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GEORG GRODDECK
DER SEELENSUCHER
EIN PSYCHOANALYTISCHER ROMAN
ZWEITE AUFLAGE : ZWEITES BIS FÜNFTES TAUSEND
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
LEIPZIG WIEN ZÜRICH
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Alle ReMe, besonders das der Übersetzung, vorbehält
1
Copyright 1922
by „internationaler Psychoanalytischer Verlag Wien"
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^KH INTERNATIONAL
SH ^SYCHOANALYTIC
^H UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
1
^
Gedruckt bei K, Liehel, "Wien
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F
1. KAPITEL.
AGATHE, DER HERAUSGEBER, AUGUST MÜLLER
UND DER SEELENSUCHER.
Meine Freundin, Frau Agathe Willen, hat mich auf-
ihrem Sterbelager beauftragt, die Geschichte ihres Bru-
ders, des wunderlichen Herrn Thomas Weltlein zu ver-
öffentlichen. .
„Thomas," sagte sie, ..war der beste Mensch und
der Gescheiteste, denn ich je getroffen habe. Ich bin
schuld daran, daß er so elend zugrunde gegangen ist.
Meine übergroße ReinHchkeit und Angst trieben ihn in
die Stürme hinaus, in denen er Schiffbruch Htt. Und
wenn jetzt jedermann über des Armen Narrheit lacht,
so lastet das mit Zentnerschwere auf meiner Seele. In
meiner Gewissensnot habe ich alles gesammelt, was idi
über die merkwürdigen Erlebnisse meines Bruders er-
fahren konnte. Ich bitte Sie, der Sie ihn kannten und
Hebten, die Zettel. Briefe und Tagebücher, die dort in
der Kiste liegen, durchzusehen, zu ordnen und allen
wohlweisen Männern und Frauen zur Warnung drucken
zu lassen," Damit drehte sich die tapfre Agathe gegen
die Wand und starb.
Es war ein Irrtum der guten Alten, daß ich den
also geschilderten Bruder gekannt oder gar geliebt hätte.
Als mich der Zufall in die Stadt Bäuchlingcn warf, hatte
er schon das ZeitUche gesegnet. Aber die Tote konnte
- 1 — 1
id, nid>t .ehr darübe. belehren. Ar, i^re- Bette .tehen6
gelobte ich, ihrerr letzteu Wunsd, zo erfüllen. E:n .ad>
fichti^es Publikum wolle ver.e.hen, wem .ch ihm weit
XwShg erzähle, wie Thomas Weltlein lebte und stB,b
"'TS Lß ..eine Erzählu.g ^"^f ^^i;':! i'^'-^,^!
bednne Der Mann von dem s>e handelt hieß mcht
1:; t Müller benannt. Kraft eigener M-^tvo ' ^ "
heitiedoch verwandelte er diesen semen ererbten Namen
d' warin Bäudilingen männigüch beka.it und aud.
r Rt. darum Aber erst aus den Papieren der
la„f., und auch d« Lese, wird .emerze.l ^»'"1=" -"
riehlrt werden. Vorläufig bt e, noch August Mulle,,
-^:tz:r^^ de» lod .„e, ei..™
lit seiner verwitwete. Schwester Agathe W.Ue. und
Sem Grade gewonnen, daß dieser ihm zum An^
1L„ e 1 voTGroßvater eigenhändig ge.dinittenen
sSatt^nS schenkte. In sauberen Umrissen war aus
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schwarzem Papier ein Mann geschnitten, der, auf der
Weltkugel sitzend, ein kleines nacktes Frauenzimmerchen
auf der flaehen Hand hielt, dessen Mittelstiick er erst
forschend mit der Lupe betrachtete. August war entzückt
davon, ließ das Bildchen einrahmen und taufte es
„Seelensucher". Er hatte es auf seinem Schreibtisch so
aufgestellt, daß jedesmal, wenn er die Augen von Arbeit
oder Buch erhob, der Blick darauf fallen mußte. Er
liebte das Bild. Nach dem Tode seines Scliwagers lud
er seine Schwester mitsamt der kleinen Alwine auf
einige Wochen zu sich nach Bauchungen ein. Da ihm
das kleine Mädchen gefiel und die sorgende Hand seiner
Schwester ihm das Leben angenehmer machte, bat er
eines Morgens Agathen, in Zukunft bei ihm zu bleiben
und seinen Haushalt zu führen. Agathe, die ihm schräg
gegenüber auf dem alten Ledersopha saß und sich dar-
über ärgerte, daß ihr Töchterchen Alwine genau so
wenig dem Vater nachtrauerte wie sie selbst dem Ehe-
gatten, daß sie dem Kinde aber nicht einmal soviel
Anstand hatte beibringen können, Trauer zu heucheln,
wie sie es vermochte, war im Begriff, die Bitte rund-
weg abzuschlagen, da sie diesen Mangel an Herzenstakt
dem Einfluß einer seltsamen Zuneigung Alwines zu ihrem
Onkel zuschrieb. In diesem Moment sah sie, wie Alwine,
zärtlich an den lieben Onkel geschmiegt, ihr Händehen
nach dem Seelensucher ausstreckte. Mit einem raschen
Ruck sprang sie auf, riß das Kind vom Knie Augusts
weg, gab ihm einen Klaps auf die Hand und beförderte
es an die Luft. Was im Anschluß hieran zwischen den
Geschwistern verhandelt wurde, Ist mir nicht bekannt
geworden; das Resultat war jedoch, daß Goethes Seelen-
sucher von August Müllers Schreibtisch verschwand und
Agathe mit ihrer Tochter in sein Haus einzog.
- 3 -
1*
Außer .einen beiden Verwandten ^^^^Ji^
,.,ten D,en.n..ad.en. ^-'^ -\;;^, "^^^r eine
,^ Ha..e, die ^^ N^-nJru e tn.. ^^ ^^^ ^^^^^^_
Mmosph.re von ^^^' ^^^^ ^^^^^^^,, Gunst August
Selt.ar«erweise genoß sie d,e ^^^^^ ^^^^ ^^_
Müllers, der -.^^^ ^"^^^"'.Le.en, was «achweis-
hauptete .e se, -J ^3;J,,„„, ., dieses Wesen,
lieh falsch .-% °f ; ™,, FrohBi.. hinein zu hadcen
dessen e,nz,ger Zahn Meden ^^ ^^^^^^ .^
.chien, im H-^- .d-W^^«; J ^^ p^^,,„ ,„d war der
über den beständigen K»eg der ^ ^^^^i,^
Meinung, ^as Temperan,ent semer S^^« ^^.^^,^^
eine solche Ablenkung, sonst werde sicn
fließende Galle auf ihn ^^^f^ ^^ .^.^i^d i.it
Gearbeitet hatte August mem als. L _^^^.
-^^ ^-^te' aJ^: ri:rndS':d unterha..
r;U:f:r.nfolneNe,d,sodaß.
liebt war. Äußerlich wav ^'^^^^'^^^Ir.. ansehn-
ein wenig .u lang ^-f ^ " ^'^ S, T^.Lne Glatze.
S:rfw:ttT:dtiLeranderWurzel.n
^"S:sf"Ärt^^^M.ler..en.te.
II. KAPITEL.
DIE WANZEN KRIECHEN HERVOR,
schrecklich gestört, ab die ocn ^^.^^^^^
stübchen einrichten lassen und ihr zum Schlafen eine
Kammer angewiesen, in der bisher die alte Trude ge-
haust hatte. Trude schob höhnisch grinsend die dicke
Zunge zwischen die Lippen, so daß sie von dem ein-
samen Zahn doppelt geteilt war, und eilte za ihrem
jungen Herrn, sich zu beschweren, daß sie der Gans
weichen solle. August aber, der Olympische, entschied,
wie von jeher alle Väter der Götter und Menschen, gegen
die Alte für das jungblühendc Mägdelein, und schmunzelnd
freute er sich an dem Knallen der Türen, wenn Schön
Rottraut ihren Kram zur neuen Behausung trug. Er ahnte
nichts von der fürchterlichen Rache, auf die sie sann.
Am Morgen nach diesem Tage erschien Agathe in
großer Aufregung bei dem Bruder. In der weit ab-
gespreizten Hand hielt sie mit den äußersten Spitzen
der Finger einen weißen zusammengefalteten Bogen
Papier. Den schob sie scliweigend August unter die
Nase, gerade auf seine schone Ausgabe des Don Qui-
xote. Ihre Miene drückte dabei so viel Abscheu und
Ekel aus, daß der also aus seiner Liebhngsiektüre Auf-
gescheuchte nicht zu schelten wagte, sondern geduldig
den Bogen entfaltete. Aufmerksam betrachtete er den
kleinen Gegenstand, der darin eingewickelt war, unter-
suchte ihn gründlich mit der Lupe und sagte dann zu
der Schwester aufblickend; „Es ist eine Wanze."
„Das weiß ich allein. Brauchst du dazu erst ein
Vergrößerungsglas? Fortschaffen sollst du sie."
Mit einer großartigen Bewegung knüllte August das
Papier zusammen und warf es aus dem offenstehenden
Fenster. „So," sagte er und, sicli über das Buch beugend,
suchte er die Stelle, bei der er unterbrochen worden war.
„So?" wiederholte die Schwester und ihre Stimme
zitterte. „Nein, so nicht," und plötzlich' in Tränen aus-
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u V. A rief Sic Besreifst dvi nicht, was das be-
'/el/W U:;WanLin>Haus.indei.^
Wanl Bedenke doch, was da. heißt. Und .och dazu
TZ.r Nichte Bett hat sie das ^i-^jf ^ ^^ |
funde... Sie ist ein schmutziges Dmg, d>e Em !>e, gaste n
noch habe ich sie aus.e.ankt, weil s:e Alwmes BeU
quittiert. Aber nun geht sie hin und sehr« e^m j
^t.dt aus und idi bin um meinen guten Ruf Wo enie
? e e nol n.ehr. hat sie gesagt. Und sie h.t Rech
Wo ine ist, dort sind auch mehr. Man w,rd bald m.
Fingern auf mid> .eigen, und eine w.rd der andern .«
zischeln, ich hätte das Haus verunrem,gt _
August lachte laut auf, nahm siA aber sofort
""^AuT:; ,^e,.e Ube,>e,e„. .Be^Hge d.V, nu. D.
„„deich ,cho„ .«.che»," .«A,i. "' /'"'^ ™*
er sich im Stuhl zurück c„d dachte „ach. Emc g.» c
Weil, schaute Agathe ihn voll Bewunderung an. Dann
''"C Iter-Srnd. an „ar es nni der Ruhe August
£t-d-:^i^e2e:BÄe:ih:x
Snen Beweis seiner Überlegenheit .u verlangen. Jetzt
— 6 —
zum ersten Mal war sein Wissen und Können von ihr
auf die Probe gestellt worden, und gerade jetzt, bei
dieser lächerlich geringfügigen Aufgabe versagte er. Er
hatte sieli die Sache leicht gedacht und, siehe da, er
kam nicht einen Schritt weiter.
Anfangs ging es sehr einfach zu. Von der hilfreichen
Schwester angestaunt, begann August sein Werk gründ-
lich, wie er immer war. Die Bettstelle wurde auseinander
genommen, jede Fuge geprüft, die Matratze nachgesehen,
die Holzteile der Wände abgesucht. Nirgends fand sieh
audi nur die leiseste Spur. Nun wurde Petroleum und
Salzsäure in reidilicher Menge verwendet, und alles schien
gut. Befriedigt, siogesgewiß, von Arbeit müde, ruhte
das Geschwisterpaar von der Mühe aus. Aber schon am
zweiten Morgen fand das Nichtchen ein neues Exemplar
des Wanzengeschlechts.
Jetzt geriet das Haus in Aufregung, Alles wurde
aufgeboten und mit der gesamten Dienerschaft, mit
Schwester und Nichte die Jagd erneuert. Es half nichts.
Ein frischer Gast erschien und zerstadi die gute Alwine
in ihrem harmlosen Madchensdilaf. Mit großem Kraft-
aufwand wurde der Feldzug zum dritten Mal versucht.
Der Tapezierer erschien, die Dielen wurden gedichtet,
die Holzverkleidung abgerissen, die Tapete erneuert,
alle Möbel gesäubert und mit unglaublichen Säuren und
Giften durchtränkt. Der Meister Thugut schwur bei
Himmel und Erde, nicht ein Floh könne mehr durch
die Fugen eindringen, viel weniger eine Wanze.
Sie kam doch. Nicht gleich, aber nach wenigen Tagen
war sie da, wieder eine einzige, diese eine aber ge-
nügte, um der Schwester Mut zu brechen. Tief seufzend
gestand sie sich die Ohnmacht des Bruders ein, der
Zweifel erwadite und untergrub das Vertrauen. Ohne
— 7 —
S„iel e, gelob« .ich selbe,, nid,, ehe, » ruben, a
°"'A".:re%e,le. in Ve,»ei.l™,. Sie .,h de» s.akn
eb,b.L B,L„ in wildere A-Jj^^^^ ^wl
martern, tr waneie m^ Rildcsichtsvol e,
trunkenen Hausgenossen """ /^^"f ,'^^^,, ,„ ,Uen
Seine Liebling.bücher «^ ^^Jf j, ^.f t Le"- -"
Schmteken herum, x^m wirksame ^^'"^' J ^^ ^^,^^
Studierzimmer füllte sieh mit Laugen und S "-' ' -"^
übel. Er werde allein damit fertig. Aber
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Izu viel zu, und schließlich war er froh, als der staatlich
[geprüfte Kammerjäger Lauscher zu Hilfe kam.
Ach, es war keine Hilfe. Die Not blieb, wie sie
fpewescn war; alle zwei, drei Tage erschien die eine
einzige Wanze, biß den unglücklichen Müller, starb da-
für und fand nach kurzer Zeit ihre Nachfolgerin. Ein
anderer Jäger kam, ein dritter, vierter. Es war alles
umsonst.
August ging mit rollenden Augen umher, ein an-
derer Mensch, verwildert und ganz verwandelt, und
scheu wich ihm aus, wer ihm im Hause begegnete. Er
las den Anzeigeteil aller Zeitungen andächtig, schrieb
um jedes Mittel, das er angepriesen fand, und stand
im Briefwechsel mit einem Dutzend Menschen gleichen
Schlages, wie der staatlich geprüfte Lauscher einer ge-
wesen war.
Schließlich, in voller Verzweiflung, setzte er in den
Zeitungen eine Belohnung vor 100 Mark aus für den,
der ihm ein unfehlbares Mittel angäbe, um Wanzen zu
vertilgen. Zu Hunderten kamen die Briefe. August las
sie mit Verachtung. Was man ihm empfahl, hatte er
längst als nutzlos verworfen.
Eines Morgens aber kam er aufgeregt zu seiner
Schwester. „Lies," sagte er und reichte ihr einen Brief hin,
Agathe ersdirak. Sie kannte die Handschrift. „Von
Lachmann," sagte sie und hcfi das Blatt sinken.
„Ja, ja. Von deinem ahen Verehrer. Hör' nur." Er
riß ihr den Brief fort und las;
„Alter IC nahe.
Ich habe deine Anzeige gelesen und will ver-
suchen, dir das unfehlbare Wanzenmittel zu verschaffen.
Aber du mußt hierher kommen. Ich besitze das Mittel
nicht selbst, kenne nur die Wirkung. Ein alter Son-
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derling. seines ZeicWu. Ard.äologe, hat .s gef.adeu
.ei.t iedoch damit, weil er behauptet, d>e Welt ver
di so .roRe Wohltäter, uid.t. Mit Geld ist be, ,h.
nL zu erreichen. Aber ich habe ihm emmai eme
S herausgeholt, die ihm im Ha se stecken ge-
blieben war, %ls er n,ir während d..Es.en
Grundriß des Delphi.chen T.mpels m,t H.lfe von
Heri-Wänze. 'nd Kartdfelsd,aleu vorbaute u.d
pSfch bemerkte, daß er das Grab des D.onyso
Teiner falschen Stell, angebracht hatte. Seitdem
b^ I sehr gut bei ihm ange.d,rieben, und wen.
wir es klug anLgen, luchsen wir dem dr.mal W.s.n
.ein Geheimnis ab. Nur mußt du, -- f -S'' ^-
kommen. Ich werde dich bei Ihm emfuhreu. Bk.b
dnreTage hier. Soweit es mein ----'"■^.-'^"
Geschäft L Arzt erlaubt, stelle ich mich d,r zu ledem
dummen Streik, zur Verfügung. Empfiehl m,d^ de
gestrengen Frau Sd^wester als ihren v-Cgetre-^^;-
■ Agathe sa^e kein Wort. Der Name Lachmann, die
wohlbekannte Art seines Schreibens hatten alte Er
innerungen geweckt. i-eiscn'"
„Was meinst du," fragte August, „soll .ch leiscn.
Gewiß sollst du reisen, gewiß."
la so .ar.z sicher bin ich dabei nicht. Lachmann
i.t i'Hanlwurst, dem es Spaß .acht die Menschen
lu Zen zu haben. Mit mir ist er freilich .mmer ve,-
"l^r^r^ltigte Agathe. ..Erbehandelt Nasals
Narren mit vernünftigen Leuten war er vernünftig. Auto
dem we^n er wirklich einen Streidi spielen wollte, so wurd
e "idoch nicht .rußen lassen. Das täte er mir n.ht an
Dabei errötete das alte Weiblein wie ein ,unges Madchen.
- 10 -
August wo^ das Blatt zweifelnd in der Hand.
„Und wenn es nichts mit seinem Mittel ist, du bist
wenigstens ein paar Tag-e aus dieser Unglückskammer
heraus. Vielleicht vergißt du dann die ganze Geschichte."
August warf ihr einen wütenden Blick zu. „Ich will
sie nicht vergessen," sagte er, schob den Brief in seine
Tasche und ging nachdenklich davon.
Wahrscheinlich war August Müllers Geist damals
schon durch Nachtwaclien und Wanzenkampf zerrüttet.
Sonst hätte er, der seinen Vetter gut kannte, sich doch
gehütet, in die plumpe Falle zu gehen. Denn der Schwester
Zureden achtete er für nichts. Er wußte, daß Lachmaun
ihre alte Liebe war. Sei dem wie ihm wolle, er reiste
am näclisten Tage ab. Was er bei seinem Freunde er-
lebte, läßt sich nicht sicher feststellen. Seine eigenen
Erzählungen davon tragen den Charakter der Geistes-
überschwemmung, die während seiner Krankheit seine
Reden verwasserte. Das wenige, was Agathe selbst fest-
stellte, wird der Leser seinerzeit erfahren. Genug, eines
Tages früh am Morgen langte August in ziemlich elendem
Zustand wieder zu Hause an.
II r. KAPITEL.
EIN SCHARLACHFALL. DR- VORBEUGER.
EIN FLUCHTVERSUCH.
Matt und müde trat er seiner Schwester, die sich
rasch erhoben hatte, gegenüber, klagte über Abspannung
und Hitzegefühl und wies alle Fragen nach seinen Er-
lebnissen kurz ab. Die Schwester war durch sein kränk-
liches Aussehen und seine Weigerung, irgend etwas zu
genießen, arg erschreckt, Sie hatte in seiner Abwesen-
- U -
heit Wieder sein früheres Schlafzimmer für ihn einrichten
lassen Aber August blieb hartnäckig dabei, er müsse
noch heute die Wanzen vertilgen. Der Professor Steni-
sehnÜffler, Lachmanns Freund, habe ihm sein Mittel ge-
g-eben. Es stamme aus der Gesetzsammlung des Königs
Hamurabi. Tausende von Jahren sei diese ewige Wahr-
heit, die von dem großen König in Keilschrift der Welt
kundgetan wurde, im Staube vergraben gewesen und
erst Steinschnüfflers ScharfbUek habe sie wieder ent-
deckt. Dabei lachte August pfiffig, zog einen zusammen-
geknüllten Zettel aus der Tasdie und spielte damit wie
mit einem Ball.
Endhch gelang es der Schwester, ihn zu Bett zu
schaffen. Sie ließ Glühwein für ihn kochen, holte Wärme-
flaschen und nasse Umschläge herbei, und als er zuletzt
selbst erklärte, das Fieber schÜtUe ihn, brachte sie aus
ihrer wohl versehenen Apotheke Antipyrin. Mit der grüßten
Genugtuung sah sie zu, wie er es verschluckte, dann
gintr sie. und ganz beruhigt durch die eigene Vielge-
schäftiglccit, begann sie ihre Morgentoilette. Sie war
eben dabei, ihre Haare aufzustecken, als sich die Türe
öffnete und ihr Bruder eintrat. Er war nur halb an-
gezogen, das Hemd war aufgerissen und ließ seine
haarige Brust sehen. In der Hand hielt er den unver-
meidlichen Feind, den er hingerichtet hatte.
Agathe fuhr vom Stuhl auf und flüchtete sich in die
äußerste Ecke des Zimmers. „Mein Gott,^ was hast du
gemacht," schrie sie, ..wie siehst du aus."
„Rot, auf dem ganzen Körper scharlachrot," er-
widerte August und betrachtete aufmerksam seine fleckigen
Hände Agathe starrte ihn immer noch entsetzt an. Sie
hatte den Handspiegel ergriffen und hielt ihn wie einen
Schild vor sich. Als der Bruder jedoch auf sie zuschritt.
- 12 -
um sein rotgesprenkeltes Gesicht in dem Glase zu
prüfen, schrie sie: „Scharlachl Du hast das Sdiarlach-
fieber. Rühr' midi nicht an! Mein armes Kind! Du
wirst uns alle anstecken. Bei dem Lachmann hast du es
dir geholt. Man soll Ärzte nicht zu Freunden haben.
■ Geh, g;eh, augenblicklich. Du wirst uns alle töten. Nie-
mand darf dir begegnen. Rasch in dein Zimmer! Ach,
meine arme Alwine, die hegt nun auch bald auf dem
Kirchhof,"
Sie griff zum Staubwedel und ihn als Waffe schwin-
gend, den Spiegel vorgestreckt, trieb sie den Bruder
vor sich her. VergebHch beteuerte der Unglückhche, er
fühle sieh ganz wohl. Vor den entsetzensprühenden
Augen dieser wunderlich ausgerüsteten Schlachtenjung-
frau mußte er weichen, bis er schließlich in sein Wanzen-
zimmer gedrängt war. Krachend schlug hinter ihm die
Tür zu, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und August
war gefangen. „Du kommst nicht eher heraus, als bis
der Arzt hier war," tönte es noch, dann hörte er, wie
die Fenster auf dem Korridor aufgerissen wurden, die
Mägde herbei eilten, und bald darauf klatschten Wasser-
strÖme auf den Boden, Eimer klapperten und Schrubber-
besen kratzten die Dielen.
Eine Weile blieb der Eingesperrte — betäubt von der
Überraschung — an der Tür stehen, dann drückte er auf
die Klinke. „Agathe!" Keine Antwort. „Agathe!" wieder-
holte er. Nichts erfolgte. Nur die eifrigen Besen hörte
er den Gang auf und ab fahren. Plötzlich übermannte
ihn die Wut. Wie!? Sein ganzes Leben war er der ehr-
bare Herr Müller gewesen, das Muster eines feinen,
ordnungsliebenden Bürgers, der Stolz des Hauses und
der Stadt, und nun fegten die Mägde hinter ihm her,
^ais ob er den Schmutz des Augiasstalles an seinen
- 13 —
1.1 ,.t hatte Mit beiden Fäusten gegen
Füßen -^"^';f ^^J "%, ,;e ein Besessener nach
s 1 keine Zeit, Atem zu sd>öpfen. In.mer drohende
HP, die Sd>läse seiner' Fäuste, immer lauter unä
:ä;irti.^lbissies.H^.Uc.inc^-t^^
fiertes Wutgeheul übergingen. Entsetzt über das t,e
ch fluchteten die Mägde zur Herrin, die selbst von
der Angst erfaßt, der Verpestete könne vom F.ebe.-
thn efgritfen, die Tür einschlage., ihre Herde zu be-
Iligcn 'suchte. Ihre Besorgnis war gen. unnot.g. S^
sehr das Vorbild aller Bürgertugend auch von_ den.
GiL verstört war, die Schwester ^^^J^^^
wohl erzogen, als daß ihm der Gedanke. ^'^ K"/=f "^
r P en.L, in den Sinn gekomn^en wäre. Nur tobend
LTbe^d erschütterte er eine Stunde lang das Haus .
"'"^S';^—-r. Der Sd.lüssel hatte sid^ge-
dreht uTurch die schmale Spalte derTur zwängte s.ch d>
h Ic Gestalt des Kreisphysikus Dr. Vorbeug-s hme^n.
'id. bin nicht befugt, in dieser w.hrhafbgen Ge
.chidne zu irgend jemandes Gunsten etwas zu ver-
sfhwe en undU zu meiner Beschämung c.ges ehe ,
daß Agathe Willen, als sie den Arzt . ^.s Ge^a, .ms
ihres Lders eingelassen hatte. ^^^'^^^'^ .'^^^ ^
die Tür le.te. Vorbeugers Worte konnte sie mcht ver
f Ihl er Vad, wie gewöhnlich sehr leise .nd behut-
- 14 -
so o-eht es Ihnen ebenso, — Scharlach! Scharlach! Aber
ich fühle mich ganz wohl, ganz und gar. Ich fange
Wanzen. Wissen Sie auch, wie schwer das ist? Wer
das kann, ist nicht krank. — So! Vorsicht! und Rück-
sicht auch, Rücksicht nuf meine Schwester, die midi wie
eine Maus gefangen halt? Und wie lange, wenn ich
fragen darf, soll die AhiSperrung dauern?"
Fast hätte Agathe die Sublimatflasche fallen lassen,
die ihr Vorbeuger beim -Eintreten in die Hand gedrückt
hatte, so schrie der wackre Müller jetzt auf. „Was?
Sechs Wochen? Herr, sind Sie verruckt? Nicht eine
Minute länger bleibe ich." Die Tür wurde gewaltsam
aufgerissen, so daß Frau Willen gegen die Wand ge-
schleudert wurde, und der Bruder stürzte heraus, rannte
mit einem vernichtenden Blick auf seine Schwester den
Korridor entlang, riß den Hut vom Hacken und war im
nächsten Augenblick im Freien,
Verlegen sah Agathe den Doktor an, der mit sauer-
süßem Lächeln sich die Hände rieb. „Scharlach," sagte
er, „ein leichter Fall, aber immerhin Sdiarlach, da ist
kein Zweifel."
Agathe seufzte. Rote Gespenster tanzten vor ihren
Augen, und in stummer Angst faltete sie die Hände
über der Su bl im atf lasche.
Vorbeuger wusch sich wichtig in dem Waschbecken,
das man ihm hingestellt halte. „Sehr merkwürdig, dieses
Benehmen des Herrn Müller," sagte er dabei. „Ich will
annehmen, daß er durch die Krankheit überreizt ist,
wahrscheinlich auch fiebert. Daß er foriläuft, geht aber
nicht. Er schleppt mir die Seuche in die Stadt, und ich
werde dann verantwortlich gemacht."
Agathe goß dem Arzt den Inhalt der Flasche über
die ausgebreiteten Hände, voll Andacht zuhörend. Als
- 15 —
er nidit weitersprach, sondern nur sorgfältig die Hände
:btrock.ete,batsie schüchtern: „Helfen Sie, Herr Dokto.
''"vorteir suchte noch die let.te Feuchtigkeit fovt-
.ureiben. Er zog wichtig ^^ ^ugeton in die Hohe^
räusperte sich und .prach: „Als Ar.t habe -d. h,e .m
Hai nichts mehr zu t.n, das versteht s,ch von selbs ■
Aber als Staatsbeamter muß ich dafür sorgen, daß Her
Müller isoliert wird; wenn es anders nicht geht, mit
"''prau' WiU^'setzte die Sublimatflasche beiseite Sie
:.ußte die Hände ringen. Frostschauer !-§'- ;1^^;'-;'^
die Glieder. August Müller und die PoUze,! Es war
fürchterlich. „Was wollen Sie tun?" fragte s,e.
„Den Kranken festnehmen und m das Sptal bringen
'""oh" das wird ein Skandal." jammerte Agathe. „Nein,
J Gottes willen, .ein. Sie kennen meinen Bruder n,cht._
na.; Pibt ein Unglück, nur das nicht.'
Dr Vorbeuger zuckte abwehrend die Achseln und
griff alHut 'und Stock. „Ich bin Beamter und kann
Lf PrivBtwünsche keine Rücksieht nehmen. Ich habe
PfUchten gegen das Allgemeinwohl.
Sd^arlachkranke sind gemeingcfahrhch. F"Sj ^^ "^
Müller nicht gutwillig den Gesetzen, so muß ich
Manne bewerkstelligen, der so rücksichtslos selbst geg
Men^le^ vorgeht, L das Red.t haben, ihn einzusperren?
- 16 -
Agathe streckte .dem Doktor zu versieh tÜch die Hand
entgegen. „Verlassen Sie sich darauf, Herr Kreisphysikus,"
sagte sie, „Sobald August zurüdikehrt, sperre ich ihn
fein, und er wird nicht eher das Zimmer verlassen, als
[bis Sie es selbst erlauben,"
„Nun, wenn Sie das fertig bringen, alle Achtung.
Bitte schicken Sie zu mir, wenn Sie den Herrn Bruder
festgesetzt haben. Ich werde unterdessen an den Kollegen
Lachmann telegraphieren, ob er etwas über die An-
steckung weiß." Damit empfahl er sich und ging hoch-
erhobenen Hauptes davon.
IV. KAPITEL.
AUGUST WIRD EINGESPERRT,
AGATHE BESUCHT IHN.
Agathe entfaltete sofort eine erstaunliche Tätigkeit.
Sie warf Kleid und Stiefel ab, band sich eine Serviette
um das Haar, zog sich Handschuhe an und bei sich
seufzend: das ist nun alles reif ins Feuer geworfen zu
werden, ging sie daran, des Bruders Zelle aufzuräumen.
Die Magd schickte sie eilig zum Schlosser. Sie selbst
schleppte Bett- und Leibwäsche für den Bruder herbei,
Eßgeschirr holte sie und allerlei Vorräte, eine groß%
Schüssel zum Waschen der Gefäße und Tücher zum Ab-
trocknen, Eimer, Besen und Scheuerlappen. Das alles
häufle sie auf dem Balkon an, der an das Wanzen-
zimnier anstieß, und selbst den Nnchtstuhl vergaß sie
nicht. Eine Riesenflasche Sublimatlösung und ein Bottich
Schmierseife vervollständigten die Ausrüstung, Trotz der
Eile, die sie hatte, suchte sie sorgfältig das abgebrauchte
Gerumpel aus; denn das schwur sie sich zu, nidits
- 17 - ,
sollte wieder gebraudit werden, was i. diesem P«t-
"Twe:;:rr^.iner Stund, war alles bereit und
A.L setzte sich gedankenvoll vor das Wanzen. mn, er
W legte die Hände in de. Schoß. S,e wartete auf
d ScLsser. „Ist es nötig, daß August gepflegt w.^
,o werde ich e. selbst tun. Sonst mag er sehe, we
er allein fertig wird. Muß id> hmem zu .hm und das
"ird wohl itig sein, denn sAließüd." - s,e dad, e
^lnheitsm4 nicht z. Ende, was sie -".- ^^^
l des Bruders Zim:.ev einzudringen - ,,es muß dad
bei ihm gereinigt werden," nahm sie kühn den Ge
danken in andrer Form wieder auf. „Ich werde m,r em
Stes Kostüm .us Sadcleinwand mad,en. Dann ver-
derbe id. nid.t so viel. Eines kann dann .mm« m
ilösung liegen, während .d. das -'»f- ^^ Dat
zum Balkon sd.affe id. mir Zugang m.t der Le.ter. Uas
^'^'kSI w'rde fast froh bei ihren Pla,.n. Dazwis^en"
,,rd^?e sie nad. den Schritten des Sd.lossers. Endl d.
ersd^ien Meister Haudrauf und nun begann eme selt-
mt Arbeit. Zwei bewegliche Eisenstangen heß Frau
Wmen an der Außenseite der Zellentür -Wen, -e
1,., so war ihr Bruder vor der Pohze. gerette .
'"^Endlid. hörte sie Augusts Sd.rm. Rasd. fludU^
.ie in ihr Zimmer. Als er auf den Gang kam, st ed.te
sie den Kopt aus der TÜr und sagte: „Gut dalJ du
kommst. Id.' habe dein Bett gemad.t. Denke d,r, unter
der Matratze ist eine Wanze.'
- 18 -
Sie konnte nicht vollenden. Wie ein Rasender stürzte
'August an ihr vorbei, und im nächsten Augenblick war
die Tür hinter ihm zugeschlagen und die Eisenstangen
vorgelegt. „So, mein Junge," sagte Agathe: „Jetzt habe
ich dich sicher."
Unbekümmert um die Wut des Gefangenen, der
sicli schnöde überlistet sah, schritt sie davon, Sie fühlte
sich so erleichtert, daß sie ganz unbewußt die Melodie
aus der Fledermaus: „Ich hab ein schönes Vogelhaus",
zu trällern begann. Mitten im Vers aber fiel ihr ein,
daß ihr Bruder krank sei. Erschrocken hielt sie inne
und in ihrer Beschämung holte sie sich einen Stuhl,
stellte ihn vor die Gefängnistür und saß nun dort, auf
jeden Laut horchend, der aus dem Zimmer drang. An
dem Rücken der Möbel und Werfen der Kissen konnte
sie genau verfolgen, wie der Bruder seiner Lieblings-
beschäftigung oblag.
Stunde für Stunde hielt sie Wache. Dort fand sie
auch Dr. Vorbeuger. Lachmann sei verreist und könne
erst in einigen Tagen bestimmte Antwort geben. Es
sei aber nicht unmöglich, daß unter seinen Kranken
Scharlachfälle vorgekommen seien,
Agathe nahm die Nachricht wie eine Siegesbotschaft
auf. Es freute sie, daß sie Recht behalten hatte, und
in ihrem Triumphgefühl schrie sie mitten in den Sport
des Bruders hinein: „Du hast doch Scharlach, Ich
wußte es ja."
August lachte laut auf. „Keine Spur von Scharlach.
Ich bin ganz gesund. Das sollst du sehen morgen; heute
habe ich noch zu tun. Ich habe Steinschnüfflers Rezept!
Wehe den Feinden! Jetzt laß mich in Frieden! Es
dilmmert schon; ich bin auf dem Anstand. Kein Laut
darf. das Wild schrecken."
— 19 — j.
Agathe st..d wie .uf Kohlen. Sie sah, wie Voi-
K fdie Ohren spitzte, um .u hören, was der Mann
'rSL S ch Die Wanzen im Hau. Müller waren
r TstadtJest^rädr. Frau WiHeir aber sprach nie da-
voT ie hoHSimmt .od, durch hart.äekiges Sd^weigen
emad^te wieder und die Nase reibend, wiederholte er
erwachte w ^^^^^^ ^j.^^^^^^ j,„
drohend: Jch ^^l'^. ^= S^„,t _
Kranken abgesperrt zu halten, 1-rau _
erst im Zimmer, so wollte sie schon m,t dem Krairkei
- 20 -
[fertig werden. Gefährlich war nur der Moment des
jÖffnens. Stand er fluchtbereit hinter der Tür, so war
[alles verloren. Vorsichtig hob sie die Eisenstange fort,
I leise drehte sie den Schlüssel, legte noch einmal das
^Ohr an die Tür, dann riß sie sie auf und schoß hinein.
Ihr Erstaunen war groß, als sie des Bruders an-
sichtig wurde. Er saß friedlich auf seinem Bett und
wandte der Eintretenden nicht einmal das Gesicht zu,
so tief war er in Nachdenken versunken. Den Gruß
Agathes erwiderte er nicht. Und als sie ihn aufforderte,
auf dem Balkon zu gehen, bis sie das Zimmer geordnet
habe, erhob er sich, reckte sich zu seiner vollen Höhe
empor, schritt langsam auf die Schwester zu und sprach,
dicht vor ihr stehen bleibend: „Es hat midi nicht ge-
bissen". Dabei riß er die Augen weit auf, so daß seine
Schwester später behauptete, er habe ausgesehen wie ein
sterbendes Kalb. Dann wandte er sich und schritt zu
den Balkon. An der Tür drehte er sich noch einmal
um, schüttelte ernsthaft den Kopf und sagte wieder:
„Es hat mich nicht gebissen. Weißt du, wie das ward?"
Während nun Agathe das Zimmer ordnete, ging er, die
Hände auf dem Rücken, den Balkon hin und her. Die
Worte der Schwester, mit denen sie ihn von Zeit zu
Zeit ansprach, beantwortete er nur mit einem ärger-
liehen Kopfschüttein und dem Ausruf; „Stör' mich nicht,
ich habe zu tun".
Agathe wurde bei diesem hartnäckigen Schweigen
äiigsdich. Sie glaubte immer deutlicher wahrzunehmen,
daß Fieberphantasien den Bruder beschäftigen; wenn
sie jedoch in sein gesundes frisches Gesidit blickte, das
st, gar niclit erhitzt aussah, und nicht den geringsten
roten Fleck mehr zeigte, wurde sie wieder irre. Endhch
überwand die Sorge um den Bruder ihre Ansteckum^s-
— 21 —
f,.cht, und... ih. herantretend, fragte sie: „Fühlst du
''^rSe lebhaft .it den, Kopf, schritt aber .nge-
duldi« weiter. „Ich habe zu tun".
Agathe n^achte noch einen Versuch „Aber du tust
1=, mL das Geringste. Was hast du denn zu tun?
' ot blieb er vor ihr stehen, und aus der Uefsten
Brust kam nur das eine Wort: „Nachdenken".
Agathe ,ing rückwärts zur Tür, so emgeschuchtert
war sfe von denfBenehme. des Bruders. „Drinnen ,s alles
fertig, Willst du nicht hineingehen ? Du w.rst ^-h erkalten ^
Statt jeder Antwort tönte es .un. drUten Male: „Es
hat mich nicht gebissen".
Agathe ging seufzend davon, verschloß d,e Zelle
und legte die Stange vor. . i - „
dZ seltsan^e Sd>weigen des Bruders und sem feier-
licher Ernst verwirrten und ängstigten sie noch mehr.
,t sein früheres Toben. Unruhig lief ^ ^J^;^
in den G.rten, um von dort aus den ^^l'^^l^l^lf^^
zu beobachten. Am Nachmittag st.eg .hrc Sorge so, da
sie all ihre Absperrungsvorsicht vergaß -^ -^ -^^'^
Mal das Giftzimmer betrat. Diesmal nahm A«.-t ube^^^
haupt nicht von ihr Notiz, Aber zu ihrer Freude sah
Lr er einen großen Teil der Eßvorrate vertilgt
::d dfm WeiTta^fr zugesprochen h.te. Das beruhigte
^^^Sir':raieNa^t.ür.emel..^s^ch.
Kailidc wie gestern zur Decke empor. Es bhel
Agathe nichts übrig, als ihn Hegen zu lassen.
- 22 —
V- KAPITEL-
DIE WANZEN WERDEN ANGESTECKT.
AUGUSTS BERUFUNG,
Ganz anders ging es am Nachmittag her, als Frau
Willen den zweiten Versuch machte, ihren Kranken aus
dem Bett zu holen.
„Kommst du endlich," rief er ihr schon entgegen.
■ „Setz' dich hierher, dicht zu mir; ich habe dir etwas
zu sagen." Im Vertrauen auf ihren bazillensicheren Panzer
folgte Agathe seiner Aufforderung, ja, sie überließ ihm
sogar die gut geschützte Hand, als sie seine Aufregung
gewahr wurde.
Mit zitterndem Finger wies er auf das Fußende des
Bettes. Dort hatte er mit zwei Stecknadeln den Zettel,
Steinschnüfflers Rezept aufgehängt. „Lies," sagte er ihr.
Mit gespanntem Ausdruck verfolgte er, wie sie die
Worte entzifferte:
„Unfehlbares Wanzenmittel.
Töte jede Wanze, die du findest. Hast du
die letzte getötet, so ist keine mehr da."
August begann hastig zu sprechen; „Nicht wahr,
das ist logisch, das ist einfach und wahr. Das ist un-
fehlbar. Ich bewundere Steinschnüffler, er ist ein großer
Mann. Aber wie, wenn ich noch etwas Besseres wüßte?
Etwas, was niemand weiß als ich."
Agathe drückte schweigend die Hand des Bruders.
Sie war wiederum zu dem Glauben geneigt, er fiebere.
August aber nahm das für ein Zeichen des Zutrauens.
Der Schwester Hand wieder drückend, sagte er: „Ich
danke dir. Ich weiß nun, daß du an mich glaubst. Aber
idi muß es laut sagen, damit ich es selbst fassen kann.
Sie sind alle vernichtet, ich habe zum ersten Mal ruhig
- 23 —
gesd,lafen, ßegveit.t du? Die Waozen smd verschwuu-
den Es fragt sich nun, wie das zugegangen ,st. Zwo
Möglichkeiten gibt es. Entweder da. Viehzeug .st vom
Scharlach angesteckt und samt und sonders verreckt
Oder -" er schwieg. Im nächsten Augenbhck aber richtete
er sich wild im Bett auf und sah die Schwester rn>
Au^en an, als ob er ihr Herz und Nieren prüfen wollte-
Agithe wich vor diesem BUck zuri,ck und suchte ,hre
Hand loszumacl^eu. August aber streckte ihr den Kopf
■,.n.cr näher, bis sein gesträubtes Haar fast d,e Mask
der Schwester berührte. Dan. flüsterte er: „Glaubst
du an eine Berufung durch höhere Mächte. S'-bst du
an himmlische Geister, die den Menschen zum Richter
und Rächer auf Erden machen?"
Agathe riß sich los und fluchtete in die äußerste
Ecke des Zimmers, so sehr war sie überrascht. „Ncm,
stammelte sie. \¥;„rt
Nein," wiederholte er und dehnte das kur.e Wort .
zu dner Ewigkeit voll Entrüstung; „aber du wirst dar^n
glaube., du wirst es mit Augen sdiauen. Und de
Lttdecke zurückwerfend sprang er mit emem Satz .n
die Mitte des Zimmers, hob stolz das Haupt und riei.
"'tgit h:;: sidr gegen die Wand gedreh.. ..Zieh
dir erst Hosen an." sagte sie kaltblütig.
August war wie vom Blitz getroffen. ■■«-! sdin«
.r. „in diesem heiligen Moment, wo du ""- B'^f '"
die Tiefe der unaussprechlichen Natur tun kannst, denkst
du In Hosen? pJ du Weib, dul" Voll Verachtung
kroch er in sein Bett zurück und zog sich die Decke
über die Ohren. , „
Agathe war über den Auftritt so ersdirocken, daß
sie n^L wagte, den Kranken allein zu lassen. Mediamsch
- 24-
r=
begann sie das Zimmer [loch einmal aufzuräumen. Seliließ-
ich trat sie zu dem Bruder. „Willst du nicht aufstehen,
August? Ich möchte dein Bett machen." An der hasti-
g-en Bewecrung, mit der er ihre Hand zurückstieß, merkte
sie seinen Zorn und in der Angst, Aufregung könne
ihm schaden, suchte sie ihn zu beruhigen. „Ich habe es nicht
bös gemeint," sagte sie. „Du kennst mich ja, ich glaube alles,
was du sagst. Aber vorhin sahst du so furchtbar aus, daß
ich nicht wußte, wohin ich die Augen wenden sollte."
August fuhr herum, „ich sah furchtbar aus?" fragte er.
]a, das ist möglich, das glaube ich. Ich strahlte Ehrfurcht
lus, ich weiß es," Als er das fragende Auge Agathes
sah, wurde er wieder gereizt. „Nun ja, man kann von
einem Frauenzimmer nicht verlangen, daß es an Größe
ohne -Hosen glaubt. Lassen wir das!" Er drehte sich
wieder gegen die Wand. „Übrigens bin ich mir selbst
nodi nicht klar. Vielleicht habe ich magnctisclie Kräfte,
vielleicht auch nicht. Dann sind die Bestien, wie ich, am
Scharlachfieber erkrankt. Welch ein Labsal, daß sie
sich selbst den Tod getrunken haben? Das wäre eine
Entdeckung, die die Welt mit einem Schlage fördern
würde. Gegen Mäuse gebrauclit man schon Seuchengifte.
Nun komme ich mit der Tatsache, daß Wanzen durch
Scharlachfieber vernichtet werden. Ich muß das verfol-
gen, wissenschafthdi ergründen. Ein Arzt muß damit
experimentieren. Dem Lachmann werde idi diesen Ge-
danken vortragen. Er soll in seinem Laboratorium
Versuche machen. Und einen Maler brauche ich dabei.
Bedenke, welch eine Umwälzung es in allen ästhetischen
Anschauungen g;eben wird, wenn man das neue Farben-
spiel des Scharlachs auf dem Wanzenrot erst kennt.
Eine neue Technik der Farbenbereitung kann entstehen.
Denn gewiß wird man, wie man durch die Seuclie bei
- 25 -
Wanzen fabelhafte Roterscheinungen hervorruft, bei
anderen Objekten durch geeignete Übertragungen blaue,
grüne, gelbe Farbentöne erreichen. Ja, vielleicht gelingt
es sogar das Schillern der Giftfliegen oder der Libellen,
den Zauber der Schmetterlingsfarben durch Ansteckung
neu zu gestalten utid praktisch zu verwerten; national-
ökonomisch allein schon erstaunlich. Denn was bedeutet
alles künstliche Indigo gegen diese zukünftige Pracht.
Und wenn jetzt Tausende vom Anilin leben, so werden
später Zehntausende vom Scharlachwanzenrot ihr Brot
haben. Steinschnüffler muß auch heran, es ist nicht aus-
geschlossen, daß er hier die Lösung findet, wie frühere
Maler ihre unverwüstlichen Farben herstellten. Unge-
ziefer gab es damals genug und Seuchen erst recht.
Unzählige VersucJie, unzählige Erfolge werden sich an-
schUeßen. Alles, was beißt und zwickt, wird man zähmen,
in den Dienst der Menschheit stellen. Der Mensch wird
den Teufel austreiben, er, der Herr des Herrn der.
Ratten und der Mäuse. Zähle die Augenblicke zusam-
men, die läghch unnütz im Kampf mit Küchenschaben
und Blattläusen verloren gehen; du gewinnst eine Ewig-
keit, verwendbar Für hohe Ziele. Eine unberechenbare
Masse von Denkkraft wird jetzt zum Toten von Raupen,
Mücken, Wespen verschwendet, Millionen für Mäuse-
fallen, Insektenpulver. Fliegengifte ausgegeben, die wert-
vollsten Gedanken können über dem plötzlichen Biß
eines Flohs verloren gehen, ja die heiligsten Momente
des Lebens, der Liebe werden dadurch zerstört, Ehen
gesprengt. Eine neue Welt wird sich autbauen, eine
Welt, erhaben über alles Jucken und Kratzen, über
alle Niedrigkeiten des Lebens."
Er schwieg- einen Moment, um Atem zu schöpfen,
Agathe benutzte die Pause und entfloh. Ihr Herz war
- 26 -
\[l _
zum Springen voll, und die Tränen stürzten ihr aus
den Augen, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen
hatte.
VI, KAPITEL.
DER VIKAR WIRD DURCH EIN JUNGES MÄDCHEN
IN 'DIE GESCHICHTE VERWICKELT UND HAT
EIN STELLDICHEIN.
Als sie weinend den Gang hinab in ihr Zimmer
eilte, streckte die Tochter mitleidig den Kopf aus ihrem
Stübchen. Frau Agathe scheuchte sie heftig zurück.
„Kind, Kind, wann wirst du vernünftig werden? Du
siehst doch, ich habe meine Uniform an, komme vom
Onkel, und du sollst mir nicht nahe kommen." Damit
schlug sie ihr die Tür zu. In ihrer Verzweiflung über
ihres Bruders wunderliches Wesen blieb sie jedoch zö-
gernd davor stehen, und nun entspann sich zwischen
den beiden Frauen eine eifrige Unterhaltung,
In fliegender Hast erzählte Agathe ihre Abenteuer.
Ratlos schlug sie schließlich die Hände zusammen und
seufzte: „Was soll ich tun? So kann es nidit weiter-
gehen. Der Onkel schna])pt einfach über. Den gräßlichen
Vorbeuger mag ich nicht rufen. Er ist imstande, meinen
leiblichen Bruder in ein Irrenhaus zu sperren. Wer soll
mir helfen?"
Während die Frau draußen jammernd sich auf den
Stuhl warf und sich die Maske vom Gesicht riß, um
sich die Tränen zu trocknen, hatte Alwine drinnen
ganz andere Kämpfe zu bestehen. Um den Onkel sorgte
sie sich nicht, Sie war von Kindheit an gewöhnt, in
ihm den Unfehlbaren zu verehren, dem alles glücken
mußte, und sie zweifelte auch jetzt nicht, daß seine
— 27 -
Krankheit zum Besten ausgehen werde. Aber schon
lange harrte sie auf eine Gelegenheit, ihre eigenen
heimlichen Pläne zur Ausführung zu bringen. Sie war
entschlossen, ihr Glück selbst zu schmieden. Jetzt stand
sie unschlüssig da und-wurde bald rot bald blaß, so
schämte sie sich ihrer versteckten Wunsche. Zweimal hinter-
einander öffnete sie den Mund, um zu sprechen, zweimal
stockte ihr das Wort. Ehe sie zum drittenmal begann, kniff
sie sich selbst in den Arm, um sich Mut zu machen,
setzte das frechste Gesicht auf, das sie zur Verfügung
hatte, so wie sie es in der Schule zu brauchen pflegte,
wenn sie mit ihrem lockengeschmückten Geschiditsl ehrer
unterhandelte, und sagte dann kaltblütig: „Weißt du,
Mama, der Onkel braucht keinen Arzt, er braucht geist-
lichen Zuspruch."
„Kind," rief Agathe mitten im Weinen jubelnd,
„den Gedanken hat dir Gott eingegeben. Gewiß, der
Pfarrer muß her; der Onkel lästert ja mit seiner höheren .
Berufung den Himmel und alle HeUigen. Unser guter
Breitsprecher, der wird helfen," 'Plötzlich sank ihr der
Mut. „Nein," unterbrach sie sich. „Das geht gar nicht.
Du weißt, er hat August neulich auf meinen Wunsch
ins Gebet genommen und ihm vorgestellt, Wanzenstiche
seien eine Schickung Gottes, man müsse sie in Demut
hinnehmen und dürfe nicht einmal kratzen; dafür hat
ihm August ein lebendes Exemplar zugeschickt als
nächtliche Versuchung der Demut, Es war der einzige
Feind, den er nicht hingerichtet hat. Seitdem ist es
zwischen den Beiden aus." '
Alwine stockte der Atem. Jetzt mußte die Entschei-
dung fallen. Alle Kraft zusammennehmend, zwängte sie
die" Worte hervor: „Es braucht ja nicht gerade der
Breitsprecher zu sein."
- 28 —
Agathe sprang auf. „Ausg^czeichnet", rief sie. „Der
andere, der Vikar, der ist der Richtige."
Alwine bestätigte das jenseits der Wand mit einem
ernsten Kopfnicken.
„Küssen möchte ich dich," fuhr Agathe fort, „warte
nur bis idi die Uniform abg-elegt habe. Vikar Ende,
der paßt zum Onkel. Der versteht zu reden und August
mag ihn gern leiden. Auf Wiedersehen, mein Herzens-
kind." Eilig rannte sie davon, und kurz darauf ging die
zahnlose Trudc, den Herrn Vikar herbeizuholen.
Alwine stand noch eine ganze Weile an der Tür,
LOer ist der Richtige," wfcdcrholtc sie leise und ihr
Kleid fassend, tanzte sie in der Stube herum und sang
dazu nach eigener Melodie; „Der und kein anderer, der
ist der Riclitige." Plötzlich hielt sie inne. Die Klingel
tönte. Das war der Vikar. Hurtig, hurtig, ein Schürzchen
vor, daß man fleißig ausschaut, die Haare gestrichen,
daß man der Madonna «hnlich wird, mit der man neu-
lich verglichen ward. „Langweilig ist es, solch frommes
Gesicht. Die Vorhebe treib' ich ihm aus," dachte sie,
als sie sich prüfend beschaute. Sie trat recht ehrbar
zur Türe, blieb aber noch einmal stehen und zerrte
mit raschem Griff ein Lockchen am Ohr hervor. Das
Ohr sollte er sehen, das war hübsch.
Er sah es auch wirklich und fühlte nicht übel Lust,
'es zu zausen, als er nun in eifriger Beratung neben den
beiden Frauen saß. In Kurzem war der Kriegsplan ent-
worfen und sicheren Mutes schritt Paul Ende seinem
Schicksal entgegen, das tolle Pläne brütend in der
Scharlach kämm er lag.
Dort war Herr Müller inzwischen seinen Gedanken
■ nachgegangen, die ihn auf immer weitere Abwege
führten. Anfangs merkte er gar nicht, daß seine Schwester
— 29 —
sich fortgeschlichen hatte. Das Gericht zur Wand ge-
kehrt sprach er weiter: „Diese Vernichtung des Wan-
zengeschlechts durch Scharlach ist ein Symbol. Es zeigt
den Weg auf dem das Schicksal vorwärts schreitet, hs
läßt uns einen tiefeii Blick in das Geschehen der Dinge
tun Da steht sie vor uns, die Kraft, die stets das Böse
will und stets das Gute schafft, ein tausendfacher
Wanzenmephistopheles im roten Mantel. Nicht wahr. -
das hast du nicht gedacht, daß ich von meinem Stand-
punkt aus eine neue Epoche der Goethe forsdiung an-
bahnen werde. Was gaben wohl die Herren Gelehrten
darum, wenn sie plötzHch das Wesen des Dichters vor
sich sähen, so deutlich, wie ich es sehe. Oder haltst du
es für Zufall, daß der Teufel sich den Herrn der Wanzen
nennt, daß die Diener des Gutes schaftenden Bösen
Insekten sind? Geheime übcrsinnhche Zusammenhange
bestehen da, die prophetische Zunge des Dichters redet
von dem, was jetzt geschieht NVch ruft ein großes Werk _
in tausend Stimmen und auch die Goethes erklingt.
Ein unermeßliches Feld der Forschung, des Nachdenkens
öHnet sich vor mir. Und immer fester wurzelt sich in
n,ir die Überzeugung, daß in diesem Kopf zukunftige
Welten verschlossen sind."
August fühlte den Drang, diese Welten in seinem
Kopf mit einer Gebärde zu zeigen. Da er jedoch gerade,
dabei war, sich unter der Bettded:e die Strumpfe an-
zuziehen, hatte er die Hände nicht frei, stieß also mit
aller Kraft den weiten schwangeren Schädel gegen die
Wand, gleichsam um sich selbst durch den Klang von
seiner Fülle zu überzeugen. Der Schmerz kam ihm un-
erwartet, verdutzt fuhr er herum und starrte nun,
verwundert über der Schwester Flucht, in das leere
Zimmer.
— 30 —
Sofort aber beg-ann er seine Fäden für sich weiter
zu spinnen. Das Gebiet des Gutes schaffenden BÖsen,
flüchtig ins Auge gefaßt, erschien ihm endlos. Rasdi
begann er es zu teilen. Das Studium vom Nutzen der
Krankheit stellte allein schon eine Lebensaufgabe vor.
Die Grausamkeit, der Neid, die Dummheit, alles erschien
ihm auf einmal in neuem Licht. Er versenkte sidi so
in seine seltsamen Ideen, daß er alle Laster, Gemein-
heiten, Fehler im Augenblick lieb gewann, daß er sie
gleichsam liebkosend hätschelte.
Der rote Schimmer, der jetzt bei Sonnenuntergang
den ganzen Himmel bedeckte und sein Zimmer mit
feurigem Licht erfüllte, brachte ihn auf blutige Gedan-
ken. Die Geschichte der Religionen zog in raschen
Bildern an ihm vorüber, die Menschenopfer, das Foltern
der Märtyrer, die Ketzerverfolgungen, die Glaubens-
kämpfe, all das sah er jetzt wie eine blutige Abendröte,
die den heiligen Frieden der Nacht verkündet. Und
diese Nacht selbst, die verschriene, düstere, böse Nadit,
war sie nicht die Schöpferin alles Lebendigen, die
Freundin der Zukunft, die unzählige Leben weckte?
Plötzlich zum Ausgangspunkt zurückkehrend, lachte er
voll Siegesbewußt sein und Stolz, als ihm einfiel, daß
es ja die Nacht war, in der er das Symbol alles Schlech-
ten, die roten Feinde gemordet hatte. Alles war ihm
in Rot getaucht, was er sah und dachte, und zwischen
allem Blutigen tanzte neckisch das Rot als Liebesfarbe
hervor und verwirrte seine Gedanken noch mehr.
In diesem Augenblick, als Augusts Verstand just
zwischen der Kirche und der Liebe-stand, trat der Vikar
in sein Zimmer. Sein Erscheinen gab dem armen Narren
Gelegenheit, sein Gewebe weiter zu spinnen. „Sie kom-
men wie gerufen, lieber Vikar, wie eine Erscheinung
— 31 -
von oben, .!s ein echter Bote Gottes." Dabei streckte
ei- ilim vom Bett aus die Hand entgegen.
Ende ging mit den besten Vorsätzen ans Werk, er
woHte vorerst still zuhören, um sich ein unbefangenes
Urteil über den Kranken zu bilden, dann aber mit
ruhiirer Würde als wahrer Seelsorger eindringhch spre-
chen Trotzdem war er seiner Rolle gerade jetzt mclrt
^ewadrsen. Mochte es das Ungewöhnliche seiner Auf-
gabe sein oder das vertraute Gespräch mit den beiden
Frauen, kurz, sein Gemüt war erregt, und seme Ver-
wirrung würde nodr größer, da August die^'n'^f' f "
griffene Hand mcht wieder losließ. Ein Gefühl der
Unfreiheit überkam den Geistlichen.
Idi dachte gerade über das Eheverbot für Geist-
hche nach, und gleichsam als Verkörperung dieser Frage
stehen Sie vor mir, im roten Sonnenlicht, jung, w,e avif
Freiersfüßen wandelnd. Wäre ich nicht hellsehend ge-
worden, ich könnte glauben, Ihr Komme., entsdreide
das Problem .« Gunsten der Priesterehe. So aber bhdce
ich tiefer und erkenne nur ein Vorzeichen Ihrer iu-
kunft. Sie passen nicht zum Verlobten Gottes, und ich
sehe die Locken wehen, in denen Sie sich fangen
werden." r- ti J
Der Vikar machte seine Hand aus dero Griff des
Kranken frei und strich mit der Rechten über die
Augen; es tanzte wirklid. eine Locke davor. ..Verzeihen
Siefnerr Müller," begann er, „wenn ich freimütig spreclie.
Ich bin protestantischer Geistlicher, und mir tut es weh,
Sie so reden zu hören. Die Seele des Menschen ist e,r
rätselhaftes Wesen mit heimhchen Winkeln und Sdu, ■
ten Nur das Licht, das aus einer anderen Seele strahlt
hellt sie auf. Wir Priester bedürfen der Ehe. der offen ei
wahrhaftigen Gemeinschaft mit einem anderen .Wesen
- 32 —
an dem wir lernen Seelsorger zu werden. Die Ehe ist
die große Schule für jeden, eine Bestimmung des Meii-
kschen, wie es die alten Geschichten von der Schöpfung
[des Weibes tiefsinnig lehren. Das Wesen des Priesters,
wie es der Ehrgeiz Roms geschaffen hat, ist der ärgste
[Abfall von Christi Lehre. Das ist gerade der tiefste
' Sinn des Evangeliums, rfaß sich niemand zwischen das
Herz des Menschen und seinen Gott drängen soll. Der
GeistUche ist Mensch und bleibt es auch in seinem
Amte. Nichts Menschliches darf ihm, dem Verkünder
der MenschenHebe, fremd sein, am wenigsten die Ehe,
die ihn die eigenen Schwächen überwinden, die fremden
Uebevoll dulden lehrt."
In diesem Augenblick wurde der feurige Redner von
einem schalllenden Gelächter seines Zuhörers unter-
brochen. „Entschuldigen Sie, lieber Herr Ende, ent-
schuldigen Sie mein ungebührliches Lachen. Sie sprechen
so warm, und Ich nehme herzlich teil an Ihrem zu-
künftigen Glück, das aus Ihren Augen leuchtet. Aber
der Schluß, das war der ganze Breitsprecher, ein typi-
sches Beispiel geistiger Ansteckung,"
Der Vikar fiel ein; „Oh bitte, alles Personliche
wollen wir doch aus dem Spiel lassen,"
Müller lachte noch lauter. „Haben Sie keine Angst,
ich verrate es der Schönen nicht, daß Sie sie gewisser-
maßen als Geduldsprobe heiraten wollen."
Paul Ende verlor die Fassung. „Ich meinte das
nicht," rief er hastig. „Das Hineinziehen meines Amts-
genossen und Vorgesetzten möchte ich vermieden sehen."
In Müllers Augen leuchtete der Spott auf. „Aber
das gehört gerade hierher. Nein, bleiben Sie ruhig
sitzen! Sie sind von ihm mit Demut angesteckt worden,
und das ist eine Gefahr, diese Infektion, Wenn Sie sie
— 33 —
aufkommen lassen, so dauert es kein Jahr. i:nd Sie
sind aus einem Verkünder der Mensdienliebe ein Prie-
stei- geworden. Denn Priester, oder wenn Sie wollen,
Pfaffen gibt es auch unter den sogenannten Protestanten;
das werden Sie mir zugeben. Ja, es will mich bedünken,
der evangelische Geistliche sei auch von Amts wegen
zwischen Gott und Mensehen gestellt. Nur gibt ihm
unser Bekenntnis nicht die Macht, die der katholische
Priester mit seiner Kraft, in der Messe den Leib Gottes
zu schaffen, besitzt. Das ist ein großer Fehler unsrer
Kircbenverfassung. an dem die evangelische Lehre ein-
mal zu Grunde gehen wird."
Es ist der große Vorzug unsrer Lehre,'' entgegnete
der Vikar, „daß sie den Aberglauben der pr i est erli dien
Macht, zu binden und zu losen, gebrochen hat. Der
Glaube allein, nicht die Kirche gibt uns Erlösung. Das
Wesen des Protestantismus ist die Freiheit des Einzel-
nen " Er hatte ganz vergessen, daß er mit einem Ver- _
rückten spradi, aber schon die nächsten Worte Müllers
erinnerten ihn daran.
„Ich habe nie begriffen," begann dieser, „was das
Wort Protestantismus noch mit unsrer Lehre zu tun
hat es sei denn, daß sie pro testiculis eintritt gegen
das Zölibat. Unser Bekenntnis beruht nicht mehr aut
auf einem Protest gegen eine Lehre, sondern ist se bst
eine Lehre, eben die Lehre vom Glauben, Das Wort
evangelisdi paßt für uns schon deshalb, weil bei uns
so schön geredet wird. Protestanten können niemals
eine gemeinschaftliche Kirche bilden, ja, gerade die
Kirche verwirft jeder Protestant ohne weiteres, wie
Christus selbst sie verwarf. Die Bildung einer Kirche.
der Anschluß an die Gemeinschaft einer solchen ist
eine Infektionskrankheit der Seele, für die der Protestant
- 34 -
I uiiempfäng-licli ist." August hatte sich auf die Bettkante
gesetzt und betrachtete nachdenklich seine nackten Beine.
.„Man weiß zu wenig von ansteckenden Krankheiten,
Igeistigen und körperlichen. Das wird sich nun ändern.
Wenn ich die Erfahrungen der letzten Tage mir erst
ganz zu eigen gemacht habe," — er riß hastig das
Bettlaken oben von der Matratze fort und suchte
nach irgend etwas in den Falten des Überzugs —
l,iWerde ich sie wisse nschafthch erproben und bearbeiten,
lund ich zweifle nicht daran, daß sich sehr bald auf der
Qcuen Grundlage eine neue Wissenschaft aufbauen
vird. Einiges läßt sich schon jetzt darüber sagen. So
möchte ich annehmen, daß auch hier ein gewisses Gesetz
der Gegensätze herrscht; ich meine, daß eine psychische
Infektion den Körper umgestaltet, während die körper-
liche Ansteckung den Geist verändert. Das letztere
habe ich an mir selbst erfahren. Mein Scharlachfieber
hat meinen gesamten inneren Menschen verwandelt, so
sehr, daß ich noch gar nicht daran zu glauben wage.
Für die geistige Infektion aber bietet gerade die Kirche
ein gutes Beispiel. Ist ein Mensch priesterlich angesteckt,
so erleidet sein Gesicht, seine Haltung, sein ganzes
üußeres Wesen eine bestimmte Wandlung, Das zeigt
sich sogar in der Kleidung. Sie ist die unausbleibliche
Folge der Ansteckung. Genau so wie ich rot geworden
bin, weil ich das Scharlachfieber bekam, so tragen Sic
schwarzes Gewand, weil Sie an dem Kirchenfieber
leiden, an einer ganz bestimmten Sorte, dem Demuts-
fieber; das ist eine fatale Abart. Ihr Gift ist das Be-
wußtsein der Sünde und der Angst, Die Demut will
nicht bemerkt sein, sie schleicht im Dunkeln. Sie ver-
breitet um sich die Nacht in Gestalt des schwarzen
Talars. Es ist ein psychischer Ausschlag; ebenso wie
- 35 — ,■
die Tonsur d« Katholiken ein psych,scher HaBWall
ist in dem .ich der Gedanke ausdrückt, daß der Pne-
ster dem Him:»el näher steht, ab andere Mensche.,
daß die Seligkeit aller Heiligen sich '" , 'hm wKler-
spie^elt, daß die Offenbarung leichter in se.nen Sch.de
eindringen kenn. Sehen Sie, wie kahl mem Kopf j.
Sehen Sie dod,? Und ziehen Sie 'l^^en ^d. uß? D e
Erleuchtung von oben sengt gewiss ermalien das tlaar
[ort, und wird sie sehr stark, so kommt es .u e.ner
Ansammlung von Strahlen, zum Heiligenschem.
Der Vikar hatte schweigend zugehört, br sali em,
d,ß er mit seinem Widerspruch die Verwirrung nur
vergrößert hatte, und versuchte nun. auf die unsmmgen
Gedanken seines Schutzbefohlenen einzugehen. ,>e
eröffnen da wirldid. eine weite Aussicht für den For-
cher und Scelenkünder, und ich werde m,ch bemuhen,
diesen Ideen weiter nachzudenken. Mich will aber be-
denken, als ob Sie dodi nodi andere Hilfsquellen her-
b .eite^ müßten. Sie erklären Massenerschcmuu.en
V eidit richtig, vielleicht falsch, jedenfalls aber eigen-
Llidi. Wie aber stehen Sie z. den Einzelersc emung.n,
,o den -roßen Männern mit ihren ausgeprägten bigen
heiten, Thren merkwürdigen Gesichtern und Gewohn-
he ien k^ kann mir denken, daß eine ganz bestmimte
cltesrichtung gewisse äußere Merkmale hcrbeifu..
Man könnte Nietzsches Schnurrbart aus semem Wille i
zur Macht herleiten, Ibsens gesträubte Mahne als Sym
ptom des Zwiespalts zwischen Lebenslüge und Lebens-
lahrheit nehmen. Aber das alles ist doch mcht Infektion,
Allenfalls Kranklieit." _
Autoinfektion ist es, mein Lieber. Pfu. über da.
■ häßliche Wort. Selbstansteckung also. Wir sind gewohn
anzunehmen, die Denktätigkeit spiele sich nur m den
- 36 -
Gehirn ab. Das ist aber dijstrer Aberglaube, den sich
[bloß Leute leisten können, die niemals gebissen worden
Isind. Wenn das Gehirn denkt, so denken die ScJinurr-
Ibartspitzen mit, ebenso wie die Fingernägel oder die
Darmhäute, Das weiß jeder. Zweifellos sind diese Vor-
loän^e einer wissenschaftlichen Forschung zugänglich, und
[unsere Zeit, die sich so aufgeklärt vorkommt, beweist
jf, daß sie nodi tief im Aberglauben steckt, wenn sie
darüber lacht, daß Menschen mit verschiedenen Seelen
verschieden riechen, wenn sie dummstolz behauptet, man,
kömie die Zukunft nicht aus der Hand lesen oder den
Charakter nicht aus der Schädelbildung beurteilen. Ein
Hühnerauge entsteht ebensogut durch den Druck der
' Gedanken, wie durch den Stiefeldruck, und die Wissen-
schaft wird nocli so weit kommen, aus der Form der
Entleerungen die Gedanken festzustellen, mit denen
sich der Mensch am stillen Ort einsam beschäftigte."
Augusts Blick strahlte Begeisterung, als er im selben
Moment das Gerat sah, mit dem Agathe vorsorglich
seine Zelle ausgestattet hatte. „Sehen Sie, Herr Vikar,
solch einen Stuhl, bei uns gemeinhin Nachtstuhl genannt,
wird man später Probestuhl der Gedanken nennen. Man
wird ihn in allen Gefängnissen aufstellen, um den Ge-
heimnissen der Verbreclier auf die Spur zu kommen.
Die Könige werden fremden Staatsmännern Ehrenge-
sdienke damit machen und besondere Spione mit dem
Titel Gedankenriecher halten, um die Pläne der eifersüch-
tigen Nadibarn zu erforschen. Dann erst wird es eine hohe
Politik geben." Ergriffen von der Tiefe dieser Gedanken
hob August die Augen zur Decke und schwieg in ehrfurchts-
vollem Staunen über den Reichtum seiner Eingebungen.
Dem Vikar schwindelte der Kopf. Mit einer ver-
zweifelten Anstrengung suchte er das Gespräch abzu-
- 37 -
brechen. „Ich danke Ihnen," begann er. „für diese un-
vergeßliche Stunde. Sie gaben mir Einblick m die
geheimsten Abgründe menschlichen Daseins," August
stand gerade am Probestuhl der Gedanken, „und ich
wage es nicht, welter zu hören, auf die Gefahr hin.
ganz überwältigt zu werden. Alles das verlangt stilles
Denken und Einsamkeit und die Nacht, die jetzt herein-
bricht, wird mir Muße geben, mich in die neuen Ideen
einzuleben. Gestatten Sie, daß ich an Ihrem Lager
sitzend, Ihren Anregungen nachträume. Sie selbst aber
sollten Ihre kostbare Kraft schonen und im Schlaf sieh
für die wunderbare Verwandlung stärken."
August lächelte zufrieden. Er dozierte sitzend weiter:
Mein Hirn ist in Gärung, das weiß ich, und ich erkenne
dankbar Ihre Fürsorge an. Wer, wie ich, berufen ist.
Großes zu leisten, darf nicht leichtfertig mit seinem
eigenen Menschen umgehen. Gestalten Sie mir nur,
meine Ideen kurz abzuschließen. In dieser Wirkung des ,
Gedankens auf den Bau des Körpers haben wir wohl
den besten Weg, das ganze Phänomen der Ansteckung
zu studieren. Denn um Ansteckung handelt es sich
dabei Der Gedanke, die Scham verletzt zu haben,
steckt die Wangengefäße der Frau an, so daß sie sich
mit Blut füllen. Die Idee der Vasallentreue durchseucht
den Menschen Bismarck so. daß er das Ansehen einer
Dogge bekommt. Aber das ist nur die eine Seite der
Sache. Für den tiefsinnigen Forscher, namentlich wenn
er solche Erfahrungen machte wie ich. handelt es sich
vielmehr darum, zu ergründen, welche körperliche An-
steckung bei großen Männern bestimmte geistige Rich-
tungen hervorgebracht hat, in welchem Zusammenhang
beispielsweise Goethes Dichtkunst zu den Pocken steht,
die er als Knabe durchmachte. Man wird von jetzt an
- 38 -
ganz anders das Leben unserer Geistesfürsten durch-
' forschen müssen, viel genauer." Bei diesen Worten gab
', August einen allgemein menschlichen Beweis, wie solch
I Durchforschen zu denken sei, klappte den Deckel zu
■ und legte sich wieder hin. ,,Der Schnupfen, den ein
Kind durdimacht, hat wahrscheinlich mehr Bedeutung
i als ein Schulunterricht, ja man wird das Rätsel eines
1 kantischen Verstandes eher durch ein Studium seiner
I Nasenschleimhäute, als durch das Lesen seiner Werke
lösen. Nur müßte dazu jeder Mensch, dessen Geist
durch eine Ansteckung verändert worden ist, mittels
eines besonderen Zeichens kenntlich gemaclit werden,
damit sich (las Studium nicht zu sehr zersphttert, noch
' mehr aber, damit er sich seines hohen Berufes stets
bewußt bleibt. Ich habe in der Muße, die mir meine
Schwester gegönnt hat, darüber nachgcdaclit, welches
Symbol idi selbst erwählen soll. Mir fiel dabei dies in
die Hände." August holte unter der Bettdecke eine
Streichholzschachtel hervor und Öffnete sie behutsam.
„Sehen Sie, das ist der letzte Feind, den ich hingerichtet
habe. Ich dachte daran, ihn von Rubinen umgeben auf
schwarzem Grunde fassen zu lassen und als Ring zu
tragen, gleichsam als Devise: Durdi Nachtkampf zum
Lichtsieg. Was meinen Sie dazu? Dies wäre noch mehr
als Goethes Seelensucher und Agathe würde sich darüber
ärgern. Die Wanze als Symbol der Schlacht in der
Finsternis, der Rubin als Wahrzeichen des strahlenden
Scharlachsiegers."
Der Vikar seufzte. Gelang es ihm nicht, das Schar-
lach wanzengespenst zu bannen, so war beider Nachtruhe
verloren.
„Halten Sie ein, Herr Müller," bat er. „Die neue
Lehre, die Sie mir gaben, erfüllt all mein Wesen und
- 39 -
ich bin nicht mehr fähig, irgend etwas anderes zu denken.
Wenn Ihr rasüoser Geist weiter schweih, gönnen bie
mir Ruhe, mich lu fassen."
August schob ruhig seine Streichholzschachtel zu,
drückte dem jungen Freunde die Hand und sagte: „b,e
haben Recht Ich darf den ersten Schüler, den ,ch hnde.
nicht erdrücken. Gute Nacht denn, für heut." Damit
wandte er sich um und schon in der nächsten Mmute
hörte der Vikar an seinem Schnarchen, daß er sd,lief.
Paul Ende wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Halb mideidig, halb angsthch beobachtete er den Sdila-
fenden, immer gewärtig, daß er evwaclien und dann m
Tobsucht ausbrechen werde.
So saß er eine Stunde geduldig da. AUmähhch aber,
als es im Zimmer stockfinstre Nacht wurde, überschhchen
ihn allerlei andere Gedanken und umspannen ihn mit
Träumen. Ihm war, als ob er auf der Kanzel stehe um
iu predigen, als er jedoch die Hand zum Segen hob ■
sah er, daß um den Finger eine blonde Locke gewickelt
war Er wollte sie abstreifen, da klang die Locke w,e
springendes Glas, und eine Mädchenstimme tonte an
sein Ohr: Herr Vikar. Zweimal machte er den Versuch.
Beim dritten Male erwachte er und horte nun deutlich,
daß Alwine vom Garten her nach ihm rief. Gleichzeitig
vernahm er. wie ein Steinchen gegen das Fenster an-
flo<^ Er erhob sich, sah noch einmal vorsichtig nad.
seinem Schützling und eilte dann zu dem Balkon.
Wirklich, unten auf dem Rasen sah er em wei es
Kleid schimmern. Als er die Tür hastig aufriß, wollte
es das Schicksal, daß Alwinchen gerade einen neuen
Stein nach oben warf. Fast hätte er den würdigen
Geistlichen mitten in das Gesicht getroffen, aber er
wich noch glücklich aus, freilich weder ihm noch allen
- 40 -
anderen zum Heil, wie der Verlauf dieser Geschichte
zeigen wird. „Warte, du loses Ding," sagte er zu sich;
ohne die Frage des Mädchens nach ihres Onkels Be-
finden zu beantworten, stieg er über das Geländer des
Balkons hinweg und ließ sich an dem Weinspalier
geschickt zu Boden gleiten.
Vri. KAPITEL.
AUGUST MÜLLER STIRBT.
Es muß unentschieden bleiben, ob er dabei wirklich,
wie seine Worte vermuten ließen, im Sinne hatte, sich
;in dem Mädchen zu rächen, auch welcher Art diese
Rache sein sollte. Denn das vorwitzige Fräulein sah
kaum die Gestalt am Weinspalier herunterklettern, als
es erschreckt über die zu ausgiebige Wirkung ihres
Anbändeins in das Haus flüchtete. Verdutzt stand Ende
in dem leeren Garten. Mit ein paar Sprüngen erreichte
er die Haustür, aber sie war fest versdilossen. Es blieb
ihm nichts übrig als der Rückzug, und er ahnte, daß
auch der einige Schwierigkeiten haben werde. Denn im
Hinabgleiten hatte er wohl bemerkt, daß das Spalier
unter seinem Gewicht nachgegeben hatte. Während er
verdrossen die Stangen prüfte, ob er sich ihrer Festig-
keit noch einmal anvertrauen solle, bemerkte er, daß
ihm der Rückweg überhaupt versperrt war. Die Glas-
tür, die er vorhin geöffnet hatte, war jetzt versdilossen,
und bei dem matten Schein, der aus dem Zimmer drang-,
sah er, daß August Müller nicht mehr im Bette Im;',
sondern hastig im Zimmer auf und ab ging.
Verärgert schaute er nach oben. So lange der Kranke
wach war, konnte er nicht wieder hinaufsteigen, ohne
- 41 -
sicii Erörterungen auszusetzen, die bei der Verrücktheit
seines Gegners ihn leicht in die lächerlichste Lage bringen
konnten. Er beschloß also zu warten und da das Stehen
im feuchten Grase seinen jungen Gliedern nicht sehr
verlockend erschien, setzte er sich auf eine Gartenbank,
von der aus er das erleuchtete Fenster Augusts im
Auge behalten konnte. Auf dieser Bank nun überfiel
ihn der Teufel in Gestalt des Schlafs. Die Augen sanken
ihm und er erwachte erst von der Kalte kurz vor
Sonnenaufgang.
Halb noch im Traum reckte er seine steÜ gewordenen
Glieder, wanderte sich über das seltsame Lager, auf ;
dem er ruhte, und erst allmählich kam ihm zum Be-
wußtsein, wie er hierher gekommen war. Beschämt fuhr
er empor. Er, der Gclsthclie. den die beiden Frauen
im vollen Vertrauen als Wächter bei dem Kranken zu-
rüdc gelassen hatten, hatte seine Pflicht sträflich ver-
nachlässigt, war auf Liebesabenteuer ausgegangen, und-
schließhch hatte er die Wache verschlafen.
Was mochte inzwischen geschehen sein? Das Licht
in Augusts Zimmer brannte noch.- Eilig ging er zu dem
Balkon hin. Die Tür oben stand weit auf. Von Müller ^
war nichts zu sehen. Wahrscheinlicli lag er also im Bett. !
Aber mmderhch war es, daß das Späher jetzt voll-
kommen zerknickt und heruntergerissen war. Der Vikar
hatte nicht geglaubt, daß die Verwüstung so schlimm
gewesen wäre. Die Finsternis der Nacht mußte ihn ge-
täuscht haben, während der anbrechende Tag jetzt alles
in klarem Licht erscheinen ließ.
Gott sei Dank stand die Leiter in der Nähe, mit
der Agathe den Balkon zn ersteigen pflegte. Rasch
hatte er sie angelehnt, war hinaufgestiegen und scbhch
auf den Zehen in das Zimmer. Im näd.sten Augenblick
- 42 -
stürzte er schon mit der vollen Wucht seines Körpers
gegen die Korridortür mit ihren Eisen Stangen. Das
Zimmer war leer, der Kranke verschwunden. Der arme
Vikar schlug geängstigt mit den Fäusten auf die bretterne
Wand los, die ihn von den Hausbewohnern trennte,
und rief mit lauter Stimme abwechselnd: „Frau Willen,
Frau Willen! Fräulein Alwine, Alwine!" In dem gegen-
über liegenden Zimmer saß währenddessen Alwine mit
schreckensbleichem Gesicht und zitternden Gliedern auf-
recht in ihrem Bett und horchte auf das Geschrei, das
zu ihr drang. Als immer von Neuem ihr Name gerufen
wurde, sprang sie auf, schlüpfte in ihren Morgenrock
und eilte zu der Mutter. Auch die war schon durch
den Lärm geweckt; halb angekleidet trat sie gerade
aus der Tür.
„Alwinchen," rief sie jammernd, „Alwinchen, der
Onkel tobt wieder. Ersdirick nur nicht. Ich werde ihn
sckon zur Ruhe bringen. Geh doch und leg dicii schlafen."
„Ach Mutter, hör' nur, es ist gar nicht der Onkel,
es ist der Vikar. Der arme Paul! Wenn der Onkel nur
nicht tobsüditig geworden ist."
Agathe hörte nur halb. „Er mordet ihn, er mordet
ihn!" schrie sie und lief den Korridor entlang, was sie
laufen konnte, das Töditerchen hinterher, sich ängstlich
an der Mutter Rock klammernd,
„Frau Willen, öffnen Sie, um Gotteawillen, Öffnen
Sie," schrie es ihnen durcii die Tür entgegen.
„Ja, ja, nur einen Augenblick noch. Nehmen Sie
alle Kraft zusammen, Herr Vikar, halten Sie den Wü-
tenden fest! Wehren Sie sich! Idi komme zu Hilfe.
Seine eigene Schwester wird er ja nicht erschlagen."
Die Tür ging auf und der Vikar fiel in die aus-
gebreiteten Arme Agathes, die in der einen Hand wurf-
— 43 —
bereit eine Flasche mit kaltem Wasser hielt. „Wo ist
er?" rief sie. „Fürchten Sie sich nicht, Herr Vikar! Wo
ist der Wüterich?" und ließ die Augen durch das Zimmer
' schweifen, während sie den Arm mütterUch schützend
um den jungen Mann schlug.
Der Geistliche wäre am liebsten in ein Mauseloch
gekrochen, so schämte er sich. Kleinlaut stammelte er:^
„Er ist fort."
Agathe erstarrte in der Stellung, in der sie gerade
stand und wahrscheinlich wäre sie so als ewiges Wahr-
zeichen des schreckhcheii Augenblicks, gleich Loths Weib
versteinert, wenn nicht Alwine, gereizt durch den An-
bhck des verfrorenen und zerschundenen Vikars in den
Armen ihrer sprachlosen Mutter in ein Gelächter aus-
gebrochen wäre.
„Was hast du zu lachen, dummes Ding," rief sie in
vollem Zorn, und ehe sich's Alwinchen versah, hatte
sie eine feste Ohrfeige erhalten. Ohne sich weiter um
das weinende Kind zu kümmern, stürzte Frau Agathe
vorwärts nach dem Balkon. „Was sagen Sie? Fort ist
er?" sagte sie dabei und in den leeren Garten schau-
end begann sie wieder: „Fort? Aber wie ist das mög-
lich? Haben Sie geschlafen, Herr Vikar?"
Der Pastor Breitsprecher hatte vor einiger Zeit zur
großen Enirüstung einiger älterer Damen von dem Vikar
, gesagt, er besitze noch nicht die nötige moraUsche Reife
zum Prediger. Das, was Paul Ende jetzt tat, gab den
Beweis, daß der würdige Pastor Recht gehabt hatte.
Der Vikar log.
Hätte er Frau Willen allein gegenüber gestanden,
er hätte sicher sein cliristliches Gemüt vor' schwerer
Sünde gerettet. Aber das schöne Kind dort, mit dem
aufgelösten langen Haar, das eben seinetwegen eine
- 44 -
Ohrfeige erhalten hatte und nun gar reizend aussah,
wie es sich weinend die brennende Backe rieb, durfte
er nicht in den Verdacht bringen, als habe es mit ihm
ein Stelldichein gesudit, oder gar gehabt.
Mit fliegenden Worten erzählte er, wie er mit dem
Kranken auf dem Balkon gestanden habe, wie er ihm
den letzten Feind in der Streichholzschachtel gezeigt
habe, wie der Feind, diese kostbare Reliquie, in den
Garten hinabgcfallen sei, und wie er selbst Herrn Müller
zu Gefallen am Weinspalier sich hinabgelassen habe,
das Kleinod zu suchen. Dann zur Wahrheit zurück-
kehrend, berichtete er, wie ihm der Rückzug abgesperrt
ward, und er auf seinem Beobaclitungsposten ein-
geschlafen war.
Die moralische Verderbtheit des angehenden Geist-
hdien kam jetzt deutlich zum Vorschein, denn statt zu
bereuen, freute er sicli in sträflicher Weise über das
LHchcln, mit dem Alwine, mitten aus ihren Tränen her-
aus, für seine Diskretion dankte. Er hätte in diesem
Augenblick das Dasein Gottes verleugnet.
Glücklicherweise wurde das nicht von ihm verlangt,
denn Agathe hatte mittlerweile bei der immer noch
brennenden Lampe ein Kuvert mit ihrer Adresse ent-
deckt. Das nahm sie auf, ehe sie es aber erbrach, löschte
sie mit den Worten: „Welche Verschwendung!" die
Lampe. Im nächsten Augenbiidc beugten sich drei Ge-
sichter, das alte, zornrote Agathes, das von dem Wein-
stock zcrschundenc des Vikars und Alwinchens mit der
geschwollenen Backe, über die Blätter, auf die August
Müller seine Abschiedsworte niedergesdirieben hatte.
Das erste Schreiben lautete wie folgt;
„Mit, der Mitternachtsstunde des 24. zum 25
starb in mk der Mensch August Müller. Kraft mir inne-
- 45 -
wohnender heiliger Gewalt tilge id. den Namen »nd
das Andenken dieses Toten für ewige Zeiten.
Das Zweite enthielt die Worte:
In der Wende der Nacht mm Tage schuf ich micli ■
zu einem Menschen um, dessen Name soll sein Thomas
Wcltlein, zum Zeichen, daß er empfangen und geboren
ward vom Zweifel, der allein der Welt Leben gibt." _
Agathe entfaltete das dritte Schreiben und las: .
Bis zu dem Augenblick, in dem ich diese Worte
schreibe, glaubte ich noch nicht an mich selbst und an
meine Kraft. Daß ich ruhig und unbewegt von du-
scheiden kann, beweist mir: das Leben, wie ich es lebte,
liegt hinter mir, unter mir. Mit allem, was war, habe
ich nidits zu schaffen, mein Werk gehört dem, was wird,
dem Tag, der mich auf den Flügeln <i- Morgenröte
hinwegführt, im Kopf den Zweifel, im Herzen die Welt Ge-
denke desToten ! Hoffe des Lebenden ! Thomas Weltlein
Agathens Stimme versagte, und der Vikar nahm ihr-
hilfreich die Rolle des Vorlesers ab: , , , . ,
P Scr Zum Gedächtnis des Sterbens und als Zeichen
der Wiedergeburt hinterlasse ich dir den letzten Fe md.
Er war es, der mich gesund biß. Die Streichholzschachtel,
in der er ruht, vertauschest du wohl gelegentlich mit
einer würdigeren Grabstätte. Fahr wohl! Hoffenthch
hast du die Spalierstangen gut befestigt, so daß ich
beim Klettern nicht falle."
Als der Vikar noch das vierte Schreiben offnen
wollte, fiel sein Blick auf Agathe, die sich krampfhaft
an der Stuhllehne festhielt. Er warf den Zettel ^zur
Seite, um sie zu stützen. Alwine fing ihn auf und über-
flog ihn. Eine tiefe Röte stieg ihr in das Gesicht bhe
sei jedoch den Mund öffnen konnte, sank die Mutter
mit dem Ruf: „Er ist verrückt," ohnmächtig. zusammen.
- 46 -
Niemand erfuhr, was in dem letzten Brief stand,
denn während die beiden jungen Leute die bewußtlose
Frau zu Boden gleiten ließen, war das Blatt verschwunden.
Vlll. KAPri-EL.
THOMAS WELTLEIN BEGEGNET DEM SEIN.
DEM WERDEN UND DEM FITTICH DER TAT.
Der umgetaufte Thomas Weltlein ahnte nichts von
aer Verwirrung, die er hinter sich gelassen hatte. Bar-
häuptig, mit geballten Fäusten eilte er die Landstraße
entlang. Von Zeit zu Zeit öffnete er die rechte Hand
und blickte nachdenklich auf den Gegenstand, der darin
verborgen war. Es war das Steinchen, mit dem Alwine
ihn unsanft aus dem Schlaf geweckt hatte. Noch ganz
befangen von der Erinnerung an das Gespräch über die
innere und äußere Ansteckung hatte er seinen neuen
Namen gewählt. Die beiden Worte Thomas Weltlein
sollten ihn weiter umschaffen, ihn immer und immer an
den hohen Beruf erinnern, zu dem er sich berufen
glaubte. Man sieht daraus, wie wenig er selbst noch
seiner Verwandlung traute. Und jetzt sann er auf ein
weiteres Mittel, seinem unsichern Geist von außen nach-
zuhelfen.
Er wollte sich ein Symbol seines Wesens schaffen,
ein Wahrzeichen dessen, wozu ihn das Wanzenwunder
rief. Dieser runde Kiesel, über dem sich seine Finger
so leicht öffneten und schlössen, konnte die Erde be-
deuten. Dieser Gedanke gefief ihm, und er lachte
freudig auf.
War das die Weit, so war er nicht mit der Nase
dagegen gerannt. Nein, sie hatte sich ihm als Eigentum
enfgegengeworfen, hatte wohl gar absichtlich die hervor-
- 47 -
ragende Stelle sei.es G.sichtB getroffen. Warum sollte
ein Stein mcht Absichten haben? Warum solte n,cht
bewußtes Leben in ihm wohnen? Die E.telke.t des
Menschen hat den Unterschied .wischen Leben und
Totsein erdichtet Gab es einen Gott, so dachte er
allein, und der Stci. war ebensogut ein Werkzeug semes
Willens, wie der Verstand eines Genies. Gab es aber
denkende Mensdien. so war nicht einzusehen, warum
nicht auch denkende Steine geben sollte, d.eser Sten.
hier dachte gewiß. Er hatte siehe, selbst den emptn.d-
liehen Platz ausgesucht, den er treffen wollte L .
Thomas, mußte der Nase nachgehen, hieß das. un-
bekümmert um Menschenlob und Tadel.
Der Schmer, an der Nase erwachte von Neuem,
und hastig fuhr Weltlein mit der linken Hand empor,
um den Schaden zu reiben. Mitten - ^-/-^-^
ledoch hielt er inne, ja, es ging eme so plotzhche Wand-
ng mit ihm vor, daß er eilig stillstand. Etwas Schafes
Spitzes war ihm über das Gesicht gefahren und als er
dfe hnlce Faust öffnete, sah er darin eme habvcrdonte
WeinLke. Sie war ihm, als er beim Hinabklettern m,t
dem Weinspalier zusammenbrach, zwischen den Fmgcm
g Hieben, und er hatte sie, ohne darum zu wissen m,
der krampfhaft geballten Hand d,e ganze Ze,t über
■"'^Wf e^Blitz dur^^fuhr es ihn: das i^t<ias Symbol;
die Rebe, das alte Sinnbild des Wachsens, der Wandlung
und der Auferstehung, der Träger heiligen Rausd>es.
das Werkzeug eines welterobernden Gottes, M.t de
Blättern des Weinstocks mußte er sidr kränzen, sie ab
mahnenden Schmuck um das Haupt flechten.
■Triumphierend hob er den Arm. um die halbwelke
Zierde um die Stirn zu legen, da fiel ihm em Wort ein
- 48 -
das ihm die Stimmung störte. Schade, ewig schade, daß
hier kein Spiegel in der Nähe ist, spradi er leise vor
sich hin. Dann lachte er gutmütig über sich selbst,
streckte die Arme aus und blickte abwechselnd auf den
Stein und die Blätter. Ein wehmütiges Gefühl stieg in
ihm auf, fast wie die schmerzliche Erkenntnis seines
verrückten Zusfaiides. Aber mit einer starken Anstren-
gung scheuchte er die Wahrheit davon und immer auf
den Stein und die Blätter starrend, steigerte er künst-
lich seinen Schmerz höher und höher, bis ihn eine
krankhafte Frömmigkeit überwältigte.
„Höre mich, Herr, höre mich, dämmernder Himmel,
der du der Sonne harrst! Gib mir ein Zeichen, daß ich
es trage zu deinen Ehren, zum Ruhm des Lichts! Siehe,
in meinen Händen halte ich den Witz der ganzen
Menschheit, das Sein und Wei-den liegt mir zwischen
den Fingern, die Enden aller Philosophie aller Jahr-
tausende. Du weißt es, Himmel: was sie auch ersonnen
haben, in der Mitternachtsstille oder bei der schwälenden
Lampe, sie sind nie weiter gekommen als bis zum Sein
und Werden. Sic haben auch nie zwischen Beiden ent-
schieden. So entscheide denn du! Laß mich nicht in
Zweifel stehen, ich gleiche sonst zu sehr dem Esel
zwischen den Heubündeln. Du hast ja die Helden geliebt
und ihnen Adler zur Rechten und Linken gesandt. So
^b auch mir ein Zeichen, daß ich das Rätsel löse."
Er ließ die Arme sinken und fuhr fort: „Hier ist
das Sein" — er legte Alwinens Stein sorgfältig auf die
Erde — „und hier das Werden," die Weinranke fand
ihren Platz daneben. „Jetzt werde ich zwanzig Schritte
zurückgehen und dann mit geschlossenen Augen wieder-
kommen. Was ich zuerst erblicke, wenn ich die Augen
öffne, das soll mir heilig sein."
- 49 —
Er richtete sich auf und blickte umher. Von dem
Hügel, auf dem er stand, blickte er weit m d,e däm-
mernden Lande. Beinahe hatte er über den lockenden
Anblidc seine Absicht vergessen. Rasch ^ber raffte er
sich zusammen, winkte dem Himmel zu und r,ef: „PafJ
auf. alter Heidengott, und mach es gut!" Dann gmg
.r langsam seine zwanzig Schritte, sdibß d,e Augen
und kehrte laut zählend zurück. Bei zwanzig hob er derf
Blick Aber statt des Seins und Werdens sah er am
Ende der Welt die Sonne aas der Erde steigen M,t
einem Frendenruf streckte er die Arme aus warf sich
auf die Knie und jubelte dem aufgehenden Gest.m zu.
.Bist du es, große Sonne? Gibst mir d.ch selbs^
mir, deinem Kinde. Bist dn das Zeichen, in dem ,ch
siege? Große Som.e, wie liebe ich d.ch. Du b.st
heiliges Licht."
Er kreuzte die Arme über die Biust und beugte
den Kopf nieder. Sofort aber fuhr er empor. „Das ist
empörend" rief er. „Ich bete die Sonne - und zum
Dank zeigt sie mir Sein und Werden zu gleicher Ze,
Verfluchter Stein, verfluchterWeinlWassoU.ch wählen?
Er raffte wütend die beiden Symbole auf, da sah
er halb im Straßenstaub vergraben eine Feder begen
die irgend eine alte Krähe dort abgeworfen hatte. Mit
ernstem Blidc betrachtete er sie, hob s,e andächtig
empor und der Sonne zunickend sagte er freud,g_: „Du
verLsest keines deiner Kinder, alter Wdtfahrer Du .
lachst über das Sein und Werden und bestrahlst den
Fittich der Tat. Und du hast Recht. Fort mit dem
Sein" - er steckte den Kiesel in die rechte Hosen-:
tasche - „fort n.it dem Werden'^ - die Wemranke .
versdiwand in die linke Hosentasche^ „ade Philo-
sophie der Griechen und Inder; die Tat >st alles, das
- 50 —
r^
Denken nichts. Das wußten schon andere vor dir, Thomas.
Aber Dank, Sonne, daß du niich's gelehrt!"
Freudig hob er die Krähenfeder vor das Auge und
guckte zwischen dem Flaum in die Sonne. „Du sollst
midi tragen zu hohen Höhen. Auf Flügeln will ich dir
dienen, ewiges Licht. Schön bist du Welt, Hebenswert
schön." Die Rührung überwältigte ihn; er fühlte den
unwiderstehliclien Drang, irgend etwas zu umarmen und
im gewaltigen Druck seine gespannte Seele zu befreien.
Um die Hände frei zu bekommen, steckte er die Feder
iii den Mund, breitete die Arme aus und schritt in .
Verzückung auf den nächsten Baum zu.
IX. KApriEL.
DER LUMPENWiLHELM UND AGATHES UHR.
„Guten Morgen auch," tonte es neben ihm. Das
Weltlein fuhr sehr rasch herum, öffnete den Mund, um
den Gruß zu erwidern, und ach, der Fittich der Tat sank
langsam flatternd zu Boden. Der arme Thomas aber
starrte verwundert auf die krumme Gestalt eines alten
Fuhrknechtes, der seinen Wagen führend, ihm gegenüber
stand, die Peitsche zwischen die langen Beine geklemmt,
deren eines seltsam steifgehalten wurde. Mit den hohlen
Händen schützte er das schwälende Streichholz, mit dem
er eben die Pfeife anzünden wollte.
Thomas suchte mit dem Blick nach seiner Feder. Sie
lag vom Morgenwind verweht im Schmutz der Straße
neben dem struppigen Gaul, der mit dem dicken Kopf
nickend tiefsinnig das Symbol des Höhenfluges betrach-
tete. Weltlein hob wehmütig sein Heiligtum hodi. „Kaum
gefunden, schon verloren. Was sagt, Ihr Götter, dies
Zeichen? Lähmt Ihr die Schwinge sclion jetzt, noch ehe
- 51 -
%
L
sie entfaltet war? So fahre dahin und haire des, d^-v
dich würdiger führt."
Eben wollte er die Feder fliegen lassen, da gnfl
der Fuhrmann danach, nahm sie und stacli mit dem
spitzen Kiel in die Pfeife, den Tabak zu lockern. „D,e
mußt du mir schenken, hörst du, Die kann ich für den
Pfeifenschmirgei brauchen." Der Kerl hob seinen langen
blauen Kittel hoch und versenkte seine Eroberung ur
eine riesige alte Ledertasche, aus der eine abgebrauchte
Wichsbürste und ein zerissener Straußenfächer hervor-
ragten. Dann sah er mit seinen kleinen sehlauen Augen
sein Gegenüber an.
Du denkst wohl auch, der Baum da ist die Penne
zum roten Apfel, wo sie dich heute Nacht heraus-
ireschmissen haben. Aber wenn du 'nen Schnaps brauchst,
bist du bei mir besser aufgehoben. Willst du mitfahren?'-
Weltlein war im ersten Moment von der vertrau-
lichen Anrede ganz überrascht und, die Wahrheit zu
sagen, sogar empört, aber noch ehe er dazu kam, seme
Würde zu offenbaren, fiel ihm ein, daß eine Sdiicksals-
fügung vor ihm stehen könne. Er beschloß, sie auf s,di
zn nehmen. ..Wenn da Platz ist," sagte er, „ganz gern."
„Dann steige nur auf! Platz ist schon, ich fahre nr.ch
Griesbach Lumpen holen, kann auch einen mitbringen;
das geht in einem hin."
Thomas stand schon mit einem Beine aiif dem Rade. Uic
neue Dreistigkeit brachte jedoch seine Geduld ins Wanken.
Wofür halten Sie mich," fragte er sehr von oben herab.
Na na, machen Sie sich man nicht dicke. Was
Sauberes sind Sie schon mal nicht. So ne Hosen., w.e
diese Hosen lägen besser hinten im Lumpensack, als
daß Sie Ihre scJiÖnen Beine zeigen, und das Gesicht,
das Sie machen, könnten Sie auch erst waschen, ehe
— 52 -
Sie hier Freundlichkeiten mit Grobigkeiten und Siezereien
gut machen. Und nun runter hier mit dem Bein, sonst —".
Er hob drohend die Peitsche.
Also kräftig gemahnt prijfte Herr Weltlein zum
ersten Male seit seiner Verwandlun,^ seinen äußeren
Menschen. Wahrhaftig er sah aus wie ein echter Stromer.
Er hatte sein Jagdkleid an, das in manchem Kampf
durch Schwefelsäure und Petroleum arg verwüstet war,
und zum Überfluß hatten Agathes Spalierstangen nocli'
ein großes Dreieck aus den schadhaften Beinen heraus-
gerissen. Es sah schon arg aus, das mußte wahr sein,
und wenn sein Gesicht aucli einige Schattierungen lichter
sein mochte als seine Hände, schmutzig war es gewiß.
Rasch gefaßt streckte er die sdimierige Hand dem
Lumpensammler entgegen und lachte.
„Recht hast du, Bruder," sagte er. „Ein echter Lump
bin idi und gehöre zu dir. Müde bin ich audi, so nimm
mich mit; sollst auch etwas dafür zum Lohn haben."
Er suchte in den Hosentasdien herum, fand jedoch nichts
als das Sein und Werden und seine goldene Uhr, die
er wie gewöhnlich ohne Kette mit sich trug. Diese
gänzliche Armut erschreckte ihn, und jetzt ersdiien es
ihm plötzlich dringend nötig, so rasch als möghch in
die Kreisstadt zu kommen, um dort bei seinem Bankier
und Freunde Geld zu erheben. Der Lumpenkarren mußte
ihn mitnehmen. Das war beschlossene Sache.
