Dr. lmre J~i
mre l lermann
FECHNER
Eine psyckoanalyftscüe Studie
über individuelle Bedingtneiten
wissensclialtlkner Ideen
EX LIBRIS
DWIG ROSENBERCER
.•"
.
Gustav Theodor Fechner
Eine psychoanalytische Studie
über individuelle Bedingtheiten
wissenschaftlicher Ideen
Von
Dr. Imre Hermann
Sonderabdruck aus der „Imago, Zeitschrift für Anwendung der
Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften , heraus-
gegeben von Prof. Sigm. Freud, Bd. XI
1926
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Leipzig / Wien / Zürich
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1926
by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Ges. m.b.H.", Wien
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Druck: Christoph Reisser's Söhne, Wien V
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorbemerkung zum Sonderabdruck 5
A) Biographisches. Die schwere Krankheit in den Jahren 184,0 — *843 9
B) Die Idee der Psychophysik 23
C) Die Idee der „Tagesansicht" 50
D) Das Formale im Denken Fechners 38
E) Die Begabungsgrundlagen 47
Anhang: Fechner als Vorläufer psychoanalytischer Erkenntnisse . . 58
Verzeichnis der Schriften Fechners, die in der vorliegenden Studie heran-
gezogen wurden 61
^
Vorbemerkung zum Sonderabdruck
Kein Mensch kann aus seinem menschlichen Wesen heraus. Daß wissen-
schaftliche Ideen durch individuelle Eigenschaften des Forschers selbst mit-
bedingt sind, ist keine Erkenntnis, die der Psychoanalyse zu verdanken
wäre. Man sprach ja seit jeher von Wirkungen, die der Lehrer, Meister,
Freund auf seine Schüler, Freunde ausübt, man sprach von zufälligen
Ereignissen, die gerade einen gewissen Forscher trafen, und bei ihm tiefe
Wirkungen hinterließen, man sprach von der Bedingtheit durch die Genialität
des Forschers, die eventuell vererbt ist, aber auch von Minderwertigkeiten,
welche zu Höherleistungen anspornen. Die Psychoanalyse widerspricht diesen
Bedingtheiten nicht, sie kann sich aber durch diese allein nicht befriedigt
fühlen. Eine Determiniertheit bis zu den kleinsten Einzelheiten
ist ja diejenige psychologische Forschungsrichtung, welche die Freudsche
Methode kennzeichnet. Auch in den individuellen Bedingtheiten der wissen-
schaftlichen Ideen will die psychoanalytische Denkweise zu allen Einzel-
heiten der Persönlichkeit als Grundlage der ganz speziellen Ausgestaltungen
der Ideen und zu den Ursachen der ganz speziellen Betätigungsweisen
— der speziellen Begabungen — vordringen.
Die vorliegende Arbeit über Fechner (denen einige kleinere mono-
graphische Abhandlungen über Darwin, Robert Mayer folgen sollen) setzt
also einerseits die allgemein-psychologische Erforschung des wissenschaft-
lichen Denkens, anderseits die psychoanalytische Herausarbeitung der inneren
Bedingtheiten des Forschers, Denkers fort und schließt sich dabei den
Arbeiten von Alfred Robitsek: Symbolisches Denken in der chemischen
Forschung (Imago I, 1912, S. 85 — 90), von Eduard Hitschmann: Schopen-
hauer (Imago II, 1915, S. 101 — 174), von Alfr. Frh. v. Winterstein:
Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie (daselbst,
S. 175 — 237), von Heinrich Gomperz: Psychologische Beobachtungen an
Vorbemerkung zum Sonderabdruck.
griechischen Philosophen (Imago X, 1924, S. 1 — 92, auch als Sonderabdruck
erschienen) an und entwickelt weiter einige eigene Arbeiten (Wie die Evidenz
wissenschaftlicher Thesen entsteht?, Imago IX, 1923, S. 383 — 390; Beiträge
zur Psychogenese der zeichnerischen Begabung, Imago VIII, 1922, S. 54 — 66 ;
Organlibido und Begabung, Intern. Zeitschr. f. PsA, IX, 1923, S. 297 — 310 ;
Psychoanalyse und Logik, Imago-Bücher, Bd. VII, 1924; Alexander Petöfi,
Vortrag, Auszug in Intern. Zeitschr. f. PsA, VIII, 1922, S. 532).
So ist der Mensch Fremdling in seinem Geiste und irrt darin
herum, dem Zufall folgend oder mühsam am Faden des Schlusses
seinen Weg suchend, und vergißt oft seine besten Schätze, die abseits
von der leuchtenden Spur des Gedankens versenkt liegen im Dunkel,
was des Geistes weites Gefilde deckt. Aber im Augenblicke des Todes,
wo eine ewige Nacht das Auge seines Körpers überzieht, wird es zu
tagen beginnen in seinem Geiste . . .
(Fechner, Das Büchlein vom Leben nach dem Tode. 1836.)
Schwarzer Vogel, was willst Du auf dem Baum?
Schwarzer Vogel, was willst Du in meinem Traum?
Bis in mein Herz, das kranke, das kranke.
Kommst Du und nistest, ein schwarzer Gedanke;
Ach Jugend, ach Lenz! so grün, so grün!
Da, wo er nistet, will nichts mehr blÜhn.
(Dr. Mises [= FechnerJ, Gedichte, 1841, „Der schwarze Vogel".
A
Biographisches
Die schwere Krankheit in den Jahren 1840 — 184)
Fechners Name ist dem Physiker, dem Philosophen, dem Ästhetiker,
dem Theosophen, dem Psychologen und auch dem Psychoanalytiker wohl
bekannt. Auch schönliterarisch war dieser Gelehrte vom besten Schlage
tätig. Daß der Name Fechner dort, wo man sich auf andere Namen be-
ruft [z. B. auf Nietzsche: Wiederkehr des Alten; Entwicklung der Erde aus
einer organischen (kosmorganischen) Ursubstanz], dennoch meistens un-
genannt bleibt, ist die Folge eines Charakterzuges, der auch vom Biographen
(Fechners Neffe, J. E. Kuntze) 1 in der Einleitung vorangestellt wird: die
Stille und Kindlichkeit seines Lebens.
Zuallererst seien einige biographische Daten vorangeschickt. Fechner
wurde am ig. April 1801 geboren, er hatte einen anderthalb Jahre älteren
Bruder und drei jüngere Schwestern. Er war nicht ganz fünf Jahre alt,
als der mütterliche Großvater und nicht viel mehr als fünf Jahre, als der
Vater starb. Vater Fechner empfing den Keim seines frühen Todes angeb-
lich durch Überanstrengung beim Aufheben eines schweren Kommoden-
kastens. Er lag zwei Jahre lang (also etwa vom dritten Lebensjahre des
Sohnes an) auf dem Siechbett, versah trotzdem mit der größten Anstrengung
sein Pfarramt, „einmal bestieg er noch vom Bett aus die Kanzel, um als-
bald von da wieder sich zu legen". Die jüngste Tochter, Clementine, wurde
einige Tage vor seinem Tode geboren, er taufte sie noch vom Kranken-
bett aus. Der analytische Spürgeist wird schon hier stutzig. Welche Folgen
könnte wohl dies Ereignis — der Vater liegt krank, dann wird ein Kind
auf die Welt gebracht, dann stirbt der Vater — vermutlich gerade zur Zeit
der Überwindung des Ödipuskonfliktes (mit fünf Jahren) gehabt haben.
1) Kuntze: Gustav Theodor Fechner (Dr. Mises). 1892.
io
Dr. Imre Hermann
Stand dieses Ereignis nicht der späteren normalen Libidoentwicklung
hemmend entgegen, und wird das empfindsame Kind dadurch nicht mit einem
Übermaß von Schuldgefühl beladen? Vielleicht — wenn er ein Kind war,
wie die übrigen es sind, so ist diese Bemerkung wohl überflüssig — wollte
er selber ein Kind haben und die Stelle des Vaters für sich beanspruchen.
Und da kam ein Kind (vom Vater?), aber der Vater starb, verließ die
Familie,
Des Schulbesuchs wegen kam Fechner ein halbes Jahr nach dem Tode
des Vaters zu seinem Onkel, verließ also die Mutter, die er erst vom Jahre
1814 an wöchentlich einmal besuchen konnte. Erst im Jahre 1815 ver-
einigte sich die vaterlose Familie wieder, doch nur auf zwei Jahre ; in der
Zeit von 1817 — 1824 lebte er wieder fern von der Mutter. Da entschloR
sich die Mutter, mit den noch ledigen zwei Töchtern zum Sohne narV»
Leipzig zu übersiedeln, um ihn dem Einfluß einiger zweifelhafter Freund
zu entziehen. Und das ist das zweite, was uns stutzig machen muß. \^
waren das für Freundschaften? Über einen „unheimlichen" Freund
namens Schultze — erfahren wir, er habe eine dämonische Wirkung, eine
faszinierenden Einfluß auf Fechner ausgeübt. Und ein anderer Freund
schreibt ihm einen Brief (schon aus dem Jahre 1825) mit folgendem T
halt: „. . . Du willst glauben, daß Du mir etwas sein könntest! Lieb
Bruder, Du kannst mir nicht etwas sein, Du bist mir es ja schon
warst es immer, wenn auch nicht etwas, doch viel. Sonderbar ist es, Müll
ist im Ganzen offener gegen mich, als gegen Dich . . ., aber ich habe ein^
andere Liebe für ihn, als für Dich, letztere möchte ich bloß mit d
unwiderstehlichen Gefühle vergleichen, das das Weib zum Manne zieht R
ist mir, als müsse ich mich an Deiner Kraft und an Deinem Wesen stützen
um den Haltpunkt nicht zu verlieren ... Sei des versichert, daß kein
Schulze, Nauwerk, Weisse Dich so lieben kann, als ich, selbst Müller und
Spielberg nicht. Sieh, mich fesseln ja tausend Bande an Dich, und das
zarteste, das Bruderband, da wir ja Eine Mutter mit gleicher Kindesliebe
umfassen, da Deine Schwestern auch meine Schwestern sind." 1 Ist das
nicht die offene Erklärung einer homosexuellen Bruderliebe? Als letztes
Argument wird auch noch an die Liebe zur Mutter erinnert. Wenn wir
die bloßen Daten der Biographie überblicken, so sehen wir, was diese
Liebe zur Mutter bei Fechner bedeutete. Im selben Jahre, aus dem der
obige Brief stammt, erschien Fechners kleine „Skizze" über die „Ver-
1) Kuntze, S. 36.
Gustav Theodor Fechner 1 1
gleichende Anatomie der Engel (unter dem Pseudonym Dr. Mises 1 ), und
darin heißt es:
„Es wäre freilich gut gewesen, wenn der Mensch sowohl Hände als Flügel
erhalten hätte. Allein das ging nicht . . . Die Fabel stellt dies so dar: Die
Erde sprach zum Dämon oder schöpferischen Geiste, der herrschend durch
die Natur schreitet: laß mir meine Kinder, die ich gezeugt, die ich nähre
und pflege; warum willst du sie von mir nehmen?
Nein, sagte dieser, wenn sie bei dir bleiben, so wird nichts aus ihnen, das
Kind muß von der Mutter, seine Bildung zu vollenden. Er wies nach der
Sonne : dorthin bring' ich deine Kinder. Die Erde aber wollte ihre Kinder
nicht von sich lassen.
Und der Dämon sprach zum Stein: du kannst bei deiner Mutter bleiben
und ihre blinde Zärtlichkeit sättigen, aus dir wird ohnehin kein Engel; aber
zur Pflanze : komm heraus aus deiner Mutter Schoß ; die Sonne schickt dir
ihre Boten und ruft dich zu sich in ihr warmes, buntes Reich. Die Pflanze
folgte der Lockung und suchte sich der Mutter Schoß mit Gewalt zu ent-
winden, die ihr immer rief: Kind, bleib bei mir, die Sonne lockt dich wohl
mit glänzenden Verheißungen, aber sie nährt und pflegt dich nicht wie ich.
Und sie betaute die von ihr Strebende mit ihren Tränen und hielt sie ge-
waltsam an der Wurzel fest; denn sie dachte: lasse ich mein Kind fort, so
verschmachtet es mir ja in der Sonne.
Da trat der Dämon abermals zur Erde und sagte: das Kind ist reif zu
einer höheren Schule; nun halt es nicht länger! Sie ließ es nicht, da riß er's
ihr gewaltsam aus dem Schöße. Aber die Mutter haschte danach und ergriff
es noch an den Füßen. Wie das menschliche Weib ihr Kind im Arme, noch
an den Füßen hält, wenn es gleich fortstrebt und ihre Liebe verachtet, so
hielt sie ihr Geschöpf, das sich dem Rufe zu folgen sehnte, noch fest und
reichte ihm den allernährenden Busen, es an sich zu fesseln.
Wiederum trat der Dämon zur Erde und sagte: Jetzt gib mir dein Kind,
denn es ist Zeit, daß ich es ins Reich des Lichtes bringe, wo es zum Engel
werde. Ach, sagte die Erde, was hilft mir's, wenn's ein Engel geworden ist
und ich 's nicht mehr an meinen Busen drücken kann. Er aber war taub gegen
ihr Flehen, faßte das Kind, ihr's zu entziehen und entriß ihr noch zwei Füße
gewaltsam. Da aber ward die Mutterliebe mächtiger als des Dämons Gewalt,
und er vermochte nicht, ihr die übrigen zu entziehen.
Wohl sagte er, unvernünftige Mutter, behalte dein Kind, und laß es in
deinem Schöße ein unentwickelter Krüppel bleiben. Aber trage zugleich die
1) Was kann dieses Pseudonym bedeuten? Als Pseudonym überhaupt ist es ein
Ausfluß der Dual -Einstellung (s. Abschnitt D); gerade dieses Pseudonym erinnert
an den Familiennamen der Mutter (Fischer) und durch die Vokale an die Namen
der Schwestern (Emilie, Mathilde, Clementine — der Bruder hieß Eduard). Auch
der Konsonant M ist ein gemeinsamer Bestandteil der drei Mädchennamen. Inhaltlich
will es vielleicht der gedrückten Stimmung Ausdruck verschaffen.
12
Dr. Imre Hermann
Strafe deiner Affenliebe; und er faßte die beiden Füße, die er in seine Ge-
walt bekommen hatte, und machte die Flügel des Vogels daraus . . .
Da ward der Dämon sehr zornig, und faßte die Flügel und machte Hände
daraus, und sagte zum Kinde: schlage deine Mutter, weil sie dich nicht von
sich lassen will, und zwinge sie damit, dir die Nahrung zu reichen, die sie
dir vorher nur aus eigennütziger Liebe reichte, daß ihr auch der letzte un-
verdiente Trost verloren gehe. Hätte sie dich von sich gelassen, so brauchtest
du ihre grobe Nahrung nicht mehr; sondern wohntest dort im Lichte, und
wärst ein schöner Engel.
Der Mensch erfüllt mit seinen Händen den Fluch, den der Dämon gegen
seine Mutter aussprach." 1
Diese Worte enthalten ja eigentlich eine Anklage gegen die Affen-
liebe der Mutter und sind ein Ausdruck der Sehnsucht nach Licht, nach
der Sonne — nach dem Vater. Die Mutterliebe ist hier als eine passiv
Liebe, als ein Geliebtwerden durch die Mutter dargestellt. Doch ist A m
Zeit nicht fern, wo sich diese progressive Richtung zum Licht in ei
regressive umkehrt!
Im Jahre 1830 verlobte sich Fechner, nach drei Jahren heiratete er
Zu dieser Zeit fühlte sich der junge Professor schon ziemlich elend, e
„schleppte" sich aber einige Jahre noch fort, bis endlich im Jahre 1840
-seine merkwürdige Krankheit mit voller Kraft ausbrach und bis ZUr • °
Jahre 1843 eingetretenen noch merkwürdigeren Genesung dauerte. Fechn
selbst berichtet über diese Krisis seines Lebens in einer aus dem Jahrl
1845 stammenden Krankheitsgeschichte. 2 Bevor wir uns aber mit den Daten
dieser Selbstbiographie beschäftigen, wollen wir einen Blick in" eine im
Jahre 1846 herausgegebene Schrift des Dr. Mises „Vier Paradoxa", un ^J
hier in den Aufsatz „Der Raum hat vier Dimensionen" werfen.' Dort
heißt es: ,
„Zunächst mache ich darauf aufmerksam, daß fast alle Bewegungen in der
Natur hin und her gehend sind. Das Pendel schwingt hin und wieder, die
Saite schwingt hin und wieder, der Äther im Licht schwingt hin und wieder-
der Mensch läuft auch hin und wieder; ja jedes Bein für sich schwingt dabei
hin und wieder. Es erscheint also von vornherein mehr als wahrscheinlich,
daß auch die Bewegung der Welt von einer gewissen Zeit an wieder rück-
läufig werden wird, so daß alles, was schon geschehen ist, noch einmal in um-
gekehrter Richtung geschehen wird; da zumal man sonst der Natur den Vorwurf
zu machen hätte, daß sie nur eine einseitige Richtung verfolge, während ihr
doch zwei zu Gebote stehen. Jedes Rad, was vorwärts rollt, kann doch auch
1) G. Th. Fechner (Mises): Kleine Schriften, S. 149—151.
2) Kuntze, S. 105—125.
Gustav Theodor Fechner
rückwärts rollen, und es ist wunderlich, da man stets vom Rad der Zeit ge-
sprochen, daß man nie an diese Rückwärtsbewegung gedacht hatte.
Gesetzt nun, eine solche begönne von einem gewissen Zeitpunkte an ein-
zutreten, so leuchtet ein, daß alle Gräber sich auftun und alle Menschen,
die je gestorben sind, wieder auferstehen werden, und wenn jemandes Knochen
noch so weit zerstreut liegen, sie werden sich wieder zu einem lebendigen Leibe
zusammenfinden; jeder wird von Tag zu Tag jünger werden; es wird gar
kein Altern mehr geben, sondern das ganze Leben in Verjüngung bestehen;
endlich wird jeder in seinen Mutterleib zurückkehren, mit der Mutter wird
es desgleichen gehen, und so wird immer weiter zurück jedes Elternpaar
seine Kinder und Enkel wieder einsammeln, die Juden also auch alle richtig
wieder in Abrahams Schoß gelangen, bis endlich die ganze Aussaat der Mensch-
heit sich in Adam und Eva wie in zwei Säcken wieder beisammenfinden
und ins Paradies wieder zurückgebracht sein wird, worauf auch Eva wieder
in Adam einkriechen und sich in eine Rippe Adams verwandeln, Adam aber
von Gott ergriffen und zu einem Erdenkloß zusammengeballt werden wird;
wonach dann Gott noch die ganze Erde und Meer, und Sonne und Sterne
in seine Einheit aufnehmen wird. '
Derselbe Gedanke erscheint aber schon in einer Schrift aus dem uns
bereits bekannten Jahr 1824, unter dem Sammeltitel „Stapelia mixta , wo
Dr. Mises sich mit dem Gedanken einer „verkehrten Welt" herumspielt.
In einer solchen Welt bestünde die Geburt darin, daß Würmer und Pflanzen
Stoffe von sich geben, aus denen ein Greis zusammengebacken wird, der
jünger, zuletzt kindisch wird, in den Windeln schreit und sein Leben
beendet, indem er in den Leib eines Weibes hineintritt, der Zeugungsakt
endlich wird zum Tode selbst. In dieser verkehrten Welt würde „regressiv
die Welt in Gott übergehen". Und alles das sei verständlich, denn „jedes
Wort, das sich vorwärts aussprechen läßt, läßt sich auch rückwärts aus-
sprechen. 3
Was sagt nun aber die „Krankheitsgeschichte" ? Sie fängt mit dem
Geständnisse an, daß Fechner sich schon frühzeitig zu Grübeleien in
der Philosophie angetrieben fühlte; den Studenten] ahren kaum entwachsen,
glaubte er schon „am Wege zu sein, das Geheimnis der Welt und ihrer
Schöpfung zu entdecken . Er glaubte stets am richtigen Wege zu sein
und gelangte doch nie zu einem sicheren Ziele. Er zerbrach sich den Kopf
vom Morgen bis Abend und auch in manchen Nächten, um festen Fuß
zu gewinnen, war aber nie mit seinen Resultaten zufrieden. — Nur eine
kleine Anmerkung mag hier, als Unterbrechung, gestattet werden: das
1) Kleine Schriften, S. 184, 185.
