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GEORG GRODDECK
DER MENSCH
ALS SYMBOL
DER MENSCH
ALS SYMBOL
Unmaßgebliche Meinungen über
Sprache und Kunst
VON
GEORG GRODDECK
Mit 14 Bildtafeln im Anhang
19 3 3
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER
VERLAG GESELLSCHAFT M.B.H. WIEN
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PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
PRINTED IN GERMANY
DRUCK DER SPAMERSCHEN BUCHDRUCKEREI IN LEIPZIG
In den zehn Jahren, die seit meinen letzten Mitteilungen über
die Arheitshypothese vom Es des Menschen verstrichen sind, hat
sich nichts ereignet, was mich veranlassen könnte, diese vielfach
erprobte Betrachtungsart aufzugeben oder etwas Wesentliches daran
zu ändern.
Die Behauptung, daß alles Menschliche von diesem in unauf-
klärbares Geheimnis gehüllten Wesen abhängig ist, halte ich auf-
recht, und ebenso bleibe ich dabei, daß niemand in die Tiefen des
Es hineinschauen kann.
Dagegen kann ich einiges von jenen Formen des Es erzählen, die
bisher wenig besprochen worden sind. Ich halte es auch für not-
wendig zu betonen, daß eine dieser Formen das Ich ist. Wie ich
mir das denke, habe ich in dem „Buch vom Es" soweit mitgeteilt,
als ich es konnte.
Eioe andere Form des Es, die mir zugänglicher ist, möchte ich
als das Zwiefache des Es bezeichnen: Alles Menschliche läßt sich
als zugleich männlich-weiblich und kindlich-mannbar betrachten.
Etwas Weiteres ist die Erfahrung, daß das Es sich ebenso selb-
ständig und ebenso gegenseitig abhängig in dem Leben des Geeamt-
menschen wie in den Teilen dieses lebenden Menschen offenbart,
oder um es anders auszudrücken: Es hat den Anschein, als ob
zwischen dem Ganzen des Menschen und der ZeUe oder noch klei-
neren Wesen, dem Gewebe, dem einzelnen Organ oder Körperteil
ein ähnliches Verhältnis bestände, wie es in den Begriffen Makro-
kosmos und Mikrokosmos in früheren Zeiten für das All und den
Teil angenommen wurde.
I
Schließlich ist das Symbolische, das alle menschlichen Lebens-
beziehungen begleitet, Form des Es.
Zu dem Versuch, diese Formen des Es zu betrachten, hat mich,
abgesehen von dem Zwang des Tageslebens und des Berufs, eine
etwas einseitige und eigensinnige Beschäftigung mit Werken der
bildenden Kunst imd mit der Sprache geführt.
Daß in jedem einzelnen Menschen Männlich-weiblich und Kindlich-
mannbar enthalten ist, kann ohne weiteres daraus geschlossen
werden, daß der Mensch aus Mann und Weib entsteht, und daß,
soweit wir das bisher haben nachweisen können, wohl eine Mischung,
aber nicht eine gegenseitige Auflösung dieser Beetandteile statt-
findet. Daß er, so erwachsen er sein mag, in allen grundlegenden
Lebensfunktionen, in Sterben und Entstehen der ZeUen, in Atmen,
Schlafen, Sichregen, Sichnähren usw. kindlich bleibt, ist gleichfalls
sinnfällig. Von dem Symbol wird im folgenden so viel gesprochen
werden, daß ich fast selbst annehmen könnte, meine Bemühungen
in diesem Aufsatz gälten nur der Schilderung dieser Esform.
Die Tatsache, daß der Mensch männlich- weiblich und kindlich-
mannbar ist und daß er im Symbol lebt, können vdr benutzen wie
ein farbiges Glas, um das Menschenleben zu betrachten. Freilich
bringt uns eine solche Betrachtung der Wahrheit ebensowenig nahe
wie das Sehen durch ein rotes oder gelbes Glas, im Gegenteil, wir
wissen hei solchem Versuch von vornherein, daß wir durch Be-
nutzen der farbigen Glasscherbe der Welt falsche Farben geben,
und so ist es dem Verfasser dieser Mitteilungen auch bekannt, daß
er mit seinem Verfahren die Buntheit der Welt eintönig färbt. Es
ist aber nicht bloß mutwillige Spielerei, so an menschliche Probleme
heranzugehen, sondern dies Verfahren scheint so weit zurückzu-
reichen wie die Überlieferung menschlicher Vergangenheit.
Die erste Folge der Weltbetrachtung durch solches Medium ist
Mißtrauen gegen die Realität. Vermutlich gibt es Reales ; aber wir
kommen niemals in Berührung damit. Unser Es ändert das un-
bekannte X des Realen, es wirkt auf die Dinge und macht aus dem
Realen Wirkliches. Werk und Sache sind nicht dasselbe. Das
Menschliche arbeitet nicht mit einem „Realitätsprinzip", sondern
mit dem Wirklichkeitsprinzip. Wenn man das in Betracht zieht.
verschwindet der Gegensatz von Ich und Es, es entsteht eine Mensch-
welt, in der das Ich nur eine Funktion des Es ist. Diese wirkliche
Welt des Menschen zerfallt bei dem Versuch, Reales zu hegreifen.
Wir werden von dem verdrängenden Wirken des Menschlichen
und unsrer vermenschlichten Umwelt (Erziehung usw.) in das
Phantasieren über das Reale hineingezwungen. Zunächst haben
wir nicht mit Dingen zu tun, sondern mit Symbolen. Man hat sich
bisher wenig darum gekümmert, wie der Neugeborene die Umwelt
kennenlernt, was er von ihr denkt. Wenn ich mir überlege, was
ich im Mutterleib erfahren haben mag, komme ich zu dem Schluß,
daß ich damals alles, was zu meiner Welt gehörte, für Bestandteil
meines eigenen Selbst gehalten habe : Selbst und Umwelt des Selbst
waren dasselbe. Vielleicht wird diese symbolische Denkart durch
die Geburt ein wenig umgeändert; nach dem Verhalten der Säug-
linge in ihrer ersten Lebenszeit muß ich aber annehmen, daß das
Kind in der Hauptlemzeit des Lebens, in den ersten Stunden, Tagen
und Wochen im. wesentHchen noch symbolisch denkt: ein Löffel
ist für das Kind nicht ein Löffel, sondern eine Hand, eine Tür nicht
eine Tür, sondern ein Mund, ein Bett nicht ein Bett, sondern ein
Mutterschoß usw.
Von diesen ersten Vorstellungen, die in primitiven Kulturen
wenig verändert beibehalten werden, kommen unser Bewußtes und
Unbewußtes nie ganz los : bis an das Lebensende bleibt menschliche
Erkenntnis dem Symbol verfallen. Mögen wir noch so gelehrt sein,
es hilft uns nichts: ein Fenster bleibt für uns Auge, eine Höhle
Mutter, ein Pfahl Vater.
Auch den Menschen und seine Teile betrachten wir symbolisch,
wie wir es als Kinder taten. Wir wußten einmal aus Erfahrung,
daß der Kopf in sich zugleich Ganzes und Teil ist, selbständig und
abhängig, daß der Mensch Symbol des Kopfes und der Kopf Symbol
des Menschen ist. Symbol bezeichnet nicht die Ähnlichkeit zweier
Dinge, sondern im Symbol werden zwei Dinge zusammengeworfen,
sie sind dasselbe. Weil wir symbolisch denken und empfinden, kurz
in jeder Beziehung an das Symbol als an etwas zum Menschlichen
Gehöriges gebunden sind, ist es möglich, alles Menschenleben sym-
bolisch zu betrachten.
Daß der Mensch zwiegescUeclitig ist, nie Mann, nie Weib, sondern
immer Weibmann, Mannweib, daß er nie Kind, nie Erwachsener
ist, sondern immer Kindmann, Mannkind, haben alle Zeiten in
Denken und Tun, in Mythus und Alltagsleben zum Ausdruck ge-
bracht; es ist nicht erst die christliche Kunst, die den Menschen
im Symbol von Weib und Knabe, > Madonna und Christus dar-
stellt. Die Antike gab der Aphrodite den Eros zur Seite, Venus
und Amor sind noch jetzt, wo sie längst zu Schatten dessen ge-
worden sind, was sie einmal waren, eine Einheit, ein Symbol des
Menschen.
In der Villa Borghese zu Rom hängt ein weltbekanntes Gemälde von
Lukas Cranach, eine Venus, die allen Betrachtern unvergeßlich ist
(Taf. 1). Der Grund dafür ist das Gleichnis. Das Zwiegeschlechtige, wie
es sich in dem Zusammenfügen des Weibes und Knaben offenbart —
zugleich zeigt sich darin das Kindlich-Mannbare — ist durch den
m.ännHchen Baumstamm und die weiblichen Spalten in der Rinde
verstärkt. Der Baum hat symboUsch beide Geschlechter und Alter;
der Baum, die Eiche; Wurzel und Frucht sind Kind, Stamm und
Ast Mann, Rinde und Krone Weib.
Bei dem Wort Frucht — fructus ventris tui — ist dies ohne
weiteres klar. Wurzel kommt von Würz, das Pflanze, Kraut be-
deutet, ist ursprünglich wurzwala (wala = Stab); das w ist wie in
Rönaer-Römware, Bürger-Burgware verschwunden. In Wurzel ist
also die MännUchkeit des Kindes betont. Stab (wala) ist mit sanskrit
sthapai verwandt : stehen machen, was dann zu Ständer und schwe-
disch stond für das Steifsein des Ghedes führt. Es sei gleich hier
darauf hingewiesen, daß als Symbol des Menschen der Knabe oder
das mannliche Glied gebraucht werden, niemals das Mädchen; das
Symbolische scheint für den Begriff Mensch das Aufrechte, Stehende,
Aufrichtige, Selbständige zu bevorzugen. Außerdem ist im Knaben
und im Geschlechtsglied das Zwiegeschlecht und das Kindlich-
Mannbare in dem Verhältnis Eichel- Vorhaut und Steifheit und
Schlaffheit sichtbar, während beim Mädchen alles Geheimnis ist.
Endlich ist Wurzel stammverwandt mit Rüssel; was dem primi-
tiven Denken Rüssel ist, zeigt jedes Kind beim Anblick des Ele-
fanten.
8
Das Männlich-Symbolische in Baum und Äst zeigt sich in der
Gewohnheit, beide Wörter in der Bedeutung des aufgerichteten
GKedes zu gebrauchen. Ferner ist „Stammbaum" zu erwähnen,
worin sich die Idee der urmännüchen Abstammung ausspricht. Von
Etymologen wird Stamm mit der Wurzel stha (stehen) zusammen-
gebracht; im Griechischen heißt der Weinhrug stamnos (orajuvog),
der Behälter, aus dem der Wein des Lebens in den Becher (das'
Weib) gegossen wird, ist ihm besonders männlich. Ast zeigt seine
Bedeutung in dem Verbum „asten" (das Feld tragbar machen);
es erinnert an den Fluch, mit dem Adam aus dem Paradies getrieben
wird, an das Symbol der Sage, der das Weib fruchtbarer Acker.
der Mann pflügender Bauer war.
Krone (Kranz) ist als entschieden weibliches Symbol allgemein
bekannt, das aufreizend ümschheßende drückt sich darin aus.
Rinde ist verwandt mit Rand, englisch rim (Ende, Schluß), die
Rinde liält den Stamm in der Umarmung, sie schützt ihn mütter-
lich und umschlingt ihn zärtlich. Fachgelehrte verknüpfen rim
mit dem gotischen rimi (Ruhe). So würde in dem Wort Rinde das
weibUche Wesen als Leidenschaften beruhigend, beendend Hegen.
Im Griechischen heißt Ruhe eroe (e^w?;) (eigentlich „Angriff mit
darauf eintretender Ermüdung, Ruhe"). Die Vermutung, daß eroe
stammverwandt mit Eros {egmg) ist, liegt nahe ; Eros ist den Griechen
der ZwiUingsbruder des Todes — der PhaUus stirbt durch den Lie-
besakt — und der Tod ist Ruhe.
Das Unbewußte der Kunst, das den Doppelsinn des Symbols
dadurch besonders hervorhebt, daß es den Kopf des stehenden
Knaben bis an die eine Spalte der Stammborke reichen läßt und
seinen Blick auf den Schoß des Weibes gerichtet hat, fügt dem
Gleichnis noch ein Motiv hinzu, das dem Bilde eine schier un-
ergründliche Tiefe gibt: um die Hüften der Venus ist, den Schoß
verhüllend und zeigend, der Schleier geschlungen, das uralte Symbol
der Jungfräidichkeit und des Jungfrauentodes in der Empfängnis.
Das Weibliche, das göttUch Liebende im Weibe, die Venus Urania
ißt immer jungfräuKch. Wer anerkennt, daß es, unabhängig von
der Verkörperung in der einzelnen Frau, ein Ewig -Weibliches gibt,
weiß, daß dieses Ewig -Weibliche, unabhängig von allen körper-
"^
liehen Vorgängen, trotz Liebeshandlung und G«bärens unveränder- j
lieh jungfräulich bleibt. Der Christusmythua sagt dasselbe: in dem f.;
bekannten Liede von dem Reis, das einer Wurzel zart entsprang,
heißt es:
„Es fiel ein Himmelstaue
In eine Jungfrau fein,
Es -war keine bessere Fraue, :
Das macht ihr Kindelein. > ■
Ob sie schon hat geboren, ; r
Blieb sie doch Jungfrau rein." ;i
Das tägbcbe Leben lehrt dasselbe; jede Frau wird, wenn ihre Liebes-
erregung irgendwie bis zum höchsten gesteigert wird, von neuem ^
Jungfrau: ihre Öffnung zieht sich dann wieder, trotz häufiger Ge- j
burten, so zusammen, daß das Eindringen des Gliedes wie bei der |^
Entjungferung als zunächst schmerzhaft empfunden wird, ja eme
Blutung entsprechend dem Zerreißen des Jungfernhäutchens tritt
nicht selten ein. Cranach hat, wie Botticelli in seinem Frühlings-
bUde, dieses tiefe Wiesen in sein BÜd aufgenommen, seine Venus
ist schwanger.
Daß eine Darstellung der Liebesgöttin voll Symbolik ist, nimmt
nicht wunder. Aber der große Künstler kann auch DarsteUungen
von Tagesereignissen nicht anders geben als mit unbewußter Be-
nutzung des Symbols. Man betrachte beispielsweise Rembrandts
„Anatomie des Dr. Tulp" im Haag (Taf. 2). Angeblich ist es ein
Gruppenporträt von acht Medizinern, in dem die Figur des Dr. Tulp
besonders hervorgehoben ist. Es sind aber gar nicht acht Menschen,
sondern neun, und gerade der neunte, der Tote, empföngt das volle
Licht des Bildes. Der Tote ist also die Hauptperson geworden.
entweder weil Rembrandt es so beabsichtigt hat oder weil ihn sein
Unbewußtes dazu gezwungen hat. Neun ist die Zahl der Voll-
endung; irgendwie wird sich der Gedanke der Vollendung in dem
Bilde durchgesetzt haben, und die Vollendung muß mit dem toten
Körper zusammenhängen. Neun ist aber auch die Zahl der Schwan-
gerschaft, und neun ist dreimal drei. Das Unbewußte pflegt bei
neun Personen die Dreiteilung zu erzwingen, drei ist die mächtigste
10
ZaU, die heilige Drei. Sie symbolisiert in erster Linie die Männ-
lichkeit, die volle Potenz in der Vereinigung des Gliedes mit den
beiden Hoden, weiterhin das Männlich- Weiblich-Kindliche. Be-
trachtet man das Bild auf die Gruppierung der Drei hin, so ge-
hören zu der stehenden und allein handelnden Figur des Tulp die
beiden weit vorgebeugten Figuren; sie sind am sichtbarsten an der
Handlung beteiligt. Hinter diesen ist eine andre dreifaltige Gruppe:
nur einer der Männer ist ganz bei der Sache, der zweite unterbricht
seine Lektüre, beginnt also sich für die Sektion zu erwärmen, ein
dritter ganz im Hintergrund nimmt an der Handlung nicht viel teil.
Die dritte Gruppe ist in dem Leichnam von der Handlung getrennt,
die ergänzenden Figuren jenseits des Bildmittelpunkts, der Leiche,
widmen dem Vorgang keine Aufmerksamkeit, ja der eine blickt
aus dem Bilde heraus, ihn geht die Sektion nichts an. Vollkommen
teilnahmlos aber ist der Tote, und doch dreht sich um ün alles.
Geht man bei der Betrachtung des Bildes von der Neuuzahl aus,
so wird aus dem genrehaften Gruppenporträt ein Schicksalsgemälde
des Männlichen, eine Darstellim^g der Entstehung, des Handelns
und des Sterbens des Mannes. Mann, wirklicher Mann ist der männ-
liche Mensch nur solange, als er seine männliche Potenz besitzt und
gebraucht; er entsteht — das Wort „entsteht'* ist mit Vorbedacht
gebraucht — aus der Erregung, er stirbt in der Liebeshandlung,
die der Erregung folgt, folgt solche Handlung nicht, so stirbt er
nicht, sondern schrumpft nur zum Knaben zusammen.
Das Bild zeigt, als Symbol gesehen, die einzelnen Schicksals-
stadien des mänuUchen Mannes. In der Hintergrundsgruppe be-
ginnt die Erregung: die Begierde des Erzeugens ist in dem einen
Augenzeugen (testis, testiculus) lebhaft, seine Erregung ergreift
noch nicht den andern, aber das Membrum verwandelt sich in den
Phallus. Der Mann, der das veranschaulicht, unterbricht sein Lesen;
Lesen ist, symbolisch aufgefaßt, Phantasie über das Weibliche. —
Die zweite Gruppe zeigt beide testes in höchster Spannung und den
stehenden Mann (Ständer) in voller Aktion. Er ist der einzige, der
einen Hut trägt und sein Kragen ist halb offen, beides Symbole
der Vereinigimg mit dem Weibe. — Die dritte Gruppe stellt die
unmittelbare Folge des Akts dar, nicht als Erschlaffung des Phal-
li
lus, sondern als Tod; erschlafft ist die Begierde der Zeugen. Daß
der Tod am Weibe stattfand, erzählt die Wunde am linken, am
Herzens-Liebesarm, und die Tatsache, daß die Finger trotz des
Zerrens an dem Beugemuskel unbeweglich bleiben, beweist äugen- ^'-Äl
scheinlicb den Tod. Die Geschlechtsteile sind durch ein kreuzweis
gelegtes Tuch verhüllt: der beschämende Zustand des Unvermögens
ist dem BUck entzogen. Auch der Daumen der rechten Hand, der >;
so deutlich den Phallus versinnbildlicht, ist nicht zu sehen. Beides '.'^
entspricht dem Verhalten des männlichen Menschen, der von den *3
Mächten des Es gez'wungen wird, entweder sich dem Bewußtsein \
seiner vernichteten Mannheit durch Schlaf zu entziehen oder diesen S;
Verlust wenigstens vor dem weiblichen Menschen zu verstecken. — ^
Das Schimpfwort „Schlappschwanz", das in den letzten Jahren *
salonfähig geworden ist, beweist, wie groß die Schande solchen ,'
Todes ist. Die Kunstgeschichte erzählt, daß der Tote ein Erhängter
war. Mag das nun wahr sein oder nicht — wenn es nicht wahr ist,
beweist die Sage die symbolische Kraft des Unbewußten — die
Tatsache des Samenergusses bei dem Erhängen verstärkt meine
Annahme, daß hinter der Handlung des anatomischen Unterrichts
das Geheimnis von Zeugen und Sterben, von Liebe und Tod steckt.
Ich möchte schon hier darauf aufmerksam machen, daß Ge-
staltung und Gebrauchsgewohnbeiten des Daumens, auch seine
Erkrankungen oder Verletzungen von der Symholkraft des Es
beeinflußt sein können, ebenso wie irgendwelche Wunden ihre
Entstehung, Form, Heilungsmöglichfceit vielfach von der Symbolik
des Weihlichen oder Zwiegeschlechtigen erhalten.
Um in die Nähe des Es zu kommen, kann man auch einen andern
Weg einschlagen, den Weg über die Sprache. Er kreuzt sich viel-
fach mit dem der Kunstbetrachtung, geht zuweüen parallel, ja
streckenweise ist er derselbe. Auch hier zeigt am besten das Beispiel,
was ich meine.
Schon in der Schule fiel es mir auf, daß Homer, wenn er von
dem Dunkel der Zukunft spricht, die Wendung gebraucht: theon
en gunasi keitai ('&s(üv ev yovvaoi xeaai). Es wird unserm Den-
ken entsprechend übersetzt: „Das liegt im Schöße der Götter."
Aber gony (yovv) ist nicht Schoß, sondern das Knie. Die wört-
12
A,
VA
I]
I
liehe Übersetzung lautet also : „Es liegt in den Knieen der Götter."
Die moderne Wendung, daß die Zukunft in dem Schöße der Götter
liegt, ist ohne weiteres verständlich: Zukunft und Leibesfrucht
sind dasselbe. Der Gedanke, daß der Grieche mit seiner Rede von
den Knieen vielleicht auch Zukunft und Kind gleichsetzte, ist mir
zuerst aus der Erfahrung am Krankenbette gekommen. Bei der
analytischen Behandlung von Kniegelenksentzündungen stieß ich
immer wieder auf die Tatsache, daß der Kranke in seinen Mit-
teilungen aus dem Unbewußten die Anschwellung des Kniegelenks
als ein Symbol der Schwangerschaft auffaßte. Damals war mir
die Symbolik der Organe noch wenig bekannt, aber hie und da
gaben Kranke die Erklärung, daß man den Oberschenkelknochen
als Mann, die beiden Unterschenkelknochen als "Weib und die Knie-
scheibe als Kind auffassen könnte. Lange Zeit habe ich solche Aus-
sagen für Gefälhgkeit gegenüber meiner Sucht, Symbole zu finden,
gehalten. Dann ivurde mir aber gelegentlich eia andrer Gedanke
entgegengebracht. Kranke erzählten mir, daß sie das gestreckte
Bein für ein Symbol der phallischen Erregung hielten, daß in der
Streckung die Vereinigung von Mann und Weib dargestellt sei,
während die davor hegende Kniescheibe, wie alles, was vorn liegt,
die Zukunft, das zukünftige Kind sei. Danach wäre das Knie Sym-
bol des Männlich- Weiblichen und des Kindlich-Mannbaren. In der
Beugung des Knies, ganz besonders im Knien, sahen diese Leute
die Erschlaffung, die beim Manne nach der Geschlechtsvereinigung
eintritt, eine Annahme, die in den Schwierigkeiten vieler Menschen
beim Knien eine Art Bestätigung findet. Eines Tages stieß ich beim
Durchblättern eines griechischen Lexikons auf die Redewendungen
hypolyein {vnolveiv) und blaptein ta gunata tinos {ßlaTneiv xa
yovvaxa Tivog). Das eine bedeutet töten, das andre erschlaffen
machen. Das Lexikon setzt hinzu, daß dem Homer die Kniee als
Hauptsitz der Körperkraft galten; es liegt nahe, anzimehmen, daß
für Homer die Tatsache des Stehens mit Hilfe der Kniee bestimmend
wirkte, da ja das Stehen des Phallus überall als Zeichen der Mannes-
kraft gut. Setzt man statt des Worts Kraft Stärke, so ist die Ver-
mutung nicht ganz unsinnig, daß dem Griechen und wohl auch
dem Unbewußten des modernen symbolempfindlichen Kranken
13
das gestreckte Knie Symbol der männlichen Potenz, des starren
Phallus war oder ist; denn Stärke hängt zusammen mit starr.
Der griechische Ausdruck hypolyein ta gunata (die Knie lösen)
für töten führt dann zu der allbekannten Gleichung des Sterbens
und Liebens bei den Griechen zurück; ich erwähnte sie gelegentlich
der Rembrandtschen Anatomie. Das Knien wäre dann ein Aus-
druck für das Unvermögen des Mannes nach vollzogenem Ge-
schlechtsakt (blaptein = erschlaffen machen).
Für diese Dinge findet sich in der lateinischen Sprache die Be-
stätigung. Das Knie heißt im Lateinischen genu; hängt man daran
ein 8, so wird es genus, was unmittelbar zu dem Begriff der Fort-
pflanzung, zu dem mäoulich-weiblichen, kindlich-mannbaren All-
menschlichen führt.
Von diesem Punkte aus hat man eine erschütternde Aussicht.
Die Etymologen behaupten allerdings, genu und gcnus hätten
nichts miteinander zu tun; aber bei einer Wissenschaft, die so mit
Vermutungen arbeitet wie die Etymologie, braucht man nicht alles
zu glauben, was gesagt -wird, zumal wenn sich herausstellt, daß in
andern Zusammenhängen zwar nicht gcnus und genu, dafür aber
Knie, kennen, können, König, Kunst, Kind und Kinn auf ein und
dieselbe Wurzel zurückgeführt werden. Ehe mir nicht bewiesen
wird, daß genu und genus nicht miteinander zusammenhängen,
bleibe ich auf Grund des Symbols dabei, daß sie sprachlich ver-
wandt sind*).
Um sich in dem Labyrinth der Wortverbindungen zurechtzu-
finden, fasse man den vielgeschichteten und wandelbaren Stamm
•) Der Zufall hat mir nach Ahechluß meiner Arbeit einen Aufsatz des Heidel-
berger Forschers Hermann GUntert in die Hände gCBpielt, der ebenfallB, wenn auch
auf anderm Wege, unter Anlehnung an Geechlechtsdinge die VeiwandtBcbaft von
gony und gigaeBtbai mit ihren Folgerungen feststellt; er erwähnt bei dieser Ge-
legenheit das homerische theon en gunasi keitai. Ich empfinde diese Übereinstim-
mung freudig und dankbar, besonders, weil es nachweisbar ausgeschlossen ist, daß
einer von uns den Gedanken des andern gekannt hat. Günterts Arbeit (erschienen
in „Wörter und Sachen", Band 8) ist 1928 veröffentlicht worden; meine erste Mit-
teilung über die Wörter gony und gigucstbai, gignoskein usw. ist 1926 in einer pri-
vaten Zeitschrift „Die Arche" gedruckt worden. Güntert kann diese Zeitschrift
nicht gekannt haben.
14
,,kaii, ken, kun", zu dem sich dann nocli aus mir nictt bekannten
Gründen „gen" hinzugesellt. Man muß kühn dabei verfahren
{aber kühn leitet sich auch von dem fruchtbaren Stamme kan,
ken, kun her). Angeblich enthält diese Wunderwurzel die Be-
deutung „gebären" in sich. — Von dieser Wurzel kan, ken, kun
wird das Sanskrit -Wort janu = Knie abgeleitet. Andrerseits soll
von einer skrt. Wurzel jan = zeugen aus janus = Geburt, Janas
= Geschlecht, jantu = Kind zu unserm Ariadnefaden kan, ken,
kun, gen gehören. Aber janu und janus haben nach Meinung der
Gelehrten ebensowenig miteinander zu tun wie genu und genus im
Lateinischen. Was soll man nun tun?
Das beste wird sein, man stellt die Aussagen der Etymologen
nach eigenem Gutdünken zusammen, ohne sich um die Privat-
meinung des Lexikographen zu kümmern. Um den Vorwurf allzu
großer Phantasiesprünge einigermaßen zu entkräften, stelle ich
einen Satz aus Kluges „Etymologischem Wörterbuch" voran, der
sich in dem Abschnitt über das Wort „können** findet : „Die weite
Verzweigung der eugverwandten idg. Wz. gen, gno »erkennen*,
jwissen* ist allgemein anerkannt."
Hält man sich an diese Verwandtschaft, so ordnen sich um den
Begriff „Knie" in den verschiedenen indogermanischen Sprachen
in erstaunlicher Weise große Lebensgebiete.
Im Griechischen gehören zu dem Wort gouy {yovv) = Knie
gignoskein (ytyvatoHEtv) = erkennen und gignesthai {yiyvEa-&ai)
— werden, entstehen, geboren, erzeugt werden mit ihren Ab-
leitungen. Was das bedeutet, ergibt sich, wenn man bedenkt,
daß das Wort Gnosis oder Gnostiker (also ein gut Teil aller Philo-
sophie und Religion) dadurch ebenso mit dem angeblich körper-
hchen Knie zusammengebracht wird wie das Wort Genesis = Ent-
stehung oder Genos = Geschlecht. Weiter gehört in diese Ver-
bindung genys {yevvg) = Kinn und genaiaskein (yevaiaoxftv)
= einen Bart bekommen, mannbar werden.
Im Lateinischen gruppieren sich ähnlich, ja vielfach gleich um
das Wort genu = Knie: cognoscere = erkennen, nasci = geboren
werden, genus = Geschlecht. Ein besonderes Gebiet gerät dort
mit in das Lawinenfeld, die Wissenschaft von den Zähnen: dentes
15
genuini = Backenzähne. Es wird sich später zeigen, wie nahe ver-
wandt das Zahnen mit Erzeugungs- und Geburtsvorgängen auch
in der Welt der Symbole ist und damit auch im organischen Leben
des Menschen, in seinem Sein und Werden. Wer alle diese Beziehun-
gen gewissenhaft durcharbeiten wollte, müßte wohl einige Gene-
rationeu lang leben und wirken.
Im Englischen gehört knee = Knie zusammen mit to know
= kennen, wissen, knowledge — Kenntnis, natiou, native, gentry,
gentleman, chin usw.
Im Deutschen findet man rings um das Wort Knie: kennen,
können, König, Kinn, Kind, Kujide und so fort.
In diesen kurzen Mitteilungen, die nur eine Art Einleitung zu
weiteren Aufsätzen sein sollen, möchte ich nur auf einiges auf-
merksam machen, was für den Arzt erwägenswert ist. Ich habe
vorhin behauptet, daß Kniegelenfcsleiden unter Umständen das Zwie-
geschlechtswesen des Menschen, seine Kind-Mannbarkeit, Zeugungs-
Schwangerschafts- und Geburtsvorgänge im Symbol organischer Er-
krankung darstellen, und habe mich dabei auf Mitteilungen aus dem
Unbewußten meiner Patienten berufen. Das Nachsuchen in indo-
germanischen Sprachen scheint mir zu beweisen, daß solch Symbol
bei der Entstehung der Sprachen mitgewirkt hat; daß das Symbol
noch jetzt wirkt, halte ich, abgesehen von meinen persönlichen
Erfahrungen in der Behandlung Kranker mit Hilfe symbolischer
Gleichungen, auch deshalb für wahrscheinlich, weil die Macht des
Worts in allen Lebensbeziehungen noch immer die gleiche ist wie
vor Jahrtausenden. In einer Reihe von Sprachen klingt die Be-
nennung des Gelenks zwischen Ober- und Unterschenkel fast gleich
wie in längst gestorbenen Sprachen und die Redewendung, daß der
Mann das Weib erkennt, ist unsrer Zeit noch ebenso verständlich
wie den Verfassern des Alten Testaments.
Daß ich das Wort König trotz einiger Bedenken in Zusammen-
hang mit Knie gebracht habe — unter Benutzung des vielgestaltigen
ken, kau, kun (kuni heißt im Gotischen vornehmes Geschlecht) —
erleichtert mir die Mitteilung, daß Kniekranke nicht selten im Un-
bewußten von Phantasien über königliche Abstammung beeinflußt
sind. Ich bin auch geneigt, die lateinische Bezeichnung rex für
16
König auf das männliche Lebensprinzip des Äufrechtsteliens zurück-
zuführen.
Eine Vermutung, die ich zurällig nicht in eigener ärztlicher Er-
fahrung habe prüfen können, ist, daß die gonorrhoischen Knie-
geleokserkrankungen eng mit der Begattungssymbolik des Gelenks
verbunden sind und daß eine Behandlung darauf Rücksicht nehmen
sollte.
Schließlich erwähne ich, daß die moderne Wissenschaft die alte
fruchtbare Wurzel in dem Ausdruck „Gen" zu neuem Leben ge-
bracht hat. Gen umfaßt in der Vererbungslehre so viel, daß es sich
in seinem Wert dem alten Genesis an die Seite stellen läßt. Ich
will nicht behaupten, daß die Brücke zwischen dem homerischen
theon en gunasi keitai und der Vererbungslehre fest ist. Aber wie
tropische Schlinggewächse Flüsse von Kilometerbreite und mehr
überbrücken, so mag es auch hier sein. Die Wege zum Es sind
wunderlich.
2 Groddeck, Der Mensch ala Symbol
17
Wenn man sich einmal auf Etymologie eingelassen hat, merkt
man erst, wie schwer es ist, üLer den Menschen zu schreiben. Man
denkt, wer weiß wie weit gekommen zu sein, wenn man sich davon
überzeugt bat, daß der Mensch zwei Geschlechter und zwei Lebens-
alter hat. Aussprechen läßt sich solche Überzeugung leicht; aber
sie sieb so zu eigen machen, daß man danach leben kann und daß
man danach Kranke behandeln muß, ist nicht leicht. Für den
Deutschen geht es noch eher, sich bei dem Worte Mensch je nach
Belieben einen Mann, ein Weih oder ein Kind vorzustellen. Aber
wie macht es der Engländer, für den der Mensch man ist, der
Franzose, der Italiener mit homme, uomo ? Haben sie eine Neigung,
ein menschlicbee Wesen so lange für einen Mann zu halten, bis sie
es als Weib (woman — wifman, femme — femina = die Säugende)
„erkennen"?
Im Griechischen ißt Mensch anthropos (av&QCOTiog), das Wort wird
mit maskulinem Artikel für beide Geschlechter gebraucht. „He an-
thropos ()5 av&QCOTiogy'' ist die Hure, ähnlich wie das jetzige Deutsch,
übrigens erst seit kurzer Zeit, „das Mensch'* sagt, wenn eine an-
rüchige Frau bezeichnet werden soll; noch vor zwei Jahrhunderten
war jede Frau das Mensch, und der Franzose spricht noch immer
unbefangen von ma chose, wenn er von seinem Weibe erzählt. Die
erste Silbe geht auf die fruchtbare Wurzel men, man — meinen
zurück, von der bald die Rede sein wird; die Sachverständigen
sagen, anthropos sei eine Zusammensetzung von menthere (fiev-
{hjQYj) = Stirn und ops (cüv) = sehen. Meine eigne Vermutung, daß
die beiden letzten Silben aus der Wurzel thor (i?op) (thoros, '&OQog
=: männlicher, menschlicher Samen) gebildet sind, gründet sich nur
18
auf die Tatsache, daß sich das Wort throsko {■&Q(oax(o) = springen,
bespringen, befruchten, aus der Wurzel thor herleitet.
Ein besonderes Verfahren hat die dänische Sprache befolgt, dem
Dänen ist der Mensch eine Sache — et menneske — , ein Neutrum,
während der Schwede sogar so weit geht, dem Menschen als Lebe-
wesen einen weiblichen Charakter zu geben, människa ist bei ihm
nicht ein „han" (er), sondern eine „hon*' (sie). Die beiden nordi-
schen Wörter zeigen schon in ihrem Klang, daß auch für die ger-
manischen Sprachen der Mann Symbol des menschlichen Lebe-
wesens ist. Das deutsche Mensch ist ein Substantiv gewordenes
Adjektiv, lautet ursprünglich „männisch", also Mann.
In gewisser Beziehung ist es erklärlich, warum gerade der Mann
als Vertreter des Menschlichen gebraucht wird: wir sind sehende
Wesen, in großer Entfernung nun entscheidet die Bewegung des
gesehenen Gegenstandes, ob es sich um ein Lebewesen handelt oder
nicht, und die aufrechte Haltung, ob es ein Mengch ist oder ein
Tier; erst in der Nähe, eigenthch an der Kleidung sieht man den
Geschlechtsunterschied, ja völlig sicher wird man oft erst durch die
erkennende Umarmung. — Was sich aufrichtet, aufrecht steht, sich
aufrecht bewegt, ist durch das Symbol männisch bezeichnet, und
das Symbol entscheidet so für den Mann. „Mann" nun stammt von
der Wurzel „men", die denken bedeuten soll. Danach wäre Mensch
— wenigstens der männliche Mensch — das denkende Lebewesen:
der zwiegeschlechtige Organismus im Besitz beider Lebensalter,
begabt mit der Fähigkeit zu denken.
Plötzlich stehen wir vor der Grundlage unsrer heutigen Kultur,
all unsrer Philosophie, Wissenschaft, Religion, Lebensauffassung
und Lebensführung: der Mensch denkt, er allein denkt, kein andres
Wesen tut es; die Zweifel, ob nicht auch Tiere, Pflanzen, ja wo-
möglich Atome, lone, Elektrone denken, oder die andern, ob das
Denken nicht dazu da ist, um jedes Erkennen zu verhindern, haben
keine Bedeutung in unserm Lehen; wir spielen mit diesen Zweifeln,
sonst nichts.
Trotzdem, die Zweifel sind da, verstärken sich immer mehr, von
allen Lebensgebieten aus erheben sich Bedenken gegen die Tyrannei
des Denkens. Und da kommt es uns Mystikern zu Paß, wenn die
3* 19
Etymologen erzählen: Denken ist „machen, daß etwas scheint",
es beschäftigt sich nicht mit dem "Wahren, sondern will wahr scheinen
lassen, was gut dünkt.
Es handelt sich für mich nicht darum, etwas gegen das Denken
zu sagen. Niemand ist so blind zu verkennen, was der Mensch
dem Denken schuldet. Aber welch eine Weisheit des Sprach-Un-
bewußten, schon vor Jahrtausenden das Einseitige, Absichtliche,
völlig Subjektive, Dogmatische dieser Funktion des Menschen fest-
gelegt zu haben ! Die Sprache ist ehrlich geblieben, sie gibt zu ver-
stehen, daß uns das Denken zu belügen sucht, wir aber machen
uns im Gebrauch der Sprache selbst zu Unehrlichen, wenn wir das
Denken rein nennen. Ich freue mich, daß das Wort Mensch nichts
mit Denken zu tun hat, sondern mit Meinen; Meinen kann auch
der ehrliche Mensch, im Denken hegt das überzeugenwollen, das
Haschen nach Vorteil. Und es ist wohl kaum noch ein Zweifel
daran: wir Europäer haben genug gedacht, wir sollten zum Meinen
zurückkehren.
Mitunter hat die Kunst versucht, den denkenden Menschen dar-
zustellen; gemeinsam ist diesen absichthchen Darstellungen die
Mühe, die das Denken nach Ansicht der Kunst bereitet. Meist
werden Denker sitzend abgebildet, zusammengekrümmt und offen-
bar dringend damit beschäftigt, etwas aus sich herauszupressen.
Damit man nicht auf den Gedanken kommt, es handle sich um einen
ganz andern aUtäghchen mitunter recht schweren Vorgang des
Hervorbringens, sondern um eine Arbeit des Schädels, legt man
den Kopf mit dem Kinn, als ob er schwer sei, in die Stütze der
Hand. Dieselbe Gewißheit, daß nicht eine Tätigkeit iu den Regionen
des Bauches vorgeführt werden soll, ergibt sich daraus, daß die
Beine übereinander geschlagen sind: die in Betracht kommende
Öffnung ist verschlossen. Die Kunst hält ebenso wie die Sprache
das Denken für etwas gewollt Einseitiges; es ist nicht ein Streben
nach Wahrheit, sondern der Wunsch, etwas Gedachtem den Schein
der Wahrheit zu geben.
In Florenz ist ein Bildwerk des Michelangelo zu sehen, das der
Voltsmund il pensiero (der Gedanke) genannt hat; es ist die Grabmal-
figur des jüngeren Lorenzo di Medici. Wir sind gewöhnt, pensare
20
mit denken zu übersetzen, aber icb bezweifle, daß ein Deutseber
dieses Denkmal mit dem Wort „der Gedanke" bezeichnet hätte.
Lorenzo sitzt freilich auch, er stützt sein Kinn mit der Hand, aber
jede Spur des Krampfhaften, mit dem die heutige Kunst den Denker
auszustatten pflegt, fehlt; pensare (von pendere) schließt das Ab-
sichtliche des Denkakts aus, es ist ein Erwägen, der Kopf wird
eher festgehalten als gestützt, das Pendeln, Wackeln soll verhütet
werden.
Das Denken wird jetzt überall, nicht nur bei den germanischen
Rassen, betrieben, es gehört zu dem gewohnheitsmäßigen Sich-
vordrängen des Worts und Begriffs Ich, wie es sich sprachlich schon
darin ausdrückt, daß uns die Verb-Endung nicht mehr zur Personal-
bezeichnung genügt, daß wir das „Ich, Du, Er" hinzufügen. Als
ob das Ich nicht an sich mächtig genug wäre, im Guten und Bösen,
als ob der Mensch dadurch größer würde, daß er die Welt in Natur
und Mensch einteilt ; er bleibt doch nur ein Stück Natur. Je heftiger
unser Wunsch ist, eine Welt außerhalb von uns exakt zu erforschen,
um 60 tiefer werden wir in die Knechtschaft des Ichs geraten.
Soviel ich weiß, kannte weder der Grieche noch der Römer das
Denken. Der griechische Ausdruck lautet unter anderem noeo
(voeco) = wahrnehmen, erkennen, Wurzel sncuo = winken. Die
Lateiner haben das Wort cogitare = co-agitare = zusammen-trei-
ben (agere). Also in beiden Sprachen ist etwas andres gemeint als
in unserm Wort denken. Auch die neueren romanischen Sprachen
haben ihren Wörtern penser, pensare die Bedeutung denken unter-
schieben müssen, was nicht ganz gelungen zu sein scheint. Das
englische to think ist eine Mischform aus den beiden alten Wörtern
denken und dünken. Die alte Bedeutung von Denken — den Schein
erwecken — hat sich bei uns in dem Wort Dünkel lebenskräftig
erhalten.
Wenn man ein Beispiel der doppelten Leistungen des Verdrängens
geben will, so ist das Wort denken brauchbar : Denken ist das Ver-
drängen der andern Wahrheit — vielleicht aus Dünkel ; dieses Ver-
drängen hat uns zu Wissenshöhen geführt, wie sie wohl kein andres
Zeitalter gehabt hat, es hat uns aber der andern Wahrheit, dem
Weg und dem Licht und der Wahrheit entfremdet, hat zum großen
21
Teil die spezifisch europäischen Leiden herbeigeführt, die in gefähr-
licher Weise unser stolzes europäisches Wesen zu zerstören drohen.
Unser Gehirn ist nicht durch vieles Suchen nach Wahrheit über-
arbeitet, sondern durch den Versuch, das Primitive, Zwiege schlech-
tige, Mannbar-Kindhche, Meinende, Menschliche in uns zugunsten
des Realen, Objektiven zu vernichten. Da der Mensch nicht aus
seiner Haut heraus kann, mißlang die Vernichtung, und nur eine
Verdrängung kam zustande, bei der das Verdrängte zu Gift ge-
worden ist. — Man kann das an tausend verschiedenen Formen
menschlicher Krankheiten nachweisen, am leichtesten bei Men-
schen, die an Kopfschmerzen leiden: die beiden häufigsten Er-
scheinungen, das Gefühl des Zerplatzens des Schädels und das Ge-
fühl des Drucks auf den Schädel sind nach meinen Erfahrungen
zu urteilen Symbole des Kampfs gegen die Geburt der primitiven
Wahrheit im Innern des Schädels oder gegen die Befruchtung des
wahrheitsempfänglichen Schädels von außen. Und die Unterleibler,
die den halben Tag mit der quälenden Sorge zubringen: Werde ich
Stuhlgang haben? War die Entleerung genügend in Menge, Form
und Farbe? Oder: Wird mir, was ich aß und trank, bekommen
oder drohen mir Durchfall und Bauchschmerzen? Oder: Wird die
Periode rechtzeitig kommen, wird sie zu stark sein oder zu schwach,
zu dunkel oder zu hell? sie alle denken, wollen etwas scheinen
lassen, damit das andre Wahre in der Verdrängung bleiben kann.
Wer sähe es nicht täglich, wie einer plötzlich in der Unterhaltung
den Kopf stützt, weil er zu schwer wird oder wackelt, wie ein andrer
die Beine übereinander schlägt, weil er viel zu verbergen hat und
wenigstens der hintern Körperöffnung sicher sein will; mag der
Bauch dann knurrend sprechen, sein Knurren ist unverständlich,
kaum jemand weiß, daß Knurren auch Sprechen ist.
Der Mensch heißt nicht Mensch, weil er denkt, sondern weil er
meint; weÜ er ehrlich meint, ein Ich zu sein, weil er ehrUch mit
allen Fasern seines Wesens meint, selbständig der Natur gegen-
überzustehen, ein richtiger Mann mit der Potenz der Erektion und
des Befruchteus, mit dem Glauben, Herr der Natur zu sein. Der
Mensch hat Meinungen, das ist die Sache. Die Wurzel von Mensch
ist „men — meinen". „Mein ist die Welt, mein das Werk, mein
22
die Tat", ist es nicht herrlich, daß der Mensch so empfindet, so
meint, so spricht? Auf dem Glauhen an das Ich ruht die Menschen-
■weit, und meinen kann nur der, der an sein Ich glaubt, der zu sagen
wagt, das ist meine Meinung; denn auch das Besitzwort „mein"
bringe ich auf die Wurzel men zurück, allerdings ohne dazu von
der Sprachforschung autorisiert zu sein.
Wenige Wurzeln sind einem phantastischen Ohr so gefällig und
nachgiebig wie die Wurzel men — man. Da ist gleich das viel-
gebrauchte und vieldeutige lateinische Wort mens (gr. menos, fZEvog,
got. muns) mit allen seinen in der Wissenschaft so nützlichen Ab-
leitungen, z. B. mental, dementia, über deren Bedeutungen sich
niemand mehr den Kopf zerbricht. Die Engländer haben sich dar-
aus das rätselhafte, wenigstens für den Ausländer rätselhafte, Wort
mind gebildet und damit das Geheimnis der Begriffe Seele — Geist
noch schwerer zugänghch gemacht, die Griechen (mimnesko, fufj,-
vrjaxo}) und Lateiner (reminiscere) lassen Gedächtnis, Erinnerung
daraus wachsen, was die Skandinavier in dem Wort Minne noch
beutigen Tages tun. Man bedenke, welche Rolle die Lehre vom Ge-
dächtnis des Organischen in der Wissenschaft spielt. Wir Deut-
schen haben diese Bedeutung fallen gelassen, aber dafür das ganze
unendliche Gebiet keuscher Liebe von Mann und Weib hinzugefügt,
während der Holländer noch ein Stück der Geschlechtlichkeit mit
hineingezogen hat. Gegen den Versuch, die Wörter gemein — mean
— communis damit zusammenzubringen, sträubt sich die Etymo-
logie mit Recht, wie es scheint. Gar die Silbe mein-falsch, lügnerisch
(Meineid) von der Wurzel men-man abzuleiten wäre ein Vergehen.
Aber wie ist es mit dem griechischen menis (firjvig) = Zorn? Der
Zorn war der Antike nicht ohne weiteres Zeichen des Unverstandes,
das Wort thymos {'&vfzog) — wir übersetzen es gar nicht so schlecht
mit Gemüt — beweist das. Es ist verwandt mit lat. fumus — Rauch.
In dem Wort thymos kUngt das Feuer der Leidenschaft mit, in
dem Wort Gemüt der Mut. Für den Griechen war der Zorn etwas
menschlich Wesenthches. Die Griechen haben noch eine andre
Überraschung für uns : sie gebrauchten für unser Wort rasen maino-
mai (fiaivo/xai), und wie es scheint sind alle Etymologen darin einig,
mainomai vom Stamm „men-man" abzuleiten. Und mit diesem
23
Wort hängt nun gar das "Wort mantis (fiavTig) = Seher zusammen. i-^
Wer von uns kennte nicht den blinden Teiresias? Der Lateiner
hat das Wort vates = Seher, unser Wort Wut hängt damit zu-
sammen, während der Ausdruek haruspex zu unserm „Seher" hin-
leitet. Welch seltsame Sache! Antikes Meinen verlangt für die
höchste Weisheit die Raserei, die nordischen Völker das Sehen und
beide das Sagen (prophetes, 7ZQ0<pi]Tf]g = Vorhersagen). Haben
„rasen, sehen, sagen" engere Verwandtschaft miteinander, als man
gewöhnlich glaubt? Sehen wir zu, ob uns der Künstler, der gewiß
ein Rasender, Sehender, Sagender, ein Mantis, Seher, Prophet war,
Michelangelo in seinen Propheten- und Sibyllenbildern eine zu-
reichende Antwort gibt.
Zunächst: kaum eines dieser Wesen hat die Beine übereinauder-
gescUagen, kaum eines stützt den Kopf, keines denkt, alle wissen,
aus Eigenem heraus oder aus Büchern; bei Jeremias, dessen Sonder-
stellung ebenso wie die der persischen Sibylle durch die schon
mannbaren Begleitfiguren betont ist, könnte man an Kopfstützen
denken, aber er hält sich nur den Mund zu, er hindert sich selbst
am Sprechen, ist mehr klagender Seher als Prophet. Allen ge-
meinsam ist das Leidenschaftliche — Hesekiel ist sogar zornig ,
sie rasen alle. Das drückt sieh in Gesicht und Bewegung aus, ja
es ist etwas hinzugefügt, was viel gewaltiger die Raserei zeigt, der
Wind stürmt über sie weg und ihre Haare flattern darin. Was
soll es mit dem Winde? Ist es der Sturm, in dem der schaffende
Gott Michelangelos daherbiaust, wenn er Erde und Firmament
trennt oder den Mann zum Leben wecken will? Oder ist es der
Odem, mit dessen Hauch er Leben gibt? Ach leider, die Kunst
Michelangelos antwortet nicht auf die Frage der Fragen, die heute
wieder wie vor Jahrtausenden Menschen beim Suchen nach Meinung
narrt, die Frage nach Geist und Seele.
Ich hoffe, ein jeder, der die beiden Wörter braucht und darauf
seine Theorien aufbaut, weiJ3, was er damit sagen will, aber be-
gründen kann ich diese Hoffnung nur mit der menschenfreundlichen
Gesinnung, an die mich mein Jahrhundert gewöhnt hat. Wirk-
lich sehe ich nur eine heillose Verwirrung der Begriffe, die mit
Wörtern verbunden sein sollten, und diese Verwirrung wird
24
durch das Einschalten griechischer und lateinischer Wörter nur
schlimmer.
Mit den Ausdrücken „Seele" und „Geist" ist wenig anzufangen,
Seele ist im Neuhochdeutschen weiblich, Geist männlich; aber das
hat keinen Wert. Geist, meint Kluge, hat vielleicht etwas mit alt-
uord. geisa = wüten zu tun (got. us-gaigjan = außer sich bringen).
Damit würde seine Bedeutung dem Stamm men-man, gr. mainomai,
mania nahegerücfct; eine Sanskritwurzel hid (aus ghizd) = zürnen
erwähnt er auch und beruft sich dabei auf das englische aghast
= aufgeregt, zornig; das neigt sich dem Sinne nach dem griechischen
thjTUGS ZU. (Man könnte sehr wohl annehmen, daß das primitive
Meinen den Rauch für den Atem des zornigen Feuers gehalten hat.)
Kluge weist bei dieser Gelegenheit daraufhin, daß „Geist" im Goti-
schen ahma hieß, was von der Wurzel ah- herkommt und sich in,
unserm „achten" lebendig erhalten hat. Das ist wichtig, weil die
Wurzeln ah- und oq- zusammenhängen und sich an die Wurzel oq-
der Komplex Auge — Sehen anschheßt. Geist tritt damit in Be-
ziehungen zu dem Begriff „Seher".
Mit dem Worte Seele ist, außer daß es bestimmt von Beginn
an feminin empfunden wurde, nicht allzuviel zu machen: es kann,
wie ich aus den Lexika herauslese, mit dem griechischen aiolos
(aiöXog) = beweghch zusammenhängen. Das paßt mir gut, denn
Aiolos {ÄioXog) ist der König der Winde, und Wind, Hauch scheint
das Letzte zu sein, was sich über Seele und Geist sagen läßt; aller-
dings haben aiolos und Aiolos verschiedene Akzente.
