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Full text of "Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin"

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Georg Grodde(k 

Das Buch vom Es 

Psychoanalytische Briefe 
an eine Freundin 




GEORG GRODDECK 
DAS BUCH VOM ES 



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DAS BUCH VOM ES 



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PSYCHOANALYTISCHE BRIEFE 
AN EINE FREUNDIN 



VON 



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GEORG GRODDECK 




INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

LEIPZIG / WIEN / ZÜRICH 
1923 



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ALLE RECHTE 

BESONDERS DIE DER ÜBERSETZUNG 

VORBEHALTEN 



COPYRIGHT 1923 
BY .INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

GES. M. B. H. WIEN" 




INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 



GEDRUCKT BEI K. LIEBELINWIEN 






LIEBE FREUNDIN, SIE WÜNSCHEN, DASS ICH IHNEN SCHREIBE, 

nichts Persönlidies, keinen Klatsch, keine Redensarten, sondern ernst, ' 

belehrend, womöglich wissenschaftlich. Das ist schlimm. 

Was habe ich Armer mit Wissenschaft zu tun? Das Bißchen, was ' 

man als praktischer Arzt nötig hat, kann ich Ihnen doch nicht vorführen, ' | 

sonst sehen Sie, wie löchrig das Hemd ist, das Unsereiner unter dem h 

Staatsgewande der Approbation als Arzt trägt. Aber vielleicht ist ' 

Ihnen mit der Erzählung gedient, warum ich Arzt wurde und wie ich ! 

zu der Abneigung gegen das Wissen gekommen bin. 

Ich besinne mich nicht, daß idi als Knabe besondere Neigung für 
das Arztsein gehabt hätte, vor allem weiß ich bestimmt, daß i(ii nie, 

audi später nicht, mit diesem Beruf menschenfreundlldie Gefühle ver- ■ 

bunden hatte; und wenn ich mich, was wohl geschehen ist, mit solchen . 

edlen Worten zierte, so verzeihe mir ein mildes Gericht mein Lügen. 
Arat wurde idi, weil mein Vater es war. Er hatte all meinen Brüdern 
verboten, diese Laufbahn emzuschlagen, vermutlich weil er sidi und 
Andern gern einreden wollte, seine finanziellen Schwierigkeiten seien 
durch die schledite Bezahlung des Arztes bedingt, was durchaus nicht 
der Fall war, da er bei Alt und Jung als ein guter Arzt gerühmt 
und dementsprechend entlohnt wurde. Aber er liebte es wie sein Sohn 
auch und wie wohl ein Jeder, nach außen zu blicken, wenn er wußte, 
daß in ihm selber etwas nicht stimmte. Eines Tages fragte er midi, 
— warum, weiß ich nicht — ob ich nidit Arzt werden wolle, und weil 
1 Groddeck. Das Buch vom Ea j 



idi in dieser Frage eine Auszeichnung meinen Brüdern gegenüber sah, 
sagte ich ja. Damit war mein Schicksal entschieden, sowohl für meine 
Berufswahl, als auch für die Art, wie ich diesen Beruf ausgeübt habe. 
Denn von da an habe ich meinen Vater bewußt nachgeahmt, so stark, 
daß eine alte Freundin von ihm, als sie midi viele Jahre später kennen 
lernte, in die Worte ausbradi : „Ganz der Vater, nur keine Spur von 
seinem Genie." 

Bei jener Gelegenheit erzählte mir mein Vater etwas, was micJi 
später, als die Zweifel an meinen ärztlichen Fähigkeiten kamen, an 
meiner Arbeit festhielt. Vielleicht kannte ich die Geschichte sdion vor- 
her, aber ich weiß, daß sie mir in der gehobenen Stimmung des 
Joseph, der besser war als seine Brüder, tiefen Eindruck machte. Er 
habe midi, erzählte er mir, als dreijährigen Jungen mit meiner etwas 
älteren Schwester, meiner ständigen Spielkameradin, beim Puppenspielen 
beobachtet. Lina verlangte, daß der Puppe noch ein Kleid angezogen 
werden solle, und ich gab es nadi langem Kampfe mit den Worten zu: 
„Gut, aber du wirst sehen, sie erstickt." Daraus habe er den Schluß 
gezogen, daß ich arztlidie Begabung hätte. Und ich selber habe diesen 
so wenig begründeten Schluß auch gezogen. 

Ich erwähne dieses kleine Ereignis, weil es mir Gelegenheit gibt, 
von einem Zug meines Wesens zu spredien, von einer seltsamen 
Ängstlichkeit geringfügigen Dingen gegenüber, die micäi plötzlicli und 
scheinbar unmotiviert befallt. Angst ist, wie Sie wissen, die Folge eines 
verdrängten Wunsdies; es muß in jenem Augenblick, als ich den 
Gedanken äußerte, die Puppe werde ersticken, der Wunsch in mir 
lebendig gewesen sein, irgend ein Wesen, dessen Stelle die Puppe 
vertrat, zu toten. Wer dieses Wesen war, weiß ich nicht, vermute nur, 
daß es eben diese meine Sdiwester war; ihrer Kränklidikeit halber 
wurde ihr von meiner Mutter manches zugeteilt, was idi als Jüngster 
für mich beanspruchte. Da haben Sie nun, was das Wesentliche des 
Arztes ist: ein Hang zur Grausamkeit, der gerade so weit verdrängt 
ist, daß er nützlich wird, und dessen Zuchtmeistcr die Angst ist, weh 
zu tun. Es lohnte sich, diesem feingefügten Widerspiet von Grausam- 



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keit und Angst im Menschen nachzugehen, weil es gar wichtig im 
Leben ist. Aber für den Zweck eines Briefes genügi es wohl festzu- 
stellen, daß das Verhältnis zu meiner Sdiwester viel mit der Entwick- 
lung und Bändigung meiner Lust am Wehtun zu tun hat. Unser 
Lieblingsspiel war Mutter und Kind spielen, wobei es darauf ankam, 
daß das Kind unartig war und Schläge bekam. Daß alles milde verlief, 
war durch die Kränklidikeit der Schwester bedingt und spiegelt sich 
in der Art wider, wie icJi meinen Beruf ausgeübt habe. Neben der 
Sdieu vor dem blutigen chirurgischen Handwerk habe ich die Abnei- 
gung gegen das Giftmischen der Apotheke und bin so zur Massage 
und zur psydiisciien Behandlung gekommen; beide sind nidit weniger 
grausam, aber sie lassen sidi besser der individuellen menschlichen 
Lust am Leiden anpassen. Aus den täglich wediselnden Anforderungen 
heraus, die Linas Herzleiden an mein unbewußtes Taktgefühl stellten, 
wuchs dann die Neigung, midi mit chronisch Kranken zu beadiäfÜgen, 
während mich die akute Erkrankung ungeduldig madit. 

Das ist so ungefähr, was ich vorläufig über die Wahl meines 
Berufes mitteilen kann. Wenn Sie es nur ein wenig in Ihrem Herzen 
bewegen, wird Ihnen schon allerlei über meine Stellung zur Wissen- 
Sdiaft einfallen. Denn wer von Kindheit an auf den einzelnen Kranken 
eingestellt ist, wird sAwerlidi systematisch rubrizieren lernen. Aber 
auch da ist wohl das Wichtigste die Nachahmung. Mein Vater war ein 
Ketzer unter den Ärzten ; war sich selbst Autorität, ging eigene Wege 
und Irrwege und von Respekt vor der WissenscJiaft war weder in 
Worten noch in Taten viel bei ihm zu spüren. Ich besinne mich noch, 
wie er über die Hoffnungen spottete, die sich an die Entdeckung des 
Tuberkel- und Cholerabazülus knüpften, und mit welchem Hochgenuß 
er erzählte, daß er gegen alle physiologischen Lehrsätze ein Wickel- 
kind ein Jahr lang nur mit Bouillon gefüttert habe. Das erste medi- 
zinisciie Buch, das er mir in die Hände gab, — ich war damals noch 
Gymnasiast — war die Erfahrungsheütehre Rademachers, und da 
darin die Kampfstellen wider die Wissenschaft dick angestrichen und 
reichUcli mit Randbemerkungen versehen waren, so ist es wohl kein 



1 



Wunder, wenn idi schon vor Beginn meines Studiums geneigt war zu 

zweifeln. ,. . i ■ i_ j. 

Diese Lust am Zweifel war noA anders bedingt. Als id» sedis 
Jahre alt war. verlor id. leitwcisc die ausschließliche Freundsdmft 
meiner Schwester. Sie wendete ihre Neiguii? einer Schulkameradin zu. 
die den Namen Alma trug, und was besonders schmerzIiA war, sie 
übertrug unsere kleinen sadistisdien Spiele auf diese neue Freundin 
und schloß mich von der Teilnahme daran aus. Es gelang mu- em 
einziges Mal, die beiden Mäddien beim Gesdnchtenerzählen, was sie 
besonders liebten, zu belausdien. Alma phantasierte von einer bösen 
Mutter, die ihr unartiges Kind zur Strafe in eine Abirittsgrube steckte. 
- man muß sid. dabei einen ländlidien primitiven Abtritt vorstellen. 
Nodi heutigen Tages geht es mir nadi. daß id. diese Gesd..dite md>t 
zu Ende gehört habe. Die Freundsd.aft der beiden Mäddien gmg 
vorüber und meine Sdiwester kehrte zu mir zurück. Aber jene Zeit 
der Einsamkeit hat genügt, um mir eine tiefe Abneigung gegen den 
Namen Alma einzuflößen. 

Und nun darf idi Sie wohl daran erinnern, daß die Universität 
sid, Alma Mater nennt. Das hat midi stark gegen die Wissensd^aft 
eingenommen, nodi mehr, weil das Wort alma matcr aud> für das 
Gymnasium angewendet wurde, in dem idi meine humanistische BU- 
dung erhielt und in dem Idi viel gelitten habe, von dem idi viel 
erzählen müßte, wenn es darauf ankäme, Ihnen meine mensdilidie 
Entwiddung begreiflidi zu madien. Aber darauf kommt es ja nidit an, 
sondern nur auf die Tatsadie, daß id. all den Haß und das Uid 
meiner Sdiulzeit auf die Wissensdiaft übertrug, weil es bequemer ist, 
Trübungen der Seele aus dem äußeren Gesdichen herzuleiten, statt 
sie in den Tiefen des Unbewußten zu sudien. 

Später, erst sehr spat, ist mir klar geworden, daß das Wort 
alma mater, „nährende Mutter", an die ersten und schwersten Konnikte 
meines Lebens erinnert. Meine Mutter hat nur das Alteste ihrer Kinder 
genährt; sie bekam damals sdiwere Brustentzündungen, durdi die die 
Mildidrüsen verödeten. Meine Geburt muß wohl ein paar Tage früher 

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stattgefunden haben, als berechnet war. jedenfalls war die Amme, 
die für mich bestimmt war, noch nidit im Hause und ich bin drei Tag^e 
kümmerlich von einer Frau gestillt worden, die zweimal am Tage kam, 
um mir die Brust zu geben. Es hat mir nichts geschadet, sagte man 
mir, aber wer kann die Gefühle eines Säuglings beurteilen? Hungern- 
müssen ist kein freundlicher Willkommengruß für einen Neugeborenen. 
Ich habe hie und da Leute kennen gelernt, denen es ähnlich gegangen 
ist, und wenn ich auch nicht beweisen kann, daß sie Sdiaden an ihrer 
Seele gelitten haben, so ist es mir doch wahrscheinlich. Und im Ver- 
gleich zu ihnen glaube i<h nodi gut weggekommen zu sein. 

Da ist zum Beispiel eine Frau — ich kenne sie viele, viele Jahre, — 
deren Mutter sich von dem neugeborenen Kinde abwandte, sie nährte 
es nicht, obwohl sie es bei den andern Kindern tat, und überließ es dem 
Kindermädchen und der Fiasdie. Das Kind aber hungerte lieber, als 
daß es am Gummipfropfen sog, es kränkelte dem Tode entgegen, bis 
ein Arzt die Mutter aus ihrer Antipathie aufrüttelte. Da wurde aus 
der fühllosen Mutter eine besorgte. Eine Amme kam ins Haus und die 
Mutter ließ keine Stunde vergehen, ohne nadi dem kleinen Mädchen 
zu sehen. Das Kind gedieh nun und ist zu einer kräftigen Frau heran- 
gewadisen. Sie wurde der Verzug der Mutter, die bis zu ihrem Tode 
werbend hinter der Tochter herlief. Aber in der Tochter blieb der Haß. 
Ihr Leben ist eine stahlharte Kette der Feindschaft, deren einzelne 
Glieder von der Rathe geschmiedet sind. Sie hat die Mutter gequält, 
so lange sie lebte, sie ist vom Sterbebett der Mutter fortgereist, sie 
verfolgt, ohne daß sie es weiß, jeden, der an die Mutter erinnert, und 
sie wird bis an ihr Lebensende den Neid behalten, den ihr der Hunger 
eingeflößt hatte. Sie ist kinderlos. Menschen, die ihre Mutter hassen, 
sind kinderlos, und das ist so wahr, daß man bei unfruchtbaren Ehen 
ohne Weiteres annehmen kann, einer von beiden Teilen ist Feind seiner 
Mutter. Wer seine Mutter haßt, der fürchtet sidi vor dem eigenen Kind; 
denn der Mensch lebt nach dem Satz: Wie du mir, so ich dir. Dabei 
wird sie verzehrt von dem Wunsche, ein Kind zu gebaren. Ihr Gang 
ist der einer Sthwangeren, wenn sie einen Säugling sieht, schwellen 



ihre Brüste, und wenn ihre Freundinnen sdiwanger werden, bekommt 
sie einen dicken Bauch. Jahrelang ist sie, die vom Leben und Reichtum 
verwöhnte, tägLch als Hilfsschwester in eine Entbindungsanstalt ge- 
gangen, hat die Kinder gereinigt, Windeln gewaschen und Wödineriniien 
versorgt und in wahnsinniger Begierde die Neugeborenen, verstohlen 
wie eine Verbrecherin, an ihre milchlosen Brüste gelegt. Aber sie hat 
zweimal Männer geheiratet, von denen sie vorher wußte, daß sie 
zeugungsunfähig waren. Sie lebt vom Haß, der Angst, dem Neid und 
der lüsternen Qual des Hungerns nadi Unerreichbarem. 

Da ist eine Andere, die hungerte auch in den ersten Tagen nadi 
der Geburt. Sie hat sich nie entsciiließen können, sidi den Haß gegen 
die Mutter einiogestehen. aber das Gefühl, die früh verstorl>ene Mutter 
gemordet zu haben, quält sie unablässig, so irrsinnig dieser Gedanke 
ihr auch sdieint. Denn diese Mutter starb während einer Operation, 
von der das Mädchen vorher nidits wußte. Seit vielen Jahren sitzt sie 
einsam und krank in ihrem Zimmer, nährt sidi von Haß gegen alle 
Mensdien, sieht niemanden, meidet und haßt. 

Was mich selbst betrifft, so ist schließlich die Amme gekommen 
und sie ist drei Jahre bei uns im Hause geblieben. Haben Sie sich 
schon einmal mit den Erlebnissen eines kleinen Kindes besdiäftigt, das 
von der Amme genährt wird? Die Sache ist etwas kompliziert, 
wenigstens wenn das Kind von der Mutter geliebt wird. Da ist eine 
Matter, in deren Leibe hat man neun Monate gesessen, sorglos, warm 
und in' allen Freuden. SoUte man sie nicht lieben? Und dann ist da 
ein zweites Wesen, an dessen Brust man taglicJi Hegt, deren Milch 
man trinkt, deren warme frisdie Haut man fühlt und deren Genich 
man einatmet. Sollte man sie nicht heben? Zu wem aber soU man 
halten? Der Säugling, der von der Amme gestillt wird, ist in den 
Zweifel hineingestellt und wird den Zweifel nie verlieren. Seine Qaubens- 
fähigkeit ist im Fundament ersdiüttert und das Wählen zwisdien zwei 
MÖglidikeiten ist für ihn sdiwerer als für Andere. Und was kann einem 
solchen Menschen, dessen Gefühlsleben man von Beginn an halbiert 
hat, den man um die volle Kraft der Leidensdiaft betrügt, das Wort 



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alma mater anderes sein als ein Hohn und eine Lüg^e? Das Wissen 
aber wird ihm von vornherein unfruchtbar erscheinen. Er weiß, die eine 
dort, die dich oidit nährt, ist deine Mutter und sie beansprut^t didi 
als ihr Eigentum, die andere aber nährt dich und doch bist du nitiit 
ihr Kind. Man steht vor einem Problem, das sich durdi Wissen niAt 
löseu läßt, vor dem man fliehen muß, gegen dessen aufdringliche Frage 
man am besten in das Reich der Phantasie flüchtet. Und wer in diesem 
Reidi heimisch ist, erkennt irgendwann einmal, daß alle Wissensdiaft 
nichts anderes ist als eme Abart der Phantasie, ein Spezialfach sozu- 
sagen, mit allen Vorzügen und mit allen Gefahren der Spezialität aus- 
gestattet. 

Es gibt auch Menschen, die sich im Reich der Phantasie nicht 
heimisch fühlen, und von einem soldien will ich Ihnen kurz berichten. 
Er sollte nicht geboren werden, wurde aber doch geboren, trotz Vater 
und Mutter. Da versiegte die Mildi der Frau und eine Amme kam 
ins Haus. Das Sohnchen wudis inmitten seiner glücklicheren Geschwister, 
die an der Mutterbrust lagen, heran, aber er blieb zwischen ihnen 
ein Fremdling, sowie er auch den Eltern fremd blieb. Und ohne es zu 
wollen oder auch nur zu wissen, hat er allmählidi die Bande zwischen 
den Htern gesprengt. Sie sind unter dem Druck halbbewußter Schuld, 
die fremden Augen aus der seltsamen Behandlung des Sohnes deutlich 
wurde, vor einander geflohen und wissen nichts mehr von einander. 
Der Sohn aber wurde ein Zweifler, sein Leben wurde halb. Und weil 
er nicht wagte, phantastisch zu ^sein, — denn er sollte ein ehrbarer 
Mensch werden, und seine Träume waren die des ausgestoßenen 
Abenteurers, — begann er zu trinken, ein Sdiicksal, das Manchem 
begegnet, der in den ersten Lebenswochen Liebe entbehren mußte. 
Aber wie alles, ist auch die Trunksucht bei ihm halb. Nur zeitweise, 
für einige Wochen oder Monate kommt es Über ihn, daß er trinken 
muß. Und weil ich ein wenig seinen Irrgängen nachgespürt habe, weiß 
ich, daß immer diese kindische Ammensadie auftaucht, ehe er zum 
Glase greift. Das gibt mir die Gewißheit, daß er genesen wird. Und 
nun etwas Seltsames: dieser Mann wählte ein Mädchen zum Weibe, 



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das ebenso tief im Haß geg-en die Eltern steckt wie er, das ebenso wie 
er kindernärrisch ist und doch das Kindcrkrieg-en wie den Tod fürditet. 
Und weil das seiner zerrissenen Seele noch keine Sicherheit gab, ob 
ihm nicht doch ein Kind geboren werden könnte, das ihn strafte, 
erwarb er sich eine Ansteckung- und gab sie seinem Weibe weiter. Es 
stedct im Menschenleben viel unbekannte Tragik! 

Mein Brief ist zu Ende. Aber darf idi die Geschidite meiner 
Amme weiter erzählen? Ich besinne mich nicht mehr, wie sie aussah, 
weiß nichts mehr als ihren Namen: Berta, die Glänzende. Aber idi 
habe eine deutliche Erinnerung an den Tag, an dem sie wegging. Sie 
schenkte mir zum Abschied einen kupfernen Dreier und ich weiß genau, 
daß ich, statt wie sie wollte, Zuckerzeug dafür zu kaufen, mich auf die 
steinerne Treppe der Küche setzte und das Dreierstück auf den Stufen 
rieb, damit es glänzte. Seitdem hat mich die Zahl drei verfolgt. Wörter 
wie Dreieinigkeit, Dreibund, Dreieck, halien etwas Anrüchiges für midi 
und nicht nur die Wörter, auch die Begriffe, die damit verbunden sind, 
ja ganze Ideenkomplexe, die ein eigensinniges Knabengehiru darum 
herum gebaut hat. So ist der heilige Geist als Dritter schon in früher 
Kindheit von mir abgelehnt worden, die Lehre von den Dreiecks- 
konstruktionen ist mir in der Schule eine Plage gewesen und die einst viel- 
gepriesene Dreibundspolitik wurde von mir von vornherein getadelt. 
Ja, die Drei ist eine Art Sdiicksalszahl für mich geworden. Wenn ich 
mein Gefühlsleben rückschauend betrachte, so sehe ich, daß ich, so oft 
mein Herz sprarfi, als Dritter in ein bestehendes Neigungsverhältnis 
zweier Mensehen eingedrungen bin, daß ich stets den Einen, dem 
meine Leidenschaft galt, von dem Anderen getrennt habe, und daß 
meine Neigung erkaltete, sobald mir das gelungen war. Ja, ich kann 
verfolgen, wie ith, um diese schwindende Neigung am Leben zu er- 
halten, von neuem einen Dritten zugezogen habe, um ihn wieder zu 
verdrängen. So sind in einer und gewiß keiner unwichtigen Richtung 
die Affekte des Doppel Verhältnisses ru Mutter und Amme und der 
Kampf des Abschiedes ohne Absicht, ja, ohne Wissen von mir wieder- 
holt worden; eine nachdenklidie Sache, die zum mindesten zeigt, daß 

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in der Seele eines dreijährigen Kindes seltsam verworrene und doch 
einheitlich gerichtete Dinge vor sich gehen. 

Idi habe meine Amme später — etwa mit adit Jahren — nodi 
einmal für wenige Minuten wiedergesehen, Sie war mir fremd und ich 
hatte ein schweres Gefühl des Bedrücktseins in ihrer Gegenwart. 

Von dem Wort Dreier muß ich nodi zwei kleine Geschichten er- 
zählen, die Bedeutung haben. Als mein älterer Bruder anfing, Latein 
zu lernen, fragte ihn mein Vater beim Mittagessen, was die Träne 
heiße. Er wußte es nidit; aus irgend einem Grunde hatte idi mir das 
Wort lacrima vom Abend vorher, als Wolf seine Vokabeln laut 
memorierte, gemerkt und beantwortete nun an seiner statt die Frage. Ich 
bekam zum Lohn ein Fünfgrosdienstück. Nach Tisch aber boten mir 
meine beiden Brüder an, dieses Fünfgroschenstück gegen einen blank- 
geputzten Dreier einzutauschen, was ich mit Freuden tat. Neben dem 
Wunsch, die überlegenen Knaben ins Unredit zu setzen, müssen dumpfe 
Gefühlserinnerungen mitgesprochen haben. — Wenn Sie es wünschen, 
erzähle ich Ihnen später einmal, was das Wort lacrima und Träne für 
mich bedeutete. 

Das zweite Ereignis bringt mich in heitere Stimmung, so oft idi 
daran denke. Ein Mensdienalter später habe idi für meine Kinder ein 
kleines Stück geschrieben, in dem eine vertrocknete, dürre, alte Jungfer 
vorkommt, ein gelehrtes Wesen, das griechischen Unterricht gibt und 
weidlich verlacht wird. Und diesem Kind meiner Phantasie, brüstelos 
und kahl wie sie war, gab ich den Namen Dreier. So hat die Flucht 
vor dem ersten unerinnerbaren Abschiedsschmerz aus dem leben- und 
Uebestrotzenden Mädchen, das mich stillte und an dem ich hing, das 
Abbüd dessen gemacht, was mir die Wissenschaft ist. " 

Es ist wohl ernst genug, was ich Ihnen schrieb, ernst für midi. 
Aber ob es das ist, was Sie für unsem Briefwechsel wünschen, wbsen 
die Götter. Sei dem wie ihm sei, ich bin wie immer Ihr ganz getreuer 

PATRIK TROLL. 



2. 
LIEBE FREUNDIN, SIE SIND NICHT ZUFRIEDEN; ES IST ZU 

viel Persönliches in meinem Brief; und Sie wollen mich oKjelctiv haben. 
Idi g-laubte, ich sei es gewesen. 

Lassen Sie uns sehen: ich schrieb über Berufswahl, Ahneigung-en 
und inneren Zwiespalt, der von Kindheit an besteht. Allerdings sprach 
ich von mir selber; aber diese Elrleboisse sind typisdi. Übertragen Sie 
sie auf andere MenscJien, so wissen Sie über Vieles Bescheid. Vor 
Allem das Eine wird Ihnen klar, daß unser Leben auch von Kräften 
regiert wird, die nicht offen zu Tage liegen, die erst mühsam aufge- 
sucht werden müssen. Ich wollte an einem Beispiel, an meinem Beispiel 
zeigen, daß sehr Vieles in uns vorgeht, was außerhalb unseres ge- 
wohnten Denkens liegt. Aber vielleicht sage ich Ihnen besser gleich, 
was ich mit meinen Briefen beabsichtige. Sie können dann entsdieiden, 
ob der Gegenstand ernst genug ist. Wenn ich einmal in Klatsch oder 
in Redensarten versinke, sagen Sie es; dann ist uns Beiden geholfen. 

Idi bin der Ansicht, daß der Mensdi vom Unbekannten belebt 
wird. In ihm ist ein Es, irgend ein Wunderbares, das Alles, was er 
tut und was mit ihm gesdiieht, regelt. Der Satz „idi lebe" ist nur 
bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphanomen von der Grund- 
wahrheit aus: Der Mensch wird vom Eis gelebt. Mit diesem Es werden 
sich meine Briefe beschäftigen. Sind Sie damit einverstanden? 

Und nun noch eins. Wir kennen von diesem Es nur das, was 
innerhalb unseres Bewußtseins liegt. Weitaus das Meiste ist unbetret- 
barcs Gebiet. Aber wir können die Grenzen unscrs Bewußtseins durch 
Forschung und Arbeit erweitern und wir können tief in deia Unbe- 
wußte eindringen, wenn wir uns entsdiließen, nicht mehr wissen zu 
wollen, sondern zu phantasieren. Wohlan, mein s<iiöner Doktor Faust, 
der Mantel ist zum Flug bereit. Ins Unbewußte . . . 

Ist es nicht merkwürdig, daß wir von unsem drei ersten Lebens- 
jahren nithts mehr wissen? Hie und da kramt einer noch eine schwadie 
Erinnerung an ein Gesicht, eine Türe, eine Tapete oder sonst irgend 
etwas aus, was er in seiner frühesten Kindheit gesehen haben will. 

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Aber ich habe nodi nie Jemanden getroffen, der sich an seinen ersten 

Schritt erinnert hätte oder an die Art, wie er sprechen, essen, sehen, ' 

hören gelernt hat. Und das alles sind doch Erlebnisse. Ich könnte mir 

vorstellen, daß ein Kind, wenn es zum ersten Med durch die Zimmer 

rutscht, tiefere Eindrücke bekommt als ein Erwadisener durch eine 

Reise nach Italien. Idi könnte mir vorstellen, daß ein Kind, das zum 

ersten Mal erkennt, der Mensch dort mit dem gütigen Lächeln ist die 

Mutter, tiefer davon ergriffen wird, als ein Mann, der seine Geliebte 

heimführt. Warum vergessen wir das alles? " 

Dcu^uf läßt stdi Vieles sagen; aber eine ELrwagung muß erst er- 
ledigt werden, ehe man an die Antwort gehen kann. Die Frage ist 
falsch gestellt. Wir vergessen jene drei ersten Jahre nicht, die Er- 
innerung daran scheidet nur aus unserem Bewußtsein aus, im Unbe- 
wußten lebt sie fort, bleibt sie »o lebendig, daß alles, was wir tun, aus 
diesem unbewußten Erinnerungsschatze gespeist wird; wir gehen, wie 
wir es damals lernten, wir essen, wir spredien, wir empfinden in der 
Art, wie wir es damals taten. Eis gibt also Dinge, die vom Bewußtsein 
verworfen werden, obwohl sie lebensnotwendig sind, die, weil sie not- 
wendig sind, in Regionen unseres Wesens aufbewahrt werden, die 
man das Unbewußte genannt hat. Warum aber vergißt das Bewußt- 
sein Erlebnisse, ohne die der Mensch nicht bestehen kann? 

Darf ich die Frage offen lassen? Id» werde sie noch oft stellen 
müssen. Aber jetzt liegt mir mehr daran, von Ihnen als Frau zu er- 
fahren, warum die Mütter so wenig von ihren eigenen Kindern wissen, 
warum auA sie das Wesentlidie dieser drei Jahre vergessen. Vielleicht 
tun die Mütter auch nur so, als ob sie es vergäßen. Oder vielleicht 
kommt auch ihnen das Wesentliche nicht zum Bewußtsein. 

Sie werden schelten, daß ich midi wieder über die Mütter lustig 
mache. Aber wie soll ich mir anders helfen? In mir lebt die Sehnsudit. 
Wenn ich trübe bin, ruft mein Herz nach der Mutter und findet sie 
nicht. Soll ich mit Gott und der Welt grollen ? Da ist es besser, über 
sich selbst zu lachen, über dieses Kindsein, aus dem man nie heraus- 
kommt. Denn mit dem Erwat^ensein ist es solch eine Sache; man ist 



b^ 



I 



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es selten, nur auf der Oberfläche, spielt es nur, wie das Kind audi 
Großsein spielt. Sobald wir tief leben, sind wir Kind. Für das Es jibt 
es kein Alter, und das Es ist unser eigentliches Leben. Sehen Sie sidi 
doch den Menschen iu den Aug-enblicken tiefsten Leidens, tiefster 
Freude an: das Gesicht wird kindlidi, die Bewegungen werden es, die 
Stimme bekommt die Biegsamkeit wieder, das Herz klopft wie in der 
Kindheit, die Augen glänzen oder trüben sich. Gewiß, wir suchen das 
alles zu verstecken, aber es ist doch deutlich da und wir bemerken es 
nur nicht ohne Weiteres, weil wir die kleinen Zeichen, die so laut reden, 
an uns selbst ni(iit wahrnehmen wollen und sie deshalb auch bei Anderen 
übersehen. Man weint nicht mehr, wenn man erwachsen ist? Doch bloß, 
weil es nicht Sitte ist, veil irgend ein dummer Teufel es aus der Mode 
brachte. Mir hat es immer Spaß gemacht, daß Ares wie zehntausend 
Männer schrie, als er verwundet wurde. Und daß Adiill Tränen über 
Patroklos vergießt, setzt ihn nur in den Augen des Gernegroß herab. 
Wir heucheln, das Ist das Ganze. Wir getrauen uns nicht einmal, auf- 
richtig zu lachen. Aber das hindert dodi nidit, daß wir, wenn wir 
etwas nicht können, wie Sdjuljungen aussehen, daß wir denselben Aus- 
druckt der Angst haben, den wir aU Knaben hatten, daß uns kleine 
Gewohnheiten des Gehens, Liegena, Sprechens unablässig begleiten 
und Jedem, der es sehen will, sagen: Sieh da, ein Kind. Beobaditen 
Sie Jemanden, der allein zu sein glaubt, sofort kommt das Kind zum 
Vorsdiein, mandimal in sehr komischer Form, man gähnt, man kratzt 
sidi ungeniert am Kopf und Hintern, man popelt gar in seiner Nase 
und — ja es muß gesagt sein — man pupt. Die feinste Dame pupt. Oder 
beobachten Sie Menschen, die ganz versenkt in Irgend eine Tätigkeit, 
in irgend ein Denken sind, schauen Sie sich LJebende an oder Kranke 
oder Greise; sie alle sind hie und da Kinder. 

Wenn man es sich ein wenig zurecht legt, kommt einem das Leben 
wie ein Maskenfest vor, zu dem man sidi verkleidet, vielleidit zehn-, 
zwölf-, hundertmal verkleidet, aber man geht doch hin als das, was 
man ist, bleibt unter der Verkleidung inmitten der Masken, was man 
ist, und geht wieder davon genau so, wie man hinging. Das Leben 

12 



-«PIWJIi- 11 L^ 



beginnt mit dem Kindsein und geht auf tausend Wegen durch das 
Mannesalter hin nach dem einen Ziel, wieder Kind zu werden, und nur 
der einzige Unterschied ist zwischen den Menschen, ob sie kindisch 
werden oder kindlich. 

Dasselbe Phänomen, daß in uns etwas ist, das nach eigenem Be- 
lieben in allen möglidien Altersstufen auftritt, können Sie audi bei 
Kindern sehen. Das Greisenhafte im Saughngsantlitz ist bekannt und 
oft besprochen. Aber gehen Sie über die Straße und sehen Sie sich 
die kleinen drei-, vierjährigen Maddien an, — bei ihnen ist es deutUcher 
cds bei den Knaben, wofür sich wolil ein Grund angeben ließe ; — sie 
sehen mitunter aus, als ob sie ihre eigenen Mütter wären. Und zwar 
alle, nicht nur hie und da eine, die früh vom Leben angefaßt ist, nein, 
eine Jede und ein Jeder hat diesen seltsam alten Ausdruck zu Zeiten. 
Da ist eine, die hat den zänkisciien Mund der verbitterten Frau, dort 
eine, deren Lippen die Neigung zum Klats<ii verraten, dort wieder 
sehen Sie die alte Jungfer und dort die Kokette. Und dann, wie oft 
sieht man die Mutter schon im kleinsten Kinde. Es ist nicht Nadi- 
ahmung allein, es ist das Es, das waltet. Das wird zuweilen Herr über 
das Alter, verfügt darüber, wie wir dieses oder jenes Kleid anziehen 

Vielleidit ist es auch Neid, der mich über die Mutter spotten läßt, 
Neid, daß ich nicht selbst Weib bin und Mutter werden kann. 

Ladien Sie nur nicht, es ist wirklich wahr und nicht nur mir geht 
es so, sondern tdlen Männern, selbst denen, die sich gar männlich vor- 
kommen. Die Sprache beweist es schon, der männlidiste Mann sdieut 
sich nicht zu sagen, daß er mit dem oder jenem Gedanken sdiwanger 
geht, er spridit von seinem Geisteskinde und nennt die mühevoll be- 
endete Tat eine sdiwere Geburt. 

Und das sind nicht nur Wortklänge. Sie sdiwören ja auf die 
Wissenschaft. Nun, daß der Mensch aus Mann und Weib entsteht, ist 
dodi wohl eine wissenschaftlich begründete Tatsache, wenn man sie 
auch nicht im Denken und Reden berücksichtigt, wie das so oft bei 
einfachen Wahrheiten vorkommt. Also ist im Wesen, das sich Mann 
nennt, Weib vorhanden, im Weibe Mann und an der Idee des Mannes, 

13 



ein Kind zu bekommen, ist das einzig Seltsame, daß sie hartnäckig 
g-eleug^net wird. Aber das Leugnen tut dem Geschehen keinen Abbruch. 
Diese Mischung von Mann und Weib ist manchmal vcrhäng^nisvoU, 
Es gibt Menschen, deren Es im Zweifel stecken bleibt, die alles von 
zwei Seiten sehen, die Sklaven eines doppelten Kindheitsein drucks sind. 
Als solche Zweifler nannte ich Ihnen die Ammenkinder. Und talsächlich 
alle vier, von denen ich Ihnen berichtete, besitzen ein Es, das zu Zeiten 
nicht weiß, ist es Mann oder Weib. Von mir wissen Sic längfst aus 
eig-enen Erinnerungen, daß mir der Baudi unter irgend einem Eindruck 
anschwillt und daß er plötzlich zusammensinkt, wenn ich Ihnen davon 
erzähle. Sie wissen au<^, daß ich es meine Schwangerschaft nenne. 
Aber Sie wissen nicht — oder erzählte ich es Ihnen schon? — gleich- 
gültig; hier erzähle ich es nochmals. Vor beinah zwanzig Jahren wudis 
mir ein Kropf am Halse. Ith wußte damals noch nicht, was ich jetzt 
weiß oder zu wissen glaube. Genug, ich lief zehn Jahre lang mit einem 
dicken Hals durch die Welt und habe mich damit abgefunden, dies 
Ding vor meiner Kehle mit ins Grab zu nehmen. Dann kam die Zeit, 
wo ich das Es kennen lernte, und idi sah ein — auf welchem Wege ist 
nicht nennenswert — , daß jener Kropf ein phantasiertes Kind tei. Sie 
haben sidi selbst gewundert, wie ich jenes monströse Ding los werden 
konnte, ohne Operation, ohne Behandlung, ohne Jod und Thyreoiden. 
Ich bin der Ansidit, daß der Kropf verschwand, weil mein Es einsehen 
lernte und mein Bewußtsein einsehen lehrte, daß ich wirklich wie 
jeder Mensch ein doppeltes Geschlechtswesen und -leben habe, daß es 
unnötig ist, das handgreiflich durch eine Geschwulst zu beweisen. Weiter, 
jene Frau, die ohne Not im Wöchnerinnenheim die Wonne fremder Ent- 
bindungen genoß, hat Zeiten, in denen ihre Brüste ganz verkümmern; 
dann wacht in ihr das Mannsein auf und treibt sie unwiderstehlid» 
dazu, im Liebesspiel den Mann unter sich zu legen und auf ihm zu 
reiten. Das Eis der dritten, jener Einsamen ließ zwischen ihren Schenkeln 
ein Gewächs entstehen, das wie ein Schwänzchen aussah, und — seltsam 
zu denken — sie pinselte es mit Jod, wie sie glaubte, um es zu be- 
seitigen, in Wahrheit um dem Kopf des Gebildes den roten Schein 

14 



-MOT^* 



^ 



der Eiche! zu geben. Dem letzten Ammenkind, das ich erwähnte, gelit 
es wie mir, .ihm schwillt der Bauch in phantastischer Sdiwang-ersdiaft. 
Und dann hat er Gallenkoliken, Entbindungen, wenn Sie wollen, vor 
allem aber hat er mit dem Blinddarm zu tun — wie alle, die gern 
kastriert werden, Weih werden wollen ; denn das Weib entsteht — so 
glaubt das kindisdie Es, — aus dem Mann durdi Absdineiden der 
Geschlechtsteile. Drei Anfälle von Blinddarmentzündung kenne idi bei 
ihm. Bei sillen dreien ließ sich der Wunsdi, Weib za sein, nachweisen. 
Oder habe ich ihm den Wunsch nur eingeredet, Weib zu sein? Das 
ist schwer zu sagen. " '4 

Ich muß Ihnen noch von einem fünften Ammenkind erzählen, einem * 

mit Talent reich begabten Manne, der aber als Wesen mit zwei Müttern 
in allem halb ist und der Halbheit mit Pantopon Herr zu werden sucht. 
Aus Aberglauben, behauptet die Mutter, hat sie ihn nidit genährt; , 

zwei Söhne waren ihr gestorben, diesen dritten hat sie nidit an die 
Brüste gelegt. Elr aber weiß nicht, ob er Mann oder Weib ist, sein 
Es weiß es nicht. In früher Kindheit wurde das Weib in ihm lebendig, 
da lag er lange krank an einer Herzbeutelentzündung, einer phanta- 
sierten Herz Schwangerschaft. Und später hat sich das wiederholt als 
Brustfellentzündung und homosexueller uQwiderstehlidier Zwang. 

Lachen Sie ruhig über mein abenteuerliches Marchenerzählen. Ich 
bin gewöhnt, verlacht zu werden, und habe es gern, mich ab und zu 
von Neuem dagegen abzuhärten. 

Darf ich Ihnen noch eine kleine Geschichte erzählen? Ich habe sie 
von einem Mann, der längst begraben ist, vom Krieg verschlungen. 
Er ist fröhlich in den Tod hineingesprungen, denn er gehörte zu dem 
Typus der Helden. Er erzählte davon, wie der Hund seiner Schwester, 
ein Pudel, eines Tages, er mochte damals siebzehn Lebensjahre zählen 
sich an seinem Beine gerieben, onaniert habe. Er habe interessiert 
zugesehen, als dann aber der Samen über sein Bein geflossen sei, 
habe ihn plötzlich die Idee gepackt, daß er nun junge Hunde ge- 
bären werde, und diese Idee sei ihm Wodien und Monate lang nach- 
gegangen. 

15 



Wenn Sie Lust halten, könnten wir uns jetzt ein wenig ins 
Märdienland hegeben, von den Königinnen sprechen, denen statt der 
echten Söhne neugeborene Hunde in die Wiege gelegt werden, und 
könnten daran allerlei Betrachtungen über die seltsame Rolle knüpfen, 
die der Hund im verscliwiegenen Leben des Mensdien spielt, Be- 
trachtungen, die ein helles Licht auf den pharisäischen Absdieu des 
Menschen vor perversem Empfinden und Handeln werfen. Aber viel- 
leicht wäre das ein wenig zu intim. Bleiben wir lieber bei der Sdiwanger- 
sc^aft des Mannes. Sie ist recht häufig. 

Das Auffällige bei einer Schwangeren ist der dicke Bauch. Was 
sagen Sie dazu, daß idi vorher behauptete, auch beim Manne sei der 
dicke Bauch als Scliw an ger Schaftserscheinung zu deuten? Selbstverständ- 
lich hat er nicht wirklich ein Kind im Leib. Aber sein Es sdiafft sich 
diesen dicken Bauch an, durch Essen, Trinken, durch Blähungen oder 
sonstwie, weil es sdiwanger zu sein wünscht und infolgedessen schwanger 
zu sein glaubt. Es gibt symbohsdie Schwangerschaften und symbolische 
Geburten, sie entstehen im Unbewußten und dauern mehr oder weniger 
lange, sie verschwinden aber unbedingt, wenn die unbewußten Vor- 
gänge in ihrer symbolischen Bedeutung aufgedeckt werden. Das ist 
nicht ganz einfach, aber hie und da gelingt es, namentlich bei Auf- 
treibungen des Bauches durch Luft oder bei irgend welclien symboli- 
schen Entbindungsschmerzen in Leib, Kreuz, Kopf. Ja, so sonderbar 
ist das Es, daß es sich gar nicht um die anatomisch-physiologisdie 
Wissenschaft kümmert, sondern selbstherrlich die alte Sage von Athenes 
Geburt aus dem Haupt des Zeus wiederholt. Und ich bin Phantast 
genug anzunehmen, daß dieser Mythus — ähnlich wie andere — dem 
Walten des Unbewußten entsprungen ist. Der Ausdruck, mit Gedanken 
schwanger gehen, muß wohl tief drin im Menschen sitzen, ihm be- 
sonders wichtig sein, daß er ihn zur Sage umgestaltet hat. 

Selbstverständlidi kommen soldie symbolisdie Sdiwangerschaflen 
und Geburtswehen audi bei gebärfähigen Frauen vor, vielleidit sind 
sie bei ihnen noch häufiger; sie entstehen aber ebensogut bei alten 
Frauen, scheinen sogar während und nach dem Klimakterium eine große 









J 



RoBe in den versdiiedensten Krankheitsformen zu spielen; ja, auch 
Kinder geben sich mit solchen Phantasiefortpflanzun^en ab, selbst 
solche, von denen ihre Mütter annehmen, sie glaubten an den Storch. 
Soll ich Sie noch ein wenig mehr durch abenteuerliche Behauptungen 
argern? Soll ich Ihnen sagen, daß auch die Nebenerscheinungen der 
Gravidität, die Übelkeit, die Zahnschmerzen — ab und zu — symbolische 
Wurzeln haben? Daß Blutungen aller Art, vor allem natürlich unzeit- 
gemäße Gebärmutterblutungen, aber auch Blutungen aus Nase, After, 
Lungen, in engem Zusammenhang mit Geburtsvorstellungen stehen? 
Oder daß die Plage der kleinen Mastdarmwürmer, die manchen 
Menschen sein ganzes Leben hindurch verfolgt, häufig in der Assozia- 
tion Wurm und Kind ihren Ursprung hat und verschwindet, sobald 
den Würmdien der Nährboden des unbewußten symbolisdien Wunsdies 
entzogen ist? 

Ich kenne eine Frau - sie gehört auch zu den kinderliebenden, 
kinderlosen, denn sie haßt ihre Mutter — die verlor für fünf Monate 
ihre Periode, ihr Leib schwoll an und ihre Brüste, und sie hielt sich für 
schwanger. Eines Tages sprach ich lange mit ihr über den Zusammen- 
hang der Würmer mit Schwangerschaftsideen bei einem gemeinsamen 
Bekannten. Am selben Tage gebar sie einen Spulwurm und in der 
Nacht bekam sie ihr Unwohlsein und der Bauch flachte ab. 

Damit wäre ich schon auf die Gelegenheitsursachen solcher Ge- 
dankenschwangerschaften gekommen. Sie gehören — man kann wohl 
sagen alle — in das Gebiet der Assoziation, von der ich eben als 
Beispiel Wurm und Kind nannte. Meist sind diese Assoziationen sehr 
weitläufig, vielgestaltig und, weil sie aus der Kindheit stammen, nur 
mühsam in das Bewußtsein zu bringen. Aber es gibt auch einfache 
schlagende Assoziationen, die sofort einem Jeden einleuchten. Einer 
meiner Bekannten erzählte mir, daß er in der Nacht vor der Ent- 
bmdung seiner Frau dieses nach seiner Ansicht qualvolle Erlebnis auf 
eine eigentümliche Art auf sich zu nehmen suchte. Er träumte nämlich, 
daß er selbst das Kind bekäme, träumte es in allen Einzelheiten, wie 
er sie bei früheren Geburten kennen gelernt hatte, wachte im Moment, 
2 Groddeck, Das Bud> vom Ei j^ 



1 



als das Kind zur Welt kam, auf und hatte, wenn aucJi nidit ein Kind- 
dicn, doch etwas Lebenswarmes aus sich herausbefördert, wie er es 
seit seiner frühen Knabenzeit nicht mehr getan hatte. 

Nun, das war ein Traum; aber wenn Sie sich bei ihren Freunden 
und Freundinnen umhören, werden Sie zu Ihrer Überraschung ent- 
decken, wie gewöhnlich es ist, daß Ehemänner oder Großmütter oder 
Kinder die Entbindung ihrer Verwandten gleichzeitig am eigenen Leibe 
mit durchmachen. 

So deutliche Beziehungen sind jedoch nicht nötig. Es genügt oft 
der Anblick eines kleinen Kindes, einer Wiege, einer Milchflasche. Es 
genügt audi, bestimmte Dinge zu essen. Sie werden ja selbst genug 
Menschen kennen gelernt haben, die einen aufgetriebenen Leib nach 
Kohl bekommen oder nach Erbsen, Bohnen, nadi Möhren oder 
Gurken. Mitunter stellen sich dann auch Geburtswehen in Gestalt 
von Bauchschmerzen ein, ja die Geburt selbst in der Form des Er- 
brediens oder des Durchfalls kommt zu Stande. Die Verbindungen, 
die das Es, für unsern hodigesdiätzten Verstand töricht genug, im 
Unbewußten macht, sind geradezu lächerlidi. So findet es zum Beispiel 
im Kohlkopf Ähnlichkeiten mit dem Kindskopf, Erbsen und Bohnen 
liegen In ihren Hülsen wie das Kind in der Wiege oder im Mutterleibe, 
Erbsensuppe und Erbsenbrei erinnern es an Windeln, und nun gar 
Möhren und Gurken: Was denken Sie von denen? Sie kommen nicht 
darauf, wenn ich Ihnen nicht helfe. 

Wenn Kinder mit einem Hunde spielen, ihn beobachten und in 
allen seinen Tätigkeiten mit lebhaftem Interesse verfolgen, sehen sie 
zuweilen, daß dort, wo der Apparat für seine kleinen Geschäfte an- 
gebracht ist, ein spitzes rotes Ding zum Vorschein kommt, das wie 
eine Möhre aussieht. Sie zeigen dieses seltsame Phänomen der Mutter 
oder wer gerade in der Nähe ist, und erfahren durch Worte oder ver- 
legenen Blick des Erwachsenen, daß man von so etwas nicht spricht, 
es überhaupt nicht bemerkt. Das Unbewußte hält dann den Eindruck 
fest, mehr oder minder deutlich, und weil es Möhre und des Hundes 
rote Spitze einmal identifiziert hat, bleibt es hartnackig bei der Idee, 

18 



audi die Mohren seien verbotene Dinge, und es antwortet auf das An- 
gebot, sie zu, essen mit Abneigung, Ekel oder mit symbolischer 
Schwangerschaft. Denn auch darin ist das kindliche Unbewußte seltsam 
dumm im Vergleich zu unserem hochgelobten Verstand, daß es glaubt, 
die Keime zum Kinde kamen durdi den Mund, durch Essen in den 
Bauch, in dem sie dann wachsen; etwa wie Kinder auch glauben, daß aus 
einem verschluckten Kirschkern ein Kirschbaum im Leibe wädist. Daß 
aber das rote Ding des Hundes etwas mit dem Kinderkriegen zu tun 
hat, das wissen sie in ihrer dunkeln Kinderunschuld ebenso gut oder 
ebenso verworren, wie daß der Keim zum Brüderchen oder Schwester- 
chen, ehe er in die Mutter hineingeriet, irgendwie und irgendwo in 
dem merkwürdigen Anhängsel des Mannes oder Knaben sitzen muß, 
das so aussieht wie ein an falsdier Stelle angebrachtes Schwänzdien, 
an dem ein Säckchen mit zwei Eiern oder Nüssen hängt und von 
dem man audi nur mit Vorsicht spricht, das man nur beim 
Pipimachen anfassen darf und mit dem zu spielen nur der Mutter 
erlaubt ist. 

Sie sehen, der Weg, der von der Mohrrübe zur Phantasie- 
schwangerschaft führt, ist ein wenig lang und nicht leicht zu finden. 
Wenn man ihn jedoch kennt, weiß man auch, was die Unbekömm- 
lichkeit der Gurken bedeutet, denn die Gurke hat ja außer 
ihrer fatal spaßhaften Ähnlidikeit mit Vaters Glied auch noch in 
ihrem Innern Kerne, die die Keime zukünftiger Kinder sinnig sym- 
bolisieren. 

Idi bin arg weit von meinem Thema abgekommen, aber ich wage 
zu hoffen, daß Sie, liebe Freundin, aus persönlicher Zuneigung zu mir, 
solche verworrene Briefe, wie der heutige einer ist, zweimal lesen. 
Dann wird Ihnen klar werden, was idi mit all meinen Ausführungen 
sagen wollte, daß das Es, jenes Ding, von dem wir gelebt werden, 
auch die Geschlechtsunterschiede nicht ohne weiteres anerkennt, ebenso 
wenig wie die Altersunterschiede. Und damit glaube idi Ihnen wenigstens 
eme Ahnung von der Unvernunft dieses Wesens gegeben zu haben. 
Vielleidit begreifen Sie auch, warum idi mitunter so weibisch bin, ein 

2* 

19 
I 



[Cind gebären xu wollen. Wenn es mir aber niAt gelungen ist, micli 
deutti<:^ zu madien, werde ich das nächste Mal klarer zu sein versuchen. 

Herzlichst Ilir 

PATRIK TROLL. 



3. 

ALSO ICH BIN NICHT KLAR GEWESEN. ES GEHT IN MEINEM 
Brief alles durcheinander, Sie wollen die Dinge hübsch geordnet haben, 
vor allem beiehrende, wissensdiaftliche, feststehende Tatsachen hören 
und ni<ht meine abstrusen Ideen, die teilweise, wie zum Beispiel die 
Geschichte von den dicken Leuten, die schwanger sein sollen, sdion 
beinahe verrückt sind. 

Ja, liebste Freundin, wenn Sie belehrt sein wollen, würde ich Ihnen 
raten, eins von den Lehrbüchern in die Hand zu nehmen, wie sie an 
Universitäten üblich sind. Für meine Briefe gebe ich Ihnen hiermit 
den Schlüssel: was vernünftig oder nur ein wenig seltsam klingt, 
stammt von Professor Freud in Wien und dessen Mitarbeitern; was 
ganz verrückt ist, beanspruche ich als mein geistiges Eigentum. 

Meine Behauptung, die Mütter wüßten nicht mit ihren Kindern 
Bescheid, finden Sie gesucht. Gewiß könne sich auch das Mutterherz 
irren, irre sich wahrscheinlich Öfter, als die Mutter selbst es ahne, irre 
sich sogar zuweilen in den wichtigsten Lebensfragen, aber wenn es 
überhaupt ein sidieres Gefühl gäbe, so sei es die Mutterliebe, dieses 
tiefste aller Geheimnisse. 

Wollen wir uns ein wenig von der Mutterliebe unterhalten? Ich 
gebe nicht vor, dieses Geheimnis, das auch icli für tief halte, lösen zu 
können; doch es läßt sich allerlei darüber sagen, was gewöhnlich nicht 
gesagt wird. Man beruft sich meist auf die Stimme der Natur, aber 
diese Stimme spricht oft eine seltsame Sprache. Man brautht nicht erst 
auf das Phänomen der Abtreibungen einzugehen, die von jeher gang 
und gäbe gewesen sind und die aus der Welt zu schaffen nur irgend- 
wie gewissensgepeinigte Gehirne sicli ausdenken; es genügt schon, eine 
Mutter vierundzwanzig Stunden lang im Verkehr mit ihrem Kinde zu 

20 



beobaditen, man bekommt dann ein gut Teil Gleichgültigkeit, Über- 
druß, Haß zu sehen. Es lebt eben außer der Liebe zum Kinde in 
jeder Mutter auch die Abneigung gegen das Kind. Der Mensch steht 
unter einem Gesetz, das lautet: Wo Liebe ist, da ist auch Haß, wo 
Achtung ist, da ist Veraditung, wo Bewunderung ist, da ist Neid. 
Dieses Gesetz gilt unverbrüchlich und auch die Mütter ma<iien keine 
Ausnahme davon. 

Wußten Sie um dieses Gesetz? Daß es audi für die Mütter gilt? 
Wenn Sie die Mutterliebe kennen, kennen Sie auch den Mutterhaß? 

Ich wiederhole meine Frage; woher kommt es, daß die Mutter 
so wenig von ihrem Kinde weiß? BewTißt weiß? Denn das Unbewußte 
kennt dieses Gefühl des Hasses, und wer das Unbewußte zu deuten 
versteht, wird an der Allgewalt der Liebe irre; er sieht, daß der Haß 
ebenso groß ist wie die Liebe und daß zwischen Beiden die Gleich- 
gültigkeit als Norm steht. Und voller Erstaunen, dem nie endenden 
Gefühle dessen, der sich in das Leben des Es vertieft, geht er den 
Spuren nach, die hie und da von den begangenen Wegen abführen, 
um im rätselhaften Dunkel des Unbewußten zu verschwinden. Vielleicht 
leiten diese leicht und oft übersehenen Spuren zu der Antwort hm, 
warum die Mutter nidits von dem Haß gegen das Kind weiß oder 
nichts wissen will, vielleicht sogar, warum wir alle unsere ersten Lebens- 
jahre vergessen. 

Zunächst, liebe Freundin, muß ich Ihnen erst sagen, worin sich 
diese Abneigung, dieser Mutterhaß zeigt. Denn so ohne weiteres, bloß 
aus Freundschaft, werden Sie es nicht glauben. 

Wenn im Roman, der nadi den Regeln des lesenden Publikums 
gebaut ist, das Liebespaar nadi vielen Fährlichkeiten endlidi vereint ist, 
kommt eine Wendung, daß sie errötend ihren Kopf an seiner breiten 
Brust birgt und ihm ein holdes Geheimnis anvertraut. Das ist sehr 
hübsch; aber im Leben meldet sich die Schwangersdiaft, abgesehen 
von dem Ausbleiben der Periode, auf eine recht eklige Weise, durch 
Übelkeit und Erbrechen; nidit immer, um diesen Einwand gleidi zu 
erledigen, und ich will hoffen, daß die Dichter und DichterinneB in 

21 



ihren Ehen dieses Erbredien der Schwangeren ebensowenig erleben 
wie in ihren Romanen. Aber Sie werden mir zugeben, es ist redit 
häufig. Und die Übelkeit entsteht aus dem Widerwillen des Es gegen 
irgend etwas, was im hinern des Organismus ist, Übelkeit drückt den 
Wunsch aus, dieses Widerwärtige zu entfernen, und Erbredien ist der i 

Versuch, es fortzuschaffen. In diesem Falle also der Wunsch und Ver- 
sucli der Abtreibung. Was sagen Sie dazu? 

Ich kann Ihnen vielleicht spater einmal meine Erfahrungen über 
das Erbredien, wie es außerhalb der normalen Schwan gersdiaft vor- 
kommt, mitteilen, es bestehen da wieder beachtenswerte symbolisdie 
Zusammenhänge, kuriose Assoziationen des Es. Hier mödite idi Sie aber 
darauf hinweisen, daß sich bei diesen Übelkeiten wieder der Gedanke 
meldet, der Keim zum Kinde werde in den Mund der Frau eingeführt, 
und darauf deutet audi das andere Schwange rsdiaftszeichen, das von 
dem Widerwillen der Frau gegen das Kind geschaffen wird, der Zahn- 
schmerz. 

Mit der Erkrankung des Zahns sagt das Es mit der leisen aber 
aufdringlichen Stimme des Unbewußten: Kaue nicht; nimm dich in 
Acht, spuck aus, was Du gern essen möchtest! Nun ist allerdings beim 
Zahnschmerz der Sdiwangeren die Vergiftung durch den Samen des 
Mannes schon Tatsache, aber vielleicht hofft das Unbewußte, mit dem 
bißchen Gift noch fertig zu werden, wenn nur kein neues dazukommt. 
Tatsächlich sucht es auch schon das lebendige Gift der Sdiwängerung 
zu töten, eben durch den Zahnschmerz. Denn — hier kommt wieder 
einmal der völlige Mangel an Logik zum Vorschein, durch den das Es 
sich als tief unter dem denkenden Verstände stehend erweist — das 
Unbewußte verwechselt Zahn und Kind. Für das Unbewußte ist der 
Zahn ein Kind. Ja, wenn idi es mir recht überlege, kann idi diese 
Idee des Unbewußten nidit einmal dumm finden; sie ist nicht alberner, 
als der Gedanke Newton's, der im fallenden Apfel das Weltall sah. 
Und für mich ist es noch sehr fraglich, ob nicht die Assoziation des 
Es Zahn-Kind viel wichtiger und wisse nsdiaftHch fruchtbarer war und 
ist, als Newton's astronomisdie Folgerungen. Der Zahn ist das Kind 

•S2 



des Mundes, der Mund ist die Gebärmutter, in der er wadist, genau 
so wie der FÖtus im Mutterleibe wächst. Sie wissen ja, wie stark 
diese Symbolik im Menschen wurzelt, sonst konnte er nicht auf den 
Ausdruck Gebärmuttermund, Schamlippen g-ekommen sein. 

Der Zahnschmerz ist also der unbewußte Wunsch, daß der Keim 
des Kindes erkranken, sterben soll. Woher ich das weiß? Nun unter 
anderem — es gibt viele Wege zu solchem Wissen — daher, daß 
Erbrechen und Zahnschmerz verschwinden, wenn man der Mutter den 
unbewußten Wunsch nach dem Tode des Kindes zum Bewußtsein 
bringl. Sie sieht dann ein, wie wenig diese Mittel dem Zweck dienen, 
gibt sogar oft genug den von Gesetz und Sitte getadelten Zweck auf, 
wenn sie ihn in seiner krassen Nacktheit vor sich sieht. 

Auch die seitsamen Gelüste und Abneigungen der Frauen in guter 
Hoffnung stammen teilweise von dem Haß gegen das Kind. Jene 
führen auf die Idee des Unbewußten zurück, mit bestimmten Speisen 
den Kindeskeim zu vernichten; diese haben ihren Grund darin, daß 
sie durch irgendweldie Assoziation an das Faktum der Schwangerschaft 
oder der Schwängerung erinnern. Denn so stark ist zu Zeiten die Ab- 
neigung — bei jeder Frau, was ihrer Liebe zu dem kommenden Kind 
keinen Abbrudi tut — so stark ist sie, daß selbst der bloße Gedanke 
daran erdrückt werden soii. 

So geht es ins Unendlidie weiter. Wollen Sie mehr hören? 
Idi spradi vorhin von der Abtreibung, einem Verfahren, das der sitt- 
liche Mensch mit alter nur möglichen Verachtung verwirft — Öffentlich. 
Aber das Vermeiden der Sdiwängerung ist doch, wissenschaftlich be- 
trachtet und im Resultat, dasselbe. Und darüber braudie ich Sie wohl 
nicht aufzuklären, wie gebräudilidi das ist. Auch über die Weise, wie 
man das macht, ist Belehrung nicht nötig. Höchstens lohnt es sich, Sie 
darauf aufmerksam zu machen, daß das Ledigbleiben auch eine Art 
ist, das verhaßte Kind zu vermelden, was sich recht häufig als Grund 
der Ehelosigkeit und Tugend nachweisen läßt. Und wenn denn doch 
einmal die Ehe geschlossen ist, so kann man immer noch versuchen, 
den Mann von sitii abzuschrecken. Es genügt dazu, immer wieder In 

23 



i 



Wort und Tat — oder vielmehr Untätigkeit — zu betonen, welch Opfer 
das Weib dem Manne bringt. Es gibt genug Männer, die diese Dumm- 
heit glauben und voll scheuer Ehrfurcht diese höheren Wesen an- 
staunen, die entsagend den Sdiiimtz des Unterleibs dulden um der 
lieben Kinder und des lieben Mannes Willen. Gottes Gedanken sind 
für den edlen Menschen darin nicht verständlich; aber er will, daß das 
Kind im Sumpf der Schweinerei gezüchtet wird, und also muß man 
sich fügen. Aber zeigen darf man dem Manne, wie man das alles 
verachtet, zeigen muß man es ihm, sonst kommt er gar dahinter, daß 
es m andien Ersatz für seine Liebesbezeugungen gibt, Ersatz, auf 
den man nidit gern verziclitet. Und hat man den Mann erst so weit, 
daß er den armseligen Genuß aufgibt, in der Scheide seines ange- 
trauten Weibes Onanie zu treiben, so kann man ihm tausendfach die 
Schuld für jede sdiledite Stimmung, und für die freudlose Kindheit 
der Sprößlinge, für das Unglück der Ehe zuschreiben. 

Und dann weiter, wozu gibt es Krankheiten ? Besonders Unter- 
leibsleiden? Sie sind in vielen Richtungen angenehm. Da ist zunädist 
die Möglichkeit, das Kind zu vermeiden. Da ist weiter die Genugtuung, 
vom Arzt zu hören, daß man durch den Mann, durch dessen lieder- 
Uches Vorleben krank geworden ist; denn man kann nie genug Waffen in 
der Ehe haben. Da ist vor Allem ~ wenn ich zu inlim werde, bitte ich es 
offen zu sagen — da ist vor Allem die Möglichkeit, einem fremden 
Manne sich zu zeigen. Man erlebt die schönsten Sensationen auf dem 
Untersuchungsstuhl, Sensationen, die so mächtig sind, daß sie das Es 
verführen, Krankheiten in mannigfacher Form hervorzubringen. 

Mir lief kürzlich ein Weiblein über den Weg, das ehrlicher Laune 
war. „Vor Jahren" erzählte sie mir, „sagten Sie einmal, man gehe zum 
Frauenarzt, weil man gern einmal eine andere Hand als die des Ge- 
liebten spüren möchte, ja, man werde zu diesem Zweck wirklich krank. 
Idi bin seitdem nie wieder untersucht worden und nie wieder krank 
gewesen." So etwas zu hören ist hübsch und lehrreich. Und weü es 
Ichrreidi ist, teile ich es Ihnen mit. Denn das Merkwürdige dabei ist, 
daß ich jener Frau die cynisdie Wahrheit nicht mit der Absidit sagte, 

24 



ihr ärztlich zu helfen, sondern um sie zum Ladien zu bringen odfr 
sie zu ärgern. Das Es des Weibleins aber machte ein Heilmittel daraus, 
tat damit eine Arbeit, die weder ich noch sedis andere Ärzte fertig- 
gebradit hätten. Was soll man solchen Tatsachen gegenüber vom 
Helfenwollen des Arztes sagen? Man sdiweige beschämt und denke: 
alle Dinge gehen zum Besten. 

Alles Wesentliche geht audi bei der Gynäkologie außerhalb des 
Bewußtseins vor sich; mit dem Verstände läßt sich der Arzt aussuchen, 
vor dem man liegen will, läßt sich das Wäschestück daraufhin prüfen, 
ob es hübsch genug ist, läßt sich Bidet und Seife braudien, aber sdion 
bei der Art, wie man sich hinlegt, versagt die Absidit und das Un- 
bewußte regiert; und nun gar erst bei der Wahl der Erkrankung, bei 
dem Wunsch, krank zu werden. Das ist lediglich Sache des Es. Denn 
das unbewußte Es, nicht der bewußte Verstand sdiafft die Krankheitei.. 
Sie kommen nicht von außen als Feinde, sondern sind zweckmäßige 
Schöpfungen unseres Mikrokosmos, unseres Es, genau so zweckmäßig 
wie der Aufbau der Nase und des Auges, die ja auch vom Es ge- 
schaffen werden. Oder finden Sie es unmöglich, daß ein Wesen, das 
aus Samenfaden und Ei einen Menschen mit Menschengehirn und 
Menschenherz macht, einen Krebs oder eine Lungenentzündung oder 
eine Gebärmuttersenkung hervorrufen kann? 

Das nur nebenbei zur Erklärung, daß ich nidit etwa annehme, die 
Frau erfinde sich ihr Unterleibsleiden aus Bosheit oder Gier. Das ist 
nicht meine Meinung. Sondern das Es, das Unbewußte zwingt ihr diese 
Erkrankung auf, gegen ihren bewußten Willen, weil das Es gierig ist, 
boshaft ist und sein Recht verlangt. Erinnern sie midi doch gelegentlicJi 
daran, daß idi ihnen etwas darüber sage, wie sich das Es sein Redit 
auf Genuß verschafft, im Guten wie im Bösen. . t 

Nein, meine Meinung von der Macht des Unbewußten und der 
Ohnmacht des bewußten Willens ist so groß, daß ich sogar die simu- 
lierten Ej-krankungen für Äußerungen des Unbewußten halte, daß mir 
das bewußte sidi Krankstellen eine Maske ist, hinter der sidi weite 
und unübersiditlidie Gebiete der dunklen Lebensgeheimnisse verbergen. 

25 



A 



In diesem Sinne ist es für den Arzt gleichgültig:, ob er belogen wird 
oder die Wahrheit hört, wenn er nur ruhig und sachlich die Aussage 
des Kranken, seiner Zunge sowohl, wie seiner Gebärde, wie seiner 
Symptome prüft und daran herumarbeitet, schleclit und recht, wie er 
es vermag. 

Aber icli vergesse, daß ich Ihnen von dem Haß der Mutter gegen 
das Kind erzählen wollte. Und da muß ich noch ein seltsames Ver- 
fahren des Unbewußten erwähnen. Denken Sie an, es kann sein — 
und es ist oft so ~, daß eine Frau sich mit allen Neigungen ihres 
Herzens ein Kind wünscht und doch unfruchtbar bleibt, nicht weil der 
Mann oder sie selbst steril ist, sondern weil eine Strömung im Es ist, 
die hartnäckig dabei bleibt; es ist besser, wenn du kein Kind kriegst. 
Und diese Strömung wird jedesmal, wenn die MÖgliclikeit der Sdiwän- 
gerung gegeben ist, wenn der Same in der Sclieide ist, so mäditig, 
daß sie die Befruchtung verhindert. Sie verschließt etwa den Mutter- 
mund, oder sie läßt ein Gift entstehen, das die Samentierchen umbringt, 
oder sie tötet das Ei, oder wie Sie sich das nun denken mögen. Das 
Resultat ist jedenfalls, daß keine Schwangers clmft zustande kommt, 
lediglich, weil das Es es nicht will. Man könnte fast sagen, weil die 
Gebärmutter es nicht will, so unabhängig sind diese Vorgänge vom 
hehren Gedanken des Menschen. Auch darüber muß ich gelegentlich 
ein Wort sagen. Genug, die Frau bekommt kein Kind, bis — ja, bis 
das Es durdi irgend ein Ereignis, vielleiclit durd» eine Behandlung, 
davon überzeugt wird, daß seine Abneigung gegen die Schwanger- 
schaft irgend ein Rest von kindischen Gedanken aus dem frühesten 
Lebensalter ist. Sie glauben gar nicht, liebste Freundin, was für selt- 
same Ideen bei der Erforschung solcher Verweigerungen der Mutter- 
schaft zum Vorschein kommen. Idi kenne eine Frau, der spukt es in^ 
Kopf herum, daß sie ein doppelköpf iges Kind bekommen werde; durch 
eine Mischung früher Jahrmarktserinnerungen und heißer, das Gewissen 
belastender Gedanken an zwei Männer gleidizeitig. 

Ich nannte die Ideen unbewußt; aber das trifft nicht ganz zu; 
denn diese Frauen, die das Kind ersehnen und alles tun, um lu dem 



26 



Glück cfer Mutter zu gelangen, die nicht wissen, und wenn man es 
ihnen sagt, durchaus nicht glauben wollen, daß sie selbst das Kind 
verweigern, diese Frauen haben ein sdilechtes Gewissen; nicht etwa 
weil sie unfruchtbar sind und deshalb sich verachtet vorkommen; heu- 
tigen Tages wird keine Frau mehr verachtet, weil sie unfruchtbar ist. 
Das schlechte Gewissen verschwindet nicht mit der Schwangerschaft. 
Es verschwindet nur, wenn es gelingt, die verdreckten Herde tief im 
Innern der Seele aufzufinden und zu reinigen, die Giftherde, von denen 
aus das Unbewußte verdorben wird. 

Was für ein mühseliges Geschäft ist es, über das Es zu reden. 
Man sdilägt irgend eine Saite an, und statt eines einzigen Tons er- 
klingen viele, tönen durcheinander und verstummen wieder oder lassen 
neue aufwachen, immer neue, bis ein wüstes Brausen und Heulen 
entsteht, in dem das Gestammel des Sprechens untergeht. Glauben 
Sie mir, über das Unbewußte läßt sich nicht sprechen, nur stammeln 
oder besser nur leise dieses oder jenes andeuten, damit die Höllen- 
brut der unbewußten Welt nicht aus den Tiefen mit wüsten Mißklängen 
hervorbricht. 

Muß ich es noch sagen, daß, was vom Weibe gilt, auch vom 
Manne gegen die Schwangerschaft vorgebracht wird, daß er Jung- 
geselle, Mönch, Keuschheitsschwärmer aus diesem Grunde bleiben 
kann, oder daß er sich irgendwo ansteckt, mit Syphilis, mit Tripper 
und Hodenentzündung, um keine Kinder zu zeugen? Daß er seinen 
Samen unfähig macht, sein Glied nicht zur Erektion kommen läßt, 
und was dergleichen Dinge mehr sind. Glauben Sie nur ja nicht, daß 
ich den Frauen alles aufbürden will. Wenn es so aussieht, ist es nur, 
weil ich selbst Mann bin und deshalb dem Weibe Schuld aufzubürden 
suche, die mich selber drückt; denn auch das ist eine Eigentümlichkeit 
des Es, daß jede Schuld, die denkbar ist, einen Jeden drückt, daß 
er vom Mörder, Dieb, Heuchler und Verräter sagen muß: das bist du 
selber. 

Im Moment spreche ich ja noch vom Haß des Weibes gegen 
das Kind und ich muß eilen, um den Brief nicht allzu sehr zu belasten. 

27 



j. 



Bisher sprach ich von der Verhütung; der Empfängnis. Aber nun be- 
achten sie Folgendes: Eine Frau, die sich ein Kind wünscht, erhält 
während einer Badereise den Besuch ihres Mannes. Sie verkehren 
miteinander und in froher Hoffnung und dumpfer Angst harrt sie der 
nächsten Menstruation. Sie bleibt aus und am zweiten Tage dieses 
Fortbleibens stolpert die Frau über eine Treppenstufe, fällt, und der 
jauchzende Gedanke durchzuckt sie: Jetzt bin ich das Kind wieder 
los. Diese Frau hat ihr Kind behalten, denn der Wunsch des Eis war 
stärker als die Abneigung. Aber wie tausendfach tÖtet ein solches 
Fallen den kaum bt;fruditeten Keim. Lassen Sie sich nur von Ihren 
Bekannten erzählen, in wenigen Tagen haben Sie eine ganze Sammlung 
ähnlicher Vorkommnisse, und wenn Sie, was freilich zwisclien Mens<i\en 
selten ist und erst erworben werden muß, das Vertrauen dieser Freun- 
dinnen haben, werden Sie hören: es war mir lieb, daß es so kam. 
Und wenn Sie tiefer darauf eingehen, werden Sie erfahren, daß un- 
abweisbare Gründe gegen die Schwangerschaft vorlagen, und daß das 
Fallen beabsichtigt war, nicht vom Bewußtsein, versteht sich, sondern vom 
Unbewußten. Und so ist es mit dem Heben, mit dem Gestoßenwerden, 
so ist es mit Allem. Sie mögen es mir glauben oder nicht, es ist noch 
nie eine Fehlgeburt zustande gekommen, die nicht absichtlich aus gut 
erkennbaren Gründen vom Es herbeigeführt worden wäre. Notii nie. 
Das Es treibt in seinem Haß, wenn der die Übermadit gewinnt, das 
Weib dazu, zu tanzen oder zu reiten oder zu reisen oder zu Menschen 
zu gehen, die freundliche Nadeln oder Sonden oder Gifte gebrauchen 
oder zu fallen oder sich stoßen und sich mißhandeln zu lassen oder 
zu erkranken, ja, es kommen komische Sacäien dabei vor, bei denen 
das Unbewußte selber nicht weiß, was es tut. So pflegt die edle Frau, 
die das höhere Leben oberhalb des Unterleibs führt, heiße Fußbäder 
zu brauchen, um schuldlos zu abortieren. Aber das heiße Bad ist für 
den Keim nur angenehm, fördert sein Wadistum. Sie sehen, ab und 
zu lacht das Es über sidi selbst. 

Ich kann zum Schluß nur schwer überbieten, was ich an verruditen 
und verrückten Ansichten heute geschrieben habe. Aber ic^ will es 



# 



28 



doch versuchen. Hören Sie: ich bin der Überzeugung, daß das Kind 
aus Haß geboren wird. Die Mutter hat es satt, dick zu sein und eine 
Last von vielen Pfunden zu tragen, und deshalb wirft sie das Kind 
hinaus, recht unsanft übrigens. Tritt dieser Überdruß nicht ein, so 
bleibt das Kind im Leibe und versteinert; das kommt vor. 

Um gerecht zu sein, muß ich hinzufügen, daß auch das Kind niclit 
mehr im dunkeln Gefängnis sitzen will und seinerseits zur Entbindung 
mithilft. Aber das gehört in anderen Zusammenhang. Hier genügt die 
Feststellung, daß ein übereinstimmender Wunsch von Mutter und Kind 
zur Trennung da sein muß, damit es zur Geburt kommt. 

Genug für heute. Idi bin allzeit Ihr 

PATRIK TROLL. 

4. 

LIEBE FREUNDIN, SIE HABEN RECHT, ICH WOLLTE VON DER 
Mutterliebe schreiben und habe vom Mutterhaß geschrieben. Aber 
Liebe und Haß sind immer gleichzeitig da. Sie bedingen sidi gegen- 
seitig. Und weil von der Mutterliebe so viel geredet wird und Jeder 
damit Bescheid ZU wissen glaubt, hielt ich es für gut, einmal die Wurst 
am andern Zipfel anzuschneiden. Im Übrigen bin ich nicht überzeugt, 
daß Sie sich schon einmal mit der Frage der Mutterliebe anders be- 
schäftigt haben, als sie zu empfinden und einige Redensarten lyrischer 
oder tragischer Art anzuhören oder zu äußern. 

Die Mutterliebe ist selbstverständlich, ist jeder Mutter von vorn- 
herein eingepflanzt, ist ein eingeborenes heiliges Gefühl des Weibes. 
Das mag ja sein, aber midi sollte es doch sehr wundern, wenn die 
Natur sich ohne weiteres auf das weibliche Gefühl verlassen hätte 
oder gar mit Empfindungen arbeitete, die wir Menschen heilig nennen. 
Sieht man näher zu, so lassen sich auch einige, wenn auch gewiß nicht 
alle Quellen dieses Urgefühls finden. Sie haben, sdieint es, mit dem 
so beliebten Fortpflanzungstriebe wenig zu tun. Lassen Sie einmal 
alles bei Seite, was über die Mutterliebe geredet worden ist, und 

29- 



Uk^lMMi 



sehen Sie sich an, was zwischen diesen heiden Wesen, Mutter und 
Kind, vor sich geht. 

Da ist zunächst der Moment der Empfänjjnis, die bewußte oder 
unbewußte EriniieruiiS" an einen selig:«» Aujrcnljlick. Denn ohne dieses 
wahrhaft himmlische Gefühl ~- himmlisch deshalb, weil der Glaube 
an Seligkeit und Himmelreidi letzten Endes damit zusammenhängt — 
ohne dieses Gefühl kommt es zu keiner Empfängnis. Sie glauben das 
nicht und berufen sidi auf die tausendfachen Erfahrungen des verab- 
scheuten Ehebettes, der Vergewaltigungen, der Schwängerungen in 
bewußtlosem Zustand. Aber all diese Fälle beweisen nur, daß das 
Bewußtsein an dem Rausch nicht teilzunehmen braudil; für das Es, das 
Unbewußte beweisen sie gar nichts. Um dessen Empfindungen fest- 
zustellen, müssen Sie sich an die Organe wenden, mit denen es spricht, 
an die Wollustorgane des Weibes. Und Sic würden erstaunt sein, 
wie wenig sich die Sdieidenwände oder die Schamlippen, der Kitzler 
oder die Brustwarzen um den Abscheu des Bewußtseins kümmern. Sie 
antworten auf die Reibung, auf die zweckmäßige Erregung in ihrer 
eigenen Weise, ganz gleich, ob der ■ Geschleditsakt dem denkenden 
Menschen lieb ist oder nidit. Fragen Sie Frauenärzte oder Richter 
oder Verbrecher; Sie werden meine Behauptung bestätigt finden. Sie 
können auch von den Frauen, die ohne Lust empfangen haben, 
die vergewaltigt oder bewußtlos mißbraucht wurden, die richtige Ant- 
wort hören, nur müssen Sie zu fragen verstehen oder besser, Ver- 
trauen erwecken. Erst wenn der Mensch sidi überzeugt hat: der, 
der fragt, ist frei von verachtenden Gedanken, macht wirklich ernst 
mit dem Wort: „Richtet nicht", erst dann öffnet er die Pforten seiner 
Seele ein wenig. Oder lassen Sie sich von diesen geschlechlskalten 
Opfern männlicher Gier ihre Träume erzählen; der Traum ist die 
Sprache des Unbewußten und In ihm laßt sieh mancherlei lesen. Am 
einfadisten ist, Sie gehen mit sich selber zu Rate, ehrlich wie es Ihre 
Gewohnheit ist. Sollte es Ihnen noch niclit aufgefallen sein, daß de 
Mann, den Sie lieben, mitunter nicht fähig ist. eine Erektion zustande 
zu bringen? Wenn er an Sie denkt, steht seine Mannheit so kräftig 

30 



r 



■TKAi 



zur Verfügung, daß es eine Lust ist, und wenn er neben Ihnen ist, < 
sinkt alle Herrlichkeit schlaff zusammen. Das ist ein merkwürdio-es 
Phänomen; es bedeutet, daß der Mann wohl tausendfach und unter 
den seltsamsten Verhältnissen liebesfähig ist, daß er aber unter gar 
keinen Umständen eine Erektion bekommt in Gegenwart einer Frau, 
die diese Erektion verhindern will. Es ist eine von den tief versteckten 
Waffen des Weibes, eine Waffe, die sie unbedenklich braucht, wenn 
sie den Mann demütigen will, oder vielmehr, das Unbewußte der Frau 
braucht die Waffe, so nehme ich an, weil ich nicht gern ein Weib 
solch bewußter Bosheit für fähig halte, und weil es mir wahrscheinlicher 
ist, daß zur Verwendung dieses Fluidums, das den Mann schwächt, 
unbewußte Vorgänge im Organismus des Weibes stattfinden. Mag es 
nun so sein oder so, jedenfalls ist es ganz unmöglich, daß ein Mann 
ein Weib nehmen kann, wenn sie nicht irgenwie einverstanden ist. Sie 
tun gut daran, die Kälte der Frau zu bezweifeln und lieber an ihre 
Rachsucht und unausdenkbar heimtückische Gesinnung zu glauben. 

Haben Sie nie die Phantasie des Vergewaltigtwerdens gehabt? 
Sagen Sie nicbt gleich nein, ich glaube Ihnen doch nidit. Vielleicht 
haben Sie keine Angst wie so viele Frauen, und gerade angebHch 
kalte, allein im Walde oder in dunkler Nacht zu gehen; ich sagte es 
Ihnen schon, Angst ist ein Wunsch; wer sich vor der Notzucht fürchtet, 
wünscht sie. Wahrscheinlich, so wie ich Sie kenne, sdiauen Sie auch 
nitjit unter die Betten und in die Schränke; aber wie viele tun es, ' 
stets in der Angst und in dem Wunsch, den Mann zu entdecken, der 
gewaltig genug ist, sich nicht vor dem Gesetz zu fürchten. Sie kennen 
doch die Geschichte von jener Dame, die, als sie den Mann unter 
dem Bett sieht, in die Worte ausbricht: „Endlich, seit zwanzig Jahren 
warte i«^ darauf." Und wie bezeichnend ist es, daß dieser Mann mit 
einem blanken Messer phantasiert wird, mit dem Messer, das in die 
Sdieide gesteckt werden soll. Nun, über all das sind Sie erhaben. 
Aber Sie waren einmal jünger, suchen Sie nur nach. Sie werden den 
Augenblick finden — was sage id\? den Augenblick — nein, Sie 
werden sid» einer ganzen Reihe von Momenten erinnern, wo es Sie r 

31 



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t; 



■ I 

J 



kalt überlief, weil Sie hinter sidi einen Schritt zu hören glaubten; wo 
Sie plötzlich in der Nadit in irgend einem Gasthaus erwachten mit 
dem Gedanken: habe idi auch die Tür verschlossen ? Wo Sie fröstelnd 
unter die Decke krochen, fröstelnd, weil Sie die innere Hitze abkühlen 
mußten, um nicht zu verbrennen. Haben Sie nie mit Ihrem Geliebten 
gerungen, Notzucht gespielt? Nein? Adi, was sind Sie für eine Törin, 
daß Sie sich um die Freuden der Liebe bringen, und was sind Sie 
für eine TÖrin, daß Sie annehmen, ich glaube Ihnen. Ich glaube nur 
an Ihr schletiites Gedäclitnis und an Ihr feiges Ausweichen vor der 
Selbstkenntnis. Denn, daß ein Weib diesen höchsten Liebesbeweis» 
diesen einzigen, kann man sagen, nidit begehren sollte, ist unmöglich. 
So schön sein, so verführerisch sein, daß der Mann alles Andere ver- 
gißt und nur liebt, das will eine Jede, und die es leugnet, irrt sich 
oder lügt bewußt. Und wenn tdi Ihnen einen Rat geben darf, so suchen 
Sie diese Phantasie in sidi lebendig zu maclien. Es ist nicht gut, mit 
sidi selber Versteck zu spielen. Was gilt die Wette? Schließen Sie 
die Augen und träumen Sie frei, ohne Absicht und Vorurteil! In we- 
nigen Sekunden sind Sie von den Bildern des Traums gefesselt, hin- 
gerissen, so daß Sie kaum wagen, weiter zu denken, weiter zu atmen. 
Da ist das Knacken der Äste, der jähe Sprung und der Griff an die 
Gurgel, das Niederwerfen und das blinde Zerreißen der Kleider, und 
die wahnsinnige Angst. Und nun fassen Sie den Menschen, der rast, 
ins Auge, fest und unbeirrbar. Ist er groß, klein, schwarz, blond, bärtig, 
glatt? Den bannenden Namen! oh ja, idi wußte, daß Sie ihn schon 
kennen. Sie sahen ihn gestern oder ehegestern oder vor vielen Jahren, 
auf der Straße oder der Eisenbahnfahrt oder auf dem Pferd dahin- 
jagend oder beim Tanz. Und der Name, der Ihnen durch den Kopf 
schoß, macht Sie zittern. Denn nie hätten Sie geglaubt, daß gerade 
dieser Mensch Ihre tiefste Begierde weckte. Er war Ihnen gleichgültig? Sie 
verabscheuten ihn? Er war ekelhaft? — Hören Sie docli hin: Ihr Es 
kichert über Sie- — Nein, stehen Sie nicht auf, schauen Sie nicht nach 
Uhr und Schlüsselbund, träumen Sie, träumen Sie! Von dem Märtyrer- 
tum, der Schande, dem Kind in Ihrem Schoß, vom Gericht und dem 

32 



Wiedersehen mit dem Verbrecher in Gegenwart der sdiwarzen Richter 
und von der Qual zu wissen, daß Sie wünschten, was er tat und 
wofür er büßt. Furchtbar, unfaßbar und unentrinnbar fesselnd. — Oder 
ein anderes Bild, wie das Kind geboren wird, wie Sie arbeiten und die 
Hände mit der Nadel zerstechen, während der Kleine sorglos zu Ihren 
Füßen spielt und Sie nicht wissen, wie ihn ernähren. Armut, Not, Elend. 
Und dann kommt der Prinz, der edle, herrlich gute, der Sie liebt, den 
Sie lieben und dem Sie entsagen- Hören Sie nur, wie das Es kichert 
Über die sdiöne Geste. — Und noch ein Bild, wie das Kind in Ihrem 
Leib wächst und mit ihm die Angst, wie es geboren wird und Sie es 
erwürgen, im Teich versenken und wie Sie selbst vor den dunkeln 
Richtern als Mörderin stehen. Auf einmal tut sich die Märchenwelt auf, 
ein Scheiterhaufen wird gehäuft, die Kindesmörderin steht darauf an 
den Pfahl gefesselt und die Flammen lecken an ihren Füßen. Hören 
Sie nur, was das Es flüstert, wie es den Pfahl deutet und das züngelnde 
Feuer und wie es Ihnen zuraunt, wessen Füße es sind, die Ihr tiefstes 
Wesen mit der Flamme verbindet. Ist es nicht Ihre Mutter? — Das 
Unbewußte ist rätselhaft und zwischen Wald, gewaltig und Gewalt 
schlummern Engel und Teufel. 

Nun der bewußtlose Zustand. Wenn Sie Gelegenheit dazu haben, 
sehen Sie sich bitte irgend einen hysterischen Krampfanfedl an. Er wird 
Ihnen klar machen, wie viele Menschen die Bewußtlosigkeit bei sich 
hervorrufen, um die Wollust zu empfinden; gewiß, es ist ein dummes 
Verfahren, aber schließlich ist alle Heudielei dumm. Oder gehen Sie 
in eine chirurgische Klinik, sehen Sie sich ein Dutzend Narkosen mit 
an ; da können Sie merken und hören, wie genußfähig der Mensch 
auch im bewußtlosen Zustand ist. Und dann nochmals, achten Sie auf 
Träume ; die Träume des Menschen sind wunderliche Dolmetscher 
der Seele. 

Nochmals also: ich nehme an, daß eine der Wurzeln der Mutter- 
liebe der Genuß bei der Empfängnis ist. Ich übergehe nun, ohne dadurch 
ihre Wichtigkeit herabsetzen zu wollen, eine Reihe verwickelter Gefühle, 
wie die Neigung zum Manne, die auf das Kind übertragen wird, den 

3 Groddeck, Daa Bud, vom Es 33 



Stolz auf die Leistung; — so merkwürdig- es audi für unsern hoch- 
mögenden Verstand ist, daß man sich auf Dinye etwas einbildet, die 
wie die Schwäng-erung nur vom Es geleistet werden, mit dem. was wir 
als edles Werk anzuerkennen pflegen, also ebenso wenig zu tun haben 
wie Schönheit oder ererbter Reichtum oder große Geistesgaben, das 
Weib ist eben stolz darauf, über Nacht durch so lustige Arbeit ein 
lebendiges Wesen geschaffen zu haben. — Ich rede mdit davon, wie 
die Bewunderung und der Neid der Nächsten zur Ausbildung der 
Mutterliebe verwendet werden oder wie das Gefühl, für ein Lebewesen 
ausschließlich verantwortlidi zu sein — denn an die ausschließliche Ver- 
antwortung glaubt die Mutter gern, wenn es glatt geht, ungern und 
nur vom Schuldbewußtsein gezwungen, wenn es schief geht, — wie dieses 
Gefühl die Neigung zum kommenden Kinde erhöht, das Gefühl großer 
Wichtigkeit, das aus eigenen und fremden Quellen genährt wird; oder 
wie der Gedanke, ein hilfloses Mensdilein zu schützen, mit dem eigenen 
Blute zu nähren — was ja eine beliebte und gegen die Kinder später 
oft verwendete Redensart ist, an die das Weib zu glauben vorgibt, 
obwohl sie die Lüge darin fühlt — wie dieser Gedanke der Mutter 
eine Art Gottähnlidikeit gibt und daher ihr eine fromme Gesinnung- 
gegen das Muttergotteskind einflößt. 

Ich möchte Sie vielmehr auf etwas Einfaches und anscheinend Un- 
bedeutendes aufmerksam machen, nämlich, daß der weibliche Körper 
einen hohlen leeren Raum hat, der durdi die Schwangerschaft, durcJi 
das Kind ausgefüllt wird. Wenn Sie sich vorstellen, wie beunruhigenci 
das Gefühl des Leerseins ist und wie wir beim Sattsein ein „anderer 
Mensdi" sind, ahnen Sie ungefähr, was in dieser Richtung die Schwanger- 
schaft für das Weib bedeutet. Ungefähr, nicht ganz. Denn es handelt 
sidi bei den Unterleihsorganen der Frau nicht nur um ein Gefühl der 
Leere, es ist vor allem die von Kindheit an bestehende Empfindung- 
des Mangels, die bald mehr bald weniger die Seibatachtung des Weibes 
niederdrückt. Zu irgend einer Zeit, jedenfalls sehr früh, sei es durch 
Beobachtung, sei es auf anderem Wege, erfährt das kleine Mädchen, 
daß ihm etwas fehlt, was der Knabe, der Mann besitzt. — Nebenbei 

34 



bemerkt, ist es nicht zu verwundern, daß niemand weiß, wann und wie 
ein Kind die Gesdiieditsuntersdiiede kennen lernt? Obwohl diese Ent- 
deckung-, man könnte sag-en, das wichtigste Ereignis im Menschenleben 
ist. — Das kleine Ding, sage ich, bemerkt dieses Fehlen eines Bestand- 
teiles des Menschen und faßt es als einen Fehler seines Wesens auf. 
Sonderbare Ideengänge knüpfen sich daran an, von denen wir uns 
gelegentlich unterhalten können, die alle das Gepräge der Beschämung 
und des Sdiuldgefühls tragen. Anfangs halt nodi die Hoffnung, der 
Fehler werde sich durch Nadiwachsen ausgleidien, einigermaßen dem 
Gefühl des Niedrigseins die Wage, aber diese Hoffnung erfüllt sidi 
nidit, es bleibt nur das in seiner Begründung immer undeutlicher 
werdende Schuldgefühl und die unbestimmbare Sehnsucht, beides Er- 
scheinungen, die wohl an Klarheit nachlassen, aber an Gefühlskraft 
wachsen. Das geht durch lange Jahre mit in dem tiefen Leben der 
Frau als immer brennende Qual. Und nun kommt der Moment der 
Empfängnis, die Herrlichkeit der Sättigung, das Verschwinden der 
Leere, des verzehrenden Neides und der Stham. Und dann lebt eine 
neue Hoffnung auf, die Hoffnung, daß in ihrem Leibe ein neuer Teil 
ihres Wesens, eben das Kind, wächst, das diesen Fehler nicht haben, 
das ein Junge sein wird. 

Es bedarf eigentlich keines Beweises, daß die Schwangere wünsdit, 
einen Knaben zu gebaren. Wer die Fälle, in denen der Wunsch auf 
ein Mäddien geht, erforscht, der wird manches Geheimnis gerade 
dieser einen Mutter erfahren, die allgemeine Regel aber, daß das 
Weib den Sohn rur Welt bringen will, wird sich ihm bestätigen. Wenn 
idi Ihnen trotzdem von einer persönlichen Erfahrung erzähle, so ge- 
schieht es, weil ein Nebenumstand mir charakteristisch vorkommt und Sie 
vielleicht zum Ladien bringt, zu dem heiteren, göttlichen Lachen, mit 
dem man in der Komik die tiefe Wahrheit begrüßt. Idi habe eines 
Tages die kinderlosen Mädchen und Frauen meiner Bekanntschaft 
gefragt, es waren natürlidi nicht sehr viele, aber doch etwa 15 — 20, 
was sie sich für ein Kind wünsditen. Sie haben edle geantwortet; einen 
Jungen. Aber nun kam das Seltsame. Ich fragte weiter, wie alt sie sich 

'* 35 



wohl diesen Knaben vorstellten und wie sie ihn g-erade in dem Moment 
beschäftigt dächten. Bis auf drei haben sie alle dieselbe Antwort ge- 
gfegeben; zwei Jahre, auf der Wickelkommode liegend und den Strahl 
in hohem Bogen unbekümmert in die Welt spritzend. Von den drei 
Abseitigen gab die eine den ersten Schritt an, die zweite das Spielen 
mit einem Schäfchen und die dritte: drei Jahre, stehend und pinkelnd. 

Verstehen Sie wohl, verehrte Freundin? Da ist eine Gelegenheit 
in die Tiefe des Mensdien zu blicken, für einen kurzen Moment mitten 
im Lachen zu gewahren, was den Mensdien bewegt. Vergessen Sie es 
bitte nicht. Und überlegen Sie sicli, ob hier nicht eine Möglichkeit ist, 
weiter zu fragen und zu erkunden. 

Das Entstehen des Kindes im Unterleib, sein Wachsen und 
Schwererwerden bemächtigt sidi nodi in einer andern Riditung der 
weiblichen Seele, verflicht sidi mit festgewurzelten Gewohnheiten und 
nutzt, um die Mutter an das Kind zu"fesseln, Neigungen aus, die. von 
verstedcten Sdiiditen des Unbewußten aus, das Mensclienherz und das 
Mensdienleben beherrschen. Sie werden beobaditet haben, daß das 
Kind, das auf dem Töpfdten sitzt, nicht gleich willig hergibt, was der 
Erwadisene, dem diese Besdiäftigung weniger Wonne gibt, erst zart 
und nadi und nach immer dringender von ihm verlangt. Wenn Sie 
Interesse dafür haben, dieser absonderlidieii Neigung zur freiwilligen 
Verstopfung, aus der nidit selten eine Lebensgewohnheit wird, nach- 
zugehen, was ja allerdings ein seltsames Interesse ist. so bitte id. Sie 
sid. daran zu erlftnern, daß in dem Unterleib in der Gegend von 
Mastdarm und Blase fein und lüstern tätige Nerven verlaufen, deren 
Reizung artige Gefühle weckt. Sie werden dann weiter daran denken 
Wie oft die Kinder bei Spiel und Arbeit unruhig auf dem Stuhl« 
rutsdien. - vielleidit taten Sie es selbst in Ihrer Kindheit unsdiuldigen 
Tagen, — mit den Beinen wippein und zappeln, bis das verhängnisvoUe 
Wort der Mutter ertönt: „Hans oder Liesel, geh auf das Closet.« 
Warum wohl das? Ist es wirklidi, daß der Knabe, daß das Mädchen 
sidi verspielt haben, wie es Mama in Rücksicht auf eigene längst ver- 
worfene Neigungen nennt, oder daß sie gar zu stark von der Schularbeit 
36 



I 



gefesselt sind? Ach nein, es ist die Wollust, die solches zustande 

bringt, eine eigenartige Form der Selbstbefriedigung, von Kindheit auf 

geübt und bis zur Vollendung spater ausgebildet in der Verstopfung; 

nur daß dann leider der Organismus nicht mehr mit der Wollust 

antwortet, sondern nur, im Schuldgefühl der Onanie, Kopfschmerzen 

oder Schwindel oder Leibweh schafft und wie die tausend Folgen der 

Gewohnheit, sich dauernd einen Druck auf die genitalen Nerven zu 

erhalten, heißen mögen. Ja, und dann fallen Ihnen noch Menschen ein, 

die gewohnheitsmäßig ausgehen, ohne vorher sidi zu entleeren, dann 

auf der Straße von der Not befallen schwere Kampfe durchmachen, bei 

denen sie sich nicht bewußt werden, wie süß sie sind. Nur wem die 

Regelmäßigkeit und der völlige Mangel an Notwendigkeit dieser Kämpfe 

zwischen Menscii und After auffallt, der kommt allmählich zu dem 

Schluß, daß hier das Unbewußte schuldlose Onanie treibt. Nun, ver- 
ehrte Frau, die Schwangerschaft ist solche schuldlose Onanie in noch « | 

viel stärkerer Weise, hier ist die Sünde heÜig. Aber alle heilige Mutter- f 

Schaft verhindert nicht, daß der schwangere Uterus die Nerven reizt ' 

und Wollust bringt. ) 

Sie meinen, Wollust müsse vom Bewußtsein empfunden werden. 1 

Das ist eine falsdie Meinung. Das heißt, Sie können diese Meinung \ 

haben, aber Sie müssen mir verzeihen, wenn ich ein wenig ladie. ■ 

Und da wir nun einmal bei dem heiklen Thema der Wollust sind, \ 

der geheimen, unbewußten, nie deutlich benannten, darf idi auch gleich ''. 

davon sprechen, was die Kindsbewegung für die Mutter ist. Sie ist ' 

ja auch vom Dichter mit Beschlag belegt und rosarot geputzt und zart 

parfümiert. In Wahrheit ist diese Empfindung, wenn man ihr den '\ 

Strahlenkranz der Verklärung nimmt, eben dieselbe, die stets entsteht, » 1 

wenn etwas im Leibe des Weibes bewegt wird. Sie ist dieselbe die ' 

sie vom Manne her kennt, nur jeden Sündengefühles bar, gepriesen J 

statt verworfen. , 

Schämen Sie sich nicht? werden Sie sagen. Nein, ith schäme midi 
nicht, meine Gnädigste, so wenig schäme ich mich, daß ich die Frage 
zurückgebe. Regt sich in Ihnen keine Scham, werden Sie nicht über- 

37 



wältigt von Leid und Sdiam über das menschliche Wesen, das den 
höchsten Wert des Lebens, die Vereinisfung; von Mann und Weib, in 
den Schmutz gezogen hat? Denken Sie nur zwei Minuten darüber 
nach, was diese Wollust zu zweit bedeutet, wie sie Ehe, Familie, Staat 
geschaffen hat, Haus und Hof gegründet, die Wissenschaft, die Kunst, 
die Religion aus dem Nichts hervorgerufen, wie sie alles, alles, alles, 
was Sie verehren, gemacht hat, und wagen Sie es dann nodi, den 
Vergleich zwischen Begattung und Kindsbewegung abscheulich zu finden. 

Nein, Sie sind viel zu verständig, um den Zorn über meine von 
tugendprangenden Kinderwärterinnen verbotenen Worte langer zu 
pflegen, als bis Sie Zeit gefunden haben, sich zu besinnen. Und dann 
werden Sie mir willig weiter zu einer nodi schärfer von Herz- und 
Geistesbildung verpönten Behauptung folgen, daß vor allem die Ent- 
bindung selbst ein Akt der höchsten Wollust ist, dessen Eindruck als 
Liebe zum Kinde, als Mutterliebe weiterlebt. 

Oder reicht Ihre Gutwilligkeit nicht so weit, mir auch das zu 
glauben? Es widerspricht ja aller Erfahrung, der Erfahrung von Jahr- 
tausenden. Nun, einer Erfahrung, und ich halte sie für die Grund- 
tatsache, von der man ausgehen muß, widerspricht sie nicht, das ist 
die, daß immer wieder neue Kinder geboren werden, daß also all die 
Schrecken und Leiden, von denen man seit unvordenklichen Zeiten 
spricht, nic^t so groß sind, um nicht von der Lust, irgend einem Lust- 
gefühl überboten zu werden. 

