Georg Grodde(k
Das Buch vom Es
Psychoanalytische Briefe
an eine Freundin
GEORG GRODDECK
DAS BUCH VOM ES
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DAS BUCH VOM ES
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PSYCHOANALYTISCHE BRIEFE
AN EINE FREUNDIN
VON
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GEORG GRODDECK
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
LEIPZIG / WIEN / ZÜRICH
1923
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1-
ALLE RECHTE
BESONDERS DIE DER ÜBERSETZUNG
VORBEHALTEN
COPYRIGHT 1923
BY .INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
GES. M. B. H. WIEN"
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
GEDRUCKT BEI K. LIEBELINWIEN
LIEBE FREUNDIN, SIE WÜNSCHEN, DASS ICH IHNEN SCHREIBE,
nichts Persönlidies, keinen Klatsch, keine Redensarten, sondern ernst, '
belehrend, womöglich wissenschaftlich. Das ist schlimm.
Was habe ich Armer mit Wissenschaft zu tun? Das Bißchen, was '
man als praktischer Arzt nötig hat, kann ich Ihnen doch nicht vorführen, ' |
sonst sehen Sie, wie löchrig das Hemd ist, das Unsereiner unter dem h
Staatsgewande der Approbation als Arzt trägt. Aber vielleicht ist '
Ihnen mit der Erzählung gedient, warum ich Arzt wurde und wie ich !
zu der Abneigung gegen das Wissen gekommen bin.
Ich besinne mich nicht, daß idi als Knabe besondere Neigung für
das Arztsein gehabt hätte, vor allem weiß ich bestimmt, daß i(ii nie,
audi später nicht, mit diesem Beruf menschenfreundlldie Gefühle ver- ■
bunden hatte; und wenn ich mich, was wohl geschehen ist, mit solchen .
edlen Worten zierte, so verzeihe mir ein mildes Gericht mein Lügen.
Arat wurde idi, weil mein Vater es war. Er hatte all meinen Brüdern
verboten, diese Laufbahn emzuschlagen, vermutlich weil er sidi und
Andern gern einreden wollte, seine finanziellen Schwierigkeiten seien
durch die schledite Bezahlung des Arztes bedingt, was durchaus nicht
der Fall war, da er bei Alt und Jung als ein guter Arzt gerühmt
und dementsprechend entlohnt wurde. Aber er liebte es wie sein Sohn
auch und wie wohl ein Jeder, nach außen zu blicken, wenn er wußte,
daß in ihm selber etwas nicht stimmte. Eines Tages fragte er midi,
— warum, weiß ich nicht — ob ich nidit Arzt werden wolle, und weil
1 Groddeck. Das Buch vom Ea j
idi in dieser Frage eine Auszeichnung meinen Brüdern gegenüber sah,
sagte ich ja. Damit war mein Schicksal entschieden, sowohl für meine
Berufswahl, als auch für die Art, wie ich diesen Beruf ausgeübt habe.
Denn von da an habe ich meinen Vater bewußt nachgeahmt, so stark,
daß eine alte Freundin von ihm, als sie midi viele Jahre später kennen
lernte, in die Worte ausbradi : „Ganz der Vater, nur keine Spur von
seinem Genie."
Bei jener Gelegenheit erzählte mir mein Vater etwas, was micJi
später, als die Zweifel an meinen ärztlichen Fähigkeiten kamen, an
meiner Arbeit festhielt. Vielleicht kannte ich die Geschichte sdion vor-
her, aber ich weiß, daß sie mir in der gehobenen Stimmung des
Joseph, der besser war als seine Brüder, tiefen Eindruck machte. Er
habe midi, erzählte er mir, als dreijährigen Jungen mit meiner etwas
älteren Schwester, meiner ständigen Spielkameradin, beim Puppenspielen
beobachtet. Lina verlangte, daß der Puppe noch ein Kleid angezogen
werden solle, und ich gab es nadi langem Kampfe mit den Worten zu:
„Gut, aber du wirst sehen, sie erstickt." Daraus habe er den Schluß
gezogen, daß ich arztlidie Begabung hätte. Und ich selber habe diesen
so wenig begründeten Schluß auch gezogen.
Ich erwähne dieses kleine Ereignis, weil es mir Gelegenheit gibt,
von einem Zug meines Wesens zu spredien, von einer seltsamen
Ängstlichkeit geringfügigen Dingen gegenüber, die micäi plötzlicli und
scheinbar unmotiviert befallt. Angst ist, wie Sie wissen, die Folge eines
verdrängten Wunsdies; es muß in jenem Augenblick, als ich den
Gedanken äußerte, die Puppe werde ersticken, der Wunsch in mir
lebendig gewesen sein, irgend ein Wesen, dessen Stelle die Puppe
vertrat, zu toten. Wer dieses Wesen war, weiß ich nicht, vermute nur,
daß es eben diese meine Sdiwester war; ihrer Kränklidikeit halber
wurde ihr von meiner Mutter manches zugeteilt, was idi als Jüngster
für mich beanspruchte. Da haben Sie nun, was das Wesentliche des
Arztes ist: ein Hang zur Grausamkeit, der gerade so weit verdrängt
ist, daß er nützlich wird, und dessen Zuchtmeistcr die Angst ist, weh
zu tun. Es lohnte sich, diesem feingefügten Widerspiet von Grausam-
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keit und Angst im Menschen nachzugehen, weil es gar wichtig im
Leben ist. Aber für den Zweck eines Briefes genügi es wohl festzu-
stellen, daß das Verhältnis zu meiner Sdiwester viel mit der Entwick-
lung und Bändigung meiner Lust am Wehtun zu tun hat. Unser
Lieblingsspiel war Mutter und Kind spielen, wobei es darauf ankam,
daß das Kind unartig war und Schläge bekam. Daß alles milde verlief,
war durch die Kränklidikeit der Schwester bedingt und spiegelt sich
in der Art wider, wie icJi meinen Beruf ausgeübt habe. Neben der
Sdieu vor dem blutigen chirurgischen Handwerk habe ich die Abnei-
gung gegen das Giftmischen der Apotheke und bin so zur Massage
und zur psydiisciien Behandlung gekommen; beide sind nidit weniger
grausam, aber sie lassen sidi besser der individuellen menschlichen
Lust am Leiden anpassen. Aus den täglich wediselnden Anforderungen
heraus, die Linas Herzleiden an mein unbewußtes Taktgefühl stellten,
wuchs dann die Neigung, midi mit chronisch Kranken zu beadiäfÜgen,
während mich die akute Erkrankung ungeduldig madit.
Das ist so ungefähr, was ich vorläufig über die Wahl meines
Berufes mitteilen kann. Wenn Sie es nur ein wenig in Ihrem Herzen
bewegen, wird Ihnen schon allerlei über meine Stellung zur Wissen-
Sdiaft einfallen. Denn wer von Kindheit an auf den einzelnen Kranken
eingestellt ist, wird sAwerlidi systematisch rubrizieren lernen. Aber
auch da ist wohl das Wichtigste die Nachahmung. Mein Vater war ein
Ketzer unter den Ärzten ; war sich selbst Autorität, ging eigene Wege
und Irrwege und von Respekt vor der WissenscJiaft war weder in
Worten noch in Taten viel bei ihm zu spüren. Ich besinne mich noch,
wie er über die Hoffnungen spottete, die sich an die Entdeckung des
Tuberkel- und Cholerabazülus knüpften, und mit welchem Hochgenuß
er erzählte, daß er gegen alle physiologischen Lehrsätze ein Wickel-
kind ein Jahr lang nur mit Bouillon gefüttert habe. Das erste medi-
zinisciie Buch, das er mir in die Hände gab, — ich war damals noch
Gymnasiast — war die Erfahrungsheütehre Rademachers, und da
darin die Kampfstellen wider die Wissenschaft dick angestrichen und
reichUcli mit Randbemerkungen versehen waren, so ist es wohl kein
1
Wunder, wenn idi schon vor Beginn meines Studiums geneigt war zu
zweifeln. ,. . i ■ i_ j.
Diese Lust am Zweifel war noA anders bedingt. Als id» sedis
Jahre alt war. verlor id. leitwcisc die ausschließliche Freundsdmft
meiner Schwester. Sie wendete ihre Neiguii? einer Schulkameradin zu.
die den Namen Alma trug, und was besonders schmerzIiA war, sie
übertrug unsere kleinen sadistisdien Spiele auf diese neue Freundin
und schloß mich von der Teilnahme daran aus. Es gelang mu- em
einziges Mal, die beiden Mäddien beim Gesdnchtenerzählen, was sie
besonders liebten, zu belausdien. Alma phantasierte von einer bösen
Mutter, die ihr unartiges Kind zur Strafe in eine Abirittsgrube steckte.
- man muß sid. dabei einen ländlidien primitiven Abtritt vorstellen.
Nodi heutigen Tages geht es mir nadi. daß id. diese Gesd..dite md>t
zu Ende gehört habe. Die Freundsd.aft der beiden Mäddien gmg
vorüber und meine Sdiwester kehrte zu mir zurück. Aber jene Zeit
der Einsamkeit hat genügt, um mir eine tiefe Abneigung gegen den
Namen Alma einzuflößen.
Und nun darf idi Sie wohl daran erinnern, daß die Universität
sid, Alma Mater nennt. Das hat midi stark gegen die Wissensd^aft
eingenommen, nodi mehr, weil das Wort alma matcr aud> für das
Gymnasium angewendet wurde, in dem idi meine humanistische BU-
dung erhielt und in dem Idi viel gelitten habe, von dem idi viel
erzählen müßte, wenn es darauf ankäme, Ihnen meine mensdilidie
Entwiddung begreiflidi zu madien. Aber darauf kommt es ja nidit an,
sondern nur auf die Tatsadie, daß id. all den Haß und das Uid
meiner Sdiulzeit auf die Wissensdiaft übertrug, weil es bequemer ist,
Trübungen der Seele aus dem äußeren Gesdichen herzuleiten, statt
sie in den Tiefen des Unbewußten zu sudien.
Später, erst sehr spat, ist mir klar geworden, daß das Wort
alma mater, „nährende Mutter", an die ersten und schwersten Konnikte
meines Lebens erinnert. Meine Mutter hat nur das Alteste ihrer Kinder
genährt; sie bekam damals sdiwere Brustentzündungen, durdi die die
Mildidrüsen verödeten. Meine Geburt muß wohl ein paar Tage früher
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stattgefunden haben, als berechnet war. jedenfalls war die Amme,
die für mich bestimmt war, noch nidit im Hause und ich bin drei Tag^e
kümmerlich von einer Frau gestillt worden, die zweimal am Tage kam,
um mir die Brust zu geben. Es hat mir nichts geschadet, sagte man
mir, aber wer kann die Gefühle eines Säuglings beurteilen? Hungern-
müssen ist kein freundlicher Willkommengruß für einen Neugeborenen.
Ich habe hie und da Leute kennen gelernt, denen es ähnlich gegangen
ist, und wenn ich auch nicht beweisen kann, daß sie Sdiaden an ihrer
Seele gelitten haben, so ist es mir doch wahrscheinlich. Und im Ver-
gleich zu ihnen glaube i<h nodi gut weggekommen zu sein.
Da ist zum Beispiel eine Frau — ich kenne sie viele, viele Jahre, —
deren Mutter sich von dem neugeborenen Kinde abwandte, sie nährte
es nicht, obwohl sie es bei den andern Kindern tat, und überließ es dem
Kindermädchen und der Fiasdie. Das Kind aber hungerte lieber, als
daß es am Gummipfropfen sog, es kränkelte dem Tode entgegen, bis
ein Arzt die Mutter aus ihrer Antipathie aufrüttelte. Da wurde aus
der fühllosen Mutter eine besorgte. Eine Amme kam ins Haus und die
Mutter ließ keine Stunde vergehen, ohne nadi dem kleinen Mädchen
zu sehen. Das Kind gedieh nun und ist zu einer kräftigen Frau heran-
gewadisen. Sie wurde der Verzug der Mutter, die bis zu ihrem Tode
werbend hinter der Tochter herlief. Aber in der Tochter blieb der Haß.
Ihr Leben ist eine stahlharte Kette der Feindschaft, deren einzelne
Glieder von der Rathe geschmiedet sind. Sie hat die Mutter gequält,
so lange sie lebte, sie ist vom Sterbebett der Mutter fortgereist, sie
verfolgt, ohne daß sie es weiß, jeden, der an die Mutter erinnert, und
sie wird bis an ihr Lebensende den Neid behalten, den ihr der Hunger
eingeflößt hatte. Sie ist kinderlos. Menschen, die ihre Mutter hassen,
sind kinderlos, und das ist so wahr, daß man bei unfruchtbaren Ehen
ohne Weiteres annehmen kann, einer von beiden Teilen ist Feind seiner
Mutter. Wer seine Mutter haßt, der fürchtet sidi vor dem eigenen Kind;
denn der Mensch lebt nach dem Satz: Wie du mir, so ich dir. Dabei
wird sie verzehrt von dem Wunsche, ein Kind zu gebaren. Ihr Gang
ist der einer Sthwangeren, wenn sie einen Säugling sieht, schwellen
ihre Brüste, und wenn ihre Freundinnen sdiwanger werden, bekommt
sie einen dicken Bauch. Jahrelang ist sie, die vom Leben und Reichtum
verwöhnte, tägLch als Hilfsschwester in eine Entbindungsanstalt ge-
gangen, hat die Kinder gereinigt, Windeln gewaschen und Wödineriniien
versorgt und in wahnsinniger Begierde die Neugeborenen, verstohlen
wie eine Verbrecherin, an ihre milchlosen Brüste gelegt. Aber sie hat
zweimal Männer geheiratet, von denen sie vorher wußte, daß sie
zeugungsunfähig waren. Sie lebt vom Haß, der Angst, dem Neid und
der lüsternen Qual des Hungerns nadi Unerreichbarem.
Da ist eine Andere, die hungerte auch in den ersten Tagen nadi
der Geburt. Sie hat sich nie entsciiließen können, sidi den Haß gegen
die Mutter einiogestehen. aber das Gefühl, die früh verstorl>ene Mutter
gemordet zu haben, quält sie unablässig, so irrsinnig dieser Gedanke
ihr auch sdieint. Denn diese Mutter starb während einer Operation,
von der das Mädchen vorher nidits wußte. Seit vielen Jahren sitzt sie
einsam und krank in ihrem Zimmer, nährt sidi von Haß gegen alle
Mensdien, sieht niemanden, meidet und haßt.
Was mich selbst betrifft, so ist schließlich die Amme gekommen
und sie ist drei Jahre bei uns im Hause geblieben. Haben Sie sich
schon einmal mit den Erlebnissen eines kleinen Kindes besdiäftigt, das
von der Amme genährt wird? Die Sache ist etwas kompliziert,
wenigstens wenn das Kind von der Mutter geliebt wird. Da ist eine
Matter, in deren Leibe hat man neun Monate gesessen, sorglos, warm
und in' allen Freuden. SoUte man sie nicht lieben? Und dann ist da
ein zweites Wesen, an dessen Brust man taglicJi Hegt, deren Milch
man trinkt, deren warme frisdie Haut man fühlt und deren Genich
man einatmet. Sollte man sie nicht heben? Zu wem aber soU man
halten? Der Säugling, der von der Amme gestillt wird, ist in den
Zweifel hineingestellt und wird den Zweifel nie verlieren. Seine Qaubens-
fähigkeit ist im Fundament ersdiüttert und das Wählen zwisdien zwei
MÖglidikeiten ist für ihn sdiwerer als für Andere. Und was kann einem
solchen Menschen, dessen Gefühlsleben man von Beginn an halbiert
hat, den man um die volle Kraft der Leidensdiaft betrügt, das Wort
'■^
alma mater anderes sein als ein Hohn und eine Lüg^e? Das Wissen
aber wird ihm von vornherein unfruchtbar erscheinen. Er weiß, die eine
dort, die dich oidit nährt, ist deine Mutter und sie beansprut^t didi
als ihr Eigentum, die andere aber nährt dich und doch bist du nitiit
ihr Kind. Man steht vor einem Problem, das sich durdi Wissen niAt
löseu läßt, vor dem man fliehen muß, gegen dessen aufdringliche Frage
man am besten in das Reich der Phantasie flüchtet. Und wer in diesem
Reidi heimisch ist, erkennt irgendwann einmal, daß alle Wissensdiaft
nichts anderes ist als eme Abart der Phantasie, ein Spezialfach sozu-
sagen, mit allen Vorzügen und mit allen Gefahren der Spezialität aus-
gestattet.
Es gibt auch Menschen, die sich im Reich der Phantasie nicht
heimisch fühlen, und von einem soldien will ich Ihnen kurz berichten.
Er sollte nicht geboren werden, wurde aber doch geboren, trotz Vater
und Mutter. Da versiegte die Mildi der Frau und eine Amme kam
ins Haus. Das Sohnchen wudis inmitten seiner glücklicheren Geschwister,
die an der Mutterbrust lagen, heran, aber er blieb zwischen ihnen
ein Fremdling, sowie er auch den Eltern fremd blieb. Und ohne es zu
wollen oder auch nur zu wissen, hat er allmählidi die Bande zwischen
den Htern gesprengt. Sie sind unter dem Druck halbbewußter Schuld,
die fremden Augen aus der seltsamen Behandlung des Sohnes deutlich
wurde, vor einander geflohen und wissen nichts mehr von einander.
Der Sohn aber wurde ein Zweifler, sein Leben wurde halb. Und weil
er nicht wagte, phantastisch zu ^sein, — denn er sollte ein ehrbarer
Mensch werden, und seine Träume waren die des ausgestoßenen
Abenteurers, — begann er zu trinken, ein Sdiicksal, das Manchem
begegnet, der in den ersten Lebenswochen Liebe entbehren mußte.
Aber wie alles, ist auch die Trunksucht bei ihm halb. Nur zeitweise,
für einige Wochen oder Monate kommt es Über ihn, daß er trinken
muß. Und weil ich ein wenig seinen Irrgängen nachgespürt habe, weiß
ich, daß immer diese kindische Ammensadie auftaucht, ehe er zum
Glase greift. Das gibt mir die Gewißheit, daß er genesen wird. Und
nun etwas Seltsames: dieser Mann wählte ein Mädchen zum Weibe,
■s-
das ebenso tief im Haß geg-en die Eltern steckt wie er, das ebenso wie
er kindernärrisch ist und doch das Kindcrkrieg-en wie den Tod fürditet.
Und weil das seiner zerrissenen Seele noch keine Sicherheit gab, ob
ihm nicht doch ein Kind geboren werden könnte, das ihn strafte,
erwarb er sich eine Ansteckung- und gab sie seinem Weibe weiter. Es
stedct im Menschenleben viel unbekannte Tragik!
Mein Brief ist zu Ende. Aber darf idi die Geschidite meiner
Amme weiter erzählen? Ich besinne mich nicht mehr, wie sie aussah,
weiß nichts mehr als ihren Namen: Berta, die Glänzende. Aber idi
habe eine deutliche Erinnerung an den Tag, an dem sie wegging. Sie
schenkte mir zum Abschied einen kupfernen Dreier und ich weiß genau,
daß ich, statt wie sie wollte, Zuckerzeug dafür zu kaufen, mich auf die
steinerne Treppe der Küche setzte und das Dreierstück auf den Stufen
rieb, damit es glänzte. Seitdem hat mich die Zahl drei verfolgt. Wörter
wie Dreieinigkeit, Dreibund, Dreieck, halien etwas Anrüchiges für midi
und nicht nur die Wörter, auch die Begriffe, die damit verbunden sind,
ja ganze Ideenkomplexe, die ein eigensinniges Knabengehiru darum
herum gebaut hat. So ist der heilige Geist als Dritter schon in früher
Kindheit von mir abgelehnt worden, die Lehre von den Dreiecks-
konstruktionen ist mir in der Schule eine Plage gewesen und die einst viel-
gepriesene Dreibundspolitik wurde von mir von vornherein getadelt.
Ja, die Drei ist eine Art Sdiicksalszahl für mich geworden. Wenn ich
mein Gefühlsleben rückschauend betrachte, so sehe ich, daß ich, so oft
mein Herz sprarfi, als Dritter in ein bestehendes Neigungsverhältnis
zweier Mensehen eingedrungen bin, daß ich stets den Einen, dem
meine Leidenschaft galt, von dem Anderen getrennt habe, und daß
meine Neigung erkaltete, sobald mir das gelungen war. Ja, ich kann
verfolgen, wie ith, um diese schwindende Neigung am Leben zu er-
halten, von neuem einen Dritten zugezogen habe, um ihn wieder zu
verdrängen. So sind in einer und gewiß keiner unwichtigen Richtung
die Affekte des Doppel Verhältnisses ru Mutter und Amme und der
Kampf des Abschiedes ohne Absicht, ja, ohne Wissen von mir wieder-
holt worden; eine nachdenklidie Sache, die zum mindesten zeigt, daß
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in der Seele eines dreijährigen Kindes seltsam verworrene und doch
einheitlich gerichtete Dinge vor sich gehen.
Idi habe meine Amme später — etwa mit adit Jahren — nodi
einmal für wenige Minuten wiedergesehen, Sie war mir fremd und ich
hatte ein schweres Gefühl des Bedrücktseins in ihrer Gegenwart.
Von dem Wort Dreier muß ich nodi zwei kleine Geschichten er-
zählen, die Bedeutung haben. Als mein älterer Bruder anfing, Latein
zu lernen, fragte ihn mein Vater beim Mittagessen, was die Träne
heiße. Er wußte es nidit; aus irgend einem Grunde hatte idi mir das
Wort lacrima vom Abend vorher, als Wolf seine Vokabeln laut
memorierte, gemerkt und beantwortete nun an seiner statt die Frage. Ich
bekam zum Lohn ein Fünfgrosdienstück. Nach Tisch aber boten mir
meine beiden Brüder an, dieses Fünfgroschenstück gegen einen blank-
geputzten Dreier einzutauschen, was ich mit Freuden tat. Neben dem
Wunsch, die überlegenen Knaben ins Unredit zu setzen, müssen dumpfe
Gefühlserinnerungen mitgesprochen haben. — Wenn Sie es wünschen,
erzähle ich Ihnen später einmal, was das Wort lacrima und Träne für
mich bedeutete.
Das zweite Ereignis bringt mich in heitere Stimmung, so oft idi
daran denke. Ein Mensdienalter später habe idi für meine Kinder ein
kleines Stück geschrieben, in dem eine vertrocknete, dürre, alte Jungfer
vorkommt, ein gelehrtes Wesen, das griechischen Unterricht gibt und
weidlich verlacht wird. Und diesem Kind meiner Phantasie, brüstelos
und kahl wie sie war, gab ich den Namen Dreier. So hat die Flucht
vor dem ersten unerinnerbaren Abschiedsschmerz aus dem leben- und
Uebestrotzenden Mädchen, das mich stillte und an dem ich hing, das
Abbüd dessen gemacht, was mir die Wissenschaft ist. "
Es ist wohl ernst genug, was ich Ihnen schrieb, ernst für midi.
Aber ob es das ist, was Sie für unsem Briefwechsel wünschen, wbsen
die Götter. Sei dem wie ihm sei, ich bin wie immer Ihr ganz getreuer
PATRIK TROLL.
2.
LIEBE FREUNDIN, SIE SIND NICHT ZUFRIEDEN; ES IST ZU
viel Persönliches in meinem Brief; und Sie wollen mich oKjelctiv haben.
Idi g-laubte, ich sei es gewesen.
Lassen Sie uns sehen: ich schrieb über Berufswahl, Ahneigung-en
und inneren Zwiespalt, der von Kindheit an besteht. Allerdings sprach
ich von mir selber; aber diese Elrleboisse sind typisdi. Übertragen Sie
sie auf andere MenscJien, so wissen Sie über Vieles Bescheid. Vor
Allem das Eine wird Ihnen klar, daß unser Leben auch von Kräften
regiert wird, die nicht offen zu Tage liegen, die erst mühsam aufge-
sucht werden müssen. Ich wollte an einem Beispiel, an meinem Beispiel
zeigen, daß sehr Vieles in uns vorgeht, was außerhalb unseres ge-
wohnten Denkens liegt. Aber vielleicht sage ich Ihnen besser gleich,
was ich mit meinen Briefen beabsichtige. Sie können dann entsdieiden,
ob der Gegenstand ernst genug ist. Wenn ich einmal in Klatsch oder
in Redensarten versinke, sagen Sie es; dann ist uns Beiden geholfen.
Idi bin der Ansicht, daß der Mensdi vom Unbekannten belebt
wird. In ihm ist ein Es, irgend ein Wunderbares, das Alles, was er
tut und was mit ihm gesdiieht, regelt. Der Satz „idi lebe" ist nur
bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphanomen von der Grund-
wahrheit aus: Der Mensch wird vom Eis gelebt. Mit diesem Es werden
sich meine Briefe beschäftigen. Sind Sie damit einverstanden?
Und nun noch eins. Wir kennen von diesem Es nur das, was
innerhalb unseres Bewußtseins liegt. Weitaus das Meiste ist unbetret-
barcs Gebiet. Aber wir können die Grenzen unscrs Bewußtseins durch
Forschung und Arbeit erweitern und wir können tief in deia Unbe-
wußte eindringen, wenn wir uns entsdiließen, nicht mehr wissen zu
wollen, sondern zu phantasieren. Wohlan, mein s<iiöner Doktor Faust,
der Mantel ist zum Flug bereit. Ins Unbewußte . . .
Ist es nicht merkwürdig, daß wir von unsem drei ersten Lebens-
jahren nithts mehr wissen? Hie und da kramt einer noch eine schwadie
Erinnerung an ein Gesicht, eine Türe, eine Tapete oder sonst irgend
etwas aus, was er in seiner frühesten Kindheit gesehen haben will.
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■■'■■^-»-
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Aber ich habe nodi nie Jemanden getroffen, der sich an seinen ersten
Schritt erinnert hätte oder an die Art, wie er sprechen, essen, sehen, '
hören gelernt hat. Und das alles sind doch Erlebnisse. Ich könnte mir
vorstellen, daß ein Kind, wenn es zum ersten Med durch die Zimmer
rutscht, tiefere Eindrücke bekommt als ein Erwadisener durch eine
Reise nach Italien. Idi könnte mir vorstellen, daß ein Kind, das zum
ersten Mal erkennt, der Mensch dort mit dem gütigen Lächeln ist die
Mutter, tiefer davon ergriffen wird, als ein Mann, der seine Geliebte
heimführt. Warum vergessen wir das alles? "
Dcu^uf läßt stdi Vieles sagen; aber eine ELrwagung muß erst er-
ledigt werden, ehe man an die Antwort gehen kann. Die Frage ist
falsch gestellt. Wir vergessen jene drei ersten Jahre nicht, die Er-
innerung daran scheidet nur aus unserem Bewußtsein aus, im Unbe-
wußten lebt sie fort, bleibt sie »o lebendig, daß alles, was wir tun, aus
diesem unbewußten Erinnerungsschatze gespeist wird; wir gehen, wie
wir es damals lernten, wir essen, wir spredien, wir empfinden in der
Art, wie wir es damals taten. Eis gibt also Dinge, die vom Bewußtsein
verworfen werden, obwohl sie lebensnotwendig sind, die, weil sie not-
wendig sind, in Regionen unseres Wesens aufbewahrt werden, die
man das Unbewußte genannt hat. Warum aber vergißt das Bewußt-
sein Erlebnisse, ohne die der Mensch nicht bestehen kann?
Darf ich die Frage offen lassen? Id» werde sie noch oft stellen
müssen. Aber jetzt liegt mir mehr daran, von Ihnen als Frau zu er-
fahren, warum die Mütter so wenig von ihren eigenen Kindern wissen,
warum auA sie das Wesentlidie dieser drei Jahre vergessen. Vielleicht
tun die Mütter auch nur so, als ob sie es vergäßen. Oder vielleicht
kommt auch ihnen das Wesentliche nicht zum Bewußtsein.
Sie werden schelten, daß ich midi wieder über die Mütter lustig
mache. Aber wie soll ich mir anders helfen? In mir lebt die Sehnsudit.
Wenn ich trübe bin, ruft mein Herz nach der Mutter und findet sie
nicht. Soll ich mit Gott und der Welt grollen ? Da ist es besser, über
sich selbst zu lachen, über dieses Kindsein, aus dem man nie heraus-
kommt. Denn mit dem Erwat^ensein ist es solch eine Sache; man ist
b^
I
f
es selten, nur auf der Oberfläche, spielt es nur, wie das Kind audi
Großsein spielt. Sobald wir tief leben, sind wir Kind. Für das Es jibt
es kein Alter, und das Es ist unser eigentliches Leben. Sehen Sie sidi
doch den Menschen iu den Aug-enblicken tiefsten Leidens, tiefster
Freude an: das Gesicht wird kindlidi, die Bewegungen werden es, die
Stimme bekommt die Biegsamkeit wieder, das Herz klopft wie in der
Kindheit, die Augen glänzen oder trüben sich. Gewiß, wir suchen das
alles zu verstecken, aber es ist doch deutlich da und wir bemerken es
nur nicht ohne Weiteres, weil wir die kleinen Zeichen, die so laut reden,
an uns selbst ni(iit wahrnehmen wollen und sie deshalb auch bei Anderen
übersehen. Man weint nicht mehr, wenn man erwachsen ist? Doch bloß,
weil es nicht Sitte ist, veil irgend ein dummer Teufel es aus der Mode
brachte. Mir hat es immer Spaß gemacht, daß Ares wie zehntausend
Männer schrie, als er verwundet wurde. Und daß Adiill Tränen über
Patroklos vergießt, setzt ihn nur in den Augen des Gernegroß herab.
Wir heucheln, das Ist das Ganze. Wir getrauen uns nicht einmal, auf-
richtig zu lachen. Aber das hindert dodi nidit, daß wir, wenn wir
etwas nicht können, wie Sdjuljungen aussehen, daß wir denselben Aus-
druckt der Angst haben, den wir aU Knaben hatten, daß uns kleine
Gewohnheiten des Gehens, Liegena, Sprechens unablässig begleiten
und Jedem, der es sehen will, sagen: Sieh da, ein Kind. Beobaditen
Sie Jemanden, der allein zu sein glaubt, sofort kommt das Kind zum
Vorsdiein, mandimal in sehr komischer Form, man gähnt, man kratzt
sidi ungeniert am Kopf und Hintern, man popelt gar in seiner Nase
und — ja es muß gesagt sein — man pupt. Die feinste Dame pupt. Oder
beobachten Sie Menschen, die ganz versenkt in Irgend eine Tätigkeit,
in irgend ein Denken sind, schauen Sie sich LJebende an oder Kranke
oder Greise; sie alle sind hie und da Kinder.
Wenn man es sich ein wenig zurecht legt, kommt einem das Leben
wie ein Maskenfest vor, zu dem man sidi verkleidet, vielleidit zehn-,
zwölf-, hundertmal verkleidet, aber man geht doch hin als das, was
man ist, bleibt unter der Verkleidung inmitten der Masken, was man
ist, und geht wieder davon genau so, wie man hinging. Das Leben
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-«PIWJIi- 11 L^
beginnt mit dem Kindsein und geht auf tausend Wegen durch das
Mannesalter hin nach dem einen Ziel, wieder Kind zu werden, und nur
der einzige Unterschied ist zwischen den Menschen, ob sie kindisch
werden oder kindlich.
Dasselbe Phänomen, daß in uns etwas ist, das nach eigenem Be-
lieben in allen möglidien Altersstufen auftritt, können Sie audi bei
Kindern sehen. Das Greisenhafte im Saughngsantlitz ist bekannt und
oft besprochen. Aber gehen Sie über die Straße und sehen Sie sich
die kleinen drei-, vierjährigen Maddien an, — bei ihnen ist es deutUcher
cds bei den Knaben, wofür sich wolil ein Grund angeben ließe ; — sie
sehen mitunter aus, als ob sie ihre eigenen Mütter wären. Und zwar
alle, nicht nur hie und da eine, die früh vom Leben angefaßt ist, nein,
eine Jede und ein Jeder hat diesen seltsam alten Ausdruck zu Zeiten.
Da ist eine, die hat den zänkisciien Mund der verbitterten Frau, dort
eine, deren Lippen die Neigung zum Klats<ii verraten, dort wieder
sehen Sie die alte Jungfer und dort die Kokette. Und dann, wie oft
sieht man die Mutter schon im kleinsten Kinde. Es ist nicht Nadi-
ahmung allein, es ist das Es, das waltet. Das wird zuweilen Herr über
das Alter, verfügt darüber, wie wir dieses oder jenes Kleid anziehen
Vielleidit ist es auch Neid, der mich über die Mutter spotten läßt,
Neid, daß ich nicht selbst Weib bin und Mutter werden kann.
Ladien Sie nur nicht, es ist wirklich wahr und nicht nur mir geht
es so, sondern tdlen Männern, selbst denen, die sich gar männlich vor-
kommen. Die Sprache beweist es schon, der männlidiste Mann sdieut
sich nicht zu sagen, daß er mit dem oder jenem Gedanken sdiwanger
geht, er spridit von seinem Geisteskinde und nennt die mühevoll be-
endete Tat eine sdiwere Geburt.
Und das sind nicht nur Wortklänge. Sie sdiwören ja auf die
Wissenschaft. Nun, daß der Mensch aus Mann und Weib entsteht, ist
dodi wohl eine wissenschaftlich begründete Tatsache, wenn man sie
auch nicht im Denken und Reden berücksichtigt, wie das so oft bei
einfachen Wahrheiten vorkommt. Also ist im Wesen, das sich Mann
nennt, Weib vorhanden, im Weibe Mann und an der Idee des Mannes,
13
ein Kind zu bekommen, ist das einzig Seltsame, daß sie hartnäckig
g-eleug^net wird. Aber das Leugnen tut dem Geschehen keinen Abbruch.
Diese Mischung von Mann und Weib ist manchmal vcrhäng^nisvoU,
Es gibt Menschen, deren Es im Zweifel stecken bleibt, die alles von
zwei Seiten sehen, die Sklaven eines doppelten Kindheitsein drucks sind.
Als solche Zweifler nannte ich Ihnen die Ammenkinder. Und talsächlich
alle vier, von denen ich Ihnen berichtete, besitzen ein Es, das zu Zeiten
nicht weiß, ist es Mann oder Weib. Von mir wissen Sic längfst aus
eig-enen Erinnerungen, daß mir der Baudi unter irgend einem Eindruck
anschwillt und daß er plötzlich zusammensinkt, wenn ich Ihnen davon
erzähle. Sie wissen au<^, daß ich es meine Schwangerschaft nenne.
Aber Sie wissen nicht — oder erzählte ich es Ihnen schon? — gleich-
gültig; hier erzähle ich es nochmals. Vor beinah zwanzig Jahren wudis
mir ein Kropf am Halse. Ith wußte damals noch nicht, was ich jetzt
weiß oder zu wissen glaube. Genug, ich lief zehn Jahre lang mit einem
dicken Hals durch die Welt und habe mich damit abgefunden, dies
Ding vor meiner Kehle mit ins Grab zu nehmen. Dann kam die Zeit,
wo ich das Es kennen lernte, und idi sah ein — auf welchem Wege ist
nicht nennenswert — , daß jener Kropf ein phantasiertes Kind tei. Sie
haben sidi selbst gewundert, wie ich jenes monströse Ding los werden
konnte, ohne Operation, ohne Behandlung, ohne Jod und Thyreoiden.
Ich bin der Ansidit, daß der Kropf verschwand, weil mein Es einsehen
lernte und mein Bewußtsein einsehen lehrte, daß ich wirklich wie
jeder Mensch ein doppeltes Geschlechtswesen und -leben habe, daß es
unnötig ist, das handgreiflich durch eine Geschwulst zu beweisen. Weiter,
jene Frau, die ohne Not im Wöchnerinnenheim die Wonne fremder Ent-
bindungen genoß, hat Zeiten, in denen ihre Brüste ganz verkümmern;
dann wacht in ihr das Mannsein auf und treibt sie unwiderstehlid»
dazu, im Liebesspiel den Mann unter sich zu legen und auf ihm zu
reiten. Das Eis der dritten, jener Einsamen ließ zwischen ihren Schenkeln
ein Gewächs entstehen, das wie ein Schwänzchen aussah, und — seltsam
zu denken — sie pinselte es mit Jod, wie sie glaubte, um es zu be-
seitigen, in Wahrheit um dem Kopf des Gebildes den roten Schein
14
-MOT^*
^
der Eiche! zu geben. Dem letzten Ammenkind, das ich erwähnte, gelit
es wie mir, .ihm schwillt der Bauch in phantastischer Sdiwang-ersdiaft.
Und dann hat er Gallenkoliken, Entbindungen, wenn Sie wollen, vor
allem aber hat er mit dem Blinddarm zu tun — wie alle, die gern
kastriert werden, Weih werden wollen ; denn das Weib entsteht — so
glaubt das kindisdie Es, — aus dem Mann durdi Absdineiden der
Geschlechtsteile. Drei Anfälle von Blinddarmentzündung kenne idi bei
ihm. Bei sillen dreien ließ sich der Wunsdi, Weib za sein, nachweisen.
Oder habe ich ihm den Wunsch nur eingeredet, Weib zu sein? Das
ist schwer zu sagen. " '4
Ich muß Ihnen noch von einem fünften Ammenkind erzählen, einem *
mit Talent reich begabten Manne, der aber als Wesen mit zwei Müttern
in allem halb ist und der Halbheit mit Pantopon Herr zu werden sucht.
Aus Aberglauben, behauptet die Mutter, hat sie ihn nidit genährt; ,
zwei Söhne waren ihr gestorben, diesen dritten hat sie nidit an die
Brüste gelegt. Elr aber weiß nicht, ob er Mann oder Weib ist, sein
Es weiß es nicht. In früher Kindheit wurde das Weib in ihm lebendig,
da lag er lange krank an einer Herzbeutelentzündung, einer phanta-
sierten Herz Schwangerschaft. Und später hat sich das wiederholt als
Brustfellentzündung und homosexueller uQwiderstehlidier Zwang.
Lachen Sie ruhig über mein abenteuerliches Marchenerzählen. Ich
bin gewöhnt, verlacht zu werden, und habe es gern, mich ab und zu
von Neuem dagegen abzuhärten.
Darf ich Ihnen noch eine kleine Geschichte erzählen? Ich habe sie
von einem Mann, der längst begraben ist, vom Krieg verschlungen.
Er ist fröhlich in den Tod hineingesprungen, denn er gehörte zu dem
Typus der Helden. Er erzählte davon, wie der Hund seiner Schwester,
ein Pudel, eines Tages, er mochte damals siebzehn Lebensjahre zählen
sich an seinem Beine gerieben, onaniert habe. Er habe interessiert
zugesehen, als dann aber der Samen über sein Bein geflossen sei,
habe ihn plötzlich die Idee gepackt, daß er nun junge Hunde ge-
bären werde, und diese Idee sei ihm Wodien und Monate lang nach-
gegangen.
15
Wenn Sie Lust halten, könnten wir uns jetzt ein wenig ins
Märdienland hegeben, von den Königinnen sprechen, denen statt der
echten Söhne neugeborene Hunde in die Wiege gelegt werden, und
könnten daran allerlei Betrachtungen über die seltsame Rolle knüpfen,
die der Hund im verscliwiegenen Leben des Mensdien spielt, Be-
trachtungen, die ein helles Licht auf den pharisäischen Absdieu des
Menschen vor perversem Empfinden und Handeln werfen. Aber viel-
leicht wäre das ein wenig zu intim. Bleiben wir lieber bei der Sdiwanger-
sc^aft des Mannes. Sie ist recht häufig.
Das Auffällige bei einer Schwangeren ist der dicke Bauch. Was
sagen Sie dazu, daß idi vorher behauptete, auch beim Manne sei der
dicke Bauch als Scliw an ger Schaftserscheinung zu deuten? Selbstverständ-
lich hat er nicht wirklich ein Kind im Leib. Aber sein Es sdiafft sich
diesen dicken Bauch an, durch Essen, Trinken, durch Blähungen oder
sonstwie, weil es sdiwanger zu sein wünscht und infolgedessen schwanger
zu sein glaubt. Es gibt symbohsdie Schwangerschaften und symbolische
Geburten, sie entstehen im Unbewußten und dauern mehr oder weniger
lange, sie verschwinden aber unbedingt, wenn die unbewußten Vor-
gänge in ihrer symbolischen Bedeutung aufgedeckt werden. Das ist
nicht ganz einfach, aber hie und da gelingt es, namentlich bei Auf-
treibungen des Bauches durch Luft oder bei irgend welclien symboli-
schen Entbindungsschmerzen in Leib, Kreuz, Kopf. Ja, so sonderbar
ist das Es, daß es sich gar nicht um die anatomisch-physiologisdie
Wissenschaft kümmert, sondern selbstherrlich die alte Sage von Athenes
Geburt aus dem Haupt des Zeus wiederholt. Und ich bin Phantast
genug anzunehmen, daß dieser Mythus — ähnlich wie andere — dem
Walten des Unbewußten entsprungen ist. Der Ausdruck, mit Gedanken
schwanger gehen, muß wohl tief drin im Menschen sitzen, ihm be-
sonders wichtig sein, daß er ihn zur Sage umgestaltet hat.
Selbstverständlidi kommen soldie symbolisdie Sdiwangerschaflen
und Geburtswehen audi bei gebärfähigen Frauen vor, vielleidit sind
sie bei ihnen noch häufiger; sie entstehen aber ebensogut bei alten
Frauen, scheinen sogar während und nach dem Klimakterium eine große
J
RoBe in den versdiiedensten Krankheitsformen zu spielen; ja, auch
Kinder geben sich mit solchen Phantasiefortpflanzun^en ab, selbst
solche, von denen ihre Mütter annehmen, sie glaubten an den Storch.
Soll ich Sie noch ein wenig mehr durch abenteuerliche Behauptungen
argern? Soll ich Ihnen sagen, daß auch die Nebenerscheinungen der
Gravidität, die Übelkeit, die Zahnschmerzen — ab und zu — symbolische
Wurzeln haben? Daß Blutungen aller Art, vor allem natürlich unzeit-
gemäße Gebärmutterblutungen, aber auch Blutungen aus Nase, After,
Lungen, in engem Zusammenhang mit Geburtsvorstellungen stehen?
Oder daß die Plage der kleinen Mastdarmwürmer, die manchen
Menschen sein ganzes Leben hindurch verfolgt, häufig in der Assozia-
tion Wurm und Kind ihren Ursprung hat und verschwindet, sobald
den Würmdien der Nährboden des unbewußten symbolisdien Wunsdies
entzogen ist?
Ich kenne eine Frau - sie gehört auch zu den kinderliebenden,
kinderlosen, denn sie haßt ihre Mutter — die verlor für fünf Monate
ihre Periode, ihr Leib schwoll an und ihre Brüste, und sie hielt sich für
schwanger. Eines Tages sprach ich lange mit ihr über den Zusammen-
hang der Würmer mit Schwangerschaftsideen bei einem gemeinsamen
Bekannten. Am selben Tage gebar sie einen Spulwurm und in der
Nacht bekam sie ihr Unwohlsein und der Bauch flachte ab.
Damit wäre ich schon auf die Gelegenheitsursachen solcher Ge-
dankenschwangerschaften gekommen. Sie gehören — man kann wohl
sagen alle — in das Gebiet der Assoziation, von der ich eben als
Beispiel Wurm und Kind nannte. Meist sind diese Assoziationen sehr
weitläufig, vielgestaltig und, weil sie aus der Kindheit stammen, nur
mühsam in das Bewußtsein zu bringen. Aber es gibt auch einfache
schlagende Assoziationen, die sofort einem Jeden einleuchten. Einer
meiner Bekannten erzählte mir, daß er in der Nacht vor der Ent-
bmdung seiner Frau dieses nach seiner Ansicht qualvolle Erlebnis auf
eine eigentümliche Art auf sich zu nehmen suchte. Er träumte nämlich,
daß er selbst das Kind bekäme, träumte es in allen Einzelheiten, wie
er sie bei früheren Geburten kennen gelernt hatte, wachte im Moment,
2 Groddeck, Das Bud> vom Ei j^
1
als das Kind zur Welt kam, auf und hatte, wenn aucJi nidit ein Kind-
dicn, doch etwas Lebenswarmes aus sich herausbefördert, wie er es
seit seiner frühen Knabenzeit nicht mehr getan hatte.
Nun, das war ein Traum; aber wenn Sie sich bei ihren Freunden
und Freundinnen umhören, werden Sie zu Ihrer Überraschung ent-
decken, wie gewöhnlich es ist, daß Ehemänner oder Großmütter oder
Kinder die Entbindung ihrer Verwandten gleichzeitig am eigenen Leibe
mit durchmachen.
So deutliche Beziehungen sind jedoch nicht nötig. Es genügt oft
der Anblick eines kleinen Kindes, einer Wiege, einer Milchflasche. Es
genügt audi, bestimmte Dinge zu essen. Sie werden ja selbst genug
Menschen kennen gelernt haben, die einen aufgetriebenen Leib nach
Kohl bekommen oder nach Erbsen, Bohnen, nadi Möhren oder
Gurken. Mitunter stellen sich dann auch Geburtswehen in Gestalt
von Bauchschmerzen ein, ja die Geburt selbst in der Form des Er-
brediens oder des Durchfalls kommt zu Stande. Die Verbindungen,
die das Es, für unsern hodigesdiätzten Verstand töricht genug, im
Unbewußten macht, sind geradezu lächerlidi. So findet es zum Beispiel
im Kohlkopf Ähnlichkeiten mit dem Kindskopf, Erbsen und Bohnen
liegen In ihren Hülsen wie das Kind in der Wiege oder im Mutterleibe,
Erbsensuppe und Erbsenbrei erinnern es an Windeln, und nun gar
Möhren und Gurken: Was denken Sie von denen? Sie kommen nicht
darauf, wenn ich Ihnen nicht helfe.
Wenn Kinder mit einem Hunde spielen, ihn beobachten und in
allen seinen Tätigkeiten mit lebhaftem Interesse verfolgen, sehen sie
zuweilen, daß dort, wo der Apparat für seine kleinen Geschäfte an-
gebracht ist, ein spitzes rotes Ding zum Vorschein kommt, das wie
eine Möhre aussieht. Sie zeigen dieses seltsame Phänomen der Mutter
oder wer gerade in der Nähe ist, und erfahren durch Worte oder ver-
legenen Blick des Erwachsenen, daß man von so etwas nicht spricht,
es überhaupt nicht bemerkt. Das Unbewußte hält dann den Eindruck
fest, mehr oder minder deutlich, und weil es Möhre und des Hundes
rote Spitze einmal identifiziert hat, bleibt es hartnackig bei der Idee,
18
audi die Mohren seien verbotene Dinge, und es antwortet auf das An-
gebot, sie zu, essen mit Abneigung, Ekel oder mit symbolischer
Schwangerschaft. Denn auch darin ist das kindliche Unbewußte seltsam
dumm im Vergleich zu unserem hochgelobten Verstand, daß es glaubt,
die Keime zum Kinde kamen durdi den Mund, durch Essen in den
Bauch, in dem sie dann wachsen; etwa wie Kinder auch glauben, daß aus
einem verschluckten Kirschkern ein Kirschbaum im Leibe wädist. Daß
aber das rote Ding des Hundes etwas mit dem Kinderkriegen zu tun
hat, das wissen sie in ihrer dunkeln Kinderunschuld ebenso gut oder
ebenso verworren, wie daß der Keim zum Brüderchen oder Schwester-
chen, ehe er in die Mutter hineingeriet, irgendwie und irgendwo in
dem merkwürdigen Anhängsel des Mannes oder Knaben sitzen muß,
das so aussieht wie ein an falsdier Stelle angebrachtes Schwänzdien,
an dem ein Säckchen mit zwei Eiern oder Nüssen hängt und von
dem man audi nur mit Vorsicht spricht, das man nur beim
Pipimachen anfassen darf und mit dem zu spielen nur der Mutter
erlaubt ist.
Sie sehen, der Weg, der von der Mohrrübe zur Phantasie-
schwangerschaft führt, ist ein wenig lang und nicht leicht zu finden.
Wenn man ihn jedoch kennt, weiß man auch, was die Unbekömm-
lichkeit der Gurken bedeutet, denn die Gurke hat ja außer
ihrer fatal spaßhaften Ähnlidikeit mit Vaters Glied auch noch in
ihrem Innern Kerne, die die Keime zukünftiger Kinder sinnig sym-
bolisieren.
Idi bin arg weit von meinem Thema abgekommen, aber ich wage
zu hoffen, daß Sie, liebe Freundin, aus persönlicher Zuneigung zu mir,
solche verworrene Briefe, wie der heutige einer ist, zweimal lesen.
Dann wird Ihnen klar werden, was idi mit all meinen Ausführungen
sagen wollte, daß das Es, jenes Ding, von dem wir gelebt werden,
auch die Geschlechtsunterschiede nicht ohne weiteres anerkennt, ebenso
wenig wie die Altersunterschiede. Und damit glaube idi Ihnen wenigstens
eme Ahnung von der Unvernunft dieses Wesens gegeben zu haben.
Vielleidit begreifen Sie auch, warum idi mitunter so weibisch bin, ein
2*
19
I
[Cind gebären xu wollen. Wenn es mir aber niAt gelungen ist, micli
deutti<:^ zu madien, werde ich das nächste Mal klarer zu sein versuchen.
Herzlichst Ilir
PATRIK TROLL.
3.
ALSO ICH BIN NICHT KLAR GEWESEN. ES GEHT IN MEINEM
Brief alles durcheinander, Sie wollen die Dinge hübsch geordnet haben,
vor allem beiehrende, wissensdiaftliche, feststehende Tatsachen hören
und ni<ht meine abstrusen Ideen, die teilweise, wie zum Beispiel die
Geschichte von den dicken Leuten, die schwanger sein sollen, sdion
beinahe verrückt sind.
Ja, liebste Freundin, wenn Sie belehrt sein wollen, würde ich Ihnen
raten, eins von den Lehrbüchern in die Hand zu nehmen, wie sie an
Universitäten üblich sind. Für meine Briefe gebe ich Ihnen hiermit
den Schlüssel: was vernünftig oder nur ein wenig seltsam klingt,
stammt von Professor Freud in Wien und dessen Mitarbeitern; was
ganz verrückt ist, beanspruche ich als mein geistiges Eigentum.
Meine Behauptung, die Mütter wüßten nicht mit ihren Kindern
Bescheid, finden Sie gesucht. Gewiß könne sich auch das Mutterherz
irren, irre sich wahrscheinlich Öfter, als die Mutter selbst es ahne, irre
sich sogar zuweilen in den wichtigsten Lebensfragen, aber wenn es
überhaupt ein sidieres Gefühl gäbe, so sei es die Mutterliebe, dieses
tiefste aller Geheimnisse.
Wollen wir uns ein wenig von der Mutterliebe unterhalten? Ich
gebe nicht vor, dieses Geheimnis, das auch icli für tief halte, lösen zu
können; doch es läßt sich allerlei darüber sagen, was gewöhnlich nicht
gesagt wird. Man beruft sich meist auf die Stimme der Natur, aber
diese Stimme spricht oft eine seltsame Sprache. Man brautht nicht erst
auf das Phänomen der Abtreibungen einzugehen, die von jeher gang
und gäbe gewesen sind und die aus der Welt zu schaffen nur irgend-
wie gewissensgepeinigte Gehirne sicli ausdenken; es genügt schon, eine
Mutter vierundzwanzig Stunden lang im Verkehr mit ihrem Kinde zu
20
beobaditen, man bekommt dann ein gut Teil Gleichgültigkeit, Über-
druß, Haß zu sehen. Es lebt eben außer der Liebe zum Kinde in
jeder Mutter auch die Abneigung gegen das Kind. Der Mensch steht
unter einem Gesetz, das lautet: Wo Liebe ist, da ist auch Haß, wo
Achtung ist, da ist Veraditung, wo Bewunderung ist, da ist Neid.
Dieses Gesetz gilt unverbrüchlich und auch die Mütter ma<iien keine
Ausnahme davon.
Wußten Sie um dieses Gesetz? Daß es audi für die Mütter gilt?
Wenn Sie die Mutterliebe kennen, kennen Sie auch den Mutterhaß?
Ich wiederhole meine Frage; woher kommt es, daß die Mutter
so wenig von ihrem Kinde weiß? BewTißt weiß? Denn das Unbewußte
kennt dieses Gefühl des Hasses, und wer das Unbewußte zu deuten
versteht, wird an der Allgewalt der Liebe irre; er sieht, daß der Haß
ebenso groß ist wie die Liebe und daß zwischen Beiden die Gleich-
gültigkeit als Norm steht. Und voller Erstaunen, dem nie endenden
Gefühle dessen, der sich in das Leben des Es vertieft, geht er den
Spuren nach, die hie und da von den begangenen Wegen abführen,
um im rätselhaften Dunkel des Unbewußten zu verschwinden. Vielleicht
leiten diese leicht und oft übersehenen Spuren zu der Antwort hm,
warum die Mutter nidits von dem Haß gegen das Kind weiß oder
nichts wissen will, vielleicht sogar, warum wir alle unsere ersten Lebens-
jahre vergessen.
Zunächst, liebe Freundin, muß ich Ihnen erst sagen, worin sich
diese Abneigung, dieser Mutterhaß zeigt. Denn so ohne weiteres, bloß
aus Freundschaft, werden Sie es nicht glauben.
Wenn im Roman, der nadi den Regeln des lesenden Publikums
gebaut ist, das Liebespaar nadi vielen Fährlichkeiten endlidi vereint ist,
kommt eine Wendung, daß sie errötend ihren Kopf an seiner breiten
Brust birgt und ihm ein holdes Geheimnis anvertraut. Das ist sehr
hübsch; aber im Leben meldet sich die Schwangersdiaft, abgesehen
von dem Ausbleiben der Periode, auf eine recht eklige Weise, durch
Übelkeit und Erbrechen; nidit immer, um diesen Einwand gleidi zu
erledigen, und ich will hoffen, daß die Dichter und DichterinneB in
21
ihren Ehen dieses Erbredien der Schwangeren ebensowenig erleben
wie in ihren Romanen. Aber Sie werden mir zugeben, es ist redit
häufig. Und die Übelkeit entsteht aus dem Widerwillen des Es gegen
irgend etwas, was im hinern des Organismus ist, Übelkeit drückt den
Wunsch aus, dieses Widerwärtige zu entfernen, und Erbredien ist der i
Versuch, es fortzuschaffen. In diesem Falle also der Wunsch und Ver-
sucli der Abtreibung. Was sagen Sie dazu?
Ich kann Ihnen vielleicht spater einmal meine Erfahrungen über
das Erbredien, wie es außerhalb der normalen Schwan gersdiaft vor-
kommt, mitteilen, es bestehen da wieder beachtenswerte symbolisdie
Zusammenhänge, kuriose Assoziationen des Es. Hier mödite idi Sie aber
darauf hinweisen, daß sich bei diesen Übelkeiten wieder der Gedanke
meldet, der Keim zum Kinde werde in den Mund der Frau eingeführt,
und darauf deutet audi das andere Schwange rsdiaftszeichen, das von
dem Widerwillen der Frau gegen das Kind geschaffen wird, der Zahn-
schmerz.
Mit der Erkrankung des Zahns sagt das Es mit der leisen aber
aufdringlichen Stimme des Unbewußten: Kaue nicht; nimm dich in
Acht, spuck aus, was Du gern essen möchtest! Nun ist allerdings beim
Zahnschmerz der Sdiwangeren die Vergiftung durch den Samen des
Mannes schon Tatsache, aber vielleicht hofft das Unbewußte, mit dem
bißchen Gift noch fertig zu werden, wenn nur kein neues dazukommt.
Tatsächlich sucht es auch schon das lebendige Gift der Sdiwängerung
zu töten, eben durch den Zahnschmerz. Denn — hier kommt wieder
einmal der völlige Mangel an Logik zum Vorschein, durch den das Es
sich als tief unter dem denkenden Verstände stehend erweist — das
Unbewußte verwechselt Zahn und Kind. Für das Unbewußte ist der
Zahn ein Kind. Ja, wenn idi es mir recht überlege, kann idi diese
Idee des Unbewußten nidit einmal dumm finden; sie ist nicht alberner,
als der Gedanke Newton's, der im fallenden Apfel das Weltall sah.
Und für mich ist es noch sehr fraglich, ob nicht die Assoziation des
Es Zahn-Kind viel wichtiger und wisse nsdiaftHch fruchtbarer war und
ist, als Newton's astronomisdie Folgerungen. Der Zahn ist das Kind
•S2
des Mundes, der Mund ist die Gebärmutter, in der er wadist, genau
so wie der FÖtus im Mutterleibe wächst. Sie wissen ja, wie stark
diese Symbolik im Menschen wurzelt, sonst konnte er nicht auf den
Ausdruck Gebärmuttermund, Schamlippen g-ekommen sein.
Der Zahnschmerz ist also der unbewußte Wunsch, daß der Keim
des Kindes erkranken, sterben soll. Woher ich das weiß? Nun unter
anderem — es gibt viele Wege zu solchem Wissen — daher, daß
Erbrechen und Zahnschmerz verschwinden, wenn man der Mutter den
unbewußten Wunsch nach dem Tode des Kindes zum Bewußtsein
bringl. Sie sieht dann ein, wie wenig diese Mittel dem Zweck dienen,
gibt sogar oft genug den von Gesetz und Sitte getadelten Zweck auf,
wenn sie ihn in seiner krassen Nacktheit vor sich sieht.
Auch die seitsamen Gelüste und Abneigungen der Frauen in guter
Hoffnung stammen teilweise von dem Haß gegen das Kind. Jene
führen auf die Idee des Unbewußten zurück, mit bestimmten Speisen
den Kindeskeim zu vernichten; diese haben ihren Grund darin, daß
sie durch irgendweldie Assoziation an das Faktum der Schwangerschaft
oder der Schwängerung erinnern. Denn so stark ist zu Zeiten die Ab-
neigung — bei jeder Frau, was ihrer Liebe zu dem kommenden Kind
keinen Abbrudi tut — so stark ist sie, daß selbst der bloße Gedanke
daran erdrückt werden soii.
So geht es ins Unendlidie weiter. Wollen Sie mehr hören?
Idi spradi vorhin von der Abtreibung, einem Verfahren, das der sitt-
liche Mensch mit alter nur möglichen Verachtung verwirft — Öffentlich.
Aber das Vermeiden der Sdiwängerung ist doch, wissenschaftlich be-
trachtet und im Resultat, dasselbe. Und darüber braudie ich Sie wohl
nicht aufzuklären, wie gebräudilidi das ist. Auch über die Weise, wie
man das macht, ist Belehrung nicht nötig. Höchstens lohnt es sich, Sie
darauf aufmerksam zu machen, daß das Ledigbleiben auch eine Art
ist, das verhaßte Kind zu vermelden, was sich recht häufig als Grund
der Ehelosigkeit und Tugend nachweisen läßt. Und wenn denn doch
einmal die Ehe geschlossen ist, so kann man immer noch versuchen,
den Mann von sitii abzuschrecken. Es genügt dazu, immer wieder In
23
i
Wort und Tat — oder vielmehr Untätigkeit — zu betonen, welch Opfer
das Weib dem Manne bringt. Es gibt genug Männer, die diese Dumm-
heit glauben und voll scheuer Ehrfurcht diese höheren Wesen an-
staunen, die entsagend den Sdiiimtz des Unterleibs dulden um der
lieben Kinder und des lieben Mannes Willen. Gottes Gedanken sind
für den edlen Menschen darin nicht verständlich; aber er will, daß das
Kind im Sumpf der Schweinerei gezüchtet wird, und also muß man
sich fügen. Aber zeigen darf man dem Manne, wie man das alles
verachtet, zeigen muß man es ihm, sonst kommt er gar dahinter, daß
es m andien Ersatz für seine Liebesbezeugungen gibt, Ersatz, auf
den man nidit gern verziclitet. Und hat man den Mann erst so weit,
daß er den armseligen Genuß aufgibt, in der Scheide seines ange-
trauten Weibes Onanie zu treiben, so kann man ihm tausendfach die
Schuld für jede sdiledite Stimmung, und für die freudlose Kindheit
der Sprößlinge, für das Unglück der Ehe zuschreiben.
Und dann weiter, wozu gibt es Krankheiten ? Besonders Unter-
leibsleiden? Sie sind in vielen Richtungen angenehm. Da ist zunädist
die Möglichkeit, das Kind zu vermeiden. Da ist weiter die Genugtuung,
vom Arzt zu hören, daß man durch den Mann, durch dessen lieder-
Uches Vorleben krank geworden ist; denn man kann nie genug Waffen in
der Ehe haben. Da ist vor Allem ~ wenn ich zu inlim werde, bitte ich es
offen zu sagen — da ist vor Allem die Möglichkeit, einem fremden
Manne sich zu zeigen. Man erlebt die schönsten Sensationen auf dem
Untersuchungsstuhl, Sensationen, die so mächtig sind, daß sie das Es
verführen, Krankheiten in mannigfacher Form hervorzubringen.
Mir lief kürzlich ein Weiblein über den Weg, das ehrlicher Laune
war. „Vor Jahren" erzählte sie mir, „sagten Sie einmal, man gehe zum
Frauenarzt, weil man gern einmal eine andere Hand als die des Ge-
liebten spüren möchte, ja, man werde zu diesem Zweck wirklich krank.
Idi bin seitdem nie wieder untersucht worden und nie wieder krank
gewesen." So etwas zu hören ist hübsch und lehrreich. Und weü es
Ichrreidi ist, teile ich es Ihnen mit. Denn das Merkwürdige dabei ist,
daß ich jener Frau die cynisdie Wahrheit nicht mit der Absidit sagte,
24
ihr ärztlich zu helfen, sondern um sie zum Ladien zu bringen odfr
sie zu ärgern. Das Es des Weibleins aber machte ein Heilmittel daraus,
tat damit eine Arbeit, die weder ich noch sedis andere Ärzte fertig-
gebradit hätten. Was soll man solchen Tatsachen gegenüber vom
Helfenwollen des Arztes sagen? Man sdiweige beschämt und denke:
alle Dinge gehen zum Besten.
Alles Wesentliche geht audi bei der Gynäkologie außerhalb des
Bewußtseins vor sich; mit dem Verstände läßt sich der Arzt aussuchen,
vor dem man liegen will, läßt sich das Wäschestück daraufhin prüfen,
ob es hübsch genug ist, läßt sich Bidet und Seife braudien, aber sdion
bei der Art, wie man sich hinlegt, versagt die Absidit und das Un-
bewußte regiert; und nun gar erst bei der Wahl der Erkrankung, bei
dem Wunsch, krank zu werden. Das ist lediglich Sache des Es. Denn
das unbewußte Es, nicht der bewußte Verstand sdiafft die Krankheitei..
Sie kommen nicht von außen als Feinde, sondern sind zweckmäßige
Schöpfungen unseres Mikrokosmos, unseres Es, genau so zweckmäßig
wie der Aufbau der Nase und des Auges, die ja auch vom Es ge-
schaffen werden. Oder finden Sie es unmöglich, daß ein Wesen, das
aus Samenfaden und Ei einen Menschen mit Menschengehirn und
Menschenherz macht, einen Krebs oder eine Lungenentzündung oder
eine Gebärmuttersenkung hervorrufen kann?
Das nur nebenbei zur Erklärung, daß ich nidit etwa annehme, die
Frau erfinde sich ihr Unterleibsleiden aus Bosheit oder Gier. Das ist
nicht meine Meinung. Sondern das Es, das Unbewußte zwingt ihr diese
Erkrankung auf, gegen ihren bewußten Willen, weil das Es gierig ist,
boshaft ist und sein Recht verlangt. Erinnern sie midi doch gelegentlicJi
daran, daß idi ihnen etwas darüber sage, wie sich das Es sein Redit
auf Genuß verschafft, im Guten wie im Bösen. . t
Nein, meine Meinung von der Macht des Unbewußten und der
Ohnmacht des bewußten Willens ist so groß, daß ich sogar die simu-
lierten Ej-krankungen für Äußerungen des Unbewußten halte, daß mir
das bewußte sidi Krankstellen eine Maske ist, hinter der sidi weite
und unübersiditlidie Gebiete der dunklen Lebensgeheimnisse verbergen.
25
A
In diesem Sinne ist es für den Arzt gleichgültig:, ob er belogen wird
oder die Wahrheit hört, wenn er nur ruhig und sachlich die Aussage
des Kranken, seiner Zunge sowohl, wie seiner Gebärde, wie seiner
Symptome prüft und daran herumarbeitet, schleclit und recht, wie er
es vermag.
Aber icli vergesse, daß ich Ihnen von dem Haß der Mutter gegen
das Kind erzählen wollte. Und da muß ich noch ein seltsames Ver-
fahren des Unbewußten erwähnen. Denken Sie an, es kann sein —
und es ist oft so ~, daß eine Frau sich mit allen Neigungen ihres
Herzens ein Kind wünscht und doch unfruchtbar bleibt, nicht weil der
Mann oder sie selbst steril ist, sondern weil eine Strömung im Es ist,
die hartnäckig dabei bleibt; es ist besser, wenn du kein Kind kriegst.
Und diese Strömung wird jedesmal, wenn die MÖgliclikeit der Sdiwän-
gerung gegeben ist, wenn der Same in der Sclieide ist, so mäditig,
daß sie die Befruchtung verhindert. Sie verschließt etwa den Mutter-
mund, oder sie läßt ein Gift entstehen, das die Samentierchen umbringt,
oder sie tötet das Ei, oder wie Sie sich das nun denken mögen. Das
Resultat ist jedenfalls, daß keine Schwangers clmft zustande kommt,
lediglich, weil das Es es nicht will. Man könnte fast sagen, weil die
Gebärmutter es nicht will, so unabhängig sind diese Vorgänge vom
hehren Gedanken des Menschen. Auch darüber muß ich gelegentlich
ein Wort sagen. Genug, die Frau bekommt kein Kind, bis — ja, bis
das Es durdi irgend ein Ereignis, vielleiclit durd» eine Behandlung,
davon überzeugt wird, daß seine Abneigung gegen die Schwanger-
schaft irgend ein Rest von kindischen Gedanken aus dem frühesten
Lebensalter ist. Sie glauben gar nicht, liebste Freundin, was für selt-
same Ideen bei der Erforschung solcher Verweigerungen der Mutter-
schaft zum Vorschein kommen. Idi kenne eine Frau, der spukt es in^
Kopf herum, daß sie ein doppelköpf iges Kind bekommen werde; durch
eine Mischung früher Jahrmarktserinnerungen und heißer, das Gewissen
belastender Gedanken an zwei Männer gleidizeitig.
Ich nannte die Ideen unbewußt; aber das trifft nicht ganz zu;
denn diese Frauen, die das Kind ersehnen und alles tun, um lu dem
26
Glück cfer Mutter zu gelangen, die nicht wissen, und wenn man es
ihnen sagt, durchaus nicht glauben wollen, daß sie selbst das Kind
verweigern, diese Frauen haben ein sdilechtes Gewissen; nicht etwa
weil sie unfruchtbar sind und deshalb sich verachtet vorkommen; heu-
tigen Tages wird keine Frau mehr verachtet, weil sie unfruchtbar ist.
Das schlechte Gewissen verschwindet nicht mit der Schwangerschaft.
Es verschwindet nur, wenn es gelingt, die verdreckten Herde tief im
Innern der Seele aufzufinden und zu reinigen, die Giftherde, von denen
aus das Unbewußte verdorben wird.
Was für ein mühseliges Geschäft ist es, über das Es zu reden.
Man sdilägt irgend eine Saite an, und statt eines einzigen Tons er-
klingen viele, tönen durcheinander und verstummen wieder oder lassen
neue aufwachen, immer neue, bis ein wüstes Brausen und Heulen
entsteht, in dem das Gestammel des Sprechens untergeht. Glauben
Sie mir, über das Unbewußte läßt sich nicht sprechen, nur stammeln
oder besser nur leise dieses oder jenes andeuten, damit die Höllen-
brut der unbewußten Welt nicht aus den Tiefen mit wüsten Mißklängen
hervorbricht.
Muß ich es noch sagen, daß, was vom Weibe gilt, auch vom
Manne gegen die Schwangerschaft vorgebracht wird, daß er Jung-
geselle, Mönch, Keuschheitsschwärmer aus diesem Grunde bleiben
kann, oder daß er sich irgendwo ansteckt, mit Syphilis, mit Tripper
und Hodenentzündung, um keine Kinder zu zeugen? Daß er seinen
Samen unfähig macht, sein Glied nicht zur Erektion kommen läßt,
und was dergleichen Dinge mehr sind. Glauben Sie nur ja nicht, daß
ich den Frauen alles aufbürden will. Wenn es so aussieht, ist es nur,
weil ich selbst Mann bin und deshalb dem Weibe Schuld aufzubürden
suche, die mich selber drückt; denn auch das ist eine Eigentümlichkeit
des Es, daß jede Schuld, die denkbar ist, einen Jeden drückt, daß
er vom Mörder, Dieb, Heuchler und Verräter sagen muß: das bist du
selber.
Im Moment spreche ich ja noch vom Haß des Weibes gegen
das Kind und ich muß eilen, um den Brief nicht allzu sehr zu belasten.
27
j.
Bisher sprach ich von der Verhütung; der Empfängnis. Aber nun be-
achten sie Folgendes: Eine Frau, die sich ein Kind wünscht, erhält
während einer Badereise den Besuch ihres Mannes. Sie verkehren
miteinander und in froher Hoffnung und dumpfer Angst harrt sie der
nächsten Menstruation. Sie bleibt aus und am zweiten Tage dieses
Fortbleibens stolpert die Frau über eine Treppenstufe, fällt, und der
jauchzende Gedanke durchzuckt sie: Jetzt bin ich das Kind wieder
los. Diese Frau hat ihr Kind behalten, denn der Wunsch des Eis war
stärker als die Abneigung. Aber wie tausendfach tÖtet ein solches
Fallen den kaum bt;fruditeten Keim. Lassen Sie sich nur von Ihren
Bekannten erzählen, in wenigen Tagen haben Sie eine ganze Sammlung
ähnlicher Vorkommnisse, und wenn Sie, was freilich zwisclien Mens<i\en
selten ist und erst erworben werden muß, das Vertrauen dieser Freun-
dinnen haben, werden Sie hören: es war mir lieb, daß es so kam.
Und wenn Sie tiefer darauf eingehen, werden Sie erfahren, daß un-
abweisbare Gründe gegen die Schwangerschaft vorlagen, und daß das
Fallen beabsichtigt war, nicht vom Bewußtsein, versteht sich, sondern vom
Unbewußten. Und so ist es mit dem Heben, mit dem Gestoßenwerden,
so ist es mit Allem. Sie mögen es mir glauben oder nicht, es ist noch
nie eine Fehlgeburt zustande gekommen, die nicht absichtlich aus gut
erkennbaren Gründen vom Es herbeigeführt worden wäre. Notii nie.
Das Es treibt in seinem Haß, wenn der die Übermadit gewinnt, das
Weib dazu, zu tanzen oder zu reiten oder zu reisen oder zu Menschen
zu gehen, die freundliche Nadeln oder Sonden oder Gifte gebrauchen
oder zu fallen oder sich stoßen und sich mißhandeln zu lassen oder
zu erkranken, ja, es kommen komische Sacäien dabei vor, bei denen
das Unbewußte selber nicht weiß, was es tut. So pflegt die edle Frau,
die das höhere Leben oberhalb des Unterleibs führt, heiße Fußbäder
zu brauchen, um schuldlos zu abortieren. Aber das heiße Bad ist für
den Keim nur angenehm, fördert sein Wadistum. Sie sehen, ab und
zu lacht das Es über sidi selbst.
Ich kann zum Schluß nur schwer überbieten, was ich an verruditen
und verrückten Ansichten heute geschrieben habe. Aber ic^ will es
#
28
doch versuchen. Hören Sie: ich bin der Überzeugung, daß das Kind
aus Haß geboren wird. Die Mutter hat es satt, dick zu sein und eine
Last von vielen Pfunden zu tragen, und deshalb wirft sie das Kind
hinaus, recht unsanft übrigens. Tritt dieser Überdruß nicht ein, so
bleibt das Kind im Leibe und versteinert; das kommt vor.
Um gerecht zu sein, muß ich hinzufügen, daß auch das Kind niclit
mehr im dunkeln Gefängnis sitzen will und seinerseits zur Entbindung
mithilft. Aber das gehört in anderen Zusammenhang. Hier genügt die
Feststellung, daß ein übereinstimmender Wunsch von Mutter und Kind
zur Trennung da sein muß, damit es zur Geburt kommt.
Genug für heute. Idi bin allzeit Ihr
PATRIK TROLL.
4.
LIEBE FREUNDIN, SIE HABEN RECHT, ICH WOLLTE VON DER
Mutterliebe schreiben und habe vom Mutterhaß geschrieben. Aber
Liebe und Haß sind immer gleichzeitig da. Sie bedingen sidi gegen-
seitig. Und weil von der Mutterliebe so viel geredet wird und Jeder
damit Bescheid ZU wissen glaubt, hielt ich es für gut, einmal die Wurst
am andern Zipfel anzuschneiden. Im Übrigen bin ich nicht überzeugt,
daß Sie sich schon einmal mit der Frage der Mutterliebe anders be-
schäftigt haben, als sie zu empfinden und einige Redensarten lyrischer
oder tragischer Art anzuhören oder zu äußern.
Die Mutterliebe ist selbstverständlich, ist jeder Mutter von vorn-
herein eingepflanzt, ist ein eingeborenes heiliges Gefühl des Weibes.
Das mag ja sein, aber midi sollte es doch sehr wundern, wenn die
Natur sich ohne weiteres auf das weibliche Gefühl verlassen hätte
oder gar mit Empfindungen arbeitete, die wir Menschen heilig nennen.
Sieht man näher zu, so lassen sich auch einige, wenn auch gewiß nicht
alle Quellen dieses Urgefühls finden. Sie haben, sdieint es, mit dem
so beliebten Fortpflanzungstriebe wenig zu tun. Lassen Sie einmal
alles bei Seite, was über die Mutterliebe geredet worden ist, und
29-
Uk^lMMi
sehen Sie sich an, was zwischen diesen heiden Wesen, Mutter und
Kind, vor sich geht.
Da ist zunächst der Moment der Empfänjjnis, die bewußte oder
unbewußte EriniieruiiS" an einen selig:«» Aujrcnljlick. Denn ohne dieses
wahrhaft himmlische Gefühl ~- himmlisch deshalb, weil der Glaube
an Seligkeit und Himmelreidi letzten Endes damit zusammenhängt —
ohne dieses Gefühl kommt es zu keiner Empfängnis. Sie glauben das
nicht und berufen sidi auf die tausendfachen Erfahrungen des verab-
scheuten Ehebettes, der Vergewaltigungen, der Schwängerungen in
bewußtlosem Zustand. Aber all diese Fälle beweisen nur, daß das
Bewußtsein an dem Rausch nicht teilzunehmen braudil; für das Es, das
Unbewußte beweisen sie gar nichts. Um dessen Empfindungen fest-
zustellen, müssen Sie sich an die Organe wenden, mit denen es spricht,
an die Wollustorgane des Weibes. Und Sic würden erstaunt sein,
wie wenig sich die Sdieidenwände oder die Schamlippen, der Kitzler
oder die Brustwarzen um den Abscheu des Bewußtseins kümmern. Sie
antworten auf die Reibung, auf die zweckmäßige Erregung in ihrer
eigenen Weise, ganz gleich, ob der ■ Geschleditsakt dem denkenden
Menschen lieb ist oder nidit. Fragen Sie Frauenärzte oder Richter
oder Verbrecher; Sie werden meine Behauptung bestätigt finden. Sie
können auch von den Frauen, die ohne Lust empfangen haben,
die vergewaltigt oder bewußtlos mißbraucht wurden, die richtige Ant-
wort hören, nur müssen Sie zu fragen verstehen oder besser, Ver-
trauen erwecken. Erst wenn der Mensch sidi überzeugt hat: der,
der fragt, ist frei von verachtenden Gedanken, macht wirklich ernst
mit dem Wort: „Richtet nicht", erst dann öffnet er die Pforten seiner
Seele ein wenig. Oder lassen Sie sich von diesen geschlechlskalten
Opfern männlicher Gier ihre Träume erzählen; der Traum ist die
Sprache des Unbewußten und In ihm laßt sieh mancherlei lesen. Am
einfadisten ist, Sie gehen mit sich selber zu Rate, ehrlich wie es Ihre
Gewohnheit ist. Sollte es Ihnen noch niclit aufgefallen sein, daß de
Mann, den Sie lieben, mitunter nicht fähig ist. eine Erektion zustande
zu bringen? Wenn er an Sie denkt, steht seine Mannheit so kräftig
30
r
■TKAi
zur Verfügung, daß es eine Lust ist, und wenn er neben Ihnen ist, <
sinkt alle Herrlichkeit schlaff zusammen. Das ist ein merkwürdio-es
Phänomen; es bedeutet, daß der Mann wohl tausendfach und unter
den seltsamsten Verhältnissen liebesfähig ist, daß er aber unter gar
keinen Umständen eine Erektion bekommt in Gegenwart einer Frau,
die diese Erektion verhindern will. Es ist eine von den tief versteckten
Waffen des Weibes, eine Waffe, die sie unbedenklich braucht, wenn
sie den Mann demütigen will, oder vielmehr, das Unbewußte der Frau
braucht die Waffe, so nehme ich an, weil ich nicht gern ein Weib
solch bewußter Bosheit für fähig halte, und weil es mir wahrscheinlicher
ist, daß zur Verwendung dieses Fluidums, das den Mann schwächt,
unbewußte Vorgänge im Organismus des Weibes stattfinden. Mag es
nun so sein oder so, jedenfalls ist es ganz unmöglich, daß ein Mann
ein Weib nehmen kann, wenn sie nicht irgenwie einverstanden ist. Sie
tun gut daran, die Kälte der Frau zu bezweifeln und lieber an ihre
Rachsucht und unausdenkbar heimtückische Gesinnung zu glauben.
Haben Sie nie die Phantasie des Vergewaltigtwerdens gehabt?
Sagen Sie nicbt gleich nein, ich glaube Ihnen doch nidit. Vielleicht
haben Sie keine Angst wie so viele Frauen, und gerade angebHch
kalte, allein im Walde oder in dunkler Nacht zu gehen; ich sagte es
Ihnen schon, Angst ist ein Wunsch; wer sich vor der Notzucht fürchtet,
wünscht sie. Wahrscheinlich, so wie ich Sie kenne, sdiauen Sie auch
nitjit unter die Betten und in die Schränke; aber wie viele tun es, '
stets in der Angst und in dem Wunsch, den Mann zu entdecken, der
gewaltig genug ist, sich nicht vor dem Gesetz zu fürchten. Sie kennen
doch die Geschichte von jener Dame, die, als sie den Mann unter
dem Bett sieht, in die Worte ausbricht: „Endlich, seit zwanzig Jahren
warte i«^ darauf." Und wie bezeichnend ist es, daß dieser Mann mit
einem blanken Messer phantasiert wird, mit dem Messer, das in die
Sdieide gesteckt werden soll. Nun, über all das sind Sie erhaben.
Aber Sie waren einmal jünger, suchen Sie nur nach. Sie werden den
Augenblick finden — was sage id\? den Augenblick — nein, Sie
werden sid» einer ganzen Reihe von Momenten erinnern, wo es Sie r
31
>
t;
■ I
J
kalt überlief, weil Sie hinter sidi einen Schritt zu hören glaubten; wo
Sie plötzlich in der Nadit in irgend einem Gasthaus erwachten mit
dem Gedanken: habe idi auch die Tür verschlossen ? Wo Sie fröstelnd
unter die Decke krochen, fröstelnd, weil Sie die innere Hitze abkühlen
mußten, um nicht zu verbrennen. Haben Sie nie mit Ihrem Geliebten
gerungen, Notzucht gespielt? Nein? Adi, was sind Sie für eine Törin,
daß Sie sich um die Freuden der Liebe bringen, und was sind Sie
für eine TÖrin, daß Sie annehmen, ich glaube Ihnen. Ich glaube nur
an Ihr schletiites Gedäclitnis und an Ihr feiges Ausweichen vor der
Selbstkenntnis. Denn, daß ein Weib diesen höchsten Liebesbeweis»
diesen einzigen, kann man sagen, nidit begehren sollte, ist unmöglich.
So schön sein, so verführerisch sein, daß der Mann alles Andere ver-
gißt und nur liebt, das will eine Jede, und die es leugnet, irrt sich
oder lügt bewußt. Und wenn tdi Ihnen einen Rat geben darf, so suchen
Sie diese Phantasie in sidi lebendig zu maclien. Es ist nicht gut, mit
sidi selber Versteck zu spielen. Was gilt die Wette? Schließen Sie
die Augen und träumen Sie frei, ohne Absicht und Vorurteil! In we-
nigen Sekunden sind Sie von den Bildern des Traums gefesselt, hin-
gerissen, so daß Sie kaum wagen, weiter zu denken, weiter zu atmen.
Da ist das Knacken der Äste, der jähe Sprung und der Griff an die
Gurgel, das Niederwerfen und das blinde Zerreißen der Kleider, und
die wahnsinnige Angst. Und nun fassen Sie den Menschen, der rast,
ins Auge, fest und unbeirrbar. Ist er groß, klein, schwarz, blond, bärtig,
glatt? Den bannenden Namen! oh ja, idi wußte, daß Sie ihn schon
kennen. Sie sahen ihn gestern oder ehegestern oder vor vielen Jahren,
auf der Straße oder der Eisenbahnfahrt oder auf dem Pferd dahin-
jagend oder beim Tanz. Und der Name, der Ihnen durch den Kopf
schoß, macht Sie zittern. Denn nie hätten Sie geglaubt, daß gerade
dieser Mensch Ihre tiefste Begierde weckte. Er war Ihnen gleichgültig? Sie
verabscheuten ihn? Er war ekelhaft? — Hören Sie docli hin: Ihr Es
kichert über Sie- — Nein, stehen Sie nicht auf, schauen Sie nicht nach
Uhr und Schlüsselbund, träumen Sie, träumen Sie! Von dem Märtyrer-
tum, der Schande, dem Kind in Ihrem Schoß, vom Gericht und dem
32
Wiedersehen mit dem Verbrecher in Gegenwart der sdiwarzen Richter
und von der Qual zu wissen, daß Sie wünschten, was er tat und
wofür er büßt. Furchtbar, unfaßbar und unentrinnbar fesselnd. — Oder
ein anderes Bild, wie das Kind geboren wird, wie Sie arbeiten und die
Hände mit der Nadel zerstechen, während der Kleine sorglos zu Ihren
Füßen spielt und Sie nicht wissen, wie ihn ernähren. Armut, Not, Elend.
Und dann kommt der Prinz, der edle, herrlich gute, der Sie liebt, den
Sie lieben und dem Sie entsagen- Hören Sie nur, wie das Es kichert
Über die sdiöne Geste. — Und noch ein Bild, wie das Kind in Ihrem
Leib wächst und mit ihm die Angst, wie es geboren wird und Sie es
erwürgen, im Teich versenken und wie Sie selbst vor den dunkeln
Richtern als Mörderin stehen. Auf einmal tut sich die Märchenwelt auf,
ein Scheiterhaufen wird gehäuft, die Kindesmörderin steht darauf an
den Pfahl gefesselt und die Flammen lecken an ihren Füßen. Hören
Sie nur, was das Es flüstert, wie es den Pfahl deutet und das züngelnde
Feuer und wie es Ihnen zuraunt, wessen Füße es sind, die Ihr tiefstes
Wesen mit der Flamme verbindet. Ist es nicht Ihre Mutter? — Das
Unbewußte ist rätselhaft und zwischen Wald, gewaltig und Gewalt
schlummern Engel und Teufel.
Nun der bewußtlose Zustand. Wenn Sie Gelegenheit dazu haben,
sehen Sie sich bitte irgend einen hysterischen Krampfanfedl an. Er wird
Ihnen klar machen, wie viele Menschen die Bewußtlosigkeit bei sich
hervorrufen, um die Wollust zu empfinden; gewiß, es ist ein dummes
Verfahren, aber schließlich ist alle Heudielei dumm. Oder gehen Sie
in eine chirurgische Klinik, sehen Sie sich ein Dutzend Narkosen mit
an ; da können Sie merken und hören, wie genußfähig der Mensch
auch im bewußtlosen Zustand ist. Und dann nochmals, achten Sie auf
Träume ; die Träume des Menschen sind wunderliche Dolmetscher
der Seele.
Nochmals also: ich nehme an, daß eine der Wurzeln der Mutter-
liebe der Genuß bei der Empfängnis ist. Ich übergehe nun, ohne dadurch
ihre Wichtigkeit herabsetzen zu wollen, eine Reihe verwickelter Gefühle,
wie die Neigung zum Manne, die auf das Kind übertragen wird, den
3 Groddeck, Daa Bud, vom Es 33
Stolz auf die Leistung; — so merkwürdig- es audi für unsern hoch-
mögenden Verstand ist, daß man sich auf Dinye etwas einbildet, die
wie die Schwäng-erung nur vom Es geleistet werden, mit dem. was wir
als edles Werk anzuerkennen pflegen, also ebenso wenig zu tun haben
wie Schönheit oder ererbter Reichtum oder große Geistesgaben, das
Weib ist eben stolz darauf, über Nacht durch so lustige Arbeit ein
lebendiges Wesen geschaffen zu haben. — Ich rede mdit davon, wie
die Bewunderung und der Neid der Nächsten zur Ausbildung der
Mutterliebe verwendet werden oder wie das Gefühl, für ein Lebewesen
ausschließlich verantwortlidi zu sein — denn an die ausschließliche Ver-
antwortung glaubt die Mutter gern, wenn es glatt geht, ungern und
nur vom Schuldbewußtsein gezwungen, wenn es schief geht, — wie dieses
Gefühl die Neigung zum kommenden Kinde erhöht, das Gefühl großer
Wichtigkeit, das aus eigenen und fremden Quellen genährt wird; oder
wie der Gedanke, ein hilfloses Mensdilein zu schützen, mit dem eigenen
Blute zu nähren — was ja eine beliebte und gegen die Kinder später
oft verwendete Redensart ist, an die das Weib zu glauben vorgibt,
obwohl sie die Lüge darin fühlt — wie dieser Gedanke der Mutter
eine Art Gottähnlidikeit gibt und daher ihr eine fromme Gesinnung-
gegen das Muttergotteskind einflößt.
Ich möchte Sie vielmehr auf etwas Einfaches und anscheinend Un-
bedeutendes aufmerksam machen, nämlich, daß der weibliche Körper
einen hohlen leeren Raum hat, der durdi die Schwangerschaft, durcJi
das Kind ausgefüllt wird. Wenn Sie sich vorstellen, wie beunruhigenci
das Gefühl des Leerseins ist und wie wir beim Sattsein ein „anderer
Mensdi" sind, ahnen Sie ungefähr, was in dieser Richtung die Schwanger-
schaft für das Weib bedeutet. Ungefähr, nicht ganz. Denn es handelt
sidi bei den Unterleihsorganen der Frau nicht nur um ein Gefühl der
Leere, es ist vor allem die von Kindheit an bestehende Empfindung-
des Mangels, die bald mehr bald weniger die Seibatachtung des Weibes
niederdrückt. Zu irgend einer Zeit, jedenfalls sehr früh, sei es durch
Beobachtung, sei es auf anderem Wege, erfährt das kleine Mädchen,
daß ihm etwas fehlt, was der Knabe, der Mann besitzt. — Nebenbei
34
bemerkt, ist es nicht zu verwundern, daß niemand weiß, wann und wie
ein Kind die Gesdiieditsuntersdiiede kennen lernt? Obwohl diese Ent-
deckung-, man könnte sag-en, das wichtigste Ereignis im Menschenleben
ist. — Das kleine Ding, sage ich, bemerkt dieses Fehlen eines Bestand-
teiles des Menschen und faßt es als einen Fehler seines Wesens auf.
Sonderbare Ideengänge knüpfen sich daran an, von denen wir uns
gelegentlich unterhalten können, die alle das Gepräge der Beschämung
und des Sdiuldgefühls tragen. Anfangs halt nodi die Hoffnung, der
Fehler werde sich durch Nadiwachsen ausgleidien, einigermaßen dem
Gefühl des Niedrigseins die Wage, aber diese Hoffnung erfüllt sidi
nidit, es bleibt nur das in seiner Begründung immer undeutlicher
werdende Schuldgefühl und die unbestimmbare Sehnsucht, beides Er-
scheinungen, die wohl an Klarheit nachlassen, aber an Gefühlskraft
wachsen. Das geht durch lange Jahre mit in dem tiefen Leben der
Frau als immer brennende Qual. Und nun kommt der Moment der
Empfängnis, die Herrlichkeit der Sättigung, das Verschwinden der
Leere, des verzehrenden Neides und der Stham. Und dann lebt eine
neue Hoffnung auf, die Hoffnung, daß in ihrem Leibe ein neuer Teil
ihres Wesens, eben das Kind, wächst, das diesen Fehler nicht haben,
das ein Junge sein wird.
Es bedarf eigentlich keines Beweises, daß die Schwangere wünsdit,
einen Knaben zu gebaren. Wer die Fälle, in denen der Wunsch auf
ein Mäddien geht, erforscht, der wird manches Geheimnis gerade
dieser einen Mutter erfahren, die allgemeine Regel aber, daß das
Weib den Sohn rur Welt bringen will, wird sich ihm bestätigen. Wenn
idi Ihnen trotzdem von einer persönlichen Erfahrung erzähle, so ge-
schieht es, weil ein Nebenumstand mir charakteristisch vorkommt und Sie
vielleicht zum Ladien bringt, zu dem heiteren, göttlichen Lachen, mit
dem man in der Komik die tiefe Wahrheit begrüßt. Idi habe eines
Tages die kinderlosen Mädchen und Frauen meiner Bekanntschaft
gefragt, es waren natürlidi nicht sehr viele, aber doch etwa 15 — 20,
was sie sich für ein Kind wünsditen. Sie haben edle geantwortet; einen
Jungen. Aber nun kam das Seltsame. Ich fragte weiter, wie alt sie sich
'* 35
wohl diesen Knaben vorstellten und wie sie ihn g-erade in dem Moment
beschäftigt dächten. Bis auf drei haben sie alle dieselbe Antwort ge-
gfegeben; zwei Jahre, auf der Wickelkommode liegend und den Strahl
in hohem Bogen unbekümmert in die Welt spritzend. Von den drei
Abseitigen gab die eine den ersten Schritt an, die zweite das Spielen
mit einem Schäfchen und die dritte: drei Jahre, stehend und pinkelnd.
Verstehen Sie wohl, verehrte Freundin? Da ist eine Gelegenheit
in die Tiefe des Mensdien zu blicken, für einen kurzen Moment mitten
im Lachen zu gewahren, was den Mensdien bewegt. Vergessen Sie es
bitte nicht. Und überlegen Sie sicli, ob hier nicht eine Möglichkeit ist,
weiter zu fragen und zu erkunden.
Das Entstehen des Kindes im Unterleib, sein Wachsen und
Schwererwerden bemächtigt sidi nodi in einer andern Riditung der
weiblichen Seele, verflicht sidi mit festgewurzelten Gewohnheiten und
nutzt, um die Mutter an das Kind zu"fesseln, Neigungen aus, die. von
verstedcten Sdiiditen des Unbewußten aus, das Mensclienherz und das
Mensdienleben beherrschen. Sie werden beobaditet haben, daß das
Kind, das auf dem Töpfdten sitzt, nicht gleich willig hergibt, was der
Erwadisene, dem diese Besdiäftigung weniger Wonne gibt, erst zart
und nadi und nach immer dringender von ihm verlangt. Wenn Sie
Interesse dafür haben, dieser absonderlidieii Neigung zur freiwilligen
Verstopfung, aus der nidit selten eine Lebensgewohnheit wird, nach-
zugehen, was ja allerdings ein seltsames Interesse ist. so bitte id. Sie
sid. daran zu erlftnern, daß in dem Unterleib in der Gegend von
Mastdarm und Blase fein und lüstern tätige Nerven verlaufen, deren
Reizung artige Gefühle weckt. Sie werden dann weiter daran denken
Wie oft die Kinder bei Spiel und Arbeit unruhig auf dem Stuhl«
rutsdien. - vielleidit taten Sie es selbst in Ihrer Kindheit unsdiuldigen
Tagen, — mit den Beinen wippein und zappeln, bis das verhängnisvoUe
Wort der Mutter ertönt: „Hans oder Liesel, geh auf das Closet.«
Warum wohl das? Ist es wirklidi, daß der Knabe, daß das Mädchen
sidi verspielt haben, wie es Mama in Rücksicht auf eigene längst ver-
worfene Neigungen nennt, oder daß sie gar zu stark von der Schularbeit
36
I
gefesselt sind? Ach nein, es ist die Wollust, die solches zustande
bringt, eine eigenartige Form der Selbstbefriedigung, von Kindheit auf
geübt und bis zur Vollendung spater ausgebildet in der Verstopfung;
nur daß dann leider der Organismus nicht mehr mit der Wollust
antwortet, sondern nur, im Schuldgefühl der Onanie, Kopfschmerzen
oder Schwindel oder Leibweh schafft und wie die tausend Folgen der
Gewohnheit, sich dauernd einen Druck auf die genitalen Nerven zu
erhalten, heißen mögen. Ja, und dann fallen Ihnen noch Menschen ein,
die gewohnheitsmäßig ausgehen, ohne vorher sidi zu entleeren, dann
auf der Straße von der Not befallen schwere Kampfe durchmachen, bei
denen sie sich nicht bewußt werden, wie süß sie sind. Nur wem die
Regelmäßigkeit und der völlige Mangel an Notwendigkeit dieser Kämpfe
zwischen Menscii und After auffallt, der kommt allmählich zu dem
Schluß, daß hier das Unbewußte schuldlose Onanie treibt. Nun, ver-
ehrte Frau, die Schwangerschaft ist solche schuldlose Onanie in noch « |
viel stärkerer Weise, hier ist die Sünde heÜig. Aber alle heilige Mutter- f
Schaft verhindert nicht, daß der schwangere Uterus die Nerven reizt '
und Wollust bringt. )
Sie meinen, Wollust müsse vom Bewußtsein empfunden werden. 1
Das ist eine falsdie Meinung. Das heißt, Sie können diese Meinung \
haben, aber Sie müssen mir verzeihen, wenn ich ein wenig ladie. ■
Und da wir nun einmal bei dem heiklen Thema der Wollust sind, \
der geheimen, unbewußten, nie deutlich benannten, darf idi auch gleich ''.
davon sprechen, was die Kindsbewegung für die Mutter ist. Sie ist '
ja auch vom Dichter mit Beschlag belegt und rosarot geputzt und zart
parfümiert. In Wahrheit ist diese Empfindung, wenn man ihr den '\
Strahlenkranz der Verklärung nimmt, eben dieselbe, die stets entsteht, » 1
wenn etwas im Leibe des Weibes bewegt wird. Sie ist dieselbe die '
sie vom Manne her kennt, nur jeden Sündengefühles bar, gepriesen J
statt verworfen. ,
Schämen Sie sich nicht? werden Sie sagen. Nein, ith schäme midi
nicht, meine Gnädigste, so wenig schäme ich mich, daß ich die Frage
zurückgebe. Regt sich in Ihnen keine Scham, werden Sie nicht über-
37
wältigt von Leid und Sdiam über das menschliche Wesen, das den
höchsten Wert des Lebens, die Vereinisfung; von Mann und Weib, in
den Schmutz gezogen hat? Denken Sie nur zwei Minuten darüber
nach, was diese Wollust zu zweit bedeutet, wie sie Ehe, Familie, Staat
geschaffen hat, Haus und Hof gegründet, die Wissenschaft, die Kunst,
die Religion aus dem Nichts hervorgerufen, wie sie alles, alles, alles,
was Sie verehren, gemacht hat, und wagen Sie es dann nodi, den
Vergleich zwischen Begattung und Kindsbewegung abscheulich zu finden.
Nein, Sie sind viel zu verständig, um den Zorn über meine von
tugendprangenden Kinderwärterinnen verbotenen Worte langer zu
pflegen, als bis Sie Zeit gefunden haben, sich zu besinnen. Und dann
werden Sie mir willig weiter zu einer nodi schärfer von Herz- und
Geistesbildung verpönten Behauptung folgen, daß vor allem die Ent-
bindung selbst ein Akt der höchsten Wollust ist, dessen Eindruck als
Liebe zum Kinde, als Mutterliebe weiterlebt.
Oder reicht Ihre Gutwilligkeit nicht so weit, mir auch das zu
glauben? Es widerspricht ja aller Erfahrung, der Erfahrung von Jahr-
tausenden. Nun, einer Erfahrung, und ich halte sie für die Grund-
tatsache, von der man ausgehen muß, widerspricht sie nicht, das ist
die, daß immer wieder neue Kinder geboren werden, daß also all die
Schrecken und Leiden, von denen man seit unvordenklichen Zeiten
spricht, nic^t so groß sind, um nicht von der Lust, irgend einem Lust-
gefühl überboten zu werden.
