines war, die Kinderfraulein gewe- 
sen. Mit denen ging es in den Zoo - der mir aber erst sehr viel spater 
unter den larmenden Militarkapellen mit der »Lasterallee« (so 
nannte der Jugendstil diesen Corso) auftaucht - und wenn nicht in 
den Zoo, dann in den Tiergarten. Ich glaube, die erste »Strafie«, die 
ich so entdeckte, die mir nichts Wohnliches mehr, keinerlei Heimat 
war und zwischen Laden Preisgegebensein und an den Ubergangen 
auch Gefahren spiiren liefi, war die Schillstrafie, von der ich mir 
gerne einbilde, daft sie sich weniger als andere im Westen verandert 
hat und eine vag aus dem Nebel auftauchende Szene - Lebens- 
rettung des »Briiderchens« - heute noch aufnehmen konnte. Der 
Weg in den Tiergarten ging iiber die Herkulesbriicke und deren 
sanft abfallende Seiten werden denn wohl die ersten Hugelflanken 
gewesen sein, mit denen das Kind Bekanntschaft machte - im Zei- 
chen der schonen steinernen Lowenflanken, die iiber ihm aufstie- 
gen. Am Ende der Bendlerstrafie aber tat sich das Labyrinth auf, 
dem seine Ariadne nicht fehlte: der Irrgarten um Friedrich Wilhelm 
III und die Konigin Luise die auf ihren bebilderten Empiresockeln 
mitten aus Blumenbeeten wie von den magischen Ziigen versteinert 
strebten, die ein kleiner Kanal in den Sand schrieb. Lieber als an 
d(ie) Gestalten wandten sich meine Augen an den Sockel, weil was 
sich da abspielte, wenn auch unklarer im Zusammenhang naher im 
Raum war. Daft es aber mit diesem hohenzollerschen Labyrinth 
eine besondere Bewandtnis hat, das bestatigt sich mir noch heute, in 
dem von nichts sich wissend machenden, sehr banalen Aussehen 
des Vorplatzes an der Tiergartenstrafie, wo nichts verriet, daft man 
nur wenige Meter von der seltsamsten Stelle der Stadt entfernt ist. 
Damals freilich mufi er mehr als genau dem entsprochen haben, was 
hinter ihm wartete, denn hier oder unweit mufi jene Ariadne ihr 
Lager gehalten haben, in deren Nahe ich zum ersten Male und um es 
nie mehr ganz zu vergessen, das lernte, was mir das Wort, das ich 



466 Autobiographische Schriften 

damals mit kaum drei Jahren wohl schwerlich kannte, sofort 
begreiflich machte, als es mir aufstiefi: Liebe. Hier taucht das 
»Fraulein« von neuem auf , als kalter Schatten, der das Geliebte ver- 
schwinden liefi. Wahrscheinlich wird darin nie einer Meister, worin 
er nicht die Ohnmacht gekannt hat, und wer dem zustimmt, der 
wird auch wissen, dafi diese Ohnmacht nicht am Anfang oder vor 
aller Bemuhung urn die Sache liegt, sondern mitten in ihr. So kame 
ich denn jetzt zur Mitte meines Lebens mit Berlin, die sich iiber die 
ganze spatere Kindheit bis an den Anfang meiner Studienzeit 
erstreckt: die Ohnmacht vor der Stadt. Die war doppelt gegriindet: 
einmal in einem sehr schlechten Orientierungssinn; wenn es dreifiig 
Jahre gedauert hat, bis mir das Wissen um rechts und links in Fleisch 
und Blut iiberging, bis ich herausbekam, wie man einen Stadtplan 
benutzt, so war mir das Wissen um dies Ungeschick doch lange 
nicht gelaufig und wenn etwas fahig war, meinen Widerwillen, von 
ihm Kenntnis zu nehmen, zu steigern, so war es die Beharrlichkeit, 
mit der mich meine Mutter mit der Nase drauf stiefi. Ihr gebe ich die 
Schuld, dafi ich noch heute mir keine Tasse Kaffee kochen kann, 
ihrer Neigung, die kleinsten Handreichungen, Verhaltungsweisen 
zu Test (en) meiner Eignung fur das praktische Leben zu machen, 
verdanke ich die traumerische Resistenz beim gemeinsamen Gang 
durch die selten von mir betretnen Strafien der City. Dieser Resi- 
stenz aber wiederum wer weifi wie viel von dem, was heut meinen 
Umgang mit den Strafien der Stadt fundiert. Und insbesondere 
einen Blick, der nicht den dritten Teil von dem, was er auffafit, zu 
sehen scheint. Auch erinnere ich mich wie meiner Mutter nichts 
unausstehlicher war als die Peinlichkeit, mit der ich beim Gang 
durch die Strafien immer wieder um einen halben Schritt hinter ihr 
blieb. Langsamer, ungeschickter, bidder zu scheinen als ich es war, 
diese Gewohnheit nahm ich auf solchen gemeinsamen Gangen an 
und sie hat die grofie Gefahr, sich schneller, geschickter, schlauer 
zu glauben als man es ist. 

Lange, jahrelang eigentlich, spiele ich schon mit der Vorstellung, 
den Raum des Lebens - Bios - graphisch in einer Karte zu gliedern. 
Erst schwebte mir ein Pharusplan vor, heute ware ich geneigter zu 
einer Generalstabskarte zu greifen, wenn es die vom Innern von 
Stadten gabe. Aber die fehlt wohl, in Verkennung der kiinftigen 
Kriegsschauplatze. Ich habe mir ein Zeichensystem ausgedacht und 



Berliner Chronik 467 

auf dem grauen Grund solcher Karten ginge es bunt zu, wenn die 
Wohnungen meiner Freunde und Freundinnen, die Versamm- 
lungsraume der mancherlei Kollektiva von den »Sprechsalen« der 
Jugendbewegung bis zu den Versammlungsorten der kommunisti- 
schen Jugend, die Hotel- und die Hurenzimmer, die ich fur eine 
Nacht kannte, die entscheidenden Tiergartenbanke, die Schulwege 
und die Graber, deren Fiillung ich beiwohnte, die Stellen, an denen 
Cafes prangten, deren Namen heute verschollen sind und uns tag- 
lich uber die Lippen kamen, die Tennisplatze auf denen heut leere 
Mietshauser und die gold- und stuckverzierten Sale, die die Schrek- 
ken der Tanzstunden beinah Turnsalen gleichmachten, wenn all das 
dort deutlich unterscheidbar eingetragen wurde. Aber wenn uns 
schon diese Ermunterung fehlt, so habe ich doch die andere, die ein 
guter Vorganger hinterlafit. Und das ist der Franzose Leon Daudet, 
beispielgebend mindestens in dem Titel seines Werkes, der genau 
umfafit, was ich bestenfalls hier geben konnte: Paris vecu. Gelebtes 
Berlin klingt weniger gut, ist aber gleich wirklich. Und nicht nur 
um diesen Titel handelt sichs hier, sondern in der Tat ist Paris in der 
Reihe der freiwilligen oder unfreiwilligen Geleiter, deren Reihe ich 
hier mit den Kinderfraulein begonnen habe, der vierte. Soil ich es 
mit einem Wort sagen, was ich Paris fur diese Betrachtungen ver- 
danke, so ist es: der Vorbehalt. Kaum ware es mir moglich, dem 
Hin und Wieder dieser Erinnerungen an mein friihestes Stadtleben 
mich zu uberlassen, stiinden nicht von Paris her streng umschrieben 
die beiden einzigen Formen vor mir, in denen das auf legitime Art, 
das heifk mit der Gewahr der Dauer geschehen kann und ware nicht 
mein Verzicht, die erste zu erreichen so gnindlich wie meine Hoff- 
nung, die zweite einmal zu verwirklichen anhaltend. Die erste 
Form ist geschaffen im Werke von Marcel Proust und der Verzicht 
auf jedes Spielen mit verwandten Moglichkeiten wird schwerlich 
eine biindigere Gestalt finden, als die der Ubersetzung, welche ich 
ihr zu geben vermocht habe. Verwandte Moglichkeiten - gibt es sie 
iiberhaupt? Und sicher dulden sie kein Spiel mit sich. Was Proust so 
spielerisch begann, ist ein atemraubender Ernst geworden. Wer ein- 
mal den Facher der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der 
findet immer neue Glieder, neue Stabe, kein Bild geniigt ihm, denn 
er hat erkannt: es liefte sich entfalten, in den Falten erst sitzt das 
Eigentliche: jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten um dessent- 
willen wir dies alles aufgespalten, entfaltet haben; und nun geht die 



468 Autobiographische Schriften 

Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste, vom Kleinsten ins Winzigste 
und immer gewaltiger wird, was ihr in diesen Mikrokosmen entge- 
gentritt. So das todliche Spiel, mit dem Proust sich einliefi, und bei 
dem er Nachfolger schwerlich mehr finden wird als er Kameraden 
brauchte. 

Das merkwiirdigste aber aller Strafienbilder aus meiner friihen 
Kindheit - merkwurdiger als der Einzug der Baren, den ich mit 
neun Jahren an der Seite eines Kinderfrauleins - es kann auch meine 
franzosische Gouvernante gewesen sein - ansah, merkwurdiger als 
die Pferdebahn, die die Schillstrafie passierte oder dort ihre Endsta- 
tion hatte, ist - das mufi um 1900 gewesen sein - eine vollkommen 
menschenleere wie ausgestorbene Strafie, auf die die schweren pol- 
ternden Wassermassen ununterbrochen herabstromten. Es war eine 
lokale Unwetterkatastrophe, in welche ich da hineingeraten war, im 
ubrigen kann ich auch sonst die Vorstellung aufierordenthcher Vor- 
gange an diesem Tage nicht loswerden; ich glaube fast, man hatte 
uns aus der Schule wieder nach Hause geschickt. Jedenfalls blieb 
mir von dieser Situation ein Alarmsignal; meine Krafte miissen am 
Versagen gewesen sein und mitten in den asphaltierten Strafien der 
Stadt fiihlte ich mich den Naturgewalten preisgegeben(,) in einem 
Urwald ware ich zwischen den Baumriesen nicht verlafiner gewesen 
als hier auf der Kurfiirstenstrafie zwischen den Wassersaulen. Wie 
ich die beiden bronzenen Lowenmauler an der Haustiir mit ihren 
Ringen, die nun Rettungsringe waren, erreichte, weifi ich nicht 
mehr. 

Fahrten zum Bahnhof in der ratternden Droschke, die, am Rande 
des Landwehrkanals entlang, durch die Dunkelheit fuhr und in 
deren schmutzigen Polstern, kurz ehe es, fur ein paar Wochen 
zumindest, sein Ende fand, das abendliche Beieinander im Salon 
oder im Wohnzimmer der Elternwohnung beklommen und gewalt- 
sam nochmals sich herstellte. So war es nicht das, was bevorstand, 
was so schrecklich auf einem lastete, auch eigentlich der Abschied 
von dem was war sondern das, was noch anhielt, was dauerte; was 
selbst in dieser ersten Reiseetappe noch sich behauptete. Meist wird 
das Ziel solcher Fahrten der Anhalter Bahnhof gewesen sein - es 
ging nach Suderode oder nach Hahnenklee, nach Bad Salzschlirf 
oder - in den spateren Jahren - nach Freudenstadt. Aber hin und 



Berliner Chronik 469 

wieder war es auch Arendsee oder Heiligendamm und da ging es 
vom Stettiner Bahnhof ab. Es ist, glaube ich, seit der Zeit, dafi die 
Diinenlandschaft der Ostsee fur mich hier in der Chausseestrafie als 
eine Fata morgana auftaucht, gestiitzt nur auf die gelben sandigen 
Farben des Bahnhofsgebaudes und die Vorstellung des hinter seinen 
Mauern schrankenlos sich offnenden Horizonts. 

Der vierte Fiihrer. Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden - das 
mag uninteressant und banal sein. Unkenntnis braucht es dazu - 
sonst nichts. In einer Stadt sich aber zu verirren - wie man in einem 
Wald sich verirrt - das bedarf schon einer ganz anderen Schulung, 
Da mussen Schilder und Strafiennamen, Passanten, Dacher, Kioske 
oder Schenken zu dem Umgetriebenen so sprechen wie ein knak- 
kendes Reis im Walde unter seinen Fiifien, wie der erschreckende 
Schrei einer Rohrdommel aus der Feme, wie die plotzliche Stille 
einer Lichtung, in deren Mitte eine Lilie aufschiefit. Diese Irrkiinste 
hat mich Paris gelehrt; es hat den Traum erfullt, dessen fruheste 
Spuren die Labyrinthe auf den Loschblattern meiner Schulhefte 
waren. Es ist auch nicht zu leugnen, dafi ich in sein Zentrum, die 
Kammer mit dem Minotauros geraten bin, nur daft dies mythologi- 
sche Ungeheuer drei Kbpfe hatte; namlich diejenigen der Insassen 
des kleinen Bordells in der Rue La Harpe das ich mit Aufbietung 
meiner letzten Krafte (und zum Gliick nicht ohne den Faden einer 
Ariadne) betrat. Wenn es aber damit meine beklommensten Erwar- 
tungen einloste, so ubertraf es von anderer Seite her meine graphi- 
schen Traumereien. Paris, wie es sich mir im Zuge einer hermeti- 
schen Tradition erschlofl, die ich riickwarts zumindest bis auf Rilke 
verfolgen kann und deren damaliger Hiiter Franz Hessel war, war 
mehr als ein Irrgarten ein Irrstollen. Unmoglich, die Unterwelt der 
Metro und der Nord Slid, die sich mit hunderten von Schachten in 
der ganzen Stadt offnet, aus meinen endlosen Flanerien fortzu- 
denken. 

Und dann der fiinfte Fiihrer: Franz Hessel. Ich meine nicht sein 
Buch »Spazieren in Berlin«, das erst spater entstand, sondern jene 
»Nachfeier«, die unsern gemeinsamen Pariser Gangen nun in der 
Heimatstadt wie in einem Hafen gegeben war, dessen Mole unter 
den Tritten der schlendernden Seeleute manchmal sich noch wellen- 
haft hebt und senkt. Mitte dieser Nachfeier aber war »die griine 



470 Autobiographische Schriften 

Wiese« - ein Bett das, wahrend ringsum die Couches sich breiten, 
noch thront und auf dem wir ein kleines gefalliges ostlich verblafites 
Nachspiel der grofien Schlaffeste gaben, mit denen, ein paar Jahre 
friiher, in Paris, die Surrealisten ihre reaktionare Laufbahn eroffne- 
ten, ohne es zu wissen, so dafi an ihnen der Spruch, dafi den Seini- 
gen es der Herr im Schlafe gibt, wahr wurde. Auf diese Wiese brei- 
teten wir aus, was wir daheim noch an Frauen mochten, aber es war 
nicht viel. Der Blick traf unter gesenkten Lidern oft besser als im 
Zugwind der Treppenhauser die Palmen, Karyatiden, Glasfenster, 
Nischen aus denen sich als das erste Kapitel einer Lehre von dieser 
Stadt die »Tiergartenmythologie« entwickelte. Sie gliickte und sie 
gedieh, denn klug genug waren wir gewesen, Freundinnen aus den 
Quartieren des Viertels an uns zu ziehen und im ganzen der pariser 
Gepflogenheit, das quartier zu bewohnen treu zu bleiben. Freilich 
ist in Berlin das quartier leider Sache der Bessergestellten, weder 
Wedding noch Reinickendorf noch Tegel ist es so sehr wie Menil- 
montant, Auteuil oder Reuilly. Desto schoner waren Raubziige 
Sonntag nachmittags, auf denen eine Moabiter Passage, der Stetti- 
ner Tunnel oder die Freiheit vor dem Wallnertheater entdeckt 
wurde. Eine Photographin war unter uns. Und mir scheint, wenn 
ich an Berlin denke, die Seite der Stadt, der wir damals nachgingen, 
die einzige, die wirklich der photographischen Aufnahme zugang- 
lich ist. Je naher wir namlich an ihr heutiges, fliefiendes, funktiona- 
les Dasein herantreten, desto mehr schrumpft der Umkreis des 
Photographierbaren an ihr; man hat mit recht bemerkt, dafi an einer 
modernen Fabrik z.B. die Photographie kaum mehr irgendetwas 
Wesentliches auf die Platte bringt. Man kann solche Bilder vielleicht 
mit Bahnhofen vergleichen, die in diesem Zeitalter, wo die Eisen- 
bahn zu veralten beginnt, im Allgemeinen auch nicht mehr die echte 
»Einfahrt« geben, in der die Stadt sich von ihrem Weichbild, ihren 
Aufienvierteln wie in den Zufahrtsstrafien des Automobilisten auf- 
rollt. Der Bahnhof gibt gleichsam die Anweisung auf ein Uberra- 
schungsmandver, aber auf ein veraltetes, das nur auf das alte stofit 
und nicht anders ist es mit der Photographie, ja noch mit der 
Momentaufnahme. Erst dem Film eroffnen sich optische Zufahrts- 
strafien in das Wesen der Stadt wie sie den Automobilisten in die 
neue City fiihren. 

Aber dieser Durchblick wiirde kein Vertrauen verdienen, gabe er 



Berliner Chronik 471 

von dem Medium nicht Rechenschaft, in dem diese Bilder allein sich 
darstellen und eine Transparenz annehmen, in welcher, wenn auch 
noch so schleierhaft die Linien des Kommenden wie Gipfelziige 
sich abzeichnen. Die Gegenwart des Schreibenden ist dieses 
Medium. Und aus ihr heraus legt er nun einen anderen Schnitt 
durch die Folge seiner Erfahrung. Er erkennt eine neue und 
befremdliche Gliederung in ihnen. Die fruhe Kindheit zuerst, die 
ihn in sein Wohnviertel schloft - den alten oder den neuen Westen, 
welchen die Klasse, die ihn zu ihrem Angehorigen bestimmt hatte, 
in jener aus Selbstgefuhl und Ressentiment gebildeten Haltung 
bewohnte, die etwas wie ein ihr zum Lehen verliehenes Ghetto aus 
ihm machte. Jedenfalls war er in dieses Viertel der Wohlhabenden 
eingeschlossen ohne von einem andern zu wissen. Die Armen - fiir 
reiche Kinder seiner Generation lebten sie auf dem Dorfe( ?) . Und 
wenn er den Armen in dieser Friihzeit sich vorstellen konnte so war 
es, ohne daft er Name und Herkunft gekannt hatte, unter dem Bilde 
des Schnorrers, der eigentlich ein Reicher, nur ohne Geld, ist, da er 
- dem Produktionsprozefi und der von ihm noch nicht zu abstrahie- 
renden Ausbeutung weit entriickt zu seinem Darben sich so kon- 
templativ verhalt wie der Reiche zu seinem Haben. Sein erster 
Exkurs in die exotische Welt des Elends war bezeichnenderweise 
ein schriftlicher (nur durch Zufall vielleicht einer seiner ersten) 
namlich die Darstellung eines Zettelverteilers und seiner Demiiti- 
gung durch die Verhaltungsweise des Publikums, das sich der Miihe 
nicht unterzieht, die angebotenen Zettel auch nur zu nehmen( ,) so 
daft dieser Arme - so endete die Geschichte - sich heimlich seines 
ganzen Packens entledigte. Gewift eine recht unfruchtbare Bereini- 
gung der Sachlage, in der sich die Ausflucht in Sabotage und Anar- 
chismus schon ankundigt, die spaterhin dem Intellektuellen so 
schwer macht, zur Einsicht in die Dinge zu kommen. Vielleicht, 
daft man die gleiche Sabotage des wirklichen gesellschaftlichen 
Daseins noch spater, in der geschilderten Verhaltungsweise bei den 
Gangen durch die City wiederfindet in Gestalt des eigensinnigen 
Vorbehalts, in keinem Falle eine Front, und sei es mit der eignen 
Mutter, zu bilden. Kein Zweifel jedenfalls, daft ein Gefuhl, die 
Schwelle der eignen Klasse nun zum erstenmal zu uberschreiten an 
der fast beispiellosen Faszination, auf offener Strafte eine Hure 
anzusprechen, Anteil hatte. Stets aber war am Anfang dieses Uber- 
schreiten einer sozialen Schwelle auch das einer topographischen, 



4J2 Autobiographische Schriften 

dergestalt, dafi ganze Strafienziige so im Zeichen der Prostitution 
entdeckt wurden. Aber war es wirklich ein Uberschreiten, ist es 
nicht vielmehr eher ein eigensinnig-wolliistiges Verharren auf der 
Schwelle, ein Zogern, das das triftigste Motiv in dem Umstand hat, 
dafi diese Schwelle ins Nichts fuhrt? Unzahlig aber sind in den gro- 
fien Stadten die Stellen, wo man auf der Schwelle ins Nichts steht 
und die Huren sind gleichsam Laren dieses Kultus des Nichts und 
stehen in den Haustoren der Mietskasernen und auf dem sanfter 
schallenden Asphalt der Perrons. So wurden mir auf diesen Irrgan- 
gen ganz besonders die Bahnhof e vertraut, die ihre Weichbilder wie 
die Stadte haben: der Schlesische, der Stettiner, der Gorlitzer, 
Bahnhof Friedrichstrafie. 

Wie es fur Kinder Marchen gibt, in denen eine Hexe oder auch eine 
Fee einen ganzen Wald beherrscht, so kannte ich als Kind eine 
ganze Strafie, die eine Frau unter sich hatte und die sie ausfiillte, 
obwohl sie immer in ihrem Erker thronte, eine Minute entfernt von 
dem Hause, in dem ich geboren war: Tante Lehmann. Sie war Statt- 
halterin der Steglitzer Strafie. Zu ihrem Zimmer stiegen die Stufen 
hart hinter der Flurtiir steil empor; es war dunkel auf ihnen, bis die 
Tur zum Zimmer sich auftat und die gebrechliche Stimme glasern 
den guten Tag bot und Weisung gab, den glasernen Rhombus uns 
auf den Tisch zu stellen, der das Bergwerk umschlofi, in dem kleine 
Manner Karren fiihrten, mit der Spitzhacke schufteten, mit Later- 
nen in die Stollen leuchteten, in den Forderkorben aufwarts und 
abwarts stets in Bewegung waren. Dieser Tante und ihres Berg- 
werks wegen konnte die Steglitzer Strafie nun nie mehr fur mich 
nach Steglitz heifien. Ein Stieglitz in seinem Kafig hatte mehr Ahn- 
lichkeit mit dieser Strafie, in welcher die Tante in ihrem Erker hau- 
ste, als der berliner Vorort, der mir nichts sagte. Wo sie an der 
Genthiner auslauft, zahlt sie zu denen, die vom Wandel der letzten 
dreifiig Jahre am unberiihrtesten blieben. In den Hinterhausernund 
Dachgeschossen haben sich hier, als Hiiterinnen des Vergangnen 
viele Huren niedergelassen, die in der Inflation die Gegend in den 
Ruf brachten, Schauplatz der niedertrachtigsten Zerstreuungen zu 
sein. Versteht sich, dafi man die Etagen niemals erfahren konnte, in 
denen die Wohnzimmer der Verarmten und der Schofi ihrer Toch- 
ter den reichen Amerikanern sich offnete(n). 



Berliner Chronik 473 

Wenn ich so, nichts als Stiefel und Waden vor mir, das Gescharr der 
hunderte von Fiiften im Ohr die Treppen emporstieg, packte mich- 
das glaube ich zu erinnern - oft ein Widerwille, in diese Masse 
gepfercht zu sein und wieder erschien mir, wie auf jenen Gangen 
durch die City mit meiner Mutter das Alleinsein als der einzig men- 
schenwiirdige Zustand. Sehr begreiflich, denn so eine Schiilermasse 
ist von den gestaltlosesten und unwiirdigsten eine und verrat ihre 
biirgerliche Natur schon darin, dafi sie wie jede Ansammlung dieser 
Klasse in unsern Tagen die rudimentarste Organisationsform dar- 
stellt, die ihre einzelnen Glieder ihrem gegenseitigen Verhaltnis 
geben konnen. Die Gange mit den Klassenzimmern, die dann end- 
lich vor einem lagen, gehoren zu den Schrecknissen, die sich am 
festesten bei mir eingenistet haben, in meine Traume namlich, die 
an der Monotonie, dem kalten Stumpfsinn, der einen beim jedesma- 
ligen Uberschreiten der Klassenschwelle erfafite, Rache genommen 
haben, indem sie Schauplatz der exzentrischsten Vorgange werden. 
Oft dient als Folie die beriihmte Angst, man miisse das Abitur noch 
ein zweites Mai (unter schlechtern Bedingungen) nachholen und 
nichts als Ubermut oder Leichtsinn hatte mich in diese Lage ver- 
setzt. Unzweifelhaft eignen sich diese Raume zu traumhafter Ver- 
gegenwartigung, etwas von ihr hat selbst die niichterne Erinnerung, 
in der mir die Steinstufen, die ich taglich fiinfmal oder ofter noch 
hinaufhasten muftte, einen feuchten Schweiftgeruch absondern. Die 
Schule, die aufierlich gut instand war, gehorte durch Architektur 
und Lage zu den trostlosesten. Sie entsprach ihrem Wahrzeichen, 
einem Gipsstandbild Kaiser Friedrichs, das in einer abgelegnen, 
von den kriegspielenden Horden freilich bevorzugten Ecke des 
Hofes klein und kummerlich vor einer Brandmauer abgestellt war. 
Eine Schullegende hat es, wenn ich nicht irre, als Stiftung bezeich- 
net. Dieses Denkmal wurde, zum Unterschied von den Klassen- 
zimmern nie gewaschen und eine ansehnliche Schicht von Schmutz 
und von Ruft hat sich im Laufe der Jahre dariibergelegt. Es steht 
noch heute an seinem Bestimmungsort. Der Rufi aber regnet darauf 
tagtaglich aus den passierenden Stadtbahnziigen herab. Garnicht 
unmoglich, dafS meine eingewurzelte Abneigung gegen die Stadt- 
bahn auf diese Zeit zuriickgeht, da mir jeder, der an ihren Fens tern 
saft beneidenswert erschien. Ihm hatte die Schuluhr, die iiber 
unsern Kopfen herrschte, nichts zu sagen und ohne es auch nur zu 
ahnen, durchschnitt er unsern unsichtbar gegitterten Stundenkafig. 



474 Autobiographische Schriften 

Sehen konnte man Ihn iibrigens nur in den Pausen, denn die Fenster 
der Klassenzimmer bestanden in ihrem untern Teile aus Milchglas. 
»Wandernde Wolken, Segler der Liifte« hatte fur uns die vollendete 
Prazision, die dieser Vers fur Gefangene nun einmal hat. Imubrigen 
ist mir gerade aus den eigentlichen Klassenzimmern nicht vieles 
gegenwartig geblieben aufier diesen genauen Gefangnenemblemen: 
namlich den Milchglasscheiben und den infamen holzgeschnitzten 
Supraporten in Zinnenform. Ich wiirde mich nicht wundern, wenn 
man mir erzahlte, auch die Schranke hatten solche Bekronungen 
besessen, ganz von den Kaiserbildern an den Wanden zu schwei- 
gen. Heraldischer und ritterlicher Stumpfsinn prunkte wo nur 
immer moglich. In der Aula aber hatte er sich aufs Festlichste mit 
dem Jugendstile verbunden. Ein plumpes extravagantes Ornament 
zog sich mit starren graugriinen Gliedern iiber der Tafelung ihrer 
Wande dahin. Gegenstandliche Beziige konnte man ebensowenig 
wie historische in ihm finden; nirgends bot es dem Auge die minde- 
ste Zuflucht, wahrend das Ohr dem Geschepper der narrischen 
Ansprachen hilflos ausgesetzt war. Immerhin, unter diesen Aula- 
Veranstaltungen ist eine wegen der Wirkung vielleicht merkwiirdig, 
die sie Jahre lang auf mich ausiibte. Das war die Abschiedsfeier fur 
die Abiturienten. Hier finde ich, wie an einigen andern Stellen, in 
meinem Gedachtnis streng fixierte Worte, Ausdriicke, Verse, die 
wie eine bildsame spater aber erkaltete Masse den Abdruck des 
Zusammenstofles zwischen einem grofiern Kollektiv und mir in 
sich bewahrt haben. Wie eine gewisse Art bedeutsamer Traume in 
Worten das Erwachen iiberdauert, wenn sonst schon alle iibrigen 
Trauminhalte sich verfliichtigt haben, so sind hier isolierte Worte 
als Male katastrophaler Begegnungen stehen geblieben. Zu ihnen 
gehort jenes, mit dem fur mich sich (die) gesamte Atmosphare der 
Schule verdichtet hat; ich horte es, als ich zum ersten Male, nach- 
dem ich vorher nur privaten Unterricht bekommen hatte und pro- 
behalber eines Vormittags in die spatere Kaiserfriedrichschule - die 
aber damals noch in der Passauerstrafie lag - geschickt worden war. 
Es haftet dieses Wort noch heute fur mich an einer tragen, dicken 
unschonen Jungensfigur und es lautete: Leithammel. Weiter ist von 
diesem friihesten Schulerlebnis nichts iibrig. Etwas ahnliches wie- 
derholte sich aber ungefahr sechs Jahre spater als ich meinen ersten 
Tag unter befremdlichen und bedrohlichen Verhaknissen in Hau- 
binda verlebte und da von einem mir f eindlich und rude erscheinen- 



Berliner Chronik 475 

den langen Jungen - er spielte keine kleine Rolle in der Klasse - die 
Frage an mich gerichtet wurde, ob mein Alter schon weg sei. Mir 
war diese gelaufige Vokabel der Schiilersprache ganz unbekannt. 
Ein Abgrund tat sich vor mir auf, den ich mit einem biindigen Pro- 
test zu uberbriicken trachtete. Hier in der Aula nun waren es die 
Verse mit denen das vom Schulerchor den Abiturienten gesungene 
Abschiedslied begann: »Bruder nun zuletzt/geben wir dir jetzt/auf 
die Wandrung das Geleite« es folgte dann noch etwas mit »treu zur 
Seite« - diese Verse jedenfalls waren es, die mir alljahrlich das Mafi 
meiner Schwache zu nehmen erlaubten. Denn so greifbar dieser 
verruchte Schulbetrieb mir taglich vor Augen lag: d(ie) Melodie 
dieses Liedes schien mir den Abschied von dieser Hdlle mit unend- 
licher Wehmut zu umgeben. Als es dann freilich eines Tages an 
mich und meine Klasse gerichtet wurde, mufi es glimpflicher an mir 
voriibergegangen sein, denn ich weifi nichts mehr davon. Bemer- 
kenswerter ist ein anderer Vers, der als ich ihn einmal im Neben- 
raum der Turnhalle beim Ankleiden nach der Stunde hone, mir 
unvergefilich blieb. Warum? Vielleicht weil »Schulze« - so hiefi der 
schnoddrige Junge, der ihn wufite, ganz hubsch war, vielleicht weil 
er mir richtig schien, am wahrscheinlichsten, weil er der Situation in 
der er fiel, dem iiberstiirzten militarischen Gehaben, so hochst 
angepafit war. »Eile nie und haste nie/dann haste nie/Neurasthe- 



Vor allem denke man nicht, dafi da von einer Markt- Halle die Rede 
war. Nein, man sprach »Mark-Talle« und wie diese beiden Worter 
in der Gewohnheit des Sprechens verschlissen waren, dafi keines 
seinen urspriinglichen »Sinn« beibehielt, so waren in der Gewohn- 
heit dieses Ganges verschlissen alle Bilder, die er bot, so dafi ihrer 
keines sich dem urspriinglichen Begriff von Einkauf oder Verkauf 
darbietet. 

Wenn ich ein besseres Deutsch schreibe als die meisten Schriftsteller 
meiner Generation, so verdanke ich das zum guten Teil der zwan- 
zigjahrigen Beobachtung einer einzigen kleinen Regel. Sie lautet: 
das Wort »ich« nie zu gebrauchen, aufSer in den Briefen. Die Aus- 
nahmen, die ich mir von dieser Vorschrift gestattet habe, liefien sich 
zahlen. Das hat nun eine sonderbare Folge gehabt, die mit diesen 
Notizen aufs engste zusammenhangt. Als namlich eines Tages der 



4j6 Autobiographische Schriften 

Vorschlag an mich herantrat, fiir eine Zeitschrift eine Folge von 
Glossen iiber alles was mir an Berlin von Tag zu Tag bemerkenswert 
erscheine in loser, subjektiver Form zu geben - und als ich einschlug 
- da stellte sich mit einem Mai heraus, dafi dies Subjekt, das jahre- 
lang im Hintergrund zu bleiben war gewohnt gewesen, sich nicht so 
einfach an die Rampe bitten liefi. Aber weit entfernt, Protest einzu- 
legen, hielt es sich vielmehr an die List und so erfolgreich, dafi ich 
einen Ruckblick auf das, was Berlin im Laufe der Jahre fiir mich 
geworden war, fiir das gegebne »Vorwort« solcher Glossen hielt. 
Wenn nun dies Vorwort schon im Umfang weit iiber jenen Raum 
hinausgeht, der den Glossen vorgesehen war, so ist es nicht nur das 
geheimnisvolle Werk der Erinnerung - die eigentlich das Vermogen 
endloser Interpolationen im Gewesenen ist - sondern zugleich die 
Vorkehrung des Subjekts, das von seinem »ich« vertreten, nicht 
verkauft zu werden, fordern darf. Es gibt aber in Berlin eine 
Gegend, mit der dies Subjekt tiefer als mit jeder andern, die es 
bewufit in ihr erlebte, verbunden ist. Gewift hat es Stadtgegenden 
gegeben, in denen ihm gleich tiefe oder gleich erschiitternde Erfah- 
rungen zu machen bestimmt war, aber in ihrer keiner hat sich so 
unlosbar die Gegend selber ins Geschehen eingemischt. Die 
Gegend, von der ich hier spreche, ist das Tiergartenviertel. Dort 
war in einem hinteren Fliigel von einem der Hauser die der Stadt- 
bahmiberfuhrung zunachst stehen, das »Heim«. Das war eine 
kleine Wohnung, die ich in Gemeinschaft mit dem Studenten Ernst 
Joel gemietet hatte. Wie wir uns dazu vereinigt hatten, kann ich 
nicht mehr erinnern; ganz einfach wird es schwerlich gewesen sein, 
denn die Studentengruppe »fiir soziale Arbeit«, die von Joel geleitet 
wurde, war wahrend des Semesters, in dem ich den Vorsitz der ber- 
liner freien Studentenschaft inne hatte, ein Hauptziel meiner 
Angriffe und eben als Fiihrer dieser »Sozialen Gruppe« hatte Joel 
den Mietvertrag unterzeichnet, wahrend mein Beitrag die Rechte 
des »Sprechsaals« auf das Heim sicherstellte. Die Aufteilung der 
Raume zwischen den beiden Gruppen - mag sie von raumlichem 
oder von zeitUchem Charakter gewesen sein - war sehr scharf und 
in jedem Falle spielte damals fiir mich nur die Gruppe des Sprech- 
saals eine Rolle. Meinem Mitkontrahenten Ernst Joel stand ich 
fremd gegeniiber und ich ahnte noch nicht, welchen zauberischen 
Aspekt der Stadt gerade er mir, fiinfzehn Jahre danach, eroffnen 
sollte. So taucht an dieser Stelle sein Bild nur auf als Antwort auf die 



Berliner Chronik 477 

Frage, ob vierzig Jahre nicht ein zu fruhes Alter sei, die wichtigsten 
Erinnerungen des eignen Lebens heraufzurufen. Denn dieses Bild 
ist nun schon das von einem Toten, und wer weift, wie er mir den 
Ubergang iiber diese Schwelle, mit der Erinnerung, sei es auch ans 
aufierlichste oder oberflachlichste, hatte erleichtern konnen. Zu 
dem andern hatte er keinen Zutritt und unter alien die ihn einmal 
hatten, bin ich als einziger zurtickgeblieben. Nie hatte ich gedacht, 
ich wurde ihn auf diesem Wege - dem topographischen - je wieder 
suchen. Wenn ich mir aber jetzt den ersten Anlauf wieder ins 
Gedachtnis rufe, den ich - es ist nun langer als zehn Jahre - in dieser 
Richtung machte, so fallt der Vergleich zu gunsten dieses jungern 
und bescheidneren aus. Das war damals in Heidelberg und gewift in 
selbstvergefiner Arbeit, dafi ich es versuchte, die Gestalt meines 
Freundes Fritz Heinle, um die all jene Geschehnisse im Heim sich 
ordnen und mit dem sie verschwinden, in einer Betrachtung iiber 
das Wesen der Lyrik zu beschworen. Fritz Heinle war Dichter und 
unter alien der einzige, dem ich nicht »im Leben« sondern in seiner 
Dichtung begegnet bin. Er ist mit neunzehn Jahren gestorben und 
man konnte ihm nicht anders begegnen. Aber dennoch, dieser erste 
Versuch, den Raum seines Lebens in dem der lyrischen Poesie zu 
beschworen, war umsonst und das Unmitteilbare der Erfahrung, 
aus der der Vortrag erwachsen war, in dem ich das unternahm kam 
im Unverstandnis und im Snobismus der Horer, die ihn im Hause 
von Marianne Weber horten, in ihre Rechte unbezwinglich ein. 
Soviel blasser seitdem die Erinnerung wurde, sowenig ich noch von 
den Raumen im »Heim« mir deutlich Rechenschaft geben kann, mir 
scheint heut dennoch der Versuch, dem Toten den aufiern Raum, in 
dem er lebte, ja das Zimmer, in welchem er »gemeldet« war, nach- 
zuzeichnen, befugter als den geistigen zu umfassen, in welchem er 
dichtete. Vielleicht aber ist das auch nur, weil er in diesem letzten, 
wichtigsten Jahre seines Lebens den Raum durchschnitt, in dem ich 
geboren bin. Heinles Berlin war zugleich das Berlin des »Heims«. 
Er wohnte in diesen letzten Zeiten in dessen nachster Nahe, in 
einem Zimmer im vierten Stockwerk eines Hauses in der Klop- 
stockstrafte. Dort habe ich ihn einmal besucht. Es war nach einer 
langen Trennung, der ein schweres Zerwurfnis zugrunde lag. Noch 
heute aber entsinne ich mich des Lachelns, das mir das Ungeheure 
dieser ganzen Trennungswochen aufwog und mit dem (er) eine, 
wahrscheinlich fast belanglose Wendung zu einem Zauberspruche 



478 Autobiographische Schriften 

machte, welcher den Verletzten heilte. Spater - als der Morgen 
gekommen war, zu dem ein Eilbrief mich mit den Worten geweckt 
hatte: »Sie werden uns im Heim liegen finden« - als Heinle und 
seine Freundin gestorben waren, blieb diese Gegend noch eine 
Weile die Mitte fur die Begegnungen der Uberlebenden. Heute aber 
ist sie, wenn ich sie mit ihren altmodischen Etagenhausern, ihren 
vielen im Sommer bestaubten Baumen, den schwerfalligen Eisen- 
und Steinkonstruktionen der Stadtbahn, die sich durch sie hin- 
durchziehn, den wenigen, in grofien Abstanden verkehrenden 
Elektrischen, dem trage bewegten Wasser des Landwehrkanals, der 
sie von den proletarischen Quartieren Moabits abschlofi, den 
pmnkvollen aber nie betretnen Baumgruppen des Schlofiparks Bel- 
levue und den unsagbar gemeinen Jagdgruppen, die am grofien 
Stern ihre Zufahrt flankieren, mir in Erinnerung rufe - heut ist mir 
diese raumliche Stelle, in der wir damals zufallig unser Heim eroff- 
neten, der strengste bildliche Ausdruck fur die geschichtliche, die 
diese letzte wirkliche Elite des biirgerlichen Berlin einnahm. Sie 
stand dem Abgrund des grofien Krieges so nahe wie ihr Heim dem 
steilen Abfall des Landwehrkanals, sie war scharf von der proletari- 
schen Jugend getrennt wie die Hauser dieser Rentnerviertel von 
denen Moabits, und sie waren letzte ihres Stammes wie die Bewoh- 
ner jener Etagenhauser die letzten gewesen waren, die die fordern- 
den Schatten der Enterbten mit philanthropischen Zeremonien 
beschworen konnten. Dennoch - oder gerade deswegen - ist soviel 
sicher, dafi zu keiner spateren Zeit die Stadt Berlin selbst in mein 
Dasein so machtig eingegangen ist, wie in jener Epoche, da wir sie 
selber glaubten unberuhrt lassen zu konnen, um nur die Schulen in 
ihr zu verbessern, nur die Unmenschlichkeit der Eltern ihrer Zog- 
linge zu brechen, nur den Worten Holderlins oder Georges in ihr 
ihren Platz zu geben. Es war ein aufierster, heroischer Versuch, die 
Haltung der Menschen zu verandern ohne ihre Verhaltnisse anzu- 
greifen. Wir wufiten nicht, dafi er scheitern mufite, aber kaum einer 
war unter uns, den solches Wissen umzustimmen vermocht hatte. 
Und heute so gut wie damals, wenn auch aus sehr andern Uberle- 
gungen heraus, verstehe ich, dafi die »Sprache der Jugend« im Mit- 
telpunkt unserer Vereinigungen stehen mufite. Auch weifi ich heute 
keinen wahreren Ausdruck unserer Ohnmacht als jenen Kampf, der 
uns damals als der Hohepunkt unserer Kraft und unseres Ubermu- 
tes erschienen ist, wenn auch selten fuhlbarer als an diesem Abend 



Berliner Chronik 479 

der Schatten des Untergangs war, den das Unverstandnis der Bei- 
wohnenden auf uns geworfen hat. Ich denke hier an Heinle und 
mich, die wir an einem Abend der Aktion zu Worte kamen. 
Urspriinglich vorgesehen war nur eine Rede von mir und sie war 
betitelt »Die Jugend«. Es war mir selbstverstandlich, daft ihr Text 
bevor er verlesen wurde, in unserm engsten Kreise bekannt wurde. 
Kaum war das aber geschehen, so erhob Heinle Einspruch. Sei es, 
daft er selbst reden, sei es daft (er) mir Anderungen zumuten 
wollte, welche ich ablehnte - es kam zu einem heftigen Streit und 
wie immer bei solchen Anlassen war es die ganze Existenz der Strei- 
tenden, die eingesetzt wurde - an Heinles Seite die jiingste jener drei 
Schwestern, um die die wichtigsten Geschehnisse damals gravitier- 
ten als stellte das Beisammenleben einer jiidischen Witwe mit ihren 
drei Tochtern, fiir eine Gruppe, welcher es mit der Vernichtung der 
Familie ernst war, den gegebnen Stiitzpunkt dar. Kurz, jenes Mad- 
chen bestarkte den Freund in seinen Anspruchen(.) Aber auch ich 
selber wollte nicht zuriicktreten. So kam es, daft an jenem Abend 
der »Aktion« vor einem staunenden, doch wenig gewogenen Publi- 
kum zwei Reden gleichen Titels und von fast gleichem Wortlaut 
verlesen wurden, und in der Tat, der Spielraum jener »Jugendbewe- 
gung« war nicht grofter als der, den die Niiancen dieser Reden zwi- 
schen sich beschlossen. Wenn ich heute an diese beiden Reden 
zuriickdenke, so mochte ich sie den aneinanderschlagenden Inseln 
der Argonautensage vergleichen, den Symplegaden, zwischen 
denen kein Schiff heil hindurchkommt und, damals, ein Meer von 
Liebe und von Haft seine Wogen warf, - Versammlungen der biir- 
gerlichen Intelligenz sind damals sehr viel haufiger gewesen als 
heutzutage, da sie noch nicht ihre Schranken erkannt hatte. Wir 
aber diirfen sagen, daft wir diese Schranken fuhlten, wenn auch 
noch lange dariiber vergehen sollte, bis die Erkenntnis reif war, daft 
niemand Schule und Elternhaus verbessern (kann), der den Staat 
nicht zertriimrnert, welcher die schlechten braucht. Wir fuhlten 
diese Schranken, wenn wir unsere Sprechsale, in denen die Jiingern 
liber die Brutalitaten sprachen, die sie zu Hause zu erdulden hatten, 
in Salons abhielten, die wir der Freundlichkeit von Eltern dankten, 
die doch im Grunde garnicht anders als jene dachten, gegen die wir 
uns wenden wollten. Wir fuhlten sie, wenn wir Alteren unsere lite- 
rarischen Abende in Kneipenzimmern abhielten, die keinen Augen- 
blick vor den bedienenden Kellnern sicher waren, wir fuhlten sie, 



480 Autobiographische Schriften 

wenn wir unsere Freundinnen in moblierten Zimmern empfangen 
mufiten, die wir nicht wagen durften, abzuschliefien, wir fiihlten sie 
in den Verhandlungen mit Saalbesitzern und Portiers, mit Ver- 
wandten und Vormundern. Und als dann schliefilich, nach dem 
achten August 19 14 die Tage kamen, da die unter uns, die denToten 
am engsten verbunden waren, sich nicht mehr von einander trennen 
wollten, bis sie beerdigt waren, da fiihlten wir sie in der Schmach, 
nur in einem zweideutigen Bahnhofshotel am Stuttgarter Platz eine 
Zuflucht finden zu kdnnen. Selbst der Friedhof bewies uns die 
Grenze(n ) , die allem, was uns am Herzen lag, von der Stadt gesetzt 
waren: es war unmoglich, den beiden, die gemeinsam gestorben 
waren, ein Grab auf einem und demselben Friedhof zu verschaffen. 
Aber das waren Tage, welche mich fur die Einsicht reif machten, 
der ich spater begegnete{,) und die mir die Uberzeugung gaben, 
dafi auch die Stadt Berlin nicht um die Narben eines Kampfes um 
die bessere Ordnung herumkommen wird. - Komme ich heute 
zufallig durch die Strafien des Viertels, so betrete ich sie mit der 
gleichen Beklommenheit wie eine Bodenkammer, in die man seit 
Jahren nicht mehr gekommen ist. Es mag da wohl noch Wertvolles 
drinnen stehen aber niemand kennt sich mehr darin aus. Und wirk- 
lich ist dies tote Viertel mit seinen hohen Mietshausern heute der 
Abstellraum des Biirgertums aus dem Westen. 

Dies war die Zeit, in der die berliner Cafes fiir uns eine Rolle spiel- 
ten. Ich entsinne mich noch des ersten, das ich mit Nachdruck in 
mich aufgenommen habe. Das war viel friiher, unmittelbar nach 
meinem Abiturium. Heute besteht das Viktoriacafe, in dem damals 
gegen drei Uhr morgens der erste gemeinsame Bummel zu Ende 
ging, nicht mehr. An seiner Stelle - Ecke Friedrichstrafie und Lin- 
den - ist eines der larmenden Luxuscafes von Neu-Berlin getreten, 
gegen welches dies friihere, so luxurios es auch zu seiner Zeit gewe- 
sen sein mag, sich mir mit allem Zauber der Liister-Zeit, der Spie- 
gel-Moden und des Pliisch- Comforts abhebt. Dieses alte Cafe Vik- 
toria war damals unsere letzte Station und wir erreichten sie wohl 
nur noch als kleiner Zirkel. Es wird schon mehr als halb leer gewe- 
sen sein - jedenfalls kann ich unter den Schleiern, die heute vor 
diesem Bilde liegen, niemanden mehr erkennen als einige Huren, 
die das weite Cafe fiir sich allein zu haben schienen. Wir blieben 
nicht lange und ich weifi nicht, ob ich das Viktoriacafe, das nicht 



Berliner Chronik 481 

lange danach verschwunden sein mufi, noch einmal betreten habe. 
Noch war die Zeit nicht gekommen, in der der Caf ebesuch mir zum 
taglichen Lebensbedurfnis wurde und schwerlich ist es Berlin gewe- 
sen, das dieses Laster in mir grofigezogen hat, so gut es sich auch 
spater den Lokalen dieser Stadt hat anpassen konnen, welche ein 
viel zu angestrengtes und bewufites Genufileben fiihrt, um wirkli- 
che Cafehauser zu kennen. Unser erstes Cafe war denn auch viel- 
mehr ein strategisches Quartier als ein Ort der Siesta. Und damit ist 
es bereits unverwechselbar bezeichnet: Bekanntlich ist das Haupt- 
quartier der Boheme bis in die ersten Jahre des Krieges hinein das 
alte Cafe des Westens gewesen. In diesem Cafe war es, dafi wir in 
den allerersten Augusttagen beieinandersafien und unter den Kaser- 
nen, auf die sich der Ansturm der Freiwilligen richtete, unsere Wahl 
trafen. Sie fiel auf die der Kavallerie in der Bellealliancestrafte und da 
trat ich dann auch an einem der folgenden Tage an - keinen Funken 
Kriegsbegeisterung im Herzen, aber so reserviert ich in meinen 
Gedanken war, denenzufolge es sich einzig darum handeln konnte, 
bei der unvermeidlichen Einziehung sich seinen Platz unter Freun- 
den zu sichern, in dem Schwall von Leibern, der sich damals vor den 
Toren der Kasernen staute, war auch meiner. Freilich nur fiir zwei 
Tage. Am achten trat dann das Ereignis ein, das diese Stadt und 
diesen Krieg auf lange Zeit fiir mich versinken liefi. Oft habe ich 
Heinle im Cafe des Westens gesehen. Wir hatten unsere Verein- 
barungen dort meistens spat, gegen zwolf Uhr. Ich kann nicht 
eigentlich sagen, dafi wir zur literarischen Boheme, die dort tagte, 
oder auch nachtigte, enge Beziehungen hatten, wir waren eine 
Gruppe fiir uns, die Welt unserer »Bewegung« war eine andere als 
die der Emanzipierten, welche uns dort umgaben und es gab nur 
fliichtige Beriihrungen mit ihnen. Ein Mittelsmann zwischen bei- 
den war eine Zeitlang Franz Pfemfert, der Herausgeber der Aktion; 
unsere Beziehungen zu ihm waren rein machiavellistischer Art. 
Auch Else Lasker-Schuler zog mich einmal an ihren Tisch; Wieland 
Herzfelde, damals ein junger Student war dort zu sehen, Simon 
Guttmann, von dem noch die Rede sein wird, aber damit ist diese 
Aufzahlung schon bis an die Grenze unserer engeren Welt gekom- 
men. Ich glaube, daft sie dem Cafe fremd war; die fieberhafte Kon- 
zentration, in die uns die Sorge um soviele einander konkurrierende 
Aktionen versetzte(,) die Organisierung der Freien Studenten- 
schaft und die Entwicklung der Sprechsale, die Ausarbeitung unsrer 



482 Autobiographische Schriften 

Vortrage in grofieren Schulerversammlungen, die Hilfe fur be- 
drangte Kameraden, die Sorge um solche, die durch Verwicklungen 
in Freundschafts- oder Liebessachen gefahrdet waren - schied uns 
von der saturierten, geltungsbewufiteren Boheme ab, die uns 
umgab. Heinle kannte wohl diesen und jenen aus ihr naher, etwa 
den Maler (Ludwig) Meidner, der ihn gezeichnet hat, aber diese 
Beziehung blieb fiir uns unfruchtbar. In der Schweiz las ich dann 
eines Tages, das Cafe des Westens sei geschlossen worden. Sehr 
heimisch war ich darinnen nie. Damals besafi ich noch nicht jene 
Leidenschaft des Wartens, ohne die man die Annehmlichkeiten 
eines Cafes nicht griindlich empfinden lernt. Und wenn ich mich 
eines nachts auf dem Sofa, das um einen der Mittelpfeiler gebaut 
war, in dem rauchigen Raum warten sehe, so war es wohl eher ein 
fieberhaftes auf den Ausgang einer Verhandlung im Sprechsaal oder 
auf einen der Unterhandler, die in Aktion traten, wenn die Span- 
nungen wieder einmal einen unertraglichen Grad erreicht hatten. 
Sehr viel vertrauter wurde mir das benachbarte Cafe, dessen 
Anfange noch in die Zeit fallen, von der ich hier spreche. Das ist das 
Prinzeficafe. Man wird beim Versuch einer »Physiologie der Cafe- 
hauser« die erste, oberflachlichste Gruppierung in Berufs- und 
Vergniigungslokale vornehmen. Wenn man nun aber von den auf- 
dringlichsten, industriell betriebnen Vergnugungsetablissements 
absieht, so wird man sehr bemerken, dafi in der Geschichte der mei- 
sten Lokale die beiden Funktionsarten sich iiberdecken. Ein beson- 
ders greifbares Beispiel bietet dafiir die Geschichte des romanischen 
Cafes gerade vom Zeitpunkt ab, da der Besitzer des Cafes des 
Westens seine Stammgaste vor die Tiir setzte. Sehr bald nahm das 
romanische Cafe die Boheme auf und in den unmittelbar auf den 
Krieg folgenden Jahren konnte sie sich in ihm als Herr des Hauses 
fuhlen. Der legendare, nun schon tote, Zeitungskellner Richard - 
ein Buckliger, der wegen seines schlechten Leumunds in diesen 
Kreisen in Ehren gehalten wurde - war das Emblem ihrer Herr- 
schaft. Als die Konjunktur in Deutschland von neuem anstieg, ver- 
lor die Boheme zusehends die bedrohliche Atmosphare, die sie 
noch in den Zeiten der expressionistischen Revolutionsmanifeste 
umwittert hatte. Der Burger revidierte sein Verhaltnis zu den Insas- 
sen des Cafe Grofienwahn (so wurde das Romanische Cafe bald 
genannt{)) und fand alles beim Alten. In diesem Augenblick 
begann die Physiognomie des Romanischen Cafes sich zu andern. 



Berliner Chronik 483 

Die »Kiinstler« traten in den Hintergrund, um mehr und mehr ein 
Teil des Inventars zu werden und die Bourgeoisie - vertreten durch 
Bdrsianer, Manager, Film- und Theateragenten, literarisch interes- 
sierte Kommis - begannen den Platz - und zwar als ein Vergnii- 
gungslokal - zu besetzen. Denn zu den primitivsten und unent- 
behrlichsten Zerstreuungen des Grofistadtbiirgers, der tagaus 
tagein inmitten einer unendlich vielgestaltigen gesellschaftlichen 
Umwelt in das Sozialgefiige seines Biiros und seiner Familie 
gesperrt ist - gehort in eine andere Umwelt einzutauchen, je exoti- 
scher sie ist, umso besser. Daher die Kiinstler-, die Verbrecherlo- 
kale. Der Unterschied der beiden ist in dieser Hinsicht nur gering. 
Die Geschichte der berliner Lokale ist zum guten Teil die der Publi- 
kumsschichten unter denen die, welche das Parkett eroberte all- 
mahlich nachriickenden den Platz zu raumen und die Biihne zu 
betreten haben (sic). Eine solche Biihne war fur Heinle und mich 
das Prinzefkafe, das wir als Inhaber von Logenplatzen zu betreten 
pflegten. Das ist beinahe wortlich zu nehmen: denn dies, von 
Lucian Bernhard, einem damals sehr gesuchten Innenarchitekten 
und Plakatzeichner - entworfene Cafe stellte seinen Besuchern eine 
Fiille lauschiger Buchten oder Logen zur Verfugung, es stand 
geschichtlich in der Mitte zwischen den Chambres separees und den 
Mokkadielen. Welchem Berufsstand dementsprechend dies Lokal 
in erster Linie diente, ist damit klar. Und wenn wir es betraten, ja 
eine Zeitlang zu unserm Stammlobal machten, so war es sicher der 
Kokotten wegen. Heinle schrieb damals »Prinzefi-Cafe.« »Turen 
fiihren Kiihle iiber durch Gesang«. Wir hatten nicht die Absicht 
Bekanntschaften in diesem Cafe (zu) machen. Im Gegenteil - was 
uns hier anzog, war, in eine Umwelt eingeschlossen zu sein, die uns 
isolierte. Jede Abgrenzung gegen die literarischen Zirkel der Stadt 
war uns recht. Diese allerdings mehr als jede andere. Und das hing 
in der Tat mit den Kokotten zusammen. Aber das fiihrt in eine 
unterirdische Schicht dieser Jugendbewegung hinein, zu der der 
Zugang sich in einem Atelier in Halensee befand, dessen wir uns 
spater erinnern werden. Es ist gut moglich, dafi S. G(uttmann), 
sein Bewohner, auch hier bisweilen mit uns zusammentraf. Im 
Gedachtnis geblieben ist mir das nicht, wie iiberhaupt an dieser 
Stelle mehr als anderswo die Menschen gegen das Lokal zuriicktre- 
ten und keiner unter ihnen mir so gegenwartig ist, wie ein verlafiner, 
ungefahr kreisformiger, mit violettem Tuche ausgespannter und 



484 Autobiographische Schriften 

violett beleuchteter Raum der oberen Etage, in dem immer eine 
ganze Anzahl von Platzen leer war, indessen auf andern Liebes- 
paare sowenig Raum wie nur moglich einnahmen. Ich nannte diesen 
Zirkel »die Anatomie«. Spater, als diese Periode langst abgeschlos- 
sen war, safi ich dort lange Abende in der Nahe irgend einer Jazz- 
bandkapeile und schrieb, meine Blatter und Zettel unauffallig zu 
Rate ziehend, an meinem »Ursprung des deutschen Trauerspiels«. 
Als eines Tages eine neue »Renovierung« einsetzte, und aus dem 
Prinzcafe das Cafe Stenwyk machte, gab ich es auf. Jetzt ist es bis zu 
einer Bierrestauration herabgesunken. 

Nie mehr hat Musik etwas so Entmenschtes, Schamloses besessen, 
als die der beiden Blechkapellen, die den Strom von Menschen tem- 
perierten, der sich zwischen den Kaffeerestaurationen des Zoo die 
Lasterallee entlangschob. Heute erkenne ich, was die Gewalt dieser 
Stromung ausmachte. Fur den Grofistadter gibt es keine hohere 
Schule des Flirts als diese, die umgeben war von Sandplatzen der 
Gnus und der Zebras, den kahlen Baumen und Rissen auf denen die 
Aasgeier und die Kondore nisteten, den stinkenden Wolfsgattern 
und den Brutplatzen der Pelikane und Reiher. Die Rufe und die 
Schreie dieser Tiere mischten sich mit in den Larm der Pauken und 
des Schlagzeugs. Das war die Luft, in welcher zum erstenmal der 
Blick eines Knaben auf eine Voriibergehende fiel, wahrend er um so 
eifriger zu seinem Freunde sprach. Und so grofi war die Miihe, 
weder in Blick noch Stimme sich zu verraten, dafi er nichts von ihr 
sah. 

Damals hatte der Zoologische Garten noch einen Eingang an der 
Lichtensteinbriicke. Von alien dreien war er der am wenigsten 
belebte, er fuhrte auch in seinen abgestorbensten Teil: die Allee, auf 
welche er miindete, ahnelte mit den milchweifien Kugeln ihrer Kan- 
delaber irgend einer verlafinen Brunnenpromenade von Wiesbaden 
oder Pyrmont und ehe die Wirtschaftskrise diese Kurorte so ver- 
odet hatte, dafi sie altertumlicher als romische Thermen erscheinen, 
hatte dieser tote Winkel des Zoologischen Gartens ein Bild des 
Bevorstehenden, also ein weissagender WinkeL Man mufi es fur 
gewifi halten, dafi es solche gibt, ja wie es Pflanzen gibt, von denen 
die Primitiven behaupten, dafi sie ihnen die Kraft geben, in die 
Ferae zu sehen, so gibt es Orte, die solche Kraft an sich haben: 



Berliner Chronik 485 

verlassene Promenaden konnen es sein, auch Wipfel, besonders 
stadtischer Baume, die gegen die Mauern stehen, Bahnhofschran- 
ken und vor allem die Schwellen, die geheimnisvoll zwischen Bezir- 
ken der Stadt sich erheben. Im Grunde war eine solche Schwelle 
auch das Lichtensteinportal, die zwischen den beiden westlichen 
Parks, Es war als setzte in beiden, an der Stelle wo sie sich am nach- 
sten waren, das Leben aus. Und noch fuhlbarer wurde diese alltagli- 
che Verlassenheit fur den, der sich der glanzenden Auffahrt erin- 
nerte, die in den Ballnachten, einige Jahre lang von einem Portal der 
Adlersale zu sehen war, aber jetzt ebenso aufier Gebrauch geraten 
ist wie das, langst geschlossene, Portal. 

Wie ganzlich hiervon (der Musik des Zoo) unterschieden war eine 
andere Parkmusik, die mir schon friiher zu erklingen begonnen 
hatte. Sie kam von der Rousseau-Insel und beschwingte die Schlitt- 
schuhlaufer des Neuen Sees zu ihren Schleifen und Bogen. Ich war 
unter ihnen, lange ehe ich eine Vorstellung von der Herkunft des 
Inselnamens, geschweige denn der Schwierigkeiten seiner Schreib- 
art hatte. Durch ihre Lage war diese Eisbahn keiner andern zu ver- 
gleichen und mehr noch durch ihr Leben in den Jahreszeiten. Denn 
was machte der Sommer aus den iibrigen? Tennisplatze. Hier aber 
erstreckte sich unter den weit iiberhangenden Asten der Uferbaume 
ein See, an den labyrinthische Wasserlaufe sich schlossen und nun 
glitt man unter den kleinen geschwungnen Briicken hindurch, auf 
deren Briistung oder an deren von Ldwenmaulern getragnen Ketten 
gelehnt man im Sommer dem Gleiten der Boote in dem dunklen 
Wasser zugesehen hatte. Verschlungne Wege gab es in der Nahe des 
Sees und vor allem die zartlichen Asyle einsamer Alter, Banke »Nur 
fur Erwachsene« am Rande des Sandhaufens mit seinen Kuten und 
Graben, an denen die Kleinen buddeln oder vor denen sie sinnend 
stehen bis einer sie anstofk oder von der gebietenden Bank her die 
Stimme des Kindermadchens kommt, das hinter dem leeren Wagen 
streng und gelehrig seinen Roman liest und beinah ohne aufzublik- 
ken das Kind in Zucht halt, um nach getaner Arbeit mit dem Frau- 
lein an dem anderen Ende der Bank, die den Kleinen zwischen den 
Knien halt und strickt, zu tauschen. Dahin finden einsame alte 
Manner, bringen den Ernst des Lebens mitten unter dem unver- 
niinftigen Weiberhaufen, zwischen den schreienden Kindern zu 
Ehren: die Zeitung. War die Geliebte endlich nach langem Schlen- 



486 Autobiographische Schriften 

dern in den Wegen des Gartens gegangen, hatte ich keinen liebern 
Platz ihr nachzuhangen als eine Bank ohne Lehne auf diesen Platzen 
und niemals fegte ich den Sand fort, wo ich mich niedersetzte. All 
diese Bilder habe ich bewahrt. Keines aber wiirde den Neuen See 
und ein paar Stunden meiner Kindheit so mir wiedergeben wie noch 
einmal die Takte zu vernehmen, mit denen meine von den Schlitt- 
schuhen beschwerten Fufie nach einem einsamen Streifzug iiber die 
belebte Flache wieder den vertrauten Bretterboden erreichten und 
an den Stollwerckautomaten und dem prachtigern, wo eine Henne 
ein bonbongefulltes Ei legt, voriiber iiber die Schwelle stolperten, 
hinter der der Anthrazitofen gluhte und die Bank stand, auf der man 
nun die Last der Eisenschienen an den Fufien, die noch den Boden 
nicht erreichten, eine Weile auskostete, bevor man sich entschlofl, 
sie abzuschnallen. Bettete man dann langsam den Schenkel aufs 
andere Knie, und schraubte den Schlittschuh los, da war es als hatte 
man anstatt seiner mit einem Mai Fliigel an die beiden Fiifie bekom- 
men und mit Schritten trat man hinaus, die dem gefrorenen Boden 
zunickten. 

Die Sprache hat es unmifiverstandlich bedeutet, dafi das Gedachtnis 
nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern 
deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich 
das Medium ist, in dem die to ten Stadte verschiittet liegen. Wer sich 
der eigenen verschiitteten Vergangenheit zu nahern trachtet, mufi 
sich verhalten wie ein Mann, der grabt. Das bestimmt den Ton, die 
Haltung echter Erinnerungen. Sie diirfen sich nicht scheuen, immer 
wieder auf einen und denselben Sachverhalt zuriickzukommen; ihn 
auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwuhlen wie man 
Erdreich umwuhlt. Denn Sachverhalte sind nur Lagerungen, 
Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, 
was die wahren Werte, die im Erdinnern stecken, ausmacht: die 
Bilder, die aus alien friiheren Zusammenhangen losgebrochen als 
Kostbarkeiten in den nuchternen Gemachern unserer spaten Ein- 
sicht - wie Triimmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers - ste- 
hen. Und gewifi bedarf es, Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, 
eines Plans. Doch ebenso ist unerlafilich der behutsame, tastende 
Spatenstich ins dunkle Erdreich und der betriigt sich selber um das 
Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch dies dunkle 
Gliick von Ort und Stelle des Findens selbst in seiner Niederschrift 



Berliner Chronik 487 

bewahrt. Das vergebliche Suchen gehort dazu so gut wie das gluck- 
liche und daher muE die Erinnerung nicht erzahlend, noch viel 
weniger berichtend vorgehn sondern im strengsten Sinne episch 
und rhapsodisch an immer andern Stellen ihren Spatenstich versu- 
chen, in immer tieferen Schichten an den alten forschend. 

Gewift stehen zahllose Fassaden der Stadt genau wie sie in meiner 
Kindheit gestanden haben; der eignen Kindheit aber begegne ich in 
ihrem Anblick nicht. Zu oft sind meine Blicke seitdem an ihnen 
entlanggestrichen, zu oft sind sie Dekor und Schauplatz meiner 
Gange und Besorgungen gewesen. Und die wenigen, die eine Aus- 
nahme von dieser Regel machen - alien voran die Matthaikirche auf 
dem Matthaikirchplatz - sind vielleicht nur eine scheinbare. Denn 
habe ich den abgelegenen Winkel, wo sie steht, wirklich in meinen 
Kinderjahren haufiger gesehen, ja auch nur gekannt? Ich weift es 
nicht. Was er mir heute sagt, das dankt er wohl durchaus und ganz 
allein dem Bauwerk selbst: der Kirche mit den beiden spitze(n) 
Giebeldachern uber ihren Seitenschiffen und dem gelben und ocker 
Backstein, aus dem sie errichtet ist. Es ist eine altmodische Kirche, 
mit der es steht wie mit manchen altmodischen Bauten; sie wissen 
obwohl sie garnicht mit uns klein gewesen sind, ja uns vielleicht 
nicht einmal kannten als wir Kinder waren, dennoch von unsrer 
Kindheit vieles und wir lieben sie darum, Ganz anders aber wiirde 
ich mich selber in diesem Alter gegenwartig finden, hatte ich den 
Mut, eine gewisse Haustiir zu durchschreiten, an der ich tausend 
und zehntausendmal voriiberfuhr. Eine Haustiir im alten Westen. 
Sie und die Fassade ihres Hauses freilich sagen meinen Augen nichts 
mehr. Die Sohlen waren wohl die ersten, die mir, wenn ich die 
Haustiir hinter mir geschlossen hatte, Meldung brachten, daft sie 
Abstand und Zahl der ausgetretnen Treppenstufen in mir selber 
aufgefunden hatten(,) daft sie auf dieser ausgetretenen Etagen- 
treppe in alte Spuren getreten seien und wenn ich die Schwelle jenes 
Hauses nicht mehr uberschreite ist es die Furcht vor einer Begeg- 
nung mit diesem Innern des Treppenflurs, der in der Abgeschieden- 
heit die Kraft bewahrt hat, mich wiederzuerkennen, welche die 
Fassade langst verlor. Denn er ist mit seinen bunten Scheiben der 
gleiche geblieben, wenn auch im Innern, wo man wohnt, nichts 
mehr beim Alten blieb. Ode Verse erfiillten die Intervalle unseres 
Herzschlags wenn wir erschopft auf dem Absatz zwischen den 



488 Autobiographische Schriften 

Stockwerken innehielten. Sie dammerten oder sie blitzten von 
einer Scheibe, aus der eine Frau mit nufifarbnem Braun mit einem 
Pokal schwebend wie die Raffaelsche Madonna aus einer Nische 
stieg und wahrend die Riemen der Mappe mir in die Schultern 
schnitten, mufite ich lesen: Arbeit ist des Burgers Zierde, Segen ist 
der Miihe Preis. Draufien regnete es vielleicht. Eine der bunten 
Scheiben stand offen und beim Takte der Tropfen ging es weiter 
die Treppe herauf. 

Motto: O braungebackne Siegessaule 

Mit Kinderzucker aus den Wintertagen. 

Ich habe in Berlin nie auf der Strafie gelegen. Die Abendrote habe 
ich gesehen und die Morgenrote, zwischen beiden aber war ich 
unter gekrochen. Nur die wissen von einer Stadt etwas, was ich 
nicht erfahre, denen das Elend oder das Laster sie zu einer Land- 
schaft machte, die sie durchstreifen von Sonnenuntergang bis Son- 
nenaufgang. Ich habe immer ein Quartier gefunden, manchmal 
allerdings war es ein spates und ein unbekanntes dazu, das ich nicht 
wieder bezog und in dem ich auch nicht allein war. Wenn ich so spat 
unter einem Hausbogen innehielt, hatten sich meine Beine in die 
Bander der Strafie verwickelt, und die saubersten Hande waren es 
nicht, die mich freimachten. 

Erinnerungen, selbst wenn sie ins Breite gehen, stellen nicht immer 
eine Autobiographic dar. Und dieses hier ist ganz gewift keine, auch 
nicht fur die berliner Jahre, von denen hier ja einzig die Rede ist. 
Denn die Autobiographic hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit 
dem zu tun, was den stetigen Flufl des Lebens ausmacht. Hier aber 
ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die 
Rede. Denn wenn auch Monate und Jahre hier auftauchen, so ist es 
in der Gestalt, die sie im Augenblick des Eingedenkens haben. 
Diese seltsame Gestalt - man mag sie fliichtig oder ewig nennen - in 
keinem Falle ist der Stoff, aus welchem sie gemacht wird, der des 
Lebens. Und das verrat sich weniger noch an der Rolle, die hier 
mein eignes Leben spielen wird, als der der Menschen, die in Berlin 
- wann immer und wer immer - mir die nachsten waren. Die Luft 
der Stadt, die hier beschworen wird, gonnt ihnen nur ein kurzes, 
schattenhaftes Dasein. Sie stehlen sich an ihren Mauern hin wie 
Bettler, tauchen in ihren Fenstern geisterhaft empor, um zu ver- 



Berliner Chronik 489 

schwinden, wittern um Schwellen wie ein Genius loci und wenn sie 
selbst ganze Viertel mit ihre { n ) Namen erfiillen so ist es auf die Art, 
wie der des Toten den Denkstein auf seinem Grabe. Das niichterne 
und larmende Berlin, die Stadt der Arbeit und die Metropole des 
Betriebs hat doch nicht minder sondern eher mehr als manche 
andern die Orte und die Augenblicke, da sie von den Toten zeugt, 
von den Toten sich erfiillt zeigt und d(er) dunkle Sinn fur diese 
Augenblicke, diese Orte gibt vielleicht, mehr als alles anderes, den 
Erinnerungen der Kindheit das, was sie so schwer zu fassen und 
zugleich so lockend qualend macht wie halb vergefine Traume. 
Denn die Kindheit, die keine vorgefafite Meinung kennt, kennt 
auch furs Leben keine. Es kommt dem Totenreich, wo es in das der 
Lebenden hin(ein)ragt ebenso prezios verbunden (freilich auch 
nicht weniger reserviert) entgegen wie dem Leben selbst. Wieweit 
ein Kind zuriickzugreifen vermag, ist schwer zu wissen, hangt von 
vielem, der Zeit, der Umwelt, der Natur und der Erziehung ab. 
Daft mein Gefuhl fur jene Tradition der Stadt Berlin, die nicht in ein 
paar Daten iiber Stralauer Fischzug, Fridericus achtzehnhundert- 
achtundvierzig umschrieben ist - fiir jene topographische Tradi- 
tion, die die Verbindung mit den Toten dieses Bodens darstellt, 
begrenzt ist, liegt schon darin beschlossen, dafi die Familien meiner 
beiden Eltern nicht zu den Eingeborenen gehoren. Das setzt dem 
kindlichen Erinnern - und dies ist es mehr als das kindliche Erleben 
selbst, das sich im folgenden bekundet, seine Grenze. Aber wo 
immer diese Grenze auch verlaufen mag: die zweite Halfte des 
neunzehnten Jahrhunderts liegt gewifi diesseits von ihr und sie ist 
es, der die folgenden Bilder angehoren, nicht in der Art genereller 
sondern jener, die nach der Lehre des Epikur aus den Dingen stan- 
dig sich absondern und unsere Wahrnehmung von ihnen be- 
dingen. 

Im Riicken lag der Vorraum mit den gefahrlichen schweren in den 
starken Spiralen elastisch schwingenden Tiiren und nun hatte man 
die Fliesen betreten, die schliipfrig waren von Fischwasser oder von 
Spulwasser und auf denen man so leicht auf Karotten ausgleiten 
konnte oder auf Lattichblattern. Hinter Drahtverschlagen, jeder 
behaftet mit einer Nummer, thronten die schwerbeweglichen Wei- 
ber, Priesterinnen der kauflichen Ceres, Marktweiber aller Feld- 
und Baumfriichte, aller efibaren Vogel, Fische und Sauger, Kupple- 



49© Autobiographische Schriften 

rinnen, unantastbare, strickwollene Kolosse welche von Stand zu 
Stand zitternd sich mit einem Blitzen der grofien Knopfe aus Perl- 
mutt oder einem Schlag auf die drohnende schwarze Schiirze oder 
die Katze voll Geld verstandigten. Brodelte, quoll und schwoll es 
nicht unterm Saum ihrer Rocke, war nicht dies der wahrhaf t frucht- 
bare Boden? Warf nicht in ihren Schofl ein Marktgott selber die 
Ware: Beeren, Schaltiere, Pilze, Klumpen von Fleisch und Kohl, 
unsichtbar beiwohnend ihnen, die sich ihm gaben, wahrend sie 
trage und schweigend die Reihen der schwankenden Hausfrauen 
musterten, die, mit Korben und Taschen beladen, muhsam die Brut 
vor ihnen durch diese glatten, verrufnen Gassen zu steuern sich 
muhten. Gingen aber im Winter fruhe am Abend die Gaslichter an, 
glaubte im Nu man zu sinken und im sanften Gleiten nun erst die 
Tiefe unter dem Meeresspiegel zu spiiren, der undurchsichtig trag 
sich in den glasernen Wassern (Weihern?) bewegte. 

Je ofter ich auf diese Erinnerungen zuruckkomme, desto weniger 
erscheint es mir zufallig, eine wie geringe Rolle in ihnen die Men- 
schen spielen: Ich denke an einen Nachmittag in Paris, dem ich Ein- 
sichten in mein Leben verdanke, die blitzartig, mit der Gewalt einer 
Erleuchtung mich iiberfielen. Eben an diesem Nachmittag war es, 
dafi meine biographischen Beziehungen zu Menschen, meine 
Freundschaften und Kameradschaften, meine Leidenschaften und 
Liebschaften in ihren lebendigsten, verborgensten Verflechtungen 
sich offenbarten. Ich sage mir: es mufite in Paris sein, wo die Mau- 
ern und Quais, der Asphalt, die Sammlungen und der Schutt, die 
Gatter und Squares, die Passagen und die Kioske uns eine so einzig- 
artige Sprache lehren, daft unsere Beziehungen zu den Menschen in 
der uns umfangenden Einsamkeit, unserm Versunkensein in jene 
Dingwelt, die Tiefe eines Schlafs erreichen, in welcher das Traum- 
bild sie erwartet, das ihnen ihr wahres Gesicht offenbart. Ich will 
von diesem Nachmittag sprechen, weil er so kenntlich machte von 
welcher Art das Regiment ist, das Stadte liber die Phantasie fiihren 
und warum die Stadt, in der die Menschen am riicksichtslosesten 
einander beanspruchen, die Verabredungen und Telefongesprache, 
die Sitzungen und Besuche, der Flirt und der Lebenskampf dem 
Einzelnen keinen beschaulichen Augenblick gonnen, in der Erinne- 
rung ihre Revanche nimmt und der Schleier, welchen sie im Ver- 
borgnen aus unserm Leben gewirkt hat, weniger die Bilder der 



Berliner Chronik 49 1 

Menschen als die der Schauplatze zeigt, an denen wir andern oder 
uns selber begegneten. An dem Nachmittag nun, von welchem ich 
reden will, safi ich im Innenraum des Cafes des deux magots bei St 
Germain des Pres, wo ich - wen habe ich vergessen - erwartete. Da 
kam mit einem Male und mit zwingender Gewalt der Gedanke uber 
mich, ein graphisches Schema meines Lebens zu zeichnen und ich 
wufite im gleichen Augenblick auch schon genau wie das zu tun sei. 
Es war eine ganz einfache Frage, mit der ich meine Vergangenheit 
durchforschte und die Antworten zeichneten sich wie von selber 
auf ein Blatt, das ich hervorzog. Ein oder zwei Jahre spater als ich 
dieses Blatt verlor, war ich untrostlich. Nie wieder habe ich es so 
herstellen konnen, wie es damals vor mir entstand{,) einer Reihe 
von Stammbaumen ahnlich. Jetzt aber, da ich in Gedanken seinen 
Aufrifi wiederherstellen mochte ohne ihn geradezu wiederzugeben, 
mochte ich lieber von einem Labyrinth sprechen. Was in der Ram- 
mer seiner ratselhaften Mitte haust, Ich oder Schicksal, soil mich 
hier nicht kummern, umso mehr aber die vielen Eingange, die ins 
Innere fuhren. Diese Eingange nenne ich Urbekanntschaften; ihrer 
jeder ist graphisches Symbol meiner Bekanntschaft mit einem Men- 
schen, den ich nicht durch andere Menschen sondern sei es durch 
Nachbarschaftsverhaltnisse, Verwandtschaft, Schulkameradschaft, 
Verwechslung, Reisegenossenschaft - es gibt nicht allzu viele sol- 
cher Situationen - begegnet war. Soviel Urbekanntschaften, soviele 
verschiedene Eingange ins Labyrinth. Da nun aber die meisten jener 
Urbekanntschaften - zumindest die, welche uns im Gedachtnis 
bleiben, ihrerseits neue Bekanntschaften erschliefien, Beziehungen 
zu neuen Menschen eroffnen, so zweigen von diesen Gangen nach 
geraumer Zeit seitliche ab (rechts mag man die mannlichen ein- 
zeichnen, links die weiblichen). Ob sich zuletzt Verbindungswege 
von einem dieser Systeme zum andern bahnen, auch das hangt von 
den Verflechtungen unseres Lebenslaufes ab. Wichtiger aber sind 
die iiberraschenden Einsichten, die aus dem Studium dieses Sche- 
ma(s) in die Verschiedenheit der individuellen Lebenslaufe sich 
ergeben. Welche Rolle spielt unter den Urbekanntschaften im 
Leben der verschiednen Menschen Beruf und Schule, Verwandt- 
schaft und Reise? Und vor allem: gibt es im Einzeldasein etwas wie 
verborgene Bildungsgesetze jener vielen Einzelgange? Welche set- 
zen friih und welche spat im Leben ein? Welche setzen sich bis ans 
Ende unseres Daseins fort und welche sterben ab? »Wenn einer 



49* Autobiographische Schriften 

Charakter hat, sagt Nietzsche, so erfahrt er immerfort dasselbe.« 
Mag das im groflen wahr sein oder nicht, so gibt (es) doch im klei- 
nen vielleicht Wege, die immer wieder uns zu solchen fiihren, die 
eine und die namliche Funktion fiir uns besitzen: Gange, die immer 
wieder uns in den verschiednen Lebensaltern zum Freunde, zum 
Verrater, zur Geliebten, zum Schiiler oder zum Meister fiihren. 
Das war es, was der Aufrifi meines Lebens, wie er an jenem pariser 
Nachmittag vor mir entstand, mir zeigte. So treten auf dem Hinter- 
grund der Stadt die Menschen, die um mich gewesen waren, zur 
Figur zusammen. Es war um viele Jahre fruher, ich glaube zu 
Beginn des Krieges, dafi in Berlin sich auf dem Hintergrund der 
Menschen, welche mir damals am nachsten waren, die Welt der 
Dinge zu einem ahnlich tiefen Sinnbild sich zusammenzog. Zusam- 
men aber zog sie sich in vier Ringe. Das fuhrt mich in eines der alten 
berliner Hauser am Kupfergraben. Mit ihren schlichten vornehmen 
Fassaden und ihren breiten Treppenhausern mogen sie aus de(n) 
Schinkelschen Jahren stammen. In einem von ihnen wohnte zu der 
Zeit, von der ich spreche, ein bedeutender Antiquitatenhandler. 
Eine Auslage hatte er nicht. Man mufite sich in seine Etagenwoh- 
nung begeben, um in einigen Vitrinen eine Auswahl vorgeschichtli- 
cher Spangen und Fibeln, langobardischer Ohrgehange, spatromi- 
scher Halsketten, mittelalterlicher Miinzen und vieler ahnlicher 
Kostbarkeiten zu bewundern. Wie mein Schulfreund A (If red) 
C{ohn) ihn aufgespiirt hatte, weifi ich nicht. Aber deutlich erin- 
nere ich den Anteil, mit dem ich dort, unter dem Eindruck der 
kiirzlich erst von mir studierten »Spatromischen Kunstindustrie* 
von Alois Riegl die Brustschilder von plattiertem Golde und die 
granatgeschmuckten Armbander betrachtete. Wir waren, wenn ich 
nicht irre, zu dritt: mein Freund, seine damalige Verlobte oder Frau 
Dorothea J. und ich. C. liefi sich Ringe zeigen - griechische Gem- 
men, Kameen der Renaissance, Ringe der Kaiserzeit, meistens in 
Halbedelsteine geschnittene Arbeiten. Jeder der vier, die er schliefi- 
lich erstand, hat sich mir unvergefilich eingepragt. Bis auf einen, 
den ich aus den Augen verloren habe, sind sie bis heute noch bei 
denen, welchen sie an diesem Vormittage zugedacht worden sind. 
Dieser eine, ein heller gelber Rauchtopas ist es gewesen, den damals 
Dorothea J. sich wahlte. Die Arbeit in ihm war griechisch und 
stellte auf winzigem Raum die Leda dar, wie sie zwischen ihren 
geoffneten Schenkeln den Schwan empfangt. Er war sehr anmutig. 



Berliner Chronik 493 

Weniger Bewunderung konnte ich dem Amethyst entgegenbrin- 
gen, den der Schenkende Ernst S(choen) unserm gemeinsamen 
Freunde bestimmte: ein Italiener des i5 ten oder i6 ten Jahrhunderts 
hatte ein Profil - (Emil) Lederer behauptete das des Pompejus -in 
ihn eingeschnitten. Ganz anders aber betrafen mich die beiden letz- 
ten Ringe. Der eine war mir zugedacht, doch nur als ganz interimi- 
stischem Besitzer; im Grunde war er bestimmt, durch mich als mein 
Geschenk an meine damalige Verlobte Grete R(adt) zu kommen. 
Es war der faszinierendste Ring, den ich je gesehen habe. In einen 
dunklen massigen Granat geschnitten, stellte er ein Medusenhaupt 
dar. Es war eine Arbeit der rdmischen Kaiserzeit. Die lichte Fas- 
sung war nicht mehr die alte. Trug man den Ring am Finger so 
schien er nur der vollkommenste von alien Siegelringen. In sein 
Geheimnis trat erst ein, wer ihn abzog und nun das Haupt gegen das 
Licht gehalten sich betrachtete. Da die verschiednen Schichten des 
Granats verschieden lichtdurchlassig waren, die dunnste aber so 
transparent, daft sie wie rosenfarben gliihte, so glaubte man die 
diistern Schlangenleiber des Hauptes iiber eine Stirne wellen zu 
sehen, unter der zwei tiefe gluhende Augen aus einem Antlitz 
sahen, das mit den purpurschwarzen Flachen der Wangen wieder in 
die Nacht zuriicktrat. Spater habe ich einigemale versucht, mit die- 
sem Stein zu siegeln; es zeigte sich aber, dafi er zu Rissen neigte und 
der aufiersten Schonung bedurfte. Kurze Zeit nachdem ich ihn ver- 
schenkt hatte, loste ich meine Beziehungen zu seiner neuen Besitze- 
rin. Mein Herz ging schon damals mit dem letzten jener vier Ringe, 
welchen der Geber seiner Schwester vorbehalten hatte. Und gewifl 
stellte dieses Madchen die eigentliche Schicksalsmitte dieses Kreises 
dar, doch eh wir das erkennen konnten, vergingen Jahre. Denn 
ungeachtet ihrer Schonheit - die selbst nicht glanzend sondern 
unscheinbar und stumpf war - hatte sie nichts, was sie zum Mittel- 
punkte zu bestimmen schien. Und wirklich war sie nie der Mittel- 
punkt von Menschen sondern, im strengen Sinne, wirklich der von 
Geschicken, als habe ihre pflanzenhafte Passivitat und Tragheit die- 
sen, die ja am meisten von alien menschlichen Dingen pflanzlichen 
Gesetzen zu unterliegen scheinen, sie zugeordnet. Vieler Jahre 
bedurfte (es), ehe in seinem Zusammenhange an den Tag trat, was 
damals teils im Keim sich zu entfalten anfing, teils noch schlum- 
merte: das Schicksal, kraft dessen sie, die zu dem Bruder im innig- 
sten, die Grenzen der Geschwisterliebe bis zum Rande erfullenden 



494 Autobiographische Schriften 

Verhaltnis stand die Freundin der beiden nachsten Freunde ihres 
Bruders werden sollte - dessen, der den mit dem Pompejushaupt 
erhielt und meiner - um schliefilich ihren Mann im Bruder der Frau 
zu finden, welche ihr eigner Bruder in zweiter Ehe heiratete - und 
das war die, die damals, an dem Tag von dem ich spreche, von mir 
den King mit dem Medusenhaupt erhielt. Wenige Tage spater wird 
es gewesen sein, dafi ich dem Lapislazuli mit der von Laub umrank- 
ten Laute, die in ihn geritzt war - dem vierten Ringe und seiner 
Tragerin - dieses Sonnett nachsandte: Deinem Finger, dem sie sich 
vertraute { abgebrochen ) 

Der Schatzhauser im grunen Tannenwald oder die Fee, die einem 
einen Wunsch freigeben - sie erscheinen jedem mindestens einmal 
im Leben. Aber nur Sonntagskinder wissen sich der Wiinsche zu 
entsinnen, die sie getan haben und darum erkennen nur die wenig- 
sten im eignen Leben die Erfullung wieder. Ich weifi so einen 
Wunsch, welcher mir in Erfullung ging und will nicht sagen, dafi er 
kliiger gewesen ist als der der Marchenkinder. Er geht auf meine 
friihe Kinderzeit zuriick und bildete sich in mir mit der Lampe, die 
an den dunklen Wintermorgen um halb sieben iiber meine Schwelle 
getragen wurde und den Schatten des Kindermadchens an die 
Decke warf . Im Ofen wurde das Feuer entziindet und bald zeich- 
nete sich inmitten rotlicher Reflexe das Gatter der Kamintiire auf 
der nackten Diele ab. Wenn dann die Warme - die nachtliche des 
Bettes und die morgendliche des Ofenfeuers - mich doppelt schlaf- 
rig machten, hiefi es aufstehen. Dann hatte ich keinen andern 
Wunsch als mich ausschlafen zu konnen. Dieser Wunsch begleitete 
mich durch die ganze Schulzeit. Sein unzertrennlicher Begleiter 
aber war die Angst, zu spat zu kommen. Noch heute kann ich, 
wenn ich den Savignyplatz passiere, die Angst vergegenwartigen 
mit welcher ich, von der Carmerstrafie, in der ich wohnte, einbie- 
gend, im Bannraum zwischen der zehn und zwdlf des abstofienden 
Zifferblattes mein Urteil ablas. Der Wunsch, der mich an solchen 
Wochentagen und noch spater, wenn ich todrmide des Nachmittags 
mich vom Canapee erhob, weil »turnen« war beseelte, ist mir in 
Erfullung gegangen. Aber nicht immer habe ich sie darin erkannt, 
wenn wieder einer meiner Versuche einen Arbeitsplatz, im biirger- 
lichen Sinn des Worts zu finden, gescheitert war. 



Berliner Chronik 495 

Noch einen andren Klang gibt es, der, dank der Jahrzehnte, in 
denen er mir nicht mehr iiber die Lippen noch zu Ohren gekommen 
ist, das Unergriindliche behalten hat, mit dem gewisse Worte aus 
der Sprache Erwachsner dem Kinde entgegentreten. Es ist noch 
nicht lange her, dafi ich es wiederfand, wie denn einige unteilbare 
Funde, diesem gleichend, viel Anteil an meinem Entschlusse haben, 
diese Erinnerungen aufzuzeichnen. Da meine Eltern wohlhabend 
waren, so bezogen wir, unbeschadet gelegentlicher Sommerreisen, 
ehe ich in die Schule kam, vielleicht auch spater, alljahrlich Som- 
merwohnungen in der Umgebung. Erst war es Potsdam, spater 
Neubabelsberg. Wahrend die Babelsberger Zeiten nun mir in man- 
cherlei Bildern gegenwartig sind, von denen ich vielleicht noch 
erzahlen werde - der Nacht des grofien Einbruchs als sich meine 
Eltern in mein Zimmer schlossen, den Stunden, die (ich) angelnd 
neben meinem Vater am Ufer des Griebnitzsees stand, dem Besuch 
auf der Pfaueninsel, der mir die erste grofte Enttauschung meines 
Lebens brachte, weil ich im Grase nicht die Pfauenfeder, die man 
mir doch versprochen hatte, fand - wahrenddessen sind mir die 
Sommermonate in Potsdam ganz entschwunden, es sei denn, daft 
ich das Spargelstechen - meine erste und einzige landwirtschaf tliche 
Passion - schon in den Garten auf dem Brauhausberge verlegen 
darf. Und damit habe ich das Wort verraten, in das sich wie hun- 
derte von Rosenblattern in einen Tropfen von rose malmaison hun- 
derte von Sommertagen ihre Gestalt, ihre Farbe und ihre Vielzahl 
opfernd mit ihrem Dufte erhaken haben. Es heifk Brauhausberg. 
Dem was es in sich fa(ft)t sich nahern ist beinah unmoglich. Diese 
Worte, die auf der Grenze zweier Sprachbereiche, dem der Kinder 
und der Alteren stehen, sind denen der Gedichte Mallarmes ver- 
gleichbar, die der innere Widerstreit zwischen dem dichterischen 
Wort und dem profanen gleichsam ausgezehrt und zum verschwe- 
benden Hauche hat werden lassen. So hat das Wort Brauhausberg 
alle Schwere verloren, enthalt von einem Brauhaus iiberhaupt 
nichts mehr und ist allenfalls ein vom Blauen umwitterter Berg, der 
im Sommer sich aufbaut mich und meine Eltern zu behausen. 

Die okonomische Basis auf der die Wirtschaft meiner Eltern 
beruhte, war lange iiber meine Kindheit und Jugend hinaus von 
tiefstem Geheimnis um(geben). Wahrscheinlich nicht fur mich, 
den altesten allein, sondern fast genau so fur meine Mutter. Und 



496 Autobiographische Schriften 

sicher war, dafi es sich so verhielt, in einer jiidischen Familie die 
Regel und in sehr vielen christlichen wohl auch. Seltsamer ist es 
eigentlich, dafi auch der Konsum in etwas von dem Geheimnis 
umwoben war, das Einkommen und Vermogen so dicht verhiillte. 
Ich erinnere mich jedenfalls, dafi die Erwahnung gewisser Lieferan- 
ten-Quellen wie sie genannt wurden - immer mit der Feierlichkeit 
geschah, die einer Einweihung ansteht. Allerdings, man mufi unter- 
scheiden. Die Lief eran ten, die den taglichen Wirtschaftsbedarf 
bestritten, gehorten ebensowenig zu jenem geheimen Zirkel, wie 
die altangesehenen berliner Firmen, bei denen meine Mutter die 
Runde machte, wenn sie mit mir und den Geschwistern »in die 
Stadt« ging. Es stand ebenso fest, dafi bei solchen Gelegenheiten 
unsere Kinderanziige bei Arnold Miiller, Schuhe bei Stiller und 
Koffer bei Madler gekauft wie dafi am Ende aller dieser Veranstal- 
tungen die Schokolade mit Schlagsahne bei Hillbrich bestellt 
wurde. Diese Einkaufsstatten waren aufs strengste von der Tradi- 
tion vorgezeichnet. Ganz anders die Verbindungen mit Lieferan- 
ten, die auf meinen Vater zuruckgingen. Mein Vater hatte neben 
manchen Hemmungen, die nicht nur seinem Anstand sondern auch 
einer gewissen staatsburgerlichen Bravheit entsprangen, doch im 
Grunde die unternehmende Natur des grofien Kaufmanns. Ungiin- 
stige Einfliisse verschuldeten, dafi er sich viel zu fruh von einem 
Unternehmen zuriickzog, das seinen Fahigkeiten wahrscheinlich 
garnicht schlecht entsprochen hat: dem Kunstauktionshaus von 
Lepke, das damals noch in der Kochstrafie lag und an dem erTeilha- 
ber war. Als er dann seinen Anteil an der Firma aufgegeben hatte, 
war er mehr und mehr zu spekulativen Anlagen seiner Gelder 
gekommen und es wiirde mich nicht wundern, dafi der Anteil, den 
er an hauswirtschaftlichen Geschaften nahm, von dieser Zeit an ein 
lebhafterer geworden ware. Soviel ist sicher, dafi ein guter Teil der 
Lieferanten, die er seither ausfindig machte, mit seinen Kapitalanla- 
gen indirekt zusammenhingen. Wenn also bei den Einkaufen mei- 
ner Mutter sich ein traditionelles und gleichsam offizielles Bild der 
berliner Geschaftswelt entwickelte, so kam bei den Andeutungen 
und Ajrweisungen die mein Vater gab ein unbekanntes, wenn nicht 
abenteuerliches zustande, dessen Prestige bei mir sowohl durch den 
autoritaren Klang, den diese Namen am Familientische hatten wie 
durch die Tatsache sich bildete, dafi diese Firmen, zum Unter- 
schiede von den andern niemals in mein Blickfeld traten. An ihrer 



Berliner Chronik 497 

Spitze stand, wenn man so will, das Lepkesche Auktionshaus sel- 
ber, an dem mein Vater nicht nur beteiligt war sondern aus dem er 
hin und wieder auch einen Ankauf nach Hause brachte. Dafi er 
dabei im ganzen mit viel Gluck verfuhr, glaube ich nicht, ausge- 
nommen vielleicht seine Teppichkaufe. Noch kurz vor seinem 
Tode hat er mir erzahlt, dafi er in jenen Zeiten die Qualitaten der 
Gewebe mit dem Ballen des Fufies auseinanderhalten konnte, wenn 
er nicht allzu dicke Sohlen trug. In der Kindheit aber machte mir 
den grofiten Eindruck die Vorstellung der Hammerschlage, mit 
welchen mein Vater die Versteigerung begleitete. Spater als er von 
Lepke sich zuriickgezogen hatte, lag dieser Hammer immer auf sei- 
nem Schreibtisch. Wenn ich das Gerausch seiner Schlage niemals zu 
horen bekam, so ist es dafiir ein anderes Gerausch gewesen, das sich 
in meiner Kindheit mit dem Bilde der Macht und Grofie meines 
Vaters - oder vielmehr: eines Mannes, der seinen Beruf hat- unauf- 
loslich verbunden hat. Es war, so unglaubhaft es klingt, der Laut, 
welchen das Messer mit { dem ) meine Mutter die Brotchen bestri- 
chen hatte, die mein Vater am morgen mit in sein Geschaft nahm, 
von sich gab, wenn es ein letztes Mai, um von den Butterresten es zu 
saubern, die noch an ihm haften mochten, gegen die knusperigen 
Schnittflachen der Brotchen abgestrichen wurde. Dieser Klang ging 
dem Tagewerk meines Vaters voran, fur mich nicht weniger erre- 
gend als, in spatern Jahren, das Klingelzeichen, welches im Theater 
den Beginn der Vorstellung ankiindigt. Im (ibrigen war das eigentli- 
che Wahrzeichen des vaterlichen Berufes in unserer Wohnung ein 
Mohr, der, beinah lebensgrofi, auf einer um ein dreifiigstel verklei- 
nerten Gondel stand und mit der einen Hand ein Ruder hielt, das 
man herausziehen konnte, auf der andern eine goldene Schale 
erhob. Das Kunstwerk war aus Holz, der Mohr schwarz, Gondel 
und Ruder leuchteten unter dem Firnis in vielen Farben. Das Ganze 
aber war so durchaus auf sein Pendant angewiesen, dafi ich heute 
nicht mehr zu sagen weifi, ob ein zweiter Mohr, den ich mir dazu 
denke, anfanglich wirklich bei uns aufgestellt war oder eine Erfin- 
dung meiner Phantasie ist. Soviel von Lepkes Kunstauktionshaus. 
Im ubrigen gab es fiir Kunstwerke - zumindest sofern es sich um 
Bronzen handelte - noch einen Lief eran ten; das war die Firma Gla- 
denbeck. Ob auch da engere Geschaftsbeziehungen der Wahl 
zugrunde lagen, weifi ich nicht. Bestimmt aber war das der Fall bei 
der Beschaffung von Mundwasser, das in riesigen Flaschen voll 



498 Autobiographische Schriften 

Wasserstoffsuperoxyd im »Medizinischen Warenhause* erstanden 
wurde, dessen Aufsichtsratsmitglied mein Vater war. Etwas 
undurchsichtiger lagen die Dinge wieder bei der Firma Stabernack, 
die durch Jahre hindurch das unbestrittene Monopol fur alle Instal- 
lationen in der Wohnung besafi. Hier war vielleicht die Aktienge- 
sellschaft fur Bauausfuhrungen das Mittelglied, dessen Vorstands- 
mitglied, Herr Altgelt in unzahligen Telefongesprachen meines 
Vaters den Partner abgab und dessen Name mir im Gedachtnis 
geblieben ist, weil sein Sohn, als einer der unriihmlichsten ihrer 
Belegschaft, in meiner Klasse safi. Es war, von Tischgesprachen ab- 
gesehen, einzig das Telefon, das von jener verborgnen Geschafts- 
und Lieferantenwelt uns Kunde gab. Mein Vater telefonierte viel. 
Er, der nach auflen hin fast immer ein verbindliches, lenkbares 
Wesen scheint gehabt zu haben, hat vielleicht nur am Telefon die 
Haltung und die Bestimmtheit besessen, die seinem, zeitweise gro- 
fien, Reichtum mag entsprochen haben. Im Gesprach mit den ver- 
mittelnden Instanzen wurde diese Energie nicht selten larmend und 
fur den »Ernst des Lebens« welcher durch die berufliche Tatigkeit 
meines Vaters versinnlicht wurde, waren die Streitigkeiten mit dem 
Telefonfraulein eigentlich das Emblem. In meiner Kindheit ist das 
Telefon aufgekommen. Ich habe es also noch in irgend einen Win- 
kel des Korridors angenagelt gekannt, wo es durch sein schrilles 
Gelaut aus der Finsternis die Schrecken der berliner Wohnung mit 
dem endlosen Gang, der aus dem dammerigen Efizimmer in die 
hinteren Schlafraume fuhrte, steigerte. Zu einer wahren Hollenma- 
schine wurde es, wenn die Schulkameraden in der verbotenen Zeit, 
zwischen zwei und vier Uhr, anriefen. Aber nicht alle die geheim- 
nisvollen Transaktionen meines Vaters gingen durchs Telefon. Von 
jeher hatte er - wie viele Manner, die in ihrer Ehe nicht immer einen 
leichten Stand haben - die Neigung, gewisser Zweige der Wirtschaft 
sich selbstandig anzunehmen. So hatte er Beziehungen in der Pro- 
vinz, vor allem in der Nahe Hamburgs angeknupft, wohin er hau- 
fige Geschaftsreisen unternahm. Regelmafiig wurde aus dieser 
Gegend der Haushalt mit Holsteinischer Landbutter und zum 
Herbste mit Krickenten versorgt. Fur den Wein dagegen trat wieder 
eine berliner Firma ein, von der dazu noch Anteilscheine im Besitze 
meines Vaters waren: das war die Zentrale fur Weinvertrieb, die es 
mit neuen Kalkulationsmethoden im Weinhandel versuchte. End- 
lich verflochten sich mit diesen Namen in den Beratungen der 



Berliner Chronik 499 

Eltern andere, in denen die Traditionen des damaligen biirgerlichen 
Berlin von beiden Seiten zusammenflossen: Fur notarielle Beur- 
kundungen zog man Oberneck zu Rate, Operationen liefi man von 
Rinne ausfiihren, Tanzunterricht bei Quaritsch erteilen, als Haus- 
arzt zog man Renvers zu Rate, zumindest solange man mit ihm im 
gleichen Hause wohnte, Joseph Goldschmidt war der Bankier. Was 
aber mich betrifft, so wirkte am nachhaltigsten der tollkuhne Ver- 
such, welchen mein Vater eines abends unternahm, um auch die 
Zerstreuungen der Familie in jene Harmonie zu seinen kommer- 
ziellen Unternehmungen zu bringen, die er fur ihre sonstigen 
Bediirfnisse herzustellen gewufit hatte. Als namlich um 19 10 im 
Westen, in der Lutherstrafie, ein Konsortium das Haus, in welchem 
jetzt die Scala ist, als »Eispalast« erstellte, gehorte ihm, mit einem 
grofieren Betrage, auch mein Vater an. Eines abends nun, ich weifi 
nicht ob es das Erdffnungsdatum war oder ein spateres, kam mei- 
nem Vater der Gedanke, mich dorthin mitzunehmen. Der Eispalast 
war aber nicht allein die erste kiinstliche Eisbahn, die es in Berlin zu 
sehn gab, sondern auch ein recht betriebsames Nachtlokal. Und so 
fesselten mich die Darbietungen in der Arena weit weniger als die 
Erscheinungen an der Bar, die ich von irgendeiner Rangloge aus in 
Ruhe verfolgen konnte. Unter ihnen aber befand sich jene Hure in 
einem weifien sehr eng anliegenden Matrosenanzug, die ohne daft 
ich ein Wort mit ihr hatte wechseln konnen, meine erotischen Phan- 
tasien auf viele Jahre bestimmte. 

In jenen friihen Jahren lernte ich »die Stadt« nur als den Schauplatz 
der »Besorgungen« kennen, bei denen zum ersten Mai sich erwies, 
wie uns das vaterliche Geld eine Gasse zwischen den Ladentischen 
und den Verkaufern und den Spiegeln und den Blicken der Mutter 
bahnte, deren Muff auf dem Tisch lag. In der Schmach eines »neuen 
Anzugs« standen wir da, aus den Armeln sahen die Hande heraus 
wie schmutzige Preistafeln und in der Konditorei erst wurde uns 
besser und wir fiihlten dem Gotzendienst uns entronnen, der 
unsere Mutter vor den Idolen erniedrigte, deren Namen Mannhei- 
mer waren, Herzog und Israel, Gerson, Adam, Esders und Madler, 
Emma Bette, Bud und Lachmann. Eine Reihe unerforschlicher 
Massive nein Hohlen von Waren - das war »die Stadt«. 



500 Autobiographische Schriften 

Es gibt Menschen, die glauben den Schlussel ihrer Lebensschicksale 
in der Hereditat, andere im Horoskop, wieder andere in ihrer 
Erziehung zu finden. Ich selber glaube, dafi ich manche Aufklarung 
iiber mein spateres Leben in meiner Ansichtspostkartensammlung 
fande, wenn ich sie heute noch einmal durchblattern konnte. Die 
grofie Stifterin dieser Sammlung war meine Grofimutter miitter- 
licherseits, eine entschieden unternehmende Frau, von der ich 
zweierlei glaube geerbt zu haben: meine Lust am Schenken und 
meine Reiselust. Wenn es zweifelhaft ist, was fiir die erste dieser 
Leidenschaften die Weihnachtsferien - die nicht aus dem Berlin der 
Kinderj ahre weg zu denken sind - bedeutet haben, so hat gewifi 
kein Abenteuerbuch der Knabenjahre so sehr auf meine Reiselust 
gewirkt, wie die Ansichtskarten, mit denen sie mich zahlreich auf 
ihren weiten Reisen bedachte. Und weil die Sehnsucht, welche wir 
an einem Orte fuhlen, ihn so gut wie sein aufieres Bild bestimmt, 
soil von diesen Karten etwas die Rede sein. Zwar- war das was sie 
damals in mir weckten Sehnsucht? Zogen sie mich nicht viel zu 
magnetisch an, um noch dem Wunsch, an jenen Ort zu reisen, den 
sie zeigten, Spielraum zu gestatten ? Ich war ja dort - in Tabarz, 
Brindisi, Madonna di Campiglio, Westerland, wenn ich die waldi- 
gen von gliihend roten Beeren besetzten Abhange von Tabarz, die 
gelb-weifi hingewischten Quais von Brindisi, die blaulich in Blau 
gedruckten Kuppen von Madonna di Campiglio und den Bug der 
»Westerland« der schneidend aus den Wellen sich erhob immer 
wieder betrachtete, ohne mich von ihnen trennen zu konnen. Wenn 
man die alte Dame auf ihrem teppichbelegten mit einer kleinen Bal- 
lustrade ausgezierten Erker besuchte, welcher auf den Blumeshof 
herausging, konnte man sich schwerlich vorstellen wie sie grofte 
Schiffsreisen oder gar Spazierritte auf Kamelen unter der Leitung 
von Stangels Reisebiiro unternommen hatte, dem sie sich alle paar 
Jahre anvertraute. Sie war Witwe: drei ihrer Tochter waren als ich 
klein war, bereits verheiratet. Von der vierten wufite ich nichts zu 
sagen, wohl aber von dem Zimmer, das sie bei ihrer Mutter 
bewohnte. Aber vielleicht mud ich vorher ein Wort von dieser 
Wohnung im ganzen sagen. Mit welchen Worten das fast unvor- 
denkliche Gefuhl von burgerlicher Sicherheit umschreiben, das von 
diesen Raumen ausging? So paradox es klingt, mir will es scheinen 
als schliefie der Begriff jener besondern Geborgenheit, mit der sie 
mich umfingen, am ehesten an ihre Mangel an. Das Inventar, das 



Berliner Chronik 501 

diese vielen Zimmer - zwolf bis vierzehn - fiillte, wiirde sicher 
heute ohne eine Kontrastwirkung zu erregen sich dem schabigsten 
Trodelladen einfugen. Und wenn auch jene ephemeren Formen 
soviel solider waren als der Jugendstil, der sie abloste - das Ver- 
traute, Bemhigende, Anheimelnde und Trostliche an ihnen war 
doch die Tragheit, mit der sie sich dem Schlendergang der Jahre und 
der Tage anvertrauten und sich, was ihre Zukunf t anbetraf allein der 
Haltbarkeit des Materials und nirgends der Vernunftberechnung 
anheimgaben. Hier herrschte eine Art von Dingen, welche, bei aller 
Gefiigigkeit, mit denen sie den Impulsen der Moden sich im Klei- 
nen unterwarf, im Ganzen so von sich und ihrer Dauer iiberzeugt 
war, dafi sie mit keiner Abnutzung, keinem Erbgang, keinem 
Umzug rechnete und immer gleich nahe und gleich weit von ihrem 
Ende, das das Ende aller Dinge schien, verharrte. Das Elend konnte 
in diesen Raumen keine Stelle haben, in welchen ja nicht einmal der 
Tod sie hatte. Sie hatten keinen Raum zum Sterben - darum starben 
ihre Besitzer im Sanatorium, die Mobel aber kamen gleich im ersten 
Erbgang an den Trodler. In ihnen war der Tod nicht vorgesehn - 
darum waren sie am Tage so gemiitlich und des nachts der Schau- 
platz unserer bedruckendsten Traume. Daher kommts, dafi ich die- 
ses Haus - Blumeshof 10 oder 1 2 ist es gewesen -, in dem so viele der 
schonsten Kinderstunden mir vergingen, wenn ich beim Klange 
von Klavieretiiden »Herzblattchens Zeitvertreib« in einem Sessel 
durchblattern durfte - dafi an seiner Schwelle mir ein Alp entgegen- 
tritt. Mein waches Dasein hat von seinem Treppenauf gang kein Bild 
bewahrt. Dagegen steht er mir noch heut als Schauplatz von einem 
Banntraum in Erinnerung, den ich einmal nachts in eben jenen 
guten Jahren hatte. In diesem Traume erschien das Stiegenhaus als 
Kraftfeld eines Gespensts, das mich im Aufgang erwartete nicht 
ohne meinen Weg mir freizugeben und sich erst dann mir bemerk- 
bar zu machen, als nur die letzten Stufen noch vor mir lagen. Auf 
diesen Stufen bannte es mich fest. - Die Zimmer in dieser Wohnung 
am Blumeshof waren nicht nur zahlreich sondern zum Teil sehr 
grofi. Um meine Grofimutter auf ihrem Erker zu erreichen, mufite 
ich das riesige Efizimmer durchschneiden und im Wohnzimmer bis 
an dessen Ende vordringen. Immerhin gaben erst die Festtage und 
alien voran der erste Weihnachtsfeiertag einen Begriff von der Fas- 
sungskraft dieser Raume. Wenn es an diesem Tage aber schien, als 
sei er in den Vorderzimmern das ganze Jahr iiber erwartet worden, 



502 Autobiographische Schriften 

so gab es andere Gelegenheiten, die wieder andere Telle der Woh- 
nung ins Leben riefen: der Besuch einer verheirateten Tochter 
eroffnete ein langst aufier Gebrauch gekommenes Spindenzimmer; 
ein anderes Hinterzimmer tat sich fur uns Kinder auf , wenn vorne 
die Erwachsnen ihre Mittagsruhe halten wollten, und wieder einen 
andern Teil der Wohnung belebte der Klavierunterricht, den die 
letzte im Haus verbliebne Tochter erhielt. Der wichtigste von die- 
sen abgelegnen, seltener beniitzten Raumen aber war die Loggia. 
Und sie war das, sei es, weil sie am wenigsten installiert war, am 
wenigsten dem Aufenthalt der Erwachsenen entgegenkam, sei es, 
weil in sie, gedampft, der Strafienlarm hereindrang(,) sei es end- 
lich, weil hier die Hinterhofe mit Kindern, Dienstboten, Leierka- 
stenmannern, Portiers sich eroffneten. Von denen aber waren es 
wiederum ofter die Stimmen als die Gestalten, deren man von der 
Loggia aus habhaft wurde. Im iibrigen sind die Hofe eines so vor- 
nehmen Wohnviertels eigentlich belebt nie gewesen; etwas von der 
Gelassenheit der reichen Leute, fiir die die Arbeit in ihnen verrich- 
tet wurde, hatte auf diese Verrichtungen selber iibergegriffen und 
alles schien auf den Dornroschenschlaf zu warten, der sich hier an 
den Sonntagen niederliefi. Darum war der Sonntag der eigentliche 
Tag der Loggia - der Sonntag, den die anderen Raume niemals ganz 
fassen konnten weil sie wie schadhaft waren. Der Sonntag sickerte 
durch sie durch, nur die Loggia, die auf den Hof mit den Teppich- 
stangen und die andern Loggien mit ihren kahlen Wanden von 
pompejanischem Rot hinaus ging, nur die fafite ihn und kein Ton 
von der Glockenfracht, mit der die Kirchen - die Zwolf-Apostel- 
und die Matthai- und die Kaiser Wilhelm Gedachtniskirche- sie uns 
nachmittags langsam beluden, glitt ihr uber die Balustrade, sondern 
bis Abend blieb sie dort aufgestapelt. Wie ich es schon angedeutet 
habe, ist meine Grofimutter nicht am Blumeshof gestorben, und 
ebensowenig die andere, die in der gleichen Strafie ihr gegeniiber- 
wohnte und alter und strenger, die Mutter meines Vaters, gewesen 
ist. Daher ist der Blumeshof mir zu einem Elysium(,) einemunbe- 
stimmten Schattenreich abgestorbner aber unsterblicher Grofimut- 
ter geworden. Und wie die Phantasie, wenn sie einmal ihren 
Schleier iiber eine Gegend hat werfen konnen, gern seine Rander 
von unfafilichen Launen sich krauseln laftt, so hat sie ein altrenom- 
miertes Kolonialwarengeschaft, das in der Nahe dieses Hauses, 
aber schon in der Magdeburgerstrafte liegt, im Laufe der Jahrzehnte 



Berliner Chronik 503 

und bis heute dem Voriiberfahrenden, der es niemals betreten hat, 
zu einem Denkmal seines friihverstorbnen Grofivaters werden las- 
sen, nur weil sein Besitzer, wie jener, mit dem Vornamen Georg 

hiefi. 

Aber ist nicht auch das die Stadt: der abendliche Lichtstreif unter 
der Schlafzimmertiir wenn drinnen »Gesellschaft« war? Drang 
nicht Berlin selber so in die Kindernacht voller Erwartung wie spa- 
ter in die Nacht eines Publikums die Welt Wilhelm Tells oder Julius 
Casars. Ich glaube, das Traumschiff, das einen damals abholte ist 
oft iiber den Larm der Gesprachswogen oder die Gischt des Teller- 
geklappers vor unsere Betten geschwankt und am friihen Morgen 
hat es uns abgesetzt in der Ebbe des Teppichklopfens, das an den 
Regentagen mit der feuchten Luft in das Fenster drang und unver- 
gefilicher dem Kinde sich eingrub als die Stimme der Geliebten dem 
Manne, das Teppichklopfen, das die Sprache der unteren Welt war, 
der Dienstmadchen, der wirklich Erwachsnen, eine Sprache, die 
sich manchmal viel Zeit liefi, trage und abgedampft unterm grauen 
Himmel sich zu allem bereit fand, manchmal wieder in einen uner- 
klarlichen Galopp fiel, als seien hinter den Dienstboten Geister, die 
sie verfolgten. Hofe waren es auch in denen die Stadt sich auftat, um 
das Kind zu entlassen oder es wieder aufzunehmen. Bahnhofe-ihre 
Offnungen bei der Abfahrt waren ein Panorama, Rahmen einer fata 
morgana. Keine Feme war ferner als wo die Gleise im Nebel einan- 
der erreichten. Bei der Heimkunft aber war alles anders. Denn noch 
brannten in uns die diisteren Lampen, die vereinzelt in den Hofen 
geschienen hatten aus Fenstern, denen oft die Vorhange fehlten, in 
schmutzstarrenden Treppenhausern, aus Kellerfenstern, in de- 
ne^) Lappen hingen. Das waren die Hofe, die die Stadt mich 
sehen liefi wenn ich aus Hahnenklee oder Sylt zuruckkam und die 
sie dann wieder in sich verschlofi und die sie nie zu sehen gab, nie zu 
betreten. Aber diese letzten fiinf Angstminuten der Einfahrt eh alles 
aussteigt, haben sich in Blicke aus meinen Augen verwandelt und es 
gibt vielleicht Menschen, die in sie sehen wie in Hoffenster, die in 
schadhaften Mauern stecken und in denen am friihen Abend die 
Lampe steht. 

Unter den Ansichtspostkarten meines Albums gab es einige wenige, 
deren Schriftseite mir besser im Gedachtnis geblieben ist als ihre 



504 Autobiographische Schriften 

Ansichtsseite. Sie waren alle mit der schonen leserlichen Unter- 
schrift versehen: Helene Pufahl. Das war meine erste Lehrerin. 
Lange bevor ich eine Schulklasse kennen lernte, trat ich durch sie in 
nahere Beziehung zu Kindern meiner »Klasse« in dem Sinn des 
Wortes, den ich erst zwei Jahrzehnte spater kennen lernen sollte. 
Und dafi es eine recht gehobne war, kann ich an den beiden Mad- 
chennamen ablesen, die aus denen des kleinen Zirkels im Gedacht- 
nis geblieben sind: Use Ullstein und Luise von Landau. Was diese 
Landaus fur ein Adel waren weifi ich nicht. Der Name aber iibte 
eine gewaltige Anziehungskraft auf mich aus und auf meine Eltern - 
manches gibt mir das Recht, das anzunehmen - wohl keine kleinere. 
Aber doch ist kaum das (der) Grund, aus dem ihr Name mir bis 
heute lebendig blieb, vielmehr der Umstand, dafi er der erste war, 
auf den ich mit Bewufitsein den Akzent des Todes fallen horte. Das 
war, soviel ich weifi, nicht allzu lange, nachdem ich dem kleinen 
Privatzirkel entwachsen war. Wenn ich spater am Lutzowufer vor- 
iiberkam suchte ich jedesmal mit den Blicken ihr Haus und als ich 
gegen Ende meiner Schulzeit unter dem Titel »Gedanken uber den 
Adel« meinen ersten philosophischen Essay schrieb, da stand neben 
Pindar, von dem ich ausging, unausgesprochen der verfuhrerische 
Name meiner ersten Mitschiilerin. Fraulein Pufahl wurde abgelost 
von Herrn Knoche, vor dem ich ganz allein meinen Mann zu stehen 
hatte. Er war Vorschullehrer der Schule, in welche meine Eltern 
mich spater zu schicken gedachten. Sein Unterricht hat mir wohl 
nicht unbedingt zugesagt. Jedenfalls brachte ich gegen sein Erschei- 
nen hin und wieder Zauberriten in Anwendung und noch entsinne 
ich mich des Gefiihls von Allmacht, das mich eines Tages auf der 
Herkulesbrucke bei der Nachricht uberkam, Herr Knoche habe fiir 
den folgenden Tag abgesagt. Damals wufite ich, welchem Umstand 
das zuzuschreiben war, heute habe ich die Zauberf ormel leider ver- 
gessen. Mehr als mit seinem privaten Auftreten beeindruckte mich 
Herr Knoche in den Klassenstunden, die ich spater, nach meiner 
Einschulung, bei ihm hatte. Sie waren durch viele Pnigelintermezzi 
belebt, Herr Knoche wufke den Gebrauch des Rohrstocks zu schat- 
zen. Ihm war auch der Gesangunterricht anvertraut. Und wahrend 
einer dieser Gesangstunden war es, da{5 er vor mir eines jener Tore 
zeigte, das wir alle aus unserer Kindheit (kennen) und vor dessen 
verschlofinen Flugeln man uns versichert, daft sie den Weg ins 
spatere, in das wirkliche Leben freigeben. Es wurde das Reiterlied 



Berliner Chronik 505 

aus Wallensteins Lager geiibt. »Frisch auf Kameraden, aufs Pferd 
aufs Pferd, in das Feld, in die Freiheit gezogen. Im Felde da ist der 
Mann noch was wert, da wird das Herz noch gewogen.« Herr Kno- 
che wollte von der Klasse wissen, was diese letzten Worte eigentlich 
bedeuteten. Naturlich konnte keiner ihm Antwort geben. Es war 
aber eine von jenen kunstvollen Fragen, die Kinder begriffsstutzig 
machen. Herrn Knoche aber schien diese Hilflosigkeit gerade recht 
und er sagte mit Nachdruck: (»)Das werdet Ihr mal verstehn, 
wenn Ihr grofl seid.« Nun bin ich grofi geworden; heute stehe ich 
auf der Innenseite des Tores, das Herr Knoche uns damals zeigte; 
seine Flugel aber sind noch immer verschlossen. Ich habe den Ein- 
zug durch dies Tor nicht gehalten. 

Wie Lichter in der Nebelnacht mit riesenhaften Kreisen sich umge- 
ben so tauchen aus dem Nebel meiner Kindheit mit grofien Hofen 
die friihesten Theatereindriicke. Ganz am Anfang steht ein »Affen- 
theater«, das vielleicht unter den Linden gespielt hat und in dem ich, 
soviel mir vorschwebt, mit grower Eskorte erschienen bin, weil 
weder Eltern noch Grofimutter sich die Wirkung der ersten Thea- 
tervorstellung auf mich wollten entgehen lassen. Den Lichtkern 
freilich, den eigentlichen Vorgang auf der Biihne, kann ich in soviel 
Nebelglanz nicht mehr erkennen. Ein rosa-graues Gewolk von Ses- 
seln, Lichtern und Gesichtern hat die Possen armer Affchen auf der 
Biihne unter sich begraben. Nun kann ich zwar noch die Abfolge 
der theatralischen Ereignisse der folgenden sechs oder sieben Jahre 
wiedergeben: aber nichts mehr von ihnen sagen: weder dem Veil- 
chenfresser, den ich im Kurtheater von Suderode zu sehen bekam, 
noch dem Wilhelm Tell, der, wie iiblich, die berliner Biihne mir 
einweihte, noch dem Fiesko, den ich im Schauspielhaus mit Mat- 
kowsky oder der Carmen, die ich in der Oper mit der Destinn zu 
sehen bekam. Die beiden letzten Veranstaltungen hatte meine 
Groftmutter unter ihr Protektorat genommen; daher nicht nur das 
glanzende Programm, sonde rn auch die ansehnlichen Rangplatze. 
Und doch ist mir anziehender als an sie an die Wilhelm-Tell-Vor- 
stellung zuriickzudenken und zwar des Vorgangs wegen, welcher 
ihr voranging und dessen hochst hermetische Natur noch unver- 
blaftt ist, indessen von der Vorstellung des gleichen Abends nichts 
mehr in meiner Erinnerung befindlich ist. Es mull am Nachmittag 
gewesen sein, daft zwischen mir und meiner Mutter eine Meinungs- 



506 Autobiographische Schriften 

verschiedenheit entstand. Es sollte irgend etwas vorgenommen 
werden, das mir zuwider war. Zuletzt nahm meine Mutter zum 
Zwange Zuflucht. Sie drohte, wenn ich ihr nicht den Willen tate, 
abends mich zuhause bleiben zu lassen. Ich folgte. Das Gefuhl 
jedoch mit dem ich's tat- vielmehr mit dem ich, kaum daft die Dro- 
hung ausgesprochen war, die Schatzung der beiderseitigen Krafte 
unternahm und augenblicklich sah, wie ungeheuer die Uberlegen- 
heit der Gegenseite war, infolgedessen meine schweigende Empo- 
rung iiber ein so brutales und so plumpes Vorgehen, bei dem der 
Einsatz in keinerlei Verhaltnis zu den Zwecken stand - denn dieser 
Zweck war ja ein momentaner, der Einsatz aber, wie ich heute weifi 
und damals ahnte - die dauernde und tiefe Dankbarkeit fur jenen 
Abend, den meine Mutter, mir zu schenken, im Begriff war - dies 
Gefuhl des mifibrauchten und geschandeten Vertrauen(s) hat in 
mir alle folgenden des Tages uberdauert. Viele Jahre spater erwies 
sich zum zweitenmal, wieviel bedeutungsvoller und nachhaltiger 
die Freude auf ein Ereignis sich erweisen kann als alles was ihr folgt. 
Es war als Knabe meine grofte Sehnsucht, Kainz zu sehen. Seine 
berliner Gastspiele fielen aber in die Schulzeit. (Da) nun der Vor- 
verkauf an den Vormittagen die einzige Moglichkeit bot, Platze zu 
erstehen, wie ich von meinem Taschengelde sie hatte bestreiten 
konnen, so mufite ich mir diesen Wunsch jahrelang versagen. Meine 
Eltern begiinstigten seine Erfiillung jedenfalls nicht. Eines Tages - 
sei es, dafi der erste Vorverkaufstag ein Sonntag war, sei es infolge 
eines andern Umstands - konnte ich mich doch als einer der ersten 
an der Billettkasse - es war schon die des Theaters am Nollendorf- 
platze - einfinden. Ich sehe mich dort an der Kasse stehen und - als 
wolle die Erinnerung dem kommenden Hauptmotiv praludieren - 
mich dort zwar warten, nicht aber mich meine Eintrittskarte kau- 
fen. Hier setzt vielmehr die Erinnerung aus um erst da wieder ihren 
Faden aufzunehmen, wo ich am Abend vor Beginn der Auffuhrung 
von »Richard II« die Treppe zum Rang heraufsteige. Was ist es, das 
nun der Erinnerung von neuem vor der Schwelle des Zuschauer- 
raums ein »Hierher und nicht weiter« auferlegt? Zwar sehe ich noch 
eine Szene des Dramas vor mir, doch ganz losgelost und ohne zu 
wissen, stammt sie eigentlich aus dieser Auffuhrung oder aus einer 
andern, und ebenso wenig weifi ich, ob ich Kainz gesehn habe oder 
nicht. Ob er abgesagt hat oder ob die Enttauschung, ihn weniger 
grofi zu finden als ich glaubte, mit dem Bilde von seinem Spiele mir 



Berliner Chronik 507 

den ganzen Abend unterschlagen hat. So treffe ich auf Ungewiflheit 
iiberall, wo ich den friihesten Erinnerungen an das Schauspiel nach- 
gehe und am Ende kann ich selbst Traum und Wirklichkeit nicht 
mehr scheiden. Das gilt von einem dunklen Winterabend, an dem 
ich mich mit meiner Mutter zu einer Auffiihrung der »lustigen Wei- 
ber von Windsor« begab. Ich habe diese Oper wirklich gesehen und 
zwar in einer Art von Volkstheater. Es war ein lauter, lustiger 
Abend, desto stiller aber war der Weg dahin, durch ein verschnei- 
tes, unbekanntes Berlin, das sich im Gaslicht um mich ausbreitete. 
Es verhielt sich zum mir bekannten wie jenes innigst behiitete Stuck 
meiner Postkartensammlung: die Darstellung des Halleschen Tors 
in hellem B(l)au auf dunkler blaue(m) Grunde: der Bellealliance- 
platz war darauf mit den Hausern zu sehen, welche ihn einrahmen; 
der voile Mond stand am Himmel. Der Mond aber und die Fenster 
in den Fassaden waren von der obersten Kartenschicht befreit; sie 
stachen weift aus dem Bild heraus und man muftte es gegen die 
Lampe oder die Kerze halten, um beim Scheine der in genau glei- 
chem Licht paradierenden Fenster- und Mondflachen alles sich 
beruhigen zu sehen. Vielleicht war an jenem Abend die Oper, auf 
die wir uns hinbewegten, jene Lichtquelle vor welcher die Stadt mit 
einem Mai so sehr verandert strahlte, vielleicht aber ist es auch nur 
ein Traum, den ich spater von diesem Wege gehabt habe und von 
dem die Erinnerung sich an die Stelle derer gesetzt hat, die vordem 
Platzhalterin der Wirklichkeit war. 