Er zog die Uhr hervor und sagte: „Siehst du, hier
habe idi etwas, das ist gut für die Fahrt, nicht wahr'
Die versetze ich in Griesbach, und wenn du midi bis
dorthni mitnimmst, bekommst du dein Teil."
Der Lumpensammler kniff das rechte Auge zu und
pfiff schneidend zwischen den Zähnen. „Man rauf," sagte
er, „mir ist's recht."
- 53 —
Die Beiden nahmen nebeneinander Platz und das
Gefährt setzte sich in Bewegung. Seit die Uhr zum
Vorschein gekommen war. fühlte der Lumpensammler
eine merkwürdige, stets wachsende Freundschaft z>,
seinem Kameraden, „Nun wollen wir es uns bequem
machen." sagte er. Aus der Tiefe seiner Ledertasche
brachte er den versprochenen Schnaps hervor, dazu em_
Stück Brot und eine Knackwurst, die er brÜderhch mit
Thomas teilte.
Der saß vergnügt, gleichzeitig seinei. Hunger und
sein Verlangen nach der Weltanschauung eines Lumpen-
sammlers zu stillen, auf einem alten Sack, ließ d,e Be.ne
auf die Deichsel hinabbaumeln und hieb wacker ein.
Ihm war so froh zumute, als ob er niemals etwas anderes
«kannt hätte, als dieses gemächliche Vagabundenleben.
Schon war die Wurst verschwunden. Bevor er [edoch
den letzten Bissen Brot in den Mund steckte, hielt
Thomas tiefsinnig inne.
Wie wenig bedarf dodi der Mensch," sagte er,
wie glücklich ist er, wenn er nichts besitzt! Glaube
mir. Freund; das Schlimmste, was dem Menschen be-
»e^nen kann, ist, etwas sein eigen zu nennen. Wo das
Gold zum Tore hineinzieht, da kriecht die Sorge hinter-
drein durch das Scl.lüsselloch. Verschenke, was du hast
das ist die tiefste Lebensweisheit. Gewiß, man muH
seine Bloße decken und dem Magen etwas zu tun geben.
Aber eine zerrissei>e Hose genügt, und ich muß sagen,
dieses Stück Brot hat mir so gut geschmeckt wie
,Wie ein fetter Hammel," fiel der Gefährte ein. „Aber ■
ein Schnaps ist auch nicht zu verachten; trink aus alter
Onkel'" und damit reichte er dem Redner die Flasche.
Thomas Heß sieh nicht aus seiner feierlichen Stimmung
bringen, beide Hände auf die Knie gestÜUt, in der emen
— 54 —
die Brotrinde, in der anderen den Schnaps, saß er da
und blickte ernst in das Land. „In solchen Augenblicken,"
fuhr er fort, „empfinde ich g-anz die Wahrheit der gött-
lichen Lehre: Selig sind die Armen. Wenn ich bedenke,
welch ein Gefühl der Zufriedenheit mich jetzt durch-
strömt, hier mitten zwischen den Lumpen, die die
Menschen achtlos auf den Kehricht werfen, so danke
Ich dem Himmel, der mich so weise geführt hat. Ich
habe da vorhin in deiner herrlichen Tasche, die mir jetzt
wie die Quelle aller menschlichen Einsicht erseheint,
eine Wichsbürste gesehen. Welch ein Haufen Sorge
. steckt selbst in einem so einfachen Werkzeug. Da gibt
es Menschen, die ihr Leben damit zubringen, als Bürsten-
binder oder Arbeiter in irgend einer Fabrik Borsten in
ein Holz zu kleben, bloß damit Wichse auf Stiefel ge-
schmiert werden kann. Ich bitte dich, hat dazu der liebe
Gott Menschen geschaffen, damit sie Tag ein Tag aus
nichts anderes denken und empfinden als Borsten? Nimm
nur die vielen Flüche, die feine Herren gen Himmel
schleudern, weil ihnen der Hauskneclit die Stiefel nicht
blank genug putzte. Nimm den ehelichen Zwist, der
schon am frühen Morgen den heiteren Frieden häuslichen
Glückes stört, weil die Magd nicht rechtzeitig das Schuh-
zeug brachte. Betrachte die Damen auf der Straße, mit
welcher Sorgfalt sie um die Pfützen herum gehen, damit
ihre glanzende Fußbekleidung ja kein Fleckdien treffe.
Mit der Hälfte dieser Mühe, auf edle Zwecke gerichtet,
könnte eine solche Frau ein Geschlecht erziehen, dem
nichts unmöglich wäre. Bedenke nur, welch ein Troß
dazu gehört, um wirklidi reine Schuhe zu haben. Wer
das will, der muß Wagen und Pferde besitzen, ein
Kutscher muß herbei, und wo ein Kutscher ist, da ist
auch eine Köchin und ein Stubenmädchen, da wird denn
- 55 —
bald selbst bei den Besten das Wichtigste im Leben,
was man essen soll, damit die Köchin doch baschafUgt
sei wie man dem Mädchen es angewöhnt, zierhch
Tassen zu reichen, wie man das gute Porzellan vor
ihren mörderischen Händen schützt. Der Blick der Mutter,
der die Seele des Kindes ist, fliegt in alle Ecken, um
Staub zu suchen, das Auge des Vaters, das den Kmdem
voranlenchten sollte, späht gierig nach Gelegenheiten,
Verdienst zu schaffen. Warum? Weil es Wichsbürsten
in der Welt gibt. Ist es nicht viel besser, wie wir es
haben, du und idi. wir mit unseren schmutzigen Stiefeln?
Auf den Kehrichthaufen gehört die Bürste; da erst ist
ihr Platz. Glaube mir, das größte Unglück des Menschen
ist der Besitz." Er hielt inne und steckte die Brotrmde
in den Mund.
Der Lumpensammler rückte ihm näher, „Wenn es ■
dir gar so arg ist. etwas zu haben, kannst du mir die
Uhr geben." ^ ^,
Thomas drehte ihm das Gesicht zu. „Nem, sagte
er ruhi.. „die brauche ich. Aber stÖre mich mcht! Ich
habe früher den Satz nicht begriffen: Eigentum ist Dieb-
stahl; habe ihn sogar lächerhch gefunden. Aber jetzt
begreife ich ihn. jawohl es ist Diebstahl, Diebstahl am
Gut des Nächsten, an der edlen Seele des Menschen,
an dem wahrhaft Göttlichen, an den hohen Aufgaben,
für die ein jeder geboren ist. ]a, ich gehe noch weiter.
Ei.'entum ist Diebstahl, das ist richtig; das andere ist
aber ebenso wahr und weit wichtiger: man soll dem,
der Geld hat. es nehmen. Nur so befreit man ihn von
der Last, der Angst und Sorge, macht ihn zum wahren
Menschen, wie ihn Gott gewollt hat. Ja, in diesem
Sinne kann man sagen: der Diebstahl ist eine Pflicht
jedes anständigen Menschen."
— 56 —
Wieder rückte der blaue Fuhrmann auf seinem Sitz
„Wo hast du eigentlich die Uhr her?" fragte er.
„Die Uhr? Sie gehört mir. Sie ist ei» Geschenk
meiner Schwester. Die gute Agathe." Thomas griff in die
Tasche, holte die Uhr heraus und betrachtete sie zärtlich.
Sein neuer Freund griff danach. „Zeig' sie mal," sagte er.
Thomas hielt sie ihm hin, ließ sie aber nicht aus deciFingern.
„Die ist gut ihre 300 Mark wert," sagte der Kittel-
niann und tippte mit dem Finger darauf,
Thomas empfand diese Berührung unangenehm. Mit
einer Bewegung des Ekels steckte er die Uhr wieder ein,
„Wohl möglich," sagte er, „aber ich bin müde. Hier
hinten ist Platz zum Liegen. Weck mich, wenn die Stadt
kommt." Er erhob sich und streckte sich lang in dem
Wagen aus.
Der Fuhrmann starrte lange vor sich "hin, plötzlich
gab er dem Pferde einen Schlag, spuckte aus und drehte
sich nach seinem Gast um. „Wenn du die Uhr da ver-
setzt, was gibst du mir ab?" fragte er,
Thomas blinzelte gen Himmel. Ihm war wohl zu Mut
und behaglich sagte er; „Nun auf ein, zwei Thaler soll
es mir nicht ankommen," dann schloß tr die Augen
und schlief ein.
Der Kutscher saß wieder regungslos, dem Pferde
zwischen die Ohren schauend, dann spuckte er noch ein-
mal und murmelte: „Hättest du Halbpart gemadit, wäre
es gegangen. So aber — Gerechtigkeit nimm deinen Lauf."
X. KAPITEL.
DER WEG DER SCHMERZEN.
Als Thomas aufwachte, blitzte dicht über seinem
Kopfe die blanke Spitze eines Helms in der Morgensonne.
- 57 —
Ein bärtiges Gesicht schaute darunter hervor und nickte
breit lächelnd dem erstaunten Schläfer zu. Thomas rieb
sich die Augen. Wahrhaftig, ein Gendarm, 'ein richtiger,
echter Feldgendarm. In Weltleins Innerem begann es zu
kochen. Der Polizeikoller, vor dem Agathe sich so sehr
gefürchtet hatte, packte ihn. Er sah wieder, wie gewöhnlich,
die Wachstube vor sich, in der er von dem geschniegelten
Polizeileutnant Unterriebt im Anstand bekommen hatte.'
„Guten Morgen," eröffnete der Behelmte die Unter-
haltung. Weltlein rückte voll Abscheu an die äußerste
Kante des Wagens. Der Gendarm faßte ihn am Arm.
„Na, na. alter Freund, guten Morgen können Sie mir
schon sagen, wenn Ihnen auch bei meinem Anblick
nicht wohl zu Mut sein mag. Und ausrücken gibt es
hier auch nicht, wenigstens nicht eher, als bis ich giiiud-
lich ihre werte Bekanntschaft gemacht habe. Also nun
einmal her mit den Papieren."
Thomas starrte seinen Nachbar wütend an. „Lassen
Sie mich los," sagte er, „Sie haben kein Redit, mich
festzuhalten."
„Das Recht lassen Sie nur beiseite und seien Sie
froh, wenn das Gericht nicht über Sie kommt." Der
Polizist strich sich zufrieden über seinen Witz den Voll-
bart „Sie wollen mir damit wohl andeuten, daß Sie
Ihre Papiere zu Hause vergessen haben. Dachte ich
■ mir. Aber Ihren Namen haben Sie vielleidit mitgebracht,
was? Oder ist der auch weggelaufen? Er blinzelte dem
Fuhrmann zu. der sich vor Lachen ausschütten wollte,
Thomas suchte seinen Arm zu befreien. „Mein Name
ist Thomas WelHein. Lassen Sie mich los, sage ich
Ihnen. Das ist Freiheitsberaubung."
„So nennt man das, ja; aber vorläufig sind Sie noch
gar nicht Ihrer göttlichen Freiheit beraubt. Vorläufig
^ 58 -
setze ich nur Ihren Namen fest, hier in das Budi. Sehen
Sie." Er zog ein Taschenbudi hervor. „Ach, Lumpen-
wilhelm," rief er, „sei docli so gut und stütze den
Herrn ein wenig, damit er nicht aus Versehen aus dem
Wagen fallt. Er sieht so aus, aJs ob er Lust dazu hätte."
Lumpenwilheim wieherte vor Vergnügen, sprang vom
Wagen und tat, was ihm geheißen war. Der Gendarm
leckte den Bleistift und begann wieder. „Also wie war
das, Thomas?"
„Thomas Weltlein." Der Gefragte stockte: ihm fiel
es ein, daß die irdische Gerechtigkeit kaum von seiner
Verwandlung gehört haben könne. Zögernd fügte er
hinzu: „Eigentlich heiße ich August Müller."
„So, so. Eigentlich heißen Sie so, aber uneigentlich
gar nicht. Wir wollen nun lieber bei dem einen Namen
bleiben. Sonst kann ich mir gleich ein neues Buch an-
schaffen, wenn ich all Ihre werten Namen aufschreiben
soJi. Also Thomas Weltlein. Und was darf ich als Ihren
Wohnort notieren?"
Thomas ächzte vor Wut. „August Müller heiße ich.
Ich rate Ihnen, meine Aussagen richtig zu Protokoll zu
nehmen."
„Zu Protokoll nehmen, ist gut," scherzte Lumpen-
wilhelm; „er ist gelehrt, der Herr."
Der Gendarm setzte sich in Positur, „Wissen Sie, a
hier wird nidit. lange gefackelt mit Leuten, wo ohne |
Papiere herumlaufen. Ich bin höflich mit Sie, aber ich
kann auch höllisch unhöflich sein. Merken Sie sich das,
Sie Herr Weltlein oder Müller, Sie!"
Thomas biß die Zähne zusammen. Aber die Qual
sollte erst für ihn beginnen. Der Polizist steckte seine
Brieftasche weg und wandte sich wieder, an seinen
Mann: „Der Herr hier" — er deutete auf den Kittel-
- 59 -
t
träger, der bei dieser ehrenvolien Bezeichnung freudig
seinem Gaul eins mit der Peitsche iiberknallte, — „hat
mir von Ihren Ansichten über fremdes Eigentum erzähil,
und da ist es meine PfUcht, einmal in Ihren Taschen
nachzusehen, ob Sie nicht etwa statt der vergessenen
Papiere etwas anderes eingesteckt haben, natürlich aus
Versehen. Wenn Sie nun nicht Lust haben, erst einmal
die gehörigen Keiie zu kriegen, ■ — der Herr da wird
mir wohl helfen, wenn es dazu kommen sollte — dann
sind Sie so gut, die Arme hochzuheben, damit ich in
die Taschen fahren kann. Hoffentlich sind Sie niclit
kitzlig,"
Thomas hatte das beifällige Nicken des Fuhrmannes
gesehen, und wie er die Peitsche erwartungsvoll fester
packte. Er gab sich in das Unvermeidliche und hob die
Hände, das gab ihm einen Augenblick Freiheit, Der
Lumpensammler koimte der rasclien Bewegung nicht
folgen und ließ den Arm los; seine ganze Aufmerksam-
keit war zudem darauf geriditet, ob der Polizist die
Uhr zum Vorschein bringen würde, und wie er sich
dieses Kleinods ungestraft bemächtigen könne.
Der Gendarm hatte mittlerweile aus der einen Tasdie
den Stein, der die Welt und das Sein bedeutete, her-
vorgeholt und ohne V/eiteres weggeworfen. Thomas
sah seinem Symbol mit zitternder Erregung nach. Als
aber jetzt der Mann der Gerechtigkeit aus der anderen
Tasche das Werden in Gestalt der Weinrauke an das
Tageslicht förderte, verlor er die ruhige Besonnenheit,
Seine heiligsten Gefühle schienen ihm beschimpft zu
sein und mit einem Wutschrei riß er dem Gendarmen die
Ranke, die dieser mit einem seltsamen Aufleuchten der
Augen betrachtet hatte, aus der Hand und sprang aus
dem Wagen.
- 60
„Halt!" schrie der Gendarm, „halt ihn! Das ist ein
Hauptdieb. Das ist der Weinbergsicarl. Zweihundert
Mark Belohnung stehen auf dem Luder." Nun begann
eine Hetze hinter dem unglücklichen Thomas her, als
gälte es Tod oder Leben. Wäre er nicht so verrückt
gewesen, er wäre entkommen. Aber leider galt ihm
sein Symbol mehr als seine Freiheit, Beim eiligen Laufen
verlor er das Werden der Welt, und wie er sich bückte,
es wieder aufzuheben, packte ihn der langbeinige Lum-
pensammler, der trotz seines steifen Ganges rascher
lauten konnte, von hinten und warf ihn zu Boden.
Im nächsten Augenblick war Thomas Weltlein als schwe-
rer Verbrecher gefesselt. Wie ein Sack wurde er zurücl<-
geschleppt und in den Wagen geworfen.
Dort lag nun der Auserwähite, vergeblich mit den
Banden ringend und mit seinem Geschick hadernd. In
ohnmächtiger Wut wälzte er sich umher, um den schmer-
zenden Gliedern eine bessere Lage zu geben. Dazwischen
horchte er auf die Worte des Polizisten, der mit vielem
Stolz die Geschichte des Weinbergkarls erzählte, wie
für ihn, den geübten Einbrecher, kein Schloß zu fest
sei und wie er vor ein paar Tagen erst wieder aus dem
Zuchthaus entsprungen sei. „Diesmal haben wir ihn aber
fest. Eine verfluchte Visage hat der Kerl. Siehst du,
Wilhelm, das ist der Steckbrief und ein Bild dazu,"
Der Gendarm zog wieder sein dickes Notizbuch hervor
und entfaltete ein Zeitungsblatt. „Danach hätte ich ihn
nicht erkannt. Aber die Weinblättcr, die haben ihn
verraten. So 'ne Leute haben Angewohnheiten. Der da
liebt es, in leeren Weinberghäusern zu wohnen, woher
der Name. Ich ahnte ja nichts. Ich dachte nur, es ist
ein Stromer und du läßt ihn mit einer väterlichen Mah-
nung laufen. Muß der Ungiückskerl nun ausgesucht
— 61 —
solch eine Ranke in der Hose haben. Wie ich das sehe,
weiß ich gleich, das ist er und kein anderer."
Thomas seufzte. Seinem hohen Symbol also ver-
dankte er es, seinem edlen Streben, daß er wie ein
Stück Vieh zur Schlachtbank geschleppt wurde. Mit wach-
sender Bitterkeit dachte er daran, wie es ihm mit
seinen Idealen ergangen war. Der Fittich der Tat war
ein Pfeifenreiniger in den Händen des Lumpensammlers
g-cwordcn, der Stein der Welt lag unter anderen Steinen
auf der Landstraße und die dionysische Ranke hatte
ihn gar zum Verbrecher gemacht. Wahrhaftig, es wäre
besser für ihn gewesen, ruhig in der Schwester Obhut
zu bleiben, als so <iuf der Landstraße mit zerstoßenen
Gliedern gerädert zu werden. Er ächzte vor Schmerz
und schon scliwur er sich zu, komme er erst frei, mit
dem näclisten Zuge nacli Hause zurück zu kehren, da
traf ein Wort sein Ohr, das auf einmal seine Kräfte
neu belebte.
„Hauen müßte man ihn," sagte der Fuhrmann eben,
„hauen, daß er die Engel im Himmel pfeifen hörte.
Wenn so ein Kerl ordentlich die Peitsche fühlt, dann
hält er stille. Na, ich habe ihm ein paar gelangt." Er
klatschte vor Vergnügen mit der Peitsche,
Der Polizist lachte. „Das schadet nichts. Das macht
geduldig und bessert ihn. Merk dir das, Weinbergkarl!
Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, steht in der
Bibel."
Thomas starrte Ihn an, das war wieder die höhere
Macht, die ihn führte. Aus dem Munde des Schäcliers
sprach sie zu ihm. Wen der Herr lieb hat, den züchtigt
er. Wahrlich, er wav auserwählt, da war kein Zweifel.
Mitten in seine Verzagtheit hinein tönte ein höhnisches
"Wort, das ihn auf den Weg zur Hohe wies. Der
- 62 -
F
^■^
Schmerz, der große Läutei-er der Seele, trat zu ihm
heran wie ein Freund, ein Dämon vom Sdiicksal ge-
sandt, ihn aufwärts zu führen, ihn für den Kampf mit
allem Niedrigen zu stärken. Unter dem Eindruck dieses
neuen wunderbaren Rufes schämte sich Thomas seines
Zweifels und gelobte sich, die Bahn des Schreckens
weiter zu gehen. Der Sieg konnte ihm nicht fehlen.
Was sollten die Symbole? Hier lagen Tatsachen vor
ihm, hier griff er das Kreuz, in dem er siegen sollte,
mit Händen,
Thomas schaute zufällig nach dehi dicken Kopf des
Schufzmannes, dessen Helm gerade die Sonne traf. Wo
haHe er nur die Augen gehabt, daß er nicht früher
diesen überirdischen Glanz sah? Das war er selbst, sein
Dämon, sein Helfer und Führer, verkleidet in widrigste
Gestalt. Wie sonderbar waren die Pfade des Schick-
sals! Mit Abscheu wies er jetzt den feigen Gedanken
der Heimkehr zurück. Sein Entschluß war gefaßt. Treu
dem Gebot des Gesdiickes wollte er die Schmach des
Verbrediers tragen. Die Zukunft mußte ihm docli bleiben.
Ganz beruhigt schloß er die Augen. Ihm war, als
ob erquickender Balsam ihn berührt hatte, alle Schmerzen
schienen verscliwunden und er harrte freudig der neuen
Prüfungen.
Die sollten nicht ausbleiben. Die Unterhaltung der
beiden Sieger war eine Zeitlang weit abgeschweift." Jetzt
aber brachte sie der Blaukittel auf den Gefangenen
zurück. Daß er dabei seine besonderen Gründe hatte,
sah man an dem eigentümlichen Zusammenkneifen der
Augen, das seinen Worten voranging.
„Wollen Sie ihn nicht visitieren, Herr Wachtmeister
ehe wir in die Stadt kommen? Vielleicht hat er noch
was Schönes in der Tasdie."
- 63 -
Der Polizist sali ihn mißtrauiscli an. „Du kriegst
nichts ab," sagte er, „das wird alles auf dem Amt
deponiert. Aber recht hast du, nachgesehen muß werden."
Er erhob sich schwerfäUig und wälzte seinen Gefan-
genen herum, um ihm die Taschen zu leeren. Der ßlaii-
kittel blieb ruhig sitzen und starrte auf die Ohren seines
Pferdes. Als der Gendarm sich wieder zu ihm setzte,
sah er ihn fragend an. „Na?"
„Gar nichts hat er in den Taschen, reinweg gar
nichts. Ich habe mir's wohl gedacht."
Der Fuhrmann räusperte sich. „Das würde ich doch
notieren, Herr Wachtmeister. Bei dem Gefangenea nichts
gefunden. So ein Kerl behauptet nachher, wir hätten
ihm seine goldene Uhr gestohlen."
Der Polizist rückte sich zurecht. „Ein königlicher
Gendarm stiehlt nicht, hörst du wohl, und solche Witze
laß gefälligst unterwegens. Du bist hier nicht bei deines-
gleichen."
In dem Augenblick tonte Weltleins Stimme: „Eine
goldene Uhr muß in der Tasche stecken."
Mit einem Seitenblick auf den Fuhrmann erhob sich
der Gendarm wieder und stieg über die Latten hinweg,
um den Arrestanten von neuem zu durchsuchen. Als
er nichts fand, gab er seinem Gesiclit den forschenden
Ausdruck, mit dem der Herr Polizeiinspektor zu ver-
hören pflegte: „Ist das wahr, Karl, daß du eine Uhr
gehabt hast?"
„Gewiß ist es wahr." antwortete Thomas, über die
I seltsame Mischung von Gutmütigkeit und Strenge in
,) des Polizisten Gesicht lachend. „Da Ihrem Freunde
habe ich sie vor einer halben Stunde gezeigt."
„Das ist nicht mein Freund." Der Polizist erhob
den Kopf und schrie den Lumpensammler an; „Höre
- S4 -
du, Wilhelm, wenn du hier Gesdiichten machst, sollst
du mal sehen. Gib die Uhr her! Himmeldonnerwetter,
Kerl, du fahrst ja wie der Teufel; da kann ja kein
Mensch ein Wort verstehen."
Wilhelm saß ganz zusammengeduckt da und schluo-
mit der Peitsche anf seinen Gaul los, der im Galopp
den schwankenden Wagen mit sich fortriß. Der Gendarm
mußte sieh an den Latten festhalten, um nicht zu fallen.
„Hältst du gleich still, du! Bist du verrückt? Du
schmeißt uns ja um."
Der Lumpenwilhelm peitschte weiter und schimpfte
nun seinerseits. „Was? Das hat man von seiner Gut-
mütigkeit. Brot und Sdmaps !iat mir der Kerl aufge-
fressen und nun sagt er, ich hätte ihm seine Uhr ge-
stohlen. So ein Galgenvogel. Und von Sie, Herr Wacht-
meister," er drehte sich mitten in der Fahrt um und
schrie die Worte dem Gendarmen laut in das Gesicht,
„finde ich es nicht schön, daß Sie mir des Diebstahls
beschuldigen, wo ich Ihnen eine Stunde umsonst uefahren
habe, und überhaupt, ich habe den Mann gefangen und
werde mir auch die zweihundert Mark auf dem Amt
ausbitten, daß Sie es nur wissen. Und das lasse ich
mir nidit gefallen, daß Sie mir einen Dieb schimpfen,
und ich verdiene ehrlich mein Brot, wahrend andere
hier sind, wo im Zuchthaus gesessen haben. Aber
idi werde Ihnen melden, daß Sie mir beschimpft
haben."
Der Pohzist lenkte ein. „Na, na, Wilhelm, so war
es nidit gemeint. Laß doch das verdammte Jagen, ich
falle ja raus. Das mit der Uhr ist doch bloß Spaß.
Wer wird denn so einem Zuchthäusler glauben? Nein,
nein, die Prämie, die teilen wir uns, das ist klar. Wir
haben ihn ja beide gefangen."
- 65 - .
i ^
Eben rasselte der Wagen über das Pflaster der
Stadt. Der Lumpenwilhelm hielt schmunzelnd sein Pferd
zurück. „Hier müssen wir langsam fahren. Aber das
ewige Troddeln auf der Landstraße hatte ich dicke,"
Der Gendarm gab in seinem Ärger dem vinglück-
Uchen Thomas noch einen festen Fußtritt, dann setzte
er sich wieder auf seinen Platz. Sein Gesicht war so
grimmig, daß die Leute auf der Straße steheu blieben,
um ihm nachzusdiauen.
Thomas hatte reichlich Gelegenheit, sich vom Leid
läutern zu lassen. Es dauerte nicht lauge, so lief eine
johlende Rotte von Straßenjungen hinter dem Wagen
her, deren schmeichelhafte Zurufe allein schon genügt
hatten, die Geduld eines Heiligen zu erschöpfen. Ab
und zu kletterte ein vorwitziges Bürschchen hinten auf
den Wagen, um den berühmten Dieb von Angesicht zu
schauen, und als der Gendarm mit lauten Drohungen
und der Lumpensammler mit der Peitsche die Zudring-
lichen abwehrten, griffen sie zu der letzten Zuflucht
der Straßenkönige, den Steinen und dem Schmutz.
Bei alledem schwamm der Auserwählte in Wonnen
des Entzückens. Er meinte zu fühlen, wie mit jedem
Schimpfwort seine Seele wuchs, wie jeder Stein, der
ihn in seiner hilflosen Lage traf, neue Menschenliebe
in ihm erweckte. „Heilige Geduld," rief er sidi zu,
„rüste midi mit deinen Waffen! Gegrüßt seid mir,
Leiden und Schmadi, ihr Freunde, die ihr mir dient,
einzig zu werden, die ihr der Seele Flügel gebt, über
die Erde empoizucilen." Als diese herrhche Rede jäh
durch ein Wurfgeschoß zerschnitten wurde, das des
Lobpreisers Zunge traf, wälzte er sich auf den Baudi
herum und ließ nun in erhabener Ruhe die feindlidie
Welt mit seinem Mensdien schalten. Jeder Laut, jede
66 -
I
I
1
[Äußerung seiner Gefühle mußte erstickt werden, das
bedeutete der Wurf, damit seine Seele sich ganz mit
ihoher Empfindung- fülle.
Umringt von der gaffenden Menge, hielt jetzt der
Wagen vor dem Rathaus. Der Gendarm sprang herab
und bat den Fuhrmann, den Gefangenen mit in die
Wachstube zu schleppen. LumpenwÜhelni erhob sich
langsam und stieg zu Thomas hinüber; aber statt der
Aufforderung des Polizisten zu folgen, holte er bedächtig
aas seiner Riesentasche ein Messer hervor, mit dem er
auf Thomas zuging.
Das war dem guten Weltlein zu viel. Verzagt schloß
er die Augen. In der Verwirrung, die seine Gedanken
durcheinandertrieb, glaubte er, sein letztes Stündlein
sei gekommen, und voll Wehmut nahm er von allen
hohen Plünen, die nun ausgeführt bleiben mußten,
Abschied.
„Was willst du mit dem Messer?" fragte der Gen-
darm.
„Ihm die Hosenknöpfe abschneiden, dann können
Sie ihn allein versorgen. Ich muß mein Pferd in den
Stall bringen, sonst kriegt's die Mauke." Er säbelte
ruhig sämtliche Knöpfe ab, wobei er den edlen Welten-
träumer wie einen Sack von einer Seite zur andern
wälzte, löste ihm die Fuß- und Handfesseln und zog
ihn mit den Worten: „Nu mal rin ins Klaffitchen,"
empor.
Thomas öffnete die Augen und streckte selig, in
dem Gefühl, am Leben zu sein, die Arme gen Himmel.
Das Gleiten der Hose erinnerte ihn jedoch rechtzeitig
an die Niedrigkeiten der Erde. „So halte ich mit der
einen Hand die Erde," rief er gerührt, während er
die zerschlagenen Glieder vom Wagen herabmühte und
— 67 - ,.
die Hosen festhielt, „die andere aber grüßt dich, Soiiue,
die du mich hebst." Der Polizist packte ihn am Kragen
und stieß ihn unter dem schallendem Gelächter der
Menge vor sich her. Der Wageu fuhr rasselnd davon.
Mit leuchtendem Blick schritt Weltlein durch den
Korridor. Er hielt jetzt mit beiden Händen das gefähr-
dete Kleidungsstück. Das Bewußtsein seines Sieges hob
ihm das Haupt zu königlicher Würde. Für ihn war jetzt
alles entschieden. Das Schicksal selbst hatte ihn hier-
hergeführt, ihm den Namen eines Verbrechers gegeben,
einen dionysischen Namen wenigstens, wenn auch keinen
schönen. Dem Wink des Schicksals mußte er folgen.
„Per aspera ad astra," murmelte er, fest entschlossen,
die gottverhängte Maske allen Verführungen zum Trotz
zu tragen.
XI, KAPTTEL.
EIN WEINBERGSKARL UND NOCH EINER.
Dem Pohzisten waren indessen allerlei Bedenken
aufgestiegen. Vor allem erwachte der Zweifel, ob die
Geschichte mit der Uhr auch stimme. Er traute dem
Lumpenwilhelm jede Niederträchtigkeit zu, aucli einen
Diebstahl. Wenn der Kerl wirklich eine goldene Uhr
irehabt hatte, so hätte er alles durchsuchen und vor
allem den Lumpensammler dabehalten müssen. Den
hatte er ruhig davonfahren lassen. Da konnte er in eii'.e
böse Patsche geraten; jedenfalls hielt er es für besser,
zuerst mit dem Bürgermeister zu verhandeln, statt mit dem
Polizeiinspekfor, dessen Gründliclikeif er fürchtete. Er
führte daher sein Opfer geradeswegs in die Schreibstube
der Bürgermeisterei.
~ 68 -
Das Zimmer war noch leer, nur ein einziges Sdirei-
bcrlein hockte auf seinem Drehbein und fuhr hastig mit
den Händen in Akten herum, bald hier, bald da ein
Bünde! aufschlagend und wieder wegwerfend. Er drehte
sich um inid. fragte giftig: „Was ist zum wieder los?
Wen bringen Sie denn da, Weber? Lassen Sie mich
doch in Frieden. Ich habe Wichtiges zu tun. Ein Ver-
brecher ist eingeliefert worden, soll transportiert werden."
„Wollte nur melden, daß hier auch einer ist, Herr
Sekretär, ein kapitaler dazu," antwortete Weber, und
die Hand wie ein Scliallrohr vor den Mund haltend,
tagte er: „Der Weinbergskarl."
Der Schreiber fuhr heftig mit dem Kopf nach vorn
und verdrehte dabei die Augen so nach oben, daß er
aussah, als ob er ein Tcleskopfisch sei, der auf seine
Beute losschießt. „Wen?" fragte er, und seine hohe
Stimme überschlug sich dabei vor Aufregung.
„Den Weinbergskarl," wiederholte der Polizist so
iaut wie möglich. Der Schreiber sprang auf die Füße
und rang die Hände. „Mein Gott, mein Gott, idi werde
verrückt! Einen Weinbergsknrl dachte ich noch zu über-
stehen und nun bringt man mir den zweiten. Menschens-
kind, der ist ja schon da," schrie er plötzlich laut los,
auf den Gendarmen zuspringend und Ihm einen Stoß
Akten vor die Nase haltend. „Da, da sind die Hand-
akten und drüben sitzt er selber in der Zelle, Besinnen
Sie sich doch! Es kann doch nicht zwei geben."
Der Gendarm zuckte verdutzt die Achseln. „Von
dem drüben weiß ich nichts, der hier aber ist der rechte."
Der Schreiber sah zweifelnd den Gendarmen an.
dann wandte er sich an Thomas und riß bei seinen
Worten den Mund auf, als ob er ihn fressen wollte.
„Wer sind Sie, wer Sie sind, frage ich?"
- 69 -
„Mein Name ist Weinbcrgskarl," erwiderte Thomas
mit einer höflichen Verbeugung-.
Der Schreiber hob vor Erregung- ein Bein ums
andere in die Höhe. „O Himmel, heut' ist der Teufel
los," seufzte er, „Wie soll ich fertig werden? Und
meine Frau hat Geburtstag. Fritz," schrie er einen
Jungen an, der zugleich mit zwei andern jungen Leuten
eingetreten war und mit offenem Munde der Szene
zusah, „gleich gehst du ruber zum Herrn Polizei Inspektor
und bittest ihn herzukommen. Es sei nOcb einer einge-
liefert, uodi ein Weinbergskarl." Dann warf er sich
erschöpft auf seinen Stuhl und blätterte wieder hastig
hin und her, nur von Zeit zu Zeit nach dem Polizisten
und dessen GefHiigenen hinschielend.
Der Polizeiinspektor erscliien. Thomas mit raschem
Blick musternd, trat er zu dem aufgeregten Schreiber
und« ließ sieh die Sadilage auseinandersetzen. Dann
hörte er den Bericht des Gendarmen an, wobei er von
Zeit zu Zeit ein Telegramm, das er in der Hand hielt,
ungeduldig- hin- und herschwenlcte, als ob er zum ra-
scheren Erzählen auffordern wollte. Plötzlich winkte er
hastig ab und ging auf Thomas zu, der sich, so gut es bei
dem gefährdeten Zustand seiner Kleidung ging, verbeugte.
„Ich bitte Sie, den Irrtum meines Untergebenen zu
verzeihen. Es liegt eine Verwechslung vor. Sie sind
frei. Ich werde sofort für einen Wagen sorgen."
Thomas fiel aus allen Himmeln, Mitten in seiner
Heiligung faßte den Märtyrej' der Zorn. Mit einer
patzigen Bewegung setzte er sich wieder auf sei)ie
Bank. „Ich will nicht frei sein," sagte er, „ich bin der
Weinbergskarl und verlange mein Recht."
Der Beamte nickte ihm höflich zu. „Die Sache ist
also erledigt," sagte er und ging zu dem Pult des
— 70
J
^
Schreibers, mit dem er angelegentlich sprach, ohne sich
weiter um den Gefangenen zu bekümmern.
Thomas war sehr verstimmt. Er hatte neue Qualen
erwartet, Beschimpfungen, Schaude, Kerker und Ketten,
und nun sah er, daß selbst sein roher Dämon zwei
Schritte von ihm fortrückte. Das paßte ihm nidit. Mit
lauter Stimme begann er zu reden.
„Sie haben nicht das Redit, micli freizulassen, Herr
Inspektor. Sie sind grausam. Aber ich werde mich
wehren. Wie ist das möglich? Man ergreift micb, ein
Dämon wirft mich zitternden Federwurm mitten in die
Flammen des Fegefeuers, schon fühle ich, wie die lautere
Glut alles abgeschieden Irdische an mir verzehrt und
dann, ehe noch das Werk der Reinigung vollendet ist,
reißt mich der Oberste der Dämonen hervor, und stößt
mich in die Wüste der Erde zurück. Alle meine Hoff-
nungen klammern sich hier an diese Hölle, alle meine
Wünsche schweben greifbar vor meinen Augen, die
große Freundin Not, nach der ich mich sehne, streckt
mir die prüfende Hand entgegen und ich darf sie niclit
fassen. So nahe dem Ziele, dem hohen Ziele, dessen
Bedeutung niemand ermessen kann als ich. Doch nein,
Sie müssen es kennen, sonst würden Sie mir nicht so
tückisch in den Weg treten. Aber es soll Ihnen niclit
gelingen. Ich verlange mein Recht. Ich bin — "
Der Polizeiinspektor drehte sich um und nickte
ruhig: „Herr Müller."
„Der Weinbergskarl," schrie Thomas in voller Wut
und sprang auf. „Ich verlange in das Zuchthaus gebracht
zu werden, hören Sie, ich verlange es."
Der Beamte wurde unruhig. Er fühlte, wie die
Schreiber heimlich in sich hineinlachten. Gegen Thomas
streng vorgehen mochte er nicht. Dem Mann war Un-
— 71 -
recht geschehen, und wenn diese Komödie auch nicht
sehr geschmackvoll war, so mußte man docli vefsudieu,
höflidi mit dem Herrn auseinanderzukommen. Rasch
auf den Gefangenen zuschreitend, gab er ihm das Tele-
gramm, das er in der Hand hielt. „Nehmen Sie, es ist
von Ihrer Schwester,"
Thomas griff danach. „Von Agathe?" rief er. Die
Angst hatte ihn überrascht Wenn die kam, war er ver^
loren. Nein, Gott sei Dank, sie kam nicht; es war
bloß eine Anzeioie seines Verschwindens und eine Be-
schreibung seiner Person. Sofort hatte er wieder den
alten Mut. „ich kenne diesen Mann nicht," sagte er,
„Was soll idi damit?"
Der Beamte sah ihn bos an und seine Stimme
wurde scharf. „Obertreiben Sie die Sache nicht, Herr
Müller. Ihnen ist Unrecht geschehen, aber das gibl
Ihnen nicht die Erlaubnis, die Behörden zum Besten
zu halten."
Vollstündig i'uhijf setzte sich Thomas wieder hin.
„Beweisen Sic mir, daß ich nicht der Weinbergskarl
bin," sagte er. „Als solcher bin ich verhaftet und man
darf mir nicht gegen mein eigenes klares und unan-
fechtbares Zeugnis meinen Namen rauben."
„Lachen Sie nicht, Meyer!" schrie der Polizeiinspektor
den Jungen an, der ihn geholt hatte und der jetzt die
Hälfte seines Sdireibärmels in den Mund gesteckt hatte,
um nicht loszuplatzen. „Gehen Sie zum Herrn Bürger-
meister, ich lasse ihn bitten, einen Augenblick herzu-
kommen. Sie, Weber, bringen den Gefangenen hierher;
der Wärter soll mitkommen, damit der Kerl euch niclit
durchbrennt. Alle anderen verlassen das Zimmer." Er
wartete, ungeduldig seine Handscliuhe hin- und herzer-
rend, bis er allein mit Thomas war,
,- 72 -
J
„Ich kann Ihcien, wenn Sie es wünschen, tatsächlich
' den Beweis liefern, daß Sie nicht der Verbrecher sind,
für den Sie sich ausgeben. Der Dieb, der Sie zu sein
behaupten, der sogenannte Weinbergskarl, befindet sich
in unseren Händen und wird in der nächsten Minute
hier sein. Vorher möchte ich Ihnen nodi einmal Gelegen-
heit geben, die Sache rasch zu beenden. Ich finde es
nicht anständig, daß Sie einen Beamte::, der nur Ihr
Bestes gewollt hat, vor seinen Untergebenen herabsetzen.
Wenn Sie dabei beharren, sehe ich mich genötigt, Sie
zu bestrafen,"
Thomas lächelte. Etwas Besseres konnte ihm nicht
begegnen. „Beweisen Sie mir, daß ich nicht der Wein-
bergskarl bin, und bestrafen Sie mich," sagte er kalt.
Der Inspektor drehte ihm schroff den Rücken und
trat an das Schreibpult, nun seinerseits die Akten hin
und her werfend. Er wußte, mit einem solchen Beweise
würde es Schwierigkeiten geben. Thomas halte trium-
phierend die Arme über die Brust gekreuzt. In diesem
Augenblick war er von der Größe seines Berufes über-
zeugt.
Nach einiget Zeit erschien der Gendarm Weber mit
dem Gefängniswärter. Zwis(Jieii sich führten sie ein
Männchen, das stumpfsinnig den Kopf und Nacken ::ach
vorn streckte, und leise vor sich hiumurmelte. Der
Polizeibeamte ging auf ihn zu.
„Warum ist der Mann nicht gefesselt?" fragte er.
„Wir sind zu zweit, Herr Inspektor,'' erwiderte der
Wärter und streckte wie zur Bekräftigung seiner Zuver-
sicht seinen Arm aus, öffnete die Hand und schloß sie
zur Faust.
Der Inspektor schüttelte mißbilligend den Kopf,
„Spricht er?" fragte er wieder.
- 73 -
ir-
„Lautei- Unsinn, Herr Inspektor, wie gewöhnlich. Er
spielt den wilden Mann."
Der Gefangene lachte blöde auf. „Schöner Herr,"
grinste er, „schöner Herr. So bunte Uniform und blanke
Knöpfe." Er suchte die zitternde Hand zu erheben, als
ob er damit über das blaue Tuch fahren wollte. Als
ihn seine beiden Wärter daran hinderten, sank er wieder
in seine frühere stumpfe Haltung- zurück.
Der Polizeibeamte drehte ihm halb den Rücken zu
und redete wieder den Wärter an. „Ich glaube, wir
werden den Mann wieder freilassen müssen. Es liegt
kein Beweis gegen ihn vor. Der Weinbergskarl ist es
jedenfalls nicht." Er machte eine kurze Pause, aber die
albernen Züge des alten Mannes veränderten sich nicht
im geringsten. „Wir haben nämlich den Kerl; dort
drüben sitzt er." Auch dieser Versuch, den Einbrecher
zu überlisten, mißlang. „Sehn Sie ihn sich doch an,"
drängte der Beamte.
Der Alte machte einen Schrill vorwärts, so daß er
zwischen der Tür und Thomas stand, immer festgehalten
von seinen beiden Begleitern. „Auch sehr schöner Herr,
schöne Kleider, nicht so bunt, nicht so blank, aber sehr
schön." Er hafte wieder ein wenig den Arm gehoben,
um Weitleins herrliche Gewänder zu prüfen.
Der Inspektor versuchte nun noch einmal, den Ver-
brecher in seiner Rolle der Verrücktheit zu überraschen.
Er packte ihn bei der Eitelkeit, und diesmal hatte er
mit seinem Kunstgriff Glück. Er stellte sich vor Thoniss
hin, schlug ihn auf die Sciiulter und sagte: „Na, Wein-
bergskarl, nun erzählen Sie mal, wie Sie aus dem Zudit-
hauE ausgebrochen sind."
Weltlein erhob sich. Seit der Name seiner Schwester
genannt worden war, fühlte er sich in seiner Märtyrer-
- 74 -
rolle nicht mehr sicher. Es wurde ihm immer klarer,
daß seine Hartnäckigkeit ihn nicht in das Zuchthaus,
das Ziel seiner Sehnsucht, wohl aber nach Bauchungen
in die Obhut Agathes bringen werde. Er konnte sich
nur noch nicht entschließen, den Bann zu brechen. Er
harrte noch eines Schicksalswinkes, wünschte eine neue
Bestätigung dafür zu haben, daß höhere Mächte ihn
führten. Jedes Ereignis prüfte er darauf hin, ob es ein
Zeichen sei, und auch jetzt überlegte er erst, ob
diese Aufforderung zu erzählen, nicht etwa einen
.tieferen Sinn habe. Er zögerte und sah unsicher um-
her. Am liebsten wäre er mit einem einzigen Satz ent-
flohen . , ,
„Das ist nicht leidit zu sagen," begann er endlich,
„ich bin entflohen, wie man eben entflieht."
Der Polizeimann lächelte. „Sie werden schon noch
irgend etwas wissen. Das kommt doch nicht alle Tage
vor. Wie sind Sie herausgekommen? Die Türen sind
fest, da ist es unmöglich; und die Fenster — "
„Ich bin durch das Fenster gestiegen," unterbrach
Thomas froh, eine Handhabe zu bekommen.
„So, so. Aber die Gitter?"
„Die habe ich durchgefeilt."
„Und die Feile?"
„Ein Freund hat sie mir in die Zelle geworfen."
„Was Sie sagen, Weinbergakarl ? Ein Freund hat
sie Ihnen zugeworfen? Also ist es übertrieben, wenn
man Ihnen nachrühmt, Sie konnten ohne Hilfe fliehen,
wenn Sie nur wollten? Sich eine Feile zusteckenlassen,
das ist lumpig. Hätte icli das gewußt, würde ich mich
gar nicht mit Ihnen bescliäftigt haben. Mit fremder
Hilfe fliehen, das kann jeder. Aber allein,
eigener Kraft, das ist etwas."
ganz aus
- 75 —
Thomas wurde mürrisch: „Ohne Hilfe kann niemand
aus dem Zuchthaus entfliehen."
„Ich kann's," tönte auf einmal die Stimme des Ge-
fangenen.
Der Inspektor und alle Anwesenden drehten sidi
ihm hastig zu, und die beiden Wächter faßten seine
Arme doppelt fest. Er verzog- das Gesicht imd stieß
einen Sdimerzcnsruf aus. Auf einen Wink ihres Vor-'
gesetzten lockerten die beiden Polizisten den Griff. In dem-
selben Augenblick wurde die Tür von außen geöffnet. „Der
HerrBürgermeister kommt," riefes von außen. Und „Haltet
ihn!" schrieen ein halbes Dutzend Stimmen dagegen.
Der gewandte Einbrecher hatte sich losgerissen, das
dicke Stadtoberhaupt, das eben den Gang entlang keuchte,
hatte er zur Seite geschleudert und war verschwunden.
Das Ganze ging so rasch vor sich, daß der kurz-
siditige Herr, der hinter dem Bürgermeister herging,
gar nicht den Grund merkte, warum der hpchweise
Magistrat gegen die Wand fiel. Er hatte auch keine
Zeit, es sich zu überlegen, denn an ihm vorbei sauste
die wiide Jagd: Voran der Gendarm Weber, der wütend
den Ärmel eines Gefängniskittels in seiner Hand her-
umwirbelte, dicht hinter ihm der stammige Wärter, der
Polizeiinspektor und die ganze Horde der Schreiber,
Hinter ihnen drein lief und schrie der Bürgermeister,
ohne eine Antwort erhalten zu können. Und ganz zu-
letzt trat Thomas hervor, nachdenklich den zweiten
Ärmel in der Hand sdiwenkend und die Hosen haltend.
Noch auf der Schwelle stehend, begrüßte er den Kom-
menden mit einem heitern Lachen.
„Das ist die Nase, an der man den Bankier erkennt,"
rief er, „Willkommen, bester Herr Niedlich. Gelegener,
kamen Sie niemals als jetzt."
- 76 -
Xli, KAPITEL.
DER TUNNEL DER ERNIEDRIGUNG.
KLEIDER MACHEN LEUTE.
Der Bankier staiTte sein Gegenüber eine lange Weile
an, ehe er in dem wüsten Menschen seinen alten Freund
wiedererkannte.
„Wahrhaftig, Sie sind es, Herr Müller. Der Büiger-
meister rief es mir zu, daß Sie hier in irgend welchen
wunderlichen Verlegenheiten festsaßen, und ich fuhr her,
um mich Ihnen zur Verfügung zu stellen. Aber wie sehen
Sie aus. Beinahe hatte ich Sie für einen Stammgast des
Gefängnisses gehalten."
„Nicht wahr? Täuschend ist die Verkleidung. Aber
ich bitte, nennen Sie mich lücht Müller. Ich reise in-
kognito. Weltlein heiße icli, Thomas Weitiein."
„So erklären Sie mir doch — "
„Später, später, lieber Freund. Vorläufig fahren Sie
mich zum nächsten Sehneider! Sie sehen, wie nötig idi
es habe." Dabei zog er den kleinen Niedlich mit sich
fort, und stieg in den Wagen, der vor der Türe hielt.
„Sehen Sie," begann er, als sie dahin fuhren, „sehen
Sie diesen Armei! Er erklärt Ihnen alles."
Der Bankier, dessen Augen schon von Natur so aus
dem Kopf herausstanden, als ob er sich beständig über
die eigene Existenz wundere, starrte verblüfft auf den
Flanellappen, der ihm vorgehalten wurde.
Thomas brach bei dem Anblick in lautes Laclien
aus. „Es ist ein Götterzeidien, mein Lieber, Sie mögen
es glauben oder nicht. Erkennen Sie nicht den tiefen
Sinn? Sehen Sie nicht, wie es aus dem Ärmelloch
spricht: Wer dem Hohen zustrebt, werfe ab, was ihn
hindert, und wenn es der letzte Rock ist, den er besitzt.
-77 -
Ich bin dem Ruf gefolgt Mich fordert ein großes Werk,
und um es zu vollbringen, mußte ich von Hause fort
und alles hinter mir lassen, Kleidung, Geld und selbst
den Namen, Den Namen vor allem."
Niedlich faßte sich allmählich. „Oh, ich verstehe,"
sagte er. „Sic machen Studien nadi dem Leben, wollen
Erfahrungen in Verbrecherkreisen sammeln. Äußerst in-
teressant ist das, ich wußte nicht, daß Sie sicli mit einer
solchen wichtigen Arbeit befassen."
„So ganz richtig ist Ihre Vermutung nicht. Meine
Absichten sind viel größer, ja ich kann sagen, daß ich
mir das höchste Ziel gesteckt habe, das der Mensch
sich erdenken kamt. Es ist nicht leicht, Ihnen das in
ein paar Worten zu erklären. Sehen Sie, die Sache ist
die: Nach meiner Ansicht wird der Mensch in die Welt
gestellt, wie der Schößling eines Baumes, der in die
Tiefe der Erde allerwärts seine Wurzeln treiben und
mit Ästen und Zweigen um sich greifen soll. Ich habe,
wie übrigens die meisten Menschen, diese Bestimmung
arg vernaclilässigt, bin gewissermaßen ein verkrüppelter
Baum geworden, der seine Säfte und Kräfte nur nadi
einer Seite hin verbreitete. Sie haben gewiß einmal ein
neugeborenes Kind gesehen."
Herr Niedlich lächelte, „Unser drittes ist unterwegs,"
sagte er. „Wenn Sie uns die Freude machen wollen,
einen Löffel Suppe mit uns zu essen — "
„Nein, nein, ich danke sehr. Ich habe keine Zeit,
Suppe zu essen, oder vielmehr ich bin nicht frei, muß
meiner Wege ziehen, vorwärts, so rasch wie möglich
vorwärts."
„Wie schade, ich hätte Ihnen gern meine Kinder
gezeigt. Salchen ist solch nettes Mädchen. Wenn sie
bei mir ist, holt sie sich sofort meinen Zylinder, hält
- 78 -
^
ihn sich vor den Mund und ruft Zahlen, richtige Zahlen
hinein, und dann wieder horcht sie daran. Sie nennt
das Telephon spielen. Und der Junge! Er ist kaum
zweiundeinhalb Jahre. Das ist ein Genie. Denken Sie,
er untersclieidet genau Silber und Gold. Nein, einen
Augenblick." Er hielt dem ungeduldigen Thomas den
Arm fest, als ob er ihn dadurch am Sprechen hindern
könne. „Er ist sich seines Wertes bewußt Neulich sagte
er; Papa, wenn ich sie trinke, ist die Milcli silbern, und
ich mache sie dann zu Gold." Der Bankier schlug die
Beine übereinander und sah seinen Bekannten heraus-
fordernd an.
Der fiel sofort ein: „Also ein Kind, ein Kind. Wenn
es geboren wird, sieht es und hiirt es nicht, spricht
nicht und geht nicht. Aber es hat Augen, Ohren, Beine
und Mund. Wozu gab ihm die Natur das alles gleich
niit? Es ist eine Autforderung, sidi auszubilden, sich
IM bemühen. Der Mensdi soll gebraudien lernen, was
er hat, so wird er vollkommen. Was aber haben meine
Augen gesehen, sü lange ich lebe? Buchstaben und
Bücher. Mein Mund hat nichtige Dinge gesprochen, wie
die Ohren nichtige Dinge gehört haben. Meine Füße
haben mich nicht in das Leben getragen, wie sie es
gesollt hätten. Ober ein Mensdienaiter habe ich in Fin-
sternis verbracht, ein Menschenalter verschwendet wie
ein Toller. Das ist verrijckt. Ich war verrückt. Jetzt aber
bin ich klar geworden. Mir ist, als ob ich meine Wiege
vor mir sähe, darin mein eigenes kleines Ebenbild, den
Säugling,, aus dem idi wuchs, der der Vater meines
Wesens ist. Und wie der verlorene Söhn möchte ich
mich vor diesem Bilde niederwerfen, und flehen: vergib
mir, ich habe gesündigt vor dir, ich habe vergeudet,
was du mir gabst."
— 79 -
m
Der Bankier war wenig zufrieden. Zu den glücklichen
Träumen, in die ihn die Erinnerung au die Handels-
talente seines Sprößlings versetzt hiitten, paßte dieses
Schwärmeu nicht. Es wurde ihm unbehaglich, und als
der gute Thomas sich gar einen Verrückten nannte,
pflichtete er mit dem Kopfnicken bei, mit dem er rich-
tige Bemerkungen zu begleiten |)f!egte. Über diesem
Kopfnicken erschrak er, denn sein Blid< fiel dabei auf
den Ärmei, durch den Thomas eben langsam und feier-
lidi seinen Arm hindurcli steckte. Der kleine Mann
duckte sich in die Ecke des Wagens und verdrehte die
Augen krampfhaft, um unbemerkt über seine vorsprin-
gende Nase hinweg die wunderlichen Anstalten des
Naehl^arn iiberwadien zu können.
„Icli habe mir den Vater des verlorenen Sohnes als
iillen Mann vorgestellt," sagte er zaghaft.
Thomas hatte gerade die Hand aus dem Ärmelloch
hervorgestreckt und damit in die Luft gegriffen, als ob
er jemand an die Gurgel fahren wollte. Dabei sah er
unter den Brauen hervor seinen Bankier so seltsam an,
daß er sich vor Angst die Taschen zuhielt.
„Es ist alles symbolisch, lieber Freund, alles. Der
Vater des verlorenen Sohnes ein Symbol des Wickel-
kindes und dieser Ärmel ein Symbol meines Lebens.
Verstehen Sie? So will ich durch das Dunkel der Welt
wandeln, wie meine Hände durch den sclimutzigen Tunnel
dieses Verbrecherkleides. Oh, dieser Verbrecher, was hat
er mich gelehrt! Man muß die Gelegenheit ergreifen,
ja, aber man muß sie auch herbeilocken. Sehen Sie, der
Ärmel hier war vorher abgetrennt. Sie können noch die
Spuren der Schnitte sehen. Bei dem Ruck, mit dem er
sicli losriß, blieben seinen Wartern die Ärmel in den
Händen. Der Kerl hätte nicht entfliehen können, wenn
- 80 —
er nicht vorher sein Kleid zerfetzt hätte. So habe ich
alle Bande zerfeilt, zerschnitten, zersprengt, die mich a„
meine Vergangenheit knüpften, und nun juble ich der
Freiheit entgegen, die mich vollkommen machen soll
Nur den Weg, den Weg, den sehe ich noch nicht Es
stehet geschrieben, wer sich selbst erniedrigt, der soll
erhöhet werden. Id. habe mich erniedrigt," aber noch
ward ich nicht erhöht."
Herr Niedlich streckte die gespreizten Hände nach
vorn: „Gott der Gerechte, lästern Sie nicht, ich bin ein
gläubiger Christ."
Thomas fuhr auf. „Es steht geschrieben," rief er
drohend, „und ich werde sehen, ob es wahr ist Vor-
läufig mißlang es. Ich bin noch nicht vollkommen Viel-
leicht ist es die Freude, die mich empor führt Lust
größer noch als Herzeleid. Und ich preise das Geschick
das S,e mir in den Weg führte, just als ich Geld
brauchte."
Der Bankier drückte auf den Gummiball, mittelst
dessen er dem Kutscher das Zeichen zum Halten zu
gehen pflegte. „Wieviel braud,e„ Sie," fragte er und
^ofmete den Schlag.
Thomas steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus.
Km Depeschenträger ging vorbei und der Gedanke an
lAgathe schoß ihm durch den Kopf. ..Ich muß fort "
„Sie haben ganz recht." Niedlich drängte ihn 'auf
^enTrm hinaus. „Hier ist Geld." Er holte aus seiner
Bneftasche_ Banknoten und gab sie seinem Freunde der
Ihm immer unheimlicher wurde. Auch er sah den Boten
behen, «nd während er den seltsamen Gast fast aus dem
"Fagen stieß, rief er: „Ich muß zur Post fahren, will
hrer Schwester telegraphieren," dann zum Kutscher
gewendet: „Los, was die Pferde laufen."
- 81 —
Thomas hatte Lust ihm nachzurennen. „Agathe,"
schrie er, „nur nicht Agathe". Dann sah er ein, daß
die Pferde schneller waren als er, und rasch sicli wen-
dend eilte er zu dem Schneider. Er sah nur noch, wie
der Bankier den Tunnel der Erniedrigung aus dem
Wagenfenster warf.
So sehr sich Thomas auch beeilte, es verging doch
wohl eine Stunde und mehr, ehe er zu seiner Zufrieden-
heit ausgestattet war. Von dem Gedanken beherrscht, ■
so bald als mÖgUch weiter zu reisen, hatte er sich den
ersten besten Anzug ausgesucht und fragte nun, sich
flüchtig im Spiegel musternd, nach dem Preise. Der
dienstfertige Schneider bückte sich, anscheinend um den
Preiszettel zu suchen, obwohl er ihn soeben eigenhändig
abgerissen hatte. Der Mann da gehörte zu seinen besten |
Kunden, gerade weil er auf Rechnung arbeiten zu lassen
Ijflegte. Man mußte verhüten, daß er sich das Barzahlen
angewöhne und wohl gar dahinter käme, wie viel billiger
das sei. Als er sich eine Weile vergeblich abgemüht
hatte, richtete sich der Kleiderkünstler auf, warf mit
kühnem Schwung das Zentimetermaß vom rechten Arm |
auf den linken und rief: „Haase, sehen Sie einmal nach,
was der Anzug Nr. 52 kostet. Einen AugenbUek, Hen
Müller."
Thomas zuckte bei dem Namen zusammen und öff-
nete schon den Mund, um den Tod des Herrn Müller
anzukündigen. Aber der Schneider eilte davon, um selbst
nachzusehen, wie er sagte, in Wahrheit aber, _um semem
Gehilfen klar zu machen, daß der Preis von Nr. 52
nicht aufgefunden werden dürfe. Achselzuckend kam er
zurück und erzählte, leider lasse sich die Summe im
Augenblick nicht feststellen, er werde sich erlauben,
die Kleinigkeit auf die Rechnung zu setzen.
- 82 -
i
■P Thomas wandte sich .um Gehen. „Nun g.t, wenn
^V ich Ihnen sicher bin."
■ Der Schneider legte seine kurzfingrige Hand auf die
■ Herzgegend, die mit einem wahren Stachelza.n vo.
T- Stecknadel« austapeziert war, so ctaß es aussah, als
wollte er s.ch zur Bekräftigung seines edlen Vertrauens
samt hche Fmger spicken, neigte den Kopf auf die linke
Schulter u.d flötete: „Der Herr Müller belieber, .u
scherzen, solch ein alter Kunde "
■ :Z"T": 7^r *^'''^"' "^"" '-^ '''"-" d^rf-
n,d,t Muller, fuhr Thomas auf. „kh wünsdie nicht daß
me.ne Anwesenheit bekannt wird, ich habe Gründe
unter fremdem Namen z. reisen -" er zögerte eine
Weile, - ,.,a wenn meine Schwester, Frau Willen, nach
m,r fragen sollte, so wäre es mir lieb, wenn Sie mich
nicht gesehen hatten."
Der Schneider spitzte die Ohren. Der abgerissene
Zustand des feinen Herrn Müller hatte seine Neugier
geweckt, jetzt glaubte er die Lasung gefunden zu haben
i ?^^ H^rgmg auf galante Abenteuer aus. Mit einem
I fernen Lachein des Verständnisses suchte er seinen Mann
zu beruhigen, wahrend er gleichzeitig in Gedanken be-
rechnete, we er dieses Schaf am besten scheren könne
„Idi verstehe vollkommen, vollkommen, Herr Welt-
bn. Nicht wahr, Welllein? Gestatten Sie mir, einem
alten Routmier eine Bemerkung. Wenn man ein Glück
bei Uamen machen will, "
, Thoraas sah ihn erstaunt an.
f ,.- Bitte tausendmal um Verzeihung," beeilte er
.ich emzulenken „Ich glaubte, da die Frau Sdiwester
nidits von der Sache erfahren soll, der Herr Weltlein
gehe auf Eroberungen bei dem schönen Geschlecht aus,
«nd da durfte dieser Anzug doch ein wenig zu powe
- 83 - .
sein. Das schöne Gesclilecht pflegt bei solchen Ge-
legenheiten auf ein hochzeitlich Gewand zu sehen."
Mit zwei Schritten trat Thomas in die Mitte des
Ladens und warf das eben gekaufte Jacket ab, „Ein
hochzeitlich Gewand, natürlich. Fortuna ist ein Weib,
der darf man nicht wie ein Bettler entgegentreten. Wie
ein König und Sieger muß man einherziehen, dann
wirft sie sich zu unsern Füßen."
Während nun immer neue Schätze des Ladens an-
probiert wurden und der geschäftige Schneider Kleider,
Wäsche und Hüte in den Tiefen eines rasch herbei-
geholten Koffers verschwinden ließ, gingen die Reden
unaufhÖrUch hin und her.
„Ich habe die Zeit versäumt, mein Lieber, habe mein
Leben verträumt und bin eingerostet und versauert.
Fast bin ich schon zu alt, um noch etwas zu erreichen,"
„Oh, oh, zu alt, solch statthcher Herr. Haase, rasch
einen andern Gehrock, größere Nummer. Das ist gerade'
das rechte Alter. Man flattert nicht mehr von einer
zur andern, wählt sorgfältig und hält fest an der einen
Liebe."
„Ich will daran festhalten, bis an mein Lebensende.
Die Wogen der Freude und Lust sollen mich empor
heben, mich der Vollkommenheit und Schönheit entgegen
tragen, in ihnen will ich mich gesund baden."
„Ganz recht, ein Bad, das wird nötig sein, Herr
Müller, pardon, Herr Weltlein. Auf dem Bahnhof finde»
Sie dazu Gelegenheit. Und gesund muß die Liebste sein.
Nur keine kranken Verhältnisse, sonst hat man arg zu
schleppen. Hier der Frack muß noch einmal aufgebügelt
werden. Gesundheit und Liebe gehören zusammen. So,
nun sehen Sie gefälligst in den Spiegel. Als ob Sie
die Welt erobern wollten."
- 84 -
.Die Welt, die Welt. Ich fühle, wie sie nach mir
verlangt, wie ich ihrer begehre. Nein, das Alter driidct
mich nicht. Seit die Lumpen mir von den Gliedern ge-
fallen sind, beseelt mich neue Kraft, und Ihre Kleider — "
„Nun noch der ZyUnder. Kleider machen Leute."
Thomas packte den Schneider vorn an der Brust
und schüttelte ihn. ,,Er weiß es, er weiß es, die tiefe
V/eisheit von der Anstedcung kennt er, dieser Mann,
und spricht sie aus wie etwas Alltägliches, Ja, so ist
es. An sicli sind wir nichts. Wir handeln nicht aus eigener
Macht. Was uns umgibt, was auf uns einwirkt, das läßt
uns handeln. Wenn wir lieben, so lieben nicht wir,
sondern der Wein, den wir tranken, liebt, wir hassen
nicht, sondern der schwere Pudding, der uns im Magen
liegt, haßt. Sind wir geistreich, so ist es, weil unsere
Kleidung uns gefällt, oder weil ein sympathischer Ton
unser Ohr traf, der den Kerker unseres Verstandes
sprengte, weil ein Strahl wunderbaren Lichtes in unser
Auge fiel. Aus sich heraus schafft der Mensch nichts.
Alles liegt in den Verhältnissen, in denen wir leben.
Die soll der Mensch wählen, so gut er kann. Gewiß,
Kleider machen Leute, Kleider symboliscli das Leben
zusammenfassend, die Wohnung, die Speisen, der Um-
gang, die Bücher. Umgib dich mit Freude, so wirst du
freudig, umgib dich mit Vollkommenheit, so bist du
vollkommen."
Eben fuhr der Wagen vor, der den Schwärmer mit
all seinen Schätzen zur Bahn führen sollte, und stolz
schritt Thomas an dem tief dienernden Schneider vorbei.
Auf dem Bahnhof tat er nach des Schneiders Rat, und als
er nun endlich frisch gesäubert und frisch gekleidet im
Zuge saß, rief er sich selber zu: „Siehst du Thomas,
böser Zweifler, diesmal behalte ich Recht, Kleider
— 85 -
machen Leute. Jetzt bin ich wirklich Mensch. Und jeden-
falls, wenn man die Freude sucht, muß man anständig
angezogen sein."
Seit ihm auf dem Wege der Schmerzen Agathe als
abschreckender Engel erschienen war, endete jedes Selbst-
gesprädi des Wahrheitssuchers mit dem Gedanken an
die Freude. Wo er ihr begegnen würde, wußte er. Der
Vetter Lachmann verstand sich darauf. Bei dem würde
er die Freude und die Vollkommenheit finden.
In Wahrheit fand er bei dem Freunde weder das
eine noch das andere, wohl aber seine Schwester Agathe.
XI] I. KAPITEL.
VERRÜCKT ODER BOSHAFT?
Sobald Frau Willen aus ihrer Ohnmacht erwadit
war, ging sie ohne Zögern daran, den entsprungenen
Bruder wieder einzufangen. Der reuige Vikar wurde
beauftragt, bei den Behörden der umliegenden Ort-
schaften Erkundigungen einzuziehen. Alwine erhielt den
Oberbefehl über Haus und Küche mit der strengen
Weisung, den Doktor Vorbeuger mit List und Klugheit
von dem Besuch des Kranken abzuhalten. Agathe aber
ging stracks auf den Bahnhof und setzte sich in den
nächsten Zug, der sie nach dem Wohnort Lachmauns
bringen sollte. Sie mußte wissen, ob der Bruder gemein-
gefährlich sei oder nicht. War er vom Scharlach ange-
steckt, so wollte sie ihn dem wohlbestallten Henker,
dem Dr. Vorbeuger überantworten.
Der lustige Vetter saß gerade vor seinem Frühstücks-
tisch und war dabei, ein Gänsebein mundgerecht zu
zerlegen, als seine Cousine eintrat. Das dienstbare
— 86 —
Wesen, das sie anmelden wollte, hatte sie ohne weiteres
beiseite geschoben, und jetzt stand sie ernst und auf-
recht in der Tür. Lachmann war aufgesprungen, hatte
^en rechten Arm, der mit dem Messer bewaffnet war,
„m seine alte Freundin geschlungen und riß sie mit
einem hellen Jauchzen der Freude in das Zimmer,
wobei er die linke Hand mit dem Gänsebein wie em
Kriegsgott sein Schwert gen Himmel schwang.
Mit einer kräftigen Armbewegung stieß ihn Agathe
Kurüdc. „Laß den Unsinn, Ernst," herrschte sie ihn an.
„Ich dächte, du wärest alt genug, um vernünftig zu
werden,"
Der Vetter trat rasch zurück. „Vernünftig werde
ich wohl nie werden. Aber eine Lehre von dir habe
ich mir gemerkt. Essen ist besser als Heben. Also komm,
es ist genug für uns beide da. Nachher erzählst du
mir dann, was dich hergeführt hat." Er setzte sich
nieder und schob ihr einen Teller hin.
Ohne ein Wort zu erwidern, wandte Agathe sich
um und schritt zur Tür. Als sie die Hand auf die
Klinke legte, brach ihre Kraft. Mit dem Gesicht gegen
die Wand gekehrt blieb sie stehen und wartete.
Eine ganze Weile hielt Lachmann stand. Dann aber
warf er die Gabel hin und rief: „Entweder riian ißt
oder man liebt. Eines von beiden geht nur!" Dann
erhob er sich und küßte der alten Freundin die Hand.
„Du weißt, ich bin immer erst zufrieden, wenn ich dir
etwas abzubitten habe." Er führte sie zum Tisch, nahm
ihre Hand und sagte: „Erzähle! Ich werde dir helfen."
Agathe berichtete. Schon nadi den ersten Worten
wurde ihr leichter zu Mut, sie wußte nicht, war es eine
Folge ihrer Beichte, oder ging von der Arzteshand, die
sie hielt, eine Beruhigung aus.
- 87 -
Lachmann hörte schweigend zu, nur von 2d*t ,„
Z«t zudcte es spöttisch um seinen Mund. Als sie vo,,
Ihrer Sd,arlacha.gst und dem Dr. Vorbe.ger erz.^hlte
brach er gar m ein schauendes Gelächter aus
Agathe entzog ihm verstimmt die Hand. „Du lachst
niTt ■ "'"' '"''^ ^"^"'^^' ^^" ''^'"" *■'"'' '^'" "'•■
„Verzeih, Coüsi.ie, ich kann nichfs dafür, daß ich"
S.n. f„. Kom>k habe. Dieser Vorbeuger - id> kenne
.hn von der Un.versität her - verdient seinen Namen
tr .st d,e verkörperte Furcht, und wenn ich von ihm
W,^muß .ch lad,e.. Nun gar diese feine Sd^arlach-
Agathe sah zweil^elnd zu ihrem Vetter hinüber, der
sich wieder seinem Frühstück zugewandt hatte. „Glaubst
au nicht daran?"
Lachmann schüttelte den Kopf. „Dein Bruder hat
ebensowenig Scharlach wie du oder ich. Erstlich hat er
es angst gehabt. Immerhin wäre ja eine zweite An-
steckung möglich; aber hier? nein,"
,.Wie kannst du das mit solcher Bestimmtheit be-
Jiaupten ?"
„Weil August Euer Schartachfieber während seines
Autenthalts hier dreimal hintereinander gehabt hat. Ich
habe .hn aufzuheitern gesucht und ich kann dir sagen
er hat getrunken wie ein Mann. Nachts war er regel-
mäßig hmüber und morgens hatte er das graue Elend
Am zweiten Tage hatte ich Mitleid mit ihm und .ab
.hm Ant.pyrin. Ein paar Stunden darauf war er rot wie
e.n gesottener Krebs. Das kommt ab und zu bei Leuten
m.t erregbarem Gefäßsystem vor und ich habe mich
we.ter darüber nicht gewundert. Aber deinem Bruder
der s,ch während der ganzen Zeit wie ein ausgelassenes
- 88 -
Kind benahm, das aus strenger Zucht in die Freiheit
kommt, machte seine gesprenkelte Haut Spaß. Das
feine Mal behauptete er, das sei ein schönes Mittel, bei
dem man den Erfolg mit den Augen sähe. Der Rotwein
werde durch das Pulver sichtbarlich aus der Haut
herausgetrieben mitsamt Kopfschmerzen und Übelkeit.
Und ein andermal — sage mal ist dein Bruder boshaft?
Hat er etwas gegen dich?"
„August? nein, sicher nicht. Wir leben im besten
Einvernehmen. Warum fragst du das?"
„Nun, urteile selbst. Das zweite Mal, als der Aus-
sehlag nach dem Antipyrin auftrat, kam er zu mir und
sagte: „Meinst du, das ist ein feines Mittel, Agathe
zu argern. Wenn sie mich wieder hofmeistert, nehme
ich das Zeug und mache ihr weis, ich hätte Scharlach "
Agathe fuhr auf. „Lachmann!"
„Es ist buchstäblich wahr."
„Aber dann ist er ja gar nicht verrückt, dann ist er
ja — oh, das ist boshaft, das ist niederträchtig." Sie
legte den Arm auf den Tisch und vergrub den Kopf
darin.
Dem Vetter wurde imbehaglich zu Mut. Seinen alten
Schatz weinen zu sehen, ging ihm ans Herz. Mit beiden
Händen suchte er das Gesicht der Frau hochzuheben. „Um
Gotteswillen, weine nicht,"' sagte er.
Agathe schüttelte den Kopf, den sie immer noch
. m den Armen verborgen hatte. „Idi weine nicht. Ich
freue mich so. ich freue micJi riesig." Plötzlich hob
sie das Gesicht und stützte es auf die eine Hand
„Wem es wirklich nur ein Geniestreich meines Bruders
ist, um mich zu ärgern, wahrhaftig, ich wüßte nicht
was ich darum gäbe. Unmöglich ist es nidit Die'
ganze letzte Zeit habe ich im Kampf mit ihm gelebt,
— 89 —
Die roten Krieger haben uns entzweit und ich kann
nicht leugnen, daß ich ihm manche Predigt gehalten
habe. Ich traue ihm auch ganz gut eine solche schnöde
Rache zu."
Lachmann wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.
„Dazu ist er nicht mehr Mann genug. Früher ja, aber
du hast ihn zu arg untergekriegt. Das getraut er sich
nicht."
Sofort geriet Agathe in Zorn. „Er getraut es sich
nicht? Warum nicht, wenn ich fragen darf? Weil du
es ihm nicht zutraust. Als ob du ihn je richtig beurteilt
hättest. Du hast immer an ihm herumgetadelt, du hast
ihn immer unterschätzt."
„Aber beste Agathe, du weißt doch ebenso gut
wie ich, daß August das reine Lamm ist, seitdem du
deine schützende Hand über ihm hältst."
„So? Hätte idi ihn etwa so lassen sollen, wie du
ihn mir seinerzeit überantwortet hast, als wir zusammen-
zogen? Mein Gott, wenn ich an das erste Jahr denke,
wie er da war. jeden Abend aus, nie vor ein, zwei
Uhr nach Hause, immer und überall mit dem Munde
voran und nichts als Politik und Zeitungsgewäsch im
Kopf. Nein, nein. Das mag für dicli ganz gut sein.
Aber August war dafür zu schade und ich habe recht
getan, ihm die hederlichen Gewohnheiten auszutreiben."
„Und der Erfolg deiner Erziehung ist schließlich, daß
du ihn verrückt gemacht hast."
„Ach was! er ist gar nicht verrückt,"
„Wir werden ja sehen, wir werden ja sehen." Lach-
mann kam ebenso in Eifer wie| seine Cousine. Er
sprang auf und lief im Zimmer umher. „Und wenn
du ihn eingefangen hast, dann wirst du ihn wieder in
derselben Weise zum Guten anhalten?"
- 90 —
Agathe sah ihn erstaunt an. „Selbstverständlich werde
ich das. Glaubst du, ich dulde leichtsinnige Menschen
in meiner Umgebung, das solltest du doch wissen."
Lachmann blieb vor ihr stehen und sah sie böse an.
„Ich weiß es ganz gut, du brauchst mich nicht daran
zu erinnern."
Agathes Blick wurde unsicher. Sie drehte sich um
und schenkte sich ein Glas Wein ein, „Jetzt ist mir die
Sache klar. Es ist einfach ein Spaß von dem Jungen."
Sie lachte und hob das Glas. „Komm Ernst! Wir wollen
Frieden mit einander halten, wir sind doch schließlich
zu alt, um uns immer zu zanken,"
Lachmann stieß mit ihr an. „Da hast du recht." Er
setzte sich nieder und ging zum dritten Mal seiner Gans
zu Leibe.
„Jetzt kannst du mir etwas abgeben," meinte Agathe
und schob ihm den Teller hin.
Während er ihr vorlegte, begann er von neuem.
„Das ist alles gut und schön und es freut mich, daß
der Appetit bei dir kommt. Aber mit all dem weißt
du noch nicht, wo dein Bruder steckt."
Agathe ließ sich nicht stören. „Er wird sich sdion
melden, sollst sehen, er kommt hierher. Ach, wie gut
war es doch, daß ich gleich zu dir gereist bin. Du
glaubst gar nicht, wie sehr du mich getröstet hast."
„Du, Agathe, ganz richtig steht es mit deinem
Bruder nicht, sicher nicht. Er hat hier Dummheiten
über Dummheiten gemacht,"
„Ein Schwarzseher bist du, Ernst. Warum soll er
^nicht Dummheiten machen, wenn er einmal der Zudit
entronnen ist? Machst du etwa nie welche?"
„Selten, ich würde an deiner Stelle nicht allzu zu-
versichthch sein."
91 —
Agathe stemmte beide Ellenbogen auf den Tisch.
„Nun höre einmal zu. Wie ich meinen Bruder kenne,
ist er einfach von deinen schlechten Grundsätzen wieder
angesteckt worden und hat einen Rückfall in seine
liederliche Zeit. Ist das der Fall, so wette ich zehn
gegen eins, daß er nodi heute hier eintrifft, um mit
dir zu bummeln. Und wenn jemand so klar ist, daß er
sich den besten Zecher aussucht, um mit ihm zu kneipen,
dann ist er nidit verrückt."
„Und wenn er nicht kommt?"
„Er kommt, verlaß dich darauf! Wollen wir wetten?"
,,Gut, gewinne ich, so bezahlst du einen Korb Cham-
pagner und trinkst ihn mit aus."
„Einverstanden; und ich bekomme meine — "
„Nein, die Briefe bekommst du nicht. Aber ich
werde dir 100 Mark für deine Suppenanstalt schenken."
Agathe gewann ihre Wette. Als die beiden von
einem Spaziergang zurückkehrten, fanden Sie ein Tele-
gramm vom Vikar, daß August Müller auf dem Wege zu
Lachmann sei. Der Vetter bezahlte schweigend sein Geld.
Am Abend saßen sie friedlich beisammen und warteten.
Agathe hatte versprochen, sich willig der Führung Lach-
manns anzuvertrauen und sich nadi ihm zu richten.
Als Thomas beim Eintreten seine Schwester sah,
runzelte er ein wenig die Stirn, dann aber begrüßte er
sie freundlich. ,,Das ist recht, daß du auch hierher
gekommen bist, Schwesterherz, Nun wollen wir eine
vergnügte Zeit miteinander verleben. Nicht wahr, alter
Lachmann? Aber vor allem, gebt mir etwas zu essen,
ich sterbe vor Hunger,"
Während für ihn aufgetragen wurde, sprach er von
dem und jenem, fragte nach Alwine und dem Hause,
nach Ladimanns Praxis, nadi den Neuigkeiten des
- 92 -
Tages. Agathe, die ihn verstohlen beobachtete, schüt-
telte mehrmals verwundert den Kopf und bhckte zu
Lachmann hinüber. Der Bruder war wieder gani wie
früher, heiter, hebenswürdig, als sei nichts vorgefallen.
Sie atmete auf. Aber gar zu gern hätte sie gewußt,
was in dieser Mensclienseele in den letzten Tagen vor
sich gegangen war. Hätte Lachmann es nicht so streng
verboten gehabt, sie wäre mit der Frage nach des
Bruders Erlebnissen vorgerückt.
Während des Essens fragte der Ankömmling un-
vermittelt: „Wie lange willst du denn hierbleiben.
Agathe?"
" Agathe warf einen fragenden Blick auf Lachmann,
der warnend den Finger hob. ,.0h, das hat keine Eile,"
sagte sie dann, „Alwine wird alles gut besorgen. Wir
können ruhig einige Tage hier beim Vetter bleiben
und fahren dann zusammen zurück."
ihr Bruder beugte den Kopf tiefer und erwiderte
nichts. Kurz darauf aber begann er von neuem zu
plaudern. Er erkundigte sich nach Theater und Kon-
zerten, nach dem Zirkus, und als Lachmann vorschlug,
zusammen in das Schauspielhaus zu gehen, nahm er es
mit Freuden an. Er wolle nur erst in das Hotel fahren,
um sich umzukleiden.
„So, du hast schon Quartier gemacht," sagte Lach-
mann. „Wo bist du abgestiegen?"
„Im Löwen wie gewöhnlich. Auf Wiedersehen."
„Halt, halt! idi fahre mit," riet Agathe. „Hoffentlich
ist noch ein Zimmer für mich frei."
Der Bruder stand schon auf dem Korridor. „So viel
idi weiß, ist das ganze Haus besetzt."
„Ach was." rief Agathe, stellte sich vor den Spiegel
und band sorgfältig die Schleife ihrer Hutbänder, auf
— 93 -
die sie besonders stolz war. „Für mich findet sidi schon
noch ein Plätzchen. August, so warte doch, August!"
nef sie dem Davoneilenden nadi, mußte sich aber ent-
schließen, ihr Kunstwerk halb vollendet 2u lassen, wenn
sie den kaum Eingefangenen nicht wieder verlieren wollte.
„Wir treffen uns vor dem Theater," rief Lachmann,'
der oben am Treppenabsatz stand und ihnen hinab-
leuchtete.
„Du könntest eine Loge nehmen," tönte es von
unten zurück.
„Eine Loge?" mischte sich Agathe ein. „Warum
nicht gar, August. Das ist viel zu teuer."
Lachmann schnitt ihr das Wort ab. „Ja, ja, gewiß
Dann ist es gemütlicher. Ich werde alles besorgen
Vetter." ^ '
Agathe ärgerte sich Über den höhnischen Blick, mit
dem der brüderliche Verschwender ihr beim Einsteigen
zusah, s,e sagte jedodi nichts, ja, sie brachte es über
sich, seme offene Ungezogenheit in dem Hotel schwei-
gend zu erdulden. Er ließ sich nämlich den Plan des
Gebäudes geben und unter dem Vorwand, seine Schwe-
ster könne aus Angst vor Feuersgefahr nicht hoch
wohnen, suchte er ihr das teuerste Zimmer in dem
ganzen Hause aus. Der Zufall wollte es, daß es gerade
unter seinem eigenen Quartier lag.
„Es ist dir doch recht so?" wandte er sich höflich
au die kleine Frau, und sie verschluckte tapfer das'
Nein, gar nicht. Denn sie sah, wie sich plötzlich das
Gesicht ihres Bruders verzerrte und der furchtbar dumme
Kalbsblick bei ihm zum Vorschein kam, vor dem sie
schon einmal so ersclirocken war.
„Also führen Sie die Dame nach Nr. 10," sagte
Thomas und schritt pfeifend davon.
- 94 -
Im übrigen verlief der Abend ruhig. Die Drei
L nahmen in harmloser Fröhhclikeit das Schauspiel hin
[ und speisten dann sehr vergnügt miteinander im LÖwen.
[Für den nächsten Morgen verabredete man ein gemein-
I sames Frühstück bei Lachmann, Dann wollten die
' beiden Männer zum Frühschoppen in die Weinstube
des Lord gehen, wo sie ein paar Freunde zu treffen
hofften.
XIV. KAPITEL.
STRICKT DER STRUMPF
ODER WiRD ER GESTRICKT?
Agathe erwachte am nädisten Morgen mit dem herr-
lichen Gefühl, zum ersten Mal seit langer Zeit gut ge-
schlafen zu haben, und als sie daran dachte, wie schön
der gestrige Tag geendet hatte, geriet sie in eine aus-
gelassene Stimmung, die sie fast veranlaßt hatte, das
ernsthafte Geschäft des Anziehens lustig wie ein junges
Mädchen zu betreiben. Gerade noch zur rechten Zeit,
um sie zu verhindern, mit dem großen Schwamm Fang-
ball zu spielen, gewahrte sie, wie unter dem sorglos
auf den Stuhl geworfenen Badetuch zwei behäbige violette
Bänder vorwurfsvoll herabhingen, wie die schlaffen Arme
einer resignierten Frau. Diese Bänder erinnerten sie
daran, daß sie den Hut gestern Abend frevelhaft bei
Seite geworfen hatte, statt ihn sogleich in die Schachtel
zu sperren. Agathe schämte sich, vollendete ihre Toilette
mit Würde und entsprechender Langsamkeit, und gleich-
sam um den teueren Kopfputz für die schlecht ver-
brachte Nacht zu entschädigen, knüpfte sie ihre Schleife
mit geziemend abgemessenen Bewegungen.
Die Folge dieser langwierigen Sorgfalt war, daß sie
ihren Bruder nicht mehr vorfand. Der Herr sei vor zehn
- 95 -
Minuten fortgefahren, sagte der Portier. Sofort befiel
Agathe die Angst vor einer neuen Flucht, Beinahe hätte
sie einen Wagen genommen, um rascher zu ihrem Be-
rater Lachmann zu kommen. Aber die bessere Einsicht,
daß ja das Markstück ebensogut für Alwines Aussteuer
gespart werden konnte, veranlaßte sie zu gehen.
Auf dem Wege stritten sidi das Gefühl ihres Alters
und der Wunsch, rasch zum Ziel zu gelangen, und an
diesem Zwiespalt schienen selbst die Schleifenbänder teil
zu nehmen, wenigstens stand, als Agathe atemlos an-
langte, das eine ganz unternehmend nach oben, während
das andere sich doppelt wichtig aufbauschte.
Schon auf dem Korridor hört? sie das Lachen der
beiden Männer. Sie atmete auf, und selig, den verloren
Geglaubten wieder zu haben, trat sie ein.
„Guten Morgen, Ihr Männer! Ihr seid lustig! Verzeiht
mir, daß ich zu spät komme. Aber du hättest auch
warten können, August. Ich habe mich halb tot ge-
ängstigt." Sie verstummte plotzhch. Da war wieder der
Kalbsblick. „Wirklich, es war recht rücksichtslos von
dir, August."
Der Angeredete blickte sie unverwandt an. „Wann
reisest du ab?" fragte er.
Agathe war starr. Sie wußte nicht, was sie sagen
sollte. „So laß doch das dumme Lachen, Ernst," schalt
sie den Vetter aus, sie erinnerte sich, daß sie mit dem
Bruder vorsichtig sprechen müsse. „Wann ich abreise?
Du weißt ja. ich bleibe so lange, wie es dir hier gefällt;
und dann, wenn wir wieder daheim sind, dann soll es
nett bei uns werden. Es war ja schrecklich die letzte
Zeit. Ich war noch in der Minute vor meiner Abreise
in deinem Zimmer. Der Don Quixote liegt aufgeschlagen
auf deinem Schreibtisch, gerade bei dem Gespräch, in
- 96 -
dem der Pfarrer und die Haushälterin über die Flucht
des edlen Ritters beraten. Mir war es, als ob das Buch
seufzte, und idi glaube, es ist sogar eine Träne darauf
gefallen. Hoffentlich gibt es keinen Fleck." Sie trat an
den Bruder heran und legte die Hand zärtlich auf seine
Schulter. „Ich bin so froh, dich wieder zu haben, August."
„Thomas."
Agathe fuhr zurück. „Um Gotteswillen, August!"
„Thomas, Thomas Weltlein. Hast du vergessen, was
ich dir schrieb? Überhaupt verstehe ich didi nicht. Wo
ist dein Panzer, wo sind die Handschuhe? Sechs Wochen
dauert die Ansteckungsgefahr beim Scharlach."
Agathe nahm unwillkürlich die Hand von seiner
Schulter.
Thomas lächelte befriedigt. „Nicht wahr, Lachmann,
sechs Wochen."
Die Schwester hatte sich gefaßt. „Weißt du es denn
noch gar nicht," sagte sie, vor Freude lachend, und
faßte nach seiner Hand. „Du hast nicht das Scharlach-
fieber gehabt. Es war alles nur Scherz von dir, Gott
sei Dank."
Thomas hob die Tasse zum Munde. Dem Vetter, der
bisher still beobachtet hatte, wollte es fast scheinen,
als ob er dadurch ein Lächeln verberge. Ritterlich em-
pört, mischte er sich ein.
„Agathe hat ganz Recht, und es ist Zeit, daß du
die Dummheiten läßt. Aus eitel Bosheit hast du Anti-
pyrin geschluckt, und von Seh arlachfi eher ist keine Rede."
So hastig war Thomas selbst bei seiner Flucht
aus dem Lumpenwagen nicht aufgesprungen wie jetzt.
„Neidisch seid Ihr," schrie er, und schlug dabei mit der
Faust auf den Tisch. „Neidischl Pfui! — Verzeiht,"
fuhr er in ruhigerem Tone fort. „Es ziemt sich nicht,
- 97 - 7
daß icli mich derart vergesse. Aber ich hätte Euch eine
vornehmere Gesinnung zugetraut. Weil Ihr selbst klein
gesinnt seid, gönnt Ihr es mir nicht, daß mich der Dämon
des Fiebers aus vielen auserwählte, und wollt mir weis-
machen, das Morgenrot meines Körpers sei ein gemeiner
Medizinausschlag."
„Aber ich versichere dir, es war das Antipyrin,"
fielen die beiden andern gleichzeitig ein.
„So? und die Verwandlung? Das Riesen Wachstum
meiner Seele? Ist das auch Antipyrin? Und der Sieg
über das rote Gezücht? Wie? Habt Ihr das vergessen?
Sind sie nicht tot, vernichtet, verschwunden? Und was
wißt Ihr denn von den drei Symbolen? Und vom Weg
der Schmerzen, von dem Tunnei der Erniedrigung? Das
da," er wies auf seine Schwester, „das ist eine Frau.
Die Frauen können nie die Größe des Mannes fassen,
und ich verzeihe ihr. Aber du," er wandte sich an seinen
Vetter, „bei dir ist es Neid. Du bist Arzt und in deiner
schäbigen Arztesseele, die die Bewunderung von Kranken
und Schwachen aufgeblasen hat wie einen Ballon, wurmt
es dich, daß du nicht die Entdeckung der inneren An-
steckunggemacht hast, sondern ich, ein Laie, ein Kranker,
ein Arztesknecht."
Lachmann hatte längst seine Überlegung wieder-
gewonnen.
„Was für eine Entdeckung meinst du?"
Agathe fiel angstvoll ein. „Um Gottes willen, laß
ihn, laß ihn, wenn er davon erst anfängt, hört er nicht
wieder auf. Er redet irre."
Thomas rückte sich würdevoll zurecht. „Ich rede
nicht irre", sagte er ruhig und sanft, „ich werde auch
nur so viel sagen, wie unbedingt nötig ist, um die
Dinge zu verstehen. Ich brauche Lach mann. Er soll
— 98 -
diesen Teil meiner Lebensaufgabe übernehmen, und ich
zweifle nicht daran, daß er seine Arbeitskraft und seine
Kenntnisse gern einer Sadie dienstbar machen wird,
die der Mensdiheit nützlich ist, ihm selbst einen Namen
geben wird. Ich habe nämlich unter anderem heraus-
gefunden," wandte er sich an seinen Vetter, „daß es
unrecht ist, jede Krankheit unbedingt zu bekämpfen.
Du siehst, das geht dich, den Arzt, allerdings etwas
an. Die Krankheit ist durchaus kein kulturfeindliches
Element, wie es uns das Geschwätz der Ärzte weis
machen will und weis gemacht hat; vielmehr ist sie
eines der Werkzeuge, durch -welche die Natur den
Menschen zu seiner Höhe empor gehoben hat. Rottet
man die Krankheit aus, so vernichtet man damit alle
Sitte und alle Religion, so verhindert man die Ent-
wicklung des Einzelnen und der Gesamtheit, und ich
behaupte, daß unsere moderne Hygiene nur den wahren
Adel des Menschen in fahrlässiger Weise schädigt."
„Damit hast du nicht so ganz Unrecht," pflichtete
Lachmann bei, Agathe sah mit Erstaunen, daß der Vetter
diesem Verrückten ganz ernsthaft zuhörte.
„Ich verstehe," fuhr Thomas fort, „dir werden auf
einmal Dinge klar, die du längst dunkel ahntest, wie
sie ja jeder ahnt. So ist es mir auch gegangen. Im
ersten Moment war ich völlig überrascht von dem neuen
Gesicht, das mir die Welt zeigte. Was, die Seuchen
ein wünschenswerter Zustand, fragte ich ■ mich, die
mörderische Tuberkulose, die schändliche Syphilis ein
Nutzen, ja eine Bedingung des Fortschritts? Die Ant-
wort, die ich mir gab, lese ich jetzt audi in deinen
Augen. Aber der Gedanke zwingt, weiter zu gehen,
Warum sucht der Mensch die Gefahr? Weil er sich im
Kampfe wachsen fühlt, weil er in der Not edler wird.
- 99 -
7'
Sokrates wußte es, Christus wußte es, sie suchten beide
das Elend, den Tod, und so sucht es jeder zu allen
Zeiten. Jeder, jeder Mensch liebt das Unglück, weil es
ihn adelt. Und die große Natur, wo du sie auch packst,
tut es dem Menschen gleich. Alles Hohe wächst aus
dem Unglück, die Glücksjäger sind alle verächtlich."
Mit einer starken Bewegung des Armes machte er einen
Strich durch die Luft, um zu zeigen, wie tief sie in
seiner Achtung stünden.
Thomas Weltleins Gesieht zeigte jetzt den Ausdruck
angestrengten Nachdenkens. „Die Not lehrt beten, das
ist ein tiefes Wort. Das will sagen, die Not der Menschen,
der ganzen Natur ist der echte Beweis vom Dasein Gottes.
Im Unglück offenbart sich seine Güte am lautesten."
Jetzt hörte auch Agathe mit gefalteten Händen zu.
„Ganz wie der gute Breitsprecher redet er," sagte sie
andächtig,
„Schweige," redete Thomas sie mit großartigem Aus-
druck an. „Was sollen uns, die wir ernst sprechen, die
Pfaffen? Sie haben die Sünde erfunden. Ais ob es
Sünden gäbe. Hinweg mit ihnenl" Er schob sie mit
einer Handbewegung beiseite, „Wenn ihr mir folgen
wollt, so müßt ihr alles lassen, was ihr bisher liebtet.
Ihr müßt wieder Menschen werden. Unterbrechen ist
unmenschlich. Aber so sind die Weiber. Sie bilden sich
immer ein, das Denken sei wie Strümpfe stricken, das
man beliebig unterbrechen und wieder aufnehmen kann,
und bei dem es auf ein paar fallengelassene Maschen
nicht ankommt. Übrigens ist es ein Irrtum zu sagen:
ich stricke einen Strumpf, zum mindesten ist es ungenau,
man kann ebensogut sagen, der Strumpf strickt mich,
ja erst mit dieser Wendung zeigt man, daß man eine
Ahnung von dem Verlauf der Weltgeschichte hat. Der
- 100 -
Mensch macht nicht, sondern er wird gemacht. Wenn
Agathe mir einen Strumpf strickt, so weiß ich, daß idi
demnächst eine neue Fußbekleidung haben werde, und
kann mich darüber freuen. Sage ich aber, der Strumpf
strickt Agathen, so sehe ich auf einmal die Geschichte des
weiblichen Geschlechtes vor mir, wie es sich Jahrtausende
lang in der Beschäftigung mit dem Kleinen verderben
ließ und verdarb. Nichts Dümmeres gibt es als unsere
Grammatik, unsere Sprache, dieses Erbstück der dunkelsten
Zeitalter, das jeder Wahrheit unüberwindliche Hinder-
nisse in den Weg legt und des klaren Denkens spottet.
Wie kann man mit altersschwachen Beinen Berge er-
klettern? Aber das ist etwas für den Philologen, den ich
finden werde, nicht für den Arzt. Und doch auch für
dich, Vetter Arzt, wird es lehrreich sein. Du sollst von
mir noch diagnostizieren lernen. Sich dir einmal meine
Schwester an. Du denkst, sie ist dieselbe Agathe wie
vor zwanzig Jahren, ein wenig alter geworden, aber im
Grunde dieselbe. Weit gefehlt. Weißt du, was sie ist?
Agathe ist eine Hutschleife."
Lachmann schrie fast vor Vergnügen, während Agathe
empört aufsprang.
Thomas fuhr ruhig fort: „Ja, sicher. Als sie damals
ihren seligen Willen geheiratet hatte und sehr bald da-
hinter kam, welche Dummheit sie begangen hatte, wollte
sie vernünftig werden. Und um sich dazu zu zwingen,
schaffte sie sich den würdigen Kopfputz der Mütter,
den Capothut mit langen Bändern, an und knüpfte jeden
Tag gewissenhaft eine regelredite Schleife. Das ging so
eine Zeit lang. Jetzt aber ist es schon seit Jahren anders.
Agathe wird von der Schleife geknüpft. Die Bänder
zerren sie durchs Leben, wie das Seil des Metzgers ein
Kalb. Ist es nicJit so, Schwesterherz?"
— 101 —
Agathe schlug -die Augen nieder. Sie dachte an ihre
Morgen erlebnisse. Thomas war gutmütig lachend zu ihr
herangetreten und hatte sie um die Taille gefaßt.
„Adieu, Beste! Wir wollen nun kneipen gehen." Als
er an der Tür war, drehte er sich noch einmal nach
den alten Liebesleuten um, die sich mit vielsagendem
Seitenblick auf den Narren die Hände drückten. „Ihr
seht wohl selbst ein, daß eine solche Weltanschauung, wie
ich sie jetzt habe, nur durch gewaltsame Erschütterungen
veranlaßt sein kann, daß ich verwandelt bin. Und was
sollte midi verwandelt haben, wenn nicht das Scharlach-
fieber?" Er warf hochmütig den Kopf zurück, senkte
ihn aber wieder und fügte nachdeiikHch hinzu: „Und
wie sollte sonst das rote Gezücht verschwunden sein?"
Vom Fenster aus sah Agathe, wie die beiden eifrig
miteinander sprechend dahinschritten.
XV. KAPITEL.
DOCENDO DISCIMUS.
Als die Männer in den kleinen Vorraum der an-
geräucherten Weinstube kamen, tönte ihnen ein leb-
haftes Stimmengewirr entgegen. Laut und scharf er-
klangen einzelne Worte, eine giftige, schrille Stimme
eiferte dagegen und schallendes Gelächter mischte sich
darein.
„Das ist der Hauptmann Barnow, er hänselt den
Lord," erklärte Laehmann.
„Wer ist der Lord?"
„Der Wirt, du wirst gleich sehen." Er öffnete die
Tür und zog seinen Freund mit sich in das dunkle Ge-
mach, um dessen runden Tisch eine bunte Gesellschaft
saß. Lachmann stellte flüchtig seinen Genossen als Herrn
— 102 —
Thomas Weltlein vor, und beide setzten sich schweigend
an den Tisch. Thomas kam neben ein hageres, altes
Männchen zu sitzen, den Justizrat Warnemann, der ihm
schlau mit den kleinen Augen zuphnkerte, als wollte er
sagen; Famoser Spaß das-
„Schlecht ist der Rotwein, Lord," schrie der Haupt-
mann, der breitbeinig vor dem Fenster stand und sein
Glas gegen das Licht hielt. „Galläpfel und Zudierwasser
haben Sie zusammengemischt unJ dann haben Sie Ihre
rote Nase hineingesteckt; davon hat er die Farbe be-
kommen,"
Thomas stieß den Freund an. „An der Nase hast
du ein Beispiel. Innere Ansteckung."
„Suff ist es," erwiderte Lachmann und der Justiz-
rat nickte dazu und rieb sich die Hände. „Da, beim
Justizrat kannst du von Ansteckung reden. Der Mann
hat das Recht schon so oft zwischen den Händen zer-
rieben, daß er sie selbst bei der Unterhaltung in Un-
schuld waschen muß."
Der Justizrat lachte. Es klang: wie das Schütteln von
Geld in einer Blechbüchse. „Ihren Prozeß verlieren Sie
doch, Sie Menschheitsretter."
Der Wirt hatte eben den Klemmer von der Nase
gerissen und trat vor Wut mit dem Fuß darauf.
„Der Herr Hauptmann tun dem Lord unrecht,"
mischte sich ein junger Offizier ein und liebäugelte da-
bei mit seinen blanken Stiefel spitzen. „Der Wein färbt
ab. Jedesmal, wenn der Lord seine Nase dort hinten
in der Ecke in sein Glas gesteckt hat, wird sie röter
und röter."
„Eine saubere Wirtschaft! Was denken Sie sich da-
bei, hier in Pantoffeln herum zu schlürfen? Schickt sich
das wohl für eure Lordschaft?" rief jetzt der Professor
- 103 -
Kietz dazwischen und warf einen höhnisclien Blick auf
den Offizier mit den Lackstiefeln. „Kleider machen
Leute."
Thomas rückte auf dem Stuhl und Öffnete den Mund
schon zum Sprechen. Da scholl die tiefe Bauchstimme
eines dicken, breitschultrigen Herrn am oberen Ende
der Tafei. „Herren, Herren! Wir sind doch hier, um
vergnügt zu sein. Vergnügt sein ist alles. Bringen Sie
Wein. Lord! Nicht wahr. Oberst Wächter, meinen Sie
nicht auch?" Dabei hob er sein Glas und trank dem
neben ihm sitzenden Manne zu, der seine Nase mit
dem Wrangelbärtchen und den kriegerischen, herab-
hängenden Mundwinkeln in die Höhe streckte und mit
den Fingern einen Marsch auf dem Tisch trommelte,
als ginge ihn die Geschichte nichts an.