2) Kleine Schriften, S. 227 — 229.
x 4 Dr. Imre Hermann
Geheimnis der Welt und ihrer Schöpfung ist ja eben das frühkindliche
Geheimnis von der Erzeugung der Kinder, das bei Fechner eine so
merkwürdige, mit Schuldgefühl beladene Scheinlösung fand. Das Schuld-
gefühl verlor auch jetzt nicht seine Wirkung: er fing bald an, einige
Nachteile dieser geistigen Anstrengung zu spüren, es entstand ein regel-
rechtes Zwangs denken, er konnte seinen Gedanken nicht mehr will-
kürlich Einhalt tun, „immer und unter jeder Umgebung kehrte er zu
denselben Gegenständen zurück, und weder Spaziergänge, noch Gesell-
schaften, noch sonst andere Arten der Zerstreuung gewährten mir eine
Erholung. "
Dann wurden diese Anstrengungen durch Anstrengungen, genügend
Geld zu verdienen, abgelöst. Er studierte auch privatim weiter und zer-
brach sich über mathematische Ableitungen den Kopf wieder oft so sehr
daß er Kopfschmerzen bekam, doch, trotz aller Anstrengung und all e '
Fleißes kam er verhältnismäßig nur langsam vorwärts. Da ereignete es
sich, daß ein Professor der Physik in Leipzig starb und sich ihm dadurch
die Aussicht auf diese Stellung eröffnete. Nun „war der Zustand mein
Kopfes schon so schlimm, daß ich lange Bedenken trug, mich um die
Stelle zu bewerben, und selbst, nachdem ich schon dazu ernannt worden
nur durch einen besonderen Umstand verhindert wurde, sie wieder auf
geben". — Wir werden hier unwillkürlich an den Vater erinnert, desse
Tod dem Sohne die Erfüllung seiner Ödipus- Wünsche näher rückte. Und
diese Annahme wird noch dadurch gestützt, daß wir erfahren, daß de
Antritt der Professur auf Oktober 1834 fällt, und eine Ursache der Annahme
dieser Stellung die dadurch ermöglichte Verheiratung war. Fechner
verlobte sich nämlich Ende des Jahres 1850; der Ehebund wurde dann
am 18. April 1833 — einen Tag vor seinem Geburtstag — geschlossen.
Die Ehe schadete aber seiner Gesundheit, sein Zustand verschlechterte sich,
er wurde schlaflos, es traten Anfälle gänzlicher Abspannung und völligen
Lebensüberdrusses auf. So schleppte er sich einige Jahre fort, und man
kann sich dem Eindruck nicht verschließen, wie wenn es gerade die Ehe
gewesen wäre, die ihn „gänzlich unfähig, es zu froher Stimmung zu
bringen," machte und in ihm „ein Gefühl völlig mangelnder Lebenskraft"
hervorrief.
Bei so einem Schicksal sind wir gewöhnt, eine unbefriedigte Libido-
regung vorzufinden. War Fechner unbefriedigt? Wir können in die ver-
borgensten Winkel dieser menschlichen Seele nicht hineinblicken. Eines ist
sicher: Fechner sagt, seine „Ehe war und ist, abgesehen von der Kinder-
Gustav Theodor Fechner
losigkeit, eine sehr glückliche". 1 Er äußert sich aher auch in dem Sinne,
daß er „von Glück in seinem Leben nicht viel sagen kann, und der größere
Teil desselben war mehr trübe als heiter". 2 Wir wollen von der Kinder-
losigkeit nicht absehen und fragen, warum denn die Kinderlosigkeit
eine so nachhaltige Wirkung gehabt hatte? Er war von Verwandten und
Bekannten umgeben, die sich eines großen Kindersegens rühmen konnten;
sein väterlicher Großvater hatte elf, sein mütterlicher Großvater vier Kinder,
seine Frau war das mittlere unter sieben Kindern, die Schwester Emilie
wurde mit sechs Kindern Witwe — aber sein Bruder Eduard blieb un-
verheiratet, ebenso wie die beiden Onkel Fechner. Es kam dazu, daß mit
dem Tode „unseres Fechner dieser Name für uns auf den Aussterbeetat
gesetzt war", 3 d. h. aber, daß es seine Pflicht gewesen wäre, für Nach-
folger zu sorgen ; doch das verhinderten vielleicht die Umstände, sicher aber
sträubten sich die inneren Schuldgefühle dagegen.
In der Krankheitsgeschichte entrollt sich uns ein Bild, das seinem
ambivalenten Wunsch mit immer kräftigeren Worten Ausdruck verleiht,
ein Kind zu bekommen.
Der erste „neue schwere Schlag", der ihn traf, bestand darin, daß die
Kraft seines Auges rapid zu sinken anfing. Er hatte von Jugend an sehr
gute Augen gehabt, doch sein Nervenleiden brachte auch hier eine Änderung.
Anfangs sah er die Gegenstände mit einem Saum umgeben, dann schwächte
er sich selbst die Augen durch Versuche über subjektive Farbenerscheinungen,
die er mit großer Ausdauer fortsetzte und wobei er oft Veranlassung hatte,
durch gefärbte Gläser in die Sonne zu sehen. (Die Arbeit darüber erschien
im Jahre 1838.) Diese Versuche brach er zur Schonung der Augen ab,
begann andere Versuche, wo er jedoch durch ein enges Diopterloch durch-
blicken mußte, und zwar tagelang fast ununterbrochen, öfters bis in die
Dämmerung dauerten diese Experimente. „Hiedurch erhielt die Kraft meines
Auges den letzten Stoß. Es war im Jahre 1840." — Die Augen vertrugen
also den Anblick des ersehnten Vaters nicht — sie wurden schwach, auch
als Symbol der Zeugungsunfähigkeit. Nun wurde er ein Kind, und zwar
1) Kuntze, S. 531.
2 Kuntze, S. 530.
3) Kuntze, S. 309. — Man vergleiche dieses Krankheitsmotiv und die Krank-
heitssymptome mit dem Fall Sehr eher, auf welchen wir hier generell verweisen
wollen. (Freud: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch be-
schriebenen Fall von Paranoia [Dementia paranoides]. ' 1911. Gesammelte Schriften,
Band VIII.) Besonders mache ich auf das Gleichnis Sonne = Vater aufmerksam.
Dr. Imre Hermann
eines, das das Licht — den Vater — fürchtet. 1 „Lichtscheu und Unfähig-
keit, das Auge zum Lesen und Schreiben zu gebrauchen, trat ein. Anfangs
war diese Lichtscheu mäßig; durch nicht hinreichende Vorsicht gegen das
Licht aber stieg sie immer mehr; ich mußte mich immer mehr auf das
Zimmer beschränken ; der Gebrauch blauer Brillen wurde nicht vertragen ;
bald konnte ich nur noch mit einer Binde vor den Augen ausgehen . . . j
Er selbst fand sich (nachträglich) geistig unbeholfen in dieser Zeit. Seine
Kopfschwäche nahm stets noch zu. Solange die Lichtscheu es gestattete,
ging er bei trübem Wetter und später abends oder mit verbundenen Augen
auch bei Tag sehr viel spazieren und unterhielt sich während dieser Zeit
damit, daß er lyrische Gedichte machte. Der größere Teil seiner Gedicht-
sammlung entstand in dieser Zeit. 2 Er hatte verschiedene Kuren, auch eine
hypnotische (tierischer Magnetismus), doch alles ohne Erfolg versucht.
Ende des Jahres 1841 schloß sich dann noch eine andere Unfähigkeit
den schon vorhandenen an. Seine Verdauung war schon seit Jahren
„schwach", so daß er im Jahre 1835 nach Gastein, im Jahre 1839 nach
Ilmenau fuhr, um die Kur zu gebrauchen. Von dem Ilmenauer Aufenthalt
hat Fechner folgende interessante Erinnerung nach Hause gebracht:
Der Rittergutsbesitzer Siegfried und sein Schwager, ein Oberlandesgerichts-
rat, ein paar ältliche, sehr gesetzte Männer, von denen der erstere we gen
Schwerhörigkeit, letzterer wegen Blindheit die Wasserkur brauchten, erzählten
folgendes: Eine alte Frau in ihrer Heimat kurierte Wahnsinnige und andere
Kranke durch folgendes Mittel. Zur Zeit des abnehmenden Mondes spaltete
sie eine junge Eiche, band die getrennten Teüe oben zusammen und hielt sie
dann (in gebogener Form) auseinander. Durch die so entstandene Öffnung
zwischen den getrennten Hälften mußte der Kranke zweimal von derselben
Seite her durchspringen, dies nach vier Wochen wiederholen und nach aber-
mals vier Wochen nochmals. Jedesmal folgte noch Händeauflegen und Ge-
murmel. Beide versicherten ganz ernsthaft, daß auch sie diese Kur versucht
hätten. Es kam mir unglaublich komisch vor, mir diese gesetzten Männer
durch die von dem alten Weibe auseinandergehaltene Eiche so gläubig durch-
springend zu denken. Sie versicherten, das Mittel habe bei Verrückten oft ge _
geholfen. Ihr Übel aber war nicht kuriert worden. 5 Fechner wußte noch
j) Im Traumleben war er immer ein solches! „Auch träumte ich nie in Farben,
sondern alle meine Erlebnisse im Traume erscheinen mir wie in einer Art Dämmerung
oder Nacht vorgehend." Die Erinnerungsbilder traten ebenfalls meistens farblos au f ?
Ausnahme z. B. „durchschnittene Eier auf Spinat". Erinnerungsbilder traten bei g e _
schlossenen Augen sehr undeutlich auf. (Elemente der Psychophysik, II, S. 464, 465.)
2) Vgl. diesen Betätigungswandel mit derjenigen von Benvenuto Celli n j_
Imago X, Heft 4.
3) Knntxe, S. 86, 87.
Gustav Theodor Fechner i q
nicht, daß er dieselbe Kur — dem Sinne nach — auch versuchen werde und
daß sie ihm helfen würde.
Wie schon erwähnt, kam im Dezember des Jahres 1841 die seit Jahren
schon schwache Verdauung gänzlich zum Stillstand. Er konnte nichts mehr
zu sich nehmen, „nichts mehr genießen , weil er nichts mehr verdaute.
Alles schien sich in Blähungen aufzulösen. Ohne Speise und ohne Trank
soll er so mehrere Wochen zugebracht haben, ging dabei anfangs noch
herum, so daß er wie ein Skelett abmagerte und sich vor Schwäche
schließlich niederlegen mußte; er hielt sich für einen Totgeweihten. —
Es ist nicht schwer, in diesen Symptomen einerseits eine Identifizierung
mit dem kranken Vater, der sich überanstrengte, das Bett hüten mußte,
doch dabei seine Agenden mit aller Anstrengung verrichtete, ein Kind zur
Welt brachte und dann starb, anderseits eine anale Verkörperung des
Kindeswunsches mit darauf folgendem Schuldbewußtsein und Selbst-
bestrafung zu erblicken.
Er aß damals nur etwas säuerliches Obst, saure Gurken, eingemachte
Kirschen. Natürlich waren diese — bei schwangeren Frauen oft beliebte —
Speisen nicht genügend, um die Bedürfnisse des Körpers zu decken. Da
kam eine ziemlich wunderbare Rettung: Eine Bekannte träumte von der
Zubereitung eines Gerichtes, — stark gewürzter, roher Schinken, mit etwas
Rheinwein und Zitronensaft — das ihm zusagen würde. Und so geschah
es auch. Durch längere Zeit war das seine Nahrung, dann lernte er auch
andere stark reizende und gewürzte Fleischsachen und säuerliche Getränke
vertragen. Seine körperlichen Kräfte nahmen zu, und sein Geist befand
sich in einer Art heiterer Aufregung, wie er sie sonst niemals gekannt
hatte. Doch allmählich kam wieder alles in das alte Geleise zurück. — Es
war so, wie wenn er — eine kurze Zeit lang — über eine glückliche
Geburt gejubelt hätte, wie wenn er im Wochenbette gelegen wäre!
Im Sommer 1842 besserten sich auch die Augen etwas, doch der
Kopf wollte nicht arbeiten. Im November 1842 nahm die Schwäche seines
Kopfes so zu, daß er weder richtig nachdenken, noch den Gedanken anderer
folgen konnte, ohne lästige Gefühle im oder am Kopfe mitzufühlen, die
ihn vor weiterer Fortsetzung warnten. „Auch mit mir selbst durfte ich
mich nicht unterhalten wollen. Jedes Besinnen auf etwas Vergangenes, jedes
willkürliche Verfolgen eines Gedankenganges brachten ebenfalls lästige Ge-
fühle hervor, die mir die gänzliche Zerstörung meiner geistigen Kraft zu
drohen schienen, doch merkwürdigerweise (wahrscheinlich wegen einer Art
Reflex nach außen) mehr äußerlich als innerlich ihren Sitz zu haben
i8 Dr. Imre Hermann
lex
schienen." Wir möchten in dieser Erscheinung mehr als einen bloßen Refl
sehen, ist sie nicht das Gefühl des umhüllenden mütterlichen Körpers?»
ist der Kinderwunsch nicht auf eine noch tiefere Schichte regrediert, wo
bereits er das Kind in der Mutter wäre?
Hören wir die Krankheitsgeschichte weiter an: Dieser lästige Zustand
nötigte ihn zur „gänzlichen Absperrung von allem Umgange mit anderen
Menschen. Selbst die Gespräche mit der Frau wurden sehr eingeschränkt.
Meine Mutter und Schwestern besuchten mich wohl zuweilen, aber das
Gespräch mit ihnen mußte sich fast ganz auf Erkundigungen nach dem
wechselseitigen Befinden beschränken". Die Lichtscheu nahm wieder ZUj
so daß es fast finster in der Stube sein mußte; mitunter stellten sich in
Augen und Zähnen Schmerzen ein", auch die Verdauung nahm wieder
ab, Sorgen für die Subsistenz verdrossen die Stimmung, Zwangsgedanken
marterten ihn. „Es waren oft die unbedeutendsten Dinge, die mich auf
solche Weise packten und es kostete mich oft stunden-, ja tagelange Arbeit,
dieselben aus den Gedanken zu bringen." Sein Inneres war gewissermaßen
in zwei Teile, in sein „Ich und die Gedanken" geteilt. „Ich kam mir
dabei manchmal vor wie ein Reiter, der ein wildgewordenes Roß, das mit
ihm durchgegangen, wieder zu bändigen versucht, oder wie ein Prinz,
gegen den sich sein Volk empört, und der allmählich Kräfte und Leute
zu sammeln sucht, sein Reich wieder zu erobern." Zur Erleichterung ver-
suchte er mechanische Beschäftigungen, „drehte Schnürchen, zupfte Fleck-
chen, schnitt Späne, schnitt Bücher auf, wickelte Garn und half bei den Küchen-
vorbereitungen mit Linsenlesen, Semmelreiben, Zuckerstoßen, Schneiden von
Möhren und Rüben u. dgl., teils zu Hause, teils bei der Mutter", wo er
gegen Abend einige Stunden zubrachte. Dann machte er auch Finger-
übungen am Klavier. Der religiöse Vorsatz, sein Leiden zu tragen, so lange
ihm die Kräfte reichen, blieb durch seinen ganzen Leidenszustand unver-
ändert bestehen. Er wünschte sich tausendmal den Tod, dachte aber auch
daran, sein „jetziger abgeschiedener Zustand sei nur ein Puppen-
zustand, aus dem er verjüngt und mit neuen Kräften noch in
1) Auch auf Anstrengungen des Kopfes beruht die Empfindung, wie wenn der
Kopf ein Hindernis wegschaffen wollte. Es heißt in den „Elementen der Psycho-
physik", II, S. 484: „Bei einem früheren krankhaften Zustande, wo ich nicht das ge-
ringste, anhaltende Nachdenken vertrug und noch gar keine Theorie mich bestimmen
konnte, nahmen die deutlich in der Kopfhaut, namentlich des Hinterkopfes, gespürten
Muskelgefühle bei jedem Versuche des Nachdenkens einen krankhaften Charakter an." -_
Vgl. O. Rank: Das Trauma der Geburt, 1924, S. 51, auf das wir hier auch generell
verweisen.
Gustav Theodor Fechner 19
diesem Leben hervorgehen könnte", doch fühlte er auch das Ver-
gebliche dieser Hoffnung. Im Jänner 1843 wurde er durch eine kurz-
dauernde Besserung getäuscht.
Um Johanni (Ende Juni, Sonnenwende!) mußte Fechner in sein altes
Häuschen, in seine frühere Wohnung (!), zurück. „Jetzt stand mir
die härteste Zeit meines Lebens bevor. Die Lichtscheu meiner Augen wuchs
so sehr, daß ich merklich gar kein Licht mehr vertrug; verschlossene Läden,
Rouleaux und doppelte Vorhänge reichten kaum hin, das Dunkel am Tage
in meiner Stube so herzustellen, daß ich mich darin aufhalten konnte, da
jedes Ritzchen schon zu viel Licht durchließ, nur durch Herumtappen
konnte ich mich finden. ' Sein Zustand soll noch schlimmer gewesen sein
als der eines wirklich Blinden. Den Druck der Binde vor den Augen ver-
trug er nicht, daher ließ er sich allerhand Masken aus Zeug, von Blech
machen, doch war auch deren Gebrauch peinlich. In seiner finsteren Stube
konnte er zwar die Augen frei öffnen, doch war ihm auch das grauenhaft.
Er hatte den Wunsch, die Augen zu töten und wollte dazu Sonnenlicht
benützen. Von seiner Frau war er fast ganz geschieden. Sie saßen bei Tische,
oft fast stumm, zusammen, er mit der Maske vor dem Gesicht, und was
er verlangte, das tat er oft mehr durch Zeichen als durch Worte. Im Monate
August hatte er die Vorahnung von langem, schmerzlichem Leiden und
träumte z. B. von einem Folterknechte, der die Marterinstrumente für
ihn vorbereitete. — Wie wenn die Geburt sich durch Kastrationsgedanken
vorbereiten wollte!
„Eine neue Epoche aber begann mit dem Oktober. Es war am 1. Oktober,
als ich infolge einer Alteration einmal rasch und rücksichtslos auf die in
meinem Kopfe sonst immer beim Sprechen sich geltend machenden üblen
Empfindungen rasch und lebhaft zu sprechen anfing. Aber diese üblen
Empfindungen traten diesmal nicht ein . . . Ich maß diesen Umstand der
stattfindenden Aufregung bei, ward indes dadurch ermutigt, auch wieder-
holt mit einer gewissen desperaten Schonungslosigkeit gegen meinen Kopf
zu sprechen, und fand, daß es ging, wenn ich nur immer Pausen dazwischen
machte." Die Geburtswehen sind also — so deuten wir — im Gange!
„Ich fand, daß, wenn ich furchtsam sprach, der Kopf litt, sprach ich aber
sozusagen darauf los, ohne es zu übertreiben, so litt er nicht. Ich fand
infolgedessen, daß es sich mit Besinnen und Nachdenken ebenso verhielt."
Es sind etwa zehn Monate seit der „Abscheidung aus der Welt" (No-
vember 1842) verflossen, also die Zeit einer etwas verzögerten intrauterinen
Entwicklung. Er hat von ärztlicher Seite schon früher den Rat erhalten,
2-
2 Dr. Imre Hermann
die Augen dem Lichte zu öffnen, tat das aber aus Furcht vor Schmerzen
nicht, er fürchtete sich, durch Verschlechterung der Augen „in seiner
finsteren Stube wahrhaft lebendig begraben zu werden. Jetzt ließ er alt>er
den Augen Licht zukommen, anfangs schüchtern, „am 5. Oktober indes,
nach einer übel zugebrachten Nacht, morgens noch im Bette", fing er
an, die Versuche energischer anzustellen, und siehe, die Augen blieben
auch bei Licht offen. „Ich rief meine Frau herbei, und es läßt sich denken,
mit welchen Empfindungen wir beide diese Besserung begrüßten." Ö as
Kind kam also wirklich zur Welt!
Wieso kam es, fragt sich Fechner, daß er jetzt das Licht vertragen
konnte? Die Antwort lautet, früher habe er die Augen passiv dem Lichte
ausgesetzt und da überwältigte der Lichtreiz das furchtsame Organ, jetzt
aber trat das Auge „mit einer gewissen Desperation, die alle Lebenskraft
dahin trieb, dem Lichte entgegen, mit Energie und Spannung". Dann
bemerkte er auch bald „Anschwellung, Härte, ein Gefühl von Druck und
Völle in demselben" — das sind aber Anzeichen der Erektion, der männ-
lichen Potenz. Er wurde also gleichzeitig ein Mann, er kam als voll-
wertiger Mann zur Welt. Die Aufregung, in welche ihn seine Besserung
versetzte, ließ ihn weder essen noch trinken, er lebte nur „für die Augen
und mit den Augen". Jetzt kommt ein Geständnis in der Niederschrift
der Krankheitsgeschichte an die Reihe: Es ist gewiß, daß die Kühnheit,
mit welcher er die Augen gebrauchte, einen Hauptanteil an der Genesung
hatte, doch war das nicht alles; er spürte schon mehrere Wochen vorher
von morgens bis nachmittags einen ungewöhnlich schnellen Puls. Dieser
schnelle Puls verlor sich nach dem Wendepunkt der Krankheit, und zwar
nur allmählich. — War das nicht der schnelle Puls des Fötus und des
Neugeborenen?