Die Erwähnung des Windes bringt mich auf ergiebigeren Acker-
boden; Wind ist im Griechischen anemos (avefiog)^ und das führt
sofort auf das lateinische animus und anima, Geist und Seele, um
deren Unterscheidung ganze Literaturen, nicht nur etymologische,
entstanden sind. Da sind nun Männlein und Weiblein beieinander,
die Stammwurzel lautet „an"-hauchen, atmen.
Man sieht. Atmen — Wind — Hauch und Geist — Seele zeigen
immer deutlicher ihre Zusammengehörigkeit, man möchte meinen,
sie sind dasselbe. Und mit dem animus — Geist ist wieder der Zorn
verbunden: animadverto ist tadeln, bestrafen, „ahnden", welch
letzteres wieder von der Wurzel an- herstammt, also etwa un-
25
senu volkstümlichen Ausdruck „anhauclien^* angeglicliea wer-
den mag.
Das Lateinisclie hat noch ein andres Wort für Geist, bei dem
der Zusammenhang mit dem Atmen viel leichter festzustellen ist:
Spiritus; wir wissen alle, was dieses Wort in der Form Spiritus
sanctus für die Entwicklung Europas bedeutet hat und noch be-
deutet und für weitere lange Zeiten bedeuten wird. Denn selbst
wenn wir uns nach und nach von der Bibel und Kirche abwenden
sollten, was bisher doch höchstens eine Vermutung ist, dieses Funda-
ment europäischen Lebens wird weiter bestehen und wirken, niag
auch das Gebäude zertrümmert werden.
Für meine Betrachtungen ist das Wort Spiritus besonders wert-
voll. Zunächst hat das Unbewußte der Sprache und unseres Lebens
es durch die Materialisation zum Alkohol mit dem Begriff des
Rausches (Brausen des Windes) und des Zorns verquickt. Augen-
blicklich wichtiger ist mir ein etymologischer Zusammenhang:
Spiritus hat die Wurzel speis ^ blasen, hauchen, und von dieser
selben Wurzel stammt das griechische speos {ojieog) =: Höhle, das
im Lateinischen specus heißt; specus aber hängt zusammen mit
specio = spähen mit seinen vielen Ableitungen, die im modernen
Sprachgebrauch noch mehr unser Leben durchdrungen haben
(z. B. Spiegel).
Man darf sich wohl bei solchen Wurzelverwandtschaften gestatten,
nach Sinnverwandtschaften zu suchen; mit welcher Höhle mag der
Spiritus etwas zu tun haben? — Das zugehörige Verb ist Spiro,
das sich in seiner Bedeutung atmen bis zum heutigen Tage im
täghchen Leben der Sprachen oder wenigstens in der Sprache der
Medizin erhalten hat. Damit sind die Ltingen (pulmones), weiter-
hin die Brusthöhle mit dem spiritus verbunden, genau so wie die
Wörter animus und anim^a. Im Griechischen entspricht dem spiritus
sanctus das pneuma hagion {7ivEV/za äytov) {Hauch, Wind). Atmen
(hauchen, wehen) heißt dort pneo(7iv£a>), und die Lunge ist pneumou
(Ttvevf^oov). Auch pneuma hat in seiner Meinung etwas vom Zorn
und Rausch, in der bibbechen Erzählung von der Ausgießung des
Heiligen Geistes tritt die Flamme als Wahrzeichen des Geistes auf,
auch das Reden in fremden Zungen mag hier als Wirken des Geistes
26
II
erwähnt werden. — Im Mittelhochdeutschen wird das pneuma
hagion beilege atem genannt, im Althochdeutschen wiho ätum.
Aus alledem geht hervor, daß zum mindesten den Völkern, die
für die europäische Lebensauffassung verantwortHch sind, Atem
Symbol des Geistes ist, d. h. für ihr tiefes Menschliches ist beides
dasselbe. Dazu kommt noch, daß die fremde hebräische Meinung
ebenfalls Atem, Hauch als Symbol des Geistes braucht, also mit dem
ganzen Gewicht der biblischen Denk- und Sprechweise das dunkle
Wesen dieser symbolischen Auffassung noch verstärkt. Das Wort
für den Geist Gottes, der über den Wassern schwebt, lautet, wie
ich mir sagen ließ: ruach.
Soweit lassen sich die Dinge leicht verfolgen, aber es bleibt eine
Schwierigkeit : alle die erwähnten Sprachen haben noch einen zweiten
Ausdruck mit der Bedeutung Atem und Hauch, mit dem sie eben-
falls menschlich Lebendiges im Gegensatz zum menschlich Leb-
losen bezeichnen: die Hebräer das Wort nefesch (der Odem Gottes,
den er dem ersten Menschen einbläst, wird so benannt), die Griechen
psyche (v*'^*?)» <iie Lateiner anima; von dem deutschen Seele ist
der Zusammenhang mit Atmen nicht nachgewiesen, es muß also
dahingestellt bleiben, ob wir auch diese seltsame Zweiheit haben,
ob Seele eine richtige Übersetzung von anima und psyche ist.
Ich werde mich auf die nutzlosen Untersuchungen über Unter-
schiede zwischen Seele und Geist, anima und animus, ruach und
nefesch, psyche und pneuma nicht einlassen, höchstens könnte ich
auf das Märchen von der Ehe zwischen Eros und Psyche hinweisen,
aber das eine halte ich für bewiesen, daß für den Menschen Atmen
und Geist-Seele symbolisch dasselbe ist.
Alle Untersuchungen über Geistig-SeeHsches sind in einem wesent-
lichen Teil unvollständig, solange sie die Tatsache nicht berück-
sichtigen, daß bestimmten Schichten des Unbewußten Geist-Seele
dasselbe ist wie Atmen. Das Verständnis für gesundes und krankes
Verhalten des Atmens und der Atemwerkzeuge wird mangelhaft blei-
ben, bis wir begreifen, daß Atmen dasselbe ist — für die Wächter über
Gesund- und Kranksein, die das Es aufstellt — wie Geist-Seele.
Es ist nicht schwer zu erraten. — ob freilich die Lösung der Frage
richtig ist, wissen die Götter — , warum das primitive Meinen des
27
MenschlicKen Atmen und Geist-Seele zu gegenseitigen Symbolen.
gemacht hat; für dieses Meinen beginnt das Leben beim ersten
Atemzuge und dauert, bis die Seele ausgebaucht ist. Man denke
nur au die mittelalterlichen Bilder, die das Sterben darstellen, wie
da die Seele, mitunter noch mit einem Zettel verseben, ausgeatmet
wird, und selbst Goethes Mephistopheles hält es noch für gut, am
Munde des toten Faust zu lauern, bis dessen Seele erscheint.
Wie die Seele — oder der Geist oder beides — in den Menschen
hineinkommt, wußte die Kunst freilich nicht, aber die Wiesenschaft
weiß es auch nicht. Der Primitive meint, die Gottheit blase die
Seele ein, wir Wissenden erzählen etwas vom Ei und Spermatozoon
und Tropismen, von Chromatosomen und Genen und beschreiben
auf den Universitäten und anderswo einen höchst verwickelten
Vorgang, der Befruchtimg genannt wird, aber dahinter steckt zu-
letzt doch die Gottheit, die macht, was sie will. Wir reden gelehrter
über diese Vorgänge, aber es bleibt dabei, daß zur Entstehung des
Menschen eine Höhle gehört, in die etwas hineingebracht wird, was
die Eigenschaft der Ewigkeit hat, zum wenigsten keinen Anfang
bat, es sei denn Gott, und aus der es verändert und doch auch un-
verändert wieder herauskommt. Und es bleibt dabei, daß Ge-
bärmutter und Brusthöhle symboKsch gleich sind, daß Atmen
und Begatten eng zueinander gehören: im Ein und Aus und im
Lebendigwerden in der Höhlung. Ja, plötzlich merken wir, daß,
was von Gebärmutter und Brusthöhle gilt, auch für den Bauch
oder den Schädel oder das Auge oder das Ohr symbolische Wahr-
heit ist, ja daß die Höhlung nicht einmal nötig ist, sondern daß
überall im Menschen Kind entsteht, weil überall Weiblich und
Männlich ist, weil alles Menschliche die heilige Dreiheit von Mann,
Weib und Kind enthält, mag dieses Menschliche nun vom Tages-
leben geistig-seelisch oder körperlich genannt werden, mag es eine
organische Funktion, etwa die der Verdauung oder des Kreislaufs
sein, oder mag es sich um Denken, Dichten, Lieben, Kuponschnei-
den, Autofahren oder Mitteilen hoher Weisheit handeln.
Daß der Wind in die Symbolik Geist — Atem mit hineingezogen
ist, bedarf keiner Erklärung: das Blasen des mütterlichen Atems,
auch des eigenen, gehört zu den ersten Eindrücken des Neugeborenen.
28
Ob das Kind im Mutterleibe LebensgefüM bat, weiß ich nicht,
sicher wäre es aber weseatlich anders als nach dem ersten Atem-
zuge; von dem Moment der Geburt an verbindet sich die Erfahrung
I^ben mit der Erfahrung Atmen, mit dem Meinen : Atmen sei Wind,
blasender, wehender Wind. Der erste Atemzug gibt neues Leben,
das bleibende Leben, so ist also der Mensch Geschöpf des blasen-
den, wehenden Windes. Das ist der nefesch der Eloim; der Fruh-
lingswind aber, der den Winter verscheucht und Blatt und Blüte,
beides sprachlich Abkömmlinge des Blasens, erzeugt, ist der Geist
Gottes über den Wassern „ruach". Diese Symbole sind in unserm
Unbewußten verwurzelt — in Florenz hängt Botticellis Bild der
Prima Vera mit der vom Wind geschwängerten Göttin und des-
selben Malers Aphrodite Anadyomene, die von den Winden zum
Lande ihres Wirkens getrieben wird — , wir können nichts andres
tun, als das Wirken dieses Windsymbols anerkennen ujid es in
unserm Urteil über gesundes und krankes Menschenleben ver-
wenden; das aber können wir.
Der Wind wohnt nach alter Auffassung in der Höhle ; wie könnte
68 auch bei seiner Symbolik anders sein? Zeugen und Gebären ist
dasselbe — das hat sich in den Sprachen bis zum heutigen Tage
lebendig erhalten — ,Zeugen und Gebären sind Tun des Chaos, der
Urhöhle; Worte wie Urmund, Blastula, Gastmla beherrschen noch
die junge Wissenschaft der Embryologie.
Ich habe nichts darüber gefunden, ob das griechische blastano
{ßXixarav(o)i blaste (ßXaatt]) = keimen, keimen lassen mit Blasen
des Windes etwas zu tun bat, ich nehme es aber an; sicher ist
nach Angabe der Sachverständigen, daß Blatt und Blüte mit Blasen
zusammenhängen, und ebenso scheint man darüber einig zu sein,
daß das lateinische flare = wehen, blasen mit seinen Ableitungen
flatus = Wind, Blähung und folium = Blatt damit verwandt sind,
vaelleicht auch flere = weinen, ebenso flos = Blüte, Blume, und
florere = blühen; auch follis := Ledersack, Blasebalg gehört dahin;
folium soll dasselbe sein wie das griechische phyllon [q:ivXXov) von
der Wurzel hei = schwellen, strotzen.
Bis hierhin geht der Etymologe einen Weg, der ausgezeichnet
zu meinen Meinungen paßt, und man könnte sich damit begnügen:
29
die Lebensgebiete, die so in den Bereicb vom Atmen gezogen sind,
haben beträcbtliclie Ausdehnung. Aber vielleicht kann man noch
einen Schritt weiter gehen, selbst auf die Gefahr hin, dem Chaos
zu verfallen, und wenn mich nicht alles täuscht, drängt das Un-
bewußte der Etymologie vorwärts; nur Scheu vor dem Hände des
Abgrunds, eine Art Schwindelgefühl, hält die Kombinationen auf.
Während ich mich in den verschiedenen Lexika über die Wurzel
des Worts „blasen" umtat und dabei den lateinischen, nah ver-
wandten Ausdruck flare fand, fiel mir ein, wie hübsch es wäre,
wenn man eine Verbindung zu flagrare und Flamme finden könnte.
Denn Wind und Flamme, Atem und Feuer schienen mir zusammen-
zugehören. Zunächst mißlang das, dafür stellte sich aber heraus,
daß fluere = fließen dieselbe Wurzel hat wie flare, nämhch bhle
(bei, belg) ^= strotzen, schwellen. Das gefiel mir, zimial sich auch
ein griechisches Wort phlyo, phleo {^lv(o, (pX^cü) = wallen, über-
fließen, strotzen dazugesellte, was wiederum zu flumen ^^ Fluß
führt. Dann fiel mir auf, daß in dem Wort folium, dessen Ver-
wandtschaft mit flos = Blume und dem deutschen Blatt und Blase
anerkannt zu sein scheint, die Stellung des I gewechselt hat, was
aber nicht hindert, daß es zu der Wurzel bhle gehört. Das führte
mich schon dicht an flagro, gr. phlego, phlox {(pXEyoi, (fXo^) = bren-
nen, Licht heran, nur das g störte noch, Aber dieses g kannte
ich schon aus Nachforschungen über das Auge und die Hoden;
dabei hatte sich herausgestellt, daß bhel und bhelg dasselbe sind
und schwellen bedeuten (noch heutigentags in dem englischen
bellows = Lungen, ballocks = Hoden und in dem deutschen Dia-
lektwort beigen enthalten). Damit ist für mich die sprachliche
Verbindung Blasen (Wind, Atem) und flagrare — flamma (brennen,
Feuer, glänzen) hergestellt. Wahrscheinlich würde ich lediglich auf
andre Assoziationsreihen hin diese Annahme in meinen Mitteilungen
ausgesprochen haben, aber es ist angenehm, sich schon vorher gegen
kommende Angriffe hinter der dicken Mauer lexikaler Autorität
zu decken.
Die Versuchung, noch einen Schritt weiter zu gehen, ist zu groß,
um ihr zu widerstehen; ebenso wie die Brusthöhle Tummelplatz
der symbolischen Liebeespiele, des Zeugens und Schwelleua und
30
Schwangerseins und Gebarens, des Werdens und Sterbens von Wind
— Atem — Geist ist, kann man das auch vom Bauch sagen, nur
tritt an Stelle der Gleichung Wind — Atem — Geist die andre,
Nahrung — Eesen — Kot und Samen — Begatten — Kind. Vielleicht
besteht aber auch eine etymologische Verwandtschaft: Wind heißt
im Lateinischen ventus (beide haben die gleiche Wurzel we-),
Bauch heißt venter; für ein harmloses Ohr klingt ventus und venter
ähnlich, zumal für das deutsche Ohr, das den Ausdruck Wind für
die Bauchgase kennt. Ja, wir sprechen auch von Blähungen, vom
Aufgeblasensein des Bauchs, genau eo, wie der Lateiner und der
gebildete Mediziner vom flatus spricht : blähen ist aber das Stamm-
wort von blasen (flatus, flare), blähen ist anschwellen lassen —
der Wind bläht die Segel. Und was könnte den Urmenschen wohl
mehr im Tiefsten bewegt haben als die Schwangerschaft, die den
Bauch des Weibes durch das Kind (Balg) aufbläht? Der Etymo-
logie freihch mag solches Laiengeschwätz unerträglich sein, sie leitet
venter von derselben Wurzel ab wie vesica (skrt. vastis); aber wein
fallt dabei nicht ein, daß vesica bei uns Blase, Harnblase heißt,
daß wir das Wert Blase aber ebensowenig auf die Harnblase be-
schränken wie der Lateiner vesica? Ja, meist ist das Wort Blase
für eine mit Luft (Wind) gefüllte, abgeschlossene Höhlung in Ge-
brauch, für eine Axt Blähung, eine Luftblase. Der Engländer würde
noch heutigentags den Bauch belly = Blasebalg nennen, wenn ihm
sein Anstandsgefühl erlaubte, ein so unanständiges Wort zu ge-
brauchen. Für das deutsche Wort Bauch scheint man bisher noch,
keine weit zurückgehende Wurzel gefunden zu haben ; daß ein Bauch
aber gewisse Ähnlichkeiten mit einem Balg — auch im Klang der
Wörter — hat, läßt sich behaupten, (Das deutsche Wort Bulge
= Wasserbehälter aus Leder ist verwandt mit Balg, Wurzel bhelg
oder bei = schwellen, und der Engländer nennt den Bauch eines
Fasses bilge, bulge, der Franzose bouge und der Mittellateiner bulga.)
— Eine andre deutsche Bezeichnung für Bauch ist Wanst, das
etymologisch mit skrt. vasti ^ Harnblase und vanisthu = Ein-
geweide und mit lateinisch venter zusammenhängen soll. Auch das
Wort Wamme, aus dem das enghsche Wort womb = Gebärmutter
hergeleitet wird, bedeutet zunächst Bauch; ob es mit Wanst zu-
31
sammenliängen kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Begriff
der Höhle, in der der Mensch gezeugt wird, verbindet es mit allem,
was bisher besprochen wurde.
Mein Suchen nach dem, was Geist und Seele sei, hat wenig Er-
folg gehabt, und so wird es wohl allen gehen, die etwas darüber
wissen wollen, statt sich mit dem Meinen zu begnügen. Trotzdem
muß ich dem Gefühl Ausdruck geben, daß mein eigenes Meinen
von Menschengeist und Menschenseele bei diesem Durchstöbern von
Wortverwandtschaften bereichert worden ist, wie ich es anfangs
nicht erwartet habe. Es haben sieb in mir Vorstellungen über
Symbole des Werdens und Vergehens, des Lebens und Sterbens,
des Zeugens, der Schwangerschaft und des Gebarens, des doppelten
Geschlechts und der Kind-Mannbarkeit befestigt, deren Tragweite
für Leben und Handeln, besonders für ärztliches Handeln im weiteren
Verlauf dieser Mitteilungen sich zeigen soll.
Die Sprache faßt Geist und Seele als Erscheinungen ein und des-
selben Geschehens, des Atmens, auf, aber sie denkt bei dieser Gleich-
setzung nur an das Atmen mit den Lungen, beide, Geist und Seele,
bestehen nur von der Geburt bis zum Tode, die Sprache kennt
weder Seele noch Geist bei der Frucht im Mutterleibe, bei der Leiche
im Grabe; und doch weiß sie, daß Leben schon in der Frucht ist
und daß im Tode schon neues Leben haust, fremdartig wie der
Wind: man weiß nicht, von wannen er kommt und wohin er geht.
Das ist das eine: Geist — Seele sind nicht zweierlei, sondern nur
zwei Richtungen einer Bewegung; wenn sie in zivilisierten Kulturen
noch etwas andres bedeuten als leeren Schall, so können es nur
Reste von dem symbolischen Leben der primitiven Kultur sein,
der sie das Hinein und Hinaus des Atmens, des Zeugens und Ge-
barens waren, das Entstehen des Menschen durch die Empfängnis
und sein erstes Sterben bei der Geburt, sein Lebenseintritt mit dem
ersten Atemzug und sein Scheiden vom Leben im Tode. Das volle
Leben in diesen Symbolen des Zwiegeschlechts muß freilich schon
früh unverständlich geworden sein, sonst ließe sich die auffälHge
Unterscheidung der Wörter in Maskuhn und Feminin nicht er-
klären; nur in dem Neutrum pneuma hat sich das Doppelgeschlecht-
liche erhalten. Und obwohl die Wörter Geist und Seele unsrer
32
Sprache unentbehrlich geworden sind, wird man doch gut tun, keine
Gegensätze in sie hineinzulegen, ja eich von Zeit zu Zeit klar-
zumachen, daß beiden Wörtern kein Sinn mehr innewohnt. Wir
besitzen ein neutrales Wort, das lautet Leben. In ihm vereinigt
sich Geist — Seele — Körper.
Den besten Beweis, daß dem so ist, gibt die darstellende Kunst;
sie vermag, wenn anders sie Kunst genannt werden darf, weder
Geist noch Seele noch Körper darzustellen, sondern nur Leben;
selbst den Leichnam muß der Künstler lebendig malen. Und auch
das Leben erscheint in der Kirnst nie anders als im Symbol des
Menschlichen, des meinenden Mann- Weib -Kindes.
In der Galleria Borghese in Rom hängt ein Bild des Sassoferrato,
„Die drei Lebensalter« genannt (Taf. 3). Die Anziehungskraft, die es
auf den Beschauer ausübt, ist bedingt von dem Symbol des Kindlich-
Mannharen und Männlich -Weiblichen und dem andern, dem Ewig-
keitssymbol des Stirb und Werde. Im einzelnen ist das Gemälde reich
an größtenteils woM unbewußter Symbolik. — Das Lebensalter
der Kindheit zeigt drei Knaben; zwei davon (Testikel) schlafen,
während der dritte in die Höhe strebt, er allein trägt die Flügel
des Phallus. Er hält sich an einem Baumstamm, neben dem noch
der in Kerbenform abgehauene Stumpf eines zweiten steht. Noch
schlummert die Zeugungskiaft der Testikel, aber die Fähigkeit zur
Erektion ist wie bei allen Knaben vorhanden, und die Erregung,
die zur Erektion führt, wählt sich wie immer als ausreichenden
und entschuldigenden Grund das Verhalten des Mannes, dessen
ragende Kraft (der Baum) dem kindlichen Triebe Ansporn ist.
Dahinter freihch droht in dem Stumpf die Angst vor dem Verlust
des Phallus, die Kastrationsangst, wie es die Psychoanalyse komi-
scherweise genannt hat, obwohl es sich um eine Angst vor voll-
ständiger Verstümmelung, mutilatio, handelt, nicht bloß um Fort-
nehmen der Hoden. Die Einkerbung des Stumpfendes erzählt von
dem seltsamen Ideengang, den aUe Kinder einmal verfolgen, daß
die Kerbe des Mädchens durch Mutilation entstände. — Auf der
andern Seite des Gemäldes sieht man ein Liebespaar. Das Mäd-
chen, mit der Blume im Haar geschmückt (sie ist mannbar),
ist wie Eva der anreizende Partner: in der Linken hält sie die
3 Gioddeok, Det Mensch als Symbol 33
Flöte, die von dem Manne her aufragt, ein zweites Rohr führt sie
zum Munde, gemäß der bekannten Gleichstellung der Muudöffnung
mit der Geschlechtsöffnung. Sie ist ganz bekleidet, während der
Mann fast nackt ist; trotzdem ist sie als beginnender Teil gedacht,
das Weib, nicht der Manu, leitet das Flötenspiel der Liebe, nur
daß sie den Anschein zu erwecken versteht, als sei der nackte Adam
der Verführer; so ist es von jeher gewesen, so wird es auch bleiben,
und mit Recht. Im Sündenfall, der gewiß kein Sündenfall war,
sondern nur zum Besten menschlichen Lebens gedichtet wurde,
weil ohne Schuldgefühl auch aller Stolz und alles Menschenempfinden
tot bleiben würde, ist das Weib unschuldig schuldig: der Phallus
lockt sie, die Schlange des Manns. Daß aber die Gabe der Ver-
wandlung des Gliedes in den Phallus nicht dem Weibe gut, beweist
das Bild der Kindheit mit dem hochkletternden Eros, die Erregung
kommt auch ohne Weib zustande. — Die Sage vom Sündenfall ist
charakteristisch für das Verhalten der Geschlechter dem Schuld-
gefühl gegenüber: so plump, wie Adam die Schuld auf das Weib
abwälzt, kann nur ein Mann handeln, so ganz frei von wirkendem
Schuldgefühl und so einsichtig in den natürhchen Lauf der Dinge,
wie es Eva ist, kann nur das Weib sein. Beide Arten der Ent-
schiddigung lernt und verwendet das Kind, nur ist es doppelt so
plump wie der Mann und doppelt so gewissenlos wie das Weib ; wer
ein einziges Mal sich die Mühe gegeben hat, den Verlauf eines ge-
schlechtlichen Traumas bei Kindern zu verfolgen, unvoreingenom-
men und vorsichtig, wird zweierlei feststellen können: zunächst,
daß derartige Traumen bei jedem Kinde tagtäglich vorkommen,
und dann, daß das Kind den Schrecken der Erwachsenen vor diesem
täglich xmbewußt verübten Traiuna genau kennt und zu bestimmten,
ihm im Augenblick wichtigen Zwecken benutzt; wenn man das
wüßte und beachtete, würde die vielberedete Geschlechtsneuroae
der Neuzeit bald andern Krankheitsformen weichen; sie beruht
nicht auf dem Traimia des Geschlechtslebens, sondern auf der be-
wußten Lüge des Kindes, das sich schuldlos stellt, während es
genau weiß, daß es selber das Trauma veranlaßt hat. Wüßte das
Kind, welche verheerende Anklage es erhebt, so würde es schweigen,
wie es so oft schweigt. Aber es kennt die Folgen seiner Lüge nicht,
34
sieht diese Folgen erst später in all ilirer Furchtbarkeit: an diesen
Folgen, die es völlig bewußt seiner leichtfertigen Lüge — oder soll
man es Verstellung nennen — zuschreibt, erkrankt es, nicht an
dem Trauma. Kinder sind wissend von Natur, sie lernen aber erst
durch Erfahrung, daß sich Heuchelei bei den wahrhaftigen Naturen
immer rächt.
Zurück zu dem Bilde! Unterhalb des Liebespaares sind in drei
Gruppen Blumen gemalt: am weitesten rechts sind es drei, zwei
dicht aneinandergedrängt, die dritte deutUch isoliert. Die Nähe
des Liehespaars legt die Deutung der Dreizahl als Symbole des
männlichen Zeichens nahe. Glied und Hoden sind im Kindheits-
zustande dargestellt. In der mittleren Gruppe steht die dritte
Blume, die Kepräsentantin des GHedes, entfernt von den beiden
andern, der Manneszustand ist eingetreten, es sind die Testikel und
der Phallus. Gerade unter der Stelle, wo das Mädchen die eine
Flöte auf den Leib des Mannes setzt, ist wiederum eine Gruppe
in deutlicher Phallusform dargestellt, aber jeder Teil der Dreizahl
ist von zwei Blumen gebildet, offenbar in starker Betonung der
Zeugungskraft. Eine vierte Gruppe zählt nur zwei Blumen ; sie stehen
genau in der Verlängerungslinie des linken Männerfußes. Ihr Sinn
wird klar, wenn man die Linie weiter verfolgt: man stößt dann
auf das ausgestreckte Bein des Greises, des Repräsentanten des
absterbenden Lebensalters, und auf diesen Greis müssen sie be-
zogen werden. Das Doppelsymbol der Zeugungskraft — der Maler
braucht, wie eben beschrieben wurde, die Zweizahl als Gleichnis
der Testikel — ist durch Entfernung und Bodengestaltung so weit
von dem Greise getrennt, daß er es nicht einmal mehr wahrnehmen
kann. Der Greis ist der Zeugungskraft berauht, kümmert sich auch
nicht mehr darum; ja er kümmert sich auch nicht mehr um Mann
und Weib, nur seinen Erinnerungen, den toten Gestalten seiner
Phantasie, gehört seine Teilnahme. Er ist der Kindheit im Bilde
ganz nahe gerückt, wie das Kind besitzt er noch die Erregungs-
fahigkeit — die Haltung des gestreckten Beins beweist das — , aber
diese Erregungsfähigkeit ist ohne lebendige Zukunft. Zwei Knochen
liegen neben ihm, der eine lang, der andre zerbrochen, genau ent-
sprechend den Bäumen der Kindheit, und umgeben ist er von
3* 35
TotenscHädelu, deren leere Äugenhöhlea stark licrvorgcliobeii sind,
um, von der Taubheit der Greisenhoden zu erzählen. — Hinter dem
Greis ist, behütet und eingeschlossen von zwei jugendlichen Ge-
stalten, deren eine sitzt, während die andre steht, die wimmelnde
Herde des Menschenvolfcs dargestellt, und zum fernsten Hinter-
grund strömt der Fluß der Fruchtbarkeit dem mütterlichen Meere zu.
Man geht wohl nicht fehl mit der Annahme, daß die Absicht
des Bildes ist. Urmenschliches so einfach wie mÖgHch zu malen.
Leben ist dargestellt in der Form des Triebes. Aber niemand würde
bei diesem Bilde versuchen, Geist und Seele zu trennen; die an-
gebliche Kraft dieser Wörter versagt hier. Ja selbst die Landschaft
gibt Meinen des Menschen wieder, nicht Denken und auch nicht
Fühlen; sogar die Totenknochen werden lebendig in der Phantasie
des Alten, so daß auch das Körperliche in die Einheit des Mensch-
lichen verschmolzen ist. — Die besondere Eigentümlichkeit des
Bildes ist, daß in ihm Männliches wird, ist und vergeht, während
das Weibliche, in einer einzigen Figur gezeigt, weder entsteht noch
vergeht, sondern unverändert immer ist.
36
Wenn ich auch zugebe, daß Schlüsse ans etymologischen Ver-
wandtschaften der Wörter auf Sinneszusammenhange der Begriffe
keinen großen Wert in dem Urteil des Sachverständigen hahen» so
meine ich doch, vielleicht weil ich Dilettant hin: Das Sprach-
mibewußte hat einst Geist-Seele und Atmen als dasselbe, als sym-
bolisch gleich empfunden; das würde heißen, daß für das sprach-
schaffende Meinen, zum mindesten in diesem speziellen Falle,
wesentliche Unterschiede zwischen körperlichem und seelisch-
geistigem Handeln nicht bestanden. Meine Meinung, daß solche
Unterschiede für das menschliche Unbewußte auch jetzt nicht be-
stehen und nie bestehen werden, kann erst nach und nach begründet
werden. Aber ich halte es für zweckmäßig, ab und zu daran za
erinnern, daß für mich Geist-Seele und Körper Erscheinimgsformen,
Diener des Es sind, das sich je nach Gutdünken einmal mehr kör-
perlich, ein andermal mehr seelisch-geistig offenbart, immer aber
lebendig ist, d. h. beide Funktionen gleichzeitig verwendet. Eine
Untersuchung, was die Sprache unter Körper versteht, wird meine
bisherigen Mitteilungen verdeutlichen.
Das Wort Körper verändert, so scheint es, langsam seinen Sinn,
die Neigung, Totes damit zu bezeichnen, wächst, ja im Englischen
ist man schon soweit, daß man den toten Menschen corpse benennt;
aber auch im Deutschen laßt sich die Bedeutungsänderung fest-
stellen. — Vielleicht ist sie bei uns am deutlichsten in der Mathe-
matik, die ja merkwürdigerweise so entscheidend bei der Mechani-
sierung des Lebens und bei dem Verdrängen des Meinens zugunsten
des Denkens mitgeholfen hat; gerade diese Wissenschaft denkt
nicht in den Grundschichten, sondern meint, und heute ist sie in
37
ihren höheren Schichten klare und reine Phantasie geworden. Sie
kehrt in die Sphäre des Symbols zurück, in der sie früher unum-
schränkte Gebieterin war. Vermuthch sind die Zeiten nicht mehr
fern, wo man auch ira täghchen Leben einsehen wird, daß Mathe-
matik nicht Sache des Gehirns ist, sondern Werkzeug und Wirken
des Alls und des Es ; die Embryologie beweist, daß längst ehe ein Ge-
hirn entsteht, das befruchtete Ei spielend die schwierigsten mathe-
matischen Aufgaben löst, die Mineralogie zeigt es in der Lehre von
den Kristallen, daß Mathematik außerhalb dessen ist, was wir ge-
wöhnlich Leben nennen, ja, man braucht nur einmal zu sehen, wie
sicher ein Hund die Schnelligkeit der Automobile berechnet, um
zu begreifen, wie niedrig man die Mathematik einschätzt, wenn
man sie als logisches Denken auffaßt.
Nach dieser Abschweifung, die mit dem Gewicht ihres Inhalts
entschiddigt werden mag, komme ich auf das etwas rätselhafte
Wort Körper zurück. Daß es aus dem Lateinischen übernommen
worden ist, steht fest; ebenso sicher haben schon vor dieser Über-
nahme im deutschen Sprachschatz Wortbildungen existiert, die von
der gleichen Wurzel stammen. Diese Wurzel lautet qrep-, querp-
und ist aus quer (bilden, gestalten) entstanden. Im Sanskrit gehört
dazu karoti und karman = Werk, auch kalpate = er paßt (gr.
prapis, noamg = Zwerchfell — Sitz des Verstandes) und krp
= Gestalt. Althochdeutsch lautet das Wort href = Leib, wozu
angs. hrif gehört, und das ist bezeichnenderweise der Mutterleib:
ein treffenderes Gleichnis für gestalten, ordnen kann wohl kaum
gefunden werden. Aus dieser den Sprachen gemeinsamen Be-
deutung des Ordnens und Gestaltens — Wörter wie corporation,
Corpsgeist haben den Sinn von Ordnung beibehalten — schließe ich,
daß dem Wort Körper kein Gegensatz zu Geist-Seele ursprüngUch
innewohnt, sondern daß man diesen Gegensatz nach und nach
aufgerichtet hat, um Leben und Tod voneinander zu trennen und
sagen zu können: das Fleisch stirbt, aber der Geist dauert. Mir
scheint der Gedanke unwissenschaftlich zu sein, widerlegt von
menschlichem Meinen und Wissen, aber es wird schwer sein, unserm
Kulturleben den Sinn des Heraklitschen panta rhei {jiavra qei)
als wirkende Wahrheit wiederzugeben.
38
Der Gedanke, daß der Körper vergänglich sei im Gegensatz zu
der Unsterbliclikeit von Geist-Seele, kann nicht sehr alt sein; wenig-
stens spricht dagegen die deutsche Bezeichnung für Körper „Leib".
In früheren Zeiten bedeutete Leib Daxier, Beharren (zusammen-
hängend mit bleiben — bileiban, gr, liparein [XiTzageiv'j^). Man
nimmt an, daß der Begriff des Klebens damit zu tun hatte. Das
Wort „Leben" (engl, Ufe und live, dazu gehört auch leave = be-
stehen lassen) hat dieselbe Wurzel lib- (leip, Hp, lei, li). Das
sonderbare Leib-Seelenproblem, von dem jetzt soviel die Rede ist,
bestand, scheint es, für andre Kulturen nicht, für sie gab es nur
die Einheit: Körper, Leib; aber es scheint eine zu starke Zumutung
für die Zeitgenossen zu sein, diese menschlich naheliegende An-
schauung wieder aufzunehmen. Das ist um so seltsamer, als gewiß
dem christhchen Dogma die Auferstehung des Fleisches selbstver-
ständlich ist. Offenbar hat man aus der unwiderstehlichen Sucht,
Denkstoff zu bekommen, eine Trennung vorgenommen, die allem,
was wir wissen und meinen, widerspricht.
Im Holländischen hat sich statt des Wortes Leib noch die alte,
auch im Deutschen früher gebräuchliche Bezeichnung licham er-
halten, während im Neuhochdeutschen es nichts Lebloseres gibt als
einen Leichnam. Bei der Denkernation ist nur in dem Worte
Leichdorn — Hühnerauge noch die Spur des alten tröstenden Glau-
bens an Dauer und Leben geblieben. „Gleich", das in der deutschen
Sprache mit der Endung „lieh" so reichlich vertreten ist, hängt mit
Leiche eng zusammen (ahd. gihk), es bedeutet „einen übereinstim-
menden Leib haben".
Aus besonderen Gründen, die erst volle Bedeutung bei der Be-
sprechung des Begriffs und Wortes „Weib" bekommen werden,
hebe ich die Ableitung der zweiten Silbe in „Leichnam" hervor:
sie ist nach Kluge ein uns verlorengegangenes Nomen hama-,
haman- mit der Bedeutung Hülle (in dem Wort Hemd lebt es noch
in der Sprache). Das Umhüllen klingt leise an, die wichtigste
Iiebens- und Leibesfrage der Geschlechter und der menschlichen
Zwiegeschlechtigkeit : das weiblich zu deutende UmhüUen der zwei-
ten Silbe verführt zu der Meinung, daß in der ersten Männliches
enthalten sei.
39
Beim Verfolgen dieser Wunschmeiniing gerate ich an das eng-
lische body = Körper, Leib, über dessen Etymologie noch Un-
gewißheit zu bestehen scheint; unter anderna nimmt man eine Ver-
wandtschaft mit unserm Bottich und Bütte an, wodurch body
ebenfalls zu einer Art Hülle (Schlauch, Faß, lat. budina, gr. pytina,
TivTiva) würde. In einem gälischen Lexikon findet sich eine Ver-
mutung, daß body von dem gälischen bod komme, das das männ-
liche Glied bedeutet. Einige Autoritäten, berichtet das Lexikon,
vermuten eine Verwandtschaft des gälischen bod mit Buddha, sie
erzählen bei dieser Gelegenheit folgende Geschichte, die von einem
der Hindu-Paranas herkommt: Während der Flut schlief Bramah
und die Zeugungskräfte der Natur waren auf ihre Urelemente
zurückgebracht, auf „the Bod und the Pita". The Pita nahm die
Gestalt eines Schiffkiels (huff) an und the Bod wurde der Mast.
Auf diese Weise wurden sie über den Ozean getrieben (wafted)
unter dem Schutz von Vishnu. Die Erzählung ist für mich wichtig,
weil das Wort Pita in deutlicher Beziehung zu dem Harn- und
Geschlechtsapparat des Weibes erhalten ist : engl, pit = Grube,
pitcher = a womans commodity, nhd. Pfütze, lat. puteus =Wasser-
behälter, Zisterne, it. pozzo; über die Frage, ob lat. puteo = stin-
ken, puter = faul mit puteus und Urin zusammenhängt, schwei-
gen die mir zugängUchen Werke, wie so oft, wenn irgendwelche
Gefahren für das drohen, was anständig heißt; ich nehme an,
daß die Verwandtschaft besteht. Wenn so Pita sich erhalten hat,
ist es immerhin denkbar, daß der männliche Teil Bod in dem
englischen body sein Leben fristet. Wieder kUngt in Bod und
Pita das Zwiegeechlechtige an: Bod ragend und stark, Pita um-
hüllend.
Bessere Auskunft gewährt das griechische soma (aco^a), das in
unsrer Wissenschaft in dem Eigenschaftswort somatisch (Gegen-
satz zu psychisch) eine fragwürdige Rolle spielt. Homer soll das
Wort nur in der Bedeutung Leiche oder besser Aas gebraucht
haben; erst später sei es mit dem Sinn Leib, Körper in die Alltage-
sprache aufgenommen worden. Dem steht entgegen, daß soma ans
tvomn — Schwellung (Wurzel teka tvo teva = stark sein, schwellen)
abgeleitet und urverwandt mit dem Wort saos {000!;) =■ heil, ge-
40
sund ist; saos wiedermn bildet das Wort soter (öcoTi^g) = Retter,
Heiland; soma ist also ebenso wie soter das Schwellende, obne Zwei-
fel das Männliche. Damit ist der Sinn von soma nur noch mit dem
Tode durch die oft erwähnte Tatsache verbunden, daß das Männ-
liche stark und geschwollen ist in der Erregung, daß es aber am
Weiblichen stirbt. Man kann sich schwer des Spottes enthalten,
wenn man sieht, wie mühsam es für erosvergiftende Kulturen ist.
Ausdrücke, Worte zu finden, um die Physis, die Natiu: seelenlos
zu machen, um. die edle Seele vom Natürlichen, Sinnlichen zu
trennen. Es ist nie gelungen und wird nie gelingen.
Und nun bei dem Wort Physis? Ist etwa physisch und psychisch
dasselbe? — Jedenfalls sind es keine Gegensätze. Physisch ist das
Adjektiv des Verbums phyo (gwco) ^^ erzeugen. Wie konnte es je
einem Menschen in den Sinn kommen, Seele und Geist für das Ge-
schehen des Zeugens zu leugnen, es sei denn, daß er ein Denker
war? Physis ist die Zeugung selbst, entspricht ungefähr dem la-
teinischen Wort natura (nasci == geboren werden), dessen tief-
sinnige Bedeutung als Zeugendes so uuverwüsthch für das Zer-
denken war, daß selbst jetzt noch der deutsche Bauer und Arbeiter
den Samenerguß die Natur nennt. — Nicht genug damit, daß man
die edle Wissenschaft der Physik eifrig aus der verwandtschaftlichen
Nähe der Psyche, der Seele oder wie man dies Ding nun nennen
will, zu bringen suchte — der Versuch ist, verständhch genug,
endlich aufgegeben worden, im Gegenteil sehen wir die Physiker
bemüht, wieder zu beseelen, was man vor kurzem leblos hieß —
nicht genug damit, man hat sogar eine Metaphysik erfunden, die
noch etwas Höheres sein soll als die Natur selber. Ein geistreicher
Spötter, Allan Upward, behauptet, der Ausdruck Metaphysik sei
durch den Irrtum eines Buchbinders zu seinen hohen Ehren ge-
kommen: Aristoteles habe, als er seine Schrift über die Physika
veröffentlichte, nachträgHch ein Bündel Manuskripte gefunden und
es an den Buchbinder mit der Anweisung geschickt, es anschließend
an die Physika — meta physika (fxera (pvoixa) — zu bringen,
der Buchbinder habe aber das meta physika für einen neuen Titel
gehalten, für etwas ganz Besonderes, was außerhalb aller Physis
läge, und 8o sei aus einem handwerklichen Mißverständnis eine
41
4^
Wissenschaft entstanden, mit der sich die Denker bis in alle Ewig-
keit beschäftigen können.
Es läßt sich nicht äadern: Physis ist nie und nimmer ein
Gegensatz zu Psyche — Pneuma, Seele — Geist, anima — auimus, das
Wort umfaßt wie das Wort Natur die Welt des meinenden Men-
schen, alles, auch Eros und Psyche, auch Metaphysik und alle Art
menschlichen Dünkels. Für das, was außerhalb des Menschlichen
sein mag, gibt es nichts andres als das Wort Gott — Goethe hat
es nicht ohne den Schein des Rechtes zu Gottnatur erweitert —
und von Gott soll man sich kein Bildnis machen noch irgendein
Gleichnis, noch soll man sich darüber eine Meinung bilden.
Läßt sich denn gar nichts an dem Wort Physis ändern? Die
Etymologie hat es versucht, und was sie darüber sagt, ist, daran
zweifle ich nicht, wissenschaftlich gerechtfertigt, jede Einzelheit
trägt den Stempel der Wahrheit, nur leider das Resultat ist klein,
ja kleinlich. Die Wurzel von phyo — physis lautet bheu, bhu:
davon abgeleitet sind außer den vielen griechischen Wörtern, die
alle irgendwie etwas von der Zeugung sagen, lat. fui, futums (Ver-
gangenheit und Zukunft), altind. (altbaktr.) bhu, bhumis ~ Erde,
bhutis = Dasein usw., nhd. bin und — bauen und beim Bauen
bleibt es. Ich nehme nicht an, daß gerade die Etymologie auf den
seltsamen Einfall gekommen sein sollte, daß dem Menschen das
Bauen eher sich zum Worte gefügt habe als das Zeugen; aber die
Lexika hinterlassen den Eindruck, als ob man den Unhefangenen
dazu überreden wolle, daß — vermutlich zum Besten des famosen
Fortpflanzungstriebes — der Mensch der Geschlechtsliebe gepflegt
habe, weil er durchaus bauen wollte. Die Sache wird doch wohl
umgekehrt gewesen sein. Die symbolische Gleichung Ackerbau —
Hausbau und Geschlechtsliebe besteht sicher, aber man kann sich
ebensogut, vielleicht besser den Ackerbau und Hausbau als Folge
des Eros vorstellen als umgekehrt. So wie es in den üblichen etymo-
logischen Wörterbüchern gehandhabt wird, verbaut sich die Wissen-
schaft vom Wort den Weg in das Freie.
Dem Laien fällt, wenn er ein lateinisches Lexikon durchblättert,
ein Wort auf, das dicht bei futurus = zukünftig steht, das lautet
futuor ^ begatten. Man bringt es — warum weiß ich nicht —
42
mit dem Wort confuto ^= schlagen 2usanmien. Nun ist ja das
sanfte, mitunter aucli das grausame Schlagen ein Erregungsmittel,
das in dem Liebesleben überall gebraucht wird und von jeher ge-
braucht wurde; man gesteht sich das nicht gern ein, seitdem ein
überweiser Nervenarzt diese ganz natürlicbe und gesunde Neigung,
im Liebesspiel Schläge auf den Hintern zu geben, für krankhaft
und widernatürlich erklärt bat; daß alle Mütter bei ihren Säug-
lingen die Zeremonie des Waschens mit einem Klitschen auf das
„süße Popochen" beenden, daß sie das schreiende Kind, wenn sie
es durcb Wiegen auf dem Arm zu beruhigen suchen, bintendrauf
klopfen, daß das mäniJiche Glied vor noch nicht langer Zeit all-
gemein die Rute genannt wurde, daß alle Kinder erotisch betonte
Schlagspiele betreiben, daß das Klosett vor kurzem ein gemein-
samer Zufluchtsort für mehr oder weniger tiefsinnige Unterhaltungen
war und noch in vielen Gegenden ist — man kann in Gegenden
boher Kultur, wenn auch geringer Zivilisation drei, vier, ja zehn
dicht nebeneinander stebende Abtrittsbrillen zahlen, und in diesen
Famibenklausen gibt es keine falsche Scham, jeder tut offen, was
er kann — , das alles bedeutet nichts gegenüber den beiden inhalts-
und gedankenlosen Wörtern Sadismus und Masochismus. Man
sieht, ich unterschätze die engen Beziehungen der Lust zu dem
Schlagen nicht, trotzdem kann ich dem Wunsch der Etymologen,
das Begatten ganz aus dem Schlagen abzuleiten, nicht Gehör geben,
muß vielmehr darauf bestehen, daß der Begattungsakt auch ohne
Hauen bestehen kann, daß also das Wort confuto ^= schlagen von
futuor -^^ begatten abgeleitet sein muß und nicht umgekehrt. Wie
sich bei näherem Zusehen herausstellt, meint es die Etymologie
auch nicht so ernsthaft, sie versteckt ihre Meinung nxir, weil sie
Angst bat, im Namen des merkwürdigen Krafft-Ebing für peivers
erklärt zu werden. Ihre wirkliche Meinung lernt man erst kennen,
auch nur nach Überwindung vieler kunstvoll aufgebauter Hinder-
nisse, wenn man im lateinischen Lexikon statt des Buchstabens „f"
den Buchstaben „p" aufschlägt, genauer die Bucbstabenfolge «pu".
Auch da gibt es noch allerlei Hilfsmittel, um das „pudendum"
des Eros zu vermeiden, aber es hilft alles nichts, dieses pudendum
(„Mensch schäme dich") kann bei seiner allgemein anerkannten
43
Stammverwandtschaft mit puer ~ Knabe, puella = Mädchen,
putes ~ Geschleclitsteile die enge Beziehung zu puteo = stinken,
puteus = Brunnen (Pfütze) nicht ableugnen, und bei dem harm-
losen Wort puppis = Schiffshinterteil gesteht selbst der Etymologe
ein: dieses Wort lebt heutigen Tages noch weiter in den Wörtern
„Fut", „Fotze", „pupen" usw. UraprüngUch scheint sich die Wurzel
puh — ich nehme etwas willkürlich an, daß futuor, phyo, physis
usw. dieser Wurzel ebenso entstammen wie puteo, pubes, pudendum
und sogar puto = ich glaube — auf den weiblichen Geschlechtsteil
bezogen zu haben, ist dann aber auch auf den Hintern übertragen
worden, vielleicht auf dem Wege des puteo = stinken. Man sollte
wissen und nicht vergessen, daß stinken erst spät die Bedeutung
von Schlechtriechen angenommen hat, daß es früher dasselbe wie
duften war und ebenso den Blumenduft wie den Gestank des Furzes
bezeichnete. Und es ist keine Frage, daß gerade das weibliche Ge-
schlechtsorgan beide Eigentümlichkeiten hat und gebraucht, durch
den Geruch anzuziehen und abzustoßen. Die Zwiespältigkeit alles
WeibUchen, die uns Männern rätselhaft vorkommt, ist eben Natur
des WeibHchen, Wir soUten es nicht zu verstehen suchen, sondern
es anerkennen.
Die verschiedenen Formen, in denen das Wort fut und seine
Ableitungen in allen modernen Sprachen Europas vorkommen,
stets in der Doppelbedeutung des Hintern und des weiblichen
Genitales, also vielleicht des Begriffs Öffnung, Loch, gestatten es
nicht, sich mit den kümmerlichen Mitteilungen der Lexika zu be-
gnügen: die Phantasie muß suchen gehn. Denkbar wäre, wenig-
stens für den Laien, eine Verbindung mit „feucht'*, das ahd. fuht,
asächs. faht hieß. Denkbar sind aber auch Beziehungen zu lat.
fetus — Leibesfrucht und fetor = Gestank; gerade der Geruch
beim Wochenbett könnte zu der Verbindung von Gestank (Duft)
und weibhchem Genital geführt haben. Es läßt sich nachweisen
daß die Natur den Geruch des Wochenbetts benutzt, um die Ge
schlechtsbindung des Kindes an die Mutter zu lösen. Das Schwedi
sehe bringt in den Wörtern fätta, fitta das weibliche Geschlechts
organ in die Nähe von födelse = Geburt; auch föda (füttern) ge
hört dahin, denn wirklich besteht ja nur während der Schwanger
44
Schaft ein Zwang, daß das Kind von der Mutter gefüttert werden
muß, und das wird den sprachschaffenden Kräften ebenso bekannt
gewesen sein wie uns.
Auffallend sind einige Beziehungen zu Ficke (schwed. ficka)
= Tasche, das im ndd. Dialekt fixdk, föbkc, auch wohl fuppe heißt
und sicher zu dem Ausdruck ficken = begatten gehört. Von dort
aus ist es nur ein Schritt bis zu dem Wort Feige (ficus), das eine so
seltsame Rolle in der vulgären und synxbolischen Erotik spielt.
Auch „Fuß" könnte in Beziehung zu der aus menschlichen Ur-
phänomenen geborenen Wurzel pu- stehen.
Nimmt man an, wie ich es oben tat, daß „feucht" mit der Wurzel
pu- zusammenhängt, ßo ergeben sich daraus einige verlockende
Phantasien für das etymologisch etwas rätselhafte Wort der La-
teiner für Weib „muher". Die Sanfteren unter den Sachverstän-
digen bringen das Wort in Verbindung mit „mollis = weich, zart" ;
es gibt aber auch realistische Naturen unter den Sprachgelehrten,
und die behaupten, mulier komme von einem Adjektiv „mudos"
= „naß" (gr. mydos, fivöog = Nässe, Fäulnis, mydaleos, fivöaXsog
^feucht, mydaino, /iv^atvo = bewässern; engl, smud und mud;
nhd. Schmutz und Moder; air. mutram, mir. mun = Harn). Man
sollte denken, daß das Phänomen der Feuchtigkeit des Weiblichen
ebenso auffallend zur Zeit der Sprachbildung gewesen sein muß
wie das Weiche, jedenfalls aber hat die Erscheinung des Feucht-
werdens erregende Wirkung auf den Menschen. Es ist merkwürdig,
daß Walde den Zusammenhang von eiz. myllos (fivXXog) = pu-
dendiun muliebre, gr. myllo (jUvAAco) = beschlafen, myllas (fivXXag)
= Hure mit mudos als zufälligen Gleichklang ablehnt; er führt
diese Wörter auf molere = mahlen zurück, das auch das Verbum
von mollis ist und die Wurzel melax hat. Hier kommen mir allerlei
komische Einfalle. Wenn mollis tatsächlich etwas mit Mahlen zu
tun hat, so muß es das Zermahlene sein, mollis wäre das, was beim
Mahlen weich wird, und das ist nicht oder wenigstens nicht zwin-
gend Weibliches, wohl aber das harte Männliche, das zwischen
dem Weiblichen zerrieben wird; mulier wäre dann das Schwächende,
der Mühlstein gewissermaßen (gr. amalthyno, afiakß'VVüi = schwä-
chen). Verwandt — so führt Walde weiter aus — sei vielleicht
45
auch idg. smeld = schmelzen, und zu dieser Wurzel gehöre ahd.
malz = hinschmelzeud, kraftlos, gr. blenna (ßhvva) = Schleim,
blennos {ßXEVVO<;) = verdummt, mir. bUnd = eines toten Mannes
Speichel, ai. Mandafa = Schleim, vimradati = erweicht, gr. bla-
daros (ßXadaQog) = schlaff und dgl.
