FREUD'S
NEUROSENLEHRE
VON
Dr. EDUARD HITSCHMANN
Zweite, ergänzte Auflage
Leipzig und Wien
FRAhiZ DEUT1CKH
FREUD'S
NEUROSENLEHRE.
NACH IHREM GEGENWÄRTIGEN STANDE
ZUSAMMENFASSEND DARGESTELLT
VON
D* EDUARD HITSCHMANN.
ZWEITE, ERGÄNZTE AUFLAGE.
LEIPZIG UND WIEN.
FRANZ DEUTICKE.
1913.
«s
■ •
Alle Rechte vorbehalten.
Verlags-Nr. 2075
Vorwort.
Die Motive, die mir eine Fixierung des derzeitigen Standes der
Freud sehen Forschungen als Bedürfnis erscheinen ließen, haben sich
während der Arbeit nur verstärkt.
Die Schrift soll als Einführung dienen sowie als Anregung zum
Studium von Freuds Arbeiten und der Verwendung der psychoanaly-
tischen Methode ; sie soll aus der Reihe der Gleichgültigen und Gegner
jene ausscheiden, deren Stellung durch ungenügendes oder irrtümliches
Wissen bedingt ist ; endlich will diese Schrift, indem sie die ungelösten
Probleme der Lehre aufzeigt, deren Lösung fördern.
Spätere Ausgaben sollen jeweils die Fortschritte oder Modifika-
tionen sowie die zugehörigen Neuerscheinungen berücksichtigen. Herrn
Professor Freud bin ich für Durchsicht und vielfache Förderung
des Buches, Herrn 0. Rank für seine Mithilfe zu großem Danke
verpflichtet.
Wien, im Herbst 1910.
Der Verfasser.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Über Erwarten rasch ergab sieb, durch Vergriffensein der ersten
Auflage das Bedürfnis nach einer Neuauflage. Dieselbe enthält als
wesentlichste Ergänzungen: Aufklärungen zur Deutung der Paranoia,
Hinweise auf den Narzißmus und auf neue Gesichtspunkte zum Ver-
ständnis des Unbewußten und der Veranlassungen der Neurosen ; ferner
die Anführung aller wichtigeren, neuerschienenen einschlägigen Arbeiten.
Die erste Auflage ist von Dr. CR. Payne ins Englische über-
setzt worden (New-York, 1913 in „Nervous and Mental Disease Mo-
nograph Series", Nr. 17, herausg. von Dr. Jelliffe und White).
Herrn Professor Freud und Herrn Dr. 0. Rank bin ich neuerlich
zu Dank verpflichtet.
Wien, im Frühjahr 1913.
Der Verfasser.
Inhaltsübersicht.
Seite
1— 6
Einleitung.
Zweck und Art der Schrift. - Zunehmende Beschäfti-
gung m,t Freuds Lehre. - Einwendungen und Widerstände.
- Versuch der Widerlegung oder Erklärung derselben
I. Allgemeine Neuroscnlohre.
Freuds Arbeitsgebiet. Allgemeine Pathologie: Einteiluna
der Neurosen. - Entwicklungsgang der Freudschen Neurose^
w ■,." All 8 emeine Ätiologie: Rolle der Sexualität und der
Heredität. - Die psychosexuelle Konstitution. - Veranlas-
sungen der Neurosen
II. Die Aktualneurosen. ~ 17
A. Die Neurasthenie-— Klinisches Bild und Ätiologie —
Die .Onanie. - Prophylaxe und Therapie. B. Die Angstneurose •
Symptomatologie. - Ätiologie. - Theorie. - Beziehung zur
Hysterie. C. Widerlegung der Einwände gegen die sexuelle
Ätiologie der Aktualneurosen . . 1R
III. Der Sexualtrieb. M
Tatsache und Bedeutung der Kindersexualität ; Widerstand
gegen die Annahme dieser Entdeckung. - Die Sexualtheorie-
A. Die infantile Sexualität: 1. Die Säuglingssexualität. 2. Die
Kmdersexualität. 3. Die Pubertätsumwandlungen. B Die Ab
n-rungen des Sexualtriebes : Inversion, Perversion, Fetischismus,
Sadismus, Masochismus, Exhibitionismus etc. C. Die Sexualität
der Neuroner. - Bestätigung der Theorie durch Analyse
von Kmdemeurosen. - n l nfanti i e Sexualtheorien». - Kern-
komplex der Neurosen
IV. Das Unbewußte. 35 ~ 66
Bewußtsein und Unbewußtes. - Das Unbewußte dem
Sprachgebrauch nach. - Die Tatsachen der posthypnotischen
Saggest.or, - Das Unbewußte in der Hysterie. - Wider-
stand und Verdrängung. _ Genese und Inhalt des eigentlichen
Unbewußten. _ Der Komplex. - Der freie Einfall. - Das
Assoziationsexperiment. - Die Determiniertheit alles seelischen
Geschehens. - Die Erscheinnngen des Unbewußten in der
Psychopathologie des Alltagslebens. - Das Unbewußte bei der
Witz- und Traumbildung 57_fifi
VI
V. Der Traum. Seite
Hauptcharakter des Traumes : Wunscherfüllung. — Sexuel-
ler Inhalt. — Die Traumquellen. — Die Traumentstellung
(manifester und latenter Inhalt). — Die Traumarbeit. — Die
Deutungstechnik : a) durch Symbolik, b) durch Einfalle. — Tech-
nische Regem. — Typische Träume 67— 82
VI. Die Hysterie.
Stellung Freuds in der Hysterielehre. — Verdrängung
und Konversion. — Sexualität und Infantilismus. — Die hyste-
rische Psyche. — Das hysterische Symptom : Seine somatischen
und psychischen Determinier ungen. — Die hysterischen Phan-
tasien. — Der hysterische Anfall. — „Nervöse Störungen." — Die
neurotische Angst (Angsttraum, Angsthysterie. Phobie). — Über
Psychosen (Paranoia, Dementia praecox u. a.) 83—113
VII. Die Zwangsneurose.
Beziehungen zur Hysterie. — Substitution statt Konver-
sion. — Der charakterische Zwang. — „Wesen u. Mechanismus
der Zwangsneurose" (1896). — „Bemerkungen über einen Fall
von Zwangsneurose" (1909). Bedeutung des Trieblebens (Sadis-
mus). — Liebe und Haß ; Zwang und Zweifel. — Mechanismen
der Entstellung. — Einige psychische Besonderheiten der Zwangs-
kranken. — Psychischer Mechanismus der Berührungsfurcht 114—129
VIO. Die psychoanalytische Untersuchungs- und Behand-
lungsmethode.
Ihre Eigenart — Entwicklungsgeschichte der Methode.
— Allgemeine Technik. — Beseitigung der Widerstände. —
Deutungskunst. — Indikationen und Gegenindikationen. — Die
„Übertragung". — Widerlegung der Einwände gegen das Ver-
fahren 130-151
IX. Zur allgemeinen Prophylaxe der Neurosen.
Die kulturelle Sexualmoral. — Sexuelle Erziehung. —
Sexuelle Aufklärung 152—159
X. Anwendungen der Psychoanalyse.
Bedeutung der Psychoanalyse für die Psychologie der
Normalen und die Normalpsychologie (das Unbewußte, der
Traum, der Witz). Psychopathologie des Alltags. — Aufklärung
zur Psychologie des Psychopathen, Verbrechers, Künstlers,
Dichters, Genies (Charakterologie). — Bedeutung für die
Kulturgeschichte und Völkerpsychologie und andere Geistes-
wissenschaften 160—168
XI. Chronologische Übersicht der Freudschen Schriften
und deren Übersetzungen 169—173
Einleitung.
Zweck und Art der Schrift. — Zunehmende Beschäftigung mit Frends Lehre. — Einwendun-
gen und Widerstände. — Versnch der Widerlegung oder Erklärung derselben.
Die folgende zusammenfassende Darstellung des gegenwärtigen
Standes der Freud sehen Neurosenlehre rechtfertigt sich zunächst damit,
daß die Schwierigkeit des Themas, die stets wachsende Zahl der ein-
schlägigen Publikationen sowie die durchaus nicht auf Systembildung
angelegte Arbeitsweise Freuds das erste Eindringen und Studium
erschweren. Freud hat nie prätendiert, ein vollständiges System der
Neurosenlehre zu bieten; er konnte es auch gar nicht, da er von
praktischen Erfahrungen ausging, die sich notwendigerweise erst all-
mählich ergänzen und vertiefen konnten. Eine schon zu Beginn
lückenlose und abgerundete Theorie könnte nur Produkt der Spekulation
sein, was zwar einem philosophischen System, nicht aber einer medi-
zinischen Lehre ansteht. Immerhin sind bereits das Fundament und die
Grundpfeiler eines Lehrgebäudes errichtet, so daß es an der Zeit ist,
gleichsam einen Durchschnitt anzulegen und eine vorläufige Zusammen-
fassung zu versuchen. Diese synthetische Darstellung vermeidet es
selbstverständlich, die notwendigen Lücken auszufüllen oder zu ver-
hüllen; sie wird sie im Gegenteil hervorheben und so die noch zu
lösenden Probleme aufzeigen. Die Schrift begnügt sich, rein referierend
zu sein, gebraucht daher vielfach die eigenen Worte F r e u d s und ist
überall bemüht, die empirischen Grundlagen seiner Forschungen in
den Vordergrund zu stellen. Sie beabsichtigt, die Anregung zum
Studium und zur Nachprüfung dieser bedeutsamen Lehre in weiten
Kreisen der Ärzteschaft, sowohl in der Klinik wie auch in der Praxis,
zu geben und hofft, auf diesem Wege deren Allgemeingültigkeit er-
weisen zu können. War auch bis vor wenigen Jahren nur eine kleine
Schar engerer Mitarbeiter um Freud versammelt, so haben in den
letzten Jahren die Freud sehen Lehren auch im Ausland ein zu-
stimmendes Echo und wertvolle Mitarbeiterschaft gefunden,*) welche
*) Dies gilt nebst der Schweizer Schule mit Bleuler und Jung an der
Spitze namentlich für Amerika, wo Jones (vgl. „Papers on Psycho-Analysis", London
1913), Pntnam und Brill (vgl. „Psychoanalysis", Philadelphia 1912) die Be-
HitBchmann, Freuds NenroBenlelire. 2. Aufl.
Einleitung.
durch eine Reihe von Übersetzungen Freudscher Schriften (siehe
Lit.-Verz.) gefördert wurde. Weite Kreise der Ärzteschaft verharren
jedoch in Indifferenz oder sind durch extreme Angriffe gewisser fanatischer
Gegner irregeführt und abgeschreckt. Es liegt daher nahe, zu Beginn
die Motive aufzudecken, welche dem Widerstreben so vieler gegen eine
vorurteilslose Prüfung dieser neu- und eigenartigen Auffassungen zu
Grunde liegen, sowie einigen immer wieder laut werdenden Ein-
wendungen entgegenzutreten, die oft genug einer nur mangelhaften
Kenntnis der bestrittenen Lehre entspringen. Seit dem Erscheinen der
ersten Auflage haben sich immerhin Gegner gefunden, welche eine
ausführliche Kritik, wenn auch nicht auf praktischer Nachprüfung, so
doch auf einiger Kenntnis der Theorien aufzubauen suchen (I s s e r 1 i n,*)
Kronfeld,**) Mittenzwey). Wiederholt war auch die Psychoanalyse
Gegenstand lebhafter Diskussionen auf wissenschaftlichen Kongressen.
Man kann natürlich die Freud sehen Lehren, welche keines-
wegs konstruiert, sondern einer reichen mühselig gewonnenen Er-
fahrung langsam abgerungen sind, nur dann richtig würdigen, wenn
man die von ihm verwendete Methode der Seelenuntersuchung (Psycho-
analyse) praktisch am Kranken übt. Daß man sich dazu so schwer
entschließt, hat mehrfache Gründe. Zunächst erklärt es sich daraus,
daß die gegenwärtige Ärztegeneration, aus der chemisch-anatomisch-
pathologischen Schule hervorgegangen, es nicht vermag, den psy-
chischen Verursachungen der Krankheiten den ihnen gebührenden
Platz einzuräumen. Man ist gewöhnt, sich mit der Vererbungs- und
Konstitutionstheorie bei den Neurosen zu begnügen. Den allergrößten
und allseitigsten Widerstand hat jedoch die Freud sehe Lehre durch
die Aufdeckung sexueller Momente als regelmäßige Verursachung
der neurotischen Erkrankungen gefunden. Hier liegt der Widerstand —
ein normaler Widerstand — in der Sache selbst, indem Gesunde und
leicht Neurotische aus begreiflichen Gründen die überwiegende Be-
wegung leiten. Die Arbeiten der deutsch-österreichischen und schweizerischen
Literatur finden sich in der Bibliographie des r Jahrbuches f. psychoanalyt. und
psychopatholog. Forschungen", hg. von Bleuler und Freud, redig. von Jung,
II. Band, 1910. — Ebenda sind kurze Sammelreferate über den Anteil der rus-
sischen, italienischen und engbsch-amerikanischen Fachliteratur.
*) Zur Widerlegung Isserlins u. a. vgl. Bleuler „Die Psychanalyse Freuds".
Jb., II. Bd., 1910 (auch separat bei F. Deuticke, Leipzig und Wien).
**) Kronfelds seh einwissenschaftlichen Einwänden hat Bosenstein gründ-
lich heimgeleuchtet. (Jb., IV., 1912.)
Widerstände gegen sexuelle Ätiologie und psych. Determinismus. 3
deutung der Sexualität abzulehnen geneigt sind : Die Gesunden
deshalb, weil sie für sie nicht zum Problem wurde, die anderen aus
dem unbewußten Bedürfnis, über die eigenen Schwächen einen Schleier
zu breiten. Leider sind auch die Ärzte in ihrem persönlichen Verhältnis
zu den Fragen des Sexuallebens vor anderen Menschenkindern nicht
bevorzugt, und manche von ihnen stehen unter dem Banne jener
Vereinigung von Prüderie und Lüsternheit, welche das Verhältnis der
meisten Kulturmenschen in Sachen der Sexualität beherrscht. Aber
selbst jene, welchen es in ihrer ärztlichen Erfahrung nicht entgehen
konnte, daß die Sexualität bei den Neurosen eine bedeutsame Rolle
spielt, leugnen die Allgemeinheit dieser Erfahrung und bestreiten, daß
in jedem Falle die auslösenden oder entscheidenden Momente sexuellen
Charakter verraten müßten. Dem gegenüber darf sich Freud darauf
berufen, daß ihm seine jahrzehntelange Erfahrung noch keine Ausnahme
gezeigt hat. Es wird also hier abzuwarten sein, ob denn unter An-
wendung der von Freud angegebenen Untersuchungsmethode über-
haupt Ausnahmen erweisbar sind.*) In seltsamem Kontrast zu diesem
Vorwurf der ungerechtfertigten Verallgemeinerung wird von anderer
Seite vorgebracht, Freuds Lehre verkünde eigentlich gar nichts
Neues, schon die Alten und die naive Volksmeinung hätten das Liebes-
leben mit den Nerven- und Geisteskrankheiten in Zusammenhang
gebracht. Hat Freud auch diese keineswegs zu unterschätzenden
Bundesgenossen mit Genugtuung anerkannt, so muß man sich doch
darüber klar bleiben, welcher Abstand seine wissenschaftliche Methodik
und Beweisführung von diesem natürlichen und naiven Volksglauben
trennt. Dies gilt besonders von der Deut bar keitdesTraumes, dessen
ernsthaft- wissenschaftliche Untersuchung die Schulgelehrsamkeit ablehnt,
für dessen sinnvollen Inhalt aber entgegen dieser gelehrten Meinung
und im Sinne des uralten Volksglaubens Freuds grundlegende Arbeit
den Beweis erbracht hat. Wer sich dazu entschließt eigene oder fremde
Träume nach den psychoanalytischen Anleitungen zu deuten, wird
sich bald respektvoll vor dieser vielleicht bedeutungsvollsten Leistung
Freuds beugen und zu identischen Ergebnissen gelangen. Auf der
anderen Seite widerstrebt das allgemein menschliche Gefühl vom
Zufall im seelischen Geschehen der Anerkennung der Freud sehen Lehre
von der strengen Determiniertheit jedes psychischen Vorganges,
*) Man vergleiche hiezu den Entwicklungsgang der ätiologischen Anschau-
ungen bei der Tahes dorsalis, wo nunmehr Syphilis als notwendige Voraussetzung
feststeht.
1*
Einleitung.
sowie auch die Unkenntnis der für die Traum- und Symptomdeutung
unentbehrlichen Symbolik und ihrer gesicherten Beweise Einwände
ge«en deren Verwendung erzeugt.*) Viel Widerstand fanden endlich
die° Tatsachen, die Freud über die frühen sexuellen Äußerungen der
Kinder berichtet hat, welche bisher von anderen nur als Kuriosa oder
als abschreckende Beispiele vorzeitiger Verderbtheit angeführt wurden.
Und doch kann auch hier jeder, der seine Beobachtungsnchtung einmal
darauf eingestellt hat, sich alsbald von der Allgemeinheit dieser Vor-
gänge überzeugen. Allerdings darf man sich die Mühe nicht verdrießen
lassen, auch unscheinbaren Anzeichen seine Aufmerksamkeit zuzu-
wenden.
Ein Teil des Widerspruches erklärt sich auch daraus, daß Freud
den Begriff der Sexualität, durch seine Untersuchungen genötigt, in
weiterem Sinne nimmt und darin dem deutschen Sprachgebrauche
folgt, der so vieles als „Lieben" bezeichnet und somit die Einheit
alles' Liebens vom grobsinnlichem Sexualverkehr bis zur anspruchslosen
Zärtlichkeitszuwendung behauptet. Die Verwendung des Begriffes
Sexualität im Freud sehen Sinne ist psychologisch zu rechtfertigen
und führt zu den fruchtbarsten Gesichtspunkten. Auch sind selbst-
verständlich nicht nur die wirklichen Betätigungen, sondern auch die
Phantasiebildungen zum Sexualleben zu rechnen. Die eingeschränkte
und herabsetzende Verwendung des Wortes Sexualität, auf deren Fest-
halten ein Teil der Widersprüche der Gegner beruht, muß Freud
ablehnen. Überdies sei hier ausdrücklieh hervorgehoben, daß Freud
sich darüber klar ist, welche entscheidende Rolle neben dem Sexual-
trieb die egoistischen oder Ichtriebe im Leben und auch in der Neu-
rose spielen. Die F r e u d sehe Lehre betont jedoch als die bisher ver-
nachlässigten Haupttriebkräfte die libidinösen Regungen und das un-
bewußte Seelenleben. Die psychoanalytische Detailuntersuchung der
Ichtriebe, die noch aussteht, würde ergänzende Aufklärungen liefern .**)
Was einer weiteren Verbreitung und Bestätigung der Neurosen-
lehre Freuds bis zu einem gewissen Grade wirklich hindernd ent-
""■) Die" Ärzte werden sich gewöhnen müssen, wie sie z. B. die von den
Bakteriologen gewonnenen Resultate als tatsächlich übernehmen, auch die von der
speziellen Symbolik-Wissenschaft aus der Mythologie, Sprachwissenschaft, Folklo-
ristik usw. erbrachten Beweise als gesichert anzuerkennen, ohne jedesmal selbst
auch in diesen Hilfswissenschaften gelehrt zu sein.
**) Einiges Richtige findet sich bei Adler: „Über den nervösen Charakter
(Bergmann, Wiesbaden, 1912).
Schwierigkeiten der Technik.
o
gegenständ, ist der Umstand, daß es bisher an einer systematischen und
vollständigen Darstellung der Methodik der Analyse fehlt, während
man sonst in der Medizin gewohnt ist, zuerst die Methodik in die
Hand zu bekommen und so in die Lage versetzt wird, direkt nach-
prüfen zu können. Auch ist eine praktische Demonstration der
Methode, eine konfrontierende Psychoanalyse, untunlich. Freilich stand
es dem ernsthaft Interessierten immer offen, sich durch persönlichen
Kontakt mit Freud und durch eigene konsequente Bemühung die
Technik anzueignen, was ja zahlreichen Berufenen tatsächlich gelungen
ist. Auf der anderen Seite sind es die technischen Schwierigkeiten
der Wiedergabe der Analysen, welche auch das Erlernen am Beispiel
erschweren. Die relativ wenigen von Freud veröffentlichten Ana-
lysen*) sind nur bruchstückweise mitgeteilt, weil ihre vollkommene
Reproduktion einen enormen Umfang einnähme und den Arzt zum
Teil mit seiner Diskretionspflicht in Widerspruch brächte. Anderseits
büßen aber vereinzelte Details, aus ihrem Zusammenhang gerissen, den
größten Teil ihrer Beweiskraft ein. Aus diesen Gründen kann auch
die gegenwärtige Darstellung der Anführung von Beispielen sich
nur in beschränktem Ausmaß bedienen. Übrigens würde man
auch durch reichliche Beispiele jene nicht überzeugen, die sich
nicht überzeugen lassen wollen, während diejenigen, die sich eine
Überzeugung von der Objektivität des unbewußt pathogenen Mate-
rials bereits durch eigene Erfahrungen erworben haben, selbst
die Mittel besitzen, um die Fortschritte auf dem Gebiete der Psycho-
analyse jeweils nachprüfen zu können. Sie wären auch am
besten berufen, jenen Vielzuvielen entgegenzutreten, welche immer
wieder behaupten wollen, daß vieles von dem sexuell-pathogenen
Material, das die Analyse aufdeckt, in die Kranken hineinexaminiert,
ihnen suggeriert sei. Wer erst einem solchen Patienten mehrere
Stunden geduldig und vorurteilslos zuzuhören weiß, der wird sich
endlich überzeugen, daß jeder Neurotiker voll von diesem Thema ist
und nur darauf wartet, diese auch vor den Nächststehenden — ja
vor sich selbst — sorgfältig gehüteten Geheimnisse dem verständnis-
*) Freud: „Bruchstück einer Hysterieanalyse" (Lit.-V. Nr. 21), „Analyse
der Phobie eines fünfjährigen Knaben" (Jb., I), „Bemerkungen über einen Fall
von Zwangsneurose" (ebenda), „Psychoanalytische Bemerkungen über einen auto-
biographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)" (ebenda
Bd. III). — Zum Teil ausführliche Analysen anderer Autoren finden sich im Jahr-
buch und an anderen Orten.
g Einleitung.
vollen Zuhörer anzuvertrauen. Auf diesem Wege stellen sieli die
therapeutischen Erfolge ein, die keineswegs, wie manche skeptisch
behaupten, an die Person eines Einzelnen und seine Autorität gebunden
sind, sondern in der richtigen Erfassung und entsprechenden Ver-
wertung der Methode und der Technik liegen.
In dem Drange, die uneingestandene Abneigung gegen diese
neuartigen und keineswegs einschmeichelnden Lehren durch plausibel
scheinende Einwände zu rechtfertigen, wurde gegen die Freud sehen
Aufstellungen auch der Vorwurf erhoben, sie erschienen deshalb nicht
vertrauenswürdig, weil sie im Laufe der Jahre mehr als einmal
Modifikationen erfahren hätten. Es ist wohl kaum nötig, einen For-
scher der eine so umwälzende Lebensarbeit viele Jahre hindurch
ohne jede Beihilfe und Aufmunterung von seiten der Fachgenossen
zu leisten hatte, gegen diesen Anwurf zu verteidigen, den er selbst
mit folgenden Worten abgewiesen hat: „Wer mit der Entwicklung
menschlicher Erkenntnis vertraut ist, wird ohne Verwunderung hören,
daß ich einen Teil der hier vertretenen Meinungen seither überwunden,
einen anderen zu modifizieren verstanden habe. Doch habe ich den
größeren Teil unverändert festhalten können und brauche eigentlich
nichts als völlig irrig und ganz wertlos zurückzunehmen.« Für den
Einsichtigen ist die Entwicklung der Freud sehen Lehren vielmehr
der Beweis für eine großzügige Konzeption am Beginne, die im we-
sentlichen unerschüttert blieb und nur im einzelnen eine immer feinere
Detailausführung erfährt. Die durchgemachte Entwicklung gibt die
beste Gewähr dafür, daß diese Lehre als Niederschlag fortgesetzter
und vertiefter Erfahrungen gewonnen wurde. Es soll gar nicht ge-
leugnet werden, daß auch heute manche Punkte des Freud sehen
Arbeitsgebietes teils unaufgeklärt, teils noch nicht genügend gesichert
restieren, und daß es einer gewaltigen Arbeit nicht nur einer Genera-
tion bedürfen wird, um die Lehre ihrem vollen Ausbau zuzuführen.
Es läßt sich voraussehen, daß der Inhalt dieser Lehren dann ein un-
entbehrlicher Bestandteil der ärztlichen Schulung sein wird, und daß
die psychoanalytische Wissenschaft in der Hand künftiger Ärztegenera-
tionen zu unersetzlicher praktischer Bedeutung gelangen wird.
I.
Allgemeine Neurosenlehre.
Freuds Arbeitsgebiet. Allgemeine Pathologie: Einteilung der Neurosen. - Entwicklungs-
gang der Freudsclien Neurosen lehre. — Allgemeine Ätiologie: Rolle der Sexualität und
der Heredität. — Die Nsychosexuellc Konstitution. — Veranlassungen der Neurosen.
Das Arbeitsgebiet Freuds umfaßt die Neuroseu im engeren
Sinne sowie gewisse ihnen nahestehende Psychosen wie Paranoia,
akute halluzinatorische Verwirrtheit u. a. Zum Begriff der Neurosen
wurden in früherer Zeit viele Krankheitsbilder gezählt, von denen durch
die Fortsehritte der Blutdrüsenlehre manche, wie z. B. der Morbus
Basedowii, die Tetanie u. a., ausgeschieden werden konnten, während
anderseits z. B. die Chorea als Infektionskrankheit wegfiel. Es be-
schränkt sich der Begriff der Neurosen nunmehr auf die Neurasthenie
sowie auf die Hysterie und Zwangsneurose. Diese Neurosen verdienen
nach den Feststellungen Freuds den Namen Sexual neurogen,
denn für diese Krankheitsbilder ließen sich die hauptsächlichsten ätio-
logischen Momente in der psychosexuellen Sphäre nachweisen. Auf
dem Gebiete der Neurasthenie ergab die Freud sehe Forschung eine
praktisch bedeutsame Sonderung. Freud hat aus dem vagen Be-
griff der „Neurasthenie" in einer klassischen Studie*) die Angst-
neurose herausgehoben und überdies einen Symptomenkomplex
als sogenannte „eigentliche Neurasthenie" scharf umschrieben. Er-
nannte diese beiden Krankheitsbilder Aktualneurosen, weil
ihre Verursachung in einer gegenwärtigen (oder relativ kurze
Zeit zurückliegenden), von der Norm abweichenden Sexualbetätigung
des Individuums liegt und stellte ihnen die Hysterie und die Zwangs-
neurose unter dem Namen Psychoneurosen gegenüber.**) Bei
*) „Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen be-
stimmten Symptomenkomplex als ,Angstneurose' abzutrennen."
Lit.-V. Nr. 4.
**) Jung hat nicht ohne Berechtigung vorgeschlagen, diese Psychoneurosen
„Ubertragungsneurosen" zu nennen, weil in diesen Fällen die durch Ab-
wendung von der enttäuschenden Realität frei gewordene Libido leicht dem Arzt
g I. Allgemeine Neurosenlehre.
diesen gehören, im Gegensatze zu den Aktualneurosen, die letzten
verursachenden Momente nicht dem aktuellen Sexualleben an,
sondern einer längst vergangenen Lebensepoche der frühen Kind-
heit. Auch diese erst später pathogen wirkenden infantilen Er-
lebnisse und Eindrücke erwiesen sich regelmäßig als dem erotischen.
Leben angehörend, das man beim Kinde bisher mit Unrecht völlig
vernachlässigen zu können glaubte. So ergab sich also in allen Fällen
von Neurose eine sexuelleÄtiologie;bei den Aktualneurosen waren
es Momente aktueller Art, bei den Psychoneurosen solche infantiler
Natur. Ein zweiter wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden
Gruppen nervöser Erkrankungen ist darin zu sehen, daß bei den
Aktualneurosen die Störungen (Symptome), mögen sie sich in den
körperlichen oder in den seelischen Leistungen äußern, toxischer
Natur zu sein scheinen ; sie verhalten sich ähnlich wie die Erschei-
nungen bei übergroßer Zufuhr oder bei Entbehrung gewisser Nerven-
gifte. Diese Neurosen — sonst meist als Neurasthenie zusammen-
gefaßt — können, ohne daß immer die Mithilfe einer erblichen Be-
lastung erforderlich wäre, durch gewisse schädliche Einflüsse des
Sexuallebens erzeugt werden, und zwar korrespondiert die Form der
Erkrankung mit der Art der Schädlichkeit, so daß man oft genug das
klinische Bild ohne weiteres als Rückschluß auf die besondere sexuelle
Ätiologie verwenden kann. Bei den Psychoneurosen dagegen ist der
Einfluß der Konstitution und Heredität bedeutsamer, die Verursachung
minder durchsichtig. Ein eigentümliches Untersuchungsverfahren, das
später als Psychoanalyse beschrieben werden soll, hat aber zu er-
kennen gestattet, daß die Symptome dieser Leiden (der Hysterie,
Zwangsneurose)*) psychogen sind, von der Wirksamkeit unbewußter
(verdrängter) Vorstellungskomplexe abhängen. Dieselbe Methode hat
aber auch diese unbewußten Komplexe selbst kennen gelehrt und
gezeigt, daß sie, ganz allgemein gesprochen, psycho-sexuellen Inhalt
haben • sie entstammen den Sexualbedürfnissen von im weitesten Sinne
des Wortes unbefriedigten Menschen und stellen für sie eine Art
Ersatzbefriedigung dar.
zugewendet („übertragen") wird, während bei anderen durch ihren Entstehungs-
mechanismus nahestehenden psychischen Leiden (Paranoia, Dementia praecox) der
ganze Libidobetrag, dem eigenen Ich zugewendet, unverwendbar bleibt und don
Kranken unbeeinflußbar macht.
*) Derselbe Gesichtspunkt hat sich später bei der Untersuchung einiger
Psychosen, speziell der Dementia paranoides, bewährt (vgl. Kap. VI, Schluß).
Entwicklungsgang der Lehre. 9
Der Wert der theoretischen Unterscheidung zwischen den toxi-
schen (Aktual-)Neurosen und den psychogenen Neurosen wird durch
die Tatsache nicht beeinträchtigt, daß an den meisten nervösen Per-
sonen Störungen von beiderlei Herkunft zu beobachten sind.
Namentlich verbindet sich Angstneurose sehr häufig mit Hysterie (vgl.
später die „Angsthysterie"), Zwangsneurose mit Neurasthenie usw. In
diesen Fällen läßt sieh eine gemischte und kombinierte Ätiologie in
dem dargelegten Sinne nachweisen.
Wenn diese beiden großen Krankheitsgruppen vorhin als das
ursprüngliche Arbeitsgebiet Freuds angegeben wurden, so muß doch
betont werden, daß Freud seit ungefähr l 1 /, Jahrzehnten nicht mehr
Gelegenheit genommen hat, sich neuerlich mit den Aktualneurosen
zu beschäftigen. Der bedeutende Fortschritt, den indessen die Er-
kenntnis vom Wesen der psychoneurotischen Erkrankungen gemacht
hat, muß ihre Beziehung zu den Aktualneurosen in ein etwas anderes
Licht rücken, und es wird wohl auf diesem Gebiete in der nächsten
Zeit eine Revision nötig werden.*) Das engere Arbeitsgebiet Freuds
bilden demnach die psychoneurotischen Erkrankungsformen und es
ist überaus instruktiv, die Etappen der Entwicklung dieses Kernes der
Freud sehen Lehre zu verfolgen, wenn man seine Theorie von der
ätiologischen Bedeutung der psychosexuellen Momente für die Neurosen
ihrem vollen Umfang und Werte nach würdigen will.
Sehr bedeutsame Anregungen hatte Freud als Schüler Char-
cots 1885—1886 in Paris erfahren.**) Besonders war es der Schritt,
mit demCharcot noch über das Niveau seiner sonstigen Auffassung
der Hysterie hinausging und sich den Ruhm des ersten Erklärers
dieser rätselhaften Krankheit sicherte, welcher so bedeutsam für die
weitere Forschungsarbeit auf diesem Gebiete werden sollte: Mit dem
Studium der hysterischen Lähmungen beschäftigt, die nach Traumen
entstehen, kam Charcot nämlich auf den Einfall, diese Lähmungen
künstlich zu reproduzieren und bediente sich hiezu hysterischer Patienten,
die er durch Hypnose in den Zustand des Somnambulismus versetzte.
*) Vgl. S. 30.
**) Vgl. Freuds Nachruf an Charcot. Lit.-V. Nr. 23. — Als Dozent an der
Wiener Universität hat Freud die wichtigsten Arbeiten seiner französischen Lehr-
meister ins Deutsche übersetzt: J. M. Charcot: „Poliklinische Vorträge". Schuljahr
1887/88. — „Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbe-
sondere über Hysterie." — H. Bernheim: „Die Suggestion und ihre Heilwirkung."
— „Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und Psychotherapie." — Sämtlich
im Verlage von Fr. Deuticke, Wien und Leipzig.
10
I. Allgemeine Neurosenlehre.
Es gelang ihm so nachzuweisen,*) daß diese Lähmungen Erfolge
vonVorstellungen seien, die in Momenten besonderer Disposition
das Gehirn des Kranken beherrscht hatten. Damit war zum ersten-
mal der Mechanismus eines hysterischen Symptoms aufgeklärt, und an
dieses unvergleichlich schöne Stück klinischer Forschung knüpfte
Charcots Schüler P. Jan et an, um ein tieferes Eindringen in die
besonderen psychischen Vorgänge bei der Hysterie anzubahnen. Diesem
Beispiele folgten dann Breuer und Freud und gelangten so dazu,
in ihren gemeinsam publizierten „Studien über Hysterie" (1895)
eine psychologische Theorie der Hysterie zu entwerfen. Breuer hatte
in den Jahren 1880—1882 einen denkwürdigen Fall von Hysterie be-
obachtet, welcher in sogenannten „hypnoiden" Zuständen dem be-
handelnden Arzte jene psychisch-traumatischen Erlebnisse preisgab,
welche das einzelne hysterische Symptom bedingt hatten. Dabei ergab
sich die vollkommen neue und überraschende Tatsache, daß die ein-
zelnen hysterischen Symptome verschwanden; wenn es gelungen war,
die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit
zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und
wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise
schilderte und dem Affekte Worte gab. Anschließend an diese klassische
Beobachtung Breuers, sozusagen die erste Psychoanalyse, hat Freud
das .,kathartische Verfahren" an einer Reihe von Fällen mit Erfolg
angewendet. Breuer und Freud gelangten so zu Aufschlüssen,
welche gestatteten, die Brücke von der traumatischen Hysterie Char-
cots zur gemeinen, nicht traumatischen, zu schlagen. Ihre Auffassung
ging dahin, daß die hysterischen Symptome Dauerwirkungen von
psychischen Traumen sind, deren zugehörige AiFektgröße durch be-
sondere Bedingungen von der bewußtpsychischen Bearbeitung abgedrängt
worden war, und die sich darum einen abnormen Weg in die Körper-
innervation gebahnt hatte (Konversion). Die Termini „eingeklemmter
Affekt", „Konversion" und „abreagieren" fassen das Kennzeichnende
dieser Anschauung zusammen. Es erwiesen sich nämlich diese pein-
lichen Erlebnisse „ins Unbewußte verdrängt", die Affekte der ursprüng-
lich nicht abreagierten Vorstellung als „eingeklemmt" und erst durch
die vollständige Aussprache konnte die pathogene Wirksamkeit der
alten Erinnerungen aufgehoben werden. Ist bei einer Person die
Eignung zur Konversion nicht vorhanden, so kann die von ihrem
*) In Lidbeault: „Du Sommeil et des Etats analogues" (1866) findet sich
bereits dieselbe Auffassung (zitiert nach Forel).
Entwicklungsgang der Lehre. 11
Affekt losgelöste Vorstellung abseits von aller Assoziation im Bewußt-
sein bleiben, ihre frei gewordene Erregungssumme aber hängt sich an
andere, an sich nicht unverträgliche Vorstellungen, die durch diese
falsche Verknüpfung zu Zwangsvorstellungen im weiteren Sinne werden
(Substitution). Hysterie und Zwangsneurose sind also beide als
Fälle von „mißglückter Abwehr" zu betrachten.
Bei der weiteren Beschäftigung mit den Psychoneurosen, die
Freud nun allein fortsetzte, fand er jedoch, je weiter er den veran-
lassenden psychischen Traumen, von denen sich die hysterischen
Symptome ableiten sollten, nachspürte, daß diesen anscheinend
ätiologisch ursprünglichen Szenen das eine Mal die determinierende
Eignung, das andere Mal die traumatische Kraft, die Krankheit hervor-
zurufen, aberkannt werden mußte. Das traumatische Erlebnis verlor
also an Dignität und Freud fand durch fortgesetzte analytische Arbeit
längs der Erinnerungsketten des Patienten, daß kein Symptom eines
Hysterikers aus einem realen Erlebnis allein hervorgehen könne,
sondern daß alle Male die assoziativ geweckte Erinnerung an
frühere, meist der Pubertätszeit angehörende traumatische Erlebnisse,
die damals zunächst nicht traumatisch gewirkt hatten, zur Verur-
sachung des Symptoms mitwirkt. Als weiterer Erfolg dieser konse-
quenten Analysenarbeit ergab sich, daß in jedem Falle und
von welchem Symptom immer man seinen Ausgang nehmen
mochte, man endlich unfehlbar auf das Gebiet des sexuellen Er-
lebens gelangte. Hiemit war also zuerst eine ätiologische Bedingung
hysterischer Symptome aufgedeckt. Aber auch diese mit soviel Mühe
aufgefundenen, aus altem Erinnerungsmaterial extrahierten, anscheinend
frühesten traumatischen Erlebnisse erwiesen sich — obwohl sie die
beiden Charaktere : Sexualität und Pubertätszeit gemeinsam hatten —
sonst als sehr disparat und ungleichwertig, so daß man neuerdings zu
weiterer Nachforschung angeregt wurde. Es gelang endlich zu zeigen,
daß auch hinter diesen sexuell-erotischen Pubertätserlebnissen noch
weiter zurückreichende, also infantile Erlebnisse stehen, die wiederum
sexuellen Inhaltes, aber weit gleichförmigerer Art als die letztgefundenen
Pubertätsszenen sind. Diese infantilen Erlebnisse entfalten ihre Wirkung
aber nur zum geringsten Maße zur Zeit, da sie vorfallen ; weit bedeut-
samer ist ihre nachträgliche Wirkung, die erst in späteren Perioden
der Reifung eintreten kann. Da also diese infantilen Erlebnisse
sexuellen Inhalts nur durch ihre Erinnerungsspuren eine psychische
Wirkung äußern können, so ergibt sich hier die Einsicht, daß hyste-
jo I. Allgemeine Neurosenlelire.
rische Symptome immer nur unter der Mitwirkung von Erinnerungen
entstehen. Die Hysterischen „leiden an Reminiszenzen". Es fanden
sich zu Grunde jedes Falles von Hysterie — trotz des Dezennien um-
fassenden Zeitintervalls durch ausdauernde analytische Arbeit repro-
duzierbar — ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller
Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Diese traumatischen
Erlebnisse wurden anfangs irrtümlich auf den Neurotiker beschränkt -
doch zeigte sich bald, daß solche Erlebnisse auch von später voll-
kommen gesund gebliebenen Personen häufig bewußt erinnert werden
und daß demnach auch darin nicht das spezifisch-ätiologische Moment
für die Entstehung der neurotischen Symptome liegen könne. Durch
eingehende Untersuchung des Sexuallebens der ersten Kinder-
jahre wurde auch dieser notwendige und so lehrreiche Irrtum er-
kannt und durch vertiefte Einsichten in die konstitutionellen
Momente überwunden. Zuvor hatte Freud in den „Drei Ab-
handlungen zur Sexualtheorie" den ganzen polymorphen
Reichtum des normalen infantilen Sexuallebens mit seinen Krankheits-
und Abnormitätskeimen aufgedeckt. Damit trat an die Stelle des
ursprünglich überschätzten infantilen Sexualtraumas der Infantilis-
mus der Sexualität. Und da vielfach die vom Kranken aus der
Kindheit berichteten sexuellen Erlebnisse sich als später gebildete
Phantasien der Pubertätserotik über die frühere Kinderzeit erwiesen,
so trat die Bedeutung des vorwiegend erotischen Phantasie leben s
für das spätere Erkranken an Neurose in den Vordergrund. Kein
Trieb ist ja in dem Grade wie der Sexualtrieb genötigt, eine Zeitlang
auf reale Befriedigung verzichten zu müssen. Er ist, um an den
Lustquellen festhalten zu können, gezwungen, sich des Phantasierens
zu bedienen. In verstärktem Grade bildet der Mißbrauch der Phan-
tasie einen Teil der psychischen Disposition zur Neurose. — Als
es Freud endlich gelungen war, eine Kinderneurose in statu nascendi
zu analisieren, zeigte sich der entscheidende Einfluß der Familien-
konstellation auf Inhalt und Intensität des kindlichen Liebeslebens
sowie seine späteren Entwicklungsmöglichkeiten. Art und Grad
der psychischen Einstellung des heranwachsenden Kindes zu den
Eltern und Geschwistern sowie zu den sich auf diese Personen be-
ziehenden Problemen der Geburt und Zeugung enthüllte sich immer
deutlicher als der eigentliche Kernkomplex der Neurosen und
zugehörigen Psychosen. Zur Ausbildung einer Neurose aus diesem
auch normalerweise angedeuteten Kernkomplex gehört neben quanti-
Die psychosexuelle Konstitution.
13
tativen Überschreitungen in exquisiter Weise eine hereditäre Veranlagung,
welche Freud in einem engeren Sinne als psychosexuelle Kon-
stitution umschrieben hat.
Als Freud auf den Plan trat, bildete die Heredität die wichtigste
Voraussetzung der Neurose. Er konnte sich also mit Recht zunächst
den veranlassenden Momenten zuwenden ; daneben hat er aber
nicht übersehen und auch wiederholt ausgesprochen, daß außer den
Momenten auf psycho-sexuellem Gebiete die Ätiologie der Neurosen
sowohl durch Vererbung als durch eine eigenartige Konstitution
mitbedingt sei, und daß die Neurosen, ebenso wie alle anderen
Krankheiten, komplexe Ursachen haben. Wenn auch in neuerer
Zeit die Lehre von der Belastung eine gewisse Abschwächung er-
fahren hat, so ist es doch keinem Zweifel unterworfen, daß es neuro-
pathische Familien gibt"), wo sich die Belastung in exquisiter Weise
verfolgen läßt.**) Die Mannigfaltigkeit und die verschiedenen Aus-
gangsmöglichkeiten einer abnormen psychosexuellen Konstitution hat
Freud in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" aus-
führlich dargelegt. Zu den hereditären und konstitutionellen Vor-
bedingungen kommen als weitere den Ausbruch der Neurose begün-
stigende Momente eine Anzahl von vorzeitigen sexuellen Erlebnissen
und Betätigungen, deren Bedeutsamkeit nur deshalb so lange über-
sehen werden konnte, weil man jener Vorzeit, welche durch die Lebens-
dauer der Ahnen gegeben ist, also der Erblichkeit, so viel mehr Auf-
merksamkeit geschenkt hat, als der anderen Vorzeit, welche bereits
in die individuelle Existenz der Person fällt, nämlich der frühen Kind-
heit. Freud hat sich ein Verdienst erworben mit dem Hinweis auf
die oft recht frühzeitigen Verführungen durch andere Kinder oder Er-
wachsene und der abnormen Reaktion auf diese Erlebnisse infolge
einer besonderen Haftbarkeit dieser Eindrücke. Ihre größten Leistun-
gen wird die Neurose jedesmal zu stände bringen, wenn Konstitution
*) Freud hatte seinerzeit darauf hingewiesen, daß bei mehr als der Hälfte
seiner psychotherapeutisch behandelten schweren Fälle von Neurose der Nachweis
einer vor der Ehe überstandenen Syphilis der Väter zu führen war; es war in
diesen Fällen die abnorme psychosexuelle Konstitution als der letzte Ausläufer
der luetischen Erbschaft zu betrachten.
**) Die Form der Neurose (Zwang, Angst) ist oft die gleiche, was nicht
immer nur auf Identifikation mit dem älteren erkrankten Familienmitglied zurück-
geht. Vgl. dazu die ähnlichen Verhältnisse bei Psychosen: Albrecht: „Gleich-
artige und ungleichartige Vererbung der Geisteskrankheiten." (Ztschr. f. d. ges.
Neur. u. Psych., 11. Bd., 1912.)
14
I. Allgemeine Neurosenlehre.
und Erleben in demselben Sinne zusammenwirken.*) Eine ausgespro-
chene Konstitution wird etwa der Unterstützung durch die Lebens-
emdrücke entbehren können, eine ausgiebige Erschütterung im Leben
etwa die Neurose auch bei durchschnittlicher Konstitution zu stände
bringen Neben dem zugestandenen Anteil der echten Hereditat
Äeud aber auch eine Pseudoheredität als Einfluß eines Milieus
nervöser Menschen, namentlich nervöser Eltern aufgedeckt und so
gezeigt,, daß es für neurotische Eltern nähere Wege als den der E b-
fichkd gibt, ihre Störungen auf die Kinder zu übertragen Es ist
eines der besten Vorzeichen späterer Nervosität wenn sich das Kind
unersättlich in seinem Verlangen nach Zärüichkeit der Eltern erweist,
und anderseits werden gerade neuropathische Eltern, die ja meist zur
maßlosen Zärtlichkeit neigen, durch ihre Liebkosungen die Disposition
des Kindes zu neurotischer Erkrankung am ehesten erwecken.
Es kommt da der Anschein einer erblichen Übertragung zu stände,
der sich bei schärferem Zusehen in die Wirkung mächtiger in antiler
Eindrücke auflöst. Freud nimmt also an daß die Hereditat ihren
Ausdruck findet in einer eigenartigen psychosexuellen Konstitution
des Individuums, die sich in einem abnorm starken .und vielseitigen
Triebleben und in einer daraus folgenden sexuellen Frühreife außer .
Diese erschwert die wünschenswerte spätere Beherrschung des Sexual-
triebes durch die höheren seelischen Instanzen, seine Anpassung an
die herrschende Kulturforderung und steigert den zwangsartigen
Charakter, den die psychischen Vertretungen dieses > Triebes ohnedies
in Anspruch nehmen. Diese konstitutionell bedingte frühzeitige und
übermächtige Ausbildung des Sexualtriebes kann nur paralysiert werden
durch eine über das normale Maß hinausgehende Unterdrucknngstendenz
(Sexualverdrängung) des Ich. Wenn der Kampf des Ich ein siegreicher
ist, so entstehen keine Krankentypen, sondern in der Realität ; «r olgreiche
oderüberwertigeMenschentypenDieSchicksale ^Libido *)hat
die Psychoanalyse als entscheidend für nervöse Krankheit und Gesund-
heit erkannt; sie hat auch die neurotische Disposition m der Ent-
Wicklungsgeschichte der Libido nachzuweisen ermöglicht und die in
-^"üe" Annahme eines solchen Zusammenwirkens verschiede ^*™^
Stelle der Hervorhebung ihrer Gegensätzlichkeit »~*^^*!^3
Ncurosenlehre, die es überhaupt niemals versäumt, die «£«*2^£3
betonen und keineswegs, wie ihr vorgeworfen wird, einseitig dogmatisch ver
**) unter dem Begriff Libido wäre die Summe ,11er Triebe >M^
zu verstehen, die aus de,! verschiedenen grobsexucllen und psychosexuellen Regun
gen und deren vergeistigten Umwandlungen entspringen.
Libidotheorie und Verdrängungslehre. 15
ihr wirksamen Faktoren auf mitgeborene Varietäten der sexuellen
Konstitution und in früher Kindheit erlebte Einwirkungen der Außen-
welt zurückführen können. Ausführliches über die Bedingungen der
einzelnen Formen der Neurose, die sog. „Neurosenwahl«, steht noch
nicht fest: doch kommen offenbar zeitliche Verhältnisse der Entwick-
lung in Betracht, so daß die Neurosenwahl davon abhängig sein wird
in welcher Phase der Ich- und der Libidoentwicklung die disponierende
Entwicklungshemmung eingetreten ist.
Einer der wichtigsten Begriffe der Dynamik der Neurosenentstehung
ist die Verdrängung, worunter die vom Ich ausgehenden und gegen
die Ansprüche der Libido gerichteten Abwehrbestrebungen bildlich
verstanden werden. Der Ausdruck Verdrängung entspricht dem Be-
dürfnis, psychologisch-theoretische Vorstellungen in räumlicher Bildlich-
keit wiederzugeben, er entspricht aber auch einer aus innerer Erfah-
rung heraus oft verwendeten Schilderung der inneren Kämpfe durch
den Patienten selbst. Zu dem Vorgang der Verdrängung, der bei Be-
schreibung des Unbewußten näher erörtert werden soll, sei vorläufig
kurz erwähnt, daß dieser Mechanismus organische Bahnungen haben
kann meiner m frühester Kindheit auftretenden Entwicklungshemmung
eines Triebes oder Triebanteils. Diese Fixierung, welche die Dis-
position für spätere Erkrankung bedingt, bildet auch den schwachen
Punkt, an welchem die Verdrängung scheitern kann, wodurch ja erst
die pathologischen Phänomene zu Tage treten: das ursprünglich Ver-
drängte erzwingt sich in der entstellten Form des Symptoms wieder
den Durchbruch ins Bewußtsein.
Es werden bei den speziellen Krankheitstypen, namentlich bei der
Hysterie die Mechanismen der Entstehung des einzelnen Symptoms
ausführlich erörtert werden. Ein solcher Mechanismus ist, wenn er
einmal unbewußt gebahnt wurde, auch vom Bewußtsein her zugäng-
lich und kann im Dienste sekundärer Bestrebungen (Krankheits-
motive) regelmäßig ausgelöst werden. So kann z. B. der hysterische
Anfall, der ursprünglich den Ausdruck verdrängter Triebregungen
darstellt, jedesmal in Szene treten, wenn ein aktueller psychischer
Konflikt den Kranken peinlich berührt (sein Selbstgefühl herabsetzt,
ihn in Wut bringt u. dgl.) und ihn so nötigt, in der unbewußten
Phantasiebefriedigung Trost zu suchen.
Freud hat ganz allgemein für die Entstehung der Neurosen und
zugehörigen Psychosen, ohne die einzelne Erkrankungsform besonders
hervorzuheben, die veranlassenden Bedingungen auf Grund empirisch
16
I. Allgemeine Neurosenlehre.
gewonnener Eindrücke dargestellt.*) Jede Neurose hat die Folge,
also wahrscheinlich die Tendenz, den Kranken aus dem realen Leben
heraus zu drängen, ihn der Wirklichkeit zu entfremden. Dies gelingt
ihr deshalb so leicht, weil ein wesentliches Stück der psychischen
Disposition eben in einer Überwucherung des Phantasielebens besteht,
wodurch die Erziehung des Sexualtriebes zur Beachtung der Realität
verspätet eintritt. Damit wird die Libido introvertiert (Jung), d.h.
von der Realität ab- und dem Phantasieleben zugewendet. Das-
selbe schafft neue Wunschbildungen unter Mithilfe des infantilen,
verdrängten und unbewußt gewordenen Materials : Die Libido ist also
rückläufig geworden und hat infantile Bahnen aufgefunden (Re-
gression) — Die Veranlassungen des Ausbruches der Neurose sind
vor allem die Versagung der realen Befriedigung, wodurch Libido
aufgestaut wird, die das disponierte Individuum nicht im stände
ist in tatkräftige Energie, Befriedigung oder Ablenkung auf höhere
Ziele (Sublimierung) umzusetzen. Auch wenn die Anpassung an
spätere Realforderungen durch einen Entwicklungsvorgang ver-
wehrt ist entsteht ein ähnlicher Konflikt. Ist die Entwicklungs-
hemmung eine schwere, so daß die infantilen Fixierungen niemals
verlassen werden, so tritt eine Unzulänglichkeit des Individuums deut-
lich zu Tage, aber nicht in dem Sinne eines stationären Infantilismus,
sondern — offenbar noch unter dem Streben, die Kindheitsfixierungen
zu überwinden — als Neurose. Gewisse Lebensalter bedingen eine
weitere Krankheitsveranlassung, wenn durch gesetzmäßige bio-
logische Vorgänge die Quantität der Libido eine Steigerung erfahren
hat (z B Pubertät, Klimakterium). Die Libidostauung ist eklatant,
die Versagung der Außenwelt eine relative. — Die angegebenen patho-
genen psychischen Konstellationen zeigen, daß es sich bei der Neu-
rosenentstehung nicht um die Entscheidung handelt, ob die Affek-
tionen endogener oder exogener Natur seien, sondern daß die Ver-
ursachung der Neurose regelmäßig in einer bestimmten psychischen
Situation zu finden ist, welche auf verschiedenen Wegen her-
gestellt werden kann. Sei es nun, daß es sich um eine absolute Ver-
tagung handelt oder um Sonderfälle der Versagung durch Unfähigkeit
zur Anpassung usw., immer zeigt sich in dem Ergebnis wieder, daß
die Symptome Ersatzbefriedigungen darstellen sollen.
Von einer höheren Warte betrachtet, ist eigentlich unsere ganze
heutige kulturelle Sexualmoral, welche so vielerlei Beeinträchtigungen
*) Lit.-V. Nr. 50.