Es trat bald wieder die frühere Schwäche ein, doch nach einigen Tagen
nahm er einen neuen Anlauf mit dem früheren Erfolge (quasi eine noch-
malige, zweite Geburt). Parallel mit der Besserung der Augen ging die
Genesung des Kopfes. Während der ersten Tage der Besserung genoß er
nichts als Milch, allmählich fügte er etwas Semmel hinzu. „Mein ganzes
Aussehen und meine Körperkräfte verjüngten sich hiemit, ich ward, während
ich früher sehr mager war, von sehr völligem Aussehen." Er verlor sogar
die Erinnerung an den überspannten Seelenzustand der ersten Monate der
Besserung, er weiß aber, er fühlte in sich außerordentliche physische und
psychische Kräfte, die ganze Welt schien ihm in einem anderen Lichte
als früher und später, die Rätsel der Welt schienen sich zu offenbaren:
Gustav Theodor Fechner 2 1
„mein früheres Dasein geradezu erloschen und die jetzige Krisis
eine neue Geburt zu sein schien" (von mir gesperrt).
Als Beweis dafür, daß wir hier keine voreiligen Deutungen gemacht
haben, sollen jetzt einige Beobachtungen des Biographen, der ein Augen-
zeuge des damaligen Lebens der Familie Fechner war, folgen. Er findet
die Schilderung seines Onkels wahrheitsgetreu, soweit er sie zu kontrollieren
vermag. Von ihm erfahren wir, daß Fechner in Leipzig während der
Krankheit für erblindet, für geisteskrank gehalten wurde. Die Krisis der
Krankheit soll nach dem Neffen eine doppelte gewesen sein, die eine brachte
den Kranken dem Verhungern nahe, und die zweite war eine, in der er
dem Abgrund einer Geisteskrankheit nahe stand . Von dieser zweiten Krisis
sagt der Neffe: „Die Gattin, der Neffe, die Mutter Fechner, die ihre täglichen
Besuche nie unterließ, wechselten ab. Fechner saß dabei entweder hinter
einem schwarzen undurchdringlichen Schirm oder mit verbundenen Augen,
dann als der Schirm nicht mehr hinreichenden Schutz gab, ward eine
trichterartige Öffnung in der Stubentür angebracht, und Mutter
Fechner saß im Nebenzimmer (von mir gesperrt) „an der Öffnung vor-
lesend mit erhobener Stimme. Dieses Bild neben anderen ähnlichen steht
noch lebhaft vor meiner Seele." Fechner wurde — und davon schweigt
die „Krankheitsgeschichte", dadurch sehr deprimiert, daß er am 7. Mai 1845
seinen Trauring verlor oder zuerst vermißte. Daß so ein Geschehnis eine
unbewußte Bedeutung hat, müssen wir nicht weitläufig erklären. — Anfangs
August (1843) erschien bei geschlossenen Augen stets die Zahl 77 wie ein
Bild vor ihm. Frau Fechner deutete das darauf, daß noch 77 Tage dem
Manne bevorstehen, er würde entweder seinem Leiden erliegen oder sein
Augenlicht nach dieser Frist gänzlich verlieren. „Nun war es aber der
77. Tag, an welchem seine Augenkrankheit eine so günstige Wendung
nahm." (Wie wenn die Tage bis zur bevorstehenden Geburt gezählt worden
wären.) Von der zweiten Besserung der zweiten Krisis, also von der Zeit
nach dem 15. Oktober steht im Tagebuch des Neffen: „Ein paar Tage
aß er vor Aufregung gar nicht. Dann stellte sich Hunger ein, und wie
ein neugeborenes Kind fing er mit Milch an, von der er eine ziemliche
Quantität zu sich nahm. Es schien in seinem Geiste wie in seinem Körper
eine mächtige Revolution, eine Wiedergeburt vor sich gegangen zu sein.
Nun noch eine Ergänzung: Die Mutter Fechner war selbst kränklich,
„oft ward sie von Krankheit heimgesucht, in früheren Jahren von Nerven-
fieber, einmal auch von Gehirnentzündung, in späteren Jahren mehrmals
vom kalten Fieber, und die Rose war eine fast ständig zu allen Zeiten
22 Dr. Imre Hermann
wiederkehrende Krankheit, die ihr viel Schmerzen bereitete". 1 In den schweren,
den Kopf angreifenden Krankheitssymptomen des Sohnes sehen wir dem-
nach auch — neben Identifizierung mit dem nach einer Überanstrengung
tödlich erkrankten, ein Kind noch zur Welt bringenden Vater und der
Regression in die Intrauterin Situation — Identifizierung mit der Mutter. 8
i) Kuntze, S. 245 und 246. Es sei bemerkt, daß das Augenleiden wiederholt
Rückfälle zeigte (In Sachen der Psph., Vorwort, IV.), doch, bis zum grauen Star
des alten Fechner, stets ohne augenärztlichen Befund.
2) Über die Krankheit Fechners liegt eine neurologische Studie von Mobius
vor; er hält die Krankheit für „akinesia algera". (P. J. Möbius, G. Th. Fechners
Krankheitsgeschichte, Neurologische Beiträge, Heft 2, 1894.)
B
Die Idee der Psychophysik
Fechner will mit der Psychophysik eine „exakte Lehre von den Be-
ziehungen zwischen Leib und Seele" 1 entwickeln. In diesem Bestreben
erblicken wir schon das typisch Duale, das stets nach zwei zusammen-
gehörigen Dingen forscht, wo ein anderer auch mit einem Dinge auskommt
und das letzten Endes auf das Mutter-Kind-Verhältnis zurückgeht, bei
Fechner also durch den mächtigen, die Krankheit verursachenden Wunsch
nach einem Kinde — eine pathologische Fixierung im Kindesalter durch
den Tod des kindererzeugenden Vaters vorfindend — außerordentlich ver-
größert war. 2 Das Duale von Leib und Seele bekam bei Fechner da-
durch ein besonderes Gepräge, daß Leib eigentlich dasselbe sei als Seele,
nur seien hier eben zwei Betrachtungsweisen tätig, eine innere und eine
äußere (eine physische und eine psychische). In dieser Wendung des
Dualismus-Problems finden wir einen anderen, bei Fechner intraindividuell
weit verbreiteten Denkschritt, den Umkehrschritt.3 Hiedurchkommt eine
Lösung des Leib-Seele-Problems mittels eines zusammenhängenden Dual-
Umkehrschrittes zustande.
Als Experimentalphysiker möchte Fechner mit den seelischen Gegeben-
heiten geradeso umgehen, wie es die Physik für physische Gegenstände
lehrt, er möchte die „mathematische Verknüpfung erfahrungsmäßiger Tat-
sachen" auch die Seele betreffend durchführen, was dann „ein Maß des
von der Erfahrung Gebotenen fordert".* Nun, die Idee der mathematischen
Verknüpfung der zwei (wesensverschiedenen?) Dinge zeigt wieder ganz ein-
1) Elemente der Psychophysik (kurz Psph.), I, Vorwort.
2) Vgl. Psychoanalyse und Logik. Imago-Bücher VII, 1924. Abschnitt B, „Der Dual-
schritt".
3; Vgl. Psychoanalyse und Logik. Abschnitt C : „Der Umkehrschritt".
4) Psph., I, Vorwort.
24 Dr. Imre Hermann
dringlich das Walten des Dualschrittes, den Glauben an die Zusammen-
gehörigkeit zweier Dinge. Fechner wollte in einer Forniel die beiden
Erscheinungsgebiete von Leib und Seele irgendwie einfangen und gelangte
auch zu einer Formel, welche diese Dualeinheit zustande brachte. Diese
Formel lautet:
„Die Größe der Empfindung (y) steht im Verhältnisse nicht zu der abso-
luten Größe des Reizes (ß), sondern zu dem Logarithmus der Größe des
Reizes, wenn dieser auf seinen Schwellenwert (b), d. i. diejenige Größe al s
Einheit bezogen wird, bei welcher die Empfindung entsteht und verschwindet
oder kurz, sie ist proportional dem Logarithmus des fundamentalen Reizwertes. u *
Oder mathematisch ausgedrückt, ergibt sich die Maßformel:
Y==klogy.
Die Idee der Psychophysik und dieser Zusammenhänge ist bei Fechner
nicht plötzlich, nicht als eine momentane Eingebung entstanden, er ist
„im langen Laufe dieser Untersuchungen bei festgehaltenen und sich immer
fester stellenden allgemeinen Prinzipien durch so viele Irrwege und Un-
klarheiten im einzelnen gegangen — lag doch das ganze Gebiet vorher in
Unklarheiten begraben , 2 — „und schwerlich wird man es den meisten
Kapiteln dieser Schrift ansehen, wie viele Mühe und Umarbeitung es . . .
gekostet hat." 3 Doch sind wir in der glücklichen Lage, die Entstehungs-
geschichte dieser Maßformel, also eigentlich des Grundprinzipes alles Wei-
teren, wenn auch nur im groben, verfolgen zu können. Im vorletzten
Abschnitte des IL Bandes der Psychophysik gibt Fechner selbst einen
historischen Überblick über die Entwicklung seiner Ideen. Natürlich werden
wir die hier gegebenen Phasen der Entwicklung nur soweit beachten, als
sie von der immer stärker werdenden „sekundären Bearbeitung", von der
Anpassung an die Realität noch nicht vollständig überwuchert sind.
Gleich am Anfange der historischen Darstellung seiner Gedanken werden
wir durch Fechner aufmerksam gemacht, daß er zu seinem Resultate
eigentlich auf viel kürzerem Wege hätte gelangen können. „Doch darf ich
den Weg, den ich dazu zurückgelegt, nicht bedauern; denn dieser Weg
hat mich die ganze Tragweite des Maßprinzipes erkennen lassen, was der
kurce Weg vom Weberschen Gesetz und der Eulerschen Formel + zum
i) Psph., II, S. 13.
2) Psph., I, Vorwort.
3) Psph., II, S. 550.
4) (Anm. von mir.) Euler hatte die Empfindung der Tonhöhen und diebetreffenden
Schwingungszahlen in dasselbe logarithmische Abhängigkeitsverhältnis gebracht. Das
Gustav Theodor Fechner 25
allgemeinen psychischen Maßprinzip nicht vermocht hätte. Soweit ich danach
rückwärts gehen mußte, soweit führt es vorwärts." 1 Selbstverständlich konnte
die Evidenz seiner Gedanken nicht von fremden Daten oder Formeln her-
kommen, sie mußte von irgendwoher aus der Tiefe emporsteigen, um zur
— nicht nur literarischen, sondern auch experimentellen! — Riesenarbeit
der Psychophysik anspornen zu können. Er geht vom erwähnten Dual-
gedanken aus:
„Von jeher der Ansicht von einem durchgreifenden Zusammenhange zwischen
Leib und Seele zugetan und diesen in der Form einer doppelten Erscheinungs-
weise desselben Grundwesens vorstellend, wie ich im ersten Kapitel dieser
Schrift kurz dargelegt habe, stellte sich mir im Laufe der Abfassung einer Schrift
(Zend-Avesta), 2 welche auf dieser Ansicht fußt, die Aufgabe dar, ein funktio-
nelles Verhältnis zwischen beiden Erscheinungsweisen zu finden, oder mit
anderen Worten, in entsprechender Weise als die Physik das Abhängigkeits-
verhältnis der Farbe und der Intensität des Lichtes, der Tonhöhe und Ton-
stärke von äußeren physischen Verhältnissen festgestellt hat, so dasselbe von
den inneren physischen Vehältnissen festzustellen, an welche sich die Empfindung
unmittelbar knüpft."
Zunächst die Aufmerksamkeit auf die quantitativen Verhältnisse richtend,
sofern auch die Physik alle Qualitäten von quantitativen Verhältnissen ab-
hängig macht, und ohne noch eine klare Vorstellung vom Maße psychischer
Größen zu haben, dachte ich zuerst daran, die Intensität der geistigen Tätigkeit
könne wohl der Änderung der Stärke der ihr unterliegenden körperlichen
Tätigkeit, die ich durch ihre lebendige Kraft als gemessen ansah, proportional
gehen. Diese Idee trug ich lange mit mir herum; aber sie führte zu nichts
und ließ sie endlich liegen."
Das heißt, das einfache Dualverhältnis [Y = k(ß, — ßo)] war unfrucht-
bar! Nun kommt er zu einer anderen Art von dualen Verhältnissen.
„Später kam ich darauf, gewisse Grundverhältnisse zwischen Leib und Seele
und" zwischen niederem und höherem Geistigen durch das Verhältnis zwischen
arithmetischen Reihen niederer und höherer Ordnung schematisch zu erläutern
(vgl. Zend-Avesta, II, S. 554); zu demselben Zwecke boten sich in mancher
Beziehung noch passender geometrische Reihen dar. 3 Die Idee, statt einer
Webersche Gesetz und die Eulersche Formel waren, wenn auch nur vor einem kleinen
Kreise, in den Jahren der Entstehung der Psychophysik bereits bekannt.
1) Psph., II, S. 544. — Man beachte im letzten Satze den Dual-Umkehrschritt.
2) (Anm. von mir.) Erschienen im Jahre 1851.
3) (Anm. von mir.) Es sei — mit Rücksicht auf eine bevorstehende Untersuchung über
Darwin — erwähnt, daß die berühmte, von Darwin und Wallace als Auslösungs-
grund ihrer Entwicklungstheorien angegebene Malthussche Regel ebenfalls die
geometrische und arithmetische Reihe verknüpfen will (Vermehrung der Menschen
in geometrischer, Vermehrung der Erhaltungsmittel in arithmetischer Reihe).
2 6 Dr. Imre Hermann
bloß schematischen, gewisse Verhältnisse wohl erläuternden, aber nicht exakt
treffenden Darstellung den Ausdruck für das wirkliche Abhängigkeitsverhältnis
zwischen Seele und Körper zu gewinnen, drängte sich mir hiebei von neuem
auf; aber das Schema der geometrischen Reihen führte mich nun (22. Oktober 1850
morgens im Bette) durch einen etwas unbestimmten Gedankengang darauf, den
d ß
verhältnismäßigen Zuwachs der körperlichen lebendigen Kraft oder —77-,
wenn ß die lebendige Kraft bedeutet, zum Maße des Zuwachses der zu-
gehörigen geistigen Intensität zu machen.
Man beachte die pünktliche Zeitangabe, sie lautet fast wie die oben
angegebene Stelle der Krankheitsgeschichte: „Am 5. Oktober indes, nach
einer übel zugebrachten Nacht, morgens noch im Bette . . . ließ ich in die
Kammer ein mäßiges Dämmerlicht", oder wie die Beobachtung des Neffen
die zweite „Geburt" im Monate Oktober (15. Oktober) betreffend: „Schon
früh hatten seine Augen, während er noch im Bette lag, etwas mehr Licht
verlangt ..." Sieben Jahre verflossen seit diesen Neuauflagen der Geburt,
wie wenn jetzt, wie damals nach siebenundsiebzig Tagen, eine Geburt
anderer Art stattgefunden hätte. 1 Die jetzt errungene Formel lautete, es
soll der Zuwachs der Intensitäten, nicht die Intensität selbst in Betracht
gezogen werden, so wie bereits die arithmetischen und geometrischen Reihen
dem Zuwachs eine besondere Rolle zuschreiben; das heißt dann aber, die
Aufmerksamkeit solle sich vor allem dem Zuwachs, dem neuen kleinen
Wesen, dem Neugeborenen, zuwenden. Ungefähr so, wie wenn der
Geist stets neue Wesen zur Welt bringen würde, die sich aber von der
geistigen „Mutter" nicht trennen müßten! 2 Der Bericht geht aber weiter:
„Hiezu fiel mir ein, daß, wenn die lebendige Kraft des Körpers durch
Summation ihrer absoluten Zuwüchse von einem bestimmten Anfangswerte an
entstanden gedacht werden kann, auch wohl die Seele das den verhältnis-
mäßigen Zuwüchsen der körperlichen Bewegung in ihr Zugehörige summieren
werde, die psychische Intensität also als Integral absoluter psychischer Zu-
wüchse angesehen werden könne, welche den verhältnismäßigen Zuwüchsen
auf körperlicher Seite angehören.
Ja, man vergesse nicht, daß Zuwüchse auf zweierlei einfache Arten
mathematisch angegeben werden können, nämlich als absolute und als
1) Diese Geburt brachte die ganze Psychophysik zur Welt. Pechner nahm an-
scheinend die Rolle der Mutter dieser neuen Lehre an, als „Vater der Psycho-
physik" will er nämlich E. H. Weber genannt wissen. (Psph. I. Vorwort. 1
2) Im „Büchlein vom Leben nach dem Tode" (1836) wird von der Lust der
Gedankenzeugung gesprochen (S. 10), oder vom Hineingebären der Gedanken in die
mit dem Menschen verbündeten Geister. (S. 21.)
I
Gustav Theodor Fechner 27
relative Zuwüchse. Man soll also im Dualgebiet des Psychophysischen
beide Arten gleichzeitig vorfinden. „Hiemit war die Fundamentalform 1
und als Integral derselben die Maßformel sofort gegeben. Als erste Bestätigung
fiel mir gleich ein, daß die Verstärkung der Lichtempfindung nach all-
täglicher Erfahrung hinter der Verstärkung des physischen Lichtreizes
zurückbleibt und überhaupt gegebene Zuwüchse zu Reizen um so schwächer
empfunden werden, zu je stärkeren Reizen sie entstehen, ohne daß ich noch
den genauen Ausdruck dieser Tatsache im Weberschen Gesetze kannte,
womit erst eine scharfe Bewährung der Formel möglich wird."
Der erste Einfall beschäftigte sich also mit den Lichtempfindungen,
mit denjenigen Empfindungen, welche das extrauterine Leben dem intra-
uterinen gegenüber am meisten kennzeichnen, die auch bei der krankhaften
Wiedergeburt die Hauptrolle spielten. Nun blieb aber die neue Erkenntnis
nicht bei diesem Symbol des Erwachens zu einem neuen Leben, sie klammerte
sich an eine dem Forscher dunkel vorschwebende allgemeine Gesetzmäßig-
keit jedes lebendigen Wachstums (man denke an die Gesetzmäßigkeit
des Längenwachstums des menschlichen Embryos, des Längenwachstums
und der Gewichtszunahme des Neugeborenen, wenn man diese Gesetz-
mäßigkeiten in Zahlen faßt). Es heißt ja weiter: „Doch schien sich mir
mit dieser ersten noch sehr im allgemeinen sich haltenden Bestätigung
auf einmal, ich gestehe es, eine ungeheure Perspektive zu eröffnen; und
noch heute sehe ich diese Perspektive vor mir, nachdem mit dieser Schrift
erst ein kleiner Schritt in das Gebiet getan ist, das sie eröffnet." Nun,
diese „ungeheure Perspektive" kam vermutlich eben daher, daß Fechner
verspürte, er habe hier ein allgemeineres Gesetz erfaßt, als er es sich
einzugestehen getraute, eigentlich ein stark vereinfachtes und idealisiertes
Schema einer Gesetzmäßigkeit des lebendigen Wachstums im allgemeinen. 2
Anderswo habe ich einmal schon hervorgehoben, 3 daß in der aufgefundenen
Gesetzmäßigkeit eigentlich das Schicksal des Lebenstriebes, welcher sich
1) (Anm. von mir.) Fundamentalformel wird die Gleichung d y = -g— genannt.
2) Über die Allgemeingültigkeit des in der Fechner sehen Formel verborgenen
Relativitätssatzes siehe R.Pauli: Über psychische Gesetzmäßigkeit, insbesondere
über das Webersche Gesetz, 1920. Er formuliert diesen Satz folgenderweise: „Die
subjektive Größe ändert sich mit der variablen, von der sie abhängt, derart, daß
sie anfangs schneller, später erheblich langsamer einem Grenzwerte zustrebt." Das
Webersche Gesetz sei aber nur das subjektive Spiegelbild einer physio-
logischen Gesetzmäßigkeit. (S. 55, 36.)
3) Psychoanalyse und Logik, S. 99.
28 Dr. Imre Hermann
einem stets stärker werdenden Todestriebe gegenüber findet, mathematisch
formuliert ist. 1 Es fehlt aber zur Analogie vom individuellen Wachstum
und geistiger Intensitätserhöhung noch ein wesentlicher Punkt, die Unter-
scheidung eines (quasi) intrauterinen Lebens von einem (quasi) extrauterinen
Leben und die, beide trennende, Geburt.
