LJr. 1 neodor Xveik
Lreständniszwang und
A3tral oedürfnis
.Probleme der Jr syclioanalyse
und, der JYriminologLe
Internationale Psychoanalytische BiüiotneL XVIII
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK
Nr. XVIII
Geständniszwang und
Strafbedürfnis
Probleme der Psychoanalyse
und der Kriminologie
von
Dr. Theodor Reik
1925
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Leipzig, Wien, Zürich
Alle Rechte,
besonders das der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1925
by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag,
Ges. m. b. H.", Wien
Gesellschaft für Graphische Industrie A.-G., Wien, III., Rüdengasse n
Vorwort
Die folgenden Vorlesungen waren für einen Kurs des Lehrinstitutes
der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung bestimmt. Die analytische
Vorbildung der Hörer erlaubte es, einen Gesichtspunkt konsequent fest-
zuhalten, da ich Kenntnis und Würdigung der anderen, hier nicht
ausführlich dargestellten Seiten der Probleme voraussetzen durfte. Diese
bewußte und durch die Stoffabgrenzung notwendige Einseitigkeit soll die
Bedeutung und Wichtigkeit der von der Psychoanalyse bisher erkannten
Momente wahrhaftig nicht unterschätzen helfen; sie will, indem sie
den Anteil des Über-Ichs an jeder Neurose nachzuweisen versucht, nur
auf die Bereicherung unserer Anschauungen durch Hervorhebung dieses
neuen Gesichtspunktes hinweisen.
Der Charakter des Vortrages, der auf den folgenden Seiten getreu
festgehalten wurde, mag dazu beitragen, die Lebhaftigkeit des Tones
an einigen Stellen, die Breite der Darstellung an anderen sowie manche
kleinere Wiederholungen zu rechtfertigen.
Ich bin Frau Dr. Anny Angel und Dr. Karl Abraham
für einige fruchtbare Hinweise zu besonderem Danke verpflichtet.
Wien, im Februar 1925.
B«««MnMmHnM«MMnHI
M
ERSTE VORLESUNG
Einführung
feine Damen und Herren! Man versichert mir, daß Sie
mit den wesentlichen Forschungsresultaten der Psycho-
analyse wohl vertraut sind. Ich würde es mir nicht gestatten,
Ihre Aufmerksamkeit für mehrere Stunden zu erbitten, wenn
es sich darum handelte, Ihnen noch einmal diese Ergebnisse
darzulegen. Andererseits kann ich Ihnen nicht versprechen,
Ihnen völlig Neues zu bieten. Meine Ausführungen werden
vielmehr überall an das Ihnen Bekannte anknüpfen und
vieles von dem, was die folgenden Vorlesungen enthalten,
wird der alte Stoff, unter neuen Gesichtspunkten zusammen-
gestellt und beschrieben, es werden die Ihnen bekannten
Tatsachen sein, von einer anderen Seite gesehen. An einigen
Stellen freilich und zwar an denen, die mir die wichtigsten
zu sein scheinen wie gerade in der Hypothese des unbewußten
Geständniszwanges und ihren psychologischen Folgerungen
ergibt sich eine neue Auffassung des Tatsachenmaterials, die
in der analytischen Literatur meines Wissens noch nicht
vertreten und dargestellt wurde. Diese Auffassung fügt sich
unseren bisherigen Anschauungen über das unbewußte
Geschehen ausgezeichnet ein und tritt nirgends in Wider-
spruch zu ihnen, sie ergänzt sie vielmehr von einer bestimmten
Reik, Geständnis! wang und Strafbedürfnis. !
Geständniszwang und Strafbedürfnis
Seite her. Wenn sie als wissenschaftlich bedeutungsvoll und
praktisch fruchtbar anerkannt werden sollte, so wird dieser
Beitrag im Kreise unserer analytischen Ansichten seine Stelle
finden und in der künftigen Analyse als Ergänzung m
Betracht gezogen werden.
Die neuen Gesichtspunkte, deren Nachprüfung ich Ihnen
empfehlen möchte, ergeben sich aus der Fortführung der
analytischen Forschungen der letzten Jahre. Das Verdrängte
war bisher und wird immer das Hauptobjekt der analytischen
Untersuchung bleiben, aber Freud hat die Analyse des Ichs
und damit jener psychischen Instanzen, von welchen die
Verdrängung ausgeht und welche sie aufrecht erhalten, in
den Umkreis unserer Forschung gezogen. Alles, was ich
Ihnen nun zu sagen habe, wird von den Resultaten dieser
neueren Arbeiten Freuds ausgehen und versuchen, sie m
bestimmter Richtung fortzusetzen.
Es wird sich vielleicht empfehlen, den Wortlaut der
Ankündigung dieser Vorlesungen kurz zu erklären. Ich will
hier versuchen, Herkunft und Absichten, Wirkungen und
Äußerungsformen einer bedeutsamen, unbewußten Tendenz,
des Geständniszwanges, darzustellen, die in der Analyse noch
nicht entsprechend gewürdigt wurde und der ich — bestimmte
Kulturbedingungen vorausgesetzt — allgemeine Bedeutung
zuzuschreiben geneigt bin. Aus später erkennbaren Gründen
habe ich diese Tendenz Geständniszwang genannt, ohne mit
dieser Bezeichnung den Umkreis ihrer Wirksamkeit abstecken
zu wollen. Es sei hier nur zur Aufklärung vorausgeschickt,
daß in diesem Namen das Geständnis als die praktisch und
sozial bedeutsamste, entwicklungsgeschichtlich jüngste Funktion
dieser Tendenz hervorgehoben werden sollte. Ihr Zwangs-
charakter kann aus ihrer, alle inneren und äußeren
i
•^
—
Einführung
Widerstände überwindenden Natur und aus ihrer direkten
Abkunft von den Trieben abgeleitet werden. Die Zugehörig-
keit dieser Tendenz zum System Ubw wird durch Erfahrungen
in der Analyse sichergestellt. Die Erscheinungsformen und
psychischen Wirkungen des Strafbedürfnisses werden hier
nur so weit zur Sprache kommen, als sie mit dem Geständnis-
zwange verknüpft sind.
Die Annahme einer zwanghaften, unbewußten Tendenz
zum Geständnis — -allgemeiner gesprochen: zur Mitteilung
oder Darstellung endopsychisch wahrgenommener Vorgänge —
ergab sich mir seit mehreren Jahren aus bestimmten
Erfahrungen der analytischen Praxis. Sie scheint mir aber
auch durch die theoretischen Gesichtspunkte der Psycho-
analyse als wissenschaftliches Postulat unabweisbar. Gehen
wir von der Erfahrung aus 5 ich wähle ein beliebiges Beispiel
aus dem Analysenmaterial des Tages, eines jener indifferenten
Beispiele, die durch keinerlei besondere Züge ausgezeichnet
sind und die Sie in mannigfachen Variationen aus den
Stunden jedes Analytikers erzählen hören können: der Patient A.
beginnt die Analysestunde mit dem Bericht einer kleinen
Beobachtung. Er habe heute bei seinem Eintritt in meine
Wohnung bemerkt, daß mein Hut, der gewöhnlich an einem
bestimmten Haken der Vorzimmerwand hänge, nicht an
diesem Platze sei, sondern an einem entfernten Haken.
Gewöhnlich habe er seinen Hut neben den meinen placiert.
Es sei vielleicht lächerlich, als er aber heute meinen Hut
an dem Haken vermißt habe, konnte er sich des Verdachtes
nicht erwehren, daß der Platzwechsel von mir mit Absicht
vorgenommen sei. Nach kurzer Pause setzt er fort: Vielleicht
wünsche ich nicht, daß sein Hut mit dem meinen in
Berührung komme. Hier bricht das Thema ab. Es folgen
Geständniszwang und Strafbedürfnis
nun, scheinbar unvermittelt, Erinnerungen aus früher Schul-
zeit, darunter eine dunkle, unbestimmte an Szenen von
mutueller Onanie, wobei A. und ein älterer Knabe ihre
Genitalien aneinander rieben. Aus noch früherer Zeit tauchte
jetzt eine Erinnerung auf, daß er sich an den Vater zärtlich
anschmiege und dabei seinen Penis an dessen Ellbogen rieb;
der Vater habe ihn ärgerlich abgewiesen. Noch unbestimmter,
verworrener scheinen weiter zurückliegende Eindrücke von
allerlei Neckereien und Spielen zu sein, die er als ganz
kleiner Junge mit einem Affen in seiner überseeischen
Heimat gespielt habe. Daran schließen sich nun lebhafte
Gefühle und Erinnerungen, die sich auf die Erfahrungen
beziehen, welche er mit seinen militärischen Vorgesetzten
während der Kriegszeit gehabt hatte und in denen sein
zwischen erbittertem Trotz und demütiger Unterwürfigkeit
schwankendes Verhalten jenen Autoritäten gegenüber zum
Ausdruck gekommen war. Ich verzichte auf alle nähere
Beschreibung der Einzelheiten, wie der Redeweise, der
mimischen Ausdrücke, des Zögerns und der Stimmver-
änderungen des Analysanden; ich könnte Ihnen doch nicht
jenen Eindruck vermitteln, der dem Beobachter für manche
Folgerungen beweisender ist als logische Operationen.
Die Bemerkungen im Anfange der Stunde sind auf dem
Boden der auf den Analytiker übertragenen Neurose erwachsen:
sie zeigen die Kränkung und Erbitterung über eine phan-
tasierte Versagung in der homosexuellen Richtung. Wir
können der Erregung, welche die Beobachtung des veränderten
Platzes für meinen Hut in dem Patienten auslöste, sym-
ptomatischen Wert zuschreiben; wir werden sie in der
Analyse sicherlich wie ein Symptom bewerten und behandeln.
Vom rezenten Anlaß aus führen nun die Einfälle regressiv
Einführung
zu Erinnerungen an frühere homosexuelle Aktionen und
Versagungen, deren Art die Beziehungen des Patienten zu
älteren Männern in der Folge mitbestimmt haben. Die
Assoziationen folgten einander spontan; der Analytiker verhielt
sich während der Stunde passiv zuhörend.
Nun fassen Sie die Situation schärfer ins Auge; sie enthält
drei merkwürdige psychologische Antinomien. Der Kranke
hat mitgeteilt, was ihm einfiel, die Beobachtung des Platz-
wechsels des Hutes. Will er damit etwas sagen? Ja gewiß;
er will eben das Resultat seiner Wahrnehmung mitteilen.
Was hat er aber wirklich damit gesagt? Sie wissen aus den
folgenden Assoziationen, daß es viel mehr und Anderes war,
was er damit zum Ausdruck brachte. Sie wissen, es handelt
sich um Eindrücke und Erinnerungen, die stark affektbetont
sind. Nehmen Sie einen Augenblick an, der Fall läge
ungünstiger als er sich in Wirklichkeit abgespielt hat:
A. hätte nur jene Hutbeobachtung mitgeteilt und wäre dann
auf ganz andere, entlegene Themen übergegangen, deren
Verbindung mit den vorausgegangenen nicht nachgewiesen
werden kann, würde er damit dasselbe gesagt haben? Ja
wir wären gezwungen, denselben Schluß zu ziehen, auch
wenn die folgenden Assoziationen anscheinend keinerlei
Zusammenhang mit dem Thema aufgewiesen hätten. Wir
haben die Gefühlseinstellung des Patienten zum Analytiker
schon während der vorangehenden Zeit sich verändern
gesehen, haben die mimischen Zeichen seiner Gefühle
beobachten können, werden uns sagen, daß diese bestimmte
•Einstellung im Leben A.'s ihre Vorbilder hatte und würden
auch dann zu der nämlichen Ansicht kommen — auch
wenn wir die sexualsymbplische Bedeutung des Hutes im
Traume und in anderen unbewußten Produktionen nicht
Geständniszwang und Straf bedürfnis
kennten. Die erste merkwürdige Tatsache besteht also darin,
daß der Patient etwas mitteilt und nicht weiß, was er
damit gesagt hat.
Die zweite rätselhafte Tatsache steht mit der ersten in
engster Verbindung. Sie ergibt sich sofort, wenn Sie ver-
fahren, wie die analytische Technik Ihnen in diesem Falle
vorschreibt. Sie sagen dem Analysanden das, was er Ihnen,
ohne es zu wissen, verraten hat, daß er unter dem Ein-
drucke einer homosexuellen Versagung stehe, die in ihm
Gefühle der Kränkung und Erbitterung hervorrufe. Sie
würden nun erwarten, daß er diese Mitteilung erstaunt
entgegennehmen, sich den ganzen Assoziationsablauf ins
Gedächtnis zurückrufen und erkennen wird, daß wirklich
jener Sinn in seinen Worten lag. Sie werden aber bemerken,
daß der Analysand sich keineswegs dieser Ansicht anschließen
wird; er wird, trotzdem alle psychologische Logik für Ihre
Annahme spricht, entschieden ableugnen, daß er diese
Gedanken und Gefühle zum Ausdrucke gebracht hat. Es
bleibt Ihnen also nur übrig, anzunehmen, daß er etwas
gesagt hat, nicht weiß, was er gesagt hat und gerade das
nicht sagen wollte.
Gilt nun der Ausdruck jener Gefühle, die durch den
Platzwechsel des Hutes ausgelöst wurden, wirklich dem
Analytiker? Man möchte es meinen, aber es ist nicht
ganz so. Die Person des Analytikers kommt nur durch die
Übertragungswirkungen zu ihrer erborgten Bedeutung. Jene
starken Gefühle gelten dem Vater oder einer anderen,
für die Entwicklung bedeutungsvollen Persönlichkeit. Ihm-
will er eigentlich klagen, ihn anklagen, ihm seine Zärt-
lichkeit und seinen Unwillen zeigen. Der Analytiker spielt
in diesem Prozeß eigentlich die Rolle des „lightning-
conductors", wie es ein englischer Patient bezeichnete.
Gestatten Sie mir einen Vergleich, der diese Rolle illustriert.
Ich kenne einen Herrn, der sich viel darauf zugute tut,
daß er seine Meinung über seine Bekannten und Freunde
auch dann, wenn sie unangenehme Wahrheiten beinhalten,
den Betreffenden ruhig und ohne besondere Rücksicht auf
narzißtische Empfindlichkeit ins Gesicht sagt. Einer seiner
boshaften Freunde aber charakterisierte ihn dahin, er sage
jedem gerade die Wahrheit, die für einen Anderen passe.
Ähnlich ist das Verhalten unseres Analysanden: er sagt dem
Einen das, was für den Anderen bestimmt ist. Die dritte
merkwürdige Tatsache besteht also darin, daß der Patient
etwas einer Person sagt, für die es nicht bestimmt ist. Es
ist Ihnen nicht schwer geworden, diese drei Tatsachen, deren
unterirdische Verbindung Sie erkennen, ihrer Rätselhaftigkeit
zu entkleiden-" die Unterschiede von bewußtem und unbe-
wußtem Wissen und Wollen sowie die Wirkungen der
Übertragung liefern die Erklärung.
Wir nehmen nun die mittlere der von uns hervorgehobenen
Tatsachen zum Ausgangspunkt unserer Fragestellung. Der
Patient sagt etwas, was er nicht sagen will. Sie wissen, wie
dies zugeht. Die Analyse hat Sie daran gewöhnt, eine Unter-
scheidung zwischen dem, was der Mensch bewußt will und
dem, was unbewußte psychische Mächte ihn zu tun zwingen,
anzuerkennen. Diese Unterscheidung wurde Ihnen besonders
in der Theorie vom Widerstände klar. Sie haben ein Ver-
ständnis dafür gewonnen, daß sich jene Mächte, die einmal
unliebsame oder verpönte Vorstellungen und Tendenzen in
das Reich des Unbewußten verbannt haben, sich mit derselben
Intensität ihrer Rückkehr widersetzen, daß die Kraft der
Verdrängung sich jetzt als Widerstand äußert. Das Aus-
Geständniszwang und Strafbedürfnis
weisungsurteil gilt zugleich als Verbot der Wiederkehr in
jenes Land, das verlassen werden mußte. In der Analyse
stellt sich Ihnen das Problem etwa so dar: der Patient ist
bewußt bereit, alles zu sagen, was ihn die analytische Grund-
regel zu sagen verpflichtet, aber die Verdrängungs widerstände
verhindern ihn daran. Sie wissen, daß die stärksten Wider-
stände dieser Art unbewußter Natur sind. Der Analytiker
bemüht sich, diese Widerstände aufzudecken, ihre Wirkungen
zu überwinden und dem Verdrängten den Zugang ins
Bewußtseinsrayon wieder zu eröffnen. Er handelt also wie
ein Rechtsanwalt, der einen bereits einmal entschiedenen
Prozeß wieder einleitet und dem Gerichte nun zeigen will,
daß der Verurteilte gerade die über ihn verhängte Strafe
der Ausweisung nicht verdient habe.
Sie haben in Ihrem Studium der Analyse den Prozessen
der Verdrängung und des Widerstandes mit Recht Ihre
intensivste Aufmerksamkeit gewidmet; diese seelischen Vor-
gänge sind nach Freud die Grundpfeiler der analytischen
Theorie. Es kann nicht viel Mühe bereiten, den Standpunkt
der Betrachtung zu wechseln und sich näher mit jenen
psychischen . Mächten zu beschäftigen, welche dem Ver-
drängten den Zugang zum Bewußtsein ermöglichen wollen.
Dabei werden Sie am besten von folgender Erwägung aus-
gehen: es hat sicherlich einer gewissen psychischen
Anstrengung bedurft, bestimmte Vorstellungen und Impulse
zu verdrängen — das zeigt ja die Bezeichnung selbst —
und es bedarf eines gewissen Verdrängungsaufwandes, um
sie dort zu erhalten, gerade jenes Aufwandes, den wir in
der Analyse als Widerstand zu spüren bekommen.
Ich sagte früher, daß die stärksten Widerstände unbewußter
Natur sind, aber ich bitte Sie, diese Aussage nicht mißzu-
verstehen: die Widerstände gegen die Rückkehr ins Bewußtsein
gehen nicht von den unbewußten Triebregungen aus; man
kann also nicht von einem Widerstände des Unbewußten reden.
Die verdrängten Gedanken und Tendenzen haben ja selbst
die stärkste Neigung zur Wiederkehr und zur Durchsetzung.
Um unseren Vergleich wieder aufzunehmen: der ausgewiesene
Delinquent hat Heimweh und macht alle Anstrengungen,
wieder in sein verbotenes Vaterland zurückzugelangen. Sie
wissen, daß alle Vergleiche hinken, aber — um in unserer
Veranschaulichung fortzufahren — der Rechtsanwalt, in
unserem Falle der Analytiker, unterstützt diese Bestrebungen,
freilich unter der Voraussetzung, daß das Ziel auf legalem
Wege erreicht werde und daß sich der Petent in Zukunft
den Gesetzen des Landes entsprechend verhalten werde. Die
Analyse hat diese psychische Situation dadurch gekenn-
zeichnet, daß sie behauptet, die verdrängten Vorstellungen
drängen gegen die Zensur des Vorbewußten und es gelinge
ihnen manchmal die Wiederkehr. Ich meine nun, gerade
auf dem Forschungsgebiete der seelischen Prozesse, welche
wir als die Wiederkehr des Verdrängten bezeichnen, sei uns
die Analyse noch manche Aufklärungen schuldig geblieben 5
gerade hier wird sie uns auch noch wichtige psychologische
Aufschlüsse zu geben vermögen.
Das Beste, was wir über diese Vorgänge wissen, hat
Freud uns gezeigt : wir haben von ihm gelernt, zu
verstehen, daß die verdrängten Vorstellungen keineswegs
unwirksam geblieben sind, sondern unterirdisch eine inten-
sive Tätigkeit entfalten; sie schicken entstellte, bewußt-
seinsfähige Repräsentanten ins Bewußtsein, Ersatzbildungen
und Symptome. Es ist also so, wie wenn jener Verurteilte
im fremden Lande Haar- und Barttracht verändert, seine
io Geständniszwang und Straf Bedürfnis
Kleidung gewechselt hätte und nun mit falschem Paß
in das verbotene Land zurückkehrte. Aber Freud hat
uns noch einen anderen Mechanismus kennen gelehrt:
gerade aus der Mitte des Verdrängenden, aus der höchsten
Intensität des Verdrängungsaufwandes treten verdrängte
Gedanken- und Gefühlszüge manchmal unentstellt ins
Bewußtsein. Die Unterschiede beider Vorgänge sind nicht zu
verkennen: in dem einen Fall wird der wachsame Hüter
des Vorbewußtseins, die Zensur, überlistet, im zweiten
wieder überwältigt. Der Ausgewiesene unseres Vergleiches
benützt in einem Falle die Wachsamkeit des gestrengen
Wächters, der nur nach einer bestimmten, ihm durch
gewisse Kennzeichen bekannten Person Ausschau hält, um
sich in einer Verkleidung durchzuschmuggeln; im andern
Falle folgt er dem übermächtigen Drange, der ihn in die
Heimat zieht, verschmäht alle Künste der Verkleidung und
wagt einen Verzweiflungsakt: er überrumpelt in seiner
wahren Gestalt den überraschten Wächter nach erbitterter
Gegenwehr.
Kehren wir zu unserem Ausgangsbeispiele zurück: wir
behaupteten, der Patient habe uns etwas mitgeteilt, was er
nicht sagen wollte. Aber die analytische Psychologie hat Sie
daran gewöhnt, einen Gesichtspunkt festzuhalten, der sich
in der Auffassung der neurotischen Erkrankungen im all-
gemeinen wie ihrer einzelnen Äußerungen bewährt hat:
sie führt das, was der Erfolg der Krankheit ist, auf eine
ihrer wesentlichen Absichten zurück; die anscheinende
Krankheitsfolge ist nach Freud in Wirklichkeit die Ursache,
das Motiv des Krankwerdens. Dieser Schluß vom Effekt auf
das psychische Motiv ist im ganzen Bereich des unbewußten
Seelenlebens gerechtfertigt. Wenden wir ihn auf unseren Fall
Einführung
an: der Patient wollte unbewußt etwas sagen, was er bewußt
nicht sagen wollte ; er wollte unbewußt gerade das sagen,
was mitzuteilen ihm bewußt besonders peinlich wäre.
Wir sind so zur Annahme einer unbewußten Tendenz
gelangt, die ohne den bewußten Willen der Person verdrängtes
Material zur Äußerung bringt. Diese unbewußte Tendenz hat
nichts mit dem bewußten Vorsatz, der analytischen Grund-
regel zu folgen, zu tun. Sie mag sich dieses Vorsatzes bedienen,
unter seiner Flagge segeln, aber sie ist von ihm durch den
tiefgehenden und prinzipiellen Gegensatz bewußter und
unbewußter Vorgänge getrennt. Um wieder unseren Ver-
gleich heranzuziehen: jener Ausgewiesene wird in seinen
Gesuchen an die Behörde wegen Rückkehr in die Heimat
mannigfache Gründe angeben, berufliche Motive in den
Vordergrund rücken, familiäre Interessen betonen, aber das
stärkste Motiv, das ihn in die Heimat zieht, z. B. die
Hoffnung, dort ein geliebtes Mädchen zu gewinnen, vor
den Behörden geheimhalten. Die seelischen Vorgänge, die
uns in der Analyse besonders interessieren, sind zwar dem
Bewußtsein entzogen, aber nicht aller Fähigkeit, sich zu
äußern, beraubt. Da diese Prozesse an sich unbewußt sind,
so ist es verständlich, daß auch die Außerungstendenz, die
ihnen eignet, unbewußt bleibt.
Doch besinnen wir uns: die Möglichkeit der Analyse
beruht ja darauf, daß ein solcher wirksamer Äußerungsdrang
vorhanden ist und sich zum Teil durchsetzen konnte. Nur
dadurch, daß sich das verdrängt Unbewußte in entstellter
und verschobener Form, in Ersatz- und Reaktionsbildungen,
irgendwo äußern konnte, sind wir in die Lage gekommen,
seine Zeichen zu erkennen und zu deuten. Wir verdanken
also die Existenz der Psychoanalyse als heuristischer Methode
I
Geständniszwang und Straf Bedürfnis
wie als therapeutischen Verfahrens wirklich nur der Wirkung
des Äußerungsdranges des verdrängten Materials, der Mög-
lichkeit ihrer wenn auch entstellten Darstellung. Diese Tat-
sache, vielleicht noch nicht genugsam hervorgehoben, recht-
fertigt allein schon unsere Erwartung, daß der Äußerungs-
tendenz innerhalb der unbewußten Vorgänge eine besondere
Bedeutung zukommt. Sie wird in uns aber auch die Hoff-
nung rege machen, daß die analytische Erforschung des
Äußerungsdranges und seiner Besonderheiten nicht ertraglos
für die analytische Praxis und Theorie bleiben kann.
Wir gehen wieder von konkreten Beispielen aus, um
weiter zu gelangen. Bisher haben wir ja überall an Ihnen
Bekanntes angeknüpft: die Äußerungstendenz verdrängter
Vorstellungen schien Ihnen, seit Sie sich mit Psychoanalyse
beschäftigen, immer evident; dem unvollkommen unter-
drückten Material, blieb eine, wenn auch eingeschränkte
Möglichkeit, sich mitzuteilen. Ein Fall von Verschreiben wird
Ihnen sofort zeigen, daß die Äußerungstendenz manchmal
bestimmtere Absichten zu verfolgen scheint, die wir nicht
vorausgesetzt hätten. Ich verdanke das Beispiel dem Berichte
eines englischen Patienten, der sich von seiner Frau getrennt
hatte, als tiefgehende Charakterdifferenzen zwischen den
Eheleuten in schmerzlicher Art zutage getreten waren. Aus
dieser Zeit der Separierung datiert ein Brief der Dame, in
dem sie wörtlich schreibt: If I return I am afraid it will
m e the same again. Es ist klar, daß hier ein Verschreiben
vorliegt 5 es sollte natürlich heißen: it will he the same
again. Was die Schreiberin ausdrücken will, ist ja folgendes:
Wenn ich auch zu dir zurückkomme, so können wir doch
zusammen nicht glücklich werden 5 ich fürchte, es wird
dasselbe sein wie früher. Was aber das Verschreiben aus-
Einführung
13
drückt, ist etwas ganz Anderes, es sagt: wenn ich auch
zurückkomme, ich könnte mich ja doch nicht ändern, ich
kann meinen Charakter ja nicht ändern, ich fürchte, ich
werde dieselbe sein wie früher. Das Verschreiben kommt
einem Geständnisse gleich 5 es drückt ja die Überzeugung
aus: mein unglückseliger Charakter ist zum großen Teil
schuld an unseren Differenzen, an der Unmöglichkeit ehe-
lichen Zusammenlebens. Das aber ist eine Meinung, zu der
sich die Frau niemals bekehren wollte. Wir haben hier also
eine Äußerung unbewußter Gedanken, die von der Natur
eines Geständnisses ist, ein unbewußtes Bekenntnis.
Ich will diesen Eindruck bei Ihnen verstärken und füge
deshalb ein Beispiel von Versprechen an, das eine kleine Gesell-
schaft im letzten Sommer sehr belustigt hat. Ein Herr in
einer Pension der Sommerfrische, wo wir waren, hatte ein
junges, anmutiges Mädchen kennen gelernt. Er hatte sich ein-
mal bei einer Abendgesellschaft bis in späte Stunden angeregt
mit dem Fräulein unterhalten und dabei die Anziehung,
die von der jungen Dame ausging, lebhaft verspürt. Als er
am nächsten Morgen am Frühstückstisch der gemeinsamen
Pension saß, erschien sie unerwartet früh. Angenehm über-
rascht begrüßte der Herr sie mit folgenden Worten: Guten
Morgen, Fräulein, ich habe Sie noch in den Federn ver-
mißt. Er wollte natürlich „vermutet" sagen und geriet
durch sein „dummes" Versprechen in nicht geringe Ver-
legenheit. Es besteht nun für uns kein Zweifel, daß dieses
Versprechen einem Geständnis gleichkommt, das er in die
Worte kleiden könnte: wie sehr habe ich mich noch im
Bett nach Ihnen gesehnt. Es ist also das Geständnis seiner
zärtlichen und sinnlichen Wünsche, das sich ihm da inmitten
einer konventionellen Redewendung auf die Lippen gedrängt
14 Geständniszwang und Strafbedürfnis
hat und dessen Lautwerden sonst Schicklichkeitsgründe
unmöglich gemacht hätten. Es ist deutlich, daß sich hier
das Verdrängte ungestüm, putschartig an den Platz der
unterdrückenden Mächte gesetzt hatte und nun fast unent-
stellt — denn das Wörtchen „noch" in diesem Zusammen-
hang ist doppeldeutig — zum Durchbruch gelangt war.
Vergleichen Sie mit diesem Versprechen ein anderes, das
Freud in der „Psychopathologie des Alltagslebens" anführt:
ein Herr spricht eine Dame auf der Straße mit den Worten
an: „Wenn Sie gestatten, mein Fräulein, möchte ich Sie
gerne' begleit-digen." In diesem Beispiel hat sich also
— ungleich dem ersten — nicht nur der Wunsch, sondern
auch die Befürchtung einen Ausdruck geschaffen. Worin
unterscheiden sich nun diese beiden Beispiele? Im ersten
tritt ein unverhüllter Wunsch störend in die bewußte Rede-
absicht, im zweiten ein Wunsch sozusagen mit schlechtem
Gewissen. Beide stellen einen Selbstverrat dar, aber der
Herr in unserem ersten Beispiel hat sein Versprechen aus
vollem Herzen, man möchte sagen, naiv begangen, der
zweite hat in seinem Versprechen gezeigt, daß er selbst die
Befürchtung hege, sein Vorschlag könne beleidigend wirken,
also unbewußt seine Absichten als wenig ehrbare ein-
bekannt. Freud vergißt nicht, diesem Beispiel hinzuzu-
fügen: „Nebenbei, der junge Mann wird bei der Dame
nicht viel Erfolg gehabt haben." Wir dürfen nicht nur ver-
muten, daß der Herr dies vor dem Aussprechen geahnt
habe — auf solchen Zweifel vorher deutet ja sein Ver-
sprechen — sondern auch, daß es seine unbewußte Absicht
war, sich um den Erfolg zu bringen.
Jenem anderen Herrn aber, der sein sexuelles Begehren
so unverhüllt in seinem Versprechen verraten hatte, hat
Einführung 1 5
das augenscheinlich bei der Dame keineswegs geschadet:
sie errötete flüchtig, setzte aber das Gespräch freundlich
und unbefangen fort, als hätte sie das Versprechen nicht
gehört oder nicht beachtet. Es ist nicht unmöglich, daß
sie das sich im Versprechen durchsetzende Geständnis unbe-
wußt als eine Art unfreiwilligen Komplimentes aufgefaßt
hat. Freud weist darauf hin, daß der Herr in jener Szene des
Ansprechens der Dame durch seine Fehlleistung gleichsam
die konventionelle Antwort: Ja, was glauben Sie denn von
mir, wie können Sie mich so beleidigen! vorwegnimmt.
Die Dame würde so auf das Versprechen reagieren, als hätte
sie es verstanden und gedeutet, als hätte sie nun wirklich
die Befürchtung des Herrn wahr gemacht.
Ich habe früher zu jenem Vorfall im Sommer gesagt, daß
das junge Mädchen nach dem Versprechen das Gespräch so fort-
führte, als wäre es nicht vorgefallen, als hätte der Herr das
Richtige gesagt. Nun, das stimmt nicht ganz; ein kleiner Zug
läßt — neben ihrem Erröten — erkennen, daß auch sie das
Versprechen wohl bemerkt und seinen Sinn gut verstanden
hat. Es war nämlich der nächste Satz, den sie nach dem Ver-
sprechen sagte; er klingt ganz banal, stellt scheinbar eine Ant-
wort auf die Anrede des Herrn dar, aber ich möchte behaupten,
daß er in unterirdischem Zusammenhange mit dem Versprechen
steht und seinen guten und sogar seinen feinen Sinn hatte.
Sie sagte nämlich : „O, ich habe sehr gut geschlafen." Das sieht
so aus, als wäre es eine Antwort darauf, daß der Herr
vermutet hatte, sie werde heute länger schlafen, erst spät
aufstehen. Sieht man aber näher hin, so merkt man, daß
der Satz wenig zu der intendierten Rede des Herrn paßt.
Hätte der Herr wirklich gesagt: Ich habe Sie noch in den
Federn vermutet, so würden wir etwa die Antwort erwarten:
i
1 .
Ich bin gewöhnt, im Sommer früh aufzustehen, oder:
Die Sonne hat mich aufgeweckt. Ich habe einen Ausflug
vor, deshalb , oder dergleichen. „O, ich habe sehr gut
geschlafen" scheint uns aber keineswegs diejenige Äußerung
zu sein, die wir gerade in diesem Zusammenhang erwarten
würden. Sie paßt nur scheinbar; sie klingt gewiß jedem
von Ihnen gezwungen.
Der Satz der jungen Dame paßt aber ausgezeichnet, wenn
wir ihn als von dem vorangehenden Versprechen des Herrn
unbewußt beeinflußt erkennen. Der Herr hatte ja angedeutet,
daß sein Schlaf am Morgen durch Gedanken an das Mädchen
gestört worden sei, daß die Ungeduld, es zu sehen, ihn so früh
aus den Federn getrieben habe. Wenn nun die Dame nach seiner
Äußerung der Überraschung, sie so früh zu sehen, versichert,
sie habe sehr gut geschlafen, kann dies nur eine demonstrative
Abweisung der im Versprechen unbewußt enthaltenen Zärtlich-
keit darstellen. Es kann nur soviel heißen wie: O, mich haben
die Gedanken an Sie keine Minute gestört, ich habe im
Gegenteil ganz ausgezeichnet geschlafen; bilden Sie sich nur
ja nicht ein, daß die Sehnsucht, Sie zu sehen, mich so früh
hierher kommen ließ! Berücksichtigen Sie aber die im
Versprechen des Herrn unbewußt verratenen sexuellen
Wünsche, so werden Ihnen auch die tieferen Gründe dieser
unbewußten Abwehr klar. Was bewußt so gezwungen klingt,
hat für das Unbewußte der beiden Sprechenden Sinn und
Bedeutung. Es ist so, als bestehe zwischen den Beiden eine
Art geheimer Verständigung: die Rede des Herrn und die
Replik der jungen Dame sind unbewußt aufeinander
abgestimmt wie die Töne zweier guter Musikinstrumente.
Wir sind im Vergleiche dieser letzten Fehlleistungen mit
anderen Triebäußerungen auf bedeutsame Differenzen gestoßen,
Einführung
1 7
die uns dazu bestimmen könnten, dem allgemeinen Äußerungs-
drange des Unbewußten manchmal auch spezielle Wirkungen
zuzuschreiben, die in der uns bekannten der Triebdurchsetzung
nicht enthalten sind. In bestimmten Fällen wird dieser
Äußerungsdrang den Charakter einer Tendenz annehmen,
deren Ziel das Geständnis ist. Wir haben nicht übersehen,
daß die beiden Fehlleistungen selbst wichtige Unterschiede
aufweisen. Die psychischen Mechanismen in den zwei Fällen
des Versprechens sind verschieden und es scheint, als würde
dieser Verschiedenheit auch eine Differenz in der Reaktion
seitens der Außenwelt entsprechen: die mit dem Vorschlag
des „ Begleit- digens" angesprochene Dame würde, sagten wir,
beleidigt oder ärgerlich antworten, das Mädchen, das der Herr
noch in den Federn „vermißt" hat, gibt eine zwar abweisende,
aber schelmische oder neckende Antwort.
Sie werden vielleicht einwerfen, daß es sich ja um verschiedene
Personen und Situationen handelt und daß schon dieser Umstand
eine Verschiedenheit der Reaktion bedinge. Sie haben gewiß
Recht, aber ich möchte mich getrauen anzunehmen, daß nicht
die Verschiedenheit der Personen und der Umstände das Ent-
scheidende sei, sondern die in den beiden Versprechen liegende
psychische Differenz. Beide Fehlleistungen sind Äußerungen
unvollkommen unterdrückter Triebregungen, aber die Art
dieser Äußerung ist verschieden. Das eine ist sozusagen ein
verstecktes, das andere ein offenes Geständnis dieser Trieb-
regungen. Nun könnte man sich wohl darüber verwundern,
warum das versteckte Geständnis auf eine schärfere Abweisung
stoßt als das weit unzweideutigere unseres zweiten Falles.
Dies mag mit allgemeineren Fragen zusammenhängen, die
uns vielleicht noch beschäftigen werden; jetzt wollen wir
lieber an einer Gemeinsamkeit festhalten, nämlich, daß beide
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis. 2
I
3.8 Geständniszwang und Strafbedürfnis
Äußerungen Geständnisse darstellen und eine bestimmte
Wirkung auf die Außenwelt haben, die sich von der anderer
Triebäußerungen zu unterscheiden scheinen. In der Zwischen-
zeit sind Ihnen gewiß andere Beispiele von Fehlleistungen
eingefallen, die Sie als Geständnisse bezeichnen würden. Sie
können vielleicht vom Vergessen eines Vorsatzes berichten,
in dem Sie sich unbewußt zu Ihrem Widerwillen gegen seine
Ausführung bekannten, von einer jener kleinen Symptom-
handlungen, deren Natur als Geständnis leicht erkannt werden
kann. Das Zupfen an der Quaste eines Polsters, das Spielen
mit dem Ehering und ähnliche unauffällige Aktionen werden
so für den Analytiker zu unbewußten Geständnissen.
Es liegt nun die Frage nahe: wie kommt es, daß Äußerungen
von Triebregungen diesen neuen Charakter, den des Geständ-
nisses, annehmen können? Wodurch und unter welchen Bedin-
gungen kommt dies zustande? Wie unterscheidet sich die
Wirkung eines Geständnisses auf die Außenwelt von der, die
andersartige Äußerungen derselben Triebregungen ausüben?
Hat vielleicht gerade die Außenwelt einen bestimmenden Ein-
fluß auf die Umwandlung einer Triebäußerung in ein Geständ-
nis? Diesen Fragen, welche nur die oberflächlichsten Beziehungen
der beiden psychischen Erscheinungen betreffen, werden sich
gewiss andere, wichtigere anreihen. Halten wir vorläufig fest,
daß wir erkannt zu haben glauben, daß der allgemeine
Äußerungsdrang des unbewußten Materials manchmal den
Charakter einer Geständnistendenz annimmt. Wir können
noch nicht sagen, wann dies eintritt, was es psychisch bedeutet
und ob dieser seelische Vorgang nicht eine allgemeinere
Geltung beanspruchen darf. Dürfen wir aber behaupten, daß
die analytische Untersuchung dieser Beispiele von Selbst-
verrat in Fehlleistungen ausreiche, um von einer psychischen
Einführung
19
Geständnistendenz zu sprechen? Es ist nur sichergestellt, daß
diese Fehlleistungen ein Geständnis als Effekt bedeuten. Aber
ist es nicht vielleicht voreilig, den Schluß von diesem Effekt
auf die Absicht auf so schmaler, schwankender Grundlage zu
ziehen? Wir wollen uns diese Unsicherheiten nicht verhehlen;
jedenfalls scheint uns die Frage sorgfältiger psychologischer
Untersuchung wert.
Heute wollten wir uns nur allgemein mit der Frage
beschäftigen, wohin unsere gemeinsame Forschungsreise gehen
soll; das nächstemal werden wir ohne weitere Vorbereitungen
zu unserer Expedition aufbrechen.
M
M
ZWEITE VORLESUNG
Der unbewußte Geständniszwang
feine Damen und Herren! Es wird am besten sein, wenn
wir die Entwicklung der Triebäußerungen von ihren
ursprünglichen Situationen an studieren: der Säugling, der
hungrig ist und die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses,
wie Freud vermutete, zuerst halluzinatorisch erlebt, wird
bei steigendem Reiz seine Unlust durch Schreien, Weinen
und Zappeln abzuwälzen suchen. Dieses Mittel zur Herab-
setzung der unlustbetonten Spannung wird bald einer neuen
Absicht dienen, wenn die Erinnerung zeigt, daß ihm die
Befriedigung des Bedürfnisses gefolgt ist. Bald wird die
motorische Aktion, die ursprünglich der Abfuhr diente, zum
Ausdrucksmittel, um der Außenwelt bestimmte Bedürfnisse
anzuzeigen und von ihr deren Befriedigung zu verlangen.
Die ursprüngliche Funktion bleibt natürlich erhalten und
wird in Zukunft nie mehr ihre Bedeutung völlig aufgeben.
Wir vergessen auch nicht, daß es sich bei diesem Ausdrucks-
drange nicht um eine selbständige psychische Tendenz
handelt, sondern um das Zutagetreten eben jener Qualität
der Triebregungen, die wir als ihr Drängen, als ihr Treibendes
bezeichnen. Das Zwanghafte des Ausdrucksdranges leiten wir
also gerade von dieser Natur der Triebregungen, von dem
Der unbewußte Geständniszwang
21
imperativen Drängen nach Befriedigung ab. Wir haben so
diejenige Funktion des Ausdrucksdranges, welche neben der
Abfuhr als die bedeutsamste anerkannt werden muß, bestimmt:
er dient der Mitteilung von Triebbedürfnissen. Das Kind
folgt nun diesem Ausdrucksdrange zuerst völlig naiv und
ungehemmt, aber unter den Einflüssen seiner Eltern und
Erzieher, der Umwelt lernt es konventionelle Zeichen an
Stelle der natürlichen zu gebrauchen, jene Äußerungen
abzumildern und zu beschränken.
Die durch die Erziehung geforderte Triebunterdrückung
wird auch den Ausdruck der Triebregungen modifizieren. Die
Unterdrückung einer Triebregung ist die unerläßliche Bedin-
gung dafür, daß ihr Ausdruck den Charakter des Geständ-
nisses annimmt. In der Äußerung oder Mitteilung des Trieb-
bedürfhisses werden sich auch die einschränkenden oder
hemmenden Kräfte der Außenwelt Geltung verschaffen und
die Gestaltung der Triebäußerung mitbestimmen. Wir beginnen
nun den Unterschied zwischen einem primitiven Äußerungs-
und Darstellungsdrang und der hier zu beschreibenden
Geständnistendenz zu erfassen: wenn die Triebregungen, die
nach Äußerung streben, von der Umwelt verworfen, verurteilt
werden, kann sie das noch schwache Ich nur in Gestalt
des Geständnisses zum Ausdruck bringen. Der Begriff des
Äußerungsdranges ist also der allgemeinere, umfassendere,
die Geständnistendenz der engere und speziellere. Die
Geständnistendenz wäre also ein modifizierter Äußerungsdrarig,
der sich unter den Einwirkungen der Aufnahme bestimmter
Triebäußerungen durch die Außenwelt differenziert hat und
nun in den Dienst neuer Absichten getreten ist.
Die Unterdrückung einer Triebregung ist keineswegs mit
ihrer Verdrängung identisch: wir wollen uns aber hier mit
22 Geständniszwang und Straf bedürfnis
den Veränderungen beschäftigen, welchen der Äußerungsdrang
beim Triebschicksale der Verdrängung unterliegt. Sie wissen,
daß die Verdrängung die unterdrückten Vorstellungen und
Strebungen nicht zur Unwirksamkeit verurteilt. In den Vor-
gängen der Wiederkehr des Verdrängten werden die unbewußten
Abkömmlinge des Verdrängten, die sich als bewußtseinsfähige
äußern dürfen, noch die Spuren des Verdrängenden zeigen
wie entsprungene Sträflinge die Anzeichen ihrer Gefangen-
schaft. Ersatzbildungen und Symptome werden nun nicht nur
das Gepräge des Abfuhrersatzes jener unterdrückten Trieb-
regungen aufweisen, sondern auch das der verdrängenden
Faktoren, deren Wirkung sich selbst zum größten Teil aus
ihrer Abkunft von unbewußten Triebregungen erklärt. So
kommt es also, daß die verdrängenden Mächte selbst, soweit
sie unbewußt sind, Objekt der Triebäußerung werden. Durch
die Einwirkung der Verdrängungsmächte wird der Ausdruck
von Triebregungen, der das Streben nach Befriedigung dar-
stellt, auch zum Ausdruck der abweisenden Reaktion auf jene
Wünsche.
Diente ursprünglich der Ausdrucksdrang der Abfuhr und
Mitteilung der großen Triebbedürfnisse der Menschen, so
verändert er allmählich seine Funktion: die Ausdrucks-
formen bleiben freilich noch immer Darstellungen der Trieb-
bedürfnisse, aber sie legen jetzt in ihrer Gestaltung und in
der Art ihres Auftauchens Zeugnis von der Wirksamkeit jener
seelischen Momente ab, welche die Verdrängung bedingten.
Man darf sie also in diesem Sinne unbewußte Geständnisse
nennen. Das Beispiel jener Fehlleistung „begleit-digen" zeigt
Ihnen deutlich die Einwirkungen gegensätzlicher Regungen
und nähert sich in seiner Struktur und psychischen Genese
dem neurotischen Symptom. Das Charakteristische des
Der unbewußte Geständniszwang
23
Symptomes aber ist, daß es nicht nur den Ansprüchen der
libidinösen und der Ichstrebungen Genüge tut, sondern daß
es beide als die es konstituierenden Mächte verrät, daß es
wie jenes Versprechen die gegensätzlichen Regungen in einem
Kompromißausdruck zusammenfaßt. Das Symptom stellt also
nicht nur die Kraft der verpönten Wünsche, sondern auch
die Macht der verbietenden Instanzen dar, nicht nur die
Stärke der Versuchung, sondern auch die Intensität ihrer
Abwehr. Ja, in manchen Neurosen, wie in der Zwangs-
neurose, werden die Symptome den Charakter der Reaktions-
bildung viel deutlicher erkennen lassen als den der Trieb-
befriedigung, die sie im Verschiebungsersatz dem Kranken
bieten. Aber auch in jenen Formen neurotischer Erkrankung,
in denen die Einflüsse der Verdrängungsmächte nicht so
deutlich zutage liegen wie in der Zwangsneurose, wird
die Tatsache der Krankheit selbst, die Natur des Leidens
zum Zeichen jener tiefgehenden Wirkungen. Das Symptom,
das so dem Ausdrucksdrange der verdrängenden als auch
der verdrängten Tendenz folgt, erhält den Charakter des
Geständnisses, denn wir nennen eine Aussage über eine Trieb-
regung, die als verbotene gefühlt oder erkannt wird, ein
Geständnis.
Soferne nun das Symptom im Wesentlichen sich als
Ersatzbildung und Ersatzbefriedigung unbewußter Trieb-
regungen konstituiert und erhält, darf man von seinem
unbewußten Geständnischarakter sprechen. Ich möchte gleich
hier hinzufügen, daß sich die Bezeichnung unbewußt auch
durch weitere Überlegungen rechtfertigt. Wir sagten ja, es
handle sich um eine Aussage über Triebregungen, die als
verboten gefühlt werden. Wir haben aus Freuds neuen
Aufstellungen über die Genese des Über-Ichs erfahren, daß
24 Geständniszwang und Straf bedürfnis
nicht nur die Triebregungen durch den Verdrängungsprozeß
unbewußt werden, sondern auch der bedeutsamste Anteil
jener Ichinstanzen, die zur Verdrängung zwangen. Der
unbewußte Geständnischarakter des Symptoms wird also durch
die Qualität des Unbewußten, die sowohl den verdrängten
als auch den verdrängenden Mächten eignet, aus deren
Miteinander Wirkung es sich als Resultat ergab, bestimmt.
Ein drittes Moment kommt noch hinzu: es wird als ein Stück
Leidens gewertet und vom Kranken nicht als Geständnis
erkannt. Nicht nur die psychischen Kräfte, aus deren Dynamik
das Symptom seine Existenz ableitet, sondern auch eine seiner
wesentlichen Absichten bleibt unbewußt. Das Geständnis ist
also dadurch als unbewußt gekennzeichnet, daß sowohl seine
Herkunft als auch sein Inhalt und sein Charakter als Geständnis
unbewußt bleibt.
Fügen Sie hinzu, daß der Kranke dieses Geständnis ablegt
und nicht weiß, wem er es mitteilt — wie in der Über-
tragung — - so sind wir wieder zur Feststellung jener merk-
würdigen psychologischen Tatsachen zurückgekehrt, die wir
in der ersten Vorlesung gekennzeichnet haben. Wir könnten
sie jetzt in neuer Ausdrucksweise neu beschreiben: Der
Patient gesteht etwas, bekennt etwas, was ihm nicht bekannt
ist ; er gesteht etwas und weiß weder, was er damit gesagt
hat, noch, wem er es gesagt hat. Ja, wir könnten sogar noch
zwei weitere merkwürdige Tatsachen hinzufügen: der Patient
gesteht etwas und weiß nicht, daß, was er sagt, ein Geständnis
darstellt und er weiß nicht, was ihn zu diesem Geständnis
trieb. Ich meine, die Rätselhaftigkeit dieser Fakten spreche laut
genug für die Existenz und Wirksamkeit des Unbewußten.
Den Charakter des Zwanges, den ich der Geständnistendenz
beilege, könnte man aus dem drängenden Zug der Trieb-
Der unbewußte Geständniszwang
25
regungen allein nicht ableiten. Diese Herkunft aus dem Trieb-
haften drückte bereits dem Ausdrucksdrange ihren Stempel
auf. In der Umwandlung zum Geständniszwange aber werden
zwei Momente erkennbar, welche eben den Zwangscharakter
bestimmen: das erste ist der von außen kommende, später
zum inneren Erwerb gewordene Zwang gegen die freie
Triebäußerung. Er spiegelt sich im unbewußten Geständnis
wieder. Das zweite Moment ergibt sich aus der reaktiven
Verstärkung, welche die Triebintensität durch die Ver-
drängung erfährt oder die zumindestens verspürt wird 5
auch sie wird sich in der Differenz von Triebäußerung
und unbewußtem Triebgeständnis Ausdruck verschaffen. Die
Bezeichnung Geständniszwang scheint mir so durchaus
legitim zu sein.
Wir wären also dahin gelangt, den Übergang der Äußerungs-
tendenz in Geständniszwang psychologisch zu verstehen. Er
hat sich vorerst im Zeichen der sozialen Verwendung der
Triebäußerungen vollzogen. Ursprünglich nur Vorgänge, die
der motorischen Abfuhr dienen, wurden sie zur Darstellung,
zur Mitteilung der Triebbedürfnisse an die Außenwelt als
eine Art der Aufforderung, die Triebbefriedigung durch-
zuführen. Die Art der Aufnahme dieser Triebäußerungen
durch die Außenwelt wird aber für ihre weitere Entwicklung
und Gestaltung entscheidend. Die Abweisung oder Verwer-
fung jener Äußerungen z. B. in der Versagungsform wird
sie auch zur Darstellung jenef Faktoren machen, welche
die Triebbefriedigung hemmen. Die Wiederholung dieses
psychischen Vorganges auf der Verdrängungsstufe setzt jene
primitive Identifizierung mit den Personen, von denen die
Triebhemmung ausging, voraus, die sich später in der
Instanz des Über-Ichs verewigen wird.
26 Geständniszwang und Strafbedürfnis
Unter den Einflüssen der Außenwelt, die für das noch
schwache und unentwickelte Ich bestimmend werden, modi-
fiziert also die Triebäußerung ihre Absichten und dieser
Veränderung entspricht wieder eine Verschiedenheit der
Reaktion seitens der Außenwelt. Auch das Symptom ist
solchen Wandlungen unterworfen. Sie wissen alle, wie das
Symptom seine ursprüngliche Bedeutung und Absicht ver-
ändert hat und haben in der Analyse die historische Schichtung
seiner verschiedenen Bedeutungen und Ziele kennen gelernt.
Aber die Analyse ist nur ein Stück artifiziellen Lebens und
der Geständnischarakter des Symptoms tritt außerhalb der
Analyse deutlich genug hervor. Sie werden einwerfen, ein
Geständnis, das der Andere nicht versteht, ist kein Geständnis.
Allein so einfach ist die Sachlage nicht. Daß wir bis vor
einigen Jahrzehnten die Hieroglyphen nicht enträtseln konnten,
hat uns doch nicht zur Annahme verführt, daß diese Schrift
nur sinnlose Spielerei sei. Wir haben nicht daran gezweifelt,
daß sie ein Mittel der Mitteilung sei. Noch eine Geheim-
und Chiffrenschrift, die uns unverständlich ist, erhebt Anspruch
darauf, verstanden zu werden, und verschließt sich nur denen,
die keinen Schlüssel zu ihr haben.
Mit den neurotischen Symptomen ergeht es nun wie mit
den Versprechen, die wir als Beispiele zitiert haben: die Außen-
welt reagiert so darauf, als hätte sie sie verstanden und ihren
Sinn erfaßt. Es handelt sich freilich um ein Verständnis
besonderer Art. Wenn dies aber der Erfolg der Symptome ist,
so muß es auch in ihrer Absicht liegen, so muß der Kranke
unbewußt wollen, daß seine Symptome in dieser Art verstanden
werden. Ein Zwangskranker in meiner Beobachtung litt
besonders unter der Peinlichkeit von Zwangsblicken, die er
nicht beherrschen konnte und die seinen unbewußten Haß,
Der unbewußte Geständniszwang
27
Verachtung oder Hohn gegen ihm besonders nahestehende
Personen, die er hochschätzte, ausdrückten. Es war nun
merkwürdig, daß er diese ihn peinigenden Blicke, falls die
davon Bedachten ihr freundliches Benehmen gegen ihn nicht
veränderten, solange fortsetzte und ihren aggressiven Ausdruck
verdeutlichte, bis die betreffende Person unfreundlich oder
kühl ihm gegenüber wurde. Ja, wir können diesen Fall
verallgemeinernd sagen, daß die Symptome je länger eine
neurotische Erkrankung dauert, umso deutlicher ihren Sinn
der Außenwelt preisgeben, ihn ihr gleichsam aufdrängen, so
verzweifelte Anstrengungen der Kranke auch macht, ihn
geheim zu halten. „Der Selbstverrat dringt den Menschen
aus allen Poren", hat Freud gesagt. Was wir hier ergänzend
hervorheben wollen, ist, daß der Selbstverrat die Bedeutung
des unbewußten Geständnisses hat.
Haben wir vorläufig die Bedeutung des Geständnischarakters
des Symptoms gegenüber der Außenwelt hervorgehoben, so
stehen wir nun der schwierigen Aufgabe gegenüber, seinen
Sinn und seine Funktion innerhalb des Seelenlebens des
Einzelnen zu verstehen. Wir werden dabei am zweckmäßigsten
vorgehen, wenn wir wieder die Erfahrungen, die wir in der
Analyse machen, heranziehen. Die Analyse bildet ja für uns
die beste Gelegenheit, den Ablauf seelischer Vorgänge zu
rekonstruieren. In dem Zwischenreich von Krankheit und
Leben, zu dem sich die Analyse entwickelt, verkörpert der
Analytiker für den Patienten unbewußt den Vater oder eine
für das kindliche Gefühlsleben wichtige Person. Der Kranke
klagt ihm sein Leid, zeigt, wohin seine unbewußten Absichten
gegangen waren und welche Hindernisse das Leben ihrer
Verwirklichung entgegengestellt hat. In diesem analytischen
Wiedererleben trinken gleichsam die alten Schatten der Unter-
28 Geständniszwang und Straf bedürfnis
weit noch einmal Blut, erhalten sie noch einmal lebendige
Bedeutung und mengen sich in das Leben des Tages. Mit
den alten Erinnerungen erwachen auch die alten Affekte,
nun meistens auf den Analytiker als Übertragungsphantom
gerichtet. Worte müssen nun regressiv Taten ersetzen; indem
der Patient seine zärtlichen, feindlichen, respektvollen oder
verächtlichen Gefühle in Worten, Mienen, Bewegungen
ausdrückt, hat er mit geringerem Energieaufwand getan,
was zu tun es ihn früher drängte. Der junge Mann, der
seine Widerstände gegen den Analytiker richtet, wiederholt
eigentlich die gegen den Vater geplanten Aktionen in
diesem Verschiebungsersatz auf Worte usw. Diese Zeichen
sind selbst der außerordentlich abgeblaßte, gemilderte Ersatz
der Tat.
Die Erzählung oder Darstellung seiner Widerstandsgefühle ist
also nicht nur ein Bericht der auf den Analytiker verschobenen
Tat, sondern ihre abgeschwächte, in Worte umgesetzte
Wiederholung. Es sind die alten Affekte, die sich da äußern,
die unzerstörbar seit der Kinderzeit in ihm fortleben und die
hier zum erstenmal ihren Ausdruck in Worten und Gefühls-
ausbrüchen gefunden haben. Das in Worten ausgedrückte
Wiedererleben der Tat in der Darstellung heißen wir ein
Geständnis oder Bekenntnis der Tat; wir wissen schon,
daß der Patient nicht weiß, was er da mitteilt, was
seine Mitteilung bedeutet. Das heißt also: ein unbewußtes
Geständnis. Wir wissen auch, daß wir auf dem Gebiete der
Neurosenpsychologie den Unterschied zwischen materieller
und psychischer Realität fallen lassen müssen: es ist selbstver-
ständlich, daß ich hier Tat kurzweg für unbewußt phantasierte
oder gewünschte Tat setze. Wir können sagen: das Geständ-
nis ist eine Wiederholung der Tat oder eines bestimmten
Der unbewußte Geständniszwang
2 9
Benehmens im Verschiebungsersatz und an verschiedenem
psychischen Material, da Worte Aktionen ersetzen müssen.
Wir verstehen bei solcher Charakteristik des Geständnisses
als einer verschobenen, abgeschwächten Wiederholung der
Tat nicht, worin dann das Befreiende, Lösende der analytischen
Therapie bestünde, wieso solche Wiederholung im Geständnis
therapeutische Wirkung haben sollte. Diese Fragestellung rührt
freilich an die wichtigsten und umstrittensten Probleme der
analytischen Therapie, deren Erörterung hier nicht unsere
Sache sein kann. Die Probleme der aktiven Therapie und
deren notwendiger Grenzen müßten hier zur Diskussion
kommen; wir würden uns mit der Frage beschäftigen müssen,
ob und wie weit die Wiederholung der Tat in der Über-
tragung vom Analytiker gefördert werden soll, ob und wie
weit es für die Analyse Vorteile bringt, ihre Grenzen gegen
die materielle Realität hin zu verschieben — verfängliche
Fragen mitunter.
Wir gehen aber der Versuchung, uns mit diesen Problemen
zu beschäftigen, für heute aus dem Wege und wollen nur
einzelne Gesichtspunkte betonen, die uns neben den von
anderen Analytikern hervorgehobenen besonders berück-
sichtigenswert erscheinen. Der erste ist der, daß die Über-
tragungswiderstände, welche z. B. die dem Vater geltenden
feindseligen Gefühle sowie das Widerstreben gegen homo-
sexuelle Strömungen wiederholen, diesen Triebregungen freilich
ein Stück Befriedigung zu geben scheinen, die sie vorher
nicht genossen haben. Aber diese Befriedigung ist doch von
besonderer Art, eine außerordentlich eingeschränkte, auf
das Phantasieleben begrenzte, auf kleinste Quantitäten dosierte
Befriedigung. Das hindert indessen nicht ihre psychische
Realität. Wir würden also sagen, ein Stück psychischer
3o Geständniszwang und Strafbedürfnis
Entlastung scheine von der partiellen Befriedigung zu stammen,
die das Geständnis der Tat als seine abgeschwächte Wieder-
holung in veränderter Form mit sich bringt. Es ist so, als
wäre wirklich ein Stück Triebbefriedigung den Menschen
unentbehrlich und als wäre der Verzicht auf Triebbefriedigung
nur dann zu erreichen, wenn man ihr ein Stück Weit
nachgibt. Die Franzosen haben eine Redensart, die lautet :
Reculez pour sauter mieux. Aber nicht das Zurückweichen,
das Springen ist das Wichtigste. Vielleicht liegt es an den
' von der Forschung noch nicht völlig geklärten quantitativen,
also ökonomischen Momenten der Unlustgefühle und der sie
verursachenden Spannungen, daß eine materielle Trieb-
befriedigung in irgend einer Form notwendig ist, damit man
auf das Ganze verzichten kann, so wie man einem ungeduldigen
Gläubiger wenigstens einen kleinen Teil der Schuld bezahlen,
gleichsam seine Bereitwilligkeit zur Bezahlung zeigen muß,
um ihn geduldiger gegen den Aufschub zu machen. Wir
kommen später noch einmal auf dieses Problem zurück.
Der andere Faktor der Therapie, der in jenem Geständnis-
charakter der Analyse beschlossen liegt, ist schwerer zu
erkennen und psychologisch zu erfassen. Er ist ebenso wie
der erste deutlich triebhafter Art und wird bei vorläufiger
Überlegung dahin gedeutet werden können, daß es sich um
ein Stück Überwindung einer dunklen Angst handelt. Wir
ahnen, was diese Angst bedeutet; sie hat den Charakter der
sozialen Angst, die wir Schuldgefühl nennen. Wir glauben,
den Vorgang richtig beschreiben zu können, wenn wir sagen,
es werde durch das Bekenntnis latente Angst in ein Stück
Lust regressiv zurückverwandelt, indem eine Verdrängung
aufgehoben wird. Ich erinnere Sie an die besonderen Techniken
des Witzes, die Freud dargestellt hat und durch die eine
,,
IM
Der unbewußte Geständniszwang
31
ähnliche Aufhebung der Verdrängung für eine sonst abgewiesene
Triebrepräsentanz stattfindet. Wir können nicht sagen, von
welcher Art diese Lust ist, aber rückschließend von dem
Inhalt des Angstaffektes müßten wir zu bestimmten Annahmen
über sie kommen. Kann es jene Lust sein, die mit der
partiellen Befriedigung der unterdrückten Triebregungen
verbunden ist? Gewiß ist auch sie zu einem gewissen Teil
darin enthalten, wenngleich jene Befriedigung eine minimale
ist. Ein mindestens ebenso bedeutsamer Anteil dieser Lust
aber muß masochistischer Art sein, da die Angst, welche die
Triebäußerung hemmte, der Strafe galt. Es ist ein Stück
Strafbedürfnis, das im Geständniszwang eine partielle
Befriedigung findet; es handelt sich um eine partielle
Befriedigung des auf die verpönten Wünsche reagierenden
Schuldgefühles. Wir können also behaupten, ein Teil der
Therapie des Geständnisses der Psychoanalyse beruhe darauf,
daß in ihm sowohl die unterdrückten Triebregungen als
auch das Strafbedürfnis eine bestimmte, quantitativ ein-
geschränkte, qualitativ von der materiellen verschiedene
Befriedigung findet.