„Der alte Oberförster Lange ist immer vergnügt,
solange sein Taschengeld reicht. Einen Taler täglich
darf er verspielen, mehr rückt die Alte nicht heraus."
erklärte Lachmann. .,Warum schnappst du übrigens
immer nach Luft wie ein Fisch, der am Lande liegt?
Gefällt es dir nicht?"
Thomas schüttelte den Kopf. „Sie sprechen hier
immer von Freude und Vergnügen. Darüber kann ich
mitreden. Bedeutendes sagen. Aber man läßt mich nicht
einmal anfangen, viel weniger ausreden,"
„Gott sei Dank, hier mußt du stillhalten. Aber das
Mundaufsperren laß! Man könnte dich sonst arg hänseln.
Sieh lieber, was der Eisenfresser, der Oberst a. D.
Wächter, für ein Gesicht macht. Er berechnet schon,
wie er dem gutmütigen Dickwanst an seiner Seite den
Taler aus der Tasche ziehen kann; der geschickteste
Kartengucker der Welt. Ich werde mich übrigens an
dem Raubzug beteiligen."
— 104 —
Lachmann erhob sich und nach wenigen Augenblicken
saß er abseits mit den beiden alten Herren über den
Karten.
„Nur bis ein Uhr," brüllte der Oberförster und setzte
seinen Klemmer ganz vom auf die Nasenspitze, „dann
kommt die Alte und das Kind mich zum Rundgang
abholen."
„Das Kind zählt 39 Jahre," zischelte der Justizrat
boshaft.
Thomas hob ärgerHch die Hand. Von drüben tönten
Worte, die ihn interessierten.
„Docendo discimus," hörte er einen Mann mit glatt-
rasiertem Gesicht sagen, er wußte nicht, war es ein
Geistlicher oder, ein Schauspieler. „Nichts Höheres, als
die Jugend unterrichten, Herr Professor."
Der Professor Kietz sciilug die Beine übereinander
und schob das Weinglas beiseite, um seine Afme auf
den Tisch zu legen. „So," rief er höhnisch. „Nun, ich
habe noch nichts weiter dabei gelernt, als daß der Staat
uns Lehrer schlecht bezahlt. Lieber eine Schar Hammel
hüten als Obertertianer unterrichten. Wenn man die
Bengel wenigstens hauen dürfte."
Endlich gelang es Thomas, ein Wort dazwischen zu
werfen. „Schwielen auf dem Hintern, gibt Schwielen in
der Seele."
Der Geistliche hob das Glas und trank Thomas
freundlich zu. ,,Ganz recht, ganz recht. Mit Güte erreicht
man alles und niemand soll strafen als Gott."
„Und seine Stellvertreterin, die Kirche," höhnte der
Professor. „Natürlich, Sie haben es leicht, Herr Pfarrer.
Die Kanzel streicht kein Lausbub mit Kreide und Tinte
an. Wenn Sie im Ornat erscheinen, ist alles still und
im Beichtstuhl sprechen Sie wie der Herrgott selber.
— 105 -
Ihre Worte sind Offenbarungen, Gesetze. Sie lehren gar
nicht, wissen also auch nicht, ob man dabei lernt."
Thomas sprang fast vor Aufregung vom Stuhl. Das
Lernen im Lehren traf ihn in der innersten Seele. Da war
ein neuer Weg, falls der Höhenflug der Freude versagte,
„Sie ventessen, daß ich auch in der Beichte manches
lerne, vielleicht mehr als irgend ein andrer Mensch. Und
unser Amt als Seelensorger, das Trösten der Kranken,
der Gefangenen, das Leiten und Führen der Menschen,
das Ringen mit Zweifel und Gewissen, in dem wir immer
von neuem Schüler werden. Jede Stunde offenbart uns
neue Geheimnisse, neue Wunder Gottes."
„Ich wollte, ich hätte es so bequem," murrte der
Professor.
,,Sie denken gering von unserm Beruf, das ist nicht
recht, aber daß Sie den eigenen mißachten, ist schade,"
„Der geistliche Beruf ist der höchste Grad der — -",
begann Thomas, aber er wurde durch ein lautes Gelächter
unterbrochen, in das die beiden Offiziere ausbrachen.
Zwischen ihnen saß ein Mann mit scharfen Gesichts-
zügen, Knebelbart und einer gewaltigen Habichtsnase,
der lebhaft sprechend mit den Händen und Gesichts-
zügen den Inhalt seiner Worte eindringlicher gestaltete
und seine beiden Zuhörer zeitweise zu wahren Stürmen
der Heiterkeit verführte.
„Dieser Don Quixate schneidet wieder auf," stieß
der Professor hervor.
Thomas konnte nicht mehr schweigen. „Erlauben
Sie," rief er, „Don Quixote war kein Schwindler. Sie
verwechseln ihn mit Münchhausen. Don Quixote log
nicht absichtlich."
Kietz drehte sich zu Thomas um und bog sich weit
über den Tisch. Sein ganzes Gesicht hatte sidi ver"
— 106 —
rändert, ein ang-enchmes Lächeln trat darauf hervor.
„Sie haben ganz recht. Verzeihen Sie den iapsus linguae !
Wie gut, daß Sie mich daran erinnerten. Aber Sie können
isich nicht denken, wie sehr ich mich freue, bei Ihnen
[Verständnis für die Perle der Ritterschaft zu finden.
(Je mehr man sich in diesen Charakter vertieft, umso
[größer wird die Hochachtung vor dieser reinen Seele."
Thomas hob das Glas gegen den Sprecher. „Docendo
[discimus, Herr Professor. Eben noch hielt ich Sie für
I einen Nörgler und niin lehrt mich mein wohlweises Ver-
I bessern in .Ihnen einen Verehrer des Hohen kennen."
„Wir Lehrer sind alle Nörgler, Herr Weltiein. Das
[bringt der Beruf mit sich. Was tun' wir anderes al
[tadeln. Es wird uns zur zweiten Natur."
Weltleins Augen glänzten. „Ansteckung durch den
Jeruf; ich kenne das. Aber sagen Sie, wer ist der
iMünchhausen da drüben, von dem Sie sprachen?"
„Er behauptet Maler zu sein, Keller-Caprese nennt
ler sich und Tatsache ist. daß er auf der Berliner Aka-
Idemie eine Zeitlang zugebracht hat. Ob er jemals ein
iBild gemalt hat, steht dahin. In seiner Wohnung hängt
lein Bild, das er jedem Besucher als sein Werk vor-
Izeigt. Aber die böse Welt will wissen, ein junger
(Künstler habe ihm das Porträt bei seinem Tode ver-
flacht zum Dank dafür, daß er dem armen, hungernden
Teufel Brot gab, um zu essen und ein Bett, um darin
Fzu sterben."
Thomas hob feierlich die Hand. „Das ist. mehr wert
ils zehn Bilder. Das regt mich an. Dafür verzeihe ich
hm sogar seinen Doppelnamen."
„Ich traue dem Gerücht nicht", fuhr der Professor
ifort. „Der Held dieses Märchens soll von der Aka-
demie wegen mangelnden Talentes fortgejagt worden
— 107 —
uiid dann elend zugrunde gegangen sein. Nun ist das
Porträt wirklich ein Meisterwerk oder wenigstens ein
Bild, das in jedem Pinselstrich den werdenden Meister
zeigt. Einen Menschen, der das malen konnte, schickt
man nicht fort. Denn schließlich sind auch an der
Akademie noch Leute, die etwas von Kunst verstehen.
Ich bin überzeugt, der Kerl drüben hat die Geschichte
selber erfunden und in Umlauf gesetzt."
„Wahr oder nicht wahr", fiel Thomas ein, „Keller-
Caprese gefällt mir. Auf Ideen kömmt es an und das
ist eine Idee."
Der Professor lachte verächtlich auf. „Ideen? Ideen
hat der Kerl so viele, wie eine Heuschrecke Eier."
Thomas hörte schon nicht mehr. „Das ist mehr als
eine Idee, das ist ein Symbol, ein lebendiges Symbol.
Kellcr-Caprese : am Namen hätte ich es schon hören
müssen. Das Finstere und Lichte vereint, das ist tief-
sinnig. Und gar für einen Maler. Der feuchte kalte
Keller als Wasser, das trocken-warm- leb endige Capri
als Farbe, Er selbst der echte Pinsel, der beides zu-
sammenbringt. Sehen Sie nur, er trägt die Haare wie
Borsten, er ist ein Pinsel. Oder so: der Keller die
Wirklichkeit in scheußlicher Gestalt, mit Ratten und
Mäusen, Capri das Ideal mit leuchtender Sonne und
farbiger Pracht, der Mensch dazwischen als Künstler."
Der Professor starrte mit weit aufgerissenen Augen
auf den Redner, der ihm immer näher rüdtte und leb-
haft weiter -sprach.
„Tiefer graben, Thomas l Du bist oberfläciilich. Denke
nur nach, Ideal und Wirklichkeit, hier hast du es vor
dir, in einem Menschen vor dir. Der sterbende Maler
ist das Schöne, der Himmel, die Akademie das Irdische,
das Gemeine, und dazwischen Keller-Caprese das Sym-
— 108 -
bol des Me ns dl engeiste s, der Himmel und Erde zu-
saramenzwingt und dem dabei das Kunstwerk in den
Schoß fällt. Folge der Stimme in dir, Thomas. Der
Mensch dort ist die Nächstenliebe, der Träger des Christen-
tums, ein Bild des Gedankens von Jahrtausenden." Er
hielt inne, um von neuem zu beginnen. „Tiefer, Thomas,
tiefer; Was Ist denn Größe, Heldentum gegen das reine
Menschsein. Hier ist es ein Bild der Unsterblichkeit. Das
Einfädle, das Menschliche ist unsterblich."
„Hören Sie auf", rief der Professor, „ich werde
verrückt, wenn ich das mit anhören muß."
„So sind die Menschen, sie sehen das Symbol nicht,
und wenn es ihnen auf die Nase fällt." Thomas erhob
sich und sah stolz auf den Professor herab. „Ich will
Ihnen zum Dank für Ihre Geschichte die Moral davon
geben. Es ist die Lehre von dem Überwinden des
Todes. Verstehen Sie? Nicht die große Tat, sondern
das einfache Menschsein überwindet den Tod. Daß
Keller-Caprese dem Sterbenden ein Bett gab und
[dafür ein Bild erhielt, das er mit Recht sein eigenes
Werk nennt, ist symbolisch. Es stirbt etwas, um
neues Leben zu fördern, ein Sinnbild der Ewigkeit.
I Ihre Geschichte bedeutet die Ehe zweier Welten, des
Himmels und der Erde, und die Geburt der Kunst. Das
ist ein Gedanke, der Sie freilich verrückt machen kann.
Ihre Geschichte lehrt, daß in dem Allermenschlichsten,
dem tierisch göttlichen Akt der Begattung, die Ewigkeit
iiegt und daß alles Geschehen darin gipfelt. Handeln
Sie danach! Der Trauring lehrt mich, daß Sic es dürfen.
Ich aber will dem Propheten Keller-Caprese huldigen."
„Halten Sie Ihre Taschen zu," schrie der Professor
ihm nach. „Er pumpt Sie an,"
— 109 —
XVI. KAPITEL,
EINE WANZE,
DIE MIT GEDANKEN UND GOLDWASSER MALT.
Thomas war zu dem Maler getreten, der mit einem
raschen Blick den Anzug seines neuen Zuhörers musterte,
dann aber zu den beiden Offizieren gewendet, fortfuhr
zu sprechen.
„Ja, meine Herren, ich wiederhole es Ihnen ins Gesiclit,
Der ewige Friede muß kommen, wird kommen. Sie
wollen es nicht glauben, nein, Sie können es nicht glauben.
Denn Sie sind mit Blut genährt, Sie leben vom Mord,
ebenso gedankenlos wie die Tausende und MilUonen
um Sie herum. Menschen, die Fleisch essen, müssen blut-
dürstig denken und handeln. Aber nicht hinter uns, vor
uns Hegt das Paradies, Jehovah verwarf Kains Opfer der
Feldfrüchte und sah wohlgefällig auf das blutige Abels.
Der Brudermord war die Folge davon. In der Zukunft
aber ruht eine Weh, in der der Mensch den Krieg ver-
abscheuen wird, weil er aus den Halmen des Bodens
und dem Saft der Beeren, die er verzehrt, sich ein
milderes Herz aufbauen wird. Der Krieg und damit
Ihr Beruf, meine Herren, verschwindet mit der Fleisch-
nahrung."
„Danadi müßten also unsere Kerls viel Rindfleisch
fressen, damit sie Courage in die klappernden Gebeine
kriegen," sagte der Hauptmann lachend,
Der Maler drehte sich nach Thomas um, der an ihm
vorbei zu einem leeren Stuhl zu gelangen sudite. Er
schob den Sessel herbei und lud mit einer großen Be-
wegung den Gast zum Sitzen ein, als ob er ihm ein
Herzogtum schenkte, „Bitte sehr. Ich freue mich, wenn
Sie zuhören, denn ich weiß, daß ich die Wahrheit
spreche." Damit wandte er sich wieder an den Haupt-
- 110 -
mann und sagte mit Würde: „Äße der Mensch kein
Fleisch, so gäbe es keine Soldaten,"
„Also Lord," rief der Hauptmann nach dem Wirt,
der eben im Hintergrund dabei war, seine Nase aufzu-
färben, „opfern Sie mir mal wie der selige Abel ein
Stüdc Roastbeef, aber recht blutig muß es sein. Ich will
die Sache ausprobieren. Die Kerls haben mir heute den
Parademarsch verhunzt, da soll mir das Rinderblut die
nötige Kraft zur Kriegerrauheit geben."
„Mir auch, mir auch." schrie der Leutnant und paukte
vor Vergnügen auf seine Beine los, als wenn er sie zu
Braten zurecht klopfen müßte.
„Nun sagen Sie mal, Sie Friedensengel," begann der
Hauptmann von neuem, „wie steht es mit Ihnen selber?
Wenn ich nicht irre, habe ich sie neulich beim Kom-
me rzien rat Leiner Austern essen gesehen. Wie stimmt das
nun mit Ihrer Theorie? Sie sind ja abtrünnig."
Der Maler hob bedeutsam die Hand. „Denken Sie
doch, bitte, nicht, daß ich Fanatiker, Glaubenshcld sei.
Ich will erforschen, wissen, beweisen. Und dazu brauche
ich das Experiment. Von Zeit zu Zeit, wenn sich der
Zweifel an meiner Lehre in mir regt, esse ich Fleisch,
Und gerade dann merke ich an meinem eigenen Körper
und Geist, daß ich recht habe. Alle tierischen Triebe
wachen beim ersten Bissen auf und wochenlang muß ich
mit meinem Innern kämpfen, um wieder alles Grausame
in mir zu überwinden. Meine Hand zuckt dann nach
den Fliegen, die auf meinen Bildern schmausen, und ich
habe neulidi nach den Austern sogar eine Mücke ge-
tötet, die mich stach. Aber das ist ja gerade das Be-
weisende, diese Erfahrung am eigenen Leibe. Sie gibt
mir die Zuversicht, sie leitet meine Visionen. O Sie
wissen nicht, wie das ist. Ich sehe ein Bild vor mir,
- 111 -
wie der grimmige Löwe, keusche Nahrung der Erde
suchend, zu Füßen des heiligen Mensclien ruht, beide
1 ■ gezähmt von der milden Güte der Natur, beide über
das Tierische erhoben und mit dem Himmel versöhnt.
Wenn ich es vollenden könnte! Wenn ich Zeit gewönne,
all die Gestalten zu beseelen, die in mir leben! Aber
ich bin ein schwacher Mensch im Banne der Stunde,
In tausend herrlichen Bildern würde ich der Menschheit
das Paradies vor Augen stellen, den Frieden auf Erden,"
„Mit dem grasfressenden Löwen", höhnte der Leutnant,
„und daneben malen Sie unseren Oberst, der saure Gurken
futtert und seinem Burschen voll Demut die Stiefel wichst."
Thomas faßte den Maler am Arm, „Verzeihung, eine
Frage. Die Sadie interessiert mich, leuchtet mir ein.
Innere Ansteckung, das kenne ich. Aber wie denken
Sie sich die Ernährung der Wanzen und die Umbildung
ihres Charakters?"
Der Leutnant schlug mit Messer und Gabel einen
Marsch vor Ausgelassenheit. „Bravo, bravo! Wie denken
Sie sich 's mit Flöhen und Wanzen, Sie Gedankenmaler?"
„Das gibt es dann nicht mehr. Sie gehen bloß an
fleischfressende Wesen, Sie werden aussterben."
Thomas nickte tiefsinnig mit dem Kopf, Die Er-
klärung gefiel ihm,
„Übrigens bin ich kein Prophet, Ich weiß nicht, wie
dieses oder jenes sich gestalten wird, aber der große
Zug der Zukunft malt sich vor mir, ich sehe das Bild
des Friedens deutlich. Es wird kommen, wenn der
Mensch dem Fleisch und Alkohol entsagt."
Erstaunt blickte Thomas auf das Gläschen, das der
Maler eben zum Munde führte. „Aber Sie trinken ja
selbst Schnaps. Machen Sie damit auch Versuche oder
brauchen Sie es zu ihrer Erleuchtung?"
— 112 —
Der Hauptmann zischelte seinem Nachbar zu: „Hören
Sie nur, Waschersieben, der Zivilist nimmt den Farben-
kleckser ernst," Beide folgten nun gespannt dem
Weiteren.
Der Maler aber trank sein Glas aus und sagte dann
,mit großer Ruhe; „Das ist kein Schnaps. Das ist Dan-
; zigcr Goldwasser. Und ich brauche es nicht zur Er-
1 ieuchtung, wohl aber zur Beleuchtung. Ich studiere an
I dem Farbenspiel der Sonne in dieser Flüssigkeit den
tizianlschen Goldton, und dadurch, daß ich sie trinke
wird dieser köstliche Ton mein Eigen. Das aber bin ich
mir schuldig, denn ich bin Maler."
Thomas hörte weder das belustigte Lachen der
■beiden Krieger, noch sah er das Augenblinzeln, mit dem
der Maler seinen Kgeipkumpanen Zeid.en gab. Langsam
fast zärtlich strich er mit der Hand über den faden^
sclieinigcn Samtrock des Künstlers hinweg. „Sie haben
■tiefe Einsicht in das Wesen der Dinge", begann er
„und es würde mich freuen, wenn Sie mir Naiieres Über
jlhre Methode der Farbe nbe reitung mitteilten. Vielleicht
jkönnte ich Ihnen behilflich sein. Aber eines ist mir doch
wunderlich. Sie tragen abgeschabte Kleider und sollten
doch wissen, daß nichts der hellen Künstlerseele so
gefahrhcli ist, wie schlechtes Gewand. Schönheit gebiert
Schönheit. Man kann in Lumpen gehüllt nicht schön malen."
Keller-Caprese musterte noch einmal seinen Mann
Trotz aller Narrheit bemerkte Thomas recht wohl wie'
ahnhch der Künstler jetzt dem Schneider wurde, dessen
Blick er gestern gesehen hatte. Er fuhr mit der Hand
m die Luft, als ob er eine Mücke fortjagen wollte.
„Ich bin dabei, ein Gemälde des Elends auszudenken
dazu muß ich mich selbst in den elenden Stoff hüllen-
erwiderte der Maler,
- 113 —
i
Thomas zog die Brauen in die Höhe. „Die Kunst
sollte sich mit dem Elend gar nicht abgeben. Schönheit,
Glanz ist ihr Gegenstand, Das tägliche Leben hat der
liebe Gott packend genug geschaffen. Die Kunst aber
lebt ein Stockwerk darüber. Menschenwerk steht über
Gotteswerk."
Der Leutnant rückte sich in der Uniform zurecht.
Aber ehe er noch einschreiten konnte, hob der Haupt-
mann Bamow beschwichtigend die Hand. „Lassen wir
den lieben Gott aus dem Spiele, er hält uns ja doch
alle an der Strippe."
Thomas hörte gar nicht zu. „Der Dichter darf allen-
falls das Häßliche verwenden, um dem Adel seines
Helden eine FoUe zu geben. Ein Maler aber macht seinen
Untergrund mit der Farbe, der G^ensatz der Farbe
sollte bei ihm wirken, nicht der von häßlich und schön.
Man braucht bloß einmal eine Darstellung des jüngsten
Gerichts gesehen zu haben, um zu wissen, wie verfehlt
es ist, neben liebliche Engel scheußliche Teufel zu
stellen."
„Na ja, so was wie Engel "und Teufel", fiel der
Hauptmann ein, ,,das malt doch ein anständiger Christen-
mensch überhaupt nicht. Ist ja alles Aberglaube und
geht gegen den Katechismus. Aber wenn ich nun jetzt
ein Sdilachtenbild nnale, so ganz echt, daß es nach
Schweiß und Pulver, Blut und Dreck stinkt, dann ist
das auch nicht recht?"
Thomas lehnte sich, vergnügt über die Wendung des
Gesprächs, im Stuhl zurück. Er hatte ein Gefühl, als ob
seine Stunde endlich schlüg'C. „Die Antwort darauf hat
ein Mann gegeben, der von der blinden Welt für einen
Maler gehalten wird. Rembrandt hat seine Auferweckung
des Lazarus so wahrheitsgetreu gemacht, daß er selber
— 114 —
bei dem Gestank erschrak und einen Kerl in das Bild
einfügte, der sich die Nase zuhält."
Der gelehrte Hauptmann fuhr auf den Köder los,
als ob er einen Rekruten mit krummen Knieen ent-
deckt hätte. „Also Rembrandt, da haben wir doch den
großen Propheten des Elends."
„Den Propheten gewiß, aber nicht den Maler. Rem-
brandt war gar kein IWaler."
Keller-Caprese hob sein Schnapsglas zum Munde.
„Der Kerl konnte nichts."
„Doch, er konnte schon etwas, aber nicht malen. Er
trieb praktische Ästhetik, zeigte den Menschen, wie man
es nicht machen soll. Jedes seiner Bilder predigt über
den Text: Du magst noch so viel Genie besitzen, frevelst
du gegen die heiligste Pflicht des Menschen, edel zu
sein, so taugt dein Werk nichts. Man hat diese Lehre,
die er in tausenden von Satiren immer von neuem
- wiederholt hat, leider nicht verstanden und so ist er aus
Versehen nicht nur ein Verderber der Kunst geworden,
er ist auch der Vater der schändlichen Gesinnung, mit.
I der man das Elend verhätschelt, statt es zu verachten.
In gewissem Siime ist er selbst für die zweijährige
Dienstzeit und die Abschaffung der Prügelstrafe ver-
antwortlich."
Der Leutnant lachte hell auf; es klang so herzerfreuend
frisch, daß selbst der schäbige Maler etwas wie warmen
Sonnenschein in seinem Innern zu fühlen glaubte. „Sie
haben Einfälle wie ein Haus. Famos. Woher haben Sie
Inur das alles."
Thomas verbeugte sich lächelnd. „Docendo discimus."
Der Hauptmann hatte sich erhoben. Er war verstimmt,
denn der heißeste Wunsch seiner Seele war, ein Sdilachten-
— 115 - a-
herbei, um Studien nach der Natur zu machen. Aber dies
herrliche Ideal verbarg er tief im Innern und jetzt brachte
er es fertig, ruhig zu sagen; „Mir kann es wurscht sein.
Ich male nur Pferde, und die sind immer schön."
„Aber, Herr Hauptmann malen Sie auch nicht, wenn
sie äppeln," triumphierte der Leutnant und nickte dem
biedern Thomas zu, der halb abwesend ins Blaue starrte
und den Kunsttheorien nachsann, die in ihm erwachten.
Der Hauptmann klopfte dem jungen Offizier auf die
Schulter. „Kommen Sie mit, wir wollen bummeln." Und
während er dem Wirt zurief, aufzuschreiben, ging er mit
seinem Kameraden davon.
„Warten Sie doch. Herr Hauptmann," rief der Maler,
„wir kommen mit," und eifrig in seinen Taschen hcrum-
suchend, stotterte er etwas vor sich hin, was wie .Geld
vergessen' klang.
Thomas sah ihn schweigend an. Plötzlich leuchteten
seine Augen auf und er sagte laut und deutlich; „Wanze."
Dann rief er den Wirt und zahlte, ohne eine IVliene zu
-verziehen, für sich und den Künstler, der schnellfüßig
hinter den Offizieren hereilte. Keiler-Caprcse kam gerade
dazu, als der Hauptmann die Worte sagte: „Solch einen
Verrückten läßt man nun frei herumlaufen. Der Keri
gehört in ein Irrenhaus. Und Sie, Wasdiersleben, machen
sidi mit dem Tollen gemein und ziehen mich auf."
Wasdiersleben blieb vor Überraschung stehen. „Ver-
rückt," sagte er. „Ja, um Gottes willen, hat deon der
Maiin im Ernst gesprochen?"
„Natürlich hat er das," und den harmlosen Jungen
seinem Nachdenken überlassend, wandte sich der Ältere
zu dem Maler. „Wenn Sie uns von diesem Herrn Welt-
lein befreien, der keine Schlachtenbilder mag, so gebe
ich Ihnen morgen ein Glas guten Rotwein."
- 116 —
„Und ich den Kaviar dazu, wenn Sie ihm einen
Schabernack spielen," stimmte der Leutnant ein, dessen
Erstaunen allmählich in Entrüstung überging, daß er
Narrheit für Spaß genommen hatte.
„Werde es besorgen, meine Herren," erwiderte der
Gedankenmaler, lüftete den Hut und schritt auf Welt-
lein zu, der eben aus der Tür trat.
„ich bin froh, Sie allein zu haben," rief er und streckte
Thomas die Hand hin. „Ihre Worte haben bei mir
mächtigen Widerhall gefunden. Es war, als ob Sie meine
tiefsten Gedanken erraten hätten. Ja, ja, so ist es:
Rembrandt ein Ästhet, ein Satiriker der Kunst, ein
weitsehender Lehrer, ein Prophet des ja sagenden Pessi-
mismus, ein Reformator, der abschrecken wollte und
anlockte. Er ist wie eine Tollkirsche, die rings um die
Früchte drohend Dornen aufsteckt, um zu mahnen: Schein
ist nicht Schönheit, meine Beeren glänzen, sind aber Gift.
Sie droht und warnt und doch lockt die falsche Schön-
heit Kinder und Narren und macht sie toll. Wahrhaftig,
ich fühle die tiefe Verwandtschaft unserer Seelen." Thomas
zog seine Hand zurück und schnitt eine Grimasse. „Ich
wüßte nicht," sagte er hochmütig.
„Doch, doch. Sie fühlen es wie ich, daß uns beide
dasselbe Leben beseelt. Hören Sie nur!" Er ergriff
Weltlein am Arm und zog ihn mit sich fort. „Rembrandt
kannte die hohe Kunst, Wenn er sein Narrengewand
abwarf, in dem er die Welt ungestraft züchtigte, wenn
er in großen Augenblicken dem inneren Malerberuf
folgte, verschwand das Elend vor ihm, und er malte
schwelgende Schönheit, Perlen und Edelsteine. Wie gern
hat er das gemalt. Das ist das Gesetz des Gegensatzes.
Gott weiß, warum er den großen Künstler arm schafft.
Je häßhcher sein Leben ist, um so heißer fühlt er die
- 117 - '
glühende Sehnsucht nach Prunk und Glanz. Nur der
Arme kann wirklich Schönes schaffen. Oh, ich verstehe
Sie. Sie sind der Mensch, den ich mir gewünscht habe
ich will mich vollsaugen mit Ihren Ideen, will von Ihnen
zehren wie eine — "
Thomas blieb stehen, riß den Arm los und hob ihn
drohend, „Lauert Ihr überall auf mich? Versteckt Euch
unter tausend Masken, erscheint im Helm, Lumpenfcittel
und in Malpekesche?" Dann wandelte sich der Abscheu
in seinem Gesicht und verzückt eine Brennessel be-
trachtend, die üppig in einem Zaun ihre Blätter spreizte
sprach er: „Heil dir, Erde, die du tausendfach Böses
mit deinen Säften nährst. Du weckst auch tausendfach
Gutes. So will ich sie an meinem Blute saugen lassen.
Der lautere Quell in mir vertilgt sie, und aus den
Wunden des Körpers und der Seele sprießt endlich die
nährende Saat der Vollendung."
Er nahm ruhig wieder den Arm des Malers und
schritt mit ihm davon, Vetter, Schwester und alles
vergessend.
XVI r, KAPITEL.
WIE LACHMANN EINEN STEIN ROLLEN LÄSST.
Punkt ein Uhr erhob sich Lachmann und brach das
Spiel ab. Er hatte sich vorgenommen, den Verlauf der
Partie als Omen anzusehen. Gewann er, so war er da-
zu auserkoren, seiner Cousine den verdrehten Bruder
wieder herzustellen, verlor er, so wollte er" auf die
schone Rolle, feurige Kohlen auf das Haupt seiner treu-
losen Agathe zu sammeln, verzichten. Er hatte auch
nicht verfehlt, das Glück zu beschwören. . Den Stuhl
hatte er dreimal umgedreht, ehe er sich darauf setzte,
während des Gebens hielt er die Hände gefaltet und
■ - 118 -
hob mit geschlossenen Augen, der Blindheit des Ge-
schickes huldigend, die Karten alle auf einmal hoch,
zählte bis fünf und sah dann erst nach, was ihm be-
schert worden war.
Er hatte Glück. Nach einiger Zeit fiel ihm ein, daß
er durch seine Zaubermittel das Schicksal betrogen haben
könne. Er beschloß also, den Bann zu lösen, drehte
den Stuhl nacb der anderen Seile und hob die Karten
einzeln auf, ohne vorher die heilige Fünf anzurufen.
Trotzdem gewann er, und als er aufbrach, war er über-
zeugt, daß der Vetter ihm verfallen sei. Er machte sich
infolgedessen auch nichts daraus, als er seinen Schütz-
ling nicht vorfand und hörte, daß der Herr mit dem
Maler fortgegangen sei. In bester Stimmung ging er
nach Hause.
So sehr Lachmann nun autii dem Orakel vertraute,
so gut wußte er doch, daß ein vernünftiger Mann dem
Glück die Hand bietet, um es herbeizuziehen. Und des-
halb zählte er diesmal nicht wie gewöhnhch, wie viel
Schritte er vom Lord bis zu seiner Haustür brauchte,
sondern er überlegte sich gründlich und reiflich, wie
er den Narren wieder vernünftig machen solle, Daß es
nur eines kleinen Anstoßes bedurfte, um den Nebel
in des Vetters Hirn zu verscheuchen, glaubte er fest
annehmen zu können. Er sann hin und her, und da ihm
in seinem Amte viel närrische Leute begegnet waren,
fiel ihm bald dieser, bald jener Kunstgriff ein, mit dem
er einmal Glück gehabt hatte. Ganz ohne Verdienst
genoß er ja nicht den Ruf, mit den Halb verrückten gut
fertig zu werden. Aber er konnte sich doch mit keinem
der Pläne recht anfreunden. Ärgerlich stieß er mit der
Fußspitze eine ganze Zeit lang ein rundes Steinchen
vor sich her, als ob er dadurch seine Gedanken rasdier
- 119 —
zum Ziele treiben könne. Eben holte er wieder nach
dem rollenden Spielzeug aus, da fuhr blitzschnell ein
pfiffiger Junge an ihm vorbei und schnappte (hm den
Stoß so geschickt vor der Nase weg. daß der Stein
weit dahin schoß und in dem Kellerhals eines Fensters
eine selige Ruhestätte fand. Der Bengel lief davon,
nachdem er dem würdigen Herrn Doktor zuvor noch
recht freundlich zugelächelt hatte, so daß Lachmann gar
nicht dazu kam, zornig zu werden, sondern sich herz-
haft über den Spaß freute. Gleich darauf versank er
in Gedanken.
Kurz vor seiner Haustür wurde er wieder aufgeschreckt.
Quer auf dem Steig standen zwei Knaben, die trot:i
ihrer Kleinheit den ganzen Weg versperrten und mit
lauten Stimmen gegen einander anschrieen. Der größere,
ein Bube mit ellenlangen Beinen, die er breit über die'
Straße ausgrätschte, erklärte gerade mit Begeisterung,
er habe gestern so viel Kartoffeln hintereinander gegessen,
daß er dabei das Schlafengehen vergessen habe und
gleich von Tisch weg in die Schule gegangen sei; und
dabei streckte er den Kopf mit der dicken runden
rosigen Nase so herausfordernd vor, daß es aussah, als
habe er in der Eile eine von den Erdfrüchten mitten in
das Gesicht statt zwischen die Zähne gesteckt. Der
andere ladite nur und trumpfte dann dagegen: „Ich
habe einen Onkel; als der mal bei uns eingeladen war,
da hat er solange Kartoffeln gegessen, daß die ersten
ihm schon im Bauch keimten, als er die letzten in den
Mund steckte, und seitdem ist er dick geworden und
hat einen richtigen Kar fcof feibauch."
Lachmann war höchlichst ergötzt über den Wettstreit
auf den Fahrdamm getreten. Bei den letzten Worten
biieb er steif stehen, wie von einem hellen Gedanken
— 120 -
erleuchtet. Und als er den kleinen Schwadroneur näher
ansah, erkannte er in ihm den Jungen, der ihm vorhin
seinen Stein wegstibitzt hatte. Das traf ihn so, daß er
es ganz geduldig hinnahm, wie der kecke Bursche mit
dem Finger auf ihn wies und rief: „Siehste, Gustav, das
ist der Herr Doktor, der hat meinem Onkel dann den
Bauch aufgeschnitten und die Kartoffeln mit der Hadie
'rausgeholt, richtig wie auf dem Felde. Du kannst ihn
fragen, ob's wahr ist."
„Aus dem Munde der Unmündigen," spradi Lach-
mann vor sich hin und mit heiterer Stirn und festem
Entschluß trat er in sein Haus.
Agathe kam ihm schon auf dem Flur entgegen.
„Wo ist August?" fragte sie. Dabei griff sie mit der
einen Hand nach ihrem Hut, mit der anderen nach der
Haustür, bereit, nach der ersten Auskunft davon zu eilen.
Lachmann führte sie, ohne ein Wort zu sagen, in
sein Arbeitszimmer zurück. Dort nötigte er sie in den
großen Lederstuhl, in dem seine Kranken zu sitzen
pflegten, und nahm ihr gegnüber Platz. Dann sagte er
langsam und scharf. „Wenn du fortfährst, liebe Agathe,
deinen Bruder August zu nennen und ihm auf Schritt
und Tritt nachzuspüren, so kann ich dich hier nicht
brauchen. Daß Thomas keine Neigung hat, dich hier zu
"sehen, hast du ja wohl gemerkt. Übrigens ist es der
sicherste Weg, ihn noch kränker zu machen."
Agathe schlug die Augen nieder. Sie hatte ein Ge-
fühl, als ob sie in einem Armensünderstuhl säße, so
unangenehm war es ihr, daß sie selbst im hellen Licht
safi, während ihr Vetter sich wohlweislich im Schatten
hielt. Ihre alte Ehrfurcht vor allem, was Arzt hieß und
an das Kranksein erinnerte, Heß sie ganz vergessen,
daß es ihr Lachmann war, der ihr Sitte predigte.
- 121 —
Der weidete sich an dem Vergnügen, die Base
mundtot gemacht zu -haben, und seit langer Zeit fühlte
er zum ersten Mal wieder den Wunsch, als Arzt tätig
zu sein. ,|Ich könnte dir mit dem alten Bibelspruch ant-
worten," begann er wieder, „aber ieh habe deinen
Bruder nicht umgebracht, sondern ihn in sicherer Gesell-
schaft gelassen, aus der er übrigens nicht vor Naeht
zurückkehren wird." Er stellte mit Befriedigung fest,
daß er sich von Minute zu Minute mehr in seinen
Beruf hineinfand. In den zwei Sätzen hatte er über
zwei Dinge mit einer beneidenswerten Bestimmtheit
gesprochen, von denen er so gut wie nichts wußte.
Jetzt galt es, Agathe zu unterjochen, gelang ihm das,
so konnte er sicher sein, daß er auch mit dem verrückten
Vetter fertig werden würde. Der Weg, den er einzu-
schlagen hatte, war klar: Agathe mußte ei »geängstigt
und überrumpelt werden. „Ich möchte dich bitten, gut
zuzuhören," fuhr er fort, „dein Bruder steht dicht vor
dem Irrenhaus. Es wird Mühe kosten, ihn zur Vernunft
zu bringen, aber ich werde es versuchen. Wenn ich
jedoch für ihn verantwortlich sein soll, verlange ich von
dir unbedingten Gehorsam,"
Agathe war zu allem bereit. Sie reichte dem Vetter
die Hand und sah ihm treuherzig in die Augen. Einen
A'ugen blick saßen sie steh so gegenüber, dann sah
Lachmann, wie der Blick seiner Cousine unsicher wurde
und dem seinen auszuweichen suchte, ohne es doch zu ver-
mögen, er fühlte deutlich, wie sie sich Mühe gab, ihm ihre
Hand zu entziehen, ohne daß sie den Mut zur Ausführung
hatte. An diesem vergeblichen Bestreben, seinem Einfluß
zu entfliehen, erkannte er, daß er genug Kraft besaß.
Er gab seine Gefangene frei und setzte ihr aus-
einander, was sie zu tun und zu lassen hatte. „Unter
— 122 —
keinen Umständen," schloß er, „darfst du ihm wider-
sprechen oder ihn merken lassen, daß du ihn für krank
hältst, was er iitrigens auch nicht ist, wenigstens bisher
noch nicht. Für dich ist dein Bruder der Thomas Welt-
lein, der durch das Scharlachfieber zum Wanzentöter
geworden ist. Ja, ja, du darfst mir schon vertrauen, ich
weiß, was ich sage," fügte er rasch hinzu, als Agathe
etwas einwenden wollte. „Du mußt mit ihm verkehren,
als seien seine Wunderlichkeiten ganz selbstverständliche
Dinge, Kannst du das nicht, so höre schweigend zu
und vor allem vermeide, mit ihm allein zu sein. Sonst
verdirbst du mir alles. Dabei kann ich dir nicht einmal
versprechen, daß ich dich hier behalten werde. Mög-
licherweise schifte ich dich fort."
Das war Agathe zuviel. „Nie und nimmer lasse idi
mich fortschicken," erklärte sie und sah ihrem Bändiger
gerade ins Gesicht.
Lachmann zuckte die Achseln und stand auf. „Wie
du willst. Ich hätte mir das gleich denken können. Ich
kenne ja dein Worthalten."
„Lachmann!"
Ohne sich stören zu lassen, sprach er weiter. „Ich
muß dich dann aber bitten, dich an einen anderen
Arzt zu wenden. Ich pfleg-e meine Kranken aliein
zu behandeln und nidit bei weisen Frauen Rat zu
holen."
Agathe erhob sich. „Du bist und bleibst ein — ."
Sie vollendete nicht, sondern setzte ihren Hut auf und
band die Schleife: Er sah ihr kaltblütig zu. Mitten in
ihrem Werk, während sie das zomrote Gesicht nach
oben streckte und so tat, als ob sie eifrig die rebelli-
schen Hutbänder zu ordnen suchte, sagte sie: „Gut, ich
werde tun, was du willst."
- 123 —
„So will ich dir auch verraten, was ich mit dem
Übergeschnappten beginnen werde. Aber erlaube mir,
dir zu helfen."
Lachmann trat vor seine Cousine hin, und während
sie das Kinn höher hob, faßte er ihre Hände, die immer
noch vor Zorn zitterten. So sich dicht gegenüberstehend,
sahen die beiden sich eine Zeitlang an.
„Es ist lange her," sagte Lachmann mit seltsamer
Betonung.
Agathe verstand ihn sofort. Sie senkte den Kopf
und nickte. „Ich werde es bei Alwinen besser machen,"
sagte sie.
Im nächsten Moment waren beide wieder bei der
Sache. In ruhigem Ton gab Lachmann seine Erklärungen.
„Die ganze Verwirrung bei deinem Bruder kommt
daher, daß er sich einbildet, eine Entdeckung gemacht
zu haben. Er hat die fixe Idee des Erfindens, die alle
gesdieiten Leute einmal überfällt. Ich will dich nicht
mit all dem langweilen, wie er in die Stimmung ge-
raten ist, die für ihn so gefahrhch war; du kannst dir
das ebensogut selber zusammenreimen. Jetzt liegt die
Sache so: Er ist fest davon überzeugt, etwas ganz
Neues und seiner Ansidit nach ungeheuer Wichtiges
gefunden zu haben: die Tatsache, daß Krankheit den
Menschen nicht schädigt, sondern erhebt. Den Beweis
dafür sieht er in seinem Scharlachfieber und dem Ver-
schwanden der \X'anzen, die natürlich nichts miteinander
zu tun haben. Dieser Gedanke, der übrigens in ge-
wissem Sinne richtig, nur nicht neu ist, hat ihn während
seiner Gefangenschaft Tag und Nacht beschäftigt, und
da er sich langweilte und nichts anderes zu tun hatte,
hat er solange damit gespielt, bis er alles darüber ver-
gessen hat und nun nichts anderes mehr sieht als seine
— 124 —
Entdeckung. Es ist ihm gegangen wie einem verdrieß-
lichen Menschen, der mit der Stiefelspitze einen Stein
fortschleudert, hinterher geht und ihn immer wieder
vorwärts stößt, lediglich aus Langerweile, und der schließ-
hch, weil er über dem Spiel seine Sorgen vergißt,
immer toller mit dem Fuß schlägt und hinter dem Stein
herspringt, bis er selber mit zerbrochenen Ghedern un-
versehens unter den Rädern irgend einer Droschke
liegt. So ist's mit deinem Bruder; er sieht und denkt
nidits mehr als seine Idee, und wenn man ihn gewähren
läßt, wird er sich bald verrückt denken."
Agathe nickte wiederholt zum Zeidien, daß sie ganz
Lachmanns Meinung sei. „Und was willst du tun?"
„Das ist g-anz einfach. Ich werde ihm seinen Stein
fortnehmen, ihm zeigen, daß seine Idee uralt ist uiid
eine echte Binsenwahrheit, oder wenn das nicht genügt,
selber den Stein noch wilder rollen lassen, als er es
vermag. Du wirst schon sehen." Lachmann nahm jetzt
wirklich die beiden Hutbänder und schlang sie zur
Schleife, während Agathe wieder das Kinn hob und
vertrauensvoll zu ihm aufsah, „Wahrscheinlich wird er
dann schon vernünftiger werden. Sonst muß man weiter
sehen, Zeit gewinnen, Geduld haben. Damit kuriert man
immer am besten. So, deine Sclileife ist fertig und nun
sei so gut und laß midi bis heute Abend allein. Gegen
acht kannst du wieder kommen, dann werde ich dir
weiter Besdheid sagen, falls August oder vielmehr
Thomas bis dahin noch nicht zurückgekommen ist."
Den ganzen Nachmittag saß Lschmann in seinem
Arbeitszimmer und schrieb Bogen um Bogen, und als
er am Abend sein Machwerk der Cousine vorlas,
schmunzelte er vor Vergnügen. Mitten darin aber unter-
brach er sich und sagte: „!ch verdenke es dem guten
- 125 -
Thomas nicht, daß er über dieser Idee von dem Nutzen
der Krankheit verrückt geworden ist. Während ich den
Unsmn hier schrieb, dauerte es gar nicht lange, so
glaubte ich selber daran, und jetzt beim Vorlesen fühle
ich wieder, wieviel Methode in dieser Narrheit hegt."
Agatha faltete ganz ergeben die Hände. „Ja ja
Nun hoffentiidi gelingt dein Plan. Denn wenn wir uns
noch lange mit diesem rollenden Steinchen abgeben
müssen, können wir alle drei, Arm in Arm, in das
Narrenhaus wandern."
Lachmann sah sein Gegenüber nadidenklieh an, dann
hub er wieder an zu lesen. „Also fahren wir fort, hier
bei den Worten des Redners:
Die Krankheit ist ein gewaltiges Mittel zum
Fortschritt der Menschheit und der Kultur. (Ge-
lächter und Zwischenrufe.) Natürlich, bei jedem ver-
nünftigen Gedanken lachen die Gelehrten. (Zwi-
sdienrufe: Paradox, Phrasen. Blühender Unsinn.)
Der Redner spricht weiter:
Nein, meine Herren, das sind keine Phrasen,
das ist auch kein blühender Unsinn, sondern eine
wissenschaftlich beweisbare und längst bewiesene
Tatsache. Und daß ich sie in die Form eines
Paradoxon gekleidet habe, was doch lediglich eine
Sache des Stils ist, ändert nichts an ihrer Wahr-
heit. Gegenüber den schimpflidien Äußerungen
einzelner Herren hier, rufe ich das ehrhche Ge-
w-issen der anderen, rufe ich die Erfahrungen aller
Arzte, die Geschichte der Jahrtausende zu Zeugen '
an, Ja. ich wage es, die Herren, die eben so laut
ihre Mißbilligung kund gaben, daran zu erinnern,
daß Sie selbst so und so oft den Beweis für die
Richtigkeit meiner Worte geführt haben. Ich sehe
- 126 —
hier g-anz von der eigentümlichen Tätigkeit des
Arztes ab, dessen Wirken tausendfältig, man möchte
fast sagen stets, nur darin besteht, künstUche Krank-
heiten zu schaffen. Denn was ist Chloroformnar-
kose anderes als eine Krankheit, oder der Mor-
phiumschlaf, oder selbst die künstliche Störung des
KÖrpergleidigewichts durch Bäder, durch Arzneien,
durch Serumeinspritzungeii, durch Ober- und Unter-
ernährung? Und vor allem was tut die Chirurgie,
dieses Lieblingskind der Medizin, je anderes als
durch einen willkürlichen Eingriff, sei es mit der
Hand oder dem Messer oder sonst wie, krank zu
machen; durdi Krankheit genesen zu lassen. Aber
ich wollte davon gar nicht sprechen. Nein, denken
Sie daran, wie oft Sie in den Momenten der Angst
Wein getrunken haben, sich vergifteten, sich be-
wußt krank machten, um der Angst widerstehen
zu können, wie Sie in der Freude Wein tranken,
sich vergifteten, sich bewußt krank machten, um
die Freude zu erhöhen. Weiter; was ist der Hunger
anderes als eine Krankheit? Und nun prüfen Sic
das Leben, was alles der Hunger getan hat. Und
— gar der Durst. (Schallendes Gelächter im Audito-
rium und Bravorufe.)"
Agathe legte die Hand auf Lachmanns Arm, „Du
tätest mir einen Gefallen, wenn du aufhörtest."
Der Vetter lachte vor stolzer Befriedigung. „Nicht
wahr, das ist nett." Und mit rollenden Augen, offenbar
halb benommen von dem Gift, das er selber gebraut
hatte, fuhr er fort.
„Habe ich nicht recht, wenn ich sage, man soll
die Krankheit nicht ausrotten, nicht bekämpfen,
man soll sie nach den Grundsätzen einer erst neu
- 127 —
zu schaffenden Wissenschaft den höchsten Zwecken
der Kultur dienstbar machen? Brauche ich Sie, die
Ärzte, die Naturforscher sind, noch daran zu er-
innern, daß der Typhus, das Scharlachfieber, die
Lungenentzündung- in ihrem gewaltigen Ansturm
den Menschen von altem Übel und jämmerlichen
Gebrechen reinigen, so daß er stark wird wie nie
zuvor?
Die Welt ist jetzt einig darüber, daß man die
Seuchen verhüten müsse. Aber diese Einstimmig-
keit des Urteils sollte schon mißtrauisch machen.
Sehen wir näher zu, so entdecken wir, daß die
Natur im Großen tut, was wir Ärzte im Kleinen
wiederholen. Mit dem Besen der Epidemie fegt
sie die Völker von allem Unrat rein. Sie rafft die
Minderwertigen weg, mit denen die viehische Brunst
des Menschen, dieses schlimmsten Tieres, das Leben
der Starken beengt, vergiftet. Vertilgt diese süh-
nende, reinigende, heilsame Kraft der Natur und
ihr werdet bald unter lauter Krüppeln und Idioten
leben. (Zwischenruf: selbst Idiot!)"
Lachmann las jetzt mit lauter, schneidender Stimme
als ob er die eingebildeten Gegner seiner närrischen
Phantasien niedersäbeln wollte:
„Das paßt den Herren wieder nicht. Studieren
Sie lieber Geschichte, als daß Sie mich unter-
brechen. Sehen Sie sich die großen Männer des
Erfolges an, die Bahnbrecher der Kultur, einen
Cäsar, einen Homer, einen Paulus, einen Rafael,
Goethe, Nietzsche, Luther, Loyola, Beethoven,
Bismarck. Sie waren krank, alle miteinander krank.
Oder suchen Sie unter ihren eigenen Bekannten die
Menschen, deren Seelengröße Sie am meisten er-
— 128 —
schüttert hat, deren Nachdenken und Geisteskraft
den tiefsten Eindruck auf Sie gemacht hat. Sie
werden finden, daß es Kranke waren. Ja, folgen
Sie mir nur weiter, und Sie werden staunen. Wo-
von lebt denn die Menschheit, das Leben selbst,
wenn nicht von Krankheit, von Dingen, die erst
krank gemacht oder gar getötet werden, damit sie
fiähren und erfreuen. Man schlachtet das Vieh,
man schneidet das Getreide, beides genießt man,
nachdem es krank gemacht wurde. Man veredelt
die Blumen durch Krankheit. Man ebnet die
Wege durch furchtbare Massenseuchen, in denen
Bäume und Gräser sterben. Alle Kultur, alle
Kunst, alles Menschenerfreuende und Menschen-
erhebende ruht auf dem, was krank ist. Man baut
Häuser aus künstlich krank gemachtem Holz,
das Brennen des Feuers im Kochherd ist eine
Krankheit — "
Agathe hielt sich die Ohren zu. „Hiir' auf," rief sie,
„du machst mich verrückt."
Mit einem hellen Auflachen warf Lach mann das
Manuskript beiseite. „Den Rest will ich dir schenken,
Agathe, aber nicht wahr, davon kann man verrückt
werden und dein Bruder ist es geworden. Aber ich
werde ihn wieder in die Reihe bringen, Gift gegen Gift.
Und er, er soll mir den Kelch bis zur Neige austrinken.
Ihm wird nichts erlassen,"
Die beiden saßen noch lange beisammen, warteten
auf den Bruder und sprachen dieses und jenes. Als der
Säumige um Mitternacht noch nidit erschienen war, ließ
Lachmann seine Cousine ins Hotei fahren.
— 129 —
XVII r. KAPITEL.
THOMAS MACHT AM INSEKT MENSCH
EXPERIMENTE ÜBER PSYCHISCH-PHYSISCHE
ANSTECKUNG.
Am anderen Morgen erschien Thomas ziemlich spät
bei seiner Schwester, die schon zum Gehen bereit war.
Als sie ihn sah, warf sie den Brief ihrer Tochter, den
sie eben las, beiseite und eilte ihm entgegen. „Du siehst
arg übernächtig aus," neckte sie ihn.
Er nickte freundlich, wies dann auf den Brief und
sagte: „Laß dich nicht stören. Ich liebe freilich das
Warten nidit. Aber in meiner Lage gilt es, sidi im Ent-
sagen üben."
Agathe wollte davon nichts wissen. Sie brannte vor
Begierde, zu Lachmann zu kommen, und mit den Worten:
„Ich weiß schon, was in dem Brief steht," zog sie den
Bruder mit sich fort.
Unterwegs war Thomas einsilbig und gab halbe Ant-
worten, Nur einmal fuhr er aus seiner Zerstreutheit mit
der seltsamen Frage auf: „Hat sich Alwine schon verlobt?"
Agathe wagte es nicht, ihren Zorn laut werden zu
lassen. Schweigend streckte sie ihren Sonnenschirm vor
und spannte ihn auf. Aber in dem plötzlichen Ruck, mit
dem sie es tat, drückte sich ihre Entrüstung aus. Thomas
lachte.
„Antworte doch! Was brauchst du erst dein Gefieder
KU sträuben."
Die Bewegung, mit der Agathe den Schirm schulterte,
hätte einem Gefreiten Ehre gemacht. Nur stieß sie sich
dabei den heiligenHut schief, und als sie nun mit zusammen-
gepreßten Lippen und starrem Blick weiter marschierte,
sah sie gefährlich aus.
— 130 — ■
„Die Frage ist ungehörig," sagte sie. „Meine Toditer
ist noch ein Kind."
„Alt genug, um selber ein Kind zu bekommen,
kindisch genug, um der Erziehung eines Mannes noch
Aussicht auf Eifolg zu geben. Schaff ihr einen Mann,
und wenn er zu nichts tauge, als ihr ein Kind
zu machen, von dem sie dann lernen mag. Dein
Freund Breitsprecher pflegt zu sagen: Der Beruf der
Frau ist — "
„Mutler zu werden. Du brauchst den Pastor nicht
zu zitieren. Du verstehst ja doch nichts davon mit deinen
Junggesellenansichten. Alwine ist noch zu jung." Damit
riß sie Lachmaims Haustür auf, vor der sie eben ange-
kommen waren, und rauschte mit ihrem schiefen Hut
und dem offenen Sonnenschirm in den Flur wie ein
Schi acht schiff, das siegreich in den Hafen einläuft,
während Thomas pfeifend hinterher schlenderte.
Lachmann, der mit seinem Manuskript in der Hand
die beiden erwartete, sah erstaunt von Einer zum
Andern. „Zankst du schon wieder, Agathe," sagte er
und hob mißbilligend die Papierrolle in die Höhe,
Frau Willen achtete nicht darauf. Sie warf Hut und
Sonnenschirm beiseite und stürmte in das Zimmer. „Das
geht niclit so weiter. Er beträgt sich flegelhaft. Er _
braucht Ausdrücke, Ausdrücke, die er nur im Tingei-
tangel aufgelesen haben kann."
Thomas saß schon. Er war gerade dabei, eine Serviette
um den Hals zu binden. Jetzt hielt er mitten in der
Bewegung innc und sprach salbungsvoll und langsam
über das ausgebreitete weiße Linnen hinweg. „Ich bin
^_ allerdings in einer Singhalle oder, wie du sagst, in einem
^M Tingeltangel gewesen. Daß aber ein Kind gemacht
^M werden muß, wenn es zur Welt kommen soll, wußte
— 131 —
ich sdion vorher. Im übrigen wünsche ich nicht, daß du
hinter mir her spionierst"
„Idi verbitte mir deine rohen Ausdrücke," fuhr Agathe
auf, „hörst du, ich verbitte mir das."
Thomas lächelte milde. „Vergiß nicht, liebe Agathe,"
sagte er, während er seine Vorbereitungen zum Schmaus
bedächtig fortsetzte, „daß du hier nicht in meinem Hause
bist, und suche deinen Ton zu mäßigen, wie es sich
unserm gütigen Wirt gegenüber ziemt."
Agathe wurde blutrot und schlug die Augen nieder.
Schnell kam ihr Lachmann zu Hilfe, der breitbeinig
und mit den Händen auf dem Rücken hinter der Cousine
gestanden und sich an dem Eifer der Dame geweidet
hatte. „Sieh, sieh, du Schelm, warst im Tingeltangel
und nimmst deinen alten Freund' nicht mit. Das ist nicht
recht. Gab's hübsche Mädchen?"
„Es geht," erwiderte Thomas mürrisch.
„Warst wohl im Reichsadler bei der dicken Selma?"
„Selma oder Wanda, was weiß ich. Das Insekt hatte
mich hineingeschleppt, das Malerinsckt. Ich halte ihn
gemietet, um an ihm zu experimentieren."
Agathe hob den Kopf und seufzte. „Wenn du nur
das Manschen mit Gift lassen könnfest, hier sticht dich
doch keine."
„Es gibt aucli Wanzen in Menschengestalt," sagte
Thomas ernst. „Meine Experimente sind aber höher
gerichtet." Er faltete sorgfältig seine Serviette zusammen,
legte sie auf den Tisch und deckte die Hand darüber,
als ob er den Schatz der Weisheit dort eingewickelt
hätte. „Dieser Keller-Caprese ist eine Naturmerkwürdig-
keit. Es ist ja bekannt, daß friedliche Menschen durch
den Wein streitlustig werden. Mein Maler hat nun mit
wahrhaft bewundernswerter Selbstüberwindung und Ge-
— 132 -
(
I
dankenschärfe Versudie darüber gemacht, bis zu welcher
Feinheit sich diese Reaktion ausbilden läßt. Er ist im-
stande, jeden Tropfen Wein, den er genießt, in seinem
Lauf durch den Körper zu verfolgen und anzugeben, an
weldier Stelle des Organismus er eingreifen wird."
„Der Kerl steht immer drei Zoll unter Alkohol,"
rief Lachmann dazwischen. „Merkwürdig ist er nur im
Lügen."
„Ich weiß, daß dieser Mann lügt," fuhr Thomas fort,
ohne sich stören zu lassen, „Hierin hat er aber die
Wahrheit gesprochen. Ich habe der Wissenschaft ein
Zwanzigmark stück geopfert und die Tatsachen haben
mich überzeugt, Kellcr-Caprese gab mir vor jedem Glas,
das er trank, genau an, in welchem Körperteil sich der
Wein geltend machen würde. Zuerst wurde das Herz
ergriffen. Ich fühlte seinen Puls und konnte die Richtig-
keit seiner Vorhersage bestätigen. Jetzt kommt die
Gesichtshaut an die Reihe. WirkUch, seine Farbe wurde
braunrot. Jetzt werde ich den Wein in die Zunge
schicken; im nächsten Augenblick fing er an zu lallen.
Dieses letzte Wort machte mich nachdenklich. Wie, sagte
ich mir, der Mann spricht so, als ob er Nahrungsstoffe
willkürlich in bestimmte Körperteile werfen könnte. Ich
dachte sofort an dich. Lachmann. Denn du wirst be-
greifen, was sich alles mit einer solchen Gabe auf ärzt-
lichem Gebiete ausrichten läßt, und da ihr vorgebt, mit
Fingerhutkraut auf das Herz und mit Salizylsäure auf
kranke Gelenke einwirken zu können, schien mir die
Sache des N achforsch ens wert. Idi fragte also mein
Versuchstier danadi. So ohne weiteres gehe es nicht,
meinte er. Wenn er aber Gegenstände mit dem Wein
mische, die seine psychischen Kräfte nach bestimmten
Richtungen hin steigerten, so gelinge es ihm allerdings.
- 133 -
So tue er ab und zu, wenn er nicht malen könne, zwei,
drei Tropfen Terpentinöl in ein Glas Wein und sofort
befalle ihn ein unbezwingbarer Drang, den Pinsel zu
führen. Ich beschloß, die Sache zu erproben, und warf
ihm ein Goldstück in sein Glas. Anfangs wolhe er sich
der schlimmen Folgen wegen nicht darauf einlassen, aber
auf meine dringenden Bitten gab er nacli, und wahrhaftig,
kaum hatte er getrunken, so griff er nach meiner Börse,
die ich noch in der Hand hielt, und er hätte sie unter
dem Zwange des psychisch verstärkten Goldweins ein-
gesteckt, wenn ich sie nicht sofort in meine Tasche
versenkt hätte."
Thoraas sah abwechselnd seine Schwester und seinen
Vetter an, als ob er den Ausdruck ihres Erstaunens
erwarte. Agathe schüttelte nur vielsagend den Kopf,
während der lange Vetter mit ernsthafter Miene sagte:
„Wenn du noch ein Goldstück los sein willst, so brauchst
du das Experiment nur mit mir zu wiederholen."
Thomas sah seinen Freund geringschätzig an. „Ich
hätte mir gleidi denken können, daß du ein solches
Phänomen nicht aufzufassen vermagst. Daß er das Gold-
stück nahm, war selbstverständlich. Aber daß er nach
der Geldbörse griff, nicht wahr, das hättest du nicht
getan, das hätte niemand getan. Und mein Versuchs-
mann bestätigte mir, daß er unbewußt handelte, daß
der Zwang der Mischung gegen seinen Willen die Hand
geleitet habe. Er machte mir Vorwürfe über mein vor-
witziges Experiment, das ihn beinahe zum Diebe gemacht
habe." Thomas schlug selbstzufrieden die Beine über-
einander, und sich weit über den Tisch lehnend, be-
kräftigte er seine Worte mit dem Zeigefinger, „Siehst
du, mein Junge, das ist es. Mit einem Glas Wein und
einem Goldstück einen ehrlichen Mann zum Diebe
- 134 -
machen, das geht noch über die Traum zustände nach
der Hypnose, das wirft das ganze Strafrecht um."
Bei dieser Narrheit verlor Lachmann beinahe die
Fassung-. „Solch ein Kerl stiehlt auch ohne das."
Wieder traf ihn ein verächtlicher Blick Weltleins.
,Auch diesen Einwurf habe ich bedacht und erprobt.
Der Versuch ist in anderer Form sofort wiederholt
worden. Ich habe Fräulein Selma — "
Agathe horchte auf. „Wer ist denn das," fragte sie.
Du hast es ja von Lachmann gehört, die dicke Selma
aus dem Reichsadler, ein sehr nettes und wißbegieriges
Mädchen, dessen ich mich annehmen werde."
„Mit einem solchen Weibsbild hast du gesprochen?"
"sie saß die ganze Zeit bei uns, zeitweise auf meinem
Schoß, das war aber unbequem. Ich brauche Umgang
mit Damen, er hebt, er vertieft mich, er adelt. Aber
unterbrich mich nicht." Die Mahnung war unnötig. Agathe
war entrüstet in ihren Stuhl zurückgesunken, sie hatte
die Arme so fest gekreuzt, als ob sie die dicke Person
damit zerdrücken wollte.
„Also ich bat Selma, die mit klugen, verständigen
Augen zugesehen hatte, einen Kuß auf den Rand des
Weinglases zu drucken, das ich eben frisch gefüllt hatte."
„Nun und — "
„Die Reaktion war über Erwarten stark, so daß die
Sitzung ein unvermutetes Ende fand. Kaum hatte Keller-
Caprese den kußgewürzten Wein getrunken, so wurde
er vom bacchischen Wahnsinn ergriffen, seine Hände
und sein Mund begannen unwillkürliche Tastbewegungen
nach der Dame hin zu madien. ]&, er wurde handgreiflich,
Fräulein Selma aber, so plötzlidi. in ihrem Zartgefühl
verletzt, schrie ein wenig auf und alsobald erschienen
zwei wohlf^ekleidete Herren mit erschreckenden Fäusten
- 135 -
und ersuchten uns höflich, den Saai zu verlassen, und ij
als der Maler Schwierigkeiten machte, warfen sie ihn I
hinaus." I
Lachmann krümmte sich auf seinem Stuhl, so schwer
wurde es ihm, das Lachen zu verbeißen, während Agathe
sich mit dem Taschentuch wedelte und bei jeder Arm-
bewegung mechanisch ein Pfui hervorstieß.
„Nach einer Weile," fuhr Thomas fort, „boten die
beiden Herren mir den Arm. Obwohl ich entschlossen
war, auch ohne diese Einladung zu gehen, ließ ich mir
die ehrende Begleitung gefallen."
„Also wahrhaftig hinausgeworfen," schrie Lachmann.
„Das ist ja ein famoser Spaß. Was sagst du nun, Agathe,
zu den Friiditen deiner Erziehung?" Er war von der
Komik der Situation so erfaßt, daß er ganz seine Auf-
gabe als Arzt vergaß, und wenn Weltlein nicht in
diesem Augenblick das IVlanuskript unter des Vetters
Arm hervorgezogen hatte, wäre wahrscheinlich der müh-
sam ausgedachte Heilungsplan ganz zu Wasser geworden.
Thomas entfaltete die Papierrolle und las bedächtig den
Titel: „Rede des Dr. Besserwisser über den Nutzen der
Krankheit." Sein Gesicht wurde nachdenklich und, als
ihm Lachmann die Schrift fortriß, blieb er eine Zeitlang
regungslos sitzen.
Der Vetter hatte inzwischen seine Gedanken ge-
sammelt. Ihm lag daran, den Titel nachwirken zu lassen,
und so sagte er ablenkend; „Also auf diese Weise bist
du dein Versudistier los geworden,"
„Nein," versetzte Thomas, „noch nicht. Die Sache
hatte ein Nachspiel. Ich sagte ja, die Reaktion war über
Erwarten stark. Als ich langsam die Straße hinabging,
sah ich meinen Maler wieder im , Handgemenge mit
zwei weiblichen Wesen, zu deren Reizen ihn der psy-
- 135 -
chisdi verstärkte Weingenuß hinzog. Ich schritt ein, gab
dem unglücklichen Mann erst ein paar Ohrfeigen und
dann, weil ich doch selbst an seinen unschickUchen
Handlungen schuld war, ein kleines Schmerzensgeld und
riet ihm, sich davonzumachen. Als ich mich dann nach
der Dame umsah, erkannte idi in ihr — die andere
Dame war nämlich ein Dienstmädchen — Käthe Ende,
unseres Vikars Schwester."
Bei dem Namen Ende fuhr Agathe auf. Etwas Selt-
sames begegnete ihr. Sie, die sich nie mit Visionen ab-
gegeben hatte, sah plötzlich am hellen lichten Tage ihre
Laube vor Augen und darin Alwine, aber nicht allein,
nur vermochte sie den Mann nicht zu erkennen, der
bei ihr stand. Schon im nächsten Augenbhck war das
Traumbild zerstoben, und sie sah ihren närrischen Bruder
vor sicli. In dem ernsthaften Nicken, mit dem er sich
zu ihr wandte, glaubte sie die Worte zu lesen; „Jawohl,
du hast ganz richtig gesehen." Und rasch fragte sie:
„Mit wem soll sich Alwine verloben?"
Thomas achtete nicht auf die Frage. „Ich habe das
gute Mädchen, das aus einer Gesellschaft zurückkam,
nach Hause begleitet und wir haben uns reclit hübsch
unterhalten. Sie hat mir ihre Ansichten über die Frauen-
frage auseinander gesetzt, was mir erwünschte Gelegen-
heit gab, die Anschauungen zweier lediger Frauen, Sclmas
und Käthes miteinander zu vergleichen. Bei Beiden
kommt es darauf hinaus, daß die Männer an allem Un-
glück schuld sind, weil sie nicht richtig zu lieben ver-
stehen. Aber den Begriff Liebe fassen die Damen recht
verschieden auf." Thomas lachte selbstgefällig. „Übrigens
werde ich heute erfahren, wie sich die Masse zu der
Frage stellt. Die -kleine Ende, die Schriftführerin des
hiesigen Vereins für Frauenbildung und Frauenstudium
- 137 —
ist, und als solche wohl ab und zu den Mut zeigen muß,
sich spät auf der Straße herum zu treiben, hat mich zu
einer Versammlung eingeladen. Ein Fräulein Dr. Kampf
wird über Hebung der Sittlichkeit sprechen, und ich
denke, wir gehen alle drei hin. So viel ich verstanden
habe, will dieser Kampf die Folgen gesciilechtlicher
Ansteckung schildern und da fühle ich mich bei meinen
Epoche machenden Erfahrungen berufen, einiges zu
sagen."
XIX. KAPITEL.
VOM NUTZEN DER KRANKHEIT.
Jetzt hielt Lachmann die Zeit für gekommen, um
mit seinem PJan zu Tage zu treten. „Ich habe mich,"
begann er, „im Laufe des gestrigen Tages noch viel
mit deinen sogenannten Entdeckungen beschäftigt. Aber
ich muß dir leider sagen, daß deine Entdeckung uralt,
daß sie eine gewöhnliche Binsenwahrheit ist."
„Oho!"
„Gewiß, eine Binsenwahrheit. Und ich kann dir sogar
die Quelle nennen, aus der du geschöpft hast."
Die erwartete Wirkung trat nicht ein. Nichts weniger
als erstaunt, blieb Thomas ganz ruhig und sa^te nur:
„Nun, da bin ich neugierig."
„Du hast deine Idee von der inneren und äußeren
Anstedcung aus dem Don Quixote, der von den Ritter-
büchern infiziert wird, gestohlen."
Statt jeder Antwort lächelte Thomas, aber sein
Gesicht gewann dadurch einen überzeugenden Ausdruck,
so daß Agathe unwillkürlich in die Worte ausbrach:
„Wenn man ihn so siebt, sollte man wirklich glauben,
er wisse alles besser und sei der Klügste von uns."
— 138 -
Thomas bewegte gut gelaunt die Hand gegen seine
Schwester. „Bei dir beginnt es zu tagen," sagte er,
„diesem Neider hier aber muß ich noch ein Wort sagen.
Gewiß, Lachmann, die Fabel des DonQuixote ruht auf
dem Problem der Ansteckung; wie alles, einfach alles
in der Welt damit zusammenhängt. Das Buch ist ein
treffliches Beispiel für die Gültigkeit meines Satzes, und
ich will nicht bestreiten, daß mich das Studium dieser
Meisterschrift auf meinen Beruf vorbereitet hat, ohne
daß ich es selber merkte. Mit der Entdeckung selbst
hat es gar nichts zu tun. Das siehst du schon daraus,
6b& der Verfasser, obwohl er der Wahrheit so nahe war,
doch nicht die Folgerung gezogen hat. Die Erleuchtung
ist wie jede Wahrheit plötzlich über mich gekommen.
Und wenn du es eine Binsenwahrheit nennst, so hast
du damit vollkommen recht. Wohin du auch blickst,
überall wirst du mein Gesetz bestätigt finden. Das
gerade beweist die Bedeutung meiner Mission. Du mußt
dir auch nicht einbilden, daß diese meine Anschauung
vom Wesen der Krankheit das Ende aller Wandlungen
sei, die von mir ausgehen werden,"
Der ruhige Ton unerschütterHcher Sicherheit, mit
dem Weltlein seine Rede hielt, reizte den Arzt, er ging
schneller vor, als klug war. „Du sprichst von deiner
Entdeckung. Schon als wir zuerst davon redeten, fiel
mir ein, daß im vorigen Jahr auf der Naturforscher-
versammlung eine Rede gehalten worden ist, die ähn-
liche Gedanken entwickelt. Ich habe mir die Mühe ge-
macht, sie gestern auf der Bibliothek unseres Vereins
abzuschreiben, und will sie, weil ich deinen Starrsinn
kenne, dir vorlesen. Du wirst sehen, daß nichts, gar
nichts Neues an deinen Ideen ist, daß die Wissenschaft
sie längst kennt und damit arbeitet." Damit entfaltete
— 139 —
Lachmann sein Manuskript mit der sonderbaren Wichtig-
keit, die ihm von seiner ärztlichen Tätigkeit her geläufig war.
Thomas rückte mit offenkundiger Freude seinen Stuhl
näher. „Ich hatte dich schon bitten wollen, mir das
Schriftstück zu leihen, dessen Titel einen merkwürdigen
Inhalt verspricht. Nun freue ich mich, daß du es lesen
willst. Wir können dann gleich daran anknüpfend weiter
verhandeln. Denn ich zweifle nicht, daß wir wertvolles
Material darin finden werden."
Lachmann hob das Papier, und als er den fragenden
Blick Agathens sah, zuckte er hinter dem vorgehaltenen
Bogen die Achseln. Die Sache nahm einen anderen
Verlauf, als er gedacht hatte. Mit wenig Zuversiclit las
er »ein Machwerk herunter.
Als er geendet hatte, sah er, wie sein Zuhörer in
sich susammengesunken dasaß und mit der Hand sein
Gesicht beschattete, als ob er den Ausdrudt seiner
Züge verbergen wollte. Die Hoffnung auf einen Erfolg
erwachte wieder. Und mit forschenden Augen seinen
Vetter anschauend sagte Lachmann: „Du siehst, die
Mission, zu der du dich berufen glaubst, ist schon von
einem Anderen erfüllt. Du machst dich lächerlich, wenn
du damit hervortrittst. Du bist auch nicht dazu ge-
schaffen, das Geschick zu lenken und wenn du, wie wir
alle, ein Werkzeug des ewigen Willens bist, so bist du
dodi ein sehr geringfügiges. Schicke dich darein. Ein
Irrtum ist keine Schande; aber man muß ihn frei be-
kennen. Und ich weiß, daß du das tun wirst."
Thomas hörte diese Ermahnung an, ohne eine Miene
zu verziehen. Dann stredtte er die Hand aus, nahm
das Manuskript und steckte es zu sich. „Die Rede hat
mich, wie du dir denken kannst, außerordentlich ge-
fesselt, ja ich kann sagen, mein Innerstes bewegt. Ich
— 140 —
I
mächte sie noch einmal für mich lesen, da sie wirklich
Grundwahrheiten enthält und mir eine Menge Anre-
gungen bietet. Was sie aber mit meinem Beruf zu tun
haben soll, weiß ich nicht. Der Unterschied springt in
die Augen. Dieser Mann ist auf Grund von Nachdenken
zu seinen Schlüssen gekommen. Er besitzt also einen
hervorragenden Verstand, Von mir weißt du aber ganz
gut, daß ich nicht mit großen Geistesgaben ausgestattet
war, sondern mich mit einem harmlosen Ideenkreis be-
ffnügte. Mit mir ist ein Wunder geschehen; denn idi
bin verwandelt, so sehr, daß ich sogar einen neuen
Namen trage. Dieses Wunder, das aus mir einen Weisen
machte, liegt ganz außerhalb meines Wollens. Ich kann
nichts dafür und habe kein Recht, darauf stolz zu sein.
Aber es beweist mir, daß das Schidcsal mich berufen
hat, und wo eine Berufung ist, da ist auch ein Beruf.
Deshalb kann ich dir nicht beistimmen, wenn du mich
für ein geringes Werkzeug hältst."
Lachmann wollte einfallen, aber mit einer abwehren-
den Handbewegung schnitt ihm Thomas die Zwischen-
rede ab. „Ich spreche nicht von meinen seltsamen Er-
lebnissen im Krankenzimmer und Polizeigefängnis, nicht
von den Symbolen und dem Weg der Schmerzen; auch
das mag ein eigentümlicher Zufall sein, daß mein Geist
plötzlich, nachdem er über ein Mensclien alter geruht
hat, zu gären beginnt. Aber daß in mir, der ich ein
nichtsnutziger Egoist hinter den Büchern hockte, der
Trieb erwacht ist. Großes zu leisten, daß der ganze
Mensch, den du vor dir siehst, nichts anderes ist, als
der lebendige Wunsch, gut zu werden und dem AU
mit ganzem Herzen zu dienen, das ist ein Wunder.
Ich lebe unter einem Zwang, der mich heiligt, und wenn
ich mich dagegen stemmen wollte, so würde mich, doch
- 141 —
die Hand Gottes vorwärts stoßen und es gäbe kein
Entrinnen. Mein Fuß tastet mitten in Finsternis und
weiß nicht, ob er recht oder falsch tritt, aber vor mib
leuchtet ein Licht, dem mich unaufhaltsam ein Dämon
zuführt. Ich suche den Weg, ich suche, suche."
Als Thomas diese pathetischen Worte gesprochen
hatte, sank er in sich zusammen. Agathe trat zu ihm
und fuhr ihm leise tröstend mit der Hand über den
Kopf, während Lachmann verstimmt an den Lippen
nagte, und mit der Gabel in das Tischtuch bohrte. Nach
einer Weile erhob sich Thomas. „Ich gehe in das Hotel
zurück," sagte er, „werde Besserwissers Rede nodi ein-
mal studieren und mich auf heute Nadimittag vorlae-
reiten. Nicht wahr, wir treffen uns zu Mitlag im
Löwen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er
davon.
Agathe sah ihm bekümmert nach, dann wendete sie
sich zu Lachmann, nahm ihm mit einem vorwurfsvollen
Blick die verwüstende Gabel aus der Hand und setzte
sich ihm gegenüber. „Nun," fragte sie.
„Nun," wiederholte der Vetter, „die Sache ist miß-
glückt," und dabei ballte er seine Serviette zu einem
Klumpen zusammen und warf sie unter den Tisch.
Dann sprang er auf und ging erregt im Zimnaer auf
und ab. Agathe folgte ihm mit den Augen, als ob von
ihrem Freunde alles Gute und BÖse abhinge. „Ich habe
mich wie ein Dummkopf betragen," begann er nach
einer Weile, „nicht wie ein verständiger Mann. Es durfte
nicht so überstürzt werden. Man muß es auf einem
anderen Wege versuchen." Er trat an das Fenster und
sah, mit den Händen auf dem Rücken, auf die Straße,
- 142 -
XX. KAPiTEL,
WIE SICH FRAUEN UND WIE SICH THOMAS
DIE HEBUNG DER SITTLICHKEIT DENKEN.
Als die drei Freunde am Naclimittaji In den Saal
eintraten, in dem heute der Verein für Frauenbildung-
und Frauenstvidium tagte, eilte Ihnen die geschäftige
Schriftführerin, Käthe Ende, entgegen und nachdem sie
Thomas freimütig die Hand geschüttelt und den Doktor,
als alten Bekannten, mit einem freundlichen Koptnicken
begrüßt hatte, führte sie Frau Agathe an den flüstern-
den und schauenden Reihen der Frauen vorüber nach
vorn,
„Ich muß Sie rasch der Präsidentin vorstellen. Der
Vortrag wird gleich beginnen. V/ir dürfen also auf Sie
reclinen, Herr Welflein," wandte sie sich zu Thomas
um, der halb geistesabwesend hinter den Damen her-
ging. Aber ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie
weiter.
Agathe dachte der Zeiten, als das Mädchen dort
noch jung war. Hätte Käthe Ende damals nur im min-
desten ihre Neigung zu dem Bruder gezeigt, statt sich
spröde zu verstecken, dann liefe er heute nicht mit
verdrehtem Namen und verdrehtem Kopf in der Welt
herum, Jetzt freilich merkte man ihrem Wesen, mit
dem sie des Amtes waltete, nichts mehr von jener ver-
hängnisvollen Schüchternheit an. Die raschen Bhcke, mit
denen sie den Saal musterte, die sichern Worte und
Winke, mit denen sie auf ihrem Wege zögernden
Frauen Plätze anwies, zeigten, daß sie ihrer Aufgabe
gewachsen war.
Vorn vor der Reihe der Stühle stand die kleine
rundhche Vorsitzende. Sie blätterte in allerhand Schriften
und nahm dabei in wunderÜdier Erregung bald den
- 143 —
Klemmer von der Nase, bald setzte sie ihn wieder auf.
Der Weg- zu ihr war durch eine Gruppe von Damen
versperrt, die unter vielen Seitenblicken und mit ge-
läufigen Zungen durcheinander schwatzten. Vorderhand
war nicht an ihnen vorbeizukommen. Man mußte warten
und Käthe Ende benutzte die Gelegenheit, ihre Beglei-
terin zu fragen, warum der Bruder seinen Namen ge-
ändert habe. Agathe geriet in Verlegenheit. Prüfend
sah sie erst das Mädchen an, wie weit sie ihm wohl
trauen dürfe, dann blickte sie zu Thomas hinüber. Und
als sie bemerkte, daß er mit seinen Gedanken ab-
wesend war, begann sie in fliegender Hast zu erzählen.
Thomas braclile der Anblick der Damen auf einen
seltsamen Gedanken und es begann in seinem Gehirn
zu wühlen. Ab und zu fuhren näralidi die Köpfe der
Weiber zu einem engen Kreise zusammen, der sich
dicht um den Kopf einer langen mageren Frau drängte,
sobald sich deren hochmütiger Mund öffnete. Eine ganze
Weile sah der arme Narr dieses Gebaren mit an, dann
aber warf er sich plötzlich, gerade in dem Moment, als
sich der lebendige Ring von Köpfen wieder bildete,
auf den Boden, drängte zwischen zweien der achtbaren
Damen den Oberkörper durch die Rock- und Falten-
raauer hindurch und starrte mit weit aufgerissenen
Augen von unten in die entsetzten Gesichter der Frauen.
Der Grund dieses wunderlichen Verfahrens ist nie recht
aufgeklärt worden. Thomas behauptete später, das An-
schauen der zusammengebogenen dicken und dünnen
Frauenrücken mit der Krone von echten und falschen
Frisuren darauf habe ihm eine neue Idee über Kuppel-
bau gegeben und nachdem er die Außenwände genug-
sam betrachtet habe, sei ihm das Verlangen gekommen,
die Decke dieses lebendigen Verkuppeins in der Ver-
- 144 -
kürzung zu sehen, die mit den verschiedensten Ge-
sichtern in wechselndem Ausdruck und Charakter doch
bedeutende Vorzüge vor einer gemalten hätte haben
müssen.
Man darf dieser Erklärung wohl mit einigem Zweifel
begegnen, zumal der Erzähler bei seinen Worten eines
seiner verzwicktesten Gesichter schnitt. Genug, der
Erfolg des Manövers war überraschend. Schreiend stoben
die Frauen auseinander. Die Magere, die noch eben
den Mittelpunkt der Gruppe gebildet hatte, hielt sich
das schwarze seidene Kleid fast bis zu den Knieen
gerafft, um besser ausschreiten zu können und ein
paar andere zwischen sidi und den furchtbaren Ein-
dringhng zu bringen. Als ihr das mit Hilfe ihrer langen
Beine gelungen war, sank sie mit einem entsagungs-
vollen Lächeln, aus dessen Beobachtung eine Oberhof-
meisterin noch etwas hätte lernen können, in einen
Stuhl, schloß die Augen und ließ den Kopf zur Seite
hängen, wobei zwei lange Locken herrlich zur Geltung
kamen.
„Exzellenz sinken in Ohnmacht," ertönte es und alle
drängten sich hilfreich zu ihr, die als Frau eines ehe-
maligen Ministers der Paradevogel des Vereines war.
Wütende Blicke schössen auf Thomas, der sich kalt-
blütig wieder aufgericlitet hatte und den gekränkten
Damen freundlich zunickte.
Während Käthe Ende, jäh aus der Spannung auf-
geschreckt, mit der sie die Abenteuer ihres alten An-
beters erzählen hörte, am liebsten vor Verlegenheit
laut aufgeschluchzt hätte, behielt Agathe ihre Fassung
und suchte, so gut es gehen wollte, die Situation zu
retten. Als sie den tollen Einfall des Bruders sah,
bückte sie sich gleidizeitig, hob mit auffälliger Eile ihr
— 145 — 10
schwarzes Täschchen, das sie rasdi zuf Erde geworten
hatte, auf und rauschte dann, das schwarze Ding wie
ein Panier in die Hohe schwenkend, an den aufge-
regten Damen vorbei, der Präsidentin entgegen, mit
lauter Stimme dem Bruder zurufend: „Komm nur
Thomas, idi habe die Tasche schon wieder, du brauchst
dich nicht mehr zu bemühen,"
Agathes Verfahren beschwichtigte den Aufruhr etwas.
So geschickt aber auch der Ausweg gewählt war und
so laut auch die Worte gesprochen wurden, es wäre
doch schon jetzt zu unangenehmen Szenen gekommen,
wenn nicht in rascher Folge neue Eindrücke die alten
verwischt hätten. Als die beiden Geschwister bei der
Vorsitzenden anlangten, war dieselbe eben dabei, die
Versammlung zu eroffnen, Sie hielt die Glocke schon
in der Hand, um sich Gehör zu verschaffen und sah
fragend auf die beiden Menschen, die plotzhch vor ihr
auftauchten und ihre mühsam errungene Fassung wieder
ins ScJiwanken brachten. Agathe blickte sich nach ihrer
Begleiterin um, die die Vorstellung übernehmen sollte,
aber die treulose Freundin hatte sie im Stich gelassen
und war in grolSer Angst vor weiteren Verwickelungen
an das andere Ende des Saales zu Lachraann geflüchtet,
um sich von dem die Leidensgeschichte Thomas Welt-
leins weitererzählen zu lassen. Das war ein arger Schlag
für Agathe. Sie hatte darauf gerechnet, mit Hilfe der
Schriftführerin, die ja wenigstens teilweise mit des
Bruders Narrheit bekannt gemacht war, sein öffentliches
Auftreten zu verhindern. Ehe sie sich nun so weit ge-
sammelt hatte, auf schickliche Art das Unheil zu ver-
hüten, fiel schon die Entscheidung, Thomas ergriff selbst
das Wort, stellte sich und seine Schwester als Freunde
und Anhänger des Vereines vor, die gerne mit ihren
- 146 -
Kräften den hohen Zielen der Frauenbewegung dienen
mochten, und mit besonderer Dankbarkeit der Schrift-
führerin Einladung zum heutigen Vortrag angenommen
hätten. Er sprach mit solcher Sicherheit und vornehmer
Ruhe, daß Agathe nur verblüfft zuhören konnte; und
während sie nodi die Verwandlung ihres stillen August
anstaunte, hatte er die Vorsitzende schon mit verfüh-
rerischen Schmeicheleien über ihre Verdienste im Verein
umgarnt und ihr Herz für sick gewonnen. Die kleine
runde Person, die wahrscheinlich seit langen Jahren
nichts Anerkennendes mehr aus Männermund gehört
und gewiß niemals eine soldie Fülle von Lob g'enossen
hatte, schwamm in Entzücken und als der fremde Herr
gar von ihren Dichtungen zu sprechen begann, konnte
sie sich vor Freude nicht mehr lassen und hob wie ein
jauchzendes Kind die Arme empor. Die Glocke, die sie
in Händen hielt, erklang dabei. Sie hatte, ohne es zu
wollen, die Versammlung eröffnet. Aber der holde Trank
der Anerkennung, der ihr gereicht ward, hatte sie be-
rausdit. Rasch flüsterte sie: „Setzen sie sich dort neben
die Frau Geheime Kommerzienrat Walter, die stattliche
Dame mit den Brillanten in den Ohren", und während
die Geschwister den ihnen angewiesenen Platz aufsuchten,
spradi sie die Eröffnungsworte, zum ersten Mal in ihrem
Leben ohne stecken zu bleiben. So hatte das Lob eines
Narren Frucht getragen.
Lachmann hatte von all dem, was sich vorn vor dem
Rednerpult zugetragen hatte, wenig vernommen. Er war
ein Mann, der nur im kleinen vertrauten Kreise zur
Geltung kam. in größerer Gesellschaft vermißte er die
überlegene Stellung, an die er im Verkehr mit Kranken
gewohnt war, und das machte ihn unbeholfen, und weil
er gern ein lebhaftes Gefühl seines Wertes hatte, ver-
-—147 -
lO*
mied er es, sich in Lagen zu bringen, die ihn von seiner
eigenen Nichtigkeit überzeugen mußten. Die Frauen-
bewegung an sich interessierte ihn auch nicht. Nach
seiner Ansicht waren die Weiber dazu da, Kinder zu
gebären, und er teilte sie in solche ein, bei denen es
sich für den Mann lohnte, mit ihnen zu schlafen, und
in solche, die nicht wert waren, die Kraft des Mannes
zu empfangen und zu vererben. Bei diesen Gesinnungen
hatte die heutige Versammlung wenig Lockendes für ihn
und er ging nur mit, weil er bei dieser Gelegenheit
einen Anhaltspunkt für die weitere Behandlung seines
Vetters zu gewinnen hoffte. Schon beim Eintreten in
den Saal hatte er sich nach einem unauffälligen Plätzchen
umgesehen, und als er an der hinteren Wand ein paar
Männergestalten und unter ihnen den Professor Kietz
erblickte, hatte er sich zu denen gesellt und Vetter und
Base ihren Weg ziehen lassen.
„Sie auch hier, Doktor," begrüßte Kietz denFreund, „ich
dachte, Sie wüßten, wie das Schnattern von Gänsen klingt."
Lachmann nickte und lehnte sich behaghch schm,un-
zelnd an die Wand. „Dieselbe Frage könnte ich an Sie
stellen," sagte er.
Der Professor schnitt ein ingrimmiges Gesicht. „Ich
bin der Ganshirt. Sie haben sich heute einen andern
Weideplatz gesucht," Er stieß ein merkwürdiges kurzes
Lachen aus, mit dem er bei seinen Schülern einen groben
grammatikalischen Fehler zu verspotten pflegte. „Sonst
kommen sie in der Töchterschule zusammen. Aber weil
heute von Prostitution und horizontalem Gewerbe die
Rede sein wird, fürchten sie, die Gössel in kurzen
Röcken konnten vergiftet werden, wenn sie morgen auf
den Bänken sitzen, auf denen die Alten heute ihre
unheiligen Gedanken ausbrüten."
- 148 — ■
Lachmann stutzte. Der Thomas Wahnsinn fiel ihm ein
und machte ihn nachdenklich.
„Da haben sie sich denn an den Direktor gewendet,"
fuhr Kietz fort, „und der hat ihnen die Aula des Gym-
nasiums zur Verfügung gestellt, und weil er selber keine
Lust hat, seine Sittlichkeit heben zu lassen, muß ich die
Moral der Anstalt vertreten." Er richtete sich auf und
streckte den Kopf spähend vor. „Ich habe den Platz
gut gewählt, nicht wahr; Sechsundsechzig sind es, riditig
gezählt, eine ansehnliche Menge für unser bigottes
Städtchen. Sie haben alle an mir vorbei passieren
müssen. Man braucht nicht zu verzweifeln. Unsern Damen
ist nichts Menschliches fremd. Sonst kommen keine
zwanzig zu den Versammlungen. Aber heute ^. Na,
ich will annehmen, daß dieses Interesse für die tieferen
Regionen auf Christcnliebe beruht. Aber spaßhaft war's,
so die Gesichter an sich vorüber ziehen zu lassen. Wie
die unterscliiedlich aussahen." Wieder erklang sein nieder-
trächtiges Laclien. „Sehen Sie, Doktor, die Kleine da
drüben, auf die bin ich neugierig. Ich gebe ihr Privat-
stunde, weil sie durchaus studieren will. Wenn der alte
Homer seinen Heiden in das Bett irgend einer Schönen
steigen läßt, tut sie so, als ob sie vor Erroten ersticken
müsse. Unter dem Schatten eines gemeinnützigen Zweckes
büßt sie aber ihre Lust recht unbefangen."
Lachmann sah nach dem jungen Mädchen hin, das
aufgeregt mit der Nachbarin kicherte, wandte sich aber
gleich wieder ab. „Die kenne ich," sagte er, „die wird
nicht lange studieren, die hat ein breites Becken und
prachtvolle Brüste. So etwas schenkt die Natur nicht
ohne Gegenleistung. Menschen von solchem Bau kommen
immer in die Wochen." Er wies nach vorn, wo eben
die Schar der Damen vor Weltleins Angriff auseinander-
- 149 —
stob. „Da scheint der Teufel los zu sein. Was haben
die Weiber?"
„!di kann es nidit unterscheiden," erwiderte der
Professor, der sich auf die Zehen gestellt hatte und den
Kopf in die Höhe reckte, wie ein Ziegenbock, der hoch
an einer kahlen Mauer saftig-e Kräuter spürt, ohne sie
erreichen zu können. „Vermutlich geht die Sache nun
los. Übrigens wird es wohl nicht ohne Skandal ver-
laufen."
Lachmann wurde stutzig. War Weltleins Narrheit
sciion so bekannt? „Skandal," fragte er, „wie meinen
Sie das?"
„Nun, Sie kennen doch die dicke Walter, die Frau
vom Schaum wein- Walter und wissen vermutlich auch
von der Feindschaft mit der Stadtpythia, der Frau Prc-
fessor Rolfs?"
Laehmann nickte, ohne recht zuzuhören. Er sah, wie
Käthe Ende vorsichtig und leise sich aus dem Knäuel
vorn los machfe und zurückkam.
„Die beiden rivalisieren schon lange hier im Verein.
Die eine repräsentiert den Geld sack und die andere
den Geist und beide hoffen auf den Vorsitz im Verein,
den unsere Ortsdichterin niederlegen will. Die Sache
ist jetzt bis zum Platzen reif, seitdem der Weinhändler
den Titel Geheimer Kommerzienrat bekommen hat. Die
Rolfs hat herausgefunden, ein Mann, wie Walter, der
immer Rat findet, geheim Wasser in Wein zu verwandeln
und so seinen Kommerzien aufzuhelfen, habe seinen
Titel verdient, Sie können sidi denken, wie dieses Wort
gewirKt hat. Eine Klage soll zuerst beabsiditigt gewesen
sein. Aber damit hätte sich der neugebackene Geheim-
rat in der Gesellschaft unmöglich gemacht und so hat
er denn lieber in den Beutel gegriffen und die Thron-
- 150 -
ansi>rüche seiner Frau hier im Verein mit einem runden
Sümmchen unterstützt. Frau Roifs Aussichten sind nun
arg gesunken und wenn sie nicht in der Ex-Exzellenz
mit den Schmachtlocken eine Bundesgenossin gefunden
hätte, würde sie gar nicht mehr in Betracht kommen."
Der Professor leckte die Lippen im Vorgeschmack
der Witze, die er über das Adelsdreieck des Berufes,
des Geldes und der Gelehrsamkeit machen wollte. Ehe
er jedoch damit beginnen konnte, bemerkte er, daß
sein Zuhörer sich von ihm abgewandt hatte und eifrig
auf Käthe Ende einsprach. Er behielt nun seine Bemer-
kungen für sich, sah aber von da an drein, als ob er
an versetzten Blähungen leide.
Lachmann bemühte sich unterdessen, den aufgeregten
Fragen der Schriftführerin Rede zu stehen, deren Angst
vor einer öffentlichen Beschämung durch das voreilige
Eingehen auf Welticins Redeplan immer mehr wuchs.
Er suchte die vielerlei Wenns und Abers, mit denen
er seine Aussagen milderte, dadurch zu verdecken, daß
er diese unangenehmen Worte durch eine heftige Körper-
bewegung bald nach rechts, bald nach links fortwarf.
Im Grunde war er aber sehr froh, als die Glocke ertönte,
und das Fräulein Doktor mit dem Namen Kampf die
Rednertribüne betrat. Er tat so, als ob er sich sehr für
den Vortrag interessierte, und überheß die unbequeme
Fragerin ihrer verzweiflungs vollen Ungewißheit. Zu seiner
großen Befriedigung hatte die Dame da vorn ein an-
genehmes Organ, so daß er sich wenigstens einen
musikalischen Genuß versprach.
Es dauerte aber gar nicht lange, so hatte diese wohl-
tuende Stimme den skeptischen Arzt so beeinflußt, daß
er zum ersten Mal in seinem Leben von seinem Grund-
satz abging; die Ansichten einer Frau von vornherein
- 151 —
für dumm zu halten. Er wurde sich dieser Verzauberung
seines Geistes durdi das Ohr bewußt, da er sie aber
zu den ^eistig'en Anstcckung'cn Weltleins hätte rechnen
müssen, die er doch durcliaus für Narrheit halten wollte,
gab er sich ihr hin, ohne Widerstand zu leisten. Auf
diesem Wege kam er zu dem Glauben, daß Fräulein
Kampf eine Menge Kenntnisse besitze und sie in ge-
ordneter Folge mit einleuchtender Klarheit vorzutragen
wisse. Ja, schließlich interessierte ihn der Vortrag so,
daß er sein Notizbuch hervorzog und den Gang der
Rede aufsehrieb; diese Aufzeichnungen, unterbrochen
und erläutert durch Lachmanns Bemerkungen, haben
sich in dem papierenen Nachlaß gefunden, zu dessen
Verwalter mich Frau Willens Spruch eingesetzt hat, Sic
werden hier wörtUch mitgeteilt aus Gründen, die der
Leser alsbald erraten wird.
„ — Rednerin beginnt mit einer treffenden Übersicht
über die Ausbreitung der Prostitution, die ziffernmäßig
das Anwachsen der Liederlichkeit beweist. Genaue Ver-
trautheit mit dem Gegenstand. Muß -sich lange und
eingehend damit befaß-t haben. - — Seltsamer Widerspruch
zwischen dem Wesen der Rednerin und dem Inhalt ihrer
Worte. Sanftes Gesicht, aschblondes Haar und wasser-
blaue Augen. Eine derartige Darlegung menschlicher
Gemeinheit aus weiblidiem Munde sollte beleidigen.
Warum bleibt diesem Mädchen gegenüber dieser Wider-
wille aus? — Gefahren durch Duldung der Prostitution.
Ihr öffentliches Auftreten wirkt psychisch ansteckend.
Gefahren für die sittliche Gesundheit. Zerstörender
Einfluß auf die Ehe, die Rednerin als die Grundlage
alles höheren Lebens bezeichnet. — Murren bei einzelnen
Vereinsmitgliedern, — Ausbreitung der Geschlechts-
krankheiten durch die Prostitution. Gefahr für die
~ 152 -
kÖrperliclic Gesundheit und für die Nadikommen, Vor-
schlag, den Geschlechtsverkehr Syphilitischer, besonders
die Ehe za verbieten und zu bestrafen. — Lachmanns
Zwischenbemerkung: Wenn wahr wäre, was die Wissen-
schaft schwatzt, gäbe es keine gesunden Menschen mehr.
Das Untersuchen der jungen Mädchen könnte manchem
passen. — Spricht weiter über Vererbung und Anstecltung.
— Das Organ der Rednerin versöhnt. Die Psyche des
Hörers wird durch den Klang beeinflußt. Eine Ansteckung
des Geistes durch den Körper. In Weltleins Theorie
steckt Weisheit, — Hebung der SittHchkeit. Es ist von
allen kleinen Mittein abzusehen. Die Knaben müssen
besser erzogen werden. Bewunderung der Mütter für
die Unarten ihrer Söhne; räumen den Knaben eine
frevelhafte Freiheit ein, statt ihre niederen Triebe zu
bändigen, wie es bei den Mädchen geschieht. So ziehen
die Frauen selbst die Unsittlichkeit groß. Die Lösung
des Problems liegt niclit in der freien Liebe, sondern
in der Festigung der Ehe. Die Männer sollten zur
Keusdiheit gebildet werden, — Wirkung auf die Zu-
hörer. Ernste, aufhorchende Gesichter. — Es handelt
sich nicht darum, den Frauen das Recht zu erobern, wie
es den Männern gewährt ist, die Freiheit des Geschlechts-
verkehrs. Dies Recht ist das schwerste Unrecht, die
Frau, die es zu erwerben sucht, frevelt gegen ihr Ge-
schlecht, gegen den Adel des weibHchen, ja, des mensch-
lichen Herzens. Wir Frauen stehen über den Männern. Es
ziemt sich nicht für uns, zu ihrerNiedrigkeit hinabzusteigen.
Wir wollen sie zu unserer Höhe erheben, nidit gewaltsam,
voreilig, unweiblich mit Reden und Schelfen, sondern lang-
sam, sicher, unwiderstehlich als Mütter der Kinder."
Die letzten Worte hatten offenbar Gedanken aus-
gesprochen, die alle Anwesenden hegten oder gern vor-
- 153 -
täuschen wollten. Lebhafter Beifall erscholl von allen
Seiten und erregt drängten sich die Frauen nach vorn,
um der Rednerin zu danken. Das Mädchen, dem man
nichts von Gelehrtheit' ansah, stand mitten unter ihren
Verehrerinnen so unbefangen und freudisf, wie ein
Schulkind, das eine gute Zensur nach Hause gebracht
hat, und selbst der mürrische 'Kietz vergaß darüber
seinen Zynismus, nickte mehrmals mit dem Kopfe, als
ob er sein Lieblingsgericht unerwartet vor sich sähe, und
schmunzelte: „So lasse ich mir das Frauenstudium ge-
fallen, solche Frauen zu studieren lohnt sich."
Den tiefsten Eindruck empfing Agathe, die schon
während des Vortrags aufmerksam gelauscht hatte. Sie
verliebte sich förmlich in das frische Wesen und den
freien Handschlag dieser Frauenrechtlerin, küßte sie
herzHch und zog sie neben sich auf einen Stuhl, weil
sie sie recht nahe haben müsse. Ihr altes Herz hatte
sich erwärmt und am liebsten hätte sie gleidi selber
angefangen, Knaben zu erziehen, wenn sie nur einen
zur Hand gehabt hätte. Daß Thomas, dieses Sorgenkind
ihrer mütterlichen Triebe, dicht bei ihr saß, noch dazu
mit schreckUchen Redegedanken, vergaß sie ganz und
war darauf gespannt, den Augenblick nicht zu verpassen,
in dem sie sich an dem eben beginnenden Meinungs-
austausch beteiligen könne.
Der entsprach freihch gar nicht ihren Erwartungen.
Schon die Unordnung, die eingetreten war, beleidigte
ihr Empfinden. Man saß nicht mehr, wie während des
Vortrags, sondern alles drängte sich in den engen Raum
vor den Stühlen zusammen und aus dem erregten Ge-
murmel klangen abgerissen die Worte irgend einer
besonders kampflustigen Frau. Als dann endlidi durdi
die Glocke der Vorsitzenden eine leidhche Ruhe her-
- 154 -
gestellt war, trat eine spitznasige Frau Rechnungsrätin
auf, die in ihrem schleclitsitzendeii Korsett und in dem
zänkischen Vorstrecken des Zeigefingers es deutlich zur
Schau trug-, wie sehr sie sich mit dem Leben herum-
äro-eni mußte. Sie fing damit an, die zunehmende Un-
sittlichkeit aus den Stammt] schaben den ihres Herrn
Rechnungsrates abzuleiten, und endete mit der Erzählung
von einer Köchin, die ihre — mit Respekt zu sagen — Unter-
hosen am Ofen des FamiUenzimmcrs getrocknet habe.