Der Laie in diesen Dingen kann kaum dem Gedanken ausweichen,
daß das Wort muÜer, mag es nun mit mollis oder mit mudos zu-
sammenhängen, seinen Ursprung in dem Liebesspiel des Männlich-
Weiblichen hat.
Vielleicht fördert es die Untersuchung, wenn ich mich mit den
sprachlichen Ausdrücken für das Weibliche beschäftige. Im La-
teinischen heißt femina das Weib: es wird abgeleitet von dem
Verbum felare = säugen, saugen (stammverwandt gr. thao [&aü>]
= saugen, thele, themene [dijXij, drjfxevrj] = an der gesogen wird).
Das Zwiegeschlecht ist betont, denn der Saugakt ist im Symbol die
Vereinigung des weiblichen Mundes mit der männlichen Brust-
warze (gr. mazos [/J-a^og], mask. Wurzel mad — strotzen — triefen,
medea [fi7]dm] = Scham, aidoia [aiöoiä] = Schamteile); die überall
verbreitete Liebessitte des Saugens am GHede wird wissenechaftlich
felare genannt.
Das Wort femina stammt aus der nährenden Tätigkeit des Weibes
dem Kind gegenüber. Im Griechischen ist das Wort gyne (yvvr})
=Weib gebräuchlich, es gehört zu dem Stamme gen — nachträg-
lich ist es bei den Mitteilungen über gony {yovv) = Knie einzu-
fügen — theleia (^rjhia) = Weibchen, das zu dem oben erwähnten
femina gehört, wird angeblich nur von Tieren gebraucht; Männ-
Uch -Weiblich und Kindüch -Mannbar sind in beiden Wörtern ent-
halten.
Da^s deutsche „Frau" ist femininum zu ahd. fro = Herr, das
idg. prw = der erste geheißen hat, es ist also die führende Stellung
und nebenbei das Zwiegeschlechtige hervorgehoben. — Bei dem
Worte Weib hat mich die Etymologie im Stich gelassen. Kluge
hält den bequemen Zusammenhang mit dem griechischen oiphein
(OKpetv), lat. futuo = begatten, für zweifelhaft, er schlägt eine Be-
ziehung zu skr. vip = begeistert sein vor; damit würde es dem
Sinne nach in die Nähe des griechischen mantis — mainomai
46
=^ Seher, rasen rücken. Der Engländer Wcekley bringt es zu-
sammen mit anord. vifadhr = die VerscMeierte, Verhüllte. Wenn
diese Ableitung richtig ist, stützt sie einige Mitteilungen, die ich
sogleich machen werde. Vorher möchte ich noch erwähnen, daß
das enghsche quean und queeu, sowie schw. kvinna ^ Frau zu dem
bekannten Stamm gen gehören.
Ich habe schon mehrfach darauf aufmerksam gemacht, daß der
Begriff des UmbüUens, der Höhle mit dem Begriff weiblich ver-
bunden ist; vor allem symbolisiert eich darin das Ewig -Weibliche,
das uns hinanzieht. Die Betrachtung einiger Bilder möge zeigen,
wie das gemeint ist.
Ich zeigte einmal einer einfältig klugen Frau die Maria mit der
Stemenkrone, wie sie Dürer in Kupfer gestochen hat (Taf. 4). Sie
sah das Bild lange an, dann sagte sie : „Es gibt keine Weiber, es gibt
nur das Weib." Jeder, der den Stich aufmerksam betrachtet, errät,
warum diese Frau solch eine tiefe Weisheit, die allen Frauen be-
kannt ist, die sie aber nie anerkennen, beim Anblick der Maria mit
der Sternenkrone aussprach: die Strahlen, von denen die Mutter
Gottes umgeben ist, sind die Öffnung einer andern Mutter, aus der
Maria mitsamt dem Kinde geboren wird. Das Weib beginnt nie
imd hört nie auf. Das Weib wird als Mutter geboren, das ist der
Sinn der Maria im Strahlenkränze. Mutterschaft ist immanente
Eigenschaft des Weiblichen; das Weib wird nicht Mutter, sie ist
immer Mutter, körperliche Vorgänge der Schwangerschaft und Ge-
burt haben nichts damit zu tun. Daß man nur die Frauen Mütter
nennt, die ein Kind geboren haben, ist ein Irrtum des irrenden
Menschen. In Wirklichkeit ist Mutter das umhüllend WeibHche,
mit dem Moment der Geburt hört die Frau auf, Mutter gerade
dieses einen Kindes zu sein: sie wird seine Ernährerin, Führerin,
Freundin, Geliebte, wird Weib diesem Kinde gegenüber, das sie
geboren hat.
Das Weib ist nie selber Kind, ist nie selber Greisin, nie Person —
Person heißt Maske, und nur der Mann ist eitel genug, etwas durch
die Maske vorzutäuschen, was er nur selten ist. Mann — ; sie ist
immer „das Weib", mag sie auch Form und Einzelerscheinung
wechseln; sich selbst, ihrem Weibhchen ist sie immer treu, mag
47
sie auch noch so oft lügen. Bei der Dürerschen Maria ist das Ewige
und Einzige des Weibes doppelt betont: wie ihre Gestalt aus dem
Weibesschoß fertig hervortritt, so ist ihr Haupt mit der Sternen-
krone — Symbol der Vereinigung von Mann und Weib von
einem zweiten mütterlichen Strahlenkranze umgeben. — Auf dem
Arm trägt Maria den Knaben, das Männlich-Kindliche, Symbol des
Zwiegeschlechts. Und wie so häufig steht Maria auf der Mond-
sichel, diesem doppeldeutigen Sinnbild der Schwangerschaft und
der männlich schwellenden Kraft, sie fußt auf dem kurzen Augen-
blick des Mannseins während der Vereinigung und auf der Emp-
fängnis, die sie dem Sieg über den Mann verdankt: am Saum
ihres Gewandes hat Dürer den Besiegten dargestellt, im Stich kaum
sichtbar. Dürer besaß wie Goethe den BHck für das Symbol und
war wie Goethe voll von schalkhaften Einfällen. — Das Doppel-
geschlecht des Mondes beweist der Sprachgebrauch: dem Deutschen
ist er männhch, den Romanen ein Weib; man könnte fast annehmen,
daß uns die Einsicht in das Ewige des Weibes, der Sonne, vertrauter
ist als andern Völkern, die gern glauben, der Mann sei Mann, wäh-
rend er in Wirklichkeit Knabe ist und nur durch das Weib Mann
wird.
In andrer Form hat Leonardo das Problem des Ewig-WeibUchen
gelöst, in der heiligen Anna selbdritt, die im Louvre hängt. Maria
sitzt auf dem Schoß ihrer Mutter Anna und hält das Christuskind
beim Spiel mit dem Lamm. Die zwei Frauenkörper sind aufs engste
miteinander verbunden und nur lose mit der Gruppe des Kindes
und Lamms vereint; besonders merkwürdig ist der Kunstgriff, das
Ewig-Weibbche dadurch unabhängig von dem Mannbarkeits alter,
der Geschlechtsreife zu machen, daß die Augenbrauen fortgelassen
sind. Das Auge ist ein wichtiges Muttersymbol und Zeugungs-
symbol, wobei die Augenbrauen als Zeichen der Geschlechtsreife
gelten. AUerdings war, wie es scheint, das Ausziehen der Augen-
brauen in der letzten Renaissancezeit Mode, aber es sind Gemälde
von Leonardo da, in denen er die Brauen mitgemalt hat. Im übrigen
würde die Bedeutung der Tatsache sich nur von dem Bewußten
oder Unbewußten des Leonardo auf das Unbewußte des Zeitalters
verschieben, denn sicher sind solche Moden Äußerungen des vor-
48
1t
herrschenden unbewußten Meinens. Damit soll nicht gesagt sein,
daß die Idee des Ewig -Weiblichen das einzige ist, was sich in dem
Ausreißen der Augenhaare ausdrückt.
Die Art, in der Dürer verfahren ist, wurde gerade bei Madonnen-
bildern viel verwendet, Mutter und Kind sind häufig von Licht-
oder Strahlenkreisen umgeben. Unter Umständen treten an Stelle
des Lichts andre Symbole der Mutterschaft, des Weiblichen, in
dessen Machtbezirk Maria hineingemalt ist. Holbein hat seine
Madonna in eine Nische gestellt, deren Abschluß die Muschel der
Venus ist. In Michelangelos Menschenschöpfung ist es der flatternde
Mantel des anstürmenden Gottes. In der Sixtinischen Madonna
schreitet Maria aus einem Vorhang heraus, der sich vor ihr teilt
und den Blick auf ein zahlloses Heer von Kindern frei läßt. Am
meisten» nicht bloß bei Madonnenbildem, wird bei der Darstellung
des Weiblichen die Höhle oder das Gewölbe verwendet; auf die
sprachlichen Beziehungen von Höhle, wölben zum Weiblichen
komme ich gleich zu sprechen. Hier möchte ich nur noch kurz ein
andres Bild Leonardos erwähnen, die Madonna vor den Felsen.
Das Gemälde ist ausgefüllt von Symbolik wie alle berühmten Werke
der Kunst. Maria schiebt mit sanftem Druck Johannes den Täufer,
der ein typisches Symbol des kindHch-männlichen Schicksals ist
{Wassertaufe — Urin und Enthauptung — einen Kopf kürzer
machen durch den Tanz des Weibes, die beiden Funktionen des
Geschlechtsteils klingen an), zu dem Christuskinde hin. Bezeichnend
ist dahei, daß Johannes die beiden Hände zur Vereinigung faltet,
während das Christkind die Schwurfinger — testes — ter sto er-
hebt; der Engel streckt den Zeigefinger straff aus. Der Blumen-
achmuck, Akeleien, Schwertlilien und eine einsame Lilie, betonen,
wie alle Blumen, so diese besonders das Zwiegeschlecht. Und nun
hinter der Madonna wölben sich Felsen zu zwei Bogen, durch die
hindurch der Bhck zum Strome gleitet in weite Femen, die andre
Felsmassen abschließen. Der Fluß ist im Symbol lebendiges Leben,
Vergangenheit, Gegenwart und Zukimft des Menschlichen, Schwan-
gerschaft. In die beiden weibHchen Bogen ragen zwei Felsenpfeiler
— Phalli — hinein: die Landschaft ist wie alles andre in dem Bilde
ein Hymnus auf das tief menschliche Wort des Menschensohns : Ehe
4 Croddeck, Der Mensch als Symbol 49
denn Abraham war, bin ich, ein Preisen der Dauer dee Lebens
durch das empfangende und gebärende Weib.
Warum gerade Höhle und Gewölbe als Symbole des Weiblichen
benutzt werden, braucht kaum erörtert zu werden: die Beziehung
der Höhle zum Mutterschoß, zu der Bauchhöhle, im besonderen zu
der Gebärmutter sind ohne weiteres verständbch, und ebenso gibt
die Schwangerschaft Auskunft über das Gleichnis der Wölbung.
Höhle als Wort öffnet aber so reiche Ausblicke auf wichtige Lebens-
und Symbolgebiete, daß sich eine kurze Erwägung lohnt. Die
Wurzel von Höhle ist nach Kluge „hei", er^veitert aus „kel" mit
der Bedeutung umhüllen, verbergen; die Wurzel führt weiter zu
„cve, cvo, ceve, cave, cu". Im Deutschen finden wir ebenso wie im
Lateinischen und Griechischen eine Menge Ableitungen, von denen
ich zunächst Hülle erwähne; daran schließt sich stammverwandt
das Wort Hütte, und sofort begreift man von da aus wieder, daß
die Ursprünge des Hausbaus, der Tempel- und Kirchengebäude im
Wesen des Weibes zu suchen sind ; wenn auch eine Sprachverwandt-
schaft von Haus und Höhle nicht angegeben wird, bleibt doch die
Tatsache, daß ein jeder zunächst im Schöße seiner Mutter wohnt.
Die Betrachtung der Tierbauten, die ja auch unter dem Zwange
des Männhch-Weibhchen und Kindlich-Mannbaren stehen und oft
den Vergleich mit den Schöpfungen unsrer Architektur aushalten,
lehrt entweder, daß der Hausbau nichts mit dem Denken zu tun
hat, oder daß den Tieren auch die Gabe des Denkens zuzusprechen
ißt, — Das deutsche Wort Kirche zeigt auch sprachUch noch seine
Herleitung vom Weiblichen, es stammt aus dem griechischen kyrikoe
(tevQixog) = „das dem Herrn — fcyrios (pivgiog) Gehörende", und
kyrioB ist Ableitung von kyeo {tcveo}) = schwanger sein. Die Auf-
fassung der Kirche als Braut Christi, als reine Magd ist sprachlich
ebenso gerechtfertigt wie der sinnige Ausdruck „Schoß der Kirche";
in den allegorischen (iemälden der Magd Kirche kommt das Um-
hüllende in Gestalt des weiten schützenden Mantels zum Vor-
schein. Ich möchte hier gleich anschließen, daß auch die kirchUchen
Begriffe Himmel und Hölle dem Vorsteliungskreis vom Weiblichen
angehören, der eine durch die unbewußte Erinnerung an das Para-
diesesleben im Mutterleib und die unbewußte Sehnsucht nach
50
diesem Mutterleibe, die andre mit dem Weiblichen verknüpft durch
den merkwürdigen Haß aller Menschen gegen ihre Mütter, eine
Erscheinung, auf die ich oft zurückkommen werde. — Deutlich
sprechen sich diese Beziehungen der Kirche in der Architektur aller
Stile aus — das gilt natürlich ebenso von den Hausbauten, ja auch
von den Brücken und Straßen — ; dabei muß allerdings erwähnt
werden, daß dieses Weibliche nirgends rein, absolut auftritt, son-
dern immer dem Menschlichen, das heißt der Tatsache des Mensch-
lichen als dreieinigen Wesens, Mann — Weib — Kind, untergeordnet
ist. Daß der Acker- und Gartenbau, überhaupt alles, was mit dem
uralten Wort „bauen" zusammenhängt, mit in den menschlicb-
weibUchen Kreis gehören, versteht sich von selbst.
In diesem Augenblick, wo ich so auegedehnte Lebensgebiete —
ich hoffe, nicht ohne eine gewisse Billigung des Lesers — für die
Meinung beanspruche, daß Körper und Geist-Seele dasselbe sind,
Äußerungsformen des Es, daß es also ein Leib-Seelen-Problem
nicht gibt, greife ich auf meinen Beruf als Arzt zurück und äußere
meine Verwunderung, daß man immer noch in der Theorie vom
Ärzten an einem erdachten Grundunterschied zwischen physischer
und psychischer Behandlung festhält. Für die Praxis ist oder
sollte wenigstens kein größerer Unterschied zwischen Physisch und
Psychisch sein als zwischen Rheinwein und Moselwein.
Aus der Wurzel hei (Höhle, Hülle), kel, cve stammt im Lateini-
schen cavus, dessen Ableitungen teils die Schlüsse aus dem Deut-
sehen bestätigen — iuciens, das zu cavus gehört, beißt schwanger — ,
teils weiterführen. Bemerkenswert ist da das Wort cauhs = Kohl,
das ursprünglich einen bohlen Pflanzenstengel bedeutet; hier ist die
enge Verwandtschaft und Untrenniarkeit des Symbols Männlich
und Weiblich besonders deutlich, da der hohle Stengel ziun Männ-
lichen führt, während caubs ^ Kohl und das abgeleitete Wort
cumiüus = Hügel ebenso stark das Weibliche betonen.
Im Griechischen liegen die Verhältnisse ähnlich. Als Ausgangs-
wort nehme ich das vorhin genannte kyeo = schwanger sein (dem
lat. inciens entsprechend). Kyar {>cvag) heißt das Loch, kotbon
(>cü)'&Qjv), kyathos (Kva-&OQ) xmd kylix (xvh^) = der Becher, was
wegen der Verbindung Trinkgefäß, einschenken, trinken mit dem
*• 51
Zeugungsakt -wiclitig ist. Kyma {>cv/J.a) ist die Welle: die Ver-
bindung ist in der Symbolik des Meers als Mutter der Aphrodite,
der „Schaumgeborenen*', zu suchen. Ich komme auf diese Sache
zurück. Kyma ist Macht (potentia, männliche Potenz).
Von der Wurzel hei, kel stammt auch das griechische kalypto
(xalvTiToy) her (verhüllen). Die zeitlich und räumlich verbreitete
Sitte, das Weih zu verhüllen, hat seine tiefe Berechtigung in der
Natur des Weiblich-Menschlichen, dessen Wesen Geheimnis ist;
die Tatsache, daß die Kennzeichen des weiblichen Liebens, Tragens
und Gebarens beim Menschen verborgen sind, ist das Fundament
des Weihlichen, sie enthält in sich zugleich das verendum (das
Ehrwürdige) und das pudendum (das Schimpfliche). Verendum
hängt mit dem Begriffskreis des Sehens (gr. horao), pudendum mit
dem des Geschlechts (pubes) zusammen.
Zu dem Wort kalypto gehört kalix (xaXi^) = Knospe, das in gerader
Linie zu den Lebenskeimen und zu der Welt des Sehens (Auge der
Pflanze) fuhrt. Ich meine, daß man all diese Sprachzusammen-
hänge nicht sorgsam genug betrachten kann, wenn man dem
Menschlichen wirklich nahe kommen will.
Natürlich liegt in dem Stamm hei, kel, dem Worte kalypto und
der Sitte des Schleiers auch das Beschützen, Bewahren, Bewachen,
was ja für alles Ehrwürdige Forderung ist (bewahren hängt mit
horao zusammen). Auch unser deutsches Hülse, Ähkömmling der
Wurzel hei, gehört in diesen Sinnkreis.
Neben dem Verhüllen steht das Verhehlen, Hehlen, was zu dem
lateinischen celo ^^ verhehlen überleitet; zu diesem Wort stehen
u. a. clam =^ heimlich, color = Farbe und cilium ;:= Wimper in Ver-
wandtschaft. Das englische clam bedeutet die Venusmuschel, als
Verbum ist es klebrig machen, feucht sein; trotzdem die Sprach-
forscher mir keinen Anhalt dazu geben, nehme ich an, daß eben
die feuchte Venusmuscfael mit dem lateinischen clam — celo etwas
zu tun hat: die Muschel ist Attribut der Venus und wird als Wort
in allen Sprachen Europas zur Bezeichnung des weiblichen Ge-
schlechtsorgans gebraucht; auch das deutsche klamm = feucht-
kalt und die Klamm = enger feuchter Felsspalt vermag ich nicht
von dem lateinischen clam zu trennen. Es ist wahrscheinUch, daß
52
'■•:
auch die Antike eine Vulgärsprache und eine Sprechweise der Ge-
ßchlechtsUebe hatte. — Die Sinnbeziehung zwischen celo und color
wird darauf zurückgeführt, daß die Farbe verhüllt, ebensogut läßt
es sich als etwas Verhehlendes auffassen. Das wird deutlich, sobald
man annimmt, daß dem primitiven Lateiner ebenso wie ims das
Phänomen des Sichverförbens, des Errötens und Erblassens auf-
fiel; er wird es auch mit dem Gefühl der Scham zusammengebracht
haben, der Scham, deren Wunsch es ist, sich zu verstecken. Ver-
mutlich wußte aber der Primitive besser als der Moderne, daß das
Erröten der Kinder und Frauen ihre Schwäche verstecken soll:
der Mann wird rot, wenn er in Zorn gerät, wenn er gefährlich wird,
und das ahmt das schwache Es nach, es tut so, als ob es männlich,
gefährlich wäre. Bei Menschen, die an krankhaftem Erröten leiden,
läßt sich dieser Zusammenhang leicht nachweisen. Der Vorgang
beruht auf dem Symbol: das auszeichnend Männliche, sein Ge-
schlechtszeichen, das Zeichen seiner Kraft und Waffenfähigkeit
füllt sieb bei der Erektion, beim Mannwerden mit Blut, und diese
Erektion wird im Moment des Schämens nachgeahmt im Symbol;
ich werde später darauf zurückkommen, daß die aufrechte mensch-
liche Gestalt Symbol der Erektion ist, wobei der Kopf die Rolle
der Eichel übernimmt. — Cilium (Wimper) endlich beweist in dem
Zusammenhang mit celo, daß unbefangene Zeiten erkannt hatten,
daß eine Haupttätigkeit des Auges das Verdrängen, das Sich-selbst-
etwas -verhehlen ist; das griechische blepharon {ßXscpaQOv) = Lid,
blepbaris {ßXE(pagig) = Wimper hängt mit dem Begriff Höhle zu-
sammen. Das Nähere darüber wird unter den Mitteilungen vom
Auge und Sehen gesagt werden.
Zur Illustration der Meinung, daß clam = Muschel mit den
Liebesvorgängen vom Unbewußten zusammengebracht wird, berufe
ich mich wieder auf das Botticellische Gemälde in Florenz, die Ge-
burt der Venus: die Göttin steht auf der Muschel.
Ein wichtiges Attribut der Aphrodite -Venus ist der Delphin
(delphis, öeXcptg = Fisch mit gewölbtem Rücken) : delphys {öf.X(pvg)
ist die Gebärmutter, adelphos = Bruder, adelphe = Schwester.
Das Wort ist abgeleitet von der Wurzel ghelbo = aushöhlen (gr.
glapho, ■yXa(p(o), von dem auch das obenerwähnte blepharon her-
53
kommen soll. In der griechischen Plastik ist der Aphrodite fast
regelmäßig der Delphin heigegeben. Der Fisch ist Symbol des
Knaben und — natürhch — des Männlichen an sich. Ob der ge-
wölbte Rücken für die Wahl des Delphins als Attributs der Venus,
wie Sprachforscher annehmen, maßgebend war oder ob die Antike
über den Charakter des Delphins als Säugetier Bescheid wußte
und ihn als zwiegeschlechtliches Symbol verwendete, weiß ich nicht.
Jedenfalls ist schon hier eine Art Übergang zu dem Begriff Wöl-
bung da.
Die Ableitung des Wortes wölben, Gewölbe führt nach Kluge
zu dem Wort walbjan, weiter geht es nicht; in der deutschen Etymo-
logie merkt man oft, daß das endlose Grimmsche Wörterbuch immer
noch nicht vollendet ist. Man wäre hilflos, namentlich wenn man
nach einer Verbindung zu lat. volva (Gebärmutter) sucht, wenn
nicht Waldes lateinisches Lexikon Dienste leistete. Walde leitet
das Wort volva — vulva von volvo = wälzen ah, gleichzeitig be-
hauptet er, daß mit volvo auch das Wort walwjan = wälzen zu-
sammenhinge. Von wölben spricht er nicht, ich meine aber, walbjan
und walwjan müsse dasselbe sein; dann wäre volva geradezu das
Gewölbe, was für ein Gebilde wie die Gebärmutter gut paßt. Warum
die Wissenschaft den Ausdruck vulva für das weiter außen Lie-
gende des weiblichen Geschlechtsteils braucht und nicht mehr für
die Gebärmutter, weiß ich nicht, vermute aber, daß sich volva
und valva = Tür — einer weiteren Ableitung von volvo — assoziiert
haben; ich erwähne das, weil der Begriff und die Tatsache Tür
eine große Bedeutung für die organischen Erkrankungen, nament-
lich bei dem weiblichen Geschlecht hat. Tür als Symbol des öffnens
und SchKeßene, Klaffens und Sichklemmens, des Dichten und Un-
dichten bedarf keiner Erklärung. Im Griechischen hängt das Wort
elytron (ekvTQOv) = Hülle, Futteral mit dem Stamm vel — volvo
zusammen und ebenso eilyma (EiXvfia) = Wickeltuch, auch Ge-
bärmutter. Wenn damit die Verbindung zur Geburt und Säuglings-
pflege hergestellt ist, so bringt hwitfri = Sarg, das zu Gewölbe ge-
hört, den Begriff Tod und Grab dem Begriff Gebärmutter, Zeu-
gung nahe. Die Idee, das Sterben als eine Geburt aufzufassen, die
Auferstehung (resurrectio) dem Tode folgen zu lassen, spricht sich
54
darin aus (resurrectio könnte auch die Fähigkeit des Mannes sein,
nach dem Sterben der Erektion im Weibe von neuem zeugungs-
kräftig zu werden).
Obwohl ich befürchten muJß, daß die weite Ausdehnung des
Weiblichen schon jetzt ermüdend wirkt, muß ich doch noch zwei
Begriffskreise erwähnen, in denen das Meinen vom Weiblichen in
Gesunden und Kranken wirkt: Erde und Meer. „Der Schoß der
Erde" beweist an sich schon, wie eng die Verbindung ist; die aller-
dings unsichere Ableitung des Wortes Erde von der Wurzel ar
= pflügen, lat. arvum = Ackerland bestätigt das; terra (Erde)
scheint nicht damit verbunden zu sein, und über das griechische
ge {fT}) schweigt die Sprachforschung. Dagegen gibt es in dieser
Sprache ein Wort eraze (souI^e) = zur Erde hin, für das Verwandt-
schaft mit Erde beansprucht wird. Übrigens wird ja wohl von der
ganzen Menschheit die Erde als Mutter alles Lebens aufgefaßt.
Zum Meer führt ein lateinischer Ausdruck für Gebärmutter
„botulus*' ; mit ihm hängt das griechische bythos {ßvdog) ^== Meeres-
tiefe zusammen. Aphrodites Geburt aus dem Schaume des Meers
ist bekannt. Persönlich glaube ich — allerdings ohne wissenschaft-
liche Berechtigung — , daß Meer, lat. mare, franz. mer auf das
engste mit mater wortverwandt ist (Mutter, gr. meter, /*'/T?;p},
imd wenn das nicht richtig ist, so werden Meer und Mutter (franz.
mer und mere) heutigentages jedenfedls vom Unbewußten identi-
fiziert; das beweist fast jede genau durchgeführte Krankenunter-
suchung.
55
4
Wenn die Lateiner die Stärke des Männlichen hervorheben wollten,
sprachen sie von einem „vir", die Griechen hatten dafür das Wort
„aner (avj;^)". Hat das Deutsche nichts, was dem entspräche?
Ich habe mich lange damit heriungequält, was nicht nötig ge-
wesen wäre, wenn ich geübter Fachmann wäre; Spaßes halber, dem
nicht ein gewisser Ernst fehlt, teile ich hier mit, wie ich die Antwort
auf die Frage fand. Ich war im Begriff, aus einer Blechschachtel
eine kleine Zigarre zu nehmen; auf dem Deckel des Kästchens war
das Bildnis Karls des Ersten von England dargestellt: plötzlich
wußte ich, daß der entsprechende Ausdruck bei uns Nordländern
„Kerl" ist. Das Wort (ahd. karal, schwed. karl) bezeichnete und
bezeichnet in vielen Verbindungen noch heute den Mann in voller
Manneskraft, den Geliebten {angs. ceorHan = heiraten); pracht-
voller Kerl oder „das ist mal ein Kerl, Hauptkerl" sind ebenso
gutes Deutsch wie „Saukerl". Besonders deutUch tritt die Ge
schlechtsbedeutung darin hervor, daß der Ausdruck Kerl im tag
heben Leben als Bezeichnung für den leistungsfähigen Geschlechts
teil gebraucht wird, auch „Kerlchen". — Auch das Wort „Held'
scheint seine Entstehung der Kraft des männlichen Geschlechts
gliedes zu verdanken, es hängt mit caleth, calath ^ hart zusammen
Vielleicht ist es bemerkenswert, daß der Name Karl, der dasselbe
ist wie Kerl, so häufig als Königsname gebraucht worden ist, ja
zu Zeiten fast wie ein Königstitel auftrat. — Schon hier möchte ich
auf die Tatsache hinweisen, daß der Name des Menschen für ihn
und sein Leben wirksame Folgen hat; die Karle unter den Königen
treten oft durch besonders glänzende Leistungen hervor, sind echte
Kerle, oder sie fallen, gemäß der erniedrigenden Bedeutung des
56
Worts, durch ihre Unfähigkeit auf. Über die Zusammenhänge des
Königtums mit der Geschlechtskraft zu sprechen, werde ich Ge-
legenheit finden.
Das vorhin erwähnte Wort „Held" weckt die Erinnerung an das
im^ Mittelhochdeutschen, aber auch in der jetzigen Zeit gebrauchte
Wort „Recke". Es ist, soweit ich bei den Sachverständigen fest-
stellen konnte, erst spät zu der Bedeutung starker Krieger ge-
kommen, ursprünglich soll es eine Bezeichnung für den Kinsamen,
Vertriebenen, Umherschweifenden gewesen sein; noch spät tritt es
im Schweizer Idiom als rek = Landstreicher auf, und das englische
wretch = Lump (angels. wrekka = FlüchtUng) beweist, wie stark
dieser Sinn des Worts einmal betont gewesen ist. Auch unser
deutsches „Rächer, Rache" stammt von derselben Wurzel. Damit
ist eine Seite des Männlichen, des Helden, Kerls betont, die grund-
sätzUche Bedeutung als gegensätzlich zu dem Weiblichen hat, die
tiefe Einsamkeit des Mannes und seine merkwürdige Hilflosigkeit,
sein Hilfsbedürfnis einfachen Tagesereignissen gegenüber. Die kind-
liche Natur des Mannes, die sich so deutlich in dem Verhalten
seines Geschlechtsteils außerhalb der Erregungszeiteu zeigt, macht
es begreiflich, daß dasselbe Wort für den Helden und den Elenden
gebraucht wird; der Mann ist eben ein Anderer — elend bedeutet
der Andere, lat.alius, engl, eise, der Vertriebene, anders Geartete — ,
ein Zweifacher, Kerl und Kerlchen, Riese und Zwerg, je nach dem
Zustande seines Gemüts.
Für meine Art der Betrachtung besteht kein Zweifel, daß die
Begriffe Riese — Zwerg dem Phänomen der Erektion und der Er-
schlaffung entnommen sind: in gleicher Weise müssen die Gegen-
sätze von Kind (auch dem ungeborenen) und Erwachsenen gewirkt
haben: dazu kommen noch die Rergeshöhen, verglichen mit ganz
niedrigen Bodenerhebungen (Maulwurfshügel). Könnte man das
Wort Recke mit „recken" zusammenbringen, so hätte man eine
neue Stütze für den Versuchsbau einer Brücke zwischen Symbol
und Sprache, ja Leben. Aber Recke (zu einem hypothetischen
got. wrakja gehörig, got. wrikan ^ verfolgen) hat nichts mit recken
(lat. porrigo, gr. orego [oQsyco], nhd. recht) zutun; allerdings darf
man annehmen, daß der Wiederentdecker des Worts Wieland eher
57
dem Gleichklang und der Sinnes ähnUchkeit der beiden Wörter
Recke und sich, recken gefolgt ist als der vergessenen Verbindung
Recke — Vertriebener. Wieland entnahm das Wort, das aus dem
Sprachschatz verschwunden war, den Heldengedichten des Mittel-
alters, und dort wird Recke vielfach gleichbedeutend mit Riese
gebraucht.
Damit wird eine nähere Retrachtung des Gegensatzes von Riese
und Zwerg ratsam. Ich sagte oben, daß ich dabei den Zusammen-
hang mit den Vorgängen der Erotik für erwiesen halte: Kämpfe
zwischen Zwerg und Riese, wie sie so oft in den Sagen aller Zeiten
besungen werden, enden mit dem Siege des unscheinbaren, uralten
Zwerges, der mit geheimnisvollen unwiderstehlichen Kräften begabt,
den täppischen Riesen trotz dessen übernatürlicher Stärke über-
windet (Riese verwandt mit sanskrit. vrsan ^= männlich, kräftig);
das entspricht der Tatsache, daß jede Erektion in der Erschlaffung
zusammenbricht. Daß der Riese nicht selten von dem siegenden
Zwerg (Knaben) einen Kopf kürzer gemacht wird, beleuchtet eigen-
tümUch die Zusammenhänge der Strafen — hier des Enthauptens
entsprechend dem Verschwinden der Eichel in der Vorhaut bei der
Erschlaffung — mit Geschlechtsvorgängen; ich habe darauf bei
anderer Gelegenheit hingewiesen.
Zu demselben Stamm wie Riese scheint gr. rheon (geov) ^= Vor-
gebirge, Rergspitze zu gehören: die häufige Sinnverbindung von
Riese und Berg findet vielleicht hier eine Art Erklärung. Walde
lehnt allerdings die Verwandtschaft von gr, oros (oQog) = Berg mit
Riese ab, aber die Wendung „Bergriese" ist in den nordischen
Sprachen schon in frühen Zeiten gebräuchlich: Märchen und Sage
verwenden die Gleichung oft. — Die Beziehung von Berg und
Phallus ist in dem lateinischen mons — Berg noch deuthch vor-
handen: mons kommt von der Wurzel men- emporragen, und von
derselben Wurzel stammt mentula = mänidiches Glied. (Man kann
kaum vermeiden, sich der Wörter Mensch und Mann vom; Stamme
man, men- meinen zu erinnern.) Die deutsche Bezeichnung Berg
bestätigt den Zusammenhang, da es von dem Stamme brg- hoch
hergeleitet wird; auch das vielsagende Wort „empor" stammt von
derselben Wurzel. Noch deutlicher wird der sexuelle Charakter der
58
Wörter in dem gegensätzlichen Begriff zu Berg, Tal (lat. vallis
stammverwandt), zu dem gr. tliolos {'&o2.og) = Kuppeldach (sicher
Symhol des Weiblichen) und altslaw. dolu ^^ Loch, Gruhe gehören.
— Felsen und Stein geben neue Verbindungen zwischen „Felsriese,
steinerner Riese, Phallus", zunächst in der Eigenschaft der Härte;
aber auch in den Wörtern ist die Verwandtschaft noch erhalten.
Mit dem deutschen Felsen ist freilich nicht viel anzufangen, da-
gegen gibt das lateinische rupes (von rumpo ^= brechen, zerreißen)
Anhaltspunkte. Von rumpo leitet sich her „rupex = klotziger,
ruppiger Mann, Rüpel". (Ob der Name Ruprecht, besonders in
der Verbindung Knecht Ruprecht irgend etwas damit zu tun hat,
weiß ich nicht, halte aber zum mindesten eine spätere Vermischung
mit rupex für wahrscheinlich.) Im Altindischen bedeutet ein zxmi
Stamme gehörendes ropam Loch, das sich als aisl rauf = Spalte,
Loch wiederfindet, serb. rupa; ir. soll „ropp = stößiges Tier" dazu-
gehören; sicher hängt unser „Raub" (Brautraub), „rauban" mit
rumpere zusammen. Aus alledem darf man wohl schließen, daß
bei dem Wortgebrauch, wohl auch bei seiner Entstehimg, das Ver-
halten der Geschlechter zueinander mitgewirkt hat. Walde bringt
mit rumpo auch das Wort rubus = Brombeere zusammen (raufen,
rupfen). Wenn man sich erinnert, daß gerade die Brombeere ein
bekanntes Sexualsymbol ist (ein deutsches Marschlied vom Jägers-
sohn und dem Mädchen, die zusammen Brombeeren pflücken, endet:
Und als das Mädchen aus denx Wald rauskam, die Brombeeren
wurden groß, und es dauerte kaum dreiviertel Jahr, hatte sie ein
Kind auf dem Schoß), gibt man ihm vielleicht recht, wenn man
nicht vorzieht, an unbewußte Assoziation zu denken, was ebenso
beweisend wäre. Übrigens ist Brombeere die Dornbeere (alth. bramo
= Dom, dazu engl, broom = Ginster und bezeichnenderweise franz.
framboise = Erdbeere, die ebenso doppelgeschlechtliches Symbol
ist: Brustwarze =^ Kitzler und Eichel), Dorn aber, Stachel, stechen,
sticken sind Symbole des Männlichen in seiner Beziehung zum Weib-
lichen. — Stein steht durch die Wurzel sti := festwerden in Ver-
wandtschaft zu gr. stia {arm) = Steinchen, stear (ozeaQ) = Ge-
ronnenes, steibo {üTEißoj) = feststampfen, stile {aTtlrj) =^ Tropfen,
stibatos, steptos {pzißarog, ozejiTog) ■= gedrungen, fest. Die Be-
59
^-- it-^ j,- — '^^
Ziehungen zu der Erscheinung der Erektion, des Fest- und Steif-
werdene des Zwerges „Kerlchen", des hängenden und wackelnden,
wedelnden Penis (von lat. pendo) sind nach meiner Meinung deut-
lich genug, ebenso ist die Assoziation des Tropfens und des Er-
starrens einer Flüssigkeit „stear" (Stearinkerze ist ein brauchbares
Beispiel unbewußter Worterfindung auf Grund der symbolischen
Gleichung; Kerze ist weitverbreitetes Selbstbefriedigungsmittel) in
Anlehnung an die männliche und vor allem weibliche Entladung
verständlich. Grell beleuchtet wird der Sachverhalt durch das eng-
lische stone = Stein als Bezeichnung für Hoden; Aufschluß gibt auch
lat. stipo =: gr. steibo = hartwerden, gerinnen, stiria = Tropfen; zu
letzterem gehören aisl. Starrheit der Augen = stirur, unser deut-
sches „stieren", lit. styxos akis = starre Augen, styrtu = erstarren,
styroti = steif, lümmelhaft dastehen (über Beziehungen zwischen
Augen und Erotik später in der Abhandlung über Augen und Sehen),
lat. stiprus = stark, steif; mhd. stif = steif, aufrecht, nhd. Stift.
Weiter lat. stipes = Pflock, Pfahl, Stange; nd. stip, stippe = Punkt,
Tupfen, stippen. Eine bemerkenswerte Verbindung ist das Wort
„stips =^ Geldbetrag, Spende". Hüer finden wir im Wort — wir
werden dasselbe in andern Wörtern fijiden — die enge symbolische
Verbindung von Geld, Vermögen mit den Vorgängen des Eros und
ebenso die Sinnesverwandtschaft von Gabe, Gift, Opfer mit den
Geschlechtsereignissen. Das Wort „stipulor = fragend auffordern"
paßt dazu, obwohl es nicht für geschlechtliche Aufforderung, wenig-
stens in der Schriftsprache, gebraucht wurde. DeutUch wird diese
Geschlechtsbeziehung in lat. Stipendium = Soldatenlöhnung: es ist
zusammengesetzt aus dem obenerwähnten stips und pendo (penis),
bezeichnet also unter Zuhilfenahme von „stipulus — fest" den Über-
gang vom Hängenden in das Starre, betont die virtus (Tauglichkeit
des Soldaten). — Ob stiria = gefrorener Tropfen, Eiszapfen und
stiva — Pflugsterz mit zu stips und stipo gehört, weiß ich nicht;
dagegen scheint mir das Wort stirps = Stamm des Baums, Nach-
kommenschaft in diesen Kreis zu passen.
Einige Aufklärung über den Begriff „Zwerg" gibt das Wort
Wichtel, Wichtelmännchen: Wicht, von dem es abgeleitet ist, be-
deutet Ding, Wesen, ein Etwas im Gegensatz zum Nichts, wobei
60
das Lebendige und Dämonenhafte betont ist (ndl., aber auch nhd.
kleines Kind, kindlich hängender Geschlechtsteil — böser Wicht
scherzhaft auch für den kleinen Finger — , im Gegensatz zu dem
männHch starken aufrechtstehenden Kerl). Wichtelmännchen —
Wichtel allein wird für beide Geschlechter gebraucht — ist immer
ein zwerghaftes Wesen, meist im Hause (Mutterleib) ansässig, wird
in Holz geschnitzt in dem Ehren (Platz hinter dem Ofen, weib-
liche Genitalien, auch für die Vorhaut gebraucht, was bemerkens-
wert ist), unter dem Namen Tocke aufgestellt (Tocke vielleicht zu
dem männlichen Symbol Stock, skr. tuj — in heftige Bewegung
setzen). Das Wichtelmännchen tritt dadurch in nähere Beziehungen
zu den römischen Penaten. „Penates" sollen mit penitus = in-
wendig, ganz innerlich, penetrare = eindringen, penus = Inneres
des Vestatempels zusammenhängen: da der Vestakult zweifellos
dem Symbol des Weibes galt, kann man Verbindungen zu der
Eigenschaft des Ewig-WeibHchen und Ewig- Jungfräulichen, beide
begabt mit der Fähigkeit der Verwandlung des bösen Wichts
(digitus = Finger) in das kindliche Wichtchen (penates), annehmen;
ein Zusammenhang mit penis Hegt nahe, scheitert aber an dem
langen „e" in penis.
Lehrreich sind die Sagen vom Däumling, die besonders deutlich
die gegenseitigen Symbolbeziehungen der Körperteile und die des
Teils zum Ganzen zeigen. Das Wort Daumen, von dem Däumling
abgeleitet ist, stammt von der idg. Wurzel tu = schwellen und
bedeutet der Starke (lat. tumeo = schwellen). Die in ihm lebende
Geschlechtssymbolik ist allbekannt, ein jeder weiß, daß das Ein-
schieben des Daumens zwischen den zweiten und dritten oder dritten
und vierten Finger der geballten Hand Aufforderung zum Ge-
schlechtsverkehr ist, und ähnlich Symbolisches gilt von dem
Daumenhalten, dem Einschlagen des Daumens in die Höhlung der
Faust (das Glück herbeizaubern, Glück als Vereinigung von Mann
und Weib). Die römische Sitte, den Daumen nach unten zu drehen,
wenn die Zuschauer den Tod des überwundenen Gladiators ver-
langten, nach oben, wenn er am Leben bleiben soUte, beruht auf
derselben Gleichung; das Aufrechte, die Erektion war der Antike —
und ist es uns auch noch — Leben, die Erschlaffung Tod. — Das
61
Doppelgeschlecht des Symbols tritt in dem Wort Däumling hervor,
■wenn der Deutsche den Handschuhfinger, mit dem er den ver-
wundeten Daumen schützt, Däumling nennt. — Von der Macht
des unbewußten Symbols gibt die Faustsage ein klassisches Bei-
spiel: sie gesellt dem Faust (der Faust) den Teufel, Faust und Teufel
zusammen ergeben aber die Onaniehandlung. Ich bezweifle nicht,
daß Goethe diesen Zusammenhang gekannt und benutzt hat, da
ihm vieles bewußt war auf Grund seiner zweiten mephistophelischen
Natur. — Von der Wurzel tu- ist „Tausend" hergeleitet (skr. tavas
= Kraft, tuvi = viel, tuvismat ^ kräftig, tuvistama — kräftigster;
hunda = hundert, zusammengesetzt tu-hunda = tausend). Tau-
send ist also viel hundert oder Krafthundert. Die Verbindung mit
dem Geschlechtskreis bestätigt sich durch lat. mille und diurch
gr. chilioi (xdiot) (ai. sa-hasram nach Grimm zu ai. saha = Stärke,
got. sigis = Sieg, danach urgr. cheslioi (xeoXioi) aus sgheslio, lat.
mille aus smi-zghsh). Die Bedeutung beider ist Krafthundert. —
Sommer leitet beide Wörter von einem alten Femininum smi und
ghsli ab (smi gr. mia, /iua, lat. Stamm sem-simplex = eins). Da
smi Femininum ist, gibt die Sommersche Deutung in Verbindung
mit der Grimmschen eine Ahnung von der symbolischen Doppel-
geschlechtigkeit aUer Zahlen; besonders gilt das für die Zahl eins,
die je nach der matrimonialen oder patriarchalen Denkweise als
Mannes- oder Weibessymbol aufgefaßt wird. Das ist eine für alle
Lebensbeziehtmgen, mögen sie sein, welche sie wollen, grundsätzlich
wichtige Feststellung, weil bei dem mathematischen Tier Mensch
die Zahl alles beeinflußt.
Das lateinische Wort für Daumen ist pollex; es wird abgeleitet
von pollos = groß, das wiederum mit polleo = vermögen, können,
in etwas stark sein, pollens = vermögend, stark zusammenhängt.
Die Zugehörigkeit zu dem Geschlechtskreis ist auch hier deutlieh.
Das Griechische gebraucht den Ausdruck megas daktylos {/nsyag
ÖaPtzvXog) = großer starker Finger. Ein andres Wort für Daumen
ist anticheir {avTixeio) = Gegenhand. Da cheir [yeiQ) die flache
Hand, Hohlhand bedeutet (ved. haras = Griff, harati = hält, ir. hir
~ flache Hand), also weiblich empfangend ist, muß anticheir männ-
liches Symbol sein. Die auch sonst nachweisbare Symbolik des
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Greifens als Verkehrs zwiseten Mann und Weib (vgl. die vorhin
erwähnte Symbolik von Faust und Teufel) spricht sich in dieser
Gegenüberstellung von Hand und Gegenhand sehr gut aus. Die
Bedeutung, die „Hand" als Symbol des Geschlechtsverkehrs hat, ist
in den Wörtern Handlung, behandeln, Handel, Akt usw. enthalten.
Das lateinische Wort peilen und pollis {polenta, pulvis = Staub,
puls = Brei) = Blütenstaub wird von Walde nicht mit poUeo zu-
sammengebracht, was ich sehr schade finde. Der Pollen ist so aus-
gesprochen männlich, daß es leicht mit der männlichen Kraft, dem
Geschlechtsvermögen, zusammenpaßte. (Heuschnupfen.)
Das lateinische Wort für Zwerg ist pumilus, pumilio, das ent-
weder zu puer, pubes (Wurzel puh, fuh-) gehört oder zu dem gr.
pygmaios {nvy/xaiog)^ das sich füglich mit Däumling übersetzen läßt,
jedenfalls das Zwerghafte betont; allerdings ist es nicht vom Dau-
men, sondern vom Mittelfinger abgeleitet. Die Sage vom Pygmalion
und der von ihm geschaffenen Bildsäule eines Mädchens, der Venus
auf sein Gebet hin Leben verlieh, erzählt, entsprechend der Para-
diesessage von Eva und der Schlange, jedem, der es hören will,
wie das Mädchen durch den Phallus pyx {nvi = ausgestreckter
Mittelfinger bei geballter Hand) zum Lehen, zum Weibsein geweckt
wird.
„Wecken" ist verwandt mit lat. vegeo = erregen, munter sein,
vigil = wachsam, vegetus = rührig (idg. Wurzel uegh-, ai. vajah
= Kraft, Schnelligkeit, ahd. wakar = wacker). Zu demselben Kreis
gehört die Wurzel idg. aueg-, die wachsen, vermehren bedeutet:
von ihr leiten sich die Wörter lat. augeo, augustus = hoch, auxiliiun
= Hilfe, gr. aexo (ae^co) = wachsen machen, auxano (av^avo))
= wachsen machen her. Als Wurzel gilt skr. uks = größer werden,
aber auch ausspritzen: die Verbindung mit den männlichen Ge-
schlechtsvorgängen könnte nicht deutlicher hervortreten. — Im
Deutschen gehört wahrscheinlich das Wort Ochs hierher, allerdings
nicht in dem verblaßten modernen Sinn, kastrierter Bulle, sondern
in dem Sinne symbolischer Geschlechtskraft, wie es in der Zoologie
und außerhalb von Deutschland gehraucht wird.
Wie verwandt das Unbewußte den Begriff des Wachsens (Weckens)
und den der Geschlechtstätigkeit empfindet, geht aus dem ge-
63
bräucMichen lateimscken Wort für wactseii hervor, „crescere", zu
dem noch das überaus wichtige „creo = erschaffen" gehört. Die
Wurzel ist ker- wachsen, nähren (der Name der Ceres, der Göttin
der Fruchtbarkeit, vereint die beiden Bedeutungen der Wurzel).
Durch ker- mit crescere und creare verwandt sind arm. ser ^ Nach-
kommenschaft, serim = werde geboren, stamme ab, wachse, serm
= Same; gr. koros {?iOQOg) = Heranwachsender, auch junger Zweig,
Schößbng, köre {>iOQ7}) = Mädchen, Pupille ; ai. „cardhati = ist frech,
trotzt" weist Walde seltsamerweise aus dem Zusammenhang, weil es
auch „er furzt" heißt, also mit blasen, aufgeblasen zusammenhängt.
Es besteht gar kein Zweifel darüber, daß dem sprachbildenden Un-
bewußten das Wachsen des Phallus als ein Aufgeblasensein erschien;
„furzen" gehört übrigens zu der Wurzel puh, die das Geschlechts-
wesen beherrscht. In dieser Wurzel findet sich auch, wie ich früher
gezeigt habe, dieselbe Identifikation von „wachsen" und „nähren"
(z. B. im schwed. fetta = Votz und föda = füttern, gebären).
Mit den Wörtern „crescere, creare'* nähert sich der Kreis Riese —
Zwerg dem Mittelpunkt des Kosmischen: der griechische Ausdruck
„gigas (yiyag) {franz. geant, engl, giant) = Sohn der Erde, Riese"
gehört in diesen Zusammenhang (ge, gaia, yr], yaia = Erde wird mit
gen- zeugen zusammengebracht, die Wurzel gen- liegt zugrunde);
sie sind gezeugt von dem Tartarus, der in dem tiefsten Erdinnern
liegt. (Die Vorstellung, daß die zeugende Kraft, die dem Samen
des Mannes Wirksamkeit gibt, in der Höhle wohnt, ist wohl bei
allen Menschen nachweisbar.) Erwähnenswert ist, daß man sich
die Giganten als schlangenfüßig vorstellte (Schlange ist doppel-
geschlechtUches Symbol mit besonderer Betonung des Männlichen),
Vielleicht beruht auf der Meinung des Unbewußten, daß zur Be-
fruchtung die geheimnisvolle Höhlung notwendig ist, der Mythus
von der Entstehung des Uranos, des Himmels aus den Kräften der
Erde ohne Zusammenkommen ndt dem männlichen Geschlechts-
wescn (jungfräuliche Empfängnis und Geburt des Sohnes ist an
den Anfang gestellt, eine unbewußte Überzeugung aller Menschen,
die noch jetzt in dem Glauben an die unbefleckte Empfängnis des
Christs und der Maria lebendig ist). Eine weitere kindlich-primitive
Meinung bringt der Mythus, wenn er die Götter und Titanen aus
64
der Verbindung der Mutter Gaia mit ihrem Sohne Uranos ent-
stehen läßt. Uranos kommt von ureo [ovqecü) — urinieren (Befruch-
tung der Erde durch den Urin des Himmels, den Regen). Daß die
Zeugung durch den Urin stattfindet, ist der Glaube aller Kinder
bestimmter Lebensalter.
„Wolke", das mit welken, verwesen zusammenhängt, gehört wohl
in diesen Kreis. — Im Lateinischen scheint die Wolke, nubes,
gegenüber dem Himmel, caelum, das etwas mit Glanz, Feuer zu
tun haben soll, in den Vordergrund getreten zu sein: nubes wird
allerdings von der Wissenschaft nicht mit „nubere = heiraten" zu-
sammengebracht, das will aber nichts sagen; im Gegenteil scheint
das Unbewußte die Etymologen gegen ihren Willen — sonst hätten
sie nubes und nubere als verwandt hingestellt — zur Andeutung
der Zusammenhänge gezwungen zu haben (Walde bezieht das Wort
„obnubere = bewölken, verhüllen" nur auf nubes, aber „verhüllen"
wurde von allen Sprachen und Sitten als Symbol des Weiblichen
in Beziehung zum Männlichen empfunden, es ist Symbol für die
Begattung). Terra — Erde (Gaea) wird von der Wurzel ters
— trocken abgeleitet — das trockne Weibhche wird in der Er-
regung feucht; die Mutter wird vom Vater bewässert, um Frucht
zu tragen. Die unbewußte Theorie von Urinzeugung macht sich
in allen gesunden und kranken (Nieren- und Blasenleiden) Lebens-
verhältnissen geltend.