Haben Sie schon einmal eine Entbindung mit angesehen? Es ist 
eine merkwürdige Sache ; die Kreißende iammert und schreit, aber ihr 
Gesicht glüht in fieberhafter Erregung und ihre Augen haben den 
seltsamen Glanz, den kein Mann vergißt, wenn er ihn einmal in eines 
Weibes Augen hervorgerufen hat. Das sind seltsame Augen, seltsam 
verschleierte Augen, die Wonne erzählen. Und was ist Wunderbares. 
Unglaubliches daran, daß der Schmerz Wollust sein kann, höchste 
Wollust? Nur die Perversions- und Unnaturschnüffler wissen nicht ocier 
geben vor, nicht zu wissen, daß die größte Lust den Schmerz verlang-t^ 
Machen Sie sidi doch frei von dem Eindruck, den der Wehlaut der 

38 



■\ 



^■4 



Gebärenden und die blöden Erzählungen neidischer Gevatterinnen auf 
Sie gemacht haben. Versudien Sie, ehrlidi zu sein. Das Huhn gackert 
audi, wenn es ein Ei gelegt hat. Aber der Hahn kümmert sieh nicht 
anders darum, als daß er von neuem das Weibchen tritt, deren Grauen 
vor dem Schmerz des Eierlegens sich sonderbar in dem verliebten 
Ducken vor dem Herrn des Hühnerhofes äußert. 

Die Sdieide des Weibes ist ein unersatÜidier Molodi. Wo ist denn 
die weibliche Scheide, die damit zufrieden wäre, ein kleinfingerdickes 
Glied in sich zu haben, wenn sie eins haben kann, das stark wie ein 
Kinderarm ist. Die Phantasie des Weibes arbeitet mit mächtigen 
Instrumenten, hat es von jeher getan imd wird es immer tun. 

Je größer das Glied ist, um so höher ist die Wonne, das Kind 
aber arbeitet mit seinem dicken Sdiädcl während der Entbindung im 
Sdieideneingang, dem Sitz der Freude des Weibes, genau wie das 
Glied des Mannes, in derselben Bewegung des hin und her und auf 
und ab, genau so hart und gewaltig. Gewiß er sdimerzt, dieser hödiste 
und deshalb unvergeßliche und stets von neuem begehrte Geschlechts- 
akt, aber er ist der Gipfelpunkt edler weiblichen Freuden. 

Warum aber ist, wenn die Entbindung wirklich ein Wollustakt ist, 
die Stunde der Wehen als Leiden unvergeßlicher Art verschrieen? Ich 
kann die Frage nicht beantworten; fragen Sie die Frauen. Idi kann 
nur sagen, daß ich hie und da einer Mutter begegnet bin, die mir 
sagte ; Die Geburt meines Kindes war trotz aller Schmerzen oder viel- 
mehr wegen all der Schmerzen das Schönste, was i<h erlebt habe. 
Vielleidit darf man das eine sagen, daß die Frau, von jeher zur Ver- 
stellung gezwungen, nie ganz aufrichtig über ihre Empfindungen 
sprechen kann, weil sie das Gebot des Absehens vor der Sünde mit 
auf den Lebensweg bekommt. Woher aber diese Gleidisetzung von 
Geschlethtslust und Sünde kommt, das wird niemals ganz ergründet 

werden. 

Es gibt audi Gedankengange, die sich durch das Labyrinth dieser 
schwierigen Fragen verfolgen lassen. So erscheint es mir natürlich, daß 
ein Mensch, der all sein Leben lang, selbst unter Benutzung der 

39 



Relig-ion, gelehrt worden ist, die Entbindung- ist schrecklich, gefährlich, 
schmerzhaft, selbst daran glaubt, auch über die eigene Erfahrung- 
hinaus. Es ist mir klar, daß eine Menge dieser Schadenerzählungen 
erdacht wurden, um das unverheiratete Mädchen von dem unehelichen 
Verkehr zurückzuschrecken. Der Neid derer, die nicht entbunden werden 
vor allem der Neid der Mutter auf die eigene Tochter, der anheimfäUt] 
was für sie selber längst Vergangenheit ist, spricht dabei mit. Der 
Wunsch, den Mann einzuschüchtern, der erkennen soll, was er der 
Liebsten zu Leide tat, weldies Opfer sie bringt, wie sie Heidin ist, die 
Erfahrung, daß er sich tatsächlich einschüchtern läßt, und aus dem 
mürrischen Tyrannen, wenigstens für eine Zeit, ein dankbarer Vater 
wird, treiben in dieselbe Richtung. Und vor allem die innere Gewalt, 
sich selbst als groß, edel, Mutter zu erscheinen, verführt zur Über- 
treibung, zur Lüge. Und Lüge ist Sünde. Zuletzt aber steigt aus dem 
Dunkel des Unbewußten die Mutterimago empor; denn alles Begehren 
und jede Wollust ist durchtränkt von der Sehnsucht, wieder in den 
Schoß der Mutter zu gelangen, ist gezeitigt und vergiftet von dem 
Wunsche der Geschlechtsvereinigung mit der Mutter. Der Inzest, die 
Blutschande. Ist es nicht genug, um sich sündig zu fühlen? 

Was aber gehen diese geheimnisvollen Grunde uns beide im 
Augenblick an? Ich wollte Sie überzeugen, daß die Natur sidi nicht 
auf die edlen Gefühle der Mutter verläßt, daß sie nicht glaubt, ein 
jedes Weib werde, nur weil sie Mutter wird, das aufopferungsfähige, 
geliebte Wesen, dessen Gleichen wir nicht kennen, die uns nie ersetzt 
wird, und deren Namen zu nennen uns sdion beglückt. Ich wollte Sie 
überzeugen, daß die Natur in tausendfacher Weise die Glut schürt 
deren Wärme uns durch das Leben begleitet, daß sie alles und jedes 
benutzt, - denn was ich sagte, ist nur ein winziger Teil all der 
Wurzeln, aus denen die Mutterliebe wächst, - benutzt, um der Mutter 
jede Moghchkeit zu nehmen, sich von dem Kinde abzuwenden. 
Ist es mir gelungen? Dann würde sich von Herzen freuen 

Ihr alter Freund 

PATRIK TROLL. 

40 



5. 
ICH HABE MICH ALSO NICHT GETÄUSCHT, LIEBE FREUNDIN, 
wenn ich annahm, daß Sie nach und nadi Interesse für das Unbewußte 
bekommen würden. Daß Sie über meine Sucht zu übertreiben spotten, 
bin ich gewöhnt. Aber warum suchen Sie sich dazu gerade meine Ent- 
bindungswollust aus ? In der Sache habe idi Redit. 

Sie haben neuH:^ geäußert, daß Ihnen meine kleinen eingestreuten 
Erzählungen zusagen. „Es macht die Sadie lebendig," meinen Sie, 
„und man ist fast versudit, Ihnen zu glauben, wenn Sie so gediegene 
Tatsachen vorbringen." Nun, ich könnte sie ja auch erfinden oder 
wenigstens frisieren. Das kommt innerhalb und außerhalb der Gelehr- 
samkeit vor. Gut, Sie sollen Ihre Geschichte haben. 

Vor einigen Jahren gebar eine Frau nach längerer Unfruchtbarkeil 
ein Mädchen. Es war eine Steißgeburt, und die Frau wurde im 
Wöchnerinnenheim von einem bekannten Geburtshelfer unter Beihülfe 
zweier Assistenten und zweier Hebammenschwestern in der Narkose 
künstlidi entbunden. Zwei Jahre darauf kam es zu einer zweiten 
Schwangerschaft, und da ich inzwischen mehr Einfluß auf die Frau 
gewonnen hatte, wurde verabredet, bei der Entbindung nichts ohne 
mein Wissen zu tun. Die Schwangerschaft verlief im Gegensatz zu der 
ersten ohne alle Beschwerden. Es wurde beschlossen, die Geburt zu Hause 
vor sidi gehen zu lassen und nur eine Hebammenschwester zuzuziehen. 
Kura vor der Entbindung wurde ich auf Wunsch der Hebammen- 
sdiwester zu der Dame, die in einer anderen Stadt wohnte, gerufen. 
Das Kind läge in Steißlage und was nun geschehen solle. Als ich hin- 
kam, lag tatsächlich das Kind mit dem Steiß voran, die Wehen hatten 
noch nicht begonnen. Die Schwangere war in großer Angst und 
wünschte in die Klinik geschafft zu werden. Ich habe mich zu ihr 
gesetzt, ein wenig in ihren mir schon ziemlich bekannten Verdrängungs- 
komplexen geforscht und ihr schließlldi in glühenden Farben — idi 
denke, Sie wissen, ob mir so etwas gelingt — die Lust der Entbindung 
geschildert. Frau X. wurde vergnügt und ein eigentümlicher Ausdruck 
m den Augen sagte, daß der Funke zündete. Dann sudite idi heraus- 

41 



zubekommen, weshalb das Kind wieder in die Steißlage gfekommen 
war. „Dann ist die Geburt leichter," sagie sie mir. „Der kleine Popo ist 
weich und erweitert den Weg sanfter und gemächlidier als der dicke, 
harte Kopf." Nun habe idi ihr die Geschichte von dem dicken und 
dünnen, harten und schlaffen Instrument in der Scheide erzählt, ungefähr 
so, wie idi es Ihnen neulich beschrieb. Das machte Eindruck, aber es 
blieb noch ein Rest Mißvergnügen. Schließlich sagte sie, sie mochte 
mir ja gern glauben, aber alle Andern hätten ihr so viel Sdireckliches 
von dem Schmerz der Geburt gesagt, daß sie doch lieber narkotisiert 
werden möchte. Und wenn das Kind mit dem Steiß voran läge, würde 
sie betäubt, das wisse sie aus Erfahrung. Also sei die Steißlage doch 
vorzuziehen. Darauf habe ich ihr gesagt, wenn sie so dumm sei, sidi 
durchaus um das höchste Vergnügen ihres Lebens bringen zu wollen, 
so solle sie es nur tun. Icli hätte nichts dagegen, wenn sie sich betäuben 
ließe, sobald sie es nidit mehr aushalten könne. Dazu sei aber die 
Steißlage nicht nötig. „Ich gebe Ihnen die Erlaubnis zur Narkose, audi 
wenn der Kopf vorliegt. Sie sollen selbst darüber entscheiden, ob 
narkotisiert werden soll oder nicht." Damit bin ich abgereist und s(iion 
am nädisten Tage erhielt ich die Nachricht, daß das Kind eine halbe 
Stunde nach meinem Weggehen mit dem Kopf nach unten gelegen 
habe. Die Entbindung ist dann glatt vor sich gegangen. Die Wödinerin 
sdiilderte mir in einem hübschen Brief den Verlauf. „Sie haben ganz 
Recht gehabt, Herr Doktor, es ist wirklich ein hoher Genuß gewesen. 
Da neben mir auf dem Tisch die Atherflasche stand und idi die Er- 
laubnis zur Narkose hatte, hatte ich nicht die mindeste Angst und 
konnte jeden Vorgang genau beobachten und hemmungslos werten. 
Einen Augenblick wurde der Schmerz, der bis dahin etwas aufregend 
Reizvolles gehabt hatte, übergroß und icli schrie: Äther! — setzte aber 
gleich hinzu: Es ist nicht mehr nötig. Das Kind schrie schon. Wenn ich 
etwas bedaure, ist es nur, daß mein Mann, den ich jahrelang mit meiner 
dummen Angst gequält habe, diesen hödisten Genuß nidit erleben kann." 
Wenn Sie skeptisch sind, können Sie das nun eine glückliiiie 
Suggestion nennen, die keine Beweiskraft hat. Mir ist das gleichgültig. 

42 




Ich bin überzeugi:, wenn Sie das nächste Mal ein Kind bekommen, werden 
Sie audi „hemmungslos" beobachten, ein Vorurteil los werden und 
etwas kennen lernen, wovor Dummheit Sie eingregrault hat. 

Sie sind dann, liebe Freundin, zaghaft auf das heikle Thema der 
Selbstbefriedigung eingegangen, deuten an, wie sehr Sie dieses g-eheime 
Laster veraditen und äußern Ihre Unzufriedenheit mit meinen absdieu- 
lichen Theorien über die schuldlose Onanie der töpfchensitzenden Kinder, 
verstopften Menschen und Schwangeren und finden schließlich meine 
Ansiditen über die Grundbedingungen der Mutterliebe zynisdi. „Auf 
diese Weise kann man Alles auf Selbstbefriedigung zurückführen," 

sagen Sie. 

Gewißr und Sie gehen nicht fehl in der Annahme, daß idi, wenn 
nidit Alles, so dodi recht viel von der Onanie herleite. Die Art, wie - 
ich zu dieser Ansicht gekommen bin, ist vielleicht nocJi interessanter 
als die Ansidit selbst, und deshalb will ii^ Sie ihnen hier mitteilen. 

Ich habe in meinem Beruf und sonst auch, oft Gelegenheit gehabt, 
bei dem Waschen kleiner Kinder zugegen zu sein, Sie werden mir aus 
eigener Erfahrung bestätigen, daß das nicht immer ohne Heulerei vor 
siA geht. Aber wahrscheinlich wissen Sie nicht, — es ist nidit der 
Mühe wert, bei kleinen Kindern solche Kleinigkeiten zu beachten — 
daß dieses Heulen bei ganz bestimmten Prozeduren einsetzt und bei 
anderen aufhört. Das Kind, das eben noch schrie, als ihm das Gesicht 
gewaschen wurde — wenn Sie wissen wollen, warum es schreit, lassen 
Sie sich selber das Gesicht von irgend einer lieben Person waschen, 
mit einem Schwamm oder Lappen, der so groß ist, daß er Ihnen gleich- 
zeitig Mund, Nase und Augen zudeckt — dieses Kind, sage ich, wird 
plötzlich still, wenn der weiche Schwamm zwisdien den Beindien hin 
und her geführt wird. Ja, dieses Kind bekommt sogar einen fast ver- 
zückten Ausdruck im Gesicht und es hält ganz still. Und die Mutter, 
die kurz vorher noch ermahnend oder tröstend dem Kindchen über 
das unangenehme Wastiien hinweghelfen mußte, hat auf einmal einen 
zarten, liebenden, fast möchte ich sagen verliebten Ton in ihrer Stimme, 
audi sie ist für Augenblicke in Verzückung versunken und ihre Be- 

43 



wegung-en sind andere, weichere, liebendere. Sie weiß nicht, daß sie 
dem Kinde Geschlechtslust gibt, daß sie das Kind Selbstbefriedigung 
lehrt, aber ihr Es fühlt es und weiß es. Die erotische Handlung erzwingt 
den Ausdruck des Genusses bei Kind und Mutter. 

So also liegen die Dinge. Die Mutter selbst gibt ihrem Kinde 
Unterricht in der Onanie, sie muß es tun, denn die Natur häuft den 
Dreck, der abgewaschen werden will, dort an, wo die Organe der 
Wollust Hegen; sie muß es tun, sie kann nicht anders. Und, glauben 
Sie mir, Vieles, was unter dem Namen Reinlidikeit geht, das eifrige 
Benutzen des Bidets, das Waschen nach den Entleerungen, die Aus- 
spulungen, ist nichts weiter als ein vom Unbewußten erzwungenes Wieder- 
holen dieser genußreichen Lehrstunden bei der Mutter. 

Diese kleine Beobachtung, die Sie jederzeit auf ihre Riditigkeit nach- 
prüfen können, wirft das ganze Schreckensgebäude, das dumme Menschen 
um die Selbstbefriedigung errichtet haben, auf einmal um. Denn wie 
soll man eine Gewohnheit Laster nennen, die von der Mutter erzwungen 
wird? Zu deren Erlernung sich die Natur der Mutterhand bedient? 
Oder wie sollte es mögÜch sein, ein Kind zu reinigen, ohne seine 
Wollust zu erregen? Ist eine Notwendigkeit, der jeder Mensch vom 
ersten Atemzug an unterworfen Ist, unnatürlich? Welche Berechtigung 
hrf der Ausdruck „geheimes Laster" für eine Angelegenheit, deren 
typisches Vorbild täglich mehrmals offen und unbefangen dem Kinde 
von der Mutter eingeprägt wird? Und wie kann man es wagen, die 
Onanie schädlich zu nennen, die in den Lebensplan des Menschen als 
etwas Selbstverständliches, Unvermeidhches aufgenommen ist? Ebenso- 
gut kann man das Gehen lasterhaft nennen, oder das Essen unnatüriich, 
oder behaupten, daß der Mensch, der sidi die Nase sdinaubt. unfehlbar 
daran zu Grunde gehen müsse. Das unentrinnbare Muß, mit dem das 
Üben die Selbstbefriedigung dadurch erzwingt, daß es den Schmutz 
und Gestank des Kots und Urins an den Ort des Geschlechtsgenusses 
legte, beweist, das die Gottheit diesen verworfenen Akt angeblichen 
Lasters zu bestimmten Zwecken dem Menschen als Schicksal mitgegeben 
hat. Und wenn Sie Lust dazu haben, will ich Ihnen gelegentlich ein 

44 



paar dieser Zwecke nennen, Ihnen zeigen, daß allerdings unsere Menschen- 
welt, unsere Kultur zum großen Teil auf der Selbstbefriedigung auf- 
gebaut ist. 

Wie ist es nun gekommen, werden Sie fragen, daß diese natür- 
liche und notwendige Verrichtung in den Ruf gekommen ist, ein 
schmachvolles, für Gesundheit und Geisteskraft gleich gefährliches 
Laster zu sein, ein Ruf, der überall gilt. Sie tun besser, sich um eine 
Antwort an gelehrtere Leute zu wenden, aber Einiges kann ich Ihnen 
mitteilen. Zunächst stimmt es nicht, daß man allgemein von der Schäd- 
lichkeit der Onanie überzeugt ist. Ich weiß mit exotischen Sitten aus 
eigener Elrfahrung nicht Bescheid, habe aber allerlei gelesen, was mir 
eine andere Meinung gegeben hat. Und dann ist mir bei Spaziergängen 
aufgefallen, daß hie und da ein Bauernbursch hinter dem Pflug stand 
und ganz ehrlich und allein seiner Lust frönte, und bei Landmädchen 
kann man es auch sehen, wenn man nicht durch das Kindheits verbot 
für diese Dinge blind gemacht worden und blind geblieben ist; solch 
ein Verbot wirkt unter Umstanden lange Jahre, vielleicht ein Leben 
lang, und mitunter ist es spaßhaft zu beobachten, was alles die Menschen 
nicht sehen, weil Mama es verboten hat. — Sie brauchen aber nicht 
erst zu den Bauern zu gehen. Ihre eigenen Erinnerungen werden Ihnen 
. genug erzähen. Oder wird die Onanie dadurch unschadltdi, daß der 
Geliebte, der Ehemann an den reizbaren, ihm so befreundeten Plätzen 
Spielt? Es ist gar nicht nötig, an die tausend Möglichkeiten der ver- 
steckten, schuldlosen Onanie zu denken, an das Reiten, Schaukeln, 
Tanzen, an das Stuhlverhalten; der Liebkosungen, deren tieferer Sinn 
die Selbstbefriedigung ist, gibt es auch so genug, 

Das ist nidit Onanie, meinen Sie. Vielleicht nicht, vielleicht doch, 
es kommt darauf an, wie man es auffaßt. Nach meiner Meinung ist es 
kein großer Unterschied, ob die eigene oder die fremde Hand zärtlich 
ist, ja am Ende braucht es keine Hand zu sein, auch der Gedanke 
reicht aus und vor allem der Traum. Da haben Sie ihn wieder, diesen 
unangenehmen Deuter versteckter Geheimnisse. Nein, liebe Freundin, 
wenn Sie wüßten, was alles unsereiner — und mindestens mit dem 

4S 



Schein des Rechtes — zur Onanie redinet, Sie würden wirklid\ niAt 
mehr von ihrer Sch*ädlichkeit sprechen, 

Haben Sie denn schon einmal jemanden kennen g'elemt, dem sie 
gesdiadet hat? Die Onanie selbst, nicht die Angst vor den Folgten, 
denn die ist wahrüch sdilimm. Und gerade weil sie so schlimm ist, 
sollten sich wenigstens ein paar Mensclien davon frei machen. Nochmals, 
haben Sie schon jemanden gesehen? Und wie denken Sie sich die 
Sache? Ist es das bißdien Samen, der beim Manne verloren geht 
oder gar die Feuchtigkeit beim Weibe? Das glauben Sie wohl selbst 
nicht, wenigstens nicht mehr, wenn Sie eins der auf Universitäten 
gangbaren Lehrbücher der Physiologie aufgeschlagen und da nach- 
gelesen haben. Die Natur hat reichlich, unerschöpflich für Vorrat gesorgt 
und — außerdem — ■ der Mißbrauch verbietet sich von selbst; beim 
Knaben und Mann wird die Erholung durch das Aussetzen der Erek- 
tion und Ejakulation erzwungen und beim Weibe tritt auch ein Über- 
druß ein, der ein paar Tage oder Stunden dauert; mit dem Gesihlechts- 
sinn ist es wie mit dem Essen. Ebensowenig wie sich jemand den 
Bauch durch vieles Essen sprengt, ebensowenig erschöpft jemand seine 
Geschlechtskraft durch Onanie. Wohlverstanden, durch Onanie ; iA 
spreche nicht von der Onanieangst, die ist etwas anderes, die unter- 
gräbt die Gesundheit, und deshalb liegt mir daran zu zeigen, was für 
Verbrecher die Leute sind, die von dem geheimen Laster reden, die 
die Menschen einängstigen. Da alle Menschen, bewußt oder unbewußt, 
Onanie treiben und auch die unbewußte Befriedigung als soldie 
empfinden, ist es ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit, ein 
ungeheures Verbrechen. Und eine Narrheit, genau so närrisch, als wenn 
man aus der Tatsache des aufrechten Ganges gesundheitss<hädlidie 
Folgen ableitete. 

Nein, der Substanzverlust ist es nicht, sagen Sie. Ja, aber viele 
Menschen glauben das, glauben selbst jetzt noch, daß die Samen- 
fliissigkeit aus dem Rückgrat käme und das Rückenmark durch den 
berüditigten Mißbrauch ausgedörrt würde, ja, daß schließlich auch das 
Gehirn austrockne und die Menschen verblödeten. 

46 



Auch die Bezeidinung- Onanie deutet darauf hin, daß der Gedanke 
des Samenverlustes für die Mensdien das Ersdireckende ist Kennen 
Sie die Geschichte von Onan? Sie hat eig-entÜdi nichts mit Selbst- 
befriedigung- zu tun. Bei den Juden war es Gesetz, daß der Sdiwager, 
falls sein Bruder kinderlos gestorben, mit dessen Witwe Beilag-er hielt; 
das Kind, das so entstand, galt als Nadhkömmling des Toten. Ein 
nidit ganz dummes Gesetz, das auf die Erhaltung der Traditionen ging, 
auf das Weiterbestehen des Stammes, wenn audi der Weg uns 
Modernen ein wenig sonderbar vorkommL Unsere Vorfahren haben 
ähnlidi gedacht, noch aus der Zeil kurz vor der Reformation 
bestand in Verden eine ähnliche Verordnung. Nun also Onan kam in 
diese Lage durch den Tod seines Bruders, da er aber seine Sdiwägerin 
nicht leiden konnte, ließ er den Samen statt in ihren Leib auf die 
Erde fallen und für diese Gesetzesübertretung strafte ihn Jehovah mit 
dem Tode. Das Unbewußte der Masse hat aus dieser Erzählung nur 
das auf den Boden Spritzen des Samens herausgenommen und jede 
ähnlidie Handlung mit dem Namen Onanie gebrandmarkt, wobei denn 
wohl der Gedanke an den Tod durch Selbstbefriedigung den Aus- 
sdilag gab. . -i ■• 

Gut, daß Sie es nicht glauben. Aber die Phantasie der wollüstigen 
Vorstellungen, die sind das schlimme. Adi, liebste Freundin, haben Sie 
denn in der Umarmung keine wollüstigen Vorstellungen? Und vorher 
auch nicht? Vielleicht jagen Sie sie fort, verdrängen Sie sie, wie der 
Kunstausdruck lautet; ich komme gelegentlich auf den Begriff des 
Verdrängens zu sprechen. Aber da sind die Vorstellungen doch; sie 
kommen und müssen kommen, weil Sie Mensdi sind und nicht einfach 
die Mitte Ihres Körpers ausschalten können. Mir fällt bei aolchen Leuten, 
die nie wollüstige Gedanken zu haben glauben, immer eine Art 
Menschen ein, die die Reinlichkeit so weit treiben, daß sie sich nicht 
nur waschen, sondern auch täglich den Darm ausspülen. Harmlose 
Leutchen, nicht ? Sie denken gar nidit daran, daß oberhalb des 
Stückdiens Darm, das sie mit Wasser reinigen, noch ein "stubenlanges 
Stück ist, das ebenso dreckig ist. Und um es gleich zu sagen, ihre 

47 



..^£. 



T 



Klystiere madien sie, ohne es zu wissen, weil es symbolisdie Beyattungs- 
akte sind; die Reinlichkeitssucht ist nur der Vorwand, mit dem das 
Unbewußte das Bewußte betrügt, die Lüge, die ermög-licht, dem Verbot 
der Mutter buchstäblich treu zu sein. Genau so ist es mit den Ver- 
drängfungen der erotischen Phantasieen. Gehen Sie tiefer auf den 
Menschen ein, kommt die Erotik in jeder Form hervor. 

Haben Sie schon einmal ein zartes, ätherisdies, völlig unschuldiges 
Mädchen geisteskrank werden sehen? Nein? Schade, Sie würden von 
dem Glauben an das, was die Menschheit rein nennt, für Lebenszeit 
kuriert sein und diese Reinheit und Unschuld mit dem ehrlidien Worte 
Heuchelei bezeichnen. Darin liegt kein Vorwurf. Das Es braudit auch 
die Heuchelei zu seinen Zwecken und gerade bei dieser verpönten und 
dodi so oft geübten Gewohnheit liegt der Zweck nicht tief verborgen. 

Vielleicht kommen wir der Frage, warum die Onanie das Entsetzen 
von Eltern, Lehrern und sonstigen aus ihrer Stellung heraus autorita- 
tiven Leuten erregt, näher, wenn wir uns die Gescliichte dieses Ent- 
setzens ansehen. Ich bin nidit sehr belesen, aber mir ist es so vorge- 
kommen, als ob erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Geschrei 
gegen die Onanie losgegangen sei. In dem Briefwedisel zwischen 
Lavater und Goethe sprechen die beiden von geistiger Onanie noA 
so harmlos, als ob sie sid» von irgend einem Spaziergang etwas 
erzählten. Nun ist das auch die Zeit, in der man anfing, sidi mit den 
Geisteskranken zu beschäftigen, und Geisteskranke, vor allem Blöd- 
sinnige sind sehr eifrige Freunde der Selbstbefriedigung. Es wäre wohl 
denkbar, daß man Ursache und Wirkung verwechselt hat, daß man 
glaubte: weil der Blödsinnige onaniert, ist er durch Onanie blödsinnig 
geworden. 

Aber letzten Endes werden wir doch wohl den Grund für den 
merkwürdigen Abscheu des Menschen gegen etwas, wozu er durdi 
Seme Mutter vom ersten Lebenstage an abgerichtet wird, anderswo 
sudien müssen. Darf ich die Antwort verschieben? Ich habe vorher 
noch so viel zu sagen, und der Brief ist ohnehin lang genug geworden. 
In aller Kürze möchte idi nur noch auf eine seltsame Verdrehung der 

48 



Tatsachen aufmerksam machen, die selbst bei sonst überlegenden 
Menschen sich findet. Man nennt die Selbstbefriedig-ung- einen Ersatz 
für den „normalen" Geschleditsakt. Ach, was ließe sich alles über 
dieses Wort „normaler" GestWechtsakt sagen. Aber ich habe es hier 
mit dem Ersatz zu tun. Wie mögen die Menschen auf solch einen 
Unsinn kommen? Die Selbstbefriedigung geht in dieser oder jener 
Form durch das ganze Leben mit dem Menschen mit; die sogenannte 
normale Geschlechtstätigkeit tritt aber erst in einem bestimmten Alter 
auf und verschwindet oft zu einer Zeit, wo die Onanie von neuem die 
kindlidie Form des bewußten Spielens an den Geschlechtsteilen annimmt. 
Wie kann man einen Vorgang als Ersatz für einen andern auffassen, 
der erst 15—20 Jahre später beginnt? Viel eher lohnte es sich, einmal 
festzustellen, wie oft der normale Geschlechtsakt eine reine bewußte 
Selbstbefriedigung ist, bei der Scheide und Glied des andern nur ein 
ebensolches Werkzeug des Reibens ist wie Hand und Finger. Idi bin 
dabei zu merkwürdigen Resultaten gekommen und zweifle nicht daran, 
daß es Ihnen auch so gehen wird, wenn Sie der Sache nachgehen. 
Nun, und die Mutterliebe? Was hat die mit all dem zu tun? 
Doch wohl einiges. Ich deutete schon darauf hin, daß die Mutter seltsam 
sieh verändert, wenn sie ihr Kind an den Geschleditsteilen reinigt. Sie 
ist sich dessen nicht bewußt, aber gerade die gemeinsam genossene 
unbewußte Lust bindet am stärksten, und einem Kinde Lust zu geben, 
in welcher Form es auch sei, weckt in dem Erwachsenen Liebe. Nodi 
eher ak zwischen Liebenden ist im Verhältnis von Mutter und Kind 
Geben mitunter seliger als Nehmen. 

Ich habe nun noch über den Einfluß der Selbstbefriedigung einen 
Punkt nadizutragen, dessen Erörterung bei Ihnen Kopfsdiüttehi hervor- 
rufen wird. Ich kann ihn Ihnen aber nicht ersparen, er ist widitig und 
gibt wieder eine Möglichkeit, in das Dunkel des Unbewußten hineinzu- 
blicken. Das Es, das Unbewußte, denkt symbolisch, und unter anderen 
hat es ein Symbol, demzufolge es Kind und Geschlechtsteil identifiziert, 
gletdibedeutend braucht. Der weibliche Geschlethtsteil ist ihm das 
kleine Ding, das Mädchen, Töchterdien oder Schwesterdien, die kleine 
4 Groddcck, Dm Bad, vom Es ^ 



Freundin, der männliche das kleine Männchen, das Jungdien, das 
Söhnchen, Brüderdien. Das klingt absonderlidi, ist aber so. Und nun 
bitte ich Sie, sich einmal ohne alberne Prüderie und falsche Scham 
klar zu machen, wie sehr ein jeder Mensch seinen Geschlechtsteil liebt, 
lieben muß, weil er ihm letzten Endes alle Lust und alles Leben 
verdankt. Sie können sich diese Liebe nicht groß genug; vorstellen, 
und diese große Liebe überträgt das Es — das Übertragen ist audi 
eine seiner Eigentümlichkeiten — auf das Kind, es verwechselt so zu 
sagen Geschlechtsteil und Kind. Ein gut Teil der Mutterliebe zum Kind 
stammt aus der Liebe, die die Mutter für ihren Geschleditsteil hat, 
und aus Onanie-Erinnerungen. V -■ 

War es sehr arg? Ich habe für heute nur noch eine Kleinigkeit zu 
sagen, die vielleicht ein wenig erklärt, warum das Weib im allgemeinen 
mehr kinderlieb ist als der Mann. Erinnern Sie sich an das, was ich 
von dem Reihen der Geschlechtsteile beim Waschen erzählte, und wie 
ich den daraus entstehenden Genuß unter Benutzung des unbewußten 
Symbolisierens in Zusammenhang mit der Liebe zum Kinde brachte? 
Können Sie sidi vorstellen, daß die Reibung des Waschens dem kleinen 
Knaben so viel Freude gibt wie dem kleinen Mädchen ? Ich nicht. 

Ich bin Ihr ganz ergebener 
...,., ., . PATRIK TROLL. 



6. 

SIE FINDEN, LIEBE UND GESTRENGE RICHTERIN, DASS MEINE 
Briefe zu viel von der Freude verraten, mit der ich all meine erotisdien 
Kleinigkeiten vorbringe. Das ist eine richtige Bemerkung. Aber idi 
kann es nicht ändern, ich freue mich und kann meine Freude nicht 
verstecken, sonst würde idi platzen. 

Wenn man sich selber lange Zeit in ein enges, sdiledit erleudi- 
tctes, stickiges Zimmer eingesperrt hat, nur aus Angst, die Mensdien 
draußen könnten einen sdielten oder auslachen, nun ins Freie kommt 

50 



und merkt, daß Niemand sich um eiaen kümmert, höchstens Jemand 
einen Moment aufblickt und ruhig- seines Weges weiter zieht, dann 
wird man fast toll vor Freude. 

Sie wissen, idi war der Jüngste in meiner Familie, aber Sie ahnen 
nidit, wie spott- und necklustig diese Familie war. Man brauchte bloß 
eine Dummheit 2u sagen, so bekam man sie alle Tage aufs Butter- 
brot geschmiert ; und daß der Kleinste in einer Geschwisterschar mit 
ziemlich großen Altersuntersdiieden die meisten Dummheiten sagt, ist 
begreiflidi- Da habe idi es mir frühzeitig abgewöhnt, Meinungen zu 
äußern; idi habe sie verdrängt. 

■ - Bitte nehmen Sie den Ausdruck wörtlich; was verdrängt wird, 
verschwindet nicht, es bleibt nur nidit an seinem Platz; es wird an 
irgend eine Stelle gesdioben, wo ihm sein Recht Dicht wird, wo es 
sich eingeengt und benachteiligt fühlt. Es steht dann immer auf den 
Fußspitzen, drückt mit aller Kraft von Zeit zu Zeit nach vorn zu dem 
Ort hin, wo es hingehört, und sobald es eine Lücke in dem Wall vor 
sich sieht, sudit es sich da durchzuquetschen. Das gelingt vielleicht 
auch, aber wenn es nadi vorn gekommen ist, hat es all seine Kraft 
verbraudit und der nädiste beste Stoß irgend einer herrisdien Gewalt 
Schleudert es wieder zurück. Es ist eine recht unangenehme Situation 
und Sie können sich vorstellen, was für Sprünge solch ein verdrängtes, 
zerstoßenes, gequetschtes Wesen madit, wenn es endlidi frei geworden 
ist. Haben Sie nur Geduld. Noch einige überlaute Briefe und dieses 
trunkene Wesen wird ebenso gesetzt und brav sidi benehmen wie ein 
wohldurchdachter Aufsatz irgend eines Fachpsychologen. Nur freilicii, 
die Kleider sind im Gedränge verschmutzt, zerrissen und zerlumpt, 
die bloße Haut sdiimmert überall durch, nicht immer sauber, und ein 
eigentümlicher Geruch nach Masse menschelt darin herum. Dafür hat 
es aber etwas erlebt und kann erzählen. ,. _, 

Ehe ich es aber erzählen lasse, will ich noch rasch ein paar Aus- 
drucke erklären, die ich hie und da brauchen werde. Haben Sie keine 
Angst, ich will keine Definitionen geben, könnte es meiner zerfahrenen 
Sinnesart halber gar nidit. Ähnlidi wie ich es eben mit dem Wort 



4 



* 



51 



„verdrängen" getan habe, will ich es nun auch mit den Wörtern 
„Symbol" und „Assoziation" versudien. 

Ich sdirieb Ihnen früher einmal, daß es sdiwer sei, über das Es 
zu sprechen. Ihm gegenüber werden alle Wörter und Begriffe schwankend, 
weil es seiner Natur nacli in jede Bezeichnung, ja in jede Handlung 
eine ganze Reihe von Symbolen hineinlegt und aus anderen Gebieten 
Ideen daran heftet, assoziiert, so daß etwas, was für den Verstand 
einfach aussieht, für das Es sehr kompliziert ist. Für das Es existieren 
in sich abgegrenzte Begriffe nicht, es arbeitet mit Begrlffsgebieten, 
mit Komplexen, die auf dem Wege des Symbolisierungs- und Assozia- 
tionszwanges entstehen. .. ■ .:' . ■'• 

Um Sie nicht kopfscheu zu machen, will idi an einem Beispiel 
zeigen, was ich unter Symbol- und Assoziationszwang verstehe. Als 
Symbol der Ehe gilt der Ring; nur sind sich die Wenigsten klar dar- 
über, wieso dieser Reif den Begriff der ehelidien Gemeinscliaft aus- 
drückt. Die Sprüche, daß der Ring eine Fessel ist oder die ewig-e 
Liebe ohne Anfang und Ende bedeutet, lassen wohl Sdilußfolgcrungen 
auf Stimmung und Erfahrung dessen zu, der solch eine Redewendung 
braucht, sie klären aber das Phänomen nidit auf, warum von un- 
bekannten Gewalten gerade ein Ring gewählt wurde, um das Ver- 
heiratetsein kenntlidi zu machen. Geht man jedoch davon aus, daß 
der Sinn der Ehe die Geschlechtstreue ist, so ergibt sich die Deutung 
leicht. Der Ring vertritt das weibliche Geschlechtsorgan, während der 
Finger das Organ des Mannes ist. Der Ring soll über keinen anderen 
Finger gestreift werden als über den des angetrauten Mannes, er ist 
also das Gelöbnis, nie ein anderes Gesdilechtsorgan im Ring des Weibes 
zu empfangen wie das des Ehegatten. 

Dieses Gleidisetzen von Ring und weiblidiem Organ, Finger und 
männlidiem ist nicht willkürlidi erdacht, sondern vom Es des Menschen 
erzwungen, und Jeder kann den Beweis dafür an sich und Anderen 
täglich führen, wenn er das Spielen mit dem Ring am Finger bei den 
Menschen beobachtet. Unter dem Einflüsse bestimmter, leicht zu er- 
ratender Gefühlsregungen, die meist nicht voll ins Bewußtsein treten, 

52 



1 



- — - ■ ■ ■■ g. 



beginnt dieses Spiel, dieses Auf und Abbewegen des Ringes, dieses 
Drehen und Winden. Bei verschiedenen Wendungen der Unterhaltung, 
bei dem Hören und Aussprechen von einzelnen Worten, beim Erblicken 
von Bildern, Mensdien, Gegenständen, bei allen möglidien Sinnes- 
wahrnehmungen werden Handlungen vorgenommen, die uns gleich- 
zeitig versteckte Seelenvorgänge aufdecken und bis zum Überdruß 
beweisen, daß der Mensch nidit weiß, was er tut, daß ein Unbewußtes 
ihn zwingt, sich symbolisdi zu offenbaren, daß dieses Symbolisieren 
nicht dem absichtlichen Denken entspringt, sondern dem unbekannten 
Wirken des Es. Denn weldier Mensch würde absichtlich unter den 
Augen Anderer Bewegungen ausführen, die seine sexuelle Erregung 
verraten, die den heimlichen, stets versteckten Akt der Selbst- 
befriedigung Öffentlidi zur Schau stellen? Und doch spielen selbst die, 
die das Symbol zu deuten verstehen, weiter am Ringe, sie müssen 
spielen. Symbole werden nicht erfunden, sie sind da, gehören zum 
unveräußerlidien Gut des Menschen; ja man darf sagen, daß alles be- 
wußte Denken und Handeln eine unentrinnbare Folge unbewußten 
Symbolisierens ist, daß der Mensch vom Symbol gelebt wird. 

Ebenso menschlldi unvermeidbar wie das Symbolschicksal ist der 
Zwang zur Assoziation, der ja im Grunde dasselbe ist, da beim 
Assoziieren stets Symbole aneinander gereiht werden. Schon aus dem 
eben erwähnten Ringspiel ergibt sidi, daß die unbewußte Symboli- 
sierung des Ringes und des Fingers als Weib und Mann eine augen- 
fällige Darstellung des Beischlafes erzwingt. Geht man im einzelnen 
Falle den dunklen Wegen nach, die von dem halb bewußten Wahr- 
nehmen eines Eindruckes zu der Handlung des Auf- und Abschiebens 
des Ringes führen, so findet man, daß blitzartig bestimmte Ideen 
durch das Denken schießen, die sich bei anderen Individuen in anderen 
Fällen wiederholen. Es finden zwangsläufige Assoziationen statt. Auch 
die symbolisdie Verwendung des Ringes als Abzeichens der Ehe ist 
durch unbewußte zwangsmäßige Assoziationen entstanden. Tief ein- 
greifende Beziehungen des Ringspieles zu uralten religiösen Vor- 
stellungen und Sitten sowie zu wichtigen Komplexen des persönlidien 

53 



Lebens tauchen bei solchen Betrachtungen auf und nötigen uns, unter 
Verzicht auf die Illusionen idigewollter Planmäßigkeit den geheimnis- 
voll verschlungenen Pfaden der Assoziation nachzuspüren. Sehr bald 
erkennen wir dann, daß steh die Auffassung des Eheringes als Fessel 
oder als Bund ohne Anfang und Ende aus Verstimmungen oder 
romantischen Regungen erklärt, die aus dem der Menschheit gemein- 
samen Gut der Symbole und Assoziationen ihre Äußerungen nehmen 
und nehmen müssen. 

Wir begegnen solchem Assoziationszwang überall, auf Schritt und 
Tritt. Man braucht bloß Augen und Ohren zu öffnen. Schon in der 
Redewendung „Schritt und Tritt" finden Sie den Zwang: das Wort 
Schritt fordert den Reim Tritt. Tummeln Sie sich ein wenig in der 
Sprache: da haben Sie Liebe und Lust, Liebe und Leid. Da ist Lust 
und Brust und Herz und Schmerz; Wiege und Grab; Leben und Tod; 
hin und her; auf und ab; Weinen und Ladien; Angst und Sdirecken; 
Sonne und Mond; Himmel und Hölle. Die Einfälle überstürzen sicli, 
und wenn Sie darüber nachdenken, wird Ihnen zu Mute, als ob plötzlich 
das Sprachgebäude vor Ihnen entstünde, als ob Säulen, Fassaden, 
Dächer, Türme, Türen, Fenster und Wände wie aus Nebelmassen sich 
unter ihren Aug-en formten. Das Innerste wird Ihnen erschüttert, das 
Unbegreifliche rückt Ihnen näher und erdrückt sie fast. 

Vorüber, Liebe, rasch vorbei! Wir dürfen nicht dabei verweilen. 
Fassen Sie ein paar Dinge auf, etwa wie der Assoziationszwang den 
Reim benutzt oder den Rhytmus oder Alliterationen, oder Gefülils- 
folgen. — Alle Sprachen der Welt lassen die Bezeidinung des Er- 
zeugers mit dem verächtlichen Laut P beginnen, die der Gebärerin 
mit dem billigenden Laut M. — Oder wie dieser Zwang mit dem 
Gegensatz arbeitet, eine wichtige Sache, denn jedes Ding hat seinen 
Gegensatz in sidi, und das sollte Niemand jemals vergessen. Sonst 
glaubt er gar, es gäbe in Wahrheit ewige Liebe, unverbrüdiliche 
Treue, unersdiütterliche Hochaditung. Audi Assoziationen lügen zuweilen. 
Aber das Leben ist ohne das Wissen um die Bedingtheit aller Er- 
scheinungen durch ihre Gegensätze nicJit zu verstehen. 

54 






m^ 



~-i^i 



Es ist nidit leicht, Assoziationen zu finden, die unter allen Um- 
standen und überall gelten; denn das Leben ist bunt, und bei der 
Auswahl der Assoziation ist der individuelle Mensch und sein jeweiliger 
Zustand mit beteiligt. Aber es ist wohl anzunehmen, daß das Gefühl 
des Zugwindes, sobald es unangenehm ist, den Gedanken wachruft, 
das Fenster zu schließen, daß die Stickluft des Zimmers einem Jeden 
den Wunsch eingibt, das Fenster zu öffnen, daß der Anblick von 
nebeneinander stehendem Brot und Butter das Wort Butterbrot her- 
vorruft. Und wer einen andern trinken sieht, dem pflegt der Gedanke 
durch den Kopf zu huschen; solltest du nicht auch trinken. Der Volks- 
mund, von der Kraft dumpfer Logik zur Schlußfolgerung aus zahllosen 
halb verstandenen Beobachtungen getrieben, faßt das tiefe Geheimnis 
der Assoziation in den derben Spruch: Wenn eine Kuh schifft, schifft 
die andere. Und nun halten Sie einen Augenblick ein und suchen Sie 
zu begreifen, welch ein unendliches Gebiet menschlichen Lebens, 
menschlicher Kultur und Entwicklung in der Tatsache liegt, daß aus 
irgend welchen Gründen tausend und abertausendmal vom Urinlassen 
Assoziationsbrücken zum Meer geschlagen wurden, bis endlich die 
Schiffahrt erzwungen war, bis der Mast im Boot als Symbol der 
Manneskraft stand und die Ruder sich taktgemäß in der Bewegung 
der Liebe regten. Oder suchen Sie den Weg naciizugehen, der vom 
Vogel zum Vögeln führt, dieser Weg. der von der Erektion, der Auf- 
hebung des Schwergewichtes, dem Schwebegefühl der hödisten Lust. 
dem durch die Luft schießenden und spritzenden Urinstrahl und Samen 
zu dem beflügelten Eros und Todesgott führt, der zu dem Glauben an 
Engel und zur Erfindung des Flugzeuges hinleitet. Des Menschen Es 

ist ein wunderlich Ding. 

Am wunderlichsten sind die Wege wissenschaftlichen Denkens. 
Wir spreizen in der Medizin längst von Assoziationsbewegungen und 
die Psychologie lehrt eifrig Dieses und Jenes von den Assoziationen. 
Als aber Freud und die um ihn sind und waren, mit der Beobachtung 
der Assoziationen Ernst machten, sie aus dem Triebleben des Mensdiea 
ableiteten und bewiesen, daß Trieb und Assoziation Urphänomene 

5^ 



menschlichen Lebens und Grundsteine aUes Wissens und Denkens, 
aller Wissensdiaft sind, ging ein Geschrei des Hasses durch die Länder 
und man tat so, als ob jemand das Gebäude der Wissenschaft ein- 
reißen wollte, weil er feststellt, auf welchem Boden es errichtet ist. 
Ängstliche Seelen. Die Fundamente der Wissensdiaft sind dauernder 
als Granit und ihre Wände, Räume und Treppen bauen sich von selbst 
wieder, wenn hie und da ein wenig kindisd» gefügtes Mauerwerk 
einstürzt. - ,w ^ 

Wollen Sie einmal mit mir assoziieren? Idi begegnete heute 
einem kleinen Mädchen mit roter Kapuze. Es sah mich erstaunt an, 
nicht unfreundlich, denke ich, aber erstaunt: denn ich trug der Kälte 
wegen eine schwarze Pelzmütze tief über die Ohren gezogen. Irgend 
etwas muß mich bei diesem Blick des Kindes getroffen haben; ich sah 
plötzlich midi selbst als 6- oder 7 jährigen Jungen mit einem roten 
Baschlik. Rotkäppchen fiel mir ein und dann schoß mir der Vers durch 
den Kopf: Ein Männlein steht im Walde so ganz allein; von da ging 
es zum Zwerg und seiner Kapuze und zum Kapuziner und schließlich 
ward mir bewußt, daß ich schon eine WeUe durch die Kapuzinerstraße 
ging. Die Assoziationen liefen also in sich selbst zurück wie ein Ring. 
Warum aber taten sie es und wie kamen sie in solcher Folge ? Durdi 
die Kapuzinerstraße mußte ich gehen, das war gegeben. Dem Kind 
begegnete ich zufällig, daß ich aber auf das Kind achtete und daß 
sein Anblick in mir solche Gedankengänge weckte, wie war das zu 
erklären? Als ich von Hause wegging, zogen zwei Frauenhände meine 
Pelzmütze tief über die Ohren und ein Frauenmund sagte: „So Fat, 
nun wirst du nicht frieren". Mit solchen Worten band mir meine 
Mutter vor vielen Jahren den Baschlik um den Kopf. Die Mutter er- 
zählte auch vom Rotkäppchen und dort stand es leibhaftig vor mir. 
Rotkäppchen, das kennt ein Jeder. Das rote Köpfchen guckt hei jedem 
Urinlassen neugierig aus seinem Vorhautmantel heraus, und wenn die 
Liebe kommt, reckt es den Kopf nach den Blumen der Wiese, steht 
wie der Pilz, wie das Männlein im Walde mit roter Kapuze auf einem 
Bein, und der Wolf, in den es hineingerät, um nach neun Monden 

56 



wieder aus seinem Baudi geschnitten zu werden, ist ein Symbol 
kindlicher Empfängnis- und Geburtstheorien. Sie werden sidi besinnen, 
daß Sie einst selbst an dieses Aufschneiden des Bauches geglaubt 
haben. Freilich dessen werden Sie sich nicht mehr erinnern, daß Sie 
auch einmal fest überzeugt davon waren, daß alle Menschen, auch die 
Frauen, solch Ding mit rotem Kappdien hatten, daß es ihnen aber 
abgenommen würde und sie es irgendwie essen müßten, um Kinder 
daraus wadisen zu lassen. Bei uns Assoziationsmenschen wird diese 
Theorie in den Kastrationskomplex eingereiht, von dem Sie noch 
allerlei hören werden. Vom Kappchen und dem Humperdinkschen Pilz 
geht es leicht über zum Zwerg und seiner Kapuze und von da ist es 
nidit weit bis zum Mönch und Kapuziner. In beiden Ideen klingt der 
Kastrationskomplex noch nach: denn der uralte Zwerg mit langem 
Bart ist runzliofe Altersimpotenz und der Mönch versinnbildlicht die 
freiwillig unfreiwillige Entsagung. Soweit sind die Dinge wohl klar, 
wie aber kommt die Kastrations idee in meinen Kopf? Der Ausgangs- 
punkt von allem, besinnen Sie sich nur, war eine Szene, die an meine 
Mutter erinnerte, und das Schlußglied war die Kapuzinerstraße. In 
jener Kapuzinerstraße lag ich vor vielen Jahren krank an einem Nieren- 
leiden, todeskrank, und wenn ich recht die Tiefen meines Unbewußten 
erforsche, glaube idi, daß jene Wassersudit aus dem Gespenst der 
Onanieangst entstand, die letzten Endes mit irgend welchen Regungen 
zusammenhängt, die meiner Mutter galten, wenn sie mir sorglidi das 
Zwerglein aus seiner Höhle nahm, um es Urin spritzen zu lassen. Ich 
vermute es, idi weiß es nidiL Aber der einsam stehende Pilz mit der 
roten Kappe, der giftige Fliegenpilz weist auf die Onanie hin, und 
der rote Baschlik auf den Inzestwunsch. » 

Wundern Sie sich über die gewundenen Wege, die meine Sucht, 
Assoziationen zu deuten, geht? Es ist nur der Beginn, denn nun 
wage ich zu behaupten, daß das Märciien aus dem Assoziations- und 
Symbolisierungszwang entstand, entstehen mußte, weil das Rätsel der 
Begattung, Empfängnis, Geburt und des Mädchentums die Menschenseele 
mit Affekten quälte, bis sie dichterisch gestaltete, was unbegreiflich ist; 

57 



wage zu behaupten, daß das Lieddien vom Männlein im Walde bis in die 
Einzelheiten dem Phänomen der Sdiambehaarung und der Erektion 
entnommen ist, aus unbewußten Assoziationen, daß der Glaube an 
Zwerg-e ebenso aus der Assoziation Wald, Schamhaar, Ersdilaffung, 
runzliger Zwerg entstehen mußte und daß das Klosterleben mit samt 
dem Kuttenkleid eine unbewußte Folge der Flucht vor dem Mutter- 
inzest ist. So weit gehe ich mit meinem Glauben an die Assoziation 
und das Symbol und noch viel weiter. ■ ' ■ - - 

Darf ich noch ein Beispiel vom Assoziationszwang geben? Es ist 
wichtig, weil es ein wenig in die Sprache des Unbewußten, in den 
Traum einführt, ein Lebensgebiet des Es, das uns Ärzten manches 
Rätsel aufgibt. Es ist ein kurzer Traum, ein Traum eines einzigen 
Wortes, des Wortes „Haus". Die Dame, die ihn träumte, kam vom 
Worte „Haus" auf das Wort „Eßzimmer" und von da auf „Eß- 
besteck" und dann auf „Operationsbesteck". Vor einer schweren 
Operation, einer Operation der Leber nach Talma stand ihr Mann. 
Sie war in Sorge um Ihn. Von dem Namen Talma ging sie über aul 
Talmi, das sie auf ihr Eßbesteck bezog: es sei nicht Silber, sondern 
Christoffle. Talmi sei auch ihre Ehe, denn ihr Mann, der der Operation 
nach Talma entgegenginge, war von jeher impotent. Talmi, falsch sei 
sie gegen mich, der ich sie behandelte. Es kam heraus, daß sie mitii 
belogen hatte, daß sie wirklich ein Talmibesteck war. 

An all dem ist nichts Besonderes; höchstens der Wunsch, den 
Talmigatten los zu werden und einen echt silbernen statt seiner zu 
erwerben, ist noch erwähnenswert. Aber die ganze Erzählung mit 
ihrer raschen Assoziationsfolge hatte ein merkwürdiges Resultat. Jene 
■Frau war seit zwei Tagen von einer großen Angst gequält, ihr Herz 
jagte in raschen Sdilägen und ihr Bauch war von Luft gebläht. Etwa 
zwanzig Minuten hatte sie gebraucht, um zu dem Worte „Haus" zu 
assoziieren. Als sie zu Ende erzählt hatte, war der Leib weidi, das 
Herz ganz ruhig und die Angst war fort. 

Was soll ich davon denken? War ihre Angst, ihre akute Herz- 
neurose, die Blähung ihres Darms, ihres „Eßzimmers", Angst um den 

58 




Ifärtwiken Mann, Gewissensbisse wegen des Todeswunsches gegen ihn, 
war es, weil sie das Alles verdrängte, nicht ins Bewußtsein kominen 
ließ, oder bekam sie all diese Leiden, weil ihr Es sie zum Assoziieren 
zwingen wollte, weil es ein tiefes Geheimnis emporzuschicken suchte, 
das von der Kindheit her versteckt war? All das mag gleidizeitig ge- 
wirkt haben, für meine Behandlung aber, für das schwere Leiden, das 
sie zu einem elenden Krüppel mit giditisdien Gliedern gemadit hatte, 
scheint mir das Wichtigste die letzte Beziehung zu sein, der Versud\ 
des Es, ein Kindheitsgeheimnis auf dem Wege der Assoziation aus- 
zusprechen. Denn ein Jahr später kam sie auf jenen Traum zurück 
und erst dann erzählte sie mir, daß das Wort Talmi allerdings mit 
der Impotenz zusammenhing, aber nicht mit der ihres Mannes, sondern 
mit ihrer eigenen, tief gefühlten, und daß die Operationsangst nicht 
dem Manne galt, sondern dem eigenen Onaniekomplex, der ihr Ursadie 
der Unfruchtbarkeit, Ursache ihrer Erkrankung zu sein schien. Seit 
dieser Erklärung verHef ihre Genesung glatt. Soweit man von Gesund- 
heit sprechen kann, ist diese Frau gesund. * ' 

So viel von den Assoziationen. 

Wenn ich Sie, liebe Freundin, nach alle dem, was ich eben aus- 
einandergesetzt habe, nodi darauf aufmerksam madie, daß ich für 
mich persönlich das allgemein menschliche Recht unklarer Ausdrucks- 
weise beanspruche, glaube ich ungefähr die Vorstellung geweckt zu 
haben, daß sidi dem Sprechen über das Es schwere Hindernisse ent- 
gegenstellen. Als einzigen Weg zur Verständigung sah ich den Sprung 
mitten in die Dinge hinein an. 

Da idi nun einmal beim Definieren bin, will ich audi gleich ver- 
suchen, Ihnen das Wort „Übertragung" zu erklären, das hie und da 
in meinen Äußerungen vorgekommen ist. * 

Sie erinnern sich, daß ich von dem Einfluß meines Vaters auf 
mich erzählt habe, wie ich bewußt und unbewußt ihn nachahmte. Zur 
Nachahmung bedarf es eines Interesses für das, was man nadiabmt, 
für den, den man nachahmt. Tatsächlich lebte in mir ein sehr starkes 
Interesse an meinem Vater — lebt nodi jetzt eine Bewunderung, die 

59 



durch ihre Leidenschaftlichkeit charakterisiert ist. Mein Vater starb, 
als ich 18 Jahre alt war. Der Hang zur leide nschaftlidien Bewunderung- 
blieb aber in mir, und da aus tausend und einem Grunde, über die 
wir sprechen können, meine Begabung für Totenkultus gering ist, warf 
ich die frei gewordene Leidenschaftlidikeit im Bewundern auf das nun- 
mehrige Haupt der Familie, auf meinen ältesten Bruder, ich übertrug 
sie auf ihn. Denn so etwas nennt man Übertragung. Es scheint aber, 
daß seine Persönlichkeit für die Bedürfnisse meiner jungen Seele nicht 
ausreichte, denn wenige Jahre spater entstand, ohne daß sidi die 
Neigung zum Bruder verminderte, in mir eine gleich intensive Be- 
wunderung für meinen ärztlichen Lehrer Schweninger. Ein Teil der 
Affekte, die meinem Vater gegolten haben, waren in diesen Jahren 
frei zu meiner Verfügung geblieben und wurden nun auf Schweninger 
Übertragen. Daß sie wirklich zu meiner Verfügung standen, geht 
daraus hervor, daß ich während der Zeit zwisdien dem Tode des 
Vaters und dem Kennenlernen Sciiweningers zu vielen Menschen in 
ein solches Bewunderungsverhältnis trat, es dauerte aber immer 
bloß kurze Zeit, und dazwischen waren Pausen, in denen meine so 
gerichteten Affekte ansdieinend unbeschäftigt waren, oder sich auf 
Männer der Geschichte, auf Bücher, Kunstwerke, kurz alles Mögliche 
bezogen. 

Ich weiß nicht, ob Ihnen jetzt schon klar geworden ist, weldie 
große Bedeutung der Begriff der Übertragung für meine Anschauungen 
hat. Ich darf also wohl die Sache, von einem anderen Ende beginnend, 
nochmals auseinandersetzen. Vergessen Sie aber nicht, daß ich über 
das Es spreche, daß also Alles nicht so scharf umgrenzt ist, wie es 
dem Wortlaut nach scheint, daß es sich um Dinge handelt, die in- 
emanderfließen und sich nur künstlich trennen lassen. Sie müssen sieh 
das Reden über das Es etwa vorstellen wie die Gradeinteilung der 
Erdkugel. Man denkt sich Linien, die in der Längs- und Querrichtung 
verlaufen, und teilt danadi die Erdoberfläche ein. Aber die Flädie 
selbst kümmert sldi darum nicht; wo östlich des 60. Längengrades 
Wasser ist, da ist audi westlich weldies. E^ sind eben Orientierungs- 

60 



Werkzeuge. Und für das Erdinnere lassen sidi diese Linien nur sehr 
bedingt zu Erkundungszwecken brauchen. :- 

Unter solchem Vorbehalt möchte ich nun sagen, daß der Mensdi 
in sich ein gewisses Quantum Affektfähigkeit hat — Neigungs- oder 
Abneigungsfähigkeiten, das spricht augenblicklich nicht mit. Idi weiß 
auch nidit, ob dieses Quantum stets gleich groß ist, das weiß kein 
Mensch und vermutlich wird es auch nie Jemand erfahren. Aber kraft 
meiner Autorität als Briefs chreiber schlage ich vor anzunehmen, die 
Gefühlsmenge, die dem Menschen zur Verfügung steht, sei stets 
gleich groß. Was macht er damit? 

Nun, über eins besteht kein Zweifel, den größten Teil dieser 
Gefühlsmasse, beinah Alles verwendet er auf sich selbst; ein im Ver- 
gleich geringer, im Leben aber recht erhebhdier Teil kann nach außen 
hin geriditet werden. Dieses Außen ist nun sehr verschieden; dasind 
Personen, Gegenstände, Örtlichkeiten, Daten, Gewohnheiten, Phantasien, 
Tätigkeiten aller Art; kurz Alles, was zum Leben gehört, kann vom 
Menschen verwendet werden, um seine Neigung und Abneigung unter- 
zubringen. Das Widitige ist, daß er die Objekte seiner Gefühle 
wechseln kann; das heißt, eigentlich kann er es nicht, sondern sein 
Es zwingt ihn, sie zu wechseln. Aber es sieht so aus, als ob er, sein 
Ich das tue. Nehmen Sie einen Säugling: es ist wahrsdieinlidi, daß er 
Neigung für Mildi hat. Nadi einigen Jahren ist ihm Milch gleidigülÜg 
oder gar unangenehm geworden, er bevorzugt Bouillon oder Kaffee 
oder Reisbrei oder was es sonst ist. Ja, wir brauchen so lange Zeit- 
räume nicht; jetzt eben Ist er ganz Neigung zum Trinken, zwei Minuten 
darauf ist er müde, wünscht zu schlafen oder er wünsdit zu schreien 
oder zu spielen. Er entzieht dem einen Objekt, der Milch, seine Gunst 
und wendet sie dem anderen, dem Schlaf, zu. Nun wiederholen sich 
aber bei ihm eine ganze Reihe von Affekten Immer wieder und er 
findet Geschmack gerade an diesen Affekten, er sucht sich die Möglich- 
keit gerade dieses oder jenes Gefühls stets von neuem zu verschaffen; 
bestimmte Neigungen sind ihm Lebensbedürfnisse, sie begleiten ihn 
durch sein ganzes Leben. Dahin gehört etwa die Liebe zum Bett, 

61 






zum Licht oder was Ihnen noch einfallen mag. Nun ist, wenig-stens von 
den Lebewesen, die das Kind umgfeben, eines, das die Gefühlswelt 
des Kindes in höchstem Maße auf sich zieht, das ist die Mutter. Ja 
man kann mit einem g-ewissen Recht behaupten, daß diese Neigung 
zur Mutter — die immer audi ihr Geg-euteil, die Abneigung, bedingt — 
ähnlitii unveränderlich ist wie die zu sich selbst. Jedenfalls ist sie 
bestimmt die erste, da sie sldi scJion im Mutterleibe ausbildet. Oder 
gehören Sie zu den absonderUchen Menschen, die annehmen, un- 
geborene Kinder hätten keine Gefühlstätigkeit? Ich hoffe dodi nicht. 
Nun also, auf dieses eine Wesen, die Mutter, häuft das Kind, 
mindestens eine Zeit lang, so viel von seinem Gefühl, daß alle anderen 
Mensdien nidit in Betracht kommen. Aber diese Neigung ist wie jede 
Neigung, ja, mehr als jede andere reich an Enttäuschungen. Sie 
wissen, die Gefühlswelt sieht die Dinge und Menschen anders, als sie 
sind, sie macht sidi ein Bild von dem Gegenstand der Neigung und 
liebt dieses Bild, nidit eigentlich den Gegenstand. Ein solches BUd 
— eine Image nennen es die Leute, die diesen Dingen jüngst mit vieler 
Mühe nachgegangen sind, — macht sich das Kind auch zu irgend einer Zeit 
von seiner Mutter; vielleidit macht es sidi auch verschiedene solche 
Bilder, wahrscheinlich macht es sie sich. Aber der Einfachheit halber 
wollen wir bei einem Bilde bleiben und es, weil es so Braudi geworden 
ist, Mutterimago nennen. Nadi dieser Mutterimago strebt nun das 
Gefühlsleben des Menschen sein Lebelang, so stark strebt es danach, 
daß beispielsweise die Sehnsucht nach Schlaf, die Sehnsucht nach dem 
Tode, nach Ruhe, nach Schutz sich gut als Sehnsucht nach der Mutter- 
imago auffassen lassen, was ich in meinen Briefen verwerten werde. 
Diese Imago der Mutter hat also gemeinsame Züge, beispielsweise die, die 
ich eben erwähnte. Daneben bestehen aber auch ganz persönliche indivi- 
duelle Eigentümlichkeiten, die nur der einen, vom individuellen Kinde 
erlebten Imago angehören. So hat diese Imago etwa blondes Haar, 
sie trägt den Vornamen Anna, sie hat eine etwas gerötete Nase 
oder ein Mal auf dem linken Arm, ihre Brust ist voll und sie besitzt 
einen bestimmten Geruch, sie geht gebückt oder hat die Gewohn- 

62 



v^ 



heit, laut zu niesen, oder was es sonst sein mag. Für dieses imaginierte, 
der Phantasie angehörende Wesen behalt sich das Es bestimmte 
Gefühlswerte vor, hat sie so zu sagen auf Lager. Nun nehmen Sie an, 
irgend wann begegnet dieser Mann — oder diese Frau, das ist gleich- 
gültig — einem Wesen, das Anna heißt, das blond und voll ist, das 
laut niest, ist da nidit die Möglichkeit gegeben, daß die schlummernde 
Neigung zur Mutterimago aufgerührt wird? .Und wenn die Umstände 
günstig sind — wir werden auch darüber uns gegenseitig verstän- 
digen — , nimmt dieser Mann plötzlich alles, was er an Gefühl für 
die Mutterimago hat, und überträgt es auf diese eine Anna. Sein 
Es zwingt ihn dazu, er muß es übertragen. 

Haben Sie verstanden, was ich mit der Übertragung meine? 
Fragen Sie bitte, wenn es nicht der Fall ist. Denn wenn ich mich nicht 
klar genug ausgedrückt habe, ist alles weitere Reden unnütz. Sie 
müssen die Bedeutung der Übertragung in sich aufnehmen, sonst ist 
es unmöglich, weiter über das Es zu reden. 

Seien Sie gut, und beantworten Sie diese Frage Ihrem treu ergebenen 

PATRIK TROLL. 



7. 
UEBE FREUNDIN, DER LETZTE BRIEF IST IHNEN ZU TROCKEN. 

Das ist er mir auch. Aber geben Sie das Kritisieren auf. Sie reden 
doch nidit in midi hinein, was Sie gern hören mSditen. Entschließen 
Sie sidi ein für alle Mal, in meinen Briefen nicht die Liebhabereien 
und Freuden Ihres Ichs zu sudien, lesen Sie sie, wie man eine Reise- 
beschreibung liest oder einen Detektivroman. Das Leben ist ernst 
genug, und weder Lektüre noch Studium noch Arbeit nodi irgend 
etwas sonst soUte man absichtlich ernst auffassen. 

Sie schelten auch über Mangel an Klarheit. Weder die Über- 
tragung noch die Verdrängung sei Ihnen so lebendig geworden, wie 
Sie und ich es wünsdien. Es sind für Sie noch leere Worte. 

63 



Darin kann idh Ihnen nicht beistimmen. Darf ich Sie auf eine 
Stelle in Ihrem letzten Brief hinweisen, die das Gegenteil beweist? 
Sie berichten von Ihrem Besuch bei Gessners, um dessen Komik 
idi Sie übrigens beneide, und erzählen von einer jung-en Studentin, 
die den Zorn Schulvater Gessners nebst Familien Zubehör auf sidi 
lud, weil sie dem allgewaltigen Lenker der Prima widersprochen hat 
und sogar im Übereifer an der Zweckmäßigkeit des griechisdien 
Unterrichtes zu zweifeln wagte. „Ich muß hinterher zugeben," fahren 
Sie fort, „daß sie recht ungezogen gegen den alten Herrn war, aber 
ich weiß nicht, wie es kam, alles an ihr gefiel mir. Vielleicht war es, 
weil sie mich an meine verstorbene Schwester erinnerte, — Sie wissen, 
Suse starb mitten im Staatsexamen. Die konnte audi so sein, scharf, 
beinahe bärbeißig, und wenn sie in Eifer war, verletzend. Zum Über- 
fluß hatte das junge Ding bei Gessners eine Narbe über dem linken 
Auge, genau wie meine Schwester Suse." Da haben Sie ja eine Über- 
tragung reinsten Wassers. Weil irgend Jemand Ähnlichkeit mit Ihrer 
Schwester hat, mögen Sie sie gern, obwohl Sie selbst fühlen, daß das 
nicht mit rechten Dingen zugeht. Und was das Netteste an der Sache 
ist, Sie geben in dem Briefe, ohne es zu wissen, das Material, wie 
die Übertragung zustande gekommen ist. Oder irre idi mich, stammt 
der Topasring, von dessen Verlust und Wiederfinden Sie kurz vorher, 
ganz gegen Ihre Briefgewohnheiten, ausführhch berichten, nJdit von 
Ihrer Schwester ? Sie sind einfach sdion, ehe Sie das junge Mäddien 
sahen, in Ihren Gedanken mit Suse beschäftigt gewesen, die Über- 
tragung war vorbereitet. 

Und nun die Verdrängung: Nachdem Sie sdiriftlidi festgelegt 
haben, Ihre ungezogene junge Freundin habe über dem linken Auge 
eine Narbe, „genau wie meine Sdiwester Suse", fahren Sie fort: „Id» 
weiß übrigens nidit, ob Suse die Narbe links oder redits hatte." Ja, 
warum wissen Sie das nidit, bei einem Menschen, der Ihnen so nahe 
stand, den sie 20 Jahre täglich gesehen haben und der diese Narbe 
Ihnen verdankt ? Es ist doch dieselbe, die Sie ihr als Kind „aus Ver- 
sehen" beigebracht haben, mit der Sdiere, beim Spielen ? Nach 

64 



meinem Dafürhalten ist es wohl nicht nur ein Versehen jrewesen — 
Sie erinnern sich, wir spradien sdion einmal darüber und Sie gaben 
zu, daß eine Absicht darin gelegen habe; eine Tante hatte die schonen 
Augen Suses gelobt und Ihre Augen neckend mit denen der Haus- 
katze verglichen. Daß Sie nidit wissen, ob Suses Narbe rechts oder 
links gesessen hat, ist die Wirkung der Verdrängung. Das Attentat 
auf die schönen Augen der Schwester ist Ihnen unangenehm gewesen, 
schon des miitterliclien Entsetzens uud der Vorwürfe halber. Sie haben 
die Erinnerung daran fortzusdiaffen versucht, haben sie verdrängt und 
das ist Ihnen nur teilweise gelungen; nur die Erinnerung, wo die 
Narbe saß, haben Sie aus dem Bewußtsein vertrieben. Idi kann Ihnen 
aber sagen, daß die Narbe wirklich links gesessen ist. Woher ich es 
weiß? Weil Sie mir erzählt haben, daß Sie seit dem Tode Ihrer 
Sdiwester genau wie diese an einem linksseitigen Kopfsdimerz leiden, 
der vom Auge ausgeht, und weil Ihr linkes Auge ab und zu ein 
^etiig — es steht Ihnen gut, aber es ist doch wahr — ein wenig vom 
rediten Wege abweicht, gleichsam hilfesuchend nach außen sdiielt. Sie 
haben seinerzeit — durdi Erfindung des Wortes „Versehen" — aus 
dem Unredit Recht zu machen versucht, die Wunde in Ihrer Phantasie 
von der bösen, unrechten, linken' Seite nach der guten, rechten ver- 
schoben. Aber das Es läßt sich nicht betrügen; zum Zeichen, daß Sie 
Böses taten, schwächte es den einen Augenmuskelnerv, warnte Sie 
damit, nidit wieder vom Rechten abzubiegen. Und als die Schwester 
starb, erbten Sie zur Strafe deren linksseitigen Kopfschmerz, der 
Ihnen immer so fürchterlich war. Sie sind damals als Kind nicht be- 
straft worden, vermutlidi haben 5ie aus Angst vor der Rute so ge- 
zittert, daß die Mutter Mitleid bekam; aber das Es will seine Strafe 
haben, und wenn es um die Freude des Leidens gebracht wird, rädit 
es sich irgendwann, oft sehr spät, aber es rächt si(ii, und manche 
rätselhafte Erkrankung gibt ihr Geheimnis preis, wenn man das Es 
der Kindheit nach versäumten Sdhlägen fragt. 

Darf ich Ihnen gleich noch ein Beispiel der Verdrängung aus Ihrem 
Brief geben? Es ist sehr kühn, wenn Sie wollen, an den Haaren 

S Groddcclc, Daa Buch vom Es 65 



herbeigezogen, aber ich halte es für richtig. Ich sprach in meinem 
letzten Brief von drei Dingen: der Übertragung, der Verdrängung 
und dem Symbol. In Ihrer Antwort erwähnen Sie Übertragung und 
Verdrängung, aber das Symbol lassen Sie fort. Und dieses Symbol 
war ein Ring. Aber siehe da, statt das Symbol im Brief zu nennen, 
verlieren Sie es in Gestalt Ihres Topasringes. Ist das nicht komisch? 
Nach meinen Berechnungen — und Ihre Antwort scheint mir das 
zu bestätigen - haben Sie meinen Brief mit dem Ringspielscherz am 
selben Tag erhalten, wo sie den Ring der Sdiwester verloren. Nun 
seien Sie einmal gut und wahrhaftig! Sollte Schwester Suse — sie 
stand doch im Alter Ihnen am nächsten und mir ist es beinahe sicher, 
daß Sie beide gemeinsam die sexuellen Aufklärungen sidi erworben 
haben, über deren Anfänge man nichts weiß oder nidits wissen will 
— sollte Suse nidit mit dem Spiel am Ringe des Weibes, mit dem 
Erlernen der Selbstbefriedigung etwas zu tun haben? Ich komme 
darauf, weil Sie auf meine Ausführungen über die Onanie so kurz und 
streng geantwortet haben. Ich glaube, Sie sind vor lauter Schuldbewußt- 
sein ungeredit gegen diese harmlose Freude der Mensdien. Aber be- 
denken Sie doch, daß die Natur dem Kinde Geschwister und Gespielen 
gibt, damit es von ihnen die Sexualität lernt. 

Darf ich wieder auf jenes merkwürdige menschliche Erlebnis 
zurückgreifen, bei dem ich neulich abgebrochen habe, auf die Ent- 
bindung? Es ist mir aufgefallen, daß Sie meine Behauptung, der 
Schmerz erhöhe die Wollust, ohne Erwiderung hingenommen haben. 
Ich erinnere mich eines lebhaften Streites mit Ihnen über die Lust des 
Menschen am Wehtun und Wehleiden. Es war in der Leipziger Sti-aße 
in Berlin ; ein Droschkenpferd war gestürzt und die Menschenmasse 
hatte sidi gestaut, Männer, Weiber, Kinder, gut gekleidete Leute und 
solche im Arbeiterkittel; sie alle verfolgten mit mehr oder minder 
lauter Genugtuung die vergeblichen Anstrengungen des Tieres, sich 
aufzurichten. Sie haben midi damals gefühlsroh geheißen, weil ich 
solche Unfälle wünschenswert nannte und sogar so weit ging, das 
Interesse der Damen an Schwurgerichtsverhandlungen gegen Mörder, 

66 



? 



an Bergwerksunglücken, Titanicunfällen erklärlich und natiirlidi zu 
finden. 

Wir können, wenn es Ihnen recht ist, den Streit wieder auinehmeo; 
vielleicht kommen wir diesmal zu einer Entscheidung. 

Die beiden wichtigen Ereignisse des weiblidien Lebens, und weiter- 
genommen des Lebens jedes Menschen, da ohne diese Ereignisse 
niemand existieren würde, sind mit Sdimerzen verbunden, der erste 
Geschlechtsakt und die Entbindung. Die Übereinstimmung darin ist 
so auffallend, daß ich mir nidit anders zu raten weiß, als einen Sinn 
darin zu sudien. Über die 'Wollust der Geburtswehen läßt sidi ja auf 
Grund des Geschreis streiten, aber über den Lustdiarakter der Braut- 
nacht besteht kein Zwiespalt der Meinungen. Das ist's, wovon die 
jungen Mädchen wachend und schlafend träumen, was der Knabe und 
Mann sich in tausend Bildern vorstellt. Es gibt Mädchen, die angeblidi 
Ancrst vor dem Schmerz haben ; forschen Sie nach, Sie werden andere 
Gründe für diese Angst finden, Gründe der Gewissensnot, die sidi 
aus verdrängten Onaniekomplexen und tief verborgenen Kindheits- 
vorstellungen vom Kampf der Eltern, Gewalttat des Vaters und 
blutenden Wunden der Mutter zusammensetzen. Es gibt Frauen, die 
nur mit Sdiaudern an die erste Nacht mit dem Manne zurückdenken: 
fragen Sie nach, Sie werden auf die Enttäuschung stoßen, darauf, daß 
alles hinter den Erwartungen, die man gehegt hatte, zurückblieb, und 
in dunklerer Tiefe werden Sie wieder das mütterlidie Verbot der 
Geschlechtslust und die Angst vor der Verwundung durch den Mann 
finden. Es hat Zeiten gegeben, und zwar Zeiten höclister Kultur, wie 
bei den Griechen, in denen der Mann scheu der Entjungferung seines 
Weibes auswich und sie durch Sklaven ausführen ließ, aber all das 
berührt den — alle Tiefen des Mensdien aufreizenden — Wunsch 
nadi dem ersten Liebesakt nicht. Versdiaffen Sie dem ängstlidien 
Mädchen einen klugen Geliebten, der ihr das Schuldgefühl wegspielt 
und sie in Ekstase zu bringen versteht, sie wird den Schmerz jauchzend 
genießen, geben Sie der enttäuschten Frau einen Spielgefährten, der 
trotz des schon zerrissenen Hymens die Phantasie des Weibes so zu 

5* 67 



erreg-en weiß, daß sie den ersten Akt noch einmal zu erleben giaubt, 
ihre Scheide wird sich vereiig:en, sie wird mit Womie den Schmerz 
erleben, um den sie einmal betrogen wurde, ja sie wird selbst die 
Blutung hervorbringen, um sich zu täuschen. Die Liebe ist eine selt- 
same Kunst, die nur zum Teil erlernt werden kann, und wenn irg-end 
etwas, so wird sie vom Es regiert. Schauen Sie in die heimlichen 
Vorgänge der Ehe hinein, Sie werden erstaunt sein, wie oft selbst 
lang- verheiratete Menschen plötzlidi eines Tages, ohne zu wissen 
woher es kommt, die ßrautnacht noch einmal erleben, nicJit nur 
phantastisch, sondern mit allen Freuden und Schrecken. Und auch der 
Mann, der nur mit Schaudern daran denkt, der Geliebten Schmerz 
zuzufügen, wird es mit Freuden tun, wenn die rechte Gefährtin ihn 
zu locken versteht. 

Mit andern Worten, der Sdimerz gehört zu diesem höchsten 
Augenblick der Lust. Und alles, ausnahmslos alles, was gegen diesen 
Satz zu sprechen scheint, ist begründet in der Angst, dem Schuld- 
bewußtsein des Menschen, die in den Tiefen seines Wesens ruhen; 
und je größer sie sind, um so gewaltsamer bricht es im Moment der 
Erfüllung aller Wünsdie hervor, verkleidet als Angst vor Schmerz; 
in Wahrheit ist es Angst vor längst verdienter Strafe, 

Es ist also nicht wahr, daß der Schmerz ein Hindernis der Lust 
ist; es ist aber wahr, daß er eine Bedingung der Lust ist. Es ist also 
nidit wahr, daß der Wunsch, Schmerz zuzufügen, unnatürlich, pervers 
ist. Es ist nicht wahr, was Sie über Sadismus und Masochismus ge- 
lesen und gelernt haben. Diese beiden, jedem Mensdien ohne Aus- 
nahme eingepflanzten, unentbehrlichen menschlichen Neigungen, die zu 
seinem Wesen gehören, wie Haut und Haare, als Perversionen zu 
brandmarken, ist die kolossale Dummheit eines Gelehrten gewesen. 
Daß sie nadhgeschwatzt wird, ist verständlidi. Jahrtausende lang wurde 
der Mensch zur Heudielei erzogen ; sie ist ihm zweite Natur geworden. 
Sadist ist jeder Mensdi, Masochist ist jeder Mensch; ein jeder muß 
von Natur aus wünschen, Schmerz zuzufügen und Schmerz zu erleiden; 
der Eros zwingt ihn dazu. 

68 



I 



l> 



Denn das ist das Zweite: es ist nidit wahr, daß der eine Mensch 
Sdimerzen g-eben, der andre empfangen will, daß der eine Sadist ist, 
der andre Masochist. Jeder Mensch ist Beides. Wollen Sie den Beweis 
dafür haben? 

Es ist sehr leidit, von der Rohheit des Mannes zu spredien und 
von der Zartheit des Weibes und alle alten Scliachteln männlichen und 
weiblichen Geschlechts und alle Muckerseelen tun es unter dem Beifall 
der Gleidigesinnten, zu denen wir uns, in tausend Stunden der 
Heuchelei, alle rechnen müssen. Aber bringen Sie irgend ein weib- 
liches Wesen in mänadische Raserei — nein, das ist^gar nicht nötig, 
würde sich auch, so sagt man, für Sie als Frau nidit schicken — nein, 
geben Sie ihr nur die Freiheit, den Mut, sidi gehen zu lassen, wirklich 
und wahrhaftig zu lieben, ihre Seele nadd: zu zeigen, und sie wird 
beißen und kratzen wie ein Tier, sie wird weh tun und Wonne dabei 

empfinden. 

Besinnen Sie sich noch, wie Ihr Kind aussah, als es geboren war? 
verschwollen, zerquetscht, ein mißhandeltes Würmdien? Haben Sie 
sich je gesagt: das tat idi? O nein, alle Mütter und die, die es werden 
wollen, begnügen sich damit, mit den eigenen Schmerzen zu prahlen; 
daß sie aber ein wehrloses, armselig zartes Geschöpf mit dem Kopf 
vornweg durch einen engen Gang hindurch quetschen, stundenlang es 
hindurchpressen, als ob es nicht die Spur einer Empfindung hätte, 
das kommt den Müttern nicht in den Sinn. Ja, sie haben die Stirn, 
iu sagen, das Kind empfindet den Schmerz nicht. Aber wenn der 
Vater oder sonst jemand das Neugeborene unsanft anfaßt, schreien 
sie: „Du tust dem Kinde weh", „der ungeschickte Peter", und wenn 
es ohne Atem zur Welt kommt, klopft die Hebamme es hinten drauf, 
bis es zum Beweis, daß es Schmerz empfindet, schreit. Es ist nicht 
wahr, daß das Weib zart empfindet, die Rohheit verachtet und haßt. 
Das tut sie nur, wenn andre roh sind. Die eigene Rohheit nennt sie 
heilige Mutterliebe. Oder glauben Sie, daß irgend ein Calignla oder 
irgend ein sonstiger Sadist so leicht und harmlos diese ausgesuchte 
Folter, jemanden mit dem Schädel durch ein enges Lodi zu quetschen 

69 



sich ausdenken würde? Ich habe einmal ein Kind g:esehen, das seinen 
Kopf durdi ein Gitter gesteckt hatte und nun weder vor noch zurück 
konnte. Ich vergesse sein Schreien nicht. 

Die Grausamkeit, der Sadismus, wenn Sie es so nennen wollen, 
liegt den Frauen durchaus nicht fern; man braucht nicht Rabenmutter 
zu sein, um die eigenen Kinder zu quälen. Es ist noch gar nicht so 
lange her, daß Sie mir von Ihrer Freundin erzählten, mit welchem 
Vergnügen sie sich an dem erstaunt beleidigten Gesicht ihres Kindes 
weidete, wenn sie ihm plötzlich die Brustwarze aus dem saugenden 
Mündchen nahm. Ein Spiel, gewiß, leicht verständlich und von uns 
allen in dieser oder jener Form des Weckens kleiner Kinder geübt. 
Aber es ist ein Spielen mit der Qual, und — ja ich muß Ihnen erst 
sagfen, was es bedeutet, obwohl Sie es sich selbst zusammenreimen 
müßten, wenn Sie sich der Symbole erinnerten. Die Mutter ist während 
' des Säugens der gebende Mann, das Kind das empfangende Weib, 
oder um es deutlidier auszudrücken: der saugende Mund ist der 
weibHche Geschlechtstell, der die Bnjstwarze als männliches Glied in 
sidi aufnimmt. Es besteht eine symbolische Verwandtschaft, eine sehr 
enge Verwandtschaft zwischen Saugakt und Begattung, eine Symbolik, 
die im Dienst und zur Verstärkung der Bande zwischen Mutter und 
Kind gebraucht wird. Das Spiel Ihrer Freundin ist — ich nehme an, 
ihr unbewußt — erotisch betont. 

Und wie das Weib, dessen Feld angeblich das Leiden ist, ebenso 
lüstern Schmerzen bereitet, so sucht der gewalttätige Mann den 
Sdimerz auf. Die Lust des Mannes ist die Mühe, die Qual der Auf- 
gabe, die Lockung der Gefahr, der Kampf, und wenn Sie wollen, der 
Krieg. Der Krieg im Sinne des Heraklit, der Krieg mit Menschen, 
Dingen, Gedanken, und der Gegner, der ihn am schwersten leiden 
läßt, die Aufgabe, die ihn fast erdrückt, die liebt er. Vor allem liebt 
er das Weib, das ihm tausend Wunden scJilägt. Wundern Sie sich 
docil nicht über den Mann, der einer herzlosen Kokette nachläuft, 
wundern Sie sidi über den, der es nicht tut. Und wo Sie einen Mann 
heiß lieben sehen, ziehen Sie ruhig den Schluß, daß seine Geliebte 

70 



von Herzen grausam ist, im Tiefsten grausam, von jener Art grausam, 
die gütig erscheint und spielend verwundet. 

Das alles klingt Ihnen paradox, scheint Ihnen echter Trollenscherz. 
Aber es sind Ihnen, während Sie nach der Widerlegung suchen, schon 
tausend Dinge eingefallen, die bestätigen, was ich sage. Der Mensch 
wird empfangen im Sdimerz — denn die wahre Empfängnis ist die 
der ersten Nacht — und er wird geboren im Schmerz. Und noch eins: 
er wird empfangen und geboren im Blut. Soll das denn keinen Sinn 

haben? - ^ 

Überlegen Sie es sich, Sie sind klug genug dazu. Vor allem ge- 
wöhnen Sie sich an den Gedanken, daß der neugeborene Mensch 
empfindet, ja daß er vermutlich tiefer empfindet, als der Erwachsene. 
Und wenn Sie das ei-faßt haben, betrachten Sie nochmals, was bei der 
Geburt vor sich geht. Wie sagt man doch: das Kind erblickt das 
Licht der Welt; und dieses Licht liebt der Mensch; suciit es und 
scliafft es sich selbst im Dunkel der Nacht. Aus engem Gefängnis 
kommt er hinaus in die Freiheit, und die Freiheit liebt der Mensdi 
über alles. Zum ersten Male atmet er, kostet er den Genuß, die Luft 
des Lebens in sich zu ziehen; sein ganzes Leben lang ist freies Atmen 
für ihn das Schönste. Angst, Angst des Erstickens leidet er während 
der Geburt, und Angst bleibt ihm all seine Lebtage als Begleiterin 
jeder höchsten Freude, jeder, die sein Herz klopfen läßt. Schmerzen 
empfindet er in dem Drängen nach Freiheit; Schmerzen gibt er der 
Mutter mit seinem dicken Schädel, und beides sucht er in ewig neuer 
Wiederholung. Und das erste, was seine Sinne trifft, ist der Gerud» 
des Blutes, vermischt mit den seltsam aufregenden Dünsten des 
Frauenschoßes. Sie sind ja gelehrt, Sie wissen ja, daß in der Nase 
ein Punkt ist, der in nahem Verhältnis zur Gesdilechtszone steht. 
Der Säugling hat diesen Punkt so gut wie der ausgewachsene Mensdi, 
und Sie glauben nicht, wie weise die Natur das Gerudisvermögen des 
Kindes ausnützt. Das Blut aber, das der Mensch vergießt, wenn er 
geboren wird, dessen Wesen er mit dem ersten Atemzuge einatmet, 
so daß es ihm unvergeßlich wird, ist das Blut der Mutter. Sollte er 

71 



diese Mutter nicht lieben? Sollte er nicht auch noch in anderem Sinne, 
als man gewöhnlich nennt, ihr blutsverwandt sein? Und tief im Ver- 
borgenen lanert hinter dem allen noch etwas, was dieses Kind mit 
g-ötterstarken Händen an die Mutter bindet, die Schuld und der Tod. 
Denn wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden. 

Ach, liebe Freundin, die menschliche Sprache und das menschliche 
Denken sind ein schwaches Werkzeug, wenn sie Kunde vom Unbe- 
wußten geben sollen. Aber nachdenklich wird man bei den Worten 
Mutter^ und Kind. Die Mutter ist die Wiege und das Grab, gibt Leben 
zum Sterben. . . t 

Und wenn ich nicht gewaltsam schließe, werde ich den Brief nie 
beenden. 

PATRIK TROLL. 

f 

8. 

LIEBE FREUNDIN, ICH HABE NICHT DARAN GEZWEIFELT, 
daß Sie mir in Vielem Recht geben würden, ja, ich bin so kühn, anzu- 
nehmen, daß Sie mir nadi und nach, wenn nicht in allen Einzelheiten, 
doch in den Hauptsachen beistimmen werden. Vorläufig spotten Sie 
ja noch, sind der Meinung, drei Viertel meiner Beiiauptunjren entspringe 
meinem Widerspruchsgeist und von dem Rest sei mindestens die 
Hälfte darauf berechnet, meine sadistische Seele zu retten. „Um Ihnen 
Glauben zu schenken," schreiben Sie, „müßte man die Überzeugung 
aufgeben, daß es unnatürliche Laster gibt und daß, was wir Perver- 
sionen zu nennen gewöhnt sind, Selbstbefriedigung, Homosexualität, 
Sadismus, Sodomie und wie diese Dinge alle heißen mögen, selbst- 
verständliche "Neigungen des Menschen. AUgemeingut unsrer Seele sind.« 
Haben wir uns nicht sciion einmal über das Wort „unnatürlich" 
unterhalten? Für mich ist es der Ausdruck menschlichen Größenwahns, 
der Sich selber als Herrn der Natur empfinden möchte. Man teilt die 
Welt in zwei Teile; was dem Menschen jeweilig paßt, ist ihm natürlld., 
was ihm zuwider ist, nennt er unnatürlich. Haben Sie sciion einmal 
irgend etwas gesehen, was außerhalb der Natur liegt? Denn das be- 
72 



.!» 



\ 



deutet doch das Wort unnatiirlidi. Ich und die Natur, so denkt der 
Mensch, und es wird ihm bei dieser angemaßten Gottähnlichkeit nicht 
einmal bange. Nein, Hebe Spötterin, was ist, ist natürlich, wenn es 
Ihnen auch noch so regelwidrig- vorkommt, noch so sehr geg'en die 
Naturgesetze verstoßt. Diese Naturgesetze sind Schöpfungen des 
Menschen, das sollte man nicht vergessen, und wenn etwas nidit damit 
übereinstimmt, so ist das der Beweis, daß das Naturgesetz falsdi ist. 
Streichen Sie die Bezeichnung unnatürlich aus Ihren Sprachgewohn- 
heiten; Sie werden dann eine Dummheit weniger sagen. 

Und nun die Perversionen. Ein von mir hochverehrter Forsdier 
hat nachgewiesen, daß das Kind alle nur denkbaren perversen Neigungen 
hat; er sagt, das Kind ist multipel pervers. Gehen Sie einen Schritt 
weiter und sagen Sie, jeder Mensch ist multipel pervers, jeder Mensch 
hat jede perverse Neigung in sich, so haben Sie meine Ansicht. Aber 
dann ist es unnötig und unpraktisch, den Ausdruck pervers weiter zu 
gebrauchen, weil dadurch der Eindruck geweckt wird, als ob diese 
jedem Menschen eigentümlidien, unveräußerhchen und lebenslänglichen 
Neigungen etwas Ausnahmsweises, Sonderbares, Auffallendes waren. 
Wenn Sie durchaus schimpfen wollen, brauchen Sie doch das Wort 
Laster oder Schweinerei, oder was Ihnen sonst zur Verfügung steht. 
Netter wäre es schon, Sie strebten dem Satz nach: Nichts Mensch- 
liches sei uns fremd, ein Ideal, das wir freilidi nie erreichen, das aber 
berechtigt ist und dem unsereiner als Arzt mit Haut und Haaren sich 
verpflichtet fühlt. Wir werden noch öfter über diese Neigungen, die 
Sie pervers nennen und die ich bei jedem Menschen voraussetze, 
sprechen müssen,^ auch über die Grunde, warum der Mensch in diesen 
Dingen so gegen sich selbst lügt. 

Einen schonen Triumph haben Sie mir gegönnt, auf den ich stolz 
bin. Neulidi haben Sie mich noch ruchlos gesdiolten, weil ich vom Haß 
der Mutter gegen ihr Kind gesprochen habe, und heute erzählen Sie 
mir — man merkt Ihnen Genugtuung dabei an - von der jungen 
Frau Dahlmann, die bittere Tränen vergießt, weil schon das erste 
Unwohlsein nadi der Hodizeltsreise ausbleibt. Wie ansdiaulidi Sie be- 

73 



Jv 



^ J 



sdireiben können! Idi sah förmlidi tÜe verbissene Wut, mit der die 
kleine Weltdame ihr Korsett anlegt und aus allen Kräften zuschnürt, 
um das junge Leben zu ersticken. Es ist ja auch traurig, wenn man. 
sidi die ganze Brautzeit hindurch auf den Moment gefreut hat, wo 
man als Gattin des Vorsitzenden an dem Arm dieses EintagskÖnigs 
in den Ballsaal eintritt, mit der Aussidit, am nächsten Tage vom Kopf 
bis zu Füßen als die reizende Frau Dahlmann beschrieben zu werden, 
es ist traurig, daß einem ein Tröpfclien Samen alles zerstört, einen 
zur unförmigen Masse verwandelt. 

Finden Sie es schlimm, daß die menschliche Eitelkeit und Ver- 
gnügungssucht so g'roß sind? Daß ein kleiner Mordversuch eines 
Tanzvergnügens halber in Szene gesetzt wird? Denken Sie sich diese 
beiden mächtigen Hebel der Kultur w«g, was würde aus Ihnen werden? 
In kurzer Zeit wären Sie verlaust und verwanzt, bald würden Sie das 
Fleisch mit den Fingern und Zähnen zerreißen und die Rüben, die Sie 
aus der Erde zerren, roh versdilingen, Ihre Hände würden Sie nidit 
mehr wasdien und als Tasdientuch Finger oder Zunge gebrauchen. 
Glauben Sie mir, meine Ansicht, daß auf dem Hang zur Selbst- 
befriedigung - denn in deren Dienst stehen Schönheitssinn und 
Reinlichkeit — die Welt ruht, ist nicht so dumm, wie Sie annehmen. 
Mir ist die Abneigung der Mutter gegen ihr Kind sehr begreif- 
lich. Daß es für die Frau heutzutage nicht angenehm ist, ein Kind zu 
erwarten, habe ich neulidi wieder erlebt. Ich war in der Stadt und 
etwa zwanzig Schritte vor mir ging eine hochschwangere Frau des 
Mittelstandes; zwei Sdiulmädchen, 12-13iährig mochten sie sein, be- 
gegneten ihr, musterten sie scharf und kaum waren sie an ihr vorüber, 
so sagte die eine höhere Tochter zur anderen, und kicherte das 
charakteristische alberne Backfischlachen: „Hast du gesehen? Den dicken 
Bauch? Die kriegt ein Kind." Und die andere erwiderte: „Ach laß 
doch die Schweinereien, ich mag nichts davon wissen." Die Frau mußte 
die Worte gehört haben, sie drehte sich um, als ob sie etwas sagen 
wollte, ging dann aber stumm weiter. Wenige Minuten später — die 
Straße war einsam — kam ein Holzfuhrwerk angefahren. Der Fuhr- 
74 



^- 



kneclit grinste das Weibdien an und rief ihr zu: „Sie laufen wohl 
Parade, um zu zeigen, daß der Mann nodi bei Ihnen Hegt." Es wird 
den Frauen nicht leid\t gemaclit, das ist sicher. Der Ruhm großer 
Fruchtbarkeit, der früher der kinderreichen Frau die Mühen zu tragen 
half, gilt nichts mehr. Im Gegenteil, das Mädchen wädist in der Angst 
vor dem Kinde auf. Recht betrachtet, besteht die Erziehung uiisrer 
Töditer darin, daß wir sie vor zwei Dingen zu hüten suchen, vor der 
geschledithchen Ansteckung und vor dem unehelichen Kinde, und wir 
wissen zu diesem Zwecke nichts anderes zu tun, als ihnen die Ge- 
schlechtsliebe an sich als Sünde darzustellen und die Entbindung als 
große Gefahr. Es gibt Leute, die allen Ernstes die Todesaussiditen 
der Geburt in Vergleich mit denen der Weltkriegsschlachten setzen. 
Das ist eme der Wahnsinnsäußerungen unsrer von Gewissensangst 
schwer belasteten Zeit, die sich immer tiefer in die Schuld der Heuchelei 
verstrickt, der Heudielei auf dem lebenschaffenden Gebiet, und deshalb 
immer rasdier zu Grunde geht. 

Der Wunscli dt^s Mädchens nach dem Kinde entsteht in einer 
Heftigkeit, die nur Wenige wahrnehmen, schon zu einer Zeit, wo es 
zwisdien ehelich und unehelich noch nicht unterscheidet, und die ver- 
steclcten halben Andeutungen der Erwadisenen, die sich gegen das 
uneheliche Kind richten, werden auf das Kind überhaupt bezogen, 
vielleicht nicht von dem Verstände, aber sicher von dem, was unterhalb 
des Verstandes liegt. Aber das sind ja Dinge, denen sich abhelfen 
ließe, denen tatsadilich dieses und jenes Volk, diese und jene Zeit, 
abzuhelfen sucht. Jedoch im Wesen des Weibes, des Menschen liegen 
Gründe zum Kinderhaß, die unabänderüdi sind. Zunächst raubt das Kind 
d m Weibe einen Teil der Schönheit, nicht nur während der Schwanger- 
schaft" es bleibt auch nachher Vieles zerstört, was nie wieder gut zu 
machen ist. Eine Narbe im Gesicht kann die Schönheit der Züge noch 
mehr hervorheben, und idi könnte mir denken, daß Ihre Schwester Ihnen 
im tiefsten Grunde für die interessante Wunde am Auge dankbar gewesen 
ist. Aber hängende Brüste und ein welker Leib gelten als häßlich und 
eine Kultur muß auf den Kinderreichtum gerichtet sein, um sie zu schätzen. 

75 



s 



Das Kind bringt Mühe, Sorgte, Arbeit, vor allem verlangt es Ver- 
zidit auf tausend Dinge, die lebenswert sind. Ich weiß, daß die Freuden 
der Mutterschaft alle diese Leiden aufwiegen können, aber es ist doch 
eben das Gegengewicht da, und wenn man sich solche Verhältnisse 
vorstellen will, so darf man nicht an die Wage denken, hei der die 
schwere Schale tief unten ruht, während die andere regungslos schwebt; 
es ist vielmehr ein ständiges Abwägen, hei dem die wägende Hand 
des täglichen Lebens eine Balleinladung, eine Reise nach Rom, einen 
interessanten Freund mit plumper Gewalt in die Schale wirft, so daß 
sie zeitweise niedersinkt. Es ist ein andauerndes Schwanken, ein immer 
neu wiederholtes Verzichten, das seine Wunden und Schmerzen bringt. 
Immerhin ist es möglich, sich auf diesen Verzicht, "diese Muhen 
und Sorgen vorzubereiten, sich dagegen zu wappnen. Es gibt aber 
Regungen, die die Miitter nicht klar kennen, die sie fühlen, aber nidit 
laut werden lassen, deren giftige Widerhaken sie, um i.ur nichts von 
dem Adel der Mütterlidikeit einzubüßen, tiefer und tiefer in sich hinein 
drücken. 