Dem Baumeister, der die Kaiser-Friedrich-Schule gebaut hat, mufi 
etwas wie markische Backsteingotik vorgeschwebt haben. Jeden- 
falls ist sie aus roten Ziegeln errichtet und bevorzugt Motive, wie 
man sie aus Stendal oder Tangermiinde kennt. Aber alles ist engbrii- 
stig, hochschulterig ausgefallen. Der ganze Bau, der da hart am 
Stadtbahngelande aufsteigt ist von altjungferlicher, trauriger Spro- 
digkeit. Mehr noch (als) den Erlebnissen, die ich in seinem Innern 
hatte, ist es wahrscheinlich diesem seinen Aufkrn zuzuschreiben, 
daft ich keine einzige heitere Erinnerung an ihn bewahre. Auch habe 
ich, seitdem ich ihn verliefi, nicht ein einziges Mai den Gedanken 
gehabt, ihn wieder zu betreten. Von den Schulwegen habe ich schon 
gesprochen. Aber wenn das Portal zur rechten Zeit erreicht war 
oder gar nicht Mufie genug blieb - und der Alp vor dem Kommen- 
den nicht zu sehr lastete - um in der anstofienden Papierhandlung 



508 Autobiographische Schriften 

noch einen Knetgummi, einen Transporteur oder, ganz am Anf ang, 
Oblaten und Bandchen zu kaufen, mit denen die Loschblatter a(m) 
Heftdeckel befestigt wurden - wenn dann am Ende das Gitter, das 
der Pedell erst zehn Minuten vor Beginn der Schule offnen durfte - 
wie trist und wie bedriickt muK dies Warten vor dem Tor und 
unterm Stadtbahnbogen gewesen sein, der an dieser Stelle die Kne- 
sebeckstrafie uberquert, wenn nichts mehr mir davon gegenwartig 
ist als der Zwang, ununterbrochen die Mutze abzunehmen, auf sich 
acht zu geben, wenn wieder einer von den Lehrern vorbeikam, 
denen der Eintritt selbstverstandlich zu beliebiger Zeit erlaubt war. 
Heut erst vermag ich, wie mir scheint, davon mir Rechenschaft zu 
geben, was in dem Zwang, die Mutze vor den Lehrern abzuneh- 
men, Verhafites und Entwiirdigendes lag. Die Zumutung, durch 
diese Geste in den Bannkreis meiner privaten Existenz sie einzulas- 
sen, schien mir ungebuhrlich. Ich hatte gegen eine weniger intime, 
gewissermafien militarische Ehrenbezeugung nichts einzuwenden 
gehabt. Doch einen Lehrer so zu griiKen wie Verwandte oder einen 
Freund kam mir so ungeheuer ungebuhrlich vor, als hatte man in 
meiner Wohnung Schule halten wollen. Daraus allein kann man 
ersehn, wie wenig die Schule je mich zu gewinnen wufite. Und 
wenn ich die altertiimlicheren Formen der Schulzucht - Priigel, 
Platzwechsel oder Arrest - nur in den untern Klassen kennen lernte, 
so hat sich doch der Schrecken und der Bann, den sie in diesen Jah- 
ren um mich legten, nie gehoben. Und das erkenne ich nicht nur an 
der Bedeutung, die der Versetzung sowie jedem der vier Zeugnisse, 
die man im Jahr nach Hause brachte, zukam, sondern an kleineren 
aber bezeichnenderen Einzelheiten. Vor allem an der unausdenkba- 
ren Bestiirzung oder vielmehr Ratlosigkeit, in die die Unterbre- 
chungen im Ablauf dcs Unterrichts - wie Landpartien, die Spiele 
und vor allem die grofie jahrlich anberaumte Konkurrenz der grofi- 
berliner Schulen zur Bestimmung der besten Barlaufmannschaft 
mich versetzten. Unnotig zu sagen, dafi ich der Spielmannschaft, 
die selten Erfolg hatte, niemals angehorte. Aber in die Mobilisie- 
rung der ganzen Schule, die bei solcher Gelegenheit stattfand, war 
auch ich einbegriffen. Die Spiele pflegten im Mai oder Juni und 
zwar auf irgendwelchen Feldern oder Exerzierplatzen in der Nahe 
des Lehrter Bahnhofs stattzufinden. Der Tag war in der Regel glii- 
hend heifi. Unruhig stieg ich am Lehrter Bahnhof aus, zweifelnd 
schlug ich die Richtung ein, die mir vage vorschwebte und fand 



Berliner Chronik 509 

mich endlich mit den widerstreitenden Gefiihlen der Erleichterung 
und des Widerwillens in irgend einem fremden Schiilertrupp. Von 
nun an nahm die Ratlosigkeit kein Ende: ob ich nun meine eigne 
Schule zu suchen hatte, einen Lagerplatz im Schatten ausfindig zu 
machen strebte, ohne das Spielfeld zu durchkreuzen, eine Bretter- 
bude erreichen mufke, um dort Obst zum Friihstuck einzukaufen, 
den Anschein der Teilnahmlosigkeit vermeidend mich um einen der 
Herren, welche die Ergebnisse des Tages bekannt machten, zu 
scharen oder endlich, obwohl ich diese Resultate nicht verstanden 
hatte, auf dem Nachhausewege Bemerkungen liber den Gang des 
Spiels mit meinen Kameraden auszutauschen hatte. Doch was mir 
diese Veranstaltung am allermeisten verhafk und widerwartig 
machte, das war nicht ihr massiger Betrieb sondern ihr Schauplatz. 
Die breiten abgelegnen Alleen, die auf ihn fiihrten, waren von 
Kasernen flankiert, Kasernen grenzten an das Spielfeld, das Feld 
war ein Exerzierplatz. Und mich verlieft an jenen Tagen nicht das 
Gefiihl, wenn ich es hier nur einen Augenblick an Wachsamkeit und 
Obacht fehlen liefte, nur auf eine Weile im Schatten eines Baums 
oder vor dem Stand eines Wurstverkaufers es mir gemutlich 
machte, sei ich dem Ort zehn Jahre spater rettungslos verf alien: 
miisse Soldat werden. - Die Kaiser- Friedrich-Schule liegt dicht am 
Stadtbahngelande des Savignyplatzes. Vom Bahnhof Savignyplatz 
kann man in ihren Hof hinabsehn. Und weil ich - einmal aus ihr 
befreit - von Zeit zu Zeit immer wieder die Gelegenheit wahrnahm, 
steht er jetzt, untauglich nutzlos vor mir, einem jener mexikani- 
schen Tempel ahnlich, die viel zu frlih, unsachverstandig ausgegra- 
ben wurden und deren Fresken unter den Regengussen langst bis 
zur Unkenntlichkeit verwaschen waren als endlich ernstlich die 
Ausgrabung der Kultgerate und Papyri beginnen konnte, die etwas 
Licht auf diese Bilder hatten werfen konnen. So mufi ich mich mit 
dem begniigen, was erst heute wieder auftaucht, vereinzelten her- 
ausgebrochnen Stucken des Interieurs, die doch das Ganze in sich 
enthalten, wahrend das Ganze, das dort draufien vor mir steht, sein 
Einzelnes so spurlos verloren hat. Da stellt sich ein zuerst nur das 
was sicherlich durch alle Jahre meines Schulbesuchs die mii&igste 
meiner Wahrnehmungen gewesen ist: die zinnenbekronte Leiste 
uber den Klassenzimmern. Und vielleicht ist das nicht so unerklar- 
lich. Denn alles, was mir sonst ins Blickfeld kam, hat friiher oder 
spater irgendwie fur mich von Nutzen sein (konnen), mit einem 



510 Autobiographische Schrif ten 

Gedanken, einem Handgriff sich verbunden, die ihn mit sich in das 
Meer des Vergessens fuhrten. Nur diese schmale Leiste, die der 
gesunde Wellenschlag des Alltags taglich unzahlige Male wieder 
ausgeworf en, bis sie wie eine Muschel auf dem Sande an dem Strand 
meiner Traumerei liegen blieb. Und dort ist es, dafi ich nun auf sie 
stofie. Ich nehme sie in die Hand und befrage sie wie Hamlet den 
Totenschadel. Es ist, wie schon gesagt, eine Leiste, die eine Reihe 
Zinnen darstellt. Was aber zwischen ihnen zum Vorschein kommt, 
ist nicht etwa das Leere sondern jeweils wieder das Holz, nur abge- 
schragt und eingekerbt. Sicher war es ihre Absicht, an eine Burg zu 
erinnern. Aber was mit dieser Erinnerung anzufangen sei, war eine 
andere Frage. Allenfalls verstarkte diese Leiste noch die Ahnung 
der kompakten Masse, die man vormittags, hinter den geschlofinen 
Turen vermutete: der Klasse im Unterricht. Uber den Tiiren, die 
zum Handfertigkeit- und Zeichensaale fuhrten wurde sie zum 
Emblem einer gewissen zunftgerechten Biederkeit. Am Klassen- 
schrank fand sie sich wieder, aber wieviel grofiern Nachdruckbesafi 
sie an den genau gleich geformten Schranken, die an der Wand des 
Lehrerzimmers standen. In Septima, Oktava und Nona kam sic in 
Nachbarschaft der vielen Mantelchen und Miitzen an den Kleider- 
rechen nicht zur Geltung; in den obersten Klassen aber enthielt sie 
eine Anspielung auf das Abiturium welches bald die Miihe ihrer 
Angehorigen kronen sollte. Doch immer war es von Bedeutung und 
Vernunft nur mehr ein Schatten, der sie an solchen Orten iiberflog 
und nach wie vor blieb sie, vereint mit den unsaglichen griingrauen 
Ornamenten, die die Wand der Aula schmiickten, mit den absurden 
Knopf en und Voluten der gufieiser(n)en Gelander, das Asyl all 
meiner Schreckensminuten und Angsttraume. Nichts aber konnte 
es mit der Leiste aufnehmen, es sei denn das Klingelzeichen, das 
Beginn und Ende der Stunden und der Pausen schrillend bezeich- 
nete. Klang und Dauer dieses Signals blieben sich immer gleich. Wie 
anders dennoch die Klingel zu Beginn der ersten und am Schlufi der 
letzten Stunde anschlug - dies zu umschreiben hiefie den Schleier 
liiften, den sieben Schuljahre immer dichter iiber jeden der Tage 
warfen, die sie bildeten. Im Winter gab es oft noch Licht, wenn sie 
einsetzte, es hatte aber nichts Heimliches und gab so wenig 
Zuflucht wie das Licht, mit dem (der) Zahnarzt uns unsern Mund 
erleuchtet, in dem er einen Eingriff machen mufi. Zwischen zwei 
Klingelzeichen lag die Pause und an die zweite schlofi sich das 



Berliner Chronik 511 

Getrappel, das Larmen und Geschwatz mit dem die Masse der Schil- 
ler sich durch nur zwei Tiiren stromend, die engen Treppen durch 
drei Stockwerke hinaufschob. Diese Treppen sind mir immer ver- 
hafk gewesen: verhafk, wenn ich sie in der Herde, einen Wald von 
Waden und von Fiifien vor mir, wehrlos den schlechten Ausdiin- 
stungen aller Korper, die sich so eng an meinen schoben, ausgeliefert 
ersteigen mufke- nicht weniger verhafit wenn ich verspatet, sie ganz 
allein, die ausgestorbnen Korridore kreuzend, bis nach oben hasten 
mufke um aufter Atem in die Klasse einzutreten. War es dann noch 
bevor der Lehrer die Klinke in die Hand genommen hatte, so mochte 
er ganz nahe stehn, man kam nichtsdestoweniger gewisser ungesehn 
herein. Aber wehe, wenn die Tur schon geschlossen war - mochten 
auch die benachbarten noch so weit offen stehen, mochte von oben 
oder unten erst nach einer Weile der Knall von zugeschlagnen Tiiren 
den Beginn des Unterrichts verkiinden, mochte das Auge eines f rem- 
den Lehrers, der den Flur entlang kam, noch so harmlos uns streifen- 
einem Strafgericht im Innern war garnicht zu entgehen, wenn wir 
erst einmal den Mut zum offnen gefunden hatten. 

»Nah nicht liebes Miitterlein Am roten Sarafan Nutzlos wird die 
Arbeit sein Drum strenge dich nicht an« » Abend wird es wieder Uber 
Wald und Feld Sinken Schatten nieder Und es ruht die Welt« »Ich bin 
der Doktor Eisenbart Juvivallera Juche Kurier die Leut nach meiner 
Art Juvivallera Juche« »Wohlauf noch getrunken den funkelnden 
Wein Adee nun Ihr Lieben Geschieden raufi sein{«) (»)Wie die 
Wolken so wandern am himmlischen Zelt So steht auch der Sinn mir 
In die weite weite Welt« - dies und viel anderes spielte mir meine 
Mutter aus dem Erkschen Liederschatz, der in Gestalt zweier dicker 
griin-gold gebundner Bande in dem Notenstander ruhte. Ich sang 
nicht mit, aber ich horte es gern. Diese Melodien gehorten zurWoh- 
nung wie das Scheppern des Schliisselkorbs, wenn meine Mutter ihn 
ungeduldig nach der Borse oder dem Notizbuch, die zu unterst 
lagen, durchsuchte, wie der dumpfe Knall mit dem am Abend der 
Gasstrumpf der Hangekrone iiberm groften Tisch im Speisezimmer 
an dem Streichholz sich entziindete, wie das Kreischen des Aufzugs, 
welcher Speisen und Geschirr aus der Kuche beforderte, wie das 
Gerausch, mit dem der heimkehrende Vater mittags die Wohnungs- 
tiir aufschlofl und den Stock in den Schirmstander fallen liefi. 



j 1 2 Autobiographische Schriften 

In einer der Straflen, die ich auf solch endlosen Wanderungen pas- 
sierte, uberraschte mich, viele Jahre friiher, das Erwachen meines 
Geschlechtstrieb ( s ) unter den sonderbarsten Verhaltnissen. Es war 
am judischen Neujahrstage und meine Eltern hatten Anstalten 
getroffen, mich in irgend einer gottesdienstlichen Feier unterzu- 
bringen. Wahrscheinlich handelte es sich urn eine Veranstahung der 
Reformgemeinde, der meine Mutter aus Griinden einer Tradition in 
der Familie einige Sympathie entgegen brachte, wahrend mein 
Vater von Hause aus dem orthodoxen Ritus gewogner war. Er 
mufite aber nachgeben. Man hatte mich fur diesen Synagogenbe- 
such einem Verwandten anvertraut, den ich abholen sollte. Aber sei 
es nun, dafi ich dessen Adresse vergessen hatte, sei es, dafi ich mich 
in der Gegend nicht zurechtfand, es wurde spater und spater ohne 
dafi ich meinem Ziel naher kam. Selbstandig in die Synagoge mich 
zu begeben, konnte garnicht in Frage kommen, da ich vom Weg 
keine Ahnung hatte. An dieser Ratlosigkeit, Vergefilichkeit, Verle- 
genheit trug zweifellos die Hauptschuld Abneigung gegen die 
bevorstehende Veranstaltung und gegen die verwandtschaftliche 
nicht minder als gegen die gottesdienstliche. Wahrend ich noch so 
umherirrte, iiberkam mich plotzlich und genau zu gleicher Zeit 
einerseits der Gedanke: viel zu spat, die Zeit ist langst verpafit, du 
schaffst es nie-andrerseits das Gefiihl, wie durchaus gleich das alles 
sei, wie gut man die Dinge konne laufen lassen wie sie mochten: und 
diese beiden Bewufkseinsstrome flossen unaufhaltsam zu einem 
grofien Lustgefiihl zusammen, das mich mit blasphemischer 
Gleichgultigkeit gegen den Gottesdienst erfullte, der Strafie aber, 
auf der ich mich befand, so schmeichelte als hatte sie mir damals 
schon die Kupplerdienste zu verstehn gegeben, welche sie spater 
dem erwachten Triebe leisten sollte. 

Die »Sommerwohnungen« hatten wir erst in Potsdam, dann in 
Babelsberg. Man wohnte damals drauften, namlich von der Stadt 
aus gesehen; vom Sommer aus gesehen aber war es innen: man 
nistete in ihm und die Erinnerungen an ihn mufi ich, wie Moose, die 
man auf gut Gluck im Dunkeln sich von den Wanden einer Hohle 
rauft, aus seiner schwulen feuchten Dammerung losen. Es gibt 
Erinnerungen, die im Gedachtnis besonders gut verwahrt bleiben, 
weil sie durch einen Chock zwar selber nicht betroffen, von allem 
folgenden aber sind isoliert worden. Sie haben sich gegen spatere 



Berliner Chronik 513 

nicht mehr verschleifen konnen und blieben abgesondert, auf sich 
selbst verwiesen. Eine solche kommt mir zuerst wenn ich von die- 
sen Sommertagen rede: es ist ein Abend in meinem siebenten oder 
achten Jahr. Eins unserer Madchen stent noch eine Weile an dem 
Gittertor, das auf ich weifi nicht welche Allee herauffiihrt. Der 
grofie Garten, in dessen verwilderten Randgebieten ich mich her- 
umgetrieben hatte, hat sich schon fiir mich geschlossen. Es ist Zeit 
zum Zubettgehen geworden. Vielleicht habe ich mich an meinem 
Lieblingsspiel ersattigt und irgendwo am Drahtzaun im Gestriipp 
mit Gummibolzen meiner Heurekapistole nach den holzernen 
Vogeln geschossen, die beim Anprall des Bolzens aus dem griinen 
gemalten Blattwerk nach hinten fielen, wo Bindfaden sie mit der 
Riickwand des Tableaus verbanden. Den ganzen Tag hatte ich ein 
Geheimnis fiir mich behalten : namlich den Traum der letztvergang- 
nen Nacht. Ein unheimlicher war es gewesen. Mir war ein Gespenst 
erschienen. Der Ort, an dem es sich zu schaffen machte, existierte 
zwar eigentlich und genau genommen in unserer Wohnung gar- 
ment, hatte aber doch sehr viel Ahnlichkeit mit einem mir bekann- 
ten, aufregenden und unzuganglichen, dem Winkel namlich im 
Schlafzimmer der Eltern, der im Bogen gegen das ubrige Gemach 
von einem schweren, verschofinen violetten Vorhang abgeteilt war, 
und in dem die Morgenrocke, Hauskleider, Uberwiirfe meiner 
Mutter hingen: Das Dunkel hinter der Portiere war unergriindlich 
und dieser Winkel war das verrufne nachtliche Gegenstiick zu 
jenem lichten, begliickenden Bereiche, das mit dem Wascheschrank 
der Mutter sich bisweilen offnete, in dem auf Brettern, von weiften 
Borten, deren blaugestickter Text der Glocke entnommen war, 
gesaumt, die Laken, Tischtiicher, Servietten und Beziige gestapelt 
lagen. Ein suffer Lavendelduft kam aus den kleinen bunten Sachets 
aus Seide, welche an der Innenwand der Schranktiiren niederhin- 
gen. Das waren Holle und Paradies, in die der alte geheimnisvolle 
Wirk- und Webezauber, der einst im Spinnrad seinen Ort besessen, 
sich gespalten hatte. Der Traum nun war von unten aus der bosen 
Welt gekommen: ein Gespenst, das sich in einem Gestell von seid- 
nen Geweben in grofier Zahl, einander uberdeckend, zu schaffen 
macht. Diese Seiden stahl das Gespenst. Es raffte sie nicht an sich, 
trug sie nicht fort, es tat mit ihnen und an ihnen eigentlich nichts 
Sichtbares, Deutliches und Unterschiednes und dennoch wuftte ich 
es stahl sie, so wie in den Sagen die Leute, die ein Geistermahl ent- 



514 Autobiographische Schriften 

decken, wissen, dafi diese Toten Mahlzeit halten ohne sie dabei 
essen oder trinken zu sehen. Dieser Traum wars, welchen ich fur 
mich behalten hatte. In der Nacht nun, die auf diese folgte, bemerk- 
te ich im Halbschlaf wie zu ungewohnter Stunde mein Vater und 
meine Mutter leise zu mir hereinkamen. Dafi sie sich bei mir ein- 
schlossen, sah ich nicht, als ich am andern Morgen aufstand, gab es 
nichts zum Fruhstuck. Die Wohnung war ausgeraubt. Mittags kam 
meine Grofimutter aus Berlin mit dem notigsten. Eine vielkopfige 
Einbrecherbande hatte sich nachts iiber das Haus hergemacht. Zum 
Gluck liefi das Gerausch, das sie im Hause machten, auf ihre Menge 
einen Schlufi zu und so war es meiner Mutter gegluckt, den Vater, 
der sich, nur mit einem Taschenmesser bewaffnet, ihnen hatte stel- 
len wollen, zuriickzuhalten. Bis gegen Morgen hatte der gefahrliche 
Besuch gedauert - vergebens hatten die Eltern in der Dammerung 
am Fenster gestanden, um nach aufien Signale zu geben: die Bande 
hatte in aller Ruhe mit den Korben abziehen konnen. Viel spater 
wurde sie gefafit und da ergab sich, dafi ihr Organisator, ein vielf ach 
vorbestrafter Morder und Zuchthausler taubstumm war. Es machte 
mich stolz, dafi man mich iiber die Ereignisse des Vorabends aus- 
fragte - denn man glaubte einer Komplizitat des Dienstmadchens, 
die am Gitter gestanden hatte, mit den Einbrechern auf der Spur zu 
sein. Noch stolzer aber machte mich die Frage, warum ich meinen 
Traum, den ich als Prophezeiung, naturlich nun zum besten gab, 
verschwiegen hatte. 

Was mir die ersten Biicher gewesen sind - das zu erinnern mufi ich 
jedes andere Wissen um Biicher allererst vergessen haben. Gewifi 
ruht all mein heutiges auf der Bereitschaft, mit der ich damals mich 
dem Buch erschlofi; wo aber heute Inhalt und Thema, Gegenstand 
und Stoff dem Buch als Aufieres gegeniibertritt, fand es sich friiher 
ganz allein in ihm, es war sowenig dem Buche ein Aufieres, Unab- 
hangiges wie es ihm heute die Anzahl seiner Seiten ware oder sein 
Papier. Die Welt, die sich im Buch eroffnete und dieses selbst, 
waren um keinen Preis zu trennen und vollkommen eins. So war 
mit einem Buche auch sein Inhalt, seine Welt handgreiflich da, mit 
einem Griff zur Stelle. So aber verklarte dieser Inhalt, diese Welt 
nun auch das Buch an alien seinen Teilen. Sie brannten in ihm, 
strahlten von ihm aus; sie nisteten nicht nur im Einband oder in den 
Bildern; Kapiteluberschriften und Anfangsbuchstaben, Absatze 



Berliner Chronik 515 

und Kolonnen waren ihr Gehause. Man las sie nicht aus, nein, man 
wohnte, hauste zwischen ihre{n) Zeilen und wenn (man) nach 
einer Pause sie wieder aufschlug, so schreckte man sich selber an der 
Stelle auf, an der man stehen geblieben war. Die Beseligung aber, 
mit welcher man das neue Buch entgegennahm, kaum wagte, einen 
fluchtigen Blick hineinzuwerfen, war die des Gastes, der in einem 
Schlofi auf ein paar Wochen eingeladen ist, und es kaum wagt, die 
langen Fluchten von Prunkgemachern, welche er bis zu seinem 
Zimmer durchschreiten mufi, mit einem Blicke der Bewunderung 
zu streifen. Um so ungeduldiger ist er sich zuriickziehen zu diirfen. 
Und so hatte ich denn auch kaum alljahrlich auf dem Weihnachts- 
tisch den letzten Band des »Neuen deutschen Jugendfreunds« 
gefunden als ich mich ganz hinter die Brustwehr seines wappenge- 
schmiickten Deckels zuriickzog und mich in die Spionen- oder 
Jagdgeschichte vortastete, in welcher ich die erste Nacht zubringen 
sollte. Es gab nichts schoneres als in dieser ersten Durchmusterung 
des Geschichtenlabyrinths die unterschiedlichen Luftstrome, Diif- 
te, Helligkeiten und Gerausche auszuwittern, die aus seinen ver- 
schiednen Kammern und Gangen kamen. Denn wirklich zogen sich 
die langeren Geschichten, vielfaltig unterbrochen, um als Fortset- 
zungen wieder aufzutauchen als unterirdische Gange durch das 
Ganze. Und was tat es, wenn die Aromata, die aus den Stollen in die 
Hohe stiegen, in der wir Globen oder Wasserrader blitzen sahen, 
sich mit dem Duft des Pfefferkuchens vermengten oder ein Weih- 
nachtslied die Gloriole um das Haupt von Stephenson wob, das im 
Halt zweier Seiten wie ein Ahnenbild durch den Turspalt auf- 
tauchte oder der Duft des Pfefferkuchens sich mit dem eines sizili- 
schen Schwefelbergwerks verband, das auf einem Vollbild uns 
plotzlich wie auf einem Fresko entgegenschlug. Hatte man aber 
eine Weile in sein Buch vertieft gesessen, und trat ich dann wieder 
an den Tisch mit den Geschenken, so stand er nicht mehr wie beim 
ersten Schritt ins Weihnachtszimmer fast gebietend iiber mir, son- 
dern mir war als schritte ich eine kieine Estrade hinab, die mich von 
meinem Geisterschlofi wieder zu ihm herabfuhrte. 

Mit diesem Gliick, das ich erinnere aber verschmilzt ein andres: dies 
in der Erinnerung zu besitzen. Ich kann die beiden heute nicht mehr 
von einander trennen: es ist als sei es von dem Geschenk des Augen- 
blicks, von dem ich hier berichte, nur ein Teil: dafi er die Gabe 



5 1 6 Autobiographische Schrif ten 

mitbekam, mir nie mehr ganz verloren zu gehen - sollte es auch 
(J)ahrzehnte zwischen den Sekunden w(ah)ren, wo ich seiner ge- 
denke. 

Jeder kann sich Rechenschaft da von ablegen, dafi die Dauer, in der 
wir Eindriicken ausgesetzt sind, ohne Bedeutung fur deren Schick- 
sal in der Erinnerung ist. Nichts hindert, dafi wir Raume, wo wir 
vierundzwanzig Stunden waren, mehr oder weniger deutlich im 
Gedachtnis halten, und andere, wo wir Monate verbrachten, ganz 
vergessen. Es ist also durchaus nicht immer Schuld einer allzukur- 
zen Belichtungsdauer, wenn auf der Platte des Erinnerns kein Bild 
erscheint. Haufiger sind vielleicht die Falle, wo die Dammerung der 
Gewohnheit der Platte jahrelang das notige Licht versagt, bis dieses 
eines Tages aus fremden Quellen wie aus entzundetem Magnesium- 
pulver aufschiefit und nun im Bilde einer Momentaufnahme den 
Raum auf die Platte bannt. Im Mittelpunkte dieser seltnen Bilder 
aber stehen stets wir selbst. Und das ist nicht so ratselhaft, weil 
solche Augenblicke plotzlicher Belichtung gleichzeitig Augen- 
blicke des Aufier-Uns-Seins sind und wahrend unser waches, 
gewohntes, taggerechtes Ich sich handelnd oder leidend ins Gesche- 
hen mischt, ruht unser tieferes an anderer Stelle und wird vom 
Chock betroffen wie das Haufchen Magnesiumpulver von der 
Streichholzflamme. Dies Opfer unseres tiefsten Ichs im Chock ist 
es, dem unsere Erinnerung ihre unzerstorbarsten Bilder zu danken 
hat. So ware das Zimmer, wo ich mit sechs Jahren schlief, fur mich 
vergessen, wenn don nicht eines Abends - ich lag schon zu Bett - 
mein Vater mit einer Todesnachricht eingetreten ware. Im Grunde 
war es nicht diese Nachricht selbst, die mich so traf ; der Tote war 
ein entfernter Vetter. Aber in der Art, in der mein Vater mir das 
sagte, war (abgebrochen) 

Die erste grofie Enttauschung meines Lebens erreichte mich eines 
Nachmittags auf der Pfaueninsel. Man hatte mir unterwegs gesagt, 
ich werde im Gras dort Pfauenfedern liegen finden. Und kaum hatte 
ich das erfahren, so mufi sich in mir mit der Geschwindigkeit, in der 
ein Funke zwischen zwei geladenen Systemen iiberspringt, ein 
enger Zusammenhang zwischen dem Namen dieser Inseln (sic) 
und der Pfauenfeder gebildet haben. Nicht etwa, dafi dieser Funke 
nun den Umweg iiber das Bild des Pfauen genommen hatte. Dies 



Berliner Chronik 5 1 7 

blieb bei dem ganzen Vorgang aufler Spiel. Und so richtete sich 
mein vorwurfsvolles Staunen als ich den Rasen so vergeblich durch- 
forschte, denn auch nicht gegen die Pfauen, die ich auf und ab spa- 
zieren sah, vielmehr gegen den Boden dieser Insel selber, die eine 
Pf aueninsel war, doch keine Pfauenerde trug. Hatte ich die ersehnte 
Feder im Gras gefunden - ich ware an dieser Stelle mir erwartet und 
bewillkommt vorgekommen. Nun schien mir die Insel ein Verspre- 
chen gebrochen zu haben. Die Pfauen konnten mich daruber 
bestimmt nicht trosten. Sie waren ja fur jedermann zu sehen. Ich 
aber hatte das haben miissen, was fur mich allein bestimmt, vor 
alien anderen versteckt und nur von mir im Gras zu finden war. 
Diese Enttauschung ware nicht so schwer gewesen, wenn nicht die 
miitterliche Erde selber es gewesen ware, die sie mir zugefiigt hatte. 
So ware auch die Beseligung, nach langen Miihen das Radfahren 
erlernt zu haben, nicht so siift gewesen, wenn nicht die miitterliche 
Erde selber ihr Lob dafur mich hatte spiiren lassen. Man lernte 
damals - in der Bliitezeit des Radfahrsports - das radeln in groften, 
eigens dem bestimmten Hallen. Diese Hallen hatten aber nicht das 
snobistische Geprage der spateren Eispalaste oder Tennishallen; sie 
ahnelten vielmehr den seating-rings, Turnhallen oder Zandersalen 
und waren Dokumente einer Gesinnung welcher Sport und Freiluft 
durchaus nicht wie den Heutigen unzertrennlich war. Es war die 
Zeit der »Sportkostume« die noch nicht, wie unsere heutige Trai- 
ningskleidung sich vor allem dem Korper auf das nachste anzupas- 
sen strebt, sondern den einzelnen bestimmten Sport auf das 
Genaueste abzugrenzen (auszupragen?) und von alien andern so 
abzukapseln strebt wie jene Hallen von der Natur und andern 
Ubungen ihn isolierten. Der Sport, wie er in diesen Hallen betrie- 
ben wurde, hatte noch alle Exzentrizitaten seiner Friihzeit an sich. 
Auf dem asphaltierten Boden bewegten sich unter Aufsicht von 
Trainern neben den gewohnlichen Radern fur Herren, Damen, 
Kinder Gestelle, deren Vorderrad zehnmal so grofi war als das 
kleine Hinterrad und deren luftiger Sitz wahrscheinlich von Arti- 
sten eingenommen wurde, welche hier irgend eine Nummer einstu- 
dierten. 

Die Baumgarten von Glienicke, die breiten, feierlichen Promena- 
den von SchlofS Babelsberg, die schmalen versteckten Pfade unseres 
Sommergartens, die schattigen Laubengange, welche an den Stel- 



5 1 8 Autobiographische Schrif ten 

len, wo Landungsbriicken waren, an den Griebnitzsee herunter- 
fiihrten - dies alles schlug ich zu meinem Reiche, in der Phantasie in 
einem Augenblick vollendend das Werk zahlloser Promenaden, 
Spiele, Streifereien(,) in meiner Vermahlung mit der Bodenwelle 
knieend{,) wie ein Dynast durch eine einzige gliickliche Verbin- 
dung unendliche Territorien sich erobert. 

Ich habe von den Hofen gesprochen. Selbst Weihnachten war im 
Grunde ein Fest der Hofe. In den Hofen begann es mit den Leier- 
kasten, die die Woche vor dem Fest mit Choralen dehnten und in 
Hofen endete es mit den Tannenbaumen, die, ihres Fufies beraubt, 
im Schnee lehnten oder im Regen glanzten. Aber Weihnachten kam 
und teilte mit einem Mai vor den Augen des Burgerkindes seine 
Stadt in zwei gewaltige Lager. Es waren nicht die echten wirklichen, 
in denen Ausgebeutete und Herren einander unversohnlich gegen- 
uberliegen. Nein, es war ein gestelltes arrangiertes Heerlager beinah 
so unwirklich und so kiinstlich wie die Krippen, die aus Papieren 
oder holzernen Figuren gestellt waren, aber auch so alt und so ehr- 
wiirdig: Weihnachten kam und teilte in Arm und Reich. Weihnach- 
ten kam und teilte die Kinder in solche, die an den Buden des Pots- 
darner Platzes sich mit ihren Eltern entlangschoben und solche die 
im Innern, allein, ihre Puppen und ihre Schafchen fur gleichaltrige 
Kinder zum Verkaufe boten. Weihnachten kam und mit ihm eine 
ganze unbekannte Welt von Waren, (abgebrochen) 

Man hat das deja vu sehr oft beschrieben. Aber ich frage mich, ob 
die Bezeichnung eigentlich gliicklich und die Metapher, welche 
allein dem Vorgang angemessen ist, nicht viel besser dem Bereiche 
der Akustik zu entnehmen ware. Man sollte von Vorf alien reden, 
welche uns betreffen wie ein Echo, zu dem der Ruf, der Hall der es 
erweckte, irgendwann im Dunkel des verflofinen Lebens ergangen 
scheint. Dem entspricht, wenn wir nicht irren, dafi der Chock, mit 
welchem Augenblicke als schon gelebt uns ins Bewufksein treten, 
meist in Gestalt von einem Laut uns zustofk. Es ist ein Wort, ein 
Klopfen oder Rauschen, welchem die magische Gewalt verliehen 
ist, mit einem Male uns in die kiihle Gruft des Einst zu bannen, von 
deren Wolbung uns die Gegenwart nur als ein Echo scheint zuriick- 
zuhallen. Hat man aber je dem Gegenbilde dieser Entriickung nach- 
geforscht, dem Chock, mit dem wir auf eine Geste oder auf ein 



Berliner Chronik j 19 

Wort gestofien sind, wie man mit einmal einen vergefinen Hand- 
schuh oder Pompadour bei sich entdeckt. Und wie uns die auf eine 
Fremde schliefien lassen, welche da war, so gibt es Worte oder 
Gesten, die uns auf jene unsichtbare Fremde schliefien lassen, die 
Zukunft, welche sie bei uns vergafi. Ich mochte fiinf Jahre alt sein. 
Eines abends - ich lag bereits im Bett - erschien mein Vater, wahr- 
scheinlich urn mir gute Nacht zu sagen. Es war wohl halb gegen 
seinen Willen, dachte ich, dafi er die Neuigkeit vom Tod eines Ver- 
wandten mir erzahlte. Der Tote war ein Vetter, ein erwachsner 
Mann, der mich wenig anging. Mein Vater aber gab die Nachricht 
mit Details, erklarte mir bei der Gelegenheit auf meine Frage was 
ein Herzschlag sei und war redselig. Von der Erklarung nahm ich 
nicht viel auf. Wohl aber habe ich an diesem Abend mein Zimmer 
und mein Bett mir eingepragt wie man sich einen Ort genauer 
merkt, von dem man ahnt, man werde eines Tages etwas Vergesse- 
nes dort suchen miissen. Viele Jahre spater erfuhr ich, was. »Ver- 
gessen« hatte hier, in diesem Zimmer mein Vater einen Teil der 
Todesnachricht: dafi die Krankheit Syphilis hiefi. 

Diabolo / Das Pult, an dem ich meine Schularbeiten machte / Bahn- 
hof Neubabelsberg / Schloft Neubabelsberg 



Aufzeichnungen 1933-1939 



Trauriges Gedicht 

Man sitzt im Stuhle und schreibt. 

Man wird miider und miider und miider. 

Man legt sich zur richtigen Zeit, 

Man ifit zur richtigen Zeit. 

Man hat Geld, 

Das hat der liebe Gott geschenkt. 

Das Leben ist wunderbar! 

Das Herz klopft lauter und lauter und lauter, 

Das Meer wird stiller und stiller und stiller 

Bis auf den Grund. r , 

San Antonio 11. 4. jj 

Agesilaus Santander 
(Erste Fassung) 

Als ich geboren wurde, kam meinen Eltern der Gedanke, ich 
konnte vielleicht Schriftsteller werden. Dann sei es gut, wenn nicht 
gleich jeder merke, dafi ich Jude sei. Darum gaben sie mir aufier dem 
Rufnamen noch zwei sehr ungewohnliche. Ich will sie nicht verra- 
ten. Genug, dafi schwerlich Eltern vor vierzig Jahren weiter blicken 
konnten. Was sie entfernt fur moglich hielten, ist eingetroffen. Nur 
ihre Vorkehrungen, die dem Schicksal hatten begegnen wollen, 
setzte der, welchen es anging, aufier Kraft. Anstatt die beiden vor- 
sorglichen Namen mit seinen Schriften offentlich zu machen, 
schlofi er sie in sich ein. Er wachte iiber sie wie einst die Juden 
iiberm geheimen Namen, den sie jedem von ihren Kindern gaben. 
Diese selber erfuhren ihn nicht eher als am Tage des Mannbarwer- 
dens. Weil aber ein solches sich im Leben mehr als einmal ereignen 
kann, vielleicht auch nicht jeder geheime Name sich stets gleich und 
unverwandelt bleibt, so kann sich seine Verwandlung wohl mit 
einem neuen Mannbarwerden offenbaren. Er bleibt darum nicht 
weniger der Name, der alle Lebenskrafte in sich fafit, bei welchem 
sie beschworen und vor Unberufenen behutet werden. 
Doch keineswegs ist dieser Name eine Bereicherung dessen, der ihn 
fiihrt. Vieles entzieht er ihm, vor allem aber die Gabe, ganz der Alte 



Agesilaus Santander 521 

zu erscheinen. Im Zimmer, welches ich zuletzt bewohnte, hat 
jener, eh er aus dem alten Namen geriistet und geschient ans Licht 
trat, sein Bild bei mir befestigt: Neuer Engel. Die Kabbala erzahlt, 
daft Gott in jedem Nu eine Unzahl neuer Engel schafft, die alle nur 
bestimmt sind, ehe sie in Nichts zergehen, einen Augenblick vor 
seinem Thron sein Lob zu singen. Meiner war dabei unterbrochen 
worden: seine Ziige hatten nichts Menschenahnliches. Im ubrigen 
hat er es mir entgolten, bei seinem Werk gestort worden zu sein. 
Indem er namlich sich den Umstand zu nutze machte, daft ich 
unterm Saturn zur Welt kam- dem Planeten der langsamen Umdre- 
hung, dem Gestirn des Zogerns und Verspatens - schickte er seine 
weibliche Gestalt der mannlichen im Bilde auf dem langsten, ver- 
hangnisvollsten Umweg nach, obschon doch beide so sehr benach- 
bart gewesen waren. 

Er wuftte vielleicht nicht, daft er damit die Starke dessen, gegen den 
er anging, zur Geltung brachte. Denn mit nichts ist meine Geduld 
zu iiberwinden. Ihre Schwingen ahneln denen des Engels darin, daft 
sehr wenige Stofie ihnen genug sind, um sich unverriickbar im 
Angesichte derer zu erhalten, welche sie zu erwarten entschlossen 
ist. Doch sie, die Klauen wie der Engel hat und messerscharfe 
Schwingen, macht nicht Miene, auf die, die sie gesichtet hat, zu 
stiirzen. Sie lernt vom Engel, wie er seinen Partner im Blick umfafit, 
dann aber stoft weise und unaufhaltsam weicht. Er zieht ihn nach auf 
jener Flucht in eine Zukunft, aus der er vorgestoften ist. Er hofft 
von ihr nichts Neues mehr als nur den Blick des Menschen, dem er 
zugewandt bleibt. 

So fuhr ich, kaum daft ich zum ersten Male dich gesehen hatte, mit 
dir dahin zuriick, woher ich kam. 

Ibiza 12 August 1933 

Agesilaus Santander 

{Zweite Fassung) 

Als ich geboren wurde, kam meinen Eltern der Gedanke, ich 
konnte vielleicht Schriftsteller werden, Dann sei es gut, wenn nicht 
gleich jeder merke, daft ich Jude sei. Darum gaben sie mir aufier 
meinem Ruf namen noch zwei weitere, ausgefallene, an denen man 
weder sehen konnte, daft ein Jude sie trug, noch daft sie ihm als 
Vornamen gehorten. Weitblickender konnte vor vierzig Jahren ein 



522 Autobiographische Schriften 

Elternpaar sich nicht erweisen. Was es nur entfernt fur moglich 
hielt, ist eingetroffen. Nur die Vorkehrungen, mit denen es dem 
Schicksal hatte begegnen wollen, setzte der, den es betraf, beiseite. 
Anstatt ihn namlich mit den Schriften, die er verfafite, offentlich zu 
machen, hielt er es wie die Juden mit dem zusatzlichen ihrer Kinder, 
der geheim verbleibt. J a, diesen selber teilen sie ihnen erst mit, wenn 
sie mannbar werden. Weil sich nun aber dieses Mannbarwerden im 
Leben mehr als einmal ereignen kann, vielleicht auch der geheime 
Name gleich und unverwandelt nur dem Frommen bleibt, so kann 
dem, der es nicht ist, dessen Wandel sich wohl mit einem neuen 
Mannbarwerden mit einem Schlage offenbaren. So mir. Er bleibt 
darum nicht minder der Name der die Lebenskrafte in der streng- 
sten Bindung aneinanderschliefk und vor den Unberufnen zu hiiten 
ist. 

Doch keineswegs ist dieser Name eine Bereicherung dessen, den er 
nennt. Im Gegenteil, von dessen Bild fallt vieles ab wenn er laut 
wird. Es verliert(,) vor allem, die Gabe, menschenahnlich zu 
erscheinen. Im Zimmer, das ich in Berlin bewohnte, hat jener, ehe 
er aus meinem Namen geriistet und geschient ans Licht trat, sein 
Bild an der Wand befestigt: Neuer Engel. Die Kabbala erzahlt, dafi 
Gott in jedem Nu eine Unzahl neuer Engel schafft, die jeder nur 
bestimmt sind, ehe sie ins Nichts zergehen, einen Augenblick das 
Lob von Gott vor seinem Thron zu singen. Als solchen Engel gab 
der Neue sich aus ehe er sich nennen wollte. Nur furchte ich, dafi 
ich ihn ungebuhrlich lange seiner Hymne entzogen habe. Im iibri- 
gen hat er mir das entgolten. Indem er namlich sich den Umstand 
zunutze machte, dafi ich unterm Saturn zur Welt kam - dem 
Gestirn der langsamsten Umdrehung, dem Planeten der Umwege 
und der Verspatungen - schickte er seine weibliche Gestalt der 
mannlichen im Bilde auf dem langsten, verhangnisvollsten Umweg 
nach, obschon doch beide einmal - nur kannten sie einander nicht, 
aufs innigste benachbart gewesen waren. 

Er wufite vielleicht nicht, dafi sich die Starke dessen, den er so tref- 
fen wollte, derart am besten zeigen konnte: namlich wartend. Wo 
dieser Mann auf eine Frau stiefi, die ihn bannte, war er unversehens 
entschlossen, auf ihrem Lebensweg sich auf die Lauer zu legen und 
zu warten bis sie krank, gealtert, in zerschlissenen Kleidern ihm in 
die Hande fiele. Kurz, mit nichts war die Geduld des Mannes zu 
entkraften. Und ihre Schwingen ahnelten den Schwingen des 



Notizen Svendborg Sommer 1934 523 

Engels darin, daft sehr wenige Stofie ihnen geniigten, um sich lange 
unverriickbar im Angesichte dessen zu erhalten, von dem er nicht 
mehr zu lassen entschlossen war. 

Der Engel aber ahnelt allem, wovon ich mich habe trennen miissen: 
den Menschen und zumal den Dingen. In den Dingen, die ich nicht 
mehr habe, haust er. Er macht sie durchsichtig und hinter jedem 
erscheint mir der, welchem sie zugedacht sind. Darum bin ich von 
niemandem im Schenken zu ubertreffen. Ja, vielleicht war der Engel 
angelockt von einem Schenkenden, der leer ausgeht. Denn auch er 
selbst, der Klauen hat und spitze, ja messerscharfe Schwingen{,) 
macht keine Miene, auf den, den (er) gesichtet hat, zu stiirzen. Er 
fafit ihn fest ins Auge - lange Zeit, dann weicht er stoflweis, aber 
unerbittlich zuruck. Warum? Um ihn sich nachzuziehen, auf 
jene(m) Wege in die Zukunft, auf dem er kam und den er so gut 
kennt, daft er ihn durchmifit ohne sich zu wenden und den, den er 
gewahlt hat, aus dem Blick zu lassen. Er will das Gliick: den Wider- 
streit, in dem die Verziickung des Einmaligen, Neuen, noch Unge- 
lebten mit jener Seligkeit des Nocheinmal, des Wiederhabens, des 
Gelebten liegt. Darum hat er auf keinem Wege Neues zu hoffen als 
auf dem der Heimkehr, wenn er einen neuen Menschen mit sich 
nimmt. So wie ich, kaum dafi ich zum ersten Male dich gesehen 
hatte, mit dir dahin zuriickfuhr, woher ich kam. 

Ibiza 13 August 1933 

Notizen Svendborg Sommer 1934 

4 Juli Langes Gesprach in Brechts Krankenzimmer in Svendborg, 
gestern, kreiste um meinen Aufsatz »Der Autor als Produzent«. 
Die darin entwickelte Theorie, ein entscheidendes Kriterium einer 
revolutionaren Funktion der Literatur liege im Mafie der techni- 
schen Fortschritte, die auf eine Umfunktionierung der Kunstfor- 
men und damit der geistigen Produktionsmittel hinauslaufen, 
wollte Brecht nur fur einen einzigen Typus gelten lassen - den des 
grofiburgerlichen Schriftsteller(s), dem er sich selber zuzahlt. 
»Dieser«, sagte er, »ist in der Tat an einem Punkt mit den Interessen 
des Proletariats solidarisch: am Punkt der Fortentwicklung seiner 
Produktionsmittel. Indem er es aber an diesem einen Punkte ist, ist 
er an diesem Punkt, als Produzent, proletarisiert, und zwar restlos. 
Diese restlose Proletarisierung an einem Punkt macht ihn aber auf 



524 Autobiographische Schriften 

der ganzen Linie mit dem Proletariat solidarisch. ( « ) Meine Kritik 
der proletarischen Schriftsteller Becherscher Observanz fand 
Brecht zu abstrakt. Er suchte sie durch eine Analyse zu verbessern, 
die er von dem Gedicht (Johannes R. ) Bechers gab, das in einer der 
letzten Nummern einer der offiziellen proletarischen Literaturzeit- 
schriften unter dem Titel »Ich sage ganz offen . . .« abgedruckt war. 
Brecht verglich es einerseits mit seinem Lehrgedicht iiber die Schau- 
spielkunst fur Carola Neher. Andererseits mit dem Bateau Ivre. 
»Carola Neher habe ich ja verschiedenes beigebracht«, sagte er. »Sie 
hat nicht nur gelernt zu spielen ; sie hat bei mir z. B. gelernt, wie man 
sich wascht. Sie wusch sich namlich, um nicht mehr dreckig zu sein. 
Das kam ja garnicht in Frage. Ich habe ihr beigebracht, wie man sich 
das Gesicht wascht. Sie hat es darin dann zu solcher Vollendung 
gebracht, daft ich sie dabei filmen wollte. Aber das kam nicht 
zustande, weil ich damals nicht filmen wollte und vor jemand 
anderm wollte sie es nicht machen. Dieses Lehrgedicht war ein 
Modell. Jeder Lernende war bestimmt, an die Stelle seines >Ich< zu 
treten. Wenn Becher >Ich< sagt, dann halt er sich - als Prasidenten 
der Vereinigung proletarisch-revolutionarer Schriftsteller Deutsch- 
lands - fur vorbildlich. Nur hat niemand Lust, es ihm nachzutun. 
Man entnimmt einfach, dafi er mit sich zufrieden ist.« Brecht sagt 
bei dieser Gelegenheit, dafi er seit langem die Absicht hat, eine 
Anzahl von solchen Modellgedichten fur verscfnedene Berufe - den 
Ingenieur, den Schriftsteller - zu schreiben. - Auf der andern Seite 
vergleicht Brecht Becher(s) Gedicht mit dem von Rimbaud. Indie- 
sem, meint er, hatten auch Marx und Lenin - wenn sie es gelesen 
hatten - die grofie geschichtliche Bewegung gespiirt, von der es ein 
Ausdruck ist. Sie hatten sehr wohl erkannt, dafi darin nicht der 
exzentrische Spaziergang eines Mannes beschrieben wird, sondern 
die Flucht, das Vagabondieren eines Menschen, der es in den 
Schranken der Klasse nicht mehr aushalt, die - mit dem Krimkrieg, 
mit dem mexikanischen Abenteuer - beginnt auch die exotischen 
Erdstriche ihren merkantilen Interessen zu erschliefien. Die Geste 
des ungebundenen, dem Zufall seine Sache anheimstellenden, der 
Gesellschaft den Riicken kehrenden Vagabunden in der modellge- 
rechten Darstellung eines proletarischen Kampfers aufzunehmen, 
sei ein Ding der Unmoglichkeit. 

6Jnli Brecht, im Lauf des gestrigen Gesprachs : »Ich denke oft an ein 
Tribunal, vor dem ich vernommen werden wiirde. >Wie ist das? Ist 



Notizen Svendborg Sommer 1934 525 

es Ihnen eigentlich ernst?< Ich miifite dann anerkennen: Ganz ernst 
ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was 
dem Theater zu gute kommt, als dafi es mir ganz ernst sein konnte. 
Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich eine 
noch wichtigere Behauptung anschliefien: dafi mein Verhalten nam- 
lich erlaubt ist.« Freilich ist das schon eine spatere Formulierung im 
Gesprachsgang. Begonnen hatte Brecht nicht mit dem Zweifel an 
der Statthaftigkeit, wohl aber an der Durchschlagskraft seines Ver- 
fahrens. Mit dem Satze, der von einigen Bemerkungen ausging, die 
ich iiber Gerhart Hauptmann gemacht hatte: »Manchmal frage ich 
mich, ob das nicht eben doch die einzigen Dichter sind, die es wirk- 
lich zu etwas bringen: die Substanz-Dichter, meine ich.« Darunter 
versteht Brecht Dichter, denen es ganz ernst ist. Und zur Erlaute- 
rung dieser Vorstellung geht er von der Fiktion aus, Konfuzius habe 
eine Tragodie oder Lenin habe einen Roman geschrieben. Man 
wiirde das als unstatthaft empfinden, so erklart er, und als ein ihrer 
nicht wiirdiges Verhalten. (»)Nehmen wir an, Sie lesen einen aus- 
gezeichneten politischen Roman und erfahren nachher, daft er von 
Lenin ist, Sie wiirden Ihre Meinung iiber beide andern, und zu 
ungunsten beider. Konfuzius diirfte auch kein Snick von Euripides 
schreiben, man hatte das als unwiirdig angesehen. Nicht aber sind 
das seine Gleichnisse.« Kurz, all dies lauft auf die Unterscheidung 
zweier literarischer Typen hinaus: des Visionars, welchem es ernst 
ist, auf der einen und des Besonnenen, dem es nicht ganz ernst ist, 
auf der andern Seite. Hier werfe ich nun die Frage nach Kafka auf. 
Welcher von beiden Gruppen gehort er an? Ich weift: die Frage lafit 
sich nicht entscheiden. Und eben ihre Unentscheidbarkeit ist fur 
Brecht das Anzeichen, daft Kafka, den er fur einen groften Schrift- 
steller halt, wie Kleist, wie Grabbe oder Biichner, ein Gescheiterter 
ist. Sein Ausgangspunkt ist wirklich die Parabel, das Gleichnis, das 
sich vor der Vernunft verantwortet und dem es deshalb, was seinen 
Wortlaut angeht, nicht ganz ernst sein kann. Aber diese Parabel 
unterliegt dann doch der Gestaltung. Sie wachst sich zu einem 
Roman aus. Und einen Keim zu ihm trug sie, genau betrachtet, von 
Haus aus in sich. Sie war niemals ganz transparent. Ubrigens ist 
Brecht davon iiberzeugt, daft Kafka seine eigene Form nicht ohne 
den Grofiinquisitor von Dostojewski und jene andere parabolische 
Stelle in den »Briidern Karamasoff« gefunden hatte, wo der Leich- 
nam des heiligen Staretz zu stinken anfangt. Bei Kafka also liegt das 



526 Autobiographische Schriften 

Parabolische mit dem Visionaren im Streit. Als Visional* aber hat 
Kafka, wie Brecht sagt, das Kommende gesehen, ohne das zu sehen 
was ist. Er betont, wie schon friiher in Le Lavandou und mir deutli- 
cher, die prophetische Seite an seinem Werk. Kafka habe ein, nur 
ein einziges Problem gehabt, und das sei das der Organisation. Was 
ihn gepackt habe, das sei die Angst vor dem Ameisenstaat gewesen: 
wie sich die Menschen durch die Formen ihres Zusammenlebens 
sich selbst entfremden. Und gewisse Formen dieser Entfremdung 
habe er vorhergesehen, wie z.B. das Verfahren der GPU. Eine 
Losung aber habe er nicht gefunden und sei aus seinem Angsttraum 
nicht aufgewacht. Von der Genauigkeit Kafkas sagt Brecht, sie sei 
die eines Ungenauen, Traumenden. 

12 Juli Gestern nach dem Schachspiel sagt Brecht: »Also, wenn der 
( Karl) Korsch kommt, dann mufiten wir mit ihm ja ein neues Spiel 
ausarbeiten. Ein Spiel, wo sich die Stellungen nicht immer gleich 
bleiben; wo die Funktion der Figuren sich andert, wenn sie eine 
Weile auf ein und derselben Stelle gestanden haben : sie werden dann 
enrweder wirksamer oder auch schwacher. So entwickelt sich das ja 
nicht; das bleibt sich zu lange gleich.« 

23 Juli Gestern Besuch von Karin Michaelis, die eben von ihrer 
Rufilandreise zuriickgekommen ist und schwarmt. Brecht erinnert 
sich seiner Fuhrung durch (Sergej) Tretjakoff. Dieser zeigt ihm 
Moskau, ist stolz auf alles, was er den Gast sehen lafit, es mag sein, 
was es will. »Das ist nicht schlecht«, sagt Brecht, »es zeigt, daft es 
ihm gehort. Stolz ist man nicht auf anderer Leute Sachen.« Nach 
einer Weile setzt er hinzu : ( » ) Ja, zuletzt wurde ich allerdings etwas 
miide. Ich konnte nicht alles bewundern, wollte auch nicht. Es ist ja 
so: es sind seine Soldaten, seine Lastautos. Aber eben leider nicht 
meine.« 

24 Juli. Auf einen Langsbalken, der die Decke von Brechts Arbeits- 
zimmer stiitzt, sind die Worte gemalt: »Die Wahrheit ist konkret.« 
Auf einem Fensterbord steht ein kleiner Holzesel, der mit dem 
Kopf nicken kann. Brecht hat ihm ein Schildchen umgehangt und 
darauf geschrieben: »Auch ich mufi es verstehen.« 

; August. Vor drei Wochen hatte ich B. meinen Aufsatz liber Kafka 
gegeben. Er hatte ihn wohl gelesen, war aber von sich aus nie darauf 
zu sprechen gekommen und hatte die beiden Male, da ich die Spra- 
che darauf gebracht hatte, ausweichend geantwortet. Ich hatte das 
Manuscript schliefllich stillschweigend wieder an mich genommen. 



Notizen Svendborg Sommer 1934 527 

Gestern abend kam er plotzlich auf diesen Aufsatz zuriick. Den, 
etwas unvermittelten und halsbrecherischen Ubergang bildete eine 
Bemerkung, auch ich sei nicht ganz freizusprechen vom Vorwurf 
einer tagebuchartigen Schriftstellerei im Stil Nietzsches. Mein Kaf- 
kaaufsatz zum Beispiel - er beschaftige sich mit Kafka lediglich von 
der phanomenalen Seite - nehme das Werk als etwas fur sich 
Gewachsenes - den Mann auch - lose es aus alien Zusammenhangen 
- ja sogar aus dem mit dem Verfasser. Es sei eben immer wieder die 
Frage nach dem Wesen, auf die es bei mir herauskomme. Wie dage- 
gen so eine Sache wohl anzufassen ware: An Kafka musse man mit 
der Frage herantreten: was tut er? wie verhalt er sich? Und da vor 
allem zunachst mehr auf das Allgemeine sehen als das Besondere. 
Dann stellt sich heraus: er hat in Prag in einem schlechten Milieu 
von Journalisten, von wichtigtuerischen Literaten gelebt, in dieser 
Welt war die Literatur die Hauptrealitat, wenn nicht die einzige; 
mit dieser Auffassungsweise hangen Kafkas Starken und Schwa- 
chen zusammen; sein artistischer Wert, aber auch seine vielfache 
Nichtsnutzigkeit. Er ist ein Judenjunge - wie man auch den Begriff 
eines Arierjungen pragen konnte - ein durftiges, unerfreuliches 
Geschopf, eine Blase zunachst auf dem schillernden Sumpf der Kul- 
tur von Prag, sonst nichts. Aber dann gabe es doch eben bestimmte, 
sehr interessante Seiten. Man konnte sie zum Vorschein bringen; 
man musse sich ein Gesprach von Laotse mit dem Schuler Kafka 
vorstellen. Laotse sagt: »Also, Schuler Kafka, dir sind die Organi- 
sationen, Rechts- und Wirtschaftsformen, in denen du lebst, 
unheimlich geworden? - Ja. - Du findest dich in ihnen nicht mehr 
zurecht. - Nein. - Eine Aktie ist dir unheimlich? - Ja. - Und nun 
verlangst du nach einem Fuhrer, an den du dich halten kannst, 
Schuler Kafka. « Das ist natiirlich verwerflich, sagt Brecht. Ich lehne 
ja Kafka ab. Und er kommt auf das Gleichnis eines chinesischen 
Philosophen iiber »die Leiden der Brauchbarkeit«. (»)Im Walde 
gibt es verschiedenartige Stamme. Aus den dicksten werden Schiffs- 
balken geschnitten; aus den weniger soliden aber immer noch 
ansehnlichen Stammen macht man Kistendeckel und Sargwande; 
die ganz diinnen verwendet man zu Ruten; aus den verkriippelten 
aber wird nichts - die entgehen den Leiden der Brauchbarkeit. In 
dem, was Kafka geschrieben hat, mufi man sich umsehen wie in 
solchem Wald. Man wird dann eine Anzahl sehr brauchbarer 
Sachen finden. Die Bilder sind ja gut. Der Rest ist eben Geheimnis- 



528 Autobiographische Schriften 

kramerei. Der ist Unfug. Man muE ihn beiseite lassen. Mit der Tiefe 
kommt man nicht vorwarts. Die Tiefe ist eine Dimension fur sich, 
eben Tiefe - worm dann garnichts zum Vorschein kommt. « Ich 
erklare B. abschliefiend, in die Tiefe zu dringen, sei meine Art und 
Weise, mich zu den Antipoden zu begeben. In meiner Arbeit iiber 
Kraus sei ich in der Tat dort herausgekommen. Ich wisse, dafi die 
iiber Kafka nicht im gleichen Grad gegliickt sei: den Vorwurf, so zu 
einer tagebuchartigen Aufzeichnung gekommen zu sein, konnte ich 
nicht abwehren. In der Tat sei die Auseinandersetzung in dem 
Grenzraum, den Kraus und den auf andere Weise Kafka bezeichne, 
mir angelegen. Abschliefiend habe ich diesen Raum, im Falle Kafka, 
noch nicht erkundet. Dafi da viel Schutt und Abfall stecke, viel 
wirkliche Geheimniskramerei - das sei mir klar. Aber entscheidend 
sei doch wohl anderes und einiges davon habe meine Arbeit 
beriihrt. B.s Fragestellung musse sich doch an der Interpretation 
des Einzelnen bewahren. Ich schlage »Das nachste Dorf« auf. 
Sogleich konnte ich den Konflikt beobachten, in den B. durch die- 
sen Vorschlag versetzt wurde. (Hanns) Eislers Feststellung, diese 
Geschichte sei »wertlos« lehnte er mit Entschiedenheit ab. Auf der 
andern Seite aber wollte ihm ebensowenig gliicken, ihren Wert 
kenntlich zu machen. »Man miifite sie genau studieren* meinte er. 
Dann brach das Gesprach ab; es war zehn Uhr geworden und die 
Radionachrichten aus Wien kamen. 

jj August Vorgestern eine lange und erregte Debatte iiber meinen 
Kafka. Ihr Fundament: die Anschuldigung, dafi er dem judischen 
Faszismus Vorschub leiste. Er vermehre und breite das Dunkel um 
diese Figur aus statt es zu zerteilen. Dem gegenuber komme alles 
darauf an, Kafka zu lichten, das heifit, die praktikabeln Vorschlage 
zu formulieren, welche sich seinen Geschichten entnehmen liefien. 
Dafi Vorschlage ihnen entnehmbar seien, das ware zu vermuten und 
sei es nur der uberlegenen Ruhe wegen, die die Haltung dieser 
Erzahlungen ausmacht. Diese Vorschlage musse man jedoch in der 
Richtung der grofien allgemeinen Ubelstande suchen, die der heuti- 
gen Menschheit zusetzten. Deren Abdruck in Kafkas Werk sucht 
Brecht aufzuweisen. Er halt sich vorwiegend an den »Prozefi«. Vor 
allem steckt da, wie er meint, die Angst vor dem nicht enden wol- 
lenden und unaufhaltsamen Wachstum der grofien Stadte. Aus 
eigenster Erfahrung will er den Albdruck kennen, den diese Vor- 
stellung dem Menschen aufwalzt. Die unubersehbaren Vermitte- 



Notizen Svendborg Sommer 1934 529 

lungen, Abhangigkeiten, Verschachtelungen, in die die Menschen 
durch ihre heutigen Daseinsformen hineingeraten, finden in diesen 
Stadten ihren Ausdruck. Sie finde(n) auf der andern Seite ihren 
Ausdruck in dem Verlangen nach dem »Fuhrer« - der namlich fur 
den Kleinburger den darstellt, den er - in einer Welt wo einer auf 
den andern verweisen kann und jeder sich ihm entzieht- haftbar fur 
all sein Mifigeschick machen kann. Brecht nennt den »Prozeft« ein 
prophetisches Buch. »Was aus der Tscheka werden kann, sieht man 
an der Gestapo. « - Kafkas Perspektive: die des Mannes, der unter 
die Rader gekommen ist. Dafiir ist bezeichnend Odradek: die Sorge 
des Hausvaters deutet Brecht als den Hausbesorger. Dem Klein- 
burger mufi es schief gehen. Seine Situation ist die Kafkas. Wahrend 
nun aber der heutige gelaufige Typ des Kleinburgers - der Faszist 
also - beschlieftt, angesichts dieser Lage seinen eisernen, unbe- 
zwinglichen Willen einzusetzen, widersetzt sich Kafka ihr kaum; er 
ist weise. Wo der Faszist mit Heroismus einsetzt, setzt er mit Fra- 
gen ein. Er fragt nach Garantien fur seine Lage. Diese aber ist so 
beschaffen, daft die Garantien liber jedes verniinftige Maft hinaus- 
gehen miissen. Es ist eine Kafkasche Ironie, daft der Mann Versi- 
cherungsbeamter war, der von nichts iiberzeugter erscheint als von 
der Hinfalligkeit samtlicher Garantien. Ubrigens ist sein uneinge- 
schrankter Pessimismus frei von jedem tragischen Schicksalsgefiihl. 
Denn nicht nur ist ihm die Erwartung des Miftgeschicks nicht 
anders als empirisch untermauert - da allerdings vollendet - son- 
dern das Kriterium des Enderfolges legt er in unbelehrbarer Naive- 
tat an die belanglosesten und alltaglichsten Unternehmungen: den 
Besuch eines Geschaftsreisenden oder eine Anfrage bei der 
Behorde. - Das Gesprach konzentrierte sich streckenweise auf die 
Geschichte »Das nachste Dorf«. Brecht erklart: sie ist ein Gegen- 
stiick zu der Geschichte von Achill und der Schildkrote. Zum nach- 
sten Dorf kommt einer nie, wenn er den Ritt aus seinen kleinsten 
Teilen - die Zwischenfalle nicht gerechnet - zusammensetzt. Dann 
ist das Leben fur diesen Ritt zu kurz. Aber der Fehler steckt hier im 
»einer«. Denn wie der Ritt zerlegt wird, so auch der Reitende. Und 
wie nun die Einheit des Lebens dahin ist, so ist es auch seine Kiirze. 
Mag es so kurz sein, wie es will. Das macht nichts, weil ein anderer 
als der, der ausritt, im Dorfe ankommt. - Ich fur mein Teil gebe 
folgende Auslegung: das wahre Maft des Lebens ist die Erinnerung. 
Sie durchlauft, riickschauend, das Leben blitzartig. So schnell wie 



530 Autobiographische Schriften 

man ein paar Seiten zuriickblattert ist sie vom nachsten Dorfe an die 
Stelle gelangt, an der der Reiter den Entschlufl zum Aufbruch fafke. 
Wem sich das Leben in Schrift verwandelt hat, wie den Alten, die 
mogen diese Schrift nur riickwarts lesen. Nur so begegnen sie sich 
selbst und nur so - auf der Flucht vor der Gegenwart - konnen sie es 
verstehen. 

27 September Dragor. In einem abendlichen Gesprach, das vor eini- 
gen Tagen stattfand, entwickelte Brecht die sonderbare Unschliis- 
sigkeit, die zur Zeit der Bestimmung seiner Plane im Wege ist. Was 
zunachst dieser Unschlussigkeit zu Grunde liegt, sind - wie er 
selbst hervorhebt - die Vorteile, die seine personliche Lage vor der 
der meisten Emigranten auszeichnen. Wenn er somit im allgemei- 
nen die Emigration als Grundlage von Unternehmungen und Pla- 
nen kaum anerkennt, so fallt die Beziehung auf sie fur ihn selbst um 
so unwiderruflicher fort. Seine Planungen greifen weiter aus. Er 
steht dabei vor einer Alternative. Auf der einen Seite warten Prosa- 
vorwiirfe. Der kleinere des Ui - eine Satire auf Hitler im Stile der 
Historiographen der Renaissance - und der grofie des Tui-Romans. 
Der Tui- Roman ist bestimmt, einen enzyklopadischen Uberblick 
iiber die Torheiten der Tellektu all-Ins zu geben (der Intellektuel- 
len); er wird wie es scheint zumindest zum Teil in China spielen. 
Ein kleines Modell fur dies Werk ist fertig. Neben diesen Prosapla- 
nen beanspruchen ihn aber Projekte, die auf sehr alte Studien und 
Uberlegungen zuriickgehen. Wahrend die Reflexionen, die im 
Umkreise des epischen Theaters entstanden sind, zur Not noch in 
den Anmerkungen und Einleitungen der »Versuche« eine Fixierung 
gefunden hatten, sind Gedankengange, die aus den gleichen Inter- 
essen entsprangen seitdem sie mit dem Studium des Leninismus auf 
der einen, mit den naturwissenschaftlichen Tendenzen der Empiri- 
ker auf der andern Seite sich vereinigt haben, aus solch beschrankte- 
rem Rahmen herausgewachsen. Sie gruppieren sich schon seit Jah- 
ren bald unter diesem bald unter jenem Stichwort, so daft abwech- 
selnd die nicht-aristotelische Logik, die Verhaltenslehre, die neue 
Enzyklopadie, die Kritik der Vorstellungen in den Mittelpunkt von 
Brechts Bemiihungen traten. Diese verschiednen Beschaftigungen 
konvergieren zur Zeit im Gedanken eines philosophischen Lehrge- 
dichts. Brechts Skrupel gehen nun von der Frage aus, ob er - seiner 
gesamten bisherigen Produktion nach, besonders aber angesichts 
ihrer satirischen Teile und zumal des Dreigroschenromans - fur 



Notizen Svendborg Sommer 1934 531 

eine solche Darlegung beim Publikum den notigen Kredit finden 
werde. Es kommen in solchem Zweifel zwei verschiedene Gedan- 
kengange zusammen. Einmal manifestieren sich so Bedenken, 
denen - je inniger Brechts Befassung mit den Problemen und den 
Methoden des proletarischen Klassenkampfs wurde- die satirische 
und zumal die ironische Haltung als solche ausgesetzt werden 
mufke. Man verstiinde diese Bedenken - die eher praktischer Natur 
sind - aber nicht, wenn man sie mit anderen, tieferliegenden identi- 
fizieren wurde. Diese Bedenken einer tieferen Schicht richten sich 
auf das artistische und spielerische Element der Kunst, vor allem 
aber auf diejenigen Momente, die sie teilweise und gelegentlich 
refraktar gegen den Verstand machen. Diese chronischen Bemii- 
hungen Brechts, die Kunst dem Verstande gegeniiber zu legitimie- 
ren, haben ihn immer wieder auf die Parabel verwiesen, in der sich 
die artistische Meisterschaft dadurch bewahrt, daft die Elemente der 
Kunst am Ende sich in ihr wegheben. Und eben diese Bemuhungen 
um die Parabel setzen sich in radikalerer Gestalt zur Zeit in den 
Uberlegungen durch, die aufs Lehrgedicht gehen. Im Verlaufe des 
Gesprachs selbst suchte ich Brecht klar zu machen, dafi ein solches 
Lehrgedicht ja weniger vor dem burgerlichen Publikum sich zu 
beglaubigen hatte als dem proletarischen gegeniiber, das seine Maft- 
stabe vermutlich weniger aus Brechts ehemaliger, teilweise biirger- 
Hch orientierter Produktion nehmen werde als aus dem dogmati- 
schen und theoretischen Gehalt der Lehrdichtung selbst. »Wenn 
dieses Lehrgedicht die Autoritat des Marxismus fur sich zu mobili- 
sieren vermag - sagte ich ihm - so wird die Tatsache Ihrer fruheren 
Produktion sie schwerlich erschiittern konnen.« 
4 Oktober 1934 Gestern ist Brecht nach London abgefahren. - Sei 
es, dafi Brecht sich hin und wieder durch mich dazu besonders ver- 
sucht fiihlt, sei es, daft solches ihm in letzter Zeit uberhaupt naher 
als fruher liegt: das, was er selbst die hetzerische Haltung seines 
Denkens nennt, macht sich jetzt im Gesprach viel deutlicher 
bemerkbar als fruher. Ja, mir fallt ein besonderes, dieser Haltung 
entsprungnes Vokabular auf. Zumal den Begriff des »Wurstchens« 
handhabt er gern in solchen Absichten. In Dragar las ich »Schuld 
und Suhne« von Dostojewski. Zunachst einmal gab er dieser Lek- 
tiire die Hauptschuld an meiner Krankheit. Und zur Bekraftigung 
erzahlte er mir, wie in seiner Jugend der Ausbruch einer langwieri- 
gen und im Keim wohl langst bei ihm angelegten Krankheit erfolgt 



532 Autobiographische Schriften 

sei, als ihm eines Nachmittags ein Schulkamerad, gegen dessen 
Absichten Protest einzulegen er schon zu schwach war, am Klavier 
Chopin vorspielte. Chopin und Dostojewski schreibt Brecht 
besonders unheilvolle Einfliisse auf das Befinden zu. Aber er nahm 
auch sonst auf jede mogliche Weise zu meiner Lektiire Stellung, und 
da er selbst zu gleicher Zeit im »Schweyk« las, so liefi er sich nicht 
entgehen, den Wert der beiden Autoren zu vergleichen. Dabei 
konnte Dostojewski sich neben Hasek nicht sehen lassen, wurde 
vielmehr ohne Umstande zu den »Wiirstchen« gerechnet, und es 
hatte nicht viel gefehlt, so ware wohl auch auf seine Werke die 
Bezeichnung ausgedehnt worden, die Brecht neuerdings fur alle 
Arbeiten in Bereitschaft halt, denen ein aufklarender Charakter 
fehlt oder von ihm abgesprochen wird. Er nennt sie einen 
»Klump«. 

Materialien zu einem Selbstportrat 

Mein Stolz, als Heinle in seinem »Vielgeehrt und Hochberufen« 
eine Zeile nach meinem Vorschlage anderte; und vielleicht erklart er 
sich weniger aus der Sache als aus dem Vorgefuhl meiner Gabe zur 
Mitarbeit, die sich spater vielfach bestatigt hat. 
Ein Erster zu sein, hat grofie Schwierigkeiten, bietet auch einige 
Chancen. In anderer Weise gilt das selbe von einem Letzten, wie ich 
es bin. 

Wenn ich den unglaublichen Quatsch lese, den X schreibt, so sage 
ich mir, welchen Wert kann seine hohe Schatzung meiner eignen 
Arbeiten denn eigentlich haben? Und dann beruhige ich mich mit 
der Uberlegung, wie unbezweifelhaft begriindet meine hohe Schat- 
zung von Y{s) Arbeiten ist, trotzdem doch meine nichts taugen. 
Auflosung des Ratsels, warum ich niemanden erkenne, die Leute 
verwechsle. Weil ich nicht erkannt sein will; selber verwechselt 
werden will. 



Tagebuchnotizen 1938 

6 Mdrz In den letzten Nachten habe ich Traume, die meinem Tag 
tief eingepragt bleiben. Heute nacht war ich im Traum einmal in 
Gesellschaft. Man erwies mir Freundlichkeiten; ich glaube, sie 
bestanden vorwiegend darin, dafi Frauen sich fur mich interessier- 



Materialien zu einem Selbstportrat - Tagebuchnotizen 1938 533 

ten, geradezu Vorteilhaftes liber meine Erscheinung sagten. Ich 
glaube mich zu erinnern, laut bemerkt zu haben: nun wiirde ich 
wohl nicht mehr lange leben - als seien dies die letzten Freund- 
schaftsbezeigungen Abschiednehmender. 

Spater, unmittelbar vor dem Aufwachen, war ich in Gesellschaft 
einer Dame in den Raumen von Adrienne Monnier. Es war darin- 
nen eine Ausstellung von Dingen veranstaltet, die ich nicht recht 
vergegenwartigen kann. Blicher mit Miniaturen waren darunter, 
weiter Platten oder geschmiedete Arabesken, die farbig wie mit 
Email belegt waren. Die Raume waren zu ebener Erde an der 
Strafie, von der man durch eine grofie Scheibe hineinsehen konnte. 
Ich befand mich im Innern. Meine Dame hatte ihre Zahne offenbar 
langst im Sinne der Technik behandelt, fur die diese Ausstellung 
werben wollte. Sie hatte einen opalisierenden Glanz an ihnen her- 
vorgerufen. Ihre Zahne spielten matt ins Griine und Blauliche. Ich 
bestrebte mich, ihr auf das Hoflichste zu verstehen zu geben, das 
sei nicht die richtige Verwertung des Materials. Meinen Gedanken 
zuvorkommend wies sie mich darauf hin, die innere Seite an ihren 
Zahnen sei rot ausgelegt. Ich hatte in der Tat darauf hinausgewollt, 
dafi fur die Zahne die starksten Farben gerade stark genug seien, 
Ich habe sehr unter den Gerauschen in meinem Zimmer gelitten. 
Gestern nacht hielt der Traum das fest. Ich befand mich vor einer 
Landkarte und zugleich in der Landschaft, die von ihr dargestellt 
wurde. Die Landschaft war erschreckend trostlos und kahl, es 
ware nicht moglich gewesen zu sagen, ob ihre Verlassenheit die 
felsiger Einoden oder des leeren nur von den Druckbuchstaben 
bevolkerten grauen Grundes war. Diese Buchstaben zogen sich 
kurvig auf ihrer Unterlage, gleichsam Gebirgsziigen folgend 
dahin; die von ihnen gebildeten Worte waren von einander mehr 
oder weniger weit abliegend. Ich wufite oder erfuhr, dafl ich im 
Labyrinth des Gehorgangs sei. Die Landkarte war aber gleichzei- 
tig die der Holle. 

28 Juni Ich befand mich in einem Labyrinth von Treppen. Dieses 
Labyrinth war nicht an alien Stellen gedeckt. Ich stieg; andere 
Treppen fuhrten in die Tiefe. Auf einem Treppenabsatze nahm ich 
wahr, dafi ich auf einem Gipfel zu stehen gekommen war. Ein wei- 
ter Blick liber alle Lande tat sich da auf. Ich sah andere auf andern 
Gipfeln stehen. Einer von diesen andern wurde plotzlich von 
Schwindel ergriffen und sturzte herab. Dieser Schwindel griff um 



534 Autobiographische Schriften 

sich; andere Menschen stiirzte(n) von andern Gipfeln nun in die 
Tiefe. Als auch ich von diesem Gefuhl ergriffen wurde, erwachte 
ich. 

Am 22 Juni kam ich bei Brecht an. 

Brecht weist auf die Eleganz und Lassigkeit in der Haltung Vergils 
und Dantes hin und bezeichnet sie als den Fond, von dem der grofie 
Gestus Vergils sich abhebt. Er nennt die beiden »Promeneure«. -Er 
betont den klassischen Rang der »H6lle« : »Man kann sie im Griinen 
lesen.« 

Brecht spricht von seinem eingewurzelten, von der Grofimutter her 
ererbten Hafi gegen die Pfaffen. Er lafit durchblicken, dafi die, wel- 
che die theoretischen Lehren von Marx sich zu eigen gemacht und in 
Behandlung genommen haben, immer eine pf af fische Kamarilla bil- 
den werden. Der Marxismus bietet sich eben allzu leicht der »Inter- 
pretation« dar. Er ist hundert Jahre alt und es hat sich erwiesen . . . 
(An dieser Stelle werden wir unterbrochen.) »>Der Staat soil ver- 
schwinden.< Wer sagt das? Der Staat. « (Hier kann er nur die Sowjet- 
Union meinen.) Brecht stellt sich, listig und verdrikkt, vor den Ses- 
sel, in dem ich sitze, hin - er macht »den Staat« nach - und sagt, mit 
einem scheelen Seitenblick auf, vorgestellten, Mandanten: »>Ich 
weifi, ich soil verschwinden.<« 

Ein Gesprach iiber die neue Romanliteratur der Sowjets. Wir ver- 
folgen sie nicht mehr. Dann kommen wir auf die Lyrik und auf die 
Ubersetzungen sowjetrussischer Lyrik aus den verschiedensten 
Sprachen, mit denen »Das Wort« uberschwemmt wird. Brecht 
meint, die Autoren driiben haben es eben schwer. »Es wird schon 
als Vorsatz ausgelegt, wenn in einem Gedicht der Name Stalin nicht 
vorkommt.« 

29 Juni Brecht spricht vom epischen Theater; er erwahnt das Kin- 
dertheater, in dem die Fehler der Darstellung, als Verfremdungsef- 
fekte fungierend, der Vorstellung epische Ziige geben. Bei der 
Schmiere konne Ahnliches sich ereignen. Mir fallt die genfer Auf- 
fiihrung des Cid ein, in der mir beim Anblick der schief sitzenden 
Krone des Konigs der erste Gedanke an das kam, was ich neun Jahre 
spater im Trauerspielbuch niederlegte. Brecht seinerseits zitiert hier 
den Augenblick, in dem die Idee des epischen Theaters verankert 
ist. Es war eine Probe zur iminchener Auffiihrung von »Eduard II«. 
Die Schlacht, die im Stiicke vorkommt, soil die Biihne dreiviertel- 
stunden behaupten. Brecht kam mit den Soldaten nicht zustande. 



Tagebuchnotizen 1938 535 

(Asja (Lacis), seine Regieassistentin, auch nicht.) Er wandte sich 
schliefilich an den damals ihm nahe befreundeten (Karl) Valentin, 
der der Probe beiwohnte; er tat es, verzweifelt, mit der Frage: »Also 
was ist das, wie steht es eigentlich mit den Soldaten? was ist denn 
mit ihnen?« Valentin: »Blaft sind's - Furcht haben's.« Diese Bemer- 
kung war die entscheidende. Brecht setzte noch hinzu: »miide 
sind's.« Die Gesichter der Soldaten wurden dick mit Kalk belegt. 
Und an diesem Tage war der Auffiihrungsstil gefunden. 
Kurz darauf erschien das alte Thema »logischer Positivismus«. Ich 
envies mich ziemlich intransigent und das Gesprach drohte eine 
unangenehme Wendung zu nehmen. Sie wurde dadurch verhutet, 
daft Brecht zum ersten Male die Oberflachlichkeit seiner Formulie- 
rungen eingestand. Dies mit der schonen Formel: (»)dem tiefen 
Bediirfnis entspricht ein oberflachlicher Zugriff.« Spater, als wir zu 
seinem Hause heriibergingen - denn das Gesprach fand in meinem 
Zimmer statt -: »Es ist gut, wenn man in einer extremen Position 
von einer Reaktionsepoche ereilt wird. Man kommt dann zu einem 
mittleren Standort.« So sei es ihm ergangen; er sei milde ge- 
worden. 

Am Abend: Ich mochte jemandem ein kleines Geschenk fur Asja 
mitgeben; Handschuhe. Brecht meint, das sei schwierig. Es konnte 
passieren, daft die Ansicht entstehe, Jahnn (Jehne?) habe ihr Spio- 
nagedienste mit zwei Handschuhen entgolten. - »Das Schlimmste: 
daft immer ganze Equipen abserviert werden. Aber ihre Anordnun- 
gen bleiben vermutlich aufrecht.« 

1 Juli Sehr skeptische Antworten erfolgen, so oft ich russische Ver- 
haltnisse beriihre. Als ich mich neulich erkundigte, ob (Ernst) Ott- 
wal(t) noch sitzt, kam die Antwort »wenn der noch sitzen kann, 
sitzt er.« Gestern meinte die (Margarete) Steffin, Tretjakoff sei 
wohl nicht mehr am Leben. 

4 Juli Gestern abend. Brecht (bei einem Gesprach iiber Baudelaire): 
Ich bin ja nicht gegen das Asoziale - ich bin gegen das Nicht- 
soziale. 

21 Juli Die Publikationen der (Georg) Lukacs, (Alfred) Kurella 
u. a. machen Brecht viel zu schaffen. Er meint aber, man solle ihnen 
im theoretischen Bezirk nicht entgegentreten. Ich spiele die Frage 
aufs politische Gebiet. Er halt auch dort mit seinen Formulierungen 
nicht zuriick. »Die sozialistische Wirtschaft braucht den Krieg 
nicht, darum kann sie ihn auch nicht vertragen. Die >Friedensliebe< 



536 Autobiographische Schriften 

des >russischen Volkes< bringt das, und nur das zum Ausdruck. Es 
kann keine sozialistische Wirtschaft in einem Lande geben. Durch 
die Riistungen ist das russische Proletariat notwendigerweise 
schwer zuriickgeworfen worden; und zwar teilweise auf langst 
iiberholte Stadien der geschichtlichen Entwicklung. Das monarchi- 
sche unter anderm. In Rutland herrscht das personliche Regiment. 
Das konnen naturlich nur die Holzkopfe leugnen.« Dies war ein 
kurzes Gesprach, das bald unterbrochen wurde. - Ubrigens hob 
Brecht in diesem Zusammenhang hervor, dal? Marx und Engels mit 
der Auflosung der ersten Internationale aus dem Aktionszusam- 
menhange mit der Arbeiterbewegung herausgerissen worden seien 
und seither nur noch Ratschlage, und zwar private, die zur Publika- 
tion nicht bestimmt gewesen seien, an einzelne Fiihrer gerichtet 
hatten. Auch sei es kein Zufall - wenn auch bedauerlich - dafi 
Engels sich zuletzt der Naturwissenschaft zugewandt habe. 
Bela Kun sei sein grofker Bewunderer in Rufiland. Brecht und 
Heine seien die einzigen deutschen Lyriker, die er vornehme. 
(Gelegentlich spielte Brecht auf einen bestimmten Mann im ZK an, 
der ihn stiitze.) 

25 ]uli Gestern vormittag kam Brecht zu mir heriiber, um mir sein 
Stalin-Gedicht zu bringen, das iiberschrieben ist »Der Bauer an sei- 
nen Ochsen«. Im ersten Augenblick kam ich nicht auf den Sinn der 
Sache; und als mir im zweiten der Gedanke an Stalin durch den 
Kopf ging, wagte ich nicht, ihn festzuhalten. Solche Wirkung ent- 
sprach annahernd Brechts Absicht. Er erlauterte sie im anschlieflen- 
den Gesprach. Darin betonte er, unter anderm, gerade die positiven 
Momente in dem Gedicht. Es sei in der Tat eine Ehrung Stalins -der 
nach seiner Ansicht immense Verdienste habe. Aber er sei noch 
nicht tot. Ihm, Brecht, ubrigens stehe eine andere enthusiastischere 
Form der Ehrung nicht zu; er sitze im Exil und warte auf die rote 
Armee. Der russischen Entwicklung folge er; und den Schriften von 
Trotzki ebenso. Sie beweisen, dafi ein Verdacht besteht; ein 
gerechtfertigter Verdacht, der eine skeptische Betrachtung der rus- 
sischen Dinge fordert. Solcher Skeptizismus sei im Sinne der Klassi- 
ker. Sollte er eines Tages erwiesen werden, so miifite man das 
Regime bekampfen - und zwar offentlich. Aber »leider oder Gott- 
seidank, wie Sie wollen«, sei dieser Verdacht heute noch nicht 
Gewiftheit. Eine Politik wie die Trotzkische aus ihm abzuleiten sei 
nicht zu verantworten. »Dafi auf der andern Seite, in Rutland 



Tagebuchnotizen 1938 537 

selbst, gewisse verbrecherische Cliquen am Werke sind, darin ist 
kein Zweifel. Man ersieht es von Zeit zu Zeit aus ihren Untaten.« 
SchliefSlich hebt Brecht hervor, dafi wir von den Riickschritten im 
Innern besonders betroffen werden. »Wir haben fur unsere Positio- 
nen bezahlt; wir sind mit Narben bedeckt. Es ist naturlich, dafi wir 
auch besonders empfindlich sind.« 

Gegen Abend fand mich Brecht im Garten bei der Lekture des 
»Kapkal«. Brecht: »Ich finde das sehr gut, dafi Sie jetzt Marx stu- 
dieren - wo man immer weniger auf ihn stofit, und besonders wenig 
bei unsern Leuten.« Ich erwiderte, ich nahme die vielbesprochnen 
Biicher am liebsten vor, wenn sie aus der Mode seien. Wir kamen 
auf die russische Literaturpolitik. »Mit diesen Leuten«, sagte ich, 
mit Beziehung auf Lukacs, ( Andor) Gabor, Kurella, »ist eben kein 
Staat zu machen.« Brecht: »Oder nur ein Staat, aber kein Gemein- 
wesen. Es sind eben Feinde der Produktion. Die Produktion ist 
ihnen nicht geheuer. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist das Unvor- 
hersehbare. Man weifi nie, was bei ihr herauskommt. Und sie selber 
wollen nicht produzieren. Sie wollen den Apparatschik spielen und 
die Kontrolle der andern haben. Jede ihrer Kritiken enthalt eine 
Drohung.« - Wir kamen, ich weifi nicht auf welchem Wege, auf 
Goethes Romane; Brecht kennt nur die Wahlverwandtschaften. Er 
habe darin die Eleganz des jungen Mannes bewundert. Als ich ihm 
sage, dafi Goethe das Buch mit sechzig Jahren geschrieben hat, ist er 
sehr erstaunt. Das Buch habe iiberhaupt nichts Spiefibiirgerliches. 
Das sei eine ungeheure Leistung. Er konne ein Lied davon singen, 
da doch das deutsche Drama bis in die bedeutendsten Werke hinein, 
die Spuren des Spiefibiirgertums trage. Ich bemerkte, die Aufnahme 
der Wahlverwandtschaften sei auch dementsprechend gewesen, 
namlich miserabel. Brecht: »Das freut mich. - Die Deutschen sind 
ein Scheifivolk. Das ist nicht wahr, dafi man von Hitler keine 
Schliisse auf die Deutschen ziehen darf. Auch an mir ist alles 
schlecht, was deutsch ist. Das Unertragliche an den Deutschen ist 
ihre bornierte Selbstandigkeit. So etwas wie die freien Reichsstadte, 
z. B. diese Scheifistadt Augsburg gab es nirgends. Lyon war nie eine 
freie Stadt; die selbstandigen Stadte der Renaissance waren Stadt- 
staaten. - Lukacs ist ein Wahldeutscher. Bei dem ist die Puste bis auf 
den letzten Rest verschwunden.« 

An den »Schonsten Sagen vom Rauber Woynok« von der (Anna) 
Seghers lobte Brecht, dafi sie die Befreiung der Seghers vom Auftrag 



538 Autobiographische Schriften 

erkennen lassen. (»)Die Seghers kann nicht auf Grund eines Auf- 
trags produzieren, so wie ich ohne einen Auftrag garnicht wiifite, 
wie ich mit dem Schreiben anfangen soll.« Er lobte auch, dafi ein 
Querkopf und Einzelganger in diesen Geschichten als die tragende 
Figur auftritt. 

26 Juli Brecht gestern abend: »Daran kann nicht mehr gezweifelt 
werden - die Bekampfung der Ideologic ist zu einer neuen Ideologic 
geworden.« 

29 Juli Brecht liest mir mehrere polemische Auseinandersetzungen 
mit Lukacs vor, Studien zu einem Aufsatze, den er im »Wort« ver- 
offentlichen soil. Es sind getarnte, aber vehemente Angriffe. Brecht 
fragt mich, was ihre Publikation angeht, urn Rat. Da er mir gleich- 
zeitig erzahlt, Lukacs habe derzeit »driiben« eine grofie Stellung, so 
sage ich ihm, ich konne ihm keinen Rat geben. »Hier handelt es sich 
um Machtfragen. Dazu miifite sich jemand von driiben aufiern. Sie 
haben doch Freunde dort.« Brecht: »Eigentlich habe ich dort keine 
Freunde. Und die Moskauer selber haben auch keine - wie die 
Toten.« 

3 August Am 29 Juli kam es gegen Abend, im Garten, zu einem 
Gesprach iiber die Frage, ob ein Teil des Zyklus »Kinderlieder« in 
den neuen Gedichtband aufzunehmen sei. Ich war nicht dafur, weil 
ich fand, der Kontrast zwischen den politischen und den privaten 
Gedichten bringe die Erfahrung des Exils besonders deutlich zum 
Ausdruck; er diirfe nicht durch eine disparate Reihe geschmalert 
werden. Ich liefi wohl durchblicken, es sei in diesem Vorschlag wie- 
der einmal Brechts destruktiver Charakter im Spiel, der das kaum 
Erreichte wieder in Frage s telle. Brecht: »Ich weifi, es wird von mir 
heifien: er war ein Maniker. Wenn diese Zeit iiberliefert wird, so 
wird das Verstandnis fur meine Manie mit iiberliefert werden. Die 
Zeit wird fur das Manische den Hintergrund abgeben. Aber was ich 
eigentlich mochte, das ist, dafi es einmal heifien soil: er war ein mitt- 
lerer Maniker. ( « ) — Die Erkenntnis des Mittleren diirfe auch in 
dem Gedichtbande nicht zu kurz kommen; dafi das Leben, trotz 
Hitler, weitergeht, dafi es immer wieder Kinder geben wird. Brecht 
denkt an die geschichtslose Epoche, aus der sein Gedicht an die 
bildenden Kiinstler ein Bild gibt und von der er mir einige Tage 
spater sagte, er hielte ihr Eintreten fur wahrscheinlicher als den Sieg 
iiber den Faschismus. Danach aber kam, immer noch als Begriin- 
dung fur die Aufnahme der »Kinderlieder« in die »Gedichte aus 



Tagebuchnotizen 1938 539 

dem Exil« etwas anderes zur Geltung und Brecht brachte es, vor mir 
im Grase stehend, mit einer Heftigkeit vor, die er selten hat. »In 
dem Kampf gegen die darf nichts ausgelassen werden. Sie haben 
nichts Kleines im Sinn. Sie planen auf dreifligtausend Jahre hinaus. 
Ungeheures. Ungeheure Verbrechen. Sie machen vor nichts halt. 
Sie schlagen auf alles ein. Jede Zelle zuckt unter ihrem Schlag 
zusammen. Darum darf keine von uns vergessen werden. Sie ver- 
krummen das Kind im Mutterleib, Wir diirfen die Kinder auf kei- 
nen Fall auslassen.« Wahrend er so sprach fiihlte ich eine Gewalt auf 
mich wirken, die der des Faschismus gewachsen ist; ich will sagen 
eine Gewalt die in nicht minder tiefen Tiefen der Geschichte ent- 
springt als die faschistische. Es war ein sehr merkwurdiges, mir 
neues Gefiihl. Ihm entsprach dann eine Wendung, die Brechts 
Gedanke nahm. »Sie planen Verwiistungen von riesigem Ausmaft. 
Darum konnen sie sich auch mit der Kirche nicht einigen, die auch 
ein Gang auf Jahrtausende ist. Mich haben sie auch proletarisiert. 
Sie haben mir nicht nur mein Haus, meinen Fischteich und meinen 
Wagen abgenommen, sie haben mir meine Biihne und mein Publi- 
kum auch geraubt. Von meinem Standort kann ich nicht zugeben, 
dafi Shakespeare grundsatzlich eine grofiere Begabung gewesen sei. 
Aber auf Vorrat hatte er auch nicht schreiben konnen. Er hat iibri- 
gens seine Figuren vor sich gehabt. Die Leute, die er dargestellt hat, 
liefen herum. Mit knapper Not hat er aus ihrem Verhalten einige 
Ziige herausgegrif fen ; viele gleich wichtige hat er fortgelassen.« 
Anfang August. »In Rufiland herrscht eine Diktatur iiber das Prole- 
tariat. Es ist solange zu vermeiden, sich von ihr loszusagen als diese 
Diktatur noch praktische Arbeit fur das Proletariat leistet - das 
heifk als sie zu einem Ausgleich zwischen Proletariat und Bauern- 
schaft unter vorherrschender Wahrnehmung der proletarischen 
Interessen beitragt.« Einige Tage darauf sprach Brecht von einer 
»Arbeitermonarchie« und ich verghch diesen Organismus mit den 
grotesken Naturspielen, die in Gestalt eines gehornten Fisches oder 
anderer Ungeheuer aus der Tiefsee zu Tage befordert werden. 
2 $ August Eine brechtsche Maxime: Nicht an das Gute Alte 
anknupfen, sondern an das schlechte Neue. 



540 Autobiographische Schriften 

(NOTIZ UBER BRECHT) 

(Heinrich) Bliicher wies sehr mit Recht darauf hin, dafi bestimmte 
Momente des »Lesebuchs fiir Stadtebewohner« nichts sind als eine 
Formulierung der GPU-Praxis. Das wurde den prophetischen 
Charakter dieser Gedichte, auf den ich anspiele, von einer meiner 
Betrachtungsweise entgegengesetzten her, bestatigen. In Wahrheit 
schlagt sich in den gedachten Partien dieser Gedichte in der Tat eben 
diejenige Verfahrungsweise nieder, in der die schlechtesten Ele- 
mente der KP mit den skrupellosesten des Nationalsozialismus 
kommunizierten. Bliicher hat recht, wenn er gegen meinen Kom- 
mentar zum dritten Gedicht des »Lesebuchs fiir Stadtebewohner« 
einwendet, nicht erst Hitler habe in die hier dargestellte Praxis das 
sadistische Element hineingetragen indem er sie statt auf die Aus- 
beuter auf die Juden iibertragen habe; sondern dieses sadistische 
Element sei schon von Hause aus in der »Expropriierung der 
Expropriateure « wie sie von Brecht beschrieben wird. Und der 
Zusatz »So sprechen wir zu unsern Vatern«, der das Gedicht 
abschlieflt, beweist denn auch strikt, dafi es sich hier nicht um die 
Expropriierung der Expropriateure zugunsten des Proletariats son- 
dern zugunsten starkerer Expropriateure, namlich der jungen, han- 
delt. Dieser Zusatz verrat die Komplizitat, die dieses Gedicht mit 
der Haltung der dubiosen expressionist(isch)en Clique um Arnolt 
Bronnen hat. - Vielleicht darf man annehmen, dafi ein Kontakt mit 
revolutionaren Arbeitern Brecht davor hatte bewahren konnen, die 
gefahrlichen und folgenschweren Irrungen, die die GPU-Praxis fiir 
die Arbeiterbewegung zur Folge hatte, dichterisch zu verklaren. - 
Jedenfalls ist der Kommentar, in der Gestalt, die ich ihm gegeben 
habe, eine fromme Falschung; eine Vertuschung der Mitschuld, die 
Brecht an der gedachten Entwicklung hatte. 

REVE DU Il/l2 OCTOBRE I939 

Je me trouvais avec Dausse en compagnie de plusieurs personnes 
dont je ne me souviens pas. A un moment donne, nous quittames 
cette compagnie, Dausse et moi. Apres nous etre absentes, nous 
nous trouvames dans un fouilli; je m^pergus que presqu'a meme le 
sol, se trouvait un drole genre de couches. Ces couches etaient cons- 
tituees par des constructions tres basses. Elles semblaient etre en 



Notiz uber Brecht • Revue du 11/12 octobre 1939 541 

pierres, mais en m'y appuyant je m'apercus qu'on s'y enfongait 
mollement comme dans un lit; elle etait couverte d'une sorte de 
mousse et de lierres. Je m'apercus que ces couches etaient distri- 
butes deux a deux. A Tinstant ou je pensais m'etendre sur celle qui 
voisinait avec une couche que je pensais affectee a Dausse, je me 
rendis compte que le chevet de cette couche etait deja occupe par 
d'autres personnes. Nous quittames done ces couches qui etaient 
des tombes et nous poursuivlmes notre chemin. L/endroit ressem- 
blait toujours a une foret, mais il y avait dans la distribution des futs 
et des branches quelque chose d'artificiel qui donnait a cette partie 
du decor une vague ressemblance avec une construction nautique. 
En longeant quelque poutre et en traversant quelques marches en 
bois, nous nous trouvames sur une sorte de pont de bateau minus- 
cule, de petites terrasses en bois. C'etait la que se trouvaient les 
femmes avec lesquelles Dausse vivait. Elles etaient trois ou quatre et 
me paraissaient d'une grande beaute. La premiere chose qui m'eton- 
nait fut que Dausse ne me presenta pas. Cela ne me gena pas plus que 
la decouverte que je fis au moment de deposer mon chapeau sur un 
piano a queue. C'etait un vieux chapeau de paille, un >panama< dont 
j'avais herite de mon pere. (Ce chapeau n'existe plus depuis long- 
temps.) Je fus frappe en m'en debarassant, une large fente avait ete 
appliquee dans la partie superieure du chapeau. J'aper^us incidem- 
ment et sans m'en formaliser que les bords de cette fente presen- 
tment des traces de couleur rouge. Une des dames qui etaient assises 
s'etait entre-temps occupee de graphologie. Je vis qu'elle avait en 
main quelque chose qui avait ete ecrit par moi et que Dausse lui avait 
donne. Je m'inquietait un peu de cette expertise, craignant que mes 
gouts intimes puissent ainsi etre deceles. Je m'approchais. Ce que je 
vis, etait une etoffe qui etait couverte d'images et dont les seuls ele- 
ments graphiques que je pus(se) distinguer, etaient les parties supe- 
rieures de la lettre >d< qui decelaient dans leur longueur effilee une 
aspiration extreme vers la spiritualite. Cette partie de la lettre etait, 
en surplus, munie d'une petite voile a bordure bleue, et cette voile se 
gonflait sur le dessin comme si elle se trouvait sous la brise. C'etait la 
la seule chose que je pus { se ) >lire< - le reste of f rant des motifs indis- 
tincts de vague et de nuages. L'entretien tourne un moment autour 
de cette ecriture. Je ne me souviens pas des opinions avancees, mais 
je sais tres bien qu'a un moment donne, je disais textuellement (et en 
fran^ais; e'est pourquoi j'ecris ce reve en franc, ais): »Il s'agissait de 



r^ 2 Autobiographische Schriften 

changer en fichu unepoesie. * J'avais a peine prononce ces mots qu'il 
se passa quelque chose d'intrigant. Je m'apercus qu'il y avait une 
parmi les femmes, tres belle egalement, qui etait couchee dans un lit. 
En entendant mon explication, elle eut un mouvement bref comme 
un eclair. Elle ecarta parcimonieusement et de f a?on toute subite la 
couverture qui l'abritait dans son lit. Ce n'etait pas pour faire voir 
son corps, mais le dessin de son drap de lit qui devait offrir une 
imagerie analogue a celle que j'avais du >ecrire< il y a bien des annees, 
pour en faire cadeau a Dausse. Je sus tres bien que la dame faisait ce 
mouvement. Mais ce qui m'en informait, etait une sorte de vision 
supplementaire. Car quant aux yeux de mon corps, ils etaient ail- 
leurs, et je ne distinguais nullement ce que pouvait offrir le drap de lit 
qui s'etait si fugitivement ouvert pour moi. 



Anhang 



WANDKALENDER PER HITERARIUHEN WELT« FOR 1927 

VERSE VON WALTER BENJAMIN / ZBKHNUNtiEN VON RUDOLF «ROItMANN 





^S4^W 



Es kiindet das Jahr siebenundzmanzig 
In Nord und Sud (und Freistaal Danzig) 
Sich deutschen Lesern gilnsiig an 
1m Tierkreiszeichen: Wassermann. 



JANUAR 



1 Sonnabend Neuj. 



2 Sonntag 

3 Montag 

4 Dienstag 

5 Mittwoch 

6 Donncrstag 

7 Freitag 

S Sonnabend 



9 Sonntag 

10 Montag 

11 Dienstag 

12 Mittwoch 

13 Donncrstag 

14 Freitag 

15 Sonnabend 



16 Sonntag 

17 Montag 

18 Dienstag 

19 Mittwoch 

20 Donncrstag 

21 Freitag 

22 Sonnabend 



23 Sonntag 

24 Montag 

25 Dienstag 

26 Mittwoch 

27 Donnerstuff 

28 Freitag 

29 Sonnabend 



30 Sonntag 

31 Montag 



^ EJ$ 1* u A 




Dann stellt der Monat Februar 
Am Firmament die Fische dar. 
S. Fischer aber mohnt hienieden 
Vnd beut euch alien seinen Frieden. 



FEBRUAR 



1 Dienstag 
J Mittwoch 

4 Freitag 

5 Sonnabend 



6 Sonntag 

7 Montag 

8 Dienstag 

9 Mittwoch 

10 Donnerstag 

11 Freitag 

12 Sonnabend 



13 Sonntag 

14 Montag 

15 Dienstag 

16 Mittwoch 

17 Donnerstag 

18 Freitag 

19 Sonnabend 



20 Sonntag 

21 Montag 

22 Dienstag 

23 Mittwoch 

24 Donnerstag 

25 Freitag 

26 Sonnabend 



2? Sonntag 
28 Montag 




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\-7- 



a 




Z)er Querschnitt ist im Grunde billig, 
Der Lenz naht meistens widerwillig. 
Zur Freudejedes braven Snob 
Regiert sie beide Wedderkop. 



MARZ 

1 Dienstag 

2 Mittwoch 

3 Donnerstag 

4 Freitag 

5 Sonnabeud 



fi Sonntag 
7 Moatag 
B Dienstag 
9 Mittwoch 

10 Donnerstag 

11 Freitag 

12 Sod n a bend 



13 Sonntag 

14 Montag 

15 Dienstag 

16 Mittwoch 

17 Donnerstag 
l* Freitag 

19 Sonnabeud 



20 Sonntag 

21 Montag 

22 Dienstag 

23 Mittwoch 

24 Donnerstag 

25 Freitag 

26 Sonnabend 

27 Sonntug 

28 Montag 
20 Dicnslag 
50 Mittwoch 
31 Duuncrstatf 



Ap 



APRIL 



frV 






t Freitag 
2 Sonnabend 




Der Stier gehort in den April, 
Weil Grofimann keinen zeichnen toil I 
(W ahrscheinlich ist es ein Komplex), 
Erscheint hier Fridericus Hex. 



3 Sonntag 

4 Montag 

5 Dienstag 

6 Mittwoch 

7 Douucrstag 
s Freitag 
9 Sonnabend 

10 Sonntag 

11 Montag 

12 Dienstag 

13 Mittwoch 

14 Donnerstag 

15 Freitag Karfrci 

16 Sonnabend 

17 Sonntag Osterfet 

18 Montag 

19 Dienstag 

20 Mittwoch 

21 Donnerstag 

22 Freitag 

23 Sonnabend 

24 Sonntag 

25 Montag 

26 Dienstag 

27 Mittwoch 

28 Douucrstag 

29 Freitag 

30 Sonnabend 




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5* ^*- 


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Lorbeeren sind 

meistens immer- 

griin, 
Sckriftsteller von 

Gedanken 

spriihn. 




Den beidett ZtoiUingen 

im Mai 
1st beides 

ziemlich einerlei. 



£L\S 



MAI 



1 Sonntag 

2 Mootag 

3 Dienstag 

4 Mittwoch 

5 Donnerstag 

6 Freitag 

7 Sonnabend 



8 Sonntag 

9 Mod tag 

10 Dienstag 

11 Mittwoch 

12 Donnerstag 

13 Freitag 

14 Sonnabend 

15 Sonntag 
lft Mootag 
1? Dienstag 

18 Mittwoch 

19 Donnerstag 

20 Freitag 

21 Son na bend 



22 Sonntag 

23 Montag 

24 Dienstag 

25 Mittwoch 

26 Donnerstag Hi mm. 
2? Freitag 
2^ Sonnabend 

2 ( ) Sonntag 
M) Montag 
31 Dienstag 



Im Pen-Klub ist das Juni-Tier, 
Der Krebs, beliebt. Ihr seht es hier. 
Wer aber, fragt Ihr, ist die Null da? 
Kein anderer ah Ludivig Fulda. 



JUNI 




1 Mittwoch 

2 Donnerstag 

3 Freitag 

4 Sonnabend 



5 Sonntag Pfingstf 

6 Montag 

7 Dienstag 

8 Mittwoch 

9 Donnerstag 

10 Freitag 

11 Sonnabeml 



12 Sonntag 

13 Montag 

14 Dienstag 

15 Mittwoch 

16 Donnerstag 

17 Freitag 

18 Sonnabend 



19 Sonntag 

20 Montag 

21 Dienstug 

22 Mittwoch 

23 Donnerstag 

24 Freitag 

25 Sonnabend 



26 Sonntag 

27 Montag 

28 Dienstag 

29 Mittwoch 

30 DonnersUtg 




IS 




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. ) A » 

ryyx/% 





Der Julius heiftt im Grunde Bab 
(llier knurrt der Lome und zieht ab). 
So mancher Leu der kritischen Glosse 
Gehort nach Neustadt an der Dosse. 



JULI 

i Freitag 

2 Sonnabend 

3 Sonntag 

4 Montag 

5 Dienstag 

6 Mittwoch 

7 Donncrstag 

8 Freitag 

9 Sonnabend 

10 Sonntag 

11 Montag 

12 Dienstag 

13 Mittwoch 

14 Donnerstag 

15 Freitag 

16 Sonnabend 

17 Sonntag 

18 Montag 

19 Dienstag 

20 Mittwoch 

21 Donnerstag 

22 Freitag 

23 Sonnabend 

24 Sonntag 

25 Montag 

26 Dienstag 

27 Mittwoch 

28 Donnerstag 

29 Freitag 

30 Sonnabend 

31 Sonntag 




Prag, das sonst im August nichts bot, 
Backt heut' aus Kornfeld frisches Brot, — 
Autoren, die sich schnell erweichen 
Macht manche Jungfrau Tierkreiszeichen. 



AUGUST 



1 Montag 

2 Dienstag 

3 Mittwoch 

4 uonnerslag 

5 Freitag 

6 Sonnabend 

7 Sonntag 

8 Montag 

9 Dienstag 
10 Mittwoch 
It Donnerstag 

12 Freitag 

13 Sonnabend 

14 Sonntag 
1? Montag 

16 Dienstag 

17 Mittwoch 

18 Donnerstag 

19 Freitag 

20 Sonnabend 

21 Sonntag 

22 Montag 

23 Dienstag 

24 Mittwoch 

25 Donnerstag 

26 Freitag 

27 Sonnabend 

28 Sonntag 
2*J Montag 

30 Dienstag 

31 Mittwoch 






^LfrA/ A^ --3Ljr • ' \t->^) 





September — 

Tierkreiszeichen: Wage, i 
Schmutz oder Schund, 

das ist die Frage. 
Erwdgen wir mal ganz genau, 
Ob Lulu oder Geneisenau? 



SEPTEMBER 



1 Donne rs tag 

2 Freitag 

3 Sonnabend 



4 Sonntag 

5 Mumug 

u Dienstag 

7 Mittwoch 

8 Donnerstag 

9 Freitag 

10 Sonnabend 



11 Sonntag 

12 Montag 

13 Dienstag 

14 Mittwoch 
13 Donnerstag 

16 Freitag 

17 Sonnabcud 



18 Sonntag 

19 Montag 

20 Dienstag 

21 Mittwoch 

22 Donnerstag 

23 Freitag 

24 Sonnabend 



25 Sonntng 

26 Montug 
27|DieiiStag 

28 Mittwoch 

29 Donnerslai 
33 Freitag 



oKiom 




Von hinten 
sticht der 
Skorpion. 
Frontal 
focht 
Siegfried 
Jacobsohn 



OKTOBER 



1 Sonnabend 



2 Sonntag 

3 Montag 

4 Dienstag 

5 Mittwoch 

6 Donnerstag 

7 Freitag 

8 Sonnabend 



Oktober gibt 

i\i seinen Ehren 
Sternheimische 

Astral-Premier en, 



9 Sonntag 

10 Montag 

11 Dienstag 

12 Mittwoch 

13 Donncrst.tg 

14 Freitag 

13 Sonnabcud 



16 Sonntag 

17 Montag 

18 DiensUg 

19 Mittwoch 

20 Donnerstag 

21 Freitag 

22 Sonnabend 



23 Sonntag 

24 Montag 

25 Dienstag 

26 Mittwoch 

27 Donncr±>Utg 

28 Freitae 

29 Sonnabend 



30 Sonntag 

31 Montag 






*~ i- 







^f 



Der Afann, rfer im November schieftt, 
Heifit Arno II oh. Im Himmel ist 
Sein Cegner Becker unbekannt. 
Herr Kiilz hat einen schweren Stand. 



NOVEMBER 



1 Dienstag All. Heil. 

2 Mittwoch 

3 Donnerstag 

4 Freitag 

5 SonnaBend 



6 Sonntag 

7 Montag 

8 Dienstag 

9 Mittwoch 

10 Donnerstag 

11 Freitag 

12 SonnaBend 



13 SonDtag 

14 Montag 

15 Dienstag 

16 Mittwoch Buff tag 

17 Donnerstag 

18 Freitag 

19 Sonnabcnd 




20 Sonntag Totenfest 

21 Montag 

22 Dienstag 

23 Mittwoch 

24 Donnerstag 

25 Freitag 

26 Sonnabcnd 

27 Sonntag 

28 Montag 

29 Dienstag 

30 Mittwocli 



Man hat ihm arg den Bart gekrauselt, 
Durch den die Dichierstimme sauselt, 
Jedocli (als Pazifist blamabel) 
Bleibt er als Steinbock akzeptabeL 



DEZEMBER 



1 Donnerstag 

2 Freitag 

3 SonnaBend 

4 Sonntag 

5 Montag 

6 Dienstag 

7 Mittwoch 

S Donnerstag 
9 Freitag 

10 Sonnabcnd 

11 Snnmag 

12 Montag 

13 Dienstag 

14 Mittwocli 

15 Donnerstag 

16 Freitag 

17 Sonnabcnd 

IS Sonntag 

19 Montag 

20 Dienstag 

21 Mittwoch 

22 Donnerstag 

23 lreitag 

24 SonnaBend 

23 .Sontag V 

26 Montag 

27 Dienstag 

28 Mittwoch 
■2*i Doiuicrskig 
30 Freitag 

3t Soi»nabend 




/ M ft <<v 




Protokolle zu Drogenversuchen 



Hauptzuge der ersten Haschisch-Impression 
Geschrieben 18 Dezember {1927) 3/zUhrfriih 

1) Geister schweben (vignettenhaft) hinter der rechten Schulter. 
Kuhle in dieser Schulter. In diesem Zusammenhang: »Ich 
habe das Gefiihl, dafi aufier mir 4 im Zimmer sind.(«) 
(Umgehung der Notwendigkeit sich mitzuzahlen.) 

2) Erlauterung der Potemkinanekdote durch die Erklarung: Sug- 
gestion sei: einem die Maske (des eignen Gesichts id est des 
Vorzeigenden) vorzuzeigen. 

3) Verschrobene Aufierung iiber Athermaske, die (selbstver- 
standlich) auch Mund, Nase etc. habe. 

4) Die beiden Koordinaten durch die Wohnung: Keller - Boden/ 
Horizontale. Grofie horizontale Dehnung der Wohnung. 
Zimmerflucht, aus der die Musik kommt. Aber vielleicht auch 
Schrecken des Korridors. 

5) Unbegrenztes Wohlwollen. Versagen der zwangsneurotischen 
Angstkomplexe. Die Sphare »Charakter« tut sich auf. Alle 
Anwesenden irisieren ins Komische. Zugleich durchdringt 
man sich mit ihrer Aura. 

6) Das Komische wird nicht nur aus Gesichtern, auch aus Vor- 
gangen herausgeholt. Man sucht Anlafi zum Gelachter. Viel- 
leicht stellt sich auch nur darum so vieles, was man sieht, als 
»arrangiert«, als »Versuch« dar: damit man dariiber lachen 
kann. 

7) Dichterische Evidenzen ins Lautliche: ich stelle an einer Stelle 
die Behauptung (auf), eben hatte ich in der Antwort auf eine 
Frage das Wort lange Zeit nur durch (sozusagen) die Wahr- 
nehmung einer langen Zeit in dem Lautbestand der beiden 
Worte gebraucht. Ich empfinde das als dichterische Evi- 
denz. 

8) Zusammenhang; Distinktion. Man fiihlt im Lacheln sich 
kleine Flugel wachsen. Lacheln und flattern als verwandt. 
Man hat das Gefiihl der Distingiertheit u. a. weil man sich so 



Protokolle zu Drogenversuchen 559 

vorkommt, als lasse man im Grunde in nichts sich zu tief ein: 
bewege, wie tief man auch dringe, sich immer auf einer 
Schwelle. Art Spitzentanz der Vernunft. 
9) Es fallt einem sehr auf, in wie langen Satzen man spricht. Auch 
dies mit horizontaler Ausdehnung und (wohl) mit Gelachter 
zusammenhangend. Das Passagenphanomen ist auch die lange 
horizontale Erstreckung, vielleicht kombiniert mit Abflucht in 
die feme fluchtigwerdende, winzige Perspektive. In solcher 
Winzigkeit lage ein Verbindendes von der Vorstellung der Pas- 
sage mit dem Lachen. (Vgl. Trauerspielbuch: verkleinernde 
Macht der Reflexion.) 

10) Ganz fliichtig taucht in einem Augenblick des Insichgekehrt- 
seins so etwas wie eine Neigung auf, sich selber, seinen Korper 
(xxx) zu stilisieren. 

1 1) Unlust zu Auskunft. Rudimente von einem Zustande von Ent- 
riicktheit. Grofie Empfindlichkeit gegen offne Tiiren, lautes 
Reden, Musik. 

12) Gefiihl, Poe jetzt viel besser zu verstehen. Die Eingangstore zu 
einer Welt des Grotesken scheinen aufzugehen. Ich wollte nur 
nicht hereintreten. 

13) Ofenrohre wird Katze. Beim Worte Ingwer ist anstelle des 
Schreibtisches plotzlich eine Fruchtbude da, in der (ich) sofort 
darauf den Schreibtisch wiedererkenne. Ich erinnerte an 1001 
Nacht. 

14) Unlustig und schwerfallig den Gedanken anderer zu folgen. 

1 5) Man hat den Ort, den man im Zimmer einnimmt nicht ganz so 
fest inne wie sonst. So kann einem plotzlich - mir ging es ganz 
fliichtig so - das ganze Zimmer voll Menschen vorkommen. 

16) Die Leute, mit denen man zu tun hat (insbesondere Joel und 
Frankel) sind sehr geneigt, sich etwas zu verwandeln, nicht 
fremd mochte ich sagen zu werden, nicht vertraut zu bleiben 
sondern so etwas wie Fremden ahnlich zu sehen. 

1 7) Mir schien : ausgesprochene Unlust, mich iiber Dinge des prak- 
tischen Lebens, Zukunft, Daten, Politik zu unterhalten. Man 
ist an die intellektuale Sphare gebannt wie manchmal Besessene 
auf die sexuelle, ist von ihr angesaugt. 

1 8) Nachher mit Hessel im Cafe kleiner Abschied von der Geister- 
welt. Winken. 

19) Das Mifkrauen gegen Essen. Ein besonderer und sehr akzentu- 



560 Anhang 

ierter Fall des Gefiihls, was man bei vielem hat: »Das ist doch 
nicht dein Ernst, dafi du so aussiehst!« 

20) F's (Frankels; H's [Hessels] ?) Schreibtisch verwandelt sich als 
er von »Ingwer« spricht fiir eine Sekunde in eine Bude mit 
Friichten. 

21) Mit dem Gelachter bringe ich in Zusammenhang das aufieror- 
dentliche Meinungsschwanken. Es hangt, genauer gesagt, un- 
ter anderm mit der groften Detachiertheit zusammen. Ferner ist 
diese Unsicherheit, die moglicherweise bis zur Affektation 
geht, gewissermafien eine Projektion des inneren Kitzelgefuhls 
nach aufien. 

22) Auffallend ist, dafi man Hemmungsgriinde, die im Aberglau- 
ben etc. liegen und die man sonst nicht leicht benennt ziemlich 
impulsiv ohne starken Widerstand frei heraussagt. 

In einer schillerschen Elegie heifit es »Des Schmetterlings zwei- 
felnder Flugel.« Dieses zum Zusammenhange des Beschwingt- 
seins mit dem Gefiihl des Zweifels. 

23) Man geht die gleichen Wege des Denkens wie vorher. Nur sie 
scheinen mit Rosen bestreut. 



(n> 

Hauptzuge der zweiten Haschisch-Impression 

Geschrieben 15 Januar 1928 nachmittags /14 

Die Erinnerung ist weniger reich, trotzdem die Versunkenheit eine 

geringere als beim vorigen Mai war. Ich war, genau gesagt, weniger 

versunken, aber tiefer drinnen. 

Auch haften in der Erinnerung mehr die triiben, fremdartigen, 

exotischen Partien des Rausches als die lichten. 

Ich erinnere mich an eine satanische Phase. Das rot der Wande 

wurde bestimmend fiir mich. Mein Lacheln nahm satanische Ziige: 

wenn auch mehr den Ausdruck satanischen Wissens, satanischen 

Genugens, satanischen Ruhens an als den satanischen, zerstorenden 

Wirkens. Das Eingelassensein der Anwesenden in den Raum stei- 

gerte sich; der Raum wurde samtner, flammender, dunkler. Ich 

nannte den Namen Delacroix. 

Die zweite ganz starke Wahrnehmung war das Spiel mit dem 

Nebenzimmer. Man beginnt uberhaupt mit Raumen zu spielen. Es 



Protokolle zu Drogenversuchen 561 

entstehen Verfiihrungen des Orientierungssinnes. Was man im 
wachen Zustande aber nur an der sehr unangenehmen Verschie- 
bung kennt, die man willkurlich hervorruft indem man nachts in 
einem Zuge auf dem Rticksitz fahrend sich einbildet man fahre auf 
dem Vordersitz oder umgekehrt, das lafit sich aus der Bewegung ins 
Statische iibersetzt hier als Verfuhrung erfahren. 
Der Raum verkleidet sich vor uns nimmt wie ein lockendes Wesen 
die Kostiime der Stimmungen um. Ich erfahre das Gefuhl, nebenan 
im Zimmer konnte sowohl die Kaiserkronung Karls des Groften 
wie die Ermordung Heinrichs des IV, die Unterzeichnung des Ver- 
trages von Verdun und die Ermordung Egmonts sich abgespielt 
haben. Die Dinge sind nur Mannequins und selbst die groften welt- 
historischen Momente sind nur Kostiime unter denen sie die Blicke 
des Einverstandnisses mit dem Nichts, dem Niedrigen und Banalen 
tauschen. Sie erwidern dem zweideutigen Zwinkern von Nirwana 
heriiber. 

In dieses Einverstandnis garnicht hineinbezogen zu sein, das macht 
dann das »satanische Geniigen« aus, von dem die Rede war. Hier ist 
auch die Wurzel der Sucht, die Mitwisserschaft mit dem Nichtsein 
grenzenlos zu vertiefen durch Steigerung der Dosis. 
Vielleicht ist es keine Selbsttauschung zu sagen, daft man in diesem 
Zustand eine Abneigung gegen den freien sozusagen uranischen 
Luftraum bekommt, der den Gedanken des »Drauften« beinah zur 
Qual werden laftt. Es ist nicht mehr, wie voriges Mai, das freundli- 
che gesellige Verweilen im Raum aus Freude an der Situation wie sie 
ist sondern ein dichtes sich eingewebt sich eingesponnen haben, ein 
Spinnennetz in dem das Weltgeschehen verstreut wie ausgesogene 
Insektenleiber herumhangt. Von dieser Hohle will man sich nicht 
trennen. Hier bilden sich auch Rudimente eines unfreundlichen 
Verhaltens gegen die Anwesenden, Angst, daft sie einen storen, her- 
auszerren konnten. 

Aber auch dieser Rausch hat trotz der depressiven Grundlage sei- 
nen kathartischen Ausgang, wenn auch nicht den seligen des letz- 
ten, so einen findigen, der nicht ohne Anmut ist. Nur daft diese bei 
abklingender Wirkung, die denn doch eigentlich den Depressions- 
zusammenhang deutlicher hinstellt, zu stande kommt, konnte 
unter Umstanden daftir sprechen, daft an dem depressiven Charak- 
ter denn doch die Verstarkung der Dosis auch ihren Anteil hat. 
Doppelte Struktur dieser Depression: einmal Angst und dann eine 



562 Anhang 

Unschliissigkeit in einer damit verbundenen praktischen Frage. 

Dieser Unschliissigkeit Herr geworden: plotzlich einem sehr ver- 

steckten Moment einer zwangshaften Versuchung auf die Spur 

gekommen, damit die Moglichkeit gewonnen, mich ihr etwas nach- 

zugeben mit der Aussicht sie abzutun. 

Den Hunger als schiefe Axe durch das System des Rausches ge- 

legt. 

Die grofie Hoffnung, Neigung, Sehnsucht Neuem, Unberuhrtem 

im Rausch nahezukommen, lafit diesmal kaum mehr im beschwing- 

ten Flattern sondern im miiden, in sich versunkenen, entspannten, 

miifiigen, tragen Wandel bergab sich erreichen. In diesem Bergab- 

gehen glaubt man noch einige Freundlichkeit, noch einige attrativa 

zu entwickeln, Freunde mit einem dunkel umrandeten Lacheln mit 

sich mitzufuhren, halb Lucifer halb Hermes traducens, nicht mehr 

der Geist und Mensch vom letztenmal. 

Weniger Mensch, mehr Daimon und Pathos in diesem Rausch. 

Die ungute Gleichzeitigkeit des Bedurfnisses allein zu sein und des- 

sen mit den andern zusammenbleiben zu wollen - ein Gefuhl das in 

der tieferen Miidigkeit zum Vorschein kommt und dem man nach- 

zugehen hatte - steigert sich. Man hat das Gefuhl, diesem zweideu- 

tigen Zwinkern von Nirwana heruber nur ganz einsam in tiefster 

Ruhe sich iiberlassen zu konnen und braucht doch Anwesenheit der 

andern als leise sich verschiebende Relieffiguren am Sockel des eige- 

nen Thrones. 

Hoffnung als Kissen, das sich einem unterlegt, jetzt erst, nachwir- 

kend. 

Der erste Rausch machte mich mit dem Flatterhaften des Zweifels 

bekannt; das Zweifeln lag als schopferische Indifferenz in mir sel- 

ber. Der zweite Versuch aber liefi die Dinge zweifelhaft er- 

scheinen. 

Zahnoperation. Merkwiirdige Erinnerungsverschiebung. Kann 

mich noch jetzt nicht von der Vorstellung befreien, die Stelle sei auf 

der linken Seite gewesen. 

Noch beim Nachhausekornmen, als die Kette vor der Badezimmer- 

tiir schwer schliefien will, der Argwohn: Versuchsanordnung. 

Man hort die Tuba mirans sonans, stemmt sich aber vergebens 

gegen die Grabplatte. 

Es ist bekannt, daft wenn man die Augen schliefk und leicht auf sie 

driickt, ornamentale Figuren entstehen, auf deren Form man kei- 



Protokolle zu Drogenversuchen 563 

nen Einflufi hat. Die Architekturen und Raumkonstellationen, die 
man im Haschisch vor sich sieht, haben im Ursprung etwas damit 
Verwandtes. Wann und als was sie auftreten, das ist zunachst 
unwillkiirlich, so blitzartig und unangemeldet stellen sie sich ein. 
Dann, wenn sie einmal da (sind), kommt bewufiter spielende 
Phantasie, um sich gewisse Freiheiten mit ihnen zu nehmen. 
Man darf wohl ganz allgemein sagen, dafi die Empfindung des 
»draufien«, »aufierhalb« mit einem gewissen Unlustgefiihl verbun- 
den ist. Vom »draufien« aber mufi man scharf den noch so sehr 
ausgeweiteten Visionsraum unterscheiden, der zum draufien sich 
fur den Menschen im Haschischrausch genau so verhalt wie die 
Biihne zur kalten Strafie fur einen Theaterbesucher. Bisweilen 
scheint aber zwischen dem Berauschten und seinem Visionsraum 
etwas, um weiter in diesem Bilde zu reden, wie ein Proszenium zu 
liegen, durch das eine ganz andere Luft, das draufien, hindurch- 
streicht. 

Die Todesnahe f ormulierte sich mir gestern in dem Satze : der Tod 
liegt zwischen mir und meinem Rausch. 

Das Bild vom Selbstanschlufi: gewisse geistige Dinge kommen »von 
selbst zu Wort«, wie sonst etwa heftige Zahnschmerzen etc. Alle 
Empfindungen, vor allem auch geistige, haben ein starkeres Gefalle 
und reifien die Worte in ihrem Bette mit sich. 
Dieses »zweideutige Zwinkern von Nirwana heriiber« ist wohl nir- 
gends so anschaulich geworden wie bei Odilon Redon. 
Die erste schwere Schadigung, die eintritt, ist wohl die Unfahigkeit, 
liber weitere Zeiten hinaus disponieren zu konnen. Es zeigt sich, 
wenn man dem naher nachgeht, das Erstaunliche an der Tatsache, 
dafi wir iiber Nacht und Nachte hinaus disponieren konnen, d.h. 
uber gewohnliche Traume hinaus. Sehr schwer iiber die Traume 
(oder den Rausch) im Haschisch hinaus zu disponieren. 
Bloch wollte leise mein Knie beriihren. Die Beriihrung wird mir 
schon lange ehe sie mich erreicht hat, spiirbar, ich empfinde sie als 
hochst unangenehme Verletzung meiner Aura. Um das zu verste- 
hen, mufi man mit-beriicksichtigen, dafi alle Bewegungen an Inten- 
sitat und Planmafiigkeit zu gewinnen scheinen und dafi sie schon als 
solche unangenehm wahrgenommen werden. 
Nachwirkung: vielleicht eine gewisse Schwachung des Willens. 
Aber das Beschwingende gewinnt mit abklingender Wirkung die 
Oberhand. Hangt eine bei mir in der letzten Zeit (trotz haufiger 



564 Anhang 

Depression) aufwartssteigende Schriftrichtung, wie ich sie noch 
nie bei mir beobachtet habe, mit Haschisch zusammen. Andere 
Nachwirkung: beim Nachhausekommen lege ich die Kette vor 
und als sich dabei eine Schwierigkeit ergibt, ist mein erster (sofort 
korrigierter) Gedanke: Versuchsanordnung? 
Wenn auch der erste Rausch moralisch hoch iiber dem zweiten 
stand, so ist doch die Klimax der Starke ansteigend. Ungefahr so 
zu verstehen: der erste Rausch lockerte und lockte die Dinge aus 
ihrer gewohnten Welt, der zweite stellte sie sehr bald in eine - die- 
sem Zwischenreich weit unterlegene - neue. 
Uber die standigen Abschweifungen im Haschisch. Zunachst die 
Unfahigkeit zuzuhoren. So sehr (sie) im Mifiverhaltnis zu dem 
grenzenlosen Wohlwollen gegen die andern scheint, so sehr ist sie 
in Wahrheit mit ihm verwurzelt. Der Partner hat kaum den Mund 
geoffnet, so enttauscht er uns grenzenlos. Was er sagt bleibt 
unendlich weit hinter dem zuriick, was wir ihm, hatte er geschwie- 
gen, so gerne und mit tausend Freuden zugetraut und geglaubt 
hatten. Er enttauscht uns schmerzlich durch sein Abgleiten vom 
grofiten Gegenstande aller Aufmerksamkeit: uns selber. 
Was aber unser eigenes Abgleiten, Abspringen vom Gesprachs- 
gegenstand angeht, so sieht das Gefiihl, das der physischen Kon- 
taktunterbrechung entspricht, etwa so aus: wovon wir gerade zu 
sprechen vorhaben, das lockt uns unendlich; was uns intentional 
vorschwebt, danach breiten wir liebend die Arme aus. Kaum 
haben wir es aber beruhrt, so enttauscht es uns ganzlich: der 
Gegenstand unserer Aufmerksamkeit welkt unter der Beriihrung 
der Sprache plotzlich hin. Er altert um Jahre, unsere Liebe hat ihn 
in einem einzigen Augenblick ganzlich erschopft. So ruht er aus: 
bis er uns lockend genug erscheint, uns wieder auf ihn zuriickzu- 
fuhren. 

Auf das Kolportagephanomen des Raumes zuruckzukommen: es 
wird simultan die Moglichkeit aller potentiell in diesem Raume 
etwa geschehnen Dinge wahrgenommen. Der Raum blinzelt einen 
an: Nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben? Zusammen- 
hang dieses Phanomens mit der Kolportage. Kolportage und 
Unterschrift. So vorzustellen: man denke sich einen kitschigen 
Oldruck an der Wand und im unteren Teile des Rahmens einen 
langlichen Streifen herausgeschnitten. Durch die untere Leiste liefe 
ein Band und nun erschienen in dem Spalt Unterschriften die ein- 



Protokolle zu Drogenversuchen 565 

ander ablosten: »Ermordung Egmonts«, »Kaiserkronung Karls des 
Grofien« etc. 

Ich sah in diesem Versuch dfters Lauben mit Bogenfenstern und 
sagte einmal: ich sehe Venedig, aber es sieht aus wie der obere Teil 
der Kurfurstenstrafte. 

»Ich fuhle mich schwach« und »ich weifi mich schwach« - das sind 
grundverschiedene Intentionen. Vielleicht hat nur die erste eigent- 
lich ausdrucksmafiigen Niederschlag. Aber im Haschisch kann man 
beinahe von einer Alleinherrschaft der zweiten reden und vielleicht 
erklart das, wieso trotz gesteigertem »Innenleben« der Gesichtsaus- 
druck verarmt. Dem Unterschied dieser beiden Intentionen ist 
nachzugehen. 

Weiterhin: Funktionsverschiebung. Diesen Ausdruck ubernehme 
ich von Joel. Hier die Erfahrung, die mich darauf brachte: Man gab 
mir in der satanischen Phase ein Buch von Kafka in die Hand 
»Betrachtung«. Ich las auf dem Titel. Dann aber wurde mir dieses 
Buch sofort das, was ein Buch in der Hand eines Dichters dem viel- 
leicht etwas akademischen Bildhauer wird, der ein Standbild dieses 
Dichters zu machen hat. Es wurde von mir unmittelbar dem plasti- 
schen Aufbau meiner Person eingefugt und demnach viel brutaler 
und absoluter mir untertan als die abfalligste Kritik es hatte zu 
stande bringen konnen. 

Es war aber noch anders: namlich als sei ich auf der Flucht vor Kaf- 
kas Geist und nun, im Augenblicke, da er mich beriihrte, verwan- 
delte ich mich in Stein wie Daphne unter Apolls Beriihrung zu 
Epheu wird. 

Zusammenhang der Kolportage- Intention mit den tiefsten theolo- 
gischen. Sie spiegeln sie getriibt wider, versetzen in den Raum der 
{Contemplation, was nur im Raume des tatigen Lebens gilt. Nam- 
lich: da£ die Welt immer wieder dieselbe sei (da£ alles Geschehen 
im gleichen Raume sich hatte abspielen konnen). Das ist imTheore- 
tischen trotz allem eine miide, welke Wahrheit (trotz aller scharfen 
Sicht, die darin steckt) aufs hochste aber bestatigt sie sich im Dasein 
des Frommen, dem wie hier der Raum der Phantasie zu allem 
Gewesenen, so alle Dinge zum Besten dienen. So tief ist Theologi- 
sches hier in den Bereich der Kolportage gesunken. Ja man darf 
sagen: die tiefsten Wahrheiten, weit entfernt aus dem Dumpfen, 
Tierischen des Menschen aufgestiegen zu sein, besitzen die gewal- 
tige Kraft, noch dem Dumpfen, Gemeinen sich anpassen zu kon- 



$66 Anhang 

nen, selbst im verantwortungslosen Traumer sich auf ihre Weise zu 
spiegeln. 

Ernst Bloch: Protokoll zu demselben Versuch 

Ich esse nichts. Energie des Schweigens bleibt. Energie des Fastens 
geht verloren, wenn man satt ist. 

Der heutige Rausch verbdlt sich zum vorigen wie Calvin zu Shake- 
speare. Das ist ein Calvinistenrausch. 

Jetzt bin ich in einem Zustand trdger Sehnsucht, sinkender Sehn- 
sucht. Es ist immer nur so ein zweideutiges Zwinkern von Nirwana 
heruber. Friedensallegorie, Schdferwelt taucht dumpf auf. Das ist 
alles, was Ubrig blieb von Ariel. Das mifitam reinsten das Verhdltnis 
der beiden Rausche. 

Wenn sogar ich, dem es irdisch geht, schlecht geht (deprimiert), dies 
Zwinkern spure y dann zu sehen, welch e Macht es hat. Ja, es ist das 
Lacheln. Das Ldcheln ist das verschleierte Bild von Sais. 

Es ist jetzt, als ob mich etwas an der Hand nahme. Zu demgesuchten 
Spalt im Fels. Aber das wird doch nur ein verregnetes Rendezvous 
mit den Geistern. Ein verregnetes Venedig, ahnlich wie die Kurfur- 
stenstrafie. Habe dabei aber auch den Genufl dieser regenschweren 
Stimmung; sehe vom Fenster mit der Pfeife her ah. Ich rede mit 
Absicht etwas blumig, Sie miissen mijitrauisch sein. 

Es ist , als ob einem phonetisch die Worte eingegeben wurden. Esgibt 
hier Selbstanschlufi. Es kommen Dinge zu Wort, ohne um Erlaubnis 
zu fragen. Das geht bis in sehr hohe Spharen hinauf. Es gibt ein 
lautloses Pafiwort, mit dem jetzt gewisse Dinge durchs Tor treten. 

Die depressive Stimmung ist doch auch vertieju Angst sie zu verlie- 
ren und die Vertiefung sind gleichzeitig. Bin nurfahig, die Gefuhls- 
atmosphare der Depression zuriickzubehalten, nicht ihre Inhalte. 

Wieder starkes Gefuhl, auf dem Meer zu sein. Das Phasenhafte = 
Meerfahrt, Leben in der Kabine: Das ist doch ganz klar, es ist die 



Protokolle zu Drogenversuchen 567 

Welt durch Glasgesehen. Esbildetsichjetztein Gespinst, alles verbin- 
det sich mit schwarzem Hintergrund wie auf schlechten Stichen. 
Haschisch webt den ganzen Raum ein. 

Unterbrechung (ich nehme Kafkas »Betrachtung« als Unterlage). 
Benj(amin): »Das ist die richtige Unterlage. « - Ich: »Eine vorneh- 
mere konnte man nicht finden.« - Benj(amin): »Keine orientier- 
tere. « 

Treppe im Atelier: Ein nur Wachsfiguren bewohnbarer Aufbau. 
Damitfange ichplastisch so vielan; der ganze Piscator kann einpak- 
ken. Habe die Moglicbkeit, mit winzigen He belch en die ganze 
Beleuchtung umzustellen. Kann aus dem Goethehaus die Londoner 
Oper machen. Kann die ganze Weltgeschichte draus ablesen. Mir 
erscheint im Raum, weshalb ich die Kolportagebilder sammle. Kann 
alles imZimmer sehen; die Sohne Richards 1 1 1 . undwasSie wollen. 

Dinge machen meine Depression dabei mit = Entwertung ihrer 
Materie. Sie werden Mannequins. Unangekleidete Anziehpuppen, 
aufmein Vorhaben wartend, nackt stehen sie berum, alles wird an 
ihnen lehrhaft wie am Phantom. Nein> es ist so: sie stehen ohne 
Aura. Durch mein Ldcheln. Durch mein Ldcheln stehen alle Dinge 
unter Glas. 

Jetzt entsteht ein Gang zwischen Staff elei und Treppe , durch den der 
Hauch des Todes streicht. Der Tod, der zwischen mir und dem 
Rausch ist. Es bildet sich ein verschneiter Weg in den Rausch hinaus. 
Dieser Weg ist der Tod. 

Zu Frdnkel, der die Treppe herunterkommt: Sie sind eine Dame 
geworden. Sie bekommen immer wie Schwimmhaute einen Rock 
zwischen die Fiifle. 