„Anfangs machte mir der Umstand zu schaffen, daß nach der Maßformel
die Empfindung y schon eher verschwindet als die lebendige Kraft ß, wovon
sie abhängt, bis ich in den Phänomenen des Schlafes und der unbewußten
Empfindungen diesen Umstand repräsentiert und hiemit eine neue auffallende
Bestätigung der Formel fand, welche meine Überzeugung von der Triftigkeit
und Fruchtbarkeit derselben erheblich verstärkte. " 2
Durch die Berufung auf den Schlaf wird unsere Ableitung einigermaßen
bekräftigt. Der Schlaf ist doch der nacht-nächtlich angenommene, dem
intrauterinen Leben teilweise analoge Zustand (Freud), aus welchem durch
eine Geburtsreproduktion, dem Erwachen, das Leben wieder eröffnet wird.
Der Nullpunkt der Fechn ersehen Formel entspräche also tatsächlich einer
Geburt und diese Gleichsetzung gibt sich auch im Namengeben kund: der-
jenige Reizwert, bei dem seine Merklich keit eben beginnt (und schwindet),
erhält von Fechner den Namen „Schwelle". 3 In Psph. wird von der
Tatsache der Schwelle gesprochen, was später, als weniger passend, auf
„Schwellengesetz" ausgebessert wurde. 4
Über diesen Punkt — er ist eigentlich das Hauptargument unserer Ab-
leitung, — äußert sich Fechner noch an anderer Stelle: „In der Tat Schlaf
und Wachen sind nach vorstehenden Erörterungen mit negativen und positiven
Werten auf psychischem Gebiete einzuführen; die Grenze zwischen beiden
tritt nicht bei einem Nullwerte, sondern endlichem Werte der unterliegenden
körperlichen Tätigkeit ein . . . Wirklich suchte ich, bevor mir die Er-
fahrungsdaten des Weberschen Gesetzes zu Gebote standen, in den so
gefaßten Phänomenen von Schlaf und Wachen eine Hauptunterlage der
Formel, die sich, wie ich im historischen Kapitel erzähle, überhaupt zuerst
i) Ein Kritiker Fechners (Bernstein), hatte die „Empfindung vielmehr vom Ver-
schwinden als dem Dasein lebendiger Kraft abhängig zu machen" versucht. Bern-
stein und nach ihm Fechner haben den Widerstand gegen die Änderungen
einer Lage als Erklärungsbegriff eingeführt. (In Sachen der Psychophysik, S. 20, 77, 204.)
2) Die bisherigen Zitate aus Psph. II, S. 544 — 546.
3) Psph., I, S. 258. — Man vergleiche diese Namengebung mit der bekannten
„Schwellensymbolik" (Silberer), mit Röheims Ausführungen „Die Bedeutung des
Überschreitens". Siehe auch Rank: Das Trauma der Geburt, 1924,, S. 74.
4) In Sachen der Psychophysik, S. 7.
Gustav Theodor Fechner 29
bei mir auf Gesichtspunkte der inneren Psychophysik begründet hat. Aber
die strengere Begründung wird allerdings nur durch das Web er sehe Gesetz
mit Hinzunahme der Tatsache eines endlichen Schwellenwertes des Reizes
möglich sein." 1 Und schon früher, bei Erörterung des Schwellenbegriffes:
„Insofern endlich außer Empfindungen auch andere, allgemeinere und höhere
Bewußtseinsphänomene, z. B. das Gesamtbewußtsein des Menschen je nach
Schlaf und Wachen, das Bewußtsein einzelner Gedanken, die Aufmerksamkeit
in gegebener Richtung einen Punkt des Erlöschens und Entstehens haben,
werden wir den Begriff und Ausdruck der Schwelle auch hiefür verall-
gemeinern können.' 2
Auch das kann zur Bekräftigung unserer Auffassung dienen, daß Fechner
selbst eine gewisse Interpretation des logarithmischen Verhältnisses von
Reiz und Empfindung „das Wachstumsgesetz der Empfindung" nennt:
hienach nimmt zwar beim ersten Übersteigen der Schwelle die
Empfindung in viel rascherem Verhältnisse als der sie auslösende Reiz zu,
aber von einem gewissen Punkte des Ansteigens (dem Kardinalpunkte) an
in schwächerem Verhältnisse, was in Kürze das Wachstumsgesetz der
Empfindung heißen mag." 3 Das Schwellengesetz soll jedenfalls für die Aus-
gestaltung der Psychophysik eine viel wichtigere Rolle spielen als das
Webersche Gesetz. 4
Unserer Auffassung nach gibt die Maßformel eine Gesetzmäßigkeit
des Wachstums wieder, mit besonderer Berücksichtigung des intra-
uterinen („negativen") Lebens und der Geburt (Schwelle). Dem-
nach werden aber in der Grundidee der Psychophysik dieselben Gedanken
wiedergegeben, welche uns bei der Besprechung von Sinn und Motiv der
Krankheit so eingehend beschäftigt haben. Auch finden wir in dieser Grund-
idee die Gleichstellung von Geburt und Tod verkörpert (Schwelle
gleich dem Reizwert, wo die Empfindung beginnt oder verschwindet) ; doch
soll dies ausführlicher erst im nächsten Kapitel besprochen werden.
1) Psph., II, S. 441, 442.
2) Psph., I, S. 238.
3) Vorschule der Ästhetik, I, S. 53. — Reiz und Empfindung sollen überhaupt aus
„elementaren Zuwüchsen erwachsen" angesehen werden können. (Psph., I, S. 58.)
4) In Sachen, S. 71.
Die Idee der „Tagesansicht"
Die „Tagesansicht" bedeutet die Weltansicht Fechners. Er meint damit
die individuelle Allbeseelung der Welt, die Ansicht, daß die Gegenstände
um den Menschen sichtbar sind, weil es wirklich hell um ihn ist, daß
„die Sonne nicht erst hinter seinem Auge zu leuchten anfängt, daß die
Blumen, Schmetterlinge so bunt sind, als sie ihm erscheinen, die Flöten,
Geigen ihren Ton ihm schenken, nicht umgekehrt von ihm empfangen,
kurz, daß es ein Leuchten und Tönen durch die Welt über ihn hinaus
und von draußen in ihn hinein gibt .* Alles das wäre keine Illusion,
wie es die Nachtansicht der Wissenschaft und der herrschenden Welt-
anschauung lehrt, sondern gerade diese wissenschaftliche Anschauung sei
eine Illusion. Der erste Schritt zur Begründung dieser Tagesansicht setzt
mit den im Werke „Nanna" niedergelegten Gedanken ein, und den An-
stoß zu diesem Schritte findet Fechner selbst in den Umständen seiner
eigenen Genesung. Dieser Schritt führte zur Annahme, die Pflanzen seien
beseelte Wesen.
Auch was diese — nicht originelle, sondern originell begründete und
als äußerst wichtig geschätzte — Idee betrifft, sind wir in der Lage, den
historischen Werdegang der bewußten Gedankenreihe nach den Angaben
des Autors verfolgen zu können. Vielleicht entsprechen die diesbezüglichen
Aufzeichnungen Fechners nicht der strengen historischen Wahrheit und
beanspruchen eher eine ästhetische Beurteilung, aber auch dann dürfen wir
auf die unbewußten Tendenzen dieser Idee Folgerungen ziehen.
Wir erfahren folgendes: „Gar wohl erinnere ich mich noch, welchen Ein-
druck es auf mich machte, als ich nach mehrjähriger Augenkrankheit zum
ersten Male wieder aus dem dunklen Zimmer, ohne Binde vor den Augen,
1) Tagesansicht, S. 4.
Gustav Theodor Fechner 31
in den blühenden Garten trat. Das schien mir ein Anblick, schön über das
Menschliche hinaus, jede Blume leuchtete mir entgegen in eigentümlicher Klarheit,
als -wenn sie ins äußere Licht etwas vom eigenen Licht würfe. Der ganze Garten
schien mir selber wie verklärt, als wenn nicht ich, sondern die Natur neu
entstanden wäre; und ich dachte, so gilt es also nur, die Augen frisch zu
öffnen, um die altgewordene Natur wieder jung werden zu lassen. Ja, man
glaubt es nicht, wie neu und lebendig die Natur dem entgegentritt, der ihr
selbst mit neuem Aug' entgegentritt." . . . „Stelle dir einmal vor, du hättest
eine halbjahrlange Nacht am Nordpol zugebracht, . . . und würdest plötzlich
in einen von mildem Licht beschienenen blühenden Garten versetzt und ständest
etwa wie ich, zuerst vor einer Zeile hoher Georginen, würdest du sie nicht
auch' wunderbar leuchten finden und ahnen, hinter diesem Schmuck, diesem
Glanz, dieser Freude sei etwas mehr als gemeiner Bast und Wasser?
Fechner beschreibt also hier eine Projektion der eigenen Gefühle auf
die Außenwelt, auf den blühenden Garten, auf die Georginen. Wie er als
Neugeborener in die Welt blickte, so schauten ihn die Blumen neubeseelt,
ihn freudig begrüßend an. Wie er für tot, für seelenlos, geistesabwesend
gehalten werden konnte, als er seine Krise durchlebte, er aber doch auch
damals, also in seinem, das intrauterine Leben darstellenden Zustande
Empfindungen hatte, eine Seele besaß, so werden auch die Pflanzen irr-
tümlich für seelenlos gehalten. Besaß aber er eine Seele in diesem Zustande,
so müssen auch Pflanzen beseelt sein!
Nun hören wir weiter:
Jenes helle Büd verblaßte, wie so manches, was in jener ersten Zeit mein
äußeres und inneres Auge mit einer Art Schauern rührte, die in den vom
täglichen Genuß des Lichtes abgestumpften Sinn nicht mehr fallen; die Pflanzen
wurden, wie sich mein Auge gewöhnte, wieder zu den gewöhnlichen, irdischen,
nichtssagenden, vergeblichen Wesen, die sie für alle sind, bis in dem traumenden
Blick auf die Wasserlilie sich die Blumenseele von neuem lebendig vor mich
stellte und mich des Geschäftes bestimmter mahnte, das ich nun erfüllt. Gewiß
aber war ein Nachhall aus jener ersten Zeit dabei; und so glaube ich, wäre
dies Buch schwerlich geschrieben worden, wenn nicht mein Auge dereinst
in Nacht gelegt und dann so plötzlich wieder dem Lichte zurückgegeben
worden.
Wie verhält sich nun die Sache mit der Wasserlilie? Darüber erfahren
wir folgendes:
„Ich stand einst an einem heißen Sommertage an einem Teiche und be-
trachtete eine Wasserlilie, die ihre Blätter glatt über das Wasser gebreitet
hatte und mit offener Blüte sich im Lichte sonnte. Wie ausnehmend wohl
1) Nanna, S. 294, 295.
32 Dr. Imre Hermann
müßte es dieser Blume sein, dachte ich, die oben in die Sonne, unten in das
Wasser taucht [gleichzeitiges extra- und intrauterines Leben], wenn sie von
der Sonne und dem Bade etwas empfände. Und warum, fragte ich mich, sollte
sie nicht? . . . viel mehr mutete mich der Gedanke an, sie (die Natur) habe
die Wasserlilie deshalb so gebaut, um die vollste Lust, die sich aus dem Bade
im Nassen und Lichten zugleich schöpfen läßt, auch einem Geschöpfe in
vollstem Maße zugute kommen, von ihm recht rein durchempfinden zu lassen."
„Wie lieblich erscheint unter solcher Voraussetzung das ganze Leben dieser
Blume. Hat sie tagsüber die offene Blüte über das Wasser gehoben (zuweilen
bis zu mehreren Zollen Höhe), so schließt sie dieselbe nachts, wenn sie nichts
mehr im Lichte zu suchen hat, neigt sie nieder, und ist es richtig, was ich
gelesen, geht sie gar damit unter das Wasser zurück, um morgens wieder aus
dem feuchten Bette aufzutauchen.
Also ein Schlaf mit maximaler Uterusregression.
Ist das aber keine unwissenschaftliche Methode, von der wir hier Gebrauch
machen; wollen wir nicht mit Gewalt einem Forscher Ideengänge impu-
tieren, die, wenn er sie vielleicht auch gehabt hat, doch nicht in solchem
Zusammenhange aufgetreten sind?
Vielleicht ist es besser, den Forscher selbst anzuhören. Er sagt:
„Am meisten Ähnlichkeit mit dem Pflanzenwachstum dürfte noch das
Wachstum des Fötus im Mutterleibe haben; sofern derselbe wie die Pflanze
seine Organe sich von Anfang an selber baut. Diese Ähnlichkeit, oberflächlich
aufgefaßt, hat nun freilich sogleich wieder zu einem ebenso oberflächlichen
Einwurf gegen die Empfindung der Pflanzen geführt. Fötusleben gleich Pflanzen-
leben, also Pflanzenleben gleich Fötusleben. Der Fötus empfindet nicht; also
auch die Pflanze nicht. So ist man schnell fertig. Als wenn es nicht bei jeder
Analogie außer der Seite der Ähnlichkeit auch eine Seite der Verschiedenheit
zu beobachten gäbe . . . Also statt der Pflanze nach Analogie ihres Wachs-
tums mit dem Fötus Empfindung abzusprechen, sollte man vielmehr von vorn-
herein eine solche Analogie gar nicht annehmen." „Um so weniger triftig
kann der Vergleich des Pflanzenlebens im allgemeinen mit dem Fötusleben
sein, als ein besonderer Teil des Pflanzenlebens mit viel größerem Bechte
diese Vergleichbarkeit in Anspruch nimmt; ich meine das Leben des Pflänz-
chens im Samen, während er noch von der Mutterpflanze getragen wird." 2
Doch ist Fechner mit dieser Ableitung nicht recht zufrieden. „ . . . gerade
ebensogut könnte man umgekehrt auf selbständige Empfindung des Fötus
daraus schließen. Die Voraussetzung, daß der Fötus keine selbständige
Empfindung habe, ist ja selbst eben nichts als Voraussetzung, die, so wahr-
scheinlich sie uns erscheinen mag, doch, als noch ganz unbewiesen, nicht
dienen kann, anderes zu beweisen oder zu widerlegen. Man sagt, die Erfahrung
1) Nanna, S. 38, 39.
2} Nanna, S. 99.
.
Gustav Theodor Fechner
55
liefert uns den Beweis; wir erinnern uns doch keiner Empfindung mehr aus
dem Fötuszustande. Aber welcher Mensch erinnert sich auch nur dessen, was
er in den ersten Wochen nach der Geburt empfunden hat? Hat er deshalb nichts
empfunden? Um so weniger können wir erwarten, daß der Mensch sich dessen
noch erinnere, was er etwa vor der Geburt empfunden ; aber auch um so weniger
einen Beweis aus dem Mangel der Erinnerung an diese Empfindung gegen
das Statthaben derselben ziehen. Das Erinnerungsvermögen selbst bildet sich
eben erst mit der Geburt aus; und sofern wir der Pflanze ebenfalls kein
eigentliches Erinnerungsvermögen beimessen werden, wie später zu erörtern,
so stände sie in der Tat hierin mit dem Fötus ganz auf derselben Stufe; die
Pflanze führte das Seelenleben des Fötus und der Fötus das der Pflanze.
Ich bin jedoch weit entfernt, auf die Behauptung eines wirklichen selb-
ständigen Empfindungslebens im Fötus etwas bauen zu wollen.
Die Analogie, daß die Pflanzen dem Fötus ähnliche Gebilde seien, wird
also teilweise angenommen, teilweise zurückgezogen, doch dann wieder,
schüchtern fast ganz angenommen, und wahrhaftig, es müssen ja noch
andere Analogien zu finden sein. Hören wir an, welche! Nun, die Pflanzen
müssen bald mit Kindern, bald mit Frauen verglichen werden. Das sind
eigentlich nicht verschiedene Vergleiche, sagt Fechner, da die Frauen
selbst noch Kinder dem Manne gegenüber sind. Kinder sind die Pflanzen
deswegen, weil sie die Erde, ihre gemeinschaftliche Mutter nicht verlassen,
an ihr hängen, aus ihr Nahrung saugen. 2 „Die Pflanze bleibt, sozusagen,
immer an die Mutterbrust geheftet." 3 Wir fügen dem noch die Bemerkung
hinzu, daß die Wurzel der Pflanzen im Fechnerschen Sinne tatsächlich
ein intrauterines Leben führen, sie leben ja ständig in der Muttererde.
Deshalb kann die Pflanze als Embryo und als Kind aufgefaßt werden, also
als ein Kind, welches mit einem Teile ständig das intrauterine Leben
weiterlebt. Die Pflanzen repräsentieren also das Leben, das Fechner in
seiner Krankheit lebte, und da er beseelt — nicht geistesabwesend — war,
sind es auch die Pflanzen. Sie zeigen, daß beseelte Wesen, also Wesen mit
Empfindung und Trieb, die Mutter nicht verlassen müssen. .
Auch waren die Pflanzen deswegen Kinder der Familie Fechner, weil
die Gattin „ihre Blumen und Gewächse in dem davon erfüllten grünen
Zimmer wie ihre Kinder hegte und pflegte".*
Ich muß gestehen, daß diese Ableitung eher diejenige Frage beant-
wortet, weshalb Fechner seine Aufmerksamkeit auf die Pflanzen-
1) Nanna, S. 100.
2) Nanna, S. 260.
3) Nanna, S. 257.
4) Kuntze, S. 6.
34 Dr. Imre Herrnann
weit richtete, nicht voll befriedigend aber diejenige speziellere, weshalb die
Pflanzen als beseelt vorgestellt werden müssen. Die Beseelung der Pflanzen-
welt hat denn auch wirklich noch andere Wurzeln, einmal die animistische
Auffassungsweise, die dem „kindlichen" Gemüt Fechners — besonders
in der „Kleinkinderzeit" nach der Genesung (Wiedergeburt) — am ehesten
entsprach und die ihm ein Paradoxon über den „lebendigen Schatten"
schreiben ließ (im Jahre 1846); dann die Auffassung der Welt, als Inbe-
griff vieler unter-, neben- und übergeordneter Geister. Im fol-
genden wollen wir versuchen, die Wurzeln dieser Auffassung zu finden.
Diese Theorie der Bepflanzung der Welt mit individuellen Geistern geht
auf Gedanken vor seiner großen Krankheit zurück und erhielt ihre erste
literarische Gestaltung im „Büchlein vom Leben nach dem Tode" (1836).
Dies Büchlein beginnt folgendermaßen:
„Der Mensch lebt auf der Erde nicht einmal, sondern dreimal. Seine erste
Lebensstufe ist ein steter Schlaf, die zweite eine Abwechslung zwischen Schlaf
und Wachen, die dritte ein ewiges Wachen." „Auf der ersten Stufe lebt der
Mensch einsam im Dunkel, auf der zweiten lebt er gesellig, aber gesondert
neben und zwischen anderen in einem Lichte, das ihm die Oberfläche ab-
spiegelt, auf der dritten verflicht sich sein Leben mit dem von anderen Geistern
zu einem höheren Leben in dem höchsten Geiste, und schaut er in das Wesen
der endlichen Dinge." „Der Übergang von der ersten zur zweiten Lebensstufe
heißt Geburt, der Übergang von der zweiten zur dritten heißt Tod." „Der
eine führt zum äußeren, der andere zum inneren Schauen der Welt." Wie
nun die Geburt des Kindes „aus dem warmen Mutterleibe ihm hart ankommt
und es schmerzt, und wie es einen Augenblick in der Geburt gibt, wo es
die Zerstörung seines früheren Daseins als Tod fühlt", so halten wir auch
den „engen dunklen Gang' , der uns zur dritten Stufe führt, für einen blinden
Sack. „Aber der Tod ist eine zweite Geburt" zu einem freiem Sein, wobei
der Geist seine enge Hülle sprengt und liegen und verfaulen läßt, wie das
Kind die seine bei der ersten Geburt. ' Der Tod ist somit eine „große Stufen-
krankheit 2 [man vergleiche das mit dem „ Schwellen" ausdruck in der Psycho-
physik].
Die Geister der Verstorbenen leben also nach dem Tode weiter, und
zwar leben sie in den Lebenden weiter, auf die sie in ihrem Leben ge-
wirkt haben oder in denen sie durch ihre Arbeiten, Werke weiterwirken.
Denkt ein Lebender an einen Verstorbenen, so ist der Verstorbene auch
schon bei ihm, so schließt „jeder menschliche Geist eine Gemeinschaft
sehr verschiedener fremder Geister in sich." Dadurch entstehen innere
1) Büchlein, S. 9, 10.
2) Büchlein, S. 16.