Ich habe Sie einmal zu einer Entbindung mitgenommen. Besinnen 
Sie sich noch darauf? Geburtshelfer sein ist nicht mein Geschäft, aber 
es war eine besondere Sache mit jener Frau, weshalb sie gerade von 
mir entbunden sein wollte. Ich habe Ihnen damals nichts weiter darüber 
erzählt, aber jetzt will ich es nachholen. Jene Frau wurde von mir 
während der ganzen Schwangerscliaft behandelt; erst hatte sie Er- 
brechen, dann kamen Schwindelanfälle, Blutungen, Schmerzen, dicke 
Beine und was es sonst noch für Überraschungen während solcher 
Zeit gibt. Das, worauf es mir im Augenblicke ankommt, war ihre 
entsetzliche Angst, daß sie ein Kind mit einem verkrüppelten Fuß 
bekommen und selbst sterben werde. Sie wissen, das Kind kam ganz 
gesund zur Welt, die Frau lebt auch noch; aber noch lange blieb bei 
]hr die Idee, dem Kinde müsse irgend was an den Beinen zustoßen. 
Sie berief sich dabei, anscheinend mit Recht, auf die Tatsache, daß 
ihr ältestes Kind einige Wochen nach der Geburt auf rätselhafte Weise 
eine Eiterung des Schleimbeutels am linken Kniegelenk bekommen 
76 



hatte, die recht unangenehm verlief, operiert werden mußte und eine 
tiefe, den Gebraudi, des Kniegelenks ein wenig hindernde Narbe 
zurückließ. Ich muß Ihrem Gutdünken die Entscheidung überlassen, ob 
schon die Eiterung- mit dem zusammenhing, was ich nun zu berichten 
habe; ich meinerseits glaube es, wenn ich auch nicht angeben kann, 
auf weldie Weise die Mutter — unbewußt selbjtverständhch - die 
Erkrankung herbeigeführt hat. -- Die Frau, von der ich erzähle, war 
das erste von fünf Kindern. Mit den beiden ältesten vertrug sie sich 
gut, gegen das vierte, dessen Beaufsichtigung ihr bei den kärglichen 
Lebensverhältnissen der Eltern zeitweise übertragen wurde, hatte sie 
von vornherein eine starke Abneigung, die stets die gleiche gebUeben 
ist und auch jetzt noch besteht. Als das fünfte Kind unterwegs war, 
änderte sidi der Charakter des Mädchens, sie schloß sich mehr an den 
Vater an, wurde widerspenstig gegen die Mutter, quälte die jüngste 
Schwester, kurz, wurde ein rechter Tunichtgut. Als ihr eines Tages 
befohlen wurde, auf die Kleinste aufzupassen, geriet sie in Wut, heulte 
und stampfte mit den Füßen, und als sie von der Mutter bestraft und 
zum Gehorsam gezwungen wurde, hat sie sich zur Wiege gesetzt, die 
Kufen mit dem Fuße wild geschaukelt, so daß das Kind anfing zu 
schreien und dazu vor sich hin gesagt: Verfluchte alte Hexe, verfludite 
alte Hexe. Eine Stunde darauf hat die Mutter sich plötzlich zu Bett 
gelegt und sie zur Hebamme geschickt. Dabei hat sie gesehen, daß 
die Mutter stark blutete. Das Kind ist in derselben Nacht noch ge- 
boren worden, aber die Mutter hat viele Monate im Bett liegen müssen 
und ist nie wieder recht frisch geworden. In dem Mädchen aber wurde 
damals der Gedanke wach und lebt noch jetzt in ihr, sie habe durdi 
ihren Fluch die Erkrankung der Mutter herbeigeführt, sei Schuld daran. 
Nun, das ist ein Erlebnis, wie es häufig vorkommt, wichtig genug für 
die Beurteilung der Schicksale, Charakterbildung, Krankheitsdisposition 
und Todesangst dessen, dem es just zustößt, aber an sich reicht es 
nidit aus, um die Angst vor einer Beinverkrüppelung des erwarteten 
Kindes zu erklären. Das Stampfen mit den Füßen, das bösartige 
Treten der Wiege mit der halbbewußten Absicht, die kleine Schwester 

77 



herausfallen zu lassen, gibt zwar Beziehung-en; sie ^ind aber allein 
nidit kräftiff grenug. Es ist von einer andern Seite eine Verstärkuno- 
des Schuldkontos hinzu gekommen. In dem Dorf, in dem meine 
Wöchnerin aufwudis, lebte ein Idiot mit verkrüppelten Beinen, der, 
sobald die Sonne erschien, vor dem Häuschen der Eltern in einen Stuhl 
g-esetzt wurde und trotz seines Alters von 18 Jahren wie ein drei- 
jähriges Kind mit Steinen und Klötzchen spielte. Seine Krücken hatte 
er neben sich, konnte sie aber ohne Hilfe nicht gebrauchen und schien 
sie nur da zu haben, um den Dorfkindern, die ihn weidlich neckten 
damit zu drohen, wobei er gleichzeitig wilde, unverständliche Laute 
ausstieß. Die kleine Frieda — das ist der Name der Frau, deren 
Entbindung Sie mitgemacht haben - die sonst das Muster eines 
artigen Kindes war, beteiligte sich wahrend ihrer bÖsen Zeit ein paar 
Mal an den Hänseleien der Anderen, bis eines Tages die Mutter 
dahinter kam, ihr eine große Strafpredigt hielt und ihr sagte: der 
liebe Gott sieht alles und er wird dich strafen, so daß du auch einmal 
solch ein verkrüppeltes Kind bekommst. Wenige Tage darauf traten 
die Ereignisse ein, von denen ich berichtete. 

Jetzt liegt der Zusammenhang ziemürfi klar zu Tage. In die 
Grundstimmung des Verdrusses über die Scliwangerschaft der Mutter 
fallen zwei bÖse Erlebnisse hinein, die Drohung mit der Strafe Gottes 
für das Verspotten des Unglücks und die Erkrankung der Mutter, die 
als Folge des Ausrufs: verfluchte alte Hexe, aufgefaßt wird. Beides 
sind für den Gläubigen — und Frieda ist streng katholisch erzogen 
worden. — schwere Sünden. Sie werden in die Tiefe der Seele zurüdc- 
gedrängt und erscheinen in der Form der Angst wieder, als die eigene 
Schwangerschaft eine äußerliche Verknüpfung an die Kindheitserleb- 
nisse gibt. Beiden Ereignissen gemeinsam ist, daß die Füße eine Rolle 
oabei spielen, und dieses Nebenumstandes bemächtigt sich, wie so oft, 
das Schuldbewußtsein und sciiiebt ihn "als Angst vor der Mißgeburt in 
den Vordergrund, während die gleidizeitige Todesangst tiefer in der 
Verdrängung bleibt und scheinbar eher verschwindet; nur sdieinbar, 
denn einige Jahre darauf ist sie in seltsam interessanter Form als 

78 



■? 



Krebsang^st von neuem, wiederum an die Verfluchunsr der Mutter an- 
knüpfend, aufgetreten. Aber das gehört nidit hieher. 

Ich muß, um Ihnen verständlich zu machen, warum ich diese Ge- 
sdiidite g-erade jetzt erzähle, wo es sidi um den Haß der Mütter gegen 
ein Kind handelt, nuf etwas hinweisen, was ich erwähnt habe, aber 
was vermutlich Ihrer Aufmerksamkeit entg-ang-en ist. Frieda hat sich 
während der Schwangerschaft nicht nur von der Mutter abgewendet, 
sondern sich so auffallend an den Vater angeschlossen, daß sie es 
selbst noch nadi vielen Jahren hervorhebt. Das ist der Ödipuskomplex, 
von dem Sie wohl schon gehört haben. Sicherheitshalber ist es aber 
wohl besser, ihn mit zwei Worten festzulegen. Man versteht darunter 
die Leidensdiaft des Kindes zu dem gegengeschlechtlidien Elternteil, 
des Sohnes zur Mutter, der Toditer zum Vater, vereint mit dem 
Todeswunsdi gegen den gleidigesdileditlichen Elternteil, gegen den 
Vater vom Sohne aus, gegen die Mutter von der Tochter aus. Mit 
diesem Ödipuskomplex, der zu den unvermeidlidien Eigeutümlidikeiten 
des Mensdienlebens gehört, werden wir uns noch besdiäftigen müssen. 
Hier kommt es nur auf die Tatsache an, daß Mutter und Toditer stets 
und ohne Ausnahme Nebenbuhlerinnen sind und infolgedessen audi 
den g-egenseitigen Haß der Nebenbuhlerinnen haben. Der Ausdruck: 
verfluchte alte Hexe, hat noch eine viel tiefere Begründung als bloß 
Familienzuwachs. Die Hexe verhext den Geliebten, so ist es im Märchen 
und ist es im Unbewußten des Mädchens. Der Begriff der Hexe ist 
aus dem Ödipuskomplexe abgeleitet, die Hexe ist die Mutter, die den 
Vater durdi Zauberkünste an sid» fesselt, obwohl er eigentlidi der 
Toditer gehört. Mit andern Worten: Mutter und Hexe sind für das 
Es der Märchen dichtenden Mensdiheitsseeie dasselbe. 

Sie sehen, da kommt ein Stück Haß des Kindes gegen die Mutter 
zum Vorschein, das erstaunlidi ist, das nur einigermaßen sein Gegen- 
gewidit in dem Glauben an die jungen, schönen Hexen findet, die rot- 
haarigen gottlosen Dinger, der aus dem Haß der alternden Mutter 
gegen die feurig leidensdiaf-lidie, frisch menstruierte, d. h. rothaarige 
Toditer entsteht. Dieser Haß muß wahrüdi stark sein, da er soldie 

79 



Früdite hervorbringt. In Friedas Fluch hat sich die Qua! langjähriger 
Eifersudit verdichtet, er ist der Maßstab der einen Seile ihrer Gefühls- 
regungen gegen die Mutter, der Gefühlsregungen, die zur >X/ut ge- 
steigert worden sind durch die Schwangerschaft. Denn um schwanger 
2U.sein, muß die Mutter Liebkosungen vom Vater empfangen haben, 
die die Tochter für sich beansprucht. Sie hat das Kind zu Unrecht 
sich erzaubert, die Tochter darum betrogen. • 

Begreifen Sie nun, warum ich Ihnen Friedas Geschichte erzählte? 
Sie ist typisch. In jeder Tochter flammt während der Schwangerschaft 
der Mutter die Eifersucht auf; sie wird nicht immer laut, aber sie ist 
da. Und ob sie sich äußert oder tief im Verborgenen bleibt, stets 
wird sie durch die Gewalt des moralischen Gebotes: Du sollst Vater 
und Mutter ehren, sonst mußt du sterben, niedergedrückt, verdrängt, 
das eine Mal mehr, das andre Mal weniger, immer aber mit dem 
gleichen Erfolg, daß das Schuldbewußtsein entsteht. 

Wie aber steht es mit dem Scäiuldbewußtsein ? Das verlangt Strafe, 
und zwar die Strafe in derselben Form, die die ScJiuId hat. Frieda 
hat den Krüppel verspottet, also wird sie einen Krüppel zur Welt 
bringen. Sie hat ihre Mutter verflucht und beschimpft, das eigene 
Kind wird dasselbe mit ihr tun. Sie hat ihre Mutter gehaßt, das Kind, 
das sie jetzt im Schöße trägt, wird es vergelten. Sie hat der Mutter die 
Liebe des Vaters rauben wollen, dasselbe Los wird ihr das kommende 
Kind bereiten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. 

Finden Sie es nidit verständlich, daß diese Frieda, die ihr Leben 
und ihr Glück vom Kinde bedroht fühlt, dieses Kind nicht immer liebt, 
daß, wenn die in der Tiefe von Kindheit her lagernden Gifte durdi 
die Tagesereignisse aufgerührt werden, sie das Kind haßt, die junge 
Hexe, die schönere, aufblühende, der die Zukunft gehört? 

Das Schuldbewußtsein, das jede Toditer der Mutter gegenüber 
hat, zwingt ihr von vornherein die Fähigkeit zum Haß gegen das 
eigene Kind auf; das ist so. 

Vermutlich glauben Sie wieder, daß ich übertreibe, daß ich aus 
einem einzelnen Fall allgemeine Schlußfolgerungen ziehe, wie es so 
80 



4. 



meine Art ist. Ach nein, liebe Freundin, diesnnal ist es nicht über- 
trieben. Den tiefsten Grund des Sdiuldbewußtseins, das unfehlbar Ang^st 
und Abneigung erzwingen muß, habe ich noch nidit genannt, aber 
neulich habe ich ihn erwähnt. Der liegi darin, daß das Kind bei der 
Geburt, dadurch, daß es geboren wird, der Mutter Blut vergießt. Und 
wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden. Die Frau, 
die guter Hoffnung ist, kann nicht anders, als das Kind im Leibe 
fürchten, denn es ist der Rächer. Und niemand ist gut genug, den 
Rächer immer zu lieben. 

Ich habe dieses lange Schreiben unternommen, weil ich Ihnen gern 
einen Begriff von der Verwicklung aller Beziehungen zwischen Mutter 
und Kind geben weilte. Hoffentlich haben Sie es nicht verstanden ; 
sonst muß ich fürtiiten, daß ich Ihneu die dunkelsten Ecken nicht 
gewiesen habe. Nach und nach werden wir uns aber wohl ver- 
ständigen, entweder darin, daß Sie alles abweisen; nun dann haben 
wir wenigstens eine Zeitlang korrespondiert, oder darin, daß Sie 
gleich mir allen menstiilichen Verhältnissen gegenüber vorsichtig werden, 
duldsam und voll der Überzeugung, daß jedes Ding seine zwei 
Seiten hat. 

Darf ich noch mit zwei Worten auf Friedas Erlebnisse zurück- 
kommen? Idi sagte Ihnen, daß sie, wie alle kleinen Mädchen, das 
Kind der Mutter für sich beansprudite; nicht nur dies eine Mal, 
sondern das Kind vom eigenen Vater zu empfangen, ist ein Wunsdi, 
der auf rätselhafte Weise während des ganzen Lebens einer Frau im 
Unbewußten mitgeht. Und an diesen Wunsch der BlutstJiande heftet 
sich das Wort: Idiot. Sie werden keine Frau finden, die nidit irgend- 
wann von der Idee befallen wird, ihr Kind wird idiotisch zur Welt 
kommen oder es wird verblöden. Denn der Glaube, daß dem Verkehr 
mit dem Vater ein mißratenes Kind entspringen müsse, sitzt tief im 
Gehirn des modernen Menschen. Die Tatsache, daß jener Krüppel 
idiotisch war, hat dahin gewirkt, daß die verdrängten Gefühle jener 
Zeit auch noch durdi die dumpf empfundenen Wünsche und Ängste 
der Blutschande vergiftet wurden. 

6 Groddeck, Das Bucli vom Es Sl 



Es fehlt noch etwas um das Bild vollständig zu überblicken. Ich 
habe Ihnen früher von der Symbolik der Geschlechtsteile g-esprochen. 
Nun, das deutlichste Symbol des weiblichen Organs, das sich schon in 
dem Woi-t Gebärmutter kundgibt, ist die Mutter. Für das symboli- 
sierende Es — und idi sagte Ihnen, das Es kann nicht anders als 
symbolisieren — ist der weibliche Geschlechtsteil die Gebärerin, die 
Mutter. Wenn Frieda ihrer Mutter flucht, so verflucht sie auch das 
Symbol, ihr Geschleditsorgan, ihr eigenes gebärendes Wesen, ihr 
Frau- und Muttersein. 

Habe ich nicht recht gehabt, als ich sagte, über das Es laßt sich 
nur stammeln? Idi mußte es sagen, muß es wieder sagen, sonst halten 
Sie midi am Ende doch noch für einen Narren. Aber wenn audi, Sie 
werden sehen, daß wenigstens Methode in der Narrheit ist. 

Herzlichst Ihr 

PATRIK TROLL. 



9. 

SIE SIND UNGERECHT. LIEBE FREUNDIN. ICH KANN NICHTS 
dafür, daß das Leben verwickelt ist. Wenn Sie alles g-latt verstehen 
wollen, so rate ich Ihnen nochmals, nehmen Sie Lehrbücher zur Hand. 
Da finden Sie die Dinge schön geordnet und klar auseinandergesetzt. 
Nebel und Dunkelheit gibt es da nidit, oder wenn es sie gibt, geht 
das tugendhafte Lehrbuch mit der Bemerkung daran vorbei: dort 
ist es dunkel. 

Die Schulwissenschaft ist wie ein Tapisseriewarenladen, Da liegt 
ein Knäuel neben dem andern, Zwirn, Seide, Wolle, Baumwolle, in 
allen Farben, und jedes Knäuel ist sorgfältig aufgevnckelt ; wenn Sie 
das Ende des Fadens fassen, können Sie ihn rasch und ohne Mühe 
abwickein. Aber idi besinne mich aus meiner Kindheit, was für eine 
Geschidite es war, wenn wir der Mutter über ihre Näh- und Strick- 
sachen gekommen waren und das Garn verwirrt hatten. Das war eine 
Mühe, die verschlungenen und verknoteten, verfitzten Fäden wieder 

82 



auseinander zu klauben. Manchmal blieb als einzige Rettung- die Schere 
übrig, die leicht den Knoten zerschnitt. Aber nun denken Sie sich die 
g-anze Welt voll solch Wirrwarr von Garn. Dann haben Sie — vor- 
ausgesetzt daß Sie Phantasie genug haben, um es sich vorzustellen, 
und iiicht sofort ermattet sagen: nein, so etwas will ich nicht einmal 
denken — dann haben Sie, sage ich, das Arbeitsfeld vor sich, auf 
dem der forschende Mensch tätig ist. Dies Arbeitsfeld liegt hinter 
dem Laden, nian sieht es nicht. Niemand, der nicht dazu gezwungen 
ist, begibt sich in diesen Raum, wo jeder ein Fädchenstück zwisdien 
den Fingern hat und emsig daran herum bastelt. Da gibt es Streit 
und Neid und gegenseitiges Helfen und Verzweiflung, und nie findet 
einer, auch nicht einer ein Ende. Nur ab und zu kommt ein Herrchen 
vorn aus dem Laden und fordert ein Stück rote Seide oder sdiwarze 
Wolle, weil eine Dame — vielleicht sind Sie es — gerade irgend 
etwas Niedliches stricken will. Dann weist ein müder Mann, der eben 
von der Aussichtslosigkeit seines Schaffens ermattet die Hände hat 
sinken lassen, die paar Meter Garn, die er mühsam in Jahrzehnten 
aus dem wirren Gewimmel herausgeholt hat, der Ladendiener holt 
seine Schere vor, schneidet das glatte Stück heraus und wickelt es, 
während er nach vorn geht, wundervoll zum Knäuel. Und Sie kaufen 
es und glauben ein Stück Menschheit zu kennen; ja, ja. 

Nun, die Werkstatt, in deren Verkaufsraum ich diene, — denn 
ich gehöre nicht zu den geduldigen Leuten, die ihr Lebelang an der 
Verwirrung herum klauben, ich verkaufe Knäuel — also diese Werkstatt 
ist schlecht beleuchtet und das Garn ist schlecht gesponnen und 
an tausend Stellen schon zerschnitten und zerfetzt. Man gibt mir nur 
immer kleine Stückchen, die muß ich zusammen knoten, muß selber 
hie und da die Schere gebraudien und, wenn es nachher zum Ver- 
kauf kommt, ist alle Augenblicke der Faden zerrissen oder es ist rot 
und schwarz zusammen gebunden, Baumwolle und Seide, kurz es ist 
eigentlich keine Verkaufsware. Daran kann ich nichts andern. Aber 
seltsam ist es, daß es immer nodi Leute gibt, die so etwas kaufen; 
kindische Leute offenbar, die an der Buntheit und Regellosigkeit 

6* 83 



Gefallen finden. Und das Seltsamste ist, daß Sie zu diesen Leuten 
gehören. 

Nun, wo wollen wir heute anfangen? Beim Kindchen, beim ganz 
kleinen Kindchen, das noch im Bauch der Mutter schläft. Vergessen 
Sie nicht, es ist Phantasiewolie, die ich Ihnen anbiete. Besonders 
merkwürdig im Leben des ungeborenen Kindes ist mir immer eine 
Tatsache gewesen : die, daß es allein mit sich ist, nicht nur eine Welt 
für sich hat, sondern eine Welt für sicli ist. Wenn es ein Interesse 
hat — und wir haben gar keinen Grund anzunehmen, daß es interesse- 
los, unverständig wäre, im Gegenteil, die anatomlsdien und physiologi- 
schen Verhältnisse erzwingen die Annahme, daß das Kind audi 
ungeboren denkt, und die Mütter bestätigen das aus den Wahr- 
nehmungen, die sie am Kinde in ihrem Leibe machen — wenn das 
ungeborene Kind ein Interesse hat, so kann es im Wesentlichen nur 
das Interesse an sich selbst sein. Es denkt nur an sich, alle seine 
Affekte gehen auf den eigenen Mikrokosmos. Ist es zu verwundern, 
daß diese von Beginn an geübte Gewohnheit, diese erzwungene 
Gewohnheit dem Menschen sein ganzes Leben hindurch bleibt? Denn 
wer ehrlich ist, der weiß, daß wir alles immer auf uns selbst be- 
ziehen, daß es ein mehr oder minder schon anzuschauender Irrtum ist, 
anzunehmen, wir lebten für Andere oder für Anderes. Das tun wir 
niemals, nicht einen AugenWick, niemals. Und der, auf den sich die 
Verkünder der edlen, ach so falschen und erdachten Gefühle der Auf- 
opferung, Selbstverleugnung, Nächstenliebe berufen, Christus, wußte 
das; denn als höchstes Ideal, als ein unerreichbares Ideal spracli er 
das Gebot aus: Liebe deinen Nächsten als dich selbst; wohlgemerkt 
nicht „mehr als dich selbst", sondern so wie du dich liebst. Er nennt 
dieses Gebot gleich dem andern : Liebe Gott von ganzer Seele, von 
ganzem Herzen, von ganzem Gemüte. Es fragt sidi, ob dieses Gebot 
nicäit in ganz anderem Sinne dem zweiten der Nächstenliebe gleidi 
ist, gewissermaßen mit ihm identisch ist, was ich glaube und worüber 
wir später unsere Gedanken austauschen können. Jedenfalls aber hielt 
er fest an der Überzeugung, daß der Mensch sich selbst am meisten 

84 



liebt, und das Geschwätz der guten Menschen nannte er pharisäisch 
und heucJilerisch, was es auch Ist. Heutigen Tages nennt die Psycho- 
logie diesen Trieb bei Menschen zu sich selbst, diesen Trieb, der aus- 
schließlich ist und in dem Alleinsein des Kindes im Mutterleibe wurzelt, 
Narzißmus. Sie wissen, Narzissus war in sich selbst verliebt, ertrank 
in dem Bach, in dem er sein Spiegelbild sah; eine erstaunliche Um- 
dichtung des Selbstbefriedigungstriebes. 

Sie erinnern sich, daß ich behauptete, das Objekt für die Liebes- 
fähigkeiten des Mensciien sei zunächst und fast ausschließlidi er selbst. 
Der neunmonatige Verkehr mit sich selbst, zu dem die Natur den 
Menschen während der vorgeburtlidien Zeit zwingt, ist ein aditbares 
Mittel, diesen Zweck zu erreichen. 

Haben Sie schon einmal versucht, sich in die Gedankengänge 
eines ungeborenen Kindes hinein zu versetzen? Tun Sie es einmal. 
Machen Sie sich ganz klein, ganz klein und kriechen Sie in den Baudi 
zurück, aus dem Sie gekommen sind; es ist das gar nicht so eine 
sinnlose Aufforderung, wie Sie meinen, und das Lächeln, mit dem Sie 
meine Zumutung wegweisen, ist kindlidi freundlich, ein Beweis, wie 
vertraut Ihnen der Gedanke ist. Tatsächlich wird ja auch unser ganzes 
Leben, ohne daß wir es wissen, von diesem Wunsd», in die Mutter 
zu gelangen, geleitet. Ich möchte in dich hineinkriechen, wie oft hürt 
man dieses Wort! Nehmen wir an, es gelange Ihnen, wieder in den 
Mutterschoß zurückzukehren. Idi denke mir, es müßte einem dabei zu 
Mute sein, wie Jemandem, der nach einem bunt verlebten Tage voll 
schöner und finsterer Gedanken und Erlebnisse, voll Sorgen, Mühe, 
Arbeit und Lust und Gefahr zu Bett geht, allmählich schläfrig wird 
und mit dem angenehmen Empfinden, sicher und ungestört zu sein, ein- 
schläft. Nur tausendfach schöner, tiefer, ruhiger muß dieses Empfinden sein, 
vielleicht ähnlitii dem, das hie und da ein sensitiver Mensch beschreibt, 
wenn er von einer Ohnmacht erzählt, oder dem, was wir so gern bei 
sachte in den Tod gleitenden Freunden als Einschlummern voraussetzen. 

Muß ich es noch ausdrücklich sagen, daß das Bett ein Symbol 
des Mutterleibes ist, der Mutter selbst? Ja, ich gehe in meinen Be- 

85 



hauptungen noch weiter. Sie besinnen sich, was ich Ihnen üfcer das 
symbolische Denken und Handeln des Menschen schrieb, daß er dem 
Willen des Symbols untürworfeii ist und gehorsam tun muß, was diese 
Sdiicksalskraft verlangt, daß er erfindet, was das Symbolisieren er- 
zwingt. Um den Schein unsrer Gottahnüchkeit zu wahren, preisen wir 
freilich unsre Erfindung-en als Werke unsres bewußten Denkens, unsres 
Genius und verg-essen ganz, daß die Spinne sich im Netz ein Werk- 
zeug erfunden hat, das nicht minder genial ist als das Netz, mit dem 
wir Fische fangen, und daß der Vogel Nester baut, die den Vergleich 
mit unsern Bauten wohl aushalten. Es ist eben ein Irrtum, den Ver- 
stand des Menschen zu preisen, ihm das Verdienst alles Geschehens 
zuzuschreiben, ein begreiflicher Irrtum, da er auf dem Allmachts- 
gefühle des Menschen beruht. In Wahrheit sind wir Werkzeuge des 
Es, das mit uns macht was es will, und es ist schon des Ver- 
weilens wert, gelegentlich dem dunklen Walten des Es nachzuspüren. Um 
es kurz zu sagen: ich glaube, daß der Mensdi das Bett ei-finden 
mußte, weil er von der Sehnsucht nach dem Mutterleibe nitiit los- 
kommt. Ich glaube nicht, daß er es sich erdacht hat, um bequemer zu 
iieg-en, gleichsam um seiner Faulheit zu fröhnen, sondern weil er seine 
Mutter liebt. Ja, mir ist es wahrscheinlich, daß die Faulheit des Menschen, 
die Freude am Bett, am langen Liegen in den hellen Tag hinein der 
Beweis einer großen Liebe zur Mutter ist, daß die faulen Menschen, 
die gerne schlafen, die besten Kinder sind. Und wenn Sie bedenken, 
daß das Kind, je mehr es seine Mutter liebte, um so eifriger streben 
muß, von ihr los zu kommen, so werden Ihnen Naturen wie Bismarck 
oder der alte Fritz, deren emsiger Fleiß in seltsamem Gegensatz zu 
ihrer großen Faulheit steht, begreiflich werden. Ihr unablässiges Arbeiten 
ist eine Auflehnung gegen die Fessel der Kindesliebe, die sie mitsdileppen. 
Diese Auflehnung ist begreiflich. Je wohler sich das Kind im 
Mutterleibe gefühlt hat, um so tiefer muß es den Schrecken des 
Geborenseins empfinden, um so inniger muß es den Schoß lieben, in 
dem es ruhte, um so stärker muß das Grauen vor diesem Paradiese 
der Faulheit sein, aus dem es nodi einmal vertrieben werden konnte. 

86 



m 



Liebste Freundin, ich warne Sic allen Ernstes, die Korrespondenz 
mit mir fortzusetzen. Ich führe Sie, wenn Sie auf mich hören, so weit 
weg von allem, was vernünftige Menschen meinen, daß es Ihnen nachher 
sdiwer werden wird, den richtigen gesunden Mensdienverstand wieder 
zu finden. So und so viele Gelehrte, historisch gebUdete Leute, haben 
das Seelenleben Bismarcks nach allen Richtungen hin durdiforscht und 
sind zu dem Schluß fe-ekommen, daß er sich aus seiner Mutter nidit 
viel gemacht habe. Er erwähnt sie kaum und, wo er es tut, kÜngt 
ein Groll aus seinen Worten. Und nun komme ich daher und behaupte, 
die Mutter ist der Mittelpunkt seines Lebens gewesen, war das Wesen, 
das er am meisten geliebt hat. Und dafür bringe ich nur die eine 
Tatsache als Beweis, daß er stets sich nach Ruhe sehnte und doch 
vor der Untätigkeit floh, daß er die Arbeit haßte und doch stets 
arbeitete, daß er gern scÄiIafen wollte und schlecht schlief. Es ist 
•wirklich eine Zumutung, da Glauben zu erwarten. Aber gestatten Sie 
mir, ehe Sie das Wort „albern" aussprechen, noch zwei, drei Dinge 
aus Bismarcks Wesen herauszugreifen. Zunächst ist da das seltsame 
Phänomen, das zu erwähnen gewissenhafte Beobachter nie verfehlen; 
Er spradi — seltsam bei einem Mann von solch massigem Körperbau 
~ mit hoher Stimme. Für Unsereinen bedeutet das: etwas in diesem 
Manne war Kind geblieben, stand der Welt gegenüber wie das Kind 
der Mutter, eine Behauptung, die sich leicht aus den Wesenszügen 
■'■ des „eisernen" Kanzlers, der in Wahrheit Nerven wie ein Knabe 

besaß, stützen ließe. Es braucht aber der individuellen Charakter- 
eigenschaften nidit, um von Jemandem, der solche hohe Stimmlage 
hat, zu sagen: Der ist kindlich und ein Muttersöhnchen. 

' Besinnen Sie sidi nodi — ach es ist schon lange her - wie wir 
zusammen im deutsdien Theater waren, um Joseph Kainz als Romeo 
sehen? Wie wir uns wunderten, daß seine Stimmlage in den 
Liebesszenen so hodi wurde, mit welchem seltsam knabenhaften Klang 
das Wort Liebe von ihm ausgesprochen wurde? Ich habe später oft 
daran denken müssen, denn es gibt Viele, die, so männlich sie sonst 
sind, das eine Wort Liebe hoch aussprechen. Warum? Weil bei dem 

87 






einen Worte plötzlich in ihnen diese erste, tiefste, unverg-ängliche Liebe 
wieder wadi wird, die sie als Kind für die Mutter empfanden, weil 
sie damit sagten wollen, sagen müssen, ohne es zu wollen: Idi liebe 
dich, wie icJi die Mutter liebte, und alle Liebe, die ich geben kann, 
ist Abg-lanz der Liebe zu ihr. Es wird Keiner leiciit mit diesem Wesen 
Mutter fertig; bis an das Grab wiegt sie uns in ihren Armen. 

Audi an einer anderen Stelle kommt das Mutterkind in Biamarck 
zum Vorsdiein: er raudite viel. Warum finden Sie es g-lcidi komisch, 
daß ich das Rauchen als einen Beweis der Kindlichkeit und des J 

Hängens an der Mutter anspreche? Ist Ihnen noch nie in den Sinn % 

gekommen, wie ähnlich das Rauchen dem Saugen an der Mutterbrust v 

ist? Sie haben Augen und sehen nicht. Adilen Sie doch auf soldi '-*" 

alltägliche Dinge; sie werden Ihnen manch Geheimnis offenbaren, nicht 
bloß das eine, daß der Raucher Mutterkind ist. 

Für mich ist kein Zweifel — und ich könnte noch viel darüber* 
plaudern: Dieser starke Mensdi war im Tiefsten von der Mutterimago 
beherrsdit. Sie kennen ja seine Gedanken und Erinnerungen. Ist es 
Ihnen nicht aufgefallen, daß dieser Tatsachen mensdi es für nötig hält, 
einen Traum zu erzählen? einen Traum, wie er mit der Gerte den 
Felsen sprengt, der ihm den Weg versperrt? Nidit der Traum ist das 
Merkwürdige ; für jeden, der etwas sich mit Träumereien besrfiäftig-t, 
ist es klar, daß der Inzestwunsch, der Ödipuskomplex darin verborgen 
ist Aber daß Bisraarck ihn erzählt hat, das ist der Aufmerksamkeit 
wert. Nahe am Grabe war er nodi so in der Gewalt der Mutter, daß 
er dies Geheimnis seines Lebens mitten in die Erzählung seiner 
größten Taten hineinstellen mußte. 

Sie sehen, Hebe Freundin, mit ein wenig gutem Willen laßt sich 
in jedes Menschen Leben die Wirkung der Mutterimago hineindeuten. 
Und diesen guten Willen besitze ich. Ob das, was idi denke, riditig 
ist, darüber mögen Sie je nach Ihrem Gutdünken urteilen. Aber es kommt 
mir nidil darauf an, redit zu haben. Mir Hegt daran, Ihnen eine kleine 
Regel in das Gedächtnis einzuprägen, weil ich finde, daß sie im Verkehr 
mit sidi und den Mensclien nützlid» ist: Wen man schilt, den liebt man. 
88 



1 

I 



MMHI 



Aditen Sie darauf, worüber die Menschen schelten, was sie ver- 
adilen, wovor sie sich ekeln. Hinter dem Schelten, der Verachtung;, 
dem Ekel, der Abneigfung-, steckt immer und ohne Ausnahme ein 
schwerer, noch nicht abgesclilossener Konflikt. Sie werden nie in der 
Annahme feh!g;ehen, daß der Mensdi, was er haßt, einmal sehr geliebt 
hat und noch liebt, was er verachtet, bewundert hat und noch be- 
wundert, wovor er sich ekelt, gierig gewünsclit hat: Wer die Lüge 
verabscheut, ist sicher ein Lügner gegen sidi selbst, wer sich vorm 
Sdimutz ekelt, für den ist der Schmutz eine verführerische Gefahr, 
und wer einen andern verachtet, der bewundert und beneidet ihn. 
Und es hat eine tiefe Bedeutung, daß die Frauen — und auch die 
Männer — sidi vor Schlangen fürchten, denn es gibt eine Sdilange. 
die die Welt und das Weib regiert. Mit anderen Worten; die Tiefen 
der Seele, in denen die verdrängten Komplexe ruhen, verraten sich in 
den Widerständen. Zwei Dinge muß beachten, wer sich mit dem Es 
befaßt, die Übertragungen und die Widerstände. Und wer Kranke 
behandeln will, mag er Chirurg oder Geburtshelfer oder praktischer 
Arzt sein, hilft nur soweit, als es ihm gelingt, die Übertragungen des 
Kranken auszunützen und die Widerstände zu lösen. 

Idi habe nidits dagegen, wenn Sie dieser Regel gemäß beurteilen 

und verurteilen Ihren allzeit getreuen 
■■^ ■ PATRIK TROLL. 

, ^- , . 

"■■ 

10. 

DANK FÜR DIE MAHNUNG, LIEBE FREUNDIN. ICH WERDE 
versuchen, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Nur 

nicht sdion heute. 

Ich muß Ihnen etwas erzählen. In freundlich einsamen Stunden 
überfällt mich zuweilen eine Träumerei seltsamen Inhalts. Ich stelle mir 
dann vor, daß ich von Feinden verfolgt, einem Abgrund zueile, dessen 
felsiger Rand, wie ein weit vorspringendes Dach, die jäh hinabführende 
Wand überragt. Lose um einen Baumstumpf geschlungen, hängt ein 

89 



langes Seil in die Tiefe. Daran gleite ich nieder und schaukle mich hin 
und her, der Felswand zu und wieder weg- davon, in immer größeren 
Schwingungen. Hin und her, hin und her schwebe ich über dem Ab- 
errund, sorglich, mit den Beinen den Körper von dem Felsen abzu- 
stoßen, damit er nicht gequetscht wird. Es Hegt ein verführerischer 
Reiz in diesem Schaukeln und meine Phantasie dehnt es in die 
Länge. Endlich aber gelange idi zum Ziel. Eine Höhle, von der 
Natur geschaffen, liegt vor mir; sie ist aller Menschen Augen 
verborgen, nur ich keime sie, und in weitem sanftem Schwünge 
fliege ich in sie hinein und bin gerettet. Der Feind starrt von der 
Höhe des Felsens in die schwindelnde Tiefe hinab und geht seinen 
Weg zurück in der sicheren Annahme, daß ich unten zersclimettert 
liege. 

Ich habe oft gedacht, daß Sie mich beneiden würden, wenn Sie 
wüßten, wie süß die Wonne dieser Phantasie ist. Darf ich sie deuten? I 

Diese Höhle, deren Zugang nur ich allein kenne, ist der Leib der 
Mutter. Der Feind, der midi verfolgt, und, in seinem Haß befriedigt, 
mich zerschlagen im Abgrund wähnt, ist der Vater, der Mann dieser 
Mutter, der sich ihr Herr zu sein dünkt und doch das nie betretene, 
unbetretbare Reich ihres Schoßes nicht kennt. Letzten Endes will dieser 
Traum im Wachen nichts anderes sagen, als was ict\ als Kind zu ant- 
worten pflegte, wenn man mich fragte: Wen willst du heiraten? Es 
kam mir gar nicht in den Sinn, daß idn irgend ein Weib heiraten 
könnte, außer der Mutter. Und ich verdanke es wohl nur der trostlosen 
Einsamkeit meiner Schuljahre, daß dieser tiefste Wunsch meines 
Wesens zu einer schwer verständlidien Symbolphantasie niedergedruckt 
wurde. Nur das nidit mitteilbare Wonnegefühl des Sdiaukelns verrät 
nodi die Glut des Affekts. Und die Tatsadie, daß ich so gut wie 
nichts mehr von der Zeit zwischen 12 und 17 Jahren weiß, die ich ge- 
trennt von meiner Mutter verleben mußte, beweist, welche Kämpfe in 
mir stattgefunden haben. Es ist eine eigene Sache mit solcher Los- 
lösung von der Mutter, und ich kann wohl sagen, daß das Schicksal 
gnädig über mir gewaltet hat. 

90 



4 



« 



:\. 



Das ist mir heute wieder einmal recht klar geworden. Ich habe einen 
harten Strauß mit einem jungen Manne durchg-efochten, der sich 
durchaus von mir behandeln lassen will, aber vor Angst bebt und 
kaum ein Wort vorbringen kann, sobald er mich sieht. Er hat es fertig 
o-ebraclit, mich mit seinem Vater zu identifizieren, und wie ich es auch 
anfangen mag, er bleibt der Meinung — oder vielleiclit sein Es bleibt 
der Meinung daß ich irgendwo ein großes Messer verborgen habe, 

daß i(ii ihn packen und des Abzeichens seiner Mannheit berauben 
werde. Und das alles, weil er seine Mutter, die langst tot ist, leiden- 
schaftlich geliebt hat. In diesem Menschen lebte einmal, ~ Jahre lang 
oder nur für Augenblicke — lebt vielleicht noch der tobende Wunsch, 
die eigene Mutter zur Geliebten zu nehmen, ihren Schoß zu besitzen. 
Und aus diesem Wunsch, dieser Begierde der Blutsdiande wuchs die 
Angst vor der Rache des Vaters, der mit dem verniditenden Messer- 
schnitt das geile Glied abschneidet. ■ ' . ' : 

Daß ein Kranker im Arzt seinen Vater sieht, ist erklärlich. Die 
Übertragung des Affekts zu Vater oder Mutter auf den Arzt stellt 
sich bei jeder Behandlung ein; sie ist maßgebend für den Erfolg und 
je nachdem der Kranke mit seinem Gefühlsleben auf den Vater oder 
auf die Mutter eingestellt war, wird er den starken oder den sanften 
Arzt bevorzugen. Wir Ärzte tun gut daran, uns dieser Tatsache be- 
wußt zu bleiben ; denn drei Viertel unserer Erfolge, wenn nicht viel 
mehr, beruhen auf der Fügung, die uns irgend welche Wesensähnlich- 
keit mit den Eltern der Patienten gab. Und der größte Teil unserer 
Mißerfolge ist auch auf solche Übertragungen zurückzuführen, was uns 
einigermaßen über den Verdruß unserer Eitelkeit trösten mag, den ihr 
die Erkenntnis der Übertragung als des eigentlichen Arztes bereitet. 
Ohn aÜ mein Verdienst und Würdigkeit" mit diesem Lutherwort bleibt 
vertraut, wer mit sich selbst in Frieden leben will. 

Darin ist also nichts Merkwürdiges, daß mein Patient in mir den 
Vater sucht; aber daß er, der an die Mutterimago gefesselt ist, sich 
einen Vaterarzt auswählt, fallt auf und die Schlußfolgerung ist erlaubt, 
daß er, ohne es sich selbst klar gemacht zu haben, am Vater ebenso 

9t 



hängt wie an der Mutter. Das gäbe eine gute Aussicht auf Erfolg. 
Oder sein Es trieb ihn zu mir, weil er sich durcli eine mißlungene 
Kur zum so und so vielten Male beim so und so vielteO Lehrer und 
Arzt beweisen will, daß der Vater ein armselig minderwertiges Ge- 
schöpf ist, Dann ist freilich wenig Hoffnung, daß gerade ich ihm helfen 
werde. Ich täte besser, ihm diesen Sachverhalt zu erklären und ihn 
auf die Suche nach einem Arzte der mütterlichen Art zu schicken. 
Aber ich bin ein unerziehbarer Optimist und nehme an, daß er trotz 
seiner Angst im Innersten ernstlich an mein Übergewicht glaubt und 
es liebt, wenn er auch gern ein bißchen Bosheit in die Behandlung 
hineinträgt. Solche Schabernaclc spielende Kranke sind nidit selteu. 
Immerhin ist der Sachverhalt zweifelhaft und erst der Ausgang der 
Behandlung wird mich lehren, was den Kranken bewog, gerade zu mir 
zu kommen. 

Idi kenne ein Mittel, die verborgene Gesinnung eines Mensdien 
gegen mich, wie sie im Augenblicke da ist, ans Tageslicht zu ziehen, 
und weil Sie ein artig liebes Weibchen sind und Humor genug besitzen, 
um es ohne Verdrießlichkeit zu verwenden, will ich es Ihnen verraten. 
Fragen Sie den, dessen Herz Sie kennen lernen möchten, nach einem 
Sdiirapfwort. Und wenn er, wie zu erv/arten steht, „Gans" sagt, dürfen 
Sie es auf sich beziehen und ohne Ärger feststellen, daß Sie ihm zu 
viel schnattern. Aber vergessen Sie nicht, daß Gans gebraten gut 
schmeckt, daß es also ebenso gut ein Kompliment, wie eine Be- 
schimpfung sein kann. 

Nun, idi habe bei passender Gelegenheit meinen Kranken audi 
nadi einem Schimpfwort gefragt und es kam, prompt, wie ich es er- 
wartet hatte, das Wort Ochse. Damit wäre ja die Frage gelöst: mein 
junger Freund hält midi für dumm, für horndumm. Aber das kann S> 

eine Empfindung des Augenblicks bei ihm sein, die — so hoffe ich — 
vorübergehen wird. Was mich an dem Wort interessiert, ist etwas 
anderes. Wie inmitten der Dunkelheit ein aufzuckendes Licht erhellt 
es für einen Augenblick die Finsternis der Erkrankung. Der Odnise ist 
kastriert. Wenn ich, wie sidi das für den wohlanständigen Arzt ge- 

92 



, 



^' 



ziemt, den bösartig-en Hohn überhöre, der midi zum Eunudien degradiert, 
finde idi in dem Wort Ochse eine neue Erklärung- für die Angst meines 
Patienten, ja, es bringl: mich sogar der allgemeingültig-en Losung einer 
überaus wicliti^en Frag-e näher, die wir in unserem seltsamen Medizin- 
deutsch „Kastrationskomplex" nennen. Und wenn ich einmal diesen 
Kastrationskomplex in seinen Einzelheiten und seiner Gesamtheit be- 
herrsclie, werde ich mich Doktor Allwissend nennen und werde Ihnen 
von den vielen Millionen, die dann in meine Kasse fließen werden, 
großmütig eine schenken. Das, Wort Ochse verrat mir nämlich, daß 
mein Klient einmal den Wunsch und die Absicht gehabt hat, seinen 
eigenen Vater zu kastrieren, aus dem Stier einen Ochsen zu machen, 
und daß er dieses frevelhaften Wunsches wegen nadi dem Satze: 
Auge um Auge, Zahn um Zahn, Schwanz um Schwanz für seinen 
eigenen Geschleditsteil bange ist. Was mag ihn zu diesem Wunsch 

bewogen haben? 

Sie sind rasdn mit der Antwort bei der Hand, liebe Freundin, 
und idi beneide Sie um diese entschlossene Raschheit. „Wenn", sagen 
Sie, „dieser Mensch von der Begierde beherrscht ist, seine Mutter zur 
Geliebten zu haben, kann er niclit dulden, daß ein anderer — der 
Vater — sie besitzt, er muß den Vater töten wie Ödipus den Laios 
oder er muß ihn kastrieren, zum ungefährlichen Haremssklaven madien." 
Leider sind die Dinge im Leben nicht so einfach, und Sie müssen sich 

^^ jetzt mit Geduld für eine lange Auseinandersetzung wappnen. 

'^'■' Mein Kranker gehört zu den Mensdien, die doppelgeschleditlidi 

eingestellt sind, die ihre Affekte dem eigenen manniidien Geschlechte 
ebenso zuwenden, wie dem weiblidien; er ist, um mich wiederum 
meiner geliebten Medizinsprache zu bedienen, zugleich homosexuell und 
heterosexuell. Sie wissen, daß diese Doppelte schlechtlidikeit für die 
Kinder allgemeingültig ist. Aus meinem Privatwissen füge ich hinzu, 
daß die doppelte Einstellung bei dem Erwaciisenen eine Dauerhaftigkeit 
des kindlichen Es beweist, die der Aufmerksamkeit wert ist. Bei meinem 
Patienten wird die Sache noch dadurdi kompliziert, daß er sich beiden 
Geschleditern gegenüber als Mann oder als Weib fühlen kann, daß er 



- I, 

1''. Lj. 

4 



also die verschiedensten Leidenschafts mögüclikeilen hat. Es kann also 
sehr gut sein, daß er seinen Vater nur deshalb kastrieren will, um aus 
diesem Vater seine Geliebte 2u machen und daß andererseits seine 
Angst, die Geschlechtsteile könnten ihm vom Vater wcg-gesclinilten 
werden, ein verdrängter Wunsch ist, die Frau des Vaters zu sein. 

Aber ich vergesse ganz, daß Sie ja gar niclit verstehen können, 
was ich meine, wenn ich sage, ein Mensch will durch Wegschneiden 
der männlichen Genitalien aus dem Mann ein Weib machen. Darf idi 
Sie bitten, mit in die Kinderstube zu kommmen. Auf der Wasch- 
kommode sitzt Greta in ihrer dreijährigen Nacktheit und wartet auf 
das Kindermädchen, das warmes Wasser zum Abendwaschen holt. 
Vor ihr steht, mit neugierigen Augen zwischen die gespreizten Beinchen 
guckend, der kleine Hans, tippt mit dem Finger auf den roten klaffen- 
den Spalt der Schwester und fragt: „Abgeschnitten?" „Nein, immer 
so gewesen." 

Wenn es mir nicht so unangenehm wäre zu zitieren — in meiner 
Familie war es Sitte und sowohl Mutter wie Brüder haben mich und 
meine Eitelkeit tausendfach damit gequält, daß sie besser zitieren 
konnten als ich armseliger Benjamin; es fehlt auch nicht an argen 
Blamagen, die ich bei falsdiem Zitieren auf mich geladen habe — 
wenn es mir nidit so dumm vorkäme, würde ich jetzt etwas vom 
tiefen Sinn des kindischen Spiels sagen. Statt dessen will ich Ihnen 
nüclitern mitteilen, was diese Geschichte vom Abgeschnitten bedeutet. 
Zu irgend einer Zeit — es ist merkwürdig, daß kaum einer sich be- 
sinnen kann, wann das geschieht — und noch merkwürdiger ist es, 
daß idi soviel mit Unterbrecliungen meiner Sätze denke und sdireifae. 
Sie mögen daraus erfahren, wie schwer es mir wird, auf diese Dinge 
einzugchen und ich überlasse es Ihnen, daraus Ihre Folgerungen über 
meinen persönliiJien Kastratjonskomplex zu ziehen. 

Also zu irgend einer Zeit bemerkt das Knäblein den Unterschied 
beider Geschlechter. Bei sich und beim Vater und den Brüdern sieht 
er ein Anhängsel, das ganz besonders lustig anzusehen und zum Spielen 
ist. Bei Mutter und Schwester sieht er statt dessen ein Loch, aus dem 

94 



das rohe Fleisch, der Wunde ähiilidi, hervorsdiimmert. Er folgert 
daraus, dumpf und unbestimmt, wie es seinem jung-en Gehirn zukommt, 
daß einem Teil der Mensdien das Schwänzchen, mit dem sie geboren 
wurden, weggenommen wird, ausgerissen, eingestülpt, abgequetscht 
oder abgeschnitten wird, damit es auch Mädchen und Frauen gibt; 
denn die braucht der liebe Gott zum Kinderkriegen. Und wiederum 
zu einer Zeit macht er in seiner seltsamen Verwirrtheit diesen uner- 
hörten Dingen gegenüber für sich aus, das Schwänzchen wird abge- 
schnitten, denn die Mama macht ab und zu statt des hellgelben Pipis 
rotes Blut in das Töpfchen. Also wird ihr von Zeit zu Zeit der Pipl- 
madier, das Hähndien, aus dem das Wasser spritzt, abgeschnitten, 
und zwar Nachts vom Papa. Und von diesem Moment an bekommt 
das Knäblein eine Art Verachtung für das weibliche Geschlecht, eine 
Angst für seine eigene Mannheit und eine mitleidige Sehnsucht, das 
Loch der Mama und weiterhin die Wunden anderer Mädclien und 
Frauen mit seinem Hähnchen auszufüllen, sie zu beschlafen. 

Ach, liebe Freundin, ich bilde mir nicht ein, damit die Losung der 
ewig rätselhaften Frage nach der Liebe gefunden zu haben. Der 
Schleier bleibt, an dem ich nur ein Eckchen zu lüften suche, und was 
idi dahinter sehe, ist dunkel. Aber es ist wenigstens ein Versuch. 
Und icli bilde mir auch nicht ein, daß der Knabe diese infantUe Sexual- 
theorie - erschrecken Sie nicht über den gelehrten Ausdruck — klar 
denkt. Aber gerade weil er sie nicht klar denkt, nicht klar auszudenken 
wagt, weil er fünf Minuten später wieder eine andere Theorie aufstellt, 
um sie wieder zu verwerfen, kurz, weil er diese Dinge gar nicht in 
seinem Bewußtsein aufspeichert, sondern in die Tiefen des Unbewußten 
versenkt, gerade deshalb haben sie eine so unermeßlich große 
Wirkung auf ihn. Denn was unser Leben und Wesen gestaltet, ist 
nidit bloß der Inhalt unsres Bewußtseins, sondern in viel höherem 
Grade unsres Unbewußten. Zwischen beiden, der Region des Bewußten 
und der des Unbewußten, ist ein Sieb und oben im Bewußten 
bleiben nur die groben Dinge zurück, der Sand für den Mörtel des 
Lebens fallt in die Tiefe des Es, oben bleibt nur die Spreu, wahrend 



95 



drunten das Mehl für das Brot des Lehens gesammelt wird, drunten 
im Unbewußten. _ 

Herzliche Grüße und alles Gute 

PATRIK TROLL. 

' - 11. „,!.■, ^ 

IHNEN ZU SCHREIBEN, BESTE FREUNDIN, IST ANGENEHM. 
Andere, denen idi die Geschichte von der Kastration erzähle, werden 
bös, sclielten micji und tun so, als ob i<h an der Erbsünde und dem 
Erbfluch schuld sei. Sie aber ziehen sofort die Parallele mit der 
SchÖpfung-ssagfe, und die Rippe Adams, aus der Eva g-emacht wird, ist 
Ihnen der Geschlechtsteil des Mannes. Sie haben Redit und ich freue 
midi. 

Darf idi Sie nodi auf Kleinig-keiten aufmerksam machen? Zunächst 
eine Rippe ist hart und starr. Es ist also nidit der Penis schlechthin, 
aus dem das Weib wird, sondern der hartgewordene, knochige, steife, 
der erigierte Phallus der Lust. Die Wollust gilt der Mensdienseele als 
böse, als strafbar. Der Wollust folgt die Strafe der Kastration. Die 
Wollust macht aus dem Manne das Weib. 

Machen Sie eine Pause im Lesen, liebe Schülerin, und träumen 
Sie ein wenig darüber, was es für das Menschengeschlecht und seine 
Entwicklung bedeutet hat und nodi bedeutet, daß es den stärksten 
Trieb als Sünde empfindet, den Trieb, der unbezähmbar ist, vom 
Willen nur verdrängt, niemals vernichtet werden kann, daß ein unver- 
meidEdier Naturvorgang wie die Erektion mit Schande und Scham 
bedeckt ist. Aus der Verdrängung, aus dem Zwang, dieses und jenes 
zu verdrängen, wurde die Welt, in der wir leben. 

Darf ich Ihnen ein wenig helfen? Was verdrängt wird, wird vom 
Platze gedräng-t; in andre Form gepreßt und umgewandelt; zum 
Symbol gestaltet crsdieint es wieder: die Verschwendung wird zum 
Durchfall, die Sparsamkeit zur Verstopfung, die Gebärlust zum Leib- 
weh, der Geschlechtsakt zum Tanz, zur Melodie, zum Drama, baut sich 
vor aller Menschen Augen auf als Kirche, mit ragendem Mannesturm 

96 



.— ■A.hhBfc 



und g-elieininis vollem Mutterschoß des Gewölbes, wird zum Tender der 
Lokomotive und zum rhythmischen Stampfen des Straßenpfiasterers 
oder zum Takt des Axtsdiwungs beim Holzfäller. Lauschen Sie dem 
Klang- der Stimmen, dem Auf und Nieder im Tonfall, der Schönheit 
des Sprachlauts, wie das heimlich wohltut und leise unvermerkt alles 
erreg-fc, lauschen Sie in Ihre tiefste Seele hinein und leugnen Sie noch, 
wag-en Sie es noch zu leug-nen, daß alles, was gut ist, Symbol der 
wog-enden Menschenleiber im Himmel der Liebe ist! Und auch alles, 
was böse ist ! Was aber wird aus der Verdrängung der Erektion, 
dieses Aufwärtsstrebens, das mit dem Fluch der Kastration bedroht 
ist? Aufwärts gen Himmel reckt sidi der Mensch, er hebt sein Haupt, 
stellt sich auf eigene Füße, ragt empor und läßt die suchenden Augen 
über die Welt schweifen, umfaßt mit denkendem Hirn alles, was ist, 
wächst und wird größer und steht! Sieh nur, Liebe, er wurde ein 
Mensch, zum Herren geworden durdi Verdrängung und Symbol. Ist es 
nicht schön? Und warum klingt unserm Ohr schlecht und Geschledit 
so ähnlich ? 

Vor dem Wesen und heimlichen Denken des Es kann man sich 
fürchten, es staunend bewundern oder darüber lädieln. Auf die Mischung 
dieser drei Empfindungen kommt es an. Wer sie in Harmonie zu- 
sammenklingen läßt, den wird man lieben, denn er ist liebenswert. 

Wie aber kommt es, daß der Mensch die Tatsache der Erektion 
als Sünde empfindet, daß er dumpf in sidi fühlt: nun wirst du zum 
Weibe, nun schneidet man dir das Loch in den Baudi? Manches kennt 
unsereiner von der Menschenseele, einiges davon läßt sich sagen, vieles 
wird nie bis zur mittelbaren Klarheit gedacht, zwei Dinge aber kann 
ich Ihnen sagen. Das eine ist, was wir zusammen erlebten und was 
uns damals heiter und froh machte. 

Wir hatten einen schönen Tag verlebt, die Sonne war WEirm ge- 
wesen und der Wald grün, die VÖgel hatten gesungen und der Linden- 
baum summte von Bienen. Voll von der Frisdie der Welt kamen wir 
zu Ihren Kindern gerade zur Zeit, um den kleinen Knaben zu Bett 
zu bringen. Da fragte ich ihn: „Wen wirst du einmal heiraten?" Er 

7 Groddeck, Das Buch vom Es 97 



\. 



schlang die Arme um Ihren Hals und küßte Sie und sag^:e: „Die 
Mama, nur die Mama." Nie vorher und nie später habe ich solchen Ton 
des Liebesgestandnisses gehört. Und in Ihren Augen war plötzlich das 
weiche Verschwimmen der Sehg-keit, die völlige Hingabe ist. So ist es 
mit allen Knaben: sie lieben ihre Mütter, nicht kindlich, unschuldig, 
rein, sondern heiß und leidensdiaWich, durchtränkt von Sinnlichkeit, 
mit der ganzen Kraft wollüstiger Liebe; denn was ist alle Sinnlichkeit 
des Erwachsenen gegen das Fühlen und Begehren des Kindes"? Diese 
heiße Glut aller Liebe, die wohl begründet ist durch jahrelanges ge- 
meinsames körperliches Genießen von Mutter und Kind, löst sich, unter 
dem Einfluß von Gesetz und Sitte und unter dem Sdiatten des sündigen 
Bewußtseins im Gesidit der Mutter, ihrer Lüge und Heudielei, in 
Schuldbewußtsein und Angst auf, und hinter der Begierde blinkt das 
Messer hervor, das dem Knaben seine Liebeswaffe abschneiden wird. 

Odipus. 

Es o-ibt Völker, die dulden die Ehe von Bruder und Schwester, 
es o-ibt Völker, deren Sitte die reife Tochter dem Vater auf das Lager 
gibt, bevor der Gatte sie berühren darf. Aber niemals, so lange die 
Welt stand, niemals, so lange sie stehen wird, ist dem Sohn gestattet, 
mit der Mutter zu schlafen. Die Blutschande mit der Mutter »rilt als 
das schwerste Verbrechen, sdiiimmer als Muttermord, als Sünde der 
Sünden, als Sünde an sich. Warum ist das so? Geben Sie Antwort, 
Freundin. Vielleicht weiß die Frau darüber mehr Tp sagen als der Mann. 

Das also ist das eine: weil jede Erektion Begierde nach der 
Mutter ist, jede, nach dem Gesetze der Übertragung ausnahmslos jede, 
darum ist sie von Angst vor der Kastration begleitet. Womit du 
sündigst, daran wirst du gestraft, das Weib mit Brustkrebs und 
Gebärmutterkrebs, weil sie mit Brüsten und Unterleib sündigte, der 
Mann mit Wunden, Blut und Verrücldiheit, weil er Wunden schlug und 
Böses dachte, ein jeder aber mit dem Gespenste der Entmannung. 

Das andere aber ist eine Erfahrung: auf jede Erektion folgt die 
Erschlaffung- Und ist das nidit Entmannung? Diese Erschlaffung ist 
die natürliche Kastration und ist eine symbolische Quelle der Angst. 

98 



. . . '-^^ 



I. 



^ .. 



Ist es nicht merkwürdig, daß die Mensdien immer davon reden, man 
könne sich durch Wollust selber zerstören? Und hat doch die Natur durch 
die symbolische Warnung- der Erschlaffung eine unüberwindlidie Schranke 
für jede Vergeudung' erschaffen. Ist dieses Gerede nur Angst, die dem 
Ödipuskomplex entspringt oder dem Onaniegespenst oder sonst einer 
Seltsamkeit der Menschenseele, oder ist es nicht auch vielleicht Neid? 
Der Neid des Impotenten, des Entbehrenden, der Neid, den jeder 

|'> Vater gegen seinen Sohn, die Mutter gegen ihre Tochter, der Ältere 

gegen den Jüngeren hat? 

Idt bin weit herumgeschweift und wollte doch von der Erschaffung 
des Weibes aus Adams Rippe sprechen. Beachten Sie bitte: Adam ist 
.— ursprünghch allein. Soli aus dem weichen Fleisch, das er mehr hat, als 

dem Weibe spater gegönnt wird, eine harte Rippe werden, so muß 
die Beo-ierde, die die Erektion hervorruft, der Verliebtheit in sich selbst 
entspringen, narzistisch sein. Adam empfindet durch sich selbst die 
Lust, die Befriedigung, die Vei^wandiung von Fleisch in Rippe ver- 

'!**■ " schafft er sich selbst. Und die Erschaffung des Weibes, das Abschneiden 
der Rippe, so daß die Wunde des Weibes entsteht, diese Kastration 
ist letzten Endes die Strafe für die Onanie. Wie sollte der Mensch 
aber, wenn er erst den Gedanken hatte: Onanie ist strafwürdig, sidi 
eine andere Strafe auswählen, um sich davor zu fürchten, als die 
Kastration, da ja auf jeden Onanleakt unbedingt die symbolische 



.k,.>- 



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"^1'. 



■^ Kastration, die Erschlaffung folgen muß? 



ITViW' 



Soweit ist die Sadie leidlich klar. Aber nun bleibt die Frage, 
warum der Mensch in der Onanie die Sünde sieht. Wenigstens eine 
halbe Antwort darauf ist leicht zu finden. Denken Sie sich einen kleinen 
Säugling, ein Knäblein. Zunächst muß es sich selbst kennen lernen, 
alles betasten, was betastbar ist, mit allem spielen, was zu ihm gehört, 
mit seinem Ohr, seiner Nase, seinen Fingern, den Zehen. Sollte er die 
kleine Troddel, die er unten am Bäuchlein hängen hat, aus angeborner 
Moralität beim Selbstliennenlernen und Spielen weglassen? Gewiß nicht. 
Was aber geschieht nun, wenn er spielt? Das Zupfen am Ohr, an der 
Nase, am Mund, an den Fingern und Zehen wird von der entzückten 

7' 99 



■^ 



Mutter hervorgerufen, gefordert, in jeder Weise beg^üustigt. Sobald 
aber das Kindchen an der Troddel spielt, kommt eine große Hand, 
eine Hand, die von der Mythen schaffenden Kraft des Menschenkindes 
in die Hand Gottes verwandelt wird, und nimmt des Kindes Händchen 
fort. Vielleicht, sicher sogar, blickt dabei das Gesicht dieses Mensclien, 
der die große Hand hat, der Mutter also, ernst, angstvoll, schuld- 
bewußt. "Wie tief muß das Erschrecken des Kindes sein, wie ungeheuer 
der Eindruck, wenn stets bei derselben Handlung, nur bei dieser einen 
einzigen Handlung die Gotteshand hindernd kommt. Das alles ge- 
schieht zu einer Zeit, wo das Kind noch nicht spricht, ja, wo es das 
gesprochene Wort noch nicht einmal versteht. Es gräbt sich ein in die 
tiefste Tiefe der Seele, tiefer nodi als Sprechen, Gehen, Kauen, tiefer 
als die Bilder von Sonne und Mond, von rund und eckig, von Vater 
und Mutter: du darfst nicht mit dem Geschlechtsteil spielen, und gleich 
anschließend entsteht der Gedanke: Alle Lust ist schledit. Und viel- 
leicht bringt die Erfahrung: wenn du mit dem Geschlechtsteil spieist, 
wird dir etwas weggenommen, notwendig die weitere Idee: nicht nur 
das Händchen, auch das St^wänzchen wird dir genommen. Wir wissen 
ja nidits vom Kinde, wissen nidit, wie weit es s<hon ein Persönlichkeits- 
gefühl hat, ob es mit dem Gefühl, Hand und Bein gehören zu mir, 
geboren wird oder es erst erwerben muß. Hat es sdion von Beginn 
an das Empfinden, ein Ich zu sein, von der Umwelt abgegrenzt zu sein? 
Wir wissen es nicht, wissen nur das eine, daß es erst spat, erst mit 
drei Jahren beginnt, das Wörtlein Ich zu gebrauchen. Ist es so über- 
kühn, anzunehmen, daß es ursprünglich sich selbst zeitweise als fremd, 
als den andern betrachtet, da der Hans doch nicht sagt: Ich will trinken, 
sondern Hans will trinken? Wir Menschen sind närrische Käuze, die 
soldie Fragen gar nicht zu stellen wagen, einfach weil unsere Eltern 
uns das viele Fragen verboten haben. 

Es bleibt noch eine Scliwierigkeit bei der Schöpfungssage, auf die 
ich kurz hinweisen möchte. Wir deuten beide die Entstehung aus der 
Rippe als Umwandlung des Mannes in ein Weib durch die Kastration. 
Dann fordert aber unser rationelles Denken zwei Adams, einen, der 

100 



Adam bleibt, einen, der Eva wird. Aber das ist nur ein dummer 
rationalisierender Einwand. Denn wann hatte sich je die Diditung daran 
gestoßen, aus einer Person zwei zu m hen oder aus zweien eine? Das 
Wesen des Dramas beruht darauf, daß der Dichter sich selbst in zwei, 
ja in zwanzig Personen spaltet, der Traum verfährt so, jeder Mensdi 
tut dasselbe ; denn er nimmt in der Umwelt nur wahr, was er selbst 
ist, er projiziert sidi selbst fortwährend in die Dinge. Das ist das 
Leben, das muß so sein, dazu zwingt uns das Es. 

Verzeihung, Sie lieben soldi Philosophieren nicht. Und vielleidit 
haben Sie recht. Kehren wir in das Reich der sogenannten Tatsachen 
zurück ! 

Es ist nidit gut, daß der Mensch allein sei, ich will ihm eine 
Gehilfin geben, sagt Gott der Herr und macht ein Wesen, das dort, 
wo der Mann einen Auswuchs hat, eine Öffnung besitzt, das sich dort, 
wo er flach ist, zwei Brüste wölben läßt. Das ist also das Wesentliche 
an ihrem Gehilfinsein. Es ist derselbe Gedanke, den das Kind hat: 
damit geboren wird, muß aus dem Adam durdi Wegnehmen der 
Rippe eine Eva werden, ist solch eine Übereinstimmung von Volks- 
und Kinderseele nicht beachtenswert? Wenn Sie Lust haben, wollen 
wir selbst Märchen und Mythen, Baustile und technische Leistungen 
der Völker durdiforschen ; vielleicht finden wir allerhand Kindliches darin. 
Das wäre nicht unwiditig; es würde uns duldsam gegen die Kindlein 
machen, von denen Christus sagt: Ihrer ist das Himmelreich. Ja, vielleicht 
fänden wir audi unser längst verlorenes Staunen, unsere Anbetung des 
Kindes wieder, was immerhin in unserem malthusianischen Jahrhundert 
etwas bedeuten würde. 

Aber achten Sie dodi auf das Wort: Gehilfin. Es ist keine Rede 
davon, daß der Mann umgewandelt wird in all seinem Wesen und 
Streben; er bleibt trotz der Kastration derselbe, bleibt, was er war, 
ein Wesen, das auf sich selbst gerichtet ist, das sich selbst liebt, das 
■ seine eigene Lust sudit und findet Nur jemand, der ihm dabei hilft, 
ist entstanden, Jemand, der ihm einen Teil seiner Lust wo anders als 
an seinem Körper unterzubringen ermöglidit. Der Trieb zum Verkehr 

101 



mit sidi selbst bleibt, der Penis ist nicht verschwunden, er ist noch da, 
Adam ist nicht verändert» er steht noch ebenso wie vordem unter dem 
Zwang, sich selbst Lust zu verschaffen. Das ist eine seltsame Sache. 

Wie ? Sollte es nicht möglich sein, daß all das, was die Weisen 
und Toren sagen: die Onanie ist ein Ersatz des Gesdilechts Verkehrs, 
entsteht aus dem Mangel eines Objekts, entsteht, weil die Begierde 
des Mannes kein Weib zur Hand hat und deshalb zur Eigenhilfe greift; 
sollte das alles falsch sein ? Betrachten Sie die Tatsachen. Das kleine 
Kind, das neugeborene, treibt Selbstbefriedigung; das heranreifende 
Menschlein der Pubertät tut es wieder und — seltsam zu denken — 
der Greis und die Greisin greifen von neuem dazu. Und zwisdiea 
Kindheit und Alter liegt eine Zeit, da verschwindet die Onanie häufig 
und der Verkehr mit anderen Wesen erscheint. Sollte etwa der Ge- 
sdilechtsverkehr Ersatz der Onanie sein? Und ist es wirklich so, wie 
es in der Bibel steht, daß der Geschledits verkehr nur Gehilfe ist? 

Ja, beste Freundin, so ist es. Es ist wirklidi wahr, die Selbst- 
befriedigung besteht ruhig weiter, trotz Liebe und Ehe, neben Liebe 
und Ehe, sie hört nie auf, ist immer da und bleibt bis zum Tode. 
Gehen Sie in Ihre Erinnerung hinein, Sie werden in vielen Tagen und 
Nächten, im Liebesspiel mit dem Manne und im Leben Ihrer Phantasie 
den Beweis finden. Und wenn Sie ihn gefunden haben, werden Ihre 
Augen sich für tausend Phänomene öffnen, die deutlich oder unklar 
ihre Zusammenhänge, ja ihre Abhängigkeit von der Selbstbefriedigung 
zeigen. Und werden sich hüten, die Onanie künftig unnatürlich und 
lasterhaft zu nennen, wenn Sie sich auch nidit zwingen können, sie 
als Schöpferin des Guten zu empfinden. Denn um so zu empfinden, 
müßten Sie die Gotteshand, die Hand der Mutter, die einst Ihr Spiel 
der Lust unterbrach, überwinden, innerlich überwinden. Und das kann 
niemand. 

Herzlichst 

PATRIK TROLL. 



102 



1 



'•'^ 



V 12. 

ICH VERSTEHE NICHT, LIEBE FREUNDIN, WELCHER TEUFEL 
in Sie gefahren ist. NeuÜdi schrieben Sie in heller Freude von Ihrer 
Überzeug-ang, daß die Kastrationsideen beim Menschen immer und 
immer nadiweisbar sind und heute kommen Sie mit Einwänden. Aber 
warum wundre ich midi? Diese Dinge werden bei allen Mensdien in 
tiefes Dunkel verdrangft, wie viel mehr also bei Ihnen, die Sie stolz 
sind und stets waren. Die Belastung durch den Kastrationsg-edanken 
ist bei dem Weibe an sidi sdiwerer als bei dem Manne. Bei ihm gleicht 
die Tatsadie, daß er noch Mann ist und das Szepter der Männlichkeit, 
des Herrseins an seinem Leibe trägt, einigermaßen das Gewidit der 
Kastration aus; er hat Wünsdie und Ängste, aber er sieht dodi mit 
eigenen Augen, daß er das Glied noch hat, für das er sich bangt. 
Das Mädchen aber sagt sich beim Anblick ihres Mangeis: ich bin schon 
kastriert; meine einzige Hoffnung ist, daß die Wunde vernarbt und 
ein neues Ende dieses Herrenfleisches daraus hervorwächst. Diese 
Hoffnung aufzugeben, sich mit dem Gefühl der eigenen Minderwertig- 
keit abzufinden, ja dieses Gefühl in ein ehrliches Bekenntnis zum 
Weibsein, in den Stolz und die Liebe zum Weibsein umzuwandeln, 
wie Sie es getan haben, erfordert heißeres Ringen, ehe es zur Ver- 
drängung kommt; alles muß tiefer versenkt und verschüttet werden 
und schon das leiseste Schwanken der verschüttenden Massen bringt 
Umwälzungen hervor, die wir Männer nicht kennen. Man sieht das, 
und Sie empfanden es selbst bei jeder Periode; die monatliche Blutung, 
dieses Kainszeidien des Weibes, rührt den Kastrationskomplex auf, 
aus dem Sumpfe des Unbewußten steigen die verdrängten Gifte empor 
und trüben im Verein mit vielen anderen Dingen die klare Naivität 
des Menschen. 

Ist es nidit merkwürdig, daß Europäer bei dem Wort Periode, 
Menstruation, Regel sofort an die Blutung denken? ja, daß im all- 
gemeinen selbst dieses enge Interesse am Blut noch zu einem 
rohen Denken an Schmutz und Gestank, versteckte Beschämung, 
Schmerz und Kinderkriegen zusammengepreßt wird? Und hangt doch 

103 



eine Weit von Lebenswerten an diesem Phänomen des rhythmisdien 
Rausches. 

Denn das ist das Wesentliche: der Rausch, die Brunst, die Ge- 
schlechtslust des Weibes ist wahrend dieser Bluttage hochgradig ge- 
steigert und wie das Tier, das gewiß nicht niederer als der Mensch 
ist, lockt sie auf irg-end eine Weise in dieser Zeit den Mann zu sich; 
und die Umarmung- während der Blutung ist die heißeste, glücklichste, 
wäre es vielmehr, wenn die Sitte nicht ihr Verbot dagegen gesetzt 
hätte. Daß dem wirklich so ist, beweist uns eine seltsame Tatsache: 
über drei Viertel aller Vergewaltigungen finden wahrend der Periode 
statt. Mit andern Worten: irgend ein geheimnisvolles Etwas am blu- 
tenden Weibe zwingt den Mann in eine Raserei, die vor dem Verbrechen 
nicht mehr zurückschreckt. Eva verführt den Adam, so ist es, war es 
und wird es immer bleiben. Sie muß ihn verführen, weil sie brünstig 
blutet, weil sie selbst verlangt. Die Mütter erzählen ihren Töchtern, 
die Periode sei des Kinderkriegens wegen da. Das ist ein seltsamer 
Irrtum, eine verhängnisvolle Täusdiung. Wie denn die Sudit, die Phä- 
nomene des Eros auf einen Fortpflanzungstrieb zurückzuführen, eine 
der großen Albernheiten unsers Jahrhunderts ist. Jeder blühende 
Apfelbaum, jede Blume und jedes Menschenwerk widerlegt solche enge 
Deutung der Ziele Gottnaturs. Von den 20.000 befruchtungsfähigen 
Keimen, mit denen das Mädchen geboren wird, sind bei ihrer Mann- 
barkeit nur noch einige Hundert da und von denen werden, wenn es 
hoch kommt, ein Dutzend befruchtet, und von den vielen Millionen 
Samentierclien des Mannes sterben unzählige Scharen, ohne audi nur 
in den Schoß des Weibes zu gelangen. Es wird viel geschwatzt unter 

den Menschen, und ich darf mich audi unter die Menschen redinen. 

« 

Sehen Sie nicht die tollen Zusammenhänge, die wirren Fäden, die 
von einem Komplex zum andern laufen: In der Mitte des Liebeslebens 
steht das Blut, die Lust am Blute. Was soll man tun, wenn man in 
das Leben und Denken der Menschen hineinsieht. Soll man über sie 
lachen, sie verachten, sie schelten? Vielleicht Ist es besser, sich der 
eigenen Torheit bewußt zu bleiben, Zöllner zu sein: Gott sei mir Sünder 

104 




o-nädig. Aber sagen will ich es doch: Es ist nicht wahr, daß Grausam- 
keit pervers ist. Alljährlich feiert die Christenheit den Charfreitag, den 
Freudentag. Die Menschheit schuf sich einen Gott, der litt, weil sie 
fühlte, daß der Schmerz der Weg zum Himmel ist, weil das Leiden, 
die blutige Qual für ihr Empfinden göttlich ist. Wurden Ihre Lippen 
nie wund geküßt ? War Ihre Haut nie blutunterlaufen vom heißen 
Saugen eines Mundes? Bissen Sie nie in einen umsdilingenden Arm 
und ward Ihnen nicht wohl, zerdrückt zu werden? Und dann kommen 
Sie mir mit der Narrheit, man dürfe Kinder nicht schlagen. Ach, liebste» 
Freundin, das Kind will gesdilagen sein, es sehnt sidi danadi, es lechzt 
nadi Keile, wie mein Vater es nannte. Und in tausendfältiger List sudit 
es die Strafe herbeizuführen. Die Mütter beruhigen ihr Kind auf dem 
Arm mit sanften Schlagen, und das Kind ladielt dazu; sie hat es ge- 
waschen auf der Wickelkommode und küßt es auf die rosigen Bäckdien, 
die eben noch voll Dreck waren, und als letzte hödiste Freude gibt 
sie dem strampelnden Wesen einen Klaps, den es krähend vor Freude 
empfängt. * " . .- ., . , _ , , 

Haben Sie sidi nie mit Ihrem Liebsten gezankt? Aber bedenken 
Sie doch, wozu Sie es taten und wie alles verlief. Ein Stich von hüben 
und ein verletzendes Wort von drüben, und dann wird es schärfer, 
beißend, Hohn, Zorn, Wut. Was wollten Sie doch damit, daß Sie den 
Mann mutwülig in Harnisch braditen? Sollte er wirklidi, wie er es tat, 
den Hut auf den Kopf setzen, den Stock in die Hand nehmen und 
die Tür zuknallen? Ach nein, er sollte eine Türe Sffnen, die in Ihr 
eigenes Leibeszimmer führt, er sollte sein Männlein einlassen, es be- 
decken mit dem Hut des Mutterschoßes, es krönen mit Kranz und 
Krone Ihres Mäddienleibes, Natur hing ihm einen Stock an, den sollte 
er bei Ihnen gebrauchen, sollte Sie schlagen und grausam lieben. Nennen 
doch alle Sprachen das Mauneszeichen Rute. Die Grausamkeit ist un- 
lösbar mit der Liebe verknüpft, und das rote Blut ist der tiefste Zauber 

der roten Liebe. 

Ohne Periode gäbe es keine Liebe zum Weibe, wenigstens keine, 
die das Wort wahr machte, daß das Weib dem Manne zur Gehilfin 

105 



gfeschaffen wurde. Und das ist das Wesentliche. Denn zu Ihrem Er- 
staunen und Ihrer Empörung- werden Sie finden, daß sich vieles, 
wenn nicht alles im Mensclienlehen aus der Liebe ableiten läßt und die 
Tatsache, daß Eva nicht zum Kinderkrieg-en, sondern als Gefährtin dem 
Adam beig-egeben wurde, paßt mir, um dem Geschrei der bibel- 
unkundigen Menge wenigstens ein Wort entg-eg-en halten zu können. 
So also liegen die Dinge für mich: ich nehme an, daß die Periode 
des Weihes, insbesondere auch die Blutung ein Lockmittel für den 
«Mann ist. Und damit stimmt wohl eine kleine Beobachtung überein, 
die idi hie und da gemacht habe. Viele Frauen, die lange von ihren 
Männern getrennnt waren, bekommen am Tage des Wiedersehens die 
Periode. Sie denken, die räumliche Trennung habe doch vielleicht eine 
Entfremdung herbeigeführt, und um die zu überwinden, bereitet ihr 
Es den Zauber des Liebestrankes, der den Mann in ihre Arme führt. 
Sie wissen, ich liebe es, die Dinge auf den Kopf zu stellen, und 
hier ist es mir hoffentlidi gut gelungen. Aber um gerecht 2U sein, 
will idi Ihnen auch noch zwei andere Absichten des Es bei dieser 
seltsamen Maßregel verraten, die bei Ihnen weniger Widerspruch finden 
werden. Wenn eine Frau ihre Regel hat, kann sie nicht schwanger 
sein. Das Es legt durch die Blutung dem Gatten lautes und beredtes 
Zeugnis für die Treue seines Weibes ab. „Siehe," spricht es, „wenn 
jetzt ein Kind kommt, so stammt es von dir; denn als du kamst, 
blutete ich." Wenn ich nun boshaft wäre und die Männer aufhetzen 
wollte — aber diese Briefe sind ja nur für Ihre Augen bestimmt, ich 
kann Ihnen also meine kleine Bosheit mitteilen, ohne die Ehegatten 
mißtrauisch zu machen. Das starke Betonen der Unschuld ist immer 
verdächtig, es versteckt sidi dahinter das Schuldbekenntnis. Und wirk- 
li<di, wenn idi in solchen Fällen nachforschte, fand icli den Treubrutii, 
der von dem roten Blute verborgen werden sollte. FreiUdi nicht ein 
wirkliches Schlafen mit einem fremden Manne; ich besinne mich nicht, 
das jemals erlebt zu haben; aber den Gedankentreubruch, die halb- 
verdrängte Sünde, die doppelt tief wirkt, weü sie vor der Tat im 
Morast der Seele stecken blieb. Sie glauben gar nicht, liebste Freundin, 

106 • 



t 



was für heimlichen Spaß solche Betrachtung^en machen. Das Leben 
erzielt Kontraste eigener Art. Es weiß recht artig mit demselben Wort 
Unschuld zu beteuern und Schuld einzugestehen. 

Ganz so ist auch die zweite Absidit des Es, von der ich sprach, 
ein doppelsinniges Spiel. „Locke den Mann," so spricht das Es zum 
Weibe, „locke ihn mit dem Blute deiner Liebe." Das Weib horcht 
dieser Stimme, aber unschlüssig fragt sie: Und wenn es mißglückt? 
„Ei," sagt das Es und lacht ein wenig, „dann hast du ja für deine 
Eitelkeit die beste Entsdiuldig-ung. Denn wie sollte der Mann ein Weib 
berühren wollen, das unrein ist?" In der Tat, wie sollte er es wollen, 
da es seit Jahrtausenden verboten ist? Wenn also die Umarmung 
stürmisdi wird, so ist es gut, doppelt gut, weil sie erfolgte, trotzdem 
die Sitte sie verwirft, und bleibt sie aus, so geschieht es, weil die Sitte 
sie verwirft. 

Mit solcher Rückversicherung arbeitet das Es viel und mit Glück. 
So läßt es an dem liebenden Mund, der sich nach dem Kusse sehnt, 
ein entstellendes Ekzem erscheinen ; werde ich trotzdem geküßt, so ist 
das Glück groß, bleibt der Kuß aus, so war es nicht Mangel an Liebe, 
nur Absdieu vor dem Ekzem. Das ist einer der Gründe, warum der 
Knabe in der Entwicklungszeit auf der Stirn Eiterbläschen trägt, warum 
das Mädchen beim Ball auf ihrer nackten Schulter oder am Brustansatz 
Pickel bekommt, die nebenbei auch noch den BUck zu leiten wissen; 
warum die Hand kalt und feucht wird, wenn sie sich dem Geliebten 
entgegenstreckt; warum der Mund, der den Kuß begehrt, übel riedit, 
warum Ausfluß aus den Geschlechtsteilen entsteht, warum Frauen 
plötzlich häßlich und launisch werden und Männer ungeschickt und 
kindisch verlegen. 

Und damit komme idi ganz nahe an das große Rätsel: Warum 
verbot, wenn die Periode die Aufforderung zur Lust ist, unsere 
Menschensitte — so viel ich weiß, überall zu allen Zeiten — den Ge- 
schlechtsverkehr gerade wahrend der Blutung? 

Das ist nun schon das dritte Mal, daß ich in meinen Briefen von 
Verbot rede, einmal war es das Onanieverbot, dann das des Inzestes 

107 



mit der Mutter und nun das des Geschlechts Verkehres während der 
Periode. Wenn so den mäditigsten Trieben, dem der Selbstliebe, dem zur 
Liebe zwischen Schöpfer und Geschöpf, und dem zu dem Geschlechts- 
verkehr selbst, starke Hindernisse entg-egeng-esetzt werden, darf man 
davon Wirkungen erwarten. Und in der Tat aus diesen drei Verboten 
sind Folgen erwachsen, deren Umfang kaum zu ermessen ist. Wenn 
Sie gestatten, spiele ich ein wenig damit. ^- 

' Da ist zunächst das älteste, am frühesten wirkende Verbot, das 
der Onanie. Die einmal gekostete Lust verlangt nach neuer Lust, und 
da der Weg zur Selbstlust versperrt ist, wirft sich der Trieb mit voller 
Kraft auf ahnlidie Lustempfindungen, die von fremder Hand, von der 
Hand der Mutter beim Waschen und Baden, beim Urinentleeren und 
sonstwie willig und unter der Begründung der Notwendigkeit und der 
alles erlaubenden Heiligkeit der Mutterliebe gewährt werden. Die 
erotische Bindung an die Mutter wird durdi das Onanieverbot fester, 
die Leidensdiaft zur Mutter wächst- Je stärker sie wird, um so stärker 
wird auch der Widerstand gegen diese rein körperlich geschlechtliche 
liebe, bis er sdiließlich in dem ausdrücklichen Verbot der Blutschande 
mit der Mutter gipfelt. Ein neuer Ausweg wird gesucht, der über die 
Symbolgleichung Mutter — Gebärmutter zum Drang nach der Vereinigung- 
mit irgend einem Weibe führt. Die redite Zeit zu dieser Vereinigung- 
ist die Brunstzeit der Gebärmutter, die Periode. Aber gerade in dieser 
Zeit tritt zwischen den Wunsch und die Erfüllung ein Nein, das in 
vielen Kulturen, so in der hebräischen, Gesetzeskraft hat. Offenbar 
braucht Gottnatur solche Verbote, die, je nach Bedürfnis, so oder so 
gestaltet werden. Unsere eigene Zeit hat zum Beispiel, statt den Ver- 
kehr während der Blutung zu verbieten, die Form gewählt, bestimmte 
Jahre, und zwar die der heißesten Leidenschaft, die Pubertätsjahre 
durdh das Strafgesetzbuch von jeder sexuellen Betätigung außer der 
Onanie auszuschließen. Vielleidit macht es Ihnen Vergnügen, den Folgen 
solcher Verbote nachzudenken. 

Denn eins ist klar: das Verbot kann wohl den Wunsch verdrängen, 
aus seiner Richtung drängen, aber es tötet ihn nicht. Es zwingt ihn 

108 



nur anders vA& Erfüllung; zu suchen. Die findet er auch in tausend- 
facher Weise, in jeder Lebenstätigkeit, die Sie sich ausdenken mög:en; 
in Erfindungen von Schornsteinen oder Dampfschiffen, im Gebrauch des 
Pfluges oder des Spatens, im Diditen und Denken, in der Liebe zu 
Gott und Natur, im Verbrechen und der herrischen Tat, im Wohltun 
und in der Bosheit, in Religion und Gotteslästerung, im Beflecken des 
Tischtuches und im Zerschlagen eines Glases, im Herzklopfen und 
St^witzen, in Durst und Hunger, Müdigkeit und Frische. Morphium 
und Temperenz, im Ehebruch und im Keusdiheitsgelübde, im Gehen, 
Stehen, Liegen, im Sdimerz und in der Freude, in Glück und Un- 
zufriedenheit. Und damit doch endlich zum Vorschein kommt, daß ich 
Arzt bin, der verdrängte Wunsch erscheint in der Erkrankung, in jeder 
Art der Erkrankung, mag sie organisch oder funktionell sein, mag sie 
Lungenentzündung oder Melancholie benannt werden. Das ist ein langes 
Kapitel, zu lang, um es heute weiter zu führen. 

Nur noch ein kleines Angelhäkdien will ich Ihnen zuwerfen, auf 
das Sie hoffentlich anbeißen. 

Was wird aus dem Wunsch des Mannes, mit dem Weibe während 
der Periode zusammen zu kommen? Das, was ihn aufregt, ist das 
Blut. Der Grausamkeitstrieb, der von Beginn an in ihm ist, wird auf- 
lodern. Er erfindet Waffen, ersinnt Operationen, führt Kriege, errichtet 
Schlachthäuser, um Hekatomben von Rindern zu töten, besteig-t Berge, 
fährt zur See, sucht den Nordpol oder das Innere Tibets, jagt, fischt, 
sdiläH seine Kinder und donnert seme Frau an. Und was wird aus 
dem Wunsche des Weibes? Sie knüpft sich eine Binde zwischen die 
Schenkel treibt unbewußte Onanie unter dem allgemem gebilligten 
Vorwande der Reinlichkeit. Und wenn sie reinlidi ist, tut sie die Binde 
aus Vorsidit schon einen Tag vorher an und trägt sie aus Vorsicht 
einen Tag langer. Und wenn das nicht befriedigt, laßt sie die Blutungen 
länger dauern oder häufiger erscheinen. Der Trieb zur SelbsÜiebe 
bekommt freiere Bahn und erbaut durch die Begierde des Weibes die 
Grundlagen unserer Kultur, die Reinlichkeit und mit ihr die Wasser- 
leitungen. Bäder und Kanalisationen, die Hygiene und die Seife, und 

. 109 



weiterhin die Vorliebe für seelische Reinheit, geistigen Adel, innere 
Harmonie des höher strebenden Menschen, währe^id der Mann als 
Anbeter des Blutes in die geheimnisvollen Eingeweide der Welt ein- 
dringt und unablässig am Leben schafft. 

Es gibt seltsame Läufe im Leben, die mitunter wie Kreisläufe 
aussehen. Aber letzten Endes bleibt uns Sterblichen nur Eines: zu 

staunen. 

> Herzlichst Ihr 

... • PATRIK TROLL. 



13. 

ICH BIN IHNEN DANKBAR, LIEBE FREUNDIN, DASS SIE AUF 
Kunstaus drücke und Definitionen verzichten. Es wird audi ohne sie 
gehen, und ich laufe wenigstens nicht Gefahr, mich zu blamieren. Denn 
im tiefsten Geheimnis will ich Ihnen anvertrauen, daß ich Definitionen, 
mögen sie von Anderen oder von mir stammen, oft selber nicht verstehe. 
Statt der Definitionen will ich Ihnen, Ihrem Wunsch gemäß, etwas 
mehr von den Wirkungen des Verkehrs Verbotes während der Periode 
mitteilen. Und weil midi das Schicksal doch einmal zum Arztsein be- 
stimmt hat, soll es etwas Medizinisches sein. Seit einem Jahrhundert 
ungefähr, seit dem man auch die sehr männlidien mythisdien Symbole 
der Engel ins WeihHche umgestaltet hat, ist es Mode, den Frauen einen 
Seelenadel anzudichten, der sich in Absdieu vor aller Erotik äußert, 
sie als schmutzig empfindet und besonders die „unreine" Zeit des 
Weibes, worunter man die Periode versteht, als besdiamendes Ge- 
heimnis behandelt. Und diese Tollheit — denn wie soll man anders 
eine Denkweise nennen, die den Frauen die Sinnlichkeit abspriclit; als 
ob die Natur so dumm wäre, dem Teil der Menschheit, der die Last 
der Sdiw angerschaft trägt, weniger Begierde mitzugeben, als dem 
andern? Die Tollheit geht so weit, daß die von Ihnen so hoch- 
gepriesenen Lehrbücher allen Ernstes von der Existenz frigider Frauen 
sprechen, Statistiken darüber veröffentlichen, die sich auf die von der 
Zeitsitte erzwungene Heuchelei der Frauen gründen und so das Weib, 

110 



wissensdiaftiidi unwissend, immer tiefer in Lug- und Trug^ hineintreiben. 
Denn, denkt das arme, eing-eängstIoi:e Wesen, das man jung-e Dame 
nennt, warum sollte ich, wenn es die Mutter durdiaus verlangt, der 
Vater es als selbstverständlich voraussetzt und der Geliebte meine 
Reinheit anbetet, nicht so tun, als ob ich wirklich zwischen Kopf uud 
Füßen nichts hätte? Sie spielt die aufg-ezwung-ene Rolle im Allgemeinen 
mit Geschick, ja sie strebt wirklidi danatii, das Anerzog-ene als eciit 
zu leben, und nur die Raserei der vierten Wodie geht über ihre Kraft. 
Sie braucht eine Hilfe, ein Band gewissermassen, das die Maske fest- ' 
hält, und diese Hilfe findet sie in der Erkrankung, zunächst im Kreuz- 
sdimerz. Das Vor- und Zurückbewegen des Kreuzes ist die Beischlafs- 
tätigkeit des Weibes; der Kreuzschmerz verbietet diese Bewegung, 
er verstärkt das Verbot der Brunst. 

Glauben Sie nur ja nicht, liebe Freundin, daß ich mit solchen kleinen 
Bemerkungen irgend eine Frage zu lösen beabsiditlge. Idi will Ihnen 
nar begreiflich madien, was Ihnen so oft unbegreiHich schien, warum 
idi immer wieder bei meinen Kranken nach dem Zweck ihrer Er- 
krankung frage. Ich weiß iiiclit, ob die Erkrankung einen Zweck hat, 
es ist mir auch gleichgültig. Aber ein solches Fragen hat sich mir be- 
währt, weil es auf irgend eine Weise das Es des Kranken in Bewegung 
setzt und nldit selten zum Verschwinden eines Symptoms beitragt. 
Das Verfahren ist ziemlich roh, pfuscherhaft, wenn Sie wollen-, und ich 
bin mir bewußt, daß jede Gelehrtenbrille geringschätzig darüber hin- 
wegsieht. Aber Sie haben mich danach gefragt und ich antworte. 

Ich pflege im Laufe einer Behandlung zu irgend einer Zeit den j 

Kranken darauf aufmerksam zu machen, daß aus Menschensamen und 
Menschenei stets ein Mensch wird, nidit ein Hund, nicht eine Katze, 
daß eine Kraft in diesen Keimen steckt, die im Stande ist, eine Nase, 
einen Finger, ein Gehirn zu formen, daß also diese Kraft, die so Er- 
staunlidies leistet, wohl auch einen Kopfschmerz oder einen Durchfall 
oder einen geröteten Hals erschaffen kann, ja daß ich es nicht für zu 
kühn halte anzunehmen, daß sie auch eine Lungenentzündung oder 
Gicht oder Krebs fabrizieren kann. Ich gehe sogar so weit, dem 

111 



\ 



Kranken gegenüber zu behaupten, diese Kraft tue das wirklich, madie 
den Menschen nach ihrem Beheben krank zu bestimmten Zwecken, 
wähle nach ihrem Belieben zu bestimmten Zwecken Ort, Zeit und Art 
der Erkrankung aus. Und dabei kümmere ich mich gar eicht darum, 
ob ich das, was idi behaupte, selber glaube oder nicht, ich behaupte 
es einfach. Und dann frage ich den Kranken, wozu hast du eine Nase? 
Zum Riechen, antwortet er mir. Also, folgere ich, hat dein Es dir den 
Schnupfen gegeben, damit du irgend etwas nicht riechen sollst. Suche, 
was du nicht riechen solltest. Und ab und zu findet der Patient 
wirklich einen Geruch, den er vermeiden wollte, und — Sie brauchen 
es nicht zu glauben, aber ich glaube es — wenn er es gefunden hat, 
verschwindet der Schnupfen. 

Die Kreuzschmerzen bei der Periode erleichtern der Frau den 
Widerstand gegen ihre Begierde, so behaupte ich. Aber damit soll 
nicht gesagt sein, daß derlei Schmerzen nur diesem Zweck dienen. Sie 
müssen bedenken, daß in dem Worte Kreuz das Mysterium der Christen- 
heit steckt, daß dieses os sacrum, dieser heilige Knochen in sich das 
Problem der Mutter birgt. Davon und von andrem will ich hier nidit 
sprechen, lieber ein wenig weitergehen. Zuweilen genügt der Kreuz- 
schmerz niciit, dann tritt warnend der Krampf und wehenartige Schmerz 
im Unterleibe hinzu, und reicht das nicht aus, so greift das Es zum 
Kopfschmerz, um die Gedanken still zu stellen, zu Migräne, Übelkeit 
und Erbredien. Sie stehen da mitten in seltsamen Symbolen; denn 
Übelkeit, Erbrechen, das Gefühl des Schädelplatzens sind Geburtssinn- 
bilder in Krankheitsform. 

Sie verstehen, daß es unmöghch ist, klare Auseinandersetzungen 
zu geben, wo Alles so bunt ist. Aber Eines darf Ich wohl sagen: je 
schwererer der innere Konflikt der Menschen ist, um so schwerer sind 
die Erkrankungen, die ja symbolisch den Konflikt darstellen, und um- 
gekehrt, je schwerer die Erkrankungen, um so heftiger ist die Begierde 
und der Widerstand gegen die Begierde. Das gilt von allen Erkrankungen, 
nidit nur von denen der Periode. Reicht die leichte Form des Un- 
wohlseins nicht aus, um den Konflikt zu lösen oder zu verdrängen, so 

112 



greift das Es lur schwereren, zum Fieber, das den Menschen ins Haus 
bannt, zur Lungenentzündung oder zum Beinbruch, die ihn in das Bett 
werfen, so daß der Kreis der Wahrnehmungen, die die Begierde 
stärker reizen, kleiner wird, zur Ohnmadit, die jeden Eindruck aus- 
schließt, zur dironisdien Erkrankung, Lähmung, zum Krebs und der 
Schwindsucht, die langsam die Kraft untergraben, und schliefiiich zum 
Tode. Denn nur der stirbt, der sterben will, dem das Leben uner- 
träglich wurde. 

Darf ich wiederholen, was ich sagte? Die Erkrankung hat einen 
Zweck, sie soll den Konflikt lösen, verdrängen oder das Verdrängte 
am Bewußtwerden verhindern; sie soll für die Übertretung des Ver- 
botes bestrafen, und das geht soweit, daß man aus der Art und dem 
Ort und der Zeit der Erkrankung auf Art, Ort und Zeit der straf- 
baren Sünde Rückschlüsse machen kann. Wer den Arm bricht, hat 
mit dem Arm gesündigt oder wollte damit sündigen, vielleicht morden, 
vielleicht stehlen oder onanieren; werblind wird, will nidit mehr sehen, 
hat mit den Augen gesündigt oder will mit ihnen sündigen; wer heiser 
ist, der hat ein Geheimnis und wagt es nicht laut zu erzählen. Die 
Erkrankung ist aber auch ein Symbol, eine Darstellung eines inneren 
Vorgangs, ein Theaterspiel des Es, mit dem es verkündet, was es mit 
der Zunge nicht auszuspredien vermag. Mit andern Worten die Er- 
krankung, jede Erkrankung, mag sie nervös oder organisch genannt 
werden, und auch der Tod, sind ebenso sinnvoll wie das Klavierspiel 
oder das Anzünden eines StreicJiholzes oder das Ubereinanderschlagen 
der Beine. Sie sagen etwas vom Es aus, deutliciier, eindringlicher als 
die Sprache es vermag, ja als das ganze bewußte Leben es kann. 
Tat vam asi, 

Und wie seltsam scherzt das Es! Ich nannte vorhin die Schwind- 
sudit, die Sucht zum Schwinden. Die Begierde soU schwinden, die Be- 
gierde naiJi dem Aus und Ein, nach dem Hin und Her der Erotik, 
das sidi in der Atmung symbolisiert. Und mit der Begierde schwinden 
die Lungen, diese Darsteller des Empfängnis- und Geburtssymbols, 
schwmdet der Leib, dieses Phallussymbol, muß sdiwinden, weil die Be- 

8 Groddeck, Das Budi vom Es 113 



gierde in der Erkrankung wadist, weil die Schuld durch die immer 
wiederholte symbolische Samcnverscluvenduiig des Auswurfs sidti 
ständig verg-rößert, weil die Sucht zu scliwindeu aus der Verdräng-ung- 
dieser ins Bewußtsein strebenden Symbole immer wieder neu entsteht, 
weil das Es durdi die Lung-enerkrankuug schöne Augen und Zähne, 
hitzende Gifte entstehen laßt. Und das grausame Mordspiel des Es 
wird noch toller, weil ihm ein Irrtum zu Grunde liegt; denn Sucht hat 
niclits mit Sehnsuclit zu tun, sondern mit siech. Aber das Es stellt 
sidi, als ob es über Etymologie nichts wüßte, hält sich wie der naive 
Griedie an den Klang des Wortes und benutzt diesen Klang, um die 
Erkrankung entstehen zu lassen und weiter zu führen. 

Es wäre gar nicht so dumm, wenn die berufenen Leute der 
Medizin weniger klug waren und plumper dächten, kindlicher folgerten. 
Man täte damit vielleicht Besseres als mit der Errichtung von Lungen- 
heilstätten und Beratungsstellen. •■'■ - 

Rate ich recht, wenn ich annehme, daß Sie aucli vom Krebs ein 
kräftig Wörtlein hören mögen? Wir sind allmählldi mit Hilfe unserer 
Beflissenheit, uns von Anatomie, Physiologie, Bakteriologie und Statistik 
Ansichten vorschreiben zu lassen, so weit gekommen, daß Niemand 
mehr weiß, was er Krebs nennen soll und was nidit. Die Folge davon 
ist, daß das Wort Krebs ebenso wie das Wort Syphilis alle Tage viel 
tausendmal gedruckt und gesproclien wird; denn was iiören wohl die 
Menschen lieber als Gespenstergesdiicliten? Und da man an Gespenster 
nicht mehr glauben darf, geben die beiden, trotz oder wegen der 
vielen Wissensdiaft so gut wie undefinierbaren Namen, deren assozia- 
tive Verwandtschaft grausige Grotesken erschafft, einen guten Ersatz 
fürs Gruseln. Nun gibt es ein Phänomen im Leben des Es, das heißt 
die Angst, und die bemächtigt sich, weil sie aus Zeilen stammt, die 
jenseits der Erinnerung liegen, der beiden Wörter, um dem hohen Ver- 
stände einen Schabernack zuspielen und das Ersclieinen der Angst seiner 
Dummheit erklärlich zu machen. Wenn sie noch die Onanieangst hinzu- 
rechnen, haben Sie ein in sich zusammenhängendes Gewirr von Angst, 
und das halbe Leben ist Angst. 