Als W {alter) B(enjamin) genotigt wurde: nein, ich nehme nichts. 
Selbst wenn Sie sich zu diesem Zweckjamben vorbinden, werde ich 
nichts essen. 

Am Schlufl: Trete her aus in einen Maiahend, aus meinem Scbloft in 
Parma. Gehe so leicht, so zart, der Boden ist Seide. 



568 Anhang 

Zu mir: Bleiben Sie noch eine Zeitlang identisch! (Beim Ab- 
schied.) 

Nacbtrag: A Is Dr. Frdnkel etwas aufschreiben wo lite: »Ah, jetzt 
komme ich wieder in den Sch loft park, wo jeder Schritt von mir auf- 
geschrieben wird.« - 



Blochs Protokoll zum Versuch vom { 14. Januar 1928) 

Die Reihenfolge ist frei. 

Der heutige Rausch verhalt sich zum vorigen wie Calvin zu Shake- 
speare. Das ist ein Calvinistenrausch. 

Jetzt bin ich in einem Zustand trager Sehnsucht, sinkender Sehn- 
sucht. Es ist immer nur so ein zweideutiges Zwinkern von Nirwana 
heriiber. Friedensallegorie, Schaferwelt taucht dumpf auf. Das ist 
alles, was iibrig blieb von Ariel. Das mifit am reinsten das Verhaltnis 
der beiden Rausche. 

Wenn sogar ich, dem es irdisch geht, schlecht geht (deprimiert) das 
Zwinkern spiire, dann zu sehen, welche Macht es hat. J a, es ist das 
Lacheln. Das Lacheln ist das verschleierte Bild zu Sais. 

Es ist jetzt als ob mich etwas an der Hand nahme. Zu dem gesuchten 
Spalt im Fels. Aber das wird doch nur ein verregnetes Rendezvous 
mit den Geistern. Ein verregnetes Venedig, ahnlich wie die Kurfur- 
stenstrafie. Habe dabei aber auch den Genufi dieser regenschweren 
Stimmung, sehe vom Fenster mit der Pfeife auf mich herab, wie ich 
vergebens da warte. - Ich rede mit Absicht etwas blumig, Sie miis- 
sen mifitrauisch sein. 

Es ist als ob einem phonetisch die Worte eingegeben wiirden. Es 
gibt hier Selbstanschlufl. Es kommen Dinge zu Wort, ohne um 
Erlaubnis zu fragen. Das geht bis in sehr hohe Spharen hinauf. Es 
gibt ein lautloses Pafiwort, mit dem jetzt gewisse Dinge durchs Tor 
treten. 



Protokolle zu Drogenversuchen 569 

Wieder starkes Gefiihl, auf dem Meer zu sein. Das Phasenhafte = 
Meerfahrt. Leben in der Kabine. (Bloch fragt: wieso?) Das ist doch 
ganz klar, es ist die Welt durch Glas gesehen. Es bildet sich jetzt ein 
Gespinst. Alles verbindet sich mit schwarzem Hintergrund wie auf 
schlechten Stichen. Haschisch webt den ganzen Raum ein. 

Unterbrechung. Bloch nimmt Kafkas »Betrachtung« als Unterlage. 
Ich: Das ist die richtige Unterlage. Bloch: Eine vornehmere konnte 
man nicht finden. Ich: Keine orientiertere. 

Treppe im Atelier. Ein nur Wachsfiguren bewohnbarer Aufbau. 
Damit f ange ich plastisch so viel an ; der ganze Piscator kann einpak- 
ken. Habe die Moglichkeit, mit winzigen Hebelchen die ganze 
Beleuchtung umzustellen. Kann aus dem Goethehaus die Londoner 
Oper machen. Kann die ganze Weltgeschichte daraus ablesen. Mir 
erscheint im Raum, weshalb ich die Kolportagebilder sammle. 
Kann alles im Zimmer sehen, die Sonne Richards III und was Sie 
wollen. 

Dinge machen meine Depression dabei mit = Entwertung ihrer 
Materie. Sie werden Mannequins. Unangekleidete Anziehpuppen, 
auf mein Vorhaben wartend, nackt stehen sie herum, alles wird an 
ihnen lehrhaft wie am Phantom. Nein, es ist so: sie stehen ohne 
Aura. Durch mein Lacheln stehen alle Dinge unter Glas. 

Es bildet sich ein verschneiter Weg in den Rausch hinaus, dieser 
Weg ist der Tod. 

Zu Frankel, der die Treppe hinunter kommt: Sie sind eine Dame 
geworden. Sie bekommen immer wie Schwimmhaute einen Rock 
zwischen die Fufte. 

Als ich zum Essen genotigt werde: Nein, ich nehme nichts. Selbst 
wenn Sie sich zu diesem Zweck Jamben vorbinden, werde ich nichts 
essen. 

Schlufi: Trete heraus in einen Maiabend aus meinem SchloE in 
Parma. Gehe so leicht, so zart, der Boden ist Seide. 



570 Anhang 

Als Frankel etwas aufschreiben wollte: Ach, jetzt komme ich wie- 
der in den Schlofipark, wo jeder Schritt von mir aufgeschrieben 
wird. 

Ebenfalls zu Frankel: Jetzt tritt die Strafe dafur ein, dafi Sie ausge- 
gangen sind: Sie kommen ganz verwandelt zuriick, 

Ich stofie jetzt jeden Augenblick an die Decke, die ungeheuer diinn 
ist. Also ein Auftrieb zur Wachheit. 

Falle wieder die Treppe herunter; lustvoll. Beginnt sich zu lich- 
ten. 

Jetzt fehlt mir zum Gliick nichts als was die Dienstmadchen fiir 25 
Pfennig in einem agyptischen Traumbuch kaufen. 

Tod als Zone, die um den Rausch herum ist. 

Zustand inniger Verdrossenheit. 

Jetzt habe ich keine afrikanische Phase sondern eine keltische. Wird 
immer heller. 

Bei Gelegenheit der Aufforderung, zu sagen, was ich vorher einmal 
ausgefuhrt hatte: »Jetzt bin ich der geschulerte Lehrer.« 

Irgendetwas »iiberspult den depressiven Zustand«. (Der Gegensatz 
zu aufheben: iiberspiilen.) 

Daraus ist genau zu ersehen, was einem zum Gliick fehlt. Das ist die 
traurige Evidenz. Ja, es ist sehr komisch. Das Sterben hat einen ganz 
anderen Imperativcharakter als das letzte Mai. 

Diinsten aus der Erde. Mittelstufe. Aufhellungen des Rausches. 

Chthonischer. Sah (uns) eine Treppe heruntergehen, so dafi wir 
gewissermafien unterirdisch safien. 



Protokolle zu Drogenversuchen 571 

(in) 

Protokoll des Haschischversuchs vom 11. Mai 1928 

V. P. (Versuchsperson) Joel. 
Joel nahm urn Uhr g. Cannabis ind(icae). 
J(oel) erscheint gegen l A 11 Uhr bei Benjamin. Hat vorher, nach- 
dem er eingenommen hatte, eine Versammlung im Gesundheits- 
haus geleitet und in der Diskussion ungehindert gesprochen. Ver- 
spricht sich{,) als gegen 1 1 Uhr noch keine sichtbare Wirkung ein- 
getreten ist, einen sehr geringen Erfolg. Kommt sich selbst veran- 
dert vor, dem Beobachtenden nicht. Das Gesprach geht von Arbei- 
ten von B(enjamin) aus, kommt von selbst auf Fragen erotischer 
bezw. sexualpathologischer Dokumente (Sammlung Magnus 
Hirschfeld). B(enjamin) legt der Versuchsperson ein Album mit 
freien Abbildungen vor. Wirkung: Null. Das Gesprach bleibt rein 
wissenschaftlich. 

Dagegen kuriose sozusagen mimetische Antizipationen bei Benja- 
min), der auffallend haufig ganz im Gegensatz zu J(oel) den Faden 
des Gesprachs verliert, J(oel) der sich einen Keks nimmt, Feuer 
dazu anbieten will. 

Nach 1 1 Uhr Anruf bei Frankel, der zu kommen verspricht. Dieses 
Gesprach kommt dem Beobachter geradezu als auslbsender Faktor 
des H{aschisch)-Rausches vor. Am Telefon erster (gemaftigter()) 
Lachanfall, Nach Schlufl des Gesprachs starke Wirkung des Rau- 
mes, wozu zu bemerken: Das Telefon befindet sich nicht in B ( enja- 
min)s Zimmer, sondern in der anschliefienden Wohnung; man 
mufi um in das betreffende Zimmer zu gelangen, ein drittes Zimmer 
passieren. J(oel) hat den Wunsch, in dem Zimmer, in dem er tele- 
foniert hat, zu verbleiben, ist aber sehr unsicher, wagt sich nicht in 
die Sofaecke, gegen ein Kissen, zu lehnen, nimmt die Mitte des 
Sofas ein. 

Schon vorher beim Durchgang durch das mittlere Zimmer gestei- 
gerte Beobachtungsgabe (relativ zu der ubHchen von B(enjamin), 
die hier den einzigen Vergleichsmaftstab bildet). Dieses Durch- 
gangszimmer ist namlich mit eingerahmten Schriftproben erfiillt. 
J(oel) entdeckt sofort eine Tafel, die kenntlich macht, es handle 
sich um eine Sammlung zur Geschichte der Schrift. B { enjamin ) hat 
diese Tafel niemals bemerkt. Noch auffallender beim Ruckweg 
durch dieses Zimmer: An einer Stuhllehne ist ein violetter Luftbal- 



57 2 Anhang 

Ion festgebunden. B(enjamin) sieht ihn gar nicht, Joel erschrickt. 
Die Lichtquelle, die sich vor dem Ballon befindet, erscheintj(oel) 
in dessen Innern (violette Lampe, die er als »Apparat« an- 
spricht()). 

In B(enjamin)s Zimmer sofort mit dem Ubergang in das neue 
Milieu vollige Desorientierung des Zeitsinns. 10 Minuten, die seit 
dem Telefongesprach verstrichen sind, erscheinen ihm als eine 
halbe Stunde. Die folgende Periode charakterisiert durch unruhige 
Erwartung von Frankel. Die Phasen sind aufierlich kenntlich an 
wiederholten tiefen Atemziigen. Diskussion uber J(oel)s Formu- 
lierung: »Ich habe mich in der Zeit verschatzt.* Andere Formulie- 
rungen: »Meine Uhr geht riickwarts.« »Ich mochte mich zwischen 
die Doppelfenster stellen.« »Es konnte doch jetzt allmahlich Fran- 
kel werden.« Am Fenster stehend sieht Joel zwei Radfahrer: »An- 
geradelt kann er ja doch nicht kommen, Und gar zu zweit!« 
Danach eine Phase defer Versunkenheit, aus der hier nur einzelnes 
festgehalten werden kann. Divagation uber das Wort »Kollege«. 
Etymologische Uberlegung. Fur B(enjamin) sehr auffallend, weil 
er am gleichen Tage 8 Stunden vorher uber die Etymologie dieses 
Wortes im Stillen nachgedacht hatte. Er sucht das J(oel) mitzutei- 
len. Dieser streng ablehnend: »Ich kann diese mediumistischen 
Gesprache nicht leiden unter Intellektuellen.« 
Andere Formulierungen, deren Zusammenhang ich nicht mehr 
rekonstruieren kann: »Soll ich nun dariiber malthusianistisch 
reden?« »Das kann jede Mutter mit 5 Kindern sagen.« (Das kann 
man jeder Mutter mit 5 Kindern sagen?) »Opponenz.« »Alimen- 
tenz.« Divagation iiber »wilde Manner*. »Symmetrie der Flegel- 
manner.« (Beziehung etwa auf die Titel wie die in der Vossischen 
Zeitung?) Neue Divagation uber »ein Mittelding zwischen Kaiser 
und Kautsky«. (Bezog sich auf B(enjamin)) 
»Immer ein Haus mit so Linien und daran Leuchtergebilde (tiefer 
Seufzer). Leuchtergebilde erinnert mich sofort an etwas Sexuelles. 
Sexuelles mull ja anstandshalber sein.« In diesem Zusammenhang 
das Wort »Sekretorium«. Wenn ich einen Satz von ihm bestatige, so 
reifit ihn das nach seinen Worten in eine hellere Phase hinauf. »Ich 
bin eben mit dem Lift heraufgefahren.« Andere Reflexionen: »Ich 
weifi nur was ganz Formales . . . und auch das nicht mehr.« Oder : 
»Wie ich das sagte, war ich die Kirche.« Oder: »Das war eben eine 
Sac he. . . . Ach Gott, das sind doch Verkorperungen minderwerti- 



Protokolle zu Drogenversuchen 573 

ger Art.« Oder: »Man sieht den Goldklumpen liegen, aber man 
kann ihn nicht heben.« Ergeht sich nun ausfiihrlich dariiber, daft 
Heben und Sehen vollig verschiedene Akte seien. Behandelt das als 
eine Entdeckung. 

B(enjamin) bemerkt bei Gelegenheit, ermutigend, es finde keine 
Kontaktlosung zwischen J(oel) und ihm statt. J(oel) reagiert 
auflerordentlich heftig: Kontaktlosung sei eine contradictio in 
adjecto. Dann Echolalien (perzipierend?): »Kontakt, Austakt, 
durch Takt, mit Takt in Spanien.« Diese Divagation aus einem frii- 
hen Stadium des Versuchs. 

Andere Divagationen: Reaktion auf das Wort »Parallelen«, das 
B(enjamin) fallen lafit: »Parallelen schneiden sich in der Unend- 
lichkeit- das sieht man doch.« - Dann aber lebhafte Zweifel, ob sie 
sich schneiden, ob sie sich nicht schneiden. 

Bruchstiick: », . . Durch diese Sache, die doch Schritte sein sollten, 
oder waren, was weifi ich.« Andere Schwankungen: »Das glaube 
ich iiberhaupt nicht, daft Sie Versuchsscherze machen, dazu fuhlen 
Sie sich zu unsicher.« 

Nach einiger Zeit ziehe ich mich in die Nahe von F{rankel) in den 
Zimmerhintergrund aufs Sofa zuriick. J{oel) hat grofies Gef alien 
an dieser Anordnung. F{rankel) ist unwohl, erhebt sich, ich 
begleite ihn heraus. Er bleibt lange fort. In seiner Abwesenheit: Erst 
nahm J(oel) an, wir besprachen drauften eine Versuchsanordnung. 
Kam aber davon ab. Hort ein Klirren. Assoziiert daran Entziinden 
eines Leuchters. Glaubt zu sehen, wie ich Frankel mit einem Leuch- 
ter auf die Toilette fiihre. Hieran anschliefiend schon ziemlich 
objektive Erorterungen. Allmahliche Aufhellung. 
Nachzutragen aus der tiefsten Phase u. a.: Eine Ecke meines 
Schreibtischs wird J{oel) zum Flottenstiitzpunkt, Kohlenstation, 
etwas zwischen Wittenberg und Juterbog. »Aber alles zu Zeiten 
Waldersees.« Sodann eine sehr merkwiirdige, schone poetische 
Divagation iiber eine nie erlebte Schulzeit in Myslowitz. Nachmit- 
tags in der Schule, draufien auf den Feldern die Sonne etc. 
Dann verliert er sich in anderen Bildern: Berlin. »Nach dem Orient 
mufi man reisen, um die Ackerstrafie zu verstehen.« 
Aus der Phase der Erwartung von Frankel: »Jetzt wiirde ich mich 
auf das Fensterbrett setzen.« Anschlieftend lange Divagation iiber 
das Wort »drohen«. »Frankel droht zu kommen.« Auf einen ande- 
ren Infantilismus macht J{oel) selbst aufmerksam. Er hat bei - 



574 Anhang 

gleichviel welcher - Gelegenheit das Gefuhl, F(rankel) verletze 
ihm gegeniiber eine Zusage. Er habe ihm »doch die Hand darauf 
gegeben (wie man das zwischen Jungen zu tun pflegt),« 
Ende des Versuchs gegen 3 Uhr. 



Ernst Joel: Protokoll zu demselben Versuch 

In Erwartung Frdnkels 
Nachdem telefoniert worden war, konnte man F{rankel) in etwa 
20-30 Minuten erwarten. Wirgingen aus dem Telefonzimmer durch 
das Zimmer mit der Entwicklung der Schrift hindurch. An einer 
Stuhllehne war ein blauer Kinderluftballon angebunden, der Stuhl 
stand hinter einem Tiscb, uber dem sich die Lampe befand. Fiirmich 
gewann auf einen Moment die Anordnung insofern eine Umkeh- 
rung, als der Ballon vor der Lampe war und dadurch ein blaues 
Licht das Zimmer bestrablte, etwa wie bei einer Solluxlampe. Ich 
nannte den Ballon Apparat. - In B(enjamin)s Zimmer zuruckge- 
kommen, steigerte sich die Erwartung zu einem Druck von manch- 
mal qualender Starke. Hierbei erhebliche Zeitverschdtzungen, die 
so eindrucksvoll waren, daft ich fur einen Moment an ein Riick- 
wartsgehen meiner Uhr glaubte. Die andern Dinge (Doppelfenster, 
Radler) sind in dem Protokoll beschrieben. Seltsam ist die Steige- 
rung, die in der Nennung erst des Doppelfenster$ y dann des dufieren 
Fensterblechs liegt. Bei dem Fensterblech spielen irgendwelche 
infantilen Ziige herein. Mir war z. B. klar y daft ich in dieser Situation 
auf dem Blech nur wenig Platz einnehmen wurde, d. h. daft ich ein 
kleinerjunge ware. 

Als ich einmalfur Weltenraum »das Raum« sagte, glaubte ich stili- 
stisch insofern Neues zu sagen, als durch grammatische Inkohdren- 
zen der Bedeutungscharakter der Dinge gesteigert wiirde. Ich 
fragte, ob nicht 2. B. Morgenstern, falls er das Groteske seiner Palm- 
stromgedichte in seine kosmischen Gedichte ubertragen hdtte y 
dadurch zu viel starkeren Wirkungen gelangt ware. 
Meine Formulierungen kamen mir meist zwar gewagt aber doch 
sehr treffend vor und eroffneten mir seltene Ausblicke. Mein Zweifel 
jedoch bekundete sich wohl fast standig in den Fragen an meine 
Umgebung, ob meine Aufterungen objektiver Kritik stand- 
hielten. 



Protokolle zu Drogenversuchen 575 

Wodka 
Ich hatte das Gefuhl, F(rdnkel) etwas bewirten zu miissen und esist 
wohlkein Zufall,,dafi ich ihn an/die verschiedenen Likore verwies, 
die fiir mich aus Abstinenzgriinden nicht in Ft age kamen undfiir 
meinen Hunger irrelevant blieben. Bemerkenswert war, dafi eine 
mit Wodka bezeicbnete Flascbe mich sofesselte, dafi ich die Richtig- 
keit der Angabe, es sei echter Wodka, was ich bezweifelte, prufen 
wollte. Da der Vertrag von Versailles die Bezeichnung Cognac fur 
deutsche Erzeugnisse verboten hatte, glaubte ich, dafi im Vertrag 
von Rapallo sich die Russen ihren Wodka batten schutzen lassen und 
es machte mir grofies Vergnugen, zu sehen, dafi die grofien Zusam- 
menkunfte und Vertrdge der V biker wesentlich der Regelung der 
Schnapsfragen gelten. Bei dieser Sache spielte sicher noch die Tatsa- 
che mit, dafi B(enjamin) mir bei diesem oder dem vorigen Besuch 
echte russische Zigaretten gegeben hatte. 

Ich hatte manchmal das Gefuhl, zwischen B{enjamin) undF(rdn- 
kel) vermitteln zu sollen, obgleich mir irgendein Konflikt nicht 
bewufit war. 

Die Orden 
Frdnkel gab mir ein flaches viereckiges Pappschachtelchen, zur 
Halfte mit Ingwer gefullt. Im gleichen Augenblick reichte mirBen- 
j{amin) ein ovales Schdlchen mit Keks. Ich nahm beides undfiihlte 
mich wie jemand, dem die andern Tribut zollen. Dann erinnerten 
mich die beiden Gegenstdnde an Orden, besonders die Schale (man 
konnte sie mit einem grofien Verwundetenabzeichen vergleichen). 
F(rdnkel) und B(enjamin) schienen mir Gefangene, die freiwillig 
als souvenirs (wie es die Englander bei der Gefangensch aft freiwillig 
taten) ihre Orden abgaben. Das Merkwurdige war, dafi beide in 
diesem Augenblick ihre Individualitat verloren und sozusagen nur 
noch gattungsmafiig, aber als solche aufierordentlich deutlich vor- 
handen waren. Es war etwas Geducktes. Sklavenhaftes. 
Alle diese Dinge verdichteten sich nie zu irgendwelchen beharr en- 
den Realitdten. Wie auch in andern Versuchen war wohl in Augen- 
blicken eine fluchtige Trugerscheinung da, aber sie wurde sofort 
ihres Wirklichkeitscharakters entkleidet, was aber dem Beziebungs- 
reichtum, der ungeheuren Lebendigkeit nicht im geringsten 
Abbruch tat. 



576 Anhang 

Die Kirche 
Man nahm mir irgendwann einmal samtliche in meinen Handen 
befindlichen Lebensmittel fort Da entsann ich micb, daft recbts 
neben meinem Sessel, den andern etwas verborgen, noch eine Tiite 
mit Keks stand, Ich griff befriedigt herein and hatte in diesem 
Augenblick eine so merkwiirdige Kreuzung der Gefuhle von Marty - 
rium und Wohlleben, daft ich sagte: »Jetzt bin ich die Kirche. « Als 
ich das ausgesprochen hatte, fiihlte ich micb wie ein fetter pfaffischer 
Pfrundner in meinem Sessel sitzen, aber mit einem Ausdruck groften 
Ernstes, fast der Traurigkeit. 

Die Kohlenstation 
Man nahm mir eine Schiissel mit Kuchen fort. Ich glaubte, man 
wiirde sie auf die vorspringende Ecke des Schreibtisches, an dem 
B { enjamin ) safi, nie der ste lien, aber man setzte sie auf dem mir nicht 
erreichbaren Tisch ab, an dem F(rankel) saft. Die Ecke des Schreib- 
tisches, die ich mir als geeignete Ablage erhofft hatte, sozusagen ein 
Stutzpunkt meines HeereSy wurde fur mich ein Kap; der Weg> den 
die Schussel von mir zum Kap und vom Kap zu dem Tisch, der im 
Dunkeln lag wie ein dunkler Erdteily durchlaufen hatte, war wie die 
Kurve der Schiffahrtslinien auf der Karte einer groften Uberseege- 
sellschaft. Man hatte mir einen wichtigen strategischen Punkt 
genommen, eine Kohlenstation und - nun ausbrechend in die ange- 
lernte Politik lokalanzeigergebildeter kleiner Burger - verbreitete 
ich mich uber die Wichtigkeit solcher Kohlenstationen. Mein Mit- 
sch tiler Thielefiel mir ein, der einmal im Unterricht den Zwiscben- 
ruf machte: »Wo bleibt der Mittelstand*, und der auf dem Nach- 
hauseweg von der Schule in der Anhalter Strafte von irgendeiner 
politischen Persbnlichkeit, ich glaube von dem Prasidenten von 
Venezuela, gesagt hatte, man musse ihn einen Kopf kiirzer machen, 
eine Terminologie, die mir damals vollig neu war, und die ich in 
einem Gemisch von Bewunderung und Ablehnung angehort hatte. 
Die topographische Verteilung von Entwicklungsstadien wird hier- 
bei insofern klar, als ich die Bedeutung der Kohlenstation einmal in 
kindheitlichem Milieu erlebte, dann aber auch als Eisenbahnge- 
sprach im Personenzug beijuterbog. (Vgl. Myslowitz, wo Rtickver- 
legung in die Vergangenheit und geographische Abgelegenheit mit- 
einander konkurrierten oder sich kombinierten.) 



Protokolle zu Drogenversuchen 577 

In Myslowitz 
Benj(amin) sah wdhrend des Versuches - er safi meist nur etwa 2 
Schritt von mir entfernt-sehrverschieden aus. So wechselte z. B. die 
Form und die Vollbeit seines Gesichts. Der Schnitt der Haare, seine 
Brille machten ihn bald streng, baldgemutlich. Wdhrend des Versu- 
ches wuflte ich y daft er objektiv nicht so schnell wechseln konnte, 
aber der jeweilige Eindruck war so stark, daft er als der richtige bin- 
genommen wurde. 

Einmal war er ein Gymnasiast in einer kleinen ost lichen Stadt. Er 
hatte ein hiibsches kultiviertes Arbeitszimmer. Ich fragte mich, wo 
hat dieser junge Mann so viel Kultur ber? Was wird sein Vater sein ? 
Tuchhdndler oder Getreidevertreter. In diesem Augenblick schien 
er mir unaufmerksam und ich bat ihn zh wiederholen. Sein Wieder- 
holungsversucb schien mir sehr langsam und ich stellte ihn zurRede. 
Ich sah in diesem Augenblick einen Sommernacbmittag in der klei- 
nen ostlichen Stadt , sehr heift, die Sonne lag aufden Feldern, vor der 
Stadt; und nacbmittags im Gymnasium - ein Zeichen der kleinen 
Stadt oder der Vergangenheit: Wissenschaftlicher Unterricht am 
Nachmittag - sagte der Lehrer: »Also bitte beeilen Sie sich, so viel 
Zeit haben wir bier wirklich nicht. « Ich muftte lachen, da doch die- 
ser beifte Sommernacbmittag fur das Zeithaben pradestiniert 
erschien und mir nichts einfiel, was zu dieser Stunde sonst nocb in 
Myslowitz vorgehen mocbte. 

Ich glaube, ich erzahlte dann nocb, wie die Gymnasiasten ihren 
Pauker nachmachen. Mit jener schlichten Karikaturbegabung deut- 
scber Schuler, maftlos ubertreibend: »... Ich babe wirklich keine 
Zeit. « 

Frankel wird von Benj(amin) herausbegleitet 
Als dies geschah, nabm ich an, beide wurden im Flur oder in dem 
Telefonzimmer etwas uberden Versuch besprechen. Dies erweiterte 
sicb sofort dab in: sie wurden uber mich, insbesondere iiber meinen 
Charakter sprechen. Dann horte ich Schritte, die sicb entfernten, 
und ein leises Klirren.Jetzt sab ich, wie B ( enjamin) y einen Leuchter 
mit brennender Kerze in der Hand, F(rdnkel) voranschreitend ihn 
bis zur Tur einer Toilette begleitete und ihm dann den Leuchter 
uberreichte. 

Diese Vorstellung der Szene hatte fur micb etwas vollig Zwanglos- 
Naturliches. Wenn ich nicht irre,fielmirvon selbst ein, daft wir nicht 



578 Anhang 

mehr in der Zeit des Leuchters leben. Interessant war, daft F(rdn- 
kel) sich zunachst gar nicht vorstellen konnte, dafi sich vor zojah- 
ren tatsdchlich die Szene $0 abgespielt hatte, wie ich sie gesehen 
hatte. Aus dieser Insuffizienz zu einer Erinnerung sah ich am deut- 
lichsten die grofie Wirkung des Haschisch in Bezug auf zeitliche 
Riickbefbrderung. Im Anschlufi daran stand mir sebr genau vor 
Augen ein kleines Konsolchen, das in den Toiletten hing, daraufein 
weifler Leuchter, in gutgepflegten Hausbalten fehlten nie die 
Streichholzer usw. 

Wahrend F(rdnkel) draufien war, hatte ich allerhand seltsame 
Befurchtungen und ich fragte B(enjamin), ob man sich um ihn 
kummern musse. Es erinnert mich diese Szene sehr an ein Wiesba- 
dener Intermezzo, bei dem ich schon Krankenhaustransport u. 
dhnl erwog. (Vgl. d(en) betr(effenden) Vers(uch)) 

Teil und Gegenteil 
In diesem Rausch spielte das Hin und Her der Auffassung, der 
Zweifel zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, Banalem 
und Wichtigem eine hervorragende Rolle. Ich sagte, daft im 
gewbhnlichen Leben der Zweifel weniger konturiert, matter, sche- 
menhafter sei, wahrend hier Teil und Gegenteil von gleicher 
Schdrfe sich darboten und bis zur Pein miteinander konkurrierten. 
Es zeigte sich mir dies in dem Bild von den 2 Segeln auf dem 
Wannsee. Es ware falsch zufragen: welches ist das richtige. Dieses 
Bild ist merkwurdig, weil zwischen den beiden Segeln kein Wider- 
spruch besteht und nur die Bedeutung, die man jedem von ihnen 
beimiflt, den Widerspruch bilden konnte. Etwa so wie aus der 
Feme gesehen zwei feindliche Schiffe, die ohne Flagge aufeinan- 
derzusteuern fur Freunde gehalten werden konnten. An diesem 
Bild wird klar, daft tatsdchlich der Flaggencharakter, das Zeichen 
oder Abzeichen hier von Bedeutung waren, und es fiihrt dies dar- 
auf, dafi der Akzent im Rausch so universell zu verteilen ist, wie 
sonst nie. Die Entdufierung der Personlichkeit (sehr allgemein 
gesprochen) befdhigt zu einer Expansion der Parteinahme, wie 
man sie einem gottlichen Wesen zuschreiben muflte oder zu einer 
Parteilosigkeit, wie sie vielleicht dem Tier eigen ist. Wenn ich nicht 
irre, sprach B(enjamin) von einer »Vereinbarung«, ein Ausdruck, 
der mir sehr einleuchtete. 
Ich versuchte noch zu schildem, wie es durch eine List zu jenen 



Protokolle zu Drogenversuchen 579 

Gleichsetzungen tieferer Art komme. Ndmlich so etwa y daft zu- 
ndchst durch Verwechselungen, die moglicberweise rein sinnenphy- 
siologisch zu erklaren sind und die aucb sofort wieder korrigiert wer- 
den, als bleibender Gewinn dieses Irrtums Verwandtscbaften und 
Identitdten in einer tieferen Spbdre sicb herstellen, zu denen dieser 
Irrtum die Briicke war. (Icb sebe eben aus F(rdnkel)s Protokoll, 
daft B(enjamin) von »Vereinbarkeit« gesprochen hat.) 
In diesen Zusammenhang gehort aucb die Wendung, auf die icb 
Wert legte: »Es stimmt, was Sie sagen y aber icb babe recht.« Sebr 
deutlich war mir dabei> daft dieses »es stimmt « keine bequeme 
Zugabe } sondern eine klare Einsicbtin die Ricbtigkeit einer vertrete- 
nen Auffassung war und betonte ferner, daft die Formulierung »Sie 
baben recht, icb babe aber aucb rechu, durch das Wort »aucb« 
sofort seinem ganzen Sinne nach fragwiirdig werden miiftte. 

Nachhausekommen 
Nacbts gegen 3 Ubr Nachhausekommen. Erstes Ddmmern am 
Hansa-Ufer. Starkes aufterordentlich begluckendes Kontinuitatsge- 
fuhl: Diese Ufer weiter berunter und der Arno flieftt zwischen 
ihnen. Es ist dasselbe Wasser, nur hier heiftt es Spree. 
Moglicberweise gibt es nach dem Abklingen des akuten Rauschzu- 
standes mit seinen Vereinzelungen und Einschrdnkungen einen 
Zustand stdrkerer Verbundenheit mit Welt und Menschen. Sebr 
stark ist dies in den Versuchen der Russen ersichtlich. 

(IV) 
29. September (1928.) Sonnabend. Marseille 

Um 7 Uhr abends nach langem Zogern Haschisch genommen. Ich 
war am Tage in Aix gewesen. Ich notiere, was etwa folgt, nur um 
festzustellen, ob sich Wirkungen einfinden, da mein Alleinsein 
kaum eine andere Kontrolle zulafit. Neben mir weint ein kleines 
Kind, das stort mich. Ich denke, es ist schon eine dreiviertel Stunde 
verstrichen. Aber nun ist es doch erst eine halbe. Daher . . . Denn 
abgesehen von einer ganz leichten Benommenheit ist mir nichts. Ich 
liege auf dem Bett, las und rauchte. Mir gegenuber immer dieser 
Blick in den ventre von Marseille. (Nun beginnen die Bilder Gewalt 
uber mich zu bekommen,) Die Strafie, die ich so oft sah, ist mir wie 
der Schnitt, den ein Messer gezogen hat. 



580 Anhang 

Einen letzten Anstofi Haschisch zu nehmen, gaben mir gewisse Sei- 
ten im »Steppenwolf«, die ich heute friih gelesen hatte. 
Ich fiihle nun unbedingt Wirkung. Hauptsachlich negativ, indem 
mir Lesen und Schreiben schwer fallt. Es ist eine dreiviertel Stunde 
(reichlich) vergangen. Nein, viel scheint nicht kommen zu wollen. 
GeradejetztmufitedasTelegrammvon (Wilhelm) Speyer kommen: 
»Romanarbeitendgiiltig aufgegeben« etc. Es tut nicht gut, wenneine 
immerhin enttauschende Nachricht in den werdenden Rausch hin- 
einhagelt. Aber ist es auch nur ein solcher? Einen Augenblick lang 
war's spannend, als ich dachte, nun kommt (Marcel) Brion herauf. 
Ich war heftig erregt. 

(Zusatz beim Diktat: Das ging so vor sich: Ich lag wirklich mit der 
unbedingten Gewifiheit, in dieser Stadt von Hunderttausenden, wo 
nur einer mich kennt, nicht gestort werden zu konnen, auf dem 
Bette, als es an meine Tiir klopft. Hier war mir das uberhaupt noch 
nicht passiert. Ich machte auch keineswegs Miene zu of f nen, sondern 
erkundigte mich, was es denn gabe, ohne meine Lage im mindesten 
zu verandern. Der Hausdiener: »Il y a un monsieur, qui voudrait 
vous parler.« - »Faites le monter.* Ich stehe mit Herzklopfen gegen 
den Pfosten des Bettes gelehnt. Wirklich, es ware sehr merkwiirdig, 
jetzt Brion erscheinen zu sehen. »Le monsieur« aber war der Depe- 
schenbote.) 

Das Folgende am nachsten Morgen geschrieben. Unter durchaus 
herrlichen, leichten Nachwehen, die mir die Sorglosigkeit geben, die 
Reihenfolge nicht ganz zu beachten. Brion kam ja nicht. Ich verliefi 
endlich das Hotel, mir schien die Wirkung auszubleiben oder so 
schwach werden zu sollen, dafi die Vorsicht des Daheimbleibens 
unterlassen werden mochte. Erste Station das Cafe Ecke Cannebiere 
und Cours Belsunce. Das vom Hafen gesehen rechte, also nicht mein 
gewohnliches. Nun? Nur das gewisse Wohlwollen, die Erwartung, 
Leute einem freundlich entgegenkommen zu sehen. Das Gefuhl der 
Einsamkeit verliert sich recht rasch. Mein Stock fangt an, mir beson- 
dere Freude zu machen. Der Griff einer Kanne, mit der hier Kaffee 
eingeschenkt wird, sieht auf einmal sehr grofi aus und bleibt auch so . 
(Man wird so zart : fiirchtet, ein Schatten, der auf s Papier fallt, konnte 
ihm schaden. - Der Ekel schwindet. Man liest die Tafeln auf den 
Pissoirs.) Ich wiirde mich nicht wundern, wenn der und der auf mich 
zukamen. Da sie es aber nicht tun, macht es mir auch nichts. Es ist mir 
dort aber zu laut. 



Protokolle zu Drogenversuchen 581 

Nun kommen die Zeit- und Raumanspriiche zur Geltung, die der 
Haschischesser macht. Die sind ja bekanntlich absolut koniglich. 
Versailles ist dem, der Haschisch gegessen hat, nicht zu grofi und 
die Ewigkeit dauert ihm nicht zu lange. Und auf dem Hintergrunde 
dieser immensen Dimensionen des inneren Erlebens, der absoluten 
Dauer und der unermefllichen Raumwelt, verweilt nun ein wunder- 
voller, seliger Humor desto lieber bei den Kontingenzen der Raum- 
und der Zeitwelt. Ich empfinde diesen Humor unendlich, wenn ich 
bei Basso erfahre, die warme Kiiche und das alles da oben wiirde 
gleich geschlossen, wahrend ich mich eben niedergelassen habe, um 
in die Ewigkeit mich hineinzutafeln. Nachher dann nichtsdestowe- 
niger das Gefuhl, dafi ja dies alles immer, dauernd, hell, besucht 
und belebt bleibt. Ich muft gleich notieren, wie ich bei Basso Platz 
fand. Mir kam es auf den Blick auf den vieux port an, den man von 
den oberen Etagen aus hat. Im Vorbeigehen, unten, erspahte ich 
einen freien Tisch auf den Balkons des zweiten Stockwerks. 
Schliefilich kam ich doch nur bis zum ersten. Die meisten Tische am 
Fenster waren besetzt. Da ging ich auf einen ganz grofien zu, der 
eben erst frei geworden schien. Im Augenblick des Platznehmens 
aber schien mir das Mifiverhaltnis: mich an einen so grofien Tisch zu 
placieren, so beschamend, dafl ich durch das ganze Stockwerk hin- 
durch auf das entgegengesetzte Ende zuging, um an einem kleineren 
Platz zu nehmen, der eben dort mir erst sichtbar geworden war. 
Aber das Essen war spater. Erst die kleine Bar am Hafen. Ich war 
schon grade wieder im Begriff, ratios kehrt zu machen, denn auch 
von dort schien mir ein Konzert und zwar ein Blaserchor entgegen- 
zukommen. Gerade daft ich mir noch Rechenschaft davon geben 
konnte, das sei nichts anderes als das Geheul der Autohupen. Auf 
dem Wege zum vieux port schon diese wundervolle Leichtigkeit 
und Bestimmtheit im Schritt, die den steinigen, unregulierten Erd- 
boden des groften Platzes, iiber den ich ging, mir zum Boden einer 
Landstrafte machte, iiber die ich riistiger Wanderer bei Nacht 
dahinzog. Denn die Cannebiere vermied ich um diese Zeit noch, 
meiner regulierenden Funktionen nicht ganz sicher. In jener klei- 
nen Hafenbar begann dann der Haschisch seinen eigentlich kanoni- 
schen Zauber mit einer primitiven Scharfe spielen zu lassen, mit der 
ich ihn vordem wohl noch kaum erlebt. Er begann namlich nun, 
mich zum Physiognomiker, jedenfalls zum Betrachter der Physio- 
gnomien zu machen, und ich erlebte etwas in meiner Erfahrung 



582 Anhang 

ganz Einziges: ich verbifi mich formlich in die Gesichter, die ich da 
um mich hatte und die zum Teil von remarkabler Roheit oder Hafi- 
lichkeit waren; Gesichter, die ich gemeinhin aus dem doppelten 
Grunde gemieden hatte: weder hatte ich gewxinscht, ihre Blicke auf 
mich zu ziehen, noch hatte ich ihre Brutalitat ertragen. Es war ein 
ziemlich weit vorgeschobener Posten, diese Hafenkneipe. (Ich 
glaube, der aufierste, der mir ohne Gefahr noch zuganglich war und 
den ich hier, im Rausche, mit derselben Sicherheit ermessen hatte, 
mit der man tief ermiidet ein Glas mit Wasser so genau randvoll und 
daft kein Tropfen uberfliefit zu fullen versteht, wie man mit frischen 
Sinnen es niemals zustande bringt.) Immer noch weit genug ent- 
fernt von der rue Bouterie, aber doch saft da kein Bourgeois; hoch- 
stens neben dem eigentlichen Hafenproletariat ein paar Kleinbiir- 
gerfamilien aus der Nachbarschaft. Ich begriff nun auf einmal, wie 
einem Maler - ist es nicht Rembrandt geschehen und vielen ande- 
ren? - die Haftlichkeit als das wahre Reservoir der Schonheit, besser 
als ihr Schatzbehalter, als das zerrissene Gebirge mit dem ganzen 
inwendigen Golde des Schonen erscheinen konnte, das aus Falten, 
Blicken, Ziigen herausblitzte. Ich erinnere mich besonders an ein 
grenzenlos tierisches, gemeines Mannergesicht, aus dem mich 
plotzlich die »Falte des Verzichts« erschiitternd traf. Es waren 
Mannergesichter vor allem, die es mir angetan hatten. Es fing auch 
nun das lang ausgehaltene Spiel an, daft in jedem neuen Antlitz vor 
mir ein Bekannter auftauchte; oft wufite ich seinen Namen, oft wie- 
der nicht; die Tauschung schwand wie im Traume Tauschungen 
schwinden, namlich nicht beschamt und kompromittiert sondern 
friedlich und freundlich wie ein Wesen, das seine Schuldigkeit getan 
hat. Unter diesen Umstanden konnte von Einsamkeit keine Rede 
mehr sein; war ich mir selber Gesellschaft? Das wohl denn doch 
nicht so ganz unverstellt. Ich weift auch nicht, ob es mich dann so 
hatte beglucken kbnnen. Sondern wohl eher dieses: ich wurde mir 
selber der gewiegteste, zarteste, unverschamteste Kuppler und 
fuhrte mir die Dinge mit der zweideutigen Sicherheit dessen zu, der 
die Wiinsche seines Auftragsgebers aus dem Grunde kennt und stu- 
died; hat. Dann begann es eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis der 
Kellner wieder erschien. Vielmehr ich konnte sein Erscheinen nicht 
abwarten. Ich trat in den Barraum ein und bezahlte am Tisch. Ob in 
solcher Kneipe Trinkgeld iiblich, weifi ich nicht. Sonst aber hatte 
ich in jedem Falle etwas gegeben. Im Haschisch, gestern, war ich 



Protokolle zu Drogenversuchen 583 

eher knauserig; aus Furcht, durch Extravaganzen aufzuf alien, 
machte ich mich erst recht auffallig. 

So auch bei Basso, mit der Bestellung. Erst lieft ich ein Dutzend 
Austern kommen. Der Mann wollte auch den folgenden Gang 
gleich bestellt wissen. Ich bezeichnete irgend etwas Normales. Er 
kam mit der Nachricht zuriick, das sei nicht mehr da. Da strich ich 
auf der Karte in der Nahe dieser Speise herum, schien eins nach dem 
anderen bestellen zu wollen, dann fiel mir der Name des dariiber- 
stehenden ins Auge und so fort bis ich endlich beim obersten ange- 
langt war. Das war aber nicht nur Verfressenheit sondern eine ganz 
ausgesprochene Hoflichkeit gegen die Speisen, die ich nicht durch 
eine Ablehnung beleidigen wollte. Kurz, ich blieb an einem pate de 
Lyon hangen. Lowenpastete, dachte ich witzig lachend, als es sau- 
ber auf einem Teller vor mir lag und dann verachtlich: Dies zarte 
Hasen- oder Huhnchenfleisch - was es nun sein mag. Meinem 
Lowenhunger ware es nicht unangemessen erschienen, sich an 
einem Lowen zu sattigen. Im iibrigen stand bei mir im stillen fest, 
ich wiirde, sowie ich bei Basso fertig sei, (das war gegen halb elf) in 
ein anderes Restaurant gehen, und ein zweites Mai zu Abend es- 
sen. 

Erst aber noch der Gang zu Basso. Ich strich am Kai-Ufer lang und 
las einen nach dem anderen die Namen der Boote, die dort festge- 
macht waren. Dabei iiberkam mich eine unbegreifliche Frohlichkeit 
und ich lachelte der Reihe nach alien Vornamen Frankreichs ins 
Gesicht. Mir schien die Liebe, die diesen Booten mit ihrem Namen 
versprochen war, wunderbar schon und riihrend. Nur an einem 
Aero II, das mich an Luftkrieg erinnerte, ging ich unleutselig vor- 
iiber, genau wie ich zuletzt in der Bar, aus der ich gekommen war, 
uber gewisse, allzu entstellte Mienen mit den Blicken hatte hinweg- 
gehen muss en. 

Oben bei Basso begannen dann, wenn ich hinunter sah, zum ersten 
Male die alten Spiele. Der Platz vor dem Hafen, so sage ich es am 
besten, war wie eine Palette, auf der meine Phantasie die Ortsgege- 
benheiten durcheinander mixte, so und auch anders probierte: ver- 
antwortungslos, wenn man will, aber doch wie ein grower Maler auf 
seine Palette als auf ein Instrument schaut. Ich zogerte sehr, dem 
Wein zuzusprechen. Es war eine halbe Flasche Cassis, ein trockener 
Wein. Ein Stuck Eis schwamm im Glase. Er vertrug sich aber treff- 
lich mit meiner Droge. Ich hatte meinen Platz der geoffneten 



584 Anhang 

Scheibe wegen gewahlt, durch die ich auf den dunklen Platz hinun- 
terblicken konnte. Und wenn ich das von Zeit zu Zeit tat, bemerkte 
ich, dafi er die Neigung hatte, mit jedem, der ihn betrat, sich zu 
verandern, gleichsam als bilde er ihm eine Figur, die, wohlverstan- 
den, nichts mit dem zu tun hat, wie er ihn sieht, sondern eher mit 
dem Blick, den die grofien Portraitisten des siebzehnten Jahrhun- 
derts je nach dem Charakter der Standesperson, die sie vor eine 
Saulengalerie oder ein Fenster stellen, aus dieser Galerie, diesem 
Fenster herausheben. 

Ich muli hier dies allgemein anmerken: Die Einsamkeit solchen 
Rausches hat ihre Schattenseiten. Nur vom Physischen zu spre- 
chen, so gab es einen Augenblick dort in der Hafenkneipe, wo ein 
heftiger Druck aufs Zwerchfell Erleichterung in einem Summen 
suchte. Und weiterhin ist kein Zweifel, dafi wirklich viel Schones 
und Einleuchtendes unerweckt bleibt. Aber andrerseits wirkt die 
Einsamkeit dann wieder als Filter; was man am nachsten Tage nie- 
derschreibt, ist mehr als eine Aufzahlung von Sekunden-Erlebnis- 
sen; der Rausch setzt sich in der Nacht mit schonen prismatischen 
Randern gegen die Alltagserfahrung ab, er bildet eine Art Figur, 
und ist andenklicher als gewohnlich. Ich mochte sagen: er 
schrumpft und bildet dabei eine Blumenform. 
Man mufi noch einmal, um den Ratseln des Rauschgliicks sichnaher 
zu bringen, uber den Ariadne-Faden nachdenken. Welche Lust in 
dem bloften Akt: einen Knauel abzurollen. Und diese Lust ganz tief 
verwandt mit der Rauschlust wie mit der Schaffenslust. Wir gehen 
vorwarts : wir entdecken dabei aber nicht nur die Windungen der 
Hohle, in die wir uns vorwagen, sondern geniefkn dieses Entdek- 
kergliick nur auf dem Grunde jener anderen rhythmischen Selig- 
keit, die da im Abspulen eines Knauels besteht. Eine solche Gewifi- 
heit vom kunstreich gewundenen Knauel, das wir abspulen - ist das 
nicht das Gliick jeder, zumindest prosaformigen, Produktivitat? 
Und im Haschisch sind wir geniefiende Prosawesen hochster 
Potenz. De la poesie lyrique - pas pour un sou. 
An ein sehr versunkenes Glucksempfinden, das nachher auf einem 
Seitenplatze der Cannebiere auftrat, wo die rue Paradis in Anlagen 
miindet, ist schwerer heranzukommen als an alles bisherige. Ich 
finde gliicklicherweise auf meiner Zeitung den Satz: »Mit dem Lof- 
fel mufi man das Gleiche aus der Wirklichkeit schopfen.« Mehrere 
Wochen vorher hatte ich einen Satz von Johannes V. Jensen notiert, 



Protokolle zu Drogenversuchen 585 

der scheinbar Ahnliches sagte: »Richard war ein junger Mann, der 
Sinn fur alles Gleichartige in der Welt hatte. « Dieser Satz hatte mir 
sehr gef alien. Er ermoglicht mir jetzt, den politisch-rationalen 
Sinn, den er fur mich besafi, mit dem individuell-magischen mei- 
ner gestrigen Erfahrung zu konfrontieren. Wahrend der Satz bei 
Jensen fur mich darauf hinaus kam, dafi die Dinge so sind, wie wir 
ja wissen, durchtechnisiert, rationalisiert und das Besondere steckt 
heute nur noch in den Niiancen, war die gestrige Einsicht durch- 
aus anders. Ich sah namlich nur Niiancen: und die waren gleich. 
Ich vertiefte mich innig in das Pflaster vor mir, das durch eine Art 
Salbe - Zaubersalbe - mit der ich gleichsam es iiberstrich, als eben 
dieses Selbe und Namliche auch das Pariser Pflaster sein konnte. 
Man redet oft davon: Steine fur Brot. Hier diese Steine waren das 
Brot meiner Phantasie, die plotzlich heifthungrig darauf geworden 
war, das Gleiche aller One und Lander zu kosten. Es kamen in 
dieser Phase, da ich im Dunklen safl, den Stuhl gegen die Wand 
eines Hauses, ziemlich isoliert Momente mit Suchtcharakter. Ich 
dachte mit ungeheurem Stolz daran, in Marseille hier auf der 
StrafSe im Haschischrausche zu sitzen; wer hier wohl noch meinen 
Rausch teile, an diesem Abend, wie wenige. Wie ich nicht fahig 
sei, kommendes Ungliick, kommende Einsamkeit zu fiirchten, 
immer bliebe der Haschisch. In diesem durchaus intermittierenden 
Stadium spielte die Musik eines Nachtlokals, das nebenan lag und 
der ich gefolgt war, eine aufierordentliche Rolle. Merkwiirdig war, 
wie mein Ohr sich darauf versteifte, »Valencia« nicht als »Valen- 
cia« zu erkennen. (Gustav) Gliick fuhr in einer Droschke an mir 
voriiber. Es war ein Husch. Komisch war gewesen, wie vorher aus 
dem Schatten der Boote am Kai sich plotzlich in Gestalt eines 
Hafenbummlers und Gelegenheitsmachers (Erich) Unger gelost 
hatte. Und als ich an einem Nachbartische bei Basso wieder irgend 
so eine Literatenfigur auffand, sagte ich mir, nun erfuhre ich doch 
endlich, wozu die Literatur gut sei. Aber es gab nicht nur 
Bekannte. Hier im Stadium der tiefen Versunkenheit zogen zwei 
Figuren - Spiefter, Strolche, was weifi ich - als »Dante und 
Petrarca« an mir voriiber. »Alle Menschen sind B ruder. « So 
begann eine Gedankenkette, die ich nicht mehr zu verfolgen weifi. 
Aber ihr letztes Glied war bestimmt viel unbanaler geformt als ihr 
erstes und fiihrte vielleicht auf Tierbilder hinaus. Das war also ein 
anderes Stadium als jenes am Hafen, aus dem ich die kurze Notiz 



586 Anhang 

finde: »Nur Bekannte und nur Schonheiten* - namlich die Vor- 
iibergehenden. 

»Barnabe« stand auf einer Elektrischen, die vor dem Platze, an dem 
ich safi, kurz hielt. Und mir schien die traurig-wiiste Geschichte 
von Barnabas kein schlechtes Fahrziel fur eine Tram ins Marseiller 
Weichbild. Sehr schon war, was sich um die Tur des Tanzlokals 
herum begab. Ab und zu trat ein Chinese in blauseidenen Hosen 
und rosa leuchtender Seidenjacke heraus. Das war der Tursteher. 
Madchen machten sich in der Offnung sichtbar. Ich war sehr 
wunschlos gestimmt. Lustig war es, einen jungen Mann mit einem 
Madchen in weifiem Kleide daherkommen zu sehen, und sofort 
denken zu miissen: »Da ist sie ihm nun von drinnen im Hemde 
entflohen, und er holt sie sich wieder zuriick. Na ja.« Es schmei- 
chelte mir unglaublich der Gedanke, hier in einem Zentrum aller 
Ausschweifungen zu sitzen, und mit »hier« war nicht etwa die Stadt 
sondern der kleine, nicht sehr ereignisreiche Fleck gemeint, auf dem 
ich safi. Aber die Ereignisse kamen eben so zustande, dafi die 
Erscheinung mich wie mit einem Zauberstab beriihrte und ich in 
einen Traum iiber sie versank. Die Menschen und Dinge verhalten 
sich in solchen Stunden wie jene Holundermark-Requisiten und 
Holundermark-Mannchen im verglasten Stanniolkasten, die durch 
Reiben des Glases elektrisch geworden sind und nun bei jeder 
Bewegung in die allerungewohnlichsten Beziehungen zu einander 
eintreten miissen. 

Die Musik, die inzwischen immer wieder aufklang und abnahm, 
nannte ich die strohernen Ruten des Jazz. Ich habe vergessen, mit 
welcher Begriindung ich mir gestattete, ihren Takt mit dem Fufi zu 
markieren. Das geht gegen meine Erziehung, und es geschah nicht 
ohne eine inwendige Auseinandersetzung. Es gab Zeiten, in denen 
die Intensitat der akustischen Eindriicke alle anderen verdrangte. 
Vor allem in der kleinen Hafenbar ging mit einmal alles und zwar im 
Larm von Stimmen, nicht von Strafien unter. An diesem Stimmen- 
larm war nun das Eigentiimlichste, dafi er ganz und gar nach Dialekt 
klang. Die Marseiller sprachen mir plotzlich sozusagen nicht gut 
genug franzosisch. Sie waren auf der Dialektstufe stehen geblieben. 
Jenes Entfremdungsphanomen, das hierin liegen mag, und das 
Kraus mit dem schdnen Wort formuliert hat: »Je naher man ein 
Wort ansieht, desto ferner blickt es zunick«, das scheint hier auch 
auf Dinge zuriickzugreifen. Jedenfalls finde ich unter meinen Auf- 



Protokolle zu Drogenversuchen jSj 

zeichnungen die verwunderte Notiz: »Wie die Dinge den Blicken 
standhalten.« 

Es klang dann ab, als ich iiber die Cannebiere ging und endlich ein- 
bog, um in einem kleinen Cafe des Cours Belsunce noch etwas Eis 
zu bekommen. Es war nicht weit von dem andern, ersten Cafe die- 
ses Abends, in dem mich plotzlich das Liebesgliick, das die Betrach- 
tung einiger, im Winde sich wellender Fransen mir schenkte, davon 
iiberzeugte, dafi der Haschisch ans Werk ging. Und wenn ich dieses 
Zustands mich erinnere, mochte ich glauben, der Haschisch besitzt 
die Kraft und die Uberredungsgabe der Natur gegeniiber, sie die 
grofie Verschwendung des eigenen Daseins, die wir geniefien, wenn 
wir verliebt sind, wiederholen zu lassen. Wenn namlich in der 
ersten Zeit, da wir verliebt sind, unser Dasein der Natur wie gol- 
dene Munzen durch die Finger geht, die sie nicht halten kann und 
verschwenden muE, um dafiir das neue Wesen, das neugeborene zu 
erhandeln, so wirft sie nun, ohne irgend etwas zu hoffen oder 
erwarten zu diirfen, uns mit vollen Handen dem Dasein hin. 

(V) 
Haschisch Anfang Marz 1930 

Ein geteilter zwiespaitiger Verlauf. Ein Positivum: die Anwesenheit 
von Gert (Wissing), die durch scheinbar sehr umfassende Erfah- 
rungen dieser Art (Haschisch war ihr allerdings neu) zu einer die 
Wirkungen des Giftes armierenden Kraft wurde. Wie sehr, davon 
noch spater. Andererseits Negativum: mangelnde Wirkung auf sie 
und Egon (Wissing), vielleicht durch Minderwertigkeit des Prapa- 
rates hervorgerufen, das ein anderes Praparat war als ich nahm. 
Damit nicht genug, war meiner Phantasie Egons enge Bude durch- 
aus nicht hinreichend und eine so schlechte Nahrung fur meine 
Traume, dafi ich zum ersten Mai fast wahrend des ganzen Verlauf es 
die Augen geschlossen hielt. Das fuhrte zu Erfahrungen, die mir 
vollstandig neu waren. War der Kontakt mit Egon Null wenn nicht 
negativ, so hatte der mit Gert eine etwas zu sinnliche Farbung, um 
einen rein filtrierten intellektualen Ertrag des Unternehmens zu er- 
mdglichen. 

Ich sehe aus gewissen spateren Mitteilungen von Gert, dafi der 
Rausch immerhin so tief war, daft mir die Worte und Bilder gewis- 
ser Stadien entschwunden sind. Da zudem der Kontakt mit anderen 



588 Anhang 

fur den Berauschten unerlafilich ist, um zu gedanklich und sprach- 
lich artikulierten Aufierungen zu gelangen, so ist aus dem oben 
Gesagten schon zu entnehmen, dafi die Einsichten diesmal in kei- 
nem Verhaltnis zur Tiefe des Rausches und, wenn man will, des 
Genusses standen. Desto mehr Anlafi, dasjenige herauszuheben, 
was als Kern dieses Versuchs sowohl in den Mitteilungen von Gert, 
als in meiner Erinnerung erscheint. Dies sind Mitteilungen, die ich 
uber das Wesen der Aura machte. Alles was ich da sagte, hatte eine 
polemische Spitze gegen die Theosophen, deren Unerfahrenhek 
und Unwissenheit mir hochst anstofiig war. Und ich stellte - wenn 
auch gewifi nicht schematisch - in dreierlei Hinsicht die echte Aura 
in Gegensatz zu den konventionellen banalen Vorstellungen der 
Theosophen. Erstens erscheint die echte Aura an alien Dingen. 
Nicht nur an bestimmten, wie die Leute sich einbilden. Zweitens 
andert sich die Aura durchaus und von Grund auf mit jeder Bewe- 
gung, die das Ding macht, dessen Aura sie ist. Drittens kann die 
echte Aura auf keine Weise als der geleckte spiritualistische Strah- 
lenzauber gedacht werden, als den die vulgaren mystischen Bucher 
sie abbilden und beschreiben. Vielmehr ist das Auszeichnende der 
echten Aura: das Ornament, eine ornamentale Umzirkung in der 
das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral eingesenkt liegt. 
Nichts gibt vielleicht von der echten Aura einen so richtigen Begriff 
wie die spaten Bilder van Gogh's, wo an alien Dingen - so konnte 
man diese Bilder beschreiben - die Aura mit gemalt ist. 
Aus einem anderen Stadium. Erste Erfahrung die ich von der audi- 
tion coloree machte. Was Egon sagte, wurde von mir dem Sinne 
nach nicht sehr aufmerksam aufgenommen, weil mein Vernehmen 
seiner Worte sich unmittelbar in die Wahrnehmung farbiger, metal- 
lischer Flitter umsetzte, die zu Mustern zusammentrafen. Ich 
machte es ihm durch den Vergleich mit den Strickmustern begreif- 
lich, die wir als Kinder in »Herzblattchens Zeitvertreib« als schone 
bunte Tafeln geliebt haben. 

Noch merkwurdiger ist vielleicht ein spateres Phanomen, das an 
mein Vernehmen von Gerts Stimme sich anschlofi. Das war zu der 
Zeit, als sie selbst Morphium genommen hatte und ich, ohne irgend 
eine Kenntnis der Wirkungen dieser Droge, aufter etwa aus 
Buchern, zu haben, ihren Zustand auf Grund - wie ich selber 
behauptete - der Intonation, mit welcher sie sprach, vollig eindrin- 
gend und zutreffend ihr beschrieb. Im iibrigen war diese Wendung 



Protokolle zu Drogenversuchen 589 

- Egons und Gerts Abbiegung in das Morphium - fur mich in 
gewissem Sinne das Ende des Experiments, allerdings auch ein 
Hohepunkt. Das Ende, weil bei der enormen Sensibilitat, die 
Haschisch hervorruft, jedes Nichtverstandenwerden zu einem Lei- 
den zu werden droht. Wie ich denn auch darunter litt, daft »unsere 
Wege sich getrennt hatten«. So formulierte ich namlich. - Der 
Hohepunkt, weil die gedampfte aber andauernde sinnliche Bezie- 
hung, die ich zu Gert fuhlte, nun, als sie mit der Spritze hantierte 
(Instrumente, gegen die ich ziemliche Abneigung habe) sich, gewifi 
nicht ohne Einfluft des schwarzen Pyjamas, den sie trug - weil also 
diese ganze Beziehung sich nun schwarz farbte, und es vielleicht gar 
nicht ihrer sehr wiederholten und hartnackigen Versuche, mich 
Morphium nehmen zu lassen, bedurft hatte, um sie mir als eine Art 
Medea, eine kolchische Giftmischerin erscheinen zu lassen. 
Einiges zur Charakteristik der Bilderzone. Ein Beispiel: Wenn wir 
zu jemandem reden und sehen dabei, wie der Betreffende eine 
Zigarre raucht oder im Zimmer hin und her geht etc. etc., so wun- 
dern wir uns nicht, daft wir, ungeachtet der Kraft, die wir darauf 
verwenden, zu ihm zu sprechen, noch die Fahigkeit haben, seinen 
Bewegungen zu folgen. Ganz anders aber miifite die Sache sich dar- 
stellen, wenn die Bilder, welche wir vor uns haben, indem wir zu 
jenem Dritten reden, in uns selbst ihren Ursprung haben. Das ist im 
gewohnlichen Bewufttseinszustande natiirlich ausgeschlossen. 
Vielmehr solche Bilder entstehen vermutlich, sie entstehen viel- 
leicht sogar dauernd, sie bleiben aber dann unbewuftt. Anders im 
Haschischrausch. Es kann dann, wie eben dieser Abend bewies, 
eine geradezu sturmische Bildproduktion unabhangig von jeder 
ubrigen Fixierung und Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit statt- 
finden. Wahrend im gewohnlichen Zustande freisteigende Bilder, 
auf die wir in keiner Weise aufmerken, eben unbewuftt bleiben, 
bediirfen im Haschisch scheinbar die Bilder, um sich vor uns zu 
prasentieren, nicht im geringsten unsere(r) Aufmerksamkeit. Frei- 
lich kann die Bildproduktion so aufterordentliche Dinge und die so 
fliichtig und mit einer solchen Schnelligkeit zutage fordern, daft wir 
es ganz einfach der Schonheit und der Merkwurdigkeit dieser Bil- 
derwelt wegen nicht mehr fertig bekommen, anderes als sie zu 
beach ten. So brachte mich - wie ich jetzt aus einer gewissen Fertig- 
keit, Formulierungen des Haschisch selbst in klarem Zustande 
nachzuahmen, formuliere- jedes Wort von Egon, dem ich zuhorte, 



590 Anhang 

um eine weite Reise. Uber die Bilder selbst kann ich wegen der 
ungeheueren Schnelligkeit mit der sie, iibrigens in ziemlich klei- 
nem Mafistabe, entstanden und wieder vergingen, hier nicht mehr 
viel sagen. Sie waren im wesentlichen gegenstandlich. Oft aber mit 
einem stark ornamentalen Einschlag. Dinge die solchen Einschlag 
an sich haben, sind bevorzugt: Mauerwerk zum Beispiel oder 
Gewolbe oder gewisse Pflanzen. Ganz am Anfang bildete ich, um 
etwas zu kennzeichnen, was ich sah, das Wort »Strickpalmen« - 
Palmen, wie ich erklaren konnte, gewissermafien mit einem 
Maschenwerk wie von Jumpern. Dann auch ganz exotische, 
undeutbare Bilder wie wir sie von Gemalden der Surrealisten ken- 
nen. So eine lange Galerie von Rustungen in denen niemand 
steckte. Keine Kopfe, sondern Flammen spielten um die Halsoff- 
nung. Einen unerhorten Lachsturm loste bei den anderen mein 
»Niedergang der Kuchenbackerkunst« aus. Damit hat es folgende 
Be-wandtnis: Eine Weile erschienen mir riesige uberlebensgrofie 
Kuchen, Kuchen die so gewaltig waren, dafi ich, als stiinde ich vor 
einem hohen Berge, nur einen Teil von ihnen sehen konnte. Ich 
erging mich ausfuhrlich in Beschreibungen davon wie solche 
Kuchen so vollendet seien, dafi man nicht notig habe sie zu essen, 
weil sie unmitttelbar durch die Augen alle Begierde stillten. Und 
ich nannte das »Augenbrot«. Wie es dann zu der oben erwahnten 
Pragung kam, ist mir nicht mehr erinnerlich. Aber ich glaube nicht 
zu irren, wenn ich sie mir so konstruiere: dafi man die Kuchen 
heutzutage essen miisse, daran sei eben Schuld der Niedergang der 
Kuchenbackerkunst. Ganz analog verfuhr ich mit dem Kaffee, 
welchen ich mir einschenken liefi. Wohl eine Viertelstunde, wenn 
nicht mehr, hielt ich das Glas voll Kaffee unbewegt in der Hand, 
erklarte unter meiner Wurde, davon zu trinken, verwandelte es 
gewissermafien in ein Zepter. Wie man denn im Haschisch von 
einem Bedurfnis der Hand nach dem Zepter wohl sprechen kann. 
An grofien Pragungen war dieser Rausch nicht sehr reich. Ich erin- 
nere mich an einen »Haupelzwerg« von welchem ich den anderen 
einen Begriff zu geben suchte. Fafilicher ist meine Erwiderung auf 
irgend eine Aufierung von Gert, die ich mit der ublichen grenzen- 
losen Verachtung aufnahm. Und die Formel dieser Verachtung 
war: »Was Sie da sagen, das ist mir gerade so gut wie ein Magde- 
burger Dach.« 
Merkwiirdig war der Anfang, da ich im ersten Vorgefiihle des 



ProtokoIIe zu Drogenversuchen 591 

Rausches die Dinge mit den Instrumenten eines Orchesters ver- 
glich, wenn sie, bevor die Vorstellung anfangt, gestimmt werden. 

(VI) 
{Uber den Versuch vom 7./8. Juni 1930) 

j,i%. Juni 1930. Ganz tiefe Haschischdepression. Heftige Verliebt- 
heit in Gert gefiihlt. Mafilos in meinem Sessel verlassen; unter ihrem 
Alleinsein mit Egon gelitten. Und dabei war seltsamer Weise auch 
er eifersiichtig, drohte immer sich zum Fenster herauszustiirzen, 
wenn Gert von ihm ginge. Sie hat es aber eben auch nicht getan. 
Gewifi waren die soliden Grundlagen meiner Trauer schon da. Vor 
zwei Tagen eine fliichtige Bekanntschaftsbegebenheit, die zum 
Vorschein brachte, wie sehr sich der Kreis meiner Betatigungen 
doch verengt hat, und nicht lange vorher (mich stort Klavier von 
oben) die bemerkenswerte Nacht mit Margarete Koppke, die so 
sehr auf meinem Kindsein bestand, daft ich deutlich heraushorte, 
wie sehr sie das Gegenteil von Mann mit dem Wort meinte und die 
mich so sehr zum Meinigen drangte. Ich fand Blochs Formel: arm, 
alt, krank und verlassen in mindestens drei ihrer Glieder gut auf 
mich anwendbar. Ich habe Zweifel, ob ich noch zu einer guten 
Wendung der Dinge komme. Die Zukunft gibt mir auf Land { ?), 
auf Ort und Stelle, auf die Art und Weise des Wohnens nur den 
ungewissesten Ausblick, viele Freunde, aber ich gehe von Hand zu 
Hand, viele Fertigkeiten, aber keine davon zu leben und manche, 
die mir bei meiner Arbeit im Weg ist. Es war als wollten diese 
Gedanken mich festhalten, diesmal taten sie's auch und gleichsam 
mit Stricken, wie war ich geneigt, hinter allem Beschimpfenden, 
was Gert sagte, Offenbarungen zu sehen, die sie aus meinem 
Gesichte las, und Koppkes Ratseln mit Daten und Warnungen in 
mich aufzunehmen. Ich bin so traurig, dafi ich fast ununterbrochen 
gefallen mufi um zu leben. Ich war aber auch sehr entschlossen, mir 
Gert gefallen zu lassen. Als sie tanzte, trank ich jede Linie, die sich 
an ihr bewegte und was kbnnte ich iiber den Tanz und diese Nacht 
nicht alles sagen, wenn nicht der Satan selber dort oben Klavier 
spielte. Ich sprach, wahrend ich ihr zusah, in dem Bewufitsein, vie- 
les von Altenberg mir herzuborgen; Worte und Wendungen von 
ihm vielleicht, die ich selbst niemals bei ihm gelesen hatte. Ich 
suchte ihr, mitten wahrend sie so im Tanzen war, ihren Tanz zu 



592 Anhang 

beschreiben. Das Herrlichste war, daft ich alles an diesem Tanz sah, 
oder besser, so unendlich viel, dafi mir klar war: alles, das ware 
unfafibar. Was ist die Neigung aller Zeiten, selbst des Kaffers oder 
mancher Worte, Gedanken, Klange - Afrikas oder der Ornamente 
z. B. - zum Haschisch verglichen mit dem roten Ariadnefaden, den 
uns der Tanz durch sein Labyrinth gibt. Ich liefi ihr alle Chance, im 
Wesen, im Alter, im Geschlecht sich zu verwandeln, viele Identita- 
ten zogen iiber ihren Riicken wie Nebel iiber den nachtlichen Him- 
mel hin. Wenn sie mit Egon tanzte war sie ein schlanker schwarzbe- 
wehrter Junge, beide zogen tolle Figuren durchs Zimmer. Allein 
liebte sie sich viel im Spiegel. Das Fenster in ihrem Riicken stand 
schwarz und leer, ruckweise traten in seinen Rahmen die Jahrhun- 
derte ein wahrend sie mit jeder ihrer Geberden - so sagte ich ihr - 
ein Schicksal auf griff oder fallen liefl, es urn sich wand, um sich ganz 
fest hineinzuwickeln oder ihm nachhaschte, es liegen liefi oder ihm 
freundlich sich zuneigte. Was Odalisken wenn sie vor Paschas tan- 
zen ihnen tun konnen, das tat mir Gert. Aber dann brach plotzlich 
diese Flut schimpfender Worte aus ihr heraus, die sie noch vor dem 
letzten wildesten Erguft zu stauen schien, ich hatte das Gefuhl, sie 
beherrscht sich, sie halt das schlimmste zuriick, und ich werde mich 
darin wohl nicht getauscht haben. Dann kam das Alleinsein, Stun- 
den spater die Trostversuche mit Stirn und Stimme, aber da war der 
Gram im Innern meiner Sofabastion schon zu hoch gestiegen und 
ich bin nicht mehr gerettet worden. Damit ertranken die unnenn- 
barsten Gesichte mit, nichts, fast nichts hinubergerettet, wenn 
nicht oben auf dieser schwarzen Flut schwimmend die Spitze eines 
gotischen Kirchturms aus Holz, holzerne Spitze mit bunten dun- 
keln griinen und roten Scheiben besetzt. 

(VII) 
Egon Wissing: Versuchsprotokoll vomj. Marz i$ji 

W (alter) B(enjamin) i 9 h. eine Kapsel, erste Wirkung 11 h. 

Liegt, meistens mit geschlossenen Augen, vollig ruhig. Schlufl mei- 
ner Aufzeichnungen 1 h. Ca. 'A Std. nach Einsetzen der Wirkung 
halt er den Zeigefinger der l(inken) Hand steil in die Hohe, dies 
unverdndert mindestens eine Stunde beibehaltend. 
Ein depressives und ein euphor(isches) Element bekdmpften sich 



Protokolle zu Drogenversuchen 593 

stdndig. Es war aber wahrscheinlicb nicht nur dieser Konflikt> der 
die - von der V.P. ( Versuchsperson ) negativ empfundene - Schwie- 
rigkeit oder Unmoglichkeit im Rausch zur eigentlichen Gedanken- 
konstruktion vorzudringen zur Folge hatte> sondern hier spielte 
wohl auch die Wirkung des Eukod(al) mit, das V.P. um 10 h. 30 
nahm (0,02 subc). Weiter gehbrt zur allgemeinen Charakteristik, 
daft immer wieder Spielzeug oder farbige Kinderbilder sich vor- 
drdngten. 

V.P. macht mehrfach vergebliche Ansdtze y dem Rausch entgegen- 
zukommen, dabei spielte das Lukenfenster des Scblafzimmers eine 
Rolle, noch ehe das Blau des Nachthimmels darin unter dem Ein- 
fluft des H (aschisch) eine ungewohnliche Intensitat und Suftigkeit 
annahm, daher denn auch spdter die Erkl'drung, das Fenster habe 
»etwas vom Herzen . . ,«. 

»Kauernde Windmiihlen aus einem Kinderbuch«, agronomische 
Bilder kamen auch spdter wieder. Es gab einen Exkurs Uber die 
»Ackerwalze« mit ironischen Anspielungen auf die Ostbilfe. Die 
Ackerwalze, der en Kurbel irgendwo tief im Korn versteckt liegt, 
wird von einem Kobold gedreht und bewirkt das Reifen der 
Saat. 

Der aufgerichtete Arm, oder vielmehr die Hand »maskiert sich*, 
uberzog sich mit verschiedenfarbigem Glanzpapier. Die V.P. 
erlautert, der Arm sei »ein Aussichtsturm - vielmehr Einsichtsturm y 
- Bilder gehen rein und raus, - ihm tuts nicht weh«. 
In diesem Stadium werde ich antelefoniert und aus drztlichen 
Grunden dringend zu unserer auf dem gleichen Flur wohnenden 
Nachbarin gerufen. Ich mache mich schleunigst ein wenig zurecht y 
stebe auf, woriiber V.P. aufierst unglucklich zu sein scheint, und 
dies auch ausspricht: »Laft mich nicht allein« usw. Ich bleibe ca. 10 
Minuten, komme dann wieder zuruck. V.P. liegt noch in genau 
gleicher Lage y den Zeige finger immer noch steil emporgestreckt y 
und deutet mir an y daft ich sehr viel versdumt hdtte. 
Aus spdteren Mitteilungen und Erinnerungen der V.P. ergibt sich 
als besonders eindrucksvoll das Bild einer Treppe, spdter »Eis- 
treppe« y aus der ein Ausschnitt in der Spiralgestalt einer 
Wendeltreppe unterlebensgroft erschien, auf der en jeder Stufe an 
der Auftenmauer eine sehr zartfarbige, winzige y hinschmelzende y 
puppendhnliche Gestalt erschien, von der V.P. mit dem Bewuftt- 
sein y den Tatbestand banausisch zu vergrdbern } »Puppenmdnn- 



594 Anhang 

chen* genannt, spdter war auch von »Puppenfrauen« die Rede. Das 
a lies durchaus spielhaft, unterlebensgrofl. 

Es kam nun eine Periode, in der vegetabilische Formen im Vorder- 
grundstanden. Diese Vorstellungen waxen teilweisevon einem sadi- 
stischen Grundgefuhl begleitet. Es spielten dabei die Hauptrolle 
gam hohe Baume, die schlank und von streng symmetrischer Form 
waren. Es dauerte nicht lange und diese Baume wurden metallisch. 
Zu einem von ihnen gab die V.P. ungefahr folgende Erklarung: die 
Starve und Unbeweglichkeit dieses Baumes sei nichts Ursprungli- 
ekes, das sei einst etwas Lebendiges gewesen, man erkenne es noch 
an dem Schlagen der beiden groften Fitticbe, rechts und links unter 
dem Wipfel. (Also gewissermafien eine Variante des Daphnemotivs.) 
Die Baume machen nach Aussage der V.P. Schnappbewegungen, sie 
werden »Schnappbaume« y in einem fruheren Zusammenhang 
»Zopperbaumchen« genannt (Vgl. aber das zu Puppenmdnnchen 
Gesagte). - Die Leitmotive derfolgenden Vorstellungsreihe werden 
von der V.P. selbst als »heraldisch« bezeichnet. In ihnen tritt 
zugleich die Vorstellung rhythmisch bewegter Wasserflachen t die 
sich dann langere Zeit behauptet, zuerst auf. Das visuelle Spiegel- 
verhdltnis beraldischer Embleme y die verschobene Entsprechung, 
die ebenso wie aufWappen in den Spiegelbildern des Wassers begeg- 
net, wird von der V.P. mit dem Vers ausgesprocben: 

»Wellen schwappen - Wappen schwellen.« 

Diese Wortfolge kam als die letztlich befriedigende nach mehreren 
anderen Versuchen. Die V.P. legte grofites Gewicht auf diesen Vers 
in der Uberzeugung y daft hier die gleiche Spiegelsymmetrie, wie sie 
Wappen- und Wellenbilder beherrsche, auch in der Sprache -und 
zwar nicht etwa nachbildend y sondern in originarer Identitdt mit 
dem optischen Bilde - zum Vorschein komme. Die V.P. doziert 
nachdrucklich: »quod in imaginibus, est in lingua«. 
Das Wasser beherrscht die Bildwelt weiter, die Vorstellung des Mee- 
res y die bei den Wellen zu Grunde lag, tritt aber nunmehr gegen die 
von Stromen zuruck. Ihr Wasser kommt eigentlich nirgends zum 
Vorschein. Es ist namlich iiber und uber bedeckt von fruchtartigen 
Gebilden, spater geradezu Obst, und zwar vorwiegend Beerenobst y 
das in winzigen tartelettartigen Booten, die sich eines ans andere 
sckieben, geschichtet liegt. Die V.P. spricht von »Beerenwiegen« , 
»Zipwiegen« oder auch »Gartenobstwiegen« . - »Alle Meere und 



Protokolle zu Drogenversuchen 595 

Fliisse erfiillt von kleinen Obstwiegen. « Die vegetabiliscben Formen 
wurden endlicb noch von Obst zu Guirlanden abgewandelt, es war 
von einer » Guirlandenwissenschafu die Rede. 
Es schien dann eine Periode tieferer Versunkenheit zu folgen, aus 
der das ursprungliche Protokoll den Satz festhdlt: »Man hort nicht 
nurmit den Ohren, man hortauch mit derStimme.« Die V.P. erlau- 
tert den Satz: die Stimme ist, im Rausch, nicht nut spontanes, son- 
dern auch rezeptives Organ, sprechend erforscht sie gleichsam das, 
wovon sie spricht, empfangt z.B., wenn sie von den Steinstufen einer 
Treppe spricht, in ihrer eigenen Sonoritdt nachbildend die Hohl- 
r'dume des porbsen Gesteins. 

Ein Bildy das ohne kontrollierbaren Zusammenbang auftaucht: 
Fischnetze. »Netze uber die ganze Erde vor den Weltuntergang 
gespannt.* Die Erde dabei vollig menschenleer, grau. 
Esfolgt eine kurze Periode orientalischer Bilder: »Elefanten J wan- 
delnde Pagode. Die Seine der Elefanten wedeln wie Fichten.« 
Der V.P. erscheint ein Wald. Sie erkldrt etwas ironisch, da rede man 
immer vom Locken des Waldes, ja warum lockt der Wald denn f Das 
kann man bei den Mexikanern erfabren. »Mexikanisch beifit in den 
Wald ge hen sterben. Darum lockt sie ein Wald.« 
V.P. erkldrt, sie habe einen »schlechten Rausch«. An ihrer »Demo- 
ralisation« gibt sie dem Morphium schuld. Unter Demoralisation 
versteht sie ein bei ihr ungewohnlich kleines Mafi von Erkenntniser- 
trag im Rausch. Dementsprechend erkldrt die V.P. etwas spater, sie 
habe »gar keinen richtigen Rausch, sondern einen Zierrausch und 
Reklamerausch. « 

»Grotte aus Laubsagearbeiten« y »Laubsdgenase« und mit Abw and- 
lung des Konsonanten »Laufsdgespiel«. 
Im Anschlufl daran Erzdhlung von der Ackerwalze (s. o.). 
»Gute y gelernte Spielsachen« , spdter: neue Charakteristik des 
Rauschs: »Pferdchenrausch > Pflasterrausch« i »zierig, affig undpfla- 
strig« - »alles marzipanhaft eingelegt . . . mufl man Sujligkeiten in 
verschiedenen Sinnesbereichen unterscheiden?« Offenbar war hier 
ein ernsthafterer Vorstofi in Richtung auf die Erkenntnis dessen, was 
die Rede von Siifligkeit in den verschiedenen Sinnes- und Erf ah - 
rungsbereichen moglich macht, angelegt. Es wurde aber da nur der 
Satz formuliert, in welchem zugleich eine Stellungnahme zu diesem 
Erkenntnisversuch angedeutet sein mag: »Die Erkenntnis des Suflen 
ist nicht sufl.« 



59^ Anhang 

»Schachtelzustand .. .*, »die Bilder wollen den Menschen in eine 
einsame Kammer schlieften, da soil er in sie gehen. « 
Neue Cbarakteristik des Rausches: »Wertheimrausch y alles massen- 
haft * ( Vgl. oben die von gleichartigen Dingen massenhaft erfiillten 
Strome.) Im Anschlufl daran: »Man muflte aushalten, dafi sehr viele 
Menschen sind y wie man selbst.« Dieser Satz war nicht etwa nurauf 
die geistige, sondern genauso, vielleicht vox allem, aufdie korperli- 
che Erscheinung gemUnzt. 

»Schneeflocken . . . Struwwelkopfe . . . kindisch.* Die V.P. schildert 
eingebend, wie der Schnee aus »Wattekastchen« vom Himmel 
geschuttet werde. 

» Bilder wollen nur ihren Flufl, denen ist alles gleich.* 
»Erinnerung ist ein Bad.« 

Vielleicht mit einer Anspielung aufdie verfuhrerische Stifle des Rau- 
sches, insbesondere des Mo(rphiumrausches) , hiefl es sodann: » Vor- 
satze in den Wind schlagen ist eine sportlich richtige Betatigung. « 
Spater: »Ich mochte schreiben etwas, das so aus Sachen kommt, wie 
der Wein aus Trauben.« 
(Hier eine kleine Lucke im Protokoll) 

Spdterhin schildert die V.P. »ein unglaublich hohes Venedig y wo 
man kein Meer sieht.« Dafi das Meer don verborgen sei, oderviel- 
mehr gehalten werde, stellte die V.P. mit einem Triumphgefuhl dar. 
Sie unterstrich das mit der Mitteilung des »Wappenspruchs der 
Stadu: »Venetiani non monstrant marem.« V.P. verweilt bei Vene- 
dig und spricht von »unechten> schummerigen Zauberlagunen.« 
»Muhle y die die Klage so legt y wie die Huhner die Eier.« 
»Stadt mit Garten, wo Leute ein biflchen Haschisch nehmen. * (Eine 
Art grofler, beseligter Laubenkolonie) »Vorteile des allgemeinen 
Ha(schisch)genusses mussen vorurteilslos erwogen werden.« 
Es folgt eine kleine Phantasie y deren Verwandtschaft mit Einf alien 
von Kubin die V.P. selbst feststellt: »Das ist die Geschichte vom 
Dachmodisten y der die D'dcher der Stadt nach den jeweiligen For- 
men modelt.« 

Mit der Bemerkung, die »Schweizer des Papstes* seien aus der 
»Sachsischen Schweiz* bricht das Protokoll ab. 



Protokolle zu Drogenversuchen 597 

(VIII) 

Fritz Frankel: 

Protokoll des Versuchs vom 12. April 193 i 

(Fragment) 

W{alter) B(enjamin) 0,4 Gramm 22 Uhr 1$. (Es stellte sich spdter 
her am, daft die Dosis zur Erzielung eines tie fen Rausches nicht atts- 
reichte.) 

Eine gewisse geringe Wirkung stellte sich nach dreiviertel Stunde 

ein, wurde aher offensichtlich von der V.P. { Ver such sper son) stark 

unterstiitzt. Im Zusammenhang mit dem folgenden Protokoll ist 

besonders eine Bemerkung inter essant, wo von einer »Konkurrenz 

zwischen gelh undgriin« gesprochen wird. Der Anlafl dazu war die 

anhaltende Betrachtung eines Stilcks Stanniolpapiers. 

»Heiligenscheine sind Hbhenkurorte fur die Engel* »Das himmli- 

sche Jerusalem ist ein H6henluftkurort.« Das ist wichtig. Umge- 

kehrt: »Luftkurort ist ein religibser Begriff.« 

»Wenn Freud eine Psychoanalyse der Schopfung machen wiirde, 

dann wurden die Fjorde nicht gut wegkommen.« 

»Ruststadt: Alte Stadt aus ausrangierten Rustungen, gehautfurden 

Sonnenuntergang. Rauhenhein kann die Stadt heiften.« 

Ein Hund bellt. V.P. spricht von einem schartigen Hund underklart 

Bellen fur eine akustische Scharte. In Gegensatz zum schartigen 

Hund stellt sie den geschliffenen Hund. Das ist ein schweigsamer 

Hund. (Zugrunde liegt wahrscheinlich die Vorstellung: ungeschlif- 

fen von dem Hund, daft er bellt.) 

»Ornamente sind Geistersiedlungen« . 

(ix> 

Fritz Frankel: 
Protokoll vom 18. April 19} 1 

2 j Uhr W (alter) B(enjamin) i,q Gramm 

24 Uhr plotzliches Lachen, wiederholte kurze Lachstofte. 

»lch mochte mich in einen Mausberg verwandeln.« (Naturlich: Par- 

turiunt monies, nascetur ridiculus mus) 

»Das ist mehr Simulin als Haschi$ch.« Diese Bemerkung brachte 



598 Anhang 

besonders deutlich zum Ausdruck das die Versucbsperson im 

Anfang durchweg beherrschende Mifitrauen in die Qualitdt des 

Prdparats. 

»Wir werden diesen Enoch zum Zaungast dieser Veranstaltung 

machen.« Als ich daruber lache, bemerkt Versucbsperson: »Mit 

Amarazzim kann man nicht reden.* 

V.P. ruft plbtzlich in betont militdrischer Ausdrucksweise: »Halt, 

stillgeschreibu . Diese Ausdrucksweise findet sich spater wieder. 

Das Vertrauen in die Qualitdt des Prdparates beginnt sich einzu- 

stellen. V.P. dufiert, es ware ein Praparat zum »wippen«. Darin ist 

eine Zusammenziehung von zwei verschiedenen Verfassungen zu 

erblicken: Erstens tragi diese Bemerkung dem phasischen Charak- 

ter des Verlaufs Rechnung, zweitens aber dem immer noch beste- 

henden Mifitrauen, in dem die Wippe gewissermafien zwischen 

Nuchternheit und Rausch sich bewegt. 

V.P. bemerkt ein auf dem kleinen Tischchen neben einer Flasche 

liegendes zusammengekniilltes Stuck Papier und bezeichnet dieses 

in erfreutem Tone als »Affchen«, vielmehr »Stereoskopindffchen t 

Stereoskopinchen* . 

Gemdfi dem sehr lichten und freundlichen Charakter dieses 

Rauschs bekundet sich das lustvolle Verhaltnis zum eignen Dasein 

hier nicht, wie gewohnlich, durch Hochmut und Distanz. Das 

Hochgefuhl wird in entgegengesetzter Richtung, namlich als Zdrt- 

lichkeit gegen die Dinge und vor allem die Worte ausgewertet. V.P. 

gebraucht auffallend viel Diminutiva. Der obige Vorgang an dem 

Wort Stereoskopindffchen ist sehr bezeichnend daftir, wie der 

Haschischrausch eine Art von Verfluchtigung der Vorstellungen in 

Wortaromen vornimmU so zwar, daft hier zum Beispiel die eigent- 

liche Vorstellungssubstanz im Wort - der Stamm: Affe — vollkom- 

men verdunstet. 

Das Mifitrauen setzt neu ein; V.P. dufiert, das ware »alles keine 

Wirkung«; dann wieder militarisch betont: »Ruhe«; sieht wieder 

das Papierknduel und ruft es »komm Affchen«; »der Affe dfft« i 

»dffen, nachaffen, vordffen«. 

Ein Hund, der auf der Strafie sett einiger Zeit bellt, wird von der 

V.P. als »Haschischhund« bezeichnet. 

Das Mifitrauen bricht zum letzten Mai durch > V.P. aufiert, sie 

hdtte »von Wirkung keine Spur, aber verschiedene Gegenstdnde 

beginnen, sich danach einzurichten, daft ich eine Wirkung haben 



Protokolle zu Drogenversuchen $99 

konnte«. Das Zimmer, in dem wir uns befinden, wird als »reizloses 
Zimmer« bezeichnet y Ver such sper son meint, »dazu gehoren orien- 
talische Palaste y ich denke nicht damn, mix Palaste auszumalen, das 
konnte den Paldsten so passen«. Weiterbin dufiert V.P., sie mbchte 
»etwas Schones sehen«. 

V.P. nimmt eine Zeitung und versucht ernsthaft Zeitung zu lesen, ist 
also wirklich nicht etwa von inneren Gesichten des Rausches 
beschaftigt. Alter dings gelingt die Lekture nicht; oh aus physischen 
oder geistigen Griinden ist nicht feststellbar; offenbar aus beiden; 
jedenfalls wird die Auffassung der Buchstaben durch ein Flimmer- 
skotom beeintrdchtigt. Ver such sperson fiihlt sich von den trocken- 
sten politischen Schlagworten unbegreiflich erheitert. Ironische 
Spielerei mit den Namen Prick und Munter. »Pu-pu-pu Ruhe y 
Respekt und Ordnung.* 

An dieser Stelle uberschreitet die V.P. die Schwelle des eigentlichen 
Rausches. 

»Alle Far ben gehen aus dem Schnee fort - du mujlt vor den Far ben 
Achtung haben.« 

V.P. halt den rechten Arm und Zeigefinger y wie schon beifruheren 
Versuchen, auf den Ellenbogen gestutzt, steil in die Hohe. » Viel- 
leicht wird meine Hand langsam zu Reiser ch en werden. « Es ist nun 
ganz ungemein bezeichnend,.daft an diese Bemerkung in der Vor- 
stellung der V.P. unmittelbar anschlofi - wenn nicht gleichzeitig 
gegeben war - die Vorstellung, die in Reiser verastelte Hand werde 
sich mit Reif iiberzieben, diese Vorstellung aber im Rausch uber- 
haupt nicht zur Sprache kam, vielmehr ihre eigentliche Funktion 
im dauernden Hinausgeschobenwerden hatte> dergestalt, dafl fiir 
weite Strecken des Rausches man vom technischen Aufbau einer 
Rahmenerzahlung sprechen kann: Zwei Glieder einer Vorstellung 
treten auseinander, um in ihrem Intervall die ganze Bilderfulle 
einer neuen Phase aufzunehmen. Man hat es gleichsam mit dem an 
die Vorstellung gerichteten »Sesam offne Dich« zu tun. Die Vorstel- 
lung selber tritt auseinander und gibt den Zugang zu neuen Bilder- 
sch'dtzen freL In diesem dauernd wiederholten Mechanismus liegt 
eines der intensivsten Lustmomente des Haschischrausches. 
» A lies ist mit einem leichten Vielleicht angelaufen.« 
» Ungeziefer gehen Sie nach Hause.« 
»Der Zy Under ist die Verldngerung des Menschen.« 
V.P. beschaftigt sich wieder mit dem Zimmer, jetzt in wesentlich 



6oo Anhang 

freundlicherer Einstellung als bisher, nennt es »Zimmerchen«> sagt 
»Zimmerchen t ich mochte dir was Schones sagen.« 
In einem Zusammenhang, der nicht mehr rekonstruierbar ist, hat 
die V.P. das Bedurfnis, eine ihrer Bemerkungen als Abschweifimg 
zu kennzeichnen. Dafur kommt ihr der Ausdruck: »Biegung in der 
Glasur«. Das war verbunden mil einer dem Worte durchaus ent- 
sprechenden optischen Vorstellung. 

V.P. hatjetzt keine Zweifel mehr an der Wirksamkeit des Prdparats 
und auflert: »Die Firma Merck bewahrt sich. « V.P. hat einen »Exer- 
zierplatz voll Gedanken« , ein »Tempelhofer Feld voll Gedanken« 
und sagt dann: »Zimmerchen und Prdparat machen ein Tempelho- 
fer Feld voll Gedanken.« Die V.P. kommt anf die Farben zuriick, 
indem sie zundchst das Wort grun in sehr gedebntem, singendem 
T onfall ausspricht (ca. 20 Sek.) und dann sagt: »Grun ist auch 
gelb.« 

Was zundchst die letzte Bemerkung betrifft } so meint sie zwarnichts 
andres als sie sagt y wohl aber mehr als sie sagt. Zu Grunde liegt das 
Erlebnis einer mit dem singenden U-Klang in »griin« gleichzeitigen 
Vorstellung von etwas Gelbem neb en der von etwas Grunem. Am 
ehesten war en diese Vorstellungen zu umschreiben im Bild einer 
schwellenden Wiese, der en Rand gelben Sand freildflt. - Zur Perse- 
veration des Wortes grun; Hier manifestiert sich vielleicht zum 
ersten Mai der intensive pathische Akzent des Rausches, der spdter 
immer starker zur Geltung kommt. der langgedehnte Vokal enthalt 
es gleichsam, dafl die Stimme vom Klange gezogen wird, wie auch 
der Vorstellung des Grunen etwas Ziehendes y Lockendes, ins Weite 
und immer Weitere Fuhrendes eignete. » Wie die Wolken so wandern 
am himmlischen Zelu, so wanderte die Stimme dem Klang und der 
inner e Blick den Dingen in diesem Stadium des Rausches nach. 
Wenn es also heifit: Gelb ist auch grun, so will das ungefahr so viel 
sagen: Das Gelb> das an dieser Stelle vor dem Berauschten auf- 
tauchtj zieht im sanften aber unaufhaltsamen Strome des Grun 
mit. 

»Gedanken von Farben sind zart } so zart sind auch norwegische 
Leut und Blumen: Zart und sehr brennend.* (Diese Bemerkung 
charakterisiert sich als Moment einer helleren Phase durch das Hin- 
einspielen der willkurlichen, assoziativen Erinnerung.) 
Es beginnt anscheinend das tiefste Stadium des Rausches. Es 
beginnt y sehr umstdndlich eingeleitet, die Verkiindung - eine immer 



Protokolle zu Drogenversuchen 60 1 

wieder hinausgeschobene Verkundung - von Gebeimnissen. Leider 
ist das zweite dieser Geheimnisse nicht wiederzufinden, da an dieser 
Stelle dem Protokollierenden das Mitschreiben sehr energisch unter- 
sagt wurde. Diese Haltung spricht sehrfUr die Tiefe des Rauschs, da 
in minder tiefen Stadien die Eitelkeit des Berauschten dutch die Tat- 
sache, dajl seine Worte notiert werden, sich angenehm beruhrtfiihlt. 
Das erste dieser Geheimnisse: 

»Es ist ein Gesetz: Eine Haschischwirkung gibt es nur, wenn man 
uber den Haschisch spricht. « 

Die V.P. verlangt dringend, dajl das Fenster zugemacht wird, vor 
allem wohl, we'd sie sich durch die von auften kommenden Gerau- 
sche sehr gestort fuhlt. Ich schliefte das Fenster, was mit lebhaftem 
Dank quittiertwird. In diesem Zusammenhange folgt eine Spekula- 
tion Uber »gute Tatem. 

»Wenn jemand etwas Gutes getan hat, dann wird es vielleicht das 
Auge von einem Vogel.« 

Hierzu ist zu bemerken: Es ist fur den Haschischrauscb ein ebenso 
gewohnlicher wie charakteristischer Vorgang, daft das Sprechen mit 
einer Art von Resignation verbunden ist y daft der Berauschte schon 
darauf verzichtet hat y auszusprechen, was ihn wirklich bewegt, daft 
er sich bemuht, etwas Beildufiges, Unernstes an der Stelle des 
Eigentlichen aber Unsagbaren zum Ausdruck zu bringen, daft er 
nicht selten mit dem Gefuhl spricht , sich einer Unaufrichtigkeit 
schuldig zu machen, und daft - dies ist das Merkwurdige und der 
Aufklarung sehr Bedurftige - das so gewissermaften auf Abbruch 
Geaufterte weit merkwurdiger und tiefer sein mag als das, was dem 
»Gemeinten« entsprechen wiirde. 

Das Streichen des Bleistifts ubers Papier erscheint der Versuchsper- 
son »wie Streichen uber Seide«, »Seitenstreicbleinchen«. Dieses 
Wort wird mehrfach wiederholt. 

Die Versuchsperson auftert, sie habe »eine ungeheuer stark e Wir- 
kungy verbunden mit den gewaltigsten Sack en, die ich je im 
Haschisch gefuhlt babe«. Die Art des Rausches erscheint ihr jetzt 
»unbeschreiblich feierlich«. An dieser Stelle wird dem Protokollie- 
renden das Mitschreiben energisch untersagt, und es erscheint das 
zweite Geheimnis. Vorwiegend war die Vorstellung eines engen 
Platzes, der von sehr hohen Hdusern umgeben war, der en Ddcher 
ihn fast gewolbeartig abschlossen. Im Zusammenhang damit das 
Gefuhl beispielloser Feierlichkeit wie es so wohnliche verwohnte, 



6oz Anhang 

dabei menschenleere Architekturen gaben; auch bezieht sich auf 
diese, ubrigens nurkurz undfluchtig auftauchende, tiefe Bildschicht 
die Bemerkung: »Alles uber mir geschlossen.« (Zu vergleichen ware 
der Vorstellungskreis von Grab architekturen.) 
V.P. spricht dem Protokollierenden den Wunsch aus, von ihm nicht 
geduzt zu werden. Begriindung: »Ich bin nicht ich, ich bin der 
Haschisch in gewissen Augenblicken.« Auch die physischen Erschei- 
nungen sind in diesem Stadium besonders stark. »Die Beine wie 
zusammengeschnurU , » Spasmus «, anschliefiend » Spasmus Sempers 
Jugendland*, der von der V.P. als »epileptischer Roman« bezeichnet 
wird. 

Der nunfolgende Satz: » Wichtige Gedanken mussen lange in Schlaf 
versetzt werden* durfte sich beziehen auf die schon erwahnte Ver- 
zbgerung im Aussprechen des Gedachten, eine Verzogerung, welche 
bisweilen, wie gesagt, zu seiner gdnzlichen Unterdruckung fuhren 
kann. Esfolgt in einer » tie fen Phase, in die ich willkurlich fast hin- 
unterschreite, ungeheuer tief« das dritte »grofle« Geheimnis. Dieses 
ist in der Tat eine Zusammenfassung des Grundcharakters gerade 
dieses Rausches. Es wird als das Geheimnis der Wanderung bezeich- 
net. Zugrunde liegt dem Wandern nicht eine zweckmafiige Bewe- 
gung, nicht eine Spontaneitat, sondern ein bloftes unergrundliches 
Gezogenwerden, das Wandern ist ein pathischer Zustand, man 
konnnte ihn an den Wolken verdeutlichen, wenn man imstande 
ware, ihrem Zuge mit dem Gefuhlzufolgen, sie zogen nicht sondern 
sie wurden gezogen. 
»Nur zu schatten braucht die Farbe.« 

»Diesen Rausch wird keiner verstehen konnen, der Wille zum 
Erwachen ist gestorben. « 

Angebotene Schokolade weist die V.P. zurilck mit den Worten: »das 
Essen gehort in eine andere Welt*; sie sei »durch eine gldserne Wand 
vom Essen getrennU. 

»Schleier wie vor einem Gesicbt, das selbst Schleier ist y das ist viel zu 
himmlischy um wetter daruber zu reden, das ist eine Sache, die nur 
der Haschisch kennt.« 

Hierzu ist zu bemerken, daft die Erscheinung jenes verschleierten 
Gesichtes, das selber nur Schleier ist, von unerhorter Sinnfalligkeit 
war, so daft sie noch nach Tagen deutlich vor der V.P. steht. Es war 
ein kleines, ovales Haupt; hinter dem Schleier waren wieder 
Schleier, streng der Form eines Gesichts angebildet, und diese 



Protokolle zu Drogenversuchen 603 

Schleier hingen nicht still sondern waren in leiser wie von Haucb 

erregter Bewegung. 

»Alle Gerdusche schwellen von selbst in Landscbaften zusammen.« 

Icb seufze, worauf V.P. bemerkt: »Das Seufzen gleicb Aussicbt; wir 

haben schon Aussichten geseufzt. « (Die Feme lag vor seinen Augen 

wie bingehaucht. Die Feme ndhert sich in dem Mafie dem A tern als 

sie sich vom Blick entfemt.) Es wird bier das Problem des Zusam- 

menhanges der Sinne aufgeworfen und wieweit sie in gleiche oder 

verscbiedene Schichten hinabreicben. 

Die Stimmung scblagt plotzlich urn. Versucbsperson ruft plotzlich: 

»Rausch kehrt!« und auflert wiederholt lacbend, sie befande sich »in 

einer plotzlich en Operettenstimmung« . Dabei war das Bewufttsein 

der Starke des Rauscbes durcbaus vorhanden, was sich in derBemer- 

kung bekundety »der Rauscb konne jo Stunden dauern«. 

Arm und Zeigefinger werden ungestiitzt, steil in die Hohe gehalten, 

das Hochhalten des Armes ist »die Geburt des Kbnigreichs Arme- 

nien«. 

Vorher, beim Aufricbten des Armes: »Jetzt werden wir uns also der 

Sterndeuterei zuwenden«, der aufgerichtete Arm erscheint hier als 

Fernrohr. 

V.P. schlaft plotzlich ein (1 Ubr 15). 

<x> 

Crocknotizen 

I 

Es gibt keine nachhaltigere Legitimation des crocks als das Bewufit- 
sein, mit seiner Hilfe auf einmal, in jene versteckteste, im allgemei- 
nen unzuganglichste Oberflachenwelt einzudringen, welche das 
Ornament darstellt. Fast iiberall umgibt es uns bekanntlich. Trotz- 
dem versagt vor wenigem unsere Auffassungsgabe derart wie vor 
ihm. Gewdhnlich sehen wir es eigentlich kaum. Im crock dagegen 
beschaftigt seine Gegenwart uns intensiv. Das geht so weit, dafi wir 
nun spielerisch mit tiefem Wohlbehagen jene Erfahrungen am 
Ornament ausschopfen, die in den Kinderjahren und im Fieber sich 
uns vermerkbar machten; sie bauen sich auf zwei verschiednen 
Elementen auf, die beide im crock zu ihrer hochsten Wirkung kom- 
men. Es handelt sich da einmal um die Mehrsinnigkeit des Orna- 
ments. Es gibt keins, das sich nicht mindestens von zwei verschied- 



604 Anhang 

nen Seiten ansehn liefie: namlich als Flachengebilde oder aber als 
lineare Konfiguration. Meist jedoch erlauben die Einzelformen, die 
zu sehr verschiednen Gruppen vereinigt werden konnen, eine 
Mehrzahl von Konfigurationen. Diese Erfahrung allein verweist 
schon auf eine der innersten Eigentiimlichkeiten des crocks: nam- 
lich auf seine unermiidliche Bereitschaft, ein und demselben Sach- 
verhalt - z.B. einem Dekor oder Landschaftsbilde - eine Vielzahl 
von Seiten, Inhalten, Bedeutungen abzugewinnen. Es wird an 
anderer Stelle darauf hinzuweisen sein, dafi diese vielfaltige Inter- 
pretierbarkeit, die ihr Urphanomen im Ornament hat, nur eine 
andere Seite der eigentumlichen Identitatserfahrung darstellt, die 
der crock eroffnet. Der andere Zug, mit dem das Ornament der 
Phantasie des crock entgegenkommt, besteht in seiner Persevera- 
tion. Es ist hochst eigentumlich, dafi die Phantasie dem Raucher 
Objekte - und zumal besonders kleine - gern serienweise vorstelk. 
Die endlosen Reihen, in denen da vor ihm immer wieder die glei- 
chen Utensilien, Tierchen oder Pflanzenformen auftauchen, stellen 
gewissermafien ungestalte, kaum geformte Entwiirfe eines primiti- 
ven Ornaments dar. 

Es treten aber neben das Ornament gewisse andere Dinge der banal- 
sten Merkwelt, welche erst dem crock Sinn und Bedeutung, welche 
ihnen innewohnen, uberliefern. Dahin gehoren unter anderm Vor- 
hange und Spitzen. Die Vorhange sind Dolmetscher fur die Sprache 
des Windes. Sie geben jedem Hauch von ihm die Form und Sinn- 
lichkeit weiblicher Formen. Und de(n) Raucher, der sich in ihr 
Spiel versenkt, lassen sie alle Freude geniefien, d(ie) ihm eine voll- 
kommene Tanzerin gewahren kann. Ist aber der Vorhang ein 
durchbrochener, so kann er zum Instrument eines noch viel sonder- 
bareren Spieles werden. Denn diese Spitzen werden sich dem Rau- 
cher gewissermafien als Schablonen erweisen, welche er der Land- 
schaft auflegt, um sie auf das eigentumlichste zu verwandeln. Die 
Spitze unterwirft die Landschaft, die hinter ihr zum Vorschein 
kommt, der Mode, ungefahr wie das Arrangement gewisser Hute 
das Federkleid von Vogeln oder aber den Wuchs von Blumen der 
Mode unterwirft. Es gibt altmodische Ansichtspostkarten, auf 
denen ein »Grufi aus Bad Ems« die Stadt in Kurpromenade, Bahn- 
hof, Kaiser Wilhelmdenkmal, Schule und Karolinenhohe aufteilt, 
jedes in seinem ganz besondern kleinen Rund. Dergleichen Karten 
konnen am ehesten davon einen Begriff verleihen, wie der Spitzen- 



Protokolle zu Drogenversuchen 605 

vorhang im Landschaftsbilde seine Herrschaft iibt. Eine Ableitung 
der Fahne aus dem Vorhang versuchte ich; sie ist mir aber ent- 
f alien. 

Farben konnen eine ungemein starke Wirkung auf den Raucher aus- 
iiben. Eine Ecke im Zimmer der S(elz) war mit Umschlagetiichern 
verziert, die an der Wand hingen. Auf einer mit einem Spitzentuche 
iiberdeckten Kiste standen ein paar Glaser mit Blumen. In den 
Tuchern und in den Blumen iiberwog das Rot in den verschieden- 
sten Niiancen. Die Entdeckung dieses Winkels machte ich spat und 
plotzlich, in einem schon vorgeriickten Teil der fete. Sie wirkte fast 
betaubend auf mich. Augenblicklich schien mir, daft meine Auf- 
gabe darin bestehe, den Sinn der Farbe mit Hilfe dieses ganz unver- 
gleichlichen Instrumentariums zu entdecken. Ich nannte diesen 
Winkel das »Laboratoire du Rouge«. Mein erster Versuch, die 
Arbeit in ihm aufzunehmen, gliickte nicht. Spater aber kam ich dar- 
auf zuriick. Im Augenblick ist mir von diesem Unternehmen nur 
erinnerlich, daft sich die Fragestellung fur mich verschoben hatte. 
Sie war nun allgemeiner und erstreckte sich iiberhaupt auf Farben. 
Mir erschien ihr Unterscheidendes, daft sie vor allem Form besa- 
fien, daft sie sich vollkommen identisch mit der Materie, an der sie 
erschienen, machten. Indem sie dennoch an den verschiedensten - 
z.B. einem Blumenblatt und einem Blatt Papier ganz gleich auftra- 
ten, erschienen sie als Mittler oder Kuppler der Stoffbereiche; nur 
durch sie vermochten die entlegensten sich mit einander vollkom- 
men zu vereinigen. 

II 
Eine moralisierende Haltung, die wesentliche Einsichten in die 
Natur des crocks verstellt, hat auch eine entscheidende Seite der 
Intoxikation der Beachtung entzogen. Es handelt sich um die wirt- 
schaftliche. Denn es heiftt nicht zuviel behaupten, wenn man sagt: 
ein Hauptmotiv der Sucht ist in sehr vielen Fallen dies, die Eignung 
des Siichtigen fur den Existenzkampf zu erhohen. Und dieser 
Zweck ist keinswegs ein fiktiver; er wird vielmehr in sehr vielen 
Fallen tatsachlich erreicht. Das ist fur niemanden verwunderlich, 
der die Vermehrung der Attraktivkraft hat verfolgen konnen, die 
das Gift dem Siichtigen ganz aufterordentlich haufig zuteil werden 
laftt. Das Phanomen ist ebenso unbestreitbar wie seine Griinde ver- 
borgen liegen. Mutmaften kann man, daft das Gift im Zuge der Ver- 



606 Anhang 

anderungen, welche es herbeifiihrt, auch eine Reihe von Erschei- 
nungen zum Fortfall bringt, die dem Individuum vorwiegend hin- 
derlich sind. Unliebenswiirdigkeit, Rechthaberei und Pharisaertum 
sind Ziige, denen man bei Siichtigen nur selten begegnen wird. 
Dazu kommt eine sedative Wirkung des Gifts, solange dessen Ein- 
flufi anhalt, und nicht die kleinste Komponente in ihr ist in der 
Uberzeugung eingeschlossen, dafi eigentlich nichts es an Bedeutung 
und an Wert mit dem Gift aufzunehmen vermag. Das alles kann nun 
selbst bescheidneren Naturen eine Souveranitat geben, die sie von 
Haus - und zumal in ihren beruflichen Funktionen - nicht besafien. 
Besonders wertvoll wird diese Verfassung dem Einzelnen, weil sie 
sich nicht nur anderen - in den Veranderungen des Charakters und 
zumal der Physiognomie - kund gibt sondern daneben, und viel- 
leicht sogar an erster Stelle, ihm, dem Siichtigen selber. Wie namlich 
der Mechanismus der Hemmungen mit Vorliebe in einer rauhen, 
heiseren, belegten oder erstickten Stimme sich geltend macht, deren 
Veranderungen dem Sprechenden leicht spurbarer als dem Horer 
werden, so gibt sich umgekehrt die Ausschaltung des gleichen 
Mechanismus, mindestens fur das Gefuhl des Subjekts in erster 
Linie durch eine iiberraschende, prazise, begliickende Beherr- 
schung der eignen Stimme zu erkennen. 

Die Entspannung, die diesen Vorgangen zu Grunde liegt, ist sehr 
wahrscheinlich nicht immer eine unmittelbare Wirkung der Dro- 
gen. Es kommt vielmehr in den Fallen, in denen sich mehrere Ver- 
giftete zusammentun, noch etwas anderes hinzu. Mehreren Drogen 
ist die Eigenheit gemeinsam, das Vergmigen am Beisammensein mit 
Partnern so aufierordentlich zu steigern, dafi nicht selten eine Art 
von Misanthropie bei den Betroffenen entsteht. Der Umgang mit 
andern, welche ihre Praktiken nicht teilen, scheint ihnen ebenso 
wertlos wie lastig. Dafi es durchaus nicht immer das Niveau der 
Unterhaltung ist, auf welches dieser Charme zuriickgeht, ist selbst- 
verstandlich. Wahrscheinlich aber ist es auf der andern Seite auch 
mehr als ein blofier Wegfall von Hemmungen, was solchen Sitzun- 
gen fiir viele derer, die sie gewohnheitsmafiig veranstalten, das ganz 
besondere gibt. Es scheint hier vielmehr etwas wie die Bindung der 
Minderwertigkeiten, der Komplexe und Storungen, welche in den 
verschiedenen Partnern ihren Sitz haben, stattzufinden. Die Siichti- 
gen saugen gleichsam aus einander die schlechten Stoffe ihres 
Daseins an; wie wirken auf einander kathartisch. Dafi dies mit 



Protokolle zu Drogenversuchen 607 

aufierordentlichen Gefahren verbunden ist, ist selbstverstandlich. 
Auf der andern Seite kann dieser Umstand aber auch den grofien, 
oft unersetzlichen Wert erklaren, den dieses Laster gerade fur die 
gelaufigsten Konstellationen des taglichen Lebens besitzt. 
Der Opiumraucher oder Haschischesser erfahrt die Kraft des Blik- 
kes, hundert Orte aus einer Stelle zu saugen. 
Morgenschlaf nach dem Rauchen. Es ist, so sagte ich, als sei das 
Leben wie Eingemachtes in einer Konserve verschlossen gewesen. 
Der Schlaf aber die Flussigkeit, in der es gelegen habe und die nun, 
von alien Geriichen des Lebens erfullt, abgegossen werde. 
»Les mouchoirs accroches au mur tiennent pour moi la place entre 
torche et torchon. « 

»Rot c'est comme un papillon qui va se poser sur chacune des nuan- 
ces de la couleur rouge. « 

(XI) 

Fritz Frankel: Protokoll des Meskalinversuchs 
vom 22. Mai 1934 

Walter Benjamin. 22. j. 34. 

Erh'dlt um 10 h 20 mg Mescalin Merck subkutan in den Ober- 
schenkel. 

Die erste Reaktionszeit ist zunachst stimmungsmaflig charakteri- 
siert. Es tritt nach 10 min eine Verdnderung der Stimmungslage im 
Sinne der Unzufriedenheit ein. F(rdnkel) verldftt fur kurze Zeit 
den Raum, der inzwischen verdunkelt war, und W {alter) Benja- 
min) verbleibt bet offenem Fenster allein. 

Bei Riickkehr von F(rankel) beschreibt er mit folgenden Worten 
seinen Eindruck vom Fenster: »Wenn man als Toter Sebnsucht nach 
irgend einem beliebigen Gegenstand aus dem friiberen Leben emp- 
finden wurde t z.B. nach diesem Fenster, so wiirde es einem so 
erscheinen wie ich es jetzt sehe. Die toten und gegenwdrtigen 
Gegenstdnde konnen eine Sebnsucht erwecken, wie man sie sonst 
nur beim Anblick eines Menschen, den man liebt, kennt.« 
In der folgenden Zeit verstdrkt sich zunachst der Unmut sehrerbeb- 
lich. Aufierlich kommt er zum Ausdruck in ziemlich regellosen 
motorischen Erscheinungen wie unruhiges Sich-umher-walzen,fah~ 



608 Anhang 

rige Bewegungen mit Armen und Beinen. B{enjamin) gibt ein 
Knautschen von sich, jammert iiber sich und seinen Zustand, iiber 
die Unwiirde dieses Zustands. Er spricht von ihm als » Ungezogen- 
heit. Versucht eine psychologische Ableitung der Ungezogenheit; 
bezeichnet sie als »Nebelwelt der Affekte« und will damit sagen, 
dafi in einem friiheren Lebensstadium die Affekte sich noch nicht 
scharf von einander abgehoben haben, und, was man spdter als 
Ambivalenz bezeichnet, die Regel darstellt; spricht auch von der 
Weisheit der Ungezogenheit, sucht sich der gleichen Erscheinung 
mit der Erklarung zu nahern, der wahre Grund der Ungezogenheit 
sei der Verdrufi des Kindes dar iiber, daft es nicht zaubern kann. Die 
erste Erfahrung, die das Kind mit der Welt macht, sei nicht, dafi die 
Erwachsenen starker sind, sondern dafi es nicht zaubern kann. 
Wahrend dieser Zeit entwickelt sich in dauernd zunehmendem 
Grad eine ungeheuere Empfindlichkeit gegen akustische und opti- 
sche Reize. Gleichzeitig wird kritisch geaufiert, dafi die Versuch sbe- 
dingungen ungiinstig sind. Solch ein Versuch miisse im Palmenwald 
erfolgen. Im iibrigen sei die erhaltene Dosisfur B(enjamin) vielzu 
gering: ein Gedankengang, derim Laufdes Versuchs immerwieder 
auftaucht und gelegentlich heftigen Unwillen zum Ausdruck kom- 
men lafit. 

Bet Priifung des Pulses erweistsich B(enjamin) als ungeheuer emp- 
findlich gegen leich teste Beruhrung. (Puis selbst unverdndert.) Im 
Laufe der Aussprache iiber diese Empfindlichkeit, jedenfalls im 
Zusammenhang, gewinnt das Phanomen des Kitzelns eine starke 
Bedeutung. Versuch der Erklarung des Kitzelns als ein tausendfa- 
ches Auf-einen-zukommen, Lachen als Abwehr. 
Eine Betrachtung, die an andere Innervationen und an eine andere 
Gegenstandswelt anschliefity Idfitihre Zugehorigkeit zu einem tiefe- 
ren Stadium des Rausches erkennen und wird im iibrigen wahrend 
seiner ganzen Dauer immer wieder abgewandelt. Diese Wandlung 
in der Verfassung der V.P. macht sich zundchst in Betrachtungen 
iiber das Streicheln, das Saumen, das Kdmmen bemerkbar. Diese 
Verhaltensweisen werden mehr oder weniger eng an das Wesen der 
Mutter angeschlossen. Streicheln: das Geschehene ungeschehen 
machen, das Leben im Flufi der Zeit abwaschen. Es ist das eigentli- 
che Walten der Mutter. Kdmmen: der Kamm am Morgen treibt die 
Traume erst aus dem Haar. Kdmmen ist auch ein Werk der Mutter. 
(Die Stief mutter kdmmt mit vergiftetem Kamm: Schneewittchen.) 



Protokolle zu Drogenversuchen 609 

Auch im Kamm ist ein Trost und ein Ungeschehen-machen des 

Geschehenen. Dann das Saumen: hiergeht die BetrachtHng von der 

Mutter auf das Kind uber; das Sdumen des Kindes, das Trodeln: es 

zupft die Fransen aus den Erlebnissen, strahnt sie; datum trodelt das 

Kind. Saumseligkeit, so konnte man wohl den besten Teil seines 

Gliicksgefuhls nennen. - Als Gegensatz zu dieser Welt taucht gele- 

gentlich das Mdnnliche auf wirdu.a. symbolisiert als Gitter. »Denn 

der Saum liegt, und das Gitter stebt.« 

Bei festem Augenschluft wird das Auftreten von farbigen Bildern 

verneint. Dagegen sieht B(enjamin) vor sicb Ornamentales, das 

geschildert wird als eine haarfeine Ornamentik. Es erinnert ein 

wenig an die Ornamentik, die man aufpolynesischen Rudernfindet. 

Ornamentale Tendenzen machen sicb auch in der Rede geltend. Die 

V.P. gibt gewissermaften kleine Muster davon. In diesem Zusam- 

menhang wird z, B. der Refrain ah gemusterter Saum des Liedes 

bezeichnet. 

B(enjamin) selbst macht aufmerksam, daft er seine Hand beim 

Aufleuchten eines Streichholzes durchaus wdcbsern sieht. 

Es wird Licht gemacht und Rorschach -Bilder (werden) vorgelegt. 

Sie werden zundchst als unertrdglich einfach abgelehnt. »Da$ ist die 

gleiche Kitzlichkeit.« 

Inzwischen taucht immer wieder erneut die Stimmung der Ver- 

drieftlichkeit, der Unlust auf, B(enjamin) verlangt nun selbst noch 

einmal Rorschach -Bilder, um dariiber hinwegzukommen. 

VII wird gedeutet ah eine 7 auf einer o stehend. (Vorher wurden 

auch jetzt wieder die Bilder abgelehnt; z. T. mil der Bemerkung: 

»Das habe ich schonfruher abgelehnt. « VII wird als astketisch wert- 

voll bezeichnet. Als F(rankel) es aus der Entfernung etwas ndher 

heranruckt, sagt V.P.: »Nicht ndher! Ich darf es nicht anfassen. 

Wenn ich es anfasse, kann ich nichts mehr sagen.« Zur Erlduterung 

derDeutung 7 aufo nimmt B (enjamin) ein Papier und schreibt: »j 

steht auf der o.« Nun erfolgte eine langere Zeit hindurch unabh'dn- 

gig von den Rorschach -Bildern eine Beschdftigung mit Schreiben, 

die ausgeht von der Beobachtung der V.P., daft sie kindlich 

schreibt. 

Zundchst wird die Deutung von II als Jukuthenfrauen, die sich 

anfaftten (?) gegeben, von I als zwei Pudel, der vordere verschwin- 

det; jetzt entwickelt sich ein dritter Pudel. 

VII a r grau-blau: Pelikan-Schdfchen, ein Wolhchdfchen. 






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Abbildung 



Im Anschlufi an diese Deutung Scblaflied-Zeicbnung. 
B(enjamin) machtaufdie Embryo-Form aufmerksam. Innerhalb 
der Zeichnung finden sich mehrfache Embryonen-Formen. {$. 
Abbildung i und z ) 

/// als vier Parzen gedeutet. Dazu Schriftbild, wobei mit den einzel- 
nen Worten das Wesen derHexen dargestellt werden soli {s. Abbil- 
dung3) 

Erneute Dunkelheit. Im Verlauf der ndchsten Versuchsperiode, die 
das tiefste Stadium des Rausches bezeichnet, treten eigentumliche 
Handstellungen auf. Die liegende V.P. halt die Unterarme von sich 
gestreckt y die Hand liegt gespreizt und die Finger etwas gekrummt. 
Mitunter wechselt die Stellung, so dafl die Hand nach oben gehalten 
wird. Die jeweiligen Stellungen werden oft lange Zeit, bis zu jo min 
festgehalten. An die Beobachtung dieses Phdnomens kniipft B ( enja- 
min) wichtige Erorterungen iiber das Verstehen der katatonen Hal- 
tung. Die V.P. interpretiert das Wesen der Katatonie auf der einen 
Seite, auf der anderen Seite erldutert sie es mit Beziehung auf 




Abbildung 2 



bestimmte jeweils gegenwdrtige Vorstellungskreise. Sie macht 
zundchst darauf aufmerksam, dafi sie nicht ohne Uberraschung 
beim Offnen der Augen bdtte feststellen konnen, dafi ibre Hdnde in 
Wirklicbkeit anders standen als sie meinte, dafi sie stdnden. Hiermit 
verbindet sie eine sehr merkwurdige Erkldrung ibres mehr oder 
weniger magischen Einflusses auf den V.L. (Versucbsleiter) . Sie 
sagt ndmlicb: »Die wirkliche Stellung meiner Hdnde ist eine ganz 
andere als ich sie im Bewufitsein babe, welches Sie von meinem 
Gesichtsausdruck ablesen konnen. Es entstebt derart fiir Sie eine 
ungebeuere Spannung zwischen meinem Gesichtsausdruck und 
meiner Korperhaltung. Diese Spannung ubt auf Sie magiscbe 
Gewalt aus.« Ein kleines Exempelaus dem katatonen Vorstellungs- 




^WMa 



icfb 




^U^ 



yicww 





Abbildung j 

kreis schliefit sich daran: »Meine Hand*, sagt die V.P. y »ist jetzt 
ebensogut ein Stadtbrunnen (?) wie die Kbnigin von Saba. Sie hat 
einen Socket auf den kann man schreiben, was man ah Denkmalsich 
wiinscht: 

Diese Hand ist allerhand. 
Meine Hand ist sie genannt. « 

Die eigentliche Deutung der Katatonie ist nun folgende: Die V.P. 
vergleicht die fixierte Stellung ihrer Hand mil dem Umrifi einer 
Zeichnung, den ein Zeichner ein fur allemal festgelegt hat. Wie es 
nun diesem Zeichner moglich sei, durch unzdhlige Anderungen in 
der Schraffterung sein Bild immer wieder neu zu verandern oder 



Protokolle zu Drogenversuchen 613 

neu zu nuancieren, so set es auch dem Katatoniker moglich, durch 
winzige Anderungen in der Innervation, die mit der katatonischen 
Haltung verbundenen Vorstellungskreise zu verdndern. Die aufter- 
ordentliche Okonomieersparnis dieses Verfabrens stellt einen Lust- 
gewinn dar. Auf diesen Lustgewinn kommt es dem Katatoniker 
an. 

Eine bestimmte Gebdrde der V.P. erweckt F{rdnkel)s Aufmerk- 
samkeit. Die V.P. laftt ihre erhobenen Hande, die sicb nicht beruh- 
ren, ganz langsam und in grofiem Abstand von ihrem Gesicht iiber 
dieses hingleiten. Der V.L. erkldrt spdter, die zwingende Vorstel- 
lung des Fliegens dabei gehabt zu haben. B(enjamin) erkldrt ihm 
das so: Die Hdnde zogen ein Netz zusammen, aber es war nicht nur 
ein Netz iiber seinem Kopf sondern iiber dem Weltraum. Daher die 
Vorstellung des Fliegens beiF(rdnkel). 

Ausfuhrungen iiber das Netz: B(enjamin) scbldgt vor, die ziemlich 
belanglose Hamlet-Frage: Sein oderNichtsein, so zu variieren: Netz 
oder Mantel, das ist bier die Frage. Er erkldrt, daft das Netz fur die 
Nachtseite und alles Schauervolle des Daseins stebt. » Schauer*, 
erkldrt er, »ist der Schatten des Netzes auf dem Leib. Im Schauer 
bildet die Haut ein Netzwerk nach.« Diese Erkldrung erfolgt im 
Anschlufi an einen Schauer, der der V.P. iiber den Leib ging. 
Bei der Frage, ob F(rdnkel) nach Hause gehen konne, entstebt ein 
Zustand des Zweifels und der Verzweiflung. Die Atmung verstdrkt 
sich, haufiges Stohnen, heftige ruckartige Bewegungen mit der 
Schulter, Erscheinungen, die ubrigens schon vorher in einem dhnli- 
chen Zustand aufgetreten waren. F(rdnkel) entscheidet sich zum 
Bleiben und das andert nichts an der trostlosen Traurigkeit der V.P. 
Sie nennt Traurigkeit den Schleier, der unbewegt hdngt und sich 
nach einem Hauch sehnt, der ihn luftet. 

Eingeleitet mit einem Witz: die Elisabeth wird nicht eher ruhen bis 
man aus dem Nietzsche- Archiv ein Forster-Haus gemacht hat. Das 
Bild des Forsterhauses ist in der V.P. von aufterordentlicher An- 
schaulichkeit. Im Laufe ihrer Berichte erscheint es bald als Schule, 
bald als Holle, bald als Bordell. Die V.P. ist ein ver stockier, ver- 
bockter Pfosten am holzernen Treppengeldnder des Forsthauses. Sie 
denkt dabei an irgendeine Schnitzerei, in der sicb unter Ornamen- 
ten auch Tierformen befinden und erkldrt sie fur gleichsam herun- 
tergekommene Abkommlinge des Totem-Baums. Das Forsterhaus 
hat etwas von jenen roten Ziegelbauten, die mit besonders dunklem, 



6 14 Anhang 

blutigem Rot aufden Modellier-Bilderbogen prangten. Es hat dann 
auch wieder etwas von Bauten, die man mit dem Anker-Steinbau- 
kasten machte. Zwischen den Ritzen der Mauersteine wachsen 
Haarbuschel vor. 

Das Forsterhaus war neben dem Netz die starkste Bildvorstellung. 
Gemsenfufi im Forsterhaus: V.P. beruftsich mit groflter Energie auf 
dasHahnchen und das Hkhnchen auf dem Nufiberge und das Lum- 
pengesindely wo docb das Forsterhaus vorkame. 
Gelegentlicbe Bemerkung, dafl Kinder am besten mit Sufiigkeiten 
getrostet werden. Diese Sufiigkeiten treten erneut ins Bewufitsein, 
als im Laufe einer katatonen Handstellung die Hande als mit Zuk- 
ker begossen bezeichnet werden. Daran scbliefit sich die Offenba- 
rung iiber das Geheimnis des Struwwelpeters, die aber dem V.L. 
nach immer neuen feierlichen Ankiindigungen immer von neuem 
vorenthalten wird. (Strafe fur die geringe Dosis.) 
Das Geheimnis des Struwwelpeters: Diese Kinder sind alle nur 
ungezogen, weil ihnen keiner was schenkt. Das Kind, das ihn liest, 
ist aber artig, weil es schon auf der ersten Seite so viel geschenkt 
bekommen hat. Em kleiner Geschenkregen fallt da auf der ersten 
Seite vom dunklen Himmel In Schauern wie die Regenschauer fal- 
len Geschenke auf das Kind herunter, die ihm die Welt verschleiern. 
Ein Kind mufi Geschenke kriegen, sonst wird es wie die Kinder im 
Struwwelpeter sterben oder kaputtgehen oder fortfliegen. Das ist 
das Geheimnis des Struwwelpeters. 

Unter anderen Bemerkungen: Die Fransen sind wichtig. An den 
Fransen erkennt man das Gewebe. Wollquatsch. 

(AUFZEICHNUNGEN ZU DEMSELBEN VeRSUCh) 

Wesen der Mutter: das Geschehene ungeschehen machen. Das 
Leben im FluK der Zeit abwaschen. 
Weibliche Werke: Saumen Knoten Flechten Weben 
»Netz oder Mantel - das ist hier die Frage(«) 
Schauer - der Schatten des Netzes auf dem Leibe. Im Schauer bildet 
die Haut ein Netzwerk nach. Das Netz ist aber das Weltennetz: in 
ihm ist die ganze Welt gefangen. 

Saumen - das Saumen der Kinder, das Trodeln : sie ziehen die Fran- 
sen aus den Erlebnissen, strahnen sie. Darum trodeln die Kinder, 
»Saumseligkeit« - so konnte man wohl den besten Teil dieses 



Protokolle zu Drogenversuchen 615 

Glucksgefiihls nennen. Erst erfahrt Faust bei den Muttern das 
Schaudern ; dann kommt der Augenblick, wo er saumig wird. Mit- 
ten in der mannlichen Arbeit iiberrascht ihn der Augenblick. Das ist 
der Augenblick, in dem die Mutter ihn heimholt. 
Zweierlei Webs toff: pflanzlicher, tierischer. Haarbiischel, Pflan- 
zenbiischel. Das Geheimnis des Haars : auf der Grenze zwischen 
Pflanze und Tier. Aus den Ritzen des Forsterhauses wachsen Haar- 
biischel. 

Das Forsterhaus : (aus dem Nietzschearchiv hat sie ein Forsterhaus 
gemacht) das Forsterhaus ist aus roten Steinen. Ich bin eine Stange 
seines Treppengelanders: ein verbockter, verstockter Stander. Aber 
das ist nicht mehr der Totembaum, nur ein kiimmerliches Abbild 
von ihm. Gemsenfufi oder Pferdehuf des Teufels; ein Vagina- 
symbol. 

Netz, Mantel, Saum und Schleier. Traurigkeit, der Schleier, der 
unbewegt hangt und sich nach einem Hauch sehnt, der ihn liiftet. 
Haarfeine Ornamente : au { ch ) diese Muster kommen aus der Web- 
welt. 

Gedicht auf die Hand: Diese Hand / ist aller Hand / meine Hand / 
ist sie genannt. Sie hat einen Sockel, auf den kann man schreiben, 
was man als Denkmal sich wiinscht. Sie ist wo anders als ich glaube, 
dafi sie sich befindet. Die Hand des Katatonikers und seine Lust: 
mit dem Mindestmaft von Innervationswechsel verbindet er das 
Hochstmaft von Wechsel der Vorstellungen. Diese Ersparnis ist 
seine Lust. Es ist wie ein Zeichner, der ein fur allemal den Umri£ 
seiner Zeichnung gebildet hat und nun durch Millionen immer 
neuer Schraffierungen immer neue Bilder aus ihr herausholt. 
Ungezogenheit ist der Verdrufi des Kindes dariiber, dafi es nicht 
zaubern kann. Seine erste Erfahrung der Welt ist nicht, dafi die 
Erwachsnen starker sondern, daf? es nicht zaubern kann. 
Die Lust, die bei alledem ist, steckt im Kommen: Fuhlen der 
Phasen, 

Das Geheimnis des Struwwelpeters: diese Kinder sind alle nur 
ungezogen, weil ihnen keiner was schenkt. Darum ist das Kind, das 
ihn liest, artig, weil es schon auf der ersten Seite soviel geschenkt 
bekommt. Ein kleiner Geschenkregen fallt da vom dunklen Nacht- 
himmel. So regnet es unaufhorlich in Kinderwelten{ .) In Schleiern, 
wie die Regenschleier sind, fallen Geschenke auf das Kind herunter, 
die ihm die Welt verschleiern. Ein Kind mufi Geschenke kriegen 



616 Anhang 

sonst wird es wie die Kinder im Struwwelpeter sterben oder kaputt- 
gehen oder fortfliegen. Das ist das Geheimnis des Struwwelpe- 
ters. 

Weisheit der Ungezogenheit 

Nebelwelt der Affekte (die Affekte sind zuerst nicht geschieden) 

Lachen stellt eine Lebensrettung dar (Verteidigung), beim Kitzeln 

Moment, wo ich die Rorschachbilder anfasse, kann ich nichts mehr 

sagen 

Pelikanschafchen 

Konigin von Saba und Brunnen: die Hand 

Wachshand 

Anspruch auf Palmen 

(XII) 
(Undatierte Notizen) 

Erste absolut winzige Tauschung punkt sechs. Ein Wagen passiert 

mit Rasseln. Zwei Pinien scheinen zusammenzuhiipfen. 