Das Wort „Urin" hat viele Verwandte, die alle in Beziehung zu
Wasser stehen; auch im modernen Denken bat sich das in Aus-
drücken wie See, Teich, Bächlein für den Urin erhalten, bezeich-
nenderweise in der Kinderstubensprache. — Walde äußert Bedenken,
weil „urinari" = unter Wasser tauchen, „urinator" der Taucher sei;
gerade das aber führt dazu, dem Unbewußten die Verbindung von
Urin und Zeugung zuzuschreiben, da ja das ungeborene Kind in
urinähnliches Wasser eingetaucht, der Fötus also von Natur „Tau-
cher" ist. — Über das Wort Erde findet sich nicht viel bei den
Etymologen, dagegen scheint Himmel mit Heim zusammenzuhängen
(Heim der Götter). — Bei den Griechen ist der Sohn der Erde und
des Himmels die Zeit chrouos {xQOvoc). Auch im Lateinischen und
im Deutschen haben die Wörter saeculum = Lebensdauer des Men-
S Groddeoki Der Meuach als Symbol V>)
sehen und Welt (wer, werwolf = vir und old, yld ^= Zeitalter)
Sinnesvenvandtseliaft mit Säen und Männliclikeit. „Welt" ist lat.
mundus = schmuck, reinlich, aber auch Schmuck der Frauen; und
hier tritt uns etwas Seltsames entgegen, denn sprachhch hängt
munduB mit gr. mydos — Nässe zusammen (Ableitung: muiier
= Weib von naß, vgl. frühere Angaben, tatsächlich ist das Weib
für jeden Menschen vor der Geburt die Welt, eine nasse Welt):
danach ist geschlechtliche Erregung der Schmuck des Weibes, ja
die Welt. — Griechisch ist das Wort für Welt kosmos {noofios),
was wiederum auch Schmuck bedeutet. Bemerkenswert ist seine
Ableitung von einem idg. kens = feierlich sprechen {lat. censeo
= schätzen, censor). Die Verbindung des feierlich gesprocheneu
Worts mit der Weltschöpfung („Eb werde Licht") ist damit ge-
geben; das weibliche mydos, kosmos ist dazu notwendig.
Unter den deutschen Wörtern, die wie Kerl das MännHche be-
tonen, nimmt die Bezeichnung „Degen" für Held eine besondere
Stelle ein. Degen ist nicht, wie man zunächst vermutet, von der
Waffe Degen abgeleitet, sondern die Waffe hat ihren Namen von
dem Männhchen, das in „Degen" enthalten ist: Degen (ahd. degan,
angls. pögn =■ Gefolgsraann, Diener, engl, thane ;= Freiherr) be-
deutet ursprünglich „Knabe", ja im Althochdeutschen ist thegan
geradezu „männlich". Im Griechischen erscheint der idg. Stamm
von Degen tek-no- in den Wörtern teknon (rexvov) ^ Kind, tokeus
(roxEvg) — Vater, tikto {xtxrco) ~ gebären, erzeugen. Diese Wörter,
verbunden mit der Tatsache, daß zu der Degenwaffe die Scheide
gehört, machen die Symbohk des „Degens" als stark männlich ver-
ständlich, es legt aber auch den Gedanken nahe, daß die Wörter
Knabe, Knappe, Knecht, engl, knight = Ritter ebenfalls der Ge-
schlechtssymbolik entstammen und alle miteinander die Wurzel gen,
ken enthalten. Die Abhängigkeit des Waffenbaus und der Waffen-
handhabung von dem Symbol Waffe — Phallus ist der Psychologie
bekannt, die Bestätigung in der Sprache gibt dieser Auffassung
Sicherheit. Aus diesem Grunde weise ich auf das Wort „Scheide"
hin: während dieses Wort in den germanischen Sprachen vorhanden
ist (auch als Bezeichnung für das weibliche Organ), fehlt es im Goti-
schen, wo statt dessen ein Wort „födr" verwendet wird; da ist
66
wieder die Wurzel puh-, fuli-, das Aschenbrödel der Spracliforsclier,
Födr bedeutet nämlich auch Futter = Nahrung. Wir sind dieser
Verwandtschaft des Nährens und Zeugens schon oft begegnet, sie
ist auch aus der primitiven Auffassung des Fötallebens leicht zu
erklären. Lehrreich für das seltsame Verhalten der Etymologen
ist Waldes Abschnitt „vagina = Scheide": er bringt es in Zu-
sammenhang mit lit. voziu, vozti :^ etwas Hohles überstülpen, es
kommt ihm aber nicht in den Sinn, diese Wörter mit dem deutschen
Votz, Fut» fuen usw. zu verbinden. Dieselbe zaghafte Einstellung
hat die Sprachforschung dem Worte „Faust" gegenüber. Wenn
man im Schweizer Dialekt der Bezeichnung „Wiberfust" für eine
Faust mit eingeschlagenem Daumen begegnet, ist es schwer, der
Beziehung auf das Wort Votz auszuweichen, zumal wenn man den
deutschen Ausdruck „die Faust ballen" mit in Rechnung zieht.
Ballen kommt von der reichgesegneten Wurzel bhel-, die strotzen,
schwellen bedeutet, und von ihr leitet Walde lat. folhs — Leder-
sack ab; er bringt eine ganze Reihe von Wörtern verschiedener
Sprachen, die mit den Geschlechtsbeziehungen zusammenhängen
(gr. phallos, phales {(paXXog, (paXrjg) = männliches Glied, air. ball-
= Glied, hess. Bille = Glied, penis, Bulle — vulva = weibHcher
Schamteil, ags. beallock — Hode usw.). Der Schweizer Dialekt-
ausdruck gibt neue Rätsel auf: er könnte als Symbol der Ver-
einigung von Mann und Weib oder als Symbol der Theorie gelten,
daß das Weibliche aus dem Männlichen durch Abschneiden des
Gheds und der Hoden entsteht, oder schließHch — und das möchte
ich annehmen — ein Wort für den Gedanken sein, daß beim Weibe
der Penis und die Hoden innen vorhanden sind wie der Daumen
in der Faust (Gebärmutter mit Hals gleich dem männlichen Gliede,
Eierstöcke gleich den Hoden). — Die „Wiberfust" ist weiter der Tod
des Mannes im Weibe : so lange der Daumen eingeschlagen ist, ist der
männliche Daumen, der starke Finger, machtlos. — Schließlich ist
diese „Wiberfust" Schwangerschaftssymbol,die Frucht imMutterleibe.
Die wichtigsten Symbole, die des Doppelgeschlechts und der Kind-
mannbarkeit des Menschen, das Stirb und Werde sind hier vereinigt.
Zu dem Begriff Zwerg gehört noch das Wort Kobold (kubahulths =
Haus-Holde: Holde sind gute Hausgeister): der erste Teil des Worts
s. 67
ist Koben, mlid. kobel = enges Haus, angis. cofa (edles Dichter-
wort) = Schlafgemach, gr. gypas (yvTzag) = unterirdische Wohnung,
Die Annahme, daß die Gebärmutter mit kuba gemeint ist und mit
Holde der Mann, ist nahe.
Wenn mir der Plan dieses Werks es gestattete, "würde sich hier
die Gelegenheit bieten. Sagen und Dichtungen aller Axt mit in den
Kreis der Betrachtungen zu ziehen; ich begnüge mich damit, an
die griechische Sage vom Krieg der Kraniche (Erektionssymbol,
Riese) mit den Pigmäen und an Swifts Roman „Gullivers Reisen
und Gullivers Abenteuer im Lande der Zwerge" zu erinnern: die
Tatsache, daß auf eine Erektion viele, viele Zwergformen des männ-
lichen Gliedes kommen, wird in der Dichtung deutlicher als in der
bildenden Kim.st (Urinentleerung GuUivers; Rabelais Pantagruel).
In der darstellenden Kunst ist vor allem die Sage vom Riesen
Goliath und dem Knaben David als Symbol benutzt worden. Das
Auffallende in diesen Bildwerken ist, daß das Weib fehlt: während
die Erschlaffung des Phallus durch den Liebesakt mit dem Weibe
in den Judithbildern deutlich symbolisiert ist — in Florenz ist ein
Gemälde des Allori, das Judith mit dem abgeschlagenen Haupte
des Holofernes darstellt, während ihre alte Begleiterin als Mutter-
symbol den Sack (^ uterus) hält, in dem das Haupt begraben
wird — , zeigt Verrecchios David die Tatsache, daß der Riese Phallus
durch den Phallus selbst, durch das Schwert, um Haupteslänge
kleiner wird. Das Leben beendet die meisten Erektionen nicht
durch das Weib, sondern durch das Kindwerden des Männlichen:
Verrocchios Unbewußtes gab dem Knaben ein balbgesenktes Schwert
in die Hand, das den Vorgang der Erschlaffung charakterisiert:
der Knabe David siegt über den starken Goliath durch das Schleu-
dern des Steins, die Wahrheit, daß Erektion, Erguß und Erschlaf-
fung au sich vorhanden sind, ohne daß das Weib etwas damit zu
tun hat (Onanie, Pollution), gibt zu diesen Kunstwerken den un-
bewußten Anlaß.
Eine seltsame Leistung des Unbewußten ist der David des Michel-
angelo: in ihinist der Gedanke, dem man auch in Michelangelos
Erschaffung des Mannes begegnet, daß das Männliche aus sich
heraus Erektion und Erschlaffung erlebt, fast grausam deuthch vor
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Augen gebraclit. — David ist Riese und Knabe zugleich, er trägt
die Schleuder, ohne daß der Gegner gezeigt wird. Diese unverhüllte
Schaustellung der Selbstliebe des Männlichen ist kaum zu ertragen.
Das Unbewußte der Antike hat auch oft genug das Männliche in
sich abgeschlossen dargestellt — man denke an den Doryphoros — ,
aber die Gestalt des riesigen Knaben mit der Fähigkeit zu schleu-
dern, dieser triumphierende Hymnus auf die Selbständigkeit des
Männlichen und seine Unabhängigkeit vom Weibe, da der Mann
alle drei Menschenformen besitzt, ist wohl sonst nicht gewagt wor-
den, und dem Verfasser ist es begreiflich, daß die Masse Mensch
sofort mit Steinen nach dem Koloß geworfen hat.
Die Sprachverwandtschaft zwischen den Begriffen Riese — Zwerg,
wecken — wachsen — erschaffen ist Gegenstand des großartigsten
Gemäldes der Welt, der Creazione del Uomo an der Decke der Sixti-
nischen Kapelle zu Rom (Taf. 5). Langgestreckt mit weit vorgereck-
tem Arm und vorwärtsdrängendem Finger gibt der HERR Leben.
Umschlossen ist er von einem Mantel, der wie ein Stück lebendigen
Gewölbes die Erregung des Augenblicks mitempfindet. In diesem
Symbol des umhüllenden Schoßes wimmelt ein Heer von Kindern,
zehn an Zahl. Aber das suchende Auge sieht sehr bald, daß nur
neun der Kinder dem weiblichen Symbol des Mantels angehören;
das zehnte ist dem Weibe im Arm des HERRN zugeteilt, es klam-
mert sich an den Schenkel der Frau und des HERRN Hand faßt
seine Schulter. Neun Kinder: neun ist das Symbol der Vollendung,
der vollendeten Schwangerschaft, neunmal setzt die Blutung des
Weibes aus. Unter dem Gotte fliegt, als ob es den Riesen stützen
müsse, ein männliches Wesen, dessen Figur in ihrer Kürze und
halben Verborgenheit die stets wiederkehrende unerschöpfliche
Zeugungskraft des Mannessymbols hervorhebt: Riesig ist der Gott,
so lange der Erzeugungssturm andauert, unterhalb dieser Kraft
sieht man die Fähigkeit und Möglichkeit der Ruhe und Sammlung
und Auferstehung. Menschen zu schaffen ist möglieh, weil vor und
nach der Schöpfung Ruhe ist, Erschöpfung und Sammlung. —
Mann, Weib und Kind zusammen sind der Mensch, erst wo sie
vereint sind, wird der Mensch Schöpfer und Gott. Das Unbewußte
des Bildes wiederholt diese Vereinigung in innig verschränkten
69
Symbolen: da ist das Weib und das Kind im Arme des HERRN,
keine Ziele für ihn, sondern etwas, was er hat; beide, Weib wie
Kind sind eigene Wesen, die sich zusammengetan haben und sich
vom schaffenden Gotte fortreißen lassen. Weib und Kind ist auch
der Mantel mit den Engeln, sie sind Eigenschaften des Gottes, sein
Ziel aber ist, den Manu zu wecken, dem er zufliegt.
Dieser Mann — das Bild heißt Erschaffung des Mannes im Gegen-
satz zu der Erschaffung des Weibes, das Unbewußte des Benenners
sah, daß es sich nicht um die Schöpfung des Menschen, noch weniger
um die Erschaffung von Adam und Eva handelt — , dieser Mann
ist — seltsam genug, aber den tiefsten Geheimnissen des Unbe-
wußten entsprechend — der eigentliche Schöpfer, er erschafft sich
selbst: er sieht, und durch das Sehen wird er lebendig, er ist Ge-
schöpf seiner Vision, seiner Phantasie. Noch berührt ihn der Finger
des HERRN nicht, und schon streckt sich sein Arm, hebt sich
sein Leib, stemmt er sein Bein auf, um sich aufzurichten, um zu
stehen: er wächst. Sein Schauen aber ist bereits volles Leben,
lebendiges Leben. Sein Blick ist träumerisch, er schaut von innen
nach außen; wer dem Bhck folgt, weiß nicht, gilt er dem kindlich-
weiblicheu Gottmanne oder dem Weibe, das staunend tmd ohne
jede Träumerei an dem Gotte vorbei auf den Mann blickt, oder
dem Kinde, das zu dem Weibe gehört im^d selbst bei dem Erkennen
des Mannes an dem Weibe hängt. Der Mann umfaßt alles Mensch-
liche, wenn er lebendig wird, wenn er das Herannahen des Liebes-
sturmes fühlt, wenn sich sein Mannsein wie im Bilde zur fortzeugen-
den Tat zu erheben beginnt, er erschaut sich selbst, wie er im Zu-
stand der Mannesvollendung ist, die Dreiheit von Mann — Weib —
Kind. — Der Verfasser sieht in das Unbewußte dieses Bildes das
Geheimnis des Männlichen hinein, das die Frauen so gut kennen,
aber nie anerkennen, weil sie sonst danach handeln müßten, das
Geheimnis, daß das, was wir Mann nennen, das Starke, Schöpferi-
sche, nur für Minuten lebendig wird, daß der Mann nur dann Mann
ist, wenn er sich im Zustand der Erregung befindet, im Enthusias-
mus, im In-Gottsein befindet. La Creazione dell'uomo: der Gott,
der den Mann erschafft, ist eingeboren im Manne, der Mann wird
nicht Manu durch den Mann, nicht durch das Weib, nicht durch
70
i
das Kind, er wird Geschöpf und Schöpfer durch die Idee des Mensch-
lichen, durch die Vision der Dreieiuheit Mensch. Der Mann ist in
der kurzen, sich immer wiederholenden Stunde des Mannseins
Visionär, unbewußte Phantasie ist Vater und Mutter des Mannes. —
Michelangelos Bild erzählt auch etwas vom Weibe: das Weib sieht
nach dem Manne, aber selbst im Sturm der Leidenschaft hält es
das Kind umfangen, es denkt nicht an das Kind, es denkt an den
Mann, aber das Kind hat es bei sich; das Weib ist immer Mutter. —
Jeder könnte und sollte es wissen, daß der Mann in der Umarmung
auch an das Kind denkt, wollend oder versagend, die Frau denkt
nie an das Kind in der Umarmung, nur an den Mann, sie braucht
nicht daran zu denken, weil sie es immer von ihrer ersten Lebens-
etunde an bei sich hat: wenn sie die Schwangerschaft vermeidet,
so tut sie es nur des Mannes wegen, sie tut es nur, weil sie seine
Gedanken und Bedenken errät. Frauen sind sehr klug, und sie
sind nie und unter keinen Umständen Sklaven der Leidenschaft:
Amor trägt die Binde vor den Augen, Venus sieht immer. Das
einzige Weib mit der Binde vor den Augen ist Themis, die Gerechtig-
keit, nicht weil sie ohne Ansehen der Person richtet, sondern weil
die Gerechtigkeit, um richten zu können, blind für Gut und Böse
sein muß, weil sie nur nach Gutdünken richten kann. Richtet
nicht! — Überlaßt es den Müttern! Sie müssen richten, um das
Kind für das Leben herzurichten, und dazu wird ihnen die Binde
der Mutterliebe und des Mutterhasses umgelegt.
Das lateinische „vir" hängt nach den Angaben der Sachver-
ständigen mit dem Wort „vis = Kraft, gr. iphi (193t)" zusammen.
Wie vollkommen das Wort dem Begriff des ausschließlich Männ-
lichen entsprach, beweist das Adjektivum virilis, das noch heute
im Englischen und Französischen die Manneskraft benennt; und
in dem Ausdruck virago = Mannweib im unangenehmen Sinn,
finden wir das bestätigt. — In der unbehinderten Lage des Laien
fühlt man sich berechtigt, auch das Wort „virgo = Jungfrau"
dem Wort „vir" zuzugesellen; aber die Etymologie erhebt Ein-
spruch und behauptet, virgo hänge mit „virga = biegsame Gerte,
Rute" zusammen. Offenbar benutzt sie den Begriff des Bieg-
eamen, Grünenden, Wachsenden, um eine Annäherung auch in der
71
Bedeutung der beiden Wörter zu schaffen; Walde beruft sich dabei
auf lat. talea = Stäbchen, Setzling und auf das verwandte griechi-
sche talis (Tahg) = Braut, mannbares Mädchen. Dagegen will ich
nicht streiten, Frauen haben etwas Biegsames, nur hört es nicht
mit der Virginität auf; es fragt sich aber, ob virga nicht ebenfalls
zu vir gehört, und das glaube ich. — Man nimmt an, daß virga mit
uiz-ga, verbal genommen „winden", substantivisch „Bündel, Wisch,
Besen'* zusammenhängt. Vorausgesetzt, daß diese von anerkannten
Gelehrten (Walde, Kluge) aufgestellte Ableitung richtig ist, so hegt
der Gedanke nahe, daß in dem Wort beide Geschlechter (vir —
virgo) vereint im ursprüngHchen Symbol benannt worden sind,
denn die Vereinigung der beiden Körper ist ein gegenseitiges Um-
winden. Auch das dritte GUed der Gleichung des Menschen, das
Kind, wäre im Sinne von Sprößling, Reis in dem Wort enthalten;
die dichterischen Bilder vom Baumstamm, der vom Efeu um-
schlungen ist, von dem Manne — auch wohl dem Weibe — um-
wunden von der Schlange, Kranz und Krone auf dem Haupte
drücken denselben Gedanken aus, ja der vulgäre Ausdruck „fegen,
kehren" für den Beischlaf führt geradezu zu der Vorstellung des
Bündels von biegsamen Gerten. Virga ist aber auch in andrer
Weiße mit dem Worte vir verbunden, es besteht eine Wortverbin-
dung „virga divina" = Zauberstab ; daß der Zauberstab der Phal-
lus ist, läßt sich nicht bestreiten. Nimmt man die deutsche Sprache
zur Erläuterung, so fällt einem zunächst ein, daß die gewöhnliche
Übersetzung von virga Rute ist, das heißt ein volkstümlicher, bis
vor wenigen Jahrzehnten allgemein gebrauchter Ausdruck für das
männliche Glied. Die Bezeichnung der Meßstange als Rute leitet
zum Ackerbau hin ebenso wie bei den Römern virga, und die Be-
ziehungen zwischen dem menschlichen Eros und dem Ackern der
Erde sind ia ihrer symbolischen Übereinstimmung in allen Sprachen
und Gebräuchen nachweisbar. Nimmt man die Übersetzung Stab
anstatt Stange (gebräuchlich als Bezeichnung des aufgerichteten
Gliedes) oder Rute, so wird das Verhältnis noch klarer: Stab führt
zu ahd. Stäben, idg. sthap ^^ fest, starr sein, und skr. stapay^stehen
machen. Zu derselben Wurzel gehört gr. astemphes (aoTefi(pt]s)
= fest, und dieses Wort führt zu einem weiteren wohlbekannten
72
Symbol des Männlichen und der Vereinigung von Mann und Weib
„Btaphyle [azacpvXt]) = Weintraube, Weinstock". Bemerkenswert
ist, daß staphyle aucb das Gaumenzäpfchen ist; hier begegnen wir
wieder auf einem weiten Umwege der Symbolik der Körperorgane.
Das Es verwendet den Schlund mit Mandeln und Zäpfchen in er-
staunlicher Weise als Symbol der Erotik; die zahllosen Halsent-
zündungen der Kinder — Kinder kennen offenbar diese Symbo-
lik — , aber auch der Erwachsenen, die immer wieder an Mandel-
entzündungen oder an Rachenkatarrh leiden, stehen fast immer in
Zusammenhang mit Verdrängungen auf dem Ceschlechtsgebiet ;
ja ich vermute, daß auch die diphtherischen Erkrankungen von
dieser Symbolik abhängig sind, nur fehlt mir in der Praxis die Ge-
legenheit, es nachzuprüfen. Das Zäpfchen symbolisiert natürlich
das Glied — der Mannzapfen paßt in das Loch des Weibfasses,
schließt und öffnet — , während die Mandeln bald als Vertreter der
Hoden, bald der weiblichen Geschlechtsöffnung verwendet werden;
das Ganze des Schlundes ist in seiner Funktion des Schlingens
Gleichnis der Vereinigung oder der Geburt. — Der lateinische
Ausdruck für das Zäpfchen ist uvula (uva =Weintraube); es
herrscht also Übereinstimmung in beiden antiken Sprachen. Uva
führt noch einen Schritt weiter, da es sprachlich mit oe (o?j)=^ Eber-
esche, Vogelbeere zusammenhängt, die Eberesche aber Baum der
Fruchtbarkeit ist; aus ihrem Holz wird die Lebensrute gewonnen,
deren Schlag Menschen und Tiere fruchtbar macht. Daß Zapfen,
Zäpfchen auch in der Funktionsbedeutung zu dem Ghede Beziehung
hat, ist klar, es wird bestätigt durch das einzige mit Zapfen ver-
wandte Wort „Zipfel", das ganz allgemein als Bezeichnung des
männlichen Geschlechtsteils verwendet wird.
Eine andre Übersetzung des Wortes virga lautet „Gerte*'; das
Doppelgescblecbthche ist ebenso wie bei virga in dem femininen
Gebrauch des Wortes im Gegensatz zu der männHchen Ableitung
— Gerte ist verwandt mit lat. hasta = Speer, Lanze — ausgedrückt;
hasta caelibaris war bei den Römern ein kleiner Spieß, mit dem
das Haar der Braut geordnet wurde: die symbolische Bedeutung
des Spießes als Symbol des Phallus ist um so verständlicher, als
sowohl im Deutschen und Lateinischen wie in den andern indo-
7*
X
germanischen Sprachen die Stoß- und "Wurfwaffe als aus dem
Symbolzwange des Eros entstanden gekennzeichnet ist. Vor Ge-
richt spielte die Lanze als Symbol des Männlichen von jeher eine
wichtige Rolle, und das hat sich in dem bekannten Ausdruck Sub-
hastation noch immer erhalten. Im Deutschen sind Lanze, Spieß,
Speer, Dolch, Degen, aber auch Pfeil, Flinte, Revolver gebräuch-
liche Bezeichnungen für den männlichen Geschlechtsteil.
Besonders lehrreich ist das "Wort Pfeil, das von lat. pilum her-
stammt (Wurfspieß). Walde erklärt kategorisch, daß pilum=Wurf-
spieß nichts mit dem gleichlautenden pilum ^ Mörserkeule zu tun
habe, das erste leitet er von einer Wurzel pig, pik her (franz. piquer
= stechen) und bringt es in Zusammenhang mit pingo = malen,
das andre soll zu pinso = zerstoßen, zermahlen gehören. Das mag
schon sein, aber man könnte, von der Symbolik ausgehend, zu dem
Schlüsse kommen, daß pingo ebenso wie pinso etwas mit der etymo-
logisch anstößigen Wurzel puh-, fuh- zu tun habe. — Walde selbst
gibt eine Art Anhalt dazu: er sagt, das Wort pingo = malen komme
von einer Wurzel peik- und dazu gäbe es eine Parallelwurzel peuk-,
von der pungo = stechen herkomme, aber auch pugil = Faust-
kämpfer und pugna ^ Faustkampf, Schlacht, pugio = Dolch; alle
diese Wörter hängen mit gr. pyx (tiv^) = mit der Faust, pygme
{nvyfiri) = Faust, pygmes {nvyjuTjg) = Faustkämpfer zusammen,
denen im Deutschen nach Kluge Faust stammverwandt ist. Das
Wichtige aber ist, daß die Griechen unter pygme nicht unsere Faust
verstanden, sondern die geballte Hand mit ausgestrecktem Mittel-
finger; das aber ist eins der typischen Phallus symbole, besser Sym-
bol des Mannes mit erigiertem Glied, der Faustkampf wäre damit
der Kampf erregter Männer um das Weib. — Nähergebracht wird
die Verwandtschaft pingo — pungo durch zwei andre Bedeutungen
von pingo: die eine Ist „mit der Nadel stechen" (beim Sticken),
die andre ist „ritzen". Pingo = ritzen führt zu dem russischen
pizda (lit. pyzda, lett. pida) = weiblicher Schamteü, Ritze; dazu
gehört altpr. peisda = Arsch und lit. pisti = begatten. In der
Bedeutung „mit der Nadel sticken" tritt der erotische Zusammen-
hang ebenfalls hervor; das Führen der Nadel ist vom Geschlecht
bedingt, wie sich an der verschiedenen Art, wie Mann oder Weib
74
oder Kind sticken, leicht nachweisen läßt. — Bleibt man bei dem
Klang des Worts pingo, so kommt man auf die Vermutung, daß
unser Wort „pinkeln" damit zusammenhängt, nur muß man nicht
glauben, daß solche Verwandtschaft in den etymologischen Werken
näher behandelt wäre. Wenn man aber bedenkt, daß jeder Knabe
im Sand oder Schnee mit Hilfe des Harns Malversuche macht und
daß Grund vorhanden ist, die Neigung zum Malen auf die Tat-
sache zurückzuführen, daß jeder Säugling ein geborener Windel-
maler ist, fällt es doch auf, daß der Römer den Pinsel penicillus
= kleines Schwänzchen, kleiner Penis nannte, eine Assoziation,
die auch für das deutsche Pinsel zutrifft. Beide Sprachen benennen
auch den Dummkopf so. Das stammverwandte Wort „Faust"
bringt den Anschluß an die Wurzel fuh-.
Alles bisher Gesagte macht die Ableitung von pilum ^Wurfspieß
von demselben Stamm wie pingo nicht unwahrscheinlich. Das
zweite Wort pilum = Mörserkeule geht zurück auf pinso = stamp-
fen, stoßen. Die Geschlechtsbeziehung ist da ohne weiteres ge-
geben: die Keule ist überall ein Symbol des Phallus = Pfahls, und
auch etymologisch wird z. B. das Wort Viesel, Fasel = männliches
GHed, ersteres auch für den weiblichen Geschlechtsteil gebraucht,
mit pinso iind seinen Ableitungen zusammengebracht (mhd. visel
== Mörser, air. cisel = Teufel — Zusammenhang von Teufel und
Glied in einer von Boccaccios Novellen besonders hübsch ver-
wendet — , lit. pisti = begatten, pinso würde zu pissen hinleiten). — ■
Zu allem Überfluß gab es noch bei den Römern ein Brüderpaar
von Ehegöttern Pikunmus und Pilumnus, Pikumnus — abgeleitet
von picus = Specht (gr. dryokolaptes, engl, woodpecker, beides
Holz aushöhler, der Feuervogel des Prometheus) — zu pilum = Wurf-
spieß, pingo = malen, ritzen gehörend Pilumnus zu pilum = Mörser-
keule, pinso = stampfen. — Ein merkwürdiges Wort desselben
Kreises ist pilarium = „Begräbnisort, wo die Asche Verstorbener auf-
gehoben wurde*'. Es hängt nach Walde entweder mit pila = Mörser
oder mit pila = Pfeiler zusammen. Symbohsch mag man es als das
Weibliche auffassen, in dem die Asche des männlichen Liebesfeuers
bleibt, sei es nun, daß die Keule (pilum) im Mörser gestampft hat
oder daß der Pfeiler in dem pilarium zusammengebrochen ist.
75
Zusammenfassend m.öchte ich sagen, daß für mich kein Grund
vorhanden ist, die Verwandtschaft von virga und damit von virgo
mit vir und vis = Kraft zu bestreiten.
Ein sicher von vir abgeleitetes Wort ist virtus, das ausschheß-
lieh für den Mann gebraucht wird, Mannhaftigkeit, Mannestugend.
Im Französischen hat sich daraus vertu gebildet, eine Weibes-
tugend, ebenso wie für das deutsche Empfinden Tugend zunächst
eine Eigenschaft der Frau ist; dabei liegt jedoch immer noch der
Ton auf dem Verbalten im Geschlechtsleben. Auch scheint Tugend
bei seiner Ableitung von taugen, tauglich ursprünglich ebenfalls
eine männhche Tugend gewesen zu sein; wenigstens führt Kluge
diese Wörter auf einen indogermanischen Stamm dhugb zurück,
dem lit. dauksinti = mehren angehört und gr. tyche {tu;^j;)
= Glück, tykane {xvxavi]) — Dreschflegel, tykos, tychos {xvxog,
xvypc;) = Hammer, Meißel, männhche Symbole. In der modernen
Umwandlung in Eigenschaften des Weibes zeigt sich die Doppel-
geschlechtigkeit aller Symbole, die Erkenntnis des Unbewußten.
von der männlich-weiblichen Natur des Menschen (Frauen-
emanzipation).
Verwickelt ist das Verhältnis des Wortes „virus = Gift" zu
vir. Walde erwähnt eine Verwandtschaft nicht, hebt aber hervor»
daß virus zunächst zähe Feuchtigkeit, Saft, Schleim bedeute
(cymr. heißt das verwandte gwyar Blut). Das wurzelverwandte
gr. ios {tog) bedeutet ebenfalls Gift (gleichlautend gibt es ein Wort
ios, das Pfeil bedeutet, was mir als Hinweis auf den genitalen Zu-
sammenhang auffällt), nach Prellwitz zu einem Stamm veiso
= ergießen gehörig. Übereinstimmend leiten die Sachverständigen
die Wörter verwesen und welken von demselben Ursprung wie
virus, ios her; dabei scheint der Ton auf dem Dickflüssigen zu
liegen (ai. heißt vesati, zerfließen). Nimmt man das deutsche Gift
dazu, so hat man einen fast lückenlosen Beweis dafür, daß das
Unbewußte Verbindungen zwischen Liebe und Tod kennt, nicht
bloß bei den Griechen, die es ja in ihrer Kunst deutlich zeigen —
die Darstellungen des Totentanzes in mittelalterhchen und neu-
zeitlichen Bildern besagen dasselbe, ebenso die Gemälde der Auf-
erstehung — , sondern bei allen Menschen. Im Deutschen haben
76
eicli diese Beziehungen am besten erhalten: Gift ist in den Wörtern
Mitgift, Brautgift (Morgengabe) bei Namen genannt (jemanden ver-
geben statt vergiften war früheren Sprachgewohnheiten geläufig
und ist noch immer in der Dichtung lebendig); das Gift ist der
Samen — dickflüssig = virus, vir — , das Vergiften der Samen-
erguß — veiso = ergießen — , die Vergiftung die Schwangerschaft
(die Rasse wird durch die Befruchtung mit minderwertigem Keim-
plasma auch für die Folgezeit vergiftet, Kinder aus zweiter Ehe
der Frau sind dem ersten Manne ähnlich) und das Hinwelken der
Erektion. Verwesen, das zu dem Kreis gehört, bringt die Gruppe
in Zusammenhang mit der von der Etymologie so scheu behandel-
ten Wurzel puh- (puteo = stinken, putridus = faul usw.) ; das
Sumpfige des erregten Weiblichen wird dabei angedeutet. Sumpfig,
zum Faulen geneigt ist auch der Kaum zwischen Vorhaut und
Eichel (dickflüssiges, stark riechendes Sekret der Talgdrüsen, Ent-
zündungen dort); da die Vorhaut als weiblicher Teil des männ-
lichen Organs vom Unbewußten aufgefaßt wird (Beschneidung),
ist die Ableitung des Worts praeputium = Vorhaut von der Wurzel
puh- annehmbar; Walde bringt sie mit puer =: Knabe, pnbea
:= Geschlechtsteile zusammen, die aber ebenfalls zu der Wurzel
puh- gehören. — Zu virus gehört ferner lat. viesco = welken,
schrumpfen (engl, wither = verwittern), vietus = morsch, ein-
geschrumpft. Auch das Wort viscum =^ Mistel, Vogelleim ist mit
virus verwandt (Vogel ist wohl das bekannteste Symbol des uiänn-
lichen Geschlechtsteils, der Leim, mit dem der Vogel gefangen
wird, ist das zähe, feuchte virus des Weibes; die englische Sitte
des Kusses unter dem Mistelzweig verbreitet sich allmähUch über
ganz Europa).
Wie stark das Unbewußte der Antike die Umarmung des Männ-
lichen durch das Weibliche als tödliche Vergiftung empfand, zeigt
die Laokoongruppe : drei männliche Figuren werden von den beiden
Schlangen, die, von der Göttin gesandt, Doppelsymbol des Weib-
lichen sind, getötet; soweit ist das Symbol schon in der Sage ge-
geben. Das Kunstwerk selber formt das Gleichnis in eigner Weise
weiter. Die mänulicbe Gewalt der Dreizahl fesselt den Blick sofort,
weil der Mann zwischen den beiden Knaben — der Phallus zwischen
77
i
den Hoden — unverhältnismäßig groß und kraftvoll ist; selbst der
größere Knabe würde dem Vater kaum bis zur Hüfte reichen, und
doch ist er nicht als Kind, sondern in Körperbau und Ausdruck
als heranwachsender Jüngling gebildet. Das Symbol der Zwei als
Weib ist ebenfalls stark hervorgehoben: die Schlangenleiber sind
so kunstvoll durcheinander gearbeitet, daß mau nur schwer die
Tiere einzeln in ihren Krümmungen verfolgen kann, es entsteht
der Eindruck eines Lebewesens, einer Eins in der Zwei, eines Weib-
chens mit umschlingenden Schenkeln. Und daß die Umscblingung
des Männlichen sich so oft wiederholt, bis man zweifelt, ob der
giftige Biß (virus) oder das pressende Umfangen den Tod herbei-
führt, weckt den Schauer, den jeder zuweilen bei der Vision der
weiblichen Leidenschaft empfindet : der Umarmung erliegen ist
Wonne, aber undeutlich fühlt der Mann zuweilen die Gefahr des
Gifts, da er ja nie weiß, ob es Liebe oder Haß ist, dem er erliegen
wird, ob das Weib ihn wieder zum Halbgott erhebt oder als Sklaven
knechtet (Delilah, Omphale). Verfolgt man die Linienführung der
Gruppe, so sieht man die drei Phasen des männlichen Eros: rechts
vom Beschauer die beginnende Erregung versinnbildlicht in der
größeren Jünglingsfigur: das Männliche wird von der Erregung
ergriffen, ist ihr aber noch nicht verfallen. Die Leitlinie geht dann
zu dem riesigen Mann über, der schon unlösbar vom Eros um-
strickt unter dem drohenden Schlangenbiß den Mund zum Aus-
stoßen des Schreis öffnet, und sie endet bei der kleinsten Gestalt,
bei der im Tode erschlaffenden Knabenfigur, dessen halbgeöffneten
Lippen das letzte Leben entströmt. — Zieht man in Betracht, daß
die Schlange und die Zweizahl auch als Sinnbild des Männlichen
gebraucht werden, so wäre das weibliche Gift ganz ausgeschlossen
und der Liebestod des Mannes durch sein Maunsein, durch das Her-
geben seiner vires (Kräfte) und den Verlust des Samens (virus =^ Gift,
zähe Flüssigkeit) dargestellt. Die Tatsache, daß Laokoon die Troer
warnt, ein Loch in die Stadtmauer zu brechen, spricht für die erste
Deutung, da die Stadt mit ihrer Mauer nur als weibliches Symbol
aufgefaßt werden kann: das Weib rächt sieb an dem Weiberfeind.
Aus dem Spätlatein ist das Wort „Intoxikation = Vergiftung*'
in den Sprachgebrauch übergegangen, und von ihm stammen dann
78
eine Reihe von Wörtern, die namentlicli in der Ärztespraclie eine
Rolle spielen (toxisch, Toxin — Antitoxin). Dieses griechisch-
lateinische Mischwort verdankt seine Verbreitung der unbewuJ3ten
Kenntnis vom Vergiftungscharakter der Liebeshandlung. Das grie-
chische toxon (ro^ov) ist ursprünglich der Bogen, eine intoxicatio
kann aber nicht durch den Bogen hervorgerufen werden, sondern
nur durch den Bogenschuß, durch den vergiftenden Pfeil. Die
Ableitungen des Wortes toxon (toxeyo, ro^evü) = schießen,
toxotes, TO^oxrig = Bogenschütze) deuten schon an, daß Bogen
und Pfeil als Einheit verstanden wurden. In der griechischen
Mythologie sind die Geschwister Apollon und Artemis mit Bogen
und Pfeil bewaffnet, und von Apollon ist ausdrücklich in der Ilias
erwähnt, daß er vergiftete Pfeile, todbringende, benutzte : sein
Schuß rief Epidemien hervor. Außer diesen beiden Gottheiten ist
vor allem Eros noch mit Bogen und Pfeü bewaffnet, sein Geschoß
tötet nicht, aber es vergiftet. Daß mit dem Bogen unter Vermitt-
lung des Bogenspannens die Erektion gemeint ist, während Schuß
und Gift auf den Geschlechtsverkehr und den Samenerguß zurück-
geht, ist klar; natürlich ist bei der verwickelten Natur der Ge-
schlechtsliebe schon die Erregung, die gegenseitige oder einseitige
Begierde Wirkung der erotischen Waffe. Daß der Mythus zunächst
die Vergiftung der Frau betont, ist leicht von der Tatsache der
Schwangerschaft ableitbar, wobei hinzukommt, daß der Antike es
ebenso wie uns bekannt war, wie das weibliche Tier im wahrsten
Sinne des Worts mit der Befruchtung durch ein minderwertiges oder
andersrassiges Männchen vergiftet wird. Der Samenerguß — Pfeil-
schuß — führt aber auch die zeitweiHge Vergiftung, ja den zeit-
weiHgen Tod des Männlichen herbei, so daß Bogen und Pfeil auch
für die weibliche Liebeshandlung symboHsch sind. Von jeher hat
das Volk angenommen, daß zum regelrechten Verkehr, vor allem
zum Zustandekommen der Empfängnis ein Zusammentreffen des
Samens mit dem Erregungssaft des Weibes notwendig sei, eine
Meinung, die von der Wissenschaft nicht einmal mehr erörtert wird,
obwohl sie richtig sein könnte. In der Etymologie findet sich für
die Auffassung, daß Bogen und Pfeil auch weibliches Symbol sind,
ein schwacher Anhalt in lat. arcus, das von Fick mit cymr. arffe
79
= Schoß (arm. argand = Gebärmutter) zusammengebracht wird. —
Zu allerlei seltaamen Vermutungen führt die Tatsache, daß die töd-
liche Waffe Bogen — Pfeil von der sanftkeuschen Artemis, der
Herrin des Mondes und der Geburt ebenso wie von dem Gott der
heißglühenden Sonne Apollon geführt wird. Artemis war den
Griechen nicht jungfräulich, man mag bei ihr wohl das schlimmste
Gift des WeibcB vermutet haben, heuchlerische Prüderie.
In diesen Zusammenhang fügt sich ein Bild von Jan Steen in der
Münchner Galerie ein, „der Arzt" genannt (Taf. 6) ; und für uns Ärzte
ist es wie eine Auslegung einer der wichtigsten Tatsachen des Arztes,
der Übertragung. Man sieht das wohl nicht auf den ersten Blick,
denn die beherrschende Figur des Bildes ist weisUch im Hinter-
grunde gehalten: ein Amor steht hoch oben auf einem Schrank der
Stubenrückwand, er hält den Pfeil in der Hand, nicht um damit
zu schießen, sondern um ihn nach der Kranken, einer jungen Frau,
zu werfen. Die Waffe wird nur leicht verwunden, aber sie wird
geschleudert werden und muß treffen, wenn anders die Behand-
lung der Kranken in Gang kommen soll: zur .Behandlung gehört
die Übertragung, das unbewußte Empfinden des hilfsbedürftigen
Kranken, gleichgültig ob Mann, ob Weib, ob alt, ob jung, das
Empfinden, in dem der Kranke Kind ist und den Arzt, ohne Wissen
und Denken, in Vater und Mutter verwandelt. Meist ist dieses
seltsame und einzigartige Verhältnis schon da, ehe der Arzt mit
dem Kranken zusammentrifft, das Wort Arzt gehört der Magie an;
aber erst die persönliche Begegnung entscheidet, und auch sie nur
für kurze Zeit. Die Übertragung, das heißt die harmlose Ver-
wundung und Vergiftung des Kranken durch den vom Eros ge-
schleuderten Pfeil ist die Grundlage aller Behandlung: keine Wunde
kann heilen ohne sie, der SpHtter im Finger wird vereitern, wo sie
nicht da ist, jede Operation wird mißlingen, jedes Leiden sich ver-
schKmmern. Es ist hier nicht der Ort, ausführlicher über dieses
(Geheimnis zwischen Hilfesuchenden und Helfer — der Helfer
braucht nicht Arzt zu sein, nicht einmal Mensch, nicht einmal Tier
oder Sache, auch Vorgänge sind Helfer — zu sprechen, es gentigt,
darauf hinzuweisen, daß der Künstler, der gewiß nur Spott zu geben
glaubte, vom Unbewußten gezwungen wurde, tiefernste Wahrheit
80
zu malen. Das Bild beweist es. Ich sagte schon, der Pfeil wird
geschleudert, kann also nicht schwer verletzen; aber dieser Pfeil
ist vergiftet. Welcher Art ist das Gift der Übertragung? — Zunächst
denkt man wohl an die Gefahr, daß ein ernstes Liebesverhältnis
entstehen könnte, und diese Gefahr liegt um so näher, als ja die
Neigung des Helfers zu dem Hilfsbedürftigen Voraussetzung alles
Helfens — nicht bloß des ärztlichen — ist. Dieser Gefahr — wenn
es eine Gefahr ist und die Erfahrung lehrt, daß das Gift eines
solchen Liebesverhältnisses am Ende den Arzt, nicht den Kranken
umbringt — , dieser Gefahr beugt Sitte und Gesetz vor; allerdings
muß man wissen, daß dem Arzt nichts Menschliches fremd sein
darf, auch kein menschliches Irren, daß also Sitte und Gesetz oft
versagen werden. Aber solch Liebesverhältnis zwischen Arzt und
Kranken kann immer nur Ausnahme sein, ganz abgesehen davon,
daß es meistens ohne Schaden vorübergeht, es kann ja auch in der
Regel nur der wcibhchen Kranken gegenüber sich entwickeln. Aber
an dem Erospfeil klebt ein andres Gift, das wir unter dem Namen
Widerstand kennen, und das kümmert sich weder um Geschlecht
noch Alter, es ist immer da. Mit dem Augenblick, da der Pfeil des
Eros — oder sagen wir der Übertragung — den Hilfeheisch enden
trifft, und wenn er ihn auch nur ritzt, entsteht im Innern des meinen-
den Menschen dieses Gift des Widerstandes, das sich gegen die
Genesung richtet — Krankwerden und Kranksein dünkt dem Un-
bewußten Rettung aus Gefahr zu sein — , es sucht folgerichtig
alles und jedes zu erniedrigen, wertlos zu machen, was Genesung
bringen könnte, Arznei, Bad, Klima, Umgebung, Pfleger, vor allem
den Arzt.
Gewiß kann man Kranke, auch mit Erfolg, behandeln, ohne das
mindeste vom Widerstand zu wissen, ja das ist die Regel. Aber
wer aufmerksam ärztliches Behandeln verfolgt, sieht sehr bald,
daß das bewußte technische Handeln von einem unbewußten Be-
sänftigen begleitet und, wenn es gut geht, geleitet ist. So ist denn
in Wahrheit das A und der Therapie Widerstaudsbehandlung,
mag die Erkrankung sein, welche sie wolle. Absichtlich die Über-
tragung herbeizuführen oder zu pflegen, ist gar gefährlich, sie ist
immer in ausreichendem Maße da. Daß sie nicht ausschließlich
6 Groddeck, Dec Mensch als Symbol ol.
dem Arzt gilt (er ist nur ein Träger dieser Übertragung), zeigt
Steens Bild mit einem kleinen Zug, der jeden zum Lachen zwingt,
wenn er ihn bemerkt hat. Das kranke Weib öffnet die Schenkel,
aber diese Aufforderung zum Tanz gut nicht dem Arzt, der es nicht
einmal bemerkt, sondern einem Symbol, zusammengesetzt aus
Weibes Höhle und ragendem Phallus, einem nnentbehrhchen Ge-
schirr des Krankenzimmers, das auch schon lüstern nach dem Tum-
melplatz des Eros zielt.
Erfahrene Ärzte haben gelernt und begabte ahnen es von vorn-
herein, daß das Liebesfeuer und die Zuneigung des Kranken nicht
ihrer Person gilt, sondern blinder Zwang des Eros ist. Dieses Feuer
scheinbarer Dankbarkeit brennt nur dem Feuer zuhebe. Der
Wächter im Krankenzimmer, der Hund, weiß das, er weiß, wie
wenig das tiefste Herz seiner Herrin gefährdet ist, er sieht in der
Haltung und dem Ausdruck der Kranken den Widerstand. —
Noch ein zweiter Eros ist auf dem Bilde hinter dem Bett, aber
auch er ist tot. — Man wecke ihn nicht.
Im Griechischen ist das gebräucUiche Wort für Mann als männ-
lichen Mann aner (avijQ). Der Stamm scheint nar zu sein und die
Kraft zu betonen. Man bringt aner mit dem sabinischen neriosus
= stark zusammen, hat auch sonst eine Menge Wörter aus andern
Sprachen herbeigeholt, die bei gleichem Stamm das Kraftvolle
hervorheben. Aber damit ist nicht viel erreicht, es fragt sich,
worauf sich die Kraft bezieht. Brugmann nimmt eine Verwandt-
schaft zu den Wörtern neura (vevga), neuron (vevqov), lat, nervus
= Sehne an, aber andre bestreiten das. Folgt man Brugmann, so
wird man au das bei vir erwähnte „iphi (itpi) = mit Kraft*' erinnert.
Der Nominativ würde is (ig) lauten und die Sehne bedeuten. Aner
würde auf dem Umweg über neriosus — nervus^ — aner die Fähigkeit
zum Spannen der Sehne und damit des Bogens betonen; damit wäre
man wieder bei der Symbolgleichung Waffe und Männliches ange-
langt, bei dem männlichen Eros. Ergänzt man die Vorstellung von
Bogen und Pfeil durch die griechischen und lateirdschen Wörter
für „spannen"-— lat. tendo, gr. teino (zeivü)), dazu gehörig tonus — ,
80 vertieft und verbreitert sich der Wortsinn von aner-nervus be-
deutend; man würde dann eher verstehen, warum der Ausdruck
82
ä
nervus aUmählicb seine zentrale Bedeutung im menschlichen Leben
gewonnen hat: nervus tritt dadurch in engste Beziehung zum
Liebesleben, zu dem Problem des Menschen Mann-Weib-Kind-
Sterben- Werden. Lat. tendo heißt zunächst spannen, ausdehnen,
ihm entspricht aber im ai. tandate = läßt nach, tantra = Mattig-
keit (Abspannung), tanuh ^= zart (lat. tenuis, nhd. dünn). Das
Ambivalente beim Mann, der unvermeidliche Übergang von schlaff
zu stark und von stark zu schlaff {Zwerg-Riese -Zwerg) drückt sich
in diesem Bedeutungsspiel derselben Wurzel ten- aus. — Das
deutsche „spannen" scheint mit der Wurzel span, mhd. spana
= locken zusanamenzuhängen, was immerhin auf das Erotische
bezogen werden könnte; der Ausdruck Spanne als Maß erinnert an
die Volksmeinung, daß die Länge des aufrechten Gliedes der Hand-
spanne entspreche.
In den Zusammenhang Waffe-Männliches gehört ein Ausdruck
der griechischen Kunsttheorie (Theorie ist Anschauung, Meinung,
subjektives Urteil) „Kanon"; er wurde, wie ich gehört habe, für
Polyklets Statue des Doryphoros (Speerträger) gebraucht, den die
griechische Kritik als den Maßstab der Kunst betrachtete. Kanon,
gr. xavmv, bedeutet gerader Stab, Rohr. Die Ableitung vom auf-
gerichteten Gliede ist nicht zu bezweifeln. Ich meine, daß solch
ein Wort wie Kanon mehr über die Macht des Eros auf allen Lebens-
gebieten sagt als lange Abhandlungen.
Das Merkwürdige an der Bezeichnung ist, daß wohl der Speer-
träger selbst aufrecht steht, aber seine beiden Waffen, Speer und
Ghed, sind nicht im Moment des Kämpfens dargestellt, sie sind
nur zum Kampfe fähig und vorbereitet. Der Speerträger ist nicht
allein ein Kanon des Männlichen, sondern in seiner ruhigen Bereit-
schaft ist er Symbol des Menschen selbst, des Mann-Weib-Kindes.
(Die Vorhaut ist immer als Weibliches im Männlichen zu werten,
das Kunstwerk braucht beim nackten Mann das Weibliche nicht
zu betonen.)
Dieselbe Symbolik drückt sich in der Bezeichnung Doryphoros
aus. Das Wort dory {Öoqv) = Holz, Speer wird von der Wurzel
der- abgeleitet, die spalten, schinden bedeutet: während der Wort-
sinn schinden auf die Entblößung der Eichel bei der Erektion gebt,
6* 83
weist spalten auf die Beziehung zum Weibe hin. Verwandt mit
dory ist drye (dQvg) ^= Eiche, Baum, das in dem englischen tree
weiterlebt; ebenso ist dendron (devögov) = Baum damit ver-
wandt. — Das deutsche Baum (Stammbaum) gibt seine Beziehung
zu dem Eros schon durch den Ausdruck „sich bäumen" kund,
ebenso lat. arbor, das zu arduus = hoch gehörend, das Wachsen
betont. Phoros (930^0?) gehört zu phero ((pegco) = tragen, lat.
fero, Wurzel bhar, von der sich das schwedische barn ^ Kind
ableitet (gebären). Das Spaltende, Schindende des Männlichen
wird mit dem Weiblichen des Trächtigseins und Gebarens und mit
dem Kindhchen zusammengebracht.
Im Englischen gibt es ein Wort „pal", das ungefähr soviel wie
Genosse, Kamerad bedeutet. Es ist verzeihlich, wenn dem Laien
dabei das Wort Phallus einfällt, man denkt pal, phallos müsse
dasselbe sein wie das deutsche Pfahl und das lateinische palus.
Aber solche Gedanken passen nicht zur Gelehrsamkeit. Das la-
teinische palus, von dem das deutsche Pfahl herkommt, soll durch-
aus auf paciscor = Vertrag schließen (pax = Friede) zurückgehen.