114 



Aber ich wollte Ihnen etwas von meiner Krebsweisheit erzählen 
"bnd merke, daß mich der Zorn vom Weg-e lockt. Gehen Sie hin zu 
ihrer Nachbarin und Freundin, bringen Sie sie auf das Thema Krebs 
— sie wird bereitwillig darauf eingehen, denn sie hat wie alle Frauen 
Krebsangst ~ und fragen Sie sie dann, was ihr zu dem Wortklang- 
Krebs einfällt. Sie wird Ihnen sofort antworten „Der Krebs geht rück- 
wärts" und nach einigem Zogern „er hat Scheren." Und wenn Sie 
ebenso frech wie ich am Stiileier des Wisse nschaftsmysteriums gezerrt 
haben, werden Sie daraus schließen: Der oberflächlicher liegende 
Komplex, aus dem die Krebsangst sidi satt frißt, hat etwas mit der 
Rückwärtsbewegung zu tun, und tiefer liegt etwas, was mit dem Be- 
griff des Schneidens zu tun hat. Das ist gar leicht zu erklären, der 
Mensch geht eben, wenn er am Krebs erkrankt, an Kraft und Lebens- 
mut zurück und der Arzt schneidet, wenn er „in den Anfangsstadien" 
dazu kommt. Aber bei näherem Eingehen auf die Frage werden Sie 
erfahren, daß die Riicliwärtsbewegung im Assoziationszwang mit 
Kindheitsbeobachtungen steht, die frühzeitig verdrängt im Unbewußten 
forlgewirkt haben. Der kleine Engel von Mädchen ist durchaus nicht un- 
scliüldig, wie man anzunehmen beliebt, durchaus nidit rein, wie die 
höheren Menschen es behaupten, genau so wenig wie es die Taube 
ist, die man als Symbol der Reinheit und Unschuld uns vorführt, 
während die Griechen sie der Liebesgöttin beigesellten, dies Engelchen 
sieht seltsame Bewegungen beim Hund und der Hündin, beim Hahn 
und der Henne, und da es nicht dumm ist und aus dem albernen Ver- 
halten von Erzieherinnen und Müttern schließt, daß es vor einem 
Geheimnis der Geschlechtsliebe steht, kombiniert es damit das andre 
ihm viel wichtigere Geheimnis des elterlichen Schlafzimmers. 

So wie es hier die Tierlein tun, denkt es, treiben es aut^ Papa 
und Mama zu den Zeiten, wo ich das merkv/ürdige Beben des Bettes 
fühle und ihr gemeinsames Puff-Puff-Eisenbahnspielen höre. Mit andern 
Worten das Kind kommt auf die Idee, daß der Beischlaf von hinten 
stattfinde, und versenkt diese Idee in die Tiefe, bis sie auf dem 
Assoziationswege Rückwärts und Krebs als Angst wieder emporsteigt. 



8' 



:• 



115 




Die Scheren aber, — i(^ brauche es kaum nocli zu sagen — führen 
direkt und indirekt auf die große Angstfragc der Kastration, der 
Verwandlung des ursprünglich männlich gedachten Weibes in ein 
weibliches Weib, dem der Penis abgesclmitten, zwischen dessen Beinen 
ein zeitweise blutendes Loch geschnitten wurde. Auch dieser Gedanke 
Stützt sidi auf eine Erfahrung, auf eine der ersten des Lebens, auf 
das Abschneiden der Nabelschnur. 

Von all den Theorien, die über den Krebs aufgestellt worden sind, 
ist für mich im Laufe der Zeit nur eine übrig geblieben, die, daß der 
Krebs unter bestimmten Erscheinungen zum Tode führt. Was nicht 
zum Tode führt, ist kein Krebs, so meine ich. Sie können daraus ent- 
nehmen, daß ich mir keine Hoffnung auf ein neues Verfahren zur 
KrebsheiluDg mache. Aber bei all den vielen sogenannten Krebsfällen 
lohnt es sidi, auch einmal das Es des Mensclien zu befragen. 

Immer Ihr 

PATRIK TROLL. 



i 



14. 

LIEBE FREUNDIN, SIE HABEN ES RICHTIG AUFGEFASST, DER 

Ödipuskomplex beherrscht des Menschen Leben. Aber ich weiß nicht 
redit, wie ich Ihrem Verlangen, mehr davon zu hören, nachkommen 
soll. Die Sage selbst, wie Ödipus unschuldig-schuldig seinen Vater er- 
schlagt und mit der Mutter in blutschänderischem Verkehr unselige 
Kinder zeugt, kennen Sie doch oder finden Sie leicht in jeder Sagen- 
sammlung. Daß der Inhalt der Sage: brünstige Leidensciiaft des Sohnes 
für die Mutter und mörderischer Haß gegen den Vater typisch ist, für 
alle Menschen aller Zeiten gültig ist, daß in dieser Sage sich ein tiefes 
Geheimnis des Menschseins halb enthüllt, sagte ich schon. Und die 
Anwendung auf Ihr eigenes Leben, auf meines oder auf das irgend 
eines anderen Menschen müssen Sie selbst machen. Idi kann Ihnen 
höchstens ein paar Geschiditen erzählen, vielleicht lesen Sie sich ein 
wenig daraus heraus. Ungeduldig dürfen Sie aber nicht werden, das 

IM 






Leben des Unbewußten ist sdiwer zu entziffern und Sie wissen, mir 
kommt es auf ein paar Irrtümer nicht an. 

Vor mehr als zwanzig Jahren — ich war damals noch ein junger 
Arzt, tollkühn in der festen Überzeug-ung-, daß mir nichts fehl- 
schlagen werde — wurde mir ein Knabe gebracht, der an einer selt- 
samen Hauterkrankung, Sklerodermie genannt, litt. Er war wegen der 
Ausdehnung seines Leidens, das sich über große Teile des Bauchs, der 
Brust, der Arme und Beine erstreckte, von den Autoritäten als dem 
Tode verfallen aufgegeben. Idi übernahm frohgemut die Behandlung 
nach den Grundsätzen, die ich von Schweninger gelernt hatte, und da 
nadi etwa einem Jahr die Sache zum Stillstand kam, hielt ich es nicht 
für einen Raub, Gott gleidi zu sein und meiner — idi darf es sagen 
— mühseligen Arbeit die Genesung zuzuschreiben. Was man so Ge- 
nesung nennt; wir Ärzte sind darin, wenn es sieh um die Beurteilung 
unserer eigenen Erfolge handelt, weitherzig. Letzten Endes blieb noch 
genug zu wünsdien übrig; abgesehen von den Narben, die der Prozeß 
zurückgelassen hatte und die Sie sich kaum groß genug vorstellen 
können, waren die Ellbogengelenke so kontrakt, daß die Arme nicht 
vollständig ausgestreckt werden konnten, und das eine Bein war und 
blieb dünn wie ein Stock. Auch die Reizbarkeit des Herzens, die sich 
gelegentlich in rasender Sciinelligkeit der Schlage und in Angstzuständen 
äußerte, wie fast ununterbrochener Kopfschmerz sowie eine Reihe von 
neurotischen Besdiwerden ließen sidi nicht beseitigen. Immerhin, der 
Knabe blieb am Leben, machte das Gymnasium durch, war eine Reihe 
von Jahren Offizier und ging dann zu einem akademischen Beruf über. 
Von Zeit zu Zeit ersdiien er für einige Wodien bei mir, um sich auf- 
■ zufrisdicn. Inzwisdien wurde er seiner vielen Beschwerden halber von 
dem und jenem Arzte behandelt, um schließlich bei einem bekannten 
Berliner Herrn, dessen Namen Ihnen und mir Achtung einflößt, zu 
bleiben. Einige Jahre hörte ich nidits von ihm, dann kam der Krieg 
und wenige Monate spater traf er wieder bei mir ein. 

Diesmal sah das Kraiikheitsbild seltsam aus. Kurz nach Kriegs- 
ausbruch war Herr D. — so wollen wir ihn nennen — mit starkem 

117 



A^ 



Schüttelfrost und Fieber bis zu 40" erkrankt. Das dauerte eine Weile, 
ohne daß man dahinter kam, was eig^entlich los war. Endlich schien 
sidi die Sache zu klären. Die Temperaturen sanken des Morgens unter 
36", um gegen Abend auf 39 — 40** zu steigen. Das Blut wurde auf 
Malaria untersucht, einmal, sechsmal, ein paar Dutzendmal, Plasmodien 
wurden nicht gefunden und auch Chinin und Arsenik, die man vor- 
sichtshalber gab, blieben wirkungslos. Inzwischen wurde ohne Er- 
gebnis auf Tuberkulose gefahndet und eine alte Syphiiisdiagnose, derent- 
wegen er vor Jahren „antiluetisdi" — wie schön das klingt — be- 
handelt worden war, wieder aufgewärmt. Der berühmte „Wassermann" 
— Sie wissen wohl, was das ist, — ergab ein zweifelhaftes Resultat 
und sdiließlidi war man so klug wie zuvor. Plötzlich war das Fieber 
fort, der völlig heruntergekommene Körper fing an sich zu erholen, 
die Uniformen wurden instand gesetzt und alles schien gut, Herr D. 
ging wieder aus, verfaßte ein Gesuch an sein Ministerium, das ihn für 
unentbehrlich erklärt hatte, ihm die freiwillige Teilnahme am Feldzug 
zu gestatten, erhielt die Erlaubnis und erkrankte am selben Tage mit 
Fieber- und Halsschmerzen, Die zugezogenen Ärzte schauten ihm in 
den Mund, fanden an Mandeln, Zäpfclien und Radienwand Geschwüre, 
und da das Fieber verschwand, die Geschwüre aber weiter um sich 
griffen, ein verdächtiger Ausschlag erschien und einige Drüsen gefällig 
genug waren, angeschwollen zu sein, stellten sie ein Rezidiv der an- 
geblich früher überstandenen Syphilis fest, was ich ihnen nidit verdenken 
kann. Die Wassermanns che Probe war freilich negativ, blieb es auiii, 
aber — nun kurz gesagt, es wurde Salvarsan und Quecksilber gegeben. 
Der Erfolg war niederschmetternd. Statt einer Besserung trat von 
Neuem das rätselhafte Fieber auf, zeitweise begleitet von völliger Be- 
wußtlosigkeit, der Kranke verfiel mehr und mehr und scliIießHch ließ 
er sich unter Ausnützung der letzten Kräfte zu mir transportieren. 

Ich war damals in Bezug auf die Abhängigkeit des organischen Leidens 
vom Es meiner Sache nicht so sicher, wie ich es jetzt bin, glaubte auch, 
von irgend welchen Bosheiten meines Unbewußten verleitet, bei einem 
Menschen, der anderthalb Jahrzehnte lang von mir in bestimmter 

118 



Richtung behandelt worden war, von dieser Richtung- nicht abweichen 
zu können, ohne sein Vertrauen zu verlieren; kurz ich behandelte ihn, 
wie er es von mir gewohnt war, mit sehr heißen lokalen Bädern, 
Massage, sorgfältiger Diät u. s. w. Das sdiloß den Versudi einer 
psychischen Beinfiussung nicht aus, nur ging dieser Versuch in der alten 
Richtung, dem Kranken durch die autoritative Suggestion zu helfen. 
Zunächst erklärte ich mit voller Überzeugung und bestimmt genug, um 
keinen Widerspruch aufkommen zu lassen, daß von Syphilis keine Rede 
sein könne; und dann zeigte ich dem Kranken, daß sein Leiden mit 
seinem Wunsch, in das Feld zu gehen, zusammenhinge. Er wehrte sich 
eine Zeit lang gegen diese Annahme, gab aber bald zu, dafi es so 
sein könne, und erzählte mir ein paar Einzelheiten der letzten Monate, 
die meine Ansicht bestätigten. 

Die Saciie schien gut zu verlaufen, die Kräfte hoben sich, Herr D. 
begann in der Umgegend umherzustreifen und spracb wieder davon, 
sich freiwillig zum Heeresdienst zu melden. Damit war es ihm Ernst; 
er stammte aus einer alten Offiziersfamilie und war selbst mit Passion 
Offizier gewesen. Eines Tages trat wieder Fieber auf, wieder in der 
alten Weise mit niedrigen Morgentemperaturen und überaus hohen 
abendlichen Steiger ungen, und gleichzeitig kamen auch von Neuem die 
merkwürdigen Symptome, die deutlich den Charakter der Syphilis 
trugen- Es bildete sidi ein Gesdiwür am Ellenbogen, dann, nachdem 
das abgeheilt war, eins an dem Unterschenkel, dann kamen Geschwüre 
im Hals, dann wieder am Ellenbogen und Unterschenkel und sdiließlich 
am Penis. Dazwisclien tauchte ein roseolaartiger Ausschlag auf, kurz 
es geschahen allerlei Dinge, die mich schwankend machten, ob nicht 
doch etwa Syphüis da sei. Die Untersuchungen nadi Wassermann, die 
von der Universitätsklinik ausgeführt wurden, gaben widersprechende 
Resultate, bald lautete das Urteil bestimmt negativ, bald hieß es, es 
sei unbestimmt. Das zog sich drei Monate lang hin. Plötzlich, und ohne 
daß ich irgendwie finden konnte warum, verschwand die ganze Er- 
krankung. Herr D. blühte auf, nalim von Tag zu Tag an Kraft und 
GewicJit zu und alles war gut. Ich gab ihm die vorgeschriebenen 

119 



Impfungen gegen Pocken, Cholera und Typhus, er hing sich den Ruck- 
sack auf den Rücken und verabschiedete sich von mir, um nach einer 
dreitägigen Fußwanderung durch den Schwarzwald sofort sich bei 
seinem Bezirkskommando zu melden. Am dritten Tage der Wanderung 
brach das Fieber von Neuem aus, Herr D. kehrte für einige Tage zu 
mir zurück, ging dann aber nach Berlin, um dort unter anderer ärzt- 
licher Führung noch einmal sein Heil zu erproben. 

Im Sommer 1916, fast 16 Monate später, kam er wieder. Er war 
lange Zeit in Berlin behandelt worden, war dann nach Aaclien zu dem 
Gebrauch der dortigen Quellen geschickt worden, nach Sylt, in das 
Gebirge, nach Nenndorf und hatte schließlich wieder Wodien und Monate 
schwer krank in Berlin gelegen. Sein Zustand war derselbe, häufige 
stürmische Fieberanfälie, Geschwüre, Ohnmächten, Herzbeschwerden 
u. s. w. Mir fiel auf, daß sein altes Leiden der Sklerodermie an ein- 
zelnen Stellen wieder eingesetzt hatte und daß die neurotischen Symp- 
tome zugenommen hatten. 

Inzwisfdien war mit mir selbst eine große Veränderung vor sidi 
gegangen. Wahrend meiner Lazarettätigkeit hatte ich oft die Wirkung 
der Psydioanalyse auf die Heilung von Wunden und organisdien -^ 

Erkrankungen gesehen, meine Privatpraxis hatte mir eine Reihe ; 

Erfolge gebradit, idi hatte mir eine für mich braudibare Tedinik J; j 

angeeignet, kurz idi trat an die Behandlung des Herrn D. mit dem 
festen Entschluß heran, mich um Diagnose, physikalische oder medika- 
mentöse Therapie nicht zu kümmern, sondern ihn zu analysieren. Der 
Erfolg kam, ein Symptom nadi dem andern versdiwand, nadi einem 
halben Jahr ging Herr D. als Infanterieoffizier ins Feld, wo er zwei 
Monate später fiel. Ob seine Genesung von Dauer gewesen wäre, 
vermag ich nidit zu entscheiden, da der Tod dazwisdien getreten ist. 
Nadi dem jetzigen Stand meines Wissens glaube ich, daß die Behand- 
lungszeit zu kurz war und daß der Kranke wahrsdieinHch Rückfälle 
bekommen hatte, wenn er länger gelebt hatte. Idi bin aber überzeugt, 
daß eine vollständige Heilung bei ihm moglith gewesen wäre. Die Frage 
ist schließlich gleichgültig, ich erzähle Ihnen diese Gesdiichten nicht des 



120 



l! 



Erfolgs wegen, sondern um Ihnen einen Begriff von der Wirkung des 
Ödipuskomplexes zu geben. ; ■ . - . 

Über die Behandlung teile id» nur mit, daß sie nicht leidit war. 
Immer von neuem tauditen Widerstände auf, die bald an meinen Vor- 
namen Patrik als den eines lügnerischen Iren anknüpften, bald meine 
Gummischuhe oder eine liederlich geknüpfte Krawatte zum Vorwand 
nahmen; die Krawatte war ihm ein schlaff und lang herabhängender 
Hodensack, wie er ihn einst bei seinem alten Vater gesehen hatte, die 
Gummis<diuhe rührten alten Ärger aus der Kindheit auf. Dann wieder 
verschanzte er sidi hinter meinem zweiten Vornamen Georg, der ihn 
an eine Romanfigur aus Robert dem Schiffsjungen erinnerte, an einen 
Verführer und Dieb; dabei tauchte nach und nach eine ganze Horde 
George auf, die alle schlechte Kerle waren, bis endHch der eigentÜdic 
Übeltäter in der Gestalt eines Mannes ersdiien, von dem D. als Gym- 
nasiast eine Ohrfeige bekommen hatte, ohne dafür Rechenschaft zu 
verlangen. Am längsten zu schaffen machte ihm und mir eine meiner 
damaligen Spredigewohnheiten ; ich pflegte ab und zu die Worte „offen 
gestanden" zu gebrauchen oder auch „Ich muß Ihnen offen gestehen". 
D. schloß daraus, daß ich löge, eine Folgerung, die gar nicht so dumm war. 

Der Widerstand des Kranken gegen den Arzt ist das Objekt 
jeder Behandlung-. Das Es wünscht durchaus nicht von vornherein 
gesund zu werden, so sehr auch die Krankheit den Kranken plagt. 
Im Gegenteil, das Bestehen der Krankheit beweist, trotz aller Ver- 
sicherungen, Klagen und Anstrengungen des bewußten Menschen, daß 
dieser Mensch krank sein will. Das ist widitig, Liebe. Ein Kranker 
will krank sein und er wehrt sich gegen die Genesung, etwa wie ein 
verzogenes kleines Mädchen, das seelengern zum Ball gehen mochte, 
doch sich mit allerlei Getue dagegen wehrt hinzugehen. Es lohnt sich 
immer, sich die Einwände, die solch ein Widerstand gegen den Arzt 
hat, genau anzusehen; sie verraten allerlei über den Kranken selbst. 
So war es au<h bei D. Die schlaffen Hoden und die Gummischuhe des 
Weichlings erregten bei ihm Anstoß, weil er selber in hohem Grade 
das Impotenzgefühl hatte. Das Lügen, wie er es in „Patrik" und „offen 

121 



.jtat 



g'estanden" ang-nff, verabscheute er wie alle ehrenhaften Leute, aber wie 
alle ehrenhaften Leute belog er sich selbst— und damit Andere ■ ununter- 
brodien. Mit den Vornamen hatte er es so arg, weil er seinen eigenen 
„Heinrich" haßte; er ließ sich statt dessen von seinen Intimen Hans 
nennen, weil irg-end ein Heldenvorfahr seines Gesdilechts diesen Namen 
geführt hatte. Auch darin fühlte er die Lüge, denn sein dumpfes Gefühl 
vom Es beiehrte ihn, daß er durchaus kein Held war, daß seine Krankheit 
Schöpfung seines ängstlichen Unbewußten war. Georg schließlich war ihm 
unerträglich, weil er einstmals wie der Dieb aus Robert dem Schiffsjungen 
— die Erinnerung daran kam, unter heftigen Krankheitssymptomen 
und Fieber — seinem Vater zwei Medaillen entwendet hatte. Medaille 
aber führte ihn zu dem Wort Medaillon und ein Medaillon mit dem 
Bild seiner Mutter trug sein Vater und diesem Medaillon galt in Wahr- 
heit sein Diebstahl. Er wollte dem Vater die Mutter stehlen. Ödipus. 
Nod) eine Seltsamkeit muß icli erwähnen. D. trug eine ganze 
Reihe von weit ausgreifenden Komplexen mit sidi herum, die alle 
letzten Endes mit dem Ödipuskomplex und mit der Impotenzidee 
zusammenhingen. Wurde während der Behandlung der Ödipuskomplex 
an ifofend einer empfindlichen Stelle gepackt, so erschien das Fieber, 
kam man der Impotenz zu nahe, so traten die SyphiÜssymptome hervor. 
D. gab mir dafür folgc:nde Erklärung: Meine Mutter ist mir im Laufe 
der Jahre ganz gleichgültig geworden. Das beschämt mich und ich 
suche, so oft ich genötigt bin angestrengt an sie zu denken, die alte 
Glut wieder anzufachen. Und weil das seelisch niclH gelingt, entsteht 
die kÖrjJerliche Hitze. Meinem Vater, der alt war, als er midi zeugte, 
nach meiner Ansicht zu alt, schiebe ich alle Schuld meiner Impotenz 
zu. Und da idi ihn, der längst tot ist, nicht persönlidi bestrafen kann, 
so strafe ich ihn im Sinnbild, im Erzeuger, in dem, der erzeugt, m 
meinem eigenen Gesdilechtsteil. Das hat den Vorteil, daß idi mich 
selbst für die Lüge mitbestrafe; denn nicht mein Vater, sondern ich 
selber trage die Schuld meiner Impotenz. Und schlicßlidi, ein Syphilitiker 
darf impotent sein, es ist gut für ihn und die Frauen. Sie sehen, D. 
hatte ein wenig Trollheit in si<ii; das hat mir an ihm gefallen. 

122 



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^^^-*" -- — 



Und nun der Ödipuskomplex. Im Vordergrund steht die Leiden- 
schaft für die Mutter. Die Masse der Einzelheiten lasse idi bei Seite; 
als Probe g-ab ich Ihnen den Medaillendiebstahl, der symbolisch den 
Raub der Mutter bedeutet. Statt kleiner Züge wähle ich Einiges aus, 
was Ihnen die tiefen Wirkungen des Es zeigen wird. Zunächst ist da 
die andauernde Kränklichkeit D.'s, die von Zeit zu Zeit zu sdiweren 
langwierigen Erkrankungen ausartete. Der Kranke bedarf der Pflege, 
der Kranke erzwingt sich die Pflege. Jede Erkrankung ist eine Wieder- 
holung der Säuglingssituation, entspringt der Sehnsudit nach der 
Mutter, jeder Kranke ist ein Kind, jeder Mensch, der sich des Kranken 
annimmt, wird zur Mutter, Die Kränklichkeit, die Häufigkeit und Dauer 
der Erkrankungen sind ein Beweis, wie tief der Mensch noch an die 
Mutterimago gefesselt ist. Sie können meist ohne die Gefahr eines 
Irrtums in Ihren Schlüssen noch weitergehen: wenn Jemand krank 
wird, ist es wahrscheinÜdi, daß er irgendwie in nächster zeitiiclier 
Nähe des Krankheitsbeginnes überaus stark an die Mutterimago 
erinnert wurde, an die Imago der ersten Säuglingswochen. Ja, idi 
scheue midi nicht, auch hier das Wort „immer" hinzusetzen. Es ist 
immer so. Und es gibt nicht leicht einen stärkeren Beweis für Jemandes 
Leidenschaft zur Mutter, für seine Abhängigkeit vom Ödipuskomplex, 
als dauernde Kränkhchkeit. 

Diese Leidenschaft hat noch etwas Anderes bei D. hervorgebracht, 
was man nicht selten beobachten kr^m. Der Herr, der Eigentümer der 
Mutter ist der Vater. Will der Sohn Herr, Eigentümer, Gehebter der 
Mutter werden, so muß er dem Vater ähnlich werden. Das ist D.'s 
Fall. Ursprünglidi — idi habe Kinderbilder von ihm gesehen — war 
keine Rede von Ähnlidikeit mit dem Vater, auch sein Wesen hatte 
nadi Aussage der Mutter nichts mit dem Vater gemein. In den zwanzig 
Jahren, die ich den Kranken gekannt habe, konnte man von Jahr zu 
Jahr beobachten, wie in Gebärde, Haltung, Gewohnheiten, in Gesidit 
und Körperbildung, im Denken und Wesen langsam eine Annäherung 
an den Vater stattfand. Nicht das Es änderte sich, sondern darüber, so 
daß nur noch hie und da der eio-entliche Menschenkern zum Vorschein kain, 

123 



bildete sidi ein neues Es der Oberfläche oder wie Sie es sonst 
nennen wollen und dieses neue Es, — das ist das Beweisende, — 
schwand mit der fortschreitenden Genesung. Der echte D. kam wieder 
zum Vorschein. Am deutlichsten spradi sich die Anähnelung an den 
Vater in dem frühzeitigen Altern D.'s aus. Schon mit 30 Jahren war 
er vollkommen weiß. Ich habe dieses Ergrauen zu Gunsten der Vater- 
maske mehrfadi entstehen und auch wieder verschwinden sehen. Wie 
es bei D. geworden wäre, weiß idi nicht. Er starb zu früh. 

Ein drittes Merkmal seiner Leidenschaft zur Mutterimago war seine 
Impotenz, wie denn beim Unvermögen des Mannes immer die erste 
Frage sein muß : wie steht dieser Mensch zu seiner Mutter. D. hatte 
die charakteristische Form der Impotenz, wie sie Freud beschrieben 
hat ; er teilte die Frauen in Damen und Huren ein. Der Dame, das 
ist der Mutter gegenüber, war er impotent, mit der Hure vermochte 
er in Geschlechtsverkehr zu treten. Aber das Bild der Mutler wirkte 
mächtig in ihm und so erfand sein Es, um sidi gänzlich vor jedem 
Inzest, selbst vor dem im Bilde der Dirne zu schützen, die syphilitische 
Ansteckung. Daß sith Jemand unter dem Druck des Ödipuskomplexes 
hei irgend einem Frauenzimmer infiziert, habe ich oft gesehen. Daß 
aber diese Ansteckung vom Es erfunden und nun jahrelang im Theater 
mit Syphilis- oder Trippersymptomen gespielt wird, scheint selten zu 
sein. Ich habe es bisher nur zweimal bestimmt gesehen, hei D. und 
bei einer Frau. 

Weiter, der Beginn der Erkrankung — die ersten Symptome sind 
immer beachtenswert, sie verraten viel von den Absichten des Es — 
der Beginii der Erkrankung war die Sklerodermie des linken Beines, die 
dann auf den rechten Arm übergriff. Was am linken Beine vor sich 
geht, sagt mir in der närrischen Sprache, die ich mir zurecht gemacht 
habe : dieser Mensdi wünscht einen bösen, unrechten, linken Weg zu 
gehen, aber sein Es hindert ihn daran. — Wenn der redite Arm 
irgendwie erkrankt, so bedeutet das: dieser rechte Arm will etwas 
tun, woran das Es Anstoß nimmt, deshalb wird er in seinem Tun 
gelähmt. — Kurz vor den Beginn des Beinleidens fällt ein wichtiges Erlebnis, 

124 



D.'s Mutter wurde schwanger. Er war damals 15 Jahre alt, will aber 
nichts von dieser Schwangerschaft bemerkt haben; das ist ein sicheres 
Zeichen, daß tiefe Elrschütterung-en seines Wesens ihn zu verdräng-en 
nötigten. Dieser Kampf des Verdrangens fallt mitten in die Geschlechts- 
entwicklung des Knaben und verbindet sich mit einem zweiten Ver- 
drängTjngskonflikt sexueller Art. Denn ebenso, wie der Kranke be- 
hauptete, von der Geburt seines Brüderdiens völlig überrascht worden 
zu sein, behauptete er auch, daß er damals überhaupt keine Kenntnisse 
vom Geschletiits verkehr gehabt habe. Beides ist unmöglich. Das Letztere 
deshalb, weil der Knabe gerade zur selben Zeit eine Kaninchenzucht 
betrieb und stundenlang den Gesdilechtsspielen der Tiere zusah, Ersteres 
weil er selbst sehr bald dahinter kam, daß er schon während der 
Schwangerschaft die Mordideen hatte, von denen sofort die Rede sein 
wird. Aus der Idee, diesen spätgeborenen Bruder zu beseitigen, 
leitet sidi nämlidi zum Teil das Übergreifen der Sklerodermie auf 
den rediten Arm her. Die Idee, unbequeme Menschen zu töten, begleitet 
uns Alle durch unser ganzes Leben nnd unter ungünstigen Verhältnissen 
wird Wunsch und Abscheu zu töten so stark, daß das Es sich ent- 
schließt, das Mordwerkzeug des Menschen, den rediten Arm, lahm zu 
legen. Ich glaube, idi erzählte Ihnen sdion, weshalb diese Mordideen so 
verbreitet sind, zu Ihrem Nutz und Frommen will ich es aber wieder- 
holen: Das Kiiid lernt den Begriff des Todes durch das Spiel kennen. 
Es schießt und sticht nadi den Erwachsenen, der fällt um und stellt 
sidh tot, um kurz darauf zum Leben zu erwadien. Ist es nicht seltsam, 
wie das' Es der Kindesseele die sdiwersten Probleme als Nichtigkeiten, 
als Spaß darzustellen weiß, wie es aus dem Sterben ein Amüsement 
für das Kind zu machen versteht? Und ist es ein Wunder, daß dieser 
mit den schönsten Erlebnissen des Kindesalters verwobene heitere 
Todescindruck mit der rasdien Wiederbelebung sich in das Gemüt 
eingräbt und als bequemer Gedanke für später bereit liegt? Um zum 
Schluß zu kommen, die Erkrankung des Beins und des Arms entstanden 
auf Grund sexueller Kämpfe, die in den" Bereidi der Mutter-Kinderotik 
gehörten. 

12S 



Ittk llllMIllMllt 



Ich komme nun zu dem seltsamsten Teil diesef seltsamen Krank- 
heit, zu der Art, wie die Syphilisldee aus dem Mutterkomplex entsprang" 
und wie sie g-erade dieses Ursprungs wegen so mächtig- werden konnte, 
immer und immer wieder Syphilissymptome zu produzieren, so zu 
produzieren, daß alle behandelnden Ärzte, midi eingesdilossen, getäusdit 
wurden. Idi fragte D., ob er denn wisse, von wem er angesteckt 
worden sei, „Ich weiß überhaupt nicht, ob ich ang'esteckt worden bin," 
erwiderte er, „ich vermute es." „Und warum vermuten Sie es ?" 
„Weil ich einmal mit einem Mädchen g-eschlechtlich verkehrt habe, das 
einen Schleier trug:." Als er mir den Zweifel am Gesicht ablas, fügte 
er hinzu: „Alle Straßendirnen, die einen Schleier tragen, sind syphili- 
tisdi." Das war mir neu, ich begriff aber, daß der Gedanke nicht 
aiSt:m war, und fragte deshalb weiter: „Von diesem Mäddien also 
glauben Sie angesteckt zu sein?" „Ja", sagte er, fuhr aber gleich fort: 
„idi weiß es nidit, weiß es überhaupt nicht, ob ich angesteckt worden 
bin. Später gewiß nicht, denn idi bin nie wieder mit einer Frau zu- 
sammengekommen. Ich hatte am andern Morgen Angst, ging zum 
Arzt und ließ mich untersuchen. Er schickte mich fort, ich solle in 
einigen Tagen wiederkommen, das tat icli, er schickte mich wieder fort 
und so ging es eine ganze Zeit, bis er mir halb lädiehid, halb grob 
erklärte, ich sei ganz gesund, von einer Ansteckung sei keine Rede. 
Seitdem bin ich viele, viele Male von verschiedenen Ärzten untersucht 
worden. Keiner hat etwas gefunden." „Aber", sagte ich, „Sie sind 
doch, ehe Ihre Kriegskrankheit begann, autiluetisdi behandtlt worden." 
„Ja, auf meine Bitten. Ich glaubte, meine Kopfschmerzen, mein krankes 
Bein, meine Arme, all das könne nur von Syphilis herrühren. Ich habe 
alles, was über Sklerodermie gesdirieben worden ist, gelesen und 
Einige bringen es mit Syphilis zusammen." „Aber Sie waren damals 
15 Jahre alt, als die Krankheit begann." „Mit hereditärer Syphilis", 
unterbradi er mich. „Im Ernst habe ich nie an eine Anstedcung ge- 
glaubt, aber ich dachte, mein Vater sei syphilitisch gewesen." Er sdivifieg 
eine Zeit lang und dann sagte er: „Wenn idi midi recht besinne, trug 
das Mädchen, von dem ich Ihnen vorhin sprach, gar keinen Sdileier. 

126 



Im Geg-enteü, idi weiß bestimmt, daß sie nicht das g-eringste Fleckdien 
am g-anzen Korper hatte. Ich habe sie nackt ausg-ezog-en, habe die g-anze 
Nacht elektrisches Licht grebrannt, habe sie nackt vor dem Spiegel 
gesehen, habe ihr Führungsbuch gelesen, kurz, es ist unmöglich, daß 
sie krank war. Die Sache ist die, daß ich schreckliche Angst hatte, 
hereditär syphilitisdi zu sein. Deshalb ging idi zum Arzt, log ihm die 
Geschidite von dem Schleier vor, weil idi ihm meinen Verdacht meines 
Vaters wegen nicht mitteilen wollte, und habe sie dann so oft erzählt, 
daß ich sie schHeßlich selbst glaubte. Aber jetzt, bei all dieser Analyserei, 
weiß ich bestimmt, daß ich das Mäddien nie für syphilitisch gehalten 
habe und daß sie keinen Sciileier trug." 

Das alles kam mir seltsam vor, genau so wie es Ihnen wohl auch 
geht. Idi wollte und hoffte Klarheit zu gewinnen uad fragte Herrn 
D,, was ihm zum Worte Sdileier einfiele. Statt einer Antwort gab er 
sofort zwei: „Der Witwenschleier und die Raffael'sche Madonna mit 
dem Schleier." Von diesen beiden Einfällen aus hat sich über Wochen 
hinaus ein langes Assoziationsspiel hingezogen, von dem ich Ihnen nur 
das kurze Resultat mitteile. 

Der Witwenschleier führte sofort auf den Tod des Vaters und auf 
die Trauerkleidung der Mutter. Es stellte sich heraus, daß D, im Verlauf 
seiner Verdrängungskämpfe gegen den Inzestwunsch seine Mutter mit 
der Dirne identifiziert hatte, daß er dem Mädchen einen sdiwarzen 
Schleier andichtete und sie in der Phantasie syphilitisch machte, weil 
sein Unbewußtes glaubte, auf diese Weise leiciiter mit dem Inzestwunsch 
fertig zu werden. Die Mutter sollte und mußte aus seiner Erotik be- 
seitigt werden; wer Syphilis hatte, den konnte man nicht begehren; 
also mußte die Mutter syphilitisch sein. Das aber ging nicht — wir 
werden gleich sehen weshalb — also mußte eine Stellvertreterin ge- 
funden werden, was mit Hilfe der Sdilelerassoziation gelang, und zur 
Verstärkung der Abwehr wurde der Gedanke ausgearbeitet, der Vater 
sei syphilitisch gewesen. 

Daß sich der Kranke an den Gedanken der mütterlichen Syphilis 
nicht herantraute, ist wohl Jedem verständlich; aber es kam bei D. 

127 



nodi eine Idee hinzu, die in der Assoziation Madonna mit dem Schleier 
zum Vorsdiein kommt. Mit dieser Assoziation macht D. seine Mutter 
unnahbar, er gibt ihr die Unbeflecktheit, er schallet damit den Vater 
ganz aus und hat noch dazu den Vorteil, sich selbst für jung- 
fräulich g-eboren, für göttlichen Ursprung-s halten zu können. Das Un- 
bewußte arbeitet mit erschreckenden Mitteln. Um den Inzestwunsch zu 
verdrängen, vergÖttlichte es die Mutter gleidisam im selben Atemzug, 
in dem es sie zur syphilitischen Dirne erniedrigte. 

Sie haben hier, wenn Sie wollen, eine Bestätigung dessen, was 
ich Ihnen so oft glaubhaft zu machen suchte, daß wir Alle uns göttli- 
chen Ursprung anmaßen, daß uns der Vater wirklich Gottvater ist und 
die Mutter eine Gottesmutter. Es geht nidit anders, der Mensdi ist 
nun einmal so gemacht, daß er zu Zeiten das glauben muß, und wenn 
heute die gesammte katholisdie Religion mitsamt der Jungfrau Maria 
und dem Christkind verschwände und es bliebe keine Erinnerung- 
daran, nicht eine, so würde morgen ein neuer Mythus da sein, mit 
derselben Vereinigung des Gottes mit der Mensdiin und derselben 
Geburt des Gottessohns. Religionen sind Schöpfungen des Es, und das 
Es des Kindes kann weder den Gedanken des Liebesverkehrs zwischen 
Vater und Mutter ertragen, noch vermag es auf die Waffe der Heilig- 
sprechung der Mutter im Kampf mit dem Inzestwunsc^ verzichten, 
nodi endlich kann es, da es — Ferenczi lehrte es uns ~ vom Mutter- 
leib her sich für allmächtig hält, den Gedanken Gott gleich zu sein 
entbehren. 

Religionen sind Schöpfungen des Es. Sdiauen Sie auf das Kreuz 
mit seinen ausgebreiteten Armen und Sie werden mir beipflichten. 
Der Gottessohn hängt und stirbt daran. Das Kreuz ist die Mutter, 
und an unsrer Mutter sterben wir Alle. Odipus, Odipus. — Aber 
beaditen Sie wohl: wenn das Kreuz die Mutter ist, so fahren die 
Nägel, die den Sohn an sie heften, auch ihr in das Fleisch, sie fühlt 
denselben Schmerz, dasselbe Leid wie der Sohn, und sie trägt auf 
ihren starken Mutterarmen sein Leiden, seinen Tod mit, fühlt ihn mit. 
Mutter und Sohn, darin ist alle Trauer der Welt gesammelt, alle Tränen 

128 



und Klagen. Und der Dank, den die Mutter erntet, ist das harte Wort: 
„Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?" Es ist Menschenschicksal 
so, und das ist keine Mutter, die zürnt, weil der Sohn sie zurückweist. 
Es muß so sein. 

Noch ein tiefer, allg-emein menschhcher Konflikt, der mit einer 
seiner Wurzeln sich vom Ödipuskomplex nährt, klingt in D.'s Kranken- 
g-eschichte an, das ist die Frage der Homosexualität. Wenn er trunken 
sei, so erzählte er mir, durtiistreife er die Straßen Berhns, um auf 
Päderasten zu fahnden, und wer es auch sei und wo er ihn audi finde, 
er schlüge ihn halbtot. Das war die eine Mitteilung-. In vino veritas: 
Sie ist nur verständlidi, wenn man sie mit der zweiten zusammenhält, 
die einige Wodien darauf erfolgte. Ich traf den Kranken eines Tages 
in hohem Fieber und er erzählte mir, daß er am vorhergehenden 
Abend durch den Wald gegangen sei, da habe er plötzlich die Idee 
gehabt, es würden Strolche über ihn herfallen, ihn knebeln und durch 
den After mißbrauchen, um ihn dann mit nacktem geschändetem 
Hintern an einen Baum zu binden. Das sei eine häufige Phantasie 
bei ihm und immer folge ihr Fieber. Angst ist Wunsch, da ist kein 
Zweifei. Der Haß, mit dem D. in der Trunkenheit die Päderasten 
verfolgt, ist verdrängle Homosexualität, die Angstphantasie ist es, und 
die Höhe des Fiebers läßt ermessen, welche Glut dieser homosexuelle 
Wunsdi hat. Idi komme auf die Ang-elegenheit der Homosexualität 
ein andermal zurück. Hier möchte ich nur das Eine sagen, daß unter 
den versdiiedenen Gründen, die zur Gleidigeschlechtlichkeit führen, 
einer nie außer Adit gelassen werden darf, daß ist die Verdrängung 
des Mutterinzests. Der Mensch kämpft einen harten Kampf, um sidi 
von der Erotik der Mutter zu losen, und es ist kein Wunder, wenn 
bei diesem Kampf alle bewußten Neigungen für das weibliche Geschlecht 
mit in die Verdrängung gerissen werden, so daß schließlich bei dem 
und jenem das Weib ganz aus der Sexualität ausgesfiilossen wird. In 
dem Falle des Herrn D., der Angst hat, einer päderastischen Verge- 
waltigung; zum Opfer zu fallen, offenbart sich deutlich nodi eine zweite 
Ursache der gleidigeschleditlichen Liebe, die er verdrängt hat, die 

9 Groddeck, Daa Buch vom Ee 129 



. — .__iJ»« 



Neigung zu seinem Vater. Denn nur daraus kann diese Angst ent- 
sprungen sein, daß D. zu irgend einer Zeit seines Lebens den heißen 
Wunsch gehabt hat, Weib zu sein, das Weib seines Vaters. Bedenken 
Sie, liebe Freundin, woher perverse Laster stammen und Sie werden 
weniger hart urteilen. 

Damit bin ich bei dem andern Teil des Ödipuskomplexes angelangt, 
bei D.'s Verhältnis zu seinem Vater. Ich muß hier gleich auf etwas 
aufmerksam machen, was für viele Menschen charakteristisch ist. D. 
war fest davon überzeugt, daß es für ihn nichts Höheres, nichts mehr 
Verehrungswürdiges, nichts, mehr Geliebtes gäbe als seinen Vater, 
während er an seiner Mutter Alles und Jedes tadelte und nicht imstande 
war, länger als wenige Stunden mit Ihr zusammen zu sein. Freilidi, 
sein Vater war tot und seine Mutter lebte, und es ist bequem Tote zu 
vero-öttern. Sei dem, wie ihm sei, D. glaubte, seinen Vater mit aller 
Kraft zu lieben, sein Leben hatte den Haß gegen den Vater verdrängt. 
Es läßt sich audi niclit abstreiten, daß er diesen Vater in Wahrheit heiß 
liebte, sein homosexueller Komplex und seine Anähnelung an den 
Vater bewiesen das zu deutlich. Aber ebenso stark haßte er ihn auch 
und vor allem beim Beginn seiner Erkrankung bestand ein lebhafter 
Konflikt zwischen Neigung und Abneigung. 

Von den Erinnerungen jener Zeit, die sich bei der Analyse aus 
dem Druck der Verdrängung lösten, greife idi zwei heraus. Die eine 
ist, daß D. während der oben erwähnten Schwangersdiaft seiner Mutter 
sidi angewöhnt hatte, stundenlang vor dem Ausgang einer Gosse zu 
lauern, um daraus herauskommende Ratten zu erschießen. Knabenspiel, 
denken Sie. Gewiß, aber warum schießen die Knaben so gerne und 
warum schießt D. auf Ratten, die aus der Gosse kommen? Das 
Schießen, Ich brauche es kaum zu sagen, ist der übermaditige Sexuali- 
tätsdrang der Pubertätszeit, der sich in der symbolischen Handlung 
Luft macht. Die Ratte aber, auf die D. scJiießt, ist der Geschlechtsteil 
seines Vaters, den er in dem Augenblick mit dem Tode bestraft, wo 
er aus der Gosse, der mütterlichen Scheide, herauskommt. — Nein es 
ist keine Deutung von mir, sie stammt von D. Ich halte sie nur für 

130 



^ 



riditig. Und auch der zweiten Angabe, die er madit, stimme ich bei. 
Danach ist die Gosse wiederum die mütterliche Sdieide, die Ratte 
aber ist das Kind, das sie erwartet. Neben dem Wunsch, den Vater 
zu kastrieren — denn das ist der Sinn des Tötens der Ratte — schiebt 
sich der Mordwunsch gegen das kommende Kind vor, beide Ideen sind 
durch verdrängende Gewalten in symbolische Formen umgewandelt. 
Und in diese schweren, nur dumpf empfundenen unterirdischen Kampfe 
greift das Schicksal hinein und läßt den neugeborenen Bruder nach 
wenigen Wochen sterben. Jetzt hat das Schuldgefühl, dieser unheimliche 
Begleiter menschlichen Lebens, ein Objekt, den Brudermord. Sie glauben 
nicJit, liebste Freundin, wie bequem es für das Verdrängen ist, eine 
größere Schuld zu finden. Dahinter laßt sidi alles verstecken und 
dahinter wird tatsächlich Alles versteckt. D. hat diese alberne Bruder- 
mordsgeschichte weidlich zugunsten des Sidiselbstbelügens ausgenützt. 
Und weil es einmal menschliche Natur ist, eigene Schuld an anderen 
Menschen zu bestrafen, hat D. von der Todesstunde seines Bruders an 
nicht mehr auf Ratten gesdiossen, sondern auf Katzen, auf die Sinn- 
bilder seiner Mutter. Das Es geht seltsame Wege. 

Ganz hat D. den Kastrationswunsch gegen seinen Vater nicht mit 

der Idee des Brudermords zudecken können, das beweist eine zweite 

Erinnerung. Ich erzählte Ihnen, daß er zur Zeit jener Konflikte eine 

Kaninchenzucht betrieb. Unter diesen Tieren war ein schneeweißes 

Männchen. Mit dem führte D. ein seltsames Theater auf. All seinen 

Kaninchenmännchen gestattete er, die Weibdien zu rammeln, genoß 

es, ihnen zuzusehen; nur jener weiße Rammler durfte nicht zu den 

Weibchen gehen. Tat er es doch, so packte D. ihn bei den Ohren, 

fesselte ihn, hängte ihn auf einem Balken auf und schlug ihn mit der 

Reitpeitsche, solange er den Arm bewegen konnte. Es war der rechte 

Arm, der Arm, der zuerst erkrankte, und er erkrankte gerade damals. 

Diese Erinnerung ist unter dem stärksten Widerstand zum Vorschein 

gekommen. Immer wieder wich der Kranke aus und brachte eine 

Sammlung schwerer organischer Symptome zum Vorschein. Eines davon 

war besonders kennzeichnend: die sklerodermatisciien Stellen des rediten 

131 



Ellbogens wurden schlimmer. Mit dem Tage, wo die Erinnerung aus 
dem Unbewußten auftauchte, heilten sie wieder ab, heilten so gründli<i, 
daß der Krarike von nun an sein redites Ellbogengelenk vollständig 
biegen und strecken konnte, was er seit zwei Jahrzehnten trotz aller 
Behandlung nicht vermocht hatte. Und er tat es ohne Schmerz. 

Fast hätte ich das Wichtigste vergessen. Jener vveißhaarig-e 
Rammler, der von jeder Geschlechtslust ferngehalten wurde und der 
die Peitsche bekam, wenn er sich nicht zügelte, vertrat die Stelle des 
Vaters. Oder hatten Sie es schon erraten ? 

Sind Sie müde ? Nur Geduld, noch ein paar Striche, dann ist die 
Skizze fertig. In das Gebiet des Vaterhasses gehört noch ein Zug 
hinein, den Sie von Freud her kennen, wie denn D.'s Geschichte manche 
Ähnlichkeit mit Freud's Rattenmannerzahlung hat. D. war gläubiger, ' 

man kann beinahe sagen buchstabengläubiger Mensdi, aber er hielt es ^ÄJ 

mehr mit Gottvater als mit Gottsohn und betete täglich in seiner Weise 
zu dieser von ihm selbst aus der Vaterimago erschaffenen Gottheit. 
Aber mitten in diese Gebete drängten sich plötzlich Schimpf wo rte, 
Flüche, gräßliche Gotteslästerungen. Der Haß gegen den Vater brach 
sich Bahn. Sie müssen das bei Freud nadilesen, idi konnte nichts Neues 
hinzufügen und das A!te nur durch mein Klugreden verschlechtern. 

Nodi etwas muß ich zu dem Kaninchenabenteuer hinzufügen. D. 
hatte diesem weißen Rammler den Namen Hans gegeben: wie Sie 
wissen, war das sein eigener Wunschname, Wenn er in dem weiß- 
haarigen Tier seinen Vater schlug, so schlug er gleiciizeitig sich selbst, 
oder besser seinen Erzeuger, seinen Hans, den Hans, den er am 
Bauciie hängen hatte. Oder wissen Sie nicht, daß der Name Hans bei 
Jung und Alt so beliebt ist, weil er sich auf Sdiwanz reimt? Und 
weil man Hans mit Johannes dem Täufer zusammenbringt, der deutlich 
genug in Taufe und -Hinrichtung als männlidies Glied gekennzeichnet 
ist? Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber ein Engländer hat es mir 
erzählt, daß man dort zu Lande das Geschleditswerkzeug St. John 
nennt und bei den Franzosen kommt Ähnlidies auch vor. Aber das hat 
mit der Sache selbst nichts zu tun. D. meinte jedenfalls seinen Schwanz, 

132 



wenn er den Rammler Hans taufte und wenn er ihn schlug, so gesdiah 
es, um ihn für die Onanie zu bestrafen. Ja, ja, die Onanie. Das ist 
ein Stück Seltsamkeit. , ; . 

Ich bin zu Ende, das heiSt Wesentliches könnte ich nicht mehr 
gfeben, und daß ich, wie Sie bemerkt haben werden, das Allerwesent- 
lichste, die frühen Kindheitserinneningen, fortgelassen habe, liegt daran, 
daß ich sie nur zu geringem Teil kenne. Darauf, auf meine Unkenntnis 
bezog sich meine Äußerung oben, daß D. wahrscheinlich wieder krank 
geworden wäre, wenn er weitergelebt hätte. Die Analyse war nicht 
annähernd vollständig. 

Zum Schluß will ich Ihnen wenigstens einen Grund angeben, 
warum sich D. vor dem Kriege fürchtete, obwohl er sich danach 
sehnte. Er hatte die Vorstellung, daß er durch beide Augen geschossen 
werden würde. Das beweist mir — aus andern Erfahrungen mit Sol- 
daten ziehe ich den Schluß — daß er seine Mutter zu einer Zeit nackt 
gesehen hat, in der er sich der Sünde, die darin liegt, bewußt war. 
Das Volk sagt, wer seine Mutter nackt sieht, wird blind. Und Ödipus 
sticht sich die Augen aus. 

Ich grüße Sie, Liebe, und bin immer Ihr 

PATRIK TROLL. 



15. 
GEWISS, UEBE FREUNDIN. ICH KÖNNTE IHNEN NOCH EINE 
ganze Reihe ähnlidier Geschichten wie die des Herrn D. aus dem Be- 
reiche des Ödipuskomplexes erzählen und ich hatte Ihnen aud» ver- 
sprochen es zu tun. Aber wozu? Wenn Sie sich durdi diese eine 
Erzählung nicht beeinflußen lassen, werden mehrere es auch nidit so 
rasch tun. Außerdem finden Sie in der Literatur der Psychoanalyse 
solcher Geschichten die Hüile und Fülle. Ich will lieber versuchen, midi 
gegen Ihre Einwände zu wahren, sonst wurzeln sich allerlei Vorurteile 
in Ihnen fest und unser Briefwechsel wird sinnlos. 

Sie begreifen nicht, sagen Sie, wie durch derlei Vorgänge, wie 
ich sie Ihnen erzählt habe, körperiidie Veränderungen im Menschen 

133 



entstehen können, wie er dadurdi organisdi krank werden soil, und noch 
weniger, wie er durch Aufdecken der Zusammenhänge gesund wird. 
All diese Dinge, liebe Freundin, begreife idi auch nicht, aber idi sehe 
sie, ich erlebe sie. Natürlich mache idi mir allerlei Gedanken darüber, 
nur lassen sie sidi schwerer mitteilen. Um eins aber möchte ich Sie 
bitten, geben Sie in unserem Zwiegesprädi die Untersdieidung zwischen 
„psychisch" und „organisdi" auf. Das sind doch nur Bezeichnungen, 
um sich über irgend welche Besonderheiten des. Lebens leiditer zu 
verständigen, im Grunde ist beides dasselbe, beides denselben Haupt- 
lebensgeset2en unterworfen, demselben Leben entsprungen. Ohne Zweifel, 
ein Weinglas ist etwas anderes als ein Wasserglas oder ein Lampen- 
zylinder, aber es ist doch Glas und alle diese Glaswaren werden vom 
Menschen hergestellt. Ein Holzhaus ist verschieden von einem Steinhaus, 
Sie bezweifeln wohl aber selbst nicht, daß es lediglich eine Zweck- 
mäßigkeitsfrage, nicht eine Frage des Könnens ist, ob ein Baumeister 
ein Holzhaus oder ein Steinhaus baut. Genau so ist es mit organischen, 
funktionellen, psychisdien Erkrankungen. Das Es wählt sehr selbst- 
herrlich aus, was es für eine Erkrankung hervorbringen will und riditet 
sich nidit nach unseren Namen. Ich glaube, wir verstehen uns nun 
endlich, oder wenigstens Sie verstehen mich und meine klare Behauptung, 
daß für das Es ein Unterschied zwischen organisdi und psychisch nicht 
besteht und daß infolgedessen, wenn man das Es überhaupt durch die 
Analyse beeinflussen kann, auch organische Krankheiten psychoanalytisch 
behandelt werden können und unter Umständen müssen. 

Körperlich, seelisch. Was für Gewalt hat ein Wort! Man dachte 
sich einmal — vielleiclit denkt mancher es nocb — daß es einen 
menschlichen Körper gäbe, in dem wie in einer Wohnung die Seele 
hause. Aber selbst wenn man das annimmt, der Körper an sich erkrankt 
nicht, da er ja ohne Seele tot ist. Totes wird nidit krank, wird höchstens 
schadhaft. Nur Lebendiges erkrankt, und da kein Mensch daran zweifelt, 
daß nur lebendig genannt wird, was Körper und Seele zugleich ist — 
aber verzeihen Sie, das sind ja alles Dummheiten. Wir wollen uns nicht 
über Wörter zanken. Es kommt hier, wo Sie meine Meinung hören 

134 



wollen, nur darauf an, daß idi verständlich ausdrücke, was ich meine. 
Und meine Meinung habe ich Ihnen deutlich gesagt: für mich gibt es 
nur das Es. Wenn ich die Worte Körper und Seele gebrauche, verstehe 
ich darunter Erscheinungsformen des Es, wenn Sie wollen, Funktionen 
des Es. Selbständige oder gar gegensätzliche Begriffe sind es für midi 
nicht. Verlassen wir das unerquicklidie Thema jahrtausendlanger Ver- 
wirrung. Es gibt andere Dinge zu besprechen. 

Sie stoßen sich daran, daß ich dem Verdrängungsprozeß so große 
Wirkungen beilege, madien midi darauf aufmerksam, daß es auch Miß- 
geburten und embryonale Erkrankungen gibt und verlangen, daß idi 
. audi andere Vorgänge würdige. Darauf kann ich nur erwidern, daß itii 
den Ausdruck „Verdrängen" bequem finde. Ob er für alles ausreidit, 
interessiert midi nicht. Für mich hat er bisher ausgereicht, audi für 
meine sehr oberflachlidie Bekanntschaft mit dem Embryonalleben. Idi 
habe also keinen Grund, ihm etwas Neues hinzuzufügen oder gar ihn 
bei Seite zu legen. 

Vielleicht ist es nützlidi, ein wenig zu phantasieren, damit Sie einen 
Begriff von der Ausdehnung solch eines Verdrängens bekommen. 
Nehmen Sie an, zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, sind allein 
im Eßzimmer. Die Mutter ist irgendwie in einem anderen Zimmer 
besdiäftigt oder sdiläft, kurz, die Kinder fühlen sich sicher, so sidien 
daß das "ältere die Gelegenheit benützt, um sich und das jüngere Kind 
durdi Augensdiein von dem Unterschied der Geschlediter und von der 
Vergnügüchkeit solcher Betrachtung zu unterriditen. Plötzlich tut sich 
die Tür auf, die Kinder haben gerade noch Zeit auseinanderzufahren, 
aber das Schuldbewußtsein läßt sich nicht verbergen. Und da die Mutter, 
überzeugt von der kindlichen Unschuld ihrer Sprößlinge, beide in der 
Nähe der Zuckerdose sieht, nimmt sie an, daß sie genascht haben, 
sdiilt darüber und droht ihnen mit Schlägen, wenn es wieder vor- 
kommen sollte. Vielleicht wehren sich die Kinder gegen die Unter- 
stellung des Naschens, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist kaum anzu- 
nehmen, daß sie ihre eigentlidie Sünde, die sie für viel schwerer halten, ein- 
gestehen. Sie schweigen darüber, verdrängen sie. Bam Nachmittagskaffee 

135 



wird die Mahnung von der Mutter wiederholt, das eine schuld- 
bewußtere Kind errötet und gibt so zu erkennen, daß es sich 
für den verführenden Teil hält. Es verdrängt wiederum, was es gero 
eingfestehen möchte. Nach ein paar Tagen — die Mutter hat längst 
vergeben, hat aber ihre Freude daran, das Kind zu quälen — fallt 
irgend ein Scherzwort irgend einer Tante gegenüber. „Der jung-e weiß, 
wo die Zuckerdose steht", oder irgend etwas ähnliches. Und diese 
Tante madit später auch eine Anspielung. Da haben Sie eine Kette 
von Verdrängungen, wie sie wohl nicht allzu selten sich bilden mag. 
Nun sind die Kinder verschieden; das eine nimmt es mit seinen Sünden 
lei<i)t, das andere sdiwer, und für ein drittes ist es fast unerträglidi, 
daß es gesündigt hat und vor allem, daß es die Sünde nicht gebeichtet 
hat. Was bleibt ihm übrig? Es drückt und drüdct auf die Sünde, 
drängt sie aus dem Bewußtsein, stopft sie ins Unbewußte. Da liegt sie 
nun, vorläufig sehr oberflächlich, aber nach und nach wird sie tiefer 
gedrückt, tiefer und tiefer, bis schließlich die Erinnerung aus dem 
Bewußtsein versciiwunden ist. Damit sie aber ja nicht wieder zum 
Vorschein kommt, werden Deckerinnerungen darüber gelegt, vor allem 
die, daß die Mutter ungerecht gewesen ist, das Kind ohne Grund des 
Naschens beschuldigt und mit Sdilagen bedroht hat. Nun s:eht es los 
oder wenigstens es kann losgehen. Es hat sich ein Komplex gebildet, 
der berührungsempfindiich ist, der nadi und nach so stiilimm wird, 
daß selbst die Annäherung an den Komplex schon als furchtbar 
empfunden wird. Nun sehen Sie sich bitte den Komplex an. Auf der 
Oberfläche sind die Deckerinnerungen; der Zucker, das Nasdien, die 
falsche Anschuldigung, die Drohung mit Schlägen, das Verschweigen 
und damit das Lügen, das Rotwerden, weiterhin die Zuckerdose, der 
Eßtisdi mit seinen Stuhlen, das Zimmer mit einer braunen Tapete und 
allerlei Möbeln und Porzellan, das grüne Kleid der Mutter, das fünf- 
jährige Mädchen im schottisdien Kleid mit Namen Gretchen u. s. w. 
Tiefer liegt dann das Gebiet der Sexualität. Unter Umstanden wird 
schon jetzt die Arbeit des Verdrängens sdiwierig. Aber es kann audi 
sein, daß diese Arbeit sich bis ins Unglaubliche steigert. Nehmen Sie das 

136 



fr^ 



Wort Zucker, es gehört in den Komplex, muß also mogliclist vermieden 
werden. Ist es irgend anders woher nodi sdiuldbelastet, vielleidit durdi 
ein wirkliches Naschen, so Ist der Wunsdi des Verdrängens um so 
<rrÖßer. Aber es reißt dann auch andere Begriffe mit sidi: süß, weiß 
etwa, oder viereckig, dann greift es vielleicht auf andere Formen des 
Zuckers über, auf den Zudterhut, von dort auf den Hut selbst oder 
auf die blaue Farbe der Umhüllung. Sie können das ganz nach Belieben 
ins Unendliche ausdehnen und, verlassen Sie sich darauf, nicht allzu 
selten dehnt das Unbewußte seine Verdrängungsarbeit mit Hilfe der 
Assoziation ins Unendliche aus. Auf der Flucht vor dem süßen Zucker 
entsteht seelische Bitterkeit, oder es wird süßliche Sentimentalität als 
Ersatz benützt, eine übergroße Sorgfalt, nie fremdes Eigentum sidi 
anzueignen, gliedert sidi an das Wort „Naschen", daneben aber audi 
das kindhche Vergnügen am harmlosen Betrug, die pharisäische. 
Gereditio-keitsliebe stellen sidi ein, die Worte Schlage, Schlagen, Sdilacht, 
Rute, Gertrud, Ruth, Strafe, Birke, Besen geraten mit in den Komplex, 
verfehmt und doch lockend, denn die ungebüßte Sünde verlangt nach 
Strafe, noch nach Jahrzehnten sdireit sie nach Schlägen. Die braune 
Tapete wird unerträglich, grüne und sdiottische Kleider werden es, 
der Name Gretdien erreget Übelkeiten und so geht es fort. Und dann 
kommt noch das ungeheure Gebiet der Sexualität hinzu. 

Vielleidit denken Sie, ich Übertreibe oder ich erzähle Ihnen irgend 
einen ausgefallenen, seltenen Lebenslauf eines Hysterisdien. Adi nein, 
soldie Komplexe sdileppen wir alle mit uns herum. Gehen Sie nur in 
Ihr Inneres, Sie werden da mandies finden, mandie unerklarlidie Ab- 
neigung, manche seelisdie Ersdiütterung, die im Vergleidi zu ihrer 
momentanen Veranlassung unbegreiflidi stark ist, mandien Zank, 
manche Sorge und Verstimmung, die nur verständlidi wird, wenn Sie 
den Komplex betrachten, aus dem sie stammt. Wie werden Ihnen die 
Augen aufgehen, wenn Sie gelernt haben, die Brücke zwischen der 
Gegenwart und der Kindheit zu sdilagen, wenn Sie begriffen haben, 
daß wir Kinder sind und bleiben und daß wir verdrängen, unablässig 
verdrängen. Und daß wir, gerade weil wir verdrängen und nicht 

137 



vernifiten, gezwungen sind, bestimmte Lebenserscheinungen immer von 
Neuem herbeizuführen, gezwungen sind, zu wiederholen, zu wiederholen. 
Glauben Sie mir, es ist seltsam, wie oft sich der Wunsdi wiederholt. 
In seinem Innern sitzt ein Kobold, der zwingt ihn zur Wiederholung. 

Von diesem Wiederholungszwang müßte ich Ihnen mehr erzählen, 
aber ich bin bei den Verdrängungen und bin Ihnen noch die Erklärung 
schuldig, wie idi mir die Wirkung des Verdrangens als Ursache organi- 
scher Leiden denke. Denn daß allerhand psydiische Beschwerden 
daraus entstehen können, werden Sie auch ohne meine Erläuterungen 
begreifen. Was ich Ihnen nun sagen werde, sind wiederum Phantasien. 
Sie können sie ernst nehmen, Sie können darüber laclien, beides berührt 
mich nicht. Für mich ist die Frage, wie organische Leiden entstehen» 
unlösbar. Ich bin Arzt und als solcher interessiert es midi nur, daß 
bei der Lösung der Verdrängung Besserung eintritt. 

Darf idi Sie bitten, meinen Auseinandersetzungen ein kleines Ex- 
periment vorangehen zu lassen. Denken Sie bitte an irgend etwas, 
was Sie sehr interessiert, etwa daran, ob Sie sich einen neuen Hut 
anschaffen sollen oder nicht. Und nun versudien Sie plötzlich, den Ge- 
danken an den Hut zu unterdrücken. Wenn Sie es sich redit schön 
ausgemalt hatten, wie Ihnen der Hut stehen wird und wie Sie darum 
beneidet werden, wird es Ihnen nicht möglich sein, den Gedanken 
daran zu unterdrücken, ohne die Baudimuskulatur zusammen zu ziehen. 
Vielleicht beteiligen sidi auch andere Muskelgruppen an der Anstrengung 
des Unterdrückens, die obere Bauchpartie tut es sicher; sie wird bei 
jeder, auch der geringsten Anspannung zur Mitarbeit verwendet. Die 
Folge davon ist unbedingt eine Schwankung im Kreislauf, wenn diese 
Schwankung auch noch so gering ist. Und diese Schwankung teilt sich 
mit Hilfe der sympathischen Nerven anderen Gebieten des Organismus 
mit, zunächst wohl denen, die direkt benachbart sind, dem Darm, dem 
Magen, der Leber, dem Herzen, den Atmungsorganen. Sie können 
sich die Schwankung so gering denken, wie Sie wollen, da ist sie dodi. 
Und weil sie da ist, und weil sie auf allerlei Organe übergreift, setzen 
sofort eine Menge chemischer Prozesse ein, von denen selbst der 

138 



Gelehrteste nicht das Mindeste versteht. Nur daß diese Prozesse statt- 
finden, das weiß er, weiß es um so besser, je mehr er sidi mit 
Psychologie beschäftigt hat. Nun denken Sie sich diesen anscheinend 
so unbedeutenden Vorgang- zehnmal im Laufe des Tages wiederholt. 
Das bedeutet schon etwas. Aber lassen Sie ihn zwanzigmal in der 
Stunde auftreten, dann haben Sie einen solchen Hexensabbalh von 
mechanischem und chemischem Durcheinander, daß es schon nicht mehr 
schön ist. Und verstärken Sie die Intensität und die Dauer der An- 
strengung. Nehmen Sie an, daß solche Anstrengung stundenlang, tage- 
lang dauert, daß nur kurze Augenblicke des Losgelassenseins der 
Bauchpartien dazwischen sind. Sollte es Ihnen nodi immer schwer 
fallen, einen Zusammenhang zwischen Verdrängen und organischem 
Erkranken zu phantasieren? 

Vermutlich haben Sie noch nicht viele Menschenbäuche nackt gesehen. 
Aber mir ist das oft zu Teil geworden. Und da läßt sich oft etwas Selt- 
sames feststellen. Quer über die obere Bauchhälfte vieler Menschen geht 
eine stridiförmige Falte, eine langgedehnte Runzel. Die kommt vom 
Verdrängen. Oder es finden sich rote Aderchen, oder der Baudi ist auf- 
getrieben, oder was es sonst noch ist. Denken Sie sich doch nur, daß 
Jahre lang, Jahrzehnte lang ein Mensdi herumläuft, der sich vorm Treppen- 
gehen ängstigt. Die Treppe ist ein Geschleditssymbol und es gibt zahl- 
lose Menschen, die von dem Gedanken des Fallens auf der Treppe 
verfolgt werden. Oder denken Sie sich jemanden, der undeutlidi fühlt, 
daß ein Hut ein Geschlechtssymbol ist, oder ein Knopf, oder das 
Schreiben. Solche Leute müssen dauernd, fast unaufhörlidi verdrängen, 
müssen Bauch. Brust, Arme, Nieren, Herz, Gehirn dauernd mit Kreis- 
lauf sdi wankungen, mit dhemischen Überraschungen, mit diemischen Ver- 
giftungen heimsuchen. Nein, Liebe, ich finde es nicht im geringsten 
sonderbar, daß das Verdrängen — oder irgend welche anderen psychi- 
sdien Gesdiehnisse — organische Leiden herbeiführen. Im Gegenteil, ich 
finde es sonderbar, daß solche Leiden verhältnismäßig so selten sind. 
Und ein Staunen, ein ehrfürchtiges Staunen vor dem Es der Menschen 
erfüllt midi, daß es imstande ist, alles was geschieht, zum Besten zu lenken. 

139 



1 



Nehmen Sie ein Aug-e. Wenn es sielit, gehen allerlei Prozesse in 
ihm vor. Wenn ihm aber verboten ist zu sehen uud es sieht doch, 
wagft es aber nicht, seine Eindrücke dem Gehirn zu übermitteln, was 
mag dann wohl in ihm vorgehen? Ware es nicht denkbar, daß es, 
wenn es tausendmal am Tage gezwungen ist, etwas, was es sieht, zu 
übersehen, schließlich die Sache satt bekommt und sagt: das kann idi 
bequemer haben; wenn idi durchaus niclit sehen soll, werde ich kurz- 
sichtig, verlängere meine Adise, und wenn das nicht ausreicht, lasse 
ich Blut in die Netzhaut treten und werde blind? Wir wissen so wenig 
vom Auge. Gönnen Sie mir also den Spaß, zu phantasieren. 

Sind Sie aus dem, was ich sclirieb, klug geworden? Aber Sie 
müssen es mit Nachsicht lesen, beileibe nicht kritistii. Im Gegenteil, 
Sie sollten sich hinsetzen und noch ein Dutzend oder drei Dutzend 
solcher Phantasiegebäude sich selbst zurechtbauen. Was ich gab, war 
nur ein Beispiel, ein Erfinden übermütiger Laune. Achten Sie nicht auf 
die Form, auch nicht auf den Gedanken. Mir kommt es auf die Denk- 
weise an, darauf, daß Sie den Verstand bei Seite schieben und 
schwärmen. 

Habe ich von der Entstehung der Erkrankungen gesprochen, so 
muß ich wohl auch ein Wort über die Behandlung- sag-en. A'^s ich vor 
Jahren meiner Eitelkeit so viel abgerungen hatte, daß sie mir gestattete, 
zum ersten Mal an Freud zu schreiben, antwortete er mir etwa Folgendes ■ 
Wenn Sie begriffen haben, was Übertragung und Widerstand sind, 
können Sie ruhig an die psychoanalytische Behandlung Kranker heran- 
gehen. Also Übertragung und Widerstand, das sind die Angriffspunkte 
der Behandlung. Ich glaube, über das, was ich unter Übertragung verstehe, 
habe ich mich deutlich genug ausgedrüclct. Bis zu einem gewissen Grade 
kann der Arzt sie herbeiführen, zum Mindesten kann er und soll er 
die einmal entstandene Übertragung zu erhalten und zu lenken suchen. 
Aber das Wesentliche, das Übertragen selber ist ein Reaktions Vorgang 
im Kranken, in der Hauptsache ist es dem Einfluß des Arztes entzögen. 
So bleibt schließlich als Hauptarbeit der Behandlung das Beseitigen 
und Überwinden des Widerstandes. Freud hat einmal das Bewußtsein 

140 



I 

I 



-N. 



des Menschen mit einem Salon verglichen, in dem aüerlei Leute 
empfangen werden. Im Vorraum, hinter der verschlossenen Tür im 
Unbewußten staut sich die verdrängie Masse psychischer Wesenheiten 
und an der Tür steht ein Wächter, der in das Bewußtsein nur hinein- 
laßt, was salonfähig ist. Danach können die Widerstände von drei 
Stellen ausgehen, vom Salon, dem Bewußtsein aus, das bestimmte 
Dinge nicht einlassen will, vom Wächter aus, einer Art Vermittler 
zwischen Bewußtem und Unbewußtem, der in hohem Grade vom Be- 
wußtsein abhängig, doch immerhin eigenen Willen besitzt und hie und 
da eigensinnig den Eintritt verwehrt, obwohl das Bewußtsein die Er- 
laubnis gab, und vom Unbewußten selbst, das keine Lust hat, sich in 
der anständig langweiligen Umgebung des Salons aufzuhalten. So 
würde man also dazu kommen, in der Behandlung diese drei Instanzen 
der Widerstandsmöglichkeiten zu beachten. Und bei allen dreien wird 
man darauf gefaßt sein müssen, allerlei seltsame Launen zu finden und 
Überraschungen zu erleben. Da aber nach meiner Meinung sowohl 
Bewußtsein wie Pförtner letzten Endes willenlose Werkzeuge des Es 
sind, hat diese Unterscheidung nur geringe Bedeutung. 

Bei Gelegenheit der Geschichte des Herrn D. habe ich Ihnen ein 
paar Formen des Widerstandes mitgeteilt. In Wahrheit gibt es dieser 
Formen Tausende und Abertausende. Man lernt darin nie aus, und so 
wenig ich mich zum Anwalt des Mißtrauens eigne, so fest bm ich doch 
davon überzeugt, daß man als Arzt immer und immer damit rechnen 
muß: jetzt befindet sich der Kranke im Widerstände. Hinter jeder 
Lebensform imd Lebensäußerung verschanzt sich der Widerstand, jedes 
Wort, jede Gebärde kann ihn verstecken oder verraten. 

Wie soll man nun mit dem Widerstand fertig werden? Das ist 
schwer zu sagen, Liebe. Ich glaube, das Wesentliche dabei ist, daß 
man bei sich selber beginnt, daß man erst einmal in seine eigenen 
Winkel und Ecken, Keller- und Speiseräume hineinguckt, Mut zu sich 
selber, zu seiner eigenen Schlechtigkeit oder, wie ich lieber sagen 
würde, Mensdilidikeit findet. Wer nicht weiß, daß er selber hinter jeder 
Hecke und Tür gestanden hat und wer nicht zu sagen weiß, was für 

Ul 



-^- — 



Dreckhaufen hinter solch einer Hecke liegen und wie viele Haufen er 
selber hing'esetzt hat, der wird es nicht weit bringfen. Das erste Er- 
fordernis ist also wohl Ehrlidikeit, Ehrlichkeit gegen sidi selbst. Be! 
sich selbst lernt man am besten die Widerstände kennen. Und sich 
selbst lernt man am gründlichsten kennen, wenn man Andere analysiert. 
Wir Arzte haben es gut, und ich wüßte nicht, welch anderer Beruf 
mich locken konnte. Dann glaube ich, braucht unsereiner noch zwei 
Dinge, Aufmerksamkeit und Geduld. Geduld vor allem, Geduld noch 
einmal. Aber so etwas lernt sidi. 

Also sich selbst analysieren, das ist nötig. Leicht ist es nicht, aber 
es zeigt uns unsere individuellen Widerstände und es dauert nidit lange, 
so treten einem Erscheinungen entgegen, die zeigen, daß es auch 
Widerstände ganzer Klassen, ganzer Völker, ja der gesamten Mensdi- 
heit gibt. Widerstände, die Vielen, ja Allen gemeinsam sind. So ist mir 
heute wieder eine Form aufgefallen, die ich oft fand, die, daß wir uns 
scheuen, bestimmte kindhche Ausdrücke zu braudien, Ausdrücke, die 
uns in unserer Kindheit geläufig waren. Im Verkehr mit Kindern und, 
merkwürdigerweise, im Uebesverkehr brauchen wir sie unbedenklich, 
da sprechen wir ruhig von „Wässerlein machen" vom „Hotto" oder 
„Wauwau" vom „Pipi", „A a", „Popo", aber unter Erwachsenen sind 
wir gern selber erwachsen, verleugnen unsere Kindesnatur und „scheißen", 
„schiffen", „Arsch" sind uns geläufiger. Großtun, weiter nichts. 

Zum Schluß muß ich wohl auch nodi ein Wort über die Wirkung 
der Behandlung sagen. Nur leider weiß ich davon wenig. Ich habe die 
vage Idee, daß die Erlösung des Verdrängten aus der Verdrängung 
eine gewisse Bedeutung dabei hat. Ob das aber direkt der Heilungs- 
vorgang; ist, bezweifle Ich. Vielleicht entsteht dadurch, daß irgend etwas 
Verdrängtes in den Salon des Bewußtseins kommt, nur eine Bewegung 
im Unbewußten und diese Bewegung bringt Heil oder Unheil. Danadi 
wäre es nicht einmal nötig, daß das Verdrängte, was den Anstoß zur 
Erkrankung gab, zum Vorschein käme. Es konnte ruhig im Unbewußten 
bleiben, wenn nur Platz dafür gesdiaffen würde. Nach dem, was idi bis 
jetzt über diese Dinge weiß — ich sagte es schon, es ist sehr wenig 

142 



— will es mir scheinen, daß es oft g-enüg-t, den Pförtner an der Tür 
zu bearbeiten, daß er irgend einen Namen in den Raum des Unbe- 
wußten hineinschreit, etwa den Namen Wüllner. Ist unter den Nächst- 
stehenden kein Mensch, der Wüllner heißt, so geben sie docii den 
Namen nach hinten weiter, und wenn wirklich dieser Name nicht bis 
zu dem eigentlichen Träger dringt, so findet sich vielleidit irgend ein 
Müller, der den Ruf absichtlich oder unabsiditlidi mißversteht, sich nadi 
vorn zwängt und in das Bewußtsein eingeht. 

Der Brief ist lang und des Schwatzens will kein Ende werden. 
Adjo, Vielliebe, es ist Schlafenszeit. Ich bin ein arg müder 

TROLL. 



16. 
ES GEHT IHNEN ZU SEHR DURCHEINANDER? MIR AUCH. 
Aber das hilft doth nichts; das Es ist immer in Bewegung und nicht 
eine Sekunde tritt Ruhe ein. Das wirbelt und strömt und wirft bald 
dies, bald jenes Stück Welt empor, der Oberfläche zu. Eben als idi 
den Brief an Sie beginnen sollte, habe ich versucht, herauszubekommen, 
was in mir vorging. Über die gröbsten Dinge bin ich nicht hinweg- 
gekommen. 

Hier ist es, was idi fand. In der rechten Hand habe ich den 
Federhalter, mit der linken spiele ich an der Uhrkette. Der Blick ist 
auf die Wand gegenüber gerichtet, auf eine holländische Radierung, 
die Rembrandt's Gemälde von der Beschneidung Jesu wiedergibt. Die 
Füße stehen auf dem Boden, aber der rechte tritt mit der Ferse den 
Takt 2u einem Marsch, den unten die Kurkapelle spielt. Gleichzeitig 
höre ich den Schrei eines Käuzchens, das Hupensignal eines Automobils 
und das Rattern der elektrischen Bahn. Ich habe keinen bestimmten 
Geruchseindruck, fühle aber, daß mein recäites Nasenloch etwas ver- 
stopft ist. Es juckt mich in der Gegend des rechten Schienbeines und 
ich bin mir bewußt, daß idi rechts an der Oberlippe etwa einen halben 
Zentimeter oberhalb des Mundwinkels einen roten runden Fleck habe. 
Die Stimmung Ist unruhig und die Fingerspitzen sind kalt. 

143 



Gestatten Sie, liebe Freundin, daß ich mit dem Ende beginne. Die 
Fing'erspitzen sind kalt, das ersdiwert das Sdireiben, bedeutet also: 
„Sei vorsichtig; du schreibst sonst Unsinn". Und ähnlich ist es mit der 
Unruhe. Sie verstärkt die Mahnung, behutsam vorzugehen. Mein Es 
ist der Ansidit, daß Ich mich mit etwas Anderem als Schreiben be- 
schäftigen sollte. Was das Ist, weiß ich noch nicht. Vorläufig nehme 
icli an, daß sidi in der Zusammenziehung der Fingerspitzengefäße 
und in der Rastlosigkeit der Stimmung das Gefühl äußert: Deine 
Leserin wird nicht verstehen, was du Ihr mitteilst. Du hättest sie 
besser, methodischer vorbereiten sollen. Trotzdem! Ich wage den 

Sprung. 

Daß ich an der Uhrkette spiele, wird Sie lächeln machen. Sie kennen 
diese Gewohnheit, haben midi oft damit geneckt, aber wohl selbst 
niemals gewußt, was sie sagt. Es ist ein Onaniesymbol, ähnlich dem 
des Spielens mit dem Ring, von dem ich Ihnen neulich erzählte. Aber 
die Kette hat ihre besonderen Eigentümlichkeiten. Der Ring ist ein 
Weibessymbol und die Uhr, wie jede Maschine, ist es auch. Die Kette 
ist es für meine Idee nicht; vielmehr symbolisiert sie etwas, was vor 
dem eigentlichen Gesdilechtsakt, vor dem Spiel mit der Uhr liegt. 
Meine linke Hand verrät ihnen, daß ich mehr Freude an dem habe, 
was vor der Vereinigung von Mann und Weib liegt, am Küssen, 
Streicheln, Entkleiden, Spielen, am heimlich erregenden Lustgefühl, an 
Dingen, die der Knabe liebt, und Sie wissen ja längst, daß idi ein 
Knabe bin, wenigstens bin ich es auf der linken Seite, der Liebesseite, 
die das Herz tragt. Was links ist, ist Liebe, was links ist, ist verboten, 
von Erwachsenen getadelt; es ist nicht rechts, ist unrecht. Da haben 
Sie einen neuen Anhaltspunkt für die Unruhe, die mich plagt, für die 
kalten Fingerspitzen. Die rechte Hand, die Hand des Sdiaffens, der 
Autorität, des Rechtes und des Guten, hat in ihrer Tätigkeit ernst- 
haften Schreibens inne gehalten, droht hinüber nach der linken, spiel- 
lustigen Kinderhand und aus rechts und links kommen Schwanken und 
Unruhe, die das Befehlszentrum der Blutversorgung mobil machen und. 
die Finger erstarren lassen. 

144 



„Aber", beschwichtigt eine Stimme des Es die unwillige Rechte, 
die mein Erwachsensein darstellt, „laß doch das Kind; du siehst, es 
spielt mit der Kette, nidit mit der Uhr". Damit will diese Stimme 
sag-en, daß die Uhr das Herz bedeutet, gemäß der Löwe'schen Ballade. 
Diese Stimme findet das Spielen mit den Herzen schlecht. Mir ist, trotz 
ihres Tröstens, schlimm zu Mute, und sogleich erzählt mir auch das 
Es der rechten Hand, wie verwerflich das Tun der linken ist. 

„Sie braucht nur ein wenig stark zu spielen, dann zerrt sie die 
Uhr heraus, läßt sie fallen, und ein Herz ist gebrochen." 

Allerlei Erinnerungen schießen mir in Form von Mädchennamen durch 
den Kopf, Anna, Marianne, Liese und mehr. Von allen den Trägerinnen 
dieser Namen dachte ich einmal, daß ich ihnen durch mein Spielen das 
Herz verletzt hatte. Aber plötziicli werde ich ruhig. Ich weiß, seitdem 
ich ein wenig in die Tiefen der Mädchenseele hineinging, daß solch 
Spiel an sich hübsdi ist und ihnen nur zur Qual wurde, weil ich die 
Abenteuer ernst nahm, weil ich selbst ein böses Gewissen hatte und 
sie es errieten. Weil der Mann vom Mäddien voraussetzt, es müsse 
sich schämen, schämt es sieb wirklidh; nicht weil es Böses tat, nein, 
weil man von ihr eine moralisdie Reinheit erwartet, die es nidit hat. 
Gott sei Dank nidit hat. Aber durch nichts wird der Mensdi tiefer 
verletzt, als wenn wenn man ihn für edler hält, als er ist. 

Trotz dieser Selbstverteidigung über das Spiel mit Herzen bleibt 
die Tatsadie bestehen, daß ich den Federhalter nicht in Bewegung 
setze, und idi versuche, sie zu verstehen. Da kommen mir Erinnerungen, 
wenn Sie es so nennen wollen. Menschen mit Schreibkrampf, die ich 
zu behandeln hatte, haben mir, ohne von einander zu wissen, mehrfach 
folgende Erklärung über das Schreiben gegeben: „Die Feder ist der 
Geschlechtsteil des Mannes, das Papier das empfangende Weib, die 
Tinte der Samen, der bei dem raschen Auf und Ab des Schreibens 
ausströmt. Mit andern Worten, das Schreiben ist ein symbolischer 
Geschlechtsakt. Es ist aber auch gleichzeitig das Symbol der Onanie, 
des phantasierten Geschleditsaktes." Daß die Erklärung richtig ist, geht 
für midi aus der Erscheinung hervor, daß bei dem Kranken der 

10 GroddecJc, Da, Buch vom Es. 145 



^ -—.—-- 



Sdireibkrampf versdiwand, sobald diese Zusammenhänge von ihnen 
gefunden waren. Darf ich noch ein paar spielerische Gedanken anreihen? 
Die deutsche Schrift ist für den Schreibkrampfig-en schwierig-er, weil 
sie das Auf und Ab viel deutlidier, heftiger, abgebrochener hat als die 
lateinische. Der dicke Federhalter ist leichter zu braudien als der 
dünne, der eher den Finger oder den allzu schwadien Penis versinn- 
bildlicht als 4er dicke. Der Bleistift hat den Vorteil, daß der symboli- 
sche Samenverlust fortfallt, die Schreibmaschine, daß in ihr wohl die 
Erotik in der Klaviatur, dem Auf und Ab der Tasten enthalten ist, 
aber die Hand nicht direkt den Penis faßt. Das alles entspricht den 
Vorgängen beim Schreibkrampf, der vom Gebrautii des gewöhnlichen 
Federhalters über den Bleistift und die lateinische Schrift zur Schreib- 
maschine und schließhdi zum Diktieren führt. 

Bei alle dem ist die Rolle des Tintenfasses nicht erwähnt, über 
die mir die gefälligen Krankheitssymptome aud) Auskunft geben. Das 
Tintenfaß mit seinem gähnenden Schlund, der in dunkelschwarze Tiefen 
führt, ist ein Muttersymbol, stellt den Sdioß der Gebärerin dar. Plötz- 
lich steht wieder der Ödipuskomplex vor einem, das Verbot der Blut- 
schande. Und nun wird es lebendig von den Schreibteufelclien, die aus 
dem Faß, dem schwarzen Bauch der Hölle hcrvorklettern und enge 
Beziehungen zwisdien dem Gedanken der Mutter und dem Reich des 
Bösen ahnen lassen. Sie glauben gar nicht, beste Freundin, was für 
seltsame Sprüno*e das Es macht, wenn es Launen hat, v/ie es dann 
Erde und Himmel und Hölle mit dem Urin und Federhalter des Kranken 
zusammen knotet und wie es schließlich ein armselig dürftiges Doktor- 
hirn so verrückt macht, daß es ernstlich daran glaubt, Tintenfaß, 
Mutterleib und Hölle seien nahe Verwandte. 

Die Geschidite hat auch ihre Fortsetzung. Aus der Feder strömt 
die Tinte, die das Papier befruchtet. Ist es beschrieben, falte ich es 
zusammen, stecke es in das Kuvert, gebe es zur Post. Sie öffnen den 
Brief, hoffentlich mit einem freundlichen Lächeln, und erraten mit liesem 
Wiegen des Kopfes, daß ich St^wangersdiaft und Geburt in diesem 
Voro-ano- schilderte. Und dann denken Sie an die vielen Menschen, die 

146 



man schreibfaul schilt, und verstehen, warum es ihnen so schwer fällt 
zu schreiben. All diese Mensdien haben im Inneren ein unbewußtes 
Verständnis für die Symbolik und aU diese Menschen leiden an der 
Angst vor Entbindunff und Kind. Zu gfuter Letzt fällt Ihnen unser ge- 
meinsamer Freund Rallot ein, der jeden seiner Briefe zehnmal vom 
Haus zum Briefkasten und vom Briefkasten wieder nach Hause trug, 
ehe er ihn auf die Reise schickte, und es wird Ihnen verständlich, wie 
es mir gelang, ihn in einer halben Stunde Unterhaltung von seinem 
Krankheitsymptom — nicht etwa von seiner Krankheit — zu befreien. 
Erkenntnis ist ein gutes Ding, und Ihr werdet sein wie Gott, wissend, 
was Gut und Böse. 

Wenn idi nidit fürchtete, Sie zu ermüden, würde ich nun gern 
einen Ausflug in die Graphologie wagen, auch wohl Dies und Jenes 
über die Buchstaben sagen. Ich kann Ihnen auch nicht versprechen, daß 
ich nicht doch gelegentlich darauf zurückkommen werde; heute möchte 
ich Sie nur bitten, sich zu erinnern, daß wir als Kinder eine Stunde 
lang a's und o'a und u's malen mußten und, um das zu ertragen, 
allerlei Figuren und Symbole in diese Zeidien hineinlegen oder heraus- 
lesen mußten. Versuchen Sie ein Kind zu sein, vielleicht kommen Ihnen 
alierlei Gedanken über die Entstehung der Sdirift, und es fragt sich 
dann, ob sie dümmer sind als die unsrer Gelehrten. Nur mit Gelehr- 
samkeit ist noch niemand dem Es beigekommen und — nun ja, itii 
halte wenig von der Wissenschaft. 

Mir fallen noch ein paar Erlebnisse ein, die mit dem Selbstbefrie- 
digungskoraplex zu tun haben. Ich habe einmal mit einer guten Freundin 

— Sie kennen sie nicht, aber sie gehört nicht zu den dummen Menschen 

— einen Streit gehabt, weil sie mir nidit glauben wollte, daß die 
Krankheiten Schöpfungen des Es sind, vom Es gewollt und herbei- 
geführt werden. „Nervosität, Hysterie, ja das will ich zugeben. Aber 
auch organisclie Leiden?" „Auch organische Leiden," erwiderte ich, 
dann aber ehe ich ihr noch meine Lieblingsrede halten konnte, daß 
das Unterscheiden zwischen nervös und organisch bloß eine Selbst- 
anklage der Arzte ist, mit der sie ausdrücken wollen: „Wir wissen niclit 

' ■ 147 



viel über die chemischen, physikalischen, biologischen Vorgänge der 
Nervosität; nur das Eine wissen wir, daß solche Vorgänge existieren, 
aber mit unsern Untersuchungen nicht aufzufinden sind, wir brauchen 
also den Ausdruck .nervös', um dem Publikum unsre Unwissenheit 
deutlidi zu machen, um uns solch unangenehmen Beweis ynseres Un- 
vermögens vom Halse zu halten" - ehe ich das noch sagen konnte, 
fragte sie weiter: „Auch Unglücksfälle?" „Ja, audi Unglücksfälle." „Idi 
bin neugierig, "sagte sie da, „zu hören, was mein Es damit bezweckt hat, 
als es mich meinen rechten Arm brechen ließ." „Wissen sie noch, wie 
der Unfall vor sich ging?" „Gewiß, in Berlin in der Leipzigerstraße. 
Ich wollte in eine Kolonialwarenhandlung gehen, glitt aus und brach 
mir den Arm." „Besinnen Sie sidi, was Sie damals gesehen haben 
können?" „Ja, vor dem Laden stand ein Korb Spargel." Plötzlich wurde 
meine Gegnerin nachdenklidi. „Vielleicht haben Sie recht," meinte sie 
und erzählte mir dann eine Geschichte, die ich nicht breittreten wäll, 
die sidi aber um die ÄhnHchkeit des Spargels mit dem Penis und einen 
Wunsch der Verunglückten drehte. Eine verdrängte Onaniephantasie, 
nichts weiter. Der Armbrudi war ein wohlgelungener Versuch, die 
schwankende Moral zu stützen. Wer einen gebrochenen Arm hat, dem 
vergeht die Begierde. 

Ein anderes Erlebnis schien zunächst weit von dem Onaniekomplex 
weg zu führen. Eine Frau gleitet auf der glatt gefrorenen Straße aus 
und bricht sich den rechten Arm. Sie behauptet in dem Moment vor 
dem Ausgleiten eine Vision gehabt zu haben. Sie habe plötzlich vor 
ihren Augen die Gestalt einer Dame gesehen, im Straßenkostüm wie 
sie sie oft gesehen hatte, aber unter dem Hut sei kein lebendiges 
Gesicht gewesen, sondern ein Totenschädel. Es war nicht schwer zu 
erraten, daß diese Vision einen Wunsch enthielt. Diese Dame war einst 
ihre intimste Freundin gewesen, aber die Freundschaft hatte sich in 
glühenden Haß verwandelt, der just in der Stunde des Unfalles neue 
Nahrung gewonnen hatte. Die Annahme, daß es sich um eine Selbst- 
bestrafung für einen Mordwunscii handelte, wurde sofort bestätigt, da 
mir die Patientin erzählte, sie habe sdron einmal eine ähnüdie Vision 

148 



1 



g'ehabt mit einer andern Frau, und in demselben Augenblick sei jene 
Frau g-estorben. Der Armbruch schien also genügend motiviert; selbst 
für einen Seelensucher, wie ich es bin. Aber der weitere Verlauf 
belehrte mich eines Besseren. Der Armbruch heilte g-latt, jedoch noch 
drei Jahre lang traten von Zeit zu Zeit Schmerzen auf, die bald mit 
Witterungswechsel, bald mit Überanstrengung begründet wurden. All- 
mählich kam ein ausgeprägter Onaniekomplex zum Vorsdiöin, in dessen 
Bereich die Mordphantasien gezogen worden sind und der der Kranken 
so widerwärtig war, daß sie es vorzog, die Mordvision davorzusdiieben 
und so eine Freiheit von ihrem Selbstbefriedigungstriebe zu erlangen, 
ohne die Onanie bewußt werden zu lassen. 

Und damit bin ich zu einer bemerkenswerten Feststellung gelangt 
An meiner Uhrkette hangt ein kleiner TotenscJiädel, das Geschenk 
meiner lieben Freundin. Ich habe schon oft geglaubt, mit dem Onanie- 
komplex fertig zu sein, ihn wenigstens für meine Person gelöst zu 
haben. Solch ein kleiner Vorgang jedoch wie der heute, wo ich beim 
Spielen mit der Kette im Schreiben behindert bin, beweist mir, wie 
tief ich nodi darin stecke. Die Onanie ist mit dem Tode bedroht; das 
ergibt sich aus der seltsamen Ableitung des Namens von einem ganz 
andern Vorgang, der eben nur des plötzlichen Todes wegen bemerkens- 
wert ist. Der Totensdiädel an meiner Kette warnt mich, er wiederholt 
mir eindringlich die vielen Mahnungen der Onanienarren, daß man 
erkrankt, verrüdd wird, stirbt, wenn man den Trieb frei walten läßt. 

Die Angst vor der Onanie frißt sich tief in die menschliche Seele 
ein. Idi erzählte Ihnen schon, warum. Weil, ehe nodi irgend etwas von 
der Welt dem Kind bekannt wird, ehe es noch den Mann vom Weib 
unterscheiden kann," ehe es weiß, was nah und fern ist, wenn es noch 
nach dem Monde greift und den eigenen Kot für ein Spielzeug hält, 
die Mutterhand drohend das wollüstige Spiel am Gesdilechtsteil unter- 
bricht. 

Es gibt aber noch eine andere Beziehung zwischen Tod und Wollust, 
die wichtiger ist als die Angst und die symbolisierende Besonderheit 
des Es aufdringlidi bekundet. 

149 



Für den harmlosen Menschen, der noch nicht vom Denken an- 
gekränkelt ist, ersdieint der Tod wie ein Fliehen der Seele aus dem 
Körper, wie ein Aufg-eben seiner selbst, ein Scheiden aus der Welt, 
Nun dieses Sterben, dieses aus der Welt Heraustreten, dieses Aufg;eben 
des Ichs tritt für Momente auch im Leben ein, es tritt ein, wenn der 
Mensch sich auflöst in Wollust, sinnlos, bewußtlos wird im Genießen, 
wenn er, wie der Volksausdruck lautet, im Andern stirbt. Mit andern 
Worten, Tod und Liebe sind gleich. Sie wissen, der Griedie g-ab dem 
Eros dieselben Züg:e wie dem Tode, gab dem Einen die erhobene, 
erigierte, lebendige, dem Andern die gesenkte, erschlaffte, tote Facliel 
in die Hand, ein Zeichen, daß er die symbolische Gleichheit, die Gleichheit 
vor dem Es kannte. Und wir alle kennen diese Gleichheit ebenso. Für 
uns ist ebenso die Erektion das Leben, der lebenspendende Samen- 
erguß das Sterben in Frieden und die Erschlaffung der Tod. Und je 
nadidem die Konstellation unsrer Gefühle bei der Idee des Todes im 
Weibe ist, entsteht bei uns der Glaube an eine Himmelfahrt ins Reidi 
der Seligen oder an ein Versinken im Pfuhl der Hötle; denn Himmel 
und Hölle sind abgeleitet vom Sterben des Mannes in der Umarmung, 
vom Austreten seiner Seele in den Sclioß des Weibes, entweder mit 
der Hoffnung auf eine Auferstehung nach dreimal drei Monaten im 
Kinde oder mit der Angst vor ungelöschten Feuern der Begierde. 

Tod und Liebe sind eins, da ist kein Zweifel. Ob aber je ein 
Mensdi zu diesem wahren Sterben, wo der Mann im Weibe, das Weib 
im Manne aufgeht, gekommen ist, weiß ich nicht. Ich halte es bei den 
Kulturschichten von Unser sgieichen für fast unmöglich, jedenfalls sind 
es so seltene Erlebnisse, daß ich keine Mitteilungen darüber machen 
kann. Vielleicht sind die Menschen, deren Phantasfe sich den Vorgang 
des Todes in der Umarmung ausmalt, der Möglichkeit eines solchen 
symbolischen Sterbens am nächsten, und da wirklich Todesfälle in dem 
Moment des höchsten Genusses vorkommen, darf man woh! annehmen, 
daß bei solchen Ereignissen auch der symbolisdie Liebestod durchlebt 
wird. Die Sehnsucht danadi, die sich in Musik, Gedidit und Rede- 
wendung ausspricht, ist allgemein verbreitet und gibt Anhaltspunkte, 

150 



a 



r 



^mr^ 



um die Fäden zwischen Tod und Liebe, Grab und Wiege, Mutter und 
Sobn, Kreuzigung und Auferstehung zu verfolgen. 

Dicht an den symbolischen Tod gelangen wohl die, die den hyste- 
rischen Krampfanfall durchleben, der ja, wie der Augenschein lehrt, 
eine Onaniephantasie ist. 

Aber ich bin weit abgeirrt. Hoffentlich finden Sie sich zurecht, 
haben Geduld und gestatten mir, das nächste Mal den Faden wieder 
aufzunehmen. Ich halte es für wichtig, daß Sie einmal kennen lernen, 
was alles ich im Zögern des Schreibens vermute. 
., . _ Herzlichst 

Ihr 

PATRIK TROLL. 



17. 

ES WUNDERT MICH NICKT, LIEBE FREUNDIN, DASS SIE 
meine Ansitiiten nicht teilen. Ich b^t Sie schon einmal, meine Briefe 
wie eine Reisebeschreibung zu lesen. Aber ich habe nicht verlangt, daß 
Sie dieser Reisebesdireibung mehr Wert beilegten als der jenes Eng- 
länders, der nach einem Aufenthalt von zwei Stunden in Calais be- 
hauptete, die Franzosen seien rothaarig und sommersprossig, weil zu- 
fällig der ihn bedienende Kellner so war. 

Sie machen sich lustig darüber, daß ich dem Es eine Absiditlidi- 
keit zusclireibe, die Ausgleiten und Zerbrechen eines Gliedes herbei- 
zuführen vermag. Ich bin auf diese Vermutung - mehr ist es nicht — 
gekommen, weil sich damit arbeiten läßt. Für mich gibt es zwei Arten 
von Ansichten: solche, die man zum Vergnügen hat, Luxusansichten 
also, und solche, die man als Instrumente verwendet, Arbeitshypotliesen. 
Ob Sie richtig oder falsch sind, ist für mich nebensächlich. Ich halte es 
da mit der Antwort Christi auf die Frage des Pilatus: „Was ist Wahr- 
heit?" wie sie in einem der Apokryph en-Evangelien mitgeteilt wird. 
„Wahrheit ist weder im Himmel noch auf Erden noch zwischen Himmel 
und Erde." 

151 



Im Laufe meiner Seelensucherei bin idi dazu gebracht worden, 
midi hie und da mit dem Schwindel zu besdiaftig-en und ich bin da, 
idi mödite fast sagen gegen meinen Willen, gezwungen worden, anzu- 
nehmen, daß jeder Schwindelanfall eine Warnung das Es ist: „Gib 
acht, sonst fällst du." Wenn Sie die Sache nadiprüfen wollen, müssen 
Sie nur gütigst im Auge behalten, daß es zwei Arten des Fallens 
gibt, ein reales Fallen des Körpers und ein moralisdies Fallen, dessen 
Wesen in der Er2ählung vom Sündenfall geschildert wird. Das Es 
sdieint außerstande zu sein, beide Arten scharf voneinander zu trennen, 
oder ich will mich lieber so ausdrücken, es denkt bei dem einen Fallen 
sofort an das andere. Der Schwindelanfali bedeutet also stets eine 
Warnung nach beiden Seiten, er wird in realem und übertragen -sym- 
bolischem Sinne gebraucht. Und wenn das Es der Ansldit ist, daß ein 
einfacher Schwindel, ein Fehltritt, ein Stolpern, ein Rennen gegen einen 
Laternenpfahl, ein Schmerz am Hühnerauge oder das Treten auf einen 
sidiarfen Stein zu einer eindringlichen Mahnung nidit ausreicht, wirft 
es den Menschen zu Boden, schlägt ihm ein Lodi in den dicken Schädel, 
verletzt ihm das Auge oder bridit ihm ein Glied, das Glied, mit dem 
der Mensch sündigen will. Vielleicht schickt es ihm audi eine Krankheit, 
eine Gicht zum Beispiel, ich komme gleich darauf zurück. 