Haben Sie schon einmal eine Entbindung mit angesehen? Es ist
eine merkwürdige Sache ; die Kreißende iammert und schreit, aber ihr
Gesicht glüht in fieberhafter Erregung und ihre Augen haben den
seltsamen Glanz, den kein Mann vergißt, wenn er ihn einmal in eines
Weibes Augen hervorgerufen hat. Das sind seltsame Augen, seltsam
verschleierte Augen, die Wonne erzählen. Und was ist Wunderbares.
Unglaubliches daran, daß der Schmerz Wollust sein kann, höchste
Wollust? Nur die Perversions- und Unnaturschnüffler wissen nicht ocier
geben vor, nicht zu wissen, daß die größte Lust den Schmerz verlang-t^
Machen Sie sidi doch frei von dem Eindruck, den der Wehlaut der
38
■\
^■4
Gebärenden und die blöden Erzählungen neidischer Gevatterinnen auf
Sie gemacht haben. Versudien Sie, ehrlidi zu sein. Das Huhn gackert
audi, wenn es ein Ei gelegt hat. Aber der Hahn kümmert sieh nicht
anders darum, als daß er von neuem das Weibchen tritt, deren Grauen
vor dem Schmerz des Eierlegens sich sonderbar in dem verliebten
Ducken vor dem Herrn des Hühnerhofes äußert.
Die Sdieide des Weibes ist ein unersatÜidier Molodi. Wo ist denn
die weibliche Scheide, die damit zufrieden wäre, ein kleinfingerdickes
Glied in sich zu haben, wenn sie eins haben kann, das stark wie ein
Kinderarm ist. Die Phantasie des Weibes arbeitet mit mächtigen
Instrumenten, hat es von jeher getan imd wird es immer tun.
Je größer das Glied ist, um so höher ist die Wonne, das Kind
aber arbeitet mit seinem dicken Sdiädcl während der Entbindung im
Sdieideneingang, dem Sitz der Freude des Weibes, genau wie das
Glied des Mannes, in derselben Bewegung des hin und her und auf
und ab, genau so hart und gewaltig. Gewiß er sdimerzt, dieser hödiste
und deshalb unvergeßliche und stets von neuem begehrte Geschlechts-
akt, aber er ist der Gipfelpunkt edler weiblichen Freuden.
Warum aber ist, wenn die Entbindung wirklich ein Wollustakt ist,
die Stunde der Wehen als Leiden unvergeßlicher Art verschrieen? Ich
kann die Frage nicht beantworten; fragen Sie die Frauen. Idi kann
nur sagen, daß ich hie und da einer Mutter begegnet bin, die mir
sagte ; Die Geburt meines Kindes war trotz aller Schmerzen oder viel-
mehr wegen all der Schmerzen das Schönste, was i<h erlebt habe.
Vielleidit darf man das eine sagen, daß die Frau, von jeher zur Ver-
stellung gezwungen, nie ganz aufrichtig über ihre Empfindungen
sprechen kann, weil sie das Gebot des Absehens vor der Sünde mit
auf den Lebensweg bekommt. Woher aber diese Gleidisetzung von
Geschlethtslust und Sünde kommt, das wird niemals ganz ergründet
werden.
Es gibt audi Gedankengange, die sich durch das Labyrinth dieser
schwierigen Fragen verfolgen lassen. So erscheint es mir natürlich, daß
ein Mensch, der all sein Leben lang, selbst unter Benutzung der
39
Relig-ion, gelehrt worden ist, die Entbindung- ist schrecklich, gefährlich,
schmerzhaft, selbst daran glaubt, auch über die eigene Erfahrung-
hinaus. Es ist mir klar, daß eine Menge dieser Schadenerzählungen
erdacht wurden, um das unverheiratete Mädchen von dem unehelichen
Verkehr zurückzuschrecken. Der Neid derer, die nicht entbunden werden
vor allem der Neid der Mutter auf die eigene Tochter, der anheimfäUt]
was für sie selber längst Vergangenheit ist, spricht dabei mit. Der
Wunsch, den Mann einzuschüchtern, der erkennen soll, was er der
Liebsten zu Leide tat, weldies Opfer sie bringt, wie sie Heidin ist, die
Erfahrung, daß er sich tatsächlich einschüchtern läßt, und aus dem
mürrischen Tyrannen, wenigstens für eine Zeit, ein dankbarer Vater
wird, treiben in dieselbe Richtung. Und vor allem die innere Gewalt,
sich selbst als groß, edel, Mutter zu erscheinen, verführt zur Über-
treibung, zur Lüge. Und Lüge ist Sünde. Zuletzt aber steigt aus dem
Dunkel des Unbewußten die Mutterimago empor; denn alles Begehren
und jede Wollust ist durchtränkt von der Sehnsucht, wieder in den
Schoß der Mutter zu gelangen, ist gezeitigt und vergiftet von dem
Wunsche der Geschlechtsvereinigung mit der Mutter. Der Inzest, die
Blutschande. Ist es nicht genug, um sich sündig zu fühlen?
Was aber gehen diese geheimnisvollen Grunde uns beide im
Augenblick an? Ich wollte Sie überzeugen, daß die Natur sidi nicht
auf die edlen Gefühle der Mutter verläßt, daß sie nicht glaubt, ein
jedes Weib werde, nur weil sie Mutter wird, das aufopferungsfähige,
geliebte Wesen, dessen Gleichen wir nicht kennen, die uns nie ersetzt
wird, und deren Namen zu nennen uns sdion beglückt. Ich wollte Sie
überzeugen, daß die Natur in tausendfacher Weise die Glut schürt
deren Wärme uns durch das Leben begleitet, daß sie alles und jedes
benutzt, - denn was ich sagte, ist nur ein winziger Teil all der
Wurzeln, aus denen die Mutterliebe wächst, - benutzt, um der Mutter
jede Moghchkeit zu nehmen, sich von dem Kinde abzuwenden.
Ist es mir gelungen? Dann würde sich von Herzen freuen
Ihr alter Freund
PATRIK TROLL.
40
5.
ICH HABE MICH ALSO NICHT GETÄUSCHT, LIEBE FREUNDIN,
wenn ich annahm, daß Sie nach und nadi Interesse für das Unbewußte
bekommen würden. Daß Sie über meine Sucht zu übertreiben spotten,
bin ich gewöhnt. Aber warum suchen Sie sich dazu gerade meine Ent-
bindungswollust aus ? In der Sache habe idi Redit.
Sie haben neuH:^ geäußert, daß Ihnen meine kleinen eingestreuten
Erzählungen zusagen. „Es macht die Sadie lebendig," meinen Sie,
„und man ist fast versudit, Ihnen zu glauben, wenn Sie so gediegene
Tatsachen vorbringen." Nun, ich könnte sie ja auch erfinden oder
wenigstens frisieren. Das kommt innerhalb und außerhalb der Gelehr-
samkeit vor. Gut, Sie sollen Ihre Geschichte haben.
Vor einigen Jahren gebar eine Frau nach längerer Unfruchtbarkeil
ein Mädchen. Es war eine Steißgeburt, und die Frau wurde im
Wöchnerinnenheim von einem bekannten Geburtshelfer unter Beihülfe
zweier Assistenten und zweier Hebammenschwestern in der Narkose
künstlidi entbunden. Zwei Jahre darauf kam es zu einer zweiten
Schwangerschaft, und da ich inzwischen mehr Einfluß auf die Frau
gewonnen hatte, wurde verabredet, bei der Entbindung nichts ohne
mein Wissen zu tun. Die Schwangerschaft verlief im Gegensatz zu der
ersten ohne alle Beschwerden. Es wurde beschlossen, die Geburt zu Hause
vor sidi gehen zu lassen und nur eine Hebammenschwester zuzuziehen.
Kura vor der Entbindung wurde ich auf Wunsch der Hebammen-
sdiwester zu der Dame, die in einer anderen Stadt wohnte, gerufen.
Das Kind läge in Steißlage und was nun geschehen solle. Als ich hin-
kam, lag tatsächlich das Kind mit dem Steiß voran, die Wehen hatten
noch nicht begonnen. Die Schwangere war in großer Angst und
wünschte in die Klinik geschafft zu werden. Ich habe mich zu ihr
gesetzt, ein wenig in ihren mir schon ziemlich bekannten Verdrängungs-
komplexen geforscht und ihr schließlldi in glühenden Farben — idi
denke, Sie wissen, ob mir so etwas gelingt — die Lust der Entbindung
geschildert. Frau X. wurde vergnügt und ein eigentümlicher Ausdruck
m den Augen sagte, daß der Funke zündete. Dann sudite idi heraus-
41
zubekommen, weshalb das Kind wieder in die Steißlage gfekommen
war. „Dann ist die Geburt leichter," sagie sie mir. „Der kleine Popo ist
weich und erweitert den Weg sanfter und gemächlidier als der dicke,
harte Kopf." Nun habe idi ihr die Geschichte von dem dicken und
dünnen, harten und schlaffen Instrument in der Scheide erzählt, ungefähr
so, wie idi es Ihnen neulich beschrieb. Das machte Eindruck, aber es
blieb noch ein Rest Mißvergnügen. Schließlich sagte sie, sie mochte
mir ja gern glauben, aber alle Andern hätten ihr so viel Sdireckliches
von dem Schmerz der Geburt gesagt, daß sie doch lieber narkotisiert
werden möchte. Und wenn das Kind mit dem Steiß voran läge, würde
sie betäubt, das wisse sie aus Erfahrung. Also sei die Steißlage doch
vorzuziehen. Darauf habe ich ihr gesagt, wenn sie so dumm sei, sidi
durchaus um das höchste Vergnügen ihres Lebens bringen zu wollen,
so solle sie es nur tun. Icli hätte nichts dagegen, wenn sie sich betäuben
ließe, sobald sie es nidit mehr aushalten könne. Dazu sei aber die
Steißlage nicht nötig. „Ich gebe Ihnen die Erlaubnis zur Narkose, audi
wenn der Kopf vorliegt. Sie sollen selbst darüber entscheiden, ob
narkotisiert werden soll oder nicht." Damit bin ich abgereist und s(iion
am nädisten Tage erhielt ich die Nachricht, daß das Kind eine halbe
Stunde nach meinem Weggehen mit dem Kopf nach unten gelegen
habe. Die Entbindung ist dann glatt vor sich gegangen. Die Wödinerin
sdiilderte mir in einem hübschen Brief den Verlauf. „Sie haben ganz
Recht gehabt, Herr Doktor, es ist wirklich ein hoher Genuß gewesen.
Da neben mir auf dem Tisch die Atherflasche stand und idi die Er-
laubnis zur Narkose hatte, hatte ich nicht die mindeste Angst und
konnte jeden Vorgang genau beobachten und hemmungslos werten.
Einen Augenblick wurde der Schmerz, der bis dahin etwas aufregend
Reizvolles gehabt hatte, übergroß und icli schrie: Äther! — setzte aber
gleich hinzu: Es ist nicht mehr nötig. Das Kind schrie schon. Wenn ich
etwas bedaure, ist es nur, daß mein Mann, den ich jahrelang mit meiner
dummen Angst gequält habe, diesen hödisten Genuß nidit erleben kann."
Wenn Sie skeptisch sind, können Sie das nun eine glückliiiie
Suggestion nennen, die keine Beweiskraft hat. Mir ist das gleichgültig.
42
Ich bin überzeugi:, wenn Sie das nächste Mal ein Kind bekommen, werden
Sie audi „hemmungslos" beobachten, ein Vorurteil los werden und
etwas kennen lernen, wovor Dummheit Sie eingregrault hat.
Sie sind dann, liebe Freundin, zaghaft auf das heikle Thema der
Selbstbefriedigung eingegangen, deuten an, wie sehr Sie dieses g-eheime
Laster veraditen und äußern Ihre Unzufriedenheit mit meinen absdieu-
lichen Theorien über die schuldlose Onanie der töpfchensitzenden Kinder,
verstopften Menschen und Schwangeren und finden schließlich meine
Ansiditen über die Grundbedingungen der Mutterliebe zynisdi. „Auf
diese Weise kann man Alles auf Selbstbefriedigung zurückführen,"
sagen Sie.
Gewißr und Sie gehen nicht fehl in der Annahme, daß idi, wenn
nidit Alles, so dodi recht viel von der Onanie herleite. Die Art, wie -
ich zu dieser Ansicht gekommen bin, ist vielleicht nocJi interessanter
als die Ansidit selbst, und deshalb will ii^ Sie ihnen hier mitteilen.
Ich habe in meinem Beruf und sonst auch, oft Gelegenheit gehabt,
bei dem Waschen kleiner Kinder zugegen zu sein, Sie werden mir aus
eigener Erfahrung bestätigen, daß das nicht immer ohne Heulerei vor
siA geht. Aber wahrscheinlich wissen Sie nicht, — es ist nidit der
Mühe wert, bei kleinen Kindern solche Kleinigkeiten zu beachten —
daß dieses Heulen bei ganz bestimmten Prozeduren einsetzt und bei
anderen aufhört. Das Kind, das eben noch schrie, als ihm das Gesicht
gewaschen wurde — wenn Sie wissen wollen, warum es schreit, lassen
Sie sich selber das Gesicht von irgend einer lieben Person waschen,
mit einem Schwamm oder Lappen, der so groß ist, daß er Ihnen gleich-
zeitig Mund, Nase und Augen zudeckt — dieses Kind, sage ich, wird
plötzlich still, wenn der weiche Schwamm zwisdien den Beindien hin
und her geführt wird. Ja, dieses Kind bekommt sogar einen fast ver-
zückten Ausdruck im Gesicht und es hält ganz still. Und die Mutter,
die kurz vorher noch ermahnend oder tröstend dem Kindchen über
das unangenehme Wastiien hinweghelfen mußte, hat auf einmal einen
zarten, liebenden, fast möchte ich sagen verliebten Ton in ihrer Stimme,
audi sie ist für Augenblicke in Verzückung versunken und ihre Be-
43
wegung-en sind andere, weichere, liebendere. Sie weiß nicht, daß sie
dem Kinde Geschlechtslust gibt, daß sie das Kind Selbstbefriedigung
lehrt, aber ihr Es fühlt es und weiß es. Die erotische Handlung erzwingt
den Ausdruck des Genusses bei Kind und Mutter.
So also liegen die Dinge. Die Mutter selbst gibt ihrem Kinde
Unterricht in der Onanie, sie muß es tun, denn die Natur häuft den
Dreck, der abgewaschen werden will, dort an, wo die Organe der
Wollust Hegen; sie muß es tun, sie kann nicht anders. Und, glauben
Sie mir, Vieles, was unter dem Namen Reinlidikeit geht, das eifrige
Benutzen des Bidets, das Waschen nach den Entleerungen, die Aus-
spulungen, ist nichts weiter als ein vom Unbewußten erzwungenes Wieder-
holen dieser genußreichen Lehrstunden bei der Mutter.
Diese kleine Beobachtung, die Sie jederzeit auf ihre Riditigkeit nach-
prüfen können, wirft das ganze Schreckensgebäude, das dumme Menschen
um die Selbstbefriedigung errichtet haben, auf einmal um. Denn wie
soll man eine Gewohnheit Laster nennen, die von der Mutter erzwungen
wird? Zu deren Erlernung sich die Natur der Mutterhand bedient?
Oder wie sollte es mögÜch sein, ein Kind zu reinigen, ohne seine
Wollust zu erregen? Ist eine Notwendigkeit, der jeder Mensch vom
ersten Atemzug an unterworfen Ist, unnatürlich? Welche Berechtigung
hrf der Ausdruck „geheimes Laster" für eine Angelegenheit, deren
typisches Vorbild täglich mehrmals offen und unbefangen dem Kinde
von der Mutter eingeprägt wird? Und wie kann man es wagen, die
Onanie schädlich zu nennen, die in den Lebensplan des Menschen als
etwas Selbstverständliches, Unvermeidhches aufgenommen ist? Ebenso-
gut kann man das Gehen lasterhaft nennen, oder das Essen unnatüriich,
oder behaupten, daß der Mensch, der sidi die Nase sdinaubt. unfehlbar
daran zu Grunde gehen müsse. Das unentrinnbare Muß, mit dem das
Üben die Selbstbefriedigung dadurch erzwingt, daß es den Schmutz
und Gestank des Kots und Urins an den Ort des Geschlechtsgenusses
legte, beweist, das die Gottheit diesen verworfenen Akt angeblichen
Lasters zu bestimmten Zwecken dem Menschen als Schicksal mitgegeben
hat. Und wenn Sie Lust dazu haben, will ich Ihnen gelegentlich ein
44
paar dieser Zwecke nennen, Ihnen zeigen, daß allerdings unsere Menschen-
welt, unsere Kultur zum großen Teil auf der Selbstbefriedigung auf-
gebaut ist.
Wie ist es nun gekommen, werden Sie fragen, daß diese natür-
liche und notwendige Verrichtung in den Ruf gekommen ist, ein
schmachvolles, für Gesundheit und Geisteskraft gleich gefährliches
Laster zu sein, ein Ruf, der überall gilt. Sie tun besser, sich um eine
Antwort an gelehrtere Leute zu wenden, aber Einiges kann ich Ihnen
mitteilen. Zunächst stimmt es nicht, daß man allgemein von der Schäd-
lichkeit der Onanie überzeugt ist. Ich weiß mit exotischen Sitten aus
eigener Elrfahrung nicht Bescheid, habe aber allerlei gelesen, was mir
eine andere Meinung gegeben hat. Und dann ist mir bei Spaziergängen
aufgefallen, daß hie und da ein Bauernbursch hinter dem Pflug stand
und ganz ehrlich und allein seiner Lust frönte, und bei Landmädchen
kann man es auch sehen, wenn man nicht durch das Kindheits verbot
für diese Dinge blind gemacht worden und blind geblieben ist; solch
ein Verbot wirkt unter Umstanden lange Jahre, vielleicht ein Leben
lang, und mitunter ist es spaßhaft zu beobachten, was alles die Menschen
nicht sehen, weil Mama es verboten hat. — Sie brauchen aber nicht
erst zu den Bauern zu gehen. Ihre eigenen Erinnerungen werden Ihnen
. genug erzähen. Oder wird die Onanie dadurch unschadltdi, daß der
Geliebte, der Ehemann an den reizbaren, ihm so befreundeten Plätzen
Spielt? Es ist gar nicht nötig, an die tausend Möglichkeiten der ver-
steckten, schuldlosen Onanie zu denken, an das Reiten, Schaukeln,
Tanzen, an das Stuhlverhalten; der Liebkosungen, deren tieferer Sinn
die Selbstbefriedigung ist, gibt es auch so genug,
Das ist nidit Onanie, meinen Sie. Vielleicht nicht, vielleicht doch,
es kommt darauf an, wie man es auffaßt. Nach meiner Meinung ist es
kein großer Unterschied, ob die eigene oder die fremde Hand zärtlich
ist, ja am Ende braucht es keine Hand zu sein, auch der Gedanke
reicht aus und vor allem der Traum. Da haben Sie ihn wieder, diesen
unangenehmen Deuter versteckter Geheimnisse. Nein, liebe Freundin,
wenn Sie wüßten, was alles unsereiner — und mindestens mit dem
4S
Schein des Rechtes — zur Onanie redinet, Sie würden wirklid\ niAt
mehr von ihrer Sch*ädlichkeit sprechen,
Haben Sie denn schon einmal jemanden kennen g'elemt, dem sie
gesdiadet hat? Die Onanie selbst, nicht die Angst vor den Folgten,
denn die ist wahrüch sdilimm. Und gerade weil sie so schlimm ist,
sollten sich wenigstens ein paar Mensclien davon frei machen. Nochmals,
haben Sie schon jemanden gesehen? Und wie denken Sie sich die
Sache? Ist es das bißdien Samen, der beim Manne verloren geht
oder gar die Feuchtigkeit beim Weibe? Das glauben Sie wohl selbst
nicht, wenigstens nicht mehr, wenn Sie eins der auf Universitäten
gangbaren Lehrbücher der Physiologie aufgeschlagen und da nach-
gelesen haben. Die Natur hat reichlich, unerschöpflich für Vorrat gesorgt
und — außerdem — ■ der Mißbrauch verbietet sich von selbst; beim
Knaben und Mann wird die Erholung durch das Aussetzen der Erek-
tion und Ejakulation erzwungen und beim Weibe tritt auch ein Über-
druß ein, der ein paar Tage oder Stunden dauert; mit dem Gesihlechts-
sinn ist es wie mit dem Essen. Ebensowenig wie sich jemand den
Bauch durch vieles Essen sprengt, ebensowenig erschöpft jemand seine
Geschlechtskraft durch Onanie. Wohlverstanden, durch Onanie ; iA
spreche nicht von der Onanieangst, die ist etwas anderes, die unter-
gräbt die Gesundheit, und deshalb liegt mir daran zu zeigen, was für
Verbrecher die Leute sind, die von dem geheimen Laster reden, die
die Menschen einängstigen. Da alle Menschen, bewußt oder unbewußt,
Onanie treiben und auch die unbewußte Befriedigung als soldie
empfinden, ist es ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit, ein
ungeheures Verbrechen. Und eine Narrheit, genau so närrisch, als wenn
man aus der Tatsache des aufrechten Ganges gesundheitss<hädlidie
Folgen ableitete.
Nein, der Substanzverlust ist es nicht, sagen Sie. Ja, aber viele
Menschen glauben das, glauben selbst jetzt noch, daß die Samen-
fliissigkeit aus dem Rückgrat käme und das Rückenmark durch den
berüditigten Mißbrauch ausgedörrt würde, ja, daß schließlich auch das
Gehirn austrockne und die Menschen verblödeten.
46
Auch die Bezeidinung- Onanie deutet darauf hin, daß der Gedanke
des Samenverlustes für die Mensdien das Ersdireckende ist Kennen
Sie die Geschichte von Onan? Sie hat eig-entÜdi nichts mit Selbst-
befriedigung- zu tun. Bei den Juden war es Gesetz, daß der Sdiwager,
falls sein Bruder kinderlos gestorben, mit dessen Witwe Beilag-er hielt;
das Kind, das so entstand, galt als Nadhkömmling des Toten. Ein
nidit ganz dummes Gesetz, das auf die Erhaltung der Traditionen ging,
auf das Weiterbestehen des Stammes, wenn audi der Weg uns
Modernen ein wenig sonderbar vorkommL Unsere Vorfahren haben
ähnlidi gedacht, noch aus der Zeil kurz vor der Reformation
bestand in Verden eine ähnliche Verordnung. Nun also Onan kam in
diese Lage durch den Tod seines Bruders, da er aber seine Sdiwägerin
nicht leiden konnte, ließ er den Samen statt in ihren Leib auf die
Erde fallen und für diese Gesetzesübertretung strafte ihn Jehovah mit
dem Tode. Das Unbewußte der Masse hat aus dieser Erzählung nur
das auf den Boden Spritzen des Samens herausgenommen und jede
ähnlidie Handlung mit dem Namen Onanie gebrandmarkt, wobei denn
wohl der Gedanke an den Tod durch Selbstbefriedigung den Aus-
sdilag gab. . -i ■•
Gut, daß Sie es nicht glauben. Aber die Phantasie der wollüstigen
Vorstellungen, die sind das schlimme. Adi, liebste Freundin, haben Sie
denn in der Umarmung keine wollüstigen Vorstellungen? Und vorher
auch nicht? Vielleicht jagen Sie sie fort, verdrängen Sie sie, wie der
Kunstausdruck lautet; ich komme gelegentlich auf den Begriff des
Verdrängens zu sprechen. Aber da sind die Vorstellungen doch; sie
kommen und müssen kommen, weil Sie Mensdi sind und nicht einfach
die Mitte Ihres Körpers ausschalten können. Mir fällt bei aolchen Leuten,
die nie wollüstige Gedanken zu haben glauben, immer eine Art
Menschen ein, die die Reinlichkeit so weit treiben, daß sie sich nicht
nur waschen, sondern auch täglich den Darm ausspülen. Harmlose
Leutchen, nicht ? Sie denken gar nidit daran, daß oberhalb des
Stückdiens Darm, das sie mit Wasser reinigen, noch ein "stubenlanges
Stück ist, das ebenso dreckig ist. Und um es gleich zu sagen, ihre
47
..^£.
T
Klystiere madien sie, ohne es zu wissen, weil es symbolisdie Beyattungs-
akte sind; die Reinlichkeitssucht ist nur der Vorwand, mit dem das
Unbewußte das Bewußte betrügt, die Lüge, die ermög-licht, dem Verbot
der Mutter buchstäblich treu zu sein. Genau so ist es mit den Ver-
drängfungen der erotischen Phantasieen. Gehen Sie tiefer auf den
Menschen ein, kommt die Erotik in jeder Form hervor.
Haben Sie schon einmal ein zartes, ätherisdies, völlig unschuldiges
Mädchen geisteskrank werden sehen? Nein? Schade, Sie würden von
dem Glauben an das, was die Menschheit rein nennt, für Lebenszeit
kuriert sein und diese Reinheit und Unschuld mit dem ehrlidien Worte
Heuchelei bezeichnen. Darin liegt kein Vorwurf. Das Es braudit auch
die Heuchelei zu seinen Zwecken und gerade bei dieser verpönten und
dodi so oft geübten Gewohnheit liegt der Zweck nicht tief verborgen.
Vielleicht kommen wir der Frage, warum die Onanie das Entsetzen
von Eltern, Lehrern und sonstigen aus ihrer Stellung heraus autorita-
tiven Leuten erregt, näher, wenn wir uns die Gescliichte dieses Ent-
setzens ansehen. Ich bin nidit sehr belesen, aber mir ist es so vorge-
kommen, als ob erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Geschrei
gegen die Onanie losgegangen sei. In dem Briefwedisel zwischen
Lavater und Goethe sprechen die beiden von geistiger Onanie noA
so harmlos, als ob sie sid» von irgend einem Spaziergang etwas
erzählten. Nun ist das auch die Zeit, in der man anfing, sidi mit den
Geisteskranken zu beschäftigen, und Geisteskranke, vor allem Blöd-
sinnige sind sehr eifrige Freunde der Selbstbefriedigung. Es wäre wohl
denkbar, daß man Ursache und Wirkung verwechselt hat, daß man
glaubte: weil der Blödsinnige onaniert, ist er durch Onanie blödsinnig
geworden.
Aber letzten Endes werden wir doch wohl den Grund für den
merkwürdigen Abscheu des Menschen gegen etwas, wozu er durdi
Seme Mutter vom ersten Lebenstage an abgerichtet wird, anderswo
sudien müssen. Darf ich die Antwort verschieben? Ich habe vorher
noch so viel zu sagen, und der Brief ist ohnehin lang genug geworden.
In aller Kürze möchte idi nur noch auf eine seltsame Verdrehung der
48
Tatsachen aufmerksam machen, die selbst bei sonst überlegenden
Menschen sich findet. Man nennt die Selbstbefriedig-ung- einen Ersatz
für den „normalen" Geschleditsakt. Ach, was ließe sich alles über
dieses Wort „normaler" GestWechtsakt sagen. Aber ich habe es hier
mit dem Ersatz zu tun. Wie mögen die Menschen auf solch einen
Unsinn kommen? Die Selbstbefriedigung geht in dieser oder jener
Form durch das ganze Leben mit dem Menschen mit; die sogenannte
normale Geschlechtstätigkeit tritt aber erst in einem bestimmten Alter
auf und verschwindet oft zu einer Zeit, wo die Onanie von neuem die
kindlidie Form des bewußten Spielens an den Geschlechtsteilen annimmt.
Wie kann man einen Vorgang als Ersatz für einen andern auffassen,
der erst 15—20 Jahre später beginnt? Viel eher lohnte es sich, einmal
festzustellen, wie oft der normale Geschlechtsakt eine reine bewußte
Selbstbefriedigung ist, bei der Scheide und Glied des andern nur ein
ebensolches Werkzeug des Reibens ist wie Hand und Finger. Idi bin
dabei zu merkwürdigen Resultaten gekommen und zweifle nicht daran,
daß es Ihnen auch so gehen wird, wenn Sie der Sache nachgehen.
Nun, und die Mutterliebe? Was hat die mit all dem zu tun?
Doch wohl einiges. Ich deutete schon darauf hin, daß die Mutter seltsam
sieh verändert, wenn sie ihr Kind an den Geschleditsteilen reinigt. Sie
ist sich dessen nicht bewußt, aber gerade die gemeinsam genossene
unbewußte Lust bindet am stärksten, und einem Kinde Lust zu geben,
in welcher Form es auch sei, weckt in dem Erwachsenen Liebe. Nodi
eher ak zwischen Liebenden ist im Verhältnis von Mutter und Kind
Geben mitunter seliger als Nehmen.
Ich habe nun noch über den Einfluß der Selbstbefriedigung einen
Punkt nadizutragen, dessen Erörterung bei Ihnen Kopfsdiüttehi hervor-
rufen wird. Ich kann ihn Ihnen aber nicht ersparen, er ist widitig und
gibt wieder eine Möglichkeit, in das Dunkel des Unbewußten hineinzu-
blicken. Das Es, das Unbewußte, denkt symbolisch, und unter anderen
hat es ein Symbol, demzufolge es Kind und Geschlechtsteil identifiziert,
gletdibedeutend braucht. Der weibliche Geschlethtsteil ist ihm das
kleine Ding, das Mädchen, Töchterdien oder Schwesterdien, die kleine
4 Groddcck, Dm Bad, vom Es ^
Freundin, der männliche das kleine Männchen, das Jungdien, das
Söhnchen, Brüderdien. Das klingt absonderlidi, ist aber so. Und nun
bitte ich Sie, sich einmal ohne alberne Prüderie und falsche Scham
klar zu machen, wie sehr ein jeder Mensch seinen Geschlechtsteil liebt,
lieben muß, weil er ihm letzten Endes alle Lust und alles Leben
verdankt. Sie können sich diese Liebe nicht groß genug; vorstellen,
und diese große Liebe überträgt das Es — das Übertragen ist audi
eine seiner Eigentümlichkeiten — auf das Kind, es verwechselt so zu
sagen Geschlechtsteil und Kind. Ein gut Teil der Mutterliebe zum Kind
stammt aus der Liebe, die die Mutter für ihren Geschleditsteil hat,
und aus Onanie-Erinnerungen. V -■
War es sehr arg? Ich habe für heute nur noch eine Kleinigkeit zu
sagen, die vielleicht ein wenig erklärt, warum das Weib im allgemeinen
mehr kinderlieb ist als der Mann. Erinnern Sie sich an das, was ich
von dem Reihen der Geschlechtsteile beim Waschen erzählte, und wie
ich den daraus entstehenden Genuß unter Benutzung des unbewußten
Symbolisierens in Zusammenhang mit der Liebe zum Kinde brachte?
Können Sie sidi vorstellen, daß die Reibung des Waschens dem kleinen
Knaben so viel Freude gibt wie dem kleinen Mädchen ? Ich nicht.
Ich bin Ihr ganz ergebener
...,., ., . PATRIK TROLL.
6.
SIE FINDEN, LIEBE UND GESTRENGE RICHTERIN, DASS MEINE
Briefe zu viel von der Freude verraten, mit der ich all meine erotisdien
Kleinigkeiten vorbringe. Das ist eine richtige Bemerkung. Aber idi
kann es nicht ändern, ich freue mich und kann meine Freude nicht
verstecken, sonst würde idi platzen.
Wenn man sich selber lange Zeit in ein enges, sdiledit erleudi-
tctes, stickiges Zimmer eingesperrt hat, nur aus Angst, die Mensdien
draußen könnten einen sdielten oder auslachen, nun ins Freie kommt
50
und merkt, daß Niemand sich um eiaen kümmert, höchstens Jemand
einen Moment aufblickt und ruhig- seines Weges weiter zieht, dann
wird man fast toll vor Freude.
Sie wissen, idi war der Jüngste in meiner Familie, aber Sie ahnen
nidit, wie spott- und necklustig diese Familie war. Man brauchte bloß
eine Dummheit 2u sagen, so bekam man sie alle Tage aufs Butter-
brot geschmiert ; und daß der Kleinste in einer Geschwisterschar mit
ziemlich großen Altersuntersdiieden die meisten Dummheiten sagt, ist
begreiflidi- Da habe idi es mir frühzeitig abgewöhnt, Meinungen zu
äußern; idi habe sie verdrängt.
■ - Bitte nehmen Sie den Ausdruck wörtlich; was verdrängt wird,
verschwindet nicht, es bleibt nur nidit an seinem Platz; es wird an
irgend eine Stelle gesdioben, wo ihm sein Recht Dicht wird, wo es
sich eingeengt und benachteiligt fühlt. Es steht dann immer auf den
Fußspitzen, drückt mit aller Kraft von Zeit zu Zeit nach vorn zu dem
Ort hin, wo es hingehört, und sobald es eine Lücke in dem Wall vor
sich sieht, sudit es sich da durchzuquetschen. Das gelingt vielleicht
auch, aber wenn es nadi vorn gekommen ist, hat es all seine Kraft
verbraudit und der nädiste beste Stoß irgend einer herrisdien Gewalt
Schleudert es wieder zurück. Es ist eine recht unangenehme Situation
und Sie können sich vorstellen, was für Sprünge solch ein verdrängtes,
zerstoßenes, gequetschtes Wesen madit, wenn es endlidi frei geworden
ist. Haben Sie nur Geduld. Noch einige überlaute Briefe und dieses
trunkene Wesen wird ebenso gesetzt und brav sidi benehmen wie ein
wohldurchdachter Aufsatz irgend eines Fachpsychologen. Nur freilicii,
die Kleider sind im Gedränge verschmutzt, zerrissen und zerlumpt,
die bloße Haut sdiimmert überall durch, nicht immer sauber, und ein
eigentümlicher Geruch nach Masse menschelt darin herum. Dafür hat
es aber etwas erlebt und kann erzählen. ,. _,
Ehe ich es aber erzählen lasse, will ich noch rasch ein paar Aus-
drucke erklären, die ich hie und da brauchen werde. Haben Sie keine
Angst, ich will keine Definitionen geben, könnte es meiner zerfahrenen
Sinnesart halber gar nidit. Ähnlidi wie ich es eben mit dem Wort
4
*
51
„verdrängen" getan habe, will ich es nun auch mit den Wörtern
„Symbol" und „Assoziation" versudien.
Ich sdirieb Ihnen früher einmal, daß es sdiwer sei, über das Es
zu sprechen. Ihm gegenüber werden alle Wörter und Begriffe schwankend,
weil es seiner Natur nacli in jede Bezeichnung, ja in jede Handlung
eine ganze Reihe von Symbolen hineinlegt und aus anderen Gebieten
Ideen daran heftet, assoziiert, so daß etwas, was für den Verstand
einfach aussieht, für das Es sehr kompliziert ist. Für das Es existieren
in sich abgegrenzte Begriffe nicht, es arbeitet mit Begrlffsgebieten,
mit Komplexen, die auf dem Wege des Symbolisierungs- und Assozia-
tionszwanges entstehen. .. ■ .:' . ■'•
Um Sie nicht kopfscheu zu machen, will idi an einem Beispiel
zeigen, was ich unter Symbol- und Assoziationszwang verstehe. Als
Symbol der Ehe gilt der Ring; nur sind sich die Wenigsten klar dar-
über, wieso dieser Reif den Begriff der ehelidien Gemeinscliaft aus-
drückt. Die Sprüche, daß der Ring eine Fessel ist oder die ewig-e
Liebe ohne Anfang und Ende bedeutet, lassen wohl Sdilußfolgcrungen
auf Stimmung und Erfahrung dessen zu, der solch eine Redewendung
braucht, sie klären aber das Phänomen nidit auf, warum von un-
bekannten Gewalten gerade ein Ring gewählt wurde, um das Ver-
heiratetsein kenntlidi zu machen. Geht man jedoch davon aus, daß
der Sinn der Ehe die Geschlechtstreue ist, so ergibt sich die Deutung
leicht. Der Ring vertritt das weibliche Geschlechtsorgan, während der
Finger das Organ des Mannes ist. Der Ring soll über keinen anderen
Finger gestreift werden als über den des angetrauten Mannes, er ist
also das Gelöbnis, nie ein anderes Gesdilechtsorgan im Ring des Weibes
zu empfangen wie das des Ehegatten.
Dieses Gleidisetzen von Ring und weiblidiem Organ, Finger und
männlidiem ist nicht willkürlidi erdacht, sondern vom Es des Menschen
erzwungen, und Jeder kann den Beweis dafür an sich und Anderen
täglich führen, wenn er das Spielen mit dem Ring am Finger bei den
Menschen beobachtet. Unter dem Einflüsse bestimmter, leicht zu er-
ratender Gefühlsregungen, die meist nicht voll ins Bewußtsein treten,
52
1
- — - ■ ■ ■■ g.
beginnt dieses Spiel, dieses Auf und Abbewegen des Ringes, dieses
Drehen und Winden. Bei verschiedenen Wendungen der Unterhaltung,
bei dem Hören und Aussprechen von einzelnen Worten, beim Erblicken
von Bildern, Mensdien, Gegenständen, bei allen möglidien Sinnes-
wahrnehmungen werden Handlungen vorgenommen, die uns gleich-
zeitig versteckte Seelenvorgänge aufdecken und bis zum Überdruß
beweisen, daß der Mensch nidit weiß, was er tut, daß ein Unbewußtes
ihn zwingt, sich symbolisdi zu offenbaren, daß dieses Symbolisieren
nicht dem absichtlichen Denken entspringt, sondern dem unbekannten
Wirken des Es. Denn weldier Mensch würde absichtlich unter den
Augen Anderer Bewegungen ausführen, die seine sexuelle Erregung
verraten, die den heimlichen, stets versteckten Akt der Selbst-
befriedigung Öffentlidi zur Schau stellen? Und doch spielen selbst die,
die das Symbol zu deuten verstehen, weiter am Ringe, sie müssen
spielen. Symbole werden nicht erfunden, sie sind da, gehören zum
unveräußerlidien Gut des Menschen; ja man darf sagen, daß alles be-
wußte Denken und Handeln eine unentrinnbare Folge unbewußten
Symbolisierens ist, daß der Mensch vom Symbol gelebt wird.
Ebenso menschlldi unvermeidbar wie das Symbolschicksal ist der
Zwang zur Assoziation, der ja im Grunde dasselbe ist, da beim
Assoziieren stets Symbole aneinander gereiht werden. Schon aus dem
eben erwähnten Ringspiel ergibt sidi, daß die unbewußte Symboli-
sierung des Ringes und des Fingers als Weib und Mann eine augen-
fällige Darstellung des Beischlafes erzwingt. Geht man im einzelnen
Falle den dunklen Wegen nach, die von dem halb bewußten Wahr-
nehmen eines Eindruckes zu der Handlung des Auf- und Abschiebens
des Ringes führen, so findet man, daß blitzartig bestimmte Ideen
durch das Denken schießen, die sich bei anderen Individuen in anderen
Fällen wiederholen. Es finden zwangsläufige Assoziationen statt. Auch
die symbolisdie Verwendung des Ringes als Abzeichens der Ehe ist
durch unbewußte zwangsmäßige Assoziationen entstanden. Tief ein-
greifende Beziehungen des Ringspieles zu uralten religiösen Vor-
stellungen und Sitten sowie zu wichtigen Komplexen des persönlidien
53
Lebens tauchen bei solchen Betrachtungen auf und nötigen uns, unter
Verzicht auf die Illusionen idigewollter Planmäßigkeit den geheimnis-
voll verschlungenen Pfaden der Assoziation nachzuspüren. Sehr bald
erkennen wir dann, daß steh die Auffassung des Eheringes als Fessel
oder als Bund ohne Anfang und Ende aus Verstimmungen oder
romantischen Regungen erklärt, die aus dem der Menschheit gemein-
samen Gut der Symbole und Assoziationen ihre Äußerungen nehmen
und nehmen müssen.
Wir begegnen solchem Assoziationszwang überall, auf Schritt und
Tritt. Man braucht bloß Augen und Ohren zu öffnen. Schon in der
Redewendung „Schritt und Tritt" finden Sie den Zwang: das Wort
Schritt fordert den Reim Tritt. Tummeln Sie sich ein wenig in der
Sprache: da haben Sie Liebe und Lust, Liebe und Leid. Da ist Lust
und Brust und Herz und Schmerz; Wiege und Grab; Leben und Tod;
hin und her; auf und ab; Weinen und Ladien; Angst und Sdirecken;
Sonne und Mond; Himmel und Hölle. Die Einfälle überstürzen sicli,
und wenn Sie darüber nachdenken, wird Ihnen zu Mute, als ob plötzlich
das Sprachgebäude vor Ihnen entstünde, als ob Säulen, Fassaden,
Dächer, Türme, Türen, Fenster und Wände wie aus Nebelmassen sich
unter ihren Aug-en formten. Das Innerste wird Ihnen erschüttert, das
Unbegreifliche rückt Ihnen näher und erdrückt sie fast.
Vorüber, Liebe, rasch vorbei! Wir dürfen nicht dabei verweilen.
Fassen Sie ein paar Dinge auf, etwa wie der Assoziationszwang den
Reim benutzt oder den Rhytmus oder Alliterationen, oder Gefülils-
folgen. — Alle Sprachen der Welt lassen die Bezeidinung des Er-
zeugers mit dem verächtlichen Laut P beginnen, die der Gebärerin
mit dem billigenden Laut M. — Oder wie dieser Zwang mit dem
Gegensatz arbeitet, eine wichtige Sache, denn jedes Ding hat seinen
Gegensatz in sidi, und das sollte Niemand jemals vergessen. Sonst
glaubt er gar, es gäbe in Wahrheit ewige Liebe, unverbrüdiliche
Treue, unersdiütterliche Hochaditung. Audi Assoziationen lügen zuweilen.
Aber das Leben ist ohne das Wissen um die Bedingtheit aller Er-
scheinungen durch ihre Gegensätze nicJit zu verstehen.
54
m^
~-i^i
Es ist nidit leicht, Assoziationen zu finden, die unter allen Um-
standen und überall gelten; denn das Leben ist bunt, und bei der
Auswahl der Assoziation ist der individuelle Mensch und sein jeweiliger
Zustand mit beteiligt. Aber es ist wohl anzunehmen, daß das Gefühl
des Zugwindes, sobald es unangenehm ist, den Gedanken wachruft,
das Fenster zu schließen, daß die Stickluft des Zimmers einem Jeden
den Wunsch eingibt, das Fenster zu öffnen, daß der Anblick von
nebeneinander stehendem Brot und Butter das Wort Butterbrot her-
vorruft. Und wer einen andern trinken sieht, dem pflegt der Gedanke
durch den Kopf zu huschen; solltest du nicht auch trinken. Der Volks-
mund, von der Kraft dumpfer Logik zur Schlußfolgerung aus zahllosen
halb verstandenen Beobachtungen getrieben, faßt das tiefe Geheimnis
der Assoziation in den derben Spruch: Wenn eine Kuh schifft, schifft
die andere. Und nun halten Sie einen Augenblick ein und suchen Sie
zu begreifen, welch ein unendliches Gebiet menschlichen Lebens,
menschlicher Kultur und Entwicklung in der Tatsache liegt, daß aus
irgend welchen Gründen tausend und abertausendmal vom Urinlassen
Assoziationsbrücken zum Meer geschlagen wurden, bis endlich die
Schiffahrt erzwungen war, bis der Mast im Boot als Symbol der
Manneskraft stand und die Ruder sich taktgemäß in der Bewegung
der Liebe regten. Oder suchen Sie den Weg naciizugehen, der vom
Vogel zum Vögeln führt, dieser Weg. der von der Erektion, der Auf-
hebung des Schwergewichtes, dem Schwebegefühl der hödisten Lust.
dem durch die Luft schießenden und spritzenden Urinstrahl und Samen
zu dem beflügelten Eros und Todesgott führt, der zu dem Glauben an
Engel und zur Erfindung des Flugzeuges hinleitet. Des Menschen Es
ist ein wunderlich Ding.
Am wunderlichsten sind die Wege wissenschaftlichen Denkens.
Wir spreizen in der Medizin längst von Assoziationsbewegungen und
die Psychologie lehrt eifrig Dieses und Jenes von den Assoziationen.
Als aber Freud und die um ihn sind und waren, mit der Beobachtung
der Assoziationen Ernst machten, sie aus dem Triebleben des Mensdiea
ableiteten und bewiesen, daß Trieb und Assoziation Urphänomene
5^
menschlichen Lebens und Grundsteine aUes Wissens und Denkens,
aller Wissensdiaft sind, ging ein Geschrei des Hasses durch die Länder
und man tat so, als ob jemand das Gebäude der Wissenschaft ein-
reißen wollte, weil er feststellt, auf welchem Boden es errichtet ist.
Ängstliche Seelen. Die Fundamente der Wissensdiaft sind dauernder
als Granit und ihre Wände, Räume und Treppen bauen sich von selbst
wieder, wenn hie und da ein wenig kindisd» gefügtes Mauerwerk
einstürzt. - ,w ^
Wollen Sie einmal mit mir assoziieren? Idi begegnete heute
einem kleinen Mädchen mit roter Kapuze. Es sah mich erstaunt an,
nicht unfreundlich, denke ich, aber erstaunt: denn ich trug der Kälte
wegen eine schwarze Pelzmütze tief über die Ohren gezogen. Irgend
etwas muß mich bei diesem Blick des Kindes getroffen haben; ich sah
plötzlich midi selbst als 6- oder 7 jährigen Jungen mit einem roten
Baschlik. Rotkäppchen fiel mir ein und dann schoß mir der Vers durch
den Kopf: Ein Männlein steht im Walde so ganz allein; von da ging
es zum Zwerg und seiner Kapuze und zum Kapuziner und schließlich
ward mir bewußt, daß ich schon eine WeUe durch die Kapuzinerstraße
ging. Die Assoziationen liefen also in sich selbst zurück wie ein Ring.
Warum aber taten sie es und wie kamen sie in solcher Folge ? Durdi
die Kapuzinerstraße mußte ich gehen, das war gegeben. Dem Kind
begegnete ich zufällig, daß ich aber auf das Kind achtete und daß
sein Anblick in mir solche Gedankengänge weckte, wie war das zu
erklären? Als ich von Hause wegging, zogen zwei Frauenhände meine
Pelzmütze tief über die Ohren und ein Frauenmund sagte: „So Fat,
nun wirst du nicht frieren". Mit solchen Worten band mir meine
Mutter vor vielen Jahren den Baschlik um den Kopf. Die Mutter er-
zählte auch vom Rotkäppchen und dort stand es leibhaftig vor mir.
Rotkäppchen, das kennt ein Jeder. Das rote Köpfchen guckt hei jedem
Urinlassen neugierig aus seinem Vorhautmantel heraus, und wenn die
Liebe kommt, reckt es den Kopf nach den Blumen der Wiese, steht
wie der Pilz, wie das Männlein im Walde mit roter Kapuze auf einem
Bein, und der Wolf, in den es hineingerät, um nach neun Monden
56
wieder aus seinem Baudi geschnitten zu werden, ist ein Symbol
kindlicher Empfängnis- und Geburtstheorien. Sie werden sidi besinnen,
daß Sie einst selbst an dieses Aufschneiden des Bauches geglaubt
haben. Freilich dessen werden Sie sich nicht mehr erinnern, daß Sie
auch einmal fest überzeugt davon waren, daß alle Menschen, auch die
Frauen, solch Ding mit rotem Kappdien hatten, daß es ihnen aber
abgenommen würde und sie es irgendwie essen müßten, um Kinder
daraus wadisen zu lassen. Bei uns Assoziationsmenschen wird diese
Theorie in den Kastrationskomplex eingereiht, von dem Sie noch
allerlei hören werden. Vom Kappchen und dem Humperdinkschen Pilz
geht es leicht über zum Zwerg und seiner Kapuze und von da ist es
nidit weit bis zum Mönch und Kapuziner. In beiden Ideen klingt der
Kastrationskomplex noch nach: denn der uralte Zwerg mit langem
Bart ist runzliofe Altersimpotenz und der Mönch versinnbildlicht die
freiwillig unfreiwillige Entsagung. Soweit sind die Dinge wohl klar,
wie aber kommt die Kastrations idee in meinen Kopf? Der Ausgangs-
punkt von allem, besinnen Sie sich nur, war eine Szene, die an meine
Mutter erinnerte, und das Schlußglied war die Kapuzinerstraße. In
jener Kapuzinerstraße lag ich vor vielen Jahren krank an einem Nieren-
leiden, todeskrank, und wenn ich recht die Tiefen meines Unbewußten
erforsche, glaube idi, daß jene Wassersudit aus dem Gespenst der
Onanieangst entstand, die letzten Endes mit irgend welchen Regungen
zusammenhängt, die meiner Mutter galten, wenn sie mir sorglidi das
Zwerglein aus seiner Höhle nahm, um es Urin spritzen zu lassen. Ich
vermute es, idi weiß es nidiL Aber der einsam stehende Pilz mit der
roten Kappe, der giftige Fliegenpilz weist auf die Onanie hin, und
der rote Baschlik auf den Inzestwunsch. »
Wundern Sie sich über die gewundenen Wege, die meine Sucht,
Assoziationen zu deuten, geht? Es ist nur der Beginn, denn nun
wage ich zu behaupten, daß das Märciien aus dem Assoziations- und
Symbolisierungszwang entstand, entstehen mußte, weil das Rätsel der
Begattung, Empfängnis, Geburt und des Mädchentums die Menschenseele
mit Affekten quälte, bis sie dichterisch gestaltete, was unbegreiflich ist;
57
wage zu behaupten, daß das Lieddien vom Männlein im Walde bis in die
Einzelheiten dem Phänomen der Sdiambehaarung und der Erektion
entnommen ist, aus unbewußten Assoziationen, daß der Glaube an
Zwerg-e ebenso aus der Assoziation Wald, Schamhaar, Ersdilaffung,
runzliger Zwerg entstehen mußte und daß das Klosterleben mit samt
dem Kuttenkleid eine unbewußte Folge der Flucht vor dem Mutter-
inzest ist. So weit gehe ich mit meinem Glauben an die Assoziation
und das Symbol und noch viel weiter. ■ ' ■ - -
Darf ich noch ein Beispiel vom Assoziationszwang geben? Es ist
wichtig, weil es ein wenig in die Sprache des Unbewußten, in den
Traum einführt, ein Lebensgebiet des Es, das uns Ärzten manches
Rätsel aufgibt. Es ist ein kurzer Traum, ein Traum eines einzigen
Wortes, des Wortes „Haus". Die Dame, die ihn träumte, kam vom
Worte „Haus" auf das Wort „Eßzimmer" und von da auf „Eß-
besteck" und dann auf „Operationsbesteck". Vor einer schweren
Operation, einer Operation der Leber nach Talma stand ihr Mann.
Sie war in Sorge um Ihn. Von dem Namen Talma ging sie über aul
Talmi, das sie auf ihr Eßbesteck bezog: es sei nicht Silber, sondern
Christoffle. Talmi sei auch ihre Ehe, denn ihr Mann, der der Operation
nach Talma entgegenginge, war von jeher impotent. Talmi, falsch sei
sie gegen mich, der ich sie behandelte. Es kam heraus, daß sie mitii
belogen hatte, daß sie wirklich ein Talmibesteck war.
An all dem ist nichts Besonderes; höchstens der Wunsch, den
Talmigatten los zu werden und einen echt silbernen statt seiner zu
erwerben, ist noch erwähnenswert. Aber die ganze Erzählung mit
ihrer raschen Assoziationsfolge hatte ein merkwürdiges Resultat. Jene
■Frau war seit zwei Tagen von einer großen Angst gequält, ihr Herz
jagte in raschen Sdilägen und ihr Bauch war von Luft gebläht. Etwa
zwanzig Minuten hatte sie gebraucht, um zu dem Worte „Haus" zu
assoziieren. Als sie zu Ende erzählt hatte, war der Leib weidi, das
Herz ganz ruhig und die Angst war fort.
Was soll ich davon denken? War ihre Angst, ihre akute Herz-
neurose, die Blähung ihres Darms, ihres „Eßzimmers", Angst um den
58
Ifärtwiken Mann, Gewissensbisse wegen des Todeswunsches gegen ihn,
war es, weil sie das Alles verdrängte, nicht ins Bewußtsein kominen
ließ, oder bekam sie all diese Leiden, weil ihr Es sie zum Assoziieren
zwingen wollte, weil es ein tiefes Geheimnis emporzuschicken suchte,
das von der Kindheit her versteckt war? All das mag gleidizeitig ge-
wirkt haben, für meine Behandlung aber, für das schwere Leiden, das
sie zu einem elenden Krüppel mit giditisdien Gliedern gemadit hatte,
scheint mir das Wichtigste die letzte Beziehung zu sein, der Versud\
des Es, ein Kindheitsgeheimnis auf dem Wege der Assoziation aus-
zusprechen. Denn ein Jahr später kam sie auf jenen Traum zurück
und erst dann erzählte sie mir, daß das Wort Talmi allerdings mit
der Impotenz zusammenhing, aber nicht mit der ihres Mannes, sondern
mit ihrer eigenen, tief gefühlten, und daß die Operationsangst nicht
dem Manne galt, sondern dem eigenen Onaniekomplex, der ihr Ursadie
der Unfruchtbarkeit, Ursache ihrer Erkrankung zu sein schien. Seit
dieser Erklärung verHef ihre Genesung glatt. Soweit man von Gesund-
heit sprechen kann, ist diese Frau gesund. * '
So viel von den Assoziationen.
Wenn ich Sie, liebe Freundin, nach alle dem, was ich eben aus-
einandergesetzt habe, nodi darauf aufmerksam madie, daß ich für
mich persönlich das allgemein menschliche Recht unklarer Ausdrucks-
weise beanspruche, glaube ich ungefähr die Vorstellung geweckt zu
haben, daß sidi dem Sprechen über das Es schwere Hindernisse ent-
gegenstellen. Als einzigen Weg zur Verständigung sah ich den Sprung
mitten in die Dinge hinein an.
Da idi nun einmal beim Definieren bin, will ich audi gleich ver-
suchen, Ihnen das Wort „Übertragung" zu erklären, das hie und da
in meinen Äußerungen vorgekommen ist. *
Sie erinnern sich, daß ich von dem Einfluß meines Vaters auf
mich erzählt habe, wie ich bewußt und unbewußt ihn nachahmte. Zur
Nachahmung bedarf es eines Interesses für das, was man nadiabmt,
für den, den man nachahmt. Tatsächlich lebte in mir ein sehr starkes
Interesse an meinem Vater — lebt nodi jetzt eine Bewunderung, die
59
durch ihre Leidenschaftlichkeit charakterisiert ist. Mein Vater starb,
als ich 18 Jahre alt war. Der Hang zur leide nschaftlidien Bewunderung-
blieb aber in mir, und da aus tausend und einem Grunde, über die
wir sprechen können, meine Begabung für Totenkultus gering ist, warf
ich die frei gewordene Leidenschaftlidikeit im Bewundern auf das nun-
mehrige Haupt der Familie, auf meinen ältesten Bruder, ich übertrug
sie auf ihn. Denn so etwas nennt man Übertragung. Es scheint aber,
daß seine Persönlichkeit für die Bedürfnisse meiner jungen Seele nicht
ausreichte, denn wenige Jahre spater entstand, ohne daß sidi die
Neigung zum Bruder verminderte, in mir eine gleich intensive Be-
wunderung für meinen ärztlichen Lehrer Schweninger. Ein Teil der
Affekte, die meinem Vater gegolten haben, waren in diesen Jahren
frei zu meiner Verfügung geblieben und wurden nun auf Schweninger
Übertragen. Daß sie wirklich zu meiner Verfügung standen, geht
daraus hervor, daß ich während der Zeit zwisdien dem Tode des
Vaters und dem Kennenlernen Sciiweningers zu vielen Menschen in
ein solches Bewunderungsverhältnis trat, es dauerte aber immer
bloß kurze Zeit, und dazwischen waren Pausen, in denen meine so
gerichteten Affekte ansdieinend unbeschäftigt waren, oder sich auf
Männer der Geschichte, auf Bücher, Kunstwerke, kurz alles Mögliche
bezogen.
Ich weiß nicht, ob Ihnen jetzt schon klar geworden ist, weldie
große Bedeutung der Begriff der Übertragung für meine Anschauungen
hat. Ich darf also wohl die Sache, von einem anderen Ende beginnend,
nochmals auseinandersetzen. Vergessen Sie aber nicht, daß ich über
das Es spreche, daß also Alles nicht so scharf umgrenzt ist, wie es
dem Wortlaut nach scheint, daß es sich um Dinge handelt, die in-
emanderfließen und sich nur künstlich trennen lassen. Sie müssen sieh
das Reden über das Es etwa vorstellen wie die Gradeinteilung der
Erdkugel. Man denkt sich Linien, die in der Längs- und Querrichtung
verlaufen, und teilt danadi die Erdoberfläche ein. Aber die Flädie
selbst kümmert sldi darum nicht; wo östlich des 60. Längengrades
Wasser ist, da ist audi westlich weldies. E^ sind eben Orientierungs-
60
Werkzeuge. Und für das Erdinnere lassen sidi diese Linien nur sehr
bedingt zu Erkundungszwecken brauchen. :-
Unter solchem Vorbehalt möchte ich nun sagen, daß der Mensdi
in sich ein gewisses Quantum Affektfähigkeit hat — Neigungs- oder
Abneigungsfähigkeiten, das spricht augenblicklich nicht mit. Idi weiß
auch nidit, ob dieses Quantum stets gleich groß ist, das weiß kein
Mensch und vermutlich wird es auch nie Jemand erfahren. Aber kraft
meiner Autorität als Briefs chreiber schlage ich vor anzunehmen, die
Gefühlsmenge, die dem Menschen zur Verfügung steht, sei stets
gleich groß. Was macht er damit?
Nun, über eins besteht kein Zweifel, den größten Teil dieser
Gefühlsmasse, beinah Alles verwendet er auf sich selbst; ein im Ver-
gleich geringer, im Leben aber recht erhebhdier Teil kann nach außen
hin geriditet werden. Dieses Außen ist nun sehr verschieden; dasind
Personen, Gegenstände, Örtlichkeiten, Daten, Gewohnheiten, Phantasien,
Tätigkeiten aller Art; kurz Alles, was zum Leben gehört, kann vom
Menschen verwendet werden, um seine Neigung und Abneigung unter-
zubringen. Das Widitige ist, daß er die Objekte seiner Gefühle
wechseln kann; das heißt, eigentlich kann er es nicht, sondern sein
Es zwingt ihn, sie zu wechseln. Aber es sieht so aus, als ob er, sein
Ich das tue. Nehmen Sie einen Säugling: es ist wahrsdieinlidi, daß er
Neigung für Mildi hat. Nadi einigen Jahren ist ihm Milch gleidigülÜg
oder gar unangenehm geworden, er bevorzugt Bouillon oder Kaffee
oder Reisbrei oder was es sonst ist. Ja, wir brauchen so lange Zeit-
räume nicht; jetzt eben Ist er ganz Neigung zum Trinken, zwei Minuten
darauf ist er müde, wünscht zu schlafen oder er wünsdit zu schreien
oder zu spielen. Er entzieht dem einen Objekt, der Milch, seine Gunst
und wendet sie dem anderen, dem Schlaf, zu. Nun wiederholen sich
aber bei ihm eine ganze Reihe von Affekten Immer wieder und er
findet Geschmack gerade an diesen Affekten, er sucht sich die Möglich-
keit gerade dieses oder jenes Gefühls stets von neuem zu verschaffen;
bestimmte Neigungen sind ihm Lebensbedürfnisse, sie begleiten ihn
durch sein ganzes Leben. Dahin gehört etwa die Liebe zum Bett,
61
zum Licht oder was Ihnen noch einfallen mag. Nun ist, wenig-stens von
den Lebewesen, die das Kind umgfeben, eines, das die Gefühlswelt
des Kindes in höchstem Maße auf sich zieht, das ist die Mutter. Ja
man kann mit einem g-ewissen Recht behaupten, daß diese Neigung
zur Mutter — die immer audi ihr Geg-euteil, die Abneigung, bedingt —
ähnlitii unveränderlich ist wie die zu sich selbst. Jedenfalls ist sie
bestimmt die erste, da sie sldi scJion im Mutterleibe ausbildet. Oder
gehören Sie zu den absonderUchen Menschen, die annehmen, un-
geborene Kinder hätten keine Gefühlstätigkeit? Ich hoffe dodi nicht.
Nun also, auf dieses eine Wesen, die Mutter, häuft das Kind,
mindestens eine Zeit lang, so viel von seinem Gefühl, daß alle anderen
Mensdien nidit in Betracht kommen. Aber diese Neigung ist wie jede
Neigung, ja, mehr als jede andere reich an Enttäuschungen. Sie
wissen, die Gefühlswelt sieht die Dinge und Menschen anders, als sie
sind, sie macht sidi ein Bild von dem Gegenstand der Neigung und
liebt dieses Bild, nidit eigentlich den Gegenstand. Ein solches BUd
— eine Image nennen es die Leute, die diesen Dingen jüngst mit vieler
Mühe nachgegangen sind, — macht sich das Kind auch zu irgend einer Zeit
von seiner Mutter; vielleidit macht es sidi auch verschiedene solche
Bilder, wahrscheinlich macht es sie sich. Aber der Einfachheit halber
wollen wir bei einem Bilde bleiben und es, weil es so Braudi geworden
ist, Mutterimago nennen. Nadi dieser Mutterimago strebt nun das
Gefühlsleben des Menschen sein Lebelang, so stark strebt es danach,
daß beispielsweise die Sehnsucht nach Schlaf, die Sehnsucht nach dem
Tode, nach Ruhe, nach Schutz sich gut als Sehnsucht nach der Mutter-
imago auffassen lassen, was ich in meinen Briefen verwerten werde.
Diese Imago der Mutter hat also gemeinsame Züge, beispielsweise die, die
ich eben erwähnte. Daneben bestehen aber auch ganz persönliche indivi-
duelle Eigentümlichkeiten, die nur der einen, vom individuellen Kinde
erlebten Imago angehören. So hat diese Imago etwa blondes Haar,
sie trägt den Vornamen Anna, sie hat eine etwas gerötete Nase
oder ein Mal auf dem linken Arm, ihre Brust ist voll und sie besitzt
einen bestimmten Geruch, sie geht gebückt oder hat die Gewohn-
62
v^
heit, laut zu niesen, oder was es sonst sein mag. Für dieses imaginierte,
der Phantasie angehörende Wesen behalt sich das Es bestimmte
Gefühlswerte vor, hat sie so zu sagen auf Lager. Nun nehmen Sie an,
irgend wann begegnet dieser Mann — oder diese Frau, das ist gleich-
gültig — einem Wesen, das Anna heißt, das blond und voll ist, das
laut niest, ist da nidit die Möglichkeit gegeben, daß die schlummernde
Neigung zur Mutterimago aufgerührt wird? .Und wenn die Umstände
günstig sind — wir werden auch darüber uns gegenseitig verstän-
digen — , nimmt dieser Mann plötzlich alles, was er an Gefühl für
die Mutterimago hat, und überträgt es auf diese eine Anna. Sein
Es zwingt ihn dazu, er muß es übertragen.
Haben Sie verstanden, was ich mit der Übertragung meine?
Fragen Sie bitte, wenn es nicht der Fall ist. Denn wenn ich mich nicht
klar genug ausgedrückt habe, ist alles weitere Reden unnütz. Sie
müssen die Bedeutung der Übertragung in sich aufnehmen, sonst ist
es unmöglich, weiter über das Es zu reden.
Seien Sie gut, und beantworten Sie diese Frage Ihrem treu ergebenen
PATRIK TROLL.
7.
UEBE FREUNDIN, DER LETZTE BRIEF IST IHNEN ZU TROCKEN.
Das ist er mir auch. Aber geben Sie das Kritisieren auf. Sie reden
doch nidit in midi hinein, was Sie gern hören mSditen. Entschließen
Sie sidi ein für alle Mal, in meinen Briefen nicht die Liebhabereien
und Freuden Ihres Ichs zu sudien, lesen Sie sie, wie man eine Reise-
beschreibung liest oder einen Detektivroman. Das Leben ist ernst
genug, und weder Lektüre noch Studium noch Arbeit nodi irgend
etwas sonst soUte man absichtlich ernst auffassen.
Sie schelten auch über Mangel an Klarheit. Weder die Über-
tragung noch die Verdrängung sei Ihnen so lebendig geworden, wie
Sie und ich es wünsdien. Es sind für Sie noch leere Worte.
63
Darin kann idh Ihnen nicht beistimmen. Darf ich Sie auf eine
Stelle in Ihrem letzten Brief hinweisen, die das Gegenteil beweist?
Sie berichten von Ihrem Besuch bei Gessners, um dessen Komik
idi Sie übrigens beneide, und erzählen von einer jung-en Studentin,
die den Zorn Schulvater Gessners nebst Familien Zubehör auf sidi
lud, weil sie dem allgewaltigen Lenker der Prima widersprochen hat
und sogar im Übereifer an der Zweckmäßigkeit des griechisdien
Unterrichtes zu zweifeln wagte. „Ich muß hinterher zugeben," fahren
Sie fort, „daß sie recht ungezogen gegen den alten Herrn war, aber
ich weiß nicht, wie es kam, alles an ihr gefiel mir. Vielleicht war es,
weil sie mich an meine verstorbene Schwester erinnerte, — Sie wissen,
Suse starb mitten im Staatsexamen. Die konnte audi so sein, scharf,
beinahe bärbeißig, und wenn sie in Eifer war, verletzend. Zum Über-
fluß hatte das junge Ding bei Gessners eine Narbe über dem linken
Auge, genau wie meine Schwester Suse." Da haben Sie ja eine Über-
tragung reinsten Wassers. Weil irgend Jemand Ähnlichkeit mit Ihrer
Schwester hat, mögen Sie sie gern, obwohl Sie selbst fühlen, daß das
nicht mit rechten Dingen zugeht. Und was das Netteste an der Sache
ist, Sie geben in dem Briefe, ohne es zu wissen, das Material, wie
die Übertragung zustande gekommen ist. Oder irre idi mich, stammt
der Topasring, von dessen Verlust und Wiederfinden Sie kurz vorher,
ganz gegen Ihre Briefgewohnheiten, ausführhch berichten, nJdit von
Ihrer Schwester ? Sie sind einfach sdion, ehe Sie das junge Mäddien
sahen, in Ihren Gedanken mit Suse beschäftigt gewesen, die Über-
tragung war vorbereitet.
Und nun die Verdrängung: Nachdem Sie sdiriftlidi festgelegt
haben, Ihre ungezogene junge Freundin habe über dem linken Auge
eine Narbe, „genau wie meine Sdiwester Suse", fahren Sie fort: „Id»
weiß übrigens nidit, ob Suse die Narbe links oder redits hatte." Ja,
warum wissen Sie das nidit, bei einem Menschen, der Ihnen so nahe
stand, den sie 20 Jahre täglich gesehen haben und der diese Narbe
Ihnen verdankt ? Es ist doch dieselbe, die Sie ihr als Kind „aus Ver-
sehen" beigebracht haben, mit der Sdiere, beim Spielen ? Nach
64
meinem Dafürhalten ist es wohl nicht nur ein Versehen jrewesen —
Sie erinnern sich, wir spradien sdion einmal darüber und Sie gaben
zu, daß eine Absicht darin gelegen habe; eine Tante hatte die schonen
Augen Suses gelobt und Ihre Augen neckend mit denen der Haus-
katze verglichen. Daß Sie nidit wissen, ob Suses Narbe rechts oder
links gesessen hat, ist die Wirkung der Verdrängung. Das Attentat
auf die schönen Augen der Schwester ist Ihnen unangenehm gewesen,
schon des miitterliclien Entsetzens uud der Vorwürfe halber. Sie haben
die Erinnerung daran fortzusdiaffen versucht, haben sie verdrängt und
das ist Ihnen nur teilweise gelungen; nur die Erinnerung, wo die
Narbe saß, haben Sie aus dem Bewußtsein vertrieben. Idi kann Ihnen
aber sagen, daß die Narbe wirklich links gesessen ist. Woher ich es
weiß? Weil Sie mir erzählt haben, daß Sie seit dem Tode Ihrer
Sdiwester genau wie diese an einem linksseitigen Kopfsdimerz leiden,
der vom Auge ausgeht, und weil Ihr linkes Auge ab und zu ein
^etiig — es steht Ihnen gut, aber es ist doch wahr — ein wenig vom
rediten Wege abweicht, gleichsam hilfesuchend nach außen sdiielt. Sie
haben seinerzeit — durdi Erfindung des Wortes „Versehen" — aus
dem Unredit Recht zu machen versucht, die Wunde in Ihrer Phantasie
von der bösen, unrechten, linken' Seite nach der guten, rechten ver-
schoben. Aber das Es läßt sich nicht betrügen; zum Zeichen, daß Sie
Böses taten, schwächte es den einen Augenmuskelnerv, warnte Sie
damit, nidit wieder vom Rechten abzubiegen. Und als die Schwester
starb, erbten Sie zur Strafe deren linksseitigen Kopfschmerz, der
Ihnen immer so fürchterlich war. Sie sind damals als Kind nicht be-
straft worden, vermutlidi haben 5ie aus Angst vor der Rute so ge-
zittert, daß die Mutter Mitleid bekam; aber das Es will seine Strafe
haben, und wenn es um die Freude des Leidens gebracht wird, rädit
es sich irgendwann, oft sehr spät, aber es rächt si(ii, und manche
rätselhafte Erkrankung gibt ihr Geheimnis preis, wenn man das Es
der Kindheit nach versäumten Sdhlägen fragt.
Darf ich Ihnen gleich noch ein Beispiel der Verdrängung aus Ihrem
Brief geben? Es ist sehr kühn, wenn Sie wollen, an den Haaren
S Groddcclc, Daa Buch vom Es 65
herbeigezogen, aber ich halte es für richtig. Ich sprach in meinem
letzten Brief von drei Dingen: der Übertragung, der Verdrängung
und dem Symbol. In Ihrer Antwort erwähnen Sie Übertragung und
Verdrängung, aber das Symbol lassen Sie fort. Und dieses Symbol
war ein Ring. Aber siehe da, statt das Symbol im Brief zu nennen,
verlieren Sie es in Gestalt Ihres Topasringes. Ist das nicht komisch?
Nach meinen Berechnungen — und Ihre Antwort scheint mir das
zu bestätigen - haben Sie meinen Brief mit dem Ringspielscherz am
selben Tag erhalten, wo sie den Ring der Sdiwester verloren. Nun
seien Sie einmal gut und wahrhaftig! Sollte Schwester Suse — sie
stand doch im Alter Ihnen am nächsten und mir ist es beinahe sicher,
daß Sie beide gemeinsam die sexuellen Aufklärungen sidi erworben
haben, über deren Anfänge man nichts weiß oder nidits wissen will
— sollte Suse nidit mit dem Spiel am Ringe des Weibes, mit dem
Erlernen der Selbstbefriedigung etwas zu tun haben? Ich komme
darauf, weil Sie auf meine Ausführungen über die Onanie so kurz und
streng geantwortet haben. Ich glaube, Sie sind vor lauter Schuldbewußt-
sein ungeredit gegen diese harmlose Freude der Mensdien. Aber be-
denken Sie doch, daß die Natur dem Kinde Geschwister und Gespielen
gibt, damit es von ihnen die Sexualität lernt.
Darf ich wieder auf jenes merkwürdige menschliche Erlebnis
zurückgreifen, bei dem ich neulich abgebrochen habe, auf die Ent-
bindung? Es ist mir aufgefallen, daß Sie meine Behauptung, der
Schmerz erhöhe die Wollust, ohne Erwiderung hingenommen haben.
Ich erinnere mich eines lebhaften Streites mit Ihnen über die Lust des
Menschen am Wehtun und Wehleiden. Es war in der Leipziger Sti-aße
in Berlin ; ein Droschkenpferd war gestürzt und die Menschenmasse
hatte sidi gestaut, Männer, Weiber, Kinder, gut gekleidete Leute und
solche im Arbeiterkittel; sie alle verfolgten mit mehr oder minder
lauter Genugtuung die vergeblichen Anstrengungen des Tieres, sich
aufzurichten. Sie haben midi damals gefühlsroh geheißen, weil ich
solche Unfälle wünschenswert nannte und sogar so weit ging, das
Interesse der Damen an Schwurgerichtsverhandlungen gegen Mörder,
66
?
an Bergwerksunglücken, Titanicunfällen erklärlich und natiirlidi zu
finden.
Wir können, wenn es Ihnen recht ist, den Streit wieder auinehmeo;
vielleicht kommen wir diesmal zu einer Entscheidung.
Die beiden wichtigen Ereignisse des weiblidien Lebens, und weiter-
genommen des Lebens jedes Menschen, da ohne diese Ereignisse
niemand existieren würde, sind mit Sdimerzen verbunden, der erste
Geschlechtsakt und die Entbindung. Die Übereinstimmung darin ist
so auffallend, daß ich mir nidit anders zu raten weiß, als einen Sinn
darin zu sudien. Über die 'Wollust der Geburtswehen läßt sidi ja auf
Grund des Geschreis streiten, aber über den Lustdiarakter der Braut-
nacht besteht kein Zwiespalt der Meinungen. Das ist's, wovon die
jungen Mädchen wachend und schlafend träumen, was der Knabe und
Mann sich in tausend Bildern vorstellt. Es gibt Mädchen, die angeblidi
Ancrst vor dem Schmerz haben ; forschen Sie nach, Sie werden andere
Gründe für diese Angst finden, Gründe der Gewissensnot, die sidi
aus verdrängten Onaniekomplexen und tief verborgenen Kindheits-
vorstellungen vom Kampf der Eltern, Gewalttat des Vaters und
blutenden Wunden der Mutter zusammensetzen. Es gibt Frauen, die
nur mit Sdiaudern an die erste Nacht mit dem Manne zurückdenken:
fragen Sie nach, Sie werden auf die Enttäuschung stoßen, darauf, daß
alles hinter den Erwartungen, die man gehegt hatte, zurückblieb, und
in dunklerer Tiefe werden Sie wieder das mütterlidie Verbot der
Geschlechtslust und die Angst vor der Verwundung durch den Mann
finden. Es hat Zeiten gegeben, und zwar Zeiten höclister Kultur, wie
bei den Griechen, in denen der Mann scheu der Entjungferung seines
Weibes auswich und sie durch Sklaven ausführen ließ, aber all das
berührt den — alle Tiefen des Mensdien aufreizenden — Wunsch
nadi dem ersten Liebesakt nicht. Versdiaffen Sie dem ängstlidien
Mädchen einen klugen Geliebten, der ihr das Schuldgefühl wegspielt
und sie in Ekstase zu bringen versteht, sie wird den Schmerz jauchzend
genießen, geben Sie der enttäuschten Frau einen Spielgefährten, der
trotz des schon zerrissenen Hymens die Phantasie des Weibes so zu
5* 67
erreg-en weiß, daß sie den ersten Akt noch einmal zu erleben giaubt,
ihre Scheide wird sich vereiig:en, sie wird mit Womie den Schmerz
erleben, um den sie einmal betrogen wurde, ja sie wird selbst die
Blutung hervorbringen, um sich zu täuschen. Die Liebe ist eine selt-
same Kunst, die nur zum Teil erlernt werden kann, und wenn irg-end
etwas, so wird sie vom Es regiert. Schauen Sie in die heimlichen
Vorgänge der Ehe hinein, Sie werden erstaunt sein, wie oft selbst
lang- verheiratete Menschen plötzlidi eines Tages, ohne zu wissen
woher es kommt, die ßrautnacht noch einmal erleben, nicJit nur
phantastisch, sondern mit allen Freuden und Schrecken. Und auch der
Mann, der nur mit Schaudern daran denkt, der Geliebten Schmerz
zuzufügen, wird es mit Freuden tun, wenn die rechte Gefährtin ihn
zu locken versteht.
Mit andern Worten, der Sdimerz gehört zu diesem höchsten
Augenblick der Lust. Und alles, ausnahmslos alles, was gegen diesen
Satz zu sprechen scheint, ist begründet in der Angst, dem Schuld-
bewußtsein des Menschen, die in den Tiefen seines Wesens ruhen;
und je größer sie sind, um so gewaltsamer bricht es im Moment der
Erfüllung aller Wünsdie hervor, verkleidet als Angst vor Schmerz;
in Wahrheit ist es Angst vor längst verdienter Strafe,
Es ist also nicht wahr, daß der Schmerz ein Hindernis der Lust
ist; es ist aber wahr, daß er eine Bedingung der Lust ist. Es ist also
nidit wahr, daß der Wunsch, Schmerz zuzufügen, unnatürlich, pervers
ist. Es ist nicht wahr, was Sie über Sadismus und Masochismus ge-
lesen und gelernt haben. Diese beiden, jedem Mensdien ohne Aus-
nahme eingepflanzten, unentbehrlichen menschlichen Neigungen, die zu
seinem Wesen gehören, wie Haut und Haare, als Perversionen zu
brandmarken, ist die kolossale Dummheit eines Gelehrten gewesen.
Daß sie nadhgeschwatzt wird, ist verständlidi. Jahrtausende lang wurde
der Mensch zur Heudielei erzogen ; sie ist ihm zweite Natur geworden.
Sadist ist jeder Mensdi, Masochist ist jeder Mensch; ein jeder muß
von Natur aus wünschen, Schmerz zuzufügen und Schmerz zu erleiden;
der Eros zwingt ihn dazu.
68
I
l>
Denn das ist das Zweite: es ist nidit wahr, daß der eine Mensch
Sdimerzen g-eben, der andre empfangen will, daß der eine Sadist ist,
der andre Masochist. Jeder Mensch ist Beides. Wollen Sie den Beweis
dafür haben?
Es ist sehr leidit, von der Rohheit des Mannes zu spredien und
von der Zartheit des Weibes und alle alten Scliachteln männlichen und
weiblichen Geschlechts und alle Muckerseelen tun es unter dem Beifall
der Gleidigesinnten, zu denen wir uns, in tausend Stunden der
Heuchelei, alle rechnen müssen. Aber bringen Sie irgend ein weib-
liches Wesen in mänadische Raserei — nein, das ist^gar nicht nötig,
würde sich auch, so sagt man, für Sie als Frau nidit schicken — nein,
geben Sie ihr nur die Freiheit, den Mut, sidi gehen zu lassen, wirklich
und wahrhaftig zu lieben, ihre Seele nadd: zu zeigen, und sie wird
beißen und kratzen wie ein Tier, sie wird weh tun und Wonne dabei
empfinden.
Besinnen Sie sich noch, wie Ihr Kind aussah, als es geboren war?
verschwollen, zerquetscht, ein mißhandeltes Würmdien? Haben Sie
sich je gesagt: das tat idi? O nein, alle Mütter und die, die es werden
wollen, begnügen sich damit, mit den eigenen Schmerzen zu prahlen;
daß sie aber ein wehrloses, armselig zartes Geschöpf mit dem Kopf
vornweg durch einen engen Gang hindurch quetschen, stundenlang es
hindurchpressen, als ob es nicht die Spur einer Empfindung hätte,
das kommt den Müttern nicht in den Sinn. Ja, sie haben die Stirn,
iu sagen, das Kind empfindet den Schmerz nicht. Aber wenn der
Vater oder sonst jemand das Neugeborene unsanft anfaßt, schreien
sie: „Du tust dem Kinde weh", „der ungeschickte Peter", und wenn
es ohne Atem zur Welt kommt, klopft die Hebamme es hinten drauf,
bis es zum Beweis, daß es Schmerz empfindet, schreit. Es ist nicht
wahr, daß das Weib zart empfindet, die Rohheit verachtet und haßt.
Das tut sie nur, wenn andre roh sind. Die eigene Rohheit nennt sie
heilige Mutterliebe. Oder glauben Sie, daß irgend ein Calignla oder
irgend ein sonstiger Sadist so leicht und harmlos diese ausgesuchte
Folter, jemanden mit dem Schädel durch ein enges Lodi zu quetschen
69
sich ausdenken würde? Ich habe einmal ein Kind g:esehen, das seinen
Kopf durdi ein Gitter gesteckt hatte und nun weder vor noch zurück
konnte. Ich vergesse sein Schreien nicht.
Die Grausamkeit, der Sadismus, wenn Sie es so nennen wollen,
liegt den Frauen durchaus nicht fern; man braucht nicht Rabenmutter
zu sein, um die eigenen Kinder zu quälen. Es ist noch gar nicht so
lange her, daß Sie mir von Ihrer Freundin erzählten, mit welchem
Vergnügen sie sich an dem erstaunt beleidigten Gesicht ihres Kindes
weidete, wenn sie ihm plötzlich die Brustwarze aus dem saugenden
Mündchen nahm. Ein Spiel, gewiß, leicht verständlich und von uns
allen in dieser oder jener Form des Weckens kleiner Kinder geübt.
Aber es ist ein Spielen mit der Qual, und — ja ich muß Ihnen erst
sagfen, was es bedeutet, obwohl Sie es sich selbst zusammenreimen
müßten, wenn Sie sich der Symbole erinnerten. Die Mutter ist während
' des Säugens der gebende Mann, das Kind das empfangende Weib,
oder um es deutlidier auszudrücken: der saugende Mund ist der
weibHche Geschlechtstell, der die Bnjstwarze als männliches Glied in
sidi aufnimmt. Es besteht eine symbolische Verwandtschaft, eine sehr
enge Verwandtschaft zwischen Saugakt und Begattung, eine Symbolik,
die im Dienst und zur Verstärkung der Bande zwischen Mutter und
Kind gebraucht wird. Das Spiel Ihrer Freundin ist — ich nehme an,
ihr unbewußt — erotisch betont.
Und wie das Weib, dessen Feld angeblich das Leiden ist, ebenso
lüstern Schmerzen bereitet, so sucht der gewalttätige Mann den
Sdimerz auf. Die Lust des Mannes ist die Mühe, die Qual der Auf-
gabe, die Lockung der Gefahr, der Kampf, und wenn Sie wollen, der
Krieg. Der Krieg im Sinne des Heraklit, der Krieg mit Menschen,
Dingen, Gedanken, und der Gegner, der ihn am schwersten leiden
läßt, die Aufgabe, die ihn fast erdrückt, die liebt er. Vor allem liebt
er das Weib, das ihm tausend Wunden scJilägt. Wundern Sie sich
docil nicht über den Mann, der einer herzlosen Kokette nachläuft,
wundern Sie sidi über den, der es nicht tut. Und wo Sie einen Mann
heiß lieben sehen, ziehen Sie ruhig den Schluß, daß seine Geliebte
70
von Herzen grausam ist, im Tiefsten grausam, von jener Art grausam,
die gütig erscheint und spielend verwundet.
Das alles klingt Ihnen paradox, scheint Ihnen echter Trollenscherz.
Aber es sind Ihnen, während Sie nach der Widerlegung suchen, schon
tausend Dinge eingefallen, die bestätigen, was ich sage. Der Mensch
wird empfangen im Sdimerz — denn die wahre Empfängnis ist die
der ersten Nacht — und er wird geboren im Schmerz. Und noch eins:
er wird empfangen und geboren im Blut. Soll das denn keinen Sinn
haben? - ^
Überlegen Sie es sich, Sie sind klug genug dazu. Vor allem ge-
wöhnen Sie sich an den Gedanken, daß der neugeborene Mensch
empfindet, ja daß er vermutlich tiefer empfindet, als der Erwachsene.
Und wenn Sie das ei-faßt haben, betrachten Sie nochmals, was bei der
Geburt vor sich geht. Wie sagt man doch: das Kind erblickt das
Licht der Welt; und dieses Licht liebt der Mensch; suciit es und
scliafft es sich selbst im Dunkel der Nacht. Aus engem Gefängnis
kommt er hinaus in die Freiheit, und die Freiheit liebt der Mensdi
über alles. Zum ersten Male atmet er, kostet er den Genuß, die Luft
des Lebens in sich zu ziehen; sein ganzes Leben lang ist freies Atmen
für ihn das Schönste. Angst, Angst des Erstickens leidet er während
der Geburt, und Angst bleibt ihm all seine Lebtage als Begleiterin
jeder höchsten Freude, jeder, die sein Herz klopfen läßt. Schmerzen
empfindet er in dem Drängen nach Freiheit; Schmerzen gibt er der
Mutter mit seinem dicken Schädel, und beides sucht er in ewig neuer
Wiederholung. Und das erste, was seine Sinne trifft, ist der Gerud»
des Blutes, vermischt mit den seltsam aufregenden Dünsten des
Frauenschoßes. Sie sind ja gelehrt, Sie wissen ja, daß in der Nase
ein Punkt ist, der in nahem Verhältnis zur Gesdilechtszone steht.
Der Säugling hat diesen Punkt so gut wie der ausgewachsene Mensdi,
und Sie glauben nicht, wie weise die Natur das Gerudisvermögen des
Kindes ausnützt. Das Blut aber, das der Mensch vergießt, wenn er
geboren wird, dessen Wesen er mit dem ersten Atemzuge einatmet,
so daß es ihm unvergeßlich wird, ist das Blut der Mutter. Sollte er
71
diese Mutter nicht lieben? Sollte er nicht auch noch in anderem Sinne,
als man gewöhnlich nennt, ihr blutsverwandt sein? Und tief im Ver-
borgenen lanert hinter dem allen noch etwas, was dieses Kind mit
g-ötterstarken Händen an die Mutter bindet, die Schuld und der Tod.
Denn wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden.
Ach, liebe Freundin, die menschliche Sprache und das menschliche
Denken sind ein schwaches Werkzeug, wenn sie Kunde vom Unbe-
wußten geben sollen. Aber nachdenklich wird man bei den Worten
Mutter^ und Kind. Die Mutter ist die Wiege und das Grab, gibt Leben
zum Sterben. . . t
Und wenn ich nicht gewaltsam schließe, werde ich den Brief nie
beenden.
PATRIK TROLL.
f
8.
LIEBE FREUNDIN, ICH HABE NICHT DARAN GEZWEIFELT,
daß Sie mir in Vielem Recht geben würden, ja, ich bin so kühn, anzu-
nehmen, daß Sie mir nadi und nach, wenn nicht in allen Einzelheiten,
doch in den Hauptsachen beistimmen werden. Vorläufig spotten Sie
ja noch, sind der Meinung, drei Viertel meiner Beiiauptunjren entspringe
meinem Widerspruchsgeist und von dem Rest sei mindestens die
Hälfte darauf berechnet, meine sadistische Seele zu retten. „Um Ihnen
Glauben zu schenken," schreiben Sie, „müßte man die Überzeugung
aufgeben, daß es unnatürliche Laster gibt und daß, was wir Perver-
sionen zu nennen gewöhnt sind, Selbstbefriedigung, Homosexualität,
Sadismus, Sodomie und wie diese Dinge alle heißen mögen, selbst-
verständliche "Neigungen des Menschen. AUgemeingut unsrer Seele sind.«
Haben wir uns nicht sciion einmal über das Wort „unnatürlich"
unterhalten? Für mich ist es der Ausdruck menschlichen Größenwahns,
der Sich selber als Herrn der Natur empfinden möchte. Man teilt die
Welt in zwei Teile; was dem Menschen jeweilig paßt, ist ihm natürlld.,
was ihm zuwider ist, nennt er unnatürlich. Haben Sie sciion einmal
irgend etwas gesehen, was außerhalb der Natur liegt? Denn das be-
72
.!»
\
deutet doch das Wort unnatiirlidi. Ich und die Natur, so denkt der
Mensch, und es wird ihm bei dieser angemaßten Gottähnlichkeit nicht
einmal bange. Nein, Hebe Spötterin, was ist, ist natürlich, wenn es
Ihnen auch noch so regelwidrig- vorkommt, noch so sehr geg'en die
Naturgesetze verstoßt. Diese Naturgesetze sind Schöpfungen des
Menschen, das sollte man nicht vergessen, und wenn etwas nidit damit
übereinstimmt, so ist das der Beweis, daß das Naturgesetz falsdi ist.
Streichen Sie die Bezeichnung unnatürlich aus Ihren Sprachgewohn-
heiten; Sie werden dann eine Dummheit weniger sagen.
Und nun die Perversionen. Ein von mir hochverehrter Forsdier
hat nachgewiesen, daß das Kind alle nur denkbaren perversen Neigungen
hat; er sagt, das Kind ist multipel pervers. Gehen Sie einen Schritt
weiter und sagen Sie, jeder Mensch ist multipel pervers, jeder Mensch
hat jede perverse Neigung in sich, so haben Sie meine Ansicht. Aber
dann ist es unnötig und unpraktisch, den Ausdruck pervers weiter zu
gebrauchen, weil dadurch der Eindruck geweckt wird, als ob diese
jedem Menschen eigentümlidien, unveräußerhchen und lebenslänglichen
Neigungen etwas Ausnahmsweises, Sonderbares, Auffallendes waren.
Wenn Sie durchaus schimpfen wollen, brauchen Sie doch das Wort
Laster oder Schweinerei, oder was Ihnen sonst zur Verfügung steht.
Netter wäre es schon, Sie strebten dem Satz nach: Nichts Mensch-
liches sei uns fremd, ein Ideal, das wir freilidi nie erreichen, das aber
berechtigt ist und dem unsereiner als Arzt mit Haut und Haaren sich
verpflichtet fühlt. Wir werden noch öfter über diese Neigungen, die
Sie pervers nennen und die ich bei jedem Menschen voraussetze,
sprechen müssen,^ auch über die Grunde, warum der Mensch in diesen
Dingen so gegen sich selbst lügt.
Einen schonen Triumph haben Sie mir gegönnt, auf den ich stolz
bin. Neulidi haben Sie mich noch ruchlos gesdiolten, weil ich vom Haß
der Mutter gegen ihr Kind gesprochen habe, und heute erzählen Sie
mir — man merkt Ihnen Genugtuung dabei an - von der jungen
Frau Dahlmann, die bittere Tränen vergießt, weil schon das erste
Unwohlsein nadi der Hodizeltsreise ausbleibt. Wie ansdiaulidi Sie be-
73
Jv
^ J
sdireiben können! Idi sah förmlidi tÜe verbissene Wut, mit der die
kleine Weltdame ihr Korsett anlegt und aus allen Kräften zuschnürt,
um das junge Leben zu ersticken. Es ist ja auch traurig, wenn man.
sidi die ganze Brautzeit hindurch auf den Moment gefreut hat, wo
man als Gattin des Vorsitzenden an dem Arm dieses EintagskÖnigs
in den Ballsaal eintritt, mit der Aussidit, am nächsten Tage vom Kopf
bis zu Füßen als die reizende Frau Dahlmann beschrieben zu werden,
es ist traurig, daß einem ein Tröpfclien Samen alles zerstört, einen
zur unförmigen Masse verwandelt.
Finden Sie es schlimm, daß die menschliche Eitelkeit und Ver-
gnügungssucht so g'roß sind? Daß ein kleiner Mordversuch eines
Tanzvergnügens halber in Szene gesetzt wird? Denken Sie sich diese
beiden mächtigen Hebel der Kultur w«g, was würde aus Ihnen werden?
In kurzer Zeit wären Sie verlaust und verwanzt, bald würden Sie das
Fleisch mit den Fingern und Zähnen zerreißen und die Rüben, die Sie
aus der Erde zerren, roh versdilingen, Ihre Hände würden Sie nidit
mehr wasdien und als Tasdientuch Finger oder Zunge gebrauchen.
Glauben Sie mir, meine Ansicht, daß auf dem Hang zur Selbst-
befriedigung - denn in deren Dienst stehen Schönheitssinn und
Reinlichkeit — die Welt ruht, ist nicht so dumm, wie Sie annehmen.
Mir ist die Abneigung der Mutter gegen ihr Kind sehr begreif-
lich. Daß es für die Frau heutzutage nicht angenehm ist, ein Kind zu
erwarten, habe ich neulidi wieder erlebt. Ich war in der Stadt und
etwa zwanzig Schritte vor mir ging eine hochschwangere Frau des
Mittelstandes; zwei Sdiulmädchen, 12-13iährig mochten sie sein, be-
gegneten ihr, musterten sie scharf und kaum waren sie an ihr vorüber,
so sagte die eine höhere Tochter zur anderen, und kicherte das
charakteristische alberne Backfischlachen: „Hast du gesehen? Den dicken
Bauch? Die kriegt ein Kind." Und die andere erwiderte: „Ach laß
doch die Schweinereien, ich mag nichts davon wissen." Die Frau mußte
die Worte gehört haben, sie drehte sich um, als ob sie etwas sagen
wollte, ging dann aber stumm weiter. Wenige Minuten später — die
Straße war einsam — kam ein Holzfuhrwerk angefahren. Der Fuhr-
74
^-
kneclit grinste das Weibdien an und rief ihr zu: „Sie laufen wohl
Parade, um zu zeigen, daß der Mann nodi bei Ihnen Hegt." Es wird
den Frauen nicht leid\t gemaclit, das ist sicher. Der Ruhm großer
Fruchtbarkeit, der früher der kinderreichen Frau die Mühen zu tragen
half, gilt nichts mehr. Im Gegenteil, das Mädchen wädist in der Angst
vor dem Kinde auf. Recht betrachtet, besteht die Erziehung uiisrer
Töditer darin, daß wir sie vor zwei Dingen zu hüten suchen, vor der
geschledithchen Ansteckung und vor dem unehelichen Kinde, und wir
wissen zu diesem Zwecke nichts anderes zu tun, als ihnen die Ge-
schlechtsliebe an sich als Sünde darzustellen und die Entbindung als
große Gefahr. Es gibt Leute, die allen Ernstes die Todesaussiditen
der Geburt in Vergleich mit denen der Weltkriegsschlachten setzen.
Das ist eme der Wahnsinnsäußerungen unsrer von Gewissensangst
schwer belasteten Zeit, die sich immer tiefer in die Schuld der Heuchelei
verstrickt, der Heudielei auf dem lebenschaffenden Gebiet, und deshalb
immer rasdier zu Grunde geht.
Der Wunscli dt^s Mädchens nach dem Kinde entsteht in einer
Heftigkeit, die nur Wenige wahrnehmen, schon zu einer Zeit, wo es
zwisdien ehelich und unehelich noch nicht unterscheidet, und die ver-
steclcten halben Andeutungen der Erwadisenen, die sich gegen das
uneheliche Kind richten, werden auf das Kind überhaupt bezogen,
vielleicht nicht von dem Verstände, aber sicher von dem, was unterhalb
des Verstandes liegt. Aber das sind ja Dinge, denen sich abhelfen
ließe, denen tatsadilich dieses und jenes Volk, diese und jene Zeit,
abzuhelfen sucht. Jedoch im Wesen des Weibes, des Menschen liegen
Gründe zum Kinderhaß, die unabänderüdi sind. Zunächst raubt das Kind
d m Weibe einen Teil der Schönheit, nicht nur während der Schwanger-
schaft" es bleibt auch nachher Vieles zerstört, was nie wieder gut zu
machen ist. Eine Narbe im Gesicht kann die Schönheit der Züge noch
mehr hervorheben, und idi könnte mir denken, daß Ihre Schwester Ihnen
im tiefsten Grunde für die interessante Wunde am Auge dankbar gewesen
ist. Aber hängende Brüste und ein welker Leib gelten als häßlich und
eine Kultur muß auf den Kinderreichtum gerichtet sein, um sie zu schätzen.
75
s
Das Kind bringt Mühe, Sorgte, Arbeit, vor allem verlangt es Ver-
zidit auf tausend Dinge, die lebenswert sind. Ich weiß, daß die Freuden
der Mutterschaft alle diese Leiden aufwiegen können, aber es ist doch
eben das Gegengewicht da, und wenn man sich solche Verhältnisse
vorstellen will, so darf man nicht an die Wage denken, hei der die
schwere Schale tief unten ruht, während die andere regungslos schwebt;
es ist vielmehr ein ständiges Abwägen, hei dem die wägende Hand
des täglichen Lebens eine Balleinladung, eine Reise nach Rom, einen
interessanten Freund mit plumper Gewalt in die Schale wirft, so daß
sie zeitweise niedersinkt. Es ist ein andauerndes Schwanken, ein immer
neu wiederholtes Verzichten, das seine Wunden und Schmerzen bringt.
Immerhin ist es möglich, sich auf diesen Verzicht, "diese Muhen
und Sorgen vorzubereiten, sich dagegen zu wappnen. Es gibt aber
Regungen, die die Miitter nicht klar kennen, die sie fühlen, aber nidit
laut werden lassen, deren giftige Widerhaken sie, um i.ur nichts von
dem Adel der Mütterlidikeit einzubüßen, tiefer und tiefer in sich hinein
drücken.
Ich habe Sie einmal zu einer Entbindung mitgenommen. Besinnen
Sie sich noch darauf? Geburtshelfer sein ist nicht mein Geschäft, aber
es war eine besondere Sache mit jener Frau, weshalb sie gerade von
mir entbunden sein wollte. Ich habe Ihnen damals nichts weiter darüber
erzählt, aber jetzt will ich es nachholen. Jene Frau wurde von mir
während der ganzen Schwangerscliaft behandelt; erst hatte sie Er-
brechen, dann kamen Schwindelanfälle, Blutungen, Schmerzen, dicke
Beine und was es sonst noch für Überraschungen während solcher
Zeit gibt. Das, worauf es mir im Augenblicke ankommt, war ihre
entsetzliche Angst, daß sie ein Kind mit einem verkrüppelten Fuß
bekommen und selbst sterben werde. Sie wissen, das Kind kam ganz
gesund zur Welt, die Frau lebt auch noch; aber noch lange blieb bei
]hr die Idee, dem Kinde müsse irgend was an den Beinen zustoßen.