Es fragt sich nur, ob der Mensch den Frieden nicht doch als Ruhe
nach dem Liebeskampf, als Erschlaffen nach der Erektion auf-
gefaßt hat. Mich würde eine solche Annahme befriedigen.
84
Zum Begriff des Menschlichen gehört als dritter Bestandteil das
Kindliche, Daß deutsche Wort Kind ist, wie ich schon früher er-
wähnte, von der Wurzel gen, ken abgeleitet; es betont also das
Entstehen und die Abstammung, führt nicht zu Merkmalen, die
für uns wesentlich sein könnten. Ebenso bezeichnet das grie-
chische Wort teknon (zexvov) (Zusammenhang mit Degen?) nur
das Erzeugen, Erzeugt- und Geborenwerden (tikto, xixrai = ge-
bären, erzeugen). Im Lateinischen gehört in diese Zusammen-
hänge ein Plural libexi = die Kinder, ein Wort, das als die
„Heranwachsenden" zu der indogermanischen Wurzel leudh- her-
vorkommen, wachsen gehört (got. liudan, ahd. liotan, nhd. Leute,
ab. Ijud = Volk, lat. liber, gr. eleutheros [eXev^EQO^] = frei, auch
der lateinische Gottesname Liber als Gott der Zeugung). Schon
eher gibt das englische Wort child eine Beziehung zu dem Mensch-
lichen, da es möghcherweiee mit got. kilthei = Gebärmutter zu-
sammenhängt. Dagegen führt das französische enfant mitten in
die unterscheidenden Merkmale hinein, die das tägliche Leben für
die Begriffe kindlich und erwachsen aufstellt. Enfant ist spät-
lateinisch infans (in = Verneinung, fari = sprechen), das Wesen,
das nicht spricht (unmündig). Damit ist eine bestimmte zeitliche
Grenze, zwar nicht für den Gebrauch, aber für den Begriff gegeben.
Infans: ein Wesen, das nicht sprechen kann, so eine Art Tier,
ein Wurm, eine nette Pflanze oder gar ein Püppchen, jedenfalls
ein Wesen, das nicht Becht noch Unrecht (fas und nefas von fari)
kennt, dessen persönlichen Wert noch keine fama (Gerücht, Rtdim)
in die Welt posaunt, das keine confessio (fateor ^^ bekennen), kein
Glaubensbekenntnis, ja nicht einmal einen Glauben hat, das ebenso-
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wenig von dem fatum (fari), dem allmäclitigen Schicksal etwas
weiß wie von dem allmächtigen Gott, das keine fabula mit unver-
meidlicher Moral ersinnt, sondern nur babbelt (schwed. babbia,
nhd. babbeln, engl, baby, allgemein haba, Urwurzel von fari und
infans bha- sprechen) und bampft und pampft = essen (dieselbe
Wurzel bha-), ein infans, ein Wesen, das nicht spricht, das beißt
das nicht denkt; denn denken, so höre ich, tut man in Worten
(en arcbe en ho logos, sv fiQXV V^ ^ Xoyog = Im Anfang war das
Wort, Theos en ho logos, ■&eo^ r)v 6 Äoyog = Gott war das Wort,
Gott sprach: Es werde Licht und es ward Licht).
Nein, das Kind denkt nicht, es dünkt sich auch nicht, hat keinen
Dünkel, wovon sich ja das Wort denken herleitet, es ist arrbetos
{cLQQtjTog) = irrational (eigentlich unaussprechlich, unfähig zu
sprechen, von gr. eiro, siQCO = sprechen, fragen; es gibt noch ein
andres eiro, das angeblich eine andre Wurzel ser- lat, sero hat
und aneinanderreihen heißt), während das Nicht-Kind rbetos
{^ijTog) = rational und rhetor (QrjrcoQ) = Redner ist. Aber das
Irrationale hat auch seinen Sinn in der Welt, ja die hohe Wissen-
schaft — nicht die Gelehrsamkeit — hat von jeher das Irrationale
als das Tiefste des Lebens und Webens gekannt und ehrfürchtig
staunend geahnt.
Nein, das irrationale Kind infans kann nicht sprechen (eiro),
aber es besitzt von Natur eine Eigenschaft, deren Bezeichnung
von dem Wort eiro herkommt: eironeia (Etgcoveia) = Ironie. Das
infans ist ein Schalk (eiron, eiqcov), der etwas scherzhaft äußert,
aber es spöttisch meint: es hat für den weisen Mann, mit dem es
zuerst zu tun bekommt, ein Lallwort erfunden, das lautet ; Papa —
Babhler, Pappler. „Du redest soviel, gib mir lieber zu essen", meint
infans. Und wahrhaftig, die Gelehrsamkeit ist auf das schalkhafte
Lallen des Kindes hereingefallen, sie glaubt heutigentages noch,
daß infans beim Anblick des Vaters — pater, pater {jiarrjg), pere,
father, Pabst, Pfaff, Patriarch, alles kommt von diesem Spottwort
her — , daß infans den weisen Mann Papa nennt, weil er für Papp
sorgt; weil er dem infans „Essen, Speise" bedeutet. — Und wo
bleibt die Mama? Hat man je gehört, daß ein Kind an der papilla
(Brustwarze des Mannes, leere Brustwarze) gesogen hat oder be-
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vorzugt es die mammilla der Mutterbrust? Komisch; Hybris, Ge-
schwollensein des Mannes, der denkt, des Rhetors, des fatuus (von
fari) = Narr.
Dem griechischen eiro entspricht das lateinische verbum, auf
deutsch Wort, von dem Kluge behauptet, es sei mit verbum eng
verwandt. Die Annahme, daß das gesprochene Wort schöpferisch
wirke, scheint sehr alt zu sein, wenigstens nimmt die christlich-
jüdische Kulturwelt das an, wie aus den Kapiteln der Genesis
und des Johannes - EvangeUums hervorgeht. Seitdem die Bibel
nicht mehr Grundlage alles Forschens ist, hat man eine neue Aus-
zeichnung für das Wort gefunden: man spricht von der Magie
des Worts. Angeblich stammt die Bezeichnung Magie aus dem
chaldäiechen Kulturkreis und es scheint etwas gemeint zu sein,
was unserm Zaubern entspricht; Zaubern aber wiederum soll sich
auf das geschriebene Wort beziehen (Runen). Jedenfalls liegen in
dem Wort Kräfte — auch im Namen, Vor- und Zunamen — , die
im Lehen eine bedeutende Rolle spielen. Waldes Lexikon reibt
dies den Ärzten kräftig unter die Nase, wenn es bei dem Wort
verbum das ab. vraib = Arzt, Zauberer, Hexenmeister erwähnt.
Allerdings steht gleich daneben ein andres ab. Wort vräka = Ge-
schwätz; man lasse sich gewarnt sein.
Nach alledem könnte man auf den Gedanken kommen, daß
infans weder Schöpfer noch Zauberer ist. Das wäre ein dummer
Gedanke. Denn wer sollte wohl schöpferisch tätig sein, wenn es
das infans nicht ist, das alles Menschhche, Leib und Seele, Hirn
und Herz, Blut und Säfte erschafft. Wer kann so zaubern wie das
Kind, nicht mit Worten, nicht mit Runen, aber durch sein bloßes
Dasein?
Die Griechen haben von eiro abgeleitet ein Wort eirene (etgrjvr]);
wir übersetzen es mit „Frieden", aber dabei geht das Charakte-
ristische des Ausdrucks verloren. Dem Griechen war Frieden Ge-
schwätz, wie sie überhaupt Freude daran fanden, das Leben zu
verschwatzen und zu zerschwatzen. (Als Darius seine Gesandten
nach Art und Wesen der Athener fragte, antworteten sie: „Sie
treiben sich auf dem Markt herum und schwatzen = agorazusi,
ayogaCovöi."') — Die Römer fügen in ihrem Wort pax (papa, pater,
87
)l
fari) der Bedeutung eirene „Gerede" gar noch den Fraß hinzu
(paecor = weiden). Da kann der Germane nichts andres tun als
pah sagen — ph — , das verächtliche Lallwort des infans für den
Brot hiingenden Bahbler Vater („mh" ^= süße Milch, ma — mamma)
Denn dem Germanen ist Friede (Freiheit, freien, Freundschaft)
Folge und Ableitung von fri = lieben (germ. frija = lieb, geliebt,
angs. frßod = Liebe, freobeam = Kind, got. frijön — lieben. Viel-
leicht hat das römische Wort Hberi = Kinder doch etwas mit dem
Begriff der Freiheit zu tun. — Nur Kinder sind frei vom Sitten-
gesetz).
Eirene, pax? Nein, Friede. Das lallende Kind ist Friede. „Ehre
Gott in der Höhe, Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohl-
gefallen." In seiner Nähe geht die Welt auf Zehenspitzen, ist leise
und lächelt.
Man kann es dem Magister Faust nicht verdenken, wenn er das
Wort so hoch unmögHch schätzen kann. Eher könnte man an-
nehmen, daß das Wort, die Sprache Mittel des Unbewußten sind,
die Wahrheit, das Wesen der Dinge zu verschleiern, daß gerade
die Eigenschaft des erwachsenen Menschen, in Worten zu denken,
das Hindernis der Erkenntnis ist. Tatsache ist und bleibt es, daß
alles Wesenthche des Menschen im arrhetos, dem Unsagbaren,
Irrationalen vor sich geht, daß auch die Tat nicht der Anfang sein
kann — Tat hängt zusammen mit der Wurzel dhe — setzen, stellen;
lat. facio, gr. tithemi {xidn^fii) — , denn setzen, stellen ist unlösbar
mit dem Begriff des Bewußten, des Ichs verbunden. Das Ich ist
aber eine Fiktion, ein Irrtum oder um es anders auszudrücken, eine
Maske, hinter der sich das Werden und Sein, das Es verbirgt. Und
das Werdende ist eben das Kind; je mehr infans es ist, um so
werdender ist es, um so näher der Wahrheit. Spaßhaft ist, daß die
Grammatik durch den Gebrauch des Ausdrucks „verbum" sagen
(Wort) und tun (Tat) in eins verschmilzt und so die Frage nach
dem Anfang ganz verdunkelt. Die Philosophie macht es ebenso
mit dem Ausdruck Logik.
Das Wort „wahr", das im Leben und Streben so große Bedeutung
hat, während es doch ohne weiteres klar ist, daß es für uns nur
den Begriff „menschenwahi" gibt, Wahrheit mit dem Zusatz des
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Menschlichen, irrende Wahrheit, wahres Irren, das Wort wahr
(lat. verus) macht auch den Etymologen zu schaffen. Kluge bringt
es kurzerhand und ohne sich um die gelehrten Gegenbeweise zu
kümmern, mit der Wurzel wesro, wes zusammen, mit Wesen, sein.
Walde dagegen gibt ihm den Sinn „vertrauensvoUe, freundliche
Hingebung" ; allerdings muß man lange bei ihm suchen (unter dem
Stichwort seveme steht es), ehe man das herausbekommt. Beides
scheint mir, sobald man das Werden mit in Betracht zieht, also
das Kindlich-Menschliche, zusammenzugehören. Das Kind ist Sym-
bol des Werdens und Wesens so gut wie des Liebens (freundHche
Hingabe).
Wenn ich Wesen mit Werden und Sein zusammenbringe und gar
mit Kind, dessen Wortabstammung von gen an früherer Stelle
hervorgehoben ist, so treibe ich — in sehr unvoUkommener Weise —
das, was die Wissenschaft Volksetymologie nennt, ohne daß sie
ahnt, wie arg sie sich selbst mit dieser Bezeichnung verspottet.
Die Gelehrsamkeit denkt nicht daran, Wesen und Werden für ver-
wandt zu halten oder gar verus und verbum mit werden in einem
Atem zu nennen. Werden ist für die Etymologie gleich lat. vertere
= wenden, drehen. Sie weiß nicht, was sie damit sagt. Sie denkt
nicht daran, daß erst durch das Drehen, Wenden des Kindes bei
der Geburt aus der Lage mit hängendem Kopf in die könig-
Uche (rex = König, regere = aufrichten) Stellung mit dem Kopf
nach oben die Welt entsteht, wird, die Welt dessen, den wir
Mensch nennen, das Wesen außerhalb des Mutterleibes. Ohne diese
Wendung, die eine Grundlage für die menschliche Eigenschaft
der Ambivalenz, des DoppeUebens und der Doppelerkenntnis
ist, gäbe es Menschliches überhaupt nicht, sondern wir würden
irgend etwas andres als „wissend" sein. Ich habe früher schon
eiamal auf die Parallele zwischen dem Ptolomäischen und Ko-
pernikanischen System und der EinsteUung des Kindes im Mutler-
leib und außerhalb des Mutterleibes hingewiesen, auf die mich
Egenolf von Boeder aufmerksam machte. Es würde sich der Mühe
lohnen, die primitive Denkweise von Menschen zu untersuchen,
die in Fuß- oder Steißlage zur Welt kommen, namentlich ihre
ambivalente Einstellung.
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Die Wurzelverwandtschaft der beiden Wörter Kind und König
habe ich früher erwähnt. Die Geschichte sowohl wie das tägliche
Leben lehren deuthch, daß das Wesentliche am König Kind ist;
je mehr er durch sein bloßes Dasein wirkt, je mehr er arrhetos ist,
um so größer ist seine Wirkung, um so mehr ist er König. König
Friedrichs des Großen Wort, er sei der erste Diener des Staates, ist
falsch und seine eigene Geschichte beweist, daß er erst König als
Alter Fritz wurde, als er das Reden und Philosopliieren aufgegeben
hatte und nur noch schweigsam, wünsch- und hoffnungslos da war,
als er sich innerlich zum Kindsein bekannte.
Dicht neben den Wörtern Kind — König stehen zwei andre:
Können und Kunde (Kenntnis). Die Überhebung des Erwachsenen
nimmt an, das Kind könne nichts, es müsse alles erst lernen. Aber
abgesehen davon, daß es den Erwachsenen in seine Dienste zwingt,
was doch immerhin ein großes Können voraussetzt und was uns
nur mit Mühe zuweilen gelingt, stellt es sich Probleme und löst sie
mit vollendeter Genauigkeit, die wir Älteren nur kümmerUch be-
wältigen und die wir gering achten und in unser Unbewußtes ver-
drängen, weil wir sie nicht so lösen können wie das Kind. Wann
hätten wir je ein Auge aufgebaut? Allenfalls können wir es er-
halten, wie es vom Kinde gebaut ist. Oder gar ein Gehirn? Man
sollte das Können des Kindes (Fötus, Embryo, befruchtetes Ei)
sich täglich wenigstens einmal vor Augen führen; dann würde man
allmähhch einsehen, was das Kindliche ist, man würde froh sein.
Kindliches zu besitzen und endlich ein neues Wort an Stelle des
dummdreisten „infantil, Infantilismus" erfinden. In jedem Men-
schen ist das Infantile, Gott sei Dank. Anders kann er nicht be-
stehen, viel weniger etwas leisten. Die Bedeutung eines Menschen
hängt wesentUch davon ab, wieviel Kindliches, Infantiles er sich
in sein späteres, langsam verdummendes Leben gerettet hat.
Was vom Können gilt, gilt auch von Kunde. Das Kind kennt
viel mehr als der Erwachsene. Das Unbewußt 3 der Wissenschaft
meint das und nichts andres, wenn es den Ausdruck „Gen" ge-
braucht. Denn „Gen" ist ein naher Verwandter von Gnosis, know-
ledge, Erkenntnis. Ja, in den Tihetanerklöstern scheint es Men-
schen zu geben, die diese Kenntnisse des Kindes bewußt und er-
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folgreicli in sich wieder auferwecken und pflegen, und die mittels
dieser Kunde und Kenntnis sogenannte physiologische und psycho-
logische Grundgesetze erschüttern, die beweisen, daß unsre Wissen-
schaft vom Menschen auf einem wackligen und viel zu schmalen
Fundament aufgebaut ist.
Das Wort infans spricht dem Kinde, dessen Altersgrenze es auf
zwei bis drei Jahre setzt, die Fähigkeit des fari ab, des Sprechens
mit Wörtern. Sonstige Formen des Sprechens durch Ausdruck,
Bewegung, Stimmung und Stimme, durch Zeigen, BHck, Auf-
horchen, Nachahmung, Krankheit stehen dem infans zur Ver-
fügung. Alle diese Arten des Sprechens konnte der Lateiner eher
in dem Wort dicere = sagen und in seinen Ableitungen zusammen-
fassen, da dicere in sich das Zeigen enthält. Im Griechischen ent-
spricht dem dicere das Wort phemi {frjf^i) = sprechen, das mit
phaino {<paiv(o) = zeigen, phaos {(paog) = Licht, phone (qaatvrj)
= Stimme zusammenhängt. Die Wörter lat. vox, gr. ops (oy)
= Stimme beschränken das Gebiet mehr, schließen aber das bab-
belnde Kind nicht aus. Ich erwähne es hier, weü sowohl phaino ~
phemi wie ops zu den sprechenden Augen hinführen, die in der
Ophthalmologie eine große Rolle spielen. Im Schwedischen lautet
das entsprechende Wort für Sprache tal (ndl. taal). Daß tal ur-
sprünglich mehr umfaßt als das Sprechen mit Wörtern, geht aus
seinen mehrfachen Bedeutungen und aus denen des Verbums
tala om hervor, noch deutUcher wird es, wenn man das verwandte
englische tale = Erzählung, to teil = erzählen, sprechen, talk
= Gespräch und das deutsche Zahl, Erzählung hinzuzieht. Das
Erzählen ist eine der Sprachformen des Es, hei der es seine stimm-
lichen Funktionen zur Verwendung bringt.
Merkwürdig für meine Meinung ist die Verwandtschaft des
Worts „sprechen" mit lat. spargo = ausstreuen, ausschütten, die
Walde annimmt; er weist dabei auf das Wort sperma = mensch-
licher Samen hin. Die Verbindung der Sprache mit dem Problem
des Sexus (lat. secare = zerschneiden) und dem Individuum (Un-
teilbares — Einzelmensch als Einheit von Mann — Weib — Kind) ist
hier angedeutet.
Warum der Erwachsene mit Wörtern spricht, darüber läßt sich
91
später diese oder jene Meinung andeuten. Hier will ich nur auf
einiges aufmerksam machen, was das Unhewußte über die Am-
bivalenz der Sprache mit Worten meint. Worte werden sehr oft
von Gebärden begleitet, die genau das Gegenteil von dem erzählen,
was der Mund spricht (Stottern, Wechsel der Stimmlage, Pausen,
Heiserkeit, laut und leise, Haltung des Körpers und seiner Glieder,
besondere der Hände, Abwenden der Augen, Kopfnicken, Kopf-
schütteln usw.). — Der Ausspruch Talleyrands, daß die Sprache
dem Menschen gegeben sei, um seine Meinungen zu verbergen, ist
verrufen, bleibt aber trotzdem in der Tatsache der Ambivalenz
wahr. Auch das Sprichwort: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold,
beweist, welche gewaltige Sprachkraft das Schweigen hat. Daß mit
Schweigen etwas gesagt wird, zeigt das lateinische tacere, das nach
Walde mit den aktiven Wörtern air. taihtan = ersticken, cymr.
tagn = erwürgen verwandt ist. (Wer schweigt, erwürgt das Wort,
aber nicht den Ausdruck. Verdrängung!)
Man sieht, das infans verfügt über dieselben Kräfte wie der
fatuus (= Narr), ja im Mutterleibe und bis zum dritten Jahr ver-
fügt es über mehr. Man könnte einwenden, daß befruchtetes Ei,
Emibryo, Fötus nicht mit in den Begriff Kind hineingezogen werden
dürfen. Dann soll man sie auch nicht so nennen. Dann sollen die
Weiber aufhören zu sagen: Ich trage ein Kind im Leibe, und die
Männer sollen nicht mehr sich rühmen, sie hätten ein Kind gezeugt.
Das Kind entsteht nicht durch das Geborenwerden, ja es ist von
Ewigkeit zu Ewigkeit, das Kindliche fängt gar nie an und hört nie
auf, ehe der Tod alles menschliche Leben zerstört, ein Ereignis,
von dem wir nichts wissen.
Die Schweden haben für Kind das Wort barn; sie leiten es in
Übereinstimmung mit den Sprachforschern andrer Nationen von
„bära = tragen" ab, das heißt für ihr SprachunbewidJtes beginnt
das Kind — ebenso wie für uns Deutsche oder für die Griechen
(teknon) — mit der Befruchtung, mit dem Augenblick, wo die
Mutter trächtig wird. Elof Hellqvist, dessen etymologisches Lexikon
ich zu Rate gezogen habe, ist es bei dieser Ableitung nicht wohl
zumute, obgleich er sie anerkennt (bära ist für ihn wie für alle ver-
wandt mit lat. fero, gr. phero, <p£Q(0 = tragen); er meint, bära
92
bedeute im Falle des barn fdda = nähren, füttern. Vielleicht hat
ihn das schwedische Wort barm = Brust (barmherzig), Mutter-
bnist darauf gebracht (ich werde mich gleich damit beschäftigen),
vielleicht ist es auch födas = geboren werden oder lat. foetus.
Wer weiß es? Jedenfalls entschlüpft er damit nicht der Fest-
stellung, daß für den Schweden auch schon der Fötus ein barn
ist, daß der kleine Schwede nicht erst mit dem födelsedag zu leben
beginnt, sondern schon in der livmoder = Gebärmutter (wörtlich
Lebensmutter) Kind ist. Ich habe schon früher gezeigt, daß föda
und foetus von der Wurzel puh-fuh herkommen. Abo auch der
Umweg über föda = füttern führt zum Augenblick der Befruch-
tung, zu dem Verschmelzen von Männhchem und Weiblichem in
puh-fuh.
Dieselbe Ansicht, daß das Kind mit der Empfängnis beginnt,
spricht sich in lat. puer und puella aus, die ebenfalls von der Wurzel
puh" herstammen (verwandt ist das deutsche Bube und das eng-
lische boy). Das Lateinische ist deshalb so wichtig, weil in den
Wörtern puber, pubertas = geschlechtsreif, Reife die Erfahrung
enthalten ist, daß das Kindliche auch nach Eintritt der Mannbar-
keit dem Menschen bleibt, ja das Wort pubes = Schamteile beweist,
daß das Unbewxißte des Lateiners gerade das immer Kindliche der
Geschlechtsorgane ausdrücken wollte. Die Dreieinheit Mann- Weib-
Kind setzte sich durch.
Um auf das schwedische Wort barm = Brust ziuückzukommen,
so ist eine enge Verwandtschaft zwischen bära ^ tragen, trächtig
sein und föda = nähren durchaus verständlich. Schon in der
Schwangerschaft, während das Kind noch von der hvmoder (Gebär-
mutter) ernährt wird, schwellen die Brüste, werden zum barm —
zur stellvertretenden livmoder. Möglich ist auch, daß das Symboli-
sierende des Unbewußten das Wort barm erfunden hat, weil ihm
die Milchsekretion ein Zeugungsakt ist, ein Anschwellen mit darauf-
folgendem Erguß; Brust und Warze vertreten das Männliche und
die Milch den Samen, der saugende Kindermund das WeibHche,
das Wachsen und Gedeihen das Kindliche, das „barn". Im Deut-
schen ist „Brüste" dual, abgeleitet von bersten, bresten, brechen.
Die Brüste sind die Hoden, das Kind ist das Glied. — Weiße Milch
93
wird im Deutschen für den Saraenfluß und den Wochenfluß ge-
braucht (lat. papilla und mammilla). Die symbolische Gleichung
von Weiberbrust und männUchem Geschlechtsorgan hat viele
Folgen für das Leben, die freilich wenig bekannt sind. Sie erklärt
sich wohl auch daraus, daß das Saugen an der Brust, wer immer
es ausübt, einen starken Wollustgenuß beim Weibe auslöst, wäh-
rend andrerseits selbst der sogenannte normale Geschlechtsakt vom
Unbewußten als ein Saugen der Vulva und Vagina am Phallus
aufgefaßt wird, als eine felatio (felo = säugen, filius = Sohn,
filia = Tochter).
Die Meinung, daß das „Kind" schon von der Befruchtung an,
vielleicht schon vom Beginn des Lebens auf Erden an (Keim-
plasma) besteht, daß man also alles, was von diesem Geschehnis
an vorgeht, zu dem Menschlich-Kindlichen zu rechnen bat, findet
eine Stütze in dem Wort Embryo (gr, embryon [sfißQvov] von
bryo [ßgvoj] = strotzen, sprossen, also wohl: was innen sproßt).
Nach Walde und Prellwitz (der als Wurzel gern angibt und es in
Verbindung mit harys [ßagv^] = schwer, lat. gravis = schwer, da-
von graviditas = Schwangerschaft bringt), hängt lat. veru = Spieß
mit bryo zusammen, das wiederum in verschiedenen Sprachen
Verwandtschaften zu den Begriffen Baum — wie Spieß symbolisch
zu Phallus gehörend — und Berg — Schwangerschaft und mons
veneris — hat.
Weiter führt die Bedeutung des Wortes bryo als strotzen, spros-
sen. Für uns Laien führt strotzen ohne weiteres zu dem Strotzen
des Phallus; in der Etymologie sei ein Umweg gestattet. Strotzen
(germ. Wurzel: strut = schwellen) ist im Englischen in stmt
= Anschwellung erhalten und mit der Bedeutungsentwicklung
„vor Zorn schwellen" im deutschen Strauß = Kampf (angs. das
verwandte J)rutian = vor Zorn schwellen). Zorn kommt von der
Wurzel ter = zerreißen. Es fragt sich, was im „Schwellen vor
Zorn" zerrissen wird. Darüber gibt gr. orge {oQyrj) und lat. ira
= Zorn in Verbindung mit einem Ursymbol Aufschluß. Die leiden-
schaftliche Empfindung des Zorns ist am nächsten der der Liebes-
leidenschaft verwandt. Sie lodern beide, sind Feuerkinder, Auf-
wallen und Kochen des Bluts kennzeichnen sie. Sie machen den
94
1
j
Menschen blind. Sie rasen. Und wenn die Geschlechteleidenschaft
dem Manne die Liebeswaffe gibt, so wird dem Zornigen alles zur
Waffe. Wie die Raserei der Liebe den Geschlechtsteil gegen das
Weib sich aufbäumen läßt, so bäumt sich im Zorn alles gegen die
Welt auf. Das Symbol hegt in dem Verhalten des Bluts: wie in
der Liebesleidenschaft das Blut zum Geschlechtsteil schießt, steigt
es im Zorn zu Kopf (Zornesröte); der Begriff der Franzosen „les
yeux rouges" kennzeichnet schlagend die Verwandtschaft von
Liebe und Zorn. Man muß diese Zusammenhänge beachten, nicht
bloß kennen; in ihnen sind große Gebiete des Lebens aneinander-
gebunden, sie umfassen Geheimnisse des Menschhchen, die dem,
der sie ahnt, ehrfürchtiges Erstaunen aufzwingen. (Von der Ge-
schlechtswurzel puh- geht der Weg über „puhes" zu „pudor
= Scham", „pudet = es schämt mich", „pugna = der Kampf"
zu „Faust", zur „Wut" und zu „vates = Seher" usw.) Die Zornes-
und Schamröte sind Symbole des Eros. Vielleicht dachten die
Griechen an diese Dinge, wenn sie dem Eros den Anteros entgegen-
stellten.
Analog diesen physiologisch-symboüschen Phänomenen ist der
Sinn der Wörter orge und ira. Gr. orge [ogyt]) = Trieb, Zorn ist
schon in seinen Geschlechtsbeziehungen durch die noch heute
gebräuchlichen Wörter Orgie und Orgasmus (Augenhhck der Wol-
lust) gekennzeichnet. (Orgia [oß^ia] ist ursprünghch geheimer Got-
tesdienst, orgion [oQyicor] = Priester; man wußte von jeher, wie
Eros und Gottesvorstellung und Gottesdienst gegen- und ineinander
wirken.) Zu alldem bedeutet das Wort orgas (ogyag) mannbar.
Die geheimnisvolle Macht des Worts im Symbol offenbart sich hier:
orge hängt zusammen mit ergon {sQyov) = Werk und dessen Ab-
leitungen. (Organon = Werkzeug, Organ ist davon abgeleitet, das
Unbewußte der Sprache drückt ea deutlich aus, daß alles bewußte
und unbewußte Wirken — durch die Organe des Organismus —
vom Eros durchflutet ist.) Werk und Wirken gehören ebenso wie
Wirklichkeit zu diesem idg. Stamm werg. Es ist, als ob die Sprache
aus sich heraus entscheide, daß ohne orge und orgasmos kein Men-
schenleben mögUch sei, keine Arbeit, kein Wirken. (Daß die Be-
deutung des Worts „wirken" auf die Tätigkeit des Webens und
95
Nähens ausgedehnt worden ist, deren erotischer Ursprung klar ist,
darf hervorgehoben werden.) — Die mir zu Gebote stehenden Hilfs-
mittel erlauben mir nicht zu entscheiden, ob das Wort orego = auf-
richten (verwandt mit lat. regere und erigere = aufrichten) irgend-
welchen Zusammenhang mit orge und ergon hat. Ich erwähne es
hier, weil von orego ein Wort orgyia {pQjvta) = Klafter abgeleitet
wird. Das erinnert mich an Sätze, die ich über die Meinung des
Worts Spanne gesagt habe; orgyia = Klafter (das Maß der
Menschen mit ausgebreiteten Armen entspricht nach der Meinung
des Kanon der Körperlänge) und Spanne der Hand sind für-
einander dieselben Symbole wie Mann und Glied. — Zu ähnlichen
Folgerungen führt das Wort ira. Es wird zu ai. esati, esanyati
= treibt an, isyati ^^ erregt in Beziehung gesetzt, wozu dann
gr. hieros (legog) = kräftig, heilig gehört. Das verwandte ai. is
= Erquickung, Kraft; gr. iaino {tatvco) = erquicken, lat. eira
= Erregtheit, gr. oistros (oiotqoc) = Wut und oima = stürmi-
scher Angriff vervollständigen zusammen mit den gleichstämmigen
Wörtern himeros {tfiegog) = Sehnsucht, Wunsch, ios (tog) = Pfeil,
iotes {tOTYjg) = Wunsch die Bindung an die Gebiete des Eros.
Bei alledem geht man wohl nicht fehl, wenn man das ter = zer-
reißen in dem Worte Zorn mit dem Deflorationsakt in Beziehung
bringt. Ich muß hier auf eigene Hand ein wenig Volksetymologie
zum Besten meiner Meinung treiben. Im Lateinischen gibt es ein
Wort vello = reißen, Wurzel dazu ist vel; Waide teilt mit, daß
davon das Wort vulnus oder, wie er es schreibt, volnus = Wunde
herkomme. Den ersten Eindruck einer Wunde bekommt jeder
Mensch bei seiner Geburt durch die Blutung der Mutter und dieser
Eindruck verstärkt sich durch das Durchschneiden der Nabel-
schnur, das dem Neugeborenen eine Wunde am eigenen Körper
bringt. Der Begriff Wunde entsteht in jedem Menschen aus den
Geburtserlebnissen. In den ersten Kindheitsjahren wird diese Ver-
bindung von Wunde und weibUchem Genital in den regelmäßigen
Zwischenräumen der Menstruation bewußt vom Kinde immer
wieder hergestellt und für das spätere Alter bleibt im Unbewußten
diese Verbindung lebendig, selbst wenn bewußtes Wissen sie nicht
mehr wahrhaben will. Sollte es da nicht möglich sein, daß das
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1
Unbewußte der Sprache das Wort vulva — Walde nennt es volva
auch aus der Wurzel vel — velo = zerreißen hergeleitet oder wenn
das sprachgesetzlich unmöglich ist, künstlich mit vulnus zusammen-
gebracht hat? Dagegen spricht, daß die Etymologie — vermutlich
mit gutem Grunde — volva von volvo = drehen, biegen ableitet,
und wie erinnerlich sein mag, habe ich von dieser etymologischen
Feststellung an früherer Stelle Gebrauch gemacht. Dafür spricht
die ursprüngliche Bedeutung von volva = Eihaut. Mit dem Zer-
reißen der Eihaut (vel, velo) beginnt für das Kind ein neues Leben,
ein Landleben im Gegensatz zu dem bisherigen Leben im Wasser.
Man kazm diesem Ereignis seine grundlegende Bedeutung nicht
absprechen, die Wirkung auf das Kind muß groß und unvergeßHch
sein. Diesem ersten Reißen schließt sich dann die Geburt und Ab-
nabelung an, die ursprüngUch wohl ein Durchbeißen und Zerreißen
gewesen ist, ehe Messer und Schere da waren. Und drittens kommt
die Wundblutung der Mutter hinzu. All diese Dinge sprechen sich
in der zweiten Bedeutung des Wortes vulva ^ Gebärmutter aus.
Erst spät hat das Wort die Bedeutung der Schamspalte angenommen,
in der es jetzt verwendet wird. Auch das heße sich als Resultat der
Menstruationskenntnisse der Kinder deuten.
Das Anschwellende, Strotzende, das in dem Wort Embryo liegt,
geht in seinen letzten Wurzeln auf die Tatsache der Erektion zurück,
was dem menschlichen Meinen von der Notwendigkeit des Vater-
Erzeugers, mit andern Worten der Existenz des Kindes im Samen
und Phallus entspricht. Für das Sprachunbewußte entsteht das
Kind nicht, es ist immer da, der Geschlechtsakt zieht es nur von
dem Männlichen in das Weibliche hinein, damit es dort, in der vom
Phallus gerissenen Wunde (vulnus von vello = reißen, Wurzel vel),
sprossen (bryo) und zum Sprößling — Kind werden kann.
In dem Wort Sprößling, das ja geradezu für Kind gebraucht wird,
wiederholt sich, was eben über das Vorhandensein des Begriffs Kind
im Phallus gesagt worden ist. Das Zeitwort ist sprießen, ndl. spru-
ten, engl, sprout. Die westgermanische Wurzel „spnit = hervor-
springen" leitet zum Erguß des Samens hin; zumal wenn man die
Ableitungen ags. spreot = Stange, Schaft, ndl. spriet = Spieß,
Speer hinzurechnet. Noch deutlicher wird das durch die Fest-
7 Croddeok, Der Mensoli ala Symbol 97
Stellung, daß „spritzen" ebenfalls zur Wurzel sprut, spreut gehört,
was namentlicli im Englischen nachzuweisen ist — sprit heißt dort
spritzen und sprießen. Im Griechischen entspricht dem „sprießen"
speiro {ojieiga}) = streuen, säen, gießen, davon abgeleitet ist
Sperma (oneQfia) = menschlicher Samen und asparagos (aoTiagayog)
= Spargel, eine Pflanze, die als Symbol des Phallus im täglichen
Leben und in der Medizin eine große Rolle spielt. Im Lateinischen
finden wir das verwandte spargo = streuen, sprengen, spritzen;
Walde leitet davon das englische „sprinkie = besprengen, sprühen"
ab — im Deutschen wird sprinkeln, sprenkeln für Harnlassen ge-
braucht — , engl, „spark ^ Funke", „spring ^ Frühhng" (die Göt-
tin auf BotticeUis Bild Prima Vera ißt schwanger). Schließlich führt
spargo zu aisl. sprek, angs. spreuk, spranka = Schößling (Pflanze).
Aus dieser Fülle greife ich das letzte Wort Schößling heraus,
das zu Schoß führt. Man leitet Schoß von einer Wurzel skut^schie-
ßen ab. Die Sprachwissenschaft, soweit sie mir bekannt ist, weiß {
mit diesem Ursprung Schoß = skut, schießen wenig anzufangen, sie
geht um die Frage, warum Schoß (Gewandteil, Gewandfalte, Lap-
pen, engl, lap) für das Weibliche gebraucht wird, herum. Sobald
man schießen, Schuß mit der Ejakulation des Samens zusammen-
bringt, was nicht nur gerechtfertigt, sondern eine wichtige symboli-
sche Wahrheit ist, fallen alle Schwierigkeiten fort; dann ist eben
Schoß (engl, lap, nhd. Lappen gehört zusammen mit gr. lobos, {
loßog = Ohrläppchen, Schamläppchen? und lat. legumen = Hül-
senfrucht) die Einfaltung im Hautgewande des Weibes, die Scham-
spalte mit den Schamlippen, die den Schuß auffängt. Der Schöß-
ling wäre das, was im Schoß durch den Schuß entsteht, das Kind.
(£lof Hellqvist bringt in seinem schwedischen Wörterbuch unter
dem Stichwort scott Schoß der Erde und schützen auf skjuta
schießen zurück, angs. scyda; engl, shut ^^ einschUeßen. Wahr-
scheinlich hat er recht. Schoß der Kirche. Sicher wie im Mutter-
Bchoß, Abrahams Schoß. Ausdrücke wie verschossen, Schuß
= Kadettenausdruck für Verliebtheit zwischen älteren und jüngeren
Kameraden.)
Zu denselben Folgerungen wie Sprößling, Schößhng, daß näm-
lich das Kind nicht wird, sondern ist — so betrachtet gilt Christi
98
\Vi
Wort: „Ehe denn Abraham war, bin ich", von jedem Menschen — ,
zu denselben Folgerungen führt das Wort Keim, dessen Ewigkeits-
wert die neuere Wissenschaft in dem Wort und Begriff Keim-
plasma von neuem betont hat. '
Keim, keimen soll von einer Wurzel ki stammen; die beiden
Begriffe des Wachsens und Aufbrechens vereinigen sich in dem
Wort, und wenn es nicht schon ohne das klar wäre, daß der Keim
nicht bloß das Pflanzenkind, sondern ebenso das Menschenkind ist,
würde der Sprachgebrauch in der Wendung „keimende Hoffnung"
es beweisen. „Hoffnung" ist Schwangerschaft mit dem Wachsen
des Kindes und der Erwartung des Aufbrechens der Hülle, der
Geburt. Noch weiter zurück in das Kindsein vor der Empfängnis
führt das wurzelverwandte (ki-) Wort Keil.
Zu dieser Wurzel ki gehören auch die beiden Ausdrücke „keist
= menschlicher und tierischer Samen" und „Kautel = mensch-
licher Samen". „K eisten" bedeutet onanieren und „keistern"
Schleim auswerfen, speien; ebenso wurde und wird Keutel als Be-
zeichnung für Nasenschleim gebraucht. Die Symbole Nase = Penis,
Schleim = Samen, die in der Entstehung der Krankheiten solch
große RoUe spielen (Heuschnupfen, Begattung des weiblichen
Nasenlochs durch Blütenpollen) klingen hier an; aber ebenso alle
sonstigen Erkrankungen mit Schleimabsonderung; allerdings muß
man zum Verständnis dieser Zusammenhänge wiesen, daß das Un-
bewußte auch einen Samen und Samenerguß des Weibes kennt.
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß das englische cud ^klebrige
Flüssigkeit (nhd. Kitt), cuddle ^ umarmen und ebenso engl, quid
= Tabakssaft zu Keut, Keutel Beziehungen haben; allerdings steht
davon nichts in den Lexika.
Eine besondere Bedeutung von Keil muß erwähnt werden: es
wird ähnlich wie Pflock und Bolzen in dem Sinn des Verschließens
eines Lochs, einer Öffnung gebraucht. Damit tritt es ebenso wie
die beiden erwähnten Wörter in enge Beziehung zur Schwängerung
(„das Loch verkeilen"). — In demselben Sinn ist die Redensart
„Kind und Kegel" übHch (Kegel ist eng verwandt mit Keil, auch
Keule gehört hierher). Die Neunzahl der Kegel bezeichnet den ur-
sächhchen Zusammenhang des Spiels mit dem Geschlechtsakt aus-
7«
99
reichend; der Kegelkönig in der Mitte der acht andern Kegel ist
Doppelsymbol: Kind und Phallus. — Die Abhängigkeit der Spiele
von der Erotik ist bekannt genug, ich werde aber doch an geeig-
neter Stelle darauf eingehen müssen.
Schließlich muß ich noch die Ableitung von Keil, Kegel, angs.
caege erwähnen, das im Englischen in key ^= Schlüssel weiterlebt.
Die Rolle, die das Verheren und Verlegen des Schlüssels aus sexuellen
Verdrängungswünschen im tägüchen Leben spielt, ist bekannt.
Das Besondere ist, daß key zunächst als musikalisches Zeichen,
„Schlüssel", gebraucht wurde. Die Zusammenhänge von Eros und
Musik sind eng (Schlüssel ^ Phallus).
Verwandt mit Keim, Keil ist uach Grimm u. a. das "Wort Kiel,
Federkiel, während Kluge Schiffskiel ganz anders ableitet. Er
deutet an, daß Schiffskiel etwas mit Kehle zu tun haben könnte.
Sollte das wahr sein, so wäre das den Etymologen rätselhafte Kiel-
kropf = Wechselbalg, Mißgeburt allenfalls zu deuten. Der Kiel-
kropf wird nach dem Volksglauben mit einer Kröte unter der Zunge
geboren. Bringe ich dies in Verbindung mit Kehle, so scheue ich
nicht davor zurück, daß die Vorstellung vom Wechselbalg = Teufels-
kind auf dem Abscheu vor der felatio (Saugen am Gliede) und dem
Verschlucken des Samens beruht. Kropf ist an sich eine hervor-
stehende runde Masse (im anord. kroppr = Rumpf, Leib, Buckel,
im ndl. wird es für die Brüste gebraucht, im angs. ist es Baum-
wipfel, Ähre, Traubenbüschel). Das alles läßt sich in dem Begriff
der Rundung des Weiblichen, der Schwangerschaft unterbringen,
vor allem der Kropf und das Kröpfen der Vögel, Wörter, die in
sich den Sinn von Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt ent-
halten. Zu solcher Auffassung leitet auch die Bezeichnung Adams-
apfel (im Schweizer Dialekt wird er auch Kind genannt) hin. Eine
Bestätigung ist die Tatsache, daß die Anschwellung der Schilddrüse,
die wir gemeinhin Kropf zu nennen pflegen, wie es scheint, immer
mit Schwangerschaftsvorstellungen zusammenhängt (Schilddrüsen-
anschwellung der Pubertät, während der Menstruation). Für das
Unbewußte sind eine Menge Speisen, ja auch Wörter und Gesichts-
eindrücfce leibhaftige Befruchtungssymbole, die sich in dem An-
schwellen und Wachsen der Gewebe, Organe und Körperteile
100
(Baucli) offenbaren. — Ich neige auch zu der Ansicht» daß Kiel
und Schiffskiel urverwandt sind. Hier möchte ich nur betonen,
daß der Schiffskiel ein uraltes Weib — Schwangerschaftssymbol ist.
Der Federkiel aber steht in Beziehung zum Vogel, Fliegen, die
beide Begattungssymhole sind.
Unklar in ihrer Ableitung sind die im Klang an Kind erinnernden
Bezeichnungen für junge Tiere, speziell Zicklein (nhd. Kitze,
schwed. killing oder kid, engl, kid, ganz gebräuchlich als Kosewort
für Kind. Übrigens ist auch das Wort kind in Schottland üblich.
Kille bedeutet im Schwedischen Harlekin, es ist mir aber nicht
bekannt, ob das Wort im Puppenspiel verwendet wird. Daß unsre
bekannten Figuren, der Hanswurst und der Kasperle und das Spiel-
zeug des Hampelmanns mit erotischer Symbolik zusammenhängen,
nehme ich an.). Auffallend ist die Ableitung, die Weekley für das
Wort kidney = Niere gibt. Er nimmt an, daß die letzte Silbe
(kiden-ey) das deutsche Ei, eventuell der Hoden ist, während die
ersten Silben von ihm mit cud, quid = klebrig zusammengebracht
werden, Wörter, die ich früher erwähnt habe; auch an chitterhng
= Kutteln, Gekröse denkt er dabei (chit ist kleines Kind). Ist die
Ableitung richtig, so würde sie eine der mächtigsten Symbolgleichun-
gen „Niere = Hoden" betreffen. (Der Herr, der Herz und Nieren
prüft. Zusammenhänge von Harnlassen und Samenerguß, gegen-
seitige Stellvertretung, gr. nephros [vE(pQog] =^ Niere, Kode.)
Um die Dreiheit Männlich- Weiblich-Kindlich in der Einheit
Kind sich klar zu machen ist es bequemer, das Wesen des Knaben
zu verfolgen; hei ihm ist die Dreiheit deuthcher ausgeprägt, vor
allem das Kindliche. Ich erwähnte schon, daß bei dem kleinen
Mädchen im frühesten Alter — schon im ersten Lebensjahr — die
GeschlechtUchkeit dem Manne gegenüber sich wesentlich anders
äußert als der Frau gegenüber; das Mädchen ist — man könnte
sagen von Geburt an — ausschließlich dem Manne gegenüber kokett
und die Frau behält diese Eigentümlichkeit das ganze Leben lang.
Bei dem Mädchen ist die Bieexualität gewiß ebenso stark wie beim
Knaben, ja man hat Grund anzunehmen, daß die gleichgeschlecht-
liche Erotik des Weibes mächtiger ist als die des Mannes, und daß
sie während des ganzen Lebens deutlich und dauernd hervortritt.
101
Aber das Gleichgeschlechtliche und Gegengeschlechtliche ist von
vornherein scharf getrennt. Beim Knahen ist von solcher Unter-
scheidung nicht die Rede, ja vielleicht tritt diese Trennung der
beiden Richtungen bei dem Manne überhaupt nicht ein, sondern
au Stelle der Trennung steht ein Verdrängen oder ein Umgestalten
in Freundschaft. Unsre modernen Sitten gestatten nicht, darüber
sich feste Meinungen zu bilden.
über den Mann im Knaben brauche ich nicht viel zu sagen; er
verrät sich in jeder Bewegung (Art des Tragens, der Stellung, der
Knabe kniet viel im Gegensatz zum Mädchen, das das Hocken be-
vorzugt usw.). Ich weise aber besonders darauf hin, daß schon im
kleinsten Knaben derselbe seltsame Wechsel zwischen ICindsein-
wollen und Mannseinwollen vorhanden ist wie beim Manne {Groß-
tuerei und Ängstlichkeit).
Es hieße Eulen nach Athen tragen, wenn ich in dieser Zeit, wo
alle Welt besser mit den Entdeckungen Freuds Bescheid weiß als
Freud selber, auf die erotischen Eigentündichkeiten des Kindes
eingehen wollte. Man tut gut bei ohrenbetäubendem Lärm ganz
zu schweigen, und wenn man das nicht aushalten kann, soll man
die kurzen Pausen im Geschrei benutzen, um das eine oder andre
Wort zu sagen. Viel erreichen läßt sich damit nicht. Lieber weise
ich auf eine Eigentümlichkeit des neugeborenen Kindes hin, die
ein jeder bestätigen wird: es sieht uralt aus. Und uralt ist es ja
auch; wie ich vorhin sagte: es ist, ehe Abraham war. Die embryo-
nale Zeit im Mutterleibe beweist nun gar, daß es noch viel älter ist
als Abraham, daß es so alt ist wie das Leben selbst. Man kann,
wenn man am Paradoxen Freude hat, mit Recht sagen, daß der
Mensch von der Empfängnis an jünger und jünger wird, und wer
dazu geneigt ist, solch ein Paradoxon bis ans Ende durchzudenken,
wird erstaunt sein, wie viele Probleme des menschlichen Lebens
dadurch in ein andres Licht kommen. Es würde begreiflich werden,
daß das Kind vom Leben tausendmal mehr weiß als der Erwachsene,
daß es vor allem das Urwissen und Urkönnen noch besitzt, zu leben
und nur zu leben. Denn das Kind ist infans-irrational. Es hat
noch nicht den Tyrannen „Ich" erfunden, hinter dem sich das Es
und das Leben verbergen.
102
I
Die Bezeiclmimg Kind (child) enthält in sich keine scharfe Alters-
grenze; für die deutschen Mütter hört das Kindsein ihrer Brut nie
auf. Das Wort infans (enfant) läßt das Kindsein mit der Fähigkeit
des Sprechens endigen; an seine Stelle tritt das Wort puer (gr. pale,
Tiaig, Wurzel puh-), das die Entwicklung der Genitahtät betont,
während im Griechischen teknon (tikto = gestalten) das Ende des
Wachstums hervorhebt. (Das Wort pais gibt mir willkommene
Gelegenheit, die Beurteilung der Wörter nach den Lautverschiebun-
gen ein wenig zu verspotten. Wir alle kennen das Verschen „Eia
popeia, eia popei". Wer sollte vermuten, daß es lautverschobeues
Griechisch ist? Und doch ist es so. Das griechische Kindermädchen
eines deutschen Kaisersohns — die Mutter war Griechin — sang
ihrem Pfieghng die Worte vor:
eude mu paidion, eude mu pai
[evöi fiov naibiov, evÖi fAOv Ttai)
Schlafe mein Kindlein, schlafe mein Kind
und die lauschenden Mägde machten daraus „eia popeia".)
Brephos {ßQE(pog) (Wurzel grebho = empfangen) ist die Lei-
besfrucht, das Neugeborene. Wörter wie baby, schwed. bam be-
schränken das Kindsein auf die Zeit des Getragenwerdens, die Zeit
vor dem Gehenlernen. Im Deutschen und anderswo gibt es noch
das Wort Säugling, das sich im wesentUchen auf das Nahrungs-
verhältnis des Kindes zur Mutter (Amme) bezieht und so zeithch
abgeschlossen ist. Ich erwähne es besonders, weil unter die Ver-
wandtschaften dieses Worts von der Etymologie (Walde), aller-
dings zaghaft, das Wort sus = Sau eingeschaltet wird; Walde
deutet an, daß sucus = Saft, sugere = saugen mit sus = Sau eine
gemeinsame Wurzel su = gebären, zeugen haben könne; das grie-
chische hys (uc) würde dazugehören. Ich vermute, daß hinter dieser
gegen die Gewohnheiten der Etymologen verstoßenden Annahme
— sie findet sich bei Walde nicht unter sucus, sondern unter sus —
eine unbewußte Gewalt steckt, da die Verbindung Mutter-Schlachten-
Sau noch jetzt in den kindlichen Symbolphantasien eine RoUe
spielt. Uns großen gebildeten Leuten erscheint das absurd und
abscheuUch. Aber ich darf daran erinnern, daß das Schwein für
103
nnBre nordischen Vorfahren das heilige Tier war, und daß es für
ganze Volkerassen und Religionen tabu ist.
Ich habe lange versucht, in den europäischen Wörtern für Kind
einen Hinweis auf die wichtigste Tatsache im Kindesalter zu finden
auf die Tatsache, daß dem Kinde das Wort und wohl auch der .J^'
Begriff „Ich" fehlt. Meine Hoffnung und mein Wunsch ist, daß
Sprachkundige auch dafür Anhaltspunkte geben werden. Un-
wissend zu sein bat viele Vorteile, weil man unbedenklich der Ge-
fahr des Irrtums gegenübertritt; es hat Nachteile, die aber durch
die besser Unterrichteten ausgeglichen werden können.
Damit komme ich auf die auffallenden Eigentümlichkeiten des
Kindeslebens zu sprechen und freue mich, daß es auch auf meinem
Wege möglich ist, die Altersgrenze des Kindes in Ühereinstimmung
mit den psychoanalytischen Forschungen Freuds in das dritte
Lebensjahr zu legen. Allerdings muß ich dabei nochmals be-
tonen, daß mit dieser Grenze das Kind im Menseben nicht auf-
bort, das ist immer da und scheint mir königliche Machtvollkommen-
heit während des ganzen Lebens zu haben. Das Ziel und Ende des
Menschen ist für mich und meine Meinung immer und unter allen
Umständen das Wiederkindwerden; der Unterschied ist nur, ob
man ein kindüches oder kindisches Kind wird; das Alter benutzt
beide Erscheinungen. Und die, die vorzeitig sterben, entgehen
dem Kiudwerden doch nicht. Im Sterben — wer die Erscheinungen
des Sterbens aufmerksam erwägt, weiß es — , im Sterben ist der
Mensch immer Kind,
Drei grundlegende Wesenseigenscbaften der Kinder möchte ich
hier besprechen, ohne damit behaupten zu wollen, daß man nicht
von andern Gesichtspunkten Meinungen aufstellen dürfe: das Kind
ist irrational, unpersönlich, immoral.