Dann folgte die Frau eines verabschiedeten Haupt-
manns, die, demütig-salbungsvoll den fetten Kopf zur.
Seite neigend, von dem Segen des frommen Glaubens
sprach, von der Verderbtheit der Jugend, die aus Büchern
und Zeitungen alles schon lerne, was zu ihrer Zeit ein
ehrbares Mädchen erst im Wochenbett erfahren habe,
jetzt traten die beiden Hauptkämpen auf den Plan:
Zuerst ergofJ sich eine Flut Geist aus dem Munde der
Frau Professor Rolfs über die Zuhörer. Wenn die witzige
Frau nicht die böse Angewohnheit gehabt hatte, ihre
treffenden Bemerkungen schon vorher durch ein scharfes
Kichern anzukündigen, hätte sie für eine ausgezeiclinete
Rednerin gelten können. Mit ihren boshaften spitzen
Augen, deren Pupillen durdi Morphium eng zusammen-
gezogen waren, bald diese, bald jene Nachbarin stechend,
griff sie die dummdreiste Selbstgefälligkeit der Kirehen-
gläubigen an, setzte aus eigener Machtvollkommenheit
und mit vielem Aufwand von wissenschaftlichen Schlag-
worten einen neuen lieben Gott ein, der in jeder ein-
leben Menschenseele sein Quartier aufschlage, sprach
von dem Recht der Persönlichkeit und der Sklaverei
der Ehe, in der die Gottheit der Frau sdilimmer ent-
würdigt werde, als in dem Straßengewerbe der Dirnen,
und schloß mit einer leidenschaftlichen Lobpreisung der
* - 155 —
"-T
/
freien Liebe, mit deren Einführung ein neues Zeitalter
beginnen werde.
Kaum hatte sie Zeit, sich an dem lebhaften Beifall
ihrer Freundinnen zu weiden, als schon die dicke Ge-
heimrätin sich erhob und in trocknem Tone erklärte,
das einzig Riditige sei, die jungen Mäddien wie früher
zu tüchtigen Hausfrauen zu erziehen. Sie sprach die
Worte so langsam und vollgewichtig, als ob sie jedes
einzelne mit ihrer stattlichen Person belaste. Für Mann
und Kind zu leben, sei das Glück der Frau, alles andere
_gehe sie nichts an und stille Ordnung und bescheidener
Fleiß sei das Werkzeug, mit dem sie ihr Glück schmiede,
das freilich nicht glänzend sei — „Wenn man es nicht
mit Brillanten behängt," rief die Frau Professor da-
zwischen. „Ich trage die Brillanten, weil mein guter
Mann sie mir geschenkt hat," versetzte die Dicke gleich-
mütig, „und ich trage sie stolz, weil ich sie in langer
tätiger Arbeit im Dienste für seine Bequemlichkeit ver-
dient habe, und wenn die Ringe hier auf meiner rauhen
Hand auch mancher Dame seltsam erscheinen mögen,
so trage ich sie doch gerade deshalb gern. Denn sie
erinnern mich tägUch daran, was ich meinem Mann ver-
danke und was er mir verdankt, Sie sind mir gewisser-
maßen eine Mahnung mitten in dem Strudel der
Meinungen über die Stellung der Frau, der auch mich
oft genug ergriffen und arg verwirrt hat, nicht zu ver-
gessen, daß Mann und Weib zusammengehören, und daß
der liebe Gott nicht ohne Grund zwei Geschlechter
geschaffen hat, damit sie sich ergänzen. Ich bin einfach
erzogen und habe wenig gelernt. Aber das Eine weiß
ich und habe es mir gemerkt, daß die Frau eine Ge-
hilfin des Mannes sein soll, und deshalb verstehe ich
nicht, warum ich den Mann, zu dessen Hilfe ich ge-
— 156 -"
schaffen bin, bekämpfen sollte. Das also ist der Sinn
von meinen Brillanten, damit Sie's nur wissen, Frau
Professor Rolfs."
Jetzt litt es Agathe nicht mehr. Ganz aufgeregt
erhob sie sidi. „Die Frau Geheimrat hat ganz recht,"
rief sie, „so recht, daß ich mich nicht enthalten kann,
auch ein Wort zu sagen, obwohl ich hier nur ein Gast
bin. Auf die Erziehung kommt alles bei uns Frauen an.
Dazu sind wir von Gott eingesetzt als Mütter, Und
einfach sollen wir unsere Kinder erziehen. Verwohnt sie
nicht und macht sie nicht zu eitehi Fratzen, die stunden-
lang vor dem Spiegel stehen und ein Gesicht ziehen,
wenn Mutter befiehlt, eine Schürze umzutun. Einfach in
Worten und Werken, einfach auch in der Kleidung, in
der vor allem. Ein junges Mädchen, das gewohnt ist,
sich sauber und nett zu tragen, wird selber sauber und
nett, denn das Äußere wirkt gar sehr auf das Innere
ein. Und ein Ding, das von der Mutter in elteln Putz
und Zier gehüllt wird, wird leicht auch im Herzen
verziert und putzsüchtig in sr-inen Gedanken, weil das
Kleid, das es trägt, an — " Hier unterbrach sich Agathe
plÖtzUch. Sie sah den' Blick des Bruders starr auf sich
gerichtet.
Verwirrt begann sie von neuem: ,,Es läßt sich gar
nicht leugnen, ein kostbares Kleid macht ungeschickt
zur Arbeit. In der Küche fürchtet man den Kohlenstaub
und in der Speisekammer den Butterteller und bei jedem
Schritt denkt man nur daran, daß man nicht hängen
bleibe und etwas von den teuren Spitzen verderbe. Ja,
man wehrt gar Mann und Kinder von sich ab, damit
ihre Zärtlichkeit nichts zerdrückt. Das Glück vieler
Menschen wird durch solche törichte Pracht zerstört,
weil ja das Herz des Menschen rasch angesteckt wird
- 157 -
— du sollst mich nicht immer ansehen," fuhr sie heftig
auf ihren Bruder los und setzte sich blutrot im Gesicht
hin, ohne den Satz zu vollenden.
Eine verlegene Pause entstand, ausgefüllt von ver-
einzeltem unterdrücktem Lachen. Um dem Spott ein Ende
zu machen, ergriff nun die Vorsitzende das Wort, die
immer noch von dem Lob Weltlcins zehrte. Ganz ge-
schickt wußte sie die ab v/e ich enden Meinungen in dem
vieldeutigem Satz zusammenzufassen, daß man die Men-
schen zur Liebe erziehen solle und eröffnete dann ohne
Übergang der Versammlung, daß einer der verehrten
Gäste, Herr Thomas Weltlein, die Güte haben werde,
seine Ansichten über den Gegenstand vom männlichen
Standpunkt aus mitzuteilen, was gewiß sämtlichen An-
wesenden doppelt interessant sein werde, da bisher nur
Damen gesprochen hätten. Das verdrossene Schweigen,
mit dem diese Ankündigung aufgenommen wurde, schien
freihch die gute Meinung der Präsidentin zu widerlegen,
und sie war schon dabei, eine Entschuldigung zu stottern
und die Versammlung zu schließen. Aber Thomas stand
längst wie eine Katze vor dem Sprunge da und fiel mit
mächtiger Stimme in das Gestaihmel ein.
Er las seine Rede ab, und man merkte seinem
kindlichen Vergnügen an, wie er sich an seinem
eigenen Machwerk berauschte. Wie wir sehen werden,
hat der Zufall sein Manuskript erhalten, so daß ich
es hier, ergänzt durch mündliche Erzählungen, wieder-
geben kann. Merkwürdig war mir daran die auffallend
saubere Handschrift, in der nicht das Mindeste durch-
strichen oder verbessert war. Thomas pflegte mit be-
sonderer Betonung darauf hinzuweisen als auf ein Zeugnis
höherer Eingebung, da er doch vor'seiner Berufung sUe
Zeit schlecht und unordentlich geschrieben habe, jetzt
- 158 -
aber sich deutlich in seiner Schrift die Hand Gottes
zeige.
„Gestatten Sie mir, verehrte Damen, ihnen zuerst
meinen Dank zu sagen, daß Sie mir durch den Mund
der Dichterin, die als schönes Sinnbild der Künstler-
seele des Weibes im allgemeinen und des idealen Ge-
dankenfluges dieses von höherer Zukunft träumenden
Vereines im besonderen den Vorsitz führt, daß Sic mir
erlauben, die nüchternen Bemerkungen eines Mannes zu
äußern, obwohl ja mit einer einzigen mir sehr merk-
würdigen Ausnahme alle Rednerinnen der Ansicht sind,
daß die Frage sich praktisch nur durch die Mutter oder
wenigstens durch die Ehe lösen lasse. Da ich nun weder
verheiratet noch Mutter bin — "
„Zur Sache," ertönte die Stimme der Frau Rolfs, die
durch einen Rippenstoß ihrer gefälligen Nachbarin darauf
aufmerksam gemacht worden war, daß sie mit der Aus-
nahme gemeint sei,
„Der Atem geht einem schon vom Zuhören aus,"
erklärte sie leise der lieben Freundin. „Aber ich werde
ihm mit einem seiner langgedrehten Satzstricke die
Kehle zuschnüren."
Thomas sah verwundert nach der Gegend, von der her
der Zwischenruf erscholl, dann fuhr er fort: „Mein sehn-
licher Wunsch ist, Mutter zu werden. Ich sehe darin keinen
Grund zu lachen, meine Damen. Ich teile diesen Wunsch mit
dem Geist jedes Zeitalters, das immer ein neues, höheres
gebären will, wovon freihch das unsere eine Ausnahme
macht, da es sich das Zeitalter des Kindes nennt und damit
seine Unfruchtbarkeit kindisch genug ausspricht. Gerade
in der Frauenfrage zeigt sich diese Unfruchtbarkeit, die
man fast unsittlich rennen möchte, genau so unsittlich,
wie die Sucht der Frauen, selbst unfruchtbar zu bleiben."
- 159 —
„Zur Sache," ertönte es von neuem aus dem Munde
der Professorin und diesmal stimmten ein paar alte
Mädchen und die kinderlose Hauptmanns trau mit ein.
„Ich bin mitten in der Sache. Es handelt sich um
die Hebung der Sittlichkeit durch die Frauen, und
wodurch könnten sie dies Ziel besser erreichen, als durch
Gebären. Die Sünde liegt nicht in der Sinnlichkeit, oh
nein. Die Raserei des Geschlechtsverkehrs ist heilig und
es täte unserer Zeit not, ihr wieder den Phallos zu
zeigen, damit sie anbete."
Der Professor Kietz stieß seinen Nachbar Lachmann
in die Seite und schaute grinsend in die Runde, Die
gelehrte Ungeheuerlichkeit des Narren da vorn wurde
freilich nicht verstanden, aber das Rauschen der Kleider
uud das Schwanken der Frisuren zeigte doch, daß ein
Sturm bevorstand. Durch eine zufällige Wendung sdiob
ihn der ahnungslose Thomas noch einmal hinaus.
„Wie eindringlich mahnte uns eben der Dichter-
mund einer Frau, die Kinder zur Liebe 2U erziehen — ."
Die Präsidentin errötete beglückt bei der achtungsvollen
Bewegung, mit der Thomas sich zu ihr wandte. „Wahr-
lich, ein herrliches Wort, dessen Tiefe unergründhch ist.
Das andere aber ist dem gleich, daß das Weib dem
Manne dienen solle, und es ziert die Frau, die es spradi,
mehr wie der Schmuck der Edelsteine, die sie als Symbol
ihrer hohen Gesinnung gewiß richtig deutete. Der
Sdimuck gebührt der Frau. Denn ist sie audi die
Dienerin des Mannes, so ist sie doch die Herrin der
Zukunft, und keine Krone kann reidi genug sein, um
auf dem Haupt einer Mutter zu ruhen."
Die entrüsteten Mienen der ZuhÖrerinnen glätteten
sich größtenteils und jede reckte 'den Kopf hoch, um
den unsichtbaren Glanz wenigstens anzudeuten, den ihr
(
— 160 -
je nachdem zwei oder sieben Rangen über die Stirn
ausgössen. Nur um Frau Rolfs herum schlössen sich die
Reihen der I\liß vergnügten enger,
„Klänge es nicht frevelhaft, so würde ich d*er Frauen
Kraft mit der Gottes vergleichen, der als höchstes
Wunder seiner Macht Menschen schuf. Welch seltsames
Schauspiel ist es nun, daß die Frau, deren promethei-
sche Natur wir Männer staunend beneiden, nach den
armseligen Leistungen des Mannes geizt, ihm den er-
kÜnstchen und entwürdigenden Lebenszweck des Berufs
mißgönnt und mit ihm, der Arbeitssklave ist, in Wett-
bewerb tritt Sie nennen das ein Redit, während es doch
ganz gewiß ein Unrecht ist."
Jetzt ging Frau Rolfs zum Angriff über. Mit einer
bissigen Bemerkung gegen die Vorsitzende, über mangel-
hafte parlamentarisdie Disziplin, beantragte sie den
Schluß der Debatte, da der Redner nicht dazu zu be-
wegen sei, zur Sache zu sprechen, auch wohl kaum noch
irgend etwas Neues vorgebracht werden könne.
Gegen den Beifall, der rings um die Kennerin ge-
ordneter Verhandlungen ausbrach und Wcltleins entrüstete
Versicherung, er habe allerdings ein neues Evangelium
zu verkünden, weit übertönte, erhob sich sofort als
zweite Streiterin um den künftigen Vorsitz die dicke
Kommerzienrätin, und hinter ihrer schützenden Breit-
seite ließen sich in allen Stimmarten die Rufe; Weiter-
reden, vernehmen. Erhebheh verstärkt wurde das Sehlacht-
geschrei dieser Partei durdi die kräftige Stimme des
Professors Kietz, der in der Hoffnung, seine junge
Schülerin doch noch bei einer neuen Pikanterie des
seltsamen Redners erröten zu sehen, seine Lungen
mächtig anstrengte, um Thomas wieder das Wort zu ver-
schaffen.
- 161 —
11
Die gutmütige Dichterin, die immer in die größte
Bestürzung geriet, wenn von ihr eine Entscheidung über
die Form der Verhandlung verlangt wurde, lief ver-
zweifelt von der Frau Kommerzienrat zur Frau Professor
und von der zu Thomas, um Frieden zu stiften, und
sdiiießlich drängte sie sieh hilfesuchend an die Exzellenz,
die in einsam-hagerer Große dastand und spöttisch
lächelnd auf den Moment wartete, einzugreifen,
„Ich bitte abstimmen zu lassen", rief Frau Rolfs,
„mein Antrag ist genügend unterstützt". Und da sich
die Vorsitzende bei dieser unvorhergesehenen Aufgabe
nur noch sorgfältiger hinter ihrem ministeriellen Schutz-
t'urm verkroch, ergriff die Präsidentin des Geistes kurz
entschlossen die Glocke und schwang sie energisch. Ihre
kleinen Augen funkelten dabei in dem Vorgefühl ihres
kommenden Sieges und in dem Bewußtsein, das Ab-
zeichen der Madit in Händen zu haben. Ohne im ge-
ringsten bei ihrer Lüge zu stocken, verkündete sie dann
dem lauschenden Kreise, die Leitung der Verhandlung
sei ihr von der Vorsitzenden, die sieh wegen ihrer
engen Freundschaft mit dem Redner für parteiisch er-
klärt habe, abgetreten worden, und ließ abstimmen. Es
wurde nun allerdings mit einer kleinen Mehrheit die
Forlsetzung der Debatte beschlossen, aber ein Blick
belehrte Frau Rolfs, daß ihre Anhängevsehar sieh in
den letzten fünf Minuten fast verdoppelt hatte. In der
sicheren Hoffnung, daß es dem Schützling der Wein-
pantscherin in seiner Albernheit gelingen werde, die
Rivalin ganz aus ihrer Anwartschaft herauszureden. ließ
sie der Sache ihren Lauf.
Der harmlose Thomas hatte inzwischen dagestanden
wie eine mannbare Kirghisenbraut, um die sich zwei
Krieger raufen, hoch erfreut über die Wichtigkeit, die
- 162 -
r seiner Person beigelegt wurde, und in erwartungsvoller
Scham harrend, wie sein Schicksal sich entscheiden
werde. Kaum war die Abstimmung vorbei, so begann
er mit doppelter Selbstgefälligkeit zu sprechen.
„Jedem steht ein gewisses Maß der Schaffenskraft
zu Gebot. Im allgemeinen sind ihre Grenzen eng genug
i gezogen, ein Mann, der als einzelner schaffend wirkt,
wird mit Redit als Wunder angestaunt. Das Los der
Meisten ist, das Glied eines Ganzen zu bilden, und erst
im Verein mit gleichstrebenden Kräften kann der Mann
etwas leisten. "Und dann ist es auch nichts weiter als
irgend ein Vorteil für das Leben des Menschen, eine
neue Bequemlichkeit, eine neue Möglichkeit, stärker zu
leben, wenn es hoch kommt, ein Werk, das den Adel
des Menschen beweist und viele erhebt oder umbildet.
Weiter aber geht die Macht des Mannes nicht. Er ver-
mag nicht, wie die Frau, zu erschaffen, ein Klümpchen
Eiweiß zu beseelen, es wachsen, zu lassen zu Haupt
und Gliedern, zum neuen Menschen, und den als Wahr-
zeidien unsterbheher Kraft in die Welt zu setzen,
damit er lebe. Menschen zu bilden, das ist die Eildung
der Frauen, und sie recht nach ihres Gottes Ebenbild
— das ist der Mann — zu gestalten, sollte ihr einziges
Studium sein. Und mit der Erschaffung des Lebens ist
auch die zeugende Kraft der Frau erschöpft. Es ist
eitel Anmaßung, UnsittUchkeit, in ein anderes Gebiet
hinüber zu greifen, das dem Manne gehört."
Ein Wogen der Entrüstung ging durch den Saal,
durch das die sdiarfe Stimme der Frau Rolfs selirillte.
„Ich entziehe dem Redner das Wort,"
Alles hatte sich von den Stühlen erhoben und
Thomas sah, wie plötzHcli eine Menge Arme durch die
Luft fuhren. Hüte aufsetzten, energisch Mäntel und
- 153 -
Jacken umherschwenkten, oder eilig nach Brillen-
futteralen, Täschchen und Börsen griffen. Dicht neben
ihm stand einsam mir noch die Sdiwester, deren Arm
Lachmann festhielt, um sie vor einer Torheit zu bewahren.
Denn während sie mit der freien Hand den tollen Bruder
am Rock zog. schössen ihre Augen Unheil verkündende
Blitze nach der Exzellenz hinüber, die eben laut rief:
Das ist ein verrückter Narr und ein ungezogener
Mensch dazu, der nicht weiß, was Anstand ist. Schließen
Sie die Versammlung," wandte sidi jetzt die Mmister-
trau an Frau Rolfs, faßte die tietbeschämte Vorsitzende,
die immer noch bang hinter ihr stand, am Arm und
schritt mit zurückgeworfenem Kopf dem Ausgang zu.
Neben der Tür stand noch Käthe Ende. Sie hatte sich
wie ein gezüchtigtes Schulkind mit dem Gesicht gegen
die Wand gedreht und schluchzte leise vor sidi hm
Als die Exzellenz im Vorbeigehen ihr zurief: „Sie sind
schuld an dem Skandal, Fräulein Ende," zuckte sie zu-
sammen und drehte sich um.
Eben klang der laute Glockenklang wieder durch
den Saal, und Frau Rolfs schrie mit Aufbietung aller
Stimmkräfte: „Die Versammlung ist geschlossen." Im
nächsten Augenblick schoß auch sdion die sieges-
bewußte Thronprätendentin an Käthe Ende vorüber, sie
mit einem boshaften Lächeln musternd, das der S(iri J-
führerin den Untergang weissagte, wenn erst Frau Rolfs
das Szepter des Vereins schwang. Dieser höhnische Blick
brachte das Mädchen zu einem raschen Entschluß. Kaum
war ihre Gegnerin - hinter der Exzellenz herlaufend -
aus dem Saal verschwunden, so sdilug Käthe Ende die
Tür zu und lehnte sich davor, fest entschlossen, me-
manden herein oder hinaus zu lassen, ehe der Ausgang
der Neuwahl entschieden sei.
- 164 —
Thomas hatte inzwischen ruhig weiter gesprochen,
ohne sich darum zu kümmern, ob jemand zuhöre oder
nicht. i.Das Streben der Frau sei, den Mann zu lieben
und ihm seine Züge abzulauschen, um sie im Kinde
neu zu bilden. Der Mann sei ihr Studium, an ihm bilde
sie sicli und alle Kenntnisse der Welt helfen ihr nichts,
alles Streben ist verfehlt, wenn sie den Mann nicht
liebt und ehrt. Das ist die wahre Frömmigkeit des
Weibes, dessen Religion Anbetung der zeugenden Kraft
sein sollte, nicht Nächstenliebe, wie denn das Christentum
nur dem Manne gehört. Den Weg weist unwiderstehlidi
die Natur selber, die das Weib durch die Empfängnis
umgestaltet. Der Same, der die Frau befruchtet — "
„Du bist ein schändUcher Mensch," schrie jetzt
Agathe, riß ihm seine Schrift aus der Hand und warf
sie wie einen Pestlurapen von sich. Lachmann büdcte
sich danach und sammelte sorgfältig die einzelnen
Blätter auf, während Agathe den aufgeregten Bruder
mit aller Kraft fort zu ziehen suchte und ihm sogar
den Mund zuhielt, als er sprudelnd vor Entrüstung und
Weisheit die Worte hervorstieß: „Jede Hündin beweist
CS. Es ist das große Gesetz psychisch-physischer An-
steckung. Ist sie vom ruppigen Koter belegt, so gleicht
noch lange hinaus ihr Wurf, — " Alles Übrige war nur
noch ein rauhes Gurgeln von Tönen, das nodi dazu
durch den lauten Klang der Glocke überschallt wurde.
Kaum hatte nämlich die Kommerzienrätin bemerkt, daß
ihre Gegnerin das Feld voreilig räumte, als sie ent-
schlossen vortrat, mit der einen Hand den unheiligen
Thomas faßte, mit der anderen die Glocke der Vor-
sitzenden. Und so stand sie, ein dicker Engel des
Schwertes und des Zornes, da und wartete auf den
Moment, wo die Tür sich hinter der Frau Rolfs schloß.
— 165 -
Dann aber stieß sie mit einem Ruck ihres arbeits-
kräi'tigen Armes den stammelnden Thomas mitsamt
seiner Schv/ester weit von sich und schwang mit aller
Madit die Glocke, wobei die Brillanten in ihren Ohren
um die Wette baumelten. Die Arme immer ausgebreitet
haltend, als ob sie die ganze Versammlung unter ihren
Sdiutz nähme, rief sie mit ihrer rauhen Stimme:
„Bleiben Sie, meine Damen, bleiben Sic! Ich werde
den Schimpf rächen, der dem Verein angetan ist. Ich
werde den Mann, der hier Schweinereien zu .raaclien
wa<ft, hinauswerfen, wie ihm gebührt." Und nun packte
sie den verdutzten Thoraas am Kragen und führte ihn,
immer die Glocke schwingend, unter dem jubelnden
Gelächter der Zuschauer zur Tür, die von Käthe Ende
ceöffnet wurde. So wurde denn Thomas vor den Augen
seiner einstigen Anbeterin wie ein Schaf, das der Poli-
zist ausklingelt, durch den Saal geschleppt, und mit
ihrer Mithilfe vor die Tür geworfen.
Hinter ihm und der nachdrängenden Agathe schloß
sich wieder die Pforte und die Kommerzienrätin kehrte
auf ihren Platz zurück, während Käthe Ende die zum
Ausgang drüngcnden Frauen zurückwies und sie laut
aufforderte, an der \Ä'ahl einer neuen Vorsitzenden
Teil zu nehmen, die ja auf keine andere fallen könne
als auf die Retterin der Ehre aller, auf die gee'irte
Frau Geheimrat Walter. Lauter Beifall folgte dem Vor-
schlag, und während Käthe Ende standhaft die Tür mit
ihrem kräftigen Rücken gegen einen Überfall von außen
und mit ihren Händen gegen eine Flucht , von innen
deckte, ging die Neuwahl vor sich. Auch der brave
Lachmann, der endlich die umhergestreuten Blätter ge-
sammelt hatte, wurde von der Hüterin der Pforte auf
seinen Platz zurückgescheucht und mußte wohl oder
- 166 -
Übel bei der Wahl zugegen bleiben. Um sich die Zeit
zu vertreiben, ordnete er die Blätter von Weltleins
Rede der Reihe nadi und las sie mit wachsendem Er-
staunen darüber, was alles der gute Thomas in seiner
närrischen Unschuld dem weibhchen Anstandsgefühl zu
bieten wagte. Er schüttelte von Zeit zu Zeit nach-
denklich den Kopf oder sdi raun zelte und steckte
schlicfälich die Schrift zu sich. Ich gebe hier den Schluß
der Rede, wie sie sich in Agathes Nachlaß erhalten
hat. Wie allerdings die Fortsetzung des Satzes lautete,
in dem Thomas so rauh unterbrochen wurde, muß der
Leser sich selbst zurecht denken. Gerade dieses Blatt
war bei dem Kampf zerrissen worden. Ja, es scheinen
noch ein- paar Sätze verloren gegangen zu sein, wenig-
stens beginnt der Text ziemlich unzusammenhängend
mit den Wortei\: „ — — fehlt der Frau und doch ist
jede Arbeit ihres Lohnes wert." Dann geht es heftig
weiter zu dem tollen Schluß. „Dieser Mangel ist das
wahrhaft unsittliche Prinzip der Ehe, ja, des gesamten
Lebens. Der Mann vergewaltigt seine unwissende Frau,
die nocli nicht fähig ist zu genießen, und ihre Kälte,
ihr Ekel scheuclit ihn zurück. Vielleicht erst spät, erst
nach Jahren, wenn bei ihm die blinde Leidenschaft
schwindet, aber unentrinnbar tritt dieses Verhängnis ein.
Und nun kommt die furchtbare Ironie, mit der die
Natur stets die Sünde wider ihre Macht bestraft, eine
lächerlich grausame Strafe. Denn in der Zeit, wo der
Mann sich von den alternden Reizen seiner Geliebten,
die nicht geliebt sein wollte, abwendet, erwacht in der
Frau der Trieb, der durch die ungeschickte Pflege lange
dahin kümmerte, sich aber endlich mit unwiderstehliclier
Kraft emporringt. Es wäre der Stoff zum erschütternden
Lustspiel oder zur lächerlidisten Tragödie.
— 167 —
Gewiß, der Mann muß erzogen werden, aber nicht,
wie es kurzsichtige Menschen verlangen, nuni reinen
Toren, sondern zum unwiderstehlichen Verführer zur
sinnlichen Freude. Er muß unterrichtet werden, methodisch
und genau, so wie er das ABC lernt, mit welchen
Mitteln in einem Mädchen die Glut anzufachen ist.
Schulen müßt ifir gründen, in denen gelehrt wird, wie
ein Mann ein Mädchen nimmt und sie zum Weibe maclit,
in denen die Sinnlichkeit geübt wird und die Kunst zu
lieben, zur Liebe zu verführen. Denn die höchste Sitt-
lichkeit liegt in der Sinnhchkeit und die Wurzel alles
Schlechten in der widernatürlichen Sucht der Mütter,
ihre Kinder zu entmannten Engeln zu machen. Darum,
wollt Ihr Frauen die Sittlichkeit heben, so hebt die
Sinnlichkeit."
Das Manuskript schließt mit drei Ausruf ungszeichen,
eines dicker als das andere, dahinter aber steht mit
Bleistift geschrieben ein Fragezeichen von Lachmarns
Hand, und man hat mir erzählt, daß der kluge Doktor
an jenem Nachmittag sehr nachdenklich nach Hause
gegangen sei, nachdem endlich Frau Walters Wahl ent-
schieden war.
XXI. KAPITEL.
WAS EINE GLOCKE IST. AGATHE REIST AB
UND THOMAS SPIELT EISENBAHN.
Unterdessen hatte Agathe ihren immer noch be-
täubten Bruder mit sich fottgezogen. Auf der Straße
angelangt, blieb er stehen. „Was war das?" fragte er.
„Blamiert hast du dich," fuhr Agathe auf und setzte
ihm den Hut auf, den sie trotz aller Eile im Vorbei-
gehen aufgerafft hatte, „dich und mich blamiert."
— 168 —
„Blam — , Rada — da — blam, radablam, blamiert.
■ Natürlich. Nein, das Auditorium ist mit Pauken und
Trompeten durchgefallen. Diese Weiber tun, als ob sie
einen festverschlossenen KeuschheifsEfürtel statt einer
Seele hätten. Aber die dicke Frau Walter, die mit den
Brillanten, die hat mich verstanden. Bei hellichtem Tacre,
vor ihrer aller Augen eilt sie durch den Saal und
schwingt die Glocke."
Agathe sah ihn verblüfft an. „Was meinst du damit?"
„Du hast Augen und siehst nichts, und Ohren und
hörst nichts. Du wirst doch wohl wissen, was eine
Wölbung ist, in der sidi ein Schwengel hin und her
bewegt."
„Ich verstehe dich wirklicli nicht."
„Der Schwengel, das war der selige Willen, und die
Glocke, das warst du, und daß der Schwengel gehörig
bewegt worden ist, hat neun Monate — "
„August!"
„ — Monate darauf Alwinens Klingelgeschrei be-
wiesen."
Agathes Hutbänder sträubten sich vor Entsetzen.
„Schäme dich!"
„Ich? Ich habe in jener Nacht vermutlich ruhig ge-
schlafen."
„August!"
„ Himmel kreuzdonnerwetter! Schockschwerenot, Bom-
ben und Granaten, verfluchte Schweinerei ■ — "
Agathe taumelte schreckensbleich gegen die Wand.
„— ich heiße Thomas."
„Ja, ja, also Thomas, sei doch nur ruhig, die Leute
guclcen ja zu,"
„Ach was, Leute hin, Leute her, vom Giockenlauten
ist die Rede. Diese dicke Weinhän dl ersehe wollte gern
- 169 —
öffentlich Beilager halten, wie die Königinnen dei-
Hunnen oder wie Absalon mit den siebzig Weibern
seines Vaters, und weil wir so etwas von Polizei wegen
nicht mehr erlauben, hat sie mich durch das Packen am
Haarschopf absalonitiscli abgestempelt und die siebzig-
anderen Weiber haben mit weit aufgerissenen Aug-en — "
In diesem Augenblick trat der Professor Kietz heran.
„Ich freue mich, Sie noch zu treffen, Herr Weltlein,
Ihre Rede war einfach famos. Das mit dem Privatunter-
richt der Knaben und Mädchen im Huren, Verzeihung,
gnädige Frau, aber ich kann nur wiederholen, die Rede
ihres Herrn Bruders war einfach — — "
„Haarsträubend," fiel Agathe ein.
„Ja, vielleicht auch das, aber schaden kann ein
Studium dieser wichtigen Beziehungen des Menschen-
geschlechts nicht und insofern hat Herr Weltiein ganz
recht. Durch die Klingelei hat ja Frau Walter auch dafür
gesorgt, des Redners Worte unvergeßlich zu machen."
Thomas strahlte. „Siehst du, der IWann versteht mich!
Ja, er versteht das Glockensymbol."
Kietz spitzte die Ohren. „Das Glockensymbol?"
„Ach, das ist so ein brüderlicher Scherz." Agathe
trat verlegen von einem Fuß auf den andern.
„Sie markiert schon die Glocke, und horch, da
schallt's vom Turm!"
Wirklich erklang eben die Glocke der katholisclieu
Kirche.
Der Professor schaute abwechselnd auf Thomas und
auf die verlegene Schwester.
„ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen."
„Anständige Leute können es gar nicht verstehen,"
fiel Agathe ein. „Sie müssen auf den Unsinn nicht
hören, den mein Bruder schwatzt."
- 170 —
„So, Unsinn? Hörst du nicht, was der Geist durch
den Mund der Glocke spricht? Du bist doch selber eine
Glocke. — "
„Ich verbitte mir ein für allemal diese Ungezogenheit."
„Ja, hier muß der Glockenstrang ungezogen bleiben."
„August!"
„Himmelkreuzdonnerwetter."
„Schockschwerebrett, Bomben und Granaten," unter-
brach der eben hinzutretende Lachmann.
„Verfluchte' Schweinerei," ergänzte Thoraas. „Also
du besinnst dich nach auf meine Kirchenlieder ver-
gangener Zeiten? Das ist nett von dir. Aber nun ge-
denket der Stunden und achtet des Symbols."
„Wenn Sie doch endhch die Güte haben wollten,
mich über das Symbol aufzuklären, ich kann an dem
Lüuten nichts Besonderes finden." Kietz hatte den Kopf
in die Höhe gereckt, so daß ihm beinahe der Zylinder
herunterrutschte, und starrte hoch zum Glockenstuh!
hinauf.
Thomas packte ihn am Arm, hob seine Hand und
wies mit dem gestredcten Finger nach oben. „Was sehen
Sie?" fragte er.
„Einen Kirchturm und einen Hahn oben darauf,"
„Ja, da steht er aufredit und ragend und weist in
den Himmel der Freude und unter ihm liegt die Kirche,
die Braut."
Der Professor wich zwei Schritte zurück, riß die
Augen auf und dann meckerte er los: „Das ist unglaub-
lich, das ist unglaubHch, das muß ich den Pfaffen unter
die Nase reiben, das ist unglaubhch."
Agathe war wie versteinert und hörte nicht einmi!,
wie Ladiraann ihr zuraunte; „Schaff deinen Bruder wes",
sonst gibt's ein Unglück." >
— 171 —
„Unglaublich," fuhr Thomas auf, „die Wahrheit ist
immer ung-laublich. Der Schoß der Kirche — "
Kietz stürmte plötzlich quer über den Platz, dem
Geisthchen entgegen, mit dem er neulich beim Lord
das Erziehungsgespräch gehabt hatte.
„Kommen Sie Herr Pfarrer," sagte er, „Sie müssen
hören, was Herr Weltlein über die Kirche zu sagen
weiß." Er schob die Hand unter den Arm des Priesters
und führte ihn zu dem Bürgersteig, wo Thomas Lach-
mann und Agathe, die ihn gewaltsam fortführen wollten,
mit weit ausgebreiteten Armen von sich abhielt. Lach-
mann ließ die Hände sinken. „Jetzt ist nichts mehr zu
retten. Der Pfaff verzeiht selbst den Verrückten keine
Kirchenlästerungen."
Er lehnte sich resigniert gegen die Hausmauer; die
Arme kreuzend tat er so, als ob ihn die ganze Ge-
schichte nichts anginge.
Agathe hielt immer noch den Arm ihres Bruders
umklammert und, während ihr die Tränen herunter-
kollerten, rief sie einmal ums andere, „August, so hör'
doch auf, August, so hör' doch auf,"
Mitten in die feierliclien Verbeugungen, mit denen
sich die Vorstellung des Pfarrers Adam vollzog, platzte
Thomas, dessen Rede durch das Weglaufen des Profes-
sors unterbrochen war und dessen Backen infolgedessen
von unausgesprochenen Gedanken autgebläht waren, als
ob er die Posaune des jüngsten Gerichtes blasen sollte,
los; „der Schoß der Kirche empfängt durch die Taufe
den Menschen als Kind Gottes. Die Kirche ist ideelle
Braut, stets befruchtete Mutter der Gläubigen. Vom
Weihwasserb ecken bis zum Altar, wohlgemerkt, Altar
der Liebe, spricht jeder Stein, der die säulengetragene
Wölbung hält -und bildet, jede Kapelle, jedes Fenster,
— 172 -
die Apsis, die Krypta: hier ist Mutterschaft. Der Turm
weist es, die Glocke läutet es, der goldene Hahn kräht
das Mysterium von der Gotteshochzeit in Sturm und
Wind hinaus. Die Gestalt der Kirche, ihre Bauart, ihre
Ausstattung sind nicht Zufallsgebilde, nicht Erfindungen
der Kunst, noch weniger logische geschichtliche Ent-
wicklungsformen, wie es die flaclien Bücher ästhetischer
Banausen lehren; so wie die Kirche ist, mußte sie sein,
sie drückt harmonisch vollkommen aus, was sie ist Ist es
nidit so, Herr Pfarrer?"
Kietzens Füße hatten sich wie von selbst in die
fünfte Tanzpositur gestellt, der redite höchst schön
über den linken, in dem rötlichen Spitzbart des etwas
geneigten Kopfes spielte seine eine Hand, die in einem
hellgelben Handschuh steckte, während der Arm sich
auf die andere stützte und seine Augen lugten mephisto-
phelisch über die Brille hinweg nach dem geisthchen
Herrn.
Der aber antwortete freundlich.
„Ungefähr ließe es sich so ausdrücken, und daß die
Übereinstimmung zwischen Idee und Gestalt der Kirche
nicht dem Zufall zu verdanken, auch nicht Folge irgend
welcher menschlidien Entwicklung ist, fühlt ein jeder,
der in das Gotteshaus tritt, wie viel mehr ich, dem
täghch sich neu das Mysterium der Formenharmonie
des Baues offenbart."
Der Professor wendete sich um zu Lachmann, der
noch immer verdrossen an der Wand lehnte und dessen
Erregung sich nur ab und zu in kurzen Hieben seines
Stockes verriet.
Thomas hatte den Blick auf den Freund gerichtet:
„Idi kann mir denken, daß du mich hauen möchtest.
Ihr Ärzte . seid die geborenen Sadisten, symbolische
— 173 —
Blutheiiker, Schinder und Giftmischer, aber denke nur
Tiidit, alter Knabe, daß du Weltleins Gedaiikenbriit
mit andeutenden Stodtscb lägen bändigst. Ich gehe lange
schon sdiwanger damit, und sie zurückzuhalten wäre
ebenso dumm, als wenn du einer Kreißenden einen
Pfropfen vor die Scheide legen wolltest."
Agathe suclite ihn fortzuziehen. „Schäme didi," rief
si«, „auf offener Straße solche Dinge.'-
„Hast du nie von Sturzgeburten auf offener Straße
oder in der Droschke gehört? Die Gebärmutter küm-
mert sich doch nicht darum, ob ihr im Promenadekostüm
oder im Hemde seid. Und daß sich der Herr Pfarrer,
den du so ängstlich anschaust, als Junge in die Hosen
gemacht hat, was doch auch eine Sturzentbindung ist,
wird wohl vorgekommen sein."
Der Geisthche nickte sauersüß lächelnd, die Situation
wurde unbehaglich.
„Und siehst du nicht, wie die Damen jetzt aus dem
Gymnasium strömen? Was aber ist ein Haus anderes
als ein Uterus."
■ Pfarrer Adam schielte nach der Menge der schwatzen-
den Weiber in der Hoffnung, dort etwas zu finden, was
ihm einen Vorwand gäbe, um loszukommen, während
Kietz wieder an ihn herangetreten war und ihn am
Ärmel festhielt.
„Nie wäre die Menschheit," fuhr Thomas triumphie-
rend fort, „auf den Gedanken gekommen, ein Haus zu
bauen, wenn sie niclit gesehen hätte, wie sicher das
Kind im Mutterleibe ist. Nicht zum Schutz vor Regen
und Schnee, vor Tier und Feind wurde das Haus er-
funden, sondern der Eros zwang die Menschen dazu.
Es ist eine einfache Nachbildung der Zcugungsorganc
des Weibes, nicht wahr, Herr Professor Kietz. Zwangs-
- 174 -
weise entstanden, etwa wie die photographischc Kammer
als Nachbildung des Auges, oder die Eiseiibrüdce als
Nachbildung der Kuochcnstruktur. Die Sprache bewahrt
es ja noch auf, diese Entstehung. Atrium, Vestibulum,
so nannten die Römer den Hauscingang und wir den
Eingang zum Weibe und ein Impluvium ist hier wie da.
Die Kirche — "
— Pfarrer Adam hatte sich von dem Griff des
Professors befreit, aber Thomas hielt den Davoneilenden
am Rockzipfel fest,
„ — ist in ihrem Bau noch nicht einmal so k!ar wie
der jüdische Tempel, da haben Sie zwischen Tempel
und AU erheiligstem den Vorhang, durch den nur der
Hohe Priester — "
„Da geht deine Wanze, Thomas," fiel ihm Lachmann
ins Wort und wies auf den vorbeistreichenden Keller-
Caprese, der nach irgend einer Kneipe hinstrebte.
Mitten im Satz brach der prophetische Zweifler ab und
eilte mit langen Schritten hinter seinem Blutsauger her,
wahrend der Pfarrer, seine Rockzipfel betrachtend, ohne
ein Wort zu sagen, nacli rechts schritt. Auch Kietz
verabscliicdete sich kurzer Hand. Lachmann faßte seine
Cousine unter dem Arm und schleppte sie, die mehr
tot als lebendig war, in seine Wohnung,
Eine Viertelstunde später erschien auch Thomas. Er
achtete gar nicht auf den vorwurfsvollen Blick der
t'chwester, der jeden Anderen auf die Knie gezwungen
hätte, so schwer beladen war er mit heiliger Entrüstung,
und ehe noch Lachmann, dessen hochgerecktes Haupt
und auf den Rücken gelegte Hände nicht minder klar
als vorhin die Lufthiebe andeuteten, was er innig
wünschte, den Mund öffnete, hatte er ein weiÜes
Kärtchen mitten auf den Tisch gelegt, sich davor ge-
- 175 -
setzt und, den Kopf auf beide Arme gestützt, sich in
die Betrachtung der Zeichnung auf dem Blatte versenkt.
„Es stimmt," sagte er, riditete den Bück erst auf die
Schwester, dann auf den Vetter und fügte hinzu, „stimmt
es nicht?" Diese Worte, die in meilenweiten Femen
von dem lagen, was die Beiden beschäftigte, erinnerten
Lachmann daran, in welchem Zustand der Narr dort war.
Er trat vor und sah dem Freund über die Schulter.
„Meine Visitenkarte" sagte Thomas und sah seinen
Vetter herausfordernd an. Agathe war auch hinzu ge-
treten und Beide riefen in gleicher Verwunderung:
„Visitenkarte! Du, das ist aber schwer zu verstehen,
eigenthch sieht es mehr aus wie ein Bilderrätsel."
„Das freut mich" sagte Thomas, „die Welt ist eben
schwer zu verstehen und Rätsel gibt sie genug auf,
aber nun rate auch."
Agathe holte ihre Brille aus einem silbernen Futteral,
das ihr vom Gürtel herabhing; setzte sie umständlicii
auf, so daß Thomas gereizt mit seinen Fingern auf
den Tisch zu trommeln begann, und sagte schließlich:
„Das Eine sieht aus wie ein zerbrochenes Beil und das
Andere scheint ein kleiner Globus zu sein, aber ver-
stehen tue ich es nicht."
„Bravo!"
,,Das ist der reine Unsinn," fuhr sie giftig fort,
,, solch eine Visitenkarte ist keine Visitenkarte. Geh in
den nächsten Papierladen und laß dir .Thomas Weltlein'
darauf drudcen, dann -weiß jeder vernünftige Mensch,
v/er du bist,"
Thomas sah sie höhnisch an. , .Kannst du nicht lesen,
daß Thomas Weltlein darauf steht?" Er freute sidi,
wie die Schwester nochmals den Versuch maclite, auf
dem Papier irgend welche Buchstaben zu entdecken.
— 176 —
„Du solltest ivirkiich wieder zu deinen Kochtöpfen
zurückkehren, die Bäuchlinger Welt paßt für dich Na
und du anatomisch, physiologisch, chemisch und bakterio-
logisch geblendeter Medizinmann, kannst du auch nicht
sehen, was da geschrieben steht in Kelier-Caprese-
Weltleinschen Buchstaben!"
.Lachmann trommelte in deutlichem Unbehagen mit
der rechten Fußspitze auf den Boden. „Die Kugel da
15t Weltlein, aber dies zerbrochene Beil mit dem
S dahinter — "
„Na also, los!" *
„Soll vermutlich Thomas bedeuten."
„Vermutlich, aber wie, mein Freund, wie?"
Lachmann zuckte die Achseln.
„Ich werde es Euch erklären; was Ihr da Beil zu
nennen beliebt, ~ Du darfst auch zuhören, Agathe -
ist kein Beil, sondern ein Tomahawk. Nimm die letzte
Silbe weg und füg' ein s zu, dann hast du Thomas.
Wie findest du das?"
„Dumm!"
„Siehst du, ich auch. Gerade deshalb ist es so genial-
l^mdhch, naiv, natürlich, primitiv, beinahe steinzeitaltnV
einfach. Ja und in dem Tomahawk - merkst du nicht? -"
Er flüsterte „Die neue Welt."
Uchmann nickte. „Und der Friede," fügte er hinzu.
Thomas sah ihn forschend an: „Hast du auch
[Wanzen," fragte er.
„Weil ich deine Sprache verstehe? Nein, ich bin
I nur gewohnt, durch meinen Beruf gewöhnt — "
I „Bitte, hör' mit deinem Beruf auf, Du hast ein
Imetier und ;,och dazu ein stinkiges. Wanzen am
ILeben zu erhalten, saugfähig zu erhalten. Denn Kranke
Ismd ~"
~ 177 —
12
„Wanzen" fiel Agathe ein. „Ja, und weil du krank
bist — denn solch dummes Zeug imd so gewöhnliche,
abscheuliche Sachen schwatzt man nur, wenn man krank
ist — ■ so gehörst du nach Hause und ins Bett," Sie
setzte den Finger so energisch auf die Tischplatte, als ob
sie eben einem solchen roten Bieste den Garaus machte.
„Natürlich, in dein verdrecktes Wanzenhaus," höhnte
Thomas und weidete sich daran, wie der Schwester
runder, etwas kurzer Finger vor Schreck zusammenknickte.
„Und ins Bett kriecht die Wanze mit und du stänkerst
mir dann die unsaubren Geister mit Petroleum aus, bis
ich mit diesem Öle Petri ganz durchtränkt bin und wie du
und der heilige Petrus den Herrn verleugne."
Agathe sah mißbilligend zu dem schweigsamen
Lachmann hinüber, der zurückgelehnt dasaß und auf-
merksam beobachtend die ausgespreizten Fingerspitzen
gegeneinander wippte. Also aufgefordert, mischte er
sicJi in das Gespräch.
„Wieso hat Agathe den Herrn verleugnet?"
„Den guten Willen hat sie verleugnet,"
„Ich habe stets guten Willen anerkannt," rief Agathe,
„du hast aber keinen."
„Das behaupte ich auch nicht, aber du hast deinen
eigenen Willen, deinen Ehehertn verleugnet, im An-
gesichte des Hahns hast du seinen Hahn verleugnet,
vorhin mitten auf dem Markt."
„Ich verstehe nicht, was du mit dem Hahn meinst."
Agathe sprach mit spitzen Lippen und kleinem Munde und
jede Silbe tönte scheinheilig, süß, fremd, als ob sie in eine
Röhre hineinspräche. Sie war fast blaurot vor Anstrengung.
„Wenn du dich nicht sofort besinnst, was wir als
Kinder Hähnchen, Piephähnchen nannten, frage ich
telegraphisch bei meiner Amme an,"
- 178 -
Agathe wagte keinen Laut mehr. Mit den halb
offenen zugespitzten Lippen stand sie da und keuchte,
Lachmann war zornbebend aufgesprungen: „Untersteh
dich nicht!" schrie er den Freund an.
Thomas verzog keine Miene. „Sie soll nach Hause
reisen. Sie begreift es doch nicht, daß der vergoldete
Wetterhahn der Kirche dasselbe ist wie der vergoldende
des Kindes, oder vielmehr sie will es nicht begreifen.
Unterdessen verlobt sich ihre Tochter und sie kümmert
sich nicht darum. Aber sieh dich vor, Agathe, auch ein
geistlicher Hahn springt unversehens in einen frischen
Korb."
Agathe sank in einen Stuhl: „Schändlich, schändlich,"
stammelte sie. Lachmann hatte Thomas am Kraben
gepackt und schüttelte ihn, als ob er mit des Vetters
Gesicht einen Nagel in eine Steinwand schlüge. „Sofort
widerrufst du," schrie er keuchend und dabei schien er
den Ofen für Agathe zu halten, wenigstens drängte er
blindlings den Missetäter nach der Ofenecke zu. Da
warf sich der geängstigte und halb erwürgte Thomas
mit der ganzen Schwere seines großen Körpers nach
hinten über, der kleine Lachmann brach unter der un-
erwarteten Last zusammen, und mit der Hand in die
Luft greifend, stürzte er nach hinten über, vergraben
unter der fleischigen Masse seines Vetters.
Agathe sprang hinzu. „August!" rief sie.
„Hirnmelkreuzdonnerwetter.' '
„Schock schwere Brett!" klang Lachmanns Stimme
halb erstickt unter ihm.
„Bomben und Granaten!" fiel Agathe in einem
Moment der Erleuchtung ein.
„Verfluchte Schweinerei!" vollendete Thomas lachend
und setzte sich aufrecht, während Lachmann vergeblich
- 179 —
13,
mit den Ellenbogen sich in die Höhe zu stemmen suchte.
„Setz dich auf meinen Schoß, Schwesterherz, dann sind
wir die heilige Anna Selbdritt."
Mit Agathes Hilfe hatte sich Lachmann in die Höhe
gekrabbelt und hielt prustend seinen runden Bauch.
„Du hast einen unerlaubt fetten Bauch, Thomas, du
mußt fasten,"
Weltlein saß noch immer still vergnügt auf dem
Boden: „Fett?" fragte er verwundert, „das hältst du
für Fett. Du hast doch vorhin bei den Weibern gehört,
daß ich schwanger bin, geistesschwanger."
„Ah," erwiderte Lachmann und hielt sich die Nase
zu, „dann ist es also eines von deinen Geisteskindern,
was jetzt in die Windeln gemacht hat."
„Natürlich, hast du nicht gehört, mit welchem Knall
es die Welt begrüßte? Übrigens merke es dir, du weiser
Doktor, niemals wird ein Mensch dick, es sei denn aus
Sehnsucht nadi Kindern,"
Agathe schüttelte sich vor Lachen, tat aber sittlidi
entrüstet; „Ferkel seid Ihr alle beide. Du Lachmann, na
ja, aber von dir Thomas hätte ich das nicht erwartet."
„Und ich hätte erwartet," entgegnete er und sprang
auf, „daß du endlich Alwines Brief liest."
„Mein Gott, den hatte ich ganz vergessen." Agathe
sprang auf und suchte ihre Tasclie, die wie gewöhnlich
verlegt war ■ — diesmal lag sie auf Lachmanns Stuhl ^
und während die beiden Männer sich gegenseitig ab-
stäubten, durchflog sie den Brief, ließ ihn sofort fallen,
raffte den Hut vom Tisch und stülpte ihn auf.
„Was ist denn los?" fragte Lachmann besorgt,
während Thomas den Brief aufhob und seinerseits las.
„Ich muß sofort nach Bauchungen", Sie band wirr
die Hutbänder durcheinander. „Alwine hat sidi verlobt."
— 180 —
„Was?"
„Ich habe es dir gleich gesagt," triumphierte Thomas,
,und weißt du, wo sie sich verlobt hat, Lachmann ?
In einer Kapelle, in der Mariahilfkapelle. Ist das nun
etwa nicht Ansteckung. Ein junges Mädchen, ein Geist-
l lieber, eine Kapelle, ist es denn denkbar, daß sie sich
' nicht verloben? Ja, beeile dich nur, sonst hilft Maria
i zu viel," rief er der davoneilenden Schwester nach. „So,
die sind wir los."
Lachmanii zog die Uhr, Icnipste aus alter Gewohn-
heit den Sekundenzeiger an und sagte: „Vor heute
Abend geht kein Zug, sie wird also in einer halben
Stunde wieder hier sein,"
„Da kennst du meine Schwester schledit; sie setzt
Mich in den Wartesaal und hütet ihre Hutschaclitel und
[regt sieb nicht vom Platz, bis der Zug abgeht. Sie hat
■ das Eisenbahnspielen zu lange entbehrt, als daß sie
nicht ein paar Stunden Unbequemlichkeit hinnähme um
I die Puff-puff zu sehen." Er stellte sich in die Mitte der
l Stube, nahm die Ellenbogen an die Seiten und fuhr als
Lokomotive seh, seh, keuchend, die Arme vorstoßend,
im Zimmer auf und^b.
Lachmann hielt noch immer die Uhr in der Hand
und drehte seinen dicken Kopf bald hach rechts, bald
nach hnks, dem großen Kinde mit den Augen folgend.
„Wenn du Bahnwärter spielen willst," rief ihm
Thomf.s im Laufen zu, „mußt du eine rote Fahne
haben,"
Lachmann griff mit der freien Hand in die Tasd.e
und schwenkte ein mächtiges Taschentuch in die Höhe.
„Nein, weiß gilt nicht."
„Ich habe kein rotes."
„Du kannst ja ein wenig aus der Nase bluten."
- 181 -
„Berlin, alles aussteigen!" rief Lachmann, steckte
Taschentuch und Uhr ein und erhob sich. „Das wäre übricrens
eine kapitale Idee, wenn wir beide nach Berlin gingen."
„Ja, ja," sagte Thomas, ,,aber sm^ mal, warum ist
Nasenbluten so unangenehm ?"
„Es tropft, es macht dreckig, es ist unbequem."
„Wie flach du bist," rief Thomas. „Nasenbluten geht
wider die Natur. Die Nase ist als hervorragendes Glied
exquisit männlich, das Bluten exquisit weiblich, das
Nasenbluten also hermaphroditische Unnatur. So, nun
können wir morgen nach BerUn fahren. Ich empfehle dir
aber, bis dahin Studien über die Lokomotive zu machen,
in der göttliche Geheimnisse verborgen sind. Mit Agathe
behalte ich, wie du siehst, recht, sie kommt nicht wieder."
„Als galanter Vetter werde ich auf den Bahnhof
gehen und sie atzen und tränken." Ladimann war vor
den Spiegel getreten, ordnete seine vom Sturz zerrüttete
Kleidung und ging mit den Worten: „Wir können uns
in einer Viertelstunde im ,LÖwen' treffen."
Thomas nickte nur. Er hatte die Visitenkarte vor
sich und kritzelte darauf herum.
Agathe saß wirklich im Wartesaal, auf dem Schoß
eine Handtasdie_ haltend, mit der rechten Hand den
Schirm, mit der linken die Hutschachtel schützend —
gegen Taschendiebe, sagte sie.
Als Lachmann später einmal seinem Vetter von dieser
Situation der Schwester erzählte, lachte er laut auf,
„Das hätte meiner Schwester gepaßt, einem Taschendieb
zu begegnen. Bahnhofshalle, Eisenbahn, Handgepäck,
Taschendieb, .die entschlossenste Witwe könnte solcher
Versuchung nicht widerstehen."
Weder im ,Löwen' noch sonstwo trafen die beiden
den Repräsentanten des neuen Zeitalters. Agathe reiste,
- 182 -
J
immer noch ^ trotz aller Diebe — im Besitze ihrer
Handtasche, des Schirmes und der Hutschachtel ab, ohne
den Bruder wiederg-esehen zu haben, und auch aus
Ladimanns Reise nach Berlin wurde nichts. Thomas war
verschwunden, nur die Visitenkarte hatte er zurück-
gelassen und darauf ein Gebilde gezeichnet, das er
später für ein durchgehendes Pferd erklärte, während
Lachmann behauptete, es sei ein Esel und eine freche
Anspielung auf ihn. Erst lange Wochen nachher wurde
Lachmann durch einen Brief veranlaßt, den verschollenen
Freund wieder aufzusuchen.
XXII. KAPITEL.
NICHT WAHR, ZWEI DAIVIEN?
UND DER SCHLAG AUFS PARADIESESÄPFLEIN.
Thomas war, sobald er annehmen konnte, daß
Agathe den Bahnhof geräumt hätte, dorthin geeilt und
hatte sidi, vereint mit dem seiner harrenden Keller-
Caprese, in dem Zug nach Berlin niedergelassen. Er
freute sich wie ein Schulknabe, seinen beiden Auf-
passern entronnen zu sein, und um dieser Freude Aus-
druck zu geben, setzte er sich dem Reisegefährten auf
den Schoß, was ihm eine Mahnung, sich anständig zu
betragen, von Seiten des streng königlich preußisch ge-
richteten Schaffners eintrug. Er wollte sich gerade mit
der Behauptung zur Wehr setzen, daß er ledighch
Mutter und Kind mit seinem Freunde spiele, was bei
dem riesigen 'Knebelbart Keller-Capreses, seinen haari-
gen Händen und der dicken Zigarre zwischen seinen
Zähnen schwer zu glauben war, als vom Gang her eine
Dame in das Coupe hineinäugte und mit den Worten;
- 183 -
I
„Nein, wie ich mich freue, lieber Meister, Sie hier
zu treffen," beide Hände zum Gruß vorgestreckt, auf
Kellef-Caprese zueilte.
Thomas sprang sofort auf, und während der Malei-
mit gut gespieltem Erstaunen der Dame die Hacid
küßte und ihr dabei zuflüsterte; „Ich fürchtete schon, Ihr
würdet nicht kommen" — half Weltlein einem jungen
Ding in etwas kurzen Kleidern mit einem kindlich rund-
backigen Engelsgesicht, das Handgepäck im Netz unter-
zubringen,
„Es ist reizend, Sie und Ihr Fräulein Tochter nach so
langer Zeit zu sehen, Frau von Lengsdorf. Hoffentlich
führt uns der gleiche Weg nach Berhn."
„Gewiß, gewiß." Die Dame lächelte den Sdiaffner,
als sie ihm das Billet zur Kontrolle zeigte, ebenso be-
zaubernd an wie den Künstler. „Ich will der Kleinen
ein wenig die Hauptstadt zeigen und sie in die Gesell-
schaft einführe^. Die Fürstin PIeß bat schon lange
darum, ihr das Kind einmal mitzubringen, und Prinz
Victor hat uns Karten zum Subskriptionsball besonnt.
Da soll sie dann Majestät vorgestellt werden. Nicht
wahr. Helene?"
Thomas, der gerade eine Ladung Schirme oben im
Netz unterzubringen suclite, guckte mit halb gewendetem
Kopf an seinen ausgestredilen Armen vorbei zu dem
jungen Mädchen hinab, pustete langsam durdi die zu-
gespitzten Lippen und sah in seinem erkünstelten
Respekt so drollig aus, daß das Fräulein erst heftig
errötete, ihn dann voll und offen anblickte und zu-
fraulicli zulächelte.
Frau von Lengsdorf, deren große Smaragdohrringe
bei jeder Bewegung die Menschen zur Bewunderung
der reizenden Ohrmuscheln aufzufordern schienen, warf
- - 184 -
einen fragenden Blick auf Keller-Caprese und streckte
dann nach glücklich verlaufener Vorstellung dem hilfs-
bereiten Weltlein ihre Hand entgej^en, als ob sie
einen vertrauten Freund nach langer Trennung wieder*
säl'.e.
„Ihr Freund Lachmann hat mir von Ihnen erzählt,
nicht wahr, Helene? Und in Bauchungen sind Sie zu
Hause. Solch ein wunderhübsch gelegenes Sädtchen,
nidit? Du besinnst dich doch, Kind, Bäuchlingcn mit
der schönen Aussicht oben auf dem Berg, wie heißt er
dodi, nun, du weißt es doch, nicht, Liebling? Burg — "
„Ah, Sie meinen die Liigenburg, nicht?" half Thomas
aus und begleitete diese Erfindung seiner Phantasie mit
einem zufriedenen Lachen, das ihm den Baucli er-
schütterte.
„Richtig, richtig," mischte sich jetzt Helene in das
Gespräch. „Ich besinne mich jetzt ganz gut. Wir waren
mit dem Grafen Andor oben, ich sehe ihn noch, wie
er auf die Mauerbriistung kletterte, um dort ein Glocken-
bliimchen zu pflücken." Sie sah mit den Unschulds-
augen traumverloren in die Vergangenheit. „Ich hatte
schreckliche Angst, er könnte fallen, und der Abgrund
war
„Ach ja, der gute Andor," sagte Frau von Lengsdorf,
„er hätte gewiß sein Leben hingegeben, wenn er dir
damit hätte Freude machen können, nicht?", und dabei
strich sie ihrem Töclitcrdien über die Wange und ließ
ein kostbares Armband im Lichte spielen. „Sie sollten
auch einmal nach Bauchungen kommen, lieber Meister,"
wandte sie sich an Keller-Caprese.
„Das ist eine köstliche Idee,'' jubelte das Fräulein,
„wir wollen uns alle dort treffen und auf der Lügen-
burg Kaffee trinken."
- 185 —
Frau von Lengsdorf war im Begriff, ihren Schleier
hochzuheben, hinter- dem sie ein paar Falten verbarg-,
mitten in der Bewegung stutzte sie.
Thomas nickte ihr freundlich zu und sagte: „Ich
muß Ihnen mein Kompliment machen, gnädige Frau,
das heißt, eigentlich muß ich Ihnen eine ganze Menge
machen. Sie besitzen ja alles, was man an Vollkommen-
heit am Weibe wünschen kann, niciit? Schönheit, Grazie,
Liebenswürdigkeit, und Ihr Fräulein Tochter auch, nicht
wahr? Aber vor allem, Sie haben ihr Kind gut erzogen,
Haben ihr das mitgegeben, was Sie selbst in so hohem
Grade besitzen und was sitdi nun bei der Tochter zur
Vollkommenheit entwickelt hat, nicht wahr, Keller-
Caprese?"
Dem Maler war ungemütlich zu Mute, er nickte nur,
während Frau von Lengsdorf sidi verbindlich ihrem
Gegenüber zuneigte und ihre schönen Zähne zeigend,
sagte; „Ja, ich habe mir Mühe gegeben mit dem Kinde,
aber ich weiß nicht, was bei mir so hervorragend und
bei meiner Tochter zur Vollkommenheit entwickelt ist."
„Die Wahrheitsliebe, gnädige Frau,"
Frau von Lengsdorf streckte ihm die Hand ent-
gegen — ,, Welch ein schönes Wort." Helene errötete
kindlich unschuldig und Keller-Caprese hätte beinah die
Zigarre verschluckt, so tief steckte er sie in den Mund,
um nicht laut zu lachen.
Thomas hielt die Hand der Dame, holte sich un-
befangen die Helenens dazu und sagte: ,, Sehen Sie,
wenn andere Leute lügen, dann suchen sie das zu
verbergen, aber Sie, gnädige Frau, setzen, wenn
Sie lügen, Ihren Worten ein ,, nicht" oder „nicht
wahr" hinzu, das ist der Gipfel der Ehrlidikeit, nicht
wahr?"
— 186 -
Frau von Leiig-sdorf wurde zum ersten Mal in ihrem
Leben verlegen und versuchte, ihre Hand zurück zu
ziehen.
Thomas aber fuhr unbeirrt fort. „Der Gipfel? Den
hat Fräulein Helene erklommen. Wenn sie etwas sagt,
sei es, was es sei, selbst wenn sie das nicht wahr hin-
zufügt, glaubt man ihr. Solch kindlich reine Züge können
nicht lügen; aber sie errötet und sie zwinkert mit den
Augen, und man weiß dann, daß sie immer lügt."
„Mein Herr, diese Beleidigung ■ — ", Frau von Lengs-
dorf war im Begriff, den ganzen Plan, den sie mit
Keller-Caprese ausgeheckt hatte, über den Haufen zu
werfen, so wenig fühlte sie sich der Situation ge-
wachsen, aber Thomas kam ihr zu Hilfe,
„Verzeihung, ich wollte Sie nicht kränken, im Gegen-
teil, ich bewundere Sie. Ich halte das Lügen nicht für
ein Laster, sondern für einen Grundpfeiler alles Schönen,
Edlen und Herrhclien. Den Menschen lügen zu lehren,
sollte das Ziel aller Erziehung sein. Es wäre viel ver-
nünftiger, ein Kind zu strafen, wenn es einmal zufällig
die Wahrheit sagt, als es für das Lögen zu sdilagen.
Dem Kinde würde dann der schreckliche, in seinen
Folgen geradezu verheerend wirkende Konflikt erspart,
der daraus entsteht, daß die Eltern immer lügen dürfen
und immer lügen, während das Kind die Wahrheit sagen
soll. Nehmen Sie die Lüge aus der Welt und es bleibt
nichts übrig. Der Staat, der Handel, die Wissenschaft,
die Religion — was ist es anderes als Lüge? Und nun
gar die Kunst. Keller-Caprese wird es mir bezeugen,
er erzählt der Welt, daß er malt, aber er weiß, daß er
lügt."
Helene wollte sich ausschütten vor Lachen über die
Gesichter der beiden andern Zuhörer. Sie hatte den
- 187 -
Hut abgenommen und spielte damit, bis er vom Schoß
rutschte und über den Boden rollte. Als sie aufsprang
und sich bückte, stieg- in Thomas, bei so gefährhcher
Nähe beider Weltenhalbkugeln, eine tolle Idee auf.
„Warte du", rief er und klapste ihr munter eines
hinten drauf.
Frau von Lengsdorf fuhr vom Sitz auf. „Was er-
lauben Sie sicli," keifte sie Weltlein am Aber schon
hatte der Maler, halb erstickt vor Lachen über das
dämliche Gesidit des Mädchens, das vor Überraschung
kein Wort hervorbringen konnte, sie am Arm gepackt.
„Nimm dich doch in acht," rief er ihr ungeniert zu,
„du verdirbst ja alles,"
Thomas hatte die Hand auf den Kopf der vor ihm
stehenden Helene gelegt. „Ich sehe doch, daß sie es
gewöhnt ist, wenn auch vielleicht von früheren Jahren
her," sagte er, „so wie sie legt nur jemand, der es
gelernt hat, die Hand auf die bedrohte Festung, und
audi Sic, Gnädigste, begleiten zu oft Ihre Worte mit
Armbewegungen, die beweisen, wie gern und oft Ihre
Hand ausrutschte, wie es die meine tat. Es wäre übrigens
eine Beleidigung gewesen, wenn ich dieser appetitlichen
Herausforderung beider Hemisphären nicht gefolgt wäre."
Er zog das Mädchen an sich heran, was sie benutzte,
um sich dicht an ihn zu drängen und mit der Enirels-
miene des Töchterchens ihre linke Brust in seine Hand
zu schmiegen. Dabei zwinkerte sie dem Maler zu, der
befriedigt erst die rechte, dann die linke Hälfte seines
Schnurrbarts strich,' die Zigarre in den Mund und beide
Hände in die Hosentaschen steckte, sich zurücklehnte
und vergnügt paffte.
„Sehen Sie, Lügenmaler, wie sie jetzt zwinkert. Sie
brauchen es nicht zu glauben, wenn sie sich an mich
— 188 -
drückt, aber die Berührung der Halbkugei, sei sie vorn
oder hinten, hat sie doch gem."
Helene stieß seine Hand fort und setzte sich nieder.
Thomas fuhr unbeirrt fort. „Das ist die unsterbliche
Evanatur, Mit solchem Apfel verführte schon die
Menschenmutter den Adam. Hoffen wir, daß ihre Brust
so schön und prall war wie die dieses Kindes, für das
i<^ gewiß kein ricliliger Adam bin. Mit meiner 45jährigen
Schlange darf idi das Paradicsesgärtlein nicht einmal
betreten. Und beachten Sie doch," er wurde immer
eifriger, „und Sic, glücldiche Mutter, die Sie dieses
Wunder der Welt neun Monate lang trugen, welch ein
schönes Beispiel innerer Ansteckung sie ist. Die Ohren
sind unter der Frisur versteckt und sagen den wahren
Spruch: Wer nicht hören kann, muß fühlen. Und um
deutlich zu machen, wo das ersehnte Gefühl sitzt, ist
das Haar scharf in der Mitte gescheitelt, ich sehe" —
er fuhr den Scheitel mit dem Finger entlang — „die
liebliche Kerbe im Geist und fühle den Fiaum des rund-
lichen Pfirsichs."
„Unverschämter," brauste Frau von Lengsdorf auf
und wollte seine Hand fortreißen. Aber Thomas holte
aus seiner Hosentasche eine Hand voll Goldstücke,
steckte sie wieder ein und sah die Mutter mit einem
grausamen Blick an, so daß sich Helene wie in Erwartung
einer Züchtigung duckte.
■„Umsonst ist der Tod, Gnädigste, und ich habe
Narrenfreiheit,"
Sie biß sich auf die Lippen, kniff sich in Keller-
Capreses Arm ein und schwieg.
„Die Mutter dieses wundervollen Kindes ist schon
der Anbetung würdig, die reife Schönheit strotzt uns
entgegen, aber welcher Unterschied der Charaktere,
- 189 —
welche Weiterbildung, wie in der inneren Wahrhaftigkeit,
so in der äußeren Form. Dort eine Brosche mit leuchten-
den Steinen, die den BHck zur Doppelquelle der Lust
und Mütterlichkeit lenkt; hier keine Spur von Schmuck,
dafür aber — sehen Sie nur das Kinn, wie lieblich es
gespalten ist, ein kleiner lieber Popo, einladend zum
Tätschein. Glauben Sie mir, die Seele bildet den Körper
und alle die, die diese Kinnbildung haben, lieben das
Schlagen. Wollen wir Schule spielen, Helenchen? Un-
artiges Kind spielen? In Wahrheit wieder einmal, wie
wir es taten, als wir klein waren? Überlege es dir, wie
nett es war, vom Spielgenossen übergelegt zu werden."
Das Mädchen sah starr vor sich hin, sie hatte das
Kinn in die Hand gestützt, so daß der kleine Finger
an den Lippen war, und mit der anderen Hand Öffnete
und schloß sie abwechselnd die Druckknöpfe ihrer Hand-
schuhe, die vor ihr auf dem Schöße lagen, während
Keller-Caprese den Knebel seiner Uhrkette im Knopf-
loch hin und her zog und Frau von Lengsdorf nervös
mit dem Sonnenschirm gegen ihre Sticfelspitze klopfte.
Thomas hatte die Arme Über der Brust gekreuzt und
sah scharf von einem zum andern.
„Ansteckung," sagte er piötzhch, „Sie wissen nicht,
was Sie tun."
In diesem Augenblick eilte der Pikkolo des Speise-
wagens vorbei, rief sein gewohntes: „Das Diner ist
serviert" und stierte dabei gierig nach der üppigen
Brosche der üppigen Frau.
„Den unmündigen Adam lockt, was reichlich rund
ist. Die Säuglingsjahrc liegen ihm näher als mir. Man
sagt, ich sei lange mit der Flasche genährt worden; so
etwas bleibt, nur wandelt sich mir Milch in Wein. Silber
in Gold. Weiser Niedlich," rief er in Erinnerung vei-
— 190 -
1
n
T
EUiiken, „wie gut, daß ich dich auf dem Weg der
Sehir.erzen traf und von dir lernte, wie tief der Sinn
des Geldes ist. Vermögen, Geld und Jugend" — er sah
ernsthaft der Frau von Lengsdorf in das böse läcliclnde
Gesicht, „sind selten gepaart, und hat das Mädchen die
leere Tasche, ist's gut, den Mann zu finden, der sie mit
seinem Vermögen füllen kann. Nur hurtig muß man sein,
Gnädigste, die Beine auseinander reißen, um vorwärts in
kommen. Auf die langen Beine kommt es an. Und" — er
steckte wieder die Hände in die Hosentaschen und klim-
perte mit dem Gelde — „Helenchen weiß darauf zu laufen,
in ihrer Unschuld geschickter als die Laufischsten. Die
schlagen, wenn sie zeigen wollen, die Beine übereinander
und wippen mit dem Fuß das Kleid ein wenig hoch,
dies Kind," er legte wieder die Hand auf Helenens
Kopf, die voll Wut danach mit den Zähnen schnappte,
„wird vom inneren Gott geleitet. Wenn es sich hinsetzt,
v/ir sehen es alle, streicht es die Röcke mit der Hand
nach unten, das ist sehn sucht weckend und verheißend,
ist das Verlangen nach der Gegenbewegung. Tief ist
das Leben, glaubt es nur. Zuerst das Stehen," er streckte
den Zeigefinger aus, um ihn langsam zu krümmen, „dann
das Zusammensinken beim Hinsetzen und danach ist's
wohl richtig, das Kleid zu ordnen. Auf Wiedersehen,
meine Damen, in Berlin, ich gehe speisen."
Er trat auf den Korridor hinaus und schritt in der
Riclitung des Speisewagens vorwärts. Als er die Gang-
tür zum nächsten Halbwagen öffnete, stolperte er und
fiel nach vorn. Nach einem Halt suchend, faßte er eine
Coupetür, sie gab nach, schloß sich rollend und klemmte
ihm, während er auf das eine Knie sank, empfindhdi die
rechte Hand. Unwillkürlich steckte er die schmerzenden
Finger in den Mund, dann aber streckte er anbetend die
- 191 '
Arme empor und rief laut und deutlich die Worte-
.,HeiI dir, göttlicher Lenker, du läßt mich fallen, aber
im Fall schaue icli Abgründe tiefsten Geheimnisses"
Nachdenklieh betrat er den Spdsewagen, blickte sicli
einen Augenblick um und setzte sich dann an einen
Tisch, an dem schon zwei Herren Platz genommen hatten.
Während dessen hatten die beiden Damen eine heftige
Auseinandersetzung mit dem Maler, bei der eine die
andere im Schimpfen aiif Thomas und Keller-Caprese
überbot. Dabei stand dem jungen Mädchen die <rrößere
Fülle und Deutlichkeit der Kraft ausdrücke zu'Cebot
und, wenn sich die Mutter in Schaf, Esel, Ochse erschöpft
hatte, fing die Tochfer damit an, dem Malerfreund einen
Wasserkopf anzudichten und schloß damit, ihn einen
Scheißkerl zu nennen. Und wenn die Mutler von Thomas
als einem Schmutzfink sprach, brauchte Helenchen den
Ausdruck: dickes Schweiii und wollte sich ausschütten
vor Lachen über die vergeblichen Anstrengungen, mit
denen Keller-Caprese ihren lauten Redeschwall einzu-
dämmen versuchte. „Warum hast du uns mit diesem
Kerl zusammengebracht?" fragte Mutter Lengsdorf
.-^cbLeßlich und die Tochter pflichtete ihr bei: „Mit diesem
Biest, diesem Aas, diesem — " Hier unterbrach das
Vorübergehen des Schaffners ihre Blutenlese von Schimpf-
worten und der Maler benützte die Pause, um zu rufen:
„Aber Kinder, er ist doch ein Narr und hat Geld, und
er wird es eucli lassen, wenn ihr schlau seid. Auf Wieder-
sehen in Berlin, sagte er. Wartet bis dahin mit Schimpfen.«
Helene sprang ihm auf den Schoß, zupfte ihn am
Schnurrbart und wiederholte: „Geld hat er, reichlich
vie] Geld, wird er mich ins Theater führen und mir ein
Auto halten, ein richtiges niedliches Auto, mit frischen
Blumen drin alle Tage?"
- 192 -
J
Keller-Caprese bejahte es mit tausend Schwüren, und
das Ende war, daß alle drei einen neuen Kriegsplan
ausdachten, um den reichen Esel zu schröpfen.
XXlir. KAPITEL.
VON DER INNEREN ANSTECKUNG, DEM ARTIKEL,
HELD ONAN UND DER ENTRÜSTUNG DES LESERS.
Thomas hatte gerade die Suppe gegessen und war
dabei, ein Glas Rotwein zu trinken, als die drei ein-
traten. „Da hinten ist noch ein Tisdichen für die
Damen," rief er, „Kellner, zeigen Sie den Damen den
leeren Tisch, und Sie, Keiler-Caprese, kommen hierher.
Ich habe Ihnen zu erzählen." Und dem Maler ein Glas
Wein einschenkend, begann er: „Sie haben es nidit
glauben wollen, daß ich besonders vom Schicksal ge-
leitet werde, daß ich berufen bin und daß hcimhche
Kräfte über mir walten. Aber hier haben Sie den
handgreiflichen Beweis." Er streckte dem Maler seine
geschundene rechte Hand hin. „Alles, was ich sage
und tue, geschieht ohne meine Absicht; ich werde im
wahrsten Sinne des Wortes gelebt, ja, mir ist zweifel-
haft, ob ich von einem Ich bei mir überhaupt reden
darf."
Der eine der Fremden am Tische, der Thomas schräg
gegenüber saß, ein älterer Herr mit einer Brille, dünnen,
glattrasierten Lippen und grauem, kurzem Backenbart,
wurde auf das Gespräch aufmerksam, fing an zögernd
und dann endlich hastig zu essen und schien nicht übel
Lust zu haben, an der Unterhaltung teilzunehmen.
„Die Betonung des Ichs ist etwas, was überwunden
werden muß," sagte Keller-Caprese und wählte sorg-
fähig unter den Fischstücken aus, auf daß ihm nicht
— 193 —
13
das beste entginge, „egoistische Naturen sind mir
ekelhaft."
Thomas nahm wie gewöhnlich keine Notiz von dem,
was sein Gegenüber sagte. „Als vorhin das Blendwerk
der Hölle in Gestalt der beiden Dfimen in das Coupe
trat und ich von dem Mutterschoß der Kunst aufsprang,
klirrte das Geld in meiner Tasche, es warnte mich und
jedesmal, wenn es gefährlich wurde, beim Evasapfel und
dem Paradies des Mädchens, regte sichs in der Gegend
meiner Hosentasche und klopfte gegen das Gold; sei
sparsam mit deinem Vermögen. Und vorhin ging ich
von euch mit dem Vorsatz, in Berlin die Bekanntschaft
wieder anzuknüpfen. Aber das Endaimonion hat mich
gerettet. Gerade als ich mir vorstellte, wie ich die
jungfräuliche Türe sprengen werde und. um es mir
deutlidi zu vergegenwärtigen, die Gangtüre öffnete und
nun den engen Korridor, der zum Speisewagen, als dem
Bauch des Zuges führt, vor mir sah, strauchelte idi und
fi«l, so symbolisch den Sündenfall vorwegnehmend, der
ja für mich nicht mehr in Frage kommt. Und meine
Hand, die schon deutlich im Geist die prallen Äpfel
der sündigen Freude griff, wurde gequetscht. Oh, ihr
Ärzte, Forscher und Weisen,." fuhr er in Ekstase fort,
„seht ihr es denn nicht, daß der Geist sich die Form
schafft, daß der iimere Gott Hcphästos lahm werden
ließ, um ihn der Aphrodite widerlich zu machen und
ihn so der Schmiedekunst zu erhalten; daß Beethoven
taub war, damit er nichts horte als den singenden
Dämon im Innern; daß Homer blind war, weil er nichts
sehen sollte, was außer ihm vorging?"
Der graubärtige Herr rutschte schon eine Weile auf
seinem Stuhl hin und her, jetzt rückte er die BriHe
zurecht und unterbrach Thomas. „Was Sie da sagen, ist
- 194 -
[absolut nicht neu. Sie.haben es buddhistischen Schriften
entnommen und es ist in der Wissenschaft üblich, die
Quellen aiizug^cben, aus denen man schöpft. Wer das
nicht tut, begeht ein Plj^iat, verstehen Sie, ein Plagiat.
Sie sind ein Plagiator." Er stieß die Worte mit solcher
Wut hervor, daß es aussah, ais ob er einen scliweren
Verbrecher vor sich hätte und im Begriff wäre, ihn zu
überführen.
„Wissenschaft, Wissen und Schaft," nahm Thoraas
in seiner Weise die Entgegnung auf. „Dieser Scliaft
da," er klopfte sich gegen die Nase, „ist ein ausge-
zeichneter Beweis dafür, daß der innere Mensch den
äußeren schafft, und wer von diesem Schaffen weiß,
gehört gewiß zur Zunft der Wissenschaft, selbst wenn
er ein Plagiator ist. Sehen Sie, der gebildete Sterbliche
nennt so ein Ding Nase, noch dazu die Nase, während
der Franzose wenigstens Ic luz sagt, mit Recht, denn
solch ein Schaft ist männlich, absolut männlich. Das
Weib entbehrt des ragenden Gliedes. Diese phallisdic
Natur der Nase nun bedingt es, daß in ihrer Form sich
die Triebe und innersten Seelenregungen des Menschen
keiHithch machen. Die lange Nase verkündet die starke,
erwachsene Seele, wahrend die Stumpfnasigen auf dem
Alter von 15 bis 17 Jahren stehen bleiben, an den
Lüsten der Übergangszeit Gefallen finden und selbst
die Liebe spielerig betreiben. Die Kartoffelnase ist eine
Flucht ins Weibliche aus innerer Angst vor der eigenen
Kraft. Und nun bei mir. Mein Naser — es widerstrebt
mir, die weibliche Form zu brauchen — ist rot, steht
also unter dem Zeichen der Liebe, aber damit icff nicht
zu oft zum Herkules der Omphale werde, erheben sieb
ringsum gelbe Picltel, bestimmt, die Weiber fort zu
scheuchen. Denn letzten Endes brauche ich das Weib
- 195 -
13-
nicht, bin selbst Weib genug," — er schlug sich stolz
auf den Bauch — „bin schwanger und üb ersdi wanger.
Aber die Versuchung ist groß und — mögen Sie es
glauben oder nicht — jedesmal wenn ich der Eva be-
gegne, sprießt meinem Adam am Naser ein neuer Picke!.
Ich möchte doch wissen — " er holte einen Taschen-
spiegel hervor und betrachtete sieh — . „Wahrhaftig,
Helenchen hat mir einen neuen verschafft. So soll er
denn auch spritzen, auf daß der Zauber gelöst, die Er-
regung abreagiert wird." Er druckte den Pickel auf.
„Diese Verschiedenheiten beim Gebrauch des Artikels
in den verschiedenen Sprachen," schob der Herr mit
der Brille ein und schaute dabei sein Weinglas an, in
dem das Licht spielte, als ob dort irgend eine Lösung
seiner Frage zu finden wäre, „haben mir schon viel Kopf-
zerbrechen gemacht. Wir sagen die Sonne, aber der Griedie
brauchte das Wort Helios und der Lateiner s/?/ — "
„/.£ soleil", ergänzte in diesem Augenblick der vierte
bisher eifrig essende Tischgenosse.
Der Graubart nickte gnädig. „Ganz richtig, ie soleil,
sehr gut und // sols, wenn man es weiter führen will.
Um aber zum Schluß zu kommen, vermutlich stellten
sich die Alten, oder um mich präziser auszudrücken, die
heißer temperierten Völker, den Sonnenbali als männ-
hclie Gottheit vor, weil sie mehr die vernichtenden
Kräfte der ausdorrenden Hitze sahen; die Pestpfeile
des Apollo, der ja vielfach mit Hehos zusammenfällt,
könnten die Strahlen sein — "
„tjCohoho", lachte Thomas dumpf, „Strahlen, da haben
Sie es doch. Seit wann kann denn das Weib einen Strahl
hervorbringen, es spritzt bei ihr nach allen Seiten."
„Hohoho," erklang es im Chor; Keller-Caprese hieb
sich mit der flachen Hand auf das Knie und rief wie-
- 196 -
hernd; „Ja, und die Griechen waren Seefahrer, SchiHer
und hatten als solche Interesse für salzige Flüssigkeiten,
für -"
„Schiffen," schnitt ihm Thomas das Wort ab.
Der Herr mit der Brille schob die Unterlippe miß-
billigend vor. „Wie dem auch sei, ich wollte nur dar-
auf aufmerksam machen, daß es Sprachen gibt, die die
Kraft der Helden im Bilde der Sonne verehren, vielleicht
ließe sich auch sagen, das Zeugende, während wir mehr
das Fruchtbare, das Mütterliche in ihr sehen, und — "
er lächelte äußerst wohlwollend, „man geht wohl nicht
zu weit anzunehmen, daß wir Deutsche mit unserm un-
sehgen Nebclklima, unter dem der große Goethe so
litt, auch die Launen des Weibes durch den femininen
Artikel der Sonne andeuten wollen. Aber was sich auch
immer darüber sagen läßt, für andere Gegenstände trifft
es nicht zu. Was soll man beispielsweise dazu sagen,
daß wir von dem Baum sprechen, aber dann wieder
sagen die Birke."
Thomas erhob sich halb vom Sitz: „Buddha" rief
er, „das Wirken des inneren Zwangs. Sie sind Lehrer
und diese Beschäftigung mit dem erzieherischen, strafen-
den, schlagenden Beruf zwang Sie, das Beispie! der
Birke au wählen, oder besser, weil Sie die Rute lieben,
wurden Sie Lehrer."
Der Herr hatte sich zurückgelehnt und lächelte so,
als ob er eben in einen unreifen Apfel gebissen hätte.
Als er gar sah, wie Keller-Caprese ihm einen Pfirsich
so entgegenhielt, daß aus der Hand die roten Bäckcheii
ccteilt vom Einschnitt hervorleuchteten, schlug er da-
nach, faßte sich jedoeh und erhob sich.
Thomas drückte ihn wieder auf den Stuhl. „Nein,
nein, Herr Professor,'' bat er, „Ihre Mitteilungen sind
- 197 —
zu interessant, Sie sind gewissermaßen Sachverständiger,
lasst^n Sie uns doch plaudern und achten Sie nicht auf
die dummen Streiche dieses albernen Jüngling-s. Wir
sind beide noch nicht mit unserem Er^uß fertig und
solches Unterbrechen ist schädHch. Ich habe nur in diese
Dinge ein wenig die Nase hinein — und es heißt doch
der Naser, es muß der Naser heißen. Hineinslecken,
das ist doch männlich, und einen langen Naser machen,'
dem Weib gelingt solch Langwerden nicht."
Wieder mischte sich der Vierte ein, während er, hin-
gerissen vom Vergnügen, ohne hinzusehen aus seiner
Zigarrentasche eine Zigarre herauszuholen suchte. „Eine
lange Nase drehen, nein, das kann das Weib nidit,
wenigstens nicht bei sich, um so öfter bei uns." Er
hatte endlich die Zigarre vorgeholt und schnitt die Spitze
ab. Thomas sah gespannt zu, dann wandte er sich ab
mit dem einen Wort: „Kastration."
„Wir haben," begann der Professor von neuem
„mannigfache Zeichen des weiblich abgestimmten Tones
unserer Sprache. So ist es auffallend, daß für den La-
teiner Mensch und Mann dasselbe ist, komo, fhomme
bei den Franzosen, das Weib ist für sie kein voller
Mensch."
„Abdesnitten," fie! Caprese ein.
„Nein, immer so dewesen," warf der Vierte ein.
Der Professor ließ sich nicht beirren, „ihnen ist die
Frau eine Sache, Ma chose, sagt der Franzose vom Weibe."
„Das Mensch," fügte Keller- Caprese wieder ein, er
sah dabei auf die vorübergehende Frau von Lengsdorf,
die ihm einen vernichtenden Blick zuwarf, während
Thomas im stillen wieder den Zwang feststellte, der
den Maler gerade in diesem AugenbHck zu seinem
Ausdrud; nötigte.
— 158 —
„Weiblich?" ergriff Thomas das' Wort. „Kennen Sie
irsend ein Volk, wo der dicke Baudi so Männermode
ist, wie bei den Deutschen? Ist es da nicht selbst-
verständlich, daß wir eine Muttersprache haben, wenn
selbst die Männer guter Hoffnung sind? Und diese
Muttersprache ist die schlaucste, die es gibt. Doppel-
zünoi?. versteckt wie jede Frau. Der ehrUche Franzose,
der wahrheitsliebende Engländer haben keine Möglidi-
keit zu lügen, wie wir. Gleich im Beginn- des Satzes
müssen sie die Entscheidung über ja und nein geben,
,u- /fiJ- und uoi, sie lassen sich nicht wie bei uns an
das Ende einer langen Periode stellen. Wir können uns
überlegen, ob wir positiv oder negativ enden wollen,
ja wir können eine Mitteilung mit der Absicht beginnen,
ja za sagen, und wenn es uns dann anders paßt, ist es
uns möglich, ohne den Schein des Betruges zu ver-
neinen. Wir sind reich gegen die anderen Völker, denn
die Fähigkeit zur Lüge, zur wohlüberlegten, sinnvollen
zweckmäßigen Lüge, ist die Grundlage der Ehrlichkeit;
Relativität, meine Herren, nicht absolut sein, darauf
kommt es an. Im Sommer ist es kühl bei 15 Grad
Reaumur, im Winter nennen wir es warm. Und so ist
CS in allen Dingen. Wenn ich den Bart des Herrn
Professors ansehe, ist er ein älterer Mann, wenn ich
aber sehe, wie er eben Brotkugeln formt, ist er ein
Kind."
Der Professor war zusammengefahren und hatte
eiligst die Brotkügelclien mit der hohlen Hand bedeckt.
„In gewissem Sinne bleiben wir ja wohl immer Kinder,"
sagte er, ,,aber Sie dürfen doch nicht so weit gehen,
das schhmmste Laster, das es gibt, die Lüge, mit der
Relativität aller Dinge zu verwechseln. Die Wahrheit ist
relativ, zugegeben, aber Sie dürfen doch nicht — "
- 199 -
Thomas wurde plötzlich braunrot vor Wut. , Ich darf
mcht? Ich darf nidit? Gewiß darf ich. Und was wolle,
S.e überhaupt mit ihren Lastern. Nächstens bringen Sie
auch noch das geheime Laster zur Sprache und reden
davon ebenso unbedacht wie vom Lügen."
„Sie sind reichlich grob, Herr — "
„Weltlein, Thomas Weltlein. Ich bitte um Verzeihung
i.nd bleiben Sie doch sitzen. Icl, habe solch Vergnü^eli
an Ihrer Unterhaltung, Aber sehen Sie, mit der lLc
habe ich dod, redit. Alles, die ganze Kultur ruht .uf
mr ja ohne sie wäre die Menschheit gar nicht denkbar.
INehraen Sie nur eine so wichtige Sache wie den Stuhl-
gang ^ wir sind ja bei Tische und zu einer ordentlichen
Mahheit gehört das Gespräch über diese unentbehr-
l'diste Gewohnheit, sich zu entleeren. Schon Luther stellt
im Katechismus Nahrung und Notdurft zusammen, es ist
eben eine Notwendigkeit, das Gefäß leer zu machen
wenn es wieder gefüll! werden soll, und infolge der
geistigen Ansteckung muß beim Füllen an die Entleerunir
zum mindesten gedadit werden."
In diesem Moment erhob sich Keller-Caprese. der
schon eine ganze Weile wippend auf dem Stuhl ce-
sessen hatte. "
„Excmplum docet," lachte der Professor, „gehen
^le nur," fugte er aus alter Gewohnheit hinzu, als ob
er von irgend einem bedrängten Schüler um Erlaubnis
zum Austreten gebeten worden wäre.
„Also," nahm Thomas wieder das Wort, „was würde
wohl aus der Welt geworden sein, wenn die Mütter
den Kmdern nicht beibrächten, das Aa sei dredcig,
Stanke, sei ekelhaft. Das ist dodi eine grobe Lüge.
Denn in Wahrheit finden wir unseren eigenen Dreck
nicht drcdcig, können es gar nicht, da wir ihn in unserem
— 200 —
Bauch herumtragen, da wir die verwandelten Kuhfladen
als Brot essen, — wenn Sie noch einmal Brotkügelchen
formen, kriegen Sie was auf die Finger — er stinkt
uns auch nicht, oder kriechen Sie etwa nicht unter die
Bettdecke, um recht intensiv im Geist zu genießen, was
aus Ihnen herausblies; er ist uns auch nicht ekelhaft,
denn ein jeder besieht es und freut sich an seiner rund-
lichen Wurst. Aber — "
„Was würde aus der Welt werden, wenn den Kindern
nicht abgewohnt würde, sich in die Hosen zu machen,"
grinste der schweigsame Vierte, der bisher mit dicken
Lippen an seiner Zigarre gesogen hatte,
„Oder wenn ihnen das Abwischen nicht angewöhnt
würde," fügte Thomas hinzu, und warf einen fragenden
Blick auf den zurückkehrenden Keller-Caprese, „oder
wenn die Erwaclisenen gar noch wie die kleinen Kinder
ihre Liebe durch Besdicißen der gehebten Persönlidikeit
kundgäben? Nein, nein, die Lüge ist edel, ist erhaben,
eine sittliche Forderung. Übrigens bescheißcn, gäbe es
denn Handel und Wandel, wenn diese überaus sitthche
Gewohnheit nicht durch den Kaufmann lebendig erhalten
würde? Unser freundhch schweigsamer Tischgenosse wird
uns da Auskunft geben können. Sie sind docli Kauf-
mann, oder irre ich mich?"
Der also Angeredete nickte. „Reisender der Firma
Löwe und Sohn, Weinhandlurg en gros und en detail."
„Dachte ich 's doch. Wozu hatten Sie sonst so lange
die Weinkarte studiert und dann den Kellner nach
Weinen aus Ihrer Firma gefragt? Außerdem — " Thomas
klopfte wieder an seine Nase ,.~ übrigens stehen Sic
noch nicht auf der Höhe. Sie genierten sich, als ich
vorhin vom roten Naser sprach. Der ihre hat noch dazu
einen Stich ins Blaue, die Sehnsucht nadi dem Himmel
— 201 ~
spricht sich darin aus. der Zug ins Hohe, Überirdische
Und wo wäre das zu finden, wenn nicht im Wein "
_ Uomas wendete sich dem Zahlkellner zu und bedich
seine beiden Rechnung-en.
,,Der Wein an sich," sagte der Reisende und kratzfe
nachdenkhch an seiner Glatze, „wäre schon .ut. WoW-
gemerkt, wenn er gut is!. Aber das Proben und Durch-
emandertrinken mit den Kunden, dazu gehört ein Pferde-
magen."
„Und Sie müssen nocli dazu Ihre eigenen Fabrikate
vertilgen," spottete Keller-Caprese.
„Bitte sehr, die Firma Löwe und Sohn — "
„Verwandelt nie Wasser in Wein," fiel Thomas ein
,,Aber nehmen wir ao, daß wirklicli aus dem Keller
des Löwen nie mehr hervorgeholt wird, als eingefahren
wurde deshalb bleibt doch Wein ein heiliger Saft, schon
cie ß.bel lehrt es. Nur die Sünder trinken sich selber
^um Verderben. Wein und Religion gehören zusammen,
bei uns wie bei den dionysisdien Kulten der Griechen
^o d.ent denn Löwe und auch sein Sohn der ewigen
Kirche en gros und en detail; selbst wenn der Wein
am Altare kein Lacrimae Christi und keine Milch unserer
heben Frau ist."
„Sie arbeiten in Blasphemieen, Herr Weltlein " rief
Keller^Caprese und bekreuzte sich als guter Katholik
„Das s,nd schon Todsünden, Sünden wider den heilisen
Geist." *
„Nicht ich gab den Weinen Namen," erwiderte
Thomas lächelnd, „und nicht ich habe das Abendirahl
eingesetzt,"
Der Professor, als kühner Atheist und .Trnsair de
l'mfame mtpersHtion. schmunzelte, während dem Reisenden
vor Schrecken die Zigarre ausgegangen war. Er sah sehr
~ 202 —
nachdenklich aus, während er das Streichholz anzündett?
und, ohne die Zigarre in Brand zu stecken, fragte er:
„Was ist eigentheh die Sünde wider den heiligen
Geist?"
„Ananias." rief Thomas ganz laut und lachte, als der
Frager zusammenzuckte und sein brennendes Streichholz
fallen ließ. Am ganzen Tisch herrschte verlegenes
Schweigen. Der Reisende hatte ein neues Hölzchen
vorgeholt, vergaß aber, es anzuzünden. Eine ganze Weile
starrte er Thomas an, dann schlug er die Augen nieder,
steinte die Zigarre in den Mund, hielt das tote Streich-
holz daran und sog, als wollte er den Stengel ohne
Feuer in Brand setzen.
„Gehören Sie auch zu den Leuten," fragte Thomas
und hielt ihm ein brennendes Streichholz hin, „die sich
an der Vorstellung zu weiden suchen, weil sie den
Reibungsakt für gesundheitsschädlich halten? Und sollten
doch wissen, daß es ohne Reibung kein Feuer gibt,
daß die Selbstliebe den Funken des Prometheus schuf.
Sonnenfeuer im hohlen Stab, verstehen Sie denn das
nidit? Wir haben es doch alle nicht anders gemacht."
„Erlauben Sie," rief der Professor. Und Keller-
Capresc sekundierte: „Ich wüßte nicht."
„Aber ich weiß," fuhr Thomas unbeirrt fort, „Sie
mit Ihrem Pinsel sollten doch schweigen und weiter
Landschaften mit Ihrem Öl produzieren, und der Herr
Professor, die Art, wie er die Banane vorhin ablehnte.
— haben Sie schon einmal bemerkt, wie seltsam die
halbgeschälte Banane gestaltet ist — und gar der Name:
Banane — Ananas — Ananias — da ist doch kein
Zweifel. Dieser Abscheu brachte mich ja auf den Ge-
danken, daß Sie auch Ihre Schüler vor geheimen Lastern
warnen. Aber lesen Sie doch die Bibel. Es ist eine
— 203 —
grobe Irreführung der Menschheit aus Geschäftsrück-
sichten, denn diese warnenden Büclilein sind verbreitet
wie die TuberkelbazilJen. Es ist alles Schwindel. Lesen
Sie nur nach: Held Onan — "
In diesem Augenblick trat der Oberkellner an den
Tiscli. „Idi muß die Herren bitten, den Speisewagen zu
verlassen, da sich die anderen Gäste über die Art des
Gesprächs beschweren," Thomas sah den Kellner mit
weit aufgerissenen Augen an.
„Beschwereil, warum denn?"
Der Professor hatte sich sofort erhoben und eilte davon,
ebenso floh Keller- Caprese vor dem drohenden Gewitter.
„Man findet," sagte der Oberkellner, „daß Ihre Worte
den Anstand verletzen."
„Ja, sind denn die Leute unsere Gouvernanten?"
fragte der Handlungsreisende giftig, stemmte den Ellen-
bogen auf den Tisch und schob die Zigarre in den
Mundwinkel.
„Die Herren drohten mit der Polizei und sie haben
recht. Den Ausdruck ,Verletzung des Anstandes' habe
ich nur mildernd gebraucht, es fielen ganz andere Worte,"
Thomas hatte sich umgedreht und begaffte die
anderen. „Und dabei haben diese Kerle samt und sonders
Zigarren im Munde. Phanerophallen!"
Der Weinreisende war jetzt die vollkommene brutale
Renitenz. „Es fällt mir gar nicht ein, den Speisewagen
zu räumen." Er lehnte sich zurüdc und steckte die
Hände in die Hoscnfaschen.
Thomas ahmte jede Bewegung nach. „Mir fallt es
auch nicht im Traume ein," pflichtete er bei.
„Wenn die Herren — "
„Ich werde bis zur nächsten Station, an der ich aus-
steige, hier bleiben."
— 204 -
„Und ich auch," sagte Thomas und gab sich Mühe, aus-
zusehen wie ein Dorfheld aus Oberbayern kurz vorm
Raufen,
„Dann muß ich den Zugführer — "
„Ist nicht nötig", unterbrach Löwe und Sohn. „Der
Zug fährt gleich in die Station ein. Ich steige hier aus."
„Und ich auch." Beide erhoben sich, setzten die Hüte
in den Nacken und marschierten im Gänsemarsch, der
Reisende wie eine Lokomotive Dampf blasend, Thomas
in Ermanglung einer Zigarre pustend, aus dem Wagen.
XXIV. KAPITEL.
GROSSES UND KLEINES GESCHÄFT.
DER KEGELKÖNIG.
Auf dem Perron machte der fremde Herr halt, drehte
sich nach Thomas um und sah ihn aufmerksam an, Daim
rückte er seinen Hut zurecht, was Thomas gewissenhaft
nachahmte, so daß es einen Augenblick aussah, als ob
er von einem Lehrer des Anstands Unterricht im Grüßen
bekäme.
, .Schulze," sagte der Herr.
,, Müller," scholl es ihm entgegen, aber sofort folgte
„Himmelkreuz — : Weltlein."
Schulze nahm weder von dem Doppelnamen nocli
von dem Fluch Notiz. „Die Kerle hatten eigentlich
recht. Unser Gespräch war nicht für die Öffentlichkeit
geeignet."
„Im Gegenteil," erwiderte Thomas, „man kann es
gar nicht laut genug sagen, daß die Selbstliebe — "
Der Reisende schnitt ihm mit einer Handbewegung
das Wort ab. „Genug." Er winkte einem Gepäckträger
- 205 —
und beauftragte ihn, seine Handkoffer in das Hotel
,Zum mutigen Ritter' zu bringen. „Wenn Sie hier zu
bleiben gedenken — " wendete er sich an Thomas.