Allgemeine Ätiologie.
17
und Hemmungen des Auslebens kennt, ein nicht zu übersehender
Faktor in der Verursachung der neurotischen Störungen, namentlich
der Aktualneurosen. Kulturelle, noch häufiger jedoch materielle Mo-
mente stellen ja oft einem normalen Ausleben der Sexualität unüber-
brückbare Schwierigkeiten entgegen, wie es zur Verhütung respektive
Behebung neurastheniseher und angstneurotischer Beschwerden, aber
auch zur Erhaltung psychischer Gesundheit überhaupt notwendig ist.
Viel schwieriger ist — entsprechend der komplizierten Ätiologie —
die Behandlung der Psychoneurosen, zu welcher sich eine später dar-
zustellende, sehr komplizierte psychologische Technik ausgebildet hat,
die im einzelnen noch eine weitergehende Vertiefung und Verfeinerung
erfährt.
HÜB ahm ann, Freud» NeuronoiJelire. 2. Aufl.
II.
Die Aktualneurosen.
A. Die Neurasthenie: Klinisches Bild und Ätiologie. — Die Onanie. — Prophylaxe und
Therapie. — B. Die Angstncnrose: Symptomatologie. — Ätiologie. — Theorie. — Beziehung
zur Hysterie. — O. Widerlegung der Einwände gegen die sexuelle Ätiologie der Aktual-
neurosen.
A. Die eigentliche Neurasthenie.
Wie schon erwähnt, hat Freud, indem er den verursachenden
sexuellen Schädlichkeiten im Detail nachging, zeigen können (1895),
daß die Neurasthenie, wie sie von den früheren Autoren beschrieben
worden war, in zwei Krankheitsbilder zerfällt: In die sogenannte
eigentlicheNeurasthenie" und in die Angst neuro se, welche
Formen nicht nur eine spezifische Ätiologie haben, sondern auch
klinisch scharf differenzierbar sind. Unter dieser Neurasthenie faßte
Freud einen Symptomenkomplex von Kopfdruck, Spinalirritation,
Dyspepsie mit Flatulenz und Obstipation, Parästhesien, verminderter
Potenz, sowie einer vorherrschenden gemütlichen Depression zusammen.
Dieses klinische Bild entspricht nach Freuds Erhebungen der spezi-
fischen Ursache exzessiver Masturbation resp. gehäufter Pollutionen
oder besser gesagt: „Die Neurasthenie läßt sich jedesmal auf einen
Zustand des Nervensystems zurückführen, wie er durch exzessive
Masturbation erworben wird oder durch gehäufte Pollutionen spontan
entsteht."*) Dieses Bild der Neurasthenie ist ein ziemlich einförmiges
und es gelingt dadurch, verschiedene Pseudoneurasthenien (wie die
nervösen Störungen der Kachexien und der Arteriosklerose, Vorstadien
der progressiven Paralyse und mancher Psychosen, Hysterie unter dem
Bilde der Neurasthenie u. a.) schärfer als bisher von der echten Neur-
asthenie zu unterscheiden. Ferner werden sich manche Status nervosi
der hereditär Degenerierten abseits stellen lassen, und man wird auch
Gründe finden, manche Neurosen, die man heute Neurasthenie heißt,
*) Lit.-V. Nr. 23.
Die Onanie. 19
besonders intermittierender oder periodischer Natur vielmehr der
Melancholie (Cyklothymie) zuzurechnen. Die Neurasthenie der Autoren
umfaßt freilich um vieles mehr, dadurch aber auch sehr viel Unbe-
stimmtes. Die Stellung der Hypochondrie bleibt vorderhand ungeklärt. ;
doch scheinen gewisse Formen einer dritten Art von Aktualneurose
zu entsprechen.
Freud hält auch jetzt an dieser Aufstellung einer Neurasthenie
durch sexuelle Schädlichkeiten fest, hält es jedoch nicht für aus-
geschlossen, daß sorgfältige psychoanalytische Untersuchungen, die
auf diesem Gebiete noch ausstehen, für die Symptomatologie dieser
Störung auch einen psychogenen Anteil ergeben könnten. Jedenfalls
hat Freud die Erfahrung gemacht, daß eine psychoanalytische Be-
handlung wenigstens indirekt einen heilenden Einfluß auf die Aktual-
symptome nehmen kann ; sei es, daß die aktuellen Schädlichkeiten
besser vertragen werden oder das kranke Individuum in den Stand
gesetzt wird, sich durch Änderung des sexuellen Regimes diesen aktu-
ellen Schädlichkeiten zu entziehen.
Die Hauptleistung, die den einsichtigen Ärzten zu Gunsten der
Neurastheniker möglich ist, fällt in die Prophylaxe. Wenn exzessive
Masturbation in der Jugend die Ursache der Neurasthenie ist, so er-
scheint die Verhütung derselben bei beiden Geschlechtern als eine
Aufgabe, die mehr Beachtung verdient, als sie bis jetzt gefunden hat.
Die so wichtige Frage der Masturbation konnte jedoch bis jetzt keine
entscheidende Erledigung erhalten, weil einerseits die masturbatorischen
Betätigungen des Säuglings und des Kindes noch nicht genügend be-
kannt sind und anderseits über die Onanie der Pubertät und des
späteren Alters ein Ausgleich zwischen den disparatesten ärztlichen
Anschauungen noch nicht angebahnt ist. Die rein autoerotischen
masturbatorischen Betätigungen der kleinsten Kinder dürften wohl
selten und nur in exzessiven Fällen ein Eingreifen von seiten des
Erziehers, geschweige des Arztes erfordern. Die Kinderonanie, etwa
im dritten bis vierten oder fünften Jahre, muß wohl auch innerhalb
gewisser Grenzen zu den normalen Erscheinungen gerechnet werden.*)
Auch soll sie ja normalerweise bald in der sogenannten Latenzperiode
spontan aussetzen. Geschieht dies nicht oder wird sie sogar exzessiv
*) unter an Inipotenz leidenden Kranken findet sich eine relativ große Anzahl
solcher, die nie onaniert haben, und es scheint zwischen dem Unterlassen des
immerhin eine gewisse Aktivität voraussetzenden masturbatorischen Aktes und der
Sexualschwäche ein Zusammenhang zu bestehen.
2*
20
II. Die Aktualneurosen.
betrieben, so ist sie abzustellen • jedoch sind schreckhafte und schroffe
Verbote zu vermeiden, vielmehr ist mit liebevoller Konsequenz vorzu-
gehen. Es findet sich nämlich in später auftretenden Neurosen nicht
selten die angstvolle Halluzination des verbietenden Elternteils ; durch
die ziemlich allgemein übliche Drohung mit dem Abschneiden des
Gliedes kann ferner ein psychisches Trauma gesetzt werden, das nicht
selten von einem dauernden und oft unheilvollen Affekt gefolgt ist
und in den Psychoneurosen als pathogener Komplex (Kastrations-
komplex) in Erscheinung treten kann.
In der Hauptsache aber fällt der Schaden durch die Kinderonanie
mit der pathogenen Bedeutung des kindlichen Sexuallebens überhaupt
zusammen, u. zw. durch die Ermöglichung der Fixierung infantiler
Sexualziele und des Verbleibens im psychischen Infantilismus. Damit
ist dann die Disposition für den Verfall in Neurose gegeben, worüber
Näheres bei den Psychoneurosen ausgeführt wird. Die Produktion
von Phantasien in mehr weniger nahem Zusammenhang mit dem
Masturbationsakt ist das Vorbild der Tagträume, die infolge miß-
glückter Verdrängung zur Vorstufe der hysterischen Symptombildung
werden können.
Praktisch bedeutsam ist das Problem der Pubertäts- und späteren
Onanie, über welche die gegenteiligsten Erfahrungen berichtet und die
widersprechendsten Anschauungen vertreten werden. Es muß zunächst
betont werden, daß diese Onanie deshalb nicht ganz vermieden werden
kann, weil sich in unserer Kultur- und Gesellschaftsordnung zwischen
dem Erwachen des Geschlechtstriebes und der Möglichkeit seiner regu-
lären Befriedigung ein zu großes Intervall hergestellt hat. Es ergibt
sich daraus die Notwendigkeit, diese Befriedigungsart bei der ent-
sprechenden Veranlagung bis zu einem gewissen Grade gewähren zu
lassen, natürlich in mäßigen Grenzen sowie unter beruhigenden Auf-
klärungen- man kann dann beobachten, daß dies ohne wesentliche
Schädigung geschieht. Die Schädlichkeit einer verfrühten oder exzessiv
weiter betriebenen Onanie ist auch nur zum geringen Teil eine autonome,
durch die eigene Natur der Masturbation bedingte. Es gibt aber eine
bestimmte sexuelle Konstitution, durch die gewisse Mensehen an den
Folgen der Masturbation späterhin erkranken, während andere ihre
Pubertätsonanie, die nichts anderes ist, als die Auffrischung der
Masturbation der frühesten Kinderjahre, ohne merklichen Schaden
vertragen. Im allgemeinen sind die Schädlichkeiten, insbesondere der
exzessiven Masturbation, keineswegs zu bezweifeln, wenn auch ein
Schäden der Onanie. 21
Teil der Ärzteschaft, die hypochondrischen Übertreibungen mancher
.,Nervöser", welche alles Übel auf ihre Selbstbefriedigung zurückführen
wollen, nicht zu teilen geneigt ist. Die Schädlichkeiten entstehen
auf somatischem Gebiete dadurch, daß die Onanie Gelegenheit zur
übermäßigen Sexualbetätigung gibt, daß sie nicht alle physiologischen
Reizquellen in Betracht zieht, sie inadäquat entlastet und daß sie die
Potenz vermindern kann.*) Bedeutsamer sind die Schädigungen auf
psychischem Gebiete. Sie treten zu Tage sowohl direkt bei den
Anforderungen des Sexuallebens, als auch bei denen des sozialen
Lebens. Für erstere kann sich als Folge eine dauernde Unfähig-
keit ergeben, die Abstinenz sowie den Coitus interruptus zu ertragen.
Ferner resultiert eine Art Abwendung von der Realität, vom weib-
lichen Sexualobjekt, die sich später in der Intoleranz gegen die not-
wendigen Unvollkommenheiten desselben verrät. Als eine der psychischen
Hauptschädlichkeiten der Onanie muß hervorgehoben werden, daß
sie die Erhaltung eines in jeder Beziehung infantilen Zustandes
begünstigt, welcher den geeigneten Boden für die psychoneurotische
Erkrankung abgibt. Die Schädigungen, die der Onanist für sein
soziales Leben erfährt, sind mehrfache. Die leichte Erreichbarkeit des
Befriedigungszieles bei der Masturbation verwöhnt das Individuum —
nach dem Freudschen Grundsatz des psychosexuellen Parallelismus,
d. i. der Vorbildlichkeit des Sexuallebens für das sonstige Gehaben —
für die übrigen Kämpfe des Lebens, die nicht mehr mit dem erforder-
lichen Energieaufwand unternommen werden können, Der Masturbant
wird ferner durch seine Abwendung von der Geselligkeit antisozial
und verrät oft die Folgen seines vergeblichen Kampfes gegen die Leiden-
schaft in einer Anzahl von bleibenden Charakterzügen, wie Willens-
schwäche, Zweifel an der Möglichkeit eines Erfolges und ähnlicher
Selbstvorwürfe. Es scheint sich so eine Art psychisches Bild für den,
der die Onanie mißbraucht hat, entwickeln zu lassen. Hierüber wie
über zahlreiche mit der Onanie zusammenhängende Probleme rindet
sich Ausführliches in einer Publikation der ., Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung", in der auch Freud seine Stellung zu den verschiedenen
Gesichtspunkten fixiert.**)
*) Erwähnt sei auch der Magenschmerz des Onanisten (vgl. Lit.-V. Nr. 34.
S. 69-70).
'**) „Die Onanie." Vierzehn Beiträge zu einer Diskussion der „Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung". (Wiesbaden, Bergmann, 1912.) Vgl. auch Hug-
Hellmuth: „Zur weiblichen Masturbation" (Zentralbl. f. Psa. III, l),°sowie Fried-
jung: „Beobachtungen über kindliche Onanie" (Zeitschr. f. Kindern., Bd. 4, 1912).
22
II. Die Aktualneurosen.
Nach dem Gesagten ist es selbstverständlich, daß eine exzessive
Mastnrbationsübung in jedem Alter inhibiert werden muß Es soll
dies aber, wie erwähnt, mehr durch liebevolle Aufmerksamkeit sowie
Aufklärung und psychische Beeinflussung geschehen, als durch
Drohungen und krasse Schilderung böser Folgen, was oft Angst- und
Schuldgefühle sowie hypochondrische Vorstellungen erzeugen oder ver-
stärken kann.
B. Die Angstneurose. )
Ganz besonders wertvoll hat sich für die Medizin Freuds
scharfe Abgrenzung des Symptomenkomplexes der Angstneurose-)
von dem eben beschriebenen Krankheitsbild der eigentlichen Neur-
asthenie erwiesen. Die Benennung Angstneurose stammt daher, weil
sämtliche Bestandteile dieses Symptomenkomplexes sich um das Haupt-
Symptom der Angst gruppieren und jeder einzelne von ihnen eine
bestimmte Beziehung zur Angst aufweist.
I. Klinische Symptomatologie der Angstneurose.
Das klinische Bild der Angstneurose umfaßt folgende Symptome :
1 Die allgemeine Reizbarkeit oder Gereiztheit. Einer
besonderen Hervorhebung wert ist der Ausdruck dieser gesteigerten
Reizbarkeit durch eine Hyperästhesie für Gesichtseindrucke besonders
aber durch eine Gehörhyperästhesie, eine Uberempfindlichkeit
gegen Geräusche. Dieselbe findet sich auch häufig als Ursache der
Schlaflosigkeit, von welcher mehr als eine Form zur Angstneurose
'"" '" 2 Die ängstliche Erwartung, ein Zustand, der sich am
besten 'durch das Beispiel erläutern läßt. Eine Frau z. B die an
ängstlicher Erwartung leidet, denkt bei jedem Hustenstoß ihres
katarrhalisch affizierten Mannes an Influenzapneumonie und sieht im
Geiste seinen Leichenzug vorüberziehen. Wenn sie auf dem Wege
nach Hause zwei Personen vor ihrem Haustore beisammenstehend
sieht, kann sie sich des Gedankens nicht erwehren daß eines > ihrer
Kinder aus dem Fenster gestürzt sei; wenn sie die Glocke lauten
hört, so bringt man ihr eine Trauerbotschaft u. dgl, wahrend doch
in allen diesen Fällen kein besonderer Anlaß zur Verstärkung einer
*) Gekürzte Wiedergabe der Freud sehen Arbeit Lit.-V. Nr. 4 -
**) Als Vorläufer dieser Freud sehen Auffassang ist die Arbeit von
E. Hecker: „Über larvierte und abortive Angstzustände bei Neurasthenie (Z-entrai-
blatt für Nervenheilkunde, Dezember 1893) zu nennen.
Symptome der Angstneurose. 23
bloßen Möglichkeit vorliegt. Für eine Form der ängstlichen Er-
wartung, nämlich für die in bezug auf die eigene Gesundheit, kann
man den alten Krankheitsnamen Hypochondrie nicht entbehren.
Eine weitere Äußerung der ängstlichen Erwartung dürfte die bei
moralisch empfindlichen Personen so häufige Neigung zu Gewissens-
angst sein, die gleichfalls vom Normalen bis zur Steigerung als
Zw ei fei sucht variiert.
Die ängstliche Erwartung ist das Kernsymptom der Neurose ; in
ihr liegt auch ein Stück der Theorie derselben frei zu Tage. Man
kann etwa sagen, daß hier ein Quantum Angst frei flottierend
vorhanden ist, welches bei der Erwartung die Auswahl der Vorstel-
lungen beherrscht und jederzeit bereit ist, sich mit einem irgend
passenden Vorstellungsinhalt zu verbinden.
3. Die konstant lauernde Ängstlichkeit kann aber auch plötzlich
ins Bewußtsein hereinbrechen, ohne vom Vorstellungsablauf geweckt
zu werden, und so einen Angstanfall hervorrufen. Ein solcher
Angstanfall besteht entweder einzig aus dem Angstgefühl ohne jede
assoziierte Vorstellung, oder mit der naheliegenden Deutung der Lebens-
vernichtung, des „Schlagtreffens", des drohenden Wahnsinns, oder aber
dem Angstgefühl ist irgend welche Parästhesie beigemengt (ähnlich
der hysterischen Aura), oder endlich mit der Angstempfindung ist eine
Störung irgend einer oder mehrerer Körperfunktionen, der Atmung
Herztätigkeit, der vasomotorischen Innervation, der Drüsentäti»keit
verbunden. Aus dieser Kombination hebt der Patient bald das eine
bald das andere Moment besonders hervor, er klagt über „Herzkrampf",
„Atemnot", „Schweißausbrüche", „Heißhunger" u. dgl., und in seiner
Darstellung tritt das Angstgefühl häufig ganz zurück oder wird recht
unkenntlich als ein „Schlechtwerden«, „Unbehagen" usw. bezeichnet.
4. Es gibt demnach rudimentäre Angstanfälle und
Äquivalente des Angstanfalles, von denen Freud seinerzeit
folgende Liste aufgestellt hat:
a) Störungen der Herztätigkeit, Herzklopfen mit kurzer
Arrhythmie, mit länger anhaltender Tachykardie bis zu schweren
Schwächezuständen des Herzens, deren Unterscheidung von organischer
Herzaffektion nicht immer leicht ist; Pseudoangina pectoris*), ein
diagnostisch heikles Gebiet.
*) Vgl. M. Herz: „Die sexuelle ' psychogene Herzneurose (Phrenokardie)"
(Braumüller, Wien und Leipzig 1909). Ferner Morichau-Beauchant in Gaz.
d'Hop., 1909, Nr. 119, M.Wulff: Deutsch. Med. Wochensckr., 1910, Nr. 2, sowie
Behrenroth: ebenda, 1913, Nr. 3.
24
II. Die Aktualneurosen.
b) Störungen der Atmung, mehrere Formen von nervöser
Dyspnoe*), asthmaartiger Anfall u. dgl. Selbst diese Anfälle sind je-
doch nicht immer von kenntlicher Angst begleitet.
c) Anfälle von Schweißausbrüchen, oft nächtlich.
d) Anfälle von Zittern und Schütteln, die nur zu leicht
mit hysterischen verwechselt werden.
e) Anfälle von Heißhunger, oft mit Schwindel verbunden.
/) Anfallsweise auftretende Diarrhoen.
g) Anfälle von lokomotorischem Schwindel.**)
h) Anfälle von sogenannten Kongestionen, so ziemlich alles,
was man vasomotorische Neurasthenie genannt hat. Hervorgehoben
seien die vasomotorischen Ödeme, das plötzliche Absterben eines Fin-
ders, der ganzen Hand, eines Armes oder Fußes (Angina pectoris
vasomotoria).***)
i) Anfälle von Parästhesien (diese aber selten ohne Angst oder
ein ähnliches Unbehagen).
5. Nichts als eine Abart des Angstanfalles ist sehr häufig das
nächtliche Aufschrecken (Pavor nocturnus der Erwachsenen),
gewöhnlich mit Angst, mit Dyspnoe, Schweiß u. dgl. verbunden.-}-)
Diese Störung bedingt eine zweite Form von Schlaflosigkeit im Rah-
men der Angstneurose. Übrigens zeigt auch der Pavor nocturnus der
Kinder eine Form, die unzweifelhaft zur Angstneurose gehört. Er
hat vielfach einen hysterischen Anstrich, der ihn als etwas Besonderes
erscheinen läßt und ihn in nähere Beziehung zu der später zu be-
sprechenden Angsthysterie bringt.
6. Eine hervorragende Stellung in der Symptomengruppe der
Angstneurose nimmt der „Schwindel" ein, der in seinen leichtesten
Formen besser als Taumel zu bezeichnen ist, in schwererer Ausbildung
als „Schwindelanfall" mit oder ohne Angst zu den folgenschwersten
Symptomen der Neurose gehört. Zum Hinstürzen führt dieser Schwin-
*) Vgl. M. Herz: „Über eine Form der falschen Dyspnoe" („Seufzerkrampf").
Wiener Klin. Wochenschrift, 1909, Nr. 39. — Beide Arbeiten Herz' geben Teil-
erscheinnngen der Angstneurose nberflüssigerweise neue Namen.
**) Der Schwindel kann zur Grundlage einer lokomotorischen Phobie werden
(vgl. Agoraphobie, S. 103).
***) Vgl. Curschmann (Mainz): „Über Angina pectoris vasomotoria",
III. Jahresversammlung der Gesellsch. Deutscher Nervenärzte, Wien 1909. —
Konstitutionelle Momente (vasomotorische Veranlagung) spielen manchmal nach-
weislich eine dispositionelle Rolle (Oppenheim).
f) Über die charakteristischen Träume vgl. S. 105.
Symptome der Angstneurose. 25
del nie. Dagegen scheint ein solcher Schwindelanfall auch durch
einen Anfall von tiefer Ohnmacht*) vertreten werden zu können.
Andere ohnmachtartige Zustände bei der Angstneurose scheinen von
einem Herzkollaps abzuhängen. Höhenschwindel, Berg- und
Abgrundschwindel linden sich gleichfalls häufig bei der Angstneurose.
7. Auf Grund einer chronischen Ängstlichkeit (ängstliche Er-
wartung) einerseits, der Neigung zum Schwindelanfall anderseits ent-
wickeln sich zwei Gruppen von typischen Phobien, die erste auf die
allgemein physiologischen Bedrohungen, die andere auf die Lokomotion
bezüglich. Zur ersten Gruppe gehören die Angst vor Schlangen, Ge-
wittern, Dunkelheit, Ungeziefer u. dgl., sowie die typische moralische
Übcrbedenklichkeit.**) Formen der Zweifelsueht ; hier wird die dis-
ponible Angst einfach zur Verstärkung von Abneigungen verwendet,
die jedem Menschen instinktiv eingepflanzt sind.
Die andere Gruppe enthält die Agoraphobie mit allen ihren
Nebenarten, sämtlich charakterisiert durch die Beziehung auf die
Lokomotion.***) Ein vorausgegangener Schwindelanfall findet sich
hiebei häufig als Begründung der Phobie.
8. Die Verdauungstätigkeit erfährt bei der Angstneurose
nur wenige, aber charakteristische Störungen. Sensationen wie Brech-
neigung und Übelkeiten sind nichts Seltenes, und das Symptom des
Heißhungers kann allein oder mit anderen (Kongestionen) einen rudi-
mentären Angstanfall abgeben ; als chronische Veränderung, analog
der ängstlichen Erwartung, findet man eine Neigung zur Diarrhoe,
die zu den seltsamsten diagnostischen Irrtümern Anlaß gegeben hat.
Der Diarrhoe analog ist der Harndrang der Angstneurose.
9. Die P a r ä s t h e s i e n, die den Schwindel ..oder Angstanfall be-
gleiten können, werden dadurch interessant, daß sie sich ähnlich wie
die Sensationen der hysterischen Aura, zu einer festen Reihenfolge
assoziieren. Doch sind diese assoziierten Empfindungen im Gegensatze
zu den hysterischen atypisch und wechselnd. Eine ganze Anzahl so-
*) Gelegentlich geht ein unvermutet eintretendes Müdigkeitsgefühl ihr
voraus. (St ekel: „Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung". Urban und
Schwarzenberg, Wien und Berlin, 2. Aufl., 1912.)
**) Ein intensives „sexuelles Schuldgefühl", das schon bei Kindern sich unter
dem Zwang des sozialen Milieus ausbilden kann, beruht immer auf Unterdrückung
überstarker Libido.
***) Hiezu ist der volle psychoneurotische Mechanismus notwendig (vgl.
später S. 103).
26
II. Die Aktualueurosen.
genannter Rheumatiker leidet eigentlich an Angstneurose."'") Daneben
ist in manchen Fällen der Angstneurose eine Neigung zu Halluzina-
tionen zu beobachten.
10. Mehrere der genannten Symptome, welche den Angstanfall be-
gleiten oder vertreten, kommen auch in chronischer Weise vor. Dies
gilt besonders für die Diarrhoe, den Schwindel und die Parästhesien .
II. Vorkommen und Ätiologie der Angstneurose.
Wie schon ausgeführt, ist die Morphologie dieser Erkrankung
das Korrelat einer typischen Ätiologie, für welche es sich empfiehlt,
Männer und Frauen gesondert zu betrachten. Die Angstneurose stellt
sich bei weiblichen Individuen — abgesehen von deren Disposition
— in folgenden Fällen ein :
a) Als virginale Angst oder Angst der Adoleszenten.
Eine Anzahl von unzweideutigen Beobachtungen hat gezeigt, daß ein
erstes Zusammentreffen mit dem sexuellen Problem, eine einigermaßen
plötzliche Enthüllung des bisher Verschleierten, z. B. durch den An-
blick eines sexuellen Aktes oder des männlichen Genitals, durch eine
Mitteilung, Lektüre oder bildliche Darstellung usw., bei heranreifenden
Mädchen eine Angstneurose hervorrufen kann, die fast in typischer
Weise mit Hysterie kombiniert ist.**)
b) Als Angst der Neuvermählten. Junge Frauen, die bei
den ersten Kohabitationen anästhetisch geblieben sind, verfallen nicht
selten der Angstneurose, die wieder verschwindet, nachdem die An-
ästhesie normaler Empfindlichkeit Platz gemacht hat. Es ist hier
nicht die totale Anästhesie gemeint, sondern die solcher Frauen, die
bis zu einem gewissen Grade erregbar sind, aber unvollkommen be-
friedigt werden.
c) Als Angst der Frauen, deren Männer Ejaculatio praecox oder
sehr herabgesetzte Potenz zeigen.
d) Deren Männer den Coitus interruptus oder reservatus üben.
Diese Fälle gehören zusammen, denn man kann sich bei der Analyse
Mner großen Anzahl von Beispielen leicht überzeugen, daß es nur
*) Vgl. F. Pineies: „Zur Klinik und Pathogenese der sogenannten , Harn-
säureschmerzen'." Wiener Klin. Wochenschr., 1909, Nr. 21. — Linkenheld: „Ein
typ. Krankheitsbild, hervorgerufen durch Coitus interruptus". Mon. f. Geburtsh. u.
Gyn. Bd. 37, 1913.
**) Nach dem heutigen Stand der Lehre folgerichtiger als „Angsthysterie"
aufzufassen (vgl. S. 30).
Ätiologie der Angst neuroso. 27
darauf ankommt, ob die Frau beim Koitus zur Befriedigung gelangt
oder nicht. Im letzteren Falle ist die Bedingung für die Entstehung
einer Angstneurose gegeben. Vermag dagegen der Mann, sei es durch
bessere Wiederholung des Aktes, sei es durch Hinausschieben seiner
Ejakulation beim ersten Akt, die Frau zu befriedigen, so bleibt sie
von der Angstneurose verschont; es erkrankt aber dann eventuell der
den Koitus protrahierende Mann an Angstneurose. Der Congressus
reservatus mittels des Kondoms stellt für die Frau keine Schädlichkeit
dar, wenn sie sehr rasch erregbar und der Mann sehr potent ist; im
anderen Falle steht diese Art des Präventivverkehres den anderen an
Schädlichkeit nicht nach.*)
e) Als Angst der Witwen und absichtlich Abstinenten,
nicht selten in typischer Kombination mit Zwangsvorstellungen.
/) Als Angst im Klimakterium während der letzten großen
Steigerung der sexuellen Bedürftigkeit.**)
Die Fälle c, d und e enthalten die Bedingungen, unter denen
die An^stneurose beim weiblichen Geschlechte am häufigsten und am
ehesten unabhängig von hereditärer Disposition entsteht.
Für die Bedingungen der Angstneurose bei Männern hat
Freud folgende Gruppen aufgestellt, die sämtlich ihre Analogien bei
den Frauen finden.
a) Angst der absichtlich Abstinenten, häufig mit Symptomen
der Abwehr (Zwangsvorstellungen, Hysterie) kombiniert.
I) Angst der Männer infolge frustraner Erregung (während
des Brautstandes), ferner von Personen, die (aus Furcht vor den
Folgen des sexuellen Verkehres) sich mit Betasten oder Beschauen
des Weibes begnügen. Diese Gruppe von Bedingungen (die übrigens
unverändert auf das andere Geschlecht zu übertragen ist : Brautschaft,
Verhältnisse mit sexueller Schonung) liefert die reinsten Fälle der
Neurose.
c) Angst der Männer, die Coitus interruptus üben und
dabei die Ejakulation so lange aufschieben, bis die Frau befriedigt
ist. Diese Form der Angstneurose bei Männern ist meist mit Neur-
asthenie vermengt.
*) Vgl. Löwenfeld: „Über den sexuellen Präventiv verkehr als Ursache von
Nervenleiden". (Sex.-Probl., Nov. 1912.)
**) Auch im operativen Klimakterium (arteficiale).
28 II. Die Aktualneurosen.
d) Angst der Männer im Senium. Es gibt Männer, die ähnlich
wie Frauen ein Klimakterium zeigen *) und zur Zeit ihrer abnehmenden
Potenz und steigenden Libido Angstneurose produzieren.
Für beide Geschlechter gelten folgende zwei Fälle:
e) Die Neurastheniker infolge von Masturbation verfallen in
Angstneurose, sobald sie von ihrer Art der sexuellen Befriedigung
ablassen. Diese Personen haben sich besonders unfähig gemacht, die
Abstinenz zu ertragen.
Es ist hier als wichtig für das Verständnis der Angstneurose zu
bemerken, daß eine irgend bemerkenswerte Ausbildung derselben nur
bei potent gebliebenen Männern und bei nicht gänzlich an ästhetischen
Frauen zu stände kommt.
f) Die Angstneurose entsteht bei beiden Geschlechtern gelegentlich
auch durch das Moment der Überarbeitung, erschöpfender Anstrengung,
z. B. nach Nachtwachen, Krankenpflegen und selbst nach schweren
Krankheiten. **)
III. Theorie der Angstneurose.
Im Anschlüsse an die genannten Erfahrungstatsachen hat Freud
eine theoretische Deutung der Pathogenese der Angstneurose zu geben
versucht, wobei er noch der Beobachtung Rechnung trägt, daß viele
Fälle von Angstneurose mit einer deutlichen Verminderung der
Libido, der psychischen Lust, einhergehen.
In dem bisher über die Angstneurose Vorgebrachten sind genügende
Anhaltspunkte für einen Einblick in den Mechanismus dieser Neurose
enthalten. Man gewinnt den Eindruck, daß es sich um eine Anhäufung
von Erregung handle ; daß die Angst, die dieser angehäuften Erregung
entspricht, als psychisch nicht ableitbare Angst, somatischer Herkunft
ist; und daß ferner die angehäufte Erregung sexueller Natur ist.
Diese Andeutungen begünstigen die Erwartung, der Mechanismus
der Angstneurose sei in der Ablenkung der somatischen
Sexualerregung vom Psychischen undin einer dadurch
verursachten abnormen Verwendung dieser Erregung
zu suchen. Man kann sich diese Vorstellung vom Mechanismus
der Angstneurose klarer machen, wenn man eine Betrachtung des
*) Vgl. F. Pineles, I. c. Ferner Kurt Mendel: „Die Wechseljahre des
Mannes (Climacterium virile)" (Neurol. Zentrbl. 1910, Nr. 20). Ferner Hollander
„Die Wechseljahre des Mannes", ebendort, 1910, Nr. 23.
**) Vgl. hiezu die Bemerkungen über den sexuellen Mechanismus zum Unter-
schied von der sexuellen Ätiologie, S. 30.
Theorie der Angstneurose. 29
normalen Sexual Vorganges anstellt (die sich zunächst nur auf den
Mann bezieht). Der normale Sexualvorgang besteht darin, daß die
angesammelte somatische Erregung, nachdem sie sich bis zum psychischen
Reiz gesteigert und die Libido erzeugt hat, durch einen komplizierten
spinalen Reflexakt entladen wird, wobei auch die psychische Erregung
vollkommen ablaufen muß. Eine solche psychische Entlastung ist
nur auf dem Wege möglich, den Freud als spezifische oder
adäquate Aktion bezeichnet hat. In den Rahmen dieser Darstellung
des Sexual vor ganges, der im wesentlichen auch auf das Weib zu über-
tragen ist, läßt sich nun sowohl die Ätiologie der echten Neurasthenie,
als die der Angstneurose eintragen. Neurasthenie entsteht jedesmal,
wenn die adäquate Entlastung immer wieder durch eine minder
adäquate ersetzt wird, der normale Koitus unter den günstigsten Be-
dingungen durch eine Masturbation oder spontane Pollution; zur
Angstneurose aber führen alle Momente, welche die psychische Ver-
arbeitung der somatischen Sexualerregung verhindern.
Diesen gemeinsamen Charakter der Anhäufung von Erregung
lassen nun tatsächlich die vorhin angegebenen ätiologischen Bedingungen
der Angstneurose erkennen. Als erstes ätiologisches Moment wurde
für den Mann die absichtliche Abstinenz angeführt, welche in der
Versagung der spezifischen Aktion, die sonst auf die Libido erfolgt,
besteht. Die somatische Erregung wird sich so anhäufen und auf
andere Wege abgelenkt werden. Auf solche Weise führt die Abstinenz
zur Angstneurose. Die Abstinenz ist aber auch das Wirksame an der
zweiten ätiologischen Gruppe, der frustranen Erregung. Der dritte
Fall, der des rücksichtsvollen Koitus (reservatus), wirkt dadurch
schädlich, daß er die psychische Bereitschaft für den Sexualablauf
stört, indem er neben der Bewältigung des Sexualaffektes eine andere,
ablenkende, psychische Aufgabe stellt. Die Angst im Senium (Kli-
makterium der Männer) erfordert eine andere Erklärung. Es findet
hier, wie während des Klimakteriums der Weiber, eine solche Steigerung
in der somatischen Produktion der Erregung statt, daß die Psyche für
die Bewältigung derselben sich relativ insuffizient erweist.
Keine größeren Schwierigkeiten bereitet die Subsumierung der
ätiologischen Bedingungen bei der Frau unter den angeführten Ge-
sichtspunkt. Dazu kommt, daß die Herstellung einer Entfremdung
zwischen dem Somatischen und Psychischen im Ablauf der Sexual-
erregung beim Weibe eher erfolgen kann und schwerer zu beseitigen
ist als beim Manne.
30
II. Dio Aktualneurosen.
Die Fr eudsche Auffassung stellt also die Symptome der Angst-
neurose gewissermaßen als Surrogate der unterlassenen spezifischen
Aktion der Sexualerregung dar. Zur weitereu Unterstützung dieser
Auffassung sei daran erinnert, daß auch beim normalen Koitus die
Erregung sich nebstbei als Atembeschleunigung, Herzklopfen, Schweiß-
ausbruch, Kongestion u. dgl. ausgibt. Im entsprechenden Angstanfall
unserer Neurose hat man die Dyspnoe, das Herzklopfen usw. des
Koitus isoliert und gesteigert vor sich.
Bei jenen Ausnahmsfällen, welche nicht durch spezifische Ur-
sachen entstehen, sondern durch andere banale Schädlichkeiten, wie
Krankenpflege, Überarbeitung usw., fehlt zwar die sexuelle Ätiologie,
aber die Krankheit kommt doch auf Grund eines sexuellenMecha-
nismus zu stände, indem jene allgemeine Erschöpfung es veranlaßt,
daß die Psyche insuffizient wird zur Bewältigung der somatischen
Sexualerregung, die ihr ja kontinuierlich obliegt.
Dieser Hinweis auf die ausnahmsweisen Veranlassungen der Angst-
neurose wird immer wieder von den Kritikern übersehen, welche im
Widerspruch zu Freud zu finden glauben, daß es Angstneurosen
ohne sexuelle Schädlichkeit gebe. Diese Aufklärung über einen die
sexuelle Ätiologie ersetzenden sexuellen Mechanismus ist aber eine
sehr bedeutsame, und es liegt nahe, sie auch für jene der Neurasthenie
so ähnlich sehenden Fälle nicht sexueller Ätiologie, z. B. bei der
Arteriosklerose, heranzuziehen. Auch bei diesen Zuständen würde die
Krankheit also entstehen durch indirekte Störungen des sexuellen Stoff-
wechsels auf dem Wege primärer Störungen anderer Organ Vorgänge.
Es würde sich so bei den Aktualneurosen durch den Ersatz der sexuellen
Akzidenzien zu Gunsten eines sexuellen Mechanismus ein ähnlicher
Fortschritt ergeben, wie ihn die Lehre von den Psychoneurosen zu
verzeichnen hatte, als sie die Bedeutung des sexuellen Traumas ersetzen
konnte durch den Infantilismus der Sexualität.
In Ergänzung dieser Schilderung der Angstneurose aus dem
Jahre 1895 sei hervorgehoben, daß die zunehmenden psychoanalytischen
Erfahrungen*) manche ätiologische Momente und Symptome mit der
Hysterie in Zusammenhang bringen konnte. Es finden sich nur selten
Angstneurosen ohne psychogene Komponente und was wir klinisch
*) Vgl. Stekei: „Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung". 2. Aufl.,
1912. — Jones: „Die Beziehungen zwischen Angstneurose und Angsthysterie".
(Int. Zeitschr. f. ärztl. Psycho.-A. I, 1913.) - Seif: „Zur Psychopathologie der
Angst" (ebenda).
Widerlegung von Einwänden. 31
begegnen, ist zu allermeist Angsthysterie mit einem aktual-
n eurotischen Kern. Die Aktualneurose bildet das somatische
Entgegenkommen für die Hysterie ; die Angstneurose liefert das Er-
regungsmaterial, welches psychisch ausgewählt und umkleidet wird.
Dort handelt es sich um Stauung somatischer Sexualerregung, hier
um Stauung psychischer. Ein Stückchen der nicht abgeführten
Koituserregung ist, wie man sich oftmals überzeugen kann, Kern einer
angsthysterischen Symptombildung, während wir ja wissen, daß es
das psychosexuelle Moment ist, welches die eigentlich hysterischen
Seelenzustände bedingt.
C Widerlegung der gegen die sexuelle Ätiologie der Aktual-
neurosen vorgebrachten Einwände.
Wie schon erwähnt, hat sich das seinerzeit viel größere Gebiet
der Neurosen vermindert um die Blutdrüsenerkrankungen. Den Über-
gang von den Sexualneurosen zu solchen exquisit toxischen Nerven-
krankheiten bilden die Neurasthenie und die Angstneurose, welche
auf Störungen der Sexual Vorgänge im Organismus beruhen, die man
sich als chemische vorstellen kann. Sie zeigen auch tatsächlich eine
große Ähnlichkeit mit Intoxikations- und Abstinenzerscheinungen;
ihre Ähnlichkeit mit dem Morbus Basedowii und Addisonii drängt
sich auf.*)
Freud war sich bei seinen Aufstellungen über die Ätiologie der
Aktualneurosen bewußt, mit der sexuellen Ätiologie nichts vollkommen
Neues vorgebracht zu haben, da die Unterströmungen in der medi-
zinischen Literatur, welche diesen Tatsachen Rechnung getragen haben,
nie versiegt waren. Für Manche ist die Heilung von „Sexualbeschwerden"
und „Nervenschwäche" immer in einem einzigen Versprechen vereint
gewesen. Die offizielle Medizin der Schulen hat diese Beziehungen
eigentlich auch gekannt, allein sie hat so getan, als wüßte sie nichts
davon. Auch ist der Hinweis darauf keineswegs gering zu achten, daß
eine dunkle Kenntnis der verwaltenden Bedeutung sexueller Momente
für die Entstehung der Nervosität, wie sie Freud für die Wissenschaft
neu zu gewinnen sucht, im Bewußtsein der Laien nie untergegangen ist,
wie man sehr häufig aus den naiven, aber im Grunde zutreffenden
Äußerungen mancher Patienten über die Ursache ihrer Beschwerden
entnehmen kann.
*) Viele Erscheinungen der Angstneurose entsprechen der neuerlich beschrie-
benen Pathologie des „vegetativen Nervensystems".
qo II. Dio Aktualnexirosen.
Der Haupteinwand gegen Freuds Aufstellung einer sexuellen
Ätiologie der Angstneurose lautet dahin, abnorme Verhältnisse des
Sexuallebens fänden sich so überaus häufig, daß sie überall zur Hand
sein müßten, wo man nach ihnen suchte. Ihr Vorkommen in den an-
geführten Fällen von Angstneurose beweise also nicht, daß in ihnen
die Ätiologie der Neurose aufgedeckt sei. Übrigens sei die Anzahl der
Personen, die Coitus interruptus u. dgl. treiben, unvergleichlich größer
als die Anzahl der mit Angstneurose Behafteten. Darauf ist zu erwidern,
daß man bei der anerkannt übergroßen Häufigkeit der Neurosen und
der Angstneurose speziell ein selten vorkommendes ätiologisches Moment
gewiß nicht erwarten darf; ferner daß damit geradezu ein Postulat der
Pathologie erfüllt sei, wenn sich bei einer ätiologischen Untersuchung
das ätiologische Moment noch häufiger nachweisen lasse als dessen
Wirkung, da ja für letztere noch andere Bedingungen (Disposition,
Summation der spezifischen Ätiologie, Unterstützung durch andere,
banale Schädlichkeiten) erfordert werden können; endlich daß die
detaillierte Zergliederung geeigneter Fälle von Angstneurose die Bedeu-
tung des sexuellen Moments ganz unzweideutig erweist.
Vielleicht wird nun mancher, der gern bereit ist, der sexuellen
Ätiologie bei den nervös Erkrankten Rechnung zu tragen, es doch
als Einseitigkeit rügen, wenn er nicht aufgefordert wird, auch den
anderen Momenten, die bei den Autoren allgemein erwähnt sind, seine
Aufmerksamkeit zu schenken. Es liegt aber F r e u d ferne, die sexuelle
Ätiologie bei den Neurosen jeder anderen zu substituieren, so daß er
deren Wirksamkeit für aufgehoben erklären würde. Freud meint
vielmehr, zu all den bekannten und wahrscheinlich mit Recht aner-
kannten ätiologischen Momenten der Autoren kämen die sexuellen, die
bisher nicht hinreichend gewürdigt worden sind, noch hinzu. Man
darf ja nicht vergessen, daß das ätiologische Problem bei den Neurosen
mindestens ebenso kompliziert ist, wie sonst bei der Krankheits-
verursachung. Eine einzige pathogene Einwirkung ist fast niemals
hinreichend • zu allermeist ist eine Mehrheit von ätiologischen Momenten
erforderlich die einander unterstützen, die man also nicht in Gegensatz
zueinander bringen darf. Aber die sexuellen Momente in der Ätiologie
der Neurosen verdienen, daß man ihnen in der ätiologischen Reihe
eine besondere Stellung anweise. Denn sie allein werden in keinem
Falle vermißt, sie allein vermögen es, die Neurose ohne weitere Bei-
hilfe zu erzeugen, so daß die anderen Momente zur Rolle einer Hilfs-
oder Supplementärätiologie herabgedrückt scheinen ; sie allein gestatten
Widerlegung von Einwänden. 33
dem Arzte, sichere Beziehungen zwischen ihrer Mannigfaltigkeit und
der Vielheit der Krankheitsbilder zu erkennen. Die von den meisten
Autoren so nachdrücklich betonte Heredität ist unzweifelhaft ein be-
deutsamer Faktor, wo sie sich findet 5 sie gestattet, daß ein großer
Krankheitseffekt zu stände kommt, wo sich sonst nur ein sehr geringer
ergeben hätte. Allein die Heredität ist der Beeinflussung des Arztes
unzugänglich, während gerade die sexuellen Ursachen jene sind, welche
dem Arzte am ehesten einen Anhalt für sein therapeutisches Wirken
bieten. Mit dem Moment der „Überarbeitung", das die Ärzte so gern
den Patienten als Ursache ihrer Neurose gelten lassen, wird über-
mäßig viel Mißbrauch getrieben. Die Ärzte werden sich wohl ge-
wöhnen müssen, dem Beamten, der sich in seinem Bureau „über-
angestrengt", oder der Hausfrau, der ihr Hauswesen „zu schwer" ge-
worden ist, die Aufklärung zu geben, daß sie nicht erkrankt sind,
weil sie versucht haben, ihre für ein zivilisiertes Gehirn eigentlich
leichten Pflichten zu erfüllen, sondern weil sie währenddessen ihr
Sexualleben gröblich vernachlässigt und verdorben haben. Jeder, der
die Fälle, von dieser Seite angeht, wird den Beweis erbringen können,
wie wertvoll diese Gesichtspunkte für die Anamnese sind. Natürlich
kann derjenige, der sich bei seinen Kranken überzeugen will, ob ihre
Neurosen wirklich mit ihrem Sexualleben zusammenhängen, es nicht
vermeiden, sich bei ihnen ausführlich nach ihrem Sexualleben zu er-
kundigen und auf wahrheitsgetreue Aufklärung über dasselbe zu
dringen, ohne sich durch ethisch gefärbte Argumente von dieser ärzt-
lichen Verpflichtung abbringen zu lassen. Zur Erleichterung seiner
Aufgabe wäre es von Nutzen, wenn die Kranken wüßten, mit welcher
Sicherheit dem geschulten Arzte die Deutung ihrer neurotischen Be-
schwerden und der Rückschluß von diesen auf die wirksame sexuelle
Ätiologie nunmehr möglich ist. Der Anschein, als gäbe es negative
Fälle, ohne sexuelle Ätiologie, der durch einen negativen Ausfall des
Examens erweckt werden könnte, erklärt sich daraus, daß hinter
solchen Fällen eine Hysterie (Angsthysterie) oder Zwangsneurose
steckt, welche die aktuelle Affektion nur nachahmt. Solche Hysterien
in derFormderNeurasthenie sind gar nicht selten. Tiefer ein-
dringende Untersuchung entlarvt sie regelmäßig auf dem Wege der
Psychoanalyse. Für die sehr häufigen Mischformen der Aktual- mit
den Psychoneurosen wird es sich in manchen Fällen empfehlen, zunächst
von der psychoneurotischen Komponente im Krankheitsbilde abzu-
sehen und fürs erste die Aktualneurose therapeutisch zu bekämpfen,
HitBchmunn, Freuds Neurosenlehre 2. Aufl. 3
34
II. Die Aktualneurosen.
wodurch es in einzelnen Fällen gelingen kann, auch der mitgerissenen
Psychoneurose Herr zu werden. In anderen Fällen vermag, wie
bereits erwähnt, die Psychoanalyse aktualneurotische Symptome gunstig
zu beeinflussen. .,
Die Angstneurose ist eine so verbreitete Krankheit, daß man ihr
in der Praxis täglich begegnet. Es wäre daher ihre Verhütung eine
wichtige soziale Aufgabe ; doch ist die Ausschaltung gewisser Schad-
lichkeiten von so vielen materiellen und sozialen Momenten abhangig, daß
an eine ideale Durchführung der Prophylaxe unter den heutigen kulturel-
len Verhältnissen nicht zu denken ist. Immerhin läßt sich so viel schon
jetzt sagen, daß nur der sich an der Abstinenz versuchen darf, der
kein großes Sexualbedürfnis hat, und daß die durchgreifende Abstinenz
vor der Ehe vorderhand nicht Gegenstand einer allgemeinen An-
empfehlung, geschweige einer Forderung sein kann, da gerade sie in
vielen Fällen zu mangelhafter Arbeitsfähigkeit, ja direkt zur
Neurose führen kann. Vielfach ist jedoch die vollkommene Abstinenz
noch unschädlicher als die frustranen Erregungen oder die mangel-
haften Befriedigungsarten. Endlich wird es in einer zur Kinder-
absparung genötigten Ehe notwendig sein, sich zur Verhinderung der
Konzeption unschädlicher Maßnahmen zu bedienen, welche eben der
Toleranz der beteiligten Individuen anzupassen sind. Daß von diesem
Standpunkte auch eine liberale Gesetzgebung in bezug auf die Ein-
leitung des künstlichen Abortus befürwortet werden konnte, ist be-
greiflich.*) So zeigt sich auch hier wieder, ähnlich wie bei der
Prophylaxe der Neurasthenie, daß diese Neurosen im wahren Sinne i n
unserer ganzen heutigen Sexualmoral wurzeln und daß nur eine ein-
schneidende Änderung unserer gesamten Gesellschafts- und Wirtschafts-
ordnung der Menschheit auch die Erlösung von dem alten Erbübel
der Nervosität bringen könnte.
"VVgf Witt eis: „Die sexuelle Not." C.W.Stern, Wien und Leipzig, 1909.
Ferner EhFnger und Kiranig: „Bestrafung der Fruchtabtreibung" (Reinhardt,
/ München, 1910).
III.
Der Sexualtrieb.
Tatsache und Bedeutung der Kindersexualität; Widerstand gegen die Annahme dieser
Entdeckung. — Die Sexnaltlteoric: A. Die infantile Sexualität: 1. Die Säuglingszeit.
2. Das Kindesalter. 3. Die Piibcrtätsuimvaiullungen. **■ Wie Abirrungen des Sexualtriebes :
Inversion, Perversion, Fetischismus, Sadismns, Mnsochismus, Exhibitionismus usw. C. Die
Sexualität bei den Neurotikcrn. — Bestätigung der Theorie durch Analyse von Kinderneurosen
— „Infantile Sexiialthcoricn." — Kernkomplex der Neurose.
Freud hat auf dem Wege der Psychoanalyse die Tatsachen des
kindlichen Sexuallehens aufgedeckt und in seinen „Drei Abhand-
lungen zur Sexualtheorie" die Erscheinungen desselben in
extenso geschildert. Die neuartige Feststellung, daß das reine un-
schuldige Kind ein Sexualleben führen sollte, stieß vielfach auf Wider-
stand. Außer diesem sentimentalen Widerstand ist es die infantile
Amnesie, welche den meisten Menschen die ersten Jahre ihrer Kindheit
bis zum G. oder 8. Lebensjahre verhüllt*) und die sie verhindert, die
Tatsache der infantilen Sexualität überhaupt anzuerkennen. Und doch
wissen wir, daß das Gedächtnis zu keiner anderen Lebenszeit auf-
nahms- und reproduktionsfähiger ist; anderseits hat die Psychoanalyse
ergeben, daß die nämlichen Eindrücke, die wir vergessen haben, die
tiefsten Spuren in unserem Seelenleben hinterlassen und bestimmend
für unsere ganze spätere Entwicklung geworden sind. Es kann sich
also um kein wirkliches Vergessen der Kindheitseindrücke, sondern
nur um eine Amnesie handeln, ähnlich jener, die wir bei Neurotikern
für spätere Erlebnisse beobachten und deren Wesen in einer bloßen
Abhaltung vom Bewußtsein (Verdrängung) besteht. Es hat den An-
schein, als wäre ohne diese infantile Amnesie keine hysterische Amnesie
möglich.
*) Diese Amnesie für die ersten Kinderjahre ist keine vollkommene, sondern
wird durchbrochen von ganz isoliert dastehenden Kindheitserinnerungen gleich-
gültigen und nebensächlichen Inhaltes, hinter denen jedoch Wichtiges und Ein-
drucksvolles verborgen und durch psychische Analyse aufdeckbar ist. Freud hat
sie „Deckerinnerunge n u genannt, weil sie sich als Ersatz wirklich bedeut-
samer Eindrücke, deren direkter Reproduktion ein Widerstand entgegensteht, ein-
stellen (vgl. Lit.-V. Nr. 13).
8*
oq III. Der Sexualtrieb.
Mit den Beobachtungen sexueller Äußerungen im Kindesalter
wird es so gehen, wie schon hei vielen anderen Beobachtungen, daß
sie nämlich erst' dann jedem auffallen, wenn sie einmal detailliert und
zusammenfassend geschildert sind. Selbstverständlich tritt beim ein-
zelnen Kinde häufig nur einzelnes von dem, was Freud, einen
extremeren Typus herausgreifend, geschildert hat, in Erschei-
nung; soweit es Phantasien, oft sogar unbewußte sind, nur durch
gelegentliche Andeutungen, gern im Traume, und beweisend in der
Psychoanalyse. Die Beobachter, welche einmal ihr Augenmerk auf
diese Seite des kindlichen Seelenlebens gerichtet haben, werden in
jedem Falle Spuren eines sich schon frühzeitig äußernden Sexualtriebes
finden,*) so daß Freud gelegentlich behaupten konnte, es werde die
Zeit bald kommen, in der man Fälle als seltene Ausnahmen publi-
zieren werde, welche keinerlei Äußerungen von Sexualität in den
ersten Lebensjahren verraten.
A. Die infantile Sexualität.
1. Die Säuglingszeit.
Freud hat hervorgehoben, daß das Kind Keime von Sexualität mit
zur Welt bringt und schon bei der dem Selbsterhaltungstrieb dienenden
Nahrungsaufnahme eine Lust mitgenießt, die es sich dann durch das
Lutschen" (Ludein) unabhängig von der Nahrungsaufnahme immer
wieder zu verschaffen sucht. Schon der ungarische Kinderarzt
Dr. Lindner widmete dem Ludein oder Wonnesaugen der Kinder
eine eingehende Studie.**) Das Lutschen, das schon beim Säug-
ling auftritt und, wenn es sich als Kinderfehler fixiert, bis in die Jahre
der Reife fortgesetzt werden kann, besteht in einer rhythmisch wieder-
holten saugenden Berührung mit dem Munde (Lippen), wobei der
Zweck der Nahrungsaufnahme ausgeschlossen ist. Ein Teil der Lippe
selbst eine beliebige andere erreichbare Hautstelle — selbst die große
*) Vgl. hiezu: Freud, Lit.-V. Nr. 35, Jung: „Über Konflikte der kindl.