Sie berief sich dabei, anscheinend mit Recht, auf die Tatsache, daß
ihr ältestes Kind einige Wochen nach der Geburt auf rätselhafte Weise
eine Eiterung des Schleimbeutels am linken Kniegelenk bekommen
76
hatte, die recht unangenehm verlief, operiert werden mußte und eine
tiefe, den Gebraudi, des Kniegelenks ein wenig hindernde Narbe
zurückließ. Ich muß Ihrem Gutdünken die Entscheidung überlassen, ob
schon die Eiterung- mit dem zusammenhing, was ich nun zu berichten
habe; ich meinerseits glaube es, wenn ich auch nicht angeben kann,
auf weldie Weise die Mutter — unbewußt selbjtverständhch - die
Erkrankung herbeigeführt hat. -- Die Frau, von der ich erzähle, war
das erste von fünf Kindern. Mit den beiden ältesten vertrug sie sich
gut, gegen das vierte, dessen Beaufsichtigung ihr bei den kärglichen
Lebensverhältnissen der Eltern zeitweise übertragen wurde, hatte sie
von vornherein eine starke Abneigung, die stets die gleiche gebUeben
ist und auch jetzt noch besteht. Als das fünfte Kind unterwegs war,
änderte sidi der Charakter des Mädchens, sie schloß sich mehr an den
Vater an, wurde widerspenstig gegen die Mutter, quälte die jüngste
Schwester, kurz, wurde ein rechter Tunichtgut. Als ihr eines Tages
befohlen wurde, auf die Kleinste aufzupassen, geriet sie in Wut, heulte
und stampfte mit den Füßen, und als sie von der Mutter bestraft und
zum Gehorsam gezwungen wurde, hat sie sich zur Wiege gesetzt, die
Kufen mit dem Fuße wild geschaukelt, so daß das Kind anfing zu
schreien und dazu vor sich hin gesagt: Verfluchte alte Hexe, verfludite
alte Hexe. Eine Stunde darauf hat die Mutter sich plötzlich zu Bett
gelegt und sie zur Hebamme geschickt. Dabei hat sie gesehen, daß
die Mutter stark blutete. Das Kind ist in derselben Nacht noch ge-
boren worden, aber die Mutter hat viele Monate im Bett liegen müssen
und ist nie wieder recht frisch geworden. In dem Mädchen aber wurde
damals der Gedanke wach und lebt noch jetzt in ihr, sie habe durdi
ihren Fluch die Erkrankung der Mutter herbeigeführt, sei Schuld daran.
Nun, das ist ein Erlebnis, wie es häufig vorkommt, wichtig genug für
die Beurteilung der Schicksale, Charakterbildung, Krankheitsdisposition
und Todesangst dessen, dem es just zustößt, aber an sich reicht es
nidit aus, um die Angst vor einer Beinverkrüppelung des erwarteten
Kindes zu erklären. Das Stampfen mit den Füßen, das bösartige
Treten der Wiege mit der halbbewußten Absicht, die kleine Schwester
77
herausfallen zu lassen, gibt zwar Beziehung-en; sie ^ind aber allein
nidit kräftiff grenug. Es ist von einer andern Seite eine Verstärkuno-
des Schuldkontos hinzu gekommen. In dem Dorf, in dem meine
Wöchnerin aufwudis, lebte ein Idiot mit verkrüppelten Beinen, der,
sobald die Sonne erschien, vor dem Häuschen der Eltern in einen Stuhl
g-esetzt wurde und trotz seines Alters von 18 Jahren wie ein drei-
jähriges Kind mit Steinen und Klötzchen spielte. Seine Krücken hatte
er neben sich, konnte sie aber ohne Hilfe nicht gebrauchen und schien
sie nur da zu haben, um den Dorfkindern, die ihn weidlich neckten
damit zu drohen, wobei er gleichzeitig wilde, unverständliche Laute
ausstieß. Die kleine Frieda — das ist der Name der Frau, deren
Entbindung Sie mitgemacht haben - die sonst das Muster eines
artigen Kindes war, beteiligte sich wahrend ihrer bÖsen Zeit ein paar
Mal an den Hänseleien der Anderen, bis eines Tages die Mutter
dahinter kam, ihr eine große Strafpredigt hielt und ihr sagte: der
liebe Gott sieht alles und er wird dich strafen, so daß du auch einmal
solch ein verkrüppeltes Kind bekommst. Wenige Tage darauf traten
die Ereignisse ein, von denen ich berichtete.
Jetzt liegt der Zusammenhang ziemürfi klar zu Tage. In die
Grundstimmung des Verdrusses über die Scliwangerschaft der Mutter
fallen zwei bÖse Erlebnisse hinein, die Drohung mit der Strafe Gottes
für das Verspotten des Unglücks und die Erkrankung der Mutter, die
als Folge des Ausrufs: verfluchte alte Hexe, aufgefaßt wird. Beides
sind für den Gläubigen — und Frieda ist streng katholisch erzogen
worden. — schwere Sünden. Sie werden in die Tiefe der Seele zurüdc-
gedrängt und erscheinen in der Form der Angst wieder, als die eigene
Schwangerschaft eine äußerliche Verknüpfung an die Kindheitserleb-
nisse gibt. Beiden Ereignissen gemeinsam ist, daß die Füße eine Rolle
oabei spielen, und dieses Nebenumstandes bemächtigt sich, wie so oft,
das Schuldbewußtsein und sciiiebt ihn "als Angst vor der Mißgeburt in
den Vordergrund, während die gleidizeitige Todesangst tiefer in der
Verdrängung bleibt und scheinbar eher verschwindet; nur sdieinbar,
denn einige Jahre darauf ist sie in seltsam interessanter Form als
78
■?
Krebsang^st von neuem, wiederum an die Verfluchunsr der Mutter an-
knüpfend, aufgetreten. Aber das gehört nidit hieher.
Ich muß, um Ihnen verständlich zu machen, warum ich diese Ge-
sdiidite g-erade jetzt erzähle, wo es sidi um den Haß der Mütter gegen
ein Kind handelt, nuf etwas hinweisen, was ich erwähnt habe, aber
was vermutlich Ihrer Aufmerksamkeit entg-ang-en ist. Frieda hat sich
während der Schwangerschaft nicht nur von der Mutter abgewendet,
sondern sich so auffallend an den Vater angeschlossen, daß sie es
selbst noch nadi vielen Jahren hervorhebt. Das ist der Ödipuskomplex,
von dem Sie wohl schon gehört haben. Sicherheitshalber ist es aber
wohl besser, ihn mit zwei Worten festzulegen. Man versteht darunter
die Leidensdiaft des Kindes zu dem gegengeschlechtlidien Elternteil,
des Sohnes zur Mutter, der Toditer zum Vater, vereint mit dem
Todeswunsdi gegen den gleidigesdileditlichen Elternteil, gegen den
Vater vom Sohne aus, gegen die Mutter von der Tochter aus. Mit
diesem Ödipuskomplex, der zu den unvermeidlidien Eigeutümlidikeiten
des Mensdienlebens gehört, werden wir uns noch besdiäftigen müssen.
Hier kommt es nur auf die Tatsache an, daß Mutter und Toditer stets
und ohne Ausnahme Nebenbuhlerinnen sind und infolgedessen audi
den g-egenseitigen Haß der Nebenbuhlerinnen haben. Der Ausdruck:
verfluchte alte Hexe, hat noch eine viel tiefere Begründung als bloß
Familienzuwachs. Die Hexe verhext den Geliebten, so ist es im Märchen
und ist es im Unbewußten des Mädchens. Der Begriff der Hexe ist
aus dem Ödipuskomplexe abgeleitet, die Hexe ist die Mutter, die den
Vater durdi Zauberkünste an sid» fesselt, obwohl er eigentlidi der
Toditer gehört. Mit andern Worten: Mutter und Hexe sind für das
Es der Märchen dichtenden Mensdiheitsseeie dasselbe.
Sie sehen, da kommt ein Stück Haß des Kindes gegen die Mutter
zum Vorschein, das erstaunlidi ist, das nur einigermaßen sein Gegen-
gewidit in dem Glauben an die jungen, schönen Hexen findet, die rot-
haarigen gottlosen Dinger, der aus dem Haß der alternden Mutter
gegen die feurig leidensdiaf-lidie, frisch menstruierte, d. h. rothaarige
Toditer entsteht. Dieser Haß muß wahrüdi stark sein, da er soldie
79
Früdite hervorbringt. In Friedas Fluch hat sich die Qua! langjähriger
Eifersudit verdichtet, er ist der Maßstab der einen Seile ihrer Gefühls-
regungen gegen die Mutter, der Gefühlsregungen, die zur >X/ut ge-
steigert worden sind durch die Schwangerschaft. Denn um schwanger
2U.sein, muß die Mutter Liebkosungen vom Vater empfangen haben,
die die Tochter für sich beansprucht. Sie hat das Kind zu Unrecht
sich erzaubert, die Tochter darum betrogen. •
Begreifen Sie nun, warum ich Ihnen Friedas Geschichte erzählte?
Sie ist typisch. In jeder Tochter flammt während der Schwangerschaft
der Mutter die Eifersucht auf; sie wird nicht immer laut, aber sie ist
da. Und ob sie sich äußert oder tief im Verborgenen bleibt, stets
wird sie durch die Gewalt des moralischen Gebotes: Du sollst Vater
und Mutter ehren, sonst mußt du sterben, niedergedrückt, verdrängt,
das eine Mal mehr, das andre Mal weniger, immer aber mit dem
gleichen Erfolg, daß das Schuldbewußtsein entsteht.
Wie aber steht es mit dem Scäiuldbewußtsein ? Das verlangt Strafe,
und zwar die Strafe in derselben Form, die die ScJiuId hat. Frieda
hat den Krüppel verspottet, also wird sie einen Krüppel zur Welt
bringen. Sie hat ihre Mutter verflucht und beschimpft, das eigene
Kind wird dasselbe mit ihr tun. Sie hat ihre Mutter gehaßt, das Kind,
das sie jetzt im Schöße trägt, wird es vergelten. Sie hat der Mutter die
Liebe des Vaters rauben wollen, dasselbe Los wird ihr das kommende
Kind bereiten. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Finden Sie es nidit verständlich, daß diese Frieda, die ihr Leben
und ihr Glück vom Kinde bedroht fühlt, dieses Kind nicht immer liebt,
daß, wenn die in der Tiefe von Kindheit her lagernden Gifte durdi
die Tagesereignisse aufgerührt werden, sie das Kind haßt, die junge
Hexe, die schönere, aufblühende, der die Zukunft gehört?
Das Schuldbewußtsein, das jede Toditer der Mutter gegenüber
hat, zwingt ihr von vornherein die Fähigkeit zum Haß gegen das
eigene Kind auf; das ist so.
Vermutlich glauben Sie wieder, daß ich übertreibe, daß ich aus
einem einzelnen Fall allgemeine Schlußfolgerungen ziehe, wie es so
80
4.
meine Art ist. Ach nein, liebe Freundin, diesnnal ist es nicht über-
trieben. Den tiefsten Grund des Sdiuldbewußtseins, das unfehlbar Ang^st
und Abneigung erzwingen muß, habe ich noch nidit genannt, aber
neulich habe ich ihn erwähnt. Der liegi darin, daß das Kind bei der
Geburt, dadurch, daß es geboren wird, der Mutter Blut vergießt. Und
wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden. Die Frau,
die guter Hoffnung ist, kann nicht anders, als das Kind im Leibe
fürchten, denn es ist der Rächer. Und niemand ist gut genug, den
Rächer immer zu lieben.
Ich habe dieses lange Schreiben unternommen, weil ich Ihnen gern
einen Begriff von der Verwicklung aller Beziehungen zwischen Mutter
und Kind geben weilte. Hoffentlich haben Sie es nicht verstanden ;
sonst muß ich fürtiiten, daß ich Ihneu die dunkelsten Ecken nicht
gewiesen habe. Nach und nach werden wir uns aber wohl ver-
ständigen, entweder darin, daß Sie alles abweisen; nun dann haben
wir wenigstens eine Zeitlang korrespondiert, oder darin, daß Sie
gleich mir allen menstiilichen Verhältnissen gegenüber vorsichtig werden,
duldsam und voll der Überzeugung, daß jedes Ding seine zwei
Seiten hat.
Darf ich noch mit zwei Worten auf Friedas Erlebnisse zurück-
kommen? Idi sagte Ihnen, daß sie, wie alle kleinen Mädchen, das
Kind der Mutter für sich beansprudite; nicht nur dies eine Mal,
sondern das Kind vom eigenen Vater zu empfangen, ist ein Wunsdi,
der auf rätselhafte Weise während des ganzen Lebens einer Frau im
Unbewußten mitgeht. Und an diesen Wunsch der BlutstJiande heftet
sich das Wort: Idiot. Sie werden keine Frau finden, die nidit irgend-
wann von der Idee befallen wird, ihr Kind wird idiotisch zur Welt
kommen oder es wird verblöden. Denn der Glaube, daß dem Verkehr
mit dem Vater ein mißratenes Kind entspringen müsse, sitzt tief im
Gehirn des modernen Menschen. Die Tatsache, daß jener Krüppel
idiotisch war, hat dahin gewirkt, daß die verdrängten Gefühle jener
Zeit auch noch durdi die dumpf empfundenen Wünsche und Ängste
der Blutschande vergiftet wurden.
6 Groddeck, Das Bucli vom Es Sl
Es fehlt noch etwas um das Bild vollständig zu überblicken. Ich
habe Ihnen früher von der Symbolik der Geschlechtsteile g-esprochen.
Nun, das deutlichste Symbol des weiblichen Organs, das sich schon in
dem Woi-t Gebärmutter kundgibt, ist die Mutter. Für das symboli-
sierende Es — und idi sagte Ihnen, das Es kann nicht anders als
symbolisieren — ist der weibliche Geschlechtsteil die Gebärerin, die
Mutter. Wenn Frieda ihrer Mutter flucht, so verflucht sie auch das
Symbol, ihr Geschleditsorgan, ihr eigenes gebärendes Wesen, ihr
Frau- und Muttersein.
Habe ich nicht recht gehabt, als ich sagte, über das Es laßt sich
nur stammeln? Idi mußte es sagen, muß es wieder sagen, sonst halten
Sie midi am Ende doch noch für einen Narren. Aber wenn audi, Sie
werden sehen, daß wenigstens Methode in der Narrheit ist.
Herzlichst Ihr
PATRIK TROLL.
9.
SIE SIND UNGERECHT. LIEBE FREUNDIN. ICH KANN NICHTS
dafür, daß das Leben verwickelt ist. Wenn Sie alles g-latt verstehen
wollen, so rate ich Ihnen nochmals, nehmen Sie Lehrbücher zur Hand.
Da finden Sie die Dinge schön geordnet und klar auseinandergesetzt.
Nebel und Dunkelheit gibt es da nidit, oder wenn es sie gibt, geht
das tugendhafte Lehrbuch mit der Bemerkung daran vorbei: dort
ist es dunkel.
Die Schulwissenschaft ist wie ein Tapisseriewarenladen, Da liegt
ein Knäuel neben dem andern, Zwirn, Seide, Wolle, Baumwolle, in
allen Farben, und jedes Knäuel ist sorgfältig aufgevnckelt ; wenn Sie
das Ende des Fadens fassen, können Sie ihn rasch und ohne Mühe
abwickein. Aber idi besinne mich aus meiner Kindheit, was für eine
Geschidite es war, wenn wir der Mutter über ihre Näh- und Strick-
sachen gekommen waren und das Garn verwirrt hatten. Das war eine
Mühe, die verschlungenen und verknoteten, verfitzten Fäden wieder
82
auseinander zu klauben. Manchmal blieb als einzige Rettung- die Schere
übrig, die leicht den Knoten zerschnitt. Aber nun denken Sie sich die
g-anze Welt voll solch Wirrwarr von Garn. Dann haben Sie — vor-
ausgesetzt daß Sie Phantasie genug haben, um es sich vorzustellen,
und iiicht sofort ermattet sagen: nein, so etwas will ich nicht einmal
denken — dann haben Sie, sage ich, das Arbeitsfeld vor sich, auf
dem der forschende Mensch tätig ist. Dies Arbeitsfeld liegt hinter
dem Laden, nian sieht es nicht. Niemand, der nicht dazu gezwungen
ist, begibt sich in diesen Raum, wo jeder ein Fädchenstück zwisdien
den Fingern hat und emsig daran herum bastelt. Da gibt es Streit
und Neid und gegenseitiges Helfen und Verzweiflung, und nie findet
einer, auch nicht einer ein Ende. Nur ab und zu kommt ein Herrchen
vorn aus dem Laden und fordert ein Stück rote Seide oder sdiwarze
Wolle, weil eine Dame — vielleicht sind Sie es — gerade irgend
etwas Niedliches stricken will. Dann weist ein müder Mann, der eben
von der Aussichtslosigkeit seines Schaffens ermattet die Hände hat
sinken lassen, die paar Meter Garn, die er mühsam in Jahrzehnten
aus dem wirren Gewimmel herausgeholt hat, der Ladendiener holt
seine Schere vor, schneidet das glatte Stück heraus und wickelt es,
während er nach vorn geht, wundervoll zum Knäuel. Und Sie kaufen
es und glauben ein Stück Menschheit zu kennen; ja, ja.
Nun, die Werkstatt, in deren Verkaufsraum ich diene, — denn
ich gehöre nicht zu den geduldigen Leuten, die ihr Lebelang an der
Verwirrung herum klauben, ich verkaufe Knäuel — also diese Werkstatt
ist schlecht beleuchtet und das Garn ist schlecht gesponnen und
an tausend Stellen schon zerschnitten und zerfetzt. Man gibt mir nur
immer kleine Stückchen, die muß ich zusammen knoten, muß selber
hie und da die Schere gebraudien und, wenn es nachher zum Ver-
kauf kommt, ist alle Augenblicke der Faden zerrissen oder es ist rot
und schwarz zusammen gebunden, Baumwolle und Seide, kurz es ist
eigentlich keine Verkaufsware. Daran kann ich nichts andern. Aber
seltsam ist es, daß es immer nodi Leute gibt, die so etwas kaufen;
kindische Leute offenbar, die an der Buntheit und Regellosigkeit
6* 83
Gefallen finden. Und das Seltsamste ist, daß Sie zu diesen Leuten
gehören.
Nun, wo wollen wir heute anfangen? Beim Kindchen, beim ganz
kleinen Kindchen, das noch im Bauch der Mutter schläft. Vergessen
Sie nicht, es ist Phantasiewolie, die ich Ihnen anbiete. Besonders
merkwürdig im Leben des ungeborenen Kindes ist mir immer eine
Tatsache gewesen : die, daß es allein mit sich ist, nicht nur eine Welt
für sich hat, sondern eine Welt für sicli ist. Wenn es ein Interesse
hat — und wir haben gar keinen Grund anzunehmen, daß es interesse-
los, unverständig wäre, im Gegenteil, die anatomlsdien und physiologi-
schen Verhältnisse erzwingen die Annahme, daß das Kind audi
ungeboren denkt, und die Mütter bestätigen das aus den Wahr-
nehmungen, die sie am Kinde in ihrem Leibe machen — wenn das
ungeborene Kind ein Interesse hat, so kann es im Wesentlichen nur
das Interesse an sich selbst sein. Es denkt nur an sich, alle seine
Affekte gehen auf den eigenen Mikrokosmos. Ist es zu verwundern,
daß diese von Beginn an geübte Gewohnheit, diese erzwungene
Gewohnheit dem Menschen sein ganzes Leben hindurch bleibt? Denn
wer ehrlich ist, der weiß, daß wir alles immer auf uns selbst be-
ziehen, daß es ein mehr oder minder schon anzuschauender Irrtum ist,
anzunehmen, wir lebten für Andere oder für Anderes. Das tun wir
niemals, nicht einen AugenWick, niemals. Und der, auf den sich die
Verkünder der edlen, ach so falschen und erdachten Gefühle der Auf-
opferung, Selbstverleugnung, Nächstenliebe berufen, Christus, wußte
das; denn als höchstes Ideal, als ein unerreichbares Ideal spracli er
das Gebot aus: Liebe deinen Nächsten als dich selbst; wohlgemerkt
nicht „mehr als dich selbst", sondern so wie du dich liebst. Er nennt
dieses Gebot gleich dem andern : Liebe Gott von ganzer Seele, von
ganzem Herzen, von ganzem Gemüte. Es fragt sidi, ob dieses Gebot
nicäit in ganz anderem Sinne dem zweiten der Nächstenliebe gleidi
ist, gewissermaßen mit ihm identisch ist, was ich glaube und worüber
wir später unsere Gedanken austauschen können. Jedenfalls aber hielt
er fest an der Überzeugung, daß der Mensch sich selbst am meisten
84
liebt, und das Geschwätz der guten Menschen nannte er pharisäisch
und heucJilerisch, was es auch Ist. Heutigen Tages nennt die Psycho-
logie diesen Trieb bei Menschen zu sich selbst, diesen Trieb, der aus-
schließlich ist und in dem Alleinsein des Kindes im Mutterleibe wurzelt,
Narzißmus. Sie wissen, Narzissus war in sich selbst verliebt, ertrank
in dem Bach, in dem er sein Spiegelbild sah; eine erstaunliche Um-
dichtung des Selbstbefriedigungstriebes.
Sie erinnern sich, daß ich behauptete, das Objekt für die Liebes-
fähigkeiten des Mensciien sei zunächst und fast ausschließlidi er selbst.
Der neunmonatige Verkehr mit sich selbst, zu dem die Natur den
Menschen während der vorgeburtlidien Zeit zwingt, ist ein aditbares
Mittel, diesen Zweck zu erreichen.
Haben Sie schon einmal versucht, sich in die Gedankengänge
eines ungeborenen Kindes hinein zu versetzen? Tun Sie es einmal.
Machen Sie sich ganz klein, ganz klein und kriechen Sie in den Baudi
zurück, aus dem Sie gekommen sind; es ist das gar nicht so eine
sinnlose Aufforderung, wie Sie meinen, und das Lächeln, mit dem Sie
meine Zumutung wegweisen, ist kindlidi freundlich, ein Beweis, wie
vertraut Ihnen der Gedanke ist. Tatsächlich wird ja auch unser ganzes
Leben, ohne daß wir es wissen, von diesem Wunsd», in die Mutter
zu gelangen, geleitet. Ich möchte in dich hineinkriechen, wie oft hürt
man dieses Wort! Nehmen wir an, es gelange Ihnen, wieder in den
Mutterschoß zurückzukehren. Idi denke mir, es müßte einem dabei zu
Mute sein, wie Jemandem, der nach einem bunt verlebten Tage voll
schöner und finsterer Gedanken und Erlebnisse, voll Sorgen, Mühe,
Arbeit und Lust und Gefahr zu Bett geht, allmählich schläfrig wird
und mit dem angenehmen Empfinden, sicher und ungestört zu sein, ein-
schläft. Nur tausendfach schöner, tiefer, ruhiger muß dieses Empfinden sein,
vielleicht ähnlitii dem, das hie und da ein sensitiver Mensch beschreibt,
wenn er von einer Ohnmacht erzählt, oder dem, was wir so gern bei
sachte in den Tod gleitenden Freunden als Einschlummern voraussetzen.
Muß ich es noch ausdrücklich sagen, daß das Bett ein Symbol
des Mutterleibes ist, der Mutter selbst? Ja, ich gehe in meinen Be-
85
hauptungen noch weiter. Sie besinnen sich, was ich Ihnen üfcer das
symbolische Denken und Handeln des Menschen schrieb, daß er dem
Willen des Symbols untürworfeii ist und gehorsam tun muß, was diese
Sdiicksalskraft verlangt, daß er erfindet, was das Symbolisieren er-
zwingt. Um den Schein unsrer Gottahnüchkeit zu wahren, preisen wir
freilich unsre Erfindung-en als Werke unsres bewußten Denkens, unsres
Genius und verg-essen ganz, daß die Spinne sich im Netz ein Werk-
zeug erfunden hat, das nicht minder genial ist als das Netz, mit dem
wir Fische fangen, und daß der Vogel Nester baut, die den Vergleich
mit unsern Bauten wohl aushalten. Es ist eben ein Irrtum, den Ver-
stand des Menschen zu preisen, ihm das Verdienst alles Geschehens
zuzuschreiben, ein begreiflicher Irrtum, da er auf dem Allmachts-
gefühle des Menschen beruht. In Wahrheit sind wir Werkzeuge des
Es, das mit uns macht was es will, und es ist schon des Ver-
weilens wert, gelegentlich dem dunklen Walten des Es nachzuspüren. Um
es kurz zu sagen: ich glaube, daß der Mensdi das Bett ei-finden
mußte, weil er von der Sehnsucht nach dem Mutterleibe nitiit los-
kommt. Ich glaube nicht, daß er es sich erdacht hat, um bequemer zu
iieg-en, gleichsam um seiner Faulheit zu fröhnen, sondern weil er seine
Mutter liebt. Ja, mir ist es wahrscheinlich, daß die Faulheit des Menschen,
die Freude am Bett, am langen Liegen in den hellen Tag hinein der
Beweis einer großen Liebe zur Mutter ist, daß die faulen Menschen,
die gerne schlafen, die besten Kinder sind. Und wenn Sie bedenken,
daß das Kind, je mehr es seine Mutter liebte, um so eifriger streben
muß, von ihr los zu kommen, so werden Ihnen Naturen wie Bismarck
oder der alte Fritz, deren emsiger Fleiß in seltsamem Gegensatz zu
ihrer großen Faulheit steht, begreiflich werden. Ihr unablässiges Arbeiten
ist eine Auflehnung gegen die Fessel der Kindesliebe, die sie mitsdileppen.
Diese Auflehnung ist begreiflich. Je wohler sich das Kind im
Mutterleibe gefühlt hat, um so tiefer muß es den Schrecken des
Geborenseins empfinden, um so inniger muß es den Schoß lieben, in
dem es ruhte, um so stärker muß das Grauen vor diesem Paradiese
der Faulheit sein, aus dem es nodi einmal vertrieben werden konnte.
86
m
Liebste Freundin, ich warne Sic allen Ernstes, die Korrespondenz
mit mir fortzusetzen. Ich führe Sie, wenn Sie auf mich hören, so weit
weg von allem, was vernünftige Menschen meinen, daß es Ihnen nachher
sdiwer werden wird, den richtigen gesunden Mensdienverstand wieder
zu finden. So und so viele Gelehrte, historisch gebUdete Leute, haben
das Seelenleben Bismarcks nach allen Richtungen hin durdiforscht und
sind zu dem Schluß fe-ekommen, daß er sich aus seiner Mutter nidit
viel gemacht habe. Er erwähnt sie kaum und, wo er es tut, kÜngt
ein Groll aus seinen Worten. Und nun komme ich daher und behaupte,
die Mutter ist der Mittelpunkt seines Lebens gewesen, war das Wesen,
das er am meisten geliebt hat. Und dafür bringe ich nur die eine
Tatsache als Beweis, daß er stets sich nach Ruhe sehnte und doch
vor der Untätigkeit floh, daß er die Arbeit haßte und doch stets
arbeitete, daß er gern scÄiIafen wollte und schlecht schlief. Es ist
•wirklich eine Zumutung, da Glauben zu erwarten. Aber gestatten Sie
mir, ehe Sie das Wort „albern" aussprechen, noch zwei, drei Dinge
aus Bismarcks Wesen herauszugreifen. Zunächst ist da das seltsame
Phänomen, das zu erwähnen gewissenhafte Beobachter nie verfehlen;
Er spradi — seltsam bei einem Mann von solch massigem Körperbau
~ mit hoher Stimme. Für Unsereinen bedeutet das: etwas in diesem
Manne war Kind geblieben, stand der Welt gegenüber wie das Kind
der Mutter, eine Behauptung, die sich leicht aus den Wesenszügen
■'■ des „eisernen" Kanzlers, der in Wahrheit Nerven wie ein Knabe
besaß, stützen ließe. Es braucht aber der individuellen Charakter-
eigenschaften nidit, um von Jemandem, der solche hohe Stimmlage
hat, zu sagen: Der ist kindlich und ein Muttersöhnchen.
' Besinnen Sie sidi nodi — ach es ist schon lange her - wie wir
zusammen im deutsdien Theater waren, um Joseph Kainz als Romeo
sehen? Wie wir uns wunderten, daß seine Stimmlage in den
Liebesszenen so hodi wurde, mit welchem seltsam knabenhaften Klang
das Wort Liebe von ihm ausgesprochen wurde? Ich habe später oft
daran denken müssen, denn es gibt Viele, die, so männlich sie sonst
sind, das eine Wort Liebe hoch aussprechen. Warum? Weil bei dem
87
einen Worte plötzlich in ihnen diese erste, tiefste, unverg-ängliche Liebe
wieder wadi wird, die sie als Kind für die Mutter empfanden, weil
sie damit sagten wollen, sagen müssen, ohne es zu wollen: Idi liebe
dich, wie icJi die Mutter liebte, und alle Liebe, die ich geben kann,
ist Abg-lanz der Liebe zu ihr. Es wird Keiner leiciit mit diesem Wesen
Mutter fertig; bis an das Grab wiegt sie uns in ihren Armen.
Audi an einer anderen Stelle kommt das Mutterkind in Biamarck
zum Vorsdiein: er raudite viel. Warum finden Sie es g-lcidi komisch,
daß ich das Rauchen als einen Beweis der Kindlichkeit und des J
Hängens an der Mutter anspreche? Ist Ihnen noch nie in den Sinn %
gekommen, wie ähnlich das Rauchen dem Saugen an der Mutterbrust v
ist? Sie haben Augen und sehen nicht. Adilen Sie doch auf soldi '-*"
alltägliche Dinge; sie werden Ihnen manch Geheimnis offenbaren, nicht
bloß das eine, daß der Raucher Mutterkind ist.
Für mich ist kein Zweifel — und ich könnte noch viel darüber*
plaudern: Dieser starke Mensdi war im Tiefsten von der Mutterimago
beherrsdit. Sie kennen ja seine Gedanken und Erinnerungen. Ist es
Ihnen nicht aufgefallen, daß dieser Tatsachen mensdi es für nötig hält,
einen Traum zu erzählen? einen Traum, wie er mit der Gerte den
Felsen sprengt, der ihm den Weg versperrt? Nidit der Traum ist das
Merkwürdige ; für jeden, der etwas sich mit Träumereien besrfiäftig-t,
ist es klar, daß der Inzestwunsch, der Ödipuskomplex darin verborgen
ist Aber daß Bisraarck ihn erzählt hat, das ist der Aufmerksamkeit
wert. Nahe am Grabe war er nodi so in der Gewalt der Mutter, daß
er dies Geheimnis seines Lebens mitten in die Erzählung seiner
größten Taten hineinstellen mußte.
Sie sehen, Hebe Freundin, mit ein wenig gutem Willen laßt sich
in jedes Menschen Leben die Wirkung der Mutterimago hineindeuten.
Und diesen guten Willen besitze ich. Ob das, was idi denke, riditig
ist, darüber mögen Sie je nach Ihrem Gutdünken urteilen. Aber es kommt
mir nidil darauf an, redit zu haben. Mir Hegt daran, Ihnen eine kleine
Regel in das Gedächtnis einzuprägen, weil ich finde, daß sie im Verkehr
mit sidi und den Mensclien nützlid» ist: Wen man schilt, den liebt man.
88
1
I
MMHI
Aditen Sie darauf, worüber die Menschen schelten, was sie ver-
adilen, wovor sie sich ekeln. Hinter dem Schelten, der Verachtung;,
dem Ekel, der Abneigfung-, steckt immer und ohne Ausnahme ein
schwerer, noch nicht abgesclilossener Konflikt. Sie werden nie in der
Annahme feh!g;ehen, daß der Mensdi, was er haßt, einmal sehr geliebt
hat und noch liebt, was er verachtet, bewundert hat und noch be-
wundert, wovor er sich ekelt, gierig gewünsclit hat: Wer die Lüge
verabscheut, ist sicher ein Lügner gegen sidi selbst, wer sich vorm
Sdimutz ekelt, für den ist der Schmutz eine verführerische Gefahr,
und wer einen andern verachtet, der bewundert und beneidet ihn.
Und es hat eine tiefe Bedeutung, daß die Frauen — und auch die
Männer — sidi vor Schlangen fürchten, denn es gibt eine Sdilange.
die die Welt und das Weib regiert. Mit anderen Worten; die Tiefen
der Seele, in denen die verdrängten Komplexe ruhen, verraten sich in
den Widerständen. Zwei Dinge muß beachten, wer sich mit dem Es
befaßt, die Übertragungen und die Widerstände. Und wer Kranke
behandeln will, mag er Chirurg oder Geburtshelfer oder praktischer
Arzt sein, hilft nur soweit, als es ihm gelingt, die Übertragungen des
Kranken auszunützen und die Widerstände zu lösen.
Idi habe nidits dagegen, wenn Sie dieser Regel gemäß beurteilen
und verurteilen Ihren allzeit getreuen
■■^ ■ PATRIK TROLL.
, ^- , .
"■■
10.
DANK FÜR DIE MAHNUNG, LIEBE FREUNDIN. ICH WERDE
versuchen, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Nur
nicht sdion heute.
Ich muß Ihnen etwas erzählen. In freundlich einsamen Stunden
überfällt mich zuweilen eine Träumerei seltsamen Inhalts. Ich stelle mir
dann vor, daß ich von Feinden verfolgt, einem Abgrund zueile, dessen
felsiger Rand, wie ein weit vorspringendes Dach, die jäh hinabführende
Wand überragt. Lose um einen Baumstumpf geschlungen, hängt ein
89
langes Seil in die Tiefe. Daran gleite ich nieder und schaukle mich hin
und her, der Felswand zu und wieder weg- davon, in immer größeren
Schwingungen. Hin und her, hin und her schwebe ich über dem Ab-
errund, sorglich, mit den Beinen den Körper von dem Felsen abzu-
stoßen, damit er nicht gequetscht wird. Es Hegt ein verführerischer
Reiz in diesem Schaukeln und meine Phantasie dehnt es in die
Länge. Endlich aber gelange idi zum Ziel. Eine Höhle, von der
Natur geschaffen, liegt vor mir; sie ist aller Menschen Augen
verborgen, nur ich keime sie, und in weitem sanftem Schwünge
fliege ich in sie hinein und bin gerettet. Der Feind starrt von der
Höhe des Felsens in die schwindelnde Tiefe hinab und geht seinen
Weg zurück in der sicheren Annahme, daß ich unten zersclimettert
liege.
Ich habe oft gedacht, daß Sie mich beneiden würden, wenn Sie
wüßten, wie süß die Wonne dieser Phantasie ist. Darf ich sie deuten? I
Diese Höhle, deren Zugang nur ich allein kenne, ist der Leib der
Mutter. Der Feind, der midi verfolgt, und, in seinem Haß befriedigt,
mich zerschlagen im Abgrund wähnt, ist der Vater, der Mann dieser
Mutter, der sich ihr Herr zu sein dünkt und doch das nie betretene,
unbetretbare Reich ihres Schoßes nicht kennt. Letzten Endes will dieser
Traum im Wachen nichts anderes sagen, als was ict\ als Kind zu ant-
worten pflegte, wenn man mich fragte: Wen willst du heiraten? Es
kam mir gar nicht in den Sinn, daß idn irgend ein Weib heiraten
könnte, außer der Mutter. Und ich verdanke es wohl nur der trostlosen
Einsamkeit meiner Schuljahre, daß dieser tiefste Wunsch meines
Wesens zu einer schwer verständlidien Symbolphantasie niedergedruckt
wurde. Nur das nidit mitteilbare Wonnegefühl des Sdiaukelns verrät
nodi die Glut des Affekts. Und die Tatsadie, daß ich so gut wie
nichts mehr von der Zeit zwischen 12 und 17 Jahren weiß, die ich ge-
trennt von meiner Mutter verleben mußte, beweist, welche Kämpfe in
mir stattgefunden haben. Es ist eine eigene Sache mit solcher Los-
lösung von der Mutter, und ich kann wohl sagen, daß das Schicksal
gnädig über mir gewaltet hat.
90
4
«
:\.
Das ist mir heute wieder einmal recht klar geworden. Ich habe einen
harten Strauß mit einem jungen Manne durchg-efochten, der sich
durchaus von mir behandeln lassen will, aber vor Angst bebt und
kaum ein Wort vorbringen kann, sobald er mich sieht. Er hat es fertig
o-ebraclit, mich mit seinem Vater zu identifizieren, und wie ich es auch
anfangen mag, er bleibt der Meinung — oder vielleiclit sein Es bleibt
der Meinung daß ich irgendwo ein großes Messer verborgen habe,
daß i(ii ihn packen und des Abzeichens seiner Mannheit berauben
werde. Und das alles, weil er seine Mutter, die langst tot ist, leiden-
schaftlich geliebt hat. In diesem Menschen lebte einmal, ~ Jahre lang
oder nur für Augenblicke — lebt vielleicht noch der tobende Wunsch,
die eigene Mutter zur Geliebten zu nehmen, ihren Schoß zu besitzen.
Und aus diesem Wunsch, dieser Begierde der Blutsdiande wuchs die
Angst vor der Rache des Vaters, der mit dem verniditenden Messer-
schnitt das geile Glied abschneidet. ■ ' . ' :
Daß ein Kranker im Arzt seinen Vater sieht, ist erklärlich. Die
Übertragung des Affekts zu Vater oder Mutter auf den Arzt stellt
sich bei jeder Behandlung ein; sie ist maßgebend für den Erfolg und
je nachdem der Kranke mit seinem Gefühlsleben auf den Vater oder
auf die Mutter eingestellt war, wird er den starken oder den sanften
Arzt bevorzugen. Wir Ärzte tun gut daran, uns dieser Tatsache be-
wußt zu bleiben ; denn drei Viertel unserer Erfolge, wenn nicht viel
mehr, beruhen auf der Fügung, die uns irgend welche Wesensähnlich-
keit mit den Eltern der Patienten gab. Und der größte Teil unserer
Mißerfolge ist auch auf solche Übertragungen zurückzuführen, was uns
einigermaßen über den Verdruß unserer Eitelkeit trösten mag, den ihr
die Erkenntnis der Übertragung als des eigentlichen Arztes bereitet.
Ohn aÜ mein Verdienst und Würdigkeit" mit diesem Lutherwort bleibt
vertraut, wer mit sich selbst in Frieden leben will.
Darin ist also nichts Merkwürdiges, daß mein Patient in mir den
Vater sucht; aber daß er, der an die Mutterimago gefesselt ist, sich
einen Vaterarzt auswählt, fallt auf und die Schlußfolgerung ist erlaubt,
daß er, ohne es sich selbst klar gemacht zu haben, am Vater ebenso
9t
hängt wie an der Mutter. Das gäbe eine gute Aussicht auf Erfolg.
Oder sein Es trieb ihn zu mir, weil er sich durcli eine mißlungene
Kur zum so und so vielten Male beim so und so vielteO Lehrer und
Arzt beweisen will, daß der Vater ein armselig minderwertiges Ge-
schöpf ist, Dann ist freilich wenig Hoffnung, daß gerade ich ihm helfen
werde. Ich täte besser, ihm diesen Sachverhalt zu erklären und ihn
auf die Suche nach einem Arzte der mütterlichen Art zu schicken.
Aber ich bin ein unerziehbarer Optimist und nehme an, daß er trotz
seiner Angst im Innersten ernstlich an mein Übergewicht glaubt und
es liebt, wenn er auch gern ein bißchen Bosheit in die Behandlung
hineinträgt. Solche Schabernaclc spielende Kranke sind nidit selteu.
Immerhin ist der Sachverhalt zweifelhaft und erst der Ausgang der
Behandlung wird mich lehren, was den Kranken bewog, gerade zu mir
zu kommen.
Idi kenne ein Mittel, die verborgene Gesinnung eines Mensdien
gegen mich, wie sie im Augenblicke da ist, ans Tageslicht zu ziehen,
und weil Sie ein artig liebes Weibchen sind und Humor genug besitzen,
um es ohne Verdrießlichkeit zu verwenden, will ich es Ihnen verraten.
Fragen Sie den, dessen Herz Sie kennen lernen möchten, nach einem
Sdiirapfwort. Und wenn er, wie zu erv/arten steht, „Gans" sagt, dürfen
Sie es auf sich beziehen und ohne Ärger feststellen, daß Sie ihm zu
viel schnattern. Aber vergessen Sie nicht, daß Gans gebraten gut
schmeckt, daß es also ebenso gut ein Kompliment, wie eine Be-
schimpfung sein kann.
Nun, idi habe bei passender Gelegenheit meinen Kranken audi
nadi einem Schimpfwort gefragt und es kam, prompt, wie ich es er-
wartet hatte, das Wort Ochse. Damit wäre ja die Frage gelöst: mein
junger Freund hält midi für dumm, für horndumm. Aber das kann S>
eine Empfindung des Augenblicks bei ihm sein, die — so hoffe ich —
vorübergehen wird. Was mich an dem Wort interessiert, ist etwas
anderes. Wie inmitten der Dunkelheit ein aufzuckendes Licht erhellt
es für einen Augenblick die Finsternis der Erkrankung. Der Odnise ist
kastriert. Wenn ich, wie sidi das für den wohlanständigen Arzt ge-
92
,
^'
ziemt, den bösartig-en Hohn überhöre, der midi zum Eunudien degradiert,
finde idi in dem Wort Ochse eine neue Erklärung- für die Angst meines
Patienten, ja, es bringl: mich sogar der allgemeingültig-en Losung einer
überaus wicliti^en Frag-e näher, die wir in unserem seltsamen Medizin-
deutsch „Kastrationskomplex" nennen. Und wenn ich einmal diesen
Kastrationskomplex in seinen Einzelheiten und seiner Gesamtheit be-
herrsclie, werde ich mich Doktor Allwissend nennen und werde Ihnen
von den vielen Millionen, die dann in meine Kasse fließen werden,
großmütig eine schenken. Das, Wort Ochse verrat mir nämlich, daß
mein Klient einmal den Wunsch und die Absicht gehabt hat, seinen
eigenen Vater zu kastrieren, aus dem Stier einen Ochsen zu machen,
und daß er dieses frevelhaften Wunsches wegen nadi dem Satze:
Auge um Auge, Zahn um Zahn, Schwanz um Schwanz für seinen
eigenen Geschleditsteil bange ist. Was mag ihn zu diesem Wunsch
bewogen haben?
Sie sind rasdn mit der Antwort bei der Hand, liebe Freundin,
und idi beneide Sie um diese entschlossene Raschheit. „Wenn", sagen
Sie, „dieser Mensch von der Begierde beherrscht ist, seine Mutter zur
Geliebten zu haben, kann er niclit dulden, daß ein anderer — der
Vater — sie besitzt, er muß den Vater töten wie Ödipus den Laios
oder er muß ihn kastrieren, zum ungefährlichen Haremssklaven madien."
Leider sind die Dinge im Leben nicht so einfach, und Sie müssen sich
^^ jetzt mit Geduld für eine lange Auseinandersetzung wappnen.
'^'■' Mein Kranker gehört zu den Mensdien, die doppelgeschleditlidi
eingestellt sind, die ihre Affekte dem eigenen manniidien Geschlechte
ebenso zuwenden, wie dem weiblidien; er ist, um mich wiederum
meiner geliebten Medizinsprache zu bedienen, zugleich homosexuell und
heterosexuell. Sie wissen, daß diese Doppelte schlechtlidikeit für die
Kinder allgemeingültig ist. Aus meinem Privatwissen füge ich hinzu,
daß die doppelte Einstellung bei dem Erwaciisenen eine Dauerhaftigkeit
des kindlichen Es beweist, die der Aufmerksamkeit wert ist. Bei meinem
Patienten wird die Sache noch dadurdi kompliziert, daß er sich beiden
Geschleditern gegenüber als Mann oder als Weib fühlen kann, daß er
- I,
1''. Lj.
4
also die verschiedensten Leidenschafts mögüclikeilen hat. Es kann also
sehr gut sein, daß er seinen Vater nur deshalb kastrieren will, um aus
diesem Vater seine Geliebte 2u machen und daß andererseits seine
Angst, die Geschlechtsteile könnten ihm vom Vater wcg-gesclinilten
werden, ein verdrängter Wunsch ist, die Frau des Vaters zu sein.
Aber ich vergesse ganz, daß Sie ja gar niclit verstehen können,
was ich meine, wenn ich sage, ein Mensch will durch Wegschneiden
der männlichen Genitalien aus dem Mann ein Weib machen. Darf idi
Sie bitten, mit in die Kinderstube zu kommmen. Auf der Wasch-
kommode sitzt Greta in ihrer dreijährigen Nacktheit und wartet auf
das Kindermädchen, das warmes Wasser zum Abendwaschen holt.
Vor ihr steht, mit neugierigen Augen zwischen die gespreizten Beinchen
guckend, der kleine Hans, tippt mit dem Finger auf den roten klaffen-
den Spalt der Schwester und fragt: „Abgeschnitten?" „Nein, immer
so gewesen."
Wenn es mir nicht so unangenehm wäre zu zitieren — in meiner
Familie war es Sitte und sowohl Mutter wie Brüder haben mich und
meine Eitelkeit tausendfach damit gequält, daß sie besser zitieren
konnten als ich armseliger Benjamin; es fehlt auch nicht an argen
Blamagen, die ich bei falsdiem Zitieren auf mich geladen habe —
wenn es mir nidit so dumm vorkäme, würde ich jetzt etwas vom
tiefen Sinn des kindischen Spiels sagen. Statt dessen will ich Ihnen
nüclitern mitteilen, was diese Geschichte vom Abgeschnitten bedeutet.
Zu irgend einer Zeit — es ist merkwürdig, daß kaum einer sich be-
sinnen kann, wann das geschieht — und noch merkwürdiger ist es,
daß idi soviel mit Unterbrecliungen meiner Sätze denke und sdireifae.
Sie mögen daraus erfahren, wie schwer es mir wird, auf diese Dinge
einzugchen und ich überlasse es Ihnen, daraus Ihre Folgerungen über
meinen persönliiJien Kastratjonskomplex zu ziehen.
Also zu irgend einer Zeit bemerkt das Knäblein den Unterschied
beider Geschlechter. Bei sich und beim Vater und den Brüdern sieht
er ein Anhängsel, das ganz besonders lustig anzusehen und zum Spielen
ist. Bei Mutter und Schwester sieht er statt dessen ein Loch, aus dem
94
das rohe Fleisch, der Wunde ähiilidi, hervorsdiimmert. Er folgert
daraus, dumpf und unbestimmt, wie es seinem jung-en Gehirn zukommt,
daß einem Teil der Mensdien das Schwänzchen, mit dem sie geboren
wurden, weggenommen wird, ausgerissen, eingestülpt, abgequetscht
oder abgeschnitten wird, damit es auch Mädchen und Frauen gibt;
denn die braucht der liebe Gott zum Kinderkriegen. Und wiederum
zu einer Zeit macht er in seiner seltsamen Verwirrtheit diesen uner-
hörten Dingen gegenüber für sich aus, das Schwänzchen wird abge-
schnitten, denn die Mama macht ab und zu statt des hellgelben Pipis
rotes Blut in das Töpfchen. Also wird ihr von Zeit zu Zeit der Pipl-
madier, das Hähndien, aus dem das Wasser spritzt, abgeschnitten,
und zwar Nachts vom Papa. Und von diesem Moment an bekommt
das Knäblein eine Art Verachtung für das weibliche Geschlecht, eine
Angst für seine eigene Mannheit und eine mitleidige Sehnsucht, das
Loch der Mama und weiterhin die Wunden anderer Mädclien und
Frauen mit seinem Hähnchen auszufüllen, sie zu beschlafen.
Ach, liebe Freundin, ich bilde mir nicht ein, damit die Losung der
ewig rätselhaften Frage nach der Liebe gefunden zu haben. Der
Schleier bleibt, an dem ich nur ein Eckchen zu lüften suche, und was
idi dahinter sehe, ist dunkel. Aber es ist wenigstens ein Versuch.
Und icli bilde mir auch nicht ein, daß der Knabe diese infantUe Sexual-
theorie - erschrecken Sie nicht über den gelehrten Ausdruck — klar
denkt. Aber gerade weil er sie nicht klar denkt, nicht klar auszudenken
wagt, weil er fünf Minuten später wieder eine andere Theorie aufstellt,
um sie wieder zu verwerfen, kurz, weil er diese Dinge gar nicht in
seinem Bewußtsein aufspeichert, sondern in die Tiefen des Unbewußten
versenkt, gerade deshalb haben sie eine so unermeßlich große
Wirkung auf ihn. Denn was unser Leben und Wesen gestaltet, ist
nidit bloß der Inhalt unsres Bewußtseins, sondern in viel höherem
Grade unsres Unbewußten. Zwischen beiden, der Region des Bewußten
und der des Unbewußten, ist ein Sieb und oben im Bewußten
bleiben nur die groben Dinge zurück, der Sand für den Mörtel des
Lebens fallt in die Tiefe des Es, oben bleibt nur die Spreu, wahrend
95
drunten das Mehl für das Brot des Lehens gesammelt wird, drunten
im Unbewußten. _
Herzliche Grüße und alles Gute
PATRIK TROLL.
' - 11. „,!.■, ^
IHNEN ZU SCHREIBEN, BESTE FREUNDIN, IST ANGENEHM.
Andere, denen idi die Geschichte von der Kastration erzähle, werden
bös, sclielten micji und tun so, als ob i<h an der Erbsünde und dem
Erbfluch schuld sei. Sie aber ziehen sofort die Parallele mit der
SchÖpfung-ssagfe, und die Rippe Adams, aus der Eva g-emacht wird, ist
Ihnen der Geschlechtsteil des Mannes. Sie haben Redit und ich freue
midi.
Darf idi Sie nodi auf Kleinig-keiten aufmerksam machen? Zunächst
eine Rippe ist hart und starr. Es ist also nidit der Penis schlechthin,
aus dem das Weib wird, sondern der hartgewordene, knochige, steife,
der erigierte Phallus der Lust. Die Wollust gilt der Mensdienseele als
böse, als strafbar. Der Wollust folgt die Strafe der Kastration. Die
Wollust macht aus dem Manne das Weib.
Machen Sie eine Pause im Lesen, liebe Schülerin, und träumen
Sie ein wenig darüber, was es für das Menschengeschlecht und seine
Entwicklung bedeutet hat und nodi bedeutet, daß es den stärksten
Trieb als Sünde empfindet, den Trieb, der unbezähmbar ist, vom
Willen nur verdrängt, niemals vernichtet werden kann, daß ein unver-
meidEdier Naturvorgang wie die Erektion mit Schande und Scham
bedeckt ist. Aus der Verdrängung, aus dem Zwang, dieses und jenes
zu verdrängen, wurde die Welt, in der wir leben.
Darf ich Ihnen ein wenig helfen? Was verdrängt wird, wird vom
Platze gedräng-t; in andre Form gepreßt und umgewandelt; zum
Symbol gestaltet crsdieint es wieder: die Verschwendung wird zum
Durchfall, die Sparsamkeit zur Verstopfung, die Gebärlust zum Leib-
weh, der Geschlechtsakt zum Tanz, zur Melodie, zum Drama, baut sich
vor aller Menschen Augen auf als Kirche, mit ragendem Mannesturm
96
.— ■A.hhBfc
und g-elieininis vollem Mutterschoß des Gewölbes, wird zum Tender der
Lokomotive und zum rhythmischen Stampfen des Straßenpfiasterers
oder zum Takt des Axtsdiwungs beim Holzfäller. Lauschen Sie dem
Klang- der Stimmen, dem Auf und Nieder im Tonfall, der Schönheit
des Sprachlauts, wie das heimlich wohltut und leise unvermerkt alles
erreg-fc, lauschen Sie in Ihre tiefste Seele hinein und leugnen Sie noch,
wag-en Sie es noch zu leug-nen, daß alles, was gut ist, Symbol der
wog-enden Menschenleiber im Himmel der Liebe ist! Und auch alles,
was böse ist ! Was aber wird aus der Verdrängung der Erektion,
dieses Aufwärtsstrebens, das mit dem Fluch der Kastration bedroht
ist? Aufwärts gen Himmel reckt sidi der Mensch, er hebt sein Haupt,
stellt sich auf eigene Füße, ragt empor und läßt die suchenden Augen
über die Welt schweifen, umfaßt mit denkendem Hirn alles, was ist,
wächst und wird größer und steht! Sieh nur, Liebe, er wurde ein
Mensch, zum Herren geworden durdi Verdrängung und Symbol. Ist es
nicht schön? Und warum klingt unserm Ohr schlecht und Geschledit
so ähnlich ?
Vor dem Wesen und heimlichen Denken des Es kann man sich
fürchten, es staunend bewundern oder darüber lädieln. Auf die Mischung
dieser drei Empfindungen kommt es an. Wer sie in Harmonie zu-
sammenklingen läßt, den wird man lieben, denn er ist liebenswert.
Wie aber kommt es, daß der Mensch die Tatsache der Erektion
als Sünde empfindet, daß er dumpf in sidi fühlt: nun wirst du zum
Weibe, nun schneidet man dir das Loch in den Baudi? Manches kennt
unsereiner von der Menschenseele, einiges davon läßt sich sagen, vieles
wird nie bis zur mittelbaren Klarheit gedacht, zwei Dinge aber kann
ich Ihnen sagen. Das eine ist, was wir zusammen erlebten und was
uns damals heiter und froh machte.
Wir hatten einen schönen Tag verlebt, die Sonne war WEirm ge-
wesen und der Wald grün, die VÖgel hatten gesungen und der Linden-
baum summte von Bienen. Voll von der Frisdie der Welt kamen wir
zu Ihren Kindern gerade zur Zeit, um den kleinen Knaben zu Bett
zu bringen. Da fragte ich ihn: „Wen wirst du einmal heiraten?" Er
7 Groddeck, Das Buch vom Es 97
\.
schlang die Arme um Ihren Hals und küßte Sie und sag^:e: „Die
Mama, nur die Mama." Nie vorher und nie später habe ich solchen Ton
des Liebesgestandnisses gehört. Und in Ihren Augen war plötzlich das
weiche Verschwimmen der Sehg-keit, die völlige Hingabe ist. So ist es
mit allen Knaben: sie lieben ihre Mütter, nicht kindlich, unschuldig,
rein, sondern heiß und leidensdiaWich, durchtränkt von Sinnlichkeit,
mit der ganzen Kraft wollüstiger Liebe; denn was ist alle Sinnlichkeit
des Erwachsenen gegen das Fühlen und Begehren des Kindes"? Diese
heiße Glut aller Liebe, die wohl begründet ist durch jahrelanges ge-
meinsames körperliches Genießen von Mutter und Kind, löst sich, unter
dem Einfluß von Gesetz und Sitte und unter dem Sdiatten des sündigen
Bewußtseins im Gesidit der Mutter, ihrer Lüge und Heudielei, in
Schuldbewußtsein und Angst auf, und hinter der Begierde blinkt das
Messer hervor, das dem Knaben seine Liebeswaffe abschneiden wird.
Odipus.
Es o-ibt Völker, die dulden die Ehe von Bruder und Schwester,
es o-ibt Völker, deren Sitte die reife Tochter dem Vater auf das Lager
gibt, bevor der Gatte sie berühren darf. Aber niemals, so lange die
Welt stand, niemals, so lange sie stehen wird, ist dem Sohn gestattet,
mit der Mutter zu schlafen. Die Blutschande mit der Mutter »rilt als
das schwerste Verbrechen, sdiiimmer als Muttermord, als Sünde der
Sünden, als Sünde an sich. Warum ist das so? Geben Sie Antwort,
Freundin. Vielleicht weiß die Frau darüber mehr Tp sagen als der Mann.
Das also ist das eine: weil jede Erektion Begierde nach der
Mutter ist, jede, nach dem Gesetze der Übertragung ausnahmslos jede,
darum ist sie von Angst vor der Kastration begleitet. Womit du
sündigst, daran wirst du gestraft, das Weib mit Brustkrebs und
Gebärmutterkrebs, weil sie mit Brüsten und Unterleib sündigte, der
Mann mit Wunden, Blut und Verrücldiheit, weil er Wunden schlug und
Böses dachte, ein jeder aber mit dem Gespenste der Entmannung.
Das andere aber ist eine Erfahrung: auf jede Erektion folgt die
Erschlaffung- Und ist das nidit Entmannung? Diese Erschlaffung ist
die natürliche Kastration und ist eine symbolische Quelle der Angst.
98
. . . '-^^
I.
^ ..
Ist es nicht merkwürdig, daß die Mensdien immer davon reden, man
könne sich durch Wollust selber zerstören? Und hat doch die Natur durch
die symbolische Warnung- der Erschlaffung eine unüberwindlidie Schranke
für jede Vergeudung' erschaffen. Ist dieses Gerede nur Angst, die dem
Ödipuskomplex entspringt oder dem Onaniegespenst oder sonst einer
Seltsamkeit der Menschenseele, oder ist es nicht auch vielleicht Neid?
Der Neid des Impotenten, des Entbehrenden, der Neid, den jeder
|'> Vater gegen seinen Sohn, die Mutter gegen ihre Tochter, der Ältere
gegen den Jüngeren hat?
Idt bin weit herumgeschweift und wollte doch von der Erschaffung
des Weibes aus Adams Rippe sprechen. Beachten Sie bitte: Adam ist
.— ursprünghch allein. Soli aus dem weichen Fleisch, das er mehr hat, als
dem Weibe spater gegönnt wird, eine harte Rippe werden, so muß
die Beo-ierde, die die Erektion hervorruft, der Verliebtheit in sich selbst
entspringen, narzistisch sein. Adam empfindet durch sich selbst die
Lust, die Befriedigung, die Vei^wandiung von Fleisch in Rippe ver-
'!**■ " schafft er sich selbst. Und die Erschaffung des Weibes, das Abschneiden
der Rippe, so daß die Wunde des Weibes entsteht, diese Kastration
ist letzten Endes die Strafe für die Onanie. Wie sollte der Mensch
aber, wenn er erst den Gedanken hatte: Onanie ist strafwürdig, sidi
eine andere Strafe auswählen, um sich davor zu fürchten, als die
Kastration, da ja auf jeden Onanleakt unbedingt die symbolische
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"^1'.
■^ Kastration, die Erschlaffung folgen muß?
ITViW'
Soweit ist die Sadie leidlich klar. Aber nun bleibt die Frage,
warum der Mensch in der Onanie die Sünde sieht. Wenigstens eine
halbe Antwort darauf ist leicht zu finden. Denken Sie sich einen kleinen
Säugling, ein Knäblein. Zunächst muß es sich selbst kennen lernen,
alles betasten, was betastbar ist, mit allem spielen, was zu ihm gehört,
mit seinem Ohr, seiner Nase, seinen Fingern, den Zehen. Sollte er die
kleine Troddel, die er unten am Bäuchlein hängen hat, aus angeborner
Moralität beim Selbstliennenlernen und Spielen weglassen? Gewiß nicht.
Was aber geschieht nun, wenn er spielt? Das Zupfen am Ohr, an der
Nase, am Mund, an den Fingern und Zehen wird von der entzückten
7' 99
■^
Mutter hervorgerufen, gefordert, in jeder Weise beg^üustigt. Sobald
aber das Kindchen an der Troddel spielt, kommt eine große Hand,
eine Hand, die von der Mythen schaffenden Kraft des Menschenkindes
in die Hand Gottes verwandelt wird, und nimmt des Kindes Händchen
fort. Vielleicht, sicher sogar, blickt dabei das Gesicht dieses Mensclien,
der die große Hand hat, der Mutter also, ernst, angstvoll, schuld-
bewußt. "Wie tief muß das Erschrecken des Kindes sein, wie ungeheuer
der Eindruck, wenn stets bei derselben Handlung, nur bei dieser einen
einzigen Handlung die Gotteshand hindernd kommt. Das alles ge-
schieht zu einer Zeit, wo das Kind noch nicht spricht, ja, wo es das
gesprochene Wort noch nicht einmal versteht. Es gräbt sich ein in die
tiefste Tiefe der Seele, tiefer nodi als Sprechen, Gehen, Kauen, tiefer
als die Bilder von Sonne und Mond, von rund und eckig, von Vater
und Mutter: du darfst nicht mit dem Geschlechtsteil spielen, und gleich
anschließend entsteht der Gedanke: Alle Lust ist schledit. Und viel-
leicht bringt die Erfahrung: wenn du mit dem Geschlechtsteil spieist,
wird dir etwas weggenommen, notwendig die weitere Idee: nicht nur
das Händchen, auch das St^wänzchen wird dir genommen. Wir wissen
ja nidits vom Kinde, wissen nidit, wie weit es s<hon ein Persönlichkeits-
gefühl hat, ob es mit dem Gefühl, Hand und Bein gehören zu mir,
geboren wird oder es erst erwerben muß. Hat es sdion von Beginn
an das Empfinden, ein Ich zu sein, von der Umwelt abgegrenzt zu sein?
Wir wissen es nicht, wissen nur das eine, daß es erst spat, erst mit
drei Jahren beginnt, das Wörtlein Ich zu gebrauchen. Ist es so über-
kühn, anzunehmen, daß es ursprünglich sich selbst zeitweise als fremd,
als den andern betrachtet, da der Hans doch nicht sagt: Ich will trinken,
sondern Hans will trinken? Wir Menschen sind närrische Käuze, die
soldie Fragen gar nicht zu stellen wagen, einfach weil unsere Eltern
uns das viele Fragen verboten haben.
Es bleibt noch eine Scliwierigkeit bei der Schöpfungssage, auf die
ich kurz hinweisen möchte. Wir deuten beide die Entstehung aus der
Rippe als Umwandlung des Mannes in ein Weib durch die Kastration.
Dann fordert aber unser rationelles Denken zwei Adams, einen, der
100
Adam bleibt, einen, der Eva wird. Aber das ist nur ein dummer
rationalisierender Einwand. Denn wann hatte sich je die Diditung daran
gestoßen, aus einer Person zwei zu m hen oder aus zweien eine? Das
Wesen des Dramas beruht darauf, daß der Dichter sich selbst in zwei,
ja in zwanzig Personen spaltet, der Traum verfährt so, jeder Mensdi
tut dasselbe ; denn er nimmt in der Umwelt nur wahr, was er selbst
ist, er projiziert sidi selbst fortwährend in die Dinge. Das ist das
Leben, das muß so sein, dazu zwingt uns das Es.
Verzeihung, Sie lieben soldi Philosophieren nicht. Und vielleidit
haben Sie recht. Kehren wir in das Reich der sogenannten Tatsachen
zurück !
Es ist nidit gut, daß der Mensch allein sei, ich will ihm eine
Gehilfin geben, sagt Gott der Herr und macht ein Wesen, das dort,
wo der Mann einen Auswuchs hat, eine Öffnung besitzt, das sich dort,
wo er flach ist, zwei Brüste wölben läßt. Das ist also das Wesentliche
an ihrem Gehilfinsein. Es ist derselbe Gedanke, den das Kind hat:
damit geboren wird, muß aus dem Adam durdi Wegnehmen der
Rippe eine Eva werden, ist solch eine Übereinstimmung von Volks-
und Kinderseele nicht beachtenswert? Wenn Sie Lust haben, wollen
wir selbst Märchen und Mythen, Baustile und technische Leistungen
der Völker durdiforschen ; vielleicht finden wir allerhand Kindliches darin.
Das wäre nicht unwiditig; es würde uns duldsam gegen die Kindlein
machen, von denen Christus sagt: Ihrer ist das Himmelreich. Ja, vielleicht
fänden wir audi unser längst verlorenes Staunen, unsere Anbetung des
Kindes wieder, was immerhin in unserem malthusianischen Jahrhundert
etwas bedeuten würde.
Aber achten Sie dodi auf das Wort: Gehilfin. Es ist keine Rede
davon, daß der Mann umgewandelt wird in all seinem Wesen und
Streben; er bleibt trotz der Kastration derselbe, bleibt, was er war,
ein Wesen, das auf sich selbst gerichtet ist, das sich selbst liebt, das
■ seine eigene Lust sudit und findet Nur jemand, der ihm dabei hilft,
ist entstanden, Jemand, der ihm einen Teil seiner Lust wo anders als
an seinem Körper unterzubringen ermöglidit. Der Trieb zum Verkehr
101
mit sidi selbst bleibt, der Penis ist nicht verschwunden, er ist noch da,
Adam ist nicht verändert» er steht noch ebenso wie vordem unter dem
Zwang, sich selbst Lust zu verschaffen. Das ist eine seltsame Sache.
Wie ? Sollte es nicht möglich sein, daß all das, was die Weisen
und Toren sagen: die Onanie ist ein Ersatz des Gesdilechts Verkehrs,
entsteht aus dem Mangel eines Objekts, entsteht, weil die Begierde
des Mannes kein Weib zur Hand hat und deshalb zur Eigenhilfe greift;
sollte das alles falsch sein ? Betrachten Sie die Tatsachen. Das kleine
Kind, das neugeborene, treibt Selbstbefriedigung; das heranreifende
Menschlein der Pubertät tut es wieder und — seltsam zu denken —
der Greis und die Greisin greifen von neuem dazu. Und zwisdiea
Kindheit und Alter liegt eine Zeit, da verschwindet die Onanie häufig
und der Verkehr mit anderen Wesen erscheint. Sollte etwa der Ge-
sdilechtsverkehr Ersatz der Onanie sein? Und ist es wirklich so, wie
es in der Bibel steht, daß der Geschledits verkehr nur Gehilfe ist?
Ja, beste Freundin, so ist es. Es ist wirklidi wahr, die Selbst-
befriedigung besteht ruhig weiter, trotz Liebe und Ehe, neben Liebe
und Ehe, sie hört nie auf, ist immer da und bleibt bis zum Tode.
Gehen Sie in Ihre Erinnerung hinein, Sie werden in vielen Tagen und
Nächten, im Liebesspiel mit dem Manne und im Leben Ihrer Phantasie
den Beweis finden. Und wenn Sie ihn gefunden haben, werden Ihre
Augen sich für tausend Phänomene öffnen, die deutlich oder unklar
ihre Zusammenhänge, ja ihre Abhängigkeit von der Selbstbefriedigung
zeigen. Und werden sich hüten, die Onanie künftig unnatürlich und
lasterhaft zu nennen, wenn Sie sich auch nidit zwingen können, sie
als Schöpferin des Guten zu empfinden. Denn um so zu empfinden,
müßten Sie die Gotteshand, die Hand der Mutter, die einst Ihr Spiel
der Lust unterbrach, überwinden, innerlich überwinden. Und das kann
niemand.
Herzlichst
PATRIK TROLL.
102
1
'•'^
V 12.
ICH VERSTEHE NICHT, LIEBE FREUNDIN, WELCHER TEUFEL
in Sie gefahren ist. NeuÜdi schrieben Sie in heller Freude von Ihrer
Überzeug-ang, daß die Kastrationsideen beim Menschen immer und
immer nadiweisbar sind und heute kommen Sie mit Einwänden. Aber
warum wundre ich midi? Diese Dinge werden bei allen Mensdien in
tiefes Dunkel verdrangft, wie viel mehr also bei Ihnen, die Sie stolz
sind und stets waren. Die Belastung durch den Kastrationsg-edanken
ist bei dem Weibe an sidi sdiwerer als bei dem Manne. Bei ihm gleicht
die Tatsadie, daß er noch Mann ist und das Szepter der Männlichkeit,
des Herrseins an seinem Leibe trägt, einigermaßen das Gewidit der
Kastration aus; er hat Wünsdie und Ängste, aber er sieht dodi mit
eigenen Augen, daß er das Glied noch hat, für das er sich bangt.
Das Mädchen aber sagt sich beim Anblick ihres Mangeis: ich bin schon
kastriert; meine einzige Hoffnung ist, daß die Wunde vernarbt und
ein neues Ende dieses Herrenfleisches daraus hervorwächst. Diese
Hoffnung aufzugeben, sich mit dem Gefühl der eigenen Minderwertig-
keit abzufinden, ja dieses Gefühl in ein ehrliches Bekenntnis zum
Weibsein, in den Stolz und die Liebe zum Weibsein umzuwandeln,
wie Sie es getan haben, erfordert heißeres Ringen, ehe es zur Ver-
drängung kommt; alles muß tiefer versenkt und verschüttet werden
und schon das leiseste Schwanken der verschüttenden Massen bringt
Umwälzungen hervor, die wir Männer nicht kennen. Man sieht das,
und Sie empfanden es selbst bei jeder Periode; die monatliche Blutung,
dieses Kainszeidien des Weibes, rührt den Kastrationskomplex auf,
aus dem Sumpfe des Unbewußten steigen die verdrängten Gifte empor
und trüben im Verein mit vielen anderen Dingen die klare Naivität
des Menschen.
Ist es nidit merkwürdig, daß Europäer bei dem Wort Periode,
Menstruation, Regel sofort an die Blutung denken? ja, daß im all-
gemeinen selbst dieses enge Interesse am Blut noch zu einem
rohen Denken an Schmutz und Gestank, versteckte Beschämung,
Schmerz und Kinderkriegen zusammengepreßt wird? Und hangt doch
103
eine Weit von Lebenswerten an diesem Phänomen des rhythmisdien
Rausches.
Denn das ist das Wesentliche: der Rausch, die Brunst, die Ge-
schlechtslust des Weibes ist wahrend dieser Bluttage hochgradig ge-
steigert und wie das Tier, das gewiß nicht niederer als der Mensch
ist, lockt sie auf irg-end eine Weise in dieser Zeit den Mann zu sich;
und die Umarmung- während der Blutung ist die heißeste, glücklichste,
wäre es vielmehr, wenn die Sitte nicht ihr Verbot dagegen gesetzt
hätte. Daß dem wirklich so ist, beweist uns eine seltsame Tatsache:
über drei Viertel aller Vergewaltigungen finden wahrend der Periode
statt. Mit andern Worten: irgend ein geheimnisvolles Etwas am blu-
tenden Weibe zwingt den Mann in eine Raserei, die vor dem Verbrechen
nicht mehr zurückschreckt. Eva verführt den Adam, so ist es, war es
und wird es immer bleiben. Sie muß ihn verführen, weil sie brünstig
blutet, weil sie selbst verlangt. Die Mütter erzählen ihren Töchtern,
die Periode sei des Kinderkriegens wegen da. Das ist ein seltsamer
Irrtum, eine verhängnisvolle Täusdiung. Wie denn die Sudit, die Phä-
nomene des Eros auf einen Fortpflanzungstrieb zurückzuführen, eine
der großen Albernheiten unsers Jahrhunderts ist. Jeder blühende
Apfelbaum, jede Blume und jedes Menschenwerk widerlegt solche enge
Deutung der Ziele Gottnaturs. Von den 20.000 befruchtungsfähigen
Keimen, mit denen das Mädchen geboren wird, sind bei ihrer Mann-
barkeit nur noch einige Hundert da und von denen werden, wenn es
hoch kommt, ein Dutzend befruchtet, und von den vielen Millionen
Samentierclien des Mannes sterben unzählige Scharen, ohne audi nur
in den Schoß des Weibes zu gelangen. Es wird viel geschwatzt unter
den Menschen, und ich darf mich audi unter die Menschen redinen.
«
Sehen Sie nicht die tollen Zusammenhänge, die wirren Fäden, die
von einem Komplex zum andern laufen: In der Mitte des Liebeslebens
steht das Blut, die Lust am Blute. Was soll man tun, wenn man in
das Leben und Denken der Menschen hineinsieht. Soll man über sie
lachen, sie verachten, sie schelten? Vielleicht Ist es besser, sich der
eigenen Torheit bewußt zu bleiben, Zöllner zu sein: Gott sei mir Sünder
104
o-nädig. Aber sagen will ich es doch: Es ist nicht wahr, daß Grausam-
keit pervers ist. Alljährlich feiert die Christenheit den Charfreitag, den
Freudentag. Die Menschheit schuf sich einen Gott, der litt, weil sie
fühlte, daß der Schmerz der Weg zum Himmel ist, weil das Leiden,
die blutige Qual für ihr Empfinden göttlich ist. Wurden Ihre Lippen
nie wund geküßt ? War Ihre Haut nie blutunterlaufen vom heißen
Saugen eines Mundes? Bissen Sie nie in einen umsdilingenden Arm
und ward Ihnen nicht wohl, zerdrückt zu werden? Und dann kommen
Sie mir mit der Narrheit, man dürfe Kinder nicht schlagen. Ach, liebste»
Freundin, das Kind will gesdilagen sein, es sehnt sidi danadi, es lechzt
nadi Keile, wie mein Vater es nannte. Und in tausendfältiger List sudit
es die Strafe herbeizuführen. Die Mütter beruhigen ihr Kind auf dem
Arm mit sanften Schlagen, und das Kind ladielt dazu; sie hat es ge-
waschen auf der Wickelkommode und küßt es auf die rosigen Bäckdien,
die eben noch voll Dreck waren, und als letzte hödiste Freude gibt
sie dem strampelnden Wesen einen Klaps, den es krähend vor Freude
empfängt. * " . .- ., . , _ , ,
Haben Sie sidi nie mit Ihrem Liebsten gezankt? Aber bedenken
Sie doch, wozu Sie es taten und wie alles verlief. Ein Stich von hüben
und ein verletzendes Wort von drüben, und dann wird es schärfer,
beißend, Hohn, Zorn, Wut. Was wollten Sie doch damit, daß Sie den
Mann mutwülig in Harnisch braditen? Sollte er wirklidi, wie er es tat,
den Hut auf den Kopf setzen, den Stock in die Hand nehmen und
die Tür zuknallen? Ach nein, er sollte eine Türe Sffnen, die in Ihr
eigenes Leibeszimmer führt, er sollte sein Männlein einlassen, es be-
decken mit dem Hut des Mutterschoßes, es krönen mit Kranz und
Krone Ihres Mäddienleibes, Natur hing ihm einen Stock an, den sollte
er bei Ihnen gebrauchen, sollte Sie schlagen und grausam lieben. Nennen
doch alle Sprachen das Mauneszeichen Rute. Die Grausamkeit ist un-
lösbar mit der Liebe verknüpft, und das rote Blut ist der tiefste Zauber
der roten Liebe.
Ohne Periode gäbe es keine Liebe zum Weibe, wenigstens keine,
die das Wort wahr machte, daß das Weib dem Manne zur Gehilfin
105
gfeschaffen wurde. Und das ist das Wesentliche. Denn zu Ihrem Er-
staunen und Ihrer Empörung- werden Sie finden, daß sich vieles,
wenn nicht alles im Mensclienlehen aus der Liebe ableiten läßt und die
Tatsache, daß Eva nicht zum Kinderkrieg-en, sondern als Gefährtin dem
Adam beig-egeben wurde, paßt mir, um dem Geschrei der bibel-
unkundigen Menge wenigstens ein Wort entg-eg-en halten zu können.
So also liegen die Dinge für mich: ich nehme an, daß die Periode
des Weihes, insbesondere auch die Blutung ein Lockmittel für den
«Mann ist. Und damit stimmt wohl eine kleine Beobachtung überein,
die idi hie und da gemacht habe. Viele Frauen, die lange von ihren
Männern getrennnt waren, bekommen am Tage des Wiedersehens die
Periode. Sie denken, die räumliche Trennung habe doch vielleicht eine
Entfremdung herbeigeführt, und um die zu überwinden, bereitet ihr
Es den Zauber des Liebestrankes, der den Mann in ihre Arme führt.
Sie wissen, ich liebe es, die Dinge auf den Kopf zu stellen, und
hier ist es mir hoffentlidi gut gelungen. Aber um gerecht 2U sein,
will idi Ihnen auch noch zwei andere Absichten des Es bei dieser
seltsamen Maßregel verraten, die bei Ihnen weniger Widerspruch finden
werden. Wenn eine Frau ihre Regel hat, kann sie nicht schwanger
sein. Das Es legt durch die Blutung dem Gatten lautes und beredtes
Zeugnis für die Treue seines Weibes ab. „Siehe," spricht es, „wenn
jetzt ein Kind kommt, so stammt es von dir; denn als du kamst,
blutete ich." Wenn ich nun boshaft wäre und die Männer aufhetzen
wollte — aber diese Briefe sind ja nur für Ihre Augen bestimmt, ich
kann Ihnen also meine kleine Bosheit mitteilen, ohne die Ehegatten
mißtrauisch zu machen. Das starke Betonen der Unschuld ist immer
verdächtig, es versteckt sidi dahinter das Schuldbekenntnis. Und wirk-
li<di, wenn idi in solchen Fällen nachforschte, fand icli den Treubrutii,
der von dem roten Blute verborgen werden sollte. FreiUdi nicht ein
wirkliches Schlafen mit einem fremden Manne; ich besinne mich nicht,
das jemals erlebt zu haben; aber den Gedankentreubruch, die halb-
verdrängte Sünde, die doppelt tief wirkt, weü sie vor der Tat im
Morast der Seele stecken blieb. Sie glauben gar nicht, liebste Freundin,
106 •
t
was für heimlichen Spaß solche Betrachtung^en machen. Das Leben
erzielt Kontraste eigener Art. Es weiß recht artig mit demselben Wort
Unschuld zu beteuern und Schuld einzugestehen.
Ganz so ist auch die zweite Absidit des Es, von der ich sprach,
ein doppelsinniges Spiel. „Locke den Mann," so spricht das Es zum
Weibe, „locke ihn mit dem Blute deiner Liebe." Das Weib horcht
dieser Stimme, aber unschlüssig fragt sie: Und wenn es mißglückt?
„Ei," sagt das Es und lacht ein wenig, „dann hast du ja für deine
Eitelkeit die beste Entsdiuldig-ung. Denn wie sollte der Mann ein Weib
berühren wollen, das unrein ist?" In der Tat, wie sollte er es wollen,
da es seit Jahrtausenden verboten ist? Wenn also die Umarmung
stürmisdi wird, so ist es gut, doppelt gut, weil sie erfolgte, trotzdem
die Sitte sie verwirft, und bleibt sie aus, so geschieht es, weil die Sitte
sie verwirft.
Mit solcher Rückversicherung arbeitet das Es viel und mit Glück.
So läßt es an dem liebenden Mund, der sich nach dem Kusse sehnt,
ein entstellendes Ekzem erscheinen ; werde ich trotzdem geküßt, so ist
das Glück groß, bleibt der Kuß aus, so war es nicht Mangel an Liebe,
nur Absdieu vor dem Ekzem. Das ist einer der Gründe, warum der
Knabe in der Entwicklungszeit auf der Stirn Eiterbläschen trägt, warum
das Mädchen beim Ball auf ihrer nackten Schulter oder am Brustansatz
Pickel bekommt, die nebenbei auch noch den BUck zu leiten wissen;
warum die Hand kalt und feucht wird, wenn sie sich dem Geliebten
entgegenstreckt; warum der Mund, der den Kuß begehrt, übel riedit,
warum Ausfluß aus den Geschlechtsteilen entsteht, warum Frauen
plötzlich häßlich und launisch werden und Männer ungeschickt und
kindisch verlegen.
Und damit komme idi ganz nahe an das große Rätsel: Warum
verbot, wenn die Periode die Aufforderung zur Lust ist, unsere
Menschensitte — so viel ich weiß, überall zu allen Zeiten — den Ge-
schlechtsverkehr gerade wahrend der Blutung?
Das ist nun schon das dritte Mal, daß ich in meinen Briefen von
Verbot rede, einmal war es das Onanieverbot, dann das des Inzestes
107
mit der Mutter und nun das des Geschlechts Verkehres während der
Periode. Wenn so den mäditigsten Trieben, dem der Selbstliebe, dem zur
Liebe zwischen Schöpfer und Geschöpf, und dem zu dem Geschlechts-
verkehr selbst, starke Hindernisse entg-egeng-esetzt werden, darf man
davon Wirkungen erwarten. Und in der Tat aus diesen drei Verboten
sind Folgen erwachsen, deren Umfang kaum zu ermessen ist. Wenn
Sie gestatten, spiele ich ein wenig damit. ^-
' Da ist zunächst das älteste, am frühesten wirkende Verbot, das
der Onanie. Die einmal gekostete Lust verlangt nach neuer Lust, und
da der Weg zur Selbstlust versperrt ist, wirft sich der Trieb mit voller
Kraft auf ahnlidie Lustempfindungen, die von fremder Hand, von der
Hand der Mutter beim Waschen und Baden, beim Urinentleeren und
sonstwie willig und unter der Begründung der Notwendigkeit und der
alles erlaubenden Heiligkeit der Mutterliebe gewährt werden. Die
erotische Bindung an die Mutter wird durdi das Onanieverbot fester,
die Leidensdiaft zur Mutter wächst- Je stärker sie wird, um so stärker
wird auch der Widerstand gegen diese rein körperlich geschlechtliche
liebe, bis er sdiließlich in dem ausdrücklichen Verbot der Blutschande
mit der Mutter gipfelt. Ein neuer Ausweg wird gesucht, der über die
Symbolgleichung Mutter — Gebärmutter zum Drang nach der Vereinigung-
mit irgend einem Weibe führt. Die redite Zeit zu dieser Vereinigung-
ist die Brunstzeit der Gebärmutter, die Periode. Aber gerade in dieser
Zeit tritt zwischen den Wunsch und die Erfüllung ein Nein, das in
vielen Kulturen, so in der hebräischen, Gesetzeskraft hat. Offenbar
braucht Gottnatur solche Verbote, die, je nach Bedürfnis, so oder so
gestaltet werden. Unsere eigene Zeit hat zum Beispiel, statt den Ver-
kehr während der Blutung zu verbieten, die Form gewählt, bestimmte
Jahre, und zwar die der heißesten Leidenschaft, die Pubertätsjahre
durdh das Strafgesetzbuch von jeder sexuellen Betätigung außer der
Onanie auszuschließen. Vielleidit macht es Ihnen Vergnügen, den Folgen
solcher Verbote nachzudenken.
Denn eins ist klar: das Verbot kann wohl den Wunsch verdrängen,
aus seiner Richtung drängen, aber es tötet ihn nicht. Es zwingt ihn
108
nur anders vA& Erfüllung; zu suchen. Die findet er auch in tausend-
facher Weise, in jeder Lebenstätigkeit, die Sie sich ausdenken mög:en;
in Erfindungen von Schornsteinen oder Dampfschiffen, im Gebrauch des
Pfluges oder des Spatens, im Diditen und Denken, in der Liebe zu
Gott und Natur, im Verbrechen und der herrischen Tat, im Wohltun
und in der Bosheit, in Religion und Gotteslästerung, im Beflecken des
Tischtuches und im Zerschlagen eines Glases, im Herzklopfen und
St^witzen, in Durst und Hunger, Müdigkeit und Frische. Morphium
und Temperenz, im Ehebruch und im Keusdiheitsgelübde, im Gehen,
Stehen, Liegen, im Sdimerz und in der Freude, in Glück und Un-
zufriedenheit. Und damit doch endlich zum Vorschein kommt, daß ich
Arzt bin, der verdrängte Wunsch erscheint in der Erkrankung, in jeder
Art der Erkrankung, mag sie organisch oder funktionell sein, mag sie
Lungenentzündung oder Melancholie benannt werden. Das ist ein langes
Kapitel, zu lang, um es heute weiter zu führen.
Nur noch ein kleines Angelhäkdien will ich Ihnen zuwerfen, auf
das Sie hoffentlich anbeißen.
Was wird aus dem Wunsch des Mannes, mit dem Weibe während
der Periode zusammen zu kommen? Das, was ihn aufregt, ist das
Blut. Der Grausamkeitstrieb, der von Beginn an in ihm ist, wird auf-
lodern. Er erfindet Waffen, ersinnt Operationen, führt Kriege, errichtet
Schlachthäuser, um Hekatomben von Rindern zu töten, besteig-t Berge,
fährt zur See, sucht den Nordpol oder das Innere Tibets, jagt, fischt,
sdiläH seine Kinder und donnert seme Frau an. Und was wird aus
dem Wunsche des Weibes? Sie knüpft sich eine Binde zwischen die
Schenkel treibt unbewußte Onanie unter dem allgemem gebilligten
Vorwande der Reinlichkeit. Und wenn sie reinlidi ist, tut sie die Binde
aus Vorsidit schon einen Tag vorher an und trägt sie aus Vorsicht
einen Tag langer. Und wenn das nicht befriedigt, laßt sie die Blutungen
länger dauern oder häufiger erscheinen. Der Trieb zur SelbsÜiebe
bekommt freiere Bahn und erbaut durch die Begierde des Weibes die
Grundlagen unserer Kultur, die Reinlichkeit und mit ihr die Wasser-
leitungen. Bäder und Kanalisationen, die Hygiene und die Seife, und
. 109
weiterhin die Vorliebe für seelische Reinheit, geistigen Adel, innere
Harmonie des höher strebenden Menschen, währe^id der Mann als
Anbeter des Blutes in die geheimnisvollen Eingeweide der Welt ein-
dringt und unablässig am Leben schafft.
Es gibt seltsame Läufe im Leben, die mitunter wie Kreisläufe
aussehen. Aber letzten Endes bleibt uns Sterblichen nur Eines: zu
staunen.
> Herzlichst Ihr
... • PATRIK TROLL.
13.
ICH BIN IHNEN DANKBAR, LIEBE FREUNDIN, DASS SIE AUF
Kunstaus drücke und Definitionen verzichten. Es wird audi ohne sie
gehen, und ich laufe wenigstens nicht Gefahr, mich zu blamieren. Denn
im tiefsten Geheimnis will ich Ihnen anvertrauen, daß ich Definitionen,
mögen sie von Anderen oder von mir stammen, oft selber nicht verstehe.
Statt der Definitionen will ich Ihnen, Ihrem Wunsch gemäß, etwas
mehr von den Wirkungen des Verkehrs Verbotes während der Periode
mitteilen. Und weil midi das Schicksal doch einmal zum Arztsein be-
stimmt hat, soll es etwas Medizinisches sein. Seit einem Jahrhundert
ungefähr, seit dem man auch die sehr männlidien mythisdien Symbole
der Engel ins WeihHche umgestaltet hat, ist es Mode, den Frauen einen
Seelenadel anzudichten, der sich in Absdieu vor aller Erotik äußert,
sie als schmutzig empfindet und besonders die „unreine" Zeit des
Weibes, worunter man die Periode versteht, als besdiamendes Ge-
heimnis behandelt. Und diese Tollheit — denn wie soll man anders
eine Denkweise nennen, die den Frauen die Sinnlichkeit abspriclit; als
ob die Natur so dumm wäre, dem Teil der Menschheit, der die Last
der Sdiw angerschaft trägt, weniger Begierde mitzugeben, als dem
andern? Die Tollheit geht so weit, daß die von Ihnen so hoch-
gepriesenen Lehrbücher allen Ernstes von der Existenz frigider Frauen
sprechen, Statistiken darüber veröffentlichen, die sich auf die von der
Zeitsitte erzwungene Heuchelei der Frauen gründen und so das Weib,
110
wissensdiaftiidi unwissend, immer tiefer in Lug- und Trug^ hineintreiben.
Denn, denkt das arme, eing-eängstIoi:e Wesen, das man jung-e Dame
nennt, warum sollte ich, wenn es die Mutter durdiaus verlangt, der
Vater es als selbstverständlich voraussetzt und der Geliebte meine
Reinheit anbetet, nicht so tun, als ob ich wirklich zwischen Kopf uud
Füßen nichts hätte? Sie spielt die aufg-ezwung-ene Rolle im Allgemeinen
mit Geschick, ja sie strebt wirklidi danatii, das Anerzog-ene als eciit
zu leben, und nur die Raserei der vierten Wodie geht über ihre Kraft.
Sie braucht eine Hilfe, ein Band gewissermassen, das die Maske fest- '
hält, und diese Hilfe findet sie in der Erkrankung, zunächst im Kreuz-
sdimerz. Das Vor- und Zurückbewegen des Kreuzes ist die Beischlafs-
tätigkeit des Weibes; der Kreuzschmerz verbietet diese Bewegung,
er verstärkt das Verbot der Brunst.
Glauben Sie nur ja nicht, liebe Freundin, daß ich mit solchen kleinen
Bemerkungen irgend eine Frage zu lösen beabsiditlge. Idi will Ihnen
nar begreiflich madien, was Ihnen so oft unbegreiHich schien, warum
idi immer wieder bei meinen Kranken nach dem Zweck ihrer Er-
krankung frage. Ich weiß iiiclit, ob die Erkrankung einen Zweck hat,
es ist mir auch gleichgültig. Aber ein solches Fragen hat sich mir be-
währt, weil es auf irgend eine Weise das Es des Kranken in Bewegung
setzt und nldit selten zum Verschwinden eines Symptoms beitragt.
Das Verfahren ist ziemlich roh, pfuscherhaft, wenn Sie wollen-, und ich
bin mir bewußt, daß jede Gelehrtenbrille geringschätzig darüber hin-
wegsieht. Aber Sie haben mich danach gefragt und ich antworte.
Ich pflege im Laufe einer Behandlung zu irgend einer Zeit den j
Kranken darauf aufmerksam zu machen, daß aus Menschensamen und
Menschenei stets ein Mensch wird, nidit ein Hund, nicht eine Katze,
daß eine Kraft in diesen Keimen steckt, die im Stande ist, eine Nase,
einen Finger, ein Gehirn zu formen, daß also diese Kraft, die so Er-
staunlidies leistet, wohl auch einen Kopfschmerz oder einen Durchfall
oder einen geröteten Hals erschaffen kann, ja daß ich es nicht für zu
kühn halte anzunehmen, daß sie auch eine Lungenentzündung oder
Gicht oder Krebs fabrizieren kann. Ich gehe sogar so weit, dem
111
\
Kranken gegenüber zu behaupten, diese Kraft tue das wirklich, madie
den Menschen nach ihrem Beheben krank zu bestimmten Zwecken,
wähle nach ihrem Belieben zu bestimmten Zwecken Ort, Zeit und Art
der Erkrankung aus. Und dabei kümmere ich mich gar eicht darum,
ob ich das, was idi behaupte, selber glaube oder nicht, ich behaupte
es einfach. Und dann frage ich den Kranken, wozu hast du eine Nase?
Zum Riechen, antwortet er mir. Also, folgere ich, hat dein Es dir den
Schnupfen gegeben, damit du irgend etwas nicht riechen sollst. Suche,
was du nicht riechen solltest. Und ab und zu findet der Patient
wirklich einen Geruch, den er vermeiden wollte, und — Sie brauchen
es nicht zu glauben, aber ich glaube es — wenn er es gefunden hat,
verschwindet der Schnupfen.
Die Kreuzschmerzen bei der Periode erleichtern der Frau den
Widerstand gegen ihre Begierde, so behaupte ich. Aber damit soll
nicht gesagt sein, daß derlei Schmerzen nur diesem Zweck dienen. Sie
müssen bedenken, daß in dem Worte Kreuz das Mysterium der Christen-
heit steckt, daß dieses os sacrum, dieser heilige Knochen in sich das
Problem der Mutter birgt. Davon und von andrem will ich hier nidit
sprechen, lieber ein wenig weitergehen. Zuweilen genügt der Kreuz-
schmerz niciit, dann tritt warnend der Krampf und wehenartige Schmerz
im Unterleibe hinzu, und reicht das nicht aus, so greift das Es zum
Kopfschmerz, um die Gedanken still zu stellen, zu Migräne, Übelkeit
und Erbredien. Sie stehen da mitten in seltsamen Symbolen; denn
Übelkeit, Erbrechen, das Gefühl des Schädelplatzens sind Geburtssinn-
bilder in Krankheitsform.
Sie verstehen, daß es unmöghch ist, klare Auseinandersetzungen
zu geben, wo Alles so bunt ist. Aber Eines darf Ich wohl sagen: je
schwererer der innere Konflikt der Menschen ist, um so schwerer sind
die Erkrankungen, die ja symbolisch den Konflikt darstellen, und um-
gekehrt, je schwerer die Erkrankungen, um so heftiger ist die Begierde
und der Widerstand gegen die Begierde. Das gilt von allen Erkrankungen,
nidit nur von denen der Periode. Reicht die leichte Form des Un-
wohlseins nicht aus, um den Konflikt zu lösen oder zu verdrängen, so
112
greift das Es lur schwereren, zum Fieber, das den Menschen ins Haus
bannt, zur Lungenentzündung oder zum Beinbruch, die ihn in das Bett
werfen, so daß der Kreis der Wahrnehmungen, die die Begierde
stärker reizen, kleiner wird, zur Ohnmadit, die jeden Eindruck aus-
schließt, zur dironisdien Erkrankung, Lähmung, zum Krebs und der
Schwindsucht, die langsam die Kraft untergraben, und schliefiiich zum
Tode. Denn nur der stirbt, der sterben will, dem das Leben uner-
träglich wurde.
Darf ich wiederholen, was ich sagte? Die Erkrankung hat einen
Zweck, sie soll den Konflikt lösen, verdrängen oder das Verdrängte
am Bewußtwerden verhindern; sie soll für die Übertretung des Ver-
botes bestrafen, und das geht soweit, daß man aus der Art und dem
Ort und der Zeit der Erkrankung auf Art, Ort und Zeit der straf-
baren Sünde Rückschlüsse machen kann. Wer den Arm bricht, hat
mit dem Arm gesündigt oder wollte damit sündigen, vielleicht morden,
vielleicht stehlen oder onanieren; werblind wird, will nidit mehr sehen,
hat mit den Augen gesündigt oder will mit ihnen sündigen; wer heiser
ist, der hat ein Geheimnis und wagt es nicht laut zu erzählen. Die
Erkrankung ist aber auch ein Symbol, eine Darstellung eines inneren
Vorgangs, ein Theaterspiel des Es, mit dem es verkündet, was es mit
der Zunge nicht auszuspredien vermag. Mit andern Worten die Er-
krankung, jede Erkrankung, mag sie nervös oder organisch genannt
werden, und auch der Tod, sind ebenso sinnvoll wie das Klavierspiel
oder das Anzünden eines StreicJiholzes oder das Ubereinanderschlagen
der Beine. Sie sagen etwas vom Es aus, deutliciier, eindringlicher als
die Sprache es vermag, ja als das ganze bewußte Leben es kann.
Tat vam asi,
Und wie seltsam scherzt das Es! Ich nannte vorhin die Schwind-
sudit, die Sucht zum Schwinden. Die Begierde soU schwinden, die Be-
gierde naiJi dem Aus und Ein, nach dem Hin und Her der Erotik,
das sidi in der Atmung symbolisiert. Und mit der Begierde schwinden
die Lungen, diese Darsteller des Empfängnis- und Geburtssymbols,
schwmdet der Leib, dieses Phallussymbol, muß sdiwinden, weil die Be-
8 Groddeck, Das Budi vom Es 113
gierde in der Erkrankung wadist, weil die Schuld durch die immer
wiederholte symbolische Samcnverscluvenduiig des Auswurfs sidti
ständig verg-rößert, weil die Sucht zu scliwindeu aus der Verdräng-ung-
dieser ins Bewußtsein strebenden Symbole immer wieder neu entsteht,
weil das Es durdi die Lung-enerkrankuug schöne Augen und Zähne,
hitzende Gifte entstehen laßt. Und das grausame Mordspiel des Es
wird noch toller, weil ihm ein Irrtum zu Grunde liegt; denn Sucht hat
niclits mit Sehnsuclit zu tun, sondern mit siech. Aber das Es stellt
sidi, als ob es über Etymologie nichts wüßte, hält sich wie der naive
Griedie an den Klang des Wortes und benutzt diesen Klang, um die
Erkrankung entstehen zu lassen und weiter zu führen.
Es wäre gar nicht so dumm, wenn die berufenen Leute der
Medizin weniger klug waren und plumper dächten, kindlicher folgerten.
Man täte damit vielleicht Besseres als mit der Errichtung von Lungen-
heilstätten und Beratungsstellen. •■'■ -
Rate ich recht, wenn ich annehme, daß Sie aucli vom Krebs ein
kräftig Wörtlein hören mögen? Wir sind allmählldi mit Hilfe unserer
Beflissenheit, uns von Anatomie, Physiologie, Bakteriologie und Statistik
Ansichten vorschreiben zu lassen, so weit gekommen, daß Niemand
mehr weiß, was er Krebs nennen soll und was nidit. Die Folge davon
ist, daß das Wort Krebs ebenso wie das Wort Syphilis alle Tage viel
tausendmal gedruckt und gesproclien wird; denn was iiören wohl die
Menschen lieber als Gespenstergesdiicliten? Und da man an Gespenster
nicht mehr glauben darf, geben die beiden, trotz oder wegen der
vielen Wissensdiaft so gut wie undefinierbaren Namen, deren assozia-
tive Verwandtschaft grausige Grotesken erschafft, einen guten Ersatz
fürs Gruseln. Nun gibt es ein Phänomen im Leben des Es, das heißt
die Angst, und die bemächtigt sich, weil sie aus Zeilen stammt, die
jenseits der Erinnerung liegen, der beiden Wörter, um dem hohen Ver-
stände einen Schabernack zuspielen und das Ersclieinen der Angst seiner
Dummheit erklärlich zu machen. Wenn sie noch die Onanieangst hinzu-
rechnen, haben Sie ein in sich zusammenhängendes Gewirr von Angst,
und das halbe Leben ist Angst.
