HANDWÖRTERBUCH
DER
PSYCHOANALYSE
von
Dr. Richard Sterba
4. Lieferung
Engramm — Fortpflanzung
19 3 7
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN
Die 3. Lieferung des
Handwörterbuchs der Psychoanalyse
enthält infolge eines drucktechnischen Versehens einen bedauerlichen Fehler,
Auf Seite 77, unten, soll es richtig heißen:
Dementia paranoides (paranoid dementia; demence paranoide)
ist jene Form der Schizophrenie (s. d.), bei welcher Wahnideen und Hallu-
zinationen im Vordergrund stehen.
Wir bitten, vorerst diesen Zettel der betreffenden Seite beizulegen; bei Ab-
schluß des Bandes wird dann ein richtiggestellter Druckbogen mitgeliefert, der
beim Binden an Stelle des fehlerhaften eingefügt werden kann.
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Engramm— Entartung
97
Allgemein gilt für den Ablauf der seelischen Energie das Schema des Re-
flexes, d. h. die durch einen äußeren oder inneren (Trieb-) Reiz eingebrachte
Energie wird durch eine darauf erfolgende Reaktion wieder entlassen, indem
der seelische Apparat auf das Energieniveau vor der Reizeinwirkung zurück-
zukehren trachtet (Kon s t a n zp r injzi p)* Durch die Anpassung an die
Realität oder durch Hemmungen, d. h. durch innerseelische Schranken, die im
Laufe der seelischen Entwicklung zum Großteil durch die Erziehung auf-
gerichtet wurden, wird eine direkte Abfuhr der eingebrachten Energie oft
verhindert Die Energie kann dann auf assoziativ benachbarte Gebiete ver-
schoben werden (Er s atz vor s t eil un g) oder in einer Ersatzhand-
lung teilweise abgeführt werden. Auch Umsetzung von seelischer Energie
in körperliche, motorische und sensorische Innervationen ist möglich und be-
sonders für Hysterie typisch. Sie wurde von Freud als Konversion be-
zeichnet.
Freud unterscheidet mit Breuer zwei Zustände der seelischen Energie,
einen frei abfuhr fähig en und einen gebundenen. Der psychische
Apparat bemüht sich, alle durch Wahrnehmung von außen und Triebzufuhr
von innen frisch eingebrachte Energie, die zunächst in freiem Zustand sich
befindet, zu binden, um sie den Zwecken des Systems Bw (s. d.) gemäß zu
verteilen und abzuführen. Im System Bw und Vbw (s. d.) ist also die Energie
gebunden, im System Ubw ist sie frei verschieblich. Die Vorgänge der Ver-
schiebung und Verdichtung sind im Unbewußten möglich infolge der
freien Beweglichkeit der seelischen Energie in diesem System.
Die seelische Energie, die die Sexualtriebe dem seelischen Apparat
zuführen, nennen wir Libido (s. d.). Neben den Sexualtrieben nimmt die
Psychoanalyse einen zweiten Ursprung der seelischen Energie an, nämlich die
Todestriebe (s. d.). Die ihnen entstammende Energie wird von Edoardo Weiss
als Des tr udo (s. d.) bezeichnet.
Engramm (engram; engramme, frace mnesique)
Die Dauerspur (Erinnerungsspur), die jede Wahrnehmung im psychischen
Apparat setzt und von der die Erinnerung (s. d.) ausgeht, nennt man auch
Engramm. Nach der Anschauung, die sich die Psychoanalyse vom seelischen
Apparat gebildet hat, finden sich die Engramme in eigenen Systemen, die im
Ablauf der psychischen Vorgänge nach der wahrnehmungs aufnehmenden
Schicht gelagert sind. Die Engramme sinjd in diesen Systemen nach ver-
schiedenen Ässoziationsprinzipien geordnet, in einem nach dem Prinzip der
Gleichzeitigkeit, in einem nächsten nach dem Prinzip der Ähnlichkeit u.s.L
Zu den „assoziierbaren" Vorstellungen führen vom einzelnen Engramm Wege,
die durch geringeren Widerstand gegen die Ausbreitung der seelischen
Energie gekennzeichnet sind. (S. a. Dauerspur.)
Entartung (degeneration; degenerescence)
s- Degeneration.
Dr. Sterba: Handwörterbuch.
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Entfremdung
Entfremdung (depersonalization; depersonnalisatlon)
Als Entfremdung bezeichnet man einen Zustand, in dem der daran Leidende
die Außenwelt oder sich selbst oder beides verändert fühlt» Die Dinge werden
fremd, neu, traumhaft, oft wie verzerrt empfunden, ohne daß dabei eine wirk-
liche Störung der Sinneswahrnehmung besteht. Wird die eigene Persönlichkeit
verändert erlebt, dann klagen die Kranken, daß sie nicht fühlen können, daß
sie ihre eigenen Gefühle als fremdartig empfinden, im weiteren, daß ihre
Handlungen wie automatisch geschehen, ohne daß sie sich voll darin spüren:
auch die Körpersphäre kann von der Entfremdung betroffen sein und Glied-
maßen und selbst Teile des Rumpfes können als fremd empfunden werden.
Bei der Entfremdung besteht Immer eine erhöhte, oft quälende Selbst-
Beobachtung. Die die eigene Person betreffenden Entfremdungsgefühle
sollten als Depersonalisation bezeichnet werden, meist aber wird
Depersonalisation gleichwertig mit Entfremdung gebraucht Leichte und vor-
übergehende Entfremdungsgefühle können auch beim psychisch Normalen auf-
treten, so bei Ermüdung, im Fieberzustand, bei Intoxikation.
Nunberg führt die Entfremdung der Außenwelt auf einen Abzug der
Libido von den Objekten zurück. (Hermann N u n b e r g, Depersonalisations-
zustände im Lichte der Llbldotheorie. Z, X. 17.) Relk sieht in der Entfrem-
dung das Ergebnis eines lebhaften Ämbivalenzkampfes, durch den ein an-
scheinender Gleichgewichtszustand in Form der Gefühllosigkeit erreicht werde*
Die Selbstbeobachtung trete an Stelle des früher Empfundenen, sie sei teils
narzißtischen Charakters, teils habe das Über-Ich in Ihr den Sadismus, der den
Objekten gelte, ähnlich wie bei der Melancholie, übernommen. (Theodor R e I k„
Wie man Psychologe wird. 1927.) Otto Fenichel hält die Erhöhung der nar-
zißtischen Libido für die Voraussetzung der Entfremdung. Die Auswirkungen
dieser erhöhten narzißtischen Besetzung werden vom Ich als unangenehm
empfunden: die Entfremdung bedeute eine Abwehrmaßnahme gegen diese er-
höhte Besetzung in Form eines Libidoentzuges, (Otto Fenichel, Perversio-
nen, Psychosen, Charakf erstörungen, 1931, S. 75 ff.) Paul Federn führt die
Entfremdung auf einen Besetzungsentzug der Ichgrenzen zurück (s. Ichgefühl)»
(P, Federn, Einige Variationen des Ichgefühls* Z, XIL 265.) Ber gier und
Eideiberg sehen als spezifischen Mechanismus der Entfremdung die Abwehr
und Verleugnung anal-exhibitionistischer Wünsche an, wobei ein Teil des Ichs
sich dem Über-Ich „anbiedere" und als „Hilfspolizei" in Form der gesteigerten
Selbstbeobachtung zur Verfügung stelle. Dabei finde eine Wandlung des Ex-
hibitionismus in Voyeurtum statt, (E, Berg ler u* L, Eideiberg, Der
Mechanismus der Depersonalisation, Z, XXL 258.)
S, Freud betrachtet die Entfremdungen allgemein als Äbwehrvorgänge.
Durch die Entfremdung sollen unlustvolle Inhalte vom Ich abgehalten werden»
Die Bezeichnung „Entfremdung" teilt er dabei der Störung der Äußenwelts-
wahrnehmungen, die Bezeichnung „Depersonalisation" den Icherlebnissen zu,
(S, Freud, Eine Erinnerungsstörung auf der Äkropolis, Älmanach der
Psychoanalyse 1957* S, 9,)
r
entlehntes Schuldgefühl— Entwöhnung
99
entlehntes Schuldgefühl (borrowed sense of guilt; sentiment de culpa-
bilite emprunte)
s. Schuldgefühl.
Entmannung (emasculation; emasculation)
s. Kastration»
Entmischung (defusion; desintrication)
s. Trieberntmischung»
Entstellung (distortion; deformation)
Die verdrängten Triebregungen werden durch die Gegenbesetzung (a. d.), die
sich ihrem Eindringen ins Ich widersetzt, von den großen Äbfuhrwegen des
psychischen Apparates, von Motilität und Äffektivität, ferngehalten. Es gelingt
aber den verdrängten Triebwünschen, Abkömmlinge ins Ich und ins Bewußt*
sein zu entsenden, sofern in diesen Abkömmlingen das ursprüngliche Ziel
der Wunschregung nur entsprechend entstellt und dadurch unkenntlich ge-
macht ist. Die äntrapsychische Zensur (s. d.) wacht darüber, daß verpönte
Inhalte den Bereich des Vorbewußten (s. d.) nicht betreten. Um dieser Zensur
willen geschieht die Entstellung; durch die Entstellung erscheinen eindrin-
gende Inhalte harmlos und werden von der Zensur durchgelassen. Allerdings
Ist auch die Spannungsermäßigung durch die Abfuhr entstellter Inhalte
geringer als sie durch direkte und unentstellte Befriedigung wäre.
Die Trauments teil ung (s. d.) gilt uns als Paradigma der Entstellung.
Die Techniken und Mechanismen, durch die die Entstellung bewerkstelligt
wird, sind die Auslassung, die Verschiebung, die Darstellung durch das
Gegenteil, die Doublettenbildung, die Symbolik u. a.
Entwöhnung (weaning; sevrage)
Die Bezeichnung „Entwöhnung** schlechtweg wird im allgemeinen für die Äb-
stülung, also die Entziehung der Mutterbrust gebraucht, mit der die Säuglings-
periode abgeschlossen wird. Das Saugen an der Mutterbrust bedeutet für
den Säugling nicht nur die Funktion der Nahrungsaufnahme, sondern es dient
auch in hohem Maße der Lustbefriedigung der oralen Zone (s. d.). Die Ent-
wöhnung entzieht daher dem Kind die bedeutendste Lustquelle
Von vielen Kindern wird diese Entwöhnung ohne Schwierigkeiten vertragen.
Der Daumen oder ein anderer Finger oder Gegenstand (Gummisauger) ersetzt
ihnen in beträchtlichem Maße die entbehrte Brustwarze. Wenn die Zähne
durchbrechen, dient das Beißen und Kauen der Lustbefriedigung und das
Verlangen nach der Saugeiust läßt infolgedessen nach. Zahlreiche andere
Kinder aber empfinden den Verlust der mütterlichen Brust sehr schwer, die
Entwöhnung wirkt bei ihnen traumatisch, besonders dann, wenn sie plötzlich
vorgenommen wird. Die nervöse Disposition des Kindes tritt häufig anläßlich
der Entwöhnung das erstemal zutage. Diese Kinder reagieren auf das Abstillen
7*
100
Enuresis — Epikrise
mit Verweigerung jeglicher andern Nahrung, mit trauriger Verstimmung, er-
höhter Reizbarkeit Konstitutionell bedingtes starkes orales Triebverlangen
erhöht die Schwierigkeit der Entwöhnung. Diese soll sehr allmählich ge-
schehen, womöglich erst zu einem Zeitpunkte, wo das Durchbrechen der
Zähne dem Stillakte ein natürliches Ende setzt.
Die Entwöhnung bildet dadurch, daß sie ein libidobesetztes, dem Ich
zuempfundenes Organ, nämlich die Mutterbrust, dem Ich entzieht, ein Vor-
bild der Kastration (s. d.). (S. a. Mutterbrust.)
Enuresis (enuresis; enuresie)
Als Enuresis bezeichnet man den unwillkürlichen Harnabgang als Ausdruck
einer nervösen Störung. Man unterscheidet eine Enuresis nocturna,
die im Schlafzustande vor sich geht und zu deutsch als Bettnässen be-
zeichnet wird, und eine Enuresis diurna, die im Wachzustande eintritt.
Die Enuresis nocturna, die nach der Reinlichkeitsgewöhnung als vereinzeltes
Vorkommnis in den ersten Lebensjahren bei fast allen Kindern zu finden ist,
wird als neurotisches Symptom gewertet, wenn sie in späteren Jahren der
Entwicklung oder bei Erwachsenen sich findet Das Bettnässen ist eine sexu-
elle, und zwar eine autoerotische Handlung, meist ein Ersatz für einen
onanis tischen Akt. Auch die psychologischen Begleitphänomene der Onanie,
die Ödipus-Phantasien und -Wünsche, sind in den Träumen der Bettnässer
zu finden. Nicht selten äst die Enuresis nocturna ein Ausdruck von Wunsch-
regungen, die aus der Identifizierung mit dem anderen Geschlecht stammen.
So bedeutet sie beim Mädchen die Erfüllung des Wunsches, wie ein Knabe
urinieren zu können; beim Knaben ist sie der Ausdruck pass|v-femininer
Wünsche, die nur unter der Voraussetzung der Penislosigkeit erfüllt werden
können. Das Abfließen des Harnes bedeutet dabei, daß der Bettnässer sich
symbolisch des Penis begeben hat; dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß
der Penis eine Art Absperrhahn für den Harn ist und daß Frauen und
Mädchen daher den Harn nicht halten können.