Ich weiß selbst, wie wenig diese Beschreibung der wirk-
lichen Sachlage adäquat ist und will deshalb Ihre Ein-
wände vorwegnehmen. Das Strafbedürfnis wird doch nicht
befriedigt, werden Sie mit Recht einwerfen, es folgt ja dem
trotzigen oder unwilligen, feindseligen oder verächtlichen
Zeichen des Übertragungswiderstandes des Patienten keine
Bestrafung. Abgesehen von dem Bemühen, die Wiederholung
in Erinnerung zu verwandeln, erfolgt ja überhaupt keine
Reaktion von seiten des Analytikers. Sie haben vollkommen
recht, so sehr recht, daß ich mich beeile, Ihnen auch die
schwache Stelle meiner anderen Behauptung, die sich auf die
32 Geständniszwang und Strafbedürfnis
partielle Befriedigung der unterdrückten Triebrepräsentanz
bezieht, zu zeigen. Auch jene Triebbedürfnisse werden nicht
wirklich befriedigt, denn der Patient läßt seiner Feindseligkeit
gegen die Autorität des Analytikers keinen freien Lauf; es
kommt zu keiner, wenn auch noch so geringen Aggression
und das junge Mädchen in der Übertragungsliebe fällt dem
Analytiker nicht um den Hals. Aber ich sagte ja, es handle sich
um jene partielle Befriedigung, welche nur durch das Aus-
drücken, in Worte- oder Zeichenkleiden sonst schwer aus-
drückbarer Affekte gewährleistet wird. Sie sehen, man kann
doch mit einer gewissen Berechtigung behaupten, daß die
unterdrückten Triebregungen eine freilich sehr eingeschränkte
Befriedigung erfahren. Bedenken Sie noch, daß die unendlich
häufige Wiederholung des Ausdruckes jener starken Gefühle
geeignet ist, ein bestimmtes Quantum von Befriedigung zu
ersetzen.
Wir verstehen freilich noch nicht, wieso auch das unbewußte
Strafbedürfnis in der Analyse, spezieller: im Geständnisse der
Analyse, auf seine Rechnung kommt. Eine erste Annäherung
an eine solche Behauptung könnte uns die Überlegung
vermitteln, daß ja der Kranke freimütig seine im Triebleben
verankerten Schwächen bloßlegt, sich zu Taten und Gefühlen
bekennt, die er als nicht mit seinen moralischen und ästhe-
tischen Anschauungen vereinbar findet. Aber wir fühlen,
wie wenig damit gesagt ist, da es sich dabei nur um ein
bewußtes Geständnis handelt. Wir gelangen weiter, wenn
wir in der Analyse die Erfahrung machen, daß sich das
Strafbedürfnis von der Strafe auf das Geständnis verschoben
hat. Vergleichen Sie die Situation mit der eines Kindes,
das sich vor der Strafe zu fürchten scheint. Sie können in
den meisten Fällen bei näherer Beobachtung die überraschende
Der unbewußte Geständniszwang
33
Erfahrung machen, daß es vor der Strafe selbst die geringste
Angst fühlt; es zeigt vielmehr Angstgefühle bei der Vorstellung,
daß die Eltern seine kleine Untat entdecken oder daß es sie
den Eltern gestehen muß. Es hat die Strafangst in
Geständnisangst verwandelt; das Geständnis selbst, als
das, was der Strafe vorangeht, ist in höchstem Grade angst
besetzt worden. Das Kind sagt es in vielen Fällen selbst: nicht
die Strafe ist es, was es fürchtet, nur die Szene, in der es den
Eltern sagen wird, was es getan hat. Sie haben sicher von den
traurigen Fällen von Schülerselbstmorden gehört, bei denen
es sichtbarlich die Angst vor dem Geständnis war, welche
den tragischen Ausgang mitbestimmte, die Angst vor Strafe
aber, die in vielen Fällen nicht erfolgt wäre, keine bedeutende
Rolle spielte. Der Student, der sich nicht vor der Prüfung
fürchtet, aber die Spannung vorher unerträglich findet, der
Soldat, der die vielleicht totbringende Schlacht herbeisehnt,
weil er die bangen Stunden vorher nicht ertragen kann,
werden Ihnen als Beispiele von ähnlichen Situationen, in
denen eine Angstverschiebung konstatiert werden kann,
eingefallen sein. Wir sehen hier, daß das Strafbedürfnis wie
jede andere starke Triebregung Spannungen erzeugt, die
verschiebbar sind und deren Intensität nur durch partielle
Befriedigung abgeschwächt werden kann.
Vergleichen Sie diese psychologischen Tatsachen mit den
analytischen Untersuchungen der Sexualentwicklung, so könnten
wir dort ähnliche Mechanismen konstatieren: ich erinnere Sie
an die normale und die pathologische Rolle der Vorlust. Die
Gefahren der Vorlust liegen dann besonders nahe, wenn die zur
Lust vorbereitende Aktion an Stelle des normalen Sexualzieles
tritt, wenn die Vorlust zur Endlust wird. Da das Geständnis
gewöhnlich zur Strafe, beziehungsweise zum Liebesverlust
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis.
I
I
34 Geständniszwang und Strafbedürfnis
bei den Eltern führt, kann es als Vorstufe oder Ersatz selbst
von seiten des Strafbedürfnisses zum Strafziel werden. Der
normale Verlauf wäre also der, daß der Übeltäter zwar vor
dem Geständnis angstvolle Spannung empfindet, aber diese
Spannung nachher durch die Aussicht auf Strafe eine außer-
ordentliche Steigerung erfährt. Wir ahnen, daß den psychischen
Mechanismen der Angstverschiebung, die wir hier nur in
ihren Beziehungen zu Strafe und Geständnis verfolgen können,
eine allgemeinere Bedeutung zukommt. Ich schlage Ihnen
vor, der Tatsache dieses Verschiebungsprozesses durch eine
neue Bezeichnung Rechnung zu tragen, die der Freud sehen
Namensgebung der Lustmechanismen analog ist, ich meine,
wir nennen das erste Angststadium Vorangst, die sich zur
Endangst so verhält wie die Vorlust zur Endlust. Der
enge psychologische Zusammenhang von Lust und Angst
läßt es wahrscheinlich erscheinen, daß die Erforschung der
Beziehungen von Vorangst und Endangst zu bedeutsamen
Bereicherungen der Ichpsychologie führen müßte. Das Erleiden
der Geständnisangst sowie das als peinlich empfundene
Gestehen selbst wäre demnach jene partielle Befriedigung
des Strafbedürfnisses, die wir für das Geständnis in Anspruch
nehmen. Wir wissen schon, daß, was für das eine psychische
System Unlust bedeutet, für das andere Lustcharakter haben
kann und werden deshalb dem unlustvollen Überwinden der
Angst beim Geständnis die Lust keineswegs absprechen.
Kehren wir zu unserer früheren Behauptung zurück, so
können wir dort eine wichtige Korrektur anbringen: wir
sagten, die unterdrückten Triebregungen erhalten durch das
Aussprechen eine partielle Befriedigung. Aber dieses Aussprechen
selbst gehört zur Vorlust der Triebbefriedigung. Wir wollen
also behaupten, daß die partielle Befriedigung, die das
Der unbewußte Geständniszwang
35
Geständnis den verdrängten Triebregungen sowie dem Straf-
bedürfnis bringt, in der teilweisen Gewährung der Vorlust,
beziehungsweise Überwindung der Vorangst begründet liegt.
Als vorläufiges, keineswegs ausreichendes Resultat unserer
Bemühungen um das Problem haben wir bisher nur die
Einsicht gewonnen, daß das Geständnis durch Erfüllung der
Vorlust und Überwindung der Vorangst den verdrängten
Wünschen und Impulsen eine teilweise Befriedigung gewährt.
Es ist so, durch seinen Kompromißcharakter sehr geeignet,
das Symptom zu ersetzen, das sich seinerseits zur Ersatz-
befriedigung verdrängter Triebtendenzen sowie des Straf-
bedürfnisses konstituiert hat. Wirklich sehen wir in der
Analyse häufig Symptome verschwinden, wenn sich die
einander widerstreitenden Bedürfnisse dieser Art im Geständnis
einen völlig adäquaten Ausdruck geschaffen haben. Das
Geständnis als ein wesentliches Stück der Psychoanalyse
bezieht sich so auf zwei große Gefühls- und Vorstellungs-
zentren, die dem Unbewußten entrissen werden; der Patient
bekennt sich zu seinen Triebregungen und den Wünschen,
die diese in ihm erweckt haben, und er bekennt sich zu
dem Strafbedürfnis, das auf den Triebandrang und jene
Wünsche reagierte. Wir würdigen dann eine der wichtigsten
Aufgaben des Analytikers, wenn wir hinzufügen, er lasse den
Patienten erst verstehen, was dieser gestehe und worin die
psychologische Bedeutung des Gestandenen liege.
Diese Konstatierung aber erinnert uns zur rechten Zeit an
den dritten Faktor, der den therapeutischen Wert des Geständ-
nisses mitbestimmt: er liegt in der Überführung unbewußten
Materials in Wortvorstellungen und -Wahrnehmungen. Diese
Umwandlung hat eine bestimmte Bedeutung für die Lust-
entwertung der verdrängten Triebregungen sowie des unbe-
36 Geständniszwang und Strafbedürfnis
wußten Strafbedürfnisses. Wir haben von Freud erfahren,
daß erst durch die Wortvorstellungen die Möglichkeit der
Bewußtseinsqualität gegeben ist. Wir werden erst durch das
Geständnis in den Stand gesetzt, vorbewußt zu erkennen,
was die verdrängten Gefühle und Vorstellungen einst bedeu-
teten und was sie kraft der Unzerstörbarkeit und Zeitlosigkeit,
die unbewußten Vorgängen eigen ist, noch jetzt für uns
bedeuten. Wir werden durch das Geständnis mit uns selbst
bekannt, es bietet die beste Möglichkeit des rytöfrt aeauxöv.
Warum aber sollte solche Umsetzung in Wortvorstellungen
für die verdrängten Triebregungen bedeutungsvoll werden?
Insbesondere deshalb, weil sie geeignet erscheint, den Vorgang
der Verdrängung aufzuheben und dadurch die Möglichkeit
einer der Realität besser angepaßten Art der Triebver-
wendung vorzubereiten. Diese Aufhebung der Verdrängung
zeigt sich besonders klar darin, daß im Geständnis nicht nur
die unterdrückten Triebregungen, sondern auch die zur
Verdrängung treibenden Instanzen zum Ausdruck gelangen.
Das Geständnis ist in diesem Sinne ein Lautwerden des
Gewissens. Der Ankläger legt seine Anklageschrift auf den
Tisch. Bedenken Sie, daß das Gewissen selbst stumm ist.
Die Pariser Verbrecher nennen es „la muette". Im Geständnis
beginnt es zu sprechen. Was stumm war, bekommt in ihm
Stimme. Auch hier stoßen wir also auf die psychische
Doppelfunktion des Geständniszwanges: er zeigt die Tat und
die zu ihr führenden Triebimpulse und er zeigt den Abstand
des von den Triebregungen des Es überwältigten Ichs vom
Über-Ich. Das Erfassen der Tat — Sie erinnern sich, daß
wir hier immer von der phantasierten, unbewußten Tat
sprechen — in ihrer großen, für das Individuum bisher uner-
kannten Bedeutung sowie der Vergleich des Ichs mit den
Der unbewußte Geständniszwang
37
Ansprüchen des Über-Ichs zeigt, daß der Bekennende mit
sich bekannt zu werden beginnt. Schopenhauer ist also
nicht völlig im Recht, wenn er in seiner Abhandlung
„Über die Grundlage der Moral" das Gewissen „eben nur
die aus der eigenen Handlungsweise entstehende und immer
intimer werdende eigene Bekanntschaft" nennt. Denn das
Gewissen ist in seinen wesentlichsten Zügen selbst unbewußt;
erst das Bewußtwerden des Gewissens vermittelt solche
Bekanntschaft im Sinne Schopenhauers. Wir haben zu
betonen, daß sich jene phantasierte Tat, die wir als Ersatz-
handlung für den Vatermord oder den Inzest fassen können,
im Unbewußten abspielte, ihre Wiederholung aber mittels
der von der Analyse produzierten Umsetzung in Wort Vor-
stellungen im Vorbewußten. Durch diese Differenz ist es
also bedingt, daß der Patient jetzt beginnt, sich besser kennen
zu lernen, sich zu verstehen und damit den Gegensatz
zwischen Ich-Ideal und Aktual-Ich, Über-Ich und Ich toleranter
zu fassen. Sich kennen lernen heißt aber vorbewußt ver-
stehen, daß die Grenzen unseres seelischen Lebens nach
oben und unten viel weiter gesteckt sind als wir glaubten,
daß wir, populär gesprochen, unbewußt weit böser, aber
auch weit besser sind als wir angenommen haben. Das
Gewissen ist im Geständnis wieder sprechfähig geworden
und der alte Prozeß, dessen Akten in irgend einem Archiv-
winkel begraben waren, wird damit spruchreif. Das dritte
therapeutische Moment ist also durch die Rückgängigmachung
der Verdrängung gegeben, da die Sachvorstellung durch die
Verknüpfung mit den ihren entsprechenden Wortvorstellungen
überbesetzt und damit vorbewußt werden. Der therapeutische
Charakter der Besetzung der Wortvorstellung ergibt sich
aus der Aufklärung der psychischen Vorgänge in der Schizo-
58 Geständniszwang und Straf bedürfnis
phrenie. Dort bildet die Besetzung der Wortvorstellung, wie
Freud überzeugend dargestellt hat, den ersten Herstellungs-
und Heilungsversuch. Freud hat gezeigt, wie diese
Bemühungen dahin gehen, die verlorenen Objekte wieder
zu gewinnen, in dieser Absicht den Weg zum Objekt über
den Wortanteil desselben einschlagen und sich dabei dann
mit den Worten an Stelle der Dinge begnügen. Wir ahnen,
daß auch das unbewußte Geständnis einen solchen Versuch der
Objektzurückeroberung darstellt, daß dies eine seiner wesent-
lichen Absichten ist.
Einige andere Erfahrungen der praktischen Analyse lassen
uns vielleicht noch tiefer verstehen, worin die psychische
Entlastung durch den Geständniszwang begründet ist. Zu den
aufschlußreichsten Erfahrungen dieser Art gehört das Erkennen
der Bedeutung und des latenten Sinnes des Agierens in der
Analyse. Wir wissen, daß das Agieren im Dienste des Wieder-
holungszwanges steht. Die analytische Erfahrung zeigt uns,
daß das Agieren unter den Bedingungen des Widerstandes
auftritt. Es ist klar, daß der Patient in dieser Wiederholung
dem Drängen unbewußter Triebregungen nachgibt. Es wird
Ihnen vielleicht zuerst unglaubwürdig erscheinen, wenn ich
versichere, daß der Impuls, die Reproduktion in der Erzählung
durch das Agieren zu ersetzen, besonders dann auftritt, wenn
die zu reproduzierenden Vorgänge unter dem Drucke eines
besonders starken Schuldgefühles stehen. Das Strafbedürfnis
drängt, wie Sie wissen, zur Tatwiederholung. Diese Über-
besetzung der betreffenden Erinnerungen und Gefühle mit
Schuldgefühl ist gewiß nicht die einzige Bedingung des
Agierens, aber, wie mir scheint, die vielleicht wichtigste,
praktisch bedeutsamste. Unter den Bedingungen intensiven
Straf bedürfnisses setzt dann der Patient das der Tatwieder-
Der unbewußte Geständniszwang
39
holung soviel nähere Agieren an die Stelle der Erinnerung
und der erzählenden Reproduktion. Das Agieren reiht sich
so als ein in der Analyse erlebter Vorgang jenem allgemeineren
psychischen Ablauf ein, der aus dem drückenden Schuldgefühl
zur verbotenen Tat oder ihrem Ersatz als einer bedeutenden
psychischen Entlastung treibt. Wenn aber die erzählte
Reproduktion ein Geständnis ist, das in abgeschwächter Form
und an einem verschiedenen psychischen Material die Tat
wiederholt, so darf auch das Agieren ein Geständnis genannt
werden : es dient ja denselben Zwecken, etwas zu zeigen, zu
bekennen. Wir wissen, was es zeigen will: eben was der
Patient agiert. Es ist also eine Demonstration: sieh her, wie
eifersüchtig, boshaft, widerspenstig und kleinlich ich war.
Solche Demonstration dient gewiß dem Ausdrucke unter-
drückter Triebimpulse, aber auch dem des Strafbedürfnisses.
Man darf sie in dieser Beziehung mit dem Benehmen von
Kindern vergleichen, die sich mit „Schlimmsein" produzieren.
Es ist kein Zweifel, daß dieses scheinbar unnatürliche
Benehmen ebenso wie das Agieren der Patienten noch immer
dem Lustprinzipe folgt, da es auf Befriedigung starker, trieb-
hafter Bedürfnisse abzielt.
Neben den früher hervorgehobenen Tendenzen wird eine
andere deutlich: das Zeigen und in den Vordergrund Rücken
der eigenen Schwächen bleibt unverständlich, solange man
sich nicht vor Augen hält, daß es eben doch nicht die
Wiederholung der Tat ist, so sehr es darnach drängt, sondern
noch immer ihr Geständnis, ihr Bekenntnis nach dem alten
Wortsinne: um es bekannt zu machen. Wollte man also den
latenten Sinn dieses eigenartigsten Geständnisses in die Sprache
des Bewußtseins übersetzen, so müßten wir eine Ergänzung
vornehmen ; es erfordert einen Vorder- und Nachsatz. Wir
1
■:
40
Geständniszwang und Straf bedürfnis
müßten ihm vorausschicken, daß es sich bei dem folgenden
Agieren um ein Geständnis, um eine demonstratio ad oculos
handelt: Sieh her, wie trotzig, wie boshaft und rachsüchtig
usw. ich war! Dieses Geständnis ist nicht Selbstzweck: es hat
die Bedeutung des Appells an die Eltern oder ihre Vertreter;
was eben die Hinzufügung eines Nachsatzes notwendig macht:
Berücksichtigt doch diese Schwächen! Gerade weil ich so bin,
müßt ihr mir verzeihen! Straft mich, aber liebt mich wieder!
Das Geständnis wird so zu einer beredten Bitte um Absolution.
Ohne den von uns ergänzten Vor- und Nachsatz, ohne solche
Einreihung in einen großen psychischen Zusammenhang ist
das merkwürdige Verhalten des Patienten nicht zu verstehen.
Das agierte Geständnis dient also nicht nur der Darstellung
der eigenen Triebregungen und dem Strafbedürfnis, dem
Streben, den Liebesverlust zu erreichen, sondern ebenso sehr
dem Liebeswerben, dem Streben, gerade durch die Strafe,
in Form der Strafe, erneut Liebe zu bekommen. In manchen-
Fällen, wie insbesondere in den Neurosen, in denen der
Masochismus hervortritt, wird das Strafbedürfnis sogar die
Hauptbedeutung des Agierens ausmachen. Ein Zwangs-
neurotiker in meiner Behandlung, dessen perverse Trieb-
befriedigung im Geschlagen werden auf die Nates bestand,
zeigte in seinem Agieren auffällig eine Tendenz, die man
nur folgendermaßen in Worte übersetzen könnte: er streckte
den Hintern demonstrativ in die Luft, um Schläge zu
bekommen. Der von uns hinzuzufügende Nachsatz in diesen
Fällen würde hier die Form annehmen: strafe mich, schlage
mich nur! Geschlagen werden aber bedeutete unbewußt soviel
wie Geliebtwerden, also die Befriedigung masochistischer und
homosexueller Triebregungen. Sie erinnern sich, daß solches
Agieren zur Befriedigung des Straf bedürfnisses nicht das einzige
Der unbewußte Geständniszwang
41
psychische Phänomen ist, in dem sich Strafbedürfnis und
erotische Strebungen zu einem Ganzen verlöten.
Es gibt in der Analyse natürlich verschiedene Übergänge
von der erzählten Reproduktion zum Agieren, ja, verschiedene
Arten des Agierens selbst. In manchen Fällen, wie wenn z. B.
ein hysterischer Anfall in der Analysestunde sich immer an
besonderer Stelle des Assoziationsverlaufes wiederholt, wird
sicher der Wunscherfüllungscharakter des Auftretens des
Symptoms dem Analytiker überdeutlich werden, aber die
Doppelfunktion des Symptoms zeugt davon, daß auch jener
andere Faktor im Spiele ist. Entsprechend dem besonderen
Charakter der neurotischen Erkrankung wird bald das Moment
der Triebdurchsetzung, bald das Geständnismoment im Ver-
halten des Patienten in der Analyse hervortreten, aber beide
Momente sind im Agieren konstant, in variabler Intensität
vorhanden. Wie früher betont, kann man in vielen Fällen
beobachten, daß gerade bei ansteigendem Strafbedürfnisse das
Agieren besonders lebhaft auftritt. Ich will Sie nur noch auf
eine interessante Komplikation hinweisen, die Sie bei den
Fällen mit entlehntem Schuldgefühl beobachten können: dort
wird das Agieren häufig zur Darstellung des Verhaltens jener
Personen, welche eigentlich das Schuldgefühl verspüren sollten.
Es gewinnt so den Charakter des dargestellten Geständnisses
einer dritten, durch Introjektion ins Ich aufgenommenen
Person, welche für die Erkrankung des Patienten bedeutungs-
voll war.
Wenn wir so betont haben, daß auch das Agieren in der
Analyse unbewußt Geständnischarakter hat, so werden wir
doch nicht verkennen, wie sehr es sich von den unbewußten
Geständnissen, denen wir sonst in der Analyse begegnen,
unterscheidet. Es ist im Unterschied von dem gesprochenen
I
:
42 Geständniszwang und Strafbedürfnis
Geständnis ein dargestelltes Pater peccavi. Die nicht in Worte
gefaßte Vorstellung aber bleibt im Ubw als verdrängt zurück.
Da unser Ziel aber die Bewußtmachung ist, so müssen wir
darnach streben, die Umsetzung in Wortvorstellungen durch-
zuführen. Wir wissen, warum wir daran festhalten, das Agieren
in Reproduktion, in die Erinnerung und Erzählung zurück-
zuver wandeln: wir können der Wortvorstellungen zur Über-
führung von unbewußten in vorbewußte Vorgänge nicht
entraten. Es müssen dieselben Motive sein, welche die Kirche
die Forderung aufstellen lassen, daß die Beichte mündlich
gegeben werde, „vocalis" sei, wie der kirchliche Terminus
lautet. Das Agieren spielt sich an einem anderen psychischen
Material ab als die Erinnerungen, die dem Wahrnehmungs-
system näher sind; das Agieren verläuft völlig im Unbewußten.
Wir wollen hier nicht in die Diskussion der technischen
Probleme der Analyse eingehen, aber es wird schon durch
unsere Erörterungen klar, daß das Agieren allein niemals
zur Erfüllung der der Analyse gestellten Aufgaben ausreichen
kann. Es liegt ja der Triebdurchsetzung und der Befriedigung
des Strafbedürfnisses um so viel näher als die Erinnerung
und mit ihr das Geständnis und die starke Begünstigung des
Agierens bringt die Gefahr nahe, daß die Übertragung nicht
mehr ein „Zwischenreich zwischen Krankheit und Leben",
wie Freud sie genannt hat, bleibt, sondern sich in ein Stück
krankhaften Lebens verwandelt. Die Analyse würde ihre
Grenzen gegenüber der materiellen Realität völlig schwinden
sehen und sich dem Wiederholungszwange in keinem Punkte
entziehen. Die Analyse soll aber gleichsam eine „Rettungs-
insel im Straßenverkehr sein, nahe genug dem Gewirr und
der Gefahr des Lebens, aber ihnen doch entzogen. Die aktive
Technik, die uns neuerdings in der Analyse empfohlen
Der unbewußte Geständniszwang 43
wird, würde in ihren Übertreibungen die Rückverwandlung
des Geständniszwanges in den elementaren Äußerungsdrang
begünstigen und in der Wiederholung zu neuen Konflikten
zwischen Triebandrang und Strafbedürfnis führen. Das
Agieren, zum beherrschenden Element der Analyse erhoben,
sprengt den Rahmen der Behandlung und verwandelt das
Provisorium des analytischen Erlebnisses in ein Definitivum,
das sich nirgends wesentlich vom Erleben „draußen" unter-
scheidet. Sie gibt gerade den unterdrückten Triebregungen
und dem Strafbedürfnis völlige Befriedigung, was wir in der
Analyse, die nach Freud in der Abstinenz durchgeführt
werden soll, vermeiden wollen.
Wir sagten früher, daß das Agieren nicht psychischer
Selbstzweck sei; es dient vielmehr dem Ausdrucke der Trieb-
regungen und des Straf bedürfnisses, aber dies ist dem Patienten
nicht bewußt und er kann es ohne die Erklärung des Analytikers
nicht erfassen. Es ist Sache des Analytikers, in irgend einer Form
jene Vor- und Nachsätze hinzuzufügen, die wir früher erwähnt
haben, und so den unbewußten Sinn des Agierens auch dem
Patienten bewußt zu machen, dies heißt aber: ihm den Weg
vom Agieren zum Erinnern wieder zu eröffnen. In diesem
Sinne ist auch das Agieren ein unbewußtes Geständnis in
Form der Darstellung und seine Deutung ein wesentliches
Stück der Analyse. Dabei erhält die unterdrückte Trieb-
repräsentanz gewiß eine partielle Befriedigung, aber diese
geht nie über ein gewisses, sehr eingeschränktes Maß hinaus
und bleibt im Rahmen des Übertragungsverhältnisses, das seine
Sonderstellung nicht aufzugeben braucht. Die unorganische,
künstliche Provokation des Agierens, die eine überaktive
Therapie in den Mittelpunkt der analytischen Behandlung
rückt, müssen wir ablehnen. Auch das Agieren soll in der
44
Geständniszwang und Strafbedürfnis
Analyse im Zeichen des Geständniszwanges verlaufen und
vom Analytiker als eine besondere Art der Wiederkehr des
Verdrängten betrachtet werden. Wir merken an dieser Stelle,
daß wir unsere Aufmerksamkeit jetzt den Beziehungen zwischen
Verdrängungsprozeß und Geständniszwang zuzuwenden haben,
die der Aufklärung bedürfen.
—
DRITTE VORLESUNG
Zur Wiederkehr des Verdrängten
Meine Damen und Herren! Die Verdrängung ist ein
Vorgang, der darin beschlossen ist, daß er Impulse,
Triebregungen und Gedanken vom Bewußtsein abweist und
fernhält. Das Verdrängte übt einen kontinuierlichen Druck
gegen die Zensur, welche die Pforte des Vorbewußten
bewacht, aus. Sie wissen auch, daß nicht die Verdrängung
jene Symptome und Ersatzbildungen schafft, die uns in
der Analyse beschäftigen, sondern daß diese Erscheinungen
Anzeichen einer Wiederkehr des Verdrängten bilden.
Der Geständniszwang darf als eine der stärksten Kräfte,
welche die Wiederkehr des Verdrängten bedingen, angesehen
werden ; sein Ziel, das unbewußte Geständnis, stellt so eine
spezielle Form der Rückkehr des verdrängten Materials dar.
Verdrängung und Geständniszwang sind beide unbewußte
Prozesse: wir können sie mit Bootsleuten vergleichen, die
dasselbe psychische Material von einem Ufer zum anderen
bringen. Während aber der eine Fährmann, die Verdrängung,
die Überfahrt vom Vorbewußten zum Unbewußten besorgt,
bringt der andere, der Geständniszwang, dieselbe Fracht vom
Unbewußten zum Vorbewußten wieder zurück.
Der Vergleich darf uns sogar weiter führen; die Aufgabe
46
Geständniszwang und Strafbedürfnis
der beiden Bootsleute ist bestimmt: der eine, soll seine Fracht
am jenseitigen, der andere am diesseitigen Ufer abliefern,
aber damit ist keineswegs gesagt, daß die Aufgabe ihnen
gelingen muß. Wir sehen, daß in den Neurosen die Ver-
drängung gründlich mißlingt und daß das Geständnis — in
dem unbewußten Charakter, den wir ihm zugeschrieben
haben — seine Absichten nicht völlig erreicht. Wir brauchen
nur hinzuzufügen, daß die Bootsleute ihre Befehle von der-
selben Person erhalten. Die Verdrängung geht vom Ich aus
und das Geständnis kehrt zum Ich zurück. Der Auftraggeber
muß nicht mit der Person identisch sein, deren Befehle er
übermittelt, vielleicht vertritt er nur eine andere Persönlich-
keit, die im Dunklen bleibt und deren Interessen mit denen
des Auftraggebers sich zum Teil decken. Sie erraten, ich meine
das Über-Ich, das die Bedingung für die Verdrängung und
den Geständniszwang darstellt. Um das Bild vollständig zu
machen, brauchen Sie nur noch hinzuzufügen, daß Überfahrt
und Rückkehr im Grunde derselben Absicht dienen: der
Vermeidung von Unlust. Dieser Vergleich mag die Funktionen
der Verdrängung sowie des Geständniszwanges einigermaßen
veranschaulichen, er kann freilich auch für alle Vorgänge der
Wiederkehr des Verdrängten gelten.
Ich ahne auch, wo Ihr Widerstreben gegen meinen Ver-
gleich einsetzen wird; ist es nicht unsinnig, zu erwarten, daß
sowohl der Abtransport als auch der Rücktransport desselben
Materials dieselben Motive haben sollte? Nein, das ist keines-
wegs so unsinnig als es auf den ersten Blick scheinen mag;
beachten Sie doch, daß die beiden Transporte zeitlich aus-
einanderliegen. Es können in der Zwischenzeit Rücksichten
auf das Schicksal der Fracht, neue Erfahrungen, Aussicht auf
bessere Verwendungsmöglichkeiten eine Abänderung der Ordre
Zur Wiederkehr des Verdrängten
47
nötig machen und die Absicht doch dieselbe, z. B. die
Erlangung von Gewinn bleiben.
Hier kommt noch ein anderes Moment hinzu, das in
unserem Vergleich keine Vertretung findet, nämlich das
ökonomische. Es macht die Situation undurchsichtiger: die
Verdrängung mißglückt und die Unlust, die vermieden
werden soll, wird noch gesteigert; ist es da nicht besser, ein
Stück der anfänglich vorhandenen Quantität von Unlust auf
sich zu nehmen, um der größeren zu entgehen? Für den
allgemeineren Fall der Wiederkehr des Verdrängten sind
neben der drängenden Tendenz der Triebe gewiß noch andere
Momente bestimmend: zu den schon bei der Verdrängung
bestehenden mögen sekundäre Faktoren hinzugekommen sein:
Verschiebungen in den Besetzungsquantitäten, Lockerung der
Zensur z. B. durch die Bedingungen des Schlafes haben die
Wiederkehr des Verdrängten begünstigt. Das Geständnis, das
wir als eine besondere Art der Wiederkehr des Verdrängten
bezeichnet haben, ist auch durch eine spezielle Art des
Zustandekommens charakterisiert: es setzt eine Veränderung
des psychischen Kräftespieles voraus, die dahin zielt, daß
dasselbe, was sonst Unlust erzeugt, hier lustbetont wird. Es
ist also dieselbe Modifikation in den Bedingungen der Lust-
Unlustproduktion, die von Freud in der Entstehung der
tendenziösen Witze nachgewiesen worden ist. Der Erfolg
ist auch derselbe wie dort: die Verdrängung für eine sonst
abgewiesene Triebrepräsentanz wird aufgehoben.
Der tendenziöse Witz steht auch insoferne dem Geständnis
nahe, als er unbewußt ein Geständnis zu sonst verdrängten
oder mindestens unterdrückten Impulsen beinhaltet. Wir
merken schon, wir haben hier die Grenzlinie zwischen unbe-
wußtem und vorbewußtem Geständnis überschritten; kehren
48 Geständniszwang und Straf bedürfnis
wir zum Vergleich zwischen Verdrängung und Geständnis-
zwang zurück. Die Verdrängung ist eines der Schicksale, das
eine Triebregung unter bestimmten Bedingungen erfahrt, und
bildet eine Vorstufe der Verurteilung. Sie ist, mit Freud zu
sprechen, ein Mittelding zwischen Flucht und Verurteilung.
Der Vergleich mit dem Geständnis ergibt, daß es auch ein
solches Mittelding zwischen Flucht und Verurteilung darstellt,
aber der Verurteilung viel näher steht als die Verdrängung,
die der wirklichen Fluchtreaktion vergleichbar ist.
Diese Gegenüberstellung scheint uns aufzufordern, uns
überhaupt mit den Beziehungen des Geständniszwanges zu
den psychischen Instanzen, die für den Verdrängungs Vorgang
bestimmend werden, näher zu beschäftigen. Wir wollen voraus-
schicken, daß wir unter Geständnis wie in allen Bemerkungen
vorher eine vorbewußte Äußerung des unbewußten Geständnis-
zwanges verstehen. Das Geständnis reiht sich den anderen
Abkömmlingen unbewußter Triebregungen an, die entgegen-
gesetzte Qualitäten in sich vereinigen; es gehört wiez. B.
die Phantasien qualitativ zum System des Vorbewußten,
faktisch aber zum Unbewußten.
Wollen wir die Bedeutung des Geständnisses im psychischen
Haushalt verstehen, so werden wir am besten tun, wenn wir
uns wieder der Verwandlung des Äußerungsdranges der Trieb-
bedürfnisse zum Geständniszwange zuwenden. Der Äußerungs-
drang ging vom Ich aus, das seine Triebbedürfnisse der Außen-
, weit mitteilen sollte. Die Aufnahme dieser Mitteilung seitens
der Außenwelt wurde für sein weiteres Schicksal entscheidend
und führte zur Verdrängung bestimmter Triebregungen. In
jener Außenwelt spielten die Personen, die später durch
Identifizierung ins Ich gezogen wurden und dort als Über-Ich
eine unabhängige Existenz führten, eine besondere Rolle.
\\
Zur Wiederkehr des Verdrängten
49
Unter dem Einflüsse des Über-Ichs verwandelte sich der mit
der ewig fordernden Triebgewalt verbundene Äußerungsdr an g
unter bestimmten Bedingungen in Bekenntniszwang. Er kann
dann die Triebbedürfnisse der Außenwelt nur mehr in der
Form des Geständnisses, zu der ihn das Über-Ich verpflichtet,
mitteilen. Aber auch die endopsychische Wahrnehmung von
Triebbedürfnissen muß diese Form annehmen, wenn das
Verhalten des Über-Ichs es fordert. Wir haben also schon
hier zu betonen, daß der Grad der Strenge oder das Ausmaß
der Toleranz des Über-Ichs darüber entscheidet, ob sich eine
Triebregung dem Ich als Äußerung oder als Geständnis
repräsentiert.
Wir wissen aber, daß es dieselben Eigenschaften des Über-
Ichs sind, welche überhaupt darüber bestimmen, welches
Schicksal eine Triebregung erfahren wird. Die Strenge des
Über-Ichs bei der einen Person läßt einen Impuls oder einen
Gedanken in die Verdrängung fallen, während die größere
Toleranz dieser Instanz ihr Bewußtbleiben bei einer andern
Person zuläßt. Wir können so- vom Geständniszwang (wie
von der Verdrängung) sagen, daß er individuell arbeite. Denn
was hier von zwei Personen ausgeführt wurde, gilt auch
für jede einzelne Triebregung in Bezug auf den Geständnis-
zwang: ein Mehr oder Weniger an Besetzung entscheidet
darüber, wieweit eine Triebrepräsentanz als Geständnis zum
Ausdrucke gelangt. Auch der andere Charakter, den Freud
der Verdrängung zugeschrieben hat, die Mobilität, ist dem
Geständnis eigen: der psychische Kraftaufwand, den das
Geständnis erfordert, kann erneuert, eingeschränkt oder erspart
werden.
Das Ich als der Vertreter der Außenwelt empfängt
Nachrichten von den Vorgängen im Es, von den Trieb-
Reik, Geständniszwang und Straf bedürfnis. 4
50 Geständniszwang und Strafbedürfnis
regungen, die es annehmen oder zurückweisen mag, so wie
man mit Briefen verfahren kann. Das Geständnis stellt nun
eine solche Nachricht dar, die dem Ich vom Über-Ich
präsentiert wurde, also von einem Vertreter jener ersten Ich-
identifizierung. Der Bote, nicht die Nachricht bestimmt dann
das Ich dazu, die Nachricht zu akzeptieren. Dies aber setzt
voraus, daß das Über-Ich selbst mit der Übermittlung der
Nachricht einverstanden ist, daß es sich zu diesem Dienste
bereit fand. Wir wissen schon, um welchen Preis: das
Geständnis befriedigt das Strafbedürfnis.
Die psychischen Relationen werden klarer, wenn wir den
Fall der Neurose zum Vergleiche heranziehen: die Neurose
ist nach Freud der Erfolg eines Konfliktes zwischen dem
Ich und dem Es, besser gesagt: in der Neurose ist das Ich
im Dienste des Über-Ichs und der Realität mit dem Es in
Konflikt geraten. Es ist nun klar, daß der Geständniszwang
zwischen den feindlichen Parteien des Ichs und des Es zu
vermitteln trachtet. Dies ist aber nur möglich, wenn er den
Ansprüchen beider Parteien ein Stück weit Genüge tut; nur
auf dieser Basis kann überhaupt von einer Vermittlung die
Rede sein. Das Geständnis ist also ein Versöhnungsversuch,
den das Über-Ich unternimmt, um den Streit zwischen Ich
und Es zu schlichten, so etwa, wie wenn der Vater in einem
Konflikt zwischen zwei feindlichen Brüdern vermittelt. Es
bildet keinen Widerspruch zu dieser Aussage, daß das Ich
gerade in Parteinahme für das Über-Ich in Konflikt mit dem Es
geraten ist. Auch hier sind das historische und das ökonomische
Moment zu beachten; die durch sie hervorgerufenen Ver-
änderungen in der Zwischenzeit wurden für die Einmischung
des Über-Ichs entscheidend. Das Ziel ist deutlich : es soll der
Familienfrieden wieder hergestellt werden — in unserem
Zur Wiederkehr des Verdrängten 51
Falle die Einheit der Persönlichkeit. Der Vater eignet sich
zu solcher Friedensarbeit oft vorzüglich; er weiß sich von
beiden Brüdern geschätzt und kennt ihre schwachen Seiten
besser als sie selbst.
Auch im Geständnisse liegt einer der Fälle vor, wo das
Über-Ich mehr vom unbewußten Es gewußt hat als das Ich;
die Vorgänge im Es sind wie in der Zwangsneurose und in
der Melancholie dem Ich, nicht aber dem Über-Ich unbekannt
geblieben. Auch hier benimmt sich also das Über-Ich als
Vertreter der Innenwelt, des Es. Der Erfolg dieser Vermittler-
tätigkeit ist, wie Ihnen bekannt, durchaus nicht in allen
Fällen gesichert. Das Ich kann sich wie in der Zwangs-
neurose gegen die Annahme so unliebsamer Nachrichten
sträuben; oder es kann nur jenen Teil der Nachricht akzep-
tieren, den das Über-Ich betont, aber den eigentlichen Inhalt
zurückweisen: dies ist der Fall in jenen Zwangsneurosen, die
von einem Schuldgefühl bedrückt werden, dessen Inhalt sie
nicht kennen. In diesen Fällen sieht es so aus, als habe das
Ich jenen Teil der Nachricht akzeptiert, aber ihn selbst zum
Anlaß neuer erbitterter Streitigkeiten verwendet. Das Ich
kann auch die Nachricht bruchstückweise annehmen oder
mißdeuten, wie uns die klinische Beobachtung, besonders
bei den Zwangsneurosen zeigt. In den Krankheiten von
hysterischem Typus wehrt sich das Ich sowohl gegen den
Boten als gegen die Nachricht: das Schuldgefühl bleibt hier
ebenso unbewußt wie das Material, auf das es sich bezieht.
In anderen Fällen wie bei der Melancholie und den narziß-
tischen Psychoneurosen handelt es sich um den Erfolg eines
Konfliktes zwischen Über-Ich und Ich: das Geständnis, welches
das Ich allzu bereitwillig akzeptiert, ist eigentlich eine Anklage
gegen das Objekt, welches durch Identifizierung ins Ich auf-
I r
52 Geständniszwang und Straf bedürfnis
genommen wurde. Die Fälle von Zwangsneurose, in denen
sich ein entlehntes Schuldgefühl im Sinne Freuds nach-
weisen läßt, zeigen dieselbe Verwendung des Geständnisses.
Ich will nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß allen
Analytikern auch eine besondere Art des momentanen, aber
nicht akzeptierten Geständnisses bekannt ist. Es kommt
häufig vor, daß sich der verdrängte Tatbestand in irgend
einem Augenblick dem Ich einfallsartig aufdrängt und
erkannt wird, aber diese Klarheit geht sofort wieder unter.
Das Ich hat wohl die Nachricht erhalten, entzieht ihr aber
die psychische Besetzung. Es hat die Botschaft gehört, aber
es fehlt der Glaube. Es ist also so, als habe das Ich die
unwillkommene Nachricht, die an seine Adresse gelangt ist,
gesehen, aber sich ihrer rasch wieder entledigt.
Eine andere Möglichkeit darf uns hier ebenfalls inter-
essieren: der Vorstellungsinhalt einer Triebrepräsentanz kann
dem Ich bewußt geworden sein, aber der ihr zugehörige
Affektanteil ist verdrängt geblieben. In diesem Falle sieht
es so aus, als habe das Ich zwar den Inhalt der Nachricht
zur Kenntnis genommen, aber wie etwas Indifferentes und
es nicht Interessierendes. Es hat also auch hier eine Ent-
ziehung von Besetzung stattgefunden, die nur dem Affekt-
anteil gilt. Es kommt auch häufig vor, daß das Ich jenen
Affektbetrag auf ein unwesentliches Detail der Nachricht
verschiebt und ihm übergroße Aufmerksamkeit zuwendet,
wie wir es in den zwangsneurotischen Verschiebungs-
mechanismen beobachten können.
Wir haben gezeigt, welche wichtige Rolle das Über-Ich
im Geständniszwange spielt: es vermittelt die Nachricht
dem Ich und nur kraft dieses Boten darf dieselbe darauf
rechnen, angenommen zu werden. Der Beweis für diese
Zur Wiederkehr des Verdrängten 53
Auffassung ist leicht gegeben: in den Fällen, in denen
sich das Über-Ich jenem Dienste versagt, unterbleibt die
Botschaft. Das heißt also: wenn das Über-Ich zu strenge
ist, die Nachricht nicht übermitteln will, kann es nicht
zum Geständnis kommen. Das Schweigen des Über-Ichs
wird sich aber im unbewußten Schuldgefühl äußern. Hier-
her gehören alle jene schweren Fälle der Neurose, in deren
Analyse gerade die Tiefe des Strafbedürfnisses der Heilung
so ernsthafte Hemmungen entgegensetzt. Das Über-Ich weiß
dann zwar von den Vorgängen im Es, sie bleiben aber
dem Ich unbekannt.
Wir haben also zwei Fälle sorgfältig auseinander zu halten:
wenn das Über-Ich tolerant genug ist, wird ein Abkömm-
ling des Unbewußten sich dem Ich als Triebäußerung
repräsentieren können ; bei übergroßer Strenge des Über-
Ichs wird er nicht einmal als Triebgeständnis vor dem Ich
erscheinen dürfen. Noch in einem anderen Punkte zeigt
sich die Wichtigkeit des Über-Ichs für die Geständnis-
vorgänge: einer der wesentlichen Anstöße zum Geständnis
geht vom Über-Ich aus. Es ist so nicht nur Überbringer
der Nachrichten, sondern auch einer ihrer Urheber. Die
Nachricht, die das Über-Ich überbringt, bezieht sich auch
auf den Boten selbst.
In allen diesen Fällen nun zeigt sich, daß das Es mit
dem Über-Ich kommuniziert. Auch in dem Konflikt zwischen
Über-Ich und Ich, wie er in den narzißtischen Psycho-
neurosen erscheint, wird das Geständnis seine besondere
Bedeutung behaupten. Es geht auch dort vom Über-Ich
aus, welches das Bewußtsein an sich gerissen hat, aber es
wird nicht zur Versöhnung, sondern zur Anklage verwendet,
der sich das Ich unterwirft. Das Über-Ich behandelt dann
54
Geständniszwang und Straf Bedürfnis
das Ich grausam, indem es ihm das Geständnis als ideale
Forderung, der es nicht nachkommen kann, ständig präsen-
tiert. Es gleicht dann einem harten Gläubiger, der dem
Schuldner beständig die unbezahlte Rechnung zeigt. Die
quälerischen Gewissensvorwürfe in vielen Formen der
Zwangsneurose sind von dieser Art. Auch hier hat sich das
Über-Ich mit dem Es vereinigt; aber jetzt ist die Befriedi-
gung des Strafbedürfnisses das alleinige oder zumindestens
das hervorragendste Triebziel geworden. Die unendliche
Selbstquälerei der Zwangsneurosen und die Selbstmord-
versuche der Melancholiker geben Zeugnis von diesem
starken Streben. Das Ich will hier das Über-Ich durch
Unterwerfung versöhnen, aber es gelingt ihm nicht; ebenso-
wenig kann es sich erfolgreich gegen die Ansprüche des
Es zur Wehr setzen. Die Manie bildet das einzige Beispiel
dafür, daß das Ich das Über-Ich überwältigt und das
Geständnis in alle Winde verstreut hat. Die Auflehnung,
die das Ich manchmal in jenen Fällen der Zwangsneurose
gegen das überstark gewordene Über-Ich durchsetzt, ist fast
immer ein verunglückter Putschversuch, da das Ich dann
unter die Herrschaft der kaum weniger zerstörenden
Ansprüche des Es gerät.
Es ist ein häufiger Fall, daß beide Formen des Konfliktes
miteinander vorkommen, und zwar so, daß der eine den
anderen überlagert. Der Analytiker steht dann oft vor dem
unerwarteten Resultat seiner Bemühung, daß er Anlaß hat,
zu glauben, sein Patient werde wiederhergestellt, und dann
erst erkennt, daß sich der Konflikt auf einer anderen Ebene
fortsetzt. Das Geständnis war auch dann ein Versöhnungs-
versuch des Es an das Ich, der durch Vermittlung des
Über-Ichs zustande kam; aber der Erfolg war nur ein kurz-
Zur Wiederkehr des Verdrängten
55
lebiger. Das Geständnis hat seine Mission nicht völlig durch-
setzen können, weil das Strafbedürfnis zu groß war, um
sich darin zu erschöpfen. Es ist klar, daß der Analytiker,
dessen Aufmerksamkeit von den lärmenden Streitigkeiten
des Ichs und des Es gefangen genommen war, dann nicht
bemerkt hat, daß es einen uralten Konflikt zwischen dem
Ich und den frühesten Objektbesetzungen des Es gegeben
hat, der sich jetzt in einem Konflikt zwischen dem Ich und
dem Über-Ich fortsetzt.
Wir haben bisher eine andere Verwendung, die das Ich
vom Geständnis machen kann, nicht berücksichtigt und
wollen dies nun nachholen. Das Ich kann das Geständnis
akzeptieren und es zu dem Zwecke verwenden, dem es
dienen sollte, also zur Versöhnung mit dem Es. Dies ist
der normale Ausgang. In diesem Falle dient das Geständnis
auch der Wiedergewinnung des durch den Widerstreit
zwischen den Ansprüchen des Ichs und des Es bedrohten
Selbstgefühles, zur Wiederherstellung der narzißtischen Ich-
besetzung. Das Ich fühlt sich" wieder einig. Man würde
fehlgehen, wollte man vermuten, daß die Selbsterkenntnis
der verpönten Triebregungen unbedingt zu einer Herab-
setzung oder Verminderung des sekundären Narzißmus führen
muß 5 sie kann im Gegenteil gerade in Hinblick auf die
Fähigkeiten, zu dieser Selbsterkenntnis zu gelangen, den
geschädigten Narzißmus restituieren. Es kann hier jener
Fall eintreten, daß das Geständnis gerade zum Mittel wird,
welches das Ich gebraucht, um sich dem Es als Liebesobjekt
zu empfehlen. Es ist so, als würde das Ich sagen: „Ich
weiß jetzt um deine Wünsche, du kannst auch mich lieben."
Freud hat uns gezeigt, daß auf diesem Wege wirklich
manchmal die Umsetzung von Objektlibido in narzißtische
56
Geständniszwang und Strafbedürfnis
Libido vor sich geht, ja daß dies sogar der allgemeine Weg
der Sublim ierung ist.
In vielen Fällen des Konfliktes zwischen Über-Ich und
Ich macht es den Eindruck, als ob das Ich das Geständnis
nicht so eindeutig benützt. Es wird hier deutlich, daß das
Geständnis, welches das Über-Ich dem Ich präsentiert, von
diesem zuerst demütig aufgenommen wird. Ja, das Ich macht
sich jene Anklagen sogar zu eigen, verwandelt sie in Selbst-
anklagen, nur um dem Über-Ich zu gefallen. Es liegt hier
der Fall vor, daß sich das Ich dem Über-Ich als Liebes-
objekt aufdrängt und das Geständnis dazu benützt, um Liebe
zu gewinnen. Wir erinnern uns, daß wir voriges Mal diese
psychische Funktion des Geständnisses in den Übertragungs-
vorgängen der Analyse besprochen haben. Also das Ich ent-
äußert sich anfänglich aller seiner Rechte und benützt das
Geständnis zur Liebeswerbung so wie ein Kind, das glaubt,
nach der Züchtigung, ja gerade durch die Züchtigung den
Liebesverlust beim Vater rückgängig zu machen.
In manchen Fällen erkauft sich das Ich wirklich mit
unerhörten Opfern die Zuneigung des erzürnten Über-Ichs,
muß sich aber dafür die ewigen Torturen dieses Tyrannen
gefallen lassen. Hierher gehört etwa der religiöse Glaube
des Auserwähltseins, hierher die Anschauung, daß Gott jene
züchtige, die er liebe. Das Leiden als Bewährungsprobe, die
demütige Auffassung aller Schmerzen als Prüfstein in der
jüdischen und christlichen Religion, kann als Beispiel solcher
Einstellung des Ichs gelten. Hier wird also das Leiden selbst
zur Gewähr seiner Beendigung. „Nur wer an seinem Leiden
leidet, wird frei vom Leiden", sagt Laotse. Ja, mehr als
das, das Leiden, die Verfolgung wird Triebziel, da es allein
das Über-Ich und das Es befriedigt. Jesus verkündet: „Selig
Zur Wiederkehr des Verdrängten
57
sind, die leiden, denn sie sind die Berufenen." Die Strafe
ist selbst zum Zeichen des Geliebt werdens geworden, wie
in der masochistischen Per Version. Dieser eigenartige Aus-
weg ist vielleicht einer der wenigen, auf dem das demütig
gewordene Ich sein Ziel, das Geliebtwerden durch das Es,
erreicht — wie Sie wissen, ist auch dieses Ziel nie völlig
gesichert und es bedarf neuer Bestrafungen, um sich die
Liebe des Über-Ichs zu erhalten. Dabei ist besonders zu
berücksichtigen, daß das Ich ja von den andersartigen Trieb-
ansprüchen des Es bestürmt wird, die es abzuwehren hat.
Die Versuchungen der Eremiten in der Thebais und die
Torturen, denen sie sich zur Buße unterwerfen, die Ent-
behrungen, die sie sich in steigendem Maße auferlegten,
dürfen als religiöses Beispiel solches immer wieder erneuerten
Liebeswerbens des Ichs gegenüber dem Über-Ich nach Abwehr
der Triebforderungen gelten. Die Zwangsneurose liefert das
moderne, pathologische Analogon in ihrer Symptomatologie.
Der andere Ausweg, das Geständnis zu akzeptieren und
das Über-Ich gerade durch den Hinweis auf bereits erlittenes
Leid in seine Schranken zurückzuweisen, mißlingt in der
Zwangsneurose fast regelmäßig, weil das Über-Ich eine
immer neue Fülle von Geständnissen bereit hat und das
Strafbedürfnis unersättlich geworden ist. In der Melancholie
ersetzt das Geständnis eine Anklage gegen die früher geliebte
Person, die ins Ich introjiziert wurde; es handelt sich also
um die Zurückweisung der Liebesansprüche einer durch
Introjektion im Ich verkörperten Person. Das Über-Ich benützt
hier das Geständnis zum .Angriff gegen das Ich, das durch
die Objektintrojektion verändert wurde.
Wir behaupteten, der Ausfall oder die Mitwirkung des
Über-Ichs entscheide darüber, ob die Nachricht, die das Ich
5 8 Geständniszwang und Strafbedürfnis
von den Vorgängen im Es erhält, die Gestalt einer Trieb-
äußerung oder eines Triebgeständnisses annimmt. Wenn
das Uber-Ich die Bedingung für die Verdrängung war, so
wird es später auch die Voraussetzung für den Geständnis-
zwang, der sich zur Verdrängung verhält wie der Positiv-
vorgang zum Negativ in der Photographie. Das Geständnis
wäre also der mehr oder minder gelungene Versuch zur
Wiedervorbewußtmachung verdrängter Regungen und so
der direkte Gegenvorgang der Verdrängung, der sich indessen
der Sphäre des Unbewußten noch nicht entzogen hat.
Es erübrigt sich nur noch, die Beziehung des Geständnis-
zwanges zur Außenwelt kurz zu erörtern. Dies wird uns
durch unsere Kenntnis erleichtert, daß das Ich als Anwalt
der Außenwelt im psychischen Instanzenzug funktioniert.
So wird der Geständniszwang in seiner Beziehung zur
Außenwelt im wesentlichen dieselben Absichten verfolgen,
die sein Verhalten dem Ich gegenüber bestimmen. Er benach-
richtigt die Außenwelt von dem, was die endopsychische
Wahrnehmung unter bestimmten Bedingungen erkannt hat,
zeigt der Außenwelt durch besondere Zeichen die Absichten
der Triebregungen und zugleich die des Über-Ichs an. Er
dient ja dem Strafbedürfnis ebensowohl wie den verdrängten
Triebregungen und die Außenwelt reagiert je nach ihrer
eigenen Einstellung und dem größeren oder geringeren
Anteil, den die beiden großen Triebtendenzen im Geständnis
finden, mit Feindseligkeit oder Zärtlichkeit, Ablehnung oder
Entgegenkommen.
Neben der Erfüllung dieser Absichten wird eine dritte
deutlich: gerade durch das Geständnis die verlorene Liebe
der Außenwelt wiederzuerringen. Die Verfolgung der
Beziehungen von Geständniszwang und Außenwelt läßt uns
Zur Wiederkehr des Verdrängten 59
noch eine andere interessante Tatsache würdigen: im unbe-
wußten Geständnis hat das Über-Ich, nicht aber das Ich
die Vorgänge im Es zur Kenntnis genommen. Aber auch
die Außenwelt nimmt das Geständnis nicht bewußt auf,
sondern versteht seine latente Bedeutung unbewußt. Das
Geständnis an die Außenwelt ist also ohne Mitwirkung des
Ichs zustandegekommen; das Unbewußte der einen Person
konnte das Geständnis, eine unbewußte Äußerung der
zweiten Person, deuten und verstehen.
Die Außenwelt hat, wie wir gesehen haben, für das
Kind im entscheidenden Alter die Wandlung der Äußerungs-
tendenzen zum Geständniszwang veranlaßt; besser gesagt,
die bedeutungsvollsten Vertreter der Außenwelt, die Eltern
und ihre spätere Repräsentanz. Damit gelangen wir wieder
zur Psychogenese des Geständniszwanges; wir getrauen uns
jetzt, ihre Darstellung durch die bisher gewonnenen Ein-
sichten zu ergänzen und zu korrigieren. In Anlehnung an
die vitalsten Bedürfnisse fühlte sich das Kind vorerst auch
gedrängt, die feindseligen oder zärtlichen, eifersüchtigen,
sexuellen und grob-egoistischen Regungen den Eltern gegen-
über, die seine ersten Vertrauten waren, zu äußern. Die
Verdrängung von Triebregungen führt zur ernsthaften Ent-
fremdung mit den Eltern; die Ursache dieser Änderung der
Einstellung gegenüber den Eltern liegt, wie Sie wissen, in
jenen Gefühlen und Erregungen, die vom Ödipuskomplex
ausgehen. Die Entfremdung mit den Eltern ist eigentlich
eine Folge jener partiellen Ichentfremdung, die durch die
Verdrängung eingeleitet wird und durch die ein wesenhaftes
Stück Ich abgesondert wird und nun dem Ichrest fremd
gegenüber steht. Der Ödipuskomplex und das aus ihm
resultierende Schuldgefühl ist also die Ursache der Hern-
6o
Geständniszwang und Strafbedürfnis
mung des kindlichen Äußerungsdranges und seiner späteren
Umwandlung in den Geständniszwang. Das Kind, das früher
naiv mit allen seinen Triebäußerungen zu den Eltern
gekommen ist, ist jetzt an der Mitteilung durch Verdrän-
gung gehemmt. Solche Äußerungshemmung aber ist das
Zeichen einer tiefgehenden Änderung in der Liebesbeziehung
zu den Eltern, denn, wenn und wo wir ganz lieben, sind
wir bereit, auch alle unsere Triebregungen dem anderen
mitzuteilen. Sie wissen, daß Ersatzbildungen, unbewußte
Geständnisse an Stelle der unterbliebenen Triebäußerungen
treten. Der Sinn der Analyse ist nun, den Weg, der hier
verschüttet wurde, unter bestimmten, von der Analyse her-
gestellten Bedingungen wieder freizulegen und damit auch
jene alten Gefühle zum Bewußtsein zu bringen, die zu
seiner Verlegung geführt haben. Die unbewußten Geständ-
nisse, die uns die Patienten in ihren Symptomen liefern,
geben uns die wichtigsten Fingerzeige für diese Arbeit. Die
Störung in der Beziehung zum Vater, die sich in der Hem-
mung des Äußerungsdranges zeigte, wird überwunden und
die übergroße Gewissensangst aufgehoben. Ich würde mich
getrauen, ausdrücklich zu behaupten: Sie werden das
wesentliche Ziel Ihrer analytischen Bemühungen bei Ihrem
Patienten erreicht haben, wenn es Ihnen gelungen ist, den
Frieden zwischen dem Ich und dem Über-Ich, das in der
Analyse toleranter geworden ist, herzustellen. Es wurde
schon betont, welche Wichtigkeit die Umsetzung in Wort-
vorstellungen für diesen Vorgang beanspruchen muß.
Die stärksten Widerstände, die sich gegen diese Arbeit
erheben, sind in der Natur der zu äußernden Triebregungen
und in der Übertragungsbeziehung zu suchen. Es gilt ja,
ein Geständnis verpönter Wunschregungen gerade der Person
Zur Wiederkehr des Verdrängten
61
gegenüber abzulegen, der diese Regungen gelten. Freud
hat bereits ausgesprochen, daß diese Nötigung Situationen
ergibt, die in der Wirklichkeit als kaum durchführbar
erscheinen. Die Annäherung an die Kindheitssituation, in der
die Lösung des Problem es nicht gelang, ist aber notwendig:
gerade dem Vaterrepräsentanten muß das Geständnis der
gegen ihn gerichteten Regungen gemacht werden, um das
unbewußte Schuldgefühl zu überwinden. Die Erschwerung,
die in dieser analytischen Situation liegt, ist gerade durch
das Ziel der Analyse gefordert; der den Eltern gegenüber
gehemmte Äußerungsdrang findet seine Wiederholung in
dem Geständniszwang der Analyse, der durch Schuldgefühle
und Strafbedürfnis gehemmt wird. Der Geständniszwang,
wie er sich dem Analytiker gegenüber einstellt, bedeutet also
sowohl ein Wiederaufleben der alten Liebesregungen als auch
des Strafbedürfnisses. Die Technik der Analyse gibt uns
Mittel an die Hand, jene Widerstände, die sich dem Geständnis-
zwange entgegensetzen, zu überwinden.
Das Ziel der Analyse wäre also, in der Übertragungssituation
einen Vorgang sich abspielen zu lassen, der in der Kinderzeit
insbesondere durch die Verdrängung gehemmt wurde: dem
Vater jene starken, verpönten Gefühle und Impulse aus dem
Ödipuskomplex ebenso zu zeigen wie das Strafbedürfnis und
das Schuldgefühl, die sich damals als Reaktion auf sie ein-
gestellt haben — eine affektbetonte Mitteilung dieser Art
aber nennen wir Geständnis. Sie wissen, daß die andere
Aufgabe, die Reproduktion jener seelischen Vorgänge, die
das Unterbleiben des Geständnisses damals bedingten, in dem
analytischen Prozeß ebensowohl erfüllt wird.