„Ich habe durch Verlassen des Zuges Protest er-
hoben," sagte Thomas stolz, als ob er den Speisewagen-
kellner dadurch auf das schmählichste bestraft hätte. „Ich
gedenke noch heute nach Berlin zu fahren." Er sprach
wie em König von Spanien, der soeben einen Rebellen
gerichtet hat und nun zu seinen Regierungsgeschäften
zurückkehrt.
„Heute geht kein Zug mehr." Schulze mißbilligte
offenbar die gänzliche Unkenntnis des Fahrplanes. „Morgen
früh 6 Uhr 19 Min. geht ein Personenzug, er ist um
10 Uhr 13 Min. in Berlin, Der Schnellzug fährt um
10 Uhi- 04 Min., ist Punkt 12 Uhr Berlin-Anhalter Bahnhof
Das beste wird sein. Sie kommen mit in den .Mutigen
Ritter'. Wenn ich Sie einführe, werden Sie für billiges
Geld prima Verpflegung und Wohnung haben, und die
Gesellschaft pflegt abends nett zu sein. Es ist heute
Freitag, also Kegelabend, Spielen Sie Kegel?"
Thomas nickte. „Alle Neune." sagte er. Es war das
einzige, was er von dem edlen Spiel wußte.
„Dann also — " der Reisende rieb sich die Hände
im Vorgefühl des Vergnügens.
Thoraas sah ihn von der Seite an. „Sie reiben schon
~ wieder."
„Ach, lassen Sie doch Ihre Schweinereien endlich," rief
Schulze ungeduldig. Er ging ein paar Schritte schwei-
gend weiter, dann sagte er: „Was meinten Sie mit der
Zigarre, mit den Herren, die Zigarren im Munde hätten."
Thomas antwortete mit einer Gegenfrage. „Besinnen
Sie sich, wie die Gänschen, die man junge Mädchen zu
nennen beliebt, rauchen. Rein, raus, rein, raus."
— 206 -
„Ich verstehe, verstehe. Siq meinen, das Raudien
ist ein Ersatz für andere Genüsse."
„Ersatz? Eher eine Synibohk. Das Symbol ist niclit
Ersatz, sondern hat seine Berechtigung in sich. Aber
allerdings lassen sich auf die seelische Verlassung aus
dem Rauchen und der Art des Rauchens Rückschlüsse
ziehen. Gewohnheits- und Gelege nheitsraudien, Rauchen
durch die Nase, Ringeblasen, Einziehen des Rauches in
die Luflgen. Zigarren-, Zigarrettenirauchen, Pfeifenraucher.;
da haben Sie eine Menge Nuancen. Letzten Endes ist
das Rauchen ein Beweis dafür, daß auch der Erwachsene
Sfiugling ist. Es ist ein Irrtum, jemanden einen Mann
zu nennen, wie es denn überhaupt nichts Dümmeres
gibt als die Sprache. Die Bezeichnung Mannweib ist
sclion wcssentlich besser. Dahin deutet schon das Gesicht.
Teüen Sie es, so haben Sie oben in Stirn und Nase
* den Männerbauch mit dem Anhängsel und unter ihm
liegt, wie sichs gebührt, das Weib mit den Lippen-
Schamlippen und dem Mund als Gebärmuttetmund und
c'em Kinn als Weiberbauch,"
Schulze starrte seinen Begleiter halb entsetzt, halb
belustigt an. „Und die Augen, und die Ohren, was
machen Sie damit?"
„Die Augen, die sind das Kind. Pupille, Püppdien,
im Auge des anderen spiegelt sich unser Mensch in
Kindesform. Das Auge ist Mutler und Kind. Deshalb
sa^te ich ja, es reicht nicht aus Mann-Weib; Mannkind-
weib, aber da bleibt die Mutter weg. Und dann gehört
das Gottesauge noch hinein und der heilige Geist und
die Dreieinigkeit, Das Auge ist tief, ein See, ein Spiegel
^ da haben Sie wieder die Selbstbebe, die Zigarre,
wenn Sie es wollen. Übrigens Zigarre: Sie wissen ja,
Bismarck empfahl das Rauchen für den Diplomaten; er
- 207 —
behauptete, der Raucher sei im Vorteil, weil er nicht
gleich zu antworten brauche, sondern unter dem Vor-
wand, einen Zug aus seiner Zigarre zu tun, nachdenken
könne. Aber vor allem ist das Rauclien ein Mittelzu
lügen. Man verdeckt den Mund damit, der sich, wie
jedes Weib, zu zeigen liebt und alle Wünsche als Weib
deutlich verrät."
„Sie sind ein verdrehter Kerl." Schulze lachte jetzt
wirklich.
Thomas blieb stehen. „Natürlich bin ich verdreht.
Aber stoßen Sie sich daran nicht. Zu viel Wanzen. Das
Gehirn ist dadurch blutleer geworden. Übrigens verdreht.
Eine Schraube wird verdreht. Und nun denken Sie
dran, daß man von der Schraubenmutter spricht, daß
der Ingenieur weibliche und männliche Teile der Maschine
unterscheidet, daß also auch die Maschinen in einem
ständigen Geschlechtsverkehr stehen. Soll man nicht
verdreht werden, wenn man das alles sieht, Sie werden
es ja schon vom Hören."
,.Ich denke gar nicht daran. Ich finde Sie nur riesig
spaßhaft, lache und spitze die Ohren."
„Nun ja, die Ohren spitzen, da haben Sie schon
wieder den Hund, der den Vater repräsentiert, den
Wauwau für die unartigen Kinder, oder das Pferd, auf
dem das Kind reitet. Übrigens ist auch das Weib Pferd,
(vird vom Manne geritten. Nun ja, und das Ohr hat ja
auch eine Muschel, genau wie das Weib, und der
Gehörgang — "
Schulze stutzte, dann schnippte er mit den Fingern,
Eteckfe wieder einmal die Hände in die Hosentaschen
und machte längere Schritte. „Ah, nun begreife ich.
Denken Sie, Herr Weltlein, in Dingsda, irgendwo in
Bayern, habe ich einmal eine Darstellung der Emp-
- 208 —
[ängnis gesehen, die war sonderbar. Oben saß der
iiebe Gott und hatte eine Art Sprachrohr am Munde,
das bis ans Ohr de'r Maria reichte, und durch das dtirdi-
sichfig gemalte Rohr flog die Taube der Maria direkt
ins Ohr. Nun begreife ich." Er freute sich so über
seine Entdeckung, daß er immer schneller Hef.
„Taube, Ohr, taub," keuchte der dicke Thomas
atemlos neben ihm. „Die Taube ist der Vogel der
Aphrodite. Es geht eben alles durcheinander. Erlauben
Sie, bleiben Sie doch mal stehen. Ich habe nicht so
viel Puste wie Sie." Er faßte den Reisenden am Rock
und hielt ihn fest.
„Da ist der , Mutige Ritter'." Schulze wies auf ein
Haus, über dessen Einfahrt ein Gepanzerter aus Blech
auf einem blechernen Pferde einhergaloppierfc.
„Zunächst geben Sie mir Bescheid, wie Sie dazu
kommen, für ein Weingeschäft zu reisen. Sie sind doch
nicht dafür geboren,"
„Ganz richtig. Ich habe einmal studiert, Medizin
studiert. Aber die Flasche hat mirs angetan und als
Weinreisender habe idi sie ja in nächster Nähe,"
„Ja, ja, die Flasche, Sie Säugling-. Flasche und Glas,
das ist auch Verkehr zwischen Mann und Weib. Ich bin
überzeugt, daß die Flasche durch die Gewalt der inneren
Ansteckung von den Hodensäften her entstanden ist.
Und Glas und Jungfernschaft gehört auch zusammen."
Scliulzc griff das Wort Verkehr auf. Ihm machte der
Mann wirklich Spaß, mit seinem jonglierenden Gehirn,
„Verkehr ist die Grundlage des modernen Lebens. Ver-
kehrswege, Verkehrsweisen, Erleichterung des Verkehres.
Wenn ich Sie so sprechen höre, kommt mir die Idee, daß
unsere Zeit zu der großen Steigerung des Verkehrs-
wesens gekommen ist, weil der naturalistische Verkehr
— 209 -
14
zwischen Mann und Weib früherer Zeiten in die sünd-
hafte Heimlichkeit g-edrängt worden ist und nun Hoden
und Eierstöcke durch — wie nannten Sie es doch —
innere Ansteckung gezwungen sind, andere Auswege
zu suchen".
Thomas machte ein wichtiges Gesicht. Ein paar
Schulbuben rasten eben vorbei, da reizte es ihn, Schul-
meister zu spielen. „Und Sie operieren zu viel mit
Ersatz, Verehrter. Der Kaufmann hat eben doch auf
Ihre Denkart abgefärbt, der Warenaustausch. Man ersetzt
eben eine Ware durch die andere oder durch Geld.
Aber Sie vergessen, daß bei diesen Geschäften einer
immer geprellt sein muß. Vielleicht haben Sie aber
recht. Mir kommt unsere Zeit trotz aller Chausseen,
Eisenbahnen, Telegraphen und Telephone doch geprellt
vor, wenn ich sie mit der Boccaccios vergleiche."
„Geschäft," fiel der Reisende ein, „erinnern Sie sich
an Ihre Auseinandersetzungen über das Bcscheiflcn. Ein
großes und ein kleines Geschäft machen, en gros und
en detail. Der , Mutige Ritter' hat neuerdings Wasser-
klosetts, Ich kenne aber noch die Zeiten, wo über der
Mistgrube ein Aufbau war mit Sitzgelegenheiten und
den dazugehörigen Löchern für drei Personen neben-
einander, die gemütlich zu plaudern pflegten."
„Löcher, Brille. Kurios, daß der Mensch diesem Ziel
des dunklen Dranges Gelehrsamkeit andichtet. Gelehrt
und geleert, vielleicht ist's dasselbe. Es ist eben audi
ein Mikrokosmos, ein Weltleiri, wir sind ja alle wandelnde
Abtritte, haben ständig Dreck in uns. Aber wenn so
viel davon gesprochen wird, kommt mich die Lust an,
es auszuprobieren, und rasch muß es gehen, darin bin
ich Kind," Im nächsten Moment raste Thomas in das
Hotel hinein, überrannte dabei einen kleinen, didien
- 210 -
Herrn im Zylinder mit einer Reitgerte und verschwand,
ohne sich im mindesten um Wirt und Portier zu kümmern,
in dem gepriesenen Klosett. Von dort kam er ang-efültt
mit neuen verrückten Ideen zurück, die er zum Gaudium
der Stammgäste beim Kegeiabend zum besten g-ab.
Die Kegelei fand statt. Die Parteien wurden aus-
gelost. Auf der einen Seite scharten sich um den Wein-
reisenden der Hotelbesitzer Weber, der mit seinen ver-
glasten Augen irgendwo in der Ferne große Weintonnen
zu suchen schien, ein „Herr Direktor," der, wie sich
später herausstellte, Leiter einer Zelluloidfabrik war und
sich dadurch lästig machte, daß er in gewohnheitsmäßiger
Furcht vor realem und seelischem Feuer jedes weg-
geworfene Streichholz oder Zigare t teilst ümpfchen mit
sorgfältigem Scharren seines breiten Fußes austrat, und
ein Kassenrendant Leberecht, bei dem die Schöße des
ängstlich zugeknöpften Gehrocks etwas auseinander-
klafften und ein längst nicht ausgefülltes Dreieck der
Hose sehen ließen, runzlig und faltig, wie man sich etwa
das Gesicht seiner von ihm in jedem Satz erwähnten
„Alten" vorstellen konnte. Die andere Partei bildeten
der Arzt, der Apotheker und der Tierarzt, denen durch
das Los der im Kegelspiel gänzHch unbewanderte Thomas
zugesellt wurde.
„Na also, die Sache ist gewonnen, von vornherein
schon," lachte der Fabriks direkter und ließ die Kugel
vorsichtig laufen, während er die Rocksdiöße über den
linken Arm nahm. „Zwei von der medizinischen Fakultät
genügen schon, aber nun gar drei — ," Er konstatierte
mit Befriedigung, daß sechs Kegel fielen. — „Drei
bringen alles um, selbst eine Kegelpartie."
„Nehmen Sie sich nur in Acht, daß Ihre Kugel nicht
explodiert, wenn Sie so wild werfen," tönte es dumpf
- 211 —
14°
aus den Bauchtiefen des Arztes, der verächtlich auf das
langsame Gehaben des Zelluloidmannes herabblickte. Mit
einem rasenden Anlauf warf er die Kugel, die in die
Kegel hineinprasselte und am Kugelfan^ hoch aufsprang.
„Das muß rausschießen, wie wenn man Rizinusöl ge-
nommen hat. Drei nur? Na, auch recht. Machen Sie 's
besser, Schulze."
Der Weinreisende stand schon da, lächelte milde
und schob, ohne ein Wort zu sagen, seine acht Kegel.
„Bravo," hieß es, „und nun kommt der Giftmischer,"
Der Apotheker tänzelte vor, und während er mit
kühnem Schwünge seines gesalbten Hauptes die Küristler-
locke zurüiiwarf, die ihm beim langen Suchen nach einer
möglichst leichten Kugel in die Stirn gerutscht war, rief
ihm der ungeduldige Hotelwirt zu; „Nanu mal los, die
Kugel ist keine Pille, daß sie so in den Händen herum-
gemanscht werden müßte."
„Nur Ruhe, laßt ihn nur drehen, je besser so ein
Ding gedreht ist, um so glatter rutscht's," mahnte
Dr. Kuno. „Vier nur. Ja, so können wir nicht gewinnen."
Der Hotelier warf nun und lief hinter der Kugel
her, wobei seine Augen noch weiter als sonst hervor-
quollen. Er wischte seine Hand an der Hose ab und
freute sich am Purzeln der Kegel. „Das klappert, als
ob's Sektflaschen wären," meinte er und freute sich über
seine acht Kegel,
„So," rief Schulze und rieb sich die Hände, „der
Doktor und der Apotheker haben's nicht geschafft. Jetzt
probiert's der vierbeinige Kollege mit seiner Pferdekur
und gibt der Partie den Rest."
Der Tierarzt stand hemdärmlig da und fuhr mit dem
Arm, der die Kugel schieben sollte, ein paarmal vor
und zurück, „gerade als ob er eine Klystiersprifze reine
- 212 -
machen wollte," ulkte der Doktor, schließlich warf er,
legte die Hände auf den Hintern und schaute mit schief
gehaltenem Kopf nach den Kegeln. „Acht," rief er voller
Befriedigung und gab sich selbst einen Klapps, daß es
Knallte, „So spielt man in Venedig."
Jetzt kam der Rendant an die Reihe. Er schob eine
sanfte Kugel, kauerte sieh langsam hin, so daß die
Rodeschöße noch weiter auseinanderklafften, und sudite
nun durdi seltsame Drehungen des gezückten, knochig
dürren Gesäßes unter der faltigen Hose den Lauf der
Kugel zu verbessern. Die Kegel purzelten seltsam durch-
einander. „Alle nenne," scholl es von oben und be-
friedigt lächelnd schritt der HeW mit den Worten; „Und
in anderen großen Seestädten," zum Tisch, ergriff sein
Bierglas, blies den Schaum nieder und trank.
Alles sah gespannt auf Thomas, der, seit er den
Ruf Alle neune g-ehört hatte, ein seltsames Herzklopfen
verspürte. Die allgemeine Aufmerksamkeit schüchterte
ihn ein, er überlegte einen Augenblick, ob er nicht
lieber erklären sollte, daß er nicht mitspielen könne,
dann schloß er in einer rudtartigen Mutanwandlung
tapfer die Augen und warf. „Alle neune," scholl es
wieder; der Rendant hörte mitten im Trinken auf, der
Doktor Kuno nahm seinen Kneifer ab und putzte ihn
und der Tierarzt lachte, daß es dröhnte und riet: „Die,
Kur hat geholfen, unser Pferdchen äppelt flott."
Die Runde begann von neuem mit wechselndem Erfolg,
aber als Thomas an die Reihe kam, schob er acht um den
König und beim drittenmal wiederum alle Neune, was das
Spiel zugunsten der Doktorpartei entschied. Ein allge-
meines Hailoh entstand, der große Kegelschieber wurde
stürmisch beglückwünscht und das Ganze endete damit,
daß er damirt beehrt wurde, eine Lage Schnäpse zu stiften.
- 213 -
Eine neue Partie begann, die Spieler wurden aus-
gelost' und Thomas kam diesmal zu der Gegenpartei
des Doktor Kuno, der mißvergnügt meinte, man könne
von vornherein einpacken, wenn man solchen Gegner
habe, während der Hotelier eine Flasche Rüdesheimer
entkorkte, um sein Glück mit dem großen Kegler Welt-
lein zu begießen.
Aber das Glück hatte sich gewandt. Bei der ersten
Runde brachte er es noch auf zwei Kegel, bei der
zweiten, wo er in Nacliafimung des gewaltig spielenden
Kuno die Kugel sausen ließ, daß es prasselte, ward es
ein Sandhase, und als er verstimmt und eingeschüchtert
durcli die wachsende Kälte seiner Verehrer das Glück
beim drittenmal dadurch zu bannen suchte, daß er sich
wie der Rendant in die Knie kauerte und mit dem
Allerwertesten die Kugel zu deicliseln suchte, eckte er
an. Als er das Unheil kommen sah, drehte er ver-
zweifelt seine stattliche .Hinterseite im Kreise, so daß
sich die Hose gefahrdrohend spannte; es half nichts, es
half auch nichts, als er in gerechtem Zorn über sein
Mißgeschick, sich halb erhob und die Beine auseinander-
spreizend nochmals mit Nachdruck und Empfindung sich
zusammenkauerte, nur die Hose krachte, die Kugel irrte
ab und zwischen Thomas Beinen erschien an Stelle der
Naht ein Spalt, aus dem lustig die weiße Unterhose
vorscliimmerte. Ein schallendes Gelächter brach ios, das
sich erneuerte, als er verlegen die Hose hinten zu-
sammenhaltend zum nächsten Stuhl eilte und beim un-
geschickten Niedersetzen die Naht der Grütsche noch
weiter aufplatzte,
„Achtung! Sie fallen hinten aus der Hose heraus,"
rief der Weinreisende, als Thomas sich erschrocken
wieder erhob.
- 214 -
„So braucht er wenigstens niclit erst vorn aufzu-
knöpfen, wenn er pinkeln will," lachte der Rendant
kichernd, „wie ein kleiner Junge, der's Knöpfen noch
nicht gelernt hat"
„Eine Weiberhose ist's," entschied der Doktor, und
kramte in seiner Tasche herum. „Aber ich werde die
Sache kurieren. Kommen Sie mal her." Er hatte sich
hingesetzt und Thomas zwischen seine Knie genommen,
dem der Schweiß auf die Stirne trat und der ängstlich,
nach Kunos Hand spähend, stotterte: „Nicht schneiden,
nicht schneiden!"
„Nein, nein, Verehrter, ich will Sie nicht kastrieren,
nur wieder zum Manne machen. Unsereins kann beides."
„Geburtshelfer reinwärts und rauswärts," spottete
der Zelluloidmann.
Kuno hatte mit einer Sicherheitsnadel vorn den Spalt
zu'^esteckt, drehte Thomas um und suchte die weit aus-
einander stehenden Hosenflügel über der fleischigen
Wölbung zusammenzubringen.
„Kennen S!e die Geschichte von Adam und Eva?"
fragte der Tierarzt. „Als der liebe Gott Männlein und
Weiblein sdiuf, ließ er bei Beiden den Bauch vom
Nabel bis in die Kerbe offen, damit die Reste der
holden Paradiesesfrüchte rasch wieder herausfielen, ehe
sie im Baucli verfaulten. Aber beide Menschenkinder
fanden das unbequem, weil sie immer mit gesprcitzten
Beinen gehen mußten, um nicht untenrum klebrig zu
werden. Sie gingen zum Herrgott und baten ihn,
den Bauch zusammen zu nähen. Schön, sagte der, aber
wcnn's halten soll, muß ich Bindfaden zum Nähen
nehmen. Hier, er griff in die Tasche und gab jedem
einen Groschen. Geht zum Krämer und holt eine ordent-
liche Kordel. Der Adam war brav und brachte ein
- 215 -
schönes Stück Schnur an, das vernähte der Herrgott,
und weil das Stück zu lang war, schlang er zuletzt
einen dicken Knubben und ließ das Übrige herabhängei!,
so wie wir's immer noch mit Stolz tragen. Eva's Stück
aber sah der Herrgott bedenklich an. Es war gar
kurz, denn Evchen hatte, als sie beim Krämer das
große Glas mit den roten Bonbons sah, gedacht, die
Hälfte tuts auch, hatte sich für fünf Pfennige Klümpchens
gekauft und sie aufgeiutscht. Der liebe Gott nähte und
nähte, aber es wollte nicht langen und zornig warf er, J
als das Stück zu Ende war, die Nadel fort und sagte: I
,Zur Strafe sollst du für ewige Zeiten, da, wo ich dem 1
guten Adam ein Schwänzchen geknotet habe, ein Loch
tragen, das immer größer wird, je mehr du es zu stopfen
trachtest'."
■ „Hoho!" klang es im Kreise und: „Nun ist der Mann
wieder fertig," sagte der Doktor. „Wir können weiter-
spielen."
Es wurde weiter gespielt, aber Thomas' Leistungen
wurden immer geringer. Er gab Acht darauf, daß die
Naht nicht weiter platzte und die schlechten Witze, die
gerissen wurden, sobald seine Sicherheitsnadeln zum
Vorschein kamen, machten ihn verlegen.
„Wenn Sie ihm noch eine Binde von einer Nadel
zur andern zwischen die Beine gelegt hätten, Doktor,
wäre die Jungfrau fertig," spottete der Rendant, und
als Thomas in heller Verzweiflung über seine Mißerfolge
die Kugel mit beiden Händen zu werfen suchte, meinte
er trocken: „jetzt ist er ganz Tante Auguste damals
bei dem Stiftungsfest." Das war zu viel. Thomas schützte
Müdigkeit vor und trat aus dem Spie! aus, und als
auch dann die anzüglichen Reden von Tante Auguste
nicht aufhörten, schlich er sich an das andere Ende der
- 216 -
Bahn und setzte sicli in der Nähe der Kegeljungen, um
das Spiel weiter zu beobachten.
„Alle Neune," scholl es wieder einmal, und als dort
bei den Spielern der übliche Schrei nadi Schnäpsen
erklang, was eine kurze Spielpause anzeigte, begannen
die beiden jungen zu schwatzen.
„Wenn ich's dir doch sage." eiferte der Altere, ein
Stift von etwa neun Jahren mit fuchsrotem, kurz ge-
schnittenem Haar und dunkelbraunen Augen. „Erst ist
die Katherin so dick gewesen," er steckte den Bauch
weit vor und um zu zeigen, daß es noch nicht reichte,
fahete er seine Schwaben Hände über dieser Nach-
bildung eines schwangeren Leibes, „dann ist die alte
Lene mit so einer schwarzen Tasche gekommen, wo
sie immer davon erzählt haben, sie hätte Futter für
den Storch darin. Wie die eine Weile da war, hat die
Katherin angefangen zu schreien, als ob sie am Spieß
stäke, und dann haben sie mich zum Doktor geschickt
und der hat wieder so eine Art Tasche gehabt, die hat
er mir zu tragen gegeben, und wenn man sie schüttelte,
hat's geklappert wie Eisen und ich habe auch die Griffe
von zwei großen Fleischetmessern gefühlt, weißt du
solche, womit man Schinken schneidet."
Der andere junge hatte mit offenem Munde zu-
gehört, jetzt zog er seine Hosen, die eine unangenehme
Art hatten zu rutschen, weil sie offenbar aus Vaters
abgelegten Arbeitshosen dadurch hergestellt waren, dsß
man die Beinlängen abgeschnitten hatte, hoch, wischte
sich die Nase mit dem Finger und sagte: „Du kannst
lange schwätzen, eh' ich's glaube."
„Wenn ich's dir doch sage. Ich werde doch wissen,
was ein Messergriff ist. Und dann ist er zur Kathetin
gegangen und ich habe draußen gehorcht und alles war
- 217 -
still und auf einmal hat sie geschrieen, geschrieen, genau so,
wie wenn eine Sau abgestochen wird. Und gleich darauf hat
das Kind gequäkt. Das ist eben, der Doktor schneidet den
Weibsen den Bauch auf und holt das Kind heraus. Und
nachher blutet's. Ich werde doch noch wissen, was Blut ist."
„Und wenn der Doktor nicht dabei ist, und er ist
selten dabei," warf der Kleine ein.
„Dann platzt eben der Bauch von selber. Du kannst
doch sehen, vom Nabel bis zum Hähnchen unten ist's
nicht fest zugewachsen, da platzt's."
„Frauen haben gar kein Hähnchen," warf der Kleine
ehi, der sich noch nicht überzeugen lassen wollte, aber
keinen stichhaltigen Einwand fand.
,, Achtung," klang es von unten. Der Fabriksdirektor
war an den Kugelkasten getreten und suchte sich sein
Geschoß aus.
Thomas ließ geistesabwesend seinen Blick von dem
Manne unten am Eingang der Bahn zu den Kegeln
schweifen. Stumpfsinnig begann er zu zählen. Neun
Kegel und der König in der Mitte rundete sie zur
Wölbung. Schwanger, schoß es ihm durch den Kopf,
jetzt warf der Direktor einen seiner vorsichtigen
Würfe; langsam kam die Kugel angerollt. Da plötzlich
stand Thomas mitten in der Bahn, breitete die Arme
aus und mit dem Ruf: „Der Doktor, der Doktor,"
hielt er die Kugel mit dem Fuße auf.
Die Spieler verstanden nicht, was vor sich ging,
konnten aber von Thomas auch nichts erfahren; er
blieb vor den Kegeln stehen, achtete nicht auf die
Mahnung, das Spiel nicht zu stören, und hielt fort-
während „der Doktor" brüllend, jede Kugel auf.
jetzt sprang Dr. Kuno vor. ,,Er kommt schon," rief
er und ließ aus voller Kraft eine Kugel dahinsausen.
— 218 -
„Nicht so, um Gottes willen." Thomas sprang in die
Höhe und ließ die Kugel unter sich weg rasen. Er hielt
dabei mit der einen Hand die vordere, mit der anderen
die hintere Sicherheitsnadel, und da nun eine Kugel nach
der anderen angesaust kam, hopste er kunstvoll, wie
ein kleines Mädchen, das übers Seil springt, immer laut
rufend: „Aber das ist ja ganz falsch, das ist ja falsch."
„Scheren Sie sidi aus der Bahn raus," schrie der
Hotelbesitzer, „Sie haben da nichts zu suchen."
„Raus aus der Bahn," ertönte es von allen Seiten
und hinten die Kegeljungen, die sich halb tot lachten.
Würden plötzlich auch wütend, schrieen „raus", und als
sie sahen, wie der Tierarzt ein Bierseidel in die Höhe
hob, als ob er es dem albernen Mann da an den Kopf
werten wollte, griffen sie zur Waffe der Gassenjugend
und bombardierten das große, dicke Untier, das immer
nodi hüpfte, obwohl keine Kugel mehr kam, mit Steinen.
Wie ein gereiztes Tier brüllte Thomas jetzt auf und
die Augen auf den anrückenden Haufen der SpieSer,
die sich mit Biergläsern und Stöcken versehen, zur
Sturmkolonne gesammelt hatten, gerichtet, wich er gegen
den Kugelfang hin zurück, packte die beiden Knaben,-
hob sie hoch, stieß sie mit den Köpfen zusammen und
warf den einen rechts, den anderen links beiseite. So
wenig bedeutend das Kunststückchen war, machte es
doch die Kegelhelden stutzig, zumal sich Thomas jetzt
bückte, den Kegelkönig faßte und ihn hoch über dem
Haupte schwingend schrie: „Kindsmörder! Ich schlage
dem ersten, der herankommt, den Kopf zu Brei."
Der erste in der Reihe war der Hotelier, seine Augen
wurden noch stierer als gewöhnlich, wie eine Katze,
die man scharf ansieht, drehte er den Kopf beiseile
und dann nach hinten. Die tapfere Schar war zagend
- 219 -
stellen geblieben, ganz zu hinterst der Dr. Kuno, der
nur immer rief: „Packt ihn, er ist verrückt geworden.
Paranoia acuta, packt ihn." Dabei sprang er abwechselnd
vor und zurück, je nachdem sein ärztliches Pflichtbewußt^
sein oder sein Selbsterhaltungstrieb überwog.
Jetzt kamen vom Hause her ein paar Weiber o-e>
laufen, die der Lärm angelockt hatte, und erleichtert
aufatmend rief der Hotelier im Gefühl, Mann zu sein:
,, Rufen Sic den Hausknecht, Alwine."
Thomas Heß plätzlich den Kegelkönig sinken, seine
rollenden Augen wurden still, und ohne ein Wort zu
sagen, verließ er die Bahn. Als hinter ihm her die ganze
Bande kam, drehte er sich um und deutete auf den
Kegelkönig, den er noch immer in der Hand trug.
Alles stockte, als aber Thomas weiter schritt, klang
es kriegerisch von den Lippen des Wirtes. „Hinaus mit
Ihnen aus meinem Hause. Alwine werfen Sie die Sachen
dieses sauberen Herrn auf die Straße. Hinaus mit Ihnen!"
Wie ein Feldherr stand er da, eine Hand vorn zwischen
den Knöpfen seines Jacketts, die andere gebieterisch
ausgestreckt und in seinen Augen flackerte zum ersten-
mal seit langer Zeit etwas wie Leben,
Thomas senkte den Kopf und ging und hinter ihm
her tönte die Stimme des Rendanten: „Sie verlieren
Ihren DianagÜrtei." Thomas griff nach der Nadel, während
ein tolles Gelächter hinter ihm losbrach, und sdiritt
langsam auf die Straße hinaus. Dort stand schon sein
Handkoffer, darauf sein Stock und sein Hut. Er stülpte-
den Hut auf und, den Stock mit dem Fuß beiseite
stoßend, setzte er sich auf den Koffer und ließ den
Kegelkönig, den er immer nocli in der Hand hielt,
zwisclien den Beinen baumeln, wehmütig den Riß in
der Hose und die Nadel vorn betrachtend.
- 220 -
Endlich erhob er sich, stellte seinen Kegel sorg-fältig
vor die Wirtshaustür, nahm Koffer und Stock und ging
betrübt zum Bahnhof. Dort im völlig leeren Wartesaal
setzte er sidi in eine Ecke und dachte nach, und als
der Bahnhofsportier zu ihm trat, um ihn zu fragen, mit
welchem Zug er fahren wolle, bat er unter Beifügung
eines Trinkgeldes, sidi vor ihn zu stellen und sidi nidit
umzudrehen, holte aus dem Koffer den hellen Anzug
heraus, der darin war, und zog sich um.
Nachdem er den Portier, der im Spiegel sein Tun
beobachtet hatte und wegen Verletzung des Eisenbahn-
reglements mit Strafe drohte, nochmals klingend be-
schwichtigt hatte, schlief er ruhtg ein.
XXV. KAPITEL.
DAS VIERTE GEBOT.
APFELKRAUT UND HOSENBEIN. MUSIK UND LIEBE.
Am andern Morgen fuhr Thomas weiter nach Berlin.
Während er an dem Personenzug entlang schritt, um
das Coupe I. Klasse aufzusuchen, kam er an einem
Wagen IV, Klasse vorbei, aus dessen herabgelassenem
Fenster ein derbes Bauernmädchen guckte. Er nickte
ihr zu, was sie sofort veranlaßte, kichernd zurückzu-
weichen, dann schritt er weiter und dachte beim Anblick
der aufgemalten IV auf dem Wagen an des Rendanten
Wort von den trodtenen Zahlen. Während sich eine
■ Reihe von Zahlen vor seinen Augen gruppierten und
einen tollen Tanz von Einfällen vor ihm aufführten, sah
er, wie ein breitschultriger Mann mit einem in Glanz-
leder gehüllten Packen auf dem Rücken einem alten
Mütterchen die hohen Stufen der vierten Klasse hinauf-
half und ihr zwei mit rot und weiß gewürfelten Tüchern
- 221 —
bedeckte Körbe nachreiehte. Das Grinsen der Alten,
das offenbar Freundlichkeit und Dank ausdrücken sollte,
berührte ihn peinlich und zog ihn doch an. Ohne sicli
weiter um sein Billet zu kümmern, folgte er dem Mann
mit dem Lederpaeken in das Abteil IV. Klasse.
Das Einsteig-en eines Menschen, dessen Kleidung
und Gehaben in diese Umgebung nicht paßte, erregte
bei den Insassen Aufsehen und Widerstand. Das Durch-
einander lauter Stimmen stockte plötzlich und aller
Blicke wendeten sich dem Fremden zu.
Dicht neben der Tür saß das junge Ding, das vorhin
vor Weltleins Gruß verlegen zurückgewichen war. Sie
errötete, als sie ihn eintreten sah, und wandte sich
unwirsch ihrem Nachbar zu, einem Bursehen mit
scliwarzen Kraushaaren, vor dessen Füßen ein Leinen-
beute! mit Schlosser werk zeug lag. Der junge Mann sah sie
fragend an, und als er aus der Art, wie sie verächtlich
die Achseln zuckte und die Mundwinkel nach unten zog,
schloß, daß sie übertreibe und sich im Grunde ge-
schmeichelt fühle, musterte er lang und feindselig den An-
kömmling, bückte sich dann und kramte in seinem Hand-
werkszeug. Thomas war viel zu sehr mit seinen eigenen
Gedanken beschäftigt, um auf die Gruppe an der Tür
zu achten. Er steuerte sogleich nach dem anderen Ende
des Wagens hin und pflanzte sich vor der Alten mit
den beiden Körben und dem Lederpackenmann auf, die
beide am Ende der Bank noch Sitzplätze gefunden
hatten.
Vor seinen Augen schwebte das BÜd der IV, die auf'
dem Wagen aufgemalt war, und da er sich vorgenommen
hatte, die beiden vor ihm sitzenden Leute für Mutter
und Sohn zu halten, benutzte er die Gelegenheit, um
eine Predigt zu halten.
- 222 -
„Wie heißt das vierte Gebot?'' fragte er den Mann.
Der starrte ihn wie g-eJstesabwesend an, stieß seine
Naclibarin und drehte langsam und verleg-en den Kopf
nadi der anderen Seite.
„Sie werden es doch wohl noch alleine wissen,"
sagte Thomas sti-eng, „Sic brauchen sich das nicht von
Ihrer Nachbarin zuflüstern zu lassen, also — ?"
Der Mann fingerte an .den" Riemen seines Packen
herum, rutschte ein paarmal auf seinem Sitz hin und
her, sah, mit einem plötzlichen Entschluß, Widerstand
zu leisten, zu Thomas auf, schlug die Augen nieder und
wandte den Kopf zur Seite, — „Du sollst Vater und
Mutter ehren," kam es langsam von seinen Lippen.
„Nun und weiter," drängte Thomas, „wenn Sie auch
der letzte auf der Bank sind, so etwas müssen Sie
wissen." Er hielt sein Opfer unter seinem Blick, und
wirklich, der Mann geiiorchte.
„Auf daß es dir wohl gehe, und — " sagte er, „und
— Gotts ein Donnerwetter, was haben Sie für ein Recht
mich zu fragen?"
„du lajige lebest auf Erden," sdiloß Thomas und
warf mit einer Handbewegung den Protest des Mannes
beiseite. „Das ist die Hauptsache dabei. Auf daß es
dir wohl gehe. Sehen Sie, alle anderen Gebote — Sie
dürfen auch mit zuhören, — " unterbrach er sich mit
einem aufmunternden Blick auf die Alte, „alle anderen
Gebote werden einfach hingestellt; Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht stehlen,"
„Du sollst nicht ehebrechen," fügte ein junger
Mensch hinzu, dessen schwungvoll frisiertes Haar den
Duft des Friseurladens, wo er gestern gearbeitet
hatte, noch mit sich fühlte, und zupfte dabei seine
rechte Manschette vor, trotzdem ihi- ursprüngliches Weiß
— 223 —
von den Pomadeköpfen seiner Kunden schon arg mit-
genommen war.
Sein Eifer wirkte ansteckend, denn nun ließ sich gegen-
über die Stimme eines Herrn mit einer Bailonniütze ver-
nehmen, der seine aufgeschwemmten Züge in Ermanghmg
eines Kragens durch ein dickes, gelbes Halstuch zur Gel-
tung zu bringen suchte. „Du sollst den Feiertag heiligen."
„Ganz richtig," ergriff Thomas wieder das Wort,
„ich danke Ihnen für die Anregung. Es ist gut, wenn
die Menschen so frei und unbefangen ihre Lebens-
grundsätze in negativer oder positiver Form aussprechen."
Die beiden Leute sahen sich verdutzt an, während
ein etwa ISjähriger Junge, der in der Mitte des Wagens
auf einer alten Truhe aus Großvaters Tagen saß und
zum Zeitvertreib ein in ein riesiges rotes Taschentuch
gewickeltes Paket Nahrungsmittel zwischen den Beiuen
vor- und zurückschaukeln ließ, loslachte.
„Nun also," begann Thomas wieder, „alle diese Ge-
bote stehen nackt da, als einfache Befehle oder Ver-
bote; es ist gut möglich, ihnen zu gehorchen. Beim
vierten Gebot findet es der liebe Gott angebracht, durch
den Mund Mosis eine sogenannte Verheißung zu geben,
ahnlich, wie er sich gar nicht genug tun kann in Ver-
wünschungen und Versprechungen, sobald es sich um
die Verehrung seiner eigenen Person handelt, wie das
erste und zweite Gebot beweisen. Die Verehrung der
Eltern ist ohne weiteres unnatürlich, so daß sie nur durch
Bestechung zu erreichen ist."
Der Junge auf dem Koffer hörte auf, sein Bündel
zu schaukeln. „Das werde ich mir merken," sagte diese
plötzhchc Bcwcgungslosiglceit.
„Die Juden bleiben immer dieselben," ergriff jetzt
einer das Wort, der hinter Thomas stand und fröstelnd
- 224 -
seine dürren Schultern noch höher zog als gewöhnlich.
Seine hag-eren, von Leid und Entbehrungen verhärmten
Züge waren von der Leidenschaft des Hasses und
Neides überspannt und seine hohe, schneidende Stimme
ließ jede Silbe doppelt scharf hervortreten. „Heutzutage
setzen sie in ihre Zeitungen Preisrätsel, die niemand
lösen kann, aber auf die versprochene goldene Herren-
uhr oder das Kaffeeservice fallen die Dummen doch
herein, obwohl die Kostbarkeiten nie zur Verteilung
gelangen. Und der alte Mansch elmoses, dem sie die
Ehre antun, ihn Gott zu nennen, gibt auch als Prämie
für nie zu lösende Aufgaben herrlidie Versprechungen,
die schönsten der Welt: Glück und langes Leben. Er
brauclit keine Angst zu haben, daß er um Erfüllung je
gemahnt werden könnte. Du sollst nicht töten, wer
könnte dieses Gebot halten. Wir töten ununterbrodien.
ununterbrochen, leben vom Mord, ununterbrochen." Er
schwieg, kniff den Mund zusammen und schlug die
Augen zu Boden.
Thomas sah ihn scharf an. „Student?" fragte er.
„Studiosus rerum naturaHum selbstverständlidi. Nach
vier Jahren vergeblichen Gottsuchens als Theologe."
„Sie haben recht, die Juden sind das konservative
Element der Welt. Wer konservativ ist, ist mindestens
der Gesinnung nach Jude, wenn er auch vorzieht, anderer
Leute Vorteil zu beschneiden, als seinen eigenen. Aber
ganz scheinen Sie die theologischen Vorurteile nicht
überwunden zu haben. Sie suchen immer noch die Hilfe
von oben." Thomas wies auf den von der Decke
hängenden Lederriemen, an dem sich der Student krampf-
haft festklammerte. Im selben Augenblick fuhr der Zug
in die Station ein, hielt und bei dem plötzlichen Ruck
verlor Thomas den Halt, Er fuhr mit den Armen in die
— 225 —
15
Luft, packte noch glüdclich den Riemen, so daß er sidi
vor dem Hinfallen schützte, aber konnte nicht verhindern,
daß er beim Taumeln in den Korb der alten Bäuenn
hineintrat. Irgend ein Gefäß krachte in Scherben und
eine weiche, klebrige, zähe Masse legte sich um den
Fuß Weltleins.
„Herrjeh, mein Aptelkraut," schrie die Alle mit
bösem BUck und —
„Schön Rottraut," antwortete Thomas, während er
unter dem schallenden Gelachter der Anderen seinen
Fuß aus dem Sumpfe zu lösen suchte. Er wußte jetzt,
warum ihn die Alte anloclde und abstieß, sie glich seiner
angeblichen Amme Trude.
Ein allgemeiner Aufstand brach aus. Während der
Lederpackenmann fluchte und die Alte keifte, um sidi
dann beide in dem Verlangen nach Schadenersatz zu
einigen, während der Junge auf dem Koffer sein Tasdien-
tuchbündel in der Luft wirbelte und mit seinen ßeJiien
voll Entzücken strampelte, während c^er Friseurgehilfe
und der Kerl im Halstuch Arm in Arm standen und
über den hilfreich gebückten Studenten hinweg Ladi-
salven schössen, während die Bauerndirne herbeigeeilt
war, um zusammengekauert mit den Händen auf den
Knien das Bein mit dem Apfelkraut schwänz zu sehen,
wie es sieh langsam hob und den weichen zähen Brei
langzog, und sogar der eifersüchtige Schlosser grimmig
und schadenfroh grinste, stand Thomas innerlich unbe-
wegt da, das Bein immer höher und höher ziehend und
nachdenklich auf die schwarzbraune Masse blickend, die
sich vom Korb zu seinem Bein emporzog. „Es klebt."
sagte er schließlich, griff mit der Hand nach unten und
fuhr mitten durch das Apfelkraut; so löste er die Fes5el
des Fußes, tauschte dafür aber eine gänzlich verkraulcte
- 226 -
Hand ein, mit der er nichts Besseres anzufangen wußte,
als sie am eigenen Haar und, als das nicht genügle,
am Hosenbein abzuwischen. „Es klebt," wiederholte er,
leckte die Finger ab und mißbilligend auf die Alle
schauend, fuhr er fort, „und es ist süß. Ewiger Apfel
der Sünde, zerkocht noch hängst du dich an die Fersen
des Mannes und ziehst ihn hinab in die süße Sünde,
and ausgesogene Brüste, die längst die strotzende Blank-
heit des Apfels verloren, verführen den Adam. Klebrio-
und süß, das ist der Mütter Macht. Mutter, Amme,
erdichtete Amme, es bleibt alles am Ende dasselbe,
Sehnsucht zurück in die süße Ruhe des klebrigen Mutter-
schoßes, bis sich die Mutter Erde öffnet, um im Grabes-
dunkel uns neu. schlummern zu lassen." Er streckte der
Alten, die eifrig aus den Scherben des zerschlagenen
Topfes die Reste ihres Apfelkrautes in ein neues Gefäß
zusammenkratzte, den Fuß entgegen, als ob er sie auf-
fordern wollte, auch dort ihr Eigentum wieder zu
sammeln. Als sie geifernd vor Wut darnach spuckte,
stellte er den Fuß nieder und mit den Worten: „Dit;
Mütter, Mütter, 's klingt so wunderlich," holte er ein
paar Goldstücke hervor und hielt sie der Alten hin.
Wie ein Habicht stieß die Hand des Lederpacken-
mannes darnach und raffte sie an sich, ehe noch die
Frau zugreifen konnte. Sofort begann ein Streit zwischen
beiden. Thomas drehte sich nach dem Studenten, der
I eifrig bemüht war, mit Zeitungspapier die Schmiere von
den hellen verdreckten Hosen Weltleins abzuwischen.
..Wie recht hatte Jehovah, auf die Kindesliebe einen
■ Preis zu setzen. Sehen Sie nur, wie wütend Mutter und
■ Sohn einander bekämpfen, sobald der goldene Herrgott
, zwischen sie tritt. So lauert jedes Kind von früh an auf den
j Tod der Eitern eines Ringes wegen oder einerTasse halber.
- 227 -
Der Student blickte erstaunt und verstehend zu
Thomas auf, während der Lederpackenmann plötzHch
den Streit abbrach und so heftig lachte, daß er gar
nicht bemerkte, wie die Frau ihm die Goldstucke weg-
nahm. „Du, Alte," schrie er und schüttelte sich, „der
denkt, du bist meine Mutter."
„So," fauchte sie dagegen und fuhr ihm mit den
Krallen nach dem Gesicht, so daß er sicli ängstlich in
die Ecke verkroch. ,,Bin ich dir etwa nicht mehr jung
genug, du Lump du. Was? Da vom die dreckige Magd,
ich hab wohl gesehen, wie du ihr zugeplinkt hast. Aber
die wird sich mit einem so alten Schmierfink wie du
nicht einlassen, dir sieht's ja doch jede an, daß du
nichts mehr fertig bringst als höchstern pissen; bei dir
hat's ausgekräht, und wenn ich der Bursch wäre da
neben ihr, da nehme ich einen festen Kreuzdorn und
versohlte erst dir und da dem säubern Schubjack, der
armen Leuten ihr Hab und Gut zertritt, das Arschloch
und hinterher der frechen Trine auch."
Das also angegriffene Mädchen fing nun an zu heulen
und zu zetern und auf ihren Liebsten einzureden, der
finster dabeistand und den Hammer in der Hand wog,
ohne ein Wort zu sagen. Der Kerl in der Ballonmütze
warf sich ihr zum Beschützer auf, sprach von Leuten,
die ihr Pulver noch frisch auf der Pfanne hätten,' wäh-
rend andere leere Beutel trügen und den Hahn kaum
nodi spannen könnten, und der Friseur setzte zum
mindesten den Hut schief auf und fing an, von feinen
Herren zu reden, die hier nichts zu suchen hätten und
ins Zuchthaus gehörten, weil sie doch nur unschuldige
Mädchen verführen wollten. Ein wüstes Geschrei ging
los. Alles drängte nach dem Punkt hin, wo Thomas
festgeklebt am Boden stand, die eine Hand am Leder-
- 228 -
I
ricmen, die andere mit auseinandergespreizten Fingern
weit vorgestreckt gegen den anstürmenden Haufen, wie
ein Redner, der die aufgeregten Leidenschaften der
Massen durch eine Geste beruhigen will. Der Hut war
ihm ins Genick gerulsdit und den Mund hatte er auf-
gerissen, als ob er den ersten, der an ihn käme, ver-
schlingen wollte. Plötzlich erstarrte das Getümmel, Vom
Eingang des Wagens her ertönten die Klänge eines
Leierkastens, der in wehmütigen Wimmerlauten Koschats
Lied .Verlassen, verlassen bin i' sijielte. Die zornigen
Gesichter wurden still, glätteten sich, lächelten dann
und „ein Leierkasten," sagte der eine und der andere
fügte hinzu, „ja, ein Leierkasten," und was eben noch
wütend zum Kampfplatz eilte, umringte nun den Stelz-
beinmann in der Soldatcnmütze, der seinen schönen
Kopf mit dem ehrwürdigen Kaiser Frlcdrichbart freund-
lich von einer Gruppe zur anderen wandte, leise die
Melodie vor sich hinsumroend.
Die Strömung teilte sich, doch ehe sie den Leier-
mann erreichte, denn mit den Worten: „Na, nu mal
Platz da," erschien der Schaffner.
Die Orgel spielte ihre Weisen weiter, während er
von eiaem Reisenden zum anderen schritt und sich die
Fahrkarten vorweisen ließ. Ganz zuletzt kam er zu
Thomas, der sclion seit einiger Zeit hastig in sämtlichen
Taschen seines Anzugs herumfuhr, da er wie gewöhnlich
sein Billet nicht finden konnte.
„Na, nu mal fix," rief der Schaffner und musterte
mißtrauisch Thomas schwarzbraunes Bein, „oder denken
Sie hier blind mitzufahren?"
Thomas hatte endlich dort, wo sie hingehörte, nämlich
in der Billettasche seines Anzugs die Fahrkarte gefunden,
der Schaffner sah verwundert auf den gelben Schein,
- 229 -
„Sie gehören gar nicht hierher," sagte er, „die erste
Klasse ist ganz vorne im Zuge." Dabei blickte er frao-end
ciss Hosenbein und den dunklen Apfelkraulfleck" am
anderen Ende des Wagens an. „Haben Sie das da hinten
gemadit?" fragte er und erregte mit dem Wort „gemacht"
die laute Heiterkeit des Jungen mit dem roten Bündel.
„Verunreinigungen sind verboten, und wenn Sie das
nicht fortschaffen, werde ich Sie melden."
Thomas fühlte sich so eingeschüchtert, daß er sich
umdrehte und schon sein Taschentuch hervorzog, um
damit die Säuberung des königlich preußischen Eigen-
tums vorzunehmen. Plötzlich besann er sicli, daß er sich
seine Schüchternheit abzukaufen pflegte, holte ein Gold-
stüd: vor und gab es dem Schaffner.
„Vielleicht haben Sie die Güte, jemanden zu suchen,
der den Fleck wegbringt; es ist Apfelkraut, nichts
weiter." Er holte mit der Fingerspitze eine Probe von
seinen Hosen und hielt sie dem Schaffner vor die Nase.
Der ruch pfhchtschuldig daran, und schritt dann mit
den Worten weiter: „Icli werde es also in Ordnung
bringen lassen."
Thomas atmete erleiclitert auf und in gehobener
Stimmung ging er auf den Drehorglcr zu, wobei ihn
nur ein wenig störte, daß die linke Sohb allzusehr am
Boden haftete. Die übrigen Reisenden hatten wieder
ihre Plätze eingenommen, das Stelzbein aber grüßte
stramm den hinkenden Herrn, was freilich mehr dem
Goldstück als dem Geber galt.
„Nein, nein, spielen Sie nicht," unterbrach Thomas
die Bewegung, mit der der Mann nach der Kurbel griff.
„Ich sehne mich darnach ein, tiefes Wort über die
schönste der Künste mit einem Sachverständigen zu
wechseln, und da wir beide hinken — ich freilich nur
— 230 —
mit der Hose ~ wird sich ein freundschaftliches Ver-
ständnis rasch anbahnen."
Der alte Mann stand noch immer stramm da, aller-
dings verwundert über diese feierliche Rede. Er stam-
melte schließlich ein „Jawohl" hervor und suchte wieder
sein Marterinstrument in Bewegung zu setzen. Jetzt
hieit ihm Thomas die Hand fest und begann wie ein
Wasserfall zu reden.
„Es ist Ihnen gev/iß schon aufgefallen, daß die Musik,
die dodi von allen Künsten am wenigsten an der
Materie klebt, durch und durch sinnlich ist, aas der
Sinnlichkeit entsteht und auf die Sinnlichkeit wirkt.
Der Vogel singt, wenn er sich paart, und der Knabe
bekommt die tiefen musikalischen Brusttöne, wenn die
Schamhaare wachsen. Alles Himmlische hat seinen Ur-
sprung in den Geschlechtsteilen und die Musik entsteht
durch die Begierde auf dem Wege der inneren An-
steckung, über die ich demnächst eine kleine Ab-
handlung in dem Standesorgan der Drehorgelspieler
erscheinen lassen werde. Erlauben Sie," fuhr er fort,
ergriff die Kurbel und drehte sie einen halben Takt.
„Was ist das?"
„Das Gebet einer Jungfrau." erwiderte der Leier-
kastenmann.
„Ein Stift, der in ein Loch greift," sagte Thomas
hoheitsvoll, „die Walze der Mann, die Platte die Frau."
„Die Sache ist so einfach, daß es jedes Kind be-
greifen kann. Die Musik ist eine Schöpfung der Liebe,
oder, um uns verständlicher auszudrücken, des Eros. Sie
wissen doch, was Eros bedeutet?"
„Nee," sagte der Alte und zog die Silbe lang, als
ob ihm mit dieser Zumutung die größte Beleidigung
angetan sei.
- 231 —
„Ist auch nicht nötig. Sie verstehen es auch so, jedes
Kmd versteht es." Er fuhr mit dem Arm nach oben
und ließ ihn wieder sinken, dann ging der Arm nach
rechts und dann nach links, und wieder von vom
Dabei sah Thomas seinen Schüler aufmerksam an:
„Verstanden?"
Der Leierkastenmaiin schüttelte den Kopf und ver-
suchte, von der Wand, an die ihn Thomas gedrängt
hatte, fort zu kommen. Aber Thomas hielt ihn 'fest und
wiederholte seine Bewegungen.
„Das ist auf und ab, hin und her. Es sind die
Prinzipien der Musik und des Eros. Wie Mann und
We.b m der Liebe auf und ab sich heben und senken,
wie sie die Leiber zu einander hindrängen und wieder
her bewegen, so tut es die Musik. Der Ton ist hoch
und smkt hinab zur Tiefe, der Ton ist stark und erstirbt
zum piamssimo, die Klänge folgen in breitem Tempo,
um überzugehen in furiose Raserei. Die Melodie schwillt
an und verklingt. Stellen Sie sich doch eine Violine
vor. Da geht der Bogen doch immer auf und ab, hin
und her, bald rasch, bald langsam, ein richtiges Bild
des Liebesverkehrs. Die Geige die Braut, der Bogen
— gespannt — der Liebende und der Arm des Geigers
. das Brautlager. Man sagt ja auch, eine Frau fiedeln, sie
geigen."
„Ja," die Augen des Alten leuchteten plötzlich ver-
ständnisvoll auf, er drehte die Kurbel ein wenig' sie
orgeln."
„Sehen Sie," rief Thomas vergnügt und warf gleich-
zeitig der Bauerndirne, die neugierig lüstern zuhörte,
einen aufmunternden Blick zu, den ihr Liebhaber mit
einem heftigen Stoß in ihre Rippen unschädlich zu
machen suchte. ..Sehen Sie, Sie verstehen schon, be-
- 232 —
i
greifen auch, warum die Menschen im Konzert das
Orchester sehen wollen, das ja ein vervielfachtes Braut-
bett ist mit dem Kapellmeister als gewaltigem Herrscher
der Orgie. Und gerade der Kapellmeister mit seinem
Taktstock, der auf und ab und hin und her geht, ist
eine Erfindung des Eros, gleichsam Mensch 'gewordenes
Testikel- und Ovarienferment. Nein, nein ■ — ," Er stridi
mit einer seiner großen Armbewegungen die Einwünde
des Zuhörers weg, obwohl dieser Zuhörer niclits einzu-
wenden hatte, da er schon längst nichts mehr von allem
verstand. „Wenn einzelne sich so setzen, daß sie den
Dirigenten nicht sehen können, so ist das nicht Liebe
zur Musik, sondern Flucht vor der Erregung. Denn nicht
bloß das Auf und Ab im Orchester und beim Kapell-
meister wirkt auf das Auge, sondern vor allem der
Taktstock. Der Gedanke an das Schlagen, an den ge-
züchtigten Körperteil, der in Posaune und Trompete
versinnbildlicht ist, während die Flötentöne das Wimmern
des Geschlagenen verdeutlichen. Die Flolentöne bei-
bringen — Sie verstehen? Empfindlichen Naturen ist so
etwas zu viel, die schließen die Augen und verstecken
sich so vor der Gewalt der Empfindung. Daher stammt
auch die Idee des verdeckten Orchesters, die von Augen-
siindern ersonnen worden ist. — Warten Sie," unterbradi
er sich und schob einen Apfelsinenhändler beiseite, der
sich an ihn herangedrängt hatte und ihm seine Früchte
hinhielt. „Nachher."
Der Händler, ein kleiner, buckliger Kerl, dessen eines
Auge mit einer schwarzen Binde zugedeckt war, während
das andere verschmitzt und scharf alles beobachtete,
stellte sich neben den Drehorgler.
„Ja, verehrte Herren," begann Thomas wieder mit
erhobener Stimme, als ob er zu einer Versammlung
233 -
redete, „irdisch und himmliseh. Musik und Liebe sind
beides. Da ist das Klavier, der Herrgott Künstler sitzt
davor und läßt die Töne erklingen, diese Töne der Ehe,
harmonisch und disharmonisch, Diskant und Baß gegen-
einander. Da ist das Weib, das die Melodie der Grund-
oktave fühlt, ganz echt die erste Violine spielt und ihre
Kinder sekundieren ihr bis zu den höchsten Stimmen
des Wickelkindes. Der Baß stürmt dagegen an, reißt
iiie und da die Herrschaft des Themas an sich und
verliert sie vyieder, folgt der Frau oder brummt und
wütet ... Ja, meine Herrschaften, das Klavier ist die
Eile, nicht etwa nur das Bild der Ehe, sondern in Wahr-
heit Liebesspiel, Geburt und Grab, Neigen und Fliehen,
Umarmen und Kampf; wie die Glieder der Liebenden,
so verflechten sich die Töne ineinander, weichen sich
aus, suchen sich wieder, steigen jubelnd empor zum
höclisten Himmel des Glückes -und sinken nieder in
dunkle Trauer. Ein Mutterleib ist das Klavier, in dessen
Innern Kinder dem Leben entgegenschlummern. Lange
Monde hindurch ist dieser Leib tot, dann aber kommt
die große Stunde, wo junges Leben erwacht. Hier hebt
sich der Hammer wie ein Kinderarm, und dort wie ein
Beinchen, und seltsames Entzücken durchrieselt diesen
Frauenleib und klingt im Ton hinaus in die Welt. Und
immer lebendiger wird es, Hammer auf Hammer pocht,
Kind auf Kind, schauernde Wonnen fließen in Melodien
Über. Engeichörc singen ihr ewiges Lied und der Donner
der Bässe ruft zum jüngsten Geridit. Der Himir.e! tut
sich auf, Sphärcnklang ertönt und die Gottheit spricht.
Sehen Sie doch die schwarzen Tasten, winzige Kinder-
sHrge, die sich bewegen und aus denen der Tod singt.
Ist es nicht ein groSer Sarg, dieser schwarze Kasten,
ein Sarg voll Hoffnung und Auferstehung, voll Liebe
- 234 -
und Liebe. Sehen Sie doch die Flügelforai, die mäclitige
schwarze Schwinge des Todes, des Engeis, des, der alle
Freud und Schmerzen stillet. Fühlen, greifen, hören,
sehen Sie es doch, daß Musik Liebe ist und Liebe Tod
und Tod Leben. Gott selbst — "
Dem Apfelsincnhändler riß die Geduld, mit einer
rEschen Bewegung zog er den Leierkasten herum, drehte
und mitten in Weltleins Dithyrambus hinein platzte der
Fatinizzamarsch : Du bist verrückt, mein Kind,
Thomas war der erste, der lachend Beifall klatschte.
Wie ein Tanzbär trat er im Takt von einem Fuß auf
den anderen, zupfte den alten Soldatenbettler am Bart
und warf ihm ein Goldstück auf die Orgel, faßte dann
mit beiden Händen in den Apfelsincnkorb hinein und
fing an, mit den goldenen Früchten zu jonglieren.
„Es muß hübsch sein, so mit den Welten herumzu-
spielen," sagte er. „Allerdings fallen lassen darf man sie
nicht." Die eine Orange war ihm entglitten und rollte
gerade vor den Schlosser hin, der sie unwirsch mit dem
Fuß wegstieß; Thomas entschuldigte sich treuherzig und
bat, die beiden Früchte, die er noch in der Hand hielt,
der Dame zu geben, für die des Schlossers Herz schlüge.
Der junge Mann lachte höhnisch auf. „Wenn sie
etwas geschenkt bekommen soll, so schenk ich ihr's. Wir
wissen beide, was es bedeutet, wenn feine Herren jungen
Mädchen etwas schenken, und wenn Sie sich hier nicht
bald wegdrücken — " Er vollendete den Satz nidit,
sondern legte die geballte Faust auf sein Knie.
Thomas sah ihn nur freundlich an, ließ die beiden
Orangen auf der flachen Hand tanzen und sagte: „Warum
sind Sie mir bÖse? Sehen Sie mich alten Kerl an und
betrachten Sie sich selbst. Wie können Sic eifersüchtiir
sem, während Sie in allem mir überlegen sind?"
- 235 -
Der Schlosser sah auf, und da er den Naser mit
Pickeln erblickte, lächelte er ein wenig.
„Sie halten mir zu viel Reden, die niemand ver-
steht. Nur daß sie unanständig sind, das merkt ein
jeder."
Thomas scliüttelte erstaunt den Kopf. „Unanständig-?"
wiederholte er und seine Frage klang so kindlich ver-
wundert, daß der Schlosser eine Erklärung seiner Worte
für nötig hielt.
„Sie spredien von Musik, von Orgel und Fiedel, und
meinen damit ganz etwas anderes."
„Haben Sie noch nicht gemerkt, daß auch Sie etwas
anderes meinen, wenn Sic den Hammer schwingen?
Wissen Sie nicht, daß es stets bestimmte Taktfolgen
sind, in denen Sie hämmern?" Thomas trommelte das
Miniemotiv auf den Boden des Wagens. Jede Arbeit
bedarf der Ordnung, der Musik, achten Sie nur einmal
darauf. Wenn die Leute auf der Straße pflastern, so
heben und senken sie die Ramme nadi bestimmtem
Rythmus; wenn eine Last mit dem Hebebaum gehoben
werden soll, so gesdiieht es nach einer Melodie. Er
steckte den Stock unter den Handwerkssack des Schlossers
und, während er so tat, als ob er sich schrecklich an-
strengen müßte, stieß er seltsame Töne hervor. „La la
la Huuup, la la la Huuup."
Der Schlosser nickte.
„Sie wissen also, daß in bestimmter musikalischer
Weise gearbeitet wird, und daß das ein allgemeines
Gesetz für die Tätigkeit des Menschen ist, auch für
die geistige, wissen Sie auch, oder können es mir
wenigstens glauben. Warum ist es aber so?"
Der Schlosser antwortete immer noch verdrossen :
„Weil es sich so besser arbeiten läßt."
- 236 -
„Ja, aber warum wird einem die Arbeit leichter,
sobald sie im Rhythmus ist? Weil sich im Rhythmus
das tiefste Wesen des Menschen ausspricht, weil das
Kind in ihm lebendig wird, das alles zum Spiel ge-
stalten muß, weil der mechanische Ernst unerträglich
ist, und man ihn phantastiscli umgestalten muß. Es steht
gar nicht in unserem freien Willen, die Dinge anders
als rhythmisch aufzufassen. Horchen Sie auf die Stöße
der Schienen. Schon in der ersten Minute wird es Ihnen
klar, daß diese Stöße etwas erzählen, etwas singen; das
heißt, sie tun das im Grunde genommen gar nicht, aber
Ihr Ohr legt ihnen die Melodie unter. Und so machen
Sie es mit dem Brausen des Windes, mit dem Rauschen
des Wassers, dem Klatschen des Regens, dem Wirbeln
der Blätter im Wind, dem Bellen des Hundes, den.
Drehungen des Schwungrades, mit den Stunden, Tagen,
Jahren, mit Sonne, Mond und Sternen, Alles das, mag
es so unregelmäßig vor sidi gehen wie nur denkbar,
wird vom Menschen melodisch gemacht, in Regeln der
rhythmischen Folge gebracht. Warum? Da liegen Zwangs-
verhältnisse vor, die durdi das Lebendigsein selber be-
dingt sind und die gelehrtere Leute als wir beide ent-
rätseln müssen. Eines aber werden Sie ohne weiteres
verstehen. Neun Monate lang liegt das Kind im Mutter-
leibe und den größten Teil dieser Zeit hat es als
einzige Beschäftigung den Herzschlag. Das einzige, was
es wahrnimmt, was ihm deutlich sein muß, ist der
regelmäßige Takt des Pulses. Längst vor jedem Ein-
fluß auf irgend einen der Sinne, längst vor der Geburt,
längst ehe das Kind von der Welt auch nur das geringste
erfährt, wird es an den Rhythmus gewöhnt, an ein Auf
und Ab, ein Hin und Her. Und diesem Auf und Ab,
diesem Hin und Her begegnen Sie nun überall. Am
— 237 —
stärksten, eindringlidi und unvergeßlich ist aber d?s
Hin und Her des Mannes im Weibe."
Der Schlosser fuhr auf: „Hören Sie mit diesen
Sdiweinereien auf, sonst haue ich Ihnen eine runter."
„Dieser Schweinerei verdanken Sie Ihr Leben. Ehret
Vater und Mutter, heißt es. Sie sollten nicht Ihre Eltern
Schweine nennen."
„Meine Eltern, was gehen Sie die an, was haben die
damit zu tun? Ich verbitte mir, daß Sie meine Mutter
in Ihren Dreck mit hineinziehen."
Thomas lächelte milde. „Ein Junge, den ich kannte,
sehr gut kannte, denn idi war es selbst, sagte, als ihm
ein Kamerad die Gesell ichte von der Zeugung erzählte;
Vielleicht sind deine Eltern soldie Schweine, so etwas
zu tun, meine Eltern tun es nicht, Sie haben viel Ähn-
lidikeit mit diesem jungen."
Der Schlosser stutzte einen Augenbhck, dann sagte
er: „Ja, aber man spricht von so etwas nicht, wenigstens
nidit auf der Eisenbahn."
„Nein," erwiderte Thomas, „man spricht von sn
etwas nicht, aber man führt die Mädchen an einer
Lokomotive vorbei und die spricht noch viel deutlicher
als ich." Er steckte den rechten Zeigefinger in die hnke
Faust und fuhr damit hin und her.
XXVI. KAPITEL.
EINE SCHLÄGEREI.
WAS DAS DU EINES PRINZEN VERMAG.
„Saukeri," schrie der Schlosser außer sich vor Wut
und suchte dem Gegner an die Gurge! zu springen,
aber die Umstehenden, die mit lautem Lachen die Be-
wegungen des feinen Herrn verfolgt hatten, hielten ihn
— 238 -
fest und der Student, der ihn am Arm gepackt hatte,
sagte mit seiner scharfen, befehlenden Stimme: „Bleiben
Sie ruhig, der Herr hat reclit, und Sie als Mechaniicer
sollten froh sein zu lernen, warum die Maschine jeden
Menschen so stark anzieht."
„Weiter reden!" rief der Friseur, neben den sich
ein aufgeputztes Frauenzimmer in weißer Bluse mit
grellroten, riesigen Schleifen aufgepflanzt hatte, und
der Apfelsinenmann erklärte, was dem Drehorgler recht
gewesen sei, müsse dem Sdilosser billig sein,
Thoraas griff das Wort des Studenten auf. „An-
ziehen, Sie brauchen den richtigen Ausdruck. Woher
kommt es, daß man einem einfahrenden Zug fast in
die Räder lauft; da reichen die physisch -physiologisclien
Theorien nicht aus, ebensowenig für die Übelkeit, die
Tausende beim Eisenbahnfahren befällt. Und daß alle
Kinder Eisenbahn spielen," er lächelte im Gedanken an
sein letztes Beisammensein mit Lachmann, „erklärt sich
auch nur durch psychische Vorgänge tiefster Art. innere
Ansteckung. Puff-Puff, merken Sie es denn nicht? Es
liegt dodi im Namen."
Der Bursche in der Ballonmütze wieherte los und
griff gleichzeitig der aufkreischenden Schleif enprinzessin
von hinten die Brüste aus,
Thomas ließ sich nicht stören und setzte ruhig dem
wutblassen Schlosser seine Ansichten weiter auseinander.
Er hatte die eine Hand oben in den zugeknöpften Rock
gesteckt, mit der anderen wippte er seinen Stock auf
und nieder, während er das Apfelkrautbein herausfordernd
vorgestellt hatte. „An der Lokomotive fällt .zunächst
das Ding auf, das an der Seite hin und her geht, Kolben
und Zylinder, rein und raus. Oben antwortet der Schorn-
stein kurzatmig vor Anstrengung und dampfend im
- 239 -
Schweiß; Seh — Seh — Seh — . Vor einem großen,
schwarzen Loch, in dem das Feuer brennt, steht ein
Mann aufrecht und stochert mit der Stange die Glut
an. Ein Pfiff ertönt — Sie wissen, was eine Pfeife be-
deutet, Frauen dürfen nicht pfeifen — und ab und zu
öffnet sich ein Hahn und dieses lebendige Eisenmonstrum
schlagt sein Wasser aus dem Bauche ab. So ist's mit
der Lokomotive, ähnlich mit allen Maschinen, und Sie,
der Sie damit umzugehen haben, fühlen das auch recht
gut, wollen es nur nicht wahrhaben. Sie müssen es doch
fühlen, daß der Schlüssel der Mann ist und das Schlüssel-
loch das Weib. Wenn Sie nur für drei Pfennige Beob-
achtungsgabe hätten, müßten Sie längst das Material
gesammelt haben, um es den Leuten an der Nase an-
zusehen, warum Sie einen Schlüssel verlieren oder ein
Schloß verdrehen. Das Schloß verschheßt die Tür und
die Tür das Zimmer, das Frauenzimmer. Jede Frau hat
ein Schloß, das der Mann aufschließt. Lesen Sie nur
den „Faust", lieber Mann, den zweiten Teil, die Szene
von den Müttern, da finden Sie, was der Schlüssel be-
deutet. Der Schlüssel öffnet jede Schatzkammer, auch
die Ihres Schatzes wird er öffnen, wenn es nicht langst
geschehen ist. Aber die Menschen sind ja so dumm,
sie wissen nicht, daß überall das Weib ist, daß sie
wahrhaft die Mutter aller Dinge ist. Keller und Küche,
Haus und Hof, alles ist weiblich. Denn im Keller ruht
das Faß, in dem der neue Wein gärt, lesen Sie nur
das Weinlied von Novalis, da finden Sie es. Und in
der Küche, im Herd wird alles gekocht, wie im Weibes-
schoß das Kind. Das erste Haus, das bewohnt ward,
war der Frauenleib, der Hof und der Garten mit Spring-
brunnen und Buchs baumhecke und Rosenlaube sind auch
entstanden durch innere Ansteckung. Die Frau ist die
— 240 —
J
Burg, die erobert werden muß, und wenn sie schon ist,
ist sie ein Schloß. Haken und Öse nennt der Tiroler
Männchen und Weibchen — "
„Und der Strick, an dem man Sie aufhängen sollte,
wäre dann auch ein Weib," schrie der Schlosser, der
allmählich rasend wurde.
„Gewiß, gewiß," Thomas jubelte es förmlich. „Der
Galgen, die segnende Teufelshand, die den Dieb mit
dem Strick zusammengibt. Freund, Bruder," rief er und
breitete die Arme aus, um den Schlosser an sich zu
ziehen, „du verstehst mich."
„Ich bin kein Du von Sie." Der Mann hatte sich
mit einem plötzlichen Ruck losgerissen und sich auf
Thomas geworfen, der zurück taumelte, dem Apfel-
sinenmann auf die Füße trat und fast das Gleichgewidit
verlor. Dann aber faßte er sich, legte seine Arme über
den Kopf des Angreifers und drückte ihn mit seiner
schweren Körperlast nieder, bis er wie ein Taschen-
messer zusammenklappte. Ein wildes Durcheinander cnl-
stand, während der Apfelsinen mann Thomas von hinten
umschlang, rissen andere den Schlosser zurück. Geschrei
und Fluchen ertonte und es entwickelte sich eine richtige
Schlägerei, als der Schaffner erschien. Der Kampf brach
plötzlich ab und der Streitfall wurde der hohen Obrig-
keit zur Entscheidung vorgelegt.
Innerlich war der Schaffner davon überzeugt, daß
Thomas ein durchtriebener Halunke sei, der irgend-
welche unsauberen Absichten hatte. Was hätte er sonst
mit seinem Billett I. Klasse in der IVten zu suchen
gehabt? In Anbetracht des empfangenen und in Hoff-
nung auf ein neues Trinkgeld jedoch versuchte er es,
den feinen Herrn irgendwie zu rechtfertigen. Das war
nicht leicht, weil mit Ausnahme des Studenten die
- 241 - 16
I
sämflidien Insassen des Wagens Partei gegen Thomas
nahmen. Vor allem predigte der Apfelsincnmann in
hohen Tönen der Entrüstung gegen die Un Sittlichkeit
des reichen Eindringlings, der, weil er Geld habe, glaube,
in anständiger Gesellschaft Zoten reißen zu dürfen, und
der ehrlichen Leuten auf die Hühneraugen trete. Ihm
sekundierten eifrigst der Bursclie in der Ballonmütze,
der sich rühmend einen braven Metzger nannte, und
die Dame mit der roten Busenschleife, die in seltsamer
Geistesverwirrung ihre gänzlich zersdiundene Jungfrau-
Uchkeit durdi sittliches Pathos zu ersetzen strebte. Also
bestürmt, entschloß sich der Schaffner, nachdem er mit
halboffenem Munde und g;esträubiem Schnurrbart die
Ankläger durch ein mehnnaÜges Abwinken mit der
Hand in ihre Schranken zurückgewiesen hatte, zu einem
Rüffel und sagte in dem erhabenen Tone der ewin-en
Gerechtigkeit zu dem Angeklagten: „Man sollte doch
von einem Herrn, der für gebildet gellen will, ein an-
ständigeres Betragen erwarten. Sie haben -^och schon
das. königliche Eigentum verdreekt und nun fangen Sie
hier Stänkereien an. Schämen Sic sich doch." Damit
wandte er sich zum Gehen, froh, sieh aus der Affäre
gezogen zu haben. Aber er hatte seine Rechnung ohne
den Wirt gemacht.
Thomas hatte, als der Kampf abgebrochen wurde,
die Hände in die Hosentaschen gesteckt und hörte sich
schweigend den Sturm an. Sein Blick ruhte dabei auf
dem buckligen Apfelsinenhändler und der schwarzen
Binde über dessen linkem Auge. Als der Schaffner seine
Rede hielt, wollte er von seinem Allhiifsmittel, dem Gold,
Gebraudi machen, merkte aber zu seinem Erstaunen,
daß seine Taschen leer waren. Er fühlte seine Brust-
tasche, auch die war leer, seine Briefmappe mit ein paar
- 242 -
hundert Mark war verschwunden. Er woilfe i^erade Be-
schwerde über den Diebstahl führen, da fiel wieder sein
Blick auf den Händler und aus einer plöi7,licheii Ideen-
verbindung heraus tauchte der Entschluß in ihm auf,
noch einmal den Weg der Schmerzen zu wandeln. Statt
also ruhig das erhabene Geschwätz des Schaffners hin-
zunehmen, antwortete er im schnoddrigsten Ton, den er
aufbringen kpnnter
„Sie haben hier die Fahrkarten nachzusehen, weiter
nichts, dafür bezahlt Sie der Staat, das heißt die Steuer-
zahler, zu denen ich gehöre. Sie sind mein Angestellter
und haben sich demgemäß bescheiden zu betragen. Ver-
standen?"
Der Schaffner kriegte ein Gesicht so blau, als ob es
mit Heidelbeersaft besclimiert wäre: „Ihr Angestellter,
was? Sie, Sie, Sie." Er fand aus den vielen Sies nicht
mehr heraus, da ihn der ruhige Blick Wcitleins vollende
verwirrte. Die Sprache versagte ihm und nur noch ein
stoßweises Fauchen kam aus ihm heraus,
„Eisenbahn!" rief Thomas triumphierend, „er spielt
Eisenbahn."
„Ich werde Ihnen was beeisenbahncn. Auf der nächsten
Station werden wir ja sehen, ob ich Ihr Angestellter
bin oder umgekehrt."
„Ich weiß, daß der Staat das Publikum der Beamten
wegen hält," grinste Thomas.
„Sie werden schon sehen, was ein Beamter ist,"
drohte der Schaffner. „Man wird es Ihnen auf der Polizei
beibringen. Hier sind genug Leute, die bezeugen können,
dfiß Sie einen Beamten beleidigt haben."
Die Stimmung war umgesehlagen. Fast jeder der
Insassen hatte trübe Erfahrungen mit Beamten gemacht
und gar das Wort Polizei nahm dem Sdiaffner die
- 243 —
16»
Sympathien, Wedei- der Ballonmützen mann noch der
Friseur, noch gar das Weib in der Schleifenbluse wünschten
mit diesem Organ die Bekanntschaft zu erneuern, und auch
das Stehbein und der Student sahen plötzlich so aus,
als ob sie die Sache nichts anginge. Nur der Apfelsinen-
mann erbot sich von selber, dem Herrn Schaffner zu
bezeugen, daß er beleidigt worden sei.
Der Zug hatte inzwischen sdion Vprorte Stationen
von Berlin durchfahren und der Schaffner eilte, den
Zugsführer aufzusuchen, um ihm über Thomas Bericht zu
erstatten.
Während der kurzen Fahrt, bis der Zug im Anhalter
Bahnhof in Berlin einlief, entwickelte sidi ein lebhaftes
Gespräch zwischen dem Studenten und Thomas, das sich
im wesentUchen um den Polizei- und Beamtenkoller
drehte. Während jedoch der Student ganz verständige
Ansichten über diese merkwürdige Erscheinung äußerte,
brachte Thomas Behauptungen vor, die die Zuhörer nicht
aus dem Lachen herauskommen ließen. Zunächt stellte
er den Satz auf, Beamter komme von dem Wort Amme
her oder zum mindesten werde jeder Beamte durch den
Klang des Am so infiziert, daß er Bruchstücke des
Amme s eins in seinen Charakter aufnähme,
„Der Beamte. betrachtet das Publikum als Wickel-
kind," sagte er, „mu& es so betrachten, er hält sich für
verpflichtet, dieses hilflose Wesen, das nur saugen und
heulen kann, zu leiten, hat aber neben und durch dieses
VerantwortHchkeitgefühl auch die Größenidee, das
Säuglingspublikum zu erziehen und zu strafen. Dabei
ist er sich jedoch seiner Unvollkommenheit bewußt, da
ihm das Wichtigste zur Amme, die Milch, fehlt, was sich
in den beiden weggelassenen Buchstaben m und e aus-
spricht. Und gerade aus dem Mangel der Milch, aus
— 244 -
diesen fehlenden zwei Buchstaben, erklärt sich auch die
Abneigung des Publikums. Es befindet sidi dem Beamten
gegenüber im Zustand der Entwöhnung, die Brüste
sclimecken bitter, weil sie mit Chinin bestrichen sind,
und es sucht sich durch versteckte Auflehnung dafür zu
rächen, daß diese verstün:)melte Amme Gehorsam verlangt-
ohne dafür süße Milch zu geben. Dieser Ammencharakter
hal sich in der Gewohnheit der unteren Beamten erhalten,
der Mutter der Kompagnie beispielsweise, ein Notizbuch
vorn zvfischen die Brustknopfe zu stecken, sie betonen
so die Milchwittschaft und reizen dsimit das Publikum-
Säugling noch mehr, das solches Betonen eines Mangels
ja als Hohn auffassen muß. Bei der Polizei ist die Sache
noch viel schlimmer. Da liegt in der ersten Silbe das
Wort Popo drin, mit den fatalen Erinnerungen an die
Haue, die man bekommen hat. Die zweite Silbe h ist
abgekürzt aus Liebe und weckt den Gedanken an die
geradezu ungeheuerliche Anmaßung der Erzieher, daß
man sie auch noch dafür heben soll, wenn sie einem
■ die Hosen stramm gezogen haben. Und das zei ist nun
gar die Tatsache, daß man nachher in die Ecke gestellt
wurde, bis man um Verzeihung gebeten hatte."
Der Zug lief gerade in die Bahnhofshalle ein, als
Thomas diese Auseinandersetzungen beendet hatte. Er
gab dem Studenten sein Hotel und seinen Namen an
und bat ihn, ihn zu besuchen, dann sdiritt er, nach allen
Seiten höflich grüßend, hinaus.
Auf dem Bahnsteig erwarteten ihn Schaffner und
Zugsführer, die ihn sofort zwischen sich nahmen, um
ihn zur Polizei wachst übe zu bringen. Ihr Triumphzug litt
jedoch von vornherein darunter, daß keiner der Mit-
reisenden sich als Zeuge anschloß. Der Apfelsinenmann
war auf eine rätselhafte Weise versdi wunden, man sah
- 245 —
nur, wie er durch die Bahnsteigsperre ging. Da außer-
dem Kleidung und Wesen des Angeklagten in der freien
Luft ganz anders zur Geltung kamen, wie iQ der
schmierigen Umgebung der IV. Wagenklasse, stiegen dem
Schaffner allerlei Bedenken auf, ob es wohl angebracht
sei, diesen Herrn vor die Polizei zu bringen. Dort konnte
dr,5 Goldstück erwähnt werden, das er als Trinkgeld
angenommen hatte, und er stellte sich vor, daß es gar
leicht wieder aus seiner Tasche herauswandem könne,
in der es doch so lieblieli klingelte. Dem Zugsführer
paßte es erst recht nicht, eine langwierige Verhandluno-
mitzumachen, die ihm an seiner freien Zeit abgeknapst
wurde.
Thomas dagegen wuchs mit jedem Schritt, den er
zwisclieii den mürrisclien Wächtern machte. Er war wieder
ganz erfüllt von der Weihe des Leides, das ihn bis zu
der Idee des Heilands zwisdien den Schachern begeisterte.
Er stürmte förmlich dem Golgatha entgegen, gewillt, bei
dem Polizei Wachtmeister neue Qualen auf sich herab zu
beschwören.
Der Aufzug dieser drei Leute erregte die Aufmerksam-
keit des Publikums, zumal Thomas heftig gestikulierend
laute Selbstgespräche über seinen Erlöserberuf hielt.
PIötzHch teilte sich der Strom der Reisenden, die nach
dem Ausgang zustrebten. Ein hochgewachsener Offizier
in der Uniform der roten Husaren, dem zur Seite einen
halben Schritt dahinter ein Adjutant schritt, kam schnellen
Ganges daher. Hie und da blieben die Leute stehen
und grüßten ihn in besonders auffallender Weise. Die
beiden Eisenbahnbeamten blieben stehen und machten
Front, während Thomas weiter stelzte.
Der Offizier stutzte einen Moment, als er den großen,
dicken Mann sah, dessen Hnkes, helles Hosenbein mit-
— 246 —
I
J
samt dem Lackschuh und dem violetten Seidenstrumpf
aussah, als ob er durch einen Abtritt gezogen wäre,
dann ging er mit ausgestreckter Hand auf Thomas zu
und rief: „Müller, Laban, alter, heber Kerl, wo, Teufel,
kommst du her?"
Thomas hielt im Laufe inne, riß sich heraus aus
seinen Träumen, ergriff gleichzeitig respektvoll und
kameradschaftlich die fiand des Prinzen Viktor, des
roten Prinzen, wie ihn der Volksmund nannte, und
erwiderte: „Direkt aus dem Fegefeuer, Königlldie Hoheit,
und werde vor das jüngste Gericht gesiiilcppf, um in
die Hölle geworfen zu werden."
„Kannst du nicht mitkommen, ich fahre hinaus ins
Schlöt5chen und würde midi freuen, ein paar Stunden
mit dir zu plaudern, alte Erinnerungen aufzufrischen.
Freihlich, ganz präsentabel siehst du nicht aus."
„Kann auch nicht mitkommen, so gerne ich es täte,
* Ich bin auf dem Wege zu Gefängnis, Handschellen und
Zuchthaus. Hier sind die Schergen des Gerichtes." Er
eri'.riff die beiden Beamten, die in untertänigem Staunen
erstarben.
Der Prinz warf einen fragenden Blick auf den Zugs-
führer.
„Es soll nur festgestellt werden," stammelte dieser,
j „ob — . Der Schaffner behauptet, daß — . ich hoffe, es
ist ein Irrtum — . Der Schaffner ' — ."
Der Schaffner stand da und sdiwitzte vor Auf-
regung. Er wünschte sich selbst zu allen Teufeln und
war sogar bereit, sein Goldstück herzugeben, wenn er
nur aus der beklemmenden Nähe des roten Prinzen
wejkäme, dessen wenig zartes Wesen er noch von
einer unangenehmen Affäre seiner Dienstzeit her im
Gedäditnis hatte.
- 247 -
Der Prinz wurde ungeduldig. „Ich bin gewohnt,
klare Antworten zu bekommen, Zugsführer. Wie heißen
Sic?"
„Rehbaum, Königliche Hoheit."
„Und der Mann da?"
„Kalkner, zu Befehl, Königliche Hoheit."
„Also was ist los, heraus mit der Sprache — " und
als nicht sofort Antwort kam, brach er mit den
Worten ab. „Ich habe keine Zeit, bis es Ihnen ge-
fällig ist, zu antworten, mein Zug wartet nicht. Idi
hoffe, Sie belästigen den Herrn nicht unnötig. Adieu.
Laban, wir sehen uns wohl bald einmal." Damit ging
er davon.
Dem Zugsführer war die Lust vollkommen vergangen,
mit dem Herrn, der sich mit dem roten Prinzen auf
Du und Du stand, Skandal zu haben. Er grüßte kurz
und ging wieder zum Zuge zurück. Aber so leicht
sollte er von Thomas nicht los kommen; der packte
ihn hinten am Rockschoß und erklärte, er wolle sein
Urteil haben. Als sich der Zugsführer mürrisch nach
ihm umdrehte, benutzte der Schaffner die Gelegenheit,
mit langen Schritten davon zu eilen, und Thomas mußte
nun diesem wichtigeren Sdiächer nachlaufen. Der aber
sprang über die Schienen und durch einen leeren Wagen
eines haltenden Zuges davon, und das Ende vom Liede
war, daß Thomas pustend und aufgeregt allein dastand,
da seine beiden Verfolger vor ihm ausgerissen waren.
Verstimmt schritt er dem Ausgang zu und hcf beim
Durchschreiten der Sperre direkt in die Arme Keller-
Capreses.
- 248 ■
XXVH. KAPITEL.
EIN LANGWEILIGES KAPITEL, DAS ABER NICHT
UNTERSCHLAGEN WERDEN KANN, DA ES VOM
WASCHEN UND DEM GEHEIMNIS
DER SIXTINISCHEN MADONNA HANDELT.
Aus der nächsten Zeit haben sich nur sehr spär-
liche Nachrichten über die Erlebnisse Thomas Welt-
leins auffinden lassen. Es scheint, daß er öfter mit
Keller-Caprese zusammen gewesen ist, und auch der
Student, der den Namen Bernhard Seebach trug, hat
sich hie und da mit Thomas getroffen. Aber die Mit-
teilungen dieser beiden Leute sind ziemlich lückenhaft,
Der Student ist im Kriege gefallen und Keller-Caprese
ist verschollen, so daß ich mit keinem von beiden per-
sönlich verhandeln konnte. Man ist also völlig auf
Agathe s Aufzeichnungen angewiesen und die leiden
daran, daß sie eine starke Abneigung gegen den Maier
hatte und infolgedessen seine Erzählungen teilweise
ganz kassiert, teilweise mit eigenen Randbemerkungen
völlig entstellt hat. Den Studenten hat auch sie nie zu
Gesicht bekommen, vielmehr sind die Verhandlungen
durch Lachmann g^efijhi-t worden, der absichthch manches
der Jugendgeliebten unterschlagen hat und nun nach
Jahren nur unsicher aus der Erinnerung erzählen kann.
Von dem größten Teil dieser Berliner Wochen weiß
man überhaupt nichts. Es bleibt mir nichts übrig, als
die paar Bruchstücke, die leidlich authentisch überliefert
sind, zusammenhanglos hierher zu setzen.
Dahin gehören zunächst eine Reihe von Besuchen,
die Thomas den Berliner Museen abstattete und zu
denen er sich Keller-Caprese als Sachverständigen mit-
nahm.
- 249 -
So einfach wie bei anderen Leufen ging das freilich
bei Thomas nicht. Zunädist war die Tafel mit der Auf-
forderung, sich vor dem Betreten der Samm!un<ren die
Fuße zu reinigen, ein schwieriircs Hindernis. Thomas be-
haupfete, seine Schwester Agathe müsse in der Nahe sein,
„Sie und keine andere hat diesen niederträchtigen Streidi
ausgedacht, hat die Tafel hierher gehängt und lauert nun
irgendwo, um sich an meiner Erniedrigung zu weiden,
da.an zu weiden, daß ich mich auf fremden Befehl
iei;:igeii muß, genau so, als ob ich ein kleiner lunge
wrire. dessen Hände und Hais von der Mama auf ihre
Reinheit geprüft werden, ehe er sich zu Tisch setzen
darf, und der schließlich wieder ans Waschbecken ge-
schickt wird, weil er dreddge Ohren I:at." Auf Grund
cieser fixen Idee brachte Thomas zwei volle Stunden
damit zu, erst die Umgebung und dann sämtliche Räume
der Galerie nacli seiner Schwester abzusuthcn. Dabei
hielt er lange Reden, die teilweise so heftig und laut
ge:ührt wurden, daß ein alter Galeriediener, der eben
i:n Betriff war, seiner Verachtung für das verständnis-
lose Publikum durch Spucken in den königlich preußi-
sdiei. Museumsspucknapf des Rubens-Saales Ausdruck
zu geben, verwundert den Kopf umdrehte und so seine
königlich preußische Museumsuniform mit seinem selbst-
fabrizicrten Wurfgeschoß traf.
„hl dem Waschen liegt der Urgrund aller Lüge und
Sdilechtigkeit." tobte Weltlein gerade. „Das Waschen
ist das Werk des Teufels, eine Gemeinheit, deren Er-
findung die unergründliche Bosheit des Weibes zur
Voraussetzung hat. Wer zählt die Tränen, die die armen
wehrlosen Kinder unter dieser grausamen Mißhandlung
durch die eigene Mutter vergießen. Wenn der hebe
Gctt den Dreck nicht gewollt hätte, hätte er ihn doch
- 250 -
nicht geschaffen. Er hätte uns nicht den Bauch mit
schönen braunen, plastisch knetbaren, nur Fremden
stinkenden, uns selbst wohh'i ecken den Stoffen angefüllt,
wenn es seine Billigung hatte, daß dann irgend ein
beliebiges Weibsbild ankommt und dieses unser höchstes
Eigentum, unsere ureigenste Schöpfung Baba schimpft.
Sehen Sie denn nicht, Sie blinder Tropf, der Sie sich
Maler nennen, daß alle Malerei, alle Kunst auf diesem
geheimnisvollen Wunder beruht, das die verderbte
Menschheit mit dem Namen Dreck oder gar Sclimulz
begeifert? Alle Plastik, die Kunstwerke des Phidias
und des Michelangelo wären ja gar nicht da, wenn nicht
der Säugling mit Darm und After seine Würste foiinte,
um sie dann mit den Händchen zu Abbildern seiner
dem Himmel noch nahen Phantasie zu gestalten. Haben
Sie nie als Junge im Sand wie ein Kupferstecher oder
im Schnee wie ein ecliter Maler Figuren mit dem Ihnen
von der Natur mitgegebenen Pinsel und dem leuchtenden
Goldton Ihres Farbenbehalters im Bauche gemalt?
Wahrscheinheh täten Sie es noch, wenn Sie nicht so ein
ausgemachter Polizeihase wären, der seine natürlich
schönen Triebe der sogenannten Sitte, das heißt der
Lüge zum Opfer bringt. Da erzählen sich die Leute
Wunderdinge von Giotto oder wie der Kerl heißt, und
dem vollendeten O, das er in den Straßenstaub ge-
zeichnet habe, an dem Phänomen aber, daß jedes Kind
seine Windeln und Bettlaken bemalt und daß da die
Wurzeln aller Kunst liegen, geht die Menschheit achtlos
vorüber. Angeborenes Talent? Ja, es hat sich doch noch
niemand die Mühe gegeben, die ersten künstlerischen
Versuche des Menschen, mögen sie nun plastisdier,
malerischer oder musikalischer Art sein, zu studieren;
festzustellen, wie das Werk dieser primitiven Kunst der
— 251 —
k
V
Entleerungen oder des Puzcns auf den Künstler wirkt,
und so lange man das nicht tut, ist das Reden über
Talent albernes Geschwätz. Kein Mensch aber ahnt, wie
viele Meisterwerke der Menschheit verloren gehen, wie
vielen Bildhauern, Malern, Musikern, Poeten, Architekten
schon in den ersten Momenten ihres Daseins ihre Be-
gabung geknickt wird, lediglich, weil die Mütter für
nötig halten, sie zu waschen. Übrigens ist ja die ganze
Wascherei sinnlos, man wird doch wieder dreckig. Es
ist Danaidenarbeit und ich meinerseits begreife den
Ausspruch des Biedermanns: Ich bin kein solches Schwein,
daß ich mich alle Tage waschen müßte. Wer sich schmutzig
vorkommt, seelisch schmutzig, der wäscht sich, als ob
er damit den Sündenkot seines Herzens wegreiben
könnte. Aber man sollte zu viel von sich halten, zu stolz
sein, um sich schmutzig zu finden. Was ich tue, ist recht,
denn ich tue es, ist der Grundsatz des anständigen
Mannes. Er überläßt die Reinlichkeit den Pilatusseelen,
die Unscliuld erheucheln müssen, weil sie zm feige sind,
Schuld zu tragen. In der Nationalgalerie hängt ein Bild,
da versucht ein Kind, ein Mohrenweib mit dem Schwämme
weißzuwaschen. Der Maler versfand die Tiefen des Lebens,
er malte eine Satire auf das Waschen selbst, das ja nie
rein machen kann, sondern nur neue Dreckschichtcn zu
Tage fördert. Und wenn man den Dingen nachgeht,
merkt man, daß die ganze Schmutzidee mit den Kleidern
zusammenhängt, Gesicht und Hände, die entblößt ge-
tragen werden, reinigen sich von selber. Die Kruste, die
sich darüber bildet, wenn sie nicht gewaschen werden,
wird nie dicker, sie reinigt sich selbst, es stellt sich
heraus, daß diese Art Kruste sogar reinlich ist. Sie
stinkt nicht wie Hände, die mit Parfüm gewaschen sind,
sie sieht nicht häßUch aus, wie die der Wäscherinnen,
— 252 -
sie ist, verglichen mit einer frischg-e was dienen Hand,
nahezu frei von Fäulnisbakterien, kurz, es ist eine an-
ständige ehrliche Hand.. Bei der Kleidung- aber fängt die
Lüg-e an und natürlich stinkt die Kleidung, wie jede
innerlich verlogene Lüge, Sie wissen doch, was innerlich
verlogene Lügen sind? P ha ri sä erlügen, die eine Schand-
tat in eine ehrenvolle Handlung umzulügen suchen. Alle
Mensclien, die edel sein wollen, alle, die hüh'eich und
gut zu werden begehren, gehören in diese Gattung der
lügnerischen Pharisäer. Die Haut verwest fortwährend
in ihren oberflächlichen Schichten und der Verwesungs-
geruch mitsamt den Fettsäuren und Schweinereien fängt
sich in der Kleidung. Reine Wäsche, das laß ich mir
gefallen, aber das Waschen? Ich bleibe dabei, es ist
eine Gemeinheit, sobald es der Reinlichkeit wegen an-
empfohlen wird. An sich ist ja frisches Wasser angenehm.
Die Weiber aber benutzen es, um die Kinder zu quälen,
freuen sich an dem Erfolg ihrer Bosheit. Sie selbst
waschen sich ja nicht einmal das Gesicht mit Seife, weil
sie immer parat sein wollen, geküßt zu werden, und weil
ein Seifengesicht stinkt, ein dreckig-es aber wollüstig;
duftet, wie Haare, wenn sie vier Wochen lang nicht
gewaschen sind. Können Sie sich vorstellen, daß sich
Engel waschen? Richtig mit Seife, nicht nur zum Ver-
gnügen? Wie mag es überhaupt bei den Engeln unter-
halb der Kleider aussehen?" Er stand gerade vor den
musizierenden Engeln van Eycks und schaute prüfend
auf die einzelnen Figuren. „Starke Zeiten dachten sich
die Engel mannhch, bei uns sind sie zu Mädchen
degradiert und unsere schäbige Denkart ist imstande,
dem Engel mit dem feurigen Schwert Weiberzüge zu
geben. Aber sagen Sie doch nur, wie mögen diese
Wesen unter dem Hemde gedacht sein? Haben sie
- 253 —
überhaupt Bäuche, und wenn sie welche haben, ist etwBS
drin? Und wenn etwas drin ist, kommt es heraus und
wie sehen die Apparate aus, mit denen die Entleerungen
stattfinden. Gibt es Abtritte da oben? Ist der Donner
der Furz des Engels?"
Bei dieser Frage versank Thomas in tiefes Nadi>
denken. Die Hände in den Hosentaschen, den Kopf
gebeugt und den Rücken gekiümnit, stolpei-te er vorwärts,
ohne nach rechts oder links zu sehen und ohne auf
Keller- Caprese zu achten, der schweigend neben ihm
her ging, weil er aus Erfahrung wußte, daß mit seinem
Gönner am leichtesten auszukommen war, wenn man il.n
schwatzen ließ.
Thomas strebte geraden Weges auf den Ausgang zu,
dort blieb er stehen, nahm die Stiefelbürste, die dort
lag, und putzte sidi äußerst sorgfältig die Schuhe, um
gleichsam noch einmal den Gegensatz zwischen- seinen
und der Welt Rein lidikeits begriffen zu betonen. Dann
wandte er sich, die Bürste gegen den Boden stemmend
und mit dem Hinterteil darauf balancierend, als ob tr
sich den langen Stiel von hinten in den Bauch bohren
wollte, zu Keller-Caprese.
„Alles in allem haben die Frauen doch redit, uns
zur Reinlichkeit zu erziehen. Was sollte wohl daraus
werden, wenn wir noch jede Straßenecke wie die Hu-nde
anspritzen wollten. Und das Beachtenswerte ist, daß die
Mütter gar nicht den wahren Grund und Zweck ihres
Wasdiens kennen. Sie merken es in ihrer dummen Un-
schuld Dicht, daß CS ihnen darauf ankommt, die Kinder
nackt zu sehen, die bloße Haut warm zu berühren und
in diesem Gefühl zu schwelgen, die intimsten, erreg-
barsten Teile des Kindes zu inspizieren und zu — . Ist
es nidit tiefsinnig, daß die Natur gerade die Mutter
— 254 -
A
zwingt, ihren Kindern den ersten Uhterricht im erotisclien
Genießen zu geben? Dadurch, daß sie Gestank und
Dreck an die unterirdischen Teile des menschlichen
Körpers bannt, wo Eros sc:helmisch lächelnd lauert? Und
ist es nicht tragisch, daß dem Menschen der erotische
Verkehr gerade mit diesem Wesen, dessen Hand zuerst
ihn liebkoste, dessen Brust zuerst ihn mit Lust erfüllte
und das er infolgedessen mit einer so heißen Liebe
liebt, wie niemals wieder irgend wen, daß ihm gerade
mit der Mutter die heiße Liebe verboten ist? Trieb
und Verbot, Lust und Herzeleid, so innig seid ihr ver-
woben und schafft am Leben, gebt uns alles Edle und
Erhabene." Er trat auf die Straße und platschte mit
einem kindischen Lachen in die nächste Pfütze hinein.
Dann sagte er wehmütig:
„Ich habe niemand, der mich dafür scliilt, ui;d
niemanden, der midi wäsclit. Wie schwer ist es, erwachsen
zu sein." Er ging eine Weile schweigend weiter, daim
begann er von neuem; „In der Frage der Naturgeschichte
der Engel fällt mir ein, daß mir einmal erzählt worden
ist, Petrus drehe den kleinen Kindern den Baudi ab,
ehe sie Engel würden, damit sie ihm den Himmej nicht
■ schmutzig machten. Und wenn ich mich recht besinne,
bestehen die Engel auf Raffaels Sixtinischer Madonna
tatsächhch nur aus Kopf und Flügeln. Ich meine die
Wolkenengel. Die beiden unten haben wenigstens noch
Brustkasten. Erinnern Sie sich übrigens, daß der eine
dieser Engel den Finger auf den Mund legt, und haben
Sic je darüber nachgedacht, was das bedeutet? Nein,
natürlich nicht. Nun, dann will ich es Ihnen sagen. Wenn
Sie je einen Menschen, während er sich mit Ihnen unter-
hält oder Ihnen gegenüber sitzt, den Finger auf den
Mund legen sehen, so können Sie als gewiß annehmen,
- 255 -
daß er etwas versehwieigt, daß er sich selbst Schweigen
auferlegt, daß er ein Geheimnis hat und es nicht ver-
raten will. Er hält den Mund in des Wortes wahrster
Bedeutung. Und der Engel der Sixtina hat ein solches
Geheimnis zu hüten, das tiefste unergründliche Geheimnis
der Welt, DJe Sixtina ist kein christliches Bild, sie
offenbart uns symbolisch das Urphänomen des Lebens,
das Geheimnis der Mutter. Diese Madonna schreitet
durch einen Vorhang, ein weiterer Hinweis, daß hier
ein Mysterium waltet. Nach beiden Seifen spalten sich
die eng aneinander geschmiegten Hüllen und das Weib
das Kind tragend erscheint. Aus der Tiefe des AUer-
heiligstcn hervor schreitet sie durch den Vorhang, dem
dunklen- Triebe gehorchend, der Bestimmung des Weibes
entgegen, im Schöße des Himmels die unzähligen Keime
neuen Werdens zeigend. Dem Mannessymbol geht sie
entgegen, das in dem ausgestreckten Arm und Finger
des Papstes offenbart ist, sie achtet des Fingers, der
Mannheit nicht, ihr Blick ist in die Ferne gerichtet, ganz
erfüllt vom Weibsein und entkleidet jeder kleinlidien
persönlichen Leidenschaft. Der Schleier der falschen
Scham ist zurückgeschoben. Sie ist das Weib, die Idee
des Weibes, das Aphrodite und Mutter zugleich ist
Nur einen Augenblick erschaut der Mensch das tiefste
aller Rätsel, die Madonna schreitet mit wallenden Ge-
wändern und schon im nächsten Moment wird sie dem
Blick entschwunden sein. Ihre Bewegung ist kreisförmig,
ein Schwangerschaftssymbol. Alles, was rund ist, ist
Welten- und Muttersymbol. Die Dreizahl der Figuren
ist wiederum die Mutter. Denn die Eins ist der Mann,
die Zwei die Ehe, die Drei Mann, Weib und Kind, die
Dreieinigkeit. Nehmen Sie die beiden Engel mit in den
Blick, so haben Sie wieder den Kreis, das Sehwanger-
- 256 -
Schaftszeichen, er schließt sich um diese fünf Personen.