Vorläufig möchte ich nur hervorheben, daß nicht ich einen Mord- 
gedanken, einen Ehebruchs wünsch, ein Ausmalen des Diebstahles, eine 
Onaniephantasie für Sünde halte, sondern das Es des betreffenden 
Menschen. Ich bin weder Pfarrer noch Richter, sondern Arzt. Gut und 
Böse gehen mich niclits an, idi habe nicht zu urteilen, sondern kon- 
statiere nur, daß das Es dieses oder jenes Menschen dies oder das 
für Sünde hält, so oder so richtet. Was midi selbst anbetrifft, so be- 
strebe ich mich dem Satze zu folgen: „Richtet nicht, auf daß ihr nidit 
gerichtet werdet." Und ich dehne den Sinn dieses Wortes soweit aus, 
daß ich auch das Richteramt über mich selbst abzulehnen versudie und 
meine Kranken dazu veranlasse, ebenfalls das sich selbst Richten auf- 
zugeben. Das klingt sehr fromm oder sehr frivol, je nachdem, was 
man heraushören will, im Grunde ist es nur ein medizinischer Kunstgriff. 

152 



Daß Unheil daraus entstehen könnte, befürdile idi nicht. Wenn idi 
den Leuten sage — und ich tue das - „Sie müssen so werden, daß 
Sie sich unbedenklich am hellen Mittag-e auf einer belebten Straße 
hinkauern, die Hosen abknöpfen und einen Haufen hinsetzen können," 
so liegt der Ton auf dem Worte können. Daß der Kranke es niemals 
tun wird, dafür sorg-en Polizei und Sitte und seine seit Jahrhunderten 
ihm anerzogene Angst. In dieser Beziehung fühle idi mich sehr ruhig, 
wenn Sie mich auch noch so oft Satan und Sittenverderber nennen. 
Mit andern Worten, man mag sich nodi so viele Mühe geben, das 
Richten zu lassen, es gelingt nie. Immer und ewig fällt der Mensch 
Werturteile, es gehört zu ihm wie seine Augen und seine Nase, ja weil 
er Augen und Nase hat, muß er immer und ewig sagen: Das ist schledit. 
Das braucht er, weil er sich selbst anbeten muß, der Demütigste tut 
es nodi, selbst Christus tat es noch am Kreuze mit den Worten: 
„Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen," und mit den andern: 
„Es ist vollbracht". Pharisäer zu sein, stets zu sagen: „Ich danke dir, 
Herr, daß ich nicht bin wie Jener" ist menschlidi. Aber ebenso menstiihch 
ist das: „Gott sei mir Sünder gnädig". Der Mensdi hat wie alles zwei 
Seiten. Bald kehrt er die eine heraus, bald die andre, da sind sie aber 
immer alle beide. Da der Mensch an den freien Willen glauben muß, 
da er sich aus bestimmten Teilen seines Wesens ein Verdienst machen 
muß, so muß er auch eine Schuld erfinden, bei sidi, bei Anderen, bei Gott. 

Ich werde ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, die Sie nicht glauben 
werden. Mir aber macht sie Spaß, und weil in ihr Vieles zusammen- 
gedrängt ist, was ich Ihnen noch gar nicht oder nicht deutlich genug 
vorgetragen habe, sollten Sie hören. 

Vor einigen Jahren kam eine Dame in meine Behandlung, die an 
chronisdien Entzündungen der Gelenke litt. Die ersten Anfänge der 
Krankheit lagen 18 Jahre zurück. Damals begann in der Pubertätszeit 
das rechte Bein zu schmerzen und zu schwellen. Als ich sie zuerst 
sah, waren Handgelenke, Finger und Ellbogengelenke fast gebrauclis- 
unfähig, so daß die Kranke gefüttert werden mußte, die Schenkel 
konnten nur wenig auseinander genommen werden, beide Beine waren 

153 



vollkommen steif, der Kopf konnte nicht gedreht und nicKt gebeugi; 
werden, zwischen die Zahne konnte man die Finger niclit einführen, 
weil die Evinnhackengeienke erkrankt waren, und die Kranke war nicht 
im Stande, die Arme bis zur SdiuIterhÖhe zu heben. Kurz sie war, 
wie sie in einer Anwandlung von Galgenhumor sagte, unfähig, wenn 
etwa der Kaiser angeritten käme, Hurrah zu rufen und ihm zuzuwinken, 
wie sie es ais Kind getan hatte. Sie hatte zwei Jahre im Bett gelegen, 
war gefüttert worden, alles in allem, ihr Zustand war trostlos. Und 
wenn auch die Diagnose Gelenktulierkulose, mit der man es bei ihr 
jaiirelang probiert hatte, nicht zutraf, war man doch berechtigt, von 
einer Arthritis deformans schwerster Art zu spreclien. Die Kranke 
geht jetzt wieder, ißt allein, arbeitet mit dem Spaten im Garten, steigt 
Treppen, biegt die Beine ausreichend und dreht und beugt den Kopf 
wie sie will, kann die Beine spreizen, soweit sie Lust hat, und wenn 
der Kaiser wirklid» käme, würde sie Hurrah rufen können. Mit andern 
Worten, sie ist geheilt, wenn man eine völlige Leistungsfähigkeit Heilung 
nennen darf. Auffallend ist noch jetzt eine seltsame Art beim Gehen 
das Hinterteil weit herauszustrecken, was beinahe aussieht, als ob sie 
zum Sdilagen auffordern wollte. Und all diese Qualen hat sie gehabt, 
v/eil ihr Vater Friedrich Wilhelm hieß und weil man ihr neckend gesagt 
hatte, daß sie nicht das Kind ihrer Mutter sondern hinter der Hecke ge- 
funden worden sei. 

Ich komme damit auf das zu sprechen, was meine Gesinnungs- 
genossen in Freud den Famiücnronian nennen. Sie werden sich der 
Zeiten Ihrer Kindheit erinnern, wo Sic sich lebhaft in Spiel oder Nach- 
denken mit der Phantasie beschäftigten, daß Sie Ihren echten Eltern, 
Leuten hohen Ranges, von Zigeunern gestohlen, daß Vater und Mutter, 
bei denen Sie wohnten, nur Pflegeeltern seien. Soldie und ähnliciie 
Gedanken hegt jedes Kind. Es sind im Grunde verdrängte Wünsdie. 
So lange man noch als Wickelkind das Haus kommandiert, ist man 
mit seinen Angehörigen zufrieden, aber wenn die Erziehung mit ihren 
berechtigten und unberechtigten Ansprüchen kommt und in unsre 
lieben Gewohnheiten eingreift, finden wir unsre Eltern zu Zeiten gar 

154 



nidit wert, solch vorzüg-Hches Kind zu haben. Sie werden von uns, die 
wir trotz in die Hosenmachens und kindlidier Schwäche die Illusion 
unsrer Bedeutung aufrecht halten wollen, zu Stiefeltern, Eseln und 
Hexen deg-radiert, wahrend wir uns selbst als g-equälte Prinzen vor- 
kommen. Das Alles können Sie aus Sag-en und MarcJien selber heraus- 
lesen, oder wenn Sie es bequemer haben wollen, in g-eistreichen Büchern 
der Freudschen Sdiule finden. Und da hören Sie denn auch, daß wir 
alle urspriinglidi den Vater für das stärkste, beste, höchste Wesen 
halten, daß wir aber allmählidi sehen, wie er vor diesem oder jenem 
bescheiden wird, wie er gar nicht der absolute Herr ist, den wir in 
ihm sahen. Weil wir aber durchaus die Idee festhalten wollen, des 
Höchsten Kinder zu sein — denn Ehrfurcht ist ebenso wie Eitelkeit 
ein Gefühl, das wir ni<iit aufgraben können — phantasieren wir uns 
den Kinderraub, die Unterschiebung, unser Lebensmärchen zurecht. 
Und um auch das noch zu erwähnen, weil uns zu guterletzt auch der 
König nidit erhaben genug ist, um unsre rastlose Sucht nach Größe 
zu stillen, dekretieren wir, Gotteskinder zu sein, und erschaffen den 
Begriff Gottvater, 

Ein soldier Familienroman lebte, ihr selbst unbewußt, in jener 
Kranken, von der ich Ihnen erzählen will. Ihr Es hat dazu zwei Namen 
benutzt, den ihres Vaters Friedrich Wilhelm und den eigenen Augusta. 
Als Ergänzung hat es noch die Kindertheorie herangezogen, daß das 
Mädchen durch Kastration aus dem Knaben entsteht. Der Gedanken- 
gang ist folgender gewesen: leb stamme ab von Friedrich Wilhelm, 
dem damaligen Kronprinzen, späteren Kaiser Friedrich, bin eigentlich 
ein Knabe, Thronerbe und nunmehr reditmäßiger Kaiser, mit Namen 
Wilhelm. Man hat mich gleich nadi der Geburt entführt und an meiner 
Stelle ein Hexenkind in die königliche Wiege gelegt, das herangewachsen ^ 

die Kaiserkrone als Wilhelm II. an sich riß, widerrechtlich und zu meinem ( 

Schaden. Mich selbst hat man hinter einer Hecke ausgesetzt und, um 
mir jede Hoffnung zu nehmen, durch Abschneiden der Geschlechtsteile 
zum Mädchen gemacht. Als einziges Zeichen meiner Würde gab man , 

mir den Namen Augusta, die Erhabene. 

155 






y 



Man kann die Anfänge dieser unbewußten Phantasien leidlich genau 
bestimmen. Sie müssen spätestens in dem Jahre 1888 entstanden sein, 
also in einer Zeit, in der die Kranke nodi nicht vier Jahre alt war. 
Denn die Idee, aus der Hohenzollernfamilie zu stammen, gründet sich 
auf den Namen Friedrich Wilhelm, den der erträumte Vater nur als 
Kronprinz führte. Das Reden über seine Krebserkrankung, mit der die 
Vierjährige wohl kaum etwas Andres anzufangen wußte, als an das 
Wort Krebs die Idee der Schere, des Schneidens, der Kastration 
anzuknüpfen, fallt dabei ins Gewicht. Es verknüpft sich mit den per- 
sönlichen Erfahrungen des Nagel- und Haarabschneidens, dessen Be- 
ziehungen zu dem Kastrationskomplex sich noch aus dem Anschauen 
und Vorlesenhoren des Struwwelpeters verstärkten; steht doch in diesem 
ewigen Buch auch nocli die Geschichte von Konrad dem Daumenlutscher, 
eine Geschichte, die alte Sehnsüchte nadi der Mutterbrust und quälende 
Erinnerungen an die Entwöhnung, diese unentrinnbare Kastration von 
der Mutter, weckt. 

Ich deute das Alles kurz an, damit Sie selber ein wenig nachdenken. 
Denn nur durch eigenes Nachdenken können Sie sich davon überzeugen, 
wie gerade in dem Alter zwischen drei und vier Jahren der Boden für 
eine Phantasie vorbereitet ist, die so ungeheuerlich wirkt wie die meiner 
Patientin. Hören Sie nur zu: Das Es dieses Menschen ist überzeugt 
oder vielmehr will sich überzeugen, daß es das Es eines rechtmäßigen 
Kaisers ist. Der Träger der Krone schaut nicht nach redits und nach 
links, er urteilt ohne Seitenblicke, er beugt sein Haupt vor keiner 
Macht der Erde. „Also," befiehlt das Es den Säften und Kräften des 
von ihm gebannten Menschen, „stellt mir den Kopf fest, mauert seine 
Wirbel ein. Sdiheßt ihm die Kinnbacken, daß er nidit Hurrah sdireien 
kann; er hat es schon einmal getan, dem Usurpator, dem unterge-*' 
schobenen Hexenklnd zugejubelt und zugewinkt. Lähmt ihm die Schultern, 
damit er nie wieder mit erhobenem Arm dem falschen Kaiser huldigen 
kann; die Beine müssen steif werden, nie darf dieser erhabene Kaiser 
vor irgend wem knieen. Die Schenkel preßt zusammen, so daß niemals 
ein Mann zwisdien ihnen liegen kann. Denn das wäre das Gelingen 

156 



T-T- 



des teuflischen Plans, wenn dieser Körper, den g-emeiner Haß und 
erbärmlicher Neid aus einem männlichen in einem weiblichen verwandelt 
hat, ein Kind gebaren müßte. Es wäre die Vereitelung aller Hoffnungen. 
Haltet ihn an, den Unterleib zurück zu ziehen, damit Niemand den 
Eino-ang- findet, warnt ihn vor der Wölbung des Bauchs, zwingt ihn 
zum Gehen und Stehen mit rückwärts gepreßtem Kreuz. Noch ist kein 
Grund dazu vorhanden, anzunehmen, daß das tückisch g-eraubte Mannes- 
abzeidien nicht wieder wachsen könnte, daß dieser Kaiser nicht wirklich 
Mann werden könnte. Zeigt dem Entmannten, ihr Säfte und Kräfte, 
daß es möglich ist, schlaffe Glieder steif werden zu lassen, bringt ihm 
den Begriff der Erektion, des Steifwerdens dadurdi bei, daß ihr die 
Beine verhindert sich zu biegen, zu erschlaffen, lehrt ihn im Symbol 
zu zeigen, daß er ein Mann ist." 

Ich kann mir vorstellen, verehrte Freundin, wie unwillig Sie 
ausrufen: „Welcher Unsinn!" Und dann kommen Sie wohl gar 
auf die Idee, daß ich Ihnen die Größeuwahnideen einer Verrückten 
erzähle. Das müssen Sie nicht denken. Die Kranke ist geistig 
ebenso gesund wie Sie; was ich Ihnen erzählte, sind einige Ideen 
— längst nicht alle — die ein Es dazu bringen können, Gicht ent- 
stehen zu lassen, einen Menschen zu lähmen. Wenn meine Mitteilungen 
Sie jedoch dazu brächten, einigte wenige Überlegungen über die 
Entstehung von Geisteskrankheiten daran anzuknüpfen, würde Ihnen 
klar werden, daß der Verrückte, vorurteilslos betrachtet, gar nidit 
so verrückt ist, wie es im ersten AugenbUck den Anschein hat, 
daß seine fixen Ideen solche sind, wie wir sie alle haben, haben 
müssen, weil sich auf ihnen das Mensdiengesdiehen aufbaut. Warum 
aber bli dem Einen das Es aus solchen Ideen die Religion von Gott- 
vater, bei aem Andern die Gidit, bei dem Dritten die Verrücktheit 
macht, warum es bei wieder Andern die Gründung von König- 
reichen, Zepter und Kione, bei Bräuten den Brautkranz, bei uns Allen 
das Streben nach Vervollkommnung, den Ehrgeiz und das Heldentum 
entstehen Heß, das sind Fragen, die Sie in langweiligen Stunden 
beschäftigen mögen, 

157 



Sie müssen nicht glauben, daß ich dieses Konig-smärdien so g-latt 
in der Seele meiner Klientin fand, wie ich es dargestellt habe. Es war 
in tausend Fetzen zerrissen, die in den Fin^^ern, der Nase, den Ein- 
geweiden und dem Unterleib verborgen waren. Wir haben sie gemeinsam 
zusammen geflickt, haben vieles mit Absicht, noch mehr aus Dummheit 
nidit gefunden oder fort gelassen. Ja ich muß am Schlüsse noch ein- 
gestehei), daß idi alles Dunkle — und gerade das ist das Wesentiidie — 
bei Seite geschoben habe. Denn — aber Sie müssen wieder vergessen, 
was ich jetzt sage - letzten Endes ist Alles, was man vom Es zu 
wissen glaubt, nur bedingt richtig, nur richtig in dem Moment, wo das 
Es in Wort, Gebärde, Symptom sich äußert. Schon in der nädisten 
Minute ist die Wahrheit fort und nicht melir zu finden, weder im Himmel 
noch auf Erden noch zwischen Himmel und Erde. 

PATRIK TROLL. 



18. 

ALS GELEHRIGE SCHÜLERIN VERLANGEN SIE, LIEBE FREUNDIN, 
Auskunft, warum ich, statt meine Ideen über das Spiel mit der Uhr- 
kette weiter mitzuteilen, Geschichten erzähle, die gar nicht dazugehören. 
Ich kann Ihnen dafür eine komische Erklärung geben. Neulidi, als icli 
diese kleine Selbstanalyse begann, schrieb ich Ihnen: „In der rechten 
Hand halte idi den Federhalter, mit der linken spiele ich an der Uhr-' 
kette," und führte im Anschluß daran aus, daß beides Onaniekomplexe 
sind. Dann fuhr idi fort: „Mein Blick ist auf die Wand gegenüber ge- 
richtet, auf eine holländische Radierung, die Rembrandts Gemälde von 
der Beschneidung Jesu wiedergibt." Das ist gar nicht wahr; die Ra- 
dierung ist nach dem Gemälde von Jesu Darstellung im Tempel in 
Gegenwart einer Menge Menschen gemacht. Ich hätte das wissen 
müssen, wußte es audi tatsäclilidi, denn ich habe diese Radierung 
viele, viele Male eingehend betraditet. Und dodi zwang mich mein 
Es, dieses Wissen zu vergessen und aus der Darstellung eine Besdiiiei- 
dung zu machen. Warum? WeÜ ich im Onaniekomplex befangen war, 

158 



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weil die Onanie strafwürdig ist, weil sie mit Kastration bestraft wird 
und weil die Beschneidung eine symbolische Kastration ist. Mein Un- 
bewußtes verlangfte als Reaktion auf die Onanieidee die Idee der Ka- 
stration; dagegen verwarf es mit Bestimmtheit die Idee, daß das 
Kindchen Jesus im Tempel Aller Augen dargestellt würde; denn dieses 
Knäblein ist wie jedes Knäbiein ein Symbol des männliches Gliedes, 
der Tempel ein Symbol der Mutter, Wäre der Gegenstand der Ra- 
dierung bis in mein Bewußtsein gelangt, so hätte das in der nahen 
Verbindung mit dem Uhrkettenspiel und Federhalten bedeutet; „Du 
treibst dein Spiel mit dem symbolischen Knäblein vor den Augen 
Aller und verrätst ihnen sogar, daß letzten Endes dieses Onaniespiel 
der Mutterimago gilt, wie sie Rembrandt in geheimnisvollem Heildunkel 
als Tempel symbolisiert hat." Das war auf Grund des doppelten Ver- 
bots der Onanie und der Blutscäiande dem Unbewußten unei-träglidi 
und es zog vor, sofort die symbolisdie Bestrafung heranzuziehen. 

Daß der Ritus der Beschneidung wirklidi etwas mit der Kastration 
zu tun hat, mochte ich deshalb annehmen, weil seine Einführung mit 
dem Namen Abrahams in Verbindung gebracht ist. Aus Abrahams 
Leben wird die seltsame Erzählung vom Opfer Isaaks beriditet, wie 
der Herr ihm befiehlt, seinen Sohn zu schladiten, wie er das gehorsam 
ausführen will, aber im letzten Augenblick durch den Engel daran ver- 
hindert wird; an Isaaks Stelle wird der Widder geopfert. Wenn Sie 
ein wenig guten Willen haben, können Sie aus dieser Geschichte heraus- 
lesen, daß das Opfer des Sohnes ein Absdineiden des Penis, der ja 
im Symbol durch den Sohn vertreten wird, bedeutet. Es würde mit 
der Erzählung ausgedrückt werden, daß an Stelle der Selbstkastration 
des Gottesdieners, die ihre Ausläufer in dem Keuschheitsgelübde der 
katholischen Priester hat, zu irgend einer Zeit das Tieropfer getreten 
ist; der Widder eignet sich für das Enträtseln der Symbolik deshalb 
besonders, weil in der Schafzucht von jeher die Kastration üblich ge- 
wesen ist. Betrachtet man die Dinge so, so ist die Erzählung von dem 
Beschneidungsbunde zwischen Jehovah und Abraham nur eine Wieder- 
holung des symbolischen Märchens in andrer Form, eine Verdoppelung, 

159 



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wie sie häufig in der Bibel und anderwärts zu finden ist. Die Be- 
schneidung- würde danach der symbolische Rest der gottes die östlichen 
Entmannuno; sein. Aber sei dem, wie ihm wolle, für mein Unbewußtes, 
— und das kommt ja bei der Verwechselung von Beschneidung und 
, Darstelhing allein in Betracht — sind Beschneidung und Kastration 

nahe verwandt, ja identisch; denn wie so vielen Anderen ist auch mir 
erst verhältnismäßig spät klar geworden, daß ein Verschnittener, ein 
Eunuch, etwas Anderes ist als ein Beschnittener. 

Übrigens haben diese Zusammenhänge zwischen Verschneidung 
und Beschneidung eine besondere Bedeutung in der Freudschen Lehre, 
so daß ich Ihnen empfehlen muß, Freuds Schrift von Totem und Tabu 
zu lesen. Meinerseits möchte Ich nur vorläufig eine kleine völker- 
psychologische Phantasie zum Besten geben, mit der Sie machen können, 
was Sie wollen. Mir scheint, daß in den Zeiten, wo die Ehen noch 
frühzeitig gesdilossen wurden, der älteste Sohn ein ziemlich unerwünschter 
Mitbewohner des Heims für den Vater gewesen sein muß. Die Alters- 
unterschiede waren so gering, daß der Erstgeborene in allen Dingen 
der geborene Nebenbuhler des Vaters war, ja daß er besonders ge- 
fährlich für die nicht viel altere Mutter werden mußte. Selbst jetzt 
sind ja Vater und Sohn natürliche Rivalen und Feinde, auch wiederum 
der Mutter wegen, die der eine als Frau besitzt, der andere mit seiner 
heißesten Liebe begehrt. Damals aber, als die Überlegenheit des Alters 
noch nicht so mitsprach, als die Leidenschaften und Triebe noch 
heißer und ungebändigt waren, lag der Gedanke für den Vater nahe, 
den unbequemen Sohn zu töten, ein Gedanke, der nun längst ver- 
drängt ist, sich aber oft und stark in mannigfachen Lebensbeziehungen 
und Krankheitssymptomen geltend macht. Denn Vaterliebe sieht, näher 
betrachtet, nicht weniger seltsam aus als Mutterliebe. Dann wäre an- 
^ zunehmen, daß es ursprünglich Gewohnheit war den ältesten Sohn zu 

töten, und weil der Mensch nun einmal Schauspieler und Pharisäer ist, 
hat man aus dem Verbrechen eine gottesdienstliche Handlung gemacht 
und den Sohn geopfert. Das hatte neben der Verklärung ins Edle 
noch den Vorteff, daß man ihn nach dem Morde aufessen konnte und 

160 



so die kindliche Idee des Unbewußten, daß die Schwangerschaft aus 
dem Verzehren des Penis, des symbolischen Sohnes, entsteht, darzu- 
stellen vermochte. Mit der allmäHlichen Verdrängung- des Haßtriebes 
verfiel man dann auf andere Methoden, zumal bei wachsendem Be- 
dürfnis nach Ai'beitskräften der einfadie Mord unzweckmäßig war. 
Man entledigte sidi des Rivalen in der Liebe dm-di seine Entmannung, 
brauchte nichts mehr zu fürchten und hatte ohne vie! Mühe einen 
Sklaven gewonnen. Wenn die Bevölkerung zu dicht wurde, griff man 
zu dem Mittel, die Erstgeborenen in die Fremde zu treiben, ein Ver- 
fahren, das als ver sacrum noch aus historisclien Zeiten bekannt ist. 
.Und sdiließlich, als der Ackerbau und das Zusammenfließen der Stämme 
zu Völkern die Erhaltung der vollen Leistungsfähigkeit und Wehr- 
kraft aller Söhne erforderte, symbolisierte man den Mord und erfand 
die Beschneidung. 

Wollen Sie nun den phantastischen Ring schließen, so müssen Sie 
die Sache auch von der Seite des Sohnes anpacken, der ja den Vater 
nicht minder haßt als der Vater den Sohn. Der Mordwuusdi gegen 
den Vater setzt sich um in die Kastrationsidee, wie, sie im Mythus 
von Zeus und Kronos auftritt, und daraus wird dann die gottes- 
dienstliche Entmannung des Priesters; denn wie der Penis symbolisdi 
der Sohn ist, so Ist er auch der Erzeuger, der Vater, und seine Ver- 
schneidung ist der Vatermord im Gleichnis. 

Ich fürchte Sie zu ermüden, aber ich muß nochmals auf meine 
Uhrkette zurückkommen. Neben dem Totensdiadel, der daran befestigt 

ist, hängt noch eine .kleine Erdkugel. Bei der sprunghaften Laune ( 

meiner Gedanken fällt mir ein, daß die Erde ein Symbol der Mutter 
ist, daß also das Spielen damit einen Inzest im Gleidinis darstellt. 
Und da der Totenkopf daneben droht, ist es erklärlich, daß meine 
Feder stoclite, weil sie den beiden Todsünden der Onanie und Blut- 
sdiande nicht dienstbar werden wollte. 

Wohin führen nun die Gehörseindrücke, von denen ich Ihnen 
sdirieb, die Marschmusik, der Käuzdiensdirei, das Automobil und die \ 

elektrische Bahn? Für den Marsch sind Takt und Rhythmus bezeichnend, 

11 Groddcck, Das Buch vom Es. 161 



und von dem Worte Rhythmus aus g-ehen die Gedanken zu der Be- 
traditung über, daß jede Tätigkeit leichter ausg-eführt wird, wenn 
man sie Im Takte rhythmisch ordnet; das weiß ein jedes Kind. Viel- 
leicht gibt audi das Kind Antwort, warum das so ist. Vielleicht sind 
Takt und Rhythmus gute Bekannte, unentbehrliche Lebensgewohnheiten 
vom Mutterleihe an. Vermutlich ist das ungeborene Kind auf eine 
kleine Zahl von Wahrnehmungen beschrankt und unter denen nimmt 
die Empfindung für den Rhythmus und Takt den ersten Platz ein. Das 
Kind schaukelt im Mutterleibe, bald schwächer, bald stärker, je nadi 
den Bewegungen der Mutter, je nach ihrer Gangart und dem Tempo 
ihres Sdirittes. Und ununterbrochen klopft in dem Kinde das Herz, 
im Takt und im Rhythmus, seltsame Melodien, denen das Kind lausdit, 
vielleicht mit den Ohren, sidier mit dem Gemeingefühl des Körpers, 
der die Ersdiiitterung empfindet und im Unbewußten verarbeitet. 

Es wäre wohl lockend, hier ein paar Betrachtungen über dieses 
Phänomen einzusdialten, wie dem Rhythmus nicht nur das bewußte 
Tun des Menschen, seine Arbeit, seine Kunst, sein Gang und Handeln 
unterworfen ist, sondern auch das Schlafen und Wachen, Atmen, Ver- 
dauen, das Wachsen und Vergehen, ja Alles und Jedes. Es scheint, 
daß das Es im Rhythmus ebenso sich äußert wie im Symbol, daß er 
eine unbedingte Eig-enschaft des Es ist, oder wenigstens, daß wir, um 
das Es und sein Leben betraditen zu können, ihm rhythmische Eigen- 
schaften zustiireiben müssen. Aber das führt mich zu weit ab und 
lieber lenke ich Ihre Aufmerksamkeit darauf, daß mich der Marsdi 
auf Schwangerschaftsgedanken geführt hat, die schon vorher in der 
Erwähnung der Erdkugel an meiner Uhrkette anklangen. Denn diese 
Erdkugel — idi brauche es kaum zu sagen — ist durch das Wort 
von der Mutter Erde und die Rundung der Kugel gewiß eine An- 
deutung des hoffenden Mutterleibes. 

Jetzt sehe ich audi ein, warum ich mit der Ferse den Takt dazu 
trete, statt mit der Fußspitze. Die Ferse steht für jedweden von Kind- 
heit an in unbewußter Beziehung zum Gebaren. Denn wir alle werden 
ja mit der Geschidite vom Sündenfall groflgezogen. Lesen Sie sie doch 

162 



einmal. Das Auffallendste daran ist, daß sidi nadi dem Essen der 
Frudit die beiden Mensdien ihrer Nacktheit schämen. Das beweist, 
daß es sich um eine symbolisdie Erzählung; über die Sünde der 
Geschlechtslust handelt. Der Paradies^arten, in dessen Mitte der Baum 
des Lebens und der Erkenntnis — erkennen ist der Ausdruck für 
beschlafen, — „steht", spridit für sidi selber. Die Sdilange ist ein 
uraltes, überall wiederkehrendes Phallussymbol ; ihr Biß vergiftet, 
madit schwanger. Die Frucht, die Eva reicht, die übrigens bezeichnender- 
weise von den Jahrhunderten stets als Apfel, als Frucht der Liebes- 
göttin, aufgefaßt worden ist, obwohl in der Bibel das Wort Apfel 
nidit steht, diese Frucht, die sdiÖn anzuschauen und gut zu essen ist, 
entspridit der Brust, dem Hoden, der Hinterbacke. Hat man diese 
Zusammenhänge erfaßt, so ist sofort klar, daß der Fludi: Das Weib 
wird der Schlange den Kopf zertreten und die Schlange wird das 
Weib in die Ferse stechen, die Ersdilaffung, den Tod des Gliedes 
durdi die Samenergießung und den Storchenbiß unserer Kinderzeit, 
die Geburt bedeutet. Daß ich die Ferse zum Takttreten benutzte, 
zeigt, wie stark mein Unbewußtes in dem Gedankengang der Schwanger- 
sdiaft befangen war. Aber zugleich audi in dem der Kastration. Denn 
im Zertreten des Schlangenkopfes ist Ers<iilaffung und Kastration 
gleidizeitig enthalten. Und dicht daneben drangt sidi auch sdion wieder 
die Todesidee. Das Zertreten des Kopfes ist wie eine Enthauptung, 
eine Todesart, die auf dem symboHsierenden Wege aus Gliederschlaffung 
~ Kastration si(Ji entwickelt hat. Einen Kopf kürzer wird der Mensch, 
einen Kopf kürzer das Ghed, dessen Eidiel nach der Begattung in 
die Vorhaut zurückschlüpft. Sie können das alles, wenn es Ihnen 
Freude macht, in den Sagen von David und Goliath, Judith und 
Holofernes, Salome und Johannes dem Täufer weiter verfolgen. 

Der Beischlaf ist ein Tod, der Tod am Weibe, eine Vorstellung, 
die sich durch die Geschichte der Jahrtausende hinzieht. Und der Tod 
sdireit in meine Gehörswahrnehmungen sdiarf und schrill hinein mit 
dem Käuzchenruf: „Komm mit, komm mit." Dabei klingt wieder das 
Motiv der Onanie in dem Automobilsignal an; ist das Auto dod» ein 

11* 163 



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bekanntes Sinnbild der Selbstbefriedigung, wenn es nicht gar seine 
Erfinduno; dem Onanietriebe verdankt. Daß die elektrische Bahn — 
wohl auf dem Assoziatlonsweg-e der Reibungselektrizität und der 
Mensdtenbeförderung — in sich das Onanie- und Schwangerschafts- 
symbol vereinigt, laßt sich sdion aus der Tatsadie schließen, daß die 
Frau, dieser symbolempfindliche, der Kunst nahe verwandte Menschheits- 
teil, stets falsch vom elektrischen Wagen abspringt, — um zu fallen. 

Nun klärt sich für mich audi eine andere Seite des Marsch problems. 
Vor vielen Jahren hörte ich diese Takte beim Rückweg vom Begräbnis 
eines Offiziers. Mir hat das immer ausnehmend gefallen, daß Soldaten, 
die eben den Kameraden in die Gruft versenkt haben, mit fröhlichem 
Spiel ins Leben zurückkehren. So sollte es überall sein. Sobald die Erde 
über der Leidie liegt, ist keine Zeit mehr für Trauer: „Schließt die Reihen." 

Finden Sie mich hart? Idi finde es hart, von den Menschen zu 
verlangen, daß sie drei Tage lang traurig sind; ja, soweit ich die 
Mensdien kennen gelernt habe, sind schon drei Tage unerträglich. Die 
Toten haben immer Recht, heißt es im Sprichwort, im Grunde haben 
sie immer Unredit. Und wenn man ein wenig nadiforsdit, kommt mau 
dahinter, daß die ganze Trauerei eitel Angst ist, Gespensterfurdit, die 
auf derselben ethischen Hohe steht wie die Sitte, den Toten mit den 
Füßen zuerst aus dem Hause zu tragen: er soll nicht wiederkehren. 
Wir haben die Empfindung, daß der Geist des Toten in der Nähe 
der Leiche weilt. Man muß weinen, sonst beleidigt man das Gespenst, 
und Gespenster sind rachsüchtig. Liegt der Körper erst tief unter 
der Erde, so kann das Gespenst nicht mehr hervor. Zur größeren 
Sicherheit wird ihm ein schwerer Stein auf die Brust gewälzt; die 
Redensart von dem Stein, der einem auf die Brust drückt, beweist, 
wie überzeugt auch wir Modernen von dem Weiterleben des Toten im 
Grabe sind; wir stellen uns vor, wie der Grabstein auf ihm lastet, jj^^ 
und übertragen dieses Gefühl auf uns selbst, vermutlich als Strafe "^H 
für die grausame Einkerkerung unsrer toten Verwandten. Sollte jedoch '^^^ 
wirklich einmal ein Toter auferstehen, so liegen in Gestalt von Kränzen 
Fußangeln auf seinem Grabe, die ihn nicht entkommen lassen. 

164 



Ich will nicht ungeretiit sein. Das Wort auferstehen beweist, daß 
auch noch ein anderer Gedankengang bei der Wahl der drei Tage 
mitg-esprodien hat, ehe die Leiche beerdigl wird. Drei Tage sind die 
Zeit der Auferstehung, und drei mal drei ist neun, die Zahl der 
Schwangerschaft, Und die Hoffnung darauf, daß die Seele des TotcR 
inzwisdien den Weg zum Himmel gefunden hat, wo sie freiHch weit 
entfernt und gut aufgehoben ist, hat auch einen Sinn. 

Der Mensch trauert nicht um seine Toten, es ist nicht wahr. Und 
■wenn er im tiefsten Innern trauert, zeigi er es nicht. Aber selbst 
dann ist es nodi zweifelhaft, ob seine Trauer dem Toten gilt oder 
ob das Es über irgend etwas anderes traurig ist und den Todesfall 
nur als Vorwand nimmt, um seine Trauer zu rationalisieren, vor der 
Dame Moral zu begründen. 

Sie glauben es nicht? So schlecht sind die Menschen nidit? Aber 
warum nennen Sie es schledit? Sahen Sie je ein kleines Kind um 
einen Toten trauern? Und sind etwa die Kinder schlecht? Meine Mutter 
erzählte mir, daß ich nach dem Tode meines Großvaters — ich war 
damals 3—4 Jahre alt — händeklatschend um seinen Sarg herum ge- 
sprungen bin und gerufen habe: „Da liegt mein Großvater drin." 
Meine Mutter hielt mich deshalb nicht für schlecht, und id» halte midi 
nidit für berechtigt, moralischer als sie zu sein. 

Warum aber trauern die Menschen dann ein ganzes Jahr? Zum 
Teil der Leute wegen, vor allem aber, um ~ nach Pharisäerart — vor 
siA selbst zu prahlen, sich selbst zu betrügen. Sie schwuren diesem 
Toten und sich selbst einmal zu, ewig treu zu sein, ihn nie zu 
vergessen. Und wenige Stunden nach dem Tode vergessen wir 
schon. Da ist es gut, sich selbst zu erinnern, durch schwarze Kleider, 
durch Traueranzeigen, durdi das Aufstellen von Bildern und das 
Tragen vom Haar des Entschlafenen. Man kommt sidi gut vor, wenn 

man trauert. 

Darf ich Ihnen im Geheimen einen kleinen Wink geben? Schauen 
Sie sidi zwei Jahre nach dem Tode des Gatten oder der Gattin nach 
den vom Schmerz gebeugten Überlebenden um: entweder sind sie 

165 



äu(h tot, das ist nicht selten, oder die Witwe ward eine blühende, 
zufriedene Dame und der Witwer ist wieder verheiratet. 

Lachen Sie nicht! Es hat einen tiefen Sinn und ist wirklich wahr. 

Stets Ihr 
PATRIK TROLL. 

19. 
SIE HABEN WIEDER ALLERLEI AUSZUSETZEN. DAS PASST 
mir nicht und idi werde daher deutlich werden. Warum finden Sie 
es gesucht, daß ich den Evasapfe! mit der Hinterbacice vergleiche? Es 
ist nicht meine Erfindung. Die deutsthe Sprache zieht diesen Vergleich, 
die italienische tut es, die englische auch. 

Ich will Ihnen sagen, warum Sie gereizt sind und mich sdielten. 
Die Erwähnung von Evas Popo erinnert Sie daran, daß der Geliebte 
Sie zuweilen von hinten nahm, während Sie knieten oder auf seinem 
Schöße saßen; und dessen schämen Sie sich, genau so, als ob Sie selber 
die deutsche Wissenschaft wären, die prüde diese Lust mit dem Aus- 
druck more ferarum benennt: nach Art der Tiere, und sich nicht sdiämt, 
ihren Verkündern damit eine Ohrfeige zu geben. Denn sie weiß ganz 
g-ut, daß all diese Jünger more ferarum gelieht haben oder wenigstens 
Lust dazu gehabt haben. Und sie weiß auth oder sollte es wenigstens 
wissen, daß der männUche Liebesdolch dreikantig geformt ist und 
die weibliche Liebesscheide ebenfalls und daß der Dol(h in die Scheide 
vollkommen nur paßt, wenn er von hinten eingeführt wird. Hören 
Sie doch nicht auf das Geschwätz der Pharisäer und Heuchler. Die 
Liebe Ist nicht des Kinderkriegens wegen da und die Ehe ist keine 
Moralanslalt. Der Geschlechtsverkehr soll Lust bringen und in allen 
Ehen, bei den keuschesten Männern und reinsten Frauen, wird er 
in allen Formen ausgeübt, die sich ausdenken lassen, als gegenseitige 
Onanie, als Schaustellung, als sadistischer Scherz, als Verführung und 
Notzucht, als Küssen und Saugen an den Stellen der Wollust, als 
Päderastie, als Vertauschen der Rollen, so daß das Weib über dem 
Mann liegt, im Stehen, Liegen, Sitzen und auch „more ferarum". Und 

166 



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nur bestimmte Leute haben nicht den Mut dazu und träumen statt 
dessen davon. Aber ich habe nicht bemerkt, daß sie besser sind als 
die, die ihre Kindlidikeit vor dem Geliebten nicht verleugnen. Es gibt 
Leute, die sprechen vom Tier im Menschen, und unter Menschsein 
verstehen sie, was sie edel nennen, was aber bei näherem Zusehen 
recht unedel wird, den Verstand zum Beispiel oder die Kunst oder die 
Religion, kurz alles, was sie auf irgend welche Gründe hin in das 
Gehirn oder Herz verlegen, oberhalb des Zwerchfells, und tierisdi 
nennen sie alles, was im Bauche vor sidi geht, vor allem was zwischen 
den Beinen ist, Gesdilechtsteil und After. Ich würde mir an Ihrer Stelle 
dergleichen Redende erst genau ansehen, ehe ich mit ihnen Freund- 
schaft schlösse. Darf ich noch eine kleine Bosheit sagen? Wir gebildeten 
Europäer tun immer so, als ob wir die einzigen Mensdien wären, als 
ob, was wir tun, gut, natürlich, was andre Völker, andre Zeitalter tun, 
schlecht, pervers sei. Lesen Sie doch Plochs Buch über das Weib. Da 
finden Sie, daß viele hunderte Millionen Menschen andre Geschlechts- 
sitten, andre Beisclilafsgewohnheiten haben als wir. Aber freilich es 
sind nur Chinesen, Japaner, Inder oder gar Neger. Oder gehen Sie 
nach Pompeji. Da hat man ein Wohnhaus ausgegraben — das Haus 
der Vettier nennt man es — in dem ist das gemeinsame Badezimmer 
für Eltern und Kinder mit einem Fries bemalt, der alle Arten der 
Geschlechtslust darstellt, sogar die Tierliebe. Freilich, das waren nur 
Römer und Griechen. Aber es waren fast Zeitgenossen von Paulus und 

Johannes. 

AH diese Dinge sind wichtig. Sie ahnen nidit, welche Rolle sie in 
den täghchen Gewohnheiten und in den Erkrankungen spielen. Nehmen 
Sie nur das „more ferarum". Niemals wäre man auf die Idee des 
Klystiers gekommen, wenn dies tierische Spiel ä la Hündlein nicht wäre. 
Und das Fiebermessen im After gäbe es auch nidit. Und die kindhche 
Sexualtheorie vom Gebären durch den After, die so tausendfältig in 
das gesunde und kranke Leben aller Mensdien eingreift — aber davon 
will ich nidit reden; es würde mich zu weit abführen. Lieber gebe ich 
ein andres Beispiel. Erinnern sie sich, wie ein Mädchen rennt? Es hält 

167 



den Oberkörper gestreckt und sclilägt nadi hinten mit den Beinen aus, 
während der Knabe weit mit den Schenkeln ausgreift und den Ober- 
kÖiper vorneigt, als wollte er den verfolgten Flüchtling' damit durch- 
bohren. Sie arbeiten ja viel rait dem Wort Atavismus. Was meinen 
Sie, könnte dieser seltsame Unterscliied im Rennen niclit atavistisdi 
sein, ein Erbstück aus der Urzeit, wo der Mann die Frau jagie? Oder 
ist es das Es, das der Ansicht ist, der Geschleditsangriff müsse von 
hinten kommen und deshalb sei es gut, auszusdilagen ? So etwas ist 
schwer zu entscheiden. Aber es bringt mich auf andre Unterschiede, 
die spaßig zu sehen sind. So spielt der Knabe, wenn er auf dem 
Erdboden baut, im Knieen, das Mädchen Hockt sich mit weit gespreizten 
Beinen hin. Das Büblein fällt nach vorn, das winzige Jüngferlein nadi 
hinten. Der sitzende i\i!ann sudit einen Gegenstand, der vom Tisdie 
fällt, dadurch zu fangen, daß er die Knie schließt, die Frau reißt sie 
auseinander. Der Mann naht in weit ausgreifenden seitlichen Bewe- 
gungen, das Weib in zierlicher Rundung von unten nacli oben, genau 
entsprechend ihren Begattungsbewegungen, und das Kind sticlit un- 
wissend und gemäß der kindlichen Theorie vom Hineinstopfen in den 
Mund von oben nach unten. -- Beiläufig, haben Sie sdion einmal die 
Zusammenhäng:e des Nähens mit dem Onaniekomplexe beachtet? 
Denken Sie darüber nach. Sie werden Nutzen davon haben, gleich- 
gültig, ob Sie annehmen, daß das Nähen an die Onanie symboiiscii 
erinnert oder ob Sie wie ich glauben, daß das Nahen aus der Onanie 
entstanden ist. Und wenn Sie sclion einmal bei der Kleidung sind, 
widmen Sie einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit dem herzförmigen 
Ausschnitt des Maddiens und der Rose und Brosche, dem Halskettdien, 
und den Rocken, die gewiß nicht getragen werden, um den Liebes- 
akt zu erschweren, sondern zum Betonen, zum Auffordern. Die Mode 
lehrt uns Neigungen ganzer Zeitalter kennen, von denen wir sonst 
nichts wüßten. Vor langen Zeiten trug die Frau keine Unterhosen, 
Mann und Weib hatten ihre Freude im raschen Genießen; dann schien 
es lustiger zu sein, im Spiel sich aufzuregen und das Beinkleid wurde 
erfunden, das mit seinem Sdilitz Geheimnisse nur halb verdeckte und 

168 



sdiließlich jetzt trägt jede gesdilossene, elegante Spitzenhöschen. Die 
Spitzen, um zu locken, die geschlossene Öffnung-, um das Spiel zu 
verlängern. Beaditen Sie aber auch den Hosenstall des Mannes, der 
betont, wo das Pferddien zum Reiten steht; schauen Sie sie sich die 
Frisuren an mit Scheitel und Locken: Alles sind Schöpfungen des Es, 
des Es der Mode und des Es des Einzelwesens. 

Doch zurück zu kleinen Eigentümlidikeiten von Mann und Frau. 
Der Mann bückt sich, wenn er etwas aufheben will, die Frau hockt 
sidi nieder. Der Mann trägt und hebt mit der Rückenmuskulatur, die^ 
Frau, im Symbol der Mutterschaft, mit dem Bauche. Der Uann wischt 
den Mund nadi den Seiten, fort von sich, die Frau gebraucht die 
Serviette so, daß sie von den Mundwinkeln nach der Mitte zu fährt, 
sie will empfangen. Der Mann trompetet beim Nasenschnauben wie ein 
Elefant, denn die Nase ist ein Symbol seines Gliedes und er ist stolz 
darauf und will sich zeigen, die Frau benutzt das Taschentuch vor- 
sjditig leise, ihr fehlt, was der Nase entspricht. Das Mädchen steckt 
die Blume mit der Nadel fest, der Mann tragt sie im Knopfloch. Das 
Mädchen hält den Blumenstrauß gegen die Brust gedrückt, der Knabe 
trägt ihn mit herabhängendem Arm : er deutet an, daß die Mädchen- 
blume nidits hat, was nadi oben strebt, kein Mann ist. Knaben und 
Männer spucken, sie zeigen, daß sie Samenergüsse haben, Mädchen 
weinen, denn das Überfließen der Augen symbolisiert ihren Orgasmus. 
Oder wissen Sie nicht, daß Pupille Kindchen bedeutet, daß also das 
Au<.e Symbol des Weibes ist, weil man sidi im Auge klem wieder- 
crespiegelt sieht? Das Auge ist die Mutter, die Augen sind d.e Hoden, 
denn auch in den Hoden sind die Kinderchen enthalten und der Strahl 
der Leidenschaft, der aus den Augen springt, ist männliches Symbol. 
Der Mann verbeugt sich, madit einen Diener, er sagt damit: dein 
Anblick schon brachte mir die höchste Wonne, so daß ich ersdilaffe; 
aber in wenigen Sekunden stehe ich wieder aufrecht, Begehren zu 
neuer Lust erfüllt mich. Der Dame aber knicken die Kniee, sie deutet an: 
da ich dich sehe, hört aller Widerstand auf. Das kleine Mädchen spielt mit 
der Puppe, der Knabe braudvt es nicht, er trägt sein Püppchen am Leibe. 

-169 



Es giebt so viele Lebensgewohnheiten, die wir nicht beachten, so 
viele, die beaditenswert sind. Was will der Mann sagen, wenn er den 
Schnurrbart streicht? Die Nase ist das Symbol seines Gliedes, ich 
sagte es schon, und das Zeigen des Schnurrbartes soll die Aufmerk- 
samkeit darauf lenken, daß vor uns ein geschlecbtsreifer Mann sitzt, 
der die Schamhaare besitzt; der Mund aber ist das Symbol des Weibes 
und das Streichen des Schnurrbartes bedeutet deshalb auch, ich möchte 
beim Weibchen spielen. Das glattrasierte Gesicht soll die Kindlichkeit 
betonen, die Harmlosigkeit, da das Kind noch keine Geschleditsbaare 
besitzt, zugleich aber soll es die Kraft bedeuten, da der Mensch als 
emporgeriditetes Wesen der Phallus ist und der Kopf die haarlose 
Eichel bei der Erektion versinnbildlicht. Vergessen Sie das nicht, wenn 
Sie Kahlköpfe sehen oder wenn ihre Freundinnen über Haarausfall 
klagen. Die Kraft des Mannes wird hiemit dargestellt oder das Kindsein, 
das Neugeborensein. Wenn eine Frau sich setzt, zieht sie die Kleider 
nadi unten; schau, was da für Füße sind, sagt die Bewegung, aber 
ich gestatte nicht, daß du mehr siehst, denn ich bin schamhaft. Wenn 
sie sich in Gegenwart eines andern hinlegt, kreuzt sie -- es gibt keine 
Ausnahme davon - die Füße. „Ich weiß, daß du mich begehrst," heißt 
das, „aber ich bin gegen den Angriff gewappnet. Versuch es nur." 
All das ist doppeldeutig, ein Spiel, das anzieht, während es abschreckt, 
anlockt, während es verbietet, ist die mimische Darstellung des selt- 
samen „dodi nicht," mit dem das Mädchen die kosende Hand abwehrt. 
Nidit! doch! Oder das Brilletragen: man will besser sehen, aber man will 
nicht gesehen werden. Dort schläft einer mit offenem Munde, er ist bereit 
zur Empfängnis, hier liegt ein andrer zusammengekrümmt wie ein Fötus. 
Jener Alte geht mit kurzen Schritten, er will den Weg verlängern, der zum 
Grabesziele führt, er schläft schlecht, denn seine Stunden sind gezählt und 
er wird bald allzulange schlafen müssen, er wird weitsichtig, will nicht 
sehen, was so nahe ist, das Totenschwarz der Lettern, den Faden, den 
die Parze in kurzem zerschneiden wird. Die Frau fürchtet zu erkranken, 
wenn sie während der Periode lange steht; die Blutung erinnert sie 
daran, daß sie nichts hat, was stehen kann, daß ihr das Beste fehlt. 
170 



Sie tanzt nicht während dieser Zeit, es ist verboten, audi nur int 
Symbol den Geschlechtsakt zu vollziehen. 

Warum erzähle ich Ihnen das alles? Weil idi einer langen 
Auseinandersetzung über den Apfel des Paradieses ausweichen will. 
Aber einmal muß ich sie dodi ereben. Aber nein, erst kann ich noch 
ein weni? von den Früditen erzählen. Da ist die Pflaume: sie birgt 
den Kern, das Kind in sich und ihre leiditangedeutete Spaltung verrät 
den Weibescharakter. Da ist die Himbeere: sieht sie nidit der Brust- 
warze ähnlidi? Oder die Erdbeere; sie wächst tief verborgen zwischen 
dem Grün des Grases, und Sie müssen sudien, ehe Sie dies holde 
Geheimnis im Versteck des Weibes finden. Aber hüten Sie sid» vor 
ihr. Die Wonne des Kitzlers frißt sldi immer tiefer in das Wesen des 
Mensdien ein. wird heiß ersehnt und doch als Schuld geflohen und 
dann entsteht die Nesselsucht, die symbolisch das Gefühl widerwärtig 
und quälend verhundertfacht. Die Kirsdie ? Sie finden sie an den 
Brüsten, aber aud» der Mann trägt sie an seinem Baum, wie denn 
alle Symbole doppelgeschlechtlich sind. Und nun gar die Eidiel. Sie ist 
wissenschaftlich gebilligt, obwohl sie dem Schwein so nahe verwandt 
ist. dem Sdiwein, das viel Geheimnisse b sich birgt. Darf ich Ihnen 
eins davon verraten? Die erziehende Mutter schilt ihr schmutziges 
Kind Ferkelchen. Kann sie sich da wundern, wenn das Kind in Gedanken 
antwortet: Bin idi ein Ferkel, so bist du das Schwein? Und in der Tat, 
so hart es Ihnen klingen mag, das Schwein ist eins der gebräudilidisten 
Muttersymbole. Das hat eine tiefe Bedeutung; denn das Sdvweln wird 
geschlachtet, der Baudi wird ihm aufgeschnitten und es quiekt. Und 
eine, vielleicht die häufigste Geburtstheorie des Kindes ist, daß der 
Mutter der Bauch aufgeschnitten wird, um das Kind herauszuholen, 
eine Theorie, die sich auf die Existenz der seltsamen Linie zwischen 
Nabel und Schamteil gründet und durch den Gebm-tsschrei bestätigt 
wird. Von der Assoziation Schwein— Mutter geht ein erstaunlicher Weg 
in das Religiöse hinüber, wenigstens in Deutschland, wo beim Metzger 
die Schweine im Sdiaufenster aufgehängt werden. Die Kreuzigung wird 
damit symbolisch gebunden. Welche Laune des Es: Schwein ~ Mutter ~ 

171 



Christus. Es ist manchmal zum Erschrecken. Wie die Mutter, wird auch 
der Vater 2um Tier gemacht; er ist ein Ochse, seibstverständiich. Denn 
statt dem Kinde in Liebe zu nahen, bleibt er unbewegt von dessen 
Versuchungrskiinsten, muß also kastriert sein. Zum Scliluß darf ich die 
Feige nicht vergessen, sie ist in allen Sprachen ein Sinnbild des weib- 
lichen Geschlechtsteils. Und damit bin ich wieder l>ei der Paradiesessage. 
Was mag es wohl bedeuten, daß das erste Menschenpaar sich 
Schürzen aus Feigenblättern flocht, und weiter, warum machte die 
Sitte der Jahrhunderte aus dieser Schürze ein einziges Feigenblatt? Id\ 
kann niciit in den Gedanken des Märchenerzählers der Bibel lesen; Über 
das Feigenblatt, mit dem die nackte Natur bedeckt wird, wage ich ein 
wenig; zu spotten. Fünf Zacken hat dieses Blatt, fünf Finger hat die 
Hand. Es ist verständlich, daß mit der Hand verdeckt wird, was nicht 
gesehen werden soll. Aber die Hand an den Geschlechtsteilen ? Dort, 
wo sie nicht sein darf? Mir kommt es vor, wie ein Witz des Es; „Da 
dir ein freies Leben im Eros nicht erlaubt ist, so tue, was die Natur 
lehrt, benütze die Hand!" 

Idi weiß, ich bin frivol. Aber endlich muß ich ernst werden. Sie 
wissen, man nennt den vorspringenden Kehlteil des Mannes den 
Adamsapfel. Die Idee dabei war wohl, daß dem Adam der Apfel in 
der Kehle stecken blieb. Aber warum nur ihm, warum nicht Evan, die 
doch auch von der Frucht aß? Sie schluckte die Frucht hinunter, damit 
daraus eine neue Frucht würde, das Kind. Adam jedoch kann keine 
Kinder kriegen. 

Da stehen wir unversehens in dem Gewirr von Ideen, die das 
Kind Über die Schwangerschaft und über die Geburt hat. Sie sind 
freilich der Ansicht, daß ein braves Kind an den Storch glaubt, und 
das tut es auch. Aber vergessen Sie nicht, daß das Kind auch an das 
Christkind glaubt und doch gleichzeitig weiß, daß die Geschenke des 
Christkinds von den Eltern im Laden und In der Straße gekauft werden. 
Das Kind hat viel Glaubensfähigkeit und nichts hindert es, den Stordi 
zu verehren und doch zu wissen, daß das Kind im Bauche der Mutter 
wachst. Das weiß es, muß es wissen, denn es war vor zwei, drei 

172 



Jahren noch in diesem Bauche. "Wie aber kommt es da heraus und wie 

kam es hinein ? Das sind Fragen, die uns alle mit schwankender, aber 

allmähUch immer mehr wachsender Drin^liclikeit verfolgt haben. Als 

eine der vielen Antworten fanden wir Alle ohne Ausnahme, da wir 

Alle in der Kindheit weder Gebärmutter noch Sdieide kennen: Das 

Kind wird aus der Öffnung geboren, aus der alles herauskommt, was 

in dem Baudie ist, aus dem After. Und hinein ? Es gibt auch dafür 

mehrere Erklärungen für das Kind. Am meisten neigt es zu der Annahme 

daß der Keim zum Kinde verschluckt wird, wie die Müdi aus der 

Brustwarze gesogen wird. Und aus dieser Betrachtung, aus diesem 

immer wiederholten aufregenden Sidiselbstbefragen und Sichselbst-* 

beantworten des Kindes entsteht der Wunsch, am Gliede des Geliebten 

zu saugen, zu raudien, zu küssen, ein Wunsch, der doppelt dringend, 

ist, weÜ in seiner Erfüllung die Mutterbrust und die Seligkeit der 

Kindheit neu erwacht; daher stammt auch die Idee, den vorspringenden 

Schildknorpel des Mannes Adamsapfel zu nennen. Und schließlich, um 

auch das zu sagen, daraus entwickelt sich der Ansatz des Kropfs, der 

Sie hei Ihrer Kleinen so erschreckt. Sie hatten als Backfisch auch solch 

dicken Hals, glauben Sie mir. So etwas vergeht wieder. Nur bei denen. 

deren Es ganz durchdrungen ist von der Idee der Empfängnis durch 

den Mund'und von dem Abscheu, das Kind im Bauche auszutragen. 

kommt es wirklich zum Kropf und zur Basedowschen Erkrankung. 

Gott sei Dank, für heute bin idi fertig. 

PATRIK. 



20. 

GEWISS, LIEBE FREUNDIN, ICH VERSPRECHE, DIE GESCHICHTE 
von dem Federhalter und der Uhrkette heute zu Ende zu bringen. 

Warum die Nase auf der rechten Seite verstopft war, muß ich 
herauszubringen versuchen. Mein Es wünscht irgend etwas nicht zu 
riechen oder einen Geruchseindruck aus der Nase wegzuspülen. Das ist 
mein persönlicher Fall. Bei manchen Menschen trifft das mit dem Riechen 

173 



nicht zu; unter dem Druck der fanatisch g-ewordenen Krankheits- 
verhütung, vor allem der Tuberkulose nang-st sind eine Meng-e Mensdien 
auf die Idee gekommen, die Nase zunädist a!s Atmungsorgan aufzu- 
fassen, da sie das Atmen durdi den Mund so viel wie Gott versuchen 
dünkt. Für andre wieder ist die Nase ohne weiteres ein Phallus- 
symbol und so muß bei diesen oder jenen die krank machende Absicht 
des Es so oder so aufgefaßt werden. Ich aber muß, wenn irgend etwas 
mit meiner Nase nidit stimmt, nact dem suchen, was idi nicht riechen 
soll, und da der rechte Nasengang verstopft ist, muß rechts von mir 
sein, was für midi Gestank ist. Wie sehr ich mir jedodi auch Mühe gebe, 
mir will nicht gelingen, irgend etwas rechts von mir zu finden, was 
stinkt. Aber ich bin durch jahrelanges Glaubenwollen an die' Absidit 
des Es schlau geworden und habe allerlei spitzfindige Reditfertigungen 
meiner Theorie erdadit. So sage ich mir jetzt: Wenn nidits da ist, 
was schlecht riecht, so ist vielleicht etwas da, was dich an einen Ge- 
stank der Vergangenheit erinnert. Sofort fällt mir eine Radierung von 
Hans am Ende ein, die rechts von mir hängt und eine Uferlandschaft 
mit Schilf und einem Segelboot im seichten Wasser darstellt. Venedig 
steht plötzlich vor mir, obwohl ich weiß, daß der Radierer sein Sujet 
von der Nordsee genommen hat, und von Venedig geht es zum Markus- 
lowen und von dem zu einem Teelöffel, den idi vor wenigen Stunden 
gebraucht hatte. Und auf einmal ist mir, als ob ich wüßte, welchen 
Geruch ich fliehe. Als ich vor vielen Jahren nach einer schweren Lungen- 
entzündung wassersüchtig wurde, war mein Geruchssinn so scharf ge- 
worden, daß mir der Gebrauch von Löffeln unerträglidi war, weil idi 
trotz sorgfältigster Reinigung roch, was vor Stunden oder Tagen da- 
mit gegessen worden war. Also wäre das, was ich fliehe, selbst In der 
Erinnerung noch fliehe, die Erkrankung, das Nierenleiden? In der 
Tat, wenige Stunden vorher habe ich die Krankengeschichte eines jungen 
Mädchens enträtselt, bei der ein stinkendes Nachtgeschirr vorkam. Aber 
mir selbst ist der Geruch von Urin gleichgültig. Das kann es nicht sein, 
wohl aber führt mich die Erinnerung in meine Schulzeit zurück, zu den 
Massenpissoirs, die in der Schule eingerichtet waren und deren sdiarfer 
174 



Ammoniakgeruch mir noch deutlidi vorschwebt. Und diese Schulzeit, 
der Gedanke daran, ist noch jetzt verstimmend. Ich erzählte Ihnen adion, 
ich habe fast alles aus jenen Tagen vergessen. Aber ich weiß, daß ich 
nodi damals — ich war schon 12—13 Jahre alt — die Gewohnheit des 
Bettnässens hatte, daß ich midi vor dem Gespött der Mitsdiüler, das 
übrig-ens fast nie und dann höchst milde eintrat, fürchtete. Es tauchen 
Gedanken an leidenschaftliche Zuneigungen zu dem und jenem meiner 
Freunde auf, Zuneigungen, deren genitaler Affekt verdrängt wurde und 
sich doch in Phantasien Bahn brach; der Moment, wo ich die Onanie 
kennen lernte, wird wach, ein Scharlachfieber, bei dem ich zum ersten- 
mal nierenkrank wurde, kommt mir in den Sinn; daß Hans am Ende 
mein Schulfreund war und daß er auch am Scharlach erkrankte, und 
hinter dem aUen erhebt sich schattenhaft und immer deuÜicher die 
Mutterimago. Idi war ein Mutterkind, ein verhätscheltes Nesthäkchen 
und habe unter der Trennung von der Mutter durch die Sdiule schwer 

gelitten. 

Nun aber stecke ich fest Aber audi da hilft mir eine Erfahrung, 
die idi bei dem Bestreben, meine Theorie vom Es zu retten, gemadit 
habe: Dort, wo die Einfälle aufhören, ist die Lösung des Rätseis. Bei 
der Mutter also. Das hätte ich mir denken können, denn alles, was 
rechts ist, hängt mit meiner Mutter zusammen. Aber Ich besinne miA 
nicht, so sehr ich auch herumdenke, je bei ihr einen abstoßenden 
Geruch wahrgenommen zu haben, ja es verbinden sich mit .hr über- 
haupt keine Gerudiserinnerungen. 

Idi versuche es mit dem Namen Hans (Hans am Ende). So hieß 
einer meiner älteren Brüder, der eng mit meinem Sdiulleben ver- 
bunden war. Und plötzlich schiebt sidi vor den seinen ein andrer Name: 
Lina Lina war meine Schwester, dieselbe, von der ich Ihnen erzählte. 
Is ich von meinen sadistischen Liebhabereien beritJitete. Und da stammt 
audi der Gerudiseindruck her; durchaus kein abstoßender, sondern ein 
einwiegender, unvergeßlidier. Idi kann midi aus der damaligen Zeit 
— wir waren 11 und 12 Jahre alt — nicht mehr auf die Aufregung 
besinnen, aber idi bin noch einmal diesem Geruch begegnet und 

175 



seitdem weiß ich, wie überwältig-cnd der Eindrudc für mich ist. Gleich 
anschließend daran kommt eine zweite Erinnerung-, daß Lina mich kurze 
Zeit darauf in die Geheimnisse der Menstruation einweihte. Sie madite 
mir weis, sie sei sdiwindsüditig-, zeigte mir das Blut und lachte mi(^ 
aus, als sie mein Erschrecken sah, und erklärte mir die Bedeutung- der 
; Blutung-. 

Als ich so weit war, verschwand die Verstopfung der Nase; was 
ich jetzt noch hinzufüge, dient nur der Klärung der Zusammenhänge. 
Zunächst fällt mir ein, was Hans am Ende bedeutet. Alle meine An- 
gehörigen sind gestorben, als letzter mein Bruder Hans: Hans am Ende. 
Mit diesem Bruder habe ich auch die einzige Segelfahrt meines Lebens 
gemadit, was mit dem Segelboot auf am Endes Radierung zusammenfällt. 

Dann hellt sich das Dunkel auf, das über den Beziehungen des 
Komplexes zur Mutterimago liegt. Meine Mutter trug denselben Namen 
wie meine Schwester: Lina. Damit wächst das Erstaunen, daß ich keine 
Geruchserinnerungen an meine Mutter habe, während sie bei der Schwester 
so stark sind, und ich beginne wieder allerlei Taschenspielerei mit Ideen. 

Wenn sich zwei Hunde begegnen, beschnüffelt der eine des anderen 
Hinterteil; offenbar erkunden sie so mit der Nase, ob sie einander 
sympathisch sind oder nicht. Wer Humor hat, lacht Über diese Hunde- 
gewohnheit, wie Sie es tun, und wem der Humor mangelt, der findet 
es unappetitlich. Aber hält Ihr Humor auch an, wenn ich behaupte, daß 
die Menschen es ebenso machen? Das werden Sie ja aus eigener Er- 
fahrung wissen, daß ein Menscli, der stinkt, allerlei gute Eigenschaften 
kaben kann, daß er aber im Grunde genommen unsympathisch ist; 
wobei man allerdings nicht vergessen darf, daß, was dem Einen stinkt, 
dem Andern wie Rosenduft vorkommt. Sie werden auch als scharf 
aufmerkende Mutter beobachtet haben, daß das Kind Gegenstände und 
Menschen nach dem Geruch beurteilt. Die Wissenschaft tut zwar so, 
als ob der Mund und die Zunge als Probierstein für angenehm und 
unangenehm benutzt würde, aber die Wissenschaft behauptet vieles 
und wir braudien uns darum nicht zu kümmern. Ich behaupte, daß der 
Mensch viel intensiver und, wenn Sie wollen, nodi viel unappetitlicher' 

176 



als der Hund seine Nase braucht, um festzustellen, was ilim paßt und 
was nicht. 

Zunächst ist der Geruch des weiblichen Schoßes und des Bluts, 
das daraus fließt, eine der ersten Wahrnehmungen, die der Mensch 
macht. Ich erwähnte das schon, um die Bedeutung der periodischen 
Brunst klar zu madien. Dann kommt eine Zeit, wo die Nase des kleinen 
Weltbürgers sich hauptsächlich mit dem Riechen des eigenen Urins und 
Kots beschäftigt, was gelegentUch mit den Düften der Frauenmilch und 
der mütterlichen Achselhaare abwechselt, während dauernd der intensive 
durchdringende und unvergeßliche Duft des Wocitenfbsses einwirkt. 
Die Mutter frischt während dieser Zeit nach der Geburt die eignen 
Säuglingserianerungen auf, die ihr Gelegenheit geben, ihre Uebe zu 
sich selbst auf den Säugüng zu Übertragen; die längst vergessenen 
Genüsse von Windelgeruch werden wieder wach. Daneben atmet sie ein, 
was an Gerüchen aus den Haaren und dem ganzen Körper des Kleinen 
aufsteigt. Und das bleibt wohl so lange Zeit, denn das Kind ist klein 
und die Mutter groß, so daß sie bei jedem Verkehr mit dem Kinde 
zunächst sein Haar mit Sehen und Riechen wahrnimmt, eine Sache, 
die nicht unwichtig ist, weil gerade um die Organe der Liebe solch 
reichlicher Haarwuchs geheftet ist. Beim Kinde aber wechselt das 
Terrain. In den ersten Jahren sind es die Füße und Beine, die es necht; 
denn das Kind ist klein und die Erwachsenen sind groß. Behalten Sie 
das im Gedächtnis. Uebe. daß das Kind zunäd^st die Beine der Menschen 
kennen und lieben lernt; es ist wichtig, erklärt vieles und wird me 
beachtet. Dann kommen Jahre, lange Jahre, und wenn S.e all d>e 
flüchtigen Momente, die sich die Hunde beriechen, zusammen zahlen, 
werden Sie noch längst nicht diq Zeitdauer erreichen, die Jahre, m 
denen das Kind fast ununterbrochen riechen muß, was m der Bauch- 
gegend der Erwachsenen vor sich geht. Und das gefällt ihm ausnehmend 
gut. Und wird auch rührend gefunden; denn welcher gefühlvoUe 
Schriftsteller ließe sich wohl den Knaben - oder den Mann - ent- 
gehen, der seinen Kopf im Schöße der Mutter - oder der Geliebten - 
birgt. Was. seiner Poesie entkleidet, so viel heißt als: er steckt seine 

;2 Groddcck, Das Buch vom Es . 177 



n 



Nase zwischen ihre Beine. Das klingt roh, enträtselt aber die Ent- 
stehung- der Kindesliebe und der Liebe zur Frau, Die Natur hat 
wunderUche Wege, um den Menschen zum Weibe zu zwingen. Und 
das ist der, der von allen begangen wird. 

Was hat das mit der Tatsadie zu tun, werden Sie fragen, daß 
idi keine Geruchserinnerungen an meine Mutter habe? Das ist einfadi 
genug. Wenn das Kind wirklich durch die Größenverhältnisse dazu 
gezwungen ist, lange Jahre hindurch bei der Mutter alle Vorgänge 
der Leibesmitte mit der Nase mit zu erleben, so muß es auch die merk- 
würdigen Geruchsveränderungen wahrnehmen, die alle vier Wochen 
bei der Frau stattfinden. Es muß auch die Erregungen mitmachen, 
denen die Mutter während der Zeit der Periode unterworfen ist. Die 
Atmosphäre des Blutdunstes teilt sich Ihm mit und steigert seine Inzest- 
wünsche. Allerlei innere Kämpfe entstehen aus diesen aufreizenden Ein- 
drücken, allerlei dumpf empfundene, tief schmerzliche Enttäusciiungen 
knüpfen sich daran und verstärken sich durdi das Leid, das aus den 
Launen, der Verstimmung, den Migränen der Mutter entsteht. Ist es 
ein Wunder, daß ich den Ausweg der Verdrängung eingeschlagen habe? 

Leuchtet Ihnen ein, was icli sage? Aber bedenken Sie dodi, daß 
es Menschen gibt, die behaupten, sie hätten nichts von der Periode 
gewußt, ehe sie erwachsen waren. Wenn ich mich nicht täusdie, sind 
es viele Menschen, oder sind es gar alle? Wo haben sie doch alle 
ihre Nasen gelassen? und was ist es denn mit dem Gedächtnis des 
Menschen für eine Sache, wenn er soldie Erlebnisse vergißt, vergessen 
muß? Da wundert man sich darüber, daß der Mensch so geringen 
Spürsinn hat; aber was sollte wohl aus ihm werden, wenn er nicht mit 
aller Kraft seines Unbewußten die Nase abstumpfte? Dazu zwingt ihn 
das Verbot der Erwadisenen, irgend etwas über Sexualereignisse zu 
wissen, dazu zwingt ihn die prüde Scham haftigkeit der Mutter, die ver- 
legen wird, wenn das Kind wißbegierig fragt ; denn nichts ist beschämender, 
als 2u sehen, daß der geliebte Mensch sidi dessen sdiämt, was man 
selbst unbefangen bespricht. Es braudien nicht immer Worte zu sein, 
von denen Kinder eingeschüchtert werden, unwillkürliche Bewegungen, 

178 



leiclite, kaum merkbare Gebärden und Verlegenheiten wirken mitunter 
viel tiefer. Aber wie sollte eine Mutter dieses Verlegenaussehen ver- 
meiden? Es ist die Bestimmung der Mutter, ihr eignes Kind in 
den tiefsten Empfindungen zu verletzen, es Ist ihr Schicksal. Und 
daran ändert kein guter Wille, kein Vorsatz auch nur das Ge- 
ringste. Ach, liebe Freundin, es gibt so viel Tragik im Leben, die 
des Dichters harrt, der sie gestalten kann. Und vielleicht kommt dieser 
Dichter nie. 

Man vergißt, was schwer zu ertragen ist, und was man nicht ver- 
gißt, war für uns nicht zu schwer. Das ist ein Satz, dessen Inhalt Sie 
wciil überlegen sollten, denn er wirft vieles von dem um, was gang 
und gäbe bei den Menschen ist. Wir vergessen, daß wir einmal im 
Mutterleibe saßen, denn es ist schrecklich zu denken, daß wir aus dem 
Paradiese vertrieben wurden, aber auch sdirecklich, daß wir einmal in 
der Finsternis eines Grabes waren; wir vergessen, wie wir zur Welt 
kamen, denn die Angst des Erstickens war unerträghch. Wir vergessen, 
daß wir einmal laufen lernten, denn der Moment, in dem uns die Hand 
der Mutter losließ, war furchtbar und die Seligkeit dieser ersten selb- 
ständigen Leistung so überwältigend, daß wir sie nicht in der Erinnerung 
bewahren können. Wie sollten wir es ertragen, zu wissen, daß wir 
Jahre lang in Windeln und Hosen machten? Denken Sie daran, wie 
Sie sidi schämen, wenn Sie ein braunes Fleckchen in ihrer Wasche 
finden, denken Sie an das Entsetzen, daß Sie befallt, wenn Sie auf 
der Straße nicht mehr zurücithalten können, was in den Abtritt gehört. 
Und was sollen wir mit der Erinnerung, daß es Menschen gab, die so 
entsetzlich stark waren, daß sie uns in die Luft werfen konnten? Die 
uns schalten, ohne daß wir wieder sdieiten durften, die uns Klapse 
gaben und in die Ecke stellten, uns, die wir Geheimräte, Doktoren oder 
gar Tertianer sind? Wir können es nicht ertragen, daß dieses Wesen, 
das sich Mutter nennt, eines Tages uns die Brust verweigerte, dieser 
Mensch, der behauptet, uns zu lieben; der uns die Onanie lehrte und 
uns dann dafiir bestrafte. Und ach, wir würden uns zu Tode weinen, 
wenn wir uns erinnerten, daß es einmal eine Mutter gab, die für uns 

12* 179 



sorgi:e und mit uns fühlte, und daß wir nun einsam sind und keine 
Mutter haben. Durch eigne Schuld! 

Daß wir unsre Kenntnis der Menstruation, von der uns unser 
Geruchssinn in frühster Kindheit unterrichtet hat, wenn es nicht audi 
das Sehen des Bluts, der Binden, des Nachtgeschirrs, das Miterleben 
von Zwistigkeiten, Migräne, frauenärztliclier Behandlung tat, daß wir 
diese Kenntnis völlig vergessen, ist nicht wunderbarer, als daß wir 
auch alle Eriniieruno- an die Onanie verlieren, die Onanie der ersten 
Lebensjahre. Und mindestens ein Grund ist g'emeinsan für diese beiden 
Lücken in unserem Gedächtnis, die Angst vor der Kastration. Sie be- 
sinnen sich, daß ich behauptete, unsre Kastrationsangst hänge mit dem 
Schuldbewußtsein zusammen, das aus der Onanie und dem Verbot 
entsteht. Der Gedanke aber, daß Geschlechtsteile abgeschnitten werden 
können, stammt aus der Feststellung früher Jahre über die Gesdvlechts- 
unterschiede, weil wir als Kinder den weiblichen Geschlechtsteil als 
Kastrationswundc auffassen; das Weib ist ein kastrierter Mann. Diese 
Idee wird zur Gewißheit durch die Wahrnehmung der Blutungen, die 
wir riechen. Die Blutungen erschrecken uns, weil sie die Befürchtung 
wecken, daß wü- selbst zum Weibe gemacht werden könnten. Um nicht 
an diese Blutungen erinnert zu werden, müssen wir unsern Geruchs- 
sinn abtoten und auch die Erinnerung an den Blutgerudi vertilgen. 
Das gelingt nicht; was wir erreichen, ist nur die Verdrängung, Und diese 
Verdrängung benützt das Leben, um das Verbot des Gesclilechts- 
verkehrs während der Periode aufzuhauen. Da das blutende Weib den 
verdrängten Kastrationskomplex aufweckt, vermeiden wir die neue Be- 
rührung der wunden Frau. 

Hier spielt ein zweiter verdrängter Komplex mit hinein, der eben- 
falls mit dem Gerudissinn verquickt ist, der Sdiwangersdiafts- und 
Geburtsk om plex . 

Besinnen Sie sich, daß ich Sie einmal gefragt habe, ob Sie nie etwas 
von den Schwangerschaften und Entbindungen Ihrer Mutter gemerkt 
hätten? Sie hatten eben einen WÖdinerlnnenbesucli bei Ihrer Sdiwä- 
gerin Lisbeth gemadit und der eigentümlidie Geruch des Wodienbetts 

180 



* 



i 



haftete noch au Ihnen. Nein, sagien Sie, niemals. Seihst von dem 
jüngsten Bruder sind Sie überrascht worden, obwohl Sie mit Ihren 
15 Jahren längst aufgeklärt waren. Wie ist es möglidi, daß ein Kind 
nidit sieht, daß die Mutter dick wird? Wie ist es möglich, daß ein 
Kind an den Storch glaubt? 

Es ist beides nicht möglich. Die Kinder wissen, daß sie aus 
dem Bauche der Mutter stammen, aber sie werden von sich aus und 
von den Erwachsenen aus gezwungen, an die Fabel des Storches zu 
glauben; die Kinder sehen, daß die Mutter dick wird, daß sie plötzlich 
Bauchweh bekommt, ein Kindchen zur Welt bringt, blutet und beim 
Aufstehen dÜnn ist; die Kinder wissen es jedesmal, wenn die Mutter 
sdiwanger ist, und sie werden niemals von der Geburt überrascht. 
Aber all dieses Wissen und Wahrnehmen wird verdrängt. 

Wenn Sie bedenken, welche Kraft verwendet werden muß, um all 
diese Wahrnehmungen und die daraus gefolgerten Schlüsse bei Seite 
zu schieben, so wird Ihnen vielleicht ein wenig deutlicher werden, was 
ich mit der Behauptung meine, daß das Verdränä;en die hauptsächliche 
Besdiäftigung- des Lebens ist. Denn was ich hier an dem Beispiel der 
Schwangerschaft und Geburt erläutere, geschieht in jeder Minute des 
Lebens mit andern Komplexen. Sie können kein Zimmer betreten, ohne 
den Mechanismus des Verdrangens in Bewegung zu setzen, ohne so 
und so viele Wahrnehmungen von Möbeln, Nippes, Farben, Formen 
aus dem Bewußtsein fern zu halten, Sie können keinen Buchstaben 
lesen, kein Gesidit ansehen, kein Gespräch anhören, ohne fortwährend 
zu verdrängen, ohne Erinnerungen, Phantasien, Symbole, Affekte, Haß, 
Liebe, Verachtung, Scham und Rührung fortzuschieben. Und nun, Liebe, 
denken Sie daran : was verdrängt wird, ist nicht vernichtet, es bleibt 
da, ist nur in eine Ecke geschoben, aus der es eines Tages wieder 
hervorkommt, ist vielleicht nur aus seiner Lage gebracht, so daß es 
nidit mehr, vom Sonnenlicht beleuchtet, rot glänzt, sondern schwarz zu 
sein scheint. Das Verdrängen wirkt und verändert unablässig an den Er- 
scheinungen; was jetzt für den Augen h inte rgrund ein Gemälde von 
Rembrandt ist, wird verdrängt und erscheint im selben Augenblick als 

181 



Spiel an der Uhrkette wieder, als Bläschen am Mundwinkel, als Abhandlung- 
über die Kastration, als Staatengründung-, Liebeserklärung-, Zank 
Müdigkeit, plötzlicher Hunger, Umarmung- oder Tintenklecks. Verdrängen 
ist Umschaffen, ist kulturbauend und kulturvernichtend, erdichtet die 
Bibel und das Märchen vom Storch. Und der Blick in die Geheim- 
nisse des Verdrängens verwirrt das Denken so, daß man die Augen 
schließen und vergessen muß, daß es Verdrängungen gibt. 

, PATRIK TROLL. 

2L 
SIE BESCHWEREN SICH. LIEBE FREUNDIN, DASS ICH MEIN 

Versprechen nidit gehalten habe, daß idi noch immer nidit mit meiner 
Uhrkettengesdiidite fertig bin. Idi hätte nldit geglaubt, daß Sie so 
dumm sind, an meine Versprechungen zu glauben. 

Viel eher sind Sie zu dem Vorwurf berechtigt, daß ich abschweife, 
nidit zu Ende sage, was ich angefangen habe. Idi sprach von dem 
Verdrängen von Geruchsempfindungen bei der Geburt und habe weder 
ausgeführt, daß der sdiarfe Geruch des Wodienflusses, wenn sonst 
auch alles sorgfältig versteckt wird, vom Kinde wahrgenommen werden 
muß, daß es also mittels der Nase unbedingt Geburtserfahrungen 
sammelt, noch habe ich deutlich genug gesagt, warum man die Wahr- 
nehmung dieses Geruches aus der bewußten Erinnerung tilgt. 

Warum geschieht es ? Zunächst, weil die Mutter, die Eltern, die 
Erwachsenen dem Kinde verbieten, dergleichen Dinge zu verstehen; 
vielleidit verbieten sie es nicht ausdrücklich mit Worten, aber schon 
mit dem Tonfall des Wortes, der Klangfarbe, irgend einer seltsamen, 
dem Kinde auffallenden Verlegenheit. Denn es ist nun einmal Schicksal 
des Menschen, daß er sich schämt, mensdilich gezeugt und geboren 
zu sein. Er fühlt sich durch diese Tatsache in seiner Eitelkeit bedroht, 
m seiner Gottähnlichkeit. Er mächte so gerne göttlich gezeugt sein, 
Gott sein, — letzten Endes, weil er im Mutterleibe allmäditiger Gott 
war; er erfindet die Gotteskindschaft auf religiösem Wege, ersinnt 
sich einen Gottvater und steigert seine Inzestverdrängung, bis er im 

182 



Glauben an die Jungfrau Maria und die unbefleckte Empfängnis oder irgend 
welcher Wissenschaft Trost gefunden hat. Er neont veräditlidi Zeugung 
und Empfängnis tierische Akte, um sagen zu können, ich bin kein Tier, habe 
keine tierische Formen, bin also Gottes Kind und göttlich gezeugt; da das 
nicht gelingt, umgibt er diese Vorgänge mit dem Scheinheiligen sdiein 
des Mysteriums, zu dessen Konstruktion er wie ein Judas seine Liebe 
verraten muß. Ja er hat es soweit gebradit, daß er sidi nicht einmal 
schämt, den Augenblick der menschlichen Vereinigung mit übet- 
stimmender Lüge zu umgeben, ^als ob dieser Augenblick nicht der 
Himmel sei. Alles möchte der Mensch sein, nur nicht einfach Mensch. 
Das zweite, dessentwegen wir den Geruchskomplex des Wochen- 
betts verdrängen und so unsere eigentlidi menschliche Zierde, 'die 
Nase, verleugnen — denn was uns vom Tier unterscheidet, ist in 
erster und letzter Linie die Nase, — das zweite ist, daß wir den 
Gedanken nicht ertragen, eine Mutter zu haben. Oh, Sie müssen ver- 
stehen: wenn sie uns paßt, so lange sie so ist, wie wir wollen, er- 
kennen wir sie wohl als Mutler an. Aber sobald wir daran erinnert 
werden, daß sie uns geboren hat, hassen wir sie. Wir wollen nicht 
wissen, daß sie für uns gelitten hat, es ist unerträglich das zu wissen. 
Oder sahen Sie nie das Entsetzen, die Qual Ihrer Kinder, wenn Sie 
traun- waren oder gar weinten? Gewiß, mir ist bekannt, daß meine 
Mutter mi<h gebar, ich spreche davon, als ob es die natürlidiste Sache 
der Welt wäre. Aber mein Herz erkennt es nicht an, es schreit da- 
gegen und sagt nein. Wie ein Stein wälzt es sid. zuweUen auf unsre 
Brust. Das ist die unbewußte Erinnerung an das Ringen nach Atem 
während der Geburt, sagt unser analytisches Alles- und Nichtswissen. 
„Nein", flüstert der bÖse Geist, „das sind deine Sünden wider die 
Mutter, die dich gebar, die Todsünden des Undanks, der Blutschande, 
des Blutvergießens, des Mords. Tatest du je, was du sollst, auf daß 
dirs wohl ergehe und du lange lebest auf Erden?" Diese Hand 
streichelte mich und reichte mir Essen und Trinken und ich habe sie 
zuweilen gehaßt, oft gehaßt, denn sie leitete mich; diese Haut wärmte 
mich, und idi habe sie gehaßt, weil ich zu schwach war, auf ihre 

183 



/ 



Wärme und lockende V/eiche freiwillig zu verziditen, und weil ich des- 
halb wider hessres Wissen allerlei Runzeln und allerlei Ekel ihr an- 
diditete, um der Versuchung zu entfliehen, id, Judas. Dieser Mund 
lächelte mir und sprach, und ich haßte ihn oft, weil er midi schalt, 
diese Aus-en lächelten mir und sprachen, und ich habe sie gehaßt,' 
diese Brüste nährten midi und idi habe sie mit den Zähnen o-epackt| 
in diesem Leib wohnte idi und ich habe ihn zerrissen. Muttermörder! 
Sie wissen es, fühlen es wie ich: es hat noch nie einen Mensdien gegeben, 
der seine Mutter nidit gemordet hät|e. Und deshalb erkennen wir es' 
nidit an, daß die Mutter uns geboren hat. Mit den Lippen glauben 
wir es, aber nicht mit dem Herzen. Das Blut, das wir vergossen, 
schreit gen Himmel, und wir fliehen davor, vor dem Dunst des Bluts. 
Mir fällt nodi ein drittes ein, weshalb wir von den Erinnerungen 
an das Wodienbett fortstreben und lieber unsren vornehmsten Sinn, 
den Geruchssinn, vernichten, das ist die Angst der Kastration. — Ich 
weiß, das langweilt Sie. aber was soll idi madien? Da Sie durdiaus 
erfahren wollen, was idi denke, muß idi mid, wiederholen. Denn die 
Kastrationsidee geht durdi unser Leben wie die Sprechlaute. Wie das 
a und das b beim Spredien sidi immer wiederholen, so taudit aud, 
überall dieser Komplex des Weibwerdens in uns auf. Und setzen Sie 
a und b zusammen, so haben Sie „ab" und ladien hoffentlidi wie idi 
über die Assoziationswitze des Unbewußten. 

Aber es ist Zeit, daß idi meine Mitteilungen über die Geburts- 
theorien des Kindes ein wenig vervollständige, sonst kommen wir nie 
aus diesem Wirrwarr heraus. Idi sagte Ihnen sdion, das Kind weiß, 
daß man im Baudie der Mutter lebt, ehe' man zur Welt kommt, je 
junger es ist, um so besser weiß es das. Und daß es nidit vergessen 
wird, dafür sorgt unter andrem die Bibel mit den Worten: Und das 
Kind hüpfte in ihrem Leibe. Mitunter wird die Steile, an der das Un- 
geborene seinen Wohnsitz hat, ganz genau lokalisiert, in der Herz- 
grube, daß heißt im Magen. Und das hängt wohl mit unsrer Rede- 
weise zusammen, daß die Frau das Kind unter dem Herzen trägt. 
Erzählen Sie das gelegentlidi Ihrem Arzte; es kann ihm nutzHdi sein 
184 



für Erkenntnis und Behandlung-, vor allem bei Magenbesdiwerden, 
von der Übelkeit an bis zum Mag^enkrebs; und für Sie ist es auch 
nützlidi, um ihren Arzt kennen zu lernen. Geht er mit einem Achsel- 
zucken darüber hinweg, so suchen Sie sidi einen andern; denn der 
Ihre ist altmodisch, wenn er audi sehr tüditig- ist. Ich weiß, nidits ist 
Ihnen unangenehmer, als hinter der Mode zurück zu bleiben. - Mit- 
unter taucht auch die Idee auf, daß die Schwang-erschaft im Herzen 
selbst stattfindet; idi erzählte Ihnen von solch einem Fall, wo dieser 
Gedanke zu einer Krankheit führte und bis zur Zeit der Analyse 
herrschend blieb. Leute, die dergleichen in ihrer Kindheit glaubten, 
sind schlimm daran. Denn mit dieser absurden Idee, die von den 
Worten der Liebe: „Ich trag-e dich im Herzen", und „du mein Herzens- 
kind" herkommt, verbindet sich das dunkel furchtbare Bewußtsein, 
daß man der Mutter Herz zerrissen hat, in Wahrheit, in Wahrlieit. 
Und auch das sollte Ihr Arzt wissen — für seine Herzkranken. Um 
die g-anze Narrheit der Kinder aufzudecken, will icli noch hinzufügen, 
was idi von Augenkranken weiß, daß die Idee der Augensdiwanger- 
sdiaft existiert - denken Sie nur an das Wort Pupille — und das 
kommt daher, weil die Mutter ihr Kind zuweilen Augapfel nennt. 
Oder kommt die Bezeichnung' Augapfel daher, weil die Theorie all- 
gemein ist und sich in der Spräche festgesetzt hat? Ich weiß es nicht. 
Genug, die leitende Idee ist jedenfalls die von der Bauchschwanger- 
schaft. Und wenn ich von den Phantasien über das Platzen und Auf- 
schneiden des Baudies, über die Nabelgeburt und über die durch Er- 
brechen absehe, bleibt für das Kind die Ansicht übrig, daß die Kleinem 
durch den After ans Tageslicht kommen. Idi erzählte es Ihnen schon, 
aber Sie müssen es sich tief ins Gedächtnis einprägen ; denn auf 
dieser Theorie beruhen alle Verstopfungen, darauf beruht aber auch 
aller Sparsamkeitssinn und also Handel und Wandel und Eigentums- 
begj-iff, darauf beruht zu guter Letzt Ordnungssinn ■ ja und vieles 
andre auch noch. Sie müssen nicht lachen, Liebe, wenn ich so etwas 
sage. Es Idingt mir selber ungeheuerlich, sobald idi es ausspreche, und 
doch ist es wahr. Das Es kümmert sich eben gar nicht um unsre 

185 



. 1 



Ästhetik, unsern Verstand und unser Denken. Es denkt selbständig, 
EsBrtig und spielt mit den Begriffen, so daß alle Vernunft toll wird. 
„Für mich," sagt es, „ist ein Kind dasselbe, wie die Wurst, die du 
Menschenkind machst, und ist dasselbe, wie das Geld, das du besitzest; 
ja und das habe idi noch vergessen, es ist audi dasselbe, wie das 
Schwänzchen, das den Jungen vom Mädchen auszeichnet und das ich 
aus Laune und weils mir beliebte, vorn statt hinten angebradit habe. 
Hinten lasse ich es alle vierundzwanzig Stunden einmal abfallen, 
kastriere es, vorn lasse ich es denen, die ich als homines, Menschen 
anerkenne, den andern Menschen nehme ich es ab, zwinge sie dazu, es 
abzureiben, abzuschneiden, auszureißen. Denn ich brauche auch Maddien." 

Das alles habe ich schon öfter erzählt. Doppelt halt jedodi besser. 
Nun wollen wir sehen, was das Kind über die Empfängnis denkt. 

Zunächst müssen wir uns aber klar darüber werden, wie es 
Gelegenheit und Zeit zum Nachdenken findet. Die Außenwelt bietet 
so viel des Interessanten für ein Kindergehirn, daß schon irgendein 
Zwang zum Stillsein angewendet werden muß, um alle Eindrücke zu 
verarbeiten. Und da darf ich Sie wohl an das Thrönchen erinnern, 
von dem aus das Haus regiert wird, sobald es in seinen Mauern ein 
Kinddien birgt. Ich wundre mich schon lange, daß nodi Niemand seine 
Gelehrsamkeit dazu verwendet hat, die Bedeutung des Topfchens zu 
untersuche» und doppelt unbegreiflich ist es, seitdem Busch in klassischen 
Versen darauf aufmerksam o-emacht hat: 

Der Mensch in seinem dunkeln Drang 
Erfindet das Appartement. 

In der Tat, Sie können sich die Bedeutung dieses Gefäßes, das 
sidi während des ganzen Lebens den Größenverhältnissen des Körpers 
und in der freiwilligen Zeitdauer der Verwendung dem Wunsche nach 
tiefer Gedankeneinsamkeit anpaßt, nicht groß genug vorstellen. Da 
ist zunächst der tägHdie Festakt der ersten Lebensjahre. 

Ich kann es nidit zählen, wie oft idi aus freien Stüdcen oder 
irgendwie gezwungen zugesehen habe, wie ganze Familien, gestrenge 
Väter, sittsame Frauen und artige Kinder, der Entbindung des Kleinsten 

186 



f 



von seiner Leibesbürde beigewohnt haben, in stummer Andadit, die 
nur zuweilen von Dem oder jenem durch ein midinendes: Mach mh, 
mh, unterbrodien wurde. Und wenn Ich nicht irre, war es Ihre kleine 
Margarete, die es so einzurichten wußte, daß sie jedesmal Nöte bekam, 
wenn Besuch da war. Wie geschickt verstand sie dann, durch hart- 
näckiges, stilles Verweigern der Leistung alles, was Hosen oder Röcke 
trug, um sich zu vereinigen, um dann schließlich durdi ein graziöses 
Lüften des Hemdes zu zeigen, weldi geheimnisvolle Schätze bei ihr 
schlummerten, wobei sie dann nicht verfehlte, nach Scliluß der Affäre 
durch ein gefälliges Präsentieren auf die Kehrseite aufmerksam zu 
matten. 

Solth Verfahren ist häufig, ist bei den Kindern Regel. Und weil 
wir doch einmal für Dinge, die wir aus Schi cklichkeitsgrün den nicht 
gern als Allgemeingut anerkennen, gelehrte Namen erfinden, um so 
tun zu können, als ob es sidi um krankhafte Neigungen handle, denen 
wir selbst mitleidsvoll schaudernd fern stehen, haben wir diesen Trieb, 
unsre sexuellen Geheimnisse zur Sdhau zu tragen, Exhibitionismus 
genannt. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber nun hat Medizin, Juristerei, 
Theologie und leider auch die züchtige Dirne Gesellschaft beschlossen, 
es müsse Leute geben, die Exhibitionisten seien. Das heißt, Leute, bei 
denen die Neigung, ihre Sexualität zur Schau zu tragen, ins Krank- 
hafte gesteigert sei. Gestatten Sie, daß ich mich dagegen wehre. In 
Wahrheit ist es mit dem Exhibitonisten dieselbe Sache, wie mit all 
den anderen mit den Endsilben „isten" etikettierten Menschen, mit 
den Sadisten, Masochisten, Fetischisten. Sie sind im Wesen nicht anders 
wie wir, die wir uns gesund nennen, der einzige Unterschied ist, daß 
wir nur da unsre Triebe, unsern „Ismus", unsern Exhibitionismus zum 
Vorschein kommen lassen, wo es die Mode erlaubt, während der 
„ist" unmodern ist. 

Vor einig'cn Jahren Hef ein Mann hier morgens um 6 von Haus 
zu Haus, klingelte und, wenn das Dienstmädchen die Türe öffnete, 
scJilug er einen langen Kaisermante! zurück, der sein einziges Kleidungs- 
stück war und präsentierte dem erschrockenen Mädchen sein erigiertes 

187 



Glied, an das er zur besseren Wahrnehmung eine Laterne gebunden 
hatte. Das nannte man krankhaft, das nannte man Exhibitionismus. 
Aber warum nennt man nicht auch die Balltoilette so, die doch g-enuff 
zeiget, und das Tanzen, das doch g-an2 gewiss eine Schaustellung des 
Beischlafs oder zum mindesten der Erotik ist? Freilich g-ibt es fanatisdie 
Keuschheitspharisäer, die behaupten, man tanze nur der Bewegung 
halber. Ich darf wohl auf diese einseitige, übertreibende Rettung der 
Moral mit einem ebenso einseitig übertreibenden Angriff auf die Moral 
antworten und sagen ; die Bewegung — mag es Tanzen, Gehen oder 
Fechten sein ■ sei der Erotik wegen da. Heutzutage trägt man 
leidlich weite Beinkleider, aber ein paar Jahrzehnte früher konnte man 
sie niciit eng gfinug tragen, so daß sich die Gestalt der männlichen 
Geschlechtsabzeidien schon von weitem abschätzen ließ und die Lands- 
knechte der Reformationszeit hatten den Hodensack in ziemlichen 
Dimensionen vorn an der Kleidung markiert und darüber nähten sie 
einen Hoizstock und überzogen seine Spitze mit rotem Tudi. Und 
heutigen Tages? Der Spazierstock und die Zigarette sprechen deutlich. 
Sehen Sie sich an, wie der Anfänger im Rauclien verfährt, wie er das 
Zigarettchen rasch hintereinander in den Mund ein und aus führt. 
Beachten Sie, wie eine Frau in den Wagen steigt und sprechen Sie 
dann noi^ vom Krankhaften des Exhibitionismus. Frauen häkeln, es 
ist Exhibition, Männer reiten, es ist Exhibition; die Liebende steckt 
ihre Hand in die Armkrümmung des Geliebten, es ist Exhibition, die 
Braut trägt den Brautkranz und Schleier, es ist Exhibition der kommendeo 
Hochzeitsnacht. 

Sie haben wohl selbst bemerkt, wie nahe verwandt für midi 
Exhibitionstrieb und Symbolisierungszwang ist, denn das Häkeln, die 
Handarbeit eine Exhibition zu nennen, fühle ich mich berechtigt, weil 
die Nadel, das Glied, in die Masche, das Locli geführt wird, das 
Reiten ist eine, weil die Identifikation von Pferd und Weib tief im 
Unbewußten alles Denkens steckt; und daß der Brautkranz die Scheide, 
der Sdileier das Jungfernhäutdien bedeutet, brauche ich nicht erst 
zu sagen. 

188 



Der Sinn dieses Zwisdiensdiiebsels vom Exhibitionismus ist ihnen 
wohl klar. Ich wollte damit sagen, daß kein prinzipieller Unterschied 
zwischen g-esund und krank existiert, daß es in das Belieben jedes Arztes 
und jedes Kranken gestellt ist, was er krankhaft nennen will. Das ist für 
den Arzt eine notwendige Einsicht. Sonst verliert er sich auf den un- 
wegsamen Pfaden des Heilenwollens, und das ist, da doch letzten 
Endes das Es heilt, der Arzt aber nur behandelt, ein verhänirnisvoiler 
Irrtum. Wir können uns ja darüber geiegentlidi unterhalten. Heut liegt 
mir etwas anderes am Herzen. 

Es gibt eine Art Gegenstück zum Exhibitionismus: das Voyeur- 
tum. Man versteht darunter, wie es scheint, den Trieb, sich den Anblick 
von irgendwelchen sexuellen Dingen zu verschaffen. Und auch diesem 
Triebe hat man die Ehre angetan, ihn sich bei den sogenannten 
Voyeurs bis ins Krankhafte gesteigert zu denken. Das ist, wie gesagt, 
Gesdimacksadie. Ich habe nicht viel für Leute übrig, die an der Erotik 
vorübergehen, und glaube nicht an die Echtheit der Bewegung, 
mit der die Pensionatsvorsteherin den aufgespannten Sonnenschirm 
gegen das Flußbad des Gymnasiums dreht. Sicher ist, daß diese 
beiden Triebe: zu zeigen und zu sehen, eine große Breite im mensdi- 
lichen Dasein haben und auf Mensdiiiches und Ailzumenschliches 

einwirken. 

Denken Sie sich diese beiden Triebe, die so pervers sind, aus 
dem Leben der Menschheit weg, was würde dann wohl sein? Wo 
bliebe die Dichtung mit Theater und dem Hochziehen des Vorhangs, 
die Kirche mit ihren Hodizeiten, die Gärten mit ihren Blumen und das 
Haus mit dem Schmuck der M5bel und Bilder? Glauben Sie mir, 
manchmal weiß ich nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Und wenn 
ich in dieser Verfassung bin, werden meine Augen schärfer und ich 
gebe midi nach und nach mit der Einsicht zufrieden, daß diese Dinge 
für mich interessant sind und Stoff für Ihre Unterhaltung bieten. 

PATRIK TROLL. 