Bestimmte Erfahrungen in der Analyse, auf die wir viel-
leicht noch zu sprechen kommen, legen uns nahe, den
62 Geständniszwang und Straf bedürfnis
Widerstreit zwischen den Tendenzen des Geständniszwanges
und des Schuldgefühles, bezw. Strafbedürfnisses noch weiter
in die Kinderzeit zurückzuverfolgen. Es kann sich in dieser
Frühzeit natürlich nicht um den Konflikt zwischen Ich
und Über-Ich handeln, da das Über-Ich sich noch nicht
konstituiert hat; es sind vielmehr Konflikte zwischen dem
Ich und seinen frühesten Objektbesetzungen. Es sind also
Vorstufen jener viel späteren Vorgänge. Wir kommen dabei
in eine Kindheitsperiode, in der das Ich noch schwach und
unentwickelt war und von Verdrängung als einem psychischen
Vorgang noch keine Rede war.
Die wichtigen körperlichen Vorgänge dieser Zeit, die von
der Erziehung besonders beachtet werden, nämlich Stuhl-
absetzen und Stuhlzurückhalten, werden als Vorbilder für
Triebäußerung und Triebunterdrückung bedeutsam. Sie wissen
aus dem Studium der Analerotik, wie sich in den Tendenzen,
die sich in dieser Bedürfnisregelung zeigen, bereits Gefühle
der Liebe und der Abneigung oder des Trotzes äußern. Der
Hinweis auf das Sprichwort, das Reden Silber, Schweigen
Gold nennt, mag die Brücke zu dem Verhalten des Patienten
in der Analyse des Erwachsenen schlagen helfen. Der Kampf
zwischen Hergeben und Zurückhalten beherrscht noch die
Analyse, so daß die Bewältigung der hochsublimierten Auf-
gaben der Psychoanalyse wie mit unsichtbaren Fäden mit
einer der ersten dem Kinde gestellten Aufgabe zusammen-
hängt. Das Ziel in der Erziehung in der Kindersituation war,
das Kind zum möglichst vollständigen Hergeben des Materials
bei einer bestimmten Gelegenheit zu bringen, und fiel mit
der ersten Erziehung zur Liebe zusammen. Nichts anderes
will die Analyse, wenn sie die Durchsetzung des Geständnis-
zwanges unterstützt. Sie wissen, die Erziehung sieht sich
Zur Wiederkehr des Verdrängten
6 3
in der Kinderzeit noch vor eine andere Aufgabe gestellt,
nämlich die Funktionen des Exkrementierens des Kindes
auf eine bestimmte Zeit und Gelegenheit einzuschränken.
Auch die übergroße oder vielmehr ungeregelte Freigebigkeit
in der Richtung der Bedürfnisbefriedigung scheint dem
Erzieher nicht in Ordnung. Er unterdrückt auch diese depla-
cierte Redseligkeit der Körperfunktion. Die Analyse setzt
auch in dieser Richtung die Nacherziehung fort.
Der regressive Charakter der Analyse sowie das häufige
Scheitern jener ersten Aufgabe der Kindererziehung erklärt
es, wenn die Analyse den Hauptakzent vorerst auf die
ungehemmte Äußerung legt Ihre Hauptsorge muß es sein,
dem Geständniszwange zum Sieg zu verhelfen. Später wird sich
automatisch ein normales Verhalten zwischen den Tendenzen
des Hergebens und Zurückhaltens, des Geständniszwanges
und der Verdrängung ergeben. Der Weg, der verschüttet war
und freigelegt wurde, muß nicht beständig benützt werden;
wichtig ist nur, daß er passierbar sei, wenn es notwendig ist.
Meine Damen und Herren! Die Psychoanalyse gründet
sich noch immer auf die Traumanalyse und der Prüfstein
jeder das unbewußte Geschehen betreffenden Theorie wird
die Psychologie der Traumvorgänge bleiben. Wie steht es
nun mit dem Geständniszwange im Traume? Im Traume
ist ein Stück Unbewußtes im Bewußtsein aufgetaucht, dem
das sonst nicht möglich gewesen wäre. Dies wird, wie Sie
wissen, durch die geringere Wachsamkeit der Zensur und
durch die Traumarbeit, welche die Gedanken einer Verkleidung
und Entstellung unterwirft, ermöglicht. Die vorbewußten
Gedanken und Wünsche, die zum Traumerreger werden,
haben Anschluß an andere gefunden, die, mit Nietzsche
zu sprechen, „tiefer als der Tag gedacht". Die Herabsetzung
64
Geständniszwang und Strafbedürfnis
der Wachsamkeit der Zensur macht es möglich, daß der
Traum zur infantilen Äußerungstendenz regrediert und so
den Charakter der Wunscherfüllung erhält. Innerhalb der
kindlichen Sphäre, zu welcher der Traum zurückführt, ist
der Geständniszwang ebensowenig vorhanden, wie dessen
psychologische Voraussetzung, die Verdrängung.
Die Regression in die frühinfantile Zeit sowie die
Zugehörigkeit des latenten Trauminhaltes zum Unbewußten
ergeben, daß der Traum seinem innersten Wesen nach nur
die Darstellung einer Wunscherfüllung sein kann. Die Tat-
sache der Traumentstellung aber, die mit den Phänomenen
der psychischen Zensur zusammenhängen, weist auf die
Einwirkungen von psychischen Faktoren hin, die wir im
Geständniszwange wiederfinden. Diese Kräfte bestimmen die
Traumarbeit, die wir in allen ihren Formen durch Freud
kennen gelernt haben. Die Form des Traumes, das, was überhaupt
die Notwendigkeit seiner Deutung ausmacht, hängt also von
diesen Momenten ab. Ihre Wirksamkeit bezeugt, daß die
im Traume dargestellten, verdrängten Wünsche vom Ich
abgelehnt werden und nur unter den besonderen Bedingungen
des Schlafzustandes und in der Traumentstellung zum
Bewußtsein gelangen können.
Berücksichtigt man also nur den latenten Trauminhalt,
der das eigentliche Wesen des Traumes ausmacht, so muß
man den Traum als Darstellung einer Wunscherfüllung
bestimmen. Zieht man aber auch diese besondere Darstellung
in Betracht, das heißt, will man auch dem Anteil der Traum-
arbeit Rechnung tragen, so könnte man ihn als Geständnis
eines unbewußten Wunsches auffassen. Es ist sofort klar,
daß diese zweite Betrachtungsweise nichts über die tiefste
Triebkraft des Traumes selbst aussagt und ihre Definition
Zur Wiederkehr des Verdrängten
65
bereits den höheren psychischen Schichten der Traumbildung
gilt. So wird gerade die Psychologie der Traumvorgänge, in
der der Geständniszwang nur eine sekundäre Rolle spielt,
für dessen Existenz und Wirksamkeit beweisend: der
verborgene Trauminhalt stellt in der analytischen Übersetzung
jedesmal eine Wunscherfüllung dar, aber die Traumform
weist auf das Geständnis hin.' Anders ausgedrückt: der
Geständnischarakter des Traumes, der uns als Ganzes entgegen-
tritt, wird nur durch die Umsetzung, welche die latenten
Traumgedanken in der Traumarbeit erfahren, bewirkt, und
bezieht sich nur auf diese psychische Schichte der Gegen-
besetzungen. Die Tatsache, daß eine solche Traumentstellung
notwendig war, ergibt die Mitwirkung des Geständniszwanges
in der Traumbildung. Den stärksten Beweis für die sekundäre
Natur der Einwirkung des Geständniszwanges, der nur die
Traumfassade bestimmt, bilden jene Kinderträume, in denen
Wünsche des vergangenen Tages unentstellten Ausdruck
finden. Hier wird der primäre Wunschcharakter des Traumes
völlig klar; der Geständniszwang hat hier noch keine Stelle.
Es gibt nur eine einzige Ausnahme von der Regel, daß der
Geständniszwang den latenten Trauminhalt unberührt läßt
und seine Mitwirkung nur in der Traumarbeit erkennbar
ist, das sind die Strafträume, über welche Freud in seinem
Haager Kongreßvortrag berichtet hat. In ihnen werden die
psychischen Reaktionen auf die verdrängten Tendenzen selbst
zur Triebkraft des Traumes, aber auch hier, wo das Geständnis
zum latenten Trauminhalt gehört, bleibt der Wunschcharakter
des Traumes erhalten. Der Trauminhalt ist dann eben die
Darstellung der Wunscherfüllung jener Selbstbestrafungs-
tendenzen, die sich noch immer als libidinöse erweisen.
Es ist leicht zu erkennen, in welchen Richtungen der
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis. 5
66
Geständniszwang und Straf bedürfnis
Geständniszwang noch in den Traumvorgängen von Bedeutung
ist. Der Traum stellt sich dem erwachten Ich als ein
unbewußtes und unerkanntes Geständnis dar; ebenso der
Außenwelt, der er etwa mitgeteilt wird. Auch das Sprechen
aus dem Traume kann unzweideutig als Selbstverrat, als
Ausdrucksform des unbewußten Geständniszwanges auftreten.
Der Wunschcharakter des Traumes bezieht sich also nur auf
den Anteil des Es im Seelenleben.
Wir kehren unter den besonderen Bedingungen des Traumes
zur visuellen Darstellung und damit zur primären Äußerungs-
tendenz unserer Kindheit zurück. Das Denken in Bildern,
das im Traume vorherrscht, steht nach Freud den
unbewußten Vorgängen näher als das Denken in Wort-
vorstellungen. Das Geständnis aber wird, wie wir wissen,
durch Wortvorstellungen bestimmt. Auch diese Differenz
läßt verstehen, warum der verborgene Trauminhalt kein
Geständnis sein kann, mag auch ein unterdrücktes Geständnis
manchmal, wie Freud dies in einer Traumanalyse gezeigt
hat, als psychisches Material des Vorbewußten im Traume
benützt werden. Wir haben gesehen, daß das Faktum der
Traumarbeit und -entstellung selbst ein solches unbewußtes
Geständnis darstellt, da es zeigt, daß sich die unbewußten
Wünsche, welche dem Traume zu Grunde liegen, nicht
unentstellt an die psychische Oberfläche getrauen dürfen.
Ich habe mich früher auf die Kinderträume berufen,
welche auch für den nicht mit der analytischen Theorie
Vertrauten den Charakter der Wunscherfüllung des Traumes
klar erkennen lassen. In ihnen herrscht die Äußerungstendenz
der am Tage unterdrückten Regungen. Ich würde Bedenken
tragen, den primären Äußerungsdrang in seiner elementaren
Natur auch für diejenigen Träume von Erwachsenen
ZiUr Wiederkehr des Verdrängten
6 7
verantwortlich zu machen, welche bewußt verpönte Wünsche
wie den Inzest völlig unentstellt als erfüllt erscheinen lassen.
Haben wir früher die Traumarbeit als Zeugnis der Wirksamkeit
des Geständniszwanges angeführt, so werden wir auch hier
seine Einwirkung nicht vermissen: sie verrät sich gerade in
der unverhüllten, unentstellten Form der Wunscherfüllung
des Traumes. Wir brauchen dabei wie in der Erörterung des
Agierens die erhöhte Intensität des Triebandranges nicht außer
acht zu lassen. Die Tatsache der unentstellten Wiederkehr
des Verdrängten in jenen Träumen ist als solche ein Beweis
für den vorangegangenen hohen Verdrängungsaufwand. Nur
dort, wo der psychische Druck übergroß geworden ist, kann
der Traum Wünsche in so unentstellter Form als erfüllt
zeigen. Wie im Agieren in der Analyse weist hier die Art
der Reaktion auf die Aktion zurück.
Das Geständnis zeigt sich also hier gerade im Wegfallen
jeder Traumentstellung wie in anderen Träumen im
Vorhandensein der Traumarbeit. Dies ist kein Widerspruch,
denn der Grad der Abwehr entscheidet über die Art der
Traumgestaltung. Das unbewußte Geständnis liegt also in
dieser besonders unentstellten Form des Traumes und weist
auf die intensive psychische Arbeit während des Wachens
hin, die auf die Bewältigung des Triebandranges verwendet
wurde.
Was von den Träumen dieser Art gesagt wurde, gilt
übrigens in weitem Ausmaße auch von anderen unbewußten
Vorgängen. Nach dem Inhalte betrachtet, müßten wir oft
über ein Symptom, eine Vorstellung oder eine Gedanken-
reihe urteilen, es seien Triebäußerungen, aber die Form, in
der sie auftreten, sowie der hohe Verdrängungsaufwand,
durch dessen Aufhebung sie ermöglicht wurden, stempelt sie
5*
68
Geständniszwang und Straf bedürfnis
zum Geständnis. Dies trifft oft gerade dort ein, wo die
Triebäußerung im manifesten Vordergrunde des Inhalts
steht, ganz unentstellt an die psychische Oberfläche tritt.
Ich habe Ihnen absichtlich keine Traumanalyse mitgeteilt,
weil ihre detaillierte Erörterung zuviel Zeit in Anspruch
nehmen würde. Gestatten Sie mir indessen zum Schluß,
Ihnen ein einziges Beispiel anzuführen. Es zeigt deutlich,
daß die unentstellte Wiederkehr einer verdrängten Triebregung
im Traume aus der höchsten Intensität des Verdrängungs-
aufwandes, am Tage erfolgt und daß gerade diese Traum-
form ein Geständnis jener verdrängten Wünsche darstellt.
Das Beispiel darf übrigens als die vielleicht hübscheste
Geschichte eines Wunders, welche die Legende des Mittel-
alters zu berichten weiß, betrachtet werden. Gauthier de
Coincy erzählt die Geschichte jenes unglücklichen Diakons
von Laon, der außerordentlich unter der Einhaltung seines
Keuschheitsgelübdes litt. Der junge Mönch kämpfte mit
allen Kräften gegen die wollüstigen sexuellen Phantasien an,
die ihn überall verfolgten. Eines Tages nun, da er diese
Versuchungen wieder verzweifelt abwehrte, schlief er — ganz
in Tränen — ein. Da erschien ihm die heilige Jungfrau
im Traume, brachte ihren Busen in die Nähe seiner Lippen
und ließ ihn von ihren Brüsten trinken. Der Chronist
berichtet, der göttliche Trank, „cette divine ambroisie",
habe den jungen Priester für immer von seinen Qualen
geheilt; ruhig und fern der Realität konnte er nach solchem
Liebestraum sein frommes Leben verbringen.
VIERTE VORLESUNG
Zur Tiefendimension der Neurose
Meine Damen und Herren! Es wäre sehr irrig, wollte
man annehmen, daß wir es in der Analyse nur mit
Erlebnissen zu tun haben, die den Kranken einmal bewußt
waren und dann verdrängt wurden. Tatsächlich kann man
allgemein behaupten, daß wir zur Zeit des Erlebens selbst
eigentlich nicht wissen, was wir erleben. Und so sonderbar
dies klingen mag, wir wissen am wenigsten gerade von den
wichtigsten Ereignissen unseres Lebens. Vielen Menschen
verfließt ihr Leben so unbewußt, die meisten von uns aber
brauchen ein großes Zeitintervall, bis sie wissen, daß dieses
oder jenes Ereignis in ihrem Leben eingetreten ist; wir
wissen oft lange nicht, was dieses Ereignis für uns psychisch
bedeutet. Die Menschen gleichen, um ein schönes Bild
Nietzsches anzuführen, tiefen Brunnen, die lange brauchen,
bis sie wissen, was in ihre Tiefe fiel.
Die Analyse zeigt den Menschen nicht nur, was sie
erlebt haben, sondern auch, was sie gegenwärtig erleben.
Sie kann dies freilich nur tun, indem sie auf das vergangene
Erleben, von dem das jetzige seine tiefste Resonanz erhält,
zurückgreift. Sie kürzt das Intervall zwischen Erleben und
Verstehen des Erlebnisses außerordentlich ab, aber sie kann
7 o
Geständniszwang und Strafbedürfnis
es nicht verschwinden lassen, ja sie selbst ist diesem Intervall
in einem gewissen Ausmaße ausgesetzt. Wir hören oft von
gewesenen Patienten, wie lange Zeit später sie erst erkannt
haben, was die Analyse für sie psychisch bedeutet hat.
Freud nennt den Tod des Vaters mit Recht den ein-
schneidendsten Verlust des Mannes; jeder Analytiker hat des
öfteren Gelegenheit, zu konstatieren, daß ein Patient erst
viele Jahre nach dem wirklichen Tod des Vaters den Verlust
psychisch akzeptiert, obwohl er doch bewußt wohl weiß,
daß der Vater schon lange tot ist. Vergleichen Sie dieses
nachträgliche Begräbnis in der Analyse etwa mit dem kleinen
Vorfall, der uns von den Ausgrabungen des Grabes Tut-
Ench-Amuns berichtet wird: als Lord Carnavon und
Howard Carter die Grabkammer öffneten, fanden sie unter
den Schätzen auch eine kleine, ausgezeichnet konservierte
Figur. Man konnte sie noch genau betrachten und hatte
noch Zeit, sie zu photographieren — plötzlich sank sie laut-
los zusammen und hatte sich in Staub verwandelt. Über
dreitausend Jahre war die kleine Statuette erhalten geblieben
und erst die Berührung durch die frische Luft, die in die
unterirdische Kammer einströmte, hatte sie zum Einstürzen
gebracht.
Der Analytiker kommt häufig in die Lage festzustellen,
daß die Menschen wirklich nicht wissen, was ihnen begegnet,
und nicht wissen, was sie tun. Ich habe einen Mann kurz,
nachdem er vom Ehebruche seiner Frau erfahren hatte,
analysiert; er schien überaus ruhig, sprach gefaßt, fast heiter
von jenem Ereignis und benahm sich völlig so, als wäre
nichts vorgefallen. Erst die Analyse ließ ihn verstehen, warum
er kurz nachher seine Kinder durch ein „Übersehen" in
eine gefährliche Lage gebracht hatte, wie wenn er sich
Zur Tiefendimension der Neurose 71
durch deren Tod die Scheidung von seiner Frau erleichtert
hätte, und was es bedeutete, daß er beim Schwimmen
unvorsichtigerweise zulange untergetaucht hatte und mit
dem Kopfe hart an einen Pfeiler stieß. Erst in der Analyse
konnte er erfahren, welche außerordentlich tiefen Gefühle
von Schmerz, Haß und Verzweiflung in ihm wirksam waren.
Nichts davon war ihm bekannt und erst auf einem langen
Umwege konnte er erkennen, welche Reaktionen jenes
Ereignis hervorrief. Solches Unbewußtbleiben von Erlebnissen
ist namentlich bei englischen Charakteren keineswegs selten.
Das vielleicht Merkwürdigste, was unsere Verwunderung
in der Analyse erregen muß, ist, daß die Menschen oft
leiden, ohne es zu wissen.
Wir haben aus der Erforschung der Symptomatologie der
Neurosen die Überzeugung abgeleitet, daß die Kranken in
den Symptomen ein Stück Befriedigung genießen, von dem
sie nichts wissen, daß ihnen also die Symptome einen
unbewußten Lustgewinn gewährleisten. Wer immer von
Ihnen einige Erfahrung in der praktischen Analyse gewonnen
hat, wird den Satz bestätigen können, daß viele Kranke
nicht wissen, was sie leiden und wie tief sie leiden. Ich
möchte nachdrücklich betonen, daß die Sachlage nicht so
ist, daß die Kranken nicht sagen, nicht ausdrücken können,
was sie leiden, sondern daß es wirklich unbewußtes Leid
wie unbewußte Lust gibt. Gegen diese Behauptung werden
Sie einen Einwand leicht formulieren können : die Kranken
klagen und jammern genug, sie zeigen ihr neurotisches
Elend mit genügendem, manchmal möchte man sagen, mit
übertriebenem Affekt. Aber auch jene Nervösen, die dies tun,
brauchen noch immer nicht zu wissen, wie tief und worunter
sie leiden.
!
72
Geständniszwang und Strafbedürfnis
Allein es trifft keineswegs bei allen Neurotikern zu, daß
sie ihr Leiden erkennen und anerkennen. Im Gegenteil, die
Mehrzahl neigt sogar dazu, ihre Krankheit zu bagatellisieren,
ihr den Charakter einer leichten Störung zu geben, ihre
Tragweite auf ein einzelnes, mitunter kleines Lebensgebiet
einzuschränken. Es wäre falsch zu sagen, die Neurotiker
dissimulieren ihre Krankheit, denn dies würde bewußte
Verheimlichung bedeuten; die Kranken wissen indessen nicht,
daß diese oder jene Tätigkeiten, Gefühle und Impulse auf
die Rechnung der Neurose zu setzen sind. Eine der ersten
Leistungen der Analyse besteht nun, so seltsam dies klingen
mag, darin, den Kranken davon zu überzeugen, daß die
Krankheit ernst genommen zu werden verdient und daß sie
wirklich Leiden bedeutet. Erst im Verlaufe der Analyse
bekommt die Krankheit selbst gleichsam Mut, zeigt ihre
wirkliche Ausdehnung und ihre tiefgehende Einwirkung auf
das Leben des Patienten.
In manchen Fällen kommt der Analytiker nun wirklich
in die Lage, sich darüber zu verwundern, daß der Kranke
so viel Leid in der Vergangenheit ertragen konnte, ohne
energische Maßregeln zu seiner Einschränkung zu machen,
ja er würde manchmal geneigt sein, anzunehmen, jeder
Ausweg — selbst der verzweifeltste ■ — wäre von anderen,
„normalen' Personen ergriffen worden, um so unerträglichem
Leid zu entfliehen. Wir werden sogleich sehen, wie voreilig
eine solche Annahme, welche die psychologischen Verhältnisse
nicht genügend berücksichtigt, wäre.
Es steht indessen für viele Fälle fest, daß die Kranken
von dem Leid, daß die Neurose für sie bedeutete, ebenso-
wenig wußten, wie von den Lustquellen, die ihnen aus
den Symptomen kamen. Es wäre nun verlockend anzunehmen,
Zur Tiefendimension der Neurose
75
daß dieses Leid für sie wirklich nicht existierte, da sie sich
dessen nicht bewußt waren, aber dieser Schluß wäre so
irrig wie alle Behauptungen, die andere als bewußte psychische
Wirkungen ausschließen. Die Analyse läßt über allem Zweifel
erkennen, daß Leid wie Lust zwar unbewußt waren, aber das
Leben und das Schicksal des Patienten tiefgehend, mitunter
entscheidend beeinflußt haben. Es verhält sich damit wie mit
Empfindungen und Gefühlen, die auch unbewußt sein können,
obwohl nach Freud das ihnen entsprechende Andere im
Erregungsablauf dasselbe ist. Sogar der körperliche Schmerz,
den man dem psychischen Leid am ehesten vergleichen darf,
kann unbewußt bleiben. Als ein spezieller Fall solches
unbewußten Leidens hat die Analyse die seelischen Vorgänge,
welche die pathologische Trauer und die Melancholie
bedingen, erklärt. Aber auch in den Fällen, in denen der
Erkrankte weiß, daß ihm die Neurose Leid gebracht hat,
ist es zweifellos, daß er nicht weiß, in welcher Tiefe und
worunter er so sehr gelitten hat. Die Tatsache, daß die
Krankheit auch unbewußt Lustgewinne gebracht hat, schließt
jenes Leiden unter ihr nicht aus; das Leid war trotzdem
da und sicher um so tiefer, je mehr verborgene Befriedigung
sie ihm verschafft hat.
Die Eindrücke der Analyse verdichten sich dann zu der
Anschauung, daß jenes unbewußte Leid selbst ein Krankheits-
gewinn war, ja sogar einer der vornehmsten und geschätztesten.
Man wäre oft versucht, zu meinen, daß die latente Ersatz-
befriedigung in den Symptomen, für welche das Leid gleichsam
nur die Bezahlung war, beträchtlich überzahlt worden sei.
Man könnte meinen, es stehe nicht dafür, soviel Leid für
so wenig Vergnügen zu ertragen. „The game is not worth
the candle", würden die Engländer sagen. Das Verhältnis
zwischen den beiden Quantitäten muß doch irgendwie das
richtige sein 5 Preis und Ware, Einsatz und Gewinn einander
annähernd entsprechen.
Das Leid als Krankheitsgewinn kann aber nur aus dem
unbewußten Strafbedürfhis abgeleitet werden, es hat deutlich
Strafcharakter. Freud hat auf die große Rolle hingewiesen,
welche das unbewußte Schuldgefühl als Widerstand gegen
die Heilungstendenzen spielt. Die Gegenüberstellung dieses
triebhaften Faktors mit dem Geständniszwang ergibt folgenden
Sachverhalt: in jenen Fällen von Neurose, in denen ein über-
großes Strafbedürfnis wirksam ist, wird dieses sich als das-
jenige Moment erweisen, das sich dem Geständniszwange
am erfolgreichsten entgegenstemmt und. seine Wirksamkeit
einschränkt.
Das scheint auf den ersten Blick befremdend zu sein: der
Geständniszwang, der selbst zu einem bedeutsamen Teil
dem Straf bedürfnis seine Existenz verdankt, soll gerade
durch gesteigerte Intensität desselben an seiner Durchsetzung
gehindert werden? Und doch ist es so 5 das Straf bedürfnis
fungiert eben wie die Triebkraft, welche in bestimmter Stärke
eine Maschine treibt, deren Steigerung über ein gewisses Maß
hinaus aber die Maschine selbst zerstört. Der Geständnis-
zwang kann gewiß auch von anderen Seiten her eine Auf-
hebung oder Einschränkung seiner Wirksamkeit erfahren.
Wir wissen z. B., daß er sich unter den Bedingungen des Schlaf-
zustandes regressiv in den Äußerungsdrang der Triebregungen
verwandelt; andersartige Herabsetzung oder elementare Auf-
hebung des Verdrängungsaufwandes wird sicherlich zu dem-
selben Resultat führen. Das wichtigste Hindernis seiner
Entfaltung ist aber die übergroße Intensität des Straf-
bedürfnisses.
Zur Tiefendimension der Neurose
75 j
Wir
haben
erkannt,
daß das Geständnis selbst
ein
Stück i
Selbstbestrafung bedeutet und so zur partiellen Befriedigung
des Strafbedürfnisses benützt wird. Aber einem übergroßen
Strafbedürfnis genügt diese Strafe als Entlastung nicht, es
besteht darauf, weiter zu leiden. Wirklich gibt es Fälle von
Zwangsneurose und Angsthysterie, deren Straf bedürfnis die
psychische Entlastung durch die Analyse nicht oder nur in
einem gewissen Ausmaße gestattet. Gewiß kann der Geständnis-
zwang auch in diesen Fällen nicht völlig ausgeschaltet werden,
aber er wird eben seine Wirksamkeit auf das unbewußte
Geständnis des Strafbedürfnisses beschränken. Das Gewissen ist
in diesen Fällen stumm, es kann sich nicht selbst bemerkbar
machen — hier liegt einer der wenigen Fälle vor, in denen
der Analytiker die Initiative ergreifen und dem Patienten
sagen muß, es sei eben das Strafbedürfnis, das ihn an der
Befolgung der analytischen Grundregel hindere. Es wird dann
zur Aufgabe des Analytikers, darnach zu streben, daß er den
unbewußten Masochismus des Patienten in bewußtes Schuld-
gefühl verwandle. Auf dem Wege zu diesem Ziele ergibt
sich die Notwendigkeit, daß sich das Strafbedürfnis mit
der mildesten Form des Geständnisses als Selbstbestrafung
zufrieden gebe.
Nun liegt insbesondere für den Anfänger in der Analyse
die Versuchung nahe, den Patienten durch besondere Anstren-
gungen von dem ihn so bedrückenden Schuldgefühl zu befreien.
Er würde aber bald die Erfahrung machen, daß der Patient
diesen Bemühungen einen stummen Widerstand entgegen-
bringt, der sich bis zum erbittertsten Trotz steigern kann.
Wir bekommen den Eindruck, daß er sein Strafbedürfnis
unbewußt mit allen Kräften festhält und es gegen alle
Anstrengungen, es ihm zu entwinden, verteidigt wie ein
L
7 6
Geständniszwang und Straf bedürfnis
teures Besitztum, ja daß er weniger darauf zu verzichten
bereit scheint als auf seine berechtigten oder unberechtigten
Ansprüche auf Triebbefriedigung.
Wir haben es nicht schwer, diesen verwunderlichen Gegen-
satz zu erklären: ist doch das Straf bedürfnis ein Ausfluß
stärkster Triebregungen und strebt selbst nach adäquater
Befriedigung wie jede andere Triebregung. Man wird also
beachten müssen, daß das Strafbedürfnis in der Neurose
zumindestens ebensoviel verborgene Befriedigung findet wie
andere Triebregungen.
Die schwierig durchzuführende Reduzierung des Straf-
bedürfnisses macht in vielen Fällen das eigentlich wesentliche
Stück der Analyse aus; in manchen ermöglicht es erst eine
solche Herabsetzung, die Analyse durchzuführen. In diesen
Neuroseformen ist das Strafbedürfnis der Analyse wie ein
schwerer Riegel- vorgeschoben, der erst mühselig entfernt
werden muß, ehe man die komplizierten Aufgaben im Hause
selbst erledigen kann. Es ist so, als habe das Über-Ich das
Ich dermaßen unterjocht, daß die Hauptaufgabe vorerst darin
besteht, diese Tyrannei in eine mildere Art der Herrschaft
zu verwandeln, ehe man an die Durchführung anderer
Reformen gehen kann.
Ich meine, es wäre nicht zu gewagt, den Widerstand
in der Analyse als die der Herstellung ent-
gegengestellte Kraft des Straf bedürfnisses zu
beschreiben. Man könnte sich getrauen, die Analyse von
Seiten des Über-Ichs aus auf die Basis des Geständniszwanges
zu stellen, wenn man nur dessen eingedenk bleibt, daß man
damit keine moralischen Prinzipien anerkannt, sondern einen
psychischen Prozeß beschrieben hat.
Meine Damen und Herren! Am Ende der altindischen
Zur Tiefendimension der Neurose
77
Schauspiele wurde der Ruf laut: „Mögen alle lebenden Wesen
von Schmerzen frei bleiben!" Dieser Wunsch steht auch
am Anfange der Psychoanalyse wie jeder ärztlichen oder
pädagogischen Tätigkeit. Aber die Anerkennung der „bio-
logischen und psychologischen Notwendigkeit des Leidens",
wie Freud es nannte, ist vielleicht der Anfang der Bewälti-
gung des Leides. Man muß sich dieser Notwendigkeit erst
ein Stück weit unterwerfen, ehe man versucht, des Leidens
Herr zu werden. Das Strafbedürfnis gehört aber in einem
gewissen Ausmaße zu diesen psychologischen Notwendigkeiten
und weicht keiner Gewaltmaßregel. Es hat die Macht, Gutes
in Schlechtes zu verkehren. Ein Zwangskranker aus meiner
Beobachtung reagierte auf jede Liebenswürdigkeit und jedes
freundliche Entgegenkommen seiner Verwandten und Freunde
mit einem feindlichen oder gehässigen Akt. Die Analyse zeigte
nun in diesem Falle besonders klar, daß er solche Freund-
lichkeit schlecht vertrug. Er mußte so sonderbar darauf
reagieren, so sehr er unter seiner Undankbarkeit und
Unhöflichkeit litt; er mußte sich um die Freundlichkeit
bringen und sich unbeliebt machen. Sein Benehmen kam
einem Geständnis gleich: ich verdiene diese Freundlichkeit
nicht; ich werde euch zeigen, wie schlecht und undankbar
ich bin.
Sie wissen, daß diese fremdartige Reaktionsart keineswegs
selten ist: so benehmen sich manchmal Kinder, die sich unbe-
wußt schuldig fühlen, Liebesbezeugungen der Erwachsenen
gegenüber. Es ist so, als wäre die ganze Aufrichtigkeit, deren
sie fähig sind, gerade in jenem undankbaren, feindlichen Akt,
der doch nur ein Ausdruck des präexistenten Schuldgefühles
ist, enthalten. Vielleicht erinnern Sie sich jener köstlichen
Geschichte bei Anatole France, in welcher der greise Erz-
L
7 8
Geständniszwang und Strafbedürfnis
bischof Charlot seinem Abbe einen fingierten, kirchenrechtlich
interessanten Fall als unmittelbar geschehen erzählt, und der
Abbe" Lantaigne durch Zufall entdeckt, daß ihn seine Eminenz
wieder einmal zum Narren gehalten habe. Die Augen zum
Himmel gerichtet, ruft der Abbe aus: „Dieser Mann wird
also niemals die Wahrheit sagen, außer auf den Stufen des
Altars, wenn er die heilige Hostie in seine Hände nimmt
und die Worte spricht: Domine, non sum dignus." Ähnlich
werden die Zwangskranken der beschriebenen Art das Tiefste
ihres Wesens enthüllen, wenn sie ihre Minderwertigkeits-
gefühle zeigen und ihr Strafbedürfnis verraten.
Die Bedeutung des Strafbedürfnisses, das Leid als Krankheits-
gewinn, die von Freud hervorgehobene Tatsache, daß das
Verhalten des Über-Ichs die Schwere einer neurotischen
Krankheit bestimmt, lassen neue Probleme erstehen, geben
Anlaß zu manchen Unsicherheiten der analytischen Technik.
Es besteht kein Anlaß, diese Schwierigkeiten, die sich auch
in anderen Zweigen der therapeutischen oder pädagogischen
Tätigkeit zeigen, zu verhüllen. Die Analyse ist kein fertiges
System und erklärt, daß das Unfehlbarkeitsdogma, das im
religiösen Glauben eine so hervorragende Stellung einnimmt
und vielleicht einnehmen muß, dem Charakter der Wissen-
schaft widerstreitet.
Eines dieser schwierigen Probleme ist eben das der Redu-
zierung des Strafbedürfnisses. Die Haltung des Analytikers
dieser psychischen Macht gegenüber ist, möchte man meinen,
durch die Prinzipien der Analyse selbst vorgeschrieben: er
hat allmählich die verdrängten Begründungen dieses Straf-
bedürfnisses aufzudecken, unbewußtes Schuldgefühl in bewußtes
zu verwandeln. Doch dieser Prozeß geht außerordentlich
langsam vor sich, in schweren Fällen würde er jahrelang
Zur Tiefendimensiön der Neurose
79
dauern. Wie sich mit dem Strafbedürfhis des Patienten in
der Zwischenzeit abfinden, wie kann man sein Leid mildern?
Die Antwort auf diese Frage lautet wenig tröstlich: man
kann fast nichts dagegen tun. Es scheint, als müsse ihm ein
bestimmtes Maß der Befriedigung auch des Strafbedürfnisses
concediert werden.
Eine aktive Therapie im Sinne von Verbot oder Auftrag
schadet mehr, als sie Nutzen verspricht. Ein Verbot bestimmter
Triebbefriedigung läßt gerade aus Strafbedürfnis das Verbotene
anstreben und produziert ein neues Schuldgefühl. Man hat
vielleicht eine moralische Schädlichkeit vermieden, aber eine
Schädlichkeit durch die Moral erzeugt. Auch wenn der Patient
spontan etwas gegen seine Zwangsverbote unternimmt, wird
er oft vom Schuldgefühl überwältigt. Man kann öfters die
Beobachtung machen, wie Neurotiker aus Strafbedürfnis zu
der verbotenen Tat getrieben werden. Aber die Freigabe
der Befriedigung des Strafbedürfnisses ist im selben Maße
unrichtig; erlaubt sie doch dem Patienten ein Genießen der
masochistischen Triebregungen, ein Schwelgen in der Selbst-
peinigung oder in der von ihm inszenierten Quälerei durch
andere.
Sie wissen, wie sich die Religion gegenüber diesem Straf-
bedürfnis verhält, sie predigt, „nicht gegen den Stachel zu
locken", „dem Übel nicht zu widerstehen". Solange die
unbewußten Begründungen des Schuldgefühles nicht auf-
gedeckt sind, kann auch die Analyse wenig anderes tun als
vielleicht den Patienten vor den gröbsten Selbstbeschädigungen
schützen und kann ihm nur geringe Hilfsmittel an die Hand
geben, dem Übel zu widerstehen. Wie bei so vielen aktuellen
Konflikten muß sie den Patienten auf die Zeit nach Beendi-
gung der Analyse vertrösten. Sie handelt also ähnlich wie die
80 Geständniszwang und Straf bedürfnis
französischen Enzyklopädisten, die sich gegen den kirchlichen
und staatlichen Zwang nur mit dem Entschlüsse wehren
konnten, dem unsinnigen Gesetze, solange es in Kraft ist,
unbedingt zu folgen, aber nicht zu ermüden, dagegen anzu-
kämpfen. In der Zeit, in der der Abbau des Straf bedürfnisses
noch nicht gelungen ist, kann der Patient in so schweren
Fällen keine andere Haltung einnehmen, als sich dem Leid,
dem Zwangsgebot, der Angst zu unterwerfen und den Protest
gegen sie nicht aufzugeben.
Zwei wichtige Überlegungen aber schränken den Wert
solcher Entscheidung erheblich ein. Man kann dem Patienten
nicht angeben, wann er seinem Leid entrissen wird. Sie
werden auf den technischen Grundsatz der Terminsetzung
in der Analyse hinweisen, aber ich darf Ihnen vielleicht
gestehen, daß er mir von nur sehr beschränktem, thera-
peutischem Wert zu sein scheint. Die Terminsetzung wider-
spricht eigentlich völlig dem Wesen der Psychoanalyse als
eines organischen Prozesses. Der gordische Knoten wurde
durch einen Schwerthieb entzweigehaut, aber nur die
Dialektik kann behaupten, daß dies eine Lösung sei. Gewalt-
maßregel in der Analyse sind äußerst selten am Platze. Man
kann die Terminsetzung unter bestimmten Bedingungen
wohl als Auskunftsmittel in der Not gelten lassen, so wie
man ja manchmal erfolgreich den Neuling zum Schwimmen
bringt, indem man ihn ins Wasser wirft. Aber dies ist
sicherlich nicht die beste Art, schwimmen zu lernen. Auch
bei Terminsetzungen muß man übrigens beachten, daß sie
völlig unbrauchbar sind, einen Widerstand überwinden zu
helfen; wenn überhaupt, dürfen sie nur im Zustande posi-
tiver Übertragung, möglichst in Übereinstimmung mit dem
Patienten, erfolgen.
Zur Tiefendimension der Neurose
Sie werden sagen, die Bedingungen für eine solche
Terminsetzung seien ja dadurch gegeben, daß die Analyse dem
Kranken zum Zwange geworden ist, daß er sich in ihr
sozusagen häuslich niederläßt. Aber auch hier wäre sicher
der bessere Weg der, in ihm den Entschluß des freund-
lichen und freiwilligen Scheidens wachzurufen als ihn zu
delogieren. Ein anderes Moment bleibt zu bedenken: eine
solche Fixierung an den Analytiker ist nicht nur Äußerung
einer Liebesregung, sondern auch einer Trotzeinstellung,
einer trotzigen Liebe ; sie ist aber weit mehr Ausdruck des
noch mächtigen Strafbedürfnisses. Die Unselbständigkeit, die
Liebesbedürftigkeit des Kranken tritt freilich in den Erschei-
nungen in den Vordergrund. Aber ich meine, hier wie im
allgemeinen sei ein so unersättliches Liebesbedürfnis selbst
ein Zeichen des unbewußten Schuldgefühles. Das Schuld-
gefühl wird ja vom Ich als narzißtische Beeinträchtigung
empfunden und der Kranke strebt darnach, sein Selbstgefühl
durch Geliebtwerden wieder zu gewinnen. Nur wer sich
schuldig fühlt, ist so übertrieben in seinen Liebesansprüchen :
die Liebe soll dazu dienen, das Schuldgefühl zu beschwich-
tigen. Dies ist kein Widerspruch zu meiner früheren Behaup-
tung, daß das Strafbedürfnis die Liebesbezeugung oft geradezu
zurückweisen läßt. ' Es wäre ja möglich, daß es auf zwei ver-
schiedene Arten reagiert. Tatsächlich ist es so; jene zwei
Reaktionsformen entsprechen der Wirkung ökonomischer Fak-
toren in der psychischen Dynamik. Bei überstarkem Straf-
bedürfnis wird die Tendenz zur Zurück Weisung von Liebe,
ja die Tendenz, sich unbeliebt zu machen, vorherrschen 5 bei
geringerem, bereits durch die Analyse ermäßigtem Straf-
bedürfnis jene übertriebene Liebesbedürftigkeit sich als Aus-
druck des moralischen Masochismus verraten. Ich glaube,
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfhis. 6
82 Geständniszwang und Strafbedürfnis
i :
daß auch bei Kindern die Beobachtung gemacht werden
kann, daß eine besonders erhöhte Liebesbedürftigkeit, starkes
Bedürfnis, geliebt zu werden, auf ein Schuldgefühl zurück-
weist. Auch dort hat das Schuldgefühl eine Einbuße des
primären Narzißmus zur Folge, den das Kind durch die
Sicherheit des Geliebtwerdens wettmachen will.
Die Art der Beendigung der Analyse wird gerade bei
Fällen schwerer Neurose oft zum Problem, das in jedem
individuellen Fall besonders gelöst werden muß. Vielleicht
bieten die frakturierte Analyse, die allmähliche Beschränkung
der Analysestunden bessere psychische Möglichkeiten, aber
auch diese Auswege sind keineswegs immer angezeigt. , Alle
diese Fragen hängen wieder mit den Problemen der aktiven
Therapie zusammen. Der Vergleich der Analyse mit einem
chirurgischen Eingriff, der so viele Beziehungen aufklärt,
darf nicht irreführen. Die Analyse kann in anderen
Beziehungen mit einer konservativen Therapie verglichen
werden. Wenn eine Vergiftung vorliegt, wird es sicher die
Sorge des Arztes sein, den Giftherd zu entfernen; aber wenn
dieser nicht mehr erfolgreich entfernt werden kann, so wird
es sein Bemühen sein, die Antitoxinkräfte des Organismus
in ihrem Kampfe gegen das eingedrungene Gift zu unter-
stützen, die Wirkungen der Toxine abzuschwächen, die
Bildung von Leukozyten anzuregen usw.
Ein zweiter Faktor, der die Einstellung des Patienten
seiner Krankheit gegenüber erschwert, ist eine Veränderung,
welche gerade durch die Analyse hervorgerufen wurde, die
sich aber oft schwer vermeiden läßt. Wir haben hervor-
gehoben, daß die Kranken oft erst durch die Analyse
erfahren, welches Leid sie ertragen haben und noch immer
ertragen. Es ist nun merkwürdig, daß die Nervösen, je
Zur Tiefendimension der Neurose
83
weiter die Analyse fortschreitet, desto ungeduldiger gegen
ihr früher oft mit heroischer Geduld ertragenes Leid
werden. Es ist so, als wenn sie jetzt, da sie ihr Leid
bewußter erkennen können, jene Ungeduld, davon befreit
zu werden, nachholten, die sie früher nicht gezeigt haben.
Der innere Zusammenhang dieser Erscheinung mit der
Übertragung ist ganz augenscheinlich: die Anwesenheit
einer Person, welche unbewußt einen Elternrepräsentanten
vorstellt, und die Erwartung der Hilfeleistung von ihm
macht sie ungeduldiger, so wie Kinder ihre Schmerzen
umso stärker äußern, wenn die Eltern in der Nähe sind.
Es ist aber ebenso klar zu erkennen, daß sie in steigendem
Maße intoleranter gegen ihr eigenes Strafbedürfnis werden,
da der Krankheitsgewinn durch die Analyse entwertet zu
werden droht.
Eine andere Schwierigkeit ist diejenige, welche sich an
die Undurchsichtigkeit der Tiefendimension der Neurose
knüpft. Manchmal sind Fälle mit lärmenden und besonders
gefährlich aussehenden Symptomen keineswegs so hartnäckig
und bieten lange nicht die Schwierigkeiten, welche andere
Fälle dem Analytiker zeigen, die sich unauffällig geben und
bei denen man den Eindruck erhält, die Persönlichkeit
des Kranken sei zu einem großen Teile intakt geblieben.
Es gibt keine Neurose ohne Beteiligung des Über-Ichs;
auch wenn wir die Neurosen als Resultat des Konfliktes
zwischen Ich und Es charakterisieren, müssen wir betonen,
daß es sich um das Ich, das die Partei des Über-Ichs
genommen hat, handelt. Wenn wir uns diese Aussage über-
legen, finden wir, daß sie für uns Analytiker eigentlich
eine Banalität darstellt, denn das will doch sagen: es gibt
keine Neurose ohne Ödipuskomplex. Das Über-Ich ist ja
6*
von Freud als Erbe des Ödipuskomplexes gekennzeichnet
worden. Wir haben nun keine Hilfsmittel, keinen Maßstab
zur Verfügung, der die Strenge des Über-Ichs messen könnte;
wir wissen nicht, wann es sich zufrieden geben will. Das
Verhalten des Über-Ichs stellt aber den entscheidenden
Faktor vor, der unsere Prognose bestimmen muß. Das Ver-
ständnis des Charakters und der Wirkungen des Über-Ichs
ergibt erst den überzeugendsten Einblick in die Tiefen-
dimension der Neurose. Man darf behaupten, daß es
darüber hinaus das Verständnis für viele Lebensgestaltungen
der Menschen eröffnet und uns im unbewußten Straf-
b e d il r f n i s, das vom Über-Ich ausgeht, eine der g e w a 1 1 i g-
sten, schicksalsformenden Mächte des Menschen-
lebens überhaupt erkennen läßt.
Wir bemerken häufig, daß sich die Neurose in späteren
Stadien der Analyse freiere Äußerungen erlaubt, die in
früherer Zeit kaum angedeutet waren. Es sieht so aus, als
würden nicht nur die verdrängten libidinösen und feind-
lichen Gefühle, sondern auch das Strafbedürfnis mehr Mut
zur Äußerung bekommen haben. Wir können auch darin
erkennen, daß die Intensität des Strafbedürfnisses sich dem
Geständniszwange entgegenstellt. Hätten wir nicht diese
Tiefendimension der Neurose erkannt, so könnte man oft
den Eindruck gewinnen, daß zwei Neurosenformen in der-
selben Person übereinandergeschichtet wären. Man stünde
dann, wie ich bereits erwähnt habe, vor dem Ergebnis, als
hätte man den Konflikt zwischen Triebansprüchen und Ich-
strebungen bewältigt, aber die tiefere Schicht der Neurose,
die den Konflikt zwischen Ich und Über-Ich enthält,
bestehen lassen.
In Wahrheit handelt es sich natürlich nur um die eine
Zur Tiefendimension der Neurose
85
Neurose, deren Tiefe man nicht ausgeschöpft hat. Das Über-
ich ist ja nur der Erbe des Ödipuskomplexes ; man hat dann
einfach die Nachhaltigkeit der im Ödipuskomplex wurzeln-
den Triebregungen nicht beobachtet. Diese Unterschätzung
der Tiefendimension der Neurose wird aber auch für den
Patienten bedeutsam, denn es ist wichtig, daß dieser die
Überzeugung von der tiefgreifenden Wirkung der vom Ödipus-
komplex ausgehenden Gefühle erwirbt.
Ich will an einem einzigen Falle zu zeigen versuchen,
welche Rolle dieses Moment in der analytischen Behandlung
spielt. Ein Patient, der an Schlaflosigkeit, Impotenz, Skrupeln
und Arbeitshemmungen litt, hatte vor vielen Jahren mit
seinem Vater gebrochen. Der Vater hatte an den Sohn, der
sich in der Fremde nur schwer sein Brot erwarb, immer
höhere Geldforderungen gestellt und das Geld immer wieder
in verfehlten Börsespekulationen verspielt. Endlich hatte der
Sohn, der lange für den Vater harte Einschränkungen auf
sich genommen hatte, nach einer neuerlichen Geldforderung
alle Beziehungen zum Vater brüsk abgebrochen und dessen
„sentimentalen" Appell unbeantwortet gelassen. Bald darauf
war der Vater in einem Kurort in Italien gestorben, ohne
den Patienten wiedergesehen und ohne sich mit ihm versöhnt
zu haben. Im Abschiedsbrief an die Mutter hatte der Vater
den Patienten demonstrativ unerwähnt gelassen. Die Analyse
führte langsam bis zu den ersten Kindererlebnissen und den
Einzelheiten des Ödipuskomplexes zurück, ohne daß sich
Wesentliches an den Symptomen des Patienten gebessert
hätte. Noch nach einem Jahr in der Analyse sprach er nur
mit Spott und Ironie von dem verstorbenen Vater, den er
am Anfang erbittert kritisiert hatte. Aber dieser Spott war
zu demonstrativ, als daß er für ungekünstelt hätte gelten
86 Geständniszwang und Straf bedürfnis
können. Meine Bemühung, den Patienten davon zu über-
zeugen, daß seine Symptome in einer unterirdischen Ver-
bindung mit einem unbewußten Schuldgefühl, das dem Vater
galt, standen, blieben augenscheinlich erfolglos. Als extremer
Rationalist und Skeptiker, der sich häufig genug auch selbst
persiflierte, wollte er sich zur Anerkennung der Wirksamkeit
solcher Gefühle nicht verstehen, er hatte anfänglich nur
Spott für sie übrig.
Einmal aber begann er die Analysestunde mit dem Bericht
über ein merkwürdiges Vorkommnis, das sich in der Nacht
vorher abgespielt hatte. Er war am Abend im Theater
gewesen und hatte dort Nestroys Posse „Einen Jux will er
sich machen" gesehen. In dem Stücke kommen zwei komisch
gezeichnete Räuber vor, die durch einen unterirdischen Gang
in einen Geschäftsladen einbrechen, dabei aber von schreck-
licher Angst erfüllt sind. Diese Szene, namentlich aber die
Bemerkung, die der eine feige Einbrecher dem anderen
zuruft: „Mir scheint's, du zitterst ja!" amüsierte meinen
Patienten sehr.
Nach Hause gekommen, hatte er vor dem Einschlafen noch
die Zeitung gelesen, dabei an den Fall der Valuta Italiens
gedacht, da er fürchtete, finanzielle Verluste dabei zu erleiden.
Der letzte bewußte Gedanke vor dem Einschlafen habe dem
verheerenden Erdbeben in Yokohama gegolten, über das er
gerade gelesen hatte. Er sei plötzlich in der Nacht durch
die heftige Erschütterung geweckt worden, die ein vorüber-
fahrendes Lastenauto im Zimmer verursacht habe. Später
erkennbare Gründe lassen die Vermutung zur Gewißheit
werden, daß er erst einige Minuten nach dem Erwachen
das Erzittern des Raumes mit dem Lastautomobil, das
vorüberfuhr, in ursächlichen Zusammenhang gebracht und
Tau- Tiefendimension der Neurose
8 7
zuerst einen Augenblick panischer Angst erlebt hatte. Er sei
nun aus dem Bette aufgesprungen und habe dem Bette
parodistisch jene Worte aus dem Nestroy sehen Stücke
zugerufen: „Mir scheint's, du zitterst ja!" Die Assoziationen,
die diesem Berichte folgten, wiesen nun folgende Richtung
auf: als letzter, bewußter Gedanke vor dem Einschlafen das
Erdbeben von Yokohama — das Fallen der Lire als voran-
gehender Gedanke — der Ausbruch des Vulkans in Japan,
der Ausbruch des Ätna in Italien — das Grab des Vaters in
Italien. Wir brauchen jetzt nur einige naheliegende Zwischen-
glieder einzusetzen, um den Zusammenhang zu erraten. Es
war in jenem Augenblick der Erschütterung des Zimmers
eine dunkle Erinnerung an das am Abend vorher Gelesene
aufgetaucht, die dem Unbewußten zur Verarbeitung überlassen
worden war und nun verdrängte Gedanken für einen Augen-
blick vorbewußt werden ließ. Die Empfindung, die durch
das Beben des Bettes hervorgerufen wurde, erinnerte an ein
Erdbeben in Italien, an den Tod des Vaters in diesem Lande,
vielleicht auf dem Umweg über das Fallen der Lire, an
den Streit wegen des Geldes mit dem Vater und an Todes-
wünsche des Sohnes.
Lassen. Sie mich nun in Schlagworten fortsetzen: das
Grab des Vaters in Italien, die Erde bewegt sich, der Vater
steigt aus dem Grabe, um ihn zu bestrafen. Die Worte:
„Mir scheint's, du zitterst ja!", die ihn schon in der Auf-
führung belustigt hatten und jetzt dem Bette galten, waren
sicher ursprünglich an sich selbst gerichtet und entsprachen
in der selbstparodistischen Art des Patienten einem Befreiungs-
versuche von jener dunklen, momentanen Angst. Diese Angst
aber wird bezeugt durch die Identifizierung mit dem feigen
Einbrecher des Stückes, der seine Angst im Zittern verrät,
88 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
da er in dem unterirdischen Gange ist. Das Zitieren jener
Worte entspricht also einer Abwehr aller jener Gefühle, die
der wiederauftauchende, animistische Kinderglaube in ihm
wachgerufen hatte. Der Skeptizismus hatte damit in ihm wieder
die Oberhand gewonnen. Der Gedanke an das Fallen der
Lire stellt einerseits die unbewußte Verbindung mit Italien,
andererseits mit dem Gelde, das der letzte Anlaß zum Bruch
mit dem Vater gewesen war, her. Man wird nicht ver-
kennen, daß die parodistisch gebrauchten Worte: „Mir
scheint's, du zitterst ja!" endlich die Anerkennung der in
der Analyse immer wieder bestrittenen Gewissensangst bringen.
Die Beziehungen der psychischen Vorgänge jener Nacht
zu den Symptomen des Patienten werden sofort klar, wenn
wir das Erzittern des Bettes mit Kindererinnerungen in
Verbindung bringen, in denen Angsterscheinungen aufgetreten
waren und die in der Psychogenese der Schlaflosigkeit noch
nachzuweisen waren. Die Angst des Einbrechers beim Ein-
dringen in den unterirdischen Gang weist in der Verdich-
tung der Vorstellungen des väterlichen Grabes und des weib-
lichen Genitales auf die Kastrationsangst hin, welche die
stärkste unbewußte Begründung seiner Impotenz bildete. In
diesem psychischen Element sind gleichsam die Abwehr-
regungen, die der Durchführung des Ödipuskomplexes gelten,
komprimiert zusammengefaßt. Die sekundäre Bedeutung
dieser Unterwelt als des Reiches der Psychoanalyse wird
leicht erkennbar. Sogar der Zug der zwei Räuber, die einander
ähneln, gehört in einen unbewußten Zusammenhang, der
uns bekannt war. Der Patient hatte jene Eigenschaften der
Selbstironie und selbstkritisierenden Wachheit, deren Besitzer
die französischen Psychologen „observateur de soi-meme"
nennen. Kurz vorher hatte er einen Traum gehabt, in dem
Zur Tiefendimension der Neurose
89
zwei einander gleiche Clowns vorkamen, von denen der eine
die Bewegungen des anderen nachahmte und parodierte.
Es wird hier auch durchsichtig, wie das Über-Ich die
Erbschaft des Ödipuskomplexes übernommen hat, wenn wir
den Ausdruck der kindlichen Todes wünsche und des Inzest-
verlangens — im Eindringen in das Erdinnere symbolisiert
— hinter den Vorstellungen als wirksam wiederfinden. Die
Impotenz verschwand nach Durcharbeiten dieses psychischen
Materials zum erstenmal; desgleichen die Schlaflosigkeit.
Freilich ging dieser therapeutische Erfolg zum Teil unter
neuen Widerständen verloren, aber ein Teil blieb erhalten
und das eigene Erleben ließ den Patienten nie mehr an der
Tiefe und Wirksamkeit seiner Schuldgefühle zweifeln, denen
er sich bisher spöttisch verschlossen hatte. Der Patient
verließ die Analyse geheilt.
Von einer anderen Seite läßt sich Einsicht in die Tiefen-
dimensionen der Neurose gewinnen; es ist dies die Unzer-
störbarkeit der nach Liebe strebenden Tendenzen. Wir werden
nicht vergessen, daß das Strafbedürfnis sexuelle Bedürfnisse
abgelöst hat und den erogenen und femininen Masochismus
im Sinne Freuds ebenso befriedigt wie den moralischen
Masochismus. Die Herkunft des Strafbedürfnisses aus der
infantilen Objektbesetzung entscheidet auch darüber, daß er
noch immer verborgenen sexuellen Zielen zustrebt. Die
psychische Energie, die sich im Strafbedürfnis und in der
Leidensfähigkeit zeigt, würde in manchen Fällen, in aktiver
Tätigkeit verwendet, dazu ausreichen, große soziale Erfolge
zu sichern.
Die Unzulänglichkeit und der sekundäre Charakter der
Adle rschen Theorie der Neurose, , die auf dem Machtstreben
aufgebaut ist, wird auch darin klar, daß noch der bedeut-
9° Geständniszwang und Strafbedürfnis
samste Krankheitsgewinn, die Befriedigung des Strafbedürf-
nisses, seine Abkunft aus dem Sexuellen nicht verleugnen
kann und noch immer unbewußt auf Erreichung von Liebes-
zielen gerichtet bleibt. Wir leugnen natürlich nicht, daß auch
Machtziele in der Neurose eine Rolle spielen, aber sie treten
weit hinter die sexuellen zurück. Es ist in vielen Fällen
wirklich die Rachetendenz nachzuweisen, die Absicht, die
Krankheit als Schuld der Familie oder der Umgebung dar-
zustellen, aber noch hier bleiben die sexuellen Regungen
im Hintergrunde wirksamer als die offener zutage liegenden
Tendenzen der Rache oder Schadenfreude. Noch in diesen
Rache- und Trotzstrebungen werden die in die Regressions-
form geflüchteten Liebesregungen sichtbar. In vielen Fällen,
in denen solche feindselige Absichten sehr deutlich wurden,
war doch das unbewußte Bemühen erkennbar, durch das
Mitleid die erhöhte Liebe derselben Angehörigen zu erreichen,
denen die Kranken die ganze Schuld an der Krankheit
zugeschrieben hatten. Das Machtstreben erweist sich in der
Analyse oft geradezu als der inadäquate Weg, den die Neu-
rotiker zur Erreichung ihrer Liebesziele eingeschlagen haben
und von dessen Verfolgung sie schwer abzubringen sind.
Die Theorie des männlichen Protestes als des tragenden
Prinzips der Neurose wird durch den Nachweis der Wirkungen
des unbewußten Strafbedürnisses widerlegt.
Die Neurose, die im wesentlichen auf einem Konflikt
zwischen Triebanspruch und Strafbedürfhis aufgebaut ist,
zeigt, daß das Ich, das dem einen Faktor nachgibt, auch
dem anderen in bestimmtem Ausmaße dienen muß. Das Ich
verhält sich ähnlich wie jener komische Soldat in einer Posse
Nestroys, der ausruft: „Bitt' schön, Herr Hauptmann, ich
hab' zwei Feinde gefangengenommen, aber sie halten mich."
Zur Tiefendimension der Neurose
91
In vielen Fällen läßt sich nachweisen, daß das Maximum
an Triebbefriedigung in der Neurose dem Maximum an
Befriedigung des Strafbedürfnisses entspricht. Nehmen Sie
als Beispiel einen mehr als häufigen Fall der Triebbefriedigung.
Die Erfahrung zeigt, daß der Knabe von der Onanie, die
er mit den Händen ausführt, zu anderen Onaniepraktiken
übergeht. Die Aktion der Hände wird gewöhnlich mehr
und mehr ausgeschaltet, rhythmische Bewegungen am Bettuch
oder Polster ersetzen die frühere Art der Friktion des Genitales.
In der Pubertätszeit wird häufig mit der Polsterunterlage
bei der Onanie die Phantasie verbunden, daß diese den
Körper eines Liebesobjektes darstelle.
Wir erkennen dann in der Analyse eine Annäherung an
jene Situation, die neben den körperlichen, aus dem Inneren
des Organismus kommenden Reizen die sexuelle Erregung
des Kindes produziert hat, nämlich die phantasierte Situation
des Inzestes. Nun kann freilich die Rolle des Polsters in der
Phantasie als die eines Ersatzes für den weiblichen Körper
ganz bewußt sein, ja, sie wird manchmal wissentlich so
vorgestellt und mit imaginierten Eigenschaften ausgestattet»
aber die dahinter liegende inzestuöse Phantasie bleibt dem
Bewußtsein entzogen. Wir sehen also hier immerhin die
Annäherung an die ursprüngliche inzestuöse Phantasie, die in der
Entstellung wiederkehrt; nicht minder bedeutsam aber erscheint
ein anderer Gesichtspunkt: die Hände sind allmählich tabu
geworden; ihre Betätigung am eigenen Genitale erscheint
verboten. Ihre Aktion ist vom unbewußten Schuldgefühl
betroffen worden.
In einem Falle von Zwangsneurose konnte ich diesen
Zusammenhang in einem Symptom besonders schön beobachten :
die Patientin, ein junges Mädchen, hatte häufig das merk-
92 Geständniszwang und Straf 'bedarf nis
würdige Gefühl, als gehörten ihre Hände nicht ihr, als
wären sie nicht ein Teil ihres eigenes Körpers; sie erschienen
ihr völlig fremd und von ihr abgelöst. Dies ereignete sich
häufig bei verschiedenen Beschäftigungen, wie Briefschreiben,
Nähen usw., und verhinderte sie an der Ausführung bestimmter
Arbeiten. Also ein Fall von partieller Depersonalisation. Es
wurde in der Analyse klar, daß die Patientin mit der
Beschreibung ihres Gefühles etwas Richtiges beschrieben
hatte: es ersetzte wirklich das affektvolle Staunen darüber,
daß diese selben Hände, die da schreiben oder nähen, dieselben
sind, die der Patientin in der Erinnerung so peinliche
Tätigkeiten, wie es die Onanie war, ausführen hatten können.