Seele" (Jahrb. L, 1909), Bleuler: „Sexuelle Abnormitäten der Kinder" (Jahrb. d.
Schweiz. Ges. f. Gesundheitspflege, IX., 1908); ferner die Beiträge zum Thema infantile
Sexualität von Wulff, Harn ik, Spielrein, Fried jung, Hellmuth u.a. hnZen-
tralbl. f. Psa., sowie weitere Kinderbeobachtungen in „Imago" (Rubrik „Kinder-
seele"). Auch Marcin owski: „Zur Frage d. inf. Sexualität" (Berl. Klin. W. 1909),
A. Haslebacher: „Psychoneurose u. Psychoanalyse" (Korresp. Bl. f. Schweizer
Arzte 1910); Kassowitz, „Praktische Kinderheilkunde", Berlin 1910, u. a.
**) Jahrbuch für Kinderheilkunde, N. F. XIV, 1879.
Autoorotik. 37
Zehe — werden zum Objekt genommen, an dem das Saugen aus-
geführt wird. Dabei zeigt sieh eine volle Aufzehrung der Aufmerk-
samkeit und das Wonnesaugen endet mit dem Einschlafen oder selbst
in einer Art von Orgasmus.*) Nicht selten kombiniert sich mit dem
Wonnesaugen die reibende Berührung gewisser empfindlicher Körper-
stellen, der Brust, der äußeren Genitalien. Auf diesem Wege gelangen
viele Kinder vom Ludein zur Masturbation. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß es sich hier um eine Art sexueller Betätigung handelt, welche
jedoch dem Verständnis insofern Schwierigkeiten macht, als sich der
Trieb nicht auf andere Personen richtet, sondern sich am eigenen
Körper, nach einem Terminus von H. Ellis „au to erotisch", be-
friedigt.. Damit ergeben sich Mund und Lippen als erogene Zonen,
welche Bedeutung sie. ja auch im späteren normalen Sexualleben, im
Kuß, bewahren. Für manchen mag ein Anlaß zur Befremdung auch
darin liegen, daß das Lutschen nicht bloß mit dem Nahrungstrieb in
Zusammenhang gebracht ist. Es verhält sich offenbar so, daß die
Mundzone zunächst nur mit der Befriedigung des Nahrungsbedürf-
nisses zu tun hat, später das Verlangen nach Wiederholung der dabei
gemachten Lusterfahrung von dem Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme
getrennt wird, wodurch diese Schleimhautstelle zur erogenen Zone
wird. Es ist anzunehmen, daß besonders jene Kinder zum Kinderfehler
des Lutschens gelangen, bei denen die erogene Bedeutung der Lippen-
zone konstitutionell verstärkt ist. Bleibt die Betonung erhalten, so
werden diese Kinder als Erwachsene Kußfeinschmecker werden, zu
perversen Küssen neigen, oder als Männer ein kräftiges Motiv zum
Trinken und Rauchen mitbringen. Kommt aber Verdrängung hinzu,
so werden sie Ekel vor dem Essen empfinden und hysterisches Er-
brechen produzieren. Infolge der Gemeinsamkeit der Lippenzone wird
die Verdrängung auf den Nahrungstrieb übergreifen. Alle späteren
Hystericae mit Eßstörungen, Globus, Schnüren im Hals und Erbrechen
sind in den Kinderjahren energische Ludlerinnen gewesen.
Die beiden wesentlichen Charaktere der infantilen Sexualäußerung,
die das Lutschen erkennen läßt, nämlich den Autoerotismus und die
Herrschaft der erogenen Zone, zeigen auch die anderen Betätigungen
des infantilen Saxualtriebes. So besonders die spielerische Mastur-
bation des Säuglings, der kaum ein Individuum entgeht und die
*) Hier erwoist sich bereits, was f&rs ganze Leben Gültigkeit hat, daß
sexuelle Befriedigung das beste Schlafmittel ist. Die meisten Fülle von nervöser
Schlaflosigkeit gehen auf sexuelle Unbefriedigung zurück.
38
III. Der Sexualtrieb.
vielleicht dazu bestimmt ist, das künftige Primat der Gern alzone für
die spätere Geschlechtstätigkeit festzulegen. Die manchmal sichtliche
Befriedigung auslösende Aktion besteht in einer reibenden Berührung
mit der Hand oder in einem reflektorisch vorgebildeten Druck durch
die zusammenschließenden Oberschenkel.
Demjenigen, der mit Neurotikern nicht näher zu tun gehabt hat,
und dem also diesbezüglich Erfahrungen an Kranken nicht in ihrer
vollen Bedeutsamkeit entgegengetreten sind, erscheint Freuds Ent-
deckung daß auch die Afterzone dem Kinde Wollustgefühle zn
liefern vermag, zunächst schwer begreiflich.*) Es läßt sich jedoch an
kleinen Kindern gelegentlich beobachten, daß sie sich weigern, den
Darm zu entleeren, wenn sie auf den Topf gesetzt werden, weil die
zurückgehaltenen Stuhlmassen durch ihre Anhäufung heftige MuskeU
kontraktionen anregen und beim Durchgang durch den After einen
Reiz auf die Schleimhat ausüben. Dabei muß wohl neben der schmerz-
haften die Wollustempfindung zu stände kommen. Die so häufigen
Darmkatarrhe der Kinderjahre sorgen dafür, daß es dieser erogeneu
Zone an intensiven Erregungen nicht fehle. Darmkatarrhe im zartesten
Alter machen „nervös", wie man sich ausdrückt. Bei späterer neuro-
tischer Erkrankung nehmen sie einen bestimmenden Einfluß auf den
symptomatischen Ausdruck der Neurose, welcher sie die ganze Summe
von Darmstörungen zur Verfügung stellen. So ist die ursprünglich
masturbatorische Reizung der Afterzone, die bei älteren Kindern und
erwachsenen Neurotikern nicht selten mit Hilfe des Fingers, bei Kindern
auch durch „Wetzen" auf den Sitzgelegenheiten geübt wird, eine der
Wurzeln der bei den Neuropathen so häufigen Obstipation. Die ganze
Bedeutung der Afterzone spiegelt sich dann in der Tatsache, daß man
nur wenige Neurotiker findet, die nicht ihre besonderen skatologischen
Gebräuche, Zeremonien u. dgl. hätten. Es sind ganz besonders diese
koprophilen, d.h. die mit den Exkrementen zusammenhangenden
Lustregungen der Kindheit, welche von der Verdrängung am gründ-
lichsten betroffen werden, und Freud hat auch den bedeutsamen An-
teil dieser zur Unterdrückung bestimmten Triebregungen an der spa-
teren Charakterbildung nachgewiesen. Es ergab sich auf dem Wege
der Psychoanalyse Neurotischer rein erfahrungsgemäß, daß Individuen,
welche eine ursprünglich intensive Analerotik glücklich verdrangt
*) Reste erhaltener „Analerotik« finden sich nicht selten auch bei Erwach-
senen.
Anal- und Uretliralerotik. 39
haben, gewisse Charakterzüge („Analcharakter") in ausgeprägter Form
zeigen : Umständlichkeit, Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn.*)
Neu ist auch die Freudsehe Aufdeckung, daß der Blasen-
hals als erogene Zone dienen kann. Die kindliche Pollution erscheint
mangels sexueller Sekrete als Harnausstoßung und dürfte vielen Fällen
von Enuresis zu Grunde zu liegen. Die häufigste Erscheinung, die
in dieser Richtung beweisend scheint, ist das oft allen Erziehungs-
bestrebungen entgegen festgehaltene kindliche Bettnässen, welches
auch mit der Masturbation in einem engen Zusammenhang steht.**)
Die Enuresis nocturna scheint manchmal einem pollutionsartigen Vor-
gang zu entsprechen, wobei Harn statt des sexuellen Sekrets aus-
gestoßen wird, was auch im späteren Leben, besonders der Neuro-
tiker, oft durch einen zugehörigen Pollutionstraum bestätigt wird.***)
Sadger hat den Erscheinungen der „Urethralerotik" detailliertere
Untersuchungen gewidmet t) und auch die psychischen Äquivalente
herangezogen. Indem dieser Teil des Harnapparates, wie alle erogenen
Zonen ff), dem Ich (hier zur Miction) und dem Sexualtrieb zugleich
dient, kann dieses gegenseitige Verhältnis durch gesteigerte Betäti-
gung der Erogenität zur Versagung der Ichfunktion führen, wodurch
in diesem Falle die verschiedenen neurotischen Störungen der Harn-
funktion (dysuria psychica) zu stände kommen.
Die Ursprünge aller dieser sexuellen Erregungen der Säuglings-
zeit liegen zum Teil in inneren Vorgängen, zum Teil sind sie durch
die periphere Reizung dieser erogenen Zonen (After, Genitale) bei der
Reinigung sowie bei Liebkosungen durch die Eltern und Pflege-
personen mitbedingt.
*) Über den Versuch einer psychologischen Erklärung des Zusammenhanges
vgl. Freud: „Charakter und Analerotik". Lit.-V. Nr. 29.
**) Infolge der meist strengen Abgewöhnungsmaßregeln gegen das Bett-
nässen kommt es oft zu Konflikten zwischen dem irrtümlich Trotz vermutenden
Erzieher und dem Kind, das unter der Beschämung leidet. Erfahrungsgemäß
findet sich als eine Wurzel gesteigerten Ehrgeizes die schwierige Überwindung
einer in Bettnässen betätigten Uretliralerotik.
***) Vgl. Jung, L'analyse dos reves (L'annee psych., 1909, p. 165) u. Rank:
„Die Symbolschichtung im Wecktraum und ihre Wiederkehr im mythischen Denken"
(Jahrb., Bd. IV, 1912).
t) „Über Uretliralerotik", Jahrb., Bd. II, 1910.
tt) Die an die Aufstellung der erogenen Zonen sich anknüpfenden bio-
logischen Probleme sind behandelt in der wertvollen „Studie über Minder-
wertigkeit von Organen" von Dr. Alf. Adler (Urban und Schwarzenberg,
Wien und Berlin 1907).
40
III. Der Sexualtrieb.
Die Keime von sexueller Erregung des Neugeborenen entwic-
keln sich eine Zeitlang weiter, unterliegen dann aber einer fortschrei-
tenden Unterdrückung in einer „Latenzperiode" (Fließ), welche
zumeist erst wieder um das dritte oder vierte Jahr durchbrochen
wird. Während dieser Periode totaler oder partieller Latenz werden
infolge organischer Vorgänge („organische Verdrängung«)*)
und der unerläßlichen Nachhilfe der Erziehung die seelischen Machte
aufgebaut, die später dem Sexualtrieb als Hemmnisse in den Weg
treten und gleichwie Dämme seine Richtung beengen: der Ekel,
das Schamgefühl, die ästhetischen und moralischen Vorstellungsmassen.
Ein anderer Teil dieser sexuellen Energien wird in der Latenzzeit von
der sexuellen Verwendung abgelenkt und kulturellen sowie sozialen
Zielen zugeführt, ein Prozeß, den Freud durch den Namen „Subü-
mierung" als kulturhistorisch und individuell bedeutsam gekenn-
zeichnet hat. Die Fähigkeit gewisser Komponenten des Sexualtriebes
zur Vertauschung ihres ursprünglichen Zieles mit einem höheren
eventuell nicht mehr sexuellen, gibt auch im späteren Leben Energie-
beiträge zu unseren seelischen Leistungen ab, denen wir wahrschein-
lich die höchsten kulturellen Erfolge verdanken.
Aus diesem Gesichtspunkt verliert auch der oft geäußerte Un-
glaube an die spezifische Virulenz der sexuellen Ätiologie bei
den Neurosen seine Berechtigung. Wird doch kein Trieb von der
Kindheit an so konsequent und notwendig zu Gunsten der Kultur
beschränkt und unterdrückt wie der Sexualtrieb, zumal in seinen
perversen Ansätzen. Auf die mannigfachen Weisen des Mißglückens
dieser Umbildungsvorgänge an den sexuellen Partialtrieben sind die
als ..Neurosen" bezeichneten Leiden zurückzuführen.
2. Das Kindesalter.
Die Keime von Sexualregungen der Säuglingszeit sind in den
Kinderjahren — allgemeine Zeitbestimmungen zu geben, ist noch nicht
gelungen - in fortgeschrittener Entwicklung zu beobachten. Für
dieses° Wieder auftreten der Sexualäußerungen in der zweiten Periode
der kindlichen Sexualentwicklung sind innere Ursachen und äußere
Anlässe maßgebend. Sie beruhen zum Teil auf Nachbildung einer im
Anschluß an organische Vorgänge erlebten Befriedigung, wie z. B.
das Lutschen, oder sie werden erzeugt durch periphere Reizung erogener
*) Das Wesen dieses Vorganges, welcher etwa einein organischen Entwick-
lungsschub entspricht, ist noch ungeklärt; auf seine Bedeutung für die Entstehung
der Psychoneurosen ist im Kapitel „Hysterie" hingewiesen.
Dio Sexualität dos Kindosalters. 41
Zonen, wie sie beim Reinigen des Körpers und bei der Kinderpflege
unvermeidlich sind ; auch mechanische (besonders rhytmische) Erschüt-
terungen des Körpers erzeugen Lustgefühle: das Schaukeln, „Fliegen
lassen" sowie das Wiegen, Eisenbahn- und Wagenfahren sind daher
bei den Kindern so beliebt.
Daß auch die beim Raufen und Ringen mit Gespielen geleistete
Muskeltätigkeit sexuelle Erregungen bedingen kann, ist bekannt.
Schreck und Angst können gleichfalls geschlechtliche Erregungen
hervorrufen, wobei insbesondere die beim Schulkinde und gelegentlich
beim neurotischen Erwachsenen durch Angst hervorgerufenen Reiz-
gefühle, welche dann zu Onanie und Pollutionen führen können, er-
wähnt seien.
Bedeutsam ist auch der Einfluß der keineswegs seltenen Verfüh-
rung, dio das Kind vorzeitig als Sexualobjekt behandelt. Auch sind
viele Mütter und Pflegerinnen durch ihre den erotischen Charakter
selten verleugnende Zärtlichkeit (das Kind als „erotisches Spielzeug")
ebenfalls in dieser Richtung tätig.
Endlich treten auch Triebe neu in Erscheinung, die uns ihrer
Herkunft nach nicht voll verständlich sind, der Schautrieb und der
Trieb zur Grausamkeit.
Es ist selbstverständlich, daß es der Verführung nicht bedarf,
um das Sexualleben des Kindes in dieser zweiten Periode zu wecken,
daß solche Erweckung auch spontan aus inneren Ursachen vor sich
"ehen kann. Es ist nun lehrreich, zu sehen, daß das Kind unter dem
Einflüsse gelegentlicher Verführung tatsächlich polymorph-pervers
werden, d. h. zu allen möglichen Überschreitungen verleitet werden
kann ; dies zeigt, daß es die Eignung hiezu in seiner Anlage mitbringt.
Es bringt die Eignung zu allen Perversionen und infolge seiner bi-
sexuellen Anlage auch zur Inversion (Homosexualität) latent mit; es
ist in seiner Entwicklung, sei es zur Normalität, sei es zur Neurose
durch die besondere Betonung gewisser Triebe und Zonen, sowie durch
seine kindlichen Erlebnisse bestimmt.
Diese in der Anlage enthaltenen Perversionen lassen sich auf
eine Reihe von Partialtrieben zurückführen, die aber selbst nichts
Primäres sind. Neben einem an sich nicht sexuellen, aus motorischen
Impulsquellen stammenden Trieb unterscheidet man an ihnen einen
Beitrag von einem Reize aufnehmenden Organ (Haut*), Schleimhaut,
*) Vgl. Sadger: „Haut-, Schleimhaut- und Muskelerotik" (Jahrbuch III,
1911).
42
ITT. Der Sexualtrieb.
Sinnesorgan), der „erogenen Zone", deren Erregung dem Trieb den
sexuellen Charakter verleiht; als solche Partialtriebe hat Freud die
Exhibitionslust, den Schautrieb, die aktive und passive Algolagnie
(Sadismus, Masochismus) und andere verstehen gelehrt. Das unzwei-
deutige Vergnügen des kleinen Kindes an der Entblößung des Körpers
mit besonderer Hervorhebung der Geschlechtsteile, erweist die Exhibi-
tionslust. Das Gegenstück dieser im späteren Leben als pervers
geltenden Neigung ist die Neugierde, die Genitalien und Exkremental-
funktionen anderer Personen zu sehen (Schaulust), welche unter ent-
sprechendem Einfluß eine große Bedeutung für die sexuelle Entwick-
lung erreichen kann. Besehauen und Betasten der Genitalien Erwach-
sener und Gleichaltriger ist nicht selten, und solche Kinder können
auch zu Voyeurs, eifrigen Zuschauern bei der Harn- und Kotentleerung
anderer werden. Für den Sadismus sind die Wurzeln im Normalen leicht
nachzuweisen in der Beimengung von Aggression, welche die Sexualität
der meisten männlichen Individuen zeigt und deren biologische Be-
deutung in der Notwendigkeit liegen dürfte, den Widerstand des
Sexualobjekts noch anders als durch die Akte der Werbung zu über-
winden. Der Sadismus entspricht dann einer selbständig gewordenen,
übertriebenen, durch Verschiebung an die Hauptstelle gerückten,
aggressiven Komponente des Sexualtriebes. Die völlige psychologische
Analyse des sadistischen Triebes ist jedoch noch nicht geglückt .*)
Auch für den Masochismus ließen sich leicht in ähnlicher Weise
normale Wurzeln nachweisen.
Aus dem Studium dieser Partialtriebe ergab sich die bedeutsame
Erkenntnis, daß der Sexualtrieb selbst nichts Einfaches, sondern aus
vielen Komponenten zusammengesetzt ist, die sich in den Perversionen
wieder von ihm ablösen.
Ehe noch ein äußeres Objekt gesucht wird, bildet sich im An-
schluß an das Stadium der Autoerotik der Narzißmus aus, die
Verliebtheit in sich selbst:**) die vorher vereinzelten Triebe haben
sich zu einer Einheit zusammengesetzt und nehmen das eigene, um
diese Zeit konstituierte Ich, den eigenen Körper als Objekt. Diese nar-
zißtische Einstellung bleibt z. T. normalerweise erhalten, manchmal
erfährt sie später pathologische Fixierungen; auch können an diesem
*) Einen glücklichen Versach in dieser Richtung macht P. Federn in seinen
„Beiträgen zur Analyse des Sadismus und Masochismus" (Int. Zeitschr. f. ärztl.
Psa. L, 1913).
**) Vgl. Freud, Jahrb. II, S. 54 und Imago, II. Jg., L H., S. 12.
Narzißmns und kindliche Objektwahl. 43
zum Liebesobjekt genommenen Selbst bereits die Genitalien die Haupt-
sache sein.
Die Beobachtung hat weiters erwiesen, daß das Kind mitunter
recht frühzeitig einer oft von Affekten begleiteten Objektliebe fähig
ist und nicht nur einer Reihe autoerotischer Befriedigungen. Früh-
zeitige Zärtlichkeit, die sich zunächst auf die Personen der aller-
nächsten Umgebung richtet, also auf die Eltern und Pflegepersonen, hat
sich auf Grund der Interessen des Selbsterhaltungstriebes gebildet,
aber auch von Anfang an Beiträge von den Sexualtrieben, Komponenten
von erotischem Interesse mitgenommen. Zärtlichkeiten der Eltern und
Pflegepersonen kommen diesem Drang dann entgegen. Auch kann
man ohne Mühe beobachten, daß die scheinbar harmlosesten Klehi-
kinderliebschaften nicht ohne erotischen Beigeschmack sind.*)
Es beginnt dann jene bedeutungsvolle Zeit, deren oft unschein-
bare Äußerungen viel zu wenig beachtet werden, denn das Kind geht,
ohne sich dem naiven Beobachter zu verraten, nun darauf aus, sein
Geschlecht verstehen, das Liebesleben der Eltern, wie es sich durch
das Zusammenliegen im Ehebett u. dgL verrät, durchschauen zu lernen.
In einer unerwartet großen Anzahl von Lebens- und Kranken-
geschichten nimmt dieses Aufflammen der sexuellen Wißbegierde von
der Geburt des nächsten Kindes seinen Ausgangspunkt. Der Wissens-
drang der Kinder erwacht ja überhaupt nicht spontan, sondern unter
dem Stachel der sie beherrschenden eigensüchtigen Triebe, wenn sie
— etwa nach Vollendung des zweiten Lebensjahres — von der
Ankunft eines neuen Kindes betroffen werden. Der mit Recht ge-
fürchtete Entgang an Fürsorge von Seiten der Eltern wirkt erweckend
auf das Gefühlsleben des Kindes und verschärfend auf seine Denk-
fähigkeit.**) Unter der Anregung dieser Gefühle und Sorgen kommt
das Kind zu der Beschäftigung mit dem ersten großartigen Problem
des Lebens und stellt sich die Frage, woher die Kinder kom-
men die wohl zuerst lautet, woher dieses einzelne störende Kind
gekommen sei. Wendet sich das Kind von seiner ergebnislosen oder
unbefriedigenden Forschung zur Befragung der Erwachsenen, so er-
hält es keine oder keine ausreichende Antwort oder einen Verweis
für seine unziemliche Wißbegierde oder es wird mit der mytho-
*) Vgl. die interessante Arbeit von Sanford Bell: „A preliminary study of
the emotion of love between the sexes". (American Journal of Psychology, 1902.)
**) Das ältere Kind äußert gar nicht selten seine Feindseligkeit gegen den
Konkurrenten ganz unverhohlen.
44 ID. Der Sexualtrieb.
logisch*) bedeutsamen Auskunft abgefertigt, der Storch bringe die
Kinder aus dem Wasser. Dieser Storchfabel schenken die Kinder in
der Regel keinen Glauben, da ihrem Scharfblick die Gravidität der
Mutter selten entgeht. Hingegen bilden sie über Erzeugung und Zur-
weltkommen dieses offenkundig im Leibe der Mutter wachsenden Kindes
falsche Theorien.**) Die so häufige Unbekanntheit mit den weiblichen
Geschlechtsteilen ermöglicht so dem Kinde eine Theorie, wonach der
Fötus wie ein Exkrement durch den After entleert wird (Kloakentheorie) ;
andere meinen, er komme dureh die Brust oder die Öffnung des
Nabels, dem sie sonst keine andere Funktion zuzuschreiben wissen,
zur Welt. Diese Theorien ergeben natürlich, da sie von den Eigen-
tümlichkeiten des weiblichen Genitales absehen, für beide Geschlechter
die Möglichkeit des Kinderbekommens, welche Vorstellung tatsächlich
im kindlichen Phantasieleben eine große Rolle spielt. Überhaupt bildet
die dem Kinde noch mangelnde oder von ihm abgewiesene Kenntnis
zweier verschiedener Geschlechtsapparate ein wichtiges Problem des
kindlichen Denkens und Forschens und wird zunächst mit der An-
nahme gelöst, daß der Knabe auch dem weiblichen Geschlechte einen
Penis zuschreibt und, wenn er denselben nicht sieht, für abgeschnitten
hält. Die kleinen Mädchen hingegen vermissen beim Vergleichen an
sich das männliche Glied, woraus „Penisneid", auch ein Gefühl der
Unvollkommenheit und der Wunsch, ein Knabe zu sein, den Ursprung
nehmen kann. Diesem Penisneid entspricht beim Knaben, wenn er sich
mit Großen (dem Vater) vergleicht, manchmal gleichfalls ein Minder-
wertigkeitsgefühl über die Kleinheit seines Organs und ein damit
zusammenhängender Wunsch, ein Mann zu sein. Angst vor Verlust des
Gliedes, „Penisangst", bildet den nicht seltenen Inhalt des für die
Neurose bedeutsamen Kastrationskomplexes. Es ist sicher, daß
derselbe sich nicht bloß von der relativ häufigen Androhung mit dem
Abschneiden des Gliedes, also aus rein individueller Erfahrung ab-
leitet. — An die Unklarheiten über das äußere Genitale knüpft
eine reichhaltige Zeugungsphantasie an, z. B. die Mädchen-
phantasie, daß die Zeugung durch den bloßen Kuß bewerkstelligt
wird, die Schwängerung durch Nahrungsaufnahme. Typisch und in
vielen Märchen verwendet ist die Schwängerungstheorie der Kinder,
*) Siehe Rank: „Der Mythus von der Geburt des Helden" (Schriften z. an-
gewandten Seelenkunde, H. 5, F. Deuticke, Wien u. Leipzig 1909) und „Völker-
psychologische Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien" (Zentralblatt f. Psa.,
II, 1912, S. 372).
**) Vgl. Freud: „Über infantile Sexualtheorien." Lit.-V. Nr. 32.
Der Ödipuskomplex. 45
wonach die. Empfängnis durch den Mund (Speise, Gift) erfolgt. Auch
stellen sich Kinder häufig das Verheiratetsein in naiver Weise als
seine Lustbefriedigung mit Hinwegsetzung über Scham und Ekel vor,
am häufigsten in der Weise, daß Mann und Frau ungeniert vor einander
urinieren oder den Hintern zeigen u. dgl. Auffallend häufig gelangen
die Kinder auch zur sadistischen Auffassung des Koitus
und namentlich die Knaben halten ihn meist für eine Rauferei, wozu
die Belauschung des geräuschvollen und mit lauten Atembewegungen
einhergehenden Aktes von Erwachsenen (meist der Eltern) sie ver-
leitet. Hervorgehoben muß werden, daß alle diese kindlichen Theorien
innerhalb der Neurosen selbst noch in voller Geltung sind und einen
bestimmenden Einfluß auf die Gestaltung der Symptome ausüben.
Aus diesen Erlebnissen der frühzeitigen Objektliebe, den Resultaten
der Sexualforschung der Kinder, die sich meist auf die Eltern be-
ziehen, und aus den zugehörigen Phantasien entwickelt sich im Kinde
eine psychosexuelle Einstellung in der Familie welche
Freud als „Ödipuskomplex" zusammengefaßt hat, indem der
Knabe, gleich dem Ödipus der Sage, die Mutter liebt und von Ver-
einigung mit ihr phantasiert, während er den störenden Vater weg-
wünscht und beseitigt wissen will. Das Mädchen erfährt in der Regel
die entgegengesetzte Einstellung. So ergibt sich eine Konstellation
im Familienleben, welche später oft ganz typisch in Erschei-
nung tritt, indem die Tochter den Vater, der Sohn die Mutter
vorziehen und von denselben bevorzugt werden ; zwischen Bruder
und Schwester entwickelt sich ebenfalls erotische Anziehung, wäh-
rend gleichgeschlechtliche Kinder untereinander durch Eifersucht
leicht feindselige Einstellung erfahren. Dies wäre freilich nur ein
schematisches Bild und wird auch deshalb im Leben nicht so deutlich
in Erscheinung treten, als es sich vielfach um heimliche oder ver-
heimlichte Vorgänge handelt. Auch ist selbstverständlich, da das Kind
von beiden Elternteilen instinktiv Güte und Fürsorge erfährt, es auch
beiden Teilen Liebe und Dankbarkeit entgegenbringt, so daß sich oft
äußerlich ein ungetrübtes, liebevolles Familienleben darbietet; gerade
diese ambivalente Einstellung ist es, welche diesem Komplex seine psy-
chische und pathogene Bedeutsamkeit verleiht. Wo neurotische Individuen
oder abnorme Charaktere aneinander geraten, ist der Ödipuskomplex und
der Familienroman in scharfer Ausprägung zu finden. Im Unbewußten
des Kindes, das im Traum des Erwachsenen weiterlebt, läßt sich diese
atavistische Einstellung regelmäßig mit Sicherheit erkennen. Dieser
46
III. Der Sexualtrieb.
Ödipuskomplex erweist sich als der Kernkomplex der Neurose und
spielt bei den zugehörigen Psychosen eine analoge Rolle. Freud
hatte diese Einstellung des Kindes zu den Eltern durch Psychoanalyse
erforschen können, bis eine günstige Gelegenheit ihm diese Erscheinungen
am Kinde selbst vor Augen führte. Die Analyse der Phobie eines fünf-
jährigen Knaben (Jahrbuch, I. Bd., 1909) bestätigt aufs deutlichste die
aus den Psychoanalysen Erwachsener erschlossenen Tatsachen über
diesen psychosexuellen Anteil des kindlichen Seelenlebens. Diese Ana-
lyse ist darum noch von besonderem Interesse, weil sie die erste
Schilderung einer der im Kindesalter so häufig auftretenden Angst-
hysterien ist.*)
Der Inhalt der kindlichen Psychosexualität besteht also in der
autoerotischen Betätigung der vorherrschenden Sexualkomponenten, in
Spuren von Objektliebe und in der Bildung jenes Komplexes, den
Freud als Kernkomplex der Neurosen bezeichnet hat, und der
die ersten zärtlichen wie feindseligen Regungen gegen die Eltern**)
und Geschwister umfaßt. Alle Einzelheiten dieser zweiten infantilen
Sexualperiode hinterlassen die tiefsten Eindrucksspuren im (unbewußten)
Gedächtnis der Person, bestimmen die Entwicklung ihres Charakters,
wenn sie gesund bleibt, und die Symptomatik ihrer Neurose, wenn
sie nach der Pubertät erkrankt. Im letzteren Falle findet man diese
Sexualperiode vergessen (infantile Amnesie), die für sie zeugenden
bewußten Erinnerungen verschoben. Durch die psychoanalytische Er-
forschung gelingt es, das Vergessene bewußt zu machen und damit
einen Zwang zu beseitigen, der vom unbewußten psychischen Material
ausgeht. Aus der Uniformität dieses Inhaltes und aus der Konstanz
der späteren modifizierenden Einflüsse erklärt es sich leicht, daß im
allgemeinen stets die nämlichen Phantasien über die Kindheit gebildet
werden. Doch sind die Neurotiker von den Normalen nicht scharf
abzugrenzen und besonders in ihrer Kindheit nicht immer leicht von
*) Vgl. auch den Fall von C. G. Jung: „Über Konflikte der kindlichen
Seele" (Jahrbuch II, 1910).
**) Die Vorbildlichkeit der autoritativen Personen in der Familie für die
ganze Charakterentwicklung und Schicksalsgestaltung des Gesunden wie des Neu-
rotikers kann hier nicht ausführlich erörtert werden. Es sei nur auf die wichtigen
Arbeiten von Jung : „Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des einzelnen«
und Abraham: „Die Stellung der Verwandtenehe in der Psychologie der Neurosen",
(beide Jahrbuch, I, 1909) hingewiesen. Vgl. auch die Arbeiten von Jones, Abra-
ham und Ferenczi über die psychologische Bedeutung der Großeltern. (Int
Zeitschr. f. ärztl. Psa., 1913, H. 3, Mai.)
Die Pubertät. 47
denjenigen, die gesund bleiben, zu unterscheiden. Es ist im Gegenteil
eines der wertvollsten Ergebnisse der psychoanalytischen Untersuchungen,
daß die Neurosen keinen besonderen, ihnen eigentümlichen und allein
zukommenden psychischen Inhalt haben, sondern daß die Neurotiker,
wie Jung es ausdrückt, an denselben Komplexen erkranken, mit
denen auch die Gesunden kämpfen. Der Unterschied ist der, daß die
Gesunden diese Komplexe ohne groben, praktisch nachweisbaren
Schaden zu bewältigen wissen, während den Neurotikern die Unter-
drückung dieser Komplexe nur um den Preis von kostspieligen Ersatz-
bildungen gelingt, also praktisch mißlingt.
3. Die Pubertät.
Die Latenzperiode dauert, von den erwähnten Durchbrechungen
abgesehen, bis zu den Umgestaltungen der Pubertät, durch die der
bisherige autoerotische Charakter der Sexualbetätigung verloren geht,
und der Trieb sein Objekt am Nebenmenschen findet.
Das neue Sexualziel, das durch die Umgestaltung der Pubertät
geschaffen wird und durch die Einfügung aller von den ero«enen
Zonen ausgehenden Triebrichtungen gekennzeichnet ist, besteht beim
Mann in der Entladung der Geschlechtsprodukte, wozu eine Unterordnung
aller erogenen Zonen unter das Primat der Genital zone not-
wendig ist, welche durch die Entwicklung der Geschlechtsorgane und
die Bereitung der Genitalsekrete unterstützt wird. Au Bedingungen,
die erst mit der Pubertät eintreten, ist auch jene Befriedigungslust
der Sexualität geknüpft, welche den normalen Sexualakt beendet: die
E n d 1 u s t. Die Lust an der vorhergehenden Erregung erogener Zonen
verdient eine eigene Namengebung und ist im Gegensatz dazu von
Freud als Vorlust bezeichnet worden.*)
Die Objektf indung wird geleitet durch die zur Pubertätszeit
aufgefrischten, infantilen Andeutungen sexueller Neigung des Kindes
zu seinen Eltern, Geschwistern und Pflegepersonen. Im Lebensalter
der Pubertät tritt nämlich die mächtige „sinnliche" Strömung hinzu,
die ihre Ziele nicht mehr verkennt. Sie versäumt es anscheinend
niemals, die früheren Wege zu gehen und nun mit weit stärkeren
Libidobeträgen die Objekte der primären infantilen Wahl zu be-
setzen. Aber da sie dort auf die unterdessen aufgerichteten Hin-
*) Näheres über den Mechanismus der Vorlust sowie über das Wesen der
Lust überhaupt findet sich in F r e u d s Arbeit „Der Witz und seine Beziehung
mm Unbewußten". (Lit.-V. Nr. 19.)
48
III. Der Sexualtrieb.
dernisse der Inzestschranke stößt, wird sie das Bestreben äußern^
von diesen real ungeeigneten Objekten möglichst bald den Über-
gang zu anderen, fremden Objekten zu finden, mit denen sieb ein
reales Sexualleben durchführen läßt. Diese werden immer noch
nach dem Vorbild (der „Imago") der infantilen Objekte gewählt
werden, aber mit der Zeit die Zärtlichkeit an sieh ziehen, die an
die früheren gekettet war. Die besonderen Bedingungen und Wir-
kungen einer solchen, durch lange und intensive Fixierung der Libido
an die Mutter charakterisierten, Objektwahl hat Freud als einen
Typus des männlichen Liebeslebens besonders beschrieben.*) Durch
intensive Phantasien auf die geliebte Mutter wird von ihrem Idealbild
ein dem Vater sich allzu leicht hingebendes Teilbild abgespalten, so
daß die Sehnsucht sich einerseits in grobsinnlicher Weise einem dirnen-
haften Typus und in idealer Weise einem reinen (jungfräulichen) Typus
zuwendet. Der Betreffende sucht einerseits für seine wirklichen Sexual-
bedürfnisse dirnenhafte Frauenzimmer oder wenigstens solche, die einem
anderen Manne angehören, der dabei die Rolle des „geschädigten Dritten"
(Vater) zu spielen verurteilt ist, bleibt ihnen flüchtig treu und weist
daher eine ganze Reihe von Liebesobjekten nacheinander auf, was mit
der Unersetzbarkeit der zu tiefstgeliebten Mutter zusammenhängt
Diese erniedrigten Objekte sucht er unter rationalen Vorwänden gerne
zu „retten", während er auf der anderen Seite von unnahbar hohen
Liebesobjekten schwärmt, denen gegenüber er sich nicht selten als
sexualunfähig erweist (psychische Impotenz).**)
Die Pubertätszeit ist es auch erst, in welcher mit Rücksicht auf
das neue Sexualziel die Entwicklung der beiden Geschlechter weit
auseinander geht. Die des Mannes ist die konsequentere, während
beim Weibe sogar eine Art von Rückbildung eintritt. Die leitende
erogene Zone beim weiblichen Kinde ist an der Klitoris gelegen
homolog der Eichel des Gliedes. Diese sozusagen männliche Klitoris-
sexualität wird in der Pubertät, die dem Knaben einen großen Vorstoß
der Libido bringt, verdrängt. Die Übertragung der erogenen Reizbar-
keit von der Klitoris auf den Scheideneingang nimmt oft eine gewisse Zeit
in Anspruch, während welcher das junge Weib für den Koitus anästhe-
tisch ist. In diesem Wechsel der leitenden erogenen Zone sowie dem neuen
Verdrängungsschub der Pubertät liegen wesentliche Bedingungen für
die Bevorzugung des Weibes zur Neurose, besonders zur Hysterie.
*) Lit.-V. Nr. 41.
**) Lit.-V. Nr. 52.
Die Abirrungen des Sexualtriebes. 4.9
Die beiden wesentlichen Umgestaltungen der Pubertät, das Primat
der Genitalzone und die Objektfindung, sind für das Zustandekommen
eines normalen Sexuallebens unerläßlich. Kommt aber infolge patho-
logischer Anlage und akzidenteller Erlebnisse diese Zusammenfassung
der aus verschiedenen Quellen stammenden sexuellen Erregung und
ihre Hinlenkung auf das normale Sexualobjekt nicht zu stände, so er-
geben sich, zum Teil durch frühere Vorgänge bedingt, die krankhaften
Abweichungen des Geschlechtstriebes als Bewahrung eines bestimmten
Teiles der ursprünglich polymorph-perversen Anlage. Die Perversionen
sind also Entwicklungen von Keimen, die sämtlich in der indifferen-
zierten Anlage des Kindes vorhanden sind und stellen beim Erwach-
senen ein Stadium der Entwicklungshemmung dar.
B. Die Abirrungen des Sexualtriebes.
Auf Grund der analytischen Erforschung des Sexualtriebes beim
Neurotiker hat Freud die krankhaften Abweichungen des Geschlechts-
triebes aus der infantilen Sexualität ableiten und ihre Übergänge zum
Normalen feststellen können. Die Ausübung dieser Abirrungen ist
daher nicht von vornherein als pathologisch aufzufassen, sondern nur
in ihrer Ausschließlichkeit und in der Fixierung liegt die
Berechtigung, die sogenannten Perversionen als krankhafte Symptome
zu beurteilen. Freud hat in dieses an Erscheinungen so reiche Gebiet
große Klarheit gebracht, indem er die Perversionen einteilt in zwei
Gruppen, je nachdem die Abweichung das Sexualobjekt oder das
Sexualziel betrifft.
1. Abweichungen in bezug auf das Sexualobjekt.
Unter diesen bietet die Inversion, wie Freud die Homo-
sexualität nennt, die größte Mannigfaltigkeit und daher die schwie-
rigsten Probleme. Die betreffenden Personen sind entweder absolut
invertiert, d. h. ihr Sexualobjekt kann nur dem gleichen Geschlechte
angehören oder amphigen invertiert (psychosexuell-hermaph.ro-
ditisch), d. h. ihr Sexualobjekt kann sowohl dem gleichen wie dem
anderen Geschlechte angehören, oder endlich okkasionell inver-
tiert. Eine befriedigende Erklärung der Inversion gibt nur die Annahme
einer allen Menschen eigenen ursprünglich bisexuellen Anlage*), die
*) Vgl. Chevalier, Krafft-Ebbing, Fließ, Hirschfeld, A. Adlern, a.
Hitichmann. Freud« Nourosonlohro. 2. Aufl. 4
kq HI. Der Sexualtrieb.
auch anatomisch festgestellt ist und sich normalerweise oft in den inten-
siven Knaben- und Mädchenfreundschaften verrät. Die normale Entwick-
lung führt von der Bisexuaütät zur Herrschaft des heterosexuellen Triebes.
Nach der Erreichung der heterosexuellen Objektwahl werden die homo-
sexuellen Streb ungen nicht etwa aufgehoben oder eingestellt, sondern
bloß vom Sexualziel abgedrängt und neuen Verwendungen zugeführt.
Sie treten nun mit Anteilen der Ichtriebe zusammen, um mit ihnen
als „angelehnte" Komponenten die sozialen Triebe zu konstituieren und
stellen so den Beitrag der Erotik zur Freundschaft, Kameradschaft,
zum Gemeinsinn und zur allgemeinen Menschenliebe dar. Die Inversion
beruht also auf einer Störung des Entwicklungsganges. Damit entfällt
auch die inadäquate Fragestellung, ob sie angeboren oder erworben sei.
Sie stammt zweifellos aus der frühesten Kindheit und hat Störungen
zur Grundlage, welche der Geschlechtstrieb in seiner Entwicklung er-
fährt. Jedenfalls ist es ganz und gar unzulässig, einen besonderen
homosexuellen Trieb zu unterscheiden; es ist nicht eine Besonderheit
des Trieblebens, sondern vielmehr der Objektwahl, die den Homosexuellen
ausmacht. Das Problem der Homosexualität ist ein sehr verwickeltes
und umfaßt ganz verschiedene Typen von sexueller Betätigung und
Entwicklung.*) Man sollte begrifflich strenge auseinanderhalten, ob die
Inversion den Geschlechtscharakter des Objekts oder den des Sub-
jekts verkehrt hat. Es kann nämlich — um es für den Mann Z n
schildern ein männlich fühlendes Individuum nur nach männlichen
Objekten begehren (statt nach weiblichen), oder im anderen Falle kann
ein maskulines Individuum weiblich fühlen und aus diesem subjektiven
Grund den männlichen Partner suchen. Auch ist das Sexualobjekt
der männlich Invertierten nie das gleiche Geschlecht in seiner
charakteristischen Ausprägung, sondern eine Vereinigung beider Ge-
schlechtscharaktere, mit der festgehaltenen Bedingung der Männlich-
keit des Körpers (der Genitalien). Man trifft bei den späteren Homo-
sexuellen, die nach Freuds und Sadgers**) Beobachtungen in der
Kindheit eine amphigene Phase durchmachen, auf die nämliche in.
fantile Hochschätzung der Genitalien, speziell des Penis, die sich i^
*) Den vielfachen Erscheinungsformen homosexueller Regungen beim Neur-o-
tiker ist St ekel („ Masken der Homosexualität", Zbl. f. Psa. II) nachgegangen.
**) J. Sadger: „Fragment der Psychoanalyse eines Homosexuellen" (Jahrbuch
f. sex. Zwischenstufen, 1908). — Derselbe : „Zur Ätiologie der konträren Sexual-
empfindung" (Mediz. Klinik, 1909). — Derselbe: „Ist die konträre Sexualempfin-
dung heilbar?" (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft, 1908).
Die Inversion. 5^
der narzißtischen Periode des Kindes ausbildet. Diese frühzeitige Prä-
ponderanz des männlichen Gliedes wird zum Schicksal für die Homo-
sexuellen. Sie wählen das Weib zum Sexualobjekt in ihrer Kindheit,
solange sie auch beim Weibe die Existenz dieses ihnen unentbehrlich
dünkenden Körperteils voraussetzen; mit der Überzeugung, daß das
Weib sie in diesem Punkte getäuscht hat, wird das Weib für sie als
Sexualobjekt unannehmbar. Sie können den Penis bei der Person
die sie zum Sexualverkehr reizen soll, nicht entbehren und fixieren
ihre Libido im günstigsten Falle auf „das Weib mit dem Penis", den
feminin erscheinenden Jüngling. Die Homosexuellen sind also in der
Entwicklung vom Autoerotismus zur Objektliebe an einer Stelle, dem
Autoerotismus näher, fixiert geblieben. Die Voraussetzung eines Penis
beim Weibe geht zurück auf eine jener häufigen infantilen Sexual-
theorien, wie sie sich das noch unaufgeklärte, aber in seiner Sexual-
neugierde schon geweckte Kind zurechtlegt.
Hat auch die Psychoanalyse bisher keine volle Aufklärung über
die Herkunft der Inversion gebracht, so konnte sie doch in einzelnen
Fällen den psychischen Mechanismus ihrer Entstehung aufdecken und
die diesbezüglichen Fragestellungen bereichern. So konnte in den
bisher untersuchten Fällen festgestellt werden, daß die später Invertierten
in den ersten Jahren ihrer Kindheit eine Phase von sehr intensiver
aber kurzlebiger Fixierung an das Weib (meist an die Mutter) durch-
machen, nach deren Überwindung sie sich mit dem Weibe identifizieren
und sich selbst zum Sexualobjekt nehmen, d. h. vom Narzißmus
ausgehend,*) jugendliche und der eigenen Person ähnliche Männer auf-
suchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat.
Damit in Zusammenhang hat sich ergeben, daß angeblich Invertierte
gegen den Reiz des Weibes keineswegs unempfindlich waren, sondern
die durch das Weib hervorgerufene Erregung fortlaufend auf ein männ-
liches Objekt transponierten. Sie wiederholten so während ihres ganzen
Lebens den Mechanismus, durch welchen ihre Inversion entstanden war.
Ihr zwanghaftes Streben nach dem Manne erwies sich als bedingt
durch die ruhelose Flucht vor dem Weibe. Indes ist zu bemerken,
daß sich bisher nur ein einziger Typus von Inversion der Psychoanalyse
unterzogen hat : Personen mit allgemein verkümmerter Sexualbetätigung
deren Rest sich als Inversion darstellt. Die Entwicklung der Homo-
*) Ein weibliches Beispiel dieser Art hat Rank (Jahrb. III, 1911) mit-
geteilt „Ein Beitrag zum Narzißmus".
4*
eg ITI. Der Sexualtrieb.
Sexualität scheint übrigens für beide Geschlechter durch das Auf-
wachsen in bloß weiblicher Umgebung begünstigt zu werden.
Ausnahmsweise können auch Geschlechtsunreife und Tiere als
Sexualobjekte verwendet werden, eine Tatsache, die ein Licht auf die
Natur des Geschlechtstriebes wirft, der im Gegensatz zum Hunger
so vielerlei Variationen und eine solche Herabsetzung seines Objekts
zuläßt.
2. Die Abweichungen in bezug auf das Sexualziel,
die man als Perversionen beschrieben hat, teilt Freud in a) ana-
tomische Überschreitungen der für die geschlechtliche Ver-
einigung bestimmten Körpergebiete und b) Verweilungen bei den
intermediären Relationen zum Sexualobjekt, die normalerweise auf dem
Wege zum endgültigen Sexualziel rasch durchschritten werden sollten.
Es sind so bereits am normalsten Sexualvorgang jene Ansätze kennt-
lich, deren Ausbildung zu den Abirrungen führt, die man als Perver-
sionen bezeichnet.
a) Die psychische Wertschätzung, deren das Sexualobjekt als
Wunschziel des Sexualtriebes teilhaftig wird, beschränkt sich in den
seltensten Fällen auf dessen Genitalien, sondern greift auf den ganzen
Körper desselben über und strahlt auch auf das psychische Gebiet aus.
Diese Sexualüberschätzung" ist es nun, welche sich mit der
Einschränkung des Sexualzieles auf die Vereinigung der eigentlichen
Genitalien so schlecht verträgt und Vornahmen an anderen Körper-
teilen zu Sexualzielen erheben hilft. Bei der Ausbildung dieser höchst
mannigfaltigen anatomischen Überschreitungen ist ein Bedürfnis nach
Variation unverkennbar. Die Bedeutung des Moments der Sexualüber-
schätzung läßt sich am besten beim Manne studieren, dessen Geschlechts-
leben zunächst der Erforschung zugänglich geworden ist, während das
des Weibes zum Teil infolge der Kulturverkümmerung, zum anderen
Teü durch die konventionelle Verschwiegenheit und Unaufnchtigkeit
der Frauen, in Dunkel gehüllt ist.
Die Verwendung der Lippen- und Mundschleimhaut zum nor-
malen Kusse ist bei den meisten Völkern allgemein üblich. Hingegen
stehen der Verbindung der Lippenmundzone mit dem Sexualorgan des
anderen Individuums verschieden starke Ekelgefühle entgegen. Im
Ekel erblickt Freud eine der Mächte, welche die Einschränkung des
Sexualzieles zu stände gebracht haben. In der Regel machen diese vor
den Genitalien selbst halt. Werden aber die Genitalien an und iur
^
Der Fetischismus. 53
sich Gegenstand des Ekels (Sexualabiehnung), so ist dies als ein
charakteristisches Zeichen von Hysterie (zumal bei weiblichen Personen)
aufzufassen. Damit steht in Zusammenhang, daß in den unbewußten
Phantasien der Hysterischen gewisse andere Körperstellen, wie die
Mund- und Afterschleimhaut, gleichsam die Bedeutung und die Rolle
von Genitalien für sich in Anspruch nehmen.
Mit der Sexual Überschätzung bringt Freud die so häufige Ab-
normität des Fetischismus in Zusammenhang. Der fetischistische
Ersatz für das Sexualobjekt ist ein im allgemeinen für sexuelle Zwecke
sehr wenig geeigneter Körperteil (Fuß, Haar) oder ein unbelebtes
Objekt, welches in nachweisbarer Relation mit der Sexualperson
steht (Stücke der Kleidung, Wäsche, Schuhe usw.). Ein gewisser
Grad von Fetischismus ist auch dem normalen Lieben stets eigen.
Der pathologische Fall tritt erst ein, wenn sich das Streben nach
dem Fetisch fixiert und sich an die Stelle des normalen Zieles
setzt; ferner, wenn der Fetisch sich von der bestimmten Person
loslöst und zum alleinigen Sexualobjekt wird. Eine gewisse Herab-
setzung des Strebens nach dem normalen Sexualziel scheint für alle
Fälle Voraussetzung zu sein (exekutive Schwäche des Sexualapparats).
In der Auswahl des Fetisch zeigt sich, wie Bin et zuerst behauptet
hat und späterhin durch zahlreiche Belege erwiesen worden ist, der
fortwirkende Einfluß eines zumeist in früher Kindheit empfangenen
sexuellen Eindruckes. In anderen Fällen ist es eine dem Betroffenen
meist nicht bewußte symbolische Gedankenverbindung, welche zum
Ersatz des Objekts durch den Fetisch geführt hat. Die Psychoanalyse
konnte das noch lückenhafte Verständnis des Fetischismus ausfüllen,
indem sie auf die Bedeutung einer durch sog. Partialverdrängung ver-
loren gegangenen Riech- resp. Schaulust für die Auswahl des
Fetisch hinwies. Fuß und 'Haar sind eigenartig riechende Objekte,
die nach dem Verzicht auf die Geruchslust und entsprechender
Idealisierung zu Fetischen erhoben werden.*) In der dem Fuß-
fetischismus entsprechenden Perversion ist demgemäß ursprünglich
der übelriechende Fuß das Sexualobjekt. Ein anderer Beitrag zur
Aufklärung der fetischistischen Bevorzugung des Fußes ergibt sich aus
den später zu erwähnenden infantilen Sexualtheorien ; der Fuß ersetzt
*) Vgl. hiezu den von Abraham untersuchten Fall von Fuß- und Korsett-
fetischismus (Jahrbuch III, 1912). — Zur Riech lust vgl. Freuds Hinweis Jahr-
buch I, S. 420.
54 ni. Der Sexualtrieb.
den schwer vermißten Penis des Weibes.*) Der Schuh- und Kleider?
fetischismus usw. (Bekleidungsfetischismus) kommt zustande nicht
sowohl durch Verdrängung dieser Partialtriebe, als durch deren Ver-
schiebung vom nackten eventuell weniger ästhetischen Körper(-teil)
auf die leicht zu idealisierenden Bekleidungsstücke.
b) Fixierungen von vorläufigen Sexualzielen.
Alle äußeren und inneren Bedingungen, welche die Erreichung
des normalen Sexualzieles erschweren oder in die Ferne rücken (Im-
potenz, Kostbarkeit des Sexualobjekts, Gefahren des Sexualaktes), unter-
stützen die Neigung, bei den vorbereitenden Akten zu verweilen und
neue Sexualziele aus ihnen zu gestalten, die an die Stelle des normalen
treten können. Bei näherer Prüfung zeigt sich stets, daß die anschei-
nend fremdartigsten dieser neuen Absichten doch bereits im normalen
Sexualvorgang angedeutet und gegeben sind durch die Intimitäten,
welche zur eigenen und gegenseitigen Erregung dienen. Darunter spielt
das Betasten des Sexualobjekts die größte Rolle. Ein gewisses Maß
von Tasten und ein Verweilen bei dem intermediären Sexualziel des
sexuell betonten Schauens kommt in gewissem Grade den meisten
normalen Menschen zu. Zur Perversion wird die Schaulust, a) wenn
sie sich ausschließlich auf die Genitalien einschränkt, h) wenn sie
sich mit der Überwindung des Ekels verbindet (Voyeurs, Zuschauer
bei den Exkretionsfunktionen), c) wenn sie das normale Sexualziel,
anstatt es vorzubereiten, verdrängt. Letzteres ist in ausgeprägter Weise
bei den Exhibitionisten der Fall, die ihre Genitalien zeigen. Bei dieser
Perversion tritt besonders deutlich ein merkwürdiger Charakter hervor,
der sich auch sonst bei anderen Perversionen findet. Das Sexualziel
ist nämlich hiebei in zweifacher Ausbildung vorhanden: in aktiver
und passiver Form. Diese Triebe treten also in Gegensatz-
paaren auf. Dasselbe ist der Fall bei einer der häufigsten und
bedeutsamsten Perversionen, bei dem Triebe, dem Sexualobjekt
Schmerz zuzufügen (Sadismus), und seinem Gegenstück (M a s o c h i s-
mus), beide auch als aktive und passive Algol agnie bezeichnet.
*) Der Fuß ist ein uraltes, schon im Mythus gebrauchtes Symbol des Penis
und dementsprechend der Schuh oder Pantoffel Symbol des weiblichen Genitals.
Vgl. Aigremont: „Fuß- und Schuh- Symbolik und -Erotik" (Leipzig 1909),
sowie dessen psychoanalytische Würdigung durch L. Binswanger in einem Fall
einer Absatz-Phobie. (Jahrbuch HI, 1911, S. 228 ff.)