Der Enuresis diurna liegen psychologisch im wesentlichen die gleichen
Mechanismen zugrunde wie der Enuresis nocturna. Die besonderen Bedin-
gungen des Einnässens am Tage sind für den Einzelfall psychologisch zu
untersuchen und anscheinend nicht einheitlich.
Die Enuresis ist im allgemeinen durch Psychoanalyse heilbar*
epidermale Einverleibung (epidermal incorporation; introjection epider-
mique)
s. Einverleibung.
Epikrise (epicrisis; resume, conclusion)
ist die einer Krankengeschichte oder einem Krankenbericht angegliederte
Schlußbetrachtung im Sinne einer theoretischen und praktischen Zusammen-
fassung und Gesamtbeurteilung des Falles.
Epilepsie — Erbrechen
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Epilepsie (epilepsy; epilepsie)
ist eine organische Hirnkrankheit, die sich in Anfallen von Muskelkrämpfen
mit gleichzeitigem Bewußtseinsverlust äußert. Die Anfälle treten plötzlich auf
und kündigen sich oft durch eine Aura (s, d.) an* Die Krämpfe führen anfäng-
lich zu Muskelstarre» dann zu Zuckungen; die Dauer des Anfalles ist meist
wenige Minuten. Zungenbiß und Harnlassen im Anfall sind häufig* Bisweilen
wird der Anfall durch die Aura oder durch kurze vorübergehende Bewußt-
seinsverluste (petit mal) ersetzt. Auch Dämmerzustände kommen vor* Bei
vielen Epileptikern verändert sich der Charakter im Verlaufe der Krankheit,
sie werden reizbar, egozentrisch, neigen zu Frömmelei*
Freud betrachtet den epileptischen Anfall als einen Zustand der Trieb-
entmischung, in dem der reine Todestrieb aus der Legierung mit dem Lebens-
triebe sich befreit und im muskulären System sich auswirkt. Nach Schilder
stellt der epileptische Anfall eine Wiedergeburt dar* (P* Schilder, Entwurf
zu einer Psychiatrie auf psychoanalytischer Grundlage.) Reich versucht, ihn
als extragenital-muskulär ablaufenden Orgasmus zu erklären* (W* Reich,
Über den epileptischen Anfall, Z. XVII* 263*)
Erbrechten (vomiting; vomissements)
Das Erbrechen, das durch retroperistaltische Kontraktionen der Magen- und
Speiserohrenmuskulatur entsteht, kann organische und psychische Ursachen
haben. Psychologisch ist es nahe verwandt mit dem Ekel (s* d.); dieser
dient der Abwehr der oralen Aufnahme, das Erbrechen der Ausstoßung des
bereits Aufgenommenen. Der Tatsache, daß die ersten sexuellen Regungen
des Kindes an Mundzone und an Nahrungsaufnahme gebunden sind, ist es
zuzuschreiben, daß das Erbrechen zur Darstellung und Vollziehung der Ab-
wehr gegen sexuelles Triebverlangen auch weiterhin vielfach dienstbar bleibt*
Vor allem bei der Hysterie ist das Erbrechen ein Ausdruck der Abwehr
sexueller Regungen, verschoben vom Genitale auf die Mundzone* Da die
Vereinigung Brustwarze und Mundhohle ein unbewußtes Vorbild für die
Vereinigung der männlichen und weiblichen Genitalien Ist, kann die Ableh-
nung des Sexualaktes durch das Erbrechen dargestellt werden* Neben den
genitalen Triebregungen, die dem hysterischen Erbrechen zugrunde liegen,
sind aber auch Kbidinöse und aggressive Wünsche oraler Natur im hysteri-
schen Erbrechen wirksam und abgewehrt. So vor allem die Lust, am Penis
zu saugen (s. Fellatio), gleichzeitig mit der aggressiven Tendenz, ihn abzu-
beißen und ihn zu verschlingen. Auch orale Konzeptions-, Schwangerschafts-
und Geburtstheorien spielen im hysterischen Erbrechen eine Rolle.
Das Erbrechen der Schwangeren (vomiting of pregnancy; vomis-
sements gravldiques) soweit es nicht physiologisch bedingt ist, ist nach Helene
Deutsch durch die Tendenz verursacht, das psychologisch oral aufgenom-
mene Kind wieder auszustoßen; es entspricht der Ambivalenzeinstellung gegen
die Frucht. (Helene Deutsch, Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktio-
nen, 1925.)
102
Erektion — Etgänzungsreihe
ErekflOtl (erection; erection)
bezeichnet das Sichaufrichten eines Organs. Die Erektion des Penis, die
unter Erektion schlechtweg gemeint ist, ist eine Vorbedingung für den
Sexualakt, indem sie das Organ zur Einfuhrung in die Scheide befähigt.
Beim Penis kommt dieser Vorgang dadurch zustande» daß die Schwell-
körper, Gebilde von schwammartigem Bau, mit Blut gefüllt werden, wo-
durch das Organ sich vergrößert, in seiner Konsistenz beträchtlich zu-
nimmt und sich aufrichtet. Auch die Klitoris, das dem Penis analoge Organ
beim Weibe, hat Schwellkörper und ist einer Erektion fähig, die freilich
bei der Kleinheit des Organs nicht so auffällig ist.
Das Sichaufrichten des Penis gegen die Schwerkraft bei der Erektion
führt zur Symbolisierung derselben in den Flugträumen, in denen dabei
die ganze Person des Träumers mit dem Glied identifiziert ist. Die
symbolische Darstellung des Penis als Luftballon, Zeppelin, Flugzeug leitet
sich von dieser Teilerscheinung der Erektion ab.
Auch das Steifwerden und Hervortreten der gereizten Brustwarzen
bezeichnet man als Erektion derselben. Diese Erektion kommt allerdings
nicht durch Blutzustrom, sondern durch Muskelkontraktion zustande.
er ethisch (erethistic; erethique)
heißt unruhig und reizbar*
EreufhfOphobie (ereutophobia; ereutophobie)
s. Erythrophobie*
Ergänzungsreihe (complemental series; series complementaires, compo-
sition des forces causales)
Der von Freud aufgestellte Begriff der Ergänzungsreihe soll die Ko-
operation zweier in gleichem Sinne wirkenden Ursachen oder Voraus-
setzungen für das Zustandekommen eines Phänomens anschaulich machen.
Graphisch kann die Ergänzungsreihe als Rechteck mit einer Diagonale dar-
gestellt werden. Bedeutet uns die senkrechte Distanz a von einem Punkte
der Diagonale zur unteren Seite des Rechtecks die Quantität der einen
Ursache, dann gibt uns die senkrechte Distanz b vom gleichen Punkt zur
oberen Seite das Maß der zweiten Ursache an, das bei gemeinsamer Ein-
wirkung zur Erreichung des Effektes E notwendig ist. Mit der Abnahme der
einen Distanz hat also die andere zu wachsen, damit der Effekt E zustande
kommt, was aussagt, daß bei kleiner Teilursache a die Ergänzung durch die
Teilursache b entsprechend größer werden muß, damit das Phänomen in
Erscheinung trete, und umgekehrt. An den Endpunkten genügt eine Ursache
Erinnerung
103
bei entsprechender Hohe für den Effekt. Man bezieht also aus diesem
Hilfsbegriff der Ergänzungsreihe die Reihe der beiderseitigen Wirkungs-
größen» die einen bestimmten Effekt erzielen.
Die Ergänzungsreihe ist deshalb so brauchbar, weil wir auf psychopatho-
logischem Gebiet vielfach gerade zwei Ursachen am Zustandekommen
eines Phänomens vereint finden. Anlage und infantil erworbene Disposition,
infantiles und späteres Erleben, Triebstärke und Ichschwäche, Fixierung und
Regression z. B. bilden solche Ergänzungsreihen für das Zustandekommen
eines neurotischen Symptoms.
Erinnerung (memory; souvenir)
Entsprechend der dynamischen Auffassung des Seelenlebens nimmt die
Psychoanalyse an, daß auch das Erinnern ein energetischer Vorgang im
seelischen Apparat ist. Jede Wahrnehmung setzt eine unauslöschbare Dauer-
spur (s. d.) im seelischen Apparat. Diese Dauerspur denken wir uns als
bleibende Veränderung an jenen Elementen der psychischen Systeme, die die
Erinnerung aufbewahren. Den psychischen Ort dieser Systeme und somit der
Dauerspuren, die auch Erinnerungsspuren genannt werden, denkt sich
die Psychoanalyse räumlich unmittelbar anschließend an das Wahrnehmungs-
system. Jede Wahrnehmung durchläuft diesen psychischen Ort, um dort in
verschiedenen Systemen, die wir Erinnerungssysteme (Er-Systeme) nennen,
Dauerspuren zu setzen. Nach Freuds Vorstellung vermögen je nach dem
Er-System Besetzungen dieser Dauerspur in verschiedener Richtung geringsten
Widerstandes sich auszubreiten. In einem System über gleichzeitig
eingetroffene Dauerspuren, in einem anderen über ähnliche Dauerspuren
und so fort, so daß in den Er-Systemen die Grundlage der Assozia-
tionen gegeben ist. Das Erinnern geschieht nun durch Besetzung der
Dauerspur eines einmal Wahrgenommenen. Die Psychoanalyse zeigt, daß
diese Wiederbesetzung der Dauerspur einer Wahrnehmung zunächst un-
bewußt ist, ja unbewußt bleiben und trotzdem wirksam sein kann. Um
bewußtseinsfähig zu werden, bedarf es eines Plus an Besetzung durch Hinzu-
kommen einer der unbewußten Sachvorstellung entsprechenden Wort Vor-
stellung, die wieder ihrerseits einen Wahrnehmungsrest aus der Hör-
sphäre darstellt. Zwischen die Erinnerungsspur einer Sachvorstellung
und die zugehörige Wortvorstellung ist eine Zensur eingeschaltet, welche
das Übergreifen der Erregung von einem System auf das andere hemmen
kann. Die sachlichen Erinnerungsreste haben also zunächst nichts mit
idem Bewußtwerden zu tun. Ihre Besetzung führt zunächst zu dem, was
wir unbewußte Erinnerung nennen. Sie kann bewußt werden, wenn die
Erregung auch der Wortvorstellung hinzukommt, oder sie bleibt unbewußt.
Wir können die Wirkungen solcher unbewußter Erinnerungen in der Analyse
ständig beobachten. Das therapeutische Verfahren der Analyse gestattet
uns, unter Umgehung und Aufhebung der Zensur wieder besetzte Dauer-
spuren, die vom Bewußtwerden abgehalten werden, mit den zugehörigen
Wortresten zu verbinden und so bewußt zu machen.
104
Erinnerung ssput — exogene Zone
Beim absichtlichen Erinnern erfolgt die Besetzung der Erinnerungs-
spuren regressiv durch direkte Lenkung der Bewußtseinsaufmerksamkeit auf
die Dauerspur* Die Besetzung einer Erinnerungsspur kann auch durch eine
Wahrnehmung erfolgen, von der auf assoziativen Bahnen die Erregung
zu dieser Dauerspur weiterläuft. Schließlich werden von den Trieben her
hauptsächlich die Erinnerungsbilder der Befriedigungserlebnisse mit hohen
Energiebeträgen besetzt»
Die bewußte Erinnerung ist nicht die einzige Form der Reproduktion
psychischen Materials; so gibt es z. B. eine andere Art der Reproduktion
in Form des Wiederholens durch Handlung, Benehmen und Äffekt-
einstellung. (S. a. Agieren.)
Erinnerungsspur (memory traces; traces mnenuques ou mnesiques)
ist die dauernde Veränderung, die jede Wahrnehmung in den Erinnerungs-
systemen setzt Wir unterscheiden Sacherinnerungsspuren, deren Besetzung
unbewußt bleiben kann, und Worterinnerungs spuren (Worterinnerungsreste),
deren Zusammentreffen mit den Sacherinnerungsspuren erst das Bewüßt-
werden der Erinnerung ermöglicht (s. Erinnerung). Die Erinnerungsspur
wird auch als Dauerspur (s. d.) oder als Eng ramm (s, d.) bezeichnet.