Nebenbei bemerkt, scheinen mir viele Fälle manueller
Ungeschicklichkeit von ähnlicher Art: es ist so, als ob die
Hände, die so verbotene Aktionen ausführen konnten, durch
das Strafbedürfnis auch bei anderen Tätigkeiten in ihrer Funk-
tionstüchtigkeit beeinträchtigt wären. Sie erinnern sich, daß
Freud bereits dieselben psychischen Mechanismen in der
psychogenen Sehstörung nachgewiesen hat.
Doch kehren wir zu der von uns beschriebenen Situation
zurück: in der früher gekennzeichneten Onanieform trifft
also die Annäherung an die verpönte Situation mit einem
gewissen Ausmaß an Strafvollzug zusammen, wie wir dies
nach den analytischen Annahmen erwarten durften. Die
Ausschaltung der Hände, bewußt als Mittel zur leichteren
Produzierung der erwünschten, libidinösen Phantasie bezeichnet,
wird zum Zeichen der Selbstbestrafung, zur unbewußten
Darstellung der Kastration. Dort, wo das Symptom den
verdrängten Triebregungen das größte Ausmaß von Befriedigung
gewährt, wird auch dem Strafbedürfnis am stärksten Genüge
geleistet.
r
Zur Tiefendimension der Neurose
93
Dieses funktionale Verhältnis zwischen dem Ausmaße von
Triebbefriedigung und der Befriedigung des Strafbedürfnisses
darf man als für die Neurose allgemein geltend ansehen. Es
entspricht dem analogen Verhältnis zwischen Verdrängungs-
aufwand und Versuchungsintensität und rückt z. B. auch die
Schutzmaßregel gegenüber den Ersatzbefriedigungen in der
Zwangsneurose in eine neue Beleuchtung. Nehmen wir wieder
ein Beispiel aus der Neurosensymptomatologie; eine Patientin,
junge Witwe, schützt sich vor dem Ausgehen, das sie
unbewußt sexuellen Versuchungen aussetzt, dadurch, daß sie
die Türe versperrt und den Schlüssel abseits legt. Später
muß sie den Schlüssel in ein anderes Zimmer geben 5 die
folgenden Stadien, welche die Verschiebungsvorgänge wider-
spiegeln, sind nun folgende: der Schlüssel wird dort festgebunden,
die Verknotungen der Schnur, welche den Schlüssel festhalten,
werden vervielfacht und kompliziert, der Schlüssel kommt
in eine Schachtel, die versperrt und festgebunden wird usw.
Beim Öffnen der Tür z. B. für einen Besuch oder den
Briefträger ergaben sich so einigermaßen schwierige Situationen.
Endlich wurde die alte Köchin beauftragt, den Schlüssel
einzusperren und gegenüber der Herrin gesichert zu verwahren.
Man möchte sagen, damit war die Gefängnisstrafe wirklich
durchgesetzt. Es werden in diesen Vorgängen nicht nur die
Verschiebung der Ersatzbefriedigung und der Schutzmaßregel,
sondern auch das der Versuchungsintensität entsprechende
Ausmaß an Strafbedürfnis klar, das ebenfalls verschoben wird.
Aber auch die aktuelle Triebbefriedigung kann zu gleicher
Zeit das Straf bedürfnis befriedigen, wie wir dies bei der
Onanie, die unbewußt auch den Charakter der Selbstkastration
hat, beobachten können. Es wird sich so empfehlen, drei
Stadien sorgfältig zu unterscheiden: das Straf bedürfnis, das
94 Geständniszwang und Straf bedürfnis
den Anstoß zur Triebbefriedigung gibt, das Strafbedürfnis in
der Triebbefriedigung selbst in der Form der Selbstbestrafung
und endlich das Strafbedürfnis, das sekundär auf die Trieb-
befriedigung rekurriert.
Ein anderer Gesichtspunkt, der an diesen anknüpft, erscheint
wichtig. Wie Freud hervorhebt, hat die Verdrängung die
ungehemmte Entfaltung der Triebrepräsentanz in der Phan-
tasie und die Aufstauung infolge versagter Befriedigung zur
Folge. Die sich dann ergebenden Äußerungsformen sind extremer
Natur und erschrecken den Neurotiker durch die Vorspiege-
lung einer außerordentlichen und gefährlichen Triebstärke.
Wir möchten hier hinzufügen, daß dieser Schein auch durch
das Straf bedürfnis, das die Triebstärke zu intensivieren scheint,
hervorgerufen wird. Dieser reaktiven Wirkung des Straf bedürf-
nisses geben oft sonst stark in der Triebbefriedigung gehemmte
Menschen nach und gelangen zu Taten, die wir nie bei
ihnen vorausgesetzt haben. Die Kriminalistik müßte sich diese
Betrachtung zu eigen machen, um zu erklären, wieso so oft
gerade besonders anständige und den Gesetzen gehorsame
Männer und Frauen überraschende Verbrechen begehen. In
der Analyse haben wir oft den Ausdruck der Verwunderung
von Patienten gehört, wieso sie nur dies oder das hätten tun
können, was sogar nicht mit ihren Absichten und ihrem
Charakter übereinstimme. Die individuelle Triebstärke ver-
drängter Tendenzen reicht zur Erklärung nicht aus; wir
müssen in den meisten Fällen annehmen, daß sie durch das
Strafbedürfnis reaktiv verstärkt wird und so zu Aktionen
führt, deren Durchführung der Energie der verdrängten Trieb-
repräsentanz allein nie gelungen wäre.
Die Weisheit aller Völker verkündet, daß das Verbotene
zur Übertretung reizt; aber sie verschweigt, daß der größte
Zur Tiefendimension der Neurose
95
Reiz, der vom Verbotenen ausgeht, in der unbewußt
vorausgesehenen Befriedigung des Strafbedürfnisses liegt.
Dies bildet z. B. die Erklärung für die biblische Erzählung
von der Erbsünde. Die Frommen verkünden, das Leid sei
die Folge der Sünde als Strafe für sündhaftes Tun. Wenn
aber die Strafe der Effekt dieses Tuns ist, so muß sie auch
eines seiner wesentlichsten Motive gewesen sein.
Ahnliches kann für die Neurosenpsychologie gelten 5 auch
hier muß die Befriedigung des Strafbedürfnisses eine der
geheimen Absichten der Neurose sein, so daß die Erkrankung
unbewußt einer Strafe gleichgesetzt wird. Man darf
versichern, daß die Antwort auf die Frage nach der
Natur und den unbewußten Begründungen
dieser Selbstbestrafung in den meisten Fällen den
Schlüssel zur Neurose liefert. Auch in der Auf-
stellung des anderen erwähnten Gesichtspunktes ist die
Religion intuitiv der Psychoanalyse vorangegangen: wir haben
früher darauf hingewiesen, daß die Triebverstärkung selbst
auf die reaktive Einwirkung des Strafbedürfnisses zurück-
zuführen ist. Die Religion behauptet, daß die Erbsünde
selbst auch den Charakter der Strafe habe, und einer der
größten Psychologen des Christentums, Augustinus, erklärt,
die Begehrlichkeit, die concupiscentia im sexuellen Sinn,
sei erst spät als eine Folge der Sünde zur Strafe geworden.
Der Tatbestand, den die Theologie hier beschreibt, kann
in psychologischer Ausdrucksweise nur folgender sein: das
präexistente Schuldgefühl kann oft eine Erhöhung der
Versuchungsintensität zur Folge haben. Der Reiz des Ver-
botenen liegt zum großen Teil darin, daß es das Ziel der
durch das Strafbedürfnis reaktiv verstärkten Triebregungen
bildet. Ja, in manchen Fällen meint man zu erkennen, daß
gß Geständniszwang und Strafbedürfnis
die Aufhebung des psychischen Druckes des Schuldgefühles
durch die verbotene Tat bedeutungsvoller ist als die Trieb-
befriedigung.
Wir wollen wieder zu den Problemen des Geständnis-
zwanges, die so innig mit den Fragen des Strafbedürfnisses
zusammenhängen, zurückkehren. Die Beziehungen zwischen
diesen zwei psychischen Erscheinungen scheinen uns jetzt
klarer: sie lassen sich in ein paar Sätzen zusammenfassen.
Der Geständniszwang ist die durch die Einwirkung des
Strafbedürfnisses modifizierte Äußerungstendenz verdrängter
Triebregungen. Sein Resultat, das Geständnis, repräsentiert
unbewußt eine Strafe und befriedigt ein Stück des Straf-
bedürfnisses. Bei zu großem Strafbedürfnis kann es nicht
zum Geständnis kommen, sondern zu einem Ersatz der
ursprünglichen Tat, von der das Strafbedürfnis seinen
Ausgang nahm.
Es kann hier nicht der Platz dafür sein, die Veränderungen
der analytischen Technik, die sich seit Freuds letzten
Forschungen seit drei Jahren herausgebildet haben, darzustellen.
Sie werden vor allem durch die Berücksichtigung der Rolle
des Über-Ichs in der Neurose bestimmt. Wie mir scheint,
muß eine ideale Forderung der analytischen Technik darin
bestehen, daß sie die Bedeutung des. Symptoms nach beiden
Seiten hin erfaßt, das heißt erkennen läßt, wie weit es der
Triebbefriedigung und dem Strafbedürfnis Genüge leistet.
Auch die Theorie des Geständniszwanges, die ich hier
vertrete und die versucht, den Anteil des Über-Ichs an jeder
Neurose nachzuweisen, will sich in den Dienst dieser
modifizierten Technik stellen.
Wir haben noch zu wenig über die Ausdehnung des
Geständniszwanges in der Breitendimension gehört; ich füge
Zur Tiefendimension der Neurose 97
deshalb noch folgende fragmentarische Bemerkungen hinzu:
die allgemeine Übertragungssucht, die uns nicht nur in der
Analyse entgegentritt, dort aber ihre auffälligste Form gefunden
hat, steht im Zeichen des Geständniszwanges. Es ist so, als
würden wir beständig daraufwarten, jemandem unsere geheimen
Wünsche und unsere psychischen Reaktionen auf dieselben
anzuvertrauen. Wir wissen schon, daß dieser Jemand eine
Ersatzperson des Vaters oder der Mutter ist, denen wir zuerst
alles gesagt haben. Der Geständniszwang geht aber auch weit
über das Gebiet der Triebregungen hinaus: durch die unter-
irdischen Verbindungen, die unsere Gedanken, Urteile, Pläne
und Ideen mit den verdrängten Triebregungen verknüpfen,
wird es verständlich, daß sich der Geständniszwang auch auf
diese psychischen Produktionen erstreckt. Wir müssen sie ein-
mal unbewußt verraten, wie immer sich auch unser bewußter
Wille dagegen sträuben mag. Es wird nicht schwer, das
unbewußte Geständnis noch dort zu finden, wo es verstecktere
Formen annimmt. Die Analyse weist nach, daß noch die
Lüge, noch die Pseudologia phantastica ein Stück ungewollter
Wahrheit, ein unbewußtes Geständnis darstellt. Auch der
Tratsch, das Übermitteln böswilliger Aussagen oder Gerüchte
an eine dritte Person, ist ein unbewußtes Geständnis der
verborgenen Feindseligkeit der Mittelperson. Ein altes Sprich-
wort meint, Zurücksagen heiße Beleidigenwollen.
Lassen Sie mich noch einige neurotische Symptome
anführen, in denen der Geständniszwang besonders auffällig
zutage tritt, so auffällig, daß er sich auch dem Nicht-
analytiker aufdrängt. Hierher gehört z. B. das Stottern, das
deutlich genug das Geständnis der das Reden beeinträchti-
genden Tendenzen darstellt. Einer meiner Patienten stotterte
immer, wenn er ein Wort, das mit / begann, auszusprechen
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis 7
1
■ : !
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i
g8 Geständniszwang und Straf bedürfnis
hatte. Die Analyse zeigte, daß das Stottern von der unbe-
wußten Erinnerung an das Wort „fuck" (englisch = koitieren)
ausging, welches das Kind einmal irgendwo gehört und
vor den Eltern geheimgehalten hatte. Das Stottern datierte
seit dieser Zeit und hatte die psychische Bedeutung eines
Geständnisses. Ein anderes, jedem sofort erkennbares Zeugnis
des Geständniszwanges liefert die Erythrophobie, die durch das
Erröten einen zwanghaften Selbstverrat begeht. Dr. Abraham
macht mich darauf aufmerksam, daß sich neben der Erythro-
phobie so oft entweder eine üppige Phantastik oder eine
Pseudologie findet. Der Patient hat also teils dem Zwang
zum Lügen — er lügt sich selbst zu etwas anderem um —
teils dem Zwang zum Geständnis gehorcht. Wir wissen, daß
noch im Umlügen der Geständniszwang verborgenen Ausdruck
findet. Sie sehen, daß auch in der Erythrophobie — wie im
Stottern — die Interferenz zwischen Geständniszwang und den
ihm entgegenstehenden Kräften im Symptom ersichtlich wird.
Die Teilung des Geständnisses in Darstellung der Ziele der
verdrängten Triebregungen und Darstellung der Ziele des
Strafbedürfnisses ist uns aus den zweizeitigen Handlungen
der Zwangsneurose am besten bekannt geworden. Dort fällt
die Triebdurchsetzung und die nachfolgende Sühneaktion
auseinander. Das Fortschreiten der Neurose zeitigt dann das
Resultat, daß die verdrängten Triebregungen am Ende das
Krankheitsbild beherrschen, das früher die Reaktionsbildungen
im Vordergrunde gesehen hat. Bei der Hysterie bekommt man
oft den gegenteiligen Eindruck: hier werden für den analy-
tischen Beobachter vorerst die verdrängten Triebregungen und
erst später die Gegeninstanzen in ihrer Wirksamkeit deutlich.
Ich habe nur noch einer Abart des unbewußten Geständnisses
zu gedenken, die für den ausübenden Analytiker wichtig werden
Zur Tiefendimension der Neurose
99
wird und die man als Geständnis in der Abwehr bezeichnen
könnte. Die Wortwahl des Patienten, die niemals zufällig ist,
wird in solchem Selbstverrat zu einem bedeutsamen Fingerzeig.
Ein Beispiel: ich erkläre einem Patienten, der davon erzählte,
daß er bei Tisch nach einem Streit mit seinem Bruder mit
dem Obstmesser unvorsichtig hantiert hatte, er habe seinen
Bruder unbewußt erstechen wollen. Er weist diese Deutung
entrüstet ab und fügt hinzu, die Feindseligkeit gegen den
Bruder gehöre auch zu den „ Stich worten" der Analyse. Er
hat mit diesem scheinbar zufällig gewählten Wort nicht nur
eine Bestätigung meiner Behauptung geliefert, sondern auch
ein unfreiwilliges Geständnis abgelegt. Einen anderen Patienten
mache ich darauf aufmerksam, daß ein wichtiger Zug des
Traumes, den wir eben analysieren, auf seine Tante Klara,
die in seiner Kinderzeit eine große Rolle gespielt hatte, hin-
weise. Er meint, das scheine ihm gar nicht wahrscheinlich,
es sei aber klar, daß usw. Jeder Analytiker weiß, daß kleine
Symptomhandlungen, das Spielen mit dem Bleistift, eine
ungewöhnliche Handbewegung in demselben Sinne zu unbe-
wußten Geständnissen werden können.
Unsere kurze Übersicht hat gezeigt, daß unterdrückte Trieb-
regungen im allgemeinen dem Äußerungsdrange unterliegen,
das Strafbedürfnis sich aber durch den Geständniszwang Gehör
verschafft. Erst die Verdrängung hat die notwendige Folge,
daß die Triebregungen jetzt nur in der Form des Geständnisses
vom Ich akzeptiert werden und der Geständniszwang allge-
meine Bedeutung für das Seelenleben erlangt.
FÜNFTE VORLESUNG
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
Meine Damen und Herren! Wir haben im Geständniszwang,
wie er sich aus dem Äußerungsdrang unter der Ein-
wirkung der Außenwelt und des Über-Ichs entwickelt hat,
ein seelisches Phänomen erkannt, dessen Wirkungen im
Seelenleben der Gesunden und nervös Erkrankten unsere
volle Aufmerksamkeit verdient. Es wäre nun eine lohnende
Aufgabe, den Äußerungen dieser seelischen Tendenz in ihren
durch mannigfaltige Momente bedingten Variationen nach-
zugehen, seine Bedeutung auf allen Gebieten des individuellen
und sozialen Lebens zu verfolgen. Diese Aufgabe geht aber
weit über den Rahmen dieser Vorlesungen hinaus. Da mir
eine solche Durchdringung nicht möglich ist, werde ich mich
darauf beschränken, in den nächsten Vorlesungen Ihre Auf-
merksamkeit auf die besondere Rolle zu lenken, welche der
Geständniszwang in der Entwicklung und im psychischen
Aufbau unserer wichtigsten sozialen Institutionen spielt.
Es wird sich dabei Gelegenheit geben, auf manche Probleme
hinzuweisen, die sich durch die Einführung unserer neuen
Gesichtspunkte auf den betreffenden Gebieten ergeben. Ihre
Lösung müssen wir freilich den Vertretern der betreffenden
Fachwissenschaft überlassen. Auf der anderen Seite werden
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
wir uns erlauben, darauf aufmerksam zu machen, daß die
von uns entwickelte Theorie selbst geeignet ist, zur Lösung
mancher Fragen der fremden Wissenschaft in entscheidender
Art beizutragen.
Das Zusammenwirken einiger äußerer und innerer, im
Material selbst liegender Momente veranlaßt mich, die
Kriminalistik und Strafrechtswissenschaft zuerst in den Umkreis
dieser Betrachtungen zu ziehen. Der enge innere Zusammen-
hang von Straf bedürfnis als psychischem Phänomen und Strafe
als sozialer Institution, von unbewußtem Geständnis als psycho-
logischem und Geständnis als juristischem Begriff läßt diese
Sonderstellung der Kriminologie sofort gerechtfertigt erscheinen.
Überlegen Sie doch: es muß ja einen Sinn haben, daß das
Wort „gestehen" selbst nach Grimm von der Bezeichnung
„sich dem Gerichte stellen" abzuleiten ist. Sich dem Gerichte
stellen heißt offenbar schon die Tat gestehen, heißt seine
Schuld bekennen, ist selbst schon der Ausdruck des siegenden
Straf bedürfnisses. Als ich für die psychologischen Tatsachen,
die ich Ihnen in diesen Vorlesungen beschrieb und die in
der Psychoanalyse meine steigende Aufmerksamkeit erregten,
die Bezeichnung Geständniszwang wählte, wußte ich nicht,
daß dieser Name ein juristischer Terminus technicus ist, der
die Zwangsmittel des mittelalterlichen Strafrechtsverfahrens,
durch die man den Angeklagten zum Geständnis bringen
wollte, bezeichnen sollte. Aber diese Tatsache selbst, die mir
dann durch die Lektüre einiger kriminalistischer Werke
bekannt wurde, schien mir wie eine Bestätigung meiner
Anschauungen: es mußte so sein, daß, was sich jetzt als
innerer psychischer Zwang darstellt, der umgewandelte Erwerb
früheren äußeren Zwanges ist, wie wir dies in der Psycho-
genese der Verdrängungsvorgänge beobachten konnten.
io2 Geständniszwang und Straf bedürfnis
Auch der Geständniszwang früherer Generationen, ver-
glichen mit dem psychischen Drucke, auf dessen Wirkung
wir jetzt beim Geständnis rechnen, gehört in diese Ent-
wicklung, die den Akzent von äußeren Vorgängen auf innere
verschiebt.
Es ist leicht, zu prophezeien, daß die psychologischen
Einsichten der Psychoanalyse in naher Zukunft dazu bestimmt
sind, die Kriminologie und Strafrechtswissenschaft in ein-
schneidender Art umzugestalten. Sie werden diese Wirkung
nicht nur dadurch erreichen, daß sie die alten Probleme in
neuem Lichte erscheinen lassen, sondern auch durch das
durch sie bedingte Auftauchen neuer Probleme, an deren
Lösung die Psychoanalyse in größerem oder geringerem Aus-
maße mitarbeiten wird.
Die Versuche, die Psychoanalyse zur Lösung kriminalistischer
Fragen heranzuziehen, waren bisher einseitig und nicht mit
jenem Verständnis und jener Sachkenntnis unternommen, die
in Zukunft Ergebnisse von jetzt ungeahnter Bedeutung liefern
werden. Immerhin haben schon die durch die Analyse
gegebenen methodischen Anregungen auf dem für Richter,
Staatsanwälte und Kriminalpsychologen gleich wichtigen
Gebiete der Tatbestandsdiagnostik wichtige neue Gesichts-
punkte gezeigt. Wie Sie wissen, handelt es sich dabei um
die Anwendung von Methoden, die Schuld oder Unschuld
einer Person durch Kennzeichen festzustellen, die objektive
Geltung beanspruchen dürfen. Die zukünftige Ausgestaltung
dieser diagnostischen Assoziationsmethoden wird entscheiden,
wie weit sie in der Gerichtspraxis durchgeführt werden sollen
und können.
Die Kriminologie aber wird sich entschließen müssen,
die analytischen Gesichtspunkte und Methoden in viel
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
105
weiterem Maße heranzuziehen als bisher, ich meine damit
nicht nur die Trieblehre, die Dynamik des Seelenlebens
und die Wirkungen unbewußter Gefühle, sondern auch die
Außerungsformen des urlbewußten Geständniszwanges, der
z. B. in den Fehlleistungen der Menschen zutage tritt.
Die angewandte Seelenkunde wird auch auf kriminalisti-
schem Gebiete den psychischen Wegen des Geständnis-
zwanges ihre Aufmerksamkeit zuwenden müssen. Die
Berücksichtigung der zum Selbstverrat führenden unbewußten
Tendenzen wird in der Tatbestandsdiagnostik zu praktisch
bedeutsamen Resultaten führen.
Sie erinnern sich alle jenes charakteristischen Verschrei-
bens des Giftmörders H., das Freud in den „Vorlesungen
zur Einführung in die Psychoanalyse" anführte. H. hatte
sich bei der Leitung des Institutes, das ihm die totbringen-
den Kulturen angeblich zu bakteriologischen Untersuchungen
schickte, über die Unwirksamkeit einzelner Sendungen
beklagt und an Stelle der Worte „bei meinen Versuchen
an Mäusen und Meerschweinchen" geschrieben: „bei meinen
Versuchen an Menschen". Lassen wir die bei diesem Anlasse
von Freud diskutierte Frage nach der praktischen Ver-
wendbarkeit eines solchen Verschreibens beiseite; betonen
wir nur, daß es sich dabei um ein Geständnis — gleich-
gültig ob von Phantasien oder Tatsachen — handelt. Was
uns wichtig erscheint, ist, daß hier der Gegenwille des
Strafbedürfnisses die Intention des Schreibenden störte und
zum Verschreiben zwang. Kann man die unbewußt
gewünschte Wirkung dieses Geständniszwanges nicht so aus-
drücken: Ja, die Kulturen waren bei meinen Versuchen an
Menschen zu wenig wirksam? Ich bringe mich hiemit zur
Anzeige, ich gestehe, daß ich solche verbrecherische Ver-
104 Geständniszwang und Strafbedürfnis
suche unternommen habe. Es kann nicht bedeutungslos
sein, daß der Mörder seine Beschwerde, die jenes Ver-
schreiben enthielt, gerade an die Leitung der Institution
richtete. Gewiß, nur die Leitung war bei einer solchen
Beschwerde kompetent, aber war es nicht diese selbe Leitung,
der die strenge Aufsicht darüber oblag, daß die gefährlichen
Bakterien nicht unrichtiger oder gefahrbringender Verwen-
dung zugeführt werden? Kann es Zufall sein, daß dieses
Unfreiwillige Geständnis gerade an jene Stelle gerichtet war,
die darüber zu wachen hatte, daß die Kulturen nur zu
wissenschaftlichen Zwecken herangezogen werden? Ist in
jenem Verschreiben nicht auch neben dem unbewußten
Wunsch eine Warnung enthalten?
Wüßte man mehr über die psychischen Vorgänge bei
jenem Verbrecher — mit anderen Worten: würde sich die
Kriminalistik die analytischen Gesichtspunkte zu eigen
machen und nicht nur die nackten Tatsachen des bewußten
Willens berücksichtigen — - man könnte zu einer psycho-
logisch bedeutsamen Hypothese gelangen, die auch straf-
rechtlich nicht ohne Belang ist. Wir würden nämlich auch
dem Umstände, daß es gerade eine Beschwerde über die
Unwirksamkeit der Kulturen war, in der das Verschreiben
seine Stelle fand, eine bestimmte Bedeutung nicht absprechen.
Vielleicht war der psychische Vorgang wirklich der, daß
der Verbrecher diese Unwirksamkeit der Kulturen unbewußt
als ein böses Omen für sein Vorhaben auffaßte, als eine
Warnung nahm, die den Ausgang seines Unternehmens in
Frage zu stellen schien. War es nicht, als zeige gerade die
Unwirksamkeit der Kulturen, daß sich etwas der Durch-
führung seines Planes entgegensetzte? Als hätte sich in
dieser „Tücke des Objektes" wie in einem Vorzeichen eine
Der Geständniszwang in der Kriminalistik 105
Hemmung gegen seine Tat aufgerichtet? Dann aber gewinnt
sein Verschreiben noch eine neue Bedeutung. Die Unter-
drückung dieses angstvollen Zweifels, hinter dem wir die
Gewissensmächte des ehrgeizigen Verbrechers wirksam sehen,
war nicht völlig gelungen und sein Verschreiben hat dann
wie ein Geständnis das Mißlingen zum Ausdruck gebracht.
Der Zynismus, der in der Tatsache der Beschwerde liegt,
würde sich eben aus der forcierten Überwindung jener
dunklen Gefühle erklären lassen.
Vielleicht erwartete er unbewußt selbst, daß sein Brief
die Entscheidung bringen solle, ob er jene verhängnisvollen
„Versuche" fortsetzen sollte; vielleicht sollte jenes Geständnis
in der Fehlleistung selbst unbewußt die „Frage an das
Schicksal" stellen. In dem Selbstverrat lag die unbewußte
Hoffnung, noch im letzten Moment von seinem Verbrechen
zurückgehalten zu werden. Das Verschreiben zeigt also den
unterirdischen, dem Verbrecher unbewußten Kampf zwischen
jenen Tendenzen, die ihn zum Verbrechen trieben, und
den tieferen Gewissensmächten, und es hat seinen guten
Sinn, wenn er die Entscheidung unbewußt den Autoritäten,
dem Elternersatz — eben der Leitung des bakteriologischen
Institutes — überließ.
Sie sehen, die Beobachtung eines solchen Falles vom
analytischen Standpunkte aus bringt eine Reihe interessanter
Probleme. Lassen Sie uns von jenem Verschreiben, dem
niemand den Geständnischarakter absprechen wird, ausgehen
und bemerken, daß solche Fälle scheinbar unbeabsichtigten
Selbstverrates nicht vereinzelt sein können, sondern sich regel-
mäßig, den ehernen Gesetzen des unbewußten Geständnis-
zwanges folgend, wiederholen.
Oder wie anders als durch einen gegen alle bewußten
io 6 Geständniszwang und Straf bedürfnis
Intentionen durchdringenden Zwang wollen Sie jene
unzähligen Fälle erklären, in denen ein mit außerordent-
licher Intelligenz und alle Möglichkeiten berechnendem
Scharfsinn ausgeführter verbrecherischer Plan gerade an
einem geringfügigen Detail scheitert, an das der Verbrecher
nicht „gedacht" hat, obwohl er weit unwichtigere Um-
stände sorgsam erwogen hatte? Es ist später oft interessant,
zu beobachten, wie sich gerade so ein schwaches Indizium
zum entscheidenden Beweismittel ausgestaltet, wie aus dem
Sandkorn eine Pyramide wird. Sollten sich nicht unbewußte
starke Tendenzen zum Selbst verrat gerade an jenem
schwachen Punkte in ihrer Wirksamkeit eingesetzt haben,
sich nicht hinter allen diesen „Übersehen" und „Unvor-
sichtigkeiten" der Geständniszwang verbergen?
Sie haben gewiß kürzlich in den Zeitungen den Bericht
über eine kleine Geschichte gelesen, die sich in unserer
Stadt abgespielt hat. Ein junger Mann hatte ein Verhältnis
mit einer verheirateten Frau, mit der er gewöhnlich die
Nacht zubrachte, wenn sich ihr Gatte auf Reisen befand.
War es Zufall, daß er den Schlafrock des abwesenden Ehe-
mannes anzog und dabei einen Brief, den jene Dame ihm
geschrieben hatte, in dessen Tasche steckte, wo er ihn
unachtsam vergaß? Der umgekehrte Fall, daß ein Ehemann
einen Brief oder sonst ein verräterisches Objekt, das er von
einem illegitimen Verhältnis erhalten hat, in einem seiner
Kleidungsstücke vergißt, ist so häufig, daß kluge Ehefrauen
eines ausdrücklichen Geständnisses des Seitensprunges entraten
können. Sie haben in den Zeitungen unlängst gewiß die
Geschichte jenes Mordes verfolgt, den zwei junge Leute,
Milliardärssöhne in Chicago, an einem Altersgenossen ver-
übten. Glauben Sie daran, daß es rein zufällig war, daß der
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
107
eine Mörder nach Ausführung dieses tausendmal überdachten
und mit allem Raffinement vorbereiteten Planes seine Brille
am Tatorte vergaß? Das Benehmen der Knaben in der
Gerichtsverhandlung, das mit demonstrativer Frechheit und
betontem Trotz die Todesstrafe zu fordern schien, kann unsere
Deutung, daß es sich bei dieser Fehlleistung um einen unbe-
wußten Akt des Selbstverrates handelt, nur bekräftigen. Ich
glaube daran, daß die methodische Berücksichtigung des
Geständniszwanges als psychischen Phänomens der Kriminalistik
neue Perspektiven eröffnet.
Gerade auf dem Gebiete der Strafrechtswissenschaft steht
übrigens eine eigenartige Erscheinung im Vordergrunde der
Diskussion, die sich ohne die Annahme eines unbewußten
Geständniszwanges nicht verstehen läßt und die schon ihrer
Form und Wirkung nach das beredteste Zeugnis für seine
Existenz bildet: ich meine eben das bewußte Geständnis. Das
Geständnis in dieser Form ist freilich erst Substrat für seine
psychologische Analyse, die es nur als bewußtseinsfähiger
Abkömmling des Unbewußten betrachten kann. Erst seine
analytische Verfolgung bis zu seinen unbewußten Begrün-
dungen ergibt die tiefste Einsicht.
Nun werden Sie vielleicht sagen, es sei nichts Besonderes
daran, wenn ein Verbrecher seine Tat gestehe. Sie setzen
sich aber mit diesem Urteil in konträren Gegensatz zur
Anschauung unserer hervorragendsten Kriminalisten. Ein so
bedeutender Fachmann wie Hanns Groß erklärt etwa in
seiner „Enzyklopädie der Kriminalistik" das Geständnis „inso-
ferne für ein einzig dastehendes und schwer erklärliches
psychologisches Phänomen, als es regelmäßig zum Schaden
dessen wirkt, der es abgelegt hat." Natürlich sind damit
nicht jene Geständnisse gemeint, die aus Eifersucht, aus Rache
1
io8 Geständniszwang und Straf bedürfnis
oder um Zeit zu gewinnen abgelegt werden. Die Kriminologen
zählen noch eine ganze Reihe von Motiven auf, die im
Geständnis wirksam sind, behaupten aber ziemlich einmütig,
ein großer Teil der Geständnisse lasse sich nicht auf diese
Art erklären und bleibe mehr oder weniger unverständlich.
Sie haben dabei jene Geständnisse im Auge, die der Verbrecher
freiwillig, einem inneren Drucke folgend, ablegt. Solche
Geständnisse aus Motiven des Gewissens scheinen, wenn man
nicht hysterische oder religiös veranlagte Naturen vor sich
habe, den Kriminalisten rätselhaft.
Wenn das wirklich so ist, so möchte man verwirrt einer
anderen Tatsache gedenken: es bleibt nämlich unverständlich,
wieso dann die Strafrichter und Kriminologen alle ihre
Anstrengungen darauf richten, von Verbrechern ein Geständnis
zu erlangen. Sie müßten sich doch folgerichtig sagen: es
liegt keines jener besonderen Motive, wie Rachsucht, Eifer-
sucht usw., vor, der Verbrecher wird sicherlich keinem
unbestimmten und mysteriösen Druck des Gewissens folgen,
der ihm selbst Schaden bringt und dessen Wirkungen wir
nicht verstehen. Eine Erscheinung, die so außerordentlich
häufig vorkommt wie das Geständnis unter Gewissensdruck
braucht seine Rätselhaftigkeit durch ihr häufiges Auftreten
freilich nicht einzubüßen; aber diejenigen, die auf ihren
Eintritt hinwirken, müßten sich doch, würden wir meinen,
darüber klar werden müssen, von welcher Natur sie ist und
in welcher Gesetzmäßigkeit sie auftritt. Groß sagt in einem
anderen Werke, der „Kriminalpsychologie", er wisse „eigent-
lich kein Analogon im psychischen Wesen des Menschen, wo
jemand mit sehenden Augen etwas ausschließlich zu seinem
Schaden und ohne irgend welchen wahrnehmbaren Nutzen
tut, so wie es bei dieser Art von Geständnissen der Fall ist."
Der Geständniszwang in der Kriminalistik 109
Nun, das wäre für uns Psychologen sicher eine sehr beun-
ruhigende Erscheinung, wenn das Geständnis wirklich so
ohne jede Analogie im menschlichen Seelenleben dastünde.
Aber ist es denn so? Wer jemals mit analytischen Kennt-
nissen die Menschen gut beobachtet hat, hat erkannt, daß
die Welt voll ist von Aktionen, welche die Menschen mit
sehenden Augen ausschließlich zu ihrem Schaden und ohne
wahrnehmbaren Nutzen tun. Wir brauchen uns also keines-
wegs von der Rätselhaftigkeit des Geständnisses einschüchtern
zu lassen 5 es kann nicht unmöglich sein, auch das Geständnis
in den Rahmen der psychischen Vorgänge einzureihen und
seinen Sinn zu erkennen. Auch diese Sphinx wird ihr Rätsel
ausliefern müssen und seine Lösung wird wie jene andere
heißen: der Mensch. Denn die Analyse als die Tiefenpsycho-
logie der menschlichen Vorgänge hat gezeigt, daß es wirklich
zahlreiche Analogien zum Phänomen des Geständnisses gibt.
Sie hat das Walten eines Gedächtniszwanges nachgewiesen,
der den Gesetzen der seelischen Dynamik folgt und das
Wesen und die Wirkungen des unbewußten Strafbedürfnisses,
dem das Geständnis entspringt, klargestellt. Die Unverständ-
lichkeit des Geständnisses der bezeichneten Art rührt eben
daher, daß die Kriminalpsychologie die Psychogenese des
Gewissens, des Über-Ichs und der moralischen Faktoren, die
unbewußt wirken, noch nicht kennt.
Welche praktischen Folgerungen sich aus den von der
Analyse gegebenen psychologischen Einsichten ergeben, erkennt
man daraus, daß ein Geständnis nur dann als Beweismittel
für den Kriminalisten dienen kann, wenn das Motiv völlig
klargestellt ist. Groß betont, daß es nicht genügt, nach-
gewiesen zu haben, daß ein Geständnis vorlag, „sondern wir
müssen das Geständnis unter Berücksichtigung aller vor-
L
Geständniszwang und Strafbedürfnis
■
liegenden Faktoren begreiflich finden." Ohne Verständnis
für den Instanzenzug des Ichs, des unbewußten Straf bedürfnisses
sowie des Geständniszwanges werden gewisse Geständnisse
freilich schwer begreiflich sein, zumal der Verbrecher selbst
über die unbewußten Vorgänge, als deren Resultat das
Geständnis erscheint, ihrem Wesen nach nichts aussagen kann,
was zu ihrer Erklärung ausreichen würde. Nur unter den
Gesichtspunkten des Geständniszwanges erklären sich die
bisher nur auf „krankhafte Neigungen" zurückgeführten
falschen Geständnisse und Selbstbeschuldigungen. Derselbe
psychische Anspruch auf die Tat sowie das unbewußte
Schuldgefühl, das sich auf die endopsychische Wahrnehmung
unterdrückter Triebtendenzen stützt, können uns die Vor-
gänge, die zu solchen falschen Selbstanklagen führen, ver-
ständlich machen. Die Objektintrojektion bei der Melancholie
sowie die Identifizierung mit einer anderen, ehemals geliebten
Person, die im entlehnten Schuldgefühl von Freud nach-
gewiesen wurde, werden gewiß in einer Reihe von Fällen
zur Aufklärung solcher falschen Geständnisse neben den
allgemeineren Identifizierungsvorgängen auf Grund derselben
unbewußten Tendenzen herangezogen werden.
Ja, wir würden in unseren psychologischen Annahmen
weitergehen als die Kriminologen und Strafrichter und uns
der Behauptung getrauen, daß viele von den Geständnissen,
bei denen ausreichende Motive, wie Rachsucht, Prahlerei,
Eifersucht usw., leicht erkennbar sind, erst ihre tiefste Moti-
vierung im Straf bedurfnis finden. In jenen Fällen des
„trotzigen Geständnisses", in denen sich der Verbrecher
seiner Tat sogar rühmt, brauchen solche Tendenzen aus
dem Strafbedürfnisse keineswegs zu fehlen. Bevor wir
weitergehen und die in der Analyse gemachten Erfahrungen
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
111
auf einige dunkle Punkte der Verbrecherpsychologie an-
wenden, werden wir zu betonen haben, daß die folgenden
Bemerkungen sich nur auf solche Verbrecher beziehen,
welche überhaupt über ein Schuldgefühl verfügen.
Wir werden ferner die Differenzen zwischen der Psycho-
logie des Verbrechers und des Neurotikers selbst in Rech-
nung ziehen müssen. Ihnen entsprechen natürlich die Unter-
schiede zwischen der psychologischen Situation des gericht-
lichen Verfahrens und der Analyse. Freud hat diese Unter-
schiede in seinem Artikel „Tatbestandsdiagnostik und Psycho-
analyse" scharf formuliert: beim Neurotiker Geheimnis vor
seinem eigenen Bewußtsein, beim Verbrecher nur vor dem
Richter; beim ersteren ein echtes Nichtwissen, obwohl nicht
in jedem Sinne, beim letzteren nur Simulation des Nicht-
wissens. In der Psychoanalyse hilft der Kranke mit seiner
bewußten Bemühung gegen seinen Widerstand, denn er
hat ja einen Nutzen zu erwarten, die Heilung; der Ver-
brecher arbeitet hingegen nicht mit Ihnen, er würde gegen
sein ganzes Ich arbeiten. Freud wußte natürlich besser als
wir, daß er diese Unterschiede absichtlich scharf formulierte,
weil er in einem kurzen Vortrage nicht auf die feineren
Übereinstimmungen und Differenzen eingehen konnte. Tat-
sächlich sind diese Unterschiede nur im gröbsten richtig,
wie schon manche Einschränkungen und Andeutungen in
Freuds Artikel zeigen.
Beschränken wir uns auf die Erörterung der einen
Differenz, daß der Neurotiker in der Hoffnung auf Heilung
mit Ihnen seine Bemühungen darauf richtet, des Wider-
standes Herr zu werden, der Verbrecher aber nicht mit
dem Richter arbeitet, da er ja sonst gegen seine stärksten
bewußten Interessen handeln würde. Allein wir wissen, daß
Geständniszwang und Straf Bedürfnis
der Neurotiker die Heilung zwar wünscht, aber das Auf-
geben seiner Krankheitsgewinne fürchtet. Wir wissen auch,
daß ein Widerstand sich gerade gegen das Gesund werden
richtet. Der mächtige Faktor des unbewußten Strafbedürf-
nisses kommt also in dieser Unterscheidung nicht zu seinem
Rechte: tatsächlich ist es ja nachzuweisen, daß der Ver-
brecher so häufig unbewußt wirklich mit dem Richter
arbeitet, daß er wirklich „gegen sein ganzes Ich arbeitet' .
Unsere neue Auffassung von der psychologischen Natur des
Geständnisses ist auch deshalb von praktischer Verwertbar-
keit, weil der Untersuchungsrichter in seinem Verfahren
damit rechnen darf, daß trotz allen bewußten Bemühungen,
sein Geheimnis zu bewahren und sich der Strafe zu ent-
ziehen, ein unbewußter Gegenwille im Verbrecher wirksam
ist, gerade das zu verraten, was zu verbergen er mit so
großem psychischen Aufwand strebt. Vielleicht ist es zum
großen Teile diesem Faktor zuzuschreiben, wenn der Ver-
brecher sich in Widersprüche verstrickt, sich zu unbedachten,
aber später bedeutsam werdenden Aussagen über Kleinig-
keiten hinreißen läßt und sich bei scheinbar ganz neben-
sächlichen Gelegenheiten innerhalb des Untersuchungs- und
Strafverfahrens selbst verrät.
Freud betont, daß beim Neurotiker ein echtes Nicht-
wissen um sein Geheimnis, „obwohl nicht in jedem Sinne",
vorhanden ist, beim Verbrecher aber Simulation des Nicht-
wissens — wir würden gerne auch hier hinzusetzen: „obwohl
nicht in jedem Sinne." Gewiß, der Verbrecher weiß um
seine Tat, er weiß, daß er sie vorbereitet und ausgeführt
hat und sucht dies vor dem Richter zu verbergen, aber es
kann nicht nur Simulation sein, wenn er behauptet, nichts
davon zu wissen. Selbst hier müssen wir ihm ein Stück
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
113
weit Glauben schenken. Wir werden uns vor allem sagen
müssen, daß seine Behauptung, er wisse nichts davon, den
Charakter des Wunsches hat: er will wirklich nichts davon
wissen, will davon ebenso wenig wissen wie der Neurotiker
von seinen unterdrückten Triebregungen.
Wichtiger aber scheint der folgende Gesichtspunkt zu
sein: er weiß wohl, daß er die Tat ausgeführt hat, aber er
weiß nicht bewußt, warum er es getan hat und was sie
psychisch bedeutet.
Die Kriminalisten werden uns hier freilich den Glauben
versagen; sie werden darauf hinweisen, daß doch schon der
Charakter der Tat darüber Auskunft gebe: hier liege ein
Lustmord vor, hier ein Diebstahl von Geld und dort ein
Attentat aus Eifersucht. Der Täter selbst gibt ja, falls er
ein Geständnis ablegt, die Motive seiner Tat an. Die
Kriminalisten werden auch dem zweiten Teil dieser Behaup-
tung entschieden widersprechen : wie, dieser intelligente
Mann, der so viel Scharfsinn in der Ausübung seines Ver-
brechens bewies, sollte nicht wissen, was ein Mord, ein
Notzuchtsakt, ein Diebstahl bedeutet? Wird man uns nicht
vorwerfen, daß wir die Frage noch mehr komplizieren, statt
sie möglichst zu vereinfachen? Allein die Frage wird dadurch
nicht einfacher. Gewiß, die bewußten Motive können ange^
geben werden; ihre Mitwirkung an der Tat stellen wir ja
nicht in Abrede. Aber genügen sie auch oder müssen wir
nicht noch außerdem andere, verborgenere suchen? Wer
würde ernsthaft behaupten wollen, daß Raskolnikoff in
Dostojewskis grandiosem Werk jene Wucherin um-
brachte, um sich einfach Geld zu verschaffen? Gewiß weiß
der Täter, was ein Mord oder ein Diebstahl bedeutet, aber
weiß er auch, was er psychisch, was er für ihn bedeutet?
Reik, Geständniszwang und Straf bedürfhis. 8
114 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
Sie erinnern sich, daß wir in einer früheren Vorlesung
davon sprachen, daß wir nicht wissen, was wir erleben und
was wir gerade in den entscheidensten Ereignissen erleben.
Die Reform des Untersuchungs- und Strafverfahrens wird
auch an diesem Punkte angreifen müssen.
Die üblichen Fragen nach den näheren Umständen und
Motiven der Tat, sowie nach der Vorgeschichte des Täters
sind in ihrer Unzulänglichkeit für die psychologische Auf-
klärung der Tat längst jedem tieferen Blick klar geworden.
Der Verbrecher könnte auch in dem idealen Fall, daß er
alle Fragen wahrheitsgetreu beantworten wollte, nicht das
psychologisch Wesentliche und Entscheidende sagen. Denn
die Motive der Tat und die entscheidenden seelischen Vor-
gänge vorher sind zum größten Teil unbewußt. Die eigen-
tümliche psychische Spannung, die der Tat vorausgeht, das
Leiden unter den unklaren Impulsen und Gegenströmungen,
das drängende Schuldgefühl vor der Tat oder die Motive
für eine Impulshandlung von verbrecherischer Natur, das
sind seelische Erscheinungen, für welche die Kriminal-
psychologie nicht das richtige Verständnis haben kann, bevor
sie sich die Forschungsresultate der Psychoanalyse zu eigen
gemacht hat. Aber auch die Tat selbst geschieht unbewußt,
der Täter fühlt starke Affekte, aber vielleicht sind gerade
diese nicht die wirklich tiefsten, die zur Entscheidung
führen; der Täter weiß um seine Tat, aber er weiß nicht,
in welchem unterirdischen Zusammenhange sie mit den
seelischen Vorgängen seit seiner frühen Kinderzeit steht und
welchen unbewußten Sinn sie verbirgt. Die Tat ging von
den Tendenzen des Es aus, das Ich hat sie vielleicht noch
nicht zur Kenntnis genommen.
Wir erinnern uns jetzt unserer früheren Erklärung der
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
115
psychologischen Natur des Geständnisses; wir werden ver-
sucht sein, zu sagen, die Tat werde im Geständnis partiell
wiederholt und jetzt erst setze gleichsam die aktive, psy-
chische Bewältigung dieses traumatischen Ereignisses, der
Tat, ein. Dies scheint schon rein sprachlich ein Widerspruch
zu sein 5 wir sagen ja immer: der Täter verübt die Tat, ja,
die Tat scheint uns sogar als der stärkste Ausdruck der
Aktivität. Vielleicht täuschen wir uns aber darin ebensosehr
wie in den meisten naiven Aussagen, die wir über unser
Seelenleben machen. Der übergroße Anteil des Es an der
Ausführung der Tat schließt zwar die praktische, materielle
Aktivität nicht aus, aber er schränkt die psychische Aktivität
des Ichs wesentlich ein. Um das schöne Gleichnis Freuds
zu benützen: der Reiter hat sich dem durchgehenden Roß
überlassen; weiß er, wohin es läuft und warum es gerade
diesen Weg nimmt? Vielleicht würden wir richtiger sagen:
die Tat geschah durch ihn.
Erst im Geständnis beginnt das Ich die Tat zur Kenntnis
zu nehmen, und es ist keineswegs so, daß das Geständnis
genügt, um das Ich zu überzeugen. Das Verbrechen bildet
vielmehr auch für den Täter ein traumatisches Ereignis,
das den psychischen Apparat überschwemmt hat und dessen
seelische Bewältigung Zeit und Anstrengungen erfordert. Es
klingt vielleicht paradox, aber ist deshalb um nichts weniger
richtig, daß Verbrecher manchmal jahrelang brauchen, bis
sie wissen, was sie getan haben, was ihre Tat bedeutet.
Eine indirekte Bestätigung dieser Behauptung wird uns
durch die Analyse geliefert. Der Unterschied zwischen
Neurotiker und Verbrecher fällt freilich schwer ins Gewicht
und es wäre unrichtig, ihn zu bagatellisieren, wie es manche
Psychologen tun. Aber Sie würden ebenso fehlgehen, wenn
8*
1
n6
Geständniszwang und Straf bedürfnis
Sie ihn nur auf die Differenz zwischen wirklich ausgeführter
und phantasierter Tat gründen wollten: die phantasierte
oder gewünschte Tat hat im Seelenleben des Neurotikers
dieselbe Wirkung wie die ausgeführte. Wir sehen also täg-
lich, daß der Neurotiker von einem unbewußten Schuld-
gefühl gedrückt ist, das sich auf starken Triebregungen
aufbaut, und erst langsam durch die Analyse befähigt wird,
nicht nur dieses Schuldgefühl als wirksam zu erkennen,
sondern es auch in Zusammenhang mit jenen unterdrückten
Regungen zu bringen.
Das Geständnis ist so der Anfang der Bewußtseins-
erweiterung, die das Verständnis der psychischen Bedeutung
der Tat für den Verbrecher bringt. Wir behaupten also, daß
~viele Verbrecher wirklich nichts zu sagen haben; sie ver-
bergen freilich ein Geheimnis, aber sie verbergen es
auch vor sich selbst; ihr Gewissen ist noch stumm
oder es kann sich noch nicht deutlich genug vernehmbar
machen. Es ist mir ein Fall bekannt geworden, in dem ein
Mörder sich in der Untersuchung stumm und trotzig benahm
und erst später unter dem überwältigenden Eindruck von
Dostojewskis „Schuld und Sühne" psychisch zusammen-
brach; erst jetzt war er den tiefen Gefühlen der Reue bewußt
zugänglich. Es ist klar, daß es sich hier wie in allen diesen
diskutierten Fällen um den Unterschied des intellektuellen
und emotionalen Erkennens oder Wissens handelt; denn der
Verbrecher wußte natürlich genau, daß er einen Mord
begangen hatte und was diese Tat sozial bedeutete.
Es möge mir erlaubt sein, die seelischen Vorgänge, die
zwischen der vollbrachten Tat und dem abgelegten Geständ-
nisse liegen, in Analogie mit analytischen Ausdrücken wie
Traumarbeit oder Trauerarbeit unter der Bezeichnung der
Der Geständniszwang in der Kriminalistik 117
Geständnisarbeit zusammenzufassen. Diese psychische
Leistung wird vorzüglich darin bestehen, daß dem Verbrecher
vorbewußt wird, was ihn zur Tat trieb, und er in einer
bestimmten Art erkennt, was sie bedeutet und warum er
sie ausführen mußte. Die Zeit der Geständnisarbeit selbst ist
erfüllt von dem Konflikt zwischen dem Bemühen, vor sich
selbst das Verbrechen zu verheimlichen, und der entgegen-
gesetzten Tendenz, es sich einzugestehen und sich darüber
klar zu werden. Wir können wirklich den seelischen Prozeß
einer solchen gewaltsamen Abdrängung einer unliebsamen
Tatsachenreihe vom Bewußtsein einer momentanen Ver-
drängung gleichsetzen, einem „Wegdenken", wie es ein
Patient einmal nannte.
Dieselbe Spannung beherrscht auch die Beziehungen des
Verbrechers der Außenwelt, der Gesellschaft gegenüber.
Manche Verbrecher berichten später von dem Widerstreit
dieser zwei Strebungen: des Bemühens, allen Verdacht von
sich abzulenken, alle Spuren zu verwischen, und einem immer
intensiver werdenden Impuls, plötzlich auf der Straße und
vor allen Leuten dieses Geheimnis hinauszuschreien oder es
in milderen Fällen zumindestens einem Einzelnen anzuver-
trauen, um sich von der schrecklichen psychischen Belastung
zu befreien. Die Geständnisarbeit ist also jener psychische
Prozeß, der im Vorbewußtwerden der sozialen und seelischen
Bedeutung des Verbrechens und im Überwinden aller jener
psychischen Faktoren, die sich dem Geständniszwang wider-
setzen, besteht.
Es ist nicht zu verkennen, daß sich die Geständnisarbeit
selbst in unbewußten Ersatzhandlungen des Geständnisses verrät,
in Partialgeständnissen, allen jenen Worten und Aktionen, die
wir als unbewußte Geständnisse bezeichnet haben und den
1 1 8 Geständniszwang und Straf bedürfnis
Abkömmlingen des Verdrängten in der Analyse gleichsetzen
können. Der Verbrecher reagiert auch wirklich auf diese
unbewußten Partialgeständnisse mit Angst, als hätte er sich
durch sie verraten. Man könnte das Wesentliche in den
seelischen Vorgängen der Geständnisarbeit in einer uns bereits
bekannten Ausdrucksweise als Überwindung der Vorangst
beschreiben. Ihr äußeres Ziel wäre demnach das Geständnis
selbst, gleichgültig, ob als Aussprechen einem Einzelnen gegen-
über oder als Bekenntnis vor der Staatsautorität.
Es ist nicht unpassend, die Geständnisarbeit mit jener
psychischen Leistung zu vergleichen, welche der Patient in
der Analyse vollbringt. Die psychischen Vorgänge im Patienten
während der Analyse könnte man als spezielleren Fall der
Geständnisarbeit bezeichnen, und in jenen Abkömmlingen des
Verdrängten, die uns in der Analyse beschäftigen, erkennen
wir unbewußte Partialgeständnisse wieder.
Es bildet keinen Widerspruch, wenn wir sagten, daß der
Verbrecher auf die kleinen Zeichen, die wir als unbewußten
Selbstverrat erkennen, mit Angst reagiert und sie doch als
psychische Entlastung empfindet: Sie haben als allgemeinere
Erkenntnis der Analyse gehört, daß etwas für das eine psychische
System Unlust, für ein anderes Lust bedeuten kann.
Der ganze seelische Aufwand beim Geständnis wiegt in
vielen Fällen wenig mehr gegenüber der Geständnisarbeit,
verglichen mit dieser leidvollen, Überwindung erfordernden
Leistung; so wenig wie die Strafe, verglichen mit der Pein,
die vom Über-Ich ausgeht, in Betracht kommt. Kein irdischer
Richter wird die Strenge des Über-Ichs in vielen Personen
erreichen. Die Geständnisarbeit wird, um sie in den Aus-
drücken der Ichinstanzen zu beschreiben, jene psychische
Leistung sein, die es erreicht, daß das Über-Ich dem Ich die
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
"9
Wohltat des Geständnisses erlaubt. Die masochistische Lust
am Leiden, an der Tortur durch das Über-Ich in der Zeit
der Geständnisarbeit ist späterhin leicht erkennbar. Die
Geständnisarbeit dient ja selbst einer partiellen Befriedigung
des Strafbedürfnisses. Nur so, durch das Leiden vorher, wird
es verständlich, daß der Verbrecher nach dem Geständnis
der wirklichen Strafe mit geringer Angst entgegensieht.
Diese partielle Befriedigung des Straf bedürfnisses erklärt
in manchen Fällen auch die Tatsache, daß das Geständnis
selbst ohne besondere Affektäußerung, ja ohne sichtbare Zeichen
von Reue erfolgt. Die Geständnisarbeit selbst bedeutet ja ein
Stück Buße und ist unbewußt bereits von allen Gewissens-
qualen erfüllt. Die Vorangst in diesen Fällen war eben so
intensiv, daß ihr gegenüber die Endangst psychisch nicht
mehr überbesetzt ist.
„Sprich mir von allen Schrecken des Gewissens,
Von meinem Vater sprich mir nicht!"
ruft Don Carlos in Schillers Drama aus; aber im Gedanken
an den Vater sind eben alle Schrecken des Gewissens enthalten.
Wie Sie wissen, hat die frühe unbewußte Identifizierung mit
dem Vater selbst das Wesentlichste dazu beigetragen, daß sich
das Gewissen konstituiert hat. Die Gegenüberstellung in jenem
Ausrufe des Infanten ist also eigentlich eine Gleichsetzung:
man kann nicht von allen Schrecken des Gewissens reden,
ohne zugleich vom Vater zu sprechen. Die Geständnisarbeit
besteht nun darin, daß der Verbrecher alle Schrecken des
Gewissens im unbewußten Gedanken an den Vater erlebt,
bevor er zum Vaterrepräsentanten geht und seine Tat erzählt.
Das Geständnis selbst bedeutet die Überführung der vorbe-
wußten Erkenntnisse aus der Geständnisarbeit in das Bewußt-
120
Geständniszwang und Strafbedürfnis
sein mittels der Wortvorstellungen und -Wahrnehmungen und
ist das Gegenstück zur Tat. Es bringt auch quantitativ
annähernd dieselbe psychische Entlastung, welche die Tat dem
Strafbedürfnis geliefert hat. Wirklich ist die außerordentliche,
in den Tiefen vor sich gehende psychische Arbeit vor der
Tat, die von der Kriminalpsychologie noch fast völlig unerforscht
geblieben ist und deren Analyse eines der wichtigsten Desiderata
der wissenschaftlichen Kriminalistik bildet, nur der Geständnis-
arbeit, der psychischen Leistung, die zum Geständnis führt,
an Intensität zu vergleichen und an Bedeutung für das Seelen-
leben des Einzelnen gleichzustellen. Die beiden psychischen
Leistungen stehen auch in einem gewissen quantitativen Ver-
hältnis zu einander, auf dessen Erörterung wir hier nicht
eingehen wollen.
Gestatten Sie mir, noch eine kleine Ergänzung zu dem früher
Gesagten hinzuzufügen. Die Geständnisarbeit bringt auch jenes
Wüten des Über-Ichs gegen das Ich, das wir gewöhnlich als
Gewissensbisse bezeichnen. Die in vielen Sprachen erscheinende
Bezeichnung „Gewissensbisse" ist selbst eine Metapher, deren
Ursprung und Bedeutung keineswegs klar ist.
Die Analyse eines Falles von Zwangsneurose gab mir eine
ausgezeichnete Gelegenheit, etwas von dem Sinne dieser
Metapher zu erraten. Dem Patienten war während der
Analysezeit der Vater gestorben. Außer den Zweifeln, die
sich nach einem solchen Ereignisse einzustellen pflegen, wie
der Frage, ob nichts Wichtiges während der Krankheit des
Vaters versäumt wurde, ob der Patient genug hilfsbereit und
liebevoll gegenüber dem Vater gewesen war usw., traten
angstvolle Träume und peinliche Vorstellungen, wie die, daß
ein Gespenst oder Skelett in der Nacht in das Zimmer des
schlafenden Patienten treten würde, auf. Neben diesen und
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
anderen animistischen Phantasien erschien eine besonders
unsinnige, mit großer Angst verbundene Vorstellung. Sie
verriet sich zuerst in recht unbestimmter Art: der Patient
berichtete, daß er jetzt manchmal, wenn er lesend oder
rauchend im Zimmer des Vaters sitze, von der Vorstellung
irgend eines Pferdes verfolgt werde. Der vollständige Wort-
laut der Zwangsbefürchtung, wie sie später von der Analyse
klargestellt wurde und in Träumen Ausdruck erhielt, lautete:
das Pferd vom Leichenwagen des Vaters kommt ins Zimmer
und will ihn beißen.
Wir werden hier nicht auf die aktuellen Anknüpfungen
dieser Idee sowie auf ihre Verbindung mit einer unter-
gegangenen kindlichen Pferdephobie eingehen und wollen
nur erwähnen, daß die Zwangsvorstellung durch die Bewußt-
machung von Selbstvorwürfen und ihrer im Ödipuskomplex
wurzelnden Begründungen bald verschwand. Die Auflösung
der Zwangsidee scheint mir bei Heranziehung anderer, Ihnen
bekannter Forschungsergebnisse Freuds die Annahme zu
bestätigen, daß in den Gewissensbissen die uralte Angst vor
dem Gefressen- oder Kastriert werden wieder erscheint, die
sich erst spät in die vieldeutigere, soziale Angst verwandelt,
hat. So verrät die Metapher Gewissensbisse nicht nur, wie
die Analyse jenes Falles regressiv zeigt, ihren Ursprung und
ihre latente Bedeutung als archaische Angst vor der kannibali-
stischen Strafe, sondern wirft auch ein Licht auf die primäre
Natur des Gewissens. Hier bestätigt sich wieder Freuds
große Hypothese vom Ursprung der Religion und Moral,
denn es weist auf diese Annahmen hin, wenn gerade die
Angst, vom Vater (-totem) gefressen zu werden, den Kern
der Gewissensangst, der späteren Angst des Ichs vor dem
Über-Ich bildet.
Geständniszwang und Straf bedürfnis
Ich möchte den Anlaß benützen, um Ihnen an diesem
Beispiel die Differenz zwischen der kindlichen Angst und
ihrer späteren Verwendung durch das Über-Ich vorzuführen.
Beispiele dieser Art vermitteln, uns bestimmte Annahmen
über die Entwicklung der kindlichen Angst zur Gewissens-
angst, die erst durch die Aufrichtung des Über-Ichs im Ich
ermöglicht wurde. In den dunklen Träumen jener Wochen
nach dem Tode des Vaters erschien auch immer wieder eine
düstere, unheimlich blickende Gestalt, die den Patienten zu
bedrohen schien und die mit rätselhaften Zügen ausgestattet
war. Es lag nahe, sie mit dem toten Vater zu identifizieren,
aber jene charakteristischen, seltsamen Züge blieben dadurch
unerklärt. Nach vieler Mühe mußten wir in der mysteriösen
Figur — Napoleon erkennen. Der Patient und ich waren in
gleichem Maße durch dieses Resultat überrascht ; der große
Korse hatte den Patienten bewußt niemals besonders interessiert.
Die Lösung der Frage, wie Napoleon in den Traum gelangte,
schien durch die Anknüpfung an einen Tagesrest, ein Gespräch
über Nelson, allein nicht gegeben.