Aber die Drei ist auch die Zahl des Mannes, und daß
hier Weib und Mann und Kind in wunderbarem Mysterium
dargestellt sind, sehen Sie an der Stellung der Figuren.
Sixtus und Barbara sind in verschiedener Höhe gemalt,
und zwischen ihnen steht aufrecht das Weib mit dem
Kind, Es sind die Testikel und der Phallus, der als
Weib mit dem Sohn erscheint, so die Verschmelzung
von Weib und Mann im Menschen zeigend. Deim wer
ist ganz Mann oder ganz Weib? Wir sind beides, un-
lösbar zur Einheit geworden. In diesem Bilde ist die
Welt gemalt, und es ist mit Recht die Perle aller Ge-
mälde, es ist göttlich."
Thomas lachte plötzlich laut auf. „Mir fällt gerade
eine Illustration zu Goethes Gedicht ,Die Brautnacht'
ein. Da sieht man auch einen Vorhang diclit zusammen
gehalten vom Amor, der neckisch lächelnd den Finger
auf den Mund legt. Amor und Engel, sie sind dasselbe,
und wie Raffael den Engelköpfchen Flügel anheftet, so
malt Felicien Rops den Phallus geflügelt. Gut und böse,
rein und unrein, hoch und tief, das alles ist Unsinn.
Letzten Endes ist alles Gott und nur wir dummen
Menschen mäkeln daran herum. Die Antike fühlte das
noch. Die Lateiner haben für hocli und tief denselben
Ausdruck: a//iis. Aber wir, wird sind Pharisäer und tun
nichts anderes, als stolz bekennen: Ich danke dir Gott,
daß ich nicht bin, wie jener. Haben Sie den Galerie-
diener vorhin gesehen? Er wollte die Welt bespudcen,
den kreisrunden Spucknapf, aber er mußte auf sich
selbst speien, da er sich selbst verächtlich war. Und
wissen Sie, warum er sich verächtlich ist? Weil er In-
mitten des blühenden Weiberfleisches, das der gött-
liche Rubens gemalt hat, mit dem Gefühl der erbärm-
- 257 -
17
liehen Impotenz stundenlang herumlaufen muß. Weil
er nicht Saft und Kraft sonstwie besitzt, setzt er die
Spucke an Stelle befruchtenden Samens, genau wie die
halbwüchsigen Bengel. Deren Hoden sind noch nicht
reif für den Verkehr mit dem Weibe, da täuschen sie
sich eine Männlichkeit durch Spucken vor. Ein Weib
hat der Kerl nicht, aber der Spucknapf ist ein Symbol
des Weibes. Nur ist der Mann seihst für so eine
symbolische Handlung zu invalide, zu sdilapp." Thomas
blieb plötzlich stehen, sein Gesicht hatte sich in innerer
Qual verzerrt, und er sah finster vor sich hin. Nach
wenigen Sekunden holte er sich eine Zigarette vor,
steckte sie an, faßte den unvermeidlichen Spazierstock
fester und stieß ihn auf den Boden. „Sie können jetzt
gehen," sagte er, fügte aber gleich hinzu, „warten Sie
noch einen Moment. Sie haben heute besser zugehört
als gewöhnlich und verdienen eine Extrabelohnung. Hier."
Er drückte dem Gauner ein Goldstück in die Hand
und schritt davon.
XXVIII. KAPITEL,
NOCH EIN MUSEUMSBESUCH,
EBENSO LANGWEILIG WIE DER VORIGE.
Einige Zeit darauf trafen sich die beiden wieder im
Museum. Thomas schien einen schweigsamen Tag zu
haben und Keller-Caprese strengte infolgedessen seine
Erfindungsgabe an, um die Unterhaltung in Gang zu
bringen. Er war eben dabei, sich über den Goldton
Tfzians zu verbreiten und ihn in Gegensatz zu dem
Silbergrunde Morettoscher Gemälde zu bringen, als ihn
Thomas ungeduldig unterbrach.
- 258 -
„Das sind selbstverständliche Dinge. Tizian wußte
zu leben, und da er nie genug Geld hatte, malte er
sich welches. Mich interessiert das niclit. Ich habe so
ziemlich alle öffentlichen Galerien der Welt gesehen
und das Resultat ist, daß ich vollständig verdummt bin
und das Wesenthche an einem Bilde nicht mehr sehe.
Das Wesentliche ist der Rahmen. So Ihr nicht werdet
wie die Kinder, werdet Ihr nicht in das Himmelreich
kommen, steht in der Bibel, und für Kinder ist der
Rahmen viel anziehender als das Bild selbst. Ich bin
auch überzeugt, daß das Kind recht damit hat, denn
was hat man vom schönsten Tizian, wenn er aufgerollt
in irgend einer Ecke steht. Aber ich mag mir Mühe
geben, so viel ich will, ich kann die nötige Freude am
Rahmen nidit mehr aufbringen. Die Aufmachung ist das
Wesentliche an den Dingen. Ich weiß das ganz genau,
aber ärgere mich darüber, statt mich daran zu freuer.
Die Art, wie die Menschheit dazu gebracht wird, dieses
oder jenes für schön zu halten, für edel, für gut, ist
mir interessant, wenn icli mich in großen Zusammen-
hängen damit beschäftige, wenn ich sozusagen einen
großen, riesigen, grellbunten Rahmen ansehe. Das Wesent-
liche des einzelnen Ereignisses, das sehe ich gar nicht.
Infolgedessen werde ich betrogen und ausgelacht. Und
das kommt nur daher, weil ich von Kindheit auf ein
Gernegroß gewesen bin, Erwachsensein gespielt habe.
Nichts war für mich erhaben genug, groß genug, weit
genug. Deshalb bin ich so lang geworden und so dick
und so dumm." Er seufzte schwer und verfiel in ein
dumpfes Brüten.
Keller-Caprese zerrte ungeduldig an seinem Knebel-
bart. Ihm waren solche Stimm.ungen seines Ernährers
höchst unbeqeum, er wußte, daß knappe Zeiten für ihn
— 259 -
17*
kamen, wenn Thomas schweigsam wurde. Er beschloß,
den didien Narren durch Widerspruch zu reizen.
„Das ist eine phänomenale Dummheit, was Sic da
sagen. Der Kern, der Inhalt, das Bild selbst ist das
Beachtenswerte. Der Rahmen ist vielleicht notwendig,
aber unwesentlich. Oder wollen Sie wirklich behaupten,
daß CS auf den Rahmen der Sixtina, auf die Sie neulich
solch einen Hymnus gesungen haben, mehr ankommt
als auf das Bild?"
Thomas geriet so in Wut, daß ihm der Geifer wie
ein Sprühregen von den Lippen spritzte. „Gebe ich mir
dazu seit Wochen mit Ihnen Mühe, damit Sie mir hier
das Kakangelium der Philister vorsingen. Gehen Sie
hinüber in die Nationalgalerie und sehen Sie sich dort
an, was für Schinken vor 20, 30 Jahren Meisterwerke
waren, bloß weil die Zeitungen und der Kunstklüngel, das
heißt die Rahmen, Aufsehen erregten. Der wurde berühmt,
weil er eine Locke in die Stime fallend trug, jener, weil er
die Weiber wie Huren behandelte, wieder ein anderer, weil
er gute Soupers gab und wieder einer, weil er Zoten
riß, und daneben finden Sie ein unvergleichliches Ge-
mälde, das angestaunt wurde, weil der Maier rot malte,
was grün aussieht, oder gar, weil er überhaupt gar nicht
malte, sondern mit Kohle Kartons entwarf. Und mit
den alten Bildern ist es doch nicht anders. Die Sixtina?
Vor anderthalb Jahrhunderten ist sie für einen Spott-
preis verkauft worden. Niemand kümmerte sich um das
Bild, und selbst ein leidlich gescheiter Mensdi, wie
Goethe, hielt es nicht für der Mühe wert, sie auch nur
zu erwähnen. Damals war sie noch wirkhch Raffaels
Werk. Dann aber hat mau sie restauriert und übernialt,
so daß kein einziger Pinselstrich darauf mehr von Raffael
herrührt, und nun ist sie berühmt geworden, die Perle
- 260 —
i
der MaSerei. Das Geschwätz unserer Kunsthistoriker
und Ästheten, deren Beruf es ist, die Wahrheit zu
fälschen, genau so wie es bei den Geschichtsschreibern
ist, das ist das Wesentliche an der Sixtina, an Michcl-
an[relo, Rcmbrandt, Rubens. Wenn wir nicht alle an .
ästhetischen Blähungen litten, würde sich kein Mcnsdi
nach den Ölabsonderungen dieser Maler umdrehen,
außer ein paar Sammlern, für die sie etwa denselben
Tollheitswert hätten, wie jetzt ein Unikum für die Briel-
mnrkensammler. Die Größe des Menschen wird erst
durch Geschrei geschaffen, durch Geschrei von Menschen,
die selbst zu impotent sind, um zu zeugen, aber er-
wachsen und vollsaftig tun, wie die Jungens, die künst-
lidi im tiefsten Baß sprechen. !m Grunde ist an den
großen Menschen nichts anderes als bei den Durch-
schnitt sie Uten. Die eigentliche Größe des Menschen be-
ruht gar nicht auf seinen Leistungen, sondern auf der
Art, wie er über seine Leistungen denkt. Wer wie ein
Huhn, das ein Ei gelegt hat, gackert, hat seinen Lohn
dfiliin. Und daß ich das immer wieder vergesse, daß
ich auf dieses Erwaehsentun der kindisdien Menschen
hereinfalle, ärgert mich. Ein Bilderbuch wie der Struwwel-
peter ist zehnmal mehr wert als das ganze Museum
hier und tausendmal tiefsinniger als der ganze Rembrandt-
schwindel, tausendmal wichtiger audi. Aus dem Struwwel-
peter strömt eine Fülle von Weisheit."
Keller-Caprese fand es rätlich, Öl in das Feuer zu
gießen. „Ich denke eben darüber nach," sagte er, und
ließ sich auf einen der Sitze nieder, „warum mir das
Stehen so schwer fällt und nach der Erwähnung des
Struwwelpeters erkenne ich plötzlich', woran das liegt.
Mir kam nämlidi sofort Buschs Max und Moritz in den
Sinn. Das Bild, wo der Schneider von den Gänsen aus
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dem Wasser gezogen wird, und dann wurde mir klar,
daß ich die ganze Zeit, während Sie sprachen, auf
Correggios Leda mit dem Schwan gestiert hatte, Gänse
und Schwäne gehören zusammen. Vor dem Bilde standen
vorher zwei Gymnasiasten und man sah ihren Gesichtern
an, was in ihnen vorging. Das hat Erinnerungen in mir
geweckt, die schwer lasten."
Thomas war jwie elektrisiert. Er setzte sicli neben
den Maler, hakte bei ihm ein und fachte vergnügt.
„Sehen Sie, wie es auf mich wirkt. Ich muß gleich
meinen Arm in den Kreis zwischen den Ihren und Ihren
Körper sdiieben. — Da haben Sie wieder ein Stück
des Rahmens, der die Maler berühmt macht, die Gegen-
stände, die sie malen. Alle unsere Begriffe von Schön-
heit sind abgeleitet von der Sehnsucht, eine Öffnung
zu finden, in die wir uns einschieben können. Mann
und Weib, gestreckte Form und runde Form, da haben
Sie alles. Nehmen Sie noch das Dreieck hinzu, das ja
den Mann bedeutet, so ist klar, was schön ist. Die
Dreizahi; da haben Sie es. Ich sprach Ihnen ja neulich
davon. Übrigens Testikel: testis zeugen, bezeugen, er-
zeugen. Besinnen Sie sich an das Spricliwort: Durch
zweier Zeugen Mund wird die Wahrheit kund. Diese
Zeugen, das Latein beweist es ebenso wie das Deutsch,
sind die S amen be hälter, und was ihr Mund ist, wissen
Sie wohl. Wer die Wahrheit erforschen will, der befrage
seine Wünschelrute. Dort wird er sie finden. Mysterium."
Der Narr nahm seinen Arm aus dem seines Nachbarn
und faltete andächtig die Hände.
Der Maler merkte, daß er Oberwasser bekam, und
fuhr fort, sein Kohl zu mahlen. „Es ist kein Zweifel,
die Justiz mit allem, was drum und dran hängt, stammt
her von der Begierde. Clierches la femme."
— 262 - -
Eben trat ein elegant gekleidetes Pärchen in den
Saal, ein hübsches, ganz junges Weib, das gelangweilt
und schlaff neben ihrem kräftig gewachsenen Begleiter
einberging, der seinerseits mit mürrischem Gesichtsaus-
druck einen Schritt vor ihr und halb abgewendet an
den Bildern sich entlang schob, Keller-Capresc verfolgte
sie mit begehrlichen Augen. „Es ist ein guter Witz,
daß man das Recht als Göttin darstellt, da ja ein jeder
weiß, wie parteiisch die Weiber sind."
„Wenn die Wahrheit der Gcschiechtsapparat des
Mannes ist, konnte man das Forsclien nacli der Wahrheit
nicht besser symbolisieren als durch das Weib," er-
widerte Thomas und bewegte leise schaukelnd den
Oberkörper hin und her, unwillkürlich das Forschen nadi
der Wahrheit darstellend. „Wer weiß so gut mit der
Wahrheit Bescheid als die Frau? Und daß sie die
Binde über den Augen trägt — " Er vollendete den
Satz nicht. Der Apfelsinen mann von der Herfahrt nach
Berlin fiel ihm ein und er hielt krampfhaft- seine
Taschen zu.
„Mach' die Augen zu, mach' die Augen zu, dann
siehste nidits, dann horste nichts, dann weißte nichts
davon," trällerte der Maler vor sic!\ hin.
„Ja," sagte Thomas, „die Gründlichkeit der Forschung
wird durch die Intensität des Genusses verstärkt. Die
Binde ist wohl als das Schließen der Augen im höchsten
Moment — "
„Sehen sie nur," der Maler wies aufgeregt nach
dem Paar. „Das ist interessant. Ich bin neugierig, wie
es ablaufen wird."
Der Herr war vor dem Bilde der Leda stehen ge-
blieben und hatte es eine Weile eingehend betrachtet.
Eine kaum erkennbare Unruhe sprach sich darin aus.
- 263 —
daß er den Hut ein wenig lüftete und zurechtsetzte.
Dann wandte er sich zum erstenmal an seine Frau, die
so tat, als ob sie sich für einen Tintoretto interessierte.
Er winkte ihr und rief sie schließlich bei Namen. Mit
absichtlichem Widerstreben trat sie neben ihn und warf
einen affektiert gleichgültigen Blick auf das Bild, steckte
die Hände in den Hermelinmuff, den sie der IVlode
folgend trotz des Sommers trug, und wandte sich zum
Weitergehen. Ihr Mann hielt sie am Arm und flüsterte
ihr irgend etwas zu. Darauf trat sie näher an das Bild
heran. Nach einer Weile zog sie die Hand aus dem
Muff, faßte ihren Mann unter und schmiegte sich an ihn.
„Schau, schau," meinte der IVIaler und kniff das eine
Auge zu, „die sind noch empfängUch für die Werke der
Kunst. Ich möchte wetten, daß die beiden in fünf
Minuten ins Bett kriechen."
„Wenn sie nicht vorher Gelegenheit finden," sagte
Thomas nachdenkUch. „Es ist etwas Merkwürdiges mit
der Liebe. Da bilden sich die Menschen ein, sie liebten
einander und in Wahrheit lieben sie die Leda oder den
Schwan."
„Im Resultat bleibt es dasselbe," schob Keller-
Caprese ein.
„Gewiß", bestätigte Thomas, „aber darum betrügen
sie sich nicht minder. Und was wir eben sahen, geschieht
in jedem Theater, in jeder Gesellschaft, auf jeder Straße,
auf Schritt und Tritt. Das junge Liebesglück zankt sich
noch auf der Fahrt zum Ball und mit Hilfe der straff
gespannten Hosen über einem Husarenleutnantshintern
oder des tiefen Ausschnittes einer Ballschönheit wird
der Haß in so heiße Liebe verwandelt, daß schon auf
der Rückfahrt noch in der Equipage das Kleid verschoben
wird. Was wir Liebe nennen, bei Männlein oder Weib-
I
— 264 -
lein ist gleich, das ist nur die Übertragung einer wol-
lüstigen Erregung durch diesen oder jenen Schauspieler,
durch dieses oder jenes Buch auf das Objekt, das uns
der Pfaffe angetraut hat. Es ist wie bei den Kaiser-
kronungen. Ein Brunnen fließenden Weins ist auf dem
Markt aufgebaut, ein jeder fängt ihn auf in sein Gefäß.
Die Liebeskraft und Fülle ist kaiserlich reich, aber sie
wird nicht besser dadurch, daß der Metzger des Kaisers
Wein seinen eigenen Wein nennt, und nidit edler da-
durch, daß wir Worte, wie unverbrüchliche Treue, ewige
Liebe hinzufügen. Ein Begriff, wie der der Treue, ist der
reine Blödsinn, eine Erfindung der Weiber, um ihre
Männer niederzuhalten, während sie selbst ungestört
ihren Gedankensünden nachgehen können. Der Ehebruch
ist permanent, die Liebe eine ununterbrochene Kette
dicht aneinandergereihter Treulosigkeiten und das Treue-
gelübde ein von menschlicher Tücke ersonnenes Mittel,
um jederzeit als Vorwand für die Entladung schlechter
Launen und eigenen Schuldbewußtseins zu dienen."
Keller-Caprese bog sich vor Lachen und klatschte
mit den Händen auf die Kniee.
Thomas geriet durch den Erfolg seines Geschwätzes
noch mehr ins Feuer. „Du sollst nicht chebredien !
Man kann gar nicht existieren, ohne stündlich die Ehe
zu brechen. Du sollst nicht löten ! Wir töten mit jedem
Atemzug Lebewesen. Wir brechen Blumen, sdiladiten
Vieh, eine großartige Illustration zu dem fünften Gebot.
Und Menschen töten? Jedes Mädchen wird mit 20.000
Eiern geboren, ehe es noch die Geschlechtsreife erlangt
hat, sind schon 19,000 von diesen Kinderchen ermordet,
und der Mann schlachtet fortwährend tausende seiner
Kinder, die er mit sich im Sack herumträgt. Du sollst
den Namen deines Gottes nicht unnützlich führen ^
- 265 —
daher der Griiß Adieu. Ich möchte auch wissen, was
wir anderes tun ais lästern, wenn wir ihn für alles Gute
verantwortlicli machen, das sogenannte Sclilechte aber
■ seiner Machtvollkommenheit entziehen und dem Teufel
vorbehalten. Der Begriff der Sünde ist ja schon eine
Gotteslästerung,"
Keller-Caprese fing wieder an, sich zu bekreuzen,
diesmal heimlich, da er den Zorn seines Gönners fürclitete.
„Die ganze Gcsetzgeberei auf dem Sinai ist eben
ein Witz des alten Moses und er hatte guten Grund,
sein Haupt zu verhüllen, als er die berühmten Tafeln
herbeischleppte. Sein Lachen hätte ihn verraten."
Dem Maier wurde unheimlich zumute, mit einem
gewaltsamen Ruck steuerte er die Unterhaltung in ein
an'Jeres Fahrwasser. „Ihre Reden erinnern mich an den
St;uwwelpeter, von dem Sie vorhin sprachen. Erinnern
Sie sich an das letzte Blatt, wo Robert von seinem
eijrenen Regenschirm in die Luft geführt wird? So
kommen Sie mir vor."
Thomas runzelte die Stirne und sagte mürrisch: „Sie
verstehen von diesem wunderbaren Buche scheint's nicht
viel. Ich deutete Ihnen schon vorhin an, daß Weltweisheit
im Struwwelpeter verkündigt wird. Wenn es auch an-
gängig ist, aliumfassende Wahrheiten auf irgend eine
einzelne Person anzuwenden, so ist es doch, da das
Gewand für individuelle Verhältnisse viel zu weit ist,
sclileppt und schlottert, geschmacklos, so etwas zu tun.
Der fliegende Robert, der von seinem Regenschirm in
die Lüfte gehoben wird, steht in Parallele zu Paulinchen
mit den Streichhölzern. Sie wissen doch, was das Auf-
spannen eines Schirmes zu bedeuten hat?"
Keller-Caprese beging die Dummheit zu niclten und
mit der Hand eine beruhigende Gebärde zu machen,
- 266 -
ganz überzeugt davon, daß er wisse, was ein Regen-
schirm sei. Dadurch ist der Gedankengang Weltleins
nicht klar zum Ausdruck gekommen.
„Nun also," fuhr Thomas fort, „der Maler-Dichter
wollte damit sagen, daß das Aufspannen des Schirmes
im unreifen Alter die Schwindsucht herbeiführe, eine
Ansicht, die zur Zeit dieses genialen Irrenarztes gang
und gäbe war; er deutet es dadurdi an, daß der Knabe
Robert getragen von dem roten Schirm — beachten Sie
das Rot und auch die Form der Wolke ist bezeichnend
— daß er also immer kleiner wird. Das Genie aber,
das seine Hand führte, legte hinter diese absichtlidie
SymboHsierung eine tiefere. Robert fliegt in die Höhe,
dem Himmel, der Vollkommenheit näher und näher.
Ohne daß der Kunstler in seiner besdiränkten Berufs-
narrheit es ahnt, spricht er die tiefste Weisheit aus, daß
dieses angebUehc Laster Bedingung und Wurzel alles
Fortschrittes ist, daß es die Menschheit emporreißt in
die Weh des Ideals."
Thomas schwieg und Keller-Caprese, der im Begriff
war einzunicken, fuhr aus dem Halbschlaf auf und rieb
sich die Augen. „Und Paulinchen?" sagte er.
Thomas lachte. „Paulinchen? sie tut dasselbe wie
Sie; sie reibt. Reibt an der Zündholzsch achtel, bis die
Flammen emporschlagen und sie verzehren. Auge und
Schachtel, beides sind ja Symbole des Mädchengeheim-
nisses. Auch hier steht hinter der Warnung, den Finger
iiiclit zu mißbrauchen, eine tiefsinnige Verherrlichung
dieses ersten primitiven Menschentriebes, der Selbstliebe,
Die Erfindung des Lichtes und des Feuers tritt uns ent-
gegen mit dem tragischen Sdimerz des echten Dichters
vorgetragen, der seine Heldin in der Vollendung, im
unbewußten Dienste der Menschheit sich verzehren laßt.
- 267 —
Und wie nett ist es, daß er die Katzen dabei anbringt,
diese Sinnbilder aller Sprachen für das Weibliche, diese
Chats und cats. Der Entladungstraum, das Feuer der
Erregung erlisclit. Ein Bächlein in den Wiesen, wie
hübsch ist das gesagt, harmlos für die Ungeweihten, tief
für den Wissenden."
„Ich hör' ein Bächlein rauschen," summte Keller-
Caprese vor sich hin.
Thomas sah ihn streng an. „Ich spradi das letzte
Wort mit einem W. nicht mit einem P. Ihre Anspielung
ist ungehörig." Er erhob sich und schritt dem Ausgang zu.
Der Maler schnitt eine Grimasse hinter Weltleins
Rücken und folgte ihm langsam. Er Überlegte, wie er
die Stimmung dieser vor ihm wandelnden goldhaltigen
Hosentasche noch einmal umwandeln könne. Schließlich
blieb er vor einem riesigen Gemälde des Vercnese
stehen, hielt die Hand wie ein Fernrohr vor das linke
Auge und rief: „Weltlein, kommen Sie mal, hier diese
Beleuchtung und dieses Farbenspiel müssen Sie sehen."
Thomas drehte sich nicht einmal um, irgend etwas
mußle ihn arg verstimmt haben. Vor dem Ausgang holte
ihn der Maler ein.
„Was ist mit Ihnen los, Weltlein?" fragte er, ernst-
lich besorgt, da ihm die gute Laune seines Opfers als
einzig sichere Garantie eines reichlichen Mittagessens galt.
„Haben Sie denn oben das Wickelkind nicht gesehen?
Audi nicht schreien gehört?" fragte Thomas dagegen.
„Ein Wickelkind? Nein. Wo war denn eins?" Keller-
Caprese sah sich um, als ob er hoffte, durch die Ge-
bäudemauem hindurch die Existenz des schreienden
Kindes festzustellen.
„Uns gegenüber hing ein Bild, ein Bild — aber Sie
sind so stumpf, daß es einen ekeln kann. Sie sehen
- 268 —
nichts und hören nichts, hören es nicht, dieses fürchter-
liche Schreien des gequälten Gottessohnes, der halb-
erwüi'gt von Wickeln in den Ai-men der Mutter ruht.
Er schreit, er schreit," Thomas hieii sich die Ohren zu,
„und niemand außer mir sdieint es zu hören."
Bei dem Maler begann es zu dämmern. „Meinen Sie
das Christuskind auf der Mantegnaschen Madoniia?"
„Er fragt, er fragt!" Thomas brüllte es förmlicli in
die Welt hinaus und lief mit langen Schritten weiter,
beide Finger in die Ohren steckend. „Unseliger, es ist
doch ein Symbol, oder eine Satire;" er wurde plötzlich
ruhig und ließ die Hände sinken. „Eine Satire, natürlich.
Wie konnte ich nur so dumm sein, zu erschrecken." Er
bUeb stehen, faßte den Maler vorn am Rockknopf und
setzte ihm den Zeigefinger der anderen Hand auf die
Brust. „Sehen Sie, hinter diesem Wickelkind, das stumm
schreit, weil es weder Arm noch Bein rühren kann,
stecken all die kleinen Kinder, die von ihren Müttern
unter dem Vorwand der Liebe und Fürsorge mißhandelt
werden. Mutter und Kind, das ist ein seltsames' Kapitel.
Erst sdimeißen die Frauen solch ein armes hilfloses
Wesen aus ihrem Bauch, in dem es hübsch warm und
ruhig gelegen hat, heraus, so brutal heraus, daß der
robuste Rauswerfer eines Naditcafes bei ihnen lernen
könnte."
Kelle r-Caprese sah sein lebendiges Portemonnaie so
zornig an, daß Thomas belustigt ihm den Knopf abdrehte,
den er gefaßt hielt. Er sah ihn an, hielt ihn dem Maler
unter die Nase und fuhr fort ; „Knopf, Nabel, es ist
schon viel, wenn solch ein unfertig fabriziertes Mensch
das Kind nicht an der Nabelschnur aufzuhängen sitcht,
aber ohne ein schief gedrücktes Gesicht und ein ver-
schwoUenes Auge für das Kind pliegt es nicht abzu-
- 269 --
gehen. Also aus dieser Tatsache des Mißhandelns leitet
die Frau dann das Recht ab, bis an ihr Lebensende
das Kirid mit dem Wickel: Ich bin deine Mutter, zu
lähmen. Sie behauptet ganz frisch drauf los, daß niemand
dem Sohn oder der Tochter so nahe steht wie sie: Ich
werde doch wohl mein eigenes Kind kennen, — : so
etwas tut mein Sohn nicht. Aha," fuhr er triumphierend
fort, als Keller-Caprese fröstelnd den Kopf senkte. „Sie
kennen die Melodie, sind auch unter Sehmerzen geboren
worden und haben das einige tausendmal vorgehalten
bekommen. Als ob man vorher befragt würde und als
ob es ein Vergnügen wäre, mit dem Kopf vornweg eine
Treppe hinunter an die Luft gesetzt zu werden. Aber
so sind die Frauen: Denk immer daran, was deine
Mutter dazu sagen würde, wenn du etwas Böses tun
willst, kennen Sic das Wickelband auch?" Er hatte sein
Gegenüber losgelassen und wickelte mit wahrer Wut
mit der rechten Hand einen Säugling ein, den er auf
dem hnken Arm getragen darstellte, wickelte so fest,
daß ke*n Zweifel daran aufkommen konnte, wie über-
zeugt diese Mutter in Hosen von ihrem Mutterrechle
war. „Und der alte Esel von Vater," Weitleins Augen
leuchteten einen Moment im Haß auf und diese Em-
pfindung steckte anscheinend seinen Zuhörer an, wenigstens
ballte der die Faust — „steht dabei und bewundert den
heiligen Mutterberuf. Kein Wunder, denn das Weibchen
läßt ihm die Ohren von reizenden Eroten vollsingen —
sie nennt sie Engel und bläst ihnen eine wunderbare
Himmelsmusik vor, — rings umrahmen sie ihn, die
vielen Lieb es stunden, und niemand hört das lautlose
Schreien des Kindes, niemand, außer mir. Und diesen
schlauen Trick der Frauen, zu mißhandeln und daraus
ein heihges Recht abzuleiten, den haben alle anderen
— 270 -
1
Bestien ihr abgelauscht. Da kommt die Sdiule und be-
hauptet, Rechte auf den Fleiß des Kindes zu haben,
und der Beruf kommt und redet von Pflichten und der
Staat kommt, verlangt mit Pauken und Trompeten
Vaterlandsliebe, währenddes er die Taschen leert, uns
als Kanonenfutter verwertet, und sdiließheh predigt die
Kirche, die den bekannten großen Magen hat, ihr heiliges
Öl von Gott und Sünde. Aber sie kommen alle niclit
gegen die Weiber auf. Keiner von ihnen kann sagen:
ich habe dich unter dem Herzen g-ctragen — unter dem
Herzen, das wagen sie auch noch zu sagen, rühmen sich
dessen, daß sie ihre Kinder nicht im Herzen, sondern
darunter tragen — keine hat so ein schönes Schlagwort
wie: Du bist mein Fleisch und mein Blut. Sie bilden
sich wahrhaftig ein, sie hätten das Kind gemacht, während
es ihnen doch gemacht worden ist. Sie kennen doch
Agathe? Nein, nicht? Na also, Agathe ist meine
Schwester. Übrigens geht Sie das ja gar nichts an. Sie
ist aber audi ein Wickelband, eines mit einer Schleife,
mit einer Hutschleife, einer violetten Hutschleife, wahr-
scheinlich, um, wie das Veildien, mit ihrer Bescheiden-
heit zu protzen. Aber Veilchen sind aufdringHch durch
ihren Geruch und wadisen in solchen Massen — na ja,
meine Schwester - — ". Der Gedanke an Agathe verwirrte
die Logik des armen Narren so, daß er den Faden
verlor, „Wo war ich stehen gebheben! Richtig, beim
violett. Sie haben ja vorher etwas von der Farbe ge-
redet, was war das dodi?"
„Ein Veronese," erwiderte Keller-Caprese.
Thomas sah voll Mißtrauen, wie der Maler sich die
Lippen leckte, die ihm im starren Schrecken über
den bizarren Ausfall gegen die Mütter ausgetrocknet
waren.
- 271 —
„Sie haben wohl an Veroiieses Gastmahl des reichen
Mannes gedacht, alter Freund, aber zur Strafe für Ihre
Gier sollen Sie erst nocli eine Abhandlung über die
Farben mit anhören." Er nötigte seinen Genossen auf
eine Bank, stellte sicli vor ihm auf, die eine Hand auf
dem Rücken, die andere vom in der Brust, „Also be-
ginnen wir zunächst mit dem Rot, der Farbe der Liebe.
Sie sehen da gleich eine Reihe von Zusammenhängen.
Rot sind die Lippen, mit denen man Worte der Liebe
stammelt und mit denen man küßt. Rot ist aber auch
das, was Lippen schamhaft verscliließen, der Scholl des
Weibes. Rot ist audi der Liebesschlüssel, der diesen
Schoß öffnet, und rot ist das Blut, das dabei fließt,
Rot ist ferner die Nase des vornehmen Mannes, wie Sie
an der meinen sehen können. Lachen Sie nicht, Keller-
Caprese, sonst lasse ich Sie nachsitzen. — Wir haben
also im Rot vereint: die Liebe, das Blut und den — "
„Suff!" ergänzte der Schüler.
„Rotwein, sehr richtig, Gut, Sie können, wenn Sie
wollen, Keller-Caprese, aber Sie wollen nicht. Wider-
sprechen Sie nicht, ich kenne Sie. Sie sind ein durchaus
unbrauchbarer Mensch. Aus Ihnen wird nichts. Gehen
Sie auf die Straße und werden Sie Steinklopfer. Wir
haben also hier, um nochmals zu rekapitulieren, die
Liebe, den Mord und den — "
„Rotwein," ergänzte der Sdiüler.
„Suff, sehr riclitig, gut. Keller-Caprese, Sie können
und so weiter. Wir gehen nun zum Grün über, genau
wie in der Physik. Hat man eine Weile auf Rot ge-
sehen, so sieht man auf einer weißen Fläche Grün
erscheinen. Man nennt das in Ihrem Jargon Komple-
mentärfarben, Also Grün. Das ist die Farbe der Treue,
Immergrün. Merkwürdigerweise behaupten alle Weiber,
— 272 -
die Treue sähe blau aus, was doch die Farbe der Hoff-
nung ist, denn der Himmel ist blau. Aber da das einzige,
dem sie Treue bewahren, das Instrument ist, auf das
sie hoffen und durch das sie in Hoffnung kommen,
und da sie sich gar nichts aus dem Himmel machen,
sondern die heilte, feuchte und dunkle Hölle allein
lieben und mit sich herumtragen, so verwechseln sie
Hoffnung und Treue, und nennen Blau-Grün. Vielleicht '
spricht hier noch der mütterliche Trieb mit. Der Junge
hat blaue Schleifen an den Steckkissen und ist selbst
ein grünei-, hoffnungsvoller Knabe. — Der Teufel finde
sich da heraus, noch dazu, wenn Sie grinsen. Der Teufel
weiß allein bei den Weibern Bescheid. Na, Sie wissen
schon, Boccaccios Teufel — oder wissen Sie es wieder
einmal nicht? Ich hätte mir das denken können, aber
ich habe keine Zeit, midi mit Ihrer Faulheit herumzu-
schlagen.' Lesen Sie es nach im Dekamerone, die Er-
zählung von dem Mädclien in der thebaischen Wüste.
Also nun zu der Mischung der Farben, zu dem Weiß,
Das ist die Farbe der Unschuld und der Reinheit, wahr-
sdieinlich, weil es so gemischt ist. Weiß ist auch das
Symbol der Unschuld und der Reinheit: Die Taube, die
bekanntlich das geilste Tier ist und das dreckigste Tier,
wogegen das Schwein, das immer schmutzig genannt
wird, so reinlich ist, daß es sogar sich ein eigenes Klosett
im Stall einrichtet. So spricht man auch von kindhcher
Reinheit und kindlicher Unschuld, obwohl man ganz
gut weiß, daß Kinder Schweine sind, physisch und
psychisdi. Der Teufel hole die Sprache. Sie ist eine
ganz dumme Erfindung, Wer kann sich denn da heraus-
finden: Taube, Kind, Schwein, Und dabei nennt die
Mutter so und so oft ihr Kind kleines Ferkel, was
natürlich den Rückschluß herausfordert, daß sie selber
— 273 —
18
eine große Sau ist. Dies nebenbei. Weiß ist ferner der
Schnee, das Leichentuch der Natur. Es lie^ der Ge-
danke nahe, daß die Menschen Weiß als Farbe der
Unschuld gewählt haben, weil sie oft in Gedanken
morden, gewöhnlich die Leute, die sie zu lieben vor-
geben, ihre Ehegalten, Kinder und Eltern. Das Waschen
in unschuldigem Weiß hat dann den Vorteil, daß sie
""ihren verbrecherischen Gedanken mit dem Schein der Rein-
heit weiter nachhangen können. Weiß ist feriier der — "
„Weißwein." Der Maler war aufgesprungen und
sprach heftig weiter. „Sehr richtig, gut, Keller-Caprese.
Sie können, wenn Sie wollen, aber mir klebt die Zunge
im Halse vom Zuhören ihres Geschwatzes, und Sie
klappern weiter, ohne die Ausgcdörrtheit Ihres Innern
zu bemerken." •
„Gelb ist die Farbe des Neides, Sie sind neidisch,
lieber Freund. Im Übrigen haben Sie recht; wir wollen
essen gehen. Ich kenne an der Herkulesbrücke eine
nette Kneipe — "
„Um Gottes Willen," stöhnte der Maler, „es gibt doch
Restaurants hier in der Nähe. Ich verhungere, ich verdurste ."
Thomas griff in die Tasclie: „Hier," sagte er und
gab ihm das übliche Goldstück. „Sie können in der
Nähe sich etwas suchen. Ich gehe zur Herkulesbrücke."
Keller-Caprese ließ das Geld in der Westentasche
verschwinden. „Ich esse lieber in Gesellschaft," sagte
er, ,,es ist unterhaltsamer und — "
„Billiger," lachte Thomas und zog ihn mit sich fort.
Man weiß von dem Ausgang des Museumsbesuches
nichts weiter, als daß am folgenden Tage Keller-Caprese
halb bekleidet in Weitleins Badewanne aufwachte, als
Thomas gerade über ihm den Hahn für das heiße
Wasser Öffnete.
- 274 —
I
XXIX. ICAPITEL.
DIE IDEE DES PFERDES' UND DER WETTKAMPF
MIT DEM LÖWEN.
Von dem Studenten, der bei der Fahrt in der vierten
Klasse erwähnt worden ist, ist ein Gang in den Zoologi-
schen Garten und das Aquarium überliefert. Thomas
hatte sieh mit dem gescheiten und wohlunterrichteten
jungen Mann hauptsächlich deshalb angefreundet, weil
ihm seine spottende Art, die Dinge zu bespredien,
gefiel. Leider kam Thomas auf die unglii eidliche Idee,
den hoffnungsvollen Jüngling zu unterstützen, nicht
direkt, sondern durch Vermittlung von allerlei Arbeiten,
die er überreichlich bezahlte. Mit der besseren Lebens-
lage hob sidi die Laune des Studenten, er wurde milder
in seinen Urteilen und dadurch für Thomas langweilig.
Hierzu kam, daß Seebach, trotz aller Vorsicht," die
Wohltätigkeit Weltleins merkte und sich infolgedessen
bemüßigt sah, sich dafür durch hochmütiges Hofmeistern
zu rächen. Das gelang ihm umso leichter, als er bald
hinter die Verrücktheiten Weltleins kam und Gelegen-
heiten zum Spotten sich geradezu aufdrängten. Thomas
blieb daher hauptsächlich auf Keller-Capreses Gesell-
schaft angewiesen, die ihm von Tag zu Tag unangenehmer
wurde. So verlegte er sich darauf, allein umherzustreifen,
was ihn schließlich in allerlei Verlegenheiten brachte.
An jenem Nachmittag, von dem ich erzählen will,
sehritt Thomas die verschiedenen Abteilungen der Tiere
ab und ließ sich von Seebach Vortrag halten. Schließhch
blieb er vor dem Hundezwinger stehen und sagte: „Ich
komme mir vor wie jemand, der einen guten Kalbs-
braten mit Kartoffelsalat und Preiselbeeren und einen
guten Wein zuhause auf dem Tisch stehen hat, sich
— 275 —
18*
aber von irgend jemandem beschwatzen läßt, in ein
modisches Restaurant zu gehen, wo er ein mäßiges
Mittao-essen, ebenso mäßige Getränke und entsetzlich
viel Gestank teuer bezahlen muß. Was habe ich mit
all den fremden Biestern zu tun. Ein Droschkengaul
ist zehnmal interessanter für mich."
Der Student war gekränkt. „Ich habe Sie nicht
hierher geschleppt," sagte er.
Thomas, der sidi seit einiger Zeit eine Brille
zugelegt hatte, neigte den Kopf und blickte seinen
Begleiter über den BrÜlenrand weg, prüfend an. „Sie
können sich darauf verlassen, daß ich Ihnen sagen werde,
wenn ich Sie satt habe," sagte er, „Mißtrauen ist eine
böse Sache und läßt Schlußfolgerungen auf d.ie Ver-
gangenheit zu. Ich meinte vorhin, daß die Dinge mich
stören, daß die Sinneseindrücke für meinen gegen-
wärtigen Zustand des unaufhörlichen Gcdankengebärens
hinderlich sind. Wenn ich einen einzelnen Hund sehe,
wie jetzt 2um Beispiel den Neufundländer da drüben,
verschwindet die reine Idee des Hundes und alles, was
sich für mich damit verbindet, sie gerinnt gewisser-
maßen, wird fest, körperlich. Aber gerade das sollte man
vermeiden. Man soll denken, und denken kann man
nidit, wenn man sieht. Meine besten Spekulationen, die
mit vollkommener Logik aufgebaut sind, stürzen zu-
sammen, sobald ich die Wirkhchkeit ins Auge fasse."
„Mit anderen Worten," sagte der Student und streckte
die Nase in die Höhe, wie um zu zeigen, daß er weit
über Weltleins Fehlern stehe, „die Dinge sollen nicht
so sein, wie sie sind, sondern so, wie Sie sie haben
wollen, so daß Sie in Ihren Gedankenkram hineinpassen,
und damit das geht, betrachten Sie alles durch ihre
Brille."
- 276. -
Thomas nahm die Brille ab und sah sie nachdenUich
an. „Sie haben das Geheimnis dieses Instruments ent-
deckt," sagte er. „Aus Ihnen wird etwas werden, vor-
ausgesetzt, daß Sie die Gewohnheit beibehalten, ab und
zu die naturwissenschaftliche Brille abzusetzen. Sehen
Sie, es gibt empfindliche Naturen, denen die genaue
Wahrnehmung der umgebenden Welt unerträglich ist;
soldie Leute werden kurzsichtig. Die Augenärzte sind
ja dumme Kerle, die behaupten in ihrem Dünkel, Kurz-
sichtigkeit entsteht durch Überanstrengung des Auges
beim Lesen, durch schlechte Körperhaltung etc. und
erfinden alle möglichen Druckarten, Schriftformen und
Schulbänke. So ist die Geschichte aber gar nicht;
das Leben ist witziger. Kurzsichtige stehen unter der
Herrschaft ihres Hodensackes — oder Eierstockes, das
kommt auf eins heraus — und das ist ein empfindhcher
und gewaltsamer Herr ; wenn der moralische Anwand-
lungen bekommt, gern länger schlafen will, während ihn
irgend eine Weckuhr zum Aufstehen mahnt, dann iäßt
er in einer der vielen Küchen, die er im Körper hat,
ein Gift kochen, schickt es hinauf zu den Augen und
befiehlt denen : schluckt's runter und die Kurzsichtigkeit
ist fertig."
„Abderhalden," schaltete der Naturbeflissene ein,
„ich verstehe."
„Ja, ja, Abdera halt den Lauf an und betrachte die
Narrheit. Von uns Abderiten läßt sich viel lernen. Wir
kennen das Geheimnis der inneren Ansteckung, über
das mich die Wanzen aufgeklärt haben."
Der Student kratzte sich am Arm. „Die verdammten
Köter setzen einem Flöhe an," sagte er unwirsch.
„Flohe? Unsinn! Das Wort Wanze juckt Sie. Pro-
. jektion des Gehörseindruckes auf die äußere Haut."
— 277 -
Thomas hatte die Brille sorgfältig geputzt und setzte
sie wieder auf die Nase. „Ich hätte mich beinahe durch
ihre Zwischenbemerkung über die Flohe stören lassen,
aber Gott sei Dank habe ich meine Brille, die mein
Schirm und Scliild ist, wenn die boshafte Welt mein ■
Wanzengeheimnis entschleiern will. Mit der Brille sehe I
ich richtig und verdecke die Pforten meiner Seele, so I
daß niemand hineinsehen kann. Brillenträger haben etwas "
zu verbergen. Seien Sie mißtrauisch gegen jeden, der
solch ein Ding auf der Nase hat. Es sind alle fakultative
Verbrecher, Heuchler und Hodensacksklaven,"
Der Student warf einem hungrig fiebernden Jagdhund
ein Stück Brot ins Maul und sagte mit einem spöttischen
Seitenblick auf Thomas; „Dieser Tyrann ist doch nicht
so übel. Abgesehen von dem vielen Vergnügen, das er
harmlosen Leuten schafft, hat er also, durch Ihre Brille
besehen, die fturzsichtigkeit eingeführt und auf der
Kurzsicbtlgkeit basiert die Erfindung der Brille, des
geschliffenen Glases, des Fernrohres, des Mikroskops."
Thomas riß sich die Brille von der Nase und setzte
sie dem jünger auf. „Tragen Sie sie," rief er strahlend
vor Freude.
„Sie sind ihrer würdig. Alle Geheimnisse der Welt
entschleiern sich Ihnen."
Seebach hatte die Brille wieder abgenommen, be-
trachtete sie staunend, hielt sie nochmals vors Auge
und sagte dann ganz verwirrt; „Aber das ist ja
Fensterglas."
„Selbstverständlich," erwiderte Thomas, „denken Sie,
ich bin so dumm, meine guten Augen mit gesehhffenen
Gläsern zu verderben. Ich trage die Brille als Ermahnung
meiner selbst, damit ich nie vergesse, daß ich eine hohe
Mission habe, daß alles in mir dieser Mission dienstbar
- 278 -
sein soll ; daß ich eher erbhnden muß, als irgend etwas
sehen, was meinen Gedanken widerspricht. Neulich, als
ich in einem alten Jahrgang des Daheim Bilder von dem
Untergang der .Titanic' sah, begann ich zu zweifeln, ob
wirkHch alle Mensehen freiwillig sterben ; das ärgerte
mich. Da fiel mir das Wort der heiligen Schrift ein :
,So (lieh dein rechtes Auge ärgert, so reiße es aus.' Icli
überlegte mir, daß diese Prozedur mit einer Pinzette
leichter auszuführen sei als mit den Fingern, und da
ich keine zur Hand hatte, ging ich in das nächste
Bandagengeschäft, eine zu kaufen. Im Schaufenster stand
eine Puppe, kreuz und quer von Bandagen überzogen.
Ober dem einen Auge hing eine schwarze Binde. Ich
l;auftc mir solch ein Ding, da ich begriff, daß ich mir
das immerhin etwas schmerzhafte Ausreißen des Auges
ersparen konnte, wenn ich es zuband. Anfangs war ich
auch mit dem Erfolg sehr zufrieden, aber bald fiel mir
auf, daß ich die schwarze Hülle häufig vergaß. Ich sann
auf einen Ersatz und verfiel auf die Brille. Natürlich
wählte ich eine mit Fenstergläsern, da geschliffene Gläser
mich im Sehen behindert hätten."
Seebach warf dem Pintscher wieder einen Brocken
hin. „Ihre Idee ist gut," sagte er. „Sie ist klug und
dumm zugleicli, und in gleichem Grade, und alles was
die Gegensätze richtig im Gleichgewidit hält, ist genial.
Ihre Hodensacktheorien von der Kurzsichtigkeit finde ■
ich aber großartig. Wenn ich recht verstanden habe, ist
es so: Wer Schmerzen im Arm hat, ist vom unterleib-
lichen Tyrannen vergiftet; damit er nicht hauen kann.
Der Schmerz im Arm kennzeichnet also den Sadisten."
„Das schledite Gewissen gehört noch dazu," ergänzte
Thomas. „Sie haben den Satz vollständig begriffen. Als
Ersatz der Armschmerzen, die ich nicht brauchen konnte,
279 —
habe ich mir einen Anzug bauen lassen, der oben in
den Ärmeln zu eng war und die Bewegung behinderte,
aber später habe ich ihn verändert, weil ich doch meine
Arme brauchen will, das heißt, ich habe unter den
Achseln ein Stück herausgeschnitten. Ich will das modern
machen. Ich halte das mit den Ärmeln" — Thoraas sah
seinen Begleiter herausfordernd an ^ „für so dumm,
daß es viel eher die Bezeichnung genial verdient als
der Fensterglasvcrsuch." Er nidcte befriedigt, als er sah,
daß der Student keine Neigung hatte zu widersprechen,
und fuhr fort: „Sie können sich- denken, daß ich mich
mit ähnlichen Vorsichtsmaßregeln über und über gespickt
habe, an Ohren und Nase, an Beinen und Haaren. Auf
diese Weise habe ich es erreicht, wirkhch rein denken
zu können, ohne durch das rohe Objekt meiner Gedanken
abgelenkt zu werden. Wenn ich jetzt ein Pferd sehe,
so sehe ich das Pferd, die Idee des Pferdes."
Seebach lächelte überlegen. Er dachte daran, daß er
vorjiin zum erstemale in seinem Leben in einer selbst
bezahlten Droschke gesessen hatte, und diese Erinnerung
machte ihn geneigt, sich erhaben vorzukommen. „Und
was ist diese Idee des Pferdes, wenn ich fragen darf?
Läßt sie sich mitteilen, oder reiten nur Sie persönhch
darauf rum ?"
„Die Idee des Pferdes ? Das kommt darauf an, ob
Sie von Idee oder Pferd ausgehen. Aber warten sie
einmal !" Thomas schloß die Augen, steckte den Spazier-
stock zwischen die Beine und hopste ein paarmal in die
Höhe, warf den Kopf hodi, pustete und schlug aus.
„So ist es," begann er dann und strich sich zufrieden
das Kinn. „Idee bringt mich zunächst auf Ida, und Ida
hieß ein kleines Mädchen, das ich huckepack zu tragen
pflegte. Diese Ida schleppe idi immer noch mit mir
- 280 -
herum, wenigstens ihren Geruch, der sicher mehr zur
Entwicklung- meines Wesens beigefragen hat als alle
meine Lehrer. Pferd führt mich zu fährt, und es fällt
mir ein, daß ich diese Ida neulich gesehen habe, wie
sie ihr Jüngstes im Kinderwagen Parade schob. Die Idee
des Pferdes würde also das Weib sein und damit stimmt
überein, daß man das Pferd wie das Weib reitet. Sie
sieht weiß aus, diese Idee, muß also ein Stiiimmel sein
und tatsächlich war mein Schaukelpferd ein Schimmel.
Nein, Verzeihung-." Thomas sah angestrengt durch seine
Fenstergläser ins Weite, „es war ein Apfelschimmel.
Die Idee enthält auch schwarz und da erinnere ich mich,
daß mein Vater einen langen sdiwarzen Rock trug, zu
der Zeit, als er mich auf den Knien reiten ließ, und:
,Hopp, hopp, hopp. Pferdchen lauf Galopp', dazu sang.
Ein weißer Frauenbauch und schwarze LÖckchen daran
im Ansatz, das ist doch eine Idee. Ida ist schwarz und
in solchem Frauenbauche schaukeln wir als Embryonen,
reiten im Mutterleibe. Schwarz-weiß, das sind dann auch
die preußischen Farben. Setzen wir Deutschland in den
Sattel, sagte Bismarck, reiten wird es schon können.
Reiten tun wir auch auf unseren Steckenpferden, unseren
Ansichten, das deuteten sie vorhin an, und haben damit
ganz recht. Und auch auf einem Ast reiten wir, oder
einem Treppengeländer. Nebenbei, Treppengeländer; Das
Herunterrutschen ist die eigentliche Schule des Lebens.
Es erregt Lust, direkt himmlische Wollust der Unter-
welt und daneben gähnt der Abgrund zur Warnung vor
dem Fall. Der dunkle Treppenschacht führt nun wieder
zur Hölle, während das rasche Gleiten durch die Luft
zum Fliegen überleitet, zur Phantasie, zum Himmel.
Und damit kommen wir wieder zum Weibe, das Himmel*
und Hölle in sich birgt. Wenigstens behaupten das Leute,
— 281 —
die Erfahrung haben. Übrigens, ist es auch rein physio-
logisch richtig-. Der schwangere Leib ist der eigenthche
Himmel, das Kindchen darin der Herrgott, dessen
leisester Wunsch allmächtig ist." Thomas geriet in eine
solche Aufregung, daß ihm der Schweiß in hellen Perlen
auf die Stirn trat. Er merkte gar nicht, daß Seebach
ihm schon längst niclit mehr zuhörte, sondern ein paar
Kindern beim Spieien zusah. „Die Idee des Pferdes ist
also allumfassend, nicht auszudenken. Ja, ja, sie ist
schwarzwejß, Nacht und Tag, Entstehung des Menschen
in der näclitlichen Umarmung des Ehebettes und das
Grab, das Grab mit der weißen Schneedecke darauf,
Schwarz, weiß, Preußen nicht vorm To — "
Der Student zerriß das Wort durch einen Rippen-
stoß. „Sehen Sic," rief er und wies auf die Kinder.
„Da ist Ihre Idee des Pferdes." Der Junge hatte die
beiden Zöpfe des Mädchens gefaßt, sdirie hüh und
schlug es mit einer Gerte. Die beiden Männer sahen
lachend zu, und Thomas rief voll Begeisterung: ,, Feste,
Junge, immer drauf los." Seebach hatte ihn, ohne es zu
wissen, hinten am RocI(schoß gepackt und wippte mit
dem Knie, als ob er mitrennen wollte.
PlÖtzhch riß sich das Mädchen los und lief davon,
der junge hinter ihr drein.
„Haben Sie bemerkt," wendete sich Seebach zu
seinem Freund, „wie das Mädchen läuft. Sie ist mit
ihren zehn, elf Jahren schon Weib, hält beim Rennen
den Oberkörper gerade, macht kleine, rasche Schritte
und schlägt nach hinten aus. Sie schützt so doppelt und
dreifach ihr Heiligtum. Es wäre zu leicht zu stürmen,
wollte sie den Hintern so herausrecken, wie es der
Junge tut, der greift mit den Beinen weit aus, und
seine Haltung entspricht dem gespannten Bogen, auf
- 282 ~
dessen Sehne der Pfeil liegt, längst ehe der Knabe reif
zum Schuß ist. Ein sicheres Beispiel des Atavismus, ein
Erbe aus der Zeit, wo man das Weib jagte."
Thomas ladite gutmütig. „Atavismus, da ist schon
wieder ihre wissenschaftliche Brille, Merken Sic denn
nicht, daß es Eierstocks zwang ist, innere Ansteckung.
Sie sehen eben bloß die Schutzmaßregel und vergessen,
daß mit der aufrechten Haltung eine Mahnung an den
Verfolger gerichtet wird, steif zu werden, daß das
Ausschlagen Stöße andeutet, und daß die raschen
kleinen Schritte das Tempo der Lust angeben. Da, sehen
Sie hin!"
Das Mädchen rannte eben an einem Kinderspiel-
platz vorbei. Zwei kleine Mädchen bauten mit ihren
Brüderchen an einem Sandhaufen, das eine wurde über-
rannt und setzte sich prompt auf den Hintern, während
der Knabe bei dem Versuch, der wilden Jagd auszu-
weichen, nach vorne fiel.
„Sie haben recht," rief der Student vergnügt, „Beide
Geschlechter üben schon im Fallen ihre spätere Liebes-
stellung ein."
„Und es ist Gesetz, daß kleine Mädchen nach
hinten, Knaben nach vorn fallen. Sie werden es kaum
je anders sehen. Übrigens haben Sie ja Romeo und
Julia gelesen," ergänzte Thomas und verdeutlichte
seine Worte durch rasches Zurück- und Vorwerfen
des Oberkörpers und der Arme, so daß es aussah,
als ob er einen Bauchtanz aufführen wollte. Ein Spitz,
der an das Gitter gelaufen war, um einen Brot-
brocken aus des Studenten Vorrat zu erschnappen,
nahm das übel, zeigte die Zähne und blaffte ein paar-
mal, beruhigte sich aber, als ihm Seebach ein Stück
Brot zuwarf.
- 283 ~
„Und die Idee des Hundes," fragte der Student und
tätschelte einen Schäferhund, der seinen Kopf zärtUch
in seine Hand schmiegte.
Statt jeder Antwort fing Thomas an, so naturgetreu
und täuschend zu bellen, daß sich ein ältlicher Herr,
der eben vorbeigegangen war und mürrisch bei sich
einen siegreichen Wortwechsel mit seinem Prinzipal
über sein Anrecht auf einen Fensterplatz im Bureau
dramatisierte, erschrocken umdrehte, gleichsam unter
dem Eindruck, daß der Chef seine logischen Auseinander-
setzungen durch ein plötzliches Donnerwetter unterbräche.
Gleichzeitig begannen, angeregt durch die verwandten
Laute, sämtliche Koter des Zwingers zu bellen, so daß
ein wahrer Höllenlärm entstand.
Ein Mann in einer Art Uniform von grauem Stoff
kam angerannt und machte mit bullernden Worten von
seinem Rechte als Aufsichtsbeamter Gebrauch: Wer sich
unterstände, die Tiere zu necken? Dabei sah er mit
Blicken, um die ihn ein Mathematiklehrer der Ober-
tertia hätte beneiden können, bald den älthchen Herrn,
bald den Studenten, bald den ihm freundlich zunickenden
Thomas an. Der Herr, immer noch halb von der Idee
benommen, daß es sicli um einen Streit mit seinem
Chef handle, wies mit einer anklagenden Gebärde auf
die beiden anderen, und sagte mit dem Tone tiefster
Empörung, als ob ihm persönlich das schwerste Unrecht
angetan sei: „Die sind es gewesen."
„Können Sie nicht lesen," schrie der Wärter sie an
und wies auf eine Tafel, die am Gitter des Zwingers
hing. Thomas ging langsam darauf zu, während der
Aufseher seine Lippen ärgerlich nach vorn schob, so
daß sich sein hellblonder Schnauzbart wie bei einem
kläffenden Pintscher sträubte.
— 284 —
„Es ist verboten, die Tiere zu necken," las Thomas
mit lauter Stimme und wandte sich dann fragend an
den Beamten: „Nun, und — " Der Mann wendete,
durch Weltleins Ruhe aus der Fassung gebracht, den
Blick ab und murrte, auf Seebach weisend: „Der Herr
da — "
„Füttert, wie sie sehen, die Tiere, was ihnen wohl
zu behagen scheint."
Der Schnauzbart wurde immer verlegener, zumal er
sah, daß alle Hunde friedlich waren und selbst der
wachsam mißtrauische Schäferhund sich mit den Be-
suchern angefreundet hatte. Er drehte sich nach dem
ältlichen Herrn um und begann wieder: „Der Herr da ^"
„Hat erst recht niclits getan, um die Tiere zu necken,"
unterbrach ihn Thomas, „Es scheint Ihnen Vergnügen
zu machen, die Besucher des Gartens zu tyrannisieren.
Aber dazu sind Sie nicht da. Wie heißen Sie?"
Der Aufseher wurde bei der Frage nach seinem
Namen ganz klein. Der Schnauzbart sank ihm herab
und er nagte daran. Einen scheuen Bhck auf Thomas
Uhrkette werfend, die das Imponierende seines Bauches
nachdrückhch betonte, stammelte er einen Namen, den
man nicht verstehen konnte, bückte sich, um einen
dürren Zweig aufzuheben, und trollte sich fort. Einen
Augenblick später hörte man ihn doppelt laut auf dem
Kinderspielplatz schelten, wo zwei Jungen damit be-
schäftigt waren, die Puppe ihrer laut zeternden Schwester
dem Wolf als Futter hinzuhalten, der übrigens gleich-
gültig und ohne Appetit seinen ruhelosen Gang fortsetzte,
Thomas wandte sich zum Weitergehen. „Wissen Sie
nun Bescheid mit der Idee des Hundes?" fragte er.
Seebadi verneinte es, überlegen lächelnd. „Sie haben
nicht das Geringste darüber gesagt."
— 285 —
„Gesagt, gesagt! Ich babe sie Ihnen doch gezeigt.
Haben Sie denn nicht gesehen, wie sie angerannt kam,
bellte, scheu wegblickte, wenn man sie ansah, den
Schwanz — hier war es ein Schnauzbart — einzog,
sich wegdrückte, um auf die Kinder los zu fahren,
nachdem es ihr mit Erwachsenen so schlecht gegangen
war."
„Der Wärter?"
„Heilige Einfalt! Sie sind wirklich schwer von Be-
griff. Der Wärter ist symbolisch, steht da für alles, was
Autorität ist. Alle Autorität ist hündisch, sie bellt, beißt
sogar, klemmt aber den Schwanz ein, wenn sie die
Peitsche sieht. Wer spielt den Wau-wau mit dem Kinde?
Wer ist der große Wau-wau, mit dem ihm bange ge-
macht wird, sobald es der Frau Mama paßt? Der Vater
schwingt den Rohrstock, so lange der Junge willig den
Hintern hinhält. Wehrt er sieh erst, dann ist's mit dem
selbstherrlich scharfen Bellen vorbei und Väterchen schielt
nach der Ofenecke, in die ihm bald der stärkere Sohn
den Freßnapf stellen wird. Siehe Hebels Schatzkästlein."
Thomas ging hastig und ungleichmäßigen Schritts
weiter. Das V des Wortes Vater pfiff langgedehnt von
seinen Lippen. „Er kuscht, dieser Vater, so wütend er
auch auf die Hosenbeine des Lausbuben losfährt. Die
Frau Mama gibt ihm Futter, wenn er brav it.t und das
Haus schützt. Wenn er wegläuft, zeigl: sie ihm die
Peitsche, dann kriecht er auf dem Bauch und leckt ihr
die Hände. Den Schwanz aber, den er noch eben vor
anderen Hundedirnen fröhlich in die Luft reckte und
wedeln ließ, laßt er zwischen den Beinen hängen. Der
Hund von Mann hebt kühn das Bein auf gegen den
stummen, duldenden Stein, selbst wenn es der Eckstein
des Menschheitsgebäudes ist, aber er retiriert feige,
— 286 —
wenn ein Maulheld schimpfend nach dem Stein sich
bückt, ihn zu werfen,"
Der Student unterbrach ihn hier, weil er Lust ver-
spürte, die stille Klause des Gartens aufzusuchen, was
Thomas lächelnd als einen Erfolg seiner Worte vom
Beinaufheben des Hundes bei sich registrierte, ebenso
wie er wohlgefällig bei sieh selbst den gleichen Drang
erwachen fühlte, „Wenn eine Kuh sdiifft, schifft die
andere," belehrte er den Jüngeren, als sie nebeneinander
standen, dann fragte er ihn, ob er wisse, woher die
Bezeichnung Brille für das Loch im Abtritt käme.
Da der Student eifrig an seinen Kleidern ordnete,
während er schon hin ausschritt, fuhr er fort; „Ich habe
schon eine Menge Deutungen versuclU, komme aber
nicht dahinter. Eine Zeit lang glaubte ich in dem Worte
brüllen die Lösung zu haben, wegen der Donnerlaute,
mit denen das Geschäft häufig verbunden ist. Dann kam
die Idee, es von brillant abzuleiten. Auf Grund der
Befriedigung, die man dabei empfindet; man sagt ja ein
brillantes Geschäft. Aber ich sehe ein, daß diese Ge-
dankenverbindungen zu gekünstelt sind. Es muß etwas
mit dem Sehen zu tun haben, mit dem Auge."
„Vielleicht hilft es Ihnen weiter," sagte Seebach,
„daß die Siebenbürger Bauern ein Rätsel haben, in dem
der After Einauge genannt wird. Allerdings würde das
nur zu der Bezeichnung Monokel ausreichen, aber man
könnte ja denken, daß der Ausdruck zunächst für die
Familienabtritte gebraucht wurde. Früher baute man die
Dinger zweisitzig, um nicht zu sagen zweischläfrig, um
gleichsam die große Intimität der Ehe zu betonen, und
noch jetzt beweist die Neigung der Kinder, zu zweit
den Lokus zu besuchen, wie geselUgkeitf Ordernd diese
Angelegenheit ist."
- 287 —
„Mag sein," erwiderte Thomas nachdenklich, „ob-
wohl idi glaube, daß die Erklärung mit dem Einauge
völlig genügt, da ja vermutlich das Einglas früher er-
funden wurde als das Zweiglas. Was mich jetzt beschäftigt,
ist aber ganz etwas anderes. Aber man kommt bei
Ihrem endlosen Geschwätz nicht zu Wort. Einauge
— einäugig — Cyklop — Polyphem. Wenn das Einauge
der After ist, so ist Odysscus der Erfinder des Klystiers."
Seebach war so überrascht, daß er stehen blieb,
während Thomas laut redend weiter eilte,
„Ja, ja, so ist es. Ich muß das Lachmann schreiben.
Kennen Sie Lachmann?" wandte er sich zu dem nati-
lautenden Seebach, „Nein. Ist auch nicht nötig. Vielleicht
wäre es auch etwas für den Vikar Ende." Er sdiwieg
und brütete an seinen verdrehten Ideen weiter.
Seebach war begierig, diesen neuen Spaß seines
Hofnarren kennen zu lernen, und nach einer Weile
fragte er: „Wie meinen Sie das mit Odysseus und der
Klystierspritzc?"
Thomas fuhr aus seinem dämmernden Träumen auf.
„Klystier? Ach so. Ja, das ist doch einfach genug. In
das Auge des Cyklopen, das also der After ist, wird
ein spitzer Pfahl hineingesteckt, die Kly stierspritze. Das
Zischen des Auges symbolisiert das Einspritzen der
Flüssigkeit. Die Höhle ist der Bauch. Aus dem kommen
die Kotmassen in Gestalt der Schafe heraus, Schafe,
um zu bezeichnen, daß zunächst einzelne harte Stücke
abgehen wie Schafküttel; dann kommt die Wassermasse,
dargestellt durch das Meer; dazwischen große Klumpen,
das sind die Steine, die Polyphem dem fortrudernden
Schiffe des Odysseus nachschleudert. Polyphem, nun ja,
man kann gut vom After sagen, daß er viel spricht und
daß auch viel über ihn gesprochen wird. Alle Mütter
- 288 -
bewillkommnen ihre Kinder mittags mit dem Gruß:
Hast Du etwas gemacht? Polyphem = Po = Popo;
!y = lyly, vermutlich eine Abweichung des griechischen
von unserem Luiumadien;7phem? phem? Ach so, schäm
dich, schäm dich; fem ist auch das schwedische fünf.
Fünf Finger, also der Klaps, der auf das unangebrachte
Lulu des Popos erfolgt." Thomas warf die Erörterung
mit einer Handbewegung hinter seine Füße. „Die Sache
ist gana klar. Mau braucht sich nicht weiter damit auf-
zuhalten."
Sie waren vor dem Affenhause angelangt und freuten
sich beide an den drolligen Tieren. Thomas war im
Begriff, sich über sein Lieblingsthema, die Onanie, zu
verbreiten, die hiervon den Tieren offenkundig betrieben
wurde. Schon halte er die Hand zwischen die Brust-
knöpfe geschoben und die andere auf den Rücken ge-
legt; da stieß ihn der Student an, zeigte auf eine
Affenmutter, die ihr Kind flöhte, und sagte:
„Sehen Sie, die Reinlichkeit ist Naturtrieb."
Augusts Gesidit war plötzlich erstarrt. „Wanzen,"
sagte er vor sich hin, dann fuhr er auf. „Gibt es in
diesem erbärmhchen Garten keine Käfige mit Insekten.
Sie müssen mir sofort die Abteilung der Insekten
zeigen. Im Aquarium, sagen Sie?" Er war schon eine
Strecke vorwärts gerannt. „Also, rasch, rasch!" rief er
und raste weiter.
Seebach hatte noch nicht den Eingang des Aquariums
passiert, als Weltlein schon wieder herausgestürmt kam.
„Humbug", schrie er, „ein rechtes Schwindelunternehmen,
dieses Aquarium und der zoologische Garten dazu.
Fische haben sie darin und Krebse und Schildkröten,
aber das nützt doch mir nidits, wenigstens jetzt nichts."
Sein Bück irrte ab und seine Sprache stockte. „Aber
— 289 —
19
merken Sie es sich, Seebach, das mit den Fisclien, den,
kleinen Kindern und der Religion. Zum Donnerwetter
schreiben Sie es sich doch auf. Fische, Christus, Em-
bryo, Badewanne. So, das genügt. Also der Fisch zappelt,
das tut das Kind auch; er schwimmt Im Wasser, das
tut das Kind auch, es hüpft unter ihrem Herzen, heißt
es. Der Fisch ist das Symbol der Uvchristen, aber dem
Kindchen, das im Stall geboren wurde, hat sidi die
Welt unterworfen. Der Fisch — " Sie gingen gerade
am Weiher vorüber und Thomas unterbrach sich, um
auf einen Storch zu weisen, der zum Gaudium der um-
herstehenden Kinder langsam einen Frosch verspeiste.
„Auch der Frosch hätte als Symbol gebraucht werden
können; meine Kommilitonen der medizinischen Fakultät
nannten den Kindersaal der Charite den Froschteicli.
Täghch fand da der b ethl ehern iti sehe Kindermord wieder
statt. Warum wühlte wohl die fromme Schar der christ-
lichen Brüdergemeinde den Fisch, nicht den Frosch?"
Der Student, der nur unwillig das Geschivalz mit
anhörte, zuckte die Achseln. „Es ist ein altes phallisches
Symbol", erwiderte er,
Thomas sah ihn scharf an und fuhr fort; „So, so,
Sie wissen das. Nun also, der Fisch ist das Kind und
das Kind ist der Heiland, der nach dreimal drei Monden
aus dem Grabe der Mutter aufersteht. Geburt und Grab,
es ist dasselbe, alles ist geheimnisvoll ineinander-
geschlungen. Das All, die Welt,- ein Ring, eine Kugel.
Und die Kugel ist wiederum die schwangere Mutter.
Die aber birgt in sich das Meer, die salzige Flut, die
das Feste des Klndcsleibes umspült." Thomas blieb
keuchend stehen und legte sich die Hand auf den
Bauch. „Niemals," sagte er, „niemals, niemals. Ich werde
es nie erreichen." Rasch wieder aussehreitend und die
— 290 -
I
i
Sorgen durch einen plötzlichen Ruck der Schultern ab-
schüttelnd, fuhr er fort. „Allnächtlich im Traume all-
mächtig, schafft sich das Kind von neuem das Meer
. zum Schwimmen, das heilige Bad, das Urbad und Welt-
ali. Der Erwachsene, der sich des Nachttopfes bedient,
ist ein erbärmlicher Pfuscher, gemessen am göttlichen
Schaffen des Kindes, und sein Neid wird nicht besser
dadurch, daß er das Kind unter dem Vorwandc der
Reinlichkeit um seine Schöpfung betrügt und auf das
Töpfchen zwingt. Freilich," sein Gesicht war so starr
und seine Augen flogen so unstet hin und her, daß ein
aufmerksamerer Beobachter, als es der Student war,
gemerkt hätte, wie wenig der Mann bei der Sache war,
„das Töpfchen ist ja auch ein symbolischer Erdball, der
braune Kontinent mitten im gelben Okeanos. Und als
Überleitung zur Badewanne ein Wegweiser. Fragt sich
nur, was früher erfunden ward, der Topf oder die
Wanne. Beide aber wurden erzwungen von dem Gestank,
der wohl der Vater der Reinlichkeit ist, oder war es
die Klebrigkeit, oder gar das Jucken, das Insekt, die
Wanze." Weltleins Gesicht verzerrte sich, wurde belebt
und klar. „Im sogenannten Insektarium bin ich gewesen.
Es ist eine Schande, dieser zoologische Garten, das
richtige Machwerk einer Aktiengesellschaft, die auf
Gewinn arbeitet. Alles mögliche Getier haben Sie dort:
Schmetterlinge, Käfer, tot und lebendig, wandelnde
Blätter und was des Unsinns mehr ist. Sogar Bienen;
aber anständige, richtige Insekten, deren Wichtigkeit .
durch die Tatsache des Insektenpulvers erwiesen ist,
haben sie nicht. Jeder lumpige Jahrmarkt eines kleinen
Drecknestes hat seinen Flohzirkus, aber hier in dieser
vermutlich vom Staat subventionierten Anhäufung von
naturwissenschaftlichem Protzentum, das so tut, als ob
- 291 - ,g.
es belehren wollte, kriegt man diese merkwürdigen
Tiere nicht zu sehen. Dabei wimmelt jede Berliner
Wohnung davon. Es ist ganz echt modern. Unsere Kinder
lernen schon in der KUppschule, daß sie im Zickzack
laufen müssen, wenn ein Krokodil sie fressen will, aber
wie die Mama abends Springeries fängt, lernen sie nicht,
kriegen obendrein Schelte, wenn sie wißbegierig dabei
zusehen wollen. Das braune Jahrmarktsvolk fäbrt auch
von Stadt zu Stadt, um die sorgfältig im eigenen Haar
und Leib gehegten Lävise zu verbreiten, ja selbst die
Dirnen beschäftigen sich damit, die unentbehrliche
Kenntnis der Filzläuse weiteren Kreisen zu übermitteln,
aber unsere Millionen verschlingenden zoologischen
Gärten vernicliten diese Tiere, statt sie zu pflegen,
sie überlassen sie, - horribile dictu, den Affen zum
Fraß".
Dem Studenten war unheimlich zumute, das laute
Sprechen ' Weltleins erregte die Aufmerksamkeit der
Menschen, die sidi eben vor dem Käfig des Löwen
drängten, um zuzusehen, wie er seine Fl ei seh fetzen
hinunterschlang, fn dem unbestimmten Vorgefühl, daß
bald irgend etwas Unglaubliches geschehen würde, trat
er beobaclitcnd zur Seite. Thomas bemerkte gar nicht,
daß er keinen Begleiter mehr hatte. Heftig gestikulierend,
,fuhr er fort zu sprechen: „Das nennt sich König der
Tiere, dieses stinkige Vieh, Warum? Mit welchem Recht?
Setzt ihm einen Floh ins Fell und seine starken Pranken
nützen ihm "ftichts, seine mächtigen Kinnladen sind zu
nichts gut. Während er mit dem Kopf herumfährt oder
mit dem Schweif nach der juckenden Stelle schlägt, hat
sich der Meister Floh schon sein Quantum Blut aus-
gesogen, hüpft fröhlich davon und kümmert sich nicht
um den Zorn König Nobels."
— 292 -
Der Löwe hatte seinen Fraß beendet, legte sich
blinzend nieder und gähnte.
„Reiß nur deinen Rachen auf, Großmaul," schrie
Thomas, „mich schreckst du nicht und den Floh nocli
weniger. Oder gähnst du, um mir zu zeigen, wie lang-
weilig ich bin? Bist du schon so vermenscht, daß du
feige versteckt beleidigst?" Er hatte den Stock erhoben
und drohte damit. Ein dicker, kurzgewachsener Herr
mit zomrotem Gesicht, den seine noch etwas dickere
Frau vergeblich zu beruhigen suchte, schlug nach dem
Stock, was unseren Helden gar nicht weiter anfocht Er
nahm den Stock in die andere Hand und Echalt von
neuem darauf los. „Narrisch eitel ist die Welt, der
größte Narr aber ist der Mensch, die Krone der Schöpfung.
Schau dir die Leute nur an, Löwe, so sehen sie aus
die sich rühmen, die Erde sei ihnen Untertan, die ein
dickes Buch schrieben; das Buch, das Buch der Bücher,
in dem sie ihrem Gott die Blasphemie unterschieben,
er habe Tiere und Pflanzen ihretwegen geschaffen, dem-
selben Gott, der heute oder morgen ihnen einen Tuberkel-
bazillus in die Lunge schickt; dann ist's aus mit dem
dicken Wanst, freilich niclit mit der Großschnäuzigkeif,
mit d&r sie, schon halb aufgefressen von solch winzigen
Tieren, breit dasitzend die Erfindungen ihres Geistes
anpreisen."
Der Löwe hatte sich umgedreht und ließ die Be-
schauer seine mächtige Kehrseite sehen. Thomas trat
dicht an den Käfig heran.
„Ein Raubtier nennst du dich, prahlst mit deiner
Stärke und mußt doch froh sein, real heimlich verstohlen
eine Kuh zu schlagen oder aus dem Hinterhalte heraus
ein harmloses Menschenkind anzuspringen. Ich kenne
Raubtiere, wirkliche furchtlose, die heldenhaft den Feind
— 293 -
angreifen, winzige Zwerge, nicht wie du vergilbt vor
Neid, sondern rot brennend von Blutdurst." Er bog
sich weit über die eiserne Barriere, die das Publikum
von dem Käfig trennt, so daß sein Kopf fast die Gitter-
stäbe berührte. Die Menge begann sich zu verlaufen,
nur der oder jener warf noch einen Blick zurück. Ein
kleiner Junge, offenbar der Sohn des didten Ehepaares,
stand an der anderen Seite des Löwenzwingers, er
konnte sich trotz des Sclieltens und Rufens der Mutter
nicht von dem Tier trennen, weil er durchaus den Löwen
brüllen hören wollte.
„Peitsche und glühendes Eisen," fuhr Thomas fort,
„schrecken dich elenden Wicht. Die Wanze aber fürchtet
nicht Peitsche, nicht Eisen, sie beißt und saugt und
stirbt, wenn es sein muß, lautlos und klaglos, helden-
haft. Die Wanze ist König der Tiere, nicht du. Ich habe
die Wanzen besiegt, nenne mich stolz Wanzentod. Dich
aber verachte —"
Das „ich" wurde durch einen mächtigen Guß er-
stickt, mit dem ihn der Löwe von oben bis unten be-
spritzte. „Mama," schrie der Junge und rannte hinter
seiner Mutter her, „Mama, der Löwe hat den Mann
vollgescliuUt, Mama — " Weiter kam er nicht, er blieb
erstarrt stehen. Thomas hatte, ohne sich um den Löwen-
dreck zu kümmern, als echter Held die Hosen auf-
gerissen und „Was du kannst, kann ich auch," rief er
und lachte siegesfroh, als der Löwe sich dem hohen
Bogen des Strahles zu entziehen suchte.
Der Junge raste halb toll vpr Vergnijgen zu seinen
Eltern und erzählte, auf einem Bein um die Eltern
herumhüpfend, den Finger im Munde, was die Ver-
ständlichkeit seiner Mitteilungen nicht erleichterte, den
Vorgang. Der dicke Vater, der zunächst in Wut geriet,
- 294 -
I
weil er nichts verstehen konnte, dann aber, als seine
Gattin mit einer energischen Handbewegung den Sauge-
finger aus dem schwatzenden Munde zum Vorschein
gebracht und geklapst hatte, aufmerksam zuhörte, schien
noch einmal so fett zu werden, so Wies ihn die Ent-
rüstung auf. Gewaltigen Ganges, als ob er selbst der
beleidigte Löwe sei und Vergeltung übe, schritt er auf
Thomas los, nach dem Löwenwärter rufend und faßte
den ruhig seine Kleider reinigenden Mann, den der
Student von der anderen Seite fortzuziehen suchte,
am Arm.
Wenige Minuten spater stand Thomas, begleitet von
dem dicken Mann und dem Warter und gefolgt von
dem Studenten und dem Knaben im Wachtlokal des
Direktionsgebäudes. Der diensthabende Polizeisergeant,
ein magerer, knochiger Mann mit schwerem Dienst,
großem Appetit und geringem Gehalt, musterte die
beiden Bauche, die sich ihm entgegen wölbten, den An-
klagenden und den Angeklagten mit mürrischen Blicken,
und da er fand, daß Weltleins Leibesumfang in einem
besseren Verhältnis zu seiner Körperlänge stand als der
des schwitzenden Vaters, war er geneigt, gegen den
letzteren Partei zu nehmen. Zumal der junge, der einzige
Zeuge des Vorfalles, unter den drohenden Blicken See-
bachs zu stottern begann.
Der Student, als er das Schwanken der Obrigkeit
sah, benützte den Ausweg, der sich bot. „Icli habe
Herrn Weltlein," sagte er, „die ganze Zeit nicht aus
den Augen gelassen, schon deshalb, weil er krank ist,"
er machte eine verstohlene Bewegung nach der Stirne —
„und weil ich mich als sein Freund für ihn verantwortlidi
fühle, und ich kann bestimmt erklären, daß der Junge
dort seine Erzählung glatt erfunden hat."
— 295 —
Damit wäre die Sadie erledigt g^ewesen, wenn nidit
Thomas, wütend über die Bewegung Seebachs nach der
Stirn, selbst Zeugnis wider sich selbst abgelegt hätte.
Das Resultat war schließlich, daß Name und Adresse
des Verbrechers aufgesdi rieben und er selbst mit dem
Hinweis entlassen wurde, daß er weiteres hören werde.
Einige Zeit darauf erhielt Thomas eine Vorladung vor
das Polizeiamt. Warum er dieser Vorladung nicht folgte,
ergibt sich aus dem weiteren Verlauf der Geschichte.
\
XXX. KAPITEL.
DER NARR ALS HELD. VOM SOZIALISMUS.
Am nächsten Abend holte Thoraas den Studenten
zu einer Volksversammlung ab, die von der Berliner
Konsumgenossenschaft zu Propaganda zwecken einberufen
war. Der Saal war ge|jfropft voll und der Referent war
schon mitten in seiner Rede, als die beiden eintraten.
Zu Seebachs Erstaunen wurde Thomas hie und da von
Arbeitern begrüßt, ja einer drängte sich sogar durch
die Menge, um ihm die Hand zu drücken, und dieser
eine war niemand anderer als der eifersüchtige Schlosser,
mit dem Thomas auf der Fahrt nach Berhn Streit
gehabt hatte.
„Es ist gut, daß Sie kommen," flüsterte er, „wir
werden einen harten Stand haben. Die Kaufleute der
Gegend haben ihr Gefolge aufgebracht, um die Ver-
sammlung zu sprengen, und auch von den Unentwegten
droht uns heftige Opposition; Langhammer ist da; unser
Geschäftsführer, der eigentlich den Vorsitz führen wollte,
ist erkrankt und sein Vertreter kann allenfalls eine
ruhige Versammlung leiten, dem Skandal nachher ist er
aber nicht gewachsen."
— 296 — '
Thomas nickte und fuhr mit der Hand durch die
Luft, um anzudeuten, daß er alles machen werde. Er zog'
ein Notizbuch vor und verfolgte den Vortrag aufmerksam.
„Wie zum Teufel," raunte Seebach dem Schlosser
zu, „kommen Sie zu der Freundschaft mit Herrn Weltlein?
Neulich sah es so aus, als ob Sie ihn am liebsten tot
schlüg'en."
„Den?" fragte der Schlosser dagegen. „Ach, das war
so eine dumme Geschichte. Nein, der Mann ist brauchbar
und gut. Passen sie nur mal auf, nachher, wenn es mit
dem Radau losgeht."
Der Redner setzte eben mit großem Aufwand von
Zahlen und Beispielen, wobei er billige Zucker- und
Mehlzüge von Kilomctcrausdchnung an den Augen- des
Publikums vorbeirolien ließ, auseinander, wie viel sich
ersparen ließe, wenn man den Zwischenhandel ausschalte,
gemeinsam riesige Mengen einkaufe und dann ohne die
Absicht des Gewinnes wieder unter die Mitglieder der
Genossenschaft verteile, als es in einer Ecke des Saales
anfing lebhaft zu werden. Scharren und Zischen ertönte
und Rufe: „Sdiwindel, Lügen!" wurden laut. Der Redner
machte eine kurze Pause und das benutzte Thomas, um
den Schlosser zu fragen: „Steckt die Rasselbande alle
auf einem Haufen?"
„Ja, sie haben es ungeschickt arrangiert."
„Haben Sie anstellige Leute da?" fragte Thomas
wieder, „Leute, die aufs Wort folgen."
„Wenn ich ihnen verspreche, daß es gut ausgeht
und nützlich ist, ja."
Thomas hatte ein Gesicht aufgesetzt, als ob er im
Begriff sei, die Schlacht von Cannae zu schlagen.
„Lassen Sie mir den Vorsitz übertragen, verteilen Sie
unsere Leute über den ganzen Saal und dann — "
— 297 —
Mehr konnte der Student nicht hören, da der Redner
wieder begonnen hatte und der Lärm von neuem
losg-ing. Das Publikum wurde im ganzen unruhig, Stühle
wurden gerückt, geklatscht und gezischt, dazwischen
schrie man Ruhe und selbst der Ruf: Rausschmeißen !
wurde laue. Ein Herr im schwarzen Überzieher, der in
einer der vorderen Reihen saß und seinen Regenschirm
krampfhaft in der Linicen festhielt, während er mit der
Rechten einen hohen Hut beschwörend gegen den Saal
erhob, als sei dort ein Huhn, dessen Gackern er durch
Aufstülpen des Hutes ersticken müsse, hatte sich halb
vom Sitz erhoben und rief ununterbrochen : Ruhe, Hin-
setzen, Hinsetzen, Ruhe, bemerkte aber dabei nicht,
daß "er der einzige war, der stand. Ein rotbeschlipster
Mann mit Backen, die, wie um seine Gesinnung auch
körperhch zu zeigen, ein grelles Rot aufwiesen, was
sich bei näherem Zusehen als Reste von alten Lupus-
narben herausstellte, schüttelte die Faust vor Wut gegen
die Ecte, von der das Zischen der Händlergruppe
erklang, und zerrte mit der anderen Hand seinen Nach-
bar am Arm, einen Metallarbeiter mit schwarzen Händen,
um den audi zur Entrüstung aufzureizen. Die Aufregung
stieg und die Versammlung schien sich wirklich in einen
wilden Tumult auflösen zu wollen.
Plölzlich ertönte die Klingel des Vorsitzenden, Es
trat nach und nach Ruhe ein, und der Vorsitzende teilte
mit, daß er soeben dringend abberufen sei und bitte,
an seiner Stelle Herrn Thomas Weltlein zum Leiter der
Versammlung zu wählen. Ein geradezu Ohren zer-
reißendes Händeklatschen erscholl aus den verschiedenen
Teilen des Saales, obwohl kein Mensch wußte, wer
dieser Thomas Weltlein sei. Der Schlosser hatte seine
Hilfstruppen alarmiert.
— 298 -
Thomas stand zu seiner ganzen Länge aufgerichtet
neben dem Rednerpult. Die Ruhe seiner Persönlichkeit
wirkte sofort, noch ehe er ein Wort gesprochen hatte.
Er ließ langsam seine Augen durch den Saal gehen und
sagte: „fch übernehme den Vorsitz. Das Referat dauert
noch fünf Minuten. Ich werde dann nach einer Pause
von zehn Minuten die Diskussion eröffnen. Jeder wird
zu Wort kommen. Bis dahin bitte ich, sich zu gedulden.
Der Herr Referent hat das Wort."
Der Student wunderte sich. Bisher hatte er Thomas
stets als halben Narren betrachtet, ihn bemitleidet und
auf ihn herabgesehen. Die ruhige Kraft, mit der dieser
Narr jetzt die Versammlung bändigte, ohne sicli scheinbar
irgendwelche Mühe zu geben, imponierte ihm; und all-
mählich erhob sich hinter diesem Erstaunen ein immer
wachsendes Gefühl des Neides.
Das unerwartete Auftauchen eines vornehm ge-
kleideten Mannes mit sicherem Benehmen hatte auf die
Kleinhändler, die gewohnt waren, reiche Kunden devot
zu behandeln, Eindruck gemacht, und der Referent konnte
ohne Störung seine Rede beenden. Er schloß mit der
Devise der Konsumvereine: Einer für alle, alle für einen.
Aus der Händlerecke wurde ein kurzer Versuch ge-
macht, den Schluß der Rede wieder zum Sprengen der
Versammlung zu benützen, aber da sich, wie jedesmal
bei einer Pause, ein großer Teil des Publikums entfernte,
um dringende Geschäfte zu besorgen, fiel der Lärm zu
Boden.
Die Diskussion eröffnete der Sprecher der Kaufleute,
ein hagerer Mann im schwarzen Gehrode, unter dem
eine goldene Uhrkette hervorbaumelte. Das Kinn war
nach vom weit vorgebaut, der Schnurrbart gut gepflegt
und die Haltung straff, militärisch. Die ganze Erscheinung
— 299 -
machte den Eindrudc eines tätigen, energ-ischen Mannes.
Man hatte ihn ausgewählt, die Sache der Händler zu
vertreten, weil er als Besitzer eines Eisen warengescliäftes
nicht so personlich interessiert an der Sache zu sein
sdiien wie die Lebensmittelhändlcr, Das Publikum hörte
ihn schweigend an, als er seinerseits an der Hand großer
Zahlenreihen nachwies, daß die Genossenschaften teuerer
arbeiteten als die Detaillisten, Um so auffallender war
es, daß von Zeit zu Zeit aus verschiedenen Teilen des
Saales ein ,Schr richtig!' erscholl. Man gewann den
Eindruck, daß die Händlerecke sich aufgelöst und die
Opponenten sich über den ganzen Saal verbreitet hätten.
Kühn gemacht durch diese Wahrnehmung, die ihm seinen
Erfolg zu erleichtern schien, wagte der Redner, den
Kopf zurückwerfend und die Hände in die Hosentaschen
steckend, einen Vorstoß gegen die Leiter der Genossen-
schaftsbewegung, die hohe Gehälter für minderwertige
Leistungen einsteckten, wich aber sofort wieder zurück,
als ein Murren hörbar wurde. Als er von dem be-
scheidenen Aufschlag sprach, den die Geschäftsleute
nehmen, ertönte plötzlich eine scharfe Stimme — es
war die des Schlossers — : „Dreihundert Prozent erhebt
der Hallniike."
„Das ist eine Lüge," überschrie der Mann das ver-
einzelte Lachen.
„Ich kann es beweisen," lautete die prompte Antwort.
Die Glocke des Vorsitzenden ertönte.
„Ich bitte, den Herrn Redner nicht zu unterbrechen,"
rief Thomas. „Die Diskussion bietet Raum für jede
Meinungsäußerung."
Der Kaufmann, der durch die Zwischenrufe etwas
aus der Fassung gebracht worden war, sanamelte sich
wieder. Aber seine Worte und Gedanken waren jetzt
— 300 —
schärfer und klangen gereizt. Er schlug öfter mit der
Faust auf das Rednerpult, gestikulierte heftig und redete
sich in einen wahren Zorn. Die Wirkung auf die Zu-
hörer blieb nicht aus. Das Publikum gab lebhafter als
vorher seine Billigung und Mißbilligung zu erkennen,
und plötzlich entstand wieder ein Sturm, als der Kauf-
mann, um die Gemeingefährlicbkcit des Konsumvereines
zu kennzeichnen, in seiner Erregung das Wort Sozen
gebrauchte, die ersparten Genosscnscliaftsgelder würden
zu Parteizwecken der Roten verwendet. Ein wütendes
Händeklatschen und Bravorufen ging los, geleitet von
drei Männern, die nebeneinander in der Mitte des Saales
saßen, alle drei gut gekleidet und wohlgenährt. Sie er-
hoben sich halb vom Sitz, klatschten und sahen sich im
Saal um, als ob sie auffordern wollten, an der Demon-
stration teilzunehmen. Tatsächlicli steckte ihr Beifall auch
die Händlerecke an, und während sich der Lupusmann mit
dem roten Schlips vergebens bemühte, durch Sclireien
und Scharren gegen den Beifall aufzukommen, stand der
Redner siegesgewiß auf seinem Podium, die eine Hand
auf einem Haufen Papiere, den er als Leitfaden seiner
Rede benützt hatte, die andere keck in der Hosen-
ta seile.
„Als ob er selber nicht an seine Männlichkeit glaube
und sich durch das Gefühl davon überzeugen müßte,"
sagte der Student halblaut zum Schlosser.
„Was heißt denn das?" fragte gereizt ein rothaariger
Schuster mit einer Brille auf der Nase und einer riesigen
Narbe auf dem Schädel, und deutete auf die drei
eifrigen Klatscher in der Mitte. „Das sind doch weiche
von den Unseren."
„Halt's Maul," schnauzte ihn der Schlosser an: „Du
wirst schon sehen, wie es kommt."
- 301 —
Thomas hatte sich erhoben. Er brauchte diesmal
nicht erst die Glocke zu benützen. Seine lang'e Gestalt
wurde überall beachtet, und der Lärm verebbte.
„Idi möchte den Herrn Redner bitten," sagte er, „sich
in Anbelraclit der vorgeschrittenen Zeit kurz zu fassen.
Es ist üblich, bei der Diskussion dem einzelnen zehn
Minuten zu gewähren."
„Ich habe nidits mehr zu sag'en," erklärte der Eisen-
händler stolz auf seinen Erfolg und stieg vom Podium,
um die Glückwünsche seiner Partei zu empfangen. Er
war noch nicht in der Händlerecke angelangt, als der
Schlosser schon auf dem Podium stand. Er hielt ein
Vorlegeschloß hoch in der Hand und rief; „Dies Vor-
legeschloß habe ich vor zwei Stunden bei dem Herrn
Kramer, der uns soeben auseinandergesetzt hat, wie
schlecht der Arbeiter fährt, wenn er im Konsumverein
kauft, für 25 Pfennige gekauft. Es ist aus unserer Fabrik
und wii'd von der für acht Pfennige abgegen. Herr
Kramer schlägt 300 Prozent auf. Ich habe nidits mehr
zu sagen."
Schallendes Gelächter, in dem die Wut der Händler-
ecke unterging, durchbrauste den Saal. Thomas stand
wieder aufrecht, hob den Arm hoch und sehr bald
legte sich der Lärm.
„Einer für alle, alle für einen," sagte er, jedes Wort
ruhig und ' klar aussprechend, während er den Arm
sinken ließ. „Die Rede des Herrn Eisenwarenhändlers
Kramer, seine ganze Haltung und Persönlichkeit haben
uns belehrt, wie es ist, wenn alle für einen arbeiten."
„Dreihundert Prozent," rief wieder der Schlosser.
„Es ist nicht mehr als billig, wenn wir auch jemanden
zu Worte kommen lassen, der den Grundsatz ; Einer
für alle, vertritt. Da dann beide Parteien zu Wort ge-
— 302 -
i
kommen sind, werde ich nachher die Diskussion schließen.
Ich erteile Herrn Langhammer als letztem Diskussions-
redner das Wort."
Der Lupusmann bestleg das Rednerpult.
„Was ist das nun wieder," murrte der rothaarige
Schuster nnd setzte seine Brille zurecht. „Langharamer
gehört zu den Unentwegten und will gegen den Konsum-
verein sprechen. Da muß doch von uns einer - — "
„Schafskopf," unterbrach ihn wieder der Schlosser.
„Du sollst sehen, in fünf Minuten ist Langhammer Mit-
glied des Vereines."
Der Rotbackige stemmte beide Arme auf die Pult-
platte, beugte sich weit nach vorn und schrie in den
Saal hinein:
„Arbeiter, was euch noltut, ist, daß ihr gegen den
Kapitalismus euch zusammenschart, alles andere kann
euch nicht helfen. Der König Mammon regiert die Welt.
Das Ausbeutertum lebt von eurem Schweiß und der
blutigen Arbeit eurer Hände."
„Zur Sadie," rief es aus der Händlerecke.
„Arbeiter, das Proletariat der Welt darf sich "^as
nicht mehr gefallen lassen, muß gegen die Blutsauger
des Kapitalismus Front machen."
Über Weltleins Gesicht flog ein Schatten bei dem
Wort Blutsauger.
„Aber euch stetit noch der Kadavergehorsam von
der Kaserne her in den Knochen. Der Militarismus — ''
„Zur Sache," rief es wieder. Es war diesmal die
Stimme des Eisenhändlers und „zur Sache," sekundierten
die drei Männer in der Mitte des Saales und trommelten
mit den Beinen auf den Boden.
„Über dem, ihr habt es alle gehört. Dreihundert
Prozent — ■"
— 303 —
„I-ügen! Frechheit! Schmeißt den Kerl runter," er-
tönte es wieder von den drei Leuten in der Mitte. Der
Tumult ging wieder los. Die drei waren aufgestanden,
und ihrem Beispiel folgend, erhoben sich hie und da
unruhige Leute von ihren Sitzen.
Thomas hatte wieder zur Klinge! gegriffen und
läutete Sturm. Allmähhch trat Stille ein.
„Es zeigt sich klar, daß hier im Saal die Vertreter
des Grundsatzes: Alle haben für einen zu arbeiten,
niemanden zu Wort kommen lassen wollen, der für das
Allgemeinwohl spricht, wie es eben der Herr tat, der
in so roher Weise unterbrocJien wurde. Ich danke dem
Herrn Langhanimer dafür im Namen der Genossen-
schaft, daß er so tapfer für uns gesprochen hat — "
„Das hat er ja gar nicht getan," schaltete der
Schuster ein.
Der Schlosser zuckte als Antwort bloß die Achseln.
„Und hoffe, daß er dem Verwaltungskörper unserer
Genossenschaft seine Hilfe als Mitglied des Genossen-
schaftsrates nicht versagen wird."
Der Rotschlips war so verblüfft, daß er einen Diener
machte, vom Podium stieg und zu seinem Platz hin-
strebte. Auf halbem Wege hielt ihn der Schlosser an
und redete eifrig auf ihn ein. "
„Es hat keinen Zweck," begann Thomas wieder, „die
Aussprache weiter fortzusetzen, da das Verhalten der
Herren dort in der Ecke und in der Mitte des Saales
eine Einigung nicht erhoffen läßt. Ich werde zur Fest-
stellung der Mitgliederliste schreiten und bitte infolge-
dessen alle diejenigen, die dem Verein nidit beitreten
wollen, den Saal zu verlassen."
Kein Mensch rührte sich. Alle vermuteten noch
irgend einen Radau.
— 304 —
Thomas wiederholte nach einigen Augenblicken sdiarf :
„Ich bitte alle, die nicht Mitglieder der Genossenschaft
werden wollen, den Saal zu verlassen."
Zögernd erhob sich einer der drei Leute aus der
Mitte des Saales und drängte sich durch die Reihen.
Der zweite folgte ihm und schließlich auch noch der
dritte, der, ehe er ging, noch iaut nach hinten rief:
„Komm, Wilhelm, es hat doch keinen Sinn mehr, die
Sache ist niclit mehr aufzuhalten." Ein paar Leute folgten
dem Beispiel, alles bewährte MitgHeder der Genossen-
schaft, wie der Schuster kopfschüttelnd feststellte, jetzt
kam auch in die Händlerecke Bewegung. Eine einzelne
Gestalt löste sich aus der dicht gedrängten Menge und
schritt dem Ausgang zu.
„Ich werde Listen herumgehen lassen," ergriff Thomas
wieder das Wort, „in die sich einzeichnet, wer dem Verein
beitreten will." Er tauchte eine Feder ein und ging mit
einem Bogen Papier auf den Rotschlips los. „Bitte,
Herr Langhammer, Ihr Name muß zuerst stehen." Der
Mann sah Thomas verdutzt an und zeichnete seinen
Namen ein. Thomas gab die Liste weiter un4 stieg auf
das Podium. „Ich möchte bemerken," sagte er, „daß es
für die Herren Kaufleute keinen Zweck hat, sich in die
Liste einzutragen. Der Verein hat statutengemäß das
Recht, offenkundige Gegner seiner Tendenzen auszu-
schließen, und er wird Ihnen gegenüber davon Gebrauch
machen. Ich mochte Sie nochmals bitten, den Saal zu
verlassen."
„Wir werden doch noch unser Bier austrinken dürfen,"
schrie einer der Händler gereizt
Thomas richtete sich zur vollen Höhe auf. „Die
Herren wollen nur noch ihr Bier austrinken," rief er,
„das kann ihnen niemand übel nehmen, wir woll
llen
- 305 - 20
also so tun, als ob die Gegner schon fort wären, und
in unserer Arbeit fortfahren. Wir haben den Genossen-
sdiaftsrat zu wählen und die Verwaltung bittet Sie, aus
Ihrer Mitte drei Genossenschafter zu ernennen. Die
Verwaltung hat kein Vorschlagsrecht, ist jedoch der
Meinung, daß ein so verdientes Mitglied wie Herr
Langhammer dabei nicht übergangen werden darf."
Thomas hatte diesen Satz gerade vollendet, als- die
Schar der Kaufleute aufbradi. Einer hinter dem andern —
denn niemand machte ihnen Platz — zogen sie durch
den Saal.