Brnähmngstrieb (nutritional instinct; instinct dlngestion, de nutrition)
Der Ernährungstrieb gilt uns als Hauptrepräsentant der Ich-Triebe (s. d,)*
Der Hunger als wesentlichster Ausdruck des Ernährungstriebes wird
schon von Friedrich Schiller der Liebe, die die Sexualtriebe reprä-
sentiert, gegenübergestellt Freud hat diese Gegenüberstellung als Grund-
lage seiner ersten dualistischen Auffassung (s. d.) seelischer Vorgänge
benützt und die Unterscheidung von Sexual- und Selbsterhaltungstrieben
daran geknüpft
erogetie Zone (erotogenic zone; zones erogenes oa mieux erotogenes)
Als erogene Zone bezeichnet man eine Körperstelle, die imstande ist, sexuell
erregende Reize ins Zentralnervensystem zu entsenden. Diese Fähigkeit selbst
bezeichnet man als Erogen ei tat Im Grunde genommen besitzt jede
Körperstelle und jedes Organ die Fähigkeit der Erogeneität; einige aber, die
wir als erogene Zonen unter den übrigen hervorheben, haben diese Fähigkeit
in besonders hohem Maße. So vor allem natürlich die Genitalien, die
uns als Paradigmata der erogenen Zonen dienen und nach denen wir uns
die Wirksamkeit der anderen erogenen Zonen vorstellen« Für die Frau ist
auch die Brust, insbesondere die Brustwarze, eine hocherregbare erogene
Zone. Die Mundzone ist mit hoher Erogeneität ausgestattet, insbesondere
die Lippen und die Zunjge. Die Erogeneität der Mundzone spielt nicht nur
in der Sexualität der Erwachsenen, vor allem in der hohen Lust des Küssens
eine Rolle, sondern noch mehr im frühesten Lebensalter, in der Säuglings-
zeit, in der die Erogeneität der Mundzone die Hauptrolle im Libidohaushalf
Erogeneitat — Eros
105
des kleinen Wesens innehat* (S. a. Oralerotik.) Später» vom zweiten Lebens-
jahr an, überwiegt die Erogeneitat der Äfterzone; Zurückhalten und Ausstoßen
des Stuhles bilden die wichtigsten Reizvorgänge dieser erogenen Zone
(s. Änalerotik). Schließlich tritt auch die anale Zone in ihrer Bedeutung
für die psychosexuellen Vorgänge zurück, und die genitale Zone, und
zwar der Penis beim Knaben und die Klitoris beim Mädchen, treten
schon in der Kindheit die Herrschaft über die übrigen erogenen Zonen an
(s. Genitalitat). Die Vagina wird als erogene Zone meist erst nach der
Pubertät, und zwar nach erfolgter Defloration entdeckt und wirksam. Die-
jenigen Zonen, die in bestimmten Phasen der Libldoentwicklung (s. d.)
über die übrigen erogenen Zonen pravalieren, wie eben die Mund-, die
After- und die Genitalzone, bezeichnet man als Primatzonen (s. Primat)*
Von hoher Erogeneitat sind ferner die Hand, die Hautdecke im allgemeinen
mit wechselnder Bevorzugung bestimmter Hautstellen, die Muskulatur und
die Sinnesorgane, insbesondere das Äuge.
Die erogenen Zonen sind durch ihre hohe libidinöse Besetzung und infolge
der intensiven Lusterlebnisse, die sie vermitteln, im Psychischen besonders
repräsentiert. Ihre Erogeneitat befähigt sie in pathologischen Fällen das
Genitale zu vertreten, indem sie meist unbewußt wie ein Genitale seelisch
empfunden und wirksam werden* Insbesondere bei Hysterie werden
andere erogene Zonen benützt, genitale Vorgänge daran darzustellen. Bei
Hypochondrie wird eine Korperstelle oder ein Organ vermöge seiner
Erogeneitat wie ein Genitale hoch libidinos besetzt, sowohl in Form der
Anhäufung von somatischer Libido am Organ wie in Form von narzißtischer
Besetzung der psychischen Organrepräsentanz. Die vom erogeneisierten Organ
ausgehenden Sensationen und Spannungen werden dabei in krankhafter Weise
vom Ich erlebt. (S. Hypochondrie.)
In den Perversionen spielen einzelne erogene Zonen oft eine über-
ragende Rolle und drängen die Bedeutung des Genitales dadurch zurück.
ElT05|eneifäi (erotogenicity; erotogeneite, erogeneite, caractere erogene oa
erotogene)
s. erogene Zone.
Eros (eros; eros)
Der Begriff des Eros, der dem Griechischen entstammt und dort Liebe
oder Gott der Liebe bedeutet, wird in den neueren Triebtheorien der Psycho-
analyse zur Bezeichnung des Sexualtriebes verwendet. So bildet Eros das
griechische Synonym für Libido (s. d.) und wird in diesem Sinne besonders
in theoretischen und spekulativen Schriften gebraucht. Dem Eros steht der
Todestrieb (s. d.) gegenüber; Eros und Todestrieb sind die Ur triebe,
sie liegen allen Lebensprozessen zugrunde und alle psychischen Vorgänge
sind durch sie bestimmt.
1
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Etotik~— Erregung
Efofik (eroticism; erotisme ou erotique)
Die Freud sehe Libidolehre macht zwischen Sexualität und Erotik deshalb
keinen Unterschied, weil sie ihrer genetischen Betrachtungsweise entsprechend
beide nur als Äußerungen desselben Sexualtriebes anerkennen kann* Erotisch
und sexuell werden daher in der Psychoanalyse vielfach auch dann synonym
verwendet, wenn eine phänomenologische Trennung möglich ist»
Efoflsierung (erotization; erotisation)
s. Sexualisierung«
Erotomanie (erotomania; erotomanie)
Die Erotomanie ist eine Geisteskrankheit, der eine paranoide Wahnbildung
zugrunde liegt. Das auffällige Symptom an Erotomanen ist, daß sie annehmen,
es seien zahlreiche Personen des anderen Geschlechts in sie verliebt; sie
handeln dementsprechend und suchen selbst oft krampfhaft und in über-
triebener Art diese wahnhafterweise bei den anderen angenommene Liebe zu
erwidern. Die Erotomanie dient der Abwehr starker unbewußter homosexueller
Regungen» Die Abwehr erfolgt durch Projektion des eigenen Liebesverlangens
in Personen des anderen Geschlechts. Die Formel, die diesem Projektions-
mechanismus zugrunde Hegt, lautet für den Mann: „Ich liebe nicht ihn, ich
liebe ja sie, weil sie mich liebt" Auf Grund eines starken eigenen Narziß-
mus wird der Erotomane selbst zum Gegenstand der Liebe und Objekt-
sehnsucht, die er aus sich heraus in Personen des anderen Geschlechtes
projiziert. Durch die Beziehung zum anderen Geschlecht wird in der Eroto-
manie die eigene Homosexualität widerlegt.
Erregung (excitement, excitation; excitation)
Als Erregung bezeichnet man einen Zustand erhöhter Spannung, sich äußernd
als dringendes Bedürfnis, durch Abfuhr den Ruhezustand wieder zu ge-
winnen. Wir denken uns jede psychische Erregung entstanden durch Zufuhr
an psychischer Energie. Die Erregungsquellen für den psychischen Apparat
sind die Außenwelt und die Triebe. Die allgemeine Funktion des
psychischen Apparates ist nach Ansicht der Psychoanalyse die Verteilung
und zweckmäßige Abfuhr der Erregungen.
Wenn wir von Erregung eines Systems, einer Erinnerungsspur, eines infan-
tilen Wunsches u. dgl. sprechen, so ist dex Ausdruck Erregung gleich-
bedeutend mit Energiebesetzung (s, Besetzung).
Die sexuelle Erregung wird als Spannung von bestimmt lustvollem
Charakter wahrgenommen. Sie treibt zu Sexualhandlungen, die die Erregung
beseitigen und dadurch befriedigend wirken.
Als frustrane Erregung bezeichnet man sexuelle Erregung, die nicht
durch die Endlust des Orgasmus beseitigt wird, sondern einen psychosexuellen
Spannungszustand hinterläßt. Die frustrane Erregung, wie sie durch Hemmung
der Sexualpartner oder durch Unzureichendsein eines Sexualpartners oder
Ertöten — Etsatzbildung
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durch Coifus interrupfus zustandekommt, ist die häufigste Ursache der
Ängstneurose (s. d.).
Erröten
s. Erythrophobie.
Ersafzbefriedigling (substitutive gratification or satisfaction, substifute-
gratification; satisfaction substitutive)
nennen wir es, wenn die psychische Spannung, die durch ein bestimmtes
Triebverlangen verursacht wird, nicht durch die dem Triebveriangen zu-
kommende direkte Triebbefriedigung, sondern durch andere, mit der ursprüng-
lichen Triebbefriedigung allerdings immer genetisch, assoziativ oder funk-
tionell zusammenhängende psychische Vorgänge erreicht wird. Dies ist außer-
ordentlich häufig der Fall; eine große Reihe von Triebregungen wird im
Laufe der seelischen Entwicklung von der Erreichung des ursprünglichen
Triebzieles abgehalten und gezwungen, sich mit Ersatzbefriedigungen zu be-
gnügen. Hiebei kann das Objekt gewechselt werden, oder es wird die
Triebhandlung modifiziert oder ersetzt Die Ersetzung des Objekts
oder der Triebhandlung erfolgt häufig durch Objekte oder Handlungen, die
mit den ursprünglichen durch Symbolbeziehungen verbunden sind (s. Symbol).
Wenn durch die Ersatzbefriedigung gleichzeitig einem der höheren Zwecke
des Ichs gedient wird, so sprechen wir von Sublimierung (s. d*). Die
Ersatzbefriedigung führt zur Verminderung der Triebspannung und geht
meist mit einem Lusterlebnis einher, das allerdings geringer ist als das an
die ursprüngliche Triebbefriedigung geknüpfte.
Auch das neurotische Symptom ist eine Ersatzbefriedigung, die
aber, da sie gegen den Einspruch der bewußten Persönlichkeit und Zensur
erfolgt, unter Unlustentwicklung vor sich geht
Ersafzbildutlg (substitutive formatiert, substitute-formation ; formation sub-
stitutive)
Ist eine psychische Strebung an der direkten Erreichung ihres Zieles be-
hindert, dann vermag sie häufig ihre, allerdings geschwächte Befriedigung
in einer Ersatzbildung zu erreichen. Je nach der Art dieses geänderten Zieles
sprechen wir von Ersatzvorstellung, Ersatzeinfall, Ersatzerinnerung, Ersatz-
handlung, Ersatzbefriedigung usf. Die Ersatzbildungen sind meist Abkömm-
linge des Unbewußten (s. d.). Sie sind vom ursprünglichen verbotenen Ziel
weit genug entfernt, um der Zensur zu entgehen» und doch assoziativ so
mit ihm verknüpft, daß genug Erregung vom Eigentlichen auf sie übergeht
und sie existenzfähig oder befriedigungsfähig erhält. Auch das neurotische
Symptom ist zu gewissen Teilen eine Ersatzbildung, und zwar eine Ersatz-
befriedigung. Zahlreiche unserer Gedanken, Vorstellungen und Handlungen
haben neben ihrer Funktion im Sinne des Bewußtseins noch eine andere,
unerkannt bleibende Funktion als Ersatzbildungen von unbewußten Wunsch-
zielen.
108
Et sparnistendenz—ErtPattungsvot Stellung
Ersparnisteildenz (tehdency to economy; tendance economisante ou ä
Fepargne)
Die Ersparnistendenz ist das Bestreben des seelischen Apparates, Energie-
quantitäten und -aufwände, die er für seine Funktionen und für die Äufrecht-
erhaltung des seelischen Gleichgewichtes braucht, möglichst niedrig zu halten»
Es gibt eigene Techniken, die Freud am Witz besonders studiert hat, die
auf Ersparung an Aufwänden abzielen und dadurch Lust erzeugen (s. Witz).
Er-Sysfeme
s* Erinnerung»
Erwaffungsangst (antieipatory anxiety; attente anxieuse)
Jeder Angst haftet etwas von Erwartung an, da ja die Angst eine Reaktion
auf eine nahende Gefahr ist (s* Angst). Es gibt aber bestimmte Formen von
Ängstlichkeit, bei denen jedes zu erwartende Ereignis Gelegenheit bedeutet»
Angst davor zu entwickeln. In diesen Fällen wird eine allgemein frei
flottierende Angst mit allem Herannahenden verknüpft, von allen Möglich-
keiten die schlechteste erwartet, jeder Zufall als Anzeige eines Unheils
gedeutet, jede Unsicherheit im schlimmen Sinne gewertet Regelmäßig findet
sich solche Erwartungsangst bei der Ängstneurose (s. d.)» Aber auch andere
Neurosenformen mit Angst können gesteigerte Erwartungsangst zeigen; diese
ist vielfach ein Ausdruck dafür, daß ein sich schwach fühlendes Ich in seinem
Kampf gegen die Triebe aus jeder zu erwartenden Änderung eine Schwächung
seiner Äbwehrkräfte oder eine Verstärkung der Triebstrebungen fürchtet
und davor in Angst ausbricht*
EfwartutlgSVOfSfellung (antieipatory idea or image; Interpretation pro-
visoire)
ist ein Terminus der psychoanalytischen Technik. Eine Erwartungsvorsteilung
gibt der Analytiker dem Analysanden, indem er ihm das in der Analyse in
nächster Zeit zu erwartende, vom Analytiker bereits geahnte oder erkannte
unbewußte Material mitteilt. Die Aufmerksamkeit des Patienten erfährt
dadurch eine Einstellung nach jener Richtung, in der das im Fortschritte der
Analyse zu erwartende Material gelegen ist. Die Erwartungsvorstellung ist
eine intellektuelle Hilfe, die der Analytiker dem Änalysanden zuteil werden
läßt, indem er ihm die Erkenntnis der in der Analyse aktuellen un-
bewußten Regungen und Vorgänge durch die Mitteilung des zu Erwartenden
erleichtert. Der Änalysand erkennt dann an seinen eigenen Reaktionen
leichter, um was es sich in ihnen handelt, wenn er darauf aufmerksam
(gemacht worden ist, was er an ihnen und in ihnen zu erwarten hat,
Erwartungsvorstellungen sollen freilich nur für dem Bewußtsein bereits sehr
nahegerücktes Änalysematerial gegeben werden, weil die vorzeitige Be-
nennung leicht unnötige Widerstände erzeugt, wenn das Ich für die Auf-
nahme des unbewußten Materials noch nicht reif ist und mit heftiger
Abwehr reagiert.
r
Etyth toph o bie — Erzieh ung
109
Etythrophobie (ereutophobia; ereuthophobie)
ist eine neurotische Erkrankung, bei der das hauptsächlichste Symptom das
Erröten des Gesichtes, eventuell auch des Halses und die Angst vor diesem
Erröten ist. Das Erröten, das normalerweise ein Ausdruck der Scham
ist, hat bei der Erythrophobie andere, neurotische Verwendungen erfahren*
Es ist der Ausdruck einer exhibitionistischen Genltalislerurig des Gesichts.