Der Zusammenhang wurde durch eine frühe Kinder-
erinnerung, die am nächsten Tag in einem anderen Zusammen-
hang auftauchte, hergestellt: der Patient hatte einen bedeutungs-
vollen Teil seiner Kinderzeit bis zur Zeit, da er zweidrei-
viertel Jahre alt war, auf einer Insel nahe Sankt Helena
zugebracht. Die Bevölkerung hat dort die Erinnerung an
Napoleons Aufenthalt auf Helena in der Tradition aufbewahrt
und der Patient erinnerte sich, wie oft seine alte, schwarze
Nurse ihm gedroht hatte: „Poni will catch you, if you are'nt
a good child." Eine spätere Erkundigung muß ihm dann
die Kenntnis vermittelt haben, daß jener gefürchtete „Poni"
mit dem großen Gegner der Engländer identisch war. Der
Der Geständniszwang in der Kriminalistik
123
alte Kinderschreck war also hier benützt worden, um die
Gewissensangst zu vertiefen, welcher die Erinnerung an einen
ungewöhnlich milden und gütigen Vater bewußt energisch
widersprach.
Es ist nicht unwichtig, sich gegenwärtig zu halten, daß
die Gewissensangst in weitgehendem Maße von dem realen
Charakter der Person, der sie einst galt, unabhängig ist, ja
manchmal scheint es, als wäre das Über-Ich um so strenger,
je schwächer und liebevoller sein Urbild in der Realität
gewesen war. Dies wird dadurch erklärlich, daß ja diese
Angst an die Stelle einer alten Objektbesetzung getreten ist
Und sich letzten Endes als verdrängter Liebesanspruch verrät.
Die von ■ uns bereits entwickelte Ansicht, daß ein über-
großes Strafbedürfnis dem Geständniszwang entgegenwirke,
läßt auch andere Probleme in einer neuen Beleuchtung sehen.
Die Frage des verstockten oder stummen Verbrechers wird
unter diesen analytischen Gesichtspunkten einer Revision
durch die Kriminalistik unterzogen werden müssen. In vielen
Fällen wird sicher neben den von den Kriminalpsychologen
so häufig angeführten Motiven, wie Trotz, Angst vor Strafe,
falsche Einschätzung der Geständnisfolgen, noch jene Intensität
des unbewußten Strafbedürfnisses an dem Benehmen des
Verbrechers ihren tiefgehenden Einfluß haben.
Lassen Sie mich hier einiges von dem nachholen, was ich
in früheren Vorlesungen zu sagen versäumt habe: das Schweigen
selbst ist ein Stück negativen Geständnisses und wird von
uns unbewußt auch so gewertet. Eine sehr intelligente
Patientin äußerte einmal in der Analyse, ihr Schweigen
bedeute eigentlich Totsein. Diese Bedeutung hat das Schweigen
auch, wie Freud gezeigt hat, in der Darstellung des Todes
im Traum und im Mythus. Wir sagen ja auch totschweigen
124
Geständniszwang und Straf Bedürfnis
und stellen so das Schweigen dem Töten gleich. Eine der
eindrucksvollsten Novellen Arthur Schnitzlers, in der
übrigens das Wirken der Geständnisarbeit und das endliche
Durchbrechen des Geständniszwanges zu künstlerischer Dar-
stellung gelangt, heißt: „Die Toten schweigen". Wie nahe
die Dichtung hier dem Leben kommt, zeigte mir die Phantasie
eines Patienten, der ein Verhältnis mit einer verheirateten
Frau hatte. In seinen Tagträumen stellte er sich oft einen
Wagenunfall bei einer Ausfahrt mit der Dame vor, bei dem
er getötet werden würde. Der eigene Tod wurde in den
Phantasien nicht nur zur Sühne, sondern auch zum Geständnis,
da er dem betrogenen Gatten das geheime Verhältnis verraten
würde. Ein anderer Patient teilte die Menschen ein in solche,
mit denen man schweigen könne, und in solche, mit denen
man das nicht könne. Den Analytiker rechnete er zur zweiten
Gruppe. Wenn der Patient schwieg, fühlte er dies als höchst
peinigend und belastend. Von allen anderen psychischen Deter-
minanten, die diesen Fall bestimmen, abgesehen, kann man
sagen, daß das Schweigen in der Analyse, selbst Ausdruck
des unbewußten Schuldgefühls, von Schuldgefühl gefolgt
wurde. Es ist so, als ob das Unbewußte des Patienten sein
eigenes Schweigen als Haßsymptom, als Entzug von Liebe
beurteile und verurteile, als sei das Schweigen nicht nur Aus-
druck sozialer Angst, sondern auch mit sozialer Angst ver-
bunden.
Ebensolche Aufklärung gewährt die Analyse für den Trotz
und das freche, herausfordernde Benehmen des Verbrechers;
auch hier wird das übergroße Strafbedürfnis als Erklärung
dienen, ja man kann sogar behaupten, daß in so scheinbar
widersinnigem Benehmen ein noch intensiveres Strafbedürfnis
zum Ausdrucke dränge als im Schweigen. Denn oft ist das
Der Geständniszwang in der Kriminalistik 125
Schweigen selbst ein Zeichen der Vorgänge der Geständnis-
arbeit und vom Geständnis gefolgt. Das Phänomen des Trotzes
oder der Auflehnung aber kommt der Wiederholung der
Tat viel näher. Es bildet in seiner kriminalistischen Erschei-
nungsform nur einen Spezialfall des sonderbaren Benehmens
mancher Personen gegen andere, denen gegenüber sie sich
schuldig fühlen. Man sollte doch annehmen, daß jemand, der
sich gegen einen anderen vergangen hat, sich diesem gegen-
über schuldbewußt oder demütig, verlegen oder entschuldigend
benehmen wird. Bei einer großen Anzahl von Personen kann man
nun jene eigenartige und unerwartete Reaktion beobachten,
daß sie sich dem Beleidigten oder Geschädigten gegenüber
frech und ungebärdig, ja feindselig betragen. Sie finden dieses
sonderbare Benehmen nun keineswegs, wie man glauben
könnte, bei rohen und primitiven Naturen, sondern gerade
bei solchen, die besonders empfindsam und schamhaft sind.
Ja, man wäre manchmal geneigt, anzunehmen, daß es gerade
mit diesen ihren Eigenschaften irgendwie zusammenhänge.
Als erste Auskunft ergibt sich die, daß diese Personen
sich wirklich unbewußt oder vorbewußt schuldig fühlen
und als Reaktion gegen dieses Schuldgefühl, das übergroß
geworden ist, in das andere Extrem des psychischen Pendel-
schlages geworfen werden. Solche seelische Vorgänge sind
keineswegs ohne Analogie: es ist mir ein Fall bekannt, in
dem eine sonst zärtliche, ja vielleicht übertrieben zärtliche
Tochter ihre Mutter, wenn diese krank wird, mit Vorwürfen
und Anklagen überhäuft und so zu Ausbrüchen ungezügelten
Hasses gelangt. Die durch das Andrängen der unterdrückten
feindseligen Impulse reaktiv verstärkte Zärtlichkeit schlägt
dann in ihr Gegenteil um; die Krankheit der Mutter
hat die Besorgnis und Zärtlichkeit auf einen Höhe-
12Ö Geständniszwang und Straf bedürfnis
punkt gebracht, von dem aus die unbewußten Haß-
tendenzen nun überraschend zum Durchbruch gelangen
können. Darauf weist auch die Erklärung hin, welche die
Tochter für ihr Verhalten geben kann: die Mutter tue ihr
dann so leid und sie sei so besorgt um sie, daß sie sie
schimpfen müsse. Was sich so nur als Steigerung der Zärt-
lichkeit und Besorgnis äußert, sind in Wahrheit die
entgegengesetzten Gefühlsregungen der Ambivalenzspannung.
Wir sehen auch hier, daß quantitative Faktoren zur
Entscheidung über das Ergebnis der Triebentmischung
wesentlich beitragen. Ähnlich in den von uns früher
beschriebenen Fällen. Wir brauchen in der Aufklärung des
sonderbaren Benehmens die Rolle eines eigenartigen Scham-
gefühles, das selbst tiefere Motive ahnen läßt, sowie die
Mitwirkung anderer seelischer Momente nicht zu übersehen.
Auch wird man den betreffenden Personen Glauben schenken
müssen, wenn sie auf eindringliches Befragen Auskunft
geben und sagen, sie wären über die Ruhe des anderen
empört gewesen und um so empörter, je weniger er Anstalten
treffe, sich zu rächen 5 die Demut des anderen habe geradezu
aufreizend auf sie gewirkt, als würde er durch solchen
Verzicht auf die natürliche feindselige Reaktion der Rache
und der Bestrafung eine Superiorität in Anspruch genommen
haben, die ihm nicht gebühre.
Wir brauchen unsere frühere Erklärung nicht aufzugeben,
sondern nur näher zu bestimmen und zu ergänzen; wir
werden vor allem bemerken, daß das Zufügen der ersten
Beleidigung oder Schädigung selbst aus dem Strafbedürfnis
erfolgte; es war schon ein Versuch, das Straf bedürfnis zu
placieren und in der Aussicht, selbst beschimpft und geschädigt
zu werden, zu befriedigen. Die zweite Reaktion, eben jene
1
Der Geständniszwang in der Kriminalistik 127
Wiederholung der Beleidigung, zeigt, daß dieser Versuch
mißglückt ist, denn es ist so, als ob der Beleidigte Rache
an dem Verletzten nimmt, weil dieser ihm nicht die Strafe
zuteil werden ließ, auf die er Anspruch erhebt, und als ob
er es den Gekränkten entgelten lasse, daß der Übeltäter so
intensive Schuldgefühle fühlen müsse. Er rächt sich an dem
Gekränkten oder Beschädigten dafür, daß er ihn gekränkt
hat, was wirklich widersinnig wäre, wenn in diesem Falle
nicht zwei Voraussetzungen psychischer Art zutreffen. Die
erste haben wir schon erwähnt: es ist die große Intensität
des präexistenten Strafbedürfnisses. Wir wissen, das Straf-
bedürfnis ist in diesem Falle so groß geworden, daß es
triebhaft zu neuen Übeltaten drängt.
Das Straf bedürfnis aber kann nur dann diese überwältigende
Stärke erreichen, wenn man den Beleidigten liebt, das Leid,
das man ihm angetan hat, unbewußt als eigenes verspürt,
mit anderen Worten: unter den psychologischen Bedingungen
der unbewußten Identifizierung. Die wiederholte Kränkung
oder Beschädigung wäre also sowohl die unter dem Zwange
des Strafbedürfnisses verschärfte Wiederholung der ersten
Übeltat als auch die partielle Befriedigung dieses Straf-
bedürfnisses, da die Kränkung an der durch Objektintrojektion
ins Ich gezogenen Person erfolgt. Tatwiederholung und Selbst-
bestrafung am anderen Objekt fallen hier zusammen. Die
zweite Voraussetzung ist, daß die zweite Aktion den Charakter
des agierten Geständnisses hat oder das Geständnis durch
die Tat ersetzt. Hier brauche ich Sie nur an das
früher Gesagte über das Agieren in der Analyse zu
erinnern.
Das beschriebene Phänomen, das im Falle des ungebärdigen
oder trotzigen Verbrechers vor Gericht vielleicht nur seine
128
Geständniszwang und Straf Bedürfnis
auffälligste Erscheinungsform zeigt, ist von seiten der Psycho-
analyse noch kaum zum Gegenstand psychologischer Forschungen
gemacht worden — überflüssig zu sagen, daß es sich der
außeranalytischen Psychologie überhaupt noch nicht als
Problem gestellt hat. Vielleicht sind es auch hier eher die
Dichter als die Kriminalpsychologen, welche die komplizierten
Verschiebungs- und Reaktionsbildungen erfassen, die im
menschlichen Seelenleben vor sich gehen. Ich beschränke
mich darauf, Ihnen ein einziges Beispiel zu geben, das aus
der genialen Menschenkenntnis eines der größten Psychologen
stammt. Dostojewski gibt von Fedor Pawlowitsch
Karamasoff, dem Vater der Brüder Iwan, Dimitrij und Aljoscha,
folgende Charakteristik: Er wollte sich an allen für seine
eigenen Schändlichkeiten rächen. Und da fiel ihm auch
noch ein, wie man ihn früher einmal gefragt hatte: „Warum
hassen Sie denn diesen Menschen so sehr?" und wie er
darauf in einem Anfall seiner Narrenschamlosigkeit geantwortet
hatte: „Warum? Sehen Sie: er hat mir nichts getan, das ist
wahr, dafür aber habe ich ihm eine gewissenlose Gemein-
heit angetan und kaum war es geschehen, da haßte ich ihn
auch schon gerade deswegen." Es wird uns hier auffallen, daß
jene Tat von dem Täter so selbstverständlich als gewissen-
lose Gemeinheit gekennzeichnet wird und daß er seinen
Haß in die engste zeitliche und ursächliche Verknüpfung
mit seiner schlimmen Tat bringt. Er beschreibt offenbar den
von ihm gefühlten Zusammenhang, ohne doch fähig zu sein,
die unbewußten Verbindungen auffinden zu können.
Kehren wir von hier aus wieder zu den Problemen der
Kriminalistik zurück; ich glaube, wir stehen alle unter dem
Eindrucke, daß die Kriminalpsychologie mit den ihr bisher
zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden die schwierigen
Der Geständniszwang in der Kriminalistik 129
Fragen, welche ihr das seelische Phänomen des Verbrechens
stellt, schwer lösen können wird.
Die neuen Gesichtspunkte zwingen uns, auch einige
Augenblicke bei der Geschichte der Strafprozeßordnung zu
verweilen. Ist ein überstarkes Straf bedürfnis selbst ein Hindernis
des Geständniszwanges, so verstehen wir jetzt auch, warum
man sich früher so eigenartiger Mittel bediente, um den
Angeklagten zum Geständnis zu bringen. Ich weiß nicht, ob
es Ihnen bekannt ist, daß man in der Schweiz noch vor
einigen Dezennien den sogenannten Geständnisprügel benützte,
mit dem der Delinquent so lange traktiert wurde, bis er ein
Geständnis ablegte. Diese Einrichtung ist ein Relikt der im
Mittelalter gebräuchlichen Torturen und Pressionsmittel, eben
des von außen kommenden Geständniszwanges. Es muß bei
aller Barbarei und aller Roheit doch auch ein psychologischer
Sinn in diesem grausamen Verfahren der mittelalterlichen
Strafprozeßordnung liegen. Es ist so, als ob dem stummen
oder trotzigen Verbrecher durch die Schmerzen die Zunge
gelöst werden sollte. Die Folterung war ein Stück vorweg-
genommener Bestrafung, gleichsam eine Partialstrafe, der
die andere, eigentliche Strafe folgte. Das Maß des Leidens
für den Verbrecher war voll, sein Strafbedürfnis soweit
befriedigt, daß er sich zum Geständnis bereit fand. . Es
kann nur dieses unbewußte Verständnis der seelischen
Situation des Verbrechers gewesen sein, was die Anwendung
einer uns heute mit Abscheu erfüllenden Maßregel erklärt.
Die Verlegung dieses „Geständniszwanges" von außen nach
innen, in das Seelenleben des Einzelnen hat uns ja, wie
ich früher sagte, die Möglichkeit gegeben, von einem
unbewußten Geständniszwange zu reden. •
Wir werden so von selbst zu der Frage geführt, warum
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis. 9
13° Geständniszwang und Straf bedarf nis
man so viele Mittel anwandte, um den Delinquenten zum
Geständnis zu bringen, und zu der anderen, woher die hohe
psychologische und kriminalistische Bewertung des Geständ-
nisses stammt. Die Praxis des Untersuchungs- und Straf-
richters zeigt, daß man noch immer mit allen erlaubten
Mitteln ein Geständnis vom Angeklagten zu erlangen sucht.
Die „peinliche Frage", wie das Mittelalter die Folterung
nannte, ist noch nicht völlig verschwunden; sie hat nur
ihre Gestalt geändert: der Zwang ist jetzt so sanft geworden,
so sehr in das psychische Gebiet verlegt, daß man ihn
kaum mehr so nennen kann. Jede Überrumpelung oder
Überlistung des Angeklagten ist verboten, aber es wird alle
Mühe aufgewendet, um das Bekenntnis der Schuld zu
erlangen.
Kann es der Wert des Geständnisses als Beweismittel
sein, der so große Anstrengungen rechtfertigt? Gewiß nicht ;
denn das Geständnis allein kann ja, wie wir gehört haben,
nicht als Beweismittel dienen. Es ist natürlich von großem
Wert, aber es gibt einerseits falsche Geständnisse, anderer-
seits Fälle, in denen durch Zeugenaussagen und Indizien
genügend Beweismittel vorhanden sind, die es dem Richter
und den Geschworenen erlauben, eine Entscheidung auch
dann zu fällen, wenn kein Geständnis vorliegt — und
solche richterliche Entscheidungen ergehen auch wirklich
in einer großen Anzahl von Fällen. Es müssen neben den
von den Kriminalisten und Strafrechtslehrern angeführten
Momenten andere vorhanden sein, die dem Geständnis eine
psychologische Ausnahmsstellung einräumen.
Wir ahnen, welche diese Faktoren sind, und können sie
uns deutlicher machen, wenn wir uns vorstellen, was das
Geständnis für den Verbrecher selbst und für die urteilende
Gesellschaft unbewußt bedeutet. Das Geständnis heißt für
den Verbrecher, daß sein Gewissen Stimme gewonnen hat,
daß er sich durch dje gesprochene Wiederholung der
Bedeutung seiner Tat bewußt wird, daß er beginnt, sein
stummes, der Gesellschaft unzugängliches Schuldgefühl in
ein dem normalen näheres zu verwandeln und, da er ein
Stück seines Strafbedürfnisses frei geäußert hat, er sich
auch für strafwürdig erklärt. Ist so das Geständnis nicht
die Vorbereitung des Urteils, ja ist in ihm nicht ver-
borgen das Urteil des Verbrechers selbst über seine Tat ent-
halten ?
In diesen Zügen aber muß auch das verborgen sein, was
für die Anderen, Richter, Geschworene und Zuhörer, die
psychische Bedeutung des Geständnisses ausmächt. Die
Gesellschaft fühlt sich vom Leugnen und Schweigen des
Verbrechers bedrückt wie durch eine gewaltige unheimliche
Anklage, wie wenn es das Recht des Urteilens selbst, das
die Gesellschaft für sich in Anspruch nimmt, in Frage
stelle. Der Übeltäter erleichtert dem Gericht seine Aufgabe,
ja nimmt sie ihm bereits unbewußt vorweg, indem er
gesteht; ist doch das Geständnis selbst ein Ausdruck des
Strafbedürfnisses.
Es muß aber in der Einstellung des Gerichtes gegenüber
dem Geständnis etwas Berechtigtes verborgenen Ausdruck
finden. Man hat gesagt, daß in jeder Anklage, die die
Gesellschaft wegen eines Verbrechens erhebt, eine Selbst-
anklage enthalten sei, da die Gesellschaft an dem Zustande-
kommen des Verbrechens mitschuldig sei. Das Geständnis
bringt auch diese Anklage gegen die Gesellschaft, die den
Armen schuldig werden läßt und ihn dann der Pein über-
läßt, zum Ausdruck. Die Anklage des Verbrechers, die dieser
9*
152
Geständniszwang und Straf bedürfnis
„Kollektivschuld der Gesellschaft" gilt — wie es der
berühmte Strafrechtslehrer Franz v. Liszt genannt hat — -
ist im Geständnis implicite enthalten. Bedeutet das Geständnis
so eine Entlastung des Strafbedürfnisses und zugleich seine
partielle Befriedigung, so muß man sagen, daß es auch das
Strafbedürfnis der Gesellschaft befriedigt und entlastet wie
der tragische Held in seinem Untergang das Strafbedürfnis
des Publikums befriedigt. Hier wäre also der Grund für
die kathartische Wirkung des Geständnisses auf seine
Zuhörer zu suchen. Niemand, der je einer Schwurgerichts-
verhandlung aufmerksam gefolgt ist, wird diese Beschreibung
der seelischen Vorgänge im Zuhörerraum unwahrscheinlich
finden. Man könnte sagen, Richter wie Zuhörer erwarten
das Geständnis des Verbrechers, wie um einen schweren
Bann zu brechen, wie um eine Möglichkeit des Vergleiches
mit dem eigenen Seelenleben, eine Möglichkeit unbewußter
Identifizierung zu erhalten. Das Geständnis, das auch die
Anklage gegen die Gesellschaft formuliert, bricht diesen
Bann und erlaubt es, sich für einen Augenblick unbewußt
mit dem Verbrecher zu identifizieren, die eigenen seelischen
Vorgänge mit den seinen zu vergleichen und die Trieb-
regungen in ihm und in sich selbst zu verurteilen.
Hier ist auch der Platz, einer Abart des Geständnisses zu
gedenken, das die Möglichkeit einer solchen unbewußten Iden-
tifizierung einschränkt; ich meine des affektlosen Geständnisses.
Der Verbrecher bekennt wohl seine Tat, zeigt aber keine
Zeichen . von Reue, keine Anzeichen dafür, was diese Tat in
seinem Seelenleben bedeutet. Wie läßt sich diese Erscheinung
in unseren Zusammenhang einreihen? Dies wird leicht
gelingen, wenn wir uns des Zusammenhanges zwischen
Verdrängung und Geständnis erinnern. Wir wissen, daß
Der Geständniszwang in der Kriminalistik 133
Vorstellung und Affektbetrag einer Triebrepräsentanz ver-
schiedene Schicksale haben können. Die Vorstellung kann
erhalten geblieben sein, der Affekt ist verdrängt worden.
Im Geständnisvorgang lassen sich analoge Verhältnisse
erkennen. Der Verbrecher, der völlig affektlos, wie ein
Polizeibericht seine Tat erzählt, wäre etwa jenem Neurotiker
zu vergleichen, der gerade das Wesentliche seiner Krankheit
so sagt, daß jeder Affektindex dabei vermißt wird. Wir
können dann diesen Affekt oft als verschobenen wiederfinden;
das Strafbedürfnis wird bei solcher Affektverschiebung gewiß
einen bestimmenden Einfluß haben.
Die Gesellschaft erweist sich auch dankbar für das Geständ-
nis, mit dem sie der Verbrecher vom eigenen, unbewußten
Schuldgefühl entlastet, indem sie darauf mit einer Milderung
ihres Urteils über seine Tat reagiert. Das Geständnis stellt
ja für den Verbrecher selbst den ersten Schritt auf dem
Rückweg zur Gesellschaft dar; durch seine Ablegung findet
er die erste Möglichkeit, wieder zur Gesellschaft zurück-
zukehren, außerhalb deren Grenzen er sich durch seine Tat
gestellt hat. Auch die richtenden Instanzen reagieren auf
diese Wiederannäherung, auf diese erste Bemühung um
Versöhnung mit der Sozietät, indem sie das Geständnis
formell als Milderungsgrund betrachten. Der Untersuchungs-
oder Strafrichter ist in diesem ganzen psychischen Prozeß,
als dessen Veräußerlichung und Vergröberung uns der
gerichtliche erscheint, unbewußt der typische Vaterrepräsen-
tant, der verurteilt und verzeiht, der richtet und wieder
aufrichtet.
Im Geständnis hat sich der Verbrecher der Gemeinschaft
gegenüber zu seiner Untat bekannt, wie einmal das Kind
zu seinem Schlimmsein gegenüber dem wirklichen Vater
134 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
oder dessen Stellvertreter. So wie aber das Geständnis des
Kindes unbewußt eine neue Liebeswerbung darstellt, einen
Versuch, das verlorene Objekt wiederzugewinnen, so zeigt
der Übeltäter, indem er sich im Geständnis als strafwürdig
bezeichnet, die Absicht, sich wieder der Gesellschaft
einzureihen.
SECHSTE VORLESUNG
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie
1Y /reine Damen und Herren! Wir haben bereits darauf
J-»J- hingewiesen, daß die analytischen Resultate uns auch
vor neue Probleme in der Straf rechts Wissenschaft stellen.
Es handelt sich nicht um ein solches Problem, aber um
einen wichtigen, neuen Gesichtspunkt, wenn die Analyse in
der Lage ist, zu beweisen, daß es Urteil und Strafe auch
außerhalb der Gerichte gibt, daß es eine Bestrafung sozusagen
in eigener Regie gibt, die so viele Beamte und Hilfsorgane
überflüssig macht.
Die Kriminalpsychologie hat freilich registriert, daß manche
Verbrecher sich selbst bestrafen, daß mancher Selbstmord
zur Sühnung eines Verbrechens verübt wurde. Aber darum
handelt es sich uns nicht; dies sind ja nur vereinzelte, äußere
Anzeichen psychischer Vorgänge, die nicht immer so lärmvoll
zum Ausdruck gelangen. Es müßte auch zu den Aufgaben
der Kriminalpsychologie gehören, die Verbindung des Seelen-
lebens des Verbrechers mit dem der nicht zu Verbrechern
gewordenen Menschen zu erforschen. Die Analyse der
psychischen Vorgänge beim Neurotiker bietet dafür eine
der lohnendsten Gelegenheiten, vielleicht die beste und jetzt
auch die zugänglichste.
136
Geständniszwang und Straf bedürfnis
Die Krankheit selbst dient zu einem wichtigen Teile
dem Strafbedürfnisse und das Leiden an ihr hat auch
deutlich Strafcharakter. Aber es sind nicht nur Krankheits-
symptome, die auf solche psychische Selbstbestrafung hin-
weisen; wir wissen, wie häufig kleinere Handlungen, wie
Fehlleistungen des Alltagslebens, Übersehen — die Analoga
zur „Fahrlässigkeit" der Juristen — Ausdruck der Straf-
tendenzen darstellen. Auch nichtneurotische Personen strafen
sich so unbewußt durch zeitweilige Entbehrungen oder
Entzug von Vergnügungen, durch eine Beeinträchtigung der
Genuß- und Leistungsfähigkeit. Diese Art von innerem
Strafvollzug ist auch keineswegs auf Erwachsene beschränkt:
bereits Kinder zeigen die Erscheinungen von einem
bestimmten Alter und einer bestimmten Entwicklungsstufe
an. Um nur ein Beispiel zu geben: eine englische Patientin
berichtet aus ihrer Kinderzeit, daß sie, nachdem sie zuerst
im Erlernen der deutschen Sprache ausgezeichnete Fortschritte
gemacht hatte, sich von einer bestimmten Zeit angefangen
völlig unfähig fühlte, diese Sprache weiter zu lernen. Es
ist tiun wichtig, zu erwähnen, daß ihr Vater ihr Lehrer im
Deutschen gewesen war und sie mit ihm häufig zärtliche
oder scherzhafte Gespräche in dieser Sprache, welche die
Mutter nicht verstand, geführt hatte. Nach einem gewissen
Ereignis der Kleinen war sie „self-conscious" geworden, das
heißt, sie hatte vorbewußt erkannt, auf welchen tiefer-
liegenden Gefühlsregungen ihre zärtlichen Beziehungen zum
Vater ruhten, und von da an versiegte ihre Fähigkeit zur
deutschen Konversation. Es war in ihr der Gedanke auf-
getaucht, die deutschen Gespräche mit dem Vater mit solchen
in einer kindlichen Geheimsprache, in der häufig sexuelle
Themen zwischen Kindern erörtert werden, zu vergleichen.
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie
137
Solches geheime Einverständnis mit dem Vater aber schien
ihr gegen die Mutter, die ja nicht Deutsch konnte, gerichtet
und deshalb verboten. Sie hatte sich mit Unfähigkeit, Deutsch
zu lernen, bestraft, und zwar gerade, weil ihr die deutsche
Unterhaltung mit dem Vater Vergnügen gemacht hatte. Es
war so, wie wenn das Sprechen eine weit weniger harmlose,
gemeinsame Betätigung vertreten hätte.
Doch wenden wir. uns zu den Selbstbestrafungen neurotischer
Erwachsener. Ich habe mir angewöhnt, mir in jeder Analyse
neurotisch Erkrankter die Frage vorzulegen, wie und wodurch
sich der Patient bestraft hat, und darf bekennen, daß mir
die oft erst spät erfolgende Beantwortung dieser Frage jedes-
mal ein wertvolles Stück Aufklärung und Einsicht in die
psychische Struktur und in die unbewußten Begründungen
der Neurose gewährt hat. Vergessen Sie nicht, daß die Beant-
wortung dieser Frage uns zugleich einen der wichtigsten
Krankheitsgewinne erkennen läßt.
Ich will Ihnen einige herausgegriffene Beispiele solcher
unbewußten Selbstbestrafungen, die zugleich das Leben der
betreffenden Personen im Tiefsten bestimmten, erzählen: Ein
Patient verbringt sein Leben in leidvoller Isolierung, die den
Verkehr mit Menschen fast völlig unterbindet. Man möchte
sagen, er habe sich zu Einzelhaft verurteilt. Ein anderer
arbeitet mit höchster Intensität und Ausdauer an bestimmten
Arbeiten, die ihm nichts bedeuten und ihm keinen Nutzen
bringen können; sein interner Urteilsspruch war offenbar
Zwangsarbeit. Er trug gleichsam einen geheimen Stempel:
Travaux forces. Ein masochistischer Patient litt unter der
zwanghaften Vorstellung, daß sich ein Heer von Lanzen gegen
seine Augen richten. Die Analyse ergibt, daß diese Vorstellung
von einer Züchtigung ausging, die der Patient als kleiner
I 5 8 Gestä ndniszwang und Strafbedürfnis
Junge vom Vater mit einem Bergstock, auf dem sich eine
eiserne Spitze befand, wegen seiner Widerspenstigkeit erhalten
hatte. Das Symptom ließ im Zusammenhang mit später ein-
tretenden Phantasien keinen Zweifel darüber, daß die gefürchtete
und erwünschte Bestrafung die Blendung war, die sich leicht
als Ersatz der Kastration erkennen ließ. Der Zusammenhang
zwischen phantasierter Tat oder verbotenem Wunsche und
der Bestrafung, also der „Strafgrund", wie es die Juristen
nennen würden, ist fast immer unbewußt und kann in aus-
geführter Analyse regelmäßig aufgedeckt werden.
Eine Unterscheidung, die sich der analytischen Beobach-
tung der neurotischen Selbstbestrafung aufdrängt, verdient
gewiß hervorgehoben zu werden: ein gewisses Ausmaß eines
unbewußten Strafvollzuges läßt sich bei allen Kranken fest-
stellen, aber bei vielen nimmt die Angst vor der Strafe
selbst Strafcharakter an. Die Angst hat dann nicht nur die
Natur einer Schutzmaßregel vor der drohenden Selbstbestrafung,
sie übernimmt vielmehr alle Funktionen derselben, wie wir
dies deutlich in der psychischen Dynamik der Phobien
bemerken, welche eine so erhebliche Einschränkung des
Patienten bedingen. Auch die ausgedehnten Zwangshand-
lungen, durch die sich der Neurotiker vor dem verbotenen
Tun schützt, gewinnen Strafcharakter: sie zwingen ihn, Zeit
und Energie auf jene kleinen Aktionen zu verwenden und
sich durch Einbußen an psychischer Bewegungsfähigkeit zu
strafen. Wir werden den Anteil der Ersatzbefriedigung in den
Symptomen sicher nicht unterschätzen, aber mit dem Stärker-
werden der Versuchung wächst auch die in Strafform umgesetzte
Abwehr. Dasselbe gilt für das Zwangsdenken.
Der Unterschied zwischen der latenten Selbstbestrafung,
die tief in das Leben und die Schicksalsgestaltung des Einzelnen
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie
159
eingreift, und ihrer Variation in der Form der Angst ist
sicher bemerkenswert, aber es ist zu betonen, daß er auf
keine Differenz in der psychischen Intensität des Erlebens
zurückgeht, sondern die Einwirkung bestimmter äußerer und
innerer Determinanten widerspiegelt. Wenn ich einen Ver-
gleich gebrauchen darf: Auch Balzac hatte wie sein großer
Zeitgenosse Napoleon den brennenden Ehrgeiz, die Welt
zu bezwingen und zu beherrschen, wie die Konzeption der
„ Comedie humaine" zeigt. Es war keine Differenz der Trieb-
stärke, sondern in anderen Umständen begründet, daß er dies
auf einem anderen Felde versuchte. Wirklich hat er einmal
unter ein Bild Napoleons das stolze Wort geschrieben: „Ce
qu'il n'a pu achever par l'epee, je V accomplirai par la plume."
Als gutes Beispiel des Strafcharakters der Angst darf ich
vielleicht folgendes aus der Analyse einer Zwangsneurose
anführen: Der Patient litt an der blasphemischen Idee, daß
er Gott eine Ohrfeige geben muß. Wenn die Idee auftauchte,
sah er gewöhnlich das Gesicht eines alten Mannes, das er
mit dem Gottes verglich, am Plafond und eine Hand, die
sich diesem schlagend näherte, visionär vor sich. Viel später
und in anderem Zusammenhange kam er wie beiläufig auf
ein Gefühl zu sprechen, das ihn seit langer Zeit peinige,
eine Art Zwangsbefürchtung, die sich schwer beruhigen ließ
und oft den Charakter panischer Angst mit allen körper-
lichen Sensationen wie Herzklopfen, Zittern, Schweißausbruch
annahm. Es war die Angst, der Plafond könne einstürzen
und ihn unter sich begraben. Der Zusammenhang der Angst
mit der Zwangsidee war unbewußt geblieben. Ein anderer
Patient fühlte einen schweren Druck auf der Brust und
beschrieb diese peinliche Empfindung so, als wäre ihm ein
schwerer Stein auf die Brust gewälzt. Die Verbindung dieser
1 4° Geständniszwang und Strafbedürfnis
Sensation mit der Vorstellung vom Grabstein des Vaters war
leicht herzustellen. Hier hat also die Strafe die Form einer
körperlichen Sensation angenommen wie in einem hysterischen
Konversionssymptom. Die Bedeutung des unbewußten Straf-
bedürfnisses für die Psychogenese der hysterischen Beschwerden
ist kaum noch gewürdigt worden.
Eine Organempfindung als Strafausdruck läßt auch folgender
Fall erkennen: Ein Patient hatte merkwürdige, schwer zu
beschreibende Empfindungen am Hals und Nacken, als wenn
ihn etwas einschnüre. Einmal kam er auf ein Schauspiel
„The Beils" zu sprechen, dessen Aufführung mit Sir Henry
Irving ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen hatte. Der
Inhalt des Stückes ist der, daß ein Wirt, der vor vielen
Jahren einen polnischen Juden ermordet und beraubt hatte,
sich beständig vom Läuten der Kirchenglocken, die in der
Stunde der Tat zufällig erklungen waren, verfolgt glaubt
und sich erhängt. Der Patient hatte ein andermal in höchst
unbestimmter Art von den unangenehmen Gefühlen gesprochen,
die das Hören der Töne von Kirchenglocken in ihm erweckten.
Die unbewußte Identifizierung mit jenem Mörder in „The
Beils" war auf Grund der verdrängten Todeswünsche gegen
den eigenen Vater klar. Der Vater des Patienten war durch
seinen Beruf mit der Kirche verbunden und die Töne der
Kirchenglocke waren einmal von großer Bedeutung für den
Patienten gewesen, da sie ihn an Kirchengang und Gottesdienst
mahnten.
Es mag uns in Erstaunen setzen, daß die Strafe, die der
Neurotiker unbewußt über sich verhängt, meistens keine
einfache ist, sondern sich nach vielen Richtungen erstreckt.
So hatte sich der Patient, von dem ich eben sprach, nicht
nur mit einer ganzen Reihe von Symptomen bestraft, er
Die psychoanalytische Straf rechtstheorie 141
litt auch sehr unter seiner, von ihm unbewußt herbeigeführten
Lebensgestaltung, die ihn an ein fernes Land band und ihm
nicht erlaubte, seine Meinungen und sein Wesen frei erkennen
zu lassen. Er war so nicht nur verurteilt, seinem Lieben fern
zu bleiben, sondern sich auch immer wieder zu verstellen ;
gegen Ende der Behandlung beschrieb er einmal sein Schicksal
spontan als „a lifelong imprisonment like the man with the
iron mask". Ich hatte einen Patienten, der sich fast jede
Lebensäußerung bis auf das Atmen und Denken verbot; er
war wirklich ein „lebender Leichnam".
Die komplizierten Strafen, die z. ß. Zwangsneurotiker sich
auferlegen, sprechen laut genug von ihrem Sühnebedürfnis;
sie sind den kombinierten Strafen zu vergleichen, welche
unsere Justiz über Übeltäter verhängt. Sie unterscheiden sich
von ihnen durch mehrere Momente: sie hängen ihrer Beschaffen-
heit und ihren Mechanismen nach aufs innigste mit den
verbotenen Regungen zusammen. Es wird aber — und dies
ist das zweite Moment — dieselbe Regung mit vielfachen
Strafen belegt; es wäre etwa so, wie wenn ein Richter einen
Diebstahl mit Arrest, mit Ehrverlust, Fasten an gewissen
Tagen und anderen Strafersehwerüngen belegte. Ein Neurotiker
wird sich etwa für denselben verpönten Wunsch mit Wasch-
zwang, mit der Ausführung eines bestimmten, beschwerlichen
Zeremoniells, mit Isolierung usw. bestrafen.
Wir sehen, es gibt auch Strafen außerhalb des Gerichtes
sowie Gesetze, die kaum weniger unerbittlich jede verbotene
Tat, ja jeden verbotenen Wunsch bestrafen, Gesetze, die mit
einer grausamen Logik und einer automatischen Präzision
arbeiten, die alle irdische Gesetzgebung weit hinter sich lassen.
Sie werden nun sagen, das sei alles für das psychologische
Verständnis der Neurose sehr interessant, aber was kann die
r - '
14 2 Geständniszwang und Strafbedürfnis
Strafrechtswissenschaft daraus zur Förderung ihrer Disziplin
schöpfen? Ich meine, es sei Verschiedenes. Vor allem müßte
sie die Tatsache eines solchen psychischen Gerichtshofes
selbst, der über eigene Gesetze verfügt und Strafen besonderer
Art verhängt, überraschen. Es ist vorauszusehen, daß dieses
Gericht einmal in ferner Zeit dem äußeren scharfe Konkurrenz
machen, ja es vielleicht ersetzen können wird.
Es mag ferner überraschend sein, zu hören, daß die Analyse
die Bestrafung in allen Fällen, die sie Gelegenheit hat zu
untersuchen, regelmäßig auf verdrängte Wünsche aus dem
Ödipuskomplex zurückzuführen gezwungen ist, als würde es
nur Verbrechen, die aus dieser Quelle stammen, geben. Es
müßte die Kriminalpsychologen reizen, nachzuforschen, wie-
weit dieser unbewußte Zusammenhang auch beim Verbrecher
nachzuweisen ist, ob auch hier eine unterirdische Verbindung
zwischen den Urverbrechen der Kinderzeit und der Tat des
erwachsenen Verbrechers besteht, welchen Einfluß die indi-
viduelle Verarbeitung des Ödipuskomplexes auf die Entwicklung
des später zum Verbrecher Gewordenen hatte.
Ich würde sogar meinen, die Rechtsgeschichte, die historische
Rechtswissenschaft könne aus den Erforschungen der unbe-
wußten Vorgänge beim Neurotiker manches Nützliche lernen.
Denn im Seelenleben des Neurotikers hat sich manches
Archaische erhalten, hier sind Quellen für eine jeder Erinnerung
entzogenen Zeit, in die kein Blick des Rechtshistorikers zu
dringen vermag. Die Analyse hat in Freuds „Totem und
Tabu" und in Storfers Untersuchung „Zur Sonderstellung
des Vatermordes" selbst die ersten Schritte in dieser Rich-
tung getan.
Und sollten die Beschlüsse dieses inneren Gerichtshofes bei
Berücksichtigung aller einschneidenden Differenzen, nicht
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie 143
besser Auskunft geben über die Anschauungen der Menschen,
welche Verbrechen und Vergehen sie strafbar finden und
auf welches Strafausmaß sie erkennen? Sollte man aus diesen
Erkenntnissen nicht bestimmte Folgerungen ableiten können,
die freilich keinen Einfluß auf das Strafrecht selbst haben
mögen, aber für eine künftige Verhütung der Verbrechen,
also für die Kriminalpolitik, wie es die Strafrechtswissen-
schaft nennt, wichtig werden könnten? Man wird freilich
die wichtigen Unterschiede zwischen Verbrecher und Neu-
rotiker bei solcher Heranziehung der Neurosenpsychologie
für kriminalpsychologische Untersuchung sorgsam beachten
müssen: die Differenzen in den Hemmungseinrichtungen, das
Überwiegen der sexuellen Regungen in der Neurose und der
eigensüchtigen und asozialen im Verbrechen und andere
Momente. Es scheint ja, als würde die Neurose einen weit-
gehenden Schutz gegen das Verbrechen bedeuten. Die Resultate
der analytischen Forschung nötigen jedenfalls zu einer gründ-
lichen Revision der alten, ganz auf dem Boden der Bewußt-
seinspsychologie stehenden Vorstellungs- und Willenstheorie,
auf der die heutige Strafrechtswissenschaft aufgebaut ist.
Allgemeiner gesprochen: der wissenschaftliche Fortschritt wie
menschliche Überlegungen fordern in gleichem Maße, daß
Strafrechtslehrer, Berufs- und Laienrichter, Verteidiger und
Staatsanwälte eine gründliche psychologische Vorbildung
erhalten, die ihnen in beschämendem Maße abgeht, wie dies
die einsichtigsten unter ihnen selbst beklagen.
Lassen Sie mich dieses Thema abbrechen und zu unseren
strafrechtlichen Erörterungen zurückkehren. Die Strafrechts-
geschichte belehrt Sie darüber, daß ursprünglich die Gesell-
schaft, die Gemeinschaft der Stammesgenossen über einen
Verbrecher zu urteilen hatte, der Einzelrichter fungiert später
144
Geständniszwang und Straf bedürfnis
als Vertreter der Gemeinschaft. Aber es läßt sich unschwer
ein Zustand in prähistorischer Zeit rekonstruieren, in dem der
Hordenhäuptling über alle Macht und das Strafrecht ver-
fügte wie später der Pater familias des römischen Rechtes
über die Herdgenossen. Der Übergang zum Strafrecht der
Gemeinschaft wird sich wohl in der Brüderhorde vollzogen
haben. In manchen Neurosen erkennt man sehr deutlich, wie
die soziale Angst das Schuldgefühl gegenüber der Gesellschaft
oder der „public opinion" auf die Angst vor dem Vater
zurückführt.
Die Übertragung in der Analyse erweist sich manchmal
als vorzügliches Mittel zum Verständnis anderer Probleme
des Strafrechtes. Einer meiner Analysanden war ein sehr
intelligenter Jurist, der an Zwangsneurose erkrankt war und
den Fragen seiner Wissenschaft starkes Interesse entgegen-
brachte. Die Analyse ging bis zu einem gewissen Zeitpunkte
ungestört; der Widerstand setzte in einer besonderen Art ein: er
drückte sich in der Analyse anscheinend ferneliegenden Zwangs-
grübeleien aus. Es war nun erstaunlich, wie geschickt der Patient
unbewußt ihn beschäftigende Fragen aus dem Übertragungs-
bereich in diesem Zwangsdenken in den juristischen Jargon
übersetzte. Es wurde z. B. bald klar, daß er die Widerstände,
die eine kurze Unterbrechung der Analyse in ihm erregte,
in der gedanklichen Bewältigung des Urlaubsproblems in der
Angestelltenversicherung ausdrückte usw. Das uns hier Inter-
essierende waren Zwangsgedanken, die sich um Probleme
des Strafrechtes drehten: wenn er mir etwas verheimlichte,
wurde die strafrechtliche Behandlung der Hehlerei in seinen
Grübeleien zum Mittelpunkte, der Dolus eventualis mußte
zur Darstellung der Zweifel, ob etwas bewußt oder unbe-
wußt sei, dienen und die Probleme der Fahrlässigkeit waren
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie
145
unbewußt der Tummelplatz seiner Zweifel an der psychischen
Determiniertheit seiner Fehlleistungen. Das Ausmaß seines
Strafbedürfnisses brachte er zum Ausdruck in den ausgedehnten,
an den Paragraphen des bürgerlichen Gesetzbuches orientierten
Zwangsgedanken, welche Strafen die betreffenden Übeltäter
in den phantasierten Fällen erhalten sollten. Selbstanklage
und Selbstverteidigung erschienen wechselnd in diesen zwang-
haften Überlegungen. Erst als es mir gelang, an einigen aus-
gezeichneten Fällen die Verbindung aller, auch der gering-
fügigsten Einzelheiten seiner Strafgesetzprobleme, die er seinem
gegenwärtigen Studienmaterial scheinbar wahllos entnahm,
mit unbewußten Gefühlen und Gedanken aus der Über-
tragungssphäre herzustellen, ging er zu unmittelbareren Wider-
standsäußerungen über. Die strafrechtliche Widerstandsform,
die Art, wie die Übertragungsszene hier zum Tribunal wurde,
ermöglichte regressiv eine Art Darstellung der Psychogenese
des Strafrechtes, wobei die „Masse zu zweit" die Gesellschaft
ersetzen mußte.
Es kann für die Strafrechtstheorie nicht gleichgültig sein,
daß die unbewußten Selbstbestrafungen der Neurotiker durch-
aus auf dem Grundsatze der Talion aufgebaut sind. Das Stück
untergegangenen Seelenlebens, das in den psychischen Vor-
gängen der Neurotiker den Beobachter immer wieder in
Erstaunen setzt, wird auch im Straf bedürfhis nachweisbar.
Wenn wir einige der unbewußten Selbstbestrafungen der
Nervösen überblicken, gelangen wir zu befremdenden Straf-
arten, welche die moderne Strafgesetzgebung nicht kennt;
Kastration, Lebendigbegraben werden, Eingemauertwerden,
Ersticken, Fesselung und verschiedene qualvolle Todesstrafen
gehören hieher. Die körperlichen Sensationen dienen oft zur
Darstellung verschiedener Torturen; ein Patient verglich seinen
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfhis. ]0
146 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
Zustand selbst mit der zur Kontinuität gewordenen Situation
des Königsmörders Ravaillac, der von Pferden zerrissen
wurde. Der Vater des Patienten hatte wirklich mit Pferde-
zucht zu tun. Wir sehen also, das Unbewußte, das seine
eigenen Gesetze hat, verfügt auch über Strafen, die aus der
Kindheit der Menschheit stammen. Wir erinnern uns da zur
rechten Zeit, daß die Strafe selbst keine primäre, soziale
Institution ist und auf die ursprünglichere Rache zurück-
geführt wird. Es mag hier die Bemerkung am Platze sein,
daß auch die Rachephantasien der Neurotiker selbst deutlich
archaischen Charakter haben, der auch in der Lockerheit der
Objekte, gegen welche sich die Racheaktionen richten, deutlich
wird, wie dies Rank gezeigt hat.
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, nachzuweisen, wieviel
noch von diesen Anschauungen im Strafgesetz unserer Zeit
nachwirkt und wieviele Rechtsgrundsätze sich auf das Talions-
prinzip zurückführen lassen. Es bleibt dies eine lohnende
Aufgabe für die Juristen, die dabei am besten von der Unter-
suchung des Grundsatzes: fiat justitia, pereat mundus aus-
gehen könnten.
Wir sind zu bestimmten Gesichtspunkten gelangt, die uns
die Strafe selbst als psychologisches Problem erscheinen lassen ;
es ergibt sich von hier die Möglichkeit für die Analyse, in
dem Streit der Strafrechtstheorien ihre Stimme abzugeben.
Unter einer Sträfrechtstheorie versteht man die Beantwor-
tung der Frage nach dem Rechtsgrund und dem Zweck der
Strafe. Wir können wieder nicht in die Diskussion aller
Strafrechtstheorien eingehen und wollen nur betonen, daß
die Strafe dazu da ist, wichtige Lebensinteressen der Menschen
zu schützen und eine bestimmte seelische Wirkung auf den
Verbrecher auszuüben.
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie
147
Daraus aber ergibt sich, daß jede Strafrechtstheorie unvoll-
ständig und unzulänglich ist, die nicht auf psychologischer
Grundlage ruht. Der Strafzweck ist vor allem ein psycho-
logischer, gleichgültig, ob die Strafe auf den Verbrecher oder
auf die Gemeinschaft wirken soll, gleichgültig, ob der Straf-
zweck in Schutz, Abschreckung, Vergeltung oder sonstwo
gesucht wird. Hier hat also die Psychologie mitzuentscheiden.
Glauben Sie nicht, daß eine solche Mahnung unzeitgemäß
ist! Soll ich Ihnen eine berühmte Strafrechtstheorie, die sich
noch immer bei manchen Gelehrten einer gewissen Beliebt-
heit erfreut, als abschreckendes Beispiel anführen? Nach Hegel
ist die Strafe die dialektische Verwirklichung des Rechts-
begriffes; das Verbrechen steht im Widerspruch mit sich selbst
und ist daher nichtig. Es ist Schein und das Wesen dieses
Scheines ist, daß er sich selbst aufhebt. Die Strafe ist die
Offenbarung der Nichtigkeit des Verbrechens, die Konsta-
tierung seiner Scheinexistenz. Die Quintessenz der Heg ei-
schen Strafrechtstheorie ist klar und anschaulich in dem
Satze zusammengefaßt: die Strafe ist Negation der Negation
des Rechtes, mithin Position, Wiederherstellung des Rechtes.
Niemand von uns wird es wagen, den Hegelianern unter
den Strafrechtslehrern ihre dialektischen Fähigkeiten abzu-
sprechen.
Wenn wir uns nun ernster zu nehmenden Theorien
zuwenden, so wird die ältere, heute bereits überwundene
Theorie der rechtlichen Vergeltung noch immer die Auf-
merksamkeit des Psychologen auf sich ziehen. Die Vergeltung
ist ihr zufolge das oberste Prinzip des Strafrechtes. Das
Strafgesetz ist nach der Ansicht von Kant, des berühmtesten
Anwaltes der Vergeltungstheorie, ein kategorischer Imperativ.
Wer tötet, tötet sich selbst. Das Maßprinzip des Strafrechtes
10*
148 Geständniszwang und Straf bedürfnis
ist also die Talion. Wir wissen schon, was diese Anschauung
psychologisch bedeutet: sie ist die in eine Straftheorie ver-
wandelte Darstellung der tief wurzelnden Gesetzgebung des
Unbewußten. Hierher gehören auch alle Theorien, welche
die Strafe auf den Rachetrieb als eine Äußerung des Selbst-
erhaltungstriebes zurückführen. Auch die Vergütungs- und
Ersatztheorien, welche die Ausgleichs wirkung der Strafe
betonen, sowie die Vertragstheorien kann man leicht als
intellektualisierte oder dem Kulturfortschritt angepaßte Ab-
kömmlinge der alten Vergeltungstheorie erkennen.
Wir haben gesehen, daß diese Theorien tief im Triebhaften,
Unbewußten der Menschen wurzeln. Wenn Strafe sein muß,
wenn sie wirklichen Strafcharakter haben soll, so kann sie
sich triebgemäß nur auf das Talionsprinzip stützen. Die
Vergeltungstheorie hat also den Vorzug der Geschlossenheit
und der psychologischen Folgerichtigkeit, sie widerspricht
aber allen Fortschritten der Kultur und Humanität, Die
Vergeltung als Strafzweck ist einfach eine Triebdarstellung
als Theorie.
Von diesen Theorien unterscheiden sich die Präventions-
theorien in wesentlicher Art. Die Generalpräventionstheorien
erklären, die Strafe strebe die Abschreckung aller durch die
Strafdrohung an. Die berühmte Theorie des psychischen
Zwanges von Feuerbach, die Jahrzehnte hindurch die
Gesetzgebung beherrschte, gehört hierher: sie stellt die Straf-
drohung und den Strafvollzug als den psychischen Zwang
auf, der die Verbrecher abhalten solle. Die Spezialpräventions-
theorien Werden im wesentlichen die Abschreckung des ein-
zelnen konkreten Verbrechers zum Ziele haben.
Lassen Sie uns bei diesen Theorien einige Augenblicke
verweilen. Es wird uns sofort klar, daß der Strafe: hier ein
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie
149
neuer psychologischer Zweck zuerkannt wird. Auch ein
zweites Moment fällt hier auf: die Rolle der Gesellschaft,
der Gemeinschaft, auf welche die Strafdrohung abschreckend
wirken soll. Wenden wir uns zuerst diesem Moment zu:
man hat aus ihm den Einwand abgeleitet, es sei absurd,
daß die Strafe nicht auf den Verbrecher, sondern auf einen
Dritten oder auf die Gesellschaft wirken solle. Der Einwand
ist natürlich berechtigt, solange man die Strafe nur als
Prävention in der Richtung gegen die Gesellschaft auffaßt.
Aber kommt hier nicht deutlich die Doppelfunktion, die
man der Strafe zugeschrieben hat, zutage? Hier wird das
Janushaupt der Strafe sichtbar; es ist sowohl dem Verbrecher als
auch der Gesellschaft zugewendet. Wenn wir es gut überlegen,
sieht es aus, als habe sich die Generalpräventionstheorie mit
der sozialen Aufgabe, die Spezialpräventionstheorie mit der
individuellen beschäftigt, aber erst beide zusammen bilden
ein Ganzes. In der Vergeltungstheorie war der Strafzweck
eindeutig; er galt dem Verbrecher allein und war eine
Vergeltung für eine begangene Tat, für ein Verbrechen, das
der Vergangenheit angehörte. In den Präventionstheorien
liegt der Zweck der Strafe in der Zukunft: er soll in der
künftigen Abschreckung bestehen. Was soll es bedeuten,
daß die Gemeinschaft hier in der Begründung des Straf-
zweckes erscheint? Verliert damit die Strafe nicht ihren
eigentlichen Charakter und wird zu einer Präventivmaßregel?
Ich meine, der angeführte Strafzweck der Abschreckung
aller vom Verbrechen weist deutlich genug in die Richtung,
in der wir die Gründe für das Auftreten der Gesellschaft
im Strafzwecke zu suchen haben. Es kann nur so sein, daß
die Menschen vorbewußt erkannten, daß keine tiefe Kluft
sie vom Verbrechen trennt, daß wir latent alle Keime zum
15° Geständniszwang und Straf bedürfnis
Verbrecher in uns tragen. Das muß das eigentlich wirksame
Motiv für die Änderung des Strafzweckes bilden. Das heißt
aber mit anderen Worten, daß die Gemeinschaft ihren Teil
der Schuld am Verbrechen zu erkennen beginnt. Wenden
wir uns nun der Wirkung auf den Verbrecher zu, die in
den Spezialpräventionstheorien erscheint. Es ist klar, daß
hier die angeführten Momente in gleichem Maße gelten:
die Strafe ist aus einer Vergeltungsmaßregel eine Schutz-
maßregel geworden. Hat sie damit nicht aufgehört, Strafe
zu sein? Die Kriminalisten geben meistens die nur relative
Wirksamkeit dieser Maßregel zu, ja manche Fachleute
versichern sogar, die Strafe verbessere die Verbrecher nicht
und schrecke sie nicht ab. Man hat einen anderen gewich-
tigen Einwand gegen die Präventionstheorie formuliert: die
Strafe kann nicht abschrecken, denn die meisten Verbrechen
werden in der Hoffnung der Verheimlichung, also der Straf-
losigkeit begangen. Das Argument ist sicher für das bewußte
Seelenleben berechtigt, aber wir werden seine Schlagkraft
nicht so hoch einschätzen, wie es gewöhnlich geschieht,
weil das Unbewußte nach unseren Annahmen solche Vorsicht
nicht kennt; die Realitätsprüfung gehört ja zu den Aufgaben
des Ichs.
Wenn Sie sich nun die Sachlage überlegen, so werden
Sie erkennen, daß wir uns in einer merkwürdigen Situation
befinden. Wir mußten der Vergeltungstheorie zugeben, daß
sie in Übereinstimmung mit den mächtigen unbewußten
Vorstellungen der Menschen steht. Die Schutztheorie aber
sagt unseren bewußten Begriffen mehr zu. Sie verwischt
freilich den Charakter der Strafe und verwandelt sie in eine
Schutzmaßregel der gefährdeten Gesellschaftsordnung; vielleicht
bezeichnet sie nur ein Übergangsstadium, das die Strafe durch
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie 151
andere bessere Schutzmaßregeln ersetzt. Es bleibt uns nur
übrig, eine neue Grundlage der Strafe zu suchen: ihre Vor-
aussetzung wird sein, daß sie aus lebendiger Menschen-
beobachtung und -kenntnis stammt und die neuen Ergebnisse
der psychologischen Forschung benützt. Diese Theorie ist
durch die analytischen Resultate Freuds vorbereitet. Wir
können uns hier nur auf ihre Grundzüge beschränken. Die
neue psychologische Fundierung des Strafzweckes wird von
der analytischen Erforschung des präexistenten Schuldgefühles,
die wir Freud verdanken, ausgehen. Es besteht für uns
kein Zweifel mehr, daß bei den Verbrechern, für welche
die Strafgesetzgebung eigentlich bestimmt ist, ein mächtiges
unbewußtes Schuldgefühl bereits vor der Tat bestand. Dieses
Schuldgefühl ist also nicht Folge der Tat; es ist vielmehr
deren Motiv: seine Steigerung läßt den Menschen eigentlich
erst zum Verbrecher werden. Das Verbrechen wird als eine
psychische Erleichterung empfunden, weil es das unbewußte
Schuldgefühl an etwas Reales und Aktuelles knüpfen kann.
Die Tat dient der Unterbringung dieses übergroß gewordenen
Schuldgefühles. Anders ausgedrückt: das Verbrechen wird
begangen, um den verpönten Triebregungen eine Ersatz-
befriedigung zu gewähren und das unbewußte Schuldgefühl
zu begründen und zu entlasten.
Aus diesen Forschungsergebnissen Freuds ergibt sich
eine neue psychologische Fundierung der Strafe, eine psycho-
analytische Strafrechtstheorie: die Strafe dient der
Befriedigung des unbewußten Strafbedürf-
nisses, das zu einer verbotenen Tat trieb. Wir
wissen, daß die Wurzeln dieses präexistenten Schuldgefühles
im Ödipuskomplex zu suchen sind. Wir tragen dann der
Doppelfunktion der Strafe Rechnung, wenn wir hinzufügen,
15 2 Geständniszwang und Straf bedurfnis
die Strafe befriedige auch das Strafbedürfnis
der Gesellschaft durch deren unbewußte Iden-
tifizierung mit dem Verbrecher. Diese kathartische
Wirkung der Strafe sowie der Identifizierungsprozeß lassen
so wirklich die seelischen Vorgänge im Strafprozeß in die
Nähe der antiken Tragödie rücken: die tragische Schuld des
Helden und sein Untergang lösen dieselben Gefühle aus.
Es sei übrigens angemerkt, daß die psychologische Theorie
von Kohl er, die sich auf die läuternde Macht des
Schmerzes beruft, der hier vertretenen Ansicht am nächsten
steht, sich von ihr aber noch immer sehr wesentlich unter-
scheidet. Wie immer die analytische Theorie von der Straf-
rechtswissenschaft aufgenommen werden wird, die bisher
unbeachtete, von Freud entdeckte Tatsache, daß das
präexistente Schuldgefühl zur verbotenen Tat drängt, wird
in der künftigen Diskussion des Strafzweckes die zentrale
Stellung einnehmen müssen. Wenn irgendwo, so ist hier
der Ort, vom Rechte, das mit uns geboren, zu reden.
Wir wollen es nicht verabsäumen, der analytischen Theorie
der Strafe einige Bemerkungen hinzuzufügen: vor allem
wollen wir betonen, daß mit ihr nichts über die dauernde
oder auch nur zeitweilige Notwendigkeit der Strafe, nichts
zu ihrer Rechtfertigung als Institution gesagt werden soll.
Die Existenz des Straf bedürfnisses ist unzweifelhaft, aber es
kann nicht bewiesen werden, daß die gerichtliche Strafe
das einzige oder auch nur das adäquate Mittel zu seiner
Befriedigung darstellt. Es ließen sich prophylaktische Maß-
nahmen denken, die das Überstarkwerden des Strafbedürf-
nisses hintanhalten könnten, und es wären therapeutische
Mittel möglich, welche den Abbau dieses Bedürfnisses auf
andere Art herbeiführen. So gibt die analytische Strafrechts-
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie 153
theorie nur eine psychologische Erklärung der Strafe, keine
Norm. Sie ist eigentlich in der Entwicklung des Strafrechtes
selbst vorbereitet: dieses hat sich immer mehr und mehr
von der Beurteilung der Tat zur Beurteilung ihrer Motive
gewendet. Der Übergang zur Bestrafung der Motive macht
aber eine Veränderung in den Motiven der Bestrafung zur
Notwendigkeit.
Es ist sofort ersichtlich, welche psychologische Verbin-
dungen unsere dargestellte Anschauung mit der alten Ver-
geltungstheorie hat, indem sie nicht nur die bewußten
Tendenzen als bestimmend für den Strafzweck anerkennt,
sondern auch die unbewußten Vorgänge berücksichtigt. Sie
unterscheidet sich von ihr, die nichts als eine wissenschaft-
lich formulierte Darstellung der Tendenzen des Unbewußten
war, dadurch, daß sie nicht die Talion selbst, sondern das
ihr zugrunde liegende Strafbedürfnis in ihren Mittelpunkt
stellt. Sie gründet sich nicht wie die Vergeltungstheorie auf
ein moralisches oder rechtliches Prinzip, nicht auf eine
ethische Norm, sondern auf die psychischen Tatsachen, aus
denen sich diese ableiten. So berücksichtigt sie zwar die
unbewußten Vorgänge, aber zu psychologischen Zwecken,
und gibt sich ihnen nicht gefangen, wird nicht ihr gefügiger
Ausdruck.