Gustav Theodor Fechner xc
Zwiespalte und innere Harmonien im Lebenden. „Die Seele guter Men-
schen wird eine reine himmlische Wohnung für selige darin beieinander
wohnende Geister." l
Fechner führt die „erste Anregung zu der in dieser Schrift ausgeführten
Idee, daß die Geister der Gestorbenen als Individuen in den Lebenden fort-
existieren", auf eine Unterredung mit seinem Freunde Prof. Billroth zurück,
da „diese Idee in eine Reihe verwandter Vorstellungen bei ihm teils ein-
griff, teils solche erweckte". 2 Was aber war der innere Anlaß zur ernsten
Beschäftigung mit solchen Ideen, woher kam die innere Evidenz dieser
Anschauungen? Durch die Biographie werden wir belehrt, daß der Schluß
des Büchleins im August 1835, also zwei Jahre nach der Verheiratung
Fechners, niedergeschrieben wurde. 3 In dieser Zeit mußte aber die Vater-
identifikation ihr Wiederaufblühen feiern, in dieser Zeit mußte ja schon
die Frage der Gravidität aufgeworfen worden sein, in dieser Zeit machte
sich ja schon die geistige Anstrengung, Abspannung, der Lebensüberdruß
geltend. Man muß also daran denken, daß der Verstorbene, der weiterlebt,
eigentlich der Vater ist, und der Lebende, in dem der Verstorbene weiter-
lebt, er selbst — er muß sich tugendhaft benehmen, um dem Vater eine
himmlische Wohnung sichern zu können, er muß sich aber auch tugend-
haft benehmen, weil sein Gewissen gerade dem Vater gegenüber nicht rein
ist. Der Vater starb ja, wie er es wünschte, und diese Schuld muß irgend-
wie gutgemacht werden, sonst würde das Schuldbewußtsein ihn selbst in
den Tod mitreißen. Diese Schuld läßt, so kann er unbewußt gedacht haben,
nicht zu, daß er selbst Vater werde. Wie wäre aber diese Sünde leichter
gutzumachen als durch die Wendung, daß der Tod eigentlich kein Tod,
sondern ein Erwachen zu neuem Leben sei. Diese Wendung ist dann durch
kindliche Vorkommnisse real vorgebildet. Erstens wissen wir, daß der Tod
des Vaters tatsächlich auf eine Geburt folgte (zeitliche, dem Kinde als
ursächlich erscheinende Folge). Zweitens hat die Mutter im Sinne der
Idee des noch nach dem Tode lebenden Vaters sich selbt geäußert: „Mutter
Fechner hing durch ihren langen Witwenstand (1806 — 1859) m i l treuester
Liebe an dem entrissenen Gatten, und sie war, wie ich aus ihrer Erzählung
weiß, fest überzeugt, nach seinem Tode einmal, als sie sich mit besonderer
Lebendigkeit der sehnsüchtigen Erinnerung an ihn hingab, ein Zeichen
seiner persönlichen Nähe und Zustimmung empfangen zu haben. Sie habe
1) Büchlein, S. 18—30.
2) Büchlein, Nachschrift zur zweiten Auflage.
3I Kuntze, S. 145.
5 6 Dr. Imre Hermann
still im Lehnstuhl gesessen und gedacht: Ach, wenn ich doch ein Zeichen
von ihm empfinge! Es sei gegen Abend gewesen. Da sei plötzlich ein
heller Schein über die gegenüber befindliche Wand hingestrichen — ohne
daß dies etwa der Schein eines Lichtes aus der Nachbarschaft hätte sein
können, — und sie habe den Eindruck der Erfüllung ihres Wunsches,
die Empfindung freundlichen Trostes dankbar gespürt." '
Man findet somit beide Gedankengänge des Büchleins — der Tod sei
eine Geburt und der Geisl des Verstorbenen lebe weiter und erscheine dem
ihm Gedenkenden — durch kindliche Ereignisse und Gedanken-
läufe motiviert und hervorgelockt durch die neue Situation der kinder-
losen Ehe, in ihren wesentlichen Zügen von Wunschphantasien diktiert.
Wichtig für uns ist, daß das Büchlein noch von keiner Allbeseelung
spricht, es kennt ja nur die Geister der Menschen und Gott. Die All-
beseelung fängt, wie wir sahen, mit „Nanna an und kehrt dann im
Buche Zend-Avesta zu den im Büchlein berührten Themata zurück, jedoch
jetzt schon vielfach verstärkt mit dem Motive, welches eine Begression
in den Mutterleib als Lösung der Konflikte verlangte. „Zend-Avesta" will
beweisen, daß „das Gebiet der individuellen Beseelung weiter und namentlich
höher hinauf reicht, als man zumeist glaubt". 2 Diese Schrift will sodann
nicht etwas Neues, als eher die Wiedergeburt des Uralten. 3 „Der ganz ent-
wickelte Vogel legt dasselbe Ei nieder, aus dem er erst erwachsen ist. *
Das große Ei, aus welchem die lebendigen Geschöpfe auf Erden heraus-
kommen und in welches sie wieder zurückkehren, ist die Erde. Die Erde
selbst, „unsere Königin", 5 ist als ein lebendiges Urtier 6 zu betrachten, als ein
beseeltes Wesen, als ein Engel. Die Erde (was wir gemeinhin so nennen, ist nur
der Leib) zeigt Ähnlichkeiten mit unserem Leibe, sie hat Sinneswerkzeuge
(mit Hilfe der Tiere), sie bewegt sich auch insofern, „als sie (nach den
•jetzigen kosmogonischen Vorstellungen) zu einer gewissen Zeit aus einer
größeren materiellen Sphäre, deren Teil sie früher war, herausgeboren
worden ist, sich durch innere Kräfte selbst gestaltet." 7 Die Erde sei dann
das größte Vorbild und zugleich Mutterstelle aller organischen Zellen. 8
1) Kuntze, S. 21.
2) Zend-Avesta, Vorrede VIII.
3) Zend-Avesta, Vorrede VII.
4) Zend-Avesta, Vorrede XVIII.
5) Zend-Avesta, I, S. 64.
6) Zend-Avesta, I, S. 56, mit Berufung auf Kepler.
7) Zend-Avesta, I, S. 50.
8) Zend-Avesta, I, S, 60.
Gustav Theodor Fechner 57
Nach einer interessanten — vielleicht von Humboldt stammenden „Vor-
stellung kann man die ganze Erde aus zwei hohen Bergen zusammengesetzt
denken, die mit der Basis im Äquator zusammengefügt sind". 1 (Dual-
schritt — zwei Brüste?) In diese Erdenmutter, aus der er geboren, sinkt
dann der Verstorbene nach dem Tode zurück. 2 „Obwohl die Erde eigentlich
unsere Mutter nicht in gemeinem menschlichen Sinne heißen kann, kann
sie es doch immer noch in einem höheren, wie Gott, der uns durch ihre
Vermittlung erzeugt, nicht in gemeinem menschlichen Sinne unser Vater
heißen kann, aber in einem höheren. Der gemeine menschliche Vater, die
gemeine menschliche Mutter lassen uns von sich, der höhere himmlische
Vater, die höhere himmlische Mutter behalten uns immerdar in sich. Ein
neues Zeugen ist nur hinein in sich selber, was uns in ihnen den Ursprung
gibt, denn was aus Gott kommt, das bleibt auch in Gott und was die Erde
trägt, verläßt sie nicht. Dein gemeiner Vater und deine gemeine Mutter,
zu denen du in einem äußerlichen Verhältnis stehst, sind nur die für dich
äußerlichen, für sie aber innerlichen Werkzeuge dieser Werkzeuge." » ■
So ist aber sogar eine Regression in den Urvater erreicht! 4 Jede Rück-
kehr hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn man in der Tagesansicht,
nicht in der Nachtansicht denkt; eine leblose Mutter kann keine
lebendigen Kinder gebären, so heißt es an einer Stelle der Zend-
Avesta, das heißt aber in der Umkehrung: zur Rückkehr in den Mutter-
le ib ist eine lebendige Mutter erforderlich, zur Rückkehr in den
Vater ein lebendiger Vater. Die Rückkehr ist dann von dem Leibe, was
der ursprünglichen Wunschphantasie entspräche, auch auf den Geist aus-
gedehnt.
1) Zend-Avesta, I, S. 67.
2) Zend-Avesta, I, S. 109.
3) Zend-Avesta, I, S. 143.
4) Dem gibt schon das „Büchlein" symbolisch Ausdruck : „Ob nicht endlich doch
die ganze Erde, allmählich immer engere Kreise ziehend, nach Äonen von Jahren
in den Schoß der Sonne zurückkehren wird, der sie einst entronnen, und von da ein
Sonnenleben aller irdischen Geschöpfe beginnen wird, wer weiß es...?" (S. 42.')
D
Das Formale im Denken Fechners
Im Laufe der bisherigen Ableitungen haben wir uns bereits auf das
Vorkommen des Dualschrittes im Fe chn er sehen Denken berufen müssen.
Wir haben auch in der Biographie Daten gefunden, welche die Verbreitung
dieses Schrittes bei Fe chn er verständlich machen, nämlich: die Fixierung
an den Kinderwunsch, das Aufwachsen in zwei Familien, das Teilenmüssen
seiner kindlich-männlichen Ansprüche mit einem Bruder, die Fixierung
der ödipus- Konstellation in der These der Gleichsetzung von Mutter und
Vater — welch letztere Ursache neben der Gleichsetzung des eigenen Selbst
mit dem kindererzeugenden Vater auch Ursache der Evidenzforderung des
Dualschrittes ist. Auch der Kastrationskomplex wurde — in Berührung mit
der phantasierten Wiedergeburt — aufgezeigt, also derjenige Komplex, welcher
durch seine Überkompensation den Dualschritt am unmittelbarsten fixiert.
Als Unterstützung der Auffassung, daß der Kastrationskomplex das Unbewußte
Fechners stark beeinflußte, seien hier einige Daten aufgezählt: Noch mit
dreiundsiebzig Jahren beschäftigt ihn die Frage: „Warum wird die Wurst schief
durchschnitten?" und er schreibt darüber eine kleine Humoreske. Ein Gedicht
„Möpschen und Äffchen" (1841) endet mit folgenden Strophen:
Möpslein war auch schlimm von Gemüt
Und biß, eh's Äffchen sich's versieht,
Sein Schwänzchen ihm ab in einem Nu;
Papa hebt's auf, wie er kommt dazu,
Gibt beiden damit erst tüchtige Prügel,
Und steckt das Schwänzchen dann hinter den Spiegel.
Was wird aus dem Äffchen nun ohne Schwanz?
Ei, das ist ja mein kleiner Hans!
Und was aus dem Schwänzchen? die Rute, hoho!
Die immer zurück will zum kleinen Popo;
Und wenn recht schreit und zankt mein flanschen,
Gleich hinter dem Spiegel merkt's das Schwänzchen.
Gustav Theodor Fechner 39
Dann bringt er die phantastische Idee, der vollkommenste Körper wäre
ein ganz glatter, kugelförmiger: so sind die Engel beschaffen. Männlich
und weiblich werden die Engel dadurch, daß sie mit verschiedenen gas-
artigen Stoffen gefüllt sind. 1
Das wären also die Grundlagen der intra-individuellen Verbreitung und
der Evidenzforderung des Dualschrittes; nun muß man diese Verbreitung
auch tatsächlich nachweisen. Wir wollen beweisen und zeigen, auf wie
vielen Gebieten Fechner die tatsächlich vorhandene Dualität in seine
Interessensphäre einbezog, und auf wie vielen Gebieten er selbst Dualitäten
schuf. Wenn unser Beweis langweilig und in die Breite gezogen erscheinen
wird, so denke man daran, daß Beweise niemals der Monotonie entbehren
können, man denke an die nicht überflüssigen Protokolle der experimen-
tellen Wissenschaften. Wir wollen eben zeigen, daß wir keine Behauptung
aufstellten, sondern eine Wahrheit, die beweisbar ist. Dabei werden wir
aber nur die hervorragenderen Daten herausgreifen.
Dualschritte zeigen sich in der Wahl des Arbeitsgebietes: In der
Psychophysik handelt es sich um Vergleich von zwei Beizwirkungen. Man
muß gewisse Versuche auf- und absteigend, die Baum- und Zeitlagen stets
vertauschend durchführen. Man erhält eigentlich zwei Schwellenwerte:
Grenze von oben und von unten kommend. - Ein Artikel handelt vom
Sehen mit zwei Augen; ein Artikel vom Hören mit zwei Ohren. Ein Artikel
spricht über die Verknüpfung der Faraday sehen Induktionserscheinungen
mit den Amper eschen elektro-dynamischen Erscheinungen. Einmal teilt
Fechner Beobachtungen mit, „welche zu beweisen scheinen, daß durch
die Übung der Glieder der einen Seite die der anderen mitgeübt werden' .
Ein großer Teil seines ästhetischen Interesses wurde durch die Frage der
beiden Holbeinschen Madonnenbilder gefesselt, mehrere Aufsätze beschäftigen
; c h mit diesen. Das Christkind des Dresdner Bildes soll eine Doppelrolle haben:
se i das kranke Kind einer gewissen Familie und das Christkind. In der
Echtheitsfrage entschied sich Fechner weder für noch gegen die beiden
rivalisierenden Madonnenbilder Holbeins (zu Dresden und zu Darmstadt); er
vermutet, beide seien echte Exemplare, das eine ein Vorbild für die Kirche,
das andere ein Familienbild für das Haus. „. . . Beides hängt in derselben
Idee zusammen, und da der Künstler nicht beides zugleich in demselben
Bilde darstellen konnte, ließ er beide Bilder sich dazu ergänzen." 3
1) Vergleichende Anatomie der Engel. 1825.
2) Kuntze, S. 258-264. - Aus Fechners „Echtheitsfrage der Holbeinschen
Madonna".
4° Dr. Imre Hermann
Schon aus dem letzteren Beispiele ist ersichtlich, wie der Dualschritt
zur Lösung von Fragen herangezogen werden kann. Hauptsächlich soll
dies durch die folgenden Beispiele erläutert werden:
Aus den „Kleinen Schriften": „Der Schatten ist lebendig" (S. 165 171).
Der Schatten ist Zwillingsbruder des Menschen, er lebt in zwei Dimensionen;
unser Leib dient zugleich einem Geiste, der in ihm, und einem, der neben
ihm ist.
Aus „Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der
Organismen": „Ich meine, daß von Anfang herein sich das kosmorganische
Reich gleich in ein molekular-organisches und unorganisches differenzierte, in-
dem der frühere einheitliche Bestand jenes Reiches sich in den Zusammen-
bestand beider sich zur Ergänzung fordernden, wie eine solche bietenden,
Reiche auflöste; daß dann weiter das molekular-organische Reich sich in ein
Tierreich und Pflanzenreich differenzierte und innerhalb beider Reiche noch
spezieUere Differenzierungen, darunter die der beiden Geschlechter, eintraten."
(Nach Kuntze, S. 281, 282.)
Aus den „Elementen der Psychophysik", Bd. I: „Die ganze Welt besteht
aus solchen Beispielen, die uns beweisen, daß das, was in der Sache Eins ist,
von zweierlei Standpunkten als zweierlei erscheint. . ." (S. 3), Bd. II:
Da man zwei Arten von Empfindungsunterschieden (in die Empfindung
aufgehende und besonders aufgefaßte Empfindungsunterschiede) statuieren kann,
soll man dies auch auf die Empfindungen selbst übertragen, da doch jede
Empfmdung auch als Empfindungsunterschied von Null und umgekehrt be-
trachtet werden kann. (S. 86.) Sehr interessant ist folgendes Beispiel: „Nun ist
das Prinzip, beide betreffende Maße einfach durch Addition zu verbinden, um
die psychische Gesamtleistung von Summen- und Kontrastwirkung zu erhalten,
an sich nicht so evident, daß nicht eine andere funktionelle Verbindun fi sweise
angenommen werden könnte, falls solche der Erfahrung besser genügte; aber
wir werden nicht nötig haben, auf fernliegende Voraussetzungen in dieser
Hinsicht emzugehen, da eine einfache, ganz naheliegende Voraussetzung hin-
reicht die vermißte Übereinstimmung mit der Erfahrung herzustellen; nämlich,
daU die Kontrastwirkung nicht einfach zwischen beiden Reizen, sondern her-
über und hinüber zu berechnen ist, da sie in der Tat herüber und hinüber
Besteht sich also für zwei Reize nicht minder aus zwei Gliedern zusammen-
setzt als die Summenwirkung." Und hiezu die Anmerkung, daß man bei der
Berechnung der Gravitationswirkung ebenso zu verfahren hat. (S. 157.) Diesen
letzteren Gedanken hat Fechner in einer besonderen Studie ausgearbeitet,
in der Empfmdung findet Fechner zwei in verschiedenem Sinne quantitativ
bestimmbare Dimensionen verkörpert, z. B. Stärke und Höhe eines Tones.
(S. 162.) Die Totalwelle des psychophysischen Geschehens zerfällt analytisch
für jedes Geschehen in eine Oberwelle und eine Unterwelle. (S. 449, 450.)
Die zwei Hälften des Menschen, die rechte und die linke Hälfte sind so ver-
bunden, daß das psychophysische System beider Hälften über die SchweHe
des Bewußtseins gelangt; trennt man die zwei Hälften, d. h. schiebt man
Gustav Theodor Fechner 41
einen unterschwelligen Teil der Natur zwischen sie, „so zerfallen sie auch
wieder in zwei für sich empfindende Wesen. Mit beiden Gehirnhälften denken
wir wegen dieser vereinheitlichenden Tätigkeit nur einfach, ebenso wie wir
mit den identischen Stellen beider Netzhäute nur einfach sehen. Abgetrennte
Hälften der teilbaren Tiere können die fehlende Hälfte vollständig reprodu-
zieren. Mit den beiden Hemisphären verhält es sich so, wie mit zwei Pferden,
die vor einen und denselben Wagen gespannt sind . . . Könnten beide Hälften
eines in der Längsmittellinie geteilten Menschen überhaupt noch fortleben,
d. h. die psychophysischen Tätigkeiten noch in beiden Hälften über die
Schwelle fortbestehen, so würden wir unstreitig ebensogut Verdopplungen
einer Menschen- als Tierseele durch die Trennung der sich seitlich ent-
sprechenden und vertretenden Hälften erzielen können, als wir sie bei Tieren
durch Trennung der hintereinander liegenden, sich entsprechenden Segmente
zu erzielen imstande sind." (S. 517 — 528.) Die Geburt selbst hat eine Ver-
dopplung der Seelen zur Folge. (S. 529.) Bewußtes und Bewußtloses in der
Welt sind nur zwei Fälle derselben Formel. (S. 538.)
Aus „Zend-Avesta : Es soll bewiesen werden, daß man einseitig urteilt,
wenn man entweder teleologisch oder kausal, entweder deterministisch oder
indeterministisch, entweder materialistisch oder spiritualistisch denkt: stets sind
beide Richtungen nebeneinander zu verfolgen. (Vorwort; II, S. 117, 154-)
Auch sind theoretische Folgerungen stets mit praktischen Forderungen zu ver-
söhnen (Vorwort). Die Zweckmäßigkeit birgt in sich ein „Zweies aus einem"
(Grabefuß des Maulwurfs und das lockere Erdreich, beide der Erde angehörend)
und ein „Zweies in einem" (da sie nur für einander etwas sind). (I, S. 86.)
Unser Körper läßt eine doppelte Betrachtungsweise zu, nämlich die Teilung
nach Systemen und nach Organen; wenn auch eine scharfe Trennung beider
Gesichtspunkte nicht durchführbar ist. Eine ebensolche doppelte Betrachtungs-
weise ließe sich dann auf die ganze Natur ausdehnen. (I, S. 205.) „Setzt man
die Erde wirklich im ganzen als Auge, so sieht man, daß dieses Auge im
Grunde zwei Abteilungen hat, von denen die eine vorzugsweise bestimmt ist,
dem Blick nach dem Himmel, die andere dem Blick nach der Erde zu dienen."
(II S. 79-) „Wohl wird der Tod als zweite Geburt in ein neues Leben zu
fassen sein . . . Der Tod ist eine zweite Geburt, indes die Geburt eine erste."
(II S. JQ9i 200.) „Alle Menschen führen schon ein zweites Leben, durch ein
gewaltsames Ereignis aus einem früheren niedrigen, unvollkommenen hervor-
gegangen. Eine einmalige Umwälzung, anstatt einer zweiten zu widersprechen,
verspricht aber vielmehr eine solche." (II, S. 326.) „. . . So vermögen zwei an
sich zweifelhafte und dunkle Gebiete doch wechselseitig etwas zu ihrer Unter-
stützung und Erläuterung beizutragen, wie zwei schief stehende Balken sich
durch ihr Lehnen gegeneinander halten." (II, S. 325.)