Die Blutzufuhr zum Genitale, die die Erektion verursacht, ist Im Symptom
der Erythrophobie zum Teil nach oben verschoben und somit allen sichtbar
gemacht. Die hemmenden Tendenzen lassen dabei das Erleben des Errötens
unlusfvoll werden und Angst davor und Befangenheit entstehen. Im Erröten,
das als Konversionssymptom zu betrachten ist, ist eine stark narzißtische
Komponente unverkennbar, für die auch das Gefühl des Beachtetwerdens
zeugt, das die Kranken quält und das ihnen den Umgang mit anderen bis
zur völligen Vermeidung jeglichen sozialen Konfaktes erschweren kann*
Die Erythrophobie Ist der analytischen Therapie zugänglich.
Erziehung (education, upbring'ing, according fo oontext; education)
Die psychische Entwicklung des Menschen bis zu seiner Reife geht unter
der Einwirkung der Erziehung vor sich; der Einfluß der Erziehung Ist
dabei ein außerordentlich großer und wichtiger, das Entwicklungsprodukt
hängt wesentlich von den Erziehungszielen und Erziehungsmitteln ab. Die Er-
ziehungsziele wechseln je nach dem sozialen Milieu, nach der Weltanschauung
des Erziehers, nach Ländern und Kulturepochen. Alle Erzieher, welche
Ziele immer sie am Erziehungsobjekt erreichen wollen, müssen trachten,
ein primäres Erziehungsziel zu erreichen. Dieses Ziel ist, an Stelle des im
Beginne der psychischen Entwicklung allein wirksamen Lustprinzips (s. d»)
das Realitätsprinzip (s. d.) einzusetzen. Das Kind muß dabei lernen, auf
zahlreiche direkte Triebbefriedigungen zu verzichten, bzw. sie aufzuschieben
und Triebspannungen zu ertragen. Für einen Teil der Triebe, die Freud
unter dem Begriff der Selbsterhaltungstriebe zusammengefaßt hat, erzwingt
die äußere Realität die Anpassung an die realen Gegebenheiten. Die
Sexualtriebe dagegen setzen der Erziehung besondere Schwierigkeiten ent-
gegen, well sie sich im Beginne der Entwicklung autoerotisch, also ohne
fremdes Objekt betätigen und so dem direkten Einfluß der Außenwelt und
des Erziehers weltgehend entzogen sind. Die Mittel, die die Trieberziehung
indirekt für ihre Beeinflussung anwenden kann, sind die Unlustsetzung
und die Liebesprämie. Unter den Unlustsetzungen spielt die Angst
eine bedeutende Rolle, als Angst vor dem Liebesentzug ist sie das frühest
wirksame Erziehungsmittel überhaupt. Ändere Unlustsetzungen, vor allem
Strafen und ihre Androhung, sind erst später bei zunehmender intellektueller
Fähigkeit des Kindes anwendbar. Die Liebesprämie gar kann erst bei einiger
Entwöhnung aus dem Zustande der allgemeinen Befriedigung, wie er für
den Säugling charakteristisch ist, wirksam werden. Die Erziehung will er-
reichen und erreicht im allgemeinen, daß ihre Vorschriften unabhängig von
110
Et Ziehung sbetatung
äußerem Lohn und Strafe, also unabhängig von der Erzieherperson, ein-
gehalten werden. Dies wird möglich durch den psychologischen Prozeß der
tlber-Ichbildung (s, Über-Ich), bei dem fordernde und verbietende Ansprüche
der Eltern ins Ich aufgenommen und dort weiter wirksam werden. Mit der
gelungenen Über-Ichbildung, also mit dem Beginne des sechsten Jahres, ist
der wichtigste Anteil der Trieberziehung im allgemeinen beendet, erst dann
kann die Erziehung zu höheren Funktionen, vor allem auf intellektuellem
Gebiet (Schule) sich anschließen.
Der Verzicht auf die direkte Befriedigung der Triebe, wie ihn die Er-
ziehung fordert, wird möglich durch die Modifikationen der Triebabläufe,
die Freud Triebschicksale (s. d.) genannt hat. Unter ihnen spielt die Subli-
mierung (s. d.), d. hu die Ablenkung vom ursprünglichen auf ein sozial oder
ethisch höheres Triebziel, die Hauptrolle.
Das Erziehen bietet dem Erzieher eine Reihe von zum Teil unbewußten
libid'inösen und aggressiven Befriedigungsmöglichkeiten* Dies bringt den
Erzieher leicht in Gefahr, über seiner eigenen Befriedigung das Erziehungs-
ziel zu vernachlässigen oder es im Sinne seiner Triebwünsche zu modifizieren*
Vor dieser Gefahr schützt ihn am besten eine Psychoanalyse. Sie bietet
ihm gleichzeitig die Möglichkeit, sein Arbeitsfeld, die kindliche Seele, und
die Wirkungen seiner Erziehungsmittel besser zu verstehen. Daraus erklärt
sich, daß psychoanalytisch orientierte und psychoanalysierte Pädagogen weit
erfolgreicher sind als andere.
Erziehungsberatung (child guidance; cenfre psychopedeutique ou d'edu-
cation)
ist eine Einrichtung der privaten und öffentlichen Jugendfürsorge. Sie wird
von Eltern, Fürsorgeorganisationen und -ämtern In Anspruch genommen, wenn
ein Erziehungsnotstand gegeben Ist. Sehr oft reicht sachverständiger Rat
nicht aus. In der Regel sind zur Behebung eines Erziehungsnotstandes Maß*
nahmen erforderlich, die unter dem Begriff Erziehungshilfen zusammengefaßt
werden. (Unterbringung des Kindes In der schulfreien Zeit, Verköstigung,
wirtschaftliche Hilfe, Milieuwechsel usw.) Der Name Erziehungsberatung deckt
daher ihren Aufgabenbereich nicht Die restlose Erfüllung aller, einer Er-
ziehungsberatung gestellten Aufgaben ist nur möglich, wenn sie Teil einer
organisierten Jugendfürsorge ist oder zumindest auf jene Fürsorgeeinrich-
tungen, die sie zur Erreichung ihres Zieles notwendig hat, ausreichenden
Einfluß nehmen kann. Diese Erziehungsberatungen verfolgen ein allgemeines
ZieL Beschränken sie sich auf Sonderziele, z. B. wirklich nur sachverständige
Beratungen zu geben oder als Sichtungsstelle zu dienen, dann sind Be-
ziehungen zu Jugendfürsorgeeinrichtungen entbehrlich. Kommen für sie nur
Kinder mit bestimmten körperlichen oder psychischen Defekten in Frage,
z. B. blinde, stumme, krüppelhafte Kinder, Psychopathen, Verwahrloste usw*,
dann genügen die Verbindungen mit den entsprechenden Sondereinrichtungen
der Jugendfürsorge.
Es
111
Die psychoanalytische Erziehungsberatung ist eine Erziehungs-
beratung mit allgemeinem Ziele. Sie unterscheidet sich wesentlich von den
anderen Erziehungsberatungen dadurch, daß sie zur Aufhellung und Behebung
der Erziehungsnotstände die Forschungsergebnisse der psychoanalytischen
Psychologie verwendetes. Ä. Äichhorn: „Einführung in die psycho-
analytische Erziehungsberatung", Internationaler Psychoanalytischer Verlag,
1937,) S
Es (id; ca, alias pulsorium)
Der Ausdruck „Es" wurde von Georg Groddeck in die Psychoanalyse
eingeführt Freud legitimierte ihn in seinem Buche „Das Ich und das Es"
und gab ihm einen bestimmten Begriffsinhalt, Die Gesamtheit der Triebe,
leidenschaftlichen Regungen und Instinkte des Menschen bilden sein Es/
Das Es taucht ins Somatische ein und nimmt vom Somatischen die Trieb-
bedürfnisse in sich auf, die in ihm ihren psychischen Ausdruck finden. Die
wünschenden und triebhaft begehrenden Anteile der Persönlichkeit lokali-
sieren wir daher im Es. In allen seinen Anteilen ist das Es unbewußt
Einen Großteil seines Bestandes machen archaische Bestandteile aus; diese
archaischen Anteile sind teils ontogenetischer Natur in Form der infantilen
Wünsche, teils phylogenetischer Natur in Form der erbmäßigen Vorschrei-
bungen der Erlebnisabläufe nach typischen allgemeinen Schemen, etwa des
Ödipuskomplexes, der Kastrationsangst usf. Die Strebungen des Es bestehen
relativ unabhängig nebeneinander und sind durch keine einheitliche Orga-
nisation geordnet Die Zeit hat keinen Einfluß auf sie* Durchaus herrscht
über die Abläufe im Es der Primärvorgang (s* d.), Verdichtung, Verschiebung,
Reihenbildung, symbolische Vertretung kennzeichnen die Abläufe im Es
gegenüber den geordneten Denkvorgängen im Ich.
Das Ich (s* d*) ist nichts anderes als ein modifizierter Teil des Es; das
Ich ist mit dem Es in Kommunikation, nur die verdrängten Anteile des
Es sind gegen das Ich abgesperrt Mit dem Wahrnehmungsapparat steht
das Es über die Er-Systeme (s, Erinnerung) in Zusammenhang. Von der
Motilität ist es normalerweise durch das Ich getrennt; um die Herrschaft
über die Äffektivität ringt es mit dem Ich mit wechselndem Erfolg. Alle
psychischen Vorgänge beginnen zunächst im Es, Ein Teil derselben gelangt
nach Passieren einer Zensur, die an der Grenze zwischen Ich und Es wirksam
ist, ins Ich und über das Ich zur Abfuhr. Verpönte Strebungen hält die
Zensur des Ichs zurück oder wirft sie ins Es zurück, wenn sie die Zensur
bereits passiert haben, Sie werden dann als „verdrängt" bezeichnet und
durch Gegenbesetzungen (s. d,) des Ichs in der Verdrängung gehalten* Das
Verdrängte macht einen großen Anteil des Es aus.
Das Über-Ich (s, d.) ist aus modifizierten Es-Regungen, vor allem des
Ödipuskomplexes, gebildet und hat dieser Genese entsprechend Zusammen-
hänge mit dem Es, die nicht über das Ich führen. So kommt es, daß das
Über-Ich mehr vom Es weiß als das Ich*
112 Ethik — Exhibitionismus
Die verdrängten Triebregungen versuchen kraft ihrer Energiebeträge ständig
auf den Ablauf der vom Ich gestatteten Reaktionen im Sinne ihrer Abfuhr
modifizierend einzuwirken. Dauernd gehen Strömungen aus dem Es auf
dem Wege von Ässoziationsgliedern ins Ich über. Sie veranlassen uns neben
unseren Träumen und Fehlleistungen zu unwichtigen und wichtigen Hand-
lungen, die von uns unter vorgeschobenen Motivierungen ausgeführt werden,
ohne daß wir des verbotenen Zieles der dahinter wirksamen Triebabläufe
gewahr werden. Daraus ergibt sich, daß wir von unserem Es mehr gelebt
werden, als wir nach unserem Ich leben.
Die Unterscheidung zwischen Ich und Es, die vom strukturellen
Gesichtspunkt aus vorgenommen wird, ist am Beginne der psychischen Ent-
wicklung nicht möglich, denn in den frühen Zuständen der Entwicklung
sind Ich und Es noch undifferenziert.
Freud bezeichnet die Psychoanalyse als die Psychologie des Es.
Ethik (ethics; ethique)
ist die Wissenschaft vom Sittlichen. Die Psychoanalyse vermag wichtige Bei-
träge zur Ethik zu leisten, da sie die Ursprünge der moralischen Regungen
im Menschen untersucht und die Entwicklungswege und -bedingungen der
moralischen Gefühle, die Mechanismen des moralischen Schuldgefühls und
der Selbstbestrafungstendenzen aufgedeckt hat (s. Moral, Über-Ich).
Exhibitionismus (exhibitionism; exhibitionnisme)
ist jene Form der Triebbefriedigung, die durch Entblößung und Zeigen
Lust gewinnt. Die Entblößungslust ist bei Kindern sehr ausgeprägt, sie
geraten im Zustande der Nacktheit oft in sichtlich sexuell lustvolle Erregung
und sind bestrebt, diesen Zustand total oder wenigstens partiell, speziell
in bezug auf die Genital-, oft auch auf die Gesäßregion zu erreichen. Die
Erziehung richtet gegen diese Gelüste die Schranke der Scham auf. Der
infantile Exhibitionismus findet im Exhibitionismus als Perversion eine
Fortsetzung. Der Exhibitionist gewinnt seine Lust im Zeigen des Genitales;
dieser Perversion unterliegen ausschließlich Männer. Der Sinn des Exhibitio-
nismus als Perversion ist nicht nur die Befriedigung des exhibitionistischen
Partialtriebes, sondern vor allem die Verleugnung der Kastration,
Der exhibitionistische Akt ist eine Geste, die die Person, an die sie gerichtet
ist, immer Frauen oder kleine Mädchen, auffordert, das gleiche zu tun,
,also auch den Penis zu entblößen und zu zeigen. Er dient damit der
Verleugnung der Penisiosigkeit des weiblichen Geschlechtes, die ja die Gefahr
der Kastration bestätigt. Gleichzeitig will der Exhibitionist das Vorhanden-
sein des eigenen Penis von aller Welt bestätigt erhalten. So sind zwei
magische Gesten in ihm vereinigt. — Beim weiblichen Geschlecht sind ex-
hibitionistische Bestrebungen vom Genitale auf andere Körperteile und auf
Exktetionstust — exogen 113
die Kleidung verschoben. Weibliche Exhibitionisten, insoferne die Bezeichnung
auf die perverse Zeigelust des Genitales sich bezieht, gibt es nicht
Exkrefionslusf (pleasure in excretion; plaisir ä Texcretion)
An zwei der wichtigsten erogenen Zonen wird in der Kindheit sexuelle
Lust durch Exkretion (= Ausscheidung) gewonnen. An der analen Zone
durch Ausscheidung des Stuhles, an der genitalen durch Ausscheidung
des Harns. Diese Lust an der Ausscheidung wird Exkretionslust genannt.