Eine gewisse Beruhigung. 

Wenn ich sprache wiirde wahrscheinlich alles deutlicher sein weil 

sich soviel an der Ichliebe entzundet. 

habt ihr mir einmal etwas (x) 
jedes Bild ist ein Schlaf fur sich 
zum Haus nur ein Weg plotzlich steil 
je brousse les images (xxx) 

alles was ist wird in der Gegend (?) zum Markstein 
Inzwischen ist die alte Frau schon wieder jung (?) geworden. 
Wo ist der Mann haft. 

Tun ist ein Mittel zum 

Traumen 

Betrachtung ist ein Mittel 

Wachzubleiben. 

Was Rube ist 
Groftherziger in Rhythmen 

Gericht: Er kommt und er vernichtet Gimignano 



Protokolle zu Drogenversuchen 



6i 7 



uberall wohnen schon Bilder 
wohnen nicht hier 

ich war nicht mehr, der dort driiben wohnte. Aber erst so abstrakt. 
Ich hatte die Welt, (x) Marktplatz bezogen? 

Der Gang eines Menschen der weggeht, ist die Seele des Gesprachs, 
das sie fuhrten. 

Immer noch dieselbe Welt - und doch hat man Geduld 

Ich habe gesehen warum man wenn man sich im Gras versteckt in 
Erde fischen kann 




Hh-i 




cnM-AAu 




« .a 



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618 Anhang 

Die Phantasie wird zivilisatorisch - 
Ach hatte ich die Lustigen Weiber von Windsor wieder 

§ Im berliner Nebel 

5 Gottheils Berliner Marchen : 
Oh braungebackne Siegessaule 

p Mit Nebelzucker in den Wintertagen 

| £ Franzosische Kanonen uberragen 

►2 .8 Mein Fragen. 

« Barbarossa ijji 

Das war eben die Sache, ach Gott, das sind doch Verkorperungen 
minderwertiger Art 

Gefangene, die mir freiwillig ihre Orden und Ehrenzeichen abge- 
geben. 

Zum Haschisch ( ; ) Der Zus tand des Todes ist identisch mit dem der 
Herrschaft. 



Memorandum zu der Zeitschrift »Krisis und Kritik« 



Krisis und Kritik 

Die Zeitschrift dieses Namens soil monatlich erscheinen, ohne sich 
an feste Termine zu binden. Dadurch soil einerseits fliichtiges und 
iibereiltes Arbeiten vermieden, andrerseits die Moglichkeit offen 
gelassen werden, unter Umstanden bei aktuellen Anlassen umge- 
hend, unabhangig vom Monatstermin hervorzutreten. 
Die Zeitschrift wird drei- bis viermal jahrlich ein Beiheft ihrer lau- 
fenden Ausgabe beifiigen. Diese Beihefte sind bestimmt, die kriti- 
schen und theoretischen Grundlagen der Kollektivarbeit, die natur- 
gemafi in den laufenden Heften nur allmahlich und tastend entwik- 
kelt werden konnen, zusammenzufassen. 

Hier folgen zunachst einige programmatische Angaben uber die 
laufende Zeitschrift: 

Sie hat politischen Charakter. Das will heilten, ihre kritische Tatig- 
keit ist in einem klaren Bewufksein von der kritischen Grundsitua- 
tion der heutigen Gesellschaft verankert. Sie steht auf dem Boden 
des Klassenkampfes. Dabei hat die Zeitschrift jedoch keinen partei- 
politischen Charakter. Insbesondere stellt sie kein proletarisches 
Blatt, kein Organ des Proletariats dar. Vielmehr wird sie die bisher 
leere Stelle eines Organs einnehmen, in dem die burgerliche Intelli- 
genz sich Rechenschaft von den Forderungen und den Einsichten 
gibt, die einzig und allein ihr unter den heutigen Umstanden eine 
eingreifende, von Folgen begleitete Produktion im Gegensatz zu 
der ublichen willkiirlichen und folgenlosen gestatten. 
Da die Zeitschrift sich ihre Grundlagen erst erarbeiten mufi, kann 
sie sich im Ganzen nicht auf Autoritaten stiitzen. Sie mufi sich viel- 
mehr ihre Mitarbeiter unter der burgerlichen Intelligenz im weite- 
sten Sinne suchen, sofern sie namlich Spezialisten auf irgendeinem 
Gebiet sind und sich in ihrer Haltung unbestechlich erwiesen 
haben. Es seien in diesem Sinn provisorisch einige Mitarbeiter ge- 
nannt: 

Benjamin 

Hans Borchardt 

Behne 



620 Anhang 

Brentano 

Brecht 

Doblin 

Dudow 

Eisler 

Franzen 

Giedion 

Gross 

Hindemith 

Ihering 

Kracauer 

Korsch 

Kurella 

Herman Kantorowicz 

Lukacz 

Hannes Meyer 

Marcuse Musil 

Piscator 

Reger 

Reich 

Sternberg 

Weill 

Wiesengrund 
Einzelne von den Genannten werden von Fall zu Fall als Redak- 
tionsreferenten fur Kritik der Literatur, Philosophic Soziologie, 
Architektur, Musik etc. hinzugezogen werden. 
Soweit die programmatische Zeitschrift. Die Aufgabe der Beihefte 
ist folgende: 

Sie sollen unabhangig von Aktualitaten, aber im engsten Anschlufi 
an die vorliegenden Beitrage der laufenden Zeitschrift zu einer 
Sammlung von Thesen kommen, die fiir die Mitarbeiter an den 
kommenden Heften der laufenden Zeitschrift verbindlich sein sol- 
len. Das heifit: es ist den Mitarbeitern der laufenden Zeitschrift 
wohl gestattet, an einzelnen dieser Satze, die sie etwa glauben ableh- 
nen zu mussen, begriindete Kritik zu iiben, nicht aber in ihren eige- 
nen Arbeiten diese Satze zu ignorieren. Das Redaktionskomitee der 
Beihefte braucht nicht unter -alien Umstanden einstimmig hinter 
den Lehrsatzen beziehungsweise Artikeln zu stehen, die es selbst in 
die Zeitschrift gibt oder zur Veroffentlichung in ihr zulafit; daher ist 



Memorandum zu der Zeitschrift »Krisis und Kritik« 621 

es erforderlich, dafi alle Thesen, beziehungsweise Ausfiihrungen in 
den Beiheften von demjenigen Mitglied oder denjenigen Mitglie- 
dern des obersten Redaktionskomitees gezeichnet werden, die sie 
verfafit, beziehungsweise sich mit ihnen einverstanden erklart 
haben. Der Ehrgeiz aller Schreibenden miifite sein, von jedem ihrer 
Beitrage in der laufenden Zeitschrift mindestens einen Satz in die 
Beihefte aufgenommen zu sehen. 

Der Beginn der Arbeit an der Zeitschrift wiirde so vor sich gehen, 
dafi an die in Aussicht genommenen Mitarbeiter ein Fragebogen, 
dessen Entwurf vorbehalten bleibt, gesandt wiirde, auf den die Ant- 
worten, soweit sie Interesse haben, in der laufenden Zeitschrift 
abgedruckt, zum Teil auch in dem ersten Beiheft, das der ersten 
Nummer beiliegen soil, gesichtet wiirden. Dieser Fragebogen hatte 
den Charakter eines Interviews, das sich auf die theoretische Hal- 
tung der Mitarbeiter in den Fragen ihres Spezialfachs bezieht. 



Anmerkungen der Herausgeber 



Zum Inhalt Die »Gesammelten Schriften* insgesamt sind nach abge- 
schlossenen und Fragment gebliebenen Texten, die fragmentarischen Texte 
ihrerseits in drei Gruppen gegliedert: (i) Notizen und Entwiirfe, die Vor- 
stufen, seltener auch Nachtrage zu abgeschlossenen Arbeiten darstellen, 
werden in den wissenschaftlichen Apparaten der entsprechenden Arbeiten 
in den Banden i bis 4 benutzt und zum Teil abgedruckt; (2) die zum Passa- 
genkomplex gehorenden Fragmente finden sich im fiinften Band vereinigt; 
(3) die sonstigen fragmentarischen Texte Benjamins und seine autobiogra- 
phischen Schriften werden im vorliegenden sechsten Band unter den Titeln 
(a) »Fragmente vermischten Inhalts« und (b) »Autobiographische Schrif- 
ten« nebst einem (c) »Anhang« abgedruckt. 

(a) Nach Aussonderung der Fragmente zum Passagenwerk und der Parali- 
pomena zu den abgeschlossenen Arbeiten verblieb ein immer noch 
umfangreicher Teil von Aufzeichnungen aus dem Nachlafl Benjamins, aus 
dem zunachst knapp 200 separiert und zur Gruppe der »Fragmente ver- 
mischten Inhalts« zusammengefafk wurden. Ausschlaggebend bei der 
Auswahl waren erkennbare gedankliche oder konzeptionelle Selbstandig- 
keit und der rudimentare, oft weit und dennoch nicht bis zum optimalen 
Grad stilistischer und gedanklicher Durcharbeitung gediehene Formcha- 
rakter der einzelnen Stiicke. Sie reichen vom Stichwort und Anakoluth, der 
Notierung mehr oder weniger geordneter Gedanken und Brouillons iiber 
Definitionen, Schemata und Thesen, Gliederungen und Dispositionen bis 
zu Aphorismen, Reflexionen, Betrachtungen, Charakteristiken und Frag- 
menten - im Sinne der Gattung - und bis zu Kritiken, Aufsatzen und 
Abhandlungen - gelegentlich von betrachtlichem Umfang, fast immer 
unabgeschlossen und oft genug in der Mischform ausgearbeiteter, aber von 
Stichworten, Notizen, Dispositionen, bibliographischen Daten und 
Exzerpten unterbrochener Passagen. Gediehen manche Aufzeichnungen 
anscheinend dennoch bis zu dem Optimum an Durcharbeitung, das ihre 
Aufnahme in die Bande 1 bis 4 gerechtfertigt hatte, so gaben der verschie- 
dene Autorisierungsgrad (s. etwa Bd. 2, 14 10), darin sich ausdnickende 
Skrupel und die auffallende Tendenz Benjamins zur Sekretierung der Texte 
den Ausschlag, sie den Fragmenten dieses Bandes vorzubehalten. Dabei 
erleichterten Selbstzeugnisse Benjamins, die mutatis mutandis auf den 
gesamten Komplex der »Fragmente vermischten Inhalts* - zumindest die 
friihen, weit iiber die Halfte zahlenden Fragmente aus den Jahren 19 16 bis 
1922 - bezogen werden konnen, den Herausgebern die Entscheidung. So 
schrieb Benjamin 1916, er habe wohl mehrere neue Arbeiten begonnen, 
aber keine auch nur halbwegs geendet. Das hangt mil der Grofle der 
Gegenstdnde, die mich bescbaftigen, zusammen. (Brief e, 124) Uber die 
Aufzeichnung Eidos und Begriff(s. fr 15, 29-31) schrieb er: sie ist improvi- 
siert, unscharf und die Dinge mUflten in ganz andrer Breite unter such t wer- 
den; und zuvor: ich habe wenig Freude daran (10. 2. 1918, an Gershom 



626 Anmerkungen 

Scholem). Oder er sprach gelegentlich seiner intensiven erkenntnis- und 
sprachtheoretischen Studien von seinen Bedrangnissen- aufierlichen durch 
die trostlosen Wohnungsnote und innerlichen durch eine Fiille von Aufga- 
ben[,] da die gehemmte Notigung Eignes auszuspxechen keine ganzlich 
freie Babnfindet. Meine Gedanken sind teils noch zu unentwickelufliich- 
ten vox mix bestandig und was icb gxeife bedarfdes genauesten Fundaments 
urn ausgespxocben werden zu diixfen. (Brief e, 187) Charakteristisch sind 
audi die Bemerkungen zur philosophischen Korrespondenz mit Scholem, 
die in mix Gedanken aufgexegt hat, die icb mich [. . .] noch nicht fabigfinde 
[. . .] mitzuteilen. Icb vexsage es mix mit Scbmerzen abex icb kann mich 
nicht entschliefien allzu Unfextiges von mix zu entlassen sondexn lege mix 
dieses Scbweigen als einen Stachel an im Nachdenken nicht abzulassen. 
(Briefe, 170) Beides: die schmerzenden Skrupel iiber Unfextiges und das 
nicht Ablassen im Nachdenken, bestimmen den Charakter nicht nur der 
friihen Fragmente, bedeutender Zeugnisse von Arbeit und Anstrengung 
des Begriffs, die Benjamin auf sich nahm. Vorab die friihen Fragmente bil- 
den etwas wie einen Fundus von Motiven, Kategorien und Materien vieler 
abgeschlossener Arbeiten, der manche ihrer schwierigen gedanklichen 
Komplexionen im analytischen Nebeneinander liegengelassener Nieder- 
schriften erhellen hilft. Viele wirken wie Exerzitien der Selbstverstandi- 
gung eines Denkens, das seiner Gegenstande und Darstellungsformen 
tastend und bohrend erst sich zu versichern sucht. Ihrem aufmerksamen 
Studium, dem Durchgang durch die kategorialen Analysen und Klarun- 
gen, durch die metaphysisch-theologischen Setzungen und Voraussetzun- 
gen diirfte einiges von dem Geheimnisvollen des jungeren Benjamin sich 
lichten. 

Die Fulle der sachlichen und kategorialen Aspekte des Materials stellte die 
Herausgeber vor schwierige Probleme seiner Anordnung. Fragmentarisch 
im weitesten Sinn, finden sich dennoch die einzelnen Stucke, ob unge- 
mischt oder gemischt, auf einer weiten Skala zwischen den Grenzwerten 
des Stichworts und dem faktisch abgeschlossenen, den Autor aber aus 
unterschiedlichen Gninden nicht befriedigenden Text. Dies konnte, prima 
vista, die Gliederung nach literarischen Formen, mehr oder weniger rudi- 
mentaren oder entwickelten kiirzeren und langeren Darstellungsarten 
nahelegen, verbot sich aber bald wieder angesichts der zahlreichen Misch- 
formen, die naher besehen nur den stark schwankenden Durcharbeitungs- 
grad, den Wechsel von Ausfiihrung und Improvisation oder Unterbre- 
chung und Wiederaufnahme oft noch nach Jahren anzeigen. Zwar schied 
der Einteilungsgrund nach Formen bei der Anordnung nicht vollig aus, 
doch drangte sich ein anderer, plausiblerer vor: der nach Sachgebieten. 
Dabei zeigte sich, dafi die Masse der friihen Aufzeichnungen fast zwanglos 
sich ordnete nach traditionellen philosophischen und wissenschaftlichen 
Disziplinen wie Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Ethik, Asthetik, 



Anmerkungen 627 

Geschichts- und Religionsphilosophie, Anthropologic, Psychologic, 
ungeachtet der kritischen und unkonventionellen Stellung Benjamins zu 
ihnen; und dafi die spateren Fragmente um spezifisch Benjaminsche 
Gegenstande und Themen wie Literaturkritik und -politik, Para- und 
Grenzwissenschaftliches, Sach- und Kulturphysiognomisches sich zen- 
trierten. Gerade dabei war aber das Tendieren der Stucke zum distinkten 
Formcharakter nicht zu ubersehen. Im Laufe der Jahre fand Benjamin stets 
deutlicher zum Gebrauch und zur Beherrschung ihm eigentumlicher, oft 
dem friihromantischen Kanon affiner Formen wie der Charakteristik, Kri- 
tik, Reflexion, Betrachtung und Beobachtung. Auch dem konnte bei der 
Anordnung zwanglos Rechnung getragen werden. Nach griindlichen 
Erwagungen und verschiedenen, wieder verworfenen Gruppierungsversu- 
chen gelangten die Herausgeber schliefilich zu folgender Gruppierung der 
Fragmente: 

In einer ersten Gruppe wurden die- uberwiegend friihen - Fragmente »Zur 
Sprachphilosophie und Erkenntniskritik* zusammengefafk. Dabei sollte 
einerseits ihre enge Verwiesenheit aufeinander, andererseits ihr sachliches 
Eigengewicht - der signifikationskritische Akzent der bedeutungs- und 
symboltheoretischen Erorterungen dort, der erkenntniskritische der wahr- 
nehmungs- und erfahrungstheoretischen hier - zum Ausdruck kommen; 
deshalb wurden sie innerhalb der Gruppe einander nachgeordnet. - Nach 
analogen Gesichtspunkten wurden in einer zweiten Gruppe die Fragmente 
»2ur Moral und Anthropologic* vereinigt. Die vorwiegend Kant-kriti- 
schen moralischen Reflexionen wurden den psychologiekritischen und 
kasuistischen, antimythologisch-theologisch akzentuierten Aufzeichnun- 
gen zur Anthropologic vorangestellt, wie sehr auch beide gerade hier auf- 
einander verweisen. - Dies gilt nicht weniger fiir eine dritte Gruppe gleich- 
falls uberwiegend fruher Fragmente »Zur Geschichtsphilosophie, Historik 
und Politik*, in der die Aufzeichnungen zur Bedeutung der Geschichte 
und der Geschichtsschreibung zusammengefafk und den mehr applikativ 
akzentuierten politischen Reflexionen und Analysen - darunter solchen, 
die wertvolle Aufschlusse iiber die verschollenen Arbeiten zur Politik 
gewahren diirften (s. Bd. 2, 1423) - vorangestellt wurden. - Eine vierte 
Gruppe versammelt Fragmente »2ur Asthetik*, unterteilt nach denen zu 
einem Sachkomplex, der Benjamin sehr friih und noch iiber Jahre hinweg 
beschaftigte - den Aufzeichnungen iiber Phantasie und Farbe - und mehr 
generellen, kategorial interessierten. - Um die kennzeichnenden konkret- 
asthetischen, gegen den traditionellen Formalismus gerichteten Intentio- 
nen Benjamins, vor allem auch die Untrennbarkeit von literarischer Form 
und gedanklichem Gehalt in der sprachlichen Darstellung deutlich werden 
zu lassen, haben die Herausgeber die insgesamt weitaus grofiere Masse der 
im allgemeinsten Wortsinn asthetischen Fragmente weiter unterteilt und 
zunachst eine fiinfte Gruppe, die der »Charakteristiken und Kritiken«, 



628 Anmerkungen 

gebildet, in der die den »Asthetischen Fragmenten« des zweiten und den 
»Kritiken« des dritten Bandes oft sehr nahe kommenden Aufzeichnungen 
versammelt sind. Zeugen sie - im Sinne Friedrich Schlegels - von der Voll- 
endung der urteilenden Kritik in der darstellenden, so war besonders der 
spatere Benjamin urn deren Typus und Theorie bemiiht. - Dies erlaubte die 
Abtrennung einer sechsten Gruppe von Aufzeichnungen »Zur Literatur- 
kritik« aus de? Zeit um 1930, die samtlich um den Plan einer durchgreif en- 
den Reform der Kritik in literaturpolitischer Absicht zentriert sind. - Eine 
siebte Gruppe von Aufzeichnungen »Zu Grenzgebieten« - gleichfalls uber- 
wiegend spateren, charakteristisch Benjaminschen Reflexionen iiber Gra- 
phologie, Telepathie, Astrologie, Masken und Mimesis - ordnete sich wie 
von selbst an. - Schliefilich wurden in einer achten und letzten Gruppe - 
der zweiten unter Formaspekten gemachten Ausnahme - »Betrachtungen 
und Notizen* zusammengefafit, um diese von Benjamin bevorzugten For- 
men iiber den gesamten Zeitraum seiner Schriftstellerei zu dokumentieren. 
Dabei sind die Gattungsbezeichnungen fur die apercu- und fragmentarti- 
gen, aphoristischen, anekdotischen und physiognomisierenden Aufzeich- 
nungen iiber asthetische, literarische, geographische und psychologische 
Charaktere - von denen manche den Denkbildern des vierten Bandes nahe- 
kommen - wie iibrigens auch die meisten Gebietsnamen in den Zwischenti- 
teln der »Fragmente vermischten Inhalts* in den Benjaminschen Texten 
selber mehrfach verbiirgt. 

Dariiber hinaus konnte bei der Anordnung der acht Fragmentengruppen 
ein weiterer Formaspekt durchgangig Beriicksichtigung finden. Eine frii- 
here, von den Herausgebern wieder verworfene Gliederung hatte eine 
eigene Gruppe von Aufzeichnungen »Zu geplanten Arbeiten* vorgesehen 
- solchen, bei denen aus Titel oder Text unmittelbar oder aus Briefen und 
anderen Zeugnissen mittelbar Benjamins Absicht hervorging, entspre- 
chende Vorhaben in Angriff zu nehmen und womoglich zu vollenden. Da 
sich zeigte, dafi diese Notizen in sechs der acht Gruppen zwanglos sich 
einordnen liefien und in den meisten Fallen die dort versammelten sachlich 
und gedanklich erganzen, in ihrem Verstandnis weker erhellen und oft 
auch chronologisch prazisieren halfen, druckten die Herausgeber sie 
jeweils hinter den betreffenden Aufzeichnungen ab. Ahnliches gilt ftir eine 
urspriinglich geplante Gruppe von » Schemata und Definitionen«, die, 
nachdem einmal der Formgesichtspunkt fiir die Anordnung zuriickgetre- 
ten war, gleichfalls den Sachgruppen ohne Schwierigkeiten sich inkorpo- 
rieren liefi. Dies geschah so, dafi bei den Gruppen mit einem, zwei oder drei 
sachlichen Haupttopoi zunachst die Fragmente zum ersten Topos abge- 
druckt wurden, danach - durch einen Asteriskus abgetrennt und wo immer 
vorhanden - die zugehorigen Fragmente >Zu geplanten Arbeiten<, dann - 
erneut durch Asteriskus abgetrennt - die Fragmente zum zweiten Topos 
und zum Schlufi - nach weiterer Asteriskusmarkierung - wiederum die 



Anmerkungen 629 

einschlagigen Fragmente >Zu geplanten Arbeiten<. Bei der fiinften und 
sechsten Fragmentengruppe war nur eine einfache Asteriskusmarkierung 
erforderlich; bei der siebten und achten konnten Abtrennungen ganz ent- 
f alien. Zur genauen Ubersicht iiber die Fragmentengruppen und -unter- 
gruppen wird der Leser auf das detaillierte Inhaltsverzeichnis am Ende des 
Bandes verwiesen (s. 834-839). - Schlieftlich bleibt darauf hinzuweisen, 
dafl die Fragmente innerhalb jeder der acht Hauptgruppen und wiederum 
innerhalb jeder der Untergruppen - wo immer solche gebildet wurden - 
chronologisch angeordnet sind, um den Anfang der Beschaftigung Benja- 
mins mit einer Thematik und ihre Dauer zu dokumentieren. Dabei konn- 
ten sich die Herausgeber nur in der geringeren Zahl der Falle auf verlafiliche 
Zeugnisse stiitzen ; bei der Mehrzahl waren sie auf mancherlei Induktionen, 
oft auf blofie Vermutungen angewiesen. Eine grobe Chronologie der acht 
Fragmentengruppen selber liefi nur insoweit sich einhalten, als die jeweils 
grofiere Anzahl der Stucke in den ersten vier aus den Jahren 191 5/19 16 bis 
1921/1922 - mit dem Gewicht auf den Jahren 191 7 bis 1920- und die in den 
letzten vier aus den spaten zwanziger und friihen dreifSiger Jahren 
stammt. 

(b) Die »Autobiographischen Schriften* vereinen Texte durchaus dispara- 
ten Charakters. Wenn Benjamin in der Berliner Chronik dieTatsache, dafi er 
ein besseres Deutsch schreibe als die meisten Schriftsteller seiner Generation, 
auf die Beobachtung einer einzigen kleinen Regel zuriickfiihrt, namlich das 
Wort »kh« nie zu gebraucben, aufterin den Brief en (475), so ist den Arbeiten 
der vorliegenden Gruppe gemeinsam, dafi alle im engeren oder weiteren Sinn 
in der ersten Person singularis stehen. Im engeren Sinn, da in ihnen jenes 
Pronomen standig gebraucht wird ; im weiteren, weil sie wie immer vermit- 
telter Ausdruck individueller Erfahrungen sind. Man wird Benjamin zwar 
kaum zugeben, dafi das Deutsch der auto bio graphischen Schriften >schlech- 
ter< als das der autorisierten sei; seine Idiosynkrasie gegeniiber derKundgabe 
der eigenen Subjektivitat veranlafite ihn jedoch, diese Texte von der Verof- 
fentlichung auszuschliefien. Noch don, wo er beim Beginn der Nieder- 
schrift - wie im Fall der Berliner Chronik - eine Publikation beabsichtigte, 
gab ei'den Gedanken wieder auf; erst die ungleich objektiviertere Gestalt, in 
der die gleichen Motive in der Berliner Kindbeit um neunzebnbundert 
begegnen, war im Ernst fiir den Druck bestimmt. Dafi die autobiographi- 
schen Schriften nicht zur Veroffentlichung gedacht waren, mag dann wie- 
derum der Grand daf iir gewesen sein, weshalb die meisten nicht in dem Grad 
durchformuliert sind wie die Arbeiten der Bande 1 bis 4 der »Gesammelten 
Schriften*. Beides aber, die Sekretierung der Texte durch ihren Autor wie 
seine fehlende letzte Hand, wenn man will: dafi diese Prosa zwar kompo- 
niertj kaum abergebaut, geschweige denn gewoben ist (s. Bd. 4, 102), recht- 
fertigt es, die »Autobiographischen Schriften« neben die »Fragmente ver- 
mischten Inhalts« zu stellen, von denen das gleiche gilt. 



6}0 Anmerkungen 

Die »Lebenslaufe«, die die Gruppe eroffnen, sind deutlich unterschieden 
von den anderen autobiographischen Schriften; sie stellen in gewissem Sinn 
nur erst Praludien zu diesen dar. Benjamin verfafite sie zu bestimmten 
Zwecken, etwa fiir den Habilitationsantrag oder urn eine Stelle oder ein 
Stipendium zu erlangen. Sie sind dem jeweiligen Adressaten zugedacht, 
geschrieben gleichsam in einer Rollensprache, von der der Autor sich das 
Erreichen seines Zweckes erhoffte. Anders die ubrigen »Autobiographi- 
schen Schriften«, deren >Ich< primar sich mit sich selber zu verstandigen 
bemiiht ist, jedenfalls an keinem Leser sich orientiert. Deshalb wurden die 
»Lebenslaufe« einerseits, die sonstigen Autobiographka andererseits 
gesondert nach den Chronologien ihrer Entstehung angeordnet. 
Sowohl dem Umfang nach wie inhaltlich liegt das Gewicht der » Autobio- 
graphischen Schriften« auf den tagebuchartigen Aufzeichnungen der Jahre 
1906 bis 1939. Es ist schwer zu entscheiden, ob Benjamin uber langere 
Zeiten kontinuierlich Tagebuch gefiihrt hat. Der Beginn von fr 1 56 scheint 
es nahezulegen: Neben dem eigentlicben Tagebuch herlaufend, sollen bier 
eine Anzahl von Notizen uber das Spiel stehen (190). Jedoch ist angesichts 
der ungesicherten Datierung (s. 751) nicht vollig auszuschliefien, daft mit 
dem eigentlicben Tagebuch eines der iiberlieferten aus dem Jahre 1931 
gemeint ist. Der Charakter der erhaltenen Tagebiicher, aber etwa auch eine 
Notiz wie: Es hilft nicbts; mir entgeht zu viel Icb mufl doch eine Art von 
Tagebuch scbreiben, in das ich die wicbtigsten Gesprachsmotive dieser Tage 
eintrage (416), sprechen eher dafiir, daft Benjamin kein durchgehendes 
Journal fiihrte. Er bedurfte jeweils des besonderen Anlasses, meistens einer 
Reise oder 3es Zusammenseins mit einer ihm bedeutenden Person wie 
Brecht. Dann allerdings entstanden Aufzeichnungen von einer Scharfe der 
Beobachtung und Pragnanz der Darstellung, die Benjamin als fulminanten 
Diaristen ausweisen. Zugleich dienten die Tagebiicher ihm als Reservoir, 
aus dem er fiir die zum Druck bestimmten Arbeiten vielfach schopfte. 
Zahlreiche Aufschliisse uber die literarische Technik Benjamins diirfte es 
liefern, etwa die Denkbilder des vierten Bandes jetzt mit ihren Vorstufen in 
den Tagebuchem konfrontieren zu konnen. - Es ist davon auszugehen, dafi 
nicht alle Tagebuchaufzeichnungen erhalten sind. Die Verstreuten Notizen 
Juni bis Oktober 192 8 etwa stehen in einem Heft, welches Benjamin seinem 
Jugendfreund Alfred Cohn geschenkt hatte; die Notizen Mai-Juni 19JI 
befanden sich im Besitz von Stefan Brecht, dem Sohn des Dichters: wahr- 
scheinlich, dafi Benjamin auch anderen Freunden Hefte schenkte, die noch 
nicht wiederauftauchten. Zumindest gab es weitere Tagebuchaufzeichnun- 
gen iiber Gesprache mit Brecht von Marz bis Mai 1930, die Benjamin 1938 
noch vorlagen (s. Bd. 2, 1372), heute aber verschollen sind. Im Berliner 
Benjamin-Nachlafi ist eine Art Inventarverzeichnis vorhanden, das dem 
Schriftduktus nach um 1920, eher noch etwas friiher angefertigt sein diirfte; 
zwei Eintragungen - 77 hanger brauner Karton: Erinnerungen aus der 



Anmerkungen 63 1 

Schul- und Studentenzeit und VIII Blauer Karton: Tagebiicher und Ver- 
wandtenbriefe aufier denen der Eltern (Literaturarchive der Akademie der 
Kiinste der DDR, Bestand Benjamin, Sign. 5 1/4) - enthalten Hinweise auf 
Autobiographica, von denen es unwahrscheinlich ist, dafi sie unter den 
uberlieferten, im vorliegenden Band abgedruckten sich befinden. Das 
Wachstuch-Tagebuch nach Heinles Tod (a. a. O., Sign. 51/1) schliefilich, 
das auf einem wohl nach 1933 beschriebenen Zettel erwahnt ist, auf dem 
einige Manuskripte aufgezahlt werden, die Franz Hessel zur Aufbewah- 
rung iibergeben waren, ist definitiv nicht mehr vorhanden. - Mit Aus- 
nahme eines kurzen Tagebuchs fur Schreiberhau, das der zehnjahrige Ben- 
jamin im Sommer 1902 schrieb (s. Benjamin- Archiv, Ms 1 179- 1 185), 
haben die Herausgeber samtliche ihnen zuganglichen Tagebuchauf- 
zeichnungen vollstandig abgedruckt. 

Die Berliner Chronik, die im Friihjahr und Sommer 1932 niedergeschrie- 
ben wurde - »unmiuelbar autobiographische Aufzeichnungen iiber Er- 
innerungen und Vorgange seiner [scil. Benjamins] Kindheit, Schul- und 
Studentenzeit« (Scholem, Engel, 174) - unterbricht die Abfolge der tage- 
buchartigen Aufzeichnungen an der Stelle, an der sie nach der Chronologie 
der Niederschrift steht. Wohl stellt die Berliner Chronik die »Keimzelle« 
(a. a. O.) der Berliner Kindheit um neunzehnhundert dar, ist aber dennoch 
dieser gegeniiber eine selbstandige Arbeit; drei Funftel des alteren Textes 
haben in dem jiingeren »keinerlei Entsprechung« (a.a.O.), man wird die 
Berliner Kindheit deshalb auch nur in eingeschranktem Sinn eine Umarbei- 
tung der Chronik nennen diirfen. Zu vermuten ist, dafi Benjamin die Berli- 
ner Chronik unvollendet liegen liefi, weil sie nach dem Mafi seiner literari- 
schen Produktion unzulassig privat geraten war. Um so wertvoller freilich 
»sind diese Aufzeichnungen [. . .] fur ein Verstandnis der Person und der 
Biographie Benjamins« (a. a. O.). - Eine Reihe kleinerer Notizen mit 
unverkennbar autobiographischen Intentionen, darunter der ratselvolle 
Agesilans Santander, ist ebenfalls in die Chronologie der Tagebuch- 
aufzeichnungen eingefiigt worden. 

(c) Von den im Anhang abgedruckten Texten stehen die »Protokolle zu 
Drogenversuchen« den autobiographischen Schriften sehr nahe, wahrend 
der Wandkalender der » Liter arisch en Welt* fUr 1927 und das »Memoran- 
dum zu der Zeitschrift >Krisis und Kritik<« im ceuvre Benjamins isoliert 
geblieben sind und in der Anordnung der »Gesammelten Schriften« eine 
Sonderstellung beanspruchen mufiten. 

Zum Text Das dem Abdruck zugrunde liegende Textmaterial des sechsten 
Bandes setzt sich aus Manuskripten des im Benjamin- Archiv Theodor W. 
Adorno aufbewahrten Nachlafiteils und einigen - teils ur-, teils abschriftli- 
chen -Aufzeichnungen aus der Sammlung Scholem zusammen; dazu kom- 
men einige wenige Manuskripte, die im Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin 



6}2 Anmerkungen 

und in der Pariser Bibliotheque Nationale vorhanden sind. Vor allem bei 
den »Fragmenten vermischten Inhalts« handelt es sich weitgehend um Ein- 
zelblatter der verschiedensten Formate und Papiersorten, die iiberwiegend 
mit Tinte, gelegentlich auch mit Blei, und zwar bis etwa 19 16/1 7 weitzugig, 
oft fluchtig und ab etwa 1 9 1 7/ 1 8 in der spater nur wenig variierten, charak- 
teristisch enggefiihrten Kleinschrift Benjamins beschrieben sind, wobei 
Materialbeschaffenheit und Schriftduktus wichtige, nicht selten die einzi- 
gen Hinweise auf die Entstehungszeit gaben. Zahlreiche Blatter sind aus 
Notizblocken, manchmal aus Kladden herausgetrennt und fanden sich ent- 
weder iiber das Nachlafimaterial weit verstreut oder mit gleichartigen und 
anderen zu Konvoluten vereinigt. Sie verweisen auf den friih bezeugten 
Usus Benjamins, seine Aufzeichnungen in einer ganzen Zahl solcher 
Blocke und Kladden festzuhalten, zu denen spater mehrere von Alfred 
Cohn verfertigte Hefte bis zu Kleinbuchformat hinzukamen. Die Einzel- 
blatter und -blattchen werden im Apparat jeweils kurz beschrieben; die 
erhaltenen Hefte und Blocke - Sammelhandschriften - seien an dieser Stelle 
aufgefiihrt und charakterisiert: 

1 Schwarzes Lederheft, Benjamin- Archiv, Ms 673, S. 1-82. - Aus dem in Bd. 5, 
1337. beschriebenen Heft wurden 7 Aufzeichnungen aus den Jahren 1927 bis 1930 
in die »Fragmente vermischten Inhaks« sowie das Tagebuch meiner Loire-Reise 
und die Notizen von der Reise nacb Frankfurt 30 Mai 1928 aufgenommen. 

2 Mittleres Pergamentheft, Benjamin- Archiv, Ms 674, S. 1-67. - Gelbliches Papier 
mit langsgeripptem Wasserzeichen, das ursprunglich von Hand in Pergament mit 
Lederriicken eingebunden war, aus dem es sich inzwischen gelost hat; die Seiten 
vom Format iy t 6X 12,3 cm sind bis S. 6j beschrieben, der umfangreiche Rest blieb 
leer. Benjamin benutzte das Heft von 1930 bis etwa 1934. - Aufgenommen 
wurden 2 Aufzeichnungen unter die Fragmente, aufierdem enthalt das Heft das 
Tagebuch vom 7. 8. 193 1 bis zt*m Todestag, die beiden Fassungen des Agesilaos 
Santander, die Notizen Svendborg Sommer 1934 und die Materialmen zu einem 
Selbstportrat. 

3 Pergamentheft, Sammlung Scholem, S. 1-64. - Den Herausgebern stand lediglich 
eine Photographie der von Benjamin auch einmal Pergamentbuch (Brief e, 487) 
genannten Handschrift zur Verfugung. Beim Original handelt es sich um sehr 
diinnes Papier im Format von ca. 22 x 12,5 cm; zu den Entzifferungsschwierigkei- 
ten s. die Anm. zu fr 1 14, 71 5. - Das Heft enthalt die verschiedensten Aufzeich- 
nungen und Niederschriften, iiberwiegend aus den Jahren 1928 bis 1930, von 
denen 5 unter den »Fragmenten vermischten Inhalts* und die Verstreuten Notizen 
]uni bis Oktober 1928 unter den »Autobiographischen Schriften* abgedruckt 
wurden. 

4 Erster Notizblock, Benjamin- Archiv, Ms 676-715. - Die in dem ca. 13X7,5 cm 
groften Block mit blauem Pappdeckel verbliebenen 41, in der Hohe ca. 1,3 cm 
kleineren Blatter machen nur etwa die Halfte der ursprunglich vorhandenen aus. 



Anmerkungen 633 

Wie am zusammengehefteten Kopf des Blocks und den perforierten Blattresten 
erkennbar, wurde die andere Halfte - unregelmafiig und an den verschiedensten 
Stellen - herausgetrennt, von der sich einzelne Blatter im Nachlafl wiederfanden; 
soweit sie die gleichen Tintenverschmierungen an den unteren Randern aufweisen, 
wie sie die meisten im Block verbliebenen haben, konnten sie als urspriinglich zu 
ihm gehorig identifiziert werden. Uber 30 von den darin verbliebenen 41 - darun- 
ter ein Leerblatt- enthalten im vorliegenden Band abgedruckte Fragmente aus den 
Jahren 1916 bis 1921 und spater. 

5 Zweiter Notizblock, Benjamin-Archiv, Ms 716-745. - Der Block hat ein Format 
von ca. 12X9 cm, die Hohe der Blatter ist um ca. 1 cm geringer. Ein Rest des - 
abgerissenen oder abgefallenen - blauen Pappdeckels ist am Kopf erhalten. Nach 
ihm zu schliefien, diirfte der Block etwa das Doppelte der verbliebenen 30 Blatter 
enthalten haben. Auf 18 von diesen finden sich Aufzeichnungen iiberwiegend aus 
den Jahren 1928 bis 1930, die unter die »Fragmente vermischten Inhalts« aufge- 
nommen wurden. 

6 Dritter Notizblock, Benjamin-Archiv, Ms 746-761. - Der Block mit blauem tin- 
tenverschmierten Deckel hat ein Format von ca. 1 1,5 Xj,$ cm, die Blatter sind ca. 
1 cm kiirzer. Den im Kopf verbliebenen Abrifistreifen nach diirfte auch er etwa das 
Doppelte der in ihm noch vorhandenen 37 Blatter enthalten haben. Davon sind 2 1 
unbeschrieben bzw. hin und wieder bekritzelt, daher auch ohne Signatur. Nur auf 
4 von den 16 mit diversen Notizen beschriebenen fanden sich Aufzeichnungen - 
sie stammen aus den Jahren 1932/33 -» die unter die »Fragmente vermischten 
Inhalts* aufgenommen werden konnten. 

Die Bezeichnung Mittleres Pergamentbeft ist Benjamins eigene (s, Bertolt- 
Brecht-Archiv, Sign. 2060/16), die iibrigen Bezeichnungen wahlten die 
Herausgeber. Nach ihnen werden die Sammelhandschriften in den Einzel- 
apparaten durchgangig zitiert- und zwar »Schwarzes Lederheft«, Mittleres 
Pergamentbeft und »Pergamentheft SSch« mit nachgestellter Seitenangabe 
und »Erster«, »Zweiter« und »Dritter Notizblock* mit nachgestellter 
Signatur des jeweiligen - im Falle der Blocke einzeln signierten - Blattes. - 
Die Einzelblatter aus dem Benjamin-Archiv werden nur mit der Archiv- 
signatur und der vorangestellten Abkiirzung des Zeugentyps bezeichnet: 
»Ms (bzw. Ts) x«, die in der Sammlung Scholem vorhandenen Zeugen mit 
der Abkiirzung »SSch«, nachgestellter Angabe des Zeugentyps und ggf. 
Seitenzahl. 

Bei der Darbietung der oft nur muhsam zu entziffernden Texte waren die 
Spuren der Arbeit, das Improvisatorische, vielfach Fliichtige der Nieder- 
schrift, die Abbriiche, Wiederaufnahmen und Einschiebungen so treu wie 
moglich zu dokumentieren. Das gilt bei den »Fragmenten vermischten 
Inhalts* namentlich auch fur die annahernde Bewahrung der Figuren, 
Schemata und Dispositionen in ihrer Benjaminschen Anordnung durchs 
Druckbild, wie sie schon bei den Paralipomena in den Banden 1 bis 5 ange- 



634 Anmerkungen 

strebt wurde. In zwei Fallen wurden schematische Figuren im Faksimile- 
druck wiedergegeben, in einigen anderen wurde ein kleinerer Schriftgrad 
gewahlt, um die Anordnung der Aufzeichnungen in grofteren und kleine- 
ren Kolonnen zu erhalten. Die Anordnung der »Fragmente vermischten 
Inhalts« blieb in den Fallen, in denen sich auf einem Blatt oder bei Blattfol- 
gen mehrere, dem Inhalt wie der Entstehungszeit nach verschiedene Auf- 
zeichnungen finden, beim Abdruck grundsatzlich erhalten; das gilt vor 
allem fur die Notizen- und Aphorismengruppen und die durch Schemata, 
Dispositionen, bibliographische Daten, Titel u.a. unterbrochenen Auf- 
zeichnungen. 

Uber das Verfahren bei der Textrevision, das von dem der abgeschlossenen 
Arbeiten in den Textteilen der ersten vier Bande abweicht, bei den in den 
Apparatteilen dieser Bande wiedergegebenen Paralipomena sowie bei den 
Zentralpark-Frz&ntnten im Textteil des zweiten Bandes aber bereits ange- 
wandt wurde, ist im funften Band zusammenfassend berichtet worden (s. 
Bd. 5, 1 075- 1 078). Fiir den Leser des vorliegenden Bandes, der jenen 
Bericht nicht zur Hand hat, werden im folgenden die notwendigsten Anga- 
ben wiederholt. 

Unleserliche Worter werden durch (xx) wiedergegeben, dabei bezeichnet 
die Anzahl der x die vermutete Anzahl der nicht entziff erten Worter. Unsi- 
chere Lesungen werden durch ein nachgestelltes (?) kenntlich gemacht. 
Sind bei einem Wort zwei Lesungen moglich, so wird die weniger wahr- 
scheinliche der wahrscheinlicheren in Winkelklammern nachgestellt und 
mit einem Fragezeichen versehen. Textverluste durch Beschadigung des 
Papiers oder zu stark verblafite Time werden im edierten Text nach Mog- 
lichkeit rekonstruiert und in Winkelklammern gesetzt. 
Auf eine Vereinheitlichung oder gar Modernisierung der Orthographic ist 
verzichtet worden. Die vorgenommene Revision beschrankt sich auf die 
Berichtigung eindeutig fehlerhafter Textstellen. Haufig sind in den Manu- 
skripten Personen- und Ortsnamen f alsch geschrieben worden, nicht selten 
finden sich auch irrtumhche Datumsangaben: hier nahmen die Herausge- 
ber eine stillschweigende Korrektur vor. Andere off enkundige Verschrei- 
bungen sowie orthographische Fehler wurden gleichf alls korrigiert, jedoch 
im edierten Text selber dadurch gekennzeichnet, dafi sie, als Herausgeber- 
konjekturen, in Winkelklammern gesetzt sind. Lediglich die nicht sehr 
haufigen Dittographien wurden wiederum stillschweigend getilgt. Unein- 
heitlichkeiten der Manuskripte sind in der Regel bewahrt worden; so auch 
der Verzicht auf Punkte nach abgekiirzten Wortern, der charakteristisch 
fiir Benjaminsche Manuskripte ist. 

Bei der Erganzung von Interpunktionszeichen iibten die Herausgeber 
aufierste Zuriickhaltung. Nur in den seltenen Fallen, in denen ein f ehlendes 
Komma einen Satz un- oder mifiverstandlich machen konnte, wurde es in 
Winkelklammern hinzugefugt. Dariiber hinaus erwies sich in den »Frag- 



Anmerkungen 63 5 

menten vermischten Inhalts* die gelegentliche und dann in gleicher Weise 
gekennzeichnete Hinzufiigung von Gedankenstrichen, Semikola oder 
Punkten als erforderlich. Hervorhebungen, die in den Manuskripten als 
Unterstreichungen erscheinen, werden durch Kursivdruck wiedergege- 
ben. Runde ( ) und eckige Klammern [ ] im Textteil stammen von Benjamin 
und wurden beibehalten, auch wenn ihre Unterscheidung manchmal will- 
kurlich ist. 

Redaktionelle Hinzufiigungen der Herausgeber werden in Winkelklam- 
mern { ) gesetzt. Auf nicht zu Ende gefuhrte Formulierungen wird durch 
(abgebrochen) hingewiesen. Gelegentlich erschien es angebracht, unvoll- 
standige oder sonst fehlerhafte syntaktische Konstruktionen, deren 
Berichtigung nicht ohne weiteres auf der Hand lag oder auf verschiedene 
Weise moglich war, stehenzulassen und durch ein (sic) zu kennzeichnen. 
In einigen Fallen liefien die Herausgeber auch eine irrtumliche Sachangabe 
stehen, weil sie charakteristisch schien; sie wurde dann unmittelbar 
anschliefiend in Winkelklammern mit vorangestelltem (recte: . . .) korri- 

Der Text der Exzerpte und Zitate folgt dem Wortlaut der Benjaminschen 
Quellen, soweit diese den Herausgebern zuganglich waren. War eine von 
Benjamin benutzte Quellenschrift nicht erreichbar, so ist moglichst eine 
andere Ausgabe zur Kontrolle herangezogen worden, Wenn keine andere 
Ausgabe vorhanden oder erreichbar war, mufite dem Wortlaut des Benja- 
minschen Exzerpts vertraut werden. Der in den Manuskripten vollig 
uneinheitliche Gebrauch von An- und Abfiihrungszeichen ist normalisiert 
worden, und zwar wurden Zitate in doppelte, Zitate in Zitaten in einfache 
Anfiihrungszeichen gesetzt; gelegentlich fehlende Anfiihrungszeichen 
wurden in Winkelklammern erganzt. 

Die Quellennachweise in den Fragmenten werden wortlich nach den Ben- 
jaminschen Manuskripten wiedergegeben, auch wenn diese Angaben 
bibliographisch unbefriedigend sind. In Fallen, in denen nur wenige Anga- 
ben zu erganzen waren, wurden diese im Textteil in Winkelklammern bei- 
gefiigt, in den iibrigen Fallen - vor allem bei Literaturlisten oder um das 
Textbild zu entlasten - sind die Angaben im Nachweisteil des Apparats in 
extenso nachgetragen worden. 

Samtliche »Fragmente vermischten Inhalts* wurden, ungeachtet ihres 
Umfangs oder ihrer Zusammensetzung, durch alle Gruppen und Unter- 
gruppen durchlaufend gezahlt und die Nummern mit der vorgesetzten 
Abkiirzung »fr« in Winkelklammern an das Ende des jeweiligen Fragments 
gesetzt. Im Apparat wurde umgekehrt verfahren: um die Auffindung zu 
erleichtern, steflten die Herausgeber die Sigle »fr x« vor den Titel oder das 
Incipit in der Uberschriftszeile. 



636 Anmerkungen 

Zum Apparat Bei der Einrichtung des Apparats verfuhren die Herausge- 
ber im wesentlichen wie in den Banden 1 bis 4 der »Gesammelten Schrif- 
ten« (s. Bd. 1, 789-795). 

Im gesamten Apparatteil wird auf die »Gesammelten Schriften* nur mit 
Band- und Seitenangaben verwiesen. Verweise, die nur eine Seitenangabe 
enthalten, beziehen sich stets auf den vorliegenden sechsten Band der 
»Gesammelten Schriften*. Samtliche Zitate aus Texten Benjamins werden 
im Apparat in Kursivdruck, alle Ausfiihrungen der Herausgeber in Anti- 
qua wiedergegeben. Einfugungen der Herausgeber in Benjaminschen Tex- 
ten werden im Apparat in eckige [ ] Klammern gesetzt. Die aufierdem 
benutzten geschweiften Klammern { } kennzeichnen gestrichene Stellen in 
Benjaminschen Texten. 

Zunachst wird eine knappe Entstehungsgeschichte der abgedruckten Texte 
gegeben. Vor allem bei den »Fragmenten vermischten Inhalts* wurde ange- 
strebt, dazu das Erreichbare an direkten und indirekten Zeugnissen oder 
das auch nur Vermutete zusammenzutragen; einzige Quelle waren oft 
genug die Erinnerungen Scholems, die dieser den Herausgebern mundlich 
ubermittelt hatte (s. R. Tiedemann, Erinnerung an Scholem, in: Scholem, 
Engel, 217). Bei der Datierung vieler Fragmente erwies sich ihr naherer 
oder fernerer Zusammenhang mit Themen abgeschlossener Arbeiten Ben- 
jamins, mit bereits abgedruckten Paralipomena und vor allem mit anderen, 
sachlich, gedanklich oder stilistisch verwandten Fragmenten als hilfreich; 
eine wichtige, wenn auch keineswegs immer zuverlassige Rolle (s. 641, 680, 
684, 703, 708, 712, 763 und passim) spielte die Blattfolge in den Blocken 
und Heften. Um Wiederholungen zu vermeiden, wurde bei sachlich und 
zeitlich eng zusammengehorenden Fragmentgruppen die Entstehungsge- 
schichte der jeweiligen Gruppe zusammenfassend dargestellt. 
Hauptquelle waren stets die brieflichen Aufierungen Benjamins und, 
soweit erhalten und zuganglich, seiner Korrespondenten. Der abkiirzende 
Nachweis »Briefe« bezieht sich auf die Ausgabe 

Walter Benjamin, Briefe, hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scho- 
lem und Theodor W. Adorno, 2 Bde., 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1978. 
Die Ausgabe ist seitenidentisch mit der ersten Auflage von 1966, bietet 
jedoch einen an manchen Stellen von Druckf ehlern und Irrtumern entlaste- 
ten Text. Wo der Verweis auf eine Stelle dieser Ausgabe durch ein »s.« 
eingeleitet wird, haben die Herausgeber in der Ausgabe weggelassene Stel- 
len anhand ihnen vorliegender Abschriften oder Photokopien erganzt. Fur 
Benjamins Briefe an Scholem, die nach 1932 geschrieben wurden, wird 
nach der Ausgabe 

Walter Benjamin/Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940, hrsg. von Gershom 
Scholem, Frankfurt a.M. 1980 (abgekiirzt: Briefwechsel Scholem) 
zitiert. Diese Ausgabe, die den erhaltenen Briefwechsel vollstandig enthalt, 
bringt auch von solchen Brief en Benjamins, die bereits in der alteren Brief- 



Anmerkungen 637 

auswahl sich finden, zuverlassigere und vollstandigere Texte. Aufterdem 
wird auf die beiden f olgenden Biicher nur mit Abkiirzungen verwiesen : 
Gershom Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, 2. AufL, 
Frankfurt a.M. 1976 (abgekiirzt: Scholem, Freundschaft). 

Gershom Scholem, Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsatze und kleine 
Beitrage, hrsg. vonR. Tiedemann, Frankfurt a.M. 1983 (abgekiirzt: Scholem, Engel). 
Die beiden Bande boten, neben den miindlichen und brieflichen Mitteilun- 
gen des Autors, die grofke Hilfe bei der Erschlieflung und Identifikation 
vorab des friihen Fragmentenmaterials. - Zitate aus unveroffentlichten 
Brief en Benjamins werden mit Datum und Empfangernamen nachge- 
wiesen. 

Im Anschlufi an die Entstehungsgeschichte werden gegebenenfalls Parali- 
pomena mitgeteilt. Sodann wird die Druckvorlage ausgewiesen und die 
Datierung gegeben; dabei bedeutet »U« Uberlieferung und »D« Datie- 
rung. 

Fiir die »Fragmente vermischten Inhalts* folgt ein Verzeichnis der bei dem 
weitgehenden Bruchstiickcharakter der Zeugen, dem Improvisatorischen 
erster, nur selten vom Autor bearbeiteter Niederschriften und bei der oft 
starken material- und uberlieferungsbedingten Textbeeintrachtigung uner- 
laftlichen Lesarten. Neben den im Textteil erfolgten Korrekturen und 
Erganzungen werden hier zusatzliche Erganzungs- und Lesevorschlage 
geboten sowie - bei besonders wichtigen oder stark korrumpierten Texten 
- gestrichene Stellen oder Varianten mitgeteilt. Bei den Verweisen in die- 
sem wie dem abschlieflenden Apparatteil (s.u.) werden die Seitenzahlen 
des vorliegenden Bandes durch halbfetten Druck hervorgehoben; die 
jeweils folgende Ziffer bezieht sich auf die Zeilenzahl der betreffenden 
Seite. Gezahlt werden alle bedruckten Zeilen mit Ausnahme des Kolum- 
nentitels. Der Nachteile angesichts des durch die zahlreichen kurzen, 
manchmal noch in Kleinsatz gehaltenen Fragmente stark unterbrochenen 
Textbildes sind sich die Herausgeber selbstverstandlich bewufit. Wirklich 
hilfreich ware nur eine gedruckte Zeilenzahlung am Rand des Textteils 
gewesen; sie liefS sich aus Kostengrunden nicht durchsetzen. So bleibt den 
Herausgebern nur, darauf zu vertrauen, dafi der den Apparat nutzende 
Leser die Miihe auch des Auszahlens auf den uneinheitlichen Textseiten 
nicht scheuen wird. 

Den Beschlufi bildet ein Nachweisverzeichnis der von Benjamin nicht, 
unvollstandig oder indirekt zitierten Quellen, soweit sie eruiert wurden, 
vor allem auch der - beabsichtigten und unbeabsichtigten - Selbstzitate 
Benjamins, wobei den Querverweisen innerhalb der »Fragmente vermisch- 
ten Inhalts« besondere Bedeutung zukommt. Ebenfalls dem Nachweisteil 
des Apparats wurden Sacherlauterungen zugewiesen, auf die bei den 
»Autobiographischen Schriften« nicht verzichtet werden konnte. Wah- 
rend die Herausgeber bemiiht waren, allgemein Bekanntes und fiir den 



538 Anmerkungen 

Leser Benjamins Selbstverstandliches nicht anzumerken, versagte ihr Fin- 
derglikk vor anderen, der Erklarung durchaus bediirftigen Stellen. 

Eine nicht ganz kleine Anzahl von verloren geglaubten, unbekannt oder 
unzuganglich gewesenen Arbeiten Benjamins ist im Verlauf der Editionsar- 
beiten aufgefunden worden, und zwar zu Zeitpunkten, als die Bande, in die 
solche Arbeiten jeweils gehort hatten, bereits erschienen waren. Ein siebter 
Band der »Gesammelten Schriften* wird diese Arbeiten als »Nachtrage« 
vereinen. Im siebten Band wird der Leser auch jene Lektiireliste Benjamins 
finden konnen, deren Abdruck in den friiheren Banden wiederholt fiir 
Band 6 angekundigt wurde. 



7-2 1 1 Fragmente vermischten Inhalts 
9-53 [fr 1-32] Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 

9-11 [fr 1] Das Urteil der Bezeichnung 

Im November 19 16 kiindigte Benjamin Scholem die vor dem Abschlufi 
stehende Arbeit Uber Sprache uberhaupt und uber die Sprache des Men- 
scken (s. Bd. 2, 1 40-1 57) an. Am Titel [. . .] sehen Sie eine gewisse systemati- 
sche Absicht, die fur mich abet auch das Fragmentarische der Gedanken 
ganz deutlich macht, weil ich vieles zu beriibren noch aufierstande bin. Ins- 
besondere ist die spracbtheoretiscbe Betracbtung der Mathematik, aufdie es 
mir ja schlieftlich sebr ankommt, wenn icb sie auch noch nicbt versucben 
darfvon ganz fundamentaler Bedeutung fur die Tbeorie der Sprache uber- 
haupt. (Briefe, 1 29) Die Arbeit resultierte aus dem Versuch einige aus der 
nicbt geringen Anzahl der Fragen, die Sie mir vorgelegt baben [s. Scholem, 
Freundschaft, 48], im Zusammenhang zu beantworten. (Briefe, 128) Dabei 
ist es mir nicbt moglich gewesen, auf Mathematik und Sprache, Mathematik 
und Denken, Mathematik und Zion einzugeben, weil meine Gedanken 
Uber dieses unendlich schwere Thema noch ganz unfertig sind. (a. a. O.) fr 1 
diirfte - wie einige der folgenden, vor allem aber die Fortsetzungsnotizen 
zur Arbeit uber die Sprache (s. Ms ji6f., Bd. 7) - die Arbeit Benjamins an 
jenem unendlich schweren Thema bezeugen. 

U: Ms 791 f. - 2 Blatter je ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notiz- 

block; spatere Bleistiftpaginierung »i2« und »I3«. 
D: zwischen etwa Mitte 19 16 und Mitte 19 17 

lesarten io, 3 Prddikat ] erg. Prddikat eines Urteils welches aussagt, 

daft einem Wort seine eigne Bedeutung als Prddikat gem. dem Passus im 
vorhergehenden Satz - io, 18 Prddikat] konjiziert fur Prddikat, - 10,31 
Woher] die Lesart Vorber ist nicht auszuschliefien - 10, 33 (Bezeichnung)] 
konj. fur Bedeutung 

nachweis 9,28 Paradoxon] s. Bertrand Russell, The principles of mathe- 
matics, London 1937 [1. Aufl. 1903], 188 ff., Z59ff. ; s. auch Alfred North 
Whitehead, Bertrand Russell, Principia mathematica, 3 Bde., Cambridge 
1926-1927 [1. Aufl. 1910-1915], 37ff., 60 ff. 



640 Anmerkungen zu Seite 1 1-1 5 

II [fr2] LOSUNGSVERSUCH DES RUSSELLSCHEN PaRADOXONS 

Die Aufzeichnung kdnnte entweder die Zusammenfassung des Gedanken- 
gangs in fr 1 (9, 30- 1 o, 1 6 Russell bis prddiziert) oder die - friihere - Skizzie- 
rung des erst dort unternomrnenen Losungsversuchs sein. 

U: Erster Notizblock, Ms 705 - Blatt [31]. 
D: zwischen etwa Mitte 19 16 und Mitte 19 17 

nachweis 11,5 Paradoxons] s. Nachweis zu 9,28 

11-14 [fr 3] Der Grund der intentionalen Unmittelbarkeit . . . 

Der erste Teil der Aufzeichnung (11,9-34 Der bis kann) ist durch Schrift- 
duktus und grofiere Nahe zur Spracharbeit von 1916 vom zweiten unter- 
schieden. Aufgenommen ist das Problem der Intentionalitat, Folge der 
Befassung mit Husserl (s. Brief e, 162) und dem Wesen derPbdnomenologie 
(Briefe, 144) anlafilich der 19 16 erschienenen Arbeit Linkes iiber »Das 
Recht der Phanomenologie* (s. fr 15 und Anm., 654L). Der zweite Teil 
steht im Zusammenhang mit fr 1 und deutet auf die seit Ende 19 19 geplante 
Untersucbung, welche in den grofien Problemkreis Wort und Begriff(Spra- 
che und Logos) fdllt (Briefe, 230; s, fr 9-12 und Anm., 642-648) voraus. 

U: Ms 504- Blatt ca. 36x22,5 cm, gefaltet zu 2 Teilblattern,* spatere Bunt- 
stiftpaginierung »7« auf dem ersten, Siglen (?) von Benjamins (?) Hand 
auf dem zweiten Blatt. 

D: zwischen etwa Mitte 19 16 und Mitte 191 7 

lesart 12,32-34 Bedeutetem bis Gegen(stand)] Bedeutetem fur {Bedeu- 
tungen) ; jedoch vergafi Benjamin analog im folgenden Relativ- und Erlau- 
terungssatz die Plural- durch Singularformen zu ersetzen 
nachweise 12,35 an ] s * A[lois] Riehl, Beitrage zur Logik, 2. durchges. 
Aufl., Leipzig 1912, 5 (I, 2.) - 13, 5 f. synonym gebraucbt] s. auch a. a. O., 
28 f., (Ill, 2.) - 13,7 identisch] s. a. a. O., 10 (I, 3.) - 13,35 Abstammungs- 
verbdltnis] s. fr 24 

14 f. [fr 4] I Der Gegenstand: Dreieck . . . 

Neugeordnet wird das Schema in fr 3 (s. 13), die dort unerlauterten Begriffe 
Zeicben, Name, Wort werden in der Reihenfolge von unten nach oben er- 
lautert. 



Anmerkungen zu Seite 14-17 641 

U: Ms 790 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

links oben tintenverschmiert; spatere Bleistiftpaginierung »i i«. 
D: zwischen etwa Mitte 19 16 und Mine 1917 



15 [fr 5] Das Skelett des Wortes 

Das Motiv einer Wortbild- (ij,i8) Physiognomik und der Schriftduktus 
legen, trotz des Zusammenhangs mit Aufzeichnungen wie fr 4, eine spatere 
Datierung nahe. 

U: Erster Notizblock, Ms 713 - Blatt [39]. 
D: etwa 1920/1921 



1 5 f. [fr 6] ES 1ST SELTSAM . . . 

Die Aufzeichnung, die auf die Spracharbeit von 19 16 rekurriert, den 
Begriff der Bedeutung (1 5 f.) von dem der Mitteilung (s. Bd. 2, 140-142) 
abhebt und mit der Differenz zur Bezeichnung (16) die Uberlegungen von 
fr 1 -3 weiterfiihrt, wirkt wie die stellen weise Ausfuhrung von fr 5 . Dagegen 
wiirde die Blattfolge im Notizblock sprechen; andererseits beschrieb Ben- 
jamin Bldcke oder Hefte nicht selten in umgekehrter, zumindest unregel- 
mafiiger Blattfolge, etwa nach leergelassenen Blattern wieder von vorn 
(zum Verhaltnis von Blattfolge und Chronologie der Aufzeichnungen in 
Blocken und Heften s. 636), was hier der Fall sein durfte. 

t): Erster Notizblock, Ms 71 1 - Blatt [37]. 
D: etwa 1920/21 



16 f. [fr 7] Wenn sich in einer Region . . . 

Die Distinktion zwischen Zeichen und Symbol (16), symbolischem Cba- 
rakter des Systems und absoluter Welt der Spracbe (17) deutet auf die Eror- 
terungen des Systemproblems seit 1917. Scholem uberliefert eine wohl 
wahrend seines Aufenthaltes in Bern ab Mai 191 8 aufgezeichnete einschla- 
gige Definition Benjamins: Pbilosopbie ist absolute Erfabrung, deduziert 
im systematiscb-symboliscben Zusammenbang als Spracbe. (cit. Scholem, 
Freundschaft, 74) Der Satz ist iibrigens auch direkt uberliefert (s. fr 19, 37). 

U: Ms 5 1 3 - Blatt ca. 3 3 X 2 1 cm, gefaltet, Riickseite des ersten und Vorder- 
seite des zweiten Teilblatts unbeschrieben, Riickseite des zweiten in 



642 Anmerkungen zu Seite 16-26 

umgekehrter Richtung beschrieben; grofie fliichtige Schrift; spatere 
Buntstiftpaginierung »6«. 
D: etwa 1920/1921, vielleicht friiher 



ij{. [fr8] Uber das Ratsel und das Geheimnis 

Der Symbolbegriff wird uber den Begriff des Gebeimnisses zu dem der 
Nicht-Mitteilbarkeit (18) aus der Spracharbeit von 19 16 in Beziehung 
gesetzt. Die - wichtige - Aufzeichnung durfte in eines der Zentren des 
nachstehend dokumentierten Plans zur ersten Habilitationsschrift zielen. 

U: Ms 786 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

Tintenspur. 
D: etwa 1920/1921 

lesarten 17,19 abzugewinnen] scil. das daraus zu machen, was - wie 
Scholem kommentierte - Franz Brentano einen »Enigmathias« nannte - 
17, 23 sie bis beziebt] lies sie - als das Ratsel auf dessen Lbsung - beziebt - 
18,2 (ndmlich)] zur Aufhellung des Sinns des Passus konj. fiir sondern - 
18, 2f. deren] scil. der Losung - 18, 8 durch] davor {scbon} - 18, 10 bezeicb- 
nender als Ratsel] fiir {nocb} bezeicbnender als {moderne} Ratsel - 
1 8, 20- 22 nur bis laftt] lies etwa nut als in einem Akt berubend denken laflt, 
der aus dem Lebendigen erfolgt, das diesen Akt vollziebt -18,23-28 Die bis 
Ratsel] der Passus ist spater nachgetragen 
nachweis 18,23 Genesis] s. 2.20 



19-26 [fr9~i2] Studien zu einer Habilitationsschrift 

Ehe Benjamin im November 19 19 mit seiner Familie Bern verliefl, 
»besuchte er noch einmal [Richard] Herbertz,« bei dem er im Juni promo- 
viert hatte und »der ihm sichere Aussichten auf eine Habilitation, eventuell 
sogar auf einen aufierordentlichen Lehrauftrag fiir Philosophic eroffnete. 
Meine Eltern sind sebrfrob und baben nicbts gegen eine Habilitation dort- 
schrieb er mir am 16. November - konnen sich aber finanziell noch nicbt 
binden. Das nacbste, was icb vorbabe, ist eine Habilitationsschrift, und 
zwar wahrscheinlicb ein erkenntnistbeoretiscbes Spezialtbema. An die Vor- 
bereitung dieser Schrift will icb hier [in Wien bzw. auf dem Semmering] 
berantreten. (Scholem, Freundschaft, 112) Das einzig Gewisse ist, schrieb 
er wenig spater an Hiine [Siegfried] Caro, daft icb meine Studien zu einer 
Habilitationsschrift so bald wie moglicb beginne; und jedenfalls kehre icb 
im Fruhjahr in die Schweiz zuruck, jedocb - auf wie langef ob mit meiner 



Anmerkungen zu Seite 19-26 643 

Frauf und mit dem Kind? Das alles weifl icb selbst noch nicht. (Brief e, 221) 
Um Mine Januar 1920 berichtete er Scholem aus Breitenstein: Anfang 
Mdrz werden wir wohl in Bern sein; nach vier Wochen dann in die Nahe 
von Munchen zieben, wo wir bleiben, bis die Schweizer Angelegenheit 
gekldrt ist, undje nachdem dann fortgehen oder bleiben. Die Entscheidung 
[. . .] hdngt nicht von Geldfragen allein (wenn auch sehr wesentlich) ab, 
sondern auch davon, wie sich die Arbeit an meiner Habilitationsschrift 
gestalten wird. Von dieser besteht bislang nur die Intention aufein Tbema; 
ndmlicb irgend eine Untersucbung, welcke in den groflen Problemkreis 
Wort und Begriff (Spracbe und Logos) fallt, mit dem ich mich beschdftigen 
werde. Vorldufig suche ich angesichts der ungeheuern Schwierigkeiten nacb 
Literatur, die wohl nur im Bereich scholastischer Scbriften oder von Schrif- 
ten uber die Scholastik zu suchen ist. Wobei in der erstern mindestens das 
Latein eine barte Nufl ist. Icb bin Ihnenfurjeden bibliographischen Finger- 
zeig [. . .]aufierordentlich dankbar. Die Wiener Bibliotheksverbdltnisse 
sindso schlecht, daft icb erstens kaum BUcher bekommen, zweitens kaum im 
Katalog welchefinden kann. [. . .] Dajl unter der Zahl der Abgrknde dieses 
Problems der Grund der Logik zu suchen ist, daruber sind Sie vielleicht 
eines Sinnes mit mir. (Briefe, 229 f.) Vier Wochen spater heifit es: Die 
Munchner Plane sind wieder ins Wank en geraten, weil wir von Hause die 
kategoriscbe Vorscbrift bekommen, bei meinen Eltern vonjetztab zu leben, 
da die scblecbten Vermogensverbaltnisse meines Waters ihm nicht gestatten 
uns ausreichend zu unterstiitzen um aufierbalb des Hauses leben zu kon- 
nen. [. . .] Unter alien Umstanden werde icb versuchen in Bern die venia zu 
erhalten, um, wenn ich dort von ihr keinen langeren Gebraucb machen 
kann, ibre Ubertragung an eine deutsche Universitat zu versuchen. Wir 
sehen unter solchen Umstanden dem Berliner Aufenthalt nicht heiter entge- 
gen. (Briefe, 23 5 f.) Nach Mitte April 1920 schrieb er aus Berlin: Noch babe 
ich hier unter den unmittelbar an mich herantretenden Anforderungen 
nicht zur Habilitationsschrift kommen konnen und nichts als eine kurze, 
sehr aktuelle Notiz Uber » Leben und Gewalu zustande gebracht (Briefe, 
237; s. auch Bd. 7). Gegen Ende Mai berichtete er: Meine Schwieger eltern, 
der einzige [. . .] materielle Ruckhalt der uns geblieben ist, [. . .] besteben 
darauf, dafi ich Buchhandler oder Verleger werde. Nun verweigert mir 
auch dazu mein Vater KapitaL Aber es ist sehr wahrscheinlich, dajl ich nach 
aufien bin von der Verfolgung meiner alten Arbeitsziele werde absehen 
mussen, nicht werde Dozent werden konnen und jedenf alls bis aufweiteres 
heimlich und nachtlicb meine Studien neben irgend einer burgerlicben 
Tdtigkeit werde betreiben mussen. Wie der um weifl ich nicht, neben wel- 
cher. (Briefe, 241) [N]ur wenn icb in halbwegs menschlicben Umstanden 
lebe, heifit es an friiherer Stelle, und trotzdem die Aussicbten auf eine 
Dozententdtigkeit in Bern ja zunichte geworden sind (Briefe, 240 f.), werde 
ich an die » Habilitationsschrift* geben, die diesen wenn nicht ehrenden so 



644 Anmerkungen zu Seite 19-26 

dochfriiher hoffnungsreichen Namen bebalten soil (Brief e, 240). Es kbnnte 
sich hochstens noch um die Erwerbung der venia aus Formgrunden han- 
deln. (Brief e, 241) Tatsachlich begann er- so an Scholem Anfang Dezem- 
ber 1920 - nach einer langen schlimmen Depressionszeit sehrfleifiig zu wer- 
den (Brief e, 246). [E]ine schwere Entscheidung - die zwischen zwei so 
schwierigen, mir unbekannten und einander entlegenen Gebieten wie es die 
Scbolastik und das Hebrdiscbe sind - war zugunsten der ersteren gefallen: 
die ndhere Bestimmung und Ausfuhrung meiner Habilitationsschrift werde 
so scbwierig sein y dafi das Hebrdiscbe (nicbt bis zur Habituation, aber) bis 
zur Erledigung der Habilitationsscbrift zurucktreten mufi (Brief e, 246; zu 
diesem Dilemma s. auch den Brief vom 29. 12. 1920, 248 f.). Um dieser 
willen hatte er das Buch von Heidegger uber Duns Scotus [scil. »Die Kate- 
gorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus«, Tubingen i^i6]gelesen, es 
aber unglaublich gefunden, dajl sicb mil so einer Arbeit, [. . .] die trotz alter 
pbilosophischen Aufmacbung im Grunde nur ein Stuck guter Ubersetzerar- 
beit ist, jemand habilitieren kann. [. . .] Pbilosopbisch ist die Sprachphiloso- 
pbie von Duns Scotus [recte: Thomas von Erfurt] in diesem Bucb unbear- 
beitet geblieben und damit binterldfit es keine kleine Aufgabe. (Briefe, 246) 
Dafi Benjamin sie anging, bezeugt fr 1 1 (s. 22f.). Im selben Brief berichtete 
er uber den Besuch eines Vortrags, den Helmuth Plessner [u]ber die 
erkenntnistheoretiscbe Bedeutung der Sprachpbilosophie in der Kantgesell- 
schaft hielt; [t\n der Diskussion sprach niemand aufier [Arthur] Liebert, 
[. . .] und icb, der vielleicht unter den Horern allein etwas zur Sache hatte 
sagen kbnnen, hatte hinsichtlicb Lieberts dufiere Grunde, nicbt zu reden. 
(Briefe, 246 f.) Auf die Befassung mit einem weiteren sprachphilosophi- 
schen Komplex deutet die Bemerkung am Schlufi des Briefes: Bitte schrei- 
ben Sie mir, wie es in [Moritz] Geigers Philosophic der Matbematik ist. 
(Briefe, 247) Gegen Ende 1920 veranschlagte er die Zeit fur die Arbeit, die, 
wiewohl sie mir wichtig ist, sich doch abgrenzen, bescbrdnken lasse, auf 
nicbt um mehr als hochstens zweijabre (Briefe, 249). Er habe dem nur 
noch das Versprechen [an Scholem] hinzuzufiigen, wirklich nach Beendi- 
gung jener Arbeit mich durch keine Gelegenheitsarbeit, und wenn Her- 
bertz ioojabre alt wird oder mit der Philosophie goldene Hocbzeit feiert, 
aufhalten zu lassen und endlich ins Hebrdiscbe einzutreten. Was jene 
geplante Arbeit angeht, so habe ich mich in letzter Zeit mit einer Analyse des 
Wahrbeitsbegriffs beschaftigt, der mir einige Grundgedanken zu dieser 
Arbeit liefert [s. vor allem fr 25 und 26]. Als ich sie neulich Ernst Lewy (dem 
Spracb-Mann) vortrug, war ich sebr erfreut, sie von ihm, derja kein Meta- 
physiker, aber ein kluger und richtig denkender Mann ist, gebilligt zu 
hbren. (Briefe, 249) Die Frist, die Benjamin sich eingeraumt hatte, wurde 
als schwere Wartezeit empfunden. Ich weifi, dafi sich hier nichts forcieren 
lafit. [. . .] Schweristes mir o/t, schrieb er Scholem imjanuar 192 1, weil sich 
mit dem Opfer [der Ruckstellung der Hebraisch-Studien] doch naturlich 



Anmerkungen zu Seite 19-26 645 

keineswegs sogleicb das einstellt um dessentwillen icb es gebracht babe, und 
icb mufi meiner neuen Arbeit gegenuber micb gewissermaften geduldig auf 
die Lauerlegen. Gewisse Grundgedanken sindfreilicbfixiert, aberda es mil 
jedem Gedanken, der in ibren Kreis gebort, in die Tiefe gebt, ist anfdnglicb 
nicht dies zu ubersehen und icb bin aucb nacb meinen bisherigen Studien 
vorsicbtig geworden und bedenklich, ob es ricbtig ist die Verfolgung der 
scbolastiscben Analogien als Leitfaden zu benutzen und nicbt vielleicbt ein 
Umwegy da die Scbrift von Heidegger docb vielleicbt das Wesentlicbste 
scbolastiscben Denkensfur mein Problem - ubrigens in ganz undurchleucb- 
teter Weise - wiedergibt y und sicb aucb das echte Problem im Anschlufl an 
sie scbon irgendwie andeuten lafit. So daft icb micb vielleicbt zunacbst eber 
bei den Spracbpbilosopben umseben werde. Zur Zeit babe icb die »Sprach- 
lehre« von A[ugust] F[erdinand] Bernbardi [Berlin 1 801- 1 803] vor } die aber 
monstrbs unklar gescbrieben und gedacbt und nur bie und da ertragreicher 
zu sein scbeint. -Aucb befindet sicb alles noch im vorbereitendsten Stadium 
(Briefe, 25 if.). Daruber ist es mit dem Projekt nicht hinausgekommen. 
Wie die weiteren brieflichen Erwahnungen zwischen Oktober 1922 und 
Januar 1923 zeigen, fungiert die Berufung auf es mehr als Druckmittel in 
der fortwahrenden Auseinandersetzung mit dem Vater (s. Briefe, 292-294) 
denn als etwas, woran Benjamin ernstlich noch gearbeitet hatte. Das lieften 
auch die vielen inzwischen in Angriff genommenen Arbeiten nicht zu, 
denen jetzt, so wie vorher das Hebraische der Habilitationsschrift, diese 
zum Opfer gebracht wurde; jedenfalls die sprachphilosophische. Denn 
unterdessen - und nachdem an eine Habilitation in der Schweiz nicht mehr 
zu denken war - hatte Benjamin eifriger alsje mit der Priifung der Habili- 
tationsaussicbten [...] aufierbalb des Bereichs der reinen Pbilosopbie 
(Briefe, 293) und an deutschen Hochschulen begonnen. So mit dem 
Gedanken an eine Habilitation fitr neuere Germanistik (Briefe, 293 f.) in 
Heidelberg, wo die Chancen sich jedoch als sehr gering erwiesen (Briefe, 
295), und dann in Frankfurt, wo sie anfangs grofier schienen und zwar zur 
Abfassung, doch nicht zur Annahme einer Habilitationsschrift, des Trau- 
erspielbucbes, fiihrten (dazu s. Bd. 1, 895-902; zu Benjamins Habilitations- 
planen im Zusammenhang s. auch a. a. O., 868-873; s - ferner vorl. Bd., 
771-773)- 



19-21 [fr 9] Das Wort impradikabel . . . 

Das fr ist eine I -IV numerierte Blattfolge mit Aufzeichnungen, die 1916/ 
1917 begonnen, bis zum vorletzten Abschnitt (21,3-8 BC bis bezeicbnet) 
gefuhrt und - wie der spatere Schriftduktus beweist - um 1920 - im Zusam- 
menhang mit den Vorarbeiten zur Habilitationsschrift - wieder aufgenom- 
men und abgeschlossen wurden. 



646 Anmerkungen zu Seite 19-22 

U: Ms 505 - Blatt ca. 4$(!)Xi8 cm, abgeschnitten von einem (Pack-?) 
Bogen, zweimal zu 4 Teilblattern gefaltet; Blattfolge //, /, ///, IV; auf 
den zusammenhangend freigebliebenen Riickseiten, der vollen Blatt- 
lange nach, jedoch in 2 gegenlaufigen Blocken von Dora Benjamin 
nach Diktat geschriebener Schlufi einer Aufzeichnung (vermutlich der 
Notiz iiber »Leben und Gewalu, Brief e, 237, vom April 1920; s. 
Bd. 7 ). 

D: etwa 1916/1917 bis 1920 

lesarten 19, mittlere Kolonne (untere Halfte) Das Zeicben bis U(rteile)] 
der Passus ist nachtraglich zwischen die mittlere und die dritte Kolonne 
eingedrangt. Urn ihn ubersichtlich zu reproduzieren, haben ihn die Hg. 
unterhalb der mittleren angeordnet, was durch die Einteilung Benjamins 
in Dreisilbig (A) und (B) gerechtfertigt wird - 19,25 (rechte Kolonne, 
zweite Halfte) EigentUmlicbkeit] dariiber Schrift - I9,28f. (ebd.) oben 
durchstrichen] der oben (am Anfang der rechten Kolonne, erste Halfte, 
hinter bedeutet) gestrichene Passus lautet: Das Wort »Dreisilbig« ist S in 
einem U y dessen P durch das Zeichen » Dreisilbig^ bezeichnet wird. - 
20, 13L Dock bis einfacher(?)] der nicht eindeutig zu entziffernde Passus 
ist fliichtig in Blei nachgetragen und auf die mathematische Figur 21, 3 f. 
zu beziehen 



21 f. [fr 10] Schemata zur Habilitationsschrift 

Das Blatt mit den Lehrsatzen Uber Symbolik im Zentrum ist die einzige 
iiberlieferte dispositionsartige Aufzeichnung zum sprachtheoretischen 
Habilitationsprojekt. Vermutlich hatte Benjamin an die Schemata ge- 
dacht, als er Januar 1921 schrieb: Gewisse Grttndgedanken sind [...]/**- 
xiert, und Alles befindet sicb [. . .] noch im vorbereitendsten Stadium 
(Briefe, 252). 

U: Ms 510- Blatt ca. 22,5X14,5 cm. 
D: um 1920/1921 

lesarten 22,2/f. (letzte Kolonne links) Versiegen] mogliche Lesart Ver- 

sagen - 22,29-31 (letzte Kolonne rechts) bis Erkenntnis] dieses 

Schema steht auf dem oberen linken Rand der Riickseite, quer zur Schrift- 
richtung auf der Vorderseite 



Anmerkungen zu Seite 22-26 647 

22 f. [fr 11] Wenn nach der Theorie des Duns Scotus . . . 

Die Aufzeichnung fixiert die von dem Buch Heideggers - auf das Scholem 
Benjamin aufmerksam gemacht hatte - hinterlassene, nicht geringe Auf- 
gabe einer erst noch zu leistenden Durchleuchtung der Sprachphilosophie 
von Duns Scotus (Briefe, 246). 

U: Ms 932 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

spatere Bleistiftpaginierung »7«. 
D: gegen Ende 1920 

nachweis 22,32 Scotus] s. Martin Heidegger, Die Kategorien- und Bedeu- 
tungslehre des Duns Scotus [recte: Thomas von Erfurt], Tubingen 19 16 

23-26 [fr 12] Sprache und Logik I-III 

Der Titel der Aufzeichnungen verweist unmittelbar auf die Thematik der 
geplanten Untersucbung, welche in den grofien Problemkreis Wort und 
Begriff (Sprache und Logos) fallen und den sprachlichen Grund der Logik 
(Briefe, 230) ausmachen sollte. Das Ende der verloren gegangenen Auf- 
zeichnung / (23), die gegen Ende 1920 niedergeschrieben sein diirfte, istauf 
Blatt // erhalten, wie der Beginn mit einem Satzrest (23,20-22 so bis 
Umldufen) nahelegt; an welcher Stelle die Aufzeichnung / definitiv 
schlieftt, ist schwer auszumachen. Eindeutige Anderungen in Schriftduk- 
tus und Tintenfarbe finden sich erst ab Die Vielheit der Spracben (24,30); 
eine sachliche Casur lage zwischen »Neuen Melusine* und Das Verhdltnis 
(23,34^). Die Aufzeichnungen // und /// konnten, wie der Vermerk zu 
Hause [also in der elterlichen Wohnung in Berlin] nachzusuchen (23,12) 
nahelegt, zwischen etwa Mai und August 192 1 - wo Benjamin zeitweise in 
Griinau-Falkenberg lebte - entstanden sein; am wahrscheinlichsten sind 
die Juli- und Augustwochen in Heidelberg. - Der »erste Plan einer Habi- 
tation*, schrieben die Hg. an anderer Stelle, ist »iiber wenige Vorstudien 
nicht hinausgekommen. Doch wurden in der Erkenntnistheoretiscben Vor- 
rede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels zumindest Motive der alte- 
ren« Wahrheits- und Sprach- »Problematik wiederaufgenommen.« (Bd. 1, 
879 f.) Das gilt namentlich fur die Fragmente iiber Sprache und Logik (iiber 
die Nachwirkung der Fragmente aus dem Umkreis des friihen Habilita- 
tionsplans s. R. Tiedemann, Studien zur Philosophic Walter Benjamins, 
Frankfurt a.M. 1973 2 , 15-70, passim). 

U: Ms 501-503 - 3 Blatter, jeweils ca. 11x8 cm, herausgetrennt aus einem 
Notizblock; Sprache und Logik I = Ms 501, // = Ms 502, /// = Ms 503; 



648 Anmerkungen zu Seite 23-27 

Blatt / beschadigt, // mit Tintenverschmierungen; spatere Farbstiftpa- 
ginierung »4«, »$«, »6«. 
D: zwischen etwa Ende 1920 und Mai bis August 1921 

lesarten 24,15 k Legitimitat bis sind] lies Legimitat [...] »charakteri- 
stisch« oder »von Bedeutung« sind - 25,2 der Bedeutung] lies »in« der 
Bedeutung oder »im Sinne«; Benjamin wollte im Sinne (24,39^) wohl 
nicht wiederholen, riskierte aber mit der neuen Wendung das Mifiverstand- 
nis eines weiteren, auf sprachlicber Art bezogenen Genitivs 
nachweise 23, 1 5 f . Erloschen bis Sais] zur Rekonstruktion der verlorenen 
Aufzeichnung Is. den Passus in der Erkenntnistheoretischen Vorrede, Bd. 
1, 2 1 6, 4-20 -23, 2 1 -30 50 ertbnt bis dicht]s. a. a.O., 217,36-218,3-23,34 
Notizen bis Melusine*] diese in mehreren Briefen (s. etwa Briefe, 389) 
erwahnten Aufzeichnungen miissen als verloren gelten - 23, 35-24,29 Das 
bis werden] der Abschnitt kann als Vorstufe zu dem der Vorrede, Bd. 1, 
214,15-215,27 gelesen werden; was dort terminologisch Idee, heifit hier 
noch Wesen - 24, 30-25, 6 Die bis ware] s. die respektiven Passagen in Uber 
Sprache Uberhaupt [. . .], Bd. 2, 140- 1 57 und Die Aufgabe des Ubersetzers, 
Bd. 4, 9-21 - 25, 14 Wortbegriffe.*] das Exzerpt ubernahm Benjamin in die 
Vorrede; s. Bd. 1,216; den vollstandigen Nachweis s. a, a. O., 410 - 26, 2f. 
Sat. Br XI bis Name] diese - die zweite - Fufinote fehlt im Exzerpt - 
26, 1 5 orifiaivei] »Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehort, sagt nichts 
und birgt nichts, sondern er bedeutet.* s. Diels, Heraklit 93 



26 f. [fr 13] Reflexionen zu Humboldt 

Am vorletzten Abend in Frankfurt - etwa Ende Marz/Anfang April 1925, 
als Benjamin in Sachen seiner Habilitation dort weilte - sucbte micb der 
Direktor der Bremer Presse, Dr. [Willy] Wiegand [sozusagen in Hofmanns- 
thals Auftrag (Briefe, 381)] auf, um mich fur eine Auswahl aus Wilbelmvon 
Humboldt zu gewinnen. Ich sagte ihm, daft icb vertraglich gebunden sei [an 
einen neugegriindeten Berliner Verlag, fiir den icb zugleicb das Lektorat 
(aber ohne Verpflicbtung und Honorar) ubernebme (Briefe, 367)], zudem 
aber in diese Tiefe der deutscben Klassik mich nicht einlassen konne. (Briefe, 
378) Im Mai, wahrend eines weiteren Aufenthalts in Frankfurt, kam er auf 
die Angelegenheit zuriick und bedauerte seine Absage. Diese hochst cban- 
cenreiche Begegnung babe icb ungenutzt vorubergeben lassen, ja sogar-im 
sicberen Gefubl meinesja nun abgenutzten Vertrages [Mein Verleger, Lit- 
tauer, hat ridmlich y ohne auch nur ein einziges Buch zum Erscbeinen 
gebrachtzu baben, Bankrott gemacht (Briefe, 380)]- gesprachsweise und in 
der Kritik von Hofmannsthals Intentionen micb viel zu weit vorgewagt. 
Dergestalt habe ich jetzt, da mir an der Aufnahme der Beziehungen enorm 



Anmerkungen zu Seite 26-27 649 

liegen muflte, sehrverminderte Cbancen undick weifl nicbt, welchen Erfolg 
verscbiedene Versucbe erlangen, die ich in dieser Hinsicbt mix vorsetze. Icb 
habe bier eine der nicbt allzu zablreicben Dummheiten meines Lebens zu 
beklagen. (Briefe, 381) Uber jene Versucbe geben mehrere Briefe, so schon 
der vom Mai (s. Briefe, a. a. O. und 383 f.)» dann der vom ir. 6. 1925 an 
Hofmannsthal selbst Aufschlufi, in dem er den fauxpas zu cachieren sucht; 
dort heifit es: Den Anlajl [. . .] gab mir ein freundlicher Besucb von Herrn 
Dr. Wiegand in Frankfurt. Selten war es mir erlaubt uber literariscbe und 
publizistiscbe Fragen mit einem gleich vornebmen und weitblickenden 
Manne zu reden. Wir kamen aufdie [Neuen Deutschen] Beitrdge zu spre- 
cben und Herr Wiegand spracb von Ibrem bleibenden redaktionellen Inter- 
esse an meinen Arbeiten. (Briefe, 388) Sechs Wochen spater berichtete er 
Scholem: Kurzlich bat die Bremer Presse sicb zum zweiten Male an micb 
mit dem Gesuch gewandt, eine Ausgabe von Wilbelm von Humboldt in 
Auswahl fur sie zu ubernebmen. Aus vielen Grunden [sicherlich auch 
wegen des Scheiterns der Habilitation (s. Briefe, 392 f. und 399)] babe icb 
das zweite Anerbieten angenommen [. . .]. Naberes stebt nocb nicbt fest: ich 
werde wobl demndchst mit dem Direktor der Bremer Presse zusammen- 
kommen und Uber das Ganze beraten. Vielleicbt kannst Du mir einige 
wertvolle Hinweise zu Humboldt geben - Du bast ibn doch wobl teilweise 
studiert. Mir war es sebr angenebm, in diesem Anerbieten micb Spranger, 
Litt und anderen Universitatslebrern, die dafur sonst ins Auge gefafit 
waren y vorgezogen zu seben. (Briefe, 395) Mit Humboldt-Studien war 
Benjamin zur Zeit der Abfassung dieses Brief es bereits beschaftigt; im 
Postscript berichtete er von seiner Wiederbegegnung mit dem Sprachfor- 
scher Ernst Lewy, die mir eben ew[fallt] uber der Lekture von Humboldts 
spracbpbilosophischen Scbriften in der von [Hajim] Steintbal kommentier- 
ten Ausgabe. Diese enthalt einen Essay uber Humboldts Stil [s. Berlin 1884, 
23-34], der vorziiglich ist und zeigU wo die Affinitdt von Lewy zu seinem 
Lieblingsautor liegt. Steintbal schreibt uber Humboldts »Tiefe« mitbervor- 
ragendem Freimut. (Briefe, 398) Die Beratung mit Wiegand fand Ende Juli 
1925 statt (s. Briefe, 399). Benjamin berichtete Hofmannsthal am 2. 8.: 
Dankbar und uberzeugt werde icb an der Aufgabe mitarbeiten, die Herr 
Dr. Wiegand mit wenigen Worten mir evident machte: die Studenten zum 
Gebraucbe der grofien Gesamtausgaben, die beute unsere gr often Denker 
und Scbriftsteller nicbt erscbliefien sondern sekretieren, zu stimmen und 
vorzubereiten. Die Beschaftigung mit Humboldt fiibrt micb unmittelbar 
aufmeine Studentenzeit, wo icb unter Anleitung eines menschlicb bocbst 
seltsamen und dem kontemplativen Ingenium des sp'dten Humboldt auffast 
groteske Weise kongenialen Mannes die spracbwissenscbaftlichen Scbriften 
im Seminar las [s. Scholem, Freundschaft, 33 f.]. Ich darf das vielleicbt 
erwahnen, we'd der Betreffende Ihnen mbglicherweise bekannt ist [...] als 
Verfasser eines Buchleins uber »die Sprache des alten Goethe*. Es ist Ernst 



650 Anmerkungen zu Seite 26-27 

Lewy, derzeit Professor fur finnisch-ugrische Sprachen in Berlin. (Briefe, 
400 f.) Anfang November liefi er Hofmannsthal wissen, er hoffe in zwei 
Monaten [. . .]frei zu sein, wenn icb im Februar [1926], wie ich es plane, 
nacb Paris komme. Icb denke dann das Ubersetzen aufeine Zeit gut sein zu 
lassen und meine nachsten Gegenstande werden die Humboldt- Ausgabe 
der Bremer Presse sowie die Vorbereitung des Buches uber Marcben sein. 
(8. 11. 1925, an Hugo v. Hofmannsthal) Das Vorhaben, das ihnnoch 1927 
beschaftigte, hat Benjamin jedoch nicht realisiert. Gelegentlich seiner 
Schilderung der Pariser Begegnung zwischen Judah L. Magnes, dem Kanz- 
ler der Universitat Jerusalem, Benjamin und ihm im Spatsommer 1927 
bemerkt Scholem: Benjamin, »beeindruckt und von der Aussicht, die sich 
in dieser Begegnung eroffnet hatte« - namlich in Jerusalem Fufi zu fassen- 
»hingerissen«, »entwickelte mir Plane, wie er seine verschiedenen literari- 
schen Verpflichtungen, zu denen auch eine nicht zustandegekommene 
Anthologie aus Humboldts sprachphilosophischen Schriften gehorte, 
abwickeln konne«, urn »im Sommer oder Herbst 1928 nach Jerusalem zu 
kommen.« (Scholem, Freundschaft, 175) 

Uberlief ert ist ein Konvolut von 1 2 Blattern mit einigen wenigen Reflexio- 
nen zu Humboldt (Blatt 1, Ms 564), einer knappen Legende (Blatt 2, Ms 
565) und systematisch angelegten, jedoch nur sporadisch durchgefiihrten 
Lekturenoten (Blatt 3-9, Ms. 566-572; Blatt 10-12 blieben unbeschrieben). 
Welche Texte oder Textausziige zusammenzustellen Benjamin definitiv 
vorhatte, ist ungewifi; auf den Tenor von Einleitung oder Kommentar 
konnten die 5 Reflexionen (— fr 13) wenigstens einen Hinweis geben. Auf 
die Reproduktion der Blatter 3-9 im Textteil haben die Hg. verzichtet; 
stattdessen folgt ihre kurze Beschreibung: 

Blatt 3 fuhrt an »Uber den Nationalcharakter der Sprachen« (s. Wilhelm 
von Humboldts Gesammelte Schriften, hg. von der kgl. preufi. Akademie 
der Wissenschaften, 1. Abt.: Werke, Bd. 4: 1 820-1822, hg. von A. Leitz- 
mann, Berlin 1905, 420-435) und verweist auf 4 Abschnitte (423 ff., 426 f., 
430 f. und 432ff.), wobei jeweils erste und letzte Zeilen bezeichnet und der 
Inhalt in Stichworten angegeben sind; ferner »Uber das vergleichende 
Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprach- 
entwicklung* (s. a. a. O., 1-34) mit 6 Venveisen (3f., 4, 9ff., 14-17, 14-19 
und 21). 

Blatt 4 verzeichnet »Uber den Zusammenhang der Schrift mit der Sprache« 
und »Uber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem 
Sprachbau« (s. a. a.O., Bd. 5: 1823-1826, hg. von A. Leitzmann, Berlin 
1906, 31-106 und 107-133) und verweist auf insgesamt 8 Stellen (11 iff., 
113-116, 1 i/ff., 120L, 122, 124L, 125 f. und 131 ff.). 
Blatt 5 fuhrt lediglich den Titel der Abhandlung »Inwiefern lafit sich der 
ehemalige Kulturzustand der eingeborenen Volker Amerikas aus den 
Uberresten ihrer Sprachen beurteilen?« an (s. a. a.O., 1-30). 



Anmerkungen zu Seite 26-27 65 1 

Blatt 6 verzeichnet die Arbeiten »Pindar« mit 3 Verweisen (40, Abschn. 20; 
40 f., Abschn. 21; 46 f., Abschn. 34), »Betrachtungen iiber die Weltge- 
schichte« mit 4 Verweisen (59 ff., 61 ? 62, 64ft.), »Uber das antike Theater in 
Sagunt« mit 1 Verweis (103-106) und die »Bruchstiicke einer spateren Fas- 
sung der >Skizze iiber die Griechen<« ohne Verweis und Stichworte - samt- 
lich nach der Ausgabe: Sechs ungedruckte Aufsatze iiber das klassische 
Altertum von Wilhelm von Humboldt, hg. von A. Leitzmann (Deutsche 
Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. von A. Sauer, Nr. 58/ 
62), Leipzig 1896 (s. 34-54* 55~66» 67-1 11, 209-214). - Das Blatt ist die 
Ruckseite eines abgebrochenen undatierten Briefes an Siegfried Kracauer, in 
dem die Rede vom Austansch [. . .] einiger Berliner Presseerzeugnisse [scil. 
des Artikels Die Waff en von Morgen (s. Bd. 4, 473-476) in der Vossischen 
Zeitung vom 29. 6. 1925 und der Dreizehn Thesen wider Snobisten (s. 
a. a. O., 107 f.) im Berliner Tageblatt vom 10. 7. 1925] fiir Ihre freundlicke 
Sendung (Ms 569) ist. Der Austausch konnte im Juli erfolgt und das Blatt mit 
dem Brieff ragment danach mit den Humboldtnotizen beschrieben und dem 
Konvolut beigelegt worden sein. 

Blatt 7 verweist auf 8 Stellen(369, 373, 375, 376, 377, 377 f., 378 und 379) in 
Bd. 5 der Akademieausgabe, ohne die Abhandlung zu nennen; es handelt 
sich um »Grundziige des allgemeinen Sprachtypus« (s. Wilhelm von Hum- 
boldts Gesammelte Schriften, a. a. O., 1. Abt.: Werke, Bd. 5, a. a. O., 362- 
475). - Das Blatt ist die Ruckseite der abgetrennten rechten Halfte eines 
Briefes an Benjamin, auf der zwar nicht der Name des Absenders, jedochdas 
Brief datum - 5*29. 12. 1927* (Ms 570)- erhalten ist. Demnach hat Benjamin 
in der Tat noch danach mit der Humboldt-Auswahl sich beschaftigt. 
Blatt 8 fiihrt die »Rezension von Goethes Zweitem romischem Aufenthalt« 
mit 2 Verweisen (539, 544f.) und die »Kunstvereinsbericht[e] vom 7. April 
1830* (487 f.), »vom 1. Mai 1832* (5 8 iff.), »vom 19. Marz 1833* mit 2 
Verweisen (591, 587) und kurzem Exzerpt sowie »vom 29. Marz 1834* aus 
Bd. 6 der Akademieausgabe an (s. a.a.O., Bd. 6: 1 827- 183 5. Zweite Halfte, 
hg. von A. Leitzmann, Berlin 1907, 528-550; 487-491; 575-583; 584-591; 
592-598). 

Blatt 9 verweist mit knappen Inhaltsangaben auf 3 Briefe Humboldts an 
Nicolovius (Nr. 13,15 und 1 6) nach der Haymschen Ausgabe (s. Briefe von 
Wilhelm von Humboldt an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, hg. von R. 
Haym, Berlin 1894, 29-32, 33 ff., 36 ff.) und 5 Briefe Humboldts an Goethe 
(vom 18. 3. 1799, 25. 2. 1804, 5. 6. 1805, 12. 2. 1829 und 6. 1. 1832) ohne 
Angabe der Quelle. 

U: Ms 564 - Blatt [1] (ca. 21 X 13,5 cm) eines Konvoluts von 12 Blattern, 
davon 8 (durch Faltung von 4 Bogen a 27X21 cm) zusammenhangende 
und 4 einzelne (3 a 1 8 X 1 4, 5 cm und iai 4,5X11 cm) ; Archivnummern 
(bis Ms 572) haben nur die beschriebenen Blatter. 



652 Anmerkungen zu Seite 26-29 

D: etwa Sommer 1925 bis 1927/1928 

lesart 26,28-30 sich bis ist] lies entweder sich [...] dutch dringen laflt 
oder [. . .] zu durcbdringen ist 

nachweise 26, 23 f. magische bis Sprache] s. Bd. 2, 142 f. - 26, 32 IV, 4} 1] s. 
Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, hg. von der kgl. preufl. 
Akademie der Wissenschaften, 1. Abt.: Werke, Bd. 4: 1 820-1 822, hg. von 
A. Leitzmann, Berlin 1905, 431 (Uber den Nationalcharakter der Spra- 
chen) - 26, 33 IV, 20] s. a. a. O., 20 (Uber das vergleichende Sprachstudium 
in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung. 16.) - 
26,35 Willkurliches] s. dagegen fr 4 (15, if.)- 26,37 Knocbengerust] s. fr 5 
und 6 - 27,2 nackt Dialektiscbes] zu diesem fur Benjamin charakteristi- 
schen Dialektikbegriff s. etwaBd. 1, 1249^-27,5 Pro$a]s. H[ajim] Stein- 
thal, Die sprachphilosophischen Werke Wilhelms von Humboldt, hg. und 
erklart, Berlin 1884, 23-34 (Der Styl Humboldts) - 27, 5 f . V, p 2, 16 v. 0.] s. 
Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, a. a. O., 1. Abt.: Werke, 
Bd. 5: 1823-1826, hg. von A. Leitzmann, Berlin 1906, 2 (Inwiefern lafit 
sich der ehemaHge Kulturzustand der eingeborenen Volker Amerikas aus 
den Uberresten ihrer Sprachen beurteilen? »Aul5erdem [. . .] Sprachen.* - 
27, 8 f. V,pj, 6f t/.».]a.a.O., 7 

27-29 ffr 14] Thesen uber das Identitatsproblem 

Von den mit Benjamin zwischen Februar und April 191 7 gemeinsam ver- 
brachten Berliner Wochen schreibt Scholem: »In dieser Zeit [. , .] hatten 
[wir] auch eine lange Auseinandersetzung iiber das Identitatsproblem, iiber 
das er 1916 schriftliche Thesen verfafit hatte.« (Scholem, Freundschaft, 50) 
Sie haben die Freunde noch fast ein J ahr beschaf tigt. Ende Juni 1 9 1 7 schrieb 
Benjamin aus Dachau: Das Heft in dem die Identitatstbesen stehen sende 
icb mit gleicber Post und bitte Sie es bis aufweiteres aufzubewahren. (cit. 
Scholem, a. a. O., 55) Er wollte es bei seiner Ausreise in die Schweiz, bei 
der er nut wenige Manuskripte mitnebmen (a. a. O.) durfte, in sicheren 
Handen zuriicklassen;/k//s Sie es [in Allenstein, wo Scholem zum Militar 
eingezogen worden war (s. a. a. O., 54)] nicht bebalten konnen, senden Sie 
es [. ..] an Herrn Werner Kraft [...] (eingeschrieben), (a. a.O., 55) Um 
Mitte Juli heifit es in einem Brief aus Zurich: Bei dem pbilosopbiscben 
Notizbeft [. . .] miissen Sie bedenken, daft alle. andern Eintragungen den 
Identitatstbesen wobl um mindestens einjabr, die meisten aber wohl um 3 
bis 4jabre vorangeben. (a. a.O.) Als Beispiele nennt er kindlicbe Sacben 
wie den Scbematismus bei dem K [. . .] »KunsU R »Religion« bedeutet und 
eine ihm wichtig gebliebene Notiz iiber den Begriffder Erbsiinde (a. a. O.). 
Vier Wochen spater, in einem Brief aus St. Moritz, erwahnte er gelegentlich 



Anmerkungen zu Seite 27-29 653 

der Aufzeichnung iiber die Verscbiedenbeit von Malerei und Graph ik 
[s. Bd. 2, 602 und 141 1], daft nebenbei [. . .] <z«c& in diesem Zusammen- 
bange das Identitdtsproblem von neuem #«/taucht (cit. Scholem, a. a. O., 
60). Gegen Ende Dezember schrieb er aus Bern: Lieb ware mir eine 
Abscbrift der Identitatsthesen wenn moglich mit Ibren Bemerkungen dazu 
(Briefe, 161). Die Bitte war mit dem Blick auf kiinftige Gesprache in Bern 
getan: In der Frage des Identitatsproblems kbnnten wir wohl nur im 
Gesprdcb entscheidend vorwartskommen. Daber messe ich aucb den fol- 
genden Sdtzen keine unbedingte Sicberheit bei. Immerhin erscbeint mir die 
Sache so: eine Identitdt des Denkens als eines besonderen, weder » Gegen- 
$tandes« nocb »Gedackten« wurde ich leugnen, weilich ein »Denken« als 
Korrelat der Wahrheit bestreite. Die Wahrheit ist »denkicht« (ich mufimir 
dies Wort bilden weil mirkeines zur Verfugung steht). »Denken« als abso- 
lutes ist vielleicht nur irgendwie eine Abstraktion aus der Wahrheit. Die 
Behauptung der Identitdt des Denkens ware die absolute Tautologie. 
Der Schein des »Denkens« entsteht durch die Tautologie. Die Wahrheit 
wird ebensowenig gedacht als sie denktJ a ist a bezeichnet meines Erach- 
tens die Identitdt des Gedachten, besser (einzig rich tig) gesagt: die 
Wahrheit selbst. Zugleicb bezeichnet dieser Satz keine andere Identitdt als 
die des Gedachten. Die Identitdt des Gegenstandes, angenommen es gdbe 
irgendeine solcbe in vollkommener Weise y bdtte eine andere Form (Formen 
unvollkommener Identitdten y die in der Vollkommenheit zu e inervon der 
Form a ist a werden). - Unter konkretem Gegenstand verstehe ich alles was 
nicht die Wahrheit selbst und nicht Begriffist. 2. B. ist der Begriffein kon- 
kreter Gegenstand. Der Begriff des Begriffes ist ein abstrakter. Diesfuhrt 
wahrscheinlich in der Tat auf die [phanomenologische] Eidoslehre. (Briefe, 
162) Drei Wochen spater wurde der Abbruch der scbriftliche[n] Diskussion 
des Identitatsproblems bekraftigt: es IdJIt sich da wie wir gegenseitig bedau- 
ernd beteuem, in der Tat nurim Gesprdcb vorwarts kommen. (Briefe, 167) 
In einem Brief von Ende Januar 191 8 heifk es: Das philosopbische Buchlein 
mit den Identitatsthesen halten Sie in guter Obbut[,] nicht wahrf (Briefe, 
171). Zwar ist es heute verloren, jedoch hatte Scholem damals eine 
Abschrift von den Identitatsthesen genommen. 

t): SSch, handschriftliche Kopie Scholems nach dem verlorenen philoso- 
pbischen Notizbeft (s.o.) Benjamins - 4 Blatter je ca. 19,5X15 cm; 
Datierungsvermerk » 191 5/16* (s. die revidierte Angabe »i9i6« in: 
Scholem, Freundschaft, 50). 

D: 1916 

lesarten 27,19 Aidentiscbe] lies A-identische - i8,26f. und 30 f. 1) [. . .] 
2)] in Vereinheitlichung der Subnumerierung wurden gemafi 27,25 und 26 
die Punkte hinter den Ziffern gestrichen 



654 Anmerkungen zu Seite 29-3 1 

29-31 [f r 15] Eidos und Begriff 

Die Aufzeichnung bezeugt Benjamins Bemuhungen urns Eindringen in das 
Wesen der Pbdnomenologie (Brief e, 144). In einem Brief vom Dezember 
19 1 7 an Scholem heiftt es: Den Logosaufsatz von Husserl babe kh [. . .] vox 
mebrerenjabren gelesen; ebenso seinerzeit [sciL 1916 Paul F.] Linkes Aus- 
einandersetzung mit [Theodor] Elsenbans in den Kantstudien (Briefe, 162). 
Anlafi, darauf zu sprechen zu kommen, bot die Diskussion der Freunde 
uber das Identitatsproblem (a. a. O.), sicherlich auch der Umstand, dafi 
Scholem in Jena u. a. bei Linke studierte, einem »unorthodoxen Husserl- 
Schuler* (Scholem, Freundschaft, 65). Uber ihn hatte Benjamin in einem 
friiheren Brief bemerkt: er wird meines Wissens in pbanomenologischen 
Kreisen nicbt sebr gescbatzt; docb babe icb seinem Aufsatz [»Das Recht der 
Phanomenologie* (s.u., Nachweise)] einige Belehrung uber das Wesen der 
Pbdnomenologie oder was er dafur ansiebt zu danken. Das ist eine Polemik 
gegen eine verstdndnislose Kritik der Pbdnomenologie durcb Elsenbans 
(Briefe, 143 f.). Bei Gelegenbeit dieser Auseinandersetzung schrieb icb zur 
Berichtigung den Aufsatz Uber Begriff und Wesen [gelegentlich der 
Abschrift fur Scholem umbenannt in Eidos und Begriff (s.u>)]> den sie wie 
icb micb bestimmt zu erinnern glaube kennen. (Briefe, i6zi.) Jedenfalls 
mufite Scholem ihn um die Arbeit gebeten haben; eine Abscbrift wurde ihm 
unter dem 13. 1. 1918 (Briefe, 167) angekiindigt. Abgeschickt wurde sie 
etwa einen Monat spater. Im Begleitbrief heifk es: Icb sende Ibnen bier die 
Notiz uber »Eidos und Begriff V die icb imjabre 1916 gescbrieben babe, Icb 
bedaure jetzt dafi icb in unsrer Korrespondenz sie erwdbnt babe und nun 
um Ihre Erwartungen nicbt zu enttduscben [Scholem schien sie also nicht 
gekannt zu haben] sie ibnen senden mufi, denn icb babe wenig Freude 
daran. Zwar bin icb aucb beute noch uberzeugt darin etwas Ricbtiges ver- 
treten zu haben: Linkes Ansicht es bediirfe einer Begriff stheorie weil 
Begriff e eidetiscb gegeben seien [s.u., Nachweise] ist - in dieser Form 
jedenfalls - vollig unbaltbar. Es ist aucb wesentlicb darauf binzuweisen, 
dafi es Begriff e gibt in der Art desjenigen den icb meiner Notiz zu Grunde 
gelegt babe (vom Loscbblatt [s. 29]^) und endlich ist auf die unendlicbe for- 
male Regressionsfabigkeit in der Begriffsspbdre (Begriff des Begriff s des 
Begriffs u.s.w.) Wert zu legen. Aber der diese drei Bemerkungen »verbin- 
dende Text* ist improvisiert, unscharf und die Dinge mufiten in ganz andrer 
Breite untersucbt werden. Vorallem ist darauf zu achten dafi es Begriff e die 
nicbt in einem Relationszusammenhang steben nicbt gibt, z.B. ist der 
Begriff von dem so und so bescbaffnen Loscbblatt von dem in der Notiz die 
Rede ist t der Begriff etwa vom Inhalt der entsprecbenden Loscbblattvor- 
stellung. Darauf ist in der Notiz garnicht geacbtet und docb diirfte ein wicb- 
tiger Unterscbied zwiscben Begriff und Wesen gerade auf diesem Relations- 
charakter des Begriff es beruhen, wahrend das Wesen eber absoluter Natur 



Anmerkungen zu Seite 29-32 655 

zu sein scbeint. Ich will aber mit derart grundlich zu fubrenden Untersu- 
chungen unsern Briefwecbsel erst garnicht zu belasten versuchen: denn in 
dem Stadium meiner Einsicbten kann ich daruber noch nicht scbriftlicb 
verhandeln. - Fassen Sie also bitte »Eidos und Begriff« als eine Anregung 
auf aus derSie vielmacben wenn Sie etwas besseres daraus machen. (10. 2. 
1918, an Scholem) 

U: SSch, Manuskript Benjamins - 2 Seiten ca. 21X17 cm; von Scholem 
hands chriftlich als »Beilage zu Nr. 44 [d.i. Benjamins Brief vom 10. 2. 
I9i8]« gekennzeichnet und auf »i$i6« datiert. 

D: 1916 

lesarten 2% 33 Loscbblattes] danach {bier} - 30, 22 singular-tatsdcblicber] 
lies als singular-tatsdcblicber oder wie 3 Zeilen spater vereinfacht im Selbst- 
zitat » singular- tatsdcblicb - 31,31 bezieben - sind] konj. fur beziehen 
sind - 

nachweise 29, 21 1916] s. Paul F. Linke, Das Recht der Phanomenologie. 
Eine Auseinandersetzung mit Th. Elsenhans, in: Kantstudien. Philosophi- 
sche Zeitschrift [. . .] hg. von Hans Vaihinger und Bruno Bauch, Bd. 21, 
Berlin 19 17, 163-221 - 29, 16 sind] s. a. a. O., i89;dazus. 178-189 (III. Die 
falschen Abstraktionstheorien und die »Allgemeinheit der Idee«); s. audi 
202 f. - 29,33 Loscbblattes] s. a. a. O., 184H., i88f., 191 f. - 30,6 Reduk- 
tion] s. a. a. O., 193-203 (Die Reduktionen) - 30,32 protestiert] s. a. a. O., 
178-189- 31,5 grunden] s. a. a. O., etwa 189 



32 [fr 16] Wahrnehmung ist Lesen 

»Schon damals [im Sommer 1918] beschaftigten [Benjamin] Gedanken 
uber die Wahrnehmung als ein Lesen in den Konfigurationen der Flache, 
als die der urzeitliche Mensch die Welt um sich und besonders den Himmel 
aufnahm. Hier lag die Keimzelle zu den Betrachtungen, die er viele Jahre 
spater in seiner Aufzeichnung Lebre vom Abnlicben [s. Bd. 2, 204-210] 
angestellt hat. Die Entstehung der Sternbilder als Konfigurationen auf der 
Himmelsflache, behauptete er, sei der Beginn des Lesens, der Schrift, die 
mit der Ausbildung des mythischen Weltalters zusammenfalle.« (Scholem, 
Freundschaft, 80) Dem Schriftduktus nach ist das fr noch fruher niederge- 
schrieben. Auf der Ruckseite stehen die gestrichenen, auf 191 5/19 16 deu- 
tenden Stichworte: 

{Christentum 

Genius 

geniushafte Einsamkeit 

Gott Gemeinscbaft) 



656 Anmerkungen zu Seite 32-33 

U: Ms 537 - Blatt ca. 13,5X9 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

Erganzungen in Blei. 
D: bis etwa 1917 

nachweis 32,4 Wahnsinns] s. Uber das Programm der kommenden Phi- 
losophy, Bd. 2, 162 



32 [fr 17] Uber die Wahrnehmung in sich 

Der Satz Wahrnehmung ist Lesen (32,9) konnte Selbstzitat nach fr 16 oder 
umgekehrt dort Titel geworden sein ; im ersten Fall ware fr 1 7 spater nieder- 
geschrieben- doch kaum spater als 1917, wofiir die gleichzeitige Befassung 
mit dem Problem der Fldche in Uber die Malerei oder Zeichen and Mai 
(s. Bd. 2, 603 f.) sprache. Zwischen zweitem und drittem Satz zeichnete 
Benjamin Schemata (Buchstaben und Figuren wie L, o, Hexagramm, 
Kreis, Ellipse, Dreieck) mit teilweise unleserlichen Stichworten (wie Zei- 
chen [/] Wahrnehmung [/] Symbol, Ausdruck [/] Sprache [/] Symbol und 
Zeichen [/] Schrift [/] Symbol) - zuzuordnen den Fortsetzungsnotizen zur 
Spracharbeit von 19 16 (s. Bd. 7). 

U: Ms 538 - Blatt ca. 13,5X11 cm, Riickseite eines abgetrennten Briefteils 

von unbekanntem Absender. 
D: etwa 1917 

lesart 32, 12 Fldche bis Zusammenhang] lies etwa Fldche, die Konfigura- 
tion ist, ist absoluter Zusammenhang 



32 f. [fr 18] Notizen zur Wahrnehmungsfrage 

Das fr ist die teilweise Ausfuhrung der Motive von fr 17 und auch im 
Zusammenhang mit den Nachtrdgen zur Spracharbeit von 1916 (s. Bd. 7) 
zu lesen. Unausgefiihrt blieb die unter 2) angekiindigte Bestimmung der 
Beziehung des Schriftzeichens zur Sprache (32,23). 

U: Erster Notizblock, Ms 681 f. - Blatt [6] und [7]; Vorderseite, zweite 

Halfte, und Riickseite von Blatt [7] = fr 79. 
D: etwa 19 17 

lesarten 32,25 absoluten] erg. Fldche - 32,30 viet] statt des erwarteten 
vielen lies vie I, das zu dem akzentuierten ein in der vorhergehenden Zeile 
kontrastierend steht 



Anmerkungen zu Seite 33-38 657 

33-38 [fr 19] Uber die Wahrnehmung 

Die Aufzeichnung kann als Vorstudie zum Aufsatz Uber das Programm 
der kommenden Philosopbie von 1917 (s. Bd. 2, 1 57-171) gelesen werden, 
als deren Hauptaufgabe postuliert ist, dafi unter der Typik des Kantiscben 
Denkens die erkenntnistheoretiscbe Fundierung eines boberen Erfabrungs- 
begriffes vorzunehmen ware (a.a.O., 160). Darin gent das fr stellenweise 
weiter als der Aufsatz, etwa mit der Darlegung des Begriffs spekulativer 
Erkenntnis (35) oder der des Verhaltnisses von Erfahrung und Erkenntnis 
der Erfabrung (36). Nahe liegt, dafi ein Teil »II« das Thema » Erfahrung 
und Sprache« aufnehmen sollte, zu dem die drei Notizen am Ende (37 f.) 
erste Aufzeichnungen sein konnten. »Wahrend [Benjamin] in der Schweiz 
von der Philosophic meistens als der Lehre von den geistigen Ordnungen 
sprach,« berichtet Scholem, »reicht ins Religiose hinein seine Definition, 
die ich mir damals aufschrieb [es folgt, bis auf das Komma, wortlich der 
drittletzte Absatz des fr; s. 37, 37f. und die Vorform unter Lesarten]* 
(Scholem, Freundschaft, 74). 

U: Ms 533-536-4 Teilblatter aus 2 gefalteten und ineinander gelegten Blat- 
tern vom Format ca. 33X21 cm; die drei Aufzeichnungen am Schlufi 
seitenverkehrt auf Riickseite von Blatt [4], auf Vorderseite (spater) 
notierteStichworteundBuntstiftskizzenzuN^pe/(s. Bd. 4, 307-316). 

D: wahrscheinlich Oktober 1917 

lesarten 34,29 zer(r)issen] mogliche Lesart gerissen - 35,27 (GenUge)] 
Benjamin vergafl ein Akkusativobjekt wie »Geniige« oder »Gewahr« oder 
»FoIge« - 36, 19 aus eben] lies aus Grunden eben - 37,7 gottlicb] mogliche 
Lesart gottliche - 37, 23 50 bis Erfabrung] im Ms so wie auch [. . .] aucb die 
[. . .] Erfabrung; das erste aucb wurde gestrichen - 37»37f. Pbilosopbie bis 
Spracbe] vor dieser definitiven Fassung findet sich auf der ersten Blatthalfte 
die mehrfach korrigierte Vorfassung Pbilosopbie ist absolute Erfahrung 
deduziert {als Symbol [ersetzt durch]} im systematisch- {symboli passend- 
[ersetzt durch]} symboliscb{e Spracbe. [ersetzt durch]} e[n] Zusammen- 
bang {der [ersetzt durch]} als Spracbe. Sie konnte gelautet haben Pbiloso- 
pbie ist absolute Erfabrung deduziert als systematiscb-symbolische Sprache. 
- 38,5 absoluten Erfabrung] danach {[d.i. alles aufler Pbilosopbie, Recbt 
(Sittlichkeit), Kunst] gehort in die Logik als Lebre) - 38,9^ Notizen bis 
Erkennen] spaterer, durch Trennstrich vom Vorhergehenden geschiedener 
Nachtrag 



658 Anmerkungen zu Seite 38-40 

38 f. [fr 20] ZUM VERLORNEN AbSCHLUSS DER NoTIZ UBER DIE SYMBOLIK 
IN DER ERKENNTNIS 

Dem Titel nach miifite die einmal Notiz, einmal Aufsatz (38 und 39) 
genannte Aufzeichnung - aufler dem im fr resumierten Abscblnfi - Benja- 
min vorgelegen haben; aber auch sie mufi heute als verloren gelten. Der 
dem Resume folgende Nachtrag (s. 39) verweist das fr in den Zusammen- 
hang der Studien zu Kant und zum Systemproblem von 1917/1918 (s. etwa 
Briefe, 1 5 8), damit der Bemiihungen Benjamins um eine »Symbollehre«, in 
der- so Scholem- »Gott das unerreichbare Zentrum* bildete, und »dieihn 
allem Gegenstandlichen, aber auch allem Symbolischen entriicken sollte.* 
(Scholem, Freundschaft, 74) Die Hinweise auf Goethe im Resume enthal- 
ten Motive teils des Schluftabschnitts der Dissertation (s. Bd. 1, 1 10- 119), 
teils - so der vierte Absatz (38,31-34 Es bis Faust) - der Wahlverwandt- 
schaftenarbeit (s. a. a. O., i47f.; zur Befassung Benjamins mit Goethe 
19 1 7/19 1 8 s. etwa Briefe, 177 und im Verzeichnis gelesener Bucher die 
Nummern 46/, 47^, 4S/, ^9, 603 ; s. Bd. 7). 

U: Ms 498 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

spatere Bleistiftpaginierung »i«. 
D:etwa 1917/1918 

lesarten 39,2 (Die) Ontologie] Ontologie fur {System}; Das blieb 
unkorrigiert - 39,3 diese(r) Ontologie] Ontologie fur {System}; dieses 
blieb unkorrigiert - 39,35 ist (die bis einander),] konj, fur ist, (die [. ..] 
einander) 



40 [fr 21] Nachtrage zu: Uber die Symbolik in der Erkenntnis 

Das fr ist die Fortsetzung der Nachtrage in fr 20 (s. 39,1-36 2« bis 
DIALOG). 

U: Ms 514 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

spatere Bleistiftpaginierung »7«. 
D: etwa 1917/1918 

lesart 40, 8 einstellen] konj. fur sich einstellen 

nachweise 40, 4f. Wahrheiten bis Wahrheit] s. fr 26 - 40, 1 3 f. musische bis 

Gedankenwelt] s. Die frubromantiscbe Kunsttheorie und Goethe, Bd. 1, 

in,24-3J 



Anmerkungen zu Seite 40-43 659 

40-42 [fr 22] Versuch eines Beweises, dass die wissenschaftliche 
Beschreibung eines Vorgangs dessen Erklarung VORAUSSET2T 

Im Nachtrag zum Aufsatz Uber das Programm der kommenden Philoso- 
phic schreibt Benjamin: [S]o erhebt sich [. . .] die Frage nach der Grenze 
zwischen Philosophic und Einzelwissenschaft. Die Bedeutung des terminus 
des Mctaphysischen [. . .] besteht nun eben darin diese Grenze als nicht vor- 
handen zu erkldren und die Umprdgung der *Erfahrung« zu »Metaphysik« 
bedeutet daft im metaphysischen oder dogmatischen Teil der Philosophic, in 
den [. . .] der kritische Teil ubergeht t virtuell die sogenannte Erfahrung ein- 
geschlossen ist. (Die Exemplifikation dieses Verhaltnisses fur das Gebiet der 
Physik s. meinen Aufsatz uber Erklarung und Beschreibung.) (Bd. 2, 169) 
»Der Nachtrag*, so Scholem anlafilich des posthumen Erstdrucks der Pro- 
grammschrift, »durfte im Marz 191 8 geschrieben worden sein, da er auf 
eine Notiz: Versuch eines Beweises, dafl die wissenschaftliche Beschreibung 
eines Vorgangs dessen Erklarung voraussetzt [von Benjamin Aufsatz uber 
Erklarung und Beschreibung genannt (s.o.)] rekurriert, die vom Februar 
191 8 datiert ist und die ich mir seinerzeit aus seiner Handschrift abgeschrie- 
ben habe.« (cit. Scholem, Bd. 2, 939) Die Handschrift ist verloren, Scho- 
lems Abschrift erhalten. 

U: SSch, handschriftliche Kopie Scholems - 4 Blatter, paginiert »5.« bis 

»8.«; Vermerk »Februar 1918* am Schlufi. 
D: Februar 1918 

lesart 42, 10 mathematische] erg. Frage 

nachweis 41,26 platonische Problem] s. Erkenntniskritische Vorrede, Bd. 

1, 214 



43 P r 2 3] Begriffe lassen sich . . . 

Schriftduktus und Blattumgebung im Block verweisen auf den Zusammen- 
hang mit Benjamins Kantstudien. 

0: Erster Notizblock, Ms 691 - Blatt [17]. 
D: bis etwa Mai 19 18 



660 Anmerkungen zu Seite 43-45 

43-45 [fr 24] Analogie und Verwandtschaft 

»Vor meiner Abreise aus der Schweiz*, berichtet Scholem, kam Benjamin 
ȣnde August [1919]* aus Iseltwald, seinem Ferienaufenthalt ab Anfang 
Juli, »auf einen zweitagigen Besuch nach Lungern am Briinig, wo er mir 
eine Aufzeichnung von sich, Analogie und Verwandtscbaft, mitbrachte.* 
(Scholem, Freundschaft, 109) Wie aus einem ungedruckten Brief vom 
November 19 19 aus Breitenstein am Semmering hervorgeht - wo er mit 
dem Ordnen seiner Papiere bescbaftigt war -, hatte es sich bei der Auf- 
zeichnung um eine Abscbrift gehandelt, die von meiner Niederscbrift 
erbeblkb abweicbt (16. 11. 1 919, an Scholem). Diese konnte wahrend des 
Ferienaufenthalts in Iseltwald entstanden sein, wie die Aufnahme des 
Motivs eines unmittelbar vernommen [Wardens im Gefuhl (45) nahelegt, 
das die Freunde Wochen vorher, »am 3 1 . Mai und 1 . Juni« auf »einer Wan- 
derung von Biel nach NeuchateU, im Zusammenhang mit dem Problem 
der Anschauung diskutiert hatten. »Ich notierte mir [damals] Benjamins 
Definition [. . .]: Gegenstand der Anschauung ist die Notwendigkeit eines 
sich im Gef tibials rein ankundigenden Inhaltes, wabrnebmbar zu werden. 
Das Vernebmen dieser Notwendigkeit beifit Anschauen. f. . .] Gerade das 
sei der Punkt: Die Spharen seien nicht zu trennen, und es gebe keine reine 
Anschauung, die nicht ein Vernehmen sei« (Scholem, Freundschaft, 108). 
Die Abscbrift der Aufzeichnung, die er Scholem nach Lungern mitgebracht 
hatte und die das diskutierte Phanomen an der Verwandtscbaft (43 f.) 
exemplifizierte, - oder eine von Scholem davon genommene Kopie - erbat 
sich Benjamin eingescbrieben und mit der Bezekhnung als »ManuscripU 
(damit es nicht gestoblen wird) (16. 11. 191 9, an Scholem) zur Komplettie- 
rung seiner Papiere zuriick. Zwei Monate spater wiederholte er die Bitte: 
Die Notiz uber Analogie und Verwandtscbaft ist nunmehr dringend in 
Abscbrift erbeten. (Brief e, 230 f.) Wahrend Benjamins erbeblkb abwei- 
chende erste Niederscbrift nicht erhalten blieb, ist seine eigene Abschrift in 
Scholems Sammlung vorhanden; ob Scholem selber damals eine Kopie 
anfertigte und diese Benjamin sandte, ist unbekannt. 

U: SSch, Manuskript Benjamins - 4 Seiten ca. 22 x 14,5 cm. 
D: wahrscheinlich Juli/August 1919 

lesarten 4 j, 1 6 erweisen] fur {manifestieren, deren Ausdruck) - 43, 17 f. 
Analogie] fur {Ahnlichkeit} - 43, 3 5 was] danach {in} - 44, 1 1 entdecken] 
fur {ergrunden} - 44,34f. die Musik] fur {das Gefuhl) - 45, 14 hinzuwir- 
ken] danach {und dessen Rkbtung zu bestimmen) 
nachweise 43, 19 werden] s. Bd. 4, 1 3 - 44, 7 Historiker*] Friedrich Nietz- 
sche, Werke in drei Banden, hg. von K. Schlechta, Bd. 1, Munchen i960, 
1 20 1 (Morgenrote. Gedanken uber die moralischen Vorurteile, Viertes 



Anmerkungen zu Seite 43-48 661 

Buch, Aph. 340 (»Es ist eine gut bewiesene Sache, dafi die Menschen aus 
dem Mutterleibe hervorgehen: trotzdem lassen erwachsene Kinder, die 
neben ihrer Mutter stehen, die Hypothese als sehr ungereimt erscheinen; 
sie hat den Augenschein gegen sich.« - 45,25 Leben«] Friedrich Schiller, 
Wallensteins Tod. Ein Trauerspiel in fiinf Aufzugen, 5. Aufzug, 3. Auftritt 



45 f. [fr25] Erkenntnistheorie 

Die - wichtige - Aufzeichnung diirfte um die Zeit, da Benjamin sich mit 
einer Analyse des Wabrheitsbegriffs beschdftigte (Briefe, 249) - gegen Ende 
1920 - begonnen, ihr zweiter Teil (46, 5-33 1) Die bis Urphanomene) spa- 
ter, jedoch kaum nach 192 1, nachgetragen worden sein. Vorausgesetzt 
scheint die Befassung mit dem Problem der Unendlicben Aufgabe (45), die 
fur die Zeit zwischen Ende 1917 und Mai 19 18 belegt ist (s. 664). Das fr ist 
im Zusammenhang mit Benjamins Gedanken zu einer »Symbollehre« 
(s.658) zu lesen, die er wahrend der Zeit des ersten Habilitationsprojekts 
(s.646) erneut aufnahm. Das Motiv eines Jetzt der Erkennbarkeit (46), das 
bis in Benjamins letzte Schrift begegnet (s. Bd. 1, 695), diirfte hier erstmals 
formuliert worden sein. 

U: Ms 499 - Blatt ca. 12X7,5 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

Rostspuren; spatere Bleistiftpaginierung »2«. 
D: um 1920/ 192 1 

LESART46, 13 Weltzustand).} konj. fur Weltzustand.) 



46-48 [fr 26] Wahrheit und Wahrheiten Erkenntnis und Er- 

KENNTNISSE 

Das fr diirfte eine weitere Aufzeichnung aus der Zeit der Beschaftigungm/t 
einer Analyse des Wabrbeitsbegriffs (Briefe, 249) sein. Die motivische Nahe 
zu fr 25 ist nicht zu ubersehen. 

U: Ms 509 - Blatt ca. 28 X22 cm, gefaltet; auf Ruckseite der zweiten Blatt- 
halfte die (auf das Trauerspielbuch bezuglichen) Stichworte Dialektik, 
Torso, Heteronomie, Gescbicbte, Ruine; Faltlinie eingerissen und 
beschadigt; spatere Buntstiftpaginierung »2«. 

D: um 1920/1921 

lesarten 47,25 f. Materie bis aufbaut] im Ms Materie aus welche der 
bohere sich (als auch Elementen ?) aufbaut. welche und auch sind Verschrei- 



662 Anmerkungen zu Seite 46-5 1 

bungen; auf den ersten Blick, so scheint es, auch der (statt »die hoher orga- 
nisierte Materie«); jedoch ist der mit Ted zu verbinden und auf die Telle 
[. . .] der Wahrheit weiter oben (47, i9f.) zu beziehen 
nachweise 47, 17-22 Die Kunstwerke bis ergdnzen sind\ s. Goethes Wahl- 
verwandtschaften, Bd. 1, 181, i72f. - 47,39 erweisen.«] Motto iiber der 
Erkenntniskritischen Vorrede> Bd. 1, 208; s. den Nachweis a. a. O., 410; 
Benjamin exzerpierte nach: Goethe, Samtliche Werke. Vollstandige Aus- 
gabe in zehn Banden, mit Einleitungen von Karl Goedeke, Bd. 10, Stutt- 
gart 1875, 361 (Zur Farbenlehre, Materialien zur Geschichte der Farben- 
lehre) - 48, 1 sei«] a. a. O. 



48 L [fr 27] ARTEN DES WlSSENS 

Die definitive Formulierung die Wahrheit ist der Tod der intentio (48) 
durfte Aufzeichnungen wie fr 25 und 16 voraussetzen. Das fr konnte dann 
eines der 1921 niedergeschriebenen Resultate von Benjamins Erkenntnis- 
und Wahrheitsanalysen sein. 

U:Ms 500 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

spatere Buntstiftpaginierung »3«. 
D:etwa 1921 

nachweis 48,25 die bis intentio] s. Erkenntniskritische Vorrede, Bd. 1, 
^6,937 



49f. [fr 28] Intentionsstufen 

Das fr greift auf Motive der Aufzeichnungen iiber Phantasie aus den Jahren 
1 9 1 8 f f . (s. 693) unter geschichtsphilosophischen und erkenntniskritischen 
Aspekten zuriick. 