114
Aber ich wollte Ihnen etwas von meiner Krebsweisheit erzählen
"bnd merke, daß mich der Zorn vom Weg-e lockt. Gehen Sie hin zu
ihrer Nachbarin und Freundin, bringen Sie sie auf das Thema Krebs
— sie wird bereitwillig darauf eingehen, denn sie hat wie alle Frauen
Krebsangst ~ und fragen Sie sie dann, was ihr zu dem Wortklang-
Krebs einfällt. Sie wird Ihnen sofort antworten „Der Krebs geht rück-
wärts" und nach einigem Zogern „er hat Scheren." Und wenn Sie
ebenso frech wie ich am Stiileier des Wisse nschaftsmysteriums gezerrt
haben, werden Sie daraus schließen: Der oberflächlicher liegende
Komplex, aus dem die Krebsangst sidi satt frißt, hat etwas mit der
Rückwärtsbewegung zu tun, und tiefer liegt etwas, was mit dem Be-
griff des Schneidens zu tun hat. Das ist gar leicht zu erklären, der
Mensch geht eben, wenn er am Krebs erkrankt, an Kraft und Lebens-
mut zurück und der Arzt schneidet, wenn er „in den Anfangsstadien"
dazu kommt. Aber bei näherem Eingehen auf die Frage werden Sie
erfahren, daß die Riicliwärtsbewegung im Assoziationszwang mit
Kindheitsbeobachtungen steht, die frühzeitig verdrängt im Unbewußten
forlgewirkt haben. Der kleine Engel von Mädchen ist durchaus nicht un-
scliüldig, wie man anzunehmen beliebt, durchaus nidit rein, wie die
höheren Menschen es behaupten, genau so wenig wie es die Taube
ist, die man als Symbol der Reinheit und Unschuld uns vorführt,
während die Griechen sie der Liebesgöttin beigesellten, dies Engelchen
sieht seltsame Bewegungen beim Hund und der Hündin, beim Hahn
und der Henne, und da es nicht dumm ist und aus dem albernen Ver-
halten von Erzieherinnen und Müttern schließt, daß es vor einem
Geheimnis der Geschlechtsliebe steht, kombiniert es damit das andre
ihm viel wichtigere Geheimnis des elterlichen Schlafzimmers.
So wie es hier die Tierlein tun, denkt es, treiben es aut^ Papa
und Mama zu den Zeiten, wo ich das merkv/ürdige Beben des Bettes
fühle und ihr gemeinsames Puff-Puff-Eisenbahnspielen höre. Mit andern
Worten das Kind kommt auf die Idee, daß der Beischlaf von hinten
stattfinde, und versenkt diese Idee in die Tiefe, bis sie auf dem
Assoziationswege Rückwärts und Krebs als Angst wieder emporsteigt.
8'
:•
115
Die Scheren aber, — i(^ brauche es kaum nocli zu sagen — führen
direkt und indirekt auf die große Angstfragc der Kastration, der
Verwandlung des ursprünglich männlich gedachten Weibes in ein
weibliches Weib, dem der Penis abgesclmitten, zwischen dessen Beinen
ein zeitweise blutendes Loch geschnitten wurde. Auch dieser Gedanke
Stützt sidi auf eine Erfahrung, auf eine der ersten des Lebens, auf
das Abschneiden der Nabelschnur.
Von all den Theorien, die über den Krebs aufgestellt worden sind,
ist für mich im Laufe der Zeit nur eine übrig geblieben, die, daß der
Krebs unter bestimmten Erscheinungen zum Tode führt. Was nicht
zum Tode führt, ist kein Krebs, so meine ich. Sie können daraus ent-
nehmen, daß ich mir keine Hoffnung auf ein neues Verfahren zur
KrebsheiluDg mache. Aber bei all den vielen sogenannten Krebsfällen
lohnt es sidi, auch einmal das Es des Mensclien zu befragen.
Immer Ihr
PATRIK TROLL.
i
14.
LIEBE FREUNDIN, SIE HABEN ES RICHTIG AUFGEFASST, DER
Ödipuskomplex beherrscht des Menschen Leben. Aber ich weiß nicht
redit, wie ich Ihrem Verlangen, mehr davon zu hören, nachkommen
soll. Die Sage selbst, wie Ödipus unschuldig-schuldig seinen Vater er-
schlagt und mit der Mutter in blutschänderischem Verkehr unselige
Kinder zeugt, kennen Sie doch oder finden Sie leicht in jeder Sagen-
sammlung. Daß der Inhalt der Sage: brünstige Leidensciiaft des Sohnes
für die Mutter und mörderischer Haß gegen den Vater typisch ist, für
alle Menschen aller Zeiten gültig ist, daß in dieser Sage sich ein tiefes
Geheimnis des Menschseins halb enthüllt, sagte ich schon. Und die
Anwendung auf Ihr eigenes Leben, auf meines oder auf das irgend
eines anderen Menschen müssen Sie selbst machen. Idi kann Ihnen
höchstens ein paar Geschiditen erzählen, vielleicht lesen Sie sich ein
wenig daraus heraus. Ungeduldig dürfen Sie aber nicht werden, das
IM
Leben des Unbewußten ist sdiwer zu entziffern und Sie wissen, mir
kommt es auf ein paar Irrtümer nicht an.
Vor mehr als zwanzig Jahren — ich war damals noch ein junger
Arzt, tollkühn in der festen Überzeug-ung-, daß mir nichts fehl-
schlagen werde — wurde mir ein Knabe gebracht, der an einer selt-
samen Hauterkrankung, Sklerodermie genannt, litt. Er war wegen der
Ausdehnung seines Leidens, das sich über große Teile des Bauchs, der
Brust, der Arme und Beine erstreckte, von den Autoritäten als dem
Tode verfallen aufgegeben. Idi übernahm frohgemut die Behandlung
nach den Grundsätzen, die ich von Schweninger gelernt hatte, und da
nadi etwa einem Jahr die Sache zum Stillstand kam, hielt ich es nicht
für einen Raub, Gott gleidi zu sein und meiner — idi darf es sagen
— mühseligen Arbeit die Genesung zuzuschreiben. Was man so Ge-
nesung nennt; wir Ärzte sind darin, wenn es sieh um die Beurteilung
unserer eigenen Erfolge handelt, weitherzig. Letzten Endes blieb noch
genug zu wünsdien übrig; abgesehen von den Narben, die der Prozeß
zurückgelassen hatte und die Sie sich kaum groß genug vorstellen
können, waren die Ellbogengelenke so kontrakt, daß die Arme nicht
vollständig ausgestreckt werden konnten, und das eine Bein war und
blieb dünn wie ein Stock. Auch die Reizbarkeit des Herzens, die sich
gelegentlich in rasender Sciinelligkeit der Schlage und in Angstzuständen
äußerte, wie fast ununterbrochener Kopfschmerz sowie eine Reihe von
neurotischen Besdiwerden ließen sidi nicht beseitigen. Immerhin, der
Knabe blieb am Leben, machte das Gymnasium durch, war eine Reihe
von Jahren Offizier und ging dann zu einem akademischen Beruf über.
Von Zeit zu Zeit ersdiien er für einige Wodien bei mir, um sich auf-
■ zufrisdicn. Inzwisdien wurde er seiner vielen Beschwerden halber von
dem und jenem Arzte behandelt, um schließlich bei einem bekannten
Berliner Herrn, dessen Namen Ihnen und mir Achtung einflößt, zu
bleiben. Einige Jahre hörte ich nidits von ihm, dann kam der Krieg
und wenige Monate spater traf er wieder bei mir ein.
Diesmal sah das Kraiikheitsbild seltsam aus. Kurz nach Kriegs-
ausbruch war Herr D. — so wollen wir ihn nennen — mit starkem
117
A^
Schüttelfrost und Fieber bis zu 40" erkrankt. Das dauerte eine Weile,
ohne daß man dahinter kam, was eig^entlich los war. Endlich schien
sidi die Sache zu klären. Die Temperaturen sanken des Morgens unter
36", um gegen Abend auf 39 — 40** zu steigen. Das Blut wurde auf
Malaria untersucht, einmal, sechsmal, ein paar Dutzendmal, Plasmodien
wurden nicht gefunden und auch Chinin und Arsenik, die man vor-
sichtshalber gab, blieben wirkungslos. Inzwischen wurde ohne Er-
gebnis auf Tuberkulose gefahndet und eine alte Syphiiisdiagnose, derent-
wegen er vor Jahren „antiluetisdi" — wie schön das klingt — be-
handelt worden war, wieder aufgewärmt. Der berühmte „Wassermann"
— Sie wissen wohl, was das ist, — ergab ein zweifelhaftes Resultat
und sdiließlidi war man so klug wie zuvor. Plötzlich war das Fieber
fort, der völlig heruntergekommene Körper fing an sich zu erholen,
die Uniformen wurden instand gesetzt und alles schien gut, Herr D.
ging wieder aus, verfaßte ein Gesuch an sein Ministerium, das ihn für
unentbehrlich erklärt hatte, ihm die freiwillige Teilnahme am Feldzug
zu gestatten, erhielt die Erlaubnis und erkrankte am selben Tage mit
Fieber- und Halsschmerzen, Die zugezogenen Ärzte schauten ihm in
den Mund, fanden an Mandeln, Zäpfclien und Radienwand Geschwüre,
und da das Fieber verschwand, die Geschwüre aber weiter um sich
griffen, ein verdächtiger Ausschlag erschien und einige Drüsen gefällig
genug waren, angeschwollen zu sein, stellten sie ein Rezidiv der an-
geblich früher überstandenen Syphilis fest, was ich ihnen nidit verdenken
kann. Die Wassermanns che Probe war freilich negativ, blieb es auiii,
aber — nun kurz gesagt, es wurde Salvarsan und Quecksilber gegeben.
Der Erfolg war niederschmetternd. Statt einer Besserung trat von
Neuem das rätselhafte Fieber auf, zeitweise begleitet von völliger Be-
wußtlosigkeit, der Kranke verfiel mehr und mehr und scliIießHch ließ
er sich unter Ausnützung der letzten Kräfte zu mir transportieren.
Ich war damals in Bezug auf die Abhängigkeit des organischen Leidens
vom Es meiner Sache nicht so sicher, wie ich es jetzt bin, glaubte auch,
von irgend welchen Bosheiten meines Unbewußten verleitet, bei einem
Menschen, der anderthalb Jahrzehnte lang von mir in bestimmter
118
Richtung behandelt worden war, von dieser Richtung- nicht abweichen
zu können, ohne sein Vertrauen zu verlieren; kurz ich behandelte ihn,
wie er es von mir gewohnt war, mit sehr heißen lokalen Bädern,
Massage, sorgfältiger Diät u. s. w. Das sdiloß den Versudi einer
psychischen Beinfiussung nicht aus, nur ging dieser Versuch in der alten
Richtung, dem Kranken durch die autoritative Suggestion zu helfen.
Zunächst erklärte ich mit voller Überzeugung und bestimmt genug, um
keinen Widerspruch aufkommen zu lassen, daß von Syphilis keine Rede
sein könne; und dann zeigte ich dem Kranken, daß sein Leiden mit
seinem Wunsch, in das Feld zu gehen, zusammenhinge. Er wehrte sich
eine Zeit lang gegen diese Annahme, gab aber bald zu, dafi es so
sein könne, und erzählte mir ein paar Einzelheiten der letzten Monate,
die meine Ansicht bestätigten.
Die Saciie schien gut zu verlaufen, die Kräfte hoben sich, Herr D.
begann in der Umgegend umherzustreifen und spracb wieder davon,
sich freiwillig zum Heeresdienst zu melden. Damit war es ihm Ernst;
er stammte aus einer alten Offiziersfamilie und war selbst mit Passion
Offizier gewesen. Eines Tages trat wieder Fieber auf, wieder in der
alten Weise mit niedrigen Morgentemperaturen und überaus hohen
abendlichen Steiger ungen, und gleichzeitig kamen auch von Neuem die
merkwürdigen Symptome, die deutlich den Charakter der Syphilis
trugen- Es bildete sidi ein Gesdiwür am Ellenbogen, dann, nachdem
das abgeheilt war, eins an dem Unterschenkel, dann kamen Geschwüre
im Hals, dann wieder am Ellenbogen und Unterschenkel und sdiließlich
am Penis. Dazwisclien tauchte ein roseolaartiger Ausschlag auf, kurz
es geschahen allerlei Dinge, die mich schwankend machten, ob nicht
doch etwa Syphüis da sei. Die Untersuchungen nadi Wassermann, die
von der Universitätsklinik ausgeführt wurden, gaben widersprechende
Resultate, bald lautete das Urteil bestimmt negativ, bald hieß es, es
sei unbestimmt. Das zog sich drei Monate lang hin. Plötzlich, und ohne
daß ich irgendwie finden konnte warum, verschwand die ganze Er-
krankung. Herr D. blühte auf, nalim von Tag zu Tag an Kraft und
GewicJit zu und alles war gut. Ich gab ihm die vorgeschriebenen
119
Impfungen gegen Pocken, Cholera und Typhus, er hing sich den Ruck-
sack auf den Rücken und verabschiedete sich von mir, um nach einer
dreitägigen Fußwanderung durch den Schwarzwald sofort sich bei
seinem Bezirkskommando zu melden. Am dritten Tage der Wanderung
brach das Fieber von Neuem aus, Herr D. kehrte für einige Tage zu
mir zurück, ging dann aber nach Berlin, um dort unter anderer ärzt-
licher Führung noch einmal sein Heil zu erproben.
Im Sommer 1916, fast 16 Monate später, kam er wieder. Er war
lange Zeit in Berlin behandelt worden, war dann nach Aaclien zu dem
Gebrauch der dortigen Quellen geschickt worden, nach Sylt, in das
Gebirge, nach Nenndorf und hatte schließlich wieder Wodien und Monate
schwer krank in Berlin gelegen. Sein Zustand war derselbe, häufige
stürmische Fieberanfälie, Geschwüre, Ohnmächten, Herzbeschwerden
u. s. w. Mir fiel auf, daß sein altes Leiden der Sklerodermie an ein-
zelnen Stellen wieder eingesetzt hatte und daß die neurotischen Symp-
tome zugenommen hatten.
Inzwisfdien war mit mir selbst eine große Veränderung vor sidi
gegangen. Wahrend meiner Lazarettätigkeit hatte ich oft die Wirkung
der Psydioanalyse auf die Heilung von Wunden und organisdien -^
Erkrankungen gesehen, meine Privatpraxis hatte mir eine Reihe ;
Erfolge gebradit, idi hatte mir eine für mich braudibare Tedinik J; j
angeeignet, kurz idi trat an die Behandlung des Herrn D. mit dem
festen Entschluß heran, mich um Diagnose, physikalische oder medika-
mentöse Therapie nicht zu kümmern, sondern ihn zu analysieren. Der
Erfolg kam, ein Symptom nadi dem andern versdiwand, nadi einem
halben Jahr ging Herr D. als Infanterieoffizier ins Feld, wo er zwei
Monate später fiel. Ob seine Genesung von Dauer gewesen wäre,
vermag ich nidit zu entscheiden, da der Tod dazwisdien getreten ist.
Nadi dem jetzigen Stand meines Wissens glaube ich, daß die Behand-
lungszeit zu kurz war und daß der Kranke wahrsdieinHch Rückfälle
bekommen hatte, wenn er länger gelebt hatte. Idi bin aber überzeugt,
daß eine vollständige Heilung bei ihm moglith gewesen wäre. Die Frage
ist schließlich gleichgültig, ich erzähle Ihnen diese Gesdiichten nicht des
120
l!
Erfolgs wegen, sondern um Ihnen einen Begriff von der Wirkung des
Ödipuskomplexes zu geben. ; ■ . - .
Über die Behandlung teile id» nur mit, daß sie nicht leidit war.
Immer von neuem tauditen Widerstände auf, die bald an meinen Vor-
namen Patrik als den eines lügnerischen Iren anknüpften, bald meine
Gummischuhe oder eine liederlich geknüpfte Krawatte zum Vorwand
nahmen; die Krawatte war ihm ein schlaff und lang herabhängender
Hodensack, wie er ihn einst bei seinem alten Vater gesehen hatte, die
Gummis<diuhe rührten alten Ärger aus der Kindheit auf. Dann wieder
verschanzte er sidi hinter meinem zweiten Vornamen Georg, der ihn
an eine Romanfigur aus Robert dem Schiffsjungen erinnerte, an einen
Verführer und Dieb; dabei tauchte nach und nach eine ganze Horde
George auf, die alle schlechte Kerle waren, bis endHch der eigentÜdic
Übeltäter in der Gestalt eines Mannes ersdiien, von dem D. als Gym-
nasiast eine Ohrfeige bekommen hatte, ohne dafür Rechenschaft zu
verlangen. Am längsten zu schaffen machte ihm und mir eine meiner
damaligen Spredigewohnheiten ; ich pflegte ab und zu die Worte „offen
gestanden" zu gebrauchen oder auch „Ich muß Ihnen offen gestehen".
D. schloß daraus, daß ich löge, eine Folgerung, die gar nicht so dumm war.
Der Widerstand des Kranken gegen den Arzt ist das Objekt
jeder Behandlung-. Das Es wünscht durchaus nicht von vornherein
gesund zu werden, so sehr auch die Krankheit den Kranken plagt.
Im Gegenteil, das Bestehen der Krankheit beweist, trotz aller Ver-
sicherungen, Klagen und Anstrengungen des bewußten Menschen, daß
dieser Mensch krank sein will. Das ist widitig, Liebe. Ein Kranker
will krank sein und er wehrt sich gegen die Genesung, etwa wie ein
verzogenes kleines Mädchen, das seelengern zum Ball gehen mochte,
doch sich mit allerlei Getue dagegen wehrt hinzugehen. Es lohnt sich
immer, sich die Einwände, die solch ein Widerstand gegen den Arzt
hat, genau anzusehen; sie verraten allerlei über den Kranken selbst.
So war es au<h bei D. Die schlaffen Hoden und die Gummischuhe des
Weichlings erregten bei ihm Anstoß, weil er selber in hohem Grade
das Impotenzgefühl hatte. Das Lügen, wie er es in „Patrik" und „offen
121
.jtat
g'estanden" ang-nff, verabscheute er wie alle ehrenhaften Leute, aber wie
alle ehrenhaften Leute belog er sich selbst— und damit Andere ■ ununter-
brodien. Mit den Vornamen hatte er es so arg, weil er seinen eigenen
„Heinrich" haßte; er ließ sich statt dessen von seinen Intimen Hans
nennen, weil irg-end ein Heldenvorfahr seines Gesdilechts diesen Namen
geführt hatte. Auch darin fühlte er die Lüge, denn sein dumpfes Gefühl
vom Es beiehrte ihn, daß er durchaus kein Held war, daß seine Krankheit
Schöpfung seines ängstlichen Unbewußten war. Georg schließlich war ihm
unerträglich, weil er einstmals wie der Dieb aus Robert dem Schiffsjungen
— die Erinnerung daran kam, unter heftigen Krankheitssymptomen
und Fieber — seinem Vater zwei Medaillen entwendet hatte. Medaille
aber führte ihn zu dem Wort Medaillon und ein Medaillon mit dem
Bild seiner Mutter trug sein Vater und diesem Medaillon galt in Wahr-
heit sein Diebstahl. Er wollte dem Vater die Mutter stehlen. Ödipus.
Nod) eine Seltsamkeit muß icli erwähnen. D. trug eine ganze
Reihe von weit ausgreifenden Komplexen mit sidi herum, die alle
letzten Endes mit dem Ödipuskomplex und mit der Impotenzidee
zusammenhingen. Wurde während der Behandlung der Ödipuskomplex
an ifofend einer empfindlichen Stelle gepackt, so erschien das Fieber,
kam man der Impotenz zu nahe, so traten die SyphiÜssymptome hervor.
D. gab mir dafür folgc:nde Erklärung: Meine Mutter ist mir im Laufe
der Jahre ganz gleichgültig geworden. Das beschämt mich und ich
suche, so oft ich genötigt bin angestrengt an sie zu denken, die alte
Glut wieder anzufachen. Und weil das seelisch niclH gelingt, entsteht
die kÖrjJerliche Hitze. Meinem Vater, der alt war, als er midi zeugte,
nach meiner Ansicht zu alt, schiebe ich alle Schuld meiner Impotenz
zu. Und da idi ihn, der längst tot ist, nicht persönlidi bestrafen kann,
so strafe ich ihn im Sinnbild, im Erzeuger, in dem, der erzeugt, m
meinem eigenen Gesdilechtsteil. Das hat den Vorteil, daß idi mich
selbst für die Lüge mitbestrafe; denn nicht mein Vater, sondern ich
selber trage die Schuld meiner Impotenz. Und schlicßlidi, ein Syphilitiker
darf impotent sein, es ist gut für ihn und die Frauen. Sie sehen, D.
hatte ein wenig Trollheit in si<ii; das hat mir an ihm gefallen.
122
|i
^^^-*" -- —
Und nun der Ödipuskomplex. Im Vordergrund steht die Leiden-
schaft für die Mutter. Die Masse der Einzelheiten lasse idi bei Seite;
als Probe g-ab ich Ihnen den Medaillendiebstahl, der symbolisch den
Raub der Mutter bedeutet. Statt kleiner Züge wähle ich Einiges aus,
was Ihnen die tiefen Wirkungen des Es zeigen wird. Zunächst ist da
die andauernde Kränklichkeit D.'s, die von Zeit zu Zeit zu sdiweren
langwierigen Erkrankungen ausartete. Der Kranke bedarf der Pflege,
der Kranke erzwingt sich die Pflege. Jede Erkrankung ist eine Wieder-
holung der Säuglingssituation, entspringt der Sehnsudit nach der
Mutter, jeder Kranke ist ein Kind, jeder Mensch, der sich des Kranken
annimmt, wird zur Mutter, Die Kränklichkeit, die Häufigkeit und Dauer
der Erkrankungen sind ein Beweis, wie tief der Mensch noch an die
Mutterimago gefesselt ist. Sie können meist ohne die Gefahr eines
Irrtums in Ihren Schlüssen noch weitergehen: wenn Jemand krank
wird, ist es wahrscheinÜdi, daß er irgendwie in nächster zeitiiclier
Nähe des Krankheitsbeginnes überaus stark an die Mutterimago
erinnert wurde, an die Imago der ersten Säuglingswochen. Ja, idi
scheue midi nicht, auch hier das Wort „immer" hinzusetzen. Es ist
immer so. Und es gibt nicht leicht einen stärkeren Beweis für Jemandes
Leidenschaft zur Mutter, für seine Abhängigkeit vom Ödipuskomplex,
als dauernde Kränkhchkeit.
Diese Leidenschaft hat noch etwas Anderes bei D. hervorgebracht,
was man nicht selten beobachten kr^m. Der Herr, der Eigentümer der
Mutter ist der Vater. Will der Sohn Herr, Eigentümer, Gehebter der
Mutter werden, so muß er dem Vater ähnlich werden. Das ist D.'s
Fall. Ursprünglidi — idi habe Kinderbilder von ihm gesehen — war
keine Rede von Ähnlidikeit mit dem Vater, auch sein Wesen hatte
nadi Aussage der Mutter nichts mit dem Vater gemein. In den zwanzig
Jahren, die ich den Kranken gekannt habe, konnte man von Jahr zu
Jahr beobachten, wie in Gebärde, Haltung, Gewohnheiten, in Gesidit
und Körperbildung, im Denken und Wesen langsam eine Annäherung
an den Vater stattfand. Nicht das Es änderte sich, sondern darüber, so
daß nur noch hie und da der eio-entliche Menschenkern zum Vorschein kain,
123
bildete sidi ein neues Es der Oberfläche oder wie Sie es sonst
nennen wollen und dieses neue Es, — das ist das Beweisende, —
schwand mit der fortschreitenden Genesung. Der echte D. kam wieder
zum Vorschein. Am deutlichsten spradi sich die Anähnelung an den
Vater in dem frühzeitigen Altern D.'s aus. Schon mit 30 Jahren war
er vollkommen weiß. Ich habe dieses Ergrauen zu Gunsten der Vater-
maske mehrfadi entstehen und auch wieder verschwinden sehen. Wie
es bei D. geworden wäre, weiß idi nicht. Er starb zu früh.
Ein drittes Merkmal seiner Leidenschaft zur Mutterimago war seine
Impotenz, wie denn beim Unvermögen des Mannes immer die erste
Frage sein muß : wie steht dieser Mensch zu seiner Mutter. D. hatte
die charakteristische Form der Impotenz, wie sie Freud beschrieben
hat ; er teilte die Frauen in Damen und Huren ein. Der Dame, das
ist der Mutter gegenüber, war er impotent, mit der Hure vermochte
er in Geschlechtsverkehr zu treten. Aber das Bild der Mutler wirkte
mächtig in ihm und so erfand sein Es, um sidi gänzlich vor jedem
Inzest, selbst vor dem im Bilde der Dirne zu schützen, die syphilitische
Ansteckung. Daß sith Jemand unter dem Druck des Ödipuskomplexes
hei irgend einem Frauenzimmer infiziert, habe ich oft gesehen. Daß
aber diese Ansteckung vom Es erfunden und nun jahrelang im Theater
mit Syphilis- oder Trippersymptomen gespielt wird, scheint selten zu
sein. Ich habe es bisher nur zweimal bestimmt gesehen, hei D. und
bei einer Frau.
Weiter, der Beginn der Erkrankung — die ersten Symptome sind
immer beachtenswert, sie verraten viel von den Absichten des Es —
der Beginii der Erkrankung war die Sklerodermie des linken Beines, die
dann auf den rechten Arm übergriff. Was am linken Beine vor sich
geht, sagt mir in der närrischen Sprache, die ich mir zurecht gemacht
habe : dieser Mensdi wünscht einen bösen, unrechten, linken Weg zu
gehen, aber sein Es hindert ihn daran. — Wenn der redite Arm
irgendwie erkrankt, so bedeutet das: dieser rechte Arm will etwas
tun, woran das Es Anstoß nimmt, deshalb wird er in seinem Tun
gelähmt. — Kurz vor den Beginn des Beinleidens fällt ein wichtiges Erlebnis,
124
D.'s Mutter wurde schwanger. Er war damals 15 Jahre alt, will aber
nichts von dieser Schwangerschaft bemerkt haben; das ist ein sicheres
Zeichen, daß tiefe Elrschütterung-en seines Wesens ihn zu verdräng-en
nötigten. Dieser Kampf des Verdrangens fallt mitten in die Geschlechts-
entwicklung des Knaben und verbindet sich mit einem zweiten Ver-
drängTjngskonflikt sexueller Art. Denn ebenso, wie der Kranke be-
hauptete, von der Geburt seines Brüderdiens völlig überrascht worden
zu sein, behauptete er auch, daß er damals überhaupt keine Kenntnisse
vom Geschletiits verkehr gehabt habe. Beides ist unmöglich. Das Letztere
deshalb, weil der Knabe gerade zur selben Zeit eine Kaninchenzucht
betrieb und stundenlang den Gesdilechtsspielen der Tiere zusah, Ersteres
weil er selbst sehr bald dahinter kam, daß er schon während der
Schwangerschaft die Mordideen hatte, von denen sofort die Rede sein
wird. Aus der Idee, diesen spätgeborenen Bruder zu beseitigen,
leitet sidi nämlidi zum Teil das Übergreifen der Sklerodermie auf
den rediten Arm her. Die Idee, unbequeme Menschen zu töten, begleitet
uns Alle durch unser ganzes Leben nnd unter ungünstigen Verhältnissen
wird Wunsch und Abscheu zu töten so stark, daß das Es sich ent-
schließt, das Mordwerkzeug des Menschen, den rediten Arm, lahm zu
legen. Ich glaube, idi erzählte Ihnen sdion, weshalb diese Mordideen so
verbreitet sind, zu Ihrem Nutz und Frommen will ich es aber wieder-
holen: Das Kiiid lernt den Begriff des Todes durch das Spiel kennen.
Es schießt und sticht nadi den Erwachsenen, der fällt um und stellt
sidh tot, um kurz darauf zum Leben zu erwadien. Ist es nicht seltsam,
wie das' Es der Kindesseele die sdiwersten Probleme als Nichtigkeiten,
als Spaß darzustellen weiß, wie es aus dem Sterben ein Amüsement
für das Kind zu machen versteht? Und ist es ein Wunder, daß dieser
mit den schönsten Erlebnissen des Kindesalters verwobene heitere
Todescindruck mit der rasdien Wiederbelebung sich in das Gemüt
eingräbt und als bequemer Gedanke für später bereit liegt? Um zum
Schluß zu kommen, die Erkrankung des Beins und des Arms entstanden
auf Grund sexueller Kämpfe, die in den" Bereidi der Mutter-Kinderotik
gehörten.
12S
Ittk llllMIllMllt
Ich komme nun zu dem seltsamsten Teil diesef seltsamen Krank-
heit, zu der Art, wie die Syphilisldee aus dem Mutterkomplex entsprang"
und wie sie g-erade dieses Ursprungs wegen so mächtig- werden konnte,
immer und immer wieder Syphilissymptome zu produzieren, so zu
produzieren, daß alle behandelnden Ärzte, midi eingesdilossen, getäusdit
wurden. Idi fragte D., ob er denn wisse, von wem er angesteckt
worden sei, „Ich weiß überhaupt nicht, ob ich ang'esteckt worden bin,"
erwiderte er, „ich vermute es." „Und warum vermuten Sie es ?"
„Weil ich einmal mit einem Mädchen g-eschlechtlich verkehrt habe, das
einen Schleier trug:." Als er mir den Zweifel am Gesicht ablas, fügte
er hinzu: „Alle Straßendirnen, die einen Schleier tragen, sind syphili-
tisdi." Das war mir neu, ich begriff aber, daß der Gedanke nicht
aiSt:m war, und fragte deshalb weiter: „Von diesem Mäddien also
glauben Sie angesteckt zu sein?" „Ja", sagte er, fuhr aber gleich fort:
„idi weiß es nidit, weiß es überhaupt nicht, ob ich angesteckt worden
bin. Später gewiß nicht, denn idi bin nie wieder mit einer Frau zu-
sammengekommen. Ich hatte am andern Morgen Angst, ging zum
Arzt und ließ mich untersuchen. Er schickte mich fort, ich solle in
einigen Tagen wiederkommen, das tat icli, er schickte mich wieder fort
und so ging es eine ganze Zeit, bis er mir halb lädiehid, halb grob
erklärte, ich sei ganz gesund, von einer Ansteckung sei keine Rede.
Seitdem bin ich viele, viele Male von verschiedenen Ärzten untersucht
worden. Keiner hat etwas gefunden." „Aber", sagte ich, „Sie sind
doch, ehe Ihre Kriegskrankheit begann, autiluetisdi behandtlt worden."
„Ja, auf meine Bitten. Ich glaubte, meine Kopfschmerzen, mein krankes
Bein, meine Arme, all das könne nur von Syphilis herrühren. Ich habe
alles, was über Sklerodermie gesdirieben worden ist, gelesen und
Einige bringen es mit Syphilis zusammen." „Aber Sie waren damals
15 Jahre alt, als die Krankheit begann." „Mit hereditärer Syphilis",
unterbradi er mich. „Im Ernst habe ich nie an eine Anstedcung ge-
glaubt, aber ich dachte, mein Vater sei syphilitisch gewesen." Er sdivifieg
eine Zeit lang und dann sagte er: „Wenn idi midi recht besinne, trug
das Mädchen, von dem ich Ihnen vorhin sprach, gar keinen Sdileier.
126
Im Geg-enteü, idi weiß bestimmt, daß sie nicht das g-eringste Fleckdien
am g-anzen Korper hatte. Ich habe sie nackt ausg-ezog-en, habe die g-anze
Nacht elektrisches Licht grebrannt, habe sie nackt vor dem Spiegel
gesehen, habe ihr Führungsbuch gelesen, kurz, es ist unmöglich, daß
sie krank war. Die Sache ist die, daß ich schreckliche Angst hatte,
hereditär syphilitisdi zu sein. Deshalb ging idi zum Arzt, log ihm die
Geschidite von dem Schleier vor, weil idi ihm meinen Verdacht meines
Vaters wegen nicht mitteilen wollte, und habe sie dann so oft erzählt,
daß ich sie schHeßlich selbst glaubte. Aber jetzt, bei all dieser Analyserei,
weiß ich bestimmt, daß ich das Mäddien nie für syphilitisch gehalten
habe und daß sie keinen Sciileier trug."
Das alles kam mir seltsam vor, genau so wie es Ihnen wohl auch
geht. Idi wollte und hoffte Klarheit zu gewinnen uad fragte Herrn
D,, was ihm zum Worte Sdileier einfiele. Statt einer Antwort gab er
sofort zwei: „Der Witwenschleier und die Raffael'sche Madonna mit
dem Schleier." Von diesen beiden Einfällen aus hat sich über Wochen
hinaus ein langes Assoziationsspiel hingezogen, von dem ich Ihnen nur
das kurze Resultat mitteile.
Der Witwenschleier führte sofort auf den Tod des Vaters und auf
die Trauerkleidung der Mutter. Es stellte sich heraus, daß D, im Verlauf
seiner Verdrängungskämpfe gegen den Inzestwunsch seine Mutter mit
der Dirne identifiziert hatte, daß er dem Mädchen einen sdiwarzen
Schleier andichtete und sie in der Phantasie syphilitisch machte, weil
sein Unbewußtes glaubte, auf diese Weise leiciiter mit dem Inzestwunsch
fertig zu werden. Die Mutter sollte und mußte aus seiner Erotik be-
seitigt werden; wer Syphilis hatte, den konnte man nicht begehren;
also mußte die Mutter syphilitisch sein. Das aber ging nicht — wir
werden gleich sehen weshalb — also mußte eine Stellvertreterin ge-
funden werden, was mit Hilfe der Sdilelerassoziation gelang, und zur
Verstärkung der Abwehr wurde der Gedanke ausgearbeitet, der Vater
sei syphilitisch gewesen.
Daß sich der Kranke an den Gedanken der mütterlichen Syphilis
nicht herantraute, ist wohl Jedem verständlich; aber es kam bei D.
127
nodi eine Idee hinzu, die in der Assoziation Madonna mit dem Schleier
zum Vorsdiein kommt. Mit dieser Assoziation macht D. seine Mutter
unnahbar, er gibt ihr die Unbeflecktheit, er schallet damit den Vater
ganz aus und hat noch dazu den Vorteil, sich selbst für jung-
fräulich g-eboren, für göttlichen Ursprung-s halten zu können. Das Un-
bewußte arbeitet mit erschreckenden Mitteln. Um den Inzestwunsch zu
verdrängen, vergÖttlichte es die Mutter gleidisam im selben Atemzug,
in dem es sie zur syphilitischen Dirne erniedrigte.
Sie haben hier, wenn Sie wollen, eine Bestätigung dessen, was
ich Ihnen so oft glaubhaft zu machen suchte, daß wir Alle uns göttli-
chen Ursprung anmaßen, daß uns der Vater wirklich Gottvater ist und
die Mutter eine Gottesmutter. Es geht nidit anders, der Mensdi ist
nun einmal so gemacht, daß er zu Zeiten das glauben muß, und wenn
heute die gesammte katholisdie Religion mitsamt der Jungfrau Maria
und dem Christkind verschwände und es bliebe keine Erinnerung-
daran, nicht eine, so würde morgen ein neuer Mythus da sein, mit
derselben Vereinigung des Gottes mit der Mensdiin und derselben
Geburt des Gottessohns. Religionen sind Schöpfungen des Es, und das
Es des Kindes kann weder den Gedanken des Liebesverkehrs zwischen
Vater und Mutter ertragen, noch vermag es auf die Waffe der Heilig-
sprechung der Mutter im Kampf mit dem Inzestwunsc^ verzichten,
nodi endlich kann es, da es — Ferenczi lehrte es uns ~ vom Mutter-
leib her sich für allmächtig hält, den Gedanken Gott gleich zu sein
entbehren.
Religionen sind Schöpfungen des Es. Sdiauen Sie auf das Kreuz
mit seinen ausgebreiteten Armen und Sie werden mir beipflichten.
Der Gottessohn hängt und stirbt daran. Das Kreuz ist die Mutter,
und an unsrer Mutter sterben wir Alle. Odipus, Odipus. — Aber
beaditen Sie wohl: wenn das Kreuz die Mutter ist, so fahren die
Nägel, die den Sohn an sie heften, auch ihr in das Fleisch, sie fühlt
denselben Schmerz, dasselbe Leid wie der Sohn, und sie trägt auf
ihren starken Mutterarmen sein Leiden, seinen Tod mit, fühlt ihn mit.
Mutter und Sohn, darin ist alle Trauer der Welt gesammelt, alle Tränen
128
und Klagen. Und der Dank, den die Mutter erntet, ist das harte Wort:
„Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?" Es ist Menschenschicksal
so, und das ist keine Mutter, die zürnt, weil der Sohn sie zurückweist.
Es muß so sein.
Noch ein tiefer, allg-emein menschhcher Konflikt, der mit einer
seiner Wurzeln sich vom Ödipuskomplex nährt, klingt in D.'s Kranken-
g-eschichte an, das ist die Frage der Homosexualität. Wenn er trunken
sei, so erzählte er mir, durtiistreife er die Straßen Berhns, um auf
Päderasten zu fahnden, und wer es auch sei und wo er ihn audi finde,
er schlüge ihn halbtot. Das war die eine Mitteilung-. In vino veritas:
Sie ist nur verständlidi, wenn man sie mit der zweiten zusammenhält,
die einige Wodien darauf erfolgte. Ich traf den Kranken eines Tages
in hohem Fieber und er erzählte mir, daß er am vorhergehenden
Abend durch den Wald gegangen sei, da habe er plötzlich die Idee
gehabt, es würden Strolche über ihn herfallen, ihn knebeln und durch
den After mißbrauchen, um ihn dann mit nacktem geschändetem
Hintern an einen Baum zu binden. Das sei eine häufige Phantasie
bei ihm und immer folge ihr Fieber. Angst ist Wunsch, da ist kein
Zweifei. Der Haß, mit dem D. in der Trunkenheit die Päderasten
verfolgt, ist verdrängle Homosexualität, die Angstphantasie ist es, und
die Höhe des Fiebers läßt ermessen, welche Glut dieser homosexuelle
Wunsdi hat. Idi komme auf die Ang-elegenheit der Homosexualität
ein andermal zurück. Hier möchte ich nur das Eine sagen, daß unter
den versdiiedenen Gründen, die zur Gleidigeschlechtlichkeit führen,
einer nie außer Adit gelassen werden darf, daß ist die Verdrängung
des Mutterinzests. Der Mensch kämpft einen harten Kampf, um sidi
von der Erotik der Mutter zu losen, und es ist kein Wunder, wenn
bei diesem Kampf alle bewußten Neigungen für das weibliche Geschlecht
mit in die Verdrängung gerissen werden, so daß schließlich bei dem
und jenem das Weib ganz aus der Sexualität ausgesfiilossen wird. In
dem Falle des Herrn D., der Angst hat, einer päderastischen Verge-
waltigung; zum Opfer zu fallen, offenbart sich deutlich nodi eine zweite
Ursache der gleidigeschleditlichen Liebe, die er verdrängt hat, die
9 Groddeck, Daa Buch vom Ee 129
. — .__iJ»«
Neigung zu seinem Vater. Denn nur daraus kann diese Angst ent-
sprungen sein, daß D. zu irgend einer Zeit seines Lebens den heißen
Wunsch gehabt hat, Weib zu sein, das Weib seines Vaters. Bedenken
Sie, liebe Freundin, woher perverse Laster stammen und Sie werden
weniger hart urteilen.
Damit bin ich bei dem andern Teil des Ödipuskomplexes angelangt,
bei D.'s Verhältnis zu seinem Vater. Ich muß hier gleich auf etwas
aufmerksam machen, was für viele Menschen charakteristisch ist. D.
war fest davon überzeugt, daß es für ihn nichts Höheres, nichts mehr
Verehrungswürdiges, nichts, mehr Geliebtes gäbe als seinen Vater,
während er an seiner Mutter Alles und Jedes tadelte und nicht imstande
war, länger als wenige Stunden mit Ihr zusammen zu sein. Freilidi,
sein Vater war tot und seine Mutter lebte, und es ist bequem Tote zu
vero-öttern. Sei dem, wie ihm sei, D. glaubte, seinen Vater mit aller
Kraft zu lieben, sein Leben hatte den Haß gegen den Vater verdrängt.
Es läßt sich audi niclit abstreiten, daß er diesen Vater in Wahrheit heiß
liebte, sein homosexueller Komplex und seine Anähnelung an den
Vater bewiesen das zu deutlich. Aber ebenso stark haßte er ihn auch
und vor allem beim Beginn seiner Erkrankung bestand ein lebhafter
Konflikt zwischen Neigung und Abneigung.
Von den Erinnerungen jener Zeit, die sich bei der Analyse aus
dem Druck der Verdrängung lösten, greife idi zwei heraus. Die eine
ist, daß D. während der oben erwähnten Schwangersdiaft seiner Mutter
sidi angewöhnt hatte, stundenlang vor dem Ausgang einer Gosse zu
lauern, um daraus herauskommende Ratten zu erschießen. Knabenspiel,
denken Sie. Gewiß, aber warum schießen die Knaben so gerne und
warum schießt D. auf Ratten, die aus der Gosse kommen? Das
Schießen, Ich brauche es kaum zu sagen, ist der übermaditige Sexuali-
tätsdrang der Pubertätszeit, der sich in der symbolischen Handlung
Luft macht. Die Ratte aber, auf die D. scJiießt, ist der Geschlechtsteil
seines Vaters, den er in dem Augenblick mit dem Tode bestraft, wo
er aus der Gosse, der mütterlichen Scheide, herauskommt. — Nein es
ist keine Deutung von mir, sie stammt von D. Ich halte sie nur für
130
^
riditig. Und auch der zweiten Angabe, die er madit, stimme ich bei.
Danach ist die Gosse wiederum die mütterliche Sdieide, die Ratte
aber ist das Kind, das sie erwartet. Neben dem Wunsch, den Vater
zu kastrieren — denn das ist der Sinn des Tötens der Ratte — schiebt
sich der Mordwunsch gegen das kommende Kind vor, beide Ideen sind
durch verdrängende Gewalten in symbolische Formen umgewandelt.
Und in diese schweren, nur dumpf empfundenen unterirdischen Kampfe
greift das Schicksal hinein und läßt den neugeborenen Bruder nach
wenigen Wochen sterben. Jetzt hat das Schuldgefühl, dieser unheimliche
Begleiter menschlichen Lebens, ein Objekt, den Brudermord. Sie glauben
nicJit, liebste Freundin, wie bequem es für das Verdrängen ist, eine
größere Schuld zu finden. Dahinter laßt sidi alles verstecken und
dahinter wird tatsächlich Alles versteckt. D. hat diese alberne Bruder-
mordsgeschichte weidlich zugunsten des Sidiselbstbelügens ausgenützt.
Und weil es einmal menschliche Natur ist, eigene Schuld an anderen
Menschen zu bestrafen, hat D. von der Todesstunde seines Bruders an
nicht mehr auf Ratten gesdiossen, sondern auf Katzen, auf die Sinn-
bilder seiner Mutter. Das Es geht seltsame Wege.
Ganz hat D. den Kastrationswunsch gegen seinen Vater nicht mit
der Idee des Brudermords zudecken können, das beweist eine zweite
Erinnerung. Ich erzählte Ihnen, daß er zur Zeit jener Konflikte eine
Kaninchenzucht betrieb. Unter diesen Tieren war ein schneeweißes
Männchen. Mit dem führte D. ein seltsames Theater auf. All seinen
Kaninchenmännchen gestattete er, die Weibdien zu rammeln, genoß
es, ihnen zuzusehen; nur jener weiße Rammler durfte nicht zu den
Weibchen gehen. Tat er es doch, so packte D. ihn bei den Ohren,
fesselte ihn, hängte ihn auf einem Balken auf und schlug ihn mit der
Reitpeitsche, solange er den Arm bewegen konnte. Es war der rechte
Arm, der Arm, der zuerst erkrankte, und er erkrankte gerade damals.
Diese Erinnerung ist unter dem stärksten Widerstand zum Vorschein
gekommen. Immer wieder wich der Kranke aus und brachte eine
Sammlung schwerer organischer Symptome zum Vorschein. Eines davon
war besonders kennzeichnend: die sklerodermatisciien Stellen des rediten
131
Ellbogens wurden schlimmer. Mit dem Tage, wo die Erinnerung aus
dem Unbewußten auftauchte, heilten sie wieder ab, heilten so gründli<i,
daß der Krarike von nun an sein redites Ellbogengelenk vollständig
biegen und strecken konnte, was er seit zwei Jahrzehnten trotz aller
Behandlung nicht vermocht hatte. Und er tat es ohne Schmerz.
Fast hätte ich das Wichtigste vergessen. Jener vveißhaarig-e
Rammler, der von jeder Geschlechtslust ferngehalten wurde und der
die Peitsche bekam, wenn er sich nicht zügelte, vertrat die Stelle des
Vaters. Oder hatten Sie es schon erraten ?
Sind Sie müde ? Nur Geduld, noch ein paar Striche, dann ist die
Skizze fertig. In das Gebiet des Vaterhasses gehört noch ein Zug
hinein, den Sie von Freud her kennen, wie denn D.'s Geschichte manche
Ähnlichkeit mit Freud's Rattenmannerzahlung hat. D. war gläubiger, '
man kann beinahe sagen buchstabengläubiger Mensdi, aber er hielt es ^ÄJ
mehr mit Gottvater als mit Gottsohn und betete täglich in seiner Weise
zu dieser von ihm selbst aus der Vaterimago erschaffenen Gottheit.
Aber mitten in diese Gebete drängten sich plötzlich Schimpf wo rte,
Flüche, gräßliche Gotteslästerungen. Der Haß gegen den Vater brach
sich Bahn. Sie müssen das bei Freud nadilesen, idi konnte nichts Neues
hinzufügen und das A!te nur durch mein Klugreden verschlechtern.
Nodi etwas muß ich zu dem Kaninchenabenteuer hinzufügen. D.
hatte diesem weißen Rammler den Namen Hans gegeben: wie Sie
wissen, war das sein eigener Wunschname, Wenn er in dem weiß-
haarigen Tier seinen Vater schlug, so schlug er gleiciizeitig sich selbst,
oder besser seinen Erzeuger, seinen Hans, den Hans, den er am
Bauciie hängen hatte. Oder wissen Sie nicht, daß der Name Hans bei
Jung und Alt so beliebt ist, weil er sich auf Sdiwanz reimt? Und
weil man Hans mit Johannes dem Täufer zusammenbringt, der deutlich
genug in Taufe und -Hinrichtung als männlidies Glied gekennzeichnet
ist? Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber ein Engländer hat es mir
erzählt, daß man dort zu Lande das Geschleditswerkzeug St. John
nennt und bei den Franzosen kommt Ähnlidies auch vor. Aber das hat
mit der Sache selbst nichts zu tun. D. meinte jedenfalls seinen Schwanz,
132
wenn er den Rammler Hans taufte und wenn er ihn schlug, so gesdiah
es, um ihn für die Onanie zu bestrafen. Ja, ja, die Onanie. Das ist
ein Stück Seltsamkeit. , ; .
Ich bin zu Ende, das heiSt Wesentliches könnte ich nicht mehr
gfeben, und daß ich, wie Sie bemerkt haben werden, das Allerwesent-
lichste, die frühen Kindheitserinneningen, fortgelassen habe, liegt daran,
daß ich sie nur zu geringem Teil kenne. Darauf, auf meine Unkenntnis
bezog sich meine Äußerung oben, daß D. wahrscheinlich wieder krank
geworden wäre, wenn er weitergelebt hätte. Die Analyse war nicht
annähernd vollständig.
Zum Schluß will ich Ihnen wenigstens einen Grund angeben,
warum sich D. vor dem Kriege fürchtete, obwohl er sich danach
sehnte. Er hatte die Vorstellung, daß er durch beide Augen geschossen
werden würde. Das beweist mir — aus andern Erfahrungen mit Sol-
daten ziehe ich den Schluß — daß er seine Mutter zu einer Zeit nackt
gesehen hat, in der er sich der Sünde, die darin liegt, bewußt war.
Das Volk sagt, wer seine Mutter nackt sieht, wird blind. Und Ödipus
sticht sich die Augen aus.
Ich grüße Sie, Liebe, und bin immer Ihr
PATRIK TROLL.
15.
GEWISS, UEBE FREUNDIN. ICH KÖNNTE IHNEN NOCH EINE
ganze Reihe ähnlidier Geschichten wie die des Herrn D. aus dem Be-
reiche des Ödipuskomplexes erzählen und ich hatte Ihnen aud» ver-
sprochen es zu tun. Aber wozu? Wenn Sie sich durdi diese eine
Erzählung nicht beeinflußen lassen, werden mehrere es auch nidit so
rasch tun. Außerdem finden Sie in der Literatur der Psychoanalyse
solcher Geschichten die Hüile und Fülle. Ich will lieber versuchen, midi
gegen Ihre Einwände zu wahren, sonst wurzeln sich allerlei Vorurteile
in Ihnen fest und unser Briefwechsel wird sinnlos.
Sie begreifen nicht, sagen Sie, wie durch derlei Vorgänge, wie
ich sie Ihnen erzählt habe, körperiidie Veränderungen im Menschen
133
entstehen können, wie er dadurdi organisdi krank werden soil, und noch
weniger, wie er durch Aufdecken der Zusammenhänge gesund wird.
All diese Dinge, liebe Freundin, begreife idi auch nicht, aber idi sehe
sie, ich erlebe sie. Natürlich mache idi mir allerlei Gedanken darüber,
nur lassen sie sidi schwerer mitteilen. Um eins aber möchte ich Sie
bitten, geben Sie in unserem Zwiegesprädi die Untersdieidung zwischen
„psychisch" und „organisdi" auf. Das sind doch nur Bezeichnungen,
um sich über irgend welche Besonderheiten des. Lebens leiditer zu
verständigen, im Grunde ist beides dasselbe, beides denselben Haupt-
lebensgeset2en unterworfen, demselben Leben entsprungen. Ohne Zweifel,
ein Weinglas ist etwas anderes als ein Wasserglas oder ein Lampen-
zylinder, aber es ist doch Glas und alle diese Glaswaren werden vom
Menschen hergestellt. Ein Holzhaus ist verschieden von einem Steinhaus,
Sie bezweifeln wohl aber selbst nicht, daß es lediglich eine Zweck-
mäßigkeitsfrage, nicht eine Frage des Könnens ist, ob ein Baumeister
ein Holzhaus oder ein Steinhaus baut. Genau so ist es mit organischen,
funktionellen, psychisdien Erkrankungen. Das Es wählt sehr selbst-
herrlich aus, was es für eine Erkrankung hervorbringen will und riditet
sich nidit nach unseren Namen. Ich glaube, wir verstehen uns nun
endlich, oder wenigstens Sie verstehen mich und meine klare Behauptung,
daß für das Es ein Unterschied zwischen organisdi und psychisch nicht
besteht und daß infolgedessen, wenn man das Es überhaupt durch die
Analyse beeinflussen kann, auch organische Krankheiten psychoanalytisch
behandelt werden können und unter Umständen müssen.
Körperlich, seelisch. Was für Gewalt hat ein Wort! Man dachte
sich einmal — vielleiclit denkt mancher es nocb — daß es einen
menschlichen Körper gäbe, in dem wie in einer Wohnung die Seele
hause. Aber selbst wenn man das annimmt, der Körper an sich erkrankt
nicht, da er ja ohne Seele tot ist. Totes wird nidit krank, wird höchstens
schadhaft. Nur Lebendiges erkrankt, und da kein Mensch daran zweifelt,
daß nur lebendig genannt wird, was Körper und Seele zugleich ist —
aber verzeihen Sie, das sind ja alles Dummheiten. Wir wollen uns nicht
über Wörter zanken. Es kommt hier, wo Sie meine Meinung hören
134
wollen, nur darauf an, daß idi verständlich ausdrücke, was ich meine.
Und meine Meinung habe ich Ihnen deutlich gesagt: für mich gibt es
nur das Es. Wenn ich die Worte Körper und Seele gebrauche, verstehe
ich darunter Erscheinungsformen des Es, wenn Sie wollen, Funktionen
des Es. Selbständige oder gar gegensätzliche Begriffe sind es für midi
nicht. Verlassen wir das unerquicklidie Thema jahrtausendlanger Ver-
wirrung. Es gibt andere Dinge zu besprechen.
Sie stoßen sich daran, daß ich dem Verdrängungsprozeß so große
Wirkungen beilege, madien midi darauf aufmerksam, daß es auch Miß-
geburten und embryonale Erkrankungen gibt und verlangen, daß idi
. audi andere Vorgänge würdige. Darauf kann ich nur erwidern, daß itii
den Ausdruck „Verdrängen" bequem finde. Ob er für alles ausreidit,
interessiert midi nicht. Für mich hat er bisher ausgereicht, audi für
meine sehr oberflachlidie Bekanntschaft mit dem Embryonalleben. Idi
habe also keinen Grund, ihm etwas Neues hinzuzufügen oder gar ihn
bei Seite zu legen.
Vielleicht ist es nützlidi, ein wenig zu phantasieren, damit Sie einen
Begriff von der Ausdehnung solch eines Verdrängens bekommen.
Nehmen Sie an, zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, sind allein
im Eßzimmer. Die Mutter ist irgendwie in einem anderen Zimmer
besdiäftigt oder sdiläft, kurz, die Kinder fühlen sich sicher, so sidien
daß das "ältere die Gelegenheit benützt, um sich und das jüngere Kind
durdi Augensdiein von dem Unterschied der Geschlediter und von der
Vergnügüchkeit solcher Betrachtung zu unterriditen. Plötzlich tut sich
die Tür auf, die Kinder haben gerade noch Zeit auseinanderzufahren,
aber das Schuldbewußtsein läßt sich nicht verbergen. Und da die Mutter,
überzeugt von der kindlichen Unschuld ihrer Sprößlinge, beide in der
Nähe der Zuckerdose sieht, nimmt sie an, daß sie genascht haben,
sdiilt darüber und droht ihnen mit Schlägen, wenn es wieder vor-
kommen sollte. Vielleicht wehren sich die Kinder gegen die Unter-
stellung des Naschens, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist kaum anzu-
nehmen, daß sie ihre eigentlidie Sünde, die sie für viel schwerer halten, ein-
gestehen. Sie schweigen darüber, verdrängen sie. Bam Nachmittagskaffee
135
wird die Mahnung von der Mutter wiederholt, das eine schuld-
bewußtere Kind errötet und gibt so zu erkennen, daß es sich
für den verführenden Teil hält. Es verdrängt wiederum, was es gero
eingfestehen möchte. Nach ein paar Tagen — die Mutter hat längst
vergeben, hat aber ihre Freude daran, das Kind zu quälen — fallt
irgend ein Scherzwort irgend einer Tante gegenüber. „Der jung-e weiß,
wo die Zuckerdose steht", oder irgend etwas ähnliches. Und diese
Tante madit später auch eine Anspielung. Da haben Sie eine Kette
von Verdrängungen, wie sie wohl nicht allzu selten sich bilden mag.
Nun sind die Kinder verschieden; das eine nimmt es mit seinen Sünden
lei<i)t, das andere sdiwer, und für ein drittes ist es fast unerträglidi,
daß es gesündigt hat und vor allem, daß es die Sünde nicht gebeichtet
hat. Was bleibt ihm übrig? Es drückt und drüdct auf die Sünde,
drängt sie aus dem Bewußtsein, stopft sie ins Unbewußte. Da liegt sie
nun, vorläufig sehr oberflächlich, aber nach und nach wird sie tiefer
gedrückt, tiefer und tiefer, bis schließlich die Erinnerung aus dem
Bewußtsein versciiwunden ist. Damit sie aber ja nicht wieder zum
Vorschein kommt, werden Deckerinnerungen darüber gelegt, vor allem
die, daß die Mutter ungerecht gewesen ist, das Kind ohne Grund des
Naschens beschuldigt und mit Sdilagen bedroht hat. Nun s:eht es los
oder wenigstens es kann losgehen. Es hat sich ein Komplex gebildet,
der berührungsempfindiich ist, der nadi und nach so stiilimm wird,
daß selbst die Annäherung an den Komplex schon als furchtbar
empfunden wird. Nun sehen Sie sich bitte den Komplex an. Auf der
Oberfläche sind die Deckerinnerungen; der Zucker, das Nasdien, die
falsche Anschuldigung, die Drohung mit Schlägen, das Verschweigen
und damit das Lügen, das Rotwerden, weiterhin die Zuckerdose, der
Eßtisdi mit seinen Stuhlen, das Zimmer mit einer braunen Tapete und
allerlei Möbeln und Porzellan, das grüne Kleid der Mutter, das fünf-
jährige Mädchen im schottisdien Kleid mit Namen Gretchen u. s. w.
Tiefer liegt dann das Gebiet der Sexualität. Unter Umstanden wird
schon jetzt die Arbeit des Verdrängens sdiwierig. Aber es kann audi
sein, daß diese Arbeit sich bis ins Unglaubliche steigert. Nehmen Sie das
136
fr^
Wort Zucker, es gehört in den Komplex, muß also mogliclist vermieden
werden. Ist es irgend anders woher nodi sdiuldbelastet, vielleidit durdi
ein wirkliches Naschen, so Ist der Wunsdi des Verdrängens um so
<rrÖßer. Aber es reißt dann auch andere Begriffe mit sidi: süß, weiß
etwa, oder viereckig, dann greift es vielleicht auf andere Formen des
Zuckers über, auf den Zudterhut, von dort auf den Hut selbst oder
auf die blaue Farbe der Umhüllung. Sie können das ganz nach Belieben
ins Unendliche ausdehnen und, verlassen Sie sich darauf, nicht allzu
selten dehnt das Unbewußte seine Verdrängungsarbeit mit Hilfe der
Assoziation ins Unendliche aus. Auf der Flucht vor dem süßen Zucker
entsteht seelische Bitterkeit, oder es wird süßliche Sentimentalität als
Ersatz benützt, eine übergroße Sorgfalt, nie fremdes Eigentum sidi
anzueignen, gliedert sidi an das Wort „Naschen", daneben aber audi
das kindhche Vergnügen am harmlosen Betrug, die pharisäische.
Gereditio-keitsliebe stellen sidi ein, die Worte Schlage, Schlagen, Sdilacht,
Rute, Gertrud, Ruth, Strafe, Birke, Besen geraten mit in den Komplex,
verfehmt und doch lockend, denn die ungebüßte Sünde verlangt nach
Strafe, noch nach Jahrzehnten sdireit sie nach Schlägen. Die braune
Tapete wird unerträglich, grüne und sdiottische Kleider werden es,
der Name Gretdien erreget Übelkeiten und so geht es fort. Und dann
kommt noch das ungeheure Gebiet der Sexualität hinzu.
Vielleidit denken Sie, ich Übertreibe oder ich erzähle Ihnen irgend
einen ausgefallenen, seltenen Lebenslauf eines Hysterisdien. Adi nein,
soldie Komplexe sdileppen wir alle mit uns herum. Gehen Sie nur in
Ihr Inneres, Sie werden da mandies finden, mandie unerklarlidie Ab-
neigung, manche seelisdie Ersdiütterung, die im Vergleidi zu ihrer
momentanen Veranlassung unbegreiflidi stark ist, mandien Zank,
manche Sorge und Verstimmung, die nur verständlidi wird, wenn Sie
den Komplex betrachten, aus dem sie stammt. Wie werden Ihnen die
Augen aufgehen, wenn Sie gelernt haben, die Brücke zwischen der
Gegenwart und der Kindheit zu sdilagen, wenn Sie begriffen haben,
daß wir Kinder sind und bleiben und daß wir verdrängen, unablässig
verdrängen. Und daß wir, gerade weil wir verdrängen und nicht
137
vernifiten, gezwungen sind, bestimmte Lebenserscheinungen immer von
Neuem herbeizuführen, gezwungen sind, zu wiederholen, zu wiederholen.
Glauben Sie mir, es ist seltsam, wie oft sich der Wunsdi wiederholt.
In seinem Innern sitzt ein Kobold, der zwingt ihn zur Wiederholung.
Von diesem Wiederholungszwang müßte ich Ihnen mehr erzählen,
aber ich bin bei den Verdrängungen und bin Ihnen noch die Erklärung
schuldig, wie idi mir die Wirkung des Verdrangens als Ursache organi-
scher Leiden denke. Denn daß allerhand psydiische Beschwerden
daraus entstehen können, werden Sie auch ohne meine Erläuterungen
begreifen. Was ich Ihnen nun sagen werde, sind wiederum Phantasien.
Sie können sie ernst nehmen, Sie können darüber laclien, beides berührt
mich nicht. Für mich ist die Frage, wie organische Leiden entstehen»
unlösbar. Ich bin Arzt und als solcher interessiert es midi nur, daß
bei der Lösung der Verdrängung Besserung eintritt.
Darf idi Sie bitten, meinen Auseinandersetzungen ein kleines Ex-
periment vorangehen zu lassen. Denken Sie bitte an irgend etwas,
was Sie sehr interessiert, etwa daran, ob Sie sich einen neuen Hut
anschaffen sollen oder nicht. Und nun versudien Sie plötzlich, den Ge-
danken an den Hut zu unterdrücken. Wenn Sie es sich redit schön
ausgemalt hatten, wie Ihnen der Hut stehen wird und wie Sie darum
beneidet werden, wird es Ihnen nicht möglich sein, den Gedanken
daran zu unterdrücken, ohne die Baudimuskulatur zusammen zu ziehen.
Vielleicht beteiligen sidi auch andere Muskelgruppen an der Anstrengung
des Unterdrückens, die obere Bauchpartie tut es sicher; sie wird bei
jeder, auch der geringsten Anspannung zur Mitarbeit verwendet. Die
Folge davon ist unbedingt eine Schwankung im Kreislauf, wenn diese
Schwankung auch noch so gering ist. Und diese Schwankung teilt sich
mit Hilfe der sympathischen Nerven anderen Gebieten des Organismus
mit, zunächst wohl denen, die direkt benachbart sind, dem Darm, dem
Magen, der Leber, dem Herzen, den Atmungsorganen. Sie können
sich die Schwankung so gering denken, wie Sie wollen, da ist sie dodi.
Und weil sie da ist, und weil sie auf allerlei Organe übergreift, setzen
sofort eine Menge chemischer Prozesse ein, von denen selbst der
138
Gelehrteste nicht das Mindeste versteht. Nur daß diese Prozesse statt-
finden, das weiß er, weiß es um so besser, je mehr er sidi mit
Psychologie beschäftigt hat. Nun denken Sie sich diesen anscheinend
so unbedeutenden Vorgang- zehnmal im Laufe des Tages wiederholt.
Das bedeutet schon etwas. Aber lassen Sie ihn zwanzigmal in der
Stunde auftreten, dann haben Sie einen solchen Hexensabbalh von
mechanischem und chemischem Durcheinander, daß es schon nicht mehr
schön ist. Und verstärken Sie die Intensität und die Dauer der An-
strengung. Nehmen Sie an, daß solche Anstrengung stundenlang, tage-
lang dauert, daß nur kurze Augenblicke des Losgelassenseins der
Bauchpartien dazwischen sind. Sollte es Ihnen nodi immer schwer
fallen, einen Zusammenhang zwischen Verdrängen und organischem
Erkranken zu phantasieren?
Vermutlich haben Sie noch nicht viele Menschenbäuche nackt gesehen.
Aber mir ist das oft zu Teil geworden. Und da läßt sich oft etwas Selt-
sames feststellen. Quer über die obere Bauchhälfte vieler Menschen geht
eine stridiförmige Falte, eine langgedehnte Runzel. Die kommt vom
Verdrängen. Oder es finden sich rote Aderchen, oder der Baudi ist auf-
getrieben, oder was es sonst noch ist. Denken Sie sich doch nur, daß
Jahre lang, Jahrzehnte lang ein Mensdi herumläuft, der sich vorm Treppen-
gehen ängstigt. Die Treppe ist ein Geschleditssymbol und es gibt zahl-
lose Menschen, die von dem Gedanken des Fallens auf der Treppe
verfolgt werden. Oder denken Sie sich jemanden, der undeutlidi fühlt,
daß ein Hut ein Geschlechtssymbol ist, oder ein Knopf, oder das
Schreiben. Solche Leute müssen dauernd, fast unaufhörlidi verdrängen,
müssen Bauch. Brust, Arme, Nieren, Herz, Gehirn dauernd mit Kreis-
lauf sdi wankungen, mit dhemischen Überraschungen, mit diemischen Ver-
giftungen heimsuchen. Nein, Liebe, ich finde es nicht im geringsten
sonderbar, daß das Verdrängen — oder irgend welche anderen psychi-
sdien Gesdiehnisse — organische Leiden herbeiführen. Im Gegenteil, ich
finde es sonderbar, daß solche Leiden verhältnismäßig so selten sind.
Und ein Staunen, ein ehrfürchtiges Staunen vor dem Es der Menschen
erfüllt midi, daß es imstande ist, alles was geschieht, zum Besten zu lenken.
139
1
Nehmen Sie ein Aug-e. Wenn es sielit, gehen allerlei Prozesse in
ihm vor. Wenn ihm aber verboten ist zu sehen uud es sieht doch,
wagft es aber nicht, seine Eindrücke dem Gehirn zu übermitteln, was
mag dann wohl in ihm vorgehen? Ware es nicht denkbar, daß es,
wenn es tausendmal am Tage gezwungen ist, etwas, was es sieht, zu
übersehen, schließlich die Sache satt bekommt und sagt: das kann idi
bequemer haben; wenn idi durchaus niclit sehen soll, werde ich kurz-
sichtig, verlängere meine Adise, und wenn das nicht ausreicht, lasse
ich Blut in die Netzhaut treten und werde blind? Wir wissen so wenig
vom Auge. Gönnen Sie mir also den Spaß, zu phantasieren.
Sind Sie aus dem, was ich sclirieb, klug geworden? Aber Sie
müssen es mit Nachsicht lesen, beileibe nicht kritistii. Im Gegenteil,
Sie sollten sich hinsetzen und noch ein Dutzend oder drei Dutzend
solcher Phantasiegebäude sich selbst zurechtbauen. Was ich gab, war
nur ein Beispiel, ein Erfinden übermütiger Laune. Achten Sie nicht auf
die Form, auch nicht auf den Gedanken. Mir kommt es auf die Denk-
weise an, darauf, daß Sie den Verstand bei Seite schieben und
schwärmen.
Habe ich von der Entstehung der Erkrankungen gesprochen, so
muß ich wohl auch ein Wort über die Behandlung- sag-en. A'^s ich vor
Jahren meiner Eitelkeit so viel abgerungen hatte, daß sie mir gestattete,
zum ersten Mal an Freud zu schreiben, antwortete er mir etwa Folgendes ■
Wenn Sie begriffen haben, was Übertragung und Widerstand sind,
können Sie ruhig an die psychoanalytische Behandlung Kranker heran-
gehen. Also Übertragung und Widerstand, das sind die Angriffspunkte
der Behandlung. Ich glaube, über das, was ich unter Übertragung verstehe,
habe ich mich deutlich genug ausgedrüclct. Bis zu einem gewissen Grade
kann der Arzt sie herbeiführen, zum Mindesten kann er und soll er
die einmal entstandene Übertragung zu erhalten und zu lenken suchen.
Aber das Wesentliche, das Übertragen selber ist ein Reaktions Vorgang
im Kranken, in der Hauptsache ist es dem Einfluß des Arztes entzögen.
So bleibt schließlich als Hauptarbeit der Behandlung das Beseitigen
und Überwinden des Widerstandes. Freud hat einmal das Bewußtsein
140
I
I
-N.
des Menschen mit einem Salon verglichen, in dem aüerlei Leute
empfangen werden. Im Vorraum, hinter der verschlossenen Tür im
Unbewußten staut sich die verdrängie Masse psychischer Wesenheiten
und an der Tür steht ein Wächter, der in das Bewußtsein nur hinein-
laßt, was salonfähig ist. Danach können die Widerstände von drei
Stellen ausgehen, vom Salon, dem Bewußtsein aus, das bestimmte
Dinge nicht einlassen will, vom Wächter aus, einer Art Vermittler
zwischen Bewußtem und Unbewußtem, der in hohem Grade vom Be-
wußtsein abhängig, doch immerhin eigenen Willen besitzt und hie und
da eigensinnig den Eintritt verwehrt, obwohl das Bewußtsein die Er-
laubnis gab, und vom Unbewußten selbst, das keine Lust hat, sich in
der anständig langweiligen Umgebung des Salons aufzuhalten. So
würde man also dazu kommen, in der Behandlung diese drei Instanzen
der Widerstandsmöglichkeiten zu beachten. Und bei allen dreien wird
man darauf gefaßt sein müssen, allerlei seltsame Launen zu finden und
Überraschungen zu erleben. Da aber nach meiner Meinung sowohl
Bewußtsein wie Pförtner letzten Endes willenlose Werkzeuge des Es
sind, hat diese Unterscheidung nur geringe Bedeutung.
Bei Gelegenheit der Geschichte des Herrn D. habe ich Ihnen ein
paar Formen des Widerstandes mitgeteilt. In Wahrheit gibt es dieser
Formen Tausende und Abertausende. Man lernt darin nie aus, und so
wenig ich mich zum Anwalt des Mißtrauens eigne, so fest bm ich doch
davon überzeugt, daß man als Arzt immer und immer damit rechnen
muß: jetzt befindet sich der Kranke im Widerstände. Hinter jeder
Lebensform imd Lebensäußerung verschanzt sich der Widerstand, jedes
Wort, jede Gebärde kann ihn verstecken oder verraten.
Wie soll man nun mit dem Widerstand fertig werden? Das ist
schwer zu sagen, Liebe. Ich glaube, das Wesentliche dabei ist, daß
man bei sich selber beginnt, daß man erst einmal in seine eigenen
Winkel und Ecken, Keller- und Speiseräume hineinguckt, Mut zu sich
selber, zu seiner eigenen Schlechtigkeit oder, wie ich lieber sagen
würde, Mensdilidikeit findet. Wer nicht weiß, daß er selber hinter jeder
Hecke und Tür gestanden hat und wer nicht zu sagen weiß, was für
Ul
-^- —
Dreckhaufen hinter solch einer Hecke liegen und wie viele Haufen er
selber hing'esetzt hat, der wird es nicht weit bringfen. Das erste Er-
fordernis ist also wohl Ehrlidikeit, Ehrlichkeit gegen sidi selbst. Be!
sich selbst lernt man am besten die Widerstände kennen. Und sich
selbst lernt man am gründlichsten kennen, wenn man Andere analysiert.
Wir Arzte haben es gut, und ich wüßte nicht, welch anderer Beruf
mich locken konnte. Dann glaube ich, braucht unsereiner noch zwei
Dinge, Aufmerksamkeit und Geduld. Geduld vor allem, Geduld noch
einmal. Aber so etwas lernt sidi.
Also sich selbst analysieren, das ist nötig. Leicht ist es nicht, aber
es zeigt uns unsere individuellen Widerstände und es dauert nidit lange,
so treten einem Erscheinungen entgegen, die zeigen, daß es auch
Widerstände ganzer Klassen, ganzer Völker, ja der gesamten Mensdi-
heit gibt. Widerstände, die Vielen, ja Allen gemeinsam sind. So ist mir
heute wieder eine Form aufgefallen, die ich oft fand, die, daß wir uns
scheuen, bestimmte kindhche Ausdrücke zu braudien, Ausdrücke, die
uns in unserer Kindheit geläufig waren. Im Verkehr mit Kindern und,
merkwürdigerweise, im Uebesverkehr brauchen wir sie unbedenklich,
da sprechen wir ruhig von „Wässerlein machen" vom „Hotto" oder
„Wauwau" vom „Pipi", „A a", „Popo", aber unter Erwachsenen sind
wir gern selber erwachsen, verleugnen unsere Kindesnatur und „scheißen",
„schiffen", „Arsch" sind uns geläufiger. Großtun, weiter nichts.
Zum Schluß muß ich wohl auch nodi ein Wort über die Wirkung
der Behandlung sagen. Nur leider weiß ich davon wenig. Ich habe die
vage Idee, daß die Erlösung des Verdrängten aus der Verdrängung
eine gewisse Bedeutung dabei hat. Ob das aber direkt der Heilungs-
vorgang; ist, bezweifle Ich. Vielleicht entsteht dadurch, daß irgend etwas
Verdrängtes in den Salon des Bewußtseins kommt, nur eine Bewegung
im Unbewußten und diese Bewegung bringt Heil oder Unheil. Danadi
wäre es nicht einmal nötig, daß das Verdrängte, was den Anstoß zur
Erkrankung gab, zum Vorschein käme. Es konnte ruhig im Unbewußten
bleiben, wenn nur Platz dafür gesdiaffen würde. Nach dem, was idi bis
jetzt über diese Dinge weiß — ich sagte es schon, es ist sehr wenig
142
— will es mir scheinen, daß es oft g-enüg-t, den Pförtner an der Tür
zu bearbeiten, daß er irgend einen Namen in den Raum des Unbe-
wußten hineinschreit, etwa den Namen Wüllner. Ist unter den Nächst-
stehenden kein Mensch, der Wüllner heißt, so geben sie docii den
Namen nach hinten weiter, und wenn wirklich dieser Name nicht bis
zu dem eigentlichen Träger dringt, so findet sich vielleidit irgend ein
Müller, der den Ruf absichtlich oder unabsiditlidi mißversteht, sich nadi
vorn zwängt und in das Bewußtsein eingeht.
Der Brief ist lang und des Schwatzens will kein Ende werden.
Adjo, Vielliebe, es ist Schlafenszeit. Ich bin ein arg müder
TROLL.
16.
ES GEHT IHNEN ZU SEHR DURCHEINANDER? MIR AUCH.
Aber das hilft doth nichts; das Es ist immer in Bewegung und nicht
eine Sekunde tritt Ruhe ein. Das wirbelt und strömt und wirft bald
dies, bald jenes Stück Welt empor, der Oberfläche zu. Eben als idi
den Brief an Sie beginnen sollte, habe ich versucht, herauszubekommen,
was in mir vorging. Über die gröbsten Dinge bin ich nicht hinweg-
gekommen.
Hier ist es, was idi fand. In der rechten Hand habe ich den
Federhalter, mit der linken spiele ich an der Uhrkette. Der Blick ist
auf die Wand gegenüber gerichtet, auf eine holländische Radierung,
die Rembrandt's Gemälde von der Beschneidung Jesu wiedergibt. Die
Füße stehen auf dem Boden, aber der rechte tritt mit der Ferse den
Takt 2u einem Marsch, den unten die Kurkapelle spielt. Gleichzeitig
höre ich den Schrei eines Käuzchens, das Hupensignal eines Automobils
und das Rattern der elektrischen Bahn. Ich habe keinen bestimmten
Geruchseindruck, fühle aber, daß mein recäites Nasenloch etwas ver-
stopft ist. Es juckt mich in der Gegend des rechten Schienbeines und
ich bin mir bewußt, daß idi rechts an der Oberlippe etwa einen halben
Zentimeter oberhalb des Mundwinkels einen roten runden Fleck habe.
Die Stimmung Ist unruhig und die Fingerspitzen sind kalt.
143
Gestatten Sie, liebe Freundin, daß ich mit dem Ende beginne. Die
Fing'erspitzen sind kalt, das ersdiwert das Sdireiben, bedeutet also:
„Sei vorsichtig; du schreibst sonst Unsinn". Und ähnlich ist es mit der
Unruhe. Sie verstärkt die Mahnung, behutsam vorzugehen. Mein Es
ist der Ansidit, daß Ich mich mit etwas Anderem als Schreiben be-
schäftigen sollte. Was das Ist, weiß ich noch nicht. Vorläufig nehme
icli an, daß sidi in der Zusammenziehung der Fingerspitzengefäße
und in der Rastlosigkeit der Stimmung das Gefühl äußert: Deine
Leserin wird nicht verstehen, was du Ihr mitteilst. Du hättest sie
besser, methodischer vorbereiten sollen. Trotzdem! Ich wage den
Sprung.
Daß ich an der Uhrkette spiele, wird Sie lächeln machen. Sie kennen
diese Gewohnheit, haben midi oft damit geneckt, aber wohl selbst
niemals gewußt, was sie sagt. Es ist ein Onaniesymbol, ähnlich dem
des Spielens mit dem Ring, von dem ich Ihnen neulich erzählte. Aber
die Kette hat ihre besonderen Eigentümlichkeiten. Der Ring ist ein
Weibessymbol und die Uhr, wie jede Maschine, ist es auch. Die Kette
ist es für meine Idee nicht; vielmehr symbolisiert sie etwas, was vor
dem eigentlichen Gesdilechtsakt, vor dem Spiel mit der Uhr liegt.
Meine linke Hand verrät ihnen, daß ich mehr Freude an dem habe,
was vor der Vereinigung von Mann und Weib liegt, am Küssen,
Streicheln, Entkleiden, Spielen, am heimlich erregenden Lustgefühl, an
Dingen, die der Knabe liebt, und Sie wissen ja längst, daß idi ein
Knabe bin, wenigstens bin ich es auf der linken Seite, der Liebesseite,
die das Herz tragt. Was links ist, ist Liebe, was links ist, ist verboten,
von Erwachsenen getadelt; es ist nicht rechts, ist unrecht. Da haben
Sie einen neuen Anhaltspunkt für die Unruhe, die mich plagt, für die
kalten Fingerspitzen. Die rechte Hand, die Hand des Sdiaffens, der
Autorität, des Rechtes und des Guten, hat in ihrer Tätigkeit ernst-
haften Schreibens inne gehalten, droht hinüber nach der linken, spiel-
lustigen Kinderhand und aus rechts und links kommen Schwanken und
Unruhe, die das Befehlszentrum der Blutversorgung mobil machen und.
die Finger erstarren lassen.
144
„Aber", beschwichtigt eine Stimme des Es die unwillige Rechte,
die mein Erwachsensein darstellt, „laß doch das Kind; du siehst, es
spielt mit der Kette, nidit mit der Uhr". Damit will diese Stimme
sag-en, daß die Uhr das Herz bedeutet, gemäß der Löwe'schen Ballade.
Diese Stimme findet das Spielen mit den Herzen schlecht. Mir ist, trotz
ihres Tröstens, schlimm zu Mute, und sogleich erzählt mir auch das
Es der rechten Hand, wie verwerflich das Tun der linken ist.
„Sie braucht nur ein wenig stark zu spielen, dann zerrt sie die
Uhr heraus, läßt sie fallen, und ein Herz ist gebrochen."
Allerlei Erinnerungen schießen mir in Form von Mädchennamen durch
den Kopf, Anna, Marianne, Liese und mehr. Von allen den Trägerinnen
dieser Namen dachte ich einmal, daß ich ihnen durch mein Spielen das
Herz verletzt hatte. Aber plötziicli werde ich ruhig. Ich weiß, seitdem
ich ein wenig in die Tiefen der Mädchenseele hineinging, daß solch
Spiel an sich hübsdi ist und ihnen nur zur Qual wurde, weil ich die
Abenteuer ernst nahm, weil ich selbst ein böses Gewissen hatte und
sie es errieten. Weil der Mann vom Mäddien voraussetzt, es müsse
sich schämen, schämt es sieb wirklidh; nicht weil es Böses tat, nein,
weil man von ihr eine moralisdie Reinheit erwartet, die es nidit hat.
Gott sei Dank nidit hat. Aber durch nichts wird der Mensdi tiefer
verletzt, als wenn wenn man ihn für edler hält, als er ist.
Trotz dieser Selbstverteidigung über das Spiel mit Herzen bleibt
die Tatsadie bestehen, daß ich den Federhalter nicht in Bewegung
setze, und idi versuche, sie zu verstehen. Da kommen mir Erinnerungen,
wenn Sie es so nennen wollen. Menschen mit Schreibkrampf, die ich
zu behandeln hatte, haben mir, ohne von einander zu wissen, mehrfach
folgende Erklärung über das Schreiben gegeben: „Die Feder ist der
Geschlechtsteil des Mannes, das Papier das empfangende Weib, die
Tinte der Samen, der bei dem raschen Auf und Ab des Schreibens
ausströmt. Mit andern Worten, das Schreiben ist ein symbolischer
Geschlechtsakt. Es ist aber auch gleichzeitig das Symbol der Onanie,
des phantasierten Geschleditsaktes." Daß die Erklärung richtig ist, geht
für midi aus der Erscheinung hervor, daß bei dem Kranken der
10 GroddecJc, Da, Buch vom Es. 145
^ -—.—--
Sdireibkrampf versdiwand, sobald diese Zusammenhänge von ihnen
gefunden waren. Darf ich noch ein paar spielerische Gedanken anreihen?
Die deutsche Schrift ist für den Schreibkrampfig-en schwierig-er, weil
sie das Auf und Ab viel deutlidier, heftiger, abgebrochener hat als die
lateinische. Der dicke Federhalter ist leichter zu braudien als der
dünne, der eher den Finger oder den allzu schwadien Penis versinn-
bildlicht als 4er dicke. Der Bleistift hat den Vorteil, daß der symboli-
sche Samenverlust fortfallt, die Schreibmaschine, daß in ihr wohl die
Erotik in der Klaviatur, dem Auf und Ab der Tasten enthalten ist,
aber die Hand nicht direkt den Penis faßt. Das alles entspricht den
Vorgängen beim Schreibkrampf, der vom Gebrautii des gewöhnlichen
Federhalters über den Bleistift und die lateinische Schrift zur Schreib-
maschine und schließhdi zum Diktieren führt.
Bei alle dem ist die Rolle des Tintenfasses nicht erwähnt, über
die mir die gefälligen Krankheitssymptome aud) Auskunft geben. Das
Tintenfaß mit seinem gähnenden Schlund, der in dunkelschwarze Tiefen
führt, ist ein Muttersymbol, stellt den Sdioß der Gebärerin dar. Plötz-
lich steht wieder der Ödipuskomplex vor einem, das Verbot der Blut-
schande. Und nun wird es lebendig von den Schreibteufelclien, die aus
dem Faß, dem schwarzen Bauch der Hölle hcrvorklettern und enge
Beziehungen zwisdien dem Gedanken der Mutter und dem Reich des
Bösen ahnen lassen. Sie glauben gar nicht, beste Freundin, was für
seltsame Sprüno*e das Es macht, wenn es Launen hat, v/ie es dann
Erde und Himmel und Hölle mit dem Urin und Federhalter des Kranken
zusammen knotet und wie es schließlich ein armselig dürftiges Doktor-
hirn so verrückt macht, daß es ernstlich daran glaubt, Tintenfaß,
Mutterleib und Hölle seien nahe Verwandte.
Die Geschidite hat auch ihre Fortsetzung. Aus der Feder strömt
die Tinte, die das Papier befruchtet. Ist es beschrieben, falte ich es
zusammen, stecke es in das Kuvert, gebe es zur Post. Sie öffnen den
Brief, hoffentlich mit einem freundlichen Lächeln, und erraten mit liesem
Wiegen des Kopfes, daß ich St^wangersdiaft und Geburt in diesem
Voro-ano- schilderte. Und dann denken Sie an die vielen Menschen, die
146
man schreibfaul schilt, und verstehen, warum es ihnen so schwer fällt
zu schreiben. All diese Mensdien haben im Inneren ein unbewußtes
Verständnis für die Symbolik und aU diese Menschen leiden an der
Angst vor Entbindunff und Kind. Zu gfuter Letzt fällt Ihnen unser ge-
meinsamer Freund Rallot ein, der jeden seiner Briefe zehnmal vom
Haus zum Briefkasten und vom Briefkasten wieder nach Hause trug,
ehe er ihn auf die Reise schickte, und es wird Ihnen verständlich, wie
es mir gelang, ihn in einer halben Stunde Unterhaltung von seinem
Krankheitsymptom — nicht etwa von seiner Krankheit — zu befreien.
Erkenntnis ist ein gutes Ding, und Ihr werdet sein wie Gott, wissend,
was Gut und Böse.
Wenn idi nidit fürchtete, Sie zu ermüden, würde ich nun gern
einen Ausflug in die Graphologie wagen, auch wohl Dies und Jenes
über die Buchstaben sagen. Ich kann Ihnen auch nicht versprechen, daß
ich nicht doch gelegentlich darauf zurückkommen werde; heute möchte
ich Sie nur bitten, sich zu erinnern, daß wir als Kinder eine Stunde
lang a's und o'a und u's malen mußten und, um das zu ertragen,
allerlei Figuren und Symbole in diese Zeidien hineinlegen oder heraus-
lesen mußten. Versuchen Sie ein Kind zu sein, vielleicht kommen Ihnen
alierlei Gedanken über die Entstehung der Sdirift, und es fragt sich
dann, ob sie dümmer sind als die unsrer Gelehrten. Nur mit Gelehr-
samkeit ist noch niemand dem Es beigekommen und — nun ja, itii
halte wenig von der Wissenschaft.
Mir fallen noch ein paar Erlebnisse ein, die mit dem Selbstbefrie-
digungskoraplex zu tun haben. Ich habe einmal mit einer guten Freundin
— Sie kennen sie nicht, aber sie gehört nicht zu den dummen Menschen
— einen Streit gehabt, weil sie mir nidit glauben wollte, daß die
Krankheiten Schöpfungen des Es sind, vom Es gewollt und herbei-
geführt werden. „Nervosität, Hysterie, ja das will ich zugeben. Aber
auch organisclie Leiden?" „Auch organische Leiden," erwiderte ich,
dann aber ehe ich ihr noch meine Lieblingsrede halten konnte, daß
das Unterscheiden zwischen nervös und organisch bloß eine Selbst-
anklage der Arzte ist, mit der sie ausdrücken wollen: „Wir wissen niclit
' ■ 147
viel über die chemischen, physikalischen, biologischen Vorgänge der
Nervosität; nur das Eine wissen wir, daß solche Vorgänge existieren,
aber mit unsern Untersuchungen nicht aufzufinden sind, wir brauchen
also den Ausdruck .nervös', um dem Publikum unsre Unwissenheit
deutlidi zu machen, um uns solch unangenehmen Beweis ynseres Un-
vermögens vom Halse zu halten" - ehe ich das noch sagen konnte,
fragte sie weiter: „Auch Unglücksfälle?" „Ja, audi Unglücksfälle." „Idi
bin neugierig, "sagte sie da, „zu hören, was mein Es damit bezweckt hat,
als es mich meinen rechten Arm brechen ließ." „Wissen sie noch, wie
der Unfall vor sich ging?" „Gewiß, in Berlin in der Leipzigerstraße.
Ich wollte in eine Kolonialwarenhandlung gehen, glitt aus und brach
mir den Arm." „Besinnen Sie sidi, was Sie damals gesehen haben
können?" „Ja, vor dem Laden stand ein Korb Spargel." Plötzlich wurde
meine Gegnerin nachdenklidi. „Vielleicht haben Sie recht," meinte sie
und erzählte mir dann eine Geschichte, die ich nicht breittreten wäll,
die sidi aber um die ÄhnHchkeit des Spargels mit dem Penis und einen
Wunsch der Verunglückten drehte. Eine verdrängte Onaniephantasie,
nichts weiter. Der Armbrudi war ein wohlgelungener Versuch, die
schwankende Moral zu stützen. Wer einen gebrochenen Arm hat, dem
vergeht die Begierde.
Ein anderes Erlebnis schien zunächst weit von dem Onaniekomplex
weg zu führen. Eine Frau gleitet auf der glatt gefrorenen Straße aus
und bricht sich den rechten Arm. Sie behauptet in dem Moment vor
dem Ausgleiten eine Vision gehabt zu haben. Sie habe plötzlich vor
ihren Augen die Gestalt einer Dame gesehen, im Straßenkostüm wie
sie sie oft gesehen hatte, aber unter dem Hut sei kein lebendiges
Gesicht gewesen, sondern ein Totenschädel. Es war nicht schwer zu
erraten, daß diese Vision einen Wunsch enthielt. Diese Dame war einst
ihre intimste Freundin gewesen, aber die Freundschaft hatte sich in
glühenden Haß verwandelt, der just in der Stunde des Unfalles neue
Nahrung gewonnen hatte. Die Annahme, daß es sich um eine Selbst-
bestrafung für einen Mordwunscii handelte, wurde sofort bestätigt, da
mir die Patientin erzählte, sie habe sdron einmal eine ähnüdie Vision
148
1
g'ehabt mit einer andern Frau, und in demselben Augenblick sei jene
Frau g-estorben. Der Armbruch schien also genügend motiviert; selbst
für einen Seelensucher, wie ich es bin. Aber der weitere Verlauf
belehrte mich eines Besseren. Der Armbruch heilte g-latt, jedoch noch
drei Jahre lang traten von Zeit zu Zeit Schmerzen auf, die bald mit
Witterungswechsel, bald mit Überanstrengung begründet wurden. All-
mählich kam ein ausgeprägter Onaniekomplex zum Vorsdiöin, in dessen
Bereich die Mordphantasien gezogen worden sind und der der Kranken
so widerwärtig war, daß sie es vorzog, die Mordvision davorzusdiieben
und so eine Freiheit von ihrem Selbstbefriedigungstriebe zu erlangen,
ohne die Onanie bewußt werden zu lassen.
Und damit bin ich zu einer bemerkenswerten Feststellung gelangt
An meiner Uhrkette hangt ein kleiner TotenscJiädel, das Geschenk
meiner lieben Freundin. Ich habe schon oft geglaubt, mit dem Onanie-
komplex fertig zu sein, ihn wenigstens für meine Person gelöst zu
haben. Solch ein kleiner Vorgang jedoch wie der heute, wo ich beim
Spielen mit der Kette im Schreiben behindert bin, beweist mir, wie
tief ich nodi darin stecke. Die Onanie ist mit dem Tode bedroht; das
ergibt sich aus der seltsamen Ableitung des Namens von einem ganz
andern Vorgang, der eben nur des plötzlichen Todes wegen bemerkens-
wert ist. Der Totensdiädel an meiner Kette warnt mich, er wiederholt
mir eindringlich die vielen Mahnungen der Onanienarren, daß man
erkrankt, verrüdd wird, stirbt, wenn man den Trieb frei walten läßt.
Die Angst vor der Onanie frißt sich tief in die menschliche Seele
ein. Idi erzählte Ihnen schon, warum. Weil, ehe nodi irgend etwas von
der Welt dem Kind bekannt wird, ehe es noch den Mann vom Weib
unterscheiden kann," ehe es weiß, was nah und fern ist, wenn es noch
nach dem Monde greift und den eigenen Kot für ein Spielzeug hält,
die Mutterhand drohend das wollüstige Spiel am Gesdilechtsteil unter-
bricht.
Es gibt aber noch eine andere Beziehung zwischen Tod und Wollust,
die wichtiger ist als die Angst und die symbolisierende Besonderheit
des Es aufdringlidi bekundet.
149
Für den harmlosen Menschen, der noch nicht vom Denken an-
gekränkelt ist, ersdieint der Tod wie ein Fliehen der Seele aus dem
Körper, wie ein Aufg-eben seiner selbst, ein Scheiden aus der Welt,
Nun dieses Sterben, dieses aus der Welt Heraustreten, dieses Aufg;eben
des Ichs tritt für Momente auch im Leben ein, es tritt ein, wenn der
Mensch sich auflöst in Wollust, sinnlos, bewußtlos wird im Genießen,
wenn er, wie der Volksausdruck lautet, im Andern stirbt. Mit andern
Worten, Tod und Liebe sind gleich. Sie wissen, der Griedie g-ab dem
Eros dieselben Züg:e wie dem Tode, gab dem Einen die erhobene,
erigierte, lebendige, dem Andern die gesenkte, erschlaffte, tote Facliel
in die Hand, ein Zeichen, daß er die symbolische Gleichheit, die Gleichheit
vor dem Es kannte. Und wir alle kennen diese Gleichheit ebenso. Für
uns ist ebenso die Erektion das Leben, der lebenspendende Samen-
erguß das Sterben in Frieden und die Erschlaffung der Tod. Und je
nadidem die Konstellation unsrer Gefühle bei der Idee des Todes im
Weibe ist, entsteht bei uns der Glaube an eine Himmelfahrt ins Reidi
der Seligen oder an ein Versinken im Pfuhl der Hötle; denn Himmel
und Hölle sind abgeleitet vom Sterben des Mannes in der Umarmung,
vom Austreten seiner Seele in den Sclioß des Weibes, entweder mit
der Hoffnung auf eine Auferstehung nach dreimal drei Monaten im
Kinde oder mit der Angst vor ungelöschten Feuern der Begierde.
Tod und Liebe sind eins, da ist kein Zweifel. Ob aber je ein
Mensdi zu diesem wahren Sterben, wo der Mann im Weibe, das Weib
im Manne aufgeht, gekommen ist, weiß ich nicht. Ich halte es bei den
Kulturschichten von Unser sgieichen für fast unmöglich, jedenfalls sind
es so seltene Erlebnisse, daß ich keine Mitteilungen darüber machen
kann. Vielleicht sind die Menschen, deren Phantasfe sich den Vorgang
des Todes in der Umarmung ausmalt, der Möglichkeit eines solchen
symbolischen Sterbens am nächsten, und da wirklich Todesfälle in dem
Moment des höchsten Genusses vorkommen, darf man woh! annehmen,
daß bei solchen Ereignissen auch der symbolisdie Liebestod durchlebt
wird. Die Sehnsucht danadi, die sich in Musik, Gedidit und Rede-
wendung ausspricht, ist allgemein verbreitet und gibt Anhaltspunkte,
150
a
r
^mr^
um die Fäden zwischen Tod und Liebe, Grab und Wiege, Mutter und
Sobn, Kreuzigung und Auferstehung zu verfolgen.
Dicht an den symbolischen Tod gelangen wohl die, die den hyste-
rischen Krampfanfall durchleben, der ja, wie der Augenschein lehrt,
eine Onaniephantasie ist.
Aber ich bin weit abgeirrt. Hoffentlich finden Sie sich zurecht,
haben Geduld und gestatten mir, das nächste Mal den Faden wieder
aufzunehmen. Ich halte es für wichtig, daß Sie einmal kennen lernen,
was alles ich im Zögern des Schreibens vermute.
., . _ Herzlichst
Ihr
PATRIK TROLL.
17.
ES WUNDERT MICH NICKT, LIEBE FREUNDIN, DASS SIE
meine Ansitiiten nicht teilen. Ich b^t Sie schon einmal, meine Briefe
wie eine Reisebeschreibung zu lesen. Aber ich habe nicht verlangt, daß
Sie dieser Reisebesdireibung mehr Wert beilegten als der jenes Eng-
länders, der nach einem Aufenthalt von zwei Stunden in Calais be-
hauptete, die Franzosen seien rothaarig und sommersprossig, weil zu-
fällig der ihn bedienende Kellner so war.
Sie machen sich lustig darüber, daß ich dem Es eine Absiditlidi-
keit zusclireibe, die Ausgleiten und Zerbrechen eines Gliedes herbei-
zuführen vermag. Ich bin auf diese Vermutung - mehr ist es nicht —
gekommen, weil sich damit arbeiten läßt. Für mich gibt es zwei Arten
von Ansichten: solche, die man zum Vergnügen hat, Luxusansichten
also, und solche, die man als Instrumente verwendet, Arbeitshypotliesen.
Ob Sie richtig oder falsch sind, ist für mich nebensächlich. Ich halte es
da mit der Antwort Christi auf die Frage des Pilatus: „Was ist Wahr-
heit?" wie sie in einem der Apokryph en-Evangelien mitgeteilt wird.
„Wahrheit ist weder im Himmel noch auf Erden noch zwischen Himmel
und Erde."
151
Im Laufe meiner Seelensucherei bin idi dazu gebracht worden,
midi hie und da mit dem Schwindel zu besdiaftig-en und ich bin da,
idi mödite fast sagen gegen meinen Willen, gezwungen worden, anzu-
nehmen, daß jeder Schwindelanfall eine Warnung das Es ist: „Gib
acht, sonst fällst du." Wenn Sie die Sache nadiprüfen wollen, müssen
Sie nur gütigst im Auge behalten, daß es zwei Arten des Fallens
gibt, ein reales Fallen des Körpers und ein moralisdies Fallen, dessen
Wesen in der Er2ählung vom Sündenfall geschildert wird. Das Es
sdieint außerstande zu sein, beide Arten scharf voneinander zu trennen,
oder ich will mich lieber so ausdrücken, es denkt bei dem einen Fallen
sofort an das andere. Der Schwindelanfali bedeutet also stets eine
Warnung nach beiden Seiten, er wird in realem und übertragen -sym-
bolischem Sinne gebraucht. Und wenn das Es der Ansldit ist, daß ein
einfacher Schwindel, ein Fehltritt, ein Stolpern, ein Rennen gegen einen
Laternenpfahl, ein Schmerz am Hühnerauge oder das Treten auf einen
sidiarfen Stein zu einer eindringlichen Mahnung nidit ausreicht, wirft
es den Menschen zu Boden, schlägt ihm ein Lodi in den dicken Schädel,
verletzt ihm das Auge oder bridit ihm ein Glied, das Glied, mit dem
der Mensch sündigen will. Vielleicht schickt es ihm audi eine Krankheit,
eine Gicht zum Beispiel, ich komme gleich darauf zurück.