Die Tatsache der Exkretionslust führt dazu, daß das Kind das Sexuelle
dem Exkrementellen vielfach gleichsetzt. Beim Neurotiker bleibt diese kind-
liche Verknüpfung oft erhalten. Aus diesem Grunde lehnt er dann
die Beschäftigung mit sexuellen Dingen ab, als ob sie exkrementelle wären,
Exogamie (exogamy; exogamie)
Die Exogamie ist ein bei Primitiven sehr verbreitetes Verbot, nach dem
die Mitglieder desselben Totemelans (s. Totemismus) nicht In geschlechtliche
Beziehungen zu einander treten und daher auch einander nicht heiraten
dürfen. Exogamie und Totemismus sind nach Meinung der Psychoanalyse
genetisch miteinander verbunden und gehören zusammen. Nach Freuds Ur-
hordentheorie hatte in der primitiven Urhorde (s. d.) ein starkes männliches
Individuum, der Urvater, die Herrschaft inne und übte sie dahin aus, die
Übrigen männlichen Mitglieder der sozialen Gemeinschaft, vor allem die Söhne
von den Frauen, die er für sich behielt, in erster Linie von der Mutter,
nach der das Begehren der Söhne am heftigsten verlangte, fernzuhalten.
Die Exogamie war also in diesem frühen Zustand eine durch äußere Gewalt
erzwungene. Nach der Ermordung des Urvaters durch die Söhne zwanö das
daraufhin eintretende Schuldgefühl die Söhne zu nachträglichem Gehorsam
gegen den Urvater In der Weise, daß die Angehörigen eines bestimmten
Totems, in welchem der Urvater wiederbelebt und versinnbildlicht wurde,
das Verbot entwickelten, Frauen derselben Totemgemeinschaft nicht zu
berühren, sie als „tabu" zu betrachten. Die zum inneren Gebot gewordene
Exogamie dient dabei der Abwehr der starken Inzestneigung der Primitiven;
sie soll selbst entferntere Abkömmlinge des Inzests verhindern. Reste der
Exogamie finden wir im Verbot der Verwandtenehe, im Verbot, jemand des-
selben Zunamens zu heiraten (China) u. a. m.
€XOgen (exogenlc; exogene)
heißt von außen kommend und bildet den Gegensatz, besser die Ergänzung
zu endogen (s. d.), das von innen her verursacht bedeutet. Exogene Krank-
heitsursachen oder -veranlassungen sind also solche, die im Laufe der Kind-
heit und des weiteren Lebens von der Außenwelt an den Menschen heran-
treten. Als exogene Elemente bei der Neurosenbildung kommen in Betracht:
unrichtiges Verhalten der Eltern und Erzieher, allzu große Ängstsetzungen
Dr. Sterba: Handwörterbuch.
114 exttagenital — Fallangst
beim Kinde, frühzeitige Verführung durch ältere Kinder und Erwachsene,
ferner Versagungen, Enttäuschungen, narzißtische Kränkungen im reiferen
Älter und ähnliches* Exogene und endogene Momente sind gemeinsam im
Sinne der Ergänzungsreihe wirksam»
exfragenital (extragenital; extragenital)
heißt außerhalb des Genitalbereiches« Extragenitale erogene Zonen können
vielfach die Bedeutung und Wirksamkeit der Genitalzone übernehmen, so
daß genitale Libido an extragenitalen Zonen zur Abfuhr gelangt oder zur
Abfuhr drängt Auch die Abwehr kann dann an der extragenitalen Zone
ansetzen. Dies spielt bei zahlreichen Perversionen, Konversionssymptomen und
In der Hypochondrie eine bedeutende Rolle,
Extraversion (extraversion; extroversion)
C. G. Jung unterscheidet zwei Grundtypen der Einstellung zur eigenen
Person und zur Umwelt, nämlich Introversion und Extraversion. Beim Extra-
vertierten wiegt nach Jungs Aufstellung die Bezogenhelt zur Außenwelt vor,
die Objekte und die Beziehung zu ihnen sind dem Extravertierten das
Maßgebende für sein Verhalten; sein Handeln bezieht sich auf reale Dinge*
seine soziale Einpassung ist eine vorzügliche. Das Innenleben hingegen wird
vernachlässigt. Beim Introvertierten spielt dagegen die Außenwelt eine
geringe Rolle, die Bezogenhelt auf das eigene Subjekt, auf die Innere Welt*
Ist ihm für sein Handeln und Verhalten maßgebend (s. a. Introversion), Von
dieser Typenlehre Jungs wird In der analytischen Literatur kaum Gebrauch
gemacht.
FaeceS (faeces; feces)
ist der lateinische Ausdruck für Stuhl.
Fallangst (fear of falling; peur angolssante de tomber)
Die Angst zu fallen ist In der neurotischen Symptomatik etwas sehr Häufiges*
Die Angst vor dem Fallen ist, abgesehen von der moralsymbolischen Be-
deutung des Fallens (Sündenfall), auch Angst vor der eigenen Sexualerregung,
wenn diese eine bestimmte, dem neurotisch geschwächten Ich nicht mehr
erträgliche Intensität erreicht. Auch die Geburtssymbolik (Fallen = Nieder-
kommen) kann in der Fallangst eine Rolle spielen (s* a. Falltraum),
r
Fallttaum — Familienneurose 115
Fallfrattm (falling dream; reve de chute)
Freud führte ursprünglich die Fallfräume auf infantile Eindrücke passiv-
motorischer Natur zurück. Das scheinbare Fallenlassen und Wiederauffangen,
wie es die Erwachsenen mit den Kindern so oft spielen, bereitet den Kindern
unermüdliches Vergnügen, in das regelmäßig auch erotische Lust gemischt
ist Auch der fallende Teil der Bewegung einer Schaukel ruft die gleiche
Lustsensation hervor* Im Traum wird dann das Fallen vor allem um der
sexuellen Lust willen, die es bereitet hat, wiederholt, meist aber mit Angst
erlebt Paul Federn weist darauf hin, daß das Fallen im Traum die
Erschlaffung des männlichen Gliedes symbolisiert, daß Fallträume also
Impotenzträume sind» Häufig geht ein Flugtraum in einen Falltraum über;
Fallträume sind mißlungene Flugträume (s. d.). (Paul Federn, Über zwei
typische Traumsensationen, Jb. VL 89.) Wilhelm Reich meint, daß die
angstvollen Fallträume auch darin ihren Ursprung haben, daß die orgastische
Lösung der Sexualspannung als Fallen empfunden werde, wenn Angst den
Orgasmus stört (Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus, 1927. S. 47).
Familienkomplex (family complex; complexe familial)
Wenn Geschwister vorhanden sind, erweitert sich der Ödipuskomplex
(s. d.) dadurch, daß neben der Beziehung zu den Eltern auch für Liebes-
und Rivalitätsbeziehungen zu diesen Geschwistern sich reichlich Gelegenheit
bietet. Diesen erweiterten Ödipuskomplex, in dem vielfach die positive und
negative Beziehung zu einem oder zu beiden Elternteilen auf die Geschwister
übertragen und an ihnen wiederholt wird, bezeichnet man als Familienkomplex.
FainiliennetlfOSe (family neurosis; nevrose familiale)
Es gibt Familien, in denen mehrere oder sämtliche Mitglieder an neurotischen
Symptomen erkrankt sind oder neurotisches Verhalten zeigen. Die Neurosen
der einzelnen Mitglieder ergänzen und bedingen sich dabei häufig gegenseitig.
Sadistische Triebstrebungen etwa des einen Familienmitgliedes werden durch
masochistische des anderen provoziert und genährt, gleiche Neigung zu Zwän-
gen kann zu gemeinsamen Zwangshandlungen führen, phobische Befürchtungen
führen zu gemeinsamer Angst und zu gemeinsamen neurotischen Äbwehrmaß-
nahmen und dgl. mehr. Für solche Neurosen mit gegenseitiger Bedingtheit
und Ergänzung innerhalb einer Familie wird bisweilen der Ausdruck „Fami-
Henneurose" gebraucht Gegen den Ausdruck ist einzuwenden, daß familiäre
Konstitution und Erziehung durch neurotische Familienmitglieder bei der
Bildung der „Familienneurose" keine wesentlichere Rolle spielen als bei
anderen Neurosen. Die Ergänzung und Förderung der Neurose des einzelnen
durch die Neurose der anderen Familienmitglieder andererseits ist kein so
spezifischer Faktor, daß die Abgrenzung durch einen eigenen Terminus
„Familienneurose" berechtigt wäre.
8*
116 Familienroman
FattliHettf Otnatt (f amily romance; mythomanle genealogique, roman famllial,
genealogie fabulatolre)
Kinder bilden häufig Phantasien, die ihre eigene Ab- und Herkunft zum
Inhalte haben, Sie stellen sich darin vor, daß sie nicht von ihren Eltern
abstammen, sondern nur deren Ziehkind sind* Sie denken sich andere
„eigentliche" Eltern in der Phantasie aus, die gewöhnlich reicher, vornehmer.,
feiner sind und höhere Stellungen bekleiden als die realen Eltern. Diese
Phantasien werden dann nicht selten ausgesponnen und zu einem Familien-
roman ausgebaut. Häufig bilden kränkende Erlebnisse, etwa die Ankunft
eines Geschwisterchens, Enttäuschungen In der Beziehung zu den Eltern und
ähnliches, die Veranlassung zur Ausbildung eines Familienromans.
Eines der wichtigsten Motive für die Bildung des Familienromans Ist die
Möglichkeit, sich durch ihn von den Schuldgefühlen, die der inzestuösen Liebe
zum gegengeschlechtiichen Elternteil und des Hasses gegen den gleich-
geschlechtlichen Elternteil wegen In der Ödipusphase entwickelt werden, zu
entlasten; es sind dann nicht die wirklichen Eltern, denen gegenüber die
Ödip us wünsche rege sind. Auch die Verleugnung des elterlichen Geschlechts-
verkehrs, wenn er beobachtet worden ist, ist durch den Familienroman
möglich, da die phantasierten Eltern im typischen Fall reiner und erhabener
gedacht werden als die realen. Deutlich offenbart sich im Familienroman die
ambivalente Einstellung zu den Eltern, zu denen die Beziehung gespalten
wird, wobei die positiven Gefühlsempfindungen den Imaginären, die negativen
den realen Eltern zugewendet werden.
Helene D e u t s ch hat darauf hingewiesen, daß der Familienroman einen
Ausdruck des Gegensatzes darstellt zwischen der unkritischen, überschätzenden
Einstellung des Kindes zu den Eltern, wie sie in früher Kinderzeit besteht,
und der kritischen, bereits unter ideellen Forderungen erfolgenden Be-
urteilung, wie sie in der Latenzperiode entwickelt wird. Im Familienroman
wird die alte, unkritische, idealisierende Einstellung, die das Kind Infolge der
starken, unbewußten Bindung an die Eltern nicht aufzugeben vermag, er-
halten, aber den idealisierten und erhöhten Ersatzeltern des Familienromans
zugewendet Die Über-Ich-Bildung mit ihrer Forderung nach Kritik und
strenger Pealttätsprüfung ist also eine Voraussetzung für die Bildung eines
Familienromans, der auch typischerweise der Latenzperiode zugehört.