Aus der „Vorschule der Ästhetik": Fechner versucht dem assoziativen
Faktor und dem direkten gerecht zu werden, ebenso der idealistischen und
der realistischen Richtung, wie auch dem Prinzip der Schönheit und der
Charakteristik. Der Streit zwischen den Formästhetikern und Gehaltsästhetikern
beruhe ebenfalls nur auf Einseitigkeiten. „Eine auf das einzelne eines Kunst-
42
Dr. Imre Hermann
werk.es eingehende Analyse und Kritik hat zwei Seiten." (S. 17.) „Die Einheit
der Person kann in doppelter Weise verletzt werden, so daß dieselbe Person
auf demselben Bilde zwei- oder mehrmals in verschiedenen Handlungen vor-
gestellt wird, was meist mit der vorigen Verletzung der Raum- und Zeiteinheit
Hand in Hand geht, oder so, daß in derselben Figur zwei Personen zugleich
vorgestellt werden..." und dazu die Anmerkung: „Nicht unwahrscheinlich
kommen sogar in dem berühmten Holbeinschen Madonnenbilde beide Arten
der Verletzung zugleich vor, indem man in dem oberen nackten Kinde das
Christkind und ein krankes Kind der Stifterfamilie in eins vertreten, in dem
unteren dasselbe Kind als gesund, was oben krank (mit kranken Ärmchen)
dargestellt ist, sehen kann. Doch ist der Streit über diese Deutungsverhältnisse
bisher noch nicht abgefochten. " (II, S. 69, 70.) Der Vorteil eines guten Stils
hat zwei Seiten, beide haben sich zum größtmöglichen Vorteil zu vereinigen.
(II, S. 85.) Auch der Gegensatz der Koloristen und Komponisten verdeckt Ein-
seitigkeiten. (II, S. 102.) Es wird ein Prinzip der Beharrung und des Wechsels
in der Art der Beschäftigung aufgestellt. (II, S. 246 u. ff.) „Das hindert nicht,
daß Quantitätsverhältnisse hiebei mit ins Spiel kommen, und zwar in doppelter
Weise." (II, S. 266.)
Aus dem Buche „Über das höchste Gut" : Es gibt nicht nur einen, sondern
zwei sich ergänzende Maßstäbe der Lust . (S. 30.)
Aus: „Professor Schieiden und der Mond": „. . . Die Uhr des Organismus
ist offenbar vom Anfange an nach der Weltuhr gestellt; aber die Weltuhr
hat nicht bloß eine, sondern zwei Hauptzeiger . . . Was dabei die Möglichkeit
unserer Erklärung übersteigt, trifft die Sonnenperiodizität ganz ebenso wie die
Mondperiodizität ; müssen wir aber das Faktum der ersten einmal anerkennen,
so zieht dasselbe die Wahrscheinlichkeit der zweiten aus allgemeinen
Gründen nach sich. (S. 330, 331.)
Aus „Nanna : Es entstanden die Pflanzen- und Tierwelt am wahrschein-
lichsten gleichzeitig. „Die niedrigsten Pflanzen bildeten mit den niedrigsten
Tieren den gemeinschaftlichen Ausgangspunkt der organischen Schöpfung, und
von da erhob sich dieselbe in beiden Reichen zugleich." (S. 189.) „Ähnlich
nämlich, wie unter den Menschen ein Gegensatz zwischen blonder und brünetter
Haar-, Haut- und Augenfarbe waltet, wonach sie sich gewissermaßen in zwei
Klassen sondern, kehrt unter den Blumen ein analoger Gegensatz zwischen
gelben und blauen Blütenfarben wieder." (S. 284.)
Aus „Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht" : Die Tagesansicht
vereint in sich zwei geschichtliche Weltansichten, die christliche und die
heidnische.
Ein anderer auffallend verbreiteter Denkschritt ist bei Fechner der
Umkehrschritt. Seine Äußerungen waren bereits im Zusammenhange mit
dem Dualschritte öfters zu beobachten (z. B. Dual von innen -außen, sub-
jektiv-objektiv). Als Grundlage dieses formalen Schrittes finden wir, den
Erfahrungen in anderen Fällen analog, eine stärkere Fixierung an der
Gustav Theodor Fechner ,?■
Analerotik, 1 an homosexueller Richtung der Libido, an kindlichem Narziß-
mus, und den Ödipus-Konflikt betreffend Vertauschung der Vater-Mutter-
Rollen, sowie die Vertauschung des Vater-Kind-Verhältnisses, insofern, als
der Vater krank das Bett hüten mußte, wie ein Säugling, während er, der
Sohn, an Kräften stets zunahm. Im letzteren Umstände vermuten wir auch
die Evidenzforderung des Umkehrschrittes aufgefunden zu haben, diese
Forderung scheint aber hier, wegen dem mit ihr zusammenhängenden, auf
den Vater gerichteten Todeswunsche und dem tatsächlichen Todesfalle, viel
größere Widerstände vorgefunden zu haben, als beim Dualschritt.
Interessant ist, daß die Umkehrschritte gerade in der im Laufe der
biographischen Skizze berührten homosexuellen Periode die Dualschritte
an Verbreitung überragten, so daß die älteren humoristischen 2 Schriften
voll von Umkehrschritten sind :
Die Jodine vermag zwei gerade entgegengesetzte Wirkungen zu leisten. (Kleine
Schriften, S. 4.) „. . . nur daß ich hier den Schluß umdrehe, womit ich zum voraus
ein Beispiel der Methode gebe, die man im folgenden so glücklich angewendet
findet." (S. 5, 6.) „Man ist endlich glücklich dahinter gekommen, daß das Ver-
fahren, was die realen Wissenschaften einschlagen, gerade umzukehren ist." (S. 7.)
Aber sehen wir doch näher zu, welches der oberste oder im vorigen Sinne
unterste Grundsatz war, mittels dessen die logische Chemie oder chemische Logik
die Scheidung, um die es uns hier zu tun, verrichtet hat, und versuchen dann,
ob wir ihn nicht noch fruchtbarer machen können. Wohlan: die Ärzte hatten
die Bemerkung gemacht, daß die Jodine die Kröpfe heilt; was war also natür-
licher als der Schluß: Die Jodine heilt Kröpfe, ergo ein Mittel, was den
Kropf heilt, enthält Jodine.' (S. 7, 8 usw.)
„Ebenso ist es bekannt, daß das Opium sonst immer nur Verstopfung
erregte; aber seit Hahnemann fängt es an zu laxieren. (S. 9.) Jetzt heilt
jedes Mittel alle Krankheiten und umgekehrt läßt sich jede Krankheit durch
alle Mittel heilen. (S. 19.) Dadurch wird erreicht, daß die Lehrbücher an
Umfang nicht zunehmen, sondern abnehmen müssen (S. 32, 53.) Da das Auge
seiner Funktion gemäß gebaut ist, so kann man daraus folgern, daß „ein
Geschöpf, dem Licht das Element ist, umgekehrt den Bau des Auges haben
wird". (S. 138.) „Mein Schatten kann mich ebenso für seinen Schatten halten
als ich ihn für meinen Schatten halten." (S. 168.) „Die Art, wie ich dem
Räume zu einer vierten Dimension zu verhelfen suchen will, ist allerdings
eigen; nämlich dadurch, daß ich ihm anfangs von seinen dreien eine nehme."
(S. 176.) Wenn man einen Ring stets nach rechts dreht, wenn etwas Glück-
1) Dies wurde bereits von Jones und Abraham erkannt. Jones: Über analerotische
Charakterzüge. Int. Ztschr. f. PsA, 1919, Jahrg. V, S. 79. Abraham: Ergänzungen zur
Lehre vom Analcharakter. Int. Ztschr. f. PsA, 1923, Jahrg. IX, S. 45, 46.
2) Der größere Widerstand läßt den Schritt als humoristischen Schritt leichter
durch.
aa Dr. Imre Hermann
liches eintraf, so hat man später nichts anderes zu tun, als den Ring nach
rechts zu drehen, um dadurch etwas Glückliches hervorzurufen. (S. 205.) Daß
die Welt nicht durch ein ursprünglich schaffendes, sondern zer-
störendes Prinzip entstanden ist, wird in einem besonderen „Paradoxon"
weitläufig erläutert. (S. 208 — 215.) Dann befaßt sich ein kürzerer Aufsatz
mit dem Bilde einer „verkehrten Welt". (S. 227 — 229.)
Mancher Leser wird mir hier vielleicht lächelnd Unrecht geben wollen :
das sind ja eben keine ernst gemeinten Gedanken. Nun, erstens sind es
überhaupt seine Gedanken, zweitens kehren die hier humoristisch um-
kleideten Ideen öfters in ernsten Gedankengängen wieder, drittens gehörte
es zu dem — neben der Kindlichkeit — auffälligsten Charakterzuge
Fechners, daß er stets opponierte und disputierte, so „daß diese Neigung
im Umgange mit Freunden und Bekannten geradezu sprichwörtlich geworden
war". (Kuntze, S. 2, 3.) Es hat nicht leicht ein Gelehrter so viel gestritten,
wie Fechner, was der Biograph teilweise aus seiner Ergötzung an dem
Reize scharfer Kontraste erklärt.
Als Ergänzung des schon Bekannten sollen noch folgende Beispiele von
ernsten Umkehrschritten unseren Standpunkt beweisen:
„Die vierte Hypothese, die ich aufstelle, widerspricht den gewöhnlichen
Annahmen gewissermaßen im umgekehrten Sinne als die zweite. Nach der
zweiten liest sich jede Akustikusfaser aus einem zusammengesetzten objektiven
Tongemische ihre besondere Schwingungszahl heraus, nach unserer jetzigen
vollzieht umgekehrt jede Optikusfaser unter dem Einflüsse selbst des einfachsten
Farbenreizes eine Zusammensetzung von Schwingungen . . ." (Psph., II, S. 298.)
Es ist ebenso möglich, „durch Bewegung unwägbarer Agentien das Wägbare
als durch Bewegung wägbarer Agentien das Unwägbare in Bewegung zu setzen."
(Psph., II, S. 537.) In der „Ästhetik" kehrt er die Richtung „von oben" um,
und begründet eine Ästhetik „von unten". (I, S. 1.) Es „können nur wahre
Erkenntnisse zu guten praktischen Erfolgen führen, so daß sich selbst umge-
kehrt nach einem sehr allgemeinen Prinzip die Wahrheit einer Erkenntnis
aus ihrer Güte folgern läßt". (I, S. 32.) Möchte man ein Kind von klein auf
immer anlächeln, während man es schlägt, und furchtbar anblicken, während
man es liebkost, so würde sich die Bedeutung dieser Ausdrücke geradezu ver-
kehren. (I, S. 155.) Es wird ein „Prinzip des ästhetischen Kontrastes" auf-
gestellt: „Der Gegensatz wirkt mit der Kraft eines eigentümlichen Reizes,
wodurch der Reiz in einer Weise beschäftigt wird, wie es durch keinen ein-
zelnen Reiz geschehen kann". (II, S. 231 u. ff.) Die Reize haben, ihren Lust-
Unlust-Charakter betreffend, auch mehrere Umschlagspunkte. (II, S. 245.)
Daß in den „Ideen zur Schöpfungsgeschichte usw." ein Umkehrschritt ernst
durchgeführt ist, wurde bereits erwähnt.
Im „Zend-Avesta" fragt er sich: „Hast du nicht früher, dich selbst par-
odierend, bewiesen, daß auch der Schatten lebendig ist; ist nicht umgekehrt
Gustav Theodor Fechner 45
die Lebendigkeit, die du jetzt beweisest, ein Schattenspiel? (Vorwort.) Es ist
ein „scheinbar alles verkehrender Schritt", den Seelenschwerpunkt des Irdischen
nicht mehr in uns, sondern in der Erde zu suchen. (I, S. 129.) Man hat auch
darin unrecht, wenn man einseitig im Unbewußtsein die Urmutter des Bewußt-
seins sucht. „Eher ist es umgekehrt." (I, S. 282.) „Die Erde ist solchergestalt
wie ein Schädel, der, statt seine Konkavitäten anzuwenden, um das Gehirn
ganz, die Hauptsinne halb darin zu verstecken, umgekehrt seine Konvexität
benützt, das Gehirn mit den Sinnen allseitig frei in den Himmel hinauszu-
halten." (II, S. 9.) „Die verschiedensten Sinnesempfindungen, Sehen, Hören,
Riechen, Schmecken, Fühlen, in uns erfolgen mittels scheinbar sehr ähnlich
eingerichteter Nerven. Nun sieht man nicht ein, warum das Umgekehrte
minder möglich sein sollte: dieselbe Empfindung mittels scheinbar sehr ver-
schieden eingerichteter Apparate. Denn das hängt logisch zusammen." (II, S. 69.)
So gut man sich nämlich stets auf inneren, und so gut man sich stets auf
äußeren Standpunkt gegen die Dinge stellen kann, so gut kann man auch
mit dem Standpunkt der Betrachtung wechseln, in Betrachtung der Ursache
sich auf den inneren Standpunkt stellen, in Betrachtung der Folge auf den
äußeren, wie umgekehrt." (II, S. 156.) „Freilich, die Blume verwelkt zuletzt,
der Schmetterling stirbt doch zuletzt. Sollen wir nach unserem künftigen
Leben auch endlich doch verwelken, sterben? — Aber kehren wir die
Betrachtung lieber um. Sollte jenes Welken, Sterben nicht für die Seelen von
Pflanze und Tier so scheinbar sein, wie unseres für uns?" (II, S. 531, 332.)
In ,Nanna" soll die Behauptung, die Wasserlilie wäre für das Wasser da,
umgekehrt", und gesagt werden, das Wasser ist ganz für die Wasserlilie da. (S. 39.)
Der Leib des Tieres ist wie ein Sack, umgewendete Säcke sind die Pflanzen.
(S 249-) „Man kann bemerken, daß überhaupt die Natur eingestülpten Formen
ausgestülpte Formen von teils paralleler, teils sich ergänzender Bedeutung
gegenüberzustellen liebt; wie z. B. Lungen und Kiemen, genitalia masculina
und feminina. Hier nun haben wir diesen Gegensatz im ganzen und großen
zwischen zwei Reichen (seil. Pflanzen und Tieren) durchgeführt." (S. 272.) Die
Gestalt der Tiere ähnelt am meisten einer Ellipse, mit den zwei Brennpunkten
von Herz und Hirn, die Gestalt der Pflanzen hingegen, wegen ihrer doppelten
und entgegengesetzten Divergenz nach oben und unten, mehr der Hyperbel.
Die HYP el "k e ^ entsteht aber aus der Ellipse, wenn man eine Hauptgröße darin
in der Richtung verkehrt genommen denkt. (S. 276, 277.)
Sehr auffallend sind einige Umkehrschritte in der „Tagesansicht : „Die
Bibel prägt dem Menschen ein : liebe Gott über alles und deinen Nächsten
wie dich selbst; die Tagesansicht aber führt ihm auch die Umkehrung davon
zu Gemüte: die Liebe Gottes geht über alles und er liebt alle, wie sich
selbst." (S. 24.) „. .. was im Sinne der Tagesansicht selbstverständlich ist,
erscheint im Sinne der Nachtansicht absurd, weil so vieles Absurde in ihr
selbstverständlich scheint." (S. 29.) „Das Zukünftige hängt im Sinne des
Kausalgesetzes funktionell von der Vergangenheit ab. Was aber hindert, im
Sinne des Mathematikers, die funktionelle Betrachtung umzukehren, also die
vergangenen Zustände nach einem umgekehrten Verfolg der Richtung des
46 Dr. Imre Hermann
Geschehens ... als Funktion der Zustände, zu denen sie führen, zu betrachten.
Für ein zeitlos ewiges . . . Wesen . . . möchte diese doppelte Betrachtungs-
weise sogar fast selbstverständlich sein. — Damit hängt folgende Betrachtungs-
weise zusammen: Im Räume findet stets zur Wirkung von einem Punkte a
auf den Punkt b eine Gegenwirkung vom Punkte b auf den Punkt a statt.
Warum soll nicht ebenso zur Wirkung von einem Zeitpunkt a auf einen
andern b eine umgekehrte Wirkung von b auf a stattfinden." (S. 124, 125.)
Auch als Arbeitsfeld wählte sich Fechner öfters Erscheinungen, die als
Umkehrschritte beschreibbar sind: subjektive Komplementärfarben, Kontrast-
empfindungen, „Umkehrungen der Polarität in der einfachen Kette, 1828."
Ich möchte nur flüchtig erwähnen, daß der Schritt des Sinkens —
in welchen der formalisierte Schritt der Geburt eingeht — und seine Um-
kehrung im Schritt des Erhebens bei Fechner ebenfalls oft zu finden
sind; man denke an seine Grundauffassung der organischen Entwicklung,
der ästhetischen Methode. Beispiele sind in dem Obigen schon mitenthalten.
Sehr viel Formales enthält natürlich das „Rätselbüchlein" (in Verse ge-
faßte Silbenrätsel). 1
1) Siehe Beispiele bei Freud: Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewußten.
(Gesammelte Schriften, IX. Bd., S. 71, 72.)
E
Die Begabungsgrundlagen
Es sei hier eine kurze Übersicht der von mir entwickelten Begabungs-
theorie gegeben. In dieser Theorie heißt es nicht, die Grundlagen der
Begabung überhaupt zu bestimmen, wie solch eine Grundlage z. B. der
erhöhte Narzißmus wäre. Auch die Charaktereigenschaften des „Künstlers"
könnten höchstens als Grundlagen einer „künstlerischen Betätigung über-
haupt" dienen. Unsere Absicht ist aber, die speziellen Formen der
Begabungen zu erklären, d. h. diejenigen fakultogenen Faktoren aufzu-
finden, welche die Entwicklung des Könnens und des Interesses in der
speziellen Richtung verständlich machen ; dabei soll die Theorie das Neu-
auftreten, wie die Vererbung der Begabung erklärbar machen, sodann aber
auch den im Laufe der individuellen Entwicklung oft eintretenden Über-
gang der einen Begabungsart in eine andere, und ferner das Nebeneinander-
vorkommen von verschiedenen Begabungsarten bei einem Individuum, und
bei Individuen derselben Familie. Der Weg zur Auffindung solcher
fakultogenen Faktoren war der, daß wir solche auffallende und bei Begabten
derselben Art stets vorhandene Symptome herausarbeiteten, welche in sinn-
vollem Zusammenhange mit der speziellen Betätigungsart der Begabung
sind und zeitlich früher als die Begabungsäußerungen vorhanden waren.
Natürlich bewegen sich unsere Untersuchungen vorläufig ganz
im groben; wir können nur einige Begabungsarten auf solche fakultogene
Faktoren zurückführen und auch bei diesen glauben wir, diese Faktoren
nicht mit der genügenden Schärfe in Worte gefaßt zu haben und wären
auch nicht erstaunt, wenn neben den bekannten Faktoren sich noch andere,
unbekannte auffinden ließen. Man möge auch nicht aus den Augen verlieren,
daß die hier zu entwickelnde Theorie sich aus Krankenanalysen ergab.
Klar liegt die Sachlage bei der zeichnerischen Begabung. Der eine
Faktor ist hier die starke Erogen eität der Hände. Als eine Art
4 8 Dr. Imre Hermann
Sublimierung dieser Libidomenge fassen wir dann die zeichnerische
Begabung auf. Und zwar denken wir uns die Sache so, daß, während bei
einer geringeren Erogeneität der Hände die ursprünglich primären Peripher-
prozesse (Gestaltbildungen) 1 der Hand im Laufe der gesetzmäßigen Ent-
wicklung bald durch zentrale — intellektuelle — Prozesse abgelöst werden,
bei erhöhtem Libidotonus eine Sublimierung in dem Sinne stattfinden
kann, daß die Libidomenge zu peripheren Gestaltbildungen benützt wird
und so die Peripherprozesse weiter, höher entwickelt werden.
Der andere Faktor, der den erhöhten Libidotonus zwingt, gerade diese
Richtung der Gestaltbildung zu wählen, ist sodann die eigene Körper-
schönheit bei heterosexuellen Männern; bei stark homosexuellen Männern
kann die eigene ausgesprochene Körperhäßlichkeit dasselbe bewirken. Nun
kann diese Körperschönheit auf einer organischen Basis beruhen (der Ent-
wicklungsfaktor, der die Ausgestaltung des Körpers gerade in diese Geleise
schob) und als Folge einer speziellen Libidoqualität aufgefaßt werden, sie
kann aber auch als eine eingebildete, eine nur seelisch-inhaltlich existierende,
vorhanden sein. Mindestens diese zwei Faktoren arbeiten nun so zusammen,
daß sie die spezielle Begabungsart des Zeichnenkönnens, also des Produzierens
von schönen Formen mit der Hand, hervorlocken; kein Faktor für sich
ist dazu fähig.