Thomas folgte ihnen mit den Augen, dann verließ
er das Podium utid setzte sich müde in einen Stuhl,
Eine Stunde später saß er mit ein paar von den
Teilnehmern der Versammlung und mit dem Studenten
in einem kleinen Restaurant, um den gelungenen Abend
zu feiern. Man sprach über die Genossenschaftsbewegung,
die Zukunft und Aufgaben der Vereine. Persönliche
Erlebnisse und Erfahrungen wurden ausgetauscht und
dabei stellte es sich dann heraus, daß Thomas ein alter
Anhänger des genossenschaftlichen Gedankens war und
vor Jahren schon in Bäuchlingen einen Konsumverein
gegründet hatte. Bei seinen Streifereien durch BerUn
war er hie und da in Läden der Genossenschaft ein-
getreten, hatte sich mit den Leuten unterhalten und
war schließlich mit dem und jenem Führer der Bewe-
gung bekannt geworden. Auf diesem Wege war ihm
auch der Schlosser wieder begegnet, der, hellköpfig,
sehr bald merkte, wie brauchbar Weltlein war, wenn
man seine Narrheiten nicht beachtete.
Nach und nach wandte sich das Gespräch der sozialen
Frage zu. Thomas hatte bisher sich nicht an dieser Unter-
haltung beteiligt, nur hie und da beim Anstoßen der
- 306 ~
f Gläser Prosit gesagt. Plötzlich stürzte er sich, un-
bekümmert um das, was die anderen sagten und
meinten, auf ein einzelnes Wort, das zufällig genannt
worden war, ja in dem Zusammenhang der Unterhaltung
genannt werden mußte, auf das Wort .Allgeraeinheit'.
„Allgemeinheit, wozu streiten Sie sich denn noch
über die Lösung der sozialen Fragen, wenij Sie das
Wort haben," rief er. „Das ist doch die Losung, Be-
trachten Sic nur das Wort: Allgemeinheit." Er legte
den Finger auf die Tischplatte, als ob dort das Wort
aufgesclirieben stände, und blickte von einem zum
anderen, um sie zum Betrachten aufzufordern.
Der rothaarige Schuster, der neben ihm saß, rückte
sidi die Brille zurecht und ladite, der Schlosser nickte
vor sich hin und raunte dem Studenten zu : „Jefzt kommt
die Tollheit wieder." Einer der anderen aber, die Thomas
nicht kannten, der Metallarbeiter mit den schwarzen
Händen, fragte: ,, Wieso, wie meinen Sie das?"
„Die soziale Frage," Thomas sah den Metalldrcher
aufmerksam an, „bezieht sich auf die Sorge für alle.
Für alle sorgen zu wollen, ist aber eine Gemeinheit,
Also ist die soziale Frage eine Gemeinheit."
„Nun hören Sie mal," rief der vierte der Arbeiter,
ein Buchdrucker von etwa 40 Jahren, der aber ein
Jungengesicht wie ein Siebzehnjähriger hatte.
„Bitte, ich bin noch nicht fertig," unterbrach ihn
Thomas heftig. „Die Zwischenrufe stören nur den Verlauf
der Verhandlung. Jeder wird zu Worte kommen. Vor-
läufig bin ich an der Reihe. Also: Das Allgemeinwohl,
sage ich, ist nichts weiter als eine Zusammenziehung
der Worte .alle' und ,mein Wohl' ; das heißt mit anderen
Worten: Alle sollen für mein Wohl tätig sein und das
ist auch das Ziel, dem die Beglücker der Allgemeinheit
- 307 -
zn-
I
zustreben. Sie suchen ihr eigenes Glück und behängen
diesen sehr natürhchen Trieb mit einem schönen Kleid,
das aber, wie alle Kleider, betont, was es verbirgt:
siehe den Ausschnitt der Frauen und den Hosenstall
der Männer. Ist das nun nicht gemein ? Allgemein ist
dasselbe wie ; alles ist mein. Der Standpunkt des Kindes
macht sich geltend. Das will alles für sich haben. Daher
der Eifer gegen den Mammon, was nur ein Deckname
für Mama ist. Man soll doch nie vergessen, daß der
Mensdi, so alt er auch sein mag, Säugling bleibt. Die
Wut auf die Blutsauger ist auch nur, um die Stimme
des Gewissens zu überschreien, weil jeder sich klar ist,
daß er seiner Mama, dem, der etwas hat, das Blut
aussaugt. Die Menschen sind Wanzen und es ist natürlich,
daß die rote Gesinnung gerade in den Großstädten
zunimmt, da dort überall Wanzen sind. Rot-sozial ;
Sozialdemokraten sind wir ja alle, arm oder reich, das
ist gleich."
„Sozial, So zieh, Aal! Es ist die Aufforderung des
Menschen an den Nachbar, für ihn den Karren zu ziehen.
Aal — zieh dem Aal das Fell ab. Was wieder Doppel-
bedeutung sein würde, da Aal gleich der Schlange
steht. Vielleicht erklärt sich daraus die wachsende Be-
geisterung der Frau für soziale Tätigkeit. Worte haben
eine wunderbare An steckungs kraft, ein Gift in sich, das
unterhalb des Bewußtseins Pandemieen der Begeisterung
mit dem Resultat ganzer Wel tum wälzungen hervorruft."
Der Metallarbeiter hielt mit den gefalteten, schwarzen
Händen sein Bierglas umschlungen. Mit zusammen-
gezogenen Augenbrauen und starrem Bhck sah er auf
Thomas' Mund, als ob er durch das angestrengte Sehen
den Wortschwall seinem Verständnis näher bringen
könnte, während der Buchdrucker, der durch langjährige
- 308 - •
Beschäftigung mit dem Zeitungsblödsinn den Respekt
vor jeder Bildung außer seiner eigenen längst verloren
hatte, sich an den Sechsundsechzig spielenden Schlosser
mit der Frage wandte : ,,lst der verrückt oder bin
ich es ?"
„Du," erwiderte der Schuster, und der Schiosser,
der gerade eine Vierzig ansagen wollte, fügte ein :
„Quatschkopf" hinzu. Der Buchdrucker wollte aufbrausen,
da er aber die gewaltigen Fäuste des Schlossers be-
trachtete, zog er es vor, den Ausdruck: Quatschkopf
auf Thomas zu beziehen, schmunzelte behaglich und
versuchte, weiter zuzuhören.
Thomas sann den Wirkungen des Wortklanges nach
und war, da er die Arbeiterhände über dem Bierglas
verschlungen sah, eben im Begriff, aus dem Worte
.Metallarbeiter' auf dem Umwege über Metallus, Karl
Martell, Hammer, Nagel, Schlacht bei Poitiers, Christen,
Kreuz, Kreuzzüge die ganze moderne Kultur abzuleiten,
als ihn der Student aus seinem Brüten aufscheuchte.
Seit einer Stunde wuchs in Seebaeh ein neidischer
Groll auf Thomas heran, der ihm den teuflischen Plan
eingab, diesem so unverdient erfolgreichen Narren eine
Tracht Prügel zu verschaffen. Er suchte ihn also wieder
auf die soziale Frage zu hetzen, weil er sich von der
gereizten Stimmung des Metallarbeiters allerlei versprach,
„So zieh, Alte," rief er hin und sab Thomas harm-
los an.
Der Narr bildete ihn einen Augenblick nachdenklich
an, dann erwiderte er: „Ja, da liegt ein gut Stück der
Frauenfrage darin und nebenbei die ganze Weltgesdiichte.
So zieh doch den Aal, schreit es aus dem weiblichen
Triebleben heraus; der Mann aber, dessen Potenz nacli
Boccaccio selbst versechsfacht nicht ausreicht, eine Frau
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zu befriedigen, antwortet mit dem : So zieh mit, Alte,
und bald wird er sagen ; Zieh dvi allein am Karren,
aber ich werde mich hineinsetzen, damit du mich immer
zur Hand hast. Jetzt drängen sich die Frauen in die
männlichen Berufe, das ist ganz in der Ordnung und
der Mann sollte sich nicht dagegen wehren, vielmehr
ihnen aufpacken, was nur aufgepackt werden kann. Die
Arbeit dem Weibe, das sei unsere Parole. Wir legen .
uns dann, uns unseres edlen Blutes als Germanen er-
freuend, auf die Bärenhaut, und trinken immer noch
eins. Prosit!" Er stieß mit dem Metallarbeiter an. „Auf
daß wir noch die Zeit erleben, wo die Frau an der
Maschine steht und wir während dessen den sozialisierten
Staat regieren."
Der Mann löste langsam seine Hände vom Bierglas,
besah sie, grinste und meinte ; „Das konnte mir schon
passen, wenn meine Alte auch mal solche Hände bekäme ;
sie schimpft alle Tage darüber und legt mir extra Seife
hin. Aber Ol frißt sich zu tief ein, da ist nichts zu
wollen. Es sei kommun, sagt sie, solche Finger zu haben."
„Kommun, gemein, Atigeraeinheit. Da hat man die
ganze Geschichte in drei Worten. Mit dem Sozialismus
fängt die ganze Sache an und der Kommunismus ist
das Ende. Alles gehört allen. Wir wollen uns in Schnaps
berauschen, wir wollen unsere Weiber tauschen, wir
wollen freie Menschen sein. Ihren Ursprung hat diese
Entwicklung in dem Drang der Weiber, Allgemeingut
zu werden. Doppelte Moral, dagegen eitert die Frau,
aber sie will im Grunde nicht die Weibernioral für die
Männer, sondern die Männerraoral für die Weiber. Freie
Liebe, danach schreien sie."
Der Schlosser warf plötzlich die Karten zusammen,
schlug mit der Faust auf den Tisch und „der Teufel
— 310 —
hole sie alle miteinander," sagte er und trank iil hastigen
Zügen sein Bier aus.
„Icli kann es den Frauen nicht verdenken," mischte
sich der Buchdrucker ein, „wenn sie selbständig werden
wollen; möglichst unabhängig- will ein jeder sein, und
wenn wir nicht alle strebten, hoch zu kommen, sähe es
wohl schlecht mit den Fortschritten der Menschheit aus."
„Also das ist der Grund, warum der Kerl so jung
aussieht," dachte Thomas, „kommt nicht von der
Mutter los,"
„Selbständig?" Der Student warf Thomas einen
Seitenblick zu und wiederholte ; „Selbständig, ja, das
könnte ihnen passen. Aber die Trauben sind sauer. Es
steht sich nicht so leicht, wenn nichts da ist als Abgrund.
Ich glaube auch," er lachte dreckig, „daß es ihnen mehr
darauf ankommt, daß der Mann steht, und wenn wir
gar stets unabhängig wären, niemals schlappschwänzig
den Kopf hängen ließen, wäre wohl Freude in Trojas
Hallen."
Thomas war unruhig geworden. „Nein, nein," rief er,
„so ist es nicht, nicht so einfach und doch wieder viel
einfacher. Sehen Sie," er faßte sich, uneingedenk alles
dessen, was Mutter und Schwester ihm an Lebensart
beigebracht hatten, vorn an die Hosen, als ob sich dort
das Problem handgreiflich lösen lasse, und stemmte
dann befriedigt beide Ellenbogen auf den Tisch. „Sehen
Sie, die Sehnsucht nach Selbständigkeit und Unabhängig-
keit beschränkt sich durchaus nicht auf die Weiber,
ebenso wenig das Hochstreben, von dem Sie gar nicht
gesprochen haben, obwohl es in der Programm rede
unseres Freundes," — er machte eine Verbeugung gegen
den Buchdrucker hin — „ausdrücklich betont war. Wir
Männer haben doch nicht weniger Freude an diesen
— 311 -
Dingen -als unsere Frauen, merken wir, daß es unab-
hängig, selbständig ist, so freuen wir uns, und wir sind
nicht weniger beschämt, wenn uns die Erhebung nicht
gelingt. Der einzige Unterschied ist der, daß die Frau
ihren Mangel nicht aus eigenem decken kann, während
der Mann, wenn auch nur für Stunden, das Königs-
szepter führt. Die Wonne, die das Weib empfindet,
treibt sie dazu, zunächst den Mann selbständig zu wollen,
denn er ist ihr Werkzeug, und da er über ihr schwebt,
muß sie nach oben streben. Da liegt vielleicht die Ei--
klärung, warum die Frau oberflächlich ist, im Vergleich
zum Manne; sie hat nicht dasselbe Interesse daran, in
die Tiefe zu dringen wie er. Bei dem Weibe hegen
die Dinge so, daß sie zeitweise, aber dann glühend,
heftig emporstrebt, mit ihrem ganzen Wesen emporstrebt,
während der Mann konzentrisch geriditet ist, sein Auf-
wärtsstreben ist bedingt durch den Wunsch, erhaben zu
sein, und deshalb pflegt er in sich den Gedanken:
Landgraf werde hart. Die Frau entbehrt das Abzeichen
der Herrscherwürde, der Moment, in dem sie es in
sich fühlt, weckt rasende Begier nach dem Besitz, sie
sucht das Szepter dem Manne zu entreißen, zerknickt es
dabei und schämt sich der Sünde, Mein verehrter Herr
Vorredner," -~ er verbeugte sich wieder nadi dem
Buchdrucker, der sich geschmeichelt in den Stuhl zurück-
lehnte, den Kopf halb zur Seite geneigt, und mit einem
Bleistift spielte — „hat ganz recht, was wäre die
Menschheit ohne das Emporstreben des Weibes. Sie
wäre längst ausgestorben. Aus Haß wachst Liebe, aus
Liebe wächst Haß, und es hat seine Bedeutung, wenn
man vom Liebeskampf spricht. Ein Lanzenbrechen ist
es, das oft genug blutig verläuft. Und beachten Sie
doch, was in der Bibel steht, von der Feindschaft
— 312 —
zwischen dem Weib und der Schlange und zwischen
des Weibes Samen und dem der Schlange. Der Schlange
den Kopf zertreten, das will das Weib, uns den Kopf
beugen, uns kopfhängerisch madien, abhängig, und für
die Sünde büßt sie, denn die Schlange sticht sie in die
Ferse."
„Der Storch kommt," rief der Student und blinzelte
dem Schlosser zu.
„Der Teufe! soll sie alle holen," erwiderte er noch-
mals. Er erhob sich und verließ für kurze Zeit das Lokal.
Der Schuster mischte gleichgültig die Karten. „Ich
werde mit meiner fertig, getraue mir's auch mit anderen
Weibsen."
„Ja, wer den Knieriem hat und zu handhaben ver-
steht," lachte der Buchdrucker, „der kann gut gleichgültig
sein."
„Was -idj mache, geht niemanden etwas an," er-
widerte der Schuster und mischte so heftig darauf los,
daß ein paar Karten zur Erde fielen.
Thomas drehte den Kopf langsam zu dem Schuster
hin, der vom Stuhl aufgestanden war und nach den
Karten gebückt, den Hintern in die Luft streckte, „bmere
Ansteckung," sagte er, „man kann nicht vom Schlagen
sjjrechen, ohne daß die Seelen mit irgend einer Handlung
antworten. Seit langem studiere ich diese Phänomene,
aber den tiefsten Grund finde ich nicht." Er schwieg
einen Augenblick, dann nahm er dem Buchdrucker, der
mit dem Bleistift auf dem Tisch trommelte, sein Instru-
ment fort und begann wieder: „Alle Mütter klopfen,
wenn sie das Kind, das sie auf dem Arme tragen, be-
ruhigen wollen, es hinten drauf. Ein Kind klapst stets
das andere, indem es vorbeiläuft. Die Peitsche, der Stock,
was für eine wunderliche Rolle spielen sie im Leben
- 313 -
der Menschheit, und auf dem Handschlag beiTjht Treue
und Glaubeii, Man sagt, daß das Nervengefleclit des
Gesäßes und der Schamteile innig verflochten sind, aber
die Anatomen und die Physiologen haben noch keine
Mühe darauf verwendet, diese Verbindungen zu studieren.
Das erste, was den Kindern beigebracht wird, ist in die
Hände zu klatsclien, also muß das Gehör hervorragend
bei dem Trieb beteiligt sein. Das Rotwerden und die
Hitze deuten auf starke Lieb es äffe ktc. Und merkwürdig
ist es, daß in allen Sprachen ,Rute' der Name für das
männliche Organ ist. Das deutet wohl an, daß die Frau
ab und zu nach Keilen lechzt, wie mein Vater es zu
nennen pflegte, und wenn ich recht beobachtet habe,
ist jeder Fleck auf dem Tischtuch, jedes Widerspreclien,
jedes Türsehlagen, jede Laune eine Aufforderung zum
Tanz der Reiser und weiterhin zur Liebe. Und es gibt
Leute, die mit den Händen auf dem Rücken gehen."
Ein allgemeines Gelächter entstand, denn in dem-
selben Augenblick kam der Schlosser in tiefen Gedanken
zurück; die Hände hatte er mit den Handflächen nach
hinten über dem Rücken verschränkt. Er lachte gut-
mütig mit, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon die
Rede sei.
„Seid Ihr immer nocli bei den Weibsen und dem
Fortschritt der Menschheit?" fragte er, setzte sich und
ergriff die Karten, um zu geben,
„Wir waren abgeirrt," erwiderte Thomas. „Aber es
ist gut, daß Sie uns an das Thema erinnern. Ich bin
nämlich der Meinung, daß diese Sehnsucht, unabhängig,
selbständig zu werden, für die Kindheit mehr bedeutet,
als alle Fibeln und Bibeln, Moralen und sonstige Er-
ziehungsraätzchen. Wenn das Kind anfängt herumzulaufen,
imponiert ihm der Vater als Riese, und zwar sind es
- 314 -
die Beine und das was drum und dran hangt, was seine
Aufmerksam t:eit reizt." Als ob ihn das Wort „reizen"
selber aufregte, wurde Thomas plötzlich heftig. „Ja, ja,
verehrter Herr Seebach, Beflissener der Naturwissen-
schaften, es ist so. Wenn Sie an einem Hause vorbei-
gehen, versuchen Sie auch nicht, in die oberste Etage
hineinzugucken, wohl aber in die Parterre räume. Das ist
so und ist bei den Kindern nielit anders. Es ist auch
sehr weise von der Natur eingerichtet, daß sie den
Mensehen zwingt, von Anbeginn an seinen Neid und
sein Streben, alle seine Affekte auf die Gegend zu
ricliten, die für das Fortbestehen der Menschheit unbe-
dingt notwendig ist. Der Vater ist dem Kinde die
Gottheit, das Ideal, dem es zustrebt, denn die Mutter
ist ihm zunächst Milchflasche und Schwamm, durchaus
nicIit göttlich, vielmehr sein Eigentum, außerdem ist sie
kleiner als der Vater, brüllt nicht so, macht kleinere
Schritte und hat nicht so lange Beine. Das Kind also
will Mann werden, weil der Mann groß ist. Und deshalb
wächst es und wird geistig und körperlich stark. Weil
es aber sieht, daß der Mann sich dadurch vom Weibe
unterscheidet, daß er zwischen den Beinen etwas hängen
hat — "
Der Student unterbrach hier: , .Woher soll denn das
FCind so was sehen? Ich hahe meinen Vater nie nadit
gesehen,"
„Himmelkreuzdonnerwetter," schrie Thomas, schlug
mit der Faust auf den Tisch und fuhr mit dem Kopf
so heftig gegen Seebach los, daß es aussah, als ob er
Mauern damit einrennen wollte. „Besinnen Sie sich so
genau, was Sie mit zwei Jahren erlebt haben! Wissen
Sie noch, wie Sie gehen und sprechen und essen gelernt
haben? Wahrhaftig, Sie sind würdig, als Lehrer der
- 315 —
Naturwissenschaften an irgend eine Hochschule gerufen
zu werden." Er schwieg und stürzte verstimmt sein Glas
ßier auf einmal hinunter.
Es war, als ob sich ein Druck auf alle g-elag-ert hatte.
Keiner redete mehr und alle sahen stumm und verärgert
vor sich hin. Plötzhch begann der Metallarbeiter, der
bisher seinen Anteil an der Unterhaltung nur durch Zu-
hören bekundet hatte, zu sprechen.
„Der Herr Weltlein hat ganz recht. Man kann nicht
immer die Kinder hinausjagen, wenn man den Topf be-
nutzt, und außerdem will man es auch gar nicht, und
mein Junge hat sich wie ein Schwerarbeiter angestrengt,
um auch den Topf halten zu können, und hat's aller
Welt erzählt, das Mädel aber hat geheult, weil es da-
neben gegangen war, wie sie's ihm nachmachen wollte.
Und das muß doch jedem auffallen, daß wir aus den
ersten Jahren des Lebens nichts mehr wissen, rein gar
nichts mehr." Er hatte die ganze Zeit angestrengt Thomas
angesehen; als er sah, wie dessen Gesicht freundlicli
und hei! wurde, nickte er ernst und faltete wieder die
Hände um sein Glas.
„Es ist uns auch allen aufgefallen," bestätigte Thomas,
„oder was bedeutet sonst der Ernst, der über die Tisch-
genossenschaft plötzhch kam ? Die Wunden meldeten
sich, die das Leben in diesen ersten Jahren sehlug und
die gewiß die schwersten waren, die wir je empfingen.
Genug, der Junge will werden wie der Vater, ein
großes Ding haben und deshalb wächst er und deshalb
wird er größer als das Mädchen, das bald den Wett-
lauf traurig aufgibt, in die Breite geht und an der
Brust sich doppelt baut, was unten fehlt. Denn in der
Brust ist das Weib Mann, es ist ihr männliches Organ,
das in das Loch des Kindermundes hineingesteckt wird
— 316 —
und Flüssigkeit ergießt. Des Herren Wege sind wunder-
bar. Der Name des Herrn sei gelobt."
Der Buchdrucker, den es schon lange äi^erte, daß
ein anderer als er das Gespräch tyrannisierte und daß
Thomas ihm das Trommel vergnügen mit dem Bleistift
verdorben hatte, hielt es für an der Zeit, sicli geltend
zu machen. „Ihre Paradoxen, Herr Weltlein," sagte er,
„haben mich sehr interessiert, und wenn sich auch vieles
dagegen sagen läßt und manches Schiefe darin enthalten
ist, so merkt man doch immer, daß es durchdacht ist
und von einem hochgebildeten Manne vorgetragen wird.
Um so unbegreiflicher ist es mir, daß Sie auf einmal
mit solcher Pf äffen Weisheit kommen. Das Volk ist lange
genug mit diesen Ammenmärchen von den tiefen Ab-
sichten des Christengottes an der Nase herumgeführt
worden. Aber das Volk glaubt daran nicht mehr, die
Fackel der Erkenntnis leuchtet so hell, daß der Aber-
glaube keinen Winkel mehr findet, von wo aus er un-
gestraft mit seinem Gift die Menschen betäuben kann;
die Errungenschaften der Neuzeit beweisen, daß weder
für einen Gott noch für seine Taten Platz in der Welt
ist. Seit wir wissen, daß nichts verloren geht, seit wir
den Kampf ums Dasein kennen, haben wir gelernt, ohne
Gott und ohne Religion fertig zu "werden. Denn wer
Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat Religion, sagt
der Diditer und meint damit, daß der Gebildete keine
Religion mehr braucht. Wo die Wissenschaft einzieht,
fliehen die Götter; das ist ein allgemeines Gesetz."
Thoraas nidcte ernsthaft und billigend. „Wenn das
All mein sein soll, muß ich zunächst Gott absetzen, das
ist logisch. Und daß die Götter fliehen, wenn die
Wissenschaft mit ihrer Öllampe kommt, kann ich ihnen
nicht verdenken. Übrigens ist es spät und icii bin müde,
- 317 -
und wenn Sie die Frage des Verhältnisses von Wissen-
schaft und Gottheit wirklich interessiert, können Sie die
Lösung im Struwwelpeter finden. Gnten Abend, meine
Herren." Er erhob sich und ging schnurrst raclcs davon.
Als der Student hinter ihm herrief, „ja, ja, wenn die
Wissenschaft kommt, fliehen die Götter," drehte er sich
in der Tür um und sagte scharf: „Und nähme ich Flügel
der Morgenrote und flÖg'e zum äußersten Meere, so
würde midi doch daselbst seine Hand halten und seine
Rechte mich führen."
Thomas war noch kaum zwanzig Scliritte gegangen,
als er von dem Schuster eingeholt wurde. „Ich habe
Sie schon lange fragen wollen," begann der, „warum
Sie bei Ihren freisinnigen Ideen so hartnäckig immer
wieder von Gott sprechen. Es wäre doch nicht schön
und sähe Ihnen aucli gar nidit ähnlich, wenn Sie sich
über uns einfache Leute lustig machen wollten."
Thoraas war stehen geblieben. „Ich bilde mir ein,
selber ein einfacher Mensch zu sein, und gerade des-
halb ist mir nicht alles so klar wie anderen Leuten.
Idi weiß zum Beispiel nicht, warum der liebe Gott die
Nase ins Gesicht gesetzt hat, statt in die Fingerspitzen.
Mich über Sie lustig zu madieri, beabsichtige ich nicht.
Der Spott Hegt mir nicht, meist meine ich, was idi
sage. Aber es ist spät. Vielleicht besuchen Sie midi
einmal oder ich schreibe Ihnen, wo Sie mich treffen
können, nach acht sind Sie ja wohl frei, dann können
wir weiter darüber sprechen."
Er gab dem Schuster die Hand, der hielt sie fest
und sagte: ,,Was meinten Sie mit dem Struwwelpeter?"
,,In dereinen Geschichte," antwortete Thomas, „kommt
ein junge mit der Fahne der Wissenschaft angerannt,
ein zweiter hat einen Ball, den Erdball, ein dritter
— 318 —
einen Reifen, das ist die Mathematik und ein vierter
zeigt triumphierend eine Brezel, die Fessel für den
armen Mohre», der die Phantasie ist. Sic wissen ja,
Hitze macht phantastisch und abergläubisch, die Sonne,
das helle Licht macht dunkel. Und dann kommt der
Niklas, den der lange, weiße Bart als Symbol des
lieben Gottes kennzeichnet und steckt die wissenschaft-
lichen Buben dorthin, wo sie hingehören, ins Tintenfaß.
Gute Nacht nun."
Er war schon fort, ehe der Siuster noch begriffen
hatte, was Thomas meinte.
Ob sich die beiden wiedergesehen haben, meldet
die Geschichte nicht.
XXXI. KAPITEL.
WIE THOMAS DIE WELT VON UNTEN ANSIEHT
UND WAS ES MIT MÄDCHENFREUNDSCHAFTEN
AUF SICH HAT.
Kurz darauf ist der Student noch einmal mit Thomas
'zusammengetroffen. Sie begegneten sich auf der Straße,
und Thomas forderte ihn auf mitzukommen.
„Und wo soll die Reise hingehen?" fragte Seebach.
„Geradeaus. Muß denn alles immer ein Ziel haben?
Wir lügen uns doch bloß etwas vor, wenn wir uns ein-
bilden, wir hätten ein Ziel im Auge."
Der Student zögerte mitzugehen. Seine Aufmerksam-
keit war durch eine gelbe Chrysantheme gefesselt, die
Thomas in seltsamer Weise im Knoptlodi trug, ihr Kopf
hing nach unten. „Wenn Sie wieder von der Willens-
freiheit sprechen wollen, komme ich lieber nicht mit.
Ich kenne Ihre Ansichten darüber — "
— 319 -
„Nicht." unterbrach Thomas, „abei* Sie mißbilligen
sie." Er schob den Ami unter den Seebachs und zog
ihn mit sich fort. „Ich sehe, Sie interessieren sich für
meine Blume, merken aber selbst nocli nicht, daß Sie
in ihr die Antwort auf die Willensfreiheit finden. Oder
sind Sie schon mit dem Vorsatz ausgegangen, mich
über den Haufen zu stechen,"
Der Student antwortete nicht, ging aber mit.
„Besinnen Sie sich an Zarathustras Mahnung, die
Welt ab und zu zwischen den Beinen hindurch anzu-
sehen? Ich habe das heute probiert und bin zu merk-
würdigen Resultaten gekommen. Man kehrt in gewissem
Sinne in die Kindheit zurück, wenn man so alles von
unten sieht. Anfangs ist es ein bißchen unbequem, so
gebückt zu gehen, aber das lernt sich, namentlich,
wenn man erst dahinter kommt, wie interessant die
untere Seite eines Stuhles oder eines Tisches aussieht.
Denken Sie sich ein Wesen mit dem empfänghchen
System des Kindes in der Atmosphäre und mit dem
Horizont des Rohrstuhls, auf dem jemand sitzt, oder
unter den Eindrücken des halbdunkeln Raumes unter-
halb des gedeckten Tisches mit den Gehörsempfindungen
der klappernden Teller und Gabeln auf solchem Resonanz-
boden und mit den verschied entlichen Geruchs Wahr-
nehmungen, mit den seltsam gespenstisch anmutenden
Feststellungen des Auges, daß eine Menge Beine rings-
um sind ohne dazugehörige Oberkörper. Ich bin der
Ansicht, daß weder die Psyche des Kindes noch die
des Hundes auch nur annähernd begriffen werden kann
ohne gründliche experimentelle Forschungen in der
Richtung, die ich heute, wenn auch nur sehr obenhin,
eingeschlagen habe. Das Sehen durch die Beine hindurch
hat dann noch den Vorteil, daß es von vornherein
— 320 -
vom Mittelpunkt alles Lebens aus betrachtet, daß es
erotisch betont ist." Er schwieg einen Augenblick in
Nachdenken versunken, zupfte seine Bluse zurecht und
fuhr fort. „Die Höhe des Genusses habe ich erreiclit,
als der Kellner mir den Nachmittagskaffee brachte. Ich
hatte wieder den Eindruck des Riesigen, als ich seine
Beine auf mich zukommen sah. Unangenehm war nur,
daß der Mann sich auch bückte und mir etwas suchen
helfen wollte, was ich gar nicht verloren hatte. Das ist
auch der Grund gewesen, warum ich den Spaziergang
in dieser Stellung aufgegeben habe. Bis in die Mitte
des Korridors bin ich ziemlidi unbelästigt gekommen,
aber dann kam der Hausknecht und fing an zu suchen
und dami das Stubenmädchen, der Zimmerkellner schloß
sich auch wieder an, und als der Hoteldirektor zufällig
vorbeiging, hielt er es für seine Pflicht, ebenfalls mit
den Händen auf dem Boden herumzuarbeiten. Alle
diese Leute redeten auf mich ein und störten meine
Beobachtungen durch die immer wiederholte Frage, was
ich verloren hätte. Schließlich verlor ich die Lust, meine
Studien fortzusetzen; hatte aber im letzten Augenblick
noch die Freude zu sehen, wie einer der Gäste die
fünf MitgHeder der Forschungsexpedition filmte. Ich
nehme an, daß wenigstens von mir beide Gesichter auf
der Platte sind. Das Zimmermädchen ist sicher bloß
mit dem zweiten vertreten, und wie es mit den anderen
ist, weiß ich nicht; aber besonders beim Kellner, denke
ich es mir schön, wie sich zwischen den geteilten Vor-
hängen der Frackschöße die Unterwelt hervordrängt. Ich
bin dann, weil icli nicht wünschte, das ganze Hotel in
gleicher Weise an meinen Forschungen teilnehmen zu
lassen, in mein Zimmer zurückgegangen und habe mich
mit Hilfe dieser Blume symbolisch in die Stellung mit
- 321 -
31
dem Kopf nach unten gebracht. Es gehört Anstrengung
dazu, um lediglich phantastisdi Kopf zu stehen, aber
es geht. Erleichtert wird es durch die Einstellung des
Gemütes auf den Neid; denn daß das die Grundstinimung
ist. wenn man die Welt von unten besieht, werden Sie
ja wohl daran gemerkt haben, daß ich mir eine gelbe
Blume gewählt habe."
Der Student blieb plötzlich stehen. „Woher wußten Sie,
daß ich Sie so starUliaßte und am liebsten gemordet hätte?"
Statt jeder Antwort wies Thomas auf die Chrysan-
theme. Erst nach einer Weile, als er aus dem fragenden
Blick des Studenten herauslas, daß seine Bewegung
nicht verstanden wurde, sagte er: „Der Neid ist gelb,
und Ihre Augen waren gelb, als Sie auf die Blume
sahen. Und der Kopf der Chrysantheme hängt gerade
über meinem Herzen. Übrigens sagte ich Ihnen ja, Neid
und Haß sind die Grundstimmung dessen, der von unten
nadi oben sieht. Und da wir einmal alle kleine Kinder
gewesen sind, so ist Neid und Haß die tiefste und
älteste Empfindung unserer Seele,"
Seebach zuckte die Adiseln und wandte sich ab.
„Sie sind ein Schauspieler, Weltlein, und noch ein
schlechter dazu, der mit starkem Unterstreichen der
Effekte auf die Galerie zu wirken suclit."
Thomas nickte nachdenklich. „Sie haben ganz recht,"
sagte er. „Ich hätte neulicli, nach der Versammlung, als
ich merkte, wie Ihre Gesinnung gegen mich gelb wurde,
irgend «ane Gemeinheit gegen Sie begehen sollen, dann
würden Sie mich jetzt lieben, statt zu hassen."
Der Student lachte höhnisch auf. ,,Die große Kunst
macht Sie rasend. Verehrter, Sie stellen die Dinge
auf den Kopf. Ich liebe Sie nicht und hasse Sie nicht,
Sic sind mir völlig gleichgültig."
- 322 —
J
„Lügen Sie niclit !" schrie ihn Thomas an, dann,
sich sogleich bertihig-end, fuhr er fort; „Es hat keinen
Zweck, sich mit Ihnen zu streiten. Sie haben irgend
etwas auf dem Gewissen, was Sie an mir verbrochen
haben, und infolgedessen müssen Sic versuchen, mich
so weit zu reizen, daß ich ins Unrecht komme. Das
ist ein weibhcher Zug Ihres Wesens, aber gerade das
weiblich Enttäuschte, was Sie haben, gibt Ihnen die
merkwürdig schnelle Aneignungsgabe, die mich an Ihnen
anzieht."
Der Student brauste auf: ,, Weder ist mir bewußt,
weibisch 2u sein, nocli wünsche ich, daß Sie mich zum
Gegenstand Ihrer Neigung machen, am wenigsten in
dem Siune, der allzudeutlich die perverse Schamlosigkeit
Ihres Wesens verrät."
Thomas schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie haben
etwas Schweres auf der Seele, glauben mir ein Unrecht
getan zu haben, das sich nicht sühnen läßt." PlötzÜdi
blieb er vor dem Studenten stehen, sah ihn scharf an
uiid sagte : „Nennen Sic mir eines der Gebote, das
erste, das Ihnen einfällt. Rasch, eines der Gebote!"
Seebach irrte mit dem Blick umher und sagte scharf:
„Lassen Sie mich mit Ihrem Unsinn zufrieden!"
Thomas hatte ihn an der Schulter gepackt und
schüttelte ihn. „Eines der Gebote! An welches haben
Sie gedacht? Sie werden doch eines der Gebote .sao-en
können! Eines der Gebote!"
Der Student hatte jeden Halt verloren r' wie ein
kleiner Junge ließ er sich hin und her schütteln und
während sein Gesicht einen hilflosen Ausdruck bekam,
stotterte er: „Das fünfte."
Thomas ließ ihn los. „War es das erste, was Ihnen
in den Sinn kam," fragte er eindringlich.
- 323 - 2t-
Seebach zuckte die Achseln. „Das fünfte oder das
sechste, ich weiß es nicht, es kacm auch das siebente
gewesen sein,"
„Mit anderen Worten, Sie haben zunächst an das
siebente gedacht. Was kann ein Mensch wohl einem
anderen stehlen?"
Seebach zög'erte eine Weile, bis er ein seltsames
Lächeln auf Weltleins Gesicht bemerkte, dann antwortete
er. „Ich habe Ihre Meinungen gestohlen, sie für mein
Eigentum ausgegeben, erst gestern noch."
„Es war also nicht nötig, daß Sie sich aufregten, als
ich Ihre AneignungsgaLe pries. Übrigens will ich Ihnen
einen guten Rat mit auf Ihren Weg geben, den Sie ja
doch nun ohne mich gehen wollen." Ganz gegen seine
gewohnhche Art sprach Thomas schneidend und scharf,
so daß der Hohn deutlich durchklang. „Wenn eine klar
gestellte Frage zögernd beantwortet wird, ist die Antwort
stets — hören Sie wohl — stets eine Lüge, eine halbe
Wahrheit. Und so ist es auch nur halb wahr, was Sie eben
von dem geistigen Diebstahl sagten. Sie schieben das
nur vor, und weil Sie im tiefsten Innern das wissen und
sich darüber schämen, werden Sie immer tiefer in die
Wut gegen mich hineingetrieben. Und Sie werden mich
veriassen. Aber Sie nehmen sich selbst und Ihr Schuld-
bewußtsein ja mit, es hilft Ihnen gar nichts. Helfen
würde Ihnen nur das robuste Gewissen, von dem bei
Ibsen die Rede ist. Sündige tapfer darauf los, das ist
ein weiser Spruch." Thomas lächelte selbstgefällig, ver-
trat sich im selben Moment den Fuß und blieb bebend
vor Wut stehen. „Wanze," schrie er, „mit den äußeren
Bestien wirst du fertig werden, du Wanzenwürger, aber
da drinnen," er schlug sich vor die Stirn, „saugen sie
alles aus und setzen Stich an Stich in das Gehirn, bis
- 324 -
du eine einzige Beule stir.kig-er Eitelkeit bist. — Du
sollst nicht toten, lautet das fünfte Gebot," wandte er
sich wieder unvermittelt an seinen Begleiter. „Das wäre
janadi dem, was Sie mir vorhin über Ihre Mordphantasieo
gegen mich gesagt haben, ohne weiteres verständlich,
wenn Sic es nicht mit dem sechsten Gebot verknüpft
hätten. In dieser Verknüpfung verrät sich aber, daß Sie
selbst das sind, was Sie soeben" — er lachte boshaft
— „pervers zu nennen beliebten, eine Dummheit, die
ich Ihnen nicht zugetraut hatte, wenigstens nicht, daß
Sie sie mir gegenüber vorbringen würden," Aus jedem
Wort, das Thomas sagte, klang- der grenzenlose Hodi-
mut heraus, und weil er das merkte, wurde er immer
heftiger, „Sie wollen mich töten, ja, aber zunächst so,
wie man den Mann tötet, wenn man ihn einen Kopf
kürzer macht. Verstehen Sie, oder muß ich es deutlicher
sagen ? Kürzer machen und das sechste Gebot, so
schwer ist es dodi nicht zu begreifen."
Der Student schritt schweigend neben Thomas her.
sein Bhek war ganz starr, aber er wehrte sich nicht.
. ZWISCHENBEMERKUNG DES HERAUSGEBERS
Der gefällige Leser wolle sich gütigst daran erinnern,
daß diese Unterredung nur durch Lachmann überliefert
ist, der sie von dem Studenten haben will. Es unterliegt
keinem Zweifel, daß sie so, wie sie erzählt wird, nicht
stattgefunden hat, daß vielmehr Lachmann sie absichtlieh
oder unbewußt verändert hat. Daran ändert Lachmanns
Behauptung der völligen Objektivität seines Berichtes
nicht das geringste, denn mit der Objektivität ihrer Be-
obachtungen oder Äußerungen haben es alle Arzte,
obwohl sie recht gut wissen könnten, daß ihr Beruf
absolut subjektiv ist. Wie willkürlich Lachmann dabei
— 325 —
verfahren ist, g-eht sdion daraus hervor, daß er seine
eigene, übrigens sehr unvollkommene Technik der psycho-
analytischen Behandlung in dieses Gespräch hinein redi-
giert hat, ein bei Ärzten unumgängliches Verfahren,
ohne das ihre Tätigkeit nicht denkbar zu sein scheint.
Die merkwürdige Abweichung in dem Charakter des
Helden hat übrigens Agathes Mißbilligung so stark er-
regt, daß der Bericht von Ausrufungs- und Fragezeichen
ihrer Hand geradezu gespickt ist, ja Worte wie .Verleum-
dung', ,schändlich' usw. finden sich dazwisdien. Als Ab-
schluß des Ganzen hat Agathe mit dicken Buchstaben die
Worte geschrieben; „Ist ein ärztliches Attest und deshalb
unwalir." Der Herausgeber hielt es für zweckmäßig, diesen
kleinen Zug mitzuteilen, weil er bezeichnend für die un-
erschütterliche Rachsucht einer enttäuschten Frau ist.
Lachmanns Beridit lautet weiter:
„Fünftes und sechstes Gebot werden fast immer zu-
sammen genannt, die Verwandtschaft von Liebe und
Tod spricht sich darin aus und da ist Stoff genug zum
Nachdenken, Hier nur so viel ; die Liebe springt in
Haß um und der Haß tötet. Aber es wäre so viel ein-
facher, wenn die Menschen wüßten, daß weder Liebe
noch Haß dauern, daß sie wechseln wie Tag und Nacht,
die ja auch nicht Gegensätze sind, sondern gegen-
seitige Bedingungen. Wenn Sie vernünftiger wären, ließen
Sic die Nacht des Hasses vorübergehen und morgen
liebten Sie mich wieder."
Seebach stieß die Hand, die ihm Thomas entgegen-
streckte, heftig zurück. „Päderast," war das einzige, was
er vorbringen konnte.
Thomas zuckte die Achseln und lachte gutmütig auf.
„Soll es eine Beschimpfung sein? Sie trifft mich nidit.
- 326 -
Ich habe keine Freude am Weib und auch keine am
Mann, sagt Hamlet, und das ist auch mein Fall. Aber
die Frawe der Homosexualität interessiert micli, ja, ich
kann Ihnen verraten, daß ich heute Abend zu einem
Ball der Urninge gehen will. Sie sind nur leider heute
nicht imstande, unbefangen zuzuhören, sonst würde ich
Ihnen dieses und jenes zum spateren Gebrauch über
das Umingtum sagen."
■ „Ich bin vollkommen ruhig," erwiderte Seebadi,
„sprechen Sie also, ich höre."
Statt jeder Antwort wies Thomas auf eine Gruppe
von Schulmädchen hin, die vor ihnen herging und die
der Student schon eine Zeitlang betrachtet hatte. Zwei
von den Mädchen gingen eng umschlungen neben-
einander, während eine dritte mit verzerrtem Gesidit
einen halben Schritt hinter ihnen herging.
„Du bist treulos, Anna," hörten sie sie eben schelten.
„Wenn eine Neue kommt, gleich läufst du hinter ihr
her und schleckst dich mit iEir ab und vergißt alle
Schwüre, die du mir gegeben hast."
Das eine der beiden vorderen Mädchen rief über
die Schulter weg, während sie sich noch diditer an ihre
Kameradin schmiegte: „Spare du nur deine Eifersucht.
Ich mache mir doch nichts aus dir. Du bist ein lang-
weiliges Ding."
Scebach lächelte. „Früh übt sich, was ein Meister
werden will. Eine richtige Liebestragödic in Backfisch-
kleidern."
„Habe ich nicht recht," sagte Thomas eindringlich,
als ob er voraussetzte, daß der Student seine Gedanken
erraten und ihm widersprochen hätte.
„Das ist etwas anderes, eine harmlose Kinder-
saclie."
— 327 —
„Gewiß, aber — . Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß
unsere Gesetze nur die Liebe zwischen Männern ver-
bieten, die zwischen Weibern straflos lassen?"
Der Student, dem das einsame Mädchen gefiel, war
nicht mehr bei der Sache. „Das versteht sich von selbst,"
sagte er und zupfte seine Manschetten hervor, die ihn
die langen Jahre der Armut als unwiderstehliches Lock-
mittel für Mädchen betracliten gelehrt hatten.
Thomas war schon mitten in seinem Thema, der
Zeitpunkt, bis zu dem er Wert auf Zuhörerschaft legte,
war schon überschritten und er schwefelte infolgedessen
darauf los, ohne sich um irgend etwas anderes zu
kümmern.
■„Das Phänomen wäre gar nicht zu erklären, wenn
man nicht annehmen könnte, daß das Verbot der Knaben-
liebe ursprünglich eine Maßrege! der Kirche gewesen
ist, um das Heidentum in seiner Wurzel zu treffen. Die
griechische Kultur ist undenkbar ohne die Vorliebe für
männlichen Geist und männUchen Körper und damit,
daß man dem antiken Eros, der zunächst die Mannes-
liebe war, ein Schandmal auf die Stirn brannte, ihn
mit einem Kleide von naturwidrigem Kot überzog, ver-
nichtete man den Mythus und die Geistesart der antiken
Welt. Achill und Patroklos, Zeus und Ganymed, Orest
und Pylades, alles wurde für den Christen unerträglich.
Männner wie Sokrates und Lykurg versanken im Sumpf
und Alexanders Adel, die thebanischen Helden des
Epaminondas und der dorische Staat der Spartiatcu
wurde der Gegenstand des Abscheues."
Der Student beschleunigte seinen Schritt, die drei
Mädchen waren eben in eine andere Straße eingebooen,
und er wollte sie nicht aus dem Auge verlieren. Thomas
wurde bei dem eiligen Tempo etwas kurzatmig, was
— 328 -
sidi noch dadurch vermehrte, daß er nach einem Taschen-
tuch suchte, um sich die Nase zu schnauben.
„Wir leiden an dieser damals begreiflichen Ver-
dammung der Knabenliebe mehr und mehr, denn all-
mählich ist auch die edle Form dieses Triebes" — er
schnaubte sich jetzt mit solcher Macht, daß sich die drei
Mädel erstaunt umsahen und so dem Studenten Gelegen-
heit boten, ein schmachtendes Gesicht aufzusetzen und
den Hut zu ziehen — „die FreundschafUdes Mannes
mit dem Manne unmöglich geworden. Der Mann steht
so einsam in der Welt wie ein Kirchturm."
Ein neuer Gedanke stieg in ihm auf und er blieb
stehen, um ihm mehr Nachdruck zu geben. Sein Be-
gleiter jedoch, der es als Erfolg seines Grußes betrachtete,
daß nun alle drei Mädchen Arm in Arm dahin schritten
und sich einfr nach der anderen umdrehten, um dann
sich irgend etwas zuzutuscheln, verdoppelte seine Gang-
art, und Thomas blieb nichts anderes übrig, als halb im
Laufsehritt, immer noch mit dem Taschentucli in der
Hand, hinter ihm herzulaufen, wobei er versuchte, den
Studenten am Rockschoß zu packen,
„Der Kirchturm," keuchte er, „beweist nun docl:,
daß der Trieb unausrottbar ist und sich überall wieder
vordrängt, selbst mitten in die Religion hinein. Ja, mir
fällt gerade ein, daß sich im Neuen Testament — aber
hören Sie doch — mein Gott, das ist doch wichtig —
man muß die Studien machen — der Vikar — '■
Die Mädchen sowohl wie der Student waren stehen '
geblieben, da eine vorbeiziehende Kompagnie des
Alexanderregiments den Übergang über eine Quer-
straße versperrte.
„Da ist ein neues Beispiel, es ist wirklich interessant.
Der Soldat wird bunt herausgeputzt, und was ihn aus-
— 329 -
i
zeichnet, ist das Gewehr, mit dem er schießt. Die Ex-
])losioii, die aus dem hohlen Lauf, der Seele, das
Geschoß schleudert, ist ja deutlieh eine gestaltete
Ejakulation und der Knall deutet an, wo das Ziel liegt.
Das Gewehr des Mannes. — " Wieder begann die Hetze.
Die Mädchen, die der Student angeredet hatte, Hefen
jetzt ebenfalls schneller, um zu entkommen. Thomas
schnappte förmlich nach Luft; aber er ließ sich dies-
mal nicht b^'seite sdiicben. Vorsichtig hatte er den
Studenten während des Wartens am Arm gepackt und
hielt ihn fest.
„Sehen Sie hier," rief er und wies auf eine Litfaß-
säule, die an der Straßenecke stand, „mitten in dem
tosenden Berlin in unserem heuchlerischen Jahrhundert
steht der Phallus aufgerichtet, und Männlein und
Weiblein schauen ihn an, begierig, seine Geheimnisse
kennen zu lernen. Der elektrische Wagen fährt daran
vorbei, den Liebesstrom symbolisierend, und die vor-
beirasenden Autos lassen es aus ihren Auspuffern
stinken."
Der Student hatte sich andauernd gegen Weltleins
Griff gewehrt. Eben stiegen die beiden Freundinnen
in eine Tram, während Seebachs Flamme, sidi nach ihm
umguckend, langsam weiter ging.
„Sie sind ein Narr," sagte er, riß sich los und sclirie
dahinrennend noch: „und ein Schwein dazu."
Seebach hat Weltlein nicht wiedergesehen; man
■weiß nicht, ob Thomas zu dem Ball der Urninge ge-
"an^en ist.
~ 330 -
I
XXXII. KAPITEL. .
EIN VERBRECHEN?
DER GRUSS DES KAISERS UND DIE RESULTATE
DES STUDIUMS.
Ain 21. September desselben Jahres erhielt Dr. Lach-
maiin, als er gerade im Begriff war, nach Bäuchlingen
zu reisen, um dort seiner Cousine Agathe in den Wirren
beizustehen, die im Anschluß an Alwin es Verlobung
mit dem Vikar Ende entstanden waren, einen Brief aus
Berlin, der ihn veraniaßte, seine Reise nach Bäuchlingen
aufzugeben und mit dem näclisten Zuge nach Berlin zu
fahren. Der Besitzer des Hotels, in dem er seit vielen
Jahren beim Aufenthalt in der Hauptstadt abzusteigen
pflegte; und mit dem er diese und. jene Beziehungen
angeknüpft hatte, schrieb ihm:
„Verehrter Herr Dr. Lachmann.
wie Sie wissen werden, wohnt seit längerer
Zeit bei mir Ihr Freund August Müller unter dem
Namen Thomas Weltlein. Ich muß Ihnen nun leider
mitteilen, daß Herr Müller seit vierzehn Tagen
unter Zurücklassung seines Gepäcks spurlos ver-
sehwunden ist. Ich habe unter der Hand vorsichtig
hie und da Erkundigungen eingezogen, aber nie-
mand kann Aufschlußgeben. Wennmirund anderen
nicht das seltsame Wesen Herrn Müller's schon
längst aufgefallen wäre, würde ich der Sache kein
Gewicht beilegen. Ich kann mich aber nicht der
Befürchtung erwehren, daß irgend etwas Beson-
deres vor sich gegangen ist. Herr Müller ist
allerdings nach Aussage des Zimmermädchens ab
und zu eine Nacht fortgeblieben, aber die lange
Zeit, die jetzt verstrichen ist, ohne daß er wieder-
— 331 —
kommt, veranlaßt mich, Sie als den einzigen mir
bekannten Freund des Herrn Müüer zu benach-
richtigen, ehe ich bei der Polizei Nachforschungen
anstellen lasse oder seine Schwester in Bäuchhng-en
beunruhige.
Mit den besten Empfehlungen bin ich Ihr
ergebener
Nathanael Peter."
Im Hote! konnte Lachmann nichts weiter erfahren,
als daß Thomas am 7. September in Begleitung eines
etwas seltsam aussehenden Mannes, der eine schwarze
Binde über dem einen Auge getr^en habe und der
schon öfter mit Herrn Weltlein zusammengetroffen sei,
gegen Abend ausgegangen und nicht wieder gekommen
sei. Der Portier wußte noch zu berichten, daß Herr
Thomas unstandesgemäß angezogen gewesen sei. Das
sei jedoch öfter vorgekommen und er, der Portier, habe
dem keine Bedeutung beigelegt.
Lachmann wandte sich an die Polizei, Der Beamte.
der derlei Anfragen schon' zur Genüge kannte, ließ sicli
durch Ladimanns Erregung nicht irre madien, notierte
sich den Sachverhalt und versprach, Nachforschungen
anzustellen. Das Wahrscheinlichste sei, daß der Herr
mit irgend einer Dame Flitterwochen feiere, vielleicht
ließe sich auch im Leichenschauhaus irgend etwas finden.
In die Krankenhäuser würden ebenfalls alle Tage Leute
bewußtlos eingeliefert, allerdings, da die Saclie schon
vierzehn Tage her sei, käme das wohl nicht in Betracht.
Von diesen drei Möglichkeiten hielt Lachmann die
letzte für die wahrscheinlichste. Er fuhr daher zum"
Charitek ran kenhause, um dort Erkundigungen einzuziehen.
Die hagere Aufnahme seh wester, die gerade im Begriff
war, eine hochschwangere Frau nach der geburtshilfUchen
- 332 —
Station zu dirigieren, während sie gleichzeitig einem
schreienden Kinde einen Schutzverband über eine ziem-
lich breite Kopfwmide legte und einem alten Weiblein,
das neben der Leiclie ihres auf dem Transport gestor-
benen Sohnes kniete, gut zuredete, musterte ihn mit
scharfem Blick und wies ihn an das Bureau, besann
sich dann aber, als sie Lachmanns Eigenschaft als Arzt
erfuhr, und bat ihn zu warten, da der Unterarzt du
joitr sofort kommen werde. Gleich darauf trat der blut-
junge Doktor ein, rief der Schwester ein Scherzwort zu,
kniff das Kind freundschaftlich in die Backen und
streckte ihm, wie eine erfahrene Kinderfrau, du, du, du,
du, du rufend, unter fortwährendem Schütteln den
Kopf hin, damit es ihm in die Haare greifen könne,
schrie die Frau, deren Weher schon vorgeschritten
waren, und die es infolgedessen für nötig hielt, durch
Gackern auf ihr Eierlegen aufmerksam zu machen, an,
sie solle sich nicht haben, und wandte sich dann,
dem Toten und seiner Mutter scheu ausweicliend, zu
Lachmann. Ja, auf der äußeren Station befinde sich ein
Mann, der vor etwa 14 Tagen bewußtlos mit einem
jetzt fast geheilten Bruch des linken Schlüsselbeines
eingehefert worden sei, auf den passe Lachmanns Be-
schreibung. Der Herr Kollege möge ihn sich doch einmal
ansehen. Der Unterarzt gab noch ein paar Anweisungen
und begleitete dann Ladimann zur chirurgischen Station.
„Wir wissen nichts Näheres über diesen Mann,"
erzählte' er, „er hat keine Papiere und wir kennen nicht
einmal seinen Namen; aber er macht durchaus nicht
den Eindruck, als ob er unseren Kreisen angehöre. Wir
haben ihn, da er ein unerträglicher Schwätzer ist und
den Krankensaal in Aufregung brachte, zu beschäftigen
gesucht, und da hat sich herausgestellt, daß er oroße
- 333 —
GeschickÜdikeit im Vertilgen von Ungeziefer besitzt.
Er sdieiiit mir also eher eine Art Kammerjäger zu sein
oder wie man diese Leute nennt."
Lachmann nickte ernsthaft und meinte, das kÖinie
wohl stimmen. „Vorläufig verstehe ich nur nicht," sagte
er, „wieso Sie seinen Namen nicht kennen. Heißt er
nicht Thomas Weltlein? Oder August Müller?" fügte
er hinzu, als sein Begleiter achselzuckend weiterging.
Der Unterarzt blieb stehen und sah Lachmann miß-
trauisch an.
„Wenn Sie schon Bescheid über den Mann wissen,
hätten Sie mir die Mühe des Erzählens ersparen können."
„Wieso? Ich weiß nichts anderes, als was Sie mir
mitteilen."
Der Unterarzt sah nochmals prüfend in Lachmanns
Gesicht und fuhr fort: „Ich habe doch recht verstanden,
Medizinalrat Lachmann?"
Lachmann verbeugte sich: „ja, das ist mein Name."
„Verzeihen Sie meine Frage," fuhr der Unterarzt
fort, „die Angelegenheit dieses Mannes ist so rätselhaft,
daß es mir verdächtig vorkam, als Sie den Namen August
Müller nannten. Wie gesagt, wir wissen nichts von ihm,
auch nicht wie er heißt. Aber die Kranken haben ihn,
seiner clownhaften Geschwätzigkeit wegen, August ge-
tauft und der Ordnung halber hat die Saalschwester
den Namen Müller hinzugefügt." Der Unterarzt steckte
die Hände in die Hosentaschen, wie sein Chef bei den
besonders interessanten Stellen seines klinischen Vor-
trages zu tun pflegte, schob das Kinn nach oben, als
ob er dadurch seinen erhabenen Standpunkt, die Dinge
von oben herab zu betrachten, anzeigen wollte, und
begann zu dozieren : „Es handelt sich da um einen
außerordentlich interessanten Fall, so daß sich der
— 334 —
I
L
Geheimrat vei-anlaßt gesehen hat. ihn gestern den
Studenten vorzustellen. Dieser Mann, der, wie gesagt,
völlig bewußtlos und mit gebrochenem Schlüsselbein
auf der Straße gefunden worden isti; leidet an einer
totalen Amnesie. Offenbar hat er auf irgend eine Weise
eine Gehirnerschütterung erlitten. Jedenfalls ist sein
Gedächtnis für alles, was vor seinem Ervfachen aus der
Bewußtlosigkeit liegt, gänzlich geschwunden, gänzlich.
Er weiß nicht, wo er herstammt, wo er wohnt, wer er
ist, und er weiß auch nicht seinen Namen. Mir ist etwas
derartiges nocli nicht in meiner — " Der Unterarzt wurde
plötzlich blutrot, zog die Hände aus den Taschen und
sagte mit verändertem, natürHchcm Ton ; „Der Geheimrat
meint, daß solche lang andauernden Amncsieen außer-
ordentlich selten sind. Er interessiert sich infolgedessen
für unseren August besonders. Es wäre eine feine Sache,
wenn Sie das aufklären könnten."
Lachmann stellte, während er die Wege und Stege
des Charitegartens, die er so oft gegangen war, musterte,
stillvergnügt fest, daß die studierende Jugend noch immer
so gernegroß war wie zu seiner Zeit „Vielleicht kann ich
Ihnen wirklich behilflich sein," sagte er. „Ist der Mann mein
Freund Weltlein, so könnte die Überraschung, mich zu
sehen, ihm wieder zu seinem Gedächtnis verhelfen."
Der Unterarzt nickte zum Zeichen seines Einver-
ständnisses, und beide traten in den Krankensaal ein,
„Du, August," tönte eben eine Stimme aus einem
Bett in der Mitte des Saales, dessen Insasse, nach einem
Streckverbandsgestell zu urteilen, eine Fraktur des
Oberschenkels hatte, „gib mal Aditung, daß du nichts
von dem kostbaren Gut verschüttest/' Er drehte von
seiner Rückenlage gehindert mit vieler Mühe den Kopf
herum, um einen auffallend großen Mann zu beobachten,
- 335 -
der, umgeben von einer Reihe von Uringläsern, eifrig-
mit Röhrchen und Reagentien hantierte.
„Du sollst sehen," rief ein anderer mit einem Ver-
band um den Kopf, der gerade mit dem Besen die
Überbleibsel von einem Verbandswedisel zusammen-
kehrte, „er gießt noch eine von den Bowlen hinter die
Binde, die Nase hat er schon beinahe drin."
„Ihr seid Banausen," sagte jetzt der Mann an dem
Untersuchungs tisch, ohne sich umzudrehen.
Lachmann erkannte sofort Weltleins Stimme.
„Aus solchem Stoff ist das Colosseum in Rom ge-
baut und Deutschlands Einheit kam nur zustande, weil
Eugenie nicht genug Wert auf dergleichen Unter-
suchungen legte. Da habt ihr's besser; dreimal im Tage
notiere ich eure Pulszahl und einmal koche ich hier die
Suppe. Euch kann nichts passieren. Aber ihr solltet um
meine Gunst werben, daß ich ein milder Richter sei,
wenn ich euch Herz und Nieren prüfe."
„Laban, alter Junge," rief jetzt Lachmann.
Thomas drehte langsam den Kopf, und ohne sich
im Kochen seines Reagensgläschens stören zu lassen,
nickte er nur dem Freunde zu und sagte: „Das ist
nett, Lachmann, daß du midi besudist. Du kannst den
Leuten hier besser als ich die Wichtigkeit der Urin-
untersuchung klar machen. Aber zum Teufel," er warf
plötzlich das RÖhrchen auf den Tisch, so daß es auf
den Boden rollend zerbrach, „ich habe die Schweinerei
satt und die Amnesie dazu." Er eilte mit langen
Schritten durch den Saal, so daß sein Krankenraantel
wie ein schlaffes Segel hinter ihm herflatterte. Dabei
hob er seinen linken Arm aus der SchHnge, in der er
hing, und begann noch im Laufen die Knöpfe seines
Kranken an zugs aufzuknöpfen.
- 336 -
I
Der Unterarzt starrte fassungslos auf die lange
Gestalt, die da angerannt kam. „Aber Ihr Arn. ist
doch nicht heil. Nehmen Sie sich doch in acht, hören
sie doch, Müller."
„Ach was, Müller. WeltJein ist mein Name, Thomas
Weltlem, und der hier," er klopfte Lachmann auf die
Schulter, „ist mein alter Freund, Vetter und Saufkumpan
Lachmann. Und mein Arm — " er hob ihn in die Höhe
und wollte ihn durch die Luft sausen lassen, ließ ihn
aber sofort mit einem Schmerzensgesicht sinken — „na
ja, gut ist er noch nicht; aber für meine Bedürfnisse
langt es. Und hier aus diesem Stall will idi heraus,
sofort."
„Das geht nicht." Der Unterarzt wurde ganz Obrig-
keit. „Sie müssen hier bleiben, und wir werden ent-
scheiden, wann Sie entfassungsfäfiig sind."
Thomas lachte ihm gerade ins Gesicht. „Das geht
nicht? Und ich muß hier bleiben? Komm, Lachmami!"
Er faßte den Freund unter dem Arm und drängte
zur Tür.
Der Unterarzt vertrat ihm den "^eg. Er war wütend
und wurde es immer mehr, weil er sah, daß Thomas
einen Heiterkeitserfolg im Saal hatte. „In diesen
Kleidern — "
„Denke ich durchaus nicht zu bleiben, man wird
mir die meinen wohl bringen."
„Der Herr Geheimrat — "
„Ist ein alter Bekannter von mir aus der Universitäts-
zeit und war damals schon kein Licht. Grüßen Sie ihn
von mir und sagen Sie ihm, ich hätte mich gefreut,
daß er sich so vorzüglich geistig und körperlich konser-
viert hätte." Er hatte den Unterarzt beiseite gedrängt
und war schon auf dem Korridor. Lachmann zog den
- 337 —
22
p
Unterarzt, der sich vor Wut die Lippen zerbiß, weil er
voraussah, wie schlecht ihm die Flucht des interessanten
Amnesiefalles bekommeTi werde, mit sich.
..Es ist Tatsache," sagte er, .,daß Herr Müller oder
Herr Weltlein, denn er führt beide Namen, ein alter
Bekannter des Geheimrats ist, ebenso wie ich. Ich werde
die Sache in Ordnung bringen. Sie sehen ja, der Kranke
ist rabiat und wenn Sie einen Skandal vermeiden
wollen." — man hörte bis auf den Korridor den Lärm
und das Gelächter, womit die Kranken den Vorfall er-
örterten — „lassen Sie ihn ruhig laufen. Ich bringe die
Sache noch heute für Sie in Ordnung."
Eine Stunde spater klopfte Thomas, wieder ganz
Gentleman, an Lachmanns Tür im Hotel. Lachmann
wollte, wie er es versprochen hatte, den Geheimrat
aufsuchen, um ihm die Angelegenheit des Amnesie-
Müller aufzuklären, und Thomas benutzte die Gelegen-
heit, um seinen Freund durch den Tiergarten zu be-
gleiten und ihm die Geschichte der letzten vierzehn
Tage zu erzählen.
,,Wie es zugegangen ist? Sehr einfach. Als ich
seinerzeit nach Berlin fuhr, wurde mir bei einem Streit
in der vierteil Wagenklasse meine Brieftasche gestohlen,
ich bemerkte es aber zu spät, um noch an Ort und
Stelle nachzuforschen. Mein Verdacht fiel sofort auf
einen Mann mit einer schwarzen Binde über dem linken
Auge, einen Apfelsincnhändler, der eine verteufelte
Ähnlichkeit mit dem Weinbergskarl hatte. Du weißt,
wer der Weinbergskarl ist?"
„Woher sollte ich es wissen," versetzte Lachmann
und zog die Mundwinkel spöttisch herunter. „Du tust
mit deinen Erlebnissen wie eine alte Jungfer, die An-
deutungen über ihre Liebesaffären macht."
- 328 -
I
„Wenn, du so gering von den Ereignissen denkst,
die mit mir vorgehen," erwiderte Thomas verstimmt,
„daß .du sie durch so niedrige Vergleiche entwürdigst,
lohnt es sich nicht, das weitere mitzuteilen. Übrigens
tut es nichts zur Sache, wer der Weinbergskarl ist.
Genug, er hat mich in den Zustand versetzt, den unser
geheimer Universitätsfreund Amnesie zu nennen beliebt."
Lachmann schritt mit den Händen auf dem Rücken
weiter. „Der Geheimrat muß dich doch wieder erkannt
habcD."
,,Es scheint nicht so."
„Du sahst nicht so aus, daß man Sehnsucht gehabt
hätte, alte Beziehungen zu dir wieder anzuknüpfen.
Vielleicht war der gute Mann besorgt, du würdest ihn
anpumpen."
Thomas steckte die Hand vorn an die Brust, hob
den Kopf und stredtte den Bauch vor. „Du weißt wohl
nicht, mein Freund, wie grob du bist. Man denkt so
etwas nicht von Thomas Weltlein. Nein, er hat micli
tatsächlich nicht wiedererkannt. Und das ist der Beweis
dafür, daß er selber an Amnesie leidet, der arme Kerl."
Der Vetter hob die Stirn in die Höhe. „Und des-
halb — '■
„Natürlich deshalb. Ich konnte doch den alten
Kameraden nicht vor seinem Assistenten und seinem
Personal dadurch bloßstellen, daß ich seinen Gedächtnis-
schwund aufdeckte. Zumal mir noch auffiel, daß sich
allerhand Größenideen bei ihm äußerten, die mir den
Verdacht einer Gehirnerweichung nahe legten. Der
Mann hat Weib und Kind und eine große Stellung, hat
also viel zu verlieren, wenn es herauskommt, daß er
Paralytiker ist. Ich habe mich also geopfert und ihm
sein sdil echtes Gedächtnis abgenommen."
— 339 -
21*
„Und hast dich den Studenten als höchst interessanten
Fall von totaler Amnesie nach Gehirnerschütterung vor-
stellen lassen. Das finde ich kostlich." Der kleine Mann
lachte, daß ihm der Bauch schüttelte.
„Dein Lachen ist unangebracht," sagte Thomas voll
Würde. „Ich fühlte mich verpflichtet, festzustellen, auf
welche Gebiete sich die Verblödung dieses Mannes er-
streckt, da er ja von Berufs wegen dazu da ist, junge
Leute in die Geheimnisse der Wissenschaft einzuweihen.
Zu meiner Beruhigung ergab sich, daß er nur seinen
o-psunden Menschenverstand verloren hat. Das wissen-
schaftliehe Gedächtnis scheint völlig intakt geblieben zu
sein. Der Staat hat also kein Interesse daran, gegen
den Mann einzuschreiten, da er seiner Pflicht, gegen
die Übervölkerung zu wirken, nachkommt."
„Du scheinst dir in Bäudilingen eine nette Meinung
über die Ärzte gebildet zu haben. Aber wir sind dodi
nicht alle Vorbeuger." Sie waren aus dem Branden-
burger Tor getreten und Lachmann hielt, sorglich nach
rechts und links schauend, seinen Freund am Rockärmel
fest, damit er nicht unter die Räder käme.
„Ihr werdet alle," erwiderte Thomas ernsthaft, „in
derselben Weise und zu demselben Ziele ausgebildet.
Die Beschäftigung mit der Medizin scheint außerdem
im Menschen eine spezitische Reaktion hervorzurufen, ge-
wissermassen psychische Fermente zu schaffen, die von
Arzt auf Arzt Übertragbar sind, und sich in dem Einzelarzt
weiter verstärken. Es gibt offenbar eine Art Seuche, für
die nur Arztbeflissene empfindlich sind, die, ohne abzu-
brechen, durch die Jahrtausende wandelt und verhindert,
daß der Arzt im Besitze seiner vollen Geisteskräfte bleibt."
Lachmanns ruhige Gangart wurde zapplig, er fing
wieder einmal an, mit dem Stock nach Grashalmen der
— 3^0 -
Tiergartenan lagen zu schlagen, und seine Mundwinkel
hingen so weit herab, daß Thomas sich veranlaßt sah,
in seiner Brieftasche nach Heftpflaster zu suchen, um
sie von den Ohren her wieder nach oben zu ziehen,
„Es ist ein billiger Spaß, sich über die Ärzte lustig
zu machen," sagte er. „Letzten Endes spricht sich darin
der Groll der Menschen aus, daß sie den Arzt be-
zahlen müssen."
„Und daß sie ihn niemals vollwertig bezahlen können,
da seine Leistungen stets über dem Entgelt stehen, da
hast du ganz recht," sagte Thomas. „Darin geht es dem
Arzt wie der Mutter. Aber mir lag es ganz fern, über
den Arzt zu spotten, du hast mich nur nicht verstanden.
Lassen wir das."
Die beiden schritten eine Weile schweigend dahin,
dann begann Thomas wieder: „Der Geheimraf wohnt
ja wohl in der H ohe n zoll ernst raße?"
,,Ja, warum fragst du?"
„Weil ich mit zu ihm hineingehen will, weil ich dir
vorher noch einiges mitteilen will, und weil dort der
Kaiser angefahren kommt."
Wirklich hörte man das charakteristische Hupen-
signal des Kaisers. Sein Wagen bog eben um die Ecke
de. Tiergartenstraße, um in die Siegesallee einzufahren.
Zu beiden Seiten der Straße sah man die Leute stilL
stehen und grüßen. Die beiden Freunde traten an den
Rand des Fahrdammes, wo ein hochgewachsener schlanker
alter Herr mit gezogenem Hut stand, dessen ganze
Haltung den früheren Offizier kund gab. Der Kaiser
schien ihn zu kennen, wenigstens winkte er ihm im Vor-
beifahren freundlich zu.
Kaum war der kaiserliche Wagen vorüber, so setzte
der alte Herr seinen Zylinder auf und wandte sich ent-
— 34] —
rüstet zu Thomas, der, während Laehmann Front gemacht
hatte, unbekümmert mit dem Hut auf dem Kopf und
der einen Hand in der Hosentasche, den Kaiser ohne
Gruß hatte vorbeisausen lassen.
„Warum grüßen Sie nicht," fuhr er los.
Thomas zog den Hut, verbeugte sich verbindlich und
sagte: „Weltleiii ist mein Name."
Der alte Herr hob schon den Arm, um den Gruß
zu erwidern, besann sich aber und wiederholte nochmals:
„Warum grüßen Sie nicht?"
„Nach meiner Meinung war ich Ihnen noch nicht
vorgestellt. Das habe ich nun nachgeholt und Sie dann
auch gegrüßt, wozu idi vorher keine Veranlassung hatte.
Aber ich verstehe nicht, warum Sie nicht grüßen, da
Sie doch meine Bekanntschaft zu suchen scheinen."
Der Herr griff wieder nach dem Hut, unterbrach wieder
seine Bewegung und sagte ärgerlich mit dem Stock auf
die Erde stoßend; „Ich frage, warum Sie Majestät nicht
grüßen, Sie haben doch gesehen, daß er vorbeifuhr?"
„Gewiß, aber ich bin ihm ebenso wenig vorgestellt
wie Ihnen und ich halte es nicht für richtig, Leute mit
meinem Gruß zu belästigen, die ich nicht kenne."
Damit wandte sich Thomas zum Gehen.
Der andere vertrat ihm den Weg: „Jeder Patriot
grüßt seinen Kaiser," sagte er.
Thomas sah seinen Gegner überrascht an, als ob
der ihn vor ganz neue Ansichten gestellt hätte. „Ver-
zeihen Sie, ich hatte bisher noch keine Zeit, mich mit
der Frage zu beschäftigen, ob ich Patriot bin, werde
aber darüber nachdenken. Bitte, erinnere mich doch
gelegentlich daran, Lachmann."
Der Vetter stand halb abgewendet da und hatte die
Unterlippe weit vorgeschoben, die Sache paßte ihm nicht.
- 342 -
I
„Ich wiederhole Ihnen," fing- der alte Herr, der sich
durch Heftigkeit aus der Verlegenheit zu helfen suchte,
wieder an: „Jeder Deutsche grüßt seinen Kaiser, es sei
denn, daß er ein roter Revolutionär ist."
„Ja, dann habe ich ja ganz recht getan, nicht zu
o-rüßen," sagte Thomas naiv, „ich bin Revolutionär, das
wissen Sie doch, Hören Sic doch, Thomas Weltlein, ich
nannte Ihnen schon meinen Namen, da hegt die Welt-
revolution, der Zweifel drin. Und rot. — Ich bin Ihnen
v;irklich dankbar für das Wort. Rot — Wanze —
natürlich, Sie haben mir ein Rätsel gelöst. Ich danke
Ihnen vielmals." Er grüßte wieder, nahm Lachmanns
Arm und ließ den Herrn stehen, der ihm verblüfft
nachschaute, hinter dem Rücken der beiden kurz den
Hut lüftete und davon ging.
„Ich hätte nicht gedacht," sagte Thomas im Weiter-
schreiten und machte dabei ein Gesicht wie ein Junge, der
zum erstenmal lange Hosen anhat, „daß ich so bekannt bin."
„Bekannt? Ja weiß Gott, wenn du noch ein paar
solche Dummheiten machst, wirst du bald wie ein
bunter Hund bekannt sein."
„Nicht wahr? Es war eigentlich nett von dem alten
Herrn, daß er so diskret mit dem Wort roter Revolu-
tionär auf das anspielte, was man von mir erwartet,
besonders im Vergleich zu der lumpigen Vertraulichkeit,
mit der S, M. sich bei mir anzubiedern suchte. Na, ich
habe ihn ja auch abfallen lassen,"
Lachmann sah seinen Vetter von der Seite an. War
das Verrücktheit oder war es Absieht? Ablenkend sagte
er: ,,Du wolltest mir noch irgend etwas erzählen, ehe
ich zum Geheimrat Nolde gehe."
„Ja richtig. Mir fiel vorhin bei unserem Gespräch
über Noldes Gedächtnisschwund etwas ein, was meine
— 343 —
Theorie von der Ansteckung glänzend bestätigt, und
ich möchte das unserem Freund pcrsönUch mitteilen.
Er hat nämlich sowohl im Krankensaal bei seinen Be-
suchen, wie namentlich, als er mich im Hörsaal den
Studenten vorstellte, geradezu erstaunlich gut über
diesen Gegenstand gesprochen, und ich bin der An-
sicht, daß sich dadurch, ich meine, durch das intensive
Zuhören meinerseits in meiner Seele Gifte gebildet
haben, die dann meine totale Amnesie herbeiführten."
Lachmann blieb erstaunt stehen: „Was denn? Hast
du denn wirklich dein Gedächtnis verloren gehabt?"
„Keine Spur. Aber es paßt doch sehr schön in die
Theorie."
Lachmann lüftete spöttisch ehrfürchtig den Hut.
„Du hast den Witz aus der Geschichte raus. Man
sollte dich eigentlich zum Professor machen."
„Nicht wahr? Aber schheßlich ist es doch besser
so. Ich bin so freier."
Sie waren an der HohenzoUernstraße angelangt und
Lachmann wurde ungeduldig. „Du tätest mir einen Ge-
fallen, wenn du mir endlich etwas darüber mitteiltest,
wie du in die Charite geraten bist. Sonst hat doch der
ganze Besuch bei Nolde keinen Sinn."
„Du hast recht. Also ich erzählte dir ja vom Wein-
bergskarl. Ich habe ganz Berlin nach dem Kerl durch-
sucht und schließlich habe ich ihn gefunden." Thoraas
verstummte plötzlich, und als ihn Lachmann mit einem
ungeduldigen: „Na also, du hast ihn gefunden," auf-
schreckte, sagte er: „Ist es nicht merkwürdig, daß man,
sobald das Wort suchen fällt, an das Wort finden
denkt?" Er sah geistesabwesend Lachmann gerade ins
Gesicht, und da der nur mit einem kurzen Nein ant-
wortete, fuhr er fort: „Mir ist das sehr merkwürdig,
- 344 —
I
namentlich weil man beim Wort finden selten an das
Wort suchen denkt. Der Mensch ist eben auf Gegen-
wart und Zukunft eingestellt und das ganze Geschwätz
von der Bedingtheit menschlichen Denkens durch ur-
sächliche Vorstellungen ist eitel Schwindel, erfunden
von Heuchlern, die sich nicht eingestehen wollen, daß
der Mensch absolut egoistisch ist, und infolgedessen
nur nach Zwecken denkt und handelt. Verstehst du,
was ich meine?"
„Nein, aber bitte erzähle — ."
„Ich fürchte, ganz verstehe ich es audi nicht."
Sie waren jetzt vor dem Noideschen Hause an-
gelangt. Laclnnann stand still, packte seinen Vetter am
Arm und schüttelte ihn. „Du sollst mir die Geschichte
vom Weinbergskarl erzählen," schrie er in voller Wut
und stampfte mit dem Bein auf,
„Na, du brauchst mich nicht gleich zu treten; also
ich habe ihn gefunden, bin mehrfach mit ihm aus ge-
wesen und habe ihn mit Hilfe von Schnäpsen zutraulidi
gemacht und schließlich habe ich ihn hereingelegt."
Lachmann war im Begriff, den Kampf aufzugeber.
und hob schon die Hand, um auf die Klingel von
Noldes Villa zu drücken, als ihm plötzlich eine neue
Idee kam, „Du gibst doch vor, für das Wohl deiner
Mitmenschen zu sorgen?"
Thomas sah ihn treuherzig an; „Ja. Das heißt — "
„Jedenfalls verträgt es sich nicht mit deinen Ideen,
daß du einen andern absichtlich hereinlegst,"
Thomas wurde nachdenklich, „Vielleicht hast du
recht. Es ist nicht nett von mir gewesen. Warte noch
einen AugenbUck; ich werde dir die Sache erzählen.
Aber nimm erst die Hand von dem Klingelknopf weg.
Das ist zu spannend für mich."
— 345 —
L
I
Lacliniann ließ lächelnd wie eine Mutter, die ihrem
Kiiice irgend eine törichte Bitte gewährt, die Hand
sinken.
„Ja, für dich ist es natürlich nichts," fuhr Thomas
eifrig fort: „aber vor meinen Augen wird der Knopf
zum Mittelpunkt des Weibes und ich warte auf den
Moment, wo der elektrische Strom durch den Körper
hindurch rieselt. Es ist manchmal nicht leicht, sehend
zu sein."
Lachmann wurde sich für einen Augenblick über
das Schicksal seines Freundes klar. Diese Einsicht war
ihm aber unerträglich und er warf sie mit dem Wort
„verrückt" beiseite.
„Mag sein. Ich glaube es aber nicht. Also ich hatte
mir den Weinbergskarl oder Apfelsinenmann auf den
Abend des 7. September bestellt, um mit ihm in einen
der Berliner Verbrecherkeller zu gehen. Ich hatte, als
der Kerl kam, meine Geldtasche, in der ein Tausend-
markschein so steckte, daß er zu sehen war, offen auf
dem Schreibtisch liegen, stopfte noch ein paar kleine
Scheine hinein und tat sie in meine Brusttasche. Wir
sind dann zusammen fortgegangen, haben verschiedene
Kneipen besucht, in denen ich allerlei interessante
Schufte kennen gelernt habe. Zuletzt waren wir in
einem rauchigen Loch irgendwo im Norden Berlins. Ich
muß- von dem vielen Fusel sdion ziemlich besoffen
gewesen sein, wenigstens entsinne ich mich nur un-
deutlich des Raumes, eines sehr blassen dicken Wirtes
und daß der Apfelsinenmann mir gegenüber saß und
mich ansah. Was dann passiert ist, ob sie mir irgend
ein Gift eingetrichtert, oder mir einfach eins auf den
Deetz geschlagen haben, weiß ich nicht. Genug, als ich
wieder zur Besinnung kam, war ich in der Charite."
- 346 —
Thomas schwieg und sah gespannt seinen Zuhörer
an, als ob er erwartete, daß seine Erzählung irgend
eine erstaunliche Wirkung auf Lachmann haben werde. '
als ob er zum mindesten die Hände über dem Kopf
zusammenschlagen, wenn nicht gar in die Erde versinken
werde. Als von alledem nichts geschah, der Vetter viel-
mehr mit einem verdutzt dummen Gesicht dastand, weil
er ganz etwas anderes zu iiören gedacht hatte, fuhr er fort :
„Ich glaube gar, du verstehst nicht, was ich erzähle."
„Doch, doch," beeilte sich Lachmann zu sagen. „Ich
weiß nur nicht, du behauptetest doch, du hättest den
Kerl reingelegt. Doch nicht dadurch, daß du ihn um
tausend Mark bereichert hast, denn die wird er dir
doch wohl weggenommen haben."
„Ganz richtig. Die hat er mir weggenommen, und
das war der Sinn meines ganzen Unternehmens, denn
dafür sitzt er nun."
„Wer? der Weinbergskarl?"
„Ja. Es kann auch der Apfelsinenmann gewesen
sein. Genug, er sitzt. Es ist ja sicher Eitelkeit dabei
im Spiel, daß ich ihn wieder eingefangen habe, viel-
leicht lockten mich auch die 200 Mark Belohnung, die
auf seine Festnahme gesetzt sind, aber hältst du es
wirklich für meiner unwürdig, wenn ich einen Gewohn-
heitsverbrecher der Polizei ausliefere?"
„Nein, sicher nicht." Lachniann war neugierig ge-
worden. Er trat an seinen Freund heran und schüttelte
ihm die Hand. „Im Gegenteil, ich finde das ganz famos,
hätte dir so viel Courage nicht zugetraut, denii immerhin
— einen gewiegten Verbreclier, wie den Weinbergskarl — "
,,Es kann auch der Apfelsinenmann gewesen sein,"
schaltete Thomas ein. Dabei traf er von einem Bein
auf das andere und sah sehr unbehaglich aus.
- 347 ~
„ — mitten unter seinen Kumpanen verhaften zu
lassen, dazu i^ehort etwas. Famos, ganz famos. Aber
nun erzähle mal. Wie hast du's angefangen? Ist dir
ein Detektiv heimlich nachgefolgt oder — "
„Lachmann, du bist der größte Esel dieses und des
folgenden Jahrhunderts," unterbrach ihn Thomas, ging
auf das Haus zu und klingelte. Die Tür öffnete sidi
sofort, und ehe noch Lachraann Zeit gehabt hatte, seinen
kurzen Leib die zwei Stufen zum Eingang hochzuwälzen,
hatte sidi Thomas schon der Situation bemächtigt.
„Melden Sie uns dem Herrn Geheimrat," sagte er,
gab dem Diener würdevoll ein Goldstück und schritt
an ihm vorbei, ehe der noch seine glattrasierten Lippen
öffnen konnte, um sein ewiges Sprüchlein, daß der Herr
Geheimrat um diese Stunde nicht empfange, herzusagen.
Thomas hatte seinen Überzieher schon halb aus-
gezogen, sah den Diener streng an, so daß dieser ein-
geschüchtert ihm Hilfe leistete, und sagte: „Sagen Sie
dem Herrn Geheimrat, der Laban und der dicke Bautz
seien da, um den frommen Holder zu begrüßen, und
führen Sie uns ins Empfangszimmer. Hast du eine Karte
da, Lachmann? Also gib sie her,"
Der Diener sah, mit etwas geknickten Knien da-
stehend, zweifelnd herunter auf die Karte und wieder
hinauf zu dem langen Herrn, der so wenig Umstände
machte.
„Haben Sie mich verstanden?" fuhr er den D'ener
an, während er sich vor dem Spiegel die Haare bürstete.
,,Ja, aber — "
„Melden Sie uns", mischte sich nun auch Lachmann
ein. „Ich danke schön, ich werde schon allein fertig."
Er schälte sich langsam aus seinem Überzieher heraus.
„Melden Sie uns: den Laban und den dicken Bautz."
- 348 -
Der Geheimrat kam ihnen mit ausgebreiteten Armen
entgegen und iog den langen Thomas an sich, als ob
er, vor Rührung ganz überwältigt, seinen von gefahr-
voller Reise zurückkehrenden Sohn begrüße.
,iNa, ich habe schon von Dr. Hübntr gehört, daß
du wieder bei dir bist, alfer Laban." Er klopfte Thomas,
ihn immer noch umschlungen haltend, auf den Rücken.
,-,Das war ein böses Abenteuer. Wunderst dich wohl,
daß ich dir das Gedächtnis nicht gleich aufgefrischt
habe. Es war ja auch nicht nett von mir. Aber erstens
war es mir doch fraglich, ob es geholfen hätte, und
dann ging eben das wissenschaftliche Interesse mit mir
durch. Totale Amnesie bei völlig intaktem Intellekt, so
total, daß man seine besten Freunde nicht wieder-
erkennt, so etwas sieht man nicht alle Tage. Und weißt
du, Bautz," er wandte sich an Lachmann, der sprach-
los die Gewandtheit bewunderte, mit der sich Nolde
aus der Affäre zog, ,,die Idee, ihm so unter der Hand,
gewißermaßen als frei erfundenen Spitznamen, seinen
eigenen Namen August Müller autzuschmuggeln, die
war nicht schlecht." Er trat einen Schritt zurück, senkte
die Hände in die Hosentaschen, hob das Kinn hoch
und strich den schönen, langen, blonden Vollbart. „Man
kann wohl annehmen, daß der Mann durch diesen
Kunstgriff der psychischen Therapie zum mindesten
für die Heilung sozusagen prädestiniert war, wenn
man auch vielleicht nicht so weit gehen darf, ihn
für das entscheidende Moment zu halten. Aber ich
glaube," Nolde faltete die Hände in stolzer Freude
über sich selbst, „ich glaube, dein Einschreiten, lieber
Kollege Lachmann, wäre nicht gelangen, wenn die
Sache nicht schon vorher von mir vorbereitet gewesen
wäre."
- 349 —
Ehe Lachmann noch mit dem Neidgefühl fertig ge-
worden war, das die Gewandtheit der Uiiiversitätsleuchte
im Lügen bei ihm erweckt hattte, nahm Thomas das
Wort.
„Nein, es hätte ganz gewiß nichts geholfen. Lach-
manns Erscheinen hat mit meiner Genesung nichts zu
tun, aber auch deine Therapie, Nolde, war überflüssig.
Das Gedächtnis," er setzte sich auf einen Stuhl und
zündete sich eine Zigarre an, die Nolde ihm anbot,
„war mir von einem Hauptgauner, der mich bestehlen
wollte, und mich zu diesem Zweck hypnotisiert hat,
wegsuggeriert worden, posthypnotisch für 14 Tage jede
Erinnerung verboten worden. Das ist des Rätsels Lösung."
Ei- sah mißbilligend auf Lachmann, der weit vorgebeugt
mit aufgerissenen Augen die Hände auf die Knie ge-
stemmt dasaß und ein Gesicht machte, als ob er dem-
nächst platzen werde. „Ich weiß nicht, ob der Fall
dadurch nidit noch interessanter wird."
Lachmann lehnte sich im Stuhl zurück, schlug die
Beine übereinander und schnippte die Zigarrenasche auf
den Teppich.
„Holder," sagte er, triumphierend lädielnd, „der
Laban ist dir über."
Nolde sah ungewiß und mißtrauisch nadi Thomas,
dann Lachmann an und sagte schließlich. „Ja, ja, es ist
wirklich interessant. Aber wir wollen uns doch freuen,
daß es so abgelaufen ist. Wie wohl du wieder aussiehst,
Laban, und dein Schlüsselbein? Ist's wieder ganz heil?
Keine Schmerzen mehr? Laß mal sehen!" Er wollte
gerade Thomas' Arm prüfend heben, als der Diener
erschien und ihm etwas zuflüsterte.
„Was ist los?" schrie er ihn an. „Das ist nun schon
das zweitemal heute, daß Sie mir solch Gesindel her«in-
- 350 -
lassen, das nicht lesen kann, -wann ich Sprechstunde
habe." Er nahm die Visitenkarte und sein Gesicht
ieuchtete plötzlich, während sich seine Lippen spitzten.
„Ah, die Frau von Lengsdorf, und die kleine Helene
ist auch mit. Das ist was anderes. Führen Sie sie in
mein kleines Sprechzimmer, Ach, ihr entschuldigt wohl
einen Augenblick."
Thomas winkte gnädig mit der Hand und der
Geheimrat verschwand eiligst, im Laufen noch vorn den
Verschluß der Hose prüfend.
„Lengsdorf?" fragte Lachmann, „sind das — "
Thomas nickte. Er hatte die Hände hinter dem
Kopf gekreuzt und die Beine weit von sich gestreckt,
und schaute mit zusammengekniffenen Augen listig drein.
„Idi möchte wohl mit ansehen, wie die Hure und das
Hürchen ihn vornehmen," sagte er.
„Wo kennst du sie denn her," fragte Lachmann
interessiert. Er hatte die Hand auf den Rauchtisch ge-
legt und spielte mit den Fingern auf einem kleinen
Aschenbecher Klavier.
„So weit, wie du, bin ich mit ihr nicht gegangen,"
erwiderte Thomas, „immerhin war es ganz nett."
Lachmann zog verärgert die Hand zurück und steckte
sie in die Tasche. „Du bist mir noch immer die Er-
klärung schuldig, wie du den Weinbergskar! — "
„Es kann auch der Apfelsinenmann gewesen sein.
Vielleicht war es auch keiner von beiden."
„Himmel Herrgott Sakrament. Das weißt du auch
nicht?" schrie Lachmann wütend. „Ich dachte, beide
wären eine und dieselbe Person,"
„Kann sein, kann auch nicht sein. — So genau weiß
ich das nicht."
„Du hast eine verdammte Manier — "
- 351 —
„Dir in dein Spiel mit Helenchen zu gucken und
das ärgert dich. Aber warum fingerst du auch gerade,
wenn von ihr die Rede ist, an dem Loch da herum?"
Lachmaiin schlug sich mit der Faust auf das Knie.
„Jetzt hab ich es satt. Entweder du erzählst oder ich
lasse dich hier allein mit dem frommen Holder."
„Was willst du eigentlich wissen?" fragte Thomas
unschuldig.
„Ich will wissen," Lachmann betonte jedes einzelne
Wort mit einem Schlag auf sein Knie, „wie du den
Kerl, mit dem du in der Verbrecherkneipe warst und
der dir deinen Tausend markschein gestohlen hat, der
Polizei ausgeliefert hast; du bist doch die ganze Zeit
im Krankenhaus gewesen."
Thomas sah ihn belustigt an. Er war in diesem
Augenblick ganz Eitelkeit. „Der Tausendmarksdiein war
falsch." Er schwieg eine Zeitlang, sich an seiner eigenen
Vollkommenheit in dem gegenüberhangenden Spiegel
weidend, dann begann er hastig zu erzählen. „Also der
Tausendmarkschein ist sehr geschickt gefälscht. Ich habe,
als ich meinen Plan gefaßt hatte, Mijhe genug ge-
habt, ihn aufzutreiben; habe ihn schließlich bei einem
Sammler von Merkwürdigkeiten gefunden, dem ich dafür
meinen Seelensuchcr geschenkt habe."
Lachmann sprang auf. ,,Du bist verrückt!" Der
Seelensucher, der Goethesche Schattenriß, dessen Ent-
fernung Agathe seinerzeit bei ihrem Einzug in das Haus
des Bruders durchgesetzt hatte, war immer ein Gegen-
stand seiner Sehnsucht gewesen. „Also erzähle," fuhr
er resigniert fort.
„Diesen falschen Tausendmarkschein hat der Apfel-
sinenmann an einem der nächsten Tage auf der Deutschen
Bank wechseln wollen. Der Mann an der Kassa hat den
— 352 —
Braten gerochen und mein Weinbergskarl ist verhaftet
worden und alles ist ans Tageslicht gekommen."
„[a, bist du denn als Zeuge vernommen worden?"
Thomas sah ihn verwundert an : „N.ein."
„Ja, woher weißt du denn, daß er verhaftet ist?"
I.Wissen? Ja, wissen tue ich es nicht."
„Du weißt es nicht? Es ist also gar nicht passiert?"
„Vielleicht doch, oder wenigstens könnte es passiert
sein."
„Du hast dir also die ganze Geschichte aus den
Fingern gesogen. Das ist ja skandalös." Lachmann
schäumte vor Wut.
„Bitte sehr," sagte Thomas gereizt, ,,ich habe ebenso viel
Redit wie du oder der Holder da — ' ' Nolde war eben wieder
eingetreten, — m'D''' etwas aus den Fingern zu saugen.'
„Weil ihr ArKte seid, bildet ihr euch ein, ihr hättet
allein das Recht, aufzuschneiden. Aber da seid ihr
gewaltig im Irrtum." Er unterbrach sich und wies auf
Nolde. „Sich mal, was der Holder Helenchen zuliebe
für einen großen Mund hat."
Der Geheimrat, der Weltleins Bemerkung nicht ver-
stand, fuhr auf; „Ich finde es gesclimacklos, so auf die
Ärzte zu schimpfen. Und daß du mich mit der Hypnosen-
geschichte zum Besten gehabt hast, habe ich wohl
gemerkt." Er strich sich sto!z den Vollbart, drehte aber
gleich darauf verlegen den Kopf beiseite. „Was siehst
du mich so an," fragte er.
„Mich interessiert es," sagte Thomas ernsthaft, „daß
du genau derselbe bleibst, wenn du eine falsdie Diagnose
stellst. Die Würde als ordentlicher Professor und
Geheimrat ändert also nichts an der Arztseele. Du
bist darin ganz wie Dr. Vorbeuger, nur daß der immer
falsche Diagnosen stellt."
- 353 - J3
„Wieso falsche Diag-nose?" fragte Nolde.
„Weil es wahr ist, was ich dir von der Hypnose
erzählt habe. Ich verstehe auch gar nicht, wie du mit
deinem Scharfblidt nicht gleich erkannt hast, daß mein
zerbrochenes Schlüsselbein die Wahrheit meiner Aussage
unerschütterlich bestätigt."
Der Geheimrat faltete die Hände über dem Bauch, wie
er es zu tun pflegte, wenn einer der Kandidaten im Examen
eine dumme Antwort gab. „Bestätigt? Der Bruch beweist
doch, daß du irgendwie gewaltsam betäubt worden bist."
Thomas erhob sich und ging zu Lachmann. „Komm
Dicker," sagte er, „es hat keinen Zweck mehr, länger
zu bleiben, unser guter, alter, armer Holder ist wirklicli
vollständig reif für die Universität."
Lachmann blieb ruhig- sitzen. Er weidete sich an der
Ratlosigkeit Noides, der nicht wußte, was er aus Thomas
madien sollte. „Du bist uns eine Erklärung darüber
schuldig, wieso dein Schlüsselbeinbruch beweist, daß du
hypnotisiert worden bist."
Thomas zuckte die Achsein. ,,Für den Weinbergskarl
oder wer es sonst gewesen sein mag, war es wünschens-
wert, daß ich eine Zeitlang aus dem Wege geräumt
wurde. Diesen Wunsch hat er mit der Hypnose wie
ein Serum in meine Seele gespritzt und dieses Seclen-
gift hat dann durcli innere Ansteckung mein Gehirn
erschüttert und mein Schlüsselbein zerbrochen. Wie
wäre es sonst zu erklären, daß ich keine schwereren
Verletzungen habe? Die innere Ansteckung wirkt immer
nur, so weit sie für den bestimmten Zweck unbedingt
erforderhch ist ; man nennt das, wie dir der Herr
Geheimrat da bestätigen kann, das Gesetz von der
Sparsamkeit der Natur, die stets mit den geringsten
Mitteln das größtmögliche Resultat erzielt."
- 354 -
„Das ist der reine Blödsinn," fuhr der Geheimrat los.
„Nein, das ist die reine Theorie und die reine
Theorie ist immer richtig."
„Aber du bist ja ganz verdreht, Laban," dozierte
der Geheimiat. „Eine Theorie kann dodi nur richtig
sein, wenn die Prämissen richtig sind und man kann
doch nicht sagen, der liebe Gott sitzt im Himmel,
folglich muß der Himmel fest sein."
„Warum soll man denn das nicht sagen können?
Jahrtausende lang hat man es gesagt und wenn ich Lust
habe, es wieder zu sagen, so ist es eben wieder richtig."
Lachmann beobachtete belustigt den Geheirarat, der
wieder den Bart strich, weil er nicht aus noch ein wußte.
Daß Thomas übergeschnappt war, wurde ihm allmählich
klar, aber er fand nicht den richtigen Dreh, um das
Gespräch, in das er sich eing-elassen hatte, harmlos zu
gestalten.
„Der Mensdi als Maß aller Dinge," er zog den
Mund krampfhaft in die Breite, was ein vergnügtes
Lächeln bedeuten sollte. „Aber darüber sind wir doch
hinaus. Die Wissenschaft ist erst fortgeschritten, seitdem
sie objektiv geworden ist"
„Das heißt, seitdem der Universitätsprofessor das
Maß aller Dinge geworden ist," sagte Thomas in dem
verbindlichsten Ton, der ihm zur Verfügung stand.
„Aber nun paß einmal auf. Die Universität ist die
Quintessenz alles Wissens. Das ist die Theorie. Folglich
sind alle Universitätsprofessoren kluge Leute, sogar du."
Thomas lächelte triumphierend, während Lachmann ihm
einen freundschaftlichen Stoß gab.
„Das ist eine Unverschämtheit." brüllte Noldc.
„Nein, das ist eine Theorie," ließ sich jetzt Lach-
mann vernehmen, „sogar eine, an die du glaubst. Laban
— 355 — M-
1
hat ganz reiJit. Im übrigen wollen wir uns doch ver-
tragen."
„Ich zanke mich gar nicht," eiferte Thomas, „ich
führe nur aus, was ich dir vorhin über die ansteckende
Verstandes Seuche der Arzte sagte, was übrigens von
allen gelehrten Berufen gilt. Das Studium ist an sich
ein "Gift, das bestimmte wohl erkennbare Folgen herbei-
führt. Nimm nur die Theologen. Seit 2000 Jahren zer-
brechen sie sich die Köpfe -darüber, was in der Bibel
steht. Dabei nennen sie es Gottes Wort, wollen uns
also weismachen, der Hebe Gott habe so verworrenes
Zeug gesprochen, daß es erst durch ihre Interpretation
verständlich würde. Das ist doch Geistesverkrüppelung
und Größen Wahnsinn dazu."
Nolde war auf einmal heiter geworden. Da er selbst
ein furchtsamer Hase und Teufelsanbeter war, gab es
für ihn nichts Schöneres als einen tüchtigen Hieb gegen
alles, was Religion hieß, „ja," rief er, griff unter seinen
langen Bart und hob ihn hoch, als ob er durch dieses
Sträuben seinen Abscheu bezeugen wollte, „und dabei
hat doch der Herr Jesus z.u einfadien Fischern gesprochen.
Da muß er sich doch deutlich ausg'edrückt haben . . ."
„Und der Jurist," fiel Lachmann ein, der plötzlich
an seinen eben verlorenen Prozeß mit dem Justiz rat
Warnemann denken mußte, „stellt seine Schutzgöttin
blind dar, wahrsdieinlidi um anzudeuten, wie völlig
außerstande er ist, rechts von links, Recht von Unrecht
zu unterscheiden."
„Die Sache ist doch ganz klar," begann Thomas
wieder. „Wenn man immer auf einen Punkt stiert, sieht
man zuletzt gar nichts mehr. Je eifriger man also stu-
diert, desto dümmer wird man, auch für den Gegen-
stand des Studiums. Und daher kommt es — "
— 356 -
„Daß die Juristen nichts vom Recht verstehen,"
unterbrach Nolde und bog sidi vor Lachen.
„Und die Theologen nichts von der Theologie,"
fügte Lachmann hinzu.
„Und ihr beide nichts von der Medizin," schloß
Thomas, packte den Geheirarat mit dem rechten und
Ladimann mit dem linken Arm und beugte sich nieder,
sie mit sanftem Druck mit sich ziehend, und rief ; „Auf
dem Kopf muß man stehen, wenn man richtig urteilen
will. Sonst kriegt man nur eine Masse Hintere zu ^
sehen, da ja alles heutzutage auf dem Kopf steht,"
„Aber Hugo, was machst du denn da," ließ sich eine
weibhche Stimme vernehmen.
„Ich lerne die Welt richtig beurteilen," klang es aus
der Tiefe. ,, Übrigens gestatte, daß ich dir meine Freunde
vorstelle. Da links, das dicke Hinterteil ist Lachmann,
der Bautz, von vom kennst du ihn ja schon, in der
Mitte, der Hintere mit den langen Beinen dran, ist
Laban, August Müller."
Thomas ließ plötzlich die beiden Freunde los. Ohne
ein Wort zu sagen, ging er zur Tür, öffnete sie. schloß
sie wieder und sagte : „So, nun ist August Müller fort
und wir sind unter uns. Bitte, willst du mich richtig
vorstellen. Lachmann."
„Aber Kinder," sagte Lachmann und prustete, als
ob er sich entsetzlich anstrengen müßte, „so ohne
weiteres katin ich die Vorstellung nicht übernehmen,
dazu brauche ich Zeit. Kannst du uns nicht zum Abend-
essen da behalten. Holder? Geht es nicht, gnädige
Frau, die ich noch gar nicht t^olde zu nennen wage."