Der Sexualtrieb der Neurotiker. 55
C. Der Sexualtrieb bei den Neurotikern.
Die Resultate, die sich für Freud aus den geschilderten Tat-
sachen ergeben haben, hängen mit dem Ausgangspunkte seiner Lehre
innig zusammen, indem sie zum Verständnis des Sexualtriebes
der Neurotiker bedeutsame Gesichtspunkte geliefert haben. Die
Neurotiker sind sämtlich Personen mit stark ausgebildeten, aber im
Laufe der Entwicklung verdrängten und unbewußt gewordenen perversen
Regungen. Ihr Sexualtrieb läßt daher alle die Abirrungen erkennen,
die wir als Variationen des normalen und als Äußerungen des krank-
haften Sexuallebens studiert haben, und ihre unbewußten durch die
Analyse bewußt zu machenden Phantasien weisen den nämlichen Inhalt
auf, wie die aktenmäßig festgestellten Handlungen der Perversen:
a) Bei allen Neurotikern ohne Ausnahme finden sich im unbe-
wußten Seelenleben Regungen von Inversion, Fixierung von Libido
auf Personen des gleichen Geschlechtes, eine Erkenntnis, die besonders
zur Aufklärung der männlichen Hysterie von Wichtigkeit ist.
1)) Es sind bei den Psychoneurotikern alle Neigungen zu den
anatomischen Überschreitungen im Unbewußten als Symptombildner
nachweisbar, uuter ihnen mit besonderer Häufigkeit und Intensität die-
jenigen, die für Mund- und Afterschleimhaut die Rolle von Genitalien
in Anspruch nehmen.
c) Eine ganz besondere Rolle unter den Symptombildnern der
Psychoneurosen spielen die zumeist in Gegensatzpaaren auftretenden
Partialtriebe, die als Bringer neuer Sexualziele hervorgehoben wurden,
der Trieb der Schaulust und der Exhibition und der aktiv und passiv
ausgebildete Trieb zur Grausamkeit. Der Beitrag des letzteren ist zum
Verständnis der Leidensnatur der Symptome unentbehrlich und
beherrscht fast regelmäßig ein Stück des sozialen Verhaltens der
Kranken. Wo ein solcher Trieb im Unbewußten aufgefunden wird,
welcher der Paarung mit einem Gegensatz fähig ist, da läßt sich regel-
mäßig auch dieser letztere als wirksam nachweisen. Jede aktive Per-
version wird also hier von ihrem passiven Widerpart begleitet. Wer
z. B. an den Folgen der Verdrängung sadistischer Regungen leidet,
bei dem findet sich ein anderer Zugang zu den Symptomen aus den
Quellen masochistischer Neigung. Die volle Übereinstimmung mit
dem Verhalten der entsprechenden „positiven" Perversionen ist gewiß
sehr beachtenswert. Im Krankheitsbilde spielt aber die eine oder die
andere der gegensätzlichen Neigungen die überwiegende Rolle. In
56 III. Der Sexualtrieb.
einem ausgeprägten Falle von Psychoneurose findet man nur selten
einen einzigen dieser perversen Triebe entwickelt, meist eine größere
Anzahl derselben und in der Regel Spuren von allen.
Die Sexualität der Neurotiker läßt aber ein Stück Verdrängung
des Trieblebens erkennen, das über das normale Maß hinausgeht. D i e
Symptome der neurotischen Erkrankung sind dieAuße-
rung der Sexualbetätigung der Kranken im weitesten,
polymorph-perversen Sinn genommen. Sie entstehen also
keineswegs, wie eine mißverständliche Auffassung der Freud sehen
Lehren will, allein auf Kosten des sogenannten normalen Sexualtriebes
sondern sie stellen den konvertierten Ausdruck von Trieben dar
welche man als pervers (im weitesten Sinne) bezeichnen muß.
Die Neurotiker haben im gewissen Sinne den infantilen Stand-
punkt der Sexualität beibehalten oder wurden auf ihn zurück-
versetzt, nur mit dem Unterschiede, daß sich beim Neurotiker die
Sexualtriebe nicht bewußterweise und aktiv äußern, sondern in der
Verdrängung befinden, also aus dem Unbewußten wirken und sich
daher nur in Form von Hemmungen äußern können. Die Neurose ist
also sozusagen das Negativ der Perversion. Bei einer solchen Auf-
fassung fällt natürlich auch der Widerspruch weg, daß es Personen
gebe, die sich sexuell ausleben und dennoch an einer Neurose erkranken •
man darf eben nicht vergessen, daß es immer eine Anzahl perverser
Regungen geben kann, deren mangelnde Befriedigung zum Ausgang
in die Neurose drängt.
Der Sexualtrieb der Neurotiker äußert sich vor allem in einer
spontanen sexuellen Frühreife, die in Durchbrechungen, Verkürzungen
oder Aufhebung der infantilen Latenzzeit hervortritt. Die Frühreife
erschwert die spätere Beherrschung der Sexualtriebe und verleiht
ihnen gewissermaßen zwangsartigen Charakter. Sie führt ferner zu
einer übermächtigen Ausbildung der Sexualtriebe, welchen auf der
anderen Seite die abnorme (mißglückte) Verdrängung gegenübersteht.
Zwischen dem Drängen des Triebes und dem Widerstreben der Sexual-
ablehnung stellt sich dann als Ausweg die Krankheit her, die den
Konflikt nicht löst, sondern ihm durch die Verwandlung der libidinösen
Strebungen in Symptome zu entgehen sucht.
IV.
Das Unbewußte.
Bewußtsein und Unbewußtes. — Das Unbewußte dem Sprachgebrauch nach — Die Tatsachen
der posthypnotischen Suggestion. — Das Unbewußte in der Hysterie. — Widerstand und Ver-
drängung. - Genese und Inhalt des eigentlichen Unbewußten. — Der Komplex. — Der freie
Einfall. — Das Assoziationsexperiment. — Die Determiniertheit nlles seelischen Geschehens.
— Die Erscheinungen des Unbewußten in der Psychopathologie des Alltagslebens. — Das
Unbewußte bei der Witz- und Truuiubildnng.
Die Grundvoraussetzung für ein verständnisvolles Eindringen in
die Geheimnisse der Psychoneurose und des Traumes ist die Kenntnis
vom Wesen und Wirken des unbewußten Seelenlebens. Der Aner-
kennung desselben steht vor allem die Auffassung der herrsehenden
Schulpsyckologie im Wege, für die alles Psychische von vornherein
nur ein Bewußtes ist und die von unbewußt psychischen Vorgängen
zu sprechen darum für einen greifbaren Widersinn erklärt.*) Die
Beobachtungen des Psychoanalytikers nötigen aber zur Anerkennung
der Tatsächlichkeit unbewußt psychischer Vorgänge. Der
analytisch geschulte Arzt kann gar nicht anders, als das Dogma der
Psychologen, „das Bewußtsein sei der unentbehrliche Charakter des
Psychischen", zurückweisen und an seiner Überzeugung kraft seiner
zunächst an Kranken gewonnenen Eindrücke festhalten. Die Er-
fahrungen der Psychoanalyse erweisen nämlich mit aller auf dem
Gebiete der Psychologie nur möglichen Sicherheit ein Unbewußtes von
weitem Umfange und großer Intensität. Es sei gleich hier betont, daß
dieses Unbewußte, wie es die Psychoanalyse aufgedeckt hat, mit dem
Begriffe „unbewußt", wie ihn der Sprachgebrauch benützt, nichts zu
tun hat. Denn dieses konventionelle Unbewußte bedeutet so viel wie
„unabsichtlich", „unwillkürlich"' oder es bezeichnet (vergessene)
psychische Elemente, an die man gerade nicht gedacht hat, welche
aber bewußtseinsfähig sind und durch die Konzentration der Auf-
*) Dieser schroffe Gegensatz ist eigentlich nur Folge einer mißbräuchlichen
Verwendung des Wortes „bewußt" für „psychisch", zwei Begriffe, die sich inhaltlich
nicht decken.
58 IV. Das Unbewußte.
merksamkeit jederzeit reproduziert werden können.*) Das eigentliche
Unbewußte im Freud sehen Sinne dagegen bezeichnet etwas, was
man wirklich nicht weiß, während man in der Analyse durch zwingende
Schlüsse genötigt wird, es anzuerkennen.
Wie schon erwähnt, sind es zunächst die Erfahrungen ari
Neurotikern, welche dem Analytiker die Existenz dieses Unbewußten
aufdrängen. Am augenfälligsten zeigt übrigens das Experiment der
posthypnotischen Suggestion, wie es von Bern heim angestellt wurde,
daß unbewußte psychische Elemente eine sehr lebhafte Einwirkung auf
das Bewußtsein ausüben können. Während sich die Person in dem
hypnotischen Zustand unter dem Einfluß des Arztes befindet, wird
ihr der Auftrag erteilt, eine gewisse Handlung eine bestimmte Zeit
nachher auszuführen. Nach dem Erwachen ist volles Bewußtsein ein-
getreten, aber keine Erinnerung an den hypnotischen Zustand. Trotzdem
drängt sich rechtzeitig der Impuls, den Auftrag auszuführen, dem
Geiste auf, und die Handlung wird mit Bewußtsein, wenn auch ohne
zu wissen weshalb, ausgeführt. Die Vorstellung des Aktes war also
im Geiste jener Person latent oder unbewußt vorhanden, bis der
gegebene Moment kam, in dem sie bewußt wurde ; der Auftrag selbst
blieb aber unbewußt, obwohl er wirksam wurde. Wir sehen hier im
Gegensatz zu dem durch seine Schwäche harmlosen Unbewußten, das
eventuell erst durch Verstärkung wirksam werden kann, latente Ge-
danken, die nicht ins Bewußtsein dringen, so stark sie auch sein
mögen; sich quasi vom Bewußtsein fernhalten, trotz ihrer Intensität
und Wirksamkeit, die wir eben als unbewußte im eigentlichen Sinne
bezeichnen. Solche unbewußte Seelenvorgänge lassen sich hinter Sym-
ptomen der Psychoneurosen regelmäßig nachweisen, wenn man sie in
der Psychoanalyse aufdeckt. Von den „freien Einfällen" des Kranken
ausgehend, kam Freud — wie Breuer bei seinem durch hypnoide
Zustände ausgezeichneten Fall — zur Erkenntnis, daß jene Eindrücke,
welche zu Veranlassungen hysterischer Phänomene geworden waren,
sich in wunderbarer Frische und mit ihrer vollen Affektbetonung durch
lange Zeit erhalten hatten, ohne daß die Kranken über diese Erinnerungen
wie über andere ihres Lebens verfügten. Im Gegenteil, diese Erlebnisse
*) Vgl. Bleuler: „Bewußtsein und Assoziation." Diagnostische Assoziations-
studien, heraus», von Jung, Bd. I, Nr, 5, Leipzig 1906, J. A. Barth, sowie Bleu-
lers Vortrag über das Unbewußte. (Zürich 1912. Kongreß f. mediz. Psycho].)
Ferner Löwenfeld: „Bewußtsein und psychisches Geschehen." (Grenzfr. des
Nerv. u. SeelenL Nr. 89, Wiesbaden, Bergmann, 1913.)
Widerstand und Verdrängung. 59
fehlten dem Gedächtnis der Kranken in ihrem gewöhnlichen psychischen
Zustand völlig oder waren nur höchst rudimentär darin vorhanden. Es
ergab sich so die Notwendigkeit, diese im Bewußtsein nicht vorhandenen
Vorstellungen — in der zur Veranschaulichung seelischer Vorgänge
gebräuchlichen räumlichen Bildersprache — irgendwo anders zu loka-
lisieren, und Freud hat dafür, im Anschlüsse an Lipps*), den
Namen „Unbewußtes" akzeptiert.
Wir sprechen hier nur von dem engeren Begriffe des Unbewußten,
dem Unbewußten vom dynamischen Charakter oder dem Unbewußten
d erPsychoanalyse **). Der Begriff desselben kann erst seinem ganzen
Umfang nach klar werden, wenn man erkannt hat, wieso die Summe seines
Inhaltes von der bewußten psychischen Verarbeitung abgedrängt bleibt.
Der Kranke verrät nämlich diese krankmachenden unbewußten Seelen-
regungen nur unter großem Widerstand ; irgend eine Kraft hindert sie
daran, bewußt zu werden, und nötigt sie, unbewußt zu bleiben. Die
Existenz dieser Kraft kann man deutlich wahrnehmen, wenn man
versucht, in Gegensatz zu ihr die unbewußten Regungen des Kranken
ins Bewußtsein einzuführen. Auf dieses Prinzip des „Widerstandes"
hat Freud seine Auffassung der psychischen Vorgänge bei der Hysterie
gegründet. Dieselben Kräfte, die sich heute als Widerstand dem Be-
wußtmachen des Unbewußten, mit Absicht Vergessenen, widersetzen,
mußten seinerzeit dieses Vergessen bewirkt oder die abzuweisenden
Gedanken im Unbewußten festgehalten haben. Freud nannte jenen
von ihm supponierten dynamischen Vorgang „Verdrängung" und
betrachtete ihn als erwiesen durch die unleugbare Existenz des Wider-
standes. Das Verdrängtwerden kam dadurch zu stände, daß ein
psychisch-traumatisches Erlebnis von besonderer Intensität und Un-
verträglichkeit mit dem sonstigen psychischen Habitus des Individuums
oder, wie sich später zeigte, eine ebenso ausgestattete heftige
Wunsch(Trieb-)regung — in einer Art psychischem Kampfe ums Dasein,
von den ethischen und ästhetischen Ansprüchen der Persönlichkeit (des
Ich) verworfen, sozusagen durch einen Willensakt***) von der bewußten
~~ *) „Der Begriff des Unbewußten in der Psychologie." (Vortrag auf dem
dritten internationalen Kongreß für Psychologie zu München, 1897.) Zur Terminologie
vgl. nochH. Friedmann: „Bewußtsein und bewußtseinsverwandte Erscheinungen."
(Zeitschrift f. Philos. u. philos. Kritik, Bd. 139.)
**) Vgl. Freud: „Einige Bemerkungen über den Begriff des
Unbewußten in der Psychoanalyse." Lit.-V. Nr. 56.
***) Ein ähnlicher aktiver Vorgang liegt wohl in gemilderter Form manchem
scheinbar rein automatischen Vergessen zu Grunde. Freud hebt mit Recht hervor,
60 IV. Das unbewußte,
psychischen Verarbeitung abgehalten wurde. Es hatte vorher einen
kurzen Konflikt gegeben und das Ende dieses inneren Kampfes ist die
Verdrängung des Unverträglichen. Auf logischem Gebiete entspräche
diesem Vorgang affektiver Ablehnung etwa die Verwerfung durch
Urteil. Die Annahme der unverträglichen Wunschregung oder eine
längere Dauer des Konflikts hätten hohe Grade von Unlust hervor-
gerufen ; diese Unlust soll durch die Verdrängung erspart werden, die
sich solcherart als eine Schutzvorrichtung der womöglich nach dem
Lustprinzip arbeitenden, Psyche*), als eine Äußerung des psychischen
Selbsterhaltungstriebes erweist. Die Spaltung der Psyche in Bewußtes
und Unbewußtes erklärte sich also nicht als angeborene Schwäche
(Jan et), sondern dynamisch durch den Konflikt widerstreitender
Seelenkräfte. Es sei schon hier vorgreifend erwähnt, daß die zur
Neurose führende Verdrängung eine mißglückte insofern ist
als die verdrängte Wunschregung im Unbewußten weiterbesteht und
quasi nur auf eine Gelegenheit wartet, aktiviert zu werden, respektive
eine entstellte und unkenntlich gemachte Ersatzbildung für das Ver-
drängte ins Bewußtsein zu schicken : das hysterische Symptom (vgl
Kap. VT u. VII).
Die hysterische Verdrängung hat ihr Vorbild in jener bereits
erwähnten organischen Verdrängung **) der ersten Triebregungen beim
Kinde, die normalerweise die früheste Periode der polymorph-perversen
Sexualbetätigung zum Abschluß bringt. Hiebei fallen nicht nur einzelne
Erlebnisse, sondern ein ganzer Entwicklungsgang der Versenkung ins
Unbewußte anheim. Die Durchsetzung gewisser ursprünglich lustbetonter
auch nicht sexueller Impulse ist, durch die notwendige Einordnung in die
Kultur, in Widerspruch zu den Zielvorstellungen des sekundären Denkens
getreten und würde nunmehr nicht Lust, sondern Unlust verursachen.
.
daß nicht sowohl die Tatsache des Erinnems aus ganz früher Kinderzeit der Er-
klärung bedürfe, vielmehr das Vergessen fast alles Erlebten aus einer Zeit, in der
das Kind sonst so aufnahmsfähig ist. Vgl. hiezu das über die infantile Amnesie
und über die Deckerinnerungen (S. 35) Gesagte. Über die Absicht beim Vergessen
überhaupt vgl. Freuds Abhandlung über den „psychischen Mechanismus
der Vergeßlichkeit" (Lit.-V. Nr. 12), wo er darauf hinweist, daß ein Teil des
Vergessens automatisch vor sich geht, daß aber häufig Automatismus und Tendenz
zusammenwirken.
*) Vgl. Freud: „Formulierungen über die zwei Prinzipien
des psych. Geschehens." Lit.-V. Nr. 45.
**) Eine Klärung der Beziehungen dieser organischen Verdrängung zur
psychologischen Verdrängung steht noch aus.
Entstehung des Unbewußten. 61
Eben diese Affektverwandlung macht das Wesen der
Verdrängung aus.*) Das Material an später verdrängten Trieben,
sexuellen Betätigungen und Phantasien, böser Wunschregungen kommt
zu dem Grundstock des Unbewußten, den seit ihrer Entstehung un-
bewußt gebliebenen psychischen Akten, hinzu. Die Verdrängung der
späteren Jahre kommt zu stände durch die Anziehung dieses Un-
bewußten, während von der anderen Seite die abstoßenden Kräfte
des Bewußtseins neues, zur Verwerfung bestimmtes Material nach-
drängen. Diese von beiden Seiten wirkenden Kräfte erleichtern den
Akt der Verdrängung, der als geglückter ein normaler psychischer
Vorgang ist. Er kann aber durch die Übermacht des Unbewußten
leicht mißglücken : obwohl dem Individuum die Verdrängung auch hier
scheinbar gelingt, mißlingt ihm doch die Absicht derselben, da das
Verdrängte seine pathogene Wirkung nunmehr aus dem Unbewußten
äußert.
Wie wir sahen, hat die Psychoanalyse den sie Ausübenden be-
wiesen, daß es echte unbewußte, nur durch Psychoanalyse aus dem
Unbewußten ins Bewußtsein zu bringende psychische Elemente gibt,
die aber aus dem Unbewußten herauf eine intensive Wirksamkeit
entfalten. Der Inhalt dieser Gedanken ist es, welcher durch seine un-
verträgliche Tendenz jene Abweisung erzeugt hat, welche sie im Un-
bewußten festhält. Freud führte in letzter Zeit aus,**) daß schon
bei der Entstehung gewisser psychischer Akte — jeder solche Akt ist
erst unbewußt — die Abweisung sich geltend macht, so daß sie
überhaupt niemals spontan zum Bewußtsein kommen können. Trifft
dieser Widerstand sie nicht, so können sie sich fortschreitend zum
Bewußtsein weiterentwickeln. Das Unbewußte beschränkt sich keines-
wegs auf pathologische Fälle, sondern wir sehen es weiters wirksam
im Traume, einem psychischen Produkt, das bei den normalsten
Personen anzutreffen ist und doch eine höchst auffallende Analogie zu
den Phänomenen des Wahnes bietet. Die Traumdeutung ist, wie wir
sehen werden, das vollkommenste Stück Arbeit, das die Psychoanalyse
. geleistet hat. Die Detailuntersuchung der unbewußten Anteile am
Traume hat bedeutsame Unterschiede in den Gesetzen des unbewußten
und bewußten psychischen Lebens ergeben, die das Unbewußte als
*) Näheres darüber findet sich in Freuds „Traumdeutung", 2. Aufl.,
pag. 375.
**) Lit.-V. Nr. 56.
62
IV. Das unbewußte.
ein eigenes System mit bestimmten Eigenschaften und Mechanismen
charakterisieren, die wir dann wieder in der Symptombildung von
Neurosen und Psychosen finden.
Während das wirkliche Unbewußte nur mit großen Schwierig-
keiten langsam in der Analyse zu Tage tritt, finden wir auch psychische
Vorgänge wirksam, welche zwar latent und dem Bewußtsein zunächst
nicht wahrnehmbar, doch aber an der Symptombildung Anteil haben
und mit einer gewissen Leichtigkeit reproduzierbar sind. Man kann
diese Motive als „wirksame vor bewußte" bezeichnen. Dieses Ma-
terial einer höheren psychischen Schichte besteht aus Abkömmlingen
tieferer Schichten sowie des eigentlichen Unbewußten, mit dem es
assoziativ zusammenhängt.
Es hat sich als zweckmäßig erwiesen, solche Gruppierungen
zusammengehöriger und affektbesetzter Vorstellungselemente, auch
wenn sie verschiedenen psychischen Schichten angehören, nach dem
Vorgang der Züricher Schule (B 1 e u 1 e r, Jung u.a.) als Komplexe
zu bezeichnen. Ein bestimmter Komplex läßt sich als Anlaß und
Inhalt der Neurose und als das Treibende in der kranken Psyche
nachweisen. So praktisch der Begriff des Komplexes sich einerseits für
die Darstellung von Krankheitsbildern gezeigt hat, so darf man dabei
doch die bedeutsamen Grenzen zwischen bewußt, vorbewußt und unbe-
wußt nie außer acht lassen ; der vorbewußte Anteil steht im Vordergrund
der komplexbeherrschten Psyche und ist prompt ansprechbar, was
Bleuler als „Komplexbereitschaft" hervorgehoben hat. Von wo
immer ausgehend man den Kranken examiniert, assoziiert er von den
bewußt gewordenen Ausläufern des verdrängten Komplexes darum
regelmäßig auf das verdrängte Material hin, weil er von der Ziel-
vorstellung der Behandlung beherrscht ist, so daß das scheinbar
Harmloseste und Willkürlichste, was er berichtet, im Zusammenhang
mit seinem Krankheitszustand steht. Von dieser Voraussetzung aus-
gehend, hat der Analytiker, bloß auf die anscheinend freien Ein-
fälle des Patienten horchend, quasi von seiner psychischen Ober-
fläche ausgehend, alle Aussicht, die verdrängten pathogenen Komplexe
zu erreichen.
Wenn es hier einem Kritiker willkürlich schiene, das durch solche
zwanglose Assoziation Dargebotene als psychologisch bedeutungsvoll an-
zusehen, so muß demgegenüber mit allem Nachdruck auf die für die
ganze psychoanalytische Technik grundlegende, empirisch gefundene
Anschauung hingewiesen werden : daß es keinen zufälligen Ablauf der
Das Assoziationsexperiment. (jjj
Assoziationen gibt, daß es keine „freien" Einfälle, daß es überhaupt
im Seelenleben ebensowenig wie sonst in der Natur etwas Zufälliges.
Willkürliches, nicht im Kausalnexus Stehendes gibt, sondern daß jeder
Gedanke, jeder Einfall, jedes seelische Geschehen in einem psychischen
Kausalnexus steht, also „determiniert" ist, oder richtiger, wie
namentlich die Traumuntersuchung zeigt, von verschiedenen Seiten
her determiniert, also überdeterminiert ist. Diesen Kausalnexus
hat ja die Wissenschaft nie geleugnet; F r e u d s Verdienst ist es, ihn
psychoanalytisch nachweisbar gemacht zu haben. Die Züricher
Schule hat für diese von Freud entdeckte Wahrheit später den
experimentellen Nachweis durch das Assoziationsexperiment
erbracht.*) Das von der W u n d t sehen Schule zu formalen experimentell-
psychologischen Untersuchungen inaugurierte Assoziationsexperiment,
das darin besteht, der Versuchsperson Reizworte zuzurufen und deren
unwillkürliche Antworten (Reaktionsworte) zu registrieren, wurde von
der Schweizer Schule (Jung u. a.) in der Weise ausgestaltet und im
Sinne der psychoanalytischen Forschungen verwertet, daß nun auch
Sinn und Inhalt der Reaktionen in Beziehung zum Reizwort und
untereinander in Betracht gezogen wurde. Es ergab sich dabei, neben
anderen psychologisch interessanten Details, daß alle Reaktions-
worte welche die Versuchsperson auf beliebig gewählte Reizworte
reflektiert, untereinander in einem innigen Zusammenhange stehen und
dem besonders beim Neurotiker prävalierenden Gedanken- und Gefühls-
komplex angehören. Dieser Komplex gibt sich durch ganz bestimmte
Merkmale kund, indem ihn die Reaktionen durch folgende Auf-
fälligkeiten verraten : Durch verlängerte Reaktionszeiten, durch Fehl-
reaktionen, Reproduktionsstörungen bei Wiederholung des Experiments,
motorische Begleiterscheinungen, scheinbaren Widerspruch, Inkohärenz
zwischen Reizwort und Reaktion usw. „Diese Störungen, welche der
Komplex im Assoziationsexperiment verursacht, sind nichts anderes
als die Freudschen Widerstände bei der Psychoanalyse."**) Es
gelingt sogar, auf diesem Gebiete zu einer physikalischen Kontrolle
•) Vgl. „Diagnostische Assoziationsstudien", herausg. von Jung,
I. Bd., 1906, und IL Bd„ 1910. — Einen zusammenfassenden Überblick über die
Resultate der Assoziationsversuche gibt Jung im Aprilheft des „American Journal
of Psychology", 1910. — Vgl. ferner Pfenniger (Jahrb., III. Bd.), Gott: „Zur
Bewertung des Assoziationsversuches im Kindesalter" (Monatsschr. f. Kinderheil-
kunde, 1912).
**) Vgl. Jung: „Assoziation, Traum und hyst. Symptom." Diagnostische
Assoziationsstudien (II. Bd., Nr. 8, 1910).
64
IV. Das Unbewußte.
zu gelangen, wie die Kombination des Assoziationsexperiments mit
einer Messung der dem Affekt entsprechenden Schwankung des elek-
trischen Leitungswiderstandes zeigt.*)
Das Assoziationsexperiment hat also die Tatsachen des Unbe-
wußten, der Komplexwirkung, des spezifischen Inhaltes des ätiologischen
Komplexes der Neurosen bestätigt und bringt ebenso den experimentellen
Nachweis für die von Freud schon vorher statuierte Determination
der scheinbar freien Einfälle. Diese durchgehende und nachweisliche
Determiniertheit im gesamten seelischen Geschehen ist einer der
wichtigsten Grundsätze der Freud sehen Psychologie. Es erscheint
begreiflich, daß sich gegen diese Unfreiheit des Denkwillens ein all-
gemein menschlicher, sozusagen normaler "Widerstand erhebt, der
zu einem Widerstand gegen die gesamte Freud sehe Lehre werden
mußte.
Die psychoanalytischen Untersuchungen haben, bestätigt vom
Assoziationsexperiment, mit aller Sicherheit erwiesen, daß es in den
psychischen Äußerungen nichts Kleines, nichts Willkürliches, nichts
Zufälliges gibt. Für das alltägliche Denken und Handeln hat Freud
in seiner Schrift: „Zur Psychopathologie des Alltags-
lebens"**) seine Untersuchungen in diese Richtung, namentlich auf
gewisse Fehlhandlungen, wie Vergessen, Versprechen, Verschreiben, Ver-
greifen, Verlieren und ähnliches, gelenkt, und konnte nachweisen, daß
auch diese Unzulänglichkeiten unserer psychischen Leistungen, sowie ge-
wisse absichtslos erscheinende Verrichtungen (Symptomhandlungen) sich
regelmäßig als wohlmotiviert und durch dem Bewußtsein unbekannte
Motive determiniert erweisen, wenn man diesen mit Unrecht vernach-
lässigten Kleinigkeiten eine eingehende psychologische Beachtung
widmet. Der Umstand, daß die Motive für solch unabsichtliches Tun
im Unbewußten verborgen sind und erst durch Psychoanalyse auf-
gedeckt werden können, ist darin zu suchen, daß diese Phänomene
auf Motive zurückgehen, von denen das Bewußtsein nichts wissen
will. Diesen Motiven entsprechen gleichfalls wirksame unbewußte
Regungen und erst die Analyse kann die Fehlhandlung erklären ; auch
hier macht sich bei der Aufdeckung deutlich das Gefühl einer Ab-
wehr geltend. Diese Fehlleistungen, welche einer Unterlassung ähn-
*) Vgl. L. Binswanger: „Über das Verhalten des psychogalvanischen
Phänomens beim Assoziationsexperiment 1 '. (Diagn. Assoz.-Studien, II. Bd., Nr. 11.)
— Ferner Aptekmann (Jahrb., III. Bd.).
**) Lit.-V. Nr. 16.
Der Witz. 65
Hoher sehen als einer Handlung, sind der verkappte Ausdruck einer
unbewußt bleibenden psychischen Regung, haben also doch einen
Sinn, der aber nur in einer Art indirekter Darstellung zum Vor-
schein kommt. In ähnlicher Weise konnte Freud auch hinter dem
tendenziösen Witz*) regelmäßig Gedankengänge nachweisen,
welche diese charakteristische Außerungsweise benützen, um unbewußt
verbleibende aggressive Regungen halb zu verbergen, halb durchzu-
setzen. Die Lustkomponente des Witzes beruht teils auf erspartem
psychischen Aufwand an Hemmungs- und Unterdrückungsenergie, teils
auf Freude an unvermutetem Finden von Bekanntem (Klang, Unifizie-
rung), an der Aktualität, ferner auf (infantiler) Lust am Unsinn und
Wortspiel.
Traum, Symptomhandlung, Witz, die eigenartigen Reaktions-
weisen beim Assoziationsexperiment, die so rätselhaften neurotischen
Symptome und endlich der scheinbar freie Einfall, der desto harmloser
und entstellter erscheint, je weiter er vom verdrängten Komplex
entfernt ist, — all diese Phänomene verdanken ihre Kompliziertheit
oder schwere Deutbarkeit dem Umstand, daß das Unbewußte sich nur
in einer vom Bewußtsein zensurierten Weise äußern kann. Das Be-
wußtsein erlaubt nämlich keine direkte Darstellung des Unverträglichen,
und es wendet sich, da die indirekte (zensurierte) Darstellung soviel
des Neuartigen, Paradoxen und Kuriosen für den Uneingeweihten an
sich hat, zunächst ein begreiflicher Widerstand gegen die Psycho-
analyse, welche diese Geheimsprache entlarvt. Der Widerstand gegen
die sonderbare Ausdrucksweise des Unbewußten verkleidet sich dann
gern in intellektuelle Ablehnung gegen die gesamte Freud sehe Lehre
und ist nicht anders und früher zu besiegen, als durch gehäufte Er-
fahrungen, welche einen von der durchgängigen Gesetzmäßigkeit der
Sprache des Unbewußten überzeugen. Wer die gute Absicht mitbringt,
Aufklärung über seinen Widerstand anzunehmen, geht am besten
an das Studium seiner eigenen Träume nach den Anleitungen Freuds;
er kann sich so von dem Vorhandensein und der Mächtigkeit seiner
unbewußten Seelenregungen tiberzeugen und gelangt so auch auf den
besten Weg, Psychoanalytiker zu werden. Die Träume sind nämlich
das erste Glied in der Reihe abnormer psychischer Gebilde, von deren
weiteren Gliedern die hysterische Phobie, die Zwangs- und die Wahn-
vorstellung den Arzt aus praktischen Gründen beschäftigen. Freud
*) „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten." (Lit.-V.
Nr. 19.)
Hits eh manu, Freuds NouroseuJöliro. 2. Ault. 5
qq IV. Das Unbewußte.
darf also mit Recht betonen, daß, wer sich die Entstehung der Traum-
bilder nicht zu erklären weiß, sich auch vergeblich um das Verständnis
der Zwangs- und Wahnideen bemühen wird. Der Traum steht im
Mittelpunkte nicht nur der Freud sehen Theorie, sondern auch der
psychoanalytischen Technik und soll seiner fundamentalen Bedeutung
wegen ausführlich im nächsten Kapitel als Einführung in die Lehre
von den Psychoneurosen und der analytischen Therapie behandelt
werden.
*
V.
Der Traum.
Haupte.harakter des Traumes: Wuiiseherriilluiif*. — Sexueller Inhalt. — Die Trnuinqnelleii.
— DieTrauinontstellniig; Oiianifester und latenter Inhalt). — Die Trauniarlieit. — Die Dentungs-
teelmik : «) durch Symbolik. I>) durch Einfälle. — Technische Regeln. — Typische Träume.
Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Traume kam
Freud auf empirischem Wege, indem ihm die in psychoanalytischer
Behandlung stehenden Neurotiker spontan die sie oft noch am Tage
intensiv beschäftigenden Träume erzählten. Bei näherem Eingehen auf
den Inhalt dieser Träume ergab sich, daß dieselben in einem engen
Zusammenhang mit den krankheitsverursachenden Momenten stehen,
und daß auch hier wieder die infantilen und sexuellen Wurzeln sich
aufzeigen lassen. Auf diesem Wege kam Freud dazu, eine in den
Grundzügen mit der psychoanalytischen Untersuchungsmethode über-
einstimmende Deutungstechnik der Träume zu schaffen, welche ein
unentbehrlicher Anteil der psychoanalytischen Therapie geworden ist. Das
Unbewußte, das der Neurose zu Grunde liegt, verrät sich in den
Träumen zwar nicht unverhüllt, aber dechiffrierbar, so daß der Traum
der Hauptzugang, sozusagen die via regia, ins Unbewußte des Patienten
wurde. Wie groß die Bedeutung dieser Lösung des uralten Traum-
problems für die Psychologie ist, soll später noch berührt werden ;
hier handelt es sich nur um den praktischen Wort der Traumdeutung
für die Neurosenbehandlung. Alle Mechanismen, die bei der Enstehung
der neurotischen Symptome mitspielen, haben auch Anteil am Zu-
standekommen des Traumes. Die Unverständlichkeit des Traumes ist
daher dieselbe wie die der neurotischen Symptome ; sie sind beide der
ersetzende Ausdruck für das durch die Verdrängung unbewußt ge-
wordene Material. Es handelt sich in beiden Fällen um unvollkommen
verdrängte infantile Triebregungen und um daran anknüpfendes späteres
Material. Es sei darauf hingewiesen, daß wir uns bei der Deutung
des Traumes nicht früher zufrieden geben dürfen, als seine ihn
regelmäßig mit veranlassenden infantilen Wurzeln (Sexualregungen,
Kindercharakter) aufgedeckt sind. Es finden sich dort die von uns
5*
68 V. Der Traum.
im Kapitel über die infantile Sexualität aufgezeigten Triebregungen
und Einstellungen mehr oder weniger verhüllt und bedeuten in
häufiger Wiederkehr eine wichtige Aufklärung für den zu Grunde
liegenden Komplex. Neben dem Infantilen und Sexuellen als eigent-
lichen Traumquellen, kommen als Tagesreste die unbeachteten Erleb-
nisse des Traumtages oder Vortages sowie bewußte und vorbewußte
psychische Einstellungen: Stimmungen, Wünsche, Befürchtungen,
Vorsätze*) u. dgl. mit ihren zahlreichen, mannigfaltigen Details, welche
das Traumbild für oberflächliche Betrachtung häufig zu beherrschen
scheinen, als weitere Traumquellen in Betracht. Somatische
Empfindungen und äußere Reize dürfen als Traumerzeuger nicht
überschätzt werden; sie können den Traum zwar auslösen,
werden aber stets nur verwendet zur Verkleidung unbewußter Wünsche,
wie alles Rezente.
Nach gründlicher Beschäftigung mit eigenen und Neurotiker-
träumen konnte Freud im Jahre 1900 daran gehen, in seiner „Traum-
deutung" die Grundzüge einer Wissenschaft vom Traume darzu-
stellen und zu beweisen, daß der Traum nach vollzogener Deutung
sich als ein vollwertiges seelisches Phänomen darstelle. Als die be-
deutsamste Entdeckung ergab sich dabei die Tatsache, daß der Traum
regelmäßig eine Wunscherfüllung darstellt, d. h. daß er
einen unbewußten Wunsch des Träumers in „dramatischer" Form als
erfüllt zur Darstellung bringt. Dabei kombiniert sich ein infantiler
Wunsch gern mit einem aktuellen. Der Wunschcharakter läßt sich nur
selten und an vereinzelten Träumen ohne weiteres erkennen, während
er bei der Mehrzahl der Träume Erwachsener erst durch Deutung
klar wird. Hingegen zeigen die Träume des gesunden kleinen Kindes
die naiven und simplen Wünsche desselben, die am Tage rege gemacht
und unerfüllt geblieben sind, als erfüllt dargestellt. Ähnlich sind die
sogen. Bequemlichkeitsträume der Erwachsenen (z. B. bei Durst-,
Harnreiz), die den Charakter jener Kinderträume bewahrt haben.
Zahlreiche andere Träume, wie besonders die Angst- und Befürch-
tungsträume erscheinen zunächst als Gegenargument der Wunsch-
theorie und werden als häufigster Einwand gegen die Verallgemeinerung
derselben benützt. Freud konnte dies natürlich nicht entgehen, er hat aber
nachgewiesen, daß der Angsttraum nach durchgeführter Deutung
sich als die Darstellung eines unterdrückten (verdrängten) Sexual-
wunsches erweist, dessen Verhüllung mißlungen ist. Zum Erweis
•) Vgl. Müder „Über die Funktion des Traumes" (Jahrb. TV. 1912).
Manifester und latenter Inhalt. ßQ
für fliesen Satz hat Freud in seiner Arbeit eine Anzahl von Angst-
träumen der Analyse unterzogen und die sexuelle Wurzel in den
Traumgedanken nachgewiesen. Es hat sich dabei ergeben, daß die
Angst, die wir im Traume empfinden, nur scheinbar durch den Inhalt
des Traumes erklärt ist; sie ist an die sie begleitende Vorstellung
nur angelötet und stammt aus anderer Quelle. Es ist also nicht
eine neue Seite des Traumproblems, die sich in den Angstträumen
zeigt, sondern es handelt sich bei ihnen um das Verständnis der
neurotischen Angst überhaupt. Der Angsttraum gehört daher zum
Angstproblem und soll im Kapitel „Hysterie" weiter erörtert werden
(vgl. S. 104).
Man darf sich nun die Deutung und Einordnung des Traumes
in das gesamte psychische Leben des Individuums nicht zu einfach
vorstellen. Was wir am Morgen erinnern („der manifeste Traum-
inhalt"), ist ja meist ein höchst phantastisches, zuweilen paradoxes
Gedankengebilde, welches selbst dort, wo es logisch gefügt scheint, den
eigen tli ehen Sinn des Traumes („den latenten Traumgehalt") nicht
verrät. Erst die später zu erörternde Deutungsarbeit ist imstande,
den hinter diesem „manifesten Traumin halt" verborgenen
„latenten" Gedankengehalt, d.h. den eigentlichen unbewußten
Gehalt an Wünschen, aufzuzeigen. Man darf sich dabei nicht dadurch
irreführen lassen, daß der Traum vielfach an die Ereignisse und Ein-
drücke des letzten Tages oder Abends anknüpft. Die Vormengung
zwischen vom Gedankenzug des Tages Übriggebliebenem und tiefst Unbe-
wußtem geht für einen typischen Fall der Traumbildung etwa folgender-
maßen vor sich: Die Tagesreste gelangen in Verbindung mit einem
inhaltlich nahestehenden verdrängten unbewußten Kinderwunsch, der
ihnen die Kraft verleiht, im Schlafzustand ins Bewußtsein einzutreten.
Die latenten Gedanken werden durch den unbewußten Bundesgenossen
verwandelt, verkleidet und entstellt und geben so das manifeste Traum-
bild. Einem Stück des Unbewußten ist es gleichzeitig gelungen ins
Bewußtsein zu treten. Den wahren Untergrund des Traumes bilden
ins Unbewußte abgelagerte, unerfüllbar gewordene Wünsche aus
der Kinderzeit, welche normalerweise infolge der kulturellen Ent-
wicklung im Unbewußten verblieben oder dahin entschwunden sind.
Die eigentlich traumbildenden Wünsche, welche im Traume er-
füllt sind und durch die Deutungsarbeit eruiert werden können,
zeigen im Gegensatz zum manifesten Inhalt ein logisches und sinn-
reiches, wie auch affektiv wohlmotiviertes Gefüge von Gedanken, das
70 V. Der Traum.
sich dem übrigen Seelenleben organisch einfügt. Der morgens erinnerte
manifeste Traum hingegen steht, oft affektlos, unzusammenhängend
und unverständlich, dem wachen Bewußtsein in ähnlicher Weise fremd
gegenüber, wie die Wahnideen der Geisteskranken dem normalen Be-
wußtsein. Man kommt so der Tatsache auf die Spur, daß der Traum
in seiner tiefsten Schichte der Ausdruck ist für jene triebartigen Ur-
wünsche, die später als peinlich empfunden („verdrängt"), in durch
komplizierte Mechanismen entstellter Form wieder belebt werden.
Freud nimmt an, daß das Bewußtsein im Dienste der verdrängenden
Tätigkeit des Ich nach Art einer psychischen Zensur noch in den
Traum hinein mitwirkend, verbotene Regungen grob egoistischer oder
sexueller Natur nicht in voller Deutlichkeit passieren läßt, sondern nur in
einer sprachlichen und bildlichen Verkleidung. Durch diese kulturelle
Abschwächung wird das Auftauchen peinlicher Gefühle, das mit dem
deutlichen Bewußtwerden des Unbewußten verbunden wäre, in der Regel
vermieden (vgl. dagegen das Scheitern dieser Traumtendenz im Angst-
traum) und der ungestörte, friedliche Schlaf gewährleistet. Der Traum er-
weist sich so — recht im Gegensatz zur banalen Auffassungsweise — als
der eigentliche Hüter des Schlafes, wogegen keineswegs spricht,
daß er dieser Aufgabe nicht immer gerecht zu werden vermag (z. B.
der Angsttraum). Am deutlichsten läßt diese Tendenz eine Gruppe
von Träumen erkennen, auf die man immer wieder zur Stütze der
landläufigen Theorie hingewiesen hat, daß die Traumbilder nur ge-
wissen körperlichen Reizen ihre Entstehung verdanken. Im Sinne
der Freudschen Auffassung wird eine Reihe von diesen Träumen,
die sogenannten Bequemlichkeitsträume, zum wichtigen Beweise
für zwei der behaupteten allgemeinen Traumcharaktere, indem diese
Träume ein im Schlafe auftretendes körperliches Bedürfnis (z. B. den
Durstreiz) als befriedigt darstellen und sich so als Hüter des Schlafes
erweisen. Diese Träume lassen auch — ähnlich wie die Kinderträume —
den Wunscherfüllungscharakter deutlich erkennen. Überwindet die
Intensität des Reizes (Harnreiz, Stuhldrang, Pollution) die Tiefe des
Schlafes, so kommt es zum Weck träum. Auch diese in einer ge-
wissen Schichte des Bewußtseins aktuellen Tendenzen dienenden
Träume entbehren nicht desselben Aufbaus und der Beziehung zu
älterem unbewußten Material in einer tieferen Schichte.*) Die meisten
Träume der Erwachsenen sind sozusagen in verschiedenen Schichten
*) Vgl. dazu Rank: „Die Symbol Schichtung im Wecktraum und ihre
Wiederkehr im mythischen Denken" (Jahrb. f. Psa., IV, 1912).
Verdichtung und Verschiebung. 71
aufgebaut, zu deren Durchleuchtung es einer mühsamen und kompli-
zierten Deutungsarbeit bedarf.
Hier erhebt sich nun vor allem die Frage, welches die seelischen
Vorgänge seien, welche die durch die Deutungsarbeit mühsam aufgefun-
denen Traumgedanken in die uns zunächst so unverständliche Traumform
übergeführt haben. Aus der Vergleichung des erinnerten manifesten
Trauminhaltes mit den aufgefundenen latenten Traumgedanken ergibt
sich der Begriff der „Traumarbeit", welche die „Traumentstel-
lung" bewirkt hat. Geht man daran, die so vielseitige und eigenartige
Traumarbeit näher ins Auge zu fassen, so fällt zunächst ein auch schon
äußerlich erkennbares Merkmal besonders auf. Die durch Analyse auf-
gefundenen Traumgedanken übertreffen an Umfang den erinnerten Traum-
inhalt um ein Vielfaches. Dieser Umstand weist auf eine ausgiebige „V e r-
dichtung" des Traumgedanken hin. Jedes der Elemente des Traum-
inhaltes führt nämlich seine Abstammung nicht auf ein einzelnes
Element der latenten Traumgedanken, sondern auf eine Reihe von
solchen zurück ; anderseits ist aber auch in der Regel ein Traumgedanke
durch mehr als ein Traumelement im Traume vertreten. Die Asso-
ziationsfäden konvergieren also nicht einfach von den Traumgedanken
zum Trauminhalt, sondern überkreuzen und durchweben sich vielfach
unterwegs. Bei diesem Verdichtungs Vorgang spielen gewisse, von
Anfang an bestehende oder durch die Traumarbeit mitunter auf sehr
geistreich und witzig scheinende Weise erst geschaffene Gemeinsam-
keiten unter den Traumgedanken die größte Rolle.
Neben der Verdichtung ist ein zweiter Vorgang geeignet, unserem
Unverständnis des Traumbildes ein Befremden über dessen seelische
Wertung hinzuzufügen. Während uns nämlich die vollzogene Deutung
die wohlgeordneten und sinnreichen Gedankengänge, die dem Traume
zu Grunde liegen, in ihrer entsprechenden seelischen Betonung zeigt,
ist im Traume fast immer Nebensächliches und Bedeutungsloses mit
einer unverhältnismäßig großen Gefühlsbetonung versehen, anscheinend
Bedeutsames hingegen oft gleichgiltig behandelt. Diese „Verschie-
bung" der seelischen Wertigkeit vom Wichtigen auf Nebensächliches
trägt am meisten dazu bei, den Sinn des Traumes zu verbergen und
den Zusammenhang des Trauminhaltes mit den Traumgedanken un-
kenntlich zu machen.*)
•) Verdichtung und Verschiebung äußern sich nicht nur in der Denkarbeit,
sondern auch in der Darstellung von Einzelheiten. So können Gegenstände : Worte,
Personen durch Kombination unkenntlich werden; eine dem Träumenden zu-
72 V. Der Traum.
Neben der Verdichtung und Verschiebung, diesen beiden bedeut-
samsten und für die Traumarbeit am meisten charakteristischen
Leistungen, nötigt ferner die „Rücksicht aufDar stellbar keif
den Traum, zunächst im sprachlichen Ausdruck, zu ganz seltsamen
Leistungen, die dadurch erfordert sind, daß die Traumgedanken aufs
Anschauliche umgearbeitet werden *) und sich zu diesem Zwecke
mannigfache Entstellungen und Modifikationen gefallen lassen müssen.
Die durch diese Rücksicht auf Darstellbarkeit und durch die im
Dienste der Zensur geübte Traumentstellung unkenntlich und unver-
ständlich gewordenen Traumgedanken werden schließlich noch einer
letzten äußerlichen Umordnung unterworfen, die bei den verschiedenen
Träumen mehr oder minder sorgfältig ausgeführt ist und den Zweck
hat, den ursprünglich sinnvollen, durch die Traumarbeit sinnlos ge-
wordenen Traumbildern wenigstens rein äußerlich den Anschein von
Sinn und Zusammenhang zu geben. Auch diese Leistung der Traum-
arbeit, die von Freud sogenannte „sekundäre Bearbeitung«
die eigentlich eine Konzession an das bewußte Denken darstellt, dient
auf der anderen Seite doch wieder den Zwecken der Zensur, indem
sich die bewußte Aufmerksamkeit, die bei den schlecht bearbeiteten
Träumen durch das Urteil : unsinnig ! oder : Träume sind Schäume !
abgelenkt wird, bei den Träumen mit gut komponierter Fassade bei
diesem oberflächlichen Sinn beruhigen läßt, wodurch ein Eindringen
in den tieferen Sinn des Traumes unterbleibt.
* *
*
Als bedeutsame Tatsache neben dem Wunschcharakter des Traumes
ergab sich das Grundgesetz, daß die Mehrzahl der Träume Erwachsener
auch sexuelles Material behandelt und erotische Wünsche zum Aus-
druck bringt. Selbstverständlich kann man sich ein Urteil hierüber
nur bilden, wenn man nicht bloß den manifesten Inhalt registriert,
sondern bis zu den latenten Traumgedanken vorzudringen versteht.
Die Erklärung für die Ubiquität des sexuell-erotischen Materials im
Traume ist darin zu suchen, daß kein anderer Trieb seit der Kindheit
so viel Unterdrückung hat erfahren müssen, als der Sexualtrieb in
nächst als unbekannt erscheinende Person ist meist eine Mischperson, wenn nicht
ein Symbol.
*) Zur wertvollen Ergänzung dienen H. Silber ers Arbeiten über das
„mnktionale Phänomen" (im Jahrbuch), worunter im Gegensatz zur materialen
(inhaltlichen) Darstellung, der symbolische Ausdruck der Denkfunktionen selbst
gemeint ist.
.
Sexuelles im Traum. 73
seinen zahlreichen Komponenten. Einen wesentlichen Inhalt des Traumes
bildet also die erotische Wunscherfüllung; doch ist es Freud
nie eingefallen, diesen Charakter für den Traum zur Ausschließlichkeit
zu übertreiben, wie am besten sein umfangreiches Buch über die
Traumdeutungzeigt, wo auch den selbstischen und ehrgeizigen
Wünschen ihr Recht wird.
Die Behauptung, daß die Mehrzahl der Träume Erwachsener
in letzter Linie einen sexuellen Inhalt verraten, erscheint zunächst —
ähnlich wie die Wunscherfüllungstheorie — unbewiesen, da ja die
Sprache und die Bilder des Traumes sich — abgesehen von exquisit
sexuellen (Pollutions-)Träumen — selten mit sexuellen Szenen, mit
lasziven Anspielungen u. dgl. beschäftigen, sondern in zumeist harm-
loser oft poetischer Weise aus dem tatsächlichen Familien-, Arbeits- und
Genußleben entnommenen lebenden Bildern zusammengesetzt sind.
Es scheint so zunächst willkürlich, aus diesem das ganze Leben in
allen seinen Phasen umschließenden grenzenlosen Bilderreichtum so
oft eine bestimmte Tendenz herauslesen zu wollen, die bloß einem
Triebe dienen soll. Da es sich überdies um einen Trieb handelt,
dessen sich jeder mehr weniger schämt, und von dem er sich nicht
gern so breit erfüllt sieht, so war es gerade dieser Teil der Traum-
lehre, welcher allgemein Widersprach und Anstoß erregte. Freud
hat jedoch nachgewiesen, daß das Thema der Sexualität verhüllt
in den Träumen zu Tage tritt, in einer bestimmten typischen,
sich regelmäßig wiederfindenden symbolischen Ausdrucksweise,
nach Analogie einer Bildersprache dargestellt wird. Es könnte dem
zum erstenmal mit dieser Tatsache bekannt gemachten Laien
als eine krasse Willkür erscheinen, ganz harmlose und scheinbar
unauffällige Bilder, Gegenstände, Personen, Tätigkeiten, Wort-
wendungen usw. in sexuellem und anstößigem Sinne zu nehmen.
Wer aber das Verständnis für die Sprache der Neurosen und die Ver-
drängung gewonnen hat, der wird leicht davon zu überzeugen sein,
daß der Traum, sowie das Ausdrucksbild der Neurose, den eigentlichen
Sinn nicht unverhüllt verraten kann. Wo der manifeste Traum-
inhalt auffällig harmlos, verworren oder unklar wird (was sich häufig
mit Angst verknüpft), darf man dahinter immer etwas einer besonders
ausgiebigen Verdrängung Würdiges vermuten. Es ist eben die Zensur,
welche den Traum nötigt, sich zur Möglichkeit der Darstellung der
verhüllenden Sprache der Symbolik zu bedienen. Wenn man sich mit
der ausgiebigen Verwendung der Symbolik für die Darstellung sexuellen
74 V. Der Traum.
Materials im Traume vertraut gemacht hat, und weiß, daß diese
Symbolik nicht dem Traume zu eigen angehört, sondern
dem unbewußten Vorstellen des Volkes und im Folklore,
in den Mythen, Sagen, Redensarten, in der Spruchweisl
heit und in den umlaufenden Witzen eines Volkes*)
vollständiger als im Traume aufzufinden ist, kommt man
zur Überzeugung, daß viele dieser Symbole, wie die „Sigel" der Steno-
graphie, in typischer Bedeutung auftreten.**) Nur muß man immer
der Möglichkeit eingedenk bleiben, daß ein Element gelegentlich ein-
mal im Trauminhalt nicht symbolisch, sondern in seinem eigentlichen
Sinne zu deuten ist; andere Male kann der Träumer sich aus speziellem
Erinnerungsmaterial das Recht schaffen, individuell alles mögliche als
Sexualsymbol zu verwenden, was nicht allgemein so verwendet wird.
Auch sind die gebräuchlichen sexuellen Symbole nicht gerade jedesmal
eindeutig.