Auf der Tatsache des Irrationalen im Kind beruht die seltsame
Annahme des Menschen, daß das Kind nichts leiste, jedenfalls
weniger als der Erwachsene. Wenn man sich das Wirkliche im
Kindeshandeln und im Handeln des Erwachsenen ansieht, so kommt
man zu dem xungekehrten Ergebnis. Für die erste Lebenszeit nach
der Geburt gilt das nicht minder als für den Aufbau im Mutter-
leibe. Das Lernen, mit den Augen zu sehen, mit den Ohren zu
104
hören, mit dem Munde zu saugen und zu atmen, ist sicherlich an-
strengend, und die Bewältigung der unzähligen Aufgaben, die das
Kind heim Aufbau seiner Welt lösen muß, ist eine Leistung, mit
der sich nichts andres vergleichen läßt. Das Kind ist in Wahrheit
Weltenschöpfer. Licht und Schall, Baum und Berg, Mann und
Maus, alles ist sein Werk. Was es nicht aus sich heraus erschafft,
ist Gut und Böse, Recht und Unrecht, denkend Streben, strebendes
Sichbemühen. Der Immoralist Nietzsches ist keine Illusion, das
Kind ist immoral.
Zu denken, man könne oder wolle auch nur dieses tiefste Problem
des Menschen von Gut und Böse lösen, wäre Vermessenheit. Und
doch kann der Mensch nicht anders, als daran herumraten. Es ist
der Inhalt seines Lebens. „Ihr werdet sein wie Gott, wissend, was
gut und böse", so spricht die Schlange, die auf dem Bauch kriechen
muß ihr Leben lang. Wissen wir denn, was gut und böse ist?
Unser Gewissen sagt es uns. — Nein, unser Gewissen sagt es uns
nicht. Heute gilt uns böse, was uns gestern gut dünkte, und morgen
ist gut, was wir heute verdammen. Das Gewissen des Alten ist ein
andres als das des Jungen, das des Kriegers loht, was der friedliche
Bürger tadelt, das des Renaissancemenschen verwirft, was das
Mittelalter heiHg hielt, der Chinese urteilt anders als der Europäer,
der antike Mensch würde sich vor sich seihst ekeln, wenn er unsern
Begriff „Gut und Böse" annehmen sollte. Und eine Menschen-
klasse gibt es, die kennt das Gewissen nicht, die infantes, die Kinder.
Ihrer aber ist das Himmelreich.
„An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es
erst dazu." Dies Shakespearewort schrieb mir mein ältester Bru-
der in das Stammbuch, das ich als Knabe führte. Es ist ein christ-
liches Wort, entspricht dem Satze des Menschensohns : „Richtet
nicht!"
Das aUes ist in den Wind gesprochen, niemand kümmert sich
darum, niemand kann danach leben, niemand empfindet es als die
Gotteslästerung, die es ist, von Gut und Böse zu sprechen, was mit
Gottes Willen und durch seinen Willen geschieht, Sünde zu nennen.
Nur das Kind, das Kind kennt keine Sünde, obwohl es alles besitzt
und ausübt, was wir Laster nennen. Es ist irrational und deshalb
105
jenseits von Gut und Böse, es ist immoral und deshalb rein, es ist
frei vom. Ich und deshalb schamlos und keusch.
Über das Wort „keusch*' gibt die Sprachwissenschaft höchst
unvollkommene Auskunft. Im wesentlichen beschränkt man sich
auf die Übersetzung „rein" und auf ein paar ähnliche Ausdrücke
andrer Sprachen, die auch rein, zart bedeuten. Was aber ist rein?
Keusch ist eben eine besondere Art rein. Am ehesten — und darin
scheinen einige Sachverständige übereinzustimmen — könnte man
der Meinung beistimmen, die „keusch" mit geheimen Kxilten zu-
sammenbringt. Damit wäre das Mysterium der Gemeinschaftlich-
keit und der Liebeshandlung unter Ausschluß Uneingeweihter nahe-
gelegt. Grimm (auch der Schwede Hellqvist, schwed. kysk = keusch)
bringt das Wort in eine Art Zusammenhang mit keusan, kiesen,
küren (schwed. tjusk, kora). Keuschheit würde damit die Reinheit
im Auswählen und Ausgewählten sein. — Ein nicht ganz bewiesener
Zusammenhang muß erwähnt werden keusch und castus. Castus
kann xind wird als verwandt mit kastriert betrachtet, und man geht
dabei auf das zurück, was ich vorhin erwähnte, daß keusch mit
Opferkulten zusamjnenhängt. Das würde eine geschichtliche Art
der Betrachtung sein. Es gibt aber noch eine andre Möglichkeit.
Der Kastrierte hat die Fähigkeit des Samenergusses verloren. Seine
Erotik schließt die Fortpflanzungsidee vollständig aus, sie ist nur
Erotik, nicht vermischt mit der Idee des Kindes. So ist in gewissem
Sinne die Erotik des Kastrierten die einzige unvermischte reine
Liebeshandlung, die im Dienste der Gottheit Berechtigung hat.
Wenn das richtig ist, so ist in dem Wort keusche Frau ein tiefer
Sinn verborgen. Ich habe bei früherer Gelegenheit erwähnt, daß
bei dem Geschlechtsgenuß der Manu immer das Kind in seinem
unbewußten Denken mitbeteiligt, die Frau nie. Der Gedanke an
die Möglichkeit des Zeugens gehört aber nicht in das Lieben hinein,
es ist dann nicht mehr reines Lieben; man kommt auf diesem Wege
zu dem Schluß, daß die Frau ohne weiteres keusch sein kaiui, rein
lieben kann, während der Mann dazu kastriert sein muß.
Ich habe vorhin die beiden Wörter „schamlos" und „keusch"
mit Absicht nebeneinandergestellt; nicht weil ich annehme, daß der
Schamlose keusch sei, aber weil es meine Überzeugung ist, daß der
106
Measch in den kurzen und hochherrliclien Zeiträumen des Keusch-
seins keine Scham empfindet. Nur der schämt sich, der seinem Ich
Bedeutung gibt, der dies Ich mit der Welt in Gegensatz bringt,
der sich nicht für einen Teil, sondern für ein Ganzes hält. Keusch-
heit setzt voraus, daß man sich seiner selbst entäußert, daß man in
Harmonie mit dem Schicksal Menschsein ist. Keuschheit ist eben-
sowenig wie Scham eine Eigenschaft des Menschlichen, sondern ein
gelegenthcher Zustand, der nur dann eintritt, wenn man sein Ich
verliert. Deshalb kann es wohl eine Keuschheit zu zweit geben,
wenn die völlige gegenseitige Hingabe des einen an den andern
und des andern an den einen zustande kommt, und diese Keusch-
heit ist durchtränkt vom köstlichen Genießen ohne Scham und
Sündenbewußtsein. — Nur wer begreift, daß Keuschheit Gemein-
samkeit zur Voraussetzung hat, kann verstehen, daß das Verhältnis
Mutter-Kind, Kind-Mutter keusch ist, obwohl es wie kein andres
Verhältnis in jeder Beziehung erotisch ist.
Wie tief und fest diese Auffassung der Keuschheit im Unbewußten
der Kunst verwurzelt ist, beweist eines der keuschesten Gemälde der
Florentiner Uffizien, eine Madonna mit dem Christuskind und Engeln
von Hans Memling (Taf. 7). Man braucht es nicht erst zu sagen,
daß die einzig vollkommene SymboUsierung des Menschen, des
Männhch-Weibhch-Kindlichen die Mutter mit dem Sohn auf dem
Schoß ist. Deshalb wohl hat die Kunst das unbewußte Motiv der
Madonna mit dem Knaben auf ihrem Weibesschoß unaufhörlich
dargestellt und stellt es immer wieder dar; selbst unsre erbärmlich
unchristliche und rationalistische Zeit wird unwiderstehlich von
dem Madonnenbild angezogen. Memlings Gemälde ist ein keuscher
Hymnus auf die Vereinigung von Mann und Weib und auf die
Ekstase bei dieser Vereinigung. Wie so oft sind die Figuren im
Dreieck angeordnet, dem tiefen Wahrzeichen des Menschen, ja
diese Anordnung wird noch überboten dadurch, daß der Thron der
Madonna den Blick weiter aufwärts führt bis zu den auseinander-
weichenden Schenkeln einer Girlande. Worum es sich handelt,
zeigen Sechszahl imd Dreipaar der Amoretten- Engel, die die Blumen-
gewinde spreizen: der weiblichen Sechs ist die männhche Drei bei-
gesellt. An den Pfeilern, die das Gemälde einschließen, sind die
107
symbolisclien Tiere der Mann - Weib - Vereinigung angebracht,
Schnecke und Kidechse.
Vor aufwühlende Fragen stellt uns das Verhalten des Christus-
kindes. Daß es sich von der Frau, die ihm Mutter gewesen ist, ab-
wendet der Welt zu, ist menschlich notwendig; könnte man doch
das Leben des Menschen sehr wohl als ein Sichlösen von der Mutter
betrachten, das schon mit der Empfängnis beginnt, in der Geburt
den Fortgang nimmt und über das Hinabstreben von Brust und
Schoß, über Verlassen des Heims und der erotischen Bindung zum
Suchen und Finden der neuen Mutter in der GeUebten, zu dem Ver-
zichten auf diese neue Mutter zugunsten des Sohns, zum zweiten
Kindsein des Greises und schließUch zur Urmutter Erde führt.
Einen seltsamen Hinweis aber gibt das Unbewußte der Kunst in
dem Apfel, dem das Kind sich zuwendet. Christus greift nach dem
Apfel, und der Apfel ist die Sünde, das Seinwollen wie Gott, wis-
send, was gut und böse. Man sehe die beiden Engel an: der linke
vom Menschensohn spielt mit ernstem, fast traurigem Ausdruck
die Harfe, der rechte lächelt ein seltsames Lächeln, ein lockend
zärtliches ; er bietet den Apfel an, und Christus greift danach, wie
alle Menschen nach dem Apfel greifen. Man versteht es kaum, wie
der rehgiöse Mensch — nicht die Kirche, bei deren Entwicklung
iBt es folgerecht, daß sie den Christus als sündenlos hinstellt, sie
hat es mit vollem Bewußtsein und erst nach langen Kämpfen ge-
tan — , wie der religiöse Mensch das Wissen um das Menschsein
des Christus so völlig verdrängt bat. Niemand glaubt seinem Wort
vom Menschensohn, niemand glaubt an das Menschwerden des
Gottes, was doch Anfang und Ende des Christentums ist. Die
Kirchengläubigen lassen ihn nie Mensch werden ~ zum Menschen
gehört alles Menschliche, auch das, was wir Sünde nennen, in frevel-
hafter Überhebung frelHch nennen wir es so, da ja jeder, der an
Wort und Begriff Sünde glaubt, sich Gott gleichstellt, den Gott
selbst zum Ursprung und bewxißten Schöpfer der Sünde macht — ,
den Kirchengläubigen bleibt Christus auch auf Erden Gott. Andre
nehmen ihm das Gottsein ganz, ihnen ist er nur Mensch; mau weiß
nicht, soll man diese freien Geister noch Christen nennen, oder
spielen sie nur mit Begriffen, in denen keine Bedeutung mehr ist.
108
Nein, niemand glaubt melir an den Menschensohn, an den Gott,
der freiwillig aufhört Gott zu sein und Menecti wird, der in der
Dumpfheit des Menschen lebt, liebt und haßt, verflucht und segnet,
der müßig den Tag verbringt, wandernd und unstät, unwissend
wie jeder andre, was gut und böse ist, aber immer wieder voll
menschlicher Anmaßung richtet und Strafen der Ewigkeit androht,
der an Gott glaubt und an Gott zweifelt, der Mensch ist, allem
Menschlichen unterworfen, der als Mensch stirbt und wieder Gott
wird. Niemand glaubt mehr? Das Unbewußte glaubt, es kann
nicht anders als glauben, daß Gott Mensch wurde, wie wir Menschen
sind, unseresgleichen, mit allen Vorzügen und allen Fehlern, mit
allen Tugenden und allen Lastern. Christus wies selbst in heißem
Zomeswort die freche Schmeichelei „Rabbi, guter Meister" zu-
rück, die Evangelien erzählen auf jeder Seite, daß er war, was der
Pharisäer in uns — und Christus war gewiß ebenso Pharisäer, wie
jeder Mensch es ist — Sünder nennt. Das weiß das Unbewußte.
Es weiß aber auch, daß sich der Mensch Christus nur als Kind oder
als Toter darstellen läßt. Wir wollen alle sein wie Gott, für uns
Menschen gilt das Wort, das der Dichter des Worts selber das
Böse nannte — „Wer immer strebend sich bemüht, den können
wir erlösen" — als Richtschnur, wir können nicht ohne den Irrtum,
daß es Gut und Böse gebe, leben; und weil es solch Gut und Böse
nicht gibt, mußten wir den guten Menschen erfinden, Christus
mußte und sollte gut sein. Aber sobald der Christus sprechen kann,
wehrt er sich gegen dieses angedichtete Gutsein. So blieb für die
Kunst, wenn anders sie den sündlosen Christus bilden wollte, nur
diese Möglichkeit, ihn als Kind oder als Sterbenden, ja als Toten
darzustellen, als einen, der nicht nein sagen kann, wenn er ver-
leumdet wird. TatsächUch gibt es kein einziges Bild des Menschen-
ßohns als Mann, das des Ansehens wert wäre. Da war aber die
Ironie des Lebens bequem zur Hand, die den Menschen glauben
macht, daß das Kind sündlos sei; mit Hilfe dieser merkwürdigen
Fälschung unseres Urteils gelang es, einen sündlosen, in Wahrheit
immoralen Christus zu malen. Nur freilich, das Unbewußte läßt
sich nicht betrügen, und da es weiß, daß gerade das Kind der ge-
wissenlose Verbrecher ist, Dieb, Mörder, Lüstling, Gottesleugner,
109
muß der Maler, je frömmer er ist, um so sichtbarer, aus dem Un-
bewußten heraus ohne Absicht und Willen die Symbole der Sünde
beigesellen: Memlings Christuskind greift nach dem Apfel. Der
Engel, der ihn verführt, hält Geige und Bogen in der Hand, die
"Wahrzeichen der Liebe der Geschlechter. Wer die Handlung -weiter
zu denken sucht, weiß, daß der Engel das Spiel vom Wissen, was
gut und böse ist, beginnt, sobald das Kind in den Apfel beißt.
Über diesem Engel ist das prangende Schloß der Lust gemalt; der
harfende Engel, um den das Kind sich nicht kümmert, hat die
Mühle über sich. In der linken Hand hält das Kind die Kirsche,
seine Mutter hält den einen Fuß umfaßt, und ihre Rechte läßt
uns wissen, daß sie ihn gelehrt hat, was Lust ist. Jede Mutter
unterweist ihr Kind darin, wenn solches Unterweisen nötig ist,
was der Verfasser nicht glaubt, das Wissen ist angeboren. Seit
Adam und Eva den Apfel gemeinsam und doch jedes für sich aßen,
. vergilt jeder Menschensobn diesem Irrtum, zu sein wie Gott mit
der unentrinnbaren Trennung von Ich und All, und dann schämt
er sich seiner Nacktheit und verleugnet sein Menschsein.
Bei früherer Gelegenheit habe ich behauptet, daß das Kind die
Umwelt als Symbolwelt wahrnimmt. Den Beweis dafür liefert jedes
Kind in seinen ersten Lebensjahren, wo ihm der Stuhl durchaus
nicht ein Stuhl ist, sondern ein Pferd, ein wirkliches lebendiges
Pferd oder ein Haus mit lebendigen Bewohnern oder sonst irgend
etwas. Ja, seihst der Erwachsene lebt weiter in der Symbolwelt,
nur versteckt er das vor sich und andern, weil er ja so gerne groß
sein möchte. Selbst die nüchternen, angebHch phantasielosen Tat-
sachenmenschen leben, wenn man sie ehrÜch betrachtet, in der
Phantasiewelt des Symbols, und nicht anders ist es mit den un-
beirrbaren Leugnern der Menschenwelt, den PhUosophen und
Denkern, denen, die Abstrakte von sich selbst auf eigne Hand
machen wollen und sich doch nicht trauen, das Ding an sich zu
begreifen.
Auch dafür, daß das Kind in der Symbolwelt lebt, lassen sich
in der Kunst des Kindes Beispiele finden. Seine eignen Zeichnungen
stecken voll von Symbolen oder verstecken sie. Jedes Kind arbeitet
bei der Darstellung des Menschen mit zwei Begriffen: runde Höhle
110
und gestreckte Form: WeibKches und Männliches; der Bauch ist
ihm hohler Raum, ja auch die Kleidung ist es, und alle Gliedmaßen
werden Abbilder des einen Gliedes. Dagegen wird kein Kind das
Eins -Zwei-Drei- Symbol der Hoden mitzeichnen. Die Hoden sind
tabu für Kinder und große Leute, wahrscheinlich das einzige überall
gültige Tabu.
Das klassische Bilderbuch des Kindes „Struwelpeter" darf ich
nicht übergehen. Seine weite Verbreitung verdankt es der Tatsache,
daß sein Verfasser, Dr. Hoffmann, ein kindhcher Dichter von Gottes
Gnaden war, der überall das Symbol sah und danach handelte.
Ich berufe mich auf die Geschichte von Hanns Guck-in-die-Luft.
Dreierlei sieht das Kind in sämtlichen Bildern des Hanns Guck-
in-die-Luft: die Päastersteine, die rote Mappe und die Figur des
Hanns. Die Pflastersteine erscheinen in fast unveränderter Form,
sie geben den Bildern den Untergrund, sie zeigen an — auch dem
Kind und dem erst recht — , daß, was geschieht, überall ist, so daß
man darauf tritt. Mappe und Hanns verändern sich in einzelnen
Bildern, sie geben die Aufschlüsse über den Sinn der Ereignisse.
In Bild eins und drei ist Hanns bis auf geringe Abweichungen ein
und derselbe, er hat das rechte Bein straff nach vorn gestreckt, der
Kopf ist hochgehoben und der Mund offen; der Hund kommt ihm
mit langem ausholendem Sprung entgegengerannt. Die Mappe
drückt der Knabe mit dem linken Arm an sich. Und nun kommt
auf dem ersten Bilde ein Zusatz, der es weit über die Erzäh-
lung hinaus bedeutend macht und diese Geschichte für Kinder
in das allgemein Menschliche erhebt: In der Luft sieht man drei
Vögel.
Man könnte annehmen, daß diese drei Vögel das Hinaufstarren
des Knaben erklären sollen. Aber nach dem Titel der Verse guckt
der Junge in die Luft, und der entscheidende Vers lautet: „Häims-
lein blickte unverwandt in die Luft." Und dann, in den spätem
Bildern treten an die Stelle der Vögel drei Fische.
Was ist es mit der Drei? Die Drei ist die Zahl der Männlichkeit,
des typisch Männlichen; sie setzt sich zusammen aus eins und zwei,
dem männlichen Gliede und den beiden Hoden. Wenn man die
Figur der drei Vögel ansieht, bemerkt man, daß sie in der Figur
111
des Männlichen angeordnet sind unter Betonung der Tatsache, daß
beim Manne die Hoden nicht gleichmäßig stehen, sondern der eine
tiefer als der andre. Während so in den drei Vögeln und den drei
Fischen der gewöhnliche Zustand des Männlichen dargestellt ist,
symbolisiert Hanns selbst den Zustand der Erektion. Alle Kinder
wissen auf irrationale Weise die Fakten des Eros und seiner Funk-
tionen. Weder das Männliche noch das Weibliche noch beider Ver-
mischung mit der Folge von Schwangerschaft und Geburt sind dem
kleinen Kind {vor Vollendung des dritten Jahrs) rätselhaft.
Verfolgt man die Idee, daß die drei Vögel nicht nur Ornament
sind, sondern etwas bedeuten, weiter, so bemerkt man den Baum,
der hinter Hännschen den einen Ast weit nach vorn streckt; par-
allel dazu ist das ausgreifend hochgehobene Bein des Knaben: das
Symbolische des Erektionsgedankens und der Erregung hebt sich
deutlicher hervor. Und damit bekommt die Mappe Bedeutung.
Hännschen ist auf dem Wege zur Schule; gibt es wohl für das
Männliche — und Hanns ist ja nach meiner Annahme das Männ-
liche — eine andre Schule als das Weib? Ein Jeder weiß, daß die
Tasche, die Mappe Symbol des Weibes sind, ja man kann unbeschadet
aller exakttuenden WissenschaftHchkeit so weit gehen, zu behaupten,
daß der Mensch ebenso wie die Tiere nur auf dem Wege der Liebe
zum Weibe und der Frucht im Leibe des Weibes den Schutz des
Hohlraums erkannt hat. Aus der Tatsache der Sicherheit im
Mutterleihe sind alle Wohnungen, Keller, Schränke, Taschen,
Mappen entstanden. Zu allem Überfluß hat Hännschens Mappe
auch noch eine rote Farbe — gewiß etwas Ungewöhnliches für die
Schulmappe, aber symbolisch scheint Rot immer dasselbe auszu-
drücken: den Eros.
Der Hund ist der Wächter, Es ist nicht schwer, ihn als die
immer wachende Moral des Menschen aufzufassen, die gegen die
Begierde schützt. Es ist aber auch möghch, daß das Unbewußte
des Dichters hier mit dem Hunde darauf aufmerksam macht, daß
die Natur dem Männlichen eine absolut sichere Begrenzung der
Begierde geschaffen hat dadurch, daß jede Erektion nach kurzer
Dauer in sich zusammenfallen muß; dafür spricht die Tatsache,
daß auf dem zweiten Bilde nicht nur der Knabe, sondern auch der
112
Hund im Zustande der machtlosen Erschlaffung — nach dem
Sündenfall — dargestellt ist.
In diesem zweiten Bilde ist die Mappe betont, das Weibliche.
Das Männliche ist zu Fall gebracht, ist erschlafft; selbst die Zweige
des Baumes hängen nach unten. Die Mappe aber ist vom Knaben
getrennt gemalt, umgeben von allerlei seltsamen, scheinbar un-
motivierten Schnörkeln. Diese Schnörkel sind schon im ersten Bilde
vorhanden, dort bilden sie aber eine zusammenhängende Kette;
sie sind Symbol des Samenergusses, nach dessen Eintreten sich die
Samentierchen um das Weibliche, die Mappe, gruppieren. Die
Haltung des Knaben sowohl wie des Hundes — sie breiten die
Glieder empfangend auseinander und liegen auf dem Rücken —
verstärkt das Symbol des empfangenden Weibes.
Drittes und viertes Bild gehören zusammen. Der Baum ist ver-
schwunden, statt dessen ist die Verbindung zwischen den Bildern
durch den phallischen Laternenpfahl hergestellt. Die Zahl Drei,
das Männliche ist — teilweise in engster Vereinigung mit der Vier,
dem Prinzip des weibhcheu Geschlechts mit den vier Lippen des
Eingangs zum Weihe — , die Drei ist mindestens ein dutzendmal
gemalt, besonders die Laterne ist dadurch ausgezeichnet. Auch in
den Stufen, die zum Wasser hinabführen, ist sie da. Am auffallend-
sten sind aber die drei Vögel und die doppelte Erscheinung der
drei Fische, die noch dazu das eine Mal quer, das andre Mal längs
gerichtet sind. Der Fisch ist, das braucht man gar nicht erst zu
sagen, das Symbol des Männlichen, und zwar des Knaben im Mut-
terleib, der ja im Wasser lebt, und weiterhin des Phallus im Schöße
des Weibes,
„Kerzengrad" tritt Hännschen an Ufers Rand, aber, seltsam, er
stürzt „kopfüber ganz" in das Wasser. Das ist in Wahrheit un-
möglich, es ist so geschrieben, weil das Unbewußte das Symbol
der Begattung erzwang: kopfüber. Die Fische sperren auf dem
obern Bilde die Mäuler auf, als sie sich nach vollzogener Begattung
und Befruchtung — das bedeutet der Sturz ins Wasser, auch in
Träumen bedeutet er das — sehr erschreckt verstecken, sind die
Mäuler geschlossen. Die Fische verstecken sich, das Verlangen
Hännscbens ist gestillt, wie seine schlaff gekrümmten Beine und
S Gioddeok, Der Mensch als Symbol 113
das Stückchen Haad, das noch sichtbar ist, beweisen, die Schwanger-
schaft ist eingetreten, die Fische als männliche Frucht verhüllen
sich im Wasser des Mutterleibes. — Merkwürdig ist noch die Neun,
die entsteht, wenn man die Dreien der Vögel und Fische zusammen-
zählt: Neun ist die Zahl der Schwangerschaft, der neun Monate,
die der Sprachgebrauch als Dauer der Schwangerschaft annimmt.
SchUeßlich findet man noch einen Scherz des Unbewußten: der
Phallus Hännsehen ist beide Male zwischen den Schenkeln einer
Sechs gemalt, drei Vögel drei Fische, drei Fische drei Fische: Sechs
ist von jeher das Weibliche.
Während auf dem vierten Bilde die Mappe halb in das Wasser
getaucht ist — die Verbindung von Mutter und Kind ist in der
Befruchtungszeit noch sehr eng — schwimmt sie auf dem fünften
Bilde davon, während Hännsehen allmählich wieder aus dem
Wasser auftaucht: das Kind im Leibe der Mutter wächst. Die drei
Fische haben sich in dieselbe Richtung wie der halbauftauchende
Knabe gedreht, sie gehören zu dem Kinde, nicht zu der Drei der
beiden Männer und des halben Laternenpfahls, die als Geburts-
helfer schon durch ihre kniende oder gebückte Stellung oder durch
die Halbierung des Pfahls ihre ziemlich neutrale Rolle dem Eros
gegenüber andeuten.
Im letzten Bilde ist die Mappe weitweggescbwommen, der Ödipus-
zustand naht, der Kampf zwischen Eros und Anteros der Mutter
gegenüber ist angebrochen. Aber das Männliche wächst kräftig
heran, die Fische haben sich halb aus dem Wasser erhoben und
starren mit weitgeöffneten Mäulern den Hanns an.
Ganz ähnliche Symbole ziehen das Kind zu einem andern Bilder-
buch hin, den „sprechenden Tieren". Die erste Geschichte vom
Hahn entspricht dem Hanns Guck-in-die-Luft,
Beachtenswert ist die Tatsache, daß das eine Bilderbuch den
Hahn als Symbol des Erotischen gewählt hat, das andre den Namen
Hans. Die phallische Bedeutung des Hahns ist bekannt. Die Vor-
liebe für den Namen Hans in Volksmärchen und Volksliedern —
übrigens besteht sie auch bei vielen Frauen — könnte auf derselben
Symbolik beruhen. Im Mittelhochdeutschen wird das Wort Hahn
noch han geschrieben, „han" ist noch jetzt das schwedische Wort
114
1
für „er", „hans" ist „seiner". Man behauptet zwar, daß Hans von
Johannes abgeleitet sei. Aber das glaube ich nicht. Der Name
Hans ist so tief mit der deutschen Sage verwoben, daß er nicht
jüdisches Lehnwort sein kann. Übrigens ändert das nichts an der
Meinung, daß Hans das Männhche, und zwar ganz speziell das
männliche Glied bedeutet. Die Legende von Johannes dem Täufer
betont dasselbe Symbol und im Englischen sind noch heutigentages
St. John und St. Thomas Volksbezeichnungen des Gliedes.
«•
115
Die Drei des Menschen — Mann- Weib -Kind — ist unteilbar und
das Wort Individuum berechtigt, wenn man es auf das bezieht, was
unteilbar ist, das, was allen Menschen gemeinsam und notwendig
ist: die Dreieinheit. Leider ist der Ableitung Individualität ein
andrer Sinn untergelegt worden. Man braucht sie gerade für Eigen-
schaften, die gewiß abtrennbar vom Individuum sind. Individuum
ist Neutrum und bezieht sich nicht auf die Eigentümlichkeiten der
einzelnen Menschen, sondern auf das Gemeinsame aller, auf das
Menschliche. Eine individualisierende Behandlung, von der seit
einigen Jahrzehnten in der Medizin soviel gesprochen wird, kann
nur die sein, die das Menschliche, abgesehen von Person und Charak-
ter, beriickBichtigt, Daß ein solches Individualisieren — nicht bloß
für den Arzt, sondern für jeden, der mit Menschen zu tun hat —
die Grundlage aller Erfolge ist und die Grundlage alles Meinens und
Denkens sein sollte, brauche ich nicht erst zu sagen. Wer es fertig
brächte, jede Lebenserscheinung ohne weiteres zu prüfen und zu
entscheiden, was bei ihr „Individuum" und was „dividuum", all-
gemein menschlich und persönlich ist, würde eine gewaltige Wirkung
ausüben. Leider ist niemand dazu imstande und gerade unsre
europäische Kultur kümmert sich bewußt so gut wie gar nicht um
das Unteilbare. Was man hier und da von asiatischer Weisheit zu
hören bekommt, legt den Gedanken nahe, daß man dort in den
Klöstern wenigstens Forschungen in dieser Richtung treibt; ob es
wahr ist, ist eine andre Frage. Bei uns Europäern liegt die Be-
schäftigung mit dem Individuum im Unbewußten; dort ist sie
tätig, leitet und lenkt unser Leben, ohne daß wir das Geringste
davon wissen. Wir beten die Persönlichkeit an, wissen vom Mensch-
116
4
liehen nur das, was Maske ist, behandeln als Personen die Personen
im täglichen Leben so gut wie im ärztlichen Tun.
Es läßt sich auch so leben, vielleicht bequemer und leichter als
es uns ein bewußtes Anerkennen des Individuums, des Unteilbaren
gewähren kann. Aber mit Wahrheit und Wissenschaft hat das
nichts zu tun, es ist Charakterkunde, Studium des Theaters, des
Unwesentlichen am Menschen.
Persona kommt nach Walde aus dem etrusfcischen Phersu, das
„maskiert" bedeutet („Maske" aus dem arabischen mashana
:= Possen reißen). Die, die immer auf ihre Persönlichkeit pochen
und daraus Rechte statt Pflichten ableiten, sollten endUch erfahren,
daß sie sich Possenreißer nennen und mit Recht. Angeblich soll
Goethe die Persönhchkeit höchstes Glück der Erdenkinder genannt
haben. In den Versen über das Glück der Persönhchkeit braucht
Hafis den Konjunktiv „sei", es ist die Meinung von Volk und Knecht
und Uberwinder, nicht die des Hahs, der das Glück in dem Verlust
der Persönhchkeit sieht.
Wenn so das Unbewußte der Sprache mit dem Wort Individuum
die Unteilbarkeit des MenschUchen feststellt, so erkennt es andrer-
seits doch die gewaltsame Zertrennung dieses Unteilbaren in dem
Wort sexus — männhches und weibhches Geschlecht an. Nach Walde
ist das Wort sexus von secare = schneiden abgeleitet, von dem
auch das Wort segmentum = Abschnitt eines Kreises herkommt.
In dem Wort sexus hegt die Idee, daß Mann und Weib eins sind,
daß sie zusammen den Kreis Individuum bilden und daß beide
Segmente des Kreises die Eigenschaft des Individuums besitzen»
daß Mann und Weib zerschnittene Einheit sind. (Es entspricht das
einer alten Schöpfungssage der Juden, daß Gott zunächst eine Ein-
heit Adam — Lihth geschaffen hat, die er dann zersägte. Es stimmt
auch überein mit der Lehre Piatos.)
Das Wort secare = schneiden führt zu einem Knäuel von unter-
einander verwandten Wörtern, der nicht leicht zu entwirren ist.
Ich greife einige davon heraus: Sichel und Sense sind, wie man an-
nimmt, Ableitungen aus der in secare enthaltenen Wurzel sek- se-.
Beide Instrumente sind in unsrer Vorstellung Attribute des Todes.
Man darf vermuten, daß die Sichel das ältere Werkzeug ist, jeden-
117
falls bietet es mehr symbolische Anknüpfungen. Das Wort Mond-
sichel verdankt sein Dasein zunächst der Ähnhchkeit in der Gestalt.
Sofort stellt sich aber heraus, daß nur der zunehmende Mond in
Frage kommt, weil allein seine Form der Handhabung der Sichel
entspricht. Als Attribut des Todes bedeutet die Sichel nicht Ver-
nichtung, sondern Auferstehung nach dem Tode; sie ist Symbol
des „Stirb und Werde".
Wir begegnen hier wieder der Symbolisierung der Zeugung durch
den Tod, des Todes durch die Zeugung. Unsre Zeit erlaubt sich
manchmal, solche Zusammenhänge dichterisch zu verwerten, daß
hier aber eine der tiefsten und -wirkungsreichsten Tatsachen des
Unbewußten vorhegt, hat sie vergessen. Die Stimmen, die das
Sterben des europäischen Kulturkreises verkünden, mehren sich,
aber jedes Sterben ist naturgemäß von der Hoffnung des Werdens
begleitet. So ist es im Menschlichen beschlossen und anders kann
es für das menschliche Meinen nicht sein.
Ich entschließe mich nicht leicht, hier auf die Wörter „Mond"
und „Monat" einzugehen; denn wie man gleich sehen wird, ver-
bergen sich in ihnen Dinge, über die die sachgemäße Sprachforschung
keinen Aufschluß gibt. — „Die gewöhnliche Ableitung von einer
idg. Wurzel me = messen (skr. manessen, matram = Maß, gr. metron,
fisreov) mag sachhch ansprechen", sagt Kluge, „ — der Mond wäre
als Zeitmesser gedacht — , doch darf vom sprachhistorischen Stand-
punkt aus diese Erklärung nicht als sicher gelten". Das klingt sehr
unangenehm, man hat sich darauf eingerichtet, den Mond als Zeit-
maß anzunehmen, und mir bleibt nichts übrig, als diese Ansicht
zu akzeptieren in der unsichern Hoffnung, daß sich etwas Brauch-
bares finden möge. Kluge hat seinen Worten einen Satz eingeschal-
tet: „Der Mond wäre als Zeitmesser gedacht." Dieser Satz gibt
Gelegenheit, sich mit einer der wichtigsten kulturhistorischen Fragen
auseinanderzusetzen.
Wie sie es auch immer anfangen mag, zuletzt endet unsre Ge-
schichtswissenschaft bei dem gestirnten Himmel. Sonne und Mond,
Tag und Nacht, das ist der Forschung letzter Schluß, weiter geht
es nicht und weiter wird auch nicht gesucht. Aber jedes Weib kann
uns erzählen, daß das Kind verhältnismäßig spät Notiz von Sonne
118
und Mond nimmt, und ab und zu könnte sich auch ein Mann diese
Tatsache ins Gedächtnis rufen. Es wäre immerhin möghcb, daß
der Mensch das Zeitmaß Monat nicht vom Mond genommen hat,
sondern von den achtundzwanzigtägigen Perioden, in denen das
Wesen lebt, das für das Kind alles ist, die Mutter. Ich bin geneigt,
das anzunehmen. Selbstverständlich kann man und muß man zu-
geben, daß Sonne und Mond, Tag und Nacht für das Menschenvolk
entscheidende Bedeutung haben, ohne sie geht es nicht. Aber das
Sonnensystem ist ja auch wieder nur ein Glied in der Kette des
Geschehens, wir könnten mit Hilfe unsrer himmelstürmenden Phan-
tasie alles Möghche herbeirufen, um uns die Entstehung des Zeit-
maßes „Monat" zu erläutern. Schließlich können wir nicht leugnen,
daß der Teil vom Ganzen abhängt, müssen aber hinzufügen das
Ganze, die Welt, hängt auch vom Teil, dem Menschen ab. Und
dem Bewußten und Unbewußten, ja auch dem Es ist gewiß das
Menschliche näher als das Himmlische.
Meine Meinung ist, daß die Kindheit der Kultur ebenso wie die
des Einzelwesens aus den Tatsachen heraus, die es kennt, Begriffe
und Wörter bildet. Ein deutscher hochachtbarer Menschenforscher
Fließ will herausgefunden haben, daß sich das Leben des Weibes
immer und unter allen Umständen in achtundzwanzigtägigen
Perioden abspielt. So etwas läßt sich schwer nachprüfen; aber die
Tatsache, daß Frauen, wenn ihre monatlichen Blutungen längst
aufgehört haben, doch alle achtundzwanzig Tage nachweisbare
Abweichungen in ihrem Wesen zeigen, spricht für seine Theorie.
Ich brauche sie aber nicht zu Hilfe zu rufen. Jedes Kind wird in
der Zeit geboren, in der die achtuudzwanzigtägige Periode des
Weibes in voUer Wirkung steht, also muß jedes Kind, da es in
nächster Nähe des Weibes lebt — auch in der Schwangerschaft
bleibt die achtundzwanzigtägige Periode bestimmend — dieses
Zeitmaß von achtundzwanzig Tagen mit auf die Welt bringen.
Und nach der Geburt muß sich das Zeitmaß in das tiefste Erleben
eingraben; es geht nicht anders. In dem gewaltigen Erlebnis des
Geborenwerdens, der Trennung von der Mutter — sexus — nimmt
das Kind die Tatsache des Blutens wahr. Und bei jedem Kinde
bis weit in sein Wachstiun hinein wiederholt sich dieser bewußte
119
Eindruck des Blutens in regelmäßigen Zeiträumen, um erst langsam
in das Unbewußte verdrängt zu werden. Lange Jahre hindurch
stellt das Kind fest, daß das ihm nächststehende menschliche Wesen
Menses — Monate — hat. Für mich besteht nicht der mindeste
Grund, warum ich das lateinische Wort mensis, gr. meu {ftijv)
= Monat, Mond nicht auf dieselbe Wurzel zurückführen sollte, die
das Wort Mensch hat, auf die Wurzel men-man-, von der ich früher
sprach.
Sowohl die Römer als die Griechen hatten noch ein eignes Wort
für Mond, lat. luna (fr. la lune), gr. selene (aElrjvi]). In beiden
Wörtern drückt sich das zweite erschütternde Erleben bei der Ge-
burt aus, das Wahrnehmen des Lichts: luna wird von luceo=leuch-
ten, lux = Licht abgeleitet, selene von haleo (äXeco) = strahlen.
Gerade in diesem gleichzeitigen Erleben von Blut und LicUt, das
mit dem Verlassen der Mutter zusammenfallt, sehe ich eine Be-
stätigung dafür, daß das Zeitmaß vom Menschlichen genommen ist,
nicht vom gestirnten Himmel, von der Menstruation, nicht vom
Mondwechsel. Und ich werde in dieser Meinung durch die Kenntnis
bestärkt, daß Luna — Artemis — Selene Göttinnen des Mondes und
der Geburtshilfe waren.
Die Assoziation Sichel-Mond weckt die Erinnerung daran, daß
die Mondgöttin die Geburten leitet. Auch da begegnen wir der
seltsamen Tatsache, daß unsre scheinbar wissenschaftliche Zeit an
Phänomenen vorübergeht, die für unsre Vorfahren und für anders-
geartete Kulturkreise der Gegenwart größte Bedeutung haben. Bis
zu dem Moment der Geburt kann man Mutter und Kind als eine
Einheit betrachten, selbst wenn man weiß, daß die Lebensflüssig-
keit des Bluts bei beiden Wesen verschieden ist; erst der Moment
der Abnabelung trennt für den Augenschein das Kind von der
Mutter. Aus dem Kreis Mutter — Kind löst sich ein Segment, zwei
neue, einander nahe, aber ganz selbständige Kreise entstehen:
Weib und Kind. Die Verbindung dieser Kreise, die Nabelschnur,
wird zerschnitten. (Wir können annehmen, daß vor der Erfindung
der schneidenden Werkzeuge, diese Schnur ebenso wie bei Tieren
zerbissen wurde, was ja nur eine primitive Form des Schneidens ist.)
Wie uns berichtet wird, hatten die Griechen in Delphi einen kegei-
120
nii
förmigen Stein, den sie den Nabel der Welt nannten; ihnen nmß
also der Nabel als Mittelpunkt des Lebens erschienen sein. Dabei
erinnert man sich an die unzähligen Darstellungen Buddhas, wie
er ernet und lächelnd den Nabel seines schwangeren Bauches be-
schaut. Stellt man demgegenüber, daß bei uns nur noch die Kinder
und die Studenten der Medizin — erstere mit allergrößtem Interesse,
letztere mit dem Widerstreben, das wir allem entgegenbringen, -was
mystische Bedeutung hat — , daß bei uns nur noch die irrationalen
Infantes den eignen Nabel betrachten dürfen, bo haben wir allen
Grand, unsre Kultur für todgeweiht zu halten: im Nabel ist Ver-
gangenes und Zukünftiges, er ist das Symbol des Stirb und Werde,
des Individuums und des Sexus. Wir sollten uns schämen.
Die Etymologie versagt ganz. Sie zählt in den verschiedenen
Sprachen die verschiedeneu Namen für Nabel auf, führt sie auf eine
Wurzel nebho = platzen und ombh = schwellen zurück, spielt
ein wenig damit, daß im Lateinischen Nabel umJbüicus heißt und
Schild umbo, daß das griechische omphalos {ofi(palog) dem umbUicus
gleichsteht und daß Nabe des Wagenrades dem Wort Nabel nahe
verwandt ist. Und sonst gibt sie keine Auskunft, es sei denn, daß
sie den Verdacht in uns zurückläßt, die Gelehrten seien der Mei-
nung, daß der Wagen älter sei als die Schwangerschaft.
Ich bin vorläufig auf das Meinen angewiesen, auf das Erdichten.
Und da denke ich mir, daß der Omphalos der Griechen etwas mit
dem Phallus (phales und wohl mit amphi) zu tun hat und Nabel
in dem deutschen Näher, Naber = Bohrer, vielleicht auch in Natter
■weiterlebt; Naber ist sicher mit Nabe, dem vorragenden Teil des
Rades, dem Teil, um den sich alles dreht, aufs engste verbunden,
amphi ist dann der Kreis, Phallus das Zentrum (Stachel). (Cymr.
heißt naf, Herr; im Englischen ist neb = Schnabel, die symbohsch
dem Phallus gleichwertige Brustwarze ~ nipple, das Wort nib [slangj
bedeutet gentlemen.) Wenn dem so ist, so bezeichnet das Wort
Omphalos ebensowohl wie Nabel das Doppelgeschlecht des Mensch-
lichen und ebenso das Kindlich-Mannbare in der Beziehung von
Nabel zu Schwangerschaft und Geburt. Ist der Nabel ein solches
Symbol, so braucht man sich nicht darüber zu wundem, daß wir
den Nabel nicht mehr wie Buddha und das Kind beschauen; denn
m
121
nichts haben wir so gründlich verdrängt wie die Dreieinheit des
Menschlichen und die Ehrfurcht vor der Mutter, von der wenig
übriggeblieben ist, schon seit einem Jahrhundert. Denn daß fast
alle Menschen schmerzhafte Punkte an der linken Seite des Nabel-
lings haben, daß links oberhalb des Nabels nach dem Herzen zu
und in der Mitte zwischen Nabel und Schwertfortsatz, dort wo
das Männliche des Brustbeins sich dem Weibüchen des Nabelrings
entgegenreckt, dem Sonnengeflecht vorgelagert, überaus empfind-
liche Stellen sind, muß man wohl als Überbleibsel aus den Ver-
drängungskämpfen gegen die Mutterverehrung anerkennen; aber
es drückt sich darin nicht Verehrung, sondern Kampf gegen Ver-
ehrung aus. Allerdings muß man zugeben, daß die Frauen es den
Kindern nicht mehr leicht machen, sie zu verehren, seitdem sie die
Schwangerschaften nicht als Ehre empfinden, sondern sie unter
allerlei Vorwänden bewußt und unbewußt vermeiden oder ver-
stecken.
Irgend etwas muß die Sprachforschung dazu gebracht haben, den
Nabel mit dem Wagen in Verbindung zu bringen. Es ist nicht
selten, auch bei Gelehrten, daß das Unbewußte versucht, den
Denker auf dem richtigen Weg zu bringen. Und so mag es auch
hier sein. Denn unsre Kenntnis des Symbols ist soweit gediehen,
daß wir die Erfindung des Wagens geradezu aus der Schwanger-
schaft herleiten können. Die Geschichte vom kleinen Hans, die
Freud schon vor drei Jahrzehnten veröffentlicht hat und die eine
Fundgrube für die Mutteraymbole ist, sollte einen jeden darüber
belehrt haben. Aber auch sprachlich läßt sich darüber viel sagen.
Man behauptet, Wagen hänge mit Weg zusammen, ebenso wie
vehiculum mit via. Der Urweg ist aber die Spalte und Scheide des
Weibes. Weg und Brücke sind Schöpfungen des Eros, der ja auch
Erfinder des Geldhandels und Warentausches ist, des „Verkehrs".
Deutlich klingen diese Dinge noch in dem Worte „Rad" nach.
(Es gibt einen Ausdruck für Schubkarre, der lautet Radebere,
bayr. Tragradel; bere ist dasselbe wie das schwedische „barn",
das englische „to bear", das deutsche „gebären". Der Schub-
karren ist die Mutter — Frau.) Allgemein wird angenommen, daß
„Rad" dem lateinischen rota = Rad und rotundus = rund stamm-
122
n
n
verwandt sei. Die Wurzel lautet angeblich reth ^= laufen. Das
mag so sein. Die Ableitung rotundus = rund führt aber auch zu
dem griechischen Ausdruck für Rad kyklos [KVxXog), der gleich-
zeitig Kreis bedeutet. Zu kyklos gehören als Verwandte das eng-
lische wheel und das schwedische hjul = Rad. Alle diese Wörter
werden auf eine Wurzel gelo = drehen, treiben zurückgeführt, von
der wiederum gr. polos (TtoXog) = Achse (erhalten in Pol) her-
rührt. Verwandt damit sind gr. pelo (TzeXco) = sich bewegen,
pelte {TzeXtr}) = Schild (s. oben umbo — umbilicus), pellis {jiekXtg)
= Becken (lat. pelvis), pella (TisXla) = Milcheimer. Alle diese
Wörter legen den Gedanken nahe, daß kyklos (wheel, hjid) etwas
mit der Kugelform des schwangeren Leibes zu tun haben könnte,
mit dem Kreise seines Umfangs. Und mag man es wollen oder
nicht, gleichzeitig stellt sich die Meinung ein, daß die deutschen
Wörter „kreisen, kreißen" (gewöhnlich von kreischen abgeleitet)
doch mehr mit dem Kreis zu tun haben könnten, als die Etymologie
es wahrhaben will, ja selbst die deutsche Bezeichnung für das
OS sacrum = Kreuzbein, Kreuz könnte so zu Kreis (ahd. Kreits)
bezogen werden. Entschließt man sich zu solcher Laienetymologie
der Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, so ündet man auch
noch das lateinische radius = Stab, Radspeiche, Kreishalbmesser;
ramus = Zweig, Ast ; radix = Wurzel. Und hei diesem letzten Wort
„Wurzel" stehe ich plötzlich der Einsicht gegenüber, daß wirklich
der sexus, das segmentum, das beim secare des Kreises entsteht,
Wurzel dieser Wortgruppen ist, zumal da Wurzel von einem Stamm-
wort rota =Wurzel, Rute herkommt. (Hier sei an den englischen
Ausdruck holy rood erinnert. Eins der vielen Menschensymbole,
die in dem Erlös ungsmythus der Kreuzigung und Auferstehung
enthalten sind, gibt sich hier kund. Rute = männliches Glied ;
rota ist auch Rad.)
Ähnlich wie das religiöse Leben der Griechen den Nabel als
Mitte der Welt anerkannt hat, versucht es von Urzeiten her die
darstellende Kunst. Als Symbol dafür hat sie von jeher den Kreis
gewählt, der um den Menschen bei ausgestreckten Armen und ge-
spreizten Beinen geschlagen wird, so daß der Nabel Mittelpunkt
wird. Die uralten Steinreliefs, vor allem auch das Hakenkreuz,
123
drücken die Symbolik des Menschen im Kreise der Mutter ebenso
deutlich aus wie heutigentages die russische Schaukel oder das
Rhönrad oder das Triebrad der Maschinen diesen Mythus ver-
sinnbildlichen. Ja, bei näherem Zusehen gewahrt man, daß unser
religiöses und wissenschafthchea und künstlerisches Leben so gut
wie die Mathematik und Technik von dieser symbolischen Idee
durchtränkt sind. Das grundlegende Prinzip des Menschhcheu,
Mann-Weib-{Kreis)Kind (Mann im Kreis) ist in dem Symbol er-
faßt, ja dadurch, daß sich in dieses Symbol des Menschhcheu die
Zeitrechnung und das Sonnensystem, ja alles, was wir kennen,
eingefügt hat, auch Wahrheit, Irrtum und Schwanken zwischen
beiden, auch Himmel, Hölle und Mensch, auch Gut und Böse und
Menschlich, zeigt sich, warum dieses Symbol trotz tausendfältigem
Formwechsel immer wieder benutzt werden muß. Der Kreis zeigt
die Grenze alles menschlichen Lebens, den Tod sowohl wie das
Leben, das Sein wie das Werden, die Fähigkeit des Treibens und
Getriebenwerdens (Radform) und das Gefesseltsein an Ebene und
toten Körper. Und es muß erwähnt werden, daß sowohl das Haken-
kreuz wie das griechische Kreuz das Symbolische des Sterbens und
Werdens am deutlichsten zeigen durch die Bewegung andeutenden
Haken und durch den Gekreuzigten.
Betrachtet man den Mittelpunkt dieses um den Menschen ge-
schlagenen Kreises, den Nabel, so zeigt sich auch da wieder die
Eins und die Drei des MenschUchen. Der Nabel selbst entspricht
der Spitze des Ghedes, die aus dem umgebenden Ring etwas hervor-
ragt wie der oberste Teil der Eichel aus der Vorhaut. Ich habe
schon früher erwähnt, daß die Vorhaut als weibhcher Teil des
Menschhchen empfunden wird, gleichzeitig aber auch als KindHches
im Gegensatz zum Männlichen, weil ja die Vorhaut verstreicht in
dem Augenbhck, wo sich das KindKche in das Männliche verwandelt,
in der Erektion.
Man sieht, daß der Nabel in Wahrheit das Mysterium der Men-
schenwelt in sich enthält, und dieses Mysterium gewinnt an Tiefe,
sobald man sich der Entstehung des Nabels zuwendet: er ist der
Rest des Nabelstrangs (Nabelschnur), der nach der Geburt in der
Nähe der kindlichen Bauchhaut durchgeschnitten wird, wie ich
124
schon sagte, ein Versuch, das Unteilbare (Individuum) zu trennen
(Geschlecht — sexus — secare). Die Ausdrücke Strang und Schnur
führen einen Schritt weiter. Strang ist urverwandt mit dem Wort
streng, das ursprünglich angespannt, stark, hart bedeutet. Die
Bedeutung des Gedrehtseins scheint erst nachträglich hineingelegt
worden zu sein, wahrscheinlich gerade wegen der gedrehten Form
des vorbildlichen Nabelstrangs. Die Härte xind Länge des Nabel-
strangs führt zum Männlichen hin, die Verbindung mit dem Mutter-
kuchen zum WeibHchen, während die Drehung und das Rinnen
des nährenden Blutes innerhalb des Nabelstrangs die Vereinigung
von Mann und Weib symbolisieren ; an das andre Ende des Strangs
ist das Kind, die Zukunft, befestigt. Das Wort Strang betont das
Männliche, während in dem Wort Schnur das Weibliche vorherrscht.
Wir haben in unsrer deutschen Bibelsprache überall noch die Be-
zeichnung Schnur für die Sohnesfrau. Zugleich ist in dem Wort
auch das männliche Sohn enthalten (idg. snusa, snusus ;= Schwie-
gertochter wird als Ableitung des idg. sunu = Sohn aufgefaßt; im
Schwäbischen entspricht dem Söhnin oder Söhnerin).