Die phantasierten Eltern oder der phantasierte Elternteil kann auch
niedrigerer Abkunft vorgestellt werden als die realen Eltern, man spricht
dann vom erniedrigten Familienroman. Die erniedrigten Eltern sind
regelmäßig die Träger der verpönten libldinösen Wünsche, die den idealisier^
ten t verehrten, wirklichen Eltern zuzuwenden nicht erlaubt Ist. Die Abstam-
mung von niedrigen Eltern entschuldigt auch die eigenen niedrigen und
schmutzigen Wünsche. (Helene Deutsch, Zur Genese des Familienromans,
Z. XVI. 249.)
fausse teconnaissance 117
fausse reconnaissance
Als „fausse reconnaissance" bezeichnet man die eigentümliche Empfindung,
die in manchen Momenten und Situationen verspürt wird, so als ob man
genau dasselbe schon einmal erlebt hatte, sich in derselben Lage schon einmal
befunden hatte, ohne daß es je dem Bewußtsein gelingt, das Frühere, das
sich so anzeigt, deutlich zu erinnern. Es ergibt sich bei der Analyse dieser
Erscheinung, daß das Ereignis, das von einer fausse reconnaissance begleitet
wird, regelmäßig mit einem unbewußten Wunsch, einer unbewußten Phantasie
oder einer unbewußten Intention zusammenhängt. Das Bekanntheitsgefühl,
das eben eine bestimmte Situation als schon einmal erlebt empfinden läßt,
gehört dabei nicht der aktuellen Situation, sondern vielmehr dem unbewußten
Material zu, das durch die aktuelle Situation direkt oder assoziativ aktiviert
worden ist» Das Gefühl der Bekanntheit hat also seine Berechtigung, nur
gehört dasjenige, das das Aktuelle als bekannt erscheinen läßt, dem Unbe-
wußten an; das Bekanntheitsgefühl ist vom aktivierten Unbewußten weg auf
das Aktuelle verschoben* Als Einzelerscheinungen der „fausse reconnaissance"
zahlt man:
das „de ja vu", die Empfindung, etwas schon einmal gesehen zu haben,
das „dejä entendu", die Empfindung» etwas schon einmal gehört zu haben,
das „dejä eprouve", die Empfindung, etwas schon einmal empfunden zu
haben,
das „deja raconte", die Empfindung, etwas schon einmal erzählt zu haben*
Letzteres wird nicht selten in Analysen beobachtet, wenn der Patient etwas,
was er früher schon einmal erzählen wollte, aber aus Widerstand zurückge-
halten hat, ein spateres Mal berichtet mit der Empfindung, was er berichtet,
schon einmal erzählt zu haben. Regelmäßig handelt es sich beim „deja
raconte" in der Analyse um sehr wichtiges und aufschlußreiches analytisches
Material, häufig aus dem Kastrationskomplex*
Beim „dejä v u" im Traum, das oft an Landschaftsbildern erlebt wird,
bedeutet das mit Bekanntheitsgefühl Gesehene das Genitale der Mutter, jenen
Ort also, in dem jeder schon einmal vor und während seiner Geburt ge-
wesen ist.
Otto P ö t z 1 ist der Ansicht, daß die mit der deja-vu-Empflndung erlebte
Situation die Erfüllung von Wünschen enthält, die in einer ersten Situation,
der das Bekanntheitsgefühl eigentlich zu gelten hätte, aufgetaucht sind. Das
deja vu enthält somit eine Entelechle, ein Entwicklungsmäßiges von der unbe-
wußten Szene in ihren Wünschen zur aktuell erlebten Szene mit ihrer symbo-
lischen oder verschiebungsmäßigen Erfüllung hin. Im dejä-vu-Erlebnis schafft
sich das Bewußtsein eine Art von Sinnesorgan für diese Entelechle (Otto
Pötzl, Zur Metapsychologie des dejä vu, Z. XIL 393)*
Paul Federn bringt das Phänomen des dejä vu mit Veränderungen
der Besetzung an den Ich-Grenzen in Zusammenhang. Das dejä vu kommt nach
118 Fechnet, Gustav Zheodot
seiner Ansicht dadurch zustande, daß eine Erinnerung als auftauchendes Er-
lebnis ganz vorübergehend die Vorstellungs-Ichgefühlsgrenze, oder eine Wahr-
nehmung die Wahrnehmungs-Ichgefühlsgrenze, zuerst in einem Momente, da
die Grenze ohne narzißtische Besetzung ist, und gleich darauf wieder, da
sie narzißtisch besetzt wurde, passiert Daraus entstehe gleichsam wie Doppelt-
sehen die Empfindung des schon einmal Dagewesen-, Erlebtworden-Seins
des aktuellen Erlebnisses (s. a* Ichgefühl)* (Paul Federn, Narzißmus im
Ichgefüge, Z. XIII. 420*)
Fechner, Gustav Theodor (1801—1887)
war Physiker und Philosoph. Eine Reihe seiner Erkenntnisse sind als Vor-
läufer der psychoanalytischen Lehren zu betrachten; in manchen Anschauun-
gen über die seelischen Funktionen stützt sich Freud auf Grunderkenntnisse
des Seelischen, die Fechner als Erster ausgesprochen hat Fechner war be-
müht, in seinem Werke „Elemente der Psychophyslk" (1860) eine „exakte
Lehre von den Beziehungen zwischen Leib und Seele" zu geben. Die wichtigste
Erkenntnis darin ist das sogenannte Fechner'sche Gesetz, auch Fechner-
Webersches Gesetz genannt, welches lautet: „Die Größe der Empfindung steht
im Verhältnisse nicht zu der absoluten Größe des Reizes, sondern zu dem
Logarithmus der Größe des Reizes, wenn dieser auf seinen Schwellenwert,
das ist diejenige Größe als Einheit bezogen wird, bei welcher die Empfindung
entsteht und verschwindet, oder kurz, sie ist proportional dem Logarithmus
des fundamentalen Reizwertes." Auch über Traumphänomene hat Fechner
wichtige Aussagen gemacht, vor allem den gegenüber dem Wachleben verän-
derten „Schauplatz" der Träume betont.
Die psychophyslsche Tätigkeit dachte sich Fechner als eine energetische;
er erkannte, daß die seelischen Akte durch das „Prinzip der Stabilität" (s.
Konstanzprinzip) reguliert werden und legte durch seine Betrachtungsweise
den Grundstein zu einer Metapsychologie (s. d.). Die Realität des Unbewußten
war von ihm anerkannt In seiner „Vorschule der Ästhetik" (1876) spricht er
entscheidende Erkenntnisse über den Witz und über andere ästhetische
Probleme aus, vor allem das „Prinzip der ästhetischen Hilfe oder Steigerung",
welches lautet: „Aus dem widerspruchslosen Zusammentreffen von Lustbedin-
gungen, die für sich wenig leisten, geht ein größeres, oft viel größeres Lust-
resultat hervor, als dem Lustwerte der einzelnen Bedingungen für sich ent-
spricht, ein größeres, als daß es als Summe der Einzelwirkungen erklärt wer-
den könnte; ja es kann selbst durch ein Zusammentreffen dieser Art ein
positives Lustergebnis erzielt, die Schwelle der Lust überstiegen werden, wo
die einzelnen Faktoren zu schwach dazu sind; nur daß sie vergleichungs-
weise mit anderen einen Vorteil der Wohlgefälligkeit spürbar werden lassen
müssen." Für die Psychologie des Witzes und anderer ästhetischer Lustquellen
ist dieses Prinzip von elementarer Bedeutung (Imre Hermann, Gustav
Theodor Fechner, I. IX. 371.)
Fehlhandlung, vermeintliche — Fehlleistung 119
FehlhandltUlg, vermeintliche (supposed or imaglned faulty action, mis-
fake or blander; faux acte manque)
Als vermeintliche Fehlhandlung bezeichnet man es, wenn jemand glaubt, eine
Fehlhandlung begangen zu haben, ohne daß dies tatsächlich der Fall ist«
Auch die vermeintliche Fehlbehandlung ist sinnvoll. Eine unterdrückte Ten-
denz setzt sich in ihr wohl nicht bis zur Motilität, aber bis zum Bewußt-
werden durch. Ferenczi ist der Ansicht, daß bei der vermeintlichen Fehl-
handlung der Zugang zur Motilität gegen die störende Tendenz besonders
gut gesichert ist, so daß, ähnlich wie im Traum, die Unmöglichkeit, zu han-
deln, das Bewußtsein für die störende Tendenz zugänglich werden läßt. Meist
sind es heftige aggressive Regungen, die sich in der vermeintlichen Fehlhand-
lung zum Ausdruck bringen. (S» Ferenczi, Über vermeintliche Fehlhand-
lungen, Bausteine II, 129.) (S. a. Fehlleistung.)
Fehiidenfifizierun$£ ? geschlechtliche (faulty sexual Identification; Iden-
tification sexuellement incorrecte)
Normalerweise wird der Ödipuskomplex auf die Weise zur Erledigung gebracht,
daß seine sinnlichen und aggressiven Ansprüche aufgegeben werden; die
Objektbeziehungen des Ödipuskomplexes werden durch Identifizierungen mit
den Objekten ersetzt. Die hervortretende, entscheidende, den Charakter und das
Verhalten bestimmende Identifizierung Ist dabei normalerweise die mit dem
gleichgeschlechtlichen ElternteiL Tritt die Identifizierung mit dem gegen-
geschlechtlichen Elternteil In den Vordergrund, und ist sie es, die das weitere
Verhalten entscheidend beeinflußt, so sprechen wir von g e s ch 1 e ch 1 1 1 ch e r
Fehlidentifizierung. Sie äußert sich vor allem in feminin-passiver Hal-
tung beim männlichen, In aktiv-männlichem Verhalten beim weiblichen Indivi-
duum. Ursache für solche Fehlidentifizierung ist beim Knaben regelmäßig eine
starke Kastrationsangst ; beträchtliche anale Veranlagung unterstützt
die Möglichkeit der Fehlidentifizlerung. Bei Mädchen Ist es in erster Linie
ein starker Männlichkeitskomplex (s. d.), der zur geschlechtlichen
Fehlidentifizierung führt. Letzten Endes Ist die Möglichkeit zur Fehlidentifi-
zierung in der angeborenen Bisexualität (s. d.) gelegen*
Fehlleistung (parapraxis, error; acte manque, lapsus)
Als Fehlleistungen bezeichnet man gewisse Unzulänglichkeiten unserer psychi-
schen Leistungen, wie das zeitweilige Vergessen von sonst wohl bekannten
Worten und Namen, das Vergessen von Vorsätzen, das Versprechen, Verlesen.
Verschreiben, Verlieren, Verlegen von Gegenständen, die bewußt unabsicht-
liche, anscheinend zufällige Beschädigung der eigenen oder einer anderen
Person oder eines Gegenstandes, manche Irrtümer, Zu einer Fehlleistung ge-
hört, daß sie den Charakter der momentanen und zeitweiligen Störung an
sich trägt. Die verfehlte Leistung muß vorher korrekt ausgeführt worden
sein, oder, wenn die verfehlte Leistung das erste Mal unternommen wurde,
120
Fehlleistung
muß der Ausführende das Gefühl haben, daß er sie normalerweise korrekter
hafte ausführen können. Es besteht bei der Fehlleistung, wenn sie überhaupt
wahrgenommen wird, regelmäßig die Tendenz, sie durch Unaufmerksamkeit
und als Zufälligkeit zu erklären.
Diese Erklärungen der Fehlleistungen waren die vor Freud auch von
wissenschaftlicher Seife gegebenen, soweit den Fehlleistungen überhaupt Be-
achtung geschenkt wurde. Erst der Psychoanalyse bleib es vorbehalten,
den psychischen Determinismus (s. d.) auch auf die anscheinend so zufälligen
und nebensächlichen Fehlleistungen auszudehnen und diese als streng p s y -
chologisch determiniert aufzuzeigen. Die Fehlleisfungen erweisen
sich durch psychoanalytische Untersuchung als sinnvolle psychische
Gebilde.
Eine Fehlleistung kommt zustande, indem eine unterdrückte psychische
Tendenz die bewußte Intention, deren Ergebnis die korrekte Leistung wäre,
stört, wodurch die Leistung eben zur Fehlleistung abgeändert wird. Die unter-
drückte störende Tendenz kann dabei In inhaltlicher Beziehung zur gestörten
Tendenz stehen; sie steht dann im Widerspruch zu ihr oder ist eine Berich-
tigung oder Ergänzung derselben. Oder aber gestörte und störende Tendenz
haben inhaltlich direkt nichts miteinander zu tun; sie stehen dann in oft
recht umwegiger assoziativer Beziehung zueinander, Das Ergebnis der Inter-
ferenz von störender und gestörter Tendenz ist entweder, daß die störende
Tendenz sich direkt an Stelle der gestörten, bewußt intendierten setzt. Man
sagt dann etwa beim Versprechen das Gegenteil von dem, was man sagen
wollte. In anderen Fällen wird die bewußte Intention durch die störende Ten-
denz so abgeändert, daß am Leisf ungsergebnls beide Tendenzen erkennbar
sind und ihren Anteil haben. So etwa, wenn ein Versprechen zu einem
Mischwort führt. Die Fehlleistung ist dann ein Kompromiß zwischen
gestörter und störender Tendenz. Für das Versprechen sei als Beispiel von
Kompromißbildung durch Fehlleistung das Wort „Vorschwein" genannt, das
aus der bewußt intendierten Rede, es seien „Tatsachen zum Vorschein ge-
kommen" und der unterdrückten Tendenz, diese Tatsachen als „Schweinereien"
zu bezeichnen, hervorgegangen und zusammengesetzt ist (aus Meringer und
Meyer, Versprechen und Verlesen. 1895, Seife 62, zitiert bei Freud, Ges*
Sehr. IV* 65). Bisweilen veranlaßt die störende Tendenz eine ganze Kette
von Fehlleistungen verschiedener Art, so etwa das Vergessen eines Vorsatzes,
dann eine FehlhancUung, die die Ausführung des Vorsatzes verhindert u. s. L
Man spricht dann von kombinierter Fehlleistung.