Nach diesen Einschränkungen und Verwahrungen sei eine
Reihe typischer Sexualsymbole angeführt: Der Kaiser und die
Kaiserin (König und Königin) stellen zumeist die Eltern des Träumers
dar, Prinz oder Prinzessin ist er selbst. Alle in die Länge reichenden
Objekte: Stöcke, Baumstämme, Schlangen, Schirme (des der Erektion
vergleichbaren Aufspannens wegen!) wollen das männliche Glied ver-
treten. — Dosen, Schachteln, Kästchen, Schränke, Öfen, Wagen entspre-
chen dem Frauenleib. Zimmer im Traume sind zumeist Frauenzimmer, die
Schilderung ihrer verschiedenen Eingänge und Ausgänge macht an dieser
Auslegung gerade nicht irre. Der Traum, durch eine Flucht von Zimmern
zu gehen, ist ein Bordell- oder Haremstraura. - Tische, gedeckte Tische
und Bretter, sind gleichfalls Frauen, wohl des Gegensatzes wegen, der
hier die Körperwölbungen aufhebt. Da „Tisch und Bett« die Ehe aus-
machen, wu-d im Traume häufig der erstere für das letztere gesetzt,
und so weit es angeht, der sexuelle Vorstellungskomplex auf den
Eßkomplex transponiert. Alle komplizierten Maschinen und Apparate
*) Beweise für die Symbolik aus den Hilfswissenschaften der Mythologie
Whnologie usw. finden sich in den zahlreichen zugehörigen Arbeiten im Jahrbuch, d°en
schritt n ZUr angowandten Seelenk ™de, und in den psychoanalytischen Zeit-
**) Schon den Alten (A r t e m i d o r u s) und auch neueren Autoren (S c h e r n e r,
Volkelt u. a.) ist die Symbolik zum Teil bekannt gewesen. Die Psychoanalyse
hat den großen Umfang der Symbolik wissenschaftlich in Erfahrung gebracht und
Karl bchrotter konnte mit Hilfe von „Experimentellen Träumen« (Zentralblatt
f. Psa., II, 1912, H. 12) den Schlußstein der Beweisführung setzen.
Symbolik. 75
im Traume sind mit großer Wahrscheinlichkeit Genitalien, in deren
Beschreibung sich die Traumsymbolik so unermüdlich erweist wie die
Witzarbeit. Landschaften bedeuten oft das weibliche Genitale ; die
Gegend, „in der man schon einmal war«, soll den Leib der Mutter
symbolisieren*). Auch Kinder bedeuten häufig im Traume das Genitale,
wie ja Männer und Frauen gelegentlich gelaunt sind, ihr Genitale als
ihr Kleines« zu bezeichnen. St ekel, der sich besonders erfolgreich mit
der Aufspürung dieser Traumsymbolik befaßt hat,**) führt u. a. an, daß
links und rechts oft unrechtmäßig und „recht«-mäßig bedeuten oder
dann im übertragenen Sinne für sinnlich und sittlich, normal und
pervers, männlich und weiblich usw., gebraucht werden; ferner daß
Tod und Todesgedanken im Traume eine bedeutende Rolle spielen,
manchmal aber als Verdrängungsgegensatz für Leben und Ausleben
zu nehmen sind. Es steht zu erwarten, daß die endgültige wissen-
schaftliche Beweisführung für die Symbolik, aus deren Formenreichtum
wir hier einige Beispiele gebracht haben, durch Mitarbeit der Mytho-
logen Linguisten und Folkloristen***) bald voll ergänzt werden und
dieselbe so ihre Paradoxie verlieren wird. Wer die Sprache der Traum-
symbolik nicht versteht, wird niemals einen Traum vollständig deuten,
niemals eine vollkommen gelungene Psychoanalyse durchführen können.
Die Symbolik ist der wichtigste technische Behelf zur psychoana-
lytischen Traumdeutung. Ihre Kenntnis ist deshalb für den Psycho-
analytiker unerläßlich, weil diese Symbolik - so verbreitet sie auch
völkergeschichtlich ist, und ein wie sicheres Postulat sie auch für
jeden unter den gleichen Kulturverhältnissen Lebenden bildet - doch
im einzelnen Falle, besonders beim Neurotiker, eine unbewußte sein
muß und daher dem Träumenden meist dazu keine Einfälle kommen.
Es ist größtenteils die Aufgabe des Analytikers, dieselbe in Anwendung
zu bringen, und zwar gerade dort, wo ein Element *>*J£^
der Emfiüle sich als ein Symbol verdächtig macht Die richtig Üb -
setzung des Symbols verrät sich u. a. auch dadurch, daß sie das Ver
ständnis des Traumes wesentlich fordert.
Läßt die Vertrautheit mit der Symbolik den Arzt so die tiefst
Schicht der unbewußten Traumgedanken mit einem hohen Grade
ST™ auch Marcinowski „Gezeichnete Träume« (Zentr. f Psa. II. 9).
** Vgl. „Die Sprache des Traumes" (Bergmann, Wiesbaden ,1911).
*** V°l das wertvolle Sammelwerk „Anthropophyteia- („Jahrbucher I-IX),
Beiwerke °zum Studium der Antbropophyteia« (I-VI Bd.) und Ihstonsche
Quellenschriften« (6 Bde.) herausgegeben v. F. S. Krauß, Lemz.g, Ethnologischer
Verlag.
76 V. Der Traum.
von Sicherheit erschließen, so gelingt andererseits die Eruierung der dem
rezenten Erleben und den aktuellen Konflikten entspringenden Traum-
gedanken durch die ausführliche Deutung mit Hilfe des freien
Einfalles (oder der Assoziation). Auf diesem Wege nur ist es auch
möglich, den gedeuteten Traum in den gesamten psychischen Zu-
sammenhang einzureihen. Diese eigentliche Analysenarbeit fördert zu-
nächst ein Material zu Tage, welches nicht im strengen Sinne des
Wortes unbewußt ist, sondern etwa als „vorbewußt" bezeichnet werden
muß, weil es nicht direkt bewußtseinsunfähig, vielmehr ohne besondere
Schwierigkeit bewußt zu machen ist (Oberflächenschichten).
Es geht daher die Technik der Traumdeutung nicht von
der Symbolik, sondern von den eigenen Einfällen und spontanen
Assoziationen des Träumers aus, deren Zugehörigkeit zu dem aufzu-
suchenden Gedankenkomplex durch das schon besprochene Assoziations-
experiment erwiesen wurde. Will man einen Traum nach der hier
zu schildernden Methode deuten, so zerlegt man den am besten nach
der frischen Erinnerung am Morgen reproduzierten Traumtext ohne jede
Rücksicht auf seinen etwaigen äußeren Zusammenhang (sekundäre
Bearbeitung) in einzelne Stücke, die Traumelemente. Überläßt man
sich nun von jedem dieser Elemente aus absichtslos seinem Vor-
stellungsablauf, den freien Assoziationen, so gelangt man bald zu
einer Fülle von Gedanken und Erinnerungen, die nicht nur alle in
inniger Beziehung zum Trauminhalt stehen, sondern sich auch unter-
einander zu einem zusammenhängenden und sinnvollen Ganzen fügen
Diese Assoziationen zeichnen sich vielfach aus durch einen oberflächlichen
Zusammenhang, durch Gleichklang, Wortzweideutigkeiten zeitliches Zu
sammentrenen ohne innere Sinnbeziehung, kurz durch alle die Eigen-
Schäften, die wir im Witz und beim Wortspiel zu verwerten uns ge-
statten. ) Keine Anknüpfung ist da zu locker, kein Witz zu ver-
werflich, als daß er nicht die Brücke von einem Gedanken zum
anderen bilden dürfte. Die ernsthafte und bedeutsame Verwertung
di eser Asso ziationen wird aber plausibler, wenn man weiß, daß
*) Daß von solchen Mechanismen die Alten schon Kenntnis hatten, die über-
haupt als Vorläufer der psychologischen Traumdeutung angesehen werden müssen
ze.ge folgendes, von der Antike überlieferte Beispiel: Dem an der Einnahme der
von m m belagerten Stadt Tyros verzweifelnden Alexander wurde sein Traum von
einem auf dem Schilde dargestellten, im Triumph tanzenden Satyr durch die
lraumdeuter als glückbringend dahin ausgelegt, daß ad Topos „dein Tyros" be-
deute (Artemidorus).
Deutungstechnik. 77
jedesmal, wenn ein psychisches Element mit einem
anderen durch eine anstößige und oberflächliche Asso-
ziation verbunden ist, auch eine korrekte und tiefer-
gehende "Verknüpfung zwischen den beiden existiert,
welche dem Widerstand der Zensur unterliegend, sich hinter jener ober-
flächlichen verbergen muß. Der Anfänger, der sich zur Annahme
dieser Regel schwer entschließen kann, wird auch nicht ohne Wider-
stand hören, daß gelegentlich ein Teil des Traumes erst dadurch sinn-
voll wird, daß man einzelne Elemente inhaltlich oder zeitlich um-
kehrt.*) Die Umkehrung, Verwandlung ins Gegenteil,**)
ist eines der beliebtesten, der vielseitigsten Verwendung fähigen Dar-
stellungsmittel der Traumarbeit. Sie dient zunächst dazu, der Wunsch-
erfüllung gegen ein bestimmtes Element der Traumgedanken Geltung
zu verschaffen. „Wäre es doch umgekehrt gewesen!", ist oftmals der
beste Ausdruck für die Kelation des Ich gegen ein peinliches Stück
der Erinnerung. Ganz besonders wertvoll wird die Umkehrung aber
im Dienste der Zensur, indem sie ein Maß von Entstellung des Dar-
zustellenden zu stände bringt, welches das Verständnis des Traumes
zunächst geradezu lähmt. Man darf darum, wenn ein Traum seinen
Sinn der Deutung hartnäckig verweigert, den Versuch der Umkehrung
mit bestimmten Stücken seines manifesten Inhaltes wagen, worauf nicht
selten Alles klar wird. Neben der inhaltlichen Umkehrung ist auch die
zeitliche nicht zu übersehen.***)
Wer sich mit der wissenschaftlichen Deutung der Träume be-
schäftigen will, muß die Traumdeutung Freuds selbst wiederholt
genauestens durcharbeiten. Hier können nur noch einige praktische
Winke und die unerläßlichsten Anleitungen gegeben werden. So ist
z. B. alles, was im Traume als Rede irgendwie auffällig hervortritt,
auf reale selbstgehaltene oder gehörte Reden zurückzuführen.-}-) Die
*) Als linguistische Bestätigung vgl. Freud: „Über den Gegensinn der
Urworte" (Lit.-V. Nr. 40). Zur psychologischen Annäherung von Gegensätzen iVgL
Bleuler: „Zur Theorie des schizophrenen Negativismus" (Psych.-Neurol. Woch. 1910).
**) Vgl. z. B. die symbolische Darstellung von „Geheimnis« durch Anwesenheit
vieler Personen oder der ganzen Familie.
***) Derselben Technik bedient sich manchmal der hysteriache Anfall, um seinen
Sinn zn verbergen (vgl. später S. 95).
t) Die einzige bisher bekannte Ausnahme von dieser empirischen Regel bilden
gewisse. Träuine der Zwangskranken, die den eigentlichen Text des Zwangsgebotes
in Form einer Rede bringen können, welcher Text ihnen im Wachen nur ver-
stümmelt und entstellt bekannt geworden ist.
I
78 V. Der Traum.
Analyse ergibt dabei, daß der Traum nur Bruchstücke dieser realen
Reden höchst willkürlich kombiniert. Ein Mittel der Zensur ist auch
das Vergessen der Träume, die auf diese Weise der Analyse ent-
zogen werden sollen. Dies geschieht oft im Beginn der Kur so voll-
ständig, daß der Patient überhaupt keine Träume bringt und nicht
zu träumen behauptet.*) In abgeschwächter Form zeigt sich diese
Tendenz der Zensur in dem Vergessen eines Traumteiles, der, wenn
er nachträglich gebracht wird, als besonders aufschlußreich geschätzt
werden muß, und es ist leicht zu verstehen, daß er gerade deshalb
der Deutungsarbeit möglichst lange entzogen werden sollte. Eine Art
mißglücktes Vergessen zeigt sich darin, daß einzelne Stellen eines
Traumes als „verworren oder undeutlich" charakterisiert werden. Auch
diese Stellen sind dann besonders wichtig und wollen meist etwas
auffällig Krasses und Anstößiges aus dem Unbewußten verbergen. Von
Wichtigkeit bei der Deutungsarbeit ist es auch, darauf zu achten, daß
die Träume einer Nacht oder mitunter sogar einer Serie von Nächten
engen inhaltlichen Zusammenhang haben und besonders die Träume
einer einzigen Nacht immer als ein Ganzes aufzufassen sind.
Am schwierigsten ist der Anfänger in der Traumdeutung zur
Anerkennung der Tatsache zu bewegen, daß seine Aufgabe nicht voll
erledigt ist, wenn er eine vollständige Deutung des Traumes in Händen
hat, die sinnreich, zusammenhängend ist und über alle Elemente des
Trauminhaltes Auskunft gibt. Es kann nämlich außerdem eine andere,
weitere Deutung desselben Traumes möglich sein, die ihm ent-
gangen ist. Die Frage, ob jeder Traum zur Deutung gebracht werden
kann, ist praktisch mit Nein zu beantworten. Man darf nicht ver-
gessen, daß man bei der Deutungsarbeit die psychischen Mächte gegen
sich hat, welche die Entstellung des Traumes verschulden. Es wird
so eine Frage des Kräfteverhältnisses, ob man der inneren Wider-
stände Herr werden kann. Ein Stück weit ist das immer möglich,
wenigstens so weit, um die Überzeugung zu gewinnen, daß der Traum
eine sinnreiche Bildung ist, und meist auch, um eine Ahnung dieses
Sinnes zu gewinnen.
Recht im Gegensatz zu der Freiheit des einzelnen, sich seine
Traumwelt in individueller Besonderheit auszustatten und dadurch
dem Verständnis der anderen unzugänglich zu machen, gibt es eine
gewisse Anzahl von Träumen, die fast jedermann in derselben Weise
*) Vielleicht ist manches „Nichtträuuien", das bo viele Menschen von sich
behaupten, nur ein Nichtbeachtenwollen der Träume.
Typische Träume. 79
geträumt hat, von denen man daher annehmen kann, daß sie auch
bei jedermann dieselbe Bedeutung haben. Ein besonderes Interesse
wendet sich diesen „typischen Träumen" auch darum zu, weil
sie vermutlich bei allen Menschen aus den gleichen Quellen stammen,
also besonders gut geeignet scheinen, uns über die Quellen der Träume
Aufschluß zu geben. Die typischen Träume der Menschen wären der
eingehendsten Untersuchung würdig; Freud geht in seiner Arbeit
nur auf einige Muster dieser Gattung näher ein. Einer der ver-
breitetsten Träume, für dessen Erklärung auch der Laie am ehesten
zugänglich sein wird, ist der sogenannte Verlegenheitstraumder
Nacktheit, der auch mit der Zutat vorkommt, man habe sich dessen
gar nicht geschämt u. dgl. Unser Interesse gebührt aber dem Nackt-
heitstraum nur dann, wenn man in ihm Scham und Verlegenheit
empfindet, entfliehen oder sich verbergen will und dabei der eigen-
tümlichen Hemmung unterliegt, daß man nicht von der Stelle kann
und sich unvermögend fühlt, die peinliche Situation zu verändern.
Nur in dieser Verbindung ist der Traum typisch. In der Regel ist
dabei der Defekt der Toilette nicht so arg, daß die dazu gehörige
Scham gerechtfertigt schiene. Freud hat diese Nacktheitsträume als
Exhibitionsträume auffassen gelehrt und führt sie zurück auf die
spontanen aktiven Entblößungen der Kinder, die ihnen große Freude
und Lust bereiten. Außer dieser Wiederholung einer infantilen Wunsch-
erfüllung kommt im Exhibitions träum natürlich auch die Verdrängung
zur Sprache: Die peinliche Empfindung (Scham usw.) im Traume ist
ja eine Reaktion dagegen, daß der seither verworfene Inhalt der Ex-
hibitionsszene dennoch zur Darstellung gelangt ist.
Eine zweite Gruppe von typischen Träumen, die für die Neurose
und den sie begründenden Familienkonflikt besonders charakteristisch
und bedeutsam ist, hat zum Inhalt, daß ein teurer Verwandter
(Eltern, Geschwister, Kinder usw.) gestorben sei. Auch von diesen
Träumen gelten nur jene als typische, bei denen man den zugehörigen
Affekt (tiefen Schmerz über den Todesfall) empfindet. Diese Traume
bedeuten nach Freuds Darlegungen tatsächlich das, was ihr Inhalt
nach dem Grundgesetz der Wunscherfüllung besagt: nämlich den
Wunsch, daß die betreffende Person wirklich gestorben sei. Auch diese
Deutung wird wahrscheinlich von vornherein bei Vielen Anstoß erregen.
Man muß jedoch dabei im Auge behalten, daß der feindselige Todes-
wunsch gegen einen nahen Angehörigen nicht gerade ein aktueller
sein muß. Die Theorie des Traumes begnügt sich zu schließen, daß
80 V. Der Traum.
der Träumer ihm — irgend einmal in der Kindheit — den Tod ge-
wünscht habe ; dieser Wunsch entstammt in der Regel dem kindlichen
Vorstellungsleben, für welches der Tod keine andere Bedeutung hat,
als ein Wegsein, eine Unterbrechung der störenden Anwesenheit einer
Person, eine Art Abreise ohne Rückkehr.*)
Unter diesen Träumen vom Tode teurer Verwandter nimmt der
Traum männlicher Individuen vom Tode des Vaters
eine besondere Bedeutung für sich dadurch in Anspruch, daß er
sich bei diesen Personen häufig in Verbindung oder abwechselnd
mit dem Traume findet, mit der Mutter sexuell zu ver-
kehren, einem Traume, dessen typischen Charakter schon die Alten
kannten. Derselbe zeigt deswegen die sexuelle Wunscherfüllung — den
sonstigen Träumen gegenüber — so kraß und unverhüllt, weil er meist
ein Pollutionstraum ist. Diesem Traumpaar männlicher Individuen
entspricht ein analoges mit gewechseltem Geschlechtsvorzeichen, aber
meist in verhüllter Form beim weiblichen Geschlechte.**) Diese Gruppe
von typischen Träumen verrät jenen zuerst von Freud hervorgehobenen
„Ödipuskomplex" aller Menschen, welcher in der berühmten
Tragödie des Sophokles seinen künstlerischen Ausdruck gefunden
hat. Wie sich immer deutlicher zeigt, spielt dieser Komplex im kind-
lichen Seelenleben aller späteren Psychoneurotiker eine große Rolle
und Verliebtheit in den einen, Haß gegen den anderen Teil des
Elternpaares oder doch ambivalente Einstellung gehören zum eisernen
Bestand des in jener Zeit gebildeten und für die Symptomatik der
späteren Neurose so bedeutsamen Materials an psychischen Regungen.
In der 2. Auflage der Traumdeutung hat Freud einzelne andere
typische Träume eingehender behandelt. So den Prüfungstraum
(Maturitätstraum), der zu den häufigsten typischen Träumen
gehört. Diese ängstlichen Träume, daß man die Reifeprüfung (eventuell
ein Rigorosum oder eine Sehulklasse) wiederholen müsse, und aus
einem bestimmten Gegenstand durchfalle, treten charakteristischer-
weise nur bei jenen Personen auf, welche die Prüfung (aus dem be-
treffenden Gegenstand) gut bestanden haben und zwar gern dann,
wenn man vom nächsten Tage eine verantwortungsvolle Leistung
*) Zu dieser kindlichen Vorstellung vom Totsein vgl. „ Traumdeutung", pag. 180,
und ^Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben".
**) Die verkappten Formen des Ödipustraumes sind häufiger als die unver-
hüllten. Auch in heuchlerischer Darstellung, die den Nebenbuhler zärtlich behandelt,
tritt dieser Traum in Erscheinung. Vgl. Freud: Zentralbl. f. Psa. I. Jahrg. 1. Heft.
Die Bedeutung gewisser Träume. gj
und die Möglichkeit einer Blamage erwartet, die sich nach Stekels
Aufklärung meist auf sexuelle Proben bezieht (Matura = Reife, Potenz).
Der Traum soll so gewissermaßen als Trost wirken, indem sich der
Träumer sagt: Du hast ja auch vor der Prüfung damals Angst gehabt,
und es ist doch gegangen ; also wird dir diesmal auch nichts
passieren !
Einer großen Anzahl von Träumen, die häufig angsterfüllt sind
und das Passieren von engen Räumen oder den Aufenthalt im
Wasser zum Inhalte haben, liegen Phantasien über das Intrauterinleben,
das Verweilen im Mutter leibe und den Geburtsakt zu Grunde. —
Träume vom Stürzen insWasser sind Geburtsträume; zu ihrer
Deutung gelangt man, wenn man die im Traume mitgeteilte Tatsache
umkehrt, also anstatt : sich ins Wasser stürzen, — aus dem Wasser
herauskommen, d. h. geboren werden,*) setzt. Nahestehend sind die
Träume vom Retten aus dem Wasser, was zeugen oder gebären be-
deutet. — Wasser und Regen können überdies den Harnreiz symbolisch
ausdrücken.
Räuber, nächtliche Einbrecher und Gespe nster, vor
denen man sich im Dunkeln fürchtet, und die auch gelegentlich den
Schlafenden im Traume heimsuchen, sind zuweilen Reminiszenzen an die
nächtlichen Besucher, die das Kind seinerzeit aus dem Schlafe geweckt
haben, um es auf den Topf zu setzen, damit es das Bett nicht nässe,
oder onanistische Akte zu verhindern. (Über die Räuberträume der
Angstneurotiker vgl. Kap. VI.)
Feuerträume lassen meist, wegen des Zusammenhanges mit
dem „Zündeln", auf eine überstandene Enuresis schließen, sind aber
zumeist auch durch die symbolisch zu nehmende Bedeutung des Feuers
als Liebesglut überdeterminiert.
Über die typischen Zahnreiz-, Fliege-, Fall- und andere
Träume finden sich in der Traumdeutung Aufklärungen, welche die
Durchschauung dieser oft sehr entstellten Traumbilder erleichtern:
Zahnreizträume entsprechen anscheinend regelmäßig einem mastur-
batorischen Akt, Fliegen bedeutet Geschlechtsverkehr.
Ist der Traum auch im Wesentlichen eine Schöpfung des Un-
bewußten, so darf man ihn doch nicht für ein vom Bewußtsein völlig
unkontrolliertes Produkt halten. Ähnlich wie der Hypnotisierte mehr
über seinem Auftrag steht, als man gewöhnlich annimmt, so steht auch
*) Vgl. den Nachweis dieser Symbolik als allgemein menschlicher bei Rank:
„Der Mythus von der Geburt des Helden", sowie Jahrb., IV. Bd., 1912.
H i t s c h m a u n, Freudu NeurogeoLahre. 2. Aufl. 6
82 V". Der Traum.
der Traum unter einer gewissen Kontrolle der bewußten
Instanz, was sich in dem oft radikalen Eingreifen der psychischen
Zensur verrät. So erklärt es sich z. B., daß der Träumer rechtzeitig
aus einem Traume auffährt, in welchem ihm die Lösung einer bei
Tage vergeblich versuchten Aufgabe gelungen ist, um sich die Lösung
notieren zu können. So versteht man das in Träumen sehr häufig
auftretende tröstende Gefühl, daß ja alles nur ein Traum sei (Traum
im Traume).
Es ist selbstverständlich, daß die hier gegebene Darstellung keine
vollständige und das umfangreiche Werk über die Traumdeutung er-
schöpfende sein konnte. So ist über die Affekte im Traume, über ab-
surde Träume usw. nichts Ausführliches gebracht worden, und ist
Näheres hierüber in F r e u d s grundlegender Arbeit selbst nachzulesen,
wie überhaupt ein genauestes Studium derselben zur wissenschaftlichen
Erlernung und Anwendung der Traumdeutung unentbehrlich ist.*) Die
Bedeutung der Traumdeutekunst für die psychoanalytiche Behandlung
der Psychoneurotikor hat Freud selbst in seinem „Bruchstück einer
Hysterieanalyse" ausführlich exemplifiziert, wo sich zwei vollkommen
gedeutete und synthetisch zusammengefaßte Träume einer Patientin
psychoanalytisch verwertet finden.**)
*) Viele nicht unwesentliche Ergänzungen finden sich in der psychoanalytischen
Traumliteratur und sind im Lit.-V. der 3. Auflage der „Traumdeutung" angeführt.
**) Über „Die Handhabung der Traumdeutung in der Psycho-
analyse' vgl. Freud, Zentrbl. f. Psa., II. Jg., H. 3.
VI.
Die Hysterie.
Stellung Fronds in der Hysterielchre. — Verdrängung und Konversion. — Sexualität und
Infantilismus. — Die hysterische Psyche. — Das hysterische Symptom: Seine somatischen
und psychischen Determinierungen. — Dio hysterischen Phantasien. — Der hysterische Anfall.
— „Nervöse Störungen." — Die neurotische Angst (Angsttraum, Angsthysterie, Phobie). —
Über Psychosen: Paranoia, Dementia praecox u.a.
Freud hat seit den 1895 gemeinsam mit Breuer publizierten
Studien über Hysterie", deren wesentlicher Inhalt schon in der all-
gemeinen Neurosenlehre skizziert wurde, die seither gewonnenen Ein-
sichten und Fortschritte der Lehre nicht zusammenhängend dargestellt,
weshalb auch dieses Kapitel kein systematisches und abgerundetes
Bild, sondern nur eine Übersicht bringen kann.*)
Die psychogene Natur der Hysterie, die bis Charcot als
Nervenkrankheit gegolten hatte, ist nach den Arbeiten von Jan et,
Breuer und Freud wohl bereits allgemein anerkannt. Hatte schon
die französische Schule, an ihrer Spitze P. Jan et, die Annahmen
der Dissoziation des Seelischen und des Unbewußten bei der Hysterie
akzeptiert, so war doch die Janetsche Anschauung von einer an-
geborenen Schwäche der psychischen Synthese, als Ursache der Ent-
stehung dieser seelischen Dissoziation, eine unbefriedigende. Erst die
B reuer- Fr eudsche Auffassung setzt die Dissoziation und das Un-
bewußte in die richtige Beziehung zueinander, indem sie eine dyna-
mischeAuffassung vertritt : Das Seelenleben wird auf ein Spiel von
einander fördernden und hemmenden Kräften zurückgeführt, und wenn
in einem Falle eine Gruppe von Vorstellungen im Unbewußten verbleibt,
so hat ein aktives Sträuben anderer Vorstellungsgruppen die Isolierung
und Unbewußtheit der einen Gruppe verursacht. Das Eigenartige der
Freud sehen Auffassung liegt also in der „Verdrängung". Die Ana-
lyse weist nach, daß solche Verdrängungen eine außerordentlich
*) Analysen Hysterischer sind in ausführlicher Weise publiziert worden von
Freud (Lit.-V. Nr. 21 u. 35), ferner von L. Binswanger (Jahrb., I, 1909 und
III, 1911) u. a.
6*
>
84 VI. Die Hysterie.
wichtige Rolle in unserem Seelenleben spielen, daß sie dem Individuum
auch häufig mißlingen können, und daß dieses Mißlingen der Ver-
drängung die Vorbedingung der Symptombildung ist. Die Psycho-
analyse hat es aber nicht nur solcherart ermöglicht, die Lehre vom
psychischen Konflikt und der Verdrängung aufzustellen, sondern auch
Antwort zu geben auf die Frage, woher ein solcher zur Verdrän-
gung auffordernder Gegensatz zwischen dem Ich und einzelnen Vor-
stellungsgruppen stammt. Es handelt sich dabei um jenen tiefen Gegen-
satz zwischen den Trieben, welche der Sexualität, der Ge-
winnung sexueller Lust, dienen und den anderen, welche die Selbst-
erhaltung des Individuums zum Ziele haben, den Ichtrieben. Das Ich
fühlt sich durch die Ansprüche übermächtiger Sexualtriebe bedroht
und erwehrt sich ihrer durch Verdrängung. Freud konnte ferner
zeigen, daß die letzte Veranlassung der Neurose schon aus früher
Kindheit stammt, wo das unter gewissen konstitutionellen Bedingungen
gesteigerte Triebleben das Mißglücken der Verdrängung begünstigt.
Die hysterische Verdrängung findet somit — worauf schon bei der
Kindersexualität hingewiesen wurde — ihr Analogon, respektive ihre
Vorbedingung in der normalerweise auftretenden „organischen Ver-
drängung" des kindlichen Trieb- und Sexuallebens. Diese Verdrängung
ist die Vorbedingung jener späteren hysterischen Verdrängung, welche
nur durch den Umstand erklärlich wird, daß das Individuum bereits
einen Schatz von Erinnerungsspuren besitzt, welche der bewußten
Verfügung entzogen sind, und die nun mit assoziativer Bindung das
an sich reißen, worauf vom Bewußtsein her die abstoßenden Kräfte
der Verdrängung wirken. Das geschlechtsreife neurotische Individuum
bringt also regelmäßig ein Stück „Sexual Verdrängung" aus seiner
Kindheit mit, das bei den Anforderungen des realen Lebens zur
Geltung kommt und zu Konflikten führt. Die Flucht aus der un-
befriedigenden Wirklichkeit, die niemals ohne einen unmittelbaren
Lustgewinn für den Kranken ist, vollzieht sich auf dem Wege der
Rückbildung (Regression), der Rückkehr zu früheren Phasen der
Libidoentwicklung, denen seinerzeit eine gewisse Befriedigung nicht
abgegangen ist; so wird gleichsam ein infantiler Zustand des Sexual-
lebens wieder hergestellt.
Erst durch die Aufdeckung der fundamentalen ätiologischen Be-
deutung der psychosexuellen Entwicklung für die Entstehung der
Neurosen hat die Hysterie aufgehört, ein Schmerzenskind der medi-
zinischen Wissenschaft zu sein, denn alle sonstigen Theorien haben
Erotische Komplexe. 85
zu keiner, auch nur einigermaßen befriedigenden Deutung und Auf-
klärung dieser seltsamen Krankheit geführt. Freud hat sowohl den
Schleier von dem hysterischen Geisteszustand gelüftet, wie auch die
reiche und feinverzweigte psychische Determination des Symptoms
zeigen können. Er hat die Motive und den Inhalt der hysterischen
Symptome und des Anfalles, sowie der ihnen zu Grunde liegenden
Phantasien aufgedeckt. Freud hat in den hysterischen Wahnsinn
sozusagen Methode gebracht. Seine Resultate sind auch auf diesem
seinem eigentlichsten Forschungsgebiet nicht der Spekulation ent-
sprungen, sondern rein empirische, und konnten sich gar nicht früher
und auf anderem Wege als auf dem der Psychoanalyse ergeben.
Dagegen haben sich Freuds Untersuchungen nicht wesentlich mit
dem beschäftigt, was die Schulmedizin zunächst bei der Hysterie
sieht und als bedeutsam für die Diagnose hält, nämlich mit den —
in letzter Zeit so entwerteten — Stigmata. Freud hat die Krank-
heitserscheinungen der Hysterischen immer von ihrer Psychogenität
aus betrachtet und gerade auf diesem Gebiete hat die als Therapie
ihren banalen Wert erringende Psychoanalyse ihren idealen Forschungs-
wert am großartigsten erwiesen. Wenn durch eine solche eingehende
Darstellung der seelischen Vorgänge die Krankengeschichten
der Hysterischen sich nunmehr wie Novellen lesen,
so liegt das in der Natur des Gegenstandes, an der innigen Beziehung
zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptom, an welche sich
die Ärzte werden gewöhnen müssen.
Abenteuerliche Vorstellungen über die pathologischenVeränderungen
in der Genitalsphäre, die den Ausgangspunkt des hysterischen Leidens
bilden sollten, hatten schon die alten Griechen und Römer. Diesen
Grundgedanken hat dann auch in veränderter Form in den letzten
Jahrzehnten eine Anzahl von Gelehrten übernommen. Freud erst hat
all diesen unklaren Ahnungen das Mystische genommen, und wenn
auch er nicht vermeiden kann anzunehmen, daß den Psychoneurosen
im letzten Grunde somatische Störungen des Sexualstoffwechsels zu
Grunde liegen*), so hat er doch den überragenden Auteil der Psycho-
sexualität in der Pathogenese der Hysterie im weitesten Ausmaße er-
*) Wenn der Freud sehen Hysterielehre der Vorwurf gemacht wurde, sie
sei als rein psychologische unfähig, ein pathologisches Prohlem zu lösen, so ist
derselbe unberechtigt. Der Sexualfunktion, in deren besonderem Verhalten Freud
das Wesen der Hysterie erblickt, wird wohl niemand den Charakter eines organi-
schen Faktors absprechen können.
86 VI. Die Hysterie.
wiesen. Den Hauptinhalt des Seelenbildes der Hysterischen
bildet nach den Ergebnissen der psychoanalytischen Forschungen das
Liebesleben im weitesten Umfange, mit seinen intensiven Phantasien.
Der in diesem Punkte Ungläubige spielt heutzutage schon eine kaum
mehr haltbare Piolle, indem ja der Assoziationsversuch den Be-
weis dafür erbracht hat, daß solche gefühlsbetonte erotische
Komplexe die Psyche der Hysterisehen beherrschen. Dieser Haupt-
inhalt des Seelenbildes der Hysterischen ist freilich für die ober-
flächliche Beobachtung ebenso oft verdeckt oder symbolisch dargestellt,
wie das Sexuelle im Traume. Ist doch die hysterische Psyche von
Kindheit an von übermäßigen Gegenimpulsen gegen ihre abnorm
starken Triebregungen beherrscht. Nur wer sozusagen den Roman des
Hysterischen kennt, kann auch das Verständnis für dessen auffallende
Charakterveränderung aufbringen, die im engsten Zusammenhang mit
dem Schicksal seiner Libido steht. Das gesamte Bild der Krankheit
ist auch nur dann verständlich, wenn man erkannt hat, daß der
Hysteriker mit seiner Krankheit sich unbewußte Wünsche erfüllt
die ihn der Lösung seiner momentanen erotischen Konflikte über-
heben sollen. In diesem Punkte herrscht zwischen Freuds Auf-
fassung und der vulgären eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit insofern
als auch von Freud angenommen wird, daß ein rezentes Erlebnis
den latent Hysterischen offenkundig krank macht. Diese rezenten Er-
lebnisse erweisen sich aber bei genauer Nachforschung regelmäßig als
Konflikte der Erotik (z. B. eine Liebesenttäuschung, ein erzwungenes oder
gelöstes Verlöbnis, ein sexuelles Attentat, eine plötzliche sexuelle Auf-
klärung); und wenn es auch bei oberflächlicher Betrachtung andere
Motive zu sein scheinen (Krankenpflege, Tod eines Angehörigen usw.),
so läßt sich bei eingehender Nachforschung regelmäßig eine unbewußte
Verknüpfung dieser banalen Erlebnisse mit sexuellen und infantilen
Eindrücken nachweisen. Die hysterisch Kranken leiden also an R e-
miniszenzen. Die Fixierung gewisser seelischer Eindrücke — Freud
spricht von einer erhöhten Haftbarkeit oder Fixierbarkeit dieser
Eindrücke — ist einer der wichtigsten und praktisch bedeutsamsten
Charaktere der Neurose. Die Reaktion auf die rezenten Erlebnisse
erscheint inadäquat, wenn man nicht die im Unbewußten wirksamen
Reminiszenzen als Motive berücksichtigt. So erklärt sich das über-
wiegende oder ausschließliche Reagieren auf sexuelle Er-
regungen mit Unlustge fühlen, in welchem F r e u d ein sicheres
Anzeichen der Hysterie erblickt: gleichgültig, ob die Person nun so-
Das hysterische Symptom 37
matische Symptome zu erzeugen fähig sei oder nicht. Zweifellos steht
diese Eigentümlichkeit mit der vorhin erwähnten konstitutionell-ab-
normen Triebstärke und deren Bekämpfungstendenz im engsten inhalt-
lichen Zusammenhang, wie mit den früheren Verdrängungen in einem
historischen Zusammenhang.
Auch die Suggestibilität und leichte Hypnotisierbarkeit der Hy-
sterischen scheint ihre bisher ausstehende Erklärung durch die Psycho-
analyse gefanden zu haben. Freud vermutet, daß das Wesen der
Hypnose in die unbewußte libidinöse (masochistische) Fixierung an
die Person des Hypnotiseurs zu verlegen ist, und Ferenczi hat in
einer Studie („Introjektion und Übertragung", Jahrb., I) den Nachweis
versucht, daß diese Erscheinung in einem übermächtigen Elternkomplex
wurzelt.
Läßt sich so das eigenartige Wesen des Hysterischen aus einer
besonderen psychosexuellen Veranlagung verstehen, so muß die Ent-
stehung der rätselhaften Symptome der Hysterie noch gesondert
erklärt werden. Die Theorie von der Pathogenese der hysterischen
Symptome bildet, wie wir am Entwicklungsgange der Freud sehen
Neurosenlehre (II. Kapitel) kursorisch gezeigt haben, den Ausgangs-
punkt der Beschäftigung Freuds mit den Psychoneurosen. Die Ent-
deckung, die Breuer an jenem eigenartigen Falle von Hysterie
machte, daß nämlich, in einer gewissen Analogie mit der „traumati-
schen Hysterie", auch die gewöhnliche Hysterie ihre Symptome
Traumen ähnlichen psychischen Eindrücken verdankt, ist der Aus-
gangspunkt der späterhin von Freud ausgebauten Theorie der Hysterie
geworden. Die sexuell-traumatischen Erlebnisse sollten, da die mit
einem Affektbetrag (Erregungssumme) geladenen Vorstellungen nicht
durch die normale Reaktion der Mitteilung und den entsprechenden
Ausdruck der Gemütsbewegung abreagiert worden waren, die Ursache
der hysterischen Symptome werden, indem dieser Affektbetrag, von
der unverträglichen Vorstellung losgelöst, dazu verwendet würde, ein
körperliches Symptom hervorzurufen.*) Zum Teil blieben diese „ein-
geklemmten Affekte" als dauernde Belastungen des Seelenlebens und
Quellen beständiger Erregung für dasselbe bestehen ; zum Teil er-
fuhren sie eine Umsetzung in ungewöhnliche körperliche Innervationen
und Hemmungen, die sich als die körperlichen Symptome des Falles
*) Die Erfahrung ergibt, daß die Konversion zeitlich nicht unmittelbar an
das veranlassende Erlebnis anknüpft, sondern eines größeren Intervalls bis zur
Konstituierung des Symptoms bedarf.
88 VI. Die Hysterie.
darstellten. Breuer und Freud haben für diesen letzteren Vorgang
den Namen der hysterischen „Konversion" geprägt. Zum Ver-
ständnis dieses Begriffes diene der Hinweis auf den „Ausdruck der
Gemütsbewegung", der normalerweise unsere seelische Erregung verrät,
und den die hysterische Konversion übertreibt oder auf neue kollaterale
Bahnen leitet. Die psyehophysische Eignung zur Konversion stellt
ein Stück der hysterischen Disposition dar.
Mag das Wesen der Konversion, die Umbildung psychischer Er-
regungsvorgänge in Körp erinner vationen, immerhin noch ein Problem
sein, so hat Freud doch durch die Untersuchungen der letzten
Jahre Wichtiges mitteilen können über die Richtung, welche die
Konversion im einzelnen Falle einschlägt: wieso also einmal die
Lähmung eines bestimmten Körperteiles, ein andermal ein hysterischer
Husten oder ein Erbrechen usw. entsteht.*) Wenn auch in der Auf-
deckung der später zu besprechenden psychologischen Beziehungen
und Determinationen die Hauptleistung Freuds zu erblicken ist, so
hat er doch nie versäumt, nachdrücklich zu betonen, daß jedes hy-
sterische Symptom nicht nur psychischen Ursprunges ist, sondern
auch eine somatische Grundlage hat und nur dann zu stände kommen
kann, wenn ein gewisses „somatisches Entgegenkommen"
vorliegt, welches von einem normalen oder krankhaften Vorgang in
einem Organe des Körpers geleistet wird. Dieses somatische Entgegen-
kommen setzt sich aus mehreren Bedingungen zusammen : Erstens kann
der Weg schon gebahnt sein durch körperliche Reizzustände
dieser Organe, z. B. für das Entstehen eines hysterischen Hustens durch
einen akuten Katarrh. Eine noch viel wichtigere Bedingung des so-
matischen Entgegenkommens ist es jedoch, daß das betreffende Organ
eine erogene Zone vorstellt. Freud hat darauf hingewiesen, daß
ähnlich wie beim Kinde die erogene Eigenschaft auf jede beliebige
Körperzone verlegt werden kann, eine analoge Verschiebbarkeit auch
in der Symptomatologie der Hysterie wiederkehrt.**) Bei dieser Neurose
betrifft die Verdrängung die eigentlichen Genitalzonen am allermeisten,
und diese geben ihre Reizbarkeit an die übrigen, sonst im reifen
*) Über die Konversion in Angst vgl. die „Angsthysterie" S. 101.
**) Was die typischen Symptome, die sogenannten Stigmata, betrifft, so
hat sich Freud zwar nicht näher mit diesen beschäftigt, jedoch gelegentlich
darauf hingewiesen, daß die Verlegbarkeit der erogenen Eigenschaft auch hier die
größte Bedeutung bat: Erogene und hysterogene Zone zeigen die näm-
lichen Charaktere.
Doppelfunktion der Organe. 89
Leben zurückgesetzten, perversen erogenen Zonen ab, die sich dann
ganz wie Genitalien gebärden. So würde z. B. ein hysterisches Er-
brechen bei Individuen entstehen, bei denen die Mundzone in der
Kinderzeit hervorragend erogen betont und betätigt wurde (Lutschen),
ein Lustgewinn, dessen spätere Verdrängung kraft der Gemeinschaft
der Mundzone auf den Nahrungstrieb übergreift. Alle Patienten
mit Eßstörungen, hysterischem Globus, Schnüren im Hals und Er-
brechen waren — wie erwähnt — in den Kinderjahren energische
Ludlerinnen. Auf diese Art und Weise kommen alle hyste-
rischen Abulien zu stände, indem Organe oder Organ-
systeme, die beiden Triebgruppen dienen, dadurch, daß
sie sich der erogenen Funktion verweigern (Verdrän-
gung), auch in ihrer anderweitigen (Ich-)Fuuktion ver-
sagen. So entstellt z.B. etwa eine hysterische Gehstörung (Abasie),
wenn die motorische Fortbewegung in einer Phase der Kindheit stärkere
erogene Betonung erhalten hatte, die dann verdrängt wurde.*) Daß sich
die Störung auf die verschiedenen Organe werfen kann, beruht darauf,
daß dieselben, entsprechend den Partialtrieben und den daran ge-
knüpften Perversionen, neben ihrer sonstigen organischen Funktion
auch den verschiedensten erogenen Funktionen dienen. Der Mund
dient dem Küssen sowohl wie dem Essen und der sprachlichen
Mitteilung (hysterisches Erbrechen, Mutismus); die Augen**) nehmen
nicht nur die für die Lebenserhaltung wichtigen Veränderungen
der Außenwelt wahr, sondern auch die Eigenschaften der Personen,
durch welche diese zu Objekten der Liebeswahl erhoben werden, ihre
„Reize" etc.
Für die Entstehung eines hysterischen Symptoms spielt nach
Freud auch die „Verlegung nach oben" eine Rolle. So
entsteht z. B. bei einem Mädchen, das anläßlich eines Kusses eine
Genitalsensation empfindet, durch Verschiebung eine Unlustempfindimg
in der Mund -Verdauungszone: Ekel. Dasselbe Mädchen leidet an einem
hysterischen Brustschmerz, seitdem sie bei einer Umarmung den Druck
des erigierten Penis an ihrem Schenkel gefühlt hat. Es handelt sich
also hier um die Verschiebung eines taktilen Eindruckes am Schenkel,
konvertiert zu hysterischem Schmerze, an die Brust hinauf.
*) Vgl. auch die Platzangst S. 103.
**) VI. Freud: „Die psychogene Sehstörung in psychoanalyt.
Auffassung". (Ärztl. Standeszeitung, 1910, Nr. 9.)
90 VI. Die Hysterie.
Wichtiger als Hinweise auf die somatischen Bedingungen des
Symptoms und die eigentliche Hauptleistung Freuds ist die Auf-
deckung seiner psychischen Wurzeln. Die psychischen Determinie-
rungen sind keine einfachen, sondern vielfach komplizierte. Eine beson-
dere Rolle spielt dabei die Determinierung durch eine sinnreiche,
nach Analogie des Traumlebens in weitem Ausmaße gesetzmäßige
Symbolik. So erwies sich z.B. als Vorbild der Armkontraktur bei
einer Patientin die unbewußte Phantasie des erigierten männlichen
Gliedes, zugleich war aber das Symptom auch die Bestrafung für eine
mit der Hand intendierte sexuelle Aggression. Das hysterische Symptom,
hat in der Regel nicht eine einzelne, sondern mehrere Bedeu-
tungen gleichzeitig (Überdeterminierung), die es jedoch nicht von
Anfang an mitbringt, die ihm vielmehr je nach der Beschaffenheit der
nach Ausdruck ringenden Gedanken verliehen werden. Da die Her-
stellung eines Symptoms schwierig und an eine Reihe begünstigender
somatischer Bedingungen gebunden ist, so erklärt sich leicht, daß ein
einmal konstituiertes hysterisches Symptom festgehalten wird, um auch
verschiedenen Bedeutungen nacheinander Ausdruck zu
geben.*)
Waren für die Entstehung des Symptoms gewisse Voraussetzungen
notwendig, so kommen später Umstände hinzu, welche zu Beginn der
Krankheit nicht vorhanden waren, an der Symptombildung keinen
Anteil hatten, aber durch ihr späteres Hinzutreten die Krankheit erst
voll konstituieren und fortdauern lassen: es sind das die Krank-
heitsmotive. Irgend eine psychische Strömung findet es bequem,
sich des Symptoms zu bedienen, damit ist dieses zu einer Sekundär-
funktion gelangt und im Seelenleben verankert. Manche Folge der
Krankheit ist dann ein Erfolg derselben und stellt das Erreichen
einer unbewußten Absicht dar. Die Krankheitsabsicht, die oft Zärt-
lichkeit, Schonung oder sonstige persönliche Vorteile von der Umge-
bung durchzusetzen sucht, häufig auch an ihr Rache nehmen will, ist
eines der stärksten unbewußten Motive für das weitere Bestehen und
natürlich eine große Schwierigkeit bei der Behandlung. Es gibt jedoch
auch Fälle mit rein innerlichen Motiven, wie z. B. Selbstbestrafung,
Reue und Buße.
Waren es nach der ursprünglichen Anschauung nur die sexual-
traumatischen Erlebnisse, welche durch Intensität und Unverträglich-
*) Zum hysterischen Kopfschmerz vgl. Sadger: „Über sexualsymbolische
Verwertung des Kopfschmerzes". (Zentrbl. f. Psa., 1912, H. 4.)
Unbewußte Phantasien. 91
keit Anlaß zur Verdrängung gaben, so hat vertiefte psychoanalytische
Forschung ergeben, daß es vielmehr die meist in den Pubertätsjahren
intensiv produzierten Phantasien (Erinnerungsdichtungen) der
Kranken sind, welche sich zwischen die infantilen Vorgänge und die
Symptome einschieben und deren Inhalt unter gewissen Bedingungen,
anknüpfend an die infantile Triebverdrängung, ins Unbewußte gezogen
werden kann. Solange diese Phantasien bewußt sind, bezeichnen wir
sie als Tagträume ; ihre Verdrängungsmöglichkeit, ihr Unbewußtwerden
beruht auf ihrer engen Beziehung zum Sexualleben der betreffenden
Person. Die später unbewußt gewordene Phantasie ist nämlich identisch
mit der Phantasie, welche der Person während einer Periode von
Masturbation zur sexuellen Befriedigung gedient hat. Der masturbatorische
Akt setzte sich damals aus zwei Stücken zusammen, aus der Hervorrufung
der Phantasie und aus der aktiven Leistung zur Selbstbefriedigung auf der
Höhe derselben. Diese Zusammensetzung erweist sich aber als eine Verlö-
tung. Ursprünglich war die Aktion eine rein autoerotische Vornahme zur
Lustgewinnung von einer bestimmten, erogen zu nennenden Zone her.
Später verschmolz diese Aktion mit einer Wunschvorstellung aus dem
Kreise der Objektliebe und diente zur teil weisen Realisierung der Situation,
in welcher diese Phantasie gipfelte. Wenn dann die Person auf diese Art
der masturbatorisch-phantastischen Befriedigung verzichtete, so wird
die Aktion unterlassen, die Phantasie aber wird aus einer bewußten
zu einer unbewußten. Tritt keine andere Art der sexuellen Befriedigung
ein, verbleibt die Person in der Abstinenz und gelingt es ihr nicht,
ihre Libido zu sublimieren, d. h. die sexuelle Erregung auf ein höheres
Ziel abzulenken, so ist jetzt die Bedingung dafür gegeben, daß die un-
bewußte Phantasie aufgefrischt werde, wuchere und sich mit der
ganzen Macht des Liebesbedürfnisses wenigstens in einem Stücke ihres
Inhaltes als Krankheitssymptom durchsetze.*) Für eine ganze Reihe
von hysterischen Symptomen sind solcherart die un-
bewußten Phantasien die nächsten psychischen Vor-
stufen. Die hysterischen Symptome sind nichts anderes als die durch
Konversion" zur Darstellung gebrachten unbewußten Phantasien, und
insofern es somatische Symptome sind, werden sie häufig genug aus
dem Kreise der nämlichen Sexualempfindungen und motorischen Inner-
vationen entnommen, welche ursprünglich die damals noch bewußte
*) „Über hysterische Traumzustande « und deren Beziehung zu Masturba-
tions-Phantasien vgl. Abraham: Jahrb. IL, 1910, sowie Bestätigung durch Brill
(New York Medical. Journ., May 1912).
92 VI. Die Hysterie.
Phantasie begleitet haben. Auf diese Weise wird die Onanieentwöhnung
eigentlich rückgängig gemacht und das Endziel des ganzen patho-
logischen Vorganges, die Herstellung der seinerzeitigen primären Sexual-
befriedigung, wird dabei zwar niemals vollkommen, aber immer in
einer Art von Annäherung erreicht. Das Interesse desjenigen, der die
Hysterie studiert, wendet sich alsbald von den Symptomen derselben
ab und den Phantasien zu, aus welchen erstere hervorgehen. Die
psychoanalytische Methode hat es ermöglicht, diese in letzter Linie
krankmachenden unbewußten Phantasien der Menschen zu eruieren
und in Freuds Analyse einer Kinderneurose (Jahrb., I) konnten sie
direkt in statu nascendi aufgezeigt werden. Es ergab sich dabei, daß
diese Phantasien, die das träumerische, neurotisch prädisponierte Kind
intensiv beschäftigen, zu ihrem Objekte zunächst die Eltern und die
allernächste Umgebung des Kindes wählen, und dabei Schwanger-
schafts- und Geburtsphantasien sowie infantile Sexualtheorien, die
das unaufgeklärte Kind sich für die Zurechtlegung dieser mysteriösen
Vorgänge ausdenkt, eine große Bolle spielen. Da zu dieser Zeit die
Betätigung der normalen Geschlechtszone noch nicht im Vordergrunde
steht, das Kind also noch polyrnorph-pervers ist, so dienen diese
Phantasien den verschiedensten erotischen Gelüsten, und da dem Kinde
auch der Unterschied der Geschlechter noch ein Problem ist, so sind
diese Phantasien selbstverständlich auch bisexuell. Daß im allgemeinen
stets die nämlichen Phantasien über die Kindheit gebildet werden
gleichgültig, wie viel oder wie wenig reales Material das wirkliche
Leben dazu gestellt hat, erklärt sich aus der Uniformität des kind-
lichen Sexuallebens und der späteren modifizierenden Einflüsse.*)
Es läßt sich bei der psychoanalytischen Untersuchung der Neuroti-
schen deutlich erkennen, daß der heranwachsende Mensch in seinen
Phantasiebildungen über seine erste Kindheit das Andenken an seine
autoerotische Tätigkeit zu verwischen sucht, indem er seine Erinnerungs-
spuren auf die Stufe der Objektliebe hebt. Daher die Überfülle von
Verführungen und Attentaten in diesen Phantasien, wo sich häufig
genug die Wirklichkeit auf autoerotische Betätigung beschränkte,**)
*) Bei einzelnen, durch ihre Anlage besonders geeigneten Individuen bricht
die Hysterie auf diese Bedingungen hin schon in der Kindheit aus, und zwar zu-
meist in Form einer Angsthysterie.
**) Immerhin muß hervorgehoben werden, daß die Hysterischen durch
ihren Phantasiereichtum eher geneigt sind, schädigende Traumen zu veranlassen
und sie wegen des damit verknüpften Lustgewinnes zu verschweigen. (Abraham:
„Das Erleiden infantiler Sexualtraumen als Form der infantilen Sexualbetätigung."
Wesen des hysterischen Symptoms. 93
eine Unterscheidung, die in forensischen Fällen dem Gutachter natür-
lich die größten Schwierigkeiten bereiten muß. Die richtig zu treffende
Unterscheidung zwischen den — nachträglich sexualisierten — Phan-
tasien und den wirklichen, zuweilen banalen Kindheitserlebnissen ist
dadurch sehr erschwert, daß in der Neurose die Denkrealität und
nicht die wirkliehe Realität Geltung hat.
Freud hat eine Reihe von Formeln aufgestellt,*) die sich be-
mühen, das Wesen des hysterischen Symptoms fortschreitend zu er-
schöpfen. Sie widersprechen einander nicht, sondern entsprechen teils
vollständigeren und schärferen Fassungen, teils der Anwendung ver-
schiedener Gesichtspunkte.
1. Das hysterische Symptom ist das Erinnerungssj'mbol gewisser
wirksamer (traumatischer) Eindrücke und Erlebnisse.
2. Das hysterische Symptom ist der durch „Konversion" er-
zeugte Ersatz für die assoziative Wiederkehr dieser traumatischen Er-
lebnisse.