189 



22. 
DANK, LIEBE FREUNDIN, DIESMAL HABEN SIE SICH RASCH 
in die Sache gefunden. Die Geschichte von klein Else, die im Hemdchen 
in Ihre Abend creseilschaft kommt, um Gute Nacht zu sagen und auf 
die Worte der Mutter: „Schäm dich doch Eise, im Hemd kommt man 
nicht, wenn Besuch da ist," prompt dieses letzte Kleidungsstück hoch- 
hebt, um sich 2u schämen, paßt gut in unsre gemeinsame Sammlung, 
und Ernst, der in das Rückchen seiner Schwester ein Loch geschnitten 
hat, damit er immer sehen kann, wie „sie" da unten aussieht, illustriert 
trefflich die Gewohnheit der Bühnen, im Vorhang ein Guclclocli anzu- 
bringen. Vielleicht führt Sie das darauf, warum ich das Theater mit 
Exhibition und Voyeurtum zusammenbrachte. Der Akt ist eben wirklich 
ein Akt, ein symbolischer Gesdilechtsakt. 

Da haben Sie auch gleichzeitig meine Antwort auf unsern Streit- 
punkt der multiplen Perversion des Kindes. Ich bleibe bei meiner Be- 
hauptung, daß diese multiple Perversion eine allgemeine Eigenschaft 
aller Menschen, aller Altersklassen ist und lasse mich darin nicht einmal 
durd» Sie irre machen. Die beiden Perversionen. Exhibitionismus und 
Voyeurtum, sind gewiß bei jedem Kinde zu finden, da ist kein Zweifel. 
Und ich verkenne durchaus nicht die Bedeutung d-r Tatsache, daß die 
Kinder bis zu drei Jahren solche Perversionen mit besondrer Vorliebe 
betreiben; ich werde darauf zurückkommen, wie ich Ihnen denn über- 
haupt ein eindringliches Wort darüber sagen muß, daß die Natur die 
unerinnerbaren drei ersten Jahre benützt, um das Kind zum Liebes- 
sklaven und Liebeskünstler auszubilden. Aber was dem Kinde recht 
ist, ist dem Erwachsenen billig. Es läßt sicli doch nicht bestreiten, daß 
der Liebende die Geliebte gern nackt sieht und daß sie sich nicht 
ungern nackt zeigt, ja daß es ein nicht mißzuverstehendes Zeichen der 
Erkrankung ist, wenn sie das nicht gern tut. Und ich brauche Ihnen 
nicht erst zu sagen, daß das Töpfclien dabei keine geringe Rolle spielt. 
Aber ist es nicht spaßhaft, daß die Gelehrten, die Richter, die Damen, 
am Tage, im Ernst des Tages ganz vergessen, was sie des Nachts 
getan haben? Und selbst Unsereinem, der sich einbildet, vorurteilslos 
190 



~r 



zu sein, geht es so. Der Satz: „Worüber du sdiiltst, das tust du 
selbst" ist eben eine Wahrheit, bis in die kleinsten Kleinlg'keiten eine 
Wahrheit. Wir Menschen handeln alle nach dem Prinzip dessen, der 
westohlen hat und nun zuerst und am lautesten sdireit: „Haltet den 
Dieb !" 

Übrigens beschränkt sich die Perversion nicht auf den Gesiciitssinn. 
Es klingt verrückt, wenn ich von einer Gehörs- und Gerudisexhibition 
spreche, von einem Voyeurtum des Fühlens und Schmeckeps, bezeichnet 
aber etwas Tatsachlidies und Wesentliches. Nicht nur der Knabe pinkelt 
mit hörbarem Nachdruck, um seine Mannlidikeit anzudeuten, der Er- 
wadisene tut es im Liebesspiel audi. Die Neugier oder die bis zur 
Krankheit g-ehende Wut, mit der man das Liebesgefiiister und heiße 
Stöhnen des jung-en Ehepaars im Nachbarzimmer des Hotels verfolgt, 
das Plätschern beim Wasclien oder das eigentümliche Klappen der 
Nachttischtür und das Rauschen des Urinwasserfalles kennen Sie aus 
eigener Erfahrung. Die Mütter ahmen es nach mit ihren eigentümlichen 
Zischworten „wsch, wsdi", die das Kind zur Ejakulation des Harns 
veranlassen sollen, und wir Ärzte benutzen alle den Kunstgriff, den 
Wasserhahn aufzudrehen, wenn wir sehen, daß der Kranke sich schämt, 
in unsrer Gegenwart den Topf zu benutzen. Und welch eine Rolle spielt 
nun gar erst das Pupen im menschlichen Leben ! Sie sind nicht die 
Einzige, liebe Freundin, die beim Usen dieses Satzes in Erinnerung an 
Irgendwelche ergötzliche Knallerei vergnügt lächelt. Freilidi bin ich 
darauf gefaßt, daß Ihre Freundin Katinka, wenn Sie ihr diesen Brief 
aeben, gesittet Pfui sagt und nicht mehr weiter lesen will und daß der 
Geheimrat Schwerleber, da er langst seinen Humor in den schwer 
waschbaren Falten seines Salbadermundes vergraben hat, tadelnd das 
Wort Schwein ausspricht. Aber der Zorn beweist ebenso wie das Lachen, 
daß der Affekt da ist, daß der Gehörsexhibitionist einem Gehörsvoyeur 

begegnete. 

Vom Furz aus ist der Übergang zu den Vorgängen in der Zone 
des Geruchssinnes ohne weiteres gegeben. Ich überlasse es Ihnen, sich 
die anziehenden und abstoßenden Gerüdie, die vom Menschen selbst 

191 



(• 



auso:ehen oder die er sich selbst anheftet, zu verg-eg-enwärtigen, knüpfe 
Dur einige Bemerkungen daran. Zunächst das Eine, das sich schon aus 
der Bildung des vorhergehenden Satzes ergibt, daß Hervorbringen 
oder Wahrnehmen von Gerüchen durdiaua niclit immer den Charakter 
der sexuellen Aufforderung; tragen. Es gilt eben auch hier das Gesetz 
vom Gegensatz. Man gibt unter Umständen im Geruch Haß, Ver- 
achtung und Abscheu zu erkennen. Sie werden mir zugeben, daß der 
Gestank, den das Es an Mund, Händen, Füßen, Geschlechtsteilen ver- 
wendet, gewaltsamereAffekte, wenigstens für unser Bewußtsein, hervor- 
ruft, als der Wohlgeruch. Ich darf wohl, um Ihnen die seltsamen Mätzchen 
des Es klar zu machen, an unsre gemeinsame Freundin Wehler er- 
innern. Sie wissen, daß sie wunderschönes Haar hat, vielleicht das 
schönste, daß idi kenne. Aber idi sehe förmlich, wie Sie das Gesicht 
verziehen. Dieses schöne Haar stinkt wie die Pest. Oder vielmehr es 
stank, denn jetzt würde die feinste Nase nidit das Geringste mehr 
an dem Duft dieses Haares auszusetzen brauchen. Aiini ist diese ver- 
hängnisvolle Verquickung von sAön und häßüdi einfach und rasch los 
geworden, seitdem sie sich bewußt geworden ist, daß ihr Es besonders 
sinnlich ist und deshalb dies schöne Haar geschaffen hat, ähnlich wie 
es die Sinnlichsten der Sinnlichen, die Scliwindsüchtlgen, mit Haar, 
Augen, Zähnen tun. Auf dieses Es hat das Leben ein zweites morali- 
sdies, ängstliches Es darauf gesetzt, das den Gestank schuf, um die 
lockende Anziehung durdi ein Abstoßen zu lähmen. 

Noch etwas bei dieser Gelegenheit; Sie behaupten immer, Leute, 
die sich nicht wüschen, stänken. Ich habe selbst mit angehört, wie Sie 
Ihrem Knaben, der seinen zehn Jahren gemäß wasserscheu war, diesen 
Satz mit nachdrücklicher mid handgreifhdier Untersuchung von Ohren, 
Hals und Händen einzuprägen suchten. Darf idi mir die Frage gestatten, 
wie oft Sie sidi die Haare waschen? Und ich kann Sie versichern, 
daß Ihre Haare wie frisches Heu duften. Das Es kümmert sich gar 
nicht um die albernen Ansichten der Menschen. Es stinkt, wenn es 
stinken will, und es verwandelt den Dreck in Wohlgeruch, wenn es 
ihm beliebt. Ab und zu will es mich bedünken, als ob die Menschen 

192 



sich nicht etwa waschen, weil sie den Dreck verabscheuen, sondern 
weil sie wie Pilatus bei der Verurteilung Christi den Leuten eine Rein- 
lidikeit vortäusdien wollen, die sie gar nicht besitzen. Der Satz jenes 
Jungen; „Ich bin kein solches Schwein, daß ich mich alle Tage zu 
waschen brauche," ist gar nicht so dumm. Es ist mit dem Abscheu 
vor dem Schmutz ähnlich, wie mit dem vor dem Aa und Pipi. Man 
wischt sich sehr sorgfältig ab, wäscht sich womöglich nach jeder Ent- 
leerung fester oder flüssiger Art und bedenkt nicht, daß man in seinem 
Bauche diese angeblich schmutzigen Dinge dauernd mit sich herum- 
trägt. O, du wandelndes Klosett, das du dich Mensch nennst, je mehr 
du Ekel und Abscheu vor dem Kot und Urin äußerst, um so deutlicher 
zeigst du deine Lüsternheit in diesen Dingen und je mehr du dich 
wäschst, um so besser weiß ich, daß du deine Seele für schmutzig 
hältst. Aber warum verschluckst du deine Spucke, wenn Spucke ekel- 
haft ist? 

Ich will Sie nicht weiter mit Paradoxen quälen, sondern Sie 
lieber auf eine seltsame Form der Exhibition aufmerksam machen, auf 
die vor sich selbst. Der Spiegel fällt Ihnen ein, und damit der Narziß- 
mus — denn Narziß erfand den Spiegel — und die Onanie — und 
der Spiegle! ist ein Onaniesymbol — und wenn Sie ein Tasdien- 
spielergehirn haben wie ich, denken Sie dairan, daß man vor dem 
Spiegel auch Fratzen sdineidet, sidi zum Wohlgefallen, daß also wirklich 
die Exhibition doppelwertig, anziehend und häßlich sein kann. 

Aber ich war beim Geruch und beim Klosett, und wenn es Ihnen 
beliebt, nennen Sie mir bitte irgend eine von Ihren Freundinnen, die 
auf dem Klosett nicht ihre Entleerungen ansieht — der Gesundheit 
wegen, versteht sich. Ich glaube, keine hält sich dabei die Nase zu, 
und möglicherweise gibt es welche darunter, die abends im Bett, 
wenn erst die Luftheizung gewirkt hat, unter die Decke kriechen, um 
zu konstatieren, was für Brennmaterial verwendet worden ist; viel- 
leicht riecht sogar eine oder die andere am Finger, wenn das Papier 
am Ort der hohen Gefühle nicht dicht war. Und sicher — glauben Sie 
mir — es gibt gebildete Leute, die popeln, wenn sie allein sind; 

13 Groddeck, Das Buch vom Es. 193 



denn ein Loch ruht nicht eher, als bis etwas hineingesteckt ist, und 
die Nasenlöcher machen davon keine Ausnahme. 

Was könnte idi Ihnen alles von diesen unbewußten Exhibitionen 
der Gebärden, der Stimme, der Gev/ohnheiten erzählen ! Sucliet, so 
werdet Ihr finden, heißt es in der Bibel. Aber es heißt auch: Sie 
haben Aug-en und sehen nicht, und sie haben Ohren und hören nicht. 

Die Zusammenhänge des Geschmackssinns mit dem unbewußten 
Eros sind schwer zum Bewußtsein zu bringen. Am leichtesten sind die 
Verhältnisse noch bei dem Schnullen der Kinder zu verfolgen, das ja in 
innigem Zusammenhang mit dem Saugakt steht. Wenn man sich dann, 
von dieser Erfahrung ausgehend, ein wenig Mühe gibt, findet man 
nicht allzu selten im Verkehr Liebender Gewohnheiten, die im Sinne 
des Schmeckens gedeutet werden können. So ist das Saugen am 
Finger des Andern etwas, was man häufig beobachten kann. Aber 
die Heimlichkeit solcher Liebkosungen erzählt deutlich, wie groß die 
Wertschätzung des Schmeckens ist. Man mag noch so sittsam sein, 
das Saugen an der Haut, an Brust, Lippeu, Hals begleitet den Liebes- 
akt, und die Zunge ist für einen Jeden, nicht nur im wunderbar 
wechselnden Ausdruck des Wortes „Liebe", Organ der Wollust. Vor 
allem aber scheint mir, daß das zur Schautragen der Brüste eine Auf- 
forderung zum Sdimecken ist, freilidi gepaart mit der zum Fühlen und 
Sehen, wie denn immer die Sinnesfunktionen sich paaren. Und das 
führt dann dazu, eine echte Exhibition des Es festzustellen, die Erektion 
der Brustwarze, die ganz unabhängig von dem Willen des Mensdien 
das keuscheste Mädchen befallt und in angenehm leisem Kitzel über 
die Gelehrtea und über Sie, liebe Freundin*, lächelt, daß Sie Perversion 
nennen, unnatürliche Neigung, was Natur selbst tut. Ich überlasse es 
vorläufig Ihnen, von der Erektion der Brustwarze auf die des Mannes 
zu schließen, muß aber später, so heikel das Thema auch ist, darauf 
zurückkommen. 

Eins aber muß ich nodi erwähnen, was in das Gebiet der 
Gesdimackserotik gehört, das sind die Lieblingsspeisen. Die Vorliebe 
für süß, sauer, bitter, fett, salzig, für diese Speise und jenes Getränk, 

194 



das Anbieten, Nötigen, die Art des Essens und die Zusammenstellung 
eines Menüs verraten Neig-ungen seltsamer Art. Behalten Sie es im 
Gedäditnis und — vergessen Sie das nidit — es ist dasselbe, ob 
jemand Schweinebraten gerne ißt oder ob ihm davon übel wird. 

Soll ich Ihnen auch noch etwas vom Fühlen erzählen? Sie können 
es sich selbst zusammenreimen, können bedenken und probieren: das 
Entgegenstrecken der Hand und die Lippen, die sich darbieten, das 
Knie, das sich anschmiegt und das Treten unter dem Tisch. Aber es 
gibt Vorgänge, die nicht ohne weiteres zu verstehen sind. Gewiß, der 
erotische Zweck einer streichelnden Hand ist rasch empfunden und rascJi 
gedeutet. Wie steht es jedoch mit den kalten Händen? Kalte Hände, 
warmes Herz, sagt der Volksmund, und der Volksmund irrt selten. 
„Sieb, idi bin kalt", sagt solche Hand, „wärme midi, ich brauche 
Liebe." Dahinter lauert versteckt das Es, verschmitzt wie immer. „Der 
Mann gefällt mir", denkt es, „vielleicht aber gefalle ich ihm nidit. 
Sehen wir zu. Schreckt ihn die Kälte meiner Hand nicht ab, faßt 
seine Hand liebevoll das armselige Ding, das ich ihm biete, so wird 
alles gut gehen. Und bleibt er unnahbar, kalt wie meine Hand, so 
kann er mich doch lieb haben und nur von der Kalte erschreckt sein." 
Und — ja das Es ist raffinierter, als Sie denken — es laßt die Hand 
auch feucht werden, sie wird dann ein echter Probierstein der Liebe; 
denn um eine feuditkalte Hand gern zu fassen, muß man ihren Eigen- 
tümer wohl gern haben. Diese exhibitionistische Hand berichtet frank 
und offen: „Sieh, selbst in der Kälte strömen die Lebenssäfte aus 
mir heraus, so glühend ist meine Leidenschaft. Mit welchen Fluten 
der Liebe werde ich dich überströmen, wenn du midi erwärmst." 

Sie sehen, Liebste, icii bin sdion in den tiefen Schichten unbe- 
wußter Erotik, in der Deutung physiologischer Prozesse, und dabei 
möchte ich einen Augenblick verweilen. Denn mir als Arzt bietet die 
unbewußte Zurschaustellung der Sexualität mehr Interesse als der ein- 
fach im psydiisdi Bewußten wirkende Trieb. 

Als gelegenes Beispiel finde ich Vorgänge in der Haut, die mir 
viel Mühe gemacht haben. Sie wissen, als Sdiüler Schweningers werde 

13* 195 



ich audi jetzt noch hie und da von Hautkranken angesucht, und unter 
ihnen sind immer einig-e, die sn chronisdien, juckenden Ausschlacken 
leiden. Früher habe ich achtlos die Worte überhört, mit denen sie an 
irg-end einer Stelle ihre Krankheitsersdieinmigen erläutern, daß sie 
nämlidi eine ernpflndliclie Haut haben. Jetzt weiß ich, daß ihr Ekzem 
dieselbe Versicherung; unablässig wiederholt, nur daß es deutlicher 
spridit und die Art der Empfindlichkeit beschreibt. Es erzählt — idi 
glaube es wenigstens heraus zu hören, und der Erfolg scheint mir 
recht zu geben: — „Sieh doch, wie meine Haut danach verlangt, leise 
gekitzelt zu werden. Es ist solch wunderbarer Reiz im sanften Streicheln, 
und Niemand streichelt midi. Versteht mich doch, helft mir dodi! Wie 
soll ich mein Verlangen besser ausdrücken als durch die Kratzspuren, 
die ich mir erzwinge." Das ist eine echte Exhibition auf dem Gebiete 
des Fühlens. 

So, nun haben wir lange genug uns unterhalten, und unser Kindchen, 
das wir auf seinem Thrönchen ernsthaft, nachdenklich sitzen ließen, hat 
sein Gesdiäft inzwischen beendet. Von seinen Ideen während dieser Zeit 
wollte ich Ihnen berichten, habe es aber nicht getan, weil es ja nicht 
sidier ist, daß es gerade in dieser Stellung sich mit dem Gedanken 
der Empfäng-nis besdiäftigi. Ich werde es später nadiholen. Eins aber 
muß ich noch sagen, ehe idi Absdiied von Ihnen nehme: der Topf — 
oder das Klosett, das ist dasselbe — ist ein wichtiges Möbel, und es 
gibt viele, viele Mensdien, die drei Viertel ihres Lebens darauf zubringen; 
nicht gerade so, daß sie im wörtlichen Sinne darauf sitzen, aber des 
Morgens wachen sie auf mit dem Gedanken: werde idi heute Stuhl- 
gang haben, und wenige Stunden, nadidem das schwere Werk ge- 
lungen, beginnen sie wieder zu denken — und auch davon zu spredien, 
gewöhnlich bei der Mittags mahlzeit — : werde ich morgen Stuhlgang 
haben? — Es ist eben eine komische Welt. 

Bedenken Sie nur: das kleine Kind lieht es, mit Vater und Mutter 
mitzugehen und ihre Tätigkeit am stillen Ort zu beobachten; wird 
es größer, so sucht es sich Kameraden, um weiter zu studieren und 
mehr zu enträtseln; dann kommt die Zeit der Pubertät, und wieder 

196 



spielt sich auf dem Klosett das am tiefsten greifende Erlebnis dieser 
Jahre, ja vielleicht des g-anzen Lebens ab, die Onanie. Nach der Ent- 
wicklung beginnt nun die Verdummung des Menschen, und er begnügt 
sich, statt den Wundern des Lebens naclizugehen, damit, Zeitung zu 
lesen, sich zu bilden, bis schließlich das Greisenalter kommt und nicht 
selten der Schlaganfall auf dem Klosett allem ein Ende macht. Von 
der Wiege bis zum Grabe. 
Ich grüße Sie herzlichst. 

Immer Ihr TROLL. 



23. 
ICH GEBE ZU, BESTE FREUNDIN, DASS ES UNRECHT IST, SO 
lang von der Exhibition zu sprechen, und auch das räume ich ein, daß 
ich die Bedeutung des Worts ungebührlich gedehnt habe. Die Erklärung 
dafür ist, daß ich zur Zeit gerade mit ein paar Kranken zu tun habe, 
die diesem Trieb mit Virtuosität fröhnen. Icli hatte gehofft, Sie würden 
des Inhalts halber über die Form hinweg sehen. 

So will ich denn heute, statt in ein System zu pressen, was 
systemlos ist, nur ein paar Beobachtungen aneinander reihen. Sie 
mögen selbst die Schlüsse ziehen. 

Achten Sie bitte ein paar Tagt auf den Mund von Helene Karsten. 
Sie können viel dabei kennen lernen. 

Sie wissen, dieser Mund gilt als besonders klein, er sieht aus, 
als ob mit Mühe ein Markstück hinein gesteckt werden könnte. Aber 
sprechen Sie vor ihr das Wort Pferd aus, und der Mund wird breit 
wie ein Pferdemaul, und das Gebiß wird gefletscht, wie das Pferd es 
tut. Warum? Hinter Helenens Elternhaus lag ein Exerzierplatz eines 
Dragonerregimentes. An den Pferden dort hat sie ihr Studium über 
Mann und Weib gemacht, und auf ein soldies Pferd ist sie von einem 
Unteroffizier als kleines Mädchen gehoben worden und hat dabei an- 
geblidi ihre ersten Wollustempfindungen gehabt. Stellen Sie sich vor, 
daß ein fünfjähriges Mädchen neben einem Walladi steht, dann sieht 

197 



es vor sich den Baudi mit einem daran hängeuden Ding-, das sidi 
plotzlidi um das Doppelte verlängert und einen mäditigen Hamstraht 
aus dem Bauche herabsendet. In der Tat ein überwältig-ender Anblick 
für ein Kind. 

Das Volk erzählt sich, daß man bei Frauen nach der Größe des 
Mundes die Große des Sdieideneingangs beurteilen könne. Vielleicht hat 
das Volk recht, denn der Paralleiismus zwischen Mund und Geschledits- 
Öffnung- besteht. Die Gestalt des Mundes folgt den Gesdilechts- 
erregungen und wenn er es nicht tut, verraten sich in seinem Muskel- 
spiel die Verdrängungen. Und das Gähnen erzählt nicht nur von dem 
Miidesein, sondern auch davon, daß der Gähnende im gegebenen 
Au5:enblic!c ein begehrendes Weib ist, ähnlich wie der, der mit offnem 
Munde schläft. 

Schauen Sie sidi doch die Mensdien an, Sie lesen in ihrem Gesidit, 
ihrer Kopfform, der Handgestaltung, dem Gang, tausend Geschichten. 
Dort ist einer mit hervorquellenden Augen; seien Sie sidier, er will 
Ihnen schon von fern seine Neugier und den Schreck über wunder- 
bare Entdeckungen zeigen; diese tiefliegenden Augen zogen sich zurück, 
als der Menschenhaß groß ward; sie wollen nicht sehen und noch 
weniger gesehen werdeu. Die Tränen, die geweint werden, sind nicht 
nur Trauer und Schmerz geweiht, sie ahmen die Perle nach, die tief 
in der Musdiel ruht, in der Perlmuttermuschel des Weibes, und 
jedes Weinen ist voil symbolischer Wollust. Immer, ohne Ausnahme. 
Das weiß audi jeder Dichter, seit Jahrtausenden wissen sie es und 
erzählen davon, ohne es bewußt auszusprechen. Nur die, die es wissen 
müßten, die wissen es nicht. Eros benutzt das Auge zu seinen Diensten, 
es muß ihm Bilder geben, die ihm gefallen. Und wenn ihrer zu viele 
wurden, wäscht er sie ab; er läßt das Auge überquellen, weil die 
innere Spannung zu groß wurde, um auf dem Wege der genitalen 
Absonderung gelost zu werden, weil ihm das Verfahren der Kindheit, 
die Erregung im Harn auszuströmen, gesperrt ist, oder weil er, ver- 
stimmt von der Moralität, den Menschen im Gleichnis dafür büßen 
lassen will, daß er sich schämt erotisch zu sein. Eros ist ein starker, 
198 



eifriger Gott, der grausam und höhnisdi zu strafen weiß. „Du nennst 
schinut2ig'", zürnt er, „daß ich die höchste Leistung; des Menschen, die 
Vereinig^ung- von Mann und Weib und die Schöpfung- des neuen, an 
das Naßwerden zwischen den Schenkeln band. So sollst du deinen 
Willen haben. Du hast Schleimhäute im Darm und anderswo, deine 
Ejakulation sei fortan Diarrhoe, Auswurf, Sdinupfen, Fußschweiß oder 
Achselsdiweiß und vor allem Harnen." 

Ich verstehe, daß Sie das alles sonderbar finden. Aber wer 
hindert midi zu phantasieren, wie ich will; heute Eros zu nennen, was 
ich gestern Es nannte; dies Es als strafenden Gott aufzufassen, ob- 
wohl ich es eben als mitleidigr, zart und sanft schUderte, ihm eine 
Madit zu geben, die hierhin drängt und dort verbietet und Immer 
wieder mit sich selbst in Widerspruch zu geraten scheint. Damit tue 
ich nichts andres, als was die Menschen von jeher getan haben. Und 
es sdieint mir für unser wohlgeordnetes Oberflächendenken nützlich 
zu sein, ab und zu die Dinge durcheinander zu werfen. Alles muß revo- 
lutioniert werden, das ist ein dummes Ziel, aber eine richtige Beobaciitung. 
Darf ich weiter phantastereien? Ich sprach vorhin von der Gleich- 
setzung von Mund und Geschlechtsöffnung. So ist die Nase für ein 
launisch gewordenes Es, dessen Machtvollkommenheit unbegrenzt ist, 
ein Mannesglied, und dem zufolge läßt es die Nase groß wachsen 
oder klein, stumpf oder spitz, setzt sie wohl auch schief in das Gesidit, 
je nachdem es diese oder jene Neigung damit kund tun will. Und 
nun ziehen Sie bitte Ihre Sdilußfolgerungen für die Entstehung des 
Nasenblutens, das ja in bestimmten Altersperioden häufig ist, für Haare, 
die aus den Nasenlöchern wadisen, für Polypen und skrophulösen 
Gestank. Die Ohren wiederum haben Muscheln, und Muschel, das erzählte 
idi schon, ist Symbol des Weibseins. Das Ohr ist empfangendes Organ, 
und seine Gestalt ist für träumerische Beobachter nicht uninteressant 
Aber Sie müssen nicht etwa glauben, daß ich Erklärungen geben 
will. Das Leben ist viel zu bunt, um es zu kennen, viel zu glatt, um es 
zu packen. Vielleicht will ich nur ein wenig über die Logik spotten. 
Vielleidit steckt auch mehr dahinter. 

199 



Haben Sie schon bemerkt, wie schwierig; es oft ist, Kinder dazu 
zu bringen, daß sie sich in den Mund schauen lassen? Das Kind denkt 
noch naiv: es hält den Mund für den Eingang der Seele und glaubt, 
der Arzt, den kleine und große Narren für einen Zauberer halten, 
könne dort alle Geheimnisse sehen. Und tatsädilich steckt im Schlund 
etwas, was kein Kind gerne verrät, das Wissen um Mann und Weib. 
Dort hinten sind zwei Bogen — oder sind es die beiden Mandeln — 
die begrenzen eine Öffnung, die in die Tiefe führt, dazwischen zuckt, 
verkürzt und verlängert, bewegt sidi ein Gebilde, das rot ist, dort 
hängt ein Schwänzchen. „Der Brillenmann, der Onkel Doktor weiß, 
wenn er das sieht, daß ich lauschend im Bett lag, während die Eltern 
midi schlafend glaubten und mit Öffnung und Stempel Spiele spielten, 
die ich nicht wissen darf. Und wer weiß, vielleicht steht dort ge- 
sdirieben, was idi selbst trieb, ohne daß es jemand erfuhr." Hals- 
entzündungen bei Kindern sind lehrreich, Sie glauben nicht, was man 
alles aus ihnen heraus lesen kann. 

Und nun gar erst die Masern und Scharlach! „Ich brenne, ich 
brenne." erzählt das Fieber, „und ich schäme mich so, sieh nur, idi 
bin rot geworden über den ganzen Körper." Sie brauchen das natürlidi 
nicht zu glauben, aber woher kommt es wohl, daß unter drei Kindern 
zwei an Scharlach erkranken und eins bleibt gesund? Manchmal ist 
eine phantastische Erklärung besser als gar keine. Und so ganz dumm 
ist es wirklich nicht Sie müssen nur bedenken, daß das Alter der 
Leidenschaft nicht die Zeit der Jugend jst, sondern die Kindheit. Die 
Schamröte aber in ihrem vom Es gewollten Doppelsinn zieht einen Schleier 
über das Gesicht, damit man nicht sieht, was dahinter vorgeht, damit 
man sieht, wie das Feuer der Sinnlichkeit auflodert, damit man weiß, 
daß das moralisch erzogene Es das heiße Blut vom Bauch, von den 
GeschlecJitsteilen, von Hölle und Teufel weg in den Kopf treibt, um umso 
dichter das Gehirn zu umnebeln. 

ich könnte nun noch lange so weiter erzählen, von Lungenentzün- 
aungen und Krebs, von Gallensteinen und Nierenblutungen, aber wir 
können davon auch später spredien. Heute nur noch ein einziges Wort 
200 



über den Exhibitionstrieb und seine Kraft. Vor einem Jahrhundert gab 
es noch keine Frauenärzte und heut ist in jedem Städtchen und an 
jeder Großstadtstraßenecke ein Spezialist. Das ist, weil die Frau nie Ge- 
legenheit hat, sich außerhalb der Ehe zu zeigen, weil das Kranksein alles 
entschuldigt, und weil das Kranksein die unbewußten, halbbewußten und 
bewußten strafbaren Wünsche rädit und so vor der ewigen Strafe schützt. 

Es gibt eine Form der Exhibition, die für das Zustandekommen 
unsrer Korrespondenz historisdi wichtig ist, das ist die Hysterie, im 
besonderen der hysterische Krampfanfall. Ich habe sdion einmal den 
Namen Freud erwähnt und ich mödite wiederholen, was idi anfangs 
sagte : Alles, was in diesen gemischten Briefen richtig ist, geht auf ihn 
zurück. Nun, Freud hat vor einigen Jahrzehnten die ersten grund- 
legenden Beobachtungen über das Es bei einer Hysterischen gemacht. 
Ich weiß nicht, wie er jetzt über diese Erscheinungen denkt, ich darf 
mich also nidit auf ihn berufen, wenn ich behaupte, daß das Es des 
Hysterischen hstiger ist als das aller andern Menschen. Mitunter bekommt 
dieses Es Lust, die Geheimnisse des Eros vor aller Welt und in voller 
Offenthchkeit zu produzieren. Und um diese Aufführungen, gegen die 
alle Nackt- und Bauchtänze ni(iits sind, ungestört von Selbstvorwürfen 
und moralischer Entrüstung- der Umwelt geben zu können, erfindet das 
Es die Bewußtlosigkeit und kostümiert die erotisdien Vorgänge sym- 
bollsdi als krampfhafte, schreckenerregende Bewegungen und Verren- 
kungen von Rumpf, Kopf und Gliedmaßen. Es geht dabei ähnlich zu, 
wie im Traum, nur daß das Es für seinen Krampf ein verehrUches 
Publikum einladet, über das es sich weidHch lustig macht. 

Ich nähere mich jetzt wieder den Mitteilungen über die Begattungs- 
und Empfängnistheorie, wie sie das Kind hat, wie Sie sie gehabt haben, 
und wie icti sie gehabt habe. Vorher muß ich nodi eine Frage stellen. 
Wann, glauben Sie wohl, haben Sie zuerst den Untersdiied der Ge- 
sdileciiter kennen gelernt ? Aber bitte, antworten Sie nicht : „Mit 8 Jahren ; 
da wurde mein Bruder geboren". Denn idi bin überzeugt, daß Sie 
auch sdion mit 5 Jahren Imstande waren, ein nacktes MädtJien von 
einem nackten Jungen zu unters dieiden und mit 3 Jahren auch und 

201 



vielleidit noch früher. Schließlidi wird sich herausstellen, daß Sie ebenso- 
wenig- davon wissen wie idi, ja daß überhaupt Niemand etwas davon 
weiß. Ich kenne einen kleinen Jungen von 2 '/^ Jahren, Stacho g-enannt. 
Der sah zu, wie sein neugeborenes Schwesterchen gewaschen wurde, 
spradi dann — und wies zwisdien seine Beine — die Worte: „Stadio 
hat" und drehte dem Mädchen den Rüclten. 

Nun also, über den Zeitpunkt, wann das Kind Kenntnis vom 
Unterschied der Geschlediter bekommt, wissen wir nichts, aber daß es 
schon vor dem vierten Lebensjahr ein lebhaftes Interesse dafür hat. 
diese Unterschiede festzustellen, über ihre Gründe nachzudenken und 
danach zu fragen, das wissen sogar die Mütter; für micli ein un- 
widerleglicher Beweis dafür, daß dieses Interesse überaus lebhaft ist. 
Ich erzählte Ihnen sdion früher einmal, daß das Kind unter dem 
Assoziationszwang des Kastrationskomplexes annimmt, alle Mensdien 
seien mit einem Schwänzchen ausgestattet, seien männlichen Gesdilecbts, 
und was Frau und Madclien genannt werde, seien kastrierte, verschnittne 
Männer, versdinltten zum Zweck des Kinderkriegens und zur Strafe 
für die Onanie. Diese Idee, die gar nicht so dumm. In ihren Wirkungen 
aber von unberechenbarer Bedeutung ist, weil darauf das Überlegen- 
heitsgefühl des Mannes und das Minderwertigkeitsgefühl des Weibes 
beruht, weil deswegen das Weib unten, der Mann oben liegt, weil 
deswegen die Frau nach oben, gen Himmel, zur Religion strebt, der 
Mann aber nach vorn, in die Tiefe, zur Philosophie hin, diese Idee 
verbindet sich In der verworrenen und doch so logischen Denkweise 
des Kindes mit den Resultaten sorgfältiger Prüfung der männlidien 
Geschleditsteile. Man erwägt in angeborenem hausväterischen Sinn — 
Sie und id» haben es getan und jeder tut es — wie wohl diese ab- 
gesdinittenen Geschlechtsteile verwertet werden mögen. Die Verwendung 
des Anhängsels selbst bleibt zunächst rätselhaft ; unter Umständen scheint 
es als Blinddarm sein Dasein zu fristen. Dagegen sind in dem Säckthen 
zwei kleine Gebilde, die entschieden Ähnlidikeit mit Eiern haben. Eier 
aber werden gegessen. Also werden die Eier, die den zum Frausein 
verurteUten Männern abgesdinitten werden, gegessen. Vor solchem 

202 



Sdiluß scheut sich sog-ar das Kind, das im allgemeinen wenig Gefühl 
für fremdes Leid aufbringt. Es findet es sinnlos, nur des Essens wegen 
Menschen anzuschneiden, da ja von den Hühnern genug Eier gelegt 
werden. Darum wird ein weiterer Grund gesuclit, um das Abschneiden 
und Aufessen verständlich zu machen. Da kommt dem nachdenklichen 
Kinde eine Erfahrung zu Hilfe, die es frühzeitig macht; aus Eiern 
entstehen Küchlein, Hühnerkinder; und diese Eier kommen hinten aus 
der Henne heraus, aus dem Loch im Hennenpopo; und aus dem Frauen- 
popo kommen, das ist schon ausgemacht, die Kinder. Jetzt wird die 
Sache klar. Die abgeschnittenen Eier werden gegessen, nicht weil sie 
wut schmecken, sondern weil daraus die kleinen Menschenkinder werden. 
Und langsam schließt sich der Kreis der Gedanken, und aus dem 
nebelhaften Dunkel des Denkens tritt schreckenerregend ein Mensch 
hervor: der Vater. Der Vater schneidet der Mutter die Geschlechtsteile 
ab und gibt sie ihr zu essen. Und daraus werden die Kinder. Das 
ist es, weshalb die atemraubenden, betterschütternden Kämpfe zwischen 
den Eltern des Nachts sich abspielen, deswegen das Stöhnen und 
Ädizen, deswegen das Blut im Nachttopf. Der Vater ist furchtbar, ein 
Grausamer, Strafender. Was aber straft er? Das Reiben und Spielen. 
Sollte die Mutter auch spielen ? Der Gedanke ist unausdenkbar. Aber 
er braucht nicht gedaclit zu werden. Denn an seine Stelle tritt die 
Erfahrung. Die mütterUcJie Hand reibt täglich die kindlichen Eierdien 
des Sohnes, spielt mit seinem Sdiwänzchen. „Die Mutter kennt das 
Reiben. Der Vater weiß davon und straft. So wird er auch mich strafen, 
denn ich spiele auch. Mochte er doch strafen, denn ich will Kinder 
haben ! Idi will spielen, dann wird er midi strafen und ich bekomme 
Kinder. Gott sei Dank, ich habe einen Vorwand zum Spielen, Aber 
womit soll ich spielen, wenn der Vater mir das Schwänzchen absdineidet? 
Es ist besser, ich verstecke mein Vergnügen. Es ist sicher besser." 
So wediseln Sehnsucht und Angst, und das Kind wird langsam 
ein Mensch, schwankend zwisdien Trieb und Moral, Begierde und Furdit. 

Adjö, Liebe, Ihr 

PATRIK TROLL. 

203 



24. 
WIE NETT VON IHNEN, LIEBE FREUNDIN, DASS SIE MEINE 
Schreiberei niclit tragisch nehmen, sondern darüber lachen. Ich bin so 
oft ausgeladit worden und habe dann mit so viel Verg-nüg-en mitgelacht, 
daß ich oft selbst nicht weiß, meine ich, was idi sage, oder mache icäi 
mich lustig. 

Aber sitze nicht auf der Bank, da die Spötter sitzen, heißt es. 
Ich bilde mir nicht ein, daß das Gemisch von Phantasien, das ich Ihnen 
neulich als eine „kindliche Sexualtheorie" vorsetzte, wirklich jemals so 
im Gehirn eines Kindes oder überhaupt in einem andern als dem 
meinen gewesen sei. Bruchstücke davon werden Sie aber überall finden, 
oft verwittert, kaum kenntiich, oft eingemauert in andre Phantasiereihen. 
Worauf es mir ankam, war, Ihnen recht deutlich zu machen, es Ihnen 
in die innerste Seele zu prägen, daß das Kind sicli unausgesetzt mit 
den Rätseln der Sexualität, des Eros, des Es bescliäftigt, viel intensiver 
als irgend ein Psydiologe oder Psychoanalytiker, daß es sich wesentlich 
durch den Versudi, diese Rätsel zu lösen, entwickelt; mit andern Worten, 
daß unsre Kindheit sich sehr wohl als die Schule betrachten läßt, in 
der Eros uns unterrichtet. Und nun denken Sie sich die abenteuerlichsten 
Phantasien aus, wie sich das Kind Empfängnis, Geburt, Geschledits- 
unterschied vorstellt, Sie werden nie audi nur den millionsten Teil 
dessen ausdenken können, was sich das Kind, jedes Kind in Wahrheit 
darüber zusammenträumt; ja Sie werden im Grunde genommen nur 
ausdenken können, was Sie selbst wirklich einmal als Kind gedacht 
haben. Denn das ist das Merkwürdige am Es ~ und ich bitte Sie, es 
wohl im Gedäditnis zu behalten — daß es nicht wie wir hochbegabten 
Verstandesichs zwischen Wirklichkeit und Phantasie unterscheidet, sondern 
daß ihm alles wirklich ist. Und wenn Sie nicht schon ganz verdummt 
sind, werden Sie einsehen, daß das Es Redit hat. 

Ja, idi kann Ihnen über das Schicksal des Schwänzchens, das Sie 
sich von der Mutter verzehrt vorstellen sollen, aucii etwas erzählen, 
nidit viel, aber etwas. Aus diesem Sdiwänzchen, vermutet das Kind, 
wird die Wurst. Nicht aus all den Eiern, die verzehrt werden, entstehen 

204 



Schwangersdiaften, die meisten werden im Bauche, wie jede andre 
Speise, in braune, kakaoähnliche Masse verwandelt, und diese Masse 
nimmt, weil in ihr auch das aufg:egessene, wurstförmige Schwänzchen 
ist, die länglidie Wurstform an. Ist es nicht seltsam, daß im dreijährigen 
Kindergehirn schon die Philosophie der Form drin ist und auch die 
Theorie von den Fermenten ? Sie können sidi das nicht widitig genug 
vorstellen; denn die Gleichsetzung Stuhlgang — Geburt — Kastration 
— Empfängnis und Wurst — Penis —Vermögen — Geld wiederholt sich 
täglich und stündlich in der Ideenwelt unsres Unbewußten, macht uns 
reich oder arm, verliebt oder schläfrig, schaffend oder faul, potent 
oder impotent, glücklich oder unglücklich, gibt uns eine Haut, in der 
wir sdiwitzen, stiftet Ehen und reißt sie auseinander, baut Fabriken 
und erfindet, was geschieht, ist überall beteiligt, auch bei den Krank- 
heiten. Oder vielmehr bei den Krankheiten läßt diese Gleichsetzung 
sich am leiditesten entdecken; man muß sich nur nicht vor Hohn der 
Verständigen fürchten. 

Spaßes halber teile ich Ihnen noch eine andre Idee mit, die das 
Hirn des Kindes ausgebrütet hat und die sich, wie es scheint, gar 
nicht selten bei dem Erwachsenen lebend erhält; das ist der Gedanke, 
daß sich das verzehrte Sdiwänzchen ein- oder zweimal in einen Stock 
verwandelt, entsprechend der Erektion, daß sidi die Eierchen daran 
festsetzen, und daß daraus ein Eierstock wird. Ich kenne jemanden, 
der war impotent, das heißt, er versagte im Moment, wo er sein Glied 
in die Scheide einführen sollte. Er hatte die Idee, daß sich im Leibe 
der Frau Stöcke befänden, an denen Eier aufgereiht wären. „Und da 
ich einen besonders großen Schwanz habe," dachte seine Eitelkeit, „so 
werde ich beim Zustoßen all diese Eier zerbrechen." Er ist jetzt gesund, 
Das Merkwürdige dabei ist, daß er als Junge eine große Eiersammlung 
hatte. Und beim Ausblasen der Eier, die er den Vogelmüttern aus 
dem Nest nahm, fand sich ab und zu eins, in dem schon ein Junges 
war. Und darauf ging seine Theorie vom Eierstock zurück. Den großen 
Logikern ist das eine Torheit, aber achten Sie es nicht für zu gering, 
darüber nachzudenken. 

205 



Idi kehre zu meinen Einfällen über die Situation zurück, in der 
ich mich neulidi beim Briefschreiben befand -- Sie wissen wohl, als idi 
von der Uhrkette sprach. Idi bin Ihnen noch das Jucken am rechten 
Schienbein und das Bläschen an der Oberlippe schuldig. Seltsamerweise 
kehrte sidi das Wort Sdiienbein sofort in Beinschiene um, und dabei 
stieg vor mir das Bild des Adiill auf, wie ich es aus meiner Kindheit 
— etwa aus meinem achten oder neunten Lebensjahr in der Erinnerung 
habe. Es ist eine Illustration zu Schwabs griechischen Heldensagen. 
Und das Wort „unnahbar" fallt mir ein. Wo soll ich anfangen? Wo 
soll ich aufhören? Meine Kindheit wacht auf und etwas weint in mir. 
Kennen Sie Schillers Gedicht von Hektors Abschied von Andro- 
mache? Mein zweiter Bruder Hans — icli erzählte neulich von ihm bei 
Gelegenheit des Namens Hans am Ende — ja richtig, er hatte eine 
Wunde am rechten Schienbein. Er war beim Rodeln gegen einen 
Baum gefahren: ich muß fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Am 
Abend — die Lampe brannte schon — trug man den halbwüchsigen 
Jungen herein, und dann sehe ich die Wunde vor mir, eine vier Zenti- 
meter lange tiefe Wunde, blutend. Sie hat einen entsetzlichen Eindruck 
auf mich gemacht; ich weiß jetzt, warum. Das Bild dieser Wunde ver- 
mischt sich unlösbar mit einem andern, wo scliwarze Blutegel am Rande 
dieser Wunde hangen, und ein oder zwei sind abgefallen; die Erschaffung 
Evas, die Kastration, Blutegel, abgeschnittenes Schwänzchen, Wunde 
und Weibsein. Und der Vater hat die Blutegel angesetzt. 

Rodeln. ~ Warum rodeln doch die Menschen? Wußten sie schon, daß 
die schnelle Bewegung genitale Lust erregt? Seitdem der Gleitflug er- 
funden ist, weiß es jeder Fileger. Es treten dabei ~ mitunter — Erelctionen 
und Ejakulationen auf; das Leben selbst gibt Antwort darauf, warum der 
Mensch seit Jahrtausenden und Jahrmillionen träumte, er wolle und 
könne fliegen, warum die Sage vom Ikarus entstand, warum Engel 
und Amoretten Flügel haben, warum jeder Vater sein Kind hochhebt 
und durch die Luft fliegen läßt, und warum das Kind jauchzt. Das 
Schlittenfahren, das Rodeln war für den Knaben Patrik Onaniesymbol 
und die Wunde mit den Blutegeln die Strafe. 

206 



Aber zurück zu Hektors Abschied und den „unnahbaren Häaden". 
Mein zweiter Bruder Hans und der dritte Wolf — ein verhängnisvoller 
Name, wie Sie gleich sehen werden — pflegten das Gedidit dramatisch 
vorzuführen, wobei die Familie und etwa vorhandene Gäste das Publikum 
bildeten. Und dabei wurde ein Radmantel meiner Mutter mit rotem 
Futter und weißem Pelzbesatz als Schmuck für Andromache verwendet; 
der Purpur mit dem Hermelin, das ist die große Wunde des Weibes 
und die Haut, das Blut und die Binde. Weich einen Eindruck hat das 
alles auf mich gemacht! Gleidi im Anfang die Worte: „dem Patroktus 
schrecklich Opfer bringt". „Patroklus — Patrik" und das Opfer, das 
Abschneiden, Abrahams Opfer und die Beschneidung, und das Weinen 
durch die Wüste, die nun nach der Radie des Achill, nadi der Kastration 
entsteht. Der Kleine, der Penis, der nicht mehr „Speere werfen" wird, 
weil den Hektor der finstre Orkus versciilingt. Hektor ist der Knabe 
und der Orkus der Mutterschoß und das Grab, um den Inzest handelt 
es sidi, den ewigen Wunsch des Menschen und des kleinen Patrik. 
ödipuH. Welche Sdiauer rieselten mir den Rücken entlang bei den Worten : 
„Hordi, der Wilde tobt schon an den Mauern." Ich kannte dieses Toben, 
den furchtbaren Zorn des Vaters Achill. Und Lethes Strom vermischt 
sich mit dem Bächlein auf der Wiese aus Struwelpeters Paulinchen, dem 
Onanielied des Mäddiens, und mit den bettnässenden Urinströmen in 
tiefvergessnem Schlaf. 

Gewiß, Liebe, ich wußte das damals nidit, wußte es nicht mit dem 
Verstände; aber mein Es wußte es, tieferund besser verstand es das 
alles, als ich es jetzt verstehe, trotz all meines Bemühens um Kenntnis 
eigner und fremder Seele. 

Lassen Sie mich lieber von jenem Buche sprechen, von Schwabs 
griechischen Sagen. Man sdienkte es mir zu Weihnachten. Meine Eltern 
waren damals sdion verarmt und deshalb waren die drei Bände nidit 
neue Bücher, sondern nur neu eingebunden. Sie hatten früher dem 
ältesten Bruder gehört, was ihren Wert für mich bedeutend erhöhte. 
Und zu diesem Ältesten fällt mir wieder mandierlei ein, aber erst muß 
ich die Sache mit dem Schwab beenden. Der eine Band — er handelt 

207 



von dem trojanischen Krieg- — hatte abgeknickte Eclien. Ich hatte damit 
auf meinen Bruder Wolf eing-eschlag-en, auf den fünf Jahre Älteren, 
der mich bis zur Wut necltte und dann spielend mit einer Hand 
bändigte. Wie habe ich ihn gehaßt und doch wie muß idi ihn geliebt 
haben, wie habe ich ihn bewundert, den Starken, den Wilden, 
den Wolf. 

Ich muß Ihnen etwas sagten: wenn ich irgendwie elend bin, Hals- 
oder Kopfs dl merzen habe, taucht bei der Analyse das Wort Wolf auf. 
Mein Bruder Wolf ist unlösbar mit meinem Innern Leben verknüpft, 
mit meinem Es. Es scheint nichts Wichtigeres für mich zu g-eben als 
diesen Wolfkomplex. Und dabei vergehen Jahre, daß idi nicht an ihn 
denke und dabei ist er langst tot. Aber er drängt sich ein in meine 
Ängste, er ist dabei, was ich auch tue. Stets wenn der Kastrations- 
komplex auftaucht, ist Wolf dabei und etwas Dunkles, Furchtbares be- 
droht midi. Ich besinne midi nur auf ein einziges Sexualerlebnis, das 
ich mit Ihm in Verbindung bringe. Idi sehe die Szene noch vor mir, 
es war im Freien, und ein Schulkamerad Wolfs hielt eine Spielkarte 
gftg-en das Lidit. Und irgend etwas Seltsames kam bei dem durch- 
fallenden Licht zu Tage, was sonst nicht zu sehen war, etwas Verbotenes ; 
denn ich besinne mich noch auf das scheue Wesen der Beiden mit 
ihrem schlechten Gewissen. Was es war, weiß ich nicht. Aber mit dieser 
einen Erinnerung ist innig untrennbar verwoben eine zweite, wie mein 
Bruder Wolf demselben Kameraden gegenüber seinen Namen Wolfram 
vom Riesen Wolfgrambär ableitete, was auf mich schauerlich wirkte. Und 
jetzt weiß idi, daß der Riese der personifizierte Phallus ist. 

Plötzlich fällt mir eine Kaulbachsche Illustration zu Reineke 
Fuchs ein, wie der Wolf Isegrim in das Bauernhaus eingebrochen ist, 
entdeckt wird, den Bauern umgeworfen hat und mit dem Kopf unter 
dessen Hemde steckt. Ich habe das Bild seit mindestens vierzig Jahre 
nidit gesehen, aber es steht mir ziemlich deutlich vor Augen. Und ich 
weiß jetzt, daß der Wolf dem Bauern den Geschlechtsteil abbeißt. Es 
ist eins der wenigen Bilder, die mir in Erinnerung geblieben sind. 
Isegrim aber ~ Grimm war der Name des Knaben, von dem idi 

208 



die Onanie lernte — bezeichnend g^enug, wollte midi warnen und lehrte 
mich, was tief verdrängt war. 

Wie kam das Epos vom Reineke Fuchs dazu, gerade den Wolf 
als Kastrationstier zu wählen, wie kam Kaulbach dazu, dies Ereignis 
zum Bilde zu formen ? Was bedeutet das Märchen vom Rotkäppchen 
und das von den sieben Geißlein ? Kennen Sie es ? Die alte Geiß g^eht 
aus und warnt vorher ihre 7 Kinderchen, ja die Tür verschlossen zu 
halten und den Wolf nicht ins Haus zu lassen. Aber der Wolf drangt 
sich docii ein und verschlingt all die Geißlein bis auf das Jüngfste, das 
im Uhrkasten steckt. Dort findet es die Mutter bei der Heimkehr. Das 
Geißlein erzählt von den Untaten des Wolfs, beide machen sich auf 
die Suche nach dem Räuber, finden ihn, gesättigt vom Fraß, in tiefem 
Schlaf liegen und schneiden ihm, da sidi in seinem Baudi etwas zu 
regen sdieint, den Saudi auf, wonach all die verschlungenen sechs 
Geißlein wieder zum Vorsdiein kommen. Nun füllt die Mutter dem 
bösen Tier den Bauch mit großen Wackersteinen und näht ihn wieder 
zu. Der Wolf erwacht durstig und fällt, als er sich über den Brunnen 
beugt, um zu trinken, von den schweren Steinen gezogen, in die Tiefe. 

Ich maße mir nicht an, das Märchen so zu deuten, daß sich alle 
Geheimnisse, die die Volksseele hineingedichtet hat, aufhellen. Aber 
einiges darf ich wohl darüber sagen, ohne allzu verwegen zu sein. 
Zunächst ist das Aufschneiden des Baudies, aus dem dann junges 
Leben hervorkommt, als Geburtssymbol leicht verständlich, da es an 
die allgemein gültige Idee des Kindes, bei der Entbindung werde der 
Bauch aufgeschnitten und dann wieder zugenäht, anknüpft. Damit ist 
auch das Motiv des Versdilingens, ohne daß die Geißlein sterben, 
erklärt: es ist die Empfängnis. Und aus der Mahnung der Mutter, die 
Tür versdilossen zu halten, kann man den Hinweis herauslesen, daß 
es nur eine Jungfernsdiaft zu verlieren gibt und daß das Maidlein 
niemand einlassen soll „als mit dem Ring am Finger". Aber rätselhaft 
bleibt, was mit der Rettung des siebenten Geißleins, mit seinem Sidi- 
verstecken im Uhrkasten gemeint ist. Sie wissen, welche Rolle die Sieben 
in dem menschlichen Leben spielt; man begegnet ihr überall, bald als 

14 Groddeck, Das Buch vom Es . 209 



guter, bald als böser Zabl. Auffallend ist dabei, daß die Bezeidinung' 
„böse Sieben" ausschließlich für die Frau gebraucht wird. Es ist wohl 
anzunehmen, daß die g^ute Sieben den Mann bezeichnet. Das stimmt 
audi; denn während das Weih mit Kopf, Rumpf und vier Gliedern 
als Sechs charakterisiert ist, hat der Mann nccli ein fünftes Glied, das 
Zeichen der Herrschaft. Das siebente Geißlein ist demnach das 
Schwänzchen, das nidit versdilungen wird, das sich im Uhrkasten 
verbirgt und heil und ganz daraus hervorspringt. Und es bleibt Ihnen nun 
unbenommen, ob Sie annehmen wollen, daß der Uhrkasten die Vorhaut 
ist oder die Scheide, die das Siebente nach der Samenergießung 
wieder verläßt. Daß der Wolf sdiließlich in den Brunnen fällt, vermag 
ich mir nicht recht zu erklären; höchstens könnte ich sagen, daß es, 
wie so oft, eine Verdoppelung des Hauptmotivs der Geburt ist, wie 
sich denn auch das Verstecken im Kasten als Scliwangcrschaft und 
Geburt deuten läßt. Wir wissen aus den Traumen, daß das Ins- Wasser- 
fallen ein Schwangerschaftssymbol ist. 

Soweit ist die Gesciiichte Icidtidi aus dem schönen Märchenstil 
in plattes Alltagserleben umgestaltet. Es bleibt nur der Wolf übrig. 
Und Sie wissen, bei dem fangen meine persönlichen Komplexe an. 
Aber ich will docli versuchen, etwas daraus zu machen. Ich möchte 
dazu auf die Sieben zurückgreifen. Das Siebente ist der Knabe. Die 
sedis zusammen sind die bÖse Sieben, das Mädchen, an dem das Siebente 
erkrankt und weggefressen, bÖse ist, weil es onanierte, bös handelte. 
Danadi würde der Wolf die Kraft sein, die aus der Sieben die Sechs 
madit, die den Knaben in das Mädchen verwandelt, ihn kastriert, ihm 
das Schwänzchen abschneidet. Er würde mit dem Vater identiscli 
werden- Ist es so, dann gewinnt das Offnen der Tür ein anderes 
Aussehen; es ist dann die frühzeitige Onanie der Sieben, des Knaben, 
der seine Sieben durch Reiben geschwürig, böse macht, so daß der 
Wolf ihn auffrißt, um ihn als Mädchen mit einer Wunde statt des 
Sdiwänzchens in die Welt zu setzen. Das siebente Geißlein wartet 
unter Vermeidung der Onanie oder wenigstens der Onanieentdeckung 
im Uhrkasten, in der Vorhaut die Zeit ab, wo es geschlechtsreif wird, 

210 



und behält deshalb sein Knabenzeichen. Das Wort böse, das der Sieben 
hinzugefügt wird, um das Weib zu bezeidinen, stellt in seinem weiteren 
Sinn der Eiterung, des Gesdiwüres die Assoziation zur Syphilis und zum 
Krebs her und gibt eine Handhabe, um die bei jeder Frau auftretende 
Angst vor diesen beiden Erkrankungen zu begreifen. Das Fressen der 
Geißlein führt zu der Kindertheorie von der Empfängnis durch Ver- 
schlucken des Keimes hin, eine Verbindung, die im Märchen vom 
bäumling in der Person des Mens die nfressers wiederkehrt. Bei ihm 
ist dann im Siebenmeilenstiefel der Zusammenhang zwisdien Wolf und 
Mann oder Vater hergestellt; denn man geht wohl nicht fehl, in diesem 
Wunderstiefel ein Symbol der Erektion zu sehen. 

Nun muß ich noch auf etwas zurückgreifen, wris ich früher erwähnt 
habe, daß nämlidi das Kind sich nicht gern in den Mund sehen laßt. 
Es fürchtet das Abschneiden des Zäpfdiens. In der Bezeichnung Wolfs- 
rachen haben Sie die Assoziation zwischen Wolf und Onanie. Dem 
Wolfsradien fehlt dtis Zäpfchen, das ja das männUdie Schwänzchen 
darstellt, es ist kastriert. Er versinnbildlicht die Strafe der Onanie. 
Und wenn Sie je bei einem Menschen einen Wolfsrachen gesehen 
haben, wissen Sie, wie fürditerlich die Strafe ist. 

Damit bin ich zu Ende. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Deutung 
gefällt. Mir hat sie über viele Schwierigkeiten meines Wolf-Isegrimm- 
Bruderkomplexes weggeholfen. 

Herzlichst * 

PATRIK. 

25. 
ALSO NACH IHNEN IST DIE BÖSE SIEBEN DER MUND, WOMIT 
ich ganz einverstanden bin. Es gibt ja auch Männer, die ein böses 
Maulwerk haben, aber sdiließHch bleibt es dasselbe, die siebente Öffnung 
des Gesichts ist ebenso Symbol des Weibes wie die große Wunde des 
Unterleibes. 

Da wir nun einmal bei den Zahlen sind, wollen wir ein wenig 
damit spielen. Vorausschicken muß ich, daß das Es ein gewaltiges 

14« 211 



Zahlengedächtnis hat, die einfachen Arten des Rechnens beherrsdit, 
wie es sonst nur bei einer bestimmten Art von Idiotismus vorkommt, 
und daß es sidi ebenso wie ein Idiot ein Vergnügen daraus macht, 
Rechenexempel im Augenblick zu lösen. Sie können sich davon durch 
ein einfaches Experiment überzeugen. Unterhalten Sie sich mit irgend 
Jemandem über ein Thema, das die Tiefen seines Es in Bewegung setzt; 
es gibt allerlei Zeichen, um festzustellen, daß eine solche Bewegung 
vor sich geht. Fragen Sie, wenn Sie solch ein Zeiciien bemerken, nach 
einem Datum, so wird mit einer absoluten Sicherheit sofort ein Datum 
genannt werden, das mit dem aufgerührten Komplex in inniger Assozia- 
tion steht. Oft tritt der Zusammenhang gleidi zu Tage, so daß der 
Befragte selbst erstaunt über die Leistungsfähigkeit seines Unbewußten 
ist. Oft wird jeder Zusammenhang bestritten. Lassen Sie sich dadurdi 
nicht irre machen. Das Bewußte des Menschen liebt es zu verneinen 
— fast hätte ich gesagt zu lügen. Hören Sie nicht auf das Nein, sondern 
halten Sie an der Erkenntnis fest, daß das Es nie lügt und nie verneint. 
Nach einiger Zeit wird die Richtigkeit der Assoziation sidi erweisen 
und gleichzeitig eine Menge psychisches Material zum Vorschein kommen, 
das, in das Unbewußte verdrängt, allerlei Gutes und Böses im Menschen 
vollbracht hat. 

Idi will Ihnen ein kleines Zahlenkunststück von meinem eigenen 
Es mitteilen, das mir viel Spaß gemadit hat, als ich es entdeckte. 
Lange Jahre hindurch habe ich, wenn ich meine Ungeduld und Un- 
zufriedenheit ausdrücken wollte, den Ausdruck gebraucht: „Ich habe 
Ihnen das sdion 26783mal gesagt." Sie besinnen sidi wohl, daß Sie 
mich das letzte Mal, als wir zusammen waren, deswegen verspottet 
haben. Das hat mich geärgert und ich habe an der Zahl ein wenig 
herumgerätselt. Da fiel mir auf, daß die Quersumme dieser langen 
Zahl 26 ist, genau dieselbe Zahl, die beim Wegnehmen der Tausender 
von den übrigen Ziffern abgetrennt ist. Zu 26 fiel mir das Wort Mutter 
ein. Idi war 26 Jahre alt, als meine Mutter starb. 26 Jahre alt waren 
meine beiden Eltern, als sie heirateten; im Jahre 1826 wurde mein 
Vater geboren; und wenn Sie die Quersumme von 783 nehmen, so 

212 



stoßen Sie auf 18. Isolieren Sie die drei ersten Ziffern als 2 X (6 + 7). 
so haben sie 26. Addieren Sie die 2 zu den beiden letzten 8X3, so 
gibt es wiederum 26. Idi bin geboren am 13. 10. 1866, Die Quersumme 
davon ist 26. 

Idi habe die Zahl 26783 noch ein wenig- anders zerlegt. Die 2 
schien mir für sidi zu stehen, weil idi sie unwillkürlich zu den beiden 
Rechnungen mit 6+7 und 8X3 verwendet hatte. Die übrigen Ziffern 
gruppieren sich unter dem Einfluß der 2 betrachtet, als 67, 78, 83. 
67 war das Alter meiner Mutter, als sie starb. 78 ist die Jahreszahl, 
in der ich mein Elternhaus verlassen mußte, um in das Internat der 
Schule überzutreten. Im Jahre 83 ging mir die Heimat völlig verloren, 
da meine Eltern in diesem Jahre meine Geburtsstadt verließen und 
nadi Berlin übersiedelten. In dasselbe Jahr fällt ein Ereignis, dessen 
Tragweite sidi über einen langen Zeitraum meines Lebens erstredet. 
In der Pause zwischen zwei Schulstunden sagte einer meiner Mitsdiüler 
zu mir: „Onanieren Sie nur so weiter, dann sind Sie bald ganz ver- 
rückt; halb sind Sie es so wie so." Das Wort ist verhängnisvoll für 
mich geworden, nidit weil etwa die Onanieangst verstärkt worden 
wäre, sondern weil ich kein Wort erwidert habe, still und schweigend 
die Beschämung der öffentlichen Onaniebeschuldigung hinnahm, als ob 
sie mich nicht berühre. Ich empfand sie tief, aber verdrängte sie sofort 
mit Hilfe des Wortes „verrückt". Mein Es hat sich damals dieses Wortes 
bemächtigt und es nitht wieder losgelassen. Mir schienen von nun an 
alle Schrullen meines Denkens erlaubt. Halb verrückt, das bedeutet für 
mich: Du stehst mitten zwischen zwei Möglichkeiten, kannst Welt und 
Leben, je nachdem du dich nach der einen oder andern Seite biegst, 
wie ein Gesunder, wie ein gewöhnHdier Mensch ansehen oder wie ein 
Verrückter, aus der gewöhnlichen Lage gerückter, außergewÖhnUdier 
Mensch. Das habe ich reichlidi getan und tue es, wie Ihnen sattsam 
bekannt ist, noch. Die zwei Mütter — Amme und Mutter — fanden 
ihre neue notwendige Begründung, das zwischen Zweien Stehen wurde 
durch die halbe Verrücktheit für mich erträglich, sie führte mich aus 
dem Zwang zu zweifeln zur duldsamen Skepsis und zur Ironie, zur 

213 



Gedankenwelt Thomas Weltleins. Ich halte es für möo-lich, daß ich mich 
in der Einschätzung- des „halb verrückt" irre, aber es gibt mir eine 
Erklärung: für die seltsamen Erscheinungen in meinem Wesen, das im 
allg-emeinen zwei Möglichkeiten ausweicht, das aber imstande ist, un- 
beirrt durch jeden Hohn, durch jede Belehrung, durch jeden Beweis, 
durch den inneren Widerspruch, gleidizeitig entgegengesetzte, ja gegen- 
sätzliche Gedankenriditungen zu verfolgen. Bei sorgfältiger Prüfung 
meiner Lebensresultate habe idi gefunden, daß diese halbe Verrücktheit 
mir gerade das Quantum Übergewidit gegeben hat, dessen mein Es 
zur Bewältigung seiner Aufgaben bedurfte. Bezeichnend dafür ist — 
mir wenigstens — meine medizinisdie Laufbahn. Ich habe mich zweimal 
fremder ärztlicher Denkweisen bemächtigt und sie so in midi auf- 
genommen und in mir umgestaltet, daß sie mein persönliches Besitztum 
geworden sind, einmal durch meine Schülerstellung zu Schweninger, 
das zweite Mal durch meine Jüngerschaft bei Freud. Jeder von Beiden 
repräsentiert für mich als Arzt etwas Gewaltiges, Unentrinnbares. Ihren 
Einfluß in mir zu vereinigen ist mir im Jahre 1911 gelungen und 11 
ist die Quersumme von 83 und die Quersumme von 11 ist 2. 

Das Jahr 83 hat sich, entsprechend seiner Hervorhebung als End- 
ziffer der Rätselzahl 26783, auch in mein äußeres Leben als besonders 
wichtig hineingedrängt. Ich erkrankte bald nach jener Äußerung über 
die Onanie am Sdiarlach, in dessen Folge eine Nierenentzündung auftrat. 
Ich habe später, wie Sie wissen, nodi einmal eine Nierenerkrankung 
durdigemacht. Ich erwälme dies, weil diese Nierenerkrankung — das 
gilt von mir und von allen Nierenkranken — charakteristisch für die 
Doppelstellung im Leben ist, für das Dazwischenstehen, für die 2. Der 
Nierenmensch — um diesen Ausdruck einmal zu gebrauchen — ist 
doppelt gerichtet. Sein Es kann mit einer ungewöhnlichen Souveränität, 
die gicidierzeit vorteilhaft und gefährlich ist, kindlich oder erwachsen 
sein; es ist zwischen die 1 — das Symbol des erigierten Phallus, des 
Erwachsenen, des Vaters — und die 3 — das Symbol des Kindes 
gestellt. Idi überlasse es Ihnen, der unausdenkbaren Kette phantastischer 
Möglichkeiten nachzugehen, die ein solcher Zwitter hat, bemerke nur 

214 



dazu, daß meine eigene Lage sich außer durch die Nierenentzündung-en 
öodi dadurdi erwiesen hat, daß ich bis in mein 15tes Lebensjahr ein 
Bettnässer gewesen bin. Und um schließlich auch das zu sagen: der 
Zwitter ist weder Mann noch Weib, sondern Beides, und das ist mein Fall. 
Und nun wollen wir spielen, mit Zahlen spielen, so weit wir es 
noch vermögen, Kind sein. Aber sie müssen nicht böse sein, wenn sidi 
erwachsenes Zeug der Großen dazwischen drangt. So etwas läßt sich 
nicht vermeiden. Wer Kind ist, will groß erscheinen und setzt sich 
Vaters Hut auf und nimmt seinen Stock. Was würde auch daraus 
werden, wenn dieser Wunsch nach dem Großsein, nach der Erektion 
nicht im Kinde wäre ? Wir würden klein bleiben, nicht wachsen. Oder 
halten Sie es für eine Täuschung, wenn ich festgestellt zu haben glaube, 
daß das Kleinbleiben der Mensdien in gewissem Zusammenhang mit 
ihrem Kleinbleibenwollen steht, mit ihrem so Tun, als ob sie die Erektion 
nicht kennen, unschuldig wären wie die Kindlein; daß das Nichthoch- 
gewachsensein aus dem Wunsch des Es entsteht, eine Entschuldigung, 
die Entschuldigung des Nochkindseins, für alle sexuellen Neigungen, 
das heißt für alles und jedes Tun zu haben? Gemäß den Worten: 
„Ich bin klein, mein Herz ist rein ?" 

Setzen Sie sich mit mir vor die Schiefertafel, wir beide wollen tun, 
als ob wir wieder Zahlen schreiben lernten. Was mag wohl im Kinder- 
gehlm vor sidi gehen, wenn es gezwungen wird, eine halbe Tafel voll 
Einser zu schreiben oder voll Achter? Sie können es auch auf die 
Buchstaben übertragen, auf die a's und p's und alle die Hakihen und 
Schlingen, die nach der Phantasie des Kindes angeln. Was ist die 1 
für Sie ? Für mich ist es ein Stodc. Und nun der Sprung ins Großseiu, 
der Stock des Vaters, der Penis, der Mann, der Vater selbst, die 
Strenge und Kraft, in der Familie Nr. 1. Zwei, das ist der Schwan, 
Spekters Fabeln. Ach wie hübseh das war. Meine Schwester hatte den 
angen Hals und wurde weidlich damit geneckt. Und war wirklich ein 
häßliches Entlein, das ein allzu früh verstorbener Schwan wurde. Und 
plötzlich sehe idi den Schwanenteich meiner Heimat. Ich bin wohl 
8 Jahre alt, und sitze mit Wolf, Lina und einer Freundin Anna Speck 

215 



im Kahn und Anna Speck fäUt ins Wasser, auf dem der Schwan 
schwimmt; „mein Schwan, mein stiller, mit sanftem Gefieder," sollte 
ich mich deshalb so viel mit Ibsen besdiäftigl haben, weil er dies Lied 
dichtete und weil ich es in sdiwerer Zeit, als ich zu sterben glaubte, 
sinken hörte? Oder ist es Agnes aus „Brand"? Agnes war meine 
Kindergespielin und ich liebte sie sehr. Sie hatte einen schiefen Mund, 
angeblich weil sie einen Eiszapfen in den Mund genommen hatte. Und 
der Eiszapfen ist symbolisch. Mit Ihr spielte idi Seiltänzer und mein 
Familienroman vom Kinderraub und meine Sdilagphantasieen hängen 
mit ihr zusammen. Agnes und Ernst; so hieß ihr Bruder, der Un- 
zertrennliche von mir, den ich spater schnöde im Stich ließ. Und Ernst 
Schweninger: Ach, liebe Freundin, es ist so viel, so viel. 

Zurück zu Anna Speck. Speck, Spekters Fabeln. „Was ist das für 
ein Bettelmann? Er hat ein kohlschwarz RÖcklein an." Der Rabe. Und 
Rabe war der Name meines ersten Lehrers, den ich für das Urbild 
der Kraft hielt und der sich einst die Hose beim Springen zerplatzte, 
ein Ereignis, das spater im Seelensucher wieder aufgetaucht ist Und 
das Wort Rabe spielt seit Wochen eine Rolle in einer Kranken- 
behandlung, die ich zum guten Ende führen will. Denn es würde ein 
Triumph werden, wie ich ihn selten erlebte. 

Spekters Fabel vom Scliwan. Sahen Sie einmal einen Schwan 
ein großes Stück Brot versdilingen ? wie'- es den Hals hinunterkriedit ? 
Anna Speck hatte dicke, dicke Drüsen am Halse. Und ein dicker Hals 
bedeutet, das etwas drin stecken geblieben ist, ein Kindeskeim. Glauben 
Sie mir, ein Kindeskeim. Ich muß es wissen, denn ich habe selber 
über ein Jahrzehnt einen Kropf gehabt, und der ist so gut wie ver- 
schwunden, seit ich hinter das Rätsel vom steckengebliebenen Kind 
gekommen bin. Wie hätte ich denken sollen, daß diese Anna so in 
mein Leben eingreifen würde? Wie wäre ich ohne den Glauben an 
das Studium des Es dazu gekommen, diese Wichtigkeit der Anna zu 
erkennen? Aber Anna ist der Name der Heldin meines ersten Romans. 
Und ihr Mann heißt V/olf. Wolf und Anna, sie waren beide in jenem 
Kahn. Und da taucht aucli wieder Alma auf, Sie wissen, jene Freundin 
216 



iMurri Mi 




Linas, die meine sadistischen Spieldien störte. Wolf hatte ein Haus 
aus Matratzen gebaut, in dem wohnte er mit Anna. Wir Kleinen aber 
durften nidit mit hinein in dieses Matratzenhaus, Alma jedoch, die 
wissend war, sprang, als sie vom Wolf weggewiesen wurde, mit Lina 
und mir in den Garten und rief: „Ich weiß, weis die beiden dort 
machen." Ich verstand damals nicht, was Alma meinte, aber die Worte 
sind mit im Gedächtnis geblieben und die Stelle, wo sie fielen, und 
ich fühle nodi jetzt den Sdiauer, der mich damals durchrieselte. 

Anna, das ist ohne Anfang und Ende, das a und das o, Anna 
und Otto, von vorn dasselbe wie von hinten, das Sein, die Unendlichkeit 
und Ewigkeit, der Ring und Kreis, die Null, die Mutter, Anna. 
' Nun fällt mir ein, daß das ins Wasserfallen der Anna eine große 
Rolle in meinem Leben gespielt haben muß. Denn Jahre lang hatte 
ich die Ooaniephantasie, daß eine Anna vom hohen Ufer in meinen 
Kahn stieg, daß sie ausglitt, ihre Kleider sidi hodistreiften und ich 
ihre Beine und Hosen sah. Wie seltsam sind die Wege des Un- 
bewußten. Denn vergessen Sie nidit, das ins Wasserfsillen ist ein 
Schwangerschaftssymbol und Geburtssymhol, und Anna hatte einen 
dicken Hals — wie iti». 

Das ist also die 2. Und die 2 ist die Frau, die Mutter und das 
Mädchen, das nur 2 Beine hat, der Knabe hat aber deren drei. Drei 
Füße, Dreifuß, und die Pythia spridit nur, wenn sie auf dem Dreifuß 
sitzt, ödipus aber errät das Rätsel der Sphinx von dem Tier, das 
ursprünglich vier-, dann zwei- und schließlicii dreibeinig ist. Sophokles 
behauptet, Ödipus habe das Rätsel gelost. Aber ist das Wort „Mensdi" 
eine Antwort auf eine Frage? 

2, du verhängnisvolle Zahl, die du die Ehe bedeutest, bist du audi 
die Mutter? Oder ist die 3 die Mutter? Sie erinnert mich an die 
Vögel, die meine Mutter uns zu zeichnen pflegte, diese Drei. Vögel 
und Vögeln, das stimmt. Aber wenn ich die Drei jetzt liegend sehe, ist 
sie für mich Symbol der Brüste, meine Amme und all die vielen 
Brüste, die ich geliebt habe und noch liebe. 3 ist die heilige Zahl, das 
Kind, Christus, der Sohn : die dreieinige Gottheit, deren Auge im 

217 



Dreieck strahlt. Bist du wirklich nur Eros' Kind, du Urbild der Wissen- 
schaft, Mathematik? Und auch der Gottesglaube stammt von dir, Eros? 
Ist es wahr, daß die 2 das Paar ist, das Ehepaar und auch das Paar 
der Hoden und Eierstöcke, der Schamlippen und Augen. Ist das wahr 
daß aus 1 und 2 die 3 wird, das ailmächtige Kind im Mutterleibe ? 
Denn was wäre wohl mächtig, wenn nicht das ungeborene Kind, dessen 
Wünsche alle erfüllt sind, noch ehe sie gedacht werden ? Das in Warheit 
Gott und König ist und im Himmel wohnt? Das Kind aber ist ein 
Knabe, denn nur der Knabe ist die 3, zwei Hoden und ein Schwänzchen. 
Nicht wahr, es geht ein wenig durcheinander? Wer könnte sicli auch 
im Irrgarten des Es zureditfinden! Man staunt, will kleinmütig werden 
und wirft sich doch mit wonnigem Erschauern in das Meer der Träume. 
1 und 2, das ist die Zwölf. Mann und Weib, mit Recht eine 
heihge Zahl, aus der die 3 wird, wenn sie zusammenfließt zur Einheit, 
das Kind, der Gott. Zwölf Monde sind es und aus ihnen wird das 
Jahr; zwölf Jünger sind es und aus ihnen erbebt sidi Christus, der 
Gesalbte, „des Menschen Sohn". Ist es nicht wunderbar, dies Wort 
„des Menschen Sohn?" Und mein Es sagt laut und vernehmlich zu mir: 
„Deute, deute!" 

Adjö, Liebe. 

PATRIK. 



26. 
DAS ZAHLENSPIEL INTERESSIERT SIE ALSO, LIEBE FREUNDIN; 

das höre ich gerne. Sie hatten mich allzu oft sclilecht rezensiert, so- 
daß ich die Anerkennung brauchte. Und ich bedanke mich schön, daß 
Sie meinen Namen in demselben Satz bringen, in dem Sie Pythagoras 
nennen. Ganz abgesehen von dem Genuß, den Sie meiner Eitelkeit 
damit gewähren, beweist es mir, daß Sie das erste Erfordernis zum 
Kritisieren haben, die Fähigkeit, unbedenkHch einen Schulze, Müller, 
Lehmann oder Troll mit Goethe, Beethoven, Leonardo oder Pythagoras 
zu vergleichen. Es macht mir Ihre Äußerungen doppelt wertvoll. 

218 



kk 



Daß Sie nun gar Positives geben und midi auf die dreizehn als 
Zahl der Abendmahlsteilnehmer aufmerksam madien, und die Angst, 
der dreizehnte Tischgast müsse sterben, mit Christi Kreuzestod 
zusammenbringen, läßt mäch hoffen, Ihr Widerwille gegen mein Es- 
Gerede werde nach und nach sdiwinden. Aber warum muß es durdi- 
aus Christus sein? Auch Judas ist ein Dreizehnter und audi er 
mußte sterben. 

Ist Ihnen schon aufgefallen, wie eng diese beiden Ideen, Christus 
und Judas, miteinander verfloditen sind? lA sprach Ihnen früher ein- 
mal von der Ambivalenz im Unbewußten, von der menschlichen Eigen- 
tümlichkeit, in der Liebe den Haß, in der Treue den Verrat zu haben. 
Diese tief innerlidie unüberwindlidie Doppelheit des Menschen hat 
sich den Mythus des Judaskusses erzwungen, in dem alltägliches mensch- 
liches Handeln und Erleben symbolisiert ist. Ich möchte, daß Sie sich 
mit dieser Tatsache ganz vertraut machen, sie ist von großer Widitig- 
keit. So lange Sie das nicht wissen, nicht ganz von solcher Erkenntnis 
durchdrungen sind, verstehen Sie nichts vom Es. Aber es ist nidit 
leidit, solche Erkenntnis zu erwerben. Denken Sie an die höchsten 
Momente Ihres Lebens und dann suchen Sie, bis Sie die Judasgesinnung 
und den Judasverrat gefunden haben. Sie werden ihn immer finden. 
Als Sie Ihren Liebsten küßten, fuhr Ihre Hand empor, um das Haar 
zu halten, das sich lösen konnte. Als Ihr Vater starb — Sie waren 
damals noch jung — freute es Sie, zum ersten Male ein schwarzes 
Kleid zu tragen, Sie zahlten stolz die Kondolenzbriefe und legten mit 
o-eheimer Genugtuung die Beileids zeilen eines regierenden Herzogs 
obenauf. Und als die Mutter krank war, schämten Sie sich, weil Ihnen 
plötzlidi der Gedanke an die Perlenschnur durch den Kopf fuhr, die 
Sie nun erben würden; am Begräbnistage fanden Sie, daß Sie der 
Hut acht Jahre älter mache, und dabei dachten Sie nicht an Ihren 
Mann, sondern an das Urteil der Masse, vor deren Augen Sie ein 
Schauspiel sdiÖner Trauer aufführen wollten, recht wie eine Sdiau- 
spieferin und Hetäre. Und wie oft haben Sie eben so plump wie Judas 
die nächsten Freunde, Mann und Kinder um dreißig Silberlinge verraten 

219 



Denken Sie ein wenig diesen Ding-en nach! Sie werden finden, daß 
des Menschen Dasein von Anfang bis zu Ende mit dem erfüllt ist, 
was unser wägendes Urteil als verächtlichste und schwerste Sünde 
brandmarkt, mit Verrat. Aber Sie sehen auch sofort, daß dieser 
Verrat vom Bewußtsein fast nie als Schuld empfunden wird. Kratzen 
Sie jedodi das bißchen Bewußtsein, mit dem sich unser Es deckt, 
irgendwo ab, dann sehen Sie, wie das Unbewußte fortwährend die 
Verratshandlungen der letzten Stunden sichtet, die einen aus sich heraus 
wirft, die andern für den Gebrauch des morgigen Tages bereit legt, 
die dritten in die Tiefe verdrängt, um aus ihnen das Gift zukünftiger 
Erkrankungen oder den Wundertrank kommender Taten zu brauen. 
Schauen Sie aufmerksam in dieses seltsame Dunkel hinein, liebste 
Freundin. Hier ist ein Spalt, durch den Sie undeutlich, und fast 
verzweifelnd, die nebeiförmig treibenden Massen einer lebendigen 
Kraft des Es sehen können, des Schuldbewußtseins. Das Schuld- 
bewußtsein ist eines der Werkzeuge, mit denen das Es am Menschen 
sicher und ohne je zu stocken oder zu fehlen arbeitet. Das Es 
braucht dieses Schuldbewußtsein, aber es sorgt dafür, daß die Quellen 
des Schuldbewußtseins niemals vom Menschen ergründet werden; denn 
es weiß, daß im selben Auj^enblick, wo irgendwer das Geheimnis 
der Schuld aufdeckt, die Welt in ihren Fugen zittert. Deshalb häuft 
es Schrecken und Angst rings um die Tiefen des Lebens, ballt 
Gespenster aus den nichtigen Dingen des Tages, erfindet das Wort 
Verrat und den Menschen Judas und die zehn Gebote und verwirrt 
das Sehen des Ichs mit tausend Dingen, die dem Bewußtsein schuld- 
voll erscheinen, nur damit nie der Mensch dem tröstenden Worte glaubt: 
fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. 

Und da haben Sie Christus. So unabänderlich wie in jeder edlen 
Tat des Menschen der Verrat mitwirkend einhergeht, so unabänderlich 
ist in allem, was wir böse nennen, das Wesen des Christus — oder 
wie Sie nun dies Wesen nennen wollen — das Liebende, Gütige. Um 
das zu erkennen, brauchen Sie nicht erst den weiten Umweg zu 
machen, der über den mörderischen Dolchstoß hinweg auf den Urtrieb 
220 



des Mensdien führt, der aus Liebe in das Innere des Nebenwesens 
zu dringen sucht, um Glück zu geben und zu empfangen — denn der 
Mord ist letzten Endes nur Symbol verdrängter Liebeswut. — Sie 
brauchen den Diebstahl nicht erst zu analysieren, wobei Sie wiederum 
auf denselben alles gestaltenden Eros stoßen würden, der nehmend 
gibt. Sie brauchen nicht über Jesu Worte an die Ehebrecherin nachzu- 
denken: „Dir sind deine Sünden vergeben, denn du hast viel geliebt." 
In Ihren aütäglidien Handlungen finden Sie überall Aufopferung und 
Kindlidikeit genug, die Sie lehrt, was idi sagte: Christus ist überall, 

wo der Mensdi ist. 

Aber ich schwatze und schwatze und wollte Ihnen dodi bloß be- 
' greiflich machen, daß es Gegensätze nicht gibt, daß alles im Es vereint 
ist. Und daß dieses Es ganz nach Belieben eine und dieselbe Handlung 
als Grund zum Gewissenbiß oder zum Hochgefühl edler Tat verwendet. 
Das Es ist listig und es madit ihm nicht viel Mühe, dem dummen 
Bewußtsein weis zu madien, schwarz und weiß seien Gegensätze und 
ein Stuhl sei wirklich ein Stuhl, während dodi jedes Kind weiß, daß 
er auch eine Droschke ist und ein Haus und ein Berg und eine Mutter. 
Das Bewußtsein setzt sich hin, schwitzt und schwitzt vor Anstrengung, 
um Systeme zu erfinden und das Leben in Schubladen und Beutel zu 
tun, das Es aber schafft lustig und unerschöpflich an Kraft, was es 
will, und idi denke mir, ab und zu lacht es über das Bewußtsein. 

Warum ich das alles erzähle? Vielleicht mache ich mich über Sie 
lustig, vielleicht wollte ich Ihnen bloß zeigen, daß man von jedem Punkt 
aus das ganze Leben durdischweifen kann, eine Binsenwahrheit, die 
/ des Nachdenkens wert ist. Und damit gehe idi in einem kühnen 
Sprung wieder zu meiner Erzählung vom Federhalter zurück. Denn 
ich muß noch über das Bläschen am Munde etwas sagen. Vielleicht 
das Widitigste, jedenfalls etwas Seltsames, das Ihnen mehr über des 
Unterzeichneten Verdrängungen erzählen wird, als idi selber vor ein 

paar Jahren wußte. 

Das Bläschen am Munde — idi sagte es Ihnen schon früher ein- 
mal — bedeutet, daß ich gern küssen möchte, daß aber irgend ein 

221 



% 



1 



Bedenken dag^egen besteht, das mächtig genug ist, die obersten 
Schichten der Haut empor zu heben und die dadurch entstandene 
Höhlung mit Flüssigkeit zu füllen. Damit ist nicht viel anzufangen, 
denn, wie Sie wissen, küsse ich gern und wenn ich all die durchgehen 
wollte, die mir des Kusses wert scheinen und von denen ich nicht 
weiß, ob sie mich wieder küssen würden, würde mein Mund immer 
wund sein. Aber das Bläschen sitzt rechts und ich bilde mir ein, daß 
die rechte Seite die des Rechts, der Autorität, der Verwandsdiaft ist. 
Autorität? Unter meinen Blutsverwandten kommt da nur mein ältester 
Bruder in Betracht. Und der ist es wirklich, gegen den sich das Bläschen 
richtete. An jenem Tage war ich in meinen Gedanken unablässig mit 
einem bestimmten Kranken besdiäftigt. Das fiel mir, der ich im all- 
gemeinen den Grundsatz huldige, nicht mehr an meine Patienten zu 
denken, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat, der Selten- 
heit wegen auf, und bald wußte ich auch, was der Grund davon war: 
Jener Kranke hatte in seinen Gesichtszügen und noch mehr in seinem 
Wesen Ähnlichkeit mit meinem Bruder. Der Wunsch zu küssen ist 
damit erklärt. Er galt diesem Kranken, auf den ich die Leidenschaft 
für meinen Bruder übertragen hatte. Gelegenheit dazu gab die Tat- 
sache, daß der Geburtstag meines Bruders in jener Zeit war, und daß 
ich dem Kranken kurz vorher im Zustand der Bewußtlosigkeit gesehen 
hatte. Als Kind bin ich mehrmals Zeuge von sdiweren Ohnmächten 
meines Bruders gewesen ; die Form seines Kopfes steht mir aus jener 
Zeit noch deutlidi vor Augen, ich habe Grund anzunehmen, daß meine 
Neigung hauptsächlich durch diesen Anblick entstand. Die Ähnlidikeit 
der beiden Männer ist mir bei der Unbeweglichkelt der Gesichter klar 
geworden. 

Zum Zustandekommen des Bläsdiens gehört aber außer dem Kuß- 
wunsch die Abneigung gegen den Kuß. Die ist erklärlich genug. In 
unsrer Familie waren Zärtlichkeiten unter den Geschwistern streng 
verpönt. Es ist mir noch jetzt undenkbar, daß wir uns untereinander 
hatten küssen können. Aber es handelt sicli bei der Abneigung gegen 
den Kuß nicht blos um die Familientradition, sondern um die Frage 
222 



Bi 



der Homosexualität. Und bei der muß ich einen Augenblick ver- 
weilen. 

Ich bin, wie Sie wissen, von meinem zwölften Lebensjahre an in 
einem Knabeninstitut erzogen worden. Wir lebten dort völlig- von der 
übrig-en Welt abgeschlossen, innerhalb von Klostermauern und all unsre 
Liebesfähigkeit und unser Liebesbedürfnis richtete sich auf unsre 
Kameraden. Wenn ich an die sechs Jahre zurückdenke, die ich dort 
zugebracht habe, taucht sofort das Bild meines Freundes auf. Ich sehe' 
uns beide eag umschlungen durch den Kreuzhang- des Klosters schreiten. 
Von Zeit zu Zeit bricht der feurig- geführte Streit über Gott und die 
Welt ab und wir küssen uns. Es ist, glaube idi, nicht möglich, sich die 
Stärke einer verscliwundenen Leidenschaft vorzustellen, aber nach den 
vielen Eifersuchtsszenen zu schließen, in die sidi wenigstens von memer 
Seite aus oft genug Selbstmordphantasieen einmisditen, muß meine 
Neigung sehr groß gewesen sein. Ich weiß auch, daß damals die Liebe 
zum Knaben fast ausschheßlich meine Onsniephantasieen ausfüllte. 
Nach meinem Abgang; von der Sdiule bat meine Neigung zu diesem 
Freunde noch längere Zeit angehalten, bis sie ein Jahr spater auf 
einen Universitätskameraden übertragen wurde und von dem jäh auf 
seine Schwester übersprang. Damit war meine Homosexualität, die 
Neigung zu meinen eigenen Gesclilechtsgenossen, scheinbar erloschen. 
Ich habe von da an nur Frauen geliebt. 

Sehr treu und sehr treulos geliebt, denn ich besinne mich, daß 
idi stundenlang in Berlin umhergestrolcht bin wegen irgend eines 
weiblichen Wesens, das ich zufällig gesehen hatte, von dem ich nichts 
wußte und nie etwas erfuhr, das aber meine Phantasie Tage und 
Wochen lang bescliäfügie. Die Reihe solcher Traumgeliebten ist unendlich 
groß und sie hat sich bis vor wenigen Jahren fast täglich um dies 
oder jenes Wesen vermehrt. Das Charakteristische dabei war, daß meine 
wirklichen erotischen Erlebnisse nicht das Geringste mit diesen Geliebten 
meiner Seele zu tun hatten. Idi habe für meine Onaniesdiwelgereien 
so viel idi weiß, nicht ein einziges Mal ein weibliches Wesen gewählt, 
das idi wirklidi liebte. Immer Fremde, Unbekannte. Sie wissen, was 

223 



das bedeutet? Nein? Es bedeutet, daß meine tiefste Liebe einem 
Wesen o;ehörte, das ich nicht erkennen durfte, mit andern Worten 
meiner Schwester und hinter ihr der Mutter. Aber vergessen Sie nicht, 
daß ich das erst seit Kurzem weiß, daß ich früher nie gedacht habe.' 
ich könne Schwester oder Mutter beg-ehren. Man geht eben durch die' 
Welt, ohne das Geringste von sich selbst zu wissen. 

Zur Ergänzung dieses Liebeslebens mit Fremden, Unbekannten, 

die ich nie kennen zu lernen suchte, muß ich noch etwas sagen, obwohl 

es nur entfernt mit dem zusammenhängt, was idi eigentlich mitteilen 

wollte, mit der Homosexualität. Es bezieht sich auf mein Verhalten 

gegenüber den Frauen, an die midi wirkliche Liebe knüpfte. Nicht von 

einer, nein von jeder habe ich dasselbe verwunderliche Urteil gehört: 

„Wenn man mit dir zusammen ist, glaubt man dir so nahe zu sein, 

wie nie einem andern Menschen; sobald du Abschied nimmst, ist es, 

a]s ob du eine Mauer errichtetest, als ob ich dir völlig fremd wäre, 

fremder als irgend jemand sonst." Das habe icli selbst niemals gefühlt, 

wahrscheinlich, weÜ ich es gar nicht erlebt hatte, daß mir jemand nicht 

fremd war. Jetzt verstehe ich es aber: um lieben zu können, mußte 

idi die realen Menschen in der Entfernung halten, den Imagines von 

Mutter und Schwester künstlich annähern. Zu Zeiten muß das redit 

schwer gewesen sein, aber es war das einzige Mittel, die Leidenschaft 

lebendig zu erhalten. Glauben Sie mir, Imagines haben Madit. 

Und nun leitet mich das dodi wieder zu meinen homosexuellen 
Erfahrungen. Denn mit den Männern ist es mir ähnlich gegangen. 
Drei Jahrzehnte lang habe ich sie mir fern gehalten; auf welche Weise, 
kann idi nidit sagen, aber daß es mir in hohem Grade gelungen ist, 
beweist mein Kranken verzeidinis, das erst in den letzten drei Jahren 
wieder mehr männliche Namen enthält. Sie tauchen wieder auf, seit 
idi nicht mehr auf der Flucht vor der Homosexualität bin. Denn der 
Wunsch, dem Manne zu entfliehen, ist letzten Endes daran Schuld 
gewesen, daß ich von männlichen Kranken selten aufgesucht wurde. 
Lange Jahre hindurch habe ich nur Augen für das Weib gehabt, habe 
idi jedes Weib, das mir begegnete, prüfend angesehen und mehr oder 

224 



weniger geliebt, während all dieser Jahre habe ich auf der Straße, in 
Gesellschaft, auf Reisen, ja selbst ia Versammlungen von Männern nicht 
einen einzigen Mann wirkHch bemerkt. Ich habe an allen vorbei gesehen, 
selbst wenn ich ihnen stundenlang in die Augen sah. Sie gingen nidit 
in mein Bevirußtsein, in meine Wahrnehmung über. 

Das hat sidi geändert. Ich blicke jetzt ebenso nach dem Mann 
wie nach der Frau, sie sind beide für mich Menschen geworden, idi ver- 
kehre mit beiden gleich gern und es ist kein Unterschied mehr. Vor 
allem bin idi dem Manne gegenüber nicht mehr verlegen. Ich brauche 
die Mensdien mir nicht mehr zu entfremden; der tief verdrängte 
Inzestwunsch, der so unheimlich und ungeheuer gewirkt hat, ist bewußt 
geworden und stört nicht mehr. So wenigstens erkläre ich mir die 

Vorgänge. 

In gewisser Weise ist es mir auch mit Kindern so gegangen und 
mit Tieren und mit der Mathematik und mit der Philosophie. Aber das 
gehört in einen anderen Zusammenhang, wenn es auch verknüpft mit 
der Verdrängung von Mutter, Sdiwester, Vater und Bruder ist. 

So riditig mir nun diese Erklärung meines Wesens aus der Flucht 
vor Trolls erscheint, die ja für mich eine besondere Gattung Menschen 
sind — denn es gibt gute Mensdien und es gibt böse Menschen und 
es gibt Trolls — so einleuchtend es mir ist, daß ich gleichsam das 
Opernglas, mit dem ich meine Mitmenschen ansah, verkehrt benutzen 
mußte, um durch künstliches Fernsehen, durch Entfremdung sie meinen 
Imagines anzuähneln, so wenig genügt es, aUes zu erklären. Es laßt 
sidi eben nicht alles erklären. Eines aber kann ich noch sagen: ich 
brauche dieses gekünstelte Lieben und Entfremden, weil idi auf mich 
selbst eingestellt bin, mich selbst in gar nidit meßbarem Grade liebe, 
weil ich das habe, was die Gelehrten Narzißmus nennen. Der Narzißmus 
spielt eine große Rolle im Leben der Menschen. Besäße ich ihn nidit 
in so hohem Grade, so würde ich niemals geworden sein, was ich bin, 
würde audi nie verstanden haben, warum Christus sagt: Liebe deinen 
Näthsten wie didi selbst. Wie dich selbst, nicht etwa mehr als dich 
selbst. 

15 Groddeck, Das Buch vom Es 225 



Bei uns Trollkindern war eine Redensart Mode, die lautete Erst 
komme ich, dann komme ich noch einmal, dann kommt lange, lange 
nichts und dann kommen die Andern. 

Und denken Sie, wie spaßhaft! Ich besaß als kleiner Junge, als 

aditjähriger etwa, ein Stammbudi, in das die lieben Freunde Verse 

und Namen eintrugen. Auf der Schlußseite des Umschlags steht, in 

Umwandlung eines alten Spruchs, von meiner Handschrift geschrieben 

Wer dich lieber hat als ich, 

der schreibe sich nur hinter mich ! 

Dein Ich. 
So habe idi es damals gehalten und ich fürdite, viel anders bin 
i<ii nidit geworden. 

Immer der Ihre 

PATRIK TROLL. 



27. 

w 

DANK FÜR IHREN BRIEF, LIEBE FREUNDIN. ICH WERDE VER- 
suchen, wenigstens diesmal Ihrer Bitte um Sachlichkeit zu willfahren. 
Das Phänomen der Homosexualität ist wichtig genug, um es methodisch 
zu prüfen. 

Ja, ich bin der Ansicht, daß alle Menschen homosexuell sind, bin 
so sehr dieser Ansicht, daß es mir schwer fällt zu begreifen, wie jemand 
andrer Ansidit sein kann. Der Mensch liebt sidi selbst zunädist, liebt 
sich mit allen Leidenschaftsmöglichkeiten, sucht sich seinem Wesen nadi 
jede denkbare Lust zu verschaffen, und da er selber entweder Mann 
oder Weib ist, so ist er von vornherein der Leidenschaft zu seinem 
eigenen Geschledit Untertan. Das kann nicht anders sein und jede 
unbefangene Prüfung irgend eines beliebigen Menschen gibt den Be- 
weis dafür. Die Frage ist also niciit: ist die Homosexualität Ausnahme, 
ist sie pervers? Davon ist nidit die Rede; sondern sie lautet: warum 
ist es so sdiwer, dieses Phänomen der gleichgeschlechtlichen Leiden- 
schaft unbefangen zu sehen, zu beurteilen und zu besprechen, und dann, 

226 



wie 



kommt es, daß der Menscli trotz seiner homosexuellen Anlage es 
zu Stande bringt, auch für das entgegengesetzte Gesdiledit Neigung 
zu empfinden? 

Für die erste Frage findet sicii leicht eine Antwort. Die Päderastie 
ist mit Zudithaus bedroht, als Verbrechen gebrandmarkt, wird seit 
Jahrhunderten als sdiändliches Laster empfunden. Daß die große Mehr- 
zahl der Menschen sie nicht sieht, erklärt sich aus diesem Verbot. Es 
st nidit wunderbarer als die Tatsadie, daß so viel Kinder die Schwanger- 
schaften ihrer Mutter nicht sehen, daß fast alle Mütter nidit im Stande 
sind, die Geschlechtsäußerungen der kleinen Kinder zu sehen, daß 
niemand den Inzesttrieb des Knaben zu seiner Mutter deutiich gesehen 
hat, bis Freud ihn gesehen und beschrieben hat. Wer aber doch die 
Verbreitung der Homosexualität kennt, ist deshalb nod; längst nicht 
befähigt, ihr Wesen unbefangen zu beurteilen, und wer auch dazu die 
Kraft hat, sdiweigt lieber, als daß er sich auf den Kampf mit der 
Dummheit einläßt. 

Man sollte denken, daß eine Zeit, die sidi auf ihre Bildung etwas 
zu gute tut, die, weil sie selbst nicht denkt, Geographie und Gesdiidite 
auswendig lernt, daß eine sold\e Zeit wissen müßte: jenseits des 
ägäisdien Meeres, in Asien, beginnt das Reich der freien Päderastie 
und eine so hochentwickelte Kultur wie die der Griechen ist ohne An- 
erkennung der Homosexualität gar nicht denkbar. Ihr müßte zum min- 
desten das seltsame Wort des Evangeliums von dem Jünger Christi auf- 
gefallen sein, den Jesus lieb hatte und der an des Herrn Brust lag. Nidits 
von all dem. Gegen all diese Zeugnisse sind wir blind. Wir dürfen nicht 

sehen, was sichtbar ist. 

Zunächst ist es von der Klrdie verboten. Sie hat dies Verbot 
offenbar dem alten Testament entnommen, dessen GeUt jede Geschlechts- 
regung unter den Gesichtspunkt der Kindererzeugung zu bringen sudite 
und, als Ausfluß priesterlidier Maditgier, mit Vorbedacht die Urtriebe 
der Mensdiheit zu Sünden machte, um das bedrängte Gewissen zu 
unterjochen. Das war der diristhchen Kirdie besonders bequem, da sie 
mit der Verfludiung der Männerliebe die Wurzel der hellenisdien Kultur 

15- 227 



.^tfCL 



treffen konnte. Sie wissen, daß sich die Stimmen mehren, die gegen 
die Bestrafung der Päderastie protestieren, weil man fühlt, daß hier 
aus vererbtem Recht langst Unredit geworden ist. 