U: 525 Ms - Blatt ca. 16,5 X 10,5 cm; lila Tinte; spatere Bleistiftpaginierung 

»iv, 
D: 1922/1923 



50L [fr 29] Zum Thema Einzelwissenschaft und Philosophie 

Unterstellt man, mit meiner Barockarheit (51) ist das Trauerspielbuch 
gemeint, lage der terminus a quo der Aufzeichnung friihestens Marz 1923, 
wo »dessen Thema und Gegenstand festgestanden haben durften* (Bd. 2, 



Anmerkungen zu Seite 50-53 663 

999). 1st aber an die Arbeit »El mayor monstruo, los celos« von Calderon 
und »H erodes und Mariamne* von Hebbel (s. Bd. 2, 246-276) gedacht, 
ware als terminus a quo friihestens November 1921, wahrscheinlich aber 
das zweite Viertel des Jahres 1923 anzusetzen (s. Bd. 1, 998). »M6glicher- 
weise wurde« der »Aufsatz iiber den Herodesstoff« »als eine Art Finger- 
iibung« zum Trauerspielbuch »geschrieben« (a. a. O., 999). Dies liefie sich 
mutatis mutandis auf fr 29 beziehen, das mit Motiven wie der intentionslo- 
sen Wahrheit (50), strengsachlicher Autorit'dt (a. a. O.), des Vrsprungs und 
der Induktion (51) der Erkenntniskritischen Vorrede zu praludieren 
scheint. So konnte der Passus, wonach in meiner Barockarbeit die Autori- 
tat der akademische[n] Akribie verabschiedet wird (51), gelesen werden: in 
meiner in Angriff genommenen oder zu nehmenden Barockarbeit, und sich 
jedenfalls zeitlich sowohl auf die »Fingeriibung« wie das Trauerspielbuch 
selbst beziehen. 

U: Ms 508 - Blatt ca. 15,5X10,5 cm; beschadigt mit leichter Textbeein- 

trachtigung. 
D: wahrscheinlich Fruhjahr/Sommer 1923 

lesarten 50,4 2 (UM THEMA)] rekonstruiertes beschadigtes Textstiick; 
vielleicht auch nur zu lesen 2u(:)\ die iibrigen Konjekturen in Winkel- 
klammern sind zweifelsfreie Rekonstruktionen - 51,9 sie] scil. eine die 
akademische [. . .] Akribie verabschiedende Autoritat 



51-53 [fr 30-32] Doktorarbeit: Der Begriff der »unend lichen Auf- 
gabe« bei Kant 

Benjamins Plan einer Doktorarbeit iiber den Begriff der »unendlicben Auf- 
gabe« bei Kant (Briefe, 159) ging aus dem urspriinglichen hervor, uber 
Kant und die Gescbichte zh arbeiten. Nocb weifl icb nicht, schrieb er am 22. 
10. 19 1 7 an Scholem aus Bern, ob icb den notwendigen durcbam positiven 
Gebalt in dieser Beziebung bei dem historischen Kant vorfinden werde. 
Davon bangt es aucb mit ab, ob icb aus dieser meine Doktor dissertation 
werde entwickeln konnen. [. . .] icb denke, es wird sich fur den, der mit 
richtigem Ver stand berangebt, geniigend und mehr als das finden. Oder 
aber icb werde dabei ein anderes Arbeitsgebiet finden. (Briefe, 151, 152) 
Etwa anderthalb Monate spater heifit es: unsere Auseinandersetzung iiber 
Kant mufl von mir aus nocb aufgescboben werden. Doch scheint mir zwei- 
erlei von dem was Sie scbreiben wahrscheinlich oder vielmehr das Eine 
davon sicher: dafl namlich zunachst die Bescbaftigung mit dem Buchstaben 
der Kantiscben Philosophic notwendig ist. Gerade das Studium der Kanti- 
schen Terminologie [. . .]fiihrt auf die Erkenntnis ihrer auflerordentlichen 



664 Anmerkungen zu Seite 51-53 

Potenz und jedenfalls kann man, indem man sie in sich immanent entwik- 
kelt und prdzisiert sehr viel lernen. In diesem Sinne bin ich neulicb auf ein 
Tbema zu einer Doktorarbeit gekommen das eventuellfur mich in Betracht 
kame: Der Begriff der »unendlichen Aufgabe* bei Kant. Zum anderen 
Punkt bemerkte er, dafi es jedenfalls [. . .] gewisse Probleme wie eben die 
uns zentralen der Gescbichtsphilosopbie gibt, fur die voir bei Kant im ent- 
scheidenden Sinne wobl erst dann etwas lernen konnen wenn wir sie fur uns 
neu gestellt baben. (Briefe, 1 5 8 f.) Nicht lange danach schrieb er: Was Kants 
Geschicbtspbilosophie angeht, so bin ich durcb die Lekture der beiden spe- 
ziellen Hauptscbriften (Ideen zu einer Geschichte . . ., Zum ewigen Frieden) 
auf die Enttduscbung meiner hochgespannten Erwartung geraten. Das ist 
mir besonders in Hinsicht meiner Plane fur das Tbema meiner Doktorarbeit 
sebr unangenehm, aber ich finde garkeinen wesentlicben Beziebungspunkt 
zu den uns nachstliegenden geschichtsphilosophischen Schriften in diesen 
beiden Arbeiten Kants und sehe eigentlicb nur eine rein kritische Stellung- 
nahme zu ihnen ab, Es handelt sicb bei Kant weniger um die Geschichte als 
urn gewisse geschicbtlicbe Konstellationen von etbischem Interesse. [. . .]Als 
Ausgangspunkt oder eigentlichen Gegenstand einer selbstandigen Abhand- 
lung finde ich Kants Gedanken ganz ungeeignet. [. . .] Fur den neuen Plan 
den icb zu meiner Doktorarbeit babe kann icb es aucb nur immer wieder 
bedauern daft Sie nicht bier sind [. . .] Die Frage lautet ungefabr: Was beifit 
es daft die Wissenscbaft eine unendliche Aufgabe ist[f] Dieser Satz ist sowie 
man naher zusiebt viel tiefer und philosopbiscber als man auf den ersten 
Blick glaubt. Man mufi sicb nurklar gemacbt haben, daft von einer »unend- 
lichen Aufgabe* gesprocben wird und nicht von einer »unendlich viel Zeit 
erfordernden Losung* und daft der erste Begriff in keiner Weise in den 
zweiten ubergefubrt werden kann und darf. (Briefe, 161 f.) Diesen Gedan- 
ken fuhrt fr 30 (s. 5 1 f.) aus, das um die gleiche Zeit niedergeschrieben sein 
diirfte und die Keimzelle der nicht zustandegekommenen Arbeit bildet. 
Am 1. 2. 19 1 8 heifit es zwar noch: Von der »unendlichen Aufgabe* im 
ndchsten Briefe, aber in diesem (s. 10. 2. 19 18, an Scholem, oben 654L) ist 
davon keine Rede. Erst Ende Marz kam Benjamin auf das Thema zuriick, 
doch nur, um anzuzeigen, dafi er mit Absicbt nicht mehr darauf eingehe. Es 
gehore zu denjenigen die brieflich kaum zu behandeln sind. Die fernere 
Auseinandersetzung mit Kant und Cohen muft verschoben werden. Er 
werde jetzt alle Krdfte auf die Erledigung meines Doktors y bezw. den 
Beginn meiner Dissertation konzentrieren (Briefe, 1 80)- man erwartet: der 
iiber die »unendliche Aufgabe*. Jedoch ist die gemeint, mit der er tatsach- 
lich promovierte - iiber den Begriff der Kunstkritik in der deutschen 
Romantik (s. Bd. 1, 7-122; s. auch 799-801). Gleichwohl war der Plan einer 
Arbeit uber die »unendliche Aufgabe* nicht aufgegeben ,* sie diirfte gemeint 
gewesen sein, als er im Mai 1918 - im Marz war die Entscheidung iiber das 
neue Thema gef alien (s. Briefe, 1 79) - Ernst Schoen schrieb : Eine sehr wich- 



Anmerkungen zu Seite 51-53 66 5 

tige erkenntnistheoretiscbe Arbeit bin ich bisber unvermogend zu 
vollenden, sie liegt scbon monatelang. (Briefe, 188) Das gemeinsame Kant- 
Cohen-Studium nach Scholems Ankunft in Bern (s. Scholem, Freund- 
schaft, 76, 78) konnte sie noch ein Stiick weit gefordert haben, ehe sie voll- 
ends liegenblieb. 



5 if. [fr 30] Die unendliche Aufgabe 

U: Erster Notizblock, Ms 71 5 - Blatt [41]; die letzten Zeilen (Der bis Auf- 
gabe*) spaterer Nachtrag. 
D: Dezember 191 7 



$iL [fr 31] Uber die transzendentale Methode 

Benjamin »regte schon eine Woche nach meiner Ankunft fin Bern am 4. 5. 
19 1 8] an, gemeinsam ein philosophisches Werk zu studieren. Nach einigem 
Hin und Her einigten wir uns, da er damals besonders an Kant interessiert 
war, auf das grundlegende Werk der Marburger Schule, [Hermann] 
Cohens >Kants Theorie der Erfahrung< [i87i, 2 i885]das wir dann in vielen 
Stunden analysiert und diskutiert haben.« »Wir [. . .] gingen mit grofien 
Erwartungen [. . .] an diese Lekture heran. Aber die Deduktionen und 
Interpretation en Cohens kamen uns sehr fragwiirdig vor, und wir zer- 
pfliickten sie mit viel Scharfe. [. . .] Benjamin konnte mit dem rationalisti- 
schen Positivismus, der uns gelegentlich dieser Lekture beschaftigte, nichts 
anfangen, weil er absolute Erfabrung suchte. Unsere Beschwerden [. . .] 
wurden schlieftlich so scharf, dafi wir die Lekture [. . .] im August nicht 
fortsetzten. Benjamin beschwerte sich uber die transzendentale Konfu- 
sion* der Cohenschen »Darlegungen. Da kann ich auch gleich katholisch 
werden.« (Scholem, Freundschaft, 76, 78 f.) Gut pafSt die Aufzeichnung - 
wie auch die folgende (s. fr 32) -, die beide auf den Neukantianismus und 
seinen Faktizitatsschwindel (53) gemiinzt sind, zu der »grofien Enttau- 
schung«, von der Scholem berichtet (Scholem, Freundschaft, 78). 

U: Erster Notizblock, Ms 683 - Blatt [9]. 
D: Sommer 1918 



666 Anmerkungen zu Seite 53 

55 [fr 32] ZwEIDEUTIGKEIT DES BEGRIFFS DER »UNENDLICHEN AUFGABE« 
IN DER KANTISCHEN SCHULE 

U: Erster Notizblock, Ms 683 - Blatt [9]; auf Riickseite, zweite Halfte. 
D:Sommer 1918 



54"^9 [ft* 33~*>o] Zur Moral und Anthropologic 



54 [^ r 33] ^ UR Moral 

Die Exemplifizierung des Intentionalitats-Problems, das Benjamin 19 17 
beschaftigte, am Dogma (54) lafit an seine balbjabrige, mit Unterbrecbun- 
gen gefubrte, Lektiire der Dogmengeschichte von Harnack denken, von der 
er am 30. 3. 1918 schrieb, er habe sie inzwischen ausgelesen (Briefe, 180); 
demnach diirfte er Oktober 1917 damit begonnen haben (s. Briefe, 152). 
Der Gewinn einer solchen Lektiire ist derart y dafi er sich nicht [. . .] uber- 
sehen lafit. Um nur eines zu bezeichnen y $0 babe icb erkannt, wie neben 
anderem auch die Unwissenbeit eine starke Quelle der neukatholiscben 
Stromung in der Gegenwart ist (Briefe, 1 80). Zur Ankniipfung an den bay- 
rischen Katholizismus (s. 54) konnten Benjamins Aufenthalte in Munchen 
1916 und in Dachau 1917 Anlasse geboten haben. 

U: Erster Notizblock, Ms 708 -Blatt [34]. 
D: etwa 1917/1918 



55 [fr 34] Alle Unbedingtheit des Wiixens . . . 

Jetzt bin ich in [Kants] Etbik verbissen — es ist unglaublich wie man diesem 
Despoten auf die Spur kommen mufi y heifit es in einem Brief vom Mai 
19 1 8, auf die Spur seines erbarmungslos gewisse Einsichten die gerade in der 
Etbik zu den verwerflicbsten geboren erpbilosopbierenden Geistes. 
(Briefe, 187) Das fr konnte das Kantische Radikale Bose paraphrasieren. 

U: Ms 783 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

spatere Buntstiftpaginierung »3«. 
D: Friihsommer 1918 



55 [fr 35] Zur Kantischen Ethik 

Weitere Niederschrift aus der Zeit der Studien iiber die Kantische Ethik; 
der zweite Abschnitt (55,20-24 Der bis batte) ist spater nachgetragen. - 
Zum Entwurf einer Etbik als Freibeits-, [Recbts-] und Handlungslebre als 
zweiten Teils des Systems im Sinn der Programmschrift von 1 9 1 7/ 1 9 1 8 s . f r 
65 sowie das in den Anmerkungen (s. 684) abgedruckte Schema Ms 528. 

t): Erster Notizblock, Ms 699 - Blatt [25]. 



668 Anmerkungen zu Seite 55-56 

D: Friihsommer 19 18 

nachweise 55,14 Wesen«] Kants Gesammelte Schriften, Akademieaus- 
gabe, 1. Abt., Bd. 4, Berlin 191 1, etwa4o8 (Gmndlegung zur Metaphysik 
der Sitten, Zweiter Abschnitt); a. a. O., Bd. 5, Berlin 1913, etwa 27 (Kritik 
der praktischen Vernunft, I, 1, 1. Hauptstiick, Lehrsatz III) - 55,20 Nei- 
gung«] a.a.O., Bd. 4, a,a.O., etwa 398 (Grundlegung [...], Erster 
Abschnitt); a.a.O., Bd. 5, a.a.O., etwa 33 (Kritik [...], I, 1, 1. Haupt- 
stiick, Lehrsatz IV) 

55 [fr 36] Die Spontaneitat des Ich . . . 

Weitere Niederschrift aus der Zeit der Studien iiber die Kantische Ethik. 

U: Erster Notizblock, Ms 690 - Blatt [16]. 
D: Friihsommer 19x8 

5 6 P r 37] Der Cynismus 

Weitere Niederschrift aus der Zeit der Studien iiber die Kantische Ethik. - 
Die Aufzeichnung mag das abschliefiende Urteil Scholems iiber den Benja- 
min rechtfertigen, den er nach langerer Zeit in Bern wiedersah und an des- 
sen »Beziehung [. . .] zu Dingen des taglichen Lebens* ihn »ein strikt amo- 
ralisches Elements »ein nicht geringes Mafi von Zynismus« befremdete; 
»moralische Kategorien erkannte er nur in der Lebenssphare, die er um sich 
aufgebaut hatte, und in der geistigen Welt an«; »oft war [. . .] ein starker 
Schufi Nietzsche in seinen Reden* - und doch »mochte ich sagen, dafi Ben- 
jamin im Grunde ein durchaus unzynischer Mensch war, was wohl mit 
seinem tief verwurzelten messianischen Glauben zusammenhing.* (Scho- 
lem, Freundschaft, 70, 71 f.) 

t): Erster Notizblock, Ms 688 - Blatt [14]. 
D: Friihsommer 19 18 

lesart 56,25 f. dieses bis leidet] lies etwa an diesem [. . .] leidet. Der Passus 
ist mehrfach, jedoch nicht abschlieflend umgeschrieben: dieses Schmarot- 
zen {erndhrt [ersetzt durch]} befriedigt ihn nnr> {sofern} {weil [ersetzt 
durch]} dafi {der andere darunter [ersetzt durch] der Edle leidet. 



Anmerkungen zu Seite 56-59 669 

56 [fr 38] SOVIEL HEIDNISCHE RELIGIONEN . . . 

In der Berner Zeit »trug [ich Benjamin] oft meine Ideen iiber das Judentum 
und dessen Kampf gegen den Mythos vor«, berichtet Scholem. »Besonders 
zwischen Mitte Juni und Mitte August [1918] sprachen wir oft iiber diese 
Themen. Wir haben uns damals wohl besonders stark gegenseitig beein- 
flufit.* (Scholem, Freundschaft, 79) Das fr diirfte Niederschlag dieser 
Gesprache sein (s. dazu auch fr 161). 

U: Erster Notizblock, Ms 714 - Blatt [40]. 
D: Sommer 19 18 



57 [fr 39] DlEDREI GROSSENGEISTIGEN WlJRZELN DER SONDE 

Nach Scholems Auskunft handek es sich um weitere Notizen vom Sommer 
1 91 8, der Zeit, da Benjamin und er auch iiber »Das Bose in der Kabbala« - 
so der Titel eines spateren Eranos-Vortrags Scholems - sprachen. Dem 
Schriftduktus nach konnten sie auch spater, etwa bis 1921, niedergeschrie- 
ben sein (s. die Aufnahme des Themas in Bd. 1, 404). 

U: Ms 790 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock. 
D: Sommer 19 18, vielleicht spater, etwa bis 192 1 



57-59 [fr 40] Uber den »Kreter« 

Die Aufzeichnung entwickelt aus der intralogiscbcn Unauflosbarkeit (58) 
des Fangschlusses die Unabweisbarkeit des Begriffs eines objektiven 
Scbeins ( 5 8 f . ) . Damit kniipft sie an die Kantstudien der Jahre 191 7/1 91 8 an. 
Fur eine spatere Datierung spricht die motivische Nahe zu Benjamins Vor- 
arbeiten zum Wahlverwandtschaftenaufsatz, etwa zu der Aufzeichnung 
Uber Scbein (s. Bd. 1, 831-833), die sich stellenweise mit dem fr beriihrt 
und sowohl Ahnlichkeit des Schriftduktus wie des Blattmaterials aufweist. 
Das fr wurde nicht dort, sondern an dieser Stelle abgedruckt, weil es ein 
moralisches Grundproblem aufwirft und wie ein Prolegomenon zur 
geplanten Arbeit Uber die Luge (s. fr 42 und 43) sich liest. 

U: Ms 787 und 764 - 2 Blatter je ca. 11x8 cm, herausgetrennt aus einem 
Notizblock; das erste einzeln, das zweite in einem Konvolut (Ms 762- 
779) uberliefert; spatere Bleistiftpaginierungen »7« und »3«. 

D: etwa 1919/1920 



670 Anmerkungen zu Seite 57-64 

lesart 59, 14 Und bis er] Beginn des zweiten Blattes; er scil. Dieser Schein 

nachweis 57, 10 Lugner] der Ausspruch, den Paulus im Titusbrief (1,12) 
zitiert, wird dem Kreter Epimenides (Wundertater und Theolog, um 600 
oder 500 v.Chr.) zugeschrieben; zum »Kreter« s. C. Prantl, Geschichte 
der Logik im Abendland, Bd. 1, 1885, 42ff., 49 1 f f . 



59 f. [fr 41] Grundlage der Moral 

Der Titel der Aufzeichnung steht in der Nacktragsliste zur Einbahnstrafte, 
die Benjamin etwa um 1930 zusammenstellte, an siebenunddreifiigster 
Stelle (s. Bd. 4, 912); die Aufzeichnung selbst ist in Gestalt eines der Typo- 
skripte uberiiefert, die er fiir die Zeitschrift »Der offentliche Dienst« anfer- 
tigte und von denen die Stiicke Die Zeitttng und Kduflich dock unverwert- 
bar (s. Bd. 2, 628 f., 630) im Friihjahr 1934 publiziert wurden (s. a. a. O., 
1437 und 1438). Ob das fr zuruckgewiesen oder von Benjamin nicht erst 
eingeschickt wurde, ist unbekannt. Da letzteres nicht ausgeschlossen wer- 
den kann, der Autorisierungsgrad also problematisch ist, haben die Hg. das 
Stuck nicht unter den »Asthetischen Fragmented in Bd. 2, sondern an 
dieser Stelle abgedruckt. 

U: Ts 1785 - Durchschlagsblatt mit 1 handschriftlichen Korrektur Benja- 
mins. 
D: zwischen fruhestens 1926 und 1930, spatestens 1934 

nachweis 59,32 degoilt] Charles Baudelaire, (Euvres completes. Texte 
etabli et annote par Yves-Gerard Le Dantec, ed. rev. [. . .] par Claude 
Pichois, Paris 1961, 113 (Les fleurs du mal. Un voyage a Cythere: »Ah! 
Seigneur! donnez-moi la force et le courage / De contempler mon coeur et 
mon corps sans degout!«) 



60-64 [fr 42 f-] Eine Arbeit uber die Luge 

Dafi Benjamin eine Arbeit Uber die Liige plante, belegen der Versxcb einer 
Disposition in fr 42 (s. 60) und die Notizen von fr 43 (s. 62). Aus den Briefen 
ist seine Verwendung des Terminus objektive Verlogenbeit - so der Titel 
des zweiten Teils der geplanten Arbeit (s. 60) - bekannt; im Mai 19 18 
schrieb er gelegentlich Borchardts und seines Willen[s] zur Liige: Aucb in 
ihm ist die »Umkehrung einer Idee« [...] zh finden; die objektive Verlo- 
genbeit wie ich es nenne. (Briefe, 189, 190; s. auch Postscriptum, 192) 
»Unter den kritischen Termini« schon des dreiundzwanzigjahrigen Benja- 



Anmerkungen zu Seite 60-62 671 

min »stand objektive Verlogenbeit hoch im Kurs.« (Scholem, Freund- 
schaft, 18) Die Notizen und die Disposition der nicht zustandegekomme- 
nen Arbeit schrieb Benjamin 1922 nieder; das Thema beschaftigte ihn noch 
Jahre spater. Die letzte Nummer des Literaturblatts [der » Frankfurter Zei- 
tung«], schrieb er Kracauer 1927 aus Paris, verzeichnet den Eingang eines 
Sammelwerks iiber die Liige, Wenn das Buck nicht vergeben ist, Vdge es mir 
nabe, etwas dazu zu sagen. (25. 8. 1927, an Siegfried Kracauer) 



60-62 [fr 42] Notizen uber »objektive Verlogenheit« I 

Die Aufzeichnung setzt die Kenntnis des 1919 von Scholem »verfafken [bis 
heute unveroffentlichten] Manuskripts >Uber das Buch Jona und den 
Begriff der Gerechtigkeit<« (Scholem, Freundschaft, 181) voraus. »Einmal 
[wahrend seines Berner Aufenthaltes 1918/1919] hatten wir zu Dreien ein 
groftes Gesprach iiber die zehn Gebote - Dora hatte gefragt, ob man sie 
ubertreten diirfe - und die Bedeutung der Vorschriften der Tora. Ich las 
Aufzeichnungen iiber den Begriff der Gerechtigkeit als >Handeln im Auf- 
schub< vor, die bei Benjamin ein starkes Echo fanden. Sie wollten wissen, 
warum ich bei meiner religiosen Haltung dennoch die orthodoxe Lebens- 
fiihrung nicht annahme. Ich erklarte, [. . . es] stimmt etwas in der Anord- 
nung nicht: Die Ordnungen stolen sich aneinander. Ich miisse den anar- 
chischen Suspens aufrechterhalten.« (a. a. O., 93) Jene Aufzeichnungen 
(bei Benjamin Scholems Notizen uber Gerechtigkeit, 60) aber gab Scholem, 
einer spateren Auskunft zufolge, erst 1920/ 192 1 Benjamin zu lesen. Dessen 
eigene Notizen sind dann nicht friiher als 1922 entstanden, wie die spateste 
bibliographische Angabe beweist (s. Nachweis zu 60,35). 

U:Ms 768 - Blatt ca, 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock, 
beigelegt einem Konvolut (Ms 762-779); Disposition und nachfolgende 
Notiz (60, 17-31 Versuch bis Verkiindigung) in hla Tinte; spatere Blei- 
stiftpaginierung »7«, 

D: 1922/1923 

nachweise 60,31 Verkiindigung] Rudolf Borchardt, Die Papstin Jutta. 
Ein dramatisches Gedicht. ErsterTeil: Verkiindigung, Berlin 1920-60,33 
Liebe«] s. Knut Hamsun, Sklaven der Liebe. Novelle. Die kleinen Saturn- 
biicher, Nr. 25, Heidelberg 1919-60,34 Tolstoi] s. Maxim Gorki, Erinne- 
rungen an Lew Nikolajewitsch Tolstoi, Miinchen 1920 - 60,35 Luge] s. 
Johan Bojer, Macht der Liige. Aus dem Norwegischen ubers. von R. Car- 
riere, Miinchen 1922 - 60,36 Liige] s. Detlev v. Liliencron, Leben und 
Liige. Biographischer Roman, Berlin, Leipzig 1908 (Samtliche Werke, 
Berlin 1896 ff., Bd. 15) - 61,2 latin] s. Anatole France, Le genie latin. 



672 Anmerkungen zu Seite 60-64 

Essays, Paris 1913-61,3 Recbt] s. Rudolf v. Jhering, Der Zweck im Recht, 
2 Bde., Leipzig 1 877-1883 - 61, 14 Widerruf] Quelle diirfte das von Benja- 
min in seiner Leseliste unter 837) (s. Bd. 7) verzeichnete Buch von/./. Roy y 
Histoire de Fenelon (d'apres le cardinal de Beausset) sein 



62-64 [fr 43] NOTIZEN ZU EINER ARBEIT UBER DIE LUGE II 

Gleichartigkeit von Schriftduktus und Blattmaterial lassen einen zeitlich 
nahen Anschlufi an fr 42 annehmen. 

U: Ms 794 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock. 
D: 1922/1923 



64 [fr44] Anthropologie 

Das im Faksimile wiedergegebene Schema ist die wohldurchdachte Anord- 
nung von Elementarbegriffen einer metaphysisch-geschichtsphilosophi- 
schen Theorie des Menschen. Sie hat die Figur eines Kreisausschnittes; auf 
einem mittleren imaginaren Radius sind, beginnend mit dem Gebietsbe- 
griff Anthropologie ; die Zentralkategorien Individuum, unterschrieben 
Memchlichy Person, unterschrieben Unmenschlicb in Richtung auf den 
linken Radius und Ubermenschlich in Richtung auf den rechten, sowie - 
jenseits der Peripherie - Menscb, unterschrieben Gottlieb > y angeordnet. 
Auf dem linken Radius folgt erst Leib, dann Gespenstiscbes, darunter 
Unter leiblich, auf dem rechten erst Spracbe, dann Gerecbtigkeit und dar- 
unter Uberspracblich ; die beiden Doppelkategorien sind durch das Anfhe- 
bung gekennzeichnete Peripheriestiick miteinander verbunden. Von Leib 
auf dem linken Radius fiihrt eine Verbindungslinie zu dem Begriff Damo- 
nisches auf einer imaginaren Horizontalen und von Spracbe auf dem rech- 
ten eine zu dem Begriff Recbt; dieser ist mit dem korrespondierenden links 
durch das Peripheriestiick eines einbeschriebenen Kreises verbunden, das 
mit dem Begriff Simultan gekennzeichnet ist. Von Leib links und Spracbe 
rechts fuhren Verbindungslinien zum Mittelpunkt Individuum auf der 
imaginaren Horizontalen. Diese Zentralkategorie ist weiter gekennzeich- 
net Geniusbaftes links und Freibeit rechts; beide Begriff e sind durch das 
Peripheriestiick eines zweiten einbeschriebenen Kreises, bezeichnet Ver- 
m'dblung (64), verknu'pft. 

Dieses Schema hat Schlusselcharakter fur das Benjaminsche Denken 
zumindest der Jahre 1916-1920, das Scholem so charakterisierte: sein 
»Geist kreist und wird noch lange kreisen urn das Phanomen des Mythos, 
an den er von den verschiedensten Seiten herangeht. Von der Geschichte, 



Anmerkungen zu Seite 64-66 673 

wo er von der Romantik ausgeht, von der Dichtung, wo er von Holderlin 
ausgeht, von der Religion, wo er vom Judentum ausgeht, und vom Recht 
aus. Wenn ich einmal meine Philosophic hahen werde - sagte er zu mir - so 
wird es irgendwie eine Philosophic desjudentums sein.« (Scholem, Freund- 
schaft, 45) Im Zusammenhang mit dieser seiner Tagebuchaufzeichnung 
von 1 9 16 berichtet Scholem: »Die entschiedene Wendung Benjamins zu 
einer philosophischen Durchdringung des Mythos [. . .] kam [in den Sees- 
haupter Gesprachen Juni 19 16] zum ersten Mai zum Vorschein [. . .] Benja- 
min sprach [. . .] in diesem Zusammenhang von dem Unterschied zwischen 
Recht und Gerechtigkeit, wobei das Recht eine nur in der Welt des Mythos 
begriindbare Ordnung sei. [Er] mufi in dieser Zeit mit den Schriften Bach- 
ofens in nahere Beriihrung gekommen sein und auch Schriften des Ethno- 
logen Karl Theodor Preufi iiber Animismus und Praanimismus gelesen 
haben. Er benutzte ofters dessen Ausfuhrungen iiber den Praanimismus. 
Das brachte uns auf Gespenster und deren Rolle im pr'aanimistischen Zeit- 
alter.« (a. a. O., 44) Das Schema freilich ist spater, ab 191 8 aufgezeichnet. 
Im Sommer dieses Jahres las Benjamin »mir eine [verlorene] langere Auf- 
zeichnung iiber Traum und Hellsicht vor, in der er auch versuchte, die 
Gesetze, die die Welt des vormythischen Gespenstischen beherrschten, zu 
formulieren. Er unterschied zwischen zwei historischen Weltaltern des 
Gespenstischen und des Damonischen, die dem Weltalter der Offenbarung 
[. . .] vorangingen« (a. a. O., 8o), also auch der historischen Sprache - alles 
Kategorien des Schemas, das Benjamin zu dieser Zeit entworfen haben 
konnte. 

t): Ms 66j - Blatt ca. 16,5 X 10,5 cm. 
D:abi 9 i8 



64-66 [fr 45] PSYCHOLOGIE 

Die Aufzeichnung ist im Zusammenhang der erkenntnistheoretisch-mora- 
lischen Reflexionen aus den Jahren 19 17/ 191 8 zu lesen. Ahnlich wie in fr 22 
wird die Differenz von Beschreibung und Erklarung in metaphysischer 
Absicht herausgestellt (s. 65 f.), moglicherweise in Ankniipfung an fr 22 
und gelegentlich der Freudstudien 191 8 (s. 674). 

t): Ms 770, 785-2 Blatter je ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notiz- 
block; das erste in einem Konvolut (Ms 762-779), das zweite einzeln 
uberliefert; spatere Bleistiftpaginierungen »9« und »j«. 

D: etwa 19 18 

lesarten 65,28 erkenntnistheorctische] davor zweite, jedoch nicht 



674 Anmerkungen zu Seite 64-69 

geschlossene Klammer; vermutlich wollte Benjamin nur dieses Wort her- 
ausheben, vergafi aber die Schlufiklammer - 65,33-35 Dies bis Aufierli- 
cbes] wegen der verwirrenden Interpunktion konj. fur Dies ist nichts 
»Innerliches«. Innerlich ist [...] das Moralische [...], sondern etwas 
Aufierliches - 65,39^ Konstruktion] die Buchstaben Konst sind, ohne 
erkennbaren Ersatz, gestrichen - 66, 1 gereinigten] lies gereinigten Men- 
schen (Plural) 



66 f. [fr 46] Zum Wahrnehmungsproblem Wahrnehmung und 
Leib 

Scholem berichtet, da(5 Benjamin 1918, anlafilich eines Seminars bei Paul 
Haberlin iiber Freud, mit Daniel Schrebers »Denkwurdigkeiten eines 
Nervenkranken« sich beschaftigte (s. Scholem, Freundschaft, 75; s. auch 
Bd. 4,615-617). Die erste Notiz des ersten Teils der Aufzeichnung (66, 1 j-z 5 
In bis Stadte) konnte zu dieser Zeit niedergeschrieben sein. Dem Schriftduk- 
tus und der Tintenart nach sind die zweite Notiz und die erste des zweiten 
Teils (66,z6-6jjij Sonntagskinder bis Leibe) im Anschlufi aufgezeichnet. 
Die letzte (67, 1 8-34 £5 bis hinten) ist spater, wahrscheinlich erst Anfang der 
zwanziger Jahre, nachgetragen. 

U: Ms 801 - Blatt ca. 12X7,5 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock 
(wahrscheinlich dem Ersten, wie die Tintenspuren am unteren Blatt- 
rand nahelegen, die auch der grofiere Teil der Blatter dort aufweist); 4 
Markierungen »x« jeweils am Beginn des 2., 3. (hier zweimal) und 4. 
Abschnitts, moglicherweise von Benjamins Hand. 

D: 1918 bis etwa 1920/1921 

lesart 66,34 hdtten] unsichere Lesung; vielleicht hiiten 



68 £. [fr 47] Zwei Gatten . . . , uber die Ehe 

Der erste - unbetitelte - Teil der Aufzeichnung diirfte aus der Zeit nach 
der Ankunft Scholems in Bern Mai 1918 stammen, wie neben Blattfolge 
im Block und Schriftduktus auch der Inhalt nahelegt. Der zweite Teil ist 
spater, nach Scholems Auskunft »etwa 1920, zu dieser Zeit der Benjamin- 
schen Ehe«, nachgetragen. 

U: Erster Notizblock, Ms 689 - Blatt [1 5]. 
D: Friihsommer 19 18 bis etwa 1920 



Anmerkungen zu Seite 68-71 675 

lesarten 68,37 (gefeit)] ein Wort wie das hinzugefiigte fiel im Ms aus - 
69,4 tun heifien] konj. fiir heifien tun 



69-71 [fr 48] Uber die Scham 

Uber seine Goethe-Studien 191 8 berichtete Benjamin Schoen im Novem- 
ber: Das wichtigste was ich im Sommer gelesen habe war die Metamorphose 
der Pflanzen [. . .] Ehe ich spater die Farbenlehre lese hoffe ich noch einmal 
aufdie Meteorologie zuriickzukommen mit der ich mich schon fruher ein- 
mal beschaftigt habe. (Briefe, 204) Hat er diese Reihenfolge eingehalten, 
miifite er die Farbenlehre nach Wiederauf nahme der Meteorologie 1 9 1 9 - so 
weist es die Leseliste, Nr. 646 (s. Bd. 7) aus - gelesen haben. Einen terminus 
ad quern gibt die Sommer 1921 bis Februar 1922 geschriebene Wahlver- 
wandtschaftenarbeit, in der die Farbenlehre wenigstens dreimal zitiert wird 
(s. Bd. 1, 132, 148, 160); einen genaueren die friihestens 19 19/1920 ent- 
standene erste Niederschrift (s. a. a. O., 824). Danach konnte Benjamin 
tatsachlich ab 19 19 mit der Farbenlehre sich beschaftigt haben. Eine Datie- 
rung von fr 48 auf etwa 1919/1920 ginge auch mit Benjamins Wiederauf- 
nahme des Komplexes Phantasie und Farbe zwischen 19 19 und 1921 (s. 
693) uberein. Wegen des moralisch-anthropologischen Grundtenors 
wurde das fr nicht unter die Aufzeichnungen dort aufgenommen, sondern 
an dieser Stelle abgedruckt. 

U: Ms 527 - Blatt ca. 16,5 X 10,5 cm; Brandspur; am Anfang der Vorder- 
seite Notizen zu Phantasie (s. fr 8 5), auf Ruckseite 4 gestrichene biblio- 
graphische Angaben. 

D: etwa 1919/1920 

lesarten 70, 26-3 5 Und bis Antlitz] der Passus ist durch zwei Langsstriche 
am Rand hervorgehoben - 70,33 scbieftt] konj. fiir schliefit; Benjamin 
schrieb erst erscbliefit sich nicht, strich dann er und sich nicht und vergafi, 
das / zu tilgen 

nachweise 69, 2 1 absondern.*] Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe 
und Gesprache, hg. von E. Beutler, Bd. 16: Naturwissenschaftliche Schrif- 
ten. Erster Teil, 2. Aufl., Zurich 1961, 180 (Entwurf einer Farbenlehre. 
Didaktischer Teil, 3. Abt., LIV, 666) - 70,16 kann.«] William Hogarth, 
Aufzeichnungen. Seine Abhandlung Analyse der Schonheit, erganzt durch 
Briefe und autobiographische Erinnerungen, iibertr. und hg. von M. Leit- 
ner, durchges. von J. Thummerer, Berlin 191 4, 181 - 70,25 Wirkung*] 
Goethe, a. a. O., 207-244 (a. a. O., 6. Abt., Sinnlich-sittliche Wirkung der 
Farbe) 



6j6 Anmerkungen zu Seite 7 1 -74 

71 [fr49] Tod 

Der Schriftduktus ist fliichtig. Die Nahe zum Todesmotiv in fr 47 (s. 68) 
legt eine Datierung auf etwa 1920 nahe. Die definitionsahnlichen Bestim- 
mungen der Begriffe Individuum, Person, Mensch^ Leib aus dem Schema 
fr44 schlieSen eine friihere Datierung nicht aus. 

t): Erster Notizblock, Ms 696 - Blatt [22]. 
D: etwa 1920, vielleicht friiher 

lesarten 71,28-30 Der bis wird] der Passus ist durch zwei Langsstriche am 
rechten Rand hervorgehoben - 71,28 Manometer] das Wort ist doppelt 
unterstrichen 

71 f. [fr 50] Zu Ignatius von Loyola 

Nach Scholems Mitteilung blieb ihm der Satz Loyolas Exercitien sind eine 
Erziehung zur Zwangsneurose, den er 19 19 von Benjamin gehort hatte, 
deutlich in Erinnerung. Nach der Leseliste, die das Buch unter der Nr. 700 
verzeichnet (s. Bd. 7), mufi er es 1920 gelesen haben. 

t): Ms 766 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

beigelegt einem Konvolut (Ms 762-779). 
D: etwa 1920 

nachveis 71,32 Exercitien] s. Ignatius de Loyola, Exercitia spiritualia, 
Rom 1548; verbr. dt. Ausg.: Geistliche Ubungen. Ubers. von B. Kohler, 
eingel. u. hg. von R. Schickele, Berlin 1907 



72-74 [fr 51] Uber Liebe und Verwandtes. (Ein europaischbs Pro- 
blem) 

Wie aus dem Hinweis Uber die Ehe s. im andern Heft (scil. im Ersten 
Notizblock, Blatt [15]; s. fr 47) hervorgeht, soil die - geschichtsphiloso- 
phisch bedeutende - Aufzeichnung an jene thematisch anschliefien. Wie 
der Schriftduktus nahelegt, dtirfte sie es auch zeitlich. 

U:Ms 793 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

durch Knicken beschadigt. 
D: etwa 1920 



Anmerkungen zu Seite 72-77 677 

lesarten 73, 10 f. der bis (bleiben)] der fur {zur}; verscblossen fur 
{blind} ; sowohl vor wie nach der Sofortkorrektur fiel ein Verb wie blei- 
ben « oder »sind« aus; es sei denn, der Passus war als Parenthese gedacht: da 
-aucb sie {zur} der Einsicbt [. . .] {blind} verscblossen - wo - 73, 16-18 die 
bis Geliebten] der Passus ist am linken Rand markiert- 73, 19 und 20 {ist)] 
um der besseren Lesbarkeit des unausgefuhrten Passus willen wurde zwei- 
mal »ist« erganzt - 74, 1-4 Der bis werden] wegen der nicht eindeutigen 
Streichung des Passus belieften ihn die Hg. textintegral; eindeutig verwan- 
delnden Stromes fiir { Umschmelzungsprozesses} 



74 [fr 52] IN DEM SEXUELLEN SCHULDGEFUHL . . . 

Obschon ohne Verweis auf fr 5 1 und 47, schliefk die Aufzeichnung sach- 
lich und dem Schriftduktus nach an sie an (s. auch den Aph. Nacbtglocke 
zum Arzt, Bd. 4, 140L) 

U: Erster Notizblock, Ms 707 - Blatt [33]. 
D: etwa 1920 

lesart 74,28 Verscbworung] lies, analog Zeile 20, Bescbwbrung 



75 [fr 53] Die Dirne 

Die Aufzeichnung gehort sachlich zu fr 47, 5 1 und 52, ist aber eher sparer, 
zur Zeit des Baudelaire-V orxrz%$ (s. fr 109) niedergeschrieben. 

U: Ms 802 - Blatt ca. 11x8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock. 
D: etwa 192 1 



75-77 [fr 54] Uber das Grauen I II 

Das wohl aus f r 5 1 und 5 2 auf genommene Motiv des Granens findet sich im 
Blick auf Kategorien des Schemas fr 44 wie das Gespenstiscbe, Leib und 
Spracbe durchgefiihrt. Die Aufzeichnung erinnert an die »iiber Traum und 
Hellsichu, von der Scholem berichtet (s. Scholem, Freundschaft, 79), die 
ihm aber Benjamin schon 19 18 vorlas. 

U: Ms 8o7f. - 2 Blatter je ca. 11X8 cm; Wasserspuren. 
D: etwa 1920 bis 1922 



678 Anmerkungen zu Seite 77-87 

jjL [fr 55] Lernen und Uben 

Ende 1922 berichtete Benjamin uber seine Habilitationsaussichten in Hei- 
delberg, sie seien auch dadurch erscbwert, daft ein Jude> namens [Karl] 
Mannheim, sich dort bei Alfred Weber voraussichtlich habilitieren wird. 
Ein Bekannter von Bloch und Lukdcs, ein angenebmer junger Mann, bei 
dem ich verkebrt babe. (Briefe, 295) Scholem erwahnt »leidlich freund- 
schaftliche Beziehungen«, die sich dabei hergestellt hatten (Scholem, 
Freundschaft, 142). Benjamin hielt sich zwischen November 192 1 und 
Ende Februar 1922 und noch einmal im Dezember 1922 in Heidelberg auf, 
was eine Datierung der Aufzeichnung etwa um Ende 1921/Anfang 1922 
oder um Ende 1922 nahelegt. 

U: Erster Notizblock, Ms 712 - Blatt [38]; lila Time. 
D: um Ende 1921/1922 oder Ende 1922 

nachweis 77,34 apprises*] Vauvenargues [Marquis de Luc de Clapiers], 
Reflexions et maximes. Edition integrale avec introduction, notes critiques 
et variantes par J. -Roger Charbonnel, Paris 1934, 12$ (Maximes suppri- 
mees dans la seconde edition, 828) 

78-87 [fr 56] Schemata zum Psychophysischen Problem 

Schemata kleineren oder grofieren Umfangs schrieb Benjamin oft im 
Zusammenhang mit umfangreicheren Arbeiten nieder, gelegentlich aber 
auch nur um der gedanklichen Klarung bestunmter Problemkomplexe wil- 
len, gleichgiiltig, ob daraus einmal eine Arbeit wtirde oder nicht. Bei fr 56 
scheint es um solche Schemata sich zu handeln. Sie auf eine - verlorene - 
Arbeit Uber das » Wahrnehmungsproblem* , von der Benjamin 1925 spricht 
(Briefe, 383), zu beziehen, ist wohl abwegig. Zwar ist das Wahrnebmungs- 
problem in der langen Aufzeichnung mehrfach beriihrt (s. y% 82, 85), aber 
dem psychophysischen H&upi-Problem untergeordnet; am ehesten noch 
ware fr 46 als Schema zu jener Arbeit anzusehen. — fr 56 bietet auf weite 
Strecken durchformulierte Stiicke, die stellenweise wie liegengebliebene 
erste Niederschriften wirken, etwa zur Wablverwandtschaftenarbeiu in 
die sie (wie etwa die Passagen s. 84) gut hatten eingefugt werden konnen. 
Andererseits scheinen sie diese zeitlich vorauszusetzen, was mit grdfierer 
Wahrscheinlichkeit vom Tbeologisch-politischen Fragment (s. Bd. 2, 203 f.) 
gesagt werden kann; Schema /// Leib und Kbrper (s. 80 f.) liest sich wie eine 
bedeutende Variante davon. Einen sicheren terminus a quo gibt die biblio- 
graphische Notiz Vom kosmogoniscben Eros (84); das Buch erschien 1922 
und figuriert unter den von Benjamin 1922/ 192 3 gelesenen (s. Nr. 833, 



Anmerkungen zu Seite 78-87 679 

Bd. 7). Dafi er eine entschiedene Position zu dem Problem schon friiher 
eingenommen hatte, geht aus einem Brief vom Januar 192 1 hervor, wo es 
heifk: Nun babe ich [. . .] die Bekanntscbaft mit einem Buche gemacht, das 
soweit ich [...] urteilen kann, die bedeutendste Scbrift Uber Politik aus die- 
ser Zeit mir zu sein scbeint [. . .]; Politik und Metaphysik [Berlin 1921], und 
wo er von meinem hbchst lebbaften Interesse an [Erich] lingers Gedanken 
spricht, die sich z. B. was das psycho-physische Problem angeht mit den 
meinigen Uberraschend beruhren (Briefe, 252, 253). Der - zentrale - 
Gedanke einer Identitat von Geist und Leib (78) findet sich noch friiher, in 
der Aufzeichnung Psycbologie von 1918 (s. fr. 45), formuliert. 

U:Ms 1965-1969 - 5 Blatter je ca. 11x8 cm, herausgetrennt aus einem 
Notizblock; Paginierung und Titelwiederholung nur Blatt / bis IV; die 
Abschnitte gleichfalls romisch, aber durchgehend, / bis VI paginiert. 

D: etwa 1922/1923 

lesarten 78, 1 8 nicht bis Kategorie] lies nicht aber ist Leib die Kategorie - 
7% 3 f. nur nicht Gott] lies nur nicht zu Gott - 80, 14 Ausdeutung (sic)] lies 
Ausdehnung - 83, 1 und seiner] konj. fiir und zwischen seiner -85,1 dem 
die] dazwischen {vielmehr allem) ; durch die Streichung tritt der Kontrast 
in der Konstruktion nicht mehr hervor - 86, 5 Bewufitsein von Wahrbeit] 
hervorgehoben durch eine liegende geschweifte Klammer- 87,15 Gegen- 
stuck (Gegensatzf)] es ist nicht auszumachen, ob Benjamin -satz in -stuck 
oder -stuck in -satz umkorrigierte, welche Version also gelten soil 
nachweise 84,6 191 9] s. Ludwig Klages, Vom Traumbewufitsein. II: Das 
Wachbewufitsein im Traume. In: Zeitschrift fiir Pathopsychologie, Bd. 3, 
Heft 4 (19 19), 373-429 - 84,8 Heft 6] s. ders., Geist und Seele. Psychologi- 
sche Grundbegriffe. In: Deutsche Psychologie, Bd. i, Heft 5 (1917), 361- 
397 und Bd. 2, Heft 6(1919), 171 - 197 [recte: 271-297]- 84,9 Bewufitseins] 
s. ders., Vom Wesen des Bewufitseins. Aus einer lebenswissenschaftlichen 
Vorlesung, Leipzig 192 1 - 84,10 Erde] s. ders., Mensch und Erde. Fiinf 
Abhandlungen, Miinchen, Jena 1920-84, 1 1 Eros] s. ders., Vom kosmogo- 
nischen Eros, Miinchen, Jena 1922 - 86, i^gebannU] Goethe, Gedenkaus- 
gabe der Werke, Briefe und Gesprache, hg. von E. Beutler, Bd. 3, 2. Aufl., 
Zurich 1961, 299 (West-ostlicher Divan. Buch des Sangers, Selige Sehn- 
sucht) - 86, 32f. 202/03] Platonis opera, ed. Burnet, torn. II, Oxford 1901, 
202 d-203 a - 87, 1 5 Verlassenen«] s. Karl Kraus, Worte in Versen (Bd. 7 der 
Werke, hg. von H. Fischer), Miinchen 1959, 263 (V, Die Verlassenen) - 
87, i9f. Strophe] s. a. a. O. (v. 6-10) 



680 Anmerkungen zu Seite 87-89 

87L [fr 57] SOTERIOLOGIE UND MEDIZIN 

Das Schema beider Heilungsarten steht in thematisch und wohl auch zeit- 
lich engem Zusammenhang mit fr 56 (s. vor allem V Lust und Scbmerz, 
82 f.)- Schon friih hatte sich Benjamin an dem Thema versucht; so heifk es 
in einem Brief vom Marz 1 9 1 6 : Sett der Hblderlin- Arbeit und dem »Regen- 
bogen* [s. Bd. 7] babe icb wohl mehrere Arbeiten begonnen, abet keine 
auch nut halbwegs geendet. Das h'dngt mit der Grofie der Gegenstande, die 
mich beschdftigten, zusammen: Organische Natur, Medizin und Moral. 
(Briefe, 124) fr 57 steht auf der Riickseite eines Ausrisses aus einer hekto- 
graphierten Einladung (zu einer »Kasperl-Theater Auffuhrung« der Berli- 
ner Kiinstlerin Elisabeth Richter, s.u.), auf dem das Auffuhrungsdatum 
»Mittwoch, 22. Marz* erhalten blieb; Wochen- und Monatstag fielen im 
Jahre 1922 zusammen. Die Aufzeichnung kann also nicht friiher, als die 
Einladung erging, etwa ab Mitte Marz 1922, niedergeschrieben sein. Dem 
Blatt fand ein weiteres (Ms 666) sich beigefiigt, auf dem die wohl themenbe- 
zogene unausgefuhrte Notiz steht: Uber konventionelle Vorurteile in der 
Geltung der Kbrperschonheit. 

U: Ms 665 - Blatt ca. 14X11,5 cm; Riickseite des Fragments einer hekto- 

graphierten Einladung, datiert »22. 3. [1923]*. 
D: ab etwa Mitte Marz 1922 

88 [fr 58] Zur Theorie des Ekels 

Die Aufzeichnung, die sich wie ein Nachtrag zum Aphorismus Hand- 
schuhe (s. Einbahnstrafle, Bd. 4, 90 f.) liest, findet sich gleichwohl in der 
Nachtragsliste zur Einbahnstrafie (s. a. a. O., 91 1 f.) nicht verzeichnet. Wie 
Blattfolge im Block und Schriftduktus - in diesem Fall einmal zuverlassig- 
nahelegen, ist das in Nachbarschaft zu Gu/e-Notizen von Anfang 1928 und 
zur CAtfp/i»-Aufzeichnung aus dem gleichen Jahr (s. fr 113) stehende fr in 
diesem Jahr niedergeschrieben. 

U: Zweiter Notizblock, Ms 734 - Blatt [19]. 
D: 1928 



88 f. [fr 59] Zur Erfahrung 

Des empirisch-anthropologischen Tenors wegen wurde das fr hier und 
nicht unter den Fragmenten »Zur Erkenntniskritik« abgedruckt, auf die es 
freilich bezogen bleibt (s. etwa fr 19 und Anm. 657). Es gehort in den 



Anmerkungen zu Seite 88-89 68 1 

Gedankenkreis der Lehre vom Ahnlichen von 1933 und diirfte, wie der 
Schriftduktus nahelegt, 1 bis 2 Jahre friiher niedergeschrieben sein. 

U: : Ms 777 - Blatt ca. 11,5x8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock, 
beigelegt einem Konvolut (Ms 762-779); spatere Bleistiftpaginierung 
» 1 6« . 

D: etwa 1931/1932 

lesart 89,3 wollen] fur {werden} 

nachweise 88,28 Erfabrung] s. auch fr 182 - 88, 3 1 Abnlichkeiten] s. auch 

Passagen wie Bd. 4, 414L - 89, 6f. Dissertation] s. Bd. 1, 59-61 



89 [fr 60] Henri Damaye: Psychiatrie et Civilisation 

Anfang Februar 1935 schrieb Benjamin an Helene Weigel: Das Bucb, nach 
dem Sie fragen, heifit [Absatz] Henri Damaye: Psychiatrie et Civilisation 
[Absatz] Paris 1934 (Alcan) [Absatz] Es handelt sich da aber nicbt um Mas- 
senpsycbosen sondern um Bakterien als Erreger von Individualpsy cho- 
sen. Insbesondere bebauptet der Verfasser, daft bestimmte Formen des 
Kochscben Bazillus nicht Tuberkulose sondern Psy chosen hervorrufen. 
(Briefe, 645) Benjamin plante eine Rezension des Buches, wie aus dem 
Deckblatt des Konvoluts, dem die Damaye-Notizen beigelegt sind, her- 
vorgeht: Kritiken Frankfurter] Z[eitung] Z\ei\tschr[ift] j[ur] Sozialw[is- 
senschaft (recte: Sozialforschung)] (Ms 1296; zu dem Konvolut von Rezen- 
sionsniederschriften und -fragmenten s. Bd. 3, 707 und Bd. 7). Warum die 
Kritik nicht zustandekam, ist unbekannt. 

U: Ms 1297 - Blatt ca. 16,5 X 13,5 cm, beigelegt dem Konvolut Kritiken FZ 
Ztscbr f Sozialw (Ms 1296- 1302); Riickseite eines Briefentwurf-Frag- 
ments aus der Zeit der Bachofen- Arbeit (Sommer 1934 bis Januar 1935). 

D: zwischen etwa Spatsommer 1934 und Anfang 1935 



90-108 [fr 61-76] Zur Geschichtsphilosophie, Historik und 
Politik 

90 [fr 61] Das Heidentum . . . 

»Wir gerieteru, »bei einer Erorterung« in Seeshaupt Juni 19 16, auf das 
Thema » Philosophic und Mythos.« Benjamin sagte, »Philosophie sei 
nichts Eigenes, und nur die Religion durchbreche [die] Welt des Mythos.« 
»Die entscheidende Wendung Benjamins« zu dessen »philosophische[r] 
Durchdringung«, fahrt Scholem fort, »kam hier zum ersten Mai zum Vor- 
schein und hat noch vielen unserer Gesprache ihr Geprage gegeben,* »A11 
dies hing natiirlich sehr eng mit seinem Interesse an Geschichtsphilosophie 
zusammen [. . .] In meinem Tagebuch schrieb ich: >Benjamins Geist kreist 
[. . .] urn das Phanomen des Mythos, an den er von den verschiedensten 
Seiten herangeht. Von der Geschichte, wo er von der Romantik [. . .], von 
der Dichtung, wo er von Holderlin [. . .], von der Religion, wo er vom 
Judentum ausgeht<« (Scholem, Freundschaft, 44, 45). fr 61 ist eines der 
friihesten Zeugnisse Benjaminscher Bemuhung um einen geschichtsphilo- 
sophischen und symboltheoretischen Mythosbegriff - hier des Heiden- 
tums und seiner konstitutiven Bedeutung fur die Kunst (90). 

U: Ms 762 - Blatt ca. 12X7,5 cm, beigelegt einem Konvolut (Ms 762-779). 
D: etwa 1915/1916 

nachweise 90,4 geniushafter Einsamkeit] zu diesem und ahnlichen Ter- 
mini s. Zwei Gedichte von Holderlin, Bd. 2, etwa 116-90, 16,25 ^ n % avr i\ 
s. Holderlin, Samtliche Werke, hg. von F. Beifiner, Leipzig 1965, 1182 
(Anmerkungen zum Odipus) - 90,15-20 Heidentum bis Geniusbdften] s. 
Sokrates II> Bd. 2, 13 if. - 90,27 Ausdruckslosen] eine der friihesten Ver- 
wendungen des zentralen Terminus; s. auch a. a. O., 130 



90 [fr 62] Die historischen Zahlen . . , 

»Wir sprachen [uber Geschichtsphilosophie] einen ganzen Nachmittag im 
Anschlufi an eine schwierige Bemerkung von [Benjamin], die Reihe der 
Jahre sei wohl zahlbar aber nicht numerierbar. Das fiihrte auf die Bedeu- 
tung von Ablauf, Zahl, Reihe und Richtung. Ob wohl die Zeit, die gewifi 
ein Ablauf sei, auch eine Richtung hatte [. . .] ob Jahre, so wie Zahlen, 
vertauschbar seien, so wie sie numerierbar sind.« (Scholem, Freundschaft, 
45) Die Notiz, die festhalt, die historischen Zahlen seien Namen, also 
unvertauschbar, diirfte zu der Zeit dieses Gesprachs - im Sommer 19 16 - 



Anmerkungen zu Seite 90-93 683 

niedergeschrieben sein. Im Blick auf den Hinweis im Titel des Trauerspiel- 
buchs Entworfen 1916 (Bd. 1, 203) liest sich das fr wie eine seiner gedankli- 
chen Urzellen. 

U: Erster Notizblock, Ms 695 - Blatt [21]. 
D: Sommer 1916 



91 [fr 63] Die Kosmogonie leistet . . . 

Die Notiz konnte 191 8, zu der Zeit, da Benjamin mit »Spekulationen iiber 
Kosmogonie« sich beschaftigte (Scholem, Freundschaft, j$), festgehalten 
worden sein; die beiden letzten Definitionen - oder Permutationen - 
(Chiffre bis Himmel, 91,41*.) sind spater nachgetragen, wie Schriftduktus 
und lila Tinte (die Benjamin urn 1920/ 192 1 und 1922/ 1923 gelegentlich 
benutzte) zeigen. 

U: Erster Notizblock, Ms 709 - Blatt [35]. 
D: 1918 bis 1920/1921 oder 1922/1923 



91 [fr 64] Zum Problem der Physiognomik und Vorhersagung 

Das fr liest sich wie eine Vorform des Passus Der Kartenleger bis Abwand- 
lungen in Schicksal und Charakter (s. Bd. 2, 176), dem Aufsatz, an dem 
Benjamin zwischen Marz 1918 und Juni 1919 arbeitete. Der Aufzeichnung 
folgen die auf den vorletzten Abschnitt des Aufsatzes (s. a. a. O., I77f.) zu 
beziehenden Stichworte: 

Charakter und Komik 

Komik und Unschuld 

Cbarakterkombdie (Moliere) 

U: Erster Notizblock, Ms 706 - Blatt [32]; auf Vorderseite, zweite Halfte, 

und Pviickseite Paralipomena zu Einbahnstrafle (s. Bd.4,936f.). 
D: zwischen Marz 19 18 und Juni 19 19 



91-93 [fr 65] Die Ethik, auf die Geschichte angewendet . . . 

Wegen des applikativen Tenors wurde das fr nicht denen »Zur Moral« 
zugeordnet, sondern an dieser Stelle abgedruckt. Die Durchgliederung der 
Ethik (s. A bis C, 91 f.) ist als wichtiger Annex zur Programmschrift von 
1917/1918 anzusehen, wo es heifit: so bleiben noch zwei Fragen ubrig. 



684 Anmerkungen zu Seite 91-93 

Erstens diejenige nach der Beziebung des kritischen zum dogmatischen 
Moment in Ethik und Asthetik, [. . .] zweitens diejenige nach dem Verhalt- 
nis von Pbilosophie und Religion (Bd. 2, 169). Zumindest in bezug auf die 
Ethik als Systemteil der kommenden Pbilosophie (a. a. O., 157) hat, wie 
auch der letzte Abschnitt des fr (» Moral* Titel des zweiten Teils des 
Systems, 93) beweist, Benjamin jene iibrigen Fragen nicht aufsich beruhen 
lassen (Bd. 2, 169). - Ein an anderer Stelle (s. fr 86) gestrichenes, die Diffe- 
renz von Moral und Ethik skizzierendes Schema wird zur Erganzung nach- 
folgend abgedruckt: 

{Gradunterscbiede Moral Ethik 

Rangunterscbiede sitt{licher) Wille sittlicbe Personlichkeit 

Logiscbe Deduktion Weltgescb. Betracbtungen 

guter Wille grojier Wille 
Sittlichkei t sind ganz versch. 

die Freibeit I das Uber- Willensbegriffe 

sinnlicbe 
Ethik Moral Systematik der eth. Werte 

Recht nicbt nur (Uberbauptfi) 

Grad- sondern Rangunter- 
scbiede 
Wer tordnung hat mit Syste- aktueller und potentieller 

matik nichts zu tun Konfliktgehalt} 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 528 

U: Erster Notizblock, Ms 693 f. - Blatter [19] und [20]. 
D: Fruhsommer bis Spatherbst 19 18 

lesarten 92, 14 Moment] lies Moment ist~^i,izi.frubern\ von Benjamin 
gestrichen, jedoch nicht ersetzt 
nachweis 92,33 Reihe bis Zablen] s. fr 62 



93 [fr 66] Arten der Geschichte 

Die Aufzeichnung entstand in zeitlicher Nahe zu fr 65 - der Blattfolge nach 
friiher, was aber ein minder sicheres Indiz ist. 

t): Erster Notizblock, Ms 687 - Blatt [13]. 
D: Fruhsommer bis Spatherbst 191 8 

lesart 93 , 1 7 f . (fur bis Zusammenhang)] spater nachgetragene Korrektur, 
die den Passus {bis zum Limes der Geschicbte} ersetzt 



Anmerkungen zu Seite 93-95 685 

nachweise 93, 1 2-1 5 Kosmogonie bis Individuum] s. fr 63 - 93, 2 1 -23 Men- 
schen bis Geschbpf] s. fr 44 



93 f. [fr 6y] Methodische Arten der Geschichte 

Uber Pbilologie y heiflt es in einem Brief an Scholem vom Februar 1921, 
babe icb (auch damals in der Scbweiz) mir einige Gedanken gemacht. Evi- 
dent war immer das Verfubrerische an ibr. Mir scbeint - icb weifl nicbt ob 
icb es im selben Sinne wie Sie verstebe - Pbilologie verspricbt alter gescbicbt- 
licben Forscbung, aber aufs bocbste gesteigert, die GenUsse die die Neupla- 
toniker in der Askese der Kontemplation sucbten. Vollkommenbeit statt 
Vollendung, gewabrleistetes Verloschen der Moralitat (obne ibr Feuer aus- 
zutreten). Sie bietet eine Seite der Gescbicbte, oder besser eine Scbicbt des 
Historiscben dar y fur die der Menscb zwar vielleicht regulative, metbodi- 
sche, wie konstitutive, elementar-logiscbe Begriffe mag erwerben konnen; 
aber der Zusammenhang zwiscben ibnen mufl ibm verborgen bleiben. Icb 
definiere Pbilologie nicbt als Wissenscbaft oder Gescbicbte der Sprache son- 
dern in ibrer tiefsten Scbicbt als Gescbicbte der Terminologies wobei 
man es dann sicber mit einem bbchst rdtselbaften Zeitbegriff und sebr ratsel- 
baften Pbanomen zu tun hat. Icb abne auch, obne es ausfuhren zu konnen, 
was Sie andeuten, wenn icb nicbt irre, daft Pbilologie der Gescbicbte von 
Seiten der Cbronik nabestebt. f. . .] Ob Sie mit den Orakeln uber Pbilologie 
etwas anfangen mogen weifl icb nicbt, Seien Sie versicbert, daft icb mirdar- 
uber klar bin, dafi man zu dieser Sacbe nocb einen anderen Zugang als den 
»romantischen« gewinnen mufi (Brief e, 257) - den uber Cbronik -Interpo- 
lation - Kommentar (a. a. O.), wie er Scholem einraumt. - Das fr ist Nie- 
derschlag der Gedanken, die er auch damals in der Scbweiz schon sich 
machte, in den Jahren der Romantik-Studien von 1917-1919 bis zum 
Abschlufi der Dissertation, und wurde in - zeitlicher und sachlicher - 
Nachbarschaft zu fr 66 und 65 niedergeschrieben. 

U: Erster Notizblock, Ms 692 - Blatt [18]. 
D: Friihsommer bis Spatherbst 19 18 

lesart 94,9 besonders modifiziert] fiir {eine Grenzidee} 



94 f. [fr68] DieFahne 

Der Schriftduktus der kosmologisch-eschatologischen Aufzeichnung 
kommt dem von fr 67 und 65 am nachsten; sie ist wie diese zu datieren. 



686 Anmerkungen zu Seite 94-95 

U: Erster Notizblock, Ms 698 - Blatt [23]. 
D: Friihsommer bis Spatherbst 191 8 

lesart 94,33 getilgt] fiir {gelost} 



95 P r 69] Man unterscheidet heute Briefwechsel . . . 

Die Reflexion ist ein - bearbeitetes - Exzerpt aus einem Brief Benjamins 
an Ernst Schoen vom 19-9. 19 19. Sie steht dort in folgendem Zusammen- 
hang: Sehr schon, wegen seiner menschlichen Warme und adeligen 
Distanz, die sich in fiinfundzwanzig Jabren gleichbleiben, ist Goethes 
Briefwechsel mit dem Graf en Reinhardt [. . .] Man gewahrt im Verkehr 
sehr ungleicher [...] Menschen von beiden Seiten eine erstaunliche, hochst 
edle und unbeirrbare Sicherheit des Tones mit dem sie von einander und 
zu einander reden. An das Tbema: Briefwechsel lassen sich verschiedene 
Digressionen anschliefien, Erstens daruber, wie sehr diese unterschatzt 
werden, weil [folgt das Exzerpt.] Eine zweite Reflexion, die sich auf- 
drangt: heute verlieren schon viele Leute den Sinn fiir Briefwechsel. Man 
gibt sinnloserweise Brief e von irgend jemandem her aus [.,.] (Briefe, 
219^). Die Stelle diirfte vor Absendung des Briefes ausgezogen worden 



U: Ms 934 - Blatt ca. 12X7,5 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock 
(wahrscheinlich dem Ersten, wie die Tintenspuren am unteren Blatt- 
rand nahelegen, die auch der grofiere Teil der Blatter dort aufweist). 

D: 19. 9. 19 19, vielleicht friiher 

lesarten 95,3 Man bis Briefwechsel] Zusammenziehung des Brief passus 
An bis werden, Briefe 220 -95,3 Begriff] vbllig schiefen Begriff, a, a. O. - 
95,4 vollig schief bezogen] bezogen, a. a. O. - 95,5 sie in Wahrheit] sie, 
a. a. O. - 95,6 das] ein, a. a. O. - 95, 6 ist,] ist, a. a. O. - 95, 10 hereinragt] 
hineinragt, a. a. O. - 95,11-13 (Nicht bis Wasserscheide.)] fehlt im Brief; 
im Ms ersetzt die Parenthese: {Fur die Nachkommenden}, welchen Pas- 
sus Benjamin nach der Parenthese erneut niederschrieb - 95,15 Briefe,] 
Briefe, a. a.O. - 95,17 objektiv] objektiv,, a. a. O. - 95,18 Zeit,] Zeit, 
a. a. O. 



Anmerkungen zu Seite 95-98 687 

9$~97 [fr 7°] 2ur Geschichtsphilosophie der Spatromantik und 

DER HISTORISCHEN SCHULE 

Ich ahne [. . .], was Sie andeuten [. . .], daft Philologie der Geschichte von 
Seiten der Chronik nahesteht, schrieb Benjamin Scholem im Februar 1921 
(s. Anm. zu fr 67, 685). Die Chronik ist die interpolierte Geschichte. Die 
philologische Interpolation in Cbroniken bringt an der Form einfach die 
Intention des Gehalts zum Vorschein, denn ihr Gehalt interpoliert 
Geschichte. (Brief e ,257) Daft Benjamin die ganze Aufzeichnung nachtrag- 
lich unter den Aspekt der Chronik riickte, geht aus der Notiz am Ende 
hervor, wo es heifit: Fiir sie ist das [in der Aufzeichnung] angedeutete Kate- 
goriensystem das zutreffende (97). Es konnte sich so verhalten haben, dafi 
ihm iiber der Niederschrift zunehmend klarer wurde, daft seine Gedanken 
iiber Geschichte und Philologie nach dem von Scholem in die Debatte 
gebrachten Begriff der Chronik (s. Briefe, 257) tasteten, den er dann am 
Ende niederschrieb und auf das ganze zuriickbezog. 

U: Ms 933 - Blatt ca. 11x8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

spatere Bleistiftpaginierung »8«. 
D: um Februar 1921 

lesarten $6 t j (unterscheiden)] dieses oder ein sinngemafies Verb vergaft 
Benjamin - 96,27 inne.] im Ms folgt der gestrichene abgebrochene Passus 
{Ganz in diesem Sinne verhalten sich die Forscher der historischen Schule 
und in ihm sind ihre Grenzen klar zu ermessen. Denn was zuldnglich in dem 
hohen y aher endlichen Bereiche ist, den das Verhdltnis des Vaters zum Sohn 
bezeichnet, was zudem in eben diesem Bereiche mannigfach verwandelt 
und beschrankt zu werden vermag, wird zuletzt dem unendlichen Bereiche 
der Volker und der Geschichte gegenuber fast eine Anmajlung, wenn nicht 
die Schbnheit der Darstellung, die dem Gluck der Kontemplation verdankt 
wirdy) 
nachweis 96,7 Beobachtung] s. Bd. 1, 59-61 



97 f. [fr 71] Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt 

Die moralische Reflexion iiber das jiingste Gericht und seine mythisch- 
rechtliche Verkennung variiert die Ausfuhrungen iiber gottliche Gewalt, 
[. . .] die waltende, im Aufsatz Zur Kritik der Gewalt von 192 1 (s. Bd. 2, 
203, 199-201); vielleicht ging sie ihnen auch zeitlich vorher. Hilfreich 
diirfte Scholems Hinweis sein, dafi er sein »Manuskript >Uber das Buch 
Jona und den Begriff der Gerechtigkeit<«, in dem das »>Handeln im Auf- 
schub<« erortert wird (Scholem, Freundschaft, 181, 93), Benjamin 1920/ 



688 Anmerkungen zu Seite 97-100 

1921 zu lesen gab. Den Begriff nahm Benjamin zweimalauf- in fr 71 (s.98) 
und in fr 42 (s. 60), das 1922/1923 zu datieren 1st (s. 671). Schriftduktus und 
groSere Nahe zum Gewaltaufsatz sprechen fur eine fruhere Datierung von 
fr 71. - Das fr wurde 1981 zuerst (deutsch und in franzosischer Uberset- 
zung) veroffentlicht: s. Walter Benjamin, Le role du temps dans le monde 
morale. Traduction et postface de Patricia Konigsberger, in: Le nouveau 
commerce, cahier 49, Paris 1981, 49-58. 

U: Ms 798 - Blatt ca, 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock. 
D: 1921 

lesarten 97, 33-35 Die bis heute] der Passus resultierte aus dem f olgender- 
mafien zusammengestrichenen: {Der Vergeltung in der Welt des Recbts 
steht die Vergeltung in der moralischen Welt gegenuber - auch sie gegen den 
zeitlkhen Ablauf so wenig indifferent wie die Vergeltung: denn eigentlicb 
indifferent steht vielleicbt nicbt einmal} die Vergeltung der Zeit gegenuber t 
sofern sie {je spater, desto mebr nicht allein} in Kraft bleibt {sondern zuletzt 
berausgefordert wird.} und noch heute - 98,3 leeren Saumens] konj. fur 
leerem Sdumen - 98, 5 fluchtend(e)] erg. Termin - 98, 1 5 (Untat)] fiel im 
Ms aus 

nachweise 98,20 Bilde] s. die Variante Bd. 1, 697 f. (Uber den Begriff der 
Geschichte, IX) 



98 [fr 72] Geschichte ist Chock . . . 

Die Notiz findet sich auf der Ruckseite des vorletzten Blatts eines Konvo- 
luts mit Aufzeichnungen und Materialmen zu Baudelaire und den 
geschichtsphilosophischen Thesen. Wie aus den bibliographischen Anga- 
ben auf der Vorderseite hervorgeht, ist die - zusammen mit alien ubrigen - 
gestrichene Notiz friihestens 1939 niedergeschrieben. 

U: Ms 1078 - Improvisiertes Ringbuchblatt, ca. 13,5X10,5 cm, beigelegt 

einem Konvolut (Ms 1050- 1079). 
D: ab 1939 



98-100 [fr 73] 1) Welt und Zeit . . . 

Ich babe vielfur mich nacbgedacbt und dabei Gedanken gefafit, die so klar 
sind, dafi icb hoffe, sie bald niederlegen zu konnen. Sie betreffen Politik. So 
Benjamin an Ernst Schoen im September 1919. In vieler Beziehung - nicht 
allein in dieser - kommt mir dabei das Buch eines Bekannten zustatten, 



Anmerkungen zu Seite 98-100 689 

welch er der einzige Mensch von Bedeutung ist, den ich in der Schweiz bisher 
kennen lernte. Mehrals sein Buch noch sein Umgang, da seine Gesprache so 
oft gegen meine Ablehnung jederpolitischen Tendenz sicb richteten, dafi 
sie mich endlich zur Vertiefung in diese Sacbe notigten, die sicb wie ich boffe 
gelohnt hat Von meinen Gedanken kann ich noch nichts verlauten lassen. 
Das Buch beifit »Geist der Utopie« von Ernst Bloch. Ungebeure Mangel 
liegen zu Tage. Dennoch verdanke ich dem Buch Wesentliches und zehn- 
fach besser ah sein Buch ist der Verfasser. Es mag Ihnen genugen, zu boren, 
dafi dies doch das einzige Buch ist, an dem ich mich als an einer wahrhaft 
gleichzeitigen und zeitgenossischen Aufierung messen kann. Denn: der 
Verfasser steht allein und stebt philosophisch fur diese Sacbe ein, wdhrend 
fast alles, was wir, von Gleichzeitigen, heute, lesen sicb anlehnt, sich ver- 
mischt und nirgends an dem Punkte seiner Verantwortung zu fassen ist, 
sondern hochstens aufden Ursprung des Ubels hinfuhrt, das es selbst repra- 
sentiert. (Briefe, 21 8 f.) Kennengelernt hatte Benjamin Bloch »im Marz 
oder April 19 19 [. . .] durch Hugo Ball*. Er wurde »in den Gesprachen mit 
Bloch und Ball mit der Frage politischer Aktivitat konfrontiert, die er in 
dem Sinne, wie seine Partner ihn dazu aufforderten, ablehnte.« (Scholem, 
Freundschaft, 101 f., 103) Von einem eigenen Gesprach mit Benjamin Ende 
Mai/Anfang Juni berichtet Scholem: es ging »iiber Politik und Sozialismus, 
uber den wir, wie iiber den Stand des Menschen bei seiner eventuellenRea- 
lisierung, grofie Bedenken hatten. Noch immer lief es bei uns auf theokrati- 
schen Anarchismus als die sinnvollste Antwort auf die Politik hinaus.« 
(a. a. O., 108) In der Aufzeichnung findet sich diesem der Katholizismus als 
(falsche, irdische) Tbeokratie (9$) kontrastiert und die Bedeutung der Anar- 
chic fur den profanen Bezirk (a, a. O.) reklamiert. Das fr, das auf ZurKritik 
der Gewalt und das Theologiscb-politische Fragment vordeutet, kann, wie 
der Abschnitt Meine Definition von Politik (99) nahelegt, vor allem als 
Aufzeichnung zur Herbst 19 19 bis Dezember 1920 entstandenen, jedoch 
verschollenen Arbeit iiber Den wabren Politiker (s. Bd. 2, 1423 und 943- 
945) angesehen werden und Aufschlufi iiber die darin entwickelten Gedan- 
ken gewahren. 

U: Ms 811 - Blatt ca. 21X15 cm, Ruckseite eines Zollinhaltserklarungs- 

Formulars. 
D: zwischen etwa Herbst 1919 und Dezember 1920 

nachweis 9% uNotizen bis Theokratie] nicht bekanntes Manuskript Ben- 
jamins; vielleicht identisch mit der verschollenen Phantasie iiber eine Stelle 
aus dem Geist der U topic (Briefe, 249), einem Buch, an dem Benjamin als 
grofites Verdienst hervorhob, die politische Bedeutung der Theokratie mit 
oiler Intensitat geleugnet zu haben (Bd. 2, 203). 



690 Anmerkungen zu Seite 100-103 

100-103 [k 74] Kapitalismus als Religion 

Den Titel der zweiteiligen Auf zeichnung, in der u. a. eine der wenigen 
Aufierungen Benjamins iiber Nietzsche und Freud sich findet (101), setzte 
er, nach einem Einschub von Notizen iiber Geld und Wetter (s. Bd. 4, 
941), erst iiber den zweiten Teil. Der terminus a quo ist durch die Litera- 
turangaben im ersten gesichert: das spatest erschienene Buch ist das 
Ungersche von 1921 (s. Nachweis zu 102, 16); den terminus ad quern hel- 
fen die Angaben in Benjamins Leseliste bestimmen: unter den sicher nicht 
spater als bis zur Jahreshalfte 192 1 verzeichneten Autoren finden sich 
Sorel, Landauer und Adam Mutter (s. Nr. 774, 736 und 748, Bd, 7; s. 
auch u., Nachweise). Da das Mullersche Buch im zweiten Teil der Auf- 
zeichnung zitiert ist, kann als sicher gelten, dafi sie um Mitte 1921 abge- 
schlossen wurde. 

l):Erster Notizblock, Ms 700-702 - Blatter [26], [27], [28]; titelloser 
erster Teil auf Blattern [26] und [27], Fortsetzung mit Titel auf Riick- 
seite, Geld und Wetter (s. Bd. 4, 941) auf Vorderseite von Blatt [28]. 

D: bis um Mitte 1921 

lesarten 100,9 Religion] vom zweiten Teil der Aufzeichnung (Das bis 
Angehorigen, 102,30-103,14) iibernommener Titel - ioi,i8f. ihr Gott] 
lies ihr dativisch - 102,25 Mbnchtum] gemeint wohl Vaganten- und Bet- 
telmonchtum 

nachweise 101, 13 nicht tot] s. das kontrare Diktum bei Nietzsche, etwa 
Die frohliche Wissenschaft, Aph. 115, 127, 207, oder Also sprach Zara- 
thustra, Vorrede 2 und Von den Mitleidigen - 101,34 im bis saltum*] scil. 
der lex continuitatis, wonach »la nature ne fait jamais des sauts«; Leibniz, 
Nouveaux Essays (Pref), in: Philosophische Schriften, hg. von CJ. Ger- 
hardt, Berlin 1875-1890, Bd. 5, 49 - 102,11 Banknoten] s. Bd. 4, 139 
(Einbabnstrafie. Steuerberatung, 3. Aph.) - 102,14 violence] s. Georges 
Sorel, Reflexions sur la violence, 5* ed., Paris 1919-102, 16 Metaphysik] 
s. Erich linger, Politik und Metaphysik (Die Theorie. Versuche zu philo- 
sophischer Politik, 1. Veroffentlichung), Berlin 1921 - 102,17 Gesell- 
schaft] s. Bruno Archibald Fuchs, Der Geist der burgerlich-kapitalisti- 
schen Gesellschaft. Eine Untersuchung iiber seine Grundlage und Vor- 
aussetzungen, Berlin, Miinchen 19 14 - 102, 18 Religionssoziologie] s. Max 
Weber, Gesammelte Aufsatze zur Religionssoziologie. 2 Bde., Tubingen 
1 9 20 f. - 102, 19 Gruppen] s. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christ- 
lichen Kirchen und Gruppen. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Tubingen 
1912-102,22 Sozialismus] s. Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus. 
Vortrag, Berlin 191 1; ders., Aufruf zum Sozialismus. Revolutionsaus- 
gabe, 2. verm. u. verb. Aufl., Berlin 1919 - 102,39 Beredsamkeit] s. 



Anmerkungen zu Seite 100-108 691 

Adam Miiller, Zwolf Reden iiber die Beredsamkeit und deren Verfall in 
Deutschland, gehalten zu Wien im Friihlinge 1812, Leipzig 18 16 



103 f. [fr 75] Hitlers herabgeminderte Mannlichkeit .. . 

Durch den Passus Hitler nahm den Reichsprdsidententitel nicht an (104) ist 
der terminus a quo der Aufzeichnung fixiert; nach Hindenburgs Tod am 2. 
8. 1934 iibernahm Hitler gemafi dem »Gesetz iiber das Staatsoberhaupt des 
Deutschen Reiches* vom 1.8. 1934 das Amt des Reichsprasidenten unter 
Verzicht auf den Titel. Die Aufzeichnung durfte nicht lange danach in 
Svendborg entstanden sein, wo sich Benjamin zwischen Juli und Oktober 
1934 bei Brecht aufhielt. Man verfolgt [die Weltgeschichte] bier leicht im 
Radio; abet aucb von Gazetten ist man nicht abgescbnitten (Sommer 1934, 
an Siegfried Kracauer). 

U: Ms 1 1 78 - Briefbogen ca. 26,5X21 cm. 
D: etwa August 1934 

lesart 104,2 bessere Herr] fur {Gent} 

nachweis 104,16 wieder.«] Schlager aus dem Film »Der Kongrefi tanzt« 

von 193 1 



104-108 ffr 76] Das Recht zur Gewaltanwendung Blatter fur 

RELIGIOSEN SoZIALISMUS I 4 

Ein Hinweis Benjamins auf seine Absicht, den Aufsatz zu rezensieren, ist 
nicht bekannt, doch legt die detaillierte Durchgliederung der Niederschrift 
den Gedanken an eine wie immer geplante Arbeit nahe. Dem Verweis auf 
den - verlorenen - Aufsatz »Leben und Gewalu (106) zufolge kann die 
Aufzeichnung nicht friiher als April 1920, der Zeit der Entstehung jener 
sehr aktuellen Notiz (Briefe, 237; s. auch 241), niedergeschrieben sein. Der 
Hinweis auf die Aufgaben meiner Moralphilosophie (106) ist auf das 
Schema in fr 65 (s. 91-93) von 1918 zu beziehen; er zeigt, wie sehr die dort 
fixierte systematische Disposition Benjamin noch Jahre spater als zu reali- 
sierender Plan gegenwartig war. Nicht auszuschliefien ist, daft die Auf- 
zeichnung in die Vorstudien zum Gewalt- Aufsatz von 192 1 einging und so 
den eventuellen Plan einer Rezension hinfallig machte. 

t): Ms 812 - Faltblatt ca. 21 X 15,5 cm, herausgetrennt aus einer Kladde. 
D: nicht vor April 1920 



692 Anmerkungen zu Seite 104-108 

lesarten I04,22f. Das bis Sozialismus I 4] dreifach unterstrichen - 
1 04, 29 f. intensive] fur {hohe} - 104,32 Urn den] lies Es bandelt sich urn 
den - 105,28 Skherung] davor {zwangsweise} - 105,34 nicht] doppelt 
unterstrichen - 106, 19 abzusagen] davor {ausdruckticb} - 106, 30 inkonse- 
quent] fiir {falschlich} - 107, 3 f. eine bis Macht] fiir {«« gottliches 
Gescbenk} - 107,4 Macbtvollkommenbeit] vollkommenheit doppelt un- 
terstrichen 

nachveise 104,23 Blatter bis / 4] s. Blatter fiir religiosen Sozialismus. 
Herausgeber: Carl Mennicke, Jg. 1 (Berlin 1920), H. 4 - 104, 27 f. wieder- 
herzustellen. {«)] Herbert Vorwerk, Das Recht zur Gewaltanwendung, in: 
a.a.O., 14 (I. a) - 104, 341. Rbythmus bis verlauft] s. Theologiscb-politi- 
sches Fragment, Bd. 2, 204 (Ende d. vorl. Absatzes) -105,1 Gewaltanwen- 
dung*] Herbert Vorwerk, a. a. O., 1 5 (I. b) - 105, 14 leugnen] s. a. a. O., 1 5 
(II. 1) - 105,16 anerkennen] s. a.a.O., 15 (II. 2) - 105, 17 anerkennen] s. 
a.a.O., 16- 105, i8f. anerkennen] s. a.a.O., 15 - 105,21 bezeicbnete] s. 
a. a. O., 15 (II.) - 105,23 Kulturniveaus] s. a. a. O. - 105,28 ist] s. a. a. O. - 
105,32 Recht] s. a. a. O. - 106, 5 zu] s. a. a. O. - 106,7 Menscben*] a. a. O. 
- 106, 12 Gewalu] verlorene Arbeit Benjamins von 1920; s. den moglicher- 
weise erhaltenen Schlufiabschnitt (Ms 505*), Bd. 7 - 106,3 1 n en nt] s. Her- 
bert Vorwerk, a. a. O., 1 5 (II.) - 107,6 Herausgebers] s. [Carl] M[ennicke], 
Bei aller ausgezeichneten Ubersichtlichkeit [...], in: a. a. O., 16 - 107, 10 
widerspruchsvolt] s. a. a. O. - 107, 1 1 f. Nicht-Vollreife*] a. a. O. - 107, 16 
Ge$te«] a.a.O. - 107,20 werde«] Goethe, Gedenkausgabe der Werke, 
Briefe und Gesprache, hg. von E. Beutler, Bd. 1: Samtliche Gedichte. 
Erster Teil, 2. AufL, Zurich 1961, 344 (Aus Wilhelm Meister. Mignon, 3. 
Snick, v. 1) - i07,2of. Prognosen] s. [Carl] M[ennicke], a. a.O., 16 



109-129 [fr 77-102] Zur Asthetik 



109-125 [fr 77-91] Phantasie und Farbe 

Die in dieser Gruppe zusammengefafiten heterogenen Aufzeichnungen 
sind allesamt um einen sachlichen Komplex zentriert, mit dem Benjamin 
friih-seit etwa 1914-sich zu beschaftigen begann und derihn,namentlich 
in der Verbindung mit der spezifischen Anthropologic des Kindes und mit 
der Kinderbuchliteratur, iiber Jahre fesselte. Die Spuren dieser Beschafti- 
gung lassen sich bis in die Rezensionen von Kinderbiichern aus den Jahren 
1930/193 1 verfolgen. Der Absicht, eine dem gesamten Komplex gewid- 
mete Arbeit zu schreiben, war Benjamin offenbar schon 191 5 bis zur Voll- 
endung nahegekommen; im Januar dieses Jahres schrieb er Ernst Schoen: 
Ich boffe ein Znsammensein mit Ihnen am Anfang des Februar, da icb bis 
dahin eine erfreulicbe Arbeit iiber die Phantasie und die Farbe beendet 
haben werde. (Briefe, 120; zum Plan s. fr 83, 5. Notiz, 118) Sie »scheint 
nicht erhalten*, merkt Scholem in einer Fuflnote an (Briefe, 120). Wohl 
aber ist es ein Konvolut von auf das Thema bezogenen Aufzeichnungen 
(Ms $20-523; s.u.), die, wie nicht nur der Schriftduktus zeigt, fraglos aus 
der Zeit um 19 14/19 15 stammen. Dabei handelt es sich um zwei abge- 
schlossene Texte - Aphorismen zum Thema (s. fr yj) und Die Farbe vom 
Kinde aus betrachtet (s. fr 78) - und um Aufzeichnungen und Notizen (s. fr 
83 f.) dazu. Es ist nicht auszuschlieften, dafi die ersteren mehr oder weniger 
fertige Teile jener erfreuliche[n] Arbeit sind, die Benjamin bis Anfang 
Februar 191 5 beendet haben wollte; wahrscheinlicher, dafi mit dieser die 
inzwischen aufgefundene Arbeit iiber den Regenbogen (s. Bd. 7) gemeint 
ist. - Bei der Presentation der Texte schien es am sinnvollsten, die abge- 
schlossenen, von dem Gesamtkomplex Phantasie und Farbe derivierten 
Aufzeichnungen in der ersten Untergruppe und die Notizen dazu in der 
zweiten abzudrucken. 

Ahnlich wurde mit einer zweiten Gruppe von Aufzeichnungen verfahren, 
die die spatere Entstehungszeit- ca. 191 8-192 1 -und diestarkere Akzentu- 
ierung des Themas Phantasie gemeinsam haben. Es handelt sich um vier 
integrale oder relativ integrate Texte (s. fr 79-82) und um eine Reihe von 
uberwiegend auf sie bezogenen Notizen und Materialien (s. fr 8 5-91). Geht 
man von Benjamins iiber Jahre gehegten- etwa 1921 bezeugten(s.fr9ound 
701), 1922 erweislichen (s. 699 f.) - Plan einer grofteren Arbeit iiber Phanta- 
sie und Farbe aus, den er nie als ganzen, wohl aber in einzelnen, auf 
bestimmte Aspekte konzentrierten Reflexionen verfolgte und bei mehr 
aufieren Anlassen, etwa im Zusammenhang mit seiner Kinderbuchern 
gewidmeten Sammler- und Rezensententatigkeit, immerhin teilweise ver- 
wirklichte, dann waren auch hier - nicht unahnlich iibrigens wie bei den 



694 Anmerkungen zu Seite 109- 1 10 

Arbeiten liber Kinderbiicher in den Banden 3 und 4 der »Gesammelten 
Schriften« - die integraleren Texte als Derivate der Befassung mit dem 
Gesamtkomplex in der ersten Untergruppe, die Notizen und Materialien 
dazu - und, das ist im Auge zu behalten, zu der grofleren Arbeit selber - in 
der zweiten abzudrucken. Eine Ausnahme ist das letzte dort abgedruckte 
Fragment mit Aufzeichnungen zu einer eigenen, jedoch unrealisiert geblie- 
benen Arbeit iiber Lyser (s. fr 91). 

Zu erwahnen bleibt Benjamins grofie[r] Plan iiber das Dokumentarwerk 
»Die Phantasies , den er dem Letter der Abteilung des Gosverlages, die sick 
mit Kinderbuchern beschaftigU wahrend seines Moskauaufenthaltesjanuar 
1927 auseinander[setzte] (386). Dieser Plan durfte Teil des ehrgeizigen Edi- 
tionsvorhabens gewesen sein, das er vermutlich mit Unterstutzung durch 
den neugegriindeten, jedoch nicht reussierten Berliner Verlag Littauer ab 
1 924/ 1 92 5 zu realisieren hoffte. Nach den im Nachlafi erhaltenen langen 
handschriftlichen Listen Benjamins (s. Ms 1374-1 376; s. auch die- spateren 
- Aufstellungen im Schwarzen Lederheft, S. 30) handelte es sich um Sam- 
me\-Werke in Reihen u.a. iiber: Geschichte einzelner Bildarten und Bild- 
motive der Kunst; illustrierte Autobiogr&phien, Novellen und Essayistik; 
Die deutschen Illustratoren des i$ ten Jahrhunderts und um monographische 
Sammelschriften u.a. iiber: Panoptikum; Asthetik der Ansichtskarte y der 
Reklame, der Schrift, der Geste, des Varietes, des Kitsches usw. ; Illustra- 
tion der alien Kinderbiicher; Bilderbuch-Kommentare; Die Kunst des Illu- 
strierens und um Ratselbucher mit Illustrationen (s. Ms 13 74- 1376). Zur 
Mitarbeit sollten zahlreiche namhafte Autoren und Illustratoren eingeladen 
werden, auch Freunde wie Bloch, und Benjamin selbst, unter den Mitwir- 
kenden sein (s. a. a. O.). 



i09f. [fr jj] Aphorismen zum Them a Phantasie und Farbe 

Nach Auskunft Scholems ist die Niederschrift auf die Zeit zwischen dem 
Freitod Fritz Heinles - unmittelbar nach Knegsausbruch 19 14 - und 
Anfang 191 5 zu datieren. 

U: Ms 520 - Blatt ca. 17X 10,5 cm, herausgetrennt aus einer Kladde; Blatt 

[1] eines Konvoluts (Ms 520-523). 
D: 1914/1915 



Anmerkungen zu Seite i i o- i i 3 69 5 

110-112 [fr 78] Die Farbe vom Kinde aus betrachtet 

Scholem hielt die 1914/191$ zu datierende Aufzeichnung fur eine Art 
pseudepigraphischer Nachschrift zum - wiederaufgefundenen - Regenbo- 
gen (dazu s. Bd. 7). 

U: Ms 521 - Doppelblatt, jeweils ca. 17X 10,5 cm, herausgetrennt aus einer 
Kladde; Blatter [2] und [3] eines Konvoluts (Ms 520-523); Vorderseite 
und erste Zeile der Riickseite von [2] mit Blei, Rest der Riickseite sowie 
Vorder- und Riickseite von [3] mit Time beschrieben. 

D: 1914/1915 

lesarten i io, 14 welches] danach mit Tinte gestrichen {Form gibt und} - 
110,22 Abziehbildern und Laterna magica] lies Abzieh- und Laterna 
magica-Bildern -111,14 (seiner)] Benjamin schrieb ihrer y vergafl aber, des 
Kindes zu korrigieren - 111, 19 Die bis geht] modifizierter, am Ende des 
vorhergehenden Absatzes gestrichener Pass us {Die Farbigkeit der kindli- 
chen Welt ist}, mit dem der neue Absatz anfangt -111,31 affiziert nicht] fur 
{ist nicht} - 1 1 1 , 3 2 f . Kindes der] dazwischen Radierspur in Grofle eines 3 
bis 4-buchstabigen Wortes -111,33 entspringt.] danach {£5 ist Gegenstand 
obne Raum und also Raum ohne Gegenstand was Kinder sehen} 
nachweis no, 19-36 Kinder bis halten] s. Aussicht ins Kinderbucb (1926), 
Bd. 4, 614 

inf. [fr 79] Uber die Flache des unfarbigen Bilderbuches 

Die Aufzeichnung findet sich - jedoch im spateren Schriftduktus Benja- 
mins - angeschlossen an die Notizen zur Wahrnebmungsfrage von 19 17 
(s. fr 18) und diirfte friihestens 19 18, eher 19 19 auf dem Blatt nachgetragen 
sein - als weitere Reflexion zum Wahrnehmungsproblem im Zusammen- 
hang mit der reinen Empfdnglicbkeit des Kindes (in). Die Datierung wird 
gestutzt durch Scholems Mitteilungen uber die Zeit, in die »die Anfange 
[von Benjamins] Sammlung alter Kinderbucher« fallen, die er »im Juli 191S 
in einem gedruckten Brief an Ernst Schoen [s. Briefe, 198] geschildert hat.« 
Benjamins Frau und er »pflegten sich mindestens bis 1923, solange ich mit 
ihnen zusammen war, zu ihren Geburtstagen illustrierte Kinderbiicher zu 
schenken und machten vor allem Jagd auf handcolorierte Exemplare [. . .] 
Er liebte es, liber Bucher dieser Art kleine Vortrage vor Dora und mir zu 
halten, um besonders die unerwarteten Assoziationen herauszustreichen, 
die dabei in den Texten unterliefen. Im Juni 1918 fanden wir bei einem 
Antiquar in Bern den ersten Band des >Bilderbuches fur Kinder< von [Fried- 
rich] Bertuch - aus dem Weimarer Kreis -, von dem er dann noch mehrere 



696 Anmerkungen zu Seite 11 2- 114 

Bande erwarb. Es bildete einen besonderen Focus seiner liebevollen Ver- 
senkung. Bei seiner Kommentierung des einen oder anderen Blattes ent- 
zundete sich schon damals, ohne dafi wir uns dessen bewufit wurden, sein 
ausgesprochener Sinn fur Emblematik [. . .] Sein Hang zur imaginativen 
Welt der Assoziationen, der« mit seiner »tiefen Anteilnahme und Versen- 
kung in die Welt des Kindes zusammenhangt, war auch in seinem ausge- 
sprochenen Interesse fiir Literatur von Geisteskranken erkennbar. Seine 
[. . .] Beziehung zur Malerei [. . .] gehorte wohl auch hierher* (Scholem, 
Freundschaft, 85f.). 

U: Erster Notizblock, Ms 682 - Blatt [7], zweite Halfte der Vorderseite 

und ganze Riickseite, nach Schlufi von fr 18. 
D: fnihestens 1918, eher 1919 

lesarten ii2,9 typische] danach {farbige} - 112,33 sondern allein] fiir 
{aber gerade} - 113,5 die] danach {dergestalt} 

nachweise 1 12, 32 Perttgino] Pietro Vanucci, 1446- 1 5 24, Lehrer Raffaels - 
113,7-31 Mit bis sind.] Der Passus ist streckenweit fast wortlich iibemom- 
men in Alte vergessene KinderbUcber (s. Bd. 3, 20 f.) und z.T. in Amsicbt 
ins Kinderbuch (s. Bd. 4, 610) 



113 f. [fr8o] Zur Malerei 

Die Erwahnung M aches (114) legt eine Datierung auf Fruhjahr 192 1 nahej 
Ende Marz berichtete Benjamin: Hier [in Berlin] gibt es jetzt etwas ganz 
Wnnderbares zu sehen; die Gedachtnisausstellung der Bilder des Malers 
August Macke, der 1914 mit 27 Jahren gef alien ist. (Briefe, 260) Dagegen 
spricht die motivische Nahe zur Aufzeichnung Uber die Malerei von 19 17 
(s. Bd. 2, 603-607) und deren brieflichen Kommentierung (s. Briefe, 1 54- 
156, 173); der Schriftduktus wiederum spricht eher fiir 1919/1920. Dies 
wird durch den zitierten Brief gestiitzt, in dem Benjamin fortfahrt: Scbon 
fruh baben micb die wenigen Bilder, die ich von [Macke] kennen lernte 3 
angezogen. Nun hat mir die Ausstellung einen w under bar en Eindruck 
gegeben. Ich babe einen kleinen Aufsatz uber diese Bilder geschrieben. 
(Briefe, 260) Er kann mit fr 80, das Macke nur - neben andern Malern - 
erwahnt, nicht identisch sein und mufi als verloren gelten. Da das Fragment 
das Verhaltnis von Bild und Pbantasie thematisiert, wurde es an dieser 
Stelle eingeordnet. 

U : Ms 784 - Blatt ca. 1 1 X 8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

Bleistiftpaginierung »4« von unbekannter Hand; Tintenspuren. 
D: etwa 1919/1920 



Anmerkungen zu Seite 113-117 697 

lesarten ii3,33 Malerei] danach {(vielleicht auch jedes Kunstwerk) trdgt 
die beiden} - 114,3 /m ] danach {empirischen, jedenfalls} - 114,6 des bis 
Bildraums] fur {der} bis {Erscheinungsfldche des Bildes} 



114 [fr 81] Gedanken uber Phantasie 

Der Titel ist Uberschrift einer augenscheinlich als Sammlung von Gedan- 
ken geplanten Niederschrift, von der aber nur der erste aufgezeichnet 
wurde. Der Raum bis zum dritten des in vier Teilblatter gefalteten Schreib- 
blattes blieb frei, auf ihm steht - als Pendant zur Uberschrift Gedanken 
uber Phantasie - Gedanken uber Farbe ohne weitere Auf zeichnung. 

t): Ms 532 - Blatt ca. 36x22,5 cm, erst der Lange, dann der Breite nach 
gefaltet; beschrieben nur auf erstem und drittem Teilblatt; Blatt [5] eines 
Konvoluts (Ms 528-532). 

D: etwa 1920/1921 



114-117 [fr 82] Phantasie 

Bei der Datierung des teilweise integralen Textes helfen motivische Nahe 
(s. 1 1 5, 28 f. und 38) zum Theologisch-politischen Fragment von 1920/1921 
(s. Bd. 2, 204) und der Hinweis auf Jean Paul als geniale[n] Lehrer der 
Erziehung (116), dessen »Levana« Benjamin im Sommer 1920 las (s. Brief e, 
243), schliefilich die Benutzung violetter Tinte, deren Benjamin in den Jah- 
ren 1920- 1922 gelegentlich sich bediente. 

U: Ms 79 5 f. - 2 Blatter je ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notiz- 
block; Blatt [2] nur auf dem oberen Rand der Vorderseite beschrieben. 
D: etwa 1920/1921 

lesarten 1 1 5, 5 versucbt,] danach {fdllt sie in Zerstorung) - 1 1 5, 28 f. ewi- 
ger Vergdngnis] fur {ewigem Untergang} ; nach Vergdngnis. Markierung, 
die ein Absatzende bezeichnen konnte - 115,36 liegt 2 ] Fufinotenverweis 
und Fufinote in schwarzer Tinte nachgetragen - 1 16,9 zu ubersehen] liesz« 
sichten oder zu berucksichtigen - 116,11 Reine] Der Absatz begann 
urspriinglich {Phantasie als der Geist reiner Empfdngnis des sich Entstal- 
tenden liegt, aber als reine Empfdngnis, die allerdings nicht auf die Phanta- 
sie allein) 

nachweise 114,22-116,35 Fur bis gab.] Auf diesen Teil des Fragments 
diirfte Benjamin bei der Formulierung des vorletzten Absatzes von Der 
eingetunkte Zauberstab (s. Bd. 3, 416L) zuriickge griff en haben - 114,28, 



6$ 8 Anmerkungen zu Seite 1 1 4- 1 1 9 

115,2 und passim Entstaltung, entstaltet] Das Wort begegnet auch bei Hol- 
derlin; s. etwa »Hyperion. Die metrische Fassung*, in: Samtliche Werke, 
hg. von F. Beifiner, Leipzig 1965, 673 - 115,29,34 Abendrot] s. die Notiz 
Aufnehmen - Sonnenuntergang am Ende des ersten Abschnitts des fr 83 
von 191 5 ( 1 17); die Befolgung der Arbeitsanweisung in fr 82 und der Ruck- 
griff auf dieses in der Arbeit von 1934 (s.o.) beweist die Beschaftigung mit 
dem Komplex Phantasie und Farbe uber wenigstens zwei Jahrzehnte - 
116, 22-30 Sie bis meist] s. Bd. 3, 21, 21-28 undBd. 4, 613, 25-32 



ujL [fr 83] Die Reflexion in der Kunst und in der Farbe 

Vier von den sieben Notizen (s. u.) zu einer Arbeit Uber die Phantasie und 
die Farbe (Briefe, 120) sind auf dem Blatt gestrichen. Sie wissen, schrieb 
Benjamin 191 5 an Ernst Schoen, daft zu diesem Gegenstande Schones bei 
Baudelaire zufinden ist. (a. a, O.) Eben darauf ist in der fiinften Notiz, die 
den Grundgedanken der Arbeit angibt, hingewiesen (s. 118). - Die Auf- 
zeichnung ist weitgehend in fr 78 (s. 110-112) eingegangen. 

t): Ms 522 - Blatt ca. 17X 10 cm, herausgetrennt aus einer Kladde und am 
Rand beschnitten; das Wortbruchstiick am Anfang der Riickseite 
(s. 1 17,27) setzt ein - verlorenes - Blatt voraus; Blatt [4] eines Konvo- 
luts (Ms 520-523). 

D: 1914/1915 

lesarten 117,13-25 Die bis Demut.] gestrichen - 117,26 Aufnehmen - 
Sonnenuntergang.] fliichtig in Blei notierte Arbeitsanweisung; s.o., Nach- 
weis zu 1 1 5, 29, 34 - 1 17, 32 (Stdbcbenspiel)] doppelt unterstrichen - 118, 1 
Ausseben] fur {Sehen} - 118, \,iFarben, Far ben] fiir {Dinge}, {Dinge} 
-118,2 sich] dahinter sollte augenscheinlich der eine Zeile tiefer stehende 
Passus {aber im geistigen) eingeschoben werden, der aber dann doch 
gestrichen wurde- 118,4-13 Die bis beziehen.] gestrichen 
nachweis 118, x^fdrben/] Vers oder Ausspruch Fritz Heinles; s. fr 89, 121 



u8f. [fr 84] Die Farbe hat . . . 

Von den sieben weiteren Notizen zu der 1914/191 5 geplanten Arbeit sind 
die unter dem Titel Aphorismen zusammengefafiten vier (s. 119) in die 
Aphorismen zum Thema (s. fr jj) eingegangen und auf dem Blatt gestri- 
chen, die iibrigen motivisch in Die Farbe vom Kinde aus betrachtet (s. fr 78) 
verwendet. 



Anmerkungen zu Seite 1 18-120 699 

U: Ms 523 - Blatt ca. 1 7X 10 cm, von einem grofieren abgetrennt; beidseitig 

quer beschrieben; Blatt [5] eines Konvoluts (Ms 520-523). 
D: 1914/1915 

lesarten 1 1 8, 24 der Farbe] fur { des Raumes) — 119, 1-8 APHORISMEN 

bis Malerei.] gestrichen 

nachweis 118,30 Regenbogen] s. Der Regenbogen, Bd. 7 



119 [fr 85] Verhaltnis der Utopie . . . 

Die drei auf fr 82 (s. 114-1 17) zu beziehenden Notizen stehen auf dem Blatt 
vor der Aufzeichnung Uber die Scbam (s. fr 48 und 675), die thematisch 
auch dem Komplex der Aufzeichnungen uber Pbantasie und Farbe zuzu- 
rechnen ist, jedoch wegen des anthropologischen Tenors an friiherer Stelle 
abgedruckt wurde. 

U: Ms 527- zur Beschreibung s. 675. 
D: 1920/1921 



119L [fr 86] Schein 

Die drei weiteren - schematischen - Notizen zu fr 82 finden sich auf der 
Riickseite eines friiher - 19 16 und 19 18 - beschriebenen Blattes. Nach 
Streichung der Aufzeichnungen von 19 16 (darunter eine Niederschrift des 
8. Aph. in Bd. 2,601) und 19 18 (s. Schema, 684) machte es Benjamin zum 
ersten Blatt eines Konvoluts von fiinf Blattern (s. u.), von dem jenes, das 
zweite, vierte und funfte als fr 86, 87, 88 und 81 abgedruckt wurden; auf 
den Abdruck des dritten (s. Ms 530) - einer Liste von 25 bibliographischen 
Angaben zu dem Stichwort Farbe auf der Vorderseite und 3 zu andern 
Themen auf der Riickseite, gefiihrt ab ca. 19 19/ 1920 bis friihestens 1922, 
dem Erscheinungsjahr des auf der Vorderseite zuletzt verzeichneten Titels 

- wurde verzichtet. Von den 25 Angaben - darunter 3 lediglich von Auto- 
rennamen: {Agrippa von Nettesheim}, Philipp Otto Runge undStrygowski 

- sind 14 gestrichen - darunter {/. Walter: Gescbichte der Astbetik im 
Altertum}, {Steiner, Rudolf: Goetbes Farbenlebre}, {Portal: Couleurs 
symboliques} und mehrere fachwissenschaftliche Artikel (dazu s. fr 90)-; 
die verbleibenden Titel bzw. Autoren - darunter L. Kobell: Farben und 
Feste, Leonardo da Vinci: Traktat von der Malerei, M. Malais: Des couleurs 
UturgiqueS) EmilLucka: Die Pbantasie •> Viktor Goldschmidt: Die Farben in 
der Kunst und Artikel wie der des Psycho analytikers S. Feldmann: Uber 
Erroten - waren augenscheinlich zur Bearbeitung vorgesehen, ein Indiz 



joo Anmerkungen zu Seite 1 19- 12 1 

mehr fiir Benjamins Absicht, ab 1922 weiter mit dem Komplex Pbantasie 
undFarbe konzentriert sich zu befassen. 

0: Ms 528 - Ringbuchblatt ca. 19X 1 1,5 cm; Blatt [1] eines Konvoluts (Ms 

528-532), begonnen mit der Riickseite; beidseitig Tintenspuren. 
D: 1920/1921 

lesarten 1 1 9, i. linke Kolonne Die bis fdrben] gestrichen - 120,3 Raines 
Licbt] fiir Reine{r Scbein) ; die drei Adjektive a-c in der Kolonne darunter 
vergafi Benjamin zu korrigieren - 120,6 seraphiscbes] fiir {farbloser} - 
120,6 Farbe] darunter die gestrichene abgesetzte Zeile {/ Die Grenze der 
Pbantasie) 



120 [fr 87] Erroten in Zorn und Scham 

Die fiinf auf fr 82 zu beziehenden Notizen setzen das asthetische Fragment 
Uber die Malerei oder Zeichen und Mai (s. Bd. 2, 603-607) von 1917 und - 
wahrscheinlich - das anthropologische Uber die Scbam (s. fr 48) von ca. 
1919/1920 voraus. Schriftduktus und Tintenart sind die von fr 86. 

t): Ms 529 - Blatt ca. 1 1,5 X 6,5 cm, abgetrennt von einem grofleren; Blatt 

[2] eines Konvoluts (Ms 528-532); Tintenspur unten rechts. 
D: 1920/1921 

lesarten 120, 18 von] danach {aujlen u) - 120,22 Mal(:)]: konj. fiir , , um 
den definitorischen Sinn zu akzentuieren - 120, 29 f. scbamen bis Alter] am 
Rand zwei Markierungen Benjamins 



i2i [fr 88] Schemata 

Das Schema fr 86 findet sich weiter prazisiert und durch Aufnahme der 
Notizen von fr 87 erweitert. 

U: Ms 531 - Blatt ca. 16,5 x 10,5 cm, abgetrennt von einem grofieren; Blatt 
[4] eines Konvoluts (Ms 528-532; Blatt [3] = die Literaturliste, s. Anm. 
zu fr 86; Blatt [5] = fr 81, s. Anm. 697); Tintenspuren auf Vorder- und 
Riickseite. 

D: 1920/192 1 



Anmerkungen zu Seite 121- 123 701 

121 f. [fr 89] Zur Phantasie 

Die erste Notiz, Herbst und Winter (s. 121 f.), liest sich wie ein Nachtrag 
zum zweiten Abschnitt von fr 82 (s. 1 1 5 f .) ; demnach konnte sie - wie die 
folgenden - auch spater niedergeschrieben sein. 

U: Ms 526 - Blatt ca. 11,5X7 cm, abgetrennt von einem Briefbogen mit 
dem Anfang eines - in lila Tinte geschriebenen - Briefes Benjamins an 
seine Frau auf der Riickseite, wohl aus der Semmeringzeit 1919/1920, 
seine Wiedereinreise nach Deutschland betreffend; zu 4/5 mit Blei und 
1/5 mit schwarzer Tinte beschrieben. 

D: 1920/1921, vielleicht spater 

izzL [fr 90] Zu Richard Muller-Freienfels . . . 

Zumindest die erste der vier Glossen zu Benjamins farbentheoretischer 
Lekture ist Resultat der Bearbeitung der Literaturliste Ms 530 (s. Anm. zu 
fr 86, 699 f.), wo sich die bibliographische Angabe zu Muller-Freienfels 
gestrichen findet. Die Bemerkung Einschrankung der Fragestellung in der 
meinigen [scil. Arbeit iiber Phantasie und Farbe] (122) beweist ein weiteres 
Mai, dafS Benjamin noch seit den friihen zwanziger Jahren mit dem Plan zu 
einer solchen Arbeit sich trug. 

U: Ms 524 - Blatt ca. 28X22 cm, gefaltet; die Glossen auf Vorderseite des 
ersten Teilblatts; auf Riickseite des beschnittenen zweiten wenigeNoti- 
zen (Schriftiibungen?); Textbeeintrachtigung durch starke Beschadi- 
gungen. 

D: 1920/1921 

lesarten ill, 23 p(24i-2j4)] nach Ms 530 rekonstruiert; erg. i. Titel »Zur 
Theorie der« und nach Bd 46 »[Jg.] i9°8« - 122,28,30,32 (en), {- und 
die) y (konnen)] Rekonstruktionen beschadigter Stellen 
nachweise 123,1 /ie/.<r] Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und 
Gesprache, hg. von E. Beutler, Bd. 3, 2. Aufl., Zurich 1961, 365 (West- 
ostlicher Divan. Buch Suleika, Wiederfinden, v. 27-32; Hervorhebung von 
Benjamin) - 123,7-9 Tuschen bis Dinge] die Stelle ist modifiziert iibernom- 
men in Aussicht ins Kinderbuch, s. Bd. 4, 609 



702 Anmerkungen zu Seite 123-126 

123-125 [fr 91] Zu einer Arbeit uber die Schonheit farbiger Bilder 

IN KlNDERBUCHERN 

In seinen Mitteilungen uber »die Anfange [von Benjamins] Sammlung alter 
Kinderbucher* berichtet Scholem: »Er zeigte mir etwa [Johann Peter] 
Lysers Sachen mit einem Entziicken, in dem sich die Freude an der Entdek- 
kung mit der am kiinstlerischen Ergebnis [der Jagd auf handcolorierte 
Exemplare] innig verbanden.« (Scholem, Freundschaft, 851.) Wie der 
Schriftduktus der Aufzeichnung bis zur Disposition (s. 1241.) einschlielS- 
lich nahelegt, ist dieser Teil etwa 19 18/19 19 niedergeschrieben, davorste- 
hendes Motto und der Rest sind augenscheinlich spater, etwa 1 920/1 921, 
nachgetragen. Scholem hielt sie, trotz des »ganz andere[n] Text[es]«, fur 
die »Keimzelle von Aussicht ins Kinderbuch* (Notiz zu Ms 171 3 im Benja- 
min- Archiv). Da die - geplante - Arbeit uber farbige Bilder wie schon ihr 
Pendant liber das unfarbige Bilderbuch (s. fr j^) als Derivat von dem Plan 
der grofieren Arbeit uber Phantasie und Farbe anzusehen ist, wurde die 
Aufzeichnung nicht als Paralipomenon in Bd. 4, sondern im vorliegenden 
abgedruckt. 

t): Ms 171 3 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

leicht beschadigt. 
D: zwischen 1918/1919 und 1920/1921 

lesarten 123,28 grofie] fur {bohe} - 124, 13 ist] danach {scbon} - 124,20 
dennoch] fur {allzu heftig) -114,22 die Farbe] fur {die Farbenwelt) (erste 
Streichung) und {das farbige Gewolk) (zweite Streichung) - 124, 3 if. die 
bis Gesichte] fur {wie die magnetische) Wand {, auf der seine) Gesichte 
{haften} - 124,33 buntere] fiir {bunte Wolken} 

nachweise 123,15 Lyser] s. Alte vergessene Kinderbiicher, Bd. 3, 19 und 
Aussicht ins Kinderbuch, Bd. 4, 613-615 - 123, 16 Regenbogen] s. Bd. 7 - 
123,26 Dosso Dosst] Giovanni Luteri aus Ferrara, um 1480- 1542 - 124,34 
Abendrot] s. Bd. 4, 609 - 125, 1 1 MaU] s. Uber die Malerei oder Zeichen 
und Mai, Bd. 2, 603 f. (A.c.) und 606 f. (B.b.),* s. auch Malerei und Gra~ 
phiky a. a.O., 602 f. 



i2$f. [fr 92] Die Form und der Gehalt . . . 

Gelegentlich der Ubersendung einer Notiz uber Malerei [s. Bd. 2, 603-607] 
schrieb Benjamin Ende 1917/Anfang 19 18 an Ernst Schoen, er denke schon 
lange daruber nach wo endlich freier Raum, Entfaltung und Grofie fiir die 
»Aesthetischen« Grundbegriffe uberbaupt gefunden werden konnten und 
sie aus ihrer armlichen Isoliertheit (die in der Aesthetik das ist was bio fie 



Anmerkungen zu Seite 125-126 703 

Artistik in der Malerei ist) erlost werden konnten. (Brief e, 173) Die Refle- 
xionen fr 92-94 konnten, wie Schriftduktus und Blattnachbarschaft im 
Block nahelegen, erster Niederschlag jenes Nachdenkens sein. Angenom- 
men ist hier eine der - wahrscheinlichen - zeitlichen Reihenfolge der ca. 
191 7/19 1 8 aufgezeichneten Reflexionen entgegengesetzte sachliche, die 
generellere den spezielieren Reflexionen vorordnende, die aber sehr wohl 
auch die zeitliche sein konnte (zum Verhaltnis von Chronologie und Blatt- 
folge in Blocken s. 641). - An welche Definition des Humors (126) Benja- 
min dachte, ist ungewifi; moglicherweise an gelaufige Dicta wie das 
Vischersche »Der Humorist treibt immer Metaphysik« aus dem ersten Teil 
der »Asthetik« oder an das von der »humoristischen Totalitat« aus Jean 
Pauls »VorschuIe der Asthetik«, die Benjamin »im Zusammenhang mit sei- 
nen Studien iiber die Romantik las« (Scholem, Freundschaft, 87), vielleicht 
auch an Bahnsens Bestimmung des »Humors als asthetischer Gestalt des 
Metaphysischen« im Buch dieses Titels von 1887. Am wahrscheinlichsten 
ist die Beziehung auf Benjamins eigene Definition aus fr 103 (s. 130), 
wonach Humor [. . .] die Rechtsprechung ohne Urteil, d.h. obne Wort ist; 
da fr 103 gleichfalls um 1917/1918 entstand, konnte es bei dem Passus nach 
der Definition in fr 92 (126) um eine Art internen Verweises sich handeln. 

U: Ms 685 - Erster Notizblock, Blatt [11]. 
D: um 1917/1918 



126 [fr 93] Die Musik . . . 

U: Ms 680 - Erster Notizblock, Blatt [$]. 
D: um 1917/1918 

nachweis 126,7-10 Die bis ist.] s. die Definitionen fr 61, 90, 23-26 



126 [fr 94] Der Kanon . . . 

Die fr 92 und 93 benachbarte Aufzeichnung liest sich wie eine spatere 
Exemplifizierung von Satzen des Sprachtraktats von 19 16 wie dem, dafi 
[f]Ur die Erkenntnis der Kunstformen der Versuch gilt, sie alle als Spracben 
aufzufassen, so auch den Gesang (Bd. 2, 156). 

U: Ms 6jy - Erster Notizblock, Blatt [2]. 
D: um 1917/1918 



704 Anmerkungen zu Seite 1 26-127 

126 [fr 95] DlE AKTUELL MESSIANISCHEN MoMENTE . . . 

Dem geschichtstheologischen Motiv, mit Sicherheit dem Schriftduktus 
nach ist die Aufzeichnung nicht friiher als 1919/1920 entstanden. 

U: Ms 765 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock und 
beigelegt einem Konvolut (Ms 762-779); spatere Bleistiftpaginierung 
»4*« 

D: um 1919/1920, eher 1919 

I26f. [fr 96] Das Medium, durch welches Kunstwerke . . . 

Der terminus a quo ist durch den Hinweis auf Kandinsky (126) gegeben; 
»Uber das Geistige in der KunsU las Benjamin mit Hinblick auf einOlws- 
einandersetztmg Uber Expressionismus gelegentlich seiner Besprechung 
vom »Geist der Utopie« (Briefe, 229), wie er Scholem Januar 1920 berich- 
tete. Dazu machte er einen Monat spater den in den »Briefen« ausgelasse- 
nen Nachtrag: Auch sonst habe ich sehr vielgelesen [. . .] Kandinsky: Uber 
das Geistige in der Kunst, das in seinen Grenzen ausgezeicbnet ist. Es ent- 
h'dlt Material zu einer Kunstlehre von der Malerei, nicht zur Kunstphiloso- 
phie. (s. Briefe, 235) Das Buch besafi er seit 1918: »Noch in Jena hatte ich* 
es ihm »besorgt«; ihn zogen »offenkundig gerade die mystischen Stiicke 
der darin enthaltenen Theorie« an (Scholem, Freundschaft, 85). 

U: Ms 767 - Blatt ca. 12X7,5 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock 
(mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Ersten, wie die Tintenspuren 
am unteren und rechten Rand zeigen, die auch die meisten der im Block 
verbliebenen Blatter aufweisen), beigelegt einem Konvolut (Ms 762- 
779); spatere Bleistiftpaginierung »6«. 

D; etwa Anfang 1920 

nachweis 127,2 Augen] s. [Wassily] Kandinsky, Uber das Geistige in der 
Kunst, insbesondere in der Malerei. 1., 2. AufL, Munchen [Januar, April] 
191 2, 66 f. (VI. Formen- und Farbensprache; i.O. nicht Ewigkeitswert der 
Kunstwerke sondern »das Rein- und Ewig-Kunstlerische«, »Ewigkeit- 
Kunsu) 



Anmerkungen zu Seite 127-129 705 

127 [fr 97] Zu DEN SCHIFFEN . . . 

Das listige Sophisma diirfte, wie der Schriftduktus nahelegt, bis ca. 1932 
aufgezeichnet worden sein. Der terminus a quo ist durch den bibliographi- 

schen Nachweis (s. 127) gegeben. 

U: Ms 779 - Blatt ca. 11,5X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock, 

beigelegt einem Konvolut (Ms 762-779). 
D: etwa 1931/1932 

nachweise 127,15 Goethe] Zit. i. Zit. s. Wahlverwandtschaften, II, 6 - 
127,21 p. 9] erg.: (Franz Gliick, Umrifi der Personlichkeit) 

127 [fr 98] Die Erkenntnis, dass die erste Materie . . . 

Die Aufzeichnung findet sich, ohne unmittelbaren Zusammenhang, hinter 
Exzerpten zum Kunstwerkaufsatz (dazu s. Bd. 1, io37f.) auf einem Blatt, 
das zu einem »durchweg 1936* (a. a. O., 1038) geschriebenen Konvolut 
gehort. Die Reflexion, die Benjamin in keine der Fassungen des Kunst- 
werkaufsatzes aufnahm, ist eine wichtige Variante zu seiner Mimesis- 
Theorie von 1933 (s. Bd. 2, 204-213). 

U: Ms 396 - Ringbuchblatt ca. 17X9,5 cm aus dem Konvolut Ms 384-410; 

iiber dem Text griine Sigle M, weitere griine Sigle V links unten; Pagi- 

nierung 4. 
D: 1936 

128 f. [fr 99-102] Zu einer Arbeit uber die Idee der Schonheit 

Der einzige bislang bekannte Hinweis Benjamins auf eine Arbeit Uber die 
Idee der Schonheit oder deren Plan ist der Titel von fr 99. Dieses wie die 
folgenden drei Fragmente gehoren in den Umkreis der Vorarbeiten zur 
Wahlverwandtschaftenarbeit und diirften friihestens ab der zweiten Halfte 
19 19 (s. Bd. 1, 8 11 ) und nicht spater als bis Sommer 1921 (s. a. a.O., 824 f.), 
dem mutmafilichen Beginn der Reinschrift, niedergeschrieben worden 
sein. Am wenigsten scheint fr 99 dem Gedankenkreis der Goethearbeitsich 
einzufiigen; der geschichtsphilosophische Tenor differiert deutlich vom 
asthetisch-symbokheoretischen der iibrigen. Dennoch haben die Hg. sie 
zusammengeordnet. Dafiir sprachen zum einen Blattgleichheit und 
Schriftahnlichkeit der hochstwahrscheinlich hintereinander niederge- 
schriebenen Stucke fr 99 und 100, zum andern die Aufnahme des Titelbe- 



j 6 Anmerkungen zu Seite 128-129 

griffs in fr 101 und 102. So schien es sinnvoller, fr 100-102 dem Titelfrag- 
ment 9% statt den Wahlverwandtschaften-Paralipomena Kategorien der 
Asthetik und Uber »Schein« (s. a. a.O., 828-830, 831-833) - weit mehr 
textbezogenen Sriicken - zuzuordnen. 



128 [fr 99] Zu einer Arbeit uber die Idee der Schonheit 

U: Ms 782 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

spatere Farbstiftpaginierung »2«. 
D: etwa 1919/1920 



128 [fr 100] Reinheit und Strenge . . . 

U: Ms 800 - Blatt ca. 1 1 X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock. 
D: etwa 1919/1920 



128 f. [fr 101] Schonheit 

Fur eine spatere Datierung - ca. 1920/1921 - sprechen folgende Notizen 
auf der Ruckseite des Blatts: Erster Teil: Das Mythische als Thesis [dazu s. 
die Disposition zu den Wablverwandtscbaften, Bd. 1, 835], Wer blind 
wahlt dem scblagt Opferdampf in die Augen [dazu s. a. a.O., 126] und - 
gegenlaufig geschrieben und gestrichen- {Dreifacbe Bedeutung des Opfer- 
todes der Ottilie 

1) Ein Opfer zur Entsiibnung der andern 

Unscbuld 
Reliquien 

2) Ein Opfer des Geschicks 

Scbuldig - Unschuldig 

3) Eine Subnung eigner Scbuld 

Reinigung 

Freitod) [dazu s. a. a.O., 173-175]- 

Der gestrichene Passus zeigt gleichen Schriftduktus und gleiche Tintenart 
wie die Aufzeichnung auf der Vorderseite und ist auf den dritten Teil der 
Wahlverwandtschaftenarbeit, also ihr fortgeschrittenstes Stadium be- 
zogen. 

U: Ms 805 - Blatt ca. 15,5X11 cm. 
D: etwa 1920/1921 



Anmerkungen zu Seite 128-129 707 

nachweis 129,4-9 Schema Leib bis Sprache] s. das Schema Anthropologic, 
fr 44 (64) und die Schemata zum psychophysischen Problem, fr 56 (78-87) 



129 [fr 102] SCHONHEIT UND SCHEIN 

Das fr zeigt gleichen Schriftduktus und gleiche Tintenart wie fr 101 und lag 
auch mit diesem im Nachlafi beisammen. 

U: Ms 806 - Blatt ca. 1 1 x6,$ cm, trapezformig; Riickseite eines Briefaus- 

risses, 
D: etwa 1920/1921 



130-160 [fr 103- 131] Charakteristiken und Kritiken 



130 [fr 103] Der Humor 

Die Aufzeichnung stammt aus der Zeit der Romantikstudien Benjamins. 
Eine Prazisierung lafit Scholems Hinweis auf seinen Briefwechsel mit ihm 
»zwischen September 19 17 und April 1918* zu, bei dem »wir [. . .] auch 
gegenseitig viel Propaganda fiir die von uns favorisierten Bucher* machten. 
»Ich verdanke ihm unter anderem die Bekanntschaf t mit den Grotesken [. . .] 
von Mynona, vor allem mit dem Band >Rosa die schone Schutzmannsfrau< 
[Leipzig 19 1 3], einem uniibertroffenen Werk dieser Gattung [. . .] Die phi- 
losophischen Hintergriinde dieser Geschichten beschaftigten Benjamin und 
haben dann zu seiner hohen Schatzung von Mynonas unter seinem biirgerli- 
chen Namen Salomo Friedlander erschienenen Hauptwerk >Schopferische 
Indifferenz< [Miinchen 1918]*, das er 1920 las, »gefuhrt [. . .] Er war mit 
Benjamin, der ofters recht positiv iiber ihn sprach, seit der Zeit der Neopa- 
thetiker [»Neo-pathetisches Kabarett*, gegriindet 19 10] bekannt* (Scho- 
lem, Freundschaft, 62 f.). Die Exemplifizierung des Humors (1 30) an Fried- 
lander und der Schriftduktus sprechen fiir die Datierung auf jenes halbejahr. 

U: Erster Notizblock, Ms 676 f. - Blatter [1] und [3]; Blatt [1] beschadigt, 

spatere Markierung Benjamins am oberen Rand, 
D: zwischen September 19 17 und April 19 18 

lesarten 1 30, 20 ihre\ fiir {die} - 1 30, 26 liegen] Ende von Blatt [ 1], Verweis 
Benjamins 5. 2 Blatter welter \ er beweist, dafi die Blatter zumindest im Ersten 
Notizblock nicht immer hintereinander, sondern mit Uberspringung schon 
beschriebener benutzt wurden 

nachveis 1 30, 3 und 6 Rechtsprechung obne Urteilxxnd Vollstreckung] s. die 
Anwendung der Definition noch in der Hebelcharakteristik von 1933, Bd. 2, 
628; s. auch vorl. Bd., 703 



131 [fr 104] Bei der Betrachtung der Romantik . . . 

Im Mai 191 8 schrieb Benjamin an Ernst Schoen: Ich studiere [. . ,]jetzt die 
Romantik und zwar> neben der Lekture des Athenaeums, den mir bisher am 
wenigsten bekannten ^4[ugust] W[ilhelm] Schlegel (Brief e, 191) Seine 
Erwahnung (s. 131), der ahnliche Tenor in der Beurteilung dieser Menschen 
(a. a. O.) und im Briefpassus iiber die Humanitat dieser Leute (Briefe, 191) 
sowie in weiteren Parallelurteilen legen eine Datierung um die Zeit nahe, zu 
der der Brief geschrieben wurde. 



Anmerkungen zu Seite 131- 132 709 

U: Erster Notizblock, Ms 684- Blatt [10]; Riickseite: fr 105. 
D:Mai 1918 

lesarten 131,9 beherrschi] sch stillschweigend erg. -131,13 ganz] mogli- 
che Lesart lang - 131, 16 vertagten] mogliche, gleichfalls nicht weiter erhel- 
lende Lesart verfafiten - 131,20 zu ihr] man erwartet zu ihnen; gemeint 
wohl zur Romantik 



i3if. [fr 105] Lucinde 

Das angefuhrte Buch von Enders (131) figuriert unter der Sekundarliteratur 
zur Dissertation Benjamins (s. Bd. 1, 121), die zwischen Marz 191 8 und 
Juni 1919 entstand. Die Niederschrift der Charakteristik eher ab Juni 19 18 
wird durch Benjamins Leseliste gestiitzt, die das Enderssche Buch unter 
der Nr. J7j kurz vor Goethes Metamorphose der Pflanzen, gelesen Som- 
mer 19 18 (s. Brief e, 204), ausweist (s. Bd. 7). 

U: Erster Notizblock, Ms 684 - Blatt [10]; Vorderseite: fr 104. 
D: ab Juni 1918 

LESART 131,26 Wunsche] fur {Sinne} 

nachweise 131,22 Werkes] s. Friedrich v. Schlegel, Lucinde. Ein Roman, 
Berlin 1799 - 132,6 Alarcos] s. ders., Alarcos. Trauerspiel in zwei Aufzii- 
gen, Berlin 1802 



132 [fr 106] Strindberg: Nach Damaskus 

Benjamin las das Drama etwa Anfang 1920, wie aus einer - gestrichenen - 
Stelle seines Briefes an Scholem vom 13.2. 1920 hervorgeht. Dort heifit es 
u.a.: Auch sonst habe ich sebr vie I gelesen. Ein mafilos scbones Buch von 
Stendhal: La Chartreuse de Parme. Strindberg: Nach Damaskus. Kan- 
dinsky: Uber das Geistige in derKunst [. . .] (s. Briefe, 235). Die auch dem 
Schriftduktus nach um diese Zeit entstandene Aufzeichnung ist den Noti- 
zen Uber Dramen zuzurechnen, von denen in einem Brief vom Ende 
Dezember 1920 die Rede ist (s. Briefe, 250). Darin kiindigte Benjamin 
Scholem Abschriften dieser Notizen an, von denen drei erhalten und unter 
den »Asthetischen Fragmented in Band 2 (s. 610-615) abgedruckt sind. 
Warum unter diesen Abschriften die der Notiz uber das Strindbergdrama 
fehlt, ist unbekannt. Auszugehen war vom verschiedenen Autorisierungs- 
grad (s. a. a. O., 1410) und das fr dem vorliegenden Band vorzubehalten. 



710 Anmerkungen zu Seite 132-133 

U:Ms 769 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock, 
beige legt einem Konvolut (Ms 761-779); spatere Bleistiftpaginierung 

D: etwa Anfang 1920 

lesarten 132,9 bewegt zu einer] fur {legt eine} - 132,13 vielleicht] fur 
{wobl} ~ 132, 18 Das [. . .] Auge] fiir die [. . .] Betrachtung 
nachweis 132,8 Damaskus] s. August Strindberg, Nach Damaskus. 
Deutsch von E. v. Hollander, Berlin, Munchen 19 19; Benjamin konnte 
auch die Ausgabe: ders., Nach Damaskus. Verdeutscht von E. Schering 
(Strindbergs Werke. Deutsche Originalausgabe), 2. Aufl. des 1. und 2., 1. 
Aufl. des 3. Teils, Munchen 1912 benutzt haben 



132 [fr 107] Negativer Expressionismus 

Trotz der Stichwortformigkeit war das fr der physiognomischen Relevanz 
wegen dieser Gruppe zuzuordnen; zur reservierten Stellung Benjamins 
zum Expressionismus s. auch Scholem, Freundschaft, 85. 

U: Erster Notizblock, Ms 697 - Blatt [23]. 
D: etwa 1921 



133 [fr 108] Kasperletheater 

Der Schriftduktus ist dem von fr 52 auf Blockblatt [33] noch am ahnlich- 
sten; die spatere Blattfolge im Block legt eine Datierung auf etwa 1921 
nahe, vorausgesetzt, sie indiziert spatere Eintragung, was aber zumindest 
im Ersten Notizblock eher zu den Ausnahmefallen rechnet. 

U: Erster Notizblock, Ms 710 - Blatt [36]. 