Vorläufig möchte ich nur hervorheben, daß nicht ich einen Mord-
gedanken, einen Ehebruchs wünsch, ein Ausmalen des Diebstahles, eine
Onaniephantasie für Sünde halte, sondern das Es des betreffenden
Menschen. Ich bin weder Pfarrer noch Richter, sondern Arzt. Gut und
Böse gehen mich niclits an, idi habe nicht zu urteilen, sondern kon-
statiere nur, daß das Es dieses oder jenes Menschen dies oder das
für Sünde hält, so oder so richtet. Was midi selbst anbetrifft, so be-
strebe ich mich dem Satze zu folgen: „Richtet nicht, auf daß ihr nidit
gerichtet werdet." Und ich dehne den Sinn dieses Wortes soweit aus,
daß ich auch das Richteramt über mich selbst abzulehnen versudie und
meine Kranken dazu veranlasse, ebenfalls das sich selbst Richten auf-
zugeben. Das klingt sehr fromm oder sehr frivol, je nachdem, was
man heraushören will, im Grunde ist es nur ein medizinischer Kunstgriff.
152
Daß Unheil daraus entstehen könnte, befürdile idi nicht. Wenn idi
den Leuten sage — und ich tue das - „Sie müssen so werden, daß
Sie sich unbedenklich am hellen Mittag-e auf einer belebten Straße
hinkauern, die Hosen abknöpfen und einen Haufen hinsetzen können,"
so liegt der Ton auf dem Worte können. Daß der Kranke es niemals
tun wird, dafür sorg-en Polizei und Sitte und seine seit Jahrhunderten
ihm anerzogene Angst. In dieser Beziehung fühle idi mich sehr ruhig,
wenn Sie mich auch noch so oft Satan und Sittenverderber nennen.
Mit andern Worten, man mag sich nodi so viele Mühe geben, das
Richten zu lassen, es gelingt nie. Immer und ewig fällt der Mensch
Werturteile, es gehört zu ihm wie seine Augen und seine Nase, ja weil
er Augen und Nase hat, muß er immer und ewig sagen: Das ist schledit.
Das braucht er, weil er sich selbst anbeten muß, der Demütigste tut
es nodi, selbst Christus tat es noch am Kreuze mit den Worten:
„Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen," und mit den andern:
„Es ist vollbracht". Pharisäer zu sein, stets zu sagen: „Ich danke dir,
Herr, daß ich nicht bin wie Jener" ist menschlidi. Aber ebenso menstiihch
ist das: „Gott sei mir Sünder gnädig". Der Mensdi hat wie alles zwei
Seiten. Bald kehrt er die eine heraus, bald die andre, da sind sie aber
immer alle beide. Da der Mensch an den freien Willen glauben muß,
da er sich aus bestimmten Teilen seines Wesens ein Verdienst machen
muß, so muß er auch eine Schuld erfinden, bei sidi, bei Anderen, bei Gott.
Ich werde ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, die Sie nicht glauben
werden. Mir aber macht sie Spaß, und weil in ihr Vieles zusammen-
gedrängt ist, was ich Ihnen noch gar nicht oder nicht deutlich genug
vorgetragen habe, sollten Sie hören.
Vor einigen Jahren kam eine Dame in meine Behandlung, die an
chronisdien Entzündungen der Gelenke litt. Die ersten Anfänge der
Krankheit lagen 18 Jahre zurück. Damals begann in der Pubertätszeit
das rechte Bein zu schmerzen und zu schwellen. Als ich sie zuerst
sah, waren Handgelenke, Finger und Ellbogengelenke fast gebrauclis-
unfähig, so daß die Kranke gefüttert werden mußte, die Schenkel
konnten nur wenig auseinander genommen werden, beide Beine waren
153
vollkommen steif, der Kopf konnte nicht gedreht und nicKt gebeugi;
werden, zwischen die Zahne konnte man die Finger niclit einführen,
weil die Evinnhackengeienke erkrankt waren, und die Kranke war nicht
im Stande, die Arme bis zur SdiuIterhÖhe zu heben. Kurz sie war,
wie sie in einer Anwandlung von Galgenhumor sagte, unfähig, wenn
etwa der Kaiser angeritten käme, Hurrah zu rufen und ihm zuzuwinken,
wie sie es ais Kind getan hatte. Sie hatte zwei Jahre im Bett gelegen,
war gefüttert worden, alles in allem, ihr Zustand war trostlos. Und
wenn auch die Diagnose Gelenktulierkulose, mit der man es bei ihr
jaiirelang probiert hatte, nicht zutraf, war man doch berechtigt, von
einer Arthritis deformans schwerster Art zu spreclien. Die Kranke
geht jetzt wieder, ißt allein, arbeitet mit dem Spaten im Garten, steigt
Treppen, biegt die Beine ausreichend und dreht und beugt den Kopf
wie sie will, kann die Beine spreizen, soweit sie Lust hat, und wenn
der Kaiser wirklid» käme, würde sie Hurrah rufen können. Mit andern
Worten, sie ist geheilt, wenn man eine völlige Leistungsfähigkeit Heilung
nennen darf. Auffallend ist noch jetzt eine seltsame Art beim Gehen
das Hinterteil weit herauszustrecken, was beinahe aussieht, als ob sie
zum Sdilagen auffordern wollte. Und all diese Qualen hat sie gehabt,
v/eil ihr Vater Friedrich Wilhelm hieß und weil man ihr neckend gesagt
hatte, daß sie nicht das Kind ihrer Mutter sondern hinter der Hecke ge-
funden worden sei.
Ich komme damit auf das zu sprechen, was meine Gesinnungs-
genossen in Freud den Famiücnronian nennen. Sie werden sich der
Zeiten Ihrer Kindheit erinnern, wo Sic sich lebhaft in Spiel oder Nach-
denken mit der Phantasie beschäftigten, daß Sie Ihren echten Eltern,
Leuten hohen Ranges, von Zigeunern gestohlen, daß Vater und Mutter,
bei denen Sie wohnten, nur Pflegeeltern seien. Soldie und ähnliciie
Gedanken hegt jedes Kind. Es sind im Grunde verdrängte Wünsdie.
So lange man noch als Wickelkind das Haus kommandiert, ist man
mit seinen Angehörigen zufrieden, aber wenn die Erziehung mit ihren
berechtigten und unberechtigten Ansprüchen kommt und in unsre
lieben Gewohnheiten eingreift, finden wir unsre Eltern zu Zeiten gar
154
nidit wert, solch vorzüg-Hches Kind zu haben. Sie werden von uns, die
wir trotz in die Hosenmachens und kindlidier Schwäche die Illusion
unsrer Bedeutung aufrecht halten wollen, zu Stiefeltern, Eseln und
Hexen deg-radiert, wahrend wir uns selbst als g-equälte Prinzen vor-
kommen. Das Alles können Sie aus Sag-en und MarcJien selber heraus-
lesen, oder wenn Sie es bequemer haben wollen, in g-eistreichen Büchern
der Freudschen Sdiule finden. Und da hören Sie denn auch, daß wir
alle urspriinglidi den Vater für das stärkste, beste, höchste Wesen
halten, daß wir aber allmählidi sehen, wie er vor diesem oder jenem
bescheiden wird, wie er gar nicht der absolute Herr ist, den wir in
ihm sahen. Weil wir aber durchaus die Idee festhalten wollen, des
Höchsten Kinder zu sein — denn Ehrfurcht ist ebenso wie Eitelkeit
ein Gefühl, das wir ni<iit aufgraben können — phantasieren wir uns
den Kinderraub, die Unterschiebung, unser Lebensmärchen zurecht.
Und um auch das noch zu erwähnen, weil uns zu guterletzt auch der
König nidit erhaben genug ist, um unsre rastlose Sucht nach Größe
zu stillen, dekretieren wir, Gotteskinder zu sein, und erschaffen den
Begriff Gottvater,
Ein soldier Familienroman lebte, ihr selbst unbewußt, in jener
Kranken, von der ich Ihnen erzählen will. Ihr Es hat dazu zwei Namen
benutzt, den ihres Vaters Friedrich Wilhelm und den eigenen Augusta.
Als Ergänzung hat es noch die Kindertheorie herangezogen, daß das
Mädchen durch Kastration aus dem Knaben entsteht. Der Gedanken-
gang ist folgender gewesen: leb stamme ab von Friedrich Wilhelm,
dem damaligen Kronprinzen, späteren Kaiser Friedrich, bin eigentlich
ein Knabe, Thronerbe und nunmehr reditmäßiger Kaiser, mit Namen
Wilhelm. Man hat mich gleich nadi der Geburt entführt und an meiner
Stelle ein Hexenkind in die königliche Wiege gelegt, das herangewachsen ^
die Kaiserkrone als Wilhelm II. an sich riß, widerrechtlich und zu meinem (
Schaden. Mich selbst hat man hinter einer Hecke ausgesetzt und, um
mir jede Hoffnung zu nehmen, durch Abschneiden der Geschlechtsteile
zum Mädchen gemacht. Als einziges Zeichen meiner Würde gab man ,
mir den Namen Augusta, die Erhabene.
155
y
Man kann die Anfänge dieser unbewußten Phantasien leidlich genau
bestimmen. Sie müssen spätestens in dem Jahre 1888 entstanden sein,
also in einer Zeit, in der die Kranke nodi nicht vier Jahre alt war.
Denn die Idee, aus der Hohenzollernfamilie zu stammen, gründet sich
auf den Namen Friedrich Wilhelm, den der erträumte Vater nur als
Kronprinz führte. Das Reden über seine Krebserkrankung, mit der die
Vierjährige wohl kaum etwas Andres anzufangen wußte, als an das
Wort Krebs die Idee der Schere, des Schneidens, der Kastration
anzuknüpfen, fallt dabei ins Gewicht. Es verknüpft sich mit den per-
sönlichen Erfahrungen des Nagel- und Haarabschneidens, dessen Be-
ziehungen zu dem Kastrationskomplex sich noch aus dem Anschauen
und Vorlesenhoren des Struwwelpeters verstärkten; steht doch in diesem
ewigen Buch auch nocli die Geschichte von Konrad dem Daumenlutscher,
eine Geschichte, die alte Sehnsüchte nadi der Mutterbrust und quälende
Erinnerungen an die Entwöhnung, diese unentrinnbare Kastration von
der Mutter, weckt.
Ich deute das Alles kurz an, damit Sie selber ein wenig nachdenken.
Denn nur durch eigenes Nachdenken können Sie sich davon überzeugen,
wie gerade in dem Alter zwischen drei und vier Jahren der Boden für
eine Phantasie vorbereitet ist, die so ungeheuerlich wirkt wie die meiner
Patientin. Hören Sie nur zu: Das Es dieses Menschen ist überzeugt
oder vielmehr will sich überzeugen, daß es das Es eines rechtmäßigen
Kaisers ist. Der Träger der Krone schaut nicht nach redits und nach
links, er urteilt ohne Seitenblicke, er beugt sein Haupt vor keiner
Macht der Erde. „Also," befiehlt das Es den Säften und Kräften des
von ihm gebannten Menschen, „stellt mir den Kopf fest, mauert seine
Wirbel ein. Sdiheßt ihm die Kinnbacken, daß er nidit Hurrah sdireien
kann; er hat es schon einmal getan, dem Usurpator, dem unterge-*'
schobenen Hexenklnd zugejubelt und zugewinkt. Lähmt ihm die Schultern,
damit er nie wieder mit erhobenem Arm dem falschen Kaiser huldigen
kann; die Beine müssen steif werden, nie darf dieser erhabene Kaiser
vor irgend wem knieen. Die Schenkel preßt zusammen, so daß niemals
ein Mann zwisdien ihnen liegen kann. Denn das wäre das Gelingen
156
T-T-
des teuflischen Plans, wenn dieser Körper, den g-emeiner Haß und
erbärmlicher Neid aus einem männlichen in einem weiblichen verwandelt
hat, ein Kind gebaren müßte. Es wäre die Vereitelung aller Hoffnungen.
Haltet ihn an, den Unterleib zurück zu ziehen, damit Niemand den
Eino-ang- findet, warnt ihn vor der Wölbung des Bauchs, zwingt ihn
zum Gehen und Stehen mit rückwärts gepreßtem Kreuz. Noch ist kein
Grund dazu vorhanden, anzunehmen, daß das tückisch g-eraubte Mannes-
abzeidien nicht wieder wachsen könnte, daß dieser Kaiser nicht wirklich
Mann werden könnte. Zeigt dem Entmannten, ihr Säfte und Kräfte,
daß es möglich ist, schlaffe Glieder steif werden zu lassen, bringt ihm
den Begriff der Erektion, des Steifwerdens dadurdi bei, daß ihr die
Beine verhindert sich zu biegen, zu erschlaffen, lehrt ihn im Symbol
zu zeigen, daß er ein Mann ist."
Ich kann mir vorstellen, verehrte Freundin, wie unwillig Sie
ausrufen: „Welcher Unsinn!" Und dann kommen Sie wohl gar
auf die Idee, daß ich Ihnen die Größeuwahnideen einer Verrückten
erzähle. Das müssen Sie nicht denken. Die Kranke ist geistig
ebenso gesund wie Sie; was ich Ihnen erzählte, sind einige Ideen
— längst nicht alle — die ein Es dazu bringen können, Gicht ent-
stehen zu lassen, einen Menschen zu lähmen. Wenn meine Mitteilungen
Sie jedoch dazu brächten, einigte wenige Überlegungen über die
Entstehung von Geisteskrankheiten daran anzuknüpfen, würde Ihnen
klar werden, daß der Verrückte, vorurteilslos betrachtet, gar nidit
so verrückt ist, wie es im ersten AugenbUck den Anschein hat,
daß seine fixen Ideen solche sind, wie wir sie alle haben, haben
müssen, weil sich auf ihnen das Mensdiengesdiehen aufbaut. Warum
aber bli dem Einen das Es aus solchen Ideen die Religion von Gott-
vater, bei aem Andern die Gidit, bei dem Dritten die Verrücktheit
macht, warum es bei wieder Andern die Gründung von König-
reichen, Zepter und Kione, bei Bräuten den Brautkranz, bei uns Allen
das Streben nach Vervollkommnung, den Ehrgeiz und das Heldentum
entstehen Heß, das sind Fragen, die Sie in langweiligen Stunden
beschäftigen mögen,
157
Sie müssen nicht glauben, daß ich dieses Konig-smärdien so g-latt
in der Seele meiner Klientin fand, wie ich es dargestellt habe. Es war
in tausend Fetzen zerrissen, die in den Fin^^ern, der Nase, den Ein-
geweiden und dem Unterleib verborgen waren. Wir haben sie gemeinsam
zusammen geflickt, haben vieles mit Absicht, noch mehr aus Dummheit
nidit gefunden oder fort gelassen. Ja ich muß am Schlüsse noch ein-
gestehei), daß idi alles Dunkle — und gerade das ist das Wesentiidie —
bei Seite geschoben habe. Denn — aber Sie müssen wieder vergessen,
was ich jetzt sage - letzten Endes ist Alles, was man vom Es zu
wissen glaubt, nur bedingt richtig, nur richtig in dem Moment, wo das
Es in Wort, Gebärde, Symptom sich äußert. Schon in der nädisten
Minute ist die Wahrheit fort und nicht melir zu finden, weder im Himmel
noch auf Erden noch zwischen Himmel und Erde.
PATRIK TROLL.
18.
ALS GELEHRIGE SCHÜLERIN VERLANGEN SIE, LIEBE FREUNDIN,
Auskunft, warum ich, statt meine Ideen über das Spiel mit der Uhr-
kette weiter mitzuteilen, Geschichten erzähle, die gar nicht dazugehören.
Ich kann Ihnen dafür eine komische Erklärung geben. Neulidi, als icli
diese kleine Selbstanalyse begann, schrieb ich Ihnen: „In der rechten
Hand halte idi den Federhalter, mit der linken spiele ich an der Uhr-'
kette," und führte im Anschluß daran aus, daß beides Onaniekomplexe
sind. Dann fuhr idi fort: „Mein Blick ist auf die Wand gegenüber ge-
richtet, auf eine holländische Radierung, die Rembrandts Gemälde von
der Beschneidung Jesu wiedergibt." Das ist gar nicht wahr; die Ra-
dierung ist nach dem Gemälde von Jesu Darstellung im Tempel in
Gegenwart einer Menge Menschen gemacht. Ich hätte das wissen
müssen, wußte es audi tatsäclilidi, denn ich habe diese Radierung
viele, viele Male eingehend betraditet. Und dodi zwang mich mein
Es, dieses Wissen zu vergessen und aus der Darstellung eine Besdiiiei-
dung zu machen. Warum? WeÜ ich im Onaniekomplex befangen war,
158
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weil die Onanie strafwürdig ist, weil sie mit Kastration bestraft wird
und weil die Beschneidung eine symbolische Kastration ist. Mein Un-
bewußtes verlangfte als Reaktion auf die Onanieidee die Idee der Ka-
stration; dagegen verwarf es mit Bestimmtheit die Idee, daß das
Kindchen Jesus im Tempel Aller Augen dargestellt würde; denn dieses
Knäblein ist wie jedes Knäbiein ein Symbol des männliches Gliedes,
der Tempel ein Symbol der Mutter, Wäre der Gegenstand der Ra-
dierung bis in mein Bewußtsein gelangt, so hätte das in der nahen
Verbindung mit dem Uhrkettenspiel und Federhalten bedeutet; „Du
treibst dein Spiel mit dem symbolischen Knäblein vor den Augen
Aller und verrätst ihnen sogar, daß letzten Endes dieses Onaniespiel
der Mutterimago gilt, wie sie Rembrandt in geheimnisvollem Heildunkel
als Tempel symbolisiert hat." Das war auf Grund des doppelten Ver-
bots der Onanie und der Blutscäiande dem Unbewußten unei-träglidi
und es zog vor, sofort die symbolisdie Bestrafung heranzuziehen.
Daß der Ritus der Beschneidung wirklidi etwas mit der Kastration
zu tun hat, mochte ich deshalb annehmen, weil seine Einführung mit
dem Namen Abrahams in Verbindung gebracht ist. Aus Abrahams
Leben wird die seltsame Erzählung vom Opfer Isaaks beriditet, wie
der Herr ihm befiehlt, seinen Sohn zu schladiten, wie er das gehorsam
ausführen will, aber im letzten Augenblick durch den Engel daran ver-
hindert wird; an Isaaks Stelle wird der Widder geopfert. Wenn Sie
ein wenig guten Willen haben, können Sie aus dieser Geschichte heraus-
lesen, daß das Opfer des Sohnes ein Absdineiden des Penis, der ja
im Symbol durch den Sohn vertreten wird, bedeutet. Es würde mit
der Erzählung ausgedrückt werden, daß an Stelle der Selbstkastration
des Gottesdieners, die ihre Ausläufer in dem Keuschheitsgelübde der
katholischen Priester hat, zu irgend einer Zeit das Tieropfer getreten
ist; der Widder eignet sich für das Enträtseln der Symbolik deshalb
besonders, weil in der Schafzucht von jeher die Kastration üblich ge-
wesen ist. Betrachtet man die Dinge so, so ist die Erzählung von dem
Beschneidungsbunde zwischen Jehovah und Abraham nur eine Wieder-
holung des symbolischen Märchens in andrer Form, eine Verdoppelung,
159
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wie sie häufig in der Bibel und anderwärts zu finden ist. Die Be-
schneidung- würde danach der symbolische Rest der gottes die östlichen
Entmannuno; sein. Aber sei dem, wie ihm wolle, für mein Unbewußtes,
— und das kommt ja bei der Verwechselung von Beschneidung und
, Darstelhing allein in Betracht — sind Beschneidung und Kastration
nahe verwandt, ja identisch; denn wie so vielen Anderen ist auch mir
erst verhältnismäßig spät klar geworden, daß ein Verschnittener, ein
Eunuch, etwas Anderes ist als ein Beschnittener.
Übrigens haben diese Zusammenhänge zwischen Verschneidung
und Beschneidung eine besondere Bedeutung in der Freudschen Lehre,
so daß ich Ihnen empfehlen muß, Freuds Schrift von Totem und Tabu
zu lesen. Meinerseits möchte Ich nur vorläufig eine kleine völker-
psychologische Phantasie zum Besten geben, mit der Sie machen können,
was Sie wollen. Mir scheint, daß in den Zeiten, wo die Ehen noch
frühzeitig gesdilossen wurden, der älteste Sohn ein ziemlich unerwünschter
Mitbewohner des Heims für den Vater gewesen sein muß. Die Alters-
unterschiede waren so gering, daß der Erstgeborene in allen Dingen
der geborene Nebenbuhler des Vaters war, ja daß er besonders ge-
fährlich für die nicht viel altere Mutter werden mußte. Selbst jetzt
sind ja Vater und Sohn natürliche Rivalen und Feinde, auch wiederum
der Mutter wegen, die der eine als Frau besitzt, der andere mit seiner
heißesten Liebe begehrt. Damals aber, als die Überlegenheit des Alters
noch nicht so mitsprach, als die Leidenschaften und Triebe noch
heißer und ungebändigt waren, lag der Gedanke für den Vater nahe,
den unbequemen Sohn zu töten, ein Gedanke, der nun längst ver-
drängt ist, sich aber oft und stark in mannigfachen Lebensbeziehungen
und Krankheitssymptomen geltend macht. Denn Vaterliebe sieht, näher
betrachtet, nicht weniger seltsam aus als Mutterliebe. Dann wäre an-
^ zunehmen, daß es ursprünglich Gewohnheit war den ältesten Sohn zu
töten, und weil der Mensch nun einmal Schauspieler und Pharisäer ist,
hat man aus dem Verbrechen eine gottesdienstliche Handlung gemacht
und den Sohn geopfert. Das hatte neben der Verklärung ins Edle
noch den Vorteff, daß man ihn nach dem Morde aufessen konnte und
160
so die kindliche Idee des Unbewußten, daß die Schwangerschaft aus
dem Verzehren des Penis, des symbolischen Sohnes, entsteht, darzu-
stellen vermochte. Mit der allmäHlichen Verdrängung- des Haßtriebes
verfiel man dann auf andere Methoden, zumal bei wachsendem Be-
dürfnis nach Ai'beitskräften der einfadie Mord unzweckmäßig war.
Man entledigte sidi des Rivalen in der Liebe dm-di seine Entmannung,
brauchte nichts mehr zu fürchten und hatte ohne vie! Mühe einen
Sklaven gewonnen. Wenn die Bevölkerung zu dicht wurde, griff man
zu dem Mittel, die Erstgeborenen in die Fremde zu treiben, ein Ver-
fahren, das als ver sacrum noch aus historisclien Zeiten bekannt ist.
.Und sdiließlich, als der Ackerbau und das Zusammenfließen der Stämme
zu Völkern die Erhaltung der vollen Leistungsfähigkeit und Wehr-
kraft aller Söhne erforderte, symbolisierte man den Mord und erfand
die Beschneidung.
Wollen Sie nun den phantastischen Ring schließen, so müssen Sie
die Sache auch von der Seite des Sohnes anpacken, der ja den Vater
nicht minder haßt als der Vater den Sohn. Der Mordwuusdi gegen
den Vater setzt sich um in die Kastrationsidee, wie, sie im Mythus
von Zeus und Kronos auftritt, und daraus wird dann die gottes-
dienstliche Entmannung des Priesters; denn wie der Penis symbolisdi
der Sohn ist, so Ist er auch der Erzeuger, der Vater, und seine Ver-
schneidung ist der Vatermord im Gleichnis.
Ich fürchte Sie zu ermüden, aber ich muß nochmals auf meine
Uhrkette zurückkommen. Neben dem Totensdiadel, der daran befestigt
ist, hängt noch eine .kleine Erdkugel. Bei der sprunghaften Laune (
meiner Gedanken fällt mir ein, daß die Erde ein Symbol der Mutter
ist, daß also das Spielen damit einen Inzest im Gleidinis darstellt.
Und da der Totenkopf daneben droht, ist es erklärlich, daß meine
Feder stoclite, weil sie den beiden Todsünden der Onanie und Blut-
sdiande nicht dienstbar werden wollte.
Wohin führen nun die Gehörseindrücke, von denen ich Ihnen
sdirieb, die Marschmusik, der Käuzdiensdirei, das Automobil und die \
elektrische Bahn? Für den Marsch sind Takt und Rhythmus bezeichnend,
11 Groddcck, Das Buch vom Es. 161
und von dem Worte Rhythmus aus g-ehen die Gedanken zu der Be-
traditung über, daß jede Tätigkeit leichter ausg-eführt wird, wenn
man sie Im Takte rhythmisch ordnet; das weiß ein jedes Kind. Viel-
leicht gibt audi das Kind Antwort, warum das so ist. Vielleicht sind
Takt und Rhythmus gute Bekannte, unentbehrliche Lebensgewohnheiten
vom Mutterleihe an. Vermutlich ist das ungeborene Kind auf eine
kleine Zahl von Wahrnehmungen beschrankt und unter denen nimmt
die Empfindung für den Rhythmus und Takt den ersten Platz ein. Das
Kind schaukelt im Mutterleibe, bald schwächer, bald stärker, je nadi
den Bewegungen der Mutter, je nach ihrer Gangart und dem Tempo
ihres Sdirittes. Und ununterbrochen klopft in dem Kinde das Herz,
im Takt und im Rhythmus, seltsame Melodien, denen das Kind lausdit,
vielleicht mit den Ohren, sidier mit dem Gemeingefühl des Körpers,
der die Ersdiiitterung empfindet und im Unbewußten verarbeitet.
Es wäre wohl lockend, hier ein paar Betrachtungen über dieses
Phänomen einzusdialten, wie dem Rhythmus nicht nur das bewußte
Tun des Menschen, seine Arbeit, seine Kunst, sein Gang und Handeln
unterworfen ist, sondern auch das Schlafen und Wachen, Atmen, Ver-
dauen, das Wachsen und Vergehen, ja Alles und Jedes. Es scheint,
daß das Es im Rhythmus ebenso sich äußert wie im Symbol, daß er
eine unbedingte Eig-enschaft des Es ist, oder wenigstens, daß wir, um
das Es und sein Leben betraditen zu können, ihm rhythmische Eigen-
schaften zustiireiben müssen. Aber das führt mich zu weit ab und
lieber lenke ich Ihre Aufmerksamkeit darauf, daß mich der Marsdi
auf Schwangerschaftsgedanken geführt hat, die schon vorher in der
Erwähnung der Erdkugel an meiner Uhrkette anklangen. Denn diese
Erdkugel — idi brauche es kaum zu sagen — ist durch das Wort
von der Mutter Erde und die Rundung der Kugel gewiß eine An-
deutung des hoffenden Mutterleibes.
Jetzt sehe ich audi ein, warum ich mit der Ferse den Takt dazu
trete, statt mit der Fußspitze. Die Ferse steht für jedweden von Kind-
heit an in unbewußter Beziehung zum Gebaren. Denn wir alle werden
ja mit der Geschidite vom Sündenfall groflgezogen. Lesen Sie sie doch
162
einmal. Das Auffallendste daran ist, daß sidi nadi dem Essen der
Frudit die beiden Mensdien ihrer Nacktheit schämen. Das beweist,
daß es sich um eine symbolisdie Erzählung; über die Sünde der
Geschlechtslust handelt. Der Paradies^arten, in dessen Mitte der Baum
des Lebens und der Erkenntnis — erkennen ist der Ausdruck für
beschlafen, — „steht", spridit für sidi selber. Die Sdilange ist ein
uraltes, überall wiederkehrendes Phallussymbol ; ihr Biß vergiftet,
madit schwanger. Die Frucht, die Eva reicht, die übrigens bezeichnender-
weise von den Jahrhunderten stets als Apfel, als Frucht der Liebes-
göttin, aufgefaßt worden ist, obwohl in der Bibel das Wort Apfel
nidit steht, diese Frucht, die sdiÖn anzuschauen und gut zu essen ist,
entspridit der Brust, dem Hoden, der Hinterbacke. Hat man diese
Zusammenhänge erfaßt, so ist sofort klar, daß der Fludi: Das Weib
wird der Schlange den Kopf zertreten und die Schlange wird das
Weib in die Ferse stechen, die Ersdilaffung, den Tod des Gliedes
durdi die Samenergießung und den Storchenbiß unserer Kinderzeit,
die Geburt bedeutet. Daß ich die Ferse zum Takttreten benutzte,
zeigt, wie stark mein Unbewußtes in dem Gedankengang der Schwanger-
sdiaft befangen war. Aber zugleich audi in dem der Kastration. Denn
im Zertreten des Schlangenkopfes ist Ers<iilaffung und Kastration
gleidizeitig enthalten. Und dicht daneben drangt sidi auch sdion wieder
die Todesidee. Das Zertreten des Kopfes ist wie eine Enthauptung,
eine Todesart, die auf dem symboHsierenden Wege aus Gliederschlaffung
~ Kastration si(Ji entwickelt hat. Einen Kopf kürzer wird der Mensch,
einen Kopf kürzer das Ghed, dessen Eidiel nach der Begattung in
die Vorhaut zurückschlüpft. Sie können das alles, wenn es Ihnen
Freude macht, in den Sagen von David und Goliath, Judith und
Holofernes, Salome und Johannes dem Täufer weiter verfolgen.
Der Beischlaf ist ein Tod, der Tod am Weibe, eine Vorstellung,
die sich durch die Geschichte der Jahrtausende hinzieht. Und der Tod
sdireit in meine Gehörswahrnehmungen sdiarf und schrill hinein mit
dem Käuzchenruf: „Komm mit, komm mit." Dabei klingt wieder das
Motiv der Onanie in dem Automobilsignal an; ist das Auto dod» ein
11* 163
^
bekanntes Sinnbild der Selbstbefriedigung, wenn es nicht gar seine
Erfinduno; dem Onanietriebe verdankt. Daß die elektrische Bahn —
wohl auf dem Assoziatlonsweg-e der Reibungselektrizität und der
Mensdtenbeförderung — in sich das Onanie- und Schwangerschafts-
symbol vereinigt, laßt sich sdion aus der Tatsadie schließen, daß die
Frau, dieser symbolempfindliche, der Kunst nahe verwandte Menschheits-
teil, stets falsch vom elektrischen Wagen abspringt, — um zu fallen.
Nun klärt sich für mich audi eine andere Seite des Marsch problems.
Vor vielen Jahren hörte ich diese Takte beim Rückweg vom Begräbnis
eines Offiziers. Mir hat das immer ausnehmend gefallen, daß Soldaten,
die eben den Kameraden in die Gruft versenkt haben, mit fröhlichem
Spiel ins Leben zurückkehren. So sollte es überall sein. Sobald die Erde
über der Leidie liegt, ist keine Zeit mehr für Trauer: „Schließt die Reihen."
Finden Sie mich hart? Idi finde es hart, von den Menschen zu
verlangen, daß sie drei Tage lang traurig sind; ja, soweit ich die
Mensdien kennen gelernt habe, sind schon drei Tage unerträglich. Die
Toten haben immer Recht, heißt es im Sprichwort, im Grunde haben
sie immer Unredit. Und wenn man ein wenig nadiforsdit, kommt mau
dahinter, daß die ganze Trauerei eitel Angst ist, Gespensterfurdit, die
auf derselben ethischen Hohe steht wie die Sitte, den Toten mit den
Füßen zuerst aus dem Hause zu tragen: er soll nicht wiederkehren.
Wir haben die Empfindung, daß der Geist des Toten in der Nähe
der Leiche weilt. Man muß weinen, sonst beleidigt man das Gespenst,
und Gespenster sind rachsüchtig. Liegt der Körper erst tief unter
der Erde, so kann das Gespenst nicht mehr hervor. Zur größeren
Sicherheit wird ihm ein schwerer Stein auf die Brust gewälzt; die
Redensart von dem Stein, der einem auf die Brust drückt, beweist,
wie überzeugt auch wir Modernen von dem Weiterleben des Toten im
Grabe sind; wir stellen uns vor, wie der Grabstein auf ihm lastet, jj^^
und übertragen dieses Gefühl auf uns selbst, vermutlich als Strafe "^H
für die grausame Einkerkerung unsrer toten Verwandten. Sollte jedoch '^^^
wirklich einmal ein Toter auferstehen, so liegen in Gestalt von Kränzen
Fußangeln auf seinem Grabe, die ihn nicht entkommen lassen.
164
Ich will nicht ungeretiit sein. Das Wort auferstehen beweist, daß
auch noch ein anderer Gedankengang bei der Wahl der drei Tage
mitg-esprodien hat, ehe die Leiche beerdigl wird. Drei Tage sind die
Zeit der Auferstehung, und drei mal drei ist neun, die Zahl der
Schwangerschaft, Und die Hoffnung darauf, daß die Seele des TotcR
inzwisdien den Weg zum Himmel gefunden hat, wo sie freiHch weit
entfernt und gut aufgehoben ist, hat auch einen Sinn.
Der Mensch trauert nicht um seine Toten, es ist nicht wahr. Und
■wenn er im tiefsten Innern trauert, zeigi er es nicht. Aber selbst
dann ist es nodi zweifelhaft, ob seine Trauer dem Toten gilt oder
ob das Es über irgend etwas anderes traurig ist und den Todesfall
nur als Vorwand nimmt, um seine Trauer zu rationalisieren, vor der
Dame Moral zu begründen.
Sie glauben es nicht? So schlecht sind die Menschen nidit? Aber
warum nennen Sie es schledit? Sahen Sie je ein kleines Kind um
einen Toten trauern? Und sind etwa die Kinder schlecht? Meine Mutter
erzählte mir, daß ich nach dem Tode meines Großvaters — ich war
damals 3—4 Jahre alt — händeklatschend um seinen Sarg herum ge-
sprungen bin und gerufen habe: „Da liegt mein Großvater drin."
Meine Mutter hielt mich deshalb nicht für schlecht, und id» halte midi
nidit für berechtigt, moralischer als sie zu sein.
Warum aber trauern die Menschen dann ein ganzes Jahr? Zum
Teil der Leute wegen, vor allem aber, um ~ nach Pharisäerart — vor
siA selbst zu prahlen, sich selbst zu betrügen. Sie schwuren diesem
Toten und sich selbst einmal zu, ewig treu zu sein, ihn nie zu
vergessen. Und wenige Stunden nach dem Tode vergessen wir
schon. Da ist es gut, sich selbst zu erinnern, durch schwarze Kleider,
durch Traueranzeigen, durdi das Aufstellen von Bildern und das
Tragen vom Haar des Entschlafenen. Man kommt sidi gut vor, wenn
man trauert.
Darf ich Ihnen im Geheimen einen kleinen Wink geben? Schauen
Sie sidi zwei Jahre nach dem Tode des Gatten oder der Gattin nach
den vom Schmerz gebeugten Überlebenden um: entweder sind sie
165
äu(h tot, das ist nicht selten, oder die Witwe ward eine blühende,
zufriedene Dame und der Witwer ist wieder verheiratet.
Lachen Sie nicht! Es hat einen tiefen Sinn und ist wirklich wahr.
Stets Ihr
PATRIK TROLL.
19.
SIE HABEN WIEDER ALLERLEI AUSZUSETZEN. DAS PASST
mir nicht und idi werde daher deutlich werden. Warum finden Sie
es gesucht, daß ich den Evasapfe! mit der Hinterbacice vergleiche? Es
ist nicht meine Erfindung. Die deutsthe Sprache zieht diesen Vergleich,
die italienische tut es, die englische auch.
Ich will Ihnen sagen, warum Sie gereizt sind und mich sdielten.
Die Erwähnung von Evas Popo erinnert Sie daran, daß der Geliebte
Sie zuweilen von hinten nahm, während Sie knieten oder auf seinem
Schöße saßen; und dessen schämen Sie sich, genau so, als ob Sie selber
die deutsche Wissenschaft wären, die prüde diese Lust mit dem Aus-
druck more ferarum benennt: nach Art der Tiere, und sich nicht sdiämt,
ihren Verkündern damit eine Ohrfeige zu geben. Denn sie weiß ganz
g-ut, daß all diese Jünger more ferarum gelieht haben oder wenigstens
Lust dazu gehabt haben. Und sie weiß auth oder sollte es wenigstens
wissen, daß der männUche Liebesdolch dreikantig geformt ist und
die weibliche Liebesscheide ebenfalls und daß der Dol(h in die Scheide
vollkommen nur paßt, wenn er von hinten eingeführt wird. Hören
Sie doch nicht auf das Geschwätz der Pharisäer und Heuchler. Die
Liebe Ist nicht des Kinderkriegens wegen da und die Ehe ist keine
Moralanslalt. Der Geschlechtsverkehr soll Lust bringen und in allen
Ehen, bei den keuschesten Männern und reinsten Frauen, wird er
in allen Formen ausgeübt, die sich ausdenken lassen, als gegenseitige
Onanie, als Schaustellung, als sadistischer Scherz, als Verführung und
Notzucht, als Küssen und Saugen an den Stellen der Wollust, als
Päderastie, als Vertauschen der Rollen, so daß das Weib über dem
Mann liegt, im Stehen, Liegen, Sitzen und auch „more ferarum". Und
166
f
^1
I
ma; ^^Btir — iJtm^
nur bestimmte Leute haben nicht den Mut dazu und träumen statt
dessen davon. Aber ich habe nicht bemerkt, daß sie besser sind als
die, die ihre Kindlidikeit vor dem Geliebten nicht verleugnen. Es gibt
Leute, die sprechen vom Tier im Menschen, und unter Menschsein
verstehen sie, was sie edel nennen, was aber bei näherem Zusehen
recht unedel wird, den Verstand zum Beispiel oder die Kunst oder die
Religion, kurz alles, was sie auf irgend welche Gründe hin in das
Gehirn oder Herz verlegen, oberhalb des Zwerchfells, und tierisdi
nennen sie alles, was im Bauche vor sidi geht, vor allem was zwischen
den Beinen ist, Gesdilechtsteil und After. Ich würde mir an Ihrer Stelle
dergleichen Redende erst genau ansehen, ehe ich mit ihnen Freund-
schaft schlösse. Darf ich noch eine kleine Bosheit sagen? Wir gebildeten
Europäer tun immer so, als ob wir die einzigen Mensdien wären, als
ob, was wir tun, gut, natürlich, was andre Völker, andre Zeitalter tun,
schlecht, pervers sei. Lesen Sie doch Plochs Buch über das Weib. Da
finden Sie, daß viele hunderte Millionen Menschen andre Geschlechts-
sitten, andre Beisclilafsgewohnheiten haben als wir. Aber freilich es
sind nur Chinesen, Japaner, Inder oder gar Neger. Oder gehen Sie
nach Pompeji. Da hat man ein Wohnhaus ausgegraben — das Haus
der Vettier nennt man es — in dem ist das gemeinsame Badezimmer
für Eltern und Kinder mit einem Fries bemalt, der alle Arten der
Geschlechtslust darstellt, sogar die Tierliebe. Freilich, das waren nur
Römer und Griechen. Aber es waren fast Zeitgenossen von Paulus und
Johannes.
AH diese Dinge sind wichtig. Sie ahnen nidit, welche Rolle sie in
den täghchen Gewohnheiten und in den Erkrankungen spielen. Nehmen
Sie nur das „more ferarum". Niemals wäre man auf die Idee des
Klystiers gekommen, wenn dies tierische Spiel ä la Hündlein nicht wäre.
Und das Fiebermessen im After gäbe es auch nidit. Und die kindhche
Sexualtheorie vom Gebären durch den After, die so tausendfältig in
das gesunde und kranke Leben aller Mensdien eingreift — aber davon
will ich nidit reden; es würde mich zu weit abführen. Lieber gebe ich
ein andres Beispiel. Erinnern sie sich, wie ein Mädchen rennt? Es hält
167
den Oberkörper gestreckt und sclilägt nadi hinten mit den Beinen aus,
während der Knabe weit mit den Schenkeln ausgreift und den Ober-
kÖiper vorneigt, als wollte er den verfolgten Flüchtling' damit durch-
bohren. Sie arbeiten ja viel rait dem Wort Atavismus. Was meinen
Sie, könnte dieser seltsame Unterscliied im Rennen niclit atavistisdi
sein, ein Erbstück aus der Urzeit, wo der Mann die Frau jagie? Oder
ist es das Es, das der Ansicht ist, der Geschleditsangriff müsse von
hinten kommen und deshalb sei es gut, auszusdilagen ? So etwas ist
schwer zu entscheiden. Aber es bringt mich auf andre Unterschiede,
die spaßig zu sehen sind. So spielt der Knabe, wenn er auf dem
Erdboden baut, im Knieen, das Mädchen Hockt sich mit weit gespreizten
Beinen hin. Das Büblein fällt nach vorn, das winzige Jüngferlein nadi
hinten. Der sitzende i\i!ann sudit einen Gegenstand, der vom Tisdie
fällt, dadurch zu fangen, daß er die Knie schließt, die Frau reißt sie
auseinander. Der Mann naht in weit ausgreifenden seitlichen Bewe-
gungen, das Weib in zierlicher Rundung von unten nacli oben, genau
entsprechend ihren Begattungsbewegungen, und das Kind sticlit un-
wissend und gemäß der kindlichen Theorie vom Hineinstopfen in den
Mund von oben nach unten. -- Beiläufig, haben Sie sdion einmal die
Zusammenhäng:e des Nähens mit dem Onaniekomplexe beachtet?
Denken Sie darüber nach. Sie werden Nutzen davon haben, gleich-
gültig, ob Sie annehmen, daß das Nähen an die Onanie symboiiscii
erinnert oder ob Sie wie ich glauben, daß das Nahen aus der Onanie
entstanden ist. Und wenn Sie sclion einmal bei der Kleidung sind,
widmen Sie einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit dem herzförmigen
Ausschnitt des Maddiens und der Rose und Brosche, dem Halskettdien,
und den Rocken, die gewiß nicht getragen werden, um den Liebes-
akt zu erschweren, sondern zum Betonen, zum Auffordern. Die Mode
lehrt uns Neigungen ganzer Zeitalter kennen, von denen wir sonst
nichts wüßten. Vor langen Zeiten trug die Frau keine Unterhosen,
Mann und Weib hatten ihre Freude im raschen Genießen; dann schien
es lustiger zu sein, im Spiel sich aufzuregen und das Beinkleid wurde
erfunden, das mit seinem Sdilitz Geheimnisse nur halb verdeckte und
168
sdiließlich jetzt trägt jede gesdilossene, elegante Spitzenhöschen. Die
Spitzen, um zu locken, die geschlossene Öffnung-, um das Spiel zu
verlängern. Beaditen Sie aber auch den Hosenstall des Mannes, der
betont, wo das Pferddien zum Reiten steht; schauen Sie sie sich die
Frisuren an mit Scheitel und Locken: Alles sind Schöpfungen des Es,
des Es der Mode und des Es des Einzelwesens.
Doch zurück zu kleinen Eigentümlidikeiten von Mann und Frau.
Der Mann bückt sich, wenn er etwas aufheben will, die Frau hockt
sidi nieder. Der Mann trägt und hebt mit der Rückenmuskulatur, die^
Frau, im Symbol der Mutterschaft, mit dem Bauche. Der Uann wischt
den Mund nadi den Seiten, fort von sich, die Frau gebraucht die
Serviette so, daß sie von den Mundwinkeln nach der Mitte zu fährt,
sie will empfangen. Der Mann trompetet beim Nasenschnauben wie ein
Elefant, denn die Nase ist ein Symbol seines Gliedes und er ist stolz
darauf und will sich zeigen, die Frau benutzt das Taschentuch vor-
sjditig leise, ihr fehlt, was der Nase entspricht. Das Mädchen steckt
die Blume mit der Nadel fest, der Mann tragt sie im Knopfloch. Das
Mädchen hält den Blumenstrauß gegen die Brust gedrückt, der Knabe
trägt ihn mit herabhängendem Arm : er deutet an, daß die Mädchen-
blume nidits hat, was nadi oben strebt, kein Mann ist. Knaben und
Männer spucken, sie zeigen, daß sie Samenergüsse haben, Mädchen
weinen, denn das Überfließen der Augen symbolisiert ihren Orgasmus.
Oder wissen Sie nicht, daß Pupille Kindchen bedeutet, daß also das
Au<.e Symbol des Weibes ist, weil man sidi im Auge klem wieder-
crespiegelt sieht? Das Auge ist die Mutter, die Augen sind d.e Hoden,
denn auch in den Hoden sind die Kinderchen enthalten und der Strahl
der Leidenschaft, der aus den Augen springt, ist männliches Symbol.
Der Mann verbeugt sich, madit einen Diener, er sagt damit: dein
Anblick schon brachte mir die höchste Wonne, so daß ich ersdilaffe;
aber in wenigen Sekunden stehe ich wieder aufrecht, Begehren zu
neuer Lust erfüllt mich. Der Dame aber knicken die Kniee, sie deutet an:
da ich dich sehe, hört aller Widerstand auf. Das kleine Mädchen spielt mit
der Puppe, der Knabe braudvt es nicht, er trägt sein Püppchen am Leibe.
-169
Es giebt so viele Lebensgewohnheiten, die wir nicht beachten, so
viele, die beaditenswert sind. Was will der Mann sagen, wenn er den
Schnurrbart streicht? Die Nase ist das Symbol seines Gliedes, ich
sagte es schon, und das Zeigen des Schnurrbartes soll die Aufmerk-
samkeit darauf lenken, daß vor uns ein geschlecbtsreifer Mann sitzt,
der die Schamhaare besitzt; der Mund aber ist das Symbol des Weibes
und das Streichen des Schnurrbartes bedeutet deshalb auch, ich möchte
beim Weibchen spielen. Das glattrasierte Gesicht soll die Kindlichkeit
betonen, die Harmlosigkeit, da das Kind noch keine Geschleditsbaare
besitzt, zugleich aber soll es die Kraft bedeuten, da der Mensch als
emporgeriditetes Wesen der Phallus ist und der Kopf die haarlose
Eichel bei der Erektion versinnbildlicht. Vergessen Sie das nicht, wenn
Sie Kahlköpfe sehen oder wenn ihre Freundinnen über Haarausfall
klagen. Die Kraft des Mannes wird hiemit dargestellt oder das Kindsein,
das Neugeborensein. Wenn eine Frau sich setzt, zieht sie die Kleider
nadi unten; schau, was da für Füße sind, sagt die Bewegung, aber
ich gestatte nicht, daß du mehr siehst, denn ich bin schamhaft. Wenn
sie sich in Gegenwart eines andern hinlegt, kreuzt sie -- es gibt keine
Ausnahme davon - die Füße. „Ich weiß, daß du mich begehrst," heißt
das, „aber ich bin gegen den Angriff gewappnet. Versuch es nur."
All das ist doppeldeutig, ein Spiel, das anzieht, während es abschreckt,
anlockt, während es verbietet, ist die mimische Darstellung des selt-
samen „dodi nicht," mit dem das Mädchen die kosende Hand abwehrt.
Nidit! doch! Oder das Brilletragen: man will besser sehen, aber man will
nicht gesehen werden. Dort schläft einer mit offenem Munde, er ist bereit
zur Empfängnis, hier liegt ein andrer zusammengekrümmt wie ein Fötus.
Jener Alte geht mit kurzen Schritten, er will den Weg verlängern, der zum
Grabesziele führt, er schläft schlecht, denn seine Stunden sind gezählt und
er wird bald allzulange schlafen müssen, er wird weitsichtig, will nicht
sehen, was so nahe ist, das Totenschwarz der Lettern, den Faden, den
die Parze in kurzem zerschneiden wird. Die Frau fürchtet zu erkranken,
wenn sie während der Periode lange steht; die Blutung erinnert sie
daran, daß sie nichts hat, was stehen kann, daß ihr das Beste fehlt.
170
Sie tanzt nicht während dieser Zeit, es ist verboten, audi nur int
Symbol den Geschlechtsakt zu vollziehen.
Warum erzähle ich Ihnen das alles? Weil idi einer langen
Auseinandersetzung über den Apfel des Paradieses ausweichen will.
Aber einmal muß ich sie dodi ereben. Aber nein, erst kann ich noch
ein weni? von den Früditen erzählen. Da ist die Pflaume: sie birgt
den Kern, das Kind in sich und ihre leiditangedeutete Spaltung verrät
den Weibescharakter. Da ist die Himbeere: sieht sie nidit der Brust-
warze ähnlidi? Oder die Erdbeere; sie wächst tief verborgen zwischen
dem Grün des Grases, und Sie müssen sudien, ehe Sie dies holde
Geheimnis im Versteck des Weibes finden. Aber hüten Sie sid» vor
ihr. Die Wonne des Kitzlers frißt sldi immer tiefer in das Wesen des
Mensdien ein. wird heiß ersehnt und doch als Schuld geflohen und
dann entsteht die Nesselsucht, die symbolisch das Gefühl widerwärtig
und quälend verhundertfacht. Die Kirsdie ? Sie finden sie an den
Brüsten, aber aud» der Mann trägt sie an seinem Baum, wie denn
alle Symbole doppelgeschlechtlich sind. Und nun gar die Eidiel. Sie ist
wissenschaftlich gebilligt, obwohl sie dem Schwein so nahe verwandt
ist. dem Sdiwein, das viel Geheimnisse b sich birgt. Darf ich Ihnen
eins davon verraten? Die erziehende Mutter schilt ihr schmutziges
Kind Ferkelchen. Kann sie sich da wundern, wenn das Kind in Gedanken
antwortet: Bin idi ein Ferkel, so bist du das Schwein? Und in der Tat,
so hart es Ihnen klingen mag, das Schwein ist eins der gebräudilidisten
Muttersymbole. Das hat eine tiefe Bedeutung; denn das Sdvweln wird
geschlachtet, der Baudi wird ihm aufgeschnitten und es quiekt. Und
eine, vielleicht die häufigste Geburtstheorie des Kindes ist, daß der
Mutter der Bauch aufgeschnitten wird, um das Kind herauszuholen,
eine Theorie, die sich auf die Existenz der seltsamen Linie zwischen
Nabel und Schamteil gründet und durch den Gebm-tsschrei bestätigt
wird. Von der Assoziation Schwein— Mutter geht ein erstaunlicher Weg
in das Religiöse hinüber, wenigstens in Deutschland, wo beim Metzger
die Schweine im Sdiaufenster aufgehängt werden. Die Kreuzigung wird
damit symbolisch gebunden. Welche Laune des Es: Schwein ~ Mutter ~
171
Christus. Es ist manchmal zum Erschrecken. Wie die Mutter, wird auch
der Vater 2um Tier gemacht; er ist ein Ochse, seibstverständiich. Denn
statt dem Kinde in Liebe zu nahen, bleibt er unbewegt von dessen
Versuchungrskiinsten, muß also kastriert sein. Zum Scliluß darf ich die
Feige nicht vergessen, sie ist in allen Sprachen ein Sinnbild des weib-
lichen Geschlechtsteils. Und damit bin ich wieder l>ei der Paradiesessage.
Was mag es wohl bedeuten, daß das erste Menschenpaar sich
Schürzen aus Feigenblättern flocht, und weiter, warum machte die
Sitte der Jahrhunderte aus dieser Schürze ein einziges Feigenblatt? Id\
kann niciit in den Gedanken des Märchenerzählers der Bibel lesen; Über
das Feigenblatt, mit dem die nackte Natur bedeckt wird, wage ich ein
wenig; zu spotten. Fünf Zacken hat dieses Blatt, fünf Finger hat die
Hand. Es ist verständlich, daß mit der Hand verdeckt wird, was nicht
gesehen werden soll. Aber die Hand an den Geschlechtsteilen ? Dort,
wo sie nicht sein darf? Mir kommt es vor, wie ein Witz des Es; „Da
dir ein freies Leben im Eros nicht erlaubt ist, so tue, was die Natur
lehrt, benütze die Hand!"
Idi weiß, ich bin frivol. Aber endlich muß ich ernst werden. Sie
wissen, man nennt den vorspringenden Kehlteil des Mannes den
Adamsapfel. Die Idee dabei war wohl, daß dem Adam der Apfel in
der Kehle stecken blieb. Aber warum nur ihm, warum nicht Evan, die
doch auch von der Frucht aß? Sie schluckte die Frucht hinunter, damit
daraus eine neue Frucht würde, das Kind. Adam jedoch kann keine
Kinder kriegen.
Da stehen wir unversehens in dem Gewirr von Ideen, die das
Kind Über die Schwangerschaft und über die Geburt hat. Sie sind
freilich der Ansicht, daß ein braves Kind an den Storch glaubt, und
das tut es auch. Aber vergessen Sie nicht, daß das Kind auch an das
Christkind glaubt und doch gleichzeitig weiß, daß die Geschenke des
Christkinds von den Eltern im Laden und In der Straße gekauft werden.
Das Kind hat viel Glaubensfähigkeit und nichts hindert es, den Stordi
zu verehren und doch zu wissen, daß das Kind im Bauche der Mutter
wachst. Das weiß es, muß es wissen, denn es war vor zwei, drei
172
Jahren noch in diesem Bauche. "Wie aber kommt es da heraus und wie
kam es hinein ? Das sind Fragen, die uns alle mit schwankender, aber
allmähUch immer mehr wachsender Drin^liclikeit verfolgt haben. Als
eine der vielen Antworten fanden wir Alle ohne Ausnahme, da wir
Alle in der Kindheit weder Gebärmutter noch Sdieide kennen: Das
Kind wird aus der Öffnung geboren, aus der alles herauskommt, was
in dem Baudie ist, aus dem After. Und hinein ? Es gibt auch dafür
mehrere Erklärungen für das Kind. Am meisten neigt es zu der Annahme
daß der Keim zum Kinde verschluckt wird, wie die Müdi aus der
Brustwarze gesogen wird. Und aus dieser Betrachtung, aus diesem
immer wiederholten aufregenden Sidiselbstbefragen und Sichselbst-*
beantworten des Kindes entsteht der Wunsch, am Gliede des Geliebten
zu saugen, zu raudien, zu küssen, ein Wunsch, der doppelt dringend,
ist, weÜ in seiner Erfüllung die Mutterbrust und die Seligkeit der
Kindheit neu erwacht; daher stammt auch die Idee, den vorspringenden
Schildknorpel des Mannes Adamsapfel zu nennen. Und schließlich, um
auch das zu sagen, daraus entwickelt sich der Ansatz des Kropfs, der
Sie hei Ihrer Kleinen so erschreckt. Sie hatten als Backfisch auch solch
dicken Hals, glauben Sie mir. So etwas vergeht wieder. Nur bei denen.
deren Es ganz durchdrungen ist von der Idee der Empfängnis durch
den Mund'und von dem Abscheu, das Kind im Bauche auszutragen.
kommt es wirklich zum Kropf und zur Basedowschen Erkrankung.
Gott sei Dank, für heute bin idi fertig.
PATRIK.
20.
GEWISS, LIEBE FREUNDIN, ICH VERSPRECHE, DIE GESCHICHTE
von dem Federhalter und der Uhrkette heute zu Ende zu bringen.
Warum die Nase auf der rechten Seite verstopft war, muß ich
herauszubringen versuchen. Mein Es wünscht irgend etwas nicht zu
riechen oder einen Geruchseindruck aus der Nase wegzuspülen. Das ist
mein persönlicher Fall. Bei manchen Menschen trifft das mit dem Riechen
173
nicht zu; unter dem Druck der fanatisch g-ewordenen Krankheits-
verhütung, vor allem der Tuberkulose nang-st sind eine Meng-e Mensdien
auf die Idee gekommen, die Nase zunädist a!s Atmungsorgan aufzu-
fassen, da sie das Atmen durdi den Mund so viel wie Gott versuchen
dünkt. Für andre wieder ist die Nase ohne weiteres ein Phallus-
symbol und so muß bei diesen oder jenen die krank machende Absicht
des Es so oder so aufgefaßt werden. Ich aber muß, wenn irgend etwas
mit meiner Nase nidit stimmt, nact dem suchen, was idi nicht riechen
soll, und da der rechte Nasengang verstopft ist, muß rechts von mir
sein, was für midi Gestank ist. Wie sehr ich mir jedodi auch Mühe gebe,
mir will nicht gelingen, irgend etwas rechts von mir zu finden, was
stinkt. Aber ich bin durch jahrelanges Glaubenwollen an die' Absidit
des Es schlau geworden und habe allerlei spitzfindige Reditfertigungen
meiner Theorie erdadit. So sage ich mir jetzt: Wenn nidits da ist,
was schlecht riecht, so ist vielleicht etwas da, was dich an einen Ge-
stank der Vergangenheit erinnert. Sofort fällt mir eine Radierung von
Hans am Ende ein, die rechts von mir hängt und eine Uferlandschaft
mit Schilf und einem Segelboot im seichten Wasser darstellt. Venedig
steht plötzlich vor mir, obwohl ich weiß, daß der Radierer sein Sujet
von der Nordsee genommen hat, und von Venedig geht es zum Markus-
lowen und von dem zu einem Teelöffel, den idi vor wenigen Stunden
gebraucht hatte. Und auf einmal ist mir, als ob ich wüßte, welchen
Geruch ich fliehe. Als ich vor vielen Jahren nach einer schweren Lungen-
entzündung wassersüchtig wurde, war mein Geruchssinn so scharf ge-
worden, daß mir der Gebrauch von Löffeln unerträglidi war, weil idi
trotz sorgfältigster Reinigung roch, was vor Stunden oder Tagen da-
mit gegessen worden war. Also wäre das, was ich fliehe, selbst In der
Erinnerung noch fliehe, die Erkrankung, das Nierenleiden? In der
Tat, wenige Stunden vorher habe ich die Krankengeschichte eines jungen
Mädchens enträtselt, bei der ein stinkendes Nachtgeschirr vorkam. Aber
mir selbst ist der Geruch von Urin gleichgültig. Das kann es nicht sein,
wohl aber führt mich die Erinnerung in meine Schulzeit zurück, zu den
Massenpissoirs, die in der Schule eingerichtet waren und deren sdiarfer
174
Ammoniakgeruch mir noch deutlidi vorschwebt. Und diese Schulzeit,
der Gedanke daran, ist noch jetzt verstimmend. Ich erzählte Ihnen adion,
ich habe fast alles aus jenen Tagen vergessen. Aber ich weiß, daß ich
nodi damals — ich war schon 12—13 Jahre alt — die Gewohnheit des
Bettnässens hatte, daß ich midi vor dem Gespött der Mitsdiüler, das
übrig-ens fast nie und dann höchst milde eintrat, fürchtete. Es tauchen
Gedanken an leidenschaftliche Zuneigungen zu dem und jenem meiner
Freunde auf, Zuneigungen, deren genitaler Affekt verdrängt wurde und
sich doch in Phantasien Bahn brach; der Moment, wo ich die Onanie
kennen lernte, wird wach, ein Scharlachfieber, bei dem ich zum ersten-
mal nierenkrank wurde, kommt mir in den Sinn; daß Hans am Ende
mein Schulfreund war und daß er auch am Scharlach erkrankte, und
hinter dem aUen erhebt sich schattenhaft und immer deuÜicher die
Mutterimago. Idi war ein Mutterkind, ein verhätscheltes Nesthäkchen
und habe unter der Trennung von der Mutter durch die Sdiule schwer
gelitten.
Nun aber stecke ich fest Aber audi da hilft mir eine Erfahrung,
die idi bei dem Bestreben, meine Theorie vom Es zu retten, gemadit
habe: Dort, wo die Einfälle aufhören, ist die Lösung des Rätseis. Bei
der Mutter also. Das hätte ich mir denken können, denn alles, was
rechts ist, hängt mit meiner Mutter zusammen. Aber Ich besinne miA
nicht, so sehr ich auch herumdenke, je bei ihr einen abstoßenden
Geruch wahrgenommen zu haben, ja es verbinden sich mit .hr über-
haupt keine Gerudiserinnerungen.
Idi versuche es mit dem Namen Hans (Hans am Ende). So hieß
einer meiner älteren Brüder, der eng mit meinem Sdiulleben ver-
bunden war. Und plötzlich schiebt sidi vor den seinen ein andrer Name:
Lina Lina war meine Schwester, dieselbe, von der ich Ihnen erzählte.
Is ich von meinen sadistischen Liebhabereien beritJitete. Und da stammt
audi der Gerudiseindruck her; durchaus kein abstoßender, sondern ein
einwiegender, unvergeßlidier. Idi kann midi aus der damaligen Zeit
— wir waren 11 und 12 Jahre alt — nicht mehr auf die Aufregung
besinnen, aber idi bin noch einmal diesem Geruch begegnet und
175
seitdem weiß ich, wie überwältig-cnd der Eindrudc für mich ist. Gleich
anschließend daran kommt eine zweite Erinnerung-, daß Lina mich kurze
Zeit darauf in die Geheimnisse der Menstruation einweihte. Sie madite
mir weis, sie sei sdiwindsüditig-, zeigte mir das Blut und lachte mi(^
aus, als sie mein Erschrecken sah, und erklärte mir die Bedeutung- der
; Blutung-.
Als ich so weit war, verschwand die Verstopfung der Nase; was
ich jetzt noch hinzufüge, dient nur der Klärung der Zusammenhänge.
Zunächst fällt mir ein, was Hans am Ende bedeutet. Alle meine An-
gehörigen sind gestorben, als letzter mein Bruder Hans: Hans am Ende.
Mit diesem Bruder habe ich auch die einzige Segelfahrt meines Lebens
gemadit, was mit dem Segelboot auf am Endes Radierung zusammenfällt.
Dann hellt sich das Dunkel auf, das über den Beziehungen des
Komplexes zur Mutterimago liegt. Meine Mutter trug denselben Namen
wie meine Schwester: Lina. Damit wächst das Erstaunen, daß ich keine
Geruchserinnerungen an meine Mutter habe, während sie bei der Schwester
so stark sind, und ich beginne wieder allerlei Taschenspielerei mit Ideen.
Wenn sich zwei Hunde begegnen, beschnüffelt der eine des anderen
Hinterteil; offenbar erkunden sie so mit der Nase, ob sie einander
sympathisch sind oder nicht. Wer Humor hat, lacht Über diese Hunde-
gewohnheit, wie Sie es tun, und wem der Humor mangelt, der findet
es unappetitlich. Aber hält Ihr Humor auch an, wenn ich behaupte, daß
die Menschen es ebenso machen? Das werden Sie ja aus eigener Er-
fahrung wissen, daß ein Menscli, der stinkt, allerlei gute Eigenschaften
kaben kann, daß er aber im Grunde genommen unsympathisch ist;
wobei man allerdings nicht vergessen darf, daß, was dem Einen stinkt,
dem Andern wie Rosenduft vorkommt. Sie werden auch als scharf
aufmerkende Mutter beobachtet haben, daß das Kind Gegenstände und
Menschen nach dem Geruch beurteilt. Die Wissenschaft tut zwar so,
als ob der Mund und die Zunge als Probierstein für angenehm und
unangenehm benutzt würde, aber die Wissenschaft behauptet vieles
und wir braudien uns darum nicht zu kümmern. Ich behaupte, daß der
Mensch viel intensiver und, wenn Sie wollen, nodi viel unappetitlicher'
176
als der Hund seine Nase braucht, um festzustellen, was ilim paßt und
was nicht.
Zunächst ist der Geruch des weiblichen Schoßes und des Bluts,
das daraus fließt, eine der ersten Wahrnehmungen, die der Mensch
macht. Ich erwähnte das schon, um die Bedeutung der periodischen
Brunst klar zu madien. Dann kommt eine Zeit, wo die Nase des kleinen
Weltbürgers sich hauptsächlich mit dem Riechen des eigenen Urins und
Kots beschäftigt, was gelegentUch mit den Düften der Frauenmilch und
der mütterlichen Achselhaare abwechselt, während dauernd der intensive
durchdringende und unvergeßliche Duft des Wocitenfbsses einwirkt.
Die Mutter frischt während dieser Zeit nach der Geburt die eignen
Säuglingserianerungen auf, die ihr Gelegenheit geben, ihre Uebe zu
sich selbst auf den Säugüng zu Übertragen; die längst vergessenen
Genüsse von Windelgeruch werden wieder wach. Daneben atmet sie ein,
was an Gerüchen aus den Haaren und dem ganzen Körper des Kleinen
aufsteigt. Und das bleibt wohl so lange Zeit, denn das Kind ist klein
und die Mutter groß, so daß sie bei jedem Verkehr mit dem Kinde
zunächst sein Haar mit Sehen und Riechen wahrnimmt, eine Sache,
die nicht unwichtig ist, weil gerade um die Organe der Liebe solch
reichlicher Haarwuchs geheftet ist. Beim Kinde aber wechselt das
Terrain. In den ersten Jahren sind es die Füße und Beine, die es necht;
denn das Kind ist klein und die Erwachsenen sind groß. Behalten Sie
das im Gedächtnis. Uebe. daß das Kind zunäd^st die Beine der Menschen
kennen und lieben lernt; es ist wichtig, erklärt vieles und wird me
beachtet. Dann kommen Jahre, lange Jahre, und wenn S.e all d>e
flüchtigen Momente, die sich die Hunde beriechen, zusammen zahlen,
werden Sie noch längst nicht diq Zeitdauer erreichen, die Jahre, m
denen das Kind fast ununterbrochen riechen muß, was m der Bauch-
gegend der Erwachsenen vor sich geht. Und das gefällt ihm ausnehmend
gut. Und wird auch rührend gefunden; denn welcher gefühlvoUe
Schriftsteller ließe sich wohl den Knaben - oder den Mann - ent-
gehen, der seinen Kopf im Schöße der Mutter - oder der Geliebten -
birgt. Was. seiner Poesie entkleidet, so viel heißt als: er steckt seine
;2 Groddcck, Das Buch vom Es . 177
n
Nase zwischen ihre Beine. Das klingt roh, enträtselt aber die Ent-
stehung- der Kindesliebe und der Liebe zur Frau, Die Natur hat
wunderUche Wege, um den Menschen zum Weibe zu zwingen. Und
das ist der, der von allen begangen wird.
Was hat das mit der Tatsadie zu tun, werden Sie fragen, daß
idi keine Geruchserinnerungen an meine Mutter habe? Das ist einfadi
genug. Wenn das Kind wirklich durch die Größenverhältnisse dazu
gezwungen ist, lange Jahre hindurch bei der Mutter alle Vorgänge
der Leibesmitte mit der Nase mit zu erleben, so muß es auch die merk-
würdigen Geruchsveränderungen wahrnehmen, die alle vier Wochen
bei der Frau stattfinden. Es muß auch die Erregungen mitmachen,
denen die Mutter während der Zeit der Periode unterworfen ist. Die
Atmosphäre des Blutdunstes teilt sich Ihm mit und steigert seine Inzest-
wünsche. Allerlei innere Kämpfe entstehen aus diesen aufreizenden Ein-
drücken, allerlei dumpf empfundene, tief schmerzliche Enttäusciiungen
knüpfen sich daran und verstärken sich durdi das Leid, das aus den
Launen, der Verstimmung, den Migränen der Mutter entsteht. Ist es
ein Wunder, daß ich den Ausweg der Verdrängung eingeschlagen habe?
Leuchtet Ihnen ein, was icli sage? Aber bedenken Sie dodi, daß
es Menschen gibt, die behaupten, sie hätten nichts von der Periode
gewußt, ehe sie erwachsen waren. Wenn ich mich nicht täusdie, sind
es viele Menschen, oder sind es gar alle? Wo haben sie doch alle
ihre Nasen gelassen? und was ist es denn mit dem Gedächtnis des
Menschen für eine Sache, wenn er soldie Erlebnisse vergißt, vergessen
muß? Da wundert man sich darüber, daß der Mensch so geringen
Spürsinn hat; aber was sollte wohl aus ihm werden, wenn er nicht mit
aller Kraft seines Unbewußten die Nase abstumpfte? Dazu zwingt ihn
das Verbot der Erwadisenen, irgend etwas über Sexualereignisse zu
wissen, dazu zwingt ihn die prüde Scham haftigkeit der Mutter, die ver-
legen wird, wenn das Kind wißbegierig fragt ; denn nichts ist beschämender,
als 2u sehen, daß der geliebte Mensch sidi dessen sdiämt, was man
selbst unbefangen bespricht. Es braudien nicht immer Worte zu sein,
von denen Kinder eingeschüchtert werden, unwillkürliche Bewegungen,
178
leiclite, kaum merkbare Gebärden und Verlegenheiten wirken mitunter
viel tiefer. Aber wie sollte eine Mutter dieses Verlegenaussehen ver-
meiden? Es ist die Bestimmung der Mutter, ihr eignes Kind in
den tiefsten Empfindungen zu verletzen, es Ist ihr Schicksal. Und
daran ändert kein guter Wille, kein Vorsatz auch nur das Ge-
ringste. Ach, liebe Freundin, es gibt so viel Tragik im Leben, die
des Dichters harrt, der sie gestalten kann. Und vielleicht kommt dieser
Dichter nie.
Man vergißt, was schwer zu ertragen ist, und was man nicht ver-
gißt, war für uns nicht zu schwer. Das ist ein Satz, dessen Inhalt Sie
wciil überlegen sollten, denn er wirft vieles von dem um, was gang
und gäbe bei den Menschen ist. Wir vergessen, daß wir einmal im
Mutterleibe saßen, denn es ist schrecklich zu denken, daß wir aus dem
Paradiese vertrieben wurden, aber auch sdirecklich, daß wir einmal in
der Finsternis eines Grabes waren; wir vergessen, wie wir zur Welt
kamen, denn die Angst des Erstickens war unerträghch. Wir vergessen,
daß wir einmal laufen lernten, denn der Moment, in dem uns die Hand
der Mutter losließ, war furchtbar und die Seligkeit dieser ersten selb-
ständigen Leistung so überwältigend, daß wir sie nicht in der Erinnerung
bewahren können. Wie sollten wir es ertragen, zu wissen, daß wir
Jahre lang in Windeln und Hosen machten? Denken Sie daran, wie
Sie sidi schämen, wenn Sie ein braunes Fleckchen in ihrer Wasche
finden, denken Sie an das Entsetzen, daß Sie befallt, wenn Sie auf
der Straße nicht mehr zurücithalten können, was in den Abtritt gehört.
Und was sollen wir mit der Erinnerung, daß es Menschen gab, die so
entsetzlich stark waren, daß sie uns in die Luft werfen konnten? Die
uns schalten, ohne daß wir wieder sdieiten durften, die uns Klapse
gaben und in die Ecke stellten, uns, die wir Geheimräte, Doktoren oder
gar Tertianer sind? Wir können es nicht ertragen, daß dieses Wesen,
das sich Mutter nennt, eines Tages uns die Brust verweigerte, dieser
Mensch, der behauptet, uns zu lieben; der uns die Onanie lehrte und
uns dann dafiir bestrafte. Und ach, wir würden uns zu Tode weinen,
wenn wir uns erinnerten, daß es einmal eine Mutter gab, die für uns
12* 179
sorgi:e und mit uns fühlte, und daß wir nun einsam sind und keine
Mutter haben. Durch eigne Schuld!
Daß wir unsre Kenntnis der Menstruation, von der uns unser
Geruchssinn in frühster Kindheit unterrichtet hat, wenn es nicht audi
das Sehen des Bluts, der Binden, des Nachtgeschirrs, das Miterleben
von Zwistigkeiten, Migräne, frauenärztliclier Behandlung tat, daß wir
diese Kenntnis völlig vergessen, ist nicht wunderbarer, als daß wir
auch alle Eriniieruno- an die Onanie verlieren, die Onanie der ersten
Lebensjahre. Und mindestens ein Grund ist g'emeinsan für diese beiden
Lücken in unserem Gedächtnis, die Angst vor der Kastration. Sie be-
sinnen sich, daß ich behauptete, unsre Kastrationsangst hänge mit dem
Schuldbewußtsein zusammen, das aus der Onanie und dem Verbot
entsteht. Der Gedanke aber, daß Geschlechtsteile abgeschnitten werden
können, stammt aus der Feststellung früher Jahre über die Gesdvlechts-
unterschiede, weil wir als Kinder den weiblichen Geschlechtsteil als
Kastrationswundc auffassen; das Weib ist ein kastrierter Mann. Diese
Idee wird zur Gewißheit durch die Wahrnehmung der Blutungen, die
wir riechen. Die Blutungen erschrecken uns, weil sie die Befürchtung
wecken, daß wü- selbst zum Weibe gemacht werden könnten. Um nicht
an diese Blutungen erinnert zu werden, müssen wir unsern Geruchs-
sinn abtoten und auch die Erinnerung an den Blutgerudi vertilgen.
Das gelingt nicht; was wir erreichen, ist nur die Verdrängung, Und diese
Verdrängung benützt das Leben, um das Verbot des Gesclilechts-
verkehrs während der Periode aufzuhauen. Da das blutende Weib den
verdrängten Kastrationskomplex aufweckt, vermeiden wir die neue Be-
rührung der wunden Frau.
Hier spielt ein zweiter verdrängter Komplex mit hinein, der eben-
falls mit dem Gerudissinn verquickt ist, der Sdiwangersdiafts- und
Geburtsk om plex .
Besinnen Sie sich, daß ich Sie einmal gefragt habe, ob Sie nie etwas
von den Schwangerschaften und Entbindungen Ihrer Mutter gemerkt
hätten? Sie hatten eben einen WÖdinerlnnenbesucli bei Ihrer Sdiwä-
gerin Lisbeth gemadit und der eigentümlidie Geruch des Wodienbetts
180
*
i
haftete noch au Ihnen. Nein, sagien Sie, niemals. Seihst von dem
jüngsten Bruder sind Sie überrascht worden, obwohl Sie mit Ihren
15 Jahren längst aufgeklärt waren. Wie ist es möglidi, daß ein Kind
nidit sieht, daß die Mutter dick wird? Wie ist es möglich, daß ein
Kind an den Storch glaubt?
Es ist beides nicht möglich. Die Kinder wissen, daß sie aus
dem Bauche der Mutter stammen, aber sie werden von sich aus und
von den Erwachsenen aus gezwungen, an die Fabel des Storches zu
glauben; die Kinder sehen, daß die Mutter dick wird, daß sie plötzlich
Bauchweh bekommt, ein Kindchen zur Welt bringt, blutet und beim
Aufstehen dÜnn ist; die Kinder wissen es jedesmal, wenn die Mutter
sdiwanger ist, und sie werden niemals von der Geburt überrascht.
Aber all dieses Wissen und Wahrnehmen wird verdrängt.
Wenn Sie bedenken, welche Kraft verwendet werden muß, um all
diese Wahrnehmungen und die daraus gefolgerten Schlüsse bei Seite
zu schieben, so wird Ihnen vielleicht ein wenig deutlicher werden, was
ich mit der Behauptung meine, daß das Verdränä;en die hauptsächliche
Besdiäftigung- des Lebens ist. Denn was ich hier an dem Beispiel der
Schwangerschaft und Geburt erläutere, geschieht in jeder Minute des
Lebens mit andern Komplexen. Sie können kein Zimmer betreten, ohne
den Mechanismus des Verdrangens in Bewegung zu setzen, ohne so
und so viele Wahrnehmungen von Möbeln, Nippes, Farben, Formen
aus dem Bewußtsein fern zu halten, Sie können keinen Buchstaben
lesen, kein Gesidit ansehen, kein Gespräch anhören, ohne fortwährend
zu verdrängen, ohne Erinnerungen, Phantasien, Symbole, Affekte, Haß,
Liebe, Verachtung, Scham und Rührung fortzuschieben. Und nun, Liebe,
denken Sie daran : was verdrängt wird, ist nicht vernichtet, es bleibt
da, ist nur in eine Ecke geschoben, aus der es eines Tages wieder
hervorkommt, ist vielleicht nur aus seiner Lage gebracht, so daß es
nidit mehr, vom Sonnenlicht beleuchtet, rot glänzt, sondern schwarz zu
sein scheint. Das Verdrängen wirkt und verändert unablässig an den Er-
scheinungen; was jetzt für den Augen h inte rgrund ein Gemälde von
Rembrandt ist, wird verdrängt und erscheint im selben Augenblick als
181
Spiel an der Uhrkette wieder, als Bläschen am Mundwinkel, als Abhandlung-
über die Kastration, als Staatengründung-, Liebeserklärung-, Zank
Müdigkeit, plötzlicher Hunger, Umarmung- oder Tintenklecks. Verdrängen
ist Umschaffen, ist kulturbauend und kulturvernichtend, erdichtet die
Bibel und das Märchen vom Storch. Und der Blick in die Geheim-
nisse des Verdrängens verwirrt das Denken so, daß man die Augen
schließen und vergessen muß, daß es Verdrängungen gibt.
, PATRIK TROLL.
2L
SIE BESCHWEREN SICH. LIEBE FREUNDIN, DASS ICH MEIN
Versprechen nidit gehalten habe, daß idi noch immer nidit mit meiner
Uhrkettengesdiidite fertig bin. Idi hätte nldit geglaubt, daß Sie so
dumm sind, an meine Versprechungen zu glauben.
Viel eher sind Sie zu dem Vorwurf berechtigt, daß ich abschweife,
nidit zu Ende sage, was ich angefangen habe. Idi sprach von dem
Verdrängen von Geruchsempfindungen bei der Geburt und habe weder
ausgeführt, daß der sdiarfe Geruch des Wodienflusses, wenn sonst
auch alles sorgfältig versteckt wird, vom Kinde wahrgenommen werden
muß, daß es also mittels der Nase unbedingt Geburtserfahrungen
sammelt, noch habe ich deutlich genug gesagt, warum man die Wahr-
nehmung dieses Geruches aus der bewußten Erinnerung tilgt.
Warum geschieht es ? Zunächst, weil die Mutter, die Eltern, die
Erwachsenen dem Kinde verbieten, dergleichen Dinge zu verstehen;
vielleidit verbieten sie es nicht ausdrücklich mit Worten, aber schon
mit dem Tonfall des Wortes, der Klangfarbe, irgend einer seltsamen,
dem Kinde auffallenden Verlegenheit. Denn es ist nun einmal Schicksal
des Menschen, daß er sich schämt, mensdilich gezeugt und geboren
zu sein. Er fühlt sich durch diese Tatsache in seiner Eitelkeit bedroht,
m seiner Gottähnlichkeit. Er mächte so gerne göttlich gezeugt sein,
Gott sein, — letzten Endes, weil er im Mutterleibe allmäditiger Gott
war; er erfindet die Gotteskindschaft auf religiösem Wege, ersinnt
sich einen Gottvater und steigert seine Inzestverdrängung, bis er im
182
Glauben an die Jungfrau Maria und die unbefleckte Empfängnis oder irgend
welcher Wissenschaft Trost gefunden hat. Er neont veräditlidi Zeugung
und Empfängnis tierische Akte, um sagen zu können, ich bin kein Tier, habe
keine tierische Formen, bin also Gottes Kind und göttlich gezeugt; da das
nicht gelingt, umgibt er diese Vorgänge mit dem Scheinheiligen sdiein
des Mysteriums, zu dessen Konstruktion er wie ein Judas seine Liebe
verraten muß. Ja er hat es soweit gebradit, daß er sidi nicht einmal
schämt, den Augenblick der menschlichen Vereinigung mit übet-
stimmender Lüge zu umgeben, ^als ob dieser Augenblick nicht der
Himmel sei. Alles möchte der Mensch sein, nur nicht einfach Mensch.
Das zweite, dessentwegen wir den Geruchskomplex des Wochen-
betts verdrängen und so unsere eigentlidi menschliche Zierde, 'die
Nase, verleugnen — denn was uns vom Tier unterscheidet, ist in
erster und letzter Linie die Nase, — das zweite ist, daß wir den
Gedanken nicht ertragen, eine Mutter zu haben. Oh, Sie müssen ver-
stehen: wenn sie uns paßt, so lange sie so ist, wie wir wollen, er-
kennen wir sie wohl als Mutler an. Aber sobald wir daran erinnert
werden, daß sie uns geboren hat, hassen wir sie. Wir wollen nicht
wissen, daß sie für uns gelitten hat, es ist unerträglich das zu wissen.
Oder sahen Sie nie das Entsetzen, die Qual Ihrer Kinder, wenn Sie
traun- waren oder gar weinten? Gewiß, mir ist bekannt, daß meine
Mutter mi<h gebar, ich spreche davon, als ob es die natürlidiste Sache
der Welt wäre. Aber mein Herz erkennt es nicht an, es schreit da-
gegen und sagt nein. Wie ein Stein wälzt es sid. zuweUen auf unsre
Brust. Das ist die unbewußte Erinnerung an das Ringen nach Atem
während der Geburt, sagt unser analytisches Alles- und Nichtswissen.
„Nein", flüstert der bÖse Geist, „das sind deine Sünden wider die
Mutter, die dich gebar, die Todsünden des Undanks, der Blutschande,
des Blutvergießens, des Mords. Tatest du je, was du sollst, auf daß
dirs wohl ergehe und du lange lebest auf Erden?" Diese Hand
streichelte mich und reichte mir Essen und Trinken und ich habe sie
zuweilen gehaßt, oft gehaßt, denn sie leitete mich; diese Haut wärmte
mich, und idi habe sie gehaßt, weil ich zu schwach war, auf ihre
183
/
Wärme und lockende V/eiche freiwillig zu verziditen, und weil ich des-
halb wider hessres Wissen allerlei Runzeln und allerlei Ekel ihr an-
diditete, um der Versuchung zu entfliehen, id, Judas. Dieser Mund
lächelte mir und sprach, und ich haßte ihn oft, weil er midi schalt,
diese Aus-en lächelten mir und sprachen, und ich habe sie gehaßt,'
diese Brüste nährten midi und idi habe sie mit den Zähnen o-epackt|
in diesem Leib wohnte idi und ich habe ihn zerrissen. Muttermörder!
Sie wissen es, fühlen es wie ich: es hat noch nie einen Mensdien gegeben,
der seine Mutter nidit gemordet hät|e. Und deshalb erkennen wir es'
nidit an, daß die Mutter uns geboren hat. Mit den Lippen glauben
wir es, aber nicht mit dem Herzen. Das Blut, das wir vergossen,
schreit gen Himmel, und wir fliehen davor, vor dem Dunst des Bluts.
Mir fällt nodi ein drittes ein, weshalb wir von den Erinnerungen
an das Wodienbett fortstreben und lieber unsren vornehmsten Sinn,
den Geruchssinn, vernichten, das ist die Angst der Kastration. — Ich
weiß, das langweilt Sie. aber was soll idi madien? Da Sie durdiaus
erfahren wollen, was idi denke, muß idi mid, wiederholen. Denn die
Kastrationsidee geht durdi unser Leben wie die Sprechlaute. Wie das
a und das b beim Spredien sidi immer wiederholen, so taudit aud,
überall dieser Komplex des Weibwerdens in uns auf. Und setzen Sie
a und b zusammen, so haben Sie „ab" und ladien hoffentlidi wie idi
über die Assoziationswitze des Unbewußten.
Aber es ist Zeit, daß idi meine Mitteilungen über die Geburts-
theorien des Kindes ein wenig vervollständige, sonst kommen wir nie
aus diesem Wirrwarr heraus. Idi sagte Ihnen sdion, das Kind weiß,
daß man im Baudie der Mutter lebt, ehe' man zur Welt kommt, je
junger es ist, um so besser weiß es das. Und daß es nidit vergessen
wird, dafür sorgt unter andrem die Bibel mit den Worten: Und das
Kind hüpfte in ihrem Leibe. Mitunter wird die Steile, an der das Un-
geborene seinen Wohnsitz hat, ganz genau lokalisiert, in der Herz-
grube, daß heißt im Magen. Und das hängt wohl mit unsrer Rede-
weise zusammen, daß die Frau das Kind unter dem Herzen trägt.
Erzählen Sie das gelegentlidi Ihrem Arzte; es kann ihm nutzHdi sein
184
für Erkenntnis und Behandlung-, vor allem bei Magenbesdiwerden,
von der Übelkeit an bis zum Mag^enkrebs; und für Sie ist es auch
nützlidi, um ihren Arzt kennen zu lernen. Geht er mit einem Achsel-
zucken darüber hinweg, so suchen Sie sidi einen andern; denn der
Ihre ist altmodisch, wenn er audi sehr tüditig- ist. Ich weiß, nidits ist
Ihnen unangenehmer, als hinter der Mode zurück zu bleiben. - Mit-
unter taucht auch die Idee auf, daß die Schwang-erschaft im Herzen
selbst stattfindet; idi erzählte Ihnen von solch einem Fall, wo dieser
Gedanke zu einer Krankheit führte und bis zur Zeit der Analyse
herrschend blieb. Leute, die dergleichen in ihrer Kindheit glaubten,
sind schlimm daran. Denn mit dieser absurden Idee, die von den
Worten der Liebe: „Ich trag-e dich im Herzen", und „du mein Herzens-
kind" herkommt, verbindet sich das dunkel furchtbare Bewußtsein,
daß man der Mutter Herz zerrissen hat, in Wahrheit, in Wahrlieit.
Und auch das sollte Ihr Arzt wissen — für seine Herzkranken. Um
die g-anze Narrheit der Kinder aufzudecken, will icli noch hinzufügen,
was idi von Augenkranken weiß, daß die Idee der Augensdiwanger-
sdiaft existiert - denken Sie nur an das Wort Pupille — und das
kommt daher, weil die Mutter ihr Kind zuweilen Augapfel nennt.
Oder kommt die Bezeichnung' Augapfel daher, weil die Theorie all-
gemein ist und sich in der Spräche festgesetzt hat? Ich weiß es nicht.
Genug, die leitende Idee ist jedenfalls die von der Bauchschwanger-
schaft. Und wenn ich von den Phantasien über das Platzen und Auf-
schneiden des Baudies, über die Nabelgeburt und über die durch Er-
brechen absehe, bleibt für das Kind die Ansicht übrig, daß die Kleinem
durch den After ans Tageslicht kommen. Idi erzählte es Ihnen schon,
aber Sie müssen es sich tief ins Gedächtnis einprägen ; denn auf
dieser Theorie beruhen alle Verstopfungen, darauf beruht aber auch
aller Sparsamkeitssinn und also Handel und Wandel und Eigentums-
begj-iff, darauf beruht zu guter Letzt Ordnungssinn ■ ja und vieles
andre auch noch. Sie müssen nicht lachen, Liebe, wenn ich so etwas
sage. Es Idingt mir selber ungeheuerlich, sobald idi es ausspreche, und
doch ist es wahr. Das Es kümmert sich eben gar nicht um unsre
185
. 1
Ästhetik, unsern Verstand und unser Denken. Es denkt selbständig,
EsBrtig und spielt mit den Begriffen, so daß alle Vernunft toll wird.
„Für mich," sagt es, „ist ein Kind dasselbe, wie die Wurst, die du
Menschenkind machst, und ist dasselbe, wie das Geld, das du besitzest;
ja und das habe idi noch vergessen, es ist audi dasselbe, wie das
Schwänzchen, das den Jungen vom Mädchen auszeichnet und das ich
aus Laune und weils mir beliebte, vorn statt hinten angebradit habe.
Hinten lasse ich es alle vierundzwanzig Stunden einmal abfallen,
kastriere es, vorn lasse ich es denen, die ich als homines, Menschen
anerkenne, den andern Menschen nehme ich es ab, zwinge sie dazu, es
abzureiben, abzuschneiden, auszureißen. Denn ich brauche auch Maddien."
Das alles habe ich schon öfter erzählt. Doppelt halt jedodi besser.
Nun wollen wir sehen, was das Kind über die Empfängnis denkt.
Zunächst müssen wir uns aber klar darüber werden, wie es
Gelegenheit und Zeit zum Nachdenken findet. Die Außenwelt bietet
so viel des Interessanten für ein Kindergehirn, daß schon irgendein
Zwang zum Stillsein angewendet werden muß, um alle Eindrücke zu
verarbeiten. Und da darf ich Sie wohl an das Thrönchen erinnern,
von dem aus das Haus regiert wird, sobald es in seinen Mauern ein
Kinddien birgt. Ich wundre mich schon lange, daß nodi Niemand seine
Gelehrsamkeit dazu verwendet hat, die Bedeutung des Topfchens zu
untersuche» und doppelt unbegreiflich ist es, seitdem Busch in klassischen
Versen darauf aufmerksam o-emacht hat:
Der Mensch in seinem dunkeln Drang
Erfindet das Appartement.
In der Tat, Sie können sich die Bedeutung dieses Gefäßes, das
sidi während des ganzen Lebens den Größenverhältnissen des Körpers
und in der freiwilligen Zeitdauer der Verwendung dem Wunsche nach
tiefer Gedankeneinsamkeit anpaßt, nicht groß genug vorstellen. Da
ist zunächst der tägHdie Festakt der ersten Lebensjahre.
Ich kann es nidit zählen, wie oft idi aus freien Stüdcen oder
irgendwie gezwungen zugesehen habe, wie ganze Familien, gestrenge
Väter, sittsame Frauen und artige Kinder, der Entbindung des Kleinsten
186
f
von seiner Leibesbürde beigewohnt haben, in stummer Andadit, die
nur zuweilen von Dem oder jenem durch ein midinendes: Mach mh,
mh, unterbrodien wurde. Und wenn Ich nicht irre, war es Ihre kleine
Margarete, die es so einzurichten wußte, daß sie jedesmal Nöte bekam,
wenn Besuch da war. Wie geschickt verstand sie dann, durch hart-
näckiges, stilles Verweigern der Leistung alles, was Hosen oder Röcke
trug, um sich zu vereinigen, um dann schließlich durdi ein graziöses
Lüften des Hemdes zu zeigen, weldi geheimnisvolle Schätze bei ihr
schlummerten, wobei sie dann nicht verfehlte, nach Scliluß der Affäre
durch ein gefälliges Präsentieren auf die Kehrseite aufmerksam zu
matten.
Solth Verfahren ist häufig, ist bei den Kindern Regel. Und weil
wir doch einmal für Dinge, die wir aus Schi cklichkeitsgrün den nicht
gern als Allgemeingut anerkennen, gelehrte Namen erfinden, um so
tun zu können, als ob es sidi um krankhafte Neigungen handle, denen
wir selbst mitleidsvoll schaudernd fern stehen, haben wir diesen Trieb,
unsre sexuellen Geheimnisse zur Sdhau zu tragen, Exhibitionismus
genannt. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber nun hat Medizin, Juristerei,
Theologie und leider auch die züchtige Dirne Gesellschaft beschlossen,
es müsse Leute geben, die Exhibitionisten seien. Das heißt, Leute, bei
denen die Neigung, ihre Sexualität zur Schau zu tragen, ins Krank-
hafte gesteigert sei. Gestatten Sie, daß ich mich dagegen wehre. In
Wahrheit ist es mit dem Exhibitonisten dieselbe Sache, wie mit all
den anderen mit den Endsilben „isten" etikettierten Menschen, mit
den Sadisten, Masochisten, Fetischisten. Sie sind im Wesen nicht anders
wie wir, die wir uns gesund nennen, der einzige Unterschied ist, daß
wir nur da unsre Triebe, unsern „Ismus", unsern Exhibitionismus zum
Vorschein kommen lassen, wo es die Mode erlaubt, während der
„ist" unmodern ist.
Vor einig'cn Jahren Hef ein Mann hier morgens um 6 von Haus
zu Haus, klingelte und, wenn das Dienstmädchen die Türe öffnete,
scJilug er einen langen Kaisermante! zurück, der sein einziges Kleidungs-
stück war und präsentierte dem erschrockenen Mädchen sein erigiertes
187
Glied, an das er zur besseren Wahrnehmung eine Laterne gebunden
hatte. Das nannte man krankhaft, das nannte man Exhibitionismus.
Aber warum nennt man nicht auch die Balltoilette so, die doch g-enuff
zeiget, und das Tanzen, das doch g-an2 gewiss eine Schaustellung des
Beischlafs oder zum mindesten der Erotik ist? Freilich g-ibt es fanatisdie
Keuschheitspharisäer, die behaupten, man tanze nur der Bewegung
halber. Ich darf wohl auf diese einseitige, übertreibende Rettung der
Moral mit einem ebenso einseitig übertreibenden Angriff auf die Moral
antworten und sagen ; die Bewegung — mag es Tanzen, Gehen oder
Fechten sein ■ sei der Erotik wegen da. Heutzutage trägt man
leidlich weite Beinkleider, aber ein paar Jahrzehnte früher konnte man
sie niciit eng gfinug tragen, so daß sich die Gestalt der männlichen
Geschlechtsabzeidien schon von weitem abschätzen ließ und die Lands-
knechte der Reformationszeit hatten den Hodensack in ziemlichen
Dimensionen vorn an der Kleidung markiert und darüber nähten sie
einen Hoizstock und überzogen seine Spitze mit rotem Tudi. Und
heutigen Tages? Der Spazierstock und die Zigarette sprechen deutlich.
Sehen Sie sich an, wie der Anfänger im Rauclien verfährt, wie er das
Zigarettchen rasch hintereinander in den Mund ein und aus führt.
Beachten Sie, wie eine Frau in den Wagen steigt und sprechen Sie
dann noi^ vom Krankhaften des Exhibitionismus. Frauen häkeln, es
ist Exhibition, Männer reiten, es ist Exhibition; die Liebende steckt
ihre Hand in die Armkrümmung des Geliebten, es ist Exhibition, die
Braut trägt den Brautkranz und Schleier, es ist Exhibition der kommendeo
Hochzeitsnacht.
Sie haben wohl selbst bemerkt, wie nahe verwandt für midi
Exhibitionstrieb und Symbolisierungszwang ist, denn das Häkeln, die
Handarbeit eine Exhibition zu nennen, fühle ich mich berechtigt, weil
die Nadel, das Glied, in die Masche, das Locli geführt wird, das
Reiten ist eine, weil die Identifikation von Pferd und Weib tief im
Unbewußten alles Denkens steckt; und daß der Brautkranz die Scheide,
der Sdileier das Jungfernhäutdien bedeutet, brauche ich nicht erst
zu sagen.
188
Der Sinn dieses Zwisdiensdiiebsels vom Exhibitionismus ist ihnen
wohl klar. Ich wollte damit sagen, daß kein prinzipieller Unterschied
zwischen g-esund und krank existiert, daß es in das Belieben jedes Arztes
und jedes Kranken gestellt ist, was er krankhaft nennen will. Das ist für
den Arzt eine notwendige Einsicht. Sonst verliert er sich auf den un-
wegsamen Pfaden des Heilenwollens, und das ist, da doch letzten
Endes das Es heilt, der Arzt aber nur behandelt, ein verhänirnisvoiler
Irrtum. Wir können uns ja darüber geiegentlidi unterhalten. Heut liegt
mir etwas anderes am Herzen.
Es gibt eine Art Gegenstück zum Exhibitionismus: das Voyeur-
tum. Man versteht darunter, wie es scheint, den Trieb, sich den Anblick
von irgendwelchen sexuellen Dingen zu verschaffen. Und auch diesem
Triebe hat man die Ehre angetan, ihn sich bei den sogenannten
Voyeurs bis ins Krankhafte gesteigert zu denken. Das ist, wie gesagt,
Gesdimacksadie. Ich habe nicht viel für Leute übrig, die an der Erotik
vorübergehen, und glaube nicht an die Echtheit der Bewegung,
mit der die Pensionatsvorsteherin den aufgespannten Sonnenschirm
gegen das Flußbad des Gymnasiums dreht. Sicher ist, daß diese
beiden Triebe: zu zeigen und zu sehen, eine große Breite im mensdi-
lichen Dasein haben und auf Mensdiiiches und Ailzumenschliches
einwirken.
Denken Sie sich diese beiden Triebe, die so pervers sind, aus
dem Leben der Menschheit weg, was würde dann wohl sein? Wo
bliebe die Dichtung mit Theater und dem Hochziehen des Vorhangs,
die Kirche mit ihren Hodizeiten, die Gärten mit ihren Blumen und das
Haus mit dem Schmuck der M5bel und Bilder? Glauben Sie mir,
manchmal weiß ich nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Und wenn
ich in dieser Verfassung bin, werden meine Augen schärfer und ich
gebe midi nach und nach mit der Einsicht zufrieden, daß diese Dinge
für mich interessant sind und Stoff für Ihre Unterhaltung bieten.
PATRIK TROLL.
189
22.
DANK, LIEBE FREUNDIN, DIESMAL HABEN SIE SICH RASCH
in die Sache gefunden. Die Geschichte von klein Else, die im Hemdchen
in Ihre Abend creseilschaft kommt, um Gute Nacht zu sagen und auf
die Worte der Mutter: „Schäm dich doch Eise, im Hemd kommt man
nicht, wenn Besuch da ist," prompt dieses letzte Kleidungsstück hoch-
hebt, um sich 2u schämen, paßt gut in unsre gemeinsame Sammlung,
und Ernst, der in das Rückchen seiner Schwester ein Loch geschnitten
hat, damit er immer sehen kann, wie „sie" da unten aussieht, illustriert
trefflich die Gewohnheit der Bühnen, im Vorhang ein Guclclocli anzu-
bringen. Vielleicht führt Sie das darauf, warum ich das Theater mit
Exhibition und Voyeurtum zusammenbrachte. Der Akt ist eben wirklich
ein Akt, ein symbolischer Gesdilechtsakt.