Trotz dieser wachsenden Einsicht ist eine baldige Änderung unseres 
Urteils über die Homosexualität nicht zu erwarten. Das hat einen ein- 
fachen Grund. Wir alle verbringen mindestens fünfzehn bis sechzehn 
Jahre, meistens unser ganzes Leben in der bewußten oder wenigstens 
halbbewußten Erkenntnis, homosexuell zu sein und so und so oft homo- 
sexuell gehandelt zu haben und nodi zu handeln. Es geht allen, wie 
es mir gegangen ist, daß sie zu irgend einer Zeit ihres Lebens eine 
übermenschlidie Anstrengung machen, diese nach Wort und Schrift 
verächtliche Homosexualität zu ersticken. Nicht einmal die Verdrängung 
gelingt ihnen, und um das andauernde, taghdie Sidiselbstbelügen durch- 
zuführen, unterstützen sie die öffentliclie Lästerung der Homosexualität 
und erleichtern sich so den inneren Kampf. Man macht eben bei der 
Betrachtung des Erlebens immer wieder dieselbe Entdeckung: Weil 
wir uns selbst als Diebe, Mörder, Ehebredier, Päderasten, Lügner 
empfinden, eifern wir gegen Raub, Mord und Lüge, damit nur niemand, 
am wenigsten wir selber zur Erkenntnis unsrer Lasterhaftigkeit kommen. 
Glauben Sie mir: was der Mensch haßt, verachtet, tadelt, das ist sein 
ureigenes Wesen. Und wenn Sie wirklich Ernst mit dem Leben und 
der Liebe madien wollen, mit der Vornehmheit der Gesinnung, so halten 
Sie sich an den Spruch : 

„Schilt nicht auf mich! 
Und fehle Ich, 
So bessre dich!" 
Idi kenne noch einen Grund, warum wir vor der Ehrlichkeit in 
homosexuellen Fragen zurückweichen, das ist unsre Stellung zur Onanie. 
Die Wurzel der Homosexualität ist der Narzißmus, die Selbstliebe und 
Selbstbefriedigung. Der Mensch, der dem Phänomen der Selbstbefrie- 
digung unbefangen gegenüber steht, soll noch geboren werden. 

Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß ich bisher nur von der gleich- 
gesdilechtlichen Liebe zwischen Männern gesprodien habe. Das ist 
228 



r 



i 



^ 






begreiflidi, weil ich aus einer Zeit stamme, in der man so tat — oder 
glaubte man es wirklich? — daß es eine weiblidie Sinnlichkeit außer j 

bei einigen verworfenen Dirnen nidit gäbe. In dieser Hinsicht kann 
man das vergangene Jahrhundert beinahe spaßhaft nennen; nur sind 
leider die Folgen dieses Spasses böse. Es kommt mir so vor, als ob 
man sich neuerlich wieder auf die Existenz von Brüsten, Scheide und 
Kitzler besinne und als ob man sogar den Gedanken gestatte, daß es 
einen weibHchen After mit Kack-, Furz- und Wollustgelegenheiten gäbe. 
Aber vorläufig ist das dodi nur die Geheim Wissenschaft der Frauen 
und einiger Männer. Die große Masse des Publikums scheint das Wort 
homosexuell von Homo = Mann abzuleiten. Daß die Uebe von Weib 
zu Weib alltäglich ist und sidi offen vor Jedermauns Augen abspielt, 
bemerkt man kaum. Trotzdem bleibt es eine Tatsache, daß eine Frau 
ohne jede Scheu jedes andere weibliche Wesen, wes Alters es auA 
sein mag, küssen und herzen darf. So etwas ist eben nicht „homo- 
sexuell", ebensowenig wie die weibliche Onanie „Onanie" ist. So etwas 

gibt es ja gar nicht. 

Darf ich Sie an ein kleines Abenteuer erinnern, das wir gemeinsam 
erlebten : Es muß etwa 1912 gewesen sein; der Kampf um die moralisdie 
Verurteilung der Homosexualität ging damals besonders hodi, weil das 
deutsche Strafgesetzbud. neu bearbeitet wurde; man hatte vorgeschlagen, 
aud. das weibliche Geschlecht unter den Paragraphen 175 2U stellen. 
Ich war bei Ihnen und weil wir uns ein wenig gezankt hatten, uns aber 
doch bald wieder versöhnen wollten, hatte ich eine Zeitsdinft .ur Hand 
genommen und blätterte darin. Es war der Kunstwart und darin war 
ein Aufsatz, in dem eine der höchstgeaAteten Frauen Deutsciilands 
sich über weibliche Homosexualität äußerte. Sie nahm scharf gegen den 
Vorschlag, die Liebe von Weib zu Weib zu bestrafen. Stellung, memte, 
damit werde der Aufbau der Gesellsciiaft in ihren Grundfesten er- 
schüttert, iedenfaU müsse man, wenn man das Strafgesetz auf die 
Frauen ausdehnen wollte, die Zahl der Gefängnisse vertausendfachen. 
Id. sdiob Ihnen in der Hoffnung, ein harmloses Gesprädisthema ge- 
funden zu haben, bei dem wir unseren gegenseitigen Groll verplaudern 

229 



könnten, das Blatt hin, aber mit einem kurzen „Ich habe es schon ge- 
lesen", wiesen Sie meine Annäherung zurück. Die Versöhnung- kam 
dann auf andre Weise zu Stande, aber am selben Abend erzählten Sie 
mir ein kleines Geschiditchen aus Ihrer Mädchenzeit, wie Ihre Kusine 
Lola Ihre Brust geküßt hatte. Ich habe daraus geschlossen, daß Sie die 
Meinung jener Kämpferin für Straflosigkeit der sapphischen Liebe teilten. 
Für midi wurde damals die Frage der Homosexualität gelöst: 
dieser Angriff auf Ihre Brust machte mir auf einmal klar, daß die 
Natur selbst die Erotik zwischen Weib und Weib erzwingt. Denn 
schüeßlidi werden kleine Mädchen nicht von ihren Vätern, sondern von 
den Müttern gestillt, und daß das Saugen an der Brustwarze ein 
Wollustakt ist, weiß jede Frau — und auch der Mann. Daß es kind- 
hche und nicht erwachsene Lippen sind, die diese Wollust hervorrufen, 
macht höchstens insofern einen Unterschied, als das Kind sanfter und I 

süßer die Brust umschmeidielt, als es der Erwachsene jemals vermag. 
Die Schreiberin jenes Artikels scheint mir in nodi ganz anderm Sinne 
Redit zu haben, wenn sie behauptet, die Grundfesten des menschlichen 
Lebens werden durch die Bestrafung der Homosexualität erschüttert, 
denn auf den geschleditlichen Beziehungen von Mutier und Tochter, 
von Vater zu Sohn beruht die Welt. 

Nun kann mann ja frisdiweg behaupten — und tatsächlich wird es 
behauptet — die Menschen seien bis zur Zeit der Pubertät, als Kinder 
also, samt und sonders bisexuell, um dann in ihrer großen Mehrzahl 
zu Gunsten des andern Geschlechts auf die Liebe zum eigenen zu 
verziditen. Aber das ist nicht richtig. Der Mensch ist bisexuell sein 
Leben lang und bleibt es sein Leben lang und höchstens erreicht dieses 
oder jenes Zeitalter als Konzession für seine modische Sitthchkeit hie 
und da, daß bei einem Teil — einem recht kleinen Teil — die Homo- 
sexualität verdrängt wird, womit sie aber nicht vernichtet, sondern nur 
eingeengt ist. Und ebenso wenig wie es rein heterosexuelle Menschen 
gibt, ebenso wenig gibt es rein homosexuelle. Um das Schicksal, neun 
Monate lang im Bauch einer Frau zu stecken, kommt selbst der leiden- 
schaftlichste Urning nicht herum. 

230 




Die Ausdrücke „homosexuell" und „heterosoxuell" sind eben Worte, 
Kapitelübersdiriften, unter die jeder schreiben kann, was er will. Irgend 
ein fester Sinn liegt nicht darin. Es Ist Stoff zum Schwatzen. 

Viel merkwürdiger als die Liebe zum eigenen Gesdilecht, die [a 
als unbedingte Notwendigkeit aus der Selbstiiebe folgt, ist es für midi, 
wie die Liebe zum fremden Gesdilecht zustande kommt. 
^ Bei dem Knaben sdieint mir die Sadie einfadi zu Hegen. Der 
Aufenthalt im Mutterleibe, die langjährige Abhängigkeit von der weib- 
lichen Pflege, alle die Zärtlichkeiten, Freuden, Genüsse und Wunsch- 
erfüllungen, die ihm nur die Mutter gibt und geben kann, sind ein so 
starkes Gegengewicht gegen den Narzißmus, daß man nicht weiter 
zu suchen braudit. Aber wie kommt das Mäddien zum Anschluß an 
das männlidie Geschlecht? Ich fürdite die Antwort, die idi darauf 
gebe, wird Ihnen ebenso wenig genügen, wie sie mir genügt. Oder. 
um es noch deutlicher zu sagen, id. weiß keinen ausreidienden Grund 
zu nennen. Und da ich eine nidit unbegründete Abneigung habe, mit 
dem Wort Vererbung zu spielen, da idi von der Vererbung nldit 
mehr weiß, als daß sie existiert und zwar in ganz anderer Weise 
existiert, als man gewöhnUdi annimmt, sehe idi midi genötigt zu 
schweigen. Nur einige Fingerzeige mödite idi geben. Zunädist läßt «ich 
feststeUen. daß die Vorliebe des Töd^terdiens für den Vater sehr fnih 
entsteht. Die Bewunderung für die überlegene Kraft und Große des 
Mannes müßte, wenn sie eine der Urquellen ^er weibh^en Hetero- 
sexualität ist. als ein Zeidien originaler UrteUskraft des Kmdes aufgefaßt 
werden. Aber wer soll feststeUen, ob diese Bewunderung ursprungl.dl 
ist oder erst im Laufe der Zeit eintritt? Genau dieselbe Unklarheit 
stört midi einem zweiten Faktor gegenüber, der später die Beziehung 
des Weibes zum Manne stark beeinflußt, dem Kastrationskomplex. 
Irgendwann entdeckt das kleine Mäddien den Mangel, den sie von 
Natur hat, und irgendwann - gewiß sehr früh - gibt sidi der Wunsd. 
kund sidi das männlidie Glied wenigstens durd, Liebe zu leihen, wenn 
es durdiaus nidit wadisen wül. Gälte es. die weibUdie Heterosexualität 
aus dem Verlauf der ersten Ubensjahre abzuleiten, so wäre es leidit, 

231 



t 



1 



ausreichende Gründe dafür zu finden. Aber die Zeichen der Bevorzugung 
des Mannes, der sexuellen Bevorzugung, treten in so jungen Tagen 
auf, daß sidi mit derlei Gedankenspielen nicht viel erriditen läßt. 

Ich merke, daß ich anfange zu faseln, will Ihnen also lieber statt aller 
Gelehrtheit nocb etwas von mir selber und von der Zahl 83 erzählen. 
Im Jahre 83 fiel das ominöse Wort über die Onanie, von dem ich 
berichtete, bald darauf erkrankte idi am Scharlach und als ich genesen 
war. befiel mich die große Leidenschaft für den Knaben, mit dem 
ich im Kreuzgang herumging und den ich küßte. Ich habe Ursache, 
das Jahr 83 in meinem Unbewußten aufzubewahren. 

Eine andere Kleinigkeit muß Ich noch nachholen. Ich sagte Ihnen 
von den Ohnmächten meines ältesten Bruders, die ich als besonders 
wichtig für die Ausbildung meiner Homosexualität betrachte. Eine dieser 
Ohnmächten, die mir am deutlichsten im Gedä<iitnis geblieben ist, fand 
auf dem Klosett statt. Die Tür mußte aufgebrochen werden und sowohl 
d,e Gestalt meines Vaters mit der Axt in der Hand wie die meines 
bewußtlos dasitzenden, nach hinten gesunkenen Bruders mit dem ent- 
blößten Unterleibe sind mir noch ganz gut erinnerlich. Wenn Sie be- 
denken, daß das Aufbrechen der Tür die Symbolik des geschleditlichen 
Emdrmgens m emen Menschenleib enthält, daß sich hier also für mein 
symbolisches Empfinden der Akt zwischen Mann und Mann vollzog, daß 
weiterhin die Axt den Kastrationskomplex aufwühlte, haben Sie An- 
knüpfungspunkte für allerlei Überlegungen. Zum Schluß gebe ich Ihnen 
nodi zu erwägen, daß auch die Gleichsetzung von Entbindung und Kot- 
entleerung in Kraft trat und daß das Klosett der Platz ist. an dem das Kind 
seine Beobachtungen über die Geschlechtsteile der Eltern und Geschwister, 
speziell des Vaters oder älteren Bruders anstellt. Das Kind ist gewöhnt, 
von Erwachsenen dorthin begleitet zu werden, erlebt oft genug, daß 
der Begleiter sein Geschäft gleichzeitig besorgt, und gewöhnt sein 
Unbewußtes daran, Kloselt und Sehen nach den Geschlechtsteilen 
zu identifizieren, ähnlich wie er später Klosett und Onanie zusammen 
in eine Schublade der Verdrängung tut. Sie werden ja auch wissen, 
daß der Homosexuelle besonders gern öffentiidie Bedürfnisanstalten 
232 






i 



aufsucht. Alle sexuellen Komplexe stehen eben in engem Verwandtschafls- 
verhältnis zur Kot- und Urinentleerung. 

Es fällt mir auf, daß idi meine Betrachtungen über die Entstehung 
der HeteroSexualität mit Erinnerung-en an meine Brüder und an After- 
komplexe unterbrochen habe. Der Grund dafür liegt im heutigen Datum. 
Es ist der 18. August. Seit etwa vier Wochen erzählt mir jener 
Kranke, der midi an meinen Bruder erinnert, daß vom 18. August an 
seine Behandlung keine weiteren Fortschritte machen werde. Tatsächlich 
ist heute auch eine Verschlimmerung seines Leidens eingetreten. Leider 
weiß er mir die Ideen seines Unbewußten, die den 18. August für 
ihn kritisch machen, nicht anzugeben, ich meinerseits aber fühle mich 
unbehaglidi, weil ich den Grund seines Widerstandes nicht kenne und 
allerlei Schwierigkeiten für die nächste Zeit voraussetze. 

Die Frage, wie die Neigung des kleinen Mäddiens zum Manne 
entsteht, ist für midi vorläufig unlösbar und ich überlasse sie Ihnen 
zur Beantwortung. Meinerseits mödite idi die Vermutung aussprechen, 
daß die Frau in ihrer Erotik viel freier der Tatsadie der zwei Ge- 
schlechter gegenüber steht; es kommt mir vor, als ob sie ein ziemlich 
gleiches Quantum Liebesfähigkeit für ihr eigenes und für das entgegen- 
gesetztfe Geschledit habe, das sie je nadi Bedürfnis ohne große Sdiwierig- 
keiten gebraudien kann. Mit andern Worten, mir sdieint, daß bei ihr 
weder die Homosexualität nodi die HeteroSexualität tief verdrängt 
wird, daß dieses Verdrängte ziemlidi oberfladiHdi liegen bleibt. 

Es ist immer mißlidi, Qualitätsgegensätze zwisdien Mann und 
Frau anzunehmen; man darf dabei nidit vergessen, daß es im wirklidien 
Sinne weder Mann nod. Frau gibt, jeder Mensdi vielmehr eine Misdiung 
von Mann und Weib ist. Unter dieser Einsdiränkung bin idi geneigt 
zu behaupten, daß die Frage der HomosexuaUtät oder Heterosexualität 
im Leben des Weibes wenig zu bedeuten hat. 

Idi füge nodi eine weitere Vermutung hinzu: daß die Bindung an 
das eigene Gesdiledit beim Weibe stärker ist als beim Manne, was 
mir tatsädilidi bewiesen ist. erklärt sidi daraus, daß die Selbstliebe und 
die Liebe zur Mutter zum gleichen Gesdiledit treiben. Dem gegenüber 

233 



steht, so viel ich sehe, nur ein widitiger Faktor, der zum Mann 
hinführt, der Kastrationskomplex, die Enttäuschung-, Mädchen zu sein 
und der darausfolgende Haß gegen die Gebärerin und der Wunsch, 
Mann zu werden oder wenigstens einen Knaben zu gebaren. 

Beim Manne ist die Sache anders. Bei ihm handelt es sich, glaube 
ich, gar nidit allein um die Frage der Homosexualität oder Hetero- 
sexualität, sondern mit dieser Frage ist unlösbar verschmolzen die Frage 
des Mutterinzestes. Der Trieb, der verdrängt wird, ist die Leidenschaft 
für die Mutter und diese Verdrängung reißt unter Umständen die 
Neigung für die Frauen mit sich in die Tiefe. Vielleidit mögen Sie 
davon später mehr hören ? Es sind leider nur Vermutungen. 

PATRIK. 



28. 
DAS IST KEIN ÜBLER GEDANKE, DIE BRIEFE ZU VERÖFFENT- 
lichen. Dank, lieb| Freundin, für die Anregung! FreiHch, halb haben 
Sie mir die Lust dazu wieder genommen. Denn wenn Sie es wirklidi 
ernst meinen, daß ich sie überarbeiten soll, lasse ich midi nidit darauf 
ein; i(Ji habe Arbeit genug in meinem Beruf. Die Schreiberei an den 
Briefen betreibe ich zu meinem Vergnügen, und Arbeit ist kein Ver- 
gnügen für midi. 

Aber ich hoffe, es ist nicht Ihr Ernst. Ich kann mir lebhaft vor- 
stellen, wie widitig Sie es nahmen, als Sie mir von den Fehlern und 
Übertreibungen, Widersprüchen und unnötigen Witzen schrieben, die 
nett im freundschaftlichen Verkehr, aber in der Öffentlichkeit un- 
möglidi sind ; das ist solch Rückfall in die Zeit, wo Sie Ihr Lehrerinnen- 
examen gemacht hatten. Ich habe es immer sehr gern gemodit, wenn 
Sie auf einmal würdig wurden; mir war dann, als ob Sie demnächst 
warnend den Zeigefinger erheben würden, ich legte in fröhlicher Spolt- 
phantasie Ihre rechte Hand auf den Rücken, tat in Gedanken einen 
Rohrstock hinein und setzte Ihnen eine Brille auf die Nase. Und dann kam 

234 



mir diese ins Weibliche, Liebreizende übertragene Lehrer-Lämpel-Figur 
so unwiderstehlich vor, daß idi Sie absiditlich eine ganze Weile weiter 
dozieren ließ, nur um mich am Kontrast Ihres Wesens und Ihres 
Scheines zu ergötzen. Heute aber will ich auf Ihre ernsthafte Mahnung 
ernsthaft eingehen. 

Warum soll idi meinen Mitmenschen die Freude verderben, Fehler 
in diesen Briefen zu finden? Ich weiß, wie unerträglich untadelige 
Mensdien wirken — hei uns Trolls wurden sie Preßengel genaunt — 
Idi weiß, wie viel Vergnügen es mir macht, irgendwo eine Dummheit 
zu entdecken, und idi bin nicht lieblos genug, das andern Leuten zu 
mißgönnen. Außerdem bilde idi mir ein, so viel Brauchbares zu geben, 
daß es auf das Unbrauchbare nicht ankommt. Ich will oder idi muß 
mir das einbilden, sonst geht die Selbstanbetung verloren und ohne 
die mag ich nicht leben. Es ist derselbe Vorgang, wie idi ihn bei der 
Besprediung von Ausschlagen im Gesicht, von Gestank aus dem Munde 
zu deuten versuchte. Man weiß nidit genau, ob eine Neigung erwidert 
wird, mödite es gerne wissen und schafft sich deshalb irgend etwas 
Abstoßendes an. „Gefalle ich meiner Angebeteten auch mit einer ver- 
schnupften Nase oder mit Sdiweißfüßen, dann ist ihre Liebe echt", so 
denkt das Es. So denkt die Braut, wenn sie Launen hat, so denkt 
der Bräutigam, wenn er Wein trinkt, ehe er zur Geliebten geht, so 
denkt das Kind, wenn es ungezogen ist, und so denkt mein Es. wenn 
es Fehler in meine Arbeiten hineinsetzt. Ich werde die Fehler stehen 
lassen, wie sie in meinen früheren VeröffenÜidiungen trotz freund- 
sdiaftlidier und feindsdiaftlidier Mahnungen stehen geblieben sbd. 

Vor einigen Jahren sdiidtte ich einmal ein Manuskript an einen 
guten Freund, auf dessen Urteil idi viel gab. Er schrieb mir einen 
reizenden Brief mit vielen Lobeserhebungen, meinte aber, das Ding 
sei viel zu lang und viel zu derb. Es schaue aus wie ein Embryo mit 
unheimlidi stark entwickelten Gesdiledits Werkzeugen. Ich solle kürzen, 
kürzen, kürzen, dann werde es ein sdiÖnes Kind sein. Und um zu 
erfahren, was idi wegstreichen müsse, solle ich es madien wie jener 
Mann, der gern freien wollte. Wenn der merkte, daß er nahe daran 

^ 235 



war, sidi zu verlieben, richtete er es so ein, daß er sofort nach der 
präsumptiven Herrin seines Herzens auf das Klosett ging-. „Riedit es 
mir lieblich, wie frisdi gebackener Kuchen, so liebe ich sie. Stinkt es, 
so lasse idi sie laufen." Ich habe nadi dem Rezept meines Freundes 
gehandelt, aber alles, was ich geschrieben hatte, roch mir nach Kuchen, 
und ich habe nichts gestrichen. 

Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Wir lassen die Dumm- 
heiten ruhig stehen, Sie schreiben mir aber jedesmal, wenn Sie einen 
Fehler finden. Ich werde dann ein paar Briefe später den Fehler 
korrigieren. Dann hat der gewissenhafte Leser mit der Lehrer-Lämpel- 
Attitüde seinen Spaß und ein paar Seiten später beim Lesen der 
Verbesserung ärgert er sich und wir haben unsern Spaß. Abgemadit? 

Nun also zu den Fehlern, die ich durchaus wegschaffen soll. Zu- 
nächst ist es die Gesdiichte von Evas Ersdiaffung. Sie hat von vorn- 
herein Anstoß bei Ihnen erregt. Und jetzt fahren Sie gar das schwere 
Gesdiütz der Wissenschaft auf und beweisen mir, daß diese Sage 
nicht aus der Volksseele stammt, sondern der absichtlichen Bearbeitung 
des alten Testaments durch Priester ihr Dasein verdankt. Vermutlich 
haben Sie damit Recht; wenigstens habe ich es so aucJi einmal gelesen. 
Aber es hat mich kalt gelassen wie vieles andere. Für mich ist die 
Bibel ein unterhaltendes, nachdenkliches Buch mit schönen Geschichten 
die doppelt merkwürdig sind, weil man Jahrtausende lang an sie ge- 
glaubt hat und weil sie für die Entwicklung Europas unermeßlich viel 
und für jeden Einzelnen von uns ein Stück Kindheit bedeuten. Wer 
diese Geschichten erfunden hat, interessiert meine historische Wiß- 
begierde, den Mensdien in mir berührt es nitJit. 

Ich gebe zu, die Priester haben die Geschichten erfunden. Darin 
haben Sie Recht. Nun ziehen Sie aber daraus den Schluß, diese 
Schöpfungssage könne nicht, wie es von mir versudit worden ist, als 
Beweis für die Kindertheorie benutzt werden, daß das Weib durd» 
Kastration aus dem Manne entsteht. Darin haben Sie Unrecht. Idi 
wage nicht zu behaupten, daß das Kind von Anfang an die Idee der 
Kastrationsschöpfung hat, halte es vielmehr für wahrscheinlidi, daß es 

236 






urspriing-lich zum mindesten den Geburtsmedianismus so genau kennt, 
wie er durch Seihsterleben kennen gelernt werden kann. Auf diese 
ursprüngliche Kenntnis wird dann, genau wie es im alten Testament 
geschehen ist, die Kastrationsidee von den Kindheitspriestern, Eltern 
und sonstigen Weisen, aufgepfropft, und wie die jüdisdi-chrisÜiche 
Menschheit Jahrtausende lang das Kunstmarclien der Priester geglaubt 
hat, so glaubt das Kind das Kunstmärchen seiner eigenen Beobachtung 
und der erziehenden Lüge. Und wie der Glaube an die Erschaffung 
Evas aus Adams Rippe an der tausendjährigen Mißachtung des Weibes 
mit all seinen bösen und guten Folgen mitgewirkt hat und mitwirkt, 
so gestaltet der Kastrationsgiaube an unserer eigenen Seele stetig weiter 
bis an unser Ende. Mit andern Worten: es ist ziemlidi gleidigültig, 
ob eine Idee selbständig wachst oder von außen aufgezwungen wird. 
Es kommt darauf an, ob sie bis in die unbewußten Tiefen sid. ausbreitet. 
Bei dieser Gelegenheit will Ich auch über die Erschaffung AdamS 
ein TroUwort sagen. Er wird, wie Sie wissen, dadurch beseelt, daß 
Jehovah ihm lebendigen Odem in die Nase blast. Dieser eigentümliche 
Weg durch die Nase ist mir immer aufgefallen. Danach, so sagte id» 
mir, muß es etwas Riechendes sein, was Adam Leben gibt. Was das 
für ein Riechendes war, wurde mir klar, als ich Freuds Erzählung vom 
kleinen Hans las. Mir wurde es klar, aber Sie brauchen meine Er- 
klärung nidit anzunehmen. Der kleine Hans ist - in seiner kmdhdien 
Weise - der Ansicht, daß der „Lumpf". die Stuhlgangswurst, ungefähr 
dasselbe ist wie ein Kind. Ihr ergebener Troll hat die Idee, daß jene 
alte Gottheit den Menschen auch aus seinem Lumpf schuf, daß das 
Wort „Erde" nur aus Schicklichkeitsgründen an SteUe des Wortes 
Kot" gesetzt wurde. Der lebendige Odem würde dann mitsamt semem 
belebenden Duft, aus derselben Öffnung geblasen worden sein, aus 
der der Kot kam. SchlIeßUch ist ja wohl audi das Menschengeschlecht 

einen Furz wert. 

Wie ist es nun, verehrte Freundin, habe idi in die Erzählung vom 
Adam die Kindertheorie von der Geburt aus dem After hineingedeutet, 
oder ist sie auf Grund der ungemeinen Erleichterung, die auch die 

237 



Dichter der Bibel wie jeder andere nach der Entleerung empfindet, 
gewachsen ? 

Der zweite Fehler, auf den Sie mich aufmerksam machen, hat 
mich nachdenklich gemacht. Er wäre leicht zu entfernen, aber ich lasse 
audi ihn stehen. Lassen Sie mich sagen, weshalb. Ich habe bei der 
Besprechung des Kastrationskomplexes eine Episode aus dem Reineke 
Fuchs erzählt und habe dabei Isegrim dem Wolf eine Rolle zugeschrieben, 
die eig-entlich Hinz der Kater hat. Die Ursachen dieser Verwechslung 
sind, glaube ich, verwickelt. Ich zweifle, ob ich sie entwirren kann. 

Eins ist ohne weiteres klar: der Wolf komplex in mir ist so 
mächtig, daß er Dinge an sich reißt, die gar nicht dazu gehören. Zur 
Ergänzung dessen, was ich darüber schon gesagt habe, erzähle ich 
ein Abenteuer aus meiner Kindheit. Lina und ich haben einmal — wir 
werden 10 und 11 Jahre alt gewesen sein — zusammen mit einigen 
Freunden das Tiecksche Rotkäppchen aufgeführt. Mir war die Rolle des 
Wolfs zuerteilt und ich habe sie mit besonderer Passion gespielt. Unter 
den Zuschauern befand sich ein kleines fünfjähriges Mädchen, Paula 
genannt. Ich habe diese Paula, die ein besonderer Günstling meiner 
Schwester war, gehaßt, und es war mir eine Genugtuung, daß sie 
während der Vorstellung aus Angst vor dem Wolf zu heulen anfing. 
Das Spiel mußte unterbrochen werden, ich ging zu ihr, nahm die 
Wolfsmaske ab und beruhigte sie. Es ist das erste Mai gewesen daß 
sich jemand vor mir gefürchtet hat und, auch meines Wissens das erste 
Mal, daß ich Schadenfreude empfand. Und es war der Wolf der 
Furcht einflößte. Das Ereignis ist mir im Gedächtnis geblieben, wohl 
' auch deshalb, weil unter den Mitspielern außer meiner Schwester die 
mehrfach erwähnte Alma und ein Namensvetter von mir Patrik war, 
bei dem ich die erste Elrektion gesehen habe. 

Dieser Namensvetter war eigentlich ein Kamerad meines Bruders 
Wolf, also einige Jahre älter als ich. Er war jedoch aus irgend welchen 
Gründen in der Vorschule, die ich besuchte, geblieben, als Wolf zum 
Gymnasium überging. Wir Jungens badeten damals viel im Sommer und 
hatten alle zusammen eine Badekabine. In der führte uns der Namensvetter 

238 




die Erektion vor, hat wohl audi irgendwie Ooaniebewegung'en gemacht, 
wenigstens wies er auf ein helles fadenziehendes Sekret hin, das in 
einem Tropfen aus der Harnröhre hing und von dem er behauptete, 
es sei der Vorläufer der Samenergießung, für die er bald reif genug 
sei. Für meine Erinnerung ist dieses Vorkommnis dunkel geblieben, 
ich habe die Empfindung, als hätte ich die ganze Sache nicht verstanden, 
ihr nur unbehelligt als irgend etwas Neuem zugeschaut. Dagegen ist 
mir eine andre Spielerei noch lebhaft in Erinnerung. Der Namensvetter 
sdilug Glied und Hodensack nadi hinten, klemmte sie zwischen die 
Sdienkel und behauptete nun ein Mädchen zu sein. Idi habe das oft selbst 
vor dem Spiegel wiederholt, und jedesmal ein seltsames Wollustgefiihl 
dabei gehabt. Ich halte das Ereignis für besonders wichtig, weil es 
den Kastrationswunsch ohne Beimengung von Angst rein zeigt. Für 
midi persönlich habe idi niemals an diesem Kastrationswunsch zweifeln 
können ; des beweisen hie und da auftretende Phantasieen, in denen ich mir 
die Empfindung des Weibes während des Beischlafs vorzustellen suchte: 
wie das Glied in die enge Öffnung eingeführt wird und darin hin und 
her bewegt wird und was für Gefühle das auslöst. Aber ich habe 
auch seit jenem Tage mit der Madchenwerdung des Namensvetters 
auf andre Männer geaditet und feststellen können, daß der angstlose 
Wunsdi, Mädchen zu sein, allen Männern gemeinsam ist. Man braucht 
dazu nicht langwierige Forschungen anzustellen. Man brauclit nur ein 
wenig die Liebesspiele zwischen Mann und Weib zu beobachten, dann 
weiß man, daß die Variation, bei der der Mann unter dem Weibe Hegt, 
Überall gelegentlich vorkommt, wie denn an dem sogenannten normalen 
Geschlechtsakt, dem zuliebe alles andre pervers genannt worden ist, 
auf die Dauer wohl nodi nie ein Menschenpaar festgehalten hat. Halt 
man es der Mühe für wert, sich näher mit dem Gegenstand zu be- 
sdiäftlgen — und wenigstens der Arzt sollte soviel Wißbegierde auf- 
bringen — so wird man leidit ähnliche bewußte Phantasieen bei Freunden 
und Bekannten finden, wie idi sie vorhin erzählte, und wenn es wirklidi 
einmal vorkommt, daß solche weiblichen Wünsche ganz aus dem Be- 
wußtsein verdrängt sind, genügt es, diese normal Sexuellen zu einer 

■ ' 239 



\\ 



Analyse ihres Verhaltens beim Essen, noch mehr beim Trinken, beim 
Zähnebürsten, beim Reinicren der Ohren zu bring-en. Die Assoziationen 
springen dann bald zu allerlei andern Gewohnheiten über, zum Rauchen, 
zum Reiten, zum Bohren in der Nase und andern Ding-en. Und wo 
all das versagt, weil der Widerstand des MännlichsdieinenwoUens zu 
groß ist, gibt es die Alltagsformen der Erkrankungen, die Verstopfungen 
mit ihrem lustbefriedigenden Hin durchpressen des Kots durch die After- 
öffnung, die Hämorrhoiden, die den Kitzel an dieser Pforte des Leibes 
lokalisieren, die Auftreibung des Bauches mit ihrer Schwangerschafts- 
symbolisierung, das Klystier, die Morphiuminjektion und die tausendfältige 
Verwendung des Impfens, wie es in unsrem Verdrängungszeitalter Mode 
geworden ist, der Kopfschmerz mit seiner Verwandtschaft zu den Wehen» 
das Arbeiten und Sdiaffen am Werk, am Geisteskinde des Mannes. 
Stellen Sie meine Behauptung auf die Probe, bestürmen Sie hier, 
bestürmen Sie dort die Widerstände des Mensdien, eines Tages — meist 
sehr bald — kommt die Erinnerung, wird bewußt, was verdrängt war, 
und es heißt dann wie bei uns weniger Normalen: „Ja, ich habe an 
der Brust eines Weibes gesogen, und wenn ich es nicht wirklich tat, 
so stellte ich mir es doch vor; ja, ich habe den Finger in den After 
eingeführt, und es war nicht nur der Juckreiz, den idi besdiwiditigen 
wollte; ja, ich weiß, daß in mir der Wunsdi wadi werden kann, Weib 



zu Sern. 



Aber idi sdiwatze und gebe nidit Auskunft, warum idi an Stelle 
des Katers den Wolf zum Kastrator machte und warum aus dem 
Pfarrer, der in jener Szene des Reineke Fuchs der Gesdilechtsteile 
beraubt wird, ein Bauer werden mußte. 

Für die zweite Verwechslung ist der Grund leicht zu erraten. Vom 
Pfarrer zum Pater, Vater, der kastriert werden soll, ist nur ein Sdiritt 
und an das Wort Pater reiht sidi Patrik des Klanges wegen. Die 
Bedrohung der eignen Person durch die Zähne des Tiers nötigte mich 
zur Verdrängung und zum Gedäditnisfehler. Der sonderbare Humor 
des Es zeigt sich dabei. Es läßt zu, daß meine Angst den Pater-Patrik 
beseitigt, zwingt mich aber dazu, statt seiner einen Bauern zu nehmen 

240 



und Georg- — Bauer — ist, wie Sie wissen, mein zweiter Taufname. 
So verspotteu wir uns selber. . . , 

Warum habe ich aber den harmlosen Kater und Mausefäng-er in 
den weit gefährUcheren Wolf verwandelt ? Pater und Kater, das reimt 
sich und wer wie Sie reimlustig ist, dichtet dazu Vater, und das Un- 
bewußte ist oft reimlustig. Der Vater also wurde verdrängt. Der ist 
freilich furchtbarer als der Wolf. Er hatte Messer genug, denn er war 
Arzt, und während Bruder Wolf höchstens ein Taschenmesser führte, 
stand des Sonntags neben Papas Teller ein ganzes Besteck mit Braten- 
messern, deren einige böse Ähnlichkeit mit dem Messer des Menschen- 
fressers hatten. Er hätte leicht auf die Idee kommen können, auidi 
einmal an meinem Sdiwänzchen die Schärfe dieses Messers zu erproben; 
wenn er sie eine Weile am untern Tellerrand gewetzt hatte, sah es 
gefährlich aus. Nun fällt mir audi ein, warum er mir wie ein Kater 
vorkam. Irgend eine Anbeterin hatte seine schönen Beine geloht und 
ihr zu Gefallen stolperte er in hohen Stiefeln umher, „Der gestiefelte 
Kater," das war er und den las ich damals mit besonderer Vorliebe, 
hatte auch gerade eine Serie kleiner Stammbuchbilder mir erschmuggelt, 
in denen das Märchen schön bunt dargestellt war. 

Nun ist die Sache klar: für den, der in der Kastrationsangst liegt, 
ist der Vater schlimmer als der Bruder, das Katzentier, das er täglich 
sieht, schlimmer als der Wolf, den er nur vom Hörensagen aus „Märchen" 
kennt. Und dann, der Wolf frißt nur Schafe, und für dumm hielt idi 
mich weder damals nodi jetzt, der Kater aber frißt Mause — auch in 
der Reineke-Fuchs-Sage tut er es ■ — und der kastrationsbedrohte Teil, 
das Schwänzchen, ist eine Maus, die ins Loch schlüpft, die Angst jeder 
Frau vor der Maus beweist das; die Maus kriedit unter die Röcke, 
will in das Loch, das dort verborgen ist. 

Hinter dieser Angst, daß der gestiefelte Vater mein Mäuschen 
fressen könnte, ist noch etwas andres verborgen, etwas Teuflisches, 
Furchtbares. Jener „gestiefelte Kater" bezwingt den Zauberer, der sich 
in einen Elephanten verwandelt und dann in eine winzige Maus. Die 
Symbole der Erektion und Ersditaffung sind deutlich, und da ich ia 

16 Groddeck, Das Buch vom Es 241 



jenem Alter, wo idi das MSrdien las und die Kaulbachs<iie Illustration 
des Reineke sah, gewiß nidit aus eigner körperlicher Erfahrung diese 
Phänomene kannte, liegt mir der Schluß nahe, daß der Zauberer, der 
sich in Rüsseltier und Maus verwandelt, mein Vater war, sein Schloß 
und Reich die Mutter und der gestiefelte Kater ich selbst, sowie ich 
selber auch der Besitzer des Katers, der jüngste Sohn des Müllers, 
war. Da ich einsah, daß idi den ganzen Menst^en in seiner Elephanten- 
große nicht verniditen könne, schien mir es ratsam, wenigstens das 
symbolisdie Väterdien, die Maus, das Glied des Vaters zu verschlingen. 
Und wirklich sdiwebt mir vor, als ob idi in jener Zeit die ersten Stulpen- 
stiefel in meinem Leben getragen hatte. In dem Märchen sowie in 
dem Bilde lag für midi die eigne Kastration und, viel gräßlicher noch, 
der verbrecherische Wunsch, die Maus des Vaters zu verschlingen, um 
in den Besitz der Mutter zu gelangen; beides wurde verdrängt und 
übrig blieb die harmlosere Rivalität mit dem Bruder Wolf. Damit kommt 
audi die Verwandlung des Pfarrers-Pater m den Bauer-Georg in ein 
neues Lidit. Der Wunsch, den Pater, den Vater zu kastrieren wird 
sicher mit der eigenen Kastration bestraft. Mein Es, das scheints, ein 
leidlidi empfindliches Gewissen hat, verdrängte das Verbredien und 
ließ die Sühne bestehen, madite also den Wunsdi so gut wie möglich 
ungesdiehen. 

Darf ich Ihre Aufmerksamkeit nun noch einen Augenblick auf die 
Stiefel riditen; sie kommen auch beim Däumlingsmärchen vor und sind 
wohl als das Symbol der Erektion zu betrachten. Nun dürfen Sie aus- 
suchen, welche Deutung Ihnen behagt. Zunächst könnten die Stiefel die 
Mutter sein, sind es auch nach meiner Meinung, die Mutter, weiterhin 
das Weib, das in After- und Scheidenöffnung zwei Stiefelstiiäfte be- 
sitzt. Es können auch die Hoden sein in ihrer Paarigkeit, die Augen, 
die Ohren, vielleicht auch die Hände, die im vorbereitenden Spiel den 
Siebenmeilenschritt zur Erektion und zur Onanie ausführen. 

Damit bin ich bei dem dritten Verdrängungsgrund, der Onanie, 
einem ganz persönlichen Verdrängungsgrund, der im Märchen keine 
Stütze findet, wohl aber im eignen Erlebnis. In jener Zeit habe idi 

242 



erfahren, daß der Kater ab und zu seine eignen Kinder auffrißt, Bin idi 
der Kater, so ist meia eignes Kind mein Schwänzdien gewesen, das 
durdi das Stiefelspiel beider Hände bei der Onanie das Mäuschen dem 
Untergang weiht. Üble Gewohnheit. 

Sie sehen, wenn ich mir Mühe gebe, kann ich leidlich scheinende 
Gründe für meinen Irrtum erfinden. Aber mir widerstrebt solches Ver- 
fahren. Ich nehme für midi das Recht in Anspruch zu irren, schon 
deshalb, weil idi die Wahrheit und Wirklidikeit für zweifelhafte Güter 
halte. 

Alles Gute Ihnen und den Ihren 

PATRIK. 



29. 
SIE ANTWORTEN NICHT, UEBE FREUNDIN, UND ICH TAPPE 

im Dunkeln, ob Sie böse sind oder, wie es so sdiön heißt, keine Zeit 
haben. Ich werde auf gut Glück fortfahren, Ihnen von den Tieren zu 
erzählen, wenn ich auch noch nicht weiß, ob Sie die Veröffentlichung 
der Briefe mit Fehlern billigen. 

Idi berichtete Ihnen von Ihren Empfindungen beim Anblick einer 
Maus, habe aber nur die Hälfte davon gesagt. Wenn die Maus nur 
das unter die Röcke Fahren bedeutete, wäre die Angst nicht so über 
Massen groß, wie sie wirklich ist. Die Maus ist als naschendes Tier 
das Symbolwesen der Onanie und folgerichtig auch das der Kastration. 
Mit andern Worten, das Mädchen hat die vage Idee: Dort läuft auf 
vier Beinen mein Schwänzchen umher; zur Strafe ward es mir weg- 
genommen, zur Strafe mit eigenem Leben beseelt. 

Da haben Sie ein Stück Gespensterglauben, Aberglauben. Wenn man 
der Entstehung von Spukgeschichten nachgeht, stößt man sehr bald 
auf das erotische Problem und die Schuld. 

Diese eigentümliche Symbolisierung der Maus als frei herum- 
huschendes Glied bringt mich auf ein der Maus verwandtes Tier, die 
Ratte, die neben Wolf und Kater als Kastratorsymbol auftritt. Merk- 
würdigerweise ist diese Symbolform die fürchterlichste und abstoßendste 

'^' 243 



von den dreien. An und für sich ist die Ratte weniger g-efährlich als 
der Wolf und auch als der Kater. Aber sie vereinigt in sich beide 
Kastrationsrichtungen, die gegen das Kind und die gegen den Vater. 
Weil sie in allem, was vorragt, herumknabbert, ist sie dem Kind für 
Nase und Schwänzchen gefährlich, nach Form und Wesen aber ist sie 
der personifizierte, abgeschnittene Schwanz des Vaters, das Gespenst 
des frevelhaften Wunsches gegen die Mannheit des Vaters. Und weil 
sie sich in alles einmischt und in jedes Dunkel eindringt, ist sie gleich- 
zeitig die symbolische Schuld und die zudringliche Neugier der Eltern. 
Sie lebt im Keller, der Gosse, im Weibe. Verhaßt, verhaßt. 

Im Dunkel des Kellers lebt auch die Kröte, feucht anzufühlen und 
quabblig. Und der Volksglaube hält sie für giftig. Kleine Kröte, nette 
Kröte, das ist etwas, was nicht fürs Tageslicht taugt, das kleine Tierchen 
des älteren Backfisches, das noch nicht die stetige Wärme der Liebe 
hat, nur von versteckter Begierde feucht ist. Ihr reiht sich im Gegen- 
sinn des Symbols das naschende Mäuschen an, mit seinem samtnen 
Fellchen, das frühreife Mädchen, das dem Speck nachgeht. Und gleich 
daneben taucht, von allen Sprachen verwendet, das Wort Kätzchen auf 
als Bezeichnung des weichen Lockenpelzchens an der weiblichen Scham, 
als Ausdruck für den Schamteil selbst und für das schmiegsame Weih 
chat noir, die Katze, die das Mäuschen fängt, damit spielt und es frißt, 
genau wie die Frau mit ihrem hungrigen Schamteil das Mäuschen des 
Mannes verschlingt. 

Sahen Sie schon einmal die kindischen Zeichnungen des weib- ' 
liehen Geschlechtsteils, die halbwüchsige Knaben an Wänden und Bänken 
in alberner Begierde anbringen? Da haben Sie die Entstehung des 
Ausdrucks „Käfer" für das liebende Mädchen vor Augen, aber auch 
das wird klar, warum die Spinne als Schmähwort für das Weib ge- 
braucht wird, die Spinne, die Netze baut und der Fliege das Blut aus- 
saugt. Das bekannte Spinnensprichwort; matin chagrin, soir espoir, 
malt die Stellung von Frauen zu ihrer Sexualität; je heißer die Glut 
der Liebesnacht ist, um so verzagter blickt sie beim Erwachen nach 
dem Mann, was der von dem Toben wohl denkt. Denn immer stärker 

244 






zwingt das Leben dem Weibe einen Seelenadel auf, der alle Wollust 
zu verdammen scheint. ' - ' ' ' _ * _" ' 

Die Symbole sind zweideutig-: der Baum ist, wenn Sie den Stamm 
betrachten, Phallussymbol, ein sehr anständiges, von der Sitte erlaubtes; 
denn selbst das prüdeste Fräulein scheut sidi nicht, den Stammbaum 
ihres Geschlechts an der Wand zu betraditen, obwohl sie wissen muß, 
daß ihr die hundert Zeugung-sorgane all ihrer Vorfahren in strotzender 
Kraft aus dem Bilde entgegenspringen. Der Baum wird aber zum 
Weibessymbol, sobald der Gedanke an die Frucht auftritt, wird „die 
Eiche", „die Buche" — ehe ich es vergesse: seit einigen Wodien be- 
treibe ich den Spaß, alle Bewohner meiner Klinik zu fragen, was für 
Bäume neben dem Eingang stehen. Bisher habe ich noch keine riditige 
Antwort bekommen. Es sind „Birken"; an ihnen wächst das Reis, 
aus dem man die Rute bindet, die gefürchtele und noch mehr be- 
gehrte; denn in all den tausendfachen Unarten der Kinder und Großen 
lebt die Sehnsucht nach dem brennenden Rot des Schiagens. Und am 
Eingangstor, so daß jeder drüber stolpert, steht ein Eckstein, rund und 
ragend wie ein Phallus; den sieht auch niemand. Er ist der Stein des 
Anstoßes und Ärgernisses. 

Verzeihung für die Unterbrechung. Auci» andere Symbole sind 
doppeldeutig, das Auge ist es, das Strahlen empfangt und Strahlen 
ausschickt, die Sonne, die in Fruchtbarkeit Mutter, im goldgelben 
Strahl Mann und Held ist. So ist es auch mit den Tieren, dem p*ferde 
vor allem, das bald als Weib gilt, auf dem man reitet, das in der 
Schwangerschaft die Frucht des Leibes fortbewegt, bald als Mann, 
der die Last der Familie mit s'uii trägt und auf dessen Schultern und 
Knieen das jubelnde Kind dahintrabt. 

Diese doppelte Symbolverwendung der Tiere unterstützt ein selt- 
sames Verfahren meines Unbewußten, das dem Kastrationskomplex 
entstammt. Wenn ich an einem mit Rindern bespannten Karren vor- 
übergehe und hinschaue, weiß Idi nidit, sind es Kühe oder Ochsen, 
die da ziehen. Ich muß erst eine ganze Weile suchen, ehe idi die 
Unterscheidungsmerkmale finde. So geht es nicht nur mir, so geht es 

245 



vielen, vielen Menschen, und die Leute, die erkennen können, ob sie 
einen männlichen Kanarienvogel oder ein Weibchen vor sidi haben, 
sind geradezu selten. Bei mir geht es ein bißdien weit. Wenn idi 
einen Hühnerhof sehe, kann ich den großen Hahn von seinen Hennen 
unterscheiden, sind junge Hähnchen dabei, so gelingt mir diese Unter- 
scheidung schwer und, wenn ich einem vereinzelten Huhn begegne, 
muß ich mich auf das Raten verlegen, was sein Geschlecht ist. Ich 
besinne midi nicht, jemals mit Bewußtsein einen Hengst, Bullen oder 
Widder gesehen zu haben, für midi ist ein Pferd eben ein Pferd, ein 
Ochse ein Ochse, ein Sdiaf ein Sdiaf und wenn ich theoretisch weiß, 
was eine Stute oder ein Wallach, ein Schaf oder ein Hammel ist, so 
kann idi diese Kenntnis praktisch doch nicht ohne weiteres ver- 
werten, vermag auch nidit festzustellen, wie und wann ich meine 
theoretischen Kenntnisse erworben habe. Offenbar wirkt da ein altes Ver- 
bot nach, das sidi mit einer bewußtseinslosen Angst vor der eigenen 
Entmannung verbindet. Ich bin in dem stattlichen Alter von 54 Jahren 
in den Besitz eines schönen Katers gelangt. Schade, daß Sie das Er- 
staunen nicht mit erlebt haben, das mich beim Gewahrwerden seiner 
Hoden befiel. 

Damit bin ich wieder bei der Kastration angelangt und muß noch 
zwei Worte über einige symbolisch verwendete Tiere sagen, die im 
Dunkel der Menschenseele ein seltsames Leben haben. Besinnen Sie 
sich darauf, wie wir gemeinsam in Wannsee am Grabe Kleists waren? 
Es ist lange her, wir waren beide noch jung und begeisterungsfähig 
und hatten uns wer weiß weldie hohen Gefühle von diesem Besudi 
unseres toten Lieblingsdichters erhofft. Und während Sie voll frommer 
Scheu auf die heilige Stätte, von der ich ein Epheublatt pflückte, 
hinabsahen, fiel ein armseliges Räupchen in Ihren Nacken; Sie schrien 
auf, wurden blaß und zitterten, und Kleist und alles waren vergessen. 
Idi lachte, nahm das Räuplein fort und tat groß und gewaltig. Aber 
wenn Sie nicht selbst zu sehr mit Ihrer Angst besthäftigt gewesen 
wären, hätten Sie sicher bemerkt, daß ich die Raupe mit dem Epheu- 
blatt wegnahm, weil mir davor grauste, die Raupe mit den Fingern 

246 



-\ 



zu berühren. Was hilft audi Mut und Stärke wider das Symbol? 
Wenn beim Anblick soldi vielfiißig kriechenden Schwänzchens die 
Masse des Mutterinzests, der Onanie, der Vater- und Selbstkastration 
über uns herfällt, werden wir vierjährige Kinder und können es 
nicht ändern. 

Gestern ging- ich quer über das Rondell mit der schönen Aussicht, 
dort wo stets die große Versammlung von Kinderwagen, spielenden 
Bälgern und Kindsmägden ist. Ein dick pausbäckiges Mädchen von 
drei Jahren bradite strahlend einen langen Regenwurm zu ihrer Mutter 
getragen. Das Tier wand sidi zwischen den kurzen Fingerdien; die 
Mutter aber schrie auf, schlug das Kind auf das Händchen: „Pfui, 
bah, bah" rief sie und schleuderte den scheußlichen Wurm mit der 
Spitze des Sonnensdiirms weit den Abhang hinab, schalt schreckbleichen 
Gesichts weiter und wischte mit Eifer die Händchen des heulenden 
Kindes ab. Ich hätte mich gern über die Mutter entrüstet, aber ich 
verstand sie zu gut. Ein roter Wurm, der in Löcher kriedit, was hilft 
dagegen alle Darwinsdie Weisheit von des Regenwurms segens- 
reidier Minier arbeit? 

„Äx, bah, bah", darauf kommt die ganze Erziehungsweisheit der 
Mutter hinaus. Alles was dem Kinde lieb ist, wird ihm damit verekelt. 
Und es läßt sich ja auch nichts dagegen sagen. Die Freude am Wasser- 
lassen und am Drücken kann nicht geduldet werden, sonst, denkt man 
— ob es wahr ist, weiß ich nicht — bleibt der Mensch dreckig. Aber id. 
muß Sie dodi bitten, im Namen der Forschung, sidi einmal den Urin 
Über Sdienkel und Arme laufen zu lassen, sonst glauben Sie gar 
nicht, daß das Kind so etwas genießt, und halten auch fernerhin Er- 
wadisene, die sich hin und wieder solchen Genuß versdiaffen, für 
pervers, unnatürlidi, lüstern, krank. Krank daran ist nur die Angst. 
Versuchen Sie es. Das Schwierige ist, es unbefangen zu tun. Das ist 
über die Maßen schwer. Man hat mir hie und da über das Ex- 
periment, das ich nicht erst Ihnen empfehle, berichtet und soweit idi 
glauben darf, hat man durchweg zunädist sämtlidie Lebewesen aus 
der Wohnung entfernt, sich in der Badestube eingesdilossen und nackt 

247 



r- 



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in der Wanne g-etan, was idi riet, damit man sich gleich reinigen konnte. 
Und man tragt doch die Flüssigkeit, die auf der Haut so schmutzig 
ist, dauernd in seinem Innern mit sidi und denkt nicht einmal daran. 
Sind die Menschen nicht seltsam? Aber trotz all dieser Vorsichtsmaß- 
regeln, die Angst, Verbotenes zu tun, blieb, aber der Genuß kam. 
Nicht Einer hat zu leugnen gewagt» daß es genußvoll war. Welch un- 
geheures Mass von verdrängender Gewalt ist da tätig gewesen, um 
eine unbefangene Handlung eines jeden Kindes so mit Angst zu be- 
lasten. Und nun gar der Versuch, das Aa unter sich zu lassen und 
sich darein zu legen. Schon wie man das machen soll, kostet tage- 
langes Kopfzerbrechen und kaum drei oder vier von denen, die wissens- 
durstig die Entwicklung des Unbewußten unter meiner Führung er- 
forsdien wollten, haben den Mut dazu gehabt. Aber was ich behauptete, 
haben sie bestätigt. Adi, liebe Freundin, wenn Sie etwas Philoso- 
phisches lesen, tun Sie es so, wie man die Aufsätze von Karlchen 
Mießnick las, auch wenn Sie meine Briefe lesen. Der Ernst ziemt 
sich nidit dem Unsinn gegenüber. Nur das Leben selbst, das Es 
versteht etwas von Psychologie und die einzigen Vermittler durch das 
Wort, deren es sidi bedient, sind die paar großen Dichter, die es 
g-egeben hat. 

Aber ich wollte davon nicht sprechen, sondern über die Wirkungen 
des „Äx, bah, bah" auf unser Verhältnis zum Regenwurm Betrach- 
tungen anstellen, die Sie dann nach Gutdünken auf andre geächtete 
Tiere, Pflanzen, Menschen, Gedanken, Handlungen und Gegenstände 
übertragen mögen. Ich überlasse Sie Ihrem Nachdenken. Und vergessen 
Sie nicht, sich dabei die Schwierigkeit aller Naturforschung klar zu 
machen, Freud hat ein Buch über das Verbotene im Menschenleben 
geschrieben, er nennt es Tabu. Lesen Sie es! Und dann lassen Sie 
Ihre Phantasie eine Viertelstunde schweifen, was alles Tabu ist. Sie 
werden erschrecken. Und werden erstaunen, was der Mensdiengeist 
trotzdem zustande brachte. Und sciiließlich werden Sie sici, fragen : 
Was mag der Grund sein, daß das Es des Menschen so seltsam mit 
sich selber spielt, sich Hindernisse sdiafft, lediglich um sie mit vieler 

248 



Mühe zu erklettern. Und sdiließlidi wird Sie eine Freude ergreifen, 
eine Freude, Sie ahnen nicht, wie groß diese Freude ist. Ich denke 
mir, so ungefähr muß das Gefühl der Ehrfurcht sein. 

Sie wissen, Erziehung beseitigt nichts, sie verdrängt nur. Auch 
die Freude am Regenwurm läßt sich nicht töten. Es gibt eine seltsame 
Form, in der sie wiederkehrt, in der Form des Spulwurms. Die 
Keime dieses Gasts unsrer Eingeweide, stelle ich mir vor, sind über- 
all, kommen in aller Mensdnen Bäudie hinein, oft und oft. Aber das 
Es kann sie nicht brauchen, es tötet sie. Eines Tages überfällt dieses 
oder jenes Menschen Es, das gerade Kind geworden ist und kindisch 
schwärmt, eine sehnsuchtsvolle Erinnerung an den Regenwurm. Und 
flugs baut es sidi ein Abbild davon aus den Eiern des Spulwurms. 
Es lacht über das Bahbah der Gouvernante und spielt ihr einen 
Schabernack und gleichzeitig fällt ihm ein, daß Wurm ja auch Kind 
ist; da lacht es nodi mehr und spielt mit dem Eingeweidewurm 
Sdiwangerschaft und eines Tages will es „Kastration" spielen und 
„Kinderkriegen" spielen. Und dann läßt es den Spulwurm — oder 
sind es die kleinen weißen Würmchen, mit deren Hilfe man sidi die 
Erlaubnis verschafft, den Finger in den After zu stecken, Afteronanie 
in hohem Maße zu treiben — dann läßt es diese Würmer aus der 
hintern Öffnung hervorkommen. 

Ach bitte, Liebe, lesen Sie doch diese Stelle dem Herrn Sanitätsrat 
vor. Sie werden einen seltenen Spaß haben, wie er diese ernsthaft 
gemeinte Theorie eines ernsthaften Kollegen über die Disposition zu 
Krankheiten aufnimmt. 

Nun muß ich Ihnen noch eine Geschichte von der Schnecke erzählen. 
Sie betrifft eine gemeinsame Bekannte von uns, aber ich werde Ihnen 
den Namen nicht nennen; Sie wären imstande, sie zu necken. Ich ging 
mit ihr spazieren, da fing sie plötzlich an zu zittern, alles Blut wich 
ihr aus den Wangen und ihr Herz begann so zu jagen, daß man die 
Schläge an den Halsadern sah. Der Angstschweiß trat auf die Stirn 
und bald folgte Erbrechen. Was wars? Eine Nacktschnecke kroch auf 
dem Wege. Wir hatten von der Treue gesprochen und sie hatte Über 

249 



ihren Mann geklagt, den sie auf SeitenwegcD vermutete. Der Gedanke 
war ihr schon lange gekommen, so sagte sie, ihm den Schwanz auszu- 
reißen und darauf zu treten. Die Schnecke aber sei dies ausgerissene 
Glied gewesen. Das schien genug zu erklären, aber ich weiß nicht, 
weshalb ich ungenügsam war, ich behauptete keck darauf los, es müsse 
nocii etwas anderes dahinter stecken. Um solche Wut der Eifersucht 
zu empfinden, müsse man selbst untreu sein. Das kam auch bald zum 
Vorschein, wie es denn keine Eifersucht gibt, wenn nidit der Eifer- 
süchtige selbst untreu ist; die Freundin hatte nicht an das Glied ihres 
Mannes gedacht, sondern an meines. Wir lachten dann beide, aber da 
ich doch das Schulmeistern nicht lassen konnte, hielt ich ihr eine kleine 
Vorlesung. „Sie sind in einer Zwickmühle", sagte idi ihr. „Wenn Sie 
mich lieben, werden Sie Ihrem Manne untreu, und wenn Sie zu ihm 
halten, betrügen Sie mich und Ihre starke Liebe zu mir. Was Wunder, 
daß Sie nicht weiter können, da Sie vor sich die Notwendigkeit sehen, 
die Schnecke, das Glied des Einen oder des Andern, zu zertreten." 
So etwas ist nidit selten. Es gibt Menschen, die verlieben sich in 
iungen Jahren, behalten diese erste Liebe als Idealgestalt in ihrem 
Herzen, heiraten aber einen Andern. Sind sie nun mißgestimmt, das 
heißt, haben sie der andern Ehehälfte etwas zu Leide getan und zürnen 
ihr deshalb, so holen sie die Idealliebe hervor, stellen Vergleiche an 
bereuen, den falschen geheiratet zu haben und finden nach und nach 
tausend Gründe, um sicJi zu beweisen, wie schlecht der ist, den sie 
geheiratet und gekränkt haben. Das ist schlau, aber leider zu sdilau. 
Denn die Überlegung kommt, daß sie dem ersten Geliebten untreu 
wurden, um den zweiten zu nehmen, und dem zweiten untreu sind, um 
am ersten fest zu halten. Du sollst nicht ehebrechen! 

Solche Vorgänge, die von großer Tragweite sind, lassen sidi 
schwer begreifen. Ich habe lange nach einer Begründung gesucht, warum 
solche Menschen — sie sind gar nicht selten — sich in diesen Zustand 
ununterbrochener Untreue hineinbringen. Jene Freundin hat mir das 
Rätsel gelöst, und deshalb eigentlich erzähle ich Ihnen die Schnecken- 
gesohichte. Sie hatte ganz didit unter der Schenkelbeuge an der 

250 



Innenseite des Obersdienkels einen kleinen, fingerlangen, sdiwanz- 
förmigen Auswuchs. Der belästigrte sie arg. Von Zeil zu Zeit ward er 
wund. Ein seltsamer Zufall wollte es, daß dieses Wundsein ein paar Mal 
während meiner Behandlung auftrat und jedesmal verschwand, wenn 
verdrängte homosexuelle Regungen an die Oberfläche gekommen 
waren. Man hatte ihr schon lange geraten, sich das Ding abschneiden 
zu lassen ; sie hatte es aber nicht getan. Ich habe ihr ein wenig auf 
die Seele gekniet, bis es in tausend Splitterchen zerstÜckt herauskam, 
daß sie das Schwänzchen ihrer Mutter 2u Liebe trug. Von dieser 
Mutter hatte sie stets behauptet, sie habe sie all ihr Leben lang gehaßt. 
Id, habe es ihr aber nie geglaubt, obwohl sie unermüdlich darin war, 
ihren Haß in vielen, vielen Geschichten kund zu tun. Ich glaubte es 
deshalb nidit, weil ihre gewiß starke Neigung zu mir alle Zeichen 
einer Übertragung von der Mutter hatte. Es hat lange gedauert, aber 
sdiließlich ist ein Mosaikbild zustande gekommen, natürlich mit schad- 
haften Stellen, worin alles verzeichnet war, die heiße Liebe zur Brust, 
zur Mutter, zu deren Armen, die Verdrängung zugunsten des Vaters 
im Anschluß an eine Schwangerschaft, die Entstehung des Hasses mit 
seinen homosexuellen Resten. Ich kann Ihnen von den Einzelheiten 
nichts mitteilen, aber das Resultat war, daß jene Frau, als ich sie im 
nächsten Jahr wiedersah, operiert war. keine Untreue mehr und kerne 
Sdmecke mehr fürchtete. Sie mögen glauben, was Sie wollen, ich 
meinerseits bin überzeugt, daß sie das Schwänzchen der Mutter zu 
Uebe wachsen ließ. Und nun darf ich noch hinzu fügen, daß die Schnecke 
aoppeldeutiges Symbol ist, der PhaUus der Gestalt und der Fühler 
halber und das Weibesorgan um des Schleimes wiUen. Wissensdiaft- 
lieh ist sie ja wohl auch doppelgesdileditlich. 

Auch vom Axolottl muß ich Ihnen ein Geschichtdien zum Besten 
geben; Sie haben das Tierchen wohl im Berliner Aquarium gesehen 
und wissen, wie ähnlich es einem Embryo ist. Dort im Aquarium ist 
einmal vor dem Kasten des Axolottls eine Frau in meiner Gegenwart 
halb ohnmächtig geworden. Sie haßte audi ihre Mutter, angeblich, wie 
es immer der Fall ist. Sie war sehr kinderUeb. aber sie hatte die 

251 



..» 



Mutter audi bei einer ScJiwang-erschaft hassen gelernt und sie hat 
keine Kinder bekommen, trotz aller Sehnsucht. Sehen Sie sich kinder- 
lose Frauen aufmerksam an, wenn sie wirklich kinders ehnsÜchtig sind. 
Da ist Tragik des Lebens, die oft sich wandeln läßt. Denn alle diese 
Frauen - ich wage ru sagen, alle - tragen den Haß gegen die 
Mutter im Herzen, dahinter aber in eine Ecke gequetscht sitzt traurig 
die verdrängte Liebe. Helfen Sie ihr aus der Verdrängung heraus, 
und jenes Weib wird einen Mann suchen und finden, der mit ihr ein 
Kind zeugt. ,.;.. 

Ich könnte noch eine Weile so fort reden, aber mich fesselt ein 
Schauspiel, von dem id. Ihnen berichten will. Das Beste kommt zuletzt. 
Sie müssen wissen, daß ich, während ich schreibe, auf jener Terrasse 
mit den vielen Kinderwagen sitze, von der ich Ihnen schrieb. Vor mir 
spielen zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen mit einem Hunde. 
Der liegt auf dem Rücken und sie kraulen ihn am Baudi und jedesmal, 
wenn infolge des Kitzels der rote Penis des Hündchens zum Vorschein 
kommt, lachen die Kinder. Und schließlidi haben sie es so weit ge- 
bracht, daß der Hund seinen Samen ausspritzte. Das hat die Kinder 
nachdenkhch gemacht. Sie sind zur Mutter gegangen und haben sich 
nicht mehr um den Hund gekümmert. 

Haben Sie noch nie gesehen, wie oft Erwachsene mit der Stiefel- 
spitze ihren Hund kraulen? Kindererinnerungen. Und da die Hunde 
»idit sprechen können, muß man sie beobachten und sehen, was sie 
tun. Es sind ihrer viele, die auf den Geruch der Periode reagieren 
und viele, die an den Beinen des Menschen onanieren. Und wenn 
die Hunde schweigen, fragen Sie die Menschen. Sie müssen dreist 
fragen, sonst bleibt die Antwort aus. Denn auch die Sodomie gilt 
als pervers. Und was mit dem Hund erlebt wird, ist tief verdrängt. 
Denn er ist nicht nur ein Tier, sondern ein Symbol des Vaters, des 
Wauwaus. 

Wollen Sie noch mehr von den Tieren wissen? Gut. Stellen Sie 
sich ein paar Stunden vor den Affenkäfig des zoologischen Gartens 
und beobachten Sie die Kinder; auch den Erwachsenen dürfen Sie ein 
252 



paar Blicke gönnen, Wenn Sie in diesen Stunden nicht mehr von der 

Menschenseele kennen gelernt haben, als in tausend Büchern steht, 

sind Sie der Augen nicht wert, die Sie im Kopfe tragen. 

Alles Gute von Ihrem getreuen ^r,r\j 

TROLL. 



30. 
ALSO DAS WAR DER GRUND IHRES LANGEN SCHWEIGENS. 
Sie haben nochmals die Möglichkeit der Veröffentlichung erwogen, be- 
willigen für meinen Teil der Korrespondenz das Imprimatur und ver- 
weigern es für Ihre Briefe. Sei es denn! Und Gott gebe seinen Segen! 

Sie haben Recht, es ist an der Zeit, daß ich mich ernsthaft mit 
dem Es auseinandersetze. Aber das Wort ist starr, und deshalb bitte 
ich Sie, ab und zu um eins der geschriebenen Wörter herumzugehen 
und es von allen Seiten zu betrachten. Sie gewinnen dann eine Meinung, 
und darauf kommt es an, nicht darauf, ob diese Meinung richtig oder 
falsch ist. Ich will mich bemühen, sachlich zu bleiben. 

Da muß idi nun zunächst die betrüblidie Mitteilung machen, daß es 
ein solches Es, wie ich es vorausgesetzt habe, nadi meiner Meinung gar 
nicht gibt, daß ich es selber künstlich hergestellt habe. Weil ich mich 
durchaus nur mit dem Menschen, mit dem einzelnen Menschen be- 
sdiäftige und das bis an mein Lebensende tun werde, muß ich so tun. 
als ob es, losgelöst vom Ganzen Gottnaturs, Einzelwesen gäbe, die man 
Menschen nennt. Ich muß so tun. als ob ein solches Einzelwesen irgend- 
wie durch einen leeren Raum von der übrigen Welt getrennt wäre, so 
daß es den Dingen außerhalb seiner erdachten Grenzen selbständig 
gegenübersteht. Idi weiß, daß das falsch ist, trotzdem werde ich eigen- 
sinnig an der Annahme festhalten, daß jeder Mensch ein eigenes Es 
ist, mit bestimmten Grenzen und mit Anfang und Ende. Ich betone 
das, weil Sie, verehrte Freundin, schon mehrmals den Versuch gemadit 
haben, mich zum Schwatzen über Weltseele, Pantheismus, Gottnatur 
zu verführen. Dazu habe ich keine Lust, und idi erkläre hiermit, 
feierlich, daß ich es nur mit dem zu tun habe, was ich das Es des 

253 



Menschen nenne. Und ich lasse kraft meines Amtes als Briefschreiber 
dieses Es beginnen mit der Befruchtung. Welcher Punkt des überaus 
verwickelten Befruchtungs Vorgangs als Anfang; gelten soll, ist mir gleich- 
gültig, ebenso wie ich es Ihrem Belieben überlasse, aus der Masse der 
Todesvorgänge irgendeinen Moment auszuwählen und ihn als Ende 
des Es anzunehmen. 

Da ich Ihnen von vornherein eine bewußte Fälschung in meiner 
Hypothese gebe, steht es Ihnen frei, in meinen Auseinandersetzungen 
so viel bewußte und unbewußte Fehler zu finden, wie Sie wollen. 
Aber vergessen Sie nicht, daß dieser erste Fehler, Dinge, Individuen 
lebloser oder lebender Art aus dem All herauszuschneiden, allem mensdi- 
lichen Denken anhaftet, und daß unsre sämtlichen Äußerungen damit 
belastet sind. 

Nun erhebt sidi eine Schwierigkeit. Diese hypothetische Es- 
Einheit, deren Ursprung in der Befruditung festgelegt ist, enthält tat- 
sächlich in sich zwei Es-Einheiten, eine weiblidie und eine männli<iie. 
Dabei sehe idi ganz von der verwirrenden Tatsache ab, daß diese 
beiden Einheiten, die vom Ei und vom Samenfaden herkommen, wiederum 
keine Einheiten, sondern Vielheiten von Adams und der Urtierdien 
Zeiten her sind, in denen Weibhches und Männliches in unlösbarem 
Gewirr, aber wie es scheint unvermisdit nebeneinander liegt. Daß beide 
Prinzipien nidit ineinander fließen, sondern nebeneinander existieren, 
bitte ich zu behalten. Denn daraus folgt, daß jedes Menschen-Es min- 
destens zwei Es in sidi enthält, die, irgend wie zu einer Einheit ver- 
bunden, doch in gewisser Weise unabhängig von einander sind. 

Ich weiß nicht, ob idi bei Ihnen wie bei andern Frauen — und 
auch Männern natürlidi — eine völlige Unkenntnis des Wenigen vor- 
aussetzen darf, was man über die weiteren Schicksale des befruditeten 
Eis zu wissen glaubt. Für meine Zwecke genügt es, wenn ich Ihnen 
mitteile, daß sich dieses Ei nacli der Befruchtung daran macht, sidi in 
zwei Teile zu zerlegen, in zwei Zellen, wie die Wissenschaft diese 
Wesen zu benennen beliebt. Diese zwei teilen sieh dann wieder in vier, 
in adit, in sechzehn Zellen und so fort, bis schließlich das zustande 

254 



kommt, was wir gemeinig-licK „Mensch" nennen. Auf die Einzelheiten 
dieser Vorgänge brauche ich Gott sei Dank nicht einzugehen, sondern 
kann mich damit begnügen, auf etwas hinzuweisen, was für mich 
wichtig ist, so unbegreifüch es mir auch bleibt. In dem winzig kleinen 
Wesen, dem befruchteten Ei, steckt irgend Etwas, ein Es, das imstande 
ist, die Teilungen in Zellenhaufen vorzunehmen, ihnen verschiedene 
Gestalt und Funktion zu geben, sie dazu zu veranlassen, sich zu Haut, 
Knodien, Augen, Ohren, Gehirn etc. zu gruppieren. Was in aller Welt 
wird aus diesem Es im Moment der Teilung? Offenbar teilt es sich 
mit, denn wir wissen, das jede einzelne Zelle eine selbständige 
Existenzmöglicbkeit und Teilungsmöglichkeit hat. Aber gleichzeitig bleibt 
etwas Gemeinsames übrig, ein Es, das die beiden Zellen aneinander 
bindet und ihr Schicksal in irgend einer Weise beeinflußt und sich von 
ihnen beeinflussen läßt. Aus dieser Erwägung heraus habe ich mich 
entschließen müssen anzunehmen, daß außer dem individuellen Es des 
Mensdien eine unberechenbar große Zahl von Es-Wesen, die den ein- 
zelnen Zellen angehören, vorhanden sind. Wollen sie sich dabei gütigst 
daran erinnern, daß sowohl das Individualitats-Es des ganzen Menschen 
wie jedes Es jeder Zelle ein männliches und ein weibüciies Es und- 
ferner audi noch die winzig kleinen Es-Wesen der Ahnenkette in sidi 

bergen. 

Verlieren Sie bitte die Geduld niditl Ich kann nidiU dafür, daß 
ich Dinge verwirren muß, die dem täglichen Denken und Spreeben ein- 
fach sind. Irgend ein gütiger Gott wird uns, so hoffe ich, aus dem 
Gestrüpp, das uns zu umschlingen droht, herausführen. 

Vorläufig ziehe ich Sie noch tiefer hinein. Es kommt mir vor, als 
ob es noch weitere Es-Wesen gibt. Die Zellen schließen sich im Lauf 
der Entwicklung zu Geweben zusammen, zu Epithelien, Bindegeweben, 
Nervensubstanz und so weiter, und jedes einzelne dieser Gebilde scheint 
wieder ein eigenes Es zu sein, das auf das Gesamt-Es, die Es-Einheiten 
der Zellen und die der andern Gewebe einwirkt und sich von ihnen 
in den Lebensäußerungen bestimmen läßt. Ja nicht genug damit. Neue 
Es-Formen treten als Organe auf, als Milz, Leber, Herz, Nieren, Knodien, 

255 



Muskeln, Hirn und Rückenmark, und weiter drängen sich uns in den 
Org-ansystemen andre Es-Gewalten auf, ja es scheinen sich gleichsam 
erkünstelte Es-Einheiten zu bilden, die ihr seltsames Wesen treiben, 
obwohl man annehmen könnte, daß sie nur Schein und Namen sind. 
So muß ich zum Beispiel behaupten, daß es ein Es der oberen und 
unteren Kürperhälfte gibt, ein solches von rechts und links, eins des 
Halses oder der Hand, eins des Hohlraums des Menschen und eins 
seiner Körperoherfläche. Es siajI Wesenheiten, von denen man fast 
annehmen möchte, daß sie durdi Gedanken, Besprechungen, Handlungen 
entstehen, die man fast für Gesdiöpfe des vielgepriesenen Verstandes 
halten könnte. Aber glauben Sie das nur nicht! Solch eine Ansidit 
entspringt nur dem verzweifelten und hoffnungslosen Bemühen, irgend 
etwas in der Welt verstehen zu wollen. Sobald man das will, sitzt 
gewiß ein besonders schadenfrohes Es irgendwo im Versteck, spielt 
mit uns Schabernack und ladit sich halb tot über unsre Anmassung, 
über daS' Gernegroßsein unsres Wesens. ,. ^. 

Bitte, Liebe, vergessen Sie nie, daß unser Gehirn, und damit unser 
Verstand, Geschöpf des Es ist; gewiß eins, das wiederum schaffend 
-wirkt, das aber doch erst spät in Tätigkeit tritt und dessen Schaffens- 
feld beschränkt ist. Längst ehe das Gehirn entsteht, denkt schon das 
Es des Menschen, es denkt ohne Gehirn, baut sich erst das Gehirn. 
Das ist etwas Fundamentales, etwas, was der Mensch nie vergessen 
dürfte und doch stets vergißt. In dieser Annahme, daß man mit dem 
Gehirn denkt, eine Annahme, die sicher falsch ist, ist die Quelle von 
tausend und abertausend Albernheiten, freilich auch die Quelle für 
wertvolle Entdeckungen und Erfindungen, für aUes, was das Leben 
verschönt und verhäßlicht. 

Sind Sie mit der Wirrnis zufrieden, in der wir uns herumtreiben? 
Oder soll ich Ihnen noch erzählen, daß sich fortwährend in buntem 
Wechsel neue Es- Wesen zeigen, gleichsam als ob sie neu entstünden? 
Daß es Es-Wesen der Körperfunktionen gibt, des Essens, Trinkens, 
Sdilafens, Atmens, Gehens? Daß sich ein Es der Lungenentzündung 
oder der Schwangerschaft offenbart, daß sich aus dem Beruf, aus dem 

256 



Alter, aus dem Aufenthaltsort, aus dem Closet und Nadittopf, aus 
dem Bett, der Sdiule, der Konfirmation und Ehe, der Kunst und der 
Gewohnheit solche seltsame Dinge bilden? Verwirrung, unendlidie 
Verwirrung-. Nichts ist klar, alles ist dunkel, unentrinnbare Verschlingung'. 

Und do(Ji, und doch! Wir meistern das alles, wir treten mitten 
hinein in diese brodelnde Flut und dämmen sie ein. Wir packen diese 
Gewalten irgendwo und reißen sie hierhin und dorthin. Denn wir sind 
Menschen, und unser Griff vermag etwas. Er ordnet, gliedert, schafft 
und vollbringt. Dem Es steht das Idi gegenüber, und wie es auch sei 
und was auch sonst noch zu sagen wäre; für die Menschen bleibt 
immer der Satz: Ich bin Ich. 

Wir können nicht anders, wir müssen uns einbilden, daß wir 
Herren des Es sind, der vielen Es-Einheiten und des einen Gesamt- 
Es, ja auch Herren über Charakter und Handeln des Nebenmenschen, 
Herren über sein Leben, seine Gesundheit, seinen Tod. Das sind wir 
gewiß nidit, aber es ist eine Notwendigkeit unserer Organisation, 
unsres Menschseins, daß wir es glauben. Wir leben, und dadurcii daß 
wir leben, müssen wir glauben, daß wir unsere Kinder erziehen können, 
daß es Ursaciien und Wirkungen gibt, daß wir aus freier Überlegung 
heraus zu nützen und schaden vermögen. In der Tat wissen wir 
nichts über den Zusammenhang der Dinge, können nicht für vierund- 
zwanzig Stunden voraus bestimmen, was wir tun werden und haben 
nidit die Macäit, irgend was absichtlich zu tun. Aber wir werden vom 
Es gezwungen, seine Taten, Gedanken, Gefühle für Geschehnisse 
unsres Bewußtseins, unsrer Absithtlichkeit, unsres Ichs zu halten. Nur 
weil wir in ewigem Irrtum befangen sind, blind sind und nicht das 
Geringste wissen, können wir Ärzte sein und Kranke behandeln. 

Idi weiß nicht bestimmt, warum ich Ihnen das alles schreibe. 
Vermutlich um mich zu entschuldigen, daß id» trotz meines festen 
Glaubens an die Allmacht des Es dodi Arzt bin, daß idi trotz der 
Überzeugung von der außerhalb meines Bewußtseins liegenden Not- 
wendigkeit all meiner Gedanken und Taten doch immer wieder Kranke 
behandle und vor mir selber und vor andern so tue, als ob ich für 

17 Groddccfc, Dm Buch vom Es 257 



Erfolg und Mißerfolg- meiner Behandlung- vcrantwortlidi sei. Des 
Menschen wesentlidie Eigenschaft ist Eitelkeit und Selbstübersciiätzung. 
Ich kann mir diese Eigenschaft nicht nehmen, muß an midi und mein 
Tun glauben. 

Im Grunde wird alles, was im Menschen vorgeht, vom Es getan. 
Und das ist gut so. Und es ist audi gut, einmal wenigstens im Leben 
still zu stehen und sich, so gut es geht, mit der Überlegung zu be- 
schäftigen, wie ganz außerhalb unsres Wissens und Vermögens die 
Dinge vor sieh gehen. Für uns Ärzte ist das besonders notwendig. 
Nidit um uns Bescheidenheit zu lehren. Was sollen wir mit soldi un- 
menschlicher, außermenschlicher Tugend? Sie ist doch nur pharisäis<^. 
Nein, sondern weil wir sonst Gefahr laufen, einseitig zu werden, uns 
selbst und unsern Kranken vorzulügen, daß gerade diese oder jene 
Behandlungsart die allein richtige sei. Es klingt absurd, aber es ist 
doch wahr, daß jede Behandlung des Kranken die richtige ist, daß er 
stets und unter allen Umständen riditig behandelt wird, ob er nun 
nach Art der Wissenschaft oder nadi Art des heilkundigen Sdiäfers 
behandelt wird. Der Erfolg wird nicht von dem bestimmt, was wir 
unsern Kenntnissen gemäß verordnen, sondern von dem, was das 
Es unsres Kranken mit unsren Verordnungen macht. Ware das nidit 
so, so müßte ein jeder Knochenbruch, der regelrecht eingerenkt und 
verbunden ist, heilen. Dem ist aber nidit so. Wäre wirklich ein so 
großer Unterschied zwisdien dem Tun eines Chirurgen und dem eines 
Internisten oder Nervenarztes oder eines Pfuschers, so hätte man recht, 
sich seiner gelungenen Kuren zu rühmen und sich der Mißerfolge zu 
schämen. Aber dazu hat man kein Recht. Man tut es, aber man hat 
kein Recht dazu. 

Dieser Brief ist, wie mir sdieint, aus einer merkwürdigen Stimmung 
heraus gesdirieben. Und wenn ich so weiter fortfahre, mache ich Sie 
alier Wahrscheinlichkeit nach traurig oder bringe Sie zum Lachen. Und 
weder das eine noch das andere liegt in meiner Absicht. Ich will Ihnen 
lieber erzählen, wie ich zur Psydioanalyse gekommen bin. Sie werden 
dann eher verstehen, was ich mit meinen Drumrumreden meine, werden 

258 



einsehen, was für seltsame Gedanken idi über meinen Beruf und seine 
Ausübung habe. 

Idi muß Sie zunadist mit dem Seelenzustande bekannt madien 
in dem idi midi damals befand und der sich in die Worte zusammen- 
fassen läßt, daß ich abg-ewirtschaftet hatte. Ich kam mir alt vor, hatte 
keine Lust mehr am Weibe oder am Manne, meiner Liebhabereien 
war ich überdrüssig- geworden, und vor allem, meine ärztÜche Tätigkeit 
war mir verleidet. Ich betrieb sie nur noch zum Gelderwerb. Ich war 
krank, daran zweifelte icti selber nicht, wußte nur nidit, was mit mir 
los war. Erst einige Jahre später hat mir einer meiner medizinisdien 
Kritiker gesagt, woran ich litt: idi war hysterisch, eine Diagnose, von 
deren Richtigkeit ich umso mehr überzeugt bin, als sie ohne persön- 
liche Bekanntschaft lediglidi nach dem Eindruck meiner Sdiriften ge- 
stellt worden ist: die Symptome müssen also sehr deutlich gewesen 
sein. In dieser Zeit übernahm idi die Behandlung einer schwerkranken 
Dame; die hat mich gezwungen, Analytiker zu werden. 

Sie erlassen mir es wohl, auf die lange Leidensgeschichte dieser 
Frau einzugehen; ich tue das nidit gern, weil es mir leider nicht ge- 
lungen ist, sie vollständig wieder herzustellen, wenn sie auch im Lauf 
der vierzehn Jahre, die ich sie kenne und verarzte, gesünder geworden 
ist, als sie es selbst je erwartet hat. Um Ihnen aber die Sicherheit zu 
geben, daß es sich bei ihr wirklich um eine solide „organische", also 
wirkliche Erkrankung, nicht bloß um eine „eingebildete", eine Hysterie 
wie bei mir handelte, berufe i<h mich auf die Tatsache, daß sie in den 
letzten Jahren vor unserer Bekanntschaft zwei schwere Operationen 
durchgemacht hatte und mir mit einem reichlichen Vorrat von Digitalis, 
Skopolamin und anderem Dreck als Todeskandidatin von ihrem letzten 
wissenschaftlichen Berater übergeben wurde. 

Anfangs war unser Verkehr nitht leicht. Daß sie meine etwas 
gewalttätige Untersuchung mit reichlichen Gebärmutter- und Darm- 
blutungen beantwortete, überraschte mich nicht: dergleichen hatte 
ich bei anderen Kranken des öfteren erlebt. Was mir aber auffiel, 
war, daß sie trotz ihrer .ansehnlichen Intelligenz über einen lächerlich 

17' 259 



armseligen Wortsdiatz verfügte. Für die meisten Gegenstände des Ge- 
brauches benutzte sie Umschreibungen, so daß sie etwa statt Schrank 
das Ding: für die Kleider sagte, oder statt Ofenrohr die Einrichtung 
für den Rauch. Gleidizeitig vermochte sie nicht bestimmte Bewegungen 
zu ertragen, etwa das Zupfen an der Lippe oder das Spielen mit irgend- 
einer Stuhlquaste. Verschiedene Gegenstände, die uns zum täglichen 
Leben notwendig vorkommen, waren aus dem Krankenzimmer verbannt. 

Wenn ich jetzt auf das Krankheitsbild, wie es sich damals darbot, 
zurückblicke, wird es mir schwer, zu glauben, daß ich einmal eine Zeit 
gehabt habe, wo ich nichts von allen ditsen Dingen verstand. Und 
doch war es so. Ich sah wohl, daß es sich bei meiner Kranken um 
eine enge Verquickung sogenannter körperlicher und psychischer Elr- 
scheinungen handelte, aber wie die zustande gekommen war und wie 
man der Kranken helfen sollte, wußte idi nicht. Nur das eine war mir 
von vornherein klar, daß irgendeine geheimnisvolle Beziehung zwischen 
mir und der Patientin war, die sie veranlaßte, "Vertrauen zu mir zu 
fassen. Damals kannte ich den Begriff der Übertragung noch nicht, 
freute mich nur der scheinbaren SuggestibUität des Behandlungsobjektes 
und arztete darauf los, wie idi es gewohnt war. Einen großen Erfolg 
errang ich schon bei dem ersten Besuch. Bisher hatte sich die Kranke 
stets geweigert, mit einem Arzt allein zu verhandeln; sie verlangte, 
daß die ältere Schwester dabei sei und infolgedessen ging jeder Ver- 
ständigungsversuch immer durch die Vermittlung der Schwester vor 
sidi. Seltsamer Weise ging sie sofort auf meinen Vorschlag, mich das 
nächste Mal allein zu empfangen, ein: erst spät ist mir klar geworden, 
daß das an der Art der Übertragung lag. Fräulein G. sah in mir 
die Mutter. 

Hier muß idi eine Bemerkung über das Es des Arztes einschieben. 
Es war damals meine Gewohnheit, die wenigen Anordnungen, die idi 
gab, mit absoluter Strenge und — ich muß den Ausdruck gebrauchen 
— Unersdirockenheit durchzusetzen. Ich gebraudite die Redewendung: 
»Sie müssen eher sterben, als irgend eine Verordnung übertreten," 
und ich madite damit ernst. Ich habe Magenkranke, die nach bestimmten 

260 



1 



Speisen Schmerzen oder Erbredien bekamen, so lange ausschließ- 
lidi gerade mit diesen Speisen genährt, bis sie es gelernt hatten, 
sie zu vertragen, ich habe andere, die wegen irgend einer Gelenks- 
oder Venenentzündung unbeweglidi zu Bett lagen, gezwungen, aufzu- 
stehen und zu gehen, ich habe Apoplektiker damit behandelt, daß ich 
sie sich täglich bücken ließ und habe Menschen, von denen ich wußte, 
daß sie in wenigen Stunden sterben würden, angekleidet und bin mit 
ihnen spazieren gegangen, habe es erlebt, daß einer von ihnen vor der 
Haustür tot zusammenbrach. Diese Art, als kraftvoller, gütiger Vater 
autoritative, unfehlbare, väterliche Suggestion zu treiben, kannte ich 
von meinem Vater her, hatte sie bei dem größten Meister des „Arzt- 
Vaterseins" Sdiweninger gelernt und besaß wohl audi ein Stück davon 
von Geburt her. In dem Fall des Fräulein G. verlief alles anders, von 
vornherein anders. Ihre Einstellung mir gegenüber als Kind — und 
zwar, wie sich später herausstellte, als dreijähriges Kind — zwang 
mir die Rolle der Mutter auf. Bestimmte schlummernde Mutterkräfte 
meines Es wurden von dieser Kranken geweckt und gaben meinem 
Verfahren ihre Richtung. Später, als ich mein eigenes ärztliches Handeln 
aufmerksamer prüfte, fand idi, daß derlei rätselhafte Einflüsse mich 
schon oft in andere Einstellungen zu meinen Kranken als die vaterlidie 
gedrängt hatten, obwohl iA bewußt und theoretisA fest davon über- 
zeugt war, der Arzt müsse Freund und Vater sein, müsse herrschen. 

Da stand idi nun auf einmal vor der seltsamen Tatsache, daß 
nicht ich den Kranken, sondern daß der Kranke mich behandelt; oder 
um es in meine Sprache zu übersetzen, das Es des Nebenmensdien 
sucht mein Es so umzugestalten, gestaltet es audi wirklich so um, 
daß es für seine Zwecke braudibar wird. 

Schon diese Einsicht zu gewinnen, war schwer; denn Sie be- 
greifen, daß damit mein Verhältnis zum Kranken gänzlich umgekehrt 
wurde. Es kam nun nicht mehr darauf an, ihm Vorschriften zu geben, 
ihm das zu verordnen, was ich für richtig hielt, sondern so zu werden, 
wie der Kranke mich brauchte. Aber von der Einsicht bis zur Aus- 
führung der sich daraus ergebenden Folgerungen ist ein weiter Weg. 

261 



i 



Sie haben diesen Weg- ja selbst beobachtet, selbst gesehen, wie idi 
aus einem aktiv eingreifenden Arzt ein passendes Werkzeug geworden 
bin, haben mich oft deswegen getadelt und tadeln mich nodi» bestürmen 
mich immer wieder und wieder, hier zu raten, dort einzugreifen, und 
anderswo befehlend und führend zu helfen. Wenn Sie es doch lassen 
ijj wollten f ItJi bin für die Helfertätigkeit unrettbar verloren, vermeide 

■^ es, einen Rat zu geben, gebe mir Mühe, jeden Widerstand meines 

\^ Unbewußten gegen das Es der Kranken und seine Wünsche so rasch 

wie möglich aufzulösen, fühle mich glücklidi dabei, sehe Erfolge und 
bin selbst gesund geworden. Wenn idi etwas bedaure, so ist es, daß 
der Weg, den idi gehe, allzu breit und gemächlich ist, so daß ich aus 
purer Neugier und füllenartigem Übermut davon abbiege, midi in 
■^ Klüften und Sümpfen verliere und so mir selbst und meinen Schutz- 

befohlenen Mühe und Schaden bringe. Mir kommt es vor, als ob 
das Schwerste im Leben sei, sidi gehen zu lassen, den Es-Stimmen 
des Selbst und des Nebenmenschen zu lauschen und ihnen zu folgen. 
Aber es lohnt sidi. Man wird allmählich wieder Kind und Sie wissen: 
So Ihr nidit werdet wie die Kinder, so könnt Ihr nicht in das Himmel- 
reich kommen. Man sollte das Gernegroßsein mit fünfundzwanzig Jahren 
aufgeben; bis dahin braucht man es ja wohl, um zu wadiaen, abernachher 
ist es dodi nur für die seltenen Fälle der Erektion nötig. Sich erschlaffen 
. lassen und die Erschlaffung, das Schlaffsein, das Schlappsdiwanzsein 

weder sich noch Andren zu verbergen, darauf käme es an. Aber wir sind 
wie jene Landsknechte mit dem Holzphallus, von denen ich Ihnen erzählte. 
Genug für heute. Es drängte mich längst, einmal ein Urteil von 
^ Ihnen zu hören, wie weit idi im Kindwerden, in der Ent-Idiung ge- 

kommen bin. Ich selbst habe das Gefühl, daß ich noch in den An- 
fängen dieses meist Altern genannten Prozesses bin. der mir wie ein 
Kindwerden vorkommt. Aber idi kann mich irren; das Zornwort einer 
Kranken, die midi nadi zwei Jahren der Trennung wiedersah: „Sie 
haben seelisches Embonpoint angesetzt", hat midi etwas zuversicht- 
licher gemadit. Bitte gehen Sie Auskunft Ihrem getreuem 

;,1 PATRIK TROLL. 

262 

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31. 
ICH HÄTTE NICHT GEDACHT, DASS SIE SO SCHELTEN 
können, Verehrteste. Klarheit verlang-en Sie, nichts als Klarheit. Klar- 
heit? Wenn mir die Es-Frage klar wäre, würde idi glauben, Gott 
selbst zu sein. Gestatten Sie mir, bescheidener von mir zu denken. 

Lassen Sie mich dazu zurückkehren, wie ich Freuds Sdiüler 
wurde. Nachdem midi Fräulein G. zu ihrem Mutter-Arzte ernannt 
hatte, wurde sie zutraulicher. Sie ließ sidi alle möglidien Hantierungen, 
wie sie mein Gewerbe als Masseur mit sich bradite, ruhig- gefallen, 
aber die Sdiwierigkeiten der Unterhaltung blieben. Nach und nadi ge- 
wöhnte idi mir — aus Spielerei, wie mir schien — ihre umschreibende 
Ausdrucksweise an und siehe da, natii einiger Zeit bemerkte ich zu 
meiner hödisten Verwunderung, daß ich Dinge sah, die idi früher 
nicht gesehen hatte. Ich lernte das Symbol kennen. Es muß sehr all- 
mählidi gegangen sein, denn idi besinne mich nidit, bei welcher Ge- 
legenheit ich zuerst begriff, daß ein Stuhl nicht nur ein Stuhl, sondern 
eine ganze Welt ist, daß der Daumen der Vater ist, daß er Sieben- 
meilenstiefel anziehen kann und dann als ausgestredtter Zeigefinger 
Erektionssymbol wird, daß ein geheizter Ofen eine heißblütige Frau 
bedeutet und das Ofenrohr den Mann, und daß die sdiwarze Farbe 
dieses Rohres unausspredilichen Schrecken verursadit, weil in dem 
Sdiwarz der Tod ist, weil dieser harmlose Ofen den Gesdiledits- 
verkehr eines abgeschiedenen Mannes mit einer lebendigen Frau 

bedeutet. 

Was soll idi weiter davon spredien? Ein Rausdi kam über midi, 
wie idi ihn nie vorher nodi nadiher erlebt habe. Das Symbol war 
das erste, was idi von aller analytischen Weisheit lernte und es hat 
midi nidit wieder losgelassen. Ein langer, langer Weg von vierzehn 
Jahren liegt hinter mir und wenn id. ihn zu übersdiauen sudie. ist er 
voll von seltsamen Funden der Symbolik, verwirrend voll, herrlid, 
bunt und sdiillernd vom Wedisel der Farben. Die Gewalt, mit der 
midi diese Einsidit in die Symbole umänderte, muß ungeheuer ge- 
wesen sein, denn sie trieb midi sdion in den ersten Wodien meiner 

263 






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Lehrzeit dazu, in der organischen Veränderung- des mensdilidien 
Äußeren, in dem, was man physische organische Krankheit nennt, das 
Symbol zu sudien. Daß das psychische Leben ein fortdauerndes Symboli- 
sieren sei, war mir so selbstverständlich, daß ich ungeduldig die sidi 
aufdrängenden Massen neuer, für mich neuer Gedanken und Gefühle 
wegdrängte und in toller Hast die Wirkung des Symbolzeigens in 
Organerkrankungen verfolgte. Und diese Wirkungen waren für mich 
Zauberwirkungen. .*,-,,-. 

Bedenken Sie, ich hatte eine zwanzigjährige ärztlidie Tätigkeit hinter 
mir, die sich — ein Erbteil Schweningers — nur mit chronischen, auf- 
gegebenen Fällen besdiäftigte. Ich wußte genau, was auf meinem 
früheren Wege zu erreichen war, und ich schrieb das Mehr, das nun 
entstand, ohne weiteres meiner Belehrung über die Symbole zu, die 
idi wie einen Sturmwind über die Kranken dahinbrausen ließ. Es 
war eine schone Zeit. 

Gleichzeitig mit den Symbolen lernte ich durch meine Kranke 
eine andre Eigentümlichkeit menschlichen Denkens praktisch kennen, 
den Assoziationszwang. Vermutlich haben dabei auch Einflüsse andrer 
Herkunft, Zeitschriften, mündliche Mitteilungen, Klatsch mitgewirkt, 
das Wesentliche aber kam von Fräulein G. Auch mit Assoziationen 
beglückte ich sofort meine Klienten, es ist mir auch genug davon in 
meinen ärztlichen Gewohnheiten haften geblieben, um damit Fehler 
zu begehen, aber damals sdiien mir alles sehr gut. 

So lange es dauerte. Schon bald traten Rückschläge ein. Irgend- 
welche geheimnisvolle Kräfte stemmten sich mir plätzlich entgegen, 
Dinge, die ich später unter Freuds Einfluß als Widerstände zu be- 
zeichnen lernte; ich verfiel zeitweise wieder in die Methode des Be- 
fehlens, wurde dafür durch Mißerfolge bestraft und lernte schließlich 
leidlich mich durdiwinden. Alles in allem ging die Sache über Er- 
warten gut und als der Krieg ausbradi, hatte ich mir ein Verfahren 
zureditgebaut, das den Anforderungen meiner Praxis allenfalls ent- 
spraai. Ich habe dann während der paar Monate Lazarettätigkeit 
mein dilettantisches wildes Analysieren, das ich übrigens noch jetzt 

264 



beibehalten habe, an Verwundeten erprobt und habe gesehen, daß die ■ 
Wunde oder der Knodienbruch ebenso auf die Analyse des Es reagiert 
wie die Nierenentziinduog- oder der Herzfehler oder die Neurose. 

Soweit schreibt sich das ganz nett und angenehm und es klingt 
wahrscheinlich. Aber mitten in dieser Entwicklung steht etwas Rätsel- 
haftes; ein öffentlicher Angriff auf Freud und die Psydioanalyse. Sie 
können ihn noch gedruckt lesen in einem Budi über den gesunden und 
kranken Menschen. Ich habe mir immer eingebildet, daß idi die Analyse 
von Fräulein G. gelernt habe, bilde es mir noch ein. Es kann aber 
nicht wahr sein; denn wie sollte ich sonst zu einer Zeit, wo ich angeblich 
gar nichts von Freud wußte, seinen Namen gekannt haben? Daß idi 
nichts Richtiges über ihn wußte, ergibt sidi aus dem Wortlaut des 
Angriffs. Ich kann mir nichts Dümmeres denken als diesen Wortlaut. 
Aber wo in aller Welt haben die Glocken gehangen, die idt läuten 
hörte? Erst vor ganz kurzer Zeit ist es mir eingefallen. Die erste 
Idee davon bekam ich viele Jahre, ehe idi Fräulein G. kennen lernte, 
durch einen Artikel der Täglichen Rundschau und das zweite Mal 
hörte idi Freuds Namen und den Ausdruck: Psychoanalyse durch 
das Geschwätz einer Kranken, die ihre Kenntnisse irgendwo auf- 
gelesen hatte. 

Die Eitelkeit hat midi lange daran gehindert, midi mit der wissen- 
schaftlichen Psychoanalyse zu beschäftigen. Später habe idi versucht, 
diesen Fehler wieder gut zu madien, hoffe audi, daß es mir leidlidi 
gelungen ist, wenn auch hie und da unausjätbares Unkraut in meinem 
analytisdien Denken und Handeln übrig geblieben ist. Aber der Eigen- 
sinn, nicht lernen zu wollen, hat auch seinen Vorteil gehabt. In dem . 
blinden Dahintaumeln, das durdi Kenntnisse nicht beschwert war, bin 
ich von ungefähr auf die Idee gestoßen, daß es außer dem Unbewußten 
des Gehirndenkens analoges Unbewußtes in andern Organen, Zellen, 
Geweben usw. gibt, und daß sidi bei dem innigen Zusammenschluß 
dieser einzelnen Unbewußtwesen zum Organismus ein heilender Ein- 
fluß auf jedes dieser Einzelwesen durch Analyse des unbewußten 
Gehirns gewinnen laßt. 

265 



f 



Sie müssen nidit denken, daß mir behag-Iidi zu Mute ist, wahrend 
ich diese Sätze niederschreibe. Idi habe das dunkle Gefühl, daß sie 
. nidit einmal Ihrer Uebenswürdigen Kritik standhalten, gesdiweige denn 
einer ernsthaften Prüfung- der Fadiwissenschaft. Da es mir immer 
leichter geworden ist, zu behaupten als zu beweisen, greife idi audi 
hier zur Behauptung und sage ; Auf dem Wege der Analyse läßt sich 
jede Erkrankung des Organismus, gleichgültig, ob sie psychisdi oder 
physisch genannt wird, beeinflussen. Ob man im gegebenen Fall ana- 
lytisch oder diirurgisch oder physikalisdi, diätetisch oder medikamentös 
verfahren soll, ist eine Zweckmäßigkeitsfrage. An sich gibt es kein 
Gebiet der Medizin, auf dem sidi Freuds Entdeckung nidit ver- 
werten heße. 