D: eher 192 1 
/ 

nachweise 133,4 Skys] Trumpfkarte im Tarockspiel - 133, 10 f. Toten- 
tanz] s. Alfred Rethel, Auch ein Totentanz. Holzschnittfolge (6 Blatter, 
mit Versen von R. Reinick), ersch. 1849; ferner: ders., Der Tod als Wiir- 
ger, Der Tod als Freund. Holzschnitte, ersch. 1847-185 1 



Anmerkungen zu Seite 133-135 711 

133-135 [fr 109] Baudelaire II, III 

Aus Heidelberg berichtete Benjamin am 25. 7. 1921, er denke ein biftchen 
uber den Vortrag uber Baudelaire nach, der meine winter Itch e Vorlesung 
(in der Ewer Buchhandlungf) einleiten soil und sehr schon werden soil 
(Brief e, 268) Im Dezember ist die Rede von der Beschaftigung mit Baude- 
laires Leben> der ich mich jetzt etwas zuwenden muft. Denn es ist Aussicht 
vorkanden, daft ich im Laufe des Winters in einer [Berliner] Buchhandlung 
(vielleicht bei Reufi und Polla[c]k) die oftgeplante Vorlesung aus den [Bau- 
delaire-] Ubersetzungen [s. Bd. 4, 7-82] halten kann und dabei will ich den 
Gedicbten einen Vortrag uber den Dichter vorausschicken, in dem ich die 
groftte Exaktheit mit einigen wesentlichen Andeutungen unter absolutem 
Ausscblufi von Tiefsinn verbinden will (Brief e, 287) Vorlesung und Vor- 
trag sollten dem Vertrieb des Buches [scil. Charles Baudelaire, Tableaux 
parisiens. Deutsche Ubertragung mit einem Vorwort uber die Aufgabe des 
Ubersetzers, das Richard Weifibach 1923 in Heidelberg herausbrachte] 
einen ebenen Weg [...] bahnen (Anfang 1922, an Richard Weifibach). Vor- 
lesung und Vortrag fanden am 15.3. 1922 in der Buchhandlung Reufi und 
Pollack statt (s. Bd. 4, 891 f.). »Wahrscheinlich sprach Benjamin frei; denn 
es heifit in einem spateren Brief [an Weifibach vom 24. 1. 1924]: Von mei- 
nem Baudelaire-Vortrag in Berlin habe ich keine schriftlichen Aufzeich- 
nungen.« (a. a. O., 892) Damit mufite ein Vortragsmanuskript gemeint 
sein, denn schriftliche Aufzeichnungen - augenscheinlich solche zu dem 
Vortrag - sind in Gestalt der fragmentarischen Baudelaire II und 777* tat- 
sachlich erhalten ; Abschnitt I und moglicherweise IV und weitere sind ver- 
loren. 

U: Ms 1048 f. - zwei Blatter je ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem 
Notizblock; Blatt [2] schliefit mit Baudelaire III nicht an II an, sondern 
danach folgt die Fortsetzung einer Aufzeichnung zur Wahlverwandt- 
schaftenarbeit (sein kann bis erwachsen^ s. Bd. 7) auf dem Rest der Vor- 
der- und der ganzen Riickseite von Blatt [1]; beide Blatter durch Klam- 
merung leicht beschadigt. 

D: 1921/1922 

lesarten 133,22 Apparates] konj. fur Apparates, - 134,5 uns ] konj. fur 
uns, -135,11 Will er nicht sagen] fur {Meint er nicht) - 135, 1 1 Trubsinni- 
gen] fur {Triibsinnigsten} 

nachweise I34,8f. hedonische bis Dime] s. fr 53-134,11 scbon«] Mac- 
beth, 1. Akt, 1. Szene - 134,21 Laforgue] Benjamin meint den franzosi- 
schen Dichter Jules Laforgue (1 860-1 887), einen Vertreter des Symbolis- 
mus und Freund Mallarmes - 134,26 Verworfne] s. Charles Baudelaire, 
Der Verworfene [Les fleurs du mal, Ausz.]. Nachdichtungen von Hans 



712 Anmerkungen zu Seite 133-137 

Havemann, Hannover 1920 - 134,31 Ideal] zur Ausgabe der »Fleurs du 
mal«, die Benjamin seinen Ubertragungen zugrundelegte, s. Bd. 4, 893 - 
134,33 Vergeistigung*] s. Charles Baudelaire, Blumen des Bosen. Umge- 
dichtet von Stefan George, Berlin 1 89 1 ; s. auch: ders., Gesamt-Ausgabe der 
Werke. Endgiiltige Fassung,Bd. 13/14- 134, }6i. spirituelle] s. »Spleen et 
ideal«, 49. Gedicht; Benjamins Ubertragung, Bd. 4, 70 



135 [frilO] UBER DEN DlLETTANTISMUS 

Die Aufzeichnung setzt bestimmte Uberlegungen der Fragmente iiber 
Pbantasie (s. fr 8 if. u.a.) voraus. Der Schriftduktus ist der der- aufrecht- 
stehenden - Eintragungen in Benjamins Leseliste im Zeitraum 1922/ 1923 
(s.Bd.7). 

U: Ms 860 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock. 
D: etwa 1922/1923 

lesarten 13$, 25 Tanze] danach {mit} - 135,27 diese] fur {solcbe} 



136L [fr in] Gegen die Theorie des »verkannten Genies* . . . 

Der terminus a quo ist durch den Hinweis auf das Moskauer Tagebuch (136; 
s. 292-409) gegeben, ein terminus ad quern durch die Arbeitsanweisung in 
Notiz 9) zum Programm der liter ariscben Kritik von 1 929/1 930: Tbeorie des 
verkannten Genies ist bier einzusetzen (163). Zwar folgt im Zweiten Notiz- 
block die Charakteristik der ersten Gruppe der Programmnotizen i)-i 1) (s. 
734), miifite also der Blattfolge nach spater entstanden sein; aber es ist 
unwahrscheinlicher, dafi der Arbeitshinweis in Notiz 9) etwa bedeutet, die 
erst noch zu fixierende Aufzeichnung zur Tbeorie des verkannten Genies 
ware bier einzusetzen, als dafi er vielmehr die schon fixierte voraussetzt - 
dann aber gegenlaufig zur Blattfolge, mit Uberspringung leergelassener 
Blatter, die spater beschrieben wurden; ein, wie auch bei dieser Gelegenheit 
anzumerken ist, nicht seltener Fall. Wegen der gedanklichen Nahe des zwei- 
ten Abschnitts der Charakteristik (s. i36f.) ist zu vermuten, dafi sie eher 
1927, kaum spater als 1928 niedergeschrieben wurde. 

U: Zweiter Notizblock, Ms 723 - Blatt [8]. 
D: eher 1927 

lesarten 136, 1 8 die] danach {auch wo sie auf der Hobe steben) - 136,22 
selten wird] fur {me kann) - 136,3 1 Opportunisms -] dazwischen {mit} 



Anmerkungen zu Seite 136-138 713 

nachweise 136,4 Zeiten«] Wallenstein. Erster Teil, Prolog, v. 48 f. - 
136,26 nachschlagen] s. etwa22. Dezember, 321 - i}j,zwerden] s. Deut- 
sche Dichtung, rig. und eingeleitet von St. George und K. Wolfskehl, Bd. 
3: Das Jahrhundert Goethes, Berlin 1902; 2. Ausg., Berlin 1910, 7 (Vor- 
rede) 



137 [fr 1 12] ElNIGE DER BtJCHER VON DENEN MAN SPRICHT . . . 

Der Passus Ungefahr gleichzeitig (137) lafit eine Datierung der - augen- 
scheinlich unvollendeten - Kritik entweder auf 1927 oder 1928 zu; »Les 
memoires de Josephine Baker« und das erste Erinnerungsbuch Yvette 
Guilberts (»La chanson de ma vie«) erschienen 1 927, ein zweites (»L'art de 
chanter une chanson*) und drittes (»La passante emerveillee*) 1928. 1st mit 
Ungefahr gleichzeitig das Erscheinen des Bakerschen und ersten Guilbert- 
schen Buches 1927 gemeint, diirfte die Aufzeichnung noch in diesemjahr 
entstanden sein; wollte Benjamin die Zeitdifferenz zwischen dem Erschei- 
nen des Bakerschen und des zweiten und dritten Guilbertschen ein Jahr 
spater ausdrucken, dann nicht vor 1928. 

U: Schwarzes Lederheft, S. 31 
D: 1927 oder 1928 

lesarten 1 37, 5 und] den Raum fur einen vierten Namen liefi Benjamin leer 
- 137,11 eingerichtet,] danach {indem sie einen jungen und talentierten 
Journalisten] - 137, i^f. mittleren Verfahren] fiir {Mittelwege} 
nachweis 137,7 Baker] s. Les memoires de Josephine Baker, recueillis et 
adaptes par Marcel Sauvage. Ed. originale. Avec 30 dessins inedits de Paul 
Colin, Paris 1927 



i37f. [fr 113] Chaplin 

»The Circus* von 1928 wurde ab diesemjahr auch in Deutschland aufge- 
fiihrt. Benjamin diirfte den Film 1928/1929 in Berlin gesehen haben. 

U: Zweiter Notizblock, Ms 735 - Blatt [20]. 
D: 1928/1929 

lesarten 137,27 Lachen) fiir {Geldcbter} - 138,6 Kreis] danach {nun 
abgescbritten hat, in dem ihm) - 138,24 Echtheitsmarke] fiir {Fabrik- 
marke) - 138,25 Signet] fiir {Zeichen} - 138,26 ist] davor {zu spuren) 



714 Anmerkungen zu Seite 138-141 

1 38-141 [frii4] HansHennyJahnn:Perrudja 

1929 »veroffentlichte die Lichtwark-Stiftung zu Hamburg den Roman Per- 
rudja in einer litnitierten Auflage von etwa 1020 Exemplaren« (H.H. 
Jahnn, Perrudja. Roman, 2.-5. Tsd. d. Gesamtaufl., Frankfurt a.M. 1958, 
7). Eine Kopie vom Manuscript des ersten Teiles war bei einem Verlag ein- 
gereicht worden, fur den Benjamin ein Gutachten anfertigte; zum zweiten 
Teil (s. u.) heifit es - spater - bei Jahnn: »Der Autor hatte den Plan, einen 
zweiten Roman mit dem gleichen oder einem ahnlichen Titel folgen zu 
lassen. Die politischen Ablaufe in Deutschland zerschlugen die Absicht. 
Der limitierten Ausgabe der Stiftung folgte auch keine weitere. Von der 
Fortsetzung der Arbeit erschien nur ein einziger Abschnitt* (H.H. Jahnn, 
Perrudja, a. a. O.)* Aufier der Niederschrift des Benjaminschen Gutach- 
tens ist der Entwurf der Liquidation und eines Begleitschreibens erhalten; 
leider fehlen Datum und Verlagsadressat. Er lautet: Liquidation [/] Ein 
Gutachten uber HHJ: P [/] (Umfang uber 40 Bogen) [/] 200 M zahlbar 
Konto Dr WB. Deutsche Bank [danach:] Sehr geehrter Herr Doktor y [/] 
beiliegend erhalten Sie das Gutachten; morgen folgt das Manuscript. Die 
Verzogerung entstand schliefllich im wesentlichen durch die Schwierigkeit 
der ausgedehnten Lekture, die durch den Zustand der stellenweise schwa- 
chen Kopie noch erhbht wurde. [/] Sie entnehmen dem Gutachten meine 
eindeutig ablehnende Stellungnahme und ihre Begrundung. Ich wtirde es, 
von allem andern abgesehen, fur schwer verantwortbar halten % die Mittel 
eines angesehnen Verlages an ein Unternehmen zu wenden, bei dem 
Umfang (vergl die Voranzeige eines zweiten Teiles am Schlusse) undgeisti- 
ger Ertrag in so irreparablem Mifiverhdltnisse stehen. [/] Stets gem zu Ihren 
Diensten Mit den besten Empfehlung[en /] Ihr sehr ergebener (Pergament- 
heft SSch, S. 52). Der angesehne Verlag konnte Rowohlt gewesen sein, den 
Benjamin - freiiich erst 1930 - gelegentlich der Lekriire von Lektorengut- 
achten in der »Frankfurter Zeitung« Scholem gegenuber erwahnte: Der- 
gleichen verfasse ich jetzt des ofteren fur Rowohlt. Genau gesagt sind es 
Obergutachten Uber Manuskripte, die ihm von den ordentlich bestellten 
Lektoren empfohlen werden. Dieses streng unter uns zu halten (Brief e, 
5 1 8). Nimmt man die Angabe jetzt wortlich, ist die Anfertigung eines Gut- 
achtens fur Rowohlt uber einen Roman, der 1929 bereits erschienen war, 
auszuschliefien. Beriicksichtigt man aber die Verzogerung des Gutachtens 
durch die Schwierigkeit der ausgedehnten Lekture, wird ein terminus a quo 
um 1928/ 1929 wenigstens fur die erste Niederschrift wahrscheinlich - eine 
Zeit, zu der Benjamin zu Rowohlt auch in Beziehung stand, und zwar in 
hochst unbefriedigender vertraglicher (s. Briefe, etwa 455); das braucht 
eine gelegentliche Gutachtertatigkeit schon damals jedoch nicht auszu- 
schliefien. Vielleicht entsann sich Benjamin des Einzelfalls 1930 nicht 
mehr, vielleicht auch ist mit jetzt nicht dieses Jahr, sondern »in letzter Zeit« 



Anmerkungen zu Seite 138-141 715 

oder ahnliches gemeint. Er konnte des Auftrags auch fiir einen andern Ver- 
lag sich entledigt haben. Am wahrscheinlichsten ist, daft das verzogerte 
Gutachten - fiir Rowohlt oder wen auch immer- sich durch das Erscheinen 
des Romans 1929 erledigt hatte. 

Die Erschliefiung der Niederschrift bot Schwierigkeiten vor allem bei der 
Rekonstruktion der Textfolge; ihre Aufzeichnung ist exemplarisch fiir die 
Art, wie Benjamin das - Alfred Cohn geschenkte und aus dessen Nachlafi 
in Scholems Besitz ubergegangene - Pergamentheft benutzte. Seitdem icb 
weifi, so Benjamin im Februar 1929 an Cohn, dafi Du das Pergamentbucb 
bekommen sollst, bin icb, jedenfalls darin, vielfleifiiger und beschreibe es in 
die Kreuz und die Quer [. . .] Der Umgang mit ibm bat mix zudem ein 
bescbdmendes faible fur dieses ganz dtinne, durcbscbeinende - mit Sicher- 
heit nicht nur Cohn die grofken Entzifferungsschwierigkeiten bereitende- 
und docb vorzugliche Papier gegeben, das icb bier [in Berlin] leider nirgends 
auftreiben kann. (Briefe, 487) Die betreffenden Seiten mit der/^««kritik 
sind folgendermafien beschrieben: der Text beginnt auf S. 50 mit der 6. 
Zeile, wird, nach der 19., auf S. 5 1 bis zur 6. Zeile weitergefiihrt, springt 
von da zuriick zur 1 . auf S. 50, fullt den Leerraum bis zur 5. Zeile, wechselt 
wieder zur S. 51 iiber, die ab der 7. Zeile bis zur 48. vollgeschrieben wird, 
um schliefilich auf dem Rest der S. 50 von der 20. bis zur 39. Zeile zu Ende 
gefuhrt zu werden. Ein zwingender Grand fiir solche Textfuhrung ist, 
jedenfalls der Photographie der Handschrift nach zu urteilen, nicht auszu- 
machen. Der Entwurf der Liquidation und des Begleitschreibens (s. o.) fin- 
det sich in kraftiger Schragschrift auf dem Riicken der durchlassigen S. 5 1 — 
mit seinerseitigem Durchschlagseffekt auf den dort stehenden Text. 

U: Pergamentheft SSch, S. 50 f. 
D: 1928/1929 

lesarten 1 38, 29 f. vorliegende ( ', )] diese wie die meisten folgenden Hin- 
zufiigungen sind in der Regel leicht zu erschliefiende Erganzungen auf den 
Blattrandern, die beim Photographieren nicht optimal erfafk wurden - 
139, 2f. aufkeine Weise] fiir {nicht) - 139, 1 8 sei(nes)] fiir {der Pbysis des} 
- 139,29 lafit).] konj. fiir laflt.) - 140,9 Form] fiir {Stilfo(rm)} - 140,36 
todlicbem] fiir {ricbterl(icbem)} ~ 141,26 formale Vollendung] fiir 
{Strenge} - 141,27 Motiven] fiir {Stoffen} - 141, 27 f. um bis werden] fiir 
{um die ganze Enge zu spiir en t mit der das (x) Leben bier (x) eingebt 

<**>) 

nachweise 138,28 Perrudja] s. Hanns Henny Jahnn, Perrudja. Roman, 2 
Bde., Berlin 1929 - 140,23 war«] ders., dass., 2.-$, Tsd. d. GesamtaufL, 
Frankfurt a. M. 1958, 524- 140,17 Schwaren.*] a. a. O., 93- 141, 14 Brust] 
s. die Rezension von »Jutt und Jula«, Bd. 3, 10 1- 104 



71 6 Anmerkungen zu Seite 141 -143 

141 f. [£rii5] Zu Dostojewski 

Die Aufzeichnung findet sich im Zweiten Notizblock zwischen der zwei- 
ten und dritten Gruppe der Notizen zum Programm der literarischen Kri- 
tik (s. 734) von 1929/1930 und durfte in der zweiten Halite 1929 niederge- 
schrieben sein. Sie ist im Zusammenhang der Aufierungen seit der Kritik 
des »Idioten* von 19 17 (Brief e, 173 ; s. Bd. 2, 237-241) bis zu dem Brief an 
Leo Lowenthal von 1934 (s. Bd. 2, 978 f.) und ihrer Konstanz in der Schat- 
zung Dostojewskis zu lesen. 

U: Zweiter Notizblock, Ms 740 - Blatt [25]. 
D: zweite Halfte 1929 

lesart 142, 5 f. idealistische Bourgeois] fur {gedankenlose Frommler} 

142 f. [fr 116] Zu Knut Hamsun i 

Der letzte Abschnitt der Ende Juli 1929 entstandenen Aufzeichnung (143) 
ist durch grofieres Spatium und Trennstrich abgesetzt, aber eindeutig, wie 
Schriftduktus und Tintenart zeigen, im gleichen Schriftzug niedergeschrie- 
ben. Zu vermuten ist, dafi Benjamin der eher biographisch getonten Intro- 
duktion eine Gedankenreihe folgen lassen wollte, die er mit dem letzten 
Abschnitt eroffnete, aber an dieser Stelle nicht weiterfiihrte. Als eine Fort- 
setzung kann fr 1 17 gelesen werden. 

U: Schwarzes Lederheft, S. 27 
D: Ende Juli 1929 

nachweis 142, 14 f. Berendsohn] s. Walter A[rtur] Berendsohn, Knut 
Hamsun. Das unbandige Ich und die menschliche Gemeinschaft, Miinchen 
1929 



143 [fr 117] Zu Knut Hamsun 2 

Die Aufzeichnung stent auf dem letzten Blatt des Zweiten Notizblocks, auf 
dem vorletzten eine Siena 28 Juli 1929 datierte Notiz (s. fr 175). Zufolge der 
Zeitangabe in fr 116 (s. 142) befand sich Benjamin auf der Ruckreise aus 
Italien iiber Miinchen nach Berlin. Dies spricht auch chronologisch fur die 
Niederschrift sehr bald im Anschlufi an fr 116- jedenfalls der ersten drei 
Abschnitte (s. 143); die beiden letzten haben anderen Schriftduktus. 



Anmerkungen zu Seite 143-144 717 

U: Zweiter Notizblock, Ms 745 - Blatt [30]. 
D: bald nach Ende Juli 1929 

lesart 143, iof. Flucb und Vorrecbt] fiir {ein Vorrecht} 
nachweis 143,21 Landstreicber*] s. Knut Hamsun, Landstreicher. 
Roman, iibersetzt v. Julius Sandmeier u. Sophie Angermann. Gesammelte 
Werke in 15 Bdn. Deutsche Originalausgabe, bes. u. hg. von Josef Sand- 
meier, Bd. 14, Munchen 1928; s. Benjamins Leseliste, Nr. ///;, Bd. 7. 



143 f. ffr 118] Zur Kritik von Ludwig, Strachey, Maurois etc. 

Die Aufzeichnung findet sich auf einem augenscheinlich von dem Zweiten 
Notizblock hinten abgetrennten Blatt und weist den Schriftduktus etwa 
der Blatter mit den Notizen zum Programm der literarischen Kritik (s. 734) 
auf, in deren weiteren Umkreis auch die Charakteristik der neuen Biogra- 
phik (143) gehort. Von deren Erzeugnissen lagen bis 1930 - dem wahr- 
scheinlichsten Entstehungsjahr des fr - u.a. vor: »Goethe« (1920), »Rem- 
brandts Schicksal« (1923), »Napoleon« (1925), »WUhelm II«, »Bismarck« 
(1926), »Der Menschensohn* (1928), »Michelangelo« und »Lincoln« 
(1930) von Emil Ludwig, »Eminent Victorians* (19 18), »Queen Victoria« 
(192 1) und »Elizabeth and Essex « (1928) von Lytton Strachey und » Ariel, 
ou la vie de Shelley « (1923), »Disraeli« (1927) und »Byron« (1930) von 
Andre Maurois. 

U: Ms 598 - Blatt ca. 11X9 cm, herausgetrennt aus dem Zweiten Notiz- 
block. 
D: etwa 1930 

lesarten 143,31 So] fiir {bier} - 144,7^ seinen Helden bildlicb, oft] fiir 
{einen Menscben vorbildlich) - 144,13 Goethe «.] danach {Sie sind abet 
nicht nut dem strengen Begriffe des Helden und seiner Verebrung sondern 
vor allem dem Menscben selber kontrar, weil sie ihm in Sein und Handeln 
das Zufallige und eben damit das nehmen, wie seine Gestalt am drastisch- 
sten> konkretesten zusammenscbieflt.} - 144, 17 seine Leser] fiir {die} Leser 
{mit} 

nachweise 144, 5-20 Die bis lassen] der Passus ging wenig verandert ein in 
Wider ein Meisterwerk, Bd. 3, 256 (s. Z. 26-39) - 144,6 Ludwig] s. Bd. 4, 
944 - 144, 1 5 Millionare] s. a. a. O., 729-737 



71 8 Anmerkungen zu Seite 144-146 

144L [frii9] ZuMicky-Maus 

Zur Datierung der Aufzeichnung hilft der Hinweis auf Gustav Gluck (144), 
den Benjamin in einem Brief an Scholem vom 17. 4. 193 1 als einen der mix 
Nabestebenden, Dir noch unbekannte[n] erwahnte - kein Scbriftsteller, 
sondern ein boberer Bankbeamter (Brief e, 529) -, ein Vertrauter aus dem 
Umkreis der kleine[n] aber wicbtigste[n] avantgarde die eine Stellung [bier 
in Berlin] zurzeit besetzt bait (Briefe, 530). Ende Oktober 193 1 nannte er 
Gustav Gluck seinen nacbste[n] Umgang [. . .] seit ungefabr einem Jabr 
(Briefe, 542; s. den Portratabrifl, a. a.O., von 1931, Bd. 4, 396-398); er 
lernte ihn also etwa im Spatherbst 1930 kennen. Das Gespracb (144), das 
Motive festhalt, die in den Kunstwerkaufsatz von 1935 eingingen, diirfte 
im Laufe des Jahres 193 1 gefuhrt worden sein. 

U: Ms 778 - Blatt ca. 11,5X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock 
und beigelegt einem Konvolut (Ms 762-779); spatere Bleistiftpaginie- 
rung »i7«. 

D:i93i 

lesarten 144,21 und passim Micky-Maus] Benjamin schrieb durchgangig 
Micki Maus; die korrekte amerikanische Schreibweise » Mickey Mouse* 
kommt bei ihm nur in der franzosischen Fassung der Kunstwerkarbeit, s. 
Bd. 1, 732, vor, in der deutschen schrieb er Micky-Maus, s. a. a.O., 433, 
462, Diese der gelaufigen deutschen Version »Mickymaus« am nachsten 
kommende wurde fur das fr iibernommen - 144,23 und 145,4 Micky- 
Maus-Film[e]\ konj. fur Micki Maus Film[e] 

nachweis 144,21 Zu Micky-Maus] s. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner 
tecbnischen Reproduzierbarkeit, Bd. 1, 462, 732 und die - wichtige - 
Variante zu Disney, Bd. 7; s. auch Bd. 2, 218 



145 f. [fr 120] HOFMANNSTHAL MIT AlECO DoSSENA ZUSAMMENZU- 
RUCKEN . . . 

Die Charakteristik findet sich auf einem aus dem Zweiten Notizblock her- 
ausgetrennten Blatt. Ware es aus dem vorderen Teil - mit Auf zeichnungen 
iiberwiegend aus den Jahren 1928/ 1929 - herausgetrennt worden, konnte 
dies auf zwei Ereignisse in diesen Jahren als Anlasse zur Niederschrift hin- 
weisen: den Erweis von angeblichen Skulpturen des Trecento und Quat- 
trocento, auch griechisch-archaischer Plastiken in mehreren Museen als 
Falschungen des italienischen Bildhauers Aleco Dossena (1 878-1937) im 
Jahre 1928 und den Tod Hofmannsthals am 1 5. 7. 1929. Schriftduktus und 
Tintenart freilich sprechen mehr fiir eine Niederschrift aus den Jahren 



Anmerkungen zu Seite 145-147 719 

1930/193 1 - eine aus dem hinteren Blockteil, moglicherweise, wie schon 
bei fr 118 vermutet (s. 717), vom Blockende. 

U: Ms 598 - Blatt ca. 1 1X9 cm, herausgetrennt aus dem Zweiten Notiz- 

block. 
D: 193 1, vielleicht 1930 

lesarten 146, i6f. wesentliche Geschehen] fur {Geschehende} - 146,24 in 
der politischen Pfalz] fur {im Hexensabbath} 

nachweise 145,20 Odipus] s. Hugo v. Hofmannsthal, Odipus und die 
Sphinx, Berlin 1906 - 145,201. Elektra] s. ders., Elektra, Berlin 1904 - 
145,21 Venedig] s. ders., Das gerettete Venedig, Berlin 1905 - 145,21 
Jedermann] s. ders., Jedermann, Berlin 191 1 - 145,22 Traum] s. ders., Der 
Turm, Miinchen 1925 und [neue Fassung] Berlin 1927; s. die Rezensionen 
Bd. 3, 29-33 unc * 98-101-145,25 Schatten] s. ders., Die Frau ohne Schat- 
ten, Berlin 1919-145,30 Turm] s. Anm. zu 145,22 



146 f. [fr 121] Schema zu einem Nachruf auf Joseph Roth . . . 

Roth starb am 27. 5. 1939 in Paris; das Schema durfte Benjamin unter dem 
Eindruck von der Todesnachricht niedergeschrieben haben. Es findet sich 
- zusammen mit einer Notiz (s. fr 188) - auf der Ruckseite eines Briefabris- 
ses; der Brief konnte nach erhaltenen Durchschlagen identifiziert werden 
(s. 17. 2. 1939, Max Horkheimer an Benjamin; sign. Trude Bloch). Die 
Angabe den ersten Abend, da ich meine [Berliner] Wobnnng auf immer 
verliefl, ist auf den Tag Anfang August 1929 zu beziehen, als Benjamin aus 
seinem Elternhaus in Grunewald auszog. 

U: Ms 641 - Blatt ca. 21,5X10 cm; abgetrennter unterer Teil des Briefs 
Horkheimers an Benjamin vom 17. 2. 1939; die dem Schema folgende 
Aufzeichnung s. fr 188. 

D: etwa Ende Mai 1939 

nachweise 146,27 Roth] s. auch Moskauer Tagebuch, 311 f. (16. Dezem- 
ber 1926) und Scholem, Freundschaft, 177 



720 Anmerkungen zu Seite 147-148 

147 [fr 122] NOTIZEN ZU EINER KRITIK VON FRANZ MARC 

Wie aus Benjamins Lektiireverzeichnis (s. 823) Marc: Brief e (zum grofiten 
Teil [scil. gelesen]) t Bd. 7) hervorgeht, befafite er sich mit dem Buch 1922. 

U: Ms 669 - Blatt ca. 16,5 x 10,5 cm, abgetrennt von einem Bogen. 
D: 1922 

lesart 147, 14 hellseberiscbem Training] fur {bellseherischer EinfUhlung) 
nachweise 147, 10 p jo] s. Franz Marc, Brief e, Aufzeichnungen und 
Aphorismen, Bd. 1, Berlin 1920, 50 (12. 4. 191 $)- 147, 13 Hellsicht] s. auch 
a.a.O., 41 (28. 3. 1915), 129 (Aph. 45), 131 (Aph. 87) - MM5 tHn ] s - 
a.a.O., 48 (8. 4. 191 5) 

147L [fr 123] Zu Scheerbart: »Munchhausen und Clarissa« 

Benjamin las den Roman, wie das Lektiireverzeichnis unter Nr. 851 (s. Bd. 
7) ausweist, urn 1922/ 1923. 

U: Ms 836 - Blatt ca. 14X n cm, abgetrennt von einem Bogen. 
D: um 1922/1923 

nachweise 147,25 Clarissa*] s. Paul Scheerbart, Miinchhausen und Cla- 
rissa. Ein Berliner Roman, Berlin 1906 - 147,28 Apparat] s. a. a. O., 29 f. 
(Der Montag) - 148,2 Lesabendio] s. ders., Lesabendio. Ein Asteroidenro- 
man, Munchen 1913; s. Benjamins Kritik, Bd. 2, 618-620; zur zweiten 
Arbeit iiber Scheerbart (s. a. a. O., 630-632) und zur verlorenen dritten s. 
a. a. O., 1423-142 5 - 148, 1 1 p 8] s. Scheerbart, Miinchhausen und Clarissa, 
a.a.O., 8 (Das Vorspiel) - 148,12 Plastiken] s. a.a.O., 51-63 (Der Mitt- 
woch) - 148, 1 5 Bloch] scil. die verlorene von »Geist der Utopie«, die Ben- 
jamin zwischen 5. 12. 1919 (s. Brief e, 227) und 2. 2. 1920 (s. Brief e, 232) 
schrieb - 148,20 Melbourne] s. Scheerbart, a.a.O., 91 (Der Freitag) und 
109 f. (Der Sonnabend) - 148, 20 f. Sonnenstaat] s. Tommaso Campanella, 
La citta del sole [Civitas solis, 1623], hg. von A. Aggazi, Siracusa 1958; 
verbr. dt. Ausg.: Thomas Campanella, Der Sonnenstaat. Ubers. [. . .] von 
J. E. Wessely [hg. von E. Fuchs], Munchen 1900 

148 [fr 124] Leon Daudet 

Die Notizen finden sich auf der Riickseite eines Blatts mit - gestrichenen - 
Aufzeichnungen hauptsachlich zu Benjamins Interview mit dem franzosi- 



Anmerkungen zu Seite 148-149 721 

schen Faschistenfiihrer George Valois (s. Fiir die Diktatur, Bd. 4, 487- 
492), das er September 1927 in der »Literarischen Welt« veroffentlichte (s. 
a. a. O., 1055). Bei Daudet handelt es sich um den Mitbegriinder der 
monarchistischen Zeitung » Action franc, aise«, royalistischen Parteifuhrer 
und Literaten Leon, den Sohn Alphonse Daudets. Sein Buch »Etudes et 
milieux litteraires* las Benjamin 1927, wie die Nr. 10 $3 seines Lektiirever- 
zeichnisses ausweist (s. Bd. 7). Auf es durften die Notizen- wohl solche zu 
Hintergrundstudien fiir das Interview (s. Bd. 4, 489) - sich beziehen; da 
Benjamin sie nicht strich, ist anzunehmen, dafi er sie anderweitig zu ver- 
werten vorhatte. 

U: Ms 435 - Blatt ca. 13,5X10,5 cm, abgetrennt von einem Bogen; die 
Notizen zu Daudet stehen - zusammenhangend - zwischen den gestri- 
chenen zum Valois -Interview; Brandspur. 

D: August/September 1927 

lesart 148,34 Anekdote] im Ms folgende Zeile {Typen des kritischen 
Gew) 



149 [fr 125] JOUHANDEAU: LES PlNCENGRAIN 

Das Buch, das Benjamin Januar 1930, neben anderen von Jouhandeau, 
Scholems Lektiire empfahl (s. Briefe, $07), figuriert unter den Eintragun- 
gen in seine Leseliste aus dem Jahr 1925 (s. Nr. ySj) Bd. 7). Jouhandeau 
fesselte ihn ahnlich wie Julien Green. Ce sont, schrieb er von Buchern des 
erstern, des etudes de la vie journaliere catbolique en province francaise 
qu'ilfait: toute imbue d'un my sticisme formidable et [. . .] »un pen sentant 
le fagot*. En effet ily a dans ces tableaux ou toujours les memes personnages 
reviennent y une sorte d'enchevetrement entre lapiete de la vice qui, desfois t 
frise le satanisme. (Briefe, 506 f.) Ein Jahr zuvor hatte er Scholem von seiner 
Ubersetzung eine[r] groj!e[n] Novelle von Jouhandeau »Le marie du vil- 
lage* berichtet - eine Novellen-Auswahl fiir Kiepenheuer iibernahm er 
1930 (cit. Scholem, Freundschaft, 203) - und hinzugefiigt: En demeurant 
glaubt [der Endesunterfertigte] Dich aufdiesen Autor, dem in der Stickluft 
kleiner franzosiscber Sakristeien Visionen sich zeigen, vor denen die 
gewiegtesten Heiligen von nebenan Reifiaus nehmen wurden, schon hinge- 
wiesen zu baben. (Briefe, 490) Die Notizen zu Les Pincengrain konnen 
nicht gelegentlich der ersten Lektiire 1925 entstanden sein, sondern friihe- 
stens ab 1927, dem Erscheinungsjahr der Adrienne Mesurat, die Benjamin 
1928 gelesen haben diirfte (s. Bd. 2, 1070) und auf die die letzte Notiz (149) 
verweist - es sei denn, sie wurde wenigstens zwei bis drei Jahre spater nach- 
getragen, was aber wegen des Schriftduktus wenig wahrscheinlich ist. 



722 Anmerkungen zu Seite 149-151 

U: Ms 1957-Blattca. 16,5X10,5 cm, abgetrennt von einemBogen; diverse 

Notizen auf der Riickseite. 
D: etwa 1928 

lesarten 1 49, 24 verwandeln] dahinter ein grofier Pfeil, der auf den Passus 
Staatswesen bis halten (149,30-35) in der vorletzten Notiz weist - 149,36 
laique] danach, in grofiem Abstand, am rechten unteren Blattrand X, zu 
lesen wohl »fortzusetzen« 

nachweise 149, 1 Pincengrain] s. Marcel Jouhandeau, Les Pincengrain, 
Paris 1924 (trois. ed.) - 149,4 Zeline] s. a. a. O., Mademoiselle Zeline ou 
bonheur de dieu, 59-78; von Benjamin iibersetzt (s. den Nachweis Bd. 4, 
1045) - 149, 8 Lenoir] s. a. a. O., Melanie Lenoir ou comme on fait son lit, 
on se couche, J9-97 - 149, 12 Novellensammlung] s. a. a. O.: Les Pincen- 
grain, 7-57; Mademoiselle Zeline ou [. . .], 59-78; Melanie Lenoir ou [. , .], 
79-97; Clodomir l'assassin, 99-109; Madame Quinte ou la chevre d'ivoir, 
111-129; Vieille Franchise ou »A la conquete de Phonorabilite*, 131-147; 
Noemie Bodeau ou la morte maquillee, 149-187; Paul Kraquelin ou la 
chambre-sans-fenetre, 189-237 - 149,16 Munch] s. Kurt Glaser, Edvard 
Munch, Berlin 1918 (3. Aufl. 1922) - 149,23 Bibliscbe Mottos] s. Les Pin- 
cengrain, a. a. O., 59, 131, 149, 189, 217-149,36 Mesurat] s.Juiien Green, 
Adrienne Mesurat, Paris 1927; s. Benjamins Kritik von 1928, Bd. 3, 153- 
156 und den Essay Julien Green von 1929, Bd. 2, 328-334 

i5of. [fr 126] Franzosische Buchkritiken 

Das Blatt mit der - abgebrochenen - Skizzierung von Hauptthemata (1 50), 
nach denen Benjamin einf lufireiche zeitgenossische und jungere Bucher aus 
und uber Frankreich zu behandeln vorhatte, findet sich im Zweiten Notiz- 
block unmittelbar hinter der ersten Notizengruppe zum Programm der 
literariscben Kritik von 1929/ 1930 (s. 734). Die Skizze, die von Hauptthe- 
mata nur eines und von diesem sieben Unterthemen (s. a-g y 150) verzeich- 
net, scheint, wie das funfte (s. e) Sonderkapitel; Gide, a. a. O.) vermuten 
lafit, Anfang der Disposition zu einer grofieren Arbeit gewesen zu sein. Die 
Blatter Ms 719 und 726 f. in der naheren und weiteren Umgebung der 
Skizze im Block lassen einen diesbeziiglichen Zusammenhang erkennen; es 
handelt sich um Notizen zu [Luc] Durtain [: U autre Europe und Arrive en 
Russie] y [Alfred] Fahre-Luce [: Russie] und [Georges] Duhamel [: Voyage 
en Russie] und zur Frage : { Welche Stellung nahm die Intelligenz in [lies zu] 
der russischen Revolution ein?) (s. Zweiter Notizblock, Ms 719); um 
bibliographische Stichworte u.a. zum gleichen Thema und den Vermerk: 
Samtliche franzosische Zeitschriften der letzten Zeit aus meinem Besitz 
durchzusehen (a. a. O., Ms 726) ; schliefilich um die Aufzeichnung Prank- 
reich und Rufiland, die mit ihren auf das zweite Unterthema (s. b) Rufi- 



Anmerkungen zu Seite 1 50-1 5 1 723 

land, 150) zu beziehenden Notizen nachstehend in extenso abgedruckt 
wird: 

Frankreicb und Ruflland 

Die Bemerkungen des durchschnittlichen Reisenden: kein Russisch [/] reist 
im Sommer \l\fuhlt sein Klassenbewufitsein wie einen freiliegenden Nerv 
verletzt [/] wird durch Toleranz am meisten gehindert, an das Wesen der 
Sache heranzukommen [/] Unkenntnis des friiheren Ruflland 
Durch seine Unkenntnis des fruheren Ruflland trdgt der durch schnittlicbe 
Betrachter eine falsche Note in seine Betrachtungen hinein. Er sieht nicht, 
dafi die Revolution ein Abgrund war, uber den kein russischer Mensch in 
das Gewesene zuriickzublicken vermag und wie das Kollektivum die ver- 
schiedenen Impulse, Krdfte und Gegenkrdfte, die von der Revolution aus- 
gingen, einfach ins Gleiche zu bringen, zu balancieren strebt. 
Reisende, die keine russischen Witze zu horen bekommen 
{[Henri] Bemud [s. Ce que fai vu a Moscou, Paris 1925] hat der Luge uber 
Ruflland Bahn gebrochen — Fabre-Luce trottet nun die sen gebahnten Weg 
als braver Esel und bepackt mit alien bUrgerlichen Ressentiments nach.) 
Die gefdhrliche Flachheit im Vergleiche des materialistischen Dogmas mit 
dem einer Religion. Das ist die schdrfste journalistische Waffe gegen Rufl- 
land (Fulop-Miller) 

Man erwacht jeden Morgen in Ruflland wie an Bord eines Schiffes 
»Genosse Ernte* ([Andree] Viollis [; Seule en Russie, Paris 192/] p $8) 
Blumenportrdt von Djersinsky (Viollis p 26) 
»Prdrie der Architektur« 
»valises en boi cire* 

Der Hauch von Sunde, der die groflen Hotels umwittert (Bolsikaja Mo$~ 
kowskaja, Savoy). Fuhrer{ . ) Und{ ?) gerade dort werden die bUrgerlichen 
Reisenden untergebracht. Dagegen (x) fur Gewerkschaften, Komintem. 
Die Isolierung der Fremden. Nicht nur Mifltrauen. Ethos. Erzahlung des 
deutschen Konsuls. - Der konzessionierte Tanzboden. Gerade dieses Wich- 
tige: die Achtung der Bourgeoisie wollen die Reisenden nicht sehen. Fabre- 
Luce. 

Versuchen uber den Sowjet-Humor etwas zu sagen. Vgl. Durtain 2 (1?) 58 
Sieg uber die Feierlicbkeit 

Desiderat statt der Reiseliteratur: Bucher von auslandischen Kommunisten, 
die Russengewandte sind. 
(x): die doppelte Fremdheit: Klassenfremdheit und nationale 



Die groflen Reportage bucher: Kiscb, Beraud 
Das Intelligenzlerbuch: Matthias 
Das Vermittlerbuch: Duhamel 
Das Memoirenbuch: Reed 



Die Darstellung 
Rufllands ein gro- 
fles europdisches 
Konkurrenzthema 



724 Anmerkungen zu Seite 150-153 

Die Stellung der deutscben Autoren ist in freundlicbem oder feindlickem 
Sinn viel extremer als die der Franzosen. Die Rufiland-Reportage war fiir 
Deutschland der gegebene Vorwurf fiir die »neue Sachlkhkeiu. »Je vois a 
present que tons, tout que nous sommes, grands et petits, nous n *aurons pas 
plus deposterite que n 'en eurent les derniers ecrivains de Vantiquite latine } et 
que I* Europe nouvelle sera trop differente de I 3 Europe qui s' (x) a cette 
heure sous nosyeux pour se soucier de nos arts et de notre pensee.« Anatole 
France, La vie en fleur 
Isadora Duncan undjessenin 

»Un cadavre maquille, c'est le symbole qu'a choisi le bolscbevisme* (Fabre- 
Lucep i$i) »Moscou est oase* (Beraud) Die Unfabigkeit wabrer Kritik, 
Neigung(,) Symbole zu suchen, 

{Problematiscber Nebengewinn der Sprachunkenntnis: der Reisende 
erfabrt (siebt) weniger und wird dadurcb veranlaftt, aus de{r) einzelnen 
wahrgenommenen Sacbe viel mehr berauszubolen. Die Dinge werden mit 
Vorliebe in irgendeine symboliscbe Belichtung geruckt. Die Reservat- 
(Scbutz)Gebiete der burgerlicben Denkart bei den sovjetfreundlicben 
Autoren: das Mifltrauen, (Uberwacbung), die politiscbe Erziebung y die 
2ensur t Bebandlung der Sozialrevolutionare 
Buck von Fabre-Luce durcb die Wablen bestimmt 
Rezension des Bucbes durcb Durtain Europe 1$ mars 1928 

Druckvorlage: Zweiter Notizblock, Ms 727 



Einzelne Motive der Disposition sind in die verschiedensten Arbeiten Ben- 
jamins eingegangen (s. vor allem die Kritiken und Rezensionen franzosi- 
scher Autoren etwa ab 1929 in Bd. 3 und die Arbeit Zum gegenwartigen 
gesellscbaftlicben Standort des franzosiscben Scbriftstellers von 1933/1934, 
Bd. 2, 776-803). 

U: Zweiter Notizblock, Ms 721 - Blatt [6]. 
D: 1929/1930 



1 51-153 [fr 127] Schemata und Glossen zum Jugendstil i 

Am 6. 6. 1929 schrieb Benjamin Scholem: Icb bereite vor: »Die singende 
Blume oder die Gebeimnisse des Jugendstils* fiir die Frankfurter Zeitung. 
(Briefe, 494) Scbon jetzt beansprucbt das Studium des Hebraischen micb 
soweit t daft icb an keine grofie Arbeit denken kann und die kleinen nocb 
longer brauchen als sonst, heifit es in einem knapp drei Wochen spater 
geschriebenen Brief an Hofmannsthal. Immerbin boffe icb Ibnen nach eini- 



Anmerkungen zu Seite 1 51-1 53 725 

gen weiteren Wocben einen ganz kleinen Versuch uber denjugendstil sen- 
den zu konnen, der in der ^Frankfurter Zeitung« erscheinen soli (Brief e, 
497 f.) Anscheinend handelte es sich urn eine - wohl von Kracauer ange- 
regte - Auftragsarbeit, bei der Benjamin auf einige Mater ialien in den Noti- 
zen zur Passagenarbeit (151; s.u., Nachweise) zuruckgreifen konnte. Zu 
dem ganz kleinen Versuch war es nicht gekommen; Benjamin hatte vor, ihn 
im Umfang eines Essays wiederaufzunehmen. Gegen Ende Januar 1930 
schrieb er Scholem aus Paris: Quant aux travaux j'espere enpouvoirrendre 
compte publiquement en quelque temps, Row obit etant dispose de pub Her 
sous forme d'un livre, un choix de mes essays [. . .] C'estpour ce livre que je 
prepare deux nouveaux essays surtout: I'un concernant le »modern style« 
(Jugendstil), Vautre la situation et la theorie de la critique. (Briefe, 504 f.) 
Der Passus/e prepare deux nouveaux essays von 1930 diirfte eher als der von 
1929 Icb bereite vor auf den terminus a quo der Schemata und Glossen zum 
Jugendstil I (ein Teil //, sollte er iiberhaupt geschrieben worden sein, ist 
.nicht iiberliefert) deuten, denn ziemlich am Anfang ist dort von dem langst 
geplanten Aufsatz (1 5 1 ) die Rede. Vielleicht sind sie noch spater begonnen, 
jedenfalls fortgesetzt worden, denn Benjamin hatte noch 193 1 seinen Plan 
nicht aufgegeben. Anfang Februar dieses Jahres berichtete er Scholem, dafi 
es ihm gelungen sei, den Erscheinungstermin meiner gesammelten Essays, 
die im Friihjahr herauskommen sollten, um ein halbesjahr zu verschieben 
[, . .] Icb babe nicht nur die Vorrede »Die Aufgabe des Kritikers* [s. fr 1 3 7] 
noch zu scbreiben sondern vor allem die Hoffnung, meinen grofien Essay 
uber den Jugendstil, dessen Gedankengdnge zum Teilschon im Bereiche der 
Passagenarbeit liegen, im Sommer zustande zu bringen. (cit. Scholem, 
Freundschaft, 208 f .) Aber nicht nur diese Hoffnung hatte getrogen, wie 
dem denkwiirdigen Brief vom 26. 7. 1932 zu entnehmen ist; dort heifit es: 
Ich will nicht von den Pldnen reden, die unausgefuhrt, unangeruhrt bleiben 
muftten, aber docb [. . .] die vier Bucher aufzahlen, die die eigentumliche 
Triimmer- oder Katastrophenstatte bezeicbnen, von der ich keine Grenze 
absehen kann, wenn ich das Auge uber meine ndchsten Jahre schweifen 
lasse. Es sind die »Pariser Passagen« t die »Gesammelten Essays zur Litera- 
ture > die »Briefe [Deutscher Menschen, die dann (1936) doch noch erschie- 
nen]* und ein hbchst bedeutsames Bucb uber das Haschisch [dazu s. 819- 
825]. (Briefwechsel Scholem, 23) 

Ist weder ein Versuch > noch ein Aufsatz , noch ein Essay Uber denjugendstil 
zustandegekommen, so gewahrt doch - neben dem, was die Schemata und 
Glossen von dem Plan erkennen lassen - das Passagen-Konvolut S einen 
Blick in einzelne Gedankengdnge des prospektiven Essays und, was wich- 
tiger sein diirfte, in den geschichtsphilosophischen Zusammenhang, in den 
der Passagen-Torso denjugendstil riickt. Die Niederschrift der Schemata 
und Glossen diirfte 193 1, vielleicht spater abgebrochen worden und, was 
als Teil //, vielleicht Illii. geplant sein mochte, iibergegangen sein in das 



726 Anmerkungen zu Seite 1 51-153 

Konvolut S, dessenNotizenSz-S^tf (s. Bd. 5,674-685) »mit Sicherheit vor 
Juni 1935 geschrieben* wurden (a. a. O., 1262). Wie die Notizen Sj-Sn 
(s. a. a.O., 689-697), die »zwischen Dezember 1937 und Mai 1940 ge- 
schrieben worden sein« diirften (a. a. O., 1262), und ihre teilweise, minde- 
stens motivische Ubereinstimmung mit den meisten Schemata und Glossen 
zeigen, miissen diese Benjamin als Vorlage einer modifizierenden und ord- 
nenden, gleichsam auswertenden Ubertragung in das Konvolut S gedient 
haben. 

U: Mittleres Pergamentheft, S. 91. 
D: 1930/1931 

nachweise i$i,6Jugendstil] s. auch 442 - 151, 12 795 o] erg.: Traduit de 
Panglais par Louise Servicen (6 e ed,, 193 1) - 151, 16 Die singende Blume] 
dieser Titeltcil ist Zitat eines Passus aus dem »Tagebuch einer Verlorenen* 
(s. 152, 25 und den Nachweis dazu); s. das Motiv auch bei Balzac, Die 
menschliche Komodie. Ges.ausg. in 12 Bdn., hg. und eingel. von E. San- 
der, Bd. 6, Miinchen 1971, 816 (Das Bankhaus Nucingen) - 151,18 Passa- 
genarbeit] s. Bd. 5, Konvolut S [Malerei, Jugendstil, Neuheit], 680-697; als 
Materialien diirften freilich nur die Notizen 680-685 (S 2 »5-$4 a »4) in 
Betracht kommen - 151, 18-20 Stellen bis revolution*] s. a. a. O., 680 (S 2, 5 
und S2a, 1) sowie Nachweis, 1280 - 151,21-25 Aufsatz bis auftreten] s. 
a. a. O,, 692 (S 8,6); der Passus ist - wie auch die folgenden, auf die Seiten 
689-697 bezogenen Stellen - modifiziert ubernommen in den letzten, zwi- 
schen Dezember 1937 und Mai 1940 entstandenen Teil des Konvoluts S- 
151,26 Augen*] s. Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Ges.ausg., Bd. 4, 
Frankfurt a.M. 1962, 261.,* die Erstausgabe erschien 1935, den Aufsatz 
mufi Benjamin fruher gelesen haben - 151,31 /90; eine unvollstandige 
Abschrift der Rezension ist im Nachlafl erhalten; s. Benjamin- Archiv, Ts, 
S. 1-8 - 151,33-152,2 Der bis Gomorrhe*} s. Bd. 5, 684 (S 4,6)- 151,34 
Gray] s. Oscar Wilde, The picture of Dorian Gray, 1 890 - 1 5 1 , 34 catUya«] 
s. Marcel Proust, Du cote de chez Swann, Paris 1914; dt. Frankfurt a.M. 
1953, 347 - 152,2 Gomorrbe«] s. ders., Sodome et Gomorrhe, Paris 
1 92 1 ff. - 152, 5-9 Das bis Redon] s. Bd. 5, 690 (S7a,3) und 691 (87a, 6) - 
152,6 Mutter*] s. a. a. O., 687 (85a, 3) und 690 (S7a,4) sowie Nachweis, 
1333 f. - 152, 10 Fidus] s. a. a.O., 692 (S8,8) - 152,11-13 Die bis George)] 
s. a. a.O., 690^ (S7a,4) und 691 (S8,4) - 152,15 Abendburg] erg.: Jena 
1909 - 152, 16 Druberbrettl-Buch] erg.: fur Nomaden, Secessionisten und 
andere Herrenmenschen - 152,18 Moderne] erg.: in Wort und Bild, hg. 
von L. Wulff, Berlin 1901 - 152, 19 Uberbrettl] erg.: Anleitung mit meiner 
Frau zu tanzen. Der Insel der Blodsinnigen anderer Theil, hg. von L. 
Wulff, Berlin 1902 - 152,20 Verlorenen«] s. Tagebuch einer Verlorenen. 
Von einer Toten, iiberarb. und hg. von Margarete Bohme, 7. Tsd., Berlin 



Anmerkungen zu Seite 1 5 1 - 1 5 7 727 

1905-152,21 Fahnenreich*] a. a. O., 97- 152,21 Ausland«] a. a.O., 293- 
152,22 genieften«] a. a.O., 162, 254 (fur »schminken«) - 152,22 zugeal- 
tert«] a. a.O., 287 - 152,23 Jugend*] a. a.O., 94 - 152,25 Blume.«] der 
Passus findet sich in der o. a. Ausgabe merit; Benjamin muE aus einer friihe- 
ren Ausgabe, von der den Hg. kein Exemplar zuganglich war, zitiert haben 
- 152,27 Friedens«] a. a.O., 162 f. - 152,29 aus.«] a. a.O., 270 - 153,8 
»]ugend«] Wochenschrift fiir Kunst, Literatur, Leben und Politik; gegr. 
von Georg Hirth, erschien 1896-1940 in Miinchen - 153,11 kerbei!«] cit. 
Tagebuch einer Verlorenen, a. a. O., 169^ - 153, 17 Augen«] s. Nachweis 
zu 1 5 1 , 26 - 1 53, 19 Der bis Redons] s. Bd. 5 , 691 (S 7a, 6) - 1 53, 20-22 Diese 
bis Meet] s. a. a.O., 691 (S8,i) und 684 (84,6); »ideale Forderung« s. 
Ibsen, Die Wildente; »in Schonheit sterben* s. ders., Hedda Gabler; 
»Heimstdtten fur Menschen* s. ders., Baumeister Solnefi - 153,27-29 Sie 
bis entgegen] s. Bd. 5, 691 (87a, 5) 



153L ffr 128] »Idealrealismus« . . . 

Die Notizen finden sich auf dem vorletzten Blatt des Konvoluts Studien 
zur Kritik (Ms 815-833; s. 733 f.) und wurden, wegen des augenscheinli- 
chen Charakters einer geplanten Rezension, nicht unter den Fragmenten 
»Zur Literaturkritik« sondern an dieser Stelle abgedruckt. 

U: Ms 832 - Blatt ca. 14,5 X 9 cm, abgetrennt von einem Bogen, beigelegt 

dem Konvolut Studien zur Kritik (Ms 815-833). 
D: 1930/1931 

lesarten 154,21-24 Das bis rdwnt] im Ms gestrichen - 154,27-37 Es bis 
kommt] im Ms gestrichen 

nachweise 1 54, 3 sei« und passim] dieses und die iibrigen Zitate waren in 
fiinf in Betracht kommenden Buchern von Utitz nicht zu ermitteln - 
154,21-24 und 27-37 Das bis r'dumt und Es bis kommt] Teile dieser gestri- 
chenen Abschnitte gingen ein in Literaturgeschichte und Literaturwissen- 
schaft von 1931, s. Bd. 3, 288L 



I 5 5-I57 [fr I29] ES 1ST IM HOCHSTEN GRADE FESSELND . . . 

In einem Brief vom 28. 10. 193 1 spricht Benjamin von der derzeitigen 
lacherlichen Vielgestaltigkeit meiner simultan unternommenen Arbeiten 
und zahlt u.a. auf die Briefreihe [s. Deutsche Menschen, Bd. 4, 149-233], 
die fortgeht [s. a. a.O., 941-943], und einen etwas eingehenderen physio- 
gnomischen Versucb, die Zusammenhdnge des kantischen Schwacbsinns (im 



728 Anmerkungen zu Seite 155-157 

Alter) mit seiner Pbilosopbie darzitstellen (Brief e, 542). »Zu diesem Ver- 
such, der nicht fertiggestellt wurde oder verschollen ist, stellen die Unbe- 
kannten Anekdoten von Kanu - veroffentlicht 1 1. 12. 1931 in der »Litera- 
rischen Welt* (s. Bd. 4, 808-8 1 5) - »wahrscheinlich eine Nebenarbeit dar.« 
(a. a.O., 1089) Erhalten sind jedoch Aufzeichnungen und Exzerpte, die 
teils auf diese »Nebenarbeit«, teils auf jenen Versuch sich beziehen. Sie 
setzen, wie aus dem Verweis auf meine Bemerkung zum Brief von Kants 
Bruder(i$6;s. Bd. 4, i56f.)hervorgeht, die Bearbeitung des am 6. 12.1931 
in der ^Frankfurter Zeitung« veroffentlichten Briefs von J. H. Kant (s. Bd. 
4, 952; der von S. Collenbusch an Kant, s. 163 f., war bereits am 8. 4. 193 1 
dort erschienen, s. 951) voraus, diirften also im selben Jahre, eher gegen 
Ende 1931, niedergeschrieben worden sein. 

U: Ms 813 f. - zwei Blatter je 22X 14 cm, zurechtgeschnitten; beide zu ca. 

2/3 nur auf der Vorderseite beschrieben. 
D: gegen Ende 193 1 

lesart 1 56,4 Bruder.)] Ende der Notizen von Ms 813; darunter mehrere 
nicht mehr zu entziffernde Streichungen 

nachweise 155,5 Teste] s. Paul Valery, Une soiree avec M. Teste, Paris 
1895 - 155,20 Sitten*] s. Kant, Gesammelte Schriften, Akademieausg., Bd. 
6, Berlin 19 14, 423 f., 426, 428, 43 1, 433 f., 437 (Die Metaphysik der Sitten, 
Zweiter Theil. Ethische Elementarlehre 1, 1) - 1 56,4 Bruder] s. Bd. 4, 156L 
- 156,10 storen.«] Kant, a. a.O., Bd. 8, Berlin 1923, no (Fufinote) - 
156,19 Geld«] a. a.O., Bd. 6, a. a.O., 434 (Die Metaphysik der Sitten, 
Zweiter Theil. Ethische Elementarlehre 1, 1, 2. Hauptstuck III, §11; dufle- 
ren und Preis i.O. gesperrt) - 156,26 Pbysiognomik] s. Bd. 4, 808 - 156,30 
Leben] die folgenden Seitenverweise und Exzerpte s. Felix Grofi (Hg.), 
Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Bio- 
graphien von L.E. Borowski, R.B. Jachmann und A.Ch. Wasianski 
(1804), Berlin 1912 (Deutsche Bibliothek, Bd. 4) - 157,11 Scbwalbenge- 
scbicbte] s. Bd. 4, 810 



157 [fr 130] Projekte 

Im 7. und 8. Jahrgang des Berliner Magazins »Der Uhu« erschienen von 
Benjamin Myslowitz - Braunschweig - Marseille (1930; s. Bd. 4, 729-737) 
und Der enthUllte Osterhase (1932; s. a. a, O., 398-400); die Projekte diirf- 
ten fiir den folgenden Jahrgang geplant gewesen - Kaspar Hausers ioojabri- 
ger Todestag (157) stand am 17. 12. 1933 bevor-, aber wegen des politi- 
schen Umschwungs nicht mehr realisiert worden sein. Die letzte Kritik in 
der »Literarischen Welt* erschien 10. 2. 1933 (s. Bd. 3, 377-380). Ein Hor- 



Anmerkungen zu Seite 157-160 729 

spiel (157) liber Spiritismus ist nicht iiberliefert. Was mit dem Theater- 
projekt (157) gemeint war, ist unklar. - Zu dem Ubuprojckt Seefahrt ah 
Wissenscbaft (a. a. O.) existiert eine Liste SeebandbUcber mit ca. 8 Titeln 
aus den Jahren 1929-1932 (s. Benjamin-Archiv, Ms 649). 

U: Dritter Notizblock, Ms 748 - Blatt [3]. 
D: etwa 1933 

nachweis 157,21 Hausers] s. die Rundfunkarbeit, Bd. 7 



157-160 [fr 131] La Traduction - Le pour et le contre 

Gelegentlich einer brieflichen Anfrage an Gretel Adorno vom Januar 1971 
berichtete Gunther Anders: »Im Jahre 3 5 oder 36 habe ich mit Walter ein 
(deutschsprachiges) Zwiegesprach iiber philosophische Probleme der 
Ubersetzung entworfen - ein Gesprach, das wir einmal im Rundfunk zu 
senden hofften. Ich besitze keine Kopie davon. Konnten Sie mir mitteilen, 
wo, wenn uberhaupt, dieses Manuskript aufgestobert werden konnte?« 
(28. 1. 1 97 1, G. Anders an G. Adorno) Rolf Tiedemann, der anstelle der 
erkrankten Adressatin antwortete, schrieb u.a.: »Das einzige, was [im 
Frankfurter Benjamin-Nachlafi] ist, sind zwei handschriftliche Blatter, die 
den fragmentarischen Entwurf zu einem Dialog iiber philosophische Fra- 
gen der Ubersetzung enthalten [s. Ms i344f.]. Ob dieser Text mit dem von 
Ihnen gesuchten etwas zu tun hat, konnen nur Sie entscheiden. Die Blatter 
sind undatiert, konnten nach Schriftduktus und Papieran aber sehr wohl 
um 1935 oder 1936 geschrieben sein. Ich sende Ihnen Xerokopien und eine 
Transskription der beiden Blatter. [/] Wenn ich Ihre Ausfuhrungen jedoch 
richtig verstehe, so muft damals ein mehr oder weniger abgeschlossener 
Text entstanden sein, zu dem dann die Seiten, die ich Ihnen schicke, allen- 
falls eine Vorstufe darstellen konnten. Moglicherweise ist der endgiiltige 
und vollstandige Text im Deutschen Zentralarchiv, [. . .] Potsdam, [. . .] 
vorhanden.« (1.5. 197 1, R. Tiedemann an G. Anders) Wie die Autopsie 
der Hg. in Berlin (Ost) September 1983 ergab, scheidet diese Moglichkeit 
aus. »Wir beabsichtigen,« fahrt Tiedemann fort, »das Fragment iiber Uber- 
setzung abzudrucken. Ich ware Ihnen deshalb sehr verbunden, wenn Sie 
mir gelegentlich mitteilen wiirden, ob dieser Text tatsachlich in den Zusam- 
menhang jener Gemeinschaftsarbeit mit Ihnen gehort und gegebenenfalls, 
was daran Ihr, was Benjamins Anteil ist.« (a. a. O.) In der Antwort Anders' 
heifit es: »Ja, die Seiten [. . .] haben mit dem Dialog zwischen Benjamin und 
mir [. . .] zu tun. Das deja vu-Erlebnis war nach dem Lesen der ersten drei 
Worte bereits iiberzeugend. Ich nehme an, daft Benjamin nach unserer 
ersten Vorbesprechung die Probleme, die aufgetaucht waren, skizziert hat 



730 Anmerkungen zu Seite 157-160 

- und diese Skizze ist nun wohl das Manuskript, das Sie mlr zugeschickt 
haben. Sehr sonderbar 1st, daft Benjamin die Dialogpartner nicht identifi- 
ziert hat - ich konnte es heute nicht mehr entscheiden, welche Aussagen 
von ihm stammten und welche von mir, und dies urn so weniger, als es 
gewisse Ahnlichkeiten zwischen seinen und meinen Arbeiten oft gegeben 
hat. - Wie oft wir - Benjamin und ich - an dieser Arbeit gesessen haben, 
und wie weit diese damals vorgeschritten ist, das kann ich nun nach 3 5 oder 
36 Jahren nicht mehr mit Sicherheit berichten. Gemeint war- das steht fest 

- der Dialog fur den Pariser Rundfunk, nicht zufallig ist ja auch schon der 
Titel franzosisch formuliert. Ich glaube kaum, dafi es zu einer Ubersetzung 
des Dialogs gekommen ist, auf keinen Fall ist die Arbeit gesendet worden, 
daran wiirde ich mich erinnern.« (8. 5. 1971, G. Anders an R. Tiedemann) 

- Bei den systematischen Erschliefiungs- und Transskriptionsarbeiten am 
Benjaminschen Nachlafi fand sich ein weiteres, auf das Thema des geplan- 
ten Dialogs bezugliches Blatt (Was spricht fur Ubersetzen, Ms 1346); 
Schriftduktus, gleiche Tinten- und Papierart sprechen fur eine Nieder- 
schrift nahe um die Entstehungszeit der Dialogskizze, zu der Benjamin 
weitere Motive notiert haben diirfte. 

U:Ms 1344-1346 - 2 Blatter je 20,5X13,5 cm, vorderseitig zweispaltig 
beschrieben, und 1 Blatt ca. 18 x 1 3,5 cm, Riickseite eines Pariser Hotel- 
briefbogens (auf der Vorderseite diverse Notizen und eine Zeichnung). 

D: 1935 oder 1936 

lesarten 1 58, 1 9 vorausgese(t)zt] davor {vorangezeigt und} - 158,20 ist.] 
danach {Man sieht mit dem Munde.} - 158,21 uberzeugt war] fur {gesagt 
bat} - 158,23 sieht.] Ende des ersten Dialogteils auf Ms 1344; der zweite 
beginnt auf neuem Blatt, Ms 1 345 - 1 58, 27 sich] danach {an der Traditions- 
losigkeit und (x) niemals gelungenen} - 1 59, 1 5 problematisch.] dieser Dia- 
logteil bricht mit dem gestrichenen Passus { Wenn man die Ubersetzung als 
Geschehnis zwischen zwei Sprachregionen ansieht (xx)} ab; danach Blei- 
stiftsignatur F - 160,3 reprdsentieren] fur {sprechen} 
nachweise 159, 1 1- 13 Und bis werden] s. Die Aufgabe des Ubersetzers, 
Bd. 4, 19; s. auch Uber Spracbe uberhaupt und uber die Sprache des Men- 
schen, Bd. 2, r 5 1 f . — 159,25 Sprachbaus] s. Wilhelm von Humboldt's 
Werke, hg. von A. Leitzmann, Bd. 6: 1827-183 5, 1. Halfte, Berlin 1907, 
1 1 1-303 (Uber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues) - 
159,26 Musik] s. Bd. 1, 388 - 159,31 Christophe] s. Romain Rolland, 
Johann Christof. Roman, 3 Bde. Berechtigte Ubers. aus dem Franzosi- 
schen von O. und E. Grautoff, Frankfurt a.M. 19 18 



161-184 [fr 1 32- 151] Zur Literaturkritik 



161-180 [fr 132-143] Studien 2UR Kritik 

Spatestens ab 1929 trug sich Benjamin mit dem Plan einer Arbeit liber 
Theorie und Situation der Kritik, das Thema selbst hatte seine Gedanken 
weit friiher okkupiert. So heifit es 1920: Mich interessiert [. . .] sehr das 
Prinzip dergroften literariscb-kritischen Arbeit: das gesamte Feld zwischen 
Kunst und eigentlicher Philosophic (Briefe, 232). Die Zeitschrift Angelus 
Novus will, so die Ankundigung 1922, dem kritischen Wort seine Gewalt 
zuruck [...] gewinnen [. . .] Diktum und Verdikt sind zu erneuern (Bd. 2, 
242). Des ursprunglichen Grundes und Wertes der Kritik auch in meinen 
eignen Arbeiten wurde er sich zunehmend bewufit (Briefe, 232). Der 
Gedanke, des Grundes [. . .] der Kritik sich zu versichern, beschaftigte ihn 
beim Aufbau des Trauerspielbuches; 1925 heifit es: Meine urspriinglich 
festgefafite Absicht, der inoffiziellen Einleitung einen gleichbescbaffenen 
Schlufi entsprechen zu lassen, wird sich wohl [. . .] nicht verwirklichen. Die 
Steigerung, die ich in dem Abscblufl des Hauptteils erreiche, ware nicht zu 
uberholen und urn den methodischen Gedankengangen uber »Kritik«, die 
ich plante, die Kraft, nach diesem Abscblufi nachzufolgen zu verleihen, 
ware eine weitere Arbeit von Monaten erforderlich, deren Resultat dann 
durch den Umfang leicht den ganzen Ban erdrucken kbnnte. (Briefe, 376) 
Blieben diese methodischen Gedankengange auch unausgefuhrt, so wirkte 
der Plan doch weiter, urn in den Jahren 1929-193 1 -einer Phase entschiede- 
nen literaturkritischen und politischen Engagements - virulent zu werden. 
Unter den Artikeln, die ich vorbereite, heifit es Februar 1929, ist einer, mit 
dem ich etwas Anstofl zu geben hoffe: » Tief stand der literarischen Kritik in 
Deutschland*. (Briefe, 489 f.) Erhalten ist der Entwurf einer Glosse zu die- 
sem Thema (s. fr 1 34). Im selben Jahr hatte Benjamin mit der Niederschrift 
von insgesamt 40 thesenartigen Notizen zu einem Programm der literari- 
schen Kritik (s. fr 132) begonnen- Aufzeichnungen, in denen er in Abstan- 
den bis etwa 1930 gelegentlich seiner belletristischen und literarwissen- 
schafdichen Lektiire Motive und Glossen zusammentrug. Januar 1930 
schrieb er Scholem: Le but, que je m'avais propose n 'est pas encore pleine- 
ment realise, mats, enfin, j'y touche d'assez pres. C'est d'etre considere 
comme le premier critique de la litter ature allemande. La difficulte c'est que, 
depuis plus de cinquante ans, la critique litteraire en Allemagne n 'est plus 
cbnsideree comme un genre serieux. Sefaire une situation dans la critique, 
cela, au fond, veut dire: la recreer comme genre. Mais sur cette voie des 
progres serieux ont ete realises - par d'autres, mais surtout par moi. Voild 
pour ma situation. Quant aux travaux j'espere en pouvoir rendre compte 
publiquement en quelque temps, Rowohlt etant dispose de pub Her sous 



j}2 Anmerkungen zu Seite 1 6 1 - 1 80 

forme d y un livre, un choix de mes essais [. . .] C'est pour ce livre que je 
prepare deux nouveaux essais: Vun concernant le ^modern style* - s. fr 
127- V autre la situation et la tbeorie de la critique. (Briefe, 505 f.) Die 
Notizen zum Programm der literariscben Kritik diirften, zusammen mit 
denen Zur Cbarakteristik der neuen Generation (s. fr 1 33), etwas wie einen 
Motivfundus des geplanten essais gebildet haben. Eine Reihe weiterer Auf- 
zeichnungen (s. fr 135-143), Aufnahmen und stellenweise weit gediehene 
Durchfuhrungen solcher Motive neben Skizzen und Vermerken zu einer 
Disposition, lassen einen Essay in statu nascendi erkennen, wenn auch die 
definitive Komposition aus den Stiicken nicht eindeutig hervortritt. Das 
gilt schon fur den Titel der geplanten Arbeit, von dem man nicht weifi, ob 
er nur variiert wird - Tiefstand der literariscben Kritik in Deutschland t so 
Februar 1929; La situation et la tbeorie de la critique Januar 1930; Studien 
zur Kritik oder Kritik 1930/193 1 -, oder ob mit den wechselnden Formu- 
lierungen mehrere Arbeiten, mindestens Teile einer einzigen, gemeint 
waren. Indessen scheint der Titel La situation et la tbeorie de la critique, 
zusammen mit einem weiteren, Februar 193 1 bezeugten, auf eine identi- 
sche Arbeit, die einmal essai, einmal Vorrede beifit, bezogen werden zu 
konnen; Benjamin schrieb Anfang jenes Monats, dafi es ihm gelungen war, 
den Erscheinungstermin meiner gesammelten Essays, die im Fruhjabr [bei 
Rowoblt] berauskommen sollten, um ein balbesjabr zu verscbieben [. . .] 
Icb babe [. . .] die Vorrede »Die Aufgabe des Kritikers* nocb zu scbreiben 
(cit Scholem, Freundschaft, 208). Nicht auszuschliefien ist, dafi der Okto- 
ber/November 1930 akut gewordene Plan, zusammen mit Brecht eine neue 
Zeitscbrift (Briefe, 5 1 8) namens »Krise und Kritik* [. . .] im Verlag Rowoblt 
als Zweimonatsscbrift herauszubringen (Briefe, 519; zur Geschichte des 
gescheiterten Projekts s. Briefe, 520-522 u. Bd. 2, 996L, insbes. Bd. 6, 619- 
621 und 825-828), sich vor den Plan schob, »Die Aufgabe des Kritikers* 
nocb zu scbreiben, und dafi Benjamin daran dachte, die Arbeit, in welcher 
Form auch immer, der neuen Zeitscbrift zuzubringen. 
Die Prasentation der Aufzeichnungen zu dem Komplex Kritik und literari- 
scbe Kritik bot einige Schwierigkeiten. Die Frage war, ob - analog den 
Fragmenten zu Pbantasie und Farbe (s. fr 77-91 und 693 f.) - die mehr 
ausformulierten Stiicke von Entwiirfen, Skizzen und Notaten zu sondern 
waren. Dagegen sprach, dafi es hier abgeschlossene oder relativ selbstan- 
dige Texte eigentlich nicht gibt. Wohl aber liefi sich uber eine andersartige 
Casur nicht hinwegsehen: die zwischen thesenartigen, programmatischen 
Aufzeichnungen und solchen, in denen sich etwas wie das Geriist einer 
grofieren mehrteiligen Arbeit abzeichnet - einer, die Motive der ersten 
Notizengruppe aufnehmen und durchfiihren sollte und sie, in Gestalt der 
zweiten, wenigstens teilweise und fragmentarisch wirklich durchfiihrt. 
Das legte eine Einteilung in die Fragmente 132-134 und 135-143 nahe - 
doch nicht, wie sonst, durch Abtrennung mehr selbstandiger von mehr 



Anmerkungen zu Seite 1 6 1 - 1 80 733 

skizzenhaften Stucken und Nachordnung der letztern, sondern in durch- 
laufender - auch chronologisch begriindeter - Anordnung. - Verzichtet 
wurde auf den Abdruck einiger Blatter aus dem Konvolut Studien zur Kri- 
tik (Ms 815-833); es handelt sich um bibliographische Notizen (Titel von 
Goethe, Voft, Hamann, Gerstenberg, der Briider Schlegel, von Wienbarg, 
Kant, Merger, Bin Gorton und Franz Roh; s. Ms 824), vier Exzerpte aus 
Hamann (Schriften II ed. Roth, 388, 397, 400 und 40;; s. Ms 825) und 
weitere bibliographische Notizen (Titel von Brunetiere, Hatzfeld et Meu- 
nier, Chauvin et le Bidois, Vial et Denise, Belis, Hugo, Flaubert, Ganz und 
Paul Binswanger; s. Ms 826). Ein weiteres Blatt uberwiegend mit glossier- 
ten Schlegelzitaten wird an dieser Stelle vollstandig abgedruckt: 

»und ich weifi nicht, ob nicht auch alle Polemik wenigstens ah eine der 
Kritik sehr nah verwandte Gattung betrachtet werden sollte. * F . Schle- 
gel: Lessings Gedanken und Meinungen aus dessen Schriften I Lpz 1804 
p 20 

Wenn man nur hort, wie Schlegel im klassischen Zeitalter der Deutschen 
sich uber die literarischen Zustdnde ausspricht. Ic p 24 {Der Tadel} Die 
Ablehnung ist das eigentliche Training des Kritikers und das Lob sein 
Preiskampf Naturlich ist damit ein Lob verstanden, mit dem er etwas 
einsetzt; das prophetische Lob sozusagen. 

Scblegels historische Bemerkungen p 2j werfen Lichtaufdas Verhaltnisvon 
Kritik und Tradition. Welche Bedeutungfur die Tradition die Kritik von 
heute besitzen kann. Theorie der Verpackung. 

p 27/28 Zwei Zitate 

Fernhintreffende Geschosse p 31 »das Kunstgefuhl war ihnen . . .«• 

Heutige Gegenstdnde der Polemik: die Richtungen - im allgemeinen; das 
aus ihnen resultierende Unechte im besonderen, 

Eine materialistische Kritik: die beste Warnung fur Dilettanten, die ja 
immer glauben, alles zujeder Zeit hervorbringen zu kbnnen. Das ist die 
andere Quelle des Unechten - neben den Richtungen. 

Im Schlufi seines Essays » Vom Wesen der Kritik* schlagt Friedrich Schlegel 
plotzlich um. Erfuhrt, ohne sich ganz des Verhaltnisses bewuflt zu sein 
das die neue Art der Kritik zur alien hat, als » Vollendung« der urteilen- 
den die darstellende unter dem Namen der Charakteristik an. 

»Kritik als ein Mittelglied der Historie und der Philosophies F Schlegel Ic 
P39 Diese Definition ist ganz durchsichtig nur von der Synthesis aus. 

Es ist bemerkenswert, dafl Schlegel p 40 »Nackkonstruktion« {, ) nicht Ein- 
fUhlung der Charakteristik verlangt. 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 831 

Das vorletzte Blatt des Konvoluts (Notizen zu einer Utitz- Kritik; s. Ms 
832) wurde wegen des augenschemlichen Charakters einer geplanten selb- 



734 Anmerkungen zu Seite 161-168 

standigen Kritik ausgesondert und in der zweiten Gruppe der »Charakte- 
ristiken und Kritiken* abgedruckt (s. fr 128); es bleibt im Zusammenhang 
der Fragmente »Zur Literaturkritik* zu lesen. 



161-167 [fr 132] PROGRAMM DER LITERARISCHEN KRITIK 

Die vierzig numerierten Aufzeichnungen finden sich - in drei, von andern 
Aufzeichnungen unterbrochenen Gruppen - im Zweiten Notizblock und 
wurden in Abstanden ab etwa 1929 bis 1930 niedergeschrieben. 

U: Zweiter Notizblock, Ms 720, 739 und 741 - Blatter [5] (Notizen 1)- 

//)), [24] (Notizen i2)-2S)) und [26] (Notizen 29)-4o)). 
D: um 1929/1930 

lesarten 162,32 den] danach {gefdbrlicben,} - 163,20 Gewifibeit] 
danach {und Praxis) - 163,22 das Fehlen einer] fur {die kummerlicbe) - 
163,33 ~ I ^4> 1 J b* s >] die von Benjamin auch bei der Subnumerierung 
verwendeten Klammern wurden weggelassen - 164, j Materialistiscbe bis 
dazu] der Passus steht auf dem Blatt weiter oben und ist durch einen Pfeil 
in die Rubrik 16) verwiesen - 164,19 ware,] danach {ja viellei(cht)} - 
165,4 Gruppierung] fur {Herrscbaft der} scil. Autoren - 167,10 aushebt 
bis beben] Benjamin schrieb aushebt und dann [...] beben; soil heben 
sich auf Wurzeln beziehen, war und, im Sinne eines Relativsatzes, durch 
(die,) zu ersetzen. Gemeint sein kann freilich auch folgende Konstruk- 
tion: Das Wichtigste ist der zarte Griff '[. . .], und dann »ist« das Erdreicb 
[. . .] »zu« beben 

nachweise 161,25 Leserkreis] s. Literaturgescbichte und Literaturwissen- 
scbaft, Bd. 3, 288 - 162,2 Sektenwesens] s. a.a.O. 255 f. - 163,4 Univer- 
sitdten] s. a.a.O., 288f. - 165,7 Kriegsromane] s. a.a.O., 238 f. - 167,19 
j] (Kritiken, XXVI. Der ewige Jude; thue, schreibe, recensire i.O. ge- 
sperrt) 



167L [fr 133] Zur Charakteristik der neuen Generation 

Die fiinf numerierten Aufzeichnungen konnen als Fortsetzung, jedenfalls 
im engen Zusammenhang mit fr 132 gelesen werden. 

U:Ms 816 - Blatt ca. 21X13,5 cm; Blatt [2] des Konvoluts Studien zur 

Kritik (Ms 815-833; Blatt [1] = gefaltetes Titelblatt, Titel rot). 
D: etwa 1930 



Anmerkungen zu Seite 167-170 735 

lesarten 167,26 i)] danach {Keine theoretischen Legitim(ationen)} - 
167, 30 ebensowenig] danach {die mindeste) - 168, 16 avant-garde] fur {ei~ 
gentlich(en)} 



168 f. [fr 134] Tip fur Mazene 

Der Entwurf zu einer Glosse diirfte Nebenprodukt des 1929 geplanten 
Artikeh iiber den Tiefstand der literarischen Kritik (Briefe, 490) sein; viel- 
leicht sollte die Glosse den nicht zustandegekommenen Artikel spater er- 
setzen. 

U: Pergamentheft SSch, S. 75 — das fr stent zwischen Notizen zu der Meh- 

ringkritik (s. Bd. 3, i83f.) von 1929. 
D: 1929 

lesarten 168,35 Mazene] der Titel, den Benjamin hinter dem ersten 
Abbruch (169, 17) notierte, wurde iiber das fr gesetzt - 169, 19 sagen:] die 
Rede blieb unausgefiihrt; die schrag aufwarts notierte Schlufizeile (169,20) 
scheint sie zusammenzufassen 



i69f. [fr 135] Antithesen 

Das Schema und die folgenden acht Fragmente (fr 1 36- 143) sind Aufzeich- 
nungen und Niederschriften zu dem geplanten Essay iiber Kritik. Benja- 
min scheint an drei Hauptstiicke gedacht zu haben - einen Abschnitt iiber 
Aufgabe und Technik des Kritikers, einen iiber den Verfall von Kritik und 
Asthetik und einen iiber das Fortleben der Werke, wobei aber auch der 
mittlere als teils dem ersten, teils dem dritten zuzuschlagender gedacht 
gewesen sein konnte (s.u., zu fr i36f. und fr 142). Die Fragmente wurden 
so angeordnet, dafi jeweils orientierende Schemata und Notate solchen 
vorhergehen, die einzelne Schwerpunkte aufnehmen und auf kiirzere oder 
langere Strecken durchfiihren. - Das Schema fr 135 lafit eine dreiteilige 
prinzipielle Disposition am ehesten erkennen und wurde vorangestellt. 

U: Ms 833 - Blatt ca. 14X11 cm, abgetrennt von einem Hotelbriefbogen 

(»Zoppot«); letztes Blatt [19] des Konvoluts Studien zur Kritik. 
D: nicht vor Juni 1930 

lesart 169,2. Kolonne Geschmacksurteil bis Reget] senkrecht durchge- 
strichen; von unten her, entlang dem Strich: polemiscbe (eher Polemik. 
p(agina?)e)AXV 



736 Anmerkungen zu Seite 170-172 

ijof. [fr 136] I Erste Form der Kritik . . . 

Die beiden mit Tintenblei - von Gretel Karplus[-Adorno] nach Diktat - ge- 
schriebenen Schemata skizzieren Ausgangspunkt (subjektiver Standpunkt 
des Kritikers, 170) und Ziel (Theorie des Zitats und Fortleben der Werke, 
a. a. O.) der Untersuchung und diirften nach fr 1 3 5 diktiert worden sein. 

t): Ms 8ij{. - 2 Blatter, das erste ca. 21X13,5 cm, das zweite die abgeris- 
sene Halfte eines gleichartigen, ca. 13,5 X 10 cm; Riickseiten der Blatter 
[13] und [ 1 4] des Konvoluts Studien zur Kritik ; auf Vorderseite von [13] 
Stichworte zu Rundfunkarbeiten, dazwischen ein Aphorismus (= fr 
179), und von [14] dto. Stichworte und bibliographische Notizen 

(s- 733)- 
D: nach Juni 1930 

lesarten 170, 1 7 klassischen] fur {groflen} — 171,3 fst.] darunter auf Abrifi- 
rand in Blei Theorie der (zu erg. wohl Kritik) 

nachweise 170,18 lieflen] s. Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Brief e 
und Gesprache, hg. von E. Beutler, Bd. 23, 2. Aufl., Zurich 1961, 198 
(»Ein Buch, das grofie Wirkung gehabt, kann eigentlich gar nicht mehr 
beuneilt werden.« 11. 6. 1822, Goethe zu Kanzler von Muller) - 171,2 
Ubersetzung] s. Bd. 4, 10-21 und Bd. 2, 1 51-153; s. auch fr 131 

171 f. ffr 137] Die Aufgabe des Kritikers 

Es handelt sich um eine erste Skizze zu der Februar 193 1 erwahnten und als 
Vorrede zu meinen gesammelten Essays (cit. Scholem, Freundschaft, 208) 
geplanten Arbeit. Das Gesprdch mit einem berliner Verleger (171) diirfte 
das gleiche sein, von dem Benjamin Scholem berichtete (s. Scholem, 
Freundschaft, 207, 208). Die Skizze lafit eine zweiteilige Disposition ver- 
muten: einen Abschnitt » Aufgabe des Kritikers* und einen Abschnitt 
»Technik des Kritikers* (171; s.o., 735). 

U: Ms 817 - Blatt ca. 22 X 12,5 cm, unregelmafiig, mit leichter Textbeein- 
trachtigung abgetrennt von einem Bogen; Blatt [3] des Konvoluts Stu- 
dien zur Kritik; auf Riickseite Formulierungsvarianten zu Maulbeer- 
Omelette von 1930 (s. Bd. 4, 38of.). 

D: etwa Februar 1931 

lesarten 171,7 oft nicbts] fiir {nichts} - 171, 14L Im Ubrigen] fiir {viel- 

leicbt) 

nachweise 171,34^-36 Hauptgegenstdnde bis Polemik] s. fr 132, #J>J7,), 



Anmerkungen zu Seite 171-173 737 

17)$., 40), is) - 171,37-172, if. Kritik bis Kritik] s. a.a.O., 12), 21), 6), 
*4)>3)>4)>3*) 



172 [fr 138] ES KOMMT DOCH BEI FAST ALLEM . . . 

Von den fiinf Notizen zum Verhaltnis von Literaturgeschichte und Kritik 
(172) gingen die erste und dritte (s. a. a. O.) in fr 142 ein. 

U: Ms 822 - Blatt ca. 11X9 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock und 
als Blatt [8] dem Konvolut Studien zur Kritik beigelegt; Tintenspuren. 
D: etwa 1931 

lesarten 1 72, 6- 1 1 Es bis aus] gestrichen - 172, 15-19 Genieftbarkeit bis 

werden] gestrichen- 172,20 Urteil] fur {Kunsturte (il)} 

nachweise 172, 14 Tbeorie] s. etwa fr 1 1 1 - 172, 23 dem Werke innerlich] s. 

Der Begriffder Kunstkritik in der deutscben Romantik, Bd. 1, insbes. 65- 

72 



i72f. [fr 139] Notwendig ware es . . . 

Die liberwiegend durchformulierte Aufzeichnung visiert den zeitgenossi- 
schen Wissenschaftsbetrieb unter dem Aspekt einer Revision von For- 
schung und Lebre (172). Sie konnte ausgehen von Notiz 11) in fr 132 (163) 
und als eine erste Niederschrift zu Literaturgescbichte und Literaturwis- 
senscbafty der Ermatinger- Kritik von 193 1 (s. Bd. 3, 283, 290), gedient 
haben. Nicht ganz auszuschliefien ist, dafi es sich auch um die Aufzeich- 
nung zu einem Vortrag Benjamins im Frankfurter Institut fur Sozialfor- 
schung handelt, von dem in einem Brief vom November 1930 die Rede ist: 
Was Sie [scil. Adorno] an dem Tbema, das ich fUr Frankfurt vorschlug, 
ausstellen, kommt eigenen Bedenklicbkeiten entgegen. Um so lieber nebme 
icb Ihre Formulierung: Zur Pbilosophie der Literaturkritik auf. Dieser 7 age 
schreibe icb das an Horkbeimer (10. 11. 1930, an Th. W. Adorno) »Zustan- 
de gekommen ist ein Vortrag Benjamins [. . .] anscheinend nicht.« (Bd. 2, 
1508) 

U: Ms 830 - Blatt ca. 1 5 X 14,5 cm, abgetrennte Halfte eines Gaste-Frage- 
bogens (des Frankfurter Hotels Excelsior); Blatt [16] des Konvoluts 
Studien zur Kritik. 

D: um 1930/193 1 

nachweise 172,28 revidieren] s. Bd. 3, 288 - 173, i4f. Literaturge- 



738 Anmerkungen zu Seite 172-174 

scbichte*] s. Aufrifi der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Ge- 
sichtspunkten, hg. von H. A. Korff und W. Linden, Leipzig 1930 — 173, 15 
Literaturwissenscbafu] s. Philosophic der Literaturwissenschaft, hg. von 
E. Ermatinger, Berlin 1930; dazu s. Bd. 3, 285-287- 173, 17 Totalmethode] 
s. a, a.O., 286 



173L [fr 140] Kritik als Grundwissenschaft der Literaturge- 
schichte . . . 

Es handelt sich um zehn, eng auf fr 138 f. zu beziehende Notizen zu dem 
jetzt wieder dritte Abteilung (174) genannten letzten Essay-Abschnitt 
(s.o., 73 5 und 736) iiber das Fortleben der Werke (174). Terminus a quo ist 
das Erscheinen der Arbeiten von Wiesengrund (a. a.O.) 1929/1930 und 
1930. 

U: Ms 829 - Blatt, abgetrennt von einer Fastnachts-Einladung (nicht mehr 
ersichtlichen Datums) und so gerissen, dafi nach Faltung ein kleineres 
(ca. 7X5 cm) und ein grofieres Teilblatt (ca. 7X14 cm) entstand; die 
ersten 3 Notizen auf dem kleineren, die ubrigen 7 auf dem grofieren; 
Blatt [15] des Konvoluts Studien zur Kritik. 

D: bis 1930/1931 

nachweise 173,35 Magiscbe Kritik] s. etwa H. Simon, Die theoretischen 
Grundlagen des magischen Idealismus von Novalis, Heidelberg 1905 - 
174,3 Kritik] vermutlich dachte Benjamin an »Skeptizismus in der Asthe- 
tik«, 1-19 - 174,7 Wozzeck] s. Th. Wiesengrundf-Adorno], Die Oper 
Wozzeck. In: Der Scheinwerfer. Blatter der stadtischen Biihnen Essen, Jg. 
3 (1929/30), H. 4, 1 08- 114; s. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, 
Bd. 18: Musikalische Schriften V, hg. von R. Tiedemann und K. Schultz, 
Frankfurt a.M. 1984, 472-479 - 174,7 Tempi] s. ders., Neue Tempi. In: 
Pult und Taktstock, Jg. 7 (1930), H. 1, 1-7; s. Theodor W. Adorno, 
Gesammelte Schriften, Bd. 17: Musikalische Schriften IV, hg. von R. Tie- 
demann, Frankfurt a.M. 1982, 66-73 _ I 74> 1 4 Schrumpfung] s. ders., 
Neue Tempi, a. a.O.; s. Gesammelte Schriften, Bd. 17, a. a.O., 67f. - 
174, 19L Sacbgebalte] s. Goetbes Wahlverwandtschaften, Bd. 1, 125-127 - 
174, 26 Fortleben der Werke] s. fr 1 3 5 f . 



Anmerkungen zu Seite 174-179 739 

I74L [fr 141] NOTWENDIGKEIT, MIT DEM VERMITTELNDEN ChA- 
RAKTER . . . 

Auf dem Blatt stehen zwei Aufzeichnungen, von denen die erste (s. 174) 
gestrichen ist. Es folgen in gegenlaufiger Schrift fliichtig festgehaltene 
Notate und, quer auf dem rechten unteren Rand, der abgebrochene Anfang 
von fr 142 Falscbe Kritik (s. 175). 

U: Ms 823 - Blatt ca. 11 X9 cm, herausgetrennt aus dem Zweiten Notiz- 
block und als Blatt [9] dem Konvolut Studien zur Kritik beigelegt; Tin- 
tenspuren. 

D: etwa 1930 

lesarten 174,29-33 Notwendigkeit bis hervor] gestrichen - 174,36 aus] 
fiir {in engste(r)} - ij$ t ifreiwilligen] fur {wahren} 



175-179 [fr 142] Falsche Kritik 

Es handelt sich um die ausfuhrlichste, die meisten Motive dervorstehenden 
Fragmente aufnehmende und iiber langere Strecken durchfiihrende Nie- 
derschrift zu dem jetzt thetischet Teil {175) genannten ersten Hauptstiick 
des geplanten Essays. Dem Durchformulierungsgrad nach ist sie, zusam- 
men mit fr 143, das das Thema »Nette Sachlichkeiu (178) weiterfiihrt, 
augenscheinlich die spateste Aufzeichnung zu dem Komplex. Der Hinweis 
auf Kraus (177) deutet auf die zeitliche Nahe zu Benjamins Arbeit am 
Kraus-Essay, der zwischen Marz 1930 und Februar 193 1 entstand, und 
darauf, dafi Motive der Aufzeichnung eher in diesen eingingen als umge- 
kehrt. 

0: Ms 819-821 - 3 Seidenpapierblatter, auf ungefahr gleiches Format (ca. 
22 X 14 cm) zurechtgeschnitten, Rander teilweise stark beschadigt; um 
weiterer Beschadigung vorzubeugen, wurden die - einseitig beschrie- 
benen-BlatterMs8i9und82o(sowieMs8i8 — fr 142, s.u.)auf weifie 
Bogen aufgezogen; Blatter [5] (Falsche Kritik bis gerichtet hat, 175 f.)» 
[6] (Es entspricht bis sie verdient, 176-178 und [7] (Nichts kennzeichnet 
bis und Echtheit, 178 f.) des Konvoluts Studien zur Kritik; auf Riick- 
seite von Blatt [7] die abgebrochene Notiz Das echte und das falsche 
Prinzip der materialistischen Kritik:. 

D: 1930/1931 

lesarten 176, 16 detaillierter] fiir {mehr} - 176, 1 8 f. seinem Publikum] fiir 
{Leser} - 176,29 Planlosigkeit] fiir {Mangels an leitend(en)} - 176,35 



740 Anmerkungen zu Seite 175-180 

Dies] fur {Es} {Denn all) - 176, }•/{. herauskommt, ist] dazwischen 
{geniigty bat in Wahrheit nicbts writer zu bedeuten als die servilste} - 1 77, 7 
der] fur {das nihilistiscbe) - 177, 23 den eigenen Reaktionen] fur {der} eige- 
nen {Meinung, den privatesten Tempera (mentsausbrucben)} - 177, 24 f. 
langst vergangnen Zustand] fur {Atavismus) - 178,2 Beste] konj. fiir 
Besten - 178,8 werden.] danach (Fur den deutschen Literaturbetrieb) - 
178, 14 £5] fiir {Fiir die »neusachliche« Richtung heifit das: ibre AnsprUcbe 
politisch zu wirken sind durch keinerlei) - 178,18 grundsatzlichen] fur 
{absoluten} - 178,24 ernsten] fiir {guten} - 178,24 sicb nabert] fiir {mit} 
ihm {ernst macbt) ; im Ms sicb nabert ansiebt, wobei aber der aberrierenden 
Konstruktion (»den« vermittelnden Charakter [. . .] sicb »naher« ansieht) 
schon durch das richtig konstruierte »ihm« sicb nabert vorgebeugt war; das 
nicht gestrichene ansiebt wurde demgemaft im Text weggelassen - 178,25 
erkennt,] danach {wie sebr an ihm) - 178, 34 Kritik] fiir {Kunst (kritik)} - 
178,37 dem] danach {bei uns) - 178,37 beinabe] fur {samtlicbe} - 178,39 
da] konj. fiir das - 179,3 Marxisten] fiir {Soziologen} 
nachweise 175, 1 5-25 Die bis Meisterscbaft] s. Karl Kraus, Bd. 2, 342 f. - 
^7^9 gewgt] s. fr 132, jjj - 177,29 werden] s. a.a.O., 31) - i77>3 8 " 
178, 8 Charakteristik bis werden] s. Bd. 2, 342 (Wechselspiel zwischen reak- 
tiondrer Tbeorie and revolutionarer Praxis) - 1 78, 9 Sacblichkeiu] s. fr 1 32, 
joj und fr 143 - 178,24 Schrifttums] s. fr 141 - 178,28-179,10 Fiir bis 
h.s.w.] s. fr 138 - 179,11-15 Der bis Kritik] s. fr 140, 2. (173) und 5. -10. 
Notiz(i74) 



i79f. [fr 143] Zur Kritik der »Neuen Sachlichkeitv . . . 

Die Aufzeichnung fiihrt - unter Ruckgriff auf Motive von fr 1 32 und 133- 
die Uberlegungen von fr 142 (s. 178) weiter. Sie ging teilweise ein in den 
Vortrag Der Autor als Produzent von 1934. 

U: Ms 8 1 8 - Seidenpapierblatt ca. 22 X 14 cm (s. Rubrik »U« zu fr 142, 739); 

Blatt [4] des Konvoluts Studien zur Kritik. 
D: 1930/1931 

lesarten 179,32^ jede tbeoretiscbe Besinnung] fiir {{der) Vberbau) - 
180, 8f. ausschliefit.] danach {Was die Besinnung ausscbliefit aber ist eben 
die Oberzeugung } ihr Schrifttum wirke. - 1 80, 13 werden.] danach {Wober 
kommen diese Autorenf (Regularisierung von (globalen? xxx) falscbem) - 
180,16 aussichtslose] fiir {ausweglose) - 180,23^ Produktionsmittet] fiir 
{Instru(mente)) 

nachweis 180, 14-37 D er bis i $t: ] s - Der Autor als Produzent , Bd. 2, insbes. 
692 und 700 



Anmerkungen zu Seite 1 8 1 - 1 84 74 1 

181-184 [fr 1 44-1 51] Studien zum geplanten Vortrage bei Dr. Jean 
Dalsace 

Aus Paris, gegen Ende des ersten Jahrs seiner Emigration, berichtete Benja- 
min Brecht: Urn mir [...] einige Mittelzu bescbaffen, bin icb auf einen [. . .] 
Gedanken gekommen. [/] Ich kiindige in den mir zuganglicben, und eini- 
gen andern franzosiscben Kreisen eine Vortragsfolge »Uavantgarde alle- 
mande* an. Ein Zyklus von fiinf Vortrdgen - die Karten mUssen fur die 
ganze Folge subscribiert werden. Aus den verscbiednen Arbeitsgebieten 
greife icb nur je eine Figur beraus } in der sicb die gegenwdrtige Situation 
mafigebend ausprdgt. 

1) le roman (Kafka) 

2) Vessay (Blocb) 

3) theatre (Brecht) 

4) journalisme (Kraus) 

Vorangeht ein einleitender Vortrag »Le public allemand* . [/] Soviet zu mei- 
nen derzeitigen Projekten. (Briefe, 602 f.) Zwei Tage vorher, am 3. 3. 1934, 
war die Nachricht bereits an Gretel Adorno und Scholem gegangen : Die 
neue Initiative, die ich durcb Dich [scil. Gretel] und Teddie [Adorno] 
gewonnen babe, wende icb nun nach zweifacber Richtung auf. Uber die 
eine - die der Passagenarbeit [. . .] ein andermal. Die andere berubt darauf, 
daft man mir einen - ganz kleinen - Kunstsalon fiir einige Vortrage [in der 
rue Saint-Guillaume, 3 1 ; der erste war fiir den 13.4. 1934 vorgesehen] zur 
Verfiigung stellen will Icb wurde dort vor einem franzosiscben Publikum 
einen Zyklus von Vortrdgen aus meinem Arbeitskreis balten: so uber Kafka, 
Ernst Bloch und einige andere im Rabmen einer geschlossenen Reibe spre- 
cben. Natiirlicb steht es nocb dabin t ob die Sacbe zustandekommt. Ich kann 
nur sagen, daft icb es sebr boffe und alle Verbindungen, die icb bier babe, 
dafurzu mobilisieren suche. (Briefe, 600) An Scholem hatte er geschrieben: 
Hier meiner Arbeitskraft die angemessene Verwertung zu finden - dazu 
ware beinah ein Wunder nbtig. Mein neuestes Experiment in dieser Rich- 
tung babe ich durch die Ankiindigung eines Vortragszyklus uber die 
»Avantgarde allemande* unternommen, fiir den man mir einen kleinen 
Raum in Gestalt eines Kunstsalons und einige franzosiscbe Subscribenten in 
Aussicht stellen will. Das alles im kleinsten Rabmen und nocb ganz im Pro- 
jektstadium. Zumindest ware solche franzosiscbe Vortragsfolge spracblich 
ein gutes Training. (Briefwechsel Scholem, 126) Die Hoffnung zerschlug 
sich schnell. Steht einmal ein trostlicher Stern an diesem franzosiscben 
Himmely heifit es etwa einen Monat spater, 50 kann man mit den exzen- 
trischsten Zu} alien recbnen: er mufl verscbwinden. Endlich war alles fiir 
meine conference vorbereitet. Konnte icb mir aucb keinen unmittelbaren 
Ertrag von ihr erwarten, so hatte sie docb gewisse Aussichten erbffnet. Ganz 
zu schweigen von der Bedeutung, die beute - da ibre Moglichkeiten so 



742 Anmerkungen zu Seite 1 8 1 - 1 8 4 

bescbrdnkt sind-jede objektive Manifestation meiner Arbeit bat. [/] Und 
nun erfabre icb beute, daft der Arzt, der seine Wobnung und seine Bezie- 
bungen mix zur Verfugung stellen wollte [scil. Dr. Jean Dalsace], an einer 
Lungenentziindung erkrankt ist. Ein geringer Trost, daft das wabr ist und 
bestimmt keine Ausflucbt darstellt. Aucb zweifle icb nicht daran, dajl die 
Absicbt besteht, diese conference zu einem spatern Zeitpunkt docb stattfin- 
den zu lassen. Aber wieviel, wenn scbon nicht kostbare so docb kostspielige 
Zeit geht verloren. Und schlieftlicb laufe icb Gefahr, ban am Rande der 
saison zu starten, die zu Ende ist, ehe icb recbt begonnen babe. [/] Meine 
Vorbereitungen zu diesem Vortrag sind im iibrigen zu weit vorgescbritten, 
um ein Abbrecben der Arbeit zu rechtfertigen. Icb werde sie also durchfiih- 
ren. (7. 4. 1934, an Gretel Adorno) Einen Tag spater berichtete er Scholem : 
Meinen Aufentbalt in Paris babe icb in den letzten Wochen ausschlieftlicb 
der Vorbereitung eines Vortrages gewidmet, der in einem recht angesehe- 
nen Privatbause geladnen Gdsten den Ausgangspunkt einer Reibe von 
Betracbtungen iiber die gegenwartige deutscbe Literatur hatte vertraut 
macben sollen. Es war geplant, an diesen Vortrag, wenn moglicb, conferen- 
cen anzuscblieften, welcbe zum Unterscbied von dieser ersten entgeltlich 
batten sein sollen. Nun, kurz vor dem anberaumten Terrain erfabre icb, daft 
der Veranstalter- ein sebr bekannter Gynakologe - an Lungenentziindung 
erkrankt ist. Alles muftte abgesagt werden. Und die gedruckten Einladun- 
gen waren bereits verscbickt. [/] So kommt es, daft icb die Gestaltung der 
kommenden Wochen noch garnicbt ubersehen kann. Sollte es spater zu dem 
geplanten Vortrag kommen, so ist es dock noch fraglicher, als es von Haus 
aus war, geworden, ob sicb weitere an ihn anschlieften kbnnten [...] Der 
geplante Vortrag sollte zu [dem Aufsatz uber die gegenwartige gesellscbaft- 
liche Lage des franzosischen Scbnftste Iters, s. Bd. 2, 776-803] das Gegen- 
stuck darstellen: Courants politiques dans la litterature allemande actuelle 
[. . .] PS: Der Zustand desArztes hat sicb verschlecbtert. An die Vortrage ist 
im Augenblick nicht mehr zu denken. (Briefwechsel Scholem, 129L, 131) 
In einem Brief an Adorno vom folgenden Tag - am 9. 4. - heifit es: Mich 
[der Passagenarbeit] ganz wieder zuzuwenden, werde icb umso mehr Zeit 
haben, als ein greifbares Objekt, das icb der Arbeit der vergangenen 
Wochen vorgesetzt hatte, sicb gerade eben schmerzlich verfluchtigt. Wie Sie 
von Felizitas [Gretel Adorno] vielleicht gehort haben, hatte man mir die 
Aussicht eroffnet, im Hause eines bekannten hiesigen Gynakologen einen 
Vortrag iiber die deutscbe Literatur der letzten zehnjabre zu halten. Seine 
Bedeutung hatte darin bestanden, micb in maftgebenden Kreisen bekannt 
zu macben. Eine Woche vor dem angesetzten Termin [. . .] erkrankte der 
Arzt [. . .] und aucb jetzt kann noch nicht iiber sein Leben entschieden wer- 
den. Ob der Vortrag in dieser Saison noch zustandekommt, ist hocbstfrag- 
lich, daft etwa fernere sicb anschlieften kbnnten, unmbglicb geworden, [/] 
Die geplante Vortragsreihe war bestimmt, mir eine Reserve fiir den Sommer 



Anmerkungen zu Seite 181-184 743 

zu scbaffen. Daran ist nun nicbt mehr zu denken. (9. 4. 1934, an Th. W. 
Adorno) 

Benjamin hatte ein Konvolut von 25 Blattern angelegt, das er Studien zum 
geplanten Vortrage bei Dalsace (Ms 539-563; s.u.) uberschrieb: Aufzeich- 
nungen zu dem einleitenden Vortrag des Zyklus, von dem eine schriftliche 
Fassung nicht existiert. Eine Motivliste (s. fr 144), diverse Schemata (s. fr 
145-148) und Notizen (s. fr 149-15 1) geben eine Vorstellung von der ersten 
conference, die Benjamin moglicherweise frei zu halten vorhatte. Sie und 
die ubrigen Aufzeichnungen waren - iiber den Anlafl hinaus - als Materia- 
lien zu einer Auf satz-Fassung, dem Gegenstuck zur Arbeit uber die gegen- 
wartige gesellschaftlicbe Lage des franzosischen Schriftstellers, gedacht, die 
ebensowenig wie der Vortrag samt dem anschlieftenden Zyklus zustande- 
kam. Dabei handelt es sich - neben den abgedruckten Fragmenten - urn 
folgende, Marz 1934 begonnene und iiber April hinaus fortgefuhrte No- 
tizen: 

1 . Exzerpt aus Frank Tbiefl mit dem Zusatz Sport gilt Thiefi als Keimzelle 
eines neuen Heroismus. (Kracauer) (Ms 542) - 2. 2 Ernst Jiinger-Zitzte aus 
Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, die Notiz Der Titel im Stil Georges! 
und ein Kracauer-Exzerpt zum »Gestaltbegriff« Jiingers (Ms 543) - }. Kra- 
cauer-Exzerpt betr. Thomas Mann: Varia und »das sonderbare Liebeswer- 
ben des groflen biirgerlichen Prosaisten um die Demokratie« (Ms 544) - 
4. 4 Exzerpte aus Ernst v. Salomon: Die Gedchteten zur »angenehmsten 
KampfesarU , dem Kampf »mit geistigen Waff en*, p 29, zum Rathenau- 
mord, p 309, p 31 j und, zum Vergleich mit Cendrars, ein Gesprach Salo- 
mons mit »Kern<r > p 303 (Ms 545) - 5. 4 Exzerpte aus Giinther Grundel: 
Sendung der jungen Generation Uber Remarque, p 107, zum »reinen Men- 
schen« in den »Kriegsbiichern« , p 108, zur »Dichtung dieser ganzen Zeit 
von etwa 1923/24 bis gegen 1927/28*, p 103 und zum »>Wilhelm Meister< 
und >Grunen Heinrich< unserer Generation* , p 116 (Ms 546; dazu s. Der 
Autor als Produzent, Bd. 2, 696) - 6. Exzerpt aus Bernard v. Brentano: 
Kapitalismus und Literatur zu: Unbekanntschaft mit dem »Arbeiter«,p 54 
(Ms 549) - 7. Liter aturliste mit Titel n von Benn, Borchardt, Doblin, Ibe- 
ringy Brentano, Tucholsky, Erich Unger, Mannheim, Th, Mann, Leon- 
hardt, Naville, Ball, Grundel, Kracauer, Salomon und Stichwort Reich s- 
verfassung (Ms 550) - 8. Exzerpt aus Theorien des deutscben Faschismus 
(Ms 554; s. Bd. 3, 248, 3-10) - 9. 2 Kracauer- Exzerpte zu Doblin: Hocke 
und zum »Sozialismus« Doblins so wie 3 Doblin -Exzerpte zu »Entkrdfti~ 
gung des Staates*, zum »Kernstuck« des Marxismus,p9i und zur Nichtiso- 
lierbarkeit der »Okonomie«, p 93 (Ms 555) - 10. 7 weitere Exzerpte aus 
Doblin: Hocke zu Marx,/> 98, zu »Zeit der Erhebung der Zivilisten«,p 100/ 
01, zum »aus okonomischen Vorstellungen konstruierten* Menschen, p 
103, zur Theorie vom Uberbau, p /oj, zur »Feudalitdt [. . .] in Deutsch- 
land«,p 112, zu Marx als »Humanist« und seinem »waschechten Messianis- 



744 Anmerkungen zu Seke 181-184 

mus«,p 14-/ und zur neuformierten » Front [. . .]gegen diefeudalen Reste«>p 
12} ; vor dem letzten Exzerpt die Notiz Epische Bedingtheit derDoblinschen 
Position. Hinweis auf Keller (Ms 556) - n. Exzerpt aus Florens Christian 
Rang: Deutsche Bauhiitte (Ms 558; s. Theorien des deutschen Fascbismus, 
Bd. 3, 243 f.)- 12. 5 weitere Exzerpte aus Theorien des deutschen Fascbismus 
(Ms 559; s. a. a.O., 238, 281"., 239,2-4, 242,11-26, 243,21-26, 244,291"., 
247,9-12)- 13. 2 Kracauer-Exzerptc zuHeinrich Mann: Die grofie Liebe, 
eines zum Inbalt des Romans, eines zu seiner kiinstlerischen Bedeutung (Ms 
560) - 14. 4 Exzerpte aus der ersten Kommerell-Rezension zu George (Ms 
561; s. Wider ein Meisterwerk>Bd. 3, 253,11-14, 254, 4-6, 15 f., 255,25-28, 
259,34-36)- 15. 2 Exzerpte Aus der deutschen Reich sverfassung zu Graf ; 
Einer gegen alle y das eine zur sittlichen Betatigungspflicht »jedes Deut- 
sche^, das andere zur Unterhaltsgewahrung bei Arbeitslosigkeit, sowie die 
Notiz Verwandtschaft zwischen Graf und Fallada (Ms 562)- 16. 3 Exzerpte 
aus Rudolf Borcbardt: Aufgaben der Zeit zur Verwandlung der »Ecclesia 
pressa des deutschen Geistes in eine ecclesia militans*, p 64, zum Leben und 
Uberleben der »deutschen Poesie«,p$6 und zum »proletarischen Ursprung* 
von »neunzig Prozent des deutschen Lesepublikums* , p S 2 hS (Ms 563). 

U: Ms 539-563 - Konvolut von 25 Blattern (Titelblatt Studien zumgeplan- 
ten Vortrage bei Dalsace, ca. 9,5X6 cm, rot), Blanko-Rezeptformulare 
(des Berliner Facharztes fur Nerven- und Geisteskrankheiten Dr. Fritz 
Frankel, ca. 1 5 X 8 cm); mit Ausnahme des Blattes [5] riickseitigbeschrie- 
ben; Blatt [11] auf ca. 8x6,5 cm zurechtgeschnitten; Blatt [zi.], [91".], 
[13-15] und [19] (jedoch in anderer Reihenfolge) im Textteil abgedruckt 
(s.u.), die ubrigen 16 oben beschrieben. 

D: Friihjahr 1934 



l8l [fr I44] MOTIVLISTE ZUM GEPLANTEN VORTRAGE BEI D ALSACE 

Das Blatt, das den vollstandigsten Uberblick uber die Motive des einleiten- 
den Vortrags (Brief e, 603) bietet, wurde vorangestellt. Auf einem dem Kon- 
volut nicht beigelegten Blatt fanden sich zwei (von drei eher 1930/193 1 
niedergeschriebenen) Notizen, die wegen des sachlichen Bezugs nachste- 
hend abgedruckt werden: 

Uber den Unterscbied von einpackender und auspackender Literatur. 
Gute Werke mufl man aus sich (den Werken) beraus, schlechte aus ihrem 
Publikum kritisieren. 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 789 

U: Ms 548 - Blatt [10] des Konvoluts Studien zum geplanten Vortrage bei 
Dalsace (Ms 539-563). 



Anmerkungen zu Seite 1 8 1 - 1 8 3 74 5 

D: Friihjahr 1934 

lesart 1 8 1 , 5 , 1 5 f . , 1 9, 22] am Rand markiert x 

nachweis 181,27 Kunstler ...*] Goethe, Samtliche Werke, hg. von E. 
Beutler, Bd. 1: Samtliche Gedichte, Erster Teil, 2. AufL, Zurich 1961, 375 
(Vorspruch zur Abt. »Kunst«: »Bilde, Kiinstler! Rede nicht! / Nur ein 
Hauch sei dein Gedicht.«) 



181 f. [fr 145] Schemata 

U: Ms 552 - Blatt [14] des Konvoluts (s.o.) 
D: Friihjahr 1934 

nachweis 181,30-182,2 Tendenz bis Lesers] s. die Verarbeitung in Der 
Autor ah Produzent y Bd. 2, 683-701; s. auch a. a. O,, 1460-1462 



182 [fr 146] Die Umfunktionierung 

U: Ms 540 - Blatt [2] des Konvoluts (s.o.) 
D: Friihjahr 1934 

nachweis 182,3-29 Die bis Kulturbolscbewismus] s. die Ubernahme von 
Motiven aus »Kommentare zu Werken von Brechu (Bd. 2, J06-539) und in 
Der Autor ah Produzent (a. a. O., 686 f, 691 f., 694, 696 f.) 



i82f. [fr 147] Widerstande gegen die Umfunktionierung 

U: Ms 541 - Blatt [3] des Konvoluts (s.o.) 
D: Friihjahr 1934 



183 [fr 148] Das Schopferische . . . 

U: Ms 547- Blatt [9] des Konvoluts (s.o.) 
D: Friihjahr 1934 

nachweis 183, 13-17 Das bis Sachlichkeit] s. fr 146 f. 



746 Anmerkungen zu Seite 183-184 

183 [fr 149] Die technische Fragestellung . . . 

U: Ms 551 -Blatt [13] des Konvoluts (s.o.) 
D: Friihjahr 1934 

nachweis 183, 18-27 D* € his fallen] s. DerAutorals Produzent, Bd. 2,686 



183 [fr 150] Zur Krisis der Kunst 

U: Ms 553 - Blatt [15] des Konvoluts (s.o.) 
D: Friihjahr 1934 



184 [fr 151] Zum »Alexanderplatz« 

U: Ms 557- Blatt [19] des Konvoluts (s.o.) 
D: Friihjahr 1934 

nachweise 184,1 Alexanderplatz*] s, Alfred Doblin, Berlin Alexan- 
derplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, Berlin 1929; s. Krisis des 
RomanSyBd. 3,230-236-184,2-5 Der bis ein] s. Der Erzdhler, Bd. 2,438- 
465 



185-194 [fr I 5 2_I 59] Zu Grenzgebieten 



18 y [fr 152] Zur Graphologie 

Die - theoretische und praktische - Befassung Benjamins mit Graphologie 
ist mehrfach bezeugt. Ende Mai 1920, nach dem vollstdndigen Zerwiirfnis 
(Briefe, 239) mit seinen Eltern, schrieb er Scholem von der Notwendig- 
keit irgend einer burgerlichen Tdtigkeit und erwahnt in Parenthesis: Die- 
sen Monat habe ich no M mit drei grapbologischen Analysen verdient 
(Briefe 241; Scholem bemerkt dazu: »W.B. war ein aufiergewohnlich 
begabter und hellsichtiger Graphologe, der seinen Freunden manchmal 
erstaunliche Proben seiner Fahigkeiten gab. Er gab 1922 sogar grapholo- 
gischen Privatunterricht.* a. a. O.). Ende Januar 1922 heifit es: Von mor- 
gen ab soil ich einem Grunewald-Backfiscb, der bier nebenan wohnt, Gra- 
pbologie-Stunden geben, das Stuck zu jo Mark. Ich babe mir im KDW 
[Kaufhaus des Westens] einen Zauberstab gekauft. Mit dessen Hilfe boffe 
ich, die Sache sehr in die Ldnge zu Ziehen, (cit. Scholem, Freundschaft, 
143) Benjamin diirfte dabei solcher Schriften wie »Handschrift und Cha- 
rakter. Gemeinverstandlicher Abrifi der graphologischen Technik* von 
Ludwig Klages (Leipzig 1921; den Autor hatte Benjamin 1913/1914, als 
Vorsitzender der »Freien Studentenschaft*, zu einem Vortrage iiber Gra- 
phologie »im Sommer 1914* vor dieser Vereinigung »in Berlin* eingela- 
den; Bd. 2, $79) sich bedient haben - ein Buch, das er Jahre spater, gele- 
gentlich seiner Besprechung von Anja und Georg Mendelssohns »Der 
Mensch in der Handschrift* (Leipzig 1928-1930) zitierte (s. Bd. 3, 137). 
Zu diesem schrieb er Scholem August 1928: Ich bin im Begriffe, nach sei- 
ner Lekture den Sinn fur Schriften, der mir vor ungefdhr xojahren verlo- 
renging, wieder zu gewinnen. Es ist ein Buch, das genau die Richtung halt, 
die ich im Grunde in der Betracbtung von Schriften gefilhlt und dock 
selbstverstdndlich nicbt gefunden habe. (Briefe, 477; s. auch Bd. 3, 630) 
Das fr Zur Graphologie konnte dem Tenor nach - der These von der Irre- 
duktibilitat des Charakters (185) aufs blofi impulsiv Gestische - unter 
dem Eindruck des Mendelssohnschen Buches entstanden sein (s. Bd. 3, 
137, 18-23 un d 138, 16-23). Angesichts des Schriftduktus und der Papier- 
art ist eine friihere Datierung - etwa auf 1922 - freilich nicht auszuschlie- 
fien. - Gelegentlich der Einriehtung eines Zentralinstituts fur wissen- 
schaftliche Graphologie an der Lessing-Hochschule in Berlin (Unter der 
Leitung von Anja Mendehsobn) 1930 (Bd. 4, 596) hielt Benjamin einen 
Rundfunkvortrag iiber Alte und neue Graphologie, dessen Manuskript 
zwar verschollen ist (s. a. a. O,, 1047), auf den aber ein erhaltenes Pro- 
gramm mit mutmafilichen »Ausziigen aus dem Vortrag* (a. a. O., s. 596- 
598) hinweist. - Die Sammlung Scholem bewahrt das Fragment einer 



74 8 Anmerkungen zu Seke 1 8 5 

Graphologischen Analyse uber die Handschriftvon R. L., Berlin 1926 dutch 
Waiter Benjamin, das nachstehend abgedruckt wird: 

DerScbreiber ist eine Natut, die mit sich selber nicht im Reinen ist und auch 
schwetUch dahin gelangen wird. Er gehbrtzu den Typen, an deren Beob- 
achtung man lange Zeit wenden mufi und die man selbst dann zu kennen 
nie sicher sein kann. Im Ganzen wird die erste Zeit der Bekanntscbaft mit 
ihm die angenehmere sein, denn die ansprechenden Zuge liegen zu Tage, die 
bedenklichen nicht. Durchaus ansprechend sind die Manieren, die eines 
wohlerzogenen Mannes. Im Berufsleben ist der Schreiber zuverlassig, tuch- 
tig und selbstandig. Die allgemeine Intelligenz ist hocb uber dem Durch- 
schnitt. Det Schteibet ist eben um so bequemer, zuverlassiger und brauch- 
barer, je aufierlicher die Beziehungen sind, die ihn mit einem Menschen 
vetbinden.Je tiefetjedoch die Beziehungen, in denen ersteht, ihn betreffen t 
desto mehr ist mit subalternen Instinkten, mit Ressentiments undjdbzorn 
zu recbnen. Die Gtundlage seinet Meriten und seiner Aktivitdt, die aufder 
Oberfldche liegen, sowie der moralischen Ausfallserscheinungen, die ver- 
senkt liegen, bildet ein Minderwettigkeitskomplex, der in ersterer iiber- 
kompensiert witd, in der zweiten durchbticht. Von dahet ein bestdndiges 
Bedurfnis »Stellung zu nekmen*, seinen Standpunkt herauszustreichen, zu 
widersprechen, mit einem Worte: der Umgebung zu imponieren. DieKebr- 
seite der Erscheinung ist eine grojle Verletzlichkeit. Seine stets wachen 
Abwehrinstinkte machen ihn mifittauisch. Auch ist er, wo er einmal gereizt 
ist, ein unbequemer, unberechenbarer Gegner. Typus des Mannes, von dem 
sich Uberraschungen erwarten lassen, der sich selber nut wenig kennt und 
seht wenig fur sich einstehen kann. Er witd wahtscheinlich immer etwas 
{U)nreifes behalten. Damit hangt weiter seine Anpassungsfdhigkeit und 
seine Beeinflufibatkeit zusammen. Et kennt diese Schwdche vielleicht: 
jedenfalls ist et in seinen menscblichen Beziehungen votsichtig bis zut 
AngstLehkeit, ist auch von Innen hetaus auf Menschen in tieferem Sinne 
nicht angewiesen. Es verbindet ihn wenig mit andeten, et beobachtet sie 
abet um so scharfer und ist im ganzen ein guter Menschenkenner. Er ist sehr 
verschlossen und grade seinen Confidenzen gegenuber ist Mifitrauen sehr 
am Platze. 

Grade weil dieses Gesamtbild nicht anziehend ist, mufi betont werden, daft 
der Schteibet durchaus »ein anstandiger Mensch« ist, der nie unvornehmes 
Verhalten bewuflt sich gestatten wurde. Aber trotz seiner bohen intellektu- 
ellen Entwicklung ist eben innere Klarheit (Bewufitheit uber sich selber) 
nicht seine Starke. Das Gemiitsleben, die Affektivitat ist dazu zu stark. Eine 
gliicklicbe Natur ist der Schreiber durchaus nicht. 

Er wird immer weit mehr Wdrme von seiner Umgebung empfangen ah er 
sie abgeben kann: kein sonniger Mensch. Wie weit ein unharmonischet 
Zustand des Unbehagens in ihm chroniscb ist, oder durch Umstdnde, welche 



Anmerkungen zu Seite 185-188 749 

beim Schreiben dieses Briefes speziell wirksam waxen, hervorgerufen 
wurde, liefte sich nur [abgebrochen] 

Druckvorlage: Sammlung Scholem, maschinenschriftliche Kopie 

U : Ms 663 - Blatt ca. 1 3 X 1 o, 5 cm, abgetrennt von einem Bogen ; auf Ruck- 

seite Fragment eines Briefentwurfs; Tintenspuren. 
D: etwa 1922, vielleicht auch 1928 

nachweis 185,15 goetheschen Sinne] s. Goethe, Samtliche Werke. Ge- 
denkausgabe, hg. von Ernst Beutler, Bd. 9, 2. AufL, Zurich 1961, 573 
(Maxim en und Reflexionen. »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem 
Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie 
wird.«) 



185-187 [fr 153] ElNIGES ZUR VOLKSKUNST 

Die Aufzeichnung steht im Zweiten Notizblock hinter Notizen zum 
Proust-Essay von 1929 (s. Ms 717, Bd. 2, 1064) und vor denen zu geplanten 
franzosischen Buchkritiken von etwa 1929/ 1930 (s. Ms 719, Anm. zu fr 
126, 722), was eine Datierung auf spatestens 1929 erlaubt. 

U: Zweiter Notizblock, Ms 718 - Blatt [2]. 
D: spatestens 1929 

lesarten 1 86, 22 und] danach {Uberall} - 186,29 ktingt au f\ fur {ist der 
Grund, auf} - 186, 29 wir] danach {dem Eindruck der primitiven) — 186, 3 5 
Kinderbiicbern,] danach {Sacben} - 187,2 im] danach {modernen} - 
187, 10 offnet] fur {ist} - 187, 17 In Wabrbeit] fur {Aber} 
nachweise 1 86, 1 8 f , £5 bis Improvisation] s. Vom Glauben an die Dinge, 
die man uns weissagt, Bd. 4, 322L - 186,32-187,23 Nie bis entgegen- 
kommt] s. Ms 650 (2.-4. Abschnitt), Bd. 4, 995 - 187, 12 Arsenal von Mas- 
ken] s. Traumkitscby Bd. 2, 622: der Kitsch [. . .] ist die letzte Maske des 
Banalen, mit der wir uns [. . .] bekleiden> um die Kraft der ausgestorbenen 
Dingwelt in uns zu nebmen. - 187, 12-20 Masken bis beraus] s. Bd. 4, 373 



i87f. [fr 154] Telepathie 

Zentrum der Erorterung ist in der Aufzeichnung - wie auch in den zwei 
folgenden - das (Rou\ette-)SpieL Nach Scholems Auskunft besuchte Ben- 
jamin in den Jahren zwischen 1925 und 1930 hin und wieder Spielbanken. 
In seinen Erinnerungen heifit es, dafi er im Fruhsommer 1927 von Paris aus 



750 Anmerkungen zu Seite 187-188 

mit seiner Frau »an die Riviera* fuhr »und fur ein paar Tage nach Monte 
Carlo« ging, »wo er so viel Geld gewann, dafi er sich davon eine Reise von 
einer Woche nach Korsika leisten konnte.« (Scholem, Freundschaft, 166) 
Ein im Nachlafi erhaltener - undatierter und abgebrochener - Briefentwurf 
Benjamins nimmt augenscheinlich hierauf Bezug: Lieber [Franz] Hessel [/] 
Sie mussen nicht bose sein> wenn es mit Nacbricbt bisber nicht bocb berging. 
Icb bielt es fur notig [. . .] der ganzen Postmisere einmal den Rucken zu 
kebren und lasse mir seit zehn Tagen nicbts nacbscbicken. Das scbeint inso- 
fern ricbtig gewesen zu sein, als icb in Monte Carlo ganz niedlicb gewonnen 
babe. Denn ich spielte mit einer Seelenrube wie sie mein von Berlin ber 
gespeister Gram mir nicbt gelassen bdtte. (Benjamin- Archiv, Ms 1286) »Mit 
Fritz Radu, schreibt Scholem an anderer Stelle, »reiste er ein oder zweimal 
nach Zoppot, wo er einer ihn manchmal uberkommenden Spielleidenschaft 
im dortigen Kasino frohnte. Auf einer dieser Reisen [1929 oder 1930; s. 
Briefe, 5 14-5 16] verlor er seine gesamte Barschaft bis auf den letzten Pfen- 
nig und mufite sich das Geld fur die Ruckreise nach Berlin borgen.« (Scho- 
lem, Freundschaft, 160) - Von den drei Aufzeichnungen f r 154-156 diirfte 
die liber [Tele]patbie die friiheste sein. Setzt man die Exemplifizierung der 
Improvisation am glucklicben Spieler (188) zu Benjamins Spielerfolg in 
Monte Carlo in Beziehung, liegt eine Datierung auf friihestens 1927/1928 
nahe, wofur auch der Schriftduktus spricht. Die Skizze am SchlufS ist in 
etwa doppelter Vergrofiemng faksimiliert wiedergegeben; der obere Strich 
schliefit ungefahr an das letzte Textwort an; der grofiere Kreis - mit dem 
Zentrum Spieler -ist unten Isolierkreis, der kleinere Ball umschrieben; der 
aus Pfeilen gebildete grofie Kreis um den Spieler ist von unten nach oben 
Suggestionskreis der Mitspieler und der aus gegengerichteten Pfeilen gebil- 
dete, ihm einbeschriebene Kreis doppelzeilig von oben nach unten Abwehr 
der Suggestion (188) gekennzeichnet. 

U: Ms 788 - Blatt ca. 11X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

linke obere Ecke abgerissen; spatere Bleistiftpaginierung »9<*. 
D: friihestens 1927/1928 

lesarten 187,29 (Tele )patbie] Rekonstruktion der durch Abrifi bescha- 
digten Stelle 

nachweis 188,4 glucklicbe Spieler] s. auch Die gluckliche Hand, Bd. 4, 
774 f. 



Anmerkungen zu Seite 1 8 8 - 1 9 1 751 

188-190 [fr 155] Notizen zu einer Theorie des Spiels 

Die Aufzeichnung steht auf einem aus dem Zweiten Notizblock herausge- 
trennten Blatt, dessen urspriingliche Lage sich annahernd durch die Tin- 
tenspur auf der Iinken unteren Ecke bestimmen laSt: der Ausdehnung des 
Flecks und dem im Kopf verbliebenen Blattrest nach diirfte es vor dem 
Ausrifl zwischen Ms 726 und 727- zwei um 1929/ 19 30 datierbaren Blattern 
(s. Anm. zu fr 126, 722) - gelegen haben. Zu dieser Datierung wurden 
einerseits der Hinweis auf den September 1928 veroffentlichten Text Der 
Weg zum Erfolge in 13 Thesen (190; s. Bd. 4, 990), andererseits augen- 
scheinliche Bezugnahmen wie GlUck des Gewinnens bis Akts mit der Nam- 
mer (190) auf den Text »Pariser Passagen II« von 1928/ 1929 (s. Bd. 5, 
1056^, g°, 1; s. auch 6i2f., Konvolut O, 0, 1, 1) stimmen. Andere Stellen 
diirften, umgekehrt, Ausgangspunkt von Aufzeichnungen im Passagen- 
Konvolut O, das Benjamin zwischen 1937 und 1940 zusammenstellte, 
gewesen sein (s. 638f., Oi2a,2 und O13, 1-3; 639L, 013,4; 641 f., 014,3- 
4). Schon in Das Spiel von 1933 (s. Bd. 4, 426L) konnten Teile der Afottzew 
eingegangen sein. 

U: Ms 1 177 - Blatt ca. 11X9 cm, herausgetrennt aus dem Zweiten Notiz- 
block; urspriingliche Blattlage indizierender Tintenfleck (s.o.). 
D: etwa 1929/1930 

lesarten 1 89, 1 3 denken] fur {sagen} - 189, 38 soeben] danach {gewann} - 
190,5 Scbicksal] danach {fiir sein Wissen} - 190,6 Vergleicb] davor {man 
mufi zum} ~ 190, 8 f. liebkosende] fiir {dankbare} - 190,12 sosebr] fiir 
{allein} - 190,13 zustande] fiir {ins Spiel} - 190,15 Typus] fiir {Cbarak- 
tertyp) 

nachweise 190,19/7 i4ff\ s. die Exzerpte Bd. 5, 622f. (04,a) - 190,24 
Thesen] s. Bd. 4, 349-352 - 190,25 Le jeu] s. die Exzerpte Bd. 5, 638 
(Oho) 



i9of. [fr 156] Neben dem eigentlichen Tagebuch herlaufend . . . 

Der Eingangspassus erlaubt keine skhere Datierung, da davon auszugehen 
ist, dafi nicht alle Tagebiicher Benjamins erhalten sind (s. 630 f.). Nur wenn 
diese - weiteren - Notizen iiber das Spiel (190) etwa auf die Aufzeichnun- 
gen Mai-Juni 193 1 (s. 422-44 1 ), mit der Erwahnung des Casino de la Lotee 
in Nizza (425), zu beziehen sind, ware ihre Datierung mit 193 1 anzusetzen. 
Fiir eine friihere Datierung - etwa 1 929/1 930 - spricht, dafi fr 1 56 mit den 
Notizen iiber das Spiel die von fr 155 nicht nur in thematischer sondern 
auch zeitlicher Nahe weiterfuhren konnte. 



752 Anmerkungen zu Seite 190-192 

U: Ms 1 176- Blatt ca. 18X13,5 cm, abgetrennt von einem (Brief- ?)Bogen. 
D: etwa 1929/1930, vielleicht 193 1 

lesarten 190,28 Sache] danach {sckeinbar} - 191, 12 Fiebern] Fibern ? - 
191,18 Ursprung] davor {eigentliche} 

nachweis 191,8 Bemerkung] s. die Exzerpte aus »Le jardin d'Epicures 
Bd. 5,62if. 



191 f. [fr 157] Kind und Pferd - Kentaur . . . 

Die Notizen iiber Mikro- und Makrokosmos (191) finden sich im Dritten 
Notizblock unmittelbar vor der etwa 1933 zu datierenden Projektliste (s. fr 
130). Niederschlag von Diskussionen mit Felix Noeggerath (191; iiber 
Noeggerath s. Scholem, Engel, 78-127), den Benjamin seit 191 5 kannteund 
zu dem er bis gegen 191 8, spater nach 1925 Beziehungen unterhielt, konn- 
ten die Notizen vor Noeggeraths Auswanderung nach Ibiza in Berlin, eher 
danach - auf Ibiza, wohin Benjamin ihm Ende April 1932 gefolgt war und 
wo er sich »ziemlich genau drei Monate« (Scholem, Freundschaft, 227) 
aufhielt -, vielleicht auch nach seiner Ruckkehr nach Berlin niedergeschrie- 
ben worden sein. - Das dem im Block vorhergehende Blatt verzeichnet 
Stichworte Zum Mikrokosmos, die nachfolgend abgedruckt werden: 

Einleitung von Faust II Arielszene [s. Erster Akt, Anmutige Gegend, v. 
4613-5027] 
Kleiriy kleiner Knabe 
Sie wolle es ihm lie bitch lohnen 
Keine Vermischtrng im Mikrokosmos 
Vermischung keine Synthesis 

Hermaphrodit makrokosmisch [diese und die vorhergehende Notiz viel- 
leicht zu beziehen auf den Homunculus, der »kristallinisch«, durch 
Mischung, erzeugt wird und von dem Thales sagt »Er ist, mich dunkt, 
hermaphroditisch«; s. Faust II, v. 8256] 
Die Pallasianer in Nuflschalen [s. Scheerbart, Lesabendio] 
Neue begUnstigte [x] 

Tockeli (schweizerisch fur Piippchen) daxrvXoi [s. Faust II, v. 7622 ff.] 
Mikrokosmus - Diskontinuum - Dialektik 
Makrokosmus - Kontinuum 

Druckvorlage: Dritter Notizblock, Ms 746 

U: Dritter Notizblock, Ms 747 - Blatt [2]. 
D: etwa 1932/1933 



Anmerkungen zu Seite 191-194 753 

lesart 192,4 im] fur {des}; s bei Riicken blieb ungestrichen 
nachweise 191,26-192,9 Kind bis lernen] s. die Interpretation bei Scho- 
lem, Engel, 103 f. (die Angabe in Anm. 55, s. 126, die Aufzeichnungen 
stiinden in Notizen Benjamins zum Thema »Farbe und Phantasie«, beruht 
auf einem Irrtum) - 191,27 Ghandarve] s. auch Franz Kafka, Bd. 2, 414^ 



192 f. [fr 158] Zur Astro logie 

Die vollstdndigen Prolegomena einer jeden rationalen Astrologie (193), als 
welche Benjamin die Aufzeichnungen am Schlufi charakterisiert, sind 
Vorstudien zur Anfang 1933 entstandenen Lebre vom Ahnlichen (s. Bd. 2, 
204-210; s. auch 950-958). Sie finden sich auf einem aus dem Zweiten 
Notizblock herausgetrennten Blatt, einer Sammelhandschrift mit Auf- 
zeichnungen uberwiegend aus den Jahren 1 929/1930. Ob auch sie in dieser 
Zeit niedergeschrieben sind, laflt sich nicht mehr ausmachen. Wahrschein- 
licher ist eine spatere Datierung, etwa auf 1932, eine Zeit vor der Nieder- 
schrift der Lebre vom Abnlicben. 