Die stattgehabte Unterdrückung der Tendenz, die als störend in der Fehl-
leistung zu Tage triff, ist die unerläßliche Bedingung für das Zustandekom-
men einer Fehlleistung. Im einfachsten Fall wird die störende Tendenz vom
Fehlleistenden ohne weiteres anerkannt; sie war vor der Fehlleistung noch
im Bewußtsein vorhanden und wurde erst knapp vor der zu unternehmenden
Leistung unterdrückt In anderen Fällen gibt der Fehlleistende zu, daß die
F el tatio— -feminin
121
störende Tendenz, die In der Fehlleistung ihren Ausdruck gefunden hat, in
seinem Bewußtsein wohl einmal vorhanden war; seit längerer Zeit aber war
er ihrer nicht mehr gewahr geworden. Im letzten Falle endlich weist der
Fehlleistende energisch zurück, daß die Tendenz, die als störende In der
Fehlleistung erkennbar ist, mit Ihm etwas zu tun haben könnte* Erst eine
eingehende Psychoanalyse läßt die Tendenz als eine vor langer Zelt, bisweilen
in früher Kindhext unterdrückte erkennen. Es bedarf einer besonderen Über-
windung von Widerständen, die dem Bewußt werden der störenden Tendenz
in diesem Falle entgegenstehen, damit sie als eine seeleneigene erkannt werde,
Paul Federn weist darauf hin, daß und in welcher Weise das Ich an
der Fehlleistung beteiligt ist, Indem eine mangelhafte oder ungleiche Besetzung
der Ichgrenzen die Fehlleistung mit ermöglicht. (Paul Federn, Die Ich-
besetzung bei den Fehlleistungen, I, XIL 312*)
Die psychoanalytische Erkenntnis der Sinnhaftlgkelt und des Mechanismus
der Fehlleistungen Ist von mehrfacher Bedeutung. Der Umfang des seelischen
Determinismus wurde durch sie In hohem Maße erweitert. Die Fehlleistungen
bieten einen leichten und allgemein zugänglichen Einblick in das Spiel seeli-
scher Kräfte; die eigenen Fehlleistungen und ihre Analyse sind sehr geeignet,
von der Existenz unbewußter Vorgänge und Tendenzen zu überzeugen. In der
therapeutischen Analyse werden Fehlleistungen häufig einer eingehenden
Deutung unterzogen oder sind als Bestätigungen gedeuteter Inhalte ver-
wendbar.
FellatlO (fellatio; fellation, coit ab ore)
bezeichnet die Einführung des männlichen Gliedes in den Mund. Die Fellatio
Hegt innerhalb der Variationsbreite der normalen menschlichen Sexualbetäti-
gungen und ist, soweit sie nicht zur Äusschließlichkelt erhoben wird, nicht von
vorneherein als Perversion anzusprechen. Die Aufnahme des Penis in den
Mund hat ibr Vorbild in der Aufnahme der Mutterbrust, resp. der Brust-
warze in die Mundhöhle; es sind auch in erster Linie orale Wünsche der
Saugeperiode dabei aktiviert und beteiligt, Mutterbrust und Penis sind bei
der Fellatio weltgehend psychisch gleichgesetzt. Aber auch oral-aggressive
Wünsche gegen den Penis des Partners können In der Fellatio ihren Ausdruck
finden, die Aufnahme in den Mund ist dann ein gemildertes Abbeißen und
Verschlingen des Penis, wie es In aktiven Kastrationswünschen und In ge-
wissen Befruchtungsphantasien der Kinder eine Rolle spielt. Bei Personen mit
Hysterie finden sich häufig Intensive unbewußte FellatlowÜnsche, deren
Grundlage die genannten Inhalte sind* Diese Wünsche werden dann in
hysterischem Erbrechen und in Form psychogener Übelkeiten abgewehrt.
feminin (feminine; feminin)
heißt weiblich; meist wird der Ausdruck angewendet auf weibliche Haltungen
oder Einstellungen beim Manne.
122
Fetischismus
Fetischismus (fetxshism; fetichisme)
Beim Fetischismus, der zu den Perversionen zu zählen ist, wird das normale
Sexualobjekt durch ein anderes Objekt ersetzt, das in der Regel für die
Erreichung des normalen Sexualzieles ungeeignet erscheint Dieses andere
Objekt kann ein Teil des ursprunglichen Sexualobjektes sein, etwa der Fuß
oder die Haare, oder aber es ist ein unbelebtes Objekt; dieses steht aber
meist auch dann in leicht erkennbarer Beziehung zu einem Sexualobjekt wie
etwa Wäsche, Stücke der Kleidung des anderen Geschlechts u. dgl. m.
Schon voranaiytischen Autoren (Bin et) fiel auf, daß Fetischisten die
sexuell erregende Wirkung des Fetisch auf einen Kindheitsein druck zurück-
führen; sie erinnern sich, plötzlich einmal als Kind (meist nach dem 5. Lebens-
jahr) vom Anblick, eventuell auch von der Berührung des späteren Fetisch
sexuell erregt worden zu sein. Aus der Erinnerung selbst läßt sich freilich für
den sexuellen Reiz, der gerade von dem bestimmten Gegenstand ausgeht,
nichts weiter ableiten. Eine solche Erinnerung an die erste Wirkung ° des
Fetisch in der Kindheit ist nämlich typischerweise eine Deckerinnerung (s. d.),
die erst einer Analyse bedarf, wenn man von ihr aus die wahren Determinan-
ten der erregenden Wirkung des Fetisch auffinden und erkennen will. Es
ergibt sich der Analyse, daß der Fetischismus, der bei Männern weit häufiger
ist als bei Frauen, in innigem Zusammenhange mit dem Kastrationskomplex
(s. d.) steht. Der Fetisch hat die Bedeutung eines Penis, und zwar eines
Penis am Weibe. Die Hochschätzung des Fetisch ist die Kehrseite des
Äbscheus gegen das penislose weibliche Genitale; die Beziehung zum Fetisch
dient dazu, die Penislosigkeit des weiblichen Genitales zu verleugnen und
aufzuheben. Mit dem Festhalten am infantilen Glauben daran, daß alle
Menschen, auch die weiblichen Wesens, mit einem Penis ausgestattet sind,
wird die Verlustgefahr für den eigenen Penis und damit die Kastrations-
angst gebannt. Die Bedeutung des Fetisch als Penis des Weibes sichert den
Fetischisten daher gegen die Kastrationsangst. Bisweilen ist der Fetisch auch
determiniert durch den letzten Eindruck vor der traumatischen Beobachtung
der Penislosigkeit des Weibes, die dann im Fetisch selbst verleugnet wird.
Fuß, Bein, Wäsche, Genitalbehaarung, letztere übertragen dann oft auf
Pelzwerk, kommen so zu ihrer so häufigen fetischistischen Bedeutung. Die
übrigen als Fetisch dienenden Objekte sind leicht als Penissymbole erkennbar.
Oft wird bei Erlangung des Fetisch auch noch die Kastration selbst dargestellt,
so beim Zopfabschneiden, oder wenn an die fetischistische Bedeutung die
Bedingung geknüpft ist, daß der Fetisch gestohlen sei; diese Kastration wird
daraufhin durch die Penisbedeutung des Fetisch selbst verleugnet.
Weiblicher Fetischismus ist selten und wenig durchforscht. Der Fetisch
bei weiblichen Fetischisten scheint die Bedeutung des väterlichen Penis zu
haben, den die Fetischistin in aggressiver Absicht sich aneignet. Auch hier
spielt also beim Zustandekommen des Fetischismus der Kastrationskomplex
eine entscheidende Rolle.
Feuer — final 125
Feuer (fire, feu)
Das Feuer ist ein Symbol für Liebe, Liebesverlangen, sexuelle Erregung,
für den Sexualtrieb und das Sexuelle überhaupt» In Traumen tritt es
typischerweise als solches Symbol auf, aber auch die Sprache verwendet es
in diesem Sinne, wenn sie von „brennender", „feuriger" Liebe spricht, die
Dichtkunst, wenn sie Ausdrücke wie „ewiger Wonnebrand, glühendes Liebe-
band" (Goethe, Faust IL) schöpferisch gestaltet.
Im weiteren bedeutet die Flamme den Penis. An diese Bedeutung knüpft
eine Hypothese Freuds über die wichtigste Kulturtat der Menschheit, über
die Bezähmung des Feuers. Im Urmenschen muß eine gewaltige
Lust wirksam gewesen sein, das Feuer, wo er ihm durch den Zufall der
Natur begegnete, durch seinen Harnstrahl zu loschen, eine Lust, die primitiven
homosexuellen Regungen entstammt. Folkloristisches Material hat diese Zu-
sammenhänge zwischen Harn (Wasser) und Feuer aufbewahrt. Heute noch
verbietet man allenthalben den Kindenn, zu zündeln, mit der Begründung,
sie würden dann nachts das Bett nässen u. dgl. m. Die Hüterinnen des
heiligen Feuers sind regelmäßig Frauen (Vestalinnen), da sie vermöge der
anatomischen Verhältnisse nicht geeignet sind, die Flamme durch den Harn-
strahl zu loschen. Durch die Bezähmung des Verlangens nach dem lustvollen
Loschen der Flamme durch den Harnstrahl war es dem Urmenschen möglich,
das Feuer zu erhalten und zu verwenden. So war die erste große Kulturtat
ebenso durch Triebbezähmung erreicht wie alle übrigen Kulturtaten der
Menschheit.
final (teieoiogical; final)
Final nennen wir eine wissenschaftliche Betrachtungsweise, die nach . dem
Wozu?, also nach dem praktischen Zweckziel eines Vorganges fragt. Bei der
Untersuchung menschlichen Verhaltens ist eine solche Fragestellung unerläßlich;
die überwiegende Zahl der bewußten psychischen Akte wird vorwiegend von
den Zweckzielen des Ichs gesteuert. Auch bei abnormen psychischen Gebilden,
wie bei den neurotischen Symptomen, ist solche Fragestellung nach den
Zweckzielen des Symptoms im Sinne des Ichs zulässig. Es ergibt sich dabei.,
daß das neurotische Symptom sekundär in den Dienst der Absichten und
Zielstrebungen des Ichs gestellt werden kann, daß also das Ich mit Hilfe
des bereits gebildeten Symptoms sich etwa eine Rente oder Erleichterung
und Schonung in der Familie verschafft, die Umgebung mit seinem Kranksein
quält, von sich abhängig macht u. dgl. m. (s. Krankheitsgewinn, sekundärer.)
Die Individualpsychologie Alfred Adlers betrachtet in ein-
seitiger Weise solchen Ichgewinn aus der neurotischen Erkrankung als a u s-
s ch 1 i e ß 1 i ch e Ursache für die Bildung der neurotischen Symptome. Ihre
Betrachtungsweise der neurotischen Symptome ist daher rein final. Im
Gegensatz dazu bedient sich die Psychoanalyse auch kausal-genetischer
Gesichtspunkte bei der Erforschung psychischer Gebilde; sie fragt tiefer nach
dem Woher? des Symptoms und deckt neben der finalen Funktion des Sym-
124
Fixierung
pfoms in der aktuellen Wirklichkeit andere und wichtigere Ursachen für seine
Entstehung auf, die mit der Triebentwicklung, den unbewußten, infantilen
Wünschen, ihrer Abwehr, mit der Bildung moralischer Kräfte, des Über-Ichs
u. v. a* zusammenhängen (s* a» Symptom)*
Fixierung (fixation; fixation)
Der Begriff der Fixierung findet vor allem in der psychoanalytischen Trieb-
lehre Anwendung. Er bezeichnet die besonders innige und schwer losbare Ver-
knüpfung einer Partialtriebstrebung mit Eindrücken aus der frühen Kindheit
und mit den in diesen Eindrücken gegebenen Objekten. Der Trieb hält bei
solcher Fixierung an infantilen Befriedigungsformen und an Objekten der
Kindheit fest. Die Fixierung macht der Beweglichkeit des Triebes ein Ende
hebt also die Plastizität (s. d.) des Triebes auf und hindert seine
Weiterentwicklung. Der Partialtrieb oder die ganze Libido bleibt durch die
Fixierung auf infantiler Entwicklungsstufe stehen. Wenn das Ich die Fixierung
duldet, mit ihr sich einverstanden erklärt, entwickelt sich aus der Fixierung
eine Perversion, indem der fixierte Sexualtrieb infantile Formen und
Ziele der Befriedigung auch in späteren Entwicklungsperioden bis in die
Erwachsenheit beibehält. Wenn das Ich dagegen Einspruch erhebt, weil die
infantilen Ziele und Objekte ihm verboten und von ihm verpönt sind, dann
wird der fixierte Trieb verdrängt und kann seine Befriedigung nur im Kom-
promiß mit den abwehrenden Instanzen und ersatzweise im neuro ti s che n
Symptom finden. Durch die Verdrängung wird die Fixierung des Triebes
an die Befriedigungsrepräsentanz eine besonders intensive*
Meist bleiben nur Triebanteile fixiert, während das Gros der Libido die
fortschreitende Entwicklung vollzieht. Man spricht vom Zurückbleiben eines
Libidodepots, das durch die Fixierung an infantile Formen und frühe
Objekte gebunden bleibt. Wenn der Hauptanteil der Libido, meist infolge
Versagungen der Befriedigung in der realen Außenwelt, auf dem Wege der
stattgehabten Entwicklung zurückzuweichen bereit ist, dann wirkt die Fixie-
rung wie ein Lockruf, die alten Ziele und Objekte der einstmals genossenen
Lust wieder zu erstreben. Die Fixierung bestimmt dann die Stelle, bis zu
welcher eine eventuelle Regression (s.d.) der Libido erfolgt Die Regres-
sion schafft dann die oben geschilderten Bedingungen zur neurotischen Sym-
ptombildung.