Wir erkennen in der alten Vergeltungstheorie in moderner
Einkleidung die alte Tabugesetzgebung der Wilden wieder,
die automatisch nach dem Talionsprinzip wirkt. Aber das
Tabugesetz ist selbst ein unbewußtes Geständnis der Gemein-
schaft. Sie zeigt darin, daß sie dieselben Regungen wie der
Verbrecher verspüre und sich deshalb von ihm befreie 5 sie
gibt, wie Freud in „Totem und Tabu" bemerkt, durch die
Strafe den Vollstreckern nicht selten Gelegenheit, unter der
,!
'
154 Geständniszwang und Straf bedarf nis
Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat nun ihrerseits
zu begehen. Dasselbe gilt von den Präventionstheorien: in
ihnen erscheint die Infektionsfähigkeit der Tabuübertretung
noch klarer und unzweideutiger, da sie der Abschreckung
dienen. In ihnen liegt das stärkste Bekenntnis dessen, daß die
Lust, das Tabuverbot, jetzt die Satzungen des bürgerlichen
Gesetzbuches, zu übertreten, in unserem Unbewußten fortlebt
und die Menschen, die dem Tabu oder dem Gesetz folgen,
eine ambivalente Einstellung gegen die vom Tabu Betroffenen,
wir würden sagen, zum Verbrecher haben. Die Strafrechts-
theorie greift so in der Abschreckungshypothese der Strafe
auf die uralte Annahme der Zauberkraft, die dem Tabu
zugeschrieben wird, zurück. Sie gibt darin zu, daß das Ver-
brechen, der Ersatz für die Tabuübertretung, als Beispiel
ansteckend sei und sucht sich durch Drohungen dagegen zu
schützen. Sie sehen, der Unterschied zwischen Vergeltungs-
und Schutztheorie ist doch nicht so groß, als wir anfäng-
lich annahmen. Unsere analytische Strafrechtstheorie geht
auf die unbewußten Motive der Tabugesetzgebung selbst,
zurück.
Wir können auch leicht einsehen, wo die Schwächen der
Abschreckungstheorie liegen. Sie können kaum durch den
Hinweis auf das bewußte Streben nach Straflosigkeit, das
beim Verbrechen hervortritt, aufgedeckt werden. Denn wenn
unsere Theorie richtig ist, wirkt diesem Streben das unbe-
wußte Straf bedürfnis energisch entgegen. Aber eine andere
Überlegung zeigt gerade bei Berücksichtigung der analyti-
schen Gesichtspunkte den tieferliegenden Fehler der Prä-
ventionstheorie: die Strafe, die nach der geltenden An-
schauung als wirksamstes Abschreckungsmittel des Verbrechens
angesehen wird, wird unter bestimmten Bedingungen, die
-
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie 155
in unserer Kultur außerordentlich häufig sind, zum unbe-
wußten und gefährlichsten Reiz dazu. Die verbotene Tat
entlastet ja ein überstarkes Schuldgefühl. Wir sehen so, daß
die Abschreckungstheorie im Kern unaufrichtig ist: die Aus-
sicht auf Strafe schreckt den Verbrecher nicht ab, sondern
treibt ihn unbewußt gerade zur verbotenen Tat. Die analy-
tische Theorie mag die Strafe noch immer nicht recht-
fertigen, aber sie gibt sich aufrichtig, wenn sie erklärt, der
Strafzweck sei die Befriedigung des Strafbedürfnisses des
Täters: ihm geschehe, was er unbewußt begehrt. Sie wird
freilich für Verbrecher, die keine moralischen Hemmungen
entwickelt haben, nicht in Betracht kommen, aber für diese
ist die Strafe überhaupt keine geeignete Maßregel, am
wenigsten eine der Abschreckung.
Wir haben früher bemerkt, daß die Abschreckungs- sowie
die ihr verwandten Theorien den Strafcharakter in der Strafe
vermissen lassen. Sie streben alle, ohne es zu wissen, in die
Richtung einer Entwicklung, die zur Abschaffung der Strafe
überhaupt führt und an ihrer Stelle vorbeugende oder pro-
phylaktische Maßregeln setzen will. Wir haben schon betont,
daß die Bedeutung, welche die neueren Theorien der Gesell-
schaft im Strafzweck einräumen, eine Art Schuldbekenntnis,
ein unbewußtes Geständnis der Gemeinschaft darstellt. Die
Abschreckungshypothese hat ja deutlich die Gleichartigkeit
der verbotenen Impulse beim Verbrecher wie bei der stra-
fenden Gesellschaft zur Voraussetzung. Eine solche Erkennt-
nis zeigt aber die Richtung, in der sich das Strafrecht ent-
wickeln muß, nämlich die auf endliche Aufhebung der
Strafe überhaupt.
Wir konnten die Entwicklung der Strafgesetze studieren:
sie sind ursprünglich Tabuverbote, deren Übertretung sich
1
156 Geständniszwang und Straf bedürfnis
automatisch — meistens durch den Tod des Schuldigen —
bestraft. Nur wo diese automatische Strafe nicht eintritt,
vollzieht der Stamm kollektiv die Bestrafung. Der Staat, der
später an die Stelle der Stammesgemeinschaft getreten ist,
bestraft den Verbrecher ursprünglich nach dem geheiligten
Prinzip der Talion. Die Abmilderung der Strafe im Straf-
gesetz sowie die Erweiterung der Grenzen des Zulässigen
legen ebenso deutlich wie die neuen Strafrechtstheorien für
eine stärker werdende Tendenz zur Abschaffung der Strafe
Zeugnis ab. Das will freilich nur bedeuten, der äußeren,
durch das Gesetz vorgeschriebenen Strafe; es liegt in dieser
Tendenz, die Hemmungen des Individuums zu verstärken
und ihn dem eigenen Gewissen zu überlassen. Dieses Ziel
wäre eine Rückkehr zur ursprünglichen Tabugesetzgebung,
freilich auf einer höheren Stufe: die äußeren Verbote der
Tabugesetzgebung, die sich gegen starke Impulse richteten,
sollen innerer Erwerb werden, der zur Verwerfung dieser
Regungen führt. Die Entwicklung verfolgt auch hier die
Richtung von außen nach innen.
Auch unsere analytische Strafrechtstheorie steht im Dienste
dieser psychischen Entwicklung. Sie verlegt ja das Schwer-
gewicht auf die unbewußten Triebkräfte, die den Verbrecher
zur Tat drängten. Damit wird der provisorische Charakter
unserer Theorie evident; sie kann nur solange gelten, als
das überstarke präexistente Strafbedürfnis gerade nur zur
verbotenen Tat führen muß. Die Menschheit wird nun
dieses Schuldgefühl lange noch nicht verlieren, aber es wäre
möglich, daß es andere Abfuhrmöglichkeiten erhält. Damit
wäre eine der stärksten Triebkräfte des Verbrechens zwar
noch immer nicht beseitigt, aber einer anderen Verwendung
zugeführt.
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie 157
Es gibt einige Forscher, die schon jetzt behaupten, daß
mit dem strengen Determinismus der neuen Naturwissen-
schaft auch die Grundlage des Strafrechtes zusammen-
gebrochen sei. Sie erklären, die Basis des ganzen Strafrechts-
systems, die Lehre von der Willensfreiheit, sei erschüttert
und prophezeien, daß die Begriffe von Schuld und Unschuld
vom Angesicht der Erde verschwinden werden und die
irdische Strafe ihnen folgen müsse. Mutige und aufrichtige
Gelehrte wie Dimitrij Drill üben radikale Kritik an der
sozialen Institution der Strafe selbst und vergleichen den
Staat, der das heutige Strafsystem handhabt, mit einem
Menschen, der Beschädigungen an einer Maschine durch
neue Beschädigungen gutmachen will. In der Strafrechts-
wissenschaft ist eine wachsende Tendenz bemerkbar, das
Verbrechen nicht nur nach seiner Bedeutung als mit Straf-
folge ausgestattete Tatsache, sondern auch als wichtige
Erscheinung des sozialen Lebens zu betrachten und zu stu-
dieren. Der Fortschritt der Kriminalpolitik, die sich mit der
Erforschung der individuellen wie kollektiven Faktoren des
Verbrechens beschäftigt, sowie die von den Kriminalisten
verlangte Verschiebung der Grenzen zwischen Strafrechts-
wissenschaft und Kriminalpolitik sind Zeichen jener Ent-
wicklungsrichtung.
Es werden gewiß außerordentlich einschneidende, soziale
Änderungen eintreten müssen, ehe eine solche Ersetzung der
Strafe durch eine andere Maßregel eintritt. Innerhalb dieser
Veränderungen wird der Geständniszwang der Gesellschaft
gewiß seine bedeutsame Bolle spielen; der wachsende Mut
zur Aufrichtigkeit über die eigenen psychischen Vorgänge,
zum Abwerfen der konventionellen Masken, die Bewußtseins-
erweiterung der Gemeinschaft kann nicht ohne Einfluß auf
158 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
die Beurteilung des Verbrechers und die Einschätzung der
Strafe bleiben.
Aber auch in dem Übergangsprozeß von der Strafe zu
einer anderen sozialen Institution wird das Geständnis eine
wichtige Funktion zu erfüllen haben. Das erkennen wir,
wenn wir seine steigende Bedeutung innerhalb der Straf-
prozeßordnung verfolgen. Die Ersetzung des Alten durch das
Neue geht meistens so vor sich, daß sich das Neue zuerst an ein
Stück Hergebrachtes anlehnt, mit ihm verlötet erscheint, um
sich dann von ihm abzulösen, seine Existenz selbständig
weiter zu führen und schließlich das Alte zu ersetzen. Wir
können eine primitive Rechtsordnung rekonstruieren, in der
das Geständnis überhaupt keinen Platz hatte: die Strafe traf
den Übeltäter, ehe er Gelegenheit zum Geständnis hatte, mit
der Schärfe des Schwertes. Als das Geständnis Berücksichtigung
fand, war es noch immer aufs innigste mit der Strafe
verbunden, wie wir das im äußeren Geständniszwang, der
Folter des Mittelalters, sehen. Die Milderung des Urteils durch
das Geständnis sowie dessen besondere Stellung im Straf-
prozeß leiten zu einer Entwicklungsperiode über, in der sich
das Geständnis vielleicht isoliert erhält und schließlich selbst
an die Stelle der Strafe treten kann. Natürlich würde das
Geständnis insbesondere als die wirksamste Prophylaxe des
Verbrechens Bedeutung gewinnen, da es die mildeste Art
der Befriedigung des Strafbedürfnisses darstellt, die zugleich
den unterdrückten Triebregungen eine Ausdrucksmöglichkeit
gewährt. Wir bemerken hier, daß der unbewußte Geständnis-
zwang auch auf kriminalistischem Gebiete noch bedeutsame
psychologische Verwertungen finden kann.
Alles das ist freilich Zukunftsmusik. Es ist lediglich eine
Frage des Optimismus oder Pessimismus, ob Sie sich dem
Die psychoanalytische Strafrechtstheorie 159
Glauben hingeben können, daß eine sehr ferne Zeit, die milde
auf dies Heute blicken wird, die Strafe abschaffen wird.
Vielleicht wird wirklich eine solche Zeit kommen, deren
Strafbedürfnis geringer ist als das unserer Gegenwart, und
die Mittel, die sie zur Verhütung des Verbrechens findet,
werden sich zur Strafe verhalten wie der Regenbogen zu
dem vorangehenden, verheerenden Gewitter. Aber vielleicht
gehört dies in das Reich der Utopie. Ich könnte Ihnen auch
nicht ernsthaft widersprechen, wenn Sie meinen, eine solche
Aussicht auf eine fernliegende Zukunft sei wenig geeignet,
die Menschen über die Unzulänglichkeit der gegenwärtigen
sozialen Einrichtungen zu trösten. Der berühmte englische
Naturforscher Thomas Henry Huxley schrieb einmal den
recht vernünftigen Satz: „Welche Kompensation für seine
Leiden hat das Eohippus (das Urpferd) in der Tatsache, daß
Millionen Jahre nach ihm einer seiner Nachkommen das
Derby gewinnen könnte?"
mm
SIEBENTE VORLESUNG
Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst
und Sprache
Meine Damen und Herren! Wir haben uns vielleicht zu
ausführlich mit den psychologischen Problemen der
Kriminalistik und der Strafrechtswissenschaft beschäftigt; ich
kann Ihnen dafür versprechen, daß ich mich bei der Klar-
legung der Bedeutung des Geständniszwanges innerhalb der
anderen sozialen Einrichtungen kürzer fassen werde.
Eine der großen Institutionen der Gemeinschaften, innerhalb
deren der Geständniszwang immer entscheidendere Siege
feiert, ist die Religion. Sie ist eine der stärksten Bollwerke,
welche die Menschheit zum Schutze und zur Abwehr der
am stürmischesten zur Befriedigung drängenden Impulse auf-
gebaut hat. Die Formen der Religionsübung und der religiösen
Lehre, Ritual und Kult, Dogmen und Mythen sind voll von
unbewußten Geständnissen der Sünde, der Auflehnung und
der revolutionären Regungen, die der von der Religion
geforderten Demut und blinden Unterwerfung widersprechen
und Zeugnis von dem erbitterten Kampf ablegen, den der
Gläubige gegen den Triebansturm führt. Von den Hymnen,
die in den babylonischen Keilinschriften gefunden wurden
und den Inschriften auf den Denksteinen, die der Aufseher
Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache 161
Nofer-Abu einer ägyptischen Göttin in Theben errichtet
hat, bis zu den religiösen Konfessionen Tolstois und Kier-
kegaards dringt ein einziges großes Geständnis zum Himmel,
der sich in ehernem Schweigen über allem Menschenleid
spannt. In der Religion bekennt sich die Menschheit selbst
in der Form der Buße und Sühne zu den unvergänglichen
Wünschen, die sie bewegen. Die Frommen gestehen in ihren
Gebeten und Anrufungen, daß sie alle Sünder sind. Auch
auf dem Gebiete der Religion gibt es Gebote und Verbote,
Strafen und Bußen, wie auf dem des Rechtes.
Auch das Phänomen des Geständnisses im Strafverfahren
findet sein Gegenstück in der Beichte des Bußsakramentes.
Die Entstehung der Beichte innerhalb der Religion ist selbst
ein starker Beweis für die Wirksamkeit des Geständnis-
zwanges, wie er sich unter den säkularen Veränderungen
des Strafbedürfnisses entwickelt hat. Ich nehme an, Sie wissen,
daß die Beichte keineswegs nur dem Christentum eigen ist,
sondern als Sündenbekenntnis schon im antiken Babylon, in
Persien, Ägypten und Palästina erscheint, daß der Buddhis-
mus eine Beichte in unserem Sinne kennt und Ansätze dazu
schon in den Religionen vieler primitiver Völker zu finden
sind. Vergessen Sie nicht, daß die Beiphte nur einen Teil des
Bußvorganges bildet. Glauben Sie nicht, daß der Vergleich
des Bußsakramentes mit einem Gerichtsverfahren meiner
Phantasie entsprungen ist; die Gläubigen selbst gebrauchen
ihn häufig. Sie lesen etwa, um ein gutes Beispiel zu zitieren,
in der „Katholischen Moraltheologie" von Professor Johann
Pruner folgenden Satz: „Das Bußsakrament ist eingesetzt
in Form eines Gerichtes und zum Gerichte gehört auch eine
Anklage. Es ist aber ein Akt der Barmherzigkeit Gottes,
daß niemand ein Recht hat,, beim Bußgerichte als Kläger
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis 11
162 Geständniszwang und Straf bedürfnis
aufzutreten, außer dem Schuldigen allein." Aber auch das
große Strafgericht am Ende der Zeiten, das vom ägyptischen
Totengericht bis zu den eschatalogischen Vorstellungen des
Christentums in den Religionen nachzuweisen ist, gehört zu
jenen religiösen Vorstellungen, die zeigen, wie nahe religiöses
Leben und Recht einander stehen.
Das religiöse Ritual zeugt durch seinen Reaktionscharakter
im allgemeinen von der Wirksamkeit verdrängter, revolutio-
närer und feindseliger Triebregungen; die Beichte aber ist
jene Einrichtung, in der sich der Geständniszwang seinen
unzweideutigsten religiösen Ausdruck geschaffen hat. Ja sogar
das zwanghafte Moment hat schließlich in der Beichtpflicht
seine Objektivierung gefunden. Auch hier erkennen wir
deutlich den inneren Zusammenhang von Geständniszwang und
Strafbedürfnis, da der Beichte regelmäßig die Buße oder Sühne
folgt. Die Beichtkinder heißen in der Sprache der Kirche
wirklich Pönitenten und überall dort, wo die Religion noch
ihre großartige Macht über die Seelen hat wie im mittel-
alterlichen Christentum, verhängt sie über den Sünder nach
der Beichte schwere und drückende Strafen. Eine gerecht-
fertigte Strenge empfiehlt die Kirche noch heute, da ihre
Mission auf Erden ihrem Ende entgegengeht, als eine über-
aus dankenswerte seelische Wohltat für das Beichtkind. Ohne
solche Strenge wäre dessen Seelenheil auf das schwerste
gefährdet. Die psychische Entlastung, welche die Beichte dem
Gläubigen gewährt, ist unbestritten und durch die psycho-
logischen Gesichtspunkte, die wir für den Geständniszwang
gezeigt haben, leicht in ihren seelischen Bedingtheiten zu
verstehen.
Auch hier läßt sich zeigen, welche Rolle die Befriedigung
des Straf bedürfnisses spielt; als Anzeichen der Verschiebung
Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache 165
von der Strafangst auf die Geständnisangst finden wir die
Angst vieler Gläubigen vor der Beichte wieder. Manche
Priester und Nervenärzte berichten von den schweren Angst-
erscheinungen vieler Gläubigen vor der Beichte. Jeder Analytiker
kennt jene Fälle von Zwangsneurose, in denen der Zweifel,
ob der Patient nicht „unwürdig" zur Beichte gegangen ist,
manifest im Vordergrund steht und die Angst, ob er nichts
verschwiegen, ob er alles gebeichtet hat, sich zu qualvoller
Intensität steigern kann. Sie sehen, daß sich auch auf
religiösem Gebiete ein überstarkes Strafbedürfnis dem
Geständniszwang widersetzt. Luther rühmt sich in seinem
Sendschreiben an die zu Frankfurt, daß er „die Gewissen
von der unerträglichen Last des bepstlichen Gesetzes erlöset
und freigemacht habe, darinnen geboten ist, alle Sünden
zu erzelen und solche Angst angerichtet wird in den
blöden Gewissen, daß sie verzweifeln, so daß also die
Beichte eine große, ewige Marter war." Die Beichtpflicht
des Katholizismus ist so dem äußeren Geständniszwang des
Mittelalters vergleichbar. Aber auch den wesentlichen Teil
der Geständnisarbeit in der Form der Gewissenserforschung
und der Reue hat die Kirche als notwendige Vorbereitung
des religiösen Geständnisses, der Beichte, zur Pflicht gemacht.
Dieser imperative Charakter der Beichte und der Gewissens-
erforschung zeigt noch deren ursprünglichen Zusammenhang
mit der Buße oder Strafe.
Vergleichen Sie die schweren Strafen, welche die Kirche
des Mittelalters dem Sünder nach der Beichte auferlegte, mit
den vom Priester der Jetztzeit vorgeschriebenen Bußen wie
etwa dem zwanzigmaligen Hersagen des Rosenkranzes, so
werden Sie diese Wandlung nicht nur mit dem Schwinden
der kirchlichen Macht hienieden erklären können, sondern
1
164 Geständniszwang und Straf bedürfnis
die Entwicklungslinie wiederfinden, die wir in der Straf-
gesetzgebung verfolgt haben. Der psychische Akzent verschiebt
sich hier wie dort von der Strafe auf das Geständnis, von
der Buße auf die Beichte. Tatsächlich zeigt ein genaueres
Studium der Kirchen- und Dogmengeschichte mit aller
wünschenswerten Deutlichkeit, daß von den drei Teilen, aus
denen das Bußsakrament des Katholizismus besteht, nämlich
Reue (contritio), Beichte (confessio) und Genugtuung (satis-
f actio), die Beichte immer wichtiger wurde. Oft fällt die
Strafe ganz weg$ die milde Ermahnung des katholischen
Priesters oder die einfache Formel, die der buddhistische Mönch
nach der Beichte dem Sünder sagt: „Nimm dich künftig in
acht!", lassen, verglichen mit den ins Leben einschneidenden
Strafen früherer Perioden, auch das vorläufige Ziel der religiösen
Bußhandlung ahnen, nämlich die Beichte an die Stelle der
Buße treten zu lassen. Die Religionswissenschaft läßt uns
aber auch in ihrer Verbindung mit den Forschungsresultaten
der Psychoanalyse die Stellung der Beichte innerhalb der
religiösen Entwicklung verstehen; von der automatisch ein-
setzenden Strafe für Verletzung eines Tabu über die Reinigungs-
zeremonien zur Kirchenstrafe und schließlich zur Beichte
geht der Weg von außen nach innen. Auch hier tritt immer
mehr das Geständnis an die Stelle der Buße. Diese Ent-
wicklungstendenz erkennt man am besten, wenn man erfährt,
daß die Kirche in ihrer Frühzeit dem Sünder die öffentliche
Beichte als Bußübung anbefohlen hat. Der moderne Prote-
stantismus setzt wirklich die Auseinandersetzung mit dem
eigenen Gewissen an die Stelle der äußerlichen Beichte und
bereitet so unbewußt die künftige Entwicklung vor, welche
über die Beichte selbst hinausgehen und die Religion durch
andere Institutionen ersetzen wird.
Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache 1 65
Wir haben im Strafrecht eine wachsende Tendenz kon-
statieren können, die Bestrafung mehr den Motiven als der
Tat zuzuwenden. Eine analoge Erscheinung ergibt sich aus
der Geschichte der Beichtpraxis; noch unter Leo dem Großen,
im fünften Jahrhundert, bezog sich die Beichte nur auf schwere
Sünden, welche der Pönitent begangen hatte; jetzt auch auf
sündhafte Zustände und Gedankensünden.
Wie das Geständnis vor Gericht, wird auch die Beichte
als Milderungsgrund, als Grundlage der Verzeihung der
beleidigten Gottheit angesehen. „Ego te absolvo", sagt der
Priester und hat damit nicht nur erklärt, daß er den Besserüngs-
willen des Pönitenten erkannt hat, sondern daß dieser wirklich
nun „freigesprochen", von der Schuld losgesprochen wird.
Wir haben gesehen, daß der Vorgang der Analyse, die man
so oft mit der Beichte verglichen hat, ohne die Unterschiede
sehen zu wollen, zum großen Teil dadurch befreiend wirkt,
daß die verdrängten Triebe erkannt und gerade dem gezeigt
werden, gegen den sie gerichtet waren. Ein wesentliches
Stück dieses psychischen Prozesses, der freilich unbewußt
bleibt, finden Sie in religiöser Form in der Beichte wieder,
denn die Sünde ist ein Vergehen gegen Gott und ihm oder
seinem irdischen Stellvertreter werden die Sünden bekannt.
Ich brauche Ihnen, die die Analyse kennen, ja nicht aus-
einanderzusetzen, welche einschneidenden Differenzen den
Vergleich zwischen Beichte und Analyse als ungerechtfertigt
erscheinen lassen. Ich habe in einer vorbereiteten Arbeit ver-
sucht, diese Unterschiede darzustellen und ihre psychologische
Bedeutung zu würdigen. Der Priester weiß ebensogut oder
vielmehr ebensoschlecht wie der Richter, warum er soviel
Wert auf die Ablegung des Geständnisses legt. Der Beichtende
gibt dadurch seine isolierte Stellung auf; er ersetzt sein
i66 Geständniszwang und Straf bedürfnis
unbewußtes Schuldgefühl durch ein vorbewußtes; nur die
Analyse gewährt auch die Verwandlung des vorbewußten
Schuldgefühles in ein bewußtes.
Auch das Moment der verborgenen Liebeswerbung in der
Beichte oder im Sündenbekenntnis und in der „offenen
Schuld", wie es Luther nannte, werden Sie nicht vermissen.
Die Gläubigen zeigen ja Gott: Sieh, wie schwach, wie der
Sünde ergeben wir sind, verzeih' uns und liebe uns trotzdem, wie
ein Vater auch seinen schlimmen Kindern verzeiht! Ich habe
in meinen „Problemen der Religionspsychologie" an einem
Beispiel aus der Liturgie des Judentums, dem Kolnidre, diese
psychischen Mechanismen in ihren Wirkungen darzustellen
versucht. Der Sünder empfiehlt sich so in der Beichte der
Gnade Gottes wie der Verbrecher in seinem Geständnis unbe-
wußt an das Wohlwollen des Richters appelliert; die Absolution
des Pönitenten bereitet die Wiederaufnahme in die eine
Herde, von der er sich verirrt hatte, die Rückkehr des ver-
lorenen Sohnes in das Vaterhaus vor wie das Geständnis
des Verbrechers die Rückkehr in die Gemeinschaft. Tatsächlich
wurde das Sündenbekenntnis ursprünglich vor der Gemeinde
abgelegt, aus der der Sünder ausgeschlossen worden war, und
als Bedingung seines Wiedereintrittes betrachtet. Das Bild
des Vaters im Himmel, an das sich das Beichtkind wie der
Betende im Sündenbekenntnis wendet, zeugt selbst davon,
daß die Beichte ihren Ursprung auf das den irdischen Vater
abgelegte Geständnis zurückführt.
Ich wüßte einen noch gewichtigeren Beweis für die wach-
sende Bedeutung des Geständnisses in der religiösen Entwick-
lung anzuführen: ist es Ihnen noch nie aufgefallen, daß die
Religion selbst sich vom Kult der Götter zum Bekenntnis
zu ihnen entwickelt hat? Es muß doch einen Sinn haben,
Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache i 67
daß wir jetzt so häufig statt Religion Konfession sagen, von
der Religion als von einem Glaubensbekenntnis sprechen,
nicht wahr? Wenn wir die Religionszugehörigkeit eines
Menschen bezeichnen wollen, sagen wir z. B., er bekenne sich
zur katholischen Religion oder er sei israelitischer Konfession.
Ich weiß schon, daß man einen Unterschied zwischen Religion
und Konfession zu machen gewöhnt ist, aber gerade das
weist darauf hin, daß die Bezeichnungen Bekenntnis und
Konfession nicht zufällig in diesem Sinne verwendet werden.
Ist es nicht so, wie wenn die Kirche an Stelle des lebendigen
Glaubens nur das Bekenntnis, das Geständnis des Glaubens
gesetzt hat? Nun, die Theologie wird Ihnen da nur ungenügende
Aufklärung geben können. Aber wenn Sie die Geschichte
der religiösen Entwicklung unter analytischen Gesichtspunkten
studieren, werden Sie folgendes finden: das Glaubensbekenntnis,
das Credo, hat sich historisch aus der Taufformel entwickelt,
in der der Täufling ursprünglich auch das Gelübde abgelegt
hat, dem Teufel und seinen Werken zu entsagen und sich
Gott zuzuwenden, nicht mehr an die Teufel, wie die Christen
die heidnischen Götter wenig liebenswürdig nannten, sondern
an Gott zu glauben. Sie finden Spuren dieser ursprünglichen,
von der Liturgiegeschichte nachgewiesenen, später untergegan-
genen Renuntiationsformel noch im christlichen Ritual. Aber
dies heißt doch wohl das Geständnis, daß man früher dem
Teufel gedient habe. Sie vergessen auch nicht, daß der Täuf-
ling vor der Taufe eine Beichte ablegen mußte, in der er
alle seine „Teufelswerke" gestehen mußte. Die Bezeichnung
Glaubensbekenntnis ist dann nur mehr auf den positiven Teil
der Formel übergegangen, aber Sie verstehen, daß es die
Beichte der eigenen Sünder war, die in dieser Bezeichnung
nachklingt. Siesehen, daß sich hier der Geständniszwang auf
168 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
den Glaubensinhalt verschoben hat, also auf das Gebiet des
Denkens übergegriffen hat. Der Glaube an die Dogmen ist
nun Objekt des Geständniszwanges geworden, eine Periode,
die jede Religion in ihren Endprozessen erlebt. Der Prote-
stantismus hat sich auch gegen diesen von ihm „Bekenntnis-
zwang" genannten Begriff erhoben und damit die Auflösung
der Religion in Europa weiter gefördert.
Der moderne Protestantismus will nichts von diesem äußeren
Bekenntniszwange wissen und stellt auch die Glaubenspro-
zesse unter die Entscheidung der inneren Faktoren. Die Ent-
wicklung des Glaubensbekenntnisses aus der Beichte stellt
uns also ein Beispiel der Verlegung des Geständniszwanges
auf das Gebiet der Denkvorgänge dar. Die alten Glaubens-
bekenntnisse, wie sie auf den großen kirchlichen Synoden
formuliert wurden, enthalten noch immer die Zurückweisung
der ketzerischen Glaubensinhalte mit der Formel „Anathema
sit". Sie erweisen auch hier ihre Abkunft aus der Verur-
teilung der eigenen Sünde des Zweifels und der Ketzerei.
Das Gegenstück zu der religiösen Erscheinung des ketzerischen
Glaubensbekenntnisses, dessen letzte, manifeste Form nicht mehr
das Geständnis, sondern nur mehr eine positive Aussage enthält,
finden Sie in der Beichte wieder, die der antike Ägypter
vor den 42 Totenrichtern abzulegen hat. In der Halle der zwei
Wahrheiten hat der Tote vor Osiris als Gerichtsherr eine
Art Beichtlitanei vorzutragen, die sich im 125. Kapitel
des Totenbuches findet und mit den Worten beginnt: „O
Weitschreitender, der aus Heliopolis kommt, ich habe keine
Sünde getan. O Feuerumarmer, der aus Tura kommt, ich
habe nicht geraubt. Langnasiger, der aus Schmun kommt,
ich habe nicht gestohlen." Das Sündenregister zählt alle
Sündenmöglichkeiten auf sozialem wie persönlichem Gebiete
Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache 169
auf, ähnlich wie die Beichtlitanei in den babylonischen
Sühneriten.
Man hat diese Art Beichte als „Unschuldsbeichte" oder
„confession negative" bezeichnet. Die Analyse zeigt uns viele
solche Fälle von negativem unbewußtem Geständnis. Nur ein
Beispiel: eine Patientin, welche die Analyse wegen zwangs-
neurotischer Symptome aufsucht, beginnt in der ersten Stunde
mit der Beteuerung, daß sie eine anständige Frau sei, sie
habe sich in sexueller Hinsicht nie etwas zuschulden kommen
lassen, ihrem verstorbenen Manne nie die Treue gebrochen,
nie Versuchungen nachgegeben usw. Dann geht sie zur
Erzählung ihrer „unsinnigen" Zwangszweifel über: sie werde
von Zweifeln gequält, ob der Rauchfangkehrer, der Zimmer-
maler, der Bäckerbursch, als sie zufällig in ihrem Hause
waren, sie nicht angestoßen oder berührt haben. Sie trage
nur zum Zwecke der Selbstberuhigung gegen solche Zweifel
kompliziert verschlossene Reformhosen, lasse sich von einer
Freundin immer wieder versichern, daß kein Mann sie „ange-
stoßen" habe, sie müsse schließlich die Uhr und ein Blatt
Papier neben sich liegen haben, um sich in Zwischenräumen
von wenigen Minuten durch bestimmte, niedergeschriebene
Zeichen davon zu überzeugen, daß sie indessen keine Berüh-
rung von einem Manne erfahren habe usw. Wir haben
keinen Grund, ihrer „confession negative" zu mißtrauen,
aber sie schließt ein sehr positives, unbewußtes Geständnis
ein. Die Art ihrer neurotischen Zweifel und Schutzmaßregel
zwingt uns zu der Annahme, daß sie mit unbewußten sexuellen
Versuchungsphantasien verschiedener Art ringt.
In ähnlicher Art wie in der „confession negative" wird
im Glaubensbekenntnisse die psychische Betonung vom
Geständnis des sündhaften Glaubens auf das Bekenntnis des
1 7° Geständniszwang und Straf Bedürfnis
wahren Gottes verlegt. Die Tatsache dieser Verschiebung sowie
die Verwendung der Bezeichnungen Konfession und Glaubens-
bekenntnis für Religion scheinen uns selbst dafür zu sprechen,
daß das Geständnis hier in positiver Gestalt immer mehr in
den Vordergrund der Religion tritt.
Der Mythus, welcher der Religion vorangegangen war,
steht weniger im Zeichen des Geständniszwanges, ja seine
ältesten Gestaltungen werden überhaupt frei von dessen
Einwirkung sein. Sie fallen ja in eine Zeit, wo die Verdrängung
der Triebregungen sowie das Strafbedürfnis noch in ihren
Anfängen stehen, und so kann sich der Mythus erlauben,
Triebregungen, die später unterdrückt wurden, sich frei äußern
zu lassen. Aber die Versagung war bereits vorhanden und
wirksam: der erste Mythus ging ja nach Freud von dem
Einzelnen aus, der sich von der Masse losgelöst hatte und
in der Phantasie die Realität im Sinne seiner Wünsche
umgeformt, sich in die Rolle des Vaters versetzt hatte. Mit
der Konsolidierung des Über-Ichs und der Steigerung des
Strafbedürfnisses unter den Einflüssen des Schuldgefühles
und der Vatersehnsucht wird auch der Mythus umgestaltet:
neben dem gewaltigen Leitmotiv der Wunschdurchsetzung
erscheinen nun crescendo die Untertöne der Reue und des
Wunsches nach Rückgängigmachung der Tat. Der Heros-
mythus wird zum religiösen: er weist die Anzeichen jener
Umformungen auf, die seinen primären Sinn durch Entstellungen,
Verschiebungen und Verdichtungen undurchsichtig gestalten
und eine Reduktion auf seinen latenten Inhalt durch die
Psychoanalyse notwendig machen. Sein Charakter als Darstellung
der Wunscherfüllung als Säkulartraum der jungen Mensch-
heit bleibt erhalten, aber daneben tritt auch die Wunsch-
erfüllung des auf jene Tendenzen reagierenden Straf bedürfnisses
Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache 171
in seine Gestaltung ein: der junge siegreiche Held, Gott oder
göttliche Heros, erleidet ein tragisches Schicksal. Ödipus erfüllt
die stärksten Wünsche der Kindheit, er tötet den Vater und
heiratet die Mutter, aber die Strafe folgt der Tat. So wird
im Laufe der vom säkularen Verdrängungsfortschritt bestimmten
Entwicklung auch dem Mythus endlich das Zeichen des
Geständniszwanges aufgeprägt; die Menschheit bekennt sich
in ihm am unverhülltesten zu ihren tiefsten Impulsen.
Die Kulturgeschichte hat gezeigt, daß der Ursprung der
meisten Künste enge mit dem Mythus verknüpft ist. Auch
die Kunst, die anfänglich magischen Zwecken diente und
eine der großen Wunschkompensationen der Menschheit
darstellt, ist dem Geständniszwange nicht entzogen. Die
Dichtung, die vom egozentrischen Tagtraum ausgeht und die
Wünsche des Ichs erfüllt darstellt, wird mehr und mehr auch
zur Darstellung der diesen Wünschen widerstrebenden
seelischen Kräfte. Die Wendung von der Erzählung rein
materiellen Geschehens zur Darstellung der seelischen Vorgänge
der Personen im Drama und Roman mag selbst ein Ausdruck
dieser Gegenströmungen sein und die psychologisierende
Darstellung der modernen Dichtung zeigt bereits die Wirksamkeit
des Geständniszwanges. Die Dichter haben diesen Geständnis-
charakter ihrer Produktion seit jeher erkannt und anerkannt.
Ich brauche Sie nur an Goethe zu erinnern, der seine Werke
„Bruchstücke einer großen Konfession" genannt hat. Ibsen
hat mit noch stärkerem Akzent die Mitwirkung des Straf-
bedürfnisses in der Dichtung hervorgehoben: „ . . . Dichten
heißt Gerichtstag halten über das eigene Ich." Die Tragödie ist
ein unbewußtes Geständnis und der Beifall der Hörer wird
zum Zeichen der Aufhebung der Isolierung, zum Zeichen
der Absolution. Die Katharsis des Aristoteles beruht im
f.
1
Wesentlichen auf Befreiung von latentem Schuldgefühl. Die
psychologische Bedeutung der Geständnis lust innerhalb
der „Seligkeit des Gestaltens" und des künstlerischen Genießens
ist bisher fast unbeachtet geblieben. Der Übergang von der
direkten Charakterisierung zur indirekten in der Dichtung
steht mit der Zurückdrängung der freien Triebäußerung
und der Herrschaft des unbewußten Geständniszwanges in
intimem Zusammenhange; er spiegelt das Leben selbst wieder.
Vergleichen Sie etwa die Selbsterklärung der Personen eines
alten Dramatikers, die „Fbilä comme je ^zV-Technik der
Charakterisierung, wie sie ein Kritiker nicht unzutreffend
genannt hat, mit der Charakterisierung der Personen von
Ibsen. Auch Hjalmar Ekdal spricht gelegentlich über
seinen Charakter, aber er zeigt darin nur, wie er sich sieht,
nicht wie der Zuhörer oder Leser ihn objektiv sehen soll.
Ja die Selbstcharakteristik dient sogar der indirekten Charakter-
darstellung, sie weist auf die Differenz zwischen der Selbstbeur-
teilung und dem objektiven wirklichen Charakter hin. Wir
würden sagen, diese Äußerungen seien selbst Ausflüsse des
unbewußten Geständniszwanges, die einer analytischen Deu-
tung und Vertiefung bedürfen. Sie lächeln heute über die
ungelenke Manier primitiver Dramatiker und Erzähler, ihre
Personen sich selbst charakterisieren und ihre seelischen Vor-
gänge erklären zu lassen. Sie ziehen es vor, diesen Charakter
selbst aus den unbewußten Anzeichen in Worten und Taten
zu erkennen und die psychischen Prozesse, die in den betreffen-
den Personen vorgehen, aus knappen Andeutungen zu erraten,
ganz so wie Sie es im Leben gewöhnt sind. Auch dort
werden wir uns als Menschenbeobachter bewußte Selbst-
charakteristiken gefallen lassen, aber sie nicht für das objektive
Abbild der Person selbst halten, sondern annehmen, daß das
Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache 173
Wesentliche ihres Charakters ihr unbewußt geblieben ist
und es hinter dem Selbstzeugnis suchen. Wir benehmen uns
also im Leben ähnlich wie in der Analyse, indem wir dem
unbewußten Geständniszwang des Anderen mehr Vertrauen
schenken als seiner bewußten Selbstdarstellung. Wir werden
im Leben wie in der Dichtung in den Einzelheiten der
bewußten Selbstcharakterisierung wesentliche Züge des unbe-
wußten Charakters intuitiv fühlen oder zu erraten suchen.
Wenn wir so dem bewußten Selbstzeugnis im allgemeinen
keine Objektivität zuschreiben können und es selbst nur als
Mittel für die Erkenntnis des wirklichen Charakters verwenden,
so müssen wir doch manchmal einen Ausnahmsfall von dieser
Regel gelten lassen. Die Personen in den Werken der
großen russischen Romanciers wie Tolstois oder Dosto-
jewskis, geben z, B. in Zuständen gesteigerter Erregung
Selbstcharakteristiken, Geständnisse dessen, was sie denken
und fühlen, wozu es sie treibt und was sie hemmt, die wir
als aufrichtig ansehen und bei denen wir erkennen, daß sie
ein großes Stück Wahrheit enthalten. Aber es ist bezeichnend,
daß diese Selbstdarstellungen in ihrer oft erschreckenden,
selbstquälerischen Aufrichtigkeit meistens unter dem Drucke
des Strafbedürfnisses erfolgen, daß sie selbst eine Art Selbst-
bestrafung in Worten darstellen. Wenn aber eine Person ein
Geständnis dieser Art ablegt, gleichsam die eigene Häßlichkeit
vor allen Leuten nackt zeigt, so kann das nur einer Über-
wältigung des Ichs durch das Über-Ich entsprechen; der
moralische Masochismus ist übermächtig geworden. Wir glauben
also diesen Geständnissen, die dazu dienen, die Personen von
einem sie drückenden Schuldgefühl zu befreien; sie sagen
die Wahrheit, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Sowohl
die tiefsten Voraussetzungen als die entscheidendsten Motive
J
174 Geständniszwang und Straf bedürfnis
ihrer Geständnisse sind ihnen ebenso unbewußt wie deren
latente Bedeutung; wir sind also auch bei diesen Ausnahms-
fällen darauf angewiesen, die unbewußte Fortsetzung des
Geständnisses zu suchen und nach seinen seelischen Motiven
zu forschen, wollen wir über den Charakter und das Ver-
halten dieser Personen ins Klare kommen. Tiefer eindringende
Untersuchungen werden leicht erweisen können, wie der
unbewußte Geständniszwang auch die Entwicklung der
Malerei und Plastik sowie der Musik in ihrer Stoffwahl und
in ihrer Gestaltung bestimmt.
Ich habe bereits erwähnt, daß der Witz und der Humor
sich besonderer Techniken bedienen, um das Verdrängte —
sogar unter Lustgewinn — wieder dem Ich zuzuführen und
daß also die Produktion eines Witzes sowie unser Lachen
über ihn ebenfalls zu den unbewußten Geständnissen gehört,
da, wie Freud nachgewiesen hat, wir weder wissen, worüber
wir eigentlich lachen, noch zu welchen unterdrückten Trieb-
regungen wir uns im Witz bekennen.
Die Sprache selbst müßte uns etwas Bedeutsames über das
Wesen des Geständniszwanges zu sagen haben. Freilich würden
wir den Umkreis des Begriffes Sprache erweitern müssen,
wenn wir solche Aufklärung von ihr erwarten. Wir müßten
nicht nur den Ausdruck von Gedanken und Gefühlen in
Werten, sondern auch in Gebärden, Mienen, Besonderheiten
des Blickes und der Stimme sowie der Schrift unter dem
Begriff der Sprache verstehen dürfen. Dies ist ja das Material,
mit dem wir Analytiker arbeiten; nichts anderes mehr steht
uns zur Verfügung, um unsere wissenschaftlichen Forschungen
darauf zu bauen. Aber ist dies nicht genug? Gehen wir nur
auf die Wortsprache genauer ein. Es besteht für uns kein
Zweifel, daß die Sprache ursprünglich nur ein Mittel zur
Der Geständniszwang in Religion, My thus, Kunst und Sprache 175
Äußerung der menschlichen Bedürfnisse gewesen ist; dies
ist sie ja mehr oder minder auch geblieben. Wenn Sie in
ein fremdes Land reisen, dessen Sprache Sie nicht sprechen,
wird Ihr erstes Bemühen sein, vor allem jene Ausdrücke
sprechen und verstehen zu lernen, die sich auf Ihre persön-
lichen Wünsche und deren Befriedigung beziehen. Es ist
in erster Linie den Wirkungen der Verdrängungsmächte
zuzuschreiben, wenn die Sprache aus einem Mittel, Gedanken
auszudrücken, nach dem T all eyr and sehen Wort zum
Mittel wurde, um Gedanken zu verbergen. Da aber ihre
alte, vital bedingte Funktion erhalten blieb, ohne die Gegen-
strebungen überwältigen zu können, entwickelte sich die
Sprache zu einem Kompromißausdruck, der nun beiden
seelischen Tendenzen gerecht zu werden bemüht ist. Durch
die fallweise Einschaltung von Techniken der Andeutung,
der Verschiebung und Ersetzung, insbesondere der Abmilderung
und der Euphemismen, kann sie dieser Aufgabe genügen,
zumal wir Blicke, Gebärden und andere Ausdrucksmittel zu
ihrer Unterstützung heranziehen.
Die Sprache verfügt so mit zunehmender Differenzierung
über alle Mittel des feinen Spieles, das sich um Ausdrücken
und Verbergenwollen dreht, ja es gelingt ihr sogar der
Kunstgriff, durch das demonstrative Verbergen das auszu-
drücken, was verborgen werden soll. Hier kommen wir
schon dem unbewußten Geständnis näher; aus dem unver-
hüllten Ausdruck der Bedürfnisse ist ihr verstecktes Be-
kenntnis geworden.
Wir werden dadurch selbst auf den merkwürdigen Be-
deutungswandel hingewiesen, den Worte wie „gestehen" oder
„bekennen" in der Sprachgeschichte durchmachen; diese
Veränderung kann nicht bedeutungslos für die Begriffe
176 Geständniszwang und Straf bedürfnis
hinter den Bezeichnungen sein. Gestehen heißt ursprünglich
etwas Mit-Sicherheit-sagen, Für-das-Gesagte-einstehen. „Ihr
Herr'n gesteht, ich weiß zu leben", heißt es noch in
Goethes „Faust". Polykrates ruft dem Freunde zu: „Gestehe,
daß ich glücklich bin!" Ähnlich ergeht es mit dem Worte
„bekenne n". Es bedeutet ursprünglich bezeugen, etwas Mit-
vollem-Gewicht-sagen. „Der Zar, des Sohn ich mich
bekenne", läßt Schiller seinen Demetrius sagen. Das heißt
doch: ich gebe mich als Zarensohn zu erkennen, ich
behaupte, der Sohn des Zaren zu sein. Noch Luther
gebrauchte das Wort eindeutig in diesem alten Sinn:
„gleichwie wir in der Taufe eitel Wasser bekennen". In
diesen Wortverwendungen ist noch keineswegs jener spe-
ziellere Sinn, den wir heute mit den Worten „bekennen"
und „gestehen" ausdrücken, enthalten. Wie steht es denn mit
dem Worte „Beichte", das wir ja als Synonym für Geständnis
verwenden? Das Wort kommt von einem altdeutschen pijehan,
das einfach „reden" bedeutet; aus dem althochdeutschen pijiht
entwickelte sich ein mittelhochdeutsches begiht, bihte, das
wir in unserem modernen Worte „Beichte" wiedererkennen.
Das lateinische Wort confiteor bedeutet wie das deutsche
„bekennen" oder „gestehen" ursprünglich auch nur etwas Mit-
Nachdruck-sagen. Es ist doch eine kleine Überraschung,
die uns unser Ausflug in das sprachwissenschaftliche Gebiet
gebracht hat. Alle diese Worte, die wir für die Mitteilung
von Verbotenem, von Sünde gebrauchen, Bekennen, Gestehen,
Beichten, hatten ursprünglich den Sinn des nachdrücklichen
Sagens, des Redens überhaupt. Dieser Bedeutungswandel ist
selbst ein Zeugnis für den säkularen Verdrängungsfortschritt:
aus der Äußerung, die primär der Triebbefriedigung dienen
wollte, wurde ein Geständnis. Die speziellere Bedeutung
^ P«™^— ■ — ■■ III Hill ■ IIIIWI III | ■■■
Der Geständniszwang in Religi on, Mythus, Kunst und Sprache 1 77
durch die sprachliche Begriffsverengerung weist auf das in
der Kulturentwicklung wachsende Strafbedürfnis der Menschen
hin: das Reden überhaupt, das nachdrückliche Sagen wurde
allmählich mit dem Geständnis identifiziert. Aber ist dieser
Bedeutungswandel nicht selbst ein Beweis für den von uns
behaupteten Weg, der von der Äußerungstendenz zum
Geständniszwang führt? Wir wollen von dem, was unser
Wünschen und Sehnen ausmacht, reden, denn wenn man
nicht davon reden kann, welchen Sinn hat denn das Sprechen
sonst? Das allein kann die Bedeutung des Spruches sein:
Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Aber wenn
das Herz voll ist von unerfüllten Wünschen, deren Äußerung
verboten ist, dann schafft es sich eben unbewußt Ausdruck,
das unbewußte Geständnis. Es ist also so, als wäre das
Sprechen noch immer vornehmlich Ausdruck unserer Bedürf-
nisse und, was es zum Geständnis umformt, ist eben, daß
auch die Befriedigung des Schuldgefühles zu unseren psychi-
schen Bedürfnissen hinzugekommen ist. Wenn wir ganz
aufrichtig gegen uns sein wollen — und ich sehe nicht ein,
warum wir das nicht sein sollten — müßten wir gestehen,
daß wir eigentlich nur von dem sprechen wollen, was wir
wünschen und was uns bedrückt, und lieber schweigen
wollen, wenn uns ein überstarkes Schuldgefühl am Reden
hindert und uns nicht einmal das Geständnis unserer
Triebregungen gestattet. The rest is silence. Die extremste
Form solchen Schweigens in seiner latenten Bedeutung
haben wir beim Verbrecher konstatiert. In einer jener
kleinen Beobachtungen, die den hervorragenden Psychologen
zeigen, hat Dostojewski einmal geschildert, daß alles
Reden des Verbrechers auf das Geständnis ziele und das
Übrige falsch und nichtig klinge. Raskolnikoff sagt
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis. 12
178 Geständniszwang und Strafbedürfnis
seiner Mutter, die ihn kurze Zeit nach dem Morde besucht:
„Wir werden schon Zeit haben, uns auszusprechen." Nachdem
er dies gesagt hatte, wurde er wieder verlegen und erbleichte,
„wieder durchzog eine kurze Empfindung in toter Kälte
seine Seele, wieder wurde es ihm vollkommen klar, daß er
soeben eine furchtbare Lüge gesagt hatte, daß er nie wieder
sich aussprechen könne, daß er nie mehr, niemals mehr
und mit niemanden überhaupt sprechen dürfe." Einer
meiner Patienten, der einen wütenden Selbsthaß entwickelte,
klagte immer wieder darüber, daß er seine eigene Stimme
nicht hören könne, daß sie ihm falsch und niederträchtig
klinge, und zog es schließlich vor, wirklich lange Zeit zu
schweigen.
Aber noch wenn wir schweigen und nichts sagen wollen,
zwingen uns unbekannte Mächte zu unbewußten Geständ-
nissen. Noch unser Schweigen ist beredt und wird zur
Anklage und Selbstanklage. Es ist so, als protestiere etwas
in uns gegen den Zwang, der uns verbietet, unsere
stärksten Regungen auszusprechen, und als ob dieser Zwang
eben jenen Gegenzwang, der zum unbewußten Geständnis
drängt, erstehen lasse.
ACHTE VORLESUNG
Zur Entstehung des Gewissens
"ATeme Damen und Herren! Die analytische Theorie, welche
die Psychogenese und die Entwicklung des Straf-
bedürfnisses klargestellt hat, kann nicht ohne Einfluß auf die
Wissenschaft der Ethik bleiben. Wir sehen hier von der
normativen Ethik ab, deren Fragwürdigkeit und historische
Bedingtheit heute fast allgemein anerkannt wird; wir meinen,
die analytischen Funde lassen die Geschichte der Moral und
einige ihrer wichtigsten Probleme in einem neuen Lichte
erscheinen Und lösen Widersprüche, welche bisher unüber-
brückbar schienen. Das psychologische Problem des Gewissens
gehört hierher. Die lange Reihe von Untersuchungen über
die Natur des Gewissens lassen erkennen, wie hoch die
Bedeutung des Gewissens als psychologischen Phänomens
eingeschätzt wird. Es erscheint auch, wenn man von Mono-
graphien wie die von Paul Ree und Ebbinghaus absieht,
in jedem System der Ethik von Sokrates bis auf Paulsen
und Wundt, in der katholischen ebenso wie in der prote-
stantischen Moraltheologie.
Wir wollen von dem sprachlichen Ausdruck ausgehen,
wobei wir uns wichtige Aufschlüsse aus Wundts „Ethik"
holen. Das Wort Gewissen weist unmittelbar auf ein Mit-
wissen hin. Das Präfix Ge- ist ursprünglich mit dem
180 Geständniszwang und Straf bedarf nis
lateinischen con identisch. Gewissen ist die direkte Über-
setzung des lateinischen conscientia, das sich als Wurzel der
Bezeichnungen für Gewissen in so vielen modernen Sprachen
erhalten hat. Die „Stimme des Gewissens" verdankt nach
Wundt sicherlich einem mythologischen Gedanken ihre
Entstehung; die Sprache, welche das Wissen ein Mitwissen
nannte, hat darunter ursprünglich ein göttliches Mitwissen
verstanden. Wundt sagt wörtlich: „Der Affekt und das
Urteil, die sich mit dem Bewußtsein der Motive und Ten-
denzen des Handelnden verbinden, gelten hier nicht als
dessen eigene psychische Akte, sondern als Vorgänge, die von
einer fremden, auf sein Bewußtsein rätselhaft einwirkenden
Macht herrühren." Wie erklärt sich aber eine solche Zuer-
kennung an die Macht der Götter? Wundt meint, der
Gedanke bewege sich hier wie so oft im Zirkel. Zuerst
objektiviere der Mensch seine eigenen Gefühle und dann
suche er aus den so entstandenen Objekten wiederum seine
Gefühle zu erklären. Es ist zuzugestehen, daß die Bewußt-
seinspsychologie hier alles gesagt hat, was sie über das Thema
sagen konnte, aber das ist noch immer kläglich genug.
Ich möchte Ihnen nun gerne Gelegenheit geben, diese
Erkenntnis der alten psychologischen Betrachtung mit denen
der Psychoanalyse zu vergleichen. Günstige Umstände erlauben
es mir, dabei von einem konkreten Beispiel auszugehen, das
gleichzeitig wichtige Beziehungen zwischen den Funktionen
des Gewissens und dem Geständniszwang zeigt.
Mein Sohn Artur, dem der folgende Beitrag zur Psycho-
logie des Gewissens zuzuschreiben ist, ist jetzt acht Jahre
alt. 1 Wie mir scheint, ist er ein ziemlich normales Kind,.
i) Diese Angabe bezieht sich auf das Jahr 1925, aus dem die hier verwer-
teten Notizen stammen. Die hier folgenden Ausführungen sind im wesentlichen.
Zur Entstehung des Gewissens
181
intellektuell gut, aber nicht über den Durchschnitt begabt,
impulsiv und heiteren Temperaments, ohne besondere Nei-
gung zur Nachdenklichkeit. Er spielt lebhaft und gerne, ist
manchmal so schlimm wie andere Buben und liest nur, wenn
er muß. Zu seinen Eltern zeigt er großes Vertrauen und
unterhält sich freimütig mit ihnen. Er stellt, wie ich glaube,
ein typisches Großstadtkind einer bestimmten sozialen Schicht
ohne ausgeprägte Besonderheiten dar.
Als er mit mir einmal spazieren ging, trafen wir einen
bekannten Herrn, der sich mir anschloß und im Laufe des
Gespräches sagte, eine „innere Stimme" habe ihn von etwas
zurückgehalten. Artur fragte mich, nachdem der Herr uns
verlassen hatte, was das sei, die innere Stimme, und ich
antwortete zerstreut: „Ein Gefühl." Am nächsten Tag ent-
wickelte sich ein Gespräch, das Artur begann und das ich
wortgetreu nach der Niederschrift vom Abend desselben
Tages wiedergebe: „Papa, jetzt weiß ich schon was die innere
Stimme ist."
„Nun, sag' es!"
„Ich bin schon daraufgekommen. Die innere Stimme ist
der Gedanke von einem."
„Was für ein Gedanke?"
„No, weißt du, zum Beispiel so: manchmal gehe ich oft,
(sie) ohne den (!) Händen zu waschen, zu Tische, dann ist
so ein Gefühl, als sagte mir jemand: wasch' dir die Hände.
Und wenn ich manchmal abends mich niederlege, so spiele
ich mit dem Gambi (er hat diese Bezeichnung für Penis
seit früher Kinderzeit beibehalten) und da sagt mir die
innere Stimme: spiel nicht mit dem Gambi! Wenn ich es
in einem Artikel „Psycho-Analysis of the Unconscious Sense of Guilt" im
„International Journal of Psychoanalysis" (Oktober 1924) publiziert.
182 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
weiter mache, dann sagt mir wieder dieselbe Stimme:
spiel nicht!"
„Ist das wirklich eine Stimme?"
„Nein, es ist ja niemand da. Das Gedächtnis sagt mir's ja."
„Wieso das Gedächtnis?"
Artur zeigt lebhaft auf seinen Kopf: „No, die Gescheitheit,
das Gehirn. Wenn du zum Beispiel am vorderen Tag
(er meint, am Tage vorher) sagst: ,Wenn das Kind laufen
und fallen wird' und ich laufe den nächsten Tag, dann sagt
mir der Gedanke ,Lauf nicht!'" (Das Beispiel knüpfte an
etwas Aktuelles an: der Knabe war, nachdem er oft gewarnt
wurde, nicht so wild zu laufen, vor einigen Tagen gefallen
und hatte sich am Knie so beschädigt, daß eine eitrige
Wunde entstanden ist und er jetzt einen Verband trug. Er
hatte von den Eltern Vorwürfe wegen seines Ungehorsams
gehört.)
„Wenn du aber doch läufst?" fragte ich.
„Wenn ich aber doch gelaufen bin und falle, dann sagt
mir die Stimme: ,Hab ich dir nicht gesagt, daß du fallen
wirst?' Oder wenn ich einmal die Mama ärgere, auch wenn
ich dich ärgere, so sagt mir das Gefühl: ärgere die Mama
nicht!"
Wir wurden hier unterbrochen. Als ich einige Minuten
später wieder ins Zimmer trat, begann Artur spontan:
„Jetzt weiß ich aber, was die innere Stimme ist! Es ist
ein Gefühl von sich selbst und die Sprache
von einem Anderen."
„Was heißt das: die Sprache von einem Anderen?"
Artur machte eine zweifelnde Miene und meinte nach-
denklich: „Nein, das ist nicht wahr." Nach kurzer Pause
sagte er lebhaft: „Es ist aber doch wahr! Was du zuerst
Tmt Entstehung des Gewissens
183
geredet hast! Zum Beispiel: die Mama hat mich einmal
zum Greißler 1 geschickt und du hast mir gesagt: ,Gib
acht, daß kein Auto kommt!' Und wenn ich nicht acht-
gegeben hätte, hätte mir die Stimme gesagt: ,Gib acht,
daß kein Wagen kommt!' Hat jeder Mensch eine innere
Stimme?"
„ja.
„Nicht wahr, die innere Stimme kommt nicht zur äußeren
Stimme? Doch nicht? Aber doch schon! Ich kann das nicht
so sagen, weil ich es nicht so weiß. Eines von den beiden
wird schon sein. Die innere Stimme, wenn man wirklich
eine hat, kommt nicht zur äußeren Stimme, nur wenn man
redet davon."
Am nächsten Nachmittag begann er wieder: „Papa, die
innere Stimme ist eigentlich, wenn man etwas getan hat
und dann Angst hat. Zum Beispiel wenn ich den Gambi
angerührt hab', so hab' ich die Angst, ich weiß nicht,
welche Angst. Ich weiß aber doch, Angst, weil ich das getan
habe. Es ist halt so ein Gefühl!"
Etwa eine Stunde später fragte er: „Nicht wahr, Papa,
die Diebe haben zwei innere Stimmen?"
„Wieso zwei?"
„No, die eine, die sagt ihnen, sie sollen stehlen und die
andere sagt ihnen, sie sollen nicht stehlen. Aber nein, nur
die, welche sagt: , Nicht' ist die eigentliche Stimme."
Seit jenem Gespräch waren etwa acht Monate vergangen;
das Kind hatte nur zweimal die innere Stimme seither
erwähnt. Einmal sagte er spontan: „Wenn die Mama der
Großmama nicht gefolgt hat, so hat sie auch eine innere
Stimme, die sagt, sie soll der Großmama immer folgen.
1) Wienerisch: Gemischtwar enhändler.
184
Geständniszwang und Straf bedürfnis
Und wenn sie das nächste Mal nicht gefolgt hat, so hat sie
Angst." Ein anderes Mal fragte er: „Nicht wahr, man hat
nicht immer eine innere Stimme? Nur wenn man's braucht."
Als ich mich erkundigte: „Wann braucht man sie denn?"
erklärt er: „Wenn man etwas Schlechtes tun will."
Bevor wir in die Diskussion dieser Kinderaussage eingehen,
wollen wir uns gegenwärtig halten, worin ihre Bedeutung
liegt. Die Psychoanalyse, die von Anfang an die psychischen
Mächte, die dem Ich entstammen, in ihrer Wirkung als
Verdrängungsfaktoren gewürdigt hat, hat sich erst spät der
Analyse dieser verdrängenden Strömungen selbst zugewendet.
Die Resultate ihrer Rekonstruktion der Entwicklungsge-
schichte des Ichs scheinen zuerst kaum weniger befremdend
als ihre Theorien über die Sexualität.
Der Wert der vorliegenden Kinderaussage wird vornehm-
lich der sein, daß sie einen glänzenden Beweis für die
Richtigkeit der analytischen Annahmen über die Entstehung
und Entwicklung einzelner Ichinstanzen bietet und daß hier
in statu nascendi gezeigt werden kann, was die Analyse in
der Rückverfolgung seelischer Vorgänge beim Erwachsenen
rekonstruieren mußte. Ein beträchtlicher Teil der psychischen
Prozesse, die später unbewußt sein werden, ist hier noch
bewußtseinsfähig, ein anderer Teil ist freilich schon auf
dieser Stufe dem Bewußtsein entzogen. Ich erinnere Sie
auch daran, daß die Scheidung zwischen bewußt und un-
bewußt beim Kinde nicht so scharf durchgeführt werden
kann als beim Erwachsenen. Das Bewußte hat nach Freud
beim Kinde noch nicht alle seine Charaktere gewinnen
können, es ist noch in Entwicklung begriffen und verfügt
noch nicht völlig über die Fähigkeit, sich in Sprachvor-
stellungen umzusetzen. Die Unbefangenheit, Lebendigkeit
Zur Entstehung des Gewissens 185
und von Widerständen ungehemmte Natürlichkeit, mit der
der Kleine seine Aussagen über sein Seelenleben macht, erhöht
zwar ihre wissenschaftliche Beweiskraft als die einer fest-
gehaltenen Selbstbeobachtung eines wichtigen Stückes der
infantilen Ichentwicklung, das sich sonst der Aufmerksamkeit
der Erwachsenen entzieht, allein wir haben auch die not-
wendige Begrenztheit der psychologischen Verwertung dieser
Kinderaussagen zu betonen.