Ihr Hinweis, Hebe Freundin, daß ich praktistJier Arzt bin und midi 
Doktor nenne, ist so energisch gewesen, daß ich mich genötigt sehe, 
«i»" wenig mehr von Krankheit zu plaudern, wie ich mir ihr Zustande- 
kommen und ihre Heilung vorstelle. Zunächst aber müssen wir uns 
darüber einigen, was wir Krankheit nennen wollen. Ich denke, wir 
kümmern uns nicht darum, was andere Leute darunter verstehen, 
sondern stellen unsern eigenen Begriff auf. Und da schlage ich vor, 
klar auszusprechen: Krankheit ist eine Lebensäußerung des mensch- 
lichen Organismus. Nehmen Sie sieh Zeit, darüber nachzudenken, ob 
Sie dieser Formel zustimmen wollen oder nicht. Und gestatten Sie mir, 
währenddessen so zu tun, als ob Sie meinen Satz billigten. 

Vielleicht halten Sie die Frage nicht für besonders wichtig. Aber 
wenn Sie, wie ich, sich dreißig Jahre lang Mühe gegeben hätten, Tag 
für Tag so und so viel Menschen diesen einfachen Satz begreiflich zu 
madien und doch Tag für Tag dreißig Jahre lang die Erfahrung 
^ gemacht hatten, daß er durdiaus nicht in die Köpfe der Menschen 

hineingeht, würden Sie mir beipflichten, wenn idi Wert darauf lege, 
daß Sie wenigstens ihn verstehen. 

Wem, wie mir, Krankheit eine Lebens außerung des Organismus 
^ ist, der sieht in ihr nicht mehr einen Feind. Es kommt ihm nicht mehr 

in den Sinn, die Krankheit bekämpfen zu wollen, er sucht sie nicht zu 

266 



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heilen, ja er behandelt sie nicht einmal. Es wäre für midi ebenso 
absurd, sie zu behandeln, als wenn idi Ihre Spottsucht dadurch zu 
beheben suchte, daß idi die kleinen Bosheiten Ihrer Briefe säuberlich 
n ebenso viel Artigkeiten umsdiriebe, ohne Ihnen audi nur Mitteilung 
davon zu machen. 

Mit dem Augenblick, wo ich einsehe, daß die Krankheit eine 
Schöpfung des Kranken ist, wird sie für mich dasselbe, wie seine Art 
zu gehen, seine Sprechweise, das Mienenspiel seines Gesichtes, die 
Bewegung seiner Hände, die Zeichnung, die er entworfen, das Haus, 
das er gebaut, das Geschäft, das er abgeschlossen hat, oder der Gang, 
den seine Gedanken gehen: ein beachtenswertes Symbol der Gewalten, 
die ihn beherrschen und die ich zu beeinflussen suciie, wenn ich es für 
recht halte. Die Krankheit ist dann nichts Abnormes mehr, sondern 
etwas, was durch das Wesen dieses einen Menschen, der krank ist 
und von mir behandelt werden will, bedinget ist. Ein Unterschied besteht 
darin, daß die Schöpfungen des Es, die wir Krankheiten zu nennen 
pflegen, unter Umständen für den Schöpfer selbst oder seine Umgebung 
unbequem sind. Aber letzten Endes kann auch eine schrille Stimme 
oder eine unleserliche Handschrift für Mensdi und Nebenmenschen 
unerträglich sein und ein unzweckmäßigf gebautes Haus bedarf ebenso 
des Umbaus wie etwa eine Lunge, die entzündet ist, so daß schließ- 
lich keine wesentUche Verschiedenheit zwischen der Krankheit und dem 
Sprechen oder Schreiben oder Bauen zu finden ist. Mit andern Worten, 
ich kann mi<^ nicht mehr dazu entsdiließen, mit einem Kranken anders 
zu verfahren, als mit jemandem, der schledit schreibt oder spricht 
oder sdilecht baut. Ich werde versuchen, herauszubekommen, warum 
und zu weldiem Zweck sein Es sidi des schlechten Sprechens, Schreibens, 
Bauens, des Krankseins bedient, was es damit sagen wiU. Ich werde 
mich bei ihm, bei dem Es selbst erkundigen, was für Gründe es zu 
seinem, mir und ihm selber unangenehmen Verfahren hat. werde mich 
darüber rfiit ihm unterhalten und sehen, was es dann tut. Und wenn 
eine Unterhaltung nicht genügt, so werde ich sie wiederholen, zehnmal, 
zwanzigmal. hundertmal, so lange, bis dieses Es die Unterredungen 

267 






langweilig findet und entweder sein Verfahren ändert oder sein Ge- 
schöpf, den Kranken, zwingt, mich zu entlassen, durdi Abbrechen der 
Behandlung- oder durch den Tod. 

Nun gebe ich zu, es kann notwendig sein, ist es sog:ar meist, ein 
sdilecht gebautes Haus so rasdi wie möglich umzubauen oder nieder- 
zureißen, einen Menschen, der eine Lungenentzündung hat, ins Bett zu 
stecken, ihn zu pflegen, einem Wassersüchtigen etwa mit Digitalis das 
Wasser wegzutreiben, einen zerbrochenen Knochen einzurenken und 
unbeweglich zu machen, ein brandiges Glied abzuschneiden. Ja ich habe 
sogar begründete Hoffnung, daß ein Architekt, dessen Neubau sofort 
nach der Übergabe an den Bauherrn umgebaut oder niedergerissen 
wird, in sich gehen, seine Fehler einsehen, sie in Zukunft vermeiden 
oder seinen Beruf ganz aufgeben wird, daß ein Es, wenn es sein 
eigenes Fabrikat, Lunge oder Knochen, geschädigt und dadurch Schmerz 
und Leid erfahren hat, vernünftig wird und für später etwas gelernt 
hat. Mit andern Worten, das Es kann sich selbst davon durdi Er- 
fahrung überzeugen, daß es dumm ist, seine Kräfte in der Produktion 
von Krankheiten zu zeigen, statt sie zur Produktion eines Liedes, eines 
Geschäftsganges, einer Blasenentieerung oder eines Geschlechtsaktes 
zu benutzen. Aber das alles entbindet mich, dessen Es midi zum Arzt 
hat werden lassen, nicht von der Notwendigkeit, wenn Zeit dazu ist, 
die Gründe des krankheitsüchtigen Es meines Nebenmenschen anzu- 
hören, sie zu würdigen und wo es not tut und möglich ist, zu 
widerlegen. 

Die Sache ist wichtig genug, um sie noch einmal von einer andern 
Seite zu beleuchten. Wir sind im allgemeinen gewohnt, die Gründe 
für unsre Erlebnisse, je nachdem es uns gefällt, in der Außenwelt 
oder in unsrer Innenwelt zu sudien. Wenn wir auf der Straße aus- 
gleiten, suchen und finden wir die Apfelsinensdiale, den Stein, die 
äußere Ursache, die uns zu Fall gebracht hat. Wenn wir dagegen eine 
Pistole nehmen und schießen uns eine Kugel vor den Kopf, so sind 
wir der Ansicht, daß wir das aus inneren Gründen absiditlich tun. 
Wenn jemand eine Lungenentzündung bekommt, so schieben wir das 

268 



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auf die Infektion durch Pneumokokken, wenn wir aber vom Stuhl auf- 
stehen, durch das Zimmer gehen, und aus dem Schrank Morphiumgift 
holen, um es zu nehmen, so glauben wir aus inneren Gründen zu 
handeln. Ich bin, wie Ihnen bekannt ist, stets ein Besserwisser ge- 
wesen, und wenn mir jemand die berühmte Apfelsinenschale entgegen- 
hielt, die trotz aller PoHzeivorschriften auf der Straße lag und den 
Armbruch der Frau Lange herbeigeführt hatte, bin ich hingegangen 
und habe sie gefragt: „Weldien Zweck verfolgen Sie damit, den Arm 
zu brechen?" Und wenn mir jemand erzählte, der Herr Treiner hat 
gestern Morphium genommen, weil er nicht schlafen konnte, habe ich 
Herrn Treiner gefragt: Wie und wodurch ist gestern die Idee „Morphium" 
so stark in Ihnen geworden, daß Sie sich schlaflos machten, um Morphium 
nehmen zu können? Bisher ist mir immer Antwort auf solche Fragen 
geworden, was auch nicht allzu verwunderlidi ist. Alle Dinge haben 
zwei Seiten, also kann man sie auch von zwei Seiten betrachten, und 
überall wird man, wenn man sich Mühe gibt, eine äußere und eine 
innere Ursache für die Gesdichnisse des Lebens finden. 

Dieser Sport des Besserwissenwollens hat nun seltsame Folgen 
gehabt. In der Beschäftigung damit bin ich immer mehr dazu verlockt 
worden, die innere Ursache aufzusuchen, teils weil ich in eine Zeit 
hinein geboren wurde, die vom Bazülus und nur vom Bazillus schwatzte, 
wenn sie nicht gar noch die Wörter Erkältung und Magenverderben 
anbetete, teils weil sich frühzeitig — aus Troll-Hochmut heraus — der 
Wunsch ausbildete, in mir ein Es, einen Gott zu finden, den ich für 
alles verantwortlich machen konnte. Da ich aber nicht schlecht genug 
erzogen war, um die Allmacht für mich allein zu beanspruchen, so 
vindizierte ich sie auch anderen Menschen, erfand auch für sie das 
Ihnen so anstößige Es und konnte nun behaupten: „die Krankheit 
kommt nicht von außen, der Mensch erschafft sie selbst, benutzt die 
Außenwelt nur als Werkzeug, um sich damit krank ZU machen, greift 
aus seinem unerschöpflichen Instrumentenlager der ganzen Welt bald 
die Spirochäte der Syphilis, heute eine Apfelsinenschale, morgen eine 
Gewehrkugel und übermorgen eine Erkaltung heraus, um sich selbst 

269 



1. 









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damit ein Leid zuzufügen. Stets tut er es mit dem Zweck der Lust- 
g-ewinnung, weil er als Mensch von Natur Freude am Leid hat, weil 
er als Mensch von Natur sich sündig fühlt und das Gefühl der Schuld 
durch Selbstbestrafung fortschaffen will, weil er irgendeiner Un- 
bequemlichkeit ausweichen will. Meist ist ihm von all diesen Seltsam- 
keiten nichts bewußt, ja in Wahrheit wird alles in Tiefen des Es be- 
schlossen und ausgeführt, in die wir nie hineinschauen können, aber 
zwischen den unergründlichen Schichten des Es und unserm gesunden 
Menschenverstände gibt es für das Bewußtsein erreidibare Schichten 
des Unbewußten, Schichten, die Freud bewußtseinsfähig nennt und in 
denen lassen sich allerhand nette Dinge finden. Und was das Seltsamste 
ist, wenn man sie durchstöbert, geschieht es nicht gar zu selten, daß 
plötzlich das da ist, was wir Heilung nennen. Ohne daß wir das Ge- 
ringste davon verstehen, wie die Hellung zu Stande kommt, von un- 
gefähr, ohn all unser Verdienst und Würdigkeit, ich muß es immer 
wieder sagen. 

Zum Sdiluß alter Gewohnheit gemäß eine Geschidite oder heber 
zwei. Die eine ist einfach genug und Sie werden es wahrscheinllA 
albern finden, daß ich ihr Wert beimesse. Zwei Offiziere unterhalten 
sich im Schützengraben von der Heimat und wie schön es wäre, einen 
Schuß zu bekommen, der einem den nötigen Urlaub von einigen Wochen 
oder Monaten verschaffte. Einer von beiden ist damit nidit zufrieden, 
er wünscht sich eine ausreidiende Verletzung, die ihn dauernd in die 
Heimat bringt und erzählt von einem Kameraden, der durch das rechte 
Ellenbogengelenk geschossen und dadurch untauglich für den Feld- 
dienst wurde. „So etwas wäre mir ganz recht." Eine halbe Stunde 
später ist sein rechtes Ellenbogengelenk durchschossen. Die Kugel 
traf ihn in dem Augenblick, wo er die Hand zum Gruß erhob. Hätte 
er nidit gegrüßt, wäre das Geschoß vorbeigeflogen. Und er hatte es 
nirfit nötig zu grüßen, denn dem Kameraden, dem sein Gruß galt, 
war er in den letzten zwei Stunden sciion dreimal begegnet. Sie 
braudien der Sache keine Bedeutung beizulegen; es genügt, wenn ich 
mir meinen Vers darauf mache. Und da idi die wohlüberlegte Absidit 

270 



i 



gehabt habe, möglichst oft zwischen Verwundung und Verwundungs- 
wutisch des Es innere Zusammenhänge zu finden, ist es mir nidit 
schwer geworden, sie in die Leute hinein zu reden. Basta, 

Ein andrer Herr kam lange nadi dem Kriege in meine Behand- 
lung, es tut nichts 2ur Sat^e weshalb. Er litt unter anderem an 
kurzen epüeptisdien Anfallen und bei der Beschreibung solcher Anfälle 
erzählte er mir folgende Gesd>ichte: Er war audi feld dienstmüde ge- 
worden und besdiäftigte sich mit dem Gedanken, wie er wohl ohne 
allzu sdiwere Folgen glücklich aus dem Schlamassel herauskommen 
könne. Da fiel ihm ein, — und audi dieser Einfall war nicht zufällig, 
sondern durch kurz vorhergehende Eindrücke bedingt, deren Aufzählung 
zu weit führen würde — es fiel ihm ein, wie er als Sekundaner von seinem 
allzu strengen Vater gezwungen worden war, Schneeschuh zu laufen, wie 
unbequem ihm das war und wie er seinen Kameraden, der sidi beim Ski- 
läufen die rechte Kniescheibe gebrochen hatte und infolge dessen 
Monate lang aus der Schule bleiben mußte, beneidet hatte. Zwei Tage 
darauf war er als Batteriedief in seinem Beobaditungsstand. Seine 
Batterie wurde von drei französischen Batterien beschossen, einer 
leichten, die zu kurz schoß, einer mittleren, die zu weit nach links 
schoß und einem schweren Geschütz, dessen Granaten in regelmäßigen 
Zeitabständen von genau fünf Minuten gerade zwisdhen der Batterie 
und seinem Beobaditungsposten einschlugen. Wenn der Herr von So 
und So seinen Stand sofort nach dem Platzen der schweren Granate 
verließ, konnte er ohne jede Gefahr zu seiner Batterie hinübergehen, 
was er auch zweimal tat. Da kam ein Befehl von den Herren hinten 
im sicheren Posten, die Batterie des Herrn von So und So solle ihren 
Platz wechseln. Er ärgerte sich weidlich über den Befehl, sehnte sicii 
wieder einmal nach dem Heimatsciiuß und verließ — ja idi muß 
glauben, was er mir sagte, und idi glaube es auch — verließ genau 
in dem Augenblick seinen geschützten Stand, in dem die wohlbekannte 
Pause zwischen den schweren Granaten abgelaufen war. Der Erfolg 
war befriedigend: zwei Sekunden spater lag er mit zersdimetterter 
rechter Kniescheibe am Boden, bekam seinen Anfall und wurde, zum 

271 




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Bewußtsein gekommen, hinter die Front getrag-en, — Natürlich ist es 
ein Zufall. Wer könnte daran zweifeln? Aber die Sache hatte ein 
kleines Nadispiel, dessentwegen ich Ihnen die Gesdiichte erzähle. Der 
Herr von So und So hatte nämlich ein steifes Bein von jener Zeit 
zurückbehalten, nicht ganz steif, aber doch so, daß man beim passiven 
Beugen des Gelenks bei etwa 20° auf einen Widerstand stieß, der 
nach Aussage von Leuten, die es wissen mußten, da sie gelernte 
Chirurgen und Meister im Röntgen waren, teilweise auch redit acht- 
bare Namen trugen, auf einer Narbenverwadisung an der Kniescheibe 
beruhte. Am Tag nach jener Erzählung konnte der Herr von So und 
So sein Knie bis auf 26'' bringen, am folgenden Tage noch etwas 
weiter und nach acht Tagen fuhr er Rad. Und war doch nichts mit 
seinem Knie geschehen, als daß er davon gesprociien hatte und auf 
die seltsamen Heilkuren des Es hingewiesen worden war. Knien hat 
er aber nicht gelernt. Und das ist schade. Seine Mutter ist eine fromme 
Frau und mochte gern, daß er wieder beten lernt, was er als Kind 
mit vielem Eifer getan hat. Aber, es scheint, daß er mit seinem Vater, 
nach dessen Bilde er sidi Gott gesdiaffen hatte, noch allzu sehr zer- 
fallen ist, um vor ihm die Kniee zu beugen. 

Ich muß Ihnen noch etwas erzählen: Ein junger Herr hat mich 
neulich besucht, der war vor Jahr und Tag in meiner Behandlung. Er 
litt an einer entsetzlichen Angst, die ihn Tag aus Tag ein verfolgte. 
Als er zu mir kam, wußte er scäion, daß es eine Kastrationsangst 
sei, erzählte mir auch gleich im Anfang einen Kindheitstraum, wie 
Zwei Räuber in die Koppel seines Vaters gekommen seien und seinen 
Lieblingsrappen — der Herr hat im Gegensatz zu seinen beiden 
Brüdern ganz schwarzes Haar — kastriert hätten. Als halbes Kind 
noch ~ idi glaube mit neun Jahren — hat er sich einen Dauer- 
schnupfen zugelegt, und es hat auch nicht lange gedauert, da hat man 
ihm ein Stück aus der Nasenscheidewand herausgenommen. Ich kenne 
das; es ist ein Kniff des Es, den Vater symbolisch zu kastrieren. Und 
zehn Jahre später hat er sich ohne jeden Grund beide kleinen Zehen 
abnehmen lassen, im Symbol beide Brüder kastriert. Es hat aber 

272 



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nidits geholfen, seine Angst ist geblieben. Er ist sie erst nach einer 
jahrelangen, mühseligen Analyse los geworden. Koroisch an der Sache 
ist, daß dieser Herr die lebhafte Lustphantasie hat, als Weib zu ge- 
nießen, dabei aber doch heterosexuell in besonderem Maße tätig sein 
möchte. Er hat es vorgezogen, seinen Wunsch, kastriert, Weib zu 
werden, wie er sicäi im Traum ausspridit, gegen Vater und Bruder zu 
kehren, büßt diesen bösen Wunsch mit der Nasen- und Zehenoperation 
und mit der Angst. 

Das Es madit wunderliche Streiche, macht gesund, madit krank, 
erzwingt Amputationen heiler Glieder und läßt die Mensdien in die 
Kugel hineinlaufen. Kurz, es ist ein launisch unberechenbares, kurz- 
weiliges Ding. 



Herzlichst Ihr 



PATRIK. 



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32. 

NEIN, LIEBE FREUNDIN. DIE ZEHEN SIND JENEM KRANKEN 
nicht wieder gewadisen, trotz Es und Analyse. Das schließt aber nidit 
aus, daß irgend wann einmal eine Methode gefunden wird, mit deren 
Hilfe das Es veranlaßt werden kann, amputierte Güeder neu zu bilden. 
Die Experimente über das Wachstum von Organteilen, die aus dem 
Organismus heraus gelöst sind, beweisen, daß manches möglich ist, 
was man vor dreißig Jahren für unmöglich hielt. Aber ich habe vor, 
Ihrem guten Glauben noch viel Seltsameres zuzumuten. 

Wie denken Sie zum Beispiel über das Ich? Ich bin Irfi, das ist 
ein Fundamentalsatz unseres Lebens. Meine Behauptung, daß dieser 
Satz in dem sich das Ichgefühl des Menschen ausspricht, ein Irrtum 
ist wird die Welt nidit erschüttern, wie er es tun würde, wenn man 
dieser Behauptung glaubte. Man wird ihr nidit glauben, kann ihr nidit 
glauben, ich selbst glaube nicht daran, und dodi ist sie wahr. 

Idi ist durdiaus nidit Ich, sondern eine fortwährend wechselnde 
Form, in der das Es sich offenbart, und das Idigefühl ist ein Kniff 
des Es, den Menschen in seiner Selbsterkenntnis irre zu madien, ihm 



18 Groddeck, Das Buch vom Es 



273 



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das Sichselbstbelügen leiditer zu machen, ihn zu einem gefüg-ig-eren 
Werkzeug des Lebens zu machen. 

Ich. Mit der Verdummung, die das Älterwerden mit sich bringt, 
gewöhnen wir uns so an diese uns vom Es eingeblasene Größenidee, 
daß wir die Zeit ganz vergessen, in der wir diesem Begriff verständnis- 
los gegenüberstanden, in der wir von uns in der dritten Person 
spradien: „Emmy unartig, muß Schlage haben." „Patrik gut gewesen, 
Schokolade." Welclier Erwachsene konnte sich solcher Objektivität 
rühmen. 

Ich will nicht behaupten, daß der Begriff Idi, der Begriff der 
eigenen PersönUchkeit erst in dem Moment entsteht, wo das Kind 
dieses Schibboleth der geistigen Verarmung aussprechen lernt. Aber 
so viel kann man doch wohl behaupten, daß das Bewußtsein des Idi, 
die Art wie wir Erwadisenen den Begriff Ich gebrauchen, nicht mit dem 
Menschen geboren wird, sondern ganz allmählich in ihm wächst, daß 
er es erlernt. 

Sie müssen mir schon gestatten, ein wenig über die Dinge weg 
zu schreiben. Kein Mensdi kann sidi in dem Wust des Ich zurecht 
finden, auch in den fernsten Zeiten wird Niemand das fertig bringen. 

Ich spreche absiditlich von dem Ichbewußtsein, wie wir Erwachsenen 
es empfinden. Es ist nämlich durchaus nicht sicher, daß das neu- 
geborene Kind des Bewußtseins, eine Individualität zu sein, entbehrt, 
ja, ich bin geneigt anzunehmen, daß es ein solches Bewußtsein hat, 
nur daß es sich nicht sprachlidi äußern kann. Icli glaube sogar, daß 
ein soldies Individualitätsbewußtsein auch dem Embryo zukommt, ja, 
selbst dem befruchteten Ei, dem unbefruchteten audi, ebenso wie dem 
Samenfaden. Und daraus ergibt sidi für mich, daß auch jede einzelne, 
Zelle ein solciies Individualitätsbewußtsein hat, jedes Gewebe ebenso, 
jedes Organ audi, und jedes Organsystem desgleichen. Mit andern 
Worten: jede Es-Einheit kann, wenn sie Lust dazu hat, sich selbst 
weismachen, sie sei eine Individualität, eine Person, ein Ich. 

Idi weiß, diese Betrachtungsart verwirrt alle Begriffe, und wenn 
Sie den heutigen Brief ungelesen fortlegen, so wundere ich mich nicht 

274 



darüber. Aber idi muß es doch aussprechen, daß idi glaube, die 
menschliche Hand hat ihr eig-enes Ich, sie weiß, was sie tut, und sie 
ist sidi audi dieses Wissens bewußt. Und jede Nierenzelle und jede 
Nagelzelle hat ebenso ihr Bewußtsein und ihr bewußtes Handein, 
ihr Ichbewußtsein. Beweisen kann ich das nidit, aber ich glaube es, 
deshalb, weil ich Arzt bin und gesehen habe, da6 der Magen auf be- 
stimmte Nahrungsmengen in ganz bestimmter Weise antwortet, daß 
er in Art und Menge seiner Absonderung-en bedaditsam vorgeht, er- 
wägt, was ihm zugemutet werden wird und danach seine Maßnahmen 
trifft, daß er Auge, Nase, Ohr, Mund und so weiter als seine Organe 
benutzt, um damit festzustellen, was er tun will. Ich glaube es deshalb, 
weil eine Lippe, die nicht küssen will, während das Idi des Menschen 
den Kuß begehrt, sich wund macht, eine Blase bildet, sidi entstellt, 
ihren eigenen gegensätzlichen Willen in nicht mißzuverstehender Weise, 
erfolgreich genug, äußert. Ich glaube es deshalb, weil ein Penis gegen 
den vom Gesamt-Ich ersehnten Beischlaf mit Herpesblaschen protestiert 
oder sich für eine gewaltsame Überwältigung durch den begehrlichen 
Sexualtrieb dadurch rächt, daß er sich mit Trippergift oder Syphilis- 
gift anstecken läßt; weil eine Gebärmutter hartnäckig die Schwanger- 
schaft versagt, obwohl das bewußte Ich der Frau sie so innig wünscht, 
daß sie sich behandeln oder operieren laßt; weil eine Niere den Dienst 
versagt, wenn sie findet, daß das Ich des Menschen Unbilliges ver- 
langt: und weil, wenn es gelingt, das Bewußtsein der Lippe, des 
Magens, der Niere, des Penis, der Gebärmutter zu dem Willen des 
Gesamt-Ichs zu überreden, alle ihre feindlichen Äußerungen, ihre 
Krankheitssymptome verschwinden. 

Idi muß, um in meinen ohnehin unklaren Äußerungen von Ihnen 
nicht gänzlich mißverstanden zu werden, noch Eines ausdrücklich betonen : 
dieses von mir für die Zellen, die Organe usw. beanspruchte Ich ist 
»mir nicht etwa dasselbe wie das des Es. Durchaus nicht. Vielmehr ist 
dieses Ich nur ein Produkt des Es, etwa wie die Gebärde oder der 
Laut, die Bewegung, das Denken, Bauen, Aufreditgehen, Krankwerden. 
Tanzen oder Radfahren ein Produkt des Es ist. Die Es-Einhelt betätigt 



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275 



ihr Lebendigsein einmal auf diese, ein andermal auf jene Weise: da- 
durch daß sie sich in eine Harnzelle verwandelt oder einen Nag-el 
bilden hilft oder ein Blutkörperchen wird oder eine Krebszelle oder 
sich verg-iften läßt oder einem spitzen Stein ausweicht oder sich irgend 
eines Phänomens bewußt wird. Gesundheit, Krankheit, Talent, Tat und 
Gedanke, vor allem aber das Wahrnehmen und Wollen und das Sich- 
bewußtwerden sind nur Leistungen des Es, Lebensäußerungen. Über 
das Es selbst wissen wir nldits. 

Das Alles ist ziemlidi verwickelt. Denn wenn Sie sich vorstellen, 
wie die Es-Einheiten und Gesamtheiten gegen und mit einander wirken 
und wie sie sich bald hier, bald da, jetzt so und jetzt anders zusammen- 
schließen und trennen, wie sie bald vom Gesamt-Ich Gebrauch machen, 
um etwas bewußt werden zu lassen und zugleich dieses oder jenes ins 
Unbewußte zu verdrängen, wie sie einiges dem Gesamtbewußtsein zu- 
führen, anderes wieder bloß dem der Teil-Ichs, wie sie wieder anderes 
in Kammern einschließen, aus denen es mit Hiife der Erinnerung oder 
Überlegung herausgeholt und dem Gesamtbewußtsein zugeführt werden 
kann, wahrend der weitaus größte Teil des Lebens, Denkens, Empfindens, 
Wahrnehmens, Wotlens, Handebis in unerforschbaren Tiefen vor sich 
geht, wenn Sie das alles bedenken, werden Sie eine leichte Ahnung 
davon bekommen, wie anmaßend es ist, irgend etwas verstehen zu 
wollen. Aber Gott sei Dank ist ein Verstehen auch nicht nötig, das 
Verstehen wollen nur hinderlich. Der menschliche Organismus ist so seltsam 
eingerichtet, daß er — wenn es ihm beliebt, sonst nicht — auf ein leises 
Wort, ein freundhches LacJieln, einen Druck der Hand, einen Messer- 
sdinitt, einen Eßlöffel Fingerhuttee mit Leistungen antwortet, die nur 
deshalb nicht angestaunt werden, weil sie alltäglich sind. Ich habe mich 
in allerhand Arten ärztlichen Handelns betätigt, bald so, bald so und 
habe gefunden, daß alle Wege nach Rom führen, die der Wissensdiaft 
und die des Pfuschertums, halte es daher auch nicht für besonders 
wichtig, welchen Weg man geht, vorausgesetzt, daß man Zeit hat und 
nicht ehrgeizig ist. Es haben sidi dabei in mir Gewohnheiten ausgebildet, 
denen gegenüber ich maditlos bin, denen ich folgen muß, weit sie mir 

276 



lobenswert ersdieinen. Und unter diesen Gewohnheiten steht obenan 
die Psychoanalyse, das heißt der Versuch, Unbewußtes bewußt zu 
madien. Andere machen es anders. Ich bin mit meinen Erfolgen zufrieden. 
Aber ich wollte vom Idi reden und von seiner Mannigfaltigkeit. 
Man pflegt ja unter dem Wort Ich nur das zu verstehen, was ich vorhin 
das Gesamt-Idi nannte, dessen ich mich als Angriffspunkt bei meinen 
psychoanalytischen Experimenten bediene und auch einzig bedienen kann. 
Aber audi dieses Gesamt-Idi hat seine Sonderbarkeiten, die Jedermann 
kennt, jedoch ihrer Selbstverständlichkeit halber selten beachtet. Das 
Gesamt-Ich — nennen wir es jetzt einfach Ich — ist kein leichtübersdiau- 
bares Wesen. Innerhalb weniger Minuten dreht es die verschiedensten 
Seiten seiner überaus zerklüfteten und schillernden Oberflädie uns zu. 
Bald ist es ein Ich, das aus unsrer Kindheit stammt, bald eins der 
Zwanziger Jahre, bald ist es moralisch, bald sexuell, bald das eines 
Mörders. Jetzt ist es fromm, im Augenblick darauf frech, morgens das 
eines Offiziers oder Beamten, ein Berufs-Idi, mittags ist es vielleiciit 
ein Ehe-Ich und abends das eines Kartenspielers oder eines Sadisten 
oder eines Denkers. Wenn Sie erwägen, daß alle diese Ichs — und 
man konnte ungezählte Mengen davon hersagen — daß sie alle gleicJi- 
zeitig im Menschen vorhanden sind, können Sie sidi vorstellen, was 
für eine Macht das Unbewußte im Ich ist, wie aufregend seine Be- 
obachtung ist, welche unsagbare Freude es ist, dieses Ich — mag es 
bewußt oder unbewußt uns gegenüber stehen — zu beeinflussen. Ad., 
liebe Freundin, erst seit ich mich mit Analyse besdiäftlge, weiß id., 
wie schön das Leben ist. Und es wird täglich schöner. 

Darf idi Ihnen etwas sagen, was midi immer wieder in Erstaunen 
setzt? Das Denken des Menschen - das Es-Denken oder wenigstens 
das unbewußte Ichleben - sdieint sidi in Kugelform zu bewegen. 
So kommt es mir vor. Lauter schöne runde Kugeln sehe idi. Wenn 
man eine Anzahl Wörter, so wie sie einem einfallen, hinsdireibt und 
ansieht, fügen sie sidi ganz von selbst zu emer kugeligen Phantasie, 
zu einer Dichtung in Kugelform zusammen. Und wenn man seinen 
Nebenmenschen dasselbe tun läßt, wird es aud. eine Kugel. Und 

277 



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diese Kug-eln rollen dahin, drehen sich rasch oder lano-sam und 
schimmern in tausend Farben; in Farben so schön, wie die, die wir mit 
geschlossenen Augen sehen. Es ist eine Fracht. Oder um es anders 
auszudrücken, das Es zwingt uns, in geometrisdien Figuren zu assoziieren, 
die sich — farbig — ähnlich zusammenfügen, wie es bei den niedlidien 
optischen Instrumenten der Fall ist, bei deren Drehung aus farbigen 
Glasstücken sich immer neue Figuren bilden. 

Nun sollte ich Ihnen etwas über die Entstehung der Krankheiten 
sagen, aber darüber weiß ich nichts. Und über die Heilung müßte ich 
audi sprechen, wenn es nadi Ihnen ginge. Aber darüber weiß ich erst 
recht nichts. Beides nehme ich als gegebene Tatsachen hin. Hödistens 
von der Behandlung könnte ich etwas sagen. Und das will ich auch tun. 
Das Ziel der Behandlung, jeder ärztlidien Behandlung ist, Einfluß 
'(', ^"' ^^s ^s *^«s Mensdien zu gewinnen. Im allgemeinen ist es Gebrauch, 

zu diesem Zweck bestimmte Gruppen von Es-Einheiten direkt zu be- 
handeln; man greift sie mit dem Messer oder mit diemischen Substanzen, 
mit Licht und Luft, Wärme und Kälte, elektrischen Strömen oder irgend 
welchen Strahlen an. Mehr als irgend welche Eingriffe versuchen, von 
denen Niemand voraussagen kann, was die Folgen sein werden, vermag 
kein Mensch. Was das Es auf solchen Eingriff hin tun wird, läßt sich oft 
mit einiger Bestimmtheit sagen, oft nehmen wir nur infolge irgend welcher 
vager Hoffnungen an, das Es werde artig sein, unsern Eingriff gut 
heißen und seinerseits die heilenden Kräfte in Bewegung setzen, meist 
aber ist es ein blindes Tappen, dem selbst die mildeste Kritik keinen 
Sinn anzudiditen vermag. Immerhin ist dieser Weg gangbar und die 
t]* Erfahrungen von Jahrtausenden beweisen, daß dabei Resultate, gunstige 

I Resultate erzielt werden. Nur muß man nicht vergessen, daß nicht der 

I j Arzt die Heilung zustande bringt, sondern der Kranke selbst. Der 

j Kranke heilt sich selbst, aus eigener Kraft, genau so wie er aus eigener 

• ; Kraft geht, ißt, denkt, atmet, sdiläft. 

; Im allgemeinen hat man sich mit dieser Art der Krankheits- 

;. behandlung, die man, weil sie sidi mit den Krankheitserscheinungen, 

den Symptomen beschäftigt, symptomatische Behandlung nennt, begnügt. 

(] 278 



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Und kein Mensch wird behaupten, daß man darin nicht redit getan 
hat. Aber wir Ärzte, die wir von Berufs wegen dazu verurteilt sind, 
Herrgott zu spielen und infolgedessen zu anmaßlichen Wünschen neigen, 
sehnen uns danach, eine Behandlung zu erfinden, die nicht das Symptom, 
sondern die Ursache der Erkrankung beseitigt. Wir wollen kausale 
Therapie treiben, so nennen wir es im medizinischen Latein-Griechistii. 
In diesem Streben hat man sich nun nadi diesen Ursachen der Er- 
krankung umgesehen, hat erst theoretisdi unter Aufwand von viel 
Worten festgestellt, daß es zwei angeblich wesensfremde Ursachen 
gibt, eine innere, die der Mensch aus sich herausgibt, eine causa 
interna, und eine äußere, causa externa, die aus der Umwelt stammt. 
Und nachdem man sich so über eine reinliche Zweiteilung einig geworden 
ist, hat man sich mit einer wahren Wut auf die äußeren Ursadien 
gestürzt, als da sind: BaziUen, Erkältungen, zu viel Essen, zu viel 
Trinken, Unfälle, Arbeit und was es sonst nodi gibt. Und die causa 
interna, die hat man vergessen. Warum ? Weil es sehr unangenehm 
ist, in sich hineinzuschauen — und nur in sich findet man einige Fünkchen, 
die das Dunkel der inneren Ursachen, der Disposition erhellen — weil 
es etwas gibt, was die Freudsche Analyse Widerstand der Komplexe 
nennt, der Ödipuskomplexe, Impotenzkomplexe, Onaniekomplexe usw., 
und weil diese Komplexe furchtbar sind. AUerdings hat es immer und 
zu allen Zeiten Ärzte gegeben, die ihre Stimme erhoben haben um 
zu sagen: der Mensdi macht seine Krankheiten selbst, in ihm liegen 
die causae internae, er ist die Ursadie der Krankheit und eine andere 
braucht man nicht zu suchen. Zu solchem Spruch hat man mit dem 
Kopf genickt, hat ihn wiederholt und ist wiederum den äußeren Ursachen 
zu Ulbe gegangen, mit Prophylaxe und Desinfektion und so weiter. 
Dann aber sind Uute gekommen, die haben eine starke Summe 
gehabt und haben unablässig geschrieen: Immunisieren! Das war nur 
eine Betonung der Wahrheit, daß der Kranke selber seine Krankheit 
schafft. Aber als es an die praktische Handhabung des Immumsierens 
ging, hielt man sich doch wieder an die Symptome und aus der schein- 
baren kausalen Behandlung war unversehens eine symptomat.s(^e 

279 



geworden. So ist es auch mit der Suggestion gegangen, und um das 
gleich 2U sagen, so ist es auch mit der Psydioanalyse. Auch die benutzt 
die Symptome, aussdiließlidi die Symptome, obwohl sie weiß, daß der 
MenscJi allein Ursadie der Krankheit ist. 

Und damit hin ich beim springenden Punkt. Man kann gar nidit 
anders als symptomatisch behandeln und man kann audi nicht anders 
als kausal behandeln. Denn beides ist dasselbe. Es existiert gar kein 
Unterschied zwischen den beiden Begriffen. Wer behandelt, behandelt 
die causa interna, den Menschen, der die Krankheit aus seinem Es 
heraus erschuf, und um ihn zu behandeln, muß der Arzt die Symptome 
beachten, sei es daß er mit Höhrrohr und Röntgenapparat arbeitet, 
sei es daß er zusieht, ob die Zunge belegt und der Urin trübe ist, sei 
es daß er ein schmutziges Hemd betraditet oder ein paar abgeschnittene 
Haare. Es ist im Wesen dasselbe, ob man mit aller Sorgfalt jedes 
Krankheitszeichen durdistöbert oder sich damit begnügt, einen Brief 
des Kranken zu lesen oder die Linie seiner Hand zu betraditen oder 
mit ihm somnambul zu verhandeln. Immer ist es ein Behandeln des 
Menschen und damit seiner Symptome. Denn der Mensch, seine Er- 
scheinung ist Symptom des Es, dieses Gegenstandes aller Behandlung, 
sein Ohr ist ein Symptom ebenso wie das Rasseln in seinen Lungen, 
sein Auge ist ein Symptom, Äußerung des Es, so gut wie der Siiiarladi- 
ausschlag, sein Bein ist Symptom im selben Sinne wie das Knirschen 
der Knochen, das den Bruch dieses Beines anzeigt. 

Wenn nun alles dasselbe ist, werden Sie fragen, was hat es dann 
für einen Zweck, daß Patrik Troll solch langes Buch schreibt, dessen 
Sätze so klingen, als ob sie beanspruchten, neue Gedanken zu sein. 
Nein Liebe, sie beanspruchen das gar nidit, sie klingen nur so. In 
Wahrheit bin idi überzeugt, daß ich mit der Psychoanalyse nichts andres 
tue als früher, wo Ich heiße Bader gab, Diäten verordnete, massierte 
und herrisdi befahl, was alles idi auch jetzt noch tue. Das Neue ist 
nur der Angriffspunkt der Behandlung, das Symptom, das mir in allen 
Verhältnissen da zu sein scheint, das Ich. Meine Behandlung, so weit 
sie nicht dieselbe ist wie früher, besteht in dem Versuch, die unbewußten 

280 



Komplexe des Ich bewußt zu madien, methodisch und mit aller List 
und Kraft, die mir zur Verfügfung steht. Das ist allerdings etwas Neues, 
aber es stammt nicht von mir, sondern von Freud, und was ich dazu 
getan habe ist nur, daß ich diese Methode aucii bei organisdien Leiden 
verwende. Da idi der Ansicht bin, daß der Gegenstand ärztlicher 
Tätigkeit das Es ist, da idi der Ansidit bin, daß dieses Es in selbst- 
herrlicher Kraft die Nase formt, die Lunge entzündet, den Menschen 
nervös macht, ihm Atmung, Gang, Tätigkeit vorschreibt, da ich weiterhin 
glaube, daß sich das Es ebenso durch Bewußtmachen unbewußter 
Ichkomplexe beeinflussen läßt wie durch einen Bauchschnitt, so begreife 
ich nicht —■ richtiger begreife ich es nicht mehr — wie irgend jemand 
■glauben kann, Psychoanalyse sei nur bei Neurotikern verwendbar, 
organische Erkrankungen müsse man nach andern Methoden behandeln. 
Gestatten Sie mir, daß ich darüber lache. 

Immer Ihr 

PATRIK TROLL. 



33. 
DAS WAR EIN ERLÖSENDES WORT: „ICH HABE ES SATT 
Ihre Briefe zu lesen," schreiben Sie, und idi füge hinzu: „Ich habe es 
satt, sie zu schreiben." Leider sprechen Sie noch den Wunsch aus — 
und Ihr Wunsch ist mir Befehl — ich solle kurz und bündig sagen, 
was ich mir unter dem Wort „Es" vorstelle. Ich kann es nidit besser 
ausdrücken, als Idi es sdion früher getan habe: „Das Es lebt den 
Menschen, es ist die Kraft, die ihn handeln, denken, wachsen, gesund 
und krank werden läßt, kurz die ihn lebt." 

Aber mit solcher Definition ist Ihnen nicht geholfen. lA will daher 
zu meinem bewährten Mittel greifen und Ihnen Gesdiichten erzählen. 
Sie müssen dabei nur bedenken, daß meine Erzählungen aus weit- 
läufigen Zusammenhängen herausgenommen sind, daß es Zivischenfälle 
langwieriger Behandlungen sind. Sonst kommen Sie gar auf die Idee, 

281 



daß ich mich für einen Wunderdoktor halte. Davon ist keine Rede: 
im Geg-enteil, je länger ich MenscJien behandle, umso fester wurzelt 
sidi in mir die Überzeugung;, daß der Arzt verschwindend wenig- zur 
Heilung seiner Kranken tun kann, daß der Kranke sich selbst heilt 
und daß der Arzt, auch der Analytiker, nur die eine Aufgabe hat zu 
erraten, welche List das Es des Kranken im Augenblick gebraucht, 
um krank bleiben zu können. 

Es ist nämlich ein Irrtum anzunehmen, daß der Kranke zum Arzt 
kommt, um sich helfen zu lassen. Nur ein Teil seines Es ist willig zur Ge- 
sundheit, ein andrer aber will krank bleiben und lauert während der 
ganzen Zeit auf eine Gelegenheit, um sich vom Arzte schädigen zu 
lassen. Der Satz, daß die vornehmste Regel in der Behandlung ist, 
nldit zu sdiaden, hat sich mir mit den Jahren immer tiefer einge- 
prägt, ja, idi bin geneigt zu glauben, daß in Wahrheit jeder Todes- 
fall während einer Behandlung, jede Versdilimmerung des Zustandes 
auf einen Fehler des Arztes zurückzuführen ist, zu dem er sidj 
durch die Bosheit des kranken Es verleiten läßt. Adi, es ist nichts 
Göttlidies in unserm Tun, und der Wunsch wie Gott zu sein, der uns 
ja letzten Endes dazu treibt, Arzt zu sein, rächt sich an uns wie an 
unsern paradiesischen Voreltern. Strafe, Fluch und Tod ziehen in 
seinem Gefolge. "" 

Hier ist ein jüngst erlebtes Beispiel dafür, welche Stellung das 
tief verborgene Es eines Kranken gegen midi hatte, während sein 
bewußtes Ich bewundernd und dankbar auf midi blickte. Es sind zwei 
Träume einer Nacht, die des Lehrreichen genug enthalten. Zunächst 
sagte der Kranke, daß er vom ersten Traum nidits mehr wisse. Da 
er aber längere Zeit bei diesem vergessenen Traum blieb, ließ sich 
annehmen, daß in ihm der Schlüssel des Rätsels stecke. Ich habe eine 
lange Zeit geduldig gewartet um zu sehen, ob nidit dodi irgend 
welche Erinnerung komme. Aber sie kam nidit, und schließlich forderte 
idi den Kranken auf, irgendein beliebiges Wort zu sagen. Solch ein 
kleiner Kunstgriff lohnt sich mandimal. Ich habe zum Beispiel einmal 
erlebt, daß bei einer ähnlidien Situation das Wort Amsterdam genannt 

282 



wurde und daß um dieses eine Wort sich ungefähr ein Jahr lang eine 
erfolg-reidie, erstaunlich erfolgreiclie Behandlung; drehte. Dieser Kranke 
nun nannte das Wort Haus und erzählte mir, daß er am vorher- 
gehenden Tage sich mein Sanatorium von außen angesehen habe, daß 
ein gänzlidi unmotivierter Turm da sei, eine Brücke als Notbehelf an- 
gebraclit sei, weil das Haus an einem falschen Platz stehe und daß 
es ein häßliches Dach habe. Ich kann nicht bestreiten — und da Sie 
das Haus kennen, werden Sie mir beistimmen — der Mann hatte 
Recht. Und doch bezog sich seine Betrachtung auf ganz andere Dinge, 
auf viel wichtigere, auf Dinge, die für ihn und für meine Behandlung 
entsdieidend waren. Das lehrte der zweite Traum. Der Kranke er- 
zählte: „Es ist ein ganz dummer Traum" und dabei ladite er. „Idi 
wollte einen Besudi in einem Hause machen, das einem Sdiuster ge- 
hörte. Vor dem Hause rauften sich zwei Knaben, der eine lief heulend 
weg. Der Schuster hieß Akelcy. Kein Mensch war zu sehen, allmählich 
kamen einige Dienstboten, aber der Schuster, dem idi Visite madien 
wollte, ließ sich nicht sehen. Dagegen erschien nach einiger Zeit ein 
alter Freund meiner Mutter, sonderbarerweise mit einem sdiwarz- 
behaarten Kopfe, während er in Wirklidikeit vollständig kahl ist," 
Hätte der Kranke beim Erzählen nicht gelacht, hätte er nicht vorher 
den Tadel gegen das Äußere meines Sanatoriums vorgebracht, viel- 
leicht hätte idi Wochen zubringen können, ehe die Deutung gekommen 
wäre. So aber ging es rasch. Das Wort Akeley gab die erste Auf- 
klärung. Es war aus einem kürzlich erschienenen Werk von Arno Holz 
genommen, das den Titel „Die Blechsdimiede" führt. Es sei höchst 
geistreidier, erotischer Blödsinn. 

Der Hohn gegen meine Person lag auf der Hand, da der Kranke 
kurz vorher meinen vom gemeinsamen Freunde Groddeck heraus- 
gegebenen Seelensucher gelesen hatte. Das also war die „Blechschmiede", 
der Schuster Akeley war ich, das Schusterhaus mein Sanatormm. Das 
ging audi daraus hervor, daß der Kranke tatsächlich bei seiner An- 
kunft im Sanatorium eine ganze Weile im Korridor hat stehen müssen, 
ehe Jemand ihm sein Zimmer anwies. Mich selbst hat er erst am 

283 






nädisten Tage gesehen. Dergleidien Beurteilung des behandelnden 
Arztes ist in jedem Kranken und immer da und die Konstanz des 
abfällig-en, nur verdrängten Urteils beweist, daß wir es verdienen. Idi 
würde den Traum nicht erzählt haben, wenn in ihm nicht auch der 
Grund angegeben wäre, warum der Kranke mich verachtet. Statt des 
Schusters erscheint im Traum ein 2Üter Freund seiner verstorbenen 
Mutter, der seltsamer Weise schwarzes Haar hat. Dieser Freund der 
Mutter stellt den Vater dar, der schwarz behaart ist, weil er ebenfalls 
tot ist. Der Haß g-ilt also nicht mir, sondern zunädist diesem Freunde 
der Mutter und hinter dem dem eigenen Vater. Es ist eine Verdichtung 
dreier Personen, die deutlidi zeigt, welches gerüttelte Maß von Wider- 
stand mein Patient auf midi übertragen hat. Aber der Freund der 
Mutter ist au<ii der Kranke selber, der sich eines üppigen, sdiwarzen 
Haarwuchses erfreut. Sein Unbewußtes erzählt ihm im Traum, wie ganz 
anders es sein würde, wenn an Stelle des Schusters Troll er selbst 
die Behandlung leitete. Er hat so unrecht nicht, der Kranke weiß 
immer besser als der Arzt, was ihm frommt; nur leider vermag er 
sein Wissen nicht zu denken, sondern nur in Traum, Bewegung, 
Kleidung, Wesen, Krankheitssymptom auszudrücken, kurz in einer 
Sprache, die er selbst nidit versteht. Und freilich erzählt diese Identi- 
fizierung seiner selbst mit dem Freunde der Mutter und mit dem 
Vater mehr, als der Kranke ahnte. In ihr steckt der Inzestwunsch, 
der Wunsch der Kindheit, jedes Kindes Wunsdi, Geliebter der Mutter 
zu sein. Und nun kommt eine seltsame Wendung, Mit einem heiteren, 
gar nicht spöttischen Lächeln sagt der Kranke : der Freund der Mutter 
hieß Lameer, er war Vlame, sein Name hat nichts mit la mere, die 
Mutter, zu tun. 

Wirklich nicht? Ich glaube doch. Und das ist tröstlich für die Be- 
handlung; denn wenn der Kranke midi nidit nur mit dem Freund 
und Gatten der Mutter identifiziert, sondern mit der Mutter selbst, so 
hat er auch das Gefühl für sie auf mich übertragen, ein Gefühl, das 
sich seit seinem 6. Jahr nidit mehr wesentlich geändert haben kann, 
da damals seine Mutter starb. Vielleidit ist das günstig, vorausgesetzt, 

284 



daß seine Einstellung zur Mutter gut war, daß er von ihr Hilfe empfing. 
Aber wer kann das wissen? Es kann audi sein, daß er audi sie mehr 
haßte als liebte. 

Da muß idi auf den Beginn des Traumes zurückgreifen, auf die 
beiden raufenden Knaben vor dem Schusterhause. Sie sind leicht zu 
deuten. Sie stellen dasselbe in zwei verschiedenen Zeitfolg-en dar, der 
eine den Phallus im Zustand der Erektion, der zweite, der weinend 
davonrennt, das Glied im Zustand der Ejakulation. Hinter dieser ersten 
Deutung steckt die zweite, nach der der eine Knabe der Träumer, 
der zweite Weinende der Bruder des Träumers ist, den er aus der 
Gunst der Eltern vertrieben hat. Und als dritte tiefst gelegene Deutung 
ist der eine Knabe der Träumer selbst, der den andern, seinen Penis, 
masturbiert. Diese Selbstbefriedigung findet vor dem Hause des 
Sdmsters statt, die erotischen Phantasien des Träumers gelten aber, 
wie der weitere Verlauf des Traumes zeigt, nicht nur dem Schuster, 
sondern dem Freund der Mutter, das ist der Vater und hinter ihm, 
wohl versteckt, der Mutter selbst, Lameer. _* _ . ■: 

Ich erzähle Ihnen den Traum, weil in ihm der Träumer die An- 
griffspunkte der Behandlung mitteilt, ohne es selbst zu wissen. Zu- 
nächst verkündet er dem aufmerksamen Zuhörer, längst, ehe der Kranke 
es selbst klar weiß, daß ein starker Widerstand gegen den Arzt vor- 
handen ist, daß also wieder einmal der Punkt erreicht ist, der für die 
Behandlung, ich möchte sagen einzig und allein in Frage kommt. Denn 
im bewußten oder unbewußten Erkennen und Beseitigen des Wider- 
standes besteht im Wesentlichen die Tätigkeit des Arztes, die umso 
ersprießlicher sein wird, je klarer der Arzt die Situation erblickt Weiter- 
hin erzählt der Traum, von wo der Widerstand Übertragen worden 
ist. Er stammt aus der feindseligen Einstellung zum Freunde und 
Gatten der geliebten Mutter und weiter vorher noch aus dem Rivalitäts- 
streit der beiden Brüder vor dem Eingang zur Mutter, die hinter 
mehreren Versdileierungen versteckt doch deutlich die eigentliche Be- 
sitzerin des Hauses, des Sanatoriums, in dem man gesundet, des 
Mutterschoßes, in den man eintritt, ist. Schüeßlidi verrät der Kranke 

285 



auch noch die Komplexe, um die es sich bei ihm handelt, den des 
ödipus und den der Onanie. 

Da haiien Sie eine Probe von der Art, wie sidi das Unbewußte, 
das Verdräng;te verständlich zu machen sucht. Aber idi trage Eulen 
nach Athen: denn Sie sclireiben mir ja, daß Sie Freuds Traumdeutung- 
gelesen haben. Lesen Sie sie noch einmal und noch mehrere Male ; 
Sie werden belohnt werden, wie Sie es selbst nicht ahnen. Jedenfalls 
ist es überflüssig-, daß ich mich weiter auf ein Gebiet beg-ebe, das 
der Meister selbst und mit ihm Tausende seiner Gefolgschaft in immer 
neuen Sdiilderungen jedem, der es betreten will, dargestellt haben. 
Auch die folgende kleine Erzählung bewegt sich in Bahnen, die Ihnen 
bekannt sind oder bekannt sein sollten. 

Es handelt sich um ein kleines Mädchen von acht Jahren, das sich 
seit einiger Zeit vor der Sdiule fürchtet, während es früher gern dort- 
hin ging. Das Rechnen und das Stricken machen ihr Pein. Idi fragte 
sie, weldie Ziffer ihr die unangenehmste sei und sie nannte sofort die 2. 
Sie mußte eine 2 hinmalen und sagte dann: „Das Häkchen unten ist 
unbequem; wenn ich schnell sdireibe, lasse ich es weg." Ich fragte 
nun, was ihr zu diesem Häkchen einfalle und ohne Besinnen erwiderte 
sie: „Ein Fleischhaken", „für Schinken und Wurst" fügte sie hinzu und 
als ob sie den Eindruck dieser seltsamen Antwort verwischen oder sie 
erläutern müsse, fügie sie rasch hinzu: „Beim Stricken lasse ich Maschen 
fallen und dann entsteht ein Loch." Wenn Sie von diesem Zusatz: „es 
entsteht ein Loch" ausgehen, begreifen Sie, daß der Fleischhaken ein 
Haken aus Fleiscli ist, daß also das Kind eine Zeit durchmacht, ia 
der es sich gründlich mit der Tatsache der beiden Geschlechter aus- 
einander zu setzen versucht Und in sehr gedrängter Form gibt sie 
durch Angst und Fehlhandlung des Hakchenweglassens und des Maschen- 
fallens ihre Theorie kund, daß das Weib, die 2 in der Familie, keinen 
Fleischhaken besitzt, ihn vielmehr durdi allzu schnelles Schreiben, Ona- 
nieren, verloren hat, daß durch die rasche Bewegung der Stricknadeln, 
ihr Hinein und Hinaus das große Loch entsteht, aus dem das früh 
lüsterne Mädchen ihr Wässerlein sprudelt, während der Knabe den 

286 



Strahl aus der engen Öffnung des Penis spritzt. Das ist wahrlidi ein 
schweres Problem für ein Kleinmädchengehirn und es ist kein Wunder, 
daß Rechnen und Stricken nicht flecken will. Am nadisten Tag-e de- 
monstriert das Kind dann weiter seine Kenntnisse, die diesmal tröstlich 
genug sind. Sie klagt, daß sie beim Stuhlgang schreckliche Schmerzen 
habe, betont also, daß das Mädchen als Ersatz für das genommene 
Häkchen Kinder gebären kann, wenn auch mit Schmerzen. Und 
wiederum in dem dunklen Drang, sich deutlidier zu erklären, beginnt 
sie zum Staunen der Mutter, die ihr Kind unwissend glaubte, zu er- 
zählen, wie sie dabei gewesen sei, als ein Kalb aus dem Bauche einer 
Kuh geholt wurde und wie drei niedliche Kätzchen von der Katzen- 
mutter geboren wurden. Es ist drollig zu hören, wie es aus der Seele 
des Kindes hervorsprudelt, wenn die Schicht über dem Verdräng-ten 
irgendwo leck geworden ist. 

In derlei symbolischen Handlungen oder Fehlleistungen äußert sidi 
das Unbewußte gar oft. So traf ich neulich einen meiner Kranken — 
er gehörte zu den sogenannten Homosexuellen — verstimmt an, weil 
er seinen Klemmer zerbrochen hatte, ohne den er seines Lebens nicht 
froh sein könne. Er war ihm in dem Moment von der Nase gefallen, 
als er von einem Tisch eine Vase fortnehmen wollte. Als ich ihn nach 
anderen Gegenständen auf dem Tisch fragte, gab er mir die Photo- 
graphie seines Freundes an, die noch dort liege. Tatsächlich fand sie 
sich unter einem Haufen von Kissen und Decken vergraben, mit der 
Rückseite nach oben, so daß man das Bild nicht sehen konnte. Es 
stellte sich heraus, daß der Freund ihm mit einem Mädchen untreu 
geworden war. Da es niciit in seiner Macht stand, den Knaben von 
dem Mädclien fern zu halten, wollte er wenigstens beide symbolisch 
trennen und nahm die Vase, die das Mädchen darstellte, weg. Dem 
folgte darauf automatisch das Umdrehen der Photographie auf die 
Bildseite, das Zudecken mit den Kissen und das Zerbrechen des Klem- 
mers. In die Sprache des Bewußten übersetzt heißt das: „Ich will den 
Treulosen nicht mehr sehen," „Seine Rückseite bleibt mir doch immer, 
denn die weiß ein Mädchen nidit zu schätzen. So möge denn die 

287 



Photographie verkehrt liegen." „Es ist Hoch sicherer, audi die Rückseite 
zu schützen. Decken wir sie mit Kissen zu." „Das ist gut, nun sehe ich 
nichts mehr von ihm, zumal wenn ich noch eine Decke darauf tue." 
„Es genügt nicht: ich leide zu sehr. Am besten ist, ich mache mich 
blind. Dann brauche ich seinen Treubrudi nicht zu bemerken und kann 
ihn lieb behalten." Und damit zerbricht der Arme seinen Klemmer. 

Das Unbewußte experimentiert seltsam mit den Augen. Es schaltet 
Eindrücke auf der Netzhaut aus dem Bewußtsein aus, wenn sie uner- 
träglich sind. Eines Tages forderte idi eine meiner Kranken auf, die 
Gegenstände auf ihrem Sdireibtische genau zu betraditen und sie sich 
zu merken. Als ich sie dann aufforderte, mir zu sagen, was auf dem 
Tische stand, zählte sie alles auf, bis auf die Photographien ihrer beiden 
Sohne, die sie trotz mehrfachem Hinweis, daß sie zwei Dinge unter- 
sdilage, nicht nannte. Als idi sie fragte, warum sie die beiden Bilder 
fortlasse, war sie verwundert: „Ich habe sie nicht gesehen", sagte sie, 
„und das ist umso auffallender, als ich sie täglich und auch heute selbst 
abstaube. Aber freilidi, Sie sehen ja, die armen Jungen stecken in der 
Uniform. Der eine ist sdion gefallen, der andere ist mitten in den 
Kämpfen vor Warschau. Wozu sollte ich mein Leid, wenn idi es unter- 
drücken kann, durch meine Augen wecken?" 

Ein anderer klagte darüber, ihm sei plötzlich schwarz vor den 
Augen geworden: das geschehe häufig. Ich bat ihn, sich in Gedanken 
nochmals an den Platz zu stellen, wo ihn der schwarze Nebel überfallen 
hatte, und mir zu sagen, was er sehe. „Steine", sagte er. ,,Ich ging 
eine Treppe hinauf und es waren die steinernen Stufen, die ich sah". 
Damit war wenig anzufangen. Aber da idi hartnackig dabei blieb, daß 
der Anblick der Steine seinen Schwindel verursacht habe, versprach er 
darauf zu achten. TatsädiÜch kam er am nächsten Tage damit hervor, 
daß er bei einem neuen Anfall wiederum Steine gesehen habe. Die 
Sadie sei vielleicht doch nicht ganz von der Hand zu weisen, denn er 
wisse jetzt, daß er die ersten Beschwerden ahnlidier Art in Ostende 
gehabt habe, das ihm stets wie eine trostlose Anhäufung von Steinen 
und viel zu vielen kaltherzigen Mensdien vorgekommen sei. Als ich. 

288 



fragte, was denn eine soldie Anhäufung: von Steinen und Mensdien 
bedeute, sagte er mir, „einen Kirchhof". Da ich wußte, daß er in 
Beig-ien erzogen war, machte ich den Versuch, ihn auf den Gleidilaut 
pierre und Piere hinzuweisen. Er erklärte aber, daß weder ein Peter 
nodi ein Piere je eine Rolle in seinem Leben gespielt hatten. Am 
nächsten Tage kam er von selber auf die Sadie zu sprechen. „Ich 
könne doch wohl Recht haben. Sein Elternhaus, in dem er schon mit 
6 Jahren seine Mutter verlor und das kurz nach ihrem Tode verkauft 
wurde, weil der Vater nach Ostende übersiedelte, lag in der nie St. Piere 
und wenn audi die Mutter nidit auf dem Kirchhof St. Piere begraben 
sei, so habe doch seinem Kinderzimmerfenster gegenüber der riesige 
Steinhaufen der Kirche St. Piere gelegen. Er sei oft genug mit seiner 
Mutter in dieser Kirche gewesen und die Steinmassen des Inneren 
mitsamt dem Gedränge der Andächtigen habe ihn stets verwirrt. Zu 
dem Wort Ostende fiel ihm dann Rußland ein, das Land des Rußes, 
das sdiwarze Land, das Land des Todes. Seit jenem Tage des Bewußt- 
werdens verdrängter Komplexe ist ihm nicht mehr schwarz vor den 
Augen geworden, dagegen hat sein Es eine andere Maßregel der Ver- 
drängung nicht aufgehoben. Der Kranke, der von seiner Mutter streng 
katholisch erzogen war, hatte den Glauben unter dem Druck des 
Verdrängungswunsdies aufgegeben: er ist aber trotz der Aufhebung 
der Verdrängung nicht wieder zur Kirche zurückgekehrt. 

Besinnen Sie sich auf Frau von Wessels? wie kinderlieb sie ist 
und wie sie unter der Tatsache leidet, keine eigenen Kinder zu haben ? 
Eines Tages saß idi mit ihr am Waldrand: die Unterhaltung schleppte 
seit einiger Zeit und stockte sdiließlidi ganz. Plötzlich sagte sie: „Was 
ist das mit mir? Von allem, was rechts von mir ist, sehe ich nicht das 
geringste, während links alles klar und deullidi ist." Idi fragte sie, 
wie lange das Phänomen sdion dauere, und sie erwiderte: „Sdion 
vorhin im Walde habe ich es bemerkt". Idi bat sie, mir Irgendeine 
Stelle unseres Spazierganges zu nennen, und sie gab eine Wegkreuzung 
an, die wir passiert hatten. „Was war an dieser Stelle rechts von 
Ihnen?" fuhr ich fort. „Dort ging die Dame mit ihrem kleinen Knaben 

19 Groddeck, Das Budi vom Es 289 



an uns vorüber. Übrigens sehe ich jetzt alles wieder deutüdi." Und 
nun erinnerte sie sidi lachend, wie sie mich den ganzen Weg vor der 
Kreuzung mit der Phantasie unterhalten hatte, daß sie ein kleines 
Häusdien fern von allen Menschen mit Hühnern und Enten und allerlei 
Getier hatte und dort mit ihrem Söhnchen hauste, während der Vater 
nur ab und zu auf einen Tag zu Besuch käme. „Wenn idi nicht längst 
wüßte, daß Sie Recht haben mit Ihrer Behauptung, alle Krankheiten 
seien SdiÖpfungen des Es, zu irgend welchen erkennbaren Zwecken, 
würde ich mich jetzt davon überzeugt haben. Denn meine halbseitige 
Blindheit kann nur dadurch hervorgerufen worden sein, daß ich den 
Anblick jener Mutter mit ihrem Söhnchen nicht ertragen konnte." 

Hysterisch? Gewiß, kein Arzt und kein Gebildeter wird mit der 
Diagnose zögern. Aber wir beide, Sie und ich, haben gelernt auf die 
Bezeichnung Hysterie zu pfeifen, kennen beide Frau von Wessels und 
können höchstens aus Ehrfurdit vor der bebrillten Gelehrsamkeit zu- 
geben, daß diese Frau für eine halbe Stunde hysterisch wurde. Aber 
was sollen wir uns mit solch erzdummem und teuflischem Wort wie 
Hysterie noch weiter befassen? Lassen Sie sich lieber erzählen, was 
einige Jahre später geschah. 

Eines Abends traf idi Frau von Wessels nach dem Theater. Sie 
sagte mir, daß sie hergekommen sei, um vielleidit einen alten Bekannten 
2u treffen, dessen Namen sie vor einigen Stunden im Fremdenblatt 
gelesen habe. Mir fiel auf, daß ihr linkes oberes Augenlid stark gerötet 
und gesdiwollen war. Sie hatte es selbst noch nicht bemerkt, zog ihren 
Taschenspiegel hervor, besah sich das Auge und sagte: „Es würde 
mich nicht wundern, wenn das Es midi wieder einmal mit einer halben 
Blindheit narren wollte." Dann fing sie wieder an, von dem unver- 
muteten Eintreffen des früheren Freundes zu erzählen, unterbrach sich 
jedoch plötzlich mit den Worten: „Jetzt weiß ich, woher das dicke 
Auge kommt. Es ist entstanden, als ich den Namen meines Anbeters 
in der Fremdenliste las." Und nun beriditete sie, wie sie mit diesem 
Herrn während der langen Todeskrankheit ihres ersten Mannes kokettiert 
habe. Sie erzählte allerlei Einzelheiten aus jener Zeit und vertiefte sich 

290 ... 



•-— ■■ — '•--■^■' -'' 



immer mehr in die Idee, daß ihr Aug-e dick gfeworden sei, damit sie 
den beschämenden Namen nicht zu sehen brauche, akzeptierte audi 
meinen Gegen vors dilag, daß ihr Es sie noch nachträgflidi an dem Gliede 
strafe, mit dem sie gesündigt habe. Der Erfolg schien uns recht zu 
geben, denn als die Freundin wegging, war die Geschwulst ver- 
schwunden. Am nächsten Tage hatte sie einen heftigen Streit mit 
ihrem zweiten Mann wegen ihrer Stieftochter. Beim Nachmittags tee 
war ich zugegen und bemerkte, wie sie die ganze Zeit über von der 
links sitzenden Stieftochter das Gesicht wegdrehte und wie langsam 
das Augenlid wieder anschwoll. Ich sprad» später mit ihr darüber und 
sie gab an, daß sie, die Kinderlose, den Anblick der Stieftochter nicht 
ertragen habe und wahrscheinlich deshalb das dicke Auge wieder be- 
kommen habe. Das gab ihr einen neuen Gedanken ein, den sie eine 
Zeitlang verfolgte. Möglicherweise sei die Stieftochter audi gestern 
die Ursache der Lidschwellung gewesen. Bald darauf kam sie jedoch 
auf ihren alten Gedanken zurück, daß es der Name ihres alten Kur- 
machers in der Fremdenliste gewesen sein müsse. „In ein paar Tagen", 
sagte sie, „jährt sich der Todestag meines ersten Mannes. Ich habe 
seit Jahren beobachtet, daß ich um diese Zeit stets irgendwie krank 
und elend werde, und idi glaube, daß ich den Streit mit Karl — das 
ist der Name des Herrn von Wessels — herbeigeführt habe, um einen 
Grund zum Weinen um meinen ersten Mann zu haben. Das ist mir 
umso wahrsdieinlicher, als mir eben einfallt, daß ich vorgestern, also 
schon den Tag vor der Anschwellung im Krankenhaus dabei war, wie 
ein Nierenkranker mit dem charakteristischen, urämischen Geruch, den 
auch mein Mann hatte, sich mit dem Spatel den Belag von der Zunge 
schabte, genau wie mein verstorbener Mann. Am selben Abend habe 
idi beim AnbHck von Meerrettichsauce Übelkeit bekommen, die sofort 
versdiwand, als ich mir die Ähnlichkeit der Sauce mit dem Zungen- 
belag klar machte. Der Anblick der Stieftochter war mir unerträglich, 
weil sie mir die Tatsache des Treubruches gegen meinen ersten Mann 
durch ihr Dasein vor Augen führte. Denn Sie können sich denken, 
daß ich in jener Trauerzeit tausend Schwüre getan habe, nie wieder 

19- 291 



zu heiraten." Wiederum war die Anschwellung des Auges während 
der Unterhaltung verschwunden. 

Damit war die Entzündung des Augenlides endgültig erledigt. 
Statt dessen erschien jedoch am folgenden Tage Frau von Wessels 
mit einer halbzoJldicken Oberlippe. Gerade über dem Zipfel der Lippe 
dicht am Rand hatte sich ein feuerroter Fleck gebildet, so daß das 
Lippenrot fast um das doppelte breiter zu sein schien. Halb ladiend, 
halb zornig gab sie mir einen Brief, den eine entfernte Bekannte an 
eine ihrer Freundinnen geschrieben hatte und den ihr diese Freundin 
voller Empörung zugescliickt hatte, wie es Freundinnen zu tun pflegen. 
In diesem Brief stand neben allerlei anderen Liebenswürdigkeiten zu 
lesen, daß Frau von Wessels mit ihrer, jedem Auge sofort erkennbaren 
groben Sinnlichkeit eine echte Hexe sei. „Sdiauen Sie meinen Mund 
an", sagte sie spöttisch, „kann es einen besseren Beweis für meine 
grob sinnliche Natur geben, als diese schwellenden grellroten Lippen? 
Fräulein H. hat ganz recht, mich eine Hexe zu nennen, und idi konnte 
sie nicht Lügen strafen." Die Sache interessierte mich aus verschiedenen 
Gründen, von denen ich Ihnen den einen nadiher mitteilen werde, und 
ich verwendete einige Tage lang viel Zeit auf eine gründlidie Analyse, 
deren Resultat ich Ihnen kurz mitteilen will. 

Die Sadie drehte sich weder um den Tod ihres Mannes noch um 
die Stieftochter nocb. um den alten Anbeter, sondern der Ano-elpunkt 
war eben jenes Fräulein H., deren Brief ihr die dicke Lippe verschafft 
hatte. Diese, mit Frau von Wessels seit Alters her verfeindete Dame 
— nennen wir sie Paula — war an demselben Abend — Freitag den 
16. August — im Theater gewesen, an dem die Lidschwellung des 
linken Auges zum ersten Male aufgetreten war, und zwar hatte sie 
links von Frau von Wessels gesessen. Genau adit Tage vorher, am 
Freitag den 9. August, war Frau von Wessels ebenfalls im Theater 
gewesen — wie Sie wissen, ist dieser mehrfache Besuch des Theaters 
etwas Unerhörtes bei ihr. — Ihr zweiter Mann war mit ihr gewesen 
«nd links von ihr hatte dieselbe Paula ihren Platz, von der sie wußte, 
daß sie — vergeblich — Herrn von Wessels nachgestellt hatte. Frau 

292 



von Wessels hatte an jenem ersten Freitag — den 9, August — den 
haßerfüllten Blick aus den auffallenden grauen Augen Paulas aufge- 
fangen, die unter Umständen einen elgentümliciien harten und stedien- 
den Ausdruck haben. Dieselben grauen Augen hat die Frau jenes 
Nierenkranken, mit dessen Zungenbelag sie die Übelkeit am Donnerstag 
den 15. abends in Zusammenhang bradite. Bei dem Besuch dieses 
Kranken, der mit seinem Uringerudi sie an den Tod des ersten Mannes 
erinnerte, war seine Frau mit den grauen Augen zugegen gewesen. 
Der Name dieser Frau ist Anna, Anna ist aber audi der Name der 
ältesten Schwester von Frau von Wessels, unter der sie als Kind über 
alle Maßen gelitten hat. Und diese Schwester Anna hat dieselben harten, 
stechenden Augen wie Paula. Und nun kommt das Seltsame: Frau 
von Wessels Schwester Anna hat am 21. August Geburtstag. Am 
15. August hat Frau von Wessels den Kalender angesehen und be- 
schlossen zu sdireiben, am 16. Hat sie schreiben wollen, ist aber statt 
dessen ins Theater gegangen, um ein Ballett, das heißt schöne Beine 
2u sehen, am 17. hat sie wiederum den Geburtstagsbrief aufgeschoben 
und erst am 18., dem Tag der dicken Lippe, gratuliert, und schließlidi 
am 21., dem Geburtstag selbst, ist die Lippengeschwulst rasdi ver- 
schwunden und die bis dahin stockende Analyse floß plötzlich in 
raschem Lauf und eine Menge wirrer Verknäuelungen lösten sidi. 

Frau von Wessels erzählte mir: „Als ich etwa mit 14 Jahren 
Näheres über die Schwangerschaft erfuhr, habe ich den Geburtstag 
meiner damals rechtschaffen gehaßten Schwester Anna mit dem Hoch- 
zeitstage meiner Eltern verglidien und bin zu dem Resultat gekommen, 
daß sie schon vor der Hochzeit entstanden sein müßte. Daraus zog 
ich zwei Schlüsse: einmal daß meine Sdiwester nicht editbürtig sei — 
das erscheint in meiner sonst gar nicht vorhandenen Abneigung gegen 
meine Stieftochter am 17. August wieder, denn diese Stieftochter 
stammt nidit von mir, ist also nicht editbürtlg, sondern vorehelich ; ~ 
und dann daß meine damals ebenso reditstiiaffen gehaßte Mutter eine 
grob sinnliche Frau sei, eine Annahme, zu der ich midi zu jener Zeit 
umso mehr berechtigt glaubte, weil meine Mutter ein halbes Jahr 

293 



1^. 



vorher — also in meinem 14, Lebensjahr — noch ein Kind bekommen 
hatte. Sie als Analytiker wissen ja, was für Neid sich bei so späten 
Sdiwangerschaften in dem Herzen der alteren Tochter ansammelt. Ich 
habe stets dieses Nadirechnen der Schwangrerschaftsdaten meiner 
Schwester Anna für die erbärmlichste Handlung meines Lebens g-e- 
halten und auch jetzt wird mir das Geständnis schwer. Wie Sie an 
meiner Lippe gesehen haben, bestrafe ich mich für die Schandtat gegen 
meine Mutter damit, daß ich meine eigene Sinnlichkeit vor aller Welt 
offenbare, nachdem einmal der Vorwurf von Fräulein Paula erhoben 
worden ist. Nun weiter: ich weiß, daß meine Schwester Anna darauf 
rechnet, in meinem Geburtstagsbrief für den Oktober hieher eingeladen 
zu werden. Ich will sie aber nidit hier haben, obwohl itJi meine Ab- 
neigung dagegen als schlecht empfinde. Der Mund, der diese Einladung 
nicht aussprechen will, muß bestraft werden. Dieser selbe Mund muß 
aber audi dafür bestraft werden, daß ich ihn zur Zeit jenes Nach- 
rechnens des Hochzeits- und Geburtsdatums einen frevelhaften Schwur 
tun heß, ich wolle niemals ein Kind gebären. Dieser Schwur fiel in 
den Augenblick, wo ich zufäHig das Schreien einer Kreißenden mit 
anhörte. Die Verbindung mit meinem Munde ist diu-di eine meiner 
Bekannten gegeben, die nach langer, langer Kinderlosigkeit schwanger 
geworden ist und deren früher zusammengekniffene Lippen jetzt voll 
und rot sind. Ich habe diese Bekannte am 15. August gesehen und 
eingehend mit ihr über das kommende Kind gesprochen. So viel kann 
ich zur Erklärung der Mundansdiwellung angeben. Was das Auge 
betrifft, so ist das sehr einfach. Ich habe von den zahlreichen Schwanger- 
schaften meiner Mutter nicht eine einzige erkannt, auch die des jüngsten 
Kindes nicht, obwohl ich sdion 13 Jahre alt war und sehr gut wußte, 
wie die Kinder auf die Welt kommen. Der Versuch also, mich gegen 
Schwangerschaft blind zu madien, ist sehr alt, und daß ich jetzt ge- 
legentlich zu dem bewährten Mittel greife, mein gutes linkes Auge 
das rechte ist ziemlich unbrauchbar — auszuschalten, wenn der 
Schwangerschaftskomplex meiner Mutter an mich herantritt, wundert 
mich nidit. Es sind da aber noch andere Dinge. So weiß ich zum 

294 



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Beispiel jetzt, daß mich bei dem Besuch des Nierenkranken nicht der 
Uringeruch störte, sondern der nach Kot, das heißt, hinter der Er- 
innerung an den Tod meines Mannes versteckt sich die tief beschämende 
an einen Augenblick, wo meine Mutter mir die Backe streichelte und 
ich, statt mich der Zärtlichkeit zu freuen, dieser liebenden Hand einen 
Kotgeruch andiditete, mit andern Worten ihr Gewohnheiten unterschob, 
denen ich als Kind selber gefrönt haben muß. Ich überlasse es Ihrem 
Scharfsinn, ob Meerrettich irgend etwas mit meiner Mutter zu tun hat. — 
Von dieser Erlaubnis madie ich Gebrauch. Meer scheint mb- mit mere 
zusammen zu hängen und der Rettich ist ein bekanntes Mannessymbol. 
Der Spruch: Einen Rettich in den After stecken, führt zu dem Klosett- 
geruch. — Der Geruchseindruck führt mich nun wieder auf des Nieren- 
kranken Frau, auf ihre grauen Augen, auf die harten Augen von Paula 
und auf die meiner Sdiwester Anna zurück. Die Angst vor Paula, die 
idi ganz gewiß habe, beruht auf diesen Augen, die eben Annas ge- 
fürchtete Augen sind. Wenn ich aber gesagt habe, daß ich meine 
Schwester Anna haßte, so muß ich diese Aussage einschränken. Etwas 
liebte ich an ihr über alle Maßen, das waren ihre Beine und ihre 
Unterhosen. Ich besitze noch jetzt eine ganze Sammlung von Anna- 
beinen in Spitzenhöschen, die ich in meiner Schulzeit an den Rand 
meiner Hefte gezeichnet habe. Ihre Beine sind jedenfalls bei meiner 
Vorliebe für das Ballett stark beteiligt und Sie wissen, daß ich am 
16. im Theater war, um sdiÖne Beine zu sehen. Und da ist gleich 
eine weitere Verbindung, die in die fernsten Fernen meiner Kindheit 
führt, von wo dann kein weiterer Weg mehr ist außer dem der 
Phantasie. Die Angst vor harten Augen geht nämlich auf meine Groß- 
mutter zurück, die idi entsetzlich fürchtete. Das erste, was sie tat, 
wenn wir zu ihr kamen, war, daß sie uns die Röckchen hochhob, um 
zu sehen, ob wir reine Hosen anhätten. Idi begriff sclion damals, daß 
sich dieses Manöver nicht gegen mich, sondern gegen meine Mutter 
richtete, und wegen ihrer Feindschaft gegen Mutter war mir die Alte 
in der Seele zuwider. Trotzdem halte ich es für möglich, daß dieses 
Untersuchen der Hosen für mich lustvoll war. Aber bedenken Sie, den 

295 



Vorwurf des Schmutzes, den idi der Alten so schwer anredinete, erhob ich 
später selbst gegen meine Mutter bei Gelegenheit des Backenstreidielns. 
Das ist schlimm. Und noch etwas anderes. Eine Tante von mir wurde 
— in meiner frühesten Kindheit hörte ich davon — von meinen Groß- 
eltern verstoßen, weil sie vor der Hochzeit von ihrem Verlobten 
schwang-er wurde. Wieder derselbe Tadel, den ich gegen die Mutter 
vorgebracht hatte. Die Großmutter war für midi die Hexe schlechthin. 
Und von diesem Wort Hexe geht nun wieder ein Weg zu Paula und 
den Erscheinungen der letzten Tage. Es war mir bekannt, daß Paula, 
deren Gehirn mit allerlei okkulten Phantasien spielt, mir telepathische 
Kräfte zuschrieb und mich Hexe nannte. Denselben Ausdruck habe ich 
oft für die Mutter meiner Stieftochter verwandt, die ich freilich nur 
vom Ansehen oder besser vom Sehen und Hören kannte. Als ich ihre 
Stimme zum ersten Male hörte, durdifuhr mich ein Eisessdir ecken, ich 
fühlte, daß in dieser Stimme etwas Gräßliches aus meiner Kindheit 
war. Und als ich die Frau dann sah. fiel mir sofort auf, daß sie meiner 
Schwester Anna harte Augen hatte, und nun wußte ich auch, daß ihre 
Stimme die der Großmutter, der Hexe war. Die merkwürdige Ab- 
neigung des 17., meine Stieftochter anzusehen, hing damit zusammen, 
daß ich ihre Mutter mit meiner Großmutter und meiner Schwester und 
meiner Gegnerin Paula identifizierte, daß sie also die schwersten, am 
tiefsten verdrängten Erinnerungen wachrief. Soweit ich die Sache ver- 
stehe, muß ich also die Ursachen für die Vorgänge an Auge und Lippe 
in Konflikten mit meiner Großmutter, Mutter und ältesten Sdiwester 
suchen, die durch das Geburtstags datum und die Begegnung mit Paula 
aus ihrem Verdrängungsschlaf wachgerufen wurden, während die jährlich 
hervorgeholte Trauer um meinen ersten Mann ein Versuch ist, diese 
unbequemen Komplexe zuzudecken. Die Erschwerung des Sehens durch 
die Lidgeschwulst ist derselbe Versuch zu verdrängen in anderer Form, 
im Krankheitssymptom: ich will nicht sehen und folgeriditig kommt 
denn, als das Sehen der Komplexe infolge der Häufung der Phänomene 
nicht mehr zu verhindern ist, der Wunsch wenigstens nicht davon zu 
sprechen, was sich in der Sciiwellung der Lippe und der damit 
296 



H - - 



verbundenen Unbequemlichkeit im Sprechen äußert. Beides sind zugleidi 
auch Strafen für das Sehen nadh sdiönen Beinen und das Verschwören 
jeder Sdiwangerschaft." 

Ich lasse es dahin gestellt, liebe Freundin, ob Frau von Wessels 
mit ihren Betrachtungen recht hat. Sicher hat sie noch eine Menge 
Material untersdilagen und von dem, was sie gab, kaum die Hälfte 
gedeutet. Ich erzähle Ihnen die Geschichte, weil hier eine nicht dumme 
Frau in anschaulidier Weise erzählend schildert, wie idi mir die Äußerungs- 
form des Es durch das Krankheitssymptom denke. Ich habe aber, wie 
idi sdion vorhin andeutete, noch einen andern Grund gehabt, diese 
Dinge so breit zu berichten. Zu jener Zeit, als Frau von Wessels ihre 
Augen- und Lippenerlebnisse hatte und mir vom Genidi der Uramisdien 
sprach, befand sich in meiner Anstalt ebenfalls ein Nierenkranker, der 
diesen charakteristischen Geruch hatte. Idi bekam ihn in den letzten 
Stadien in Behandlung und übernahm es, sein Sterben zu beobaditen und 
zu erleichtern, weil seine Mundform mit ihren scharf zugepreßten, dünnen 
Lippen mir eine Bestätigung meiner Annahme zu sein schien, daß das 
Es durch das Zurückhalten der Uringifte dasselbe aussagt, wie durch die 
zugekniffene Form des Mundes. Für midi bedeutet die Urämie den 
tödlich gefährlichen Kampf des verdrängenden Willens gegen das immer 
wieder emporstrebende Verdrängte, gegen starke aus frühster Kindheit 
herrührende und in tiefsten Schichten der Konstitution liegende und 
wirkende Urinabsonderungskomplexe. Der Fall hat meine phantastischen 
unwissenschaftlichen Forschungen, für die ich durch mein eigenes Nieren- 
leiden einen persönlichen Antrieb habe, nic^t wesentlich gefördert, 
Idi müßte mich denn entschließen, einige seltsame Elrscheinungen im 
Verlauf dieser TnagÖdie mit dem Versuch das Es zu deuten in Ver- 
bindung zu bringen. Da müßte ich erwähnen, daß bei dem Kranken 
schon nach den ersten Tagen der Analyse die Jahrzehnte alte Ver- 
stopfung in Diarrhöe umschlug, deren Gestank unsagbar greulidi war. 
Man könnte, wenn man genügend närrisch ist, den höhnisdien Ruf des 
Es daraus heraus lesen : idi will wohl den körperlichen Dreck hergeben, 
den ich sonst zurückhielt, den seelisdien aber gebe ich nicht her. Man 

297 






könnte das Erbrechen ahnlidi deuten — allerdings pflegi: das ja bei 
Urämie aufzutreten, ebenso wie die Durchfälle ■ — während man anderer- 
seits mit einigem Wag-emut sagen könnte, der urämische Krampfanfall 
— und schließlidi das Sterben — sind Zwangsmittel des verdrängenden 
Es, um das Bewußtwerden der Komplexe zu verhindern. Schließlich 
ließe sidi auch eine merkwürdige, von mir sonst nidit beobachtete 
wassersüchtige Verdickung der Lippen, durch die der Mund all seine 
Verkniffenheit verlor, als spöttisches Zugeständnis des Es deuten, das 
dem Munde die Freiheit wieder zu geben scheint, während es ihm in 
Wahrheit durch das ödem das Spredien verbietet. Aber das alles 
sind Gedankenspiele, die ich mir leiste, für die ich aber nicht die 
geringste tatsächliche Gewähr habe. Dafür habe ich aber während jener 
Tage etwas Komisches erlebt, was idi kraft meiner Eigenschaft als 
persönlich Erlebender mit ziemlicher Gewißheit deute. In den Tagen, 
in denen i<ii mich infolge des Lippenabenteuers ernsthaft mit Frau von 
Wessels Analyse beschäftigte, traten die ersten urämischen Krämpfe 
bei meinem Kranken auf. Ich blieb über Nacht im Sanatorium und nahm, 
da es kalt war, eine heiße Gummiflasche mit ins Bett. Vor dem Ein- 
schlafen schnitt ich mit einem spitzen Papiermesser eine Nummer der 
psychoanalytischen Zeitschrift Freuds auf und blätterte darin. Unter 
anderra fand ich darin die Anzeige, daß Felix Deutsch in Wien einen 
Vortrag über Psychoanalyse und organische Krankheiten gehalten hatte, 
ein Thema, das icli, wie Sie wissen, seit langem in mir wälze und das 
ich unserm gemeinsamen Freunde Groddeck zur Bearbeitung überlassen 
habe. Ich legte Zeitschrift und Papiermesser unter mein Kopfkissen 
und fing an, ein wenig über diesen Gegenstand zu phantasieren, wobei 
ich denn bald bei meinem Urämischen und meiner Deutung der Harn- 
verhaltung als Verdrängungszeichen landete. Ich schlief darüber ein, 
wachte aber gegen Morgen mit einem seltsamen Gefühl der Nässe auf, 
so daß ich glaubte, ins Bett gepinkelt zu haben. Tatsachlidi hatte ich 
im Sdilaf mit dem Papiermesser die Gummiflasdbte angestochen, so 
daß das Wasser im kleinen Sprudel hervorquoll. ~ Nun, die folgende 
Nadit blieb idi wieder in der Anstalt, und weil ich gern nasche, hatte 

298 



idi mir dieses Mal ein paar Stück Schokolade mitgenommen, wie ich 
es öfter tue. Was denken Sie. was passiert? Als ich am nadisten 
Morgen aufwache, sind mein Hemd und mein Bettlaken über und über 
mit Schokolade besdimiert. Es hatte eine verteufelte Ähnlichkeit mit 
Aa und ich war so beschämt, daß ich sofort die Bezüge des Bettes 
eigenhändig abnahm, damit das Dienstmädchen nicht denken sollte. ,ch 
hätte ein großes Gesdiäft ins Bett gemacht. Gerade diese seltsame 
Idee jedoch, das Bett abzuziehen, weil sonst der Verdacht kommen 
könnte. id> hätte meine Notdurft darin verrichtet, brachte mi<h darauf, 
mich ein wenig zu analysieren. Da fiel mir denn ein, daß ich .chon be. 
dem Wärmflaschenabenteuer empfunden hatte, es ließe siA als Bett- 
nässen deuten. Und da ich so ganz und gar mit dem Gedanken 
bei dem Urämis<hen gewesen war. so erklärte Ich mir d.e Sadie 
! so- Dein Es sagt dir. du brauchst, obwohl deine Nieren mcht sauber 

sind, keine Sorge zu haben, daß du je Urämie bekommst: du siehst 
ja wie leicht du Urin und Dreck von dir gibst, du haltst nicht 
zu'rück. verdrängst nicht, bist wie ein Säugling, schuldlos und offen 
mit Herz und Baudi. Wenn ich nicht wüßte, wie listig das Es 
ist hätte ich mich wohl damit begnügt. Aber so gab i<h midi nicht 
damit zufrieden und auf einmal schoß mir der Name FeHx durch den 
Kopf- Felix, so hieß der Herr, der über Psychoanalyse und organische 
Krankheiten gesprodien hatte. Felix Sdiwarz hieß aber auch em Schul- 
freund und dieser Schulfreund war an Urämie im Gefolge von Scharlach 
zu Grunde gegangen. Schwarz, das ist der Tod. Und in Felix steckt 
das Glück und die Verbindung von Felbc und Schwarz, von Glück 
und Tod kann nur der Augenblick der höchsten Geschlechtslust ver- 
bunden mit der Angst vor Todesstrafe sein, mit andern Worten, es ist 
der Onaniekomplex, dieser uralte Komplex, der immer wieder unterirdisch 
sich re..t, wenn ich an meine Nierenkrankheit denke. - Damit schien 
mir £ Deutung, die ich den beiden Unfällen gegeben hatte, nun 
bestätigt zu sein. Mein Es sagte damit: sei ehrlich, verdränge nicht 
und dir wird nidits geschehen. Zwei Stunden später wurde icÄ, eines 
Besseren belehrt. Denn als ich an das Bett meines Urämiekranken 

299 



trat, traf midi plötzlich der Gedanke: der sieht aus wie dein Bruder 
Wolf. Noch nie hatte ich die Ähnlichkeit bemerkt, aber jetzt sah ich 
sie deutlich. Und dunkel erhob sich vor mir die Frage: Was hat dein 
Bruder Wolf oder das Wort Wolf mit deinen Verdrängungen zu tun ? 
Immer wieder taucht es auf, so viele Analysen du auch angestellt hast 
und nie findest du die Lösung. Auch die, die dir jetzt durch den Kopf 
schießt, ist nicht die letzte, tiefste. 

Trotzdem will ich sie Ihnen nicht untersdiiagen. Als idi ganz kleines 
Kind war — doch schon alt genug, um Erinnerungen zu bewahren — 
lief idi mir oft die Kerbe zwischen den Popobäckchen wund, bekam 
also einen Wolf. Idi ging dann zur Mutter und sie strich mir Salbe 
in die Kerbe. Das hat mir gewiß einen Anstoß zur späteren Onanie 
gegeben, war gewiß schon eine Form kindlicher Onanie, bei der ich 
in halbbewußter, fuchsschlauer List zur bösen Tat die Hand der Mutter 
benutzte, wohl in Erinnerung an die Wonnen, die jeder Säugling durch 
die Reinlichkeitssorge der Kinderpflegerin empfangt. Und als ich soweit 
mit dem Analysespiel war, fiel mir noch ein, daß ich am Tage vorher 
mir wirklich beim Radeln einen Wolf zwischen den Schenkeln angeradelt 
hatte. Das ist also der Wolf, den du so lange suchtest, jubelte es in 
mir und idi war freudig und half dem Weibe meines Kranken über 
eine schwere Stunde hinweg. Aber als lA zur Tür hinaustrat, wußte 
ich : Auch das ist die Lösung nicht ! Du verdrängst und wenn dir dein 
Es und deine Freunde noch so sehr die Offenheit nachrühmen, du 
bist doch genau wie Andere. Und anständig ist nur der, der ist wie 
jener Zöllner: Gott sei mir gnädig. Aber finden Sie nicht, daß selbst 
dies Letzte, gerade dies Letzte, pharisäisch ist? 

Adjö Liebe. Ich bin Ihr PATRIK. 



300 



tfi III IUI 



INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

WIEN, VII. ANDREASGASSE 3 



GEORG GRODDECK 
DER SEELENSUCHER 

EIN PSYCHOANALYTISCHER ROMAN 

f 

ZWEITE AUFLAGE (2.- 5. TAUSEND) 1922 



FRANKFURTER ZEITUNG 

Ein ungewöhnlich geistreidier Kerl, der sehr amüsant zu reden weiß. Der Stil 

erinnert etwas an die Pickwiclder, wenn auch der Inhalt durchaus nicht so 

harmlos ist. . , . £j^_ Q^m 

IMAGO 

Es kann kein schlechtes Budi sein, dem es wie diesem gelingt, den Leser vom 
Anfang bis zum Ende zu fesseln, sdiwere biologische und psycho logisdie Probleme 
in witziger, ja belustigender Form darzustellen, und das es zustande bringt, derb- 
zynische, groteske und tief tragische Szenen, die in ihrer Nacktheit ab- 
stoßend wirken mußten, mit seinem guten Humor wie mit einem Kleide zu 
behängen. 

per erziehliche Wert des Buches liegt darin, daß Groddeck, wie einst Swift, 
Rabelais und Balzac, dem pietistisch-hypo kritischen Zeitgeist die Maske vom 
Gesichte reißt und die dahinter versteckte Grausamkeit und Lüsternheit, wenn 
auch mit dem Verständnis für deren Selbstverständlichkeit, offen zur Schau stellt. 
Die Symbolik, die die Psychoanalyse zaghaft als einen der gcdankenbildenden 
Faktoren einstellt, ist für Weltlein tief im Organischen, vielleicht im Kosmischen 
begründet und die Sexualität ist das Zentrum, um das sidi die ganze Symbol- 
welt bewegt. _ £Jr. S. Ferenczi 

NEUE RUNDSCHAU 

Ein tüchtiger Mann, der Spaß machen kann und sein Publikum in 36 Kapiteln 

trotz aller Wissensdiaft harmlos und kurzweilig unterhalt. Alfred Döblin 



BERLINER TAGEBLATT 

Ein Budi, das kaum seinesgleichen hat unter deutschen Büdiern, ein Buch von 

eigentümlicher spiritueller Schärfe, die ihre Zeichen ins Hirn des Lesers ätzt. Was 
sonst als erzählende deutsche Prosa Humor übt, scheint Wasser 
\ neben dieser Quintessenz. . . So was Freches, Ungeniertes, raHiniert 
Gescheit- Verrücktes ist von Erzählern unserer Sprache noch nicht gewagt worden. 
Man muß zu den Großen satirischer Dichtung, will man die Patrone dieser Schrift 
nennen. Von Jonathan Swifts unsterblicher Galle kreist ein Tropfen in des 
Seelensuchers Bitterkeit; an Cervantes erinnert der Ritus, nadi dem hier einer 
zugleich den Priester und das Lamm seiner Narrheit abgibt, erinnert die Durch- 
setzunjf dieser Narrheit mit Idee und Idealität; in der Rabies ihrer Witzigkeit 
aber gespenstert das Überdimensionierte der Gargantua-Komik. 
Die Figuren haben beiläufige Kontur. Auch der Held Thomas, der als Don 
Quixote Sigmund Freudscher Weltanschauung seiner fürsorglichen Schwester 
Agathe durchbrennt, streitbar durdi die deutschen Lande zieht, in die wunderlichsten 
Händel und skurrilsten Abenteuer gerät, als Ritter seiner Dulcinea Psychoanalyse 
die erbittertsten Reden und andere Schlachten schlägt, aller Orten — wie der 
de la Mancha Burgen, Ritter, Burgfräulein — aller Orten Symbole, Insbesonders 
erotische Symbole sieht, erfüllt von der heiligen Gewißheit, daß die Menschen 
ihre Psyche zwischen den Beinen tragen und ihre Genitalien an jeder Stelle 
Körpers und Geistes. 

Dieser Thomas ist ein urgemütliches Gespenst, das seine Hirnschale in Händen 
hält und aus dem muntren Qualm, der ihr entsteigt, die Welt deutet . . . Eine 
Figur, so voll der kostbarsten Narrheit — die keine Narrheit, sondern Ernst- 
Clownerie — ist noch durch keinen deutschen Roman gewandelt . . . Sie hat ein 
Format und eine Funktion; der Rest ist Ulk. Aber Ulk von der hellsten Sorte. 
Hier lehrt einer, zum Gaudium des Lesers, die Welt über den psychoanaly- 
tischen Stock springen. Alles muß drüber, Menscli und Tier, Politik Kunst 
Wissenschaft; und, mit etlicher Gewalt und Schlauheit, glückt es bei allen. Eine 
drolligste demonstratio ad rem et hominem von der Unfreiheit der Erscheinungen, 
Wie sich hier Sinn zu Hanswurst laden übersteigert, Geist in närrische Aktion 
umsetzt, Dogma possenreißerisch sich behauptet, Erkenntnis, ihrer Unverletzbarkeit 
hochmütig gewiß, ins dichteste Gelächter stürzt — solche lustige Abenteu erfahrt 
des Gedankens hat noch kein deutscher Mann gewagt, Alfred PolEar 

WIENER FREIMAURER-ZEITUNG 

Ein Schalk, der lustig, ausgelassen und frivol ist und doch zum Denken reizt . . . 
Prüde Flachköpfe, Philister, laßt die Hände davon, aber Ihr, die Ihr lachen könnt, 
bis die Augen tränen, macht Euch in Eurer stillen Ecke über dieses Buch. 



BÜCHEREI UND BILDUNGSFFLEGE 

Gespräche und Reden des Seelensucie.. Thomas Weltlein, den der Verfasser auf 
di/sd.n,ale Grenze zwischen dem weisen Grübler und dem Narren gestellt hat 
um ihn recht ungestört alles zwischen Himmel und Erde durchemanderqu.rle. 
lassen zu können ... Für öffentlid^e Büd^ereien ist das Bud. wegen semes 
Übermaßes an Zynismus in erotischen und religiösen Dingen unbrauchbar. 

NEUE FREIE PRESSE 

Weder die Vertiefung, nod. der soziale Ernst wird der Psychoanalyse h.er 
entnommen, sondern der Kehrid^t, den sie. das seelische Innere des Menseheu 
fegend, vor der Tür anhäuft. Diese unappetitliche Masse w,rd h.er zum Hauptthema 
als ob das Absehen darauf gerid.tet wäre, die Psyd^oanalyse durd. Ordmarhe. 
zu diskreditieren, was indessen kaum in den Intentionen des Verfassers selbst 

,. I Herbert Siwerer 

Psychoanalytikers hegen kann. 

OSTSEEZEITUNG 

Grcddeck hat der Literatur einen modernen Don Quichotte gesd^enkt . . .Wer 
Freude daran hat. die Dinge aud. einmal durdi eine andere Bnlle a^s se.ne 
eigene zu sehen, lese das BuA. Er wird Stunden reinster Freude habenl 

DIE WAGE . u. u . r- 

Ein witziges Buchl Ein kluges ßudi! Eine gespickte Foppere.. n.chts mehr Em 
köstliches Buch, ein abscheuliches Bud^! Ein fideler Roman, em wessen sd^afthd. es 
W kl Da^ Bud, ist vor allem von einer imponierenden Rud.s,d,tsIos.gke.t. 

** ' " Fritz Sachsenburg 

SADISCHER ZENTRALANZEIGER 

Groddedc hat sidi seine Aufgabe insofern erleichtert, als sein Held gleldizeitlg 
Psvdiopath und Psydioanalytiker ist; dadurdi kann er mandie bedeutsame Glos- 
sierung unauffällig einfügen. Grodded. nützt die Immunität reidilid. aus, um d.e 
Phantasie des kranken Zynikers sidi in Zweideutigkeiten ergehen zu lassen; aber 
^an behält den Eindrudc der Ed^theit. Karl HecM 

DIE SCHÖNE LITERATUR 

Wer für Humor keinen Sinn hat. gehe dem Buch weit aus ^^'". ^«S« " " " ' 
Groddedc probiert mit einer tollen Donquid.otterie «^^ P/^f .^'^f.^.^'f;;';;.^^ 
an seinem Helden aus und mengt Witz und Unsmn, We.she.t und Tollhe.t wdd 

, , . , Jörn Oven 

durdie mauder . 



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cäoddeck 

DAS 

BUCH 

VOM 

ES 



Georg Groddeck 



Das Buch vom Es 

Psychoanalytisdie Briefe 
an eine Freundin