Da haben Sie auch gleichzeitig meine Antwort auf unsern Streit-
punkt der multiplen Perversion des Kindes. Ich bleibe bei meiner Be-
hauptung, daß diese multiple Perversion eine allgemeine Eigenschaft
aller Menschen, aller Altersklassen ist und lasse mich darin nicht einmal
durd» Sie irre machen. Die beiden Perversionen. Exhibitionismus und
Voyeurtum, sind gewiß bei jedem Kinde zu finden, da ist kein Zweifel.
Und ich verkenne durchaus nicht die Bedeutung d-r Tatsache, daß die
Kinder bis zu drei Jahren solche Perversionen mit besondrer Vorliebe
betreiben; ich werde darauf zurückkommen, wie ich Ihnen denn über-
haupt ein eindringliches Wort darüber sagen muß, daß die Natur die
unerinnerbaren drei ersten Jahre benützt, um das Kind zum Liebes-
sklaven und Liebeskünstler auszubilden. Aber was dem Kinde recht
ist, ist dem Erwachsenen billig. Es läßt sicli doch nicht bestreiten, daß
der Liebende die Geliebte gern nackt sieht und daß sie sich nicht
ungern nackt zeigt, ja daß es ein nicht mißzuverstehendes Zeichen der
Erkrankung ist, wenn sie das nicht gern tut. Und ich brauche Ihnen
nicht erst zu sagen, daß das Töpfclien dabei keine geringe Rolle spielt.
Aber ist es nicht spaßhaft, daß die Gelehrten, die Richter, die Damen,
am Tage, im Ernst des Tages ganz vergessen, was sie des Nachts
getan haben? Und selbst Unsereinem, der sich einbildet, vorurteilslos
190
~r
zu sein, geht es so. Der Satz: „Worüber du sdiiltst, das tust du
selbst" ist eben eine Wahrheit, bis in die kleinsten Kleinlg'keiten eine
Wahrheit. Wir Menschen handeln alle nach dem Prinzip dessen, der
westohlen hat und nun zuerst und am lautesten sdireit: „Haltet den
Dieb !"
Übrigens beschränkt sich die Perversion nicht auf den Gesiciitssinn.
Es klingt verrückt, wenn ich von einer Gehörs- und Gerudisexhibition
spreche, von einem Voyeurtum des Fühlens und Schmeckeps, bezeichnet
aber etwas Tatsachlidies und Wesentliches. Nicht nur der Knabe pinkelt
mit hörbarem Nachdruck, um seine Mannlidikeit anzudeuten, der Er-
wadisene tut es im Liebesspiel audi. Die Neugier oder die bis zur
Krankheit g-ehende Wut, mit der man das Liebesgefiiister und heiße
Stöhnen des jung-en Ehepaars im Nachbarzimmer des Hotels verfolgt,
das Plätschern beim Wasclien oder das eigentümliche Klappen der
Nachttischtür und das Rauschen des Urinwasserfalles kennen Sie aus
eigener Erfahrung. Die Mütter ahmen es nach mit ihren eigentümlichen
Zischworten „wsch, wsdi", die das Kind zur Ejakulation des Harns
veranlassen sollen, und wir Ärzte benutzen alle den Kunstgriff, den
Wasserhahn aufzudrehen, wenn wir sehen, daß der Kranke sich schämt,
in unsrer Gegenwart den Topf zu benutzen. Und welch eine Rolle spielt
nun gar erst das Pupen im menschlichen Leben ! Sie sind nicht die
Einzige, liebe Freundin, die beim Usen dieses Satzes in Erinnerung an
Irgendwelche ergötzliche Knallerei vergnügt lächelt. Freilidi bin ich
darauf gefaßt, daß Ihre Freundin Katinka, wenn Sie ihr diesen Brief
aeben, gesittet Pfui sagt und nicht mehr weiter lesen will und daß der
Geheimrat Schwerleber, da er langst seinen Humor in den schwer
waschbaren Falten seines Salbadermundes vergraben hat, tadelnd das
Wort Schwein ausspricht. Aber der Zorn beweist ebenso wie das Lachen,
daß der Affekt da ist, daß der Gehörsexhibitionist einem Gehörsvoyeur
begegnete.
Vom Furz aus ist der Übergang zu den Vorgängen in der Zone
des Geruchssinnes ohne weiteres gegeben. Ich überlasse es Ihnen, sich
die anziehenden und abstoßenden Gerüdie, die vom Menschen selbst
191
(•
auso:ehen oder die er sich selbst anheftet, zu verg-eg-enwärtigen, knüpfe
Dur einige Bemerkungen daran. Zunächst das Eine, das sich schon aus
der Bildung des vorhergehenden Satzes ergibt, daß Hervorbringen
oder Wahrnehmen von Gerüchen durdiaua niclit immer den Charakter
der sexuellen Aufforderung; tragen. Es gilt eben auch hier das Gesetz
vom Gegensatz. Man gibt unter Umständen im Geruch Haß, Ver-
achtung und Abscheu zu erkennen. Sie werden mir zugeben, daß der
Gestank, den das Es an Mund, Händen, Füßen, Geschlechtsteilen ver-
wendet, gewaltsamereAffekte, wenigstens für unser Bewußtsein, hervor-
ruft, als der Wohlgeruch. Ich darf wohl, um Ihnen die seltsamen Mätzchen
des Es klar zu machen, an unsre gemeinsame Freundin Wehler er-
innern. Sie wissen, daß sie wunderschönes Haar hat, vielleicht das
schönste, daß idi kenne. Aber idi sehe förmlich, wie Sie das Gesicht
verziehen. Dieses schöne Haar stinkt wie die Pest. Oder vielmehr es
stank, denn jetzt würde die feinste Nase nidit das Geringste mehr
an dem Duft dieses Haares auszusetzen brauchen. Aiini ist diese ver-
hängnisvolle Verquickung von sAön und häßüdi einfach und rasch los
geworden, seitdem sie sich bewußt geworden ist, daß ihr Es besonders
sinnlich ist und deshalb dies schöne Haar geschaffen hat, ähnlich wie
es die Sinnlichsten der Sinnlichen, die Scliwindsüchtlgen, mit Haar,
Augen, Zähnen tun. Auf dieses Es hat das Leben ein zweites morali-
sdies, ängstliches Es darauf gesetzt, das den Gestank schuf, um die
lockende Anziehung durdi ein Abstoßen zu lähmen.
Noch etwas bei dieser Gelegenheit; Sie behaupten immer, Leute,
die sich nicht wüschen, stänken. Ich habe selbst mit angehört, wie Sie
Ihrem Knaben, der seinen zehn Jahren gemäß wasserscheu war, diesen
Satz mit nachdrücklicher mid handgreifhdier Untersuchung von Ohren,
Hals und Händen einzuprägen suchten. Darf idi mir die Frage gestatten,
wie oft Sie sidi die Haare waschen? Und ich kann Sie versichern,
daß Ihre Haare wie frisches Heu duften. Das Es kümmert sich gar
nicht um die albernen Ansichten der Menschen. Es stinkt, wenn es
stinken will, und es verwandelt den Dreck in Wohlgeruch, wenn es
ihm beliebt. Ab und zu will es mich bedünken, als ob die Menschen
192
sich nicht etwa waschen, weil sie den Dreck verabscheuen, sondern
weil sie wie Pilatus bei der Verurteilung Christi den Leuten eine Rein-
lidikeit vortäusdien wollen, die sie gar nicht besitzen. Der Satz jenes
Jungen; „Ich bin kein solches Schwein, daß ich mich alle Tage zu
waschen brauche," ist gar nicht so dumm. Es ist mit dem Abscheu
vor dem Schmutz ähnlich, wie mit dem vor dem Aa und Pipi. Man
wischt sich sehr sorgfältig ab, wäscht sich womöglich nach jeder Ent-
leerung fester oder flüssiger Art und bedenkt nicht, daß man in seinem
Bauche diese angeblich schmutzigen Dinge dauernd mit sich herum-
trägt. O, du wandelndes Klosett, das du dich Mensch nennst, je mehr
du Ekel und Abscheu vor dem Kot und Urin äußerst, um so deutlicher
zeigst du deine Lüsternheit in diesen Dingen und je mehr du dich
wäschst, um so besser weiß ich, daß du deine Seele für schmutzig
hältst. Aber warum verschluckst du deine Spucke, wenn Spucke ekel-
haft ist?
Ich will Sie nicht weiter mit Paradoxen quälen, sondern Sie
lieber auf eine seltsame Form der Exhibition aufmerksam machen, auf
die vor sich selbst. Der Spiegel fällt Ihnen ein, und damit der Narziß-
mus — denn Narziß erfand den Spiegel — und die Onanie — und
der Spiegle! ist ein Onaniesymbol — und wenn Sie ein Tasdien-
spielergehirn haben wie ich, denken Sie dairan, daß man vor dem
Spiegel auch Fratzen sdineidet, sidi zum Wohlgefallen, daß also wirklich
die Exhibition doppelwertig, anziehend und häßlich sein kann.
Aber ich war beim Geruch und beim Klosett, und wenn es Ihnen
beliebt, nennen Sie mir bitte irgend eine von Ihren Freundinnen, die
auf dem Klosett nicht ihre Entleerungen ansieht — der Gesundheit
wegen, versteht sich. Ich glaube, keine hält sich dabei die Nase zu,
und möglicherweise gibt es welche darunter, die abends im Bett,
wenn erst die Luftheizung gewirkt hat, unter die Decke kriechen, um
zu konstatieren, was für Brennmaterial verwendet worden ist; viel-
leicht riecht sogar eine oder die andere am Finger, wenn das Papier
am Ort der hohen Gefühle nicht dicht war. Und sicher — glauben Sie
mir — es gibt gebildete Leute, die popeln, wenn sie allein sind;
13 Groddeck, Das Buch vom Es. 193
denn ein Loch ruht nicht eher, als bis etwas hineingesteckt ist, und
die Nasenlöcher machen davon keine Ausnahme.
Was könnte idi Ihnen alles von diesen unbewußten Exhibitionen
der Gebärden, der Stimme, der Gev/ohnheiten erzählen ! Sucliet, so
werdet Ihr finden, heißt es in der Bibel. Aber es heißt auch: Sie
haben Aug-en und sehen nicht, und sie haben Ohren und hören nicht.
Die Zusammenhänge des Geschmackssinns mit dem unbewußten
Eros sind schwer zum Bewußtsein zu bringen. Am leichtesten sind die
Verhältnisse noch bei dem Schnullen der Kinder zu verfolgen, das ja in
innigem Zusammenhang mit dem Saugakt steht. Wenn man sich dann,
von dieser Erfahrung ausgehend, ein wenig Mühe gibt, findet man
nicht allzu selten im Verkehr Liebender Gewohnheiten, die im Sinne
des Schmeckens gedeutet werden können. So ist das Saugen am
Finger des Andern etwas, was man häufig beobachten kann. Aber
die Heimlichkeit solcher Liebkosungen erzählt deutlich, wie groß die
Wertschätzung des Schmeckens ist. Man mag noch so sittsam sein,
das Saugen an der Haut, an Brust, Lippeu, Hals begleitet den Liebes-
akt, und die Zunge ist für einen Jeden, nicht nur im wunderbar
wechselnden Ausdruck des Wortes „Liebe", Organ der Wollust. Vor
allem aber scheint mir, daß das zur Schautragen der Brüste eine Auf-
forderung zum Sdimecken ist, freilidi gepaart mit der zum Fühlen und
Sehen, wie denn immer die Sinnesfunktionen sich paaren. Und das
führt dann dazu, eine echte Exhibition des Es festzustellen, die Erektion
der Brustwarze, die ganz unabhängig von dem Willen des Mensdien
das keuscheste Mädchen befallt und in angenehm leisem Kitzel über
die Gelehrtea und über Sie, liebe Freundin*, lächelt, daß Sie Perversion
nennen, unnatürliche Neigung, was Natur selbst tut. Ich überlasse es
vorläufig Ihnen, von der Erektion der Brustwarze auf die des Mannes
zu schließen, muß aber später, so heikel das Thema auch ist, darauf
zurückkommen.
Eins aber muß ich nodi erwähnen, was in das Gebiet der
Gesdimackserotik gehört, das sind die Lieblingsspeisen. Die Vorliebe
für süß, sauer, bitter, fett, salzig, für diese Speise und jenes Getränk,
194
das Anbieten, Nötigen, die Art des Essens und die Zusammenstellung
eines Menüs verraten Neig-ungen seltsamer Art. Behalten Sie es im
Gedäditnis und — vergessen Sie das nidit — es ist dasselbe, ob
jemand Schweinebraten gerne ißt oder ob ihm davon übel wird.
Soll ich Ihnen auch noch etwas vom Fühlen erzählen? Sie können
es sich selbst zusammenreimen, können bedenken und probieren: das
Entgegenstrecken der Hand und die Lippen, die sich darbieten, das
Knie, das sich anschmiegt und das Treten unter dem Tisch. Aber es
gibt Vorgänge, die nicht ohne weiteres zu verstehen sind. Gewiß, der
erotische Zweck einer streichelnden Hand ist rasch empfunden und rascJi
gedeutet. Wie steht es jedoch mit den kalten Händen? Kalte Hände,
warmes Herz, sagt der Volksmund, und der Volksmund irrt selten.
„Sieb, idi bin kalt", sagt solche Hand, „wärme midi, ich brauche
Liebe." Dahinter lauert versteckt das Es, verschmitzt wie immer. „Der
Mann gefällt mir", denkt es, „vielleicht aber gefalle ich ihm nidit.
Sehen wir zu. Schreckt ihn die Kälte meiner Hand nicht ab, faßt
seine Hand liebevoll das armselige Ding, das ich ihm biete, so wird
alles gut gehen. Und bleibt er unnahbar, kalt wie meine Hand, so
kann er mich doch lieb haben und nur von der Kalte erschreckt sein."
Und — ja das Es ist raffinierter, als Sie denken — es laßt die Hand
auch feucht werden, sie wird dann ein echter Probierstein der Liebe;
denn um eine feuditkalte Hand gern zu fassen, muß man ihren Eigen-
tümer wohl gern haben. Diese exhibitionistische Hand berichtet frank
und offen: „Sieh, selbst in der Kälte strömen die Lebenssäfte aus
mir heraus, so glühend ist meine Leidenschaft. Mit welchen Fluten
der Liebe werde ich dich überströmen, wenn du midi erwärmst."
Sie sehen, Liebste, icii bin sdion in den tiefen Schichten unbe-
wußter Erotik, in der Deutung physiologischer Prozesse, und dabei
möchte ich einen Augenblick verweilen. Denn mir als Arzt bietet die
unbewußte Zurschaustellung der Sexualität mehr Interesse als der ein-
fach im psydiisdi Bewußten wirkende Trieb.
Als gelegenes Beispiel finde ich Vorgänge in der Haut, die mir
viel Mühe gemacht haben. Sie wissen, als Sdiüler Schweningers werde
13* 195
ich audi jetzt noch hie und da von Hautkranken angesucht, und unter
ihnen sind immer einig-e, die sn chronisdien, juckenden Ausschlacken
leiden. Früher habe ich achtlos die Worte überhört, mit denen sie an
irg-end einer Stelle ihre Krankheitsersdieinmigen erläutern, daß sie
nämlidi eine ernpflndliclie Haut haben. Jetzt weiß ich, daß ihr Ekzem
dieselbe Versicherung; unablässig wiederholt, nur daß es deutlicher
spridit und die Art der Empfindlichkeit beschreibt. Es erzählt — idi
glaube es wenigstens heraus zu hören, und der Erfolg scheint mir
recht zu geben: — „Sieh doch, wie meine Haut danach verlangt, leise
gekitzelt zu werden. Es ist solch wunderbarer Reiz im sanften Streicheln,
und Niemand streichelt midi. Versteht mich doch, helft mir dodi! Wie
soll ich mein Verlangen besser ausdrücken als durch die Kratzspuren,
die ich mir erzwinge." Das ist eine echte Exhibition auf dem Gebiete
des Fühlens.
So, nun haben wir lange genug uns unterhalten, und unser Kindchen,
das wir auf seinem Thrönchen ernsthaft, nachdenklich sitzen ließen, hat
sein Gesdiäft inzwischen beendet. Von seinen Ideen während dieser Zeit
wollte ich Ihnen berichten, habe es aber nicht getan, weil es ja nicht
sidier ist, daß es gerade in dieser Stellung sich mit dem Gedanken
der Empfäng-nis besdiäftigi. Ich werde es später nadiholen. Eins aber
muß ich noch sagen, ehe idi Absdiied von Ihnen nehme: der Topf —
oder das Klosett, das ist dasselbe — ist ein wichtiges Möbel, und es
gibt viele, viele Mensdien, die drei Viertel ihres Lebens darauf zubringen;
nicht gerade so, daß sie im wörtlichen Sinne darauf sitzen, aber des
Morgens wachen sie auf mit dem Gedanken: werde idi heute Stuhl-
gang haben, und wenige Stunden, nadidem das schwere Werk ge-
lungen, beginnen sie wieder zu denken — und auch davon zu spredien,
gewöhnlich bei der Mittags mahlzeit — : werde ich morgen Stuhlgang
haben? — Es ist eben eine komische Welt.
Bedenken Sie nur: das kleine Kind lieht es, mit Vater und Mutter
mitzugehen und ihre Tätigkeit am stillen Ort zu beobachten; wird
es größer, so sucht es sich Kameraden, um weiter zu studieren und
mehr zu enträtseln; dann kommt die Zeit der Pubertät, und wieder
196
spielt sich auf dem Klosett das am tiefsten greifende Erlebnis dieser
Jahre, ja vielleicht des g-anzen Lebens ab, die Onanie. Nach der Ent-
wicklung beginnt nun die Verdummung des Menschen, und er begnügt
sich, statt den Wundern des Lebens naclizugehen, damit, Zeitung zu
lesen, sich zu bilden, bis schließlich das Greisenalter kommt und nicht
selten der Schlaganfall auf dem Klosett allem ein Ende macht. Von
der Wiege bis zum Grabe.
Ich grüße Sie herzlichst.
Immer Ihr TROLL.
23.
ICH GEBE ZU, BESTE FREUNDIN, DASS ES UNRECHT IST, SO
lang von der Exhibition zu sprechen, und auch das räume ich ein, daß
ich die Bedeutung des Worts ungebührlich gedehnt habe. Die Erklärung
dafür ist, daß ich zur Zeit gerade mit ein paar Kranken zu tun habe,
die diesem Trieb mit Virtuosität fröhnen. Icli hatte gehofft, Sie würden
des Inhalts halber über die Form hinweg sehen.
So will ich denn heute, statt in ein System zu pressen, was
systemlos ist, nur ein paar Beobachtungen aneinander reihen. Sie
mögen selbst die Schlüsse ziehen.
Achten Sie bitte ein paar Tagt auf den Mund von Helene Karsten.
Sie können viel dabei kennen lernen.
Sie wissen, dieser Mund gilt als besonders klein, er sieht aus,
als ob mit Mühe ein Markstück hinein gesteckt werden könnte. Aber
sprechen Sie vor ihr das Wort Pferd aus, und der Mund wird breit
wie ein Pferdemaul, und das Gebiß wird gefletscht, wie das Pferd es
tut. Warum? Hinter Helenens Elternhaus lag ein Exerzierplatz eines
Dragonerregimentes. An den Pferden dort hat sie ihr Studium über
Mann und Weib gemacht, und auf ein soldies Pferd ist sie von einem
Unteroffizier als kleines Mädchen gehoben worden und hat dabei an-
geblidi ihre ersten Wollustempfindungen gehabt. Stellen Sie sich vor,
daß ein fünfjähriges Mädchen neben einem Walladi steht, dann sieht
197
es vor sich den Baudi mit einem daran hängeuden Ding-, das sidi
plotzlidi um das Doppelte verlängert und einen mäditigen Hamstraht
aus dem Bauche herabsendet. In der Tat ein überwältig-ender Anblick
für ein Kind.
Das Volk erzählt sich, daß man bei Frauen nach der Größe des
Mundes die Große des Sdieideneingangs beurteilen könne. Vielleicht hat
das Volk recht, denn der Paralleiismus zwischen Mund und Geschledits-
Öffnung- besteht. Die Gestalt des Mundes folgt den Gesdilechts-
erregungen und wenn er es nicht tut, verraten sich in seinem Muskel-
spiel die Verdrängungen. Und das Gähnen erzählt nicht nur von dem
Miidesein, sondern auch davon, daß der Gähnende im gegebenen
Au5:enblic!c ein begehrendes Weib ist, ähnlich wie der, der mit offnem
Munde schläft.
Schauen Sie sidi doch die Mensdien an, Sie lesen in ihrem Gesidit,
ihrer Kopfform, der Handgestaltung, dem Gang, tausend Geschichten.
Dort ist einer mit hervorquellenden Augen; seien Sie sidier, er will
Ihnen schon von fern seine Neugier und den Schreck über wunder-
bare Entdeckungen zeigen; diese tiefliegenden Augen zogen sich zurück,
als der Menschenhaß groß ward; sie wollen nicht sehen und noch
weniger gesehen werdeu. Die Tränen, die geweint werden, sind nicht
nur Trauer und Schmerz geweiht, sie ahmen die Perle nach, die tief
in der Musdiel ruht, in der Perlmuttermuschel des Weibes, und
jedes Weinen ist voil symbolischer Wollust. Immer, ohne Ausnahme.
Das weiß audi jeder Dichter, seit Jahrtausenden wissen sie es und
erzählen davon, ohne es bewußt auszusprechen. Nur die, die es wissen
müßten, die wissen es nicht. Eros benutzt das Auge zu seinen Diensten,
es muß ihm Bilder geben, die ihm gefallen. Und wenn ihrer zu viele
wurden, wäscht er sie ab; er läßt das Auge überquellen, weil die
innere Spannung zu groß wurde, um auf dem Wege der genitalen
Absonderung gelost zu werden, weil ihm das Verfahren der Kindheit,
die Erregung im Harn auszuströmen, gesperrt ist, oder weil er, ver-
stimmt von der Moralität, den Menschen im Gleichnis dafür büßen
lassen will, daß er sich schämt erotisch zu sein. Eros ist ein starker,
198
eifriger Gott, der grausam und höhnisdi zu strafen weiß. „Du nennst
schinut2ig'", zürnt er, „daß ich die höchste Leistung; des Menschen, die
Vereinig^ung- von Mann und Weib und die Schöpfung- des neuen, an
das Naßwerden zwischen den Schenkeln band. So sollst du deinen
Willen haben. Du hast Schleimhäute im Darm und anderswo, deine
Ejakulation sei fortan Diarrhoe, Auswurf, Sdinupfen, Fußschweiß oder
Achselsdiweiß und vor allem Harnen."
Ich verstehe, daß Sie das alles sonderbar finden. Aber wer
hindert midi zu phantasieren, wie ich will; heute Eros zu nennen, was
ich gestern Es nannte; dies Es als strafenden Gott aufzufassen, ob-
wohl ich es eben als mitleidigr, zart und sanft schUderte, ihm eine
Madit zu geben, die hierhin drängt und dort verbietet und Immer
wieder mit sich selbst in Widerspruch zu geraten scheint. Damit tue
ich nichts andres, als was die Menschen von jeher getan haben. Und
es sdieint mir für unser wohlgeordnetes Oberflächendenken nützlich
zu sein, ab und zu die Dinge durcheinander zu werfen. Alles muß revo-
lutioniert werden, das ist ein dummes Ziel, aber eine richtige Beobaciitung.
Darf ich weiter phantastereien? Ich sprach vorhin von der Gleich-
setzung von Mund und Geschlechtsöffnung. So ist die Nase für ein
launisch gewordenes Es, dessen Machtvollkommenheit unbegrenzt ist,
ein Mannesglied, und dem zufolge läßt es die Nase groß wachsen
oder klein, stumpf oder spitz, setzt sie wohl auch schief in das Gesidit,
je nachdem es diese oder jene Neigung damit kund tun will. Und
nun ziehen Sie bitte Ihre Sdilußfolgerungen für die Entstehung des
Nasenblutens, das ja in bestimmten Altersperioden häufig ist, für Haare,
die aus den Nasenlöchern wadisen, für Polypen und skrophulösen
Gestank. Die Ohren wiederum haben Muscheln, und Muschel, das erzählte
idi schon, ist Symbol des Weibseins. Das Ohr ist empfangendes Organ,
und seine Gestalt ist für träumerische Beobachter nicht uninteressant
Aber Sie müssen nicht etwa glauben, daß ich Erklärungen geben
will. Das Leben ist viel zu bunt, um es zu kennen, viel zu glatt, um es
zu packen. Vielleicht will ich nur ein wenig über die Logik spotten.
Vielleidit steckt auch mehr dahinter.
199
Haben Sie schon bemerkt, wie schwierig; es oft ist, Kinder dazu
zu bringen, daß sie sich in den Mund schauen lassen? Das Kind denkt
noch naiv: es hält den Mund für den Eingang der Seele und glaubt,
der Arzt, den kleine und große Narren für einen Zauberer halten,
könne dort alle Geheimnisse sehen. Und tatsädilich steckt im Schlund
etwas, was kein Kind gerne verrät, das Wissen um Mann und Weib.
Dort hinten sind zwei Bogen — oder sind es die beiden Mandeln —
die begrenzen eine Öffnung, die in die Tiefe führt, dazwischen zuckt,
verkürzt und verlängert, bewegt sidi ein Gebilde, das rot ist, dort
hängt ein Schwänzchen. „Der Brillenmann, der Onkel Doktor weiß,
wenn er das sieht, daß ich lauschend im Bett lag, während die Eltern
midi schlafend glaubten und mit Öffnung und Stempel Spiele spielten,
die ich nicht wissen darf. Und wer weiß, vielleicht steht dort ge-
sdirieben, was idi selbst trieb, ohne daß es jemand erfuhr." Hals-
entzündungen bei Kindern sind lehrreich, Sie glauben nicht, was man
alles aus ihnen heraus lesen kann.
Und nun gar erst die Masern und Scharlach! „Ich brenne, ich
brenne." erzählt das Fieber, „und ich schäme mich so, sieh nur, idi
bin rot geworden über den ganzen Körper." Sie brauchen das natürlidi
nicht zu glauben, aber woher kommt es wohl, daß unter drei Kindern
zwei an Scharlach erkranken und eins bleibt gesund? Manchmal ist
eine phantastische Erklärung besser als gar keine. Und so ganz dumm
ist es wirklich nicht Sie müssen nur bedenken, daß das Alter der
Leidenschaft nicht die Zeit der Jugend jst, sondern die Kindheit. Die
Schamröte aber in ihrem vom Es gewollten Doppelsinn zieht einen Schleier
über das Gesicht, damit man nicht sieht, was dahinter vorgeht, damit
man sieht, wie das Feuer der Sinnlichkeit auflodert, damit man weiß,
daß das moralisch erzogene Es das heiße Blut vom Bauch, von den
GeschlecJitsteilen, von Hölle und Teufel weg in den Kopf treibt, um umso
dichter das Gehirn zu umnebeln.
ich könnte nun noch lange so weiter erzählen, von Lungenentzün-
aungen und Krebs, von Gallensteinen und Nierenblutungen, aber wir
können davon auch später spredien. Heute nur noch ein einziges Wort
200
über den Exhibitionstrieb und seine Kraft. Vor einem Jahrhundert gab
es noch keine Frauenärzte und heut ist in jedem Städtchen und an
jeder Großstadtstraßenecke ein Spezialist. Das ist, weil die Frau nie Ge-
legenheit hat, sich außerhalb der Ehe zu zeigen, weil das Kranksein alles
entschuldigt, und weil das Kranksein die unbewußten, halbbewußten und
bewußten strafbaren Wünsche rädit und so vor der ewigen Strafe schützt.
Es gibt eine Form der Exhibition, die für das Zustandekommen
unsrer Korrespondenz historisdi wichtig ist, das ist die Hysterie, im
besonderen der hysterische Krampfanfall. Ich habe sdion einmal den
Namen Freud erwähnt und ich mödite wiederholen, was idi anfangs
sagte : Alles, was in diesen gemischten Briefen richtig ist, geht auf ihn
zurück. Nun, Freud hat vor einigen Jahrzehnten die ersten grund-
legenden Beobachtungen über das Es bei einer Hysterischen gemacht.
Ich weiß nicht, wie er jetzt über diese Erscheinungen denkt, ich darf
mich also nidit auf ihn berufen, wenn ich behaupte, daß das Es des
Hysterischen hstiger ist als das aller andern Menschen. Mitunter bekommt
dieses Es Lust, die Geheimnisse des Eros vor aller Welt und in voller
Offenthchkeit zu produzieren. Und um diese Aufführungen, gegen die
alle Nackt- und Bauchtänze ni(iits sind, ungestört von Selbstvorwürfen
und moralischer Entrüstung- der Umwelt geben zu können, erfindet das
Es die Bewußtlosigkeit und kostümiert die erotisdien Vorgänge sym-
bollsdi als krampfhafte, schreckenerregende Bewegungen und Verren-
kungen von Rumpf, Kopf und Gliedmaßen. Es geht dabei ähnlich zu,
wie im Traum, nur daß das Es für seinen Krampf ein verehrUches
Publikum einladet, über das es sich weidHch lustig macht.
Ich nähere mich jetzt wieder den Mitteilungen über die Begattungs-
und Empfängnistheorie, wie sie das Kind hat, wie Sie sie gehabt haben,
und wie icti sie gehabt habe. Vorher muß ich nodi eine Frage stellen.
Wann, glauben Sie wohl, haben Sie zuerst den Untersdiied der Ge-
sdileciiter kennen gelernt ? Aber bitte, antworten Sie nicht : „Mit 8 Jahren ;
da wurde mein Bruder geboren". Denn idi bin überzeugt, daß Sie
auch sdion mit 5 Jahren Imstande waren, ein nacktes MädtJien von
einem nackten Jungen zu unters dieiden und mit 3 Jahren auch und
201
vielleidit noch früher. Schließlidi wird sich herausstellen, daß Sie ebenso-
wenig- davon wissen wie idi, ja daß überhaupt Niemand etwas davon
weiß. Ich kenne einen kleinen Jungen von 2 '/^ Jahren, Stacho g-enannt.
Der sah zu, wie sein neugeborenes Schwesterchen gewaschen wurde,
spradi dann — und wies zwisdien seine Beine — die Worte: „Stadio
hat" und drehte dem Mädchen den Rüclten.
Nun also, über den Zeitpunkt, wann das Kind Kenntnis vom
Unterschied der Geschlediter bekommt, wissen wir nichts, aber daß es
schon vor dem vierten Lebensjahr ein lebhaftes Interesse dafür hat.
diese Unterschiede festzustellen, über ihre Gründe nachzudenken und
danach zu fragen, das wissen sogar die Mütter; für micli ein un-
widerleglicher Beweis dafür, daß dieses Interesse überaus lebhaft ist.
Ich erzählte Ihnen sdion früher einmal, daß das Kind unter dem
Assoziationszwang des Kastrationskomplexes annimmt, alle Mensdien
seien mit einem Schwänzchen ausgestattet, seien männlichen Gesdilecbts,
und was Frau und Madclien genannt werde, seien kastrierte, verschnittne
Männer, versdinltten zum Zweck des Kinderkriegens und zur Strafe
für die Onanie. Diese Idee, die gar nicht so dumm. In ihren Wirkungen
aber von unberechenbarer Bedeutung ist, weil darauf das Überlegen-
heitsgefühl des Mannes und das Minderwertigkeitsgefühl des Weibes
beruht, weil deswegen das Weib unten, der Mann oben liegt, weil
deswegen die Frau nach oben, gen Himmel, zur Religion strebt, der
Mann aber nach vorn, in die Tiefe, zur Philosophie hin, diese Idee
verbindet sich In der verworrenen und doch so logischen Denkweise
des Kindes mit den Resultaten sorgfältiger Prüfung der männlidien
Geschleditsteile. Man erwägt in angeborenem hausväterischen Sinn —
Sie und id» haben es getan und jeder tut es — wie wohl diese ab-
gesdinittenen Geschlechtsteile verwertet werden mögen. Die Verwendung
des Anhängsels selbst bleibt zunächst rätselhaft ; unter Umständen scheint
es als Blinddarm sein Dasein zu fristen. Dagegen sind in dem Säckthen
zwei kleine Gebilde, die entschieden Ähnlidikeit mit Eiern haben. Eier
aber werden gegessen. Also werden die Eier, die den zum Frausein
verurteUten Männern abgesdinitten werden, gegessen. Vor solchem
202
Sdiluß scheut sich sog-ar das Kind, das im allgemeinen wenig Gefühl
für fremdes Leid aufbringt. Es findet es sinnlos, nur des Essens wegen
Menschen anzuschneiden, da ja von den Hühnern genug Eier gelegt
werden. Darum wird ein weiterer Grund gesuclit, um das Abschneiden
und Aufessen verständlich zu machen. Da kommt dem nachdenklichen
Kinde eine Erfahrung zu Hilfe, die es frühzeitig macht; aus Eiern
entstehen Küchlein, Hühnerkinder; und diese Eier kommen hinten aus
der Henne heraus, aus dem Loch im Hennenpopo; und aus dem Frauen-
popo kommen, das ist schon ausgemacht, die Kinder. Jetzt wird die
Sache klar. Die abgeschnittenen Eier werden gegessen, nicht weil sie
wut schmecken, sondern weil daraus die kleinen Menschenkinder werden.
Und langsam schließt sich der Kreis der Gedanken, und aus dem
nebelhaften Dunkel des Denkens tritt schreckenerregend ein Mensch
hervor: der Vater. Der Vater schneidet der Mutter die Geschlechtsteile
ab und gibt sie ihr zu essen. Und daraus werden die Kinder. Das
ist es, weshalb die atemraubenden, betterschütternden Kämpfe zwischen
den Eltern des Nachts sich abspielen, deswegen das Stöhnen und
Ädizen, deswegen das Blut im Nachttopf. Der Vater ist furchtbar, ein
Grausamer, Strafender. Was aber straft er? Das Reiben und Spielen.
Sollte die Mutter auch spielen ? Der Gedanke ist unausdenkbar. Aber
er braucht nicht gedaclit zu werden. Denn an seine Stelle tritt die
Erfahrung. Die mütterUcJie Hand reibt täglich die kindlichen Eierdien
des Sohnes, spielt mit seinem Sdiwänzchen. „Die Mutter kennt das
Reiben. Der Vater weiß davon und straft. So wird er auch mich strafen,
denn ich spiele auch. Mochte er doch strafen, denn ich will Kinder
haben ! Idi will spielen, dann wird er midi strafen und ich bekomme
Kinder. Gott sei Dank, ich habe einen Vorwand zum Spielen, Aber
womit soll ich spielen, wenn der Vater mir das Schwänzchen absdineidet?
Es ist besser, ich verstecke mein Vergnügen. Es ist sicher besser."
So wediseln Sehnsucht und Angst, und das Kind wird langsam
ein Mensch, schwankend zwisdien Trieb und Moral, Begierde und Furdit.
Adjö, Liebe, Ihr
PATRIK TROLL.
203
24.
WIE NETT VON IHNEN, LIEBE FREUNDIN, DASS SIE MEINE
Schreiberei niclit tragisch nehmen, sondern darüber lachen. Ich bin so
oft ausgeladit worden und habe dann mit so viel Verg-nüg-en mitgelacht,
daß ich oft selbst nicht weiß, meine ich, was idi sage, oder mache icäi
mich lustig.
Aber sitze nicht auf der Bank, da die Spötter sitzen, heißt es.
Ich bilde mir nicht ein, daß das Gemisch von Phantasien, das ich Ihnen
neulich als eine „kindliche Sexualtheorie" vorsetzte, wirklich jemals so
im Gehirn eines Kindes oder überhaupt in einem andern als dem
meinen gewesen sei. Bruchstücke davon werden Sie aber überall finden,
oft verwittert, kaum kenntiich, oft eingemauert in andre Phantasiereihen.
Worauf es mir ankam, war, Ihnen recht deutlich zu machen, es Ihnen
in die innerste Seele zu prägen, daß das Kind sicli unausgesetzt mit
den Rätseln der Sexualität, des Eros, des Es bescliäftigt, viel intensiver
als irgend ein Psydiologe oder Psychoanalytiker, daß es sich wesentlich
durch den Versudi, diese Rätsel zu lösen, entwickelt; mit andern Worten,
daß unsre Kindheit sich sehr wohl als die Schule betrachten läßt, in
der Eros uns unterrichtet. Und nun denken Sie sich die abenteuerlichsten
Phantasien aus, wie sich das Kind Empfängnis, Geburt, Geschledits-
unterschied vorstellt, Sie werden nie audi nur den millionsten Teil
dessen ausdenken können, was sich das Kind, jedes Kind in Wahrheit
darüber zusammenträumt; ja Sie werden im Grunde genommen nur
ausdenken können, was Sie selbst wirklich einmal als Kind gedacht
haben. Denn das ist das Merkwürdige am Es ~ und ich bitte Sie, es
wohl im Gedäditnis zu behalten — daß es nicht wie wir hochbegabten
Verstandesichs zwischen Wirklichkeit und Phantasie unterscheidet, sondern
daß ihm alles wirklich ist. Und wenn Sie nicht schon ganz verdummt
sind, werden Sie einsehen, daß das Es Redit hat.
Ja, idi kann Ihnen über das Schicksal des Schwänzchens, das Sie
sich von der Mutter verzehrt vorstellen sollen, aucii etwas erzählen,
nidit viel, aber etwas. Aus diesem Sdiwänzchen, vermutet das Kind,
wird die Wurst. Nicht aus all den Eiern, die verzehrt werden, entstehen
204
Schwangersdiaften, die meisten werden im Bauche, wie jede andre
Speise, in braune, kakaoähnliche Masse verwandelt, und diese Masse
nimmt, weil in ihr auch das aufg:egessene, wurstförmige Schwänzchen
ist, die länglidie Wurstform an. Ist es nicht seltsam, daß im dreijährigen
Kindergehirn schon die Philosophie der Form drin ist und auch die
Theorie von den Fermenten ? Sie können sidi das nicht widitig genug
vorstellen; denn die Gleichsetzung Stuhlgang — Geburt — Kastration
— Empfängnis und Wurst — Penis —Vermögen — Geld wiederholt sich
täglich und stündlich in der Ideenwelt unsres Unbewußten, macht uns
reich oder arm, verliebt oder schläfrig, schaffend oder faul, potent
oder impotent, glücklich oder unglücklich, gibt uns eine Haut, in der
wir sdiwitzen, stiftet Ehen und reißt sie auseinander, baut Fabriken
und erfindet, was geschieht, ist überall beteiligt, auch bei den Krank-
heiten. Oder vielmehr bei den Krankheiten läßt diese Gleichsetzung
sich am leiditesten entdecken; man muß sich nur nicht vor Hohn der
Verständigen fürchten.
Spaßes halber teile ich Ihnen noch eine andre Idee mit, die das
Hirn des Kindes ausgebrütet hat und die sich, wie es scheint, gar
nicht selten bei dem Erwachsenen lebend erhält; das ist der Gedanke,
daß sich das verzehrte Sdiwänzchen ein- oder zweimal in einen Stock
verwandelt, entsprechend der Erektion, daß sidi die Eierchen daran
festsetzen, und daß daraus ein Eierstock wird. Ich kenne jemanden,
der war impotent, das heißt, er versagte im Moment, wo er sein Glied
in die Scheide einführen sollte. Er hatte die Idee, daß sich im Leibe
der Frau Stöcke befänden, an denen Eier aufgereiht wären. „Und da
ich einen besonders großen Schwanz habe," dachte seine Eitelkeit, „so
werde ich beim Zustoßen all diese Eier zerbrechen." Er ist jetzt gesund,
Das Merkwürdige dabei ist, daß er als Junge eine große Eiersammlung
hatte. Und beim Ausblasen der Eier, die er den Vogelmüttern aus
dem Nest nahm, fand sich ab und zu eins, in dem schon ein Junges
war. Und darauf ging seine Theorie vom Eierstock zurück. Den großen
Logikern ist das eine Torheit, aber achten Sie es nicht für zu gering,
darüber nachzudenken.
205
Idi kehre zu meinen Einfällen über die Situation zurück, in der
ich mich neulidi beim Briefschreiben befand -- Sie wissen wohl, als idi
von der Uhrkette sprach. Idi bin Ihnen noch das Jucken am rechten
Schienbein und das Bläschen an der Oberlippe schuldig. Seltsamerweise
kehrte sidi das Wort Sdiienbein sofort in Beinschiene um, und dabei
stieg vor mir das Bild des Adiill auf, wie ich es aus meiner Kindheit
— etwa aus meinem achten oder neunten Lebensjahr in der Erinnerung
habe. Es ist eine Illustration zu Schwabs griechischen Heldensagen.
Und das Wort „unnahbar" fallt mir ein. Wo soll ich anfangen? Wo
soll ich aufhören? Meine Kindheit wacht auf und etwas weint in mir.
Kennen Sie Schillers Gedicht von Hektors Abschied von Andro-
mache? Mein zweiter Bruder Hans — icli erzählte neulich von ihm bei
Gelegenheit des Namens Hans am Ende — ja richtig, er hatte eine
Wunde am rechten Schienbein. Er war beim Rodeln gegen einen
Baum gefahren: ich muß fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Am
Abend — die Lampe brannte schon — trug man den halbwüchsigen
Jungen herein, und dann sehe ich die Wunde vor mir, eine vier Zenti-
meter lange tiefe Wunde, blutend. Sie hat einen entsetzlichen Eindruck
auf mich gemacht; ich weiß jetzt, warum. Das Bild dieser Wunde ver-
mischt sich unlösbar mit einem andern, wo scliwarze Blutegel am Rande
dieser Wunde hangen, und ein oder zwei sind abgefallen; die Erschaffung
Evas, die Kastration, Blutegel, abgeschnittenes Schwänzchen, Wunde
und Weibsein. Und der Vater hat die Blutegel angesetzt.
Rodeln. ~ Warum rodeln doch die Menschen? Wußten sie schon, daß
die schnelle Bewegung genitale Lust erregt? Seitdem der Gleitflug er-
funden ist, weiß es jeder Fileger. Es treten dabei ~ mitunter — Erelctionen
und Ejakulationen auf; das Leben selbst gibt Antwort darauf, warum der
Mensch seit Jahrtausenden und Jahrmillionen träumte, er wolle und
könne fliegen, warum die Sage vom Ikarus entstand, warum Engel
und Amoretten Flügel haben, warum jeder Vater sein Kind hochhebt
und durch die Luft fliegen läßt, und warum das Kind jauchzt. Das
Schlittenfahren, das Rodeln war für den Knaben Patrik Onaniesymbol
und die Wunde mit den Blutegeln die Strafe.
206
Aber zurück zu Hektors Abschied und den „unnahbaren Häaden".
Mein zweiter Bruder Hans und der dritte Wolf — ein verhängnisvoller
Name, wie Sie gleich sehen werden — pflegten das Gedidit dramatisch
vorzuführen, wobei die Familie und etwa vorhandene Gäste das Publikum
bildeten. Und dabei wurde ein Radmantel meiner Mutter mit rotem
Futter und weißem Pelzbesatz als Schmuck für Andromache verwendet;
der Purpur mit dem Hermelin, das ist die große Wunde des Weibes
und die Haut, das Blut und die Binde. Weich einen Eindruck hat das
alles auf mich gemacht! Gleidi im Anfang die Worte: „dem Patroktus
schrecklich Opfer bringt". „Patroklus — Patrik" und das Opfer, das
Abschneiden, Abrahams Opfer und die Beschneidung, und das Weinen
durch die Wüste, die nun nach der Radie des Achill, nadi der Kastration
entsteht. Der Kleine, der Penis, der nicht mehr „Speere werfen" wird,
weil den Hektor der finstre Orkus versciilingt. Hektor ist der Knabe
und der Orkus der Mutterschoß und das Grab, um den Inzest handelt
es sidi, den ewigen Wunsch des Menschen und des kleinen Patrik.
ödipuH. Welche Sdiauer rieselten mir den Rücken entlang bei den Worten :
„Hordi, der Wilde tobt schon an den Mauern." Ich kannte dieses Toben,
den furchtbaren Zorn des Vaters Achill. Und Lethes Strom vermischt
sich mit dem Bächlein auf der Wiese aus Struwelpeters Paulinchen, dem
Onanielied des Mäddiens, und mit den bettnässenden Urinströmen in
tiefvergessnem Schlaf.
Gewiß, Liebe, ich wußte das damals nidit, wußte es nicht mit dem
Verstände; aber mein Es wußte es, tieferund besser verstand es das
alles, als ich es jetzt verstehe, trotz all meines Bemühens um Kenntnis
eigner und fremder Seele.
Lassen Sie mich lieber von jenem Buche sprechen, von Schwabs
griechischen Sagen. Man sdienkte es mir zu Weihnachten. Meine Eltern
waren damals sdion verarmt und deshalb waren die drei Bände nidit
neue Bücher, sondern nur neu eingebunden. Sie hatten früher dem
ältesten Bruder gehört, was ihren Wert für mich bedeutend erhöhte.
Und zu diesem Ältesten fällt mir wieder mandierlei ein, aber erst muß
ich die Sache mit dem Schwab beenden. Der eine Band — er handelt
207
von dem trojanischen Krieg- — hatte abgeknickte Eclien. Ich hatte damit
auf meinen Bruder Wolf eing-eschlag-en, auf den fünf Jahre Älteren,
der mich bis zur Wut necltte und dann spielend mit einer Hand
bändigte. Wie habe ich ihn gehaßt und doch wie muß idi ihn geliebt
haben, wie habe ich ihn bewundert, den Starken, den Wilden,
den Wolf.
Ich muß Ihnen etwas sagten: wenn ich irgendwie elend bin, Hals-
oder Kopfs dl merzen habe, taucht bei der Analyse das Wort Wolf auf.
Mein Bruder Wolf ist unlösbar mit meinem Innern Leben verknüpft,
mit meinem Es. Es scheint nichts Wichtigeres für mich zu g-eben als
diesen Wolfkomplex. Und dabei vergehen Jahre, daß idi nicht an ihn
denke und dabei ist er langst tot. Aber er drängt sich ein in meine
Ängste, er ist dabei, was ich auch tue. Stets wenn der Kastrations-
komplex auftaucht, ist Wolf dabei und etwas Dunkles, Furchtbares be-
droht midi. Ich besinne midi nur auf ein einziges Sexualerlebnis, das
ich mit Ihm in Verbindung bringe. Idi sehe die Szene noch vor mir,
es war im Freien, und ein Schulkamerad Wolfs hielt eine Spielkarte
gftg-en das Lidit. Und irgend etwas Seltsames kam bei dem durch-
fallenden Licht zu Tage, was sonst nicht zu sehen war, etwas Verbotenes ;
denn ich besinne mich noch auf das scheue Wesen der Beiden mit
ihrem schlechten Gewissen. Was es war, weiß ich nicht. Aber mit dieser
einen Erinnerung ist innig untrennbar verwoben eine zweite, wie mein
Bruder Wolf demselben Kameraden gegenüber seinen Namen Wolfram
vom Riesen Wolfgrambär ableitete, was auf mich schauerlich wirkte. Und
jetzt weiß idi, daß der Riese der personifizierte Phallus ist.
Plötzlich fällt mir eine Kaulbachsche Illustration zu Reineke
Fuchs ein, wie der Wolf Isegrim in das Bauernhaus eingebrochen ist,
entdeckt wird, den Bauern umgeworfen hat und mit dem Kopf unter
dessen Hemde steckt. Ich habe das Bild seit mindestens vierzig Jahre
nidit gesehen, aber es steht mir ziemlich deutlich vor Augen. Und ich
weiß jetzt, daß der Wolf dem Bauern den Geschlechtsteil abbeißt. Es
ist eins der wenigen Bilder, die mir in Erinnerung geblieben sind.
Isegrim aber ~ Grimm war der Name des Knaben, von dem idi
208
die Onanie lernte — bezeichnend g^enug, wollte midi warnen und lehrte
mich, was tief verdrängt war.
Wie kam das Epos vom Reineke Fuchs dazu, gerade den Wolf
als Kastrationstier zu wählen, wie kam Kaulbach dazu, dies Ereignis
zum Bilde zu formen ? Was bedeutet das Märchen vom Rotkäppchen
und das von den sieben Geißlein ? Kennen Sie es ? Die alte Geiß g^eht
aus und warnt vorher ihre 7 Kinderchen, ja die Tür verschlossen zu
halten und den Wolf nicht ins Haus zu lassen. Aber der Wolf drangt
sich docii ein und verschlingt all die Geißlein bis auf das Jüngfste, das
im Uhrkasten steckt. Dort findet es die Mutter bei der Heimkehr. Das
Geißlein erzählt von den Untaten des Wolfs, beide machen sich auf
die Suche nach dem Räuber, finden ihn, gesättigt vom Fraß, in tiefem
Schlaf liegen und schneiden ihm, da sidi in seinem Baudi etwas zu
regen sdieint, den Saudi auf, wonach all die verschlungenen sechs
Geißlein wieder zum Vorsdiein kommen. Nun füllt die Mutter dem
bösen Tier den Bauch mit großen Wackersteinen und näht ihn wieder
zu. Der Wolf erwacht durstig und fällt, als er sich über den Brunnen
beugt, um zu trinken, von den schweren Steinen gezogen, in die Tiefe.
Ich maße mir nicht an, das Märchen so zu deuten, daß sich alle
Geheimnisse, die die Volksseele hineingedichtet hat, aufhellen. Aber
einiges darf ich wohl darüber sagen, ohne allzu verwegen zu sein.
Zunächst ist das Aufschneiden des Baudies, aus dem dann junges
Leben hervorkommt, als Geburtssymbol leicht verständlich, da es an
die allgemein gültige Idee des Kindes, bei der Entbindung werde der
Bauch aufgeschnitten und dann wieder zugenäht, anknüpft. Damit ist
auch das Motiv des Versdilingens, ohne daß die Geißlein sterben,
erklärt: es ist die Empfängnis. Und aus der Mahnung der Mutter, die
Tür versdilossen zu halten, kann man den Hinweis herauslesen, daß
es nur eine Jungfernsdiaft zu verlieren gibt und daß das Maidlein
niemand einlassen soll „als mit dem Ring am Finger". Aber rätselhaft
bleibt, was mit der Rettung des siebenten Geißleins, mit seinem Sidi-
verstecken im Uhrkasten gemeint ist. Sie wissen, welche Rolle die Sieben
in dem menschlichen Leben spielt; man begegnet ihr überall, bald als
14 Groddeck, Das Buch vom Es . 209
guter, bald als böser Zabl. Auffallend ist dabei, daß die Bezeidinung'
„böse Sieben" ausschließlich für die Frau gebraucht wird. Es ist wohl
anzunehmen, daß die g^ute Sieben den Mann bezeichnet. Das stimmt
audi; denn während das Weih mit Kopf, Rumpf und vier Gliedern
als Sechs charakterisiert ist, hat der Mann nccli ein fünftes Glied, das
Zeichen der Herrschaft. Das siebente Geißlein ist demnach das
Schwänzchen, das nidit versdilungen wird, das sich im Uhrkasten
verbirgt und heil und ganz daraus hervorspringt. Und es bleibt Ihnen nun
unbenommen, ob Sie annehmen wollen, daß der Uhrkasten die Vorhaut
ist oder die Scheide, die das Siebente nach der Samenergießung
wieder verläßt. Daß der Wolf sdiließlich in den Brunnen fällt, vermag
ich mir nicht recht zu erklären; höchstens könnte ich sagen, daß es,
wie so oft, eine Verdoppelung des Hauptmotivs der Geburt ist, wie
sich denn auch das Verstecken im Kasten als Scliwangcrschaft und
Geburt deuten läßt. Wir wissen aus den Traumen, daß das Ins- Wasser-
fallen ein Schwangerschaftssymbol ist.
Soweit ist die Gesciiichte Icidtidi aus dem schönen Märchenstil
in plattes Alltagserleben umgestaltet. Es bleibt nur der Wolf übrig.
Und Sie wissen, bei dem fangen meine persönlichen Komplexe an.
Aber ich will docli versuchen, etwas daraus zu machen. Ich möchte
dazu auf die Sieben zurückgreifen. Das Siebente ist der Knabe. Die
sedis zusammen sind die bÖse Sieben, das Mädchen, an dem das Siebente
erkrankt und weggefressen, bÖse ist, weil es onanierte, bös handelte.
Danadi würde der Wolf die Kraft sein, die aus der Sieben die Sechs
madit, die den Knaben in das Mädchen verwandelt, ihn kastriert, ihm
das Schwänzchen abschneidet. Er würde mit dem Vater identiscli
werden- Ist es so, dann gewinnt das Offnen der Tür ein anderes
Aussehen; es ist dann die frühzeitige Onanie der Sieben, des Knaben,
der seine Sieben durch Reiben geschwürig, böse macht, so daß der
Wolf ihn auffrißt, um ihn als Mädchen mit einer Wunde statt des
Sdiwänzchens in die Welt zu setzen. Das siebente Geißlein wartet
unter Vermeidung der Onanie oder wenigstens der Onanieentdeckung
im Uhrkasten, in der Vorhaut die Zeit ab, wo es geschlechtsreif wird,
210
und behält deshalb sein Knabenzeichen. Das Wort böse, das der Sieben
hinzugefügt wird, um das Weib zu bezeidinen, stellt in seinem weiteren
Sinn der Eiterung, des Gesdiwüres die Assoziation zur Syphilis und zum
Krebs her und gibt eine Handhabe, um die bei jeder Frau auftretende
Angst vor diesen beiden Erkrankungen zu begreifen. Das Fressen der
Geißlein führt zu der Kindertheorie von der Empfängnis durch Ver-
schlucken des Keimes hin, eine Verbindung, die im Märchen vom
bäumling in der Person des Mens die nfressers wiederkehrt. Bei ihm
ist dann im Siebenmeilenstiefel der Zusammenhang zwisdien Wolf und
Mann oder Vater hergestellt; denn man geht wohl nicht fehl, in diesem
Wunderstiefel ein Symbol der Erektion zu sehen.
Nun muß ich noch auf etwas zurückgreifen, wris ich früher erwähnt
habe, daß nämlidi das Kind sich nicht gern in den Mund sehen laßt.
Es fürchtet das Abschneiden des Zäpfdiens. In der Bezeichnung Wolfs-
rachen haben Sie die Assoziation zwischen Wolf und Onanie. Dem
Wolfsradien fehlt dtis Zäpfchen, das ja das männUdie Schwänzchen
darstellt, es ist kastriert. Er versinnbildlicht die Strafe der Onanie.
Und wenn Sie je bei einem Menschen einen Wolfsrachen gesehen
haben, wissen Sie, wie fürditerlich die Strafe ist.
Damit bin ich zu Ende. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Deutung
gefällt. Mir hat sie über viele Schwierigkeiten meines Wolf-Isegrimm-
Bruderkomplexes weggeholfen.
Herzlichst *
PATRIK.
25.
ALSO NACH IHNEN IST DIE BÖSE SIEBEN DER MUND, WOMIT
ich ganz einverstanden bin. Es gibt ja auch Männer, die ein böses
Maulwerk haben, aber sdiließHch bleibt es dasselbe, die siebente Öffnung
des Gesichts ist ebenso Symbol des Weibes wie die große Wunde des
Unterleibes.
Da wir nun einmal bei den Zahlen sind, wollen wir ein wenig
damit spielen. Vorausschicken muß ich, daß das Es ein gewaltiges
14« 211
Zahlengedächtnis hat, die einfachen Arten des Rechnens beherrsdit,
wie es sonst nur bei einer bestimmten Art von Idiotismus vorkommt,
und daß es sidi ebenso wie ein Idiot ein Vergnügen daraus macht,
Rechenexempel im Augenblick zu lösen. Sie können sich davon durch
ein einfaches Experiment überzeugen. Unterhalten Sie sich mit irgend
Jemandem über ein Thema, das die Tiefen seines Es in Bewegung setzt;
es gibt allerlei Zeichen, um festzustellen, daß eine solche Bewegung
vor sich geht. Fragen Sie, wenn Sie solch ein Zeiciien bemerken, nach
einem Datum, so wird mit einer absoluten Sicherheit sofort ein Datum
genannt werden, das mit dem aufgerührten Komplex in inniger Assozia-
tion steht. Oft tritt der Zusammenhang gleidi zu Tage, so daß der
Befragte selbst erstaunt über die Leistungsfähigkeit seines Unbewußten
ist. Oft wird jeder Zusammenhang bestritten. Lassen Sie sich dadurdi
nicht irre machen. Das Bewußte des Menschen liebt es zu verneinen
— fast hätte ich gesagt zu lügen. Hören Sie nicht auf das Nein, sondern
halten Sie an der Erkenntnis fest, daß das Es nie lügt und nie verneint.
Nach einiger Zeit wird die Richtigkeit der Assoziation sidi erweisen
und gleichzeitig eine Menge psychisches Material zum Vorschein kommen,
das, in das Unbewußte verdrängt, allerlei Gutes und Böses im Menschen
vollbracht hat.
Idi will Ihnen ein kleines Zahlenkunststück von meinem eigenen
Es mitteilen, das mir viel Spaß gemadit hat, als ich es entdeckte.
Lange Jahre hindurch habe ich, wenn ich meine Ungeduld und Un-
zufriedenheit ausdrücken wollte, den Ausdruck gebraucht: „Ich habe
Ihnen das sdion 26783mal gesagt." Sie besinnen sidi wohl, daß Sie
mich das letzte Mal, als wir zusammen waren, deswegen verspottet
haben. Das hat mich geärgert und ich habe an der Zahl ein wenig
herumgerätselt. Da fiel mir auf, daß die Quersumme dieser langen
Zahl 26 ist, genau dieselbe Zahl, die beim Wegnehmen der Tausender
von den übrigen Ziffern abgetrennt ist. Zu 26 fiel mir das Wort Mutter
ein. Idi war 26 Jahre alt, als meine Mutter starb. 26 Jahre alt waren
meine beiden Eltern, als sie heirateten; im Jahre 1826 wurde mein
Vater geboren; und wenn Sie die Quersumme von 783 nehmen, so
212
stoßen Sie auf 18. Isolieren Sie die drei ersten Ziffern als 2 X (6 + 7).
so haben sie 26. Addieren Sie die 2 zu den beiden letzten 8X3, so
gibt es wiederum 26. Idi bin geboren am 13. 10. 1866, Die Quersumme
davon ist 26.
Idi habe die Zahl 26783 noch ein wenig- anders zerlegt. Die 2
schien mir für sidi zu stehen, weil idi sie unwillkürlich zu den beiden
Rechnungen mit 6+7 und 8X3 verwendet hatte. Die übrigen Ziffern
gruppieren sich unter dem Einfluß der 2 betrachtet, als 67, 78, 83.
67 war das Alter meiner Mutter, als sie starb. 78 ist die Jahreszahl,
in der ich mein Elternhaus verlassen mußte, um in das Internat der
Schule überzutreten. Im Jahre 83 ging mir die Heimat völlig verloren,
da meine Eltern in diesem Jahre meine Geburtsstadt verließen und
nadi Berlin übersiedelten. In dasselbe Jahr fällt ein Ereignis, dessen
Tragweite sidi über einen langen Zeitraum meines Lebens erstredet.
In der Pause zwischen zwei Schulstunden sagte einer meiner Mitsdiüler
zu mir: „Onanieren Sie nur so weiter, dann sind Sie bald ganz ver-
rückt; halb sind Sie es so wie so." Das Wort ist verhängnisvoll für
mich geworden, nidit weil etwa die Onanieangst verstärkt worden
wäre, sondern weil ich kein Wort erwidert habe, still und schweigend
die Beschämung der öffentlichen Onaniebeschuldigung hinnahm, als ob
sie mich nicht berühre. Ich empfand sie tief, aber verdrängte sie sofort
mit Hilfe des Wortes „verrückt". Mein Es hat sich damals dieses Wortes
bemächtigt und es nitht wieder losgelassen. Mir schienen von nun an
alle Schrullen meines Denkens erlaubt. Halb verrückt, das bedeutet für
mich: Du stehst mitten zwischen zwei Möglichkeiten, kannst Welt und
Leben, je nachdem du dich nach der einen oder andern Seite biegst,
wie ein Gesunder, wie ein gewöhnHdier Mensch ansehen oder wie ein
Verrückter, aus der gewöhnlichen Lage gerückter, außergewÖhnUdier
Mensch. Das habe ich reichlidi getan und tue es, wie Ihnen sattsam
bekannt ist, noch. Die zwei Mütter — Amme und Mutter — fanden
ihre neue notwendige Begründung, das zwischen Zweien Stehen wurde
durch die halbe Verrücktheit für mich erträglich, sie führte mich aus
dem Zwang zu zweifeln zur duldsamen Skepsis und zur Ironie, zur
213
Gedankenwelt Thomas Weltleins. Ich halte es für möo-lich, daß ich mich
in der Einschätzung- des „halb verrückt" irre, aber es gibt mir eine
Erklärung: für die seltsamen Erscheinungen in meinem Wesen, das im
allg-emeinen zwei Möglichkeiten ausweicht, das aber imstande ist, un-
beirrt durch jeden Hohn, durch jede Belehrung, durch jeden Beweis,
durch den inneren Widerspruch, gleidizeitig entgegengesetzte, ja gegen-
sätzliche Gedankenriditungen zu verfolgen. Bei sorgfältiger Prüfung
meiner Lebensresultate habe idi gefunden, daß diese halbe Verrücktheit
mir gerade das Quantum Übergewidit gegeben hat, dessen mein Es
zur Bewältigung seiner Aufgaben bedurfte. Bezeichnend dafür ist —
mir wenigstens — meine medizinisdie Laufbahn. Ich habe mich zweimal
fremder ärztlicher Denkweisen bemächtigt und sie so in midi auf-
genommen und in mir umgestaltet, daß sie mein persönliches Besitztum
geworden sind, einmal durch meine Schülerstellung zu Schweninger,
das zweite Mal durch meine Jüngerschaft bei Freud. Jeder von Beiden
repräsentiert für mich als Arzt etwas Gewaltiges, Unentrinnbares. Ihren
Einfluß in mir zu vereinigen ist mir im Jahre 1911 gelungen und 11
ist die Quersumme von 83 und die Quersumme von 11 ist 2.
Das Jahr 83 hat sich, entsprechend seiner Hervorhebung als End-
ziffer der Rätselzahl 26783, auch in mein äußeres Leben als besonders
wichtig hineingedrängt. Ich erkrankte bald nach jener Äußerung über
die Onanie am Sdiarlach, in dessen Folge eine Nierenentzündung auftrat.
Ich habe später, wie Sie wissen, nodi einmal eine Nierenerkrankung
durdigemacht. Ich erwälme dies, weil diese Nierenerkrankung — das
gilt von mir und von allen Nierenkranken — charakteristisch für die
Doppelstellung im Leben ist, für das Dazwischenstehen, für die 2. Der
Nierenmensch — um diesen Ausdruck einmal zu gebrauchen — ist
doppelt gerichtet. Sein Es kann mit einer ungewöhnlichen Souveränität,
die gicidierzeit vorteilhaft und gefährlich ist, kindlich oder erwachsen
sein; es ist zwischen die 1 — das Symbol des erigierten Phallus, des
Erwachsenen, des Vaters — und die 3 — das Symbol des Kindes
gestellt. Idi überlasse es Ihnen, der unausdenkbaren Kette phantastischer
Möglichkeiten nachzugehen, die ein solcher Zwitter hat, bemerke nur
214
dazu, daß meine eigene Lage sich außer durch die Nierenentzündung-en
öodi dadurdi erwiesen hat, daß ich bis in mein 15tes Lebensjahr ein
Bettnässer gewesen bin. Und um schließlich auch das zu sagen: der
Zwitter ist weder Mann noch Weib, sondern Beides, und das ist mein Fall.
Und nun wollen wir spielen, mit Zahlen spielen, so weit wir es
noch vermögen, Kind sein. Aber sie müssen nicht böse sein, wenn sidi
erwachsenes Zeug der Großen dazwischen drangt. So etwas läßt sich
nicht vermeiden. Wer Kind ist, will groß erscheinen und setzt sich
Vaters Hut auf und nimmt seinen Stock. Was würde auch daraus
werden, wenn dieser Wunsch nach dem Großsein, nach der Erektion
nicht im Kinde wäre ? Wir würden klein bleiben, nicht wachsen. Oder
halten Sie es für eine Täuschung, wenn ich festgestellt zu haben glaube,
daß das Kleinbleiben der Mensdien in gewissem Zusammenhang mit
ihrem Kleinbleibenwollen steht, mit ihrem so Tun, als ob sie die Erektion
nicht kennen, unschuldig wären wie die Kindlein; daß das Nichthoch-
gewachsensein aus dem Wunsch des Es entsteht, eine Entschuldigung,
die Entschuldigung des Nochkindseins, für alle sexuellen Neigungen,
das heißt für alles und jedes Tun zu haben? Gemäß den Worten:
„Ich bin klein, mein Herz ist rein ?"
Setzen Sie sich mit mir vor die Schiefertafel, wir beide wollen tun,
als ob wir wieder Zahlen schreiben lernten. Was mag wohl im Kinder-
gehlm vor sidi gehen, wenn es gezwungen wird, eine halbe Tafel voll
Einser zu schreiben oder voll Achter? Sie können es auch auf die
Buchstaben übertragen, auf die a's und p's und alle die Hakihen und
Schlingen, die nach der Phantasie des Kindes angeln. Was ist die 1
für Sie ? Für mich ist es ein Stodc. Und nun der Sprung ins Großseiu,
der Stock des Vaters, der Penis, der Mann, der Vater selbst, die
Strenge und Kraft, in der Familie Nr. 1. Zwei, das ist der Schwan,
Spekters Fabeln. Ach wie hübseh das war. Meine Schwester hatte den
angen Hals und wurde weidlich damit geneckt. Und war wirklich ein
häßliches Entlein, das ein allzu früh verstorbener Schwan wurde. Und
plötzlich sehe idi den Schwanenteich meiner Heimat. Ich bin wohl
8 Jahre alt, und sitze mit Wolf, Lina und einer Freundin Anna Speck
215
im Kahn und Anna Speck fäUt ins Wasser, auf dem der Schwan
schwimmt; „mein Schwan, mein stiller, mit sanftem Gefieder," sollte
ich mich deshalb so viel mit Ibsen besdiäftigl haben, weil er dies Lied
dichtete und weil ich es in sdiwerer Zeit, als ich zu sterben glaubte,
sinken hörte? Oder ist es Agnes aus „Brand"? Agnes war meine
Kindergespielin und ich liebte sie sehr. Sie hatte einen schiefen Mund,
angeblich weil sie einen Eiszapfen in den Mund genommen hatte. Und
der Eiszapfen ist symbolisch. Mit Ihr spielte idi Seiltänzer und mein
Familienroman vom Kinderraub und meine Sdilagphantasieen hängen
mit ihr zusammen. Agnes und Ernst; so hieß ihr Bruder, der Un-
zertrennliche von mir, den ich spater schnöde im Stich ließ. Und Ernst
Schweninger: Ach, liebe Freundin, es ist so viel, so viel.
Zurück zu Anna Speck. Speck, Spekters Fabeln. „Was ist das für
ein Bettelmann? Er hat ein kohlschwarz RÖcklein an." Der Rabe. Und
Rabe war der Name meines ersten Lehrers, den ich für das Urbild
der Kraft hielt und der sich einst die Hose beim Springen zerplatzte,
ein Ereignis, das spater im Seelensucher wieder aufgetaucht ist Und
das Wort Rabe spielt seit Wochen eine Rolle in einer Kranken-
behandlung, die ich zum guten Ende führen will. Denn es würde ein
Triumph werden, wie ich ihn selten erlebte.
Spekters Fabel vom Scliwan. Sahen Sie einmal einen Schwan
ein großes Stück Brot versdilingen ? wie'- es den Hals hinunterkriedit ?
Anna Speck hatte dicke, dicke Drüsen am Halse. Und ein dicker Hals
bedeutet, das etwas drin stecken geblieben ist, ein Kindeskeim. Glauben
Sie mir, ein Kindeskeim. Ich muß es wissen, denn ich habe selber
über ein Jahrzehnt einen Kropf gehabt, und der ist so gut wie ver-
schwunden, seit ich hinter das Rätsel vom steckengebliebenen Kind
gekommen bin. Wie hätte ich denken sollen, daß diese Anna so in
mein Leben eingreifen würde? Wie wäre ich ohne den Glauben an
das Studium des Es dazu gekommen, diese Wichtigkeit der Anna zu
erkennen? Aber Anna ist der Name der Heldin meines ersten Romans.
Und ihr Mann heißt V/olf. Wolf und Anna, sie waren beide in jenem
Kahn. Und da taucht aucli wieder Alma auf, Sie wissen, jene Freundin
216
iMurri Mi
Linas, die meine sadistischen Spieldien störte. Wolf hatte ein Haus
aus Matratzen gebaut, in dem wohnte er mit Anna. Wir Kleinen aber
durften nidit mit hinein in dieses Matratzenhaus, Alma jedoch, die
wissend war, sprang, als sie vom Wolf weggewiesen wurde, mit Lina
und mir in den Garten und rief: „Ich weiß, weis die beiden dort
machen." Ich verstand damals nicht, was Alma meinte, aber die Worte
sind mit im Gedächtnis geblieben und die Stelle, wo sie fielen, und
ich fühle nodi jetzt den Sdiauer, der mich damals durchrieselte.
Anna, das ist ohne Anfang und Ende, das a und das o, Anna
und Otto, von vorn dasselbe wie von hinten, das Sein, die Unendlichkeit
und Ewigkeit, der Ring und Kreis, die Null, die Mutter, Anna.
' Nun fällt mir ein, daß das ins Wasserfallen der Anna eine große
Rolle in meinem Leben gespielt haben muß. Denn Jahre lang hatte
ich die Ooaniephantasie, daß eine Anna vom hohen Ufer in meinen
Kahn stieg, daß sie ausglitt, ihre Kleider sidi hodistreiften und ich
ihre Beine und Hosen sah. Wie seltsam sind die Wege des Un-
bewußten. Denn vergessen Sie nidit, das ins Wasserfsillen ist ein
Schwangerschaftssymbol und Geburtssymhol, und Anna hatte einen
dicken Hals — wie iti».
Das ist also die 2. Und die 2 ist die Frau, die Mutter und das
Mädchen, das nur 2 Beine hat, der Knabe hat aber deren drei. Drei
Füße, Dreifuß, und die Pythia spridit nur, wenn sie auf dem Dreifuß
sitzt, ödipus aber errät das Rätsel der Sphinx von dem Tier, das
ursprünglich vier-, dann zwei- und schließlicii dreibeinig ist. Sophokles
behauptet, Ödipus habe das Rätsel gelost. Aber ist das Wort „Mensdi"
eine Antwort auf eine Frage?
2, du verhängnisvolle Zahl, die du die Ehe bedeutest, bist du audi
die Mutter? Oder ist die 3 die Mutter? Sie erinnert mich an die
Vögel, die meine Mutter uns zu zeichnen pflegte, diese Drei. Vögel
und Vögeln, das stimmt. Aber wenn ich die Drei jetzt liegend sehe, ist
sie für mich Symbol der Brüste, meine Amme und all die vielen
Brüste, die ich geliebt habe und noch liebe. 3 ist die heilige Zahl, das
Kind, Christus, der Sohn : die dreieinige Gottheit, deren Auge im
217
Dreieck strahlt. Bist du wirklich nur Eros' Kind, du Urbild der Wissen-
schaft, Mathematik? Und auch der Gottesglaube stammt von dir, Eros?
Ist es wahr, daß die 2 das Paar ist, das Ehepaar und auch das Paar
der Hoden und Eierstöcke, der Schamlippen und Augen. Ist das wahr
daß aus 1 und 2 die 3 wird, das ailmächtige Kind im Mutterleibe ?
Denn was wäre wohl mächtig, wenn nicht das ungeborene Kind, dessen
Wünsche alle erfüllt sind, noch ehe sie gedacht werden ? Das in Warheit
Gott und König ist und im Himmel wohnt? Das Kind aber ist ein
Knabe, denn nur der Knabe ist die 3, zwei Hoden und ein Schwänzchen.
Nicht wahr, es geht ein wenig durcheinander? Wer könnte sicli auch
im Irrgarten des Es zureditfinden! Man staunt, will kleinmütig werden
und wirft sich doch mit wonnigem Erschauern in das Meer der Träume.
1 und 2, das ist die Zwölf. Mann und Weib, mit Recht eine
heihge Zahl, aus der die 3 wird, wenn sie zusammenfließt zur Einheit,
das Kind, der Gott. Zwölf Monde sind es und aus ihnen wird das
Jahr; zwölf Jünger sind es und aus ihnen erbebt sidi Christus, der
Gesalbte, „des Menschen Sohn". Ist es nicht wunderbar, dies Wort
„des Menschen Sohn?" Und mein Es sagt laut und vernehmlich zu mir:
„Deute, deute!"
Adjö, Liebe.
PATRIK.
26.
DAS ZAHLENSPIEL INTERESSIERT SIE ALSO, LIEBE FREUNDIN;
das höre ich gerne. Sie hatten mich allzu oft sclilecht rezensiert, so-
daß ich die Anerkennung brauchte. Und ich bedanke mich schön, daß
Sie meinen Namen in demselben Satz bringen, in dem Sie Pythagoras
nennen. Ganz abgesehen von dem Genuß, den Sie meiner Eitelkeit
damit gewähren, beweist es mir, daß Sie das erste Erfordernis zum
Kritisieren haben, die Fähigkeit, unbedenkHch einen Schulze, Müller,
Lehmann oder Troll mit Goethe, Beethoven, Leonardo oder Pythagoras
zu vergleichen. Es macht mir Ihre Äußerungen doppelt wertvoll.
218
kk
Daß Sie nun gar Positives geben und midi auf die dreizehn als
Zahl der Abendmahlsteilnehmer aufmerksam madien, und die Angst,
der dreizehnte Tischgast müsse sterben, mit Christi Kreuzestod
zusammenbringen, läßt mäch hoffen, Ihr Widerwille gegen mein Es-
Gerede werde nach und nach sdiwinden. Aber warum muß es durdi-
aus Christus sein? Auch Judas ist ein Dreizehnter und audi er
mußte sterben.
Ist Ihnen schon aufgefallen, wie eng diese beiden Ideen, Christus
und Judas, miteinander verfloditen sind? lA sprach Ihnen früher ein-
mal von der Ambivalenz im Unbewußten, von der menschlichen Eigen-
tümlichkeit, in der Liebe den Haß, in der Treue den Verrat zu haben.
Diese tief innerlidie unüberwindlidie Doppelheit des Menschen hat
sich den Mythus des Judaskusses erzwungen, in dem alltägliches mensch-
liches Handeln und Erleben symbolisiert ist. Ich möchte, daß Sie sich
mit dieser Tatsache ganz vertraut machen, sie ist von großer Widitig-
keit. So lange Sie das nicht wissen, nicht ganz von solcher Erkenntnis
durchdrungen sind, verstehen Sie nichts vom Es. Aber es ist nidit
leidit, solche Erkenntnis zu erwerben. Denken Sie an die höchsten
Momente Ihres Lebens und dann suchen Sie, bis Sie die Judasgesinnung
und den Judasverrat gefunden haben. Sie werden ihn immer finden.
Als Sie Ihren Liebsten küßten, fuhr Ihre Hand empor, um das Haar
zu halten, das sich lösen konnte. Als Ihr Vater starb — Sie waren
damals noch jung — freute es Sie, zum ersten Male ein schwarzes
Kleid zu tragen, Sie zahlten stolz die Kondolenzbriefe und legten mit
o-eheimer Genugtuung die Beileids zeilen eines regierenden Herzogs
obenauf. Und als die Mutter krank war, schämten Sie sich, weil Ihnen
plötzlidi der Gedanke an die Perlenschnur durch den Kopf fuhr, die
Sie nun erben würden; am Begräbnistage fanden Sie, daß Sie der
Hut acht Jahre älter mache, und dabei dachten Sie nicht an Ihren
Mann, sondern an das Urteil der Masse, vor deren Augen Sie ein
Schauspiel sdiÖner Trauer aufführen wollten, recht wie eine Sdiau-
spieferin und Hetäre. Und wie oft haben Sie eben so plump wie Judas
die nächsten Freunde, Mann und Kinder um dreißig Silberlinge verraten
219
Denken Sie ein wenig diesen Ding-en nach! Sie werden finden, daß
des Menschen Dasein von Anfang bis zu Ende mit dem erfüllt ist,
was unser wägendes Urteil als verächtlichste und schwerste Sünde
brandmarkt, mit Verrat. Aber Sie sehen auch sofort, daß dieser
Verrat vom Bewußtsein fast nie als Schuld empfunden wird. Kratzen
Sie jedodi das bißchen Bewußtsein, mit dem sich unser Es deckt,
irgendwo ab, dann sehen Sie, wie das Unbewußte fortwährend die
Verratshandlungen der letzten Stunden sichtet, die einen aus sich heraus
wirft, die andern für den Gebrauch des morgigen Tages bereit legt,
die dritten in die Tiefe verdrängt, um aus ihnen das Gift zukünftiger
Erkrankungen oder den Wundertrank kommender Taten zu brauen.
Schauen Sie aufmerksam in dieses seltsame Dunkel hinein, liebste
Freundin. Hier ist ein Spalt, durch den Sie undeutlich, und fast
verzweifelnd, die nebeiförmig treibenden Massen einer lebendigen
Kraft des Es sehen können, des Schuldbewußtseins. Das Schuld-
bewußtsein ist eines der Werkzeuge, mit denen das Es am Menschen
sicher und ohne je zu stocken oder zu fehlen arbeitet. Das Es
braucht dieses Schuldbewußtsein, aber es sorgt dafür, daß die Quellen
des Schuldbewußtseins niemals vom Menschen ergründet werden; denn
es weiß, daß im selben Auj^enblick, wo irgendwer das Geheimnis
der Schuld aufdeckt, die Welt in ihren Fugen zittert. Deshalb häuft
es Schrecken und Angst rings um die Tiefen des Lebens, ballt
Gespenster aus den nichtigen Dingen des Tages, erfindet das Wort
Verrat und den Menschen Judas und die zehn Gebote und verwirrt
das Sehen des Ichs mit tausend Dingen, die dem Bewußtsein schuld-
voll erscheinen, nur damit nie der Mensch dem tröstenden Worte glaubt:
fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir.
Und da haben Sie Christus. So unabänderlich wie in jeder edlen
Tat des Menschen der Verrat mitwirkend einhergeht, so unabänderlich
ist in allem, was wir böse nennen, das Wesen des Christus — oder
wie Sie nun dies Wesen nennen wollen — das Liebende, Gütige. Um
das zu erkennen, brauchen Sie nicht erst den weiten Umweg zu
machen, der über den mörderischen Dolchstoß hinweg auf den Urtrieb
220
des Mensdien führt, der aus Liebe in das Innere des Nebenwesens
zu dringen sucht, um Glück zu geben und zu empfangen — denn der
Mord ist letzten Endes nur Symbol verdrängter Liebeswut. — Sie
brauchen den Diebstahl nicht erst zu analysieren, wobei Sie wiederum
auf denselben alles gestaltenden Eros stoßen würden, der nehmend
gibt. Sie brauchen nicht über Jesu Worte an die Ehebrecherin nachzu-
denken: „Dir sind deine Sünden vergeben, denn du hast viel geliebt."
In Ihren aütäglidien Handlungen finden Sie überall Aufopferung und
Kindlidikeit genug, die Sie lehrt, was idi sagte: Christus ist überall,
wo der Mensdi ist.
Aber ich schwatze und schwatze und wollte Ihnen dodi bloß be-
' greiflich machen, daß es Gegensätze nicht gibt, daß alles im Es vereint
ist. Und daß dieses Es ganz nach Belieben eine und dieselbe Handlung
als Grund zum Gewissenbiß oder zum Hochgefühl edler Tat verwendet.
Das Es ist listig und es madit ihm nicht viel Mühe, dem dummen
Bewußtsein weis zu madien, schwarz und weiß seien Gegensätze und
ein Stuhl sei wirklich ein Stuhl, während dodi jedes Kind weiß, daß
er auch eine Droschke ist und ein Haus und ein Berg und eine Mutter.
Das Bewußtsein setzt sich hin, schwitzt und schwitzt vor Anstrengung,
um Systeme zu erfinden und das Leben in Schubladen und Beutel zu
tun, das Es aber schafft lustig und unerschöpflich an Kraft, was es
will, und idi denke mir, ab und zu lacht es über das Bewußtsein.
Warum ich das alles erzähle? Vielleicht mache ich mich über Sie
lustig, vielleicht wollte ich Ihnen bloß zeigen, daß man von jedem Punkt
aus das ganze Leben durdischweifen kann, eine Binsenwahrheit, die
/ des Nachdenkens wert ist. Und damit gehe idi in einem kühnen
Sprung wieder zu meiner Erzählung vom Federhalter zurück. Denn
ich muß noch über das Bläschen am Munde etwas sagen. Vielleicht
das Widitigste, jedenfalls etwas Seltsames, das Ihnen mehr über des
Unterzeichneten Verdrängungen erzählen wird, als idi selber vor ein
paar Jahren wußte.
Das Bläschen am Munde — idi sagte es Ihnen schon früher ein-
mal — bedeutet, daß ich gern küssen möchte, daß aber irgend ein
221
%
1
Bedenken dag^egen besteht, das mächtig genug ist, die obersten
Schichten der Haut empor zu heben und die dadurch entstandene
Höhlung mit Flüssigkeit zu füllen. Damit ist nicht viel anzufangen,
denn, wie Sie wissen, küsse ich gern und wenn ich all die durchgehen
wollte, die mir des Kusses wert scheinen und von denen ich nicht
weiß, ob sie mich wieder küssen würden, würde mein Mund immer
wund sein. Aber das Bläschen sitzt rechts und ich bilde mir ein, daß
die rechte Seite die des Rechts, der Autorität, der Verwandsdiaft ist.
Autorität? Unter meinen Blutsverwandten kommt da nur mein ältester
Bruder in Betracht. Und der ist es wirklich, gegen den sich das Bläschen
richtete. An jenem Tage war ich in meinen Gedanken unablässig mit
einem bestimmten Kranken besdiäftigt. Das fiel mir, der ich im all-
gemeinen den Grundsatz huldige, nicht mehr an meine Patienten zu
denken, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat, der Selten-
heit wegen auf, und bald wußte ich auch, was der Grund davon war:
Jener Kranke hatte in seinen Gesichtszügen und noch mehr in seinem
Wesen Ähnlichkeit mit meinem Bruder. Der Wunsch zu küssen ist
damit erklärt. Er galt diesem Kranken, auf den ich die Leidenschaft
für meinen Bruder übertragen hatte. Gelegenheit dazu gab die Tat-
sache, daß der Geburtstag meines Bruders in jener Zeit war, und daß
ich dem Kranken kurz vorher im Zustand der Bewußtlosigkeit gesehen
hatte. Als Kind bin ich mehrmals Zeuge von sdiweren Ohnmächten
meines Bruders gewesen ; die Form seines Kopfes steht mir aus jener
Zeit noch deutlidi vor Augen, ich habe Grund anzunehmen, daß meine
Neigung hauptsächlich durch diesen Anblick entstand. Die Ähnlidikeit
der beiden Männer ist mir bei der Unbeweglichkelt der Gesichter klar
geworden.
Zum Zustandekommen des Bläsdiens gehört aber außer dem Kuß-
wunsch die Abneigung gegen den Kuß. Die ist erklärlich genug. In
unsrer Familie waren Zärtlichkeiten unter den Geschwistern streng
verpönt. Es ist mir noch jetzt undenkbar, daß wir uns untereinander
hatten küssen können. Aber es handelt sicli bei der Abneigung gegen
den Kuß nicht blos um die Familientradition, sondern um die Frage
222
Bi
der Homosexualität. Und bei der muß ich einen Augenblick ver-
weilen.
Ich bin, wie Sie wissen, von meinem zwölften Lebensjahre an in
einem Knabeninstitut erzogen worden. Wir lebten dort völlig- von der
übrig-en Welt abgeschlossen, innerhalb von Klostermauern und all unsre
Liebesfähigkeit und unser Liebesbedürfnis richtete sich auf unsre
Kameraden. Wenn ich an die sechs Jahre zurückdenke, die ich dort
zugebracht habe, taucht sofort das Bild meines Freundes auf. Ich sehe'
uns beide eag umschlungen durch den Kreuzhang- des Klosters schreiten.
Von Zeit zu Zeit bricht der feurig- geführte Streit über Gott und die
Welt ab und wir küssen uns. Es ist, glaube idi, nicht möglich, sich die
Stärke einer verscliwundenen Leidenschaft vorzustellen, aber nach den
vielen Eifersuchtsszenen zu schließen, in die sidi wenigstens von memer
Seite aus oft genug Selbstmordphantasieen einmisditen, muß meine
Neigung sehr groß gewesen sein. Ich weiß auch, daß damals die Liebe
zum Knaben fast ausschheßlich meine Onsniephantasieen ausfüllte.
Nach meinem Abgang; von der Sdiule bat meine Neigung zu diesem
Freunde noch längere Zeit angehalten, bis sie ein Jahr spater auf
einen Universitätskameraden übertragen wurde und von dem jäh auf
seine Schwester übersprang. Damit war meine Homosexualität, die
Neigung zu meinen eigenen Gesclilechtsgenossen, scheinbar erloschen.
Ich habe von da an nur Frauen geliebt.
Sehr treu und sehr treulos geliebt, denn ich besinne mich, daß
idi stundenlang in Berlin umhergestrolcht bin wegen irgend eines
weiblichen Wesens, das ich zufällig gesehen hatte, von dem ich nichts
wußte und nie etwas erfuhr, das aber meine Phantasie Tage und
Wochen lang bescliäfügie. Die Reihe solcher Traumgeliebten ist unendlich
groß und sie hat sich bis vor wenigen Jahren fast täglich um dies
oder jenes Wesen vermehrt. Das Charakteristische dabei war, daß meine
wirklichen erotischen Erlebnisse nicht das Geringste mit diesen Geliebten
meiner Seele zu tun hatten. Idi habe für meine Onaniesdiwelgereien
so viel idi weiß, nicht ein einziges Mal ein weibliches Wesen gewählt,
das idi wirklidi liebte. Immer Fremde, Unbekannte. Sie wissen, was
223
das bedeutet? Nein? Es bedeutet, daß meine tiefste Liebe einem
Wesen o;ehörte, das ich nicht erkennen durfte, mit andern Worten
meiner Schwester und hinter ihr der Mutter. Aber vergessen Sie nicht,
daß ich das erst seit Kurzem weiß, daß ich früher nie gedacht habe.'
ich könne Schwester oder Mutter beg-ehren. Man geht eben durch die'
Welt, ohne das Geringste von sich selbst zu wissen.
Zur Ergänzung dieses Liebeslebens mit Fremden, Unbekannten,
die ich nie kennen zu lernen suchte, muß ich noch etwas sagen, obwohl
es nur entfernt mit dem zusammenhängt, was idi eigentlich mitteilen
wollte, mit der Homosexualität. Es bezieht sich auf mein Verhalten
gegenüber den Frauen, an die midi wirkliche Liebe knüpfte. Nicht von
einer, nein von jeder habe ich dasselbe verwunderliche Urteil gehört:
„Wenn man mit dir zusammen ist, glaubt man dir so nahe zu sein,
wie nie einem andern Menschen; sobald du Abschied nimmst, ist es,
a]s ob du eine Mauer errichtetest, als ob ich dir völlig fremd wäre,
fremder als irgend jemand sonst." Das habe icli selbst niemals gefühlt,
wahrscheinlich, weÜ ich es gar nicht erlebt hatte, daß mir jemand nicht
fremd war. Jetzt verstehe ich es aber: um lieben zu können, mußte
idi die realen Menschen in der Entfernung halten, den Imagines von
Mutter und Schwester künstlich annähern. Zu Zeiten muß das redit
schwer gewesen sein, aber es war das einzige Mittel, die Leidenschaft
lebendig zu erhalten. Glauben Sie mir, Imagines haben Madit.
Und nun leitet mich das dodi wieder zu meinen homosexuellen
Erfahrungen. Denn mit den Männern ist es mir ähnlich gegangen.
Drei Jahrzehnte lang habe ich sie mir fern gehalten; auf welche Weise,
kann idi nidit sagen, aber daß es mir in hohem Grade gelungen ist,
beweist mein Kranken verzeidinis, das erst in den letzten drei Jahren
wieder mehr männliche Namen enthält. Sie tauchen wieder auf, seit
idi nicht mehr auf der Flucht vor der Homosexualität bin. Denn der
Wunsch, dem Manne zu entfliehen, ist letzten Endes daran Schuld
gewesen, daß ich von männlichen Kranken selten aufgesucht wurde.
Lange Jahre hindurch habe ich nur Augen für das Weib gehabt, habe
idi jedes Weib, das mir begegnete, prüfend angesehen und mehr oder
224
weniger geliebt, während all dieser Jahre habe ich auf der Straße, in
Gesellschaft, auf Reisen, ja selbst ia Versammlungen von Männern nicht
einen einzigen Mann wirkHch bemerkt. Ich habe an allen vorbei gesehen,
selbst wenn ich ihnen stundenlang in die Augen sah. Sie gingen nidit
in mein Bevirußtsein, in meine Wahrnehmung über.
Das hat sidi geändert. Ich blicke jetzt ebenso nach dem Mann
wie nach der Frau, sie sind beide für mich Menschen geworden, idi ver-
kehre mit beiden gleich gern und es ist kein Unterschied mehr. Vor
allem bin idi dem Manne gegenüber nicht mehr verlegen. Ich brauche
die Mensdien mir nicht mehr zu entfremden; der tief verdrängte
Inzestwunsch, der so unheimlich und ungeheuer gewirkt hat, ist bewußt
geworden und stört nicht mehr. So wenigstens erkläre ich mir die
Vorgänge.
In gewisser Weise ist es mir auch mit Kindern so gegangen und
mit Tieren und mit der Mathematik und mit der Philosophie. Aber das
gehört in einen anderen Zusammenhang, wenn es auch verknüpft mit
der Verdrängung von Mutter, Sdiwester, Vater und Bruder ist.
So riditig mir nun diese Erklärung meines Wesens aus der Flucht
vor Trolls erscheint, die ja für mich eine besondere Gattung Menschen
sind — denn es gibt gute Mensdien und es gibt böse Menschen und
es gibt Trolls — so einleuchtend es mir ist, daß ich gleichsam das
Opernglas, mit dem ich meine Mitmenschen ansah, verkehrt benutzen
mußte, um durch künstliches Fernsehen, durch Entfremdung sie meinen
Imagines anzuähneln, so wenig genügt es, aUes zu erklären. Es laßt
sidi eben nicht alles erklären. Eines aber kann ich noch sagen: ich
brauche dieses gekünstelte Lieben und Entfremden, weil idi auf mich
selbst eingestellt bin, mich selbst in gar nidit meßbarem Grade liebe,
weil ich das habe, was die Gelehrten Narzißmus nennen. Der Narzißmus
spielt eine große Rolle im Leben der Menschen. Besäße ich ihn nidit
in so hohem Grade, so würde ich niemals geworden sein, was ich bin,
würde audi nie verstanden haben, warum Christus sagt: Liebe deinen
Näthsten wie didi selbst. Wie dich selbst, nicht etwa mehr als dich
selbst.
15 Groddeck, Das Buch vom Es 225
Bei uns Trollkindern war eine Redensart Mode, die lautete Erst
komme ich, dann komme ich noch einmal, dann kommt lange, lange
nichts und dann kommen die Andern.
Und denken Sie, wie spaßhaft! Ich besaß als kleiner Junge, als
aditjähriger etwa, ein Stammbudi, in das die lieben Freunde Verse
und Namen eintrugen. Auf der Schlußseite des Umschlags steht, in
Umwandlung eines alten Spruchs, von meiner Handschrift geschrieben
Wer dich lieber hat als ich,
der schreibe sich nur hinter mich !
Dein Ich.
So habe idi es damals gehalten und ich fürdite, viel anders bin
i<ii nidit geworden.
Immer der Ihre
PATRIK TROLL.
27.
w
DANK FÜR IHREN BRIEF, LIEBE FREUNDIN. ICH WERDE VER-
suchen, wenigstens diesmal Ihrer Bitte um Sachlichkeit zu willfahren.
Das Phänomen der Homosexualität ist wichtig genug, um es methodisch
zu prüfen.
Ja, ich bin der Ansicht, daß alle Menschen homosexuell sind, bin
so sehr dieser Ansicht, daß es mir schwer fällt zu begreifen, wie jemand
andrer Ansidit sein kann. Der Mensch liebt sidi selbst zunädist, liebt
sich mit allen Leidenschaftsmöglichkeiten, sucht sich seinem Wesen nadi
jede denkbare Lust zu verschaffen, und da er selber entweder Mann
oder Weib ist, so ist er von vornherein der Leidenschaft zu seinem
eigenen Geschledit Untertan. Das kann nicht anders sein und jede
unbefangene Prüfung irgend eines beliebigen Menschen gibt den Be-
weis dafür. Die Frage ist also niciit: ist die Homosexualität Ausnahme,
ist sie pervers? Davon ist nidit die Rede; sondern sie lautet: warum
ist es so sdiwer, dieses Phänomen der gleichgeschlechtlichen Leiden-
schaft unbefangen zu sehen, zu beurteilen und zu besprechen, und dann,
226
wie
kommt es, daß der Menscli trotz seiner homosexuellen Anlage es
zu Stande bringt, auch für das entgegengesetzte Gesdiledit Neigung
zu empfinden?
Für die erste Frage findet sicii leicht eine Antwort. Die Päderastie
ist mit Zudithaus bedroht, als Verbrechen gebrandmarkt, wird seit
Jahrhunderten als sdiändliches Laster empfunden. Daß die große Mehr-
zahl der Menschen sie nicht sieht, erklärt sich aus diesem Verbot. Es
st nidit wunderbarer als die Tatsadie, daß so viel Kinder die Schwanger-
schaften ihrer Mutter nicht sehen, daß fast alle Mütter nidit im Stande
sind, die Geschlechtsäußerungen der kleinen Kinder zu sehen, daß
niemand den Inzesttrieb des Knaben zu seiner Mutter deutiich gesehen
hat, bis Freud ihn gesehen und beschrieben hat. Wer aber doch die
Verbreitung der Homosexualität kennt, ist deshalb nod; längst nicht
befähigt, ihr Wesen unbefangen zu beurteilen, und wer auch dazu die
Kraft hat, sdiweigt lieber, als daß er sich auf den Kampf mit der
Dummheit einläßt.
Man sollte denken, daß eine Zeit, die sidi auf ihre Bildung etwas
zu gute tut, die, weil sie selbst nicht denkt, Geographie und Gesdiidite
auswendig lernt, daß eine sold\e Zeit wissen müßte: jenseits des
ägäisdien Meeres, in Asien, beginnt das Reich der freien Päderastie
und eine so hochentwickelte Kultur wie die der Griechen ist ohne An-
erkennung der Homosexualität gar nicht denkbar. Ihr müßte zum min-
desten das seltsame Wort des Evangeliums von dem Jünger Christi auf-
gefallen sein, den Jesus lieb hatte und der an des Herrn Brust lag. Nidits
von all dem. Gegen all diese Zeugnisse sind wir blind. Wir dürfen nicht
sehen, was sichtbar ist.
Zunächst ist es von der Klrdie verboten. Sie hat dies Verbot
offenbar dem alten Testament entnommen, dessen GeUt jede Geschlechts-
regung unter den Gesichtspunkt der Kindererzeugung zu bringen sudite
und, als Ausfluß priesterlidier Maditgier, mit Vorbedacht die Urtriebe
der Mensdiheit zu Sünden machte, um das bedrängte Gewissen zu
unterjochen. Das war der diristhchen Kirdie besonders bequem, da sie
mit der Verfludiung der Männerliebe die Wurzel der hellenisdien Kultur
15- 227
.^tfCL
treffen konnte. Sie wissen, daß sich die Stimmen mehren, die gegen
die Bestrafung der Päderastie protestieren, weil man fühlt, daß hier
aus vererbtem Recht langst Unredit geworden ist.