Diese Grenzen werden vornehmlich aus zwei Momenten
abzuleiten sein: das Kind zeigt kein allgemeines theoretisches,
nur dem Verständnis und der Erklärung seelischer Vorgänge
zugewendetes Interesse. Es hat einen ihn befremdenden
Ausdruck („Innere Stimme") zufällig gehört, möchte verstehen
was er bedeute, und vergleicht nun die seelische Situation,
welche jener Herr geschildert hat und die der Knabe gewiß
nur teilweise verstehen konnte, mit ähnlichen Erfahrungen
aus psychischen Prozessen, von denen ihm Erinnerungsreste
erhalten geblieben sind. Darüber hinaus geht sein Interesse
praktisch nur so weit, als er sich über die Wirkungsweise
dieser „inneren Stimme" klar werden will. Seine Fragen
zeigen, daß er das, was er introspektiv bei sich gefunden
hat, mit dem vergleichen will, was ich, der Erwachsene,
ihm darüber sagen kann. Gewiß ist dieses psychologische
Interesse für sein Alter ein bemerkenswertes, seine Begabung
für Selbstbeobachtung keine alltägliche, aber es ist nicht zu
erwarten, daß er systematisch die Fäden verfolgt. Das
wiederholte Zurückkehren zu den ihn bewegenden Fragen,
das Emportauchen derselben Probleme nach längeren Zeit-
intervallen zeigt indessen von seinem Bemühen, Klarheit
über seine seelischen Vorgänge zu gewinnen; es ist selbst-
verständlich, daß diesem Bestreben enge Grenzen gesetzt
186 Geständniszwang und Straf bedarf nis
sind. Auf der anderen Seite meinte ich, seine Aufmerksam-
keit nicht künstlich auf Fragen lenken zu dürfen, für die
er nicht reif ist und die nicht in ihm selbst laut geworden
waren. Ich beschränkte meine Äußerungen also — in einer
der Analyse ähnlichen Art — auf vorsichtige Fragen und
Aufforderungen, nur das näher zu erklären, was er mir
selbst gesagt hatte. Dies war auch der einzige Weg, alle
Suggestion auszuschließen.
Dieser Sachlage entsprechend werden Sie die Auskünfte
des kleinen Jungen, sowohl was den Umfang als auch was
die Tiefe der hier auftauchenden Probleme betrifft, zu bewerten
haben.
Das zweite Moment ist ein sprachliches; das Kind kämpft
hier mit einer Materie, die. es schwer bewältigen kann. Sein
Wortschatz ist beschränkt und seine Wortwahl kann natürlich
unseren Ansprüchen auf Präzision nicht genügen. Für die
schwierigen Begriffe, die er diskutieren will und deren Abgren-
zung und Bestimmung auch uns Erwachsenen so viele Schwierig-
keiten bereiten, reichen begreiflicherweise seine sprachlichen
Fähigkeiten nicht aus. Sie bemerken gewiß, wie unsicher er
in der Bezeichnung dessen, was er sagen will, ist, wie er die
„innere Stimme" bald als Gedanke, bald als Gefühl fassen
will und wie er sich bemüht, die Bezeichnung „Sprache von
einem Anderen" in seiner Definition näher zu präzisieren als
das, was ich zuerst geredet habe. Es ist übrigens erstaunlich,
wie ihn das Bedürfnis nach Klarheit zu immer schärferer
Formulierung antreibt. In der Überwindung der Unzuläng-
lichkeiten seiner Kindersprache ist ihm da ein kleines Kunst-
stück gelungen.
Versehen wir nun die Aussagen des Kleinen mit einer
Art psychoanalytischen Kommentars, der die in der Analyse
Zur Entstehung des Gewissens 18:
regressiv gewonnene Anschauung von der Ichentwicklung
zum Vergleich heranzieht, so können wir folgendes sagen:
Das Kind erklärt sich die „innere Stimme", die wir als die
zensurierende Instanz des Gewissens erfassen können, zuerst
als „den Gedanken von einem". Es ist charakteristisch, daß
ihm, da er Beispiele zur Erklärung sucht, jene zwei ein-
fallen, die sich auf das Waschen und auf die Unterlassung
des Spielens mit dem Penis beziehen. Die innere Stimme
entfaltet also ihre Wirkung als hemmender Faktor auf dem
I Gebiete der Analerotik und der Onanie für ihn am auffälligsten.
Es kann nicht zufällig sein, daß gerade diese beiden Beispiele
ihm zuerst einfallen; die enge Beziehung des neurotischen
Waschzwanges zur infantilen Analerotik und zur onanistischen
Betätigung, wie sie die Analyse bei Erwachsenen aufzeigt,
wird hier in ihren seelischen Voraussetzungen aus der Kinder-
zeit bestätigt. Das weitere Beispiel zeigt wieder, wie sich die
zensurierende Instanz für die Einhaltung des Realitätsprinzipes
gegenüber den Tendenzen zur Lustbefriedigung geltend macht.
Während er läuft, wird sich die selbstkritisierende Instanz
warnend einmengen, und der Gedanke nach dem Fall („Hab'
ich dir nicht gesagt, daß du fallen wirst?") zeigt bereits, daß
er das Fallen vorbewußt erwartet hatte, daß es die voraus-
gesehene Selbstbestrafung für seinen Ungehorsam war.
An dieser Stelle ist es ihm bereits möglich, die „innere
Stimme' als die Erinnerung an etwas Gehörtes, an eine
Warnung oder Ermahnung des Vaters zu agnoszieren, und
diese Erkenntnis wird während der wenigen Minuten, in
denen er allein war, so weit klar, daß sie sich zu der Defini-
tion gestalten kann, daß die „innere Stimme" ein Gefühl
von sich selbst und die Sprache von einem Anderen ist. Diese
Definition ist ganz korrekt und kann als Rückübersetzung
i88 Geständniszwang und Straf bedürfnis
der analytischen Anschauung über die Entstehung des Gewissens
und des unbewußten Schuldgefühles in die Kindersprache
angesehen werden. Das Kind hat da eine ganz respektable
psychologische Leistung vollbracht. Vergleichen Sie seine
Definition mit der analytischen Theorie, so ergibt sich folgen-
des: Freud hat bereits in seinem Aufsatz „Zur Einführung
des Narzißmus" die Entstehung einer zensurierenden Instanz,
die das Aktual-Ich am Ichideal mißt, geschildert. Die Anre-
gung zur Bildung eines Über-Ichs geht von dem durch die
Stimme vermittelten kritischen Einfluß der Eltern aus, an die
sich erst später der der Erzieher, Lehrer und anderer Per-
sonen angeschlossen hat. In seinem Buche „Das Ich und das
Es hat Freud diesen Faden weiter verfolgt; es wird darin
gezeigt, daß das Über- Ich sich im Anschlüsse an die primäre
Identifizierung des Kindes mit dem Vater bildet und daß sich
das infantile Ich für die Verdrängungsleistung, die von ihm
erwartet wird, dadurch stärkt, daß es dieselben Hindernisse,
die ihm früher der Vater entgegengestellt hat, in sich selbst
aufrichtet. Es lieh sich dazu gewissermaßen die Kraft vom
Vater. Das Über-Ich erweist sich so als „Erbe des Ödipus-
komplexes' . Die Spannung zwischen den Ansprüchen des
Über-Ichs und den Leistungen des Ichs wird als Schuldgefühl
empfunden.
Wir sehen im Falle Arturs diesen Prozeß in den ersten
Stadien; wir sehen den primären Niederschlag der Iden-
tifizierung mit dem Vater, können verfolgen, wie sich hier
noch die Spannung zwischen den fortwirkenden Ansprüchen
des Vaters und den aktuellen Leistungen des Kindes als
Schuldgefühl äußert. Wir können beobachten, wie sich das
Vetorecht des Über-Ichs aus den Mahnungen und Verboten
des Vaters entwickelt. Der kategorische Imperativ des Über-
1
7jW Entstehung des Gewissens
189
Ichs ist hier noch in seiner Entstehungsgeschichte aus dem
Vaterkomplex klar ersichtlich. Das Über-Ich ist in seiner
Genese hier gleichsam mit Händen zu greifen. Wenn das
Kind das Schuldbewußtsein auf „ein Gefühl von sich selbst
und die Sprache von einem Anderen" zurückführt, so ist es
regressiv den richtigen Weg gegangen. Das „Gefühl von sich
selbst" hat sich eben unter dem nachwirkenden Einfluß der
kritisierenden, warnenden, verbietenden „Sprache von einem
Anderen", nämlich der Stimme des Vaters, entwickelt. („Was
du zuerst geredet hast".) Es liegt hier nahe, die Psycho-
genese der religiösen Gefühle der Massen mit der Ausbildung
des individuellen Gewissens durch Einbeziehung der richten-
den Vaterinstanz ins Ich zu vergleichen: „Gott ist gleichsam
das moralische Gesetz selbst, aber personifiziert gedacht"
(Kant, Vorlesungen über philosophische Religionslehre). Auch
die Kirche selbst erklärt das Gewissen — und dies ist ja die
innere Stimme Arturs — als „die Stimme Gottes im Menschen",
also als die forttönende, fortwirkende Stimme des erhöhten
Vaters im Individuum.
Wir haben durch die Analyse gelernt, die Stimmen, die
bei der Symptomatologie der paranoiden Erkrankungen eine
so deutliche Rolle spielen, zu verstehen. Sie wissen, daß
diese Kranken Stimmen hören, die in der dritten Person zu
ihnen sprechen und ihr Tun und Lassen unaufhörlich beobachten
und kritisieren. Diese kritische Instanz führt uns nach Freud
auf die elterliche Kritik zurück und die Entwicklung des
Gewissens wird von den Kranken regressiv reproduziert, indem
sie die Stimmen nun wieder in die Außenwelt, von der sie
kamen, zurückprojizieren. Es ist charakteristisch, daß die
Stimmen, welche die Kranken hören, in dritter Person über
sie sprechen ; man meint hier die Spur der beobachtenden
199 Geständniszwang und Straf bedarf nis
Pflegepersonen, die miteinander über das Kind sprechen, ver-
folgen zu können, die später durch andere Personen und
schließlich durch die Gesellschaft (die „öffentliche Meinung")
ersetzt werden wird. Andererseits ist darin ein deutlicher
Hinweis auf die Entstehungszeit jener beobachtenden Ich-
instanz, die sich aus der primären Identifizierung mit dem
Vater entwickelt und sich in der Institution des Gewissens
im Ich konstituiert hat, enthalten ; es muß die Zeit gewesen
sein, wo das Kind von sich noch in dritter Person sprach,
aber das Ich schon den Gegensatz zwischen dem eigenen
Triebleben und der von außen wirkenden Aufforderung zur
Triebunterdrückung mehr oder minder deutlich erfassen
konnte.
Die psychoanalytische Erklärung der Psychogenese des
Stimmenhörens in der Paranoia führt uns wieder zu den
Problemen zurück, die in dem kleinen Jungen aufgetaucht
sind; Er fragt sich nämlich, ob „die innere Stimme zur
äußeren kommt". Dies kann nur den Sinn haben: ob die
innere Stimme nicht zur äußeren werden kann. Nach einigen
Zweifeln kommt er zu dem Schluß, daß die innere Stimme
nicht zur äußeren Stimme „kommt", d. h. also, daß die
zensurierende Instanz sich nicht als äußere Stimme manifestiert,
„nur wenn man redet davon". Die Stimmen der Paranoiden
geben ein anderes Beispiel eines solchen äußeren Lautwerdens
der inneren Stimme, die einmal wirklich äußere Stimme
war. "Wir können nach Freuds Ausführungen die Bedeu-
tung vorbewußter Wortvorstellungen auch bis zum Über-Ich
verfolgen, das seine Abkunft aus Gehörtem verrät. Diese
Wortvorstellungen als Erinnerungsreste an Wahrnehmungen
sind isoliert sogar dem Bewußtsein, dem das Über-Ich entzogen
ist, oft zugänglich. Wir beobachten, wie oft sich Menschen
r
Zur Entstehung des Gewissens
191
an von den Eltern gebrauchte Sprichwörter, Vergleiche,
Redensarten erinnern und sie zitieren („Mein Vater pflegte
zu sagen' ). Sie haben in den letzten Vorlesungen einen anderen
bedeutsamen Fall solchen Lautwerdens der „inneren Stimme"
erkannt, das Geständnis oder die Beichte. Hier kommt wirklich
so wie in der Analyse „die innere Stimme" zur „äußeren",
wie Artur sagt.
Wir erkennen auch in den Monologen, die manche
Menschen mit sich führen, teilweise ein Lautwerden der
zensurierenden oder kritisierenden Ichinstanz, insoferne solche
Monologe häufig mehr oder minder scharfe Selbstkritik,
Selbstbeobachtungen, Warnungen, Vorsätze usw. enthalten.
Wenn wir regressiv die Genese des Gewissens und die
Rolle der Identifizierung mit den frühen Objektbesetzungen
berücksichtigen, erkennen wir in dieser Art von Monologen
gleichsam umgearbeitete Neuauflagen früherer Dialoge. Sie
können in den phantasierten Dialogen, welche manche
Patienten außerhalb der Analysestunde mit dem Analytiker
führen, diese Entwicklung verfolgen; Sie werden dabei auch
bemerken, wie sich allmählich eine neue, innere Kontroll-
station in dem Patienten aufbaut, Die Vermittlungsrolle
vorbewußter Wortvorstellungen als Erinnerungsreste scheint
sogar über das oben Gesagte weit hinaus zu gehen und
sich bis in die Anfänge der Denkprozesse fortzusetzen.
Die Bedeutung der Eltern für diese Entwicklung ist offen-
bar. Gestatten Sie mir hier eine Bemerkung Feuer bachs
aus dem „Wesen des Christentums" zu zitieren, welche die von
der Analyse aufgezeigte Entwicklung unter die Gesichtspunkte
der Phylogenese zu rücken scheint: „Zum Denken gehören
ursprünglich zwei. Erst auf dem Standpunkt einer höheren
Kultur verdoppelt sich der Mensch, so daß er jetzt in und für sich
ig2 Geständniszwang und Straf bedürfnis
selbst die Rolle des anderen spielen kann. Denken und Sprechen
ist darum bei allen alten und sinnlichen Völkern ein und das-
selbe; sie denken nur im Sprechen, ihr Denken ist nur
Konversation. Gemeine Leute, das heißt nicht abstrakt gebildete
Leute verstehen noch heute Geschriebenes nicht, wenn sie nicht
laut lesen, nicht aussprechen, was sie lesen. Wie richtig ist
es in dieser Beziehung, wenn H o b b e s den Verstand des
Menschen aus den Ohren ableitet." Sie erkennen, wie nahe
diese Bemerkungen Feuerbachs den psychoanalytischen
Annahmen kommen, zu denen wir in unseren Untersuchungen
über den Geständniszwang gedrängt wurden. Hier wird der
Unterschied des Gedachten und des Gesprochenen, dem in
der analytischen Therapie so grosse Bedeutung beigelegt wird,
klar. Manches rätselhaft scheinende Gebot und Verbot der
Zwangsneurose, manche absurd scheinende Zwangsvorstellung
und manches sonderbare Symptom der Hysterie wird sich
auf eine solche unbewußt gewordene und vom Unbewußten
benützte Rede des Vaters (der Mutter) zurückführen lassen
und erhält erst in diesem Zusammenhang seine analytische
Erklärung. Freud hat bereits ausgeführt, daß die Besetzungs-
energie dieser Inhalte des Über-Ichs nicht von der Hörwahr-
nehmung selbst herrührt, sondern von den ersten Objekt-
besetzungen des Es. Diese unbewußten Inhalte sind nun
verschiedenartig: Warnungen, Verbote, Gebote, Mahnungen, aber
auch Begriffe und Abstraktionen, die für das Ichideal des Ein-
zelnen und der Gesellschaft eine besondere Bedeutung erlangt
haben.Es bleibt zu beachten, daß der Respekt und die hohe Ein-
schätzung, die wir bestimmten moralischen Anschauungen
entgegenbringen, nicht ihrem absoluten Wert, sondern eben
den unbewußten ersten Objektidentifizierungen und Objekt-
besetzungen zuzuschreiben ist, das heißt also insbesondere
Zur Entstehung des Gewissens
195
der unbewußten Nachwirkung der Liebe, die wir früh den
Menschen entgegenbrachten, welche uns jene Anschauungen
vermittelten. Ja, man kann sogar behaupten, die Tenazität
gewisser Moralbegriffe, die sich überlebt haben, hänge von
der Unsterblichkeit solcher frühen Objektidentifizierung ab.
Freud hat uns verstehen gelehrt, daß frühe Konflikte
des Ichs mit den Objektbesetzungen des Es sich in Konflikte
mit dem Über-Ich fortsetzen können. Wir konnten in Arturs
Fall schon früh die Anzeichen dieses Konfliktes des Ichs und
des sich bildenden Über-Ichs, das sich in der „inneren
Stimme" äußert, beobachten. Der einfachste und allgemeinste
Fall eines solchen Konfliktes wird durch den Gegensatz
zwischen den Triebanforderungen des Es und den von Ob-
jekten des Es ausgehenden Verdrängungsansprüchen gegeben
sein. Konflikte solcher Art ergeben sich schon zu einer Zeit,
wo das Ich ohnmächtig den beiden es bedrängenden Instanzen
ausgeliefert scheint. Ich habe andernorts eine kleine Szene
aus dem Leben Arturs, als er drei Jahre alt war, erzählt,
welche die Kontinuität des bereits damals gefühlten Gegen-
satzes zeigt. Das Kind war damals trotz Ermahnungen schlimm
gewesen und von seiner Mutter bestraft worden. Als man
ihm Vorwürfe machte, erklärte er schluchzend: „Bubi will
schon brav sein, aber Bubi kann nicht brav sein." Nichts
anderes als diesen in so frühem Alter gespürten und so naiv
ausgesprochenen Konflikt meint der Apostel Paulus, wenn
er schmerzvoll ausruft: „Ich tue nicht, was ich will, sondern
was ich nicht will, das tue ich." Vor fast sechzehn Jahr-
hunderten schrieb der Punier Augustinus, den die Kirche
den Heiligen nennt, in seinen „Confessiones" die merk-
würdigen Zeilen: „Es befiehlt der Geist dem Körper und
findet sofort Gehorsam, es befiehlt der Geist sich selbst und
Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis.
15
ig 4 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
findet Widerstand . . , Der Geist befiehlt sich, zu wollen,
der Geist, der gar nicht befehlen könnte, wenn er nicht
wollte, und doch tut er nicht, was er befiehlt. Aber er will
nicht ganz, deshalb befiehlt er auch nicht ganz ... Ich
war es, der wollte, ich, der nicht wollte."
Augustinus hatte schon als Jüngling zu dem Herrn
gefleht: „Gib Keuschheit, Herr, aber nur nicht gleich!"
Hatte Artur die „innere Stimme" früher regressiv-
genetisch als „ein Gefühl von sich selbst und die Sprache
von einem Anderen" erklärt, so zeigt er am nächsten Tag
bereits, daß er dem Wesen der „inneren Stimme" näher
kommt. Er definiert in seiner unbeholfenen Art die zensu-
rierende Instanz als: „wenn man etwas getan hat und dann
Angst hat." Wir erkennen bereits hier, daß er sich um das
Verständnis des Schuldgefühles, der Gewissensangst, bemüht.
Das Beispiel, das er zur Erklärung heranzieht, ist sicher das
für ihn bedeutsamste: die Verknüpfung der Onanie mit
Angst. Freud wies darauf hin, daß sich hinter der Gewissens-
angst die unbewußte Fortsetzung der Kastrationsangst ver-
birgt. Die Kastrationsangst war der Kern, um den sich die
spätere Gewissensangst ablagert. Es wird so erklärlich, daß
man in manchen Analysen von Neurosen den Eindruck er-
hält, als könne die Kastrationsangst geradezu als Gradmesser
des Schuldgefühles erscheinen. Es ist so, als habe das Schuld-
gefühl im Versagen der Funktionen des Penis oder den damit
verknüpften Vorstellungen den adäquaten Ausdruck gefunden.
Wenn wir den Aussagen Arturs weiter folgen, erkennen
wir, daß er nach Analogie schließt, auch die anderen Menschen
müßten eine innere Stimme haben und, falls sie dieser Ver-
tretung der einstigen Objektbesetzung nicht folgen, ebenfalls
Angst verspüren. (Es muß aus der realen Beobachtung stammen,
daß - er das Beispiel seiner Mutter in ihrer Beziehung zu
seiner Großmutter wählt.)
Die Identifizierung mit dem Vater, auf der im wesent-
lichen die Konstituierung des Über-Ichs beruht, kann man
übrigens in den Spielen der Kinder noch deutlich beobachten.
Artur suchte einen Hund, den wir später erhielten, zu
verschiedenen kleinen Künsten abzurichten und gebrauchte
in seinen Dressur versuchen mit Vorliebe die Ausdrücke des
Lobes und Tadels, der Ermunterung und Ermahnung, die
ihm gegenüber gebraucht worden waren. Viel früher schon
konnte man aus allerlei Anzeichen die Objektintrojektion in ihrer
Verknüpfung mit dem Schuldgefühl in den Spielen des Kindes
verfolgen. Das Kind war, als es noch nicht fünf Jahre alt
war, einmal in der Spielschule allzu lebhaft gewesen und
hatte zur Strafe für kurze Zeit in der Ecke, dem Winkel
des Schulzimmers, stehen müssen. Als wir davon erfahren
hatten, neckten wir ihn oft damit und nannten ihn mit
scherzhaftem Spottnamen „Artur Winkelsteher". Darüber
ärgerte er sich sehr, er protestierte lebhaft gegen diese
Bezeichnung. Wir beobachteten indessen, daß er denselben
Spottnamen auf imaginierte Kinder anwendete. Es war so,
als habe er seine Eigenschaft auf ein fremdes, im Spiel
imaginiertes Objekt projiziert und bestrafe es jetzt mit dem krän-
kenden Beinamen. Die Entlastung des Schuldgefühles durch
solche Projektion ist uns durch Freud verständlich geworden.
Es war deutlich, daß sich das Kind in seinen Spielen mit
dem Vater oder ihn repräsentierenden Instanzen identifiziert
hatte und so die Schwäche und Unzulänglichkeit des Ichs
zeitweise überwand.
Aus jener Zeit stammt eine Aufzeichnung, die folgendes
besagt: Artur spielte, von der Spielschule zurückkehrend,
•5*
ig6
Geständniszwang und Strafbedürfnis
in seinem Zimmer in Anwesenheit seines Fräuleins Polizei-
mann und hatte anscheinend eine größere Anzahl von Misse-
tätern, die er einvernahm, vor sich. Er fragte also einen
imaginären Verbrecher mit strenger Miene: „Was haben Sie
getan?" dann einen zweiten: „Und was haben Sie angestellt?"
und so weiter. Schließlich wandte er sich an den letzten der
in seiner Phantasie anwesenden Frevler mit Worten, die das
Fräulein aufhorchen ließen: „Und du, Artur Winkelsteher?
Ah, ich weiß schon. Du hast einen Revolver gestohlen. Du
wirst eingesperrt!" Das Fräulein unterbrach ihn hier, indem
sie erstaunt rief: „Aber, Artur, du hast doch keinen
Revolver gestohlen!" „0 ja! Da!" sagte der Kleine lebhaft
und zog einen kleinen Blechrevolver, den er vormittags
aus der Spielschule mitgenommen hatte, aus seiner Tasche.
Wir haben seither nichts von dergleichen Neigungen bei
dem Kinde beobachten können. Aber es spricht für die
psychische Nachwirkung der damaligen Erfahrung, wenn
Artur sich jetzt darnach erkundigt, ob die Diebe zwei
innere Stimmen haben. Wir können auch in dieser kleinen
Szene das Wirken jener psychischen Instanzen, die zur
Konstituierung des Über-Ichs entscheidend beigetragen haben,
studieren.
Wir haben gesehen, daß das infantile Ich später seine
Konflikte zwischen ursprünglich von außen kommenden
Verdrängungsanforderungen und eigenen Triebtendenzen
gleichsam in eigener Regie in der Form der Unterwerfung
des Ichs unter das Über-Ich zu lösen bestrebt ist. Es ent-
spricht der Ableitung des Über-Ichs aus der Introjektion des
Vaters, wenn Artur nun die Rolle des Polizisten, eines
typischen Vertreters der richtenden Autorität, spielt und sich
selbst beschuldigt. Hier ist der Übergang von der Objekt-
Identifizierung zur Konstituierung des zensurierenden
Über-Ichs deutlich zu beobachten; im Spiel wird der ganze
Prozeß von der bereits erreichten Stufe aus — unter dem
Einfluß eines aktuellen Anlasses — regressiv reproduziert.
Wie hier der Polizist, den Artur vorstellt, dem Ich, das im
Spiel auf ein imaginäres Objekt nach außen projiziert
erscheint, gegenübersteht, so ähnlich wird sich später das
Über-Ich dem Ich gegenüber verhalten. Wir könnten aus
diesem psychischen Verhalten in so früher Zeit und der
erstaunlich wachsamen Selbstbeobachtung, deren Resultate
wir drei Jahre später beobachten konnten, vielleicht zu der
Befürchtung gelangen, daß das Über-Ich das Ich später nicht
sehr tolerant behandeln wird, daß also eine erhöhte Dispo-
sition zu neurotischer Erkrankung vorauszusetzen ist. Die
Ableitung des Über-Ichs aus den frühen Objektbesetzungen
rechtfertigt es, wenn Freud behauptet, daß die Strenge
des Über-Ichs, das sich als Gewissen oder als unbewußtes*
Schuldgefühl manifestiert, von der größeren oder geringeren
Intensität des Ödipuskomplexes und von der Art und dem
Zeitpunkte seiner Verdrängung abhänge.
Es ist klar, daß die geschilderte Spielszene die gefürchtete
Bestrafung antizipiert, daß sie vom unbewußten Strafbe-
dürfnis inspiriert ist und dieselben Zwecke verfolgt, die wir
in der Völkerpsychologie als magische bezeichnen müßten.
Daneben sind die Büß- und Selbstbestrafungstendenzen in
der Projektion deutlich erkennbar. Das Kind spielt die Szene
der Einvernahme, um ihr ihre Schrecken zu nehmen 5
gleichzeitig erfüllt das Spiel die Selbstbestrafungstendenzen.
Die mächtigsten Motive, die im Spiele sichtbar werden, sind
sicher solche, die gerade aus der Objektidentifizierung stammen;
entspricht das Schuldgefühl der Angst vor dem Liebesverlust,
198 Geständniszwang und Straf bedürfnis
so soll das Geständnis, das in dem Spiele liegt, diesem Verlust
vorbeugen, beziehungsweise ihn rückgängig machen. Wir
stoßen also auch in der Analyse dieser Kinderszene und des
in ihr enthaltenen Geständnisses auf die Tatsache, daß das
Geständnis das Strafbedürfnis befriedige und entlaste. Es ist
unzweifelhaft, daß der Effekt, den das Spiel hatte, einen
Rückschluß auf sein Motiv zuläßt; das Spiel wird zu einem
Ersatz der Beichte; das Geständnis erfolgt ja dann wirklich.
Es scheint mir sicher, daß diese latente Bedeutung des
Spieles sich nicht auf diesen Einzelfall beschränken kann.
Die Beobachtung würde ergeben, daß viele Kinderspiele
unbewußt dargestellte Geständnisse sind. Das „gespielte
Geständnis" verdient wirklich die Aufmerksamkeit der Psy-
chologen und Pädagogen.
Hier ist der Ausgangspunkt für eine Betrachtung, die uns
zum Wesen der Psychoanalyse zurückführt: Man kann die
Psychoanalyse darstellen, indem man als das Charakteristische
ihrer Prozesse die Rückführung der Konflikte zwischen
Über-Ich und Ich auf ihren Ursprung, auf frühe Konflikte
des Ichs mit den Objektbesetzungen des Es, beschreibt. Der
Reduktion dieser in höheren Regionen spielenden Kämpfe
auf die Schwierigkeiten in der Bewältigung des Ödipus-
komplexes folgt die Lösung der Konflikte auf dem ursprüng-
lichen Felde durch die Übertragung. Wir sind uns darüber
klar, daß die seelischen Mächte, die wir in der Analyse zu
Hilfe rufen, ihre Stärke selbst aus den Fortwirkungen jener
früheren Objektbesetzungen des Es beziehen. Es ist deutlich
genug, daß in der Analyse eine regressive Reproduktion
der Psychogenese des Über-Ichs erscheint; indem der Ana-
lytiker für den Patienten allmählich unbewußt die Stelle
des Über-Ichs einnimmt, erfährt dessen Strenge schon durch
Zur Entstehung des Gewissens
»99
diesen Übertragungsprozeß eine Abmilderung. Gelangt man
so zur Charakteristik der Psychoanalyse als einer Methode
zur Bewältigung der aus dem Ödipuskomplex stammenden
Gewissensangst, so wird es klar, daß auch die Antriebe, die
in der Analyse beim Patienten auf den Boden der Über-
tragung wirken, einem Wiederaufleben jener Tendenzen, die
damals zur Bewältigung verwendet wurden und sich als
unzulänglich erwiesen, zuzuschreiben sind. Das Kind, das die
angstvolle Spannung des Schuldgefühles verspürt, wird zuerst
gewiß geneigt sein, diese Spannung dadurch zu besiegen,
daß es den Eltern klagt und ihre Hilfe in Anspruch nimmt.
Es liegt nun in den Besonderheiten der infantilen Konflikte
und dem dadurch bedingten Charakter des Unbewußten der
psychischen Vorgänge, wenn sich dieser naturgegebene Weg
als ungangbar erweist, gleichsam verschüttet ist und erst in
den Übertragungsvorgängen der Psychoanalyse wieder frei-
gelegt und beschritten werden kann. Es läßt sich auch ver-
stehen, daß sich das Schuldgefühl, das am Vaterkomplex
erworben wurde, nur in der Übertragung auf einen Vater-
ersatz löst.
Worauf es beruht, daß die Rückverwandlung der „inneren
Stimme" in eine äußere — um die Terminologie des kleinen
Artur zu verwenden — psychische Wirkungen von so
außerordentlicher Tiefe und Nachhaltigkeit hervorzurufen
vermag, habe ich Ihnen in diesen Vorlesungen unter den
Gesichtspunkten des unbewußten Geständniszwanges darzu-
stellen versucht.
NEUNTE VORLESUNG
Zur Kinderpsychologie und Pädagogik
Meine Damen und Herren! Wenn ich mich getrauen sollte,
eine Vermutung darüber zu äußern, auf welchen
Gebieten die hier vorgetragene Theorie praktische Bedeutung
gewinnen könnte, so würde ich besonders drei solcher Gebiete
hervorheben: die analytische Praxis, die Kriminalistik und die
Pädagogik. Die Wichtigkeit der Gesichtspunkte des Geständnis-
zwanges für die Kinderpsychologie und die Pädagogik ergibt
sich schon daraus, daß das Strafbedürfnis, dem eine so hervor-
ragende Bedeutung für den Geständniszwang zukommt, bereits
in der Kinderzeit deutlich seine Wirksamkeit entfaltet. Die
Pädagogen könnten Ihnen darüber sicher Interessantes und
Beweisendes erzählen; ich will mich auf eine Beobachtung
beschränken, die in jeder Kinderstube leicht gemächt werden
kann. Dort werden Sie manchmal sehen können, daß Kinder
sich das Beste bei Tische, das, was sie am liebsten essen,
für zuletzt reservieren. Diese Gewohnheit scheint zuerst das
ins Aktive umgewandelte Wiedererleben der Erziehung zur
Realität darzustellen und aus den Gesichtspunkten des Wieder-
holungszwanges zu erklären. Aber auch die Befriedigung des
unbewußten Strafbedürfnisses ist in diesem Zwischending von
Spiel und Gewohnheit deutlich zu erkennen. Das Aufheben
des Besten für das Ende ist nur die Andeutung eines Verzichtes,
das heißt, daß bei Verstärkung des Strafbedürfnisses leicht
der endgültige Verzicht auf das Beste die Reservierung ablösen
kann. Es handelt sich in dieser kleinen Gewohnheit um ein
belanglos scheinendes Zwangssymptom der Kinderzeit. In der
Analyse eines Falles einer schweren Zwangsneurose lernte
ich verstehen, in welchem tiefen Zusammenhange jene kleine
Kindergewohnheit mit den Zwangsverzichten des Erwachsenen
stand, die ihm schließlich kein Vergnügen mehr erlaubten
und ihn lebensunfähig machten.
Wir sehen auch, wie sich Kinder manchmal Vergnügungen
versagen, Liebe zurückweisen, als würden sie sie nicht verdienen,
erhöhtes Liebesbedürfnis zeigen, um ihr Schuldgefühl zu
beruhigen, wie sie schlimm und trotzig werden, um Strafe
zu erhalten, ganz wie Erwachsene, und sehen in allen diesen
Zügen Äußerungen des unbewußten Geständniszwanges. Es
müßte Aufgabe des Erziehers werden, diese Äußerungen zu
verstehen und in einer den Zielen der Erziehung entsprechen-
den Art auf sie zu reagieren. Er müßte erkennen, daß das
Kind aus Strafbedürfnis schlimm wird und dessen Straf-
bedürfnis nicht befriedigen, sondern auflösen; er müßte aber
vor allem darauf bedacht sein, kein unnötiges Strafbedürfnis
im Kinde zu erzeugen. In einem schönen Aufsatze hat August
Aichhorn auf den therapeutischen und erzieherischen Wert
der Aussprache im analytischen Sinne in der Erziehung dissozialer
Kinder in Besserungsanstalten hingewiesen. Wenn Sie die
lehrreichen Ausführungen Aichhorns lesen und die von
ihm gegebenen Beispiele studieren, werden Sie erkennen, daß
die Aussprache bei diesen Kindern immer den Sinn des
Geständnisses haben wird. Ich fasse es als Bestätigung der hier
vorgetragenen Theorie auf, daß Aichhorn mit intuitivem
i
Geständniszwang und Straf bedürfnis
Gefühl die Aussprache, das Geständnis an die Stelle der
erwarteten Strafe treten ließ.
Das Geständnis — diesmal im bewußten Sinne — wird
in der Erziehung als prophylaktische und therapeutische
Maßregel zu immer größerer Bedeutung gelangen. Es ist aber
notwendig, daß der psychische Weg zum Geständnisse den
Eltern oder Erziehern gegenüber frei bleibe. Das beste und
natürlichste Mittel, um diese Möglichkeit zur pädagogisch
wertvollen Wirklichkeit zu machen, ist noch immer das, eine
Atmosphäre von Liebe und Vertrauen zwischen Eltern und
Kindern zu schaffen. Schließlich ist es doch die Liebe, die
große Lehrmeisterin der Menschheit, welche auch das un-
bewußte Strafbedürfnis überwindet.
Ich bedauere, zu wenig Erfahrung in der Pädagogik zu
besitzen, um die neuen Perspektiven verfolgen zu können,
die sich dem Erzieher durch die Theorie des unbewußten
Geständniszwanges ergeben. Ich ziehe es deshalb vor, Ihnen
Züge aus der seelischen Entwicklung eines kleinen Mädchens
mitzuteilen, in welcher dem Geständniszwang eine besondere
Bedeutung zufiel. Es soll damit keineswegs die Wiedergabe
einer Kinderanalyse unternommen werden, es handelt sich
eben um einzelne herausgegriffene Züge, die freilich einen
mehr oder minder typischen Charakter haben. Die psychischen
Prozesse der Kinderzeit wurden erst viele Jahre später in der
Analyse der zur Frau Gewordenen in ihren Zusammenhang
eingereiht.
Die kleine Lotte erkrankte in ihrem achten Lebensjahre
an einer Zwangsneurose. Sie mußte abends vor dem Schlafen-
gehen immer beten, daß etwas, das sie für den nächsten Tag
fürchtete, nicht eintreffe. Zuerst ein Gebet, dann zwei, und
später vermehrten sich die Ursachen, deretwegen gebetet
Zur Kinderpsychologie und Pädagogik
203
werden mußte, sowie die Anzahl der Gebete, die nötig waren,
um das Gefürchtete abzuwenden. Es kam so zu einer hoch-
gradigen Schlaflosigkeit. Den Hauptanlaß zu diesem Zwangs-
beten aber bildeten Stuhlbeschwerden folgender Art: es bestand
eine starke Obstipation und es war zu einem kleinen Einriß
am After gekommen, wodurch die Defäkation dem Kinde
starke Schmerzen verursachte. Die Folge war, daß sie den
Stuhl aus Angst vor den Schmerzen zurückhielt; die Obstipation
wurde dadurch immer ärger, die Rhagade bei jeder schließ-
lich doch erfolgenden Entleerung frisch aufgerissen. Es war
ein circulus vitiosus entstanden, aus dem das Kind natürlich
keinen Ausweg fand. So begann sie Abends ein eigenes Gebet
dafür zu beten, es möge ihr die Stuhlentleerung am nächsten
Tag nicht wehe tun oder ausbleiben. Bald wurden mehrere
Gebete notwendig; es traten auch noch andere Ursachen
hinzu, für die gebetet werden mußte. Dieser Zustand fand
dadurch ein Ende, daß eines Tages die Stuhlentleerung ganz
unmöglich wurde, weil steinharte Kotballen vorlagen, die
nicht entleert werden konnten, wobei das Kind von Üblich-
keiten befallen wurde. Es mußte eine digitale Zerkleinerung
der vorliegenden Kotmassen vorgenommen werden, wonach
es zur Entleerung eines großen Kotballens kommen konnte,
was unter sehr heftigen Schmerzen geschah. In der Folge
wurden die Rhagade und die Obstipation behandelt und die
körperlichen wie psychischen Symptome schwanden.
Im selben Jahr besuchte unsere Kleine eine Turnstunde,
in der sie sich, besonders im Klettern auf langen Stangen,
sehr geschickt erwies. Dabei empfand sie sexuelle Lustgefühle
und sie eilte nach dieser Entdeckung immer sehr, um noch vor
Beginn der Stunde auf diesen Stangen emporklettern zu
können. Sie preßte das Genitale gegen die Stange, bis es zum
204
Geständniszwang und Straf bedürfnis -
Orgasmus kam. Diese so tiefempfundene Lust, fast schon an
Schmerz grenzend, machte ihr Angst und sie fragte sich oft-
mals plötzlich, ob das nicht eine Krankheit sei. Das Phänomen
war ihr nicht erklärlich, da sie sich damals nicht erinnerte,
früher ähnliche Lustgefühle gehabt zu haben oder die in
ihrem dritten bis vierten Jahr stattgefundene onanistische
Betätigung und die damit verbundenen Lustgefühle mit diesen
in keinen Zusammenhang zu bringen wußte. Sie hatte damals
in der Form onaniert, daß sie beide Hände gegen ihr Genitale
preßte, doch geschah dies nicht allzulange, da diesen Akten
durch das Verbot der Mutter bald ein Ende gesetzt wurde.
Beim Onanieren selbst war sie nie ertappt worden. Eines
Tages aber, als sie mit ihrer Schwester von ihrer Mutter
Abschied nahm, um auszugehen, hatte diese, scheinbar unver-
mittelt, gesagt, sie sollten nur ja niemals ihre Hände am
Genitale haben, denn davon könne man schwer krank werden
und es könne dazu kommen, daß man operiert werden müsse.
Diese Szene blieb Lotte mit besonderer Deutlichkeit einge-
prägt; das Kind empfand damals Angst und nur vereinzelte
Male kam das Onanieren noch vor, um bald ganz unter-
lassen zu werden.
Das Verbot der Mutter wirkte nachhaltig und rief heftige
Schuldgefühle hervor, nachdem sie das Onanieren aufgegeben
hatte. Als es dann in der Turnstunde wieder auftrat, wurde
sie durch den plötzlich auftauchenden Gedanken gestört, die
intensiv empfundene Lust sei bestimmt eine Krankheit. Aber
die Mutter hatte ihr einmal nicht nur mit Krankheit und
Operation gedroht, sie hatte beides selbst vor ihr erlitten.
Eine ganz frühe Erinnerung an die Mutter wies auf Wieder-
sehensfreude hin, die sie mit der Mutter empfand, da diese kurze
Zeit abwesend gewesen war. Man erzählte, die Mutter sei
Zur Kinderpsychologie und Pädagogik
205
krank gewesen und im Sanatorium operiert worden. Dies
war sogar keine vereinzelte Erinnerung. So bestand ein sicher
festgestelltes, ähnliches Wiedersehen mit der Mutter, nachdem
sie krankheitshalber weggewesen war, als Lotte sechs Jahre
zählte. Hatte die Mutter jene Strafe vor ihr erlitten, die sie
ihr angedroht, mußte sie sich auch jenes Verbotene, die
sexuelle Lust, vor ihr verschafft haben.
Es ist klar, woher dieses Schuldgefühl seine Intensität
bezieht; die Onanie der Kinderzeit selbst war aus den Erre-
gungen der Ödipussituation hervorgegangen. Wir wollen nur
hervorheben, daß Lotte die damalige Drohung der Mutter,
die sich auf die Folgen der Onanie bezogen hatte, wahr
werden läßt: sie wird wirklich krank und es kommt zu
einer Operation — das Strafbedürfnis des Kindes hat seine
Befriedigung erhalten. Der latente Zusammenhang zwischen
der Wiederaufnahme der Onanieaktionen im Turnen und
den Stuhlbeschwerden wird uns deutlich. Es ist so, als habe
die dicke Kletterstange einen besonders großen, den väter-
lichen Penis ersetzt und als werden die Stuhlbeschwerden
zum Zeichen des analen Zurückhaltens dieses großen Genitales.
Die Stuhlbeschwerden weisen aber auch in eine andere Rich-
tung. Die anale Sexualtheorie der Frühkinderzeit wirkt hier
nach und das Zurückhalten des Stuhles erhält so die Bedeu-
tung der Angst vor der Geburt als Folge der verbotenen
Sexualbetätigung. Die Ähnlichkeit jener Stuhlbeschwerden mit
den Wehen und der letzten, operativ durchgeführten Ent-
leerung mit einer Geburt wird Ihnen wohl aufgefallen sein;
unsere Rekonstruktion führt zu diesem eindeutigen Ergebnis.
Das kleine Mädchen hat den Sinn der Krankheit, des Fern-
bleibens der Mutter wohl erraten und in Zusammenhang
mit der Geburt gebracht. Die objektive Nachprüfung des
206 Geständniszwang und Straf bedürfnis
Sachverhaltes durch Anfrage bei der Mutter ergab wirklich,
daß es sich damals um einen Abortus gehandelt hatte. Durch
die Strebungen des Ödipuskomplexes war die Identifizierung
mit der Mutter zum Ziel der Wünsche des kleinen Mädchens
geworden. Mit der Erreichung dieses Zieles waren aber
Schmerzen verbunden.
Wir wollen hier nur einige Züge hervorheben, die uns
nicht nur für das Seelenleben der kleinen Lotte bezeichnend
erscheinen, z. B. den nachträglichen Gehorsam gegenüber der
Mutter, der in Krankheit, Schmerzen und Operation zugleich
das Straf bedürfnis der Kleinen befriedigt. Die Stuhlbeschwerden,
die so zum Geständnis und zum Ausdruck des Strafbedürf-
nisses wurden, zeigen aber auch, daß in der Strafe selbst die
alten verbotenen Aktionen wiederkehren: die infantile Stuhl-
verstopfung und die Onanie in ihrer analen Form. Dieselben
Züge des Kompromisses weist übrigens auch die Onanie-
betätigung dieser Zeit selbst auf, die lustvolle und schmerz-
liche Sensationen hervorruft. Es scheint sehr wahrschein-
lich, daß die Schmerzqualität nicht nur auf Rechnung des
erotischen, sondern auch des moralischen Masochismus zu
setzen ist. Der Hinweis darauf, daß die unbewußten Momente
des Trotzes und des Strafbedürfnisses als Krankheitsgewinne
der Kinderneurosen oft mit- und gegeneinander wirken, zeigt,
daß unser Fall repräsentative Bedeutung beanspruchen darf.
Auf den zwanghaften Charakter des Gebetes und seiner
Beziehungen zum analen Zwang werde ich später eingehen.
Wir verfolgen die psychische Entwicklung der kleinen
Lotte weiter. Vorher, in der Volksschulklasse, bestand bei ihr
eine Tendenz, kleine Streiche zu begehen, plötzliche, unvor-
bereitete Handlungen nach Art der Impulshandlungen,
denen intensive Scham- und Schuldgefühle folgten. Dazu
Z«r Kinderpsychologie und Pädagogik 207
gehörte z. B. plötzliches Nachahmen einer Tierstimme während
der Unterrichtsstunde, was strenge Verweise von sehen der
Lehrerin zur Folge hatte, oder ein Jahr später Drehen einer
langen Nase dem Vater eines kleinen Mitschülers gegenüber,
scheinbar ganz unmotiviert, da sie diesen Herrn bis dahin
niemals gesehen hatte. Es bestand der Impuls, gegen den
Nächsten, der bei der Tür hereinkommen würde, „eine
lange Nase zu machen" und „wenn's der Herr Lehrer selber
wäre". Alle Streiche waren zu dieser Zeit gleichartig ohne
Vorsatz, von impulsivem Charakter. Jeder solchen verbotenen
Handlung folgte unmittelbar der Drang, sie der Mutter zu
bekennen. Sie empfand gleich nach Ausführung der Tat ein
so quälendes, drängendes Schuldgefühl, eine Angst, die ihr
den Atem raubte, daß sie auf dem Heimwege von der Schule,
wenn die Untat gerade dort verübt worden war, oft stehen-
bleiben mußte, um Atem zu holen, weil sie zu ersticken
fürchtete. Dabei sprach sie sich selbst Trost und beruhigende
Worte zu, denn sie wußte genau, daß diese ganze Qual ein
Ende haben werde im Augenblick, da sie ihr Vergehen der
Mutter gestanden haben würde. Angst vor Strafe konnte
dabei keine wesentliche Rolle spielen, denn das Gefühl der
Erleichterung, das völlige Schwinden aller dieser drängenden,
quälenden Schuld- und Angstgefühle erfolgte sofort, nachdem
alles gestanden war, noch ehe eine Antwort, ein Zanken
oder gar eine Strafe erfolgen konnte. Letztere fiel, wenn sie
überhaupt erfolgte, so gering aus, daß Furcht vor Bestrafung
als Motiv für die Angst gewiß nicht in Frage kam.
Wir sehen also bereits hier, zwei Jahre vor der manifesten
Erkrankung des Kindes, ein Strafbedürfnis am Werke, das
sich aus einem starken, präexistenten Schuldgefühl ableitet.
Jene impulsiven Handlungen, die wir als Kinderunarten
208 Geständniszwang und Straf bedürfnis
bezeichnen könnten, waren dazu bestimmt, ein Substrat für
jenes dunkle Gefühl zu schaffen und durch die Strafe das
Strafbedürfnis zu befriedigen. Solche kleine Handlungen, die
dem Trotz und dem Strafbedürfnis zugleich dienen, werden
durch die Zivilisierungstendenzen der Schule und der Erzie-
hung eher gefördert als gehemmt, wenn das Strafbedürfnis
übergroß geworden ist. Es ist zu bedenken, daß der Zwang,
der ursprünglich von den Eltern ausging und sich zum
inneren Verbot entwickelte, später manchmal seine Intensität
gerade auf die Gegenströmungen verschiebt; er wird zum
Zwang, gerade das Verbotene zu tun. In der Zwangsneurose
ist dieser Verschiebungsvorgang häufig zu beobachten. Der
Zwang des ursprünglichen Verbotes wird zum zwanghaften
Gegengebot der Neurose. Einer meiner Patienten wurde von
Zwangszweifeln verfolgt, die etwa lauteten: Was würde er
tun, wenn ihn sein Chef zwinge, mit dessen Frau zu koitieren
oder wenn ihn jemand zwinge, sich plötzlich nackt auszu-
ziehen usw. Sie sehen, wie sich hier ein verbietendes: „Du
darfst nicht" in ein imperatives „Du mußt" verwandelt hat.
Wir können diese durch Reaktion auf ein übermächtiges
Schuldgefühl zwanghaft gewordene Triebdurchsetzung in den
Fällen von Zwangsonanie und Zwangskoitus beobachten;
die Analyse kann nachweisen, daß hier oft ein gewaltsames
Durchbrechen alter, starker psychischer Verbote erfolgt ist.
So läßt sich die geheime Wirksamkeit des Über-Ichs und
des von ihm ausgehenden Strafbedürfnisses in der forcierten
und zwanghaften Art der Triebbefriedigung erkennen; es
gibt wirklich Lebemänner aus Verzweiflung, aus Lebens-
überdruß. Auch der Exzeß entsteht als Befreiung von einem
übermächtig gewordenen Schuldgefühl, dessen Nachwirkung
noch in der Orgie selbst aufzuweisen ist. Sie erinnern sich,
Zur Kinderspychologie und Pädagogik
209
daß Freud das Fest als einen gebotenen Exzeß, als den
feierlichen Durchbruch eines Verbotes gekennzeichnet hat.
Wir meinen, daß nicht nur die zeitweilige Freigebung des
sonst Verbotenen die festliche Stimmung erzeugt, sondern daß
das mit Schuldgefühl verbundene, geheime Festhalten jenes
Verbotes, das noch in der feierlichen Forderung des Festes
nachklingt, die Festesfreude reaktiv verstärkt. Es wird in der
Analyse klar, daß das Abgewehrte, das zwanghaft gefordert
wird, einmal das Objekt eines Verbotes war, das in der
Reaktion kraft inneren Gegenzwanges zum Gebot wurde. Ich
glaube, daß diese psychischen Mechanismen für einen großen
Teil der Impulshandlungen die Erklärung liefern. Das zwang-
hafte Tun des Verbotenen führt uns wieder zu der zwang-
haften Intensität des Strafbedürfnisses zurück, das alle bewußten
Abwehrkräfte überwindet.
Der impulsive und zwanghafte Charakter der kleinen ver-
botenen Aktionen des Kindes erklärt sich also nicht nur durch
die unterdrückten Regungen des Spottes oder der Feindselig-
keit, sondern auch durch deren reaktive Verstärkung durch
das Strafbedürfnis. Es ist vergleichsweise so wie im religiösen
Zeremoniell, wo oft das Verbotene gerade im Namen der
Religion gefordert wird. Wir dürfen auch einige Schlüsse
aus den Zwangserlebnissen der Kleinen ziehen. Ihre Ausfüh-
rung kann als eine Tat bezeichnet werden, die zwischen
überlegter, vorbereiteter Aktion und Impulshandlung liegt.
Vergleichen Sie diese Zwangsgelübde mit den in der Religion
erscheinenden Gelübden, so ergibt sich folgender Tatbestand:
das religiöse Gelübde besteht im allgemeinen in einer außer-
ordentlichen Verdrängungsleistung, welche gerade den stärksten
Triebregungen dem Gott zuliebe abgerungen wird (sexuelle
Keuschheit, Enthaltung von Speisen usw.). Doch kommen
Reik, Geständniszwang und Straf bedürfnis. ,.
21
Geständniszwang und Strafbedürfnis
in der Religion Gelübde vor, welche den sonst unterdrückten
Triebregungen vollste Befriedigung in Aussicht stellen und
gerade die Ausführung des sonst Verbotenen fordern. Die
Gelübde zur Tötung einer bestimmten Anzahl von Menschen
gehören z. B. hierher, Vergleichen Sie etwa, das kindliche
Zwangsgelöbnis Lottes, dem Nächsten, der die Tür öffnet,
die Zunge zu zeigen, mit der Erzählung im Buche der
Richter, worin Jephta Gott gelobt, das Wesen zu opfern,
das ihm bei der Heimkehr zuerst entgegentreten würde, und
dann die leibliche Tochter opfert. Wir kommen noch auf das
agierte Geständnis, das im Schlimmsein des kleinen Mädchens
erkennbar ist, zurück.
Der Wendepunkt im Leben der kleinen Lotte ist nun
folgender: Im Alter von zwölf Jahren beging Lotte einen Dieb-
stahl, der für sie von großer Bedeutung wurde. Das Kind pflegte
zu jener Zeit nach der Schule in Begleitung einer kleinen
Mitschülerin bei einem Gemischtwarenhändler ein Gabel-
frühstück zu kaufen. Eines Tages erzählte die Mitschülerin
auf dem Heimwege lächelnd, sie habe heute bei der Händlerin
ein Zuckerl genommen, ohne daß es bemerkt wurde, und
beide unterhielten sich sehr über den Streich. Dies gab den
Anstoß zum Diebstahl des Mädchens. Von da ab wurde auch
von Lotte täglich so ein kleiner Diebstahl begangen und
zwar in der Form, daß sie ein Zuckerl in der Hohlhand
versteckte, ein zweites sichtbar zwischen zwei Fingern der
Verkäuferin" vorwies und nur letzteres bezahlte. Das Stehlen
verursachte dem Kinde ein ganz besonderes Vergnügen und,
obgleich es ihm bei der Erziehung, die es gehabt, als ein
ganz unerhörtes Verbrechen erscheinen mußte, empfand es
während der Zeit der Ausübung dabei kaum ein Schuld-
gefühl. Allerdings verwertete Lotte zur Entschuldigung bei sich
Zur Kinderpsychologie und Pädagogik
selbst ein Gespräch der Verkäuferin, das sie zufällig mit-
angehört, in dem diese sich rühmte, wieviele Süßigkeiten
sie verschenke, und das nahm das Kind zur willkommenen
Ausrede: Lotte sagte sich, der Händlerin liege gar nichts
daran, sie stehe nicht um die Sachen usw.
Ein Ende fanden die Diebstähle, als sie von der Verkäuferin
entdeckt wurden. Die beiden Mädchen schämten sich un-
beschreiblich, betraten nie mehr das Geschäft und gelobten
sich, niemals einem Menschen davon etwas mitzuteilen. Dieses
Gelöbnis wurde wenigstens von sehen Lottes vollkommen
gehalten. Ja, es hätte dieses Gelöbnisses eigentlich gar nicht
bedurft, denn sie empfand damals durchaus keinen Drang,
das begangene Unrecht einzugestehen.
Jene Zwangsimpulse hörten mit einem Schlage auf, als
' die Diebstähle begangen wurden, und machten Streichen
von völlig anderem Charakter Platz. Es waren beabsichtigte,
gut vorbereitete und wohl durchdachte Streiche, dazu angetan,
die Lehrer möglichst zu ärgern, bei kleinstem Risiko ertappt
zu werden. Niemals mehr regte sich das Verlangen, irgend
eine dieser Untaten zu Hause zu gestehen. Die Diebstähle
bildeten den Wendepunkt, denn schon während sie diese
verübte, bestand kein Schuldgefühl mehr. Die Erleichterung
des Schuldgefühles in diesem Falle wurde wohl mithervor-
gerufen durch den Umstand, daß die Diebstähle nicht allein
verübt wurden, sondern eine kleine Mitschülerin ihre Mit-
wisserin und sogar Vorgängerin dabei war.
Das Leben Lottes bis zum Beginn der Analyse verlief
nun sozusagen im Zeichen des verstärkten Straf bedürfnisses,
das sie immer wieder dazu drängen wollte, sich einen
Schaden zuzufügen. Es war bemerkenswert, daß sie sich
eine Lebensfreude oder die Ausnützung einer glücklichen
212
Geständniszwang und Strafbedürfnis
Konstellation erst gestattete, wenn sie sich zuerst empfind-
lich gestraft hatte. Diese Umkehrung einer geläufigen Reihen-
folge: Triebbefriedigung — Strafe in: Strafe — Triebbefrie-
digung ist bei Neurotikern keineswegs selten. Es sieht dann
so aus, als ob jeder Lust die Strafe voranginge, als wäre
die Erlaubnis zu einem Stück Lebensgenuß erst durch den
Strafvollzug gewährleistet. Die Erklärung für eine so befrem-
dende Einstellung liegt in der Wirksamkeit eines starken,
präexistenten Strafbedürfnisses.
Von den zahlreichen Problemen der Kinderpsychologie,
die in einer Diskussion dieses Analysefragmentes zu erörtern
wären, wollen wir in bewußter Einseitigkeit nur jene hervor-
heben, in denen das Straf bedürfnis und der Geständniszwang
die zentrale Rolle spielen. Wir haben die Entwicklung der
kleinen Lotte von der Frühzeit an verfolgt und beobachten
können, wie das Aufgeben der Onanie, die selbst durch das
Zusammenwirken von Triebandrang und Strafbedürfnis
zustande kam, alte Schuldgefühle aus dem Ödipuskomplex
mobilisierte und wie das daraus resultierende Strafbedürfnis
in jenen kleinen Impulshandlungen nach Befriedigung drängte.
Die Personen, denen diese aggressiven Handlungen galten,
waren im Grunde dieselben — oder Ersatzpersonen — von
denen die Strafe erwartet oder ersehnt wurde, dieselben
also, denen das unbewußte Schuldgefühl galt. Dieser Gesichts-
punkt ist wichtig, weil er allgemeinere Geltung beanspruchen
darf: auch die Erwachsenen benehmen sich meistens gegen
die Personen, denen gegenüber sie sich unbewußt schuldig
fühlen, schlecht, um Strafe zu provozieren. In der Analyse
gelangt man häufig zu dem Ergebnis, daß der Konflikt
des Patienten mit einer Person oft einZeichen
des Straf bedürfniss es gegen dieselbe darstelle.
Zur Kinderpsychologie und Pädagogik 213
Meine Überzeugung von der Richtigkeit dieses Satzes hat sich
durch vielfache Nachprüfung in der Analyse so sehr gefestigt,
daß ich mich, besonders wenn der Patient von Konflikten oder
feindseligen Regungen gegen nahe Familienmitglieder und
Freunde berichtet, immer frage: warum fühlt er oder sie
sich schuldig gegenüber dieser Person? So ist noch in der
Aggression gegen jemanden ein Ausdruck präexistenten Schuld-
gefühls, ein unbewußtes Geständnis erkennbar. Vielleicht bedarf
es übermenschlicher Milde, um in Erkenntnis dieser verbor-
genen Motive allen Übeltätern zu verzeihen, weil sie nicht
wissen, was sie tun. Der Gesichtspunkt des unbewußten
Strafbedürfnisses wird auch für die Beurteilung der Wider-
stände in der Analyse wichtig: bestimmte Widerstandsformen
z. B. dienen unbewußt dazu, den Ärger des Analytikers zu
erregen, mit dem Triebziele, bestraft zu werden. Die Projektion
der Unzufriedenheit des Patienten mit sich selbst auf den
Analytiker im Widerstände dürfte Ihnen bekannt sein. Es
ist so, wie wenn der Patient mit dem Analytiker unzufrieden
würde, weil dieser ihn dazu gebracht hat, mit sich selbst
unzufrieden zu werden, besser gesagt: sich seiner Unzufrieden-
heit mit sich selbst bewußt zu werden.
Die Impulshandlungen des kleinen Mädchens zeigen in
ihrem zwanghaften Charakter bereits die Spuren der Ein-
wirkung des unbewußten Strafbedürfnisses in mehrfacher
Richtung. Vergleichen Sie etwa die Gelübde, irgend einen
unartigen Streich auszuführen, mit den Gelübden von
Zwangsneurotikern, auch von zwangsneurotischen Kindern:
gewöhnlich dienen solche Gelübde dazu, einer zwanghaften
Triebregung einen äußeren Zwang, der ihr den Zugang zur
Motilität sperrt, vorzuschieben. Daneben ist die Absicht, sich
für eine vorhergegangene Durchbrechung eines Verbotes zu
214 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
bestrafen, im Gelübde deutlich erkennbar. Hier, in den
Zwangsgelöbnissen der kleinen Lotte wird der umgekehrte
psychische Vorgang zu beobachten sein: das Mädchen
erwehrt sich des inneren, übergroßen Druckes des Straf-
bedürfnisses durch ein Gelübde, eine Unart zu begehen.
Wir wissen schon, daß die Verübung dieser Unart eine
Entlastung des Strafbedürfnisses bedeutet, aber es ist auch
klar, daß dieses die Triebbefriedigung wesentlich erhöht. Die
durch das Strafbedürfnis reaktiv gesteigerte Befriedigung ist
ein dem moralischen Masochismus gemeinsamer Zug. Sie
erklärt die Lust, die in den schwarzen Messen, in den Satans-
bünden zum Taumel, zum „schmerzlichsten Genuß" wird.
Die Durchbrechung des Verbotes, bei der die Triebintensität
durch das Straf bedürfnis in die Höhe getrieben wurde,
bietet eine Befriedigung, welche sonst auf keinem Wege
zu erreichen ist. Diese Möglichkeit der Genußsteigerung
durch das Strafbedürfnis läßt die Psychoanalyse der Perver-
sionen in neuer Beleuchtung erscheinen. So wird in den
Praktiken der sexuell Perversen gerade die Abweichung
vom Normalen unbewußt zur Triebintensivierung verwendet,
weil sie unbewußt mit dem Strafbedürfnisse zusammenhängt.
In den Phantasien und Praktiken der Perversen werden Sie
unschwer manche erkennen, welche auf die Rechnung des
unbewußten Schuldgefühls zu setzen sind und ihrerseits ein
unbewußtes Geständnis in unserem Sinne darstellen. Die
Ihnen bekannten Triebvorgänge der Verkehrung in das Gegen-
teil sowie der Wendung gegen die eigene Person werden
sich besonders dazu eignen, jenes mitwirkende Moment der
Befriedigung des unbewußten Strafbedürfnisses zu verdecken.