Bei der dichterisch-schriftstellerischen Begabung fanden wir als
fakultogene Faktoren : 1) die höhere Erogeneität der Mundzone — die
Materie dieser Begabung, die Sprache, wird von dieser Zone (im weiteren
Sinne) erzeugt; 2) eine seelische Einstellung, die wir Seherkomplex
nannten, und die darin besteht, daß man von der eigenen prophetischen
Natur überzeugt ist und im Leben Beispiele dieser Fähigkeit liefert; 3) eine
libidinöse Einstellung, die wir den Toten komplex nannten, und die
sich darin äußert, daß der Betreffende mit Vorliebe Tote oder Schein-
tote liebt und sich als Toter (Scheintoter) lieben lassen will. Der Seher-
komplex gibt sich in den im voraus bestimmbaren Wiederholungen der
Form (Beim, Rhythmus) kund, der Totenkomplex offenbart sich im Lieben
der flüchtigen, kaum geborenen, schon verschwundenen Laute der Sprache.
1) Siehe ausführlicher Hermann: Die Randbevorzugung als Primärvorgang-, Inter-
nationale Zeitschrift für Psychoanalyse, IX, 1923 und in einem mit A. Hermann-
Cziner gemeinschaftlich ausgearbeiteten (experimentellen) Aufsatze: Zur Entwick-
lungspsychologie des Umgehens mit Gegenständen, Zeitschrift für angew. Psychologie,
Bd. XXII, 1923. — Über das System Mund-Hand sprach ich in einer Sitzung der Ungari-
Psychoanalytischen Vereinigung (März 1924V
Gustav Theodor Fechner 49
Der Seherkomplex kann organisch durch einen besonderen Libidotonus
der Augen und ihrer Umgebung (Stirn) repräsentiert werden, der Toten-
komplex durch besondere Schicksale (besondere Qualität?) des Todes-
triebes.
Die Begabung des Denkers ist begründet durch einen temporär er-
höhten Libidotonus des Gehirns, der so zustande kommt, daß gewisse
schmerzhafte Ereignisse aufgesucht, das Gefühl des Schmerzes aber auf-
gehoben wird, indem man während der schmerzlichen Szene bestrebt ist,
über etwas nachzudenken, um dem Schmerz jede Aufmerksamkeit zu
entziehen. Durch den Schmerz geschaffene narzißtische Libido wird somit
zu intellektuellen Gestaltbildungen, zu Vertiefungen 1 verwendet. Ich
nannte das „übergangsmasochistische Schmerzgrundlage" des Denkers. 2 In
Anbetracht der schriftstellerischen Tätigkeit des Forschers sollen auch die
eben genannten drei Faktoren vorhanden sein, vielleicht mit geringerem
Hervortreten des Totenkomplexes und der Erogeneität der Mundzone und
auffallenderer Mitwirkung einer Art Seherkomplexes (Wissen = Voraus-
wissen). 3
Die Einführung der erogenen Handzone hat unsere Aufmerksamkeit
auf verschiedene Verhältnisse dieser Zone gelenkt. Wir fanden die primäre
adäquate Betätigungsart dieser Zone im Anklammern an die Mutter (wie
bei gewissen Säugetieren und auch den Menschenaffen), 4 also in einem
beim menschlichen Säugling — in der kulturellen Stufe — nicht mehr
befriedigten Betätigungswunsche. Bei den Säuglingen kultureller Menschen ist
die (adäquate) Befriedigung der Handzone hauptsächlich auf die Zeit der
einzelnen Nahrungsaufnahmen an der Brust beschränkt. 5 Da zeigt sie also
,•) Siehe Hermann: Intelligenz und tiefer Gedanke. Internationale Zeitschrift für
Psychoanalyse, VI, 1920.
2 > Winterstein will unter den Philosophen zwischen den mystischen Masochisten
und amystischen Sadisten unterscheiden (Psychoanalytische Anmerkungen zur Ge-
schichte der Philosophie, Imago, Jahrg. II, 1915, S. 250). Wir haben im obigen den
Mechanismus des Wirkens dieser Charakterzüge angegeben.
2) Diesen letzten Zusammenhang zwischen Dichter und Denker sieht a\ich Winter-
te in (a. a. O. S. 206): „Vielleicht sind eigentliche ,Weltanschauungen l bloß die
Schöpfungen dieses visuellen Typus (des ,Schauers' — Chamberlain), dem der Typus
des Dichters so nahe steht."
4) Vgl. Hermann: Zur Psychologie der Schimpansen. Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse, IX, 1923.
5) Direkte Beobachtungen an Säuglingen haben mich belehrt, daß die Anklammerungs-
lust des Säuglings eine eminent große ist; sie gibt sich in speziellen Formen des
Wonnesaugens an den Fingern und in Schlafstellungen kund.
+
5° Dr. Imre Hermann
schon eine Verknüpfung mit der Mundzone. 1 Und es kann theoretisch
abgeleitet werden, daß diese Verknüpfung eigentlich schon phylogenetisch vor-
handen und das eigentlich Primäre ist. Man kann die Theorie aufstellen, daß
die Mundzone mit der Handzone ein einheitliches erogenes System
bildet, das Mund-Hand-System, welches quasi als ein kommunizierendes
Gefäß aufzufassen ist, mit zwei empfindlichen Enden, mit ständigem Ver-
kehr zwischen diesen Enden, so daß die Libidospannung hier und dort
zugleich wachsen oder sinken kann; gewisse Ereignisse können aber auch
asymmetrische Wirkungen — das Vollaufen eines Endes mit Leerwerden
des anderen, also gleichsam auf Kosten des anderen Endes — ausüben. 2
Diese Theorie läßt dann verstehen, wieso dichterische und zeichnerische Be-
gabung oft isoliert, oft aber auch in einer Person vereinigt vorkommt ■ wenn
man ferner noch annimmt, daß die Begabungen durch ihre organisch fakulto-
genen Grundlagen vererbt werden und daß dieses einheitliche System von
Mund-Hand in der Vererbung ebenfalls als Einheit fungiert, so werden die Be-
gabungswandlungen innerhalb mehrerer Generationen, aber auch das Fest-
halten an derselben Begabung — für die genannten Arten der Begabung —
dem Verständnisse näher gebracht.
Fechner war Dichter, Schriftsteller, Denker und Forscher. Welche
Grundlagen dieser Begabungen finden wir nun bei ihm vor? Was wissen
wir von der Entwicklung des Mund-Hand-Systems bei ihm ? Hier muß man
sich eben mit indirekten Beweisen begnügen und versuchen, ob denn durch
die Annahme, dieses System sei bei Fechner stärker erogenisiert gewesen
und diese Erotik sei zur — teilweisen — Sublimierung gelangt, die Daten
einheitlich zusammengefaßt werden können.
Betrachten wir zuerst die Familientafel mit den nachweisbaren Fähigkeits-
äußerungen. Wir werden dann auch diese Fähigkeiten in die uns jetzt
interessierende Sprache übersetzen. (Die Zahlen bedeuten die entsprechenden
Seitenzahlen aus dem Kuntzeschen Buche.)
i) Direkte Beobachtungen bei einigen Säuglingen zeigten, daß die Pinger - bis zu
einem gewissen Alter - während der Nahrungsaufnahme erektionsartige Haltung
und Spannung einnehmen.
2) Dieses einheitliche Zusammensein einer Qualität in einem System ist nicht
zu verwechseln mit der Amphimixis von Ferenczi (Versuch einer Genitaltheorie,
Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XV, 1924). Letzteres Sckicksal der
Erotismen kann ein Ergebnis in einem zwei Qualitäten vereinheitlichenden,
zusammengesetzten System werden und soll eine Mischqualität hervorrufen können
(eine organisch-libidinöse Gestalt höherer Ordnung).
Gustav Theodor Fechner
5i
<f Großvater
Schriftstellerische
Freude (347),
gute Diskantstimme,
die er in der Kind-
heit zum Broterwerb
benützte (14,)
Mund
O
Großvater rf 1
Schriftstellerische
Freude (347), Pastor
Mund
Vater
Schriftstellerische
Freude (347), Pastor
Mund
Eduard
Maler
frühe "Neigung zu
techn. Handfertig-
keiten und künst-
lerischer Plastik (24)
Hand
cT
G. Theodor
Emilie
Clementine
Mutter
Poetische Ader (30)
Mund
Mathilde
Ein Sohn ist der Zwei Töchter Kla- Ein Sohn Bildhauer
Biograph
Mund?
viervirtuosen (248) (248)
(auch deren Vater) (auch dessen Vater)
Hand?
Hand?
Man sieht demnach die Munderotik als ßegabungsgrundlage neben der
Handerotik abwechselnd auftauchen. Der Bruder Eduard soll ein ziemlich
begabter Maler gewesen sein, verdiente damit sein Brot in Paris. Wir
möchten aber doch auch etwas Direkteres erfahren.
Fechners Sprachfertigkeit und Begabung in Sprachen trat schon
früh hervor (S. 22, 25) und er tat darin seinem Bruder zuvor. Hierin
erblicken wir aber schon eine unmittelbare Äußerung der Sublimierung der
Munderotik. 1 Im Gegensatze konnte er es in Handfertigkeiten kaum zu
etwas bringen, er hatte geringes Zeichentalent. (S. 25, 27). Es werden seine
lebhaften und charakteristischen Händebewegungen während
des Redens, Vortragens hervorgehoben, was für uns die Unterordnung der
Hand unter die Führung des Mundes bedeutet. Er bringt öfters Beispiele
von schönen Körperteilen. Im „Büchlein vom Leben nach dem Tode heißt
es: Ein schönes Auge, ein schöner Mund sind ihm (seil, dem Kind im Mutter-
leibe) bloß schöne Gegenstände, die es geschaffen." (S. 11.) In der „Ästhetik"
verweilt er besonders bei dem Beispiele der Schönheit eines menschlichen
Fußes, die er eher am beschuhten Fuß, nicht am nackten, findet, und der
Arme. Kaum findet man irgendwo wärmere Worte in der ganzen Ästhetik,
wie gerade an dieser Stelle : „Eine Blinde, welche sich der Formen nur durch
1) Sein Äußeres betreffend, hebt der Biograph zweierlei hervor: Die schon in
jungen Jahren mächtig entwickelte Stirn und den freundlichen Mund. (S. 2.)
52 Dr. Imre Hermann
den Tastsinn bemächtigen konnte, wurde gefragt, weshalb ihr der Arm einer
gewissen Person so wohl gefiele. Man ratet etwa: Sie antwortete, weil sie den
sanften Zug, die schöne Fülle, die elastische Schwellung der Formen des
Armes fühle. Nichts von alle dem, sondern weil sie fühle, daß der Arm gesund,
rege und leicht sei. Das konnte sie aber nicht unmittelbar fühlen, sondern
nur an das Gefühlte assoziieren. Nun glaube ich nicht, daß der direkte
Eindruck, in dem man den alleinigen Grund des Wohlgefallens sehen
möchte, ohne Anteil daran war; aber man sieht doch, daß der assoziierte
Eindruck ihr noch lebendiger zum Bewußtsein kam. Bei uns Sehenden
ist es umgekehrt. Wir meinen, einem schönen Arme seine Schönheit
gleichsam abzusehen, ohne zu ahnen, daß wir das Meiste davon hinein-
sehen." (I, S. 91).
Statt „Absehen" hätte Fechner hier auch „mit den Augen abtasten"
sagen können — es scheint ja, bei ihm wurde die erotisch-abtastende Rolle
der Hand durch die Augen übernommen. Damit wären wir bei der organischen
Grundlage des Seherkomplexes angelangt. Nicht nur in der Kranken-
geschichte dominiert das Auge; auch in gewissen Phantasien: die Engel
sollen augenartige Geschöpfe sein, das Auge sei der vollkommenst gebaute
Teil des menschlichen Körpers. „Mein Geschöpf war mir wieder lieb, es
war ein wunderschönes Auge geworden." (Kleine Schriften, S. 137.) „Die
Augensprache der Liebe ist eine Vorbedeutung der Sprache der Engel, die
ja selbst nur vollkommene Augen sind." (S. 146.)
Ich vermute aber, die Handerotik ging nicht nur in die Munderotik
über, um da eine sprachliche Sublimierung durchzumachen, sie gab nicht
nur den Augen Kräfte ab (im erotischen Abtasten schon im vorhinein),
sie gab nicht nur Kräfte dem regressiven Wunsche, sich an der Mutter
anzuklammern, ab, es ist noch etwas vorhanden, das nach meinen bisherigen
Erfahrungen mit der Handerotik in Zusammenhang gebracht werden kann, und,
das wäre der Hang zum formalen Denken. Wie die Hand immer nur die
äußeren Formen beherrschen kann, die innere nur, indem sie sie zur äußeren
macht, so gehen die formalen Schritte nur immer dem Äußeren entgegen,
das Innere, das Sinnhaltige aber wird von ihnen gemieden. Man kann sich
die Sachlage etwa so vorstellen, daß es in der Entwicklung der Hand-
funktionen vom Peripheren zum Zentralen folgende Möglichkeiten geben kann.
1 . Die Handerotik verläßt die Hand zugunsten des zentralen — sprachlichen —
Denkens. 2. Die Handerotik zwingt die Hand zu einer etwas höheren Betäti-
gungsart und verläßt die Hand zugunsten des zentralen Denkens, doch führt
darin das formale Denken weiterhin noch ein selbständiges und mächtiges
Gustav Theodor Fechner
55
Leben. 3. Die Handerotik zwingt die Hand zu einer noch höheren Betätigungs-
art und zieht Gestaltungskräfte des Denkens an die Hand. Schematisch etwa:
Peripherprozesse Zentrale Denkprozesse
der Hand
Selbstverständlich denken wir nicht daran, daß am formalen Denken
einzig diese Transponierung schuld sei, auch hier muß etwas noch als
Wegweiser dazukommen, um gerade diese Art der Handfunktion zu trans-
ponieren. Und jetzt möchten wir wieder einen Zusammenhang konstruieren,
der leichter hinzustellen, als zu beweisen ist: Was ist denn das Formale
in seinen stärksten Ausprägungen? Ist es denn nicht etwas Erstarrtes, etwas
Kaltes, etwas Totes? Mit Zulassung des Formalen wird eigentlich die lebendige
Gestaltung getötet! Jeder formale Zug, jeder formale Schritt ist ein Spiel
mit dem Totsein, ein Versteckspiel. Und war denn nicht das Sterben des
Vaters eines der mächtigsten Erlebnisse Fechners? Und wurde er denn
nicht jahrelang, fern von der mütterlichen Pflege, erzogen, um dann ein
wahres Versleckspiel mit der Mutter zu spielen (wöchentliche Besuche usw.)?
Beschäftigte sich seine Philosophie — sowie viele anderen Philosophien —
nicht mit dem Tode als Kernfrage? Den Zusammenhang von Zwangsneurose
und Tod haben schon Hitschmann und Winterstein, als sie die Charakte-
ristik der Philosophen angeben wollten, eben wegen der Ähnlichkeit von
Zwangsdenken und philosophischem Denken hervorgehoben. Daß aber
Fechner an einer Art Zwangsdenken litt, wissen wir schon von früher her.
Hitschmann 1 beruft sich auch auf Abrahams Studie über „Giovanni
Segantini", wo der frühe Tod der Mutter in der Entwicklung der Per-
sönlichkeit dieses Malers eingehend gewürdigt wird. 2 — In der Ver-
1) Zum Werden des Romandichters. Imago, I, 1912. S. 55.
2) Die Hand, welche in den Gestaltungen im reinsten Dienste des Lebens-
triebes steht, wird auch ein reiner Diener des — nach auswärts gewendeten —
54 Dr. Imre Hermann
breitung der formalen Schritte, im Hange zum Formalismus des Denkens
sehen wir somit die Handerotik und den Todesgedanken (Todeswunsch,
Todesfurcht, Todestrieb?) mitwirken. Da, um zu unserem jetzigen Haupt-
thema zurückzukehren, im formalen Denken ein gewisser Typus der Denker
heimisch sein muß, soll wenigstens vermutungsweise auch die fakultogene
Wirkung des Todesgedankens (Todestriebes) ausgesprochen werden. 1
Wir haben die Augen schon, als fakultogenes Organ, herangezogen.
Nicht nur im Zusammenhange von Schaulust und Forschung, w r ie es
Winterstein statuiert (a. a. O. S. 185, 186). Das Auge und seine ero-
genisierte Umgebung, die „hohe Stirne" (siehe S. 51) ergibt, wenn auch
nur die organische, Grundlage für die Überzeugung des Voraussehens.
Als eine psychische Grundlage sind möglicherweise die rasch folgenden
Geburten der drei Geschwister anzusehen. Fechner war dieser Über-
zeugung sehr nahe. „Die Menschen haben von jeher bedeutungsvolle
Träume und Ahnungen gehabt." (Kleine Schriften, S. 186.) „Gern hörte
er abenteuerliche Szenen, Gespenstergeschichten, Visionen, Halluzinationen
Ahnungen und Geistererscheinungen erzählen und war immer bereit, darüber
zu disputieren, aber er nahm bald Partei, bald Gegenpartei . . ." (Kuntze,
S. 276). Er will den Geist eines jeden vergrößert wissen, denn je mächtiger
der Geist, „eine desto weiter greifende Folge dessen was geschehen wird
und geschehen soll, vermag er vorauszusehen und vorauszubestimrnen".
(Zend-Avesta, II, S. 245.) Wenn uns mehr Rückerinnerungen von unseren
Träumen blieben, so würden wir öfters vorbedeutenden Träumen begegnen
(Zend-Avesta, II, 317,) Man vergleiche dazu den vorbedeutenden Traum
der Dame, die ihm während der Krankheit den Appetit wiedergab, und, den
vorbedeutenden Sinn der Zahl ^7 ^ der letzten Phase der Krankheit
„Die Rätsel unseres jetzigen Geisteslebens", so heißt es im Büch-
lein", „der Durst nach Erforschung der Wahrheit, die uns zum Teil hier
nichts frommt, . . . gehen aus ahnenden Vorgefühlen hervor, was uns alles
dies in jener Welt eintragen wird." (S. 15.) Im Buche „Über das höchste
Gut wird dann weitläufig erklärt, daß das Gewissen ein Nachgefühl,
Todestriebes. In der Menschwerdung, mit der Angewöhnung der aufrechten Haltung,
wird die Hand und der Arm zur Lebenserhaltung, zum Kampfe stets im wachsenden
Grade, der Mund aber in abnehmendem Maße benützt (Darwin, Die Abstammung
des Menschen, II).
1) Der Todesgedanke, das Erlebnis des Todes ("des Fernseins) gibt auch dem Ideali-
sieren einen mächtigen Antrieb (Ideal=eidolon = Seele eines Toten. R6 heim: Nachdem
Tode des Urvaters. Imago, IX, 1923). Krankenanalysen besagen auch dasselbe.
Gustav Theodor Fechner 55
aber auch ein Vorgefühl der Lust ist (S. 53—53) und das Lustprinzip
(sie!) steht überhaupt im Dienste der Zukunft. Als Grundlage dieser Ein-
stellung muß natürlich auch der animistischen, allesbelebenden
Denkweise gedacht werden, deren Wirkung gerade auf die Worte und
die Teile der Wörter im Rätselbüchlein 1 zu finden ist, welches mit
dem vielen Formalen und vielen belebenden Gleichnissen, Symbolen eine
Welt von merkwürdigem Scheinleben eröffnet. 2
Den Totenkomplex finden wir in seiner Krankheit, wo er doch nach
seinen eigenen Worten lebendig begraben war, also in der Vateridentifikation,
und in den während dieser Zeit geschaffenen Dichtungen ausgeprägt. Schon
das erste Gedicht (Der gute Schmied) ist im Sinne dieses Komplexes gestaltet:
Der Schmied sieht vor seinem Tode die früh verschiedene Braut vor sich:
Sie rührt ihn an, der Hammer fiel,
Um Haupt und Herze wehn ihm kühl
Zwei lichte Engels flügel;
Aus Nacht zum Licht da steigen sie:
Grabscheit und Schaufel warfen früh
Ins Land den grünen Hügel.
Im zweiten Gedichte sieht der König seine frühere Gespielin am
Himmel, als silbernes Lämmlein. Im dritten Gedichte trifft die Botschaft
vom Bräutigam die Braut tot, im nächsten Verse schickt der tote Bräutigam
Meeresstrande eine „Wellenbotschaft" der Braut. Dann wird die Ge-
schichte von „Elisabeth und Essex" erzählt; die Königin leidet und stirbt, denn
Der, den sie hatte geliebt so sehr,
Den hat sie selber erschlagen.
Die Übertragung dieses Komplexes auf die Tätigkeit des Schreibers
findet in folgenden Zeilen Ausdruck: „Mit fünfundzwanzig toten Buch-
1) Entstehungsgeschichte: „Zuerst geselliges Spiel, dann die Müsse einer langen
Krankheit, noch jüngst der Ausschluß ernsterer Beschäftigung nach zwei erlittenen
Angenoperationen, endlich eine Art Gewöhnung haben den Stoff zu diesem Büchlein
erwachsen lassen." (Vorwort der vierten Auflage, 1876.) — Die erwähnten Operationen
waren Staroperationen in den Jahren 1875 und 1874 und haben mit der Reizbarkeit
der Augen nichts zu tun. (Kuntze, S. 284, 286.)