Trotz dieser wachsenden Einsicht ist eine baldige Änderung unseres
Urteils über die Homosexualität nicht zu erwarten. Das hat einen ein-
fachen Grund. Wir alle verbringen mindestens fünfzehn bis sechzehn
Jahre, meistens unser ganzes Leben in der bewußten oder wenigstens
halbbewußten Erkenntnis, homosexuell zu sein und so und so oft homo-
sexuell gehandelt zu haben und nodi zu handeln. Es geht allen, wie
es mir gegangen ist, daß sie zu irgend einer Zeit ihres Lebens eine
übermenschlidie Anstrengung machen, diese nach Wort und Schrift
verächtliche Homosexualität zu ersticken. Nicht einmal die Verdrängung
gelingt ihnen, und um das andauernde, taghdie Sidiselbstbelügen durch-
zuführen, unterstützen sie die öffentliclie Lästerung der Homosexualität
und erleichtern sich so den inneren Kampf. Man macht eben bei der
Betrachtung des Erlebens immer wieder dieselbe Entdeckung: Weil
wir uns selbst als Diebe, Mörder, Ehebredier, Päderasten, Lügner
empfinden, eifern wir gegen Raub, Mord und Lüge, damit nur niemand,
am wenigsten wir selber zur Erkenntnis unsrer Lasterhaftigkeit kommen.
Glauben Sie mir: was der Mensch haßt, verachtet, tadelt, das ist sein
ureigenes Wesen. Und wenn Sie wirklich Ernst mit dem Leben und
der Liebe madien wollen, mit der Vornehmheit der Gesinnung, so halten
Sie sich an den Spruch :
„Schilt nicht auf mich!
Und fehle Ich,
So bessre dich!"
Idi kenne noch einen Grund, warum wir vor der Ehrlichkeit in
homosexuellen Fragen zurückweichen, das ist unsre Stellung zur Onanie.
Die Wurzel der Homosexualität ist der Narzißmus, die Selbstliebe und
Selbstbefriedigung. Der Mensch, der dem Phänomen der Selbstbefrie-
digung unbefangen gegenüber steht, soll noch geboren werden.
Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß ich bisher nur von der gleich-
gesdilechtlichen Liebe zwischen Männern gesprodien habe. Das ist
228
r
i
^
begreiflidi, weil ich aus einer Zeit stamme, in der man so tat — oder
glaubte man es wirklich? — daß es eine weiblidie Sinnlichkeit außer j
bei einigen verworfenen Dirnen nidit gäbe. In dieser Hinsicht kann
man das vergangene Jahrhundert beinahe spaßhaft nennen; nur sind
leider die Folgen dieses Spasses böse. Es kommt mir so vor, als ob
man sich neuerlich wieder auf die Existenz von Brüsten, Scheide und
Kitzler besinne und als ob man sogar den Gedanken gestatte, daß es
einen weibHchen After mit Kack-, Furz- und Wollustgelegenheiten gäbe.
Aber vorläufig ist das dodi nur die Geheim Wissenschaft der Frauen
und einiger Männer. Die große Masse des Publikums scheint das Wort
homosexuell von Homo = Mann abzuleiten. Daß die Uebe von Weib
zu Weib alltäglich ist und sidi offen vor Jedermauns Augen abspielt,
bemerkt man kaum. Trotzdem bleibt es eine Tatsache, daß eine Frau
ohne jede Scheu jedes andere weibliche Wesen, wes Alters es auA
sein mag, küssen und herzen darf. So etwas ist eben nicht „homo-
sexuell", ebensowenig wie die weibliche Onanie „Onanie" ist. So etwas
gibt es ja gar nicht.
Darf ich Sie an ein kleines Abenteuer erinnern, das wir gemeinsam
erlebten : Es muß etwa 1912 gewesen sein; der Kampf um die moralisdie
Verurteilung der Homosexualität ging damals besonders hodi, weil das
deutsche Strafgesetzbud. neu bearbeitet wurde; man hatte vorgeschlagen,
aud. das weibliche Geschlecht unter den Paragraphen 175 2U stellen.
Ich war bei Ihnen und weil wir uns ein wenig gezankt hatten, uns aber
doch bald wieder versöhnen wollten, hatte ich eine Zeitsdinft .ur Hand
genommen und blätterte darin. Es war der Kunstwart und darin war
ein Aufsatz, in dem eine der höchstgeaAteten Frauen Deutsciilands
sich über weibliche Homosexualität äußerte. Sie nahm scharf gegen den
Vorschlag, die Liebe von Weib zu Weib zu bestrafen. Stellung, memte,
damit werde der Aufbau der Gesellsciiaft in ihren Grundfesten er-
schüttert, iedenfaU müsse man, wenn man das Strafgesetz auf die
Frauen ausdehnen wollte, die Zahl der Gefängnisse vertausendfachen.
Id. sdiob Ihnen in der Hoffnung, ein harmloses Gesprädisthema ge-
funden zu haben, bei dem wir unseren gegenseitigen Groll verplaudern
229
könnten, das Blatt hin, aber mit einem kurzen „Ich habe es schon ge-
lesen", wiesen Sie meine Annäherung zurück. Die Versöhnung- kam
dann auf andre Weise zu Stande, aber am selben Abend erzählten Sie
mir ein kleines Geschiditchen aus Ihrer Mädchenzeit, wie Ihre Kusine
Lola Ihre Brust geküßt hatte. Ich habe daraus geschlossen, daß Sie die
Meinung jener Kämpferin für Straflosigkeit der sapphischen Liebe teilten.
Für midi wurde damals die Frage der Homosexualität gelöst:
dieser Angriff auf Ihre Brust machte mir auf einmal klar, daß die
Natur selbst die Erotik zwischen Weib und Weib erzwingt. Denn
schüeßlidi werden kleine Mädchen nicht von ihren Vätern, sondern von
den Müttern gestillt, und daß das Saugen an der Brustwarze ein
Wollustakt ist, weiß jede Frau — und auch der Mann. Daß es kind-
hche und nicht erwachsene Lippen sind, die diese Wollust hervorrufen,
macht höchstens insofern einen Unterschied, als das Kind sanfter und I
süßer die Brust umschmeidielt, als es der Erwachsene jemals vermag.
Die Schreiberin jenes Artikels scheint mir in nodi ganz anderm Sinne
Redit zu haben, wenn sie behauptet, die Grundfesten des menschlichen
Lebens werden durch die Bestrafung der Homosexualität erschüttert,
denn auf den geschleditlichen Beziehungen von Mutier und Tochter,
von Vater zu Sohn beruht die Welt.
Nun kann mann ja frisdiweg behaupten — und tatsächlich wird es
behauptet — die Menschen seien bis zur Zeit der Pubertät, als Kinder
also, samt und sonders bisexuell, um dann in ihrer großen Mehrzahl
zu Gunsten des andern Geschlechts auf die Liebe zum eigenen zu
verziditen. Aber das ist nicht richtig. Der Mensch ist bisexuell sein
Leben lang und bleibt es sein Leben lang und höchstens erreicht dieses
oder jenes Zeitalter als Konzession für seine modische Sitthchkeit hie
und da, daß bei einem Teil — einem recht kleinen Teil — die Homo-
sexualität verdrängt wird, womit sie aber nicht vernichtet, sondern nur
eingeengt ist. Und ebenso wenig wie es rein heterosexuelle Menschen
gibt, ebenso wenig gibt es rein homosexuelle. Um das Schicksal, neun
Monate lang im Bauch einer Frau zu stecken, kommt selbst der leiden-
schaftlichste Urning nicht herum.
230
Die Ausdrücke „homosexuell" und „heterosoxuell" sind eben Worte,
Kapitelübersdiriften, unter die jeder schreiben kann, was er will. Irgend
ein fester Sinn liegt nicht darin. Es Ist Stoff zum Schwatzen.
Viel merkwürdiger als die Liebe zum eigenen Gesdilecht, die [a
als unbedingte Notwendigkeit aus der Selbstiiebe folgt, ist es für midi,
wie die Liebe zum fremden Gesdilecht zustande kommt.
^ Bei dem Knaben sdieint mir die Sadie einfadi zu Hegen. Der
Aufenthalt im Mutterleibe, die langjährige Abhängigkeit von der weib-
lichen Pflege, alle die Zärtlichkeiten, Freuden, Genüsse und Wunsch-
erfüllungen, die ihm nur die Mutter gibt und geben kann, sind ein so
starkes Gegengewicht gegen den Narzißmus, daß man nicht weiter
zu suchen braudit. Aber wie kommt das Mäddien zum Anschluß an
das männlidie Geschlecht? Ich fürdite die Antwort, die idi darauf
gebe, wird Ihnen ebenso wenig genügen, wie sie mir genügt. Oder.
um es noch deutlicher zu sagen, id. weiß keinen ausreidienden Grund
zu nennen. Und da ich eine nidit unbegründete Abneigung habe, mit
dem Wort Vererbung zu spielen, da idi von der Vererbung nldit
mehr weiß, als daß sie existiert und zwar in ganz anderer Weise
existiert, als man gewöhnUdi annimmt, sehe idi midi genötigt zu
schweigen. Nur einige Fingerzeige mödite idi geben. Zunädist läßt «ich
feststeUen. daß die Vorliebe des Töd^terdiens für den Vater sehr fnih
entsteht. Die Bewunderung für die überlegene Kraft und Große des
Mannes müßte, wenn sie eine der Urquellen ^er weibh^en Hetero-
sexualität ist. als ein Zeidien originaler UrteUskraft des Kmdes aufgefaßt
werden. Aber wer soll feststeUen, ob diese Bewunderung ursprungl.dl
ist oder erst im Laufe der Zeit eintritt? Genau dieselbe Unklarheit
stört midi einem zweiten Faktor gegenüber, der später die Beziehung
des Weibes zum Manne stark beeinflußt, dem Kastrationskomplex.
Irgendwann entdeckt das kleine Mäddien den Mangel, den sie von
Natur hat, und irgendwann - gewiß sehr früh - gibt sidi der Wunsd.
kund sidi das männlidie Glied wenigstens durd, Liebe zu leihen, wenn
es durdiaus nidit wadisen wül. Gälte es. die weibUdie Heterosexualität
aus dem Verlauf der ersten Ubensjahre abzuleiten, so wäre es leidit,
231
t
1
ausreichende Gründe dafür zu finden. Aber die Zeichen der Bevorzugung
des Mannes, der sexuellen Bevorzugung, treten in so jungen Tagen
auf, daß sidi mit derlei Gedankenspielen nicht viel erriditen läßt.
Ich merke, daß ich anfange zu faseln, will Ihnen also lieber statt aller
Gelehrtheit nocb etwas von mir selber und von der Zahl 83 erzählen.
Im Jahre 83 fiel das ominöse Wort über die Onanie, von dem ich
berichtete, bald darauf erkrankte idi am Scharlach und als ich genesen
war. befiel mich die große Leidenschaft für den Knaben, mit dem
ich im Kreuzgang herumging und den ich küßte. Ich habe Ursache,
das Jahr 83 in meinem Unbewußten aufzubewahren.
Eine andere Kleinigkeit muß Ich noch nachholen. Ich sagte Ihnen
von den Ohnmächten meines ältesten Bruders, die ich als besonders
wichtig für die Ausbildung meiner Homosexualität betrachte. Eine dieser
Ohnmächten, die mir am deutlichsten im Gedä<iitnis geblieben ist, fand
auf dem Klosett statt. Die Tür mußte aufgebrochen werden und sowohl
d,e Gestalt meines Vaters mit der Axt in der Hand wie die meines
bewußtlos dasitzenden, nach hinten gesunkenen Bruders mit dem ent-
blößten Unterleibe sind mir noch ganz gut erinnerlich. Wenn Sie be-
denken, daß das Aufbrechen der Tür die Symbolik des geschleditlichen
Emdrmgens m emen Menschenleib enthält, daß sich hier also für mein
symbolisches Empfinden der Akt zwischen Mann und Mann vollzog, daß
weiterhin die Axt den Kastrationskomplex aufwühlte, haben Sie An-
knüpfungspunkte für allerlei Überlegungen. Zum Schluß gebe ich Ihnen
nodi zu erwägen, daß auch die Gleichsetzung von Entbindung und Kot-
entleerung in Kraft trat und daß das Klosett der Platz ist. an dem das Kind
seine Beobachtungen über die Geschlechtsteile der Eltern und Geschwister,
speziell des Vaters oder älteren Bruders anstellt. Das Kind ist gewöhnt,
von Erwachsenen dorthin begleitet zu werden, erlebt oft genug, daß
der Begleiter sein Geschäft gleichzeitig besorgt, und gewöhnt sein
Unbewußtes daran, Kloselt und Sehen nach den Geschlechtsteilen
zu identifizieren, ähnlich wie er später Klosett und Onanie zusammen
in eine Schublade der Verdrängung tut. Sie werden ja auch wissen,
daß der Homosexuelle besonders gern öffentiidie Bedürfnisanstalten
232
i
aufsucht. Alle sexuellen Komplexe stehen eben in engem Verwandtschafls-
verhältnis zur Kot- und Urinentleerung.
Es fällt mir auf, daß idi meine Betrachtungen über die Entstehung
der HeteroSexualität mit Erinnerung-en an meine Brüder und an After-
komplexe unterbrochen habe. Der Grund dafür liegt im heutigen Datum.
Es ist der 18. August. Seit etwa vier Wochen erzählt mir jener
Kranke, der midi an meinen Bruder erinnert, daß vom 18. August an
seine Behandlung keine weiteren Fortschritte machen werde. Tatsächlich
ist heute auch eine Verschlimmerung seines Leidens eingetreten. Leider
weiß er mir die Ideen seines Unbewußten, die den 18. August für
ihn kritisch machen, nicht anzugeben, ich meinerseits aber fühle mich
unbehaglidi, weil ich den Grund seines Widerstandes nicht kenne und
allerlei Schwierigkeiten für die nächste Zeit voraussetze.
Die Frage, wie die Neigung des kleinen Mäddiens zum Manne
entsteht, ist für midi vorläufig unlösbar und ich überlasse sie Ihnen
zur Beantwortung. Meinerseits mödite idi die Vermutung aussprechen,
daß die Frau in ihrer Erotik viel freier der Tatsadie der zwei Ge-
schlechter gegenüber steht; es kommt mir vor, als ob sie ein ziemlich
gleiches Quantum Liebesfähigkeit für ihr eigenes und für das entgegen-
gesetztfe Geschledit habe, das sie je nadi Bedürfnis ohne große Sdiwierig-
keiten gebraudien kann. Mit andern Worten, mir sdieint, daß bei ihr
weder die Homosexualität nodi die HeteroSexualität tief verdrängt
wird, daß dieses Verdrängte ziemlidi oberfladiHdi liegen bleibt.
Es ist immer mißlidi, Qualitätsgegensätze zwisdien Mann und
Frau anzunehmen; man darf dabei nidit vergessen, daß es im wirklidien
Sinne weder Mann nod. Frau gibt, jeder Mensdi vielmehr eine Misdiung
von Mann und Weib ist. Unter dieser Einsdiränkung bin idi geneigt
zu behaupten, daß die Frage der HomosexuaUtät oder Heterosexualität
im Leben des Weibes wenig zu bedeuten hat.
Idi füge nodi eine weitere Vermutung hinzu: daß die Bindung an
das eigene Gesdiledit beim Weibe stärker ist als beim Manne, was
mir tatsädilidi bewiesen ist. erklärt sidi daraus, daß die Selbstliebe und
die Liebe zur Mutter zum gleichen Gesdiledit treiben. Dem gegenüber
233
steht, so viel ich sehe, nur ein widitiger Faktor, der zum Mann
hinführt, der Kastrationskomplex, die Enttäuschung-, Mädchen zu sein
und der darausfolgende Haß gegen die Gebärerin und der Wunsch,
Mann zu werden oder wenigstens einen Knaben zu gebaren.
Beim Manne ist die Sache anders. Bei ihm handelt es sich, glaube
ich, gar nidit allein um die Frage der Homosexualität oder Hetero-
sexualität, sondern mit dieser Frage ist unlösbar verschmolzen die Frage
des Mutterinzestes. Der Trieb, der verdrängt wird, ist die Leidenschaft
für die Mutter und diese Verdrängung reißt unter Umständen die
Neigung für die Frauen mit sich in die Tiefe. Vielleidit mögen Sie
davon später mehr hören ? Es sind leider nur Vermutungen.
PATRIK.
28.
DAS IST KEIN ÜBLER GEDANKE, DIE BRIEFE ZU VERÖFFENT-
lichen. Dank, lieb| Freundin, für die Anregung! FreiHch, halb haben
Sie mir die Lust dazu wieder genommen. Denn wenn Sie es wirklidi
ernst meinen, daß ich sie überarbeiten soll, lasse ich midi nidit darauf
ein; i(Ji habe Arbeit genug in meinem Beruf. Die Schreiberei an den
Briefen betreibe ich zu meinem Vergnügen, und Arbeit ist kein Ver-
gnügen für midi.
Aber ich hoffe, es ist nicht Ihr Ernst. Ich kann mir lebhaft vor-
stellen, wie widitig Sie es nahmen, als Sie mir von den Fehlern und
Übertreibungen, Widersprüchen und unnötigen Witzen schrieben, die
nett im freundschaftlichen Verkehr, aber in der Öffentlichkeit un-
möglidi sind ; das ist solch Rückfall in die Zeit, wo Sie Ihr Lehrerinnen-
examen gemacht hatten. Ich habe es immer sehr gern gemodit, wenn
Sie auf einmal würdig wurden; mir war dann, als ob Sie demnächst
warnend den Zeigefinger erheben würden, ich legte in fröhlicher Spolt-
phantasie Ihre rechte Hand auf den Rücken, tat in Gedanken einen
Rohrstock hinein und setzte Ihnen eine Brille auf die Nase. Und dann kam
234
mir diese ins Weibliche, Liebreizende übertragene Lehrer-Lämpel-Figur
so unwiderstehlich vor, daß idi Sie absiditlich eine ganze Weile weiter
dozieren ließ, nur um mich am Kontrast Ihres Wesens und Ihres
Scheines zu ergötzen. Heute aber will ich auf Ihre ernsthafte Mahnung
ernsthaft eingehen.
Warum soll idi meinen Mitmenschen die Freude verderben, Fehler
in diesen Briefen zu finden? Ich weiß, wie unerträglich untadelige
Mensdien wirken — hei uns Trolls wurden sie Preßengel genaunt —
Idi weiß, wie viel Vergnügen es mir macht, irgendwo eine Dummheit
zu entdecken, und idi bin nicht lieblos genug, das andern Leuten zu
mißgönnen. Außerdem bilde idi mir ein, so viel Brauchbares zu geben,
daß es auf das Unbrauchbare nicht ankommt. Ich will oder idi muß
mir das einbilden, sonst geht die Selbstanbetung verloren und ohne
die mag ich nicht leben. Es ist derselbe Vorgang, wie idi ihn bei der
Besprediung von Ausschlagen im Gesicht, von Gestank aus dem Munde
zu deuten versuchte. Man weiß nidit genau, ob eine Neigung erwidert
wird, mödite es gerne wissen und schafft sich deshalb irgend etwas
Abstoßendes an. „Gefalle ich meiner Angebeteten auch mit einer ver-
schnupften Nase oder mit Sdiweißfüßen, dann ist ihre Liebe echt", so
denkt das Es. So denkt die Braut, wenn sie Launen hat, so denkt
der Bräutigam, wenn er Wein trinkt, ehe er zur Geliebten geht, so
denkt das Kind, wenn es ungezogen ist, und so denkt mein Es. wenn
es Fehler in meine Arbeiten hineinsetzt. Ich werde die Fehler stehen
lassen, wie sie in meinen früheren VeröffenÜidiungen trotz freund-
sdiaftlidier und feindsdiaftlidier Mahnungen stehen geblieben sbd.
Vor einigen Jahren sdiidtte ich einmal ein Manuskript an einen
guten Freund, auf dessen Urteil idi viel gab. Er schrieb mir einen
reizenden Brief mit vielen Lobeserhebungen, meinte aber, das Ding
sei viel zu lang und viel zu derb. Es schaue aus wie ein Embryo mit
unheimlidi stark entwickelten Gesdiledits Werkzeugen. Ich solle kürzen,
kürzen, kürzen, dann werde es ein sdiÖnes Kind sein. Und um zu
erfahren, was idi wegstreichen müsse, solle ich es madien wie jener
Mann, der gern freien wollte. Wenn der merkte, daß er nahe daran
^ 235
war, sidi zu verlieben, richtete er es so ein, daß er sofort nach der
präsumptiven Herrin seines Herzens auf das Klosett ging-. „Riedit es
mir lieblich, wie frisdi gebackener Kuchen, so liebe ich sie. Stinkt es,
so lasse idi sie laufen." Ich habe nadi dem Rezept meines Freundes
gehandelt, aber alles, was ich geschrieben hatte, roch mir nach Kuchen,
und ich habe nichts gestrichen.
Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Wir lassen die Dumm-
heiten ruhig stehen, Sie schreiben mir aber jedesmal, wenn Sie einen
Fehler finden. Ich werde dann ein paar Briefe später den Fehler
korrigieren. Dann hat der gewissenhafte Leser mit der Lehrer-Lämpel-
Attitüde seinen Spaß und ein paar Seiten später beim Lesen der
Verbesserung ärgert er sich und wir haben unsern Spaß. Abgemadit?
Nun also zu den Fehlern, die ich durchaus wegschaffen soll. Zu-
nächst ist es die Gesdiichte von Evas Ersdiaffung. Sie hat von vorn-
herein Anstoß bei Ihnen erregt. Und jetzt fahren Sie gar das schwere
Gesdiütz der Wissenschaft auf und beweisen mir, daß diese Sage
nicht aus der Volksseele stammt, sondern der absichtlichen Bearbeitung
des alten Testaments durch Priester ihr Dasein verdankt. Vermutlich
haben Sie damit Recht; wenigstens habe ich es so aucJi einmal gelesen.
Aber es hat mich kalt gelassen wie vieles andere. Für mich ist die
Bibel ein unterhaltendes, nachdenkliches Buch mit schönen Geschichten
die doppelt merkwürdig sind, weil man Jahrtausende lang an sie ge-
glaubt hat und weil sie für die Entwicklung Europas unermeßlich viel
und für jeden Einzelnen von uns ein Stück Kindheit bedeuten. Wer
diese Geschichten erfunden hat, interessiert meine historische Wiß-
begierde, den Mensdien in mir berührt es nitJit.
Ich gebe zu, die Priester haben die Geschichten erfunden. Darin
haben Sie Recht. Nun ziehen Sie aber daraus den Schluß, diese
Schöpfungssage könne nicht, wie es von mir versudit worden ist, als
Beweis für die Kindertheorie benutzt werden, daß das Weib durd»
Kastration aus dem Manne entsteht. Darin haben Sie Unrecht. Idi
wage nicht zu behaupten, daß das Kind von Anfang an die Idee der
Kastrationsschöpfung hat, halte es vielmehr für wahrscheinlidi, daß es
236
urspriing-lich zum mindesten den Geburtsmedianismus so genau kennt,
wie er durch Seihsterleben kennen gelernt werden kann. Auf diese
ursprüngliche Kenntnis wird dann, genau wie es im alten Testament
geschehen ist, die Kastrationsidee von den Kindheitspriestern, Eltern
und sonstigen Weisen, aufgepfropft, und wie die jüdisdi-chrisÜiche
Menschheit Jahrtausende lang das Kunstmarclien der Priester geglaubt
hat, so glaubt das Kind das Kunstmärchen seiner eigenen Beobachtung
und der erziehenden Lüge. Und wie der Glaube an die Erschaffung
Evas aus Adams Rippe an der tausendjährigen Mißachtung des Weibes
mit all seinen bösen und guten Folgen mitgewirkt hat und mitwirkt,
so gestaltet der Kastrationsgiaube an unserer eigenen Seele stetig weiter
bis an unser Ende. Mit andern Worten: es ist ziemlidi gleidigültig,
ob eine Idee selbständig wachst oder von außen aufgezwungen wird.
Es kommt darauf an, ob sie bis in die unbewußten Tiefen sid. ausbreitet.
Bei dieser Gelegenheit will Ich auch über die Erschaffung AdamS
ein TroUwort sagen. Er wird, wie Sie wissen, dadurch beseelt, daß
Jehovah ihm lebendigen Odem in die Nase blast. Dieser eigentümliche
Weg durch die Nase ist mir immer aufgefallen. Danach, so sagte id»
mir, muß es etwas Riechendes sein, was Adam Leben gibt. Was das
für ein Riechendes war, wurde mir klar, als ich Freuds Erzählung vom
kleinen Hans las. Mir wurde es klar, aber Sie brauchen meine Er-
klärung nidit anzunehmen. Der kleine Hans ist - in seiner kmdhdien
Weise - der Ansicht, daß der „Lumpf". die Stuhlgangswurst, ungefähr
dasselbe ist wie ein Kind. Ihr ergebener Troll hat die Idee, daß jene
alte Gottheit den Menschen auch aus seinem Lumpf schuf, daß das
Wort „Erde" nur aus Schicklichkeitsgründen an SteUe des Wortes
Kot" gesetzt wurde. Der lebendige Odem würde dann mitsamt semem
belebenden Duft, aus derselben Öffnung geblasen worden sein, aus
der der Kot kam. SchlIeßUch ist ja wohl audi das Menschengeschlecht
einen Furz wert.
Wie ist es nun, verehrte Freundin, habe idi in die Erzählung vom
Adam die Kindertheorie von der Geburt aus dem After hineingedeutet,
oder ist sie auf Grund der ungemeinen Erleichterung, die auch die
237
Dichter der Bibel wie jeder andere nach der Entleerung empfindet,
gewachsen ?
Der zweite Fehler, auf den Sie mich aufmerksam machen, hat
mich nachdenklich gemacht. Er wäre leicht zu entfernen, aber ich lasse
audi ihn stehen. Lassen Sie mich sagen, weshalb. Ich habe bei der
Besprechung des Kastrationskomplexes eine Episode aus dem Reineke
Fuchs erzählt und habe dabei Isegrim dem Wolf eine Rolle zugeschrieben,
die eig-entlich Hinz der Kater hat. Die Ursachen dieser Verwechslung
sind, glaube ich, verwickelt. Ich zweifle, ob ich sie entwirren kann.
Eins ist ohne weiteres klar: der Wolf komplex in mir ist so
mächtig, daß er Dinge an sich reißt, die gar nicht dazu gehören. Zur
Ergänzung dessen, was ich darüber schon gesagt habe, erzähle ich
ein Abenteuer aus meiner Kindheit. Lina und ich haben einmal — wir
werden 10 und 11 Jahre alt gewesen sein — zusammen mit einigen
Freunden das Tiecksche Rotkäppchen aufgeführt. Mir war die Rolle des
Wolfs zuerteilt und ich habe sie mit besonderer Passion gespielt. Unter
den Zuschauern befand sich ein kleines fünfjähriges Mädchen, Paula
genannt. Ich habe diese Paula, die ein besonderer Günstling meiner
Schwester war, gehaßt, und es war mir eine Genugtuung, daß sie
während der Vorstellung aus Angst vor dem Wolf zu heulen anfing.
Das Spiel mußte unterbrochen werden, ich ging zu ihr, nahm die
Wolfsmaske ab und beruhigte sie. Es ist das erste Mai gewesen daß
sich jemand vor mir gefürchtet hat und, auch meines Wissens das erste
Mal, daß ich Schadenfreude empfand. Und es war der Wolf der
Furcht einflößte. Das Ereignis ist mir im Gedächtnis geblieben, wohl
' auch deshalb, weil unter den Mitspielern außer meiner Schwester die
mehrfach erwähnte Alma und ein Namensvetter von mir Patrik war,
bei dem ich die erste Elrektion gesehen habe.
Dieser Namensvetter war eigentlich ein Kamerad meines Bruders
Wolf, also einige Jahre älter als ich. Er war jedoch aus irgend welchen
Gründen in der Vorschule, die ich besuchte, geblieben, als Wolf zum
Gymnasium überging. Wir Jungens badeten damals viel im Sommer und
hatten alle zusammen eine Badekabine. In der führte uns der Namensvetter
238
die Erektion vor, hat wohl audi irgendwie Ooaniebewegung'en gemacht,
wenigstens wies er auf ein helles fadenziehendes Sekret hin, das in
einem Tropfen aus der Harnröhre hing und von dem er behauptete,
es sei der Vorläufer der Samenergießung, für die er bald reif genug
sei. Für meine Erinnerung ist dieses Vorkommnis dunkel geblieben,
ich habe die Empfindung, als hätte ich die ganze Sache nicht verstanden,
ihr nur unbehelligt als irgend etwas Neuem zugeschaut. Dagegen ist
mir eine andre Spielerei noch lebhaft in Erinnerung. Der Namensvetter
sdilug Glied und Hodensack nadi hinten, klemmte sie zwischen die
Sdienkel und behauptete nun ein Mädchen zu sein. Idi habe das oft selbst
vor dem Spiegel wiederholt, und jedesmal ein seltsames Wollustgefiihl
dabei gehabt. Ich halte das Ereignis für besonders wichtig, weil es
den Kastrationswunsch ohne Beimengung von Angst rein zeigt. Für
midi persönlich habe idi niemals an diesem Kastrationswunsch zweifeln
können ; des beweisen hie und da auftretende Phantasieen, in denen ich mir
die Empfindung des Weibes während des Beischlafs vorzustellen suchte:
wie das Glied in die enge Öffnung eingeführt wird und darin hin und
her bewegt wird und was für Gefühle das auslöst. Aber ich habe
auch seit jenem Tage mit der Madchenwerdung des Namensvetters
auf andre Männer geaditet und feststellen können, daß der angstlose
Wunsdi, Mädchen zu sein, allen Männern gemeinsam ist. Man braucht
dazu nicht langwierige Forschungen anzustellen. Man brauclit nur ein
wenig die Liebesspiele zwischen Mann und Weib zu beobachten, dann
weiß man, daß die Variation, bei der der Mann unter dem Weibe Hegt,
Überall gelegentlich vorkommt, wie denn an dem sogenannten normalen
Geschlechtsakt, dem zuliebe alles andre pervers genannt worden ist,
auf die Dauer wohl nodi nie ein Menschenpaar festgehalten hat. Halt
man es der Mühe für wert, sich näher mit dem Gegenstand zu be-
sdiäftlgen — und wenigstens der Arzt sollte soviel Wißbegierde auf-
bringen — so wird man leidit ähnliche bewußte Phantasieen bei Freunden
und Bekannten finden, wie idi sie vorhin erzählte, und wenn es wirklidi
einmal vorkommt, daß solche weiblichen Wünsche ganz aus dem Be-
wußtsein verdrängt sind, genügt es, diese normal Sexuellen zu einer
■ ' 239
\\
Analyse ihres Verhaltens beim Essen, noch mehr beim Trinken, beim
Zähnebürsten, beim Reinicren der Ohren zu bring-en. Die Assoziationen
springen dann bald zu allerlei andern Gewohnheiten über, zum Rauchen,
zum Reiten, zum Bohren in der Nase und andern Ding-en. Und wo
all das versagt, weil der Widerstand des MännlichsdieinenwoUens zu
groß ist, gibt es die Alltagsformen der Erkrankungen, die Verstopfungen
mit ihrem lustbefriedigenden Hin durchpressen des Kots durch die After-
öffnung, die Hämorrhoiden, die den Kitzel an dieser Pforte des Leibes
lokalisieren, die Auftreibung des Bauches mit ihrer Schwangerschafts-
symbolisierung, das Klystier, die Morphiuminjektion und die tausendfältige
Verwendung des Impfens, wie es in unsrem Verdrängungszeitalter Mode
geworden ist, der Kopfschmerz mit seiner Verwandtschaft zu den Wehen»
das Arbeiten und Sdiaffen am Werk, am Geisteskinde des Mannes.
Stellen Sie meine Behauptung auf die Probe, bestürmen Sie hier,
bestürmen Sie dort die Widerstände des Mensdien, eines Tages — meist
sehr bald — kommt die Erinnerung, wird bewußt, was verdrängt war,
und es heißt dann wie bei uns weniger Normalen: „Ja, ich habe an
der Brust eines Weibes gesogen, und wenn ich es nicht wirklich tat,
so stellte ich mir es doch vor; ja, ich habe den Finger in den After
eingeführt, und es war nicht nur der Juckreiz, den idi besdiwiditigen
wollte; ja, ich weiß, daß in mir der Wunsdi wadi werden kann, Weib
zu Sern.
Aber idi sdiwatze und gebe nidit Auskunft, warum idi an Stelle
des Katers den Wolf zum Kastrator machte und warum aus dem
Pfarrer, der in jener Szene des Reineke Fuchs der Gesdilechtsteile
beraubt wird, ein Bauer werden mußte.
Für die zweite Verwechslung ist der Grund leicht zu erraten. Vom
Pfarrer zum Pater, Vater, der kastriert werden soll, ist nur ein Sdiritt
und an das Wort Pater reiht sidi Patrik des Klanges wegen. Die
Bedrohung der eignen Person durch die Zähne des Tiers nötigte mich
zur Verdrängung und zum Gedäditnisfehler. Der sonderbare Humor
des Es zeigt sich dabei. Es läßt zu, daß meine Angst den Pater-Patrik
beseitigt, zwingt mich aber dazu, statt seiner einen Bauern zu nehmen
240
und Georg- — Bauer — ist, wie Sie wissen, mein zweiter Taufname.
So verspotteu wir uns selber. . . ,
Warum habe ich aber den harmlosen Kater und Mausefäng-er in
den weit gefährUcheren Wolf verwandelt ? Pater und Kater, das reimt
sich und wer wie Sie reimlustig ist, dichtet dazu Vater, und das Un-
bewußte ist oft reimlustig. Der Vater also wurde verdrängt. Der ist
freilich furchtbarer als der Wolf. Er hatte Messer genug, denn er war
Arzt, und während Bruder Wolf höchstens ein Taschenmesser führte,
stand des Sonntags neben Papas Teller ein ganzes Besteck mit Braten-
messern, deren einige böse Ähnlichkeit mit dem Messer des Menschen-
fressers hatten. Er hätte leicht auf die Idee kommen können, auidi
einmal an meinem Sdiwänzchen die Schärfe dieses Messers zu erproben;
wenn er sie eine Weile am untern Tellerrand gewetzt hatte, sah es
gefährlich aus. Nun fällt mir audi ein, warum er mir wie ein Kater
vorkam. Irgend eine Anbeterin hatte seine schönen Beine geloht und
ihr zu Gefallen stolperte er in hohen Stiefeln umher, „Der gestiefelte
Kater," das war er und den las ich damals mit besonderer Vorliebe,
hatte auch gerade eine Serie kleiner Stammbuchbilder mir erschmuggelt,
in denen das Märchen schön bunt dargestellt war.
Nun ist die Sache klar: für den, der in der Kastrationsangst liegt,
ist der Vater schlimmer als der Bruder, das Katzentier, das er täglich
sieht, schlimmer als der Wolf, den er nur vom Hörensagen aus „Märchen"
kennt. Und dann, der Wolf frißt nur Schafe, und für dumm hielt idi
mich weder damals nodi jetzt, der Kater aber frißt Mause — auch in
der Reineke-Fuchs-Sage tut er es ■ — und der kastrationsbedrohte Teil,
das Schwänzchen, ist eine Maus, die ins Loch schlüpft, die Angst jeder
Frau vor der Maus beweist das; die Maus kriedit unter die Röcke,
will in das Loch, das dort verborgen ist.
Hinter dieser Angst, daß der gestiefelte Vater mein Mäuschen
fressen könnte, ist noch etwas andres verborgen, etwas Teuflisches,
Furchtbares. Jener „gestiefelte Kater" bezwingt den Zauberer, der sich
in einen Elephanten verwandelt und dann in eine winzige Maus. Die
Symbole der Erektion und Ersditaffung sind deutlich, und da ich ia
16 Groddeck, Das Buch vom Es 241
jenem Alter, wo idi das MSrdien las und die Kaulbachs<iie Illustration
des Reineke sah, gewiß nidit aus eigner körperlicher Erfahrung diese
Phänomene kannte, liegt mir der Schluß nahe, daß der Zauberer, der
sich in Rüsseltier und Maus verwandelt, mein Vater war, sein Schloß
und Reich die Mutter und der gestiefelte Kater ich selbst, sowie ich
selber auch der Besitzer des Katers, der jüngste Sohn des Müllers,
war. Da ich einsah, daß idi den ganzen Menst^en in seiner Elephanten-
große nicht verniditen könne, schien mir es ratsam, wenigstens das
symbolisdie Väterdien, die Maus, das Glied des Vaters zu verschlingen.
Und wirklich sdiwebt mir vor, als ob idi in jener Zeit die ersten Stulpen-
stiefel in meinem Leben getragen hatte. In dem Märchen sowie in
dem Bilde lag für midi die eigne Kastration und, viel gräßlicher noch,
der verbrecherische Wunsch, die Maus des Vaters zu verschlingen, um
in den Besitz der Mutter zu gelangen; beides wurde verdrängt und
übrig blieb die harmlosere Rivalität mit dem Bruder Wolf. Damit kommt
audi die Verwandlung des Pfarrers-Pater m den Bauer-Georg in ein
neues Lidit. Der Wunsch, den Pater, den Vater zu kastrieren wird
sicher mit der eigenen Kastration bestraft. Mein Es, das scheints, ein
leidlidi empfindliches Gewissen hat, verdrängte das Verbredien und
ließ die Sühne bestehen, madite also den Wunsdi so gut wie möglich
ungesdiehen.
Darf ich Ihre Aufmerksamkeit nun noch einen Augenblick auf die
Stiefel riditen; sie kommen auch beim Däumlingsmärchen vor und sind
wohl als das Symbol der Erektion zu betrachten. Nun dürfen Sie aus-
suchen, welche Deutung Ihnen behagt. Zunächst könnten die Stiefel die
Mutter sein, sind es auch nach meiner Meinung, die Mutter, weiterhin
das Weib, das in After- und Scheidenöffnung zwei Stiefelstiiäfte be-
sitzt. Es können auch die Hoden sein in ihrer Paarigkeit, die Augen,
die Ohren, vielleicht auch die Hände, die im vorbereitenden Spiel den
Siebenmeilenschritt zur Erektion und zur Onanie ausführen.
Damit bin ich bei dem dritten Verdrängungsgrund, der Onanie,
einem ganz persönlichen Verdrängungsgrund, der im Märchen keine
Stütze findet, wohl aber im eignen Erlebnis. In jener Zeit habe idi
242
erfahren, daß der Kater ab und zu seine eignen Kinder auffrißt, Bin idi
der Kater, so ist meia eignes Kind mein Schwänzdien gewesen, das
durdi das Stiefelspiel beider Hände bei der Onanie das Mäuschen dem
Untergang weiht. Üble Gewohnheit.
Sie sehen, wenn ich mir Mühe gebe, kann ich leidlich scheinende
Gründe für meinen Irrtum erfinden. Aber mir widerstrebt solches Ver-
fahren. Ich nehme für midi das Recht in Anspruch zu irren, schon
deshalb, weil idi die Wahrheit und Wirklidikeit für zweifelhafte Güter
halte.
Alles Gute Ihnen und den Ihren
PATRIK.
29.
SIE ANTWORTEN NICHT, UEBE FREUNDIN, UND ICH TAPPE
im Dunkeln, ob Sie böse sind oder, wie es so sdiön heißt, keine Zeit
haben. Ich werde auf gut Glück fortfahren, Ihnen von den Tieren zu
erzählen, wenn ich auch noch nicht weiß, ob Sie die Veröffentlichung
der Briefe mit Fehlern billigen.
Idi berichtete Ihnen von Ihren Empfindungen beim Anblick einer
Maus, habe aber nur die Hälfte davon gesagt. Wenn die Maus nur
das unter die Röcke Fahren bedeutete, wäre die Angst nicht so über
Massen groß, wie sie wirklich ist. Die Maus ist als naschendes Tier
das Symbolwesen der Onanie und folgerichtig auch das der Kastration.
Mit andern Worten, das Mädchen hat die vage Idee: Dort läuft auf
vier Beinen mein Schwänzchen umher; zur Strafe ward es mir weg-
genommen, zur Strafe mit eigenem Leben beseelt.
Da haben Sie ein Stück Gespensterglauben, Aberglauben. Wenn man
der Entstehung von Spukgeschichten nachgeht, stößt man sehr bald
auf das erotische Problem und die Schuld.
Diese eigentümliche Symbolisierung der Maus als frei herum-
huschendes Glied bringt mich auf ein der Maus verwandtes Tier, die
Ratte, die neben Wolf und Kater als Kastratorsymbol auftritt. Merk-
würdigerweise ist diese Symbolform die fürchterlichste und abstoßendste
'^' 243
von den dreien. An und für sich ist die Ratte weniger g-efährlich als
der Wolf und auch als der Kater. Aber sie vereinigt in sich beide
Kastrationsrichtungen, die gegen das Kind und die gegen den Vater.
Weil sie in allem, was vorragt, herumknabbert, ist sie dem Kind für
Nase und Schwänzchen gefährlich, nach Form und Wesen aber ist sie
der personifizierte, abgeschnittene Schwanz des Vaters, das Gespenst
des frevelhaften Wunsches gegen die Mannheit des Vaters. Und weil
sie sich in alles einmischt und in jedes Dunkel eindringt, ist sie gleich-
zeitig die symbolische Schuld und die zudringliche Neugier der Eltern.
Sie lebt im Keller, der Gosse, im Weibe. Verhaßt, verhaßt.
Im Dunkel des Kellers lebt auch die Kröte, feucht anzufühlen und
quabblig. Und der Volksglaube hält sie für giftig. Kleine Kröte, nette
Kröte, das ist etwas, was nicht fürs Tageslicht taugt, das kleine Tierchen
des älteren Backfisches, das noch nicht die stetige Wärme der Liebe
hat, nur von versteckter Begierde feucht ist. Ihr reiht sich im Gegen-
sinn des Symbols das naschende Mäuschen an, mit seinem samtnen
Fellchen, das frühreife Mädchen, das dem Speck nachgeht. Und gleich
daneben taucht, von allen Sprachen verwendet, das Wort Kätzchen auf
als Bezeichnung des weichen Lockenpelzchens an der weiblichen Scham,
als Ausdruck für den Schamteil selbst und für das schmiegsame Weih
chat noir, die Katze, die das Mäuschen fängt, damit spielt und es frißt,
genau wie die Frau mit ihrem hungrigen Schamteil das Mäuschen des
Mannes verschlingt.
Sahen Sie schon einmal die kindischen Zeichnungen des weib- '
liehen Geschlechtsteils, die halbwüchsige Knaben an Wänden und Bänken
in alberner Begierde anbringen? Da haben Sie die Entstehung des
Ausdrucks „Käfer" für das liebende Mädchen vor Augen, aber auch
das wird klar, warum die Spinne als Schmähwort für das Weib ge-
braucht wird, die Spinne, die Netze baut und der Fliege das Blut aus-
saugt. Das bekannte Spinnensprichwort; matin chagrin, soir espoir,
malt die Stellung von Frauen zu ihrer Sexualität; je heißer die Glut
der Liebesnacht ist, um so verzagter blickt sie beim Erwachen nach
dem Mann, was der von dem Toben wohl denkt. Denn immer stärker
244
zwingt das Leben dem Weibe einen Seelenadel auf, der alle Wollust
zu verdammen scheint. ' - ' ' ' _ * _" '
Die Symbole sind zweideutig-: der Baum ist, wenn Sie den Stamm
betrachten, Phallussymbol, ein sehr anständiges, von der Sitte erlaubtes;
denn selbst das prüdeste Fräulein scheut sidi nicht, den Stammbaum
ihres Geschlechts an der Wand zu betraditen, obwohl sie wissen muß,
daß ihr die hundert Zeugung-sorgane all ihrer Vorfahren in strotzender
Kraft aus dem Bilde entgegenspringen. Der Baum wird aber zum
Weibessymbol, sobald der Gedanke an die Frucht auftritt, wird „die
Eiche", „die Buche" — ehe ich es vergesse: seit einigen Wodien be-
treibe ich den Spaß, alle Bewohner meiner Klinik zu fragen, was für
Bäume neben dem Eingang stehen. Bisher habe ich noch keine riditige
Antwort bekommen. Es sind „Birken"; an ihnen wächst das Reis,
aus dem man die Rute bindet, die gefürchtele und noch mehr be-
gehrte; denn in all den tausendfachen Unarten der Kinder und Großen
lebt die Sehnsucht nach dem brennenden Rot des Schiagens. Und am
Eingangstor, so daß jeder drüber stolpert, steht ein Eckstein, rund und
ragend wie ein Phallus; den sieht auch niemand. Er ist der Stein des
Anstoßes und Ärgernisses.
Verzeihung für die Unterbrechung. Auci» andere Symbole sind
doppeldeutig, das Auge ist es, das Strahlen empfangt und Strahlen
ausschickt, die Sonne, die in Fruchtbarkeit Mutter, im goldgelben
Strahl Mann und Held ist. So ist es auch mit den Tieren, dem p*ferde
vor allem, das bald als Weib gilt, auf dem man reitet, das in der
Schwangerschaft die Frucht des Leibes fortbewegt, bald als Mann,
der die Last der Familie mit s'uii trägt und auf dessen Schultern und
Knieen das jubelnde Kind dahintrabt.
Diese doppelte Symbolverwendung der Tiere unterstützt ein selt-
sames Verfahren meines Unbewußten, das dem Kastrationskomplex
entstammt. Wenn ich an einem mit Rindern bespannten Karren vor-
übergehe und hinschaue, weiß Idi nidit, sind es Kühe oder Ochsen,
die da ziehen. Ich muß erst eine ganze Weile suchen, ehe idi die
Unterscheidungsmerkmale finde. So geht es nicht nur mir, so geht es
245
vielen, vielen Menschen, und die Leute, die erkennen können, ob sie
einen männlichen Kanarienvogel oder ein Weibchen vor sidi haben,
sind geradezu selten. Bei mir geht es ein bißdien weit. Wenn idi
einen Hühnerhof sehe, kann ich den großen Hahn von seinen Hennen
unterscheiden, sind junge Hähnchen dabei, so gelingt mir diese Unter-
scheidung schwer und, wenn ich einem vereinzelten Huhn begegne,
muß ich mich auf das Raten verlegen, was sein Geschlecht ist. Ich
besinne midi nicht, jemals mit Bewußtsein einen Hengst, Bullen oder
Widder gesehen zu haben, für midi ist ein Pferd eben ein Pferd, ein
Ochse ein Ochse, ein Sdiaf ein Sdiaf und wenn ich theoretisch weiß,
was eine Stute oder ein Wallach, ein Schaf oder ein Hammel ist, so
kann idi diese Kenntnis praktisch doch nicht ohne weiteres ver-
werten, vermag auch nidit festzustellen, wie und wann ich meine
theoretischen Kenntnisse erworben habe. Offenbar wirkt da ein altes Ver-
bot nach, das sidi mit einer bewußtseinslosen Angst vor der eigenen
Entmannung verbindet. Ich bin in dem stattlichen Alter von 54 Jahren
in den Besitz eines schönen Katers gelangt. Schade, daß Sie das Er-
staunen nicht mit erlebt haben, das mich beim Gewahrwerden seiner
Hoden befiel.
Damit bin ich wieder bei der Kastration angelangt und muß noch
zwei Worte über einige symbolisch verwendete Tiere sagen, die im
Dunkel der Menschenseele ein seltsames Leben haben. Besinnen Sie
sich darauf, wie wir gemeinsam in Wannsee am Grabe Kleists waren?
Es ist lange her, wir waren beide noch jung und begeisterungsfähig
und hatten uns wer weiß weldie hohen Gefühle von diesem Besudi
unseres toten Lieblingsdichters erhofft. Und während Sie voll frommer
Scheu auf die heilige Stätte, von der ich ein Epheublatt pflückte,
hinabsahen, fiel ein armseliges Räupchen in Ihren Nacken; Sie schrien
auf, wurden blaß und zitterten, und Kleist und alles waren vergessen.
Idi lachte, nahm das Räuplein fort und tat groß und gewaltig. Aber
wenn Sie nicht selbst zu sehr mit Ihrer Angst besthäftigt gewesen
wären, hätten Sie sicher bemerkt, daß ich die Raupe mit dem Epheu-
blatt wegnahm, weil mir davor grauste, die Raupe mit den Fingern
246
-\
zu berühren. Was hilft audi Mut und Stärke wider das Symbol?
Wenn beim Anblick soldi vielfiißig kriechenden Schwänzchens die
Masse des Mutterinzests, der Onanie, der Vater- und Selbstkastration
über uns herfällt, werden wir vierjährige Kinder und können es
nicht ändern.
Gestern ging- ich quer über das Rondell mit der schönen Aussicht,
dort wo stets die große Versammlung von Kinderwagen, spielenden
Bälgern und Kindsmägden ist. Ein dick pausbäckiges Mädchen von
drei Jahren bradite strahlend einen langen Regenwurm zu ihrer Mutter
getragen. Das Tier wand sidi zwischen den kurzen Fingerdien; die
Mutter aber schrie auf, schlug das Kind auf das Händchen: „Pfui,
bah, bah" rief sie und schleuderte den scheußlichen Wurm mit der
Spitze des Sonnensdiirms weit den Abhang hinab, schalt schreckbleichen
Gesichts weiter und wischte mit Eifer die Händchen des heulenden
Kindes ab. Ich hätte mich gern über die Mutter entrüstet, aber ich
verstand sie zu gut. Ein roter Wurm, der in Löcher kriedit, was hilft
dagegen alle Darwinsdie Weisheit von des Regenwurms segens-
reidier Minier arbeit?
„Äx, bah, bah", darauf kommt die ganze Erziehungsweisheit der
Mutter hinaus. Alles was dem Kinde lieb ist, wird ihm damit verekelt.
Und es läßt sich ja auch nichts dagegen sagen. Die Freude am Wasser-
lassen und am Drücken kann nicht geduldet werden, sonst, denkt man
— ob es wahr ist, weiß ich nicht — bleibt der Mensch dreckig. Aber id.
muß Sie dodi bitten, im Namen der Forschung, sidi einmal den Urin
Über Sdienkel und Arme laufen zu lassen, sonst glauben Sie gar
nicht, daß das Kind so etwas genießt, und halten auch fernerhin Er-
wadisene, die sich hin und wieder solchen Genuß versdiaffen, für
pervers, unnatürlidi, lüstern, krank. Krank daran ist nur die Angst.
Versuchen Sie es. Das Schwierige ist, es unbefangen zu tun. Das ist
über die Maßen schwer. Man hat mir hie und da über das Ex-
periment, das ich nicht erst Ihnen empfehle, berichtet und soweit idi
glauben darf, hat man durchweg zunädist sämtlidie Lebewesen aus
der Wohnung entfernt, sich in der Badestube eingesdilossen und nackt
247
r-
\s
in der Wanne g-etan, was idi riet, damit man sich gleich reinigen konnte.
Und man tragt doch die Flüssigkeit, die auf der Haut so schmutzig
ist, dauernd in seinem Innern mit sidi und denkt nicht einmal daran.
Sind die Menschen nicht seltsam? Aber trotz all dieser Vorsichtsmaß-
regeln, die Angst, Verbotenes zu tun, blieb, aber der Genuß kam.
Nicht Einer hat zu leugnen gewagt» daß es genußvoll war. Welch un-
geheures Mass von verdrängender Gewalt ist da tätig gewesen, um
eine unbefangene Handlung eines jeden Kindes so mit Angst zu be-
lasten. Und nun gar der Versuch, das Aa unter sich zu lassen und
sich darein zu legen. Schon wie man das machen soll, kostet tage-
langes Kopfzerbrechen und kaum drei oder vier von denen, die wissens-
durstig die Entwicklung des Unbewußten unter meiner Führung er-
forsdien wollten, haben den Mut dazu gehabt. Aber was ich behauptete,
haben sie bestätigt. Adi, liebe Freundin, wenn Sie etwas Philoso-
phisches lesen, tun Sie es so, wie man die Aufsätze von Karlchen
Mießnick las, auch wenn Sie meine Briefe lesen. Der Ernst ziemt
sich nidit dem Unsinn gegenüber. Nur das Leben selbst, das Es
versteht etwas von Psychologie und die einzigen Vermittler durch das
Wort, deren es sidi bedient, sind die paar großen Dichter, die es
g-egeben hat.
Aber ich wollte davon nicht sprechen, sondern über die Wirkungen
des „Äx, bah, bah" auf unser Verhältnis zum Regenwurm Betrach-
tungen anstellen, die Sie dann nach Gutdünken auf andre geächtete
Tiere, Pflanzen, Menschen, Gedanken, Handlungen und Gegenstände
übertragen mögen. Ich überlasse Sie Ihrem Nachdenken. Und vergessen
Sie nicht, sich dabei die Schwierigkeit aller Naturforschung klar zu
machen, Freud hat ein Buch über das Verbotene im Menschenleben
geschrieben, er nennt es Tabu. Lesen Sie es! Und dann lassen Sie
Ihre Phantasie eine Viertelstunde schweifen, was alles Tabu ist. Sie
werden erschrecken. Und werden erstaunen, was der Mensdiengeist
trotzdem zustande brachte. Und sciiließlich werden Sie sici, fragen :
Was mag der Grund sein, daß das Es des Menschen so seltsam mit
sich selber spielt, sich Hindernisse sdiafft, lediglich um sie mit vieler
248
Mühe zu erklettern. Und sdiließlidi wird Sie eine Freude ergreifen,
eine Freude, Sie ahnen nicht, wie groß diese Freude ist. Ich denke
mir, so ungefähr muß das Gefühl der Ehrfurcht sein.
Sie wissen, Erziehung beseitigt nichts, sie verdrängt nur. Auch
die Freude am Regenwurm läßt sich nicht töten. Es gibt eine seltsame
Form, in der sie wiederkehrt, in der Form des Spulwurms. Die
Keime dieses Gasts unsrer Eingeweide, stelle ich mir vor, sind über-
all, kommen in aller Mensdnen Bäudie hinein, oft und oft. Aber das
Es kann sie nicht brauchen, es tötet sie. Eines Tages überfällt dieses
oder jenes Menschen Es, das gerade Kind geworden ist und kindisch
schwärmt, eine sehnsuchtsvolle Erinnerung an den Regenwurm. Und
flugs baut es sidi ein Abbild davon aus den Eiern des Spulwurms.
Es lacht über das Bahbah der Gouvernante und spielt ihr einen
Schabernack und gleichzeitig fällt ihm ein, daß Wurm ja auch Kind
ist; da lacht es nodi mehr und spielt mit dem Eingeweidewurm
Sdiwangerschaft und eines Tages will es „Kastration" spielen und
„Kinderkriegen" spielen. Und dann läßt es den Spulwurm — oder
sind es die kleinen weißen Würmchen, mit deren Hilfe man sidi die
Erlaubnis verschafft, den Finger in den After zu stecken, Afteronanie
in hohem Maße zu treiben — dann läßt es diese Würmer aus der
hintern Öffnung hervorkommen.
Ach bitte, Liebe, lesen Sie doch diese Stelle dem Herrn Sanitätsrat
vor. Sie werden einen seltenen Spaß haben, wie er diese ernsthaft
gemeinte Theorie eines ernsthaften Kollegen über die Disposition zu
Krankheiten aufnimmt.
Nun muß ich Ihnen noch eine Geschichte von der Schnecke erzählen.
Sie betrifft eine gemeinsame Bekannte von uns, aber ich werde Ihnen
den Namen nicht nennen; Sie wären imstande, sie zu necken. Ich ging
mit ihr spazieren, da fing sie plötzlich an zu zittern, alles Blut wich
ihr aus den Wangen und ihr Herz begann so zu jagen, daß man die
Schläge an den Halsadern sah. Der Angstschweiß trat auf die Stirn
und bald folgte Erbrechen. Was wars? Eine Nacktschnecke kroch auf
dem Wege. Wir hatten von der Treue gesprochen und sie hatte Über
249
ihren Mann geklagt, den sie auf SeitenwegcD vermutete. Der Gedanke
war ihr schon lange gekommen, so sagte sie, ihm den Schwanz auszu-
reißen und darauf zu treten. Die Schnecke aber sei dies ausgerissene
Glied gewesen. Das schien genug zu erklären, aber ich weiß nicht,
weshalb ich ungenügsam war, ich behauptete keck darauf los, es müsse
nocii etwas anderes dahinter stecken. Um solche Wut der Eifersucht
zu empfinden, müsse man selbst untreu sein. Das kam auch bald zum
Vorschein, wie es denn keine Eifersucht gibt, wenn nidit der Eifer-
süchtige selbst untreu ist; die Freundin hatte nicht an das Glied ihres
Mannes gedacht, sondern an meines. Wir lachten dann beide, aber da
ich doch das Schulmeistern nicht lassen konnte, hielt ich ihr eine kleine
Vorlesung. „Sie sind in einer Zwickmühle", sagte idi ihr. „Wenn Sie
mich lieben, werden Sie Ihrem Manne untreu, und wenn Sie zu ihm
halten, betrügen Sie mich und Ihre starke Liebe zu mir. Was Wunder,
daß Sie nicht weiter können, da Sie vor sich die Notwendigkeit sehen,
die Schnecke, das Glied des Einen oder des Andern, zu zertreten."
So etwas ist nidit selten. Es gibt Menschen, die verlieben sich in
iungen Jahren, behalten diese erste Liebe als Idealgestalt in ihrem
Herzen, heiraten aber einen Andern. Sind sie nun mißgestimmt, das
heißt, haben sie der andern Ehehälfte etwas zu Leide getan und zürnen
ihr deshalb, so holen sie die Idealliebe hervor, stellen Vergleiche an
bereuen, den falschen geheiratet zu haben und finden nach und nach
tausend Gründe, um sicJi zu beweisen, wie schlecht der ist, den sie
geheiratet und gekränkt haben. Das ist schlau, aber leider zu sdilau.
Denn die Überlegung kommt, daß sie dem ersten Geliebten untreu
wurden, um den zweiten zu nehmen, und dem zweiten untreu sind, um
am ersten fest zu halten. Du sollst nicht ehebrechen!
Solche Vorgänge, die von großer Tragweite sind, lassen sidi
schwer begreifen. Ich habe lange nach einer Begründung gesucht, warum
solche Menschen — sie sind gar nicht selten — sich in diesen Zustand
ununterbrochener Untreue hineinbringen. Jene Freundin hat mir das
Rätsel gelöst, und deshalb eigentlich erzähle ich Ihnen die Schnecken-
gesohichte. Sie hatte ganz didit unter der Schenkelbeuge an der
250
Innenseite des Obersdienkels einen kleinen, fingerlangen, sdiwanz-
förmigen Auswuchs. Der belästigrte sie arg. Von Zeil zu Zeit ward er
wund. Ein seltsamer Zufall wollte es, daß dieses Wundsein ein paar Mal
während meiner Behandlung auftrat und jedesmal verschwand, wenn
verdrängte homosexuelle Regungen an die Oberfläche gekommen
waren. Man hatte ihr schon lange geraten, sich das Ding abschneiden
zu lassen ; sie hatte es aber nicht getan. Ich habe ihr ein wenig auf
die Seele gekniet, bis es in tausend Splitterchen zerstÜckt herauskam,
daß sie das Schwänzchen ihrer Mutter 2u Liebe trug. Von dieser
Mutter hatte sie stets behauptet, sie habe sie all ihr Leben lang gehaßt.
Id, habe es ihr aber nie geglaubt, obwohl sie unermüdlich darin war,
ihren Haß in vielen, vielen Geschichten kund zu tun. Ich glaubte es
deshalb nidit, weil ihre gewiß starke Neigung zu mir alle Zeichen
einer Übertragung von der Mutter hatte. Es hat lange gedauert, aber
sdiließlich ist ein Mosaikbild zustande gekommen, natürlich mit schad-
haften Stellen, worin alles verzeichnet war, die heiße Liebe zur Brust,
zur Mutter, zu deren Armen, die Verdrängung zugunsten des Vaters
im Anschluß an eine Schwangerschaft, die Entstehung des Hasses mit
seinen homosexuellen Resten. Ich kann Ihnen von den Einzelheiten
nichts mitteilen, aber das Resultat war, daß jene Frau, als ich sie im
nächsten Jahr wiedersah, operiert war. keine Untreue mehr und kerne
Sdmecke mehr fürchtete. Sie mögen glauben, was Sie wollen, ich
meinerseits bin überzeugt, daß sie das Schwänzchen der Mutter zu
Uebe wachsen ließ. Und nun darf ich noch hinzu fügen, daß die Schnecke
aoppeldeutiges Symbol ist, der PhaUus der Gestalt und der Fühler
halber und das Weibesorgan um des Schleimes wiUen. Wissensdiaft-
lieh ist sie ja wohl auch doppelgesdileditlich.
Auch vom Axolottl muß ich Ihnen ein Geschichtdien zum Besten
geben; Sie haben das Tierchen wohl im Berliner Aquarium gesehen
und wissen, wie ähnlich es einem Embryo ist. Dort im Aquarium ist
einmal vor dem Kasten des Axolottls eine Frau in meiner Gegenwart
halb ohnmächtig geworden. Sie haßte audi ihre Mutter, angeblich, wie
es immer der Fall ist. Sie war sehr kinderUeb. aber sie hatte die
251
..»
Mutter audi bei einer ScJiwang-erschaft hassen gelernt und sie hat
keine Kinder bekommen, trotz aller Sehnsucht. Sehen Sie sich kinder-
lose Frauen aufmerksam an, wenn sie wirklich kinders ehnsÜchtig sind.
Da ist Tragik des Lebens, die oft sich wandeln läßt. Denn alle diese
Frauen - ich wage ru sagen, alle - tragen den Haß gegen die
Mutter im Herzen, dahinter aber in eine Ecke gequetscht sitzt traurig
die verdrängte Liebe. Helfen Sie ihr aus der Verdrängung heraus,
und jenes Weib wird einen Mann suchen und finden, der mit ihr ein
Kind zeugt. ,.;..
Ich könnte noch eine Weile so fort reden, aber mich fesselt ein
Schauspiel, von dem id. Ihnen berichten will. Das Beste kommt zuletzt.
Sie müssen wissen, daß ich, während ich schreibe, auf jener Terrasse
mit den vielen Kinderwagen sitze, von der ich Ihnen schrieb. Vor mir
spielen zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen mit einem Hunde.
Der liegt auf dem Rücken und sie kraulen ihn am Baudi und jedesmal,
wenn infolge des Kitzels der rote Penis des Hündchens zum Vorschein
kommt, lachen die Kinder. Und schließlidi haben sie es so weit ge-
bracht, daß der Hund seinen Samen ausspritzte. Das hat die Kinder
nachdenkhch gemacht. Sie sind zur Mutter gegangen und haben sich
nicht mehr um den Hund gekümmert.
Haben Sie noch nie gesehen, wie oft Erwachsene mit der Stiefel-
spitze ihren Hund kraulen? Kindererinnerungen. Und da die Hunde
»idit sprechen können, muß man sie beobachten und sehen, was sie
tun. Es sind ihrer viele, die auf den Geruch der Periode reagieren
und viele, die an den Beinen des Menschen onanieren. Und wenn
die Hunde schweigen, fragen Sie die Menschen. Sie müssen dreist
fragen, sonst bleibt die Antwort aus. Denn auch die Sodomie gilt
als pervers. Und was mit dem Hund erlebt wird, ist tief verdrängt.
Denn er ist nicht nur ein Tier, sondern ein Symbol des Vaters, des
Wauwaus.
Wollen Sie noch mehr von den Tieren wissen? Gut. Stellen Sie
sich ein paar Stunden vor den Affenkäfig des zoologischen Gartens
und beobachten Sie die Kinder; auch den Erwachsenen dürfen Sie ein
252
paar Blicke gönnen, Wenn Sie in diesen Stunden nicht mehr von der
Menschenseele kennen gelernt haben, als in tausend Büchern steht,
sind Sie der Augen nicht wert, die Sie im Kopfe tragen.
Alles Gute von Ihrem getreuen ^r,r\j
TROLL.
30.
ALSO DAS WAR DER GRUND IHRES LANGEN SCHWEIGENS.
Sie haben nochmals die Möglichkeit der Veröffentlichung erwogen, be-
willigen für meinen Teil der Korrespondenz das Imprimatur und ver-
weigern es für Ihre Briefe. Sei es denn! Und Gott gebe seinen Segen!
Sie haben Recht, es ist an der Zeit, daß ich mich ernsthaft mit
dem Es auseinandersetze. Aber das Wort ist starr, und deshalb bitte
ich Sie, ab und zu um eins der geschriebenen Wörter herumzugehen
und es von allen Seiten zu betrachten. Sie gewinnen dann eine Meinung,
und darauf kommt es an, nicht darauf, ob diese Meinung richtig oder
falsch ist. Ich will mich bemühen, sachlich zu bleiben.
Da muß idi nun zunächst die betrüblidie Mitteilung machen, daß es
ein solches Es, wie ich es vorausgesetzt habe, nadi meiner Meinung gar
nicht gibt, daß ich es selber künstlich hergestellt habe. Weil ich mich
durchaus nur mit dem Menschen, mit dem einzelnen Menschen be-
sdiäftige und das bis an mein Lebensende tun werde, muß ich so tun.
als ob es, losgelöst vom Ganzen Gottnaturs, Einzelwesen gäbe, die man
Menschen nennt. Ich muß so tun. als ob ein solches Einzelwesen irgend-
wie durch einen leeren Raum von der übrigen Welt getrennt wäre, so
daß es den Dingen außerhalb seiner erdachten Grenzen selbständig
gegenübersteht. Idi weiß, daß das falsch ist, trotzdem werde ich eigen-
sinnig an der Annahme festhalten, daß jeder Mensch ein eigenes Es
ist, mit bestimmten Grenzen und mit Anfang und Ende. Ich betone
das, weil Sie, verehrte Freundin, schon mehrmals den Versuch gemadit
haben, mich zum Schwatzen über Weltseele, Pantheismus, Gottnatur
zu verführen. Dazu habe ich keine Lust, und idi erkläre hiermit,
feierlich, daß ich es nur mit dem zu tun habe, was ich das Es des
253
Menschen nenne. Und ich lasse kraft meines Amtes als Briefschreiber
dieses Es beginnen mit der Befruchtung. Welcher Punkt des überaus
verwickelten Befruchtungs Vorgangs als Anfang; gelten soll, ist mir gleich-
gültig, ebenso wie ich es Ihrem Belieben überlasse, aus der Masse der
Todesvorgänge irgendeinen Moment auszuwählen und ihn als Ende
des Es anzunehmen.
Da ich Ihnen von vornherein eine bewußte Fälschung in meiner
Hypothese gebe, steht es Ihnen frei, in meinen Auseinandersetzungen
so viel bewußte und unbewußte Fehler zu finden, wie Sie wollen.
Aber vergessen Sie nicht, daß dieser erste Fehler, Dinge, Individuen
lebloser oder lebender Art aus dem All herauszuschneiden, allem mensdi-
lichen Denken anhaftet, und daß unsre sämtlichen Äußerungen damit
belastet sind.
Nun erhebt sidi eine Schwierigkeit. Diese hypothetische Es-
Einheit, deren Ursprung in der Befruditung festgelegt ist, enthält tat-
sächlich in sich zwei Es-Einheiten, eine weiblidie und eine männli<iie.
Dabei sehe idi ganz von der verwirrenden Tatsache ab, daß diese
beiden Einheiten, die vom Ei und vom Samenfaden herkommen, wiederum
keine Einheiten, sondern Vielheiten von Adams und der Urtierdien
Zeiten her sind, in denen Weibhches und Männliches in unlösbarem
Gewirr, aber wie es scheint unvermisdit nebeneinander liegt. Daß beide
Prinzipien nidit ineinander fließen, sondern nebeneinander existieren,
bitte ich zu behalten. Denn daraus folgt, daß jedes Menschen-Es min-
destens zwei Es in sidi enthält, die, irgend wie zu einer Einheit ver-
bunden, doch in gewisser Weise unabhängig von einander sind.
Ich weiß nicht, ob idi bei Ihnen wie bei andern Frauen — und
auch Männern natürlidi — eine völlige Unkenntnis des Wenigen vor-
aussetzen darf, was man über die weiteren Schicksale des befruditeten
Eis zu wissen glaubt. Für meine Zwecke genügt es, wenn ich Ihnen
mitteile, daß sich dieses Ei nacli der Befruchtung daran macht, sidi in
zwei Teile zu zerlegen, in zwei Zellen, wie die Wissenschaft diese
Wesen zu benennen beliebt. Diese zwei teilen sieh dann wieder in vier,
in adit, in sechzehn Zellen und so fort, bis schließlich das zustande
254
kommt, was wir gemeinig-licK „Mensch" nennen. Auf die Einzelheiten
dieser Vorgänge brauche ich Gott sei Dank nicht einzugehen, sondern
kann mich damit begnügen, auf etwas hinzuweisen, was für mich
wichtig ist, so unbegreifüch es mir auch bleibt. In dem winzig kleinen
Wesen, dem befruchteten Ei, steckt irgend Etwas, ein Es, das imstande
ist, die Teilungen in Zellenhaufen vorzunehmen, ihnen verschiedene
Gestalt und Funktion zu geben, sie dazu zu veranlassen, sich zu Haut,
Knodien, Augen, Ohren, Gehirn etc. zu gruppieren. Was in aller Welt
wird aus diesem Es im Moment der Teilung? Offenbar teilt es sich
mit, denn wir wissen, das jede einzelne Zelle eine selbständige
Existenzmöglicbkeit und Teilungsmöglichkeit hat. Aber gleichzeitig bleibt
etwas Gemeinsames übrig, ein Es, das die beiden Zellen aneinander
bindet und ihr Schicksal in irgend einer Weise beeinflußt und sich von
ihnen beeinflussen läßt. Aus dieser Erwägung heraus habe ich mich
entschließen müssen anzunehmen, daß außer dem individuellen Es des
Mensdien eine unberechenbar große Zahl von Es-Wesen, die den ein-
zelnen Zellen angehören, vorhanden sind. Wollen sie sich dabei gütigst
daran erinnern, daß sowohl das Individualitats-Es des ganzen Menschen
wie jedes Es jeder Zelle ein männliches und ein weibüciies Es und-
ferner audi noch die winzig kleinen Es-Wesen der Ahnenkette in sidi
bergen.
Verlieren Sie bitte die Geduld niditl Ich kann nidiU dafür, daß
ich Dinge verwirren muß, die dem täglichen Denken und Spreeben ein-
fach sind. Irgend ein gütiger Gott wird uns, so hoffe ich, aus dem
Gestrüpp, das uns zu umschlingen droht, herausführen.
Vorläufig ziehe ich Sie noch tiefer hinein. Es kommt mir vor, als
ob es noch weitere Es-Wesen gibt. Die Zellen schließen sich im Lauf
der Entwicklung zu Geweben zusammen, zu Epithelien, Bindegeweben,
Nervensubstanz und so weiter, und jedes einzelne dieser Gebilde scheint
wieder ein eigenes Es zu sein, das auf das Gesamt-Es, die Es-Einheiten
der Zellen und die der andern Gewebe einwirkt und sich von ihnen
in den Lebensäußerungen bestimmen läßt. Ja nicht genug damit. Neue
Es-Formen treten als Organe auf, als Milz, Leber, Herz, Nieren, Knodien,
255
Muskeln, Hirn und Rückenmark, und weiter drängen sich uns in den
Org-ansystemen andre Es-Gewalten auf, ja es scheinen sich gleichsam
erkünstelte Es-Einheiten zu bilden, die ihr seltsames Wesen treiben,
obwohl man annehmen könnte, daß sie nur Schein und Namen sind.
So muß ich zum Beispiel behaupten, daß es ein Es der oberen und
unteren Kürperhälfte gibt, ein solches von rechts und links, eins des
Halses oder der Hand, eins des Hohlraums des Menschen und eins
seiner Körperoherfläche. Es siajI Wesenheiten, von denen man fast
annehmen möchte, daß sie durdi Gedanken, Besprechungen, Handlungen
entstehen, die man fast für Gesdiöpfe des vielgepriesenen Verstandes
halten könnte. Aber glauben Sie das nur nicht! Solch eine Ansidit
entspringt nur dem verzweifelten und hoffnungslosen Bemühen, irgend
etwas in der Welt verstehen zu wollen. Sobald man das will, sitzt
gewiß ein besonders schadenfrohes Es irgendwo im Versteck, spielt
mit uns Schabernack und ladit sich halb tot über unsre Anmassung,
über daS' Gernegroßsein unsres Wesens. ,. ^.
Bitte, Liebe, vergessen Sie nie, daß unser Gehirn, und damit unser
Verstand, Geschöpf des Es ist; gewiß eins, das wiederum schaffend
-wirkt, das aber doch erst spät in Tätigkeit tritt und dessen Schaffens-
feld beschränkt ist. Längst ehe das Gehirn entsteht, denkt schon das
Es des Menschen, es denkt ohne Gehirn, baut sich erst das Gehirn.
Das ist etwas Fundamentales, etwas, was der Mensch nie vergessen
dürfte und doch stets vergißt. In dieser Annahme, daß man mit dem
Gehirn denkt, eine Annahme, die sicher falsch ist, ist die Quelle von
tausend und abertausend Albernheiten, freilich auch die Quelle für
wertvolle Entdeckungen und Erfindungen, für aUes, was das Leben
verschönt und verhäßlicht.
Sind Sie mit der Wirrnis zufrieden, in der wir uns herumtreiben?
Oder soll ich Ihnen noch erzählen, daß sich fortwährend in buntem
Wechsel neue Es- Wesen zeigen, gleichsam als ob sie neu entstünden?
Daß es Es-Wesen der Körperfunktionen gibt, des Essens, Trinkens,
Sdilafens, Atmens, Gehens? Daß sich ein Es der Lungenentzündung
oder der Schwangerschaft offenbart, daß sich aus dem Beruf, aus dem
256
Alter, aus dem Aufenthaltsort, aus dem Closet und Nadittopf, aus
dem Bett, der Sdiule, der Konfirmation und Ehe, der Kunst und der
Gewohnheit solche seltsame Dinge bilden? Verwirrung, unendlidie
Verwirrung-. Nichts ist klar, alles ist dunkel, unentrinnbare Verschlingung'.
Und do(Ji, und doch! Wir meistern das alles, wir treten mitten
hinein in diese brodelnde Flut und dämmen sie ein. Wir packen diese
Gewalten irgendwo und reißen sie hierhin und dorthin. Denn wir sind
Menschen, und unser Griff vermag etwas. Er ordnet, gliedert, schafft
und vollbringt. Dem Es steht das Idi gegenüber, und wie es auch sei
und was auch sonst noch zu sagen wäre; für die Menschen bleibt
immer der Satz: Ich bin Ich.
Wir können nicht anders, wir müssen uns einbilden, daß wir
Herren des Es sind, der vielen Es-Einheiten und des einen Gesamt-
Es, ja auch Herren über Charakter und Handeln des Nebenmenschen,
Herren über sein Leben, seine Gesundheit, seinen Tod. Das sind wir
gewiß nidit, aber es ist eine Notwendigkeit unserer Organisation,
unsres Menschseins, daß wir es glauben. Wir leben, und dadurcii daß
wir leben, müssen wir glauben, daß wir unsere Kinder erziehen können,
daß es Ursaciien und Wirkungen gibt, daß wir aus freier Überlegung
heraus zu nützen und schaden vermögen. In der Tat wissen wir
nichts über den Zusammenhang der Dinge, können nicht für vierund-
zwanzig Stunden voraus bestimmen, was wir tun werden und haben
nidit die Macäit, irgend was absichtlich zu tun. Aber wir werden vom
Es gezwungen, seine Taten, Gedanken, Gefühle für Geschehnisse
unsres Bewußtseins, unsrer Absithtlichkeit, unsres Ichs zu halten. Nur
weil wir in ewigem Irrtum befangen sind, blind sind und nicht das
Geringste wissen, können wir Ärzte sein und Kranke behandeln.
Idi weiß nicht bestimmt, warum ich Ihnen das alles schreibe.
Vermutlich um mich zu entschuldigen, daß id» trotz meines festen
Glaubens an die Allmacht des Es dodi Arzt bin, daß idi trotz der
Überzeugung von der außerhalb meines Bewußtseins liegenden Not-
wendigkeit all meiner Gedanken und Taten doch immer wieder Kranke
behandle und vor mir selber und vor andern so tue, als ob ich für
17 Groddccfc, Dm Buch vom Es 257
Erfolg und Mißerfolg- meiner Behandlung- vcrantwortlidi sei. Des
Menschen wesentlidie Eigenschaft ist Eitelkeit und Selbstübersciiätzung.
Ich kann mir diese Eigenschaft nicht nehmen, muß an midi und mein
Tun glauben.
Im Grunde wird alles, was im Menschen vorgeht, vom Es getan.
Und das ist gut so. Und es ist audi gut, einmal wenigstens im Leben
still zu stehen und sich, so gut es geht, mit der Überlegung zu be-
schäftigen, wie ganz außerhalb unsres Wissens und Vermögens die
Dinge vor sieh gehen. Für uns Ärzte ist das besonders notwendig.
Nidit um uns Bescheidenheit zu lehren. Was sollen wir mit soldi un-
menschlicher, außermenschlicher Tugend? Sie ist doch nur pharisäis<^.
Nein, sondern weil wir sonst Gefahr laufen, einseitig zu werden, uns
selbst und unsern Kranken vorzulügen, daß gerade diese oder jene
Behandlungsart die allein richtige sei. Es klingt absurd, aber es ist
doch wahr, daß jede Behandlung des Kranken die richtige ist, daß er
stets und unter allen Umständen riditig behandelt wird, ob er nun
nach Art der Wissenschaft oder nadi Art des heilkundigen Sdiäfers
behandelt wird. Der Erfolg wird nicht von dem bestimmt, was wir
unsern Kenntnissen gemäß verordnen, sondern von dem, was das
Es unsres Kranken mit unsren Verordnungen macht. Ware das nidit
so, so müßte ein jeder Knochenbruch, der regelrecht eingerenkt und
verbunden ist, heilen. Dem ist aber nidit so. Wäre wirklich ein so
großer Unterschied zwisdien dem Tun eines Chirurgen und dem eines
Internisten oder Nervenarztes oder eines Pfuschers, so hätte man recht,
sich seiner gelungenen Kuren zu rühmen und sich der Mißerfolge zu
schämen. Aber dazu hat man kein Recht. Man tut es, aber man hat
kein Recht dazu.
Dieser Brief ist, wie mir sdieint, aus einer merkwürdigen Stimmung
heraus gesdirieben. Und wenn ich so weiter fortfahre, mache ich Sie
alier Wahrscheinlichkeit nach traurig oder bringe Sie zum Lachen. Und
weder das eine noch das andere liegt in meiner Absicht. Ich will Ihnen
lieber erzählen, wie ich zur Psydioanalyse gekommen bin. Sie werden
dann eher verstehen, was ich mit meinen Drumrumreden meine, werden
258
einsehen, was für seltsame Gedanken idi über meinen Beruf und seine
Ausübung habe.
Idi muß Sie zunadist mit dem Seelenzustande bekannt madien
in dem idi midi damals befand und der sich in die Worte zusammen-
fassen läßt, daß ich abg-ewirtschaftet hatte. Ich kam mir alt vor, hatte
keine Lust mehr am Weibe oder am Manne, meiner Liebhabereien
war ich überdrüssig- geworden, und vor allem, meine ärztÜche Tätigkeit
war mir verleidet. Ich betrieb sie nur noch zum Gelderwerb. Ich war
krank, daran zweifelte icti selber nicht, wußte nur nidit, was mit mir
los war. Erst einige Jahre später hat mir einer meiner medizinisdien
Kritiker gesagt, woran ich litt: idi war hysterisch, eine Diagnose, von
deren Richtigkeit ich umso mehr überzeugt bin, als sie ohne persön-
liche Bekanntschaft lediglidi nach dem Eindruck meiner Sdiriften ge-
stellt worden ist: die Symptome müssen also sehr deutlich gewesen
sein. In dieser Zeit übernahm idi die Behandlung einer schwerkranken
Dame; die hat mich gezwungen, Analytiker zu werden.
Sie erlassen mir es wohl, auf die lange Leidensgeschichte dieser
Frau einzugehen; ich tue das nidit gern, weil es mir leider nicht ge-
lungen ist, sie vollständig wieder herzustellen, wenn sie auch im Lauf
der vierzehn Jahre, die ich sie kenne und verarzte, gesünder geworden
ist, als sie es selbst je erwartet hat. Um Ihnen aber die Sicherheit zu
geben, daß es sich bei ihr wirklich um eine solide „organische", also
wirkliche Erkrankung, nicht bloß um eine „eingebildete", eine Hysterie
wie bei mir handelte, berufe i<h mich auf die Tatsache, daß sie in den
letzten Jahren vor unserer Bekanntschaft zwei schwere Operationen
durchgemacht hatte und mir mit einem reichlichen Vorrat von Digitalis,
Skopolamin und anderem Dreck als Todeskandidatin von ihrem letzten
wissenschaftlichen Berater übergeben wurde.
Anfangs war unser Verkehr nitht leicht. Daß sie meine etwas
gewalttätige Untersuchung mit reichlichen Gebärmutter- und Darm-
blutungen beantwortete, überraschte mich nicht: dergleichen hatte
ich bei anderen Kranken des öfteren erlebt. Was mir aber auffiel,
war, daß sie trotz ihrer .ansehnlichen Intelligenz über einen lächerlich
17' 259
armseligen Wortsdiatz verfügte. Für die meisten Gegenstände des Ge-
brauches benutzte sie Umschreibungen, so daß sie etwa statt Schrank
das Ding: für die Kleider sagte, oder statt Ofenrohr die Einrichtung
für den Rauch. Gleidizeitig vermochte sie nicht bestimmte Bewegungen
zu ertragen, etwa das Zupfen an der Lippe oder das Spielen mit irgend-
einer Stuhlquaste. Verschiedene Gegenstände, die uns zum täglichen
Leben notwendig vorkommen, waren aus dem Krankenzimmer verbannt.
Wenn ich jetzt auf das Krankheitsbild, wie es sich damals darbot,
zurückblicke, wird es mir schwer, zu glauben, daß ich einmal eine Zeit
gehabt habe, wo ich nichts von allen ditsen Dingen verstand. Und
doch war es so. Ich sah wohl, daß es sich bei meiner Kranken um
eine enge Verquickung sogenannter körperlicher und psychischer Elr-
scheinungen handelte, aber wie die zustande gekommen war und wie
man der Kranken helfen sollte, wußte idi nicht. Nur das eine war mir
von vornherein klar, daß irgendeine geheimnisvolle Beziehung zwischen
mir und der Patientin war, die sie veranlaßte, "Vertrauen zu mir zu
fassen. Damals kannte ich den Begriff der Übertragung noch nicht,
freute mich nur der scheinbaren SuggestibUität des Behandlungsobjektes
und arztete darauf los, wie idi es gewohnt war. Einen großen Erfolg
errang ich schon bei dem ersten Besuch. Bisher hatte sich die Kranke
stets geweigert, mit einem Arzt allein zu verhandeln; sie verlangte,
daß die ältere Schwester dabei sei und infolgedessen ging jeder Ver-
ständigungsversuch immer durch die Vermittlung der Schwester vor
sidi. Seltsamer Weise ging sie sofort auf meinen Vorschlag, mich das
nächste Mal allein zu empfangen, ein: erst spät ist mir klar geworden,
daß das an der Art der Übertragung lag. Fräulein G. sah in mir
die Mutter.
Hier muß idi eine Bemerkung über das Es des Arztes einschieben.
Es war damals meine Gewohnheit, die wenigen Anordnungen, die idi
gab, mit absoluter Strenge und — ich muß den Ausdruck gebrauchen
— Unersdirockenheit durchzusetzen. Ich gebraudite die Redewendung:
»Sie müssen eher sterben, als irgend eine Verordnung übertreten,"
und ich madite damit ernst. Ich habe Magenkranke, die nach bestimmten
260
1
Speisen Schmerzen oder Erbredien bekamen, so lange ausschließ-
lidi gerade mit diesen Speisen genährt, bis sie es gelernt hatten,
sie zu vertragen, ich habe andere, die wegen irgend einer Gelenks-
oder Venenentzündung unbeweglidi zu Bett lagen, gezwungen, aufzu-
stehen und zu gehen, ich habe Apoplektiker damit behandelt, daß ich
sie sich täglich bücken ließ und habe Menschen, von denen ich wußte,
daß sie in wenigen Stunden sterben würden, angekleidet und bin mit
ihnen spazieren gegangen, habe es erlebt, daß einer von ihnen vor der
Haustür tot zusammenbrach. Diese Art, als kraftvoller, gütiger Vater
autoritative, unfehlbare, väterliche Suggestion zu treiben, kannte ich
von meinem Vater her, hatte sie bei dem größten Meister des „Arzt-
Vaterseins" Sdiweninger gelernt und besaß wohl audi ein Stück davon
von Geburt her. In dem Fall des Fräulein G. verlief alles anders, von
vornherein anders. Ihre Einstellung mir gegenüber als Kind — und
zwar, wie sich später herausstellte, als dreijähriges Kind — zwang
mir die Rolle der Mutter auf. Bestimmte schlummernde Mutterkräfte
meines Es wurden von dieser Kranken geweckt und gaben meinem
Verfahren ihre Richtung. Später, als ich mein eigenes ärztliches Handeln
aufmerksamer prüfte, fand idi, daß derlei rätselhafte Einflüsse mich
schon oft in andere Einstellungen zu meinen Kranken als die vaterlidie
gedrängt hatten, obwohl iA bewußt und theoretisA fest davon über-
zeugt war, der Arzt müsse Freund und Vater sein, müsse herrschen.
Da stand idi nun auf einmal vor der seltsamen Tatsache, daß
nicht ich den Kranken, sondern daß der Kranke mich behandelt; oder
um es in meine Sprache zu übersetzen, das Es des Nebenmensdien
sucht mein Es so umzugestalten, gestaltet es audi wirklich so um,
daß es für seine Zwecke braudibar wird.
Schon diese Einsicht zu gewinnen, war schwer; denn Sie be-
greifen, daß damit mein Verhältnis zum Kranken gänzlich umgekehrt
wurde. Es kam nun nicht mehr darauf an, ihm Vorschriften zu geben,
ihm das zu verordnen, was ich für richtig hielt, sondern so zu werden,
wie der Kranke mich brauchte. Aber von der Einsicht bis zur Aus-
führung der sich daraus ergebenden Folgerungen ist ein weiter Weg.
261
i
Sie haben diesen Weg- ja selbst beobachtet, selbst gesehen, wie idi
aus einem aktiv eingreifenden Arzt ein passendes Werkzeug geworden
bin, haben mich oft deswegen getadelt und tadeln mich nodi» bestürmen
mich immer wieder und wieder, hier zu raten, dort einzugreifen, und
anderswo befehlend und führend zu helfen. Wenn Sie es doch lassen
ijj wollten f ItJi bin für die Helfertätigkeit unrettbar verloren, vermeide
■^ es, einen Rat zu geben, gebe mir Mühe, jeden Widerstand meines
\^ Unbewußten gegen das Es der Kranken und seine Wünsche so rasch
wie möglich aufzulösen, fühle mich glücklidi dabei, sehe Erfolge und
bin selbst gesund geworden. Wenn idi etwas bedaure, so ist es, daß
der Weg, den idi gehe, allzu breit und gemächlich ist, so daß ich aus
purer Neugier und füllenartigem Übermut davon abbiege, midi in
■^ Klüften und Sümpfen verliere und so mir selbst und meinen Schutz-
befohlenen Mühe und Schaden bringe. Mir kommt es vor, als ob
das Schwerste im Leben sei, sidi gehen zu lassen, den Es-Stimmen
des Selbst und des Nebenmenschen zu lauschen und ihnen zu folgen.
Aber es lohnt sidi. Man wird allmählich wieder Kind und Sie wissen:
So Ihr nidit werdet wie die Kinder, so könnt Ihr nicht in das Himmel-
reich kommen. Man sollte das Gernegroßsein mit fünfundzwanzig Jahren
aufgeben; bis dahin braucht man es ja wohl, um zu wadiaen, abernachher
ist es dodi nur für die seltenen Fälle der Erektion nötig. Sich erschlaffen
. lassen und die Erschlaffung, das Schlaffsein, das Schlappsdiwanzsein
weder sich noch Andren zu verbergen, darauf käme es an. Aber wir sind
wie jene Landsknechte mit dem Holzphallus, von denen ich Ihnen erzählte.
Genug für heute. Es drängte mich längst, einmal ein Urteil von
^ Ihnen zu hören, wie weit idi im Kindwerden, in der Ent-Idiung ge-
kommen bin. Ich selbst habe das Gefühl, daß ich noch in den An-
fängen dieses meist Altern genannten Prozesses bin. der mir wie ein
Kindwerden vorkommt. Aber idi kann mich irren; das Zornwort einer
Kranken, die midi nadi zwei Jahren der Trennung wiedersah: „Sie
haben seelisches Embonpoint angesetzt", hat midi etwas zuversicht-
licher gemadit. Bitte gehen Sie Auskunft Ihrem getreuem
;,1 PATRIK TROLL.
262
■
1-1
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"H
■
31.
ICH HÄTTE NICHT GEDACHT, DASS SIE SO SCHELTEN
können, Verehrteste. Klarheit verlang-en Sie, nichts als Klarheit. Klar-
heit? Wenn mir die Es-Frage klar wäre, würde idi glauben, Gott
selbst zu sein. Gestatten Sie mir, bescheidener von mir zu denken.
Lassen Sie mich dazu zurückkehren, wie ich Freuds Sdiüler
wurde. Nachdem midi Fräulein G. zu ihrem Mutter-Arzte ernannt
hatte, wurde sie zutraulicher. Sie ließ sidi alle möglidien Hantierungen,
wie sie mein Gewerbe als Masseur mit sich bradite, ruhig- gefallen,
aber die Sdiwierigkeiten der Unterhaltung blieben. Nach und nadi ge-
wöhnte idi mir — aus Spielerei, wie mir schien — ihre umschreibende
Ausdrucksweise an und siehe da, natii einiger Zeit bemerkte ich zu
meiner hödisten Verwunderung, daß ich Dinge sah, die idi früher
nicht gesehen hatte. Ich lernte das Symbol kennen. Es muß sehr all-
mählidi gegangen sein, denn idi besinne mich nidit, bei welcher Ge-
legenheit ich zuerst begriff, daß ein Stuhl nicht nur ein Stuhl, sondern
eine ganze Welt ist, daß der Daumen der Vater ist, daß er Sieben-
meilenstiefel anziehen kann und dann als ausgestredtter Zeigefinger
Erektionssymbol wird, daß ein geheizter Ofen eine heißblütige Frau
bedeutet und das Ofenrohr den Mann, und daß die sdiwarze Farbe
dieses Rohres unausspredilichen Schrecken verursadit, weil in dem
Sdiwarz der Tod ist, weil dieser harmlose Ofen den Gesdiledits-
verkehr eines abgeschiedenen Mannes mit einer lebendigen Frau
bedeutet.
Was soll idi weiter davon spredien? Ein Rausdi kam über midi,
wie idi ihn nie vorher nodi nadiher erlebt habe. Das Symbol war
das erste, was idi von aller analytischen Weisheit lernte und es hat
midi nidit wieder losgelassen. Ein langer, langer Weg von vierzehn
Jahren liegt hinter mir und wenn id. ihn zu übersdiauen sudie. ist er
voll von seltsamen Funden der Symbolik, verwirrend voll, herrlid,
bunt und sdiillernd vom Wedisel der Farben. Die Gewalt, mit der
midi diese Einsidit in die Symbole umänderte, muß ungeheuer ge-
wesen sein, denn sie trieb midi sdion in den ersten Wodien meiner
263
?
■ i
Lehrzeit dazu, in der organischen Veränderung- des mensdilidien
Äußeren, in dem, was man physische organische Krankheit nennt, das
Symbol zu sudien. Daß das psychische Leben ein fortdauerndes Symboli-
sieren sei, war mir so selbstverständlich, daß ich ungeduldig die sidi
aufdrängenden Massen neuer, für mich neuer Gedanken und Gefühle
wegdrängte und in toller Hast die Wirkung des Symbolzeigens in
Organerkrankungen verfolgte. Und diese Wirkungen waren für mich
Zauberwirkungen. .*,-,,-.
Bedenken Sie, ich hatte eine zwanzigjährige ärztlidie Tätigkeit hinter
mir, die sich — ein Erbteil Schweningers — nur mit chronischen, auf-
gegebenen Fällen besdiäftigte. Ich wußte genau, was auf meinem
früheren Wege zu erreichen war, und ich schrieb das Mehr, das nun
entstand, ohne weiteres meiner Belehrung über die Symbole zu, die
idi wie einen Sturmwind über die Kranken dahinbrausen ließ. Es
war eine schone Zeit.
Gleichzeitig mit den Symbolen lernte ich durch meine Kranke
eine andre Eigentümlichkeit menschlichen Denkens praktisch kennen,
den Assoziationszwang. Vermutlich haben dabei auch Einflüsse andrer
Herkunft, Zeitschriften, mündliche Mitteilungen, Klatsch mitgewirkt,
das Wesentliche aber kam von Fräulein G. Auch mit Assoziationen
beglückte ich sofort meine Klienten, es ist mir auch genug davon in
meinen ärztlichen Gewohnheiten haften geblieben, um damit Fehler
zu begehen, aber damals sdiien mir alles sehr gut.
So lange es dauerte. Schon bald traten Rückschläge ein. Irgend-
welche geheimnisvolle Kräfte stemmten sich mir plätzlich entgegen,
Dinge, die ich später unter Freuds Einfluß als Widerstände zu be-
zeichnen lernte; ich verfiel zeitweise wieder in die Methode des Be-
fehlens, wurde dafür durch Mißerfolge bestraft und lernte schließlich
leidlich mich durdiwinden. Alles in allem ging die Sache über Er-
warten gut und als der Krieg ausbradi, hatte ich mir ein Verfahren
zureditgebaut, das den Anforderungen meiner Praxis allenfalls ent-
spraai. Ich habe dann während der paar Monate Lazarettätigkeit
mein dilettantisches wildes Analysieren, das ich übrigens noch jetzt
264
beibehalten habe, an Verwundeten erprobt und habe gesehen, daß die ■
Wunde oder der Knodienbruch ebenso auf die Analyse des Es reagiert
wie die Nierenentziinduog- oder der Herzfehler oder die Neurose.
Soweit schreibt sich das ganz nett und angenehm und es klingt
wahrscheinlich. Aber mitten in dieser Entwicklung steht etwas Rätsel-
haftes; ein öffentlicher Angriff auf Freud und die Psydioanalyse. Sie
können ihn noch gedruckt lesen in einem Budi über den gesunden und
kranken Menschen. Ich habe mir immer eingebildet, daß idi die Analyse
von Fräulein G. gelernt habe, bilde es mir noch ein. Es kann aber
nicht wahr sein; denn wie sollte ich sonst zu einer Zeit, wo ich angeblich
gar nichts von Freud wußte, seinen Namen gekannt haben? Daß idi
nichts Richtiges über ihn wußte, ergibt sidi aus dem Wortlaut des
Angriffs. Ich kann mir nichts Dümmeres denken als diesen Wortlaut.
Aber wo in aller Welt haben die Glocken gehangen, die idt läuten
hörte? Erst vor ganz kurzer Zeit ist es mir eingefallen. Die erste
Idee davon bekam ich viele Jahre, ehe idi Fräulein G. kennen lernte,
durch einen Artikel der Täglichen Rundschau und das zweite Mal
hörte idi Freuds Namen und den Ausdruck: Psychoanalyse durch
das Geschwätz einer Kranken, die ihre Kenntnisse irgendwo auf-
gelesen hatte.
Die Eitelkeit hat midi lange daran gehindert, midi mit der wissen-
schaftlichen Psychoanalyse zu beschäftigen. Später habe idi versucht,
diesen Fehler wieder gut zu madien, hoffe audi, daß es mir leidlidi
gelungen ist, wenn auch hie und da unausjätbares Unkraut in meinem
analytisdien Denken und Handeln übrig geblieben ist. Aber der Eigen-
sinn, nicht lernen zu wollen, hat auch seinen Vorteil gehabt. In dem .
blinden Dahintaumeln, das durdi Kenntnisse nicht beschwert war, bin
ich von ungefähr auf die Idee gestoßen, daß es außer dem Unbewußten
des Gehirndenkens analoges Unbewußtes in andern Organen, Zellen,
Geweben usw. gibt, und daß sidi bei dem innigen Zusammenschluß
dieser einzelnen Unbewußtwesen zum Organismus ein heilender Ein-
fluß auf jedes dieser Einzelwesen durch Analyse des unbewußten
Gehirns gewinnen laßt.
265
f
Sie müssen nidit denken, daß mir behag-Iidi zu Mute ist, wahrend
ich diese Sätze niederschreibe. Idi habe das dunkle Gefühl, daß sie
. nidit einmal Ihrer Uebenswürdigen Kritik standhalten, gesdiweige denn
einer ernsthaften Prüfung- der Fadiwissenschaft. Da es mir immer
leichter geworden ist, zu behaupten als zu beweisen, greife idi audi
hier zur Behauptung und sage ; Auf dem Wege der Analyse läßt sich
jede Erkrankung des Organismus, gleichgültig, ob sie psychisdi oder
physisch genannt wird, beeinflussen. Ob man im gegebenen Fall ana-
lytisch oder diirurgisch oder physikalisdi, diätetisch oder medikamentös
verfahren soll, ist eine Zweckmäßigkeitsfrage. An sich gibt es kein
Gebiet der Medizin, auf dem sidi Freuds Entdeckung nidit ver-
werten heße.