Für die Entstehung der Neurose ist die Qu a n t i t ä t des fixierten Libido-
depots von großer Bedeutung; denn je größer der zurückgebliebene Libido-
antexl, umso leichter weicht die übriggebliebene Libido auf ihn zurück. Für
die Form der Neurose ist die Stelle der Fixierung auf der Entwicklungs-
lime (Fixierungsstelle, Fixierungspunkt) maßgebend. So disponiert Fixierung
an die infantilen Objekte der phallischen Stufe zur Hysterie, Fixierung auf der
anal-sadistischen Stufe zur Zwangsneurose, Fixierung auf der kannibalistischen
Stufe zur Melancholie, Fixierung auf der narzißtischen Stufe zur Paranoia
und Schizophrenie. Die Neurosenform hängt somit von der Fixierungsstelle ab.
Fixierung spurt kt — Flatus
125
Die Fixierung des Triebes an eine bestimmte Stelle der infantilen Sexual-
entwicklung ist durch zwei Momente verursacht, die kooperativ im Sinne
einer Ergänzungsreihe (s. d.) wirksam sind. Das eine Moment Ist kon-
stitutionell, also biologisch durch die Erbfaktoren gegeben; das zweite Ist
durch äußere Erlebnisse repräsentiert, wie durch frühzeitige Verführung zu
bestimmten Triebhandlungen, zufällige, eventuell durch andere Personen her-
beigeführte Erregungen intensiver Art an bestimmten erogenen Zonen u. dgL
m. Die Fixierung gehört zu den wichtigsten dispositionellen Momenten für die
Neurosenbildung, sie ist maßgeblich für die Neurosenwahl (s. d.)*
Der Begriff der Fixierung wurde auch In die psychoanalytische I ch - P s y-
ch o 1 o g 1 e übernommen» So wird das Festhalten des Ichs an infantilen
Formen der Abwehr, das Festhalten an frühen Versuchen der Außenwelts-
oder der Triebbewältigung, kurz jede Aufrecht erhaltung Infantiler Lösungs-
versuche den Aufgaben des Ichs gegenüber als Fixierung an die betreffende
infantile Art der Äufgabenbewältlgung bezeichnet*
Fixierungspünkt
Fixierungsstelle
s. Fixierung.
Flatus (flatus; vent, flatuosite anale)
heißt auf lateinisch das entweichende Darmgas. Flatulenz ist dementsprechend
ein Zustand, in dem Blähungen häufigen Abgang von Darmgasen verursachen*
Dem Flatus und seiner Produktion kommt entsprechend der Erogeneltät der
analen Zone Im Kindesalter manche wichtige psychologische Bedeutung zu
(s. Änalerotik). Als sublimere Form der analen Exkremente betrachtet und
erlebt, erscheint der Flatus dem Kind und dem Primitiven mit all den Fähig-
keiten und psychologischen Qualitäten ausgestattet, die diesen auf der anal-
sadistischen Stufe zukommen. Der Flatus hat die Fähigkeit zu zeugen;
häufig wird in Infantilen Sexualtheorien die Zeugung als Einblasung von
Darmgasen in die Mutter durch den Vater vorgestellt. Die Bedeutung der
„H auchseele" (rfveßjiaj nimmt von da aus ihren Ursprung. Im wei-
teren werden im Unbewußten Flatus und Gedanken gleichgesetzt (Ernest
Jones, Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr, Jb. VL 135)*
Die Produktion von Flatus kann auch die Bedeutung von sadistisch-aggres-
siven Akten gegen Objekte annehmen. Der Hohnfurz, der in feindseliger
und verachtender Absicht einem Änderen geboten wird, ist ein späterer Zeuge
dieser aggressiven Bedeutung.
Die analeroüschen Ursprünge der Musik, gewiß nicht die einzigen, haben
Zusammenhänge mit den Darm- und Flatusgeräuschen (S. Pfeifer, Musik-
psychologische Probleme, L IX. 453).
126
fliegen— Flucht
fliegen
s. Flugtraum.
Flucht (flight; fuite)
Die Flucht ist eine biologisch gegebene, schon bei den primitiven Lebewesen
vorhandene reflektorisch auslösbare Form der Reaktion auf Unlusteinwir-
kungen aus der Außenwelt Die biologische Zweckmäßigkeit der Fluchtreaktion
ist darin gegeben, daß das fliehende Individuum sich dem Bereiche der
Unlusteinwirkung entzieht. Die Flucht kann als die primitivste alloplasti-
sche (s. d.) Reaktion aufgefaßt werden. Sie verändert wohl nicht die Außen-
welt, um einer Uniusfeinwirkung zu entgehen, aber den Standort in dieser
Das Individuum selbst bleibt dabei im Gegensatz zu autoplastischen Reaktio-
nen unverändert.
Die Fluchtreaktion wird auch ins Psychische übernommen und Reizen Ge-
genüber anzuwenden versucht, deren Herkunft aus dem eigenen psychophysi-
schen Organismus solche Versuche zunächst sinnlos erscheinen läßt, wie z B
gegenüber den Triebreizen, die kontinuierlich zuströmen und von deren un-
versiegbarer Quelle, dem organischen Körpergeschehen, eine wirkliche Ent-
fernung nicht möglich ist. Die Unfähigkeif, auf primitivster psychischer
Untwicklungssfufe Außenwelt und Innenwelt zu unterscheiden, läßt die frühe-
sten Versuche, Innenreize durch Flucht zu bewältigen, verständlich erscheinen.
Oje Wirkungslosigkeit des Versuchs, den inneren Reizen durch Flucht zu
entgehen, veranlaßt frühzeitig und wesentlich die Unterscheidung zwischen
Innenwelt und Außenwelt.
Die Teilung des psychischen Apparates in verschiedene Instanzen oder
Provinzen im Laufe der Entwicklung macht aber solche Fluchfreaktionen
vor Triebreizen weiterhin sinnvoll. Der Besetzungsentzug einer unlusf-
vollen Vorstellung gegenüber, wie er bei der Verdrängung sich voll-
zieht und wodurch der der Vorstellung zugrunde liegende psychische Vor-
gang unbewußt wird, ist im wesentlichen einer Flucht vergleichbar. Der
Mechanismus der Ver leugn ung unlustvoller Tatsachen und Geschehnisse
ist als Fluchfreaktion aufzufassen. Eine Reihe von Abwehrvorgängen stellen
also einfache Fluchtreaktionen dar. Die Fluchfreaktion wird aber auch dort
vor allem wieder sinnvoll, wo es gelingt, eine innere Triebgefahr in die
Außenwelt zu verlegen; etwa wie bei den ErsafzvorsteUungen der Phobie,
wo andere Objekte die Funktion und Bedeutung Innerer Triebgefahren über-
nehmen. Das zum phobischen Objekt gewordene Objekt der Außenwelt
wird dann geflohen und die innere Triebgefahr, allerdings unter weitgehen-
der Einschränkung des Ichs, damit vorläufig gebannt - Auch in der Para-
noia wird durch Projektion auf äußere Objekte Flucht vor diesen zeitweise
wirksam und sinnvoll.
Flucht in die Krankheit (flighf info illness; fuite dans la maladie)
ist ein von Freud geprägter Terminus, der sehr frühzeitig bereits medizini-
~l
Flugtraum— Folklore 127
sches Allgemeingut geworden ist* Er bezeichnet ein ökonomisches Moment bei
der Neurosenbildung, nämlich die Tatsache, daß der Neuro tiker regelmäßig
aus einem Konflikt in die Neurose als in die ökonomisch bequemste Lö-
sung ausweicht Da dieser Konflikt oft auch als ein äußerer sichtbar ist, war
dieses veranlassende Moment zur Neurosenbildung dem allgemeinen Ver-
ständnis relativ früh zugänglich«
Flttgfraum (flying dream; reve de vol)
Der Traum zu fliegen ist ein typischer Traum (s. d.)* Die Sensation des
FÜegens im Traum beginnt oft damit, daß man sich mit großer Leichtigkeit
emporgehoben fühlt, es besteht beim Fliegen im Traum die Empfindung
vollkommener körperlicher Schwerelosigkeit, verbunden mit dem Gefühl gei-
stiger Freiheit und Ungebundenheit. Paul Federn weist die innige Be-
ziehung des Flugtraums zum Gleichgewichtsorgane nach. Er wies auch als
erster darauf hin, daß Fliegeträume Erektionsträume sind. Ihr Inhalt
symbolisiert die Erektion, vor allem das als rätselvoll empfundene Aufsteigen
des Penis gegen die Schwerkraft. Meist geht die FÜegesensation im Traum
mit dem starken Gefühl des Könnens und Bewältigens einher, das ebenfalls
sexuellen Quellen entstammt und der Ausdruck starken Sexualstolzes ist.
Wenn der Flugtraum in ein Äbwärtsgleiten oder Fallen endet, dann symbol-
Üsiert dieses das Nachlassen der Erektion oder Impotenz (Paul Federn*
Über zwei typische Traumsensationen, Jb. VI. 89).
Folie
ist das französische Wort für Tollheit oder Irrsinn. Der Ausdruck wird auch
auf neurotische Erscheinungen angewendet, so heißt „folie du doute" die
Zweifelsucht an der eigenen Leistung, „folie de Spekulation" die Grübel-
sucht u. s. L
Folklore (folklore; folklore)
ist die Wissenschaft von den volkstümlichen Überlieferungen. Sie beschäftigt
sich mit den Gebräuchen, den Anekdoten, den Zoten, dem Aberglauben u. s. f«.
eines Volkes. In allen diesen volkstümlichen Äußerungen findet man Motive,
Mechanismen, Darstellungs weisen, die im allgemeinen dem Unbewußten ange-
hören und sonst nur in Träumen, Phantasien und neurotischen Symptomen
zutage treten. Die Folklore liefert daher reichlich bestätigendes Material für
die analytischen Ergebnisse, besonders in bezug auf die ubiquitäre Wirksam-
keit der sexuellen Regungen und der großen Komplexe (Ödipuskomplex,
Kastrationskomplex). Auch die Verwendung der Symbolik ist im folkloristi-
schen Material besonders häufig und deutlich. Zur Ergänzung und Ausarbei-
tung wie zur Bestätigung analytischer Aufdeckungen wird daher die Folklore
vielfach herangezogen. \
128
forcierte Phantasien— Fortpflanzung
forcierte Phantasien (forced phantasies; fantasme provoque)
S. Ferenczi zählt zum Rüstzeug der „aktiven Technik« (s. d.) auch die
Forderung der Produktion von Phantasien in der analytischen Stunde duS
den Arzt Er wendete die Methode bei phantasie- und affektarmen Patienten
an, bei denen infolge der Abwehr des Ichs auch eindrucksvollste EriebSse
spurlos vorüberzugehen schienen. Seine Tedunk zur Anregung „foSS
£E?Th T V* "^ bCSfeht aon darto ' daß ** Paüent daTS'
drangt wird d*e adäquaten Gefühlsreaktionen auf das Erlebnis nachzuholen
eventuell solche Reaktionen in der Phantasie frei zu erfinden. fiTgeS
dem Paffen nach Ferenczi zunächst stodcend und unter allerMKn
wanden, Je in Rede stehende Affekfsifuation sich auszumalen- Auf dTs
Drangen des Analytikers hin wird er mutiger, die erdichteten PhanUe
kommTl ß W *e e pw te " ICbh f Cr ' eted -*-o««. ^s es scMießlidfv^
kommt, daß die Phantast mit dem Patienten durchgeht und er ein echtes
Äffekterlebnxs unter Angst oder mit Wut oder mit sexueller Erregt pro<£
^tert Da dxeses Affekterlebnis später wieder entwertet wird, ist ef£Ä
?ere? r F e f: e n - a f rCn f* *-*««*» hintereinander T££
SSLLV 7^ K r - Ierte 80W,e Phantasi «> besonders, wenn sie die
D« Ti'd^t jf mC S ngen md *" ° nanie zum Gegenstande haben,
gefegen daß te rfn « PWasien Ist * acn Ferenczi zunächst darin
gelegen, daß sxe dem Patienten zeigen, daß er solcher psychischer Produk-
nZl 2 Äffekte 5 teb - sse «herhaupt fähig sei; im weiteren geoen Z dt
Handhabe zur tieferen Erforschung des Unbewußt-VerdrängL (S Fe!
renczx, über forderte Phantasien, Bausteine II, 87.)
seh™ TUT . Phattfasi r werden to Rassischen Verfahren der psychoanalyti-
ÄJ^fdTft ' ^V* g n ringem ÄUSmaß gewendet. Die Äufmerk-
dem m:« !. Äerapeuüsdien Bestrebungen der Psychoanalyse in sfeigen-
vSaSen das" Es I fl T Äb T h ^ s ^ungen zuwendet, erübrigten
deiut d« SÄ ? gCWaItsame W * ise z « ta ^ fördert; die Auf-
2 vor allem T ? AT *i *» hängten Affekte gehören, wird
AttSw* K • ^ f^ AbbaU der Widei *tände «nd der Abwehr von
exSgSt " yÜSChe Einflußnahme auf *» Id > ^s Patienten
Forschung, sexuelle (sexual investigation; investigation sexuelle)
Forschungstrieb (invesägatory insänct, instinct of curiosity; pulsion
sfxgatxve, xnstxnct d'investigation) f«™ot
s. Wißtrieb.
Fortpflanzung (reproduction; procreation, reproduction)
Der Wissenschaft vor Freud war die enge Verknüpfung von Fortpflanzung
und Sexualität «n Axiom. Da sie behauptete, daß Sexualregungen ersfm« dem
si~ die infantile Sexualität verleugnete, waren ernste Widersprüche gegen die
mve-