Ehe ich mich näher über die geheimnisvollen Schicksale äußere,
die im Nabel symbolisiert sind, muß ich nochmals auf das Wort
secare und seine Ableitungen zurückgehen. Zunächst erwähne ich
die Wörter Säge und lat. securis — Beil. Im Sägen symbolisiert
sich das Hin und Her des Schneidens, aber auch des Geschlechts-
verkehrs, der ja mit einer Trennung des Individuums Mann von
seinem Männlichen, dem Samen, unter gewaltsamer Erregung endet.
In lat. securis = Beil versinnbildlicht sich das Abschlagen, das im
Deutschen das Wort Geschlecht geschaffen hat. (Merkwürdig ist
die deutsche Redensart „sein Wasser abschlagen'*, was vielleicht
auf die unbewußten Zusammenhänge von Urinieren und Samen-
erguß hindeutet.) Kluge macht den Vorschlag, das Wort schlagen
(got. slahan, altn. slä, engl, slay usw.) mit gr. laktizo {laKuCa),
lat. lacerare = zerreißen, zerfetzen zusammenzubringen, was aller-
dings Walde ablehnt, weil es sinnlos sei, jedoch gibt das Wort Ge-
schlecht in Verbindung mit dem Zerfetzen der Jungfemhaut durch
Beischlaf und Geburt den Beweis, daß mehr Sinn in dieser Ver-
bindung steckt, als Walde annimmt. SchUeßhch gibt es noch das
125
lateinisclie Wort saxum, das abgeschnittener Ast bedeutet, gleict-
zeitig aber auch Fels, Stein und Klippe. Ich stoße hier auf das,
was die Psychoanalyse den Kastrationskomplex nennt, behalte mir
aber vor, darauf später zurückzukommen; der unglücklich gewählte
Ausdruck Kastration erfordert eine besondere Auseinandersetzung.
Dagegen ist die ÄhnHchkeit der Erschlaffung des aufgerichteten
Gliedes nach dem Geschlechtsverkehr mit dem Niedersinken eines
ragenden Astes beim Durchsägen bezeichnend. Die Vorgänge in
dem, was man Kastrationskomplex nennt, sind nicht erschöpft,
wenn man nur an das blutige Abschneiden des Penis (Menstruation
des Weiblichen) denkt ; neben der blutigen Verwandlung des Männ-
lichen in das Weibliche (sexus, secare) liegt in dem Begriff Kastra-
tionskomplex die Verwandlung des Mannbaren in das Kindliche
durch den Verkehr mit dem Weiblichen.
Um den Grund für meine weitern Meinungen noch zu verstärken,
mache ich auf das schwedische Wort sax — Schere, Schwert auf-
merksam; auch „sax" (lat. saxum) hat eine Bedeutung Fels, Stein.
Der Wortsinn Fels, KHppe tritt in einem andern schwedischen Wort
„skär = Felseneiland" hervor, während das Verbum skära in seiner
Bedeutung „abschneiden" dem lat. secare ganz nahe steht. — Im
Griechischen gesellt sich zu diesem Wortkreis keiro (xEtgco) = sche-
ren, wozu ker {?ci]q) = Schicksal, Tod und karpos (xaQTiog) = Frucht,
Leibesfrucht gehören. Im Deutscheu ist Stammverwandtschaft zu
secare in den Wörtern Schere, scheren vorhanden, wahrscheinlich
auch in Messer. (Ahd. mezzi-rahs, mezzi-sahs, sahs angebhch ver-
wandt mit saxum, sax == Stein — Anschluß an die Messer der
Steinzeit — , das mezzi soll mit schwed. mat, engl, meat — Speise
zus ammenhängen.)
Wichtig für meine Zwecke ist weiter, daß im Schwedischen klippa
als Substantivum KHppe bedeutet, als Verbum sehneiden, scheren.
Im Deutschen hat sich in dem Wort klipp-klapp das Klippen als
Schneiden erhalten. Auffallend ist, daß im Englischen to clip neben
schneiden auch umarmen bedeutet.
Daß in allen indogermanischen Sprachen übereinstimmend die-
selben wichtigen Lebensgebiete sich um das eine Wort secare
gruppieren, das seinen tiefsten Sinn in den Wörtern sexus und
126
Geschlecht kundgibt, beweist, wie tief einmal die Menschenseele
von der gewaltsamen Trennung des Individuums Mutter-Kind er-
griffen gewesen sein muß, und das Erstaunen darüber, daß für uns
der Moment des Äbnabelns kaum noch bewußte Bedeutung hat,
wächst. Aber bei den Griechen hat es einmal Keren gegeben, bei
den Römern Parzen und bei den Germanen Nornen. Das, was wir
Schicksal nennen, war mit dem Durchschneiden des Nabelstrangg
innig verbunden. Gemeinsam ist diesen Schicks alsgöttinnen die
Zahl Drei, gemeinsam auch das weihliche Geschlecht, gemeinsam
der Sinn von Vergangenheit (nord, urdh, gr. Atropos [arpoTio?]),
Gegenwart {nord. verdhandi, gr. Klotho [xXcO'd-co]) und Zukunft
(nord. skuld, gr. Lachesis [Aa;;£a(?]), gemeinsam das Spinnen des
Schicksalsstrangs und die Schere, das Sein, Werden und Vergehen,
Neben Ker (k^^ von keiro, heiqo) = scheren) hatte der Grieche
auch die Moira (fzotQo) = Teil (von meiromai, fUiQO/ia = Anteil
haben). Bei dem einen Namen ist die Handlung des Zerschneidens,
bei dem andern der Erfolg der Handlung betont, das Entstehen
des Geschlechts und die Tatsache des Geschlechts. Das lateinische
Wort Parca = Parze (ursprünglich parica = Geburtsgöttin) zeigt
die Verbindung des Schicksalsgedankens mit Geburt und Zer-
schneiden der Nabelschnur (Lebensschnur) am deutlichsten. Der
Name ist abgeleitet von pario = gebären, zu dem auch pars = Teil,
portio = Teil (portio uteri wird der in die' Scheide ragende Teil
der Gebärmutter genannt, der symbolisch sowohl die Eichel wie
den Nabel vertritt), porta = Türe, portus — Hafen gehören, viel-
leicht auch par = gleich.
Ich muß einen Augenblick auf den Ausdruck spinnen (vielleicht
verwandt mit spannen, Ehegespann, Ehegesponst) zurückgreifen.
Wahrscheinlich verbindet sich der Schicksals gedanke ebenso mit
dem Weben wie mit dem Spinnen, die ja in der Tat begrifflich
zusammengehören, auch Spindel und Weberschiff haben gewisse
Ähnlichkeiten. Der lateinische Ausdruck für weben ist texo, was
gleichzeitig auch bauen heißt (textor ^^ Zimmermann, gr. tekton,
Tefixwv = Zimmermann, techne,T£;Kr?; = Handwerk, Kirnst). Walde
findet, daß ein kaum überhrückbarer Bedeutungsunterschied zwi-
schen zimmern und weben besteht. Sobald man bedenkt, daß das
127
erste Haus, in dem der MenscL wohnt, die Gebärmutter ist und
daß aus dem, ersten Hin- und Herbewegen des Weberschiffchens
(männliches Glied) das großartige Gewebe (Textur) des Menschen-
kindes entsteht, verschwinden diese Bedenken.
Die deutschen Wörter wibbeln, wabbeln, Wespe, aber auch Wabe,
die alle mit weben zusammenhängen, deuten nach derselben Rich-
tung, ja ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß das rätselhafte
Wort Weib {wif, wüf) mit weben zusammenhängen könnte. (Kluge
gibt bei Weib das althochdeutsche weibon = unstet seins schwan-
ken an, schwed. viv = Weih, viva = schwanken; daß das aber
mit den Geschlechtsfunktionen des Weibes in Liebe und Schwan-
gerschaft zusammenhängen könnte, kommt ihm nicht in den Sinn.
Ist es richtig, ao erscheint in dem Unbewußten der englischen
Sprache eine der schönsten Eigentümlichkeiten der englischen
Rasse, ihr Humor. Sie nennen die Ehefrau vom Weben ausgehend
wife, die unverheiratete spinster darf spinnen, aber nicht weben.)
Ich glaube auch, daß gr. teknon = Kind stammverwandt mit
texo ist und ebenso tikto = gebären, zeugen.
Man ist gewöhnt, bei den Wörtern gebären, Geburt nur an den
weibUchen Teil des Individuums Mensch zu denken, aber das Un-
bewußte faßt den befruchtenden Samenerguß des Männlichen
ebenso als ein Gebären auf. (Das Wort „gebären** wurde im Mittel-
alter auch für „zeugen" gebraucht, dasselbe gilt von gr. tikto xmd
lat. pario.) Darai^ ergibt eich, daß sexus = Geschlecht beide ge-
trennte Teile des Individuums, männHch und weiblich, umfaßt.
Bei dieser Gelegenheit mache ich darauf aufmerksam, daß die
Schere ihrer Form und Leistung nach Symbol des Weiblichen im
Geschlechtsakt ist und auch vom Unbewußten so aufgefaßt wird;
es wäre denkbar, daß das Unbewußte aus der Tatsache der ge-
spreizten weiblichen Schenkel und der schicksalsmäßigen Folge
der Entmannung des Mannes im Beischlaf die Anregung zum Er-
finden der Schere genommen hat. Ich erinnere au das englische
to clip = umarmen.
Der dritte Bestandteil des Individuums, das Kindliche, ist in
dem Wort sexus allerdings nicht enthalten (ganz anders als bei dem
deutschen „Geschlecht", das sich auch auf Abstammung bezieht
128
und das Kindliche mitbetont als Resultat des Abschlagens), aber
ich halte es für möglich, daß das Wort saxum {Fels, Stein) ebenso
wie das schwedische skär = Felseninsel und kUppa = Klippe der
Symbolik des von der Mutter (Berg) abgesprengten, vereinsamten
Kindes entsprungen ist. Zu dieser Annahme glaube ich einiges
Recht zu haben. Das schwedische skär, dem das deutsche Klippe,
weiterhin Riff entspricht, ist im Grunde Insel, lat. insula. Insula
ist nach Walde das im Meere oder Salzwasser liegende (gr. en hale
usa, £v aXr} ovaa) en sale. Wiederum muß ich feststellen, daß der
Mensch bei Dingen im Salzwasser zunächst an das Kind gedacht
haben muß, denn das Kind im Mutterleib hat er früher gekannt
als das Meer. (Vermutlich sind mare = Meer und mater = Mutter
nicht bloß klangähnlich, sondern stanun verwandt.) Die Beziehung
des schwedischen skär zum Komplex Mann- Weib-Kind gewinnt
dadurch an Kraft. Aber auch das deutsche Klippe führt zum
gleichen Sinn hin. Klippe (engl, cliff), meint Kluge unter KHppe,
könne mit dem isl. klifa = klettern nicht verknüpft werden, weil
das gemeingermanische kliba-, von dem Klippe herkomme, kleben
bedeute, kleben und klettern stimmten nicht zusammen. Ich könnte
an den bekannten Volkswitz erinnern, daß das Kind an der Nabel-
schnur hochklettert, aber das ist nicht nötig. Denn unter dem Stich-
wort „kleiben" sagt derselbe Kluge, daß anord. klifa = klettern,
klimmen zu kleben gehöre. (Wir sagen, jemandem eine Ohrfeige
„kleben**, der Schweizer nennt die Ohrfeige „Chlefe'* ; Kleiber
= Spechtmeise, angeblich weil er das Eingangsloch zum Nest zu-
klebt, wahrscheinlich aber weil er der einzige Vogel ist, der auch
abwärts klettern kann.) Das Wichtige darin ist, daß „kleben*^ mit
den Wörtern „leben" und „bleiben" stammverwandt ist, das
Lehende ist das Bleibende, das, was bei dem beiderseitigen Sterben
des männlichen und weiblichen Sexus im Geschlechtsverkehr
lebendig bleibt, das Individuum, wie ich es verstehe, das Kind,
das im Salzwasser Seiende, die KUppe. Und wenn man den Weg
des Samentierchens bei der Befruchtung bedenkt oder das Geboren-
werden des Kindes, so liegt es klar vor Augen, daß die Tätigkeit
des Kletterns dabei notwendig ist, daß der Same klebrig ist, hat
noch niemand bezweifelt. — Weitern Aufschluß gibt das Wort
9 Groddeck, Der Mensoli ab Symbol 129
Riff (engl, reef), Kluge erwähnt, daß man es mit rifa = Ritze,
Spalte, Riefe zußammenb ringe, das würde heißen mit dem weib-
lichen Geschlechtsteil. Das englische rifle = Büchse, Gewehr leitet
zu dem Männlichen über. Denn, sagt er, nord. rif (unser Felsen-
riff) laute gleich mit nord. rif = Rippe, was wohl nur Zufall
sei. Aber es ist wohl kein Zufall, denn Rippe — ich sehe ab von
der hebräischen Sage über die Erschaffung des Weibes — ist ur-
verwandt mit Rebe, das von idg. rebb — umschlingen herkommt.
(Ahd. himi-reba =^ Hirnschale.) Das Unbewußte zwingt den Ety-
tQologen, die richtige Verbindung herzustellen, ohne daß er eich
dessen bewußt wird: denn da ist kein Zweifel, die Urumschliugung
ist die von Mann und Weib.
Wollte ich in dieser Richtung weitergehen, so könnte ich leicht
noch manches Problem zu diesen Wörtern hinzufügen. Der Leser
wird sich vieles selbst ergänzen müssen, zustimmend oder ab-
lehnend. Ich möchte aber einen Einfall nicht unerwähnt lassen,
der sich mir aufdrängt. Das Wort Rebe in seiner Ableitung von
rebh = iimschlingen führt zu einem losen Zusammenhang mit dem
Sexus von Mann und Weib. (Die Gewohnheit, die Rebe — weib-
lich — so zu pflanzen, daß sie den Baum [Oberitalien] oder die Stange
— männlich — umschlingt, bestätigt das.) Schlingen ist „hin und
her ziehend schwingen" (Kluge), wie es sich noch in den Wörtern
„schlingern, schlenkern, Schlange" erhalten hat (auch andre Spra-
chen beweisen dasselbe). Die Sinnesverwandtschaft mit dem Leben
gebenden Verkehr von Mann und Weib wird noch deutlicher, wenn
man, wie es allgemein geschieht, dem Wort „schlingen" den Sinn
von „schlendern" beilegt und das alte Phallussymbol „Schlange"
dazu nimmt. Wählt man für „umschlingen" umwinden, so ist es
dasselbe (Windel, wickeln). Winden führt zu „Wende" = Grenze,
Umkehr (Wendeltreppe Symbol der Zeugung und Geburt) und
„wenden" = sich ändern. Fügt man dem hinzu, was ich über
Rippe und Riff und Kind gesagt habe, so gewinnt die hebräische
Legende immer mehr symbolischen Halt. Das Leben kommt in
Beziehung zu dem Auspressen des Traubensafts, zum Wein. (Leben,
bleiben, kleben, Klippe, skär, Insel.) Auch das Wort Kelter gehört
hierher, es ist mit lat. calcare = treten stammverwandt (calcar
130
11k.
= sporn ist mäniJiclies Symbol). Man könnte diese Verbindungen
rasch ablehnen, aber es erheben sich Schwierigkeiten. Im Griechi-
schen gibt es ein Wort omphax (ofiqja^) = unreife Weinbeere; es
steht in enger Verwandtschaft mit omphalus — amphi — phallus,
amphi {afMpi)^ wahrscheiaUch verwandt mit um- = umschHngen,
umwinden, sicher verwandt mit lat. ambo = beide. Kelter heißt
im Griechischen lenos {Xr]vog) = Trog, Sarg, Standloch für den
Mast, Wagenkasten, alles weibUche Symbole; es kommt von der
Wurzel le-, die „ergreifen, wollen", aber auch „hingeben" be-
deutet; die Geschlechtsbeziehung ist auch hier gegeben. Für „Wein"
hat das Griechische oinos (oivoi;), das geradezu urverwandt mit
dem lateinischen vinum = Wein ist. Nach Walde hängt vinum
mit vieo := ranken, flechten zusammen. Er führt eine Menge Ab-
leitungen und Verwandtschaften mit vieo an (unter andern vitus
= Radfelge, das zu phallus leitet), leider nicht das Wort viesco
= verwelken, verschrumpfen, das das Gleichnis des männlichen
Einschrumpfens durch das Umwinden des Weihhchen erst ver-
BtändHch macht. Noch viel weniger stellt er eine Verbindung mit
vita = Leben und vivere = leben her. Auch vir = Mann fehlt in,
diesem Verzeichnis der Wortverwandtschaften. Das Wort für Kel-
ter „torcular" ist mit torqueo = drehen, winden zu verbinden,
bietet also auch wieder das Gleichnis des Männlich -Weiblichen.
Das griechische Wort für Insel ist nesos {vrjoog); Prellwitz bringt
es in Beziehung zu naus {vavg) = Schiff, das von der Wurzel nau-,
schwimmen herkommen soll (ebenso lat. navis = Schiff, nauta
= Schiffer), nausia (vavma) ist die Seekrankheit. Nesos {vTjoog)
ist demnach die im (Salz-) Wasser Schwimmende, in eale — insula.
Für Wort und Begriff „KUppe" gibt es petra {jieiga)^ spilas
{omXag)y skopelos [oHOneXog). Von petra gibt es das Maskulinum
petros = Stein, während sich das Femininum in altisl. hvedra
:= Riesin, Berg wiederfindet. Das Zwiegeschiecht kommt in spilas
ebenso deutlich hervor: im Deutschen sind damit verwandt spitz,
Spießer, Spieß. Die Wurzel spilo- ausdehnen, spi- spannen, strecken
ist bezeichnend für die phallischen Beziehungen (Speile, Speiche,
mhd. spicher = Nagel, ahd. spinula = Stecknadel, lat. spina = Dom,
Gräte, spica = Ähre, spicare = spitzen usw.). Skopelos soll mit
9*
131
ekeptomai (oxEmofiai) = Wache halten, spähen zusammenhängen.
Skepas (axeTiag) ist Schutzdach, Hülle — weibliches Symbol. Die
Sinnbeziehung zu sehen und Auge ist wichtig. Im Schwedischen
heißt Insel ö, das Auge heißt ögon; im Deutschen ist Au, Aue
= Insel, Wasser, die althochdeutsche Form ist augia, fast dasselbe
Wort wie Auge; im Englischen ist Insel island (unser Eiland), es
lautete im Angelsächsischen eg, egland, im Altnordischen ey.
Natürlich Hegt für mich als Laien die Annahme nahe, daß hier eine
Verbindung zwischen island, eye und egg, zwischen Ei und Auge
und Eiland bewiesen sei. Aber die Etymologen sind andrer An-
sicht. Man lernt es, sich zu fügen.
Das „Scheren" heißt im Griechischen kura (jtovga) von keiro
nnd koreuo = scheren. Auch da kann ich mich nicht der Meinung
enthalten, daß dieses Wort etwas mit köre [xogi]) ^ Mädchen und
kuros (xovQog) ^ Knabe zu tun hat; das Mädchen wegen Gestalt
und Funktion der Schere, der Knabe weil von kuros, koros das
Wort korthyno {xo Q0vvco) = crhehen abgeleitet ist; die Wurzel
lautet angeblich cera, cor tragen, sich erheben, von der auch
lat. crescere = wachsen und creare = erschaffen abhängig sein
sollen.
Die lateinischen Wörter für Klippe sind cautes und scopulus. —
Cautes kommt nach Walde von cos = Wetzstein; er scheint es mit
acutus = spitz zusammenzubringen, läßt sich nicht überzeugen,
daß cos etwas mit coxa = Hüfteneinsatz, Hüftbeingrube oder gar
Costa ^ Rippe zu tun habe; aUerdings gäbe es ein ab. Wort kost
= Knochen, aber nun gar das russische kosa - Sense könne nicht
als verwandt in Frage kommen. Das ist aber nach dem, was über
secare und Sense zu sagen ist, gar nicht so unwahrscheinlich. ~
Wenn übrigens costa und coxa, cos -= Wetzstein (man denke an
die Bewegung des Wetzens und an die obszöne Bedeutung davon)
doch zusammenhängen soUten, paßt coxim = zusammengekauert
(Erschlaffung) gut dazu.
Scopulus = Khppe bringt Walde mit scapus = Schaft, Stengel,
scopio = Stamm des Spargels, ahd. skaft = Speer, gr. skeptroa
iaxr}7irQov) = Stab, Zepter zusammen. Die phalUsche Bedeutung
ist ohne weiteres klar.
132
Die Schere heißt im Lateinischen forfex. Prellwitz (und halb
und halb auch Walde) bringt es auf forma ^ Gestalt und facere —
fex ^ tun zurück, Wenn „schneiden, scheren" Symbol des Ge-
schlechtsverkehrs ist, könnte man es sich nicht besser wünschen.
Das Verbum scheren heißt lat. tondeo (tonsura), und tondco wird
von gr. tendo = abnagen abgeleitet; ob es auch zu lat. teudo
^ spannen, dehnen gehört, habe ich nicht feststellen können.
Wenn ich vorhin die Entstehung des Gedankens und Worts Schere
aus dem Geschlechtsverhalten des Weibes herleitete, so führen die
Wörter sica = Dolch, sahs, sachs = Messer, Schwert (alle verwandt
mit secare) auf die Form und Tätigkeit des Männhchen zurück, ebenso
kann sich sech = Pflugmesser nur auf die männliche Sexuahtät be-
ziehen. (Das Pflügen ist uraltes Symbol der männlichen Geschlechts-
betätiguug.) Man kann, wenn man will, den Begriff Schneiden, der
in diesen Wörtern liegt, mit der Beischlafsbewegung, mit der Samen-
ergießung oder mit dem Erschlaffen des Gliedes zusammenbringen,
wie ich es getan habe. Ein weiteres Wort läßt noch eine andre
Deutung zu, das ist das Wort Schermaus für Maulwurf. Selbst-
verständlich ist der Maulwurf mit seiner geheimnisvollen unter-
irdischen Tätigkeit, mit dem Graben des Gangs im Schöße der Erde
ein treffhches Symbol des Männlichen, das ja vom Geheimnis lebt
und den unterirdischen Gang gräbt. Die Silbe Scher- könnte vom
weiblichen Partner genommen sein, eine Schere, die das Glied —
Maus zum Erscblaffen bringt, abschneidet. Die Art der Zusammen-
setzung spricht aber eher dafür, daß die Maus schert, als daß sie
geschoren wird. Und außerdem wäre das Auffallende im Dasein
des Maulwurfs, das Aufwerfen des Hügels, in dem Symbol nicht mit
erfaßt. Deshalb glaube ich, daß der Ausdruck Schermaus sich auf
den Vorgang der Geburt beziehen läßt. Das Ganggraben wäre
der Geschlechtsakt, das Aufwerfen des Hügels die Schwanger-
schaft, das Erscheinen des Maulwurfs die Geburt, die notwendig
die Abnabelung zur Folge hat. Schermaus würde die vorbereiten-
den Vorgänge bis zum Moment des Scherens, der Abnabelung um-
fassen.
Das Phänomen der Schwangerschaft (Hügel der Schermaus)
bringt mich zu. dem Kyklos, Zirkel, Kreis zurück. Der Begriff des
133
Kreises erfordert den de8 Mittelpunktes, und hier lassen sieh wieder
andre Fäden anknüpfen. Freilich mit dem Wort Mittel, Mitte,
lat. medius, gr. mesos (fieaog) weiß ich nichts anzufangen, und die
Etymologie gibt mir nicht den geringsten Aufschluß! Dagegen ist
Punkt unbedingt der Stich als Resultat des Stechens (lat. pungere).
Und nun ist es merkwürdig, daß das gleichbedeutende Wort Zen-
trum Stachel heißt (gr. kentron, tcevzQOv). Man gibt eine einfache
und sicher richtige Erklärung dafür, daß das Zentrum des Kreises
ein Stachel oder ein Hineingestochnes (punctum) ist. Die Kreis-
linie wurde mit Hilfe eines Pflockes als Mitte und eines Fadens oder
SeUs als Hadius auf der Erde gezogen und in sie mit einem zweiten
Werkzeug am andern Ende des Radius eingeritzt. Die Symbolik
des Radius als Nabelschnur, des Zentrums als Ansatzstelle der
Schnur am Mutterkuchen (Placenta), des Kreises als der größten
EntfemungsUnie, die die Schnur zwischen Mutter und Kind ge-
stattet, liegt nahe. Punctum mit dem Stachel kentron darin ist
aber auch der Augenblick, in dem Männlich und Weiblich (sexus)
sich zum individuxmi vereinen, dann ist der Kreis die Welt; denn
das Weltgeschehen ist Streben des Sexus zum Individuum. Da
diese KreisUnie nach allen Seiten hin denkbar ist, gehört auch
der Begriff der Kugel (gr. sphaira, lat. globus) in den Komplex
des Nabels und der Schwangerschaft hinein.
Vorläufig werde ich erst einiges über Placenta und Mutterkuchen
sagen. Walde leitet placenta von dem gr. plakus (TiXaHovg) = Kuchen
unter Zuhilfenahme des lat. placeo = gefallen, eben sein ab (fr.
plaire, engl, please, it. piacere). Man könnte kein treffenderes Wort-
gleichnis für den gefälUgen Zustand des Kindes im Mutterleihe
erfinden. (Das itaUenische piano, das in der Musik so bedeutend
ist, gehört zu placeo, planus — flach, eben.) Das griechische
plakus leitet Prellwitz von einer Wurzel plak- breitschlagen her;
es hat ebenso wie placenta die Nebenbedeutung Kuchen (Fladen).
Zu dieser Übereinstimmung, in allen drei Sprachen dem Gebilde die
Bedeutung Kuchen zu geben, hat wohl nicht nur die Form des
Mutterkuchens Veranlassung gegeben, sondern ebenso der selige
Himmelszustand der Leibesfrucht während des Aufenthalts in der
Mutter; die Vorstellung vom Kuchen i^t von der Glückseligkeit
134
nicht zu trennen^ und so ist es natürlich, die Ernährung des Kindes
mit Kuchen zu verbinden.
Dem Wort Kuchen etymologisch beizukommen ist kaum mög-
lich. Ein Laie wird zunächst an Kochen, Koch, Küche denken;
aber eben nur ein Laie. Die Wissenschaft denkt darüber ganz
anders. Wenn ich es recht verstanden habe, ist das Haupthindernis,
Kuchen mit Koch zusammenzubringen, die verschiedene Länge
der Vokale, wozu noch für Kuchen ein gedehntes a im schwedischen
kaka und englischen cake kommt, die abgründig vom lustigen
kurzen o getrennt sind. Vielleicht sind es aber andre lautgesetz-
liche Hindernisse, die solche laienhaften Zusammenstellungen un-
möglich machen. Aber was kümmert das mich? Für mich steht
es fest, daß die älteste Küche der Welt der Bauch gewesen ist, im
besondern der Frauenbauch mit dem Kessel der Gebärmutter und
der Feuerstätte der Scheide, imd daß der erste Koch der Mann
gewesen ist, der das Feuer entzündete und die Frau mit Hilfe seines
symbolischen Küchenjungen schwängerte. Und dieser Küchen-
junge heißt im Französischen coq {coquet, coquin) und im Eng-
lischen cock, im Deutschen Goekler, und im Lateinischen heißt
kochen coqueo. Coq ist die Bezeichnung für den männlichen Ge-
schlechtsteil, heißt aber Hahn, Hahn ist wieder das Tier mit Kamm
und Sporn, bezeichnet aber ebenso wie coq den Geschlechtsteil, und
im Schwedischen heißt „han" er, „hun" (hon geschrieben) sie,
„bennes" ihrer. Da ist die Bescherung. Das Hühnchen ist Küch-
lein, die Küche ist Kuchel (engl, chicken und kitchen). Und Pla-
centa ist das griechische plakus und das deutsche Fladen, alles mit-
einander Wörter für Kuchen, und im Schwedischen ist Kuchen
kaka, und während der Deutsche Kuhfladen sagt, sagt der Schwede
für dasselbe Ding kokaka. Und kacken? Nein, das geht zu weit.
Das ist nicht mehr anständig.
Aber es ist wahr. Wenn ihr armseligen Menschenkinder nicht in
eurem Darm, dieser vortrefflichsten Küche, Millionen kleiner
Mikrobenköche hättet, würdet ihr bald erledigt sein. Sie backen
den Kuchen, den der rohe Barbar Kacke nennt, und die Mi-
kroben des Spermas backen den Mutterkuchen, und symbolisch,
das ist längst bewiesen, ist Geburt und Entleerung, Kind und
135
X
Kacke dasselbe (Atavismus?). Ja, es ist unanständig, aber es ist
wahr.
Der Menscb ist unersättlich, indezente Dinge in sich aufzu-
nehmen. So gehe ich denn weiter. Die Henne legt Eier, das heißt
dem Wesen nach kackt sie diese Eier, und dazu gackelt sie, kackehi
und kakern sind andre Ausdrücke dafür. Im Griechischen heißt das
Bebfauhn kakkahe (xaHxaßrj)^ kakkazo (naxHaCco) = gackern, kak-
kao (xaxxaco) = kacken, kakke (Haxxrj) ist identisch mit unserm
deutschen Wort.
Artokopos (agroxoTiog) ist Koch, kopros {xojiQog) = Mist. Die
ersten Silben des Worts führen zu artos (aQTog) = Brot und hängen
zusammen mit artyo {aQTVCo) — fügen, bereiten, würzen, und dies
Wort führt zu ararisko {cLQaQioxoi) = fügen. Da stehen wir nun
gar vor einer großen Auswahl : ai. gibt es ein Wort „arpayati = steckt
hinein", aram = passend, aras = Radspeiche, araris = Türflügel,
lauter erotische Symbole; ab. irmas- arema = Arm (umarmen,
embrasser), lat. artus — G«lenk, gr. artys {aQTvg) = Freundschaft,
Verbindung, arthron [agSgov) — Gelenk, arachne (aga^vy) = Spinne,
aresko {agsaxcö) = zufriedenstellen, befriedigt werden, areion,
aristos {ageiov, agimog) = besser, der beste, arete (agerrj) — Man-
neskraft (virtus = Tugend). — Alles von der Wurzel ar- vereinigen.
Das Gebilde des Mutterkuchens gibt mir Veranlassung zu einigen
Bemerkungen, die bis zu einem gewissen Grade das „individuum",
die gewaltsam getrennten „sexus" und die Wiedervereinigung
dieser beiden zum „individuum" verdeutlichen sollen. Der Mutter-
kuchen entsteht durch Wachstumsvorgänge von der Gebärmutter
aus und durch solche vom Kinde aus. Von beiden Seiten bilden
sich Platten, die mit Zotten bedeckt sind, so daß die Zotten des
kindlichen TeUs in die Vertiefungen des mütterHchen hineinwuchem
und ebenso die mütterlichen Zotten in die kindlichen Tiefen. Die
kindliche Hälfte wird niemals Bestandteil der Mutter, die mütter-
liche niemals des Kindes. Vielmehr könnte man das Verhältnis
mit dem Falten der Hände, wo die Finger der einen Hand sich
zwischen die Finger der andern legen, vergleichen, nur daß die
kindlichen Zotten nicht aus den mütterHchen Tälern herausgezogen
werden können. Der weitverbreitete Glaube, daß mütterUches Blut
136
in den kindlichen Organismus überfließe, ist falsch, ja, es muß hier
deutlich und scharf ausgesprochen werden, daß das KindUche von
dem Moment an, wo das Ei den mütterlichen Eierstock und das
Samentierchen den väterlichen Hoden verläßt, nicht den geringsten
organischen Zusammenhang mehr mit den Eltern hat, daß eben
die beiden „sexus" sich selbsttätig aufgesucht und zu einem „In-
dividuum" zusammengefügt haben. Von dem Samen wird das ein
jeder sofort zugeben; da aber das Kindliche innerhalb des Mutter-
leibes, allerdings ohne organische Verbindung, sondern nur zur
Pflege bleibt, hat eich die Meinung auf allen Lebensgebieten durch-
gesetzt, daß Kind und Mutter näher zueinander ständen als Kind
und Vater. Bis zu einem gewissen Grade ist das richtig, ebenso wie
es richtig ist, daß ein Haus, in dem wir lange Zeit wohnen und
große Erlebnisse haben, uns vertrauter ist als eines, in dem wir
nur die frühesten Kindheitswochen zugebracht haben; aber unter
Umständen ist das Stammhaus, das seit Jahrhunderten steht, für
uns wichtiger als das Geburtshaus ; das läßt sich nicht ohne weiteres
entscheiden, es sind Imponderabilien. Jedenfalls aber ist das Kind-
liche weder Schöpfung des Vaters noch der Mutter, sondern des
Wiedervereinigungszwangs des „sexus" zum „individumn". Die
Samenzelle sucht aus eigner Kraft das Ei auf, und aus eigner Kraft
öffnet sich das Ei zum Empfang des Zellenbräutigams. Und wie
bei dem Mutterkuchen ist diese Vereinigung der „sexus", Ei und
Samenzelle, keine Vermischung, sondern ein Ineinanderfalten, ver-
gleichbar dem Händefalten, der Umschlingung von Mann und
Weib, nur daß sie unlöslich ist. So wenigstens darf man nach dem
augenblicklichen Stande unsres Wissens urteilen. Naturgegeben ist
die Beziehung Mutter — Kind als Notwendigkeit für das Kind nur
für die Zeit der Schwangerschaft; mit der Geburt endet die Mutter-
schaft im tiefsten Sinne des Worts, von da an kann die Mutter
ersetzt ^verden. Das Kind verläßt die Welt des Mutterleibes und
tritt in neue Weltordnung ein.
Der vorgeburtliche Zustand des Menschen ist Geheimnis, wie
schon die Verhüllung dieses Zustands in der Höhle des Mutterleibs
zeigt, und dieses Geheimnis ist unantastbar, seine Wirkung un-
ermeßlich. Höhle und Heiligtum entstammen derselben Wurzel.
137
Es ist niclit statthaft, dem heiligen Geheimnis nachzuspähen, es
ist auch erfolglos. Aber man kann versuchen, sich einiges klarzu-
machen, die Bedeutung des Heiligen an den Folgen zu ermessen,
die auch die nachgeburthchen Beziehungen des Menschen zu seiner
Mutter haben, Beziehungen, die, wie es scheint, nur der Mensch
sein Leben lang bewahrt und pflegt. Nur so kann man dazu kommen,
die Mutter zu verehren, und Ehrfurcht vor der Mutter ist Be-
dingung des menschlichen Lebens. Der Bahmen dieses Buches
würde gesprengt werden, wenn ich näher auf diese Dinge eingehen
wollte, die sich auf dem Grenzgebiet der Meuschenperson und des
Menschenindividuums abspielen. Person und Individuum sind
weaensbedingende Eigentümlichkeiten, die miteinander verschlun-
gen sind, weder das eine noch das andre steht höher oder niedriger,
sie sind beide menschlich.
Zu der Erscheinung Individuum — Sexus ließe sich leicht eine
Parallele Keimplasma — Körperplasma ziehen. Meine Kenntnisse
auf diesem Gebiet würden aber nur Wiedergaben der Erfahrung
andrer sein. Ich verzichte lieber auf ein Mäntelchen der Wiasen-
ßchafthchkeit, schon weil ich erwarten müßte, daß dies Mäntelchen
sehr rasch von denen abgerissen werden würde, die sich durch
Arbeit das Recht erworben haben, das Gewand der Wissenschaft
zu tragen. Lieber wiederhole ich meine Meinung, daß sexus le-
digUch eine Verkleidung der unteilbaren Dreieinhext des Mensch-
lichen ist, daß schon Ei und Samenzelle individua sind, die nur
der Form nach verschiedenes Geschlecht haben. Bei der Befruch-
tung verschwindet der sexuelle Charakter und die Individuahtät,
die bei dieser Verschliugung beider formell verschiedener individua
entsteht, löst sich nicht wieder, sie ist in gewissem Sinne ewig. In
dem Mutterkuchen ist diese Verschliugung von WeibHch-Kindlich-
Männhch formell unlöslich, sie hat aber keine lebendige Dauer, mit
der Geburt verhert dieses Symbol der Dreieinheit sein Leben. Im
Laufe des embryonalen Lebens nimmt die Individuahtät wieder die
Form des geschlechtlichen Unterschiedes an und führt schließlich
zu dem, was wir als Mann und Weib im Gegensatz zueinander sehen.
Das tägliche Leben, nicht zum wenigsten die Gewalt des Eros,
macht uns fast ganz bhnd für die Tatsache des dreieinen Mensch-
138
liehen, das trotz aller sexuellen Unterschiede beider Geschlecliter
tiefstes Leben regiert. Die Frage nach Männerrecht oder Frauen-
recht, nach Elterngewalt und Kindererziehung dringt nicht bis zu
den Tiefen. Aber niemand kann an ihnen vorübergehen, unser
Erleben ist bedingt durch die verschiedene Form des Unteilbaren
als Mann oder Weib, als Mannbar oder Kind. Die Unterschiede von
Mann und Weib sind da, und sie suchen nach einem Ausgleich, der
für den kurzen Moment der seelischen oder körperlichen Vermischung
eintritt, um sofort wieder zu verschwinden. Man kann mit Recht
diese kurzen Momente der Erosherrschaft das erschütternde Symbol
des Menschlichen nennen; wenngleich die seelische Verschlingung
wohl die innigere ist, so könnte zur Darstellung des Symbols doch
nur die körperliche Verschlingung gewählt werden. Daß die Kunst
fast nie wagt, diese Verscblingung darzustellen, und daß, wenn sie
es wagt, das Wagnis immer künstlerisch mißlingt, ist der beste
Beweis, wie mangelhaft sich tiefste Symbole im Bilde und, wie ich
zufüge, im Wort ausdrucken lassen. Der Gott, der Mensch ist,
der Mensch, der Gott ist, kann nicht dargestellt werden.
Die Kunst vermag nur Mann und Weib gegenüberzustellen.
Der Typus, den sie dafür im letzten Jahrtausend gewählt hat,
ist Adam und Eva im Paradies.
Von Albrecht Dürers Hand gibt es einen Kupferstich, der den
Sündenfall darstellt (Taf. 8) ; in dem hat das Unbewußte — oder
war es das Bewußte des frommen Schalks — in wenigen Strichen viel
vom Menschenleben erzählt. Da sind zunächst im Vordergrund des
Bildes zwei Tiere, dem Adam gehört ein harmloses Mäuschen an,
vor Eva sitzt eine Katze; zum Zeichen, daß sie zu Eva gehört,
ringelt sich ihr Schwanz zwischen den Beinen des Weibes. Wer
kennt nicht Frauen, die beim Wahrnehmen der Maus auf den näch-
sten Stuhl klettern, damit die Maus nicht unter den Röcken nach
dem Mauseloch sucht? — Wer wüßte es nicht, daß die Katze, die
die Maus frißt, ein Weibessymbol ist? — Zwischen Adam und Eva
strebt der Baum in die Höhe, der das Werkzeug versinnbildlicht,
mit dem Mann und Weib sich vereinigen. Und dieser Stamm trägt
nach Evas Seite hin einen ragenden Ast voll lockender Früchte;
um ihn und den Stamm schlingt sich die Schlange, dies Wahr-
139
zeichen vom Manne, vom Weibe und von beiden zusammen, und
Eva nimmt dem Tiere den Apfel aus dem Maul. Adam hält schon
die Hand hin, den Apfel zu nehmen. Aber was bedeutet es, daß
Eva schon in der andern Hand einen zweiten Apfel hat, den sie
hinter ihrem Rücken vor Adams Blick versteckt? Und warum ist
dem Adam der Hirsch beigegeben, der sein Geweih zur Schau trägt?
Adam schaut sein Weib an, Eva sieht nur den Apfel. Dürer war
nicht der Meinung vom Weibe, die unsrer Zeit so seltsames Gesicht
gegeben hat. Damals war wohl der Mann mehr der Gefahr des
Geweihs ausgesetzt als in unsern Tagen der Frauentreue. Frucht-
barer war das Weib sicher: Eva hat das Kaninchen bei sich, die
Apfel hängen zu ihr hin, und hinter ihr ruht die Kuh. Adams Ast —
er zweigt sich von einem Stamm hinter seinem Rücken ab und
Adam hält sich an diesem Ast — , Adams Zweig ist früchtelos, nur
ein Vogel sitzt darauf, ein Papagei, und eine Tafel prahlt von den
Taten des Mannes Dürer. Dieser Stamm Adams, von dem er weg-
schreitet, hat weibHche Symbole in zwei klaffenden Spalten der
Rinde, ein zweiter Ast — Kind legt sein Laub vor das männUche
Abzeichen: Adam geht von dem Symbol des MenschUchen aus, so
schemt es, aber er verläßt Vater und Mutter und Kind — das
Symbol - für das Weib, das ihm den Apfel geben wird, sie ist
Imago geworden. Evas schamschützendes Laub kommt von dem
Apfel her, den sie vor Adam verbirgt. Die Mutter Kuh ist noch
dicht hinter ihr, aber der steinende Vater Steinbock ist auf einsamen
i-elsengipfel verwiesen. Für Dürer war, scheint es. das Weib noch
kern uiUÖsbares Rätsel.
Bei früherer Gelegenheit habe ich Michelangelos Creazione
deU Uomo besprochen, in der das Mysterium von der Erschaffung
des Mannes aus der Vision des Menschhchen dargesteUt ist. Bei dem
Gegenstück des Bildes, der Creazione della Donna (Taf. 9), ist das
Mysterium ergänzt. Keine Spur der leidenschaftUchen Erregung
des andern Bildes ist hier vorhanden, auch nichts von dem visio-
nären Charakter. Das Weih, vom Gotte losgelöst, hat den Ausdruck
des Staunens behalten, ja, dieser Ausdruck hat sich bis zur Ehr-
furcht geläutert. Sonst herrscht auf dem Bilde Ruhe und Schlaf.
Das Weib ist in der Umarmung des Mannes entstanden, das Un-
140
bewußte kennt das Geheimnis, daß das Mädchen Weib wird nicht
in der Empfängnis, sondern im Liebesspiel mit dem Manne. Das
Sichfortpflanzen ist eines der vielen Ergebnisse des Liebesspiels,
kann es zuweilen sein, aber niemals fehlt in diesem Sichvereinigen,
daß der Mann seine Kraft verliert und zum Kind wird, während
das Mädchen zum schützenden Weibe des Mannes wird, zur Hüterin
über seine Schwäche, zur Mutter des Geliebten. Auf Michelangelos
Bild schläft der Mann in vollkommener Erschlaffung. Die Stümpfe
von Baum und Ast betonen symbolisch, daß ihm die Mannheit
genommen ist, und der riesige Gott der Creazione dell'Ucmo ist
alt und überragt nicht mehr das Meuschenmaß, sein Rücken ist
gebeugt, er ist der Weise, dessen Leidenschaft nicht mehr das Weib
begehrt, sondern in verhaltner Kraft mit gekrümmten Armen und
gebognem Knie das anbetende Weib dem Kosmos eingliedert. Dem
Gotte entgegen schreitet das Weib der Mutterschaft zu, die es vom.
Manne trennen wird. Alles in ihr ist ehrfürchtige Huldigung der
Erschaffenen vor dem erzeugenden Gott, nicht mehr Anstaunen des
Geliebten, den sie, einer neuen Zukunft zugewendet, treulos verläßt.
Und wie der Mann nach dem Schlaf seine Fähigkeit, Mann zu sein,
wieder hat, so wird die Mutter wieder zum Mädchen, um die lieb-
liche, gut zu essende Frucht der Liebe mit dem Manne zu teilen.
141
Die Meinung, daß ein Individuum, wenn es gewaltsam in Sexus
zerlegt worden ist, sich nach neuer Vereinigung sehnt, hat viel für
sich. Der Trieh heider Geschlechter zueinander läßt eich darin
verdeutlichen; die Sehnsucht nach Wiedervereinigung zweier
Segmente, Weib und Kind, einer individuellen Welt würde die
wichtigen Inzestwünsche zwischen Sohn und Mutter unabhängig
von den Ereignissen nach der Geburt machen und ihnen den Charak-
ter unvermeidlicher menschHcher Notwendigkeit geben; ja auch die
gleichgeschlechtlichen Leidenschaften würden auf eine Art Urgrund
zurückgeführt. Man stände der Möglichkeit gegenüber, das Leben
selbst als abhängig von dem Triebe einer zwiegespaltenen Dreieinheit
zxir Vereinigung aufzufassen. Die Wirkung des Begriffs Individuum
würde sich damit auf alle Beziehungen des Menschen zum Menseben,
ja zur ganzen Welt ausdehnen. Überall und durchaus gäbe es
nicht Mensch und Nichtmensch, sondern nur immer Mensch-Gott,
Mensch-Tisch, Mensch-Tag, Mensch- Welt, nicht Subjekt und Ob-
jekt, sondern ein Neues, ein Subjekt-Objekt. Von meinem Stand-
punkt als Arzt aus betone ich, daß eine solche Bildung eines neuen
Individuums Kranker-Arzt die Angel ist, um die sich die Behand-
lung dreht. Ich überlasse dem Leser die Anwendung auf das
Problem des freien WiUens und der Notwendigkeit; andrerseits
möchte ich hervorheben, daß die Beziehungen von Individuum und
Sexus klarer werden, sobald man die Frage des freien Willens hinein-
zieht. In der Tat kenne ich keinen andern Weg, um sich mit dem
Phänomen des Ganzen im Teil und des Teile im Ganzen auseinander-
zusetzen. Beschränkt man den BUck auf die Erscheinungen des
menschhchen Individuums, so treten zwei solcher Versuche einer
142
Vereinigung deutlich hervor : der Beginn und daß Ende, Empfangen
und Sterben.
Ich habe schon mehrfach auf die enge Verwandtschaft von
Empfängnis und Tod aufmerksam gemacht. Der Tod des Männ-
lichen (Samenerguß mit folgender Erschlaffung) ist die Bedingung
des Werdens. Großartig hat sich diese Wahrheit in der Sage vom
Sündenfall durchgesetzt, die den Baiun des Lebens neben den der
Erkenntnis (erkennen = begatten), das Sterben neben das Werden
setzt.
Das Wort „sterben" (engl, to starve = vor Hunger umkommen)
scheint ursprünglich „sich mühen, arbeiten" zu bedeuten (anord.
starf = Arbeit, starfa = sich mühen, stjarfe = Starrkrampf). Die-
selbe Sinnverwandtschaft findet sich im Griechischen, wo kamno
{xa^vco) sich mühen heißt, kamontes [nafiovreg) die Verstorbenen.
(Wurzel: kam-, cema-, cme- = müde werden, sich mühen.) Ver-
wandte griechische Wörter klären über die Beziehung von „sich
mühen" und „sterben" auf. Kamara [xafiaQa) heißt das Gewölbe
(lat. Camera, camur = gewölbt, nhd. Kammer; anord. hämo
= Hülle, nhd. Hamen = Fangnetz, nhd. Hemd, got.himins = Him-
mel, gr. kaminos [xafuvog] = Ofen, Ofen = Gebärmutter, in der
das Kind gebacken wird, Backofen noch jetzt Bezeichnung für
Gebärmutter). Kamaros {xafiagog) ist Hummer (Scheren sind
Symbol der weiblichen Geschlechtstätigkeit), dasselbe Wort ist ge-
braucht für Nieswurz und Gift (Samen), kamax (xafia^) ist Stange,
Pfahl, kamasso (xa/naoaco) = schwingen, schütteln, kmelethron
(xfieXs^gov) = Dach, Haus, alles Geschlechtssymbole (Wurzel:
crampo-, kep- = krümmen; ai. capam = Bogen, capalam = un-
stetes Wesen).
Hält man sich an die frühere Bedeutung von sterben gleich
arbeiten, so ist die Erinnerung an den Sündenfall kaum zu unter-
drücken. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot
essen", lautet der Fluch, mit dem Adam aus dem Paradies vertrieben
wird. Kaum etwas charakterisiert unsre modernen Gesinnungen
besser, als daß wir Arbeiten für etwas Erstrebenswertes halten, vom
Recht auf Arbeit, statt von der Pflicht zur Arbeit sprechen, daß
wir so tun, als ob Arbeiten ein Wertmesser für den Menschen sei.
143
lii
Die Verwechslung von tun, sich beschäftigen und arbeiten ist ver-
hängnisvoll. Ich habe nie gesehen oder davon gehört, daß Kinder
arbeiten. Wohl aber beschäftigen sie sich ununterbrochen, wenn
sie nicht schlafen. Und ich finde auch im Neuen Testament nicht
die leiseste Andeutung, daß Christus gearbeitet habe. Mühe und
Arbeit, die, scheint es, denselben Wortsinn haben, gehören zum
menschlichen Leben, aber sie als tiefsten Sinn des Lebens aufzu-
fassen geht nicht wohl an. Es gibt keinen Menschen, der lange
hintereinander, sagen wir, länger als eine halbe Stunde arbeiten
kann, nach Ablauf dieser Zeit wird die Arbeit zur Beschäftigung,
meist sogar zu einem neben dem Innenleben hergehenden Tun.
Alles Wesentliche schafft in uns das Irrationale, das wohl tut,
aber nicht arbeitet. Arbeit, Mühe ist und bleibt auf sehr kurze Zeit-
räume beschränkt, führt niemals zum Erfolg, sondern wird hie
und da vom Es bei seinem schöpferischen Wirken verwendet,
durchaus nicht zum Wohlbehagen des Menschen — Mühe ist ver-
wandt mit müde — , sondern weil sie hie und da notwendig ist.
Da meine Meinung, die sich schlecht mit Hilfe der physiologischen
und psychologischen Tatsachen begründen läßt, den Tagesmeinun-
gen widerspricht, gebe ich einige Wortzusammenhänge, die m ir auf-
gefallen sind. Die Lateiner haben das Wort labor mit der Bedeutung
Mühe, Arbeit (ora et labora). Nach Walde geht labor auf eine
idg. Wurzel lob zurück, von der im Griechischen lobe ßcoßtj) — Miß-
handlung, Schmach herkommt. — Noch deutlicher wird das, wenn
man statt des Worts „Arbeit", das ursprünglich einen ganz andern
Sinn hatte, das Wort „Mühe" zum Ausgangspunkt nimmt. Nach
Kluge geht dieses Wort auf eine gemeinindogermanische Wurzel m6
zurück, von der lat. moles, molior = Mühe und gr. molos (ficoXog)
= Mühe, molys (ficoXvg) = durch Mühe entkräftet, herkommen.
Molys hängt nach Prellwitz mit dem got. ga-malvjan = zermahlen
zusammen, das führt nach ihm zu dem Wort aleo (aXeco) = mahlen,
zermalmen, das mit lat. molo = mahlen und Mehl zusammen-
hängen soll. Prellwitz sagt, daß die Bedeutung mahlen erst euro-
päisch sei, daß sie im Indogermanischen reiben, streichen, malmen
und auch sudeln gewesen sei. Ich habe früher schon darauf hin-
gewiesen, daß der Begriff des Mahlens gewisse Ähnlichkeiten mit
144
^J^
der Geschlechtstätigkeit hat, die männliche Starrheit wird von dem
Weiblichen zermalmt (lat. molo verwandt mit mollis = weich;
mollis ist nach Walde möglicherweise Ursprung von mulier). Über-
einstimmend bringen beide Forscher (Walde und Prellwitz) das gr.
blax [ß^at) und lat. flaccus = schlaff mit aleo und molo zusammen.