3. Das hysterische Symptom ist — wie auch andere psychische
Bildungen — Ausdruck einer Wunscherfüllung.
4. Das hysterische Symptom ist die Realisierung einer der Wunsch-
erfüllung dienenden, unbewußten Phantasie.
5. Das hysterische Symptom dient der sexuellen Befriedigung
und stellt einen Teil des Sexuallebens der Person dar (entsprechend
einer der Komponenten ihres Sexualtriebes).
6. Das hysterische Symptom entspricht der Wiederkehr einer
Weise der Sexualbefriedigung, die im infantilen Leben real gewesen
und seither verdrängt worden ist.
7. Das hysterische Symptom entsteht als Kompromiß aus zwei
gegensätzlichen Affekt- und Triebregungen, von denen die eine einen
Partialtrieb oder eine Komponente der Sexualkonstitution zum Aus-
druck zu bringen, die andere dieselbe zu unterdrücken bemüht ist.
8. Das hysterische Symptom kann die Vertretung verschiedener
unbewußter, nicht sexueller Regungen übernehmen, einer sexuellen
Bedeutung aber nicht entbehren.
Unter diesen Bestimmungen ist es die siebente, welche das
Wesen des hysterischen Symptoms als Realisierung einer unbewußten
Zentrlbltt. f. Nervenh. u. Psych. 1907.) Eine Reihe der in der Analyse zu Tage
kommenden Traumen dürfte jedoch auf eine spatere phantastische Umarbeitung
autoerotischer Sexualerlebnisse zurückzuführen sein (Freud, Jahrb., I, pag. 393).
*) Lit. V. Nr. 28.
94 VI- Die Hysterie.
Phantasie am erschöpfendsten zum Ausdruck bringt. Wenn man in
dieser Weise auf psychoanalytischem Wege zur Kenntnis der das
Individuum beherrschenden Komponenten des Sexualtriebes gelangt,
wird man durch das unerwartete Ergebnis überrascht, daß für viele
Symptome die Auflösung durch die ursprünglichste unbewußt-sexuelle
Phantasie nicht genügt, sondern daß man zur Lösung des Symptoms
zweier sexueller Phantasien bedarf, von denen die eine „männlichen",
die andere „weiblichen" Charakter hat, so daß eine dieser Phantasien
einer homosexuellen Regung entspringt. Ein hysterisches Symptom
ist also
9. der Ausdruck einerseits einer männlichen, anderseits einer
weiblichen, unbewußt-sexuellen Phantasie.
Freud glaubt jedoch, diesem theoretisch so bedeutsamen und
auch praktisch nicht zu unterschätzenden Vorkommen zweier entgegen-
gesetztgeschlechtlicher Regungen in einem Symptom keine ähnliche
Allgemeingültigkeit wie den anderen Formeln zusprechen zu können.
Ein Gegenstück zu dieser Doppelgeschlechtlichkeit des hysterischen
Symptoms zeigen gewisse hysterische Anfälle, in denen der Kranke
gleichzeitig beide Rollen der zu Grunde liegenden sexuellen Phantasie
spielt. Diese widerspruchsvolle Gleichzeitigkeit bedingt zum guten Teil
die Unverständlichkeit der doch sonst im Anfalle so plastisch dar-
gestellten Situation und eignet sich also vortrefflich zur Verhüllung der
wirksamen unbewußten Phantasie.
Freud hat nämlich gezeigt, daß auch der Anfall,*) dieses
imposanteste Symptom der Hysterie, nichts anderes ist als eine ins
Motorische übersetzte, auf die Motilität projizierte, pantomimisch dar-
gestellte Phantasie und es läge also nahe, durch Anschauung desselben
zur Kenntnis der in ihm dargestellten Phantasien zu kommen; allein
dies gelingt nur selten. In der Regel hat die pantomimische Dar-
stellung der Phantasie unter dem Einflüsse der Zensur ganz analoge
Entstellungen erlitten wie die halluzinatorische des Traumes, so daß
die eine wie die andere zunächst für das eigene Bewußtsein wie für
das Verständnis des Zuschauers undurchsichtig geworden ist. Der
hysterische Anfall bedarf also der gleichen deutenden Bearbeitung, wie
wir sie mit den nächtlichen Träumen vornehmen. Dabei überzeugt man
sich leicht, daß nicht nur die Mächte, von denen die Entstellung aus-
geht, und die Absicht dieser Entstellung, sondern auch die Technik
*) Lit.-V. Nr. 33.
Wesen des hysterischen Anfalls. 95
derselben die nämliche ist, die uns durch die Traumdeutung bekannt
geworden ist.
Der hysterische Anfall wird wie der Traum unverständlich, un-
durchsichtig, entstellt, irreführend :
1 . durch Verdichtung mehrerer gleichzeitig dargestellter
Phantasien, z. B. eines rezenten Wunsches und der Wiederbelebung
eines infantilen Eindruckes ;
2. durch mehrfache Identifizierung, wenn also die Krauice
die Tätigkeiten beider in der Phantasie auftretenden Personen auszu-
führen unternimmt ;
3. durch die antagonistische Verkehrung der Inner-
vationen, welche der in der Traumarbeit üblichen Verwandlung
eines Elements in sein Gegenteil analog ist, z. B. wenn im Anfall
eine Umarmung dadurch dargestellt wird, daß die Arme krampfhaft
nach rückwärts gezogen werden. Möglicherweise ist der bekannte
Are de cercle der großen hysterischen Attacke nichts anderes als eine
solche energische Verleugnung einer für den sexuellen Verkehr ge-
eigneten Körperstellung durch antagonistische Innervation;
4. durch die Umkehr ung in der Zeitfolge innerhalb der
dargestellten Phantasie, was wiederum sein volles Gegenstück in
manchen Träumen findet, die mit dem Ende der Handlung beginnen,
um dann mit deren Anfang zu schließen.
Das Auftreten der hysterischen Anfälle folgt leicht verständlichen
Gesetzen. Da der verdrängte Komplex aus Libidobesetzung und Vor-
stellungsinhalt (Phantasie) besteht, kann der Anfall wachgerufen werden :
1. assoziativ, wenn der (genügend besetzte) Komplex durch eine
Anknüpfung des bewußten Lebens angespielt wird; 2. organisch,
wenn aus inneren somatischen Gründen und durch psychische Beein-
flussung von außen die Libidobesetzung über ein gewisses Maß steigt ;
3. im Dienste der primären Tendenz, als Ausdruck der „Flucht
in die Krankheit", wenn die Wirklichkeit peinlich oder schreckhaft
wird, also zur Tröstung; 4. im Dienste der sekundären Ten-
denzen, mit denen sich das Kranksein verbündet hat, sobald durch
die Produktion des Anfalles ein dem Kranken nützlicher Zweck er-
reicht werden kann.
Die Erforschung der Kindergeschichte Hysterischer lehrt, daß
auch der hysterische Anfall zum Ersätze einer ehemals geübten und
seither aufgegebenen autoerotischen Befriedigung bestimmt ist.
In einer großen Zahl von Fällen kehrt diese Befriedigung (die Mastur-
96 VI. Die Hysterie.
bation durch Berührung oder Schenkeldruck, die Zungenbewegung
u. dgl.) auch im Anfalle selbst unter Abwendung des Bewußtseins
wieder. Der unwillkürliche Harnabgang darf gewiß nicht für unver-
einbar mit der Diagnose des hysterischen Anfalles gehalten werden ;
er kann die infantile Form der stürmischen Pollution wiederholen.
Übrigens kann man auch den Zungenbiß bei unzweifelhafter Hysterie
antreffen.
Der Bewußtseinsverlust, die Absence des hysterischen Anfalles,
geht aus jenem flüchtigen, aber unverkennbaren Bewußtseinsentgange
hervor, der auf der Höhe einer jeden intensiven Sexualbefriedigung
(auch der autoerotischen) zu verspüren ist. Bei der Entstehung hysteri-
scher Absencen aus den Pollutionsanwandlungen junger weiblicher
Individuen ist diese Entwicklung am sichersten zu verfolgen.
Die Einrichtung, welche der verdrängten Libido den Weg zur
motorischen Abfuhr im Anfalle weist, ist der bei jedermann, auch beim
Weibe bereitgehaltene Reflexmechanismus der Koitusaktion, den wir
bei schrankenloser Hingabe an die Sexualtätigkeit manifest werden
sehen. Schon die Alten sagten, der Koitus sei eine „kleine Epilepsie".
Wir dürfen abändern : Der hysterische Krampfanfall ist ein Koitus-
äquivalent.*)
Im Anschluß hieran sei auf Arbeiten hingewiesen, die epilepsie-
ähnliche Anfälle als hysterisch entlarven lehren und psychoanalytisch
zu behandeln empfehlen (Stekel**), S ad g er ***)); ferner auf Ar-
beiten über „psychasthenische" und „affektepileptische Anfälle" (Bratz,
Stallmann, Rohde) und über gehäufte nichtepileptische Absencen
im Kindesalter (Friedmannf)), welche sämtlich nahelegen, die
Diagnose „genuine Epilepsie" nicht leichthin zu stellen. Dieser noso-
logische Begriff ist ja derzeit in Auflösung.
Im Anschluß an die Symptome der Hysterie seien auch die so-
genannten „nervösen Störungen", die in der Praxis eine große
Rolle spielen, abgehandelt.
Sieht man von den unbestimmteren Arten, „nervös" zu sein, ab,
so gehörnn die nervösen Störungen nach Freud dem Gebiete der
*) Vgl. Cohn: „Zum Verständnis der Hysterie". (D. med. Presse, 1912, Nr. 2.)
**) „Die psychoanalytische Behandlung der Epilepsie." Zentralbl. f. Psa., 1, 5.
***) „Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absencen." Jahrb.,
IL Bd., S. 59, 1910.
|) Zeitschr. f. die ges. Neurol., 9. Bd., 2. H., 1912.
Psychogenes Erbrechen, psychogene Impotenz. 97
Sexualneurosen an. Die Schilderung der Aktualneurosen umfaßte
bereits eine reichliche Anzahl psychischer und somatischer nervöser
Störungen, für die wohl eine toxische Ursache anzunehmen ist:
neurotische Angst, Reizbarkeit, nervöses Herzklopfen, Kopf- oder
Magenschmerz, Pseudorheumatismen, Schweiße, Zittern, Diarrhoen.
Schwindel und vieles andere.
Diesen Neurosen des Herzens, Darmes, „vasomotorischen Neuro-
sen" usw. stehen gegenüber oder gesellen sich auch im einzelnen
Falle recht oft „psychogene" Symptome, die — wenn isoliert —
als monosymptomatische Hysterie imponieren. So hat z. B. ein ner-
vöser Ekel, nervöses Erbrechen, Dyspepsie („Magenneurose") denselben
Mechanismus der Entstehung wie dasselbe Symptom im Verlaufe
einer Hysterie.*) Wenn einem „nervösen Erbrechen" anscheinend
auch ein „somatisches Entgegenkommen" und ein rezenter Anlaß deter-
minierend zusteht, ja selbst wenn gelegentlich eine Heilung durch
Abreagieren des rezenten Erlebnisses zu gelingen scheint, so ist da-
hinter doch eine Determinierung aus der Kindheit aufzudecken, welcher
in letzter Linie eine erogene Verstärkung der Mundverdauungszone zu
Grunde liegt.
Dasselbe gilt für die psychische Impotenz, bei der ja
oft ein rezenteres Erlebnis, ein einmaliger Mißerfolg, einen späteren
Erfolg durch Angst zu verhindern scheint, während tatsächlich un-
bewußte infantile Komplexe, namentlich der Familienkomplex, zu
Grunde liegen (unbewußte Fixierung der aus Zärtlichkeit und Sinn-
lichkeit kombinierten Libido auf Mutter und Schwester), und eine
Übertragung der Lidido auf spätere Sexualobjekte verhindern.**)
Freilich spielt eine organische Schwäche des Sexualsystems und, wie
Steiner***) und Ferenczif) zeigen konnten, in der Regel auch
*) Hieher gehören die in der Praxis so wichtigen, oft monatelangen Appetit-
störungen der Kinder. Idiosynkrasien gegen gewisse Speisen sind gleichfalls oft
psychogenen Ursprungs. (Vgl. Hoch singe r: „Ernälirungstörungen bei Säuglingen."
Berl. Kl. Woch., 1910, Nr. 40.)
**) Vgl. Freud: „Über die allgemeinste Erniedrigung dos
Liebeslebens." Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II.
Jahrbuch, IV, Bd. I, 1912.
***) „Die funktionelle Impotenz des Mannes und ihre Behandlung." Wiener
medizinische Presse, 1907, Nr. 42 und „Die psychischen Störungen der ruännl.
Potenz, ihre Tragweite und ihre Behandlung" (Deuticke, Wien und Leipzig, 1913).
f) „Analyt. Deutung und Behandlung der psychosexuellen Impotenz beim
Manne." Psychiatr.-Neurolog. Wochenschr., Nr. 3ö, 1908.
n i t g c h in a n n, Freuds Neurouenlehre. 2. Aufl. 7
T
98
VI. Die Hysterie.
eine Aktualneurose mit. Die psychoanalytische Behandlung ist bei
der psychischen Impotenz erfolgreich, doch ist daneben der aktuelle
Anteil gleichfalls in Betracht zu ziehen.*)
Beim Weibe entspricht diesem Zustand die Sexualanästhesie,
die sehr häufig die Hysterie begleitet, aber auch sonst so ungeheuer
verbreitet ist, daß man sie mit unserem, den Mädchen gegenüber allzu
puritanischen Erziehungssystem in Zusammenhang bringen muß. Die
Sexualanästhesie konnte Freud zum Teil darauf zurückführen, daß
nach starker masturbatoriscker Reizung der Klitoris, welche in der
Kindheit vorfiel, die normalerweise eintretende Übertragung der
Klitorissexualität auf die benachbarten weiblichen Teile (Vagina), wie
sie zur Empfindlichkeit beim normalen Sexualakt erforderlich ist, sich
verzögert oder ganz ausbleibt. Auch normalerweise nimmt diese
Übertragung oft eine gewisse Zeit in Anspruch, während welcher das
junge Weib anästhetisch ist. Es ist bekannt, daß die Anästhesie der
Frauen häufig nur eine scheinbare, eine lokale ist. Sie sind anästhetisch
am Scheideneingang, aber keineswegs unerregbar von der Klitoris oder
selbst von anderen Zonen aus. Zu diesen erogenen Veranlassungen
der Anästhesie gesellen sich dann noch die häufigen psychischen,
gleichfalls durch Verdrängung bedingten. Hieher gehört die fakultative
psychische Anästhesie der Frau gegenüber verschiedenen Männern,
wenn sie sich auch nicht durch Potenz und Liebeskunst unterschieden
haben. Es gibt übrigens eine ganze Reihe verschiedener Grade der
Anästhesie von den leichten, im Verlauf der Ehe, namentlich nach
Geburten verschwindenden Zuständen bis zu den totalen Dyspareunien
bei Hypo- und Aplasie des Genitales.**)
Die nervösen Störungen haben für die gesamte Medizin eine
eminent praktische Bedeutung und werden von Freuds Auffassung
her außer der Neurologie die verschiedensten Spezialfächer, z. B. die
innere Medizin, die Augenheilkunde, die Ohrenheilkunde, u. a. — die
so oft den Begriff „nervös" anwenden — , in wertvollster Weise be-
fruchtet. Es wird sich zeigen, daß kein Arzt psychoanalytische
Kenntnisse und vor allem die Gesichtspunkte der Psychogenität und
der Sexualität, zumal für die Differentialdiagnose wird entbehren
können. Die verschiedensten Neuralgien, Pseudo-Rheumatismen, Tics,
*) Eine auf anderem Wege, also suggestiv erreichte Heilung kann nicht als
Gegenargument gegen eine komplizierte Psychogenese angesehen werden.
**) Vgl. auch Otto Adler: „Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des
Weibes." 2. Aufl., Berlin 1911.
Psychogene Störungen. 99
Dyspepsien, Fälle von Asthma nervosum, Ohrensausen, Hautjucken,
Obstipation, Vaginismus, viele Fälle von Schreibkrampf, Kopfschmerz,
Hyperemesis gravidarum usw. sind psychisch bedingt und psycho-
analytisch beeinflußbar. Es liegen über viele dieser Krankheiten schon
Arbeiten vor, welche auf die psychogene Ätiologie hinweisen und
psychische Behandlung empfehlen. Einige seien hier um des Fort-
schrittes der Erkenntnis der Psychogenese und Psychotherapie angeführt,
wenn sie auch nicht alle auf dem Standpunkt der Psychoanalyse
stehen oder das psychosexuelle Moment genügend berücksichtigen :
„Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie" von A.Adler
(Zentralbl. f. Psychoanal., 1910, 1. H.).
„Über nervöse Dyspepsie" von Dreyfuß (Jena, 1908. G. Fischer).
„Zur Pathogenese der Magendarmneurosen" von A. Meisl (Wien.
klin. Rundsch., 1911).
„Über den Pruritus cutaneus universalis" von F. Winkler (Monatsh.
f. prakt. Derrnat., 1911).
„Die psychogene Ätiologie und die Psychotherapie des Vaginis-
mus'' von Walthard (Münch. med. Wochenschr., 1909).
„Studies of the genesis of the cramp of writers and tclegraphors"
von Williams (Journ. f. Psychol. u. Neur., 1912).
„Über sexualsymbolische Verwertung des Kopfschmerzes' 4 von
J. Sadger (Zentralbl. f. Psychoanal., II, 1912).
„Beiträge zur Kenntnis der Hyperemesis gravidarum" von II. E.
Müller (Psych .-neurol. Wochenschr., 10. Jahrg.).
„Psychogene Erscheinungen an den Luftwegen" von Grünwald
(Münch. med. Wochenschr., 56. Jahrg.).
„Über Erwartungsneurosen" von Salzer (Münch. med. Wochenschr.
56. Jahrg.).
„Über Herzneurosen" von Treupol (Münch. med. Wochenschr., 1909).
„Einige Bemerkungen über das psychogene Moment bei Keuch-
husten" von Oberholzer (Korr.-B. f. Schweizer Ärzte, 1912).
„Die Rolle der Psyche bei der Bergkrankheit . . ." von Widmer
(Münch. med. Wochenschr., 1912, Nr. 17).
„Über Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen"
von Berts chinger (All. Z. f. Psych., 1912, 5. H.).
„Psychische Beeinflussung der Menstruation" von E. Marcus (Zontr.
f. Psa., H, 12).
„Über den Mechanismus psychogener Erkrankungen bei Kindern"
von Hamburger (Wien. kl. Wochenschr., 1912).
„Die Determinierung phys. und psych. Symptome im Unterbewußt-
sein" von Frank (Korr. f. Schweiz. Ä., 1911).
Es muß auf diesem Gebiete eine Entscheidung oder vielmehr
ein Kompromiß zu stände kommen, zwischen dem derzeit von den
Internisten vielfach vertretenen Standpunkt, daß z. B. das Asthma
7*
^ 00 VI. Die Hysterie.
bronchiale (nervosum) eine Toxikose sei, einer „exsudativen
Diathese« entspreche, während die psychoanalytische Beobachtung m
so ausgezeichneter Weise die psychologischen Zusammenhange auf-
zudecken vermag. So sind Anfalle von Asthma bronchiale und Zu-
stände, wie Migräne, vasomotorische Ödeme u. ä, die es gelegentlich
vertreten können, in ihren Terminen oft sichtlich psychisch bedingt.
Das Asthma ist ein wichtiges Symptom der Angsthysterie (übrigens
auch der Angstneurose). Es finden sich bei St ekel*), Stegmann-*),
S ad g er***) u.a. wertvolle Aufschlüsse über die psychosexuelle Natur
und die Heilung sowohl des einzelnen Asthmaanfalles, wie der
Krankheit überhaupt auf psychischem Wege. Eines steht fest, daß die
toxischen Zustände für psychogene Komplikationen überaus geeignet
sind. Doch ist die schwierige Frage, wie sich Organisch-Toxisches
und Psychogenes in die Verursachung der Symptome teilt, sowie die
schärfere Begriffsabgrenzung von „hysterisch", „psychogen" und
„(toxisch-)neurotisch u , noch unentschieden.
Immerhin hat F r e u d in einem Artikel über „psychogeneSeh-
s t ö v u n g e n u f) auf solche Störungen hingewiesen, welche eine organisch-
toxische neben der psychogenen Grundlage haben. Wenn ein Organ,
welches beiden Grundtrieben, dem Ich- und dem Sexualtrieb, dient,
seine erogene Rolle steigert, so ist ganz allgemein zu erwarten, daß
dies nicht ohne Veränderungen der Erregbarkeit und der Innervation
abgehen wird. Wenn wir sehen, daß ein Organ, welches sonst der
Sinneswahrnehmung dient, z. B. das Sehorgan, sich bei Erhöhung
seiner erogenen Rolle geradezu „wie ein Genitale gebärdet", werden
wir auch toxische Veränderungen in demselben nicht für unwahr-
scheinlich halten. Für beide Arten der Funktionsstörungen infolge
der gesteigerten erogenen Bedeutung, sowohl der psychischen wie der
toxischen Ursprunges, möchte Freud, in Ermanglung eines besseren,
den alten, wenn auch unpassenden Namen „neurotische" beibehalten,
respektive sie als „sexual-neurotische tv Störungen bezeichnen.
* *
*
In den Rahmen des Versuches einer zusammenfassenden Hystene-
darstellung fällt auch die Behandlung des Problems der hyste-
*) „Nervöse Angstzustände " (1. c).
»*) Steg mann: „Zur Ätiologie des Asthmas bei Kindern." Med. Klinik,
1908, 29. Derselbe: „Psychotherapie bei Asthma bronchiale.« Münchner med.
Wochenschr, 1908. Vgl. auch Sänger, Brügelmann G°ldsoheider.
***) „Ist das Asthma bronchiale eine Sexual neorose ?" (Zentral!)!, f. Psa., 1, li. ö-b )
+) Lit.-V. Nr. 38.
Die Angstliysterio. 101
rischen Angst. Der Angst als Hauptsymptom einer Aktualneurose
sind wir bereits bei der Darstellung der Angstneurose begegnet, wo
ausgeführt wurde, daß der Mechanismus der Angstneurose, in der
Ablenkung der somatischen Sexualerregung vom Psychischen und einer
dadurch verursachten abnormen Verwendung dieser Erregung zu
suchen sei. Es handelt sich dabei um eine Angst, welche eine
psychische Ableitung nicht zuläßt. Klinisch zeigen sich allerdings die
Fälle von Angstneurose sehr häufig auch mit psychisch ableitbarer
Angst verknüpft. Es führte dies zur Aufstellung des Begriffes der
„Angsthysterie" durch Freud, einer Krankheitserscheinung, der
S t e k e 1 den größten Teil seines Buches über „Nervöse Angstzustände und
ihre Behandlung" gewidmet hat. In diesen Fällen entsteht Angst nicht nur
auf somatischem Wege, sondern ein Teil der unbefriedigten Libido besetzt
unbewußte Komplexe und durch deren Verdrängung entsteht die neuro-
tische Angst. Wie die Psyche auf eine Bedrohung von außen mit normaler
Angst reagiert, so könnte man sagen, es wehre sich bei der neurotischen
Angst das Ich gegen einen inneren Feind. Es handelt sich in diesen
Fällen um einen psychischen Mechanismus, welcher mit dem der
Hysterie identisch ist, nur daß er nicht zur Konversion ins Körper-
liche, sondern zur Angstentwicklung führt. Die Angst ist, gleichsam
das einzige Symptom, in welches hier die psychische Erregung kon-
vertiert ist. In den praktisch vorkommenden Krankheitsfällen kann
sich diese „Angslhysterie" mit der „Konversionshysterie" in beliebigem
Ausmaße vermengen: es gibt Konversionshysterie ohne jede Angst,
sowie bloße Angsthysterie, die sich nur in Angstempfindungen und
Phobien äußert. Schon in seiner Arbeit über die Angstneurose hat
Freud auf die häufige Kombination der Hysterie mit der Angstneuroso
hingewiesen. Die Angstueurose liefert das somatische Entgegenkommen
für die Angsthysterie, bringt das Erregungsmaterial, welches dann
psychisch ausgewählt und umkleidet wird: der Kern des psycho-
neurotischen Symptoms — das Sandkorn im Zentrum der Perle —
wird von der somatischen Sexualerregung gebildet, im Grunde einem
Stückchen nicht abgeführter Koituserregung. In diesem Sinne meint
Freud die Angstneurose geradezu als das somatische Seitenstück der
Hysterie ansprechen zu können. Hier wie dort Anhäufung von Er-
regung, worin vielleicht die Ähnlichkeit der Symptome gegründet ist.
Hier wie dort eine psychische Unzulänglichkeit, derzufolge abnorme
somatische Vorgänge zu stände kommen. Hier wie dort tritt an
Stelle einer psychischen Verarbeitung eine Ablenkung der Erregung in
i Q2 VI. Die Hysterie.
das Somatische ein; der Unterschied liegt bloß darin, daß die Erregung,
in deren Verschiebung sich die Neurose äußert, bei der Angstneurose
eine rein somatische, bei der Hysterie eine psychische ist.
Es gibt also eine hysterische Angs t, welche psychisch ableit-
bar ist In diesen Fällen wird eine psychische libidinöse Erregung,
eine Phantasie, im Kampfe mit den Ichtrieben verdrängt, findet ihren
Weg durch Regression zurück auf ein pathogenes infantiles Unbewußtes,
das'jedoch nicht wie sonst in körperliche Symptome konvertiert wird,
sondern wobei die libidinöse Erregung offenbar auf einem infantil ge-
bahnten Weg in Angst verwandelt wird. Neurotisch gesteigerte Angst
finden wir ja häufig bei Kindern. Eine sozusagen normale Angst sehen
■wir bei ihnen entstehen, wenn sie abends, namentlich im Dunkeln, die
"eliebte Person vermissen. Eine neurotische Angst entsteht beim Kinde,
wenn es plötzlich mit dem sexuellen Problem in Berührung gerät,
ohne es psychisch bewältigen zu können. Der häufigste pathologische
Ausdruck dieser Kinderangst ist der Pavor nocturnus, als dessen
Grundlage sich regelmäßig ein im weitesten Sinne sexuelles Erlebnis
nachweisen läßt. Wenn ein psychoanalytisch erfahrener Arzt bei
diesen Kindern nach dem Inhalte ihrer schreckhaften Träume oder
Phantasien forscht und der Bedeutung des sozusagen somnambulen
Zustandes, in dem sie sich zuweilen befinden, nachgeht, so läßt sich
das Verdrängte regelmäßig aufzeigen. Die häufigste Neurose des
Kindesalters ist ja die Angsthysterie,*) die überhaupt als die häufigste
aller psychoneurotischen Erkrankungen anzusehen ist. Als ein
wesentlicher Charakter der Angsthysterie läßt sich hervorheben, daß
sie, sich selbst überlassen, sich immer mehr zur „Phobie" entwickelt;
am Ende kann der Kranke klinisch angstfrei geworden sein, aber nur
auf Kosten von Hemmungen und Einschränkungen, denen er sich
unterwerfen mußte. Es gibt bei der Angsthysterie eine von Anfang
an fortgesetzte psychische Arbeit, um die frei werdende Angst psychisch
zu binden, aber diese Arbeit kann weder die Rückverwandlung der
Angst in Libido herbeiführen, noch an dieselben Komplexe anknüpfen,
von denen die Libido herrührt. Es bleibt ihr nichts anderes übrig,
als jeden der möglichen Anlässe zur Angstentwicklung durch „einen
psychischen Vorbau" von der Art einer Vorsicht, einer Hemmung,
eines Verbotes zu sperren, und diese Schutzbauten sind es, die uns
als Phobien erscheinen und für unsere Wahrnehmung das Wesen der
""^IFreuds „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben«, Jahrbuch,
I, und Jung „Ober Konflikte der kindlichen Seele", Jahrbuch, II.
Hysterische Phobien. 10ü
Krankheit ausmachen. Die Art dieser Hemmung, ob es nun eine Geh-
störung ist, oder eine Störung an der Mundzone (Eß-, Sprechstörung)
usw. wird davon abhängen, auf welche konstitutionell betonte und
erogen gesteigerte Organfunktion sich die Angst fixiert. Zur Phobie
wird die Angst sozusagen, wenn sie sich auf einen bestimmten Komplex
festlegt. Die häufigste der hysterischen Phobien ist die Platzangst
(Agoraphobie), für die es charakteristisch ist, daß sie zu keiner abso-
luten Hemmung führt, sondern nur dazu, daß der Patient allein
nicht gehen kann, während er es in Gesellschaft bestimmter Personen
über sich zu bringen vermag.*) Oft ist ein Angstanfall auf der
Straße die Veranlassung für die Herstellung der Platzangst; das
Symptom ist also gleichsam konstituiert worden, um den Ausbruch
der Angst zu verhüten; die Phobie ist der Angst wie eine Grenz-
festung vorgelegt. Der Platzangst scheinen verschiedene sexuelle und
ehrgeizige Wünsche, die eine Verdrängung ins Unbewußte erfahren
haben, zu Grunde zu liegen. Meist sind es erotische Versuchungen,
denen sich bei Männern auch ehrgeizige Phantasien hinzugesellen.
Die symbolische Bedeutung gewisser Redewendungen, wie „es weit
bringen", „zu etwas kommen", „auf eigenen Füßen stehen" usw.,
spielt häufig überdeterminierend mit ; ähnlich auch „mit einem gehen",
„zu weit gehen", „durchgehen". Freud hat in einer aphoristischen
Bemerkung auf die tieferen Zusammenhänge solcher Fälle von neuro-
tischer Gehstörung und Baumangst mit der ursprünglich mit
sexuellen Erregungen und Lustgefühlen verknüpften Bewegungslust
des Kindes hingewiesen.**) Eine andere, schon für die oberflächliche
Betrachtung mit sexual-ätiologischen Momenten in Zusammenhang
stehende angsthysterische Störung ist die E r y th r o p h o b i e (Errötungs-
angst), der häufig beschämende Selbstvorwürfe namentlich über Mastur-
bation oder durchgemachte Syphilis zu Grunde liegen.***) Auch vor-
zeitiges, den Eltern gegenüber geheimgehaltenes Sexualwisseu und das
^schlechte Gewissen" darüber scheinen eine Rolle zu spielen. Ebenso
*) Bei Platzangstkranken findet sich nicht selten das Gefühl der
Fremdheit (auch mit dem des Traumhaften verbunden), das offenbar mit der
neurotischen Angst in innigem Zusammenhang steht. Vgl. darüber Lüwenfeld,
Stekel und die (auch die Literaturangaben zusammenfassende) Arbeit von
0. Juliusburger (Monatsschr. f. Psych, u. Neurol., Bd. 32, H. 3, 1912).
**) Zur Muskeltätigkeit als Quelle sexueller Erregung in der Kinderzoit
vgl. „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (2. Aufl., S. 54 f.).
***) Die organische Prädisposition besteht in der konstitutionell gesteigerten
Ansprechbarkeit der Vasomotoren.
iqa VI. Die Hysterie-
können Gefühle der Zurücksetzung und Wut beteiligt sein (Adler).
Führt diese Errötungsangst zur Hemmung in der Lebensbetätigung,
hält sie z. B. davon ab, in Gesellschaft zu gehen, so wird sie zur
wirklichen Phobie.
Über Berufsneurosen, über Bühnenangst, Prüfungsangst, Stottern,
auf Angst beruhende psychische Impotenz u. ä. m. hat St ekel in
seinem Buche an einem reichen kasuistischen Material psychoanalytische
Aufklärungen zu geben versucht.*)
Ohne die Rückführung der neurotischen Angst auf Verdrängung
libidinöser Hegungen läßt sich auch der Angsttraum, eine fast
allgemein menschliche Erfahrung, die auch ein häufiges Symptom der
Neurose ist, nicht verstehen. Die Lehre vom Angsttraum (peinlichen
Traum) gehört nicht zum Problem des normalen Traumes, sondern
zum Angstproblem. Der Angsttraum scheint ja zunächst dem Grund-
satz der Traumtheorie, wonach jeder Traum einen Wunsch erfüllt
darstellt, zu widersprechen. Hat man sich jedoch klar gemacht, was
hinter dem manifesten, als Angsttraum imponierenden Trauminhalt an
latentem psychischen Gehalt steckt, so fällt der Einwand gegen die
Wunschtheorie in nichts zusammen. Es zeigt sich nämlich bei der
Deutungsarbeit, daß die Angst, die wir im Traume empfinden, nur
scheinbar durch den Inhalt des Traumes erklärt ist. Die Angst ist,
wie schon früher bemerkt, an die sie begleitende Vorstellung nur
angelötet und stammt aus anderer Quelle. Die Deutung solcher
Träume ergibt als deren Inhalt einen verdrängten Sexualwunseh,
dessen Entstellung im Traume mißlungen ist. Auf diesen Durchbruch
des Sexuellen im Traume, der auch den Schläfer zu wecken im stände
ist, kann der Träumer nur reagieren wie der Neurotiker im Wachen,
nämlich mit Angst. In diesem Sinne wäre die Darstellung des Un-
bewußten im Angsttraume sogar eine besonders gelungene. Die
Angst in diesen Träumen ist also meist eine psychoneurotische, aus
psychosexuellen Erregungen stammende, wobei die Angst verdrängter
Libido entspricht.**) Dann hat diese Angst, wie der ganze Angsttraum,
*) Vgl. zum Stottern u.a. auchAppelt: „Stammering and its permanent
Cure." London, Methuen & Co. und Scripture: „Stuttering and Lisping".
New- York, 1912. — Ferner die Psychoanalyse eines Stotterers von Dattner
(Zentralbl., f. Psa., II, S. 18).
**) Über die gegensätzliche Beziehung der Angstträume zu den Pollutions-
träumen vgl. Rank (Jahrb., II, 520).
Der Anasttraum.
*©
105
die Bedeutung eines neurotischen Symptoms, und wir stehen an der
Grenze, wo die wunscherfüllende Tendenz des Traumes scheitert.*)
Gehäuft finden sich die Angstträume bei der Angstneurose und
Angsthysterie, wo sie folgenden charakteristischen Inhalt zeigen:**)
Das von. Angst erfüllte Traumbild läßt den (meist weiblichen) Patienten
von einem großen und gefährlichen Tiere bedrängt werden, welches
droht, sich auf die Betreffende zu stürzen ; meist handelt es sich dabei
um Pferde, Fleischerhunde oder wilde Tiere ; charakteristischerweise
ist es oft ein Hengst oder ein Stier, also Tiere, die seit jeher als
Symbole der potenzkräftigen tierischen Männlichkeit gelten. Es liegt
nahe, in diesen Tiergestalten die vom bewußten Denken verbotenen
Sexualbefriediger symbolisiert zu sehen. Eine noch deutlicher darauf
abzielende Symbolik spricht aus den Träumen von Einbrechern, die
mit Revolvern, Dolchen oder ähnlichen Instrumenten bewaffnet auf die
betreffende Träumerin eindringen. Das Aufschrecken aus dem Schlafe
infolge solcher ängstlicher Träume***) findet man daher häufig bei
Witwen, unbefriedigten Frauen usw. als eine charakteristische Art von
Schlafstörung. S t e k e 1 hebt noch besonders hervor den angstvollen Traum
vom Tode oder dem Töten f) des Kindes, welches dem Ehebruch oder
der Scheidung hindernd im Wege steht, wie überhaupt Todes- und
Leichenträume, insbesondere nahestehender Personen, für die Angst-
hysterie typisch sind.
* *
*
Mangels klinischen Materials hatte Freud relativ wenig Ge-
legenheit, sich mit ausgesprochenen Psychosen zu beschäftigen;
doch rechnet er auch diese zu dem Gebiete seiner Forschungen. Die
*) In anderen Angstträumen ist die Angstemphndung somatisch gegeben
(wie z. B. bei Lungen- und Herzkranken) und wird dann dazu benützt, energisch
unterdrückten Wünschen zur Erfüllung im Traume zu verhelfen bei Individuen,
deren Träume schon aus psychischen Motiven Angstentbindung zur Folge gehabt
hätten.
**) Vgl. dazu Ferenczi: „The Psychoanalysis of Dreains." American.
Journal of Psychology, April 1910, pag. 316, sowie Stekels zitiertes Buch.
***) Kürzlich hat E. Jones auch die Alpträume vom psychoanalytischen
Standpunkte zu durchleuchten versucht: „OntheNightmare"(Amer. Jour.of Insanity,
January 1910). Die Beziehungen des Alptraumes zum mittelalterlichen Aberglauben
(Hexe, Vampir, Teufel) hat Jones (Sehr. z. angew. Seelenk., Heft 14) ausführlich
dargestellt.
t) Dieser verdrängte Wunsch kann sich auch als Zwangsimpuls äußern
das Kind zu verletzen oder zu töten. Vgl. Lit.-V. Nr. G.
^Qg VI. Die Hysterie.
wenigen Fälle, an die er selbst mit den bei den Psyehoneurosen ge-
wonnenen Einsichten herangetreten ist, haben höchst wichtige Auf-
klärungen gebracht und namentlich an der Züricher Klinik Anregungen
zu wertvollen Arbeiten gegeben. Durch das Dogma, geistige Krank-
heiten seien Geliirnkrankheiten, und durch eine hauptsächlich der
Nosographie gewidmete wissenschaftliche Arbeit, wird der psycho-
logische Weg zur Aufklärung der Psychosen wenig betreten. Freud
schließt sich Griesinger an, der den psychischen Ursachen die
überwiegende Bolle bei der Entstehung von Psychosen zuschrieb.
Freud unterschied*) nach den von ihm analysierten Fällen zwischen
Überwältigungspsychosen und Abwehrpsychosen. Als
Überwältigungspsychosen faßte er jene Fälle auf, in denen das Un-
bewußte das Bewußte gewaltsamerweise vollkommen überwältigt hat.
Freud berichtet von einem solchen, im Verlaufe einer Hysterie auf-
getretenen Fall einer halluzinatorischen Verworrenheit (wie
er deren einige gesehen hat), in welcher die Person (im Sinne
Grie Singers) die Erfüllung ihrer verdrängten Wünsche halluzi-
natorisch darstellte, indem sie den vergeblich für einen bestimmten
Tag erwarteten Bewerber plötzlich halluziniert, ihm entgegeneilt, ihn
begrüßt und durch zwei Monate in dem glücklichen Traume lebt, er
sei da, immer um sie usw. — Die Patientin hat also die „unverträgliche
Vorstellung" des Ausbleibens eines ersehnten Bewerbers in energischer
und in gewissem Sinne erfolgreicher Art „abgewehrt", indem das Ich
die unerträgliche Vorstellung mitsamt ihrem Affekt verwirft und sich
so benimmt, als ob die peinliche Vorstellung nie an das Ich herangetreten
wäre. Allein in dem Moment, in dem dies gelungen ist, befindet sich
die Person bereits in einer Psychose, die man wohl nur als „halluzi-
natorische Verworrenheit" klassifizieren kann. Das Ich reißt sich also
von der unverträglichen Vorstellung zwar los, diese hängt aber un-
trennbar mit einem Stück der Realität zusammen, und indem das Ich
diese Leistung vollbringt, hat es sich auch von der Realität ganz
oder teilweise losgelöst. Das ist aber nach Freud die Bedingung,
unter der eigenen Vorstellungen halluzinatorische Lebhaftigkeit zu-
erkannt wird.
Im Gegensatz zu dieser Überwältigung en masse ist bei den A b-
wehrpsychosen (Paranoia, Dementia paranoides) die Analogie zur
*) Siehe Lit.-V. Nr. 3. — Eine Zunahme der Beachtung der Psychogenität
gewisser Psychosen macht sich übrigens in der modernen psycliiatrischen Literatur
bemerkbar. (Vgl. die Literatur über Gefängnis-Psychosen, Pseudologia phantastica u. a.).
Über Psychosen. 107
Hysterie eine vollkommenere, so daß auch im Anfangsstadium diese
Fälle oft nicht scharf von der Hysterie und anderen Neurosen unter-
schieden werden können. In diesen Fällen von Abwehrpsychose sind
die ganze Vorgeschichte, der Entwicklungsgang, die Genese, die
Komplexe, die infantile Verdrängung, die gleichen wie in Fällen von
Hvsterie. Es scheint, daß die verschiedenen Krankheitsbilder der Ab-
wehrpsychosen sich, abgesehen von der speziellen Disposition, durch
verschiedene Mechanismen charakterisieren, die erst später ins Spiel treten.
Freud hat 1896 einen Fall einer chronischen halluzinatorischen
Paranoia geschildert,*) an welchem er erweist, daß eine Gruppe
von Fällen, die zur Paranoia gehören, ebenso wie Hysterie und Zwangs-
neurose aus der Verdrängung peinlicher Erinnerungen hervorgehen,
und daß ihre Symptome durch den Inhalt des Verdrängten in der
Form determiniert werden. Auch in diesem Falle erwies sich das
Verdrängte als ein sexuales Kindererlebnis (Phantasie), dessen Inhalt
aber nicht erst auf dem mühseligen Wege analytischer Deutungsarbeit
eruiert werden mußte, sondern das die Kranke — wie in allen Fällen
von Paranoia — ganz unverhüllt äußerte. In der Paranoia drängt
sich eben vieles zum Bewußtsein durch, was wir bei Normalen und
Neurotikern erst durch die Psychoanalyse als im Unbewußten vor-
handen nachweisen. So decken sich die durch Analyse bewußt zu
machenden Phantasien der Hysteriker von sexuellen und grausamen
Mißhandlungen z. B. gelegentlich bis ins einzelne mit den Klagen
verfolgter" Paranoiker. Es ist bemerkenswert, aber im Sinne der
Freudschen Sexualtheorie nicht unverständlich, wenn der identische
Inhalt uns auch als Realität in den Veranstaltungen Perverser zur Be-
friedigung ihrer Gelüste entgegentritt.
Eine neue und überraschende Tatsache ergab sich, als Freud
später Fälle von Paranoia mit der Homosexualität in Zu-
sammenhang bringen konnte, was er insbesondere durch seine Deu-
tung der von einem hochintelligenten Patienten selbst gelieferten Kranken-
geschichte im Detail ausführen konnte**) und was Jung sowie
Ferenczi***) aus ihrem Material bestätigen konnten. Es handelt sich
9
•) Violleicht richtiger als Dementia paranoides zu bezeichnen. Lit.-V. Nr. 8.
•^„Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiogra-
phisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)«.
Lit.-V. Nr. 46.
***) „Über die Rolle det Homosexualität in der Genese der Paranoia," (Jahrb.
f. Psa., III, 1911, S. 101 ff.) — Derselbe: „Reizung der analen erogenen Zone als
jQg VI. Die Hysterie.
dabei nicht um Homosexualität im vulgären Sinne, sondernder paranoische
Charakter liegt darin, daß ehemals s u b 1 i m i e r t e homosexuelle Geftihls-
beziehungen (zum Vater, zu Brüdern, Vorgesetzten, soziale Beziehungen
überhaupt) mit unsublimierter Libido besetzt werden, deren sich das Ich in
der Form des Verfolgungswahnes zu erwehren sucht. Aus dem Studium
einer Reihe Fälle von Verfolgungswahn hat sich ergeben, daß die ver-
folgende Hauptperson vor der Erkrankung der Gegenstand besonderer
Sympathie seitens des Patienten war. Durch eine Umkehrung dieses
mit dem Ich unverträglichen libidinösen Vorstoßes in sein Gegenteil,
nämlich in Haß, wurde „der Ersehnte zum Verfolger, der Inhalt der
Wunschphantasie zum Inhalt der Verfolgung". Dies wird dadurch
möglich, daß der Patient die aus verdrängten Liebesgefühlen erstandenen
Haßregungen durch den Mechanismus der Projektion*) auf
seine Umgebung wirft. Statt dann diesem Haß nachzugeben und
Feindseliges zu unternehmen, läßt die Abwehr ihn selbst von dein
ehemals Geliebten verfolgt, werden, wodurch die im Dienste der
Abwehr vollzogene Gefühlsumwandlung sich vor ihm selbst recht-
fertigt. Freud gibt zu, daß diese Zurückfuhrung der Paranoia auf die
Abwehr homosexueller Wunschphantasien mangels zahlreicher Unter-
suchungen zunächst nur auf einen einzigen Typus der Paranoia ein«
zuschränken wäre, es bleibt aber merkwürdig, daß die verschiedenen
Hauptformen der Paranoia des Mannes alle als Widerspruch gegen
den einen Satz „Ich (ein Mann) liebe ihn (einen Mann)" dargestellt
werden können : **)
„Dem Satze : Ich liebe ihn (den Mann), widerspricht a) der Ver-
folgungswahn, indem er laut proklamiert:
auslösende Ursache der Paranoia". (Zentralbl. f. Psa , I, 1911, S. 757 ff.) - Zum
Thema vgl anch Morien au-Beauchant (Poitiers): „Homosexualität und
Paranoia",' ebda., II, 1912, S. 174 ff. Femer Hitschmann: „Swedenborgs Paranoia."
(Zentralbl., III, 1.)
*) Die Projektion, über die Freud sich Ausführlicheres darzulegen vorbehält,
ist nicht etwa ein für die Paranoia charakteristischer Seelenmechamsmus, sondern er
nimmt einen regelmäßigen Anteil an unserer Einstellung zur Außenwelt, ist also
ein allgemein psychologisches Problem. Projektion heißt kurz definiert: „eine
innere Wahrnehmung wird unterdrückt und zum Ersatz für sie kommt ihr Inhalt,
nachdem er eine gewisse Entstellung erfahren hat, als Wahrnehmung von außen
zum Bewußtsein".
**) Die gleiche Auffassung gilt für die Paranoia der Frau, wie Freuds erster
Fall (Lit.-V. Nr. 8) und einige neuere Beobachtungen lehren.
Die Paranoia. 109
Ich liebe ihn nicht — ich hasse ihn ja. Dieser Widerspruch
kann aber beim Paranoiker nicht in dieser Form bewußt, werden.
Somit verwandelt sich der Satz : Ich hasse ihn ja, durch Projektion
in den anderen : Er haßt (verfolgt) mich, was mich dann berechtigen
wird ihn zu hassen. Das treibende unbewußte Gefühl erscheint so
als Folgerung aus einer äußeren Wahrnehmung:
Ich liebe ihn ja nicht — ich hasse ihn ja — weil er mich
verfolgt. Die Beobachtung läßt keinen Zweifel darüber, daß der
Verfolger kein anderer ist als der einst Geliebte.
b) Einen anderen Angriffepunkt für den Widerspruch nimmt die
Erotomanie auf, die ohne diese Auffassung ganz unverständlich
bliebe.
Ich liebe nicht ihn — ich liebe ja sie. Und der nämliche
Zwang zur Projektion nötigt dem Satze die Verwandlung auf: Ich
merke, daß sie mich liebt.
Ich liebe nicht ihn — ich liebe ja sie — weil sie mich
liebt. Viele Fälle von Erotomanie könnten den Eindruck von
übertriebenen oder verzerrten heterosexuellen Fixierungen ohne anders-
artige Begründung machen, wenn man nicht aufmerksam würde, daß
alle diese Verliebtheiten nicht mit der internen Wahrnehmung des
Liebens, sondern der von außen kommenden des Geliebtwerdens ein-
setzen. Bei dieser Form der Paranoia kann aber auch der Mittelsatz :
Ich liebe sie, bewußt werden.
c) Die dritte noch mögliche Art des Widerspruches ist der
Eifersuchtswahn, den wir in charakteristischen Formen bei Mann
und Weib studieren können.
a) Der Eifersuchtswahn des Alkoholikers.*) Die Rolle des
Alkohols bei dieser Affektion ist uns nach allen Richtungen verständlich.
Wir wissen, daß dieses Genußmittel Hemmungen aufhebt und Sublt-
mierungen rückgängig macht. Der Mann wird nicht selten durch die
Enttäuschung am Weibe zum Alkohol getrieben, das heißt aber in
der Regel, er begibt sich ins Wirtshans und in die Gesellschaft der
Männer, die ihm die in seinem Heim beim Weibe vermißte Gefühls-
befriedigung gewährt. Werden nun diese Männer Objekte einer
stärkeren libidinösen Besetzung in seinem Unbewußten, so erwehrt er
sich derselben durch die Art des Widerspruches:
Nicht ich liebe den Mann — sie liebt ihn ja, und ver-
dächtigt die Frau mit all den Männern, die er zu lieben versucht ist.
*) Zur Psycho^enese des Alkoholismus vgl. auch die S. 118 zitierton Arbeiten.
j^Q VI. Die Hysterie.
ß) Ganz analog stellt sich die eifersüchtige Paranoia der Frauen
her. Nicht ich liebe die Frauen — sondern er liebt sie. Die
Eifersüchtige verdächtigt den Mann mit all den Frauen, die ihr selbst
gefallen infolge ihres überstark gewordenen, disponierenden Narzißmus
und ihrer Homosexualität. In der Auswahl der dem Manne zuge-
schobenen Liebesobjekte offenbart sich unverkennbar der Einfluß der
Lebenszeit, in welcher die Fixierung erfolgte ; es sind häufig alte, zur
realen Liebe ungeeignete Personen, Auffrischungen der Pflegerinnen,
Dienerinnen, Freundinnen ihrer Kindheit oder direkt ihrer konkurrie-
renden Schwestern.
Für den Ausbruch der Erkrankung wären als Veranlassungen
etwa maßgebend eine Enttäuschung in der Heterosexualität, ein Miß-
glücken in den sozialen Beziehungen zum gleichen Geschlecht oder
ein Vorstoß von Libido in homosexueller Richtung, die
vom Individuum nicht mehr sublimiert werden kann.
Durch die Enttäuschung wird der umgebenden Mitwelt Libido entzogen,
die zum Ichkomplex geschlagen (introvertiert)*) wird und so Größenwahn
bedingt.**) Diese Ablösung der Libido von den Objekten der Außenwelt
ist überhaupt ein für die Psychosen (zum Unterschied von den Neu-
rosen) charakteristischer Vorgang, so namentlich der Dementia praecox
(Schizophrenie) und der Melancholie. Während aber bei der Dementia
praecox die Regression der Libido bis in jene frühe Zeit zurückgeht,
wo das Individuum autoerotisch war, ist bei der Paranoia ein späteres
Stadium zur Fixierung geneigt — was offenbar auf verschiedener
Anlage beruht — , nämlich das Stadium des Narzißmus (vgl. darüber das
Kapitel über den Sexualtrieb, S. 42). Als weitere Differenz zwischen
Schizophrenie und Paranoia sei hervorgehoben, daß die erste sich
nicht des Mechanismus der Projektion, sondern des halluzinatorischen
(hysterischen) Mechanismus bei der Symptombildung bedient. Es ist
bei diesen Psychosen zum Unterschied von den Psychoneurosen nicht
unmittelbar das Produkt der Verdrängung (Konversion, Substitution),
das in Erscheinung tritt, sondern, was als Krankheit manifest wird,
ist eine Art Heilungsversuch des Kranken, der bei der Paranoia und
*) Der Ausdruck „Introversion der Libido" stammt von Jung („Über Kon-
flikte der kindlichen Seele," Jahrb., U, 1910) und beinhaltet, daß „ein Stück Liebe,
das vorher einem realen Objekte gehörte nach innen, ins Subjekt gewendet ist und
dort eine vermehrte Phantasietätigkeit erzeugt".
**) Vgl. K. Abraham: „Die psychosexuellen Differenzen zwischen Hysterie
und Dementia praecox." (Zentralblatt f. Psych, u. Neurol., Juli 1908.)
Die Dementia praecox. 1 ] 1
im Frühstadium der Dementia praecox die verlassenen Liebesobjekte
doch wieder in seinen Bannkreis zu ziehen versucht : was ihm aber
nur in Form des Verfolgungswahnes gelingt, der bei der Paranoia fest-
gehalten wird, bei der Demenz aber schließlich unter autoerotischem
Insichkehren wieder verflüchtigt. —
Für die periodische Melancholie gibt Freud an, daß sie
in ungeahnter Häufigkeit sich in Zwangsvorstellungen und Zwangs-
affekte aufzulösen scheine, eine Erkennung, die therapeutisch nicht
gleichgültig ist. Der einzelne Fall von Verstimmung läßt sich psycho-
analytisch günstig beeinflussen, wenn auch ein nächster Anfall nicht,
immer aufzuhalten ist.
Durch seine ersten Hinweise auf die Deutbarkeit von Psychosen
hat Freud zeigen können, daß auch im Wahn sich noch Sinn und
Logik — wenn auch die eigenartige des unbewußten Denkens —
nachweisen läßt und hat dadurch angeregt, Veranlassung und
Inhalt der geistigen Störungen zum Gegenstand psycho-
analytischer Untersuchung zu machen. Die Züricher
Schule mit Jung an der Spitze beschäftigt sich entsprechend dem
ihr zu Gebote stehenden Krankenmaterial eingehend und erfolg-
reich mit der Dementia praecox. Es gelang den Bemühungen
Jungs, indem er die jeder Äußerung sehr abholden Dementen
einer Art Analyse unterzog, dieselben psychischen Mechanismen,
die Freud bei den Neurosen gefunden hatte, auch hier in deutlich
nachweisbaren Spuren aufzuzeigen, so daß kein Zweifel mehr
bestehen kann, daß auch der Dementia praecox verdrängte erotische
Komplexe zu Grunde liegen.*) Die Affektverblödung ist nur eine
scheinbare und erklärt sich nach Jung aus dem Zustand der
Absorption durch den vorherrschenden Komplex.**) Er besteht als
Nebenseele" und der Kranke lebt sozusagen einen Traum. Die
psychoanalytische Betrachtung dieser Zustände hat aber noch mehr
ergeben. Es zeigte sich nämlich, daß die anscheinend so absurden
Symptome der Dementia praecox sich bei analytischer Vertiefung sämt-
lich als s y m b o 1 i s c h e V e r k 1 e i d u n g e n sinnreicher und im psychischen
Leben der Person hochbedeutsamer Gedankengänge und Regungen er-
*) Jung: „Über die Psychologie der Dementia praecox", K. Mnrbold,
Halle 1907.