2) Die Rätsel zeigen gewissermaßen eine Umkehrung des Voraussehens
(für den Leser): Es ist ja alles gegeben, um eine Lösung finden zu können, und
die Lösung stellt sich doch nicht ein. Der die Lösung findet, erlebt eine Ent-
deckerfreude. Ein Rätsel ist auch ein Versteckspiel. Der die Rätsel macht, ver-
schleiert einen einfachen Tatbestand. (Das Rätsel der Geburt der Kinder bei
Fechner!)
5" Dr. Imre Hermann
staben auf totem Papier sind alle Werke der Dichter und Philosophen
draußen geschrieben." (Zend-Avesta, II, S. 131.)
Jetzt wollen wir noch, nach diesem, den sadistisch-masochistischen
Trieb berührenden Komplex einige Ergänzungen zur übergangsmaso-
chistischen Schmerzgrundlage hinzufügen. Ein gewisser Zug des Aushaltens
von Schmerz gab sich schon in der Kindheit kund. Eine der ganz wenigen
Daten aus der Kindheit lautet nämlich : Als die beiden Brüder zu Hause bei
der Mutter waren, wollte der ältere dem jüngeren einen „Schabernack"
spielen „und er raunte der Tante, welche von dem kleinen Brüderpaar
begleitet zur Bolle ging, zu, der Theodor würde sehr gern auf der mit
großen kantigen Steinen beschwerten Bolle sitzen, um auf ihr hin und
her gefahren zu werden. Die Tante hieß diesen, um ihm die Freude zu
machen, sich an die bewußte Stelle setzen, und, gutmütig, den Zusammen-
hang nicht ahnend, behauptete der Knabe, um der Tante dienstwillig zu
sein, den Platz trotz der Unbequemlichkeit der Lage, bis er endlich still
zu seufzen anfing und der mutwillig geschürzte Knoten offenbar ward. Ich
habe diese Geschichte aus dem Munde der Mutter Fechners". 1 Man über-
denke dann — darauf habe ich mich bereits an einer anderen Stelle be-
rufen 2 — den Abschluß der Krankengeschichte, wo das mutige Denken den
Schmerz nicht aufkommen ließ und man hat diese Erscheinung in schönster
Ausprägung vor sich. Eine besondere Verzweigung dieser Erscheinung war
die Flucht vor der Langweile in die Arbeit; er hatte sich geäußert
wenn er nicht arbeite, halte er es vor grausamer Langweile nicht aus'
„Dieses Gefühl der Langweile muß in seiner Seele eine ganz besondere
Bolle gespielt haben; wenn er sie nannte, machte es den Eindruck al
habe sie etwas Peinvolles für ihn, er floh sie wie einen Schmerz." w
ein tiefer Schatten lagerte sich ihm hart an die Schwelle des Vergnügens
das peinigende Gefühl der Langweile." 3 Sein Arbeiten ging auch nicht
leicht, fließend, mit Arbeitsfreude vor sich, es war stets mit hoher An-
strengung verbunden.*
Ob darin nicht auch der (anale) Zeitgeiz mit im Spiele war, wie
wir es bei Darwin^ finden werden? Sicher ist, daß die Anstrengung
1) Kuntze, S. 4.
2) Organlibido und Begabung. Intern. Zeitschr. f. PsA, IX, 1923.
3) Kuntze, S. 312, 318.
4) Kuntze, S. 314.
5) Siehe die demnächst in der Zeitschrift „Imago" erscheinende Arbeit des Ver-
fassers über Darwin.
Gustav Theodor Fechner
57
selbst bei ihm den tiefen Sinn der Vater-Identifikation, und was alles
damit zusammenhängt, an sich zog. Daß dann, vielleicht sekundär, das
Zeitmoment des Sicheilens, und dadurch das Zeitmoment selbst zur
Sprache kam, kann vermutet werden : in der Psychophysik wird dem zeit-
lichen Faktor (Zeitfehler) eine hohe Rolle zugestanden, als vierte Di-
mension der vierdimensionalen Mannigfaltigkeit wird eben die Zeit beschlag-
nahmt, und die zeitlichen Perioden beschäftigen Fechner eingehend.
Anhang
Fechner als Vorläufer psychoanalytischer
Erkenntnisse
Die bisherige Einstellung, in der Fechner hier dem Leser vorgeführt
wurde, könnte die irrige Meinung auftauchen lassen, Fechner sei ein
Phantast, der Verfasser der „vier Paradoxa", der „Stapelia mixta" und des
„Rätselbüchleins", aber kein exakter Forscher gewesen. Wir wenden uns
entschieden gegen eine solche Auffassung. Er war — oft bewußt — auch ein
Phantast, besaß aber stets die genügende Kritikfähigkeit, um Forschungs-
ergebnisse und Phantasiebildungen nicht zu verwechseln. Seine physikalischen
Forschungen gehören zum Inventar der Fachwissenschaft, seine Ideen über
Atomistik, über die Zeit als vierteRaum-Zeit-Koordinate, über gewisse
einfache Relativitätssätze (zeitliche Umkehr der Kausalität), über eine Art
„Schwelle" als allgemeine Naturerscheinung (in der sogenannten Quanten-
theorie) gehören schon zu den allerneuesten Wendungen der exakt
Forschung. Die Psychophysik erschloß dann ein ganz neues Tatsachen-
gebiet, mit neuer und mit staunenswertem Wissen durchgearbeiteter
Methodik. Wir wenden uns also nicht einem Phantasten zu, sondern
einem Naturforscher erster Klasse, wenn wir in seinen Ideen psychoana-
lytische Gedankenspuren nachweisen. Wir? Nein, Freud war es, der bei
Fechner die erste Ausgestaltung einer Metapsychologie auffand. (Siehe
Freuds „Traumdeutung".)
Nur zur Auffrischung der Erinnerung berufe ich mich auf die Stelle der
„Traumdeutung", wo der top i sehe Gedanke auf den Gedanken Fechners
über die verschiedenen Schauplätze von Wachbewußtsein und Traum zurück-
geführt wird. „In der Tat" — so wird es in der .Revision der Haupt-
punkte der Psychophysik' ausgeführt — „hat es an sich nichts Unwahr-
scheinliches, daß die zeitliche Oszillation der psychophysischen Tätigkeit
Gustav Theodor Fechner 59
unseres Organismus von Wachen zu Schlaf mit einer räumlichen Oszillation
oder Kreislaufbewegung in ähnlicher Weise zusammenhängt, als wir es
auch sonst in und außer dem Organismus zu finden gewohnt sind. So
beim Pulse, so bei Wechsel von Tag und Nacht an jedem Orte. Also mag
von Schlaf zu Wachen und von Wachen zu Schlaf das Spiel der gesamten
psychophysischen Tätigkeit des Menschen den Schauplatz wechseln, in der
Art, daß während des Wachens der Schauplatz der Träume ganz unter der
Schwelle bleibt, indes der Schauplatz des wachen Vorstellungslebens irgendwo
und irgendwie darüber ist, wogegen im Schlafe der Schauplatz des wachen
Vorstellungslebens ganz unter die Schwelle sinkt, indes der Schauplatz der
Träume sich relativ gegen den ganz herabgesunkenen Schauplatz der
wachen Vorstellungen erhöht, und bei Eintreten wirklichen Traums sogar
bis über die Schwelle des Bewußtseins erhebt." („Revision", 286, 287.)
Dann steht Fechner auf Grund einer energetisch gedachten psycho-
physischen Tätigkeit, welche durch ein Minimumgesetz („Prinzip der
Stabilität" — vgl. Freuds „Jenseits des Lustprinzips") reguliert wird; die
Aufmerksamkeitswandlungen seien Bewegungen dieser psychophysischen
Energie- In der Unterscheidung von Oberwelle und Unterwelle kann auch
• n Keim der dynamischen Auffassung erkannt werden. Triebe werden
von Fechner als Grundelemente des Seelenlebens stets nachdrücklich hervor-
gehoben. Beherrscher des Seelenlebens sei das „Lustprinzip", das sich mehr
weniger den Umständen, den praktischen Forderungen anpaßt.
Speziell die Psychologie der Träume betreffend, sei noch die Auf-
fassung Fechner s erwähnt, wonach das Gehirn während des Traumes mit
demjenigen eines Narren, „noch triftiger mit dem Gehirne eines Kindes oder
Wilden" zu vergleichen sei. „Wenn das Traumleben ein relativ zusammen-
hangloseres, nicht so vernünftig geordnetes ist, als das wache Leben, hat
es doch seinen Zusammenhang eigentümlicher Art. „Der Träumende ist
ein Dichter, der seiner Phantasie die Zügel ganz und gar schießen läßt,
und ganz in eine innere Welt versunken und verloren ist, so daß ihm die
Erscheinung Wahrheit wird." 1
Er spricht von den „Konflikten" im Seelenleben, über den „unmittel-
baren Lustgewinn", den der Ausdruck der Gefühle mitbringt. Daß die
Realität des Unbewußten einen entschiedenen Kämpfer in Fechner für
sich eroberte, wurde schon dargelegt. Es bleibe aber nicht unerwähnt, daß
Fechner zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein eine Zwischenart, das
1} Psph., II, S. 511 u. ff.
6o Dr. Imre Hermann
„Halbbewußte" einschaltete und in den verschiedenen Verhältnissen der
Rückerinnerung das unterscheidende Moment fand. „Die Schwelle des
Vollbewußtseins liegt also da, wo die Möglichkeit der Erinnerung erwacht." 1
Dabei wird aber hervorgehoben, daß die Erinnerungsfähigkeit unter gewissen
Umständen (Traum, bei Sterbenden, in somnambulen Zuständen) sich auf
alles Erlebte erstreckt. 2
1) Psph., II, S. 86.
2) Revision, S. 297.
Verzeichnis der Schriften Fechners, die in der vorliegenden Studie
herangezogen wurden
(Dr. Mises) Beweis, daß der Mond aus Jodine bestehe. („Kleine Schriften".
2. Aufl., S. l — 14.) 1
(Dr. Mises) Panegyrikus der jetzigen Medizin. („Kleine Schriften", 2. Aufl.)
S. 15—46.)
(Dr. Mises) Stapelia mixta. („Kleine Schriften", 2. Aufl., S. 217 — 280.)
(Dr. Mises) Vergleichende Anatomie der Engel. („Kleine Schriften , 2. Aufl.,
S. 131 — 162.)
Über Umkehrungen der Polarität in der einfachen Kette. Journal für
Chemie und Physik.
(Dr. Mises) Schutzmittel für die Cholera. („Kleine Schriften", 2. Aufl.,
S. 47— 13°-)
Das Büchlein vom Leben nach dem Tode. (Insel-Bücherei, Nr. 187.)
Über die subjektiven Complementärfarben. Poggend. Ann. d. Phys. u. Chem.
Über die subjektiven Nachbilder und Nebenbilder. Ibidem.
(Dr. Mises) Gedichte.
Über das höchste Gut.
(Dr. Mises) Vier Paradoxa. („Kleine Schriften", S. 163 — 216.)
Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen. (4. Aufl.)
Über das Lustprinzip des Handelns. Fichtes Zeitschrift für Philosophie.
Neue Folge, XIX.
(Dr. Mises) Rätselbüchlein. (4. Aufl.)
Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom
Standpunkt der Naturbetrachtung. (3. Aufl., in zwei Bänden.)
Über die Atomistik. Fichtes Zeitschrift für Philosophie. Neue Folge, XXV.
Professor Schieiden und der Mond.
Beobachtungen, welche zu beweisen scheinen, daß durch die Übung der
Glieder der einen Seite die der anderen mitgeübt werden. Berichte der
kgl. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften. S. 70 — 76.
Elemente der Psychophysik. (3. Aufl., in zwei Bänden.)
Über die Contrastempfindungen. Berichte der kgl. sächs. Gesellschaft der
Wissenschaften. S 71 — 145-
1) In Klammern wird die von mir benützte Ausgabe angegeben.
*) Nur dem Titel nach herangezogen.
1821.
1822.
1824.
1825.
+ 1828.
1832.
1836.
♦ 1838.
♦1840.
1841.
1846.
1846.
1848.
1848.
1850.
1851-
1854.
1856.
♦1858.
1860,
*i86o.
6 ^ Dr. Imre Hermann: Gustav Theodor Fechner
*i86o. Über einige Verhältnisse des binocularen Sehens. Abhandlungen der-
selben Gesellschaft, Bd. V, S. 537 — 564.
♦1861. Über das Sehen mit zwei Augen. Westermanns Monatshefte, IX.
*i86i. Über das Hören mit zwei Ohren. Ibidem X.
*i866 — 1872. Verschiedene Abhandlungen über die Holbeinsche Madonna. (Ins-
gesamt zehn.)
1873. Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen.
1876. Vorschule der Ästhetik. (2. Aufl., in zwei Bänden.)
1877. In Sachen der Psychophysik.
1879. Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht. (2. Aufl.)
1882. Revision der Hauptpunkte der Psychophysik.
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien VII, Andreasgasse 3
Dr: HEINRICH GOMPERZ, Prof. an d. Univ. Wien: Psycho-
logische Beobachtungen an griechischen Philosophen.
Geheftet Markß'JO, Pappbd. 4' — .
Diese psychologischen Beobachtungen über geistig-leibliche Veranlagung und Entwicklung
zweier repräsentativer griechischer Philosophen tragen zweifellos nicht wenig dazu bei, den
eigentümlichen Lehrgehalt ihres Philosophierens besser verständlich zu machen. In der Studie
über Parmenides wird besonders die Theorie über die Geschlechtsbestimmung analysiert.
Der Dichter- Philosoph selbst liebt das „weibliche Weib", ihm erscheinen kleine Hände
und Füße, mittelgroße Gestalt, zarter Teint, eine helle Stimme, niedergeschlagene Augen und
eine schüchterne Gemütsart als Kennzeichen des „wahren", also des begehrenswerten Weibes.
Anderseits dürfte er selbst ein „männlicher Mann" gewesen sein; die Schwärmerei für zarte
Knnbenschönheit beim Manne ist ihm fremd; weibliche Eigenarten „zerrütten" die männliche
Eigenart. Die Welt des Parmenides erweist sich unverkennbar als die Verkörperung einer aus-
schließlich dem anderen Geschlechte zugewandten Erotik. Und doch lehnt Parmenides diese,
von der Geschlechtsliebe beherrschte Welt entschieden ab, erklärt sie für unwirklich, für eine
bloße Ausgeburt menschlichen Wahnes. Daß es nicht ausschließlich logische Gründe sind, die
einen anscheinend von gesunder Erotik erfüllten Mann zwingen, das Zeugnis seiner eigenen
Sinne zu verwerfen, ist klar, — Eine ausführliche Analyse läßt Prof. Gompcrz der Persönlich-
keit des Sokrates zuteil werden. Eigentümlich war dem großen Philosophen zunächst eine
leiblich-geistige Anlage, die ihn erstens von ihm selbst unbewußt Gedachtes wie Fremdes von
außen vernehmen und zweitens seine Liebesfähigkeit noch mehr als knabenhaften Frauen
mädchenhaften Knaben zuwenden ließ. Besonders eingehend wird die Erotik des Sokrates
untersucht, sein Liebesleben, die Beziehung zur Gattin, zu den Dirnen und vor allem seine
Beziehung zum Lehramte.
Dr. IMRE HERMANN: Psychoanalyse und Logik. Indi-
viduell-logische Untersuchungen aus der psychoanalytischen
Praxis. Geheftet Mark )'j0, Halbleinen /' — , Halbleder 7' — .
Inhalt: Einleitung. — Der Dualschritt. — Das Manifeste in einer Krankengeschichte. —
Dualschritte aus der Entwicklungspsychologie; in der Biologie; in der schönen Literatur. —
Ihr Zusammenhang mit der seelischen Konstitution und dem Erlebnis des Schriftstellers. —
Umkehrschritte in einer Krankengeschichte. — Ein Fall mit Dual- und Umkehrschritten.
Der Abwendungsschritt. — Der Schritt des Sinkens. — Skizze zu einer Denkschrittpsycho-
logie. — Denkschritte und Trieblehre. — Die logischen Denkgesetze. — Exkurs über Sophismen.
Zusammenfassung der Theorie der Evidenz.
Dr. EDUARD HITSCHMANN: Gottfried Keller. Psycho-
analyse des Dichters, seiner Gestalten und Motive. Geheftet
Mark )'J0.
Inhalt: I. Einleitung. — II. Die Bedeutung der Mutter. Unbewußte Liebe. Die Mutter er-
nährt den Sohn. Das Zwiehahn-Motiv. Die Judith-Gestalt. Angst vor Eifersucht der Mutter.
Gehemmte Liebeswahl und gehemmte Sexualität. — III. Das Erbe des Vaters. Der erlebte und
ersehnte Vater. — Das Motiv der „halben Familie". Das Heimkehr-Motiv. — IV. Zum Liebes-
leben. Kinderliebschaften. Die Schwester Regula. Die überlegene Frau. — V. Der Maler Keller
und das Nacktheitsmotiv. Schaulust und weiblicher Akt. Der Landschafter. Geträumte und
verhüllte Entblößung. — VI. Künstlerisches Werden. — Anhang. — Literatur.
Über die Anwendung der Psychoanalyse auf die
Geisteswissenschaften unterrichtet fortlaufend die
IMAGO
Herausgegeben von Prof. Sigm. Freud
Redigiert von Otto Rank, Hanns Sachs, A. J. Storfer
1926 erscheint Bd. XII (4 Hefte im Gesamtumfang über joo Seiten)
Abonnement 1926 Mark 20- —
Die 4 vorhergegangenen Bände VIII — XI (1922 — 1925)
enthielten u. a. folgende Arbeiten:
Abraham: Geschichte eines Hochstaplers.
Alexander: Der biologische Sinn psycholog.
Vorgänge (Buddhas Versenkungslehre).
Arndt: Über Tabu und Mystik.
Bälint: Die mexikanische Kriegshieroglyphe
atl-tlachinolli.
B e r g e r : Zur Theorie der menschlichen Feind-
seligkeit.
Bernfeld: Über „Subliniierung".
— Über eine typische Form der männlichen
Pubertät.
Chijs: Infantilismus in der Malerei.
Fenichel: Psychoanalyse und Metaphysik.
Freud: Traum und Telepathie.
— Die okkulte Bedeutung des Traumes.
— Die Verneinung.
Furrer: Die Bedeutung des „B" im Ror-
schachschen Versuch.
Groddeck: Sy mbolisierungszwang.
Harnik: Die triebhaft-affektiven Momente
im Zeitgefühl.
Hermann: Wie die Evidenz wissenschaft-
licher Thesen entsteht.
— Psychogenese der zeichnerischen Begabung.
— Die Regression zum zeichnerischen Aus-
druck bei Goethe.
— Benvcnuto Cellinis dichterische Periode.
Hermann-Cziner: Die Grundlagen der
zeichnerischen Begabung bei Marie Bash-
kirtseff.
Hitschmann: Telepathie u. Psychoanalyse.
— Vom Tagträumen der Dichter.
Jones: Einige Probleme des jugendlichen
Alters.
— Psychoanalyse und Anthropologie.
Kinkel: Zur Frage der psychologischen
Grundlagen und des Ursprungs der Religion.
Kolnai: Max Schelers Kritik u. Würdigung
der Freudschen Libidolehre.
Kraus: Die Frauensprache bei primitiven
Völkern.
Malinowski: Mutterrechtliche Familie und
Ödipuskomplex.
Müller-Braunschweig: Über das Ver-
hältnis der Psychoanalyse zur Philosophie.
Pfister: Die primären Gefühle als Bedin-
gungen der höchsten Geistesfunktionen.
Radd: Die Wege der Naturforschung i m
Lichte der Psychoanalyse.
Rank, Beata : Zur Rolle der Frau in der Ent-
wicklung der menschlichen Gesellschaft
Roeder: Das Ding an sich.
R 6 heim: Die Scdna-Sage.
Sperber: Die seelischen Ursachen des Alterns,
der Jugendlichkeit u. der Schönheit
Spiel rein: Die Zeit im unterschwelligen
Bewußtsein.
Sterba: Zur Analyse der Gotik.
Weiss: Die psychologischen Ergebnisse der
Psychoanalyse.
We sterman-Holstijn: Die psychologische
Entwicklung van Goghs.
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Beleuchtung.
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in Heften Mark 18- — , Halbleinen 21' — , Halbleder 24- —
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FECHNER
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o
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Eine psychoanalytische Studie
über individuelle Bedingtheiten
wissenscnaltlicner Ideen