Nolde sah seine Frau verlegen an ; als er sie nicken
sah, atmete er auf und sagte: „Dann müssen wir aber
erst die Kinder um Erlaubnis fragen,"
- 357 —
Der Abend verlief glänzend, und als Thomas spät
in der Nacht an Lachmanns Arm nach Hause schwankte,
sa^te er: „Weißt du, wenn er nicht so ein furchtbarer
Dummkopf wäre, möchte ich schon mal in seiner Haut
stecken. Die Klara ist nicht ohne. Na, morgen gehen
wir zu ihrem Rout."
Lachmann nickte, antwortete aber nichts.
Kurz vor dem Hotel blieb Thomas stehen : „So alte
Jugendfreunde wieder zu sehen, ist doch netter, als ich
dachte. Meinst du nicht, daß wir den Prinzen Viktor
mal aufsuchen könnten?"
Lachmann schlief schon halb, er brummte ein Ja,
war aber am anderen Morgen sehr erstaunt, als ihn
Thomas veranlaßte, mit ihm zum Palais des roten
Prinzen zu fahren, um sich einzuschreiben. Nach wenigen
Stunden erhielten sie eine Einladung vom Prinzen zu
einem Herrendiner am folgenden Tage auf dem Schlosse
Belvedere bei Ebers wal de.
XXXIJI, KAPITEL.
AGATHE ERSCHEINT WIEDER.
Auf dem Heimwege vom Palais hatten sich die
beiden Freunde lebhaft unterhalten. Da das Gesprächs-
thema noch nicht erschöpft war, ging Thomas mit in
Lachmanns Zimmer. Auf der Schwelle stutzte er einen
Augenblick, schoß dann mit zwei langen Sätzen durch
das Zimmer, setzte sich wie erlöst auf einen Lchnstuhl
am Fenster und zog die Rockschöße breit auseinander,
so daß sie wie eine Decke über den Sitz herunterhingen,
dann beugte er sich weit vor, als ob er prüfen wollte,
wie das Polster des Stuhles zwischen seinen Beinen
aussähe, und rückte unruhig hin und her,
- 358 -
„Hast du es eilig," fragte Lach mann, verwundert
über die seltsamen Maßnahmen seines Vetters.
„Sieht man es nicht," lautete die Gegenfrage. ,,Nun,
dann ist es gut, dann köimen wir uns weiter unter-
halten. Also, ich behaupte, daß der Begriff Vergangenheit
auf das tiefste Wesen des Menschen ijberhaupt nicht
anv/endbar ist, daß man immer und ohne Aufhören bis
an sein Lebensende Kind bleibt und sich wie ein Kind
beträgt."
„Und dafür willst du mir den handgreiflichen Beweis
auf meinem Polsferstuhl geben. Daraus wird nichts.
Wenn du Wickelkind spielen willst, so tue es gefälligst
wo anders."
„Aber ich will ja das gar nicht. Es ist etwas viel,
viel Schlimmeres. Es ist — "
„Agathe !" rief Lachmann aus und ging mit aus-
gebreiteten Armen auf die eben eintretende Frau Willen
zu. Agathe war schon im Begriff, in diese in Anbetracht
des hindernden Leibes vorsprunges etwas kurz geratenen
Arme zu sinken, wobei sie in einen tief gerührten
Blick auf den verlorenen und wiedergefundenen Bruder
alles Leid und alle Freude zu legen versuchte, den ein
weibHches Augenpaar widerzuspiegeln vermag, als sie
plötzlich den Vetter zurückstieß und auf Thomas losfuhr.
„Du sitzst auf meinem Hut," schrie sie, und diesmal
war es echte Empörung, die aus ihren Augen blitzte
und ihr Kraft gab, den unbeweglich dasitzenden, grin-
senden Thomas hochzuzerren.
„Ich hatte geglaubt," begann Thomas mit ernsthafter
Miene, ohne sich vom Platz zu bewegen, „daß ich dich
in Form deines Hutes ganz niedergesessen hätte, aber,"
er beugte sich wieder vor und betrachtete nachdenkhch
ein Stück violettes Band, das zviHschen seinen Rock-
- 359 ~
L
Schößen hindurch baumelte, „es scheint, daß ich das
bei meiner offenen Natur hintenherum nicht fertig bringe.
Ich gebe dich also hiermit frei und werde den Kampf
mit anderen Mitteln fortsetzen."
Agathe nahm den Hut in die Hand. „Du bist ein
— ," begann sie, unterbrach sich jedoch und sah, während
sie die ursprünglidie Form einigermaßen wiederherzu-
stellen versuchte, kopfschüttelnd zu Lachmann hinüber,
der warnend den Finger hob.
„Ich bin doch so froh, daß ich cucli gefunden habe,
Ernst. Als deine Absage kam, habe ich an deine Haus-
hälterin telegraphiert — sie ist übrigens eine treue
Seele, die zu schweigen versteht, aber da sie antwortete,
du wärest zu einer Konsultation weggerufen, sie wisse
nicht wohin, dachte ich mir, daß du hier wärest, um
dich herumzutreiben, denn wer sollte dich wohl zur
Konsultation kommen lassen? Bei uns sieht's verzweifelt
aus, Alwine — der Hut wird wieder ganz gut werden,
findest du nicht? Wenn ich ihn so ein bißchen weit
nach hinten setze, werden die Hufbänder — " Sie war
vor den Spiegel getreten und knüpfte ihre Schleife.
„Was ist es mit Alwine," fragte Thomas barsch und
faßte Agathen am Handgelenk.
„Nicht auszuhalten ist es mit ihr; patzig und" un-
gezogen ist sie, mault mit mir und zieht ein Gesicht,
sobald sie mich sieht. Dabei wird sie elend und sieht
aus wie eine richtige Vogelscheuche. !ch sagte, wenn
sie es so forttreibt, schnappt Paul eines schonen Tages
ab und sucht sich eine andere,"
Thomas sah sie groß an. „Dich, nicht wahr? Das
möchtest du wohl?"
Agathe drehte den Kopf zu Lachmann hin, um anzu-
deuten, wie verrückt ihr Bruder sei. Aber der Vetter zuckte
- 360 -
die Achseln und sagte nur: „Mütter sind immer eifersüchtig
auf ilire Töchter und verliebt in ihre Schwiegersöhne."
Agathe blähte sich auf wie ein Truthahn. „Ihr seid
natürlich nicht imstande, die Gefühle einer Mutter zu
würdigen. Aber ich bin nicht hierher gekommen, um
mir von euch Männern rohe Scherze sagen zu lassen,
sondern um Rat zu holen. Ihr ahnt gar nicht, wie bos-
haft das Kind ist. Ich halte es einfadi nicht mehr aus,"
Sie setzte sich, den Hut mit der halb geknüpften
Schleife kunstvoll auf dem Hinterkopf balancierend,
auf den Stuhl, auf dem Thomas vorher gesessen hatte,
und kreuzte die Arme über der Brust.
„Was hast du ihr denn Böses getan?" fragte
Thomas, während Lachmann seinen Stuhl neben die alte
Freundin zog.
„Ihre Aussteuer habe ich ihr besorgt, wenn du das
etwas Böses nennst."
„Das kommt darauf an. Hast du sie aucli um ihre
Meinung gefragt?"
„in allen Läden bin ich herumgerannt und habe ihr
die niedlichsten Sachen, die ich mir ausgedacht hatte,
gekauft, wenn du das böse nennst. Und wenn ich tod-
müde nach Hause kam, habe ich mich hingesetzt und
die Wäsche gezeichnet und Kataloge durchgesehen,
aber du nennst das ja wohl böse." Agathe geriet
immer mehr in Eifer. Sie knüpfte die Hutschleife, löste
sie wieder und knüpfte sie wieder. Dabei hielt sie den
Kopf weit nach hinten gestreckt, „Ob ich Alwine um
ihre Meinung gefragt habe? Natürlich habe ich das
getan. Sie ist mit allem einverstanden." Agathe nahm
plötzlich den Hut ab und legte ihn neben sich auf den
Tisch. „Das heißt, sie hat mir gesagt, ich soll alles
machen, wie ich es für gut finde; ihr sei es gleichgültig."
— 361 —
Lachmanii unterbrach sie hier. „Mit anderen Worten,
du hast von ihr die Zustinimung erpreßt, das Nest des
jungen Paares so einzurichten, wie du es haben möchtest,
wenn du am Ende heiratetest . . "
Agathe zuckte verächtlich die Achseln. „Das Kind
hat nichts als ,rasch heiraten' im Kopf und es ist
auch ganz §■! eichgültig', ob ich sie bei jeder Einzel-
heit frage. Icli weiß, was sie gern hat. Ich kenne mein
Kind."
Thomas sah seine Schwester vergnügt an, was sie
dazu veranlaßte, die Hutnadel tief in den vor ihr
liegenden Hut zu stechen.
„Sind es nur diese Differenzen über Wäsche und
Möbel, was dich hierher getrieben hat," fragte Lachmann
und zog ihr mit dem Wort „Erlaube" den Hut fort.
„Und sollen wir nur entscheiden, ob Kirschbaum oder
Nußbaum gewählt werden soll."
„Ich habe mich für Eiche entschieden," sagte
Agathe und stützte nachdenklich den Kopf auf die
Hand.
Thomas, der inzwischen mit den Händen auf dem
Rücken auf und ab gegangen war, bUeb plötzhch stehen.
„Vielleicht wäre Birke für Alwine am ratsamsten. Aber
es wundert mich nicht, daß du in Erinnerung an die
mangelnden Qualitäten deines Willen und deine daraus
folgenden Entbehrungen recht hartes Holz gewählt hast.
Lachmann aber bleibt sich treu als ewiger Junggeselle,
der für die Zwillingskirschen ebenso viel Neigung hat,
wie für den Sadc voll Nüssen."
Lachmann rückte auf seinem Stuhl hin und her,
Thomas war ihm ungemütlich. „Mit alledem" sagte er,
„ist aber doch nicht die Frage beantwortet, was es
zwischen euch gegeben hat."
- 362 —
„Ich sagte dir ja, Alwine will durchaus gleich heiraten
und das ist doch bei ihrer Jugend unmöglich. Er ist
auch noch gar nichts. Vikar — was will das sagen;"
Thomas hatte die Hand in die Hosentasche gesteckt
und ließ das Geld klimpern.
„Da hörst du die Antwort vom Onkel und meine
Patenantwort wird niclit viel anders lauten," sagte
Lachraann heiter, „und irgend wann wird dem frommen
Schafsgesicht Endes wohl auch eine Pfarre beschert
werden."
Agathes Knie gingen unwillkürlich auseinander, sie
setzte sich breit in den Stuhl und faltete mit weit ab-
g-espreizten Ellenbogen die Hände auf dem Schoß.
Thomas stieß den Vetter an. „Schau, wie die Ge-
walten aus dunkler Vorzeit aufsteigen und die Menschen
zwingen. Wer hatte es gedacht, daß meine leibliche
Schwester als moderne Danae dem Goldregen sich dar-
bieten werde, um ihn mit anbetenden Händen in sich
hinein zu schaufeln."
Der dicke Doktor blinzelte ihm zu und fuhr fort:
..Das mit der Jugend Alwines ist erst recht Unsinn.
Brüste und Becken sind bei ihr gut gebaut, und was
braucht es mehr. Und wenn wirklich ihre Periode nicht
in Ordnung ist — "
,. Lachmann!" Agathe war plötzlich schmal geworden
und ihre Hände hatten sich in die Tischecke gekrallt, als
ob sie des Vetters Haare zwischen den Fingern hätte.
„So ließe," fuhr Lachmann unbeirrt grausam fort, „diese
Art Bleichsucht, die bei Bräuten nicht gerade selten ist,
sich am besten durch eine rasche Heirat heilen."
,,Du bist frivol, Ernst," sagte Agathe, griff nach
ihrer Tasche, öffnete sie, zog die Handschuhe aus, tat
sie in die Tasche und schloß sie wieder.
- 363 -
TTiomas hatte ihre Bewegungen aufmerksam verfolgt.
„Du bestätigst diese Möglichkeiten ja, wenn auch der
Mund nichts von dem weiß, was die Hände tun. Und
du besinnst dich, Mutter pflegte zu sagen: die ersten
Kinder kommen, wenn sie wollen, die anderen wenn
sie sollen,"
„Das Mannsvollc ist doch immer zynisch," sagte
Agathe und setzte dann unvermittelt hinzu: „Diese
neue Mode, daß Brautleute allein im Walde herum-
strolchen, tagclange Radeltouren machen oder gar unter
dem Vorwande. gemeinsam auf irgend einem Gut ein-
geladen zu sein, unter einem Dache schlafen — "
„Und das tut Alwine," riefen beide Männer staunend.
„Selbstverständlich nicht," erwiderte Agathe hohcits-
voll. ,,Ich habe es verboten. Aber eben deshalb mault
Alwine und macht mir das Leben unerträglich. Und
jetzt bitte ich dich, Emst, denn auf meinen Bruder ist
ja nicht zu rechnen ^" sie warf Thomas einen ver-
nichtenden Blick zu, „komm mit mir nach Bäuchhngen
und setz' dem Kind den Kopf zurecht."
„Und du bist fortgereist und hast Alwine mit ihrem
pfäffischen Romeo ohne Aufsicht gelassen? Das finde
ich köstlich." Lachmann legte die Hände zwischen die
Knie und bog sich lachend nach vorn,
„Ich habe der alten Trude Vollmacht gegeben;
übrigens ehe ich es vergesse, Thoraas, es sind wieder
Wanzen da. Alwine hat eine Nacht in diesem scheuß-
lichen Zimmer geschlafen und es hat sie gebissen. Ich
dachte mir gleich, daß es so kommen würde. Wanzen
sind unausrottbar. Also Trude hat Befehl, jedes Zu-
sammentreffen der beiden zu hindern."
Thomas sprang von seinem Stuhl auf und packte
seine Schwester an der Schulter, als ob er sie schütteln
— 364 —
wollte, während seine Aujen fast aus dem Kopf sprangen.
„Was," schrie er, „der Trude hast du sie ausgeliefert,
diesem Biest, diesem Vieh, diesem, diesem, dieser
Wanze!" Als ob bei diesem Wort ein inneres Feuer in
ihm erloschen wäre, wurde er plötzlich ruhig, ging zum
Schreibtisch und setzte ein Telegramm auf. Während
des Schreibens rief er der Schwester, die ihren Stuhl
dicht an den Lachmanns gerückt hatte, zu: „Ich werde
morgen Abend nach Bauchungen reisen, heute muß ich
zu Frau Klara, morgen zum Prinzen, übermorgen bin
ich zu Hause. Ich denke, ihr kommt mit und wir feiern
in ein paar Wodien Hochzeit"
Agathe fuhr auf: „Aber August, so rasch geht das
doch nicht."
Thomas drehte sich nach der Schwester um, sah sie
mit einem merkwürdig gütigen Lächeln an und sagte:
„Warum soll es denn nicht gehen, Agathe? Wir wollen
es doch versuchen; ein neues Leben anfangen dort, wo
wir vor so langer Zeit abgebrochen haben." Er stand
auf und ging mit ausgestreckter Hand auf seine Schwester
zu, die sprachlos dasaß, während ihr langsam die Tränen
die Backen herunter rollten, und sie Lachmann zuflüsterte:
„Ernst, Ernst, er ist wieder der Alte."
Lachmann saß mit aufgestütztem Kopfe da, er hatte
die Brille hochgeschoben und in seinem Blick lag ein
Spähen und Sichsorgen, wie es bei ihm nur vorkam,
wenn er eine Krise zum. Schlimmen beobachtete. „Er
will wieder Wanzen jagen," dachte er, „und mit Trude
muß es irgendwie zusammenhängen." Ehe er noch mit
seinen Überlegungen fertig war, waren sich die beiden
Geschwister in die Arme gesunken, das heißt, Agathe
hatte sich an Thomas' Brust geworfen und weinte,
Thomas selber hielt die Arme weit ausgestreckt hinter
- 365 -
dem Rücken seiner Schwester, in der einen Hand hatte
er das Telegramm, mit der andern strebte er, die
Schwester mit seinem Bauche Schritt für Schritt durch
das Zimmer drängend, der Klingel zu. Kurze Zeit darauf
ging die Depesche nach BauchHngen ab und alles war
in Ordnung.
XXXIV. KAPITEL.
MATHEMATIK ALS REINE WISSENSCHAFT.
KINDERVERSE UND DAS RÄTSEL DER BRUST-
WARZEN.
Als die beiden Freunde mitsamt Agathe am Nach-
mittag zu Frau Nolde kamen, fanden sie die Empfangs-
räume schon voller Menschen. Der Geheimrat selbst
war, wie üblich bei den Festen seiner Frau, niclit da.
Frau Klara aber nickte, sobald sie die große Gestalt
Weltleins an der Tür erblickte, ihm lebhaft zu und ging
ihm, als ob sie es nicht erwarten könne, ein paar
Schritte entgegen. Sic wechselte die vorgeschriebenen
Höflichkeiten mit Agathe, begrüßte Lachmann freundlich
und zog dann Thomas mit sich zu der Gruppe von
Herren und Damen, die sie eben verlassen hatte.
„Sie haben es nicht glauben wollen, Exzellenz,"
wandte sie sich an einen hageren Herrn im schwarzen
Gehrod:, der etwas geiangweilt auf die fetten Vor-
gebirge einer neben ihm sitzenden alten Jüdin sah und
zuhörte, wie sie ihm — während sie gleichzeitig einen
Teller Hummermayonnaise genießlich leerte — die ver-
schiedenen Heiratsanträge ihrer Tochter vorzählte. „Aber
da ist Herr Weltlein selbst, der Ihnen bestätigen kann,
daß mein Mann wirklidi und wahrhaftig gestern verlegen
gewesen ist."
— 366 -
Die Exzellenz lächelte ungläubig. „Der Geheimvat
Nolde und verlegen, das ist eine wunderbare Mär, für
die mir der Glaube in den langen Jahren, die ich ihn
kenne, verloren gegangen ist,"
„Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen
hätte," erwiderte Frau Nolde eifrig, „würde idi es nicht
für möglich halten, aber hier," sie zerrte Thomas am
Rockärmel näher heran, „der hat es fertig gebracht, und
die Wirkung ist so stark gewesen, daß der blutige
Kasimir Nolde zum erstenmal in seinem Leben schlecht
geschlafen hat."
„Da bin ich nun wirklich neugierig," ließ sich die
fette Stimme der Jüdin vernehmen, und daß ihr Er-
staunen edit war, zeigte sidi daran, daß sie den Weo-
der Gabel mit dem Stück Hummer dicht vor ihren dicken
Lippen unterbrach, „erzählen sie doch, Herr Weltlcin."
„Ja, erzählen sie," bat ihre Nachbarin ebenfalls, eine
vornehm aussehende Dame in weißem Haare, deren
Aussprache, Anzug und Haltung ihre englische Abkunft
erkennen ließ. Sie hatte als einzige aller anwesenden
Damen eine Handarbeit mit, an der sie eifrig stichelte.
„Die Sache war ganz einfach," begann Thomas, „ich
habe mir nur die Nase zugehalten."
Ein breitschultriger Husarenrittmeister, der etwas
hinter Thomas stand, prustete bei diesen Worten, die er
sich offenbar in eigene Erlebnisse übersetzte, los, so
daß die Lady Friedländer sich tief auf ihr Nähzeug
herabbeugte, während Klara Nolde sich erschrocken
umdrehte und sagte: „Nein, so nicht!"
Thomas begann zu erzählen. „Ich habe meinem alten
Freund Nolde auseinanderzusetzen versucht, daß jede
Erkrankung einen Zweck hat, daß sie von irgend welchen
Kräften mit ganz bestimmten Absichten geschaffen wird,
- 367 -
und das hat er natürlich als Arzt nicht geglaubt, weil
es viel zu einfach ist. Da in demselben Augenblick
mein Freund Lachmann nieste, fragte er mich, was der
Zweck eines Schnupfens sei, und ich habe ihm die
Gegenfrage gestellt, welche Folgen ein Schnupfen für
die Nase hat. Nun geschah etwas sehr Wunderbares.
Nolde ist, wie Sie wissen. Geheimer Medizinalrat und
ein Stern erster Größe in der Wissenschaft und trotzdem
hat er mir eine richtige Antwort gegeben." Thomas
unterbrach sich einen Augenblick und sah gespannt seine
Zuhörer an. „Ja, Sie scheinen das nicht erstaunlich zu
finden," sagte er, „aber dann weiß ich wirklich nicht,
ob ich weiter erzählen soll."
„Doch," sagte die Lady, „erzählen Sie ruhig weiter,
es ist erstaunhch."
„Die Nase sei verstopft,' hat Kasimir Nolde gesagt,
darauf habe ich mir die Nase zugehalten, ihn scharf
angesehen und gesagt: ,Wer zuerst gerochen, aus dem
ist er gekrochen'."
Mitten in das verlegene Schweigen klang Frau Noldes
helles Lachen hinein, „Ist er nicht köstlich. Landauerchen,"
sagte sie zu der Jüdin, die hilfeflehend zu der Exzellenz
aufblickte, um auf seinem Gesicht zu lesen, ob sie
empört oder vergnügt sein solle.
„Nolde hat allerdings geleugnet, aber ich bin über-
zeugt, daß er schuldbewußt war."
„Idi habe nicht ganz verstanden," mischte sich ein
kleines eisgraues Männchen mit hellen blauen Kinder-
augen und weidier Stimme, der Professor Labri genannt
wurde, ein, „was die Entstehung des Schnupfens mit
diesem Vers zu tun haben soll, der mir übrigens in allen
Varianten beim italienischen Volk, speziell in Sizilien
und an der dalmatinischen Küste begegnet ist."
— 368 -
„Da ist also der Mediziner dem Mathematiker über-
legen," sagte die Exzellenz trocken; wenn er sprach,
klacig es so einförmig, wie wenn ein Löffel gegen die
Wände eines Biechtopfs geschlagen würde, „und selbst
die dumpfe Luft des Ministeriums scheint noch mehr
Phantasie übrig zu lassen, als die Beschäftigung mit der
reinsten aller Wissens cliaften."
Labri schoß einen wütenden Seitenbhck auf den
Minister, legte die fladie Hand auf die linke Brust, als
ob er ins innerste Herz getroffen wäre, und begann
kurz zu atmen.
„Wenn Sie einem Unglücklichen, der nie etwas
anderes als eine glatte Fünf auf seiner Mathematik-
zensur hatte," mischte sich der Rittmeister ein, „ein
Wort über diese reine Wissenschaft, der ich übrigens
meine Laufbahn als Soldat verdanke, da man mich
schon aus der Obersekunda wegen absoluter Unfähigkeit,
ein Dreieck zu konstruieren, vom Gymnasium wegjagte,
erlauben wollen, so ist es der Ausdruck meines Erstaunens,
wie es ein Mensch ertragen kann, täglich Mathematik
zu treiben, Alle halbe Jahre mal träume ich davon, daß
ich vor an die Tafel muß, um irgend eine verzwickte
Aufgabe zu lösen, und dieser kurze Traum genügt, um
mir den Angstschweiß auf die Stirne zu treiben."
Während die Lady dem Offizier freundlich zunickte
und dann aus irgend welchen Gründen sich in das
Zählen der Stiche vertiefte, erklärte Frau Landauer,
wahrscheinlich, um den Verdacht von sich abzulenken,
daß sie irgend etwas mit dem stadtbekannten Genie
ihres Mannes im Ausstellen hoher Rechnungen zu tun
haben könne: „Rechnen ist für mich einfach geisttötend,
für das Zuzählen und Vervielfältigen reicht es noch,
aber Abziehen und gar Teilen."
- 369 —
34
„Sie gehen eben immer aufs Ganze," sagte der
Rittmeister und nahm ihr dienstbe Hissen den leeren
Teiler ab.
Und der Professor flüsterte leise der Wirtin zu:
„Teilen ist nicht ihre Sache, sie behält alles lieber für
sich."
„Dafür addiert sie," gab Frau Klara lachend zurück,
„jährlieh ein paar Pfund zum Speckbestand und das
muß man ihr lassen, vervielfältigt hat sie sich in zehn
Kindern, dafür kann man ihr manches verzeihen."
Frau Landauer hatte sich in dem Gefühl, daß über
sie gesprochen werde, wieder an den Minister gewandt
und versuchte, aas ihm pohtische Geheimnisse herauszu-
locken.
„Wie aber ist es mit dem Abziehen?" fragte die
Lady.
„Das weiß idi nicht."
Klara Nolde wandte sich zum Gehen. „Vorwärts,
Thoraas, gib die Erklärung." Sie zwickte ihm ein weni?
den Arm und eille zu den anderen Gästen.
„Abziehen, abzapfen," begann Thomas, ,,das Faß
zum Laufen bringen, damit kann sich nicht jede Frau
so ohne weiters abfinden. Die Abneigung gegen das
Subtrahieren ist ein Beweis für die inneren Seelen-
kämpfe, die Frau Landauer mit sich geführt hat."
Der Minister, dem politische Gespräche ein Greuel
waren und der aus Labris Handbewegung schloß, daß
der Professor seinen Groll über den Angriff auf die
reine Wissenschaft in seine Brust geschlossen hatte, um
ihn dort bis zur nächsten Etatsberatung des Kultus-
ministeriums groß zu füttern, legte die Hand auf seines
Gegners Schulter und sagte; „Glauben Sie mir, Herr
Professor, niemand kann mehr von der Großartigkeit
- 370 -
Ihrer Wissenschaft überzeugt sein als idi, und daß sie
den Geist nicht tötet, sondern belebt, beweisen uns ja
täglich die Errungenschaften der Neuzeit."
„Meinerseits hoffe ich, Exzellenz," erwiderte der
kleine Mann und neigte das Haupt, als ob er die ge-
kränkte Würde einer Königin auf dem Theater zu
mimen hätte, „den mathematischen Beweis dafür zu
liefern, früher," er sah dem Minister gerade ins Gesidit,
„oder später, daß auf Zahlen und logischen Schluß-
folg:erungen das Gedeihen des Staates und unsere)-
Kultur beruht."
Die Lady stichelte heftig in ihrem Weißzeug herum,
sie liebte es nicht, wenn der Kampf der Meinungen in
persönlichen Hader ausartete und suchte beizulegen.
„Es läßt sich eben nicht bestreiten, daß die ■Mathematik,
die Zahl, der Urgrund aller Dinge ist, weil in ihr die
Möglichkeit der geordneten Phantasie liegt."
Der Professor legte wieder, diesmal mit einem
schmachtenden Blick, seine Hand aufs Herz: „Sie wissen
nicht, Mylady, wie dankbar ich Ihnen bin. Es ist ja so
selten, daß jemand Verständnis dafür hat, wie gerade
Mathematik und Kunst die höchste Blüte mensdilicher
Phantasie sind, wie rein in der Zahl und Konstruktion
sieh der Adel menschlichen Denkens betätigt. Die
Mathematik ist in Wahrheit die unbedeckte Wissen-
schaft."
Thomas war in Aufregung geraten. „Ach bitte," rief
er und fuhr in allen Taschen herum, während er unruhig
von einem Bein aufs andere trat," „hat jemand etwas
Papier. Ich muß notwendig — Ich danke sehr." Er nahm
den Bleistift, der an seiner Uhrkette hing und von dem
er zu behaupten pflegte, daß in seiner Hülle das Symbol
alles Lebens sei, heraus, schrieb eine große Null auf
- 371 -
24'
das Papier und hielt es dem Professor unter die Nase.
„Ist das nun reine Wissenschaft?" fragte er.
Labri sah ihn erschrocken an. schüttelte den Kopf
und sagte; „Idi verstehe nicht ganz. Mathematik ist
reines Denken — ."
Thomas malte diclit neben die erste Null eine zweite,
so daß sich die Kreislinien berührten, „Und jetzt?''
fragte er, den Professor scharf ansehend.
Der Professor wurde mißtrauisch; während der ganze
Kreis der Zuhörer auf einmal gespannt lauschte, da
niernand begriff, was Weltlein vor hatte; er sagte lang-
sam und zögernd; „Jetzt sind es zwei Nullen,"
„Jawohl. Nummer 00." Thomas' Gesicht hatte einen
Ausdruck wilden Triumphes angenommen, als ob er
endlich nach langem Harren seinen Todfeind in die
Hände bekommen hätte. Mit einer teuflischen Freude, ein-
gedenk aller Qualen seiner Gymnasialzcit, drehte er das
Blatt um einen rechten Winkel. „Und so wird es eine 8. das
Warnungszeichen .habt acht', und — " er drehte das Blatt
wieder so, daß die 8 lag und zog einige Striche daran,
,, jetzt sehen Sie, wovor man sich in acht nehmen soll, und
was es mit der Reinheit der Wissenschaft auf sich hat."
Der Rittmeister war der erste, der sich faßte, laut
lachend nahm er das Papier aus Weltleins Hand, beugte
sich nieder zu Lady Friedländer und wies ihr die Zeich-
nung, während Thomas, freudestrahlend mit dem Finger
auf die straff gespannt entgegengereckte Sitzgelegenheit
des Husaren hindeutend, rief: „Und der Herr Rittmeister
übersetzt meine Theorie ins Praktische."
Lady Friedländer sah ihn mit blitzenden Augen an,
mit der Nadel hatte sie schnell eine mächtige 1 neben
die Acht mit den Tangenten geritzt. ,,Und das gehört
Ihnen, Herr Weltlein, auf Ihre Acht," rief sie.
- 372 -
„Fehlt nur die praktische Nutzanwendung," blecherte
die Exzellenz und warf Labri einen Blick zu, als ob er
ihn zur Tat auffordern wolle.
Thomas lachte laut und stolz. „Es steckt noch mehr
drin," sagte er, „denn die Null ist der Kreis und der
Kreis ist das Weib, Sehen Sie so," er hatte ein zweites
Stück Papier ergriffen und malte hastig einen Kreis
daiauf, „Verstehen Sie? Nein? Ach so, ich muß es
deutlicher machen; erst ist man Mädchen," er zeichnete
einen zweiten Kreis konzentrisch in den ersten, ,,dann
erst Weib," ein dritter Kreis mit ausgezacktem Rand
entstand. „Dazu verhilft der Lady die eins, die doch wohl
männlich ist; zusammen ist es eins und null, die Zehn, die
Mondmonate der Schwangerschaft, und das wird drei, das
dritte im Familienkreis, das Kind, und nun wird aus dem
Mädchen Frau, aus Weib der reine Kreis, die Mutter, eine
Null." Nochmals malte er stolz eine große Null hin, setzte
einen dicken Punkt in die Mitte, daneben einen zweiten
Kreis mit Punkt, zog zwei Tangenten, schwenkte das Papier
hoch und gab es der Lady: „Die nährende Mutter,"
Er steckte die eine Hand in die Brust, die andere
hinter den Rütten und wartete in Siegerstellung den
Triumph seiner Zeichnung ab.
Lady Friedländer betrachtete lächelnd Weltleins Mach-
werk. „Für mich sind es zwei Ringe, also das Symbol
einer Ehe."
„Was also, falls man Herrn Weitleins Deutung der
Acht annehmen will, bedeuten würde; drum prüfe, wer
sich ewig bindet," fiel der Minister ein.
Der alte Mathematiker hatte während dessen das
erste Blatt mit den Kreisen nachdenklich betrachtet:
„Ihre Deutungen geben zu denken," sagte er, „aber
Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten — "
- 373 —
„Im Gegenteil, ich behaupte noch viel mehr," unter-
brach ihn Thomas heftig. ,,Ich behaupte, daß die Mathe-
matik, wie übrigens alles — " er unterbrach sich plötz-
lich, — „sehen Sie zum Beispiel, wie Lady Friedländer
die Nadel führt, ebenso wie alle Frauen, mit einer
seltsamen graziösen Bewegung des Armes von unten
nach oben, echt weiblich, genau angepaßt der Bestimmung
des Weibes, jedes weibhchc Wesen wird ebenso nähen,
ebenso in die Hohe streben, der Mann aber näht ganz
anders, er führt die Nadel im flachen Bogen vorwärts.
Bis in die kleinsten Einzelheiten ist das Leben des
Menschen vom Eros bestimmt. Es sind da irgend welche
seelische Stoffe vorhanden." Er unterbradi sich wieder,
alle sahen ihn aufmerksam an, der Rittmeister versuchte,
sich handgreifhch zu vergegenwärtigen, wie ein Schneider
verfahre, Labri hatte ein Notizbuch vorgezogen und
schrieb, der Minister trommelte auf der Stuhllehne und
pfiff den Dessau er-Marsch leise vor sich hin, und Frau
Landauer hielt wieder ihre Gabel, diesmal mit einem
Stück belegten Brotes zwischen Teller und Mund. Nur
die Lady arbeitete ruhig weiter. Plötzlich brach der
Strom bei Thomas wieder los.
„Es ist alles dasselbe. Der Faden wird in das Öhr
gesteckt, Sie kennen die Geschichte von dem Richter
und seinem Versuch, eine Frau von der UnmogHchkeit
der Vergewaltigung zu überzeugen. Sie soll den Faden
ins Ohr stecken, er aber bewegt die Nadel, bis sich
die Frau liebkosend auf seinen Schoß setzt und das Nadel-
Öhr willig wird. Die Nadel bohrt ein Lodi in das Zeug,
der Degen des Offiziers in den Leib des Menschen,
die Feder des Ministers taucht in das Tintenfaß und
die Gabel der Frau Geheimrat Landauer wird zu der
Öffnung des Mundes geführt. Der Mensch geht auf-
- 374 —
recht — " Ein Diener mit Kaffee trat auf ihn zu.
Thomas griff zerstreut nach einer Tasse und redete emsig'
weiter, die Obertasse in der rechten, die Untertasse in
der Unken Hand. „Schließlich wird er matt und setzt
sieb, sinkt zusammen, wird schlapp, liegt mit gelösten
Gliedern, Der Mann hascht sitzend den Ball mit ge-
sdilossenen Knien, die Frau öffnet sie weit, um ihn lu
empfangen. Das Gehen, das Sprechen, das Essen. —
Und die Mathematik — ", er richtete sich auf und
streckte den Arm mit der Kaffeetasse stolz nach Labri
hin. — ,,Ohne Nabel wäre kein Punkt, ohne Beine
keine Linie, kein Winkel ohne Schenkel, kein Dreieck
ohne das Dreieck der Venus, Die Schwangerschaft, das
Weib ist die Hyperbel, dem Manne aber schießt der
Strahl in parabolischem Bogen." ■
Ein Schrei ertönte und die Lady fuhr entsetzt vom
Stuhl auf. Thomas hatte im Eifer der Rede die Parabel
mit der Kaffeetasse demonstriert, ward jedoch das leid-
volle Gesicht seiner Schwester gewahr und mitten in
der Bewegung aufL;ehalten, schwappte die Tasse über;
der Versuch, den Guß von seinem Weg auf das weiße
Kleid der Dame abzulenken, führte nur dazu, daß sich
die Flut auch über seine Brust ergoß, und nun stand
er da, braun befleckt, und starrte verwirrt auf das Un-
heil, das er angerichtet hatte. Im nächsten Moment
sdion fühlte er sich sanft von seiner Schwester fort-
geführt. Er kroch in sich zusammen und sudite ver-
geblich den Smoking über die braune Brust zu ziehen.
An der Tür trat Frau Klara Nolde zu ihnen und wies
sie in das Kinderzimmer, den einzigen Raum, der von
der Gesellschaft nicht besetzt war. Wenige Augenblicke
darauf, ehe noch Agathe Zeit gehabt hatte, den ver-
wirrten Bruder so weit in Ordnung zu bringen, daß er
- 375 -
ihre ununterbrochen prasselnde Strafpredigt anhören,
gesdiweige denn würdigen konnte, trat Klara ein, auf
dem Arm eines ihrer Kleider und begleitet von der
Lady Friedländer,
Thomas machte sich von der Sdiv/ester, die auf den
Zehen stehend, eifrig an seinem Smoking herumbürstete,
und ihren Ärger hervorsprudelte, als wenn sie einen
kleinen Jungen vor sich hatte, mit den Worten los:
„Laß das Mutter- und Kindspielen," und schritt der
Lady entgegen. Sie hob lächelnd den Finger und drohte
damit, während Thomas sich niederbeugte, ihr die Hand
küßte und um Verzeihung bat.
„Es war niclit nett von Ihnen, Herr Weltlein, und
ich hätte nicht gedacht, daß Sie so bösartig sein
könnten."
Thomas hielt ihre Hand fest und streichelte sie
leise. „Bös bin ich gewesen und artig werde ich sein,
vielleicht werden wir Freunde und sind dann dankbar,
daß ich einmal bös — artig war,"
„Nein, so hiebt soll es dir doch nicht gemadit
werden," mischte sich Klara ein und zog ihn mit einem
ärgerlichen Seitenblick auf die Lady fort. „BÖse Kinder
kommen in die Ecke, ehe sie wieder von artig sein
sprechen dürfen. Da, mit dem Gesicht gegen die Wand,
bleibst du stehen, bis Mylady sich umgezogen hat. Ja,
ja, so geht's einem, wenn man ungezogen ist," rief sie
den beiden Kindern zu, die schon dreiviertel aus-
gezogen mit großen Augen auf die seltsame Szene
starrten, wie der lustige große Onkel, der gestern mit
ihnen getollt hatte wie niemand zuvor, in die Ecke
gestellt wurde.
„Kriegt er auch Haue", fragte der Junge begierig,
■während die kleine dreijährige Liesbeth straks auf ihn
- 376 -
zuging, sich auf die Zehen stellte und ihn mit ihren Händchen
klapste, was Thomas mit lautem Geheul beantwortete.
Unterdessen hatte Agathe die Rolle der Kammer-
jungfrau übernommen und die Lady ausgekleidet. „Es
ist unerhört, wie er Sie zugerichtet hat, Mylady, du
solltest dich schämen, Thomas. So ein großer Mensch
wie du. Aber er hat es gewiß nicht mit Absicht getan.
Er ist nur ungeschickt. Und" — sie eilte zum Licht,
um die Taille zu prüfen — „ich glaube, der Schaden wird
sich reparieren lassen. Erlauben Sie mir, daß ich es ver-
suche — . Hör doch endlich auf mit deinen Albernheiten,
Thomas, man versteht doch sein eigenes Wort nicht, —
Ja, und der Rock wird auch wieder in Ordnung kommen.
Aber es ist ganz gut, wenn er einmal einsieht, wie er es tut.
Bei diesem scheußlichen Jagen nach den roten Feinden
ist er ganz verschlampt. Aber ich versichere Sie, Lady
Ftiedländer, er ist der beste Mensch unter der Sonne."
„So," rief jetzt Klara, die die Lady angekleidet
hatte, und mit einem lauten „Huh" drehte sich Thomas
plotzhch um, so daß die kleine Liesbeth erschrocken
zurücktaumelte und unfehlbar gefallen wäre, wenn
Thomas sie nicht rasch aufgefangen hätte. Der Schreck
genügte aber, sie laut aufheulen zu lassen.
Mit einem raschen Ruck hob er sie hoch und wiegte
sie ein wenig hin und her, während Agathe mit ihren
Fingern über das Kopfchen fuhr und dazu summte:
„Heile, Kätzchen, heile,
Kätzchen hat vier Beine,
Kätzchen hat 'nen langen Schwanz,
Bis du heiratest, ist alles wieder ganz."
Thomas streckte ihr die Zunge aus und ließ das
Kind durch die Luft fliegen, so daß es jubelnd laut
— 377 —
aufkreischte, setzte es auf die Schulter und jagic mit ihr,
die vor Vergnügen in die Hände klatschte, durclis Zimmer,
wie ein Pferd prustend, machte Spränge und bockte und
ließ schließlich die Kleine sacht in ihr Bett gleiten.
„Ich auch, ich auch," schrie der Junge verlangend,
und ohne sich um die lebhaften Proteste der Mutter
zu kümmern, die ihre Kinder rasch beten lassen wollte,
ließ Thomas den kleinen Mann reiten,
„Du sollst doch hören, Thomas," rief Agathe höchst
erzürnt dazwischen, „Frau Nolde will doch zur Gesell-
schaft zurück. So sei doch endlich still und lass den Jungen
herunter."
„Ach, die Klara, die kann ruhig hier bleiben," ent-
gegnete Thomas, „Die Mama gehört überhaupt mir, nicht
wahr. Junge?"
„Nein, nein, sie gehört mir," zetterte der Jung-e
los, „es ist meine Mama, sie gehört mir ganz allein,
nicht dir und nicht der garsLigen Liesbeth und nicht
dem Papa, sie gehört mir, nur mir allein."
„Da, fang dein Früchtchen," lachte Thomas zu Klara
hinüber und warf ihn der Mutter in die Arme.
„Aber, Thomas," Agathe war ganz blaß geworden,
„wenn das Kind nun gefallen wäre."
„Dann sänge ich auch den Vers, mit dem sich die
Mütter über den Fall aller Fälle trösten: bis du heiratest,
ist alles wieder gut." Und dicht an die Schwester heran-
tretend und sich, die Hände in den Hosentaschen, auf
den Beinen wiegend, sagte er mit bezeichnendem Bhck:
„Heile, Mädclien, heile,
Dein Kätzchen hatte vier Beine,
Das Kätzchen hatte einen langen Schwanz,
Bis du heiratest, ist's Kätzchen wieder ganz."
- 378 -
„Du bist doch ein ekliger Schwein pelz," lachte
Klara, während die Lady fragend sich an Agathe wandte,
die nur verächtlich mit den Achseln zuckte.
Frau Noide war dabei, ihren jungen zu waschen.
Die Lady halte sich in einen Sessel niedergelassen,
neben dem Thomas stand, während Agathe das kleine
IVlädchen auf dem Schoß hielt und langsam anzog.
„Merkwürdig," sagte Klara, „sonst heult der Bengel
und wehrt sich, als ob es ihm ans Leben ginge, und
heute ist er ganz artig."
„Er präsentiert sich," erwiderte Thomas, und wie
um diese etwas unverständlichen Worte zu verdeut-
lichen, drehte sich der Junge im selben Moment um,
lächelte schalkhaft, und sagte: „Tante Friedländer, hast
du da noch ein Zipfelchen?" Und als er ringsum die
mühsam ernsten Gesichter mit den lachenden Augen
sah, und Frau Klaras Worte, „aber Heinrich,!" ihm be-
stätigten, daß er etwas für Erwachsene gesagt hatte,
suchte er seinen Erfolg zu befestigen. „Die Liesbeth
hat keins und die Mama auch nicht, aber der Papa hat
ein ganz '— ". Klara suchte ihm den Mund zuzuhalten
und das Wort „großes" kam nur noch halb erstickt
hervor.
„Pfui," sagte die Mutter, ,, schäme dich, so etwas
sagt man doch nicht." Sie ärgerte sich und brauchte
das Handtuch unsanft, was der Junge sofort mit einem
gellenden Heulen beantwortete, in das Liesbeth nach
ihrem Gesicht zu urteilen, einzustimmen Lust hatte.
Obwohl die Mutter die Kraft von dem Organ ihres
Sprößlings kannte und ganz genau wußte, daß sämtliche
Räume der Etage jetzt hörten, was vorging, suchte sie
doch den Jungen mit Hilfe der mütterlichen Hand-
flächen zu beschwichtigen, was natürhch vollkommen
- 379 —
mißlang. Der Junge riß sich los und flüchtete zur Tante
Friedländer, in deren Schoß er seinen Kopf verbarg.
Die alte Dame streichelte ihm die Haare und redete
ihm ^ut zu, während Thomas feixend zu seiner Schwester
hinüberwies, die gleichfalls alle Verführungskünste an-
wandte, um das andere Hculmaul zu stopfen,
Frau Klara stand ratlos da, hatte das Töpfchen in
der einen Hand, um die Vorbereitungen zum Schlafen
bei ihrem Ältesten endgültig zu erledigen, mit der
anderen hatte sie seinen Arm gepackt und zerrte
daran, was ihn aber nicht im mindesten rührte. In
dieser kläglidien Situation wurde ein Bonbon zur Rettung,
das Lady Friedländer aus ihrem Täschchen hervor-
zauberte, und mit dem erst Heinrich, dann Liesbeth
der Mund gestopft wurde.
„Jetzt also kommt das höchste der Muttergefühle,
das Fest des Strahles," sagte Thomas lachend und wies
auf Klara, die, mit dem Rücken dem Publikum zu-
gekehrt und möglichst breit sich stellend, ihrem Jungen
das Töpfchen vorhielt.
Das aufregende Geräusch des Wassers* war für
Agathe zu viel, sie beschloß, es zu überschelten. „Du
benimmst dich wieder einmal unglaubhch, Thomas."
Sie rutschte mit dem Stuhl hin und her, aber das
Plätschern klang weiter.
„Wieso?" erwiderte der, „ich nehme nur teil an
dem großen Phänomen der Mutterliebe und suche die
Ursachen des Weltverlaufes zu ergründen. Ich finde es
einfach bewundernswert, daß den Knaben dieses un-
entbehrhche Geschäft durch die unvermeidliche Be-
teiligung der Mutterhand zur Quelle der Freude wird,
ich bin überzeugt, daß auf diesem alltäglichen Ereignis
das Bestehen der Mcnsdilieit beruht."
- 380 -
„Schwatze nicht," sagte Agathe ärgerlich und suchte
ihr Kleid gegen die klebrigen Finger Liesbeths zu
schützen, was nur zur Folge hatte, daß ihre Backe ge-
streichelt wurde und eine Kruste von kindlicher Spucke
und Zucker erhielt.
Thomas zuckte die Achseln mit dem Ausdruck
tiefster Verachtung. „Du verstehst natürhch nichts da-
von," sagte er, „aber es liegt ein tiefer Sinn darin, daß
der Dreck am Liebesorgan sich sammelt und daß es
die Mutter ist, die da reinigen muß. Du verstehst über-
haupt nichts, weißt nicht einmal, warum du aus Bauch-
ungen ausgerissen bist,"
Agathe hielt jetzt beide Händchen des Kindes und
klappte sie zusammen. ,,Rat wollte ich mir bei dir
holen, weil es doch unmöglich ist, Brautleute allein im
Walde spazieren gehen zu lassen, aber du, du, ■ — " Sie
konnte vor Zorn nicht Worte finden.
,,Rat? ha!" Er trat auf seine Schwester zu und sah
sie scharf an. „Dieser Spaziergang im Walde, mit Hände-
druck, mit leisem Kuß und verstohlenem Reiben an
Brust und Leib, mit seliger Versuchung und unseliger
Qual ist der Traum aller Frauen und weil du das, was
dir nach den Kosthäppchen mit andern beim besten
Willen versagt war, Alwine nicht gönnst — "
Agathe setzte die Kleine so heftig auf die Erde,
daß sie unfehlbar wieder geheult hätte, wenn ihre Mutter
sie nicht zum Waschen geholt hätte, „Du bist — " und
plötzlich sanft werdend, sagte sie: „Vielleicht hast du
Recht. Ich habe das noch gar nicht überlegt,"
,,Am Hochzeitstage werden dir noch ganz andere
Lichter über dein Mutterherz aufgehen," sagte Thomas
selbstgefällig und beugte sich zu dem Jungen herab,
der ihm Gute Nacht sagen wollte, „sei nur ehrlich."
— 381 —
Lady Friedländer [aclite und sah verständnisvoll zu
Klara hin, während Agathe verstimmt ihre Tasche guf
und zu knipste. Der Junge trabte vergnügt lachend
durch das Zimmer, lief nochmals zur Lady, präsentierte
und fragte wieder; „Hast du keins, Tante?"
Thomas hob den laut lachenden Bengel hoch, und
über die Schulter weg der verzweifelten Klara zu-
nickend, sang er:
Stock und Hut
Steht ihm gut,
Hat auch frohen Mut
Aber Mutter weinet sehr —
Es steckt viel Sinn im kind'schen Spiel." Mit einem Ruck
warf er den Jungen ins Bett und lachte, daß es schallte.
Die Gesellsdiaft gruppierte sich jetzt nm Liesbeth
herum, die, auf der Wickelkommode sitzend, von der
Mutter abgetrocknet wurde. Sie sah ernsthaft von einem
zum andern und nahm würdig die Huldigungen ihres
Hofstaates entgegen. Plötzlich hob sie ihr Hemdchen
und mit den Worten: „Da hat mich was gestochen und
da hat midi was gestochen," tippte sie erst auf ihre
rechte, dann auf ihre linke Brustwarze.
Alles lachte, aber sofort verstummte die Freude,
und jeder sah besorgt auf Thomas, der leichenblaß
schwankte, während ihm der kalte Schweiß auf die
Stirn trat.
Agathe flog zu ihm hin und fing den halb Ohn-
mächtigen in ihren Armen auf. „Was ist dir?" fragte
sie zitternd vor Angst.
Er sah sie geistesabwesend an, stieß das Wort:
„Alwine," hervor und ließ sich willig zu einem Stuhl
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führen. Die Fragen und Hilfeleistungen weinte er un-
geduldig ab. ,,Nur einen Augenblick," bat er. Er saß
eine ganze Weile und starrte vor sich hin.
„Sind es die Wanzen ?" fragte Agalhe, die beim
Nachdenken über die Ursache des Unfalles auf das Wort
Stechen gestoßen war.
Thomas schüttelte den Kopf, dann hob er den Ann,
deutete langsam auf der Schwester Brust und sagte :
„Da, du weißt ja." Und nach einer Weile fragte er
eindringlich: „Besinnst du dich noch auf Mama? tch
sehe sie deutlich vor mir, wie sie dich nährte. Ich war
sehr neidisdi damals und ich rieche noch den eigen-
tümlichen Gerucli der Milch. Und später du, besinnst
du dich? An dem Rhododendrongebüsch? Und Alwine."
Er bradi plötzlich ab, erhob sich und verabschiedete
sich, ohne ein weiteres Wort. IVlan hat nie erfahren,
was es für eine BewEuidtnis mit Alwine und ihm hatte.
XXXV. KAPITEL.
DER ROTE PRINZ. WILLKOMMEN UND ABSCHIED.
Den folgenden Vormittag brachte Thomas im Bett
zu. Er la5; meist mit gesclilossenen Augen da und gab
auf alle Fragen kurze, mürrische Antworten. Ohne im
mindesten zu erklären, was in ihm vorgegangen war.
Erst spät erhob er sich, um sich anzukleiden, und fuhr
dann, ebenso wortkarg wie in den letzten Stunden, mit
Lachmann nach Belvedere zu dem Jagddiner des Prinzen
Viktor.
Außer den beiden Freunden, dem Prinzen und
seinem Adjutanten Schmettau waren noch drei Herren
zugegen, ein Kapitänleutnant von Lette w, der zum
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erstenmal eingeladen war, ein Herr von Hanimerstein,
Landrat des Kreises Eberswalde, ein Mann mit starkem
Kinn und herabhängendem, rötlichblondem Schnurrbart,
und ein Graf Dohna, in dem die beiden Freunde zu
ihrem Erstaunen den alten, patriotischen Herrn von
Weltlein's Grußaffäre mit dem Kaiser wieder erkannten.
Das Diner verlief ziemlich langweilig. Der Prinz
hatte sicli, was bei seinem Temperament leicht vorkam,
über einen Forster geärgert, der ihm nicht rasch genug
Auskunft gegeben hatte, er war infolgedessen einsilbig
und taute erst auf, als der Marineoffizier von seinen
Reisen zu erzählen anfing. Während er noch im besten
Schwatzen war, brachte einer der Diener ein alter-
tümliches Trinkgefäß in der Form eines Hicschgeweihes
herbei. Der Prinz schlug an sein Glas und sagte:
„Auf Belvedere ist es übhch, die neuen Gäste mit
einem Willkommen zu begrüßen, und schon seit den
Zeiten des Kurfürsten Joachim ward icdem, der am
Zechgelage, weidgerechter Männer teilnimmt, dies Gefäß
voll bis zum Rand mit Wein gereicht. Willkommen
denn, Bautz, willkommen, Lettow, und du, Laban. Euch
trink, ich es zu !'■ Er führte das Gefäß zum Munde,
nippte daran und reichte es dem Adjutanten, der neben
ihn getreten war. Um Schmettaus Lippen mit dem
hochgestrichenen ,Es ist erreicht' spielte ein boshaftes
Lächeln, was ' von dem Landrat durch ein gewaltiges
Streichen seines Schnurrbartes und von dem Grafen
Dohna mit einem Räuspern beantwortet wurde. Er gab
das Geweih weiter an den ihm zunächst sitzenden
Lachmann, der, vergnügt über die Ehre, an des Prinzen
Tisch zu sitzen, es mit strahlenden Augen hochhob,
dem Prinzen entgegen hielt und, in der Absicht, es als
alter Korpsstudent, koste es was es wolle, bis auf den
- 384 -
letzten Tropfen leer zu trinken, ansetzte. Der erste
Riesensehluck rann ihm die Kehle herunter, aber plötz-
lich schössen ihm aus den Zacken des Geweihes
Strahlen über Augen. Gesicht und Kleider und mit
einem .Pfui Teufel' hielt er das Vexiergefäß weit von
sich ab, halb blind nach der Serviette tastend und auf-
springend. Nun stand er triefend da und wischte an
sich herum.
„Aber Bautz", rief der Prinz, „was hast du für
Manieren." Es war der stehende Witz des Jagddiners
und wurde mit dröhnendem Lachen der erfahrenen Gäste '
quittiert.
„Nun, Lettow," wendete er sich dann zu dem
Marineoffizier, „zeigen Sie, daß die Seeschlange dem
Doktor Blutegel überlegen ist. Es ist halt eine Kunst
zu trinken, und Bautz ist zu philiströs geworden, er
kann nichts mehr als Klystiere geben und vielleicht
spritzt er da auch daneben,"
„Den Kopf nach hinten beugen," rief der Landrat
dem Herrn von Lettow zu, der das Gefäß aufmerksam
betrachtete, „ganz weit nach hinten, dann geht's!"
Der Seemann drehte das Geweih immer noch nadi
allen Seiten und sah bald den Prinzen, bald den Landrat,
bald seine neue Uniform an.
„Warten Sie, ich werde es ihnen vormachen," rief
jetzt Schmettau, ergriff das Gefäß, lehnte sich weit im
Stuhl zurück, ließ den Kopf nach hinten über die Lehne
hängen und trank. Thomas beobachtete scharf seine
linke Hand, deren Zeigefinger auf der zweiten Zacke
des Geweihes ruhte.
„Halt," rief der Prinz, „das ist nicht eriaubt. Ein tüch-
tiger Marineoffizier muß sich im dicksten Nebel zureclit
finden. Vorwärts, Lettow."
- 385 -
25
I
Der Kapitänleutnaiit nahm das Trinkgefäß und die
Haltung des Adjutanten nachahmend, sie noch über-
treibend, begann er zu trinken. Plötzhch ließ er das
Geweih fallen und sank hustend und prustend, blaurot
im Gesicht vom Stuhl. Eine Klappe in dem Zacken, an
dem er trank, hatte sich geöffnet, und der Wein war
ihm im dicken Strahl in die Kehle geflossen. Nun saß
er neben dem wischenden Lachmann am Boden, hilflos
mit der Serviette den Strom aufzuhalten suchend, der
ihm aus Mund und Nase über die Uniform floß. Der
Chor der Eingeweihten lachte, daß sich die Balken
bogen.
In den Augen des roten Prinzen funkelte die
Schadenfreude, „jetzt kommt an dich die Reihe, Laban,"
rief er, „du hast die rechte Nase für den Suff. Gib
acht und zeig' uns, was du bäuchlings kannst. Er ist
aus Bauchungen," erklärte er dem Grafen Dohna, da er
fürchtete, daß die Pointe seines \Ä'itzes verloren gehen
könnte. Dohna nickte und grinste höhnisch im Andenken
an die Fopperei dieses Zivilisten, und im Vorgefühl der
Wiedervergeltung.
Thomas nahm das Gefäß gleichgültig und hob es
zum Munde, ohne es auch nur anzusehen. Aber gleich-
zeitig drückte er auf die zweite Zadce und lächelte
befriedigt, er hatte recht gesehen, sie federte und
regelte offenbar den Fluß des Weines. Schon wollte er
den Kopf nach hinten überlegen, aber es war ihm, als
ob der Prinz seine Fingerbewegung gemerkt hätte und
nur noch spöttischer lachte. Das machte ihn irre und er
änderte zu seinem Unglück seine Taktik, da er ganz
sicher gehen wollte. Er winkte dem Diener und sagte:
„Kippen sie mich mal mitsamt dem Stuhl nach hinten
über, aber halten Sie fest, ich bin nicht leicht."
- 386 -
Der Diener sah fragend zum Prinzen hinüber, und
als er den nicken sali, tat er, wie ihm befohlen war.
„Das ist mich so beVemer, sagie der kleine dicke
Junge, dem der Vater einen Rechen angeschafft hatte,
um ihn durch Körperbewegung magerer zu machen, und
harkte im Sitzen." Er setzte an und trank. Alle warteten
auf den Augenblick, wo er spucken und husten werde,
aber er trank und trank und —
„Rums," rief der Prinz und Heß die erhobene Hand
mit einem befehlenden Blick auf den Diener rasch
sinken und im nächsten Augenblick lag Thomas über-
gössen vom Wein mitsamt dem Stuhl auf dem Boden.
„Sie sind ein vi erun dz wan zigfach ins Quadrat er-
hobenes Rind- und Mistvieh," schrie der Prinz, das
Lacheil verbeißend, seinen Diener an, der, an derlei
Schmeichelei gewohnt, sich erschrocken stellend, dastand.
Aber die Worte gingen in dem Brausen, dem Hände-
klatschen, dem Fuß stampfen der Trinkgenossen unter.
Eine jubelnde Freude herrschte.
„Nun sind sie alle drei begossen," rief der Landrat
und trank sein Gias aus. während er mit der anderen
Hand hoch in die Luft fuhr.
„Und schäumen innerlich wie Champagner," höhnte
der Adjutant.
„Und sind willkommen," schloß der Prinz.
Die Unterhaltung wurde allgemein und lebhaft, auch
Lcttow und Lachmann machten mit. Nur Thomas saß
steif auf seinem Stuhl und sagte kaum ja und nein. Er
blickte von Zeit zu Zeit auf seinen verdorbenen Anzug,
dachte an Agathe und schmorte seine Rache.
„Na, Laban," redete ihn schließlich der Prinz an,
„erzähle dodi audi etwas. Wie steht es mit deinem
Jagen?"
- 387 — 25*
»
Thomas lädielte vor sich hin, strich langsam mit
Zeigefinger und Daumen am Stengel seines Glases
entlang und sagte; „Ich habe nur einmal in meinem
Leben-der edlen Jagd obgelegen und das Wild, das ich
gepirscht habe, war den Tigern und Löwen des Herrn
von Lettow höchstens im Blutdurst ähnlich, und den
Füchsen des Landrates im Gestank. Aber so klein
mein Spezialgebiet auch ist, ich glaube wohl sagen zu
können, daß kein Sterblicher mehr Erfahrung darin hat
als ich."
„Na, na," sagte der Landrat und strich sich den
Schnurrbart, „wenn es deutsches Wild ist"
„Es ist international," erläuterte Thomas, und Lach-
mann, dem das Thema gewisser sehsaraer Eigentümhch-
keiten des Prinzen wegen unangenehm war und der
gern über die Sache wegkommen wollte, fiel in er-
hobenem Tone ein: „Mit anderen Worten, es sind deine
geliebten roten Feinde, aber dafür wird augenblicklich
kein Interesse vorhanden sein."
„Warum nicht?" sagte der Prinz. „Jagd bleibt Jagd,
und wenn uns alten Schlaubergern der gute Laban
wirkhch noch etwas Neues über Rotwild sagen kann — "
Thomas hatte unverwandt sein Glas angesehen, in
dem die Champagnerperlen hochstiegen, jetzt blickte er
den Prinzen scharf an und sagte: „Wanzen."
Prinz Viktor fuhr " so heftig zusammen, daß er mit
dem Arm gegen das Weinglas stieß und es umwarf.
Während der Diener rasch den Schaden beseitigte
und die winzigen Spritzer auf der Uniform seines Herrn
abwischte, rief Lachmann, ehe noch irgend jemand eine
Frage über das seltsame Thema stellen konnte: „Es ist
der Künstausdrudc für die kleinen Mädchen, zwischen
Laban und mir. Sie saugen Blut und ich darf wohl
- 388 -
voraussetzen, daß die Herren sich die rote Farbe aus
vierwöchigen Erfahrungen selber erklären können."
„Und der Gestank," lachte Schmettau, der seinen
Herrn genug kannte, um zu wissen, wie versöhnend
diese Bemerkung auf ihn wirken werde,
Thomas tat, als ob er niciits von der Idiosynkrasie
seines Wirtes wisse, und harmlos die Hand gegen Lach-
mann erhebend, sagte er: „Du vergißt die Hauptsache.
Wan — das ist Wahn, und zen — das ist Zentrum.
Das Weib ist das Wahnzentrum, hat das Zentrum des
Männer Wahnes. "
„Das stinkende, blutende, aussaugende Zentrum." Der
Adjutant suchte um jeden Preis den Prinzen in gute
Laune zu versetzen, selbst auf die Gefahr hin, den alten
Grafen Dohna — der Landrat zählte nicht mit, da er
in Gegenwart von hohen Herren nicht zu beleidigen
war, und alle anderen waren Junggesellen — zu kränken.
Dohna verbiß seinen Arger, und um sich das zu
erleichtern, packte er den neben ihm sitzenden Landrat
an seiner empfindlichen Stelle:
„Dort, wo mein Wähnen Frieden fand,
Wähnfried sei dieses Haus genannt.
So sagt ja wohl der göttliche Wagner, nicht wahr,
Hammerstein?"
Sofort entwickelte sich zwischen den beiden ein
hitziges Wortgefecht mit der Losung, hie Wagner, hie
ßrahms, während die anderen sich, einschließlidi des
Prinzen, an dem Thomas -Thema, dem Weibe, beteiligten.
„Aus diesem Zentrum," sagte Thomas und fügte
Daumen und Finger der linken erhobenen Hand zu
einem Ring zusammen, gleichsam, als wollte er vor-
machen, was er meinte, „sind wir alle gekommen, nach
der Ruhe in ihm sehnen wir uns, so lange wir leben,
— 389 —
in ihm schliefen wir, als wir noch Götter waren, auf
deren leiseste ■ Regung' hin sich eine Welt, der Kosmos
der Mutter, dienstbar bemühte; aus diesem Zentrum
entspringt der Gedanke des Königtums und der Kirche,
und die Gottesidee selbst nimmt ihren Ursprang dort."
Lachmann rückte ungeduldig auf seinem Stuhle hin
und her, während der Seemann verständnislos von dem
Sprecher zum Prinzen sah.
„Du mußt uns schon ein wenig deutlicher erklären,
was du meinst. Die Philosophie gedeiht nur schlecht
im Gehirne des Soldaten," sagte der Prinz.
Thomas bog sich weit über den Tisch, Seine Augen
glänzten und seine Hände zitterten. „Ich meine, daß
die Welt von einer Kraft nicht nur regiert wird, nein,
geschaffen wird; sich aus sich selbst schafft. ^ Ich liätte
nicht gedacht, daß es so schwer sei, sich verständlich
zu machen — also ich meine, es gibt etwas, was unsere
Nase formt und unser Barthaar . ,"
„Das meine ich auch," rief Schmettau dazwischen,
„und bin doch kein Philosoph."
„Vielleicht aber einer, der viel soff," witzelte Lach-
mann. Der Wein begann jetzt allgemein zu wirken.
„Laßt ihn doch ausreden," mahnte der Prinz und
schlug mit dem gekrümmten Mittelfinger auf den Tisch.
Thomas faßte sich verzweifelt mit beiden Händen
in die Haare. „Ausreden, ja, wenn ich das könnte, aber
hier sitzt es fest." Er schlug sich mit der Faust vor
die Stirn. „Wie soll man vom All reden, wenn man
nicht selbst Gott ist. Also hört zu. Lachmann so hilf
mir dodi! Mein Gott, mein Gott, Also ich meine —
Ich meine, verdammte Eitelkeit, große Herrscherin, alles
dreht sich um das Ich und das Mein, aber ich muß es
können, muß es aussprechen, deutlidi machen können."
— 390 -
„Er ist vollständig hinüber," flüsterte Laehinann dem
Prinzen zu, „ich glaube, ich muß ihn bescitig-en."
Ehe Prinz Viktor noch antworten konnte, hatte sieh
Thomas gefaßt. Seine flackernden Augen waren ruhig, und
er begann wie in einem Hörsaal zu sprechen, während er
das Glas hochhob und auf die Perlen im Wein blidite.
„In so einem Glase spiegelt sich die ganze Welt,
sie ist darin enthalten. Aus Erde wurde es gemacht,
die Kraft des Feuers steckt darin, Wasser und Luft
bilden es, das Licht spielt damit und elektrische Ströme
kreisen unablässig in seinen Wänden, Die Menschen-
arbeit von Jahrtausenden, der Geist längst ermordeter
Gehirne lebt da und spricht zu mir, und ich bete an,
was unbeschreiblich und unbegreiflich ist. Aber es gibt
Weg'C, die einen Ausblick gewähren, Momente des
Hellsehens, in denen der Schleier sich lüftet."
Der Adjutant breitete die Serviette über sein Gesidit,
und ließ sie mit einer allzu absiclitllchen Geziertheit
sinken, aber der Prinz winkte ihm hastig mit der Hand
und Schmettau sank untertänigst in sich zusammen,
innerlich über den Schwätzer Thomas fluchend.
„Das Merkwürdige im Menschenleben," Thomas sprach
trocken und sachheh wie ein Rechenlehrer, ,,ist, daß aus
menschlichem Samenfaden und Ei immer ein Mensch
wird, nicht ein Hund oder ein Pferd, sondern ein Mensch.
Es ist also von vornherein eine Kraft da, die imstande
ist, ein Augenpaar zu formen und es unter die Stirn
zu setzen, Finger zu schaffen und ihnen Gefühl zu
geben, einen Mund zu bilden und darin eine Zunge.
, Wenn diese Kraft das vermag, ist es doch närrisch zu
leugnen, daß sie auch Fabriken baut, Kronen aufsetzt,
Reiche gründet und Jagdschlösscr baut," Er sah streng im
Kreise umher, als ob er niemandem raten wolle, zu wider-
— 391 -
sprechen. Der Kapitänleutnant Lettow hatte ein Skizzeu-
buch vor sich hingelegt und zeichnete eifrig Weltleins
Profil, wobei ihm der Prinz, über das Papier gebeugt,
mit gut gemeinten Ratschlägen zu helfen suchte.
„Die Zeichnung von mir zum Beispiel, die der Herr
da neben Seiner Königlichen Hoheit entwirft — ja, ja,
ich meine Sie, Herr von Lettow, aber ich werde midi
erst einmal richtig hinsetzen, daß meine Nase gut zum
Vorschein kommt — also diese Zeichnung wird scheinbar
von der Hand eines Mannes ausgeführt, in Wahrheit ist
es aber Eros selber, der arbeitet. Das Blatt Papier ist
ein Weib, der Stift der Mann — "
„Und die Zeichnung das Kind," ergänzte der Prinz
lachend.
„Ganz richtig, fahren Sie nur so fort, Königliche
Hoheit, dann wird etwas aus Ihnen werden. Exzellenz
Dohna, wenn Sie nicht aufhören, mit ihrem Nachbar zu
zischeln, werde ich Sie einmal gehörig vornehmen. Ich
verstehe auch gar nicht, wie jemand so gedankenlos und
indolent sein kann, zu schwatzen, wenn er Gelegenheit
hat, auf offener Tafel und bei voller Beleuchtung so
einen interessanten Vorgang mit anzusehen, wie den
Beischlaf zweier Liebesleute."
Ein schallendes Gelächter brach los, zu dem der
Prinz das Zeichen gab,
„Ihr seid ja — In der Garderobe," wandte sich Thomas
an den Diener, „steht mein Stock; bringen Sie mir den
einmal her. Ihr seid ja eine unglaubliche Rasselbande.
Aber ich werde euch die Flötentöne beibringen. Bei
der Flöte befinden wir uns auf dem Gebiet der Musik.
Deuthcher als in der länglichen Form dieses Instruments,
das an die Öffnung des Mundes angesetzt und hin und
ergezogen wird, kann 'die Natur nidit sprechen."
- 392 —
,,Du hast recht," scherzte der Prinz, „es ist genau
so, als ob man mitten in der Tätigkeit das elektrische
Licht anknipste, um zu sehen, wie sich das Bräutchen
benimmt."
,,Er tut nur so," flüsterte der Landrat Thomas zu,
„er hat noch nie ein Weib angerührt."
„In der Elektrizität habt ihr dann — danke schön,"
unterbrach er sicli, nahm dem mühsam seinen Ernst
bewahrenden Diener den Stock ab und legte ihn vor
sich auf die Tischplatte — „den Übergang- zur Technik.
In allen Romanen könnt ihr es lesen, daß ein elektri-
scher Strom durch seinen oder ihren Körper geht, wenn
sich zufällig die Hände berühren. Und dann die Reibung.
Wenn es bei der Reibung nicht durch den Körper rieselte
wie ein elektrischer Strom, hätten wir keine Dynamo-
maschinen, keine Trams und kein elektrisches Licht.
Das Essen mit der Gabel ist ebenso nur erfunden
worden, um den Appetit der Tischgenossen durch die
Vorführung eines reizvollen Liebesspiels anzuregen, und
es ist ohne weiteres verständlich, daß auch das Sprechen
nur dadurch entstanden ist, daß der allmächtige Eros
das weibliche Organ des Mundes zur Vereinigung mit
der männlichen Zunge trieb. Wie der Schmettau sich
die Lippen leckt! Das paßt ihm so. Also weiter."
Thomas wurde nachdenklich und rollte das Stöckchen,
das vor ihm lag, hin und her, „Für diese Kräfte," sagte
er stockend, als ob er die Gedanken auseinander legte,
„gibt es weder Zeit noch Raum. Wir sind alle Kinder,
spielen hier Schule und ahnen es nicht einmal, daß das
alles sehr ernsthaft ist. Solch ein Ding wie die Ehe zum
Beispiel. Wir lachen über die Inder, die sich mit zwei
Jahren verheiraten. In dem Moment aber, in dem wir
uns verlieben, sind wir nicht älter. Wir werden unserer
— 393 -
Auserwählten gegenüber zum Kinde, empfinden mit der
heißen Glut und dem Begehren wie das zweijährige
Kind, fühlen irgend eine Ähnlichkeit — vielleicht ist es
der Vorname oder der Fuß, das ist besonders häufig
— mit dem ersten Gegenstand unserer Leidenschaft,
der Mutter, und heiraten sie, weil sie sich für uns in
die Mutter verwandelt. Wir heiraten unsere Mutter,"
Bis auf den Prinzen, der offenbar irgend eine Ab-
sicht verfolgte und deshalb aufmerksam Weltleins Worten
folgte, hörte niemand mehr zu. Nur den letzten Satz
hatte der Landrat aufgeschnappt, und da er von Amts
wegen die Gewohnheit hatte, seine hohe Moralität zu
zeigen, protestierte er.
„Selbsf-die Fidelitas des Rausches sollte noch gewisse
Grenzen kennen. Etwas so Heiliges, wie das Verhältnis
von Mutter und Kind, zum Gegenstand des Spottes
machen, das geht mir zu weit."
„Ich kann in den Worten Labans nichts finden, was
Ihre Entrüstung rechtfertigt, Hammerstein," sagte der
Prinz scharf.
Der Lärm des Gespräches verstummte sofort und
die folgenden Sätze Thomas' wurden daher von allen
gehört.
„Erinnern Sie sich doch, Herr von Hammerstein, wie
verlegen Sie sind, wenn Ihnen Ihre Frau Gemahlin eine
Rede über Wahrheitsliebe hält, wenn Sie sich dann im
Spiegel sähen, würde Ihnen ein Gesicht entgegentreten,
wie Sie es als Junge Ihrer Mutter gegenüber hatten."
Der Graf Dohna nickte lebhaft, bog sich weit zum
Prinzen hinüber und sagte: „Er ist wirklicii nicht dumm,
dieser Zivilist,"
„Und," fuhr Thomas fort, „sollten Sie niemals als
Erwachsener an den Brüsten einer Frau gesogen haben?"
- 394 ~
Alles lachte und der Adjutant flüsterte Thomas zu:
„Die Milchwirtschaft seiner Frau Ist total ausgesogen,
hängt bis zum Nabel herunter."
„Die Bemerkung ist gar nicht dumm," pflichtete der
alte Herr bei, „jeder, der beim Mädchen zur Attacke
übergeht, knöpft ihr zuerst die Bluse auf, wird also
crewi SS ermaßen Säugling, der nach Nahrung sucht."
Thomas fuhr wieder mit vollen Segeln. „Daß der
Mensch sein Leben lang ICind ist, zeigt sich, sobald er
allein ist. Er bläst dann ungeniert die Kindertrompete,
die ihm der Herrgott mitgegeben hat, und wenn es ihm
unter Menschen passiert, macht er sofort ein achtjähriges
Gesicht, sei es nun pfiffig oder verlegen. Die Mütter
sind puppenspielende Kinder, das lehrt -jeden Abend
und ' jeden Morgen beim Waschen und Füttern ihr
Kindergesicht und ihre Bewegungen. Und mit dem Vater
ist's nidit anders, sobald er Pferd spielt. Beim Zanken
sind die Menschen Kinder, beim Lachen, als Kranke ;
alle Altersstufen kommen täglich zum Vorschein. Sehen
Sie nur den Lachmann, er kratzt sich wahrhaftig den
Kopf, das ist ein gutes Zeichen seines Charakters."
Lachmann war verlegen, da alle Blicke sich ihm zu-
wandten, aber der Prinz nickte freundlich und trank
ihm zu.
„Und wer von uns bohrt denn nicht in der Nase,
wenn er Gelegenheit dazu hat und niemand etwas
merkt?"
Alles lachte, nur Exzellenz Dohna hob die Nase
hoch und schniefte unbehaglich durch das eine Nasen-
loch. Der Seemann bekam plötzlich Husten, der Zigarren-
rauch war ihm plötzlich in die unrechte Kehle gekommen.
„Wer malt nicht schöne Figuren mit seinem Strahl
an die Wände der Retiraden?" Thomas blickte trium-
— 395 —
I
phierend in die Runde. „Die Schrift sagt: So ihr nicht
werdet wie die Kinder — "
„Lassen Sie gefälligst die Bibel aus dem Spiel "
sdirie der alte Graf heftig, aber der Prin. legte ihm
beruhigend seine Hand auf den Arm und sagte:
„Es herrscht Redefreiheit in meinem Hause."
„Ich bitte um Verzeihung, königliche Hoheit, aber
diese Zusammenstellung ^"
„Verletzt Ihr Gefühl, ich weiß. Aber das hindert
mcht, daß wir Rede-, oder besser Narrenfreiheit haben."
Thomas sah den Grafen durchdringend an: „Exzellenz
haben die Zeiten vergessen, in denen Sie die Bibel auf
sdilupfnge Stellen hin lasei., um sich aufzuregen."
Der Hieb saß, Dohna wurde blaß und schwieg.
„Versetzen Sie sich doch zurück," fuhr Thomas eifrig
fort, „haben Sie den Mut, dreizehnjährig zu sein, zaubern
Sie sich die Steilen aus Hesekiel vor, aus der Erzählung
von Ammon und seiner Schwester," einen Augenblick
unterbrach er sich, hustete und schnaubte sich und fing
wieder an, „aus Susanna im Bade, aus dem Hohenlied,
von Lots Töchtern. Einer wenigstens unter uns ist ehrlich,
er spielt mit seinem Ring, ist vierzehnjährig."
Der Kapitänleutiiant streckte hastig beide Hände
vor sich auf den Tisch, so daß der Brillant an seinem
linken Goldfinger blitzte.
„Am Ring spielen, was heißt das?" rief näselnd der
Adjutant, „das ist mir zu hoch,"
„Sie sind ja auch nicht verheiratet." parierte Thomas,
..sonst würden Sie wissen, daß der Ehering kein Band
ist, wie die Menschen meinen, sondern das Gelöbnis
des Weibes, ihren natürhchen Ring niemals auf einen
ausgestreckten Finger zu stecken, es sei denn der ihres
Mannes,"
,— 396 -
„Das ist ja eine glänzende Rechtfertigung der dop-
pelten Moral," sagte der Landrat höhnlscli, „danach hat
das Weib Treue zu halten und der Mann darf über
seinen Finger wirklich oder symbolisch frei verfügen.''
„Wovon manche Leute Gebrauch maclien," rief der
Adjutant wieder und trank dem Landrat zu,
„Und weshalb die Weiber den Ehering eine goldene
Fessel nennen, ein Ausdruck, den Männer nicht brauchen,
obwohl sie die Fessel empfinden," sagte Lettow nach-
denklich und betrachtete seinen Ring.
„Der Sieg des Weibes, da ist kein Zweifel,V nahm
Thomas wieder das Wort, „die natürliche Rachsucht des
unterlegenen Teiles — " Lettow lächelte vor sich hin —
„die Quai, die Hölle dem Teufel selber bereitet."
„Ich bitte dieh, Laban," unterbrach ihn der Prinz, „laß
doch die Bibelsachen fort. Exzellenz Dohna wird ungedul-
dig." Er freute sich offenbar darüber, den Grafen zu hänseln.
,, Teufel und Hölle haben nichts mit der Bibel zu
tun," fuhr Thomas unbeirrt fort. „Der Schwefelpfuhl, aus
dem die roten Gesichter der schreienden Sünder her-
vorglühen, während die Teufel schüren, hat den Gestank
von hinten her, von den mephitischen Dämpfen; das
Gelb stammt von vom. Die rot' leuchtenden Häupter
recken sich der feurigen Hölle mit ihrem feucliten Dunkel
entgegen und der Teufel ist ein bocksb einiger, haariger
Geselle mit Hörnern und Schwanz,"
„Pfui Teufel," sagte Schmettau unwillkürlich. Alles
lachte.
Thomas wurde plötzlich wieder nachdenklich. „Wir
werden von Kräften gelebt, die wir nicht kennen, wir
schwatzen von Freiheit des Willens und können doch
niAt eine Kruste Brot mit unserem Willen verdauen,
alles geschieht, ohne daß wir es verstehen. Erinnern Sie
— 397 —
sich noch, Exzellenz," er wandte sich zum Grafen Dohna
und streckte den Arm bis fast zu dessen Platz, sich
weit über den Tisch legend, „wie ich den Kaiser ohne
Gruß vorbeifahren ließ?"
Der Prinz rückte plötzlich seinen Kopf in dem Kragen
zurecht und zog seine Uniform glatl.
Dohna hob langsam das Gesicht gegen den Frager
und sagte: „Was soll's?"
„Ich habe nichts gegen den Kaiser, mag er seine
Kindereien treiben wie wir auch."
„Laban" rief der Prinz drohend.
„Aber daß der König sich ohne Szepter und Krone
zeigt, das will mir nicht in den Kopf." ■
„Es wäre wohl ein wenig unbequem und nur ein
Vergnüge» für Kinder und kindische Leute," sagte der
Prinz und trommehe den Preußenmarsch auf den Tisch.
„Jede Braut trägt Kranz und Schleier als Zeichen
ihrer Würde. Deudich vor aller Augen zeigt sie ihr
unberührtes Magdtum, stolz ruft sie es in die Welt
hinaus: Heute wird das Haupt des Gottes in mein
Kränzchen dringen und den dünnen Schleier Hymens
zerreißen. Das Symbol adelt den Menschen, adelt jede
Handlung, erhebt über Gut und Böse. Ein Weib, das
sich auf der Straße entblößt, ist verächtlich, das Symbol
des Brautschmuckes aber gebietet Ehrfurcht, auch dem,
der es als Entblößung zu deuten weiß. Ein König muß
die Insignien seines Berufes tragen, ohne Krone ist er
ein Nichts." Thomas verlor immer mehr die Selbst-
beherrschung, er sah verbissen nach dem Prinzen hinüber,
immer noch weit über den Tisch vorgebeugt, und krallte
sich mit den Fingern ins Tischtuch. „Kranz und Krone,
es ist dasselbe. Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des
Vaterlands, — wißt ihr denn nicht, was der Siegerkranz
- 398 ■-
und das Vaterland, das Land, in dem der Vater herrsdit,
ist!" Er hob den Finger hoch, sein Gesicht zuckte und
der Unterkiefer ging brutal nach vorn. „Des Thrones
Glanz gibt Wonne, wir wissen es alle."
„Unerhört!" Graf Dohna wollte aufspringen, der Prinz
hielt ihn zurück und biß sich in die Lippe.
,,Paßt es euch nicht, daß der König der Herr ist,
das Weltall symbolisiert," schrie Thomas, „ihr, die ihr
eudi konigstreu nennt? Die Krone das Weib, das Szepter
der Mann, der Apfel das Kind, der Untertan, der, von
der Linken festgehalten, des Schlages auf den Apfel
gewärtig sein mufi." Er richtete sich auf und griff nach
dem Stock, alles war Hohn in seiner Haltung und Be-
wegung. „Der Fürst umhüllt vom weißen Hermelin, ge-
schnitten aus dem Fell der Volker und vollgcsogen mit
dem Purpur unseres Blutes. Der König ohne Purpur-
mantel ist ein blutsaugendes Insekt."
„Unverschämter." Der Prinz war so heftig auf-
gesprungen, daß der Tisch zitterte und der Wein aus
den umgestürzten Gläsern floß.
„Der König darf's," schrie Thomas ächzend. Er rang
mit Lettow, der ihn fortzuschaffen suchte, während
Schmettau ihm den linken Arm gepackt hatte und ihm
den Stock zerknickte und der Graf seine rechte Hand
faßte und ihm den Mund zuzuhalten suchte,
„Du aber bist rot ohne jedes Recht, ohne jedes Recht."
Thomas sprudelte die Worte hervor.
„Laßt ihn los," rief der Prinz, der an die Wand
zurückgewichen war, und bebend vor Wut dastand.
„Laßt ihn los. — Wendland. Niemeyer, Krieger," stieß
er schweratmend hervor. ~
„Deinesgleichen scheust du, Saßt die Füße deines
Bettes in Wasserschalen stellen, damit du nicht siehst,
- 399 —
was du bist, damit an dich dein inneres Wesen nicht
herankriechen kann."
„Schmeißt ihn hinaus," rief der Prinz rasend.
Thomas war schon von den Dienern zurTür geschleppt,
er wehrte sich nicht „Roter Prinz," lief er und lachte
laut, „Wanze, Wanze."
„Und gebt ihm einen Tritt vor den Hintern, dem
Schuft," befahl der Prinz,
„Halt! das will ich besorgen," jubelte der Adjutant
und sprang in langen Sätzen nach.
Noch einmal hörte man von draußen das verhängnis-
volle Wort : „Wanze." Es klang jubelnd, dann war alles still.
Lachmann hatte sich wie alle andern vom Sitz er-
hoben und stand nun und wußte nicht, was er tun sollte.
Die ganze letzte halbe Stunde hatte er stumm dagesessen,
bald auf der einen, bald auf der anderen Hinterbacke
balancierend, schheßlich hatte er die gefalteten Hände
auf den Tisch gelegt und unablässig die Daumen gedreht.
Eine tiefe Verstimmung nahm von ihm Besitz, die, je
mehr sich die Dinge zuspitzten, umso fühlbarer wurde
■und die er am liebsten in Tränen aufgelöst hätte, wenn
er nicht ein gar so erwachsener Mann gewesen wäre.
Als sein Freund von den Bedienten gepackt und hinaus-
geworfen wurde, faßte ihn eine maßlose Wut, wie er sich
vorschwatzte, auf Thomas, in Wahrheit auf sich selbst
Von seinem Piati aus sah er gerade auf das Dach einer
kleinen Kapelle, auf dem ein goldener Wetterhahn glänzte.
„Ehe der Hahn kräht" fuhr es ihm durch den Kopf und
brüsk sich umwendend schritt er zur TÜr,
„ßautz," rief der Prinz, „wo willst du hin? Bautz."
Lachmann ging weiter, aber seine Schritte wurden
langsamer, und als er den Tritt der Königlichen Hoheit
hinter sich hörte, bheb er stehen.
- 400 -
„Laß' den Kerl laufen, er verdient es nicht besser,"
sagte der Prinz, hakte ihn unter und zog ihn zum Tisch
zurück, und als er sah, daß Lachraann weiter ins Leere
starrte, setzte er hinzu: „So sdiUmm ist's nicht gemeint,
weder von ihm, noch von mir. Wir werden uns schon
wieder vertragen. Komm, auf Ärger gehört Wein, wir
wollen trinken."
Lachmann war prinzentrunken und setzte sich wieder
zu Tisch,
XXXVL KAPITEL
TOD UND BEGRÄBNIS.
AGATHE BEANSPRUCHT THOIWAS WELTLEINS
VERMÖGEN, LACHMANN DEN SEELENSUCHER
UND ALWINE SEINEN UNGLAUBEN.
Als er eine Stunde später auf dem Bahnhof ankam,
fand er dort alles in höchster Erregung. Die Nachricht
von einem schweren Eisenbahnunglück war eingetroffen,
der Personenzug nach Berlin war in einer Zwischeii-
station von dem Expreßzug Brüssel — Berlin überrannt
worden. Man erzählte, daß zwanzig Personen umgekommen
sein sollten, vielleicht noch mehr. Lachmann brachen fast
die Kniee. Er stürzte zum Schalter. „Wissen Sie, ob ein
großer, auffallend großer Herr im Gesellschaftsanzug mit
dem Unglückszug nach Berlin gefahren ist?"
Der Beamte sah ihn prüfend an. „Ein Herr ohne Hut?
Mit einer roten Nase? Ja, der hat ein Billet gelöst."
Lachmann eilte davon. Er mußte sofort an die
Unglücks stelle tele phonieren. Was hatte doch der Beamte
gesagt? Den Mann an der Bahnsteigsperre solle er
fragen. Richtig,
— 401 —
26
„Ist ein Herr im Gesellscliaftsanzug, mit bloßem Kopf
und auffallend roter Nase in dem verunglückten Zug
mitgefahren ?"
„Jawohl, ich besinne mich ganz genau. Ja, der ist mit-
gefahren."
Auf dem Zimmer des Stationschefs bekam er nähere
Auskunft. „Zwanzig Tote, viele Verletzte. Nein, unter
den rekognoszierten Toten ist keiner mit dem Namen
Weltkin, auch kein Müller. Aber teilweise seien die
Leichen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Warten Sie,
ich werde anfragen. — Nein, unter den Überlebenden ist
Herr Weltlcin nicht. Ära besten v/ird es sein, Sie fahren
mit dem Hilfszug mit, der in einer halben Stunde abgeht.
Sie sind ja Arzt, nicht wahr?"
Lachmann nickte. „Kann ich nidit Verbindung mit
Berlin bekommen?"
Der Stationschef zuckte die Achseln. „Das ist ganz un-
möglich."
Lachmann biß sich auf die Lippen, dann schoß es ihm
plötzlich durch deil Kopf, den Schlüssel zur Beamten-
uamÖglichkeit zu gebrauchen.
,,Herr Weltlein ist ein intimer Freund des Prinzen
Viktor. Seine königliche Hoheit v/ird sehr ungehalten sein.
Er hat mich extra hergeschickt — "
„Ich will sehen, was sich tun läßt. Mit wem wollen Sie
tele phonieren?" sagte der Beamte.
„Continental-Hotel, Zimmer 23."
Nach wenigen Minuten war die Verbindung hergestellt.
Agathe versprach, sofort zu kommen.
Die Hiifszüge aus BerHn und Eberswalde trafen fast
gleichzeitig an der Unglücksstätte ein, so daß Lachmann
Agathe noch beim Aussteigen helfen konnte. Sie sprachen
kein Wort miteinander, sondern gingen sofort auf die
— 402 —
Suche. Lachmann hielt merkwürdigerweise dauernd seinen
ZyUnder unter dem linken Arm, während er mit dem
rechten Agathe führte, deren Nase so spitz und sdimal
war. daß man glauben konnte, sie hätte irgend einem
großen Vogel den Schnabel abgebrochen und sich in das
Gesicht geklebt.
Es bestätigte sich, daß ein großer Herr noch hinter der
vorhergehenden Station in dem Zuge gesessen habe. Es
könnte sein, daß er schwarz gekleidet gewesen sei. Eine
rote Nase? Ja vielleicht. Oder auch nidit. Man wußte es
nicht. Das Unglück sei durch eine Gasexplosion in einem
der Wagen so schlimm geworden.
In einem Sehuppen waren die Leichen untergebracht.
Die meisten waren rekognosziert, nur vorn links am
Eingang lagen zwei unbekannte Frauenkörper und
daneben die halb verkohlten Reste eines Mannes, dessen
Oberkörper und Arme völlig unkenntlich waren.
Agathe blieb zögernd stehen, und während Laclimann
vergebens versuchte, aus den Formen des Mannes
irgendwelchen Aufschluß zu bekommen, schluckte sie ein
paarmal, als ob sie sprechen wolle und nicht könne,
hob dann den Finger und wies auf eine halb zerquetschte
goldene Uhr, die neben der Leidie lag.
Lachmann ließ ihren Arm los und trat näher heran.
Auf dem Deckel des Gehäuses war in Emaille ein
Monogramm mit Buchstaben eingelegt. Lachmann beugte
sich tief herunter und prüfte die Uhr sorgfältig, richtete
sich dann auf und sagte, ohne Agathe anzusehen:
„A. M."
„Ich habe sie ihm selber geschenkt." Agathes Stimme
klang trocken und keuchend.
Lachmann trat von einem Bein aufs andere, bückte
sich wieder, nahm die Uhr auf und legte sie wieder
- 403 -
26*
hin. Plötzlich beugte er sich über die Leidie und
streifte die halb verbrannten Kleider von den Beinen
herunter,
„Was machst du?" fragte Agathe.
„Er muß irgendwo eine Narbe am Bein haben, von
einem Jagdunfall her. — Da," er wies auf eine alte,
tiefeingezogene Narbe dicht oberhalb des rechten Kniees.
„Ja, ich erinnere mich," sagte Agathe. „Er sprach
davon." Sie sah einen Augenblick auf die Leiche, richtete
sich dann kerzengerade auf und sagte: „Komm! Es ist
August," Ohne sich noch einmal umzusehen, schritt sie
zur Wachstube und gab dort zu Protokoll: „Die dritte
Leiche links vom Eingang ist die meines Bruders August
Müller aus Bauchungen."
Dann ging sie, gefolgt von Lachmann, in den Wart:e-
saal, setzte sich dort und wartete, bis der Zug nach
Berlin ging. Auf der ganzen Fahrt sprach sie kein
Wort, im Lift des Hotels sagte sie: „Für Alwine ist
es ein Glück. Sie ist auf einmal ein reiches Mädchen
geworden und kann heiraten,"
Lachmann sah sie erstaunt an, aber ehe er noch
etwas sagen konnte, schritt sie mit den Worten: „Gute
Nacht, ich lege mich sofort schlafen," davon.
Nachdem die Formalitäten vor Gericht erledigt waren,
wurde die Leiche nach BäuchUngen transportiert. Lach-
mann begleitete seine Cousine, um dem Begräbnis bei-
zuwohnen und ihr beim Ordnen des Nachlasses behilflich
zu sein.
Sehr seltsam benahm sich Alwine. Sie hatte die
Mutter noch nicht begrüßt, als sie erklärte, sie glaube
nidit daran, daß der Onkel August tot sei. Irgend
ein anderer läge in dem schwarzen Kasten da hinten,
aber der Onkel sei es nicht. Dabei sah sie Agathen
- 404 -
haßerfüllt an, ließ die Arme schlaff herabhängen,
ohne die Hand zu geben, und machte sich im Rücken
steif, als ihre Mutter versuchte, sie an sich zu
ziehen.
Agathe zog die Augenbrauen hoch, sah ihre Tochter
prüfend an, knüpfte die Hutschleife anders und sagte;
„Du scheinst dein unglaubhches Benehmen gegen deine
Mutter fortsetzen zu wollen. Nun, wie du willst." Sie
wandte sich zu Lachmann, um dessen Arm zu nehmen,
als sie aber sah, daß er eifrig auf Alwine einredete,
drehte sie sich um, spannte ihren Sonnenschirm auf und
ging, ohne sich um die beiden zu kümmern, schnur-
stracks nach Hause.
Die Beerdigung war noch auf denselben Nachmittag
festgesetzt. Breitsprecher sollte die Rede halten. Es war
seine letzte Amtshandlung. Er hatte seinen Abschied
genommen. Zu seinem Nachfolger hatte er selbst den
Vikar Ende vorgeschlagen.
Bei Tisch kam es zu einem neuen Zusammenstoß,
zwischen Mutter und Tochter. Alwine verlangte, daß der
Sarg noch einmal geöffnet würde. „Ich glaube nicht, daß
es der Onkel ist, ehe ich die Leiche nicht mit eigenen
Augen gesehen und wiedererkannt habe."
Agathe kniff die Lippen zusammen, so daß der Mund
wie ein Strich aussah, holte aus ihrer Ledertasche mit
dem bekannten silbernen Bügel die Uhr hervor, hielt
sie Alwine vor die Nase und sagte: „Da."
„Solch eine Uhr kann jeder haben," erklärte Alwine
und stopfte ein riesiges Stück Fleisch in den Mund,
während ihr Tränen über die Backen herunterkollerten.
Agathe kreuzte schweigend die Arme über die Brust,
lehnte sich im Stuhl zurück und sah ihrer Tochter böse
auf den Mund,
— 405 —
„Kind," mischte sich Lachmann ein, „es ist gar keitt
Zweifel, daß es der Onkel August ist,"
„Sie kann doch den Sarg- noch einmal öffnen lassen.
Vier Augen sehen mehr als zwei," erwiderte Alwine
trotzig und schnitt an ihrem Stück Braten herum, als ob
sie die Mutter unter 'dem Messer habe.
„Der Sarg bleibt zu," sagte Agathe, erhob sich und
legte die Hand so fest auf den Tisdi, daß es aussah, als
ob sie den Deckel des Sarges mit aller Kraft zuhielte.
„Habt ihr wenigstens nach der Narbe gesehen?"
„Nach was für einer Narbe?" fragte Agathe streng.
„Der Onkel hatte eine tiefe große Narbe oben am
Bein." Sie war rot geworden und hatte die Augen nieder-
geschlagen.
„Woher weißt du, daß er eine Narbe hatte?"
Alwine sah ihre Mutter erstaunt an: „Aber du hast
es mir doch selbst erzählt, Mutter. Sie hat es mir doch
erzählt, Onkel Lachmann, nicht wahr?"
„So," sagte Agathe trocken und nach einer Weile
setzte sie hinzu: „Die Narbe ist da."
„Oben, ganz oben am linken Bein."
Agathe setzte wieder die Fingerspitzen auf die Tisch-
platte, „leh habe dir gesagt, daß die Leiche die deines
Onkels ist und das wird dir genügen. Ich verbitte mir jede
Widerrede; der Sarg bleibt zu und wird um 4 Uhr be-
graben."
„Und ich gehe nicht mit zu eurem Begräbnis," schrie
Alwine, sprang auf, lief vor Wut heulend fort und knallte
die Tür hinter sich zu.
Lachmann pfiff durch die Zahne.
„Du hast dir ja was Nettes herangezogen," sagte er.
„Es scheint so. Also auf Wiedersehen nachher." Agathe
rauschte davon.
— 406 —
Um 4 Uhr wurde die Leiche Thomas Weitleins be-
erdigt. Die Rührung war groß und Breitsprediers Rede
vortrefflich.
Auf dem Rückweg fragte Lachmann seine Cousine;
„Was hat die Kleine?"
„Weiß ich nicht," lautete die Antwort,
Lachmann blieb stehen, „Hältst du es für aus-
geschlossen, daß wir uns geirrt haben."
„Ausgesdilosseii," sagte Agathe und ging weiter,
„Hast du gehört, sie sagte, Augusts Narbe hätte am
linken Bein gesessen."
„Die Narbe saß da, wo sie sitzt." Agathe band ihre
Hutbänder fester.
Eine Zeitlang gingen beide schweigend weiter, dann
sagte Laehmann: „Übrigens, weißt du vielleicht, ob August
seinen Seelensucher — du weißt, den Goethesdien
Schattenriß, den er mir versproclien hat — "
„Ja und?"
„Er hat mir erzählt, daß er ihn verschachert hätte."
Agathe bÜeb jetzt ihrerseits stehen, sah ihren Vetter
an und sagte: „Dann hat er oelogen. Der Schattenriß liegt
in der rechten Scliieblade seines Schreibtiselies, ich habe
ihn noch vorhin gesehen. Und wenn dir diese Schmutzerei
Spaß macht, was ich nicht verstehe, kannst du sie haben,"
Lachmann senkte den Kopf und trottete mit den
Händen auf dem Rücken hinter Agathe her.
„Ja," sagte er, „der August war stark im Auf-
schneiden,"
Agathe brach plötzlich in lautes Schluchzen aus, dann
sich zusammennehmend sagte sie; „Zehn Lachmaiins und
zehn Breitsprechers zusammengenommen und meinet-
wegen zehn Endes dazu, sind nicht annähernd das, was
August war. Aber ihr habt ihn eben alle nicht verstanden,"
— 407 — .
Sie wurde auf einmal eine gebückte alte Frau, nahm
Lachmanns Arm und sich schwer auf ihn stutzend, sagte
sie: „Ich bin froh, daß du da bist,"
Als sie nach Hause kamen, fanden sie Alwines Tür
verschlossen. Sie hatte sich zu Bett gelegt.
- 408 —
T
INHALT.
Seite
I. Agathe, der Herausgeber, August Müller und
der Seelensucher 1
II. Die Wanzen kriechen hervor 4
III. Ein Scharlachfaji. Dr. Vorbeug-er. Ein Flucht-
versuch ■ ■ II
IV. August wird eingesperrt, Agathe besudit ihn 17
V. Die Wanzen werden angesteckt. Augusts Be-
rufung 23
VI. Der Vikar wird durch ein junges Maddien in
die Gesdiidite verwickelt und hat ein Stell-
didiein 27
VII. August Müller stirbt 41
VI!I. Thomas Welllcin begegnet dem Sein, dem
Werden und dem Fittich der Tat ■ - ■ ■ 47
K. Der Lumpenwilhelm und Agathes Uhr ■ . . 31
X. Der Weg der Schmerzen 57
XI. Ein Weinbergskarl und noch einer 58
XII. Der Tunnel der Erniedrigung. Kleider machen
Leute 77
XIII. Verrückt oder boshaft? • ■ 86
XIV. Strickt der Strumpf oder wird er gestrickt? ■ ■ 95
27
Seile
XV. Docendo discimus 102
XXI. Eine Wanze, die mit Gedanken und Gold-
wasser malt 110
XVII. Wie Lachmann einen Stein rollen läßt- - ■ • 118
XVUl. Thomas macht am Insekt Mensch Experimente
über psychisch-physische Ansteckung' ■ ■ ■ 130
XIX. Vom Nutien der Krankheit 138
XX. Wie sich Frauen und wie sich Thomas die
Hebung' der Sittlichkeit denken 143
XXI. Was eine Glocke ist. Ag'athe reist ab und
Thomas spielt Eisenbahn 168
XXII. Nicht wahr, zwei Damen ? Und der Schlag' aufs
Paradiesesäpfiijin 183
XXIII. V^n der inneren Ansteckung, dem Artikel,
Held Onan und der EntrüsSiing des Lesers 193
XXIV. Großes und kleines GeschäR. Der Kegelkänlg- 205
XXV. Das vierte Gebot. Apfelkraut und Hosenbein.
Musik und Liebe 221
XXVI. Eine Schlägerei. Was das Du eines Prinzen
vermasf ' ' ■, 2jS
XXVII. Ein-ianjfweilig'es Kapitel, das aber nicht unter-
schlagen werden kann, da es vom Waschen
und dem Geheimnis der Sixfinischen Madonna
handelt 249
XXVIll. Noch ein Muse uro sbesuch, ebenso langweilig
wie der vorige 258
XXIX. Die Idee des Pferdes und der Wettkampf
mit dem Löwen ■ ' 275
XXX. Der Narr als Held. Vom Sozialismus ■ ■ ■ 296
XXXI. Wie Thomas die Welt von unten ansieht und
was es mit Mädchenfreundschaften auf
sidi hat 319
Sültc
XXXII. Ein Verbrechen? Der Gruß des Kaiseis und
die Resultate des Studiums -■.-■■ 331
XXXIII. Agathe erscheint wie.der 358
XXXIV. Mathematik als reine Wissensdiaft. Kinder-
verse und das Rätsel der Brustwarzen ■ 366
XXXV, Der rote Prinz. Willkommen und Abschied ■ 383
XXXVI. Tod und Begräbnis. Agathe beansprucht Thomas
Weltleins Vermög^en, Lachmann den Seelen-
suchcr und Alwine seinen Unglauben ■ ■ 401
1
I
f (
IM HERBST 1922 ERSCHEINT
DAS BUCH VOM ES
PSYCHOANALYTISCHE BRIEFE
AN EINE FREUNDIN
VON
GEORG GRODDECK
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN, VII. ANDREASGASSE 3
^1^50^
mwm
ürodä^cki
Vornan