**) Vgl. auch Bleuler- Jung: „Komplexe als Krankheitsursachen bei De-
mentia praecox." Zentralblatt für Nervenbeilkunde und Psychiatrie, 1908.
112
VI. Die Hvsterie.
-weisen.*) Abraham (1. c.) hat die von Jung gezogene Par-
allele zwischen Dementia praecox und Hysterie besonders in dem
Sinne präzisiert, daß erstere in direktem Gegensatz zur Hysterie eine
Tendenz zum ausschließlichen Autoerotismus zeige.**) Seither sind zahl
reiche wertvolle Arbeiten aus der Züricher psychiatrischen Klinik
unter der Ägide Bleulers und Jungs hervorgegangen, deren
Resultate beweisen, wie wertvoll es ist, daß die Psychiatrie aus einer
beschreibenden, eine erklärende Wissenschaft zu werden beginnt.
Ausführliche psychologische Untersuchungen an Schizophreneu lieferten
Maeder,Nelken,Spielrein, Grebelskaja, Ter-Oganess ian
und andere.
Bleulers Werk „Dementia praecox oder Gruppe der Schizo-
phrenien" (1911) zeigt die wichtigen Fortschritte im Verständnis der
Komplexe und der Symbolik iu der Symptomatologie ; charakteristiseher-
w;eise wird diese Symbolik vielfach von den Patienten selbst gedeutet.***)
Freud sehe Mechanismen konnten auch sonst bei verschiedenen
Psychosen nachgewiesen werden. So brachte Bleuler in seiner
Arbeit über „Freudsche Mechanismen in der Symptomatologie der
Psychosen" f) eine Reihe von Beispielen. — Dem schwierigen
Problem des manisch-depressiven Irreseins trat zunächst Otto Groß
näher. ff) Nach vereinzelten Analysen melancholischer Depressionen
(St ekel, Mäder, Brill), ferner einer Hypomanie (Jones) bringt
Abraham vorläufige „Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung
und Behandlung des manisch-depressiven Irreseins und verwandter
*) Jung: „Der Inhalt der Psychose." (Schriften zur angewandten Seelen-
kunde, Heft 3, 1908.)
**) In einer früheren Arbeit (Zentralb. f. Nervenheilkunde u. Psych., 1907)
hat Abraham auf „die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die Symptomatologie
der Dementia praecox" hingewiesen. — Vgl. ferner Stockmayer: „Zur psycho-
logischen Analyse der Dementia praecox." (Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psych.
Bd. XX.) — Riklin: „Beitrag zur Psychologie der katal optischen Zustände bei
Katatonie." Psych.-neurol. Wochenschr., 1906.) — Bertschinger: „Heilungs-
vorgänge bei Schizophrenen. - (Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 68. Bd., 2. H.)
***) Vgl. auch die österreichische Arbeit von Haßmann u. Zingerle „Un-
tersuch, bildlicher Darstellungen u. sprachl. Äußerungen bei Dem. praecox" (Journ. f.
Psychol. u. N., 1913, Bd. 20).
t) Psych.-neurol. Wochenschr., 1906.
tt) «Das Freudsche Ideogenitätsmoment und seine Bedeutung im manisch-
depressiven Irresein Kräpelins." Leipzig 1907. (Die Diagnose des Falles wird an-
zweifelt !)
Kleptomanie, Eifersuchtswahn, Alkoholismus u.a. H3
Zustände."*) „Über Gefängnispsychosen" und „Über Versetzungs-
verbesserungen" berichtet Riklin.**) Zur Psychologie hysterischer
Dämmerzustände haben Riklin und Schwarzwald Beiträge ge-
liefert,***) „zur Radikalbehandlung der Paranoia" Bj err e.f) — Über
„Die sexuelle Wurzel der Kleptomanie" schrieb S t e k e 1,-j-f) über
„Eigentumsdelikte und Sexualität" b e r h ol z e r (H. Groß' Archiv, 1912).
Über „Eif ersuchtswah n" finden sich Aufklärungen in Freuds
sowie Ferenczis Paranoia- Arbeiten im III. Band des Jahrbuches.
Es ist hier auch der Ort, um der Arbeiten Erwähnung zu tun,
die von psychoanalytischem Gesichtspunkt den A 1 k o h o 1 i s m u s be-
handeln. Abraham bespricht „die psychologischen Beziehungen
zwischen Sexualität und Alkoholismus", f ff) J u 1 ni s b u r g e r liefert Bei-
träge „Zur Psychologie der sog. Dipsomanie", sowie des Alkoholismus.§)
Die Rolle der Homosexualität hebt auch F e r e n c z i §§) bei einer Paranoia
eines Alkoholikers hervor. Zur neurotischen Ätiologie des Alkoholismus
äußern sich, allerdings in differentem Sinn, Bleuler und Ferenczi
im Jahrbuch III. Band, unter dem Titel „Alkohol und Neurosen".
„Die psychologische Behandlung der Trinker" bespricht Ph. Stein.§§§;
Zur „genuinen Epilepsie" lieferte Mäder den interessanten
Beitrag über „die Sexualität der Epileptiker" l ) und die Deutung
„Einer seltsamen Triebhandlung in einem Falle von psychischer
Epilepsie" 2 .)
^ — — — — —
*) Zentralbl. f. Psychoanal., II, 6.
**) Psych.-neurol. Wochenschr., l l J09 und 1905.
***) Psych.-neurol. Wochenschr., 1901. — Journal für Psychologie und
Neurologie, 1909.
f) Jahrb. III., 1912.
ff) Zeitschr. f. Sexualwissenschaft, Jahrg. I.
ttt) Zeitschr. f. Sexualwissenschaft, 1908, Nr. 8.
§) Zentralbl. f. Psychoanal., II, H. 10/11. sowie III, 1. H.
§§) Jahrbuch, III. Bd.
§§§) Journal f. Psychol. u. Neurol., 1912, Bd. 19.
») Jahrbuch, I. Bd.
8 ) Zeitschr. f. die ges. Nourol. u. Psych., Bd. V, H. 2.
il i i ! r h in »n ii, Freuds Neurosoulelire. 2. Aufl.
VII.
-
Die Zwangsneurose.
Beziehungen zur Hysterie. — Substitution statt Konversion. — Der charakteristische Zwang.
— „Wesen uud Mechanismus der Zwangsneurose" (1896). — „Bemerkungen über einen Fall
von Zwangsneurose" (1909). — Bedeutung des Trieblehciis (Sadismus). — Liebe und Haß;
Zwang und Zweifel. — Mechanismen der Entstellung. — Einige psychische Besonderheiten
der Zwangskranken. — Psychischer Mechanismus der Bcrührnngsfureht.
Auch die Zwangsneurose hat durch Freuds Arbeiten eine be
deutende Klärung erfahren und die Behandlung dieses oft so schweren,
jedes Lebensglück untergrabenden Leidens, scheint nunmehr eine be-
deutend bessere Prognose zu verbürgen. Freilich müßten die Zwangs-
neurotiker, deren Leiden oft schon in der Kinderzeit auftaucht, früh-
zeitiger in Behandlung kommen. Die Aufklärung dieses komplizierten
Krankheitsbildes ist mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden als
die Deutung der Hysterie, und Freud gesteht selbst ein, daß ihm die
vollständige Durchleuchtung eines Falles von Zwangsneurose noch
nicht gelungen ist; doch liegt eine aufklärungsreiche Arbeit Freuds
aus neuerer Zeit vor, welche die Forschungsergebnisse der letzten
Jahre, insbesondere den „Ödipuskomplex" und die Besonderheiten des
Trieblebens zur Aufklärung eines Falles von Zwangsneurose verwertet.
Die Zwangsneurose wurde schon mehrfach bei der Darstellung der
Theorie der Psychoneurosen berührt und dabei hervorgehoben, daß die
Voraussetzungen dieser Neurose zum Teil dieselben sind wie bei der
Hysterie und daß ihre Entstehung gleichfalls auf der mißglückten Ver-
drängung psychosexueller Momente beruht. Die Differenzen erklären
sich daraus, daß hier ein anderer Verdrängungsmechanismus und da-
mit auch eine andere Art der Symptombildung, des Durchbruches des
Verdrängten, zu stände kommt. Die Affektbesetzung der peinlichen
Vorstellung wird nämlich nicht, wie bei der Hysterie, ins Körperliche
umgesetzt (Konversion), sondern der Affekt hängt sich an andere, an
sich nicht unverträgliche Vorstellungen, welche durch diese falsche
Verknüpfung (Substitution) zu Zwangsvorstellungen werden.
Charakteristisch für die Zwangsvorstellungen und im weiteren Sinne
Die Substitution. X15
für das Zwangsdenken überhaupt, ist eben jenes paradoxe Gefühl
des Zwanges, indem absurde oder ganz harmlose Vorstellungen im
Vordergrund des Bewußtseins stehen und zur logischen Entwertung
auffordern, sich jedoch vollkommen refraktär dagegen zeigen. Dies
rührt daher, daß diese Inhalte des Zwangsdenkens nur falsche Etiketten
sind, Träger von Affekten, die eigentlich nicht zu ihnen gehören. Die
bewußte logische Arbeit bemüht sich daher vergeblich, indem sie
dort angreift, wo sie nichts nützen kann. Die Verschiebung des
Affekts auf den substituierten Vorstellungsinhalt bewirkt so, den
eigentlichen Zusammenhang unkenntlich und die logische Arbeit
erfolglos zu machen. Erst wenn es mit Hilfe der Psychoanalyse ge-
lungen ist, den wahren Zusammenhang mit dem infantilen Material
bewußt zu machen, kann sich der Zwang lösen. Die analytische
Therapie geht dabei von folgender, auch sonst im psychischen Leben
erweisbaren Annahme aus: Wo eine Mesalliance zwischen Vorstellungs-
inhalt und Affekt, also zwischen der Größe eines Selbstvorwurfs
z. B., und dem Anlaß dazu vorliegt, da würde der Laie sagen, der
Affekt sei zu groß für den Anlaß, also übertrieben, die aus dem Vor-
wurf gezogene Folgerung sei also falsch. Der Psychoanalytiker muß
im Gegenteil sagen: Nein, der Affekt ist berechtigt, das Schuld-
bewußtsein ist nicht weiter zu kritisieren, aber es gehört zu einem
anderen Inhalte, der nicht bekannt (unbewußt) ist und gesucht werden
muß. Wie schon erwähnt kommt auch bei der Zwangsneurose, wie bei
der Hysterie, dem Infantilismus und der Sexualität eine grundlegende
ätiologische Bedeutung zu, jedoch ergeben sich in dieser Hinsicht für
die Zwangsneurose eigenartige Züge. Es sind nämlich die sexuellen
Betätigungen der Kindheit in ganz charakteristischer Weise aktiv;
es handelt sich regelmäßig um Kinder, die schon frühzeitig eine sehr
intensive Aggression verraten. Dieser Charakter der vorzeitigen sexuellen
Aktivität wird — im Gegensatz zur Hysterie — in keinem Falle von
Zwangsneurose vermißt. Mit dieser Differenz hängt es auch zusammen,
daß von dieser Neurose das männliche Geschlecht bevorzugt erscheint.
Überhaupt läßt die Zwangsneurose viel deutlicher als die Hysterie er-
kennen, daß die Momente, welche die Psychoneurose formen, nicht im
aktuellen Sexualleben (das normal sein kann), sondern im infantilen
zu suchen sind. Die infantilen Voraussetzungen sind bei der Zwangs-
neurose zum Unterschied von der Hysterie nicht immer vollständiger
Amnesie verfallen, speziell kann sich die von ihrem Affekt getrennte
Vorstellung häufig im Bewußtsein des Patienten vorfinden und gleich-
8*
iig VII. Die Zwangsneurose.
gültig behandelt werden. Ätiologisch stehen die beiden Neurosen ein-
ander sehr nahe und treten häufig kombiniert auf. Zu Grunde einer
Zwangsneurose stößt die Analyse oft auf ein Stück Hysterie.
Die erste ausführliche Arbeit Freuds über die Zwangsvor-
stellungen*) enthält die wichtigsten Grundzüge der Analyse dieses
Krankheitsbildes, wurde aber später von Freud selbst in einzelnen
Punkten als verbesserungsbedürftig befunden. Für den Lernenden
ist sie jedoch gerade in ihrer schematischen Darstellung ein aus-
gezeichneter Wegweiser in diesem psychologisch höchst komplizierten
Krankheitsbilde.
Nach der ursprünglichen Darstellung Freuds wäre der typische
Verlauf einer Zwangsneurose etwa folgender: In einer ersten Periode
— Periode der kindlichen Immoralität — fallen die Ereignisse
vor, welche den Keim der späteren Neurose enthalten. Zuerst in
frühester Kindheit die Aktionen sexueller Agression gegen das andere
Geschlecht, welche später als Vorwurfshandlungen erscheinen. Dieser
Periode wird ein Ende bereitet durch den — oft selbst verfrühten —
Eintritt der sexuellen Reifung. Nun knüpft sich an die Erinnerung
jener Lustaktionen ein Vorwurf, dieser wird verdrängt und durch ein
primäres Abwehr Symptom ersetzt. Gewissenhaftigkeit, Scham,
Selbstmißtrauen sind solche Symptome, mit denen die dritte Periode,
die der scheinbaren Gesundheit, eigentlich der gelungenen Ab-
wehr beginnt.
Die nächste Periode, die der Krankheit, ist ausgezeichnet durch
die Wiederkehr des Verdrängten, also durch das Mißglücken
der Abwehr. Die wiederbelebten Impulse und Erinnerungen sowie die
aus ihnen gebildeten Vorwürfe treten aber niemals unverändert ms
Bewußtsein ein, sondern was als Zwangsvorstellung und Zwangsaffekt
bewußt wird und die pathogene Erinnerung für das bewußte Leben
substituiert, sind Kompromißbildungen zwischen den verdrängten
und den verdrängenden Vorstellungen, so daß sich Verdrängendes
neben Resten von Verdrängtem in den Symptomen wieder nach-
weisen läßt.
Im weiteren Verlaufe der Entwicklung der Neurose können sich
zwei Formen der Krankheit differenzieren, je nachdem allein der
*; „Weitere Bemerkungen über die Abwehrneuropsychosen" (1896). Lit.-V.
Nr. 8. — Früheres vgl. unter „Die Abwehr neuropsychosen" (1894) Lit.-V. Nr. 53.
— „Obsessions et phobies. Leur mecanisme psychiqne et leur Ätiologie" (1895?
Lit.-V. Nr. 6.
Verwandlungen des Vorwurfsaffoktes. 117
Erinnerungsinhalt der Vorwurfshandlung sich den Eingang ins Be-
wußtsein erzwingt oder auch der an sie geknüpfte Vorwurfsaff ekt.
Der erste Fall ist der der typischen Zwangsvorstellungen, bei denen
der Inhalt die Aufmerksamkeit des Kranken auf sich zieht, als Affekt
nur eine unbestimmte Unlust empfunden wird, während zum Inhalte
der Zwangsvorstellung nur der Affekt des Vorwurfs passen würde.
Bei der zweiten Gestaltung der Zwangsneurose kann sich der Vorwurfs-
affekt durch einen psychischen Zusatz in einen beliebigen anderen
Unlustaffekt verwandeln; ist dies geschehen, so steht dem Bewußt-
werden des substituierenden Affekts nichts mehr im Wege. So ver-
wandelt sich der Vorwurf (die sexuelle Aktion im Kindesalter voll-
führt zu haben) mit Leichtigkeit in Scham (wenn ein anderer davon
erführe), in hypochondrische Angst (vor den körperlich schä-
digenden Folgen jener Vorwurfshandlung), in soziale Angst (vor
der gesellschaftlichen Ahndung jenes Vergehens), in r e 1 i g i ö s e A n g s t,
in Beachtungswahn (Furcht, daß man jene Handlung anderen
verrate), in Versuchungsangst (berechtigtes Mißtrauen in die
eigene moralische Widerstandskraft) u. dgl. Dabei kann der Erinnerungs-
inhalt der Vorwurfshandlung im Bewußtsein mit vertreten sein oder
gänzlich zurückstehen, was die diagnostische Erkennung sehr erschwert.
Viele Fälle, die man bei oberflächlicher Untersuchung für gemeine
(neurasthenische) Hypochondrie hält, gehören zu dieser Gruppe der
Zwangsaffekte, ferner Fälle von sogenannter „periodischer Neur-
asthenie" oder „periodischer Melancholie" (Zyklothymie).
Neben diesen Kompromißsymptomen, welche die Wiederkehr des
Verdrängten und somit ein Scheitern der ursprünglich erzielten Ab-
wehr bedeuten, bildet die Zwangsneurose eine Reihe weiterer Symptome
von ganz anderer Herkunft aus. Das Ich sucht sich nämlich jener
Abkömmlinge der initial verdrängten Erinnerung zu erwehren und
schafft in diesem Abwehrkampf Symptome, die Freud unter dem
Namen „Sekundäre Abwehr" zusammengefaßt hat. Es sind dies
durchwegs Schutzmaßregeln, die bei der Bekämpfung der Zwangs-
vorstellungen und Zwangsaffekte gute Dienste geleistet haben. Gelingt
es diesen Hilfen im Abwehrkampfe wirklich, die dem Ich aufgedrängten
Symptome der Wiederkehr neuerdings zu verdrängen, so überträgt
sich der Zwang auf die Schutzmaßregeln selbst und schafft eine dritte
Gestaltung der Zwangsneurose, die Zwangshandlungen. Selten
scheinen diese primär zu sein; sie enthalten nie etwas anderes als
eine Abwehr, niemals eine Aggression. Die psychische Analyse weist
j-jo VII. Die Zwangsneurose.
von ihnen nach, daß sie — trotz ihrer Sonderbarkeit und Mannig-
faltigkeit — jedesmal voll aufzuklären sind. Man erfährt so, daß die
oft läppisch und sinnlos erscheinenden Zwangshandlungen durchwegs
und in all ihren Einzelheiten sinnvoll sind, im Dienste von bedeutungs-
vollen Interessen der Persönlichkeit stehen und fortwirkende Erlebnisse
sowie affektbesetzte Gedanken derselben zum Ausdruck bringen,*)
und zwar entweder in direkter oder symbolischer Darstellung; sie sind
demnach entweder historisch oder symbolisch zu deuten.
Die sekundäre Abwehr der Zwangsvorstellungen
kann erfolgen durch gewaltsame Ablenkung auf andere Gedanken
möglichst konträren Inhaltes; daher im Falle des Gelingens der
Gr übel zwang regelmäßig über abstrakte, übersinnliche Dinge,
weil die verdrängten Vorstellung sich immer mit der Sinnlichkeit be-
schäftigten. Oder der Kranke versucht, jeder einzelnen Zwangsidee
durch logische Arbeit und Berufung auf seine bewußten Erinnerungen
Herr zu werden; dies führt zum Denk- und Prüfungszwang
sowie zur Zweifelsucht. Der Vorzug der Wahrnehmung vor der
Erinnerung bei diesen Prüfungen veranlaßt den Kranken zuerst und
zwingt ihn später, alle Objekte, mit denen er in Berührung getreten
ist, zu sammeln und aufzubewahren. Der oft groteske und so
ganz unverständliche Inhalt der Zwangsvorstellungen erklärt sich
daraus, daß sie gegen den Inhalt der Zwangshandlung im Kindesalter
in zweifacher Weise entstellt sind: 1. indem etwas Aktuelles an die
Stelle des Vergangenen gesetzt ist, 2. indem das Sexuelle durch Analoges,
nicht Sexuelles, substituiert wird, beides Wirkungen der immer noch
in Kraft stehenden Verdrängungsneigung. Diese Verschiebung auf
einen anderen Vorstellungsinhalt geht aber nur allmählich vor sich,
indem der Vorstellungsinhalt nach und nach ein immer disparaterer und
unkenntlicherer wird. Die Zwangsvorstellungen erscheinen so schließlich
unmotiviert und unsinnig, ganz wie der Wortlaut unserer nächtlichen
Träume, uud die nächste Aufgabe, die sie stellen, geht dahin, ihnen
Sinn und Halt im Seelenleben des Individuums zu geben, so daß sie
verständlich, ja eigentlich selbstverständlich werden.
Die sekundäre Abwehr gegen die Zwangsaffekte
ergibt eine noch größere Reihe von Schutzmaßregeln, die der Ver-
wandlung in Zwangshandlungen fähig sind. Man kann dieselben
*) Nach Ansicht Freuds dürfte das unbewußte Vorbild gewisser Zwangs-
handlungen, dem sie sich un Verlaufe des Krankheitsprozesses immer mehr nähern,
der ursprüngliche, später verdrängte antoerotische Sexualakt sein (Lit.-V. Nr. 36).
Zwangshandlungen, 119
nach ihrer Tendenz gruppieren: Maßregeln der Buße (lästiges
Zeremoniell,*) Zahlenbeobachtung), der Vorbeugung (allerlei Phobien,
Aberglaube, Pedanterie, Steigerung des Primärsymptoms der Gewissen-
haftigkeit), der Furcht vor Verrat (Papiersammeln, Menschenscheu),
der Betäubung (Dipsomanie). Unter diesen Zwangshandlungen und
Impulsen spielen die Phobien als Existenzbeschränkungen des
Kranken die größte Rolle. Die im Verlaufe einer Zwangsneurose auf-
tretenden Phobien sind der Ausdruck von Verboten, nicht von Be-
fürchtungen.
*
Eine systematische und abgerundete Darstellung der Zwangs-
neurose auf Basis der Freud sehen Arbeiten zu geben ist unmöglich,
nachdem auch die zweite neuere Arbeit, so Neues und "Wertvolles
sie auch bringt, doch nur einem einzelnen Falle von schwerer Zwangs-
neurose gewidmet ist, ohne, zu prätendieren, erschöpfende und
allgemein gültige Erledigungen dieses Arbeitsthemas geleistet zu
haben. Für die referierende Darstellung, die hier geliefert werden soll,
ist aber gerade das große Intervall zwischen diesen beiden Arbeiten
sowie deren inhaltliche Differenz geeignet, die wachsende Vertiefung
der Freud sehen Lehre zu veranschaulichen. Diese „Bemerkungen
über einen Fall von Zwangsneurose" (1909)**) geben Aus-
schnitte einer ausführlichen Analyse eines anscheinend nicht seltenen
Typus von schwerer Zwangsneurose und tragen, dem modernen
Stand der Lehre entsprechend, dem infantilen Sexual- und Triebleben
im weitesten Ausmaße Rechnung, indem sie insbesondere den Zu-
sammenhang der Zwangsneurose mit der sadistischen Komponente
des Sexualtriebes aufzeigen. Außerdem enthält die neue Arbeit Angaben
über die Genese und den feineren seelischen Mechanismus des Zwangs-
denkens überhaupt, Ausführungen, die im Anschluß an die bisherige
Darstellung von der Psychogenese der Zwangsvorstellungen zunächst
referiert seien.
In der ersten Arbeit hatte Freud die Zwangsvorstellungen
folgendermaßen definiert : Sie seien jedesmal verwandelte, aus der Vor-
*) Über ein charakteristisches, beim Zubettgehen vorgenommenes Zeremoniell
an Zwangsneurose Leidender vgl. Abraham (Zentralbl. f. Psychoan., II, 6) uud
St ekel (ebenda, II, 10).
**) Lit.-V. Nr. 36. Vgl. ferner Riklin: „Aus der Analyse einer Zwangs-
neurose", Jahrb., II, S. 246 und Jones: „Einige Fälle von Zwangsneurose a , Jahrb.,
IV, S. 563 u. V.
120 VII. Die Zwangsneurose.
drängung wiederkehrende Vorwürfe, die sich immer auf eine sexuelle
mit Lust ausgeführte Aktion der Kinderzeit beziehen. Diese Definition
wird durch die moderne Arbeit Freuds nicht verworfen, es zeigt sich
nur, daß auf den Begriff „verwandelt" der größte Akzent zu
legen ist. Diese Arbeit Freuds bringt nun die Art und die Mechanismen
dieser Verwandlung in ausführlicher Weise mit besonderem Eingehen auf
die psychologischen Feinheiten in der Struktur der Neurose. Freud
hebt zunächst hervor, daß es korrekter ist, von Zwangsdenken
zu sprechen als von Zwangsvorstellungen, indem er betont, daß die
Zwangsgebilde den Wert der verschiedenartigsten psychischen Akte
haben können. Sie lassen sich als Wünsche, Versuchungen, Impulse,
Reflexionen, Zweifel, Gebote und Verbote bestimmen. Die Kranken
haben jedoch im allgemeinen das Bestreben, diese Bestimmtheit abzu-
schwächen und den seines Affektindexes beraubten Inhalt nur als einen
Denkvorgang, als Zwangsvorstellung zu führen. Tritt der Arzt einem
solchen Zwangsneurotiker als Psychoanalytiker gegenüber, so zeigt
sich — wie schon erwähnt — das paradoxe Gefühl des Zwanges an
einem sehr ungleichwertigen Inhalt hängend, und erst über viele Um-
wege gelingt es, zu dem ursprünglichen, affektiv richtig betonten
Inhalt vorzudringen. Die Mechanismen der Entstellung, die
der Kranke bei diesem Abwehrkampfe in Anwendung gebracht hat,
sind nicht so einfach wie ursprünglich angenommen wurde. Der Wert
der sicherlich berechtigten Unterscheidung zwischen primärem und'
sekundärem Abwehrkampf wird in unerwarteter Weise durch die Er-
kenntnis eingeschränkt, daß die Kranken großenteils den
Wortlaut ihrer eigenen Zwangsvorstellungen nicht
kennen und ihn erst in der Kur, speziell aus ihren Träumen
erfahren. Auch gewinnt man in der analytischen Verfolgung einer
Krankengeschichte die Überzeugung, daß oft mehrere aufeinander-
folgende, aber im Wortlaut nicht identische Zwangsvorstellungen im
Grunde eine und dieselbe sind. Die Zwangsvorstellung ist das erste-
mal glücklich abgewiesen worden, sie kehrt nun ein andermal in mehr
entstellter Form wieder. Die ursprüngliche Form ist die richtige, die
oft ihren Sinn ganz unverhüllt erkennen läßt. Hat man eine unver-
ständliche Zwangsidee mühselig aufgeklärt, so kann man nicht selten
vom Kranken hören, daß eine Versuchung, ein Einfall oder Wunsch,
wie der konstruierte, wirklich vor der Zwangsidee einmal aufgetreten
war, aber sich nicht gehalten hat. Die offiziell so bezeichnete Zwangs-
vorstellung trägt also in ihrer Entstellung gegen den ursprünglichen
Entstellungs-Mechanismen. 121
Wortlaut die Spuren des primären Abwehrkampfes an sich. Ihre Ent-
stellung macht sie lebensfähig, denn das bewußte Denken ist ge-
nötigt, sie in ähnlicher Weise mißzuverstehen wie den Trauminhalt»
der selbst auch ein Kompromiß- und Entstellungsprodukt ist und vom
wachen Denken weiter mißverstanden wird.*)
Die Entstellung bedient sich verschiedener Mechanismen. Der
einfachste ist die Entstellung durch Auslassung (Ellipse),
die beim Witze so vorzügliche Anwendung findet,**) aber auch in der
Neurose als Schutzmittel gegen das Verständnis ihre Schuldigkeit tut.
Eine der beliebtesten Zwangsideen des Patienten, welchen Freud
als Paradigma in seiner Publikation beschreibt, lautete : Wenn ich
die Dame X. heirate, geschieht dem Vater ein Unglück (im Jenseits).
Setzen wir jedoch die übersprungenen und aus der Analyse bekannt-
gewordenen Zwischenglieder ein, so lautet der nunmehr verständliche
Gedankengang: Wenn der Vater lebte, so würde er über meinen
Vorsatz, die Dame zu heiraten, ebenso wütend werden, wie damals in
der Kinderprügelszene, so daß ich wiederum eine Wut gegen ihn be-
käme und ihm alles Böse wünschte, was sich kraft der Allmacht
meiner Wünsche an ihm erfüllen müßte. Diese elliptische Entstellungs-
technik scheint für die Zwangsneurose typisch zu sein. Neben der
Entstellung, welche der Zwangsgedanke vor seinem Bewußtwerden
erfahren hat, wird es selten versäumt, die einzelne Zwangsidee der
Situation ihrer Enstehung zu entrücken, in welcher sie trotz der Ent-
stellung dem Verständnis noch leicht zugänglich wäre. In dieser
Absicht wird ein Intervall zwischen die pathogene Situation
und die abfolgende Zwangsidee eingeschoben, welches die Kau&al-
erforsclmng des Bewußten irreführt; die Lösung der Zwangsidee
erfolgt dem entsprechend auch, indem man sie wieder in den zeit-
lichen Zusammenhang mit dem Erleben des Kranken bringt, also
indem man erforscht, wann die einzelne Zwangsidee zuerst aufgetreten
ist, und unter welchen äußeren Umständen sie sich zu wiederholen
pflegt. Neben dieser zeitlichen Verschiebung wird der Inhalt der
Zwangsidee fast regelmäßig durch Verallgemeinerung aus seinen
speziellen Beziehungen gelöst. Dazu bringt Freud das Beispiel einer
Patientin, die sich verbot, irgend welchen Schmuck zu tragen
*) Dieses Mißverständnis des Bewußten läßt sich nicht nur an den Zwangs-
ideen selbst, sondern auch an den Produkten des sekundären Abwehrkampfos, z. B.
an den Schutzformeln nachweisen.
**) Vgl. Freuds Arbeit „Der Witz usw.".
^22 VII. Die Zwangsneurose.
obwohl die Veranlassung auf ein einziges Schmuckstück zurück-
ging, um welches sie ihre Mutter beneidet hatte, und von dem sie
hoffte, es würde ihr dereinst durch Erbschaft zufallen. Ein weiterer
auffallender Zug, der die seelischen Vorgänge hei der Zwangsneurose
beherrscht, ist der Mechanismus der Verschiebung, den Freud
zuerst bei der Traumbildung aufgefunden und dann als wesentlichen
Faktor auch der Witztechnik nachgewiesen hat. Besonders an den
Zwangshandlungen ist es überaus deutlich, wie durch eine Verschiebung
vom eigentlich Bedeutsamen, auf ein ersetzendes Kleines, die Symbolik
und das Detail der Ausführung (das Zeremoniell) zu stände kommt.
Diese Neigung zur Verschiebung ist es, die das Bild der Krankheits-
erscheinungen immer weiter abändert und es endlich dahin bringt,
das scheinbar Geringfügigste zum Wichtigsten und Dringendsten zu
machen.
Endlich kann man noch von der inhaltlichen Entstellung ab-
sondern den unbestimmt und zweideutig gewählten Wort-
laut, der den Zwangsideen zum Schutze gegen die bewußte Lösungs-
arbeit dient. Die weiteren Fortbildungen oder Ersetzungen des
Zwanges werden an diesen mißverstandenen Wortlaut angeknüpft,
anstatt an den richtigen Text. Es gehören diese Vorgänge, im Gegensatz
zur inhaltliehen Entstellungstechnik, bereits zum sekundären Abwehr-
kampf, dessen Symptomatik einen neuen Zuwachs erfährt durch die
sogenannten „Delirien", unter welchen Bildungen Freud Misch-
linge versteht zwischen rein vernünftigen Erwägungen und den
Zwangsgedanken, denen diese entgegengesetzt werden; und zwar
nehmen sie gewisse Voraussetzungen des Zwanges, den sie bekämpfen,
in sich auf und stellen sich (mit den Mitteln der Vernunft) auf den
Boden des krankhaften Denkens. In diese Delirien gehen nun auch
die vorhin erwähnten Mißverständnisse ein ; doch kann man beobachten,
daß die „Delirien" bestrebt sind, immer wieder neue Beziehungen zu
dem im Bewußtsein nicht enthaltenen Gehalt und Wortlaut des Zwanges
zu gewinnen. In der neuen Schilderung des sekundären Abwehr-
kampfes weist Freud auch auf die Genese des sogenannten Schutz-
zwanges hin, der nichts anderes bedeute, als die Reaktion — Reue,
Buße — auf eine gegensätzliche Regung.
Die Zwangshandlungen zeigen oft einen zweizeitigen Ablauf,
wobei das erste Tempo dem zweiten entgegengesetzt ist. Wir ver-
stehen diesen zweiten Teil der Zwangshandlung nicht richtig, wenn
wir ihn nur als kritische Abwendung vom krankhaften Tun auffassen,
Das eigenartige Trieb] eben. 12o
wofür er sich selbst ausgeben möchte. Die Zwangshandlungen stellen
den Konflikt zweier annähernd gleich großer gegensätzlicher (ambi-
valenter)*) Regungen, vornehmlich des Gegensatzes zwischen Liebe
und Haß, dar, der in der Genese der Zwangsneurose eine große Holle
spielt und auch in den Symptomen seinen Ausdruck findet. Diese
zweizeitigen Zwangshandlungen beanspruchen ein besonderes
theoretisches Interesse, weil sie einen neuen Typus der Symptom-
bildung erkennen lassen. Anstatt, wie es bei der Hysterie regelmäßig
geschieht, ein Kompromiß zu finden, welches beiden Gegensätzen in
einer Darstellung genügt, werden hier die beiden Gegensätze, jeder
einzeln, befriedigt, zuerst der eine und dann der andere, natürlich
nicht ohne daß der Versuch gemacht würde, zwischen den beiden ein-
ander feindseligen Tendenzen eine Art von logischer Verknüpfung —
oft mit Beugung aller Logik — herzustellen.
Das Bedeutungsvollste an der neuen Arbeit Freuds über die
Zwangsneurose ist, wie erwähnt, der Nachweis von der grundlegenden
Bedeutung des eigenartigen Trieblebens. Als charakteristisch
für die spätere Zwangsneurose ergab sich eine besondere Aggression
und Aktivität in der Kindheit, die sich vornehmlich durch eine
intensive Betätigung des Schau- und Wißtriebes äußert. Das Trieb-
loben ist in der Kinderzeit überaus reichhaltig und wirkungsvoll ge-
wesen**) und gelangt zu besonderer Bedeutung für die Genese der
Zwangsneurose durch intensivste Ausbildung der Regungen von Zärt-
lichkeit und Feindseligkeit gegen Eltern und Geschwister, welche im
Vereine mit der sich auf die Geschlechts- und Geburtsvorgänge be-
ziehenden infantilen Sexualneugierde den Kernkomplex der
Neurose bilden. Wir finden aber im Symptomenbild der Zwangs-
neurose einen fortwährenden Widerstreit zwischen Liebe und Haß,
ein chronisches Nebeneinander dieser beiden Empfindungen gegen
dieselbe Person, und zwar beide Gefühle in höchster Intensität,
eine Erscheinung, die geeignet ist, wann immer wir sie beim Kranken
vorfinden, uns in Erstaunen zu versetzen. Ein solcher Fortbestand
der Gegensätze ist nur unter besonderen psychologischen Bedingungen
möglich und durch Mitwirkung des unbewußten Zustandes. Die Liebe
•) Unter dem Begriff „Ambivalenz" faßt Bleuler aUo jene psychischen
Erscheinungen zusammen, welche von entgegengesetzten Gefühlen zugleich betont
sind. („Zur Theorie des schizophrenen Negativismus", Psych.-neur. Woch., XII. Bd.)
**) Vgl. Hit seh mann: „Gesteigertes Triebleben und Zwangsneurose bei
einem Kinde." Internat. Zeitschr. f. ärztl. Psychoanal., I, 1, 1913.
i<2A VII. Die Zwangsneurose.
hat den Haß nicht auslöschen, sondern nur ins Unbewußte verdrängen
können, und im Unbewußten kann er, gegen die Aufhebung durch die
Bewußtseinswirkung geschützt, sich erhalten, ja selbst wachsen. Die
bewußte Liebe pflegt unter diesen Umständen reaktionsweise zu einer
besonders hohen Intensität anzuschwellen, damit sie der ihr konstant
auferlegten Arbeit gewachsen sei, ihr Gegenspiel in der Verdrängung
zu erhalten. Eine sehr frühzeitige, in den prähistorischen Kindheits-
jahren erfolgte Scheidung dieser beiden Empfindungsgegensätze mit
Verdrängung des einen Anteils, gewöhnlich des Hasses, scheint die
Bedingung dieser befremdlichen Konstellation des Liebeslebens zu
sein. So ungeklärt auch das Verhältnis des negativen Faktors der
Liebe zur sadistischen Komponente des Sexualtriebes ist, so glaubt
Freud doch die vorläufige Auskunft geben zu können, daß in diesen
Fällen von unbewußtem Haß die sadistische Komponente der
Liebe konstitutionell besonders stark entwickelt gewesen sei, darum
eine vorzeitige und allzu gründliche Unterdrückung erfahren habe ;
und nun leiten sich die Phänomene der Neurose einerseits von der
durch Reaktion in die Höhe getriebenen bewußten Zärtlichkeit, ander-
seits von dem im Unbewußten fortwirkenden Sadismus ab.*) Diese
gleichsam konstitutionell gegebene Haßkomponente wird akzidentell
unterstützt durch die meist von den Eltern (Vater) ausgehenden
Verbottraumata, welchen in der Genese der Zwangsneurose eine
große Bedeutung zukommt. So wird eine kräftige Bestrafung wegen
einer sexuellen Betätigung oder eines damit im Zusammenhang
stehenden Kinderfehlers zu einem starken Unterstützungsmittel des
Hasses, der ursprünglich aus dem Elternkomplex stammt. Für solche
Bestrafungen ist der Anlaß bald gegeben, denn ein bestimmter Typus
der späteren Zwangsneurotiker zeigt schon in der Kindheit lüsterne
Wünsche, an die allerdings auch unheimliche Erwartungen und
Neigungen zu Abwehrhandlungen geknüpft sind. Ein Konflikt ist so
schon in dem Seelenleben des kleinen Lüsternen vorhanden-, neben
dem Zwangswunsch steht eine Zwangsbefürchtung innig an den Wunsch
geknüpft. Also ein sexueller Trieb und eine Auflehnung gegen ihn,
ein (noch nicht zwanghafter) Wunsch und eine (bereits zwanghafte)
ihm widerstrebende Befürchtung, ein peinlicher Affekt und der Drang
nach Abwehrhandlungen: das Inventar der Neurose ist vollzählig.
*) Dieser Zusammenhang gibt auch die Erklärung des häufigen und als
rätselhaft betrachteten Zwangslachens bei Traueranlässen, das eben die un-
bewußte Freude über Leiden oder Untergang des unbewußt Gehaßten verrät.
Entschlußunfähigkeit und Zweifel. 125
Dieses infantile Vorstadium der Neurose ist regelmäßig vorhanden,
und wird nicht selten schon beim Kinde als Krankheit manifest.*)
Die nächste Folge dieses so merkwürdigen, aber in jedem Falle
von Zwangsneurose nachweisbaren Verhaltens von Liebe und Haß ist
eine partielle Willenslähmung, eine Unfähigkeit zur Ent-
schließung in allen Aktionen, für welche die Liebe das treibende
Motiv sein soll. Aber die Unentschlossenheit bleibt nicht lange auf
eine Gruppe von Handlangen beschränkt, sondern breitet sich, mittels
des schon erwähnten Mechanismus der Verschiebung, allmählich über
das gesamte Tun des Menschen aus. Damit ist die Herrschaft von
Zwang und Zweifel, wie sie uns im Seelenleben der Zwangs-
kranken entgegentritt, gegeben. Der Zweifel entspricht der inneren
Wahrnehmung der Unentschlossenheit, welche, infolge der Hemmung
der Liebe durch den Haß, sich bei jeder beabsichtigten Handlung des
Kranken bemächtigt, aber auch auf alles ausgedehnt werden kann,
auf bereits vollzogene Handlungen, die noch nicht in Beziehung zum
Liebe-Haß-Komplex standen, und auf die ganze Vergangenheit. Es ist
dies eigentlich der Ausdruck für den Zweifel an der eigenen
Liebesfähigkeit, die ja das subjektiv Sicherste sein sollte.
Es ist derselbe Zweifel, der bei den Schutzmaßregeln zur Unsicherheit
und zur fortgesetzten Wiederholung führt, der es endlich zu stände
bringt, daß diese Schutzhandlungen ebenso unvollziehbar werden wie
die ursprünglich gehemmte Liebesentschließung. So rührt auch die
Unsicherheit der Zwangskranken, z. B. bei ihren Gebeten, namentlich
solchen für das Leben anderer, daher, daß sich ihnen unaufhörlich
unbewußte Phantasien störend in das Gebet einmengen ; diese Phantasien
enthalten meist den gegenteiligen Impuls, der gerade durch das Gebet
abgewehrt werden sollte.
Der Zwang ist nun ein „Versuch zur Kompensation des
Zweifels" und zur Korrektur der unerträglichen Hemmungszustände,
von denen der Zweifel Zeugnis ablegt. Ist es dem Patienten mit
Hilfe der Verschiebung gelungen, irgend einen der gehemmten Vorsätze
zum Entschluß zu bringen, so muß dieser ausgeführt werden; es ist
freilich nicht mehr der ursprüngliche, aber die dort aufgestaute
Energie wird auf die Gelegenheit, an der Ersatzhandlung ihre Abfuhr
zu finden, nicht mehr verzichten. Sie äußert sich also in Geboten
*) Nehen der Angsthysterie ist also die Zwangsneurose ein zweiter Typus
der Kinderneurose.
i og VII. Die Zwangsneurose.
und Verboten, je nachdem bald der zärtliche, bald der feindselige
Impuls den Weg zur Abfuhr erobert.
Durch eine Art von Regression treten ferner vorbereitende Akte
an die Stelle der endgültigen Entschließung, das Denken ersetzt das
Handeln, und irgend eine Gedanken Vorstufe der Tat setzt sich
mit Zwangsgewalt durch anstatt der Ersatzhandlung. Je nachdem
diese Regression vom Handeln aufs Denken mehr oder weniger aus-
geprägt ist, nimmt der Fall von Zwangsneurose den Charakter des
Zwangsdenkens (Zwangsvorstellung) oder des Zwangshandelns im
engeren Sinne an. Es handelt sich darum, in welchem Stadium des
kontinuierlichen Fortschritts des Abwehrkampfes der Durchbruch des
verdrängten Triebes erfolgt und welcher Trieb der vorherrschende ist.
Diese Annahme des Ersatzes eines triebhaften Aktes durch einen
Denkakt legt folgende Formel für den psychologischen Charakter, der
den Produkten der Zwangsneurose das Zwangsartige verleiht,
nahe: Zwangshaft werden solche Denkvorgänge, welche (infolge der
Gegensatzhemmung am motorischen Ende der seelischen Systeme)
mit einem — qualitativ wie quantitativ — sonst nur für das Handeln
bestimmten Energieaufwand unternommen werden, also Gedanken,
die regressiv Taten vertreten müssen.
Diese Verschiebung des Akzents von der Tätigkeit auf den Denk-
akt läßt die Zwangsneurose überhaupt als einen Mißbrauch des
Denkens erscheinen. Die pathologischen Übertreibungen der Zwangs-
neurose könnten, genauer untersucht, eine große Ausbeute für die
Erkenntnis des intellektuellen Lebens überhaupt bieten. Einiges Cha-
rakteristische in dieser Hinsicht konnte Freud aus den psychischen
Besonderheiten zunächst seines Falles ableiten. So das eigenartige
Verhältnis zum Aberglauben, zum Tod und zur Realität,
das auch sonst bei Zwangskranken auffällt. Auch diese Eigenheiten haben
ihre letzte Begründung zum großen Teil im Triebleben. Besonders das
eigentümliche Verhalten zum Thema des Todes und die intensive
Beschäftigung mit diesem Problem, lenken die Aufmerksamkeit des
Arztes auf sich. Die Zwangskranken nehmen oft an allen Todes-
fällen warmen Anteil, beteiligen sich pietätvoll an Leichenbegängnissen,
sind mit einem Wort nicht selten „Leichenvögel". Diese sonderbare
Eigenschaft der Kranken beruht darauf, daß sie in der Kindheit schon
mit dem Problem des Todes durch ihre böswilligen Rachewünsche in
Berührung kamen; als Kompensation derselben tritt dann ihre
intellektuelle und gemütliche Beschäftigung mit diesem Thema, sowie
Die Allmacht der Gedanken. 127
dieser Komplex auch eine Wurzel ihrer Jenseitsphantasien ist
(Aberglaube). Ihre abergläubischen Neigungen hatten meist gar keinen
anderen Inhalt und haben vielleicht überhaupt keine andere Herkunft.
Vor allem aber bedürfen sie — und hier streifen wir an eines der
Krankheitsmotive — der Todesmöglichkeit zur Lösung der von ihnen
ungelöst gelassenen seelischen Konflikte. Ihr wesentlicher Charakter
ist ja, daß sie der Entscheidung, zumal in Liebessachen, unfähig sind.
So lauern sie in jedem Lebenskonflikt auf den Tod einer für sie be-
deutsamen, meist einer geliebten Person, sei es der Eltern, sei es
eines Nebenbuhlers oder eines der Liebesobjekte, zwischen denen ihre
Neigung schwankt.
Durch die Überschätzung der Wirkung des Gedankenlebens
— z. B. Möglichkeit des Tötens durch den Gedanken (Wunsch) —
kommt es, daß solche Zwangskranke allmählich an eine Allmacht
ihrer Gedanken*) glauben. Anderseits steckt in diesem Glauben
auch ein Stück des alten Kindergrößenwahns. Ein anderes seelisches
Bedürfnis, das mit dem eben erwähnten eine gewisse Verwandtschaft
hat, ist das nach der Unsicherheit im Leben oder dem Zweifel.
Die Herstellung der Unsicherheit ist eine der Methoden, welche die
Neurose anwendet, um den Kranken aus der Realität zu ziehen
und von der Welt zu isolieren, was ja in der Tendenz jeder psycho-
neurotischen Störung liegt. Die Vorliebe der Zwangskranken für die
Unsicherheit und den Zweifel wird für sie zum Motiv, ihre Gedanken
vorzugsweise an jene Themen zu heften, wo die Unsicherheit eine
allgemein menschliche ist, unser Wissen oder unser Urteil notwendig
dem Zweifel ausgesetzt bleiben muß. Solche Themen sind besonders :
Die Abstammung vom Vater, die Lebensdauer, das Leben nach dem
Tode und die Sicherheit des Gedächtnisses u. a.
Ein bei der sonstigen ziemlich hohen Intelligenz der Zwangs-
kranken besonders befremdender Zug, welcher aber dem Leiden und
nicht ihrer Individualität angehört, ist der erwähnte Aberglaube,
welcher jedoch nicht das ganze Sinnen und Denken durchsetzt. Dio
Zwangskranken können in der Krankheit abergläubisch, sonst jedoch
aufgeklärt und freigeistig sein. Sie haben in dieser Beziehung oft zwei
entgegengesetzte Überzeugungen, nicht etwa eine unfertige Meinung.
Zwischen diesen beiden Überzeugungen oszillieren sie dann in sicht-
*) Vgl. Freud, „Über einige Übereinstimmungen im Seelen-
leben der Wilden und der Neurotiker. III. Animismus, Magie nnd
Allmacht der Gedanken." Lit.-Verz. Nr. 69,
^28 VII. Die Zwangsneurose
barster Abhängigkeit von ihrer sonstigen Stellung zum Zwangsleiden.
Dieser Aberglaube ist also bei den Kranken keine wirkliche Über-
zeugung, sondern hat Zwangscbarakter. Aber auch in die Psychologie
des Aberglaubens läßt sich aus den Analysen der Zwangskranken eine
tiefere Einsicht gewinnen; man erkennt hier deutlich, daß der Aber-
glaube aus unterdrückten feindseligen und grausamen Regungen
hervorgeht. Aberglaube ist zum großen Teil Unheilserwartung, und
wer anderen häufig Böses gewünscht, aber infolge der Erziehung zur
Güte solche Wünsche ins Unbewußte verdrängt hat, dem wird es be-
sonders nahe liegen, die Strafe für solche unbewußte Bosheit als ein
ihm drohendes Unheil von außen zu erwarten.
Anläßlich einer psychologischen Arbeit von viel weiterem Gesichts-
punkt*) gibt Freud eine Darstellung des psychischen Mecha-
nismus der Berührungsangst (Beiire de toucher), die wir im
folgenden — als Paradigma der bisher allgemein dargestellten Psy-
chologie des Zwangskranken — wiedergeben: Zu allem Anfang,
in ganz früher Kinderzeit, äußerte sich eine starke Berührungs 1 u s t,
deren Ziel weit spezialisierter war, als man geneigt wäre zu
erwarten. Dieser Lust trat alsbald von außen ein Verbot ent-
gegen, gerade diese Berührung nicht auszuführen. Beide, Lust
und Verbot, bezogen sich auf die Berührung der eigenen Genitalien.
Das Verbot wurde aufgenommen, denn es konnte sich auf starke
innere Kräfte stützen (auf die Beziehung zu den geliebten Personen,
von denen das Verbot gegeben wurde) ; es erwies sich stärker als
der Trieb, der sich in der Berührung äußern wollte. Aber infolge
der primitiven psychischen Konstitution des Kindes gelang es dem
Verbot nicht, den Trieb aufzuheben. Der Erfolg des Verbots war nur,
den Trieb — die Berührungslust — zu verdrängen und ihn ins Un-
bewußte zu verbannen. Verbot und Trieb blieben beide erhalten ; der
Trieb, weil er nur verdrängt, nicht aufgehoben war, das Verbot, weil
mit seinem Aufhören der Trieb zum Bewußtsein und zur Ausführung
durchgedrungen wäre. Es war eine unerledigte Situation, eine
psychische Fixierung geschaffen, und aus dem fortdauernden Konflikt
von Verbot und Trieb leitet sich nun alles weitere ab.
Der Hauptcharakter der psychologischen Konstellation, die so
fixiert worden ist, liegt in dem, was man das ambivalente Ver-
*) Lit.-V. Nr. 55.
Der psychische Mechanismus der Berührungsangst. 129
halten des Individuums gegen das eine Objekt, vielmehr die Handlung
an ihm heißen könnte. Das Verbot wird laut bewußt, die fort-
dauernde Berührungslust ist unbewußt, die Person weiß nichts von
ihr. Bestünde dieses psychologische Moment nicht, so könnte eine
Ambivalenz weder sich so lange erhalten, noch könnte sie zu solchen
Folgeerscheinungen führen. Infolge der stattgehabten Verdrängung,
die mit einem Vergessen — Amnesie — verbunden ist, bleibt die
Motivierung des bewußt gewordenen Verbots unbekannt, und müssen
alle Versuche scheitern, es intellektuell zu zersetzen. Das Verbot ver-
dankt seine Stärke — seinen Zwangscharakter — gerade der Be-
ziehung zu seinem unbewußten Gegenpart, der im Verborgenen un-
gedämpften Lust, also einer innern Notwendigkeit, in welche die be-
wußte Einsicht fehlt. Die Übertragbarkeit und Fortpflanzungsfähigkeit
des Verbots spiegelt einen Vorgang wieder, der sich mit der unbewußten
Lust zuträgt, und unter den psychologischen Bedingungen des Un-
bewußten besonders erleichtert ist. Die Trieblust verschiebt sich be-
ständig, um der Absperrung zu entgehen und sucht Surrogate für
das Verbotene — Ersatzobjekte und Ersatzhandlungen — zu gewinnen.
Darum wandert auch das Verbot und dehnt sich auf die neuen Ziele
der verpönten Regung aus. Jeden neuen Vorstoß der verdrängten
Libido beantwortet das Verbot mit einer neuen Verschärfung. Die
gegenseitige Hemmung der beiden ringenden Mächte erzeugt ein Be-
dürfnis nach Abfuhr, nach Verringerung der herrschenden Spannung,
in welchem man die Motivierung der Zwangshandlungen erkennen darf.
In ihnen fand eine Art Versöhnung der beiden einander bekämpfenden
Impulse in Kompromißbildungen statt.
Hitschmann, Freuds Neuro»enlehre. 2. Aufl.
VIII.
Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlung.
Ihre Eigenart.— Entwicklungsgeschichte der Methode. — Allgemeine Technik. — Beseitigung
der Widerstände. — Dentongskunst. — Indikationen and Gegenindikationen. — Die „ Über-
tragung". — Widerlegnng der Einwände gegen das Verfahren.
Freud hat sich wiederholt über seine psychoanalytische Technik,
welche die ursprünglich kathartische und hypnotische Methode voll-
kommen verdrängt hat, sowohl schriftlich wie auch mündlich geäußert ;
jedoch fehlt es bisher an einer ausführliehen und systematischen Dar-
stellung, insbesondere der auf mühevollem empirischen Wege gefundenen
technischen Regeln und Kunstgriffe. Trotzdem übt eine Anzahl von
Schulern und Anhängern, die zum großen Teil mit Freud in persön-
lichem Kontakt stehen, die Therapie nach dessen privaten Anweisungen
und auf eigenen autodidaktischen Studien und Erprobungen fußend
aus. In der Hand des nicht genügend geschulten und geübten Arztes
kann jedoch die Therapie leicht schädlich wirken.*) Die Psycho-
therapien anderer Art haben mit der Psychoanalyse nichts gemein,
welche namentlich von der Hypnose sowie von jeder Art Suggestion
absieht und die Einfälle sowie die Träume des Kranken als Wege
benützt, um sein Unbewußtes bloßzulegen. Die Psycho-
analyse geht von der jeweiligen „psychischen Oberfläche" aus und ver-
sucht von da, in schichtenweisem Vordringen, die verdrängten Anteile
der Komplexe und damit die betreffenden Triebregungen zu befreien.