U: Ms 810 - Blatt ca. 1 1X9 cm, herausgetrennt aus dem Zweiten Notiz- 
block. 
D: etwa 1932 

lesarten 192,15 notwendig] davor {docb} - 192,23 untereinander, in] 
dazwischen in den [Gestalten[?] und Gestir(nen>) Kristallen und Sternen 
untereinander) - 192,33 deren] danach {z.B.} - 193,3 gescbwunden sein] 
fur {sich zuruckgezogen haben) - 193, i6f. charakteristische Einheit] fiir 
{Einbeit} - 193, 26 Dasein] fiir {Innern} - 193, 30 das mimetische] fiir {ein 
mimetisches) - 193,32 den Vollbesitz] fiir {ibre Blute in den } {Hbbepunkt 
dieser B [abgebrochen]} - 193*35 dujlerste] fiir {ungeheure} - 193,35 
Genie] fiir {Meisterschaft} ; die blieb unkorrigiert 

nachweise 192,17 realen Humanismus] s. den Terminus auch in Karl 
Kraus, Bd. 2, 364, 366 - 192, 19 gezeigt] s. Ursprung des deutschen Trauer- 
spiels, Bd. 1, 317-335, insbes. 326-334- 192,21 Abnlicbkeiu] s. Lebre vom 
Abnlicben und Uber das mimetiscbe Vermogen, Bd. 2, 204-213 



194 [fr 159] Wer einen andern . . . 

Die Reflexion setzt die These vom ehemals gewaltigen Zwang, dbnlich zu 
werden und sich zu verhalten (Bd. 2, 210, Zusatz und folg. Abschn.) vor- 
aus. Sie findet sich auf dem Blatt eines der Notizblocke mit orangerotem 
Papier, die Benjamin im Pariser Exil ab etwa 1937 verwendete. Entweder 



754 Anmerkungen zu Seite 194 

entstand die Aufzeichnung ab diesem Jahr, oder sie ware ein Beleg fur Ben- 
jamins Verwendung dieses Papiers schon Jahre friiher - etwa nach seiner 
Riickkehr nach Paris Oktober 1933 von Ibiza, wo er Uber das mimetische 
Vermogen niederschrieb (s. a.a.O., 952). Die gedankliche Nahe zu den 
Mimesistexten macht die fruhere Datierung wahrscheinlicher. 

U:Ms 925 - Blatt ca. 11,5X9 cm, orangerot, herausgetrennt aus einem 

Notizblock. 
D: entweder 1933/1934 oder ab 1937 

lesarten 1 94, i Wer] davor gestrichene Titelentwurfe {Die Hoflicbkeit} 
{boflicbe Begriifiung} - 194,4^ diirfte [...] darstellen] fur {stellt} dar- 
194,5 Bereitschaft] fur {Disponibilitdt} - 194,7 Ausdruck] fur {Gesichts- 
ausdruck} -194,9 Erscbopft sicb] fiir {K6nnte)tr%. sicb erscbopfen - 194, 1 2 
im Ldcheln das Einverstdndnis] fiir {das Ldcbeln die allgemeine Bereit- 
scbaft) - 194, 1 5 erwiese die Meisterscbafi] fiir {ware das Meisterstuck einer 
Mi} {das Meisterstuck alter Mimesis: in} 



I95" 21 1 [f f 160-189] Betrachtuhgen und Notizen 



195 [fr 160] Die Landschaft von Haubinda 

Die fragmentarische Aufzeichnung, niedergeschrieben aus der Erinnerung 
(195) an die p/ 4 wichtigenjahre (10. 10. 19 12, an Ludwig Straufi), die Ben- 
jamin in dem Landerziebungsbeim Haubinda in Tburingen (215; s. auch 
216, 218, 222) zubrachte, kdnntenach Schriftduktus und Stil um 19 13/ 19 14 
- die Zeit, aus der Metaphysik derjugend (s. Bd. 2, 91-104) stammt - ent- 
standen sein. 

U: Ms 1337- Blatt ca. 21 x 16,5 cm, abgetrennt von einem Bogen; bescha- 
digt durch auf der Ruckseite beseitigte Klebespuren; Skizze auf linkem 
unterem Rand. 

D: etwa 1913/1914 

lesarten 195,4 sein] fur {steben} - 195,7 der Tbron] fur {die Hbbe des} 
Thrones; letztes Wort blieb unkorrigiert 

nachveise i<)$ y 2Landscbaft von Haubinda] s. Pfingstreise von Haubinda 
aus, 229-23 1 und Tagebuch Pfingsten 191 1, zyz-zy 5 - 195, 19 f. Dorfer mit 
Namen] dazu s. Nocb einmal, Bd. 4, 435; der Traum, der diese Namen 
prazis erinnert, ist ca. 193 2/ 193 3 niedergeschrieben 



196 [fr 161] Notizen i 

Um den Typus der Sache nach zwar heterogener, der Aufzeichnungsart 
nach aber zusammengehoriger Notizen zu dokumentieren, haben die Hg, 
hier wie in analogen Fallen (s. fr. 171, 178, 185 und 187) die einzelnen 
Aufzeichnungen nicht auf verschiedene Sachgruppen verteilt sondern bei- 
sammengelassen und sie, gemafS dem bei Benjamin selbst verbiirgten Titel 
Notizen (s. fr 1 84) »Notizen« zubenannt und innerhalb dieser Fragmenten- 
gruppe durchnumeriert. Die vier Aufzeichnungen, deren letzte auf der 
Ruckseite des Blattes steht und moglicherweise friiher als die ubrigen nie- 
dergeschrieben wurde, stammen aus der Zeit friihestens ab etwa 191 8/19 19 
bis spatestens etwa 1921/ 1922. 

U: Ms 772 - Blatt ca. 12X7,5 cm, herausgetrennt aus dem Ersten Notiz- 
block und beigelegt einem Konvolut (Ms 762-779); spatere Bleistiftpa- 
ginierung »n«. 

D: zwischen etwa 1918/1919 und 1921/1922 



7$6 Anmerkungen zu Seite 196-197 

lesarten 196,7 wort gebotene] wort zweimal unterstrichen - 196,22-24 
Die bis entwenden.] auf Blattriickseite iiber dem unten niedergeschriebe- 
nen Rest der dritten Aufzeichnung; dazwischen und auf dem linken Rand 
neben der letzten beginnend die Stichworte und Notizen: Die Scbule [/] 
{Das Kartenspiel) [/] { Graphik) [/] Freundscbaft und Liebe [s, f r 47/] Uber 
die Neigung [/] {Goethe: die Natur das Cbaos derSymbole} [s. Bd. 1, 148/] 
Der romantische Begriffder Philologie [s. fr 6j/] {Brief iiber die Grofie an 
[Werner] Kraft} [s. Brief e, 189/] Uber Faust II 

nachveise 196,5 Centauren] s, Der Centaur, Bd. 7 - 196,8-21 Das bis 
fehlt] s. Bd. 1, 193-197 



196L [fr 162] Der Ruhm des lebenden Kunstlers . . . 

Die Aufzeichnung ist auf einem Einlegestreifen der Berliner Staatsbiblio- 
thek- mit aufgedruckter Rucklieferungsmahnung »bis 7. Februar 1924* - 
in umgekehrter Richtung niedergeschrieben - wahrscheinlich wahrend der 
Zeit der Ausleihe, kaum spater als 1924. Vielleicht handelte es sich bei dem 
entliehenen Buch um ^Suggestion und Autosuggestion* von C. Baudouin, 
einem Vertreter der sog. Zweiten Schule von Nancy, das Dresden 1924 
deutsch erschien, denn auf der Ruckseite des Streifens findet sich die - 
gestrichene - Notiz: {Kein Wille ohne genaue Vorstellung, keine Vorstel- 
lung ohne Innervation. Mit diesem letzten Satze wird Baudouin fortge- 
fiihrt. Nun ist der Atem der genaueste Hebel der Innervation. Daher die 
Praxis der Yoga. Auszufubren!} 

U: Ms 661 - Einlegestreifen ca. 16X4 cm, datiert »bis 7. Februar 1924*. 
D: 1924 

lesarten 1 96, 27 bestimmt] fur {inspiriert} - 196, 3 1 an dem] fur {dessen} - 
196, 34 tragen] danach {und erhal) 



197 [fr 163] Betrachtung des Buches als einer Sache . . . 

Wie aus dem Fragment eines Briefentwurfs auf der Ruckseite des Blattes zu 
erschliefien, wurde die Betrachtung nicht vor Anfang Juni 1924 niederge- 
schrieben. Was von dem Briefentwurf erhalten blieb, lautet: Lieber Herr 
Kracauer! [/] Ihre sowie Herrn Wiesengrunds Zeilen betreffs des Baudela 
[erg. ire, scil. Charles Baudelaire, Tableux parisiens. Deutsche Ubertra- 
gung mit einem Vorwort uber die Aufgabe des Ubersetzers, erschienen 
1923; s. Bd. 4, 7-63, 889; erg. weiter habe ich] erhalten. Als ich Ihren 
freundlichen Vorschlag, fur das Buch durch ein Referat einzutreten, [Ende 



Anmerkungen zu Seite 197 757 

des Fragments]. Der Vorschlag diirfte von der redaktionellen Intrige gele- 
gentlich der Anzeige des Buches in der Frankfurter Zeitung Anfangjuni 
1924 veranlafit worden sein, in dem Sinn, dafi Siegfried Kracauer sich zur 
Leistung von Reparationen [. ..] erbbtig gemacht hatte (Briefe, 351 f.). 
Schrift- und Tintenart der Betrachtung legen nahe, dafi sie nicht viel spater 
als der Brief en twurf niedergeschrieben wurde. 

U: Ms 664-Blatt ca. 10X9 cm, von einem Bogen schrag abgetrenntes Blatt; 

Ende der Aufzeichnung, Bruchstiick eines Briefentwurfs und diverse 

Notizen auf Riickseite, 
D: Sommer 1924 



197 [fr 164] Erster italienischer Hohenzug . . . 

Die Folge von Notizen ist die zweite Eintragung im Schwarzen Lederheft 
und steht - freilich erst nach 8 unbeschrieben gebliebenen Blattern - vor 
dem Tagebuch meiner Loirereise (vom 12.-16. 8. 1927; s. 409-413). Sie 
diirften Eindriicke von Benjamins Italienreise 1926 festhalten. Eigentiim- 
lich ist, dafi die dritte Notiz (s. 197), liber eine Variante (s.u.), in stark 
reduzierter und modifizierter Fassung in der Ende Oktober 1928 abge- 
schlossenen Skizzenreihe uber Marseille (s. Bd. 4, 360) wiederkehrt. Mog- 
licherweise hat Benjamin das in Italien empfangene Motiv - wegen des 
weitergehenden Typischen - erst unter die Kurzen Schatten aufnehmen 
wollen, ehe er ihm die Stelle unter den Marseillaiser Skizzen gab; das wiirde 
die Streichung der Notiz erst im Lederheft, dann, unter den Varia zu Kurze 
Schatten^ im Zweiten Notizblock erklaren. Die Variante dort lautet: 

{(DieHdhne) 
Gerausche sind scheu; sie such en den Einsamen auf. Und sie wollen erhbrt 
und bedacbt und Partner in einer Zwiespracbe sein. Sie wollen noch im 
Schweigen zu Worte kommen, mit Erinnerung an sich durchtranken. Es 
gibt ein Scbweigen der Hahne, ein Schweigen der Axt, ein Schweigen der 
Grillen, Hunde> das der nie wahrnimmt, der nicht allein ist. } 

Druckvorlage: Zweiter Notizblock, Ms 738 

U: Schwarzes Lederheft, S. 3 
D: vor August 1927 

lesart 197, 14 (Hohenzug ?)] wegen Beschadigung des oberen Blattrands 
besonders unsichere Lesung 



7$8 Anmerkungen zu Seite 198-199 

198 [fr 165] Regel ., . 

Die Notiz f indet sich auf dem Rand eines Blattes mit Stichworten zu Reise- 
eindriicken von Korsika, die anscheinend an Ort und Stelle, wahrend Ben- 
jamins Abstecher Juni 1927 von Nizza aus, niedergeschrieben wurden 
(s.Anm. zufr 154, 750). 

U:Ms 1286 - Blatt ca. 21X13,5 cm, abgetrennt von einem Briefbogen; 

gefaltet, in 2 Kolumnen beschrieben; fr 165 entlang derzweitennotiert; 

zwei Briefentwiirfe auf Riickseite. 
D: etwajuni 1927 

198 [fr l66] Zu EINER BESCHREIBUNG VON DANZIG 

Benjamin besuchte Danzig im Dezember 1927, wie u. a. aus einem Brief an 
Kracauer hervorgeht, wo es heifk, dafi mix ein Buch Chestertons tiber 
einige trtibe Momente hinweggebolfen hat, als icb es - Bratapfel dazu 
essend - im letzten Dezember in Danzig las. (10. od. 16. 3. 1928, an Sieg- 
fried Kracauer) Die Notizen diirften, wenn nicht an Ort und Stelle, viel- 
leicht um die Jahreswende 1927/1928 niedergeschrieben worden sein. 

U: Schwarzes Lederheft, S. 74 

D: Dezember 1927 oder um 1927/ 1928 

lesart 198,25 docb] davor und danach {wieder} 

198 f. [fr 167] »Tausende, die hier liegen . . . 

Die Betrachtung findet sich im Zweiten Notizblock auf dem Blatt hinter 
dem mit fr 11 1 und vor dem mit fr 168. Die wahrscheinlichere Datierung 
von fr 1 1 1 auf 1 927 (s, 7 1 2) legt die der Silvesterbetrachtung auf die Jahres- 
wende 1927/1928 nahe. Dafr 168 auf dem folgenden Blatt jedoch von italie- 
nischen Reiseeindriicken ausgehen diirfte, die am ehesten auf 1929 zu datie- 
ren sind, kann die Silvesterbetrachtung auch um die Jahreswende 1929/ 
1930 entstanden sein. 

U: Zweiter Notizblock, Ms 724 - Blatt [9]. 
D: Jahreswende 1927/ 1928 oder 1 929/1 930 

lesarten 198,33 Inscbrift] fur {Grabscbrift} - 198,33 Kaufmanns] bei 
Morike »Kiinstlers«, s. Nachweis - 198,33 mag] fur {mocbte} - 199,6 Es] 



Anmerkungen zu Seite 198-200 759 

fur {Ja, es} - 199,8 besprenkelt] fur {besprengt} - 199,10 in dem] fur 
{durch das) - 199, iof. sicb spiegelt] fur {hineinscheint} 
nachweis 198,32 du«\ Eduard Morike, Samtliche Werke. Textredaktion 
Jost Perfahl, Bd. 1, Miinchen 1968, 756 (»Auf dem Grabe eines Kiinst- 

lers«) 



199 [fr 168] Uber die Art der Italiener, zu diskutieren 

Unterstellt man eine Niederschrift aus der Retrospektive auf die Italien- 
reise 1925, ware die Datierung etwa in diesem Jahr anzusetzen; wahr- 
scheinlicher ist den Hg. eine Beziehung auf die Reise nach Italien im Som- 
mer 1929 und eine entsprechende Datierung der Aufzeichnung. 

t): Zweiter Notizblock, Ms 725 - Blatt [10]. 
D: 1929, vielleicht 1925 

lesart 199,28 pragmatiscbe Gesinnung] dazwischen {wabrbaft romerma- 
fiige) 



200 [fr 169] Gedacht 1ST AIXES . . . 

Die Reflexion ist die zweite Eintragung im Pergamentheft der Sammlung 
Scholem, das Benjamin in den Jahren 1928/ 1929 benutzte. Direkt anschlie- 
fiend folgt die Niederschrift zu Weimar aus der ersten Junihalfte 1928 
(s.Bd. 4, 353-355, 99of.). 

U: Pergamentheft SSch, S. 1 
D: im oder vor Juni 1928 



200 [fr 170] Zur Entbindung der traumatischen Energie . . . 

Der kleine Bericht steht im Pergamentheft SSch nach Aufzeichnungen aus 
dem »motivischen Umkreis der Studie uber den Erzahler« aus dem Jahre 
1928 (s. Bd. 2, 1276) und vor ersten Niederschriften zu Marseille, der Skiz- 
zenreibe, die Ende Oktober 1928 abgeschlossen wurde (s. Bd. 4, 992), 
konnte also etwa Sommer 1928 aufgezeichnet worden sein. \jber Joel (200) 
schrieb Benjamin 1928 an Scholem: Icb [. . .] kenne den Betreffenden aus 
meiner berliner Studentenzeit, da er Vorsitzender des sogenannten sozialen 
Amies [der Freien Studentenschaft; s, Bd. 2, 881] war und in der Rede, 
welcbe icb im Mai 19 14 bei Ubernabme meines Prasidiums [s. a. a. O., 872- 



760 Anmerkungen zu Seite 200-203 

874] hielt, von mir mit einer Kriegserkldrung in aller Form bedacht wurde. 
Er and ein anderer meiner Opponenten aus jener Zeit haben sick dutch 
Gottes - oder Satans - Fugung wunderwar verwandelt and sind zu Karyati- 
den an dem Portal geworden> durch das ich nun schon zweimal in die 
Bezirke des Haschisch eingegangen bin [s. 558-618]. Diese beiden Arzte 
[Dr. Ernst Joel und Dr. Fritz Fraenkel] ndmlich machen Versucke uber 
Rauschgifte, zu denen sie mich als Versuchsperson gewinnen wollten. Ich 
bin darauf eingegangen. (Briefe, 4$6f.) 

U: Pergamentheft SSch, S. 29 
D: Sommer 1928 

nachweis 200,6 Jo'et] s. auch 416 und 476 f. 



200-203 [f r l 7*] [NOTIZEN 2] 

Die Folge von 16 Aufzeichnungen von der Art des blofien Notats uber 
gnomische Formen bis zur Betrachtung und Charakteristik - von den Hg. 
»Notizen« zubenannt (s. Anm. zu fr 1 6 1 , 7 5 5 ) - sind, wie schon der wech- 
selnde Schriftduktus zeigt, in kleineren oder grofieren Zeitabstanden ab 
etwa 1928 bis etwa 1929, vielleicht 1930 niedergeschrieben. Unterstellt man 
regulare Blattfolge, ist als ungef ahrer terminus a quo das im Zweiten Notiz- 
block vorangehende Blatt (Ms 732) mit Aufzeichnungen zu den beiden 
Texten uber Gide von Anfang 1928 (s. Bd. 4, 497-509) anzusehen. 

U: Zweiter Notizblock, Ms 733 - Blatt [18]. 
D: 1928 bis 1929/1930 

lesarten 200, ij des s] scil. des Schlufi-s (wie auch im Ms) der Sutterlin- 
schrift - 201, i f. von bis bewegen] Ende der dritten schrag neben der gestri- 
chenen urspriinglich vierten Aufzeichnung {Karl Kraus> aus dem (x) 
Schrifttum zu explizieren) - 201, 5 stebt] danach {(ein Buch kennen zu ler- 
nen)}- 201,6 einer](uv {einAutor} -201, 7 «m Kritiken] dazwischen {ein 
Buch kennen zu lernen des Erfolges oder Mifierfolges wegen } den ergehabt 
hat (also um die) - 201,7 kritisieren] fur {verstehen und zu beurteilen} - 
201, 1 1 eine] fur { die) - 201, 24 f. marktschreierisch] fur {selbstsicher und so 
verzweifelt zugleich) - 202,1 gelehrigen] fiir {fachmannischen} - 202,4 
wirkende] fiir {gegenwartige) - 202, 10 f. bleiben] fiir {sind vielleicht) - 
202,14 die] fiir das {Scheinreich auch in die Bereiche der Wiss) - 202,27 
Aber] fiir {Setzt er aber zum Sprunge an, so mufi) 
nachweise 200, 2 1 Kind bis Bett] vermutlich Stichwort zu einem weiteren 
Snick von der Art der unter Vergrofierung in Einbahnstrafie (s. Bd. 4, 1 13- 



Anmerkungen zu Seite 200-204 7*>i 

1 16; s. audi 937) zusammengefafiten - 200,22-201,2 Schreibendes bis 
bewegen] Entwurf zu einem weiteren Stuck dieser Art, jedoch in der Nacb- 
tragsliste zur Einbahnstrafle (s. Bd. 4, 9 1 1 f.) nicht verzeichnet; moglicher- 
weise konzipierte es Benjamin beim Lesen des Buches nach der Veroffentli- 
chung 1928 -201, yy Lesen bis lesen] s. fr 137, 1. Notiz- 201, 8-19 FUr bis 
bringen] s. fr 132, 3) und 21) - 201,22 Nachtrag] zur Charakteristik Bor- 
chardts s. Brief e, 188-190 und 192; fr 42 und Anm. zu fr 42 f., 670 f.; ferner 
Bd. 1, 182 und 856-201,29^-202, 19 f. Hofmannsthal bis Entsagende] s. fr 
120 - 202,30-33 Dialektik bis Gliicks] s. Einmal ist keinmal, Bd. 4, 369; 
Agesilaus Santander y Bd. 6, 523; Zentralpark, Bd. 1, 628 f. 



203 [fr 172] Die grosse Kunst . . . 

Das Blatt mit der Betrachtung folgt im Zweiten Notizblock einem mit der 
Niederschrift zu Plane verschweigen aus Kurze Schatten (s. Bd. 4, 37of.) 
von 1929 und geht einem Blatt mit Niederschriften - davon zweien zur 
selben Serie - unter dem Titel Verscbiedenes (s. Anm. zu fr 173) vorher. 
Dies macht eine Datierung auf eine Zeit vor Mitte 1929 wahrscheinlich. 

U: Zweiter Notizblock, Ms 737 - Blatt [22]. 
D: etwa vor Mitte 1929 

lesarten 203, 1 8 die] danach {engen} - 203,21 mit alien Sinnen] fiir 

{uberall} 

nachweis 203, 12 petit!*] Baudelaire, CEuvres completes. Texte etabli, pre- 

sente et annote par Claude Pichois, Bd. 1, Paris 1975, 129 (Les fleurs du 

mal. CXXVI Le voyage, v. 3f.) 



203 f. [fr 173] Milieutheoretiker 

Die Aufzeichnung ist die dritte von vieren, die Benjamin Verscbiedenes 
uberschrieb. Die erste und vierte sind Niederschriften zu Arrant batimmer 
das Nachseben und Woran einer seine Starke erkennt aus den etwa Juni 
1929 abgeschlossenen Kurzen Schatten (s. Bd. 4, 369L und 371 f.)? die 
zweite die Stilisierung der dritten Notiz von fr 164 (s. 197 und Anm., 757); 
alle drei sind ganz, die Aufzeichnung Milieutbeoretiker ist zu etwa 3 / 4 ge- 
strichen. 

t): Zweiter Notizblock, Ms 738 - Blatt [23]. 
D: etwa vor Mitte 1929 



762 Anmerkungen zu Seite 203-204 

lesarten 203,25-204,1 Bedenkt bis Philanthropes] gestrichen - 203,28 
Verwechslungen] danach {, Zwillingen,} - 204,1 ProustschUler] fur 
{Proustbewunderer} 



204 [fr 174] SOLLTE NICHT DER InTENSITAT . . . 

Die Reflexion steht als funfte auf einem Blatt mit neun Notizen, das Ben- 
jamin, zusammen mit fiinf weiteren Blattern, in einem Couvert, signiert 
Vom Glauben an die Dinge, die man uns weissagt, verwahrte (s. Ms 644- 
650 und Bd. 4, 372L). Wegen der Unabhangigkeit von diesem Text wurde 
die Reflexion in diese Fragmentengruppe aufgenommen. 

U:Ms 646 - Blatt ca. 10,5x8,5 cm, herausgetrennt aus einem Notiz- 

block. 
D: etwa vor Mitte 1929 



204 [fr 175] Der Ritus lehrt . . . 

Morgen gehe ich nach Siena, heifk es in dem brieflichen Bericht vom 27. 
7. 1929 aus Volterra von Benjamins Italienreise mit Wilhelm Speyer 
(Briefe, 498). 

U: Zweiter Notizblock, Ms 744 - Blatt [29]. 
D: Siena, 28. 7. 1928 



204 [fr 176] Penthesilea , . . 

Die beiden Notizen, wovon die erste eine der wenigen uberlieferten 

Aufterungen Benjamins zu Kletst ist (s. Bd. 3, 187; auch Briefe, 115, 150), 
stehen im Pergamentheft SSch hinter der Niederschrift zur Juni 1929 verof- 
fentlichten Mehringkritik (s. Bd. 3, 183 f.) und vor der zur Oktober 1929 
veroffentlichten Rezension von Polgars »Hinterland« (s. a. a.O., 199 f.), 
diirften also etwa im Zeitraum dazwischen niedergeschrieben worden sein. 

U: Pergamentheft SSch, S. 77 

D: etwa Spatsommer/Fruhherbst 1929 

nachweise 204, 17 Penthesilea] s. Heinrich v. Kleist, Werke, hg. von E. 
Schmidt, Bd. 2, Leipzig, Wien o.J,, 5-168 (Penthesilea. Ein Trauerspiel) - 
204,24 Prodikosallegorie] s. Xenophon, Memorabilien, 2, 1,2 iff., wo der 



Anmerkungen zu Seite 204-205 763 

von Prodikos in der verlorenen Schrift *Qoai erzahlte Mythos von Hera- 
kles am Scheidewege nachgebildet ist 



205 [fr 177] Lesen 

Der erste Teil der Aufzeichnung konnte Keimzelle zu Kriminalromane, 
auf Reisen> erschienen Anfang Juni 1930 (s. Bd. 4, 381-383), sein. Die ihr 
im Schwarzen Lederheft (s. S. 70) vorhergehende Eintragung ist Anfang 
September 1929 datiert, die ihr auf der Ruckseite (s. S. 71) folgenden Auf- 
zeichnungen zu Weimar freilich sind bereits Juni 1928 (s. Bd. 4, 99of.) 
niedergeschrieben. Dies lafit eine Datierung einerseits nach September 
1929, andererseits nach Juni 1928 - je nach Benutzung des Lederhefts - 



0: Schwarzes Lederheft, S. 71 

D: etwa nach September 1929 oder nach Juni 1928 

lesart 205,4 Bticher,] danach {damm(ernd)} 

nachweis 205, 3 f. ReiselektUre*] s. die Aufnahme des Stichworts, Bd. 4, 

382,35 



205 [fr 178] Notizen 3 

Die beiden Notizen finden sich auf der vorletzten Seite des Schwarzen 
Lederhefts - in dem Teil der Sammelhandschrift (s. S. 70-82), der »Noti- 
zen unterschiedlichsten Charakters* iiberwiegend »aus den Jahren 1928 
und 1929* (Bd. 5, 1337) enthalt. 

U: Schwarzes Lederheft, S. 81 
D: etwa 1928/1929, vielleicht 1930 

lesarten 205,18 banalen] erg. etwa »Placierung« - 205,22 (wissent)] 
man erwartet weifi; halbwegs entzifferbar jedoch das eingefugte Wort 



205 [fr 179] Der grosse Autor . . . 

Der Aphorismus steht - schrag zwischen oben links und unten rechts 
fixierten Notizen zu Rundfunkarbeiten - auf einem Blatt des Konvoluts 
Studien zur Kritik; er und die Notizen sind augenscheinlich fruher als das 
umseitige, nach Juni 1930 zu datierende fr 136 (s. 736) niedergeschrieben. 



764 Anmerkungen zu Seite 205-206 

Benjamin durfte das Blatt spater, nach Niederschrift von fr 1 3 6, dem Kon- 
volut inkorporiert haben. 

U: Ms 827 - s. Anm. zu fr 136 (736). 
D: etwa 1929/1930 

nachweis 205,25-29 Der bis wiederzuerkennen] s. auch Gut schreiben, 
Bd. 4,435 f. 



205 f. [fr 180] »SlJCHE ALLEM IM LEBEN EINE FOLGE ZU GEBEN« . . , 

Die Aufzeichnung sollte nach dem urspriinglichen Plan der Ibizenkischen 
Folge an deren vierter Stelle figurieren (s. Bd. 4, 1002; die Angabe, dafi der 
Text ungeschrieben oder verschollen sei, beruht auf einem Irrtum). Von 
den fiinf Aufzeichnungen auf dem Blatt ist er die zweite; die erste ist eine 
Vorstufe zu Einmal ist keinmal (s. a. a.O., 433f.)> entstanden »wahr- 
scheinlich im Fruhjahr 1932* (a. a. O., 1009), die dritte und vierte sind ein 
abgebrochener und ein vollstandiger Entwurf zur funften: Das Licht (s. fr 
181 und Anm. 764^). 

I): Ms 865 - Blatt ca. 27X18 cm, gefaltet; erste Halfte der Lange nach, 

zweite quer beschrieben; leicht beschadigt. 
D: etwa 1932 

lesarten 2o6,2f. des richtigen Verbaltens] fur {einer Verhaltungsweise} - 
206, 7 eingehen] fur {eingegangen zu sein} - 206,8 macht] fur {ist} 
nachweis 205,31 Maximen] nicht in »Maximen und Reflexionen* ; Benja- 
min konnte an folgende Stellen gedacht haben: »Hieraus ersehen wir, dafi 
des Menschen Leben nur insofern etwas wen ist, als es eine Folge hat.« 
Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gesprache, hg. von E. 
Beutler, 2. Aufl., Zurich 1961-1966, Bd. 12: Biographische Einzelschrif- 
ten, 482 (Sankt Rochus-Fest zu Bingen) und »[...] wir [sind] doch eigent- 
lich dadurch Menschen [. . .], dafi wir unsern Zustanden eine gewisse Folge 
zu geben trachten,* a. a. O., Bd. 21: Briefe der Jahre 18 14- 1832, 819 (Goe- 
the an Moritz Paul v. Bruhl, 23. 10. 1828) 



206 [fr 181] Das Licht 

Der Text, des sen mutmafiliche Endfassung in die Geschichten aus der Ein- 
samkeit (s. Bd. 4, 757) einging, findet sich als dritte Version auf Blatt Ms 
865 (s. o., Anm. zu fr 180; die gleichfalls dort aufgezeichnete erste - abge- 



Anmerkungen zu Seite 206 765 

brochene - und zweite s.u.). Aus zwei Griinden entschlossen sich die Hg. 
zum Abdruck : einmal war der seltene Fall der Vierstufigkeit einer Textent- 
stehung - vom fragmentarischen Anfang iiber zwei weitere handschriftli- 
che Fassungen bis zur (vermutlich) letzten (Typoskript-)Fassung (s. Bd. 4, 
1 080) - mit Benjamins skrupulosen Bemiihungen um den treffendsten Aus- 
druck zu dokumentieren; zum andern steht der Text in einer erst jetzt auf- 
gehellten Beziehung zu der »ratselvollen Gnome« (808) Agesilaus Santan- 
der (s. 520-523). Der Passus der ersten Fassung In den ersten Tagen einer 
Liebe> die nicbt erfiillt wurde (s.u.) weist namlich eine Entsprechung zu 
einer Arbeitsnotiz auf, in der »der Vorname der Geliebten« (814) als Tttel 
figuriert, und die als zweite von drei Stationen einer Liebesgeschicbte (8 1 5) 
Das Licht (a. a. O.), augenscheinlich die im Text erzahlte Begebenheit, ver- 
merkt; als Weiteres Material (a.a.O.) der »zu schreibenden Arbeit« (814) 
notierte Benjamin dann Agesilaus Santander (8 1 5 ; zum ganzert s. 808-81 5). 
- Es folgen die beiden ersten Versionen von Das Licht: 

{Unterm Warten. In den ersten Tagen einer Liebe, die nicbt erfiillt wurde, 
ereignete sicb das Folgende: Mit der Geliebten war ich zum ersten Male und 
in einem fremden Dorf allein. Ich wartete vor meinem Nachtquartier, das 
nicht das ihre war, auf ibr Ersch [abgebrochen]} 

{ Unterm Warten. Mit der Geliebten war ich zum ersten Male und in einem 
fremden Dorf allein. Ich wartete vor meinem Nachtquartier, das nicbt das 
ihre war { {, aufihr Erscheinen}}. Wir wollten noch einen Abendspazierung 
machen. Wartend ging ich die Dorfstrafie auf und ab. Da sah ich in der 
Feme, zwischen Bdumen, ein Licht. »Dies Licht, so dachte ich bei mir, sagt 
denen, die es allabendlich vor Augen baben, nicbts. Es mag von einem 
Leuchtturm oder Bauernbofe kommen. Mir aber, dem bier Fremden, sagt es 
viel.« Und damit machte ich kebrt, um von neuem die Dorfstrafie abzu- 
schreiten. So ging es zwei, drei Mai und immer wenn ich nach einer Weile 
wieder umbog, lockte zog [erstes Verb ungestrichen] das Licht zwischen 
den Bdumen meinen Blick an. Der letzte aber liefi mich zusammenfabren. 
Das war kurz ehe die Geliebte kam. Ich hatte mich gerade wieder umge- 
wandt und sah: das Licht, das ich zu ebnerErde gesichtet hatte, war dasdes 
Monds gewesen, der nun langsam uber die ferne[n] Wipfel heraufgeruckt 
war.} 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 865 (3., 4. Aufz.) 

U: Ms 865 - s. Anm. zu fr 180 (764); 5. Aufz. 
D: Sommer 1932, eher 1933 

lesarten 206, 20 an.] danach {Der [x] aber gebot mir Einhalt, plotzlicb 
blieb ich stehen. - 206,21 mir] fur {meinen Scbritten ein} - 206,21 halt 



766 Anmerkungen zu Seite 206-207 

gebot] fur {Halt gab) {ganz anhalten liefi) - 206, 22 mich] danach {gerade} 
- 206,22 geseben] fur {erkannt} 

2o6f. [fr 182] Zum Sprichwort 

Im Nachlaft fand sich in Nahe des Blatts mit fr i8of. ein Blatt mit den drei 
Titelnotizen Sucbe allem im Leben eine Folge zu geben. Das scbwache 
Schaffen und Das Spricbwort (Ms 867). Nahe liegt, dafi es sich urn eine - 
vielleicht abgebrochene - weitere Variante zur Disposition der Ibizenki- 
schen Folge handelt (dazu s. Bd. 4, 1002). Der mit dem zweiten Titel ange- 
zeigte Text, der in fr 184 in aphoristischer Form angedeutet ist (s. 207), 
blieb wohl ungeschrieben. Zum dritten gibt es einen Entwurf auf einem 
wiederum benachbarten Blatt: fr 182. Es diirfte den geplanten Stiicken der 
Ibizenkiscben Folge zuzurechnen sein. Der bibliographische Vermerk am 
Schlufi (s. 207) ist augenscheinlich spater nachgetragen. 

U: Ms 866 - Blatt ca. 11,5X8 cm, herausgetrennt aus einem Notizblock; 

leicht beschadigt; Stichworte Rastelli und Kleine Kunststucke in Blei auf 

Riickseite. 
D: ab April/Mai 1932 

nachweis 206,30 und passim Erfahrung] s. fr 59 

207 ffr 183] Zu den Reflexionen uber Kultur der Stimme . . . 

Ein Buck dem ich seit Jahren nacbspUrtej schrieb Benjamin Anfang Mai 
1935 an Adorno, ist mir dieser Tage in die Hdnde gef alien und bat alle 
Erwartungen eingelbst, die icb daraufgesetztbatte. Auf die Gefabrbin, dajl 
Sie es kennen t kann icb dem VergnUgen nicbt widerstebn, drei, fast beliebig 
gewablte Maximen daraus in eigener Ubersetzung bierber zu setzen. 

XL 

Die Ideen, die einem wicbtig sind, den zebn Fingern und ibren einzelnen 
Gliedern zuordnen. 

XLI 

Was einem am meisten gegenwdrtig zh sein bat, mufl er den Sacben oder den 
Leuten, welcbe er liebt, vor allem aber denen, welcbe er hajlt, assoziieren. 

XLII 
Hat man vor, mit Dingen sich zu befassen oder mit Leu ten zu unterban- 



Anmerkungen zu Seite 207-208 767 

dehty so mufi man die Ideen> die einem wichtig sind, einer Reihe von Sachen 
zuordnen, die einem unterwegs gerade vor Augen kommen. 
Herault de Secbelles: Theorie de V ambition [Introduction par Jean Prevost, 
Paris 1927, j 7 (chap. II)]. Ein Vorlaufer nicht nur Stendhals, sondern des 
anthropologischen Materialismus von Georg Buchner. (1. 5. 1935, an Th. 
W. Adorno) - Die drei Notizen zu Herault (207) stehen im Dritten Notiz- 
block unter Aufzeichnungen aus dem Jahre 1932. Benjamin duffte sie gele- 
gentlich seiner Studien zur Passagenarbeit niedergeschrieben haben, bei 
denen er auf Herault stiefi, dessen Buch alle seine Erwartungen geweckt, 
und, nachdem es ihm drei Jahre spater- wohl wieder- in die Hdnde gef al- 
ien war, eingelost hatte. Es konnte so sich verhalten haben, dafi er 1932 nur 
die - vielleicht separat erschienene - » Introduction* kennenlernte, wofiir 
spricht, dafi fr 183 nur aus ihr zitiert (s.u., alle Nachweise), dabei auf das 
Buch selbst aufmerksam wurde und ihm nachspurte, bis es ihm 193 $ in die 
Hdnde fiel. Dazu stimmte dann, dafi er die » Theorie de Pambition« in dem 
Teil des Passagenkonvoluts Y zitierte (s. Bd. 5, 828, Y2a,2), der »vor Juni 
1935 « (a. a. O., 1262) entstand. Gleicher Schriftduktus und gleiche Tinten- 
art der Aufzeichnungen in der Umgebung des Blocks jedenfalls machen 
eine Datierung von fr 183 auf 1932 mehr als wahrscheinlich - vielleicht auf 
Juni/Juli, da die Notizen nicht weit vor der kleinen Rede Uber Proust, an 
meinem vierzigsten Geburtstag [15. 7. 1932] gehalten (Ms 75 4 f.; s. Bd. 2, 
1064 f.) im Block stehen. 

U: Dritter Notizblock, Ms 75 1 - Blatt [6]. 
D: 1932, vielleicht Juni/Juli 

nachweise 207,6 Stimme] zu beziehen auf: Herault de Sechelles, Refle- 
xions sur la declamation; s. ders., Theorie de I'ambition. Introduction par 
Jean Prevost, Paris 1927, 23 (Introduction) - 207,9 meme.«] ders., Refle- 
xions sur la declamation, cit. Theorie de I'ambition, a. a. O. (i.O. »esprit 
donne«; Hervorh. von Benjamin) - 207,12 banquet.*] a. a. O., 14 - 
207, i6f. lassen] s. a. a. O., 1 1 



zoji. [fr 184] Notizen 4 

Die erste der sieben Notizen konnte unter dem Eindruck, den Benjamin 
von Scholems Rosenzweig-Kritik empfing (s. Brief e, 537 und 540, Aran. 
1), Herbst 193 1 niedergeschrieben sein. Von den folgenden beiden Apho- 
rismen nimmt der zweite einen Titel aus einem Dispositionsfragment von 
etwa 1932 (s. Anm. zu fr 182) auf. Die vierte Notiz ist die erste Nieder- 
schrift von Kauflich dock unverwertbar (s, Bd. 2, 630), ein nach 1930/193 1 



768 Anmerkungen zu Seite 207-209 

(s. a. a. O., 143 7 f.) entstandenes Lesestiick, die funfte ein Nachtrag dazu. 
Die Motti zu Brecht (208) diirften 1934 notiert worden sein, wie der Brief 
vom 6. 5. 1934 an Scholem nahelegt, wo Benjamin von seiner Freude an 
Brechts neuem politiscbem Drama »Die Rundkopfe und die Spitzkopfe*, 
das ich im endgiiltigen Manuscript vor einigen Tagen erhalten babe, spricht 
(Brief e, 606; s. auch 608); freilich konnte es um eine Wiederlekture des in 
erster Fassung im 8, Heft der »Versuche« 1933 erschienenen Stiicks sich 
gehandelt haben oder dieses, an dem Brecht seit 193 1 gearbeitet hatte, Ben- 
jamin schon damals aus Gesprachen mit ihm bekannt gewesen sein. Dafiir 
sprache, dafi er die Motti aus Seume und Holderlin bei Gelegenheit der 
Verdffentlichung von Brief en beider (s. Bd. 4, 168-170 und 171-173)1931 
notiert haben konnte. Die letzte Notiz ist der beriihmte Aphorismus, den 
Benjamin in den zwischen 1937 und 1940 entstandenen Konvolutteil K5- 
K9 des Passagenfragments ubernahm (s. Bd. 5, 505 und 1262) und der, 
jenachdem, 1934 (oder spater) oder friihestens 1931 (eher 1932) niederge- 
schrieben wurde. 

t): Mittleres Pergamentbeft, S. 17 

D: etwa 1931/1932, moglicherweise bis 1934 und spater 

nach\peise 207, 19 f. Begriffs des Ursprungs bis Kraus] s. Bd. 1, 225-227 
und Bd. 2, 360-367 - 207, 21 Offenbarung] s. Franz Rosenzweig, Der Stern 
der Erlosung, Frankfurt a.M., 1921 



208 f. [fr 185] Notizen 5 

Die acht Aufzeichnungen - physiognomisierende Notizen die erste und 
zweite, Aphorismen die dritte und fiinfte, eine Reflexion die vierte und an 
Reiseimpressionen ankniipfende Betrachtungen die sechste bis achte - 
scheinen in einem Zuge niedergeschrieben. Eine Datierung auf November/ 
Dezember 1934 macht der Umstand wahrscheinlich, dafi Flandin (208) im 
November dieses Jahres franzosischer Ministerprasident und Frank 
(a. a. O.) - vorausgesetzt, es handelt sich um den spateren Generalgouver- 
neur von Polen und nicht um einen anderen dieses Namens, etwa den sude- 
tendeutschen Nationalsozialisten Karl Hermann Frank - im Dezember 
nationalsozialistischer Reichsminister wurde; publizistische Anlasse, die 
Benjamin aufgegriffen haben konnte. Die Rouvray -Notizen (209) liefien 
sich damit insoweit vereinbaren, als Benjamin nach seiner Riickkehr aus 
Danemark Oktober 1934 bis zu seiner Abreise nach San Remo November 
1934 - wo die Notizen aus der Riickerinnerung niedergeschrieben sein 
konnten - sich in Paris aufhielt, von wo aus auch die Fahrt mit dem Auto 
(a. a. O.) unternommen worden sein durfte. Nach Scholems miindlicher 



Anmerkungen zu Seite 208-210 769 

Mitteilung ist eine spatere Datierung, etwa 1935/1936, freilich nicht auszu- 
schliefien. 

U: Ms 976 - Blatt ca. 21X13 cm, abgetrennt von einem Bogen; fliichtige 
Bleistiftnotiz 2« den »drei Soldaten* (s. Brecht, Versuche 14, 1932) 
samt einer Skizze auf Riickseite. 

D: November/Dezember 1934 oder 193 5/1936 



209 [fr 186] Die Verfasser der unverganglichen Schriften . . . 

Die Notiz steht auf der Riickseite eines Ringbuchblattes mit Notizen zum 
zweiten Pariser Brief ', an dem Benjamin November 1936 arbeitete und den 
er Dezember Brecht zur - nicht erfolgten - Veroffentlichung in »Das 
Wort« schickte (s. Bd. 3, 6yj). Unter den Notizen finden sich Namen von 
Korrespondenten, darunter Bredel und Brecht, beide - wohl zum Zeichen 
erledigter Korrespondenz - gestrichen. Gleichartigkeit von Schriftduktus 
und Tintenart mit fr 186 auf der Riickseite lassen auf ungefahr gleiche Ent- 
stehungszeit schliefien. 

U: Ms 390 - Ringbuchblatt ca. 17X9,5 cm. 
D: nach November/Dezember 1936 

lesarten 209, 1 5 f . Vergessen] fur Vergessen{beit} - 209, 16 Niederschrei- 
ben] fur {Niederscbrift} 



209L [fr 187] Notizen 6 

Die kleine Notizenserie schrieb Benjamin - anscheinend in einem Zuge - 
auf einem der Blanko-Rezeptformulare von der Riickseite her nieder, wie 
er sie zu dem Konvolut Studien zum geplanten Vortrage bet Dalsace 1934 
verwendete (s. Anm. zu fr 144-15 1, 744). Jedoch ist das Blatt in diesemFall 
provisorisch gelocht - auf das Format der Ringbuchblatter mit Auf- 
zeichnungen zur Reproduktionsarbeit, an der Benjamin von Herbst 1935 
bis Friihjahr 1939 arbeitete, und zu den Pariser Brief en (s. Ms 390-392 
und 396). Danach ist eine Datierung zwischen 1935 und 1939 wahrschein- 
lich, jedoch nicht spater als September 1939 - dem Monat des Kriegsaus- 
bruchs -, wie die erste Notiz (s. 209) beweist. Nach Scholems Vermutung 
ist die Serie eher 1938 niedergeschrieben. 

U:Ms 403 - Blankorezeptformular ca. 15x8 cm; durch provisorische 
Ringbuchlochung am linken unteren Rand mit leichter Textbeeintrach- 
tigung beschadigt. 



770 Anmerkungen zu Seite 209-21 1 

D: zwischen 1935 und 1939, vielleicht 1938 

lesarten no, io (die)] rekonstruiert nach Beschadigung - 210, 1 1 f. geru- 
fen] fur {gebunden} - 210,13 (steht)] rekonstruiert; mogl. Lesart auch 
spricht - 210, 16 daft bis set] im Ms dafi [. . .] sein; eine mogliche Lesart 
ergibt sich, wenn man annimmt, dafi Benjamin sich dafi fiir lafi verschrieb 
nachweis 210,4-17 Das bis glticklich.*] s, Zum Tode eines Alten> Bd. 4, 
428 f. 

210 [fr 188] ICH KENNE EINEN . . . 

Die Aufzeichnung steht auf dem Blatt mit dem Schema zu einem Nachruf 
auf Joseph Roth (s. fr 121 und Anm. 719) hinter diesem, mit dem die Hg. 
die Fragmentengruppe »Charakteristiken und Kritiken« beschlossen. Da 
die Aufzeichnung gleich danach niedergeschrieben scheint, ist die gleiche 
Datierung anzunehmen. 

U: Ms 641 - s. Anm. zu fr 121 (719). 
D: Ende Mai 1939 



211 [fr 189] WARUM DIE DEUTSCHEN GELEHRTEN EINEN SO SCHLECHTEN 
Stil SCHREIBEN 

Die Aufzeichnung steht auf einem Ringbuchblatt von der Art, wie Benja- 
min sie zwischen 1935 und 1939 verwendete. Der Schriftduktus deutet auf 
eine spate Niederschrift. 

0: SSch, Handschrift Benjamins - Ringbuchblatt ca. 17X9,5 cm. 
D: zwischen 1935 und 1939, wahrscheinlich 1939 

lesarten 211,6 Belegstellen] danach {impolit} -211,8 (-)] konj. fiir eine 
runde Klammer, zu der das Pendant fehlt 



213-54 2 Autobiographische Schriften 
215-228 Lebenslaufe 



21 j f. Lebenslauf I 

Der Text wurde von Benjamin als Beilage zum Habilitationsgesuch vom 
12. 5. 1925 der Philosophischen Fakultat der Universitat Frankfurt a.M. 
eingereicht (s. Bd. 1, 898) und befindet sich heute bei den Benjaminschen 
Habilitationsakten. Das hier ebenfalls vorhandene Gutachten von Hans 
Cornelius, auf Grund dessen die Fakultat den Ursprung des deutschen 
Trauerspiels als Habilitationsschrift abzulehnen drohte - es war den Her- 
ausgebern bei der Edition des ersten Bandes der »Gesammelten Schriften* 
nicht zuganglich (s. Bd. 1, 900 f.) -, wird im folgenden abgedruckt. 

Erstes Referat liber die Habilitationsschrift von Dr. Benjamin 
Die Arbeit des Herrn Dr. Benjamin, iiber die ich hinsichtlich ihres kunstwissen- 
schaftlichen Gehalts hier zu berichten habe, ist iiberaus schwer zu lesen. Es werden 
eine Menge Worte verwendet, deren Sinn zu erlautern der Verfasser nicht fiir erfor- 
derlich halt, die aber entweder keine allgemein feststehende Bedeutung haben, oder, 
wenn sie nach ihrer iiblichen Bedeutung verstanden werden, in dem Zusammen- 
hang, in welchem sie gebraucht werden, keinen klaren Sinn ergeben, Ich bin aus 
diesem Grunde teils iiberhaupt nicht im Stande, den Sinn der Arbeit wiederzugeben, 
teils wenigstens nicht, ihn so wiederzugeben, dafi ich fiir die Richtigkeit der Wieder- 
gabe einstehen konnte. 

Gegenstand der Arbeit ist das deutsche Barocktrauerspiel - nach der Absicht des 
Verfassers der kiinstlerische Gehalt des deutschen Barocktrauerspiels. Neben einer 
Reihe kunstwissenschaftlicher Ausfiihrungen, auf die ich sogleich zuriickkomme, ist 
in diesem Zusammenhang eine Fiille interessanten historischen Materials mit gro- 
fiem Fleifi zusammengetragen. Diese historischen Darlegungen bilden, so viel ich 
sehe, den weitaus grofiten Tei! des Werkes: kunstwissenschaftlich sind sie nicht von 
Wichtigkeit, so viel interessante Bemerkungen sie im iibrigen enthalten und so wich- 
tig sie vielleicht, was ich nicht zu beurteilen habe, fur die Literaturgeschichte sein 
mogen. 

Kunstwissenschafdiche Absichten scheint zunachst die Einleitung zu verfolgen. Es 
ist mir aber trotz wiederholter angestrengter Bemiihung nicht moglich gewesen, 
einen verstandlichen Sinn aus derselben herauszulesen. Kunstwissenschaftlichen 
Inhalts ist weiter eine ziemhch ausfiihrliche Kritik von Volkelts Theorie des Tragi- 
schen, die mit Recht die Voraussetzungen dieser Theorie als unbegriindet verurteilt, 
ohne dafi es doch dem Verfasser gelingen will, seine eigene Meinung von der 
»geschichtsphilosophischen« Begriindung des Tragischen mit hinreichender Klar- 
heit zum Ausdruck zu bringen. Kunstwissenschaftliche Absichten verfolgt endlich 
die sehr ins Breite entwickelte Ausfuhrung iiber das Allegorische; es ist mir aber auch 



jji Anmerkungen zu Seite 2 1 5 f . 

hier nicht gelungen, den kunstwissenschaftlichen Sinn der- abermals mit einer grofien 
Fiille historisch sehr interessanten Materials ausgestatteten - Darlegungen zu ver- 
stehen. 

Ich habe mich, da ich die vom Verfasser beabsichtigte kunstwissenschaftliche Lei- 
stung nicht zu erkennen vermochte, brieflich an ihn gewendet, mit der Bitte, mir in 
einem kurzen Auszug den kunstwissenschaftlichen Inhalt seiner Arbeit wiederzuge- 
ben. Ich habe darauf von ihm einen Uberblick iiber die von ihm als seine kunstwissen- 
schaftliche Leistung angesehenen Bestandteile seiner Arbeit erhalten [s. Bd. 1, 950- 
952]; aber es ist mir abermals nicht gelungen, diese Darlegungen zu verstehen. In 
dieser Verlegenheit habe ich mich an die Herren Dr. [Adhemar] Gelb und Dr. [Max] 
Horkheimer mit der Bitte gewendet, diesen Auszug aus der Arbeit des Herrn Dr. 
Benjamin zu lesen und mir zu sagen, in welchem Sinne sie diese Ausfuhrungen deuten 
konnten. Ich habe von Beiden die Antwort erhalten, dafi sie dieselben nicht zu verste- 
hen vermdchten. Ich fiige das in Rede stehende Schriftstiick zu den Akten bei. 
Ich bin unter diesen Umstanden nicht in der Lage, die Arbeit des Herrn Dr. Benjamin 
als Habilitationsschrift fiir allgemeine Kunstwissenschaft der Facultat zur Annahme 
empfehlen zu konnen. Denn ich kann mich, bei allem Wohlwollen fur den mir sonst 
als einsichtig und geistreich bekannten Verfasser, dem Bedenken nicht verschliefien, 
dafi er mit seiner unverstandlichen Ausdrucksweise, die doch wohl als Zeichen sachli- 
cher Unklarheit gedeutet werden mufi, den Studirenden [sic] kein Fiihrer auf diesem 
Gebiete sein kann. 

7,7.25 H.Cornelius 

Dafi demnach Horkheimer, der sich seit 1934 mehr als irgendein anderer 
Mensch fiir Benjamin einsetzte und ihm buchstablich das Uberleben ermog- 
lichte, am Scheitern der Benjaminschen Habilitation beteiligt gewesen ist, 
war fiir die Herausgeber einigermafien irritierend. Einer von ihnen hatte in 
den sechziger Jahren wiederholt mit Horkheimer iiber Benjamins Habilita- 
tionsversuch gesprochen und dabei auch von jenem Expose erfahren, wel- 
ches Benjamin fiir Cornelius anfertigte; dafi Horkheimer dieses kannte, war 
offenkundig: er charakterisierte es freilich nicht als >unverstandlich<, son- 
dern als eine Frechheit, durch die Benjamin sich jede Chance bei Cornelius 
verbaut habe. Ob Horkheimer iiberhaupt wufite, dafi sein eigenes Urteil 
iiber das Expose in dem Gutachten seines Lehrers Cornelius benutzt wurde, 
ist unausgemacht. Jedenfalls scheint er damals lediglich das Expose gekannt 
zu haben, nicht den Ursprung des deutschen Trauerspiels selber, iiber dessen 
Rang er sich spater vollig klar war. 

Uber dieFakultatssitzungvom 13.JUH 1925 verzeichnet das Protokollbuch 
unter Punkt 61 

Habilitation Benjamin. Die Fakultat beschliefit, Herrn Dr. B. auf Grund des Gutach- 
tens des Herrn Prof. Cornelius nahe zu legen die Habilitationsschrift zuriickzu- 
ziehen. 



Anmerkungen zu Seite 215-217 773 

Die Fakultat beschliefit ferner, Herrn Dr. B., im Falle er diesem Winke nicht Folge 
leistet, zur Habilitation nicht zuzulassen.* 

Daraufhin schrieb Franz Schultz, der Dekan der Philosophischen Fakultat, 
den folgenden Brief an Benjamin: »27. Juli [192] 5. Sehr geehrter Herr Dok- 
tor! Nach Eingang des ersten Gutachtens iiber Ihre Habilitationsschrift bin 
ich von der Fakultat beauftragt worden, Ihnen den Rat zu erteilen, Sie 
mochten das Gesuch auf Zulassung zur Habilitation zuriickziehen. Indem 
ich mich dieses Auftrags entledige, erlaube ich mir mitzuteilen, daft ich bis 
zum 6. August Ihnen jederzeit zu einer Besprechung zur Verfugung stehe. 
Mit vorzuglicher Hochachtung gez. F. Schultz. « Wahrend iiber die Form, 
in der Benjamin seinen Antrag zuriickzog, nichts bekannt ist, blieb das 
Schreiben der Dekanatskanzlei erhalten, mit dem das Trauerspiel seinen 
universitaren Abschlufi fand: »i2. Oktober [i92]5- Im Auftrage des Herrn 
Prof. Dr. Schultz senden wir Ihnen in der Anlage die mit dem Habilita- 
tionsgesuch eingereichten Schriften (6) und Zeugnisse (8) wieder zuriick. 
[Stempel:] Dekanatskanzlei der Universitat.« 

U:Manuskript im Archiv der ehemaligen philosophischen Fakultat der 

Johann Wolfgang Goethe-Universitat, Frankfurt a.M. 
D: April oder Anfang Mai 1925 



2i6f. Lebenslauf II 

Benjamin schrieb den Lebenslauf im Zusammenhang mit seinen Bemiihun- 
gen, von der Universitat Jerusalem ein Stipendium zu erhalten; s. dazu 
Scholem, Freundschaft, i72ff. und Briefe, 454-456 sowie passim. - Dem 
Text ist ein gesondert paginiertes Typoskript Verzeichnis meiner wissen- 
schaftlichen Arbeiten und Aufsdtze beigeheftet, das folgenden Wortlaut 
hat: 

Der Begriff der Kunstkritik in der deutscben Romantik, Neue Berner 

Abbandlungen zur Philosophie und ibrer Geschichte, Bd. 5 Bern 1920 

Zur Kritik der Gewalt (Archiv fur Sozialwissenscbaft und Sozialpolitik, Bd. 

4J Heft 3, August 1921) 

Charles Baudelaire: Tableaux Parisiens, Deutsche Ubersetzung mit einem 

Vorwort iiber die Aufgabe des Ubersetzers Heidelberg 1923 

Goethes Wahlverwandtschaften (Neue deutscbe Beitrdge, berausgg. von 

Hugo von Hofmannsthal, 2. Folge 1. u. 2. Heft Munchen 1924/25) 

Johann Peter Hebel (Die literarische Welt 2.Jahrg. Heft $9 Berlin 1926) 

* zit. nach Burkhardt Lindner, Habilitationsakte Benjamin. Uber ein >akademisches Trauer- 
spiel und iiber etn Vorkapitel der »Frankfurter Schule* (Horkheimer, Adorno), in: Zeitschrift 
fur Liter aturwissenschaft und Linguistik J3/54 (1984), 156. 



774 Anmerkungen zu Seite 216-222 

Johann Peter Hebel (Berliner Bbrsen Courir, 22. September 1926) 

Gottfried Keller (Literarische Weltjahrg. 3 Heft 31 Berlin 1927) 

Ursprung des deutschen Trauerspiels Berlin 1928 

Wissenschaftlicbe Rezensionen: 

Oskar Walzel: Das Wortkunstwerk (Literaturblatt der Frankfurter Zei- 

tung 7. Nov. 1926) 

Paul Hankamer: Die Spracbe, ibr Begriffund ibre Deutung im 16. und 77. 

Jahrbundert (Literaturbl. d. Frankfurter Ztg. 1$. Mai 192J) 

Portrat eines Barockpoeten (LitBl. d. Frank f Ztg. i.Januar 1928) 

Eva Fiesel: Die Spracbpbilosopbie der deutschen Romantik (LitBl. d. 

Frankf Ztg. Febr. 1928) 

U: Typoskript mit handschr. Korrekturen; Sammlung Scholem. 
D: ca. Anfang 1928 



217-219 Lebenslauf III 

Der Text wurde auf der Grundlage des vorigen Lebenslaufes, wohl wenig 
spater, geschrieben*. Ein konkreter Anlafi fur die Abfassung des vorliegen- 
den Lebenslaufes ist nicht bekannt. 

U: Ts 2364-2366 - Typoskript-Durchschlag. 
D: ca. Anfang 1928 



220-222 Lebenslauf IV 

Der Adressat des Lebenslaufes in Briefform, der danische Historiker Aage 
Friis (1870- 1949), war von 19 13 bis 1935 Professor in Kopenhagen. 

U: Typoskript-Durchschlag; Literaturarchive der Akademie der Kiinste 

der DDR, Sign. 37/262-265. 
D: 4 . 7. 1934 



* Schoiems Bemerkung in Enget, 1 21 f„ die sich auf den Druck des vorliegenden Textes in Zur 
Aktualitat Walter Benjamins. Aus Anlafi des 80. Geburtstags von Walter Benjamin hg. von 
Siegfried Unseld, Frankfurt a.M. 1972 {2. AufL, 1984), 45-47, bezieht, enthalt einen doppelten 
Irrtum: einmal hat Benjamin fraglos den vorangehenden Lebenslauf II an Magnes nach Jerusalem 
gesandt; dann aber werden auch die beiden Lebenslaufe von 1928, in denen Moritz Geiger nicht 
erwahnt ist, mit dem Lebenslauf VI verwechselt, der erst 1940 geschrieben wurde. 



Anmerkungen zu Seite 222-225 jj$ 

2Z2-2i$ Curriculum Vitae V 

Das Curriculum entstand im Zusammenhang mit einem Naturalisierungs- 
plan Benjamins, iiber den er am 28. 5. 1938 Horkheimer berichtete: Mit 
Herrn Pollock sprach icb bei seinem Hiersein kurz iiber mein Naturalisa- 
tionsgesucb. Icb babe es nacb langen Vorbereitungen eingereicht; es ist von 
einer Reibe von gewicbtigen Namen unterstutzt - von Gide, von Romains, 
von Valery. Es wirdaucb vom Unterricbtsministerium unterstiitzt werden, 
wenn es diesem in seiner gegenwdrtigen Zusammensetzung vorliegen sollte. 
Dorthin gelangt es aber erst in Gestalt eines dossiers ; das von der Prefecture 
de Police zusammengestellt wird. Bei dieser Zusammenstellung baben sicb 
Scbwierigkeiten ergeben. Einen Bestandteil des dossiers bilden die Bescbei- 
nigungen dafiir, daft icb dreijabre bintereinander in Frankreicb ansdssig 
gewesen bin. Den groftten Teil dieser Zeit babe icb in der rue Benard 
gewobnt. Icb kann aber von dort kein certificat de domicile bekommen, 
weil die Frau, bei der icb wobnte - wie icb vom Geranten des Hauses erfah- 
ren muftte - kein Recbt zur Aufnabme eines Untermieters batte. [Absatz] 
Glucklicberweise babe icb im Office des Naturalisations einen Beamten, der 
sicb meinerSacbe sebr annimmt. Mit ibm babe icb micb beraten. Das certifi- 
cat de domicile kann, wie icb von ibm erfubr, in besondern Fallen durcb ein 
certificat de travail ersetzt werden, sofern aus diesem ein dreijabriger Auf- 
entbalt in Frankreicb bervorgebt. [Absatz] Icb babe nun die Bitte an Sie, 
mir bescbeinigen zu wollen, daft icb seit dem Sommer 1934 fur das Institut 
arbeite und seit dieser Zeit fortlauf end in Paris ansdssig gewesen bin. Mein 
Eindruck ist, daft es, zumal in der gegenwdrtigen Krisis der Fremdenfrage, 
ein Entgegenkommen der Administration ist, mir den Nacbweis auf diesem 
Wege nabezulegen. Icb mocbte darum meinerseits ein Ubriges tun, und 
wiirde Sie sebr darum bitten, Ihre Unterscbrift auf dem certificat legalisie- 
ren lassen zu wollen. Seinen Wortlaut babe icb mir auf dem Office des 
Naturalisations angeben lassen und lege ibn bei. [Absatz] Wabrend icb auf 
Ibr certificat warte, kann icb meine Naturalisationssache nicbt for dern. Icb 
mocbte diese Zeit benutzen, um Paris zu verlassen. (28. 5. 1938, an Max 
Horkheimer) Am 3. 8. 1938 bedankte sich Benjamin aus Danemark fur die 
am 7. Juni iibersandten Zeugnisse und fuhr fort: Sie konnten micb in Paris 
nicbt mehr erreicben. Icb werde meine Naturalisation nacb meiner Ruck- 
kehr, Mitte September, weiter betreiben. (3. 8. 1938, an Horkheimer) Tat- 
sachlich kam Benjamin erst Ende Oktober oder Anfang November nach 
Paris zuriick; am 17. November schrieb er Horkheimer: Nacb meiner 
Ruckkehr babe icb die Bemubungen um meine Naturalisation wieder auf- 
genommen. Die beiden ersten Enqueten der Prefecture sind, soweit icb 
erkennen kann, ohne Anstoft und Scbwierigkeiten vonstatten gegangen, 
und icb sebe derzeit das Vorbaben, seinen Cbancen wenn scbon nicbt seiner 
Bedeutungnacb, mit gemdftigtem Optimismus an. [Absatz] Aufderandern 



776 Anmerkungen zu Seite 222-225 

Seite veranlafit micb dieses Vorhaben y auf die Cailloisrezension [s. Bd. 3, 
549L] zuruckzukommen, deren Fahnen vor mix liegen. Wie ich vorweni- 
gen Tagen dutch einen gliicklichen Zufall erfuhr, ist Caillois eng befreundet 
und auf du und du mit Rolland de Reneville. Reneville bat sicb bisher in 
seiner Eigenscbaft ah Sekretar im Bureau des Naturalisations du Garde des 
Sceaux meiner Sacbe angenommen; er wird aber vor allem fur - wiirde 
demzufolge auch gegen sie - wirken konnen, wenn sie einmal von der Pre- 
fecture ans Justizministerium gegangen ist. Unter diesen Umstanden 
konnte meine Naturalisation tatsdcblicb gefabrdet wer den t wenn die 
Anzeige der »Aridite« unter meinem Namen erscbiene. Aus diesem Grunde 
mbchte icb Sie sehr darum bitten, den Caillois- Benda-Komplex mit HANS 
FELLNER zeichnen zu diirfen. (17. 11. 1938, an Horkheimer) Am 18, 
April 1939 begegnet das Thema Naturalisation erneut in einem Brief an 
Horkheimer: Weiter versucbe icb meine Naturalisation zufbrdern. Natur- 
lich mufl icb diese Bemuhungen von den vorerwahnten streng getrennt hal- 
ten. Es wiirde meine Cbancen, eingeburgert zu wer den , sehr vermindern, 
gleichzeitig als Bewerber um ein Stipendium aufzutreten. Auf der Prefec- 
ture liegen 90.000 Dossiers mit Naturalisationsgesuchen. Es bandelt sicb fur 
micb datum, mitHilfe von [fean] Cassou, der Unter staatssekretar im Mini- 
sterium fur Unterricht ist, meinen Akt aus dieser Masse herauszulosen. 
Wenn er die Prefecture einmal mit gunstigem Visum passiertbat t so kann icb 
wahrscheinlich weiterbin mit einem glatten Verlauj recbnen. Aber eben bet 
der Prefecture, wo das Zentrum des passiven Widerstandes liegt t lafit sicb 
auch mit Hilfe der Beziehungen, uber die ich verfuge, nur schwer durch- 
dringen. [Absatz] Gestern sind die neuen Dekrete uber die Fremden her- 
ausgekommen. Fur die Kategorie, der ich angebore, ist die Dienstpflicht bis 
zu 48 Jahren vorgeseben. Es ist bemerkenswert, dafi die neuen Verpflicb- 
tungen nicht etwa erst fur den Kriegsfall sondern augenblicklich in Kraft 
treten. [Absatz] Was mir nun vor allem andern am Herzen liegen mufl, ist, 
wie ich Ihnen im letzten Brief schrieb y die beschleunigte Ubersiedlung nach 
Amerika. (18.4. 1939, an Horkheimer) Im Mai 1939 heifit es: Naturalisie- 
rungen kommen derzeitfast nicht zustande; man wartet aufneue Bestim- 
mungen (16. 5. 1939, an Horkheimer); danach ist von Naturalisation nicht 
mehr die Rede, nur noch von der Moglichkeit, nach den USA zu ent- 
kommen. 

U: Ts 2371-2378 - Typoskript-Durchschlage, z.T. mit handschr. Korrek- 

turen. 
D: wahrscheinlich Mai 1938 



Anmerkungen zu Seite 225-228 777 

225-228 Curriculum Vitae VI 

Benjamin verfafke den Lebenslauf Ende Juli 1940 in Lourdes, auf Bitte 
Adornos, der ihm Mitte Juli aus New York iiber die Bemiihungen geschrie- 
ben hatte, welche das Institut fur Sozialforschung untemahm, um seine 
Einwanderung in die USA zu ermoglichen: »We do everything possible to 
hurry your immigration into this country. [. . .] It would be very important 
for us to have your curriculum vitae together with a list of your publications. 
Will you, therefore, please let us have both as quickly as possible. « (zit. Rolf 
Tiedemann, Christoph Godde u. Henri Lonitz, Walter Benjamin 1892- 
1940. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs Frankfurt a. M. in 
Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach a.N., 2. AufL, 
Marbach 1990 , 306.) Benjamin antwortete Adorno am 2. August 1940: Sie 
erbalten via Genf- wie ich auch wobl diese Zeilen dirigieren werde - mein 
curriculum vitae. Die Bibliographic babe icb in den Lebenslauf eingearbei- 
tet, well mir bier alle Handhaben feblen, sie als solcbe ausfubrlicber zu 
gestalten. (Brief e, 862) 

U: Ts i$6ji. - Typoskript mit Korrekturen von Scholems Hand. 
D: Ende Juli 1940 

nachweise 225, 2 5 f. Kunstindustrie*] s. Alois Riegl, Die spatromische 
Kunstindustrie nach den Funden in Osterreich-Ungarn, Wien 190 1; s. 
auch Benjamins Rezension des Buches in Bd. 3, 170. - 225,26 Villa*] s. 
Rudolf Borchardt, Villa, Leipzig 1908, dann auch in Borchardts Schriften, 
Prosa I, Berlin 1920, 5-44. - 225, 2j Wein«] s. Emil Petzold, Holderlins 
Brod und Wein. Ein exegetischer Versuch, Programm Sambor 1895/96 und 
1896/97 - 225,31 »Uber den Sprachbau der Volker*] gemeint ist wohl 
»Uber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues«, 1827-29. - 
225,32 Goethe*] s. Ernst Lewy, Zur Sprache des alten Goethe. Ein Ver- 
such iiber die Sprache des Einzelnen, Berlin 19 13 



229-464 Aufzeichnungen 1906-1932 



229-231 Pfingstreise von Haubinda aus 

Pfingstreise von Haubinda aus ist der friiheste Text Benjamins, der in den 
»Gesammelten Schriften* zum Abdruck gelangt; abgesehen von einem 
Tagebuch fur Schreiberhau (Benjamin- Archiv, Ms 1179-118$), das im 
Sommer 1902 entstand, ist er zugleich der friiheste, der erhalten blieb. In 
Haubinda, zwischen Streufdorf und Gompertshausen in Thiiringen, 
befand sich das Landerziehungsheim, das Benjamin 190$ und 1906 
besuchte (s. Bd, 2, 826). Da der vorliegende Text kaum unmittelbar nach 
Benjamins Ankunft in Haubinda geschrieben wurde, diirfte die geschil- 
derte Reise auf Juni 1906 zu datieren sein; die Niederschrift erfolgte wohl 
wenig spater: es handelt sich also um einen Text des knapp funfzehnjahri- 
gen Benjamin. 

U: Ms 1 193-1202. - Manuskript; aus einem Heft herausgerissene Blatter, 

ca. 23 X 16,5 cm; einseitig beschrieben. 
D: wahrscheinlich Juni 1906 

lesart 229, x Pfingstreise von Haubinda aus] in dieser Form findet sich der 
Titel Ms 1 192, einem Umschlag, in dem Benjamin spater die Jugendtagebii- 
cher verwahrte und den er mit einem Inhaltsverzeichnis versah; Ms 1 193 
hat als Titel Meine Pfingstreise. 



151-1}$ Tagebuch Pfingsten 19 1 1 

U: Ms 1203-1207 - Manuskript; aus einem Heft herausgerissene Blatter, 

ca. 17,1X10,3 cm; beidseitig beschrieben. 
D: n. bis 15. April 1911 

lesart 232, 1 Tagebuch Pfingsten 191 1] in dieser Form findet sich der Titel 
Ms i207 v ; das erste Blatt des Manuskripts (Ms 1203) hat keinen Titel, der 
Umschlag Ms 1192 (s. oben) verzeichnet: April 1911 Thiiringen. 
nachweise 232, 6 Anna Karenina] iiber die Beendigung der Lekture s. 
Briefe, 31, 34f. - 232, 19 Alfred Steinfeld] ein Schulkamerad Benjamins, der 
191 5 starb; s. Briefe, 122.- 232, ^Jontew] jiddische Aussprache fiirhebra- 
isch jom tov, Feiertag. - 234,29 Herbert Blumenthal-Belmore] s. Briefe, 
865, auch Scholem, Freundschaft, 31,57 



Anmerkungen zu Seite 23 5-292 779 

235-242 Tagebuch von Wengen 

U: Ms 1208-1211 - Manuskript; Briefbogen mit Aufdruck »Grand Hotel 
Belvedere, Wengen*, Faltblatter ca. 21,4X14,4 cm; vierseitig be- 
schrieben. 

D: Juli 191 1 

lesarten 235,22 Tagebuch von Wengen] so der Titel auf dem Umschlag 
Ms 1 192; Ms 1208 hat als Titel Tagebuch. - 239, 22 Sie bis hiibsch.] Benja- 
min hatte zunachst geschrieben Sie war im gleichen Augenblick verschwun- 
den; und sie schien mix sebr hiibsch; er strich dann Sie bis verschwunden, 
das folgende und blieb irrtumlich ungestrichen. 

nachweise 236,8 Crzellitzers] die Familie von Martha Crzellitzer, geb. 
Schoenflies, einer Schwester von Benjamins Mutter; s. auch Scholem, 
Engel, 149. - 236, 33 Onkel Fritz] Fritz Crzellitzer, der Ehemann von Ben- 
jamins Tante, war Architekt. - 239,12 Franz] Benjamins Vetter Franz 
Crzellitzer - Robert undjete] nicht ermittelt. Jete ist vielleicht auch Hete 
zu lesen. - 240, 37 Herbert] Herbert Blumenthal-Belmore; s. die parallelen 
Schilderungen Briefe, 30-39 

242-25l~VON DER SOMMERREISE 1911 

U: Ms 1212-1219 - Manuskript; aus einem Heft herausgerissene Blatter, 

ca. 20,2 X 16,6 cm; beidseitig beschrieben. 
D: August 191 1 

lesart 242, 32 Von der Sommerreise 191 1] der Umschlag Ms 1 192 (s. oben) 

verzeichnet als Titel Sommerreise 1911 (Chamonix-Genf). 

nachweis 248,31 Simmel] s. Georg Simmel, Die Religion, Frankfurt a.M. 

1906 

252-292 Meine Reise in Italien Pfingsten 1912 

Eine italienische Reise wachst langsam (Briefe, 42): dieser Satz ist die ein- 
zige, bislang bekannte Erwahnung des vorliegenden Textes; er findet sich 
in einem Brief, den Benjamin am 21. Juni 1912 aus Freiburg an Herbert 
Blumenthal-Belmore schrieb. 

U: Ms 1220-1240 - Manuskript; linierte Briefbogen vom Format 28,2X22 

cm; beidseitig beschrieben. 
D : ca. Juni und Juli 1 9 1 2 



780 Anmerkungen zu Seite 252-409 

lesarten 2 $2,i Meine Reise in Italien Pfingsten 191 2] der Umschlag Ms 
1 192 (s. oben) verzeichnet als Titel Italien Pfingsten 19 12. - 257,16 9'/] 
vielleicht auch 7'/ zu lesen - 257, 25 9'A] vielleicht auch f/ 4 zu lesen - 272, 3 
entschlofi] mit diesem Wort endet Ms I228 v ; es folgt noch, in anderer 
Schrift, am unteren Rand des Blattes: Forts, folgt: noch nirgends ist die 
letzte Redaktion angelegt. - Eure Karte habe ich bekommen! Offensicht- 
lich hat Benjamin das Manuskript seinen Reisegefahrten partienweise iiber- 
sandt. 

nachweise 252, 13 Erich Katz] s. Briefe, 81 - 252, 19 Franz Sachs] s. Brief e, 
868 - 257,33 Monte Ceneri] korrigiert fur Mt. Cenis - 263,21 Amor und 
Psyche] wahrend der 263, 25 erwahnte Alexanderzug von Bertel Thorvald- 
sen sich im Original in der Villa Carlotta befindet, enthalt diese von Anto- 
nio Canovas Amor und Psyche - deren Original der Louvre besitzt - nur 
eine Kopie von Adamo Tadolini. - 272, 3 5 stand.] s. Goethe, Werke. Ham- 
burger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, Bd. 11, Hamburg 1950, 43 (»Italie- 
nische Reise«) : »Ich ging auf der Kante des amphitheatralischen Kraters bei 
Sonnenuntergang, der schonsten Aussicht geniefiend liber Stadt und 
Gegend.* - xy^iyi. S. Maria Maggiore] gemeint ist wahrscheinlich S. 
Zeno Maggiore an der Piazza S. Zeno. - 279, 8 Semrau] s. Max Semrau, 
Venedig (Moderner Cicerone), Suttgart 1905 - 279,29 Liihke] nicht ermit- 
telt; moglicherweise der Kunsthistoriker Wilhelm Lubke. - 280, 3 $f. Col- 
leoni-Denkmals] von Andrea Verrocchio - 288, 2/f. Gattamelata] Reiter- 
statue von Donatello 



292-409 MOSKAUER TAGEBUCH 

Uber das Moskauer Tagehuch wird im Apparat zu dem Aufsatz Moskau, 
der aus jenem hervorging, berichtet: s. Bd. 4, 987-990. Zur Erganzung der 
dort mitgeteilten Briefzeugnisse mag hier noch ein Auszug aus einem Brief 
folgen, den Benjamin nach der Riickkehr nach Berlin an Siegfried Kracauer 
schrieb und der bei der Edition von Band 4 noch nicht zuganglich wzr: Jetzt 
bin ich seit mehreren Tagen mit der Sichtung meines Dossiers »Moskau* 
[scil, dem »Moskauer Tagebttch*] beschaftigt. Kleinere Notizen begegnen 
Ihnen vielleicht in der Literarischen Welt Eine hUbsche Kollektion von 
Photos (Spielzeug russischer Herkunft) wird gerade jetzt bei Ihnen in 
Frankfurt liegen. Ich biete sie dem »lUustrierten Blatu [der Frankfurter 
ZeitungJ an und hdtte am liebsten Sie selber (der fur diese Bilder bereits 
meinen Text virtuell vor sich sehen wird) mit der Vermittlung bemiiht, 
wenn ich nicht a Vimproviste von einem Freund zu [Karl] Otten heraufge- 
bracht worden ware, der nun die Sachen nach Frankfurt geschickt hat [tat- 
sdcblich erschienen Benjamins »Russische Spielsachen* nicht im »Illustrier- 
ten Blatu, sondern in der »Sudwestdeutschen Rundfunkzeitung* ; 5. Bd. 4, 



Anmerkungen zu Seite 292-409 78 1 

10 j 2 J. Scbliefilich babe ich auch vor, etwas »Zusammenfassendes« iiber 
Moskau zu scbreiben. Wie das bei mir so gebt, wird abet gerade das sicb in 
besonders kleine disparate Notizen aufteilen und fiir das Beste wird der 
Leser aufsich selber angewiesen bleiben. Wie dem nun sei und wievieloder 
wenig mir Freunden zu vermitteln glucken sollte ~ mir selber waren die 
beiden Monate eine ganz unvergleicbliche Erfabrung. Dafl ich nur 
anscbaulicby nicbt theoretiscb bereichert zuruckkomme, das ist mein Vor- 
satz gewesen und ich hake esfiir Gewinn. (23. 2. 1927, an Siegfried Kra- 
cauer) 

Noch bevor der Aufsatz Moskau »erschienen war, brachte am 7. 6. 1 927 die 
>Humanite< unter dem Titel Le developpement actuel de lajeunesseproleta- 
rienne eine franzdsische Ubersetzung einiger Passagen des vierten 
Abschnitts von Moskau. Aus einem fragmentarischen Briefentwurf Benja- 
mins geht hervor, dafl er die Absicht hatte, einen oder mehrere weitere 
Auszuge aus Moskau in der >Humanite< zu verdffentlichen (s. Benjamin- 
Archiv, Ms 128^), doch wurde dieser Plan nicht verwirklicht.* (Bd. 4, 
989 f.) Wahrscheinlich im Zusammenhang mit diesem Plan schrieb Benja- 
min den folgenden Text; denkbar ist jedoch auch, dafl er zunachst beab- 
sichtigte, Auszuge aus dem Moskauer Tagebuch zu publizieren - zu denen 
der Text dann eine Art Vorbemerkung darstellen wiirde - und sich erst 
spater entschlofl, den Aufsatz zu schreiben. 

Ich gehbre der Generation an, die heute zwiscben dreiftig undvierzig stebt. 
Die Intelligenz dieser Generation ist wohlauflange binaus die letztegewe- 
sen, die eine durchaus unpolitische Erziehung genossen hat. Der Krieg traf 
ibre am weitesten nacb links vorgeschobenen Elemente im Lager eines mehr 
oder weniger radikalen Pazifismus. Die Geschichte des Deutscblands der 
Nacbkriegszeit ist teilweise zugleich die Geschichte der revolutionaren Aus- 
bildung dieses ursprunglich linken biirgerlichen Fliigels der Intelligenz. 
Man darfmit Sicherheit behaupten, daft die am kleinbiirgerlichenparvenu- 
haften Geiste der deutscben Sozialdemokratie gescheiterte Revolution von 
1918 weit mehr zur Radikalisierung dieser Generation beigetragen hat als 
der Krieg selber. Mehr und mehr wird in Deutschland - das ist an diesem 
Prozejl das Besondere und Wichtige - die Fragwiirdigkeit desfreien Scbrift- 
stellers als solcben empfunden und man wird sich allmablicb daruber klar, 
daft der Schriftsteller (wie Uberhaupt der Intellektuelle im weiteren Sinne) 
bewuftt oder unbewufit, oh er's will oder nicht, im Auftrage einer Klasse 
arbeitet und sein Mandat von einer Klasse erhalt. Daft die wirtschaftliche 
Existenzbasis des Intellektuellen immer scbmaler wird, bat diese Klarstel- 
lung in letzter Zeit beschleunigt. Der politische Gegendruck der regierenden 
Klasse, der in Deutschland gerade im letzten Jahre zu rucksichtslosen Zen- 
surmaftregeln und Literaturprozessen gefubrt bat, [gestrichen: die an die 



782 Anmerkungen zu Seite 292-409 

Zeit der »heiligen Allianz* erinnern] wirkte im gleichen Sinne* Unter diesen 
Umstdnden ist der Anteil der deutschen Intelligenz an Rufiland nicht nur 
abstrakte Sympathies sondern es leitet sie ein sacbliches Interesse. Sie will 
erfabren: Wie siebt die Intelligenz in einem Lande aus, in dem ihrAuftrag- 
geber das Proletariat ist? Wie gestaltet das Proletariat ibre Lebensbedingun- 
gen und welche Umweltfindet sie vor? Was baben sie von einer proletari- 
scben Regierung zu erwartenf Aus dem GefUbl von der Krisis, welcbe im 
Scbicksal der Intelligenz der biirgerlicben Gesellscbaft sicb ankiindigt[J 
baben Scbriftsteller wie Toller, Holitscber, Leo Matthias, Maler wie Voge- 
ler-Worpswede, Regisseure wie Bernbard Reich Rufiland studiert und Fuh- 
lung mit ibren russischen Kollegen genommen. Im gleichen Sinne babe icb 
selber zu Anfang dieses Jahres Moskau aufgesucbt und zwei Monate dort 
gelebt. Zum ersten Mai befand icb mich in einer Stadt, in der icb, aufden 
blojien Titel des Schriftstellers bin, Vergunstigungen materieller und admi- 
nistrativer Art genofi. (Ich babe keine Stadt aufier Moskau kennen gelernt, 
wo einem Scbriftsteller von staatswegen - denn die Hotels sind in Bewirt- 
schaftung der Sowjets - der Preis seines Zimmers ermaftigt wird.) Aus einem 
Tagebucbe, das icb ohne Unterbrecbung acbt Wochen hindurch gefuhrt 
babe, sind diefolgenden Stucke Ausziige. Icb babe mich in ibnen bemuht, 
das Bild des proletariscben Moskau, das man nur kennt, wenn man es auch 
in Schnee und Ei$ gesehen hat, vor allem aber die Pbysiognomie seines 
Werktags und den neuen Rhythmus wiederzugeben, der gleicherweise das 
Leben des Arbeiters wie des Intellektuellen durchzieht. 
Paris 
1 Mai 1927 W. B. 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 1714 

U: Ms 1241-1268-Manuskript; 11 Blatter vom Format 26,8X21 cm,gefal- 
tet zu 22 Blattern von 21 x 13,4 cm, dazu 6 Einzelblatter von 21 X 13,4 
cm; beidseitig mit violetter, ab 29. 1. 1927 mit schwarzer Tinte be- 
schrieben. 
D: 9. 12. 1926 bis 1. z. 1927 

Die Erstausgabe des Moskauer Tagebuchs wurde von Gary Smith besorgt 
(s. Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch. Aus der Handschrift hg. und 
mit Anmerkungen von Gary Smith. Mit einem Vorwort von Gershom 
Scholem, Frankfurt a.M. 1980), der dabei auf eine Rohentzifferung der 
Herausgeber zuriickgreifen konnte, die er vielfach verbesserte. Anderer- 
seits gelangt der vorliegende Abdruck noch in einer Reihe von Fallen zu 
Lesungen, die von Smith abweichen. Die Edition von Smith ist wertvoll 
nicht zuletzt durch ihre ausfuhriichen Sacherlauterungen, die von den Her- 
ausgebern fiir die »Nachweise« dankbar genutzt wurden. - Insgesamt 39 
Passagen hat Benjamin im Manuskript mit Bleistift gekennzeichnet, mei- 
stens in der Form von An- oder Durchkreuzungen. Von diesen Passagen 



Anmerkungen zu Seite 292-409 783 

wurden die meisten - teils fast wdrtlich, teils umformuliert, teils auch 
inhaltlich verandert - in den Aufsatz Moskau oder in andere Texte aufge- 
nommen. In diese aus dem Moskauer Tagebuch hervorgegangenen Pubh- 
kationen sind jedoch auch solche Tagebuch-Passagen eingegangen, die im 
Manuskript nicht gekennzeichnet sind. Benjamins Markierungen werden 
im AnschlufS an die Nachweise verzeichnet; auch hierbei konnte die vorlie- 
gende Ausgabe sich auf die von Gary Smith stiitzen, 

lesarten 292,3 Moskauer Tagebuch] dies der urspriingliche Titel, den 
Benjamin spater unkenntlich machte und durch Spanische Reise ersetzte; 
der Grund ist unklar, s. dazu Bd. 4, 988, aber auch die Ausgabe von Smith, 
177. - 338,7 im Innern] moglicherweise ist auch innern zu konjizieren; 
Benjamin scheint immere geschrieben zu haben. - 353,31-33 Dann bis 
Schnee.] vielleicht gestrichen, wahrscheinlicher aber, da£ Benjamin die 
Feder ausrutschte. - 372,37 Streit.] hier folgt ein unbeschriebener Zwi- 
schenraum von ca. vA Seiten. Vielleicht wollte Benjamin an dieser Stelle 
eine Ubersetzung des zuvor erwahnten Interviews einfugen; moglich ist 
aber auch, dafi er bei der Fortsetzung der Eintragung zum 1 5. Januar das 
zuletzt beschriebene Blatt nicht zur Hand hatte. - 377, 3 1 zu geben] konji- 
ziert fur gegeben hatte 

nachweise 292,21 Sanatoriums] Nach einem Nervenzusammenbruch im 
September 1926 lebte Asja Lacis im nahe der Gor'kij-Strafie gelegenen 
Sanatorium Rott. - 292,32 Riga] Benjamin hatte Asja Lacis 1925 unange- 
meldet in Riga besucht; s. Asja Lacis, Revolutionar im Beruf. Berichteuber 
proletarisches Theater, uber Meyerhold, Brecht, Benjamin und Piscator, 
hg. von Hildegard Brenner, Miinchen 1971, J2f. - 293,4 Institut der 
Kamenewa] Allrussische Gesellschaft fur kulturelle Verbindungen mit 
dem Ausland, 1923-1929 von Ol'ga Kameneva (1 883-1941), der Schwester 
Trockijs, geleitet. - 293,9^ Dom Gerzena] Haus Herzen, nach Alexander 
Herzen benannt, ein Schriftstellertreffpunkt. - 293, 10 Wap] Allrussische 
Assoziation proletarischer Schriftsteller - 293, 12 Kogan] Petr Semenovic 
Kogan (1872- 1932), Literaturhistoriker und Kritiker, Professor fur germa- 
nische und romanische Philologie in Petersburg und Moskau, President der 
Akademie der Kunstwissenschaften seit 1921. - 293, 22f. Geschichte bis 
Stanislawski] »Dni Turbinych* von Michail Bulgakov; s. Bd. 2, 746 - 
293,30 Schlusselnovelle bis behandelt] »Povest' o nepogasennoj lune« von 
Boris Pilnjak; s. Bd. 4, 990-293, 37 Schestakoff] Viktor A. §estakov(i898- 
1957), von 1922 bis 1927 Haupt-Buhnenbildner im Theater der Revolu- 
tion, danach im Mejerchord -Theater. - 294,2 Frau] Zinaida Rajch (1894- 
1945), vorher mit Sergej Esenin verheiratet - 294, 17 Llelewitch] Grigorij 
Lelevic ( 190 1- 194 5), Pseudonym von Labori Gilelevic Kalmanson, Dich- 
ter, Kritiker, einer der Herausgeber der Zeitschrift »Na postu«, s. Bd. 2, 
744 - 294, 34 Buch mit der Widmung] die Asja Lacis gewidmete »Einbahn- 



784 Anmerkungen zu Seite 294-308 

strafle« - 295, 5 Tollers Moskauer Auf entbalt] s. Ernst Toller, Quer durch. 
Reisebilder und Reden. Reprint. Mit einem Vorwort zur Neuherausgabe 
von Stephan Reinhardt, Heidelberg o.J., 96-103 - 295,11 Paul Werner] 
Schriftstellername von Paul Frolich (1884-1953), Griindungsmitglied der 
KPD, 1921-24 und 1928-30 Reichstagsabgeordneter, 1928 Parteiaus- 
schlufi, seit 193 1 fiihrend in der SAP, 1933 KZ, Ende 1933 Emigration nach 
Paris, 1941 Flucht nach New York, 1950 Ruckkehr nach Westdeutschland, 
SPD-Mitglied; seine Angriffe gegen Toller erschienen am 20. und 26. 3. 
1926 in der »Pravda«. - 295,31 Granowski] Aleksandr Granovskij (1890- 
1935), Leiter des Moskauer jiidischen akademischen Theaters; s. Bd. 4, 
5 18-522 - 296, 6f. Gespracb bis Enzyklopadie] iiber Benjamins >Mitarbeit< 
an der Grofien Sowjet-Enzyklopadie s. Bd. 2, 1465-1475 - 296,23 Bes- 
mensky] Aleksandr Il'ic Bezymenskij (1898- 1973), Lyriker und Literatur- 
funktionar; s. Bd. 2, 744-296,32 Grommer] Jakob Grommer(i879-i933), 
Mathematiker und Physiker, 1926 bis Anfang der dreifiiger Jahre Privat- 
Assistent von Albert Einstein in Berlin, dann Professor am physikalisch- 
technischen Institut der Weifirussischen Akademie der Wissenschaften in 
Minsk; er litt an Akromegalie. - 297, 23 Runzeln] s. Bd. 4, 92 - 298, 10 
Casella] Alfredo Casella (1 883-1947), italienischer Komponist - 299,33 
Stefan und Daga] Benjamins Sohn Stefan (1919-1972) und Asja Lacis' 
Tochter Daga - 300,9 »Cement«] Dramatisierung von Fedor Gladkovs 
gleichnamigem Roman; s. Benjamins Besprechung des Romans, Bd. 3, 61- 
63 - 301, 3 Istwostscbik] Fuhrmann, Droschkenkutscher- 301, 33 steben] s. 
die Uberarbeitung Bd. 4, 318 - 302,8 Kitai Gorod] wortlich: Chinesen- 
stadt; alter Stadtteil von Moskau, der den Roten Platz und den Kreml ein- 
schlofi - 302, 2 1 darstellen] s. die Uberarbeitung Bd. 4, 340 - 302, 24 Illescb] 
Bela Illes (1895-1974), ungarischer Erzahler, lebte ab 1923 in der Sowjet- 
union; Generalsekretar der Internationalen Vereinigung revolutionarer 
Schriftsteller; im zweiten Weltkrieg Offizier der Roten Armee. - 302,25 
Direktor des Revolutionstbeaters] V.S. Staruchin - 304,12 Gosbank] 
Staatsbank - 304, 19 Knorrin] Vil'gel'm (Vilis) Knorin (1 890-1939), 1926- 
27 Leiter der Agitprop- Abteilung des Zentralkomitees, sowjetischer Ver- 
treter im Exekutivkomitee der Komintern, kontrollierte die deutsche Par- 
tei; 1936 denunziert, 1937 als > Agent der Gestapo< inhaftiert, 1939 hinge- 
richtet - 305, 3 daliegt] s. die Uberarbeitung Bd. 4, 324 - 306, 38 Augen] s. 
die Uberarbeitung Bd. 4, 340 - 308, 5 Sophia] Sofja Krilenko, Schwester 
von Nikolaj Krilenko (s. die folgende Anm,). Sie hielt sich gleichzekig mit 
Benjamin und Asja Lacis 1924 auf Capri auf ; s, Asja Lacis, Revolutionarim 
Beruf, a.a.O., 41. - 308,21 Krylenko] Nikolaj W. Krilenko (1885-1938), 
Volkskommissar fur Justiz, Hauptanklager in den Moskauer Prozessen vor 
Wyschinskij, dann selber erschossen - 308, 25 f. Prozefi Kindermann] Karl 
Kindermann war Hauptangeklagter in einem Schauprozefi gegen drei junge 
Deutsche, die im Oktober 1924 mit der Begriindung verhaftet wurden, ein 



Anmerkungen zu Seite 308-330 785 

Attentat auf Lenin geplant zu haben; er wurde zum Tode verurteilt, aber 
nicht hingerichtet. - 309, 2 if. »Regime bkonomie*] gemeint ist die 1921 
von Lenin eingefuhrte »Neue Okonomische Politik* (NEP) - 309,26 
Stanka-Wanka] ein Stehaufmannchen - 309,36 »Nacb dem Ge$etz«] »Po 
zakonu«, 1926 von Lev Kulesov (1899-1948) gedrehter Film - 310,24 
Roth] Joseph Roth bereiste im Auftrag der » Frankfurter 2eitung« von 
Ende August bis Ende Dezember 1926 die Sowjetunion; seine Artikelserie 
»Reise in Rufiland« erschien in 1 8 Folgen in der »Frankfurter Zeitung« vom 
14. 9. 1926 bis 19. 1. 1927. - 31 1,22 f. Bildungswesen] Roths Artikel »Die 
Schule und die Jugend* erschien in der ^Frankfurter Zeitung« am 18. und 
19. 1. 1927. - 312,15 Leninkbpfen] s. die Uberarbeitung Bd. 4, 340L - 
312, 17 »Strasstweitje«] Zdravstvujte, entspricht dem »Guten Tag« - 314, 3 
Fanny Jelowja] gemeint ist wohl Nina Ermolaeva, die die Rolle der 
Avdot'ja in Mejerchol'ds Inszenierung des »Revisors« spielte - 314, 6f. 
Krassnie worota] Rotes Tor - 316,3 ausgesprochen*] s. die Uberarbeitung 
Bd. 4, 334 - 318,28 kanfen) s. die Uberarbeitung Bd. 4, 347 - 318,37 
bemalt] s. die Uberarbeitung Bd. 4, 340-319,25 Sommer] s. die Uberarb. 
Bd. 4, 320 - 320, 17 Theater Korsch] von Fedor Kors (1852-1923) gegriin- 
detes Theater, 1925/26 den Staatstheatern eingegliedert, 1932 geschlossen. 
- 321, 14 Ubersetzung] Benjamins Proust-Ubersetzung, von der »Sodome 
et Gomorrhe« nicht erhalten ist, wahrend Im Schatten derjungen Madcben 
und Die Herzogin von Guermantes 1927 und 1930 erschienen sind; s. 
Gesammelte Schriften, Supplemente II und III. - 321, 19 Acber] ACHRR, 
Associacija chudozniko revolucionnoj Rossii (Assoziation der Kunstler 
des revolutionaren Rutland) - 321, 37L »Einfubrung in den bistorischen 
Materialisms «] s. Nikolaj Ivanovic Bucharin, Theorie des historischen 
Materialismus. Gemeinverstandliches Lehrbuch der Marxistischen Sozio- 
logie, Hamburg 1922-322,26 »Ljefl«] Aleksandr Ostrovskijs Drama »Der 
Wald« - 322,26 Basseches] Nikolaus Basseches (1 895-1 961), russischer 
Ingenieur und Journalist, lebte in den vierziger Jahren in der Schweiz und 
schrieb als Rufilandspezialist fur die »Weltwoche«. Basseches verfafite: 
Das wirtschaftlkhe Gesicht der Sowjet-Union, Wien 1925; Die unbe- 
kannte Armee. Wesen und Geschichte des russischen Heeres, Zurich 1942, 
2. Aufl. 1943; Stalin. Das Schicksal eines Erfolges, Bern 1950. - 323,14 
Tairoffin Berlin] Alexander J. Tairovs Theatergruppe spielte 1923 in Ber- 
lin. - 324, 6 ja. «r] s. die Uberarb. Bd. 4, 3 29 f . - 324, 3 3 » Vom Spielzeug zum 
Kindertbeater*] nicht ermittelt; Nikolaj Dmitrievic Bartram (1873-193 1 
[1934?]) - 326,23 Vorrede] s. Bd. 1, 901 f. - 327, 28 f. berauskam] s. Scho- 
lem, Freundschaft, 30, 37-47 - 3*7,34 sei] s. die Uberarb. Bd. 4, 326 - 
328, 1 zweiten Micbad] das zweite Studio des Moskauer Akademischen 
Kunstlertheaters - 330, 39 Pbilipp Keller] Schriftsteller, mit dem Benjamin 
19 1 3 in Freiburg verkehrte; verfafite einen Roman »Gemischte Gefuhle*, 
Leipzig 19 1 3, und publizierte in expressionistischen Zeitschriften; s. 



786 Anmerkungen zu Seite 330-354 

Briefe, passim, und Bd. 3, 173. - 331, if. »Sprache iiberhaupt und die Spra- 
che des Menscben*] s. Bd. 2, 140- IJ7 - 331,21 Portrait von Karl Kraus] s. 
Bd. 4, 121-331,33 werden] s. die Uberarb. Bd. 4, 329 -332, 33 iC#swetz&- 
Most] Kuzneckij most, Schmiede-Briicke -333,15 Krestanski-Club] Bau- 
ern-Club am Trubnaja Platz - 334, 12 bin] s. die Uberarb. Bd. 4, 342 - 

334.28 »Kommandirowka*] Abkommandierung, langere Dienstreise - 
335,5 Piwnaja] Bierkneipe - 33 5, 29 f. »Der secbste Teil der Welt*] Film 
von Dziga Vertov; s. auch Bd. 2, 748 - 335, 32L »Dajo$ch-Europa«] Thea- 
terstiick von M. Podgaeckij nach den Romanen »Trust D.E.« von Ilja 
Ehrenburg (1923) und »Der Tunnel« von Bernhard Kellermann (19 13); s. 
auch Bd. 2, 75 yi. - 337,2 Kitai-Projo] Kitajskij Projezd, worth Chinesi- 
sche Nebengasse bzw. Durchfahrt - 337, 19 Ilinski] Igor' Vladimirovic 
IPinskij (geb. 1901), Schauspieler vor allem komischer Rollen, der von 
1920 bis 1935 mit MejerchoPd zusammenarbeitete; s. auch Bd. 2, 747. - 
338,20 gibt] s. die Uberarb. Bd. 4, 322f. - 338,26 ist.)] s. die Uberarb. Bd. 
2, 481 - 338,28 Lebidinski] Jurij Libedinskij (1898-1959), Schriftsteller 
und Literaturfunktionar; verfafite den Roman »Nedelja« (1922), deutsch 
»Die Woche« (1923). - 338,30 gelebt] s. die Uberarb. Bd. 4, 338 - 339,4 
Oskar Walzet] deutscher Literaturwissenschaftler (1864- 1959); s. auch 
Bd. 3, 5of. und Briefe, 436. - 340,16 angeseben] s. die Uberarb. Bd, 2, 
747! und 750 f. - 340,34 »Lieben unter Ulmen*] Tairovs Urauffuhrung 
von Eugene O'Neills »Desire under the Elms* - 340, 36 Koonen] Alicia 
Koonen (1889- 1974), Schauspielerin belgischer Herkunft, mit Tairov ver- 
heiratet - 342, 26 * Cocu magnifique*] Theaterstiick von Fernand Crom- 
melynck; MejerchoFds Inszenierung wurde von Ljubov S. Popova ausge- 
stattet. - 342,27 »Bubus«] Theaterstiick von Alexej M. Fajko; die Aus- 
stattung von MejerchoFds Inszenierung stammt von E. Slepanov und 
MejerchoPd. - 342,30 »Rischi Kitai«] Theaterstiick von Sergej Tret'jakov; 
s. auch Bd. 2, 745. - 343,7 vorkommen] s. die Uberarb. Bd. 4, 344 - 

345.29 Gorodetzkt] Sergej M. Gorodeckij (1 884-1967), Lyriker und 
Librettist - 348, 8 Gnedin] Evgenij A. Gnedin (1898-1983), Diplomat und 
Schriftsteller, Sohn von Alexander Parvus-Helphand; seine Memoiren 
»Katastrophe und zweite Geburt* erschienen in der »Bibliothek des 
Samisdau 1977 in Amsterdam; s, auch Karl Schlogel, Moskau lesen, Ber- 
lin 1984, 196-201. - 348,29 Pelscbe] Robert PePse (1880-195 5), kommu- 
nistischer Kritiker und Kunstwissenschaftler - 348,30 Leiter] Valerian 
Pletnev (1886-1942) - 348,31 Levidoff] Michail J. Levidov (1891-1941), 
Schriftsteller und Journalist - 350,4^ zusammen] s. die Uberarb. Bd. 4, 
319 - 350, 18 laflt] s. die Uberarb. Bd. 4, 336 und 341-351,8 Trtibsat] s. 
die Uberarb. Bd. 4, 345 - 351,9 Oruschejnaja-Palata] Riistkammer des 
Kreml - 351,16 ware] s. die Uberarb. Bd. 4, 343 - 352,24 Strafte] s. die 
Uberarb. Bd. 4, 321 - 353,3 ging] s. die Uberarb. Bd. 4, 321 - 354,2 
ScbUsseln] s. die Uberarb. Bd. 4, 333 - 354,36 »Dent$cb y Notsch«] 



Anmerkungen zu Seite 354-380 787 

Den'i noc (Tag und Nacht), von Tairov im Kamernyi-Theater auf gefiihrt. - 
355, 18 »Storm«] Theatersriick von Wladimir N. Bill-Belozerkowski, 1925 
urauf gefiihrt. - 357, 13 »Krujock*] Kreis, Zirkel - 360, 5 Referat] s. Bd. 4, 
481-483 - 361,16 Larionoff, Gontscharowa] Michail F. Larionov (1881- 
1964) und Natalja Goncarova (1881-1962), Lebensgefahrten, avantgardi- 
stische Maler (Rayonismus, Orphismus), Mitarbeiter des Russischen Bal- 
letts von Diaghilev in Paris. - 361,21 Malaia Theater] Malyi teatr, das 
(staatliche akademische) kleine Theater- 362, 3 hervor] s. die Uberarb. Bd. 
4, 624-362, 1 6f. »Mosselprom«] Moskauer Vereinigte Betriebe zur Verar- 
beitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse - 362, 17 Handlerin] s. die Uber- 
arb. Bd. 4, 332 - 362,24 hatte] Ernst Bloch wohnte mit seiner ersten Frau, 
Else Bloch von Stritzki (1883-1921), vom Friihjahr 191 7 bis 191 9 in Interla- 
ken; s. auch Scholem, Freundschaft, I02f. und passim. - 364,8 Schtsche- 
drin] SiPvestr Feodosievic Scedrin (1791-1830), russischer Landschaftsma- 
ler - 364,17 Wereschtschagin] Vasilij Verescagin (1842-1904), russischer 
Schlachtenmaler - 364,38 »Tag und Nacht*] s. Anm. zu 354,37 - 365,39 
Dom Petschat] Haus der Presse, eine Art Journalisten-Club - 367,8 
Sowjetduschi] von Asja Lacis und Benjamin gepragte Bezeichnung fiir den 
Portier - 368,23 Kursker Bahnhof] dieser liegt nicht am Kalancevskaja- 
Platz; gemeint ist wohl der Kasaner Bahnhof. - 369,6 Sakuskas] Imbifi - 
370,27 »Oktjabr$«] s. die Uberarb. Bd. 4, 322 - 371, 1 1 »Wandkalender«] 
s. 545*557 - 371, i4f. Schtschukin-Galerie] von Sergej Ivanovic Scukin 
(1854-1936) angelegt - 372, 13 Thankmar von MUnchhausen] Munchhau- 
sen (1892-1979) hatte durch den Kunsthistoriker Wilhelm Uhde Marie 
Laurencin kennengelernt; er war mit Rilke und Benjamin befreundet, ver- 
mittelte dem letzteren den Ubersetzungsauftrag fiir »Anabase« von St. 
John-Perse, s. Gesammelte Schriften, Supplement I. - 372, 15 Interview] 
das in der Vecernjaja Moskva erschienene Interview ist noch nicht wieder- 
aufgefunden worden. - 373,29 Astrauchoff] Il'ja Semenovic Ostrouchov 
(18 58- 1929), russischer Maler, 1905-19 13 Kurator der Tretjakov-Galerie - 
375,7 Stalowaja] Kantine - 376, 19 Dr. Schick] Maximilian Schick (1884- 
1968), Lyriker, Ubersetzer von Brjusov und Gor'kij - 376,28 Narkom- 
profi] das von Lunacarskij geleitete Volkskommissariat fiir das Bildungs- 
wesen - 377,4 Manja] Asja Lacis* Zimmerkollegin - 377,19 Aviachim] 
Gesellschaft zur Mitarbeit beim Aufbau des Flugwesens in der UdSSR - 
377,38 Seereise] Benjamins Reise mit einem Handelsschiff von Hamburg 
iiber Gibraltar und Barcelona nach Genua im Sommer 1925 ; s. auch Brief e, 
402 f. - 378,24 Poelzig] Hans Poelzig (1 869-1 936), Architekt, baute den 
Zirkus Schumann in Max Reinhardts Grofies Schauspielhaus um. - 379, 29 
Szene] im ersten Teil von »Du cote de chez Swann«, s. in der Pleiade- 
Ausgabe von Clarac und Ferre (Paris 1962) Bd. 1, 159-165. - 380,9 Willy 
Wiegand] Wiegand (1 884-1961) griindete 19 10 zusammen mit Ludwig 
Wolde den Verlag der Bremer Presse. - 380,9 Arthur Muller-Lehning] 



788 Anmerkungen zu Seite 380-402 

Miiller-Lehning (geb. 1 899) war Herausgeber der in Amsterdam erschiene- 
nen »i 10. Internationale Revue*, in der mehrere Arbeiten Benjamins 
gedruckt worden sind. - 380,10 Else Heinle] die Witwe Wolf Heinles 
(1899- 1923), des Bruders von Fritz Heinle - 381,18 Darlegung] in der 
Pleiade-Ausgabe (Paris 1962) Bd. 1, 80-82 - 381,31 verfassen] den Artikel 
fur die »Wekbuhne« hat Benjamin nicht geschrieben; s. aber den bereits 
1925 veroffentlichten Text »Die Waffen von morgen«, Bd. 4, 473-476. - 
381,34 Wachtangoff] Evgenij Vachtangov (1 883-1922), das nach ihm 
benannte Theater entstand aus dem 192 1 gegriindeten dritten Studio des 
MChAT; Vachtangov war auch zeitweilig Regisseur am »Habimah«. - 
383,2 Artikels] s. Bd. 2, 751-755 - 384,6 Muksin] ungesicherter Name; 
Benjamin schreibt an anderen Stellen auch Mujikin oder Muskin. - 384, 28 
Proust] gemeint ist wohl kein Aufsatz iiber Proust, sondern die Uberset- 
zung. - 384,29 Entgegnung] s. Bd. 4, 453 f. - 384,30 Nekrolog] s. Bd. 4, 
1025- 1027 ^4&5, 13 Lesekrdnzchen] s. Briefe, 39, Anm^ - 386, 1 5 »®i e 
Phantasies] andere Hinweise auf dies Projekt sind nicht bekannt; s. jedoch 
die Fragmente iiber Phantasie und Farbe, 109-117 - 386,26 Schreibmate- 
riat] gemeint ist die benutzte Feder, die nur ein verschmiertes Schreiben 
zulieS. - 388, 1 1 »Matj«] Pudovkins Film nach der » Mutter* von Gor- kij - 
388, 12 »Prozejl urn drei Millionen*] Film von Jakov Protazanov - 390, 16 
Autoren] s. auch Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller, 
Bd. 2, 744-747 - 390, 19 Iljuscha] Vorname des roten Generals und Vereh- 
rers von Asja Lacis - 393, 2 f. Theater revoluzie] Theater der Revolution - 
397, 1 1 f. Narkomindet] Volkskommissariat fur Auslandsangelegenheiten 
(Aufienministerium) - 400,7 pflegt] s. die Uberarb. Bd. 4, 320 und 344 - 
401,34 Komponisten] immerhin Chopin, instrumentiert von Glasunov - 

402.6 Gelzer] Ekaterina Vasil'jevna Gel'cer (1876- 1962), Primaballerina - 

402. 7 Oret] s. Asja Lacis, Revolutionar im Beruf . Berichte iiber proletari- 
sches Theater, iiber Meyerhold, Brecht, Benjamin und Piscator, hg. von 
Hildegard Brenner, Miinchen 197 1 , 20 ff. - 402, 3 1 Troitza] gemeint ist das 
Troice-Sergieva-Kioster in Sergiev, das heutige Kloster Zagorsk 

Benjamins Markierungen 

Im folgenden werden die An- und Durchkreuzungen, die Benjamin im Manuskript 
des M os k a Her Tagebuchs mit Bleistift vornahm (s. 782 f.), mit ihren Anfangs- und 
Schlufiwortern verzeichnet sowie jene Stellen in anderen Arbeiten nachgewiesen, in 
welche diese Passagen jeweils eingegangen sind. Die Nachweise sind aus der Aus- 
gabe von Smith (s. 782) ubernommen worden. 

294,23-32 Methode bis angenehm] s. Bd. 4, 338 f. - 296, 18-297, J 4 W* r bis 
Umschwung] s. Bd. 2, 744 - 298,34-299,20 Einiges bis gebildet] s. Bd. 4, 
3 i7f. - 301, 8-15 Ich bis Baum] s. Bd. 4, 320- 301, 33-302, 8 Ich bis Lackar- 
beiten,]s. Bd. 4, 319^, 332 -304, 23-32 Zur bis aus.] s. Bd. 4, 345- 305,5- 



Anmerkungen zu Seite 305-407 789 

10 Dann bis off net.] s. Bd. 4, 325 - 305, i6-z6Nocb bis Plotscbtad.] s. Bd. 4, 
346 - 306,39-307,27 In bis gab.] s. Bd. 4, 345 f. - 308,8-16 Deren bis 
Strafie.] s. Bd. 4, 327^ - 309,17-27 Die bis bekommen.] im Manuskript 
angekreuzt, aber anscheinend in keinen der aus dem Moskauer Tagebucb 
hervorgegangenen Aufsatze eingegangen - 313,7-19 Hasard bis geben.] s. 
Bd. 4, 33of. - 316,6-18 Bei bis nicbt.] s. Bd. 4, 481 - 319, 2-18 f. Man bis 
vertreiben.] s. Bd. 4, 324L, 328 - 319, 39-320,7 Der bis Spielsacben.] s. Bd. 
4, 321-320,26-33 7c/> bis ^r.]im Manuskript angestrichen, aber damals in 
keine Arbeit aufgenommen; hier wird ein zentraler Gedanke Benjamins 
zum wahrscheinlich erstenmal formuliert, der ein Theorem aus der Vorrede 
zum Ursprung des deutscben Trauerspiels materialistisch wendet und auf 
spateste methodologische Erwagungen aus dem Umkreis der Baudelaire- 
Arbeiten und der Thesen Uber den Begriff der Gescbicbte vordeutet - 
330,1-10 Licbtquellen bis uberwinden.] s. Bd. 4, 319 - 332,20-31 Die bis 
Lucca] s. Bd. 4, 344^ - 334,33-335, if. Hier bis Institute.] s. Bd. 4, 348 - 
335,13-27 Nacb bis Salzwasser.] s. Bd. 4, 346f. - 335,36-336,29 Icb bis 
Wobnbau.] s. Bd. 4, 344f. - 337,3-6 Weiteres bis Weibnacbtsfeier.] s. Bd. 

4, 331-337) u-i7>l«/bis davon.] s. Bd. 4, 321 -339, i-}i Jetzt bis Tscber- 
woneff] s. Bd. 4, 337^ - 343,20-344, 10 Auf bis beraus.] s. Bd. 4, 333, 340, 
346-346,16-348,5 Wir bis werden .)] s. Bd. 4, 341 -352,11-21 Moskau bis 
liegt.] s. Bd. 4, 319, 321 f. - 352,24-353,2 Mit bis *iw.] s. Bd. 4, 343 - 
353,14-37 ite/rw bis Gendarmen.] s. Bd. 4, 3211". - 355,27-356,25 /w bis 
an.] im Manuskript angekreuzt, aber anscheinend in keine andere Arbeit 
aufgenommen - 358,30-359,7 Diese bis will.] s. Bd. 4, 33 5 f. - 363,8- 
364, 17 icA bis Interesse.] s. Bd. 4, 323^ - 367,29-368,6 »Da$ bis gewuftt.] 
s. Bd. 4, 348 - 368,32-369, 1 Mir bis batte.] s. Bd. 4, Abb. 24 und 31, nach 

5. 624 - 370, 23 neuer bis u.s.w.] im Manuskript unterstrichen; s, Bd. 4, 325 
- 373,34-374,19 Im bis Museums.] im Manuskript angekreuzt, aber 
anscheinend in keine andere Arbeit aufgenommen - 378,39-379, 5 f. Beim 
bis auftaucben] s. Bd. 4, 345 - 382,34-37 Die bis gewinnt.] s. Bd. 4, 347- 
384,2-4 Der bis zs£.] im Manuskript angekreuzt, aber anscheinend in keine 
andere Arbeit ubernommen - 389,4-30 Die bis Scblitten.] s. Bd. 4, 330, 
339, 344 - 391,5-12 einen bis sitzen.] s. Bd. 4, 320 - 392, 5-11 Man bis 
Landscbaft] s. Bd. 4, 343 f. -394, 3 3~395> 9 /cfc bis SpielzimmeH] im Manu- 
skript angekreuzt, aber anscheinend in keine andere Arbeit eingegangen - 
396, 1 5-22 Icb bis warm.] im Manuskript angekreuzt, aber anscheinend in 
keine andere Arbeit eingegangen - 398, 20-30 Jetzt bis daliegen.] s. Bd. 4, 
343 _ 399> I2 "35 ^ bis fublen.] s. Bd. 4, 3 i6f. - 406,34-407,3 Mcfo bis 
Brennstoff.] im Manuskript angekreuzt, aber anscheinend in keine andere 
Arbeit eingegangen. 



790 Anmerkungen zu Seite 409-418 

409-413 Tagebuch meiner Loire-Reise 

U: Schwarzes Lederheft, S. 21-23 
D: 12. bis 16. August 1927 

nachweise 409,35 Loire-Reise] iiber Benjamins Reise s. auch Scholem, 
Freundschaft, 167 - 410, 1 L.] iiber Benjamins Pariser Freundin nichts er- 
mittelt. 

413-415 NOTIZEN VON DER ReISE NACH FRANKFURT 30 MAI I928 

U: Schwarzes Lederheft, S. 26 
D: 30. 5. 1928 

nachweise 413,35 Onkel Arthur] Arthur Moritz Schoenflies (1 853-1928), 
der jiingere Bruder von Benjamins Grofivater mutterlicherseits ; s. auch 
Scholem, Engel, 150 - 414,25 kann.] s. Zum Tode eines Alien, Bd. 4, 428 



4x5-418 Verstreute Notizen Juni bis Oktober 1928 

t): Pergamentheft SSch, S. 1, 8 und 13 
D: Juni bis Oktober 1928 

nachweise 415, 18 f. »Panorame de la litter ature allemande*] s. Felix Ber- 
taux, Litterature allemande. (Panorama des litteratures contemporaines), 
Paris 1928-415,27 Gliick] iiber Gustav Gliick (1902- 1973) s. Scholem, 
Freundschaft, 224 f.,* Gliick blieb als Direktor der Auslandsabteilung der 
Reichskreditgesellschaft bis 1938 in Berlin, dank seiner Hilfe konnten die 
Honorare, die Benjamin noch bis 1935 gelegentlich von deutschen Zeitun- 
gen erhielt, nach Paris transferiert werden; 1938 emigrierte Gliick nach 
Argentinien, nach dem Krieg war er Vorstandsmitglied der Dresdner Bank 
in Frankfurt, die letzten Jahre lebte er wieder in seiner Vaterstadt Wien - 
415,27 Doris] Doris von Schonthan gehorte wie Eva Herrmann (s. Anm. 
zu 428, 35) zu dem Freundeskreis um Erika und Klaus Mann, zu dem Ben- 
jamin durch Gert Wissing (s. Anm. zu 427,4) peripberiscbe Beruhrung 
(436) gewann - 415,32 Tbankmar] s. Anm. zu 372, 13 - 416,4 hatte . . .*] 
Johannes V. Jensen, Exotische Novellen, Berlin 1919, 41 f.; s. auch Bd. 4, 
414-416, 10 «£.*] a. a. O., 75 f.; s. auchBd. 4, 373-416,25/oe/] iiber Ernst 
Joel s. Scholem, Freundschaft, 2 1 f . und 221 - 416, 26 Notiz] s. Haschisch in 
Marseille, Bd. 4, 409-416, so wie die Vorstufe im vorliegenden Band, 579- 
587; im Pergamentheft der SSch findet sich zwischen der vorangehenden 



Anrnerkungen zu Seite 416-421 791 

und dieser Notiz die erste, wohl aus dem abklingenden Rausch selber stam- 
mende Niederschrift der Aufzeichnung- 416,28 Ausstellung] s. Bekranz- 
ter Eingang, Bd. 4, 557-561 



418 Notiz uber ein Gesprach mit Ballasz 

U: Ms 924 - aus einem Block herausgetrenntes Einzelblatt, ca. 10,8X9 cm, 

einseitig mit Tinte beschrieben. 
D: Ende 1929 

nachweis 418,3 Ballasz] Bela Balazs (Herbert Bauer, 1884-1949), ungari- 
scher Filmtheoretiker, Drehbuchautor und Regisseur 



419-421 Reisenotizen 1930 

Von seiner Skandinavienreise berichtete Benjamin, der sich selber den 
unverdrossenen Reisenden, Nacbfabren Schelmuffskys nannte, Ende Juli 
1930 an Gretel Adorno: Einmal fort von Berlin wird die Welt schon und 
gerdumig und hat sogar auf einem 2000 to-Dampfer neben mancberleiRei- 
sepobel Platz fur Ibren scbweigsam vergnugten Diener. Gerade jetzt gebe 
ich ibr das Scbauspiel einer schnurrbartig schnurrigen Alien, die ibre Kaffee- 
tasse neben sich in einem Lehnstuhl auf der Schiffsterrasse -Terrasse mufles 
nun einmal sein ob auf dem Boulevard oder im Fjord - sich sonnt und dabei 
ihre Handarbeiten herunterkritzelt. (o.D.; Poststempel 25. 7. 1930 [?], an 
Gretel Adorno) Mitte August 1930 heifSt es dann in einem Brief an Scho- 
lem, der in Zoppot geschrieben wurde: Ich babe die letzte oder vorletzte 
Station meiner Reise erreicht - das ist Zoppot. So schon die grofle Reise war, 
die ich binter mir babe - bis uber den Polarkreis und in das nordliche Fin- 
land hinein - so war sie doch zu einsam, um ganz zu einer Erholung zu 
werden; ich habe aucb auf dem Schiff zuviel gearbeitet. [. . .] Die Redaktio- 
nen grollen we'd ich nichts tue. Ich abermufl die wenigen Gelegenheiten> die 
ich im Leben zum Faulenzen babe, ausnutzen. Das bindert nicht, dafi ich 
mich mit allerhand Nebensacben berumschlage. Ich habe einen Zyklus 
»Nordische See« gemacbt, den Du ja wohl in absehbarer Zeit zu seben 
bekommen wirst. (Brief e, 515)- Die Reisenotizen 1930 stehen - ahnlich wie 
die Aufzeichnungen Spanien 1932 (s. 446-464) und mehr noch als diese-an 
der Grenze zwischen der tagebuchartigen Notiz und der ersten Nieder- 
schrift eines Aufsatzes; hier der zu dem Nordische See (s. Bd. 4, 383-387) 
betitelten Denkbild, das zum grofieren Teil nichts anderes als eine eingrei- 
fende Umarbeitung der Reisenotizen 1930 darstellt. Wenn die Herausgeber 
sich gleichwohl entschlossen haben, diese nicht als Vorstufe der Nordi- 



79^ Anmerkungen zu Seite 419-421 

schen See zu behandeln, sondern sie unter den »Autobiographischen 
Schriften« abzudrucken, so um der Spontaneitat willen, welche die Reise- 
notizen gegeniiber dem durchformulierten Denkbild auszeichnen. 

Auf der Riickseite des ersten Blattes der Reisenotizen i$jo notierte Benja- 
min Formulierungsversuche zum Schlufl der Nordischen See (s. Bd. 4, 
387), die fur seine schriftstellerische Technik aufschlufireich sind; wahr- 
scheinlich auch unter dem Eindruck von Klages' »Geist als Widersacher der 
Seele« geschrieben wurden, in dessen erstem Band Benjamin wahrend der 
Reise las und den er gegeniiber Scholem ohne Zweifel ein grofles philosopbi- 
sches Werk (Brief e, 515) nannte. 

Antike des Nordens 

Eine einzige Niobidenversammlung. 

Das Antlitz wie von salzigen Tranen geschunden und die Blicke flehend 

odersuchend nach oben geheftet, die Armey wenn sie noch da sind, beschwo- 

rend oder ergeben iiber der Brust gekreuzt [abgebrocben] 

Das Antlitz wie von salzigen Tranen verwittert, die Blicke am zerstofinen 

hblzernen Hohlen nacb oben gericbtet, die Arme, wenn sie noch da sind, 

schUtzend Uber der Brust gekreuzt, wer sind sie - so unsagbar bilflos und 

aufbegehrend - diese Niobiden des Meeres? 

Diese Bilder - einst bewegten sie sich bacchantischer als die leibhaftigen 

[abgebrocben] 

Oder vielmehr Manaden? 

Antike? Diese Bilder die einst bacchantischer als die leibhaftigen Manaden 

sich bewegten. Antike? Dies zersplitterte gespaltne Holz? Antike? Diese 

Stucke, deren so manches [abgebrocben] 

Ja! Diese Bilder, die [uber] weifiere Kamme gesturmt sind als dies 

bescheidne [?] Kitharon und in odere Thaler als die von Thrakien. Sie sind in 

wilderen Pranken gewesen als denen die der wilden Tiere [abgebrocben] 

Auf sie als die der wilden Tiere, der Gefolgschaft der Artemis. 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 657 

U: Ms 656 f. - zwei Einzelblatter, ca. 22 x 14 cm und 19X13,5 cm, beidsei- 
tig mit Time beschrieben. Aufter den Reisenotizen 1930 und dem oben 
abgedruckten Entwurf Antike des Nordens finden sich auf den beiden 
Blattern Stichworte zum Thema Hexen (s. Hexenprozesse, Bd. 7). 

D:Juli/ August 1930 

nachweis s. insgesamt Nordische See, Bd. 4, 383-387 



Anmerkungen zu Seite 422-441 793 

422-441 Mai-Juni 193 1 

Wie aus der Material zu einem Diskurs iiber Brecht (s. Bd. 2, i372f.) iiber- 
schriebenen Auf stellung hervorgeht, waren die vorliegenden Tagebuchauf- 
zeichnungen nicht die ersten Brecht gewidmeten; voraus gingen Aufzeich- 
nungen aus den Monaten Marz bis Mai 1930, die anscheinend nicht erhal- 
ten sind. Die genannte Auf stellung wird durch ein weiteres Register Tage- 
buchstellen iiber Brecht erganzt, das die folgende Aufzahlung enthalt: 

1) Juan-les-Pins Mai Juni 193 1 (lose Blatter) [s. 422-441] 

2) Svendborg Juni August 1936 (kleines Pergamentbucb) 

3) - 1934 u 1936 (lose Blatter) [s. Bd. 2, i37of.] 

4) Berlin Februar Mai 1930 (langes Pergamentbucb) 

jj Svendborg Sommer 1934 (mittleres Pergamentheft) [s. 523-532] 

(nach einer Photographie im Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Sign. 2060/19) 
Als verschollen mufi demnach nicht nur das lange Pergamentbucb mit den 
Aufzeichnungen von Februar- respektive Marz - bis Mai 1930 gelten, son- 
dern auch das kleine Pergamentbucb mit den Aufzeichnungen Juni August 
1936. - Das Original des Tagebuchs Mai-Juni 193 1 befand sich im Besitz 
von Stefan Brecht, ist aber zur Zeit nicht auffindbar. Der vorliegende 
Abdruck folgt einer im Bertolt-Brecht-Archiv vorhandenen, allerdings 
technisch unzulanglichen und deshalb stellenweise schwer lesbaren Photo- 
graphie, die den Herausgebern dankenswerterweise von Gerhard Seidel 
ebenso zur Verfiigung gestellt wurde wie eine Transkription, welche er und 
Benno Slupianek vor Jahren nach dem Original anfertigten. Das Original 
wird wie folgt beschrieben: »Vier zusammenhangende, doppelseitig 
beschriebene Blatter. Blatter 1-3; 18X26,8 cm. Gelbliches Schreibpapier 
[...]- Blatt 4: 14,1 x 21,8 cm. Blauliches Schreibpapier. - Mit blauer (und 
schwarzer) Tinte von WB.« (Bertolt-Brecht-Archiv, Sign. 2056/40) 

U: Bertolt-Brecht-Archiv, Sign. 2060/24-31: Photographie des Manu- 
skripts; a. a. O., Sign. 2056/40-59: Transkription des Manuskripts von 
Gerhard Seidel und Benno Slupianek. 

D: Mai/Juni 193 1 

nachweise 424, i verabredet.] gemeint ist Benjamins Capri- Auf enthalt 
von 1924; die Freunde, mit denen er dort war, waren Florens Christian 
Rang und Erich Gutkind; s. auch Lorenz Jager, Messianische Kritik. Stu- 
dien zu Leben und Werk von Florens Christian Rang, Diss. Frankfurt 
a.M. 1985, 21 1 -2 16- 425,28 zugute.] s. Bd. 4, 429, 43 5 f. - 425,37 Egon] 
iiber Benjamins Vetter, den Rontgenologen Egon Wissing (1900- 1984), s. 
Scholem, Engel, 149 -426, 20 Spuren*] Brecht, Versuche 4-7 [Heft 2], Ber- 



794 Anmerkungen zu Seite 426-446 

lin 1930, 116 - 427,2^ verschiebbar.] s. Bd. 4, 427^ - 427,4 Gert] Gert 
Wissing, geb. Feis (gest. 1933), die erste Frau Egon Wissings - 428,16 
Dicbter] s. Bd. 4, 427 - 428, 1 7 Speyer] Benjamin hatte den Romancier und 
Dramatiker Wilhelm Speyer (1887- 19 52), der wie er in Haubinda gewesen 
war, durch Helene Hessel kennengelernt. Benjamin war Mitarbeiter Spey- 
ers, so etwa bei dem Roman »Gaby, weshalb denn nicht?« Berlin 1930, und 
bei den Theaterstiicken »Jeder einmal in Berlin*, Berlin 1930, »Es geht - 
aber es ist auch danachs Miinchen 1929, und »Der grofie Advokat«, 1932. 
-^zSt^ibrennt] s. Bd. 3, 388-392-428,35 Eva Hermann] wahrscheinlich 
die Zeichnerin Eva Herrmann (1 901 -1978), eine Freundin von Erika und 
Klaus Mann; s. auch Anm. zu 415,27 - 431,1 Hesse-Burri] Emil Hesse- 
Burri, Schriftsteller, Regisseur, Film- und Horspielautor; Mitarbeiter 
Brechts u.a. bei der »Heiligen Johanna der Schlachthofe« - 43 1 , 2 Haupt- 
mann] Elisabeth Hauptmann (1897-1973), Schriftstellerin, seit 1924 Mitar- 
beiterin Brechts an vielen Stiicken, spater Dramaturgin des Berliner 
Ensembles und Brecht-Herausgeberin - 431, 2 Brentanos] der Schriftsteller 
Bernard von Brentano (1901-1964) und seine Frau Margot - 431, 22 » Jour- 
nal du coiffeur*] die Erstausgabe des Romans von Marcel Jouhandeau 
erschien 193 1 - 436, 6 Gewobnbeiten.*] Friedrich Nietzsche, Werke in drei 
Banden, hg. von Karl Schlechta, Miinchen 1955, Bd. 2, 173 (»Die frohliche 
Wissenschafu, 4. Buch, Aph. 295) - 439,19 Carola Neber] 1905-1942, 
Schauspielerin; spielte in Stiicken ihres Ehemanns Klabund und Brechts; 
sie emigrierte in die Sowjetunion, wurde 1939 verhaftet und drei Jahre spa- 
ter im Lager ermordet - 439,21 »Geretteten Alkibiades«] das Stuck 
erschien 1920 und wurde im selben Jahr in Miinchen uraufgefuhrt - 439, 39 
lang«] s. Coriolanus V, 3: »I have sat too long.« - 440, 1 Klippe] s. King 
Lear IV, 6 - 440, 3 »Tecbnik des Dramas*] die Erstausgabe erschien 1 863 - 
441,8 andere] s. Bd. 4, 4251". 