Walde fügt noch das Wort blenna (ßlevva) == Schleim hinzu, so
daß die Beziehung dieser ganzen Wortgruppe zu dem Geschlechts-
verkehr, dem Absondern des Samenschleims und der Erschlaffung
des Gliedes noch deutlicher wird. Damit stehen wir vor der Frage,
ob man nicht ursprünglich unter Arbeit lediglich den Bau des
eigenen Ackers und entsprechend der Symbohk das männliche Sich-
müheu beim Pflügen des weihlichen Ackers verstanden hat, wie es
auch in die Paradiesessage hineingedeutet werden kann; damit
wird aus der mühseligen Arbeit eine freudige Arbeit. Diese Sym-
bolik des Wortes Arbeit wird bestätigt durch das stamm- und sinn-
verwandte lateinische Wort orbus = beraubt, das im Griechischen
mit orphanos {ogq)avog) = Waise zusammenhängt, im Deutschen
mit dem Wort Erbe und Arbeit (got. arbi, ahd. arbi, erbi = Erbe,
altir. orbe = Erbe). Auch hier ist die Beziehung der Arbeit zu dem
Männlich -Weiblich -Kindlichen deutlich. Aus dem Begriff Erbe hat
sich dann folgerichtig ein vorgermanisches orbho = Knecht, alt-
slaw, rabu ~ Knecht entwickelt, da der freie Gennane den Acker-
bau (das Erbe) den Knechten und den Frauen überließ.
Sterben, starve, starfa (sich mühen), stjarfe = Starrkrampf
kommen nach Walde von der indogermanischen Wurzel sterb-,
erweitert aus ster-, von dem das Wort starr = steif herkommt (gr.
strephenios, atQe^rjviog). Kluge bringt sterben auch mit lat.
torpeo = starr sein zusammen. Die Starre bringt die Symbolik
sterben und Geschlecht noch näher. Während beim Sterben, dem
sogenannten Ende des Lebens, die Beziehungen zu den mensch-
hchen Geschlechtsverhältnissen weit in. das Unbewußte verdrängt
sind, liegen sie bei dem Werden, Entstehen, dem sogenannten An-
fang des Lebens, offen zutage. Entstehen gehört zu dem Begriff
des Stehens, der mit dem Leben des Männlichen eng verbunden
ist. Über das Wort Werden und seine Beziehungen zu lat. verto
= drehen, werden habe ich bei früherer Gelegenheit gesprochen.
10 Groddeok, Der Meaaofa ala Symbol 145
Die entscheidende Drehung des Menschen tritt bei der Geburt ein,
durch die, was Unten war, Oben wird (der Kopf vor der Geburt
und nach der Geburt). Andre Gebiete werden durch die lateinischen
Ausdrücke orior ^ sich erheben, aufsteigen, entstehen, origo ^ Ur-
sprung erschlossen. Griechisch ist damit ornymi [oQvvfu) = er-
regen, bewegen verwandt; orora (oQCoga) = ich bin erregt, orte
((OQTo) =^ es erhob sich, anoruo (avoQVO)) = ich springe auf, ernos
{egvog) = Schößling, Zweig („Emporgeschossenes", wie norw. rune
= Zweig, aisl. renna = schnell wachsen) ; Wurzel nach Prellwitz
ore = Ehre, dazugehörend eretes {egertj^) = der Ruderer (rudern
= Geschlechtssymbol) ; erchomai (c^;fO/ta() = kommen („die Natur
kommt"), ornis (ogvig) = Vogel, nhd. Aar (Symbol!).
Aus all diesen stammverwandten Wörtern geht hervor, daß orior
= entstehen das männliche Wirken bei dem Werdegang betont, es
drückt den Gedanken aus, daß das Werden nur durch das Sterben
des Männlichen möglich ist. Griechisch gignesthai {yiyveo&ai) und
lateinisch nasci (Wurzel gen- erkennen) deuten nach derselben
Richtung: nur der Mann erkennt das Weib, nicht das Weib den
Mann, nur der Mann stirbt, aus seinem Sterben geht das Werden
hervor.
Folgt man dieser Meinung, so entsteht der Wunsch, auch das
Wort „werden" (vertere = wenden, drehen) mit dem männlichen
Prinzip zu verbinden. Ich nehme an, daß in dem Wort vertere
neben der Drehung der Kindeswelt von dem Kopfstehen zum Kopf-
hochtragen die Wendung der Richtung bei Befruchtung und Ge-
burt, Samen und Kind enthalten ist, die Richtung hinein wird zur
Richtung hinaus.
In Dresden hängt unter der Bezeichnung „Das große Stilleben mit
demVogebiest" ein Gemälde des Jan Davidsz de Heem (Taf. 10). Ganz
rechts auf dem Bilde ist ein Baum gemalt, um dessen Stamm sich
ein Ast windet; beide, Ast und Stamm, sind übersät von spieleri-
Bcben Andeutungen, mit deren Beschreibung man lange Zeit zu-
bringen könnte. Wichtig sind zwei Fratzen, die eine, mit breiter
Nase und lachendem Mund, ist von einer vernarbten Astwunde ge-
formt; dicht daneben sieht man eine affenähnliche als Ende eines
Stumpfes. Diese Fratzen geben Aufschluß darüber, wie das Ganze
146
betrachtet werden soll. Hunger, Liebe, Leben, Tod erscheinen in
den mannigfachen Verkörperungen. Oben sitzt ein bunter Vogel
mit geöffneten Flügeln, während sein Partner unten tot am Boden
liegt. Zwischen beiden, nahe bei dem Tod, ist das Nest gemalt;
zwei Eier Hegen darin, ein drittes ist in zwei Hälften zerbrochen,
aber der Eidotter ist nicht ausgelaufen. Auf einer Rauke des Nests
sitzt ein Schmetterling mit halb zusammengeklappten Flügeln, der
durch einen geknickten Kornbalm von einer Raupe getrennt ist.
Dieser Halm trennt auch den toten Vogel von dem Nest und dem
zerbrochenen Ei, nach oben zu endet er unter einem Eichenzweig
mit zwei Eicheln und einer leeren EichelhülJe. Und um die Par-
allele zu vervollständigen, ist ein zweiter aufrechter Halm gemalt,
dessen Ähre auf eine Zweiggabel gerichtet ist, während die Ähre
des geknickten Halms, ebenso wie die eines dritten, zum Boden
hinweist. Die Dreizahl erscheint auch in der Anordnung des drei-
fach gegliederten Eichenzweigs wieder, dessen einer Teil sich phal-
lisch erhebt; auf seiner äußersten Spitze sitzt mit weitgeöffneten
Flügeln ein zweiter bunter Falter voll Liebes- und Lebenslust. Auf
dem umarmenden Ast des Baumes krabbelt als Sinnbild des Triebes
in seiner brutalen Form der Maikäfer, an dessen unzweideutigen
Geschlechtelüsten sich alle Kinder zu en-egen wissen. Weiter zum
Rand hin ist ein Hirschkäfer zu sehen, doppelt symbolisch Mann
und Weib in Körper und Zangen vorstellend. Und ganz verborgen
schleicht der Mord: eine Spinne läßt sich von der Gabel, nach der
hin die eine Ähre strebt, auf eine Mücke nieder. Doch nicht weit
davon sitzt die Gallwespe auf einem Eichenblatt, die Welt von
neuem zu beleben. Und all dies Gewimmel von Leben und Tod»
Liehen und Fortpflanzen bestaunt eine Schnecke, die, Doppelsinn-
bild, zum Fräße strebt. Hier reckt ein Kürbis seinen Stiel empor,
dort labt sich eine Fliege an dem Saft, der sich an dem Spalt einer
großen Melone gebildet hat. Raupen sieht man und Tausendfüßer,
die zweisymbolige Wasserjungfer, die gefräßige Heuschrecke, ge-
platzte Kastanien als Ejakulations- und Geburtssinnbilder, Maus
und Molch, Frosch imd Käfer; xmd wie sich die eine Fliege an dem
Spalt der Melone ergötzt, so tut es eine zweite kleinere an dem
Sinnbild des Hinterteils, dem Pfirsich. Ganz am linken Rande
M- 147
aber sind Disteln gemalt, die mit ihren Blüten aufwärts in ein Loch
in der Wölbimg des zerfallenen Mauerwerks weisen.
Die massenbafte Verblendung der Symbole macht es wahrschein-
lich, daß de Heem mit voller Absicht in dem Stilleben die Geschichte
von Leben, Lieben und Sterben erzählt hat. Dicht bei seinem
Bilde hängt ein zweites, von seinem Zeitgenossen Mignon gemaltes
(Taf. 11), das fast dieselben Symbole bringt wie das de Heemsche.
Um so mehr fallen die Unterschiede auf. Zunächst sind die un-
geraden Zahlen Drei, Fünf, Sieben betont, und die Zwei bringt das
Weibliche schärfer zum Ausdruck. Dafür fehlen alle Andeutungen
des Sterbens. Beide Vögel sind lebendig, der eine baut an einem
Nest, der andre sitzt dicht vor einem Zweiglein mit fünf Stachel-
beeren. Die Mücke, die bei de Heem dem Tode durch die Spinne
verfallen ist, läuft bei Mignon keine Gefahr, da ihre Feindin nicht
mitgemalt ist. Das Bild deHeems hat die Stimmung des Verfalls
schwüler Überreife, bei Mignon ist alles heiter in freudiger Frucht-
barkeit. Wesentlich ist das von der verschiedenen Ausführung des
Nestes bedingt: bei de Heem liegt es am Boden, zerzaust und flan-
kiert von der VogeUeiche und dem zerbrochenen Ei. Mignons Nest
ist in den Obstkorb gebettet und die Eier sind unversehrt. Es ist
rings von Liebessymbolen umgeben, und nicht der Tod, sondern
tausendfältige Fruchtbarkeit ist da: aus einem zusammengerollten
Blatt rieselt ein Strom von kleinen Würmchen herab. Sie sind auch
auf dem dcHeemschen Bilde zu sehen, aber dort sind sie nicht in
so naher Beziehung zum Nest, sie zerstören dort, während sie bei
Mignon in die Zukunft weisen. Der Zierkürbis mit seiner Phallus-
ähnlichkeit ist dicht an das Nest gedrängt, bei de Heem ist er in
die Nachbarschaft einer SchwertliUe gerückt, auf der andern Seite
steckt ein Ästchen sich in den Ring des Korbhenkels, und auf
diesem WeibessinnbÜd des Henkels sitzt der Vogel. Drei Pflaumen
und drei Pfirsiche schmiegen sich an das Nest, eine leckere, drei-
geteilte Traube hängt herab. Der männliche Kürbis mit seinem
aufragenden Stiel ist neben die weibliche, noch unversehrte Melone
gelagert, und um den Moment der sehgen Vereinigung zu verdeut-
lichen, liegt die geplatzte Kastanie zwischen xmd vor den beiden.
In der Fruchtschale vor dem Paar mischen sich schwarze Brom-
I
148
beeren mit roten Himbeeren. Hier deutet das Unbewußte die
wunderlichen Dinge des £ros an : drei Judaskirscheu liegen zwischen
Fruclitschale und Kürbis-Melone, gekreuzt von einer herabhängen-
den Distel; es ist die dritte Blüte der Distel, bei dcHeem sind nur
zwei gemalt. Sie durchschneidet den K.opf des vordersten Judas,
entmannt ihn, den Verräter. Am Griff der Fruchtschale aber sitzt
die Fliege, um die Fünfzahl der Mispeln anzugreifen. Um den hän-
genden Distelkopf herum lagern sich Bohnen, die uns als Kind-
symbol gut bekannt sind.
Drei Eier im Nest, das Nest gebettet in den fruchthegenden Korb,
umgeben von Süße und Leben, alles umschlossen von dem Mutter-
gewölbe: Soll man da nicht an die Macht des Symbols glauben?
Eizelle und Samenzelle sind sexuell so scharf geschieden, wie es
nur möglich ist. Sie sind aber gleichzeitig in sich vollkommene
Individuen, enthalten die Dreieinheit Mann, Weib, Kind. Wird
ihnen durch den Verkehr von Mann und Weib Gelegenheit geboten,
sich zu einem neuen Individuum zusammenzuschließen, so beginnt
die Samenzelle im wahrsten Sinne des Wortes zu arbeiten, voll
emsiger Lebendigkeit klimmt sie empor zu der Eizelle, um in ihr
das zukünftige Lehen zu erwecken (ercjuicken ^= zum Leben er-
wecken, quick stammverwandt mit lat. vivus = lebendig; Queck-
silber, keck, engl, the quick and the dead). Die Bedingung für das
Entstehen dieses neuen Lebens ist der Tod des lebenspendenden
Samens, des aufrechten Phallus. Ganz anders ist es mit den beiden
Individuen Mann und Weib. Der Trieb zur Vereinigung ist aller-
dings da und bestimmt das individuelle und persunliche Leben von
Mann und Weib wesenthch, aber die Vereinigung zu einem Indi-
viduum kommt nie zustande, nur eine Annäherung tritt ein.
Die Bezeichnungen für diesen Vorgang der Annäherung sind in
allen Sprachen unzählbar, ein deutlicher Beweis, wie eng die Be-
ziehungen der Geschlechter mit aUeu Lebensvorgängen verwurzelt
sind. Auffallend ist, daß gerade die Griechen, deren Sprachgefühl
sonst so sicher ist, den Ausdruck meignysthai [junyvva&ai) = sich
vermischen brauchen, was man wohl als ein Zeichen davon auf-
fassen kann, daß ihr Wesen von der Gewalt des Eros besonders
durchtränkt war. Ein andres Wort syneinai (avvEivai) =■ zu-
149
ßammensein übermittelt uns die tiefste Poesie, deren eine Sprache
fähig ist. — Der Lateiner braucht coire = zusammengehen. Es ist
bezeichnend, daß Frauen den Ausdruck komisch finden, denn in
Wahrheit ist es nur der Mann, der taktmäßig schreitet. Das ist
wichtig, weil in uusrer kenntnislosen Zeit die Männer den seltsamen
Gedanken haben, eine Frau sei nur dann von der Leidenschaft des
Verkehrs ergriffen, wenn sie ihrerseits die sich mühenden arbeitenden
Bewegungen des Mannes zu übertreffen sucht. Jeder Mann könnte
und sollte wissen, daß solche zur Schau getragene LeidenschaftUch-
keit unecht ist. Das weihHche Wesen wird bei dem überwältigenden
Genuß still mid in ihren Gliedern regungslos. Ein andrer beute
noch gebräuchlicher Ausdruck ist cohabitare = zusammen wohnen. —
Im Schwedischen gibt es das schöne Wort samlaga ^= zusammen-
liegen. Ungefähr denselben Gedanken drückt unser deutsches „be-
gatten" aus, das in dem enghscben together = zusammen weiter-
lebt. — Aus den Tiefen des Unbewußten stammt der deutsche Aus-
druck Beischlaf. Er deutet eines der tiefsten Geheimnisse von
Mann und Weib an, das, soweit mir bekannt ist, keine andre Sprache
enthält. In den meisten Wörtern ist das Zusammengenießen der
Lust betont, unser Wort huldigt dem Gedanken, daß der Mann im
Verkehr zum wehrlosen, schutzbedürftigen Kinde wird, über dessen
Schlaf die Geliebte wie eine Mutter wacht.
Wie fremd dieser Gedanke dem Bewußtsein geworden ist, be-
weisen nicht nur die alltäglichen Redensarten, in denen wir uns
über Mann und Weib, starkes und schwaches Geschlecht, Gleich-
berechtigung usw. ergehen, es hat auch dazu geführt, daß ein Mann
wie Michelangelo, gewiß ohne die Bosheit, die er malte, zu ahnen,
in der Creazione della Donna, die ich früher erwähnte, dem Weibe
den Charakter der Delila gibt, die sich von dem schlafenden kraft-
losen Manne weg dem Inbegriff der Männlichkeit zuwendet. Das
Weib ist von Natur aus zwiefach gerichtet, hin zum Manne und
hin zum Kinde. Die Frau muß von Natur aus zwei Herren dienen,
und bei keiner bleiben die Augenblicke aus, in denen sie den Mann
für das Kind oder das Kind für den Mann verrät. Den einzigen
Mittelweg, im Manne das erstgeborene Kind zu sehen, verfehlt sie
nur allzuoft. Freilich gab ihr Natur eine besondere Kraft, solch
150
unterirdischen Konflikt ohne Schaden zu durchleben; sie sieht wie
die Göttin der Gerechtigkeit nicht, was Recht und Unrecht ist.
Die Frauen haben ein doppelzüngiges Gewissen.
Der leidenschaftliche Taumel, in dem die Geschlechter die Ver-
einigung suchen, verfehlt sein Ziel: das Individuum Mann -Weib
zerfällt schon im Vereinigen, aber vom Manne haben sich Scharen
von Söhnen abgespalten, die schöpferische Kraft in sich tragen.
Wenn das Mämiliche längst gestorben ist, bleiben sie, um die har-
rende Braut zu suchen, und in diesem Übrigbleiben hat die deutsche
Sprache ihr wichtigstes Wort gebildet, das Wort „Leben".
Ich habe schon früher darauf hingewiesen, daß „leben" {engl.
live, schwed. leva) mit dem Wort bleiben (beleiben — den Leib
geben) eng verwandt ist, daß es dem griechischen liparein (^kiTia^Eiv)
nahe steht und ebenso dem lateinischen lippus = triefend.
Die idg. Wurzel zu lippus ist leip = fette Schmiere; ai. liptah
:= klebend, lepah = Schmutz. Man sieht, daß die schicksalsschwere
Verklammerxmg von Geschlechtshebe und Beflecken, von Samen
und Schmutz schon den sprachfaüdenden Gewalten des Unbewußten
bekannt und zwingend bekannt war. — Das gr. lipos (ItTzog) = Fett
und liparos (XinaQog) = fett führen zu dem Wort Leber, lat. jecur,
gr. hepar {r}7iaQ), was für die ärztliche Betrachtung dieses Organs
wichtig ist. Die Abneigung gegen Fett, die Idee des Unbekömm-
hchen von Fett beruht auf einer Identifikation mit Samen; Flecken
in der Wäsche.
Das deutsche „Kleben" gehört in diesen Wortkreis. In dem
Klebenden steckt das bleibende Leben; der scheinbare Abscheu des
Weibes vor der Berührung mit dem männlichen Samen (Befleckung,
Übelkeit bei dem Geruch der Edelkastanienhlüte) ist in Wahrheit
Scheu, das heilige bleibende Leben zu berühren, sie beruht auf der
gleichen unbewußten Verehrung, die dem Weibe es unmöglich
macht, seihst in der Notwehr der Vergewaltigung die Hoden des
Mannes zu zerdrücken, was sie sofort von ihrem Gegner befreien
würde. — Die Wurzel leib- ist nach Walde vermutlich eine Er-
weiterung von idg. lei-, das sich in dem lat. lino = beschmieren
erhalten hat. Eine gleichlautende Wurzel bedeutet „sich anschmie-
gen" (nhd. Und, bayr. len = weich usw.). Walde bezieht darauf,
151
,t
allerdings zögernd, lat. limax = Schnecke (doppelgeschlechtliches
Symbol), limus = Schlamm, nhd. Schleim, Lehm (Erschaffung
Adams — humus — homo) usw., auch lubricus = schlüpfrig.
Ebenso „libo = ausgießen, opfern, aber auch von etwas kosten,
genießen" bringt Walde in diesen Zusammenhang. Er fügt hinzu,
es sei fast unmöglich, alle vorliegenden Bedeutungen imter einen
Hut zu bringen. Sobald man die Geschlechtsverhaltnisse mitbetrach-
tet, besteht keine Schwierigkeit mehr. Ja, es drängt sich dann die
Vermutung auf, daß auch das lateinische Wort Übet = es gefällt
in diese Reihe gehört, das heißt zu dem Begriff und Wort „leben".
Mit libet, libido ist aber unser deutsches Liebe (engl, love) auf das
engste verwandt.
Mit den Wörtern „Liebe, lieben" gerät man in ein Gebiet der
Begriffsverwirrung, wie es schlimmer, gefährlicher kaum zu denken
ist. Am besten ist es, sich um nichts zu kümmern, was nicht klar
zu dem Worte gehört. Freilich auch dann wird man kaum je im-
stande sein, dem Wort seinen einfachen Sinn wiederzugeben. Ein
tief im Menschlichen verwurzelter Trieb, die Gier, hat sich in das
Wort eingedrängt und hat es verwandelt, genau wie die Gier die
Wörter „Gold" (ursprünglich Glut, Morgengrauen, lat. aurum —
auiora, gr. chrysos \xevaog] = grau) und „Geld" (ursprünghch
Opfergabe) entstellt hat. Die Wurzel des Worts „Heben" (engl.
love) ist idg. leubh-, und von dieser Wurzel stammen weiter die
Wörter „Lob", „geloben", „glauben". Der Sinn ist ohne Bedenken
mit dem Wort gefaUen (lat. libet) zusammenzubringen. Ge-faUen
ist mit etwas anderm zusammenfallen (ndl. medfallen. Kluge, der
die Silbe ge- mit zusammen übersetzt, deutet das Wort gefaUen als
zufaUen; ein Zeichen, wie Verdrängtes wirkt). Der Begriff Liebe
steht in engster Beziehung zu dem griechischen Wort Symbol, ja
ich glaube, daß es dasselbe ist. Wir Heben, was symboHsch mit
uns ist, was wir selbst sind. Wie soUte es auch anders sein? Das
bekannte Wort Christi, das, wie es scheint, der Sinn und Ausdruck
der modernen europäischen ChristHchkeit geworden ist: „Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst!", drückt das in dem „wie"
(gr. hos, ü}s) deutHch aus. Wir können nur Heben, was als
Symbol, als Geglaubtes und vom tiefsten MenschHchen Erlaubtes
152
zu uns gehört. Das ist die Wahrheit. Wenigstens ist es meine
Wahrheit.
Das griechische symballein (av/ußaXXnv) bedeutet aber nicht nur
zusammenfallen, sondern auch zusammenwerfen, bezeichnet also
eine Handlung des Ichs (lieben — belieben sind analog dazu).
Hier scheint mir die Wurzel des Übels zu liegen. Das Gefallen,
Lieben ist eine klare Tätigkeit des Es, das Gefallenwollen, Belieben,
Begebren trägt die Verkleidung des Ichs. Die menschliche Welt
des Symbols wird stets durch die ebenso menschliche Welt des
Denkens, des Dünkels, des „Scheinenmachens als ob" verdmikelt.
So ist es mit der Wurzel leubh- gegangen, die neben „übet = es
gefällt" und „lieben, geloben, glauben" die Wörter „Übido ^ Be-
gierde" und „verliebt" hervorgebracht hat. „Liebe" mag ur-
Eprünglich dem menschlichen „iudividuum'^ gegolten haben, wäh-
rend der „Sexus" des „Individuums" für seine Beziehung zur „per-
sona" des Menschen den Ausdruck „freien" gebrauchte.
Die griechische Sprache scheint die Verdunklung der Wörter für
Liebe (philein, q>tXeiv; erasthai, SQao&ai) in der Zeit des ent-
stehenden Christentums, als es darauf ankam, statt der „persona'^'
wieder das „individuum" anzuerkennen, so tief empfunden zu
haben, daß sie das Wort agapan {aya:zav) = lieben in die Ausdrucks-
weise der EvangeUen aufnahm; agapan ist zusammengefügt aus
megas (fisyag) = groß und paomai (jzaofiai^ Wurzel pah-) = nehmen.
Es ist nicht leicht zu übersetzen, am ehesten etwa mit „etwas mit
Ehrfurcht in sich aufnehmen". Ich erwähne es, weil auch in diesem
Versuch, das Wort dem menschKchen „individuum" anzupassen,
der „sexus" hineinspukt, demi pah- gehört zu der großen Gruppe
puh-, fuh-, die gewiß im höchsten Grade nicht bloß sexuell, sondern
genital betont ist.
Trotz dieser unlösbaren Verquickung des „sexus" und des „in-
dividuums" auch in den Wörtern muß man versuchen, zu bestimm-
ten Zwecken eine Unterscheidung zwischen Liebe und Liebe zu
m.achen, und so sei es denn gesagt, daß sie in ihren tausendfachen
Formen bald mehr von der Symbolwelt, der des Es, bald mehr von
der Welt des Dünkels, des Ichs aus wirkt. Die eine Liebe steht
nicht über der andern und die andre nicht über der einen. Man
153
bann Menschliches betrachten, ohne in den Streit über Wert und
Unwert des Geschlechtlichen, des Sinnlichen, einzutreten, ja, für
mein Meinen ist es schwer, nur die eine Seite zu betrachten.
Unter Umständen erzählen Bilder mehr von der geheimnisvollen
Vermischung des Individuums und der Person, der agape und der
philia, der irdischen und himmlischen Liebe, um dies seltsam wenig
sagende Wort zu gebrauchen, als Worte.
Wer das Unbewußte des Bildes ins Auge faßt, erfährt zuzeiten
Dinge, die da sind und dem Leben angehören, obwohl sie kaum
je erwähnt werden. Daß Liebe und Leidenschaft zwei ganz ver-
schiedene Dinge sind, spricht man so hin, aber man bedenkt nicht,
daß die Leidenschaft so gut wie nichts mit der Liebe zu tun hat,
daß sie von ganz andern Dingen geweckt wird als von der Gegen-
wart des geÜebten Objekts. Man wundert sich, daß der Mensch
das nicht wahrhaben will, obwohl es offen zutage liegt. Selbst das
verhebte Paar ist nur selten leidenschaftlich, seine Liebe ist ruhiges
Gleichgewicht; wenn dieses Gleichgewicht zugunsten der Leiden-
schaft verlorengeht, so wirken geheime Kräfte, die wohl verdienen,
heUig genannt zu werden, die jedenfalls so unfaßbar sind, daß dem
Menschen nur übrig bleibt, sich mit der Anerkennung des Magischen
zu begnügen. Mitunter zuckt ein Lichtstrahl auf und gestattet
gerade so viel zu sehen, um dae Dunkel des Magischen noch stärker
zu empfinden. Menzel hat einmal das Arbeitszimmer Friedriche des
Großen gemalt (Taf.l2): Durch die geöffnete Flügeltür sieht mau
auf den Schreibtisch, auf das Sofa und zwei Stühle. Das Bild ladet
zur Liebe ein, verführt unmerklich zu zartestem Liebesrausch : Alles
ist bereit, das Weibessymbol des Schreibtisches umgeben von der
Dreizahl harrt der zärtlichen Hand des Eros, der in der tiefen,
warmen Stille des Raums leise dem Betrachter die Reize der Ge-
liebten vorzaubert. Und die offenen Flügel der Türe flüstern dem
Mädchen zu, was geschehen kann, was sie ersehnen soll.
Oder man sieht den Treppenaufgang zu Sanssouci von dem-
selben Künstler. Drei Bäume deuten stumm den Sinn der Stufen
zur Liebe, den Sinn davon, daß das Unbewußte gerade diese Zu-
sammenstellung wählte, wo Liebesgötter im Spiel der Erotik das
AbbUd der Vereinigung umrahmen. Gewiß, man kann sich das
154
allea aucli anders zurechtlegen, muß es anders deuten, da ist kein
Zweifel. Aber das hindert nicht, daß tausendfach im Leben Bäume,
Treppen und zärtliches Lieben zwei Menschen innig vereinigen, die
eben noch weit in ihren Gedanken und Wünschen voneinander ge-
trennt waren. — So nennt Menzel ein andres Bildchen ,, Reisepläne"
(Taf. 13), aber das Unbewußte erzählt, wohin die Reise führen wird.
Ein Weib schreitet die Treppe hinauf, den aufgespannten Sonnen-
schirm gen Boden richtend und leicht ihr Kleid raffend. Noch
wissen die beiden Männer am Tisch nichts von ihr, aber ein leises
Ahnen lebt in ihnen: der eine steht halb aufrecht, und der Hund
hinter ihm lugt nach der Dame aus. Beide Männer rauchen, sie
sind Uehesreif, und dem halb stehenden gegenüber ist eine große
Vase mit einer Pflanze, und um die Vase ringelt es sich wie eine
Schlange. Zwischen ihr und dem Manne hegt der Reiseplan, nxit
einer Dose beschwert. Seitwärts von ihm sieht man eine leere
Flasche, eine leere Tasse und einen Teelöffel darauf, alles Dinge,
die reden. Und was sie reden, erkennt man an den seitwärts stehen-
den beiden Damen, die uns den Rücken zukehren, während über
den Männern sich scharf betont der Baum ausbreitet. Satte Liebe
blickt nicht einmal nach dem neu erwachenden Begehren. Reise-
pläne? Wer weiß, wohin die Reise geht?
Tausend Dinge, die nur das Unbewußte weiß, füllen die Bilder
der Maler an, wie und was sie wirken, weiß niemand. Nur in glück-
lichen erregten Momenten antwortet der Mensch dem Bilde in
Empfindungen, deren Quelle er nicht kennt und deren Quelle ihm
gerade im AugenbUck der Erregung gleichgültig ist. Der Kunst-
hebhaber aber sucht — mit Recht, denn die Erkenntnis des Un-
bewußten würde ihn nur verwirren — andres als das geheimnisvolle
Helldunkel unbewußter Malerei.
Von Millets Hand gibt es ein Bild, „L'Amour Vainqueur" ge-
nannt. Drei kleine Knaben — wieder die Dreizahl — zerren ein
halbnacktes Mädchen, das nur wenig widerstrebend ihr Gewand
über den Hüften festzuhalten sucht, vorwärts. Es wäre überüüssig,
das Bild zu erwähnen, da seine ungewollte SymboHk offen zutage
liegt. Aber es ist noch ein vierter Knabe da, der das Mädchen von
hinten schiebt. Das ist etwas Neues: was hinter uns geschieht, ist
155
Vergangenheit. Es ist kaum anzunehmen, daß der Maler gewußt
hat, -was er mit diesem Zusatz darstellt, nämlich die Grundwahrheit,
daß es niemals eine erste Begierde, eine erste Liebe gibt, sondern
daß den Menschen neben der Hoffnung auf Lust auch die Erinne-
rung an früher genossene Lust entflammt und widerstandslos
macht, neben der Zukunft auch die Vergangenheit. Mythus und
Kunst kannten schon längst vor der Einführung der Psychoanalyse
die seltsame Tatsache, daß all unser Lieben Wiederholung früheren
Liehens der Kindheit ist, und daß es gerade die Nebenumstände
sind, die wiederholt werden. Das ist der tiefste Grund, warum
Liebesgötter als kleine Knaben dargestellt werden. Millet betont,
wohl unbewußt, diesen Zusammenhang durch den schiebenden
Knaben. — Über die Tatsache dieses Wiederholungszwangs läßt
sich nicht streiten; aber es scheint wenig bekannt zu sein, wie tief
Vergangenes organische Gegenwart beeinflußt. Mütter pflegen am
Hochzeitstage der Tochter die Brautnacht in Gedanken mitzu-
erleben, ihr Miterleben wird aber nicht selten körperhch, sie be-
zeugen in solcher Nacht durch schmerzhafte Enge der Scheide imd
durch Blutung die neue Defloration, die sich an ihnen i\-iederholt.
Weit mächtiger wirkt ein andres Ereignis im Leben der Tochter
auf das Organische der Mutter ein, das ist die Entbindung der
Tochter. Oft treten bei solcher Gelegenheit Kreuzschmerzen im
Körper der Großmutter auf, ja deutUche Nachahmungen von Wehen,
und auch da kommt es nicht selten zu Blutungen.
In der Neuen Pinakothek zu München hängt ein Menzelsches Bild
mit dem auffallenden Namen „Beim Lampenlicht" {Taf. 14). Die
Bezeichnung fäUt auf, weÜ die Hauptfigur des Budes, ein junges
Mädchen, nicht vom LampenHcht beleuchtet ist, sondern von der
brennenden Kerze in seiner Hand. Die Lampe erhellt den Innen-
raum des Zimmers und ihr Licht trifft die Gegenfigur des Mädchens,
eine Frau, die klöppelt. Der, der den Namen des Bildes erfunden
hat — wahrscheinlich ist es wohl Menzel selber gewesen — , muß
wohl bewußt oder unbewußt gefühlt haben, daß man beim Be-
trachten des Gemäldes besser von der Lampe und dem, was sie be-
leuchtet, ausgeht. Lampe und Licht sind in Gegensatz gebracht,
sie bedeuten etwas. Das Licht einer Lampe ist gebändigt, geordnet,
156
die Kerze des Mädchens flackert; sie würde es nicht tun, wenn sie
Zylinder und Schirm hätte. Was gemeint ist, erzählt der Amor,
der zwischen Frau und Mädchen von der Decke herahhängt: die
beiden Gestalten stehen unter der Herrschaft der Liebe. Aber
während die Frau an der Lampe ruhig an der heimischen Arbeit
sitzt — der Klöppel geht stetig durch die Maschen der Fäden, ein
unverkennbares Sinnbild ehelichen Zusammenwirkens, das durch
Lampenschirm und Zylinder, weiblich und männlich, noch betont
wird — , also ihren Liebesverkehr durch die Ehe geregelt hat, steht
das Mädchen an den Pfosten der weitgeöffneten Flügeltür, sehn-
süchtig in erträumte Zukunft blickend. Sie halt die Kerze vor sich,
erleuchtet sich das, was außerhalb des wohnlichen Zimmers in der
Zukunft ist, und in Erwartung des Lichts, das ihr Liebesleben
schenken wird, lehnt sie an dem starren Pfosten in der geöffneten
Tür. Wer wüßte es nicht, daß das verlangende Weib die Türen
der Zimmer offen stehen läßt?
Ich breche hier Meinungsäußerungen über das Problem der
Liebe ah. Mir kam es darauf an, die Verschränkung der Symbol-
welt mit der persönlichen Welt in grelles Licht zu stellen. Und zu
demselben Zweck wage ich eine etymologische Vermutung auszu-
sprechen, die vielleicht rasch vom Kritiker vernichtet werden kann.
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß die lateinischen Wörter
„vita = Leben" und „vivere = leben" zu der Wortgruppe vir
= Mann und vis = Kraft gehören, und möchte dem auch gleich
die griechischen Wörter bios {ßtog) = Leben und beiomai {ßsiofxai)
= leben, bia (ßia) = Gewalt beifügen. Einen andern Beweis als
den der Klangähnlichkeit und der Symbolverwandtschaft zwischen
Leben und Liebe, des „Stirb und werde" habe ich nicht.
Dagegen muß ich noch einmal auf die Gleichung „Liebe und
Tod" zurückgreifen. Khige bringt das Wort Tod {engl, death,
die = sterben, schwed. dö) in Zusammenhang mit dem air. Wort
duine = Mensch, Sterblicher und mit dem lateinischen fumus
=: Leichenbegängnis, Bestattung. Auch Walde gibt diese Mög-
lichkeit der Erklärung zu. Gerade die Bestattung ist aber —
wenigstens für das moderne Denken — ein symbolischer Liebesakt,
157
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ein Schlafen im Schoß der Mutter Erde bie zur Wiedergeburt»
Prellwitz scheint unbewußt denselben Erklärungsversuch zu machen,
er führt das griechische Wort thanatos (j^avaro?) auf ai. dhvanayat
= hüUte ein, an. dvina = schwinden und die Wurzel dhven = eich
verhüllen zurück. Ich brauche nicht näher darauf einzugehen,
daß Hülle, sich verhüllen Symbole des empfangenden Weiblichen
sind.
Die weitest verbreitete idg. Wortwurzel für den Begriff „Sterben,
Tod*' ist mor, die im deutschen Mord erhalten ist (lat. mors ^ Tod,
morior =: sterben, mordeo = beißen, ,4n6 Gras beißen"). In ihr
gibt sich nochmals die Verwandtschaft von Tod und Liebe kund,
da sie mit idg, mer-, merax = sterben, zerreiben zusammenhängt;
lat. marco = welk, schlaff sein; nhd. „mürbe", „morsch" sind
verwandt. Auch das lateinische Wort mortarium, nhd. Mörser,
dessen Beziehung zum Geschlechtlichen ich früher besprochen
habe, gehört hierher, ebenso morbus = Krankheit. Im Griechi-
schen ist die Ableitung maraino {^agaivco) = aufreiben, marasmos
(jiaQaofiog) = verwelken und mamamai {fiaQva/iai) = kämpfen.
Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang das griechische
Wort stergio (ozegyia)) = lieben zu sein. Über seine Abstammung
habe ich nichts finden können, es erinnert aber im Klang so stark
an sterben, daß ich es dem anreihe, zumal das ähnlich lautende
Stereos (öxsqeoc) = starr diese Meinung stützt. Dann würde auch
ßterilis = unfruchtbar in denselben Bedeutungskreis treten (nhd.
Stärke = junge Kuh). In dem Begriff Starrheit liegt beides: Liebes-
leben und Liebessterben (lebendige Erektion mit den Wörtern
stark, schwed. stör = groß, ahd. stoereu = ragen, niedd. und
schwed. Start = Schwanz, andrerseits die noch dauernde Starre
des Ghedes nach dem Samenerguß vor dem Welkwerden der Kraft,
die unfruchtbare Starre, Todesstarre). — Wahrscheinlich gehören
hierher lat. stercus = Kot, gr. sterganos {ozEQyavog) = Kot. Ob
das französische merde = Scheiße zu dem vorhin erwähnten marieo
= merax gehört, entzieht sich meiner Kenntnis.
In dem Zusammenhang Liebe-Tod, Stirb-Werde erwähne ich
noch die Todeszahl Dreizehn. Man erzählt, daß die Pythagoreer
die Eins als Zahl des Weibes und die Drei als die Vereinigung der
158
%
Weib -Eins und der Mann -Zwei auffaßten, dann ist in der
Dreizehn das Zwischenglied der Zwei, der Mann gestorhen. Unsrer
eigenen Zeit liegt am. nächsten, die Eins als Vater und die Drei als
Symbol des Sohnes aufzufassen, dann ist die Zwei zwischen Eins
und Drei der Schoß des Weibes, in den der sterbende Mann frucht-
bringende Saat schüttet, die Dreizehn ist Todes- und AuferstehungB-
symbol, die Wahrheit des Stirb und Werde steht so inmitten der
Fruchtbarkeit der Dreizehn. Zu demselben Schluß kommt man,
wenn man die Eins als ruhendes Glied, die Zwei als erigiertes die
Drei als erschlafftes auffaßt. In der europäischen Kunst ist die
Zahl Dreizehn vor allem in den Darstellungen des Abendmahls
verwendet, und auf das Abendmahl ist wohl auch die besondere
Angst vor der Dreizehn bei Tisch zurückzuführen. Bei diesem
Abendmahl sind zwei Personen gegenwärtig, die dem Tode ver-
fallen sind, Judas und Christus. Ursprünghch scheint das Un-
bewußte der Kunst die Idee bevorzugt zu haben, daß Judas sterben
muß; wenigstens ist Judas in den meisten bedeutenden Gemälden
bis zu dem Bilde des Leonardo getrennt von den andern Tisch-
genossen gemalt, er sitzt allein an der andern Seite des Tisches : nur
das Todessymbol ist gegeben, die Bilder zeigen kein Bekenntnis
zur Auferstehung, jede Hoffnung ist ausgeschlossen. Da ein jeder
Tag uns lehrt, daß wir so wie alle Menschen die Judasnatur haben,
daß das Verraten des Nächsten, des über alles geliebten und ver-
ehrten Nächsten unvermeidKche menschliche Eigenschaft ist, die
in jedem Augenblick imsres Lebens unser Denken, Fühlen, Handeln
mitbestimmt, tritt bei einem jeden in diesen oder jenen Augen-
blicken der schamvolle, verzweifelte Wunsch auf, diesen Judas in
uns in Ewigkeit sterben zu lassen, so zu töten, daß er nie wieder
lebendig wird. Weil Judas den Menschen repräsentiert, in jeder
Faser uns eng verwandt ist, zieht er uns an, genau so wie der Ver-
brecher, der Böse uns tiefer packt als der Gute, der Knecht des
Gesetzes ; denn wir sind alle Verbrecher, haben in uns die Möghch-
keit, ja die Gier nach dem Leidenlassen des Nächsten. So ist denn
die Isolierung des Judas auf den Abendmahlsbildern eine Folge
der Zwienatur von Gut und Böse im Mensehen und ein Versuch,
dieser Zwienatur zugunsten dessen, was jeweilig gut genannt wird,
159
J
wenigstens im Symbol sich zu entziehen. Ea hilft allerdings nicht
das geringste, aber es ist nun einmal so, daß der Mensch eine Eins
sein will, wollen muß, und daß er sich seine Tages- und Nacht-Natur
wegzuphantasieren sucht, wegzudenken, wegzuhandeln.
In dem berühmtesten aller Abendmahlsbilder, in dem des Leo-
nardo, ist Christus selbst der Todgeweihte, der Dreizehnte; wenn
er das Prinzip des Guten ist, so prägt sich in dem Bilde, das noch
jetzt, wo fast nichts mehr davon übrig ist, als ein Gipfel der Malerei
gilt, der frevelhafte, aber jedem, der ehrlich mit sich selbst ist,
wohlhekaunte Wunsch aus, von Gewissensregungen frei zu werden,
das Gute in xms zum Sterben zu bringen. Der Mut, die finsteren
Tiefen des menschlichen Herzens darzustellen und zu bekennen,
würde zu einem Teil die unvergleichliche Wirkung dieses Bildes auf
Mit- und Nachwelt erklären. UnwiUkürHch drängt sich dem Ver-
fasser die Annahme auf, daß hier die Hauptursache zu finden ist,
die den Künstler an der Vollendung des Bildes hinderte; man
könnte es begreifen, daß Leonardo vor der Enthüllung des Myste-
riums nicht bloß des christliehen Wesens, sondern alles Mensch-
lichen zurückwich; ja man könnte fast annehmen, daß die Zer-
störung des Bildes folgerichtig vom Unbewußten der Menschen
erzwungen wurde: das schmachvolle Geheimnis vom Neid und
Haß des MenschUchen gegen das Göttliche wird in diesem Bude
mit fast übermenschlicher Ironie enthüllt. „Wer töricht gnug sein
volles Herz nicht wahrte, hat man von je gekreuzigt und verbrannt'\
gilt nicht nur von der Gesinnung, die der Mensch seinem Nachbar
gegenüber hat, es gilt auch unserm Verhalten gegen uns selbst:
wir müssen unser volles Herz uns selber gegenüber wahren, dürfen
nur bis zu einer bestimmten, engen Schranke unser Wesen uns
selbst offenbaren. Wer diese Grenze überschreiten will, wird in
sich den Christus lebendig erschauen, und diesen Christus, sich
selbst, das Göttliche, wird er alsbald verleugnen und kreuzigen.
Dem Menschen taugt einzig Tag und Nacht, der Irrtum; das Licht
ist Gottes. In eindringUchet Weise, vielleicht mit vollem Bewußt-
sein, hat Leonardo dadurch, daß er statt des Judas den Christus
als Dreizehnten malte, in dem Urphänomen des Sterbens zugleich
das des Werdens gegeben, die zwölf Jünger sind alle in Gruppen
160
zu dreien zusammengefügt, zwölf ist viermal drei, drei ist der Mann,
vier ist das Weib, viermal drei ist die Vereinigung und dreizehn
der Tod und die Auferstehung, die Wiedergeburt, das Kind, die
Ewigkeit. Daß der Kopf des Christus nie gemalt wurde, ist un-
bewußtes Symbol des Werdens, es Hegt Zukunft im Unvollendeten.
Das Sterben ist kein Ende, sondern Bedingung des Werdens. Stirb
und werde! Man steht bei diesem Bilde, dessen Maler gewiß zu
den menschlichsten Menschen zählte, wieder vor der Tatsache,
daß der WirkKchkeitssinn des Unbewußten genau fühlte, man kann
und darf das Gesicht des Christus nicht darstellen. Des Menschen
Sohn ist Symbol und läßt sich als Individuum nicht malen. Christus
hat kein Gesicht, es ist ein Irrtum, ihn zu malen. Den Juden ist
nicht erlaubt, den Namen des Menschheitssymbols auszusprechen,
und Fauet sagt: „Wer darf ihn nennen und wer bekennen: ich
glaub' ihn?"
Fast zur selben Zeit, als Leonardo sein Abendmahl schuf, ent-
stand ein andres Werk aus der Tiefe des Unbewußten, das noch in
voller Schönheit erhalten ist, die Pieta des Michelangelo, Es ist
ein seltsames Bildwerk, seltsam, weil wohl niemand, der nicht die
Zusammenhänge kennt, auf den Gedanken kommt, daß die junge
schöne Frau Mutter des toten Mannes ist, der auf ihrem Schoß
ruht. War es Schönheitsdurst, daß der Künstler die Mutter so
darstellte? Es könnte auch anders bedingt sein. Aber um das be-
greiflich zu machen, muß der Verfasser erst den Standpunkt fest-
legen, von dem sich das Bildwerk in seiner Weise betrachten läßt.
Wenn man das Kreuz ansieht, mag es Leben gewinnen, dann ist
es ein Mensch mit zur Umarmung ausgebreiteten Armen. An diesen
liebesbereiten Menschen wird ein andrer, auch mit ausgebreiteten
Armen, angeheftet; auch er ist liebesbereit. Aber weder das Kreuz
kann umarmen — denn es ist fühlloses Holz — noch der Mensch,
der daran hängt — denn er ist festgenagelt. Und er wendet dem
Kreuz den Rücken zu. Das einzige, was geschehen kann, ist, daß
der Mann stirbt. Nach seiner Auferstehung kann er die ganze Welt
umarmend erlösen, das Kreuz fesselt ihn nicht mehr, nur die Wund-
male, die bleiben. Das Kreuz dagegen verharrt in dem Zustand
der Bereitwilligkeit und der Unfähigkeit, zu umarmen, fühllos, leb-
11 Graddeok, Der Meosoh ob Symbol 161
II' l
los, unwahr; es war schon tot, ehe Christus daran starb, Christus,
des Menschen Sohn. Was ist das Kreuz, durch das er, allzu eng
daran genagelt, sterben muß, damit die Menschheit erlöst wird?
Das Kreuz kann nur die Mutter sein. Im Deutschen nennen wir
den Knochen, in den der Schmerz der Geburtswehen verlegt wird,
das Kreuz; die Lateiner nannten ihn, längst ehe es Christen gab,
OS sacrum, den heiUgen Knochen. Das Kreuz ist die Mutter, die
den Sohn umarmen würde, wenn sie nicht Holz wäre, und an deren
fühlloser Liebesgebärde der lebendige Sohn in Liebe angenagelt ist,
damit er aa dieser Liebe hinstirbt zur Auferstehung. So könnte es
sein: des Menschen Sohn wird Erlöser, wenn er an dem Kreuze
stirbt und wenn er nach der Kreuzabnahme in den Schoß der Erde
gelegt wird zur Auferstehung.
Vielleicht bedrängten Michelangelos dunkelste Seele ähnliche
Gefühle, als er den toten Körper des Gekreuzigten einem jungen
Weibe auf die Knie legte. Diese Frau ist nicht traurig, sie ist
resigniert; ihre Handbewegung sagt das.
Resignieren ist wieder und wieder unterzeichnen, mit seinem
Signum versehen, daß man Mensch ist und nichts außerhalb des
Menschlichen kennt, daß für uns nichts ist außer der Dreieinheit
Mann-Weib-Kind.
Das Wort Signum geht auf das Grundwort secare = schneiden
zurück, geradeso wie das Wort sexus. Gäbe es wohl ein besseres
Zeichen (signum) des Menschlichen als sein Schicksal, zugleich
Individuum und sexus zu sein, ein unteilbares Ganzes und ein
Segment des ganzen Kreises der Welt? Das ist sein Schicksal, und
dieses Schicksal mit freudiger Wehmut zu bejahen ist Menschen-
pflicht und Menschenstärke.
162
^
f
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INHALT
KAPITEL SEITE
1 5
2 18
3 37
4 56
5 85
6 116
7 142
VERZEICHNIS DER TAFELN
1 Cranach: Venus und Amor. Rom, GaUeria Borghcse.
2 Rembrandt: Anatomie des Dr. Tulpius. Haag, Mauritslmig.
3 Sassoferrato: Drei Lebensalter. Rom, Galleria Borghese.
4 Dürer: Maria mit Stemenkrone. Kupferstieb (1508).
5 Michelangelo: Creazione dell'Uomo. Rom, Sixtinische Kapelle.
6 Jan Steen: Der Arzt. Müncben, Pinakothek.
7 Mem.ling: Madonna mit Kind und zwei musizierenden Engeln.
Florenz, Uffizien.
8 Dürer: Adam und Eva. Kupferstich.
9 Michelangelo: Creazione della Donna. Rom, Sixtinische
Kapelle.
10 Davidsz de Heem: Großes Stilleben mit Vogelnest. Dresden,
Galerie.
11 Mignon: Kleines Stilleben mit Vogelnest. Dresden, Galerie.
12 Menzel: Arbeitszimmer Friedrichs des Großen. Holzschnitt.
13 Menzel: Reisepläne. Gemälde. München.
14 Menzel: Beim Lampenlicht. Gemälde. München.
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Lukas Cranach : Venus
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Dürer: Madonna mit Sterueukrone
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IMiyi.l-. Iiniikiii.'iiiii Ai... MiiiulK-n
Jan Steen: Der Arzt
I'lii.l I-. \::i., I.u .11111 \l ,., Mliiu Ii.'Ii
Haas Memlin;;: Mudunna mit iiiu^iziiircnden Eagelii
Dürer: Der SüiKleufiiü
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I'liipi. ]■. ({mcfcninnii AC, Miiiidn-ii
J. Davidsz de Ileem: Da3 [^roße Stilleben mit dem Vogelnest
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Phüt. 1', Eri]i_-km:inn A*',, Mnnthpii
Mignon: Das kleine Stilleben mit dem Vogelnest
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Menzel: Arbeitszimmer Friedrichs des Großen
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Menzel: Beim Lampenlicht
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Druck der Bildbeilagen : '^
v/ .-.-■>.■ F. Bruckmann AG,, Münolien
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In unserem Verlage sind von
GEORG GRODDECK
ferner erschienen:
DAS BUCH VOM ES
Psychoanalytische Briefe an eine Freundin
In Leinen M. 13. —
Ein Breviarium des Freud i an ismns für alle "Wissenscliaftsverächter.
Der Briefschreiber nennt sich Patrik Troll und macht diesem lustigen
Namen alle Ehre, pfeift auf die Wissenschaft, schreibt amüsant,
geistreich, kritiklos und mit der üblichen Enldeckerfreudc. Es gelingt
ihm mühelos, auf alles den rein sexuellen Reim zu finden. Dieser
Patrik Troll hat für die Analyse ein so kurzweiliges Repetitorium
geschrieben, wie es sonst wohl noch kein Wissenszweig hat. Die
Herren Kollegen werden sich vielleicht darüber ärgern, die ..Laien"-
aber werden verblüfft und bewundernd staunen über die fröhliche
Ungeniertheit und Offenheit in der Art des sechzehnten Jahrhunderts.
Und weil dieser derbe Stil damals doch vielleicht so eine Art geistiger
Exhibitionismus war, so wird der Verfasser sich über die Wirkung
auf seine Leser könighch freuen. (Neue Züricher Zeitung)
DER SEELEN SUCHER
Ein psychoanalytischer Roman
In Leinen M. 11. —
Alfred Pol gar im Berliner Tageblatt: „So was Freches, Un-
geniertes, raffiniert Gescheit-Verrückies ist von Erzählern unserer
Sprache noch nicht gewagt worden . , . Erfüllt von der Gewißheit, daß
die Menschen ihre Psyche zwischen den Beinen tragen . . . Eine Figur,
so voll der kostbarsten JNarrheit, ist noch durch keinen deutschen
Roman gewandelt.'' — Frankfurter Zeitung: ..Ein ungewöhn-
lich geistreicher Kerl..." — Alfred Dublin in der Neuen
Kundschau: „Ein tüchtiger Mann, der Spaß machen kann," —
Die Wage: „Ein köstliches Buch, ein abscheuliches Buch. Vor
allem von einer imponierenden Kücksichtslosigkeit.'-
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER
VERLAG IN WIENI
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