Sie haben die Verkehrung der Aktivität in Passivität als
Triebschicksal verstehen gelernt; gerade für das unbewußte
Zur Kinderpsychologie und Pädagogik 215
Schuldgefühl kommt daneben der Verkehrung einer ursprüng-
lich auf das Ich gerichteten Aktivität in eine auf das fremde
Objekt gerichtete Aktivität besondere Bedeutung zu. Denken
Sie an die Rolle, welche diese Vorgänge in der Psychogenese
der Homosexualität, des Sadismus und des Voyeurtums spielen.
Diese Momente sind nicht nur für die Psychologie der Perver-
sionen wichtig; auch die Kriminologie wird ihnen Beachtung
schenken müssen; sie hat allzulange übersehen, bei wie vielen
Verbrechern die Tat nicht aus hemmungslosem Triebnach-
geben, sondern als Durchbruch aus einem überstarken, psy
einsehen Drucke, der sich jetzt sekundär gegen ein fremdes
Objekt richtet, entsteht. Gerade die besonders auffälligen und
krassen Einzelheiten eines Verbrechens weisen manchmal in
diese Richtung.
Wenn wir die Linie, die von den ersten kleinen Hand-
lungen in der Schule, dem Wiederauftreten der Onanie bis
zu dem Diebstahl und den Streichen der Vorpubertät führt,
verfolgen, können wir zwei wichtige Beobachtungen daran-
knüpfen. Die erste geht davon aus, daß die Streiche und
Unarten der Frühzeit impulsive, sozusagen unbewußte Aktionen
waren, die der späteren Zeit aber gut überlegte und wohl vor-
bereitete. Dieser Unterschied spiegelt einen anderen wieder, der
uns beim ersten Anschein paradox erscheinen muß : das kleine
Mädchen war dem Verstehen der Motive ihrer Streiche,
solange sie impulsiven oder zwanghaften Charakter hatten,
näher als später, da sie überlegt und überdacht waren.
Später traten rationalisierende und sekundäre Motive auf,
welche die ursprünglichen, aus den Triebneigungen und
dem Strafbedürfnis stammenden Motive verdeckten. Das
Zurücktreten der wesentlichen Motive im Bewußtsein war
also mit dem Vorschieben neuer Motive, mit Vorbereitung
21 6 Geständniszwang und Straf bedürfnis
und Überlegung enge verknüpft. Es erhebt sich hier das
für die Kriminalistik bedeutsame Problem, daß Verbrechen,
die lange vorbereitet und überlegt waren und für die der
Verbrecher sehr ausführliche Erklärungen geben kann, in
ihren tiefsten psychischen Motiven schwerer erfaßbar sind
als Affektverbrechen.
Dieselbe Linie von den harmlosen Unarten im sechsten Jahr
bis zu den sozial ernster zu nehmenden Diebstählen im
zwölften Jahr läßt auch erkennen, daß das Strafbedürfnis, dem
die Strafe versagt blieb, immer drängender wurde, bis es
zu jener ernsteren Ersatzhandlung führte. Es erscheint mir
möglich, daß die Psychologie mancher Verbrecher, die von
leichterem Vergehen zu schwereren Verbrechen fortschreiten,
unter diesen Gesichtspunkten klarer wird, so sehr andere
Momente diesen Verlauf auch beeinflussen mögen. Es bestand
ein Strafbedürfnis, das nach einem Substrate suchte und
das unbefriedigt blieb. Es erweckt die Versuchung, die ver-
botene Handlung oder vielmehr eine Ersatzhandlung immer
wieder zu begehen 5 diese ergibt ein neues Straf bedürfnis
— ein verhängnisvoller circulus vitiosus, den man wirklich
den „Fluch der bösen Tat" nennen könnte. In ihm erscheint
die triebhafte Kraft des Strafbedürfnisses sehr deutlich. Sie
wird auch in der Steigerung der Schwere des Verbrechens
erkennbar: das geringere Vergehen genügt nicht mehr, es
befriedigt als Ersatzhandlung weder die gesteigerten Trieb-
ansprüche noch das Strafbedürfnis. So muß der Verbrecher
zu immer asozialeren Taten fortschreiten, um schließlich
eine Handlung zu begehen, die an Schwere dem Frevel der
Odipustat wenigstens nahekommt und das unbewußt
gewünschte Ausmaß von Strafe rechtfertigt. Die verbotene
Aktion als Resultat des drückenden Schuldgefühles wird
Zur Kinderpsychologie und Pädagogik 317
sekundär zu seinem Motiv. Dies bildet keinen Widerspruch
zu der Behauptung, daß die Tat eine psychische Entlastung
bedeutet. Denn diese Entlastung ist nur eine partielle und
kurzlebige und weicht neuem Schuldgefühl, das wieder zur
verbotenen Aktion drängt, wenn seine Intensität eine gewisse
Höhe überschritten hat.
Nicht nur die Kriminalistik, sondern auch die Erziehungs-
wissenschaft und die praktische Pädagogik werden sich die
neuen analytischen Einsichten in die Wirkungsart des Straf-
bedürfnisses aneignen müssen. Zwischen dem unartigen und
dem entarteten Kinde bestehen nur graduelle Unterschiede.
Die neuen Forschungsergebnisse werden besonders bei der
schwierigen Aufgabe, dissoziale und verwahrloste Kinder der
Gesellschaft wiederzugewinnen, verwertbar werden.
Das Analysebruchstück, mit dem wir uns beschäftigt haben,
kann uns aber auch einiges Lehrreiche über die Wirkungen
des Geständniszwanges im kindlichen Seelenleben vermitteln.
Jenen ersten Unarten in der Schule, wie Tierstimmen-
imitation und Fratzenschneiden war, wie wir gehört haben,
ein außerordentlich starker Geständniszwang — hier im
Sinne eines neurotischen Zwanges — verbunden. Die Angst-
erscheinungen, die sich bis zu Atembeschwerden steigerten,
zeigen, daß das zu Gestehende nicht jene kleinen Dumm-
heiten waren, sondern ernstere Dinge, welche die Geständnis-
angst rechtfertigten. Alle drängenden und quälenden Angst-
und Schuldgefühle schwanden sofort, wie vom Winde ver-
weht, nach dem Geständnis. Aber die Tatsache, daß die
Streiche fortgesetzt wurden, beweist, daß das Geständnis nur
eine partielle Entlastung des Straf bedürfnisses gebracht hatte.
Dies ist auch verständlich, da das Geständnis sich ja nur
auf jene kleine Untat beziehen konnte, deren Ersatzcharakter
klar ist. Das Kind konnte über den tiefen Zusammenhang
des kleinen Vergehens mit jenen unbewußten Tendenzen,
die nach anderen Zielen drängten, keine Auskunft geben.
Weder nach dem Diebstahle noch nach den späteren Strei-
chen von vorbereiteter Art regte sich mehr ein bewußter
Drang zum Bekenntnis; man möchte sagen, das Gewissen
war stumm geworden.
Wir erkennen in unserem Falle auch den Zusammenhang
zwischen dem Geständniszwang und dem Drange zum Heraus-
geben des Stuhles, wobei es zu einer Verschiebung des
Zwanghaften gekommen war, welches das Kind bei der
Defäkation fühlte. Die Angst vor dem Stuhlgang, das Zurück-
halten des Stuhles und das schließlich erfolgende Loswerden
desselben entspricht völlig der Angst am Heimweg nach
ihren ersten Streichen, dem hastigen Erzählen und Reden
über die Missetat zu Hause und der darauffolgenden Erleich-
terung. Das Zwangsbeten, in dessen Mittelpunkt die Sorge
wegen des Stuhles steht, hat, wie Freud in seiner Arbeit
über eine infantile Neurose gezeigt hat, ebenfalls das Zwangs-
moment aus den Defäkationssensationen übernommen. Es
wird an diesem Beispiele auch ersichtlich, was den eigent-
lichen Charakter des Gebetes überhaupt ausmacht: es ist ein
unbewußtes Geständnis an Gott, der die Eltern vertreten
hat. Wir sind schon früher auf den Zusammenhang von
Geständniszwang und Defäkationszwang, Zurückhalten des
Geständnisses und Analtrotz eingegangen. Es ist leicht zu
erraten, daß der Geständniszwang mit dem kindlichen Defä-
kationszwang nach Stuhlzurückhaltung verglichen werden
kann. Hier werden wohl auch die letzten Wurzeln seines
zwanghaften Charakters zu suchen sein; die Angstlust des
Kindes bei der analen Zurückhaltung findet sich in den
Zur Kinderpsychologie und Pädagogik 219
psychischen Vorgängen der Geständnisangst und der Geständ-
nislust wieder. Wir erinnern nur mit einem Worte daran,
daß das Hergeben des Stuhles vom Kinde als Ausdruck der
Liebe gewertet wird, und weisen auf den unbewußten Zweck
des Geständnisses hin, der in der Wiedergewinnung der
Gesellschaft besteht. Die analytische Beobachtung zeigt Ihnen
übrigens, daß die Vernachlässigung der Reinlichkeit, der
Schmutz selbst zum unbewußten Zeichen des Schuldgefühles
wird, das noch in der neurotischen Reaktionsform des W T asch
zwanges seinen Geständnischarakter beibehält. Die religiösen
Riten antiker Völker, welche den Angehörigen von Toten
die Pflege des eigenen Körpers verboten, ja Unreinlichkeit
zur Pflicht machten, bestätigen indirekt den in der Neurosen-
symptomatologie gefundenen psychologischen Zusammenhang
von Unreinlichkeit und unbewußtem Schuldgefühl. Die
Bedeutung der exhibitionistischen Lust, die sich so gerne
sekundär mit masochistischen Neigungen verbindet, ist im
Geständniszwange so unverkennbar, daß sich ihre Erörterung
in diesem Zusammenhange erübrigt. Der Hinweis auf die
Arbeiten von Abraham über den oralen Charakter wird
genügen, um Sie daran zu erinnern, welche Beziehungen sich
zwischen bestimmten Charakterzügen aus Verschiebungs-
vorgängen auf oralem Gebiete und dem Geständniszwang
ergeben. Der von Abraham betonte Gegensatz von Reten-
tions- und Entleerungslust muß für die Theorie des Geständnis
Zwanges bedeutungsvoll werden.
Ein neuer Gesichtspunkt, den wir aus der Analyse des Dieb-
stahles des Kindes gewinnen, eröffnet uns den Ausblick auf
neue Probleme. Wir haben früher darauf hingewiesen, daß
die kleine Lotte nach dem Diebstahl keinerlei Drang zum
Geständnis mehr verspürte] wie in der vorangegangenen
320 Geständniszwang und Straf Bedürfnis
Zeit. Dafür mögen mehrere Momente bestimmend gewesen
sein, eines aber wird als ausschlaggebend anerkannt werden
müssen: die Gesellschaft der Mitschülerin. Schuldgefühl ist
ja nach Freuds Beschreibung „soziale Angst" und die
Tatsache, daß die Freundin von dem Diebstahl wußte, mußte
den Geständniszwang abmildern wie die „Masse zu zweit"
das Strafbedürfnis. Von hier führt eine Gedankenreihe zur
Psychologie der Verbrecherbande. Es ist von analytischen
Gesichtspunkten aus leicht zu verstehen, daß das Straf-
bedürfnis durch das Bandenwesen sehr abgeschwächt wird:
die Gemeinschaft hebt das Schuldgefühl auf, da sie das
Verbrechen sogar befiehlt. Die staatliche Autorität (Polizei,
Gericht), die sonst als Vaterersatz fungiert, wird hier durch
den Führer ersetzt, an den das einzelne Mitglied der Bande
in Liebe und Bewunderung gebunden ist. Daß der Anführer
einer Bande seiner psychologischen Funktion nach wenigstens
zeitweise durch eine Idee ersetzt werden kann, wird beim
politischen Verbrecher zur Realität. Die bekannte Ver-
schwiegenheit der Mitglieder einer solchen Verbrecherbande,
und die Schwierigkeit, sie zum Geständnisse und zur Angabe
der anderen Mitglieder zu bringen, ist in der unbewußten,
homosexuellen Bindung der Einzelnen aneinander und an
den Führer begründet. Es wird bei der psychologischen
Würdigung dieser Tatsache zu beachten sein, daß das Straf-
bedürfnis und mit ihm der Geständniszwang durch das Auf-
gehen in eine Gemeinschaft gemildert, ja aufgehoben wird, was
immer diese Gemeinschaft sein mag. Ich will nur noch auf
die interessante psychologische Konstellation bei jenen Ver-
brechern hinweisen, deren Eltern selbst Verbrecher waren,
welche die Kinder früh an ihren Delikten teilnehmen ließen.
Auch hier hat sich ein (negatives) Über-Ich gebildet. Man
Zur Kinderpsychologie und Pädagogik
kann auch bei diesen Verbrechern Anzeichen späterer Iden-
tifizierungsversuche (mit Lehrern, Priestern usw.) konstatieren,
denen gegenüber sich indessen die ersten Objektintrojektionen
als resistent erwiesen. Es kommt manchmal in diesen Fällen
zur Bildung mehrerer Über-Iche und zum Konflikt zwischen
primärem und sekundärem Über-Ich. Hier aber eröffnet sich
ein Weg zu einigen Fragen des kollektiven Lebens, die wir
das nächstemal unter den Gesichtspunkten des Geständnis-
zwanges erörtern wollen.
ZEHNTE VORLESUNG
Der soziale Geständniszwang
Meine Damen und Herren! Wir haben bernerkt, welche
psychische Wirkung das Geständnis auf das Indivi-
duum hat. Die Entlastung vom Strafbedürfnis und der Neu-
erwerb von Liebe ist nicht die einzige Wirkung dieser Art.
Auch der Zerfall der Persönlichkeit wird durch das Geständ-
nis aufgehoben, die Kommunikation zwischen dem Ich und
dem ihm entfremdeten Ichanteil wird wieder hergestellt.
Um ein Bild, das ein Patient einmal galgenhumoristisch
verwendete, zu gebrauchen: der polizeilich nicht gemeldete
Aftermieter des Seelenlebens hat sich zur Polizei begeben
und gemeldet und ist dort legal als Mitbewohner anerkannt
worden. Das Geständnis läßt den Einzelnen sehen, was er
in sich nicht sehen wollte 5 wir haben schon gesagt, daß dies
eine entschiedene Kränkung des bewußten Selbstgefühles mit
sich bringt, aber gerade zur Stärkung der unbewußten Ich-
besetzung werden kann.
Wenn wir aber uns selbst lieben, setzen wir nur in eigener
Regie fort, was wir seit unserer Kinderzeit von außen erfahren
haben : die Liebe, die man uns gewidmet hat. Wir sind
unbewußt niemals allein, denn das Ich ist selbst ein Nieder-
schlag unserer frühesten und bedeutsamsten Identifizierungen.
Der soziale Geständniszwang 22 z
Wenn es wahr ist, was die Dichter verkünden, daß alles
Leid Einsamkeit und alles Glück Gemeinsamkeit ist, so muß
das Gefühl der Einsamkeit das ursprünglichere des Verlassen-
werdens von den Eltern, des Liebesverlustes bei den Eltern
oder beim Über-Ich ersetzen und es müßten sich noch Spuren
dieser Herkunft des Gefühles finden lassen. Dafür scheint die
analytische Beobachtung zu sprechen, daß das Einsamkeits-
gefühl der endopsychischen Wahrnehmung der eigenen Liebes-
unfähigkeit entstammt, die sich als unbewußtes Schuldgefühl
äußert.
Hier mag eine der Wurzeln der Arbeitstherapie der Neu-
rosen, die so häufig und eindringlich empfohlen wird, liegen:
jede Arbeit ist ein soziales Tun und bringt neben der Ersatz-
befriedigung unbewußter Impulse auch eine partielle Befrie-
digung des Strafbedürfnisses, Beschwichtigung des Schuld-
gefühles. Erinnern Sie sich der Genesiserzählung, in der Jahwe
Adam und Eva nach dem Sündenfall mit Arbeit strafte und
in der die Arbeit eben das Bebauen des Erdbodens, also ein
Ersatz der verbotenen Tat, war? Der Sühnecharakter der
Arbeit bedingt neben der sexuellen Ersatzbefriedigung die
Befreiung von sozialer Angst, als welche Freud das Schuld-
gefühl beschrieben hat. Die schweren Arbeitshemmungen,
die uns in der Analyse so oft beschäftigen, zeigen unzwei-
deutig die Verschiebung einer Störung der Sexualität; sie
lassen aber ebenso klar erkennen, daß sich die Patienten die
Arbeit als Form der psychischen Bewältigung des Schuldgefühles
nicht gestatten und wegen der Tiefe ihres Strafbedürfnisses
nicht gestatten können.
Wir sind vom Symptom der Neurotiker ausgegangen. Das
Symptom ist seinem Wesen nach ein unbewußtes Geständnis
verdrängter Triebregungen. In manchen Symptomen, wie
224 Geständniszwang und Straf bedürfnis
z. B. im hysterischen Anfall, in der Zwangshandlung, in der
phobischen Angst wird der Charakter des neurotischen Symptoms
als der eines agierten, dargestellten Geständnisses besonders
klar. Die von Freud beschriebene negative therapeutische
Reaktion in der Analyse gehört in diesen Zusammenhang.
Der Leidenscharakter der Symptome gestattet es, sie mit
anderen, uns bereits bekannten Phänomenen zu vergleichen.
Es ist Ihnen nicht entgangen, daß derselbe unbewußte Selbst-
verrat, der in den neurotischen Symptomen zum Ausdruck
kommt, sich auch in den vielfaltigen Aktionen der Selbst-
schädigung, des Gegen-das-Ich-Arbeitens zeigt, das so viele
kleine und große Malheure produziert. Der Radfahrer, der
einem bestimmten Hindernis ausweichen will und gerade
daran zu Fall kommt, der Bittsteller, der sich durch ein
„zufalliges" Wort um den erhofften Erfolg bringt, der junge
Mann, der um ein Mädchen wirbt und eine folgenschwere
Ungeschicklichkeit begeht, sie sind alle dem unbewußten
Straf bedürfhisse verfallen. Ich stelle mir gerne vor, daß alle
jene hämischen, boshaften und schadenfrohen Geister und
Kobolde unserer Märchenwelt — denken Sie an Puck in
Shakespeares heiterem Spiele — Personifikationen jener
geheimen, psychischen Tendenzen sind, die sich gegen das
Ich richten. Sie wissen, daß die Unfälle und die „unbeab-
sichtigten" Selbstmorde zu jenen Vorfällen gehören, in denen
sich der stumme Todestrieb erfolgreich des unbewußten Straf-
bedürfnisses der Menschen bedient, um seine Ziele zu erreichen.
Es wäre noch so vieles über dieses Thema zu sagen, aber
die Zeit drängt und wir wollen wieder zur Erörterung des
Geständniszwanges zurückkehren.
Die psychologische Entwicklungsgeschichte der Menschheit
belehrt uns darüber, welche Stellung wir dem Geständnis-
Der soziale Geständniszwang
225
zwange in ihr einzuräumen haben. Antriebe aus äußeren
und inneren Notwendigkeiten haben zusammenwirkend zur
Unterdrückung und Verdrängung der stärksten Triebregungen
geführt. Was einst durch Machtmittel von außen aufge-
zwungen worden war, wurde im Laufe der Jahrhundert-
tausende innerer Erwerb. Wenn wir die ursprünglichen
Maßregeln, durch welche die Durchbrechung der Tabuverbote
gesühnt wurden, mit unseren heutigen Gesetzen vergleichen,
so werden wir feststellen, daß die Strafen, die von außen
auferlegt wurden, grausamer, oft lebenszerstörender Art waren.
Die äußeren Strafen haben sich gemildert, aber das innere
Strafbedürfnis ist gewachsen und ist durch die säkulare Ver-
drängung strenger und intensiver geworden. Es wirkt jetzt
auf die Lebensgestaltung der Menschen genau so grausam
und lebenszerstörend ein wie ehedem die äußere Strafe. Das
Geständnis ist ein psychischer Vorgang, der entstanden ist,
um eine Entlastung von dem übergroßen Druck des unbe-
wußten Strafbedürfnisses der Menschheit herbeizuführen.
Sie wissen schon, es handelt sich um ein präexistentes
Schuldgefühl, das einmal im Laufe der Menschheitsgeschichte
erworben wurde. Die ersten Reaktionen der Menschheit auf
das Urverbrechen, die Ermordung des Urvaters, stellen große
unbewußte Geständnisse dar und die mächtigen sozialen
Institutionen, die sich auf diesen Reaktionsbildungen auf-
bauten, weisen alle die Spuren derselben Regungen auf,
welche jene frühen Geständnisse viel deutlicher zeigten ;
auch sie sind unbewußte Geständnisse der Gesamtheit. In
diesem Lichte gesehen, stellt sich die Entwicklung der
Menschheit als ein großartiges Ringen um die Bewältigung
des Ödipuskomplexes dar und bietet so die kollektive Ana-
logie zum Leben des Einzelnen, zum biologisch bedingten
Reik, Geständniszwang und Straf bedürfnis. ,-
226
Geständniszwang und Strafbedürfnis
Entwicklungs- und Reifeprozeß des Individuums. Großartige
Triebdurchbrüche, wie Kriege, Revolutionen, religiöse und
nationale Verfolgungen, aber auch Feste und Orgien bringen
gewaltige und gewaltsame Triebeinbrüche in das gesicherte
Reich des säkularen Verdrängungsfortschrittes. Die Menschen,
die am Kulturbau arbeiten, müssen sich dabei etwa benehmen
wie die Juden beim Bau des zweiten Tempels, die mit der
einen Hand die Ziegel aufeinanderschichteten und mit der
anderen das Schwert hielten, um die störenden Feinde abzu-
wehren. Die Bedeutung des Vaterideals und des Mutter-
idols, die ich bereits anderen Ortes als Gegensatz aufgestellt
habe, wächst in diesem kulturellen Prozeß ins Gigantische,
denn an sie sind für immer die Anforderungen des Straf-
bedürfnisses und des Triebandranges gebunden.
Wir könnten sagen, daß so viele und so mächtige Ten-
denzen sich auch dem Geständniszwang hemmend in den
Weg stellen, er am Ende doch siegreich bleibt und sie alle
überwindet. Was so für das individuelle Leben zutrifft,
spiegelt sich auch in der Menschheitsentwicklung wieder.
Wenn wir die drei Denksysteme, welche die Menschheit im
Laufe der Zeiten hervorgebracht hat, betrachten, so erkennen
wir, daß in der animistischen Periode noch die elementare
Außerungstendenz der Triebregungen herrscht. Aber in ihren
späteren Stadien treten bereits Schuldgefühl und Straf-
bedürfnis auf und bereiten so die folgende Entwicklung zur
Religion vor. Die Projektion feindlicher Tendenzen und die
Dämonenabwehr auf der Stufe der animistischen Welt-
anschauung sind Zeugnisse dieser Einwirkung. Der Mythus
und die Kunst, die sich auf animistischen Voraussetzungen
aufbauen, stellen starke Wünsche, denen die Realität ver-
sagend entgegengetreten ist, dar, aber später lassen sie auch
Der soziale Geständniszwang
227
die hemmenden Mächte zu Worte kommen, bis auch diese
in der veränderten Form inneren Einspruches und psychi-
scher Gegenströmungen selbst zum Gegenstand des Mythus
und der Kunst werden. Die Religion ist selbst ein unbe-
wußtes Geständnis der starken Impulse, zu deren Abwehr
sie entstanden ist; ihre Entwicklung führt aber in ihren
Endstadien regelmäßig zum Problem des Gewissens, zur
Erkenntnis der großen Triebtendenzen und der gegen sie
gerichteten Hemmungen, also zum Geständnis. Wir haben
in Sündenbekenntnis und Beichte. ein Resultat der Wirkung
des unbewußten Geständniszwanges erkannt. Diesen religiösen
Geständnissen reiht sich das wissenschaftliche an: die unbe-
wußten Triebströmungen und das unbewußte Gewissen werden
selbst zum Forschungsobjekt. In dem besprochenen Zusammen-
hang dürfen wir sagen, daß sich die Analyse als letztes wissen-
schaftliches Mittel jenen großen Bestrebungen gesellt, die
im Laufe der Menschheitsgeschichte der Bewältigung des
Triebandranges und des durch den säkularen Verdrängungs-
fortschritt gesteigerten Strafbedürfnisses dienten. Die Kunst,
das Recht, die Sitte und die Religion waren unbewußte
soziale Geständnisse gewesen. Die Analyse ist — kultur
geschichtlich betrachtet — das erste bewußte Geständnis der
Gesellschaft, das die triebhaften Grundlagen, auf denen die
Gemeinschaft selbst ruht, einer psychologischen Untersuchung
unterwirft. Wir meinen, es setze den Wert der Analyse
nicht herab, wenn wir behaupten, die Dämonenabwehr in
der animistischen und die Beichte in der religiösen Kultur-
entwicklung haben sich mit primitiven und gefühlsmäßigen
Mitteln um jene Aufgaben bemüht, welche die Psycho-
analyse mit wissenschaftlichen Methoden der Lösung näher-
brachte.
15*
228
Geständniszwang und Straf bedürfnis
Wir werden uns nicht darüber verwundern, daß die
Menschheit so lange brauchte, bis sie erkennen konnte, von
welchen tiefsten Mächten sie getrieben und gehemmt wird
und auf welchen psychischen Grundlagen sie ruht. Das
Leben des Einzelnen und die Entwicklung der Menschheit
zeigen jenen typischen Vorgang des viel späteren, nachträg-
lichen Verständnisses, den Hebbel einmal in dem psycho-
logisch wahren Satz beschrieb, er habe sein Ziel früher
erreicht als erkannt.
Die Psychoanalyse erweist sich als soziales Geständnis vor
allem durch die Heranziehung des unbewußten Seelenlebens
als des eigentlichen Bereiches wissenschaftlicher Psychologie.
Ihre Arbeit, welche die psychische Oberfläche nur berück-
sichtigt, soweit sie als Ausdruck tieferliegender Vorgänge
erscheint, unterscheidet sich von der nur die obersten
Schichten des Seelenlebens behandelnden Psychologie wie
die moderne Dermoplastik von der alten Taxidermie.
Gestatten Sie, daß ich diesen Vergleich ein wenig ausführe:
die alte Taxidermie war eine primitive Methode, Nach-
bildungen von Tieren für zoologische Sammlungen herzu-
stellen. Der Ausstopfer stopfte den Tierbalg voll mit Stroh,
Heu oder Werg, wobei er dem Körper durch eiserne Stäbe
Halt verlieh. Das Material war unzulänglich und der Aus-
stopfer brauchte keine Kenntnis der Anatomie und der
biologischen Eigenart des Tieres zu haben. Es schadete
wenig, wenn sich die Tierhaut nicht gänzlich dem Material
anpaßte. Die Nachbildung des Tieres war fertig, wenn sein
Balg kunstgerecht mit Füllmaterial ausgefüllt war. Dies war
die Methode der alten Taxidermie. Der Dermoplastiker
geht anders vor. Er schafft Nachbildungen der Tiere auf
Grund sorgfältigen Studiums des Tieres selbst. Das minutiöse
Der soziale Geständniszwang 229
Studium der Muskulatur mit ihren Verschiebungen und
Kontraktionen, genaue Kenntnis der Anatomie, der Form-
veränderungen des Tieres in der Bewegung, seines Knochen-
und Muskelbaues sind unerläßliche Voraussetzungen seiner
Arbeit. Daß daneben Formensinn und -gedächtnis ausgeprägt
sein müssen, versteht sich von selbst. Es werden genaue
Modelle des abgehäuteten Tieres angefertigt, wobei jede
Sehne und jeder Skelettvorsprung berücksichtigt wird. Das,
was unter der Haut ist, wird für den Dermoplastiker
wichtiger als die Haut. Nur so gelang es, naturtreue Nach-
bildungen herzustellen und unseren zoologischen Sammlungen
eine neue Grundlage zu schaffen. Das Ergebnis des Zwie-
spaltes zwischen Wollen und Können der alten, oberfläch-
lichen Methode hat Professor Leuckart mit drastischen
Worten in seiner Antrittsrede gezeichnet, als er vor vielen
Jahren in Giessen die Leitung des zoologischen Museums
übernahm: „Ein Zoologe kann im hiesigen Museum Wunder-
tiere sehen, wie sie kaum in alten Märchenbüchern beschrieben
sind, Affen mit Schafsköpfen und Ziegenleibern und Tauben
mit dem Aussehen eines Habichts sind hier sehr gewöhn-
lich. . . . Und mit solchen Präparaten soll man einen
Schüler die Zweckmäßigkeit der Tierformen lehren! Als ob
es nur darauf ankäme, Farbe und Form der Haare und der
Federn zu demonstrieren!" Ähnlich sieht es in unseren
psychologischen Museen aus, den Lehrbüchern der Psychologie
und Psychiatrie, welche sich bestreben, die Oberflächen-
schicht möglichst gut zu schildern.
Die Psychoanalyse schafft als Tiefenpsychologie die Voraus-
setzungen für tiefgreifende soziale und psychische Verände-
rungen. Als soziales Geständnis zeigt sie der Menschheit, wie
es mit dem menschlichen Triebleben aussieht, wie dieselbe
»30
Geständniszwang und Strafbedürfnis
Menschheit, die sich zu der unterirdischen Gewalt ihrer
Triebregungen nicht bekennen will, von ihr gelenkt wird.
Sie weist aber auch nach, wie die Gesellschaft selbst über
ihre verborgenen Neigungen und Tendenzen urteilt und wie
sie sie verurteilt. Sie bereitet den Abbau der verdrängten
Triebgewalt ebenso wie den des Strafbedürfnisses vor und
führt sie beide zum Bewußtsein. „Pecca fortiter .'" rief Luther
dem unter Gewissensdruck zusammenbrechenden Christen seiner
Zeit zu. Die Analyse hat keine Ratschläge dieser Art zu geben 5
sie bleibt Wissenschaft, die nicht unmittelbar praktischen
Tendenzen zu dienen hat, aber sie zeigt, wie die verdrängten
Triebregungen und das Straf bedürfnis wirken.
Freud hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Psycho-
analyse eine große, narzißtische Kränkung der Menschheit
darstellt. Jeder Tag zeigt Ihnen, daß die Menschheit von
falscher Selbsteinschätzung erfüllt ist, die seltsam zu ihren un-
bewußten Minderwertigkeitsgefühlen kontrastiert. Die Selbst-
gerechtigkeit der Menschen steht in auffallendem Gegensatz
zu dem geheimen Selbstgericht, das sie über sich halten.
Das soziale Geständnis der Analyse hat eine Kulturmission,
die dahin geht, daß die Menschheit die Wahrheit zu sehen
sich getraut: to face the music, würden die Engländer sagen.
Sie beruft sich nicht auf moralische Gründe, sondern sie
zeigt die psychotherapeutische Wirkung der
Wahrheit.
Der unbewußte Geständniszwang aber beweist, daß die
Verstellung und die Lüge eine Last sind und tief im
menschlichen Seelenleben eine Sehnsucht nach Wahrheit
wirkt. Durch das wissenschaftliche Geständnis der Analyse
wird, möchte man hoffen, auch der moralische Mut zur
Aufrichtigkeit in der Gemeinschaft wachsen. Dazu gehört
Der soziale Geständniszwang 251
es aber, sich zu seinen Trieben und zu den Gewissensmächten,
die ihnen entgegenstreben, zu bekennen 5 sich zu sich
selbst zu bekennen. Das Durchdringen der Psycho-
analyse müßte das Ende des seelischen make belief des
Einzelnen und der Gesellschaft bedeuten.
Die Analyse unterwirft sich also zum erstenmale bewußt
dem verborgenen Geständniszwange der Menschheit. Sie
wissen bereits, welches affektives Hindernis sich dem Durch-
setzen des Geständniszwanges beim Einzelnen entgegenstellt:
ein überstarkes Straf bedürfnis, welches sich nicht an dem
bisher gefühlten Leide genug sein läßt. Dies ist aber auch
der stärkste Widerstand, den die Analyse als kollektives
Geständnis in der Welt gefunden hat. Freud hätte mit
Recht sagen können, daß die Psychoanalyse am
übergroßen Straf bedürfnis der Menschheit
gerührt habe, das sich die Entlastung des
Geständnisses noch nicht erlauben will.
Die Analyse wird aber auch die Menschen in anderer
Richtung bescheidener machen. Sie überzeugt sie davon, daß
den verborgenen Mächten des Seelenlebens kein bewußtes
Gegenstreben gewachsen sei. Das tiefe Wort: Fata ducunt
volentem, trahunt nolentem wird von ihr durch neue Ein-
sichten, zu denen wir auch die Theorie des unbewußten
Geständniszwanges rechnen können, aufs neue bestätigt.
Meine Damen und Herren! Ich will noch einmal darauf
hinweisen, daß der Geständniszwang in unserem Sinne nicht
nur als solcher unbewußt ist, sondern auch seinen tiefsten
Motiven nach unbewußt bleibt. Es steht damit wie mit dem
Gewissen, dessen unbewußte Funktion uns Freud gezeigt
hat und das nach seiner Bezeichnung das Gewisseste sein
sollte, dessen wir uns zu rühmen haben. Es ist keine Wort-
332
Geständniszwang und Strafbedürfnis
Spielerei und greift auf verborgene, psychologische Zusammen-
hänge zurück, wenn so auch der Begriff des Wissens selbst
der Analyse zum fragwürdigen wird, wenn sie auch hier
Probleme sieht, welche die alte Psychologie nur geahnt hat
und manchmal nicht einmal geahnt hat. Ich glaube, daß die
Analyse Sie davon überzeugt hat, daß es wirklich zwei Arten
von Wissen gibt: ein bewußtes, mit dem wir zu arbeiten
gewohnt sind, und ein unbewußtes, das oft überraschende
Wirkungen im Seelenleben entfaltet und das die Analyse in
weitem Umfange zum bewußten Besitz des Einzelnen machen
kann. Es besteht also ein tiefer Unterschied zwischen dem
Wissen, das wir durch Lernen, Hören, Lesen und jenem, das
wir durch Erleben erwerben. Streng genommen verdient nur
die zweite Art den Namen eines Wissens, das uns nicht
entrissen werden kann, weil es mit unserem Erleben ver-
wachsen ist. Freud hat betont, daß das Gehörthaben und
das Erlebthaben zwei ihrer psychologischen Natur nach ganz
verschiedene Dinge sind, auch wenn sie den nämlichen Inhalt
haben. Ich habe Ihnen bereits einiges von meinem kleinen
Sohn erzählt ; gestatten Sie, daß ich ihn hier wieder zitiere.
Als Artur die erste Volksschulklasse besuchte, neckte ich
ihn einmal mit der Erkundigung, woher er denn so sicher
wisse, daß zwei und zwei gleich vier seien. Ich ließ seine
Auskunft, er wisse es vom Lehrer und aus dem Rechenbuche,
scherzhaft nicht gelten, indem ich auf die Möglichkeit des
Irrtums auch dieser unantastbaren Autoritäten hinwies. Von
der Frage nach den zuverlässigen Quellen seines Wissens
bedrängt, rief der kleine Junge schließlich ungeduldig aus:
„Aber ich weiß es doch bei mir!" Hier ist der Unterschied
zwischen Wissen von außen und innerer Überzeugung in
kindlich Unbeholfener, aber plastischer Art gekennzeichnet.
Der soziale Geständniszwang
233
Ich wollte Ihnen hier nichts Fertiges und Abgeschlossenes
vorlegen, sondern nur Anregungen geben, die Sie vielleicht
verarbeiten können, Erfahrungen mitteilen, die zu bestimmten
Anschauungen drängen, und Sie bitten, in Ihren eigenen
Beobachtungen die von mir vertretene Theorie der Wirk-
samkeit des unbewußten Geständniszwanges zu überprüfen.
Ich habe Sie auch daran erinnert, wie wenig ein Wissen
wert ist, das sich nur auf Gehörtes gründet, und würde
deshalb wünschen, daß Sie das hier Gehörte mit Ihren
Eindrücken und Erfahrungen vergleichen und mich freuen,
wenn das eigene Erleben Sie dann dazu führte, „es bei sich
zu wissen.
Namen- und Sachregister
Abraham 98, zig.
Absolution 40, 165t, 171.
Adler 89.
Affekt 52, 152.
Agieren 38 f.
„ und Strafbedürfnis 58.
„ als Geständnis 39, 42.
Aichhorn 201.
Aktivität 115.
Ambivalenz 126.
Analerotik 62, 187, 205, 218.
Angst 30 f, 87, i3i, 174.
„ und Beichte 163.
„ und Geständnis 34, 118.
„ und Strafe 138.
„ Verschiebung 34.
Antinomie, psychologische 5.
Arbeitstherapie 223.
Aristoteles 171.
Augustinus 95, 193, 194.
Außenwelt 18, 20 f, 25, 48, 58t.
Äußerungstendenz 11, 21 f.
Balzac 139.
Befriedigung 29, 32, 34, 214.
Beichte 42, i62f.
„ und Analyse 165.
„ und Geständniszwang 161.
Bekenntnis 167.
Blasphemie 13g.
Carlos 119.
Carnavon 70.
Carter 70.
Jjepersonalisation 92.
Dichtung 171.
Drill 157.
Dostojewski 113, 116, 128, 173, 177.
iLbbinghaus 179.
Einsamkeit 223.
Ekdal 172.
Endangst 34.
Erbsünde 95.
Erziehung 62, 217.
Erythrophobie 98.
Es (s. auch Ich, Über-Ich) 49 f, 114.
Ethik 179 f.
Exhibitionismus 219.
Exzeß 208.
r est 209.
Feuerbach 148, 191.
France 77.
Freud 2, 8, g, 10, 11, 15, 23, 27, 30,
34i 3 6 > 3 8 » 4 2 ' 47' 4 8 > 49> 5°. 5^ 55^
61, 64, 65, 66, 70, 73, 77, 78, 84, 89,
92, 94, 95, 96, 103, 110, 111, 112, 115,
121, 123, 142, 151, 152, 153, 171, 184,
188, 189, 190, 192, 193, 194, 195, '97:
20g, 218, 220, 223, 224, 230, 231, 232.
Gauthier de Coincy 68.
Gebet 202 f, 218 f.
Geständnis 13, 17, g8, 101.
„ falsches 110.
,, und Folter 129.
„ und Gesellschaft 30.
„ in der Kriminologie 107.
., negatives 169 f.
„ partielles 117.
„ und Therapie 30 t.
„ und Urteil 130t.
„ und Verdrängung 58.
„ als Versöhnungsversuch 40.
„ als Wiederkehr des Ver-
drängten 45.
wissenschaftliches 227.
Namen- und Sachregister
235
Geständnisangst 33.
Geständnisarbeit 117.
Geständnislust 172.
Geständnisprügel 129.
Geständniszwang 1, 2, 2of, 60, 95, 98 u. a.
•„ und Agieren 59 f.
„ und Analvorgänge 62.
„ äußerer 101, 129, 163.
j, und Äußerungs-
tendenz 25.
„ individueller Cha-
rakter 49.
„ beim Kinde 217.
„ in der Kriminalistik
100 f.
., in der Menschheits-
geschichte 2 25 f.
„ Mobilität 49.
,, und Psychoanalyse 227.
„ Psychogenese 59.
„ sozialer 222.
., und Strafbedürfnis
35, 74-
„ und Über-Ich 49 f.
„ unbewußter 49.
., und Verbrecher-
bande 220.
„ und Verdrängung 47 f.
Gewissen 36^75, 108, 119, 130, 163, 179 f.
Gewissensangst 60, 194, 199.
Gewissensbisse 120 f.
Gewissenserforschung 163.
Glaubensbekenntnis 167 f.
Goethe 171, 176.
Grimm 101.
Groß 107, 108, 10g.
Handlungen, zweizeitige 98
Hebbel 228.
Hegel 147.
Hobbes ig2.
Homosexualität 6, 40.
Hysterie 41, 75, 95, 140.
Huxley 59.
Ibsen 171, 172.
Ich 2, 46, 49 f, 222.
Ichbesetzung 55.
Identifizierung 25, 48, 195, 222.
Impotenz 85.
Impulshandlungen 209.
Introjektion 57.
Inzest 91.
Irving 140.
Jesus 56.
Ivant 147, 189.
Karamasoff 128.
Kastrationsangst 121, 138.
„ und Schuldgefühl 194.
Katharsis 171.
Kierkegaard 161.
Kinderpsychologie 77, 82, 211.
Kohler 152,
Krankheitsgewinn 73, 206.
Kriminalistik 94, 100 f.
Kriminalpolitik 143, 157.
Kriminalpsychologie 128, 135.
Kunst 171 f, 226.
Laotse 56.
Leiden 23, 56, 77 f.
„ als Krankheitsgewinn 78.
„ unbewußtes 71 f.
Leuckart 229.
Liebesbedürftigkeit 81, 201.
Liebeswerbung 40, 134, 222.
„ im Geständnis 56.
Liszt, Pranz v. 132.
Lüge 97.
Luther 163, 165, 176, 230.
Manie 54.
Masochismus 40, 57, 75, 79, 8g, 137, 173,
206, 214, 219.
Melancholie 51, 54, 57, 73.
Monologe igi.
Mord 106.
Mutteridol 226.
Mythus 170 f, 226.
Napoleon 122, 13g.
Narzißmus 55, 82, 230.
Nelson 22.
Nestroy 86, 87, 90.
256 Namen- und
Sackregister
Neurose 28, 50, 89, 223.
Schiller 119, 176.
„ und Leiden 71.
Schizophrenie 37.
„ und Strafe 95.
Schnitzler 125.
B
„ Tiefendimension 69 f.
Schopenhauer 137.
„ Über-Ich 83.
Schuldgefühl 30, 59, 75, 78 f, 91, nof,
„ und Verbrechen 110, 143.
127^ 188, 220.
Nietzsche 63, 69.
„ und Agieren 38.
Nofer-Abu 160.
„ entlehntes 40, 52.
Odipus 171.
„ und Liebesbedürftigkeit
H
81.
Ödipuskomplex 59, 83, 142, 197, 205,
„ in den Neurosen 5 1 f .
206, 225.
„ präexistentes 77, 151.
■ ■
„ und Über-Ich 89.
„ und Verbrechen 151.
Ökonomisches Moment 47.
Schweigen 53, 123^ 177 f.
Onanie 91 f, 187, 194, 204.
Selbstbestrafung 137 (s. Strafe).
„ und Zwang 208.
Selbstbeschädigungstendenzen 224.
Oralerotik 219.
Sexualität 33, 8g, 95, 205 f, 223.
Organempfindung 140.
Sexualtheorie 205.
Shakespeare 224.
\
Pädagogik 200 f.
Sokrates 17g.
Paranoia 189 f.
Spiel ig8.
Paulsen 179.
Sprache 174.
Paulus 193.
Sprechen aus dem Traume 66.
Phobie 138.
Storfer 142.
Perversion 214t.
Stottern 97.
Projektion 105.
Strafangst 33.
1
Pseudologia phantastica 97.
Strafbedürfnis 31, 54, 11g, 127.
Psychoanalyse 12, 60, 63, 6g, 78, 82,
„ und Feindseligkeit 2, 12.
■
199> 2 3°-
„ und Geständnis 32, 35, 74.
„ und Geständnis-
„ des Kindes 201.
zwang 227.
„ und Krankheitsgewinn 74.
^B "
„ und Kriminologie 102.
„ und Leid 74.
„ und Psychologie 228.
„ und Liebesanspruch 81.
„ und Straf bedürfnis 231.
„ und Psychoanalyse 231.
„ und Strafrechtswissen-
„ als schicksalsformende
schaft 102.
Macht 84.
Puck 224.
„ und Sexualität 8g.
„ drei Stadien 94.
Itache 90, 146.
„ undTriebbefriedigunggi.
In
Rank 146.
„ und Verbot g4.
Raskolnikoff 113, 177.
,, und Versuchung 94.
Ravaillac 146.
„ und Widerstand 76.
Rechtsgeschichte 142.
Strafe 32, 40, 134, 147 f.
Ree 179.
„ und Neurose 95, 136.
Religion 56, 7g, 95, i6of. 189, 227.
„ und Ödipuskomplex 142.
„ und Gelübde 209 f.
„ als Zeichen des Geliebtwerdens 57.
„ und Geständnis 56.
„ und Strafbedürfnis 151 f.
Reue 116.
„ und Geständnis 225.
^H
Namen- und Sachregister
237
Strafe als Reiz zum Verbrechen 154.
„ Zukunft 155.
Strafgericht 162.
Strafprozeßordnung 12g.
Strafrecht, Geschichte 143.
Strafrechtstheorie 135 f. 146 f.
„ analytische 151 f.
Strafrechtsverfahren 101.
Strafträume 65.
Sublimierung 56, 96.
Symptom, neurotisches 22, 26, 223.
„ „ als Geständnis
23, 27, 223.
Symptomhandlungen 99.
Tabu 153.
Talion 145.
Talleyrand 174.
Tat ii4f.
Tatbestandsdiagnostik 102, 111.
Technik 78 t, 96.
Terminsetzung 80.
Therapie 30 f, 8g.
„ aktive 29, 42, 43, 7 gf.
Todestrieb 224.
Tolstoi 175.
Trauer 73.
Traumanalyse 63 f.
Triebregungen 2of, 33, 91, 95, g8, 226.
Tut-Ench-Amun 70.
Über-Ich 23, 48 f, 58, 76, 118, i88f,
*97-
„ negatives 220.
„ und Neurose 83.
Übertragung '5, 7, 28, 42, 83, g6, 144.
Übertragungsschwierigkeiten 60 f.
Übertragungswiderstände 2g.
Unbewußtes 3, 24, 48.
„ Erleben 69 f.
Unlust 47.
Vaterideal 226.
Verbot g4f, nof, 208 f.
Verbrecher 108, nof, 177, 215, 116.
„ -bände 220 f.
„ und Gesellschaft 133.
„ und Geständnis 130 f.
„ Motive ii4f.
„ und Schuldgefühl 114, 151.
Verdrängung 2, 22, 45, gg.
„ Wiederkehr g, 45 t, 67 f.
Vergessen 106.
Verschreiben 12, 103 f.
Versprechen 13 f.
Verständnis, nachträgliches 228.
„ unbewußtes 16, 26.
Versuchung g3.
Vorangst 34, 118.
Vorbewußtes 37, 45 f, 48.
Vorlust 33.
Waschzwang 219.
Widerstand 7, 29, 80, 112, 145.
„ und Strafbedürfnis 76, 251.
Wissen 69 f, 112, 115, 170, 233.
Witz 30, 47, 174.
Wortvorstellungen 35, 190.
„ und Agieren 42.
Wortwahl gg.
Wundt 17g, 180.
Wunscherfüllung 64^ 170 f.
ZiWang 24^ 80, 81, 208.
Zwangsarbeit 137.
Zwangsgedanken 144.
Zwangsneurose 23, 40, 51, 54f, 57, 75,
77' 8 7> 9X. 9 8 ' 12of > iS 8 » '59. H 1 '
144, 16g, 201, 202.
Zwangsvorstellung 121.
Zweifel 105.
Zu korrigieren:
Seite 10, Zeile 10: statt „wieder" soll richtig heißen: wird er
„ g8, „ 16: „ „zwischen" „ „ „ von
„ 141, „ 4: „ „seinem" „ „ „ seinen
Inhalt
Seite
Vorwort . . , III
I. Einführung 1
II. Der unbewußte Geständniszwang 20
III. Zur Wiederkehr des Verdrängten 45
IV. Zur Tiefendimension der Neurose 69
V. Der Geständniszwang in der Kriminalistik .100
VI. Die psychoanalytische Strafrechtstheorie .........155
VII. Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache . 160
VIII. Zur Entstehung des Gewissens 179
IX. Zur Kinderpsychologie und Pädagogik . . . 200
X. Der soziale Geständniszwang 222
Namen- und Sachregister 234
Von Dr. Theodor Reik erschien früher:
Flaubert und seine Versuchung des Heiligen Antonius. Ein Beitrag
zur Künstlerpsychologie. Mit einer Vorrede von Alfred Kerr.
Minden i. W. [1012].
Arthur Schnitzler als Psycholog. Minden i. W. [1913].
Probleme der Religionspsychologie I. Teil: Das Ritual. (Inter-
nationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. V.) Mit einer Vorrede von
Prof. Dr. Sigm. Freud. Leipzig, Wien, Zürich. IQIQ.
Der eigene und der fremde Gott. Zur Psychoanalyse der religiösen
Entwicklung. (Imago-Bticher, Bd. III.) Leipzig, Wien, Zürich. 1923.
Dr. Theodor Reik
Der eigene und der fremde Gott
Zur Psychoanalyse der religiösen Entwicklung
Inhalt: Über kollektives Vergessen / Jesus und Maria im Talmud / Der heilige
Epiphanius verschreibt sich / Das Evangelium des Judas Ischarioth / Die psycho-
analytische Deutung des Judasproblems / Gott und Teufel / Die Unheimlichkeit
fremder Götter und Kulte / Das Unheimliche aus infantilen Komplexen / Die
Äquivalenz der Triebgegensatzpaare / Über die Differenzierung
Reik darf mit Recht als der tiefblickendste und scharfsinnigste Religionspsychologe unserer Zeit genannt
werden. („Schulreform", Bern)
Ein geistreiches Buch. Ein Versuch, die Erscheinungen der religiösen Feindseligkeit und Intoleranz zu
erklären und den Ursachen der ^religiösen Verschiedenheiten nachzuforschen. Reik ist einer der hellsten
Köpfe unter den Psychoanalytikern. (Alfred Döblin in der „Vossischen Zeitung")
Gut, wenn auch wohl zu fein durchgeführt, ist die Analyse des Fanatismus, der auf innere Geteiltheit, eine
„Äquivalenz von Triebgegensatzpaaren" zurückgeführt wird . . . Man wird eine Methode, die so tiefe Sach-
verhalte aufdecken kann, nicht a limine ablehnen. (Prof. Titius in der „Theologischen Literaturzeitung")
Zwei Jahrtausende haben über das Judasproblem gegrübelt und es fast zergrübelt . . . Nun tritt Reik psycho-
analytisch an diese tiefsten Fragen heran . . . Im Mittelpunkt steht die Deutung des Judasproblems. Jesus
und Judas in ihren Wurzeln verschmolzen und einwesenhaft. Man muß Reiks wuchtigen Vorstoß
anerkennen . . . Rücksichtslos geht der Weg, zwar oft durch Dunkel und Schrecken und kaltes Grauen.
Aber wer den Mut dazu hat, kann sich getrost der sachkundigen Führung Reiks anvertrauen.
(„Bremer Nachrichten")
Manches darin wird starken Anstoß erregen, und doch . . . findet man immer wieder etwas in ein neues
Licht gerückt, und zwar so, daß es einleuchtet. Wieviel Bücher gibt es denn, von denen man das sagen kann ?
(Dr. Drill in der „Frankfurter Zeitung")
Die Bedeutung des Buches liegt darin, daß es — auch dem nicht auf dem Boden der psychoanalytischen
Theorie Stehenden — zeigt, wie die Psychoanalyse der Religionspsychologie und Religionsgeschichte, ja der
allgemeinen R eligionswissenschaft überhaupt mannigfach bisher unbetretene Wege zu weisen imstande ist.
(Dr. theol. et phil. F. K. Schumann in der „Zeitschrift für Sexualwissenschaft")
Das Buch ist unmittelbar erschütternd. Es versäume niemand, dem psychologischen Zusammenhang zwischen
Christus und Judas Ischarioth unter Reiks sachkundiger Führung nachzusinnen. Der erste Eindruck mag
leicht ähnlich erschreckend wirken, wie die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle ; allein auch hier wird
sich der Schreck, vom Richtigen richtig erlebt, als heilsam erweisen.
(Graf Hermann Keyserling im „Weg zur Vollendung")
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien, VII. Andreasgasse 3
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien, VII. Andreasgasse 3
Internationale Psychoanalytische Bibliothek
X)Dr. KARL ABRAHAM: Klinische Beiträge zur Psychoanalyse. Geh. 8.—,
Halbleinen 10. —
Aus dem Inhalt: Die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die Symptomatologie der
Dementia praecox. Sexualität und Alkoholismus. Die Verwandtenehe. Ein Fall von Fuß- und
Korsettfetischismus. Straßenangst im Kindesalter. Einschränkungen und Umwandlung der Schau-
lust. Über neurotische Exogamie. Über eiaculatio praecox. Das Geldausgeben im Angstzustand usw.
XI) Dr. ERNEST JONES: Therapie der Neurosen. Geh. /.— , Halbleinen 6. so
Inhalt: Allgemeines über die Neurosen. Hysterie. Angsthysterie. Neurasthenie. Zwangsneurosen.
Hypochondrie u. Fixationshysterie. Traumatische Neurosen, einschl. der Kriegsneurosen. Prophylaxe
der Neurosen. Psychische Behandlung anderer, den Neurosen nahestehender Zustände.
XII) Dr. J. VARENDONCK: Über das vorbewußte phantasierende Denken.
Geh. j. — , Halbleinen 6,$o
Aus dem Geleitwort von Prof. Freud: „Das Buch des Dr. V. enthält eine bedeutsame Neuheit und
wird mit Recht das Interesse aller Philosophen, Psychologen und Psychoanalytiker erwecken. Es ist
dem Autor in jahrelangen Bemühungen gelungen, jener Art von phantasierender Denktätigkeit hab-
haft zu werden, welcher man sich während der Zustände von Zerstreutheit hingibt, und in die man
leicht vor dem Einschlafen oder bei unvollkommenem Erwachen verfällt ... Er hat dabei eine
Reihe von wichtigen Entdeckungen gemacht."
XIII) Dr. S. FERENCZI: Populäre Vorträge über Psychoanalyse. Geh. ;.—, Halb-
leinen 6.fo
Aus dem Inhalt: Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen. Träume der Ahnungs-
losen. Suggestion u. Psychoanalyse. Der Witz u. das Komische. Ein Vortrag für Richter u. Staats-
anwälte. PsA. u. Kriminologie. Philosophie u. PsA. Zur Psychogenese der Mechanik. Cornelia, die
Mutter der Gracchen. Anatole France als Analytiker. Glaube, Unglaube, Überzeugung usw.
XIV) Dr. OTTO RANK: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die
Psychoanalyse. Geh. 8.;o, Halbleinen io. — , Halbleder 14. —
Inhalt: Analytische Situation. Infantile Angst. Sexuelle Befriedigung. Neurotische Reproduktion.
Symbolische Anpassung. Heroische Kompensation. Religiöse Sublimierung. Künstlerische Idealisierung.
Philosophische Spekulation. Psychoanalytische Erkenntnis. Therapeutische Wirkung.
XV) Dr. S. FERENCZI: Versuch einer Genitaltheorie. Geh. 4.S0, Halbleinen 5. so
Inhalt: Die Amphimixis der Erotismen im Ejakulationsakt. Der Begattungsakt als amphimik-
tischer Vorgang. Entwicklungsstufen des erotischen Realitätssinnes. Deutung einzelner Vorgänge
beim Geschlechtsakte. Die individuelle Genitalfunktion. Phylogenetische Parallele. Zum „thalassalen
Regressionszug". Begattung und Befruchtung. Koitus und Schlaf. Bioanalytische Konsequenzen.
XVI) Dr. KARL ABRAHAM: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung.
Geh. 2.S0, Pappband ).20, Halbleinen 4. —
Inhalt: Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter. Beiträge der Oralerotik zur Charakter-
bildung. Die Charakterbildung auf der „genitalen" Entwicklungsstufe.
XVII) Dr. PAUL SCHILDER: Entwurf zu einer Psychiatrie auf psychoanalytischer
Grundlage. Geh. 7. — , Ganzleinen o. —
Aus dem Inhalt: Die feinere Struktur des Ideal-Ichs u. das Wahrnehmungs-Ich. Phänomenologie
des Icherlebens. Selbstbeobachtung u. Hypochondrie. Depersonalisation. Verdrängung u. Zensur,
Symbol u. Sphäre, Sprachverwirrtheit. Die Schizophrenie als Krankheit u. der Krankheitsbegriff
in der Psychiatrie. Epilepsie. Manisch-depressives Irresein. Korsakoff. Intoxikationen. Therapie.
XVIII) Dr. TH. RE1K: Geständniszwang und Strafbedürfnis. Geh. 8. — , Ganzleinen 10. —
Inhalt: Der unbewußte Geständniszwang. Zur Wiederkehr des Verdrängten. Zur Tiefen-
dimension der Neurose. Der Geständniszwang in der Kriminalistik. Die psychoanalytische Straf-
rechtstheorie. Der Geständniszwang in Religion, Mythus, Kunst u. Sprache. Zur Entstehung des
Gewissens. Zur Kinderpsychologie u. Pädagogik. Der soziale Geständniszwang.
Preise in Mark
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien, VII. Andreasgasse 3
Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse
Herausgegeben von Prof. S i g m. Freud
I) Dr. S. FERENCZI und Dr. OTTO RANK: Entwicklungsziele der Psychoanalyse.
Geheftet 2.80, Pappband f.fo
Inhalt: Die analytische Situation. Der Libidoablauf und seine Phasen. Die Lösung der Libido-
fixierung im Erlebnismoment. Historisch-kritischer Rückblick. Theorie u. Praxis. Ergebnisse. Ausblicke.
II) Dr. KARL ABRAHAM: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf
Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen. Geh. j.50, Pappband 4. —
Inhalt: I. Die man.-depress. Zustände u. die prägenitalen Organisationsstufen der Libido (Melancholie
u. Zwangsneurose. Zwei Stufen der sadist.-analen Entwicklungsphase. Objektsverlust u. Introjektion in
der normalen Trauer u. in abnormen psych. Zuständen. Zwei Stufen der oralen Phase. Das infantile Vor-
bild der melanchol. Depression. Die Manie. Die psa. Therapie). — II. Anfänge u. Entwicklung der Objektliebe.
ÜI) Dr. O. RANK: Eine Neurosenanalyse in Träumen. Geh. 7.—, Pappband 8.—, Halbleder 11.—
Inhalt: Die Widerstandsphasen. (Kastrationswiderstand. Zählzwang. Phantasiebildungen. Mutter-
regression. Libidoübertragung. Schuldgefühl.) Die Heilungsfaktoren. (Ungeduld u. Resignation. Identi-
fizierung mit dem Analytiker. Akzeptierung der Schwester. Entwöhnungsphase. Lösung von der Analyse.)
IV) Dr. WILHELM REICH: Der triebhafte Charakter. Geh. 4.50, Ganzleinen 6.—
Inhalt: Allgemeines über den neurot. u. den triebhaften Charakter. Ambivalenzkonflikt u. Über-Ich-
Bildung beim triebgehemmten Charakter. Der Einfluß der Partialtriebe auf die Gestaltung des Über-
leb. Geschlechtliche Fehlidentifizierung. Ambivalenzkonflikt u. Ich-Bildung beim triebhaften Charakter.
Einflüsse der Erziehung. Grenzfälle. Die Isolierung des Über-Ich. Verdrängung des Über-Ich. Über den
schizophrenen Projektionsvorgang und die hyster. Spaltung. Therapeutische Schwierigkeiten.
V)Dr. HELENE DEUTSCH: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen.
Geh., },fa Ganzleinen 5. —
Inhalt: Infantile Sexualität des Weibes. Der Männlichkeitskomplex. Differenzierung von Mann u.
Weib in der Fortpflanzungsperiode. Psychologie der Pubertät. Erste Menstruation. Typische Beschwerden.
Typische Phantasien. Triebschicksal in der Pubertät. Der Deflorationsakt. Schaffung der neuen erogenen
Zone. Frigidität u. Sterilität. Schwangerschaft u. Geburtsakt. Wochenbett. Stillperiode. Klimakterium.
Beihefte der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse
Herausgegeben von Prof. Sigm. Freud
I) JELGERSMA: Unbewußtes Geistesleben. Geh. -.80
Rektoratsrede zum 339. Jahrestag der Leidener Universität.
III) Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse in den Jahren IQI4-IOIO- Auf holz-
hält. Papier, geheftet 9, — , auf holzfreiem Papier, Halbleinen 18.-, Halbleder 22. —
Aus dem Inhalt: Das Unbewußte (Reik). Traumdeutung (Rank). Trieblehre (Hit seh man n).
Sexuelle Perversionen (B o e h m). Allg. Neurosenlehre (Ferenczi). Spez. Pathologie u. Therapie
(Abraham und Härnik). Psychoanalytische Technik (Ophuijsen). Ethnologie (R 6 heim).
Ästhetik (Sachs). Kinderpsychologie u. Pädagogik (Hug-H e llmuth). Engl.-amerik. Literatur
(Stanford Read). Französische (de Saussure). Holländische (Stärcke). Russische (Spielrein) usw.
IV) AUGUST STÄRCKE: Psychoanalyse und Psychiatrie. Geh. 2.-
Vortrag auf dem VI. Internationalen' ; Psychoanalytischen Kongreß im Haag 1920.
V) Dr. STEFAN HOLLOS und Dr. S. FERENCZI: Zur Psychoanalyse der
paralytischen Geistesstörung. Geh. 2. —
Bericht über die Berliner Psychoanalytische Poliklinik (März 1920 bis Juni 1922). Von
Dr. M. Eitingon. Mit einem Geleitwort von Prof. Sigm. Freud. Geh. —,6o
Zweiter Bericht über die Berliner Psychoanalytische Poliklinik (Juni K)22 bis März 1924).
Von Dr. M. Eitingon. Geh. —40
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und der JVriminologie
Internationale Psychoanalytische BioliotneL. XVIII