441-446 Tagebuch vom siebenten August neunzehnhundertein- 
unddreissig bis zum todestag 

t): Mittleres Pergamentbeft, S. 23-27 
D: 7. bis 16. 8. 1931 

nachweise 441,13 Todestag] uber Benjamins Suicidplane s. Scholem, 
Freundschaft, 223 f., 232-235 - 441,15 Kippenberg] Benjamin hatte mit 
Anton Kippenberg (1 874-1950), dem Leiter des Insel Verlags, uber ein 
Buch zu Goethes 100. Todestag verhandelt - 441,18 /.] wahrscheinlich 
Inge Buchholz, eine intime Freundin Benjamins in den fruhen dreifiiger 
Jahren, uber die sonst nichts ermittelt wurde - 442, 34 verwandelt.] s. Bd. 
4, 43 if. - 442,35 Salomon] Albert Salomon (1 891 -1966), Soziologe und 



Anmerkungen zu Seite 442-464 795 

Politologe, 1928-193 1 Hg. der »Gesellschaft«; emigrierte 1933 in die 
Schweiz, 1935 in die USA; Professor an der New School for Social Re- 
search, New York - 443, 5 em.] s. Bd. 1, 226 - 443,28 Gliick] s. Anm. zu 
415,27 - 443,30 hat.] uber Kraus* Haltung zu Benjamins Essay s. die 
Dokumentation, Bd. 2, 1081-1084 - 444,11 Haas] Willy Haas (1891- 
1973), Schriftsteller und Kritiker, 1925-1933 Hg. der »Literarischen Welt«, 
1933/34 der »Welt im Wort* - 444, 13 Rosen] Artur Rosen, verantwortli- 
cher Redakteur der »Literarischen Welt* - 444, 3 1 konnen.] s. Bd. 4, 1013 f. 
-446,20 wird.] s. Bd. 2, 688, auch Bd. 2, 628 f., und Bd. 1, 455^, 493 



446-464 Spanien 1932 

Benjamin »fuhr am 7. oder 8. April [1932] von Hamburg auf einem Frach- 
ter, mit dessen Kapitan und Offizieren er sich sehr anfreundete, in elf 
Tagen nach Barcelona und von dort auf dem Postdampfer nach Ibiza. Dort 
blieb er ziemlich genau drei Monate und lebte unter Verzicht auf jeglichen 
Komfort, aber doch in einer ihm zusagenden Atmosphare unvorstellbar 
billig - fiir weniger als zwei Mark pro Tag! Seinen Freunden schrieb er 
lange Briefe iiber die Insel und sein Treiben dort. Er schien bei aller 
Arbeitsfiille, die ihn dort in Anspruch nahm, in diesen oft sehr schonen 
Briefen ausgeruht und deutete nur leise auf die vollige Vereinsamung hin, 
unter der er seinen vierzigsten Geburtstag begehen wiirde.« (Scholem, 
Freundschaft, 227) Benjamin verliefi die Insel am 17. Juli, um iiber Mal- 
lorca nach Nice zu fahren (s. Briefe, 555). Unter den Arbeiten, die ihn 
wahrend seines ersten Ibiza- Auf enthalts beschaftigten, war en neb en der 
Berliner Chronik (s. 465-519) auch die Aufzeichnungen Spanien 1932. In 
ihnen wird jene Reisetechnik angewandt, die Benjamin sich vorgesetzt 
hatte: diesmal wollte ichs ganz aufs Epische absehen> an Fakten, an 
Geschichten sammeln was ich nurfinden konnte und eine Reise daraufhin 
erproben, wie sie von aller vagen Impression gereinigt, verlaufen mag. (456) 
Vieles aus diesen Notizen ist denn auch in die Denkbilder und Geschich- 
ten, die zum Teil noch auf Ibiza selber, zum Teil unmittelbar danach 
geschrieben wurden, eingegangen und war wohl von Anfang an dazu be- 
stimmt. 

U: Ms 672, S. 1-18 von hinten. - Ms 672 ist ein Heft mit Blattern eines sehr 
diinnen Papiers vom Format 15,4X9,8 cm, eingebunden in biegsames 
braunes Leder. Es ist auf den Seiten 1 bis 59 mit der Berliner Chronik 
beschrieben (s. 797f., 804), wurde dann umgedreht und von hinten mit 
Spanien 1932 beschrieben. 

D: April bis Juli 1932 



796 Anmerkungen zu Seite 453-464 

lesarten 453,28-454,9 Es bis haben.] dieses Stiick im Manuskript gestri- 
chen - 463,37-464,4 Wenn bis worin.] dieses Stiick findet sich etwa in der 
Mitte des vorangehenden, am Anfang einer Seite notiert, es ist dort gestri- 
chen; offensichtlich wurde es friiher als das vorangehende Stiick geschrie- 
ben, wobei dann zunachst mehrere Seiten freiblieben 
nachweise 447, 13 ist.] s. Bd. 4, 403 f. - 447, 35 Akt] s. Bd. 4, 401 - 447, 3 5 
Tascbenbuch /] anscheinend nicht erhalten - 448, 1 6 ergriffen.] s. Bd. 4, 404 
und 422 - 448,29 geworden.] s. Bd. 4, 745 - 449, 1 wareri] s. Bd. 4, 749 - 
450, 8/ . . .] wahrscheinlich der 454,16 zlsjokiscb identifizierte Bekannte - 
452,30/0/gr.*] s. Der Reiseabend, Bd. 4, 745-748 - 453, 5 widersprecben.] 
s. Bd. 4, 403 - 453,27 entzog.] s. Bd. 4, 406 f. - 454,30 Bucb] s. Ludwig 
Salvator, Erzherzog von Osterreich, Die Balearen geschildert in Wort und 
Bild, Leipzig 1 896 - 455, 34 Freunde] i.e. Benjamin und Felix Noeggerath; 
s. Scholem, Engel, 105 f. - 456,1-463,36 Die Ciudad de Valencia bis 
Kunstbein.] dieses Stiick enthalt einige Passagen, die in Das Tascbentnch (s. 
Bd. 4, 741-745) eingegangen sind, vor allem aber stellt es eine Vorstufe zu 
der Erzahlung Die Fahrt der Mascotte (s. Bd. 4, 738-740) dar; hier lautet 
der Name des Schiffes zunachst (460,23 und 461,6) noch Prival, um dann 
(462,39) unversehens als Mascot in den der Erzahlung iiberzugehen - 
456,18 selbert*] s. Horaz, Carmina, liber II, 16: ^Patriae quis exsul / Se 
quoque fugit?« 



465-519 Berliner Chronik 



Der Text der Berliner Chronik wurde von Kitty Steinschneider und Scho- 
lem entziffert und von Scholem 1970 ediert (s. Walter Benjamin, Berliner 
Chronik. Mit einem Nachwort hg. von Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 
1970 [Bibliothek Suhrkamp. 251]). 

Die Berliner Chronik, so schreibt Scholem im Nachwort zur Erstausgabe, »stellt die 
Keimzelle dar, aus der, offenbar bald nach dem Abbruch dieses Manuskriptes, die 
Berliner Kindheit urn Neunzehnhundert entstand, als Benjamin sich entschlofl, statt 
unmittelbar autobiographischer Aufzeichnungen iiber Erinnerungen und Vorgange 
seiner Kindheit, Schul- und Studentenzeit sich auf Erinnerungen, aber dichterisch 
und literarisch verwandelte, aus seiner Kindheit zu beschranken. Der Unterschied 
zwischen den beiden Versionen ist daher sehr bedeutend. Drei Funftel der vorliegen- 
den Aufzeichnungen haben keinerlei Entsprechung in der Berliner Kindheit. Auch 
von den iibrigen zwei Fiinfteln ist das meiste nur in tief greifender Verwandlung und 
Umarbeitung in die Berliner Kindheit aufgenommen worden und wirkiich fast wort- 
lich entsprechende Abschnitte gibt es nur ganz wenige. Benjamin schrieb die Auf- 
zeichnungen stiickweise und zum Teil in auISerordentlich schneller und sehr schwer 
les barer Schrift. [. . .] - Trotz ihres fragmentarischen Charakters sind diese Auf- 
zeichnungen so wertvoll fiir ein Verstandnis der Person und der Biographie Benja- 
mins, aber auch fiir die Vielschichtigkeit seiner literarischen Produktion, daft ihre 
Veroffentlichung eine wesentliche Bereicherung unserer Kenntnis darstellen diirfte. 
Nicht nur, dafi wir hier genauere Einzelheiten iiber sein Elternhaus und dessen Hin- 
tergrund erfahren, sondern es stehen hier auch die einzigen erhaltenen Seiten, auf 
denen Benjamin sich iiber semen toten Freund Fritz Heinle, der eine grofie Rolle in 
seinem Leben spielte, geaufiert hat. Als er im Herbst 1932, nach der Riickkehr nach 
Berlin, die literarische Ausarbeitung der Berliner Kindheit begann, schied er alle 
diese Elemente aus, die auf seine unmittelbare reale Biographie Bezug haben. Merk- 
wiirdig ist dabei auch, dafi gerade bei dieser literarischen Metamorphose die in dem 
vorliegenden Text zahlreichen Beziige auf seine sozialistische und klassenkampferi- 
sche Uberzeugung so gut wie vollkommen geschwunden sind. Das Licht, das auf die 
spatere Version fallt, ist viel milder und bei aller Scharfe des Details geradezu ver- 
sohnlicher als das, unter dessen Einwirkung und kampferischer Inspiration die vor- 
liegenden Aufzeichnungen entstanden sind. Eine innere Verwandlung kann in die- 
sen Zeitlauften in seinen kampferischen Uberzeugungen nicht stattgefunden haben - 
verscharften sie sich doch eher-, also wird der Grund fiir diese Verwandlung wohl in 
aufieren Umstanden, bzw. der veranderten literarischen Absicht der neuen Version 
zu suchen sein. - Den Text, wie er hier wiedergegeben ist, schrieb Benjamin im 
Friihjahr 1932 wahrend seines ersten Aufenthalts auf der Insel Ibiza in einem in 
Leder gebundenen Heft nieder, das aus 78 sehr diinnen, einseitig beschriebenen 
Kleinoktavblattern besteht. Davon nimmt die Berliner Chronik 59, sowie ein Wid- 
mungsblatt am Anfang, ein. Die iibrigen Blatter enthalten, unter der Uberschrift 



798 Anmerkungen zu Seite 465-519 

Spanien 1932 (s. 446-464), Aufzeichnungen uber Ibiza und seine Reise von Hamburg 
nach Spanien auf einem Frachtschiff und vor allem uber seine Unterhakungen mit 
einem der Schiffsoffiziere und dessen Erzahlungen uber sich selbst. 
Das Motto der Berliner Kindheit, das dort in Anfuhrungszeichen dem Buch voran- 
gesetzt ist, 

*0 braungebackne Siegessdule 
Mit Winterzucker aus den Kindertagen* 
stent hier S. 488 in der Fassung 
O braungebackne Siegessdule 
Mit Kinderzucker aus den Wintertagen. 
Uber den Ursprung dieses surrealistisch anmutenden Verses, uber den sich nicht 
wenige Leser den Kopf zerbrochen haben, lafit sich aber durch einen glucklichen 
Fund in Benjamins Nachlafl Genaues sagen. Er stellt nicht etwa ein Zitat aus einer 
unbekannten Schrift dar, sondern entstammt, wiederum in anderer Fassung, einer 
Aufzeichnung Benjamins aus seinen Niederschriften im Haschisch-Rausch (s. 618). 
Er machte 1928- 1931m Berlin und Marseille eine ganze Zahl von Experimenten iiber 
die Wirkung des Haschisch auf seine Imagination. Mehrere genaue Protokolle iiber 
diese, zum Teil unter der Aufsicht von zwei Arzten und der Teilnahme eines oder 
zweier Freunde stattgefundenen Versuche haben sich erhalten. Bei dies en Protokol- 
len liegen auch einige Blatter in Benjamins Handschrift mit schnell hingeworfenen 
phantastischen Satzen freier Assoziationsbildungen. Ihre, der gewohnlichen Schrift 
Benjamins gegeniiber deteriorierte Form weist eindeutig darauf hin, dafi sie noch 
unter dem Einflufi des Haschisch, beim Abklingen des Rausches, geschrieben sind. 
Auf einem dieser Blatter (s. 618) finden sich nun einige Satze dieser Art, die ich hier 
unverandert wiedergebe: 

Die Pbantasie wird zivilisatorisch - 

Ach hatte ich die Lustigen Weiber von Windsor wieder 

Im berliner Nebel 

Gottheils Berliner Mdrchen 

Oh braungebackne Siegessdule 

Mit Nebelzucker in den Wintertagen 

Franzosische Kanonen uberragen 

Mein Fragen. 

Das Motto der Berliner Kindheit stammt also von Benjamin selbst unter Verwen- 

dung eines wenige Jahre vorher im Haschisch-Rausch produzierten Verses, an den er 

sich noch erinnerte. 

Ein Wort bleibt auch iiber die Widmung auf dem ersten Blatt zu sagen. Ursprunglich 
enthielt sie den folgenden Text: 

Geschrieben ficr vier meiner lieben Freunde 
Sascha Gerhard 

Asja Lazis 
und Fritz Heinle 
Mit Sascha ist der bekannte Graphiker und Photograph Sascha Stone gemeint, mit 



Anmerkungen zu Seite 465-519 799 

dem Benjamin in diesen Jahren viel umging; Gerhard bezieht sich auf meinen eige- 
nen Namen: Gerhard Scholem. Asja Lazis ist die Freundin, der er die Einbabn- 
strajle gewidmet hat. Diese urspriingliche Widmung ist aber mit anderer Tinte in 
starken Linien durchgestrichen und gerade noch fiir ein scharfes Auge lesbar. An 
ihre Stelle ist dann die Widmung an Benjamins Sohn Stefan getreten, wiederum in 
anderer Tinte. « (Scholem, Engel, 174-178) 

Die Niederschrift der Berliner Chronik geht auf einen Vorschlag zuriick, 
der eines Tages [. . .] an mich herantrat, fiir eine Zeitschrift eine Folge von 
Glossen iiber alles was mir an Berlin von Tag zu Tag bemerkenswert 
erscheine in loser, subjektiver Form zu geben (475 f.). Der Vorschlag kam 
von der »Literarischen Welt«, mit der Benjamin am 1. 10. 1931 einen Ver- 
trag geschlossen hatte, der ihn verpflichtete, bis Marz 1932 im Zeitraum je 
eines Vierteljabres vierrnal eine Berliner Chronik von je 200 bis 300 Zeilen 
zu liefern (s. Vertragskopie, Literaturarchive der Akademie der Kiinste 
der DDR, Bestand Benjamin, Sign. 34/24). Nur Spekulationen sind dar- 
iiber moglich, weshalb es zur Erfiillung des Vertrags nicht gekommen ist; 
am wahrscheinlichsten wohl, daft die Arbeit unter der Hand sich zu sehr 
erweiterte, um noch in ein paar hundert Zeilen bewaltigt werden zu kon- 
nen (s. aber auch oben, 631). Jedenfalls diirfte Benjamin mit der Nieder- 
schrift nicht erst im April 1932, nach seiner Ankunft auf Ibiza, begonnen 
haben, wie Scholem vermutete; bereits am 28. Februar berichtete er noch 
aus Berlin: Manchmal kommt es mir vor, als ob [. . .] noch etwas hinter 
meinem Rucken entstunde in Form von einigen Niederschriften, die ich bei 
gelegener, vielmehr meist ungelegener Zeit seit einigen Wocben mache und 
die die Gescbichte meines Verhaltnisses zu Berlin betreffen. (28. 2. 1932, 
an Scholem) Der grofite Teil der Berliner Chronik entstand indessen frag- 
Ios auf Ibiza. Anschliefiend, von August bis November 1932, hielt Benja- 
min sich in Poveromo an der italienischen Riviera auf. Ob er hier noch an 
der Chronik oder schon an ihrer Umformung zur Berliner Kindheit arbei- 
tete, ist nicht ganz gesichert; ein Bericht wie der folgende scheint eher fiir 
letzteres zu sprechen : Depuis mon arrivee j'ai beaucoup travaille a une 
serie de notes [...]. C'est une sorte de souvenirs d'enfance mais exempte de 
tout accent trop individuel ou familial. Une sorte de tete-a-tete d'un enfant 
avec la ville de Berlin aux environs de 1900. C'est un travail qui me prend 
presque completement defacon que je ne lis presque plus rien. (21.9. 1932, 
an Jean Selz) 

Scholems Mutmafiung, Benjamin »konne von einigen Stucken etwa auf 
Zetteln oder Notizblocken Vorentwurfe gemacht« (Scholem, Engel, 174) 
haben, wird durch eine kleine Anzahl solcher Entwiirfe, die im Nachlafi 
vorhanden sind, bestatigt. Die Mehrzahl dieser Dispositionen, Motivli- 
sten, Notizen, Entwiirfe und Niederschriften bezieht sich zwar eindeutig 
auf die Berliner Kindheit um neunzehnhundert, einige wenige aber auch 



8 00 Anmerkungen zu Seite 465-519 

auf Texte der Berliner Chronik, die in der Kindheit ohne Gegenstiick blie- 
ben. Im folgenden werden vier solcher Vorentwiirfe abgedruckt. Die an 
erster Stelle stehenden Notizen gehoren jenem Stadium der Arbeit an, als 
Benjamin noch eine Folge von Glossen Uberalles was miran Berlin von Tag 
zu Tag bemerkenswert erscheine (476) zu schreiben gedachte. Der zweite 
und dritte Entwurf mogen fur Benjamins Arbeitsweise von Interesse sein. 
Von dem letzten Text ist nicht ausgemacht, ob er noch ein Entwurf zur 
Berliner Chronik ist oder bereits in den Zusammenhang der Berliner Kind- 
heit gehort. 

Zur berliner Chronik 

Rote Revue: jede Situation appelliert an den gesunden Menschenverstand; 

die Sache kommt aus einem Reservoir, woraus mehr zu holen ist; man 

kommt ohne die offizielle Phraseologie aus; politischer Nutzwert; 

Zusammenhang mit der Volksbuhnenopposition; Tunneldurchbruch 

(Verhdltnis zur kleinen Revueform). 
Bibliophilen im Pen-Club. Anruf Rudolf Presbers - der weifl Bescheid; 

Replik von Bloem. Niveau der Bibliophilen; Verflechtung mit dem 

Druckereigewerbe; Wissenschaft und Liter atur fehlen; Die Biene Maja 

gebunden. 
Konflikt im Schriftstellerschutzverband. Ein Gegenstiick zur R.G.O.; die 

Thesen von Lukdcs; die Stellungnahme des burgerlichen Schriftstellers 

zur Zensur (Heine bei Marcuse) 
Berliner Destillen 

DruckvorUge: Benjamin-Archiv, Ms 875 

Die »Bergwerke von Falun* am Efizimmertisch. Wie ich mich vor Angst 
immer mehr iiber den Tisch beuge. 

{Lekture E.T.A. Hoffmanns am offnen »Bucherspind«.} Spater Haubinda- 
ner Rede Halms uber Hoffmann [s. auch Walter Benjamin, Aufklarung 
fiir Kinder. Rundfunkvortrage, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 
1985, 27, sowie Bd. 7]. 

Die tote Strafie an der Apostelpauluskirche. Kurzlich entdeckte Strafle in 
Schoneberg an der Potsdamer. 

Meine Abneigung gegen die berliner Vororte. Liebe zu den trostlosen Dor- 
fern der Mark. 

Simon Guttmanns Atelier in der Friedrichsruherstr. Spater dort Brechts 
Atelier, in das Asja ging. Mondsichel und Transzendierung. Guttmann 
und linger im gleichen Schlafzimmer. Der Jean Paul und die B'dlle. 

{Fraulein Pufahl. Herr Knoche.} Der Leithammel. Passauerstr. Jeder 
beruhrt in der Kindheit eine Vorgeschichte; so ich die der Kaiser Fried- 
rich Schule. { »Da wird das Herz noch gewogen. « » Spater erklaren. * } 
Das Haubindaner Erlebnis mit August Halm. 



Anmerkungen zu Seite 465-519 801 

Der Rechenlehrer Herr Schulze. Franz Scbultz in Frankfurt a /M. Die Episo- 

den mit dem Tintenfafi und mil dem Rollcben. 
Die entscbeidende AV der berliner freien Studentenscbaft am Zoo. Mein 

Manbver: sitzen bleibend, auf den Stock gestiitzt, leise sprecbend. 
{Die Schulwege: mit der Elektrischen bis zur Knesebeckstrafie; Uber den 

Savignyplatz; durcb die Nettelbeckstrajle. } 
Das Murmelspiel auf dem Affenspielplatz und die ersten Keime der Nei- 

gung zum Hasard. Scbieber als Geburtstagsgescbenke. Murmelbewer- 

tung. 
{Glocken der Kaiser Wilbelm Gedacbtnis Kircbe} 
{Auf gauge und Flure der Kaiser Friedrich Scbule. Die Aula. »Bruder nun 

zuletzu } 
{Hallescbes Tor. Die lustigen Weiber von Windsor} 
{Wiederkebr des Flaneurs} 
Scbilderung des Medusenringes -wo? 
Aufzeicbnungen uber die Rousseauinsel 
{Ernst Bloch: Berlin von der Landscbaft bergeseben [s. Blocb, Berlin, aus 

der Landscbaft geseben, in: Frankfurter Zeitung, 7. 7. 1932]} 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 876 

[xJ-Flug in der Motzstrafle; die Hure, die sicb buckte 

Kindergesellscb often; ich weinte die ganze Zeit. Siegfried Lebmann in der 
Gentbinerstrafie; das Gesellscbaftsspiel - Bann der Gesellscbaftsspiele: 
man sprang in diese neue Regelwelt, tummelte sicb darin wie einer, der 
nicht scbwimmen kann im Wasser; wie einer, der sie nicbt verstebt, in 
einer fremden. Die Tanzstunden Fortsetzungen der Kindergesellscb of- 
ten. Maria Muhling am Kurfiirstendamm, die kuppleriscbe Mutter. 
Schlujiball im Hotel de Rome. 

Tauentzienstr 7*; das Lachkabinett; Ende von Tante Rieckcben 

Tante Pick, Bertba; in der Augustastrafle. Entdeckung der Leicbenhalle in 
der Hannover sch en Strafie. Welcben neuen Ausdruck spdter die Gegend 
annahm. - Das scbwarze M'ddcben am Stettiner Babnbof. 

{Meine Neigung, bei den Huren etwas liegen zu lassen. Die Manschetten in 
der Bergstrafle. Eswerden Zigaretten besorgt. » Salem Aleicum«} 

Der Kurfiirstendamm: Joseephys, Bbninger - die Nebenstraflen. 

Hagemann (Gescbicbte von Karageorgiewitscb ) Webner (Lateinlebrer; 
Demokrat) Fiedler (kurzsicbtig, Fistelstimme) Timpe, Tonndorf Lucas, 
Zernccke, Wilke, Mackensen, Mehwaldt, Hunger, Herrfartb, Paar- 
mann, Scbiitze (Scbnauzbart, gef alien), Steinmann 

{Murmeln mit oder obne Goldstaub} 

Carmerstrafle Konsultation von Ziehen im Herrenzimmer. Der Geld- 
scbrank. Nebenan das Schlafzimmer meiner Eltern; dort wurden mir die 
Mandeln berausgenommen. Weiter der Raum, wo icb zum ersten Mai 



802 Anmerkungen zu Seke 465-519 

die Gespenster las. Der Salon vor dem Balkon, wo der Biicherscbrank 
stand. Das Eftzimmer, der Speisenaufzug imFlur. Turnstunden imFlur. 
Loggia: Dreyfusprozefi. 

{Besucbe machen: Grofimama Benjamin; Tante Pick; Tante Stargardt; 
7 ante Lehmann; das Dienstmadcben, das offnete, gehorte schon zurFa- 
milie.} 

Die Vossische Zeitung: »Bitte die dritte*. »Lokales und Vermischtes.« Die 
Sonntagsbeilage. Die Mappe mit Zeitungsausscbnitten wird angelegt. 

{»Der neue Schrank*} 

{Radfabren lernen. DerKies. Die Bodenwelle. Die Gartenbabn. Lesen ler- 
nen; das Buchstabenspiel; die vocation litteraire.) Laubsdgearbeiten. 
Die sebrfremde Welt der Tdtigkeiten, die in die Kindbeit eingescblossen 
blieben wie eine Fliege in Bernstein, Die Fibel meiner Mutter und das 
petit a petit. {Der Cbock des Wiedersehens, welcber zerstorertd ist. In 
der Erinnerung lernen wir die Sebnsucbt als Erkenntnisprinzip kennen) 

{Erscbliefiung der Wobnung durcb die Eisenbabn.} 

{Das Reck aufdem Flur s die Turnstunden bei Herrn Fabring) 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 878 

Vor dieser Tur befestigte man an den grofien Tagen einer Laternamagica- 
Vorstellung das weifie Laken. In denfrubesten Zeiten ibres Erscbeinens war 
icb Gast> der vor den eingeladnen Kindern meiner Klasse allein den Vorteil 
hatte, auf die schbnsten Stucke, die erst am Schluft erschienen, schon im 
voraus sicbfreuen zu kbnnen. Es ging nocb nicht an meine Ebre, wenn auf 
einmal ein neues Bild aufdem Kopfe stand. Spater bestimmte icb dann nicht 
nur das Programm sondern batte bei der Vorfuhrung mitzuwirken: erst den 
Zylinder uber den brennenden Docbt zu schieben, danacb die Streifen mit 
den Bildern in den Spalt zu schieben. Es war der feierlicbste 'Auftakt dieses 
Fests gewesen y wenn icb sie, am Vormittag schon, dem hoben Kasten batte 
entnebmen durfen wo sie bei dem Apparate aufgestapelt lagen. 
Die Platten mit dem Rand aus rotem oder blauem Glanzpapier, Eine Platte 
mit den Berufen: der Schornsteinfeger; der Metzger; der Scberenschleifer; 
der Fuhrmann; der Soldat; der Bdckermeister. Jeder fur sich in einem 
Kreise. Oder einejagd; bier zog alles der Reihe nach an einem vorbei: der 
Jdger mit der Buchse auf dem Anstand; der Wald mit Hasen, Hirscben t 
Rehen; die Treiber mit den Hunden y die sie an der Koppel halten, ein ande- 
rer Jager, aus dessen Flinte nocb das Feuer des Schusses blitzt, der den Reh- 
bock s der am Ende dieser Tafel im Grase lag, hingestreckt batte. Und wenn 
icb mir diese Bilder am Vormittag, wdbrend der Vorbereitung auf den 
Abend ansah, dann war icb stets von neuem uberrascht y aufihnen die Figu- 
ren, die mir noch imfeuchten Nebel in Erinnerung standen, mit dem sie auf 
dem Laken erschienen war[en\ zierlich, klein und scharfumrissen in der 
Hand zu halten. Und mir blieb zweifelhaft, wann sie vollkommner waren: 



Anmerkungen zu Seite 465-519 803 

des Abends wenn sie blafi und riesenhaft vor mir und meinen Gasten an der 
Wand erschienen oder in der verschwiegnen Existenz, die sie auf diesen 
Scbeiben fubrten y die nur icb, der Inhaber der Zauberlampe, kannte. 
Wir batten da auch den Ddumling. Auf dieser Platte fand man den Men- 
scbenfresser und sein Weib, die secbs altern undgroflern BruderDaumlings, 
auch die Siebenmeilenstiefel und das Scbldcbtermesser - genau wie alles sicb 
geborte. Eines aber geborte sicb wobl nicht und war mir docb das Liebste 
und das Sonderbarste an diesem Streifen. Das war, dafl alles sicb in einem 
einzigen unabsebbaren riesengroflen Walde abzuspielen scbien. Denn statt 
die einzelnen Momente des Gescbebens in kleine Rabmen einzufassen batte 
sie der Maler von einander nur durcb Teile des Walds getrennt, in dem icb 
nun bet der Betrachtung immerfort wie Wellen eines Scbwimmers meiner 
sicb bemdchtigte [sic]. 

Der Stern, Dieses Meisterstuck bestand aus zwei von einer Holzverscbalung 
eingefafiten Scbeiben. Am Rande dieser Holzverscbalung fand sicb eine 
Kurbel, mit der die eine dieser beiden Scbeiben um ibren Mittelpunkt sicb 
dreben liefl. Und je nacbdem die Kurbel nun im einen oder andern Sinn 
bewegt ward, wucbs der bunte Stern auf der Wand ins Ungemessene oder 
zog sicb unendlicb in sicb selbst zuruck und scbien bis zur Unkenntlicbkeit 
scbrumpfen zu wollen. 

Dieser Kasten, derspater sicb so unvermerkt aus meinem Leben schlicb, wie 
beinab alle Dinge, welcbe uns die nachsten waren, von uns scheiden, nam- 
licb als wollten sie nur den Abscbied uns ersparen - dieser Kasten batte zwei 
Scbbnbeiten. Zum ersten war es schon y dafl sicb sein Deckel so abziebn liefl 
wie der des Federkastens. Die beiden Kasten batten Scbiebedeckel unddiese 
Abnlicbkeit gab nur nocb besser die Welten zu erfassen, die sie trennten. 
Nocb sebr viel kiibner und grandioser aber war, wie er dem Aussebn nacb 
dem Scbulreicb sicb so naberte als wenn ers parodieren wollte: denn er war 
ganz und gar mit einem blanken griin-scbwarz marmorierten Papier 
bespannt, wie es mir auf den Deckeln meiner Hefte scbon ungezdblte Male 
begegnet war. 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 870", 872" 

An dieser Stelle mag schliefilich jenes grapbiscbe Schema seines Lebens, 
einer Reibe von Stammbdumen dhnlich (49 1 ), einen Platz finden, von dem 
Benjamin berichtet, dafi der Gedanke dazu eines Tages in Paris iiber ihn 
gekommen sei und welches er in der Berliner Chronik nur beschreibt, nicht 
wiedergibt. Die folgende Version ist einer von Benjamins Versuchen, das 
Schema, das in seiner urspriinglichen Fassung verlorenging, wiederherzu- 
stellen. 




804 Anmerkungen zu Seite 465-519 

FUipp Keller 

Fritz Heinle 

„. L WolfHeinle 

Simon Guttmann | 

SuseBebrend / . I Else Heinle 

/ Erich Unger \ 

RickaCarUTraute AV I . Manuel Heinle 

Alice Weylorz 

Asia Lads Crete Radt GerhardScholem 

I /\ 

fritz Awfr £ic*« A/oi« Mine 

franz 5*c/?5 Herbert Blumenthal 



^^*-p Dora Kellner 
Max Pollak / Stefan Benjamin 

/ 

/ * Friedrich Podzus 

EmmyHennmgs ^^^Alfred Cohn-Ernst frAoM^^ Bemouard 

Hugo Ball Dorothea Cohn Ida Cohn Lotte Wolff Sascba Stone 

Ernst Block Frau Hessel — Tbankmar von Munchhausen 

Mobofy-Nagy BaJschey 

Druckvorlage: Pergamentheft SSch, S. 36 

U: Ms 672, S. 1-59 von vorn; zur Beschreibung von Ms 672 s. 795. 
D: erste Halfte 1932 

Die vorliegende Edition der Berliner Cbronik weist in nicht ganz wenigen 
Fallen Lesungen auf, die von denen der Erstausgabe abweichen. Auch 
haben die Herausgeber sich entschlossen, die Reihenfolge der einzelnen 
Stucke gegeniiber der Scholemschen Anordnung gelegentlich zu veran- 
dern. Scholems Annahme, »dafi ein Doppelblatt, und zwar vor Blatt 6 [s. 
468,6], aus irgendeinem Grunde beim Einbinden oder schon vorher verlo- 
rengegangen sein miifite* (Scholem, Engel, 175), laflt sich nicht bestatigen. 
»Der zweite und dritte Fiihrer* - gemeint sind diejenigen, die den Autor 
der Berliner Cbronik »in die Stadt eingefuhrt haben* -, deren Fehlen Scho- 
lem zu der Annahme veranlafite, »dafi sie auf einem verlorengegangenen 
Blatt genannt und beschrieben waren* (a. a. O., 176), sind in der Tat sehr 
wohl genannt: auf die Kinderfraulein, welche den ersten Fiihrer abgaben (s. 
465, 35), folgt als zweiter/ene Ariadne (465, 35), die durch die Parallelstelle 
in der Berliner Kindheit um neunzehnhundert als Luise von Landau, die 
Kinderliebe Benjamins, identifiziert wird (s. Bd. 4, 237^); der vierte und 
fiinfte Fiihrer - die Stadt Paris und der Freund Franz Hessel - finden sich 
dem dritten vorangestellt. Dieser waren nun einmal die Prostituierten, in 
deren Zeichen vom Autor ganze Strafienziige [. . ,] entdeckt wurden 



Anmerkungen zu Seite 465-519 805 

(472, 1 f.) und die vorher schon und gewifi nicht zufallig den gleichen 
Ariadnevergleich herbeiriefen, mit dem auch der zweite Fiihrer bedacht 
wurde (s. 469,23). Auch die Bezugstelle der Passage Von den Schulwegen 
babe icb schon gesprocben (507, 3 5 f.) diirfte kaum vor 473 , 1 zu suchen sein, 
wo Scholem sie vermutete (s. Scholem, Engel, 176); Benjamin bezog sich 
an jener spateren Stelle nicht auf eine verlorengegangene Schilderung, son- 
dern eher auf eine Passage wie 494,26-32. - Die Berliner Chronik ist eine 
erste Niederschrift, die keinen durchgehenden Text bildet, vielmehr aus 
einzelnen, gegeneinander mehr oder weniger unabhangigen Stucken 
besteht. Benjamin hat, wie er es oft in Heften oder auf Blocken tat, die 
Blatter nicht kontinuierlich vom ersten bis zum letzten beschrieben, son- 
dern in Spriingen: zunachst oft eine oder mehrere Seiten leer lassend, die er 
dann spater fullte, wie der jeweilige Platzbedarf es gerade ergab. In der 
Regel kann die Edition der Berliner Chronik zwar der Reihenfolge der Nie- 
derschrift folgen, da Benjamin den Text jedoch nach der Niederschrift bei- 
seite legte, um ihn zur Berliner Kindheit urn neunzehnhundert umzuarbei- 
ten, oder richtiger: um Teile der Chronik in das neue Buch einzuarbeiten, 
existiert fur eine Anzahl von Stucken der Berliner Chronik keine verbindli- 
che Anordnung, die deshalb vom Editor herzustellen war. 

nachweise 465,2 Stefan] zur Widmung s. Scholem, Engel, 177L und 
oben, 798 f.; Scholem hatte in der ursprunglichen Widmung den Namen 
Fritz Heinle irrtumlich als »Franz Hessel* gelesen - 465,22 Am] zum fol- 
genden s. die Uberarbeitung Bd. 4, 237-466, 17 Ihr] s. die Uberarb. Bd. 4, 
287 f. - 467, 3 »Sprechsalen«] s. Bd. 1, 865-872 - 467, 16 Paris vecu] Erstaus- 
gabe Paris 1930- 467,31 Ubersetzung] Benjamins Proust-Ubersetzungen 
s. »Gesammelte Schriften«, Supplemente II und III - 468, 16 Fahrten] s. die 
Uberarb. Bd. 4, 245 f. - 469,7 Sich] s. die Uberarb. Bd. 4, 237 - 469,26 
Rilke] s. auch 226 f. - 469,33 »Spazieren in Berlin^] Erstausgabe Berlin, 
Leipzig, Wien 1929; s. Benjamins Besprechung des Buches, Bd. 3, 194-199 
- 469,34 »Nachfeier«] Erstausgabe Berlin 1929 - 470,20 Photographin] 
wahrscheinlich Germaine Krull - 470, 25 man] i. e. Brecht; s. Bd. 2, 383 f. - 
471,8 Die] s. die Uberarb. Bd. 4, 287^ - 472, 14 Wie] s. die Uberarb. Bd. 4, 
248-250 -474,3 Lufte«] s. Schiller, Maria Stuart III, 1 (v. 2098): »Eilende 
Wolken! Segler der Lufte! / Wer mit euch wanderte . . .« - 474,25 haben.] 
Anspielung auf seinen Text Epilog, den Benjamin 1912m der »Bierzeitung« 
der Kaiser-Friedrich-Schule publizierte, s. Bd. 7 - 474, 3 8 f. Haubinda] s. 
Bd. 2, 826-475,24 Vor] s. die Uberarb. Bd. 4, 25 2 - 476, 24 f. Ernst Joel] s. 
790, Anm. zu 416,25 - 476,39 sollte.] Anspielung auf Joels Beteiligung an 
Benjamins Experimenten mit Drogen, s. 558-618 - 477,3 Toten] der 1914 
durch eigene Hand aus dem Leben geschiedene Dichter Fritz Heinle; s. Bd. 
2, 854-865 und passim - 477,16 beschworen.] s. Briefe, 295 - 479,5 »Die 
Jugend*] Benjamins Rede scheint nicht erhalten, wahrend diejenige Hein- 



806 Anmerkungen zu Seite 479-494 

les Bd. 2, 863-865, abgedruckt ist - 479,12 Schwestern] Rika, Carla und 
Traute Seligson. Rika (Friederike) Seligson (1 891 -19 14) - tatsachlich die 
alteste der Schwestern - war die Freundin Heinles und beging mit ihm 
gemeinsam am 9. August 19 14 Selbstmord. Traute (Gertrud) Seligson 
( 1 895-191 5) war nach Fritz Heinles Tod eng mit Wolf Heinle, seinem jiin- 
geren Bruder, befreundet und wahlte spater ebenfalls den Freitod. Benja- 
min am nachsten stand Carla Seligson (1 892-1956), die 19 17 Herbert 
Blumenthal-Belmore heiratete. - 481, 33 f. Simon Guttmann] auch Simon 
Wilhelm Ghuttmann (geb. 1890), Schriftsteller, spater Photo journalist, 
Freund Georg Heyms, dessen nachgelassene Gedichte er mitherausgab; 
Mitbegriinder des »Neuen Clubs« in Berlin; Mitarbeiter an der »Aktion« 
und der » Revolution Hans Leybolds. Benjamin kannte ihn aus der Berli- 
ner Jugendbewegung und schrieb ihm einen »zerstorerischen Einflufi« 
(Scholem, Freundschaft, 105) auf sich zu. Zusammen mit Erich Unger war 
Guttmann ein Parteiganger Oskar Goldbergs (s. a.a.O., 124-126). Ende 
der zwanziger Jahre leitete Guttmann den »Deutschen Photo-Diensu. 
Emigration nach England. -482, 6 Meidner] Ludwig Meidner (1884- 1966), 
expressionistischer Maler, Graphiker und Schriftsteller; lebte seit 1907 in 
Berlin; 1912 erste Ausstellung im »Sturm«; nach 1935 Zeichenlehrer am 
jiidischen Gymnasium in Koln; 1939 Emigration nach England; 1953 
Riickkehr nach Frankfurt a. M. - 484, 1 1 Nie] s. die Uberarb. Bd. 4, 273 - 
484,26 Damals] s. die Uberarb. Bd. 4, 256 - 485, 12 Wie] s. die Uberarb. 
Bd. 4, 273 f. - 487, 5 forschend.] s. Ausgraben und Erinnern, Bd. 4, 4oof. - 
487, 32f. Begegnung] s. die Uberarb. Bd. 4, 238 - 488, 10 Wintertagen.] s. 
618 und 798 sowie Bd. 4, 236 - 488, 18 Wenn] s. die Uberarb. Bd. 4, 288 - 
489,31 Im] s. die Uberarb. Bd. 4, 252L - 492,1 dasselbe.*] s. Friedrich 
Nietzsche, Werke in drei Ban den, hg. von Karl Schlechta, Bd. 2, 2. Aufl, 
Munchen i960, 626 (»Jenseits von Gut und Bose. Vorspiel einer Philoso- 
phic der Zukunfu, Viertes Hauptstiick. Sprixche und Zwischenspiele, 
[Aph.] 70): »Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebnis, 
das immer wiederkommt.« - 492, 23 f. A.C.] iiber Benjamins Freund 
Alfred Cohn (1892-1954) s. Briefe, 866-492,26 »Spatr6mische Kunstindu- 
strie*] s. Alois Riegl, Die spatromische Kunst-Industrie nach den Funden 
in Osterreich-Ungarn, Wien 1901; s. auch Benjamins Rezension des 
Buches, Bd. 3, 170 - 493,2 Ernst S.] iiber Ernst Schoen (1894- 1960) s. 
Brief e, 868, sowie Benjamins Gespracb mit Ernst Schoen, Bd. 4, 548-5 5 1 - 
493,4 Lederer] Emil Lederer (1882- 1939), politischer Okonom und Sozio- 
loge, Professor fiir Sozialpolitik und Politikwissenschaft seit 1920 in Hei- 
delberg, seit 193 1 in Berlin; 1933 Emigration nach Japan, seit 1934 in USA; 
erster Dean der New School for Social Research in New York. Lederer war 
Herausgeber des »Archivs fiir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik*, in 
dem Benjamins Aufsatz Zwr Kritik der Gewalt (s. Bd. 2, 179-203) erschien. 
- 493,26 Schwester] i.e. Jula Cohn - 494,4 heiratete] Jula Cohn heiratete 



Anmerkungen zu Seite 494-519 807 

Fritz Radt, dessen Schwester Grete Radt - die friihere Verlobte Benjamins 
- die zweite Frau Alfred Cohns wurde - 494,9 Sonnett] dies Sonett scheint 
nicht erhalten zu sein - 494, 11 Der Schatzhauser] s. die Uberarb. Bd. 4, 
247f.; zum »Schatzhauser im griinen TannenwakU s. die Verse von Hauff 
im »KaIten Herzen« (Wilhelm Hauff, Romane, Marchen, Gedichte, hg. 
von Hermann Engelhard, Stuttgart 1961 [Werke I], 81) - 495, 1 Noch] s. die 
Uberarb. Bd. 4, 244^ - 498,20 In] s. die Uberarb. Bd. 4, 242L - 499,5 
Renvers] Scholem ermittelte, dafi Prof. R. Renvers in der Nettelbeckstrafie 
24 wohnte - 499,25 In] s. die Uberarb. Bd. 4, 287 - 500, 6f. Groflmutter 
mUtterlicherseits] Hedwig Schoenflies, geb. Hirschfeld (1844- 1908) ; s. 
Scholem, Engel, 141 f. - 500,19 Ich] s. die Uberarb. Bd. 4, 257-259 - 
502, 32 Mutter meines Vaters] Brunella Benjamin, geb. Mayer (1827- 19 19); 
s. a. a.O., 131 f. - 503,2 Grofivaters] Georg Schoenflies (1 841-1894); s. 
a.a.O., 141 - 503,5 Abet] s. die Uberarb. Bd. 4, 245 f. - 503,36 Unter] s. 
die Uberarb. Bd. 4, 254^ - 507,11 Postkartensammlung] s. die Uberarb. 
Bd. 4, 288f. - 511,27 Erkschen Liederschatz] s. Ludwig Erk, Deutscher 
Liederschatz, hg. von Emil Liepe, Leipzig, Berlin o.J. - 512, 1 In] s. die 
Uberarb. Bd. 4, 251- 513,3 es] s. die Uberarb. Bd. 4, 278-280- 515,4!}^] 
s. die Uberarb. Bd. 4, 278 - 516,24 So] s. die Uberarb. Bd. 4, 252, auch 
unten, 519-516,30 Die] s. die Uberarb. Bd. 4, 298-300 - 518,7 Ich] s. die 
Uberarb. Bd. 4, 282L - 518,24 Man] s. die Uberarb. Bd. 4, 25 if. - 519,19 
Das Pnlt] s. die Ausfuhrung Bd. 4, 280-282 



$20-542 Aufzeichnungen 1933-1939 



520 Trauriges Gedicht 

Die Verse, die wie ein Pastiche der Mahagonny-Songs klingen, stehen in 
Benjamins oeuvre isoliert und werden an dieser Stelle eher in Ermangelung 
einer besseren abgedruckt. Wie weit sie autobiographisch getont sind, mufi 
dahingestellt bleiben; das Man bat Geld (520,7) scheint dagegen zu spre- 
chen, konnte aber ebensowohl momentane Reaktion auf eine der Uberwei- 
sungen sein, mit denen nicht gerade der Hebe Gott (520,8) aber Gretel 
Adorno Benjamin wahrend seines zweiten Ibiza-Aufenthalts immer wie- 
der aus der Verlegenheit half. 

U: Ts 2343 - Typoskript^ 

D: Das Original hat die Datierung San Antonio 1 1.3.33, die falsch sein 
mufi, da Benjamin sich zu diesem Zeitpunkt noch in Berlin aufhielt. Am 
naheliegendsten erscheint eine Verschreibung um einen Monat, deshalb 
die Konjektur, die im edierten Text vorgenommen wurde. 



520-523 Agesilaus Santander, i. und 2. Fassung 

Dem von Scholem entdeckten, edierten und kommentierten Text Agesilaus 
Santander wurde in jener Geschichte der esoterischen Dichtung, die Benja- 
min gelegentlich forderte, wohl gar selber zu schreiben gedachte, ein 
Ehrenplatz gebuhren; fast alles, was zum Verstandnis dieser ratselvollen 
Gnome zu leiten vermag, hat Scholem in einem inspirierten Aufsatz 
zusammengetragen, auf den nicht nachdriicklich genug verwiesen werden 
kann (s. Scholem, Engel, 35-72 sowie den Nachtrag 73-77). 
Die Geschichte des spartanischen Konigs Agesilaos II. (444/43-360 v. 
Chr.) wird in der Antike mehrfach berichtet. Die einzigen zeitgenossischen 
Darstellungen stammen von Xenophon : dieser, der bereits in den Helle- 
nika die zahlreichen Feldziige des Agesilaos ausfuhrlich behandelte, ver- 
fafite, wohl unmittelbar nach dem Tod des Konigs, eine Laudatio auf ihn, 
die unter seinen Scripta minora figuriert. 300 Jahre nach Xenophon ent- 
stand die Vita des Agesilaos, die Cornelius Nepos in De viris illustribus 
gibt. Am bekanntesten aber ist die Darstellung in Plutarchs Vitae paralle- 
lae, in der Agesilaos neben Pompejus steht. Benjamin, der ein humanisti- 
sches Gymnasium besucht hatte, mag die Gestalt des Lakedaimoniers aus 
den antiken Berichten vertraut gewesen sein; er konnte sie freilich auch aus 
Corneilles Tragodie »Agesilas« gekannt haben, plante er doch um 1927, 
eine Arbeit uber die franzbsiscbe Tragodie (Briefe, 445) zu schreiben. 



Anmerkungen zu Seite 520-523 809 

Indessen scheinen Schicksal und Charakter des Agesilaos keinerlei Paralle- 
len zu Benjamins Text aufzuweisen. Nicht ausgeschlossen ist, dafl das 
Frachtschiff, mit dem Benjamin 1925 und dann noch einmal 1932 die iberi- 
sche Halbinsel umrundete, auf einer der Fahrten auch in der kantabrischen 
Hafenstadt Santander anlegte und Benjamin die Stadt von einem Landgang 
kannte - irgendein Bezug zum Text des Agesilaus Santander laflt sich auch 
hier nicht entdecken. Scholems Erkenntnis, dafi sich hinter dem Namen 
»nichts anderes als ein bedeutungsvolles Anagramm* verberge, besteht 
fraglos zu Recht: » Agesilaus Santander ist, mit einem uberzahligen i 
gewissermafien ornamental versiegelt, ein Anagramm von >Der Angelus 
Satanas<.« (Scholem, Engel, 50) 

Nach Scholem handelt es sich beim Agesilaus Santander urn eine »Nieder- 
schrift autobiographischer Natur«, »ein Selbstzeugnis - gewifi ein beun- 
ruhigendes - Walter Benjamins« (a.a.O., 38), entstanden aus »der Riick- 
schau auf sein Leben als Schriftsteller, als Jude und als ungliicklich Lieben- 
der« (a.a.O., 49)- An dieser Stelle sei nur ein Fund zu dem letzteren 
Aspekt des Textes mitgeteilt. Scholem glaubt, jene Frau, die Benjamin 
bannte und auf deren Lebensweg sich auf die Latter zu legen (522) er sich 
entschlofi, als Jula Cohn identifizieren zu konnen; mdglicherweise schliefie 
der Satz aber auch »eine Mehrheit von Frauen ein« und beziehe sich dann 
neben Jula Cohn noch auf Asja Lacis (Scholem, Engel, 5 5). Beides konnte 
sehr wohl zutreffen, und dennoch ware der Anlafi der Niederschrift damit 
nicht namhaft gemacht. »Die Umstande, unter denen die Aufzeichnung 
entstand« und die Scholem nicht kannte (a.a.O., 39), waren eine neue 
Liebe, die Benjamin im Sommer 1933 auf Ibiza erfuhr. Von der Frau, der 
Benjamin sich damals zuwandte, war bislang nicht zu ermitteln, ob sie 
noch lebt; die Herausgeber glauben sich deshalb nicht befugt, ihren Namen 
zu veroffentlichen. An seiner Stelle erscheint in den folgenden Briefkon- 
zepten und Gedichten jeweils die Initiate [B.]. Diese Frau, eine junge Hol- 
landerin, war Malerin und Ubersetzerin. Auf sie beziehen sich jene >krypti- 
schen< Formulierungen in einem Brief von 1934 an Alfred Cohn, in denen 
Scholem irrtiimlich »eine Anspielung auf Benjamins Liebe zu einer Franzo- 
sin« (a.a.O., 632) erkennen wollte: Dazu kommt, dafi die so tiefin mich 
eingegrabnen Linien Ibizas in der letzten Zeit in schmerzhaften Konfigura- 
tionen sich zusammengezogen haben. Damit meine ich nicht nur und nicht 
an erster Stelle den Tod von Jean Jacques Noeggerath - weil aber dessen 
Lebensfaden zufallig durch einen Knoten des meinigen lief, hat mich dieser 
Tod doch viel mehr betroffen als es nach der Art unseres Umgangs vermut- 
bar gewesen ware. (Brief e, 632) Benjamin, der [B.] durch den jungen 
Noeggerath kennengelernt hatte, war mit ihr auch spater in Paris zusam- 
men und plante zumindest, sie und ihren Mann in der Provence, wo beide 
zeitweilig lebten, zu besuchen. Eine Verbindung bestand jedenfalls bis 
1935. Uber den Charakter und die Geschichte dieser - einmal mehr 



810 Anmerkungen zu Seite 520-523 

ungliicklichen - Liebe Benjamins geben vier Entwurfe zu Briefen und zwei 
Gedichte an [B.] Auskunft, die erhalten geblieben sind. Der erste Briefent- 
wurf ist auf Sommer 1933 zu datieren: 

Liebe s eben bin ich eine ganze Stunde mit den Gedanken an Dicb auf der 
Terrasse allein gewesen. Ich habe nichts gelernt und entdeckt, obex an vieles 
gedacht und gemerkt, daft Du die Dunkelheit ganz ausfullst und wo die 
Lichter von San Antonio standen, da warst Du auch wieder - von den Ster- 
nen wollen wir nicbt reden. Wenn ich liebte, so war die Frau, an die ich 
gebunden war, naturlich die besteja, selbst die einzige. Aberwenn ich dann 
wuftte, aufjede andere verzichten zu konnen - die y die ich liebte, war und 
blieb die eine. Das ist jetzt anders. Du bist y was ich in einer Frau je habe 
lieben konnen: Du hast es nicht, Du bist es vielmebr. Aus Deinen Zugen 
steigt allesy was die Frau zur Huterin, zur Mutter, zur Hure macht Eines 
verwandelst Du ins andere undjedem gibst Du tausend Gestalten. In Dei- 
nem Arm wurde das Schicksalfur immer aufhbren, mix zu begegnen. Mit 
keinem Schrecken und mit keinem Gluck kbnnte es mich mehr uberraschen. 
Die ungeheure Stille, die um Dich ist> deutet nuran, wie weit von dem, was 
Dich am Tag beansprucht, Du entfernt bist. In dieser Stille vollzieht sich die 
Verwandlung der Gestalten: [x] Innere. 

Sie spielen ineinander wie die Wellen: 

Huren und Sibylle I vertausendfacht 

Zwei Gedichte, die den Namen der Geliebten im Titel tragen, entstanden 
gleichfalls im Sommer 1933. Aufgeschrieben wurden sie in jenem Mittleren 
Pergamenthefty in dem auch die beiden Fassungen des Agesilaus Santander 
sich finden, und zwar in deren unmittelbarer Nachbarschaft, nur durch 
eine Seite von ihnen getrennt, auf dem die Abschrift eines Brechtschen 
Sonetts stent, die ganz offensichtlich spater nachgetragen wurde, wahrend 
die Gedichte An [B.] Schriftduktus und Tinte mit dem Agesilaus Santander 
gemeinsam haben. 

An[BJ 
morgens weckte der anprall deiner stimme mich 
die worte die sie hatte waren muscheln 
die von der brandung deiner lippen getragen wurden 
in jeder stieft ich auf das rauschen des 
noch unbefahrnen meeres das an meine 
ufer an schlagt und nicht mehr »seele« heiftt 

An[BJ 
dein wort ist fur die dauer wie dein leib 
dein atem schmeckt nach stein und nach metall 



Anmerkungen zu Seite 5 20- 5 23 811 

dein blick rollt mix entgegen wie ein ball 
das scbweigen ist dein bester zeitvertreib 

wie war dem ersten mann das erste weib 
so standest du vox mix und ubexall 
txifft dicb nun meinex bitte widexhall 
dex tausend zungen hat. sie lautet: bleib 

du bist die ungexufene unbekannte 

und wohnst in mix im hexzen einex stille 

in die dicb wedex traum noch sebnsucht bannte 

nichts mehx bewixken voxsatz odex wille 
seitdem dex exste blick in dir exkannte 
die doppelhexxin: huxe and sybille 

Die beiden folgenden Briefkonzepte schrieb Benjamin 1934, wahrend sei- 
nes ersten Besuchs bei Brecht in Danemark; das erste wohl Ende Juli aus 
Skovsbostrand, das andere im September aus Drager. 

Es ist ein sehr stillex Abend, nach einern laxmenden Nachmittag. Die Sonn- 
tage sind hiex manchmal belebtex als ichs mix wunsche. Zwblf Pexsonen in 
einern kleinen Zimmex sind keine Seltenbeit. Und heute wax wiedex Kaxin 
Michaelis dabei y die es mit den Kindexn an Lebbaftigkeit aufnehmen kann. 
Sie ist eine gute Exzdhlexin. Abex ihxe Geschichten entschddigen micbfUr ihx 
Voxhandensein nicbt; icb spuxe jedesmal y wie beim exsten y das Spieftbuxgex- 
tum - in seinex libexalen Vexkleidung nux urn so pxovoziexendex, in ihx auf 
mich zu kommen. Icb denke, so mufi Ihnen manchmal in Holland zu Mute 
sein. 

Dann sind sie alle ins Kino gefabren; ich babe mich noch ans Radio gesetzt y 
um ein paax Wahlresultate abzufangen> trotzdem sie weder wichtig noch 
aufscblufireich sein kbnnen. Und nun bin ich an meinem bxeiten schonen 
Schxeibtisch und zum Fenstex kommt leises Regengexdusch hexein. 
So ganz baben Sie mein Dasein hiex kaum vor Augen. Es ist nicht immex so 
ausgeglicben, wie es hintex meinen Bxiefen exscheint, in denen dex Gedanke 
an Sie das andexe zuxiicktxeten laflt. Ubrigens ist es auch nicht moglich, von 
ihm ein prdzises Bild zu geben; dazu gehort manche Scbilderung, die ich 
nicht gern oder leicbt schriftlich gebe. Kuxz, dies Dasein ist nicht nuraufien - 
duxch txubes Wettex, wenige Wege, axmen und steinigen Sand beschxdnkt, 
sondexn hat viele Tage an denen ich mich vergeblich nach einex Untexbxe- 
chung der Arbeit umsehe. Dajl die Ndhe der Steffin die Atmosphare im 
Hause von Bfrecht] manchmal driickend macht y kbnnen Sie ohnehin sich 
letch t denken. Im Ubrigen wird sie so abgeschieden gehalten, daft bfter Tage 
vergehen t ohne daft ich sie sehe. 



812 Anmerkungen zu Seite 520-523 

Kurz y wenn icb die Mbglicbkeit hatte, $0 wiirde icb micb einmal welter im 
Lande umschauen y auf ein paar Tage nach Kopenbagen geben oder sonst 
etwas unternebmen. Aber allein ist das sinnlos and auf Gesellschaft dabei 
nicbt zu rechnen. In gewissen Grenzen kommt diese Gleichfbrmigkeit der 
Arbeit zugute, aber docb nur in Grenzen. Icb babe eine sehr umfangreiche 
begonnen, ndmlicb eine Kritik der sozialistiscben Kulturpolitik in Deutsch- 
land in den 4o]ahren von 1880 bis 1920 und zwar an Hand des mafigeben- 
den ParteiorganSy der »Neuen Zeiu von der ein vollstandiges Exemplar in 
B's Bibliotbek ist. Die Verbffentlichung ist fur die Zeitschrift fur Sozialfor- 
schung vorgesehen. Sicber wird diese Arbeit micb wdbrend der ganzen 
Dauer meines biesigen Aufentbalts beschdftigen. 

Sie sehen, aucb mein Sommer stellt einen bedeutenden Kontrast gegen den 
letzten dar. Damals konnte icb - wie das meist der Ausdruck eines ganz 
erfullten Daseins ist - nichtfrub genug aufsteben. Jetzt scblafe icb nicbt nur 
langer sondern die Traume wirken sicb aucb bebarrlicber, oft wiederkeh- 
rend y dem Tage ein. In den letzten Tagen waren es anscbaulicbe undscbone 
Arcbitekturen: $0 sab icb B und die Weigel in Gestalt von zwei Turmen oder 
torartigen Gebilden durcb die Stadt scbwanken. Die Flut dieses so beftig 
gegen den Tag anbrandenden Scblafes aber wird - wie der See durcb die 
Anziehung der Mondscbeibe - durcb die Kraft Ibres Bildes bewegt. Ibre 
Gegenwart feblt mir mebr als icb sagen kann - und, was mebr sagt - mebr 
als icb glauben konnte. 

Aucb bei mir bat die Zeit und die Entfernung klarer und krdftiger sicb erkla- 
ren lassen, was meine Bindung an Sie bestimmt. Micb erfullt das Bedurfnis 
nach IbrerNdbe, deren Erwartung den Rbytbmus meiner Tage und meines 
Denkens beberrscbt y die aber so sicb nicbt melden konnte> wenn nicbt aucb 
ein Stuckvon Ibnen in ibm lebte. Das ist mirjetztgewisseralsvoreinemjabr. 
Vorldufig t heute denn ein Vorscblag: richten wir es docb so ein y daft der eine 
nicbt immer die Antwort des andern erwarte y ebe er ibm scbreibt. Es liegen 
so zwiscben Brief und Brief 14 Tage - eine sehr lange Zeit y deren Spannung 
manchmalfur micb unertrdglicb geworden ist. Unsere Gedanken werden 
sicb nicbt verfehlen aucb wenn unsere Brief e sicb kreuzen. 
Und wenn nur diese Gewifibeit uns einmal gemeinsam sein wird, so kommt 
es auf ein weiteres nicbt an. 

Durcb Ibr Mondbild bewegt 

Seit vorigem Mittwocb bin icb bier, [B.] y und immer nocb keine Nacbricbt. 
Ich kann es nicbt verstehen; hatte Ihnen aucb langst telegrafiert, wenn icb 
irgend etwas ubermein Bleiben gewufit hatte. Jetzt klingen die Nachrichten 
aus Fiinen aber berubigender und wir werden wahrscheinlicb alle zusam- 
men am Montag wieder zuruckfahren. Ich jedenfalls wiirde langer sehr 
ungern bleiben, weil die Zeit meiner Abwesenbeit von Skovsbostrand fiir 
meine Arbeit verloren geht. 



Anmerkungen zu Seite $20-523 813 

Was ist mit Ihnen? Auch wenn Sie krank war en, batten Sie mir docb ein 

Wort zukommen lassenf Jedenfalls bitte ich Sie nun, mirsofort eine Nacb- 

richt zu geben, nacb Skovsbostrand, weil sie mich aufdiese Weise am sicher- 

sten erreicht. Ich babe, seitdem icb hier bin, keinen rubigen Augenblick 

mebr; die Post ist tdglicb eine neue Enttduschung. Im ubrigen konnte ich es 

ganz angenehm baben. Denn erstens sehe icb seit icb bier bin, etwas mebr 

von Danemark ah vorher, da meine Sefibaftigkeit mix schon zum Uberdrufi 

wurde. Zweitens sind wir mit einer sebr interessanten Arbeit zu dritt befafit; 

denn es ist ein gemeinsamer Bekannter von [Brecht und mir] hier. Uber die 

Arbeit selbst aber mundlich, { Wir wobnen an einem niedlichen Badestrand. 

Dragor [liegt] dicht bei Kopenhagen. ) 

Ich nutze den Aufentbalt aus, um etwas uber Frachtverbindungen nacb 

Marseille odergar Nice herauszubringen; aber das ist sehr scbwer, weil die 

Reisebiiros nur am Verkauf der Pldtze fur Passagierdampfer interessiert 

sind. Heute bin ich endlich an eine Reederei unmittelbar verwiesen worden 

und da hoffe ich zum Ziele zu kommen. Am liebsten wiirde icb direkt im 

Anscblufi an die Begegnung mit H. von Gedser ausfahren. Aber so einfacb 

wird es wohl nicbt sein. 

Hier wo ich die Arbeit an den dicken Banden babe unterbrecben miissen, 

befasse ich mich mit einer Studie uber Keller, im Anschluft an einen neuen 

Band der Gesamtausgabe; diese Lekture lohnt sich mir immer von neuem. 

Aber icb kann eigentlicb nur zum Notizen machen [kommen]; zum richti- 

gen Schreiben fehlt mir die Ruhe. 

Die Angst, dafl mein Fieber etwas mit der Epidemie zu [tun] babe, die ich 

zuerst hatte, war natiirlicb umsonst. Immerhin sind vorige Woche siebzehn 

Falle auf einmal in Svendborg bekannt gemacht worden und da schien es 

mir richtig zunachst einmal fortzugehen. Es bat sich aber inzwischen keine 

Steigerung dort eingestellt. Aus den Zeitungen sehe ich Ubrigens, dafi die 

Krankheit auch in Norddeutscbland berrscht. 

Ein ganz angenehmer Brief kam von Quint; vielleicht ist nachsten Winter 

etwas mit ihm anzufangen. 

Ich schreibe mebr, wenn endlich Nacbricht von Ihnen da ist. 

Viele Grufte an L[., .] und fur Sie das - in Rube und Ungeduld - immer 

Gleiche 

Schliefilich der letzte Brief an [B.], geschrieben am 24. November 1935 in 
Paris, aus der neuen Wohnung 23, rue Benard, anscheinend nach dem 
Abbrechen der Beziehung; auch kaum ein Briefkonzept, eher ein nicht 
abgeschickter Brief. Er darf nicht nur biographisches Interesse beanspru- 
chen, sondern ist vor allem wichtig als Selbstzeugnis zum Kunstwerk im 
Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und erganzt die Bd. 1,982- 
1035, mitgeteilten Dokumente um ein aufschlufireichstes. 



8 14 Anmerkungen zu Seite 520-523 

Liebe[B.] t 

es gibt immer nocb Tage y an denen es mir nicbt in den Sinn willy dafi wir 
nicbts mebr von einander wissen sollten. Und heute ist es ein Sonntag, der 
micb so sturfindet und darauf bestebt, dafi ich Ihnen ein Wort scbreibe. 
Er wiirde aber seinen Willen bei mix nicbt durcbsetzen, wenn icb nur die 
Frage nacb Ibrem Tun und nacb Ibrem Ergeben oder nur die Bitte, micb 
etwas daruber wissen zu lassen an Sie ricbten konnte. Icb will Ihnen viel- 
mebr sagen y dafi es mit mir in der letzten Zeit - und ohne dafi sicb aufierlkh 
viel bei mir geandert batte - ziemlicb ertraglkh bestellt gewesen ist. 
Erstens babe ich endlich ein Quartier, wie ich es mir langst gewunscht batte, 
gefunden - ein zwar sebr kleines Zimmer y und ich bewobne es nur als 
Untermieter. Die Umstande sind aber so angenebm und derKomfort gebt 
mit Bad und Telefon so weit uber das binaus y was man in der Emigration zu 
gewartigen bat> dafi skh infolge der Anziebungskraft y die auf micb dieses 
Zimmer ausiibt, das Schwergewicbt meiner Arbeit merklich verschoben 
hat. Sie gilt immer nocb meinem grofien Bucb. Aber icb verfolge sie nur nocb 
selten auf der Bibliothek. Vielmebr babe icb die geschichtlichen Studien - 
der Einflusterung meines Zimmer s folgend - unterbrocb en und begonnen> 
deranderen Seite der Wa[a]ge micb zuzuwenden. Denn jede gescbichtliche 
Erkenntnis lafit sicb im Bilde einer Wa[a]ge vergegenwartigen y die einsteht, 
und deren eine Scbale mit dem Gewesnen t deren andere mit der Erkenntnis 
der Gegenwart belastet ist. Wdhrend auf der ersten die Tatsachen nicht 
unscheinbar und nicht zahlreich genug versammelt sein kbnnten, durfen 
auf der zweiten nur einige wenige schwere massive Gewicbte Uegen. Diese 
sind es> die icb mir in den letzten zwei Monaten durch Uberlegungen Uber 
die Lebensbedingungen der Kunst [int] der Gegenwart verschafft babe. 
Dabei bin ich zu aufierordentlicben und von gdnzlich neuen Einsicbten und 
Begriffen ausgebenden Formulierungen gekommen. Und icb kann jetzt 
behaupten, dafi es die materialistische Tbeorie der Kunst, von der man viel 
hatte reden boren, die aber nocb niemand mit eignen Augen gesehen batte y 
nun gibt. 

Da sie das beste ist y was ich gefunden babe y seit icb Sie fand y so denke ich 
manchmal daran y sie Ihnen zu zeigen. 
Einen berzlicben Grufi 

Ihr 
Walter Benjamin 

Wenn es noch einer Bestatigung bediirfte, dafi der Agesilaus Santander tat- 
sachlich von der Liebe zu [B.] inspiriert ward, so lage sie in einem Zettel 
vor, auf dem Benjamin in Stichworten den Plan einer zu schreibenden 
Arbeit festhielt; als Titel findet sich der Vorname der Geliebten notiert. Mit 
Das Licht diirfte die letzte der Gescbicbten aus der Einsamkeit (s. Bd. 4, 
757, sowie die Vorstufe unten, 206) gemeint sein. 



Anmerkungen zu Seite 520-523 815 

[B.] - Geschichte einer Liebe in drei Stationen 

1 Ihre Deutung des Traums mit dem Knecht 

2 Das Licht 

3 Traum von der Tulpe 
Weiteres Materialf:] 
Agesilaus Santander 
Die erste Begegnung 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 1340 

Im AUgemeinen kann man mit Fug bezweifeln, ob die Kenntnis von Details 
der Benjaminschen Biographie fur die Interpretation seiner Texte relevant 
ist, ja ob der Leser dergleichen zu kennen uberhaupt berechtigt ist; und die 
Herausgeber sind nur allzu geneigt, solche Zweifel zu teilen. Indessen 
bleibt richtig, was Scholem schrieb: »Hinter vielen Schriften Benjamins 
stehen personliche, ja personKchste Erfahrungen, die in der Projektion auf 
die Gegenstande seiner Arbeiten verschwunden oder aber ganzlich ver- 
schliisselt worden sind, so dafi sie dem Aufienstehenden nicht erkennbar 
oder auch nur erahnbar werden konnten.« (Scholem, Engel, }ji.) Ange- 
sichts eines Textes wie des Agesilaus Santander, in dem ganz offenkundig 
Personlichstes verschlusselt wurde, mag es immerhin von Nutzen sein, 
dariiber zu wissen, was sich ermitteln lafit; zumal nachdem manches inzwi- 
schen sowieso bekannt und Gegenstand oft miifiiger Spekulationen gewor- 
den ist. 



520 f. Erste Fassung 

U: Mittleres Pergamentheft, S. 39 
D: 12. 8. 1933 

lesart $21,14 Flucbt] Benjamin schrieb zuerst Fahrt, anderte es in Flucht 
und schrieb dieses Wort aufierdem unter das geanderte 



521-523 Zweite Fassung 

U: Mittleres Pergamentheft y S. 37 f. 
D: 13.8. 1933 

lesarten 522,39-523,1 den Schwingen des Engels] fur gestrichen denen 
des Engels - 523, ijL in bis jener] korrigiert aus indem das Einmalige, 
Neue, noch Ungelebte mit dem - 523, 22 mit] nach gestr. dahin zuruckfuhr 



8 1 6 Anmerkungen zu Seite 523-539 

523-532 NOTIZEN SVENDBORG SOMMER 1934 

U: Mittleres Pergamentbefu S. 46-54 
D:4- 7. bis 4. 10. 1934 

lesart 532, 13 f. einen »Klump«] so unzweideutig im Manuskript; wahr- 
scheinlich sollte es heifien »ein Klump«, d.h. Gelumpe, lumpiges, minder- 
wertiges Zeug 

nachweise 523,26 »Der Autor als Produzent*] s. Bd. 2, 683-701 - 524,6 
*Icb sage gam off en . . .*] s. Johannes R. Becher, Gesammelte Werke, Bd. 
3: Gedichte 1926-193 5, Berlin, Weimar 1966, 473-475 (»Es gibt keine Zeit, 
in der es besser ware, geboren zu sein«) - 524, yi. Lebrgedicht iiber die 
Schauspielkunst] s. Rat an die Scbauspielerin C. N. y in: Brecht, Gesam- 
melte Werke in acht Banden, Frankfurt a.M. 1967, Bd. 4, 331 - 526,4 
Werk] s. 432-434- 526,20 Karin Micbaelis] danische Schriftstellerin (1872- 
1950); mit Brecht befreundet - 526,35 Aufsatz iiber Kafka] s. Bd. 2, 409- 
438 - 528, 5f. Arbeit Uber Kraus] s. Bd. 2, 334"3 6 7 - S 28 > l6 * Das nachste 
Dorf«] s. Franz Kafka, Erzahlungen (Gesammelte Werke, hg. von Max 
Brod), Frankfurt a. M. 1946, 168^-529,10 Odradek]s. a. a. O., 170-172- 
530,17 Ui\ s. »Die Geschichte des Giacomo Ui«, Brecht, Gesammelte 
Werke in acht Banden, a. a. O., Bd. 5, 252-262; die Hg. datieren den Text 
allerdings auf 1938 - 530, 18 Tui-Romans] s. die Fragmente a.a.O., 587- 

532 Materi alien zu einem Selbstportrat 

U: Mittleres Pergamentbeft, S. 55 
D: ca. 1934 

nachweis 532, 16 *Vielgeebrt und Hocbberufen«] s. Friedrich Heinle, Ein 
Traumspiel (»Tief geehrt und hoch berufen«), in: Akzente 31 (1984), 3-5 
(Heft 1, Februar '84) 

532-539 Tagebuchnotizen 1938 

U: Ms 675, S. 20-27 " M s 675 ist ein in Pergament gebundenes Heft vom 
Format 14,2X11,2 cm; es enthalt neben dem vorliegenden Tagebuch 
fast ausschlieSlich Exzerpte verschiedenster Provenienz. 

D:6. 3. bis 25. 8. 1938 

lesart 535,22 Jabnn] im Manuskript scheint tatsachlich »Jahnn« zu ste- 



Anmerkungen zu Seite 5 3 2- 540 817 

hen, doch diirfte kaum Hans Henny Jahnn gemeint sein; weder war dieser 
1938 in der Sowjetunion, noch scheint er in dieser Zeit Brecht begegnet zu 
sein 

nachweise 533,6 Adrienne Monnier] s. Briefe, 867- 534,37 »EduardlI.«] 
s. Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in acht Banden, Frankfurt a.M. 
1967, Bd. i, 195-296 - 5 3 5, 27 f. Ottwalt] Ernst Ottwalt (1901-1943), 
Romancier und Dramatiker; nach dem 1. Weltkrieg Freikorpskampfer, 
konvertierte etwa 1929 unter dem Einflufi Brechts zur KP; Mitautor des 
Drehbuchs zu »Kuhle Wampe«; emigrierte in die Sowjetunion, 1936 ver- 
haftet und nach Sibirien deportiert- 535, 34 Kurella] Alfred Kurella (1895- 
1975), Schriftsteller und Funktionar der KP; mit Benjamin bekannt aus der 
Zeit der Jugendbewegung; seit 19 19 in zahlreichen Funktionen der Partei in 
Deutschland, der Sowjetunion und Frankreich tatig, Anfang der dreifliger 
Jahre Chefredakteur von »Le monde« (s. Walter Benjamin, Versuche iiber 
Brecht, hg. von R. Tiedemann, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1978, 125, 127, 
138 Anm. 10, 139 Anm. 17); 1954 Ruckkehr in die Deutsche Demokrati- 
sche Republik, 1957- 1963 Leiter der Kulturkommission des Politbiiros des 
ZK der SED- 536, 16 Beta Kuri] ungarischer Politiker (1 886-1939); organi- 
sierte die ungarische KP und proklamierte 19 19 die ungarische Raterepu- 
blik, seit 1920 in der Sowjetunion, Kominternfunktionar; 1937 verhaftet, 
hingerichtet - 536,21 f. »Der Bauer an seinen Ocbsen*] s. Brecht, Anspra- 
che des Bauern an seinen Ochsen, in: Gesammelte Werke in acht Banden, 
a. a. O., Bd. 4, 683^ - 537, 13 Gabor] Andor Gabor (1884- 195 3), ungari- 
scher Schriftsteller; Kommunist; 192 5- 1934 in Berlin; emigrierte in die 
Sowjetunion; 1945 Ruckkehr nach Ungarn- 537, 38 »Scbon$ten Sagen vom 
Kduber Woynok*] s. jetzt Anna Seghers, Erzahlungen, Bd. 1, Neuwied, 
Berlin 1964, 147-166 - 538,21 Gedicbtband] s. Bertolt Brecht, Svendbor- 
ger Gedichte, London 1939; jetzt Gesammelte Werke in acht Banden, 
a. a. O., Bd. 4, 631-725 - 538, 3 5 f. Gedicbt an die bildenden Kiinstler] s. 
Brecht, Rat an die bildenden Kiinstler, das Schicksal ihrer Kunstwerke in 
den kommenden Kriegen betreffend, in: Gesammelte Werke in acht Ban- 
den, a. a. O., Bd. 4, 682 f. 



540 Notiz uber Brecht 

t): Bibliotheque Nationale, Paris; Fonds Walter Benjamin. 
D: Ende 1938 oder 1939 

nachweise 540,2 BlUcber] Heinrich Bliicher (1899-1970), Kulturhistori- 
ker und Philosoph; 191 9 bis ca. 1934 Mitglied der Brandler-Gruppe der 
KPD; in den zwanziger Jahren in Berlin Journalist und Vortrage an der 
Hochschule fur Politik; emigrierte 1933 nach Prag, 1934 nach Paris, 1941 



818 Anmerkungen zu Seite 540-542 

nach USA; lehrte Kunstgeschichte an der New School for Social Research in 
New York, seit 1952 Philosophic am Bard College, Annandale-on-Hudson, 
N. Y. ; verheiratet mit Hannah Arendt- 540, 3 »Lesebuchsfur Stadtebewoh- 
ner«] s. Brecht, Gesammelte Werke in acht Banden, Frankfurt a.M. 1967, 
Bd. 4, 267-295 - 540, 5 anspiele] s. Bd. 2, 5 5 5-560 - 540, 10 f. Kommentar] s. 
Bd. 2, 558 - 540,16 Expropriateure*] s. Karl Marx, Das Kapital I: »Die 
Expropriateurs werden expropriiert.* (MEW, Bd. 23, 3. Aufl., Berlin 1969, 
791) - 540, 22f. Arnolt Bronnen] Schriftsteller (1895-1959); in den zwanzi- 
ger Jahren mit Brecht befreundet, dann Parteiganger der Nazis, nach dem 
Krieg Redakteur und Dramaturg in Osterreich und Theaterkritiker in der 
DDR; zwischen Benjamin und Bronnen hatte zur Zeit der Jugendbewegung 
eine Verbindung bestanden (s. Brief e, 113) 

54O-542 RtVE DU Il/l2 OCTOBRE I939 

Benjamin teilte den Traum zuerst Gretel Adorno mit, in einem Brief vom 12. 
10. 1939 (s. Briefe, 828-831), aus dem Internierungslager nahe Nevers, in 
dem er seit Mitte September gefangen war. Der das Traumprotokoll einlei- 
tende Absatz dieses Briefes lautet: Ma tres chere, j'aifait cette nuit sur la 
paille un rive d'une beaute telle queje ne resistepas a Venvie de le raconter a 
toL Ilya si pen de choses belles, voire agriables, dontjepuis t'entretenir. - 
C'est un des reves commefen aipeut-etre tons les cinq ans et qui sont brodes 
autour du motif »lire«. Teddie se souviendra du role tenupar ce motif dans 
mes reflexions sur la connaissance. La phrase quej*ai distinctement prononce 
vers la fin de ce rive se trouvait etre enfrancais. Raison double de tefaire ce 
recit dans la mime langue. Le docteurDausse quim'accompagne dans cereve 
est un ami quim'a soigne au cours de monpaludisme. (Briefe, 828) Uber den 
erwahnten docteurDausse wurde nichts ermittelt. Er begegnet bereits 1930, 
in Benjamins Pariser Tagebuch (s. Bd. 4, 569, 575-578); hier allerdings nur 
mit der Initiate D. , die jedoch in dem nicht zur Veroff entlichung bestimmten 
Abend mit Monsieur Albert als Dausse aufgeschliisselt wird (s. Bd. 4, 587). 
Merkwiirdig ist, dafi Benjamin in dem Rundfunkvortrag Pariser Kbpfe (s. 
Bd. 7), einer Art Vorstufe des Pariser Tagebuchs, den Ausspruch uber Far- 
gue mit den gleichen Worten tut, hier aber nicht zu Dausse gewandt, sondern 
zu meiner Nacbbarin. Ob daraus zu schliefien ist, dafi Dausse oder D. eine 
fiktive Gestalt ist, mu£ dahingestellt bleiben. 

U: Ts 2308 f. - Typoskript-Durchschlag. 
D: 11./12. Oktober 1939 

nachweis 541,39-542, 1 *// bis poesie.*] die Formulierung wird in dem Brief 
an Gretel Adorno iibersetzt: Es handelte sicb darum, aus einem Gedicht ein 
Halstuch zu machen (Briefe, 830) 



543~*>2i Anhang 



545-557 Wandkalender der »Literarischen Welt* fur 1927 

Dem Moskauer Tagebucb zufolge erhielt Benjamin die Ausgabe der »Lite- 
rarischen Welt«, in der seine Wandkalender-V erse erschienen waren, am 
1 5. 1. 1927 (s. 371). Einige Tage spater bedankte er sich brieflich bei Rudolf 
Grossmann, dem Zeichner des Wandkalendersi Endlicb, mit drei Wochen 
Verzogerung, ist mir nun die »Literariscbe Welt* mit den vorziiglicben 
Kopfen und Bildern zugekommen, die Sie zu meinen Verschen gemacht 
baben. Icbfreue micb sebr, daft unsere Sacbe so gut gelungen ist undaucb 
icb wurde es sebr scbon finden, wenn wir gelegentlicb wieder dbnlicb 
zusammenarbeiten konnten. (19. 1. 1927, an Rudolf Grossmann) 

U: Die literarische Welt, 24. 12. 1926 Qg. 2, Nr. $2), 6f. 
D: ca. Oktober/November 1926 



558-618 Protokolle zu Drogenversuchen 

Im Juli 1932, in einem Brief an Scholem, zahlte Benjamin ein hocbst bedeut- 
sames Bucb uber das Hascbiscb zu jenen vier Buchern, die die eigentlicbe 
Trummer- und Katastropbenstdtte bezeicbnen, von der icb keine Grenze 
abseben kann, wenn icb das Auge uber meine ndcbstenjahre scbweifen lasse 
(Briefe, 556). Zum Haschischgebrauch traten spater auch Experimente mit 
Opium und Meskalin hinzu. Seit 1927, als er die ersten Erfahrungen mit 
Drogen machte, hat Benjamin Materialien zu dem geplanten Buch gesam- 
melt. Die einzigen Veroffentlichungen aus dem Bereich dieser Studien - die 
Geschichte Myslowitz - Braunscbweig - Marseille (s. Bd. 4, 729-737) und 
der Bericht Hascbiscb in Marseille (s. Bd. 4, 409-416) - sind zugleich die 
einzigen durchformulierten Texte, zu denen Benjamin gelangte. Erganzt 
werden sie durch die Protokolle, die im vorliegenden Teil des Anhangs 
abgedruckt werden. Sie wurden, zusammen mit den zwei abgeschlossenen 
Arbeiten, 1972 zum erstenmal von Tillman Rexroth herausgegeben (s. 
Walter Benjamin, Uber Haschisch. Novellistisches, Berichte, Materialien, 
hg. von Tillman Rexroth, Einleitung von Hermann Schweppenhauser, 
Frankfurt a.M. 1972; 5. Aufl., 1984). Die Herausgeber zitieren im folgen- 
den die kurze »Editorische Notiz«, die Rexroth zu diesem Band verfafite, 
auch im Gedenken an ihren Freund und den Mitarbeiter, der 1979 durch 
eigene Hand sein Leben beendete. 

»Der Band umfafit Benjamins Schriften, die den Drogenrausch zum Gegenstand 



8 20 Anmerkungen zu Seite 558-618 

haben, sowie Protokolle von Drogenversuchen, an denen Benjamin teilnahm. 
Lediglich die belden ersten Texte sind von Benjamin verbffentlicht worden. Im 
November 1930 erschien die novellistische Geschichte Myslowitz - Braunschweig - 
Marseille in der Zeitschrift >Uhu<; das teilweise gleichlautende, der zugrundeliegen- 
den Rauschaufzeichnung aber noch naherstehende, berichthafte Stiick Haschisch in 
Marseille erschien am 4. 12. 1952 in der frankfurter Zeitung< und wurde 1961 in 
dem Auswahlband >Illuminationen< nachgedruckt. Diese beiden veroffentlichten 
Arbeiten kann ein Band nicht ubergehen, der samtliche erreichbaren Texte, die Ben- 
jamins Beschaftigung mit Rauschdrogen dokumentieren, sammelt. Eine franzosi- 
sche Ubersetzung von Haschisch in Marseille, die im Januar 1935 unter dem Titel 
Hachich a Marseille in den >Cahiers du Sud< erschien, blieb dagegen fort, weil diese 
Cbertragung mit Sicherheit nicht von Benjamin angefertigt wurde. - Die ubrigen 
Texte sind bisher unveroffentlicht. Sowohl den von Benjamin als auch den von ande- 
ren Autoren verfafiten Aufzeichnungen liegen Manuskripte und Typoskripte aus 
dem Benjamin- Archiv Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M., zugrunde*. 
Obwohl Benjamin ein Buch iiber Haschisch zu schreiben plante, stellen die fragmen- 
tarischen Crocknotizen die einzige Arbeit aus Benjamins Nachlafl dar, in der theore- 
tische Erorterung berichthafte Aufzeichnung iiberwiegt. Auch die Crocknotizen 
konnen nicht als ein Resume der Benjaminschen Drogenversuche angesehen wer- 
den; sie diirften sich vielmehr auf einen bestimmten Versuch beziehen, der 1932 im 
Hause von Jean Selz auf Ibiza stattfand (vgl auch Jean Selz* Erinnerungen in: Uber 
Walter Benjamin, Frankfurt a.M. 1968, S. 40 1.). Ebendieses Experiment beschreibt 
wahrscheinlich auch folgende Passage aus einem undatierten Brief Benjamins an 
Gretel Adorno : Ah der Abend herangekommen war,fUhlte ich mich sehr traurig. Ich 
spurte aherjene seltene Verfassung, in der die innern und die auftern Beklemmungen 
einander sehr genau die Waage halten, so daft jene Stimmung entsteht, in der allein 
vielleicht man wirklich dem Trost zugdnglich ist. Das schien uns fast ein Wink und 
nach den langen kundigen undprazisen Arrangements, die vorzunehmen sind, damit 
im Laufe der Nacht nicht emer sich zu ruhren hat, gingen wir gegen zwei Uhr ans 
Werk. Wenn es auch nicht das erste Mai der Chronologie nach war, so dock dem 
Gelingen nach. Die Handreichungen, die sehr viel Sorgfalt erfordern, waren unter 
uns dergestalt aufgeteilt, daft jeder Diener und Dienstleistungen empfangender 
zugleich war und das Gesprdch wirkte sich in die Handreichungen hinein, wie Faden, 
die in einem Gobelin den Himmelfarben, die Schlacht durchwirken, die im Vorder- 
grunde dargestellt ist. [Absatz] Woriiber dieses Gesprdch sich hin-, woran es manch- 
malsich entlang bewegte, davon bin ich schwerlich imstande, Ihnen einen Begriffzu 
geben. Wenn aber Aufzeichnungen, die ich in der Folge Uber dergleichen Stunden 
machen werde, einen gewissen Grad von Genauigkeit erreicht und sich mit andern in 
einem Dossier, von dem Sie wissen, werden vereinigt haben, so wird auch der Tag 
erscheinen, wo ich Ihnen eines und das andere daraus gern lesen werde. Heute habe 
ich betrachtliche Ergebnisse in der Erforschung von Vorhangen davongetragen - 

* Eine Ausnahme bildet lediglich die Notiz Zum Haschisch (s. 618), deren Original sich im 
Nachlafi Max Horkheimers fand und die deshalb in der Rexrothschen Edition noch fehlte. 



Anmerkungen zu Seite 558-618 821 

denn ein Vorhang trennte uns vom Balkon der aufdie Stadt und aufdas Meer hinaus- 
geht. 

Die Protokolle sind chronologisch angeordnet. Texte Benjamins stehen daher neben 
Aufzeichnungen, die von Ernst Bloch, Ernst Joel und Fritz Frankel verfafit wurden. 
Die Autoren einiger Protokolle konnten nicht mit Sicherheit ermittelt werden. - Alle 
Drogenaufzeichnungen werden vollstandig wiedergegeben; Textiiberschneidungen, 
wie sie zwischen den drei Fassungen der Haschischaufzeichnungen aus Marseille 
sowie zwischen Blochs Protokoll zur zweiten Haschisch-Impression und Benjamins 
erganzender Abschrift dieses Protokolls auftreten, mufiten dabei in Kauf genommen 
werden. Nicht gesondert wiedergegeben wurde dagegen ein in Gershom Scholems 
Besitz befindliches Manuskript, das der hier abgedruckten Schreibmaschinenab- 
schrift 29. September 1928 Sonnabend. Marseille zugrunde liegt, sowie zwei hand- 
schriftliche Notizen, die Benjamin in Myslotvitz - Braunschweig - Marseille und in 
das Protokoll vom 11. Mai 1928 aufnahm. Undatierte Notizen Benjamins, denen 
keine vollstandigen Protokolle entsprechen, wurden abgedruckt, soweit sie zu ent- 
ziffern sind, [. . .] Die Eigentiimlichkeit der Protokolle, die zumeist noch unter 
Rauschwirkung verfafite Niederschriften oder in die Schreibmaschine diktierte und 
teilweise unkorrigierte Aufzeichnungen darstellen, blieb weitgehend gewahrt. Die 
Orthographie wurde stillschweigend korrigiert, die Interpunktion nur dort, wo sie 
verwirrend erschien.* (Tillman Rexroth, Editorische Notiz zu: Benjamin, Uber 
Haschisch, a. a. O., 147-149) 



558-560 Hauptzuge der ersten Haschisch-Impression 

U: Ms 1 3 5 7 f . - 2 Blatter ca. 13,2X9,4 cm 
D: 18. 12. 1927 

nachweise 558,9 Potemkinanekdote] s. Bd. 2, 409 und Bd. 4, 75 8 f. - 
559, 10 Trauerspielbuch] s. Bd. 1, 262 - 560, 16 Fluget] s. Schiller, Samtliche 
Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Gopfer, Bd. 1, 4. AufL, 
Munchen 1965, 229: »Um mich summt die geschaftige Bien, mit zweifeln- 
dem Fliigel / Wiegt der Schmetterling sich uber dem rotlkhen Klee.« 
S.auch Bd. 5, 53 5 f. 



560-566 Hauptzuge der zweiten Haschisch-Impression 

U: Ms 1 3 59- 1 362 - 4 Blatter ca. 13,2X9,4 cm 
D: 15. 1. 1928 

nachweise 561, 16 und 563,23 heruber] s. die Ubernahmen ins Passagen- 
werk, Bd. 5, 1050- 564, 34 haben?] s. Bd. 5, 527, 1050 



822 Anmerkungen zu Seite 566-587 

566-568 Ernst Bloch: Protokoll zu demselben Versuch 

U: Benjamin-Archiv, Manuskript von der Hand Ernst Blochs 
D: 14. 1. 1928 

568-570 Blochs Protokoll zum Versuch vom 14. Januar 1928 

U: Ms 1363 f. -2 Blatter ca. 21X13,5 cm 
D: 15. 1. 1928 oder bald danach 



571-574 Protokoll des Haschischversuchs vom ii. Mai 1928 

U: Ts 2413-2417 - Typoskript-Durchschlag 
D: 11. 5. 1928 

lesart 571,4 der Raum fur die Eintragung der Uhrzeit und der Menge sind 

freigeblieben 

nachweis 572,29 Zeitungf] die »Vossische Zeitung« trug im Titel das 

preufiische Wappen, an dessen Schild sich in symmetrischer Haltung zwei 

halbnackte, muskulose Standartentrager lehnen 



574-579 Ernst Joel: Protokoll zu demselben Versuch 

t): Ts 2447-2457 - Typoskript-Durchschlag 
D: 11. 5. 1928 

nachweise 574,20 beschrieben] bezieht sich auf Benjamins Protokoll des- 
selben Versuchs, s. 571-574 - 578,14 Versuch] hierzu sind in Benjamins 
Nachlafi keine Aufzeichnungen vorhanden; vielleicht nahm er an dem frag- 
lichen Versuch nicht teil - 579,7 hat] in Benjamins Nachlafi nicht vor- 
handen 



579-587 29. September 1928. Sonnabend. Marseille 

U:Ts 2418-2423 - Typoskript, vom ersten Blatt Original und Durch- 

schlag, die ubrigen Blatter nur Durchschlage. 
D: 29. und 30. 9. 1928 

Das Protokoll bildet eine Vorstufe zu dem Essay Haschisch in Marseille (s. 
Bd. 4, 409-416; s. auch die Anm. des Hg.s a. a. O., 1003 f.)- Die ersteNie- 



Anmerkungen zu Seke 579-603 823 

derschrift findet sich im Pergamentheft SSch, das zur Korrektur der 
Schreibfehler des Typoskripts herangezogen wurde. 



587-591 Haschisch Anfang Marz 1930 

U: Ts 2424-2428 - Typoskript mit handschr. Korrekturen 

Ts 2429-2433 - Typoskript, Durchschlag von Ts 2424-2428 
D: Anfang Marz 1930 



591 f. Uber den Versuch vom 7V8. Juni 1930 

U: Ms 1347 - 1 Blatt ca. 21 X 13,4 cm 
D:7./8. 6. 1930 



592-596 Egon Wissing: Versuchsprotokoll vom 7. Marz 193 i 

U: Ts 2444-2446 - Typoskript mit handschr. Korrekturen 
D: 7 . 3. 1931 



597 Fritz Frankel: Protokoll des Versuchs vom 12. April 193 i 



U: Ts 243 4 -Typoskript; von dem Protokoll ist nur die erste Seite erhalten. 
D: 12. 4. 1931 



597-603 Fritz Frankel: Protokoll vom 18. April 193 i 

U: Ts 2435-2443 - Typoskript 
D: 18. 4. 1931 

nachweise 597,33 mHs] s. Horaz, De arte poetica V, 139 - 602, 1 1 wird] 
Anspielung auf den autobiographischen Roman » Asmus Sempers Jugend- 
land« von Otto Ernst 



824 Anmerkungen zu Seite 603-616 

603-607 Crocknotizen 

Uber die Crocknotizen s. Tillman Rexroths Ausfiihrungen oben, 820. Die 
Bedeutung des Wortes Crock, die Rexroth noch unbekannt war, wurde 
von Jean Selz aufgeklart: »Das Wort Crock gibt es im Deutschen nicht, es 
mufi fur die Leser Benjamins [i.e. der Rexrothschen Edition von 1972] 
enigmatisch geblieben sein. Tatsachlich handelt es sich um eine leicht ver- 
deutschte Form des franzosischen >croc<, der Haken. Die Bedeutung frei- 
lich, die wir ihm gaben, hatte damit nicbts zu tun. Es war der zugleich 
absurde und geheime Ausdruck, mit dem wir das Opium bezeichneten. 
Einige Freunde, die rauchten, hatten den Ausdruck erfunden; von ihnen 
ubernahm tch ihn und teilte ihn Benjamin mit. Wir wufiten nicht, wo diese 
spezielle Verwendung des Ausdrucks ihren Ursprung hatte. Denkbar 
ware, daft sie aus Sympathie fur das humoristische Vokabular des PereUbu 
(in Alfred Jarrys >Ubu Roi<) herriihrte, der haufig von seinen >croc a phy- 
nances< spricht. Die von Benjamin verwandte Orthographie entsprach 
genau unserer Aussprache des Wortes (im Franzosischen ist das c am Ende 
von croc stumm). - Auch das Wort fete [s. 605, 10], das in den Crocknoti- 
zen franzosisch gebraucht wird, gehorte zu unserer Sondersprache : es 
sollte keineswegs ein Fest bezeichnen, sondern allein die Sitzungen, bei 
denen wir vom >Crock< Gebrauch machten.« 

U: Ms 1 3 5 5 f . - 2 aus einem Block herausgetrennte Blatter im Format 

11,6x8 cm 
D: Sommer 1932 



607-614 Fritz Frankel: Protokoll des Meskalinversuchs vom 22. 
Mai 1934 

U: Ts 2458-2461 - Typoskript-Durchschlag. Benjamins Zeichnungen 

wurden nach Ms 1365 f. reproduziert. 
D:22. 5. 1934 



614-616 AUFZEICHNUNGEN ZU DEMSELBEN VeRSUCH 

t): Ms i348f. - 2 Blatter ca. 2o,7X 13,5 cm 
D:22. 5. 1934 



Anmerkungen zu Seite 616-621 825 

616-618 Undatierte Notizen 

U: 616,15-617,9 Erste bis kann: Ms 1370; die Zeichnung 617 und 618,1-9 
Die bis 17 iy\ Ms 1369; 618, 10- 1 2 f. Das bis abgegeben: Ms 1371; 
618, 14L Zum bis Herrschaft; Stadt- und Universitatsbibliothek Frank- 
furt a.M., Max-Horkheimer-Archiv. 

D: zwischen 1927 und 1934 

619-621 Memorandum zu der Zeitschrift »Krisis und Kritik« 

Uber das Projekt, gemeinsam mit Brecht, Bernard von Brentano und Her- 
bert Ihering eine Zeitschrift herauszugeben, berichtete Benjamin zuerst 
Anfang Oktober 1930 in einem Brief an Scholem : Dh hast vor vielenjahren 
so nahen Anteilan meinem projektierten Angelus novus[s. Bd. 2, 981-997] 
genommen, daft ich Dir als einzigem aufterhalb ein Wort daruber vertrauen 
mocbte, das vorderhand den Weg zu Deinen Lippen nicbtfinden moge. Es 
handelt sicb also um eine neue Zeitschrift und zwar die einzige, die meine 
eingewurzelte Uberzeugung, daft ich mir mit dergleichen nicht nochmals 
konne zu schaffen macben, in der Gestalt zumindest, die sie im Projekten- 
stadium annahm y bezwungen hat. Ich habe diesem Plan zum Verlage 
Rowohlt den Weg gebahnt, indent ich mich zum Vertreter der organisatori- 
schen und sachlichen Losungen mackte, die ich gemeinsam mit Brecht in 
langen Gesprachen fur diese Zeitschrift ausgearbeitet habe. Ihre Haltung 
soil, formal, eher wissenschaftlich, ja akademisch als journalistisch sein und 
sie soil »Krisis und Kritik* heifien. Rowohlt also ist durchaus dafur gewon- 
nen; jetzt wird sich die grofie Frage erheben, ob es noch mbglich ist t die 
Leute y die etwas zu sagen haben zu einer organisierten, vor allem kontrol- 
lierten Arbeit zu vereinigen. Daneben besteht die immanente Schwierigkeit 
jeder Kollaboration mit Brecht, von der ich freilich annehme, daft wenn 
Uberhaupt einer, ich imstande sein werde, mit ihr fertig zu werden. Um 
diesen etwas schalen Andeutungen einige Wurze zu geben, fuge ich Dir 
einen Bogen aus einem neuen noch nicht erschienenen Buche von Brecht bei, 
der zu Deiner (und Eschas [Scbolems erster FrauJ) ausschlieftlicher Informa- 
tion dient und den ich Dick bitte y mir umgehend zuruckzusenden. (Briefe, 
5 i/f.) Anfang November heifk es in einem weiteren Brief an Scholem: Mit 
meiner nachsten Sendung wirst Du Programm und Statut einer neuen Zeit- 
schrift namens »Krise und Kritik* erhalten, die von Ihering im Verlag 
Rowohlt als Zweimonatsschrift erstmalig am i$Januar nachsten Jahres her- 
ausgegeben werden soil und mich neb en Brecht und zwei y drei andere als 
Mitherausgeber auf dem Titel nennt. Es wird Dich mit .zweideutiger 
Genugtuung erfullen, mich da als einzigen Juden unter lauter Goj[i]m 
zeichnen zu sehen. (s. Briefe, 5 19) Der folgende Satz aus einem wenige Tage 



826 Anmerkungen zu Seite 619-621 

spater geschriebenen Brief an Adorno - der als Mitarbeiter an »Krisis und 
Kritik« vorgesehen war - bezieht sich zweif ellos ebenf alls auf die Diskus- 
sionen iiber die geplante Zeitschrift: Wie gerne wiirde icb mich mit etwas 
Geschriebenem Ihnen vernebmbar machen, da von den gegenwdrtig recbt 
aufgewuhlten Gesprachsmassen - den ZusammenkUnften zwiscben Brecbt 
und mir-doch wohl das Brandungsgerdusch Sie nocb nicbt erreicbt bat. ( 10. 
11. 1930, an Th.W. Adorno) Doch schon im Dezember erwog Benjamin 
die Absicht, seinen Namen als Mitberausgeber zuriickzuziehen; und Ende 
Februar 193 1 setzte er diese Absicht durch einen Brief an Brecht in die Tat 
um : Lieber Herr Brecbt, Von Brentano werden Sie schon gehort baben, dafi 
icb von der Mitberausgeberscbaft der Zeitscbrift zuriickgetreten bin. 
NatUrlicb bdtte icb sebrgern alles nocb einmalmit Ibnen besprocben. Aber 
Brentano, bei dem icb vorgestern mir die ersten Manuskripte - »Der Gene- 
ralangriff* von Brentano, »Der Kongrefi von Charkow« von [Alfred] 
Kurella, »Idealismus und Materialismus* von Plecbanow - geben liefi und 
dem icb die entscbeidenden Bedenken sagte, die deren Lekture in mir 
erweckt batten, war der Ansicbt t icb miisse meinen Entscblufi [Ernst] 
Rowoblt sofort mitteilen, um ibm nicbt spater eine Handbabe gegen das 
Unternebmen zu geben. [Absatz]Sie erinnern sicb gewifi unseres Gesprachs 
kurz vor meiner Abreise im Dezember, in dem icb mit Ibnen meineAbsicbt 
erwog, meinen Namen als Mitberausgeber zurtickzuzieben. Die Grunde, 
die icb Ibnen damals sagte, scbienen Ibnen -von meinem Standpunktaus- 
einleucbtend. Aber naturlicb wollte icb vor weiteren Scbritten die Entwick- 
lung der Zeitscbrift abwarten. Nun jedocb nacb der Lekture der bisher vor- 
liegenden Manuskripte ware ein weiteres Vertagen zur Zweideutigkeit 
geworden. Wenn icb die Haltung dieser Manuskripte mit derjenigen ver- 
gleicbe, die sicb aus der urspriinglicben Bestimmung der Zeitscbrift ergab, so 
stellt sicb beraus: [Absatz] die Zeitscbrift war geplant als ein Organ, in dem 
Facbmanner aus dem biirgerlicben Lager die Darstellung der Krise in Wis- 
senscbaft und Kunst unternebmen sollten. Das batte zu gescbeben in der 
Absicht, der biirgerlicben Intelligenz zu zeigen, dafi die Methoden des dia- 
lektiscben Materialismus ibnen durch ihre eigensten Notwendigkeiten - 
Notwendigkeiten dergeistigen Produktion und der Forschung, im weiteren 
auch Notwendigkeiten der Existenz - diktiert seien. Die Zeitschrift sollte 
der Propaganda des dialektischen Materialismus durch des sen Anw en- 
dung auf Fragen dienen, die die biirgerliche Intelligenz als 
ihre eigensten anzuerkennen genotigt ist t Ich babe Ibnen auch 
gesagt, wie kenntlich mir diese Tendenz gerade in Ibren Arbeiten ist, wie 
sehr zugleich aber gerade sie mir beweisen, dafi die Herstellung solcber Bei- 
trage, die innerhalb der deutschen Literatur etwas grundlegend Neues dar- 
stellen, sich schwer mit den Erfordernissen journalistischer Aktualitat ver- 
binden lafit. Nun baben diese Erfordernisse sich immer spurbarer gemacbt. 
Am 1 j. April soil die erste Nummer ersch einen und von den dreiAufsatzen, 



Anmerkungen zu Seite 619-621 827 

die vorliegen, kann - welchen Wert sie auch kaben mogen - kein einziger 
fachmannische Autoritat beanspruchen, Der von Plechanow konnte das 
einmal, das ist abenjjahre her. [Absatz] Meine Bereitschaft zur Mitarbeit 
bleibt vollkommen unverdndert besteben. Von Rowohlt bbrte ich, dap er 
Wert darauflegt, mich in der ersten Nummer zu haben; ich werde also fur 
die erste Nummer etwas schreiben. Um aber der Zeitschrift Arbeiten 
zuwenden zu konnen, wie sie mir vorschwebten, dazu bediirfte ich leider, 
bei meiner Arbeitsweise, viel grojlerer Fristen. Solange ich nicht in derLage 
bin, solche grundlegenden Arbeiten beizusteuern und sie auch von anderer 
Seite nicht vorliegen, kame meine Mitherausgeberschaft auf die Unter- 
zeichnung eines Aufrufs heraus. Dergleichen habe ich aber nie vorgehabt. 
[. . J Und wenn Sie etwas wissen, woruber Sie zwei Seiten von mir in der 
ersten Nummer gebrauchen konnen, so lassen Sie mich dies sogleich wissen. 
(s. Briefe, 520-522) - Anscheinend stand der Titel Krisis und Kritik nicht 
von vornherein fest: Brechts »Entwurf zu einer Zeitschrift Kritische Blat- 
ter* gehort offenkundig in denselben Zusammenhang (s. Bertolt Brecht, 
Gesammelte Werke in acht Banden, Frankfurt a.M. 1967, Bd. 8, 85-87). 
Neben dem vorliegenen Text - wohl dem gegeniiber Scholem erwahnten 
Programm (s. 825) -, der aus Benjamins Feder stammt, sind im Benjamin- 
Archiv eine Reihe weiterer Dokumente, die das Zeitschriftenprojekt 
betreffen, vorhanden, vor allem Protokolle von Diskussionen (s. Benja- 
min-Archiv, Ts 2468-2493); andere Materialien befinden sich im Bertolt- 
Brecht-Archiv der Akademie der Kiinste der DDR (s. Bertolt-Brecht- 
Archiv. Bestandsverzeichnis des literarischen Nachlasses. Bearbeitet von 
Herta Ramthun, Bd. 4, Berlin, Weimar 1973, 474f.)- 



619-621 Krisis und Kritik 

0: Ts 2462-2464 - Typoskript-Durchschlag mit handschr. Korrekturen 
Ts 2465-2467 - Typoskript-Durchschlag vom selben Original mit 
handschr. Korrekturen, die z.T. abweichen. 

D: ca. Oktober/November 1930 

lesart 619,33-620,23 Benjamin bis Wiesengrund] die Liste moglicher 
Mitarbeiter gehort zum urspriinglichen Typoskript-Bestand; auf ihr wur- 
den mit Bleistift die folgenden Namen wieder gestrichen : Behne } Doblin, 
Dudow, Hindemith, Herman Kantorowicz und Musil, mit einem Fragezei- 
chen versehen wurden die Namen: Eisler, Kracauer, Hannes Meyer, Mar- 
cuse und Reger, von Benjamins Hand hinzugefiigt wurden die Namen: 
Arthur Rosenberg, Sabl?, Armin Kesser, Gottfried Benn, Wittfogel, Suhr- 
kamp, Wilhelm Reich, Strobel, Haas und Mehring, ebenfalls handschrift- 
lich fugte Benjamin schliefilich hinzu: Gundolf, Musil und Nadler sowie 



828 Anmerkungen zu Seite 619-621 

Gesellschaft-Tageblatt - bei diesen letzteren Hinzufiigungen handelt es 
sich moglicherweise um zu behandelnde Themen (s. Ts 2463). 



Alphabetisches Verzeichnis 
der Fragmente vermischten Inhalts 

Die aktuell messianischen Momente . . . [fr 95] 126 

Alle Unbedingtheit des Willens . . . [fr 34] 5 5 

Analogie und Verwandtschaft [fr 24] 43 

Antithesen [fr 135] 169 

Aphorismen [fr 84.2] 1 19 

Aphorismen zum Thema Phantasie und Farbe [fr 77] 109 

Arten der Geschichte [fr 66] 93 

Arten des Wissens [fr 27] 48 

Die Aufgabe des Kritikers [fr 137] 171 

Aus dem »Tagebuch einer Verlorenen« [fr 127.2] 152 

Baudelaire II, III [fr 109] 133 

Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt [fr 71] 97 
Begriffe lassen sicb Uberbaupt nicbt denken ... [fr 23] 43 
Bei der Betrachtung der Romantik ... [fr 104] 131 
Betrachtung des Bucbes als einer Sacbe ... [ir 163] 197 

Chaplin [fr 113] 137 
Der Cynismus [fr 37] 56 

Henri Damaye: Psychiatrie et civilisation [fr 60] 89 

Leon Daudet [fr 124] 148 

Die Dime [fr 53] 75 

Die drei groflen geistigen Wurzeln der Sunde [fr 39] 57 

Eidos und Begriff [fr 1 5] 29 

Einige der Biicber, von denen . . . [fr 1 12] 137 

Einiges zur Volkskunst [fr 1 5 3] 185 

Die Erkenntnis y dafl die erste Materie . . . [fr 98] 127 

Erkenntnistheorie [fr 2j] 45 

Erroten in Zorn und Scham [fr 87] 120 

Erste Form der Kritik . . . [f r 136.1] 170 

Erster italienischer Hohenzug . . . [fr 164] 197 

Es ist im hbcbsten Grade f esse Ind ... [fr 129] 155 

Es ist seltsam . . . [fr 6] 15 

Es kommt docb bei fast allem ... [fr 138] 172 

Die Etbik, auf die Geschicbte angewendet . . . [fr 65] 91 

Die Fahne [fr 68] 94 

Falsche Kritik [fr 142] 175 

Die Farbe hat kein naturliches Medium . . . [fr 84. 1] 118 

Die Farbe vom Kinde aus betrachtet [fr 78] 1 10 



830 Aphabetisches Verzeichnis der Fragmente 

Die Form und der Gehalt jedes Kunstwerkes . . . [fr 92] 125 
Franzosische Buchkritiken [fr 126] 150 

Gedacht ist dies . . . [f r 169] 200 

Gedanken iiber Phantasie [fr 8 1] 114 

Gegen die Theorie des »verkannten Genies*. . . [fr in] 136 

Der Gegenstand: Dreieck . . . [fr 4] 14 

Geschichte ist Chock . . . [f r 72] 98 

Dergrofie Autor kann . . . [f r 179] 205 

Die grofie Kunst, aufder Erde . . . [fr 172] 203 

Der Grund der intentionalen Unmittelbarkeit . . . [fr 3] 11 

Grundlage der Moral [fr 41] 59 

Das Heidentum ist eine ddmonische Gemeinschaft . . . [fr 61] 90 
Die historischen Zahlen sind Namen . . . [fr 62] 90 
Hitlers herabgeminderte Mannlichkeit . . . [fr 75] 103 
Hofmannstkal mit Dossena zusammenzuriicken ... [fr 120] 145 
Der Humor [fr 103] 130 

In dem sexuellen SchuldgefM . . . [fr 52] 74 

Intentionsstufen [fr 28] 49 

Ich kenne einen ... [fr 188] 210 

»Idealrealismus«, die Schule von Heuschele . . . [fr 128] 153 

Hans Henny Jahnn: Perrudja [fr 1 14] 138 

Jouhandeau: Les Pincengrain [fr 125] 149 

Der Kanon ds Form . . . [f r 94] 126 
Kapitalismus als Religion [fr 74] 100 
Kasperletheater [fr 108] 133 
Kind und Pferd ...[in 57] 191 
Die Kosmogonie leistet . . . [fr 63] 91 
Kritik ds Grundwissenschaft . . . [fr 140] 173 

Die Landschaft von Haubinda [fr 160] 195 

Leraen und Uben [fr 5 5] 77 

Lesen [fr 177] 205 

Das Licht [fr 181] 206 

Losungsversuch des Russellschen Paradoxons [fr 2] 1 1 

Lucinde [fr 105] 131 

Man unterscbatzt beute Brief wechsel . . . [f r 69] 95 

Das Medium, durch welches Kunstwerke . . . [fr 96] 126 

Methodische Arten der Geschichte [fr 67] 93 

Milieutheoretiker [fr 173] 203 

Motivliste zum geplanten Vortrage bei Dalsace [fr 144] 181 

Die Musik ist die Vollkommenheit . . . [fr 93] 126 



Alphabetisches Verzeichnis der Fragmente 831 

Nachtrage zu: Uber die Symbolik in der Erkenntnis [fr 21] 40 

Neben dem eigentlkhen Tagebuch herlaufend . . . [fr 1 56] 190 

Negativer Expressionismus [fr 107] 132 

Notizen 1 [fr 161] 196 

Notizen 2 [fr 171] 200 

Notizen 3 [fr 178] 205 

Notizen 4 [fr 184] 207 

Notizen 5 [fr 185] 208 

Notizen 6 [fr 187] 209 

Notizen iiber »Objektive Verlogenheit« I [fr 42] 60 

Notizen zu einer Arbeit iiber die Luge II [fr 43] 6z 

Notizen zu einer Kritik von Franz Marc [fr 122] 147 

Notizen zu einer Theorie des Spiels [fr 155] 188 

Notizen zur Wahrnehmungsfrage [fr 18] 32 

Notwendig ware «... [fr 139] 172 

Notwendigkeit, mit dem vermittelnden Charakter ... [fr 141] 174 

Penthesilea , . . [fr 176] 204 

Phantasie [fr 82] 114 

Programm der Kterarischen Kritik [fr 132] 161 

Projekte [fr 130] 157 

Psychologie [fr 45] 64 

Das Recht zur Gewaltanwendung [fr 76] 104 

Reflexionen zu Humboldt [fr 13] 26 

Die Reflexion in der Kunst und in der Farbe [fr 83] 117 

Regel zur Beherrschung . . . [fr 165] 198 

Reinbeit und Strenge sind Kategorien ... [fr 100] 128 

Der Ritas lebrt .. . [fr 175] 204 

Der Ruhm des lebenden KUnstlers . . . [fr 162] 196 

Schein [fr 86] 119 

Schemata [fr 88] 121 

Schemata [fr 145] 181 

Schemata und Glossen zum Jugendstil I [fr 127.1] 151 

Schemata zum psychophysischen Problem [fr 56] 78 

Schemata zur Habilitationsschrift [fr 10] 21 

Schema z« einem Nachrttf auf Joseph Roth ... [fr 121] 146 

Schema zur Anthropologic [fr 44] 64 

Schonheit [fr 101] 128 

Schonheit und Schein [fr 102] 129 

Das Schopferische ... [fr 148] 183 

Das Skelett des Wortes [fr 5] 15 

Sollte nicht der Intensitat . . . [fr 174] 204 



832 Aphabetisches Verzeichnis der Fragmente 

Soteriologie und Medizin [fr 57] 87 
Soviet heidniscbe Religionen ... [fr 38] 56 
So wenig die Kritik . . . [fr 1 36.2] 170 
Die Spontaneitdt des Ich ... [fr 36] 5 5 
Sprache und Logik [fr 12] 23 
Strindberg: Nach Damaskus [fr 106] 132 
»Suche allem im Leben . . . [fr 180] 205 

»Tausende, die bier liegen ... [fr 167] 198 

Die techniscbe Fragestellung liquidiert ... [fr 149] 183 

Telepathie [fr 154] 187 

Thesen uber das Identitatsproblem [fr 14] 27 

Tip fur Mazene [fr 134] 168 

Tod[fr 4 9] 71 

La Traduction - Le pour et le contre [fr 131] 157 

Uber das Grauen I, II [fr 54] 75 

Uber das Ratsel und das Geheimnis [fr 8] 17 

Uber den Dilettantismus [fr 110] 135 

Uber den »Kreter« [fr 40] 57 

Uber die Art der Italiener, zu diskutieren [fr 168] 199 

Uber die Ehe [fr 47.2] 68 

Uber die Flache des unfarbigen Bilderbuches [fr 79] 112 

Uber die Scham [fr 48] 69 

Uber die transzendentale Methode [fr 31] 52 

Uber die Wahrnehmung [fr 19] 33 

Uber die Wahrnehmung in sich [fr 17] 32 

Uber Liebe und Verwandtes [fr 51] 72 

Die Umfunktionierung [fr 146] 182 

Die unendliche Aufgabe [fr 30] 51 

Das Urteil der Bezeichnung [fr 1] 9 

Die Verfasser der unverg&nglichen Scbriften ... [fr 186] 209 
Verbdltnis der Utopie . . . [fr 85] 1 19 

Versuch eines Beweises, dafi die wissenschaftliche Beschreibung eines Vor- 
gangs dessen Erklarung voraussetzt [fr 22] 40 

Wahrheit und Wahrheiten, Erkenntnis und Erkenntnisse [fr 26] 46 

Wahrnehmung ist Lesen [fr 16] 32 

Wahrnehmung und Leib [fr 46.2] 6j 

Warum die deutschen Gelehrten einen so schlechten Stil schreiben 

[fr 189] 211 
Welt und Zeit . . . [fr 73] 98 

Wenn nach der Tbeorie des Duns Scotus . . . [fr 1 1] 22 
Wenn sich in einer Region . . . [fr 7] 16 



Alphabetisches Verzeichnis der Fragmente 833 

Wer einen andern boflich begrufien will . . . [fr 159] 194 
Widerstande gegen die Umfunktionierung [fr 147] 182 
Das Wort [fr 9] 19 

Zu den Reflexionen Uber Kultur der Stimme ... [fr 183] 207 

Zu den Schiffen, Bergwerken, Kreuzigungen . . . [fr 97] 127 

Zu Dostojewski [fr 115] 141 

Zu einer Arbeit uber die Idee der Schonheit [fr 99] 128 

Zu einer Arbeit uber die Schonheit farbiger Bilder in Kinderbuchern 

[frji] 123 
Zu einer Beschreibung von Danzig [fr 166] 198 
Zu Ignatius von Loyola [fr 50] 71 
Zu Knut Hamsun 1 [fr 116] 142 
Zu Knut Hamsun 2 [fr 117] 143 
Zu Richard Muller-Freienfels: Gefuhlstone der Farbenempfindungen . . . 

[fr 90] 122 
Zum »Alexanderplatz« [fr 151] 184 
Zu Micky-Maus [fr 119] 144 

Zum Problem der Physiognomik und Vorhersagung [fr 64] 91 
Zum Sprichwort [fr 182] 206 

Zum Thema Einzelwissenschaft und Philosophic [fr 29] 50 
Zum verlornen AbschlufS der Notiz iiber die Symbolik in der Erkenntnis 

[frzo] 38 
Zum Wahrnehmungsproblem [fr 46.1] 66 
Zur Astrologie [fr 158] 192 

Zur Charakteristik der neuen Generation [fr 133] 167 
Zur Entbindung der traumatischen Energie . . . [f r 170] 200 
Zur Erfahrung [fr 59] 88 
Zur Geschichtsphilosophie der Spatromantik und der historischen Schule 

[fr 70] 95 
Zur Graphologie [fr 1 5 2] 185 
Zur Kantischen Ethik [fr 35] 55 
Zur Krisis der Kunst [fr 150] 183 
Zur Kritik der »Neuen Sachlichkeiu . . . [f r 143] 179 
Zur Kritik von Ludwig, Strachey, Maurois etc. [fr 118] 143 
Zur Malerei [f r 80] 113 
Zur Moral [fr 33] 54 
Zur Phantasie [fr 89] 121 
Zur Theorie des Ekels [fr 58] 88 

Zu Scheerbart: »Miinchhausen und Clarissa* [fr 123] 147 
Zweideutigkeit des Begriffs der »unendlichen Aufgabe« in der Kantischen 

Schule [fr 32] 53 
Zwei Gatten sind Elemente . . . [fr 47.1] 68 



Inhaltsverzeichnis 

Fragmente vermischten Inhalts 7 

Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik 
Zur Sprachphilosophie: Aufzeichnungen 

DasUrteilderBezeichnung [fn] 9 

Losungsversuch des Russellschen Paradoxons [fr 2] 11 

DerGrundderintentionalenUnmittelbarkeit...[ir}] n 

Der Gegenstand: Dreieck . . . [fr 4] 14 

DasSkelettdesWortes [fr5] ij 

Esistseltsam... [ir6] 15 

Wennsicb in einer Region... [iry] 16 

Uber das Ratsel und das Geheimnis [fr 8] 17 

Zur Sprachphilosophie: Zu geplanten Arbeiten 

DasWort [fr?] 19 

Schemata zur Habilitationsschrift [fr to] 21 

Wennnacb der Tbeoriedes Duns Scotus... [frn] 22 

Sprache und Logik [fr 12] 23 

Reflexionen zu Humboldt [fr 13] 26 

Zur Erkenntniskritik: Aufzeichnungen 

Thesen uber das Identitatsproblem [fr 14] 27 

Eidos und Begriff [fr 15] 29 

Wahrnehmung ist Lesen [fri6] 32 

UberdieWahrnerununginsich [fri7] 32 

Notizen zur Wahrnehmungsf rage [fr 18] 32 

Uber die Wahrnehmung [fr 19] 33 

Zum verlornen Abschlufi der Notiz iiber die Symbolik in der 

Erkenntnis [fr2o] 38 

Nachtrage zu : Uber die Symbolik in der Erkenntnis [f r 2 1 ] . . . 40 
Versuch eines Beweises, dafi die wissenschaftliche Beschrei- 

bungeinesVorgangsdessenErklarungvoraussetzt [fr22] . . 40 

Begriff : elassensichiiberhauptnichtdenken... [fr 23] 43 

Analogie und Verwandtschaft [fr24] 43 

Erkenntnistheorie [fr25] 4$ 

Wahrheit und Wahrheiten, Erkenntnis und Erkenntnisse [fr 26] 46 

ArtendesWissens [fr27] 48 

Intentionsstufen [fr 28] 49 

Zum Thema Einzelwissenschaft und Philosophic [fr 29] .... 50 
Zur Erkenntniskritik: Zu einer geplanten Arbeit 

Die unendliche Auf gabe [fr 30] 51 

Uber die transzendentale Methode [fr 31] 52 



Inhaltsverzeichnis 8^5 

Zweideutigkeit des Begriffs der »unendlichen Aufgabe« in der 

kantischen Schule [fr3z] 53 

Zur Moral und Anthropologic 
Zur Moral: Aufzeichnungen 

Zur Moral [fr33] j 4 

AlleUnbedingtheitdesWillens... [h$4] 55 

Zur Kantischen Ethik [^35] jj 

Die Spontaneitdt des Ich . . . [h$6] 5$ 

DerCynismus [^37] <6 

Soviet heidnische Religionen .. . [fr38] 56 

Die drei grofien geistigen Wurzeln der Siinde [^39] 57 

Uber den »Kreter« [fr4o] 07 

Grundlage der Moral [^41] ^ 

Zur Moral: Zu einer geplanten Arbeit 

Notizenuber»ObjektiveVerlogenheit«I [fr42] 60 

Notizen zu einer Arbeit iiber die Luge II [fr 43] 62 

Zur Anthropologies Aufzeichnungen 

Schema zur Anthropologic [fr44] 64 

Psychologie [ft-45] 64 

ZumWahrnehmungsproblem [fr46.i] 66 

Wahrnehmung und Leib [^46.2] 67 

ZweiGattensindElemente... [^47.1] 68 

UberdieEhe [^47.2] 68 

Uber die Scham [^48] 69 

Tod [fr4 9 ] ?l 

Zu Ignatius von Loyola [fr 50] 71 

Uber Liebe und Verwandtes [f r 5 1 ] 72 

In dem sexuellen Schuldgefilhl . . . [^52] 74 

DieDirne [^53] 75 

Uber das Grauen [frj4J jc 

Lernen und Uben [f r 55] 77 

Schemata zum psychophysischen Problem [fr 56] 78 

Soteriologie und Medizin [fr$7] 87 

ZurTheoriedesEkels [fr58] 88 

ZurErfahrung [^59] 88 

Zur Anthropologic: Zu einer geplanten Arbeit 

Henri Damaye:Psychiatrieet civilisation [fr 60] 89 

Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 
Zur Geschichtsphilosophie und Historik 

Das Heidentum ist eine damonische Gemeinschaft . . . [f r 6 1 ] . . 90 

Die historischenZahlensindN amen... [fr62] 90 

Die Kosmogonie leistet . . . [fr63] ?I 

Zum Problem der Physiognomik und Vorhersagung [fr 64] . . . 91 



8^6 Inhaltsverzeichnis 

Die Etbik,auf die Geschichte angewendet...[$r 65] 91 

Arten der Geschichte [fr66] 93 

MethodischeArtenderGeschichte [fr 67] 93 

DieFahne [fr68] 94 

Man unterschdtztheute Brief wechsel .. . [ir6$] 95 

Zur Geschichtsphilosophie der Spatromantik und der histori- 

schenSchule [irjo] 95 

Die Bedeumng der Zeitm der moralischen Welt [iryi] yj 

Geschichte i$t Chock... [iryi] 9 8 

Zur Politik: Aufzeichnungen 

Welt und Zeit...[ir 7 y] 98 

Kapitalismus als Religion [irj^] 100 

Hitlers herahgeminderte Mdnnlichkeit .. . [fr7$] 103 

Zur Politik: Zu einer geplanten Arbeit 

Das Recht zur Gewaltanwendung [fr 76] 104 

Zur Asthetik 

Phantasie und Farbe: Aufzeichnungen 

AphorismenzumThema [fr 77] 109 

Die Farbe vom Kinde aus betrachtet [fr 78] no 

UberdieFlachedesunfarbigenBilderbuches [fr79] 112 

ZurMalerei [fr8o] 113 

Gedanken iiber Phantasie [fr 81] 114 

Phantasie [fr8z] 114 

Phantasie und Farbe: Zu geplanten Arbeiten 

Die Reflexion in der Kunst und in der Farbe [fr 8 3] 117 

Die Farbe hat keinnaturliches Medium... [ir $4.1] 118 

Aphorismen [^84.2] 119 

VerhdltnisderUtopie... [ir%$] 119 

Schein[fr86] "9 

Erroten in Zorn und Scham [fr87] 120 

Schemata [fr 88] - • 121 

Zur Phantasie [fr89] 121 

Zu Richard Muller-Freienfels: Gefuhlstbne der Farbenempfin- 

dungen... [iryo] 122 

Zu einer Arbeit iiber die Schonheit farbiger Bilder in Kinder- 

buchern [fr9i] 123 

Kategoriales: Aufzeichnungen 

Die Form und der GehaltjedesKunstwerkes... [ir$^\ 125 

DieMusikistdieVollkommenheit... [iryy] 126 

Der Kanon als Form... [fr94] 126 

DieaktuellmessianischenMomente... [^95] 126 

Das Medium, durch welches Kunstwerke .. . [fr 96] 126 

ZudenScbiffen s Bergwerken,Kreuzigungen...[ir97] 127 



Inhaltsverzeichnis 837 

Die ErkenntniSy daft die erste Materie . . . [fr98] 127 

Kategoriales: Zu einer geplanten Arbeit 

Zu emer Arbeit uber die Idee der Schonheit [fr 99] 128 

Reinheit und Strenge . . . [fr 100] 128 

Schonheit [fr 101] 128 

Schonheit und Schein [fr 102] 129 

Charakteristiken und Kritiken 

Aufzeichnungen 

Der Humor [fr 103] 

Bei der Betrachtung der Romantik . . . [fr 104] 

Lucinde [fr 105] 

Strindberg:NachDamaskus [fr 106] 

Negativer Expressionismus [fr 107] 

Kasperletheater [fr 108] 

Baudelaire II, III [fr 109] 

Uber den Dilettantismus [fruo] 

Gegen die Theorie des »verkannten Genie$« . . . [fr 1 1 1] 

Einige der Bticber, von denen . . . [fr 1 1 2] 

Chaplin [fr 1 1 3] 

HansHennyJahnn:Perrudja [fr 114] 

ZuDostojewski [frii5] 

Zu Knut Hamsun 1 [frn6] 

Zu Knut Hamsun 2 [fni7] 

Zur Kritik von Ludwig, Strachey, Maurois etc. [fr 1 18] 

ZuMicky-Maus [fni9] 

Hofmannsthal mit Dossena zusammenzurticken . . . [fr 1 20] . . 

Schema zueinemNachrufauf Joseph Roth [fri2i] 

Zu geplanten Arbeiten 

Notizen zu einer Kritik von Franz Marc [fr 122] 

ZuScheerban:»MunchhausenundClarissa« [fr 123] 

LeonDaudet [fri24] 

Jouhandeau:LesPincengrain [fr 125] 

Franzosische Buchkritiken [fri26] 

Schemata und Glossenzumjugendstil I [fr 1 27.1] 

Ausdem »Tagebuch einer Verlorenen* [fr 127.2] 

»Idealrealismus«,dieScbulevonHeuschele . . . [fri28] 

Es ist im hochsten Grade fesselnd . . . [fr 1 29] 

Projekte [fri3o] 

La Traduction- Le pour et le contre [fr 131] 

Zur Literaturkritik 

Programm der literarischen Kritik [fr 132] 

ZurCharakteristikderneuen Generation [fr 133] 

TipfiirMazene [fri34] 



838 Inhaltsverzeichnis 

Antithesen [fr 135] i*>9 

Erste Form der Kritik... [fr 136.1] 170 

So wenig die Kritik . . . [fr 136.2] 170 

Die Aufgabe des Kritikers [fr 137] 171 

Eskommtdocbbeifastallem... [fr 138] 172 

Notwendigwdre e$ . . . [fr 139] 172 

Kritik als Grundwissenschaft . . . [fri4o] 173 

Notwendigkeit, mit dem vermittelnden Charakter . . . [fr 1 4 1 ] . 1 74 

Falsche Kritik [fri42] 175 

Zur Kritik der »NeuenSacblicbkeit« .. . [fri43] 179 

MotivlistezumgeplantenVortragebeiDalsace [fr 144] 181 

Schemata [fr 145] 181 

DieUmfunktionierung [fri46] 182 

WiderstandegegendieUmfunktionierung [fri47] 182 

DasSchbpferische... [it 14%] 183 

Die tecbnische Fragestellung liquidiert . . . [fri49] 183 

Zur Krisis der Kunst [fr 150] 183 

Zum »Alexanderplatz« [fr 151] 184 

Zu Grenzgebieten 

Zur Graphologie [fri52] 185 

EinigeszurVolkskunst [fr 153] 185 

Telepathie [fri$4] 187 

NotizenzueinerTheorie des Spiels [fr 155] 188 

NebendemeigentlicbenTagebucbberlaufend... [f r 1 5 6] . . . . 190 

Kind und Pferd . . . [fr 157] 191 

ZurAstrologie [fr 158] 192 

Wereinenandernbbflicbbegriiftenwill... [f r 159] 194 

Betrachtungen und Notizen 

Die Landschaft von Haubinda [fn6o] 195 

Notizen 1 [fn6i]. 196 

DerRuhmdeslebendenKiinstlers,.. [fr 162] 196 

BetracbtungdesBucbesalseinerSacbe... [fn63] 197 

Erster italieniscber Hohenzug .. . [fri64] 197 

Regel zur Beberrscbung . . . [fn65] 198 

Zu einer Beschreibung von Danzig [fr 166] 198 

»Tausende, die bier liegen... [fri67] 198 

UberdieArtderItaliener,zudiskutieren [fr 168] 199 

Gedacbtistalles... [fn69] 200 

ZurEntbindungdertraumatiscbenEnergie... [irijo] 200 

Notizen 2 [fri7i] 200 

Die grofle Kunst, auf der Erde .. . [fri72] 203 

Milieutheoretiker [fr 173] 203 

Sollte nicbt der Intensitdt . . . [fri74] 204 



Inhaltsverzeichnis 839 

Der Rhus lehrt . . . [fr 175] 204 

Penthesilea . . . [fri/6] 204 

Lesen [fr 177] 205 

Notizen3 [fr 178] 205 

Der grofie Autor kann . . . [fri79] 205 

»Suche allemim Leben . . . [fri8o] 205 

DasLicht [fr 181] 206 

Zum Sprichwort [fri82] 206 

Zh den Reflexionen iiber Kultur der Stimme. . . [fr 183] 207 

Notizen 4^184] 207 

Notizen 5 [frr8$] 208 

Die Verfasser der unvergdnglichen Schriften ... [fr 186] 209 

Notizen 6 [fr 187] 209 

Ich kenne einen . . . [fr 188] 210 

Warum die deutschen Gelehrten einen so schlechten Stil 

schreiben [fr 189] 211 



Autobiographische Schriften 213 

Lebenslaufe 

I. Lebenslauf 215 

II. Ich bin am 1 $. Jtdi 1892 216 

III. Ich bin am IJ.JHH1892 217 

IV. Znr UnterstutZHng und Begriindung 220 

V. Curriculum Vitae 222 

VI. Curriculum Vitae Dr. Walter Benjamin 225 

Aufzeichnungen 1906-1932 

Pfingstreise von Haubinda aus 229 

Tagebuch Pfingsten 191 1 232 

Tagebuch von Wengen 235 

Von der Sommerreise 191 1 242 

Meine Reise in Italien Pfingsten 191 2 252 

Moskauer Tagebuch 292 

Tagebuch meiner Loire-Reise 409 

Notizen von der Reise nach Frankfurt 30. Mai 1928 413 

Verstreute Notizen Juni bis Oktober 1928 415 

Notiz iiber ein Gesprach mit B alias z(Ende 1929) 418 

Reisenotizen 1930 419 

Mai-Juni 193 1 422 

Tagebuch vom siebenten August neunzehnhunderteinund- 

dreifiig bis zum Todestag 441 

Spanieni932 446 



840 Inhaltsverzeichnis 

Berliner Chronik 4^5 

Aufzeichnungen 1933-1939 

Trauriges Gedicht 5 20 

Agesilaus Santander Erste Fassung 5 2 ° 

AgesilausSantanderZ^ezfe/wswwg 5 21 

NotizenSvendborgSommeri934 5 2 3 

Materialien zu einem Selbstportrat 53 2 

Tagebuchnotizeni938 53 2 

NotiziiberBrecht 54° 

Revedu n/i2 0Ctobrei939 $4° 

Anhang 

Wandkalender der »LiterarischenWelt« fur 1927 545 

Protokolle zu Drogenversuchen 55** 

I. HauptzugedererstenHaschisch-Impression 558 

II. Hauptzuge der zweiten Haschisch-Impression 560 

Ernst Block : Protokoll zu demselben Versucb 566 

BlochsProtokollzumVersuchvomH. 1. 1928 568 

III. ProtokolldesHaschischversuchsvomn.5.1928 .... 571 
Ernst Joel: Protokoll zu demselben Versucb 574 

IV. 29. September 1928. Sonnabend. Marseille 579 

V. HaschischAnfangMarzi930 5 8 7 

VI. OberdenVersuchvom7./8.6. 1930 59 1 

VII. EgonWissing:Versucbsprotokollvom7.3.i93i 59 2 

VIII. Fritz Frdnkel: Protokoll desVersucbsvom 12.4. 193 1 ... 597 

IX. Fritz Frdnkel: Protokoll vomi 8. 4. 1931 597 

X. Crocknotizen 6°3 

XI. Fritz Frdnkel: Protokoll des Meskalinversucbs vom 

22. $. 1934 6o 7 

Aufzeichnungen zu demselben Versuch 614 

XII. Undatierte Notizen 616 

Memorandum zu der Zeitschrift »KrisisundKritik« 619 

AnmerkungenderHerausgeber 623