Ihr Hinweis, Hebe Freundin, daß ich praktistJier Arzt bin und midi
Doktor nenne, ist so energisch gewesen, daß ich mich genötigt sehe,
«i»" wenig mehr von Krankheit zu plaudern, wie ich mir ihr Zustande-
kommen und ihre Heilung vorstelle. Zunächst aber müssen wir uns
darüber einigen, was wir Krankheit nennen wollen. Ich denke, wir
kümmern uns nicht darum, was andere Leute darunter verstehen,
sondern stellen unsern eigenen Begriff auf. Und da schlage ich vor,
klar auszusprechen: Krankheit ist eine Lebensäußerung des mensch-
lichen Organismus. Nehmen Sie sieh Zeit, darüber nachzudenken, ob
Sie dieser Formel zustimmen wollen oder nicht. Und gestatten Sie mir,
währenddessen so zu tun, als ob Sie meinen Satz billigten.
Vielleicht halten Sie die Frage nicht für besonders wichtig. Aber
wenn Sie, wie ich, sich dreißig Jahre lang Mühe gegeben hätten, Tag
für Tag so und so viel Menschen diesen einfachen Satz begreiflich zu
madien und doch Tag für Tag dreißig Jahre lang die Erfahrung
^ gemacht hatten, daß er durdiaus nicht in die Köpfe der Menschen
hineingeht, würden Sie mir beipflichten, wenn idi Wert darauf lege,
daß Sie wenigstens ihn verstehen.
Wem, wie mir, Krankheit eine Lebens außerung des Organismus
^ ist, der sieht in ihr nicht mehr einen Feind. Es kommt ihm nicht mehr
in den Sinn, die Krankheit bekämpfen zu wollen, er sucht sie nicht zu
266
/
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heilen, ja er behandelt sie nicht einmal. Es wäre für midi ebenso
absurd, sie zu behandeln, als wenn idi Ihre Spottsucht dadurch zu
beheben suchte, daß idi die kleinen Bosheiten Ihrer Briefe säuberlich
n ebenso viel Artigkeiten umsdiriebe, ohne Ihnen audi nur Mitteilung
davon zu machen.
Mit dem Augenblick, wo ich einsehe, daß die Krankheit eine
Schöpfung des Kranken ist, wird sie für mich dasselbe, wie seine Art
zu gehen, seine Sprechweise, das Mienenspiel seines Gesichtes, die
Bewegung seiner Hände, die Zeichnung, die er entworfen, das Haus,
das er gebaut, das Geschäft, das er abgeschlossen hat, oder der Gang,
den seine Gedanken gehen: ein beachtenswertes Symbol der Gewalten,
die ihn beherrschen und die ich zu beeinflussen suciie, wenn ich es für
recht halte. Die Krankheit ist dann nichts Abnormes mehr, sondern
etwas, was durch das Wesen dieses einen Menschen, der krank ist
und von mir behandelt werden will, bedinget ist. Ein Unterschied besteht
darin, daß die Schöpfungen des Es, die wir Krankheiten zu nennen
pflegen, unter Umständen für den Schöpfer selbst oder seine Umgebung
unbequem sind. Aber letzten Endes kann auch eine schrille Stimme
oder eine unleserliche Handschrift für Mensdi und Nebenmenschen
unerträglich sein und ein unzweckmäßigf gebautes Haus bedarf ebenso
des Umbaus wie etwa eine Lunge, die entzündet ist, so daß schließ-
lich keine wesentUche Verschiedenheit zwischen der Krankheit und dem
Sprechen oder Schreiben oder Bauen zu finden ist. Mit andern Worten,
ich kann mi<^ nicht mehr dazu entsdiließen, mit einem Kranken anders
zu verfahren, als mit jemandem, der schledit schreibt oder spricht
oder sdilecht baut. Ich werde versuchen, herauszubekommen, warum
und zu weldiem Zweck sein Es sidi des schlechten Sprechens, Schreibens,
Bauens, des Krankseins bedient, was es damit sagen wiU. Ich werde
mich bei ihm, bei dem Es selbst erkundigen, was für Gründe es zu
seinem, mir und ihm selber unangenehmen Verfahren hat. werde mich
darüber rfiit ihm unterhalten und sehen, was es dann tut. Und wenn
eine Unterhaltung nicht genügt, so werde ich sie wiederholen, zehnmal,
zwanzigmal. hundertmal, so lange, bis dieses Es die Unterredungen
267
langweilig findet und entweder sein Verfahren ändert oder sein Ge-
schöpf, den Kranken, zwingt, mich zu entlassen, durdi Abbrechen der
Behandlung- oder durch den Tod.
Nun gebe ich zu, es kann notwendig sein, ist es sog:ar meist, ein
sdilecht gebautes Haus so rasdi wie möglich umzubauen oder nieder-
zureißen, einen Menschen, der eine Lungenentzündung hat, ins Bett zu
stecken, ihn zu pflegen, einem Wassersüchtigen etwa mit Digitalis das
Wasser wegzutreiben, einen zerbrochenen Knochen einzurenken und
unbeweglich zu machen, ein brandiges Glied abzuschneiden. Ja ich habe
sogar begründete Hoffnung, daß ein Architekt, dessen Neubau sofort
nach der Übergabe an den Bauherrn umgebaut oder niedergerissen
wird, in sich gehen, seine Fehler einsehen, sie in Zukunft vermeiden
oder seinen Beruf ganz aufgeben wird, daß ein Es, wenn es sein
eigenes Fabrikat, Lunge oder Knochen, geschädigt und dadurch Schmerz
und Leid erfahren hat, vernünftig wird und für später etwas gelernt
hat. Mit andern Worten, das Es kann sich selbst davon durdi Er-
fahrung überzeugen, daß es dumm ist, seine Kräfte in der Produktion
von Krankheiten zu zeigen, statt sie zur Produktion eines Liedes, eines
Geschäftsganges, einer Blasenentieerung oder eines Geschlechtsaktes
zu benutzen. Aber das alles entbindet mich, dessen Es midi zum Arzt
hat werden lassen, nicht von der Notwendigkeit, wenn Zeit dazu ist,
die Gründe des krankheitsüchtigen Es meines Nebenmenschen anzu-
hören, sie zu würdigen und wo es not tut und möglich ist, zu
widerlegen.
Die Sache ist wichtig genug, um sie noch einmal von einer andern
Seite zu beleuchten. Wir sind im allgemeinen gewohnt, die Gründe
für unsre Erlebnisse, je nachdem es uns gefällt, in der Außenwelt
oder in unsrer Innenwelt zu sudien. Wenn wir auf der Straße aus-
gleiten, suchen und finden wir die Apfelsinensdiale, den Stein, die
äußere Ursache, die uns zu Fall gebracht hat. Wenn wir dagegen eine
Pistole nehmen und schießen uns eine Kugel vor den Kopf, so sind
wir der Ansicht, daß wir das aus inneren Gründen absiditlich tun.
Wenn jemand eine Lungenentzündung bekommt, so schieben wir das
268
■l
auf die Infektion durch Pneumokokken, wenn wir aber vom Stuhl auf-
stehen, durch das Zimmer gehen, und aus dem Schrank Morphiumgift
holen, um es zu nehmen, so glauben wir aus inneren Gründen zu
handeln. Ich bin, wie Ihnen bekannt ist, stets ein Besserwisser ge-
wesen, und wenn mir jemand die berühmte Apfelsinenschale entgegen-
hielt, die trotz aller PoHzeivorschriften auf der Straße lag und den
Armbruch der Frau Lange herbeigeführt hatte, bin ich hingegangen
und habe sie gefragt: „Weldien Zweck verfolgen Sie damit, den Arm
zu brechen?" Und wenn mir jemand erzählte, der Herr Treiner hat
gestern Morphium genommen, weil er nicht schlafen konnte, habe ich
Herrn Treiner gefragt: Wie und wodurch ist gestern die Idee „Morphium"
so stark in Ihnen geworden, daß Sie sich schlaflos machten, um Morphium
nehmen zu können? Bisher ist mir immer Antwort auf solche Fragen
geworden, was auch nicht allzu verwunderlidi ist. Alle Dinge haben
zwei Seiten, also kann man sie auch von zwei Seiten betrachten, und
überall wird man, wenn man sich Mühe gibt, eine äußere und eine
innere Ursache für die Gesdichnisse des Lebens finden.
Dieser Sport des Besserwissenwollens hat nun seltsame Folgen
gehabt. In der Beschäftigung damit bin ich immer mehr dazu verlockt
worden, die innere Ursache aufzusuchen, teils weil ich in eine Zeit
hinein geboren wurde, die vom Bazülus und nur vom Bazillus schwatzte,
wenn sie nicht gar noch die Wörter Erkältung und Magenverderben
anbetete, teils weil sich frühzeitig — aus Troll-Hochmut heraus — der
Wunsch ausbildete, in mir ein Es, einen Gott zu finden, den ich für
alles verantwortlich machen konnte. Da ich aber nicht schlecht genug
erzogen war, um die Allmacht für mich allein zu beanspruchen, so
vindizierte ich sie auch anderen Menschen, erfand auch für sie das
Ihnen so anstößige Es und konnte nun behaupten: „die Krankheit
kommt nicht von außen, der Mensch erschafft sie selbst, benutzt die
Außenwelt nur als Werkzeug, um sich damit krank ZU machen, greift
aus seinem unerschöpflichen Instrumentenlager der ganzen Welt bald
die Spirochäte der Syphilis, heute eine Apfelsinenschale, morgen eine
Gewehrkugel und übermorgen eine Erkaltung heraus, um sich selbst
269
1.
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damit ein Leid zuzufügen. Stets tut er es mit dem Zweck der Lust-
g-ewinnung, weil er als Mensch von Natur Freude am Leid hat, weil
er als Mensch von Natur sich sündig fühlt und das Gefühl der Schuld
durch Selbstbestrafung fortschaffen will, weil er irgendeiner Un-
bequemlichkeit ausweichen will. Meist ist ihm von all diesen Seltsam-
keiten nichts bewußt, ja in Wahrheit wird alles in Tiefen des Es be-
schlossen und ausgeführt, in die wir nie hineinschauen können, aber
zwischen den unergründlichen Schichten des Es und unserm gesunden
Menschenverstände gibt es für das Bewußtsein erreidibare Schichten
des Unbewußten, Schichten, die Freud bewußtseinsfähig nennt und in
denen lassen sich allerhand nette Dinge finden. Und was das Seltsamste
ist, wenn man sie durchstöbert, geschieht es nicht gar zu selten, daß
plötzlich das da ist, was wir Heilung nennen. Ohne daß wir das Ge-
ringste davon verstehen, wie die Hellung zu Stande kommt, von un-
gefähr, ohn all unser Verdienst und Würdigkeit, ich muß es immer
wieder sagen.
Zum Sdiluß alter Gewohnheit gemäß eine Geschidite oder heber
zwei. Die eine ist einfach genug und Sie werden es wahrscheinllA
albern finden, daß ich ihr Wert beimesse. Zwei Offiziere unterhalten
sich im Schützengraben von der Heimat und wie schön es wäre, einen
Schuß zu bekommen, der einem den nötigen Urlaub von einigen Wochen
oder Monaten verschaffte. Einer von beiden ist damit nidit zufrieden,
er wünscht sich eine ausreidiende Verletzung, die ihn dauernd in die
Heimat bringt und erzählt von einem Kameraden, der durch das rechte
Ellenbogengelenk geschossen und dadurch untauglich für den Feld-
dienst wurde. „So etwas wäre mir ganz recht." Eine halbe Stunde
später ist sein rechtes Ellenbogengelenk durchschossen. Die Kugel
traf ihn in dem Augenblick, wo er die Hand zum Gruß erhob. Hätte
er nidit gegrüßt, wäre das Geschoß vorbeigeflogen. Und er hatte es
nirfit nötig zu grüßen, denn dem Kameraden, dem sein Gruß galt,
war er in den letzten zwei Stunden sciion dreimal begegnet. Sie
braudien der Sache keine Bedeutung beizulegen; es genügt, wenn ich
mir meinen Vers darauf mache. Und da idi die wohlüberlegte Absidit
270
i
gehabt habe, möglichst oft zwischen Verwundung und Verwundungs-
wutisch des Es innere Zusammenhänge zu finden, ist es mir nidit
schwer geworden, sie in die Leute hinein zu reden. Basta,
Ein andrer Herr kam lange nadi dem Kriege in meine Behand-
lung, es tut nichts 2ur Sat^e weshalb. Er litt unter anderem an
kurzen epüeptisdien Anfallen und bei der Beschreibung solcher Anfälle
erzählte er mir folgende Gesd>ichte: Er war audi feld dienstmüde ge-
worden und besdiäftigte sich mit dem Gedanken, wie er wohl ohne
allzu sdiwere Folgen glücklich aus dem Schlamassel herauskommen
könne. Da fiel ihm ein, — und audi dieser Einfall war nicht zufällig,
sondern durch kurz vorhergehende Eindrücke bedingt, deren Aufzählung
zu weit führen würde — es fiel ihm ein, wie er als Sekundaner von seinem
allzu strengen Vater gezwungen worden war, Schneeschuh zu laufen, wie
unbequem ihm das war und wie er seinen Kameraden, der sidi beim Ski-
läufen die rechte Kniescheibe gebrochen hatte und infolge dessen
Monate lang aus der Schule bleiben mußte, beneidet hatte. Zwei Tage
darauf war er als Batteriedief in seinem Beobaditungsstand. Seine
Batterie wurde von drei französischen Batterien beschossen, einer
leichten, die zu kurz schoß, einer mittleren, die zu weit nach links
schoß und einem schweren Geschütz, dessen Granaten in regelmäßigen
Zeitabständen von genau fünf Minuten gerade zwisdhen der Batterie
und seinem Beobaditungsposten einschlugen. Wenn der Herr von So
und So seinen Stand sofort nach dem Platzen der schweren Granate
verließ, konnte er ohne jede Gefahr zu seiner Batterie hinübergehen,
was er auch zweimal tat. Da kam ein Befehl von den Herren hinten
im sicheren Posten, die Batterie des Herrn von So und So solle ihren
Platz wechseln. Er ärgerte sich weidlich über den Befehl, sehnte sicii
wieder einmal nach dem Heimatsciiuß und verließ — ja idi muß
glauben, was er mir sagte, und idi glaube es auch — verließ genau
in dem Augenblick seinen geschützten Stand, in dem die wohlbekannte
Pause zwischen den schweren Granaten abgelaufen war. Der Erfolg
war befriedigend: zwei Sekunden spater lag er mit zersdimetterter
rechter Kniescheibe am Boden, bekam seinen Anfall und wurde, zum
271
T
I
Bewußtsein gekommen, hinter die Front getrag-en, — Natürlich ist es
ein Zufall. Wer könnte daran zweifeln? Aber die Sache hatte ein
kleines Nadispiel, dessentwegen ich Ihnen die Gesdiichte erzähle. Der
Herr von So und So hatte nämlich ein steifes Bein von jener Zeit
zurückbehalten, nicht ganz steif, aber doch so, daß man beim passiven
Beugen des Gelenks bei etwa 20° auf einen Widerstand stieß, der
nach Aussage von Leuten, die es wissen mußten, da sie gelernte
Chirurgen und Meister im Röntgen waren, teilweise auch redit acht-
bare Namen trugen, auf einer Narbenverwadisung an der Kniescheibe
beruhte. Am Tag nach jener Erzählung konnte der Herr von So und
So sein Knie bis auf 26'' bringen, am folgenden Tage noch etwas
weiter und nach acht Tagen fuhr er Rad. Und war doch nichts mit
seinem Knie geschehen, als daß er davon gesprociien hatte und auf
die seltsamen Heilkuren des Es hingewiesen worden war. Knien hat
er aber nicht gelernt. Und das ist schade. Seine Mutter ist eine fromme
Frau und mochte gern, daß er wieder beten lernt, was er als Kind
mit vielem Eifer getan hat. Aber, es scheint, daß er mit seinem Vater,
nach dessen Bilde er sidi Gott gesdiaffen hatte, noch allzu sehr zer-
fallen ist, um vor ihm die Kniee zu beugen.
Ich muß Ihnen noch etwas erzählen: Ein junger Herr hat mich
neulich besucht, der war vor Jahr und Tag in meiner Behandlung. Er
litt an einer entsetzlichen Angst, die ihn Tag aus Tag ein verfolgte.
Als er zu mir kam, wußte er scäion, daß es eine Kastrationsangst
sei, erzählte mir auch gleich im Anfang einen Kindheitstraum, wie
Zwei Räuber in die Koppel seines Vaters gekommen seien und seinen
Lieblingsrappen — der Herr hat im Gegensatz zu seinen beiden
Brüdern ganz schwarzes Haar — kastriert hätten. Als halbes Kind
noch ~ idi glaube mit neun Jahren — hat er sich einen Dauer-
schnupfen zugelegt, und es hat auch nicht lange gedauert, da hat man
ihm ein Stück aus der Nasenscheidewand herausgenommen. Ich kenne
das; es ist ein Kniff des Es, den Vater symbolisch zu kastrieren. Und
zehn Jahre später hat er sich ohne jeden Grund beide kleinen Zehen
abnehmen lassen, im Symbol beide Brüder kastriert. Es hat aber
272
:l
nidits geholfen, seine Angst ist geblieben. Er ist sie erst nach einer
jahrelangen, mühseligen Analyse los geworden. Koroisch an der Sache
ist, daß dieser Herr die lebhafte Lustphantasie hat, als Weib zu ge-
nießen, dabei aber doch heterosexuell in besonderem Maße tätig sein
möchte. Er hat es vorgezogen, seinen Wunsch, kastriert, Weib zu
werden, wie er sicäi im Traum ausspridit, gegen Vater und Bruder zu
kehren, büßt diesen bösen Wunsch mit der Nasen- und Zehenoperation
und mit der Angst.
Das Es madit wunderliche Streiche, macht gesund, madit krank,
erzwingt Amputationen heiler Glieder und läßt die Mensdien in die
Kugel hineinlaufen. Kurz, es ist ein launisch unberechenbares, kurz-
weiliges Ding.
Herzlichst Ihr
PATRIK.
(:'
32.
NEIN, LIEBE FREUNDIN. DIE ZEHEN SIND JENEM KRANKEN
nicht wieder gewadisen, trotz Es und Analyse. Das schließt aber nidit
aus, daß irgend wann einmal eine Methode gefunden wird, mit deren
Hilfe das Es veranlaßt werden kann, amputierte Güeder neu zu bilden.
Die Experimente über das Wachstum von Organteilen, die aus dem
Organismus heraus gelöst sind, beweisen, daß manches möglich ist,
was man vor dreißig Jahren für unmöglich hielt. Aber ich habe vor,
Ihrem guten Glauben noch viel Seltsameres zuzumuten.
Wie denken Sie zum Beispiel über das Ich? Ich bin Irfi, das ist
ein Fundamentalsatz unseres Lebens. Meine Behauptung, daß dieser
Satz in dem sich das Ichgefühl des Menschen ausspricht, ein Irrtum
ist wird die Welt nidit erschüttern, wie er es tun würde, wenn man
dieser Behauptung glaubte. Man wird ihr nidit glauben, kann ihr nidit
glauben, ich selbst glaube nicht daran, und dodi ist sie wahr.
Idi ist durdiaus nidit Ich, sondern eine fortwährend wechselnde
Form, in der das Es sich offenbart, und das Idigefühl ist ein Kniff
des Es, den Menschen in seiner Selbsterkenntnis irre zu madien, ihm
18 Groddeck, Das Buch vom Es
273
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das Sichselbstbelügen leiditer zu machen, ihn zu einem gefüg-ig-eren
Werkzeug des Lebens zu machen.
Ich. Mit der Verdummung, die das Älterwerden mit sich bringt,
gewöhnen wir uns so an diese uns vom Es eingeblasene Größenidee,
daß wir die Zeit ganz vergessen, in der wir diesem Begriff verständnis-
los gegenüberstanden, in der wir von uns in der dritten Person
spradien: „Emmy unartig, muß Schlage haben." „Patrik gut gewesen,
Schokolade." Welclier Erwachsene konnte sich solcher Objektivität
rühmen.
Ich will nicht behaupten, daß der Begriff Idi, der Begriff der
eigenen PersönUchkeit erst in dem Moment entsteht, wo das Kind
dieses Schibboleth der geistigen Verarmung aussprechen lernt. Aber
so viel kann man doch wohl behaupten, daß das Bewußtsein des Idi,
die Art wie wir Erwadisenen den Begriff Ich gebrauchen, nicht mit dem
Menschen geboren wird, sondern ganz allmählich in ihm wächst, daß
er es erlernt.
Sie müssen mir schon gestatten, ein wenig über die Dinge weg
zu schreiben. Kein Mensdi kann sidi in dem Wust des Ich zurecht
finden, auch in den fernsten Zeiten wird Niemand das fertig bringen.
Ich spreche absiditlich von dem Ichbewußtsein, wie wir Erwachsenen
es empfinden. Es ist nämlich durchaus nicht sicher, daß das neu-
geborene Kind des Bewußtseins, eine Individualität zu sein, entbehrt,
ja, ich bin geneigt anzunehmen, daß es ein solches Bewußtsein hat,
nur daß es sich nicht sprachlidi äußern kann. Icli glaube sogar, daß
ein soldies Individualitätsbewußtsein auch dem Embryo zukommt, ja,
selbst dem befruchteten Ei, dem unbefruchteten audi, ebenso wie dem
Samenfaden. Und daraus ergibt sidi für mich, daß auch jede einzelne,
Zelle ein solciies Individualitätsbewußtsein hat, jedes Gewebe ebenso,
jedes Organ audi, und jedes Organsystem desgleichen. Mit andern
Worten: jede Es-Einheit kann, wenn sie Lust dazu hat, sich selbst
weismachen, sie sei eine Individualität, eine Person, ein Ich.
Idi weiß, diese Betrachtungsart verwirrt alle Begriffe, und wenn
Sie den heutigen Brief ungelesen fortlegen, so wundere ich mich nicht
274
darüber. Aber idi muß es doch aussprechen, daß idi glaube, die
menschliche Hand hat ihr eig-enes Ich, sie weiß, was sie tut, und sie
ist sidi audi dieses Wissens bewußt. Und jede Nierenzelle und jede
Nagelzelle hat ebenso ihr Bewußtsein und ihr bewußtes Handein,
ihr Ichbewußtsein. Beweisen kann ich das nidit, aber ich glaube es,
deshalb, weil ich Arzt bin und gesehen habe, da6 der Magen auf be-
stimmte Nahrungsmengen in ganz bestimmter Weise antwortet, daß
er in Art und Menge seiner Absonderung-en bedaditsam vorgeht, er-
wägt, was ihm zugemutet werden wird und danach seine Maßnahmen
trifft, daß er Auge, Nase, Ohr, Mund und so weiter als seine Organe
benutzt, um damit festzustellen, was er tun will. Ich glaube es deshalb,
weil eine Lippe, die nicht küssen will, während das Idi des Menschen
den Kuß begehrt, sich wund macht, eine Blase bildet, sidi entstellt,
ihren eigenen gegensätzlichen Willen in nicht mißzuverstehender Weise,
erfolgreich genug, äußert. Ich glaube es deshalb, weil ein Penis gegen
den vom Gesamt-Ich ersehnten Beischlaf mit Herpesblaschen protestiert
oder sich für eine gewaltsame Überwältigung durch den begehrlichen
Sexualtrieb dadurch rächt, daß er sich mit Trippergift oder Syphilis-
gift anstecken läßt; weil eine Gebärmutter hartnäckig die Schwanger-
schaft versagt, obwohl das bewußte Ich der Frau sie so innig wünscht,
daß sie sich behandeln oder operieren laßt; weil eine Niere den Dienst
versagt, wenn sie findet, daß das Ich des Menschen Unbilliges ver-
langt: und weil, wenn es gelingt, das Bewußtsein der Lippe, des
Magens, der Niere, des Penis, der Gebärmutter zu dem Willen des
Gesamt-Ichs zu überreden, alle ihre feindlichen Äußerungen, ihre
Krankheitssymptome verschwinden.
Idi muß, um in meinen ohnehin unklaren Äußerungen von Ihnen
nicht gänzlich mißverstanden zu werden, noch Eines ausdrücklich betonen :
dieses von mir für die Zellen, die Organe usw. beanspruchte Ich ist
»mir nicht etwa dasselbe wie das des Es. Durchaus nicht. Vielmehr ist
dieses Ich nur ein Produkt des Es, etwa wie die Gebärde oder der
Laut, die Bewegung, das Denken, Bauen, Aufreditgehen, Krankwerden.
Tanzen oder Radfahren ein Produkt des Es ist. Die Es-Einhelt betätigt
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18*
275
ihr Lebendigsein einmal auf diese, ein andermal auf jene Weise: da-
durch daß sie sich in eine Harnzelle verwandelt oder einen Nag-el
bilden hilft oder ein Blutkörperchen wird oder eine Krebszelle oder
sich verg-iften läßt oder einem spitzen Stein ausweicht oder sich irgend
eines Phänomens bewußt wird. Gesundheit, Krankheit, Talent, Tat und
Gedanke, vor allem aber das Wahrnehmen und Wollen und das Sich-
bewußtwerden sind nur Leistungen des Es, Lebensäußerungen. Über
das Es selbst wissen wir nldits.
Das Alles ist ziemlidi verwickelt. Denn wenn Sie sich vorstellen,
wie die Es-Einheiten und Gesamtheiten gegen und mit einander wirken
und wie sie sich bald hier, bald da, jetzt so und jetzt anders zusammen-
schließen und trennen, wie sie bald vom Gesamt-Ich Gebrauch machen,
um etwas bewußt werden zu lassen und zugleich dieses oder jenes ins
Unbewußte zu verdrängen, wie sie einiges dem Gesamtbewußtsein zu-
führen, anderes wieder bloß dem der Teil-Ichs, wie sie wieder anderes
in Kammern einschließen, aus denen es mit Hiife der Erinnerung oder
Überlegung herausgeholt und dem Gesamtbewußtsein zugeführt werden
kann, wahrend der weitaus größte Teil des Lebens, Denkens, Empfindens,
Wahrnehmens, Wotlens, Handebis in unerforschbaren Tiefen vor sich
geht, wenn Sie das alles bedenken, werden Sie eine leichte Ahnung
davon bekommen, wie anmaßend es ist, irgend etwas verstehen zu
wollen. Aber Gott sei Dank ist ein Verstehen auch nicht nötig, das
Verstehen wollen nur hinderlich. Der menschliche Organismus ist so seltsam
eingerichtet, daß er — wenn es ihm beliebt, sonst nicht — auf ein leises
Wort, ein freundhches LacJieln, einen Druck der Hand, einen Messer-
sdinitt, einen Eßlöffel Fingerhuttee mit Leistungen antwortet, die nur
deshalb nicht angestaunt werden, weil sie alltäglich sind. Ich habe mich
in allerhand Arten ärztlichen Handelns betätigt, bald so, bald so und
habe gefunden, daß alle Wege nach Rom führen, die der Wissensdiaft
und die des Pfuschertums, halte es daher auch nicht für besonders
wichtig, welchen Weg man geht, vorausgesetzt, daß man Zeit hat und
nicht ehrgeizig ist. Es haben sidi dabei in mir Gewohnheiten ausgebildet,
denen gegenüber ich maditlos bin, denen ich folgen muß, weit sie mir
276
lobenswert ersdieinen. Und unter diesen Gewohnheiten steht obenan
die Psychoanalyse, das heißt der Versuch, Unbewußtes bewußt zu
madien. Andere machen es anders. Ich bin mit meinen Erfolgen zufrieden.
Aber ich wollte vom Idi reden und von seiner Mannigfaltigkeit.
Man pflegt ja unter dem Wort Ich nur das zu verstehen, was ich vorhin
das Gesamt-Idi nannte, dessen ich mich als Angriffspunkt bei meinen
psychoanalytischen Experimenten bediene und auch einzig bedienen kann.
Aber audi dieses Gesamt-Idi hat seine Sonderbarkeiten, die Jedermann
kennt, jedoch ihrer Selbstverständlichkeit halber selten beachtet. Das
Gesamt-Ich — nennen wir es jetzt einfach Ich — ist kein leichtübersdiau-
bares Wesen. Innerhalb weniger Minuten dreht es die verschiedensten
Seiten seiner überaus zerklüfteten und schillernden Oberflädie uns zu.
Bald ist es ein Ich, das aus unsrer Kindheit stammt, bald eins der
Zwanziger Jahre, bald ist es moralisch, bald sexuell, bald das eines
Mörders. Jetzt ist es fromm, im Augenblick darauf frech, morgens das
eines Offiziers oder Beamten, ein Berufs-Idi, mittags ist es vielleiciit
ein Ehe-Ich und abends das eines Kartenspielers oder eines Sadisten
oder eines Denkers. Wenn Sie erwägen, daß alle diese Ichs — und
man konnte ungezählte Mengen davon hersagen — daß sie alle gleicJi-
zeitig im Menschen vorhanden sind, können Sie sidi vorstellen, was
für eine Macht das Unbewußte im Ich ist, wie aufregend seine Be-
obachtung ist, welche unsagbare Freude es ist, dieses Ich — mag es
bewußt oder unbewußt uns gegenüber stehen — zu beeinflussen. Ad.,
liebe Freundin, erst seit ich mich mit Analyse besdiäftlge, weiß id.,
wie schön das Leben ist. Und es wird täglich schöner.
Darf idi Ihnen etwas sagen, was midi immer wieder in Erstaunen
setzt? Das Denken des Menschen - das Es-Denken oder wenigstens
das unbewußte Ichleben - sdieint sidi in Kugelform zu bewegen.
So kommt es mir vor. Lauter schöne runde Kugeln sehe idi. Wenn
man eine Anzahl Wörter, so wie sie einem einfallen, hinsdireibt und
ansieht, fügen sie sidi ganz von selbst zu emer kugeligen Phantasie,
zu einer Dichtung in Kugelform zusammen. Und wenn man seinen
Nebenmenschen dasselbe tun läßt, wird es aud. eine Kugel. Und
277
1 i
diese Kug-eln rollen dahin, drehen sich rasch oder lano-sam und
schimmern in tausend Farben; in Farben so schön, wie die, die wir mit
geschlossenen Augen sehen. Es ist eine Fracht. Oder um es anders
auszudrücken, das Es zwingt uns, in geometrisdien Figuren zu assoziieren,
die sich — farbig — ähnlich zusammenfügen, wie es bei den niedlidien
optischen Instrumenten der Fall ist, bei deren Drehung aus farbigen
Glasstücken sich immer neue Figuren bilden.
Nun sollte ich Ihnen etwas über die Entstehung der Krankheiten
sagen, aber darüber weiß ich nichts. Und über die Heilung müßte ich
audi sprechen, wenn es nadi Ihnen ginge. Aber darüber weiß ich erst
recht nichts. Beides nehme ich als gegebene Tatsachen hin. Hödistens
von der Behandlung könnte ich etwas sagen. Und das will ich auch tun.
Das Ziel der Behandlung, jeder ärztlidien Behandlung ist, Einfluß
'(', ^"' ^^s ^s *^«s Mensdien zu gewinnen. Im allgemeinen ist es Gebrauch,
zu diesem Zweck bestimmte Gruppen von Es-Einheiten direkt zu be-
handeln; man greift sie mit dem Messer oder mit diemischen Substanzen,
mit Licht und Luft, Wärme und Kälte, elektrischen Strömen oder irgend
welchen Strahlen an. Mehr als irgend welche Eingriffe versuchen, von
denen Niemand voraussagen kann, was die Folgen sein werden, vermag
kein Mensch. Was das Es auf solchen Eingriff hin tun wird, läßt sich oft
mit einiger Bestimmtheit sagen, oft nehmen wir nur infolge irgend welcher
vager Hoffnungen an, das Es werde artig sein, unsern Eingriff gut
heißen und seinerseits die heilenden Kräfte in Bewegung setzen, meist
aber ist es ein blindes Tappen, dem selbst die mildeste Kritik keinen
Sinn anzudiditen vermag. Immerhin ist dieser Weg gangbar und die
t]* Erfahrungen von Jahrtausenden beweisen, daß dabei Resultate, gunstige
I Resultate erzielt werden. Nur muß man nicht vergessen, daß nicht der
I j Arzt die Heilung zustande bringt, sondern der Kranke selbst. Der
j Kranke heilt sich selbst, aus eigener Kraft, genau so wie er aus eigener
• ; Kraft geht, ißt, denkt, atmet, sdiläft.
; Im allgemeinen hat man sich mit dieser Art der Krankheits-
;. behandlung, die man, weil sie sidi mit den Krankheitserscheinungen,
den Symptomen beschäftigt, symptomatische Behandlung nennt, begnügt.
(] 278
f:
'. '
Und kein Mensch wird behaupten, daß man darin nicht redit getan
hat. Aber wir Ärzte, die wir von Berufs wegen dazu verurteilt sind,
Herrgott zu spielen und infolgedessen zu anmaßlichen Wünschen neigen,
sehnen uns danach, eine Behandlung zu erfinden, die nicht das Symptom,
sondern die Ursache der Erkrankung beseitigt. Wir wollen kausale
Therapie treiben, so nennen wir es im medizinischen Latein-Griechistii.
In diesem Streben hat man sich nun nadi diesen Ursachen der Er-
krankung umgesehen, hat erst theoretisdi unter Aufwand von viel
Worten festgestellt, daß es zwei angeblich wesensfremde Ursachen
gibt, eine innere, die der Mensch aus sich herausgibt, eine causa
interna, und eine äußere, causa externa, die aus der Umwelt stammt.
Und nachdem man sich so über eine reinliche Zweiteilung einig geworden
ist, hat man sich mit einer wahren Wut auf die äußeren Ursadien
gestürzt, als da sind: BaziUen, Erkältungen, zu viel Essen, zu viel
Trinken, Unfälle, Arbeit und was es sonst nodi gibt. Und die causa
interna, die hat man vergessen. Warum ? Weil es sehr unangenehm
ist, in sich hineinzuschauen — und nur in sich findet man einige Fünkchen,
die das Dunkel der inneren Ursachen, der Disposition erhellen — weil
es etwas gibt, was die Freudsche Analyse Widerstand der Komplexe
nennt, der Ödipuskomplexe, Impotenzkomplexe, Onaniekomplexe usw.,
und weil diese Komplexe furchtbar sind. AUerdings hat es immer und
zu allen Zeiten Ärzte gegeben, die ihre Stimme erhoben haben um
zu sagen: der Mensdi macht seine Krankheiten selbst, in ihm liegen
die causae internae, er ist die Ursadie der Krankheit und eine andere
braucht man nicht zu suchen. Zu solchem Spruch hat man mit dem
Kopf genickt, hat ihn wiederholt und ist wiederum den äußeren Ursachen
zu Ulbe gegangen, mit Prophylaxe und Desinfektion und so weiter.
Dann aber sind Uute gekommen, die haben eine starke Summe
gehabt und haben unablässig geschrieen: Immunisieren! Das war nur
eine Betonung der Wahrheit, daß der Kranke selber seine Krankheit
schafft. Aber als es an die praktische Handhabung des Immumsierens
ging, hielt man sich doch wieder an die Symptome und aus der schein-
baren kausalen Behandlung war unversehens eine symptomat.s(^e
279
geworden. So ist es auch mit der Suggestion gegangen, und um das
gleich 2U sagen, so ist es auch mit der Psydioanalyse. Auch die benutzt
die Symptome, aussdiließlidi die Symptome, obwohl sie weiß, daß der
MenscJi allein Ursadie der Krankheit ist.
Und damit hin ich beim springenden Punkt. Man kann gar nidit
anders als symptomatisch behandeln und man kann audi nicht anders
als kausal behandeln. Denn beides ist dasselbe. Es existiert gar kein
Unterschied zwischen den beiden Begriffen. Wer behandelt, behandelt
die causa interna, den Menschen, der die Krankheit aus seinem Es
heraus erschuf, und um ihn zu behandeln, muß der Arzt die Symptome
beachten, sei es daß er mit Höhrrohr und Röntgenapparat arbeitet,
sei es daß er zusieht, ob die Zunge belegt und der Urin trübe ist, sei
es daß er ein schmutziges Hemd betraditet oder ein paar abgeschnittene
Haare. Es ist im Wesen dasselbe, ob man mit aller Sorgfalt jedes
Krankheitszeichen durdistöbert oder sich damit begnügt, einen Brief
des Kranken zu lesen oder die Linie seiner Hand zu betraditen oder
mit ihm somnambul zu verhandeln. Immer ist es ein Behandeln des
Menschen und damit seiner Symptome. Denn der Mensch, seine Er-
scheinung ist Symptom des Es, dieses Gegenstandes aller Behandlung,
sein Ohr ist ein Symptom ebenso wie das Rasseln in seinen Lungen,
sein Auge ist ein Symptom, Äußerung des Es, so gut wie der Siiiarladi-
ausschlag, sein Bein ist Symptom im selben Sinne wie das Knirschen
der Knochen, das den Bruch dieses Beines anzeigt.
Wenn nun alles dasselbe ist, werden Sie fragen, was hat es dann
für einen Zweck, daß Patrik Troll solch langes Buch schreibt, dessen
Sätze so klingen, als ob sie beanspruchten, neue Gedanken zu sein.
Nein Liebe, sie beanspruchen das gar nidit, sie klingen nur so. In
Wahrheit bin idi überzeugt, daß ich mit der Psychoanalyse nichts andres
tue als früher, wo Ich heiße Bader gab, Diäten verordnete, massierte
und herrisdi befahl, was alles idi auch jetzt noch tue. Das Neue ist
nur der Angriffspunkt der Behandlung, das Symptom, das mir in allen
Verhältnissen da zu sein scheint, das Ich. Meine Behandlung, so weit
sie nicht dieselbe ist wie früher, besteht in dem Versuch, die unbewußten
280
Komplexe des Ich bewußt zu madien, methodisch und mit aller List
und Kraft, die mir zur Verfügfung steht. Das ist allerdings etwas Neues,
aber es stammt nicht von mir, sondern von Freud, und was ich dazu
getan habe ist nur, daß ich diese Methode aucii bei organisdien Leiden
verwende. Da idi der Ansicht bin, daß der Gegenstand ärztlicher
Tätigkeit das Es ist, da idi der Ansidit bin, daß dieses Es in selbst-
herrlicher Kraft die Nase formt, die Lunge entzündet, den Menschen
nervös macht, ihm Atmung, Gang, Tätigkeit vorschreibt, da ich weiterhin
glaube, daß sich das Es ebenso durch Bewußtmachen unbewußter
Ichkomplexe beeinflussen läßt wie durch einen Bauchschnitt, so begreife
ich nicht —■ richtiger begreife ich es nicht mehr — wie irgend jemand
■glauben kann, Psychoanalyse sei nur bei Neurotikern verwendbar,
organische Erkrankungen müsse man nach andern Methoden behandeln.
Gestatten Sie mir, daß ich darüber lache.
Immer Ihr
PATRIK TROLL.
33.
DAS WAR EIN ERLÖSENDES WORT: „ICH HABE ES SATT
Ihre Briefe zu lesen," schreiben Sie, und idi füge hinzu: „Ich habe es
satt, sie zu schreiben." Leider sprechen Sie noch den Wunsch aus —
und Ihr Wunsch ist mir Befehl — ich solle kurz und bündig sagen,
was ich mir unter dem Wort „Es" vorstelle. Ich kann es nidit besser
ausdrücken, als Idi es sdion früher getan habe: „Das Es lebt den
Menschen, es ist die Kraft, die ihn handeln, denken, wachsen, gesund
und krank werden läßt, kurz die ihn lebt."
Aber mit solcher Definition ist Ihnen nicht geholfen. lA will daher
zu meinem bewährten Mittel greifen und Ihnen Gesdiichten erzählen.
Sie müssen dabei nur bedenken, daß meine Erzählungen aus weit-
läufigen Zusammenhängen herausgenommen sind, daß es Zivischenfälle
langwieriger Behandlungen sind. Sonst kommen Sie gar auf die Idee,
281
daß ich mich für einen Wunderdoktor halte. Davon ist keine Rede:
im Geg-enteil, je länger ich MenscJien behandle, umso fester wurzelt
sidi in mir die Überzeugung;, daß der Arzt verschwindend wenig- zur
Heilung seiner Kranken tun kann, daß der Kranke sich selbst heilt
und daß der Arzt, auch der Analytiker, nur die eine Aufgabe hat zu
erraten, welche List das Es des Kranken im Augenblick gebraucht,
um krank bleiben zu können.
Es ist nämlich ein Irrtum anzunehmen, daß der Kranke zum Arzt
kommt, um sich helfen zu lassen. Nur ein Teil seines Es ist willig zur Ge-
sundheit, ein andrer aber will krank bleiben und lauert während der
ganzen Zeit auf eine Gelegenheit, um sich vom Arzte schädigen zu
lassen. Der Satz, daß die vornehmste Regel in der Behandlung ist,
nldit zu sdiaden, hat sich mir mit den Jahren immer tiefer einge-
prägt, ja, idi bin geneigt zu glauben, daß in Wahrheit jeder Todes-
fall während einer Behandlung, jede Versdilimmerung des Zustandes
auf einen Fehler des Arztes zurückzuführen ist, zu dem er sidj
durch die Bosheit des kranken Es verleiten läßt. Adi, es ist nichts
Göttlidies in unserm Tun, und der Wunsch wie Gott zu sein, der uns
ja letzten Endes dazu treibt, Arzt zu sein, rächt sich an uns wie an
unsern paradiesischen Voreltern. Strafe, Fluch und Tod ziehen in
seinem Gefolge. ""
Hier ist ein jüngst erlebtes Beispiel dafür, welche Stellung das
tief verborgene Es eines Kranken gegen midi hatte, während sein
bewußtes Ich bewundernd und dankbar auf midi blickte. Es sind zwei
Träume einer Nacht, die des Lehrreichen genug enthalten. Zunächst
sagte der Kranke, daß er vom ersten Traum nidits mehr wisse. Da
er aber längere Zeit bei diesem vergessenen Traum blieb, ließ sich
annehmen, daß in ihm der Schlüssel des Rätsels stecke. Ich habe eine
lange Zeit geduldig gewartet um zu sehen, ob nidit dodi irgend
welche Erinnerung komme. Aber sie kam nidit, und schließlich forderte
idi den Kranken auf, irgendein beliebiges Wort zu sagen. Solch ein
kleiner Kunstgriff lohnt sich mandimal. Ich habe zum Beispiel einmal
erlebt, daß bei einer ähnlidien Situation das Wort Amsterdam genannt
282
wurde und daß um dieses eine Wort sich ungefähr ein Jahr lang eine
erfolg-reidie, erstaunlich erfolgreiclie Behandlung; drehte. Dieser Kranke
nun nannte das Wort Haus und erzählte mir, daß er am vorher-
gehenden Tage sich mein Sanatorium von außen angesehen habe, daß
ein gänzlidi unmotivierter Turm da sei, eine Brücke als Notbehelf an-
gebraclit sei, weil das Haus an einem falschen Platz stehe und daß
es ein häßliches Dach habe. Ich kann nicht bestreiten — und da Sie
das Haus kennen, werden Sie mir beistimmen — der Mann hatte
Recht. Und doch bezog sich seine Betrachtung auf ganz andere Dinge,
auf viel wichtigere, auf Dinge, die für ihn und für meine Behandlung
entsdieidend waren. Das lehrte der zweite Traum. Der Kranke er-
zählte: „Es ist ein ganz dummer Traum" und dabei ladite er. „Idi
wollte einen Besudi in einem Hause machen, das einem Sdiuster ge-
hörte. Vor dem Hause rauften sich zwei Knaben, der eine lief heulend
weg. Der Schuster hieß Akelcy. Kein Mensch war zu sehen, allmählich
kamen einige Dienstboten, aber der Schuster, dem idi Visite madien
wollte, ließ sich nicht sehen. Dagegen erschien nach einiger Zeit ein
alter Freund meiner Mutter, sonderbarerweise mit einem sdiwarz-
behaarten Kopfe, während er in Wirklidikeit vollständig kahl ist,"
Hätte der Kranke beim Erzählen nicht gelacht, hätte er nicht vorher
den Tadel gegen das Äußere meines Sanatoriums vorgebracht, viel-
leicht hätte idi Wochen zubringen können, ehe die Deutung gekommen
wäre. So aber ging es rasch. Das Wort Akeley gab die erste Auf-
klärung. Es war aus einem kürzlich erschienenen Werk von Arno Holz
genommen, das den Titel „Die Blechsdimiede" führt. Es sei höchst
geistreidier, erotischer Blödsinn.
Der Hohn gegen meine Person lag auf der Hand, da der Kranke
kurz vorher meinen vom gemeinsamen Freunde Groddeck heraus-
gegebenen Seelensucher gelesen hatte. Das also war die „Blechschmiede",
der Schuster Akeley war ich, das Schusterhaus mein Sanatormm. Das
ging audi daraus hervor, daß der Kranke tatsächlich bei seiner An-
kunft im Sanatorium eine ganze Weile im Korridor hat stehen müssen,
ehe Jemand ihm sein Zimmer anwies. Mich selbst hat er erst am
283
nädisten Tage gesehen. Dergleidien Beurteilung des behandelnden
Arztes ist in jedem Kranken und immer da und die Konstanz des
abfällig-en, nur verdrängten Urteils beweist, daß wir es verdienen. Idi
würde den Traum nicht erzählt haben, wenn in ihm nicht auch der
Grund angegeben wäre, warum der Kranke mich verachtet. Statt des
Schusters erscheint im Traum ein 2Üter Freund seiner verstorbenen
Mutter, der seltsamer Weise schwarzes Haar hat. Dieser Freund der
Mutter stellt den Vater dar, der schwarz behaart ist, weil er ebenfalls
tot ist. Der Haß g-ilt also nicht mir, sondern zunädist diesem Freunde
der Mutter und hinter dem dem eigenen Vater. Es ist eine Verdichtung
dreier Personen, die deutlidi zeigt, welches gerüttelte Maß von Wider-
stand mein Patient auf midi übertragen hat. Aber der Freund der
Mutter ist au<ii der Kranke selber, der sich eines üppigen, sdiwarzen
Haarwuchses erfreut. Sein Unbewußtes erzählt ihm im Traum, wie ganz
anders es sein würde, wenn an Stelle des Schusters Troll er selbst
die Behandlung leitete. Er hat so unrecht nicht, der Kranke weiß
immer besser als der Arzt, was ihm frommt; nur leider vermag er
sein Wissen nicht zu denken, sondern nur in Traum, Bewegung,
Kleidung, Wesen, Krankheitssymptom auszudrücken, kurz in einer
Sprache, die er selbst nidit versteht. Und freilich erzählt diese Identi-
fizierung seiner selbst mit dem Freunde der Mutter und mit dem
Vater mehr, als der Kranke ahnte. In ihr steckt der Inzestwunsch,
der Wunsch der Kindheit, jedes Kindes Wunsdi, Geliebter der Mutter
zu sein. Und nun kommt eine seltsame Wendung, Mit einem heiteren,
gar nicht spöttischen Lächeln sagt der Kranke : der Freund der Mutter
hieß Lameer, er war Vlame, sein Name hat nichts mit la mere, die
Mutter, zu tun.
Wirklich nicht? Ich glaube doch. Und das ist tröstlich für die Be-
handlung; denn wenn der Kranke midi nidit nur mit dem Freund
und Gatten der Mutter identifiziert, sondern mit der Mutter selbst, so
hat er auch das Gefühl für sie auf mich übertragen, ein Gefühl, das
sich seit seinem 6. Jahr nidit mehr wesentlich geändert haben kann,
da damals seine Mutter starb. Vielleidit ist das günstig, vorausgesetzt,
284
daß seine Einstellung zur Mutter gut war, daß er von ihr Hilfe empfing.
Aber wer kann das wissen? Es kann audi sein, daß er audi sie mehr
haßte als liebte.
Da muß idi auf den Beginn des Traumes zurückgreifen, auf die
beiden raufenden Knaben vor dem Schusterhause. Sie sind leicht zu
deuten. Sie stellen dasselbe in zwei verschiedenen Zeitfolg-en dar, der
eine den Phallus im Zustand der Erektion, der zweite, der weinend
davonrennt, das Glied im Zustand der Ejakulation. Hinter dieser ersten
Deutung steckt die zweite, nach der der eine Knabe der Träumer,
der zweite Weinende der Bruder des Träumers ist, den er aus der
Gunst der Eltern vertrieben hat. Und als dritte tiefst gelegene Deutung
ist der eine Knabe der Träumer selbst, der den andern, seinen Penis,
masturbiert. Diese Selbstbefriedigung findet vor dem Hause des
Sdmsters statt, die erotischen Phantasien des Träumers gelten aber,
wie der weitere Verlauf des Traumes zeigt, nicht nur dem Schuster,
sondern dem Freund der Mutter, das ist der Vater und hinter ihm,
wohl versteckt, der Mutter selbst, Lameer. _* _ . ■:
Ich erzähle Ihnen den Traum, weil in ihm der Träumer die An-
griffspunkte der Behandlung mitteilt, ohne es selbst zu wissen. Zu-
nächst verkündet er dem aufmerksamen Zuhörer, längst, ehe der Kranke
es selbst klar weiß, daß ein starker Widerstand gegen den Arzt vor-
handen ist, daß also wieder einmal der Punkt erreicht ist, der für die
Behandlung, ich möchte sagen einzig und allein in Frage kommt. Denn
im bewußten oder unbewußten Erkennen und Beseitigen des Wider-
standes besteht im Wesentlichen die Tätigkeit des Arztes, die umso
ersprießlicher sein wird, je klarer der Arzt die Situation erblickt Weiter-
hin erzählt der Traum, von wo der Widerstand Übertragen worden
ist. Er stammt aus der feindseligen Einstellung zum Freunde und
Gatten der geliebten Mutter und weiter vorher noch aus dem Rivalitäts-
streit der beiden Brüder vor dem Eingang zur Mutter, die hinter
mehreren Versdileierungen versteckt doch deutlich die eigentliche Be-
sitzerin des Hauses, des Sanatoriums, in dem man gesundet, des
Mutterschoßes, in den man eintritt, ist. Schüeßlidi verrät der Kranke
285
auch noch die Komplexe, um die es sich bei ihm handelt, den des
ödipus und den der Onanie.
Da haiien Sie eine Probe von der Art, wie sidi das Unbewußte,
das Verdräng;te verständlich zu machen sucht. Aber idi trage Eulen
nach Athen: denn Sie sclireiben mir ja, daß Sie Freuds Traumdeutung-
gelesen haben. Lesen Sie sie noch einmal und noch mehrere Male ;
Sie werden belohnt werden, wie Sie es selbst nicht ahnen. Jedenfalls
ist es überflüssig-, daß ich mich weiter auf ein Gebiet beg-ebe, das
der Meister selbst und mit ihm Tausende seiner Gefolgschaft in immer
neuen Sdiilderungen jedem, der es betreten will, dargestellt haben.
Auch die folgende kleine Erzählung bewegt sich in Bahnen, die Ihnen
bekannt sind oder bekannt sein sollten.
Es handelt sich um ein kleines Mädchen von acht Jahren, das sich
seit einiger Zeit vor der Sdiule fürchtet, während es früher gern dort-
hin ging. Das Rechnen und das Stricken machen ihr Pein. Idi fragte
sie, weldie Ziffer ihr die unangenehmste sei und sie nannte sofort die 2.
Sie mußte eine 2 hinmalen und sagte dann: „Das Häkchen unten ist
unbequem; wenn ich schnell sdireibe, lasse ich es weg." Ich fragte
nun, was ihr zu diesem Häkchen einfalle und ohne Besinnen erwiderte
sie: „Ein Fleischhaken", „für Schinken und Wurst" fügte sie hinzu und
als ob sie den Eindruck dieser seltsamen Antwort verwischen oder sie
erläutern müsse, fügie sie rasch hinzu: „Beim Stricken lasse ich Maschen
fallen und dann entsteht ein Loch." Wenn Sie von diesem Zusatz: „es
entsteht ein Loch" ausgehen, begreifen Sie, daß der Fleischhaken ein
Haken aus Fleiscli ist, daß also das Kind eine Zeit durchmacht, ia
der es sich gründlich mit der Tatsache der beiden Geschlechter aus-
einander zu setzen versucht Und in sehr gedrängter Form gibt sie
durch Angst und Fehlhandlung des Hakchenweglassens und des Maschen-
fallens ihre Theorie kund, daß das Weib, die 2 in der Familie, keinen
Fleischhaken besitzt, ihn vielmehr durdi allzu schnelles Schreiben, Ona-
nieren, verloren hat, daß durch die rasche Bewegung der Stricknadeln,
ihr Hinein und Hinaus das große Loch entsteht, aus dem das früh
lüsterne Mädchen ihr Wässerlein sprudelt, während der Knabe den
286
Strahl aus der engen Öffnung des Penis spritzt. Das ist wahrlidi ein
schweres Problem für ein Kleinmädchengehirn und es ist kein Wunder,
daß Rechnen und Stricken nicht flecken will. Am nadisten Tag-e de-
monstriert das Kind dann weiter seine Kenntnisse, die diesmal tröstlich
genug sind. Sie klagt, daß sie beim Stuhlgang schreckliche Schmerzen
habe, betont also, daß das Mädchen als Ersatz für das genommene
Häkchen Kinder gebären kann, wenn auch mit Schmerzen. Und
wiederum in dem dunklen Drang, sich deutlidier zu erklären, beginnt
sie zum Staunen der Mutter, die ihr Kind unwissend glaubte, zu er-
zählen, wie sie dabei gewesen sei, als ein Kalb aus dem Bauche einer
Kuh geholt wurde und wie drei niedliche Kätzchen von der Katzen-
mutter geboren wurden. Es ist drollig zu hören, wie es aus der Seele
des Kindes hervorsprudelt, wenn die Schicht über dem Verdräng-ten
irgendwo leck geworden ist.
In derlei symbolischen Handlungen oder Fehlleistungen äußert sidi
das Unbewußte gar oft. So traf ich neulich einen meiner Kranken —
er gehörte zu den sogenannten Homosexuellen — verstimmt an, weil
er seinen Klemmer zerbrochen hatte, ohne den er seines Lebens nicht
froh sein könne. Er war ihm in dem Moment von der Nase gefallen,
als er von einem Tisch eine Vase fortnehmen wollte. Als ich ihn nach
anderen Gegenständen auf dem Tisch fragte, gab er mir die Photo-
graphie seines Freundes an, die noch dort liege. Tatsächlich fand sie
sich unter einem Haufen von Kissen und Decken vergraben, mit der
Rückseite nach oben, so daß man das Bild nicht sehen konnte. Es
stellte sich heraus, daß der Freund ihm mit einem Mädchen untreu
geworden war. Da es niciit in seiner Macht stand, den Knaben von
dem Mädclien fern zu halten, wollte er wenigstens beide symbolisch
trennen und nahm die Vase, die das Mädchen darstellte, weg. Dem
folgte darauf automatisch das Umdrehen der Photographie auf die
Bildseite, das Zudecken mit den Kissen und das Zerbrechen des Klem-
mers. In die Sprache des Bewußten übersetzt heißt das: „Ich will den
Treulosen nicht mehr sehen," „Seine Rückseite bleibt mir doch immer,
denn die weiß ein Mädchen nidit zu schätzen. So möge denn die
287
Photographie verkehrt liegen." „Es ist Hoch sicherer, audi die Rückseite
zu schützen. Decken wir sie mit Kissen zu." „Das ist gut, nun sehe ich
nichts mehr von ihm, zumal wenn ich noch eine Decke darauf tue."
„Es genügt nicht: ich leide zu sehr. Am besten ist, ich mache mich
blind. Dann brauche ich seinen Treubrudi nicht zu bemerken und kann
ihn lieb behalten." Und damit zerbricht der Arme seinen Klemmer.
Das Unbewußte experimentiert seltsam mit den Augen. Es schaltet
Eindrücke auf der Netzhaut aus dem Bewußtsein aus, wenn sie uner-
träglich sind. Eines Tages forderte idi eine meiner Kranken auf, die
Gegenstände auf ihrem Sdireibtische genau zu betraditen und sie sich
zu merken. Als ich sie dann aufforderte, mir zu sagen, was auf dem
Tische stand, zählte sie alles auf, bis auf die Photographien ihrer beiden
Sohne, die sie trotz mehrfachem Hinweis, daß sie zwei Dinge unter-
sdilage, nicht nannte. Als idi sie fragte, warum sie die beiden Bilder
fortlasse, war sie verwundert: „Ich habe sie nicht gesehen", sagte sie,
„und das ist umso auffallender, als ich sie täglich und auch heute selbst
abstaube. Aber freilidi, Sie sehen ja, die armen Jungen stecken in der
Uniform. Der eine ist sdion gefallen, der andere ist mitten in den
Kämpfen vor Warschau. Wozu sollte ich mein Leid, wenn idi es unter-
drücken kann, durch meine Augen wecken?"
Ein anderer klagte darüber, ihm sei plötzlich schwarz vor den
Augen geworden: das geschehe häufig. Ich bat ihn, sich in Gedanken
nochmals an den Platz zu stellen, wo ihn der schwarze Nebel überfallen
hatte, und mir zu sagen, was er sehe. „Steine", sagte er. ,,Ich ging
eine Treppe hinauf und es waren die steinernen Stufen, die ich sah".
Damit war wenig anzufangen. Aber da idi hartnackig dabei blieb, daß
der Anblick der Steine seinen Schwindel verursacht habe, versprach er
darauf zu achten. TatsädiÜch kam er am nächsten Tage damit hervor,
daß er bei einem neuen Anfall wiederum Steine gesehen habe. Die
Sadie sei vielleicht doch nicht ganz von der Hand zu weisen, denn er
wisse jetzt, daß er die ersten Beschwerden ahnlidier Art in Ostende
gehabt habe, das ihm stets wie eine trostlose Anhäufung von Steinen
und viel zu vielen kaltherzigen Mensdien vorgekommen sei. Als ich.
288
fragte, was denn eine soldie Anhäufung: von Steinen und Mensdien
bedeute, sagte er mir, „einen Kirchhof". Da ich wußte, daß er in
Beig-ien erzogen war, machte ich den Versuch, ihn auf den Gleidilaut
pierre und Piere hinzuweisen. Er erklärte aber, daß weder ein Peter
nodi ein Piere je eine Rolle in seinem Leben gespielt hatten. Am
nächsten Tage kam er von selber auf die Sadie zu sprechen. „Ich
könne doch wohl Recht haben. Sein Elternhaus, in dem er schon mit
6 Jahren seine Mutter verlor und das kurz nach ihrem Tode verkauft
wurde, weil der Vater nach Ostende übersiedelte, lag in der nie St. Piere
und wenn audi die Mutter nidit auf dem Kirchhof St. Piere begraben
sei, so habe doch seinem Kinderzimmerfenster gegenüber der riesige
Steinhaufen der Kirche St. Piere gelegen. Er sei oft genug mit seiner
Mutter in dieser Kirche gewesen und die Steinmassen des Inneren
mitsamt dem Gedränge der Andächtigen habe ihn stets verwirrt. Zu
dem Wort Ostende fiel ihm dann Rußland ein, das Land des Rußes,
das sdiwarze Land, das Land des Todes. Seit jenem Tage des Bewußt-
werdens verdrängter Komplexe ist ihm nicht mehr schwarz vor den
Augen geworden, dagegen hat sein Es eine andere Maßregel der Ver-
drängung nicht aufgehoben. Der Kranke, der von seiner Mutter streng
katholisch erzogen war, hatte den Glauben unter dem Druck des
Verdrängungswunsdies aufgegeben: er ist aber trotz der Aufhebung
der Verdrängung nicht wieder zur Kirche zurückgekehrt.
Besinnen Sie sich auf Frau von Wessels? wie kinderlieb sie ist
und wie sie unter der Tatsache leidet, keine eigenen Kinder zu haben ?
Eines Tages saß idi mit ihr am Waldrand: die Unterhaltung schleppte
seit einiger Zeit und stockte sdiließlidi ganz. Plötzlich sagte sie: „Was
ist das mit mir? Von allem, was rechts von mir ist, sehe ich nicht das
geringste, während links alles klar und deullidi ist." Idi fragte sie,
wie lange das Phänomen sdion dauere, und sie erwiderte: „Sdion
vorhin im Walde habe ich es bemerkt". Idi bat sie, mir Irgendeine
Stelle unseres Spazierganges zu nennen, und sie gab eine Wegkreuzung
an, die wir passiert hatten. „Was war an dieser Stelle rechts von
Ihnen?" fuhr ich fort. „Dort ging die Dame mit ihrem kleinen Knaben
19 Groddeck, Das Budi vom Es 289
an uns vorüber. Übrigens sehe ich jetzt alles wieder deutüdi." Und
nun erinnerte sie sidi lachend, wie sie mich den ganzen Weg vor der
Kreuzung mit der Phantasie unterhalten hatte, daß sie ein kleines
Häusdien fern von allen Menschen mit Hühnern und Enten und allerlei
Getier hatte und dort mit ihrem Söhnchen hauste, während der Vater
nur ab und zu auf einen Tag zu Besuch käme. „Wenn idi nicht längst
wüßte, daß Sie Recht haben mit Ihrer Behauptung, alle Krankheiten
seien SdiÖpfungen des Es, zu irgend welchen erkennbaren Zwecken,
würde ich mich jetzt davon überzeugt haben. Denn meine halbseitige
Blindheit kann nur dadurch hervorgerufen worden sein, daß ich den
Anblick jener Mutter mit ihrem Söhnchen nicht ertragen konnte."
Hysterisch? Gewiß, kein Arzt und kein Gebildeter wird mit der
Diagnose zögern. Aber wir beide, Sie und ich, haben gelernt auf die
Bezeichnung Hysterie zu pfeifen, kennen beide Frau von Wessels und
können höchstens aus Ehrfurdit vor der bebrillten Gelehrsamkeit zu-
geben, daß diese Frau für eine halbe Stunde hysterisch wurde. Aber
was sollen wir uns mit solch erzdummem und teuflischem Wort wie
Hysterie noch weiter befassen? Lassen Sie sich lieber erzählen, was
einige Jahre später geschah.
Eines Abends traf idi Frau von Wessels nach dem Theater. Sie
sagte mir, daß sie hergekommen sei, um vielleidit einen alten Bekannten
2u treffen, dessen Namen sie vor einigen Stunden im Fremdenblatt
gelesen habe. Mir fiel auf, daß ihr linkes oberes Augenlid stark gerötet
und gesdiwollen war. Sie hatte es selbst noch nicht bemerkt, zog ihren
Taschenspiegel hervor, besah sich das Auge und sagte: „Es würde
mich nicht wundern, wenn das Es midi wieder einmal mit einer halben
Blindheit narren wollte." Dann fing sie wieder an, von dem unver-
muteten Eintreffen des früheren Freundes zu erzählen, unterbrach sich
jedoch plötzlich mit den Worten: „Jetzt weiß ich, woher das dicke
Auge kommt. Es ist entstanden, als ich den Namen meines Anbeters
in der Fremdenliste las." Und nun beriditete sie, wie sie mit diesem
Herrn während der langen Todeskrankheit ihres ersten Mannes kokettiert
habe. Sie erzählte allerlei Einzelheiten aus jener Zeit und vertiefte sich
290 ...
•-— ■■ — '•--■^■' -''
immer mehr in die Idee, daß ihr Aug-e dick gfeworden sei, damit sie
den beschämenden Namen nicht zu sehen brauche, akzeptierte audi
meinen Gegen vors dilag, daß ihr Es sie noch nachträgflidi an dem Gliede
strafe, mit dem sie gesündigt habe. Der Erfolg schien uns recht zu
geben, denn als die Freundin wegging, war die Geschwulst ver-
schwunden. Am nächsten Tage hatte sie einen heftigen Streit mit
ihrem zweiten Mann wegen ihrer Stieftochter. Beim Nachmittags tee
war ich zugegen und bemerkte, wie sie die ganze Zeit über von der
links sitzenden Stieftochter das Gesicht wegdrehte und wie langsam
das Augenlid wieder anschwoll. Ich sprad» später mit ihr darüber und
sie gab an, daß sie, die Kinderlose, den Anblick der Stieftochter nicht
ertragen habe und wahrscheinlich deshalb das dicke Auge wieder be-
kommen habe. Das gab ihr einen neuen Gedanken ein, den sie eine
Zeitlang verfolgte. Möglicherweise sei die Stieftochter audi gestern
die Ursache der Lidschwellung gewesen. Bald darauf kam sie jedoch
auf ihren alten Gedanken zurück, daß es der Name ihres alten Kur-
machers in der Fremdenliste gewesen sein müsse. „In ein paar Tagen",
sagte sie, „jährt sich der Todestag meines ersten Mannes. Ich habe
seit Jahren beobachtet, daß ich um diese Zeit stets irgendwie krank
und elend werde, und idi glaube, daß ich den Streit mit Karl — das
ist der Name des Herrn von Wessels — herbeigeführt habe, um einen
Grund zum Weinen um meinen ersten Mann zu haben. Das ist mir
umso wahrsdieinlicher, als mir eben einfallt, daß ich vorgestern, also
schon den Tag vor der Anschwellung im Krankenhaus dabei war, wie
ein Nierenkranker mit dem charakteristischen, urämischen Geruch, den
auch mein Mann hatte, sich mit dem Spatel den Belag von der Zunge
schabte, genau wie mein verstorbener Mann. Am selben Abend habe
idi beim AnbHck von Meerrettichsauce Übelkeit bekommen, die sofort
versdiwand, als ich mir die Ähnlichkeit der Sauce mit dem Zungen-
belag klar machte. Der Anblick der Stieftochter war mir unerträglich,
weil sie mir die Tatsache des Treubruches gegen meinen ersten Mann
durch ihr Dasein vor Augen führte. Denn Sie können sich denken,
daß ich in jener Trauerzeit tausend Schwüre getan habe, nie wieder
19- 291
zu heiraten." Wiederum war die Anschwellung des Auges während
der Unterhaltung verschwunden.
Damit war die Entzündung des Augenlides endgültig erledigt.
Statt dessen erschien jedoch am folgenden Tage Frau von Wessels
mit einer halbzoJldicken Oberlippe. Gerade über dem Zipfel der Lippe
dicht am Rand hatte sich ein feuerroter Fleck gebildet, so daß das
Lippenrot fast um das doppelte breiter zu sein schien. Halb ladiend,
halb zornig gab sie mir einen Brief, den eine entfernte Bekannte an
eine ihrer Freundinnen geschrieben hatte und den ihr diese Freundin
voller Empörung zugescliickt hatte, wie es Freundinnen zu tun pflegen.
In diesem Brief stand neben allerlei anderen Liebenswürdigkeiten zu
lesen, daß Frau von Wessels mit ihrer, jedem Auge sofort erkennbaren
groben Sinnlichkeit eine echte Hexe sei. „Sdiauen Sie meinen Mund
an", sagte sie spöttisch, „kann es einen besseren Beweis für meine
grob sinnliche Natur geben, als diese schwellenden grellroten Lippen?
Fräulein H. hat ganz recht, mich eine Hexe zu nennen, und idi konnte
sie nicht Lügen strafen." Die Sache interessierte mich aus verschiedenen
Gründen, von denen ich Ihnen den einen nadiher mitteilen werde, und
ich verwendete einige Tage lang viel Zeit auf eine gründlidie Analyse,
deren Resultat ich Ihnen kurz mitteilen will.
Die Sadie drehte sich weder um den Tod ihres Mannes noch um
die Stieftochter nocb. um den alten Anbeter, sondern der Ano-elpunkt
war eben jenes Fräulein H., deren Brief ihr die dicke Lippe verschafft
hatte. Diese, mit Frau von Wessels seit Alters her verfeindete Dame
— nennen wir sie Paula — war an demselben Abend — Freitag den
16. August — im Theater gewesen, an dem die Lidschwellung des
linken Auges zum ersten Male aufgetreten war, und zwar hatte sie
links von Frau von Wessels gesessen. Genau adit Tage vorher, am
Freitag den 9. August, war Frau von Wessels ebenfalls im Theater
gewesen — wie Sie wissen, ist dieser mehrfache Besuch des Theaters
etwas Unerhörtes bei ihr. — Ihr zweiter Mann war mit ihr gewesen
«nd links von ihr hatte dieselbe Paula ihren Platz, von der sie wußte,
daß sie — vergeblich — Herrn von Wessels nachgestellt hatte. Frau
292
von Wessels hatte an jenem ersten Freitag — den 9, August — den
haßerfüllten Blick aus den auffallenden grauen Augen Paulas aufge-
fangen, die unter Umständen einen elgentümliciien harten und stedien-
den Ausdruck haben. Dieselben grauen Augen hat die Frau jenes
Nierenkranken, mit dessen Zungenbelag sie die Übelkeit am Donnerstag
den 15. abends in Zusammenhang bradite. Bei dem Besuch dieses
Kranken, der mit seinem Uringerudi sie an den Tod des ersten Mannes
erinnerte, war seine Frau mit den grauen Augen zugegen gewesen.
Der Name dieser Frau ist Anna, Anna ist aber audi der Name der
ältesten Schwester von Frau von Wessels, unter der sie als Kind über
alle Maßen gelitten hat. Und diese Schwester Anna hat dieselben harten,
stechenden Augen wie Paula. Und nun kommt das Seltsame: Frau
von Wessels Schwester Anna hat am 21. August Geburtstag. Am
15. August hat Frau von Wessels den Kalender angesehen und be-
schlossen zu sdireiben, am 16. Hat sie schreiben wollen, ist aber statt
dessen ins Theater gegangen, um ein Ballett, das heißt schöne Beine
2u sehen, am 17. hat sie wiederum den Geburtstagsbrief aufgeschoben
und erst am 18., dem Tag der dicken Lippe, gratuliert, und schließlidi
am 21., dem Geburtstag selbst, ist die Lippengeschwulst rasdi ver-
schwunden und die bis dahin stockende Analyse floß plötzlich in
raschem Lauf und eine Menge wirrer Verknäuelungen lösten sidi.
Frau von Wessels erzählte mir: „Als ich etwa mit 14 Jahren
Näheres über die Schwangerschaft erfuhr, habe ich den Geburtstag
meiner damals rechtschaffen gehaßten Schwester Anna mit dem Hoch-
zeitstage meiner Eltern verglidien und bin zu dem Resultat gekommen,
daß sie schon vor der Hochzeit entstanden sein müßte. Daraus zog
ich zwei Schlüsse: einmal daß meine Sdiwester nicht editbürtig sei —
das erscheint in meiner sonst gar nicht vorhandenen Abneigung gegen
meine Stieftochter am 17. August wieder, denn diese Stieftochter
stammt nidit von mir, ist also nicht editbürtlg, sondern vorehelich ; ~
und dann daß meine damals ebenso reditstiiaffen gehaßte Mutter eine
grob sinnliche Frau sei, eine Annahme, zu der ich midi zu jener Zeit
umso mehr berechtigt glaubte, weil meine Mutter ein halbes Jahr
293
1^.
vorher — also in meinem 14, Lebensjahr — noch ein Kind bekommen
hatte. Sie als Analytiker wissen ja, was für Neid sich bei so späten
Sdiwangerschaften in dem Herzen der alteren Tochter ansammelt. Ich
habe stets dieses Nadirechnen der Schwangrerschaftsdaten meiner
Schwester Anna für die erbärmlichste Handlung meines Lebens g-e-
halten und auch jetzt wird mir das Geständnis schwer. Wie Sie an
meiner Lippe gesehen haben, bestrafe ich mich für die Schandtat gegen
meine Mutter damit, daß ich meine eigene Sinnlichkeit vor aller Welt
offenbare, nachdem einmal der Vorwurf von Fräulein Paula erhoben
worden ist. Nun weiter: ich weiß, daß meine Schwester Anna darauf
rechnet, in meinem Geburtstagsbrief für den Oktober hieher eingeladen
zu werden. Ich will sie aber nidit hier haben, obwohl itJi meine Ab-
neigung dagegen als schlecht empfinde. Der Mund, der diese Einladung
nicht aussprechen will, muß bestraft werden. Dieser selbe Mund muß
aber audi dafür bestraft werden, daß ich ihn zur Zeit jenes Nach-
rechnens des Hochzeits- und Geburtsdatums einen frevelhaften Schwur
tun heß, ich wolle niemals ein Kind gebären. Dieser Schwur fiel in
den Augenblick, wo ich zufäHig das Schreien einer Kreißenden mit
anhörte. Die Verbindung mit meinem Munde ist diu-di eine meiner
Bekannten gegeben, die nach langer, langer Kinderlosigkeit schwanger
geworden ist und deren früher zusammengekniffene Lippen jetzt voll
und rot sind. Ich habe diese Bekannte am 15. August gesehen und
eingehend mit ihr über das kommende Kind gesprochen. So viel kann
ich zur Erklärung der Mundansdiwellung angeben. Was das Auge
betrifft, so ist das sehr einfach. Ich habe von den zahlreichen Schwanger-
schaften meiner Mutter nicht eine einzige erkannt, auch die des jüngsten
Kindes nicht, obwohl ich sdion 13 Jahre alt war und sehr gut wußte,
wie die Kinder auf die Welt kommen. Der Versuch also, mich gegen
Schwangerschaft blind zu madien, ist sehr alt, und daß ich jetzt ge-
legentlich zu dem bewährten Mittel greife, mein gutes linkes Auge
das rechte ist ziemlich unbrauchbar — auszuschalten, wenn der
Schwangerschaftskomplex meiner Mutter an mich herantritt, wundert
mich nidit. Es sind da aber noch andere Dinge. So weiß ich zum
294
-.IT --.- -^-^-.:^-J^
Beispiel jetzt, daß mich bei dem Besuch des Nierenkranken nicht der
Uringeruch störte, sondern der nach Kot, das heißt, hinter der Er-
innerung an den Tod meines Mannes versteckt sich die tief beschämende
an einen Augenblick, wo meine Mutter mir die Backe streichelte und
ich, statt mich der Zärtlichkeit zu freuen, dieser liebenden Hand einen
Kotgeruch andiditete, mit andern Worten ihr Gewohnheiten unterschob,
denen ich als Kind selber gefrönt haben muß. Ich überlasse es Ihrem
Scharfsinn, ob Meerrettich irgend etwas mit meiner Mutter zu tun hat. —
Von dieser Erlaubnis madie ich Gebrauch. Meer scheint mb- mit mere
zusammen zu hängen und der Rettich ist ein bekanntes Mannessymbol.
Der Spruch: Einen Rettich in den After stecken, führt zu dem Klosett-
geruch. — Der Geruchseindruck führt mich nun wieder auf des Nieren-
kranken Frau, auf ihre grauen Augen, auf die harten Augen von Paula
und auf die meiner Sdiwester Anna zurück. Die Angst vor Paula, die
idi ganz gewiß habe, beruht auf diesen Augen, die eben Annas ge-
fürchtete Augen sind. Wenn ich aber gesagt habe, daß ich meine
Schwester Anna haßte, so muß ich diese Aussage einschränken. Etwas
liebte ich an ihr über alle Maßen, das waren ihre Beine und ihre
Unterhosen. Ich besitze noch jetzt eine ganze Sammlung von Anna-
beinen in Spitzenhöschen, die ich in meiner Schulzeit an den Rand
meiner Hefte gezeichnet habe. Ihre Beine sind jedenfalls bei meiner
Vorliebe für das Ballett stark beteiligt und Sie wissen, daß ich am
16. im Theater war, um sdiÖne Beine zu sehen. Und da ist gleich
eine weitere Verbindung, die in die fernsten Fernen meiner Kindheit
führt, von wo dann kein weiterer Weg mehr ist außer dem der
Phantasie. Die Angst vor harten Augen geht nämlich auf meine Groß-
mutter zurück, die idi entsetzlich fürchtete. Das erste, was sie tat,
wenn wir zu ihr kamen, war, daß sie uns die Röckchen hochhob, um
zu sehen, ob wir reine Hosen anhätten. Idi begriff sclion damals, daß
sich dieses Manöver nicht gegen mich, sondern gegen meine Mutter
richtete, und wegen ihrer Feindschaft gegen Mutter war mir die Alte
in der Seele zuwider. Trotzdem halte ich es für möglich, daß dieses
Untersuchen der Hosen für mich lustvoll war. Aber bedenken Sie, den
295
Vorwurf des Schmutzes, den idi der Alten so schwer anredinete, erhob ich
später selbst gegen meine Mutter bei Gelegenheit des Backenstreidielns.
Das ist schlimm. Und noch etwas anderes. Eine Tante von mir wurde
— in meiner frühesten Kindheit hörte ich davon — von meinen Groß-
eltern verstoßen, weil sie vor der Hochzeit von ihrem Verlobten
schwang-er wurde. Wieder derselbe Tadel, den ich gegen die Mutter
vorgebracht hatte. Die Großmutter war für midi die Hexe schlechthin.
Und von diesem Wort Hexe geht nun wieder ein Weg zu Paula und
den Erscheinungen der letzten Tage. Es war mir bekannt, daß Paula,
deren Gehirn mit allerlei okkulten Phantasien spielt, mir telepathische
Kräfte zuschrieb und mich Hexe nannte. Denselben Ausdruck habe ich
oft für die Mutter meiner Stieftochter verwandt, die ich freilich nur
vom Ansehen oder besser vom Sehen und Hören kannte. Als ich ihre
Stimme zum ersten Male hörte, durdifuhr mich ein Eisessdir ecken, ich
fühlte, daß in dieser Stimme etwas Gräßliches aus meiner Kindheit
war. Und als ich die Frau dann sah. fiel mir sofort auf, daß sie meiner
Schwester Anna harte Augen hatte, und nun wußte ich auch, daß ihre
Stimme die der Großmutter, der Hexe war. Die merkwürdige Ab-
neigung des 17., meine Stieftochter anzusehen, hing damit zusammen,
daß ich ihre Mutter mit meiner Großmutter und meiner Schwester und
meiner Gegnerin Paula identifizierte, daß sie also die schwersten, am
tiefsten verdrängten Erinnerungen wachrief. Soweit ich die Sache ver-
stehe, muß ich also die Ursachen für die Vorgänge an Auge und Lippe
in Konflikten mit meiner Großmutter, Mutter und ältesten Sdiwester
suchen, die durch das Geburtstags datum und die Begegnung mit Paula
aus ihrem Verdrängungsschlaf wachgerufen wurden, während die jährlich
hervorgeholte Trauer um meinen ersten Mann ein Versuch ist, diese
unbequemen Komplexe zuzudecken. Die Erschwerung des Sehens durch
die Lidgeschwulst ist derselbe Versuch zu verdrängen in anderer Form,
im Krankheitssymptom: ich will nicht sehen und folgeriditig kommt
denn, als das Sehen der Komplexe infolge der Häufung der Phänomene
nicht mehr zu verhindern ist, der Wunsch wenigstens nicht davon zu
sprechen, was sich in der Sciiwellung der Lippe und der damit
296
H - -
verbundenen Unbequemlichkeit im Sprechen äußert. Beides sind zugleidi
auch Strafen für das Sehen nadh sdiönen Beinen und das Verschwören
jeder Sdiwangerschaft."
Ich lasse es dahin gestellt, liebe Freundin, ob Frau von Wessels
mit ihren Betrachtungen recht hat. Sicher hat sie noch eine Menge
Material untersdilagen und von dem, was sie gab, kaum die Hälfte
gedeutet. Ich erzähle Ihnen die Geschichte, weil hier eine nicht dumme
Frau in anschaulidier Weise erzählend schildert, wie idi mir die Äußerungs-
form des Es durch das Krankheitssymptom denke. Ich habe aber, wie
idi sdion vorhin andeutete, noch einen andern Grund gehabt, diese
Dinge so breit zu berichten. Zu jener Zeit, als Frau von Wessels ihre
Augen- und Lippenerlebnisse hatte und mir vom Genidi der Uramisdien
sprach, befand sich in meiner Anstalt ebenfalls ein Nierenkranker, der
diesen charakteristischen Geruch hatte. Idi bekam ihn in den letzten
Stadien in Behandlung und übernahm es, sein Sterben zu beobaditen und
zu erleichtern, weil seine Mundform mit ihren scharf zugepreßten, dünnen
Lippen mir eine Bestätigung meiner Annahme zu sein schien, daß das
Es durch das Zurückhalten der Uringifte dasselbe aussagt, wie durch die
zugekniffene Form des Mundes. Für midi bedeutet die Urämie den
tödlich gefährlichen Kampf des verdrängenden Willens gegen das immer
wieder emporstrebende Verdrängte, gegen starke aus frühster Kindheit
herrührende und in tiefsten Schichten der Konstitution liegende und
wirkende Urinabsonderungskomplexe. Der Fall hat meine phantastischen
unwissenschaftlichen Forschungen, für die ich durch mein eigenes Nieren-
leiden einen persönlichen Antrieb habe, nic^t wesentlich gefördert,
Idi müßte mich denn entschließen, einige seltsame Elrscheinungen im
Verlauf dieser TnagÖdie mit dem Versuch das Es zu deuten in Ver-
bindung zu bringen. Da müßte ich erwähnen, daß bei dem Kranken
schon nach den ersten Tagen der Analyse die Jahrzehnte alte Ver-
stopfung in Diarrhöe umschlug, deren Gestank unsagbar greulidi war.
Man könnte, wenn man genügend närrisch ist, den höhnisdien Ruf des
Es daraus heraus lesen : idi will wohl den körperlichen Dreck hergeben,
den ich sonst zurückhielt, den seelisdien aber gebe ich nicht her. Man
297
könnte das Erbrechen ahnlidi deuten — allerdings pflegi: das ja bei
Urämie aufzutreten, ebenso wie die Durchfälle ■ — während man anderer-
seits mit einigem Wag-emut sagen könnte, der urämische Krampfanfall
— und schließlidi das Sterben — sind Zwangsmittel des verdrängenden
Es, um das Bewußtwerden der Komplexe zu verhindern. Schließlich
ließe sidi auch eine merkwürdige, von mir sonst nidit beobachtete
wassersüchtige Verdickung der Lippen, durch die der Mund all seine
Verkniffenheit verlor, als spöttisches Zugeständnis des Es deuten, das
dem Munde die Freiheit wieder zu geben scheint, während es ihm in
Wahrheit durch das ödem das Spredien verbietet. Aber das alles
sind Gedankenspiele, die ich mir leiste, für die ich aber nicht die
geringste tatsächliche Gewähr habe. Dafür habe ich aber während jener
Tage etwas Komisches erlebt, was idi kraft meiner Eigenschaft als
persönlich Erlebender mit ziemlicher Gewißheit deute. In den Tagen,
in denen i<ii mich infolge des Lippenabenteuers ernsthaft mit Frau von
Wessels Analyse beschäftigte, traten die ersten urämischen Krämpfe
bei meinem Kranken auf. Ich blieb über Nacht im Sanatorium und nahm,
da es kalt war, eine heiße Gummiflasche mit ins Bett. Vor dem Ein-
schlafen schnitt ich mit einem spitzen Papiermesser eine Nummer der
psychoanalytischen Zeitschrift Freuds auf und blätterte darin. Unter
anderra fand ich darin die Anzeige, daß Felix Deutsch in Wien einen
Vortrag über Psychoanalyse und organische Krankheiten gehalten hatte,
ein Thema, das icli, wie Sie wissen, seit langem in mir wälze und das
ich unserm gemeinsamen Freunde Groddeck zur Bearbeitung überlassen
habe. Ich legte Zeitschrift und Papiermesser unter mein Kopfkissen
und fing an, ein wenig über diesen Gegenstand zu phantasieren, wobei
ich denn bald bei meinem Urämischen und meiner Deutung der Harn-
verhaltung als Verdrängungszeichen landete. Ich schlief darüber ein,
wachte aber gegen Morgen mit einem seltsamen Gefühl der Nässe auf,
so daß ich glaubte, ins Bett gepinkelt zu haben. Tatsachlidi hatte ich
im Sdilaf mit dem Papiermesser die Gummiflasdbte angestochen, so
daß das Wasser im kleinen Sprudel hervorquoll. ~ Nun, die folgende
Nadit blieb idi wieder in der Anstalt, und weil ich gern nasche, hatte
298
idi mir dieses Mal ein paar Stück Schokolade mitgenommen, wie ich
es öfter tue. Was denken Sie. was passiert? Als ich am nadisten
Morgen aufwache, sind mein Hemd und mein Bettlaken über und über
mit Schokolade besdimiert. Es hatte eine verteufelte Ähnlichkeit mit
Aa und ich war so beschämt, daß ich sofort die Bezüge des Bettes
eigenhändig abnahm, damit das Dienstmädchen nicht denken sollte. ,ch
hätte ein großes Gesdiäft ins Bett gemacht. Gerade diese seltsame
Idee jedoch, das Bett abzuziehen, weil sonst der Verdacht kommen
könnte. id> hätte meine Notdurft darin verrichtet, brachte mi<h darauf,
mich ein wenig zu analysieren. Da fiel mir denn ein, daß ich .chon be.
dem Wärmflaschenabenteuer empfunden hatte, es ließe siA als Bett-
nässen deuten. Und da ich so ganz und gar mit dem Gedanken
bei dem Urämis<hen gewesen war. so erklärte Ich mir d.e Sadie
! so- Dein Es sagt dir. du brauchst, obwohl deine Nieren mcht sauber
sind, keine Sorge zu haben, daß du je Urämie bekommst: du siehst
ja wie leicht du Urin und Dreck von dir gibst, du haltst nicht
zu'rück. verdrängst nicht, bist wie ein Säugling, schuldlos und offen
mit Herz und Baudi. Wenn ich nicht wüßte, wie listig das Es
ist hätte ich mich wohl damit begnügt. Aber so gab i<h midi nicht
damit zufrieden und auf einmal schoß mir der Name FeHx durch den
Kopf- Felix, so hieß der Herr, der über Psychoanalyse und organische
Krankheiten gesprodien hatte. Felix Sdiwarz hieß aber auch em Schul-
freund und dieser Schulfreund war an Urämie im Gefolge von Scharlach
zu Grunde gegangen. Schwarz, das ist der Tod. Und in Felix steckt
das Glück und die Verbindung von Felbc und Schwarz, von Glück
und Tod kann nur der Augenblick der höchsten Geschlechtslust ver-
bunden mit der Angst vor Todesstrafe sein, mit andern Worten, es ist
der Onaniekomplex, dieser uralte Komplex, der immer wieder unterirdisch
sich re..t, wenn ich an meine Nierenkrankheit denke. - Damit schien
mir £ Deutung, die ich den beiden Unfällen gegeben hatte, nun
bestätigt zu sein. Mein Es sagte damit: sei ehrlich, verdränge nicht
und dir wird nidits geschehen. Zwei Stunden später wurde icÄ, eines
Besseren belehrt. Denn als ich an das Bett meines Urämiekranken
299
trat, traf midi plötzlich der Gedanke: der sieht aus wie dein Bruder
Wolf. Noch nie hatte ich die Ähnlichkeit bemerkt, aber jetzt sah ich
sie deutlich. Und dunkel erhob sich vor mir die Frage: Was hat dein
Bruder Wolf oder das Wort Wolf mit deinen Verdrängungen zu tun ?
Immer wieder taucht es auf, so viele Analysen du auch angestellt hast
und nie findest du die Lösung. Auch die, die dir jetzt durch den Kopf
schießt, ist nicht die letzte, tiefste.
Trotzdem will ich sie Ihnen nicht untersdiiagen. Als idi ganz kleines
Kind war — doch schon alt genug, um Erinnerungen zu bewahren —
lief idi mir oft die Kerbe zwischen den Popobäckchen wund, bekam
also einen Wolf. Idi ging dann zur Mutter und sie strich mir Salbe
in die Kerbe. Das hat mir gewiß einen Anstoß zur späteren Onanie
gegeben, war gewiß schon eine Form kindlicher Onanie, bei der ich
in halbbewußter, fuchsschlauer List zur bösen Tat die Hand der Mutter
benutzte, wohl in Erinnerung an die Wonnen, die jeder Säugling durch
die Reinlichkeitssorge der Kinderpflegerin empfangt. Und als ich soweit
mit dem Analysespiel war, fiel mir noch ein, daß ich am Tage vorher
mir wirklich beim Radeln einen Wolf zwischen den Schenkeln angeradelt
hatte. Das ist also der Wolf, den du so lange suchtest, jubelte es in
mir und idi war freudig und half dem Weibe meines Kranken über
eine schwere Stunde hinweg. Aber als lA zur Tür hinaustrat, wußte
ich : Auch das ist die Lösung nicht ! Du verdrängst und wenn dir dein
Es und deine Freunde noch so sehr die Offenheit nachrühmen, du
bist doch genau wie Andere. Und anständig ist nur der, der ist wie
jener Zöllner: Gott sei mir gnädig. Aber finden Sie nicht, daß selbst
dies Letzte, gerade dies Letzte, pharisäisch ist?
Adjö Liebe. Ich bin Ihr PATRIK.
300
tfi III IUI
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN, VII. ANDREASGASSE 3
GEORG GRODDECK
DER SEELENSUCHER
EIN PSYCHOANALYTISCHER ROMAN
f
ZWEITE AUFLAGE (2.- 5. TAUSEND) 1922
FRANKFURTER ZEITUNG
Ein ungewöhnlich geistreidier Kerl, der sehr amüsant zu reden weiß. Der Stil
erinnert etwas an die Pickwiclder, wenn auch der Inhalt durchaus nicht so
harmlos ist. . , . £j^_ Q^m
IMAGO
Es kann kein schlechtes Budi sein, dem es wie diesem gelingt, den Leser vom
Anfang bis zum Ende zu fesseln, sdiwere biologische und psycho logisdie Probleme
in witziger, ja belustigender Form darzustellen, und das es zustande bringt, derb-
zynische, groteske und tief tragische Szenen, die in ihrer Nacktheit ab-
stoßend wirken mußten, mit seinem guten Humor wie mit einem Kleide zu
behängen.
per erziehliche Wert des Buches liegt darin, daß Groddeck, wie einst Swift,
Rabelais und Balzac, dem pietistisch-hypo kritischen Zeitgeist die Maske vom
Gesichte reißt und die dahinter versteckte Grausamkeit und Lüsternheit, wenn
auch mit dem Verständnis für deren Selbstverständlichkeit, offen zur Schau stellt.
Die Symbolik, die die Psychoanalyse zaghaft als einen der gcdankenbildenden
Faktoren einstellt, ist für Weltlein tief im Organischen, vielleicht im Kosmischen
begründet und die Sexualität ist das Zentrum, um das sidi die ganze Symbol-
welt bewegt. _ £Jr. S. Ferenczi
NEUE RUNDSCHAU
Ein tüchtiger Mann, der Spaß machen kann und sein Publikum in 36 Kapiteln
trotz aller Wissensdiaft harmlos und kurzweilig unterhalt. Alfred Döblin
BERLINER TAGEBLATT
Ein Budi, das kaum seinesgleichen hat unter deutschen Büdiern, ein Buch von
eigentümlicher spiritueller Schärfe, die ihre Zeichen ins Hirn des Lesers ätzt. Was
sonst als erzählende deutsche Prosa Humor übt, scheint Wasser
\ neben dieser Quintessenz. . . So was Freches, Ungeniertes, raHiniert
Gescheit- Verrücktes ist von Erzählern unserer Sprache noch nicht gewagt worden.
Man muß zu den Großen satirischer Dichtung, will man die Patrone dieser Schrift
nennen. Von Jonathan Swifts unsterblicher Galle kreist ein Tropfen in des
Seelensuchers Bitterkeit; an Cervantes erinnert der Ritus, nadi dem hier einer
zugleich den Priester und das Lamm seiner Narrheit abgibt, erinnert die Durch-
setzunjf dieser Narrheit mit Idee und Idealität; in der Rabies ihrer Witzigkeit
aber gespenstert das Überdimensionierte der Gargantua-Komik.
Die Figuren haben beiläufige Kontur. Auch der Held Thomas, der als Don
Quixote Sigmund Freudscher Weltanschauung seiner fürsorglichen Schwester
Agathe durchbrennt, streitbar durdi die deutschen Lande zieht, in die wunderlichsten
Händel und skurrilsten Abenteuer gerät, als Ritter seiner Dulcinea Psychoanalyse
die erbittertsten Reden und andere Schlachten schlägt, aller Orten — wie der
de la Mancha Burgen, Ritter, Burgfräulein — aller Orten Symbole, Insbesonders
erotische Symbole sieht, erfüllt von der heiligen Gewißheit, daß die Menschen
ihre Psyche zwischen den Beinen tragen und ihre Genitalien an jeder Stelle
Körpers und Geistes.
Dieser Thomas ist ein urgemütliches Gespenst, das seine Hirnschale in Händen
hält und aus dem muntren Qualm, der ihr entsteigt, die Welt deutet . . . Eine
Figur, so voll der kostbarsten Narrheit — die keine Narrheit, sondern Ernst-
Clownerie — ist noch durch keinen deutschen Roman gewandelt . . . Sie hat ein
Format und eine Funktion; der Rest ist Ulk. Aber Ulk von der hellsten Sorte.
Hier lehrt einer, zum Gaudium des Lesers, die Welt über den psychoanaly-
tischen Stock springen. Alles muß drüber, Menscli und Tier, Politik Kunst
Wissenschaft; und, mit etlicher Gewalt und Schlauheit, glückt es bei allen. Eine
drolligste demonstratio ad rem et hominem von der Unfreiheit der Erscheinungen,
Wie sich hier Sinn zu Hanswurst laden übersteigert, Geist in närrische Aktion
umsetzt, Dogma possenreißerisch sich behauptet, Erkenntnis, ihrer Unverletzbarkeit
hochmütig gewiß, ins dichteste Gelächter stürzt — solche lustige Abenteu erfahrt
des Gedankens hat noch kein deutscher Mann gewagt, Alfred PolEar
WIENER FREIMAURER-ZEITUNG
Ein Schalk, der lustig, ausgelassen und frivol ist und doch zum Denken reizt . . .
Prüde Flachköpfe, Philister, laßt die Hände davon, aber Ihr, die Ihr lachen könnt,
bis die Augen tränen, macht Euch in Eurer stillen Ecke über dieses Buch.
BÜCHEREI UND BILDUNGSFFLEGE
Gespräche und Reden des Seelensucie.. Thomas Weltlein, den der Verfasser auf
di/sd.n,ale Grenze zwischen dem weisen Grübler und dem Narren gestellt hat
um ihn recht ungestört alles zwischen Himmel und Erde durchemanderqu.rle.
lassen zu können ... Für öffentlid^e Büd^ereien ist das Bud. wegen semes
Übermaßes an Zynismus in erotischen und religiösen Dingen unbrauchbar.
NEUE FREIE PRESSE
Weder die Vertiefung, nod. der soziale Ernst wird der Psychoanalyse h.er
entnommen, sondern der Kehrid^t, den sie. das seelische Innere des Menseheu
fegend, vor der Tür anhäuft. Diese unappetitliche Masse w,rd h.er zum Hauptthema
als ob das Absehen darauf gerid.tet wäre, die Psyd^oanalyse durd. Ordmarhe.
zu diskreditieren, was indessen kaum in den Intentionen des Verfassers selbst
,. I Herbert Siwerer
Psychoanalytikers hegen kann.
OSTSEEZEITUNG
Grcddeck hat der Literatur einen modernen Don Quichotte gesd^enkt . . .Wer
Freude daran hat. die Dinge aud. einmal durdi eine andere Bnlle a^s se.ne
eigene zu sehen, lese das BuA. Er wird Stunden reinster Freude habenl
DIE WAGE . u. u . r-
Ein witziges Buchl Ein kluges ßudi! Eine gespickte Foppere.. n.chts mehr Em
köstliches Buch, ein abscheuliches Bud^! Ein fideler Roman, em wessen sd^afthd. es
W kl Da^ Bud, ist vor allem von einer imponierenden Rud.s,d,tsIos.gke.t.
** ' " Fritz Sachsenburg
SADISCHER ZENTRALANZEIGER
Groddedc hat sidi seine Aufgabe insofern erleichtert, als sein Held gleldizeitlg
Psvdiopath und Psydioanalytiker ist; dadurdi kann er mandie bedeutsame Glos-
sierung unauffällig einfügen. Grodded. nützt die Immunität reidilid. aus, um d.e
Phantasie des kranken Zynikers sidi in Zweideutigkeiten ergehen zu lassen; aber
^an behält den Eindrudc der Ed^theit. Karl HecM
DIE SCHÖNE LITERATUR
Wer für Humor keinen Sinn hat. gehe dem Buch weit aus ^^'". ^«S« " " " '
Groddedc probiert mit einer tollen Donquid.otterie «^^ P/^f .^'^f.^.^'f;;';;.^^
an seinem Helden aus und mengt Witz und Unsmn, We.she.t und Tollhe.t wdd
, , . , Jörn Oven
durdie mauder .
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DAS
BUCH
VOM
ES
Georg Groddeck
Das Buch vom Es
Psychoanalytisdie Briefe
an eine Freundin