Ihre Überlegenheit über die bisherigen Behandlungsweisen der nervösen
Krankheiten zeigt sich am besten darin, daß sie eine spezifische und
gleichzeitig auch die Ätiologie des Falles erforschende ist. Sie ist
also als psychische Therapie psychogener Erkrankungen theoretisch
als die ideale anzusehen. Freud meint aber nicht, daß sie immer
und in allen Fällen sowie unter allen Bedingungen die einzig mögliche
oder notwendige Therapie sei und hat nie behauptet, daß alle Fälle
*) Vgl. Froud: „Über wilde Psychoanalyse." (Lit.-V. Nr. 43.)
Die frithere „kathartische" Methode. 131
von Neurose therapeutisch zugänglich seien oder alle der Heilung
zugeführt werden können. Die psychoanalytische Therapie ist aber
erfahrungsgemäß diejenige, welche am eindringlichsten wirkt, am
weitesten trägt, durch welche man die intensivsten Veränderungen
des Kranken erzielt. Ganz abgesehen vom therapeutischen Gesichts-
punkte aber verdanken wir dieser unersetzlichen Methode so uner-
wartet reiche Aufklärungen zur Neurosenlehre, daß das allein gelegent-
liche Mißerfolge, wie sie übrigens keiner Therapie erspart bleiben,
mehr als rechtfertigt. Jedenfalls ist die Psychoanalyse die interessanteste
von allen Psychotherapien, weil sie allein uns etwas über die Ent-
stehung und den Zusammenhang der Krankheitserscheinungen lehrt.
Infolge der Einsichten in den Mechanismus des seelischen Krankseins
aber, die sie uns eröffnet, kann nur sie allein im stände sein, über
sich selbst hinauszuführen und auch für die Prophylaxe wichtige Mittel
zu bieten.
* *
*
Die eigentümliche Methode der Psychotherapie,*) die Freud aus-
übt und als Psychoanalyse bezeichnet, ist aus dem sogenannten
kathartischen Verfahren hervorgegangen, über welches er seinerzeit in
den „Studien über Hysterie" in Gemeinschaft mit J. Breuer berichtet
hatte. Die kathartische Therapie war eine Erlindung Breuers, der
mit ihrer Hilfe etwa ein Dezennium vorher eine hysterische
Kranke hergestellt und dabei Einsicht in die Pathogenese ihrer
Symptome gewonnen hatte. Infolge einer persönlichen Anregung
Breuers nahm dann Freud das Verfahren auf und erprobte es an
einer größeren Anzahl von Kranken.
Das kathartische Verfahren setzte voraus, daß der Patient
hypnotisierbar sei und beruhte auf der Erweiterung des Bewußtseins,
die in der Hypnose eintritt. Es setzte sich die Beseitigung der
Krankheits s y m p t o m e zum Ziele und erreichte dies, indem es den
Patienten sich in den psychischen Zustand zurückversetzen ließ, in
welchem das Symptom zum erstenmal aufgetreten war. Es tauchten
dann bei dem hypnotisierten Kranken Erinnerungen, Gedanken and
Impulse auf, die in seinem Bewußtsein bisher ausgefallen waren, und
*) Die im folgenden dargestellte „Freudscho psychoanalytische
Methode" ist eine vielfach erweiterte Wiedergabe dos gleichnamigen Artikels von
Freud (Lit.-V. Nr. 18). — Vgl. Freuds ergänzende, fortlaufende Artikelserie zur
allgemeinen Mothodik der Psychoanalyse im „Zentralblatt f. Psa." und
der °„ Internat. Zeitscb. f. ä. Psa. u (Lit.-Verz.).
9*
]32 VI11 - Die psychoanalytische Untersachung und Behandlung.
wenn er diese seelischen Vorgänge unter intensiven Affektäußerungen
dem Arzte mitgeteilt hatte, war das Symptom überwunden, die Wieder-
kehr desselben aufgehoben. Diese anscheinend regelmäßig zu wieder-
holende Erfahrung erläuterten die beiden Autoren in ihrer gemeinsamen
Arbeit dahin, daß das Symptom an Stelle von unterdrückten und
nicht zum Bewußtsein gelangenden psychischen Vorgängen stehe, also
eine Umwandlung („Konversion") der letzteren darstelle. Die thera-
peutische Wirksamkeit ihres Verfahrens erklärten sie sich aus der
Abfuhr des bis dahin gleichsam „eingeklemmten Affekts", der an den
unterdrückten seelischen Aktionen gehaftet hatte („Abreagieren"). Das
einfache Schema des therapeutischen Eingriffes komplizierte sich aber
nahezu alle Male, indem sich zeigte, daß nicht ein einzelner („trauma-
tischer") Eindruck, sondern meist eine schwer zu übersehende Reihe
von solchen an der Entstehung des Symptoms beteiligt sei.
Der Hauptcharakter der kathartischen Methode, der sie in Gegen-
satz zu allen anderen Verfahren der Psychotherapie setzt, liegt also
darin, daß bei ihr die therapeutische Wirksamkeit nicht einem sugge-
stiven Verbot des Arztes übertragen wird. Sie erwartet vielmehr,
daß die Symptome von selbst verschwinden werden, wenn es dem
Eingriff, der sich auf gewisse Voraussetzungen über den psychischen
Mechanismus beruft, gelungen ist, seelische Vorgänge zu einem anderen
als dem bisherigen Verlaufe zu bringen, der in die Symptombildung
eingemündet hat.
Die Abänderungen, die Freud an dem kathartischen Verfahren
Breuers vornahm, waren zunächst Änderungen der Technik; diese
brachten neue Ergebnisse und haben in weiterer Folge zu einer anders-
artigen, wiewohl der früheren nicht widersprechenden Auffassung der
therapeutischen Arbeit genötigt.
Hatte die kathartische Methode bereits auf die Suggestion ver-
zichtet, so unternahm Freud den weiteren Schritt, auch die Hypnose
aufzugeben. Da das Hypnotisiertwerden, trotz aller Geschicklichkeit
des Arztes, bekanntlich in der Willkür des Patienten liegt, und eine
große Anzahl neurotischer Personen durch kein Verfahren in Hypnose
zu versetzen ist, so war durch den Verzicht auf die Hypnose die An-
wendbarkeit des Verfahrens auf eine uneingeschränkte Anzahl von
Kranken gesichert. Überdies ist der Hypnose vorzuwerfen, daß sie
dem Arzt den Einblick in das Spiel der psychischen Kräfte ver-
wehrt, daher unvollständige Auskünfte und häufig nur vorübergehende
Erfolge ergibt.
Die Einfalle der Kranken. jgjj
Einen allgemein gangbaren Weg, auf dem sich noch viel reich-
licher und vollkommener das bis auf die Kindheitserinnerungen zurück-
reichende, nicht bewußte Material einstellte, fand Freud in der Ver-
wertung der Einfälle der Kranken, d.h. der ungewollten, meist
als störend empfundenen und darum unter gewöhnlichen Verhältnissen
beseitigten Gedanken, die bei der Analyse — in der Einstellung des
Kranken auf den Arzt und den Krankheitskomplex — sich unwill-
kürlich an die psychische Oberfläche drängen.*) Ging also die Arbeit
seinerzeit von den Symptomen aus, und setzte sich die Auflösung derselben
der Reihe nach zum Ziele, so hat Freud diese Technik seither aufge-
geben, weil er sie der feineren Struktur der Neurose völlig unangemessen
fand. Er läßt nun den Kranken selbst das Thema der täglichen Arbeit be-
stimmen und geht dabei von dem jeweils im Vordergrund stehenden
Komplex aus. So erhält man allerdings das Material, das zu einer
Symptomlösung gehört, zerstückelt, in verschiedene Zusammenhänge
verflochten und auf weit auseinanderliegende Zeiten verteilt ; doch ist
trotz dieses scheinbaren Nachteils die neue Technik der alten weit
überlegen.
Um sich nun dieser Einfälle zu bemächtigen, bedient sich Freud
folgenden äußeren Hilfsmittels. Er läßt die Kranken eine bequeme
Rückenlage auf einem Ruhebett einnehmen, während er selbst ihrem
Anblick entzogen ist. Den Verschluß der Augen fordert er nicht
von ihnen und vermeidet jede Berührung sowie jede andere Prozedur,
die an Hypnose mahnen könnte. Eine solche Sitzung verläuft also wie ein
Gespräch zwischen zwei gleich wachen Personen, von denen die eine sich
jede Muskelanstrengung und jeden ablenkenden Sinneseindruck erspart,
die sie in der Konzentration ihrer Aufmerksamkeit auf ihre eigene seelische
Tätigkeit stören könnten. Er schärft ihnen, ehe er sie zur Schilderung
ihrer Lebens- und Krankengeschichte auffordert,**) ein, alles mit
zu sagen, was ihnen dabei durch den Kopf geht, auch wenn
sie meinen, es sei unwichtig oder es gehöre nicht dazu
oder es sei unsinnig. Mit besonderem Nachdruck aber
wird von ihnen verlangt, daß sie keinen Gedanken oder
*) Die experimentelle Bestätigung dieser Voraussetzung der Freud sehen
Behandlungsmethode hat der schon erwähnte, von der Züricher Schule unter-
nommene „Assoziationsversuch" geliefert, dessen sich manche Analytiker
hilisweiso beim Versagen der Einfälle des Patienten bedienen.
**) Es empfiehlt sich für den Psychoanalytiker nicht, eine Untersuchung des
Status somaticus selbst vorzunehmen, sondern sie ist womöglich durch einen Spezial-
arzt vornehmen zu lassen.
134 vm - Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlung.
Einfall darum von der Mitteilung ausschließen, weil
ihnen diese Mitteilung beschämend oder peinlich wäre.
Bei den Bemühungen, dieses Material an sonst beiseite geschobenen
Einfällen zu sammeln,*) machte nun Freud die Beobachtungen, die
für seine ganze Auffassung bestimmend geworden sind. Schon bei
der Erzählung der Krankengeschichte stellen sich bei den Kranken
Lücken der Erinnerung heraus, sei es, daß tatsächlich Vorgänge
vergessen worden, sei es, daß zeitliche Beziehungen verwirrt oder
Kausalzusammenhänge zerrissen worden sind, so daß sich un-
begreifliche Effekte ergeben. Ohne Amnesie irgend einer Art gibt
es keine neurotische Krankengeschichte, und der Psychoanalytiker muß
sich nur wundern, wie die glatten und exakten Krankengeschichten
Hysterischer bei den anderen Autoren entstanden sind. Erst im Ver-
laufe der Behandlung trägt dann der Kranke nach, was er zurück-
gehalten oder was ihm nicht eingefallen ist, obwohl er es einmal
gewußt hat. Drängt man den Erzählenden, diese Lücken seines Ge-
dächtnisses durch angestrengte Arbeit der Aufmerksamkeit auszufüllen,
so merkt man, daß die hiezu sich einstellenden Einfälle von ihm mit
allen Mitteln der Kritik zurückgedrängt werden, bis er endlich das
direkte Unbehagen verspürt, wenn sich die Erinnerung wirklich ein-
gestellt hat. Aus dieser Erfahrung schloß Freud, daß die Amnesien
das Ergebnis des Vorganges sind, den er als „Verdrängung" beschrieben
hat. Die psychischen Kräfte, welche diese Verdrängung herbeigeführt
haben, sind in dem Widerstand, der sich gegen die Wieder-
belebung und Mitteilung erhebt, zu verspüren. Diese Widerstände
aufzusuchen und zu lösen ist der wichtigste Teil der
therapeutischen Arbeit geworden.
Das Moment des Widerstandes ist eines der Fundamente der
Freud sehen Theorie. Die sonst unter allerlei Vorwänden beseitigten
Einfälle sind als Abkömmlinge der verdrängten psychi-
schen Gebilde (Gedanken und Regungen) zu betrachten, als
Entstellungen derselben infolge des gegen ihre Reproduktion bestehenden
Widerstandes. Auch die Einfälle des Kranken sind quasi Symptome,
neue, künstliche und ephemere Ersatzbildungen für das Verdrängte, die
*) Freud warnt davor, die Zeit der Behandlung selbst zur ausführlichen
Niederschrift des Gehörten zu verwenden, weil dies das Mißtrauen des Kranken
erwecken, anderseits den Arzt in der Wertung des gebotenen Materials beeinflussen
würde. Nachträgliche Notizen jedoch sind unentbehrlich, ebenso regelmäßige
Niederschriften, wenn man die Analyse ausführlich publizieren will.
Deutungskunst. Jgg
aber schon so stark entstellt sind, daß sie nur die entfernteste Ähnlich-
keit mit dem Verdrängten haben. Bei nicht zu intensivem Widerstand muß
es also möglich sein, aus den dem Gesuchten immer näherkommenden
Einfällen das Verborgene aufzufinden. Je größer der Widerstand, desto
ausgiebiger allerdings die Entstellung. Auf dieser Beziehung der un-
beabsichtigten Einfälle zum verdrängten psychischen
Material beruht nun ihr Wert für die therapeutische Technik. Wenn
man ein Verfahren besitzt, welches ermöglicht, von den Einfällen aus
zu dem Verdrängten, von den Entstellungen aus zum Entstellten zu
gelangen, so kann man vollkommener als durch Hypnose das früher
Unbewußte im Seelenleben dem Bewußtsein zugänglich machen.
Freud hat in mühsamer empirischer Arbeit darauf eine D e u-
tungskunst ausgebildet, welcher diese Leistung zufällt, die gleichsam
aus den Erzen der unbeabsichtigten Einfälle den Metallgehalt an ver-
drängten Gedanken darstellen soll. Objekt dieser Deutungsarbeit sind
jedoch nicht allein die Einfälle des Kranken, sondern auch seine
Träume, die den direktesten Zugang zur Kenntnis des Unbewußten
eröffnen,*) seine unbeabsichtigten, wie planlosen Handlungen (Sym-
ptomhandlungen) und die Irrungen**) seiner Leistungen im All-
tagsleben (Versprechen, Vergreifen u. dgl.).
Eine Reihe von empirisch gewonnenen Regeln ermöglicht es dem
Analytiker, aus den Einfällen des Patienten das unbewußte Material
zu konstruieren. Ferner gibt Freud Anweisungen, wie man es
zu verstehen habe, wenn die Einfälle des Patienten versagen,
und Erfahrungen über die wichtigsten typischen Widerstände, die
sich im Laufe einer solchen Behandlung einstellen. Obwohl nun
Freud noch keine zusammenfassende Darstellung der Details dieser
Deutungs- und Übersetzungstechnik veröffentlicht hat,***) so finden
sich doch namentlich in seinen Analysen und den (siehe Lit.-V.)
angeführten Artikeln zur Methodik wertvolle Hinweise zur Bewäl-
tigung gewisser sich in jeder psychoanalytischen Kur mit Regel-
mäßigkeit einstellender Schwierigkeiten, die sich nur durch eine genaue
*) Die Verwertung der Traumdeutokunst in der psychoanalytischen Kur
zei^t Freuds „Bruchstück einer Hysterieanalyse" (Lit.-V. Nr. 21). —
Über „die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse"
hat Freud ferner einige technische Regeln gegeben (Lit.-V. Nr. 48).
**) Die Deutungstechnik der Fehlleistungen ist in der „Psychopathologie
des Alltagslebens" dargelegt (Lit.-V. Nr. 16).
***) Die umfangreiche Arbeit über „Traumdeutung" ist als Vorläufer einer
solchen Einführung in die Technik anzusehen.
136 VIII. Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlung.
Kenntnis ihrer psychischen Motive und deren Mitteilung an den Kranken
aus dem Wege räumen lassen.
Wenn es nämlich zunächst den Anschein hat, als könne man sich
auf den Strom der Einfälle des Patienten, an deren Deutung die Kur
fortschreitet, verlassen, so lehrt jeder noch so kurze praktische Ver-
such, daß — wie es ja in der Natur der ganzen Behandlungsmethode
und ihrer Voraussetzungen liegt — die Analysenarbeit sehr häufig
durch die gegen das Preisgeben der Verdrängungen ankämpfenden
Widerstände unterbrochen wird. Die Beseitigung, d. h. Auf-
deckung dieser Widerstände ist die Hauptaufgabe der
Technik, nach deren Erledigung sich das zur Aufdeckung der Kom-
plexe nötige Material von selbst ergibt. Auf diese Widerstände, die
sich in die verschiedensten Formen kleiden und zu Pausen in den
Einfällen des Patienten führen, muß der Arzt vorbereitet sein. Die
Pausen haben, wie die aus zahlreichen Analysen gesammelte Erfahrung
ergeben hat, gewisse typische und für den kundigen Arzt leicht zu
durchschauende Ursachen. So wird eine grob sexuelle Erinne-
rung, deren Mitteilung dem Arzte gegen die Bedingung der Kur vor-
enthalten werden soll, die sich aber dem Patienten wider seinen Willen
immer wieder aufdrängt, regelmäßig zu einer solchen Pause in den
Einfällen führen. Ähnlich wirkt eine Störung des Verhältnisses
zum Arzte: sei es das Gefühl einer besonders intensiven Anti- oder
Sympathie, das vom Patienten nicht verraten werden will. Auch die
materielle Seite der Kur, eine Ungeduld des Patienten gegenüber
einer relativ längeren Dauer der Behandlung, kann den Fluß der Ein-
fälle unterbrechen.*) Der Widerstand äußert sieh häufig auch darin
daß die sonst oft reichlichen Traumberichte stocken oder in solcher
Fülle und in solchem Umfang fließen, daß ihre Bewältigung im Rahmen
der Kur unmöglich wird. Der geübte Psychoanalytiker wird den Patienten
über die im Wege stehenden Widerstände, respektive über die Motive
des Versagens seiner Einfälle, von Fall zu Fall aufklären; worauf die
Analyse fast immer in rascherem Tempo ihren Fortgang nimmt, weil
jedesmal durch die Aufhebung eines Widerstandes der Zugang zu
neuem, unbewußtem Material frei wird, dem dieser Widerstand zur
Deckung diente.
Wie schon erwähnt, kommt neben den Einfällen und Träumen
des Patienten eine besondere Bedeutung für die Aufklärung des un-
*) Ratschläge zur Verhütung solcher Widerstände gibt Freud (Lit.-V.
Nr. 60).
Symptomhandlungen. 1 87
bewußten Seelenlebens den sogenannten S y m p t o m li a n d 1 u n g e n zu.
Freud versteht darunter jene Verrichtungen, die der Mensch, wie man
sagt, „automatisch, unbewußt, ohne darauf zu achten, wie spielend"
vollzieht, denen er jede Bedeutung absprechen möchte, und die er für
gleichgültig und zufällig erklärt, wenn er nach ihnen gefragt wird.
Sorgfältigere Beobachtung zeigt dann, daß solche Handlungen, von
denen das Bewußtsein nichts weiß oder nichts wissen will, unbewußten
Gedanken und Impulsen Ausdruck geben, somit als zugelassene
Äußerungen des Unbewußten wertvoll und aufschlußreich sind. Neben
unbegrenzt vielen Möglichkeiten individueller und spezieller Symptom-
handlungen *) spielen in den Psychoanalysen gewisse typische Formen
regelmäßig mit. So deutet das Zuspätkommen des Patienten in die
Behandlungsstunde oft auf einen geheimen Widerstand gegen sein
Kommen an diesem Tage ; noch deutlicher spricht das gänzliche Fern-
bleiben von der Stunde mit einer gewöhnlich schwach motivierten
Ausrede für das Vorwalten mächtiger Widerstände. Ebenso wichtig
im Sinne einer Symptomhandlung sind die allerersten Mitteilungen
der Patienten, sowohl beim Beginne der Behandlung überhaupt,
wie auch die jeweilig ersten Äußerungen am Beginne jeder Be-
handlungsstunde. In ähnlich indirekter Weise, wie der Patient
vermittels der Symptomhandlungen dem Arzte eine Mitteilung macht,
deren direkte Äußerung ihm nicht möglich oder zu peinlich ist, so
kann auch ein zur Sprache gekommenes Thema in einem der näch-
sten Träume zum Ausdruck kommen.
Außer diesen Mitteilungen allgemeiner Natur hat Freud in den
von ihm publizierten Analysen einige der empirisch gewonnenen
Deutungsregeln in ihrer praktischen Verwertung gezeigt. So besonders
in einigen aufschlußreichen Hinweisen über Reaktionen des Patienten
auf gewisse Anleitungen oder unbewußte Vorgänge enthüllende Mit-
teilungen des Arztes. Unter diesen Reaktionen des Kranken ist be-
sonders das von Freud sogenannte „unbewußte Ja" hervorzuheben,
worunter Freud Einfälle versteht, die etwas zu einer Behauptung
des Arztes Stimmendes, dieselbe nur nicht direkt Bestätigendes ent-
halten. Eine weitere indirekte Bestätigung, daß es gelungen ist, der
bewußten Wahrnehmung das verhüllte Unbewußte zu offenbaren, ist
ein auffallendes Lachen des Patienten in der Kur, das auch dann
eintritt, wenn der Inhalt des Enthüllten es keineswegs rechtfertigt.
*) Beispiele hiefür findet man im „Bruch stück einer Hysterieanalyse"
sowie in der „Psychopathologie des Alltagslebens".
^38 VIII. Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlung.
Andere Formen der Bejahung sind aus dem Unbewußten nicht zu ver-
nehmen ; ein unbewußtes Nein gibt es überhaupt nicht. Unter diesem
Gesichtspunkte ist das „Nein", das man vom Patienten zu hören be-
kommt, nachdem man seiner bewußten Wahrnehmung zuerst den
verdrängten Gedanken vorgelegt hat, zunächst oft nur als Konstatierung
der Verdrängung aufzufassen und seine Entschiedenheit mißt gleichsam
die Stärke derselben. "Wenn man dieses Nein nicht als Ausdruck eines
unparteiischen Urteils, dessen der Kranke ja nicht fähig ist, auffaßt,
sondern darüber hinweggeht und die Arbeit fortsetzt, so stellen sich
bald die ersten Beweise ein, daß Nein in solchem Falle das erwartete
Ja bedeutet. In ähnlichem Sinne ist auch die sehr häufige Art der
Patienten aufzufassen, eine aus dem Verdrängten auftauchende Kenntnis
von sich wegzuschieben, indem sie auf eine diesbezügliche Andeutung
des Arztes erwidern: „Ich wußte, daß Sie das sagen würden!" —
Eine weitere Regel, die sich empirisch aus der Technik der Psycho-
analyse ergeben hat, lautet, daß sich ein innerer aber noch verborgener
Zusammenhang durch die Kontiguität, diezeitlicheNachbarschaft
der Einfälle kundtut, genau so wie in der Schrift a und b neben-
einander gesetzt bedeutet, daß daraus die Silbe ab gebildet werden
soll. Eine weitere Erfahrung lehrt, bei zweifelnder Darstellung
von der darin liegenden Urteilsäußerung des Erzählers völlig abzusehen
und den Bericht im positiven Sinne aufzufassen. Bei zwischen zwei
Gestaltungen schwankender Darstellung halte man eher die erst ge-
äußerte für richtig, die zweite für ein Produkt der Verdrängung. Auf
dieser Erfahrung fußt auch der Kunstgriff des Traumdeuters, sich
den Traum ein zweites Mal erzählen zu lassen und an den veränderten
Stellen, als den am wenigsten gesicherten, die Deutungsarbeit zu
beginnen.
Die Aufgabe, welche die psychoanalytische Methode zu lösen be-
strebt ist, läßt sich in verschiedenen Formeln ausdrücken, die aber
ihrem Wesen nach äquivalent sind. Man kann sagen : Aufgabe der
Kur sei, die Amnesien aufzuheben. Wenn alle Erinnerungslücken
ausgefüllt, alle rätselhaften Effekte des psychischen Lebens aufgeklärt
sind, ist der Fortbestand, ja eine Neubildung des Leidens unmöglich
gemacht. Man kann die Bedingung anders fassen : es seien alle Ver-
drängungen rückgängig zu machen; der psychische Zustand ist dann
derselbe, in dem alle Amnesien ausgefüllt sind. Weittragender ist
eine andere Fassung: es handle sich darum, das Unbewußte dem Be-
wußtsein zugänglich zu machen, was durch Überwindung der Wider-
Indikationen und Gegenindikationen. ] 39
stände geschieht. Damit ist ein Stück Erziehungsarbeit geleistet und
als eine solche Nacherziehung zur Überwindung von Kindheitsresten
kann man die psychoanalytische Behandlung ganz allgemein auffassen.
Man darf aber nicht vergessen, daß ein solcher Idealzustand auch
beim normalen Menschen nicht besteht und daß man nur selten in
die Lage kommen kann, die Behandlung annähernd, so weit zu führen.
So wie Gesundheit und Krankheit nicht prinzipiell geschieden, sondern
nur durch eine praktische, bestimmbare Summationsgrenze gesondert
sind, so wird man sich auch nie etwas anderes zum Ziele der Be-
handlung setzen, als die praktische Genesung des Kranken, die Her-
stellung seiner Leistungs- und Liebesfähigkeit. Bei unvollständiger
Kur oder unvollkommenem Erfolge derselben erreicht man vor allem
eine bedeutende Hebung des psychischen Allgemeinzustandes, während
ein oder das andere Symptom — aber mit geminderter Bedeutung fin-
den Kranken — fortbestehen kann, ohne ihn zu einem Kranken zu
stempeln.
Das therapeutische Verfahren bleibt, von gewissen Modifikationen
abgesehen, welche der Darstellung einer speziellen Therapie vorbehalten
bleiben, das nämliche für alle Symptombilder der vielgestaltigen
Hysterie und ebenso für alle Ausbildungen der Zwangsneurose. Von
einer unbeschränkten Anwendbarkeit desselben ist aber keine Rede.
Die Natur der psychoanalytischen Methode schafft Indikationen und
Gegenindikationen, sowohl von Seiten der zu behandelnden
Personen, als auch mit Rücksicht auf das Krankheitsbild. Am
günstigsten für die Psychoanalyse sind die chronischen Fälle von
Psychoneurosen mit wenig stürmischen oder gefahrdrohenden Sym-
ptomen, also zunächst alle Arten der Zwangsneurose, Zwangsdenken
oder Zwangshandeln, sowie der Hysterie, insbesondere Fälle, in denen
Phobien und Abulien die Hauptrolle spielen; weiterhin aber auch alle
somatischen Ausprägungen der Hysterie, insofern nicht, wie bei der
Anorexie, rasche Beseitigung der Symptome zur Hauptaufgabe des
Arztes wird. Bei akuten Fällen von Hysterie wird man den Eintritt
eines ruhigeren Stadiums abzuwarten haben ; in allen Fällen, bei
denen die nervöse Erschöpfung obenan steht, wird man ein Verfahren
vermeiden, welches selbst Anstrengung erfordert, nur langsame Fort-
schritte zeitigt und auf die Fortdauer der Symptome eine Zeitlang
keine Rücksicht nehmen kann.
An die Person, die man mit Vorteil der Psychoanalyse unter-
ziehen soll, sind mehrfache Forderungen zu stellen. Sie muß erstens
140 VIII. Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlung.
eines psychischen Normalzustandes fähig sein, von dem aus sich das
pathologische Material bewältigen läßt; in Zeiten der Verworrenheit
oder melancholischer Depression ist auch bei einer Hysterie nichts
auszurichten. Man darf ferner ein gewisses Maß natürlicher Intelligenz
und ethischer Entwicklung fordern; bei wertlosen Personen läßt den
Arzt bald das Interesse im Stiche, welches ihn zur Vertiefung in das
Seelenleben des Kranken befähigt. Ausgeprägte Charakterverbildungen,
Züge von wirklich degenerativer Konstitution äußern sich bei der
Kur als Quelle von kaum zu überwindenden Widerständen. Insoweit
setzt überhaupt die Konstitution eine Grenze für die Heilbarkeit
durch Psychotherapie. Auch eine Altersstufe in der Nähe des fünften
Dezenniums schafft ungünstige Bedingungen für die Psychoanalyse.
Die Masse des psychischen Materials ist dann nicht mehr zu bewäl-
tigen, die zur Herstellung erforderliche Zeit wird zu lange und die
Fähigkeit, psychische Vorgänge rückgängig zu machen, beginnt zu
erlahmen.
Trotz aller dieser Einschränkungen ist die Anzahl der für die
Psychoanalyse geeigneten Personen eine außerordentlich große und die
Erweiterung unseres therapeutischen Könnens durch dieses Verfahren
eine sehr beträchtliche. Freud beansprucht lange Zeiträume, ein halbes
Jahr bis drei Jahre, für eine wirksame Behandlung ; er gibt aber die
Auskunft, daß er bisher infolge verschiedener leicht zu erratender
Umstände meist nur in die Lage gekommen ist, seine Behandlung an
sehr schweren Fällen zu erproben, Personen mit vieljähriger Krank-
heitsdauer und völliger Leistungsunfähigkeit, die durch alle Behand-
lungen enttäuscht, gleichsam eine letzte Zuflucht bei seinem neuen
und viel angezweifelten Verfahren gesucht haben. In Fällen leichterer
Erkrankung dürfte sich die Behandlungsdauer entsprechend verkürzen,
und insbesondere ein außerordentlicher Gewinn an Vorbeugung für die
Zukunft erzielen lassen. Dies gilt besonders für die in ihrer Häufig-
keit und Bedeutsamkeit noch nicht genügend gewürdigten Neurosen
der Kinder, die, wie es nach den bisherigen Erfahrungen scheint,
durch den psychoanalytisch Kundigen sehr gut beeinflußbar sind. Für
deren Behandlung empfiehlt es sich, neben der persönlichen Beobachtung
des Kindes, die unwillkürlichen Äußerungen desselben von einer ver-
trauenswürdigen und geeigneten Person, die das Kind die ganze Zeit
über im Auge behalten kann (am besten, wo dies angeht, von den
Eltern), aufzeichnen zu lassen.
Schwierigkeiten der Methode.
141
Die geschilderte Art der psychoanalytischen Behandlung, welche
dem Patienten den Hauptanteil der Arbeit überläßt, könnte den An-
schein erwecken, daß es sich dabei um eine leicht erlern- und anwend-
bare Technik handle. Wenn nun auch zuzugeben ist, daß ihre Aus-
übung dem hiezu geeigneten und entsprechend geschulten Arzte, der
nicht etwa durch eigene, nicht analysierte Komplexe gehemmt sein
darf, mit der Zeit keine Schwierigkeiten macht, so erfordert doch
ihre Erlernung besonders vom Anfänger große Mühe und Geduld.
Vor allem wird er es lernen müssen, sich selbst in einen ähnlichen
Zustand, wie er ihn vom Kranken verlangt, zu versetzen — gleichsam
Unbewußtes gegen Unbewußtes — und in dieser Art der „gleich-
schwebenden Aufmerksamkeit" das gebotene Material aufzunehmen,
ohne es voreilig deuten oder werten zu wollen. Allerdings fließen die
Einfälle des Patienten, welche die Grundlage der Kur abgeben, nicht
immer so leicht, so reichlich und in der gesuchten Deutlichkeit, als
zum merklichen Fortschritt der Behandlung notwendig wäre. Es liegt
ja im Wesen der neurotischen Erkrankung und der daran beteiligten
Verdrängungsvorgänge, daß die verschiedenen psychischen Hemmungen
nur aufgehoben werden können unter einem Widerstand, dessen Größe
den Kräften entspricht, die an der Verdrängung teilhatten. Der Kranke,
resp. die Krankheit wendet alle Mittel der Zensur, der Verhüllung,
der Verkleidung, Symbolisierung, selbst vorübergehende Symptom-
bildung*) an, um das eigentlich Gesuchte, die verdrängte unbewußt-
sexuelle Wurzel, unzugänglich zu machen. So geht die Kur unter
ständiger Bekämpfung des immer wieder auftauchenden Widerstandes
vor sich. Die Erschließung des unbewußten Seelenlebens ist not-
wendigerweise mit Unlust verbunden und deswegen wird es vom
Patienten immer wieder zurückgewiesen. Man kann die Schwierig-
keiten der Sache daran ermessen, daß die Kur sich erst dann ihrem
Ende nähert, wenn, durch alle Schichten des Seelenlebens hindurch
und nach Ersetzung aller Gedächtnislücken (Amnesien) des Patienten,
bis in die frühesten Kinderjahre vorgedrungen worden ist. Der
große Reichtum des Erlebten, der eben auch bei jahrzehntelanger
Krankheit endlich unerschöpfbar wird, sowie die notwendigen Wider-
stände, unter denen die wirksame Bewußtmachung des Unbewußten
vor sich geht, sind jene Umstände, welche die Geduld des Patienten
wie des Arztes so sehr anspannen und die Kur über so viele Monate,
*) Dr. S. Ferenczi: „Über passagere Symptombildungen während der Ana-
lyse" (Zentralbl. f. Psa., II, H. 10/11).
142 VIII. Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlung.
ja selbst Jahre hinziehen können. Diese Anforderung an die Geduld
des Patienten verschwindet allerdings gegenüber jener Geduld, welche
die Fortdauer schwererer Krankheitserscheinungen ihm zumutet.
In letzter Linie ist es der Inhalt der infantilen Verdrängung,
in welchem sich das pathogene Material vorfindet, das gar nicht deutlich
vom Kranken preisgegeben werden kann, sondern vom Arzte auf Grund
seiner früheren Erfahrungen zum Teil erraten und dem Patienten zur
bewußten Erfassung seiner unbewußten Wunschregungen zur Ver-
fügung gestellt werden muß. Dies erreichen wir, indem wir auf Grund
der Andeutungen, die er uns macht, mit Hilfe unserer Deutekunst
den unbewußten Komplex mitunseren Worten vor sein Bewußtsein
bringen. Das Stück Ähnlichkeit zwischen dem, was er gehört hat,
und dem, was er sucht, das sich selbst trotz aller Widerstände zum
Bewußtsein durchdrängen will, setzt ihn in den Stand, das Unbewußte
zu finden. Der Arzt ist ihm im Verständnis um ein Stück voraus,
der Patient kommt auf seinen eigenen Wegen nach, bis beide sich am
bezeichneten Ziele treffen. Anfänger in der Psychoanalyse pflegen
diese beiden Momente zu verwechseln und den Zeitpunkt, in dem
ihnen ein unbewußter Komplex des Kranken kenntlich geworden ist,
auch für den zu halten, in dem der Kranke ihn erfaßt. Sie erwarten
zu viel, wenn sie mit der Mitteilung dieser Erkenntnis den Kranken
heilen wollen, während er das Mitgeteilte nur dazu verwenden kann,
mit dessen Hilfe den unbewußten Komplex in seinem Unbewußten,
dort, wo er verankert ist, aufzufinden. Dieses eigentlich Unbewußte ist
ihm erst mitzuteilen, wenn er durch Vorbereitung schon selbst in die
Nähe des Verdrängten gelangt ist und nur zu einer Zeit, wo ihm das
intensive Attachement an den Arzt das Peinliche dieser Aufdeckung
mildert und weniger beschämend macht. — Mit diesem Teile der Ana-
lysenarbeit findet übrigens auch jenes rein abwartende Verhalten des
Arztes eine Einschränkung, das vorhin als Bedingung der Behandlung
hervorgehoben wurde. Es fällt hier ins Gewicht, daß der kundige
Arzt seinen Patienten ja nicht unvorbereitet entgegentritt und in der
Regel nicht Aufklärung, sondern bloß Bestätigung seiner Vermutungen
von ihnen zu fordern hat. Die Psychoanalyse eines Kranken ist eben
keine tendenzlose wissenschaftliche Untersuchung, sondern ein thera-
peutischer Eingriff; sie will an sich nichts beweisen, sondern nur etwas
ändern. Jedesmal gibt der Arzt in der Analyse dem Patienten die
bewußten Erwartungs Vorstellungen, mit deren Hilfe er im
stände sein soll, das Unbewußte zu erkennen und zu erfassen. Aber
Die Übertragung. I43
was der Arzt dein Patienten mitteilt, entstammt doch selbst wieder
analytischen Erfahrungen, und es ist beweisend genug, wenn mit dem
Aufwände dieser ärztlichen Einmengung der Zusammenhang und die
Lösung des pathogenen Materials erreicht wird. Am besten leitet man
diese Erwartungsvorstellungen dadurch ein, daß man dem Patienten
bei geeigneter Gelegenheit Einblick in Sinn und Gang der psycho-
analytischen Therapie sowie in ihre psychologischen Voraussetzungen
gibt, ihn z. B. über die Bedeutung des psychologischen Unterschiedes
zwischen Bewußtem und Unbewußtem, über den Infantilismus usw.
aufklärt und womöglich dies ihn am eigenen Material selbst finden
und verstehen läßt.*) Es darf jedoch niemals die Absicht solcher
Diskussionen sein, Überzeugungen hervorzurufen. Sie sollen nur die
verdrängten Komplexe ins Bewußtsein einführen, den Streit um sie
auf dem Boden bewußter Seelentätigkeit anfachen und das Auftauchen
neuen Materials aus dem Unbewußten erleichtern. Die Überzeugung
stellt sich erst nach der Bearbeitung des wiedergewonnenen Materials
durch den Kranken her, und solange sie schwankend ist, darf man
das Material als nicht erschöpft beurteilen.
Aber auch ohne die intellektuelle Überzeugung gewonnen zu
haben, pflegen die Kranken, in jener eigentümlichen Einstellung des
autoritativen Glaubens und des Unterweisungsbedürfnisses dem Arzte
gegenüber, sich für diese Dinge gefühlsmäßig zu interessieren, wodurch
sie sich allmählich auch intellektuell in die Theorie einarbeiten. Wir
stoßen hier auf ein höchst wichtiges Moment der psychoanalytischen
Behandlung, nämlich auf die Tatsache der „Übertragung",**) wie
Freud jene eigentümliche psychische Abhängigkeit und respektvolle
Sympathie genannt hat, die der Neurotiker dem Arzte, dem er sich
anvertraut, entgegenbringt und ohne deren Zustandekommen — das
gelegentlich an den nicht zusammenstimmenden Persönlichkeiten
scheitert — die Kur bald nach ihrem Beginne von selbst ein Ende
fände.***) Tritt die Übertragung voll ein. so kann man ihre suggestive
Kraft erfolgreich zur Auflösung der Widerstände mobilisieren. Diese
sogenannte Übertragung ist im Grunde genommen nichts anderes, als
*) Die Lektüre einschlägiger Publikationen durch den Patienten ist der Kur
nicht förderlich.
**) Vgl- Freud: „Zur Dynamik der Übertragung", Stekel: „Die
verschiedenen Formen der Übertragung", Epstein u.a. im Zentralblatt, IL Jahrg.
Ferner Ferenczi: „Introjektion und Übertragung". (Jahrbuch, I, pag. 422 ff.)
* K *) Auffallende Erfolge gleich nach Beginn der psychoanalytischen Kur be-
ruhen bloß auf Übertragung und sind nur flüchtige Scheinerfolge.
■
144 VIIf ' Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlung.
was bei jeder psychischen Beeinflussung statt hat; ja man kann sagen,
daß eigentlich überhaupt keine ärztliche Behandlung ohne einen ge-
wissen Grad jener vertrauensvollen Sympathie des Leidenden möglich
ist. Besonders ist nach Freuds Erfahrung sicher, daß z. B. auch die
Anstaltsbehandlung nur auf solcher von Sympathiegefühlen gebotenen
Unterordnung unter die Autorität des geschätzten Arztes beruht. Nun
sind die von der Realität nicht restlos befriedigten Neurotiker freilich
viel reicher an frei verfügbarem Liebesbedürfnis (Libido), dessen
Quantität durch die analytische Auflösung der libidinösen Hemmungen
stetig vergrößert wird, so daß es kein Wunder ist, wenn bei ihnen
dieses Sympathieverhältnis zum Arzte intensiver und gefühlsbetonter
ausfällt als beim organisch Kranken. Was ist selbstverständlicher,
als daß sich dieses frei flottierende und das aus der Verdrängung be-
freite Liebesbedürfnis (im weitesten Umfange der Erotik) auf dem Wege
sublimierter Homo- oder Heterosexualität auf den behandelnden Arzt
überträgt", dessen intime und langwährende Beschäftigung mit
dem Seelenleben des Kranken der günstigste Boden für solche Keime
ist. Die Übertragung ist also nicht eine spezifische Folge der psycho-
analytischen Therapie, sondern sie tritt nur hier vermöge der psycho-
logischen Bedingungen, unter denen die Kur durchgeführt wird, klar
zu Tage. Empfindsame Kritiker brauchen sich jedoch nicht bei dem
Gedanken zu entrüsten, daß der Arzt dieses Verhältnis in irgend einer
Weise mißbrauchen oder ausnützen könnte. Im Gegenteil lautet die
Regel, daß man dem Kranken seine Übertragung fortwährend auf-
zulösen hat, indem man ihn darüber aufklärt, daß sein ganzes so
intensives Interesse an der Person des Arztes nur Übertragung früherer,
ursprünglich anderen Personen zugedachter Gefühlsregungen ist. Die
Produktivität der Neurose ist nämlich während der psychoanalytischen
Behandlung nicht unterbrochen — obwohl die Neubildung von Sym-
ptomen im allgemeinen sistiert — , sondern betätigt sich vorwiegend
in der Schöpfung dieser besonderen Art von meist unbewußten
Gedankenbildungen, welchen der Name Übertragung deswegen verliehen
wurde, weil sie Neuauflagen, Nachbildungen von Regungen oder
Phantasien sind, die während des Vordringens der Analyse erweckt
und bewußt gemacht werden sollen. Die Libidobesetzung knüpft an
Klischees an, die bei der betreffenden Person vorhanden sind, sie fügt
den Arzt in eine der psychischen „Reihen" ein, die der Leidende
bisher gebildet hat. Es entspricht den realen Beziehungen zum Arzt,
wenn für diese Einreihung die Vater-Imago (Jung) maßgebend
Die negative Übertragung. 146
ist, selten die Mutter- oder Bruder-Imago. Um es anders
zu sagen: Eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird
nicht als vergangen erinnert, sondern als aktuelle Beziehung zum
Arzte wieder durchlebt. Der Arzt spielt, um Ferenczis treff-
lichen Vergleich aus der Chemie zu gebrauchen, die Rolle eines
katalytischen Ferments", das die bei dem Prozesse freiwerdenden
Affekte zeitweilig an sich reißt. Es gibt Übertragungen, die sich in"
ihrem Inhalte von ihrem Vorbilde in gar nichts bis auf die Ersetzung
unterscheiden. Das sind also einfache Neudrucke, unveränderte
Neuauflagen. Andere sind kunstvoller gemacht und haben eine
Milderung ihres Inhaltes, eine Sublimierung, erfahren, sind also
gleichsam Neubearbeitungen. Die Übertragung ist in jeder psycho-
analytischen Kur etwas notwendig Gefordertes, und man kann sich in
praxi unschwer davon überzeugen, daß ihr durch keinerlei Mittel
auszuweichen ist, und daß man diese letzte Schöpfung der Krankheit
wie alle früheren zu bekämpfen hat. Dieses Stück der Arbeit ist
das bei weitem schwierigste, weil man die Übertragung fast ohne
jede Hilfe des Patienten, auf geringfügige Anhaltspunkte hin und ohne
sich der Willkür schuldig zu machen, selbständig erraten muß. Zu
umgehen ist sie aber nicht, da sie zur Herstellung all der Hindernisse
verwendet wird, welche das Material unzugänglich machen.
Man wird geneigt sein, es für einen schweren Nachteil des ohne-
hin unbequemen Verfahrens zu halten, daß dasselbe die Arbeit des
Arztes durch Schöpfung einer neuen Gattung von krankhaften
psychischen Produkten noch: vermehrt, ja, wird vielleicht eine Schädi-
gung des Kranken durch die analytische Kur aus der Existenz der
Übertragung ableiten wollen. Beides wäre irrig. Die Arbeit des Arztes
wird durch die Übertragung nicht wesentlich vermehrt; es kann ihm
gleichgültig sein, ob er die betreffende Regung des Kranken in Verbindung
mit seiner Person oder mit einer anderen zu überwinden hat. Aber
auch dem Kranken nötigt die Kur mit der Übertragung keine neue
Leistung auf, die er nicht auch sonst vollzogen hätte. Wenn Heilungen
von Neurosen auch durch andere Beeinflussungen zu stände kommen,
so ist das auch nur auf Kosten einer solchen latent wirkenden Über-
tragung möglich. Der Unterschied äußert sich nur darin, daß der
Kranke dort überwiegend bloß zärtliche und freundschaftliche Über-
tragungen zu seiner Heilung wachruft. In der Psychoanalyse werden
hingegen, entsprechend einer veränderten Motivenlage, alle Regungen,
auch die feindseligen („negative Übertragung") geweckt, auf den
H i tjch in an n, Freuds Neurogenlohre. 2. Aufl. *v
146 VEtt- Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlung.
Arzt übertragen und durch Bewußtmachen für die Behandlung ver-
wertet, wobei die Übertragung immer wieder vernichtet wird. Die
Übertragung, die das größte Hindernis für die Psychoanalyse zu werden
bestimmt ist, wird zum mächtigsten Hilfsmittel derselben, wenn es
gelingt, sie jedesmal sogleich zu erkennen und dem Kranken zu über-
setzen. Man darf also nicht glauben, daß die Übertragung etwa im
Sinne einer dauernden Verknüpfung des Patienten mit dem Arzte
gemeint sei, wie man es z. B. der hypnotischen Therapie vorgeworfen
hat. Im Gegenteil wurde schon hervorgehoben, daß der Analysand fort-
laufend darüber aufgeklärt werden muß, und daß der Arzt, der dem
Patienten mit einer gewissen kühlen Überlegenheit gegenüberstehen
soll*), namentlich gegen Schluß der Analyse trachten muß, dem-
selben wieder so fremd zu werden, wie er es vor der Behandlung
war, wodurch nicht nur die eigentliche Heilung des Patienten, son-
dern auch seine Selbständigmachung ihren Abschluß erreicht. Das eine
oder das andere noch verharrende Symptom schwindet oft erst gänz-
lich und endgültig nach vollständiger Lösung des Übertragungsver-
hältnisses.
•*
Gegen das Verfahren Freuds haben sich wiederholt heftig ab-
lehnende Stimmen erhoben, charakteristischerweise jedoch nur von
solchen, welche die Methode gar nicht oder ungenügend angewendet
haben. Denn wer durch wiederholten Kontakt mit Neurotikern einen
intimen Einblick in die hysterische Psyche gewonnen hat, muß sich
dabei von der Wirksamkeit der Freud'schen Therapie überzeugen.
Dem zwingenden Eindruck der immer sich in den Vordergrund drän-
genden erotischen Komplexe sowie des von heftigen Widerständen
begleiteten Bewußtwerden des Verdrängten, kann sich niemand entziehen :
Die Gesetzmäßigkeit dieser empirischen Eindrücke ist geeignet,
die letzten Zweifel an der Existenz des Unbewußten und seinem spe-
zifischen Inhalt zu bannen.
Die Einwendungen der Kritiker entspringen zumeist nicht
sowohl der Sachkenntnis als einer aprioristischen Abneigung gegen das
Thema der Sexualität, welches nach der Ätiologie dieser Krankheitszustände
unausweichlich berührt werden muß. Dieselben Gegner entrüsten sich
*) Eine ähnliche Übertragung von Seiten des Arztes (Gegenüber-
tragung) ist zu vermeiden, resp. durch Selbstanalyse aufzuheben. Übrigens stellt
Freud die Forderung, es solle der die Psychoanalyse ausübende Arzt vorher sich
der Psychoanalyse durch einen Kollegen unterzogen haben.
Die Verwendung der befreiten Triebe. I4.7
auch ganz ungerechtfertigterweise über die Therapie in der Hinsicht,
daß sie auf die Patienten verführend wirke, sie auf das sexuelle Thema
und auf einen Subjektivismus hinführe, der ihnen nur schädlich sei.
Diese Art der vermeintlichen Suggestion ist aber nirgends so un-
möglich, wie gerade bei der Psychoanalyse, wo die freisteigenden Ein-
fälle des Patienten dem Fortgang der Kur den Weg weisen. Im Ge-
genteil weiß der Psychoanalytiker, daß die Analysenarbeit sofort stockt,
sowie der Arzt dem Patienten eine unrichtige oder verfrühte Lösung
zu suggerieren versucht. Der gewiegte Psychoanalytiker wird sieh
überhaupt so weit als möglich auf die passive Rolle des Zuhörers be-
schränken. Nicht selten bringt dann der neurotische Patient selbst
seine sexuellen Erlebnisse und Phantasien vor, und man muß nur
einmal das Gefühl der Erleichterung an dem Kranken, der sich zum
erstenmal vor einem verständnisvollen Richter anzuklagen hat, gesehen
haben, um sicher zu sein, daß dabei von Suggestion keine Rede sein
kann. — Freud hat auch nie, wie oberflächliche Beurteiler meinen,
durch seine Therapie jemand in ein brüskes Ausleben der Sexua-
lität drängen wollen. Er hebt vielmehr hervor, daß der Rat der
sexuellen Betätigung bei den Psychoneurotikern darum meist als ein
schlechter bezeichnet werden muß, weil beim Mechanismus der Neur-
ose nicht bloß die sexuelle Bedürftigkeit und Entbehrung ins Spiel
kommt. Der andere, ebenso wichtige und unerläßliche Faktor, an den
man allzu bereitwillig vergißt, ist die Sexualabneigung der Neuro-
tiker, ihre Unfähigkeit zum Lieben, jener psyclüsche Zug, auf dem
die Verdrängung beruht. Die psychoanalytische Behandlung hat auch
gar nicht das Ziel, die Triebe aus der Verdrängung zu befreien, um
sie ungehemmt ausleben zu können, sondern beabsichtigt, die Kranken
so weit zu bringen, daß siedieselbenteilsmitdenbe wußten
seelischen Mächten beherrschen, teils auf ein höheres
und darum einwandfreieres Ziel leiten (sublimieren).
Die gelegentlich geäußerte Befürchtung, daß die Entfesselung der
schlecht unterdrückten Triebe Schaden bringen müßte, wird hinfällig
durch die Erfahrung, daß die seelische und somatische Macht solcher
Triebregungen durch das Bewußt werden nur geschwächt wird.
Wenn ferner eingewendet wird, es hege darin eine Gefahr für
den einzelnen wie für die Gesellschaft, daß das sexuelle Thema in
seinem weitesten Umfange und in aller Ausführlichkeit während der
psychoanalytischen Behandlung zur Sprache komme, daß der Arzt kein
Recht habe, sich in die sexuellen Geheimnisse seiner Patienten ein-
10*
148 Vlll. Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlung.
zudrängen, ihre Schamhaft igkeit — besonders der weiblichen Per-
sonen — durch solches Examen gröblich verletze, daß eine un-
geschickte Hand nur Familienglück zerstöre, bei jugendlichen Personen
die Unschuld beleidige und der elterlichen Autorität vorgreife, bei
Erwachsenen unbequeme Mitwisserschaft erwerbe und sein eigenes
Verhältnis zu den Kranken störe, — so darf man wohl antworten:
Das ist die Äußerung einer des Arztes unwürdigen Prüderie, die mit
schlechten Argumenten ihre Blöße mangelhaft verdeckt. Wenn Mo-
mente aus dem Sexualleben wirklich als Krankheitsursachen zu er-
kennen sind, so fällt die Aufdeckung und die Besprechung dieser
Momente eben hiedurch ohne weiteres Bedenken in den Pflichtenkreis
des Arztes. Die Verletzung der Schamhaftigkeit, die er sich dabei
zu Schulden kommen läßt, ist keine andere und keine ärgere, sollte
man meinen, als wenn der Frauenarzt, um eine örtliche Affektion zu
heilen, auf der Betastung oder Inspektion der weiblichen Genitalien
besteht, zu welcher Forderung ihn die Schule selbst verpflichtet.
Gelegentlich hört man gegen die psychoanalytische Behandlung
auch Einwände, welche fast als böswillig bezeichnet werden müssen
und dahin gehen, daß die psychoanalytische Kur öfter als eine andere
dem Patienten Schaden bringe, ja mitunter sogar zum Selbstmord
Veranlassung geben könne. Soweit nicht direkt persönliche Gegner-
schaft diesen Vorwurf diktiert, ist es zunächst der Widerstand gegen
das Neue, welcher vergessen läßt, daß auch die Wasserheilkuren und
die anderen therapeutischen Methoden zuweilen noch als Neurose be-
handeln, was schon beginnende Psychose ist.*) Auch wird man anders
urteilen, wenn man sich abgewöhnt hat, alles, was sich während
der Behandlung in einem Krankheitsfalle begibt, dieser zur Last
zu legen. Gelegentliche scheinbare Verschlechterungen des neurotischen
Krankheitsbildes durch akute Zustände fallen keineswegs der Be-
handlung zur Last, sondern sind in den meisten Fällen notwendige
und heilsame Eruptionen des Unbewußten, starke Reaktionserschei-
nungen, unter denen die Abweichung vom Normalen korrigiert, der
psychische Zwang aufgehoben wird. Überhaupt ist das Befin-
den während der Kur kein Maßstab für den therapeu-
tischen Enderfolg.
*) Schwierigkeiten macht nicht selten die Differentialdiagnose der Hysterie
und beginnender Schizophrenie. Vgl. u. a. Lückerat h: „Zur Differentialdiagnoso
zwischen Dem. praecox und Hysterie". (Allg. Z. f. Psychiatr., 68. Bd.)
Die sekundären Krankheitsmotive. 149
Der Widerstand gegen diese neuartige und nicht leicht zu er-
lernende Behandlungsmethode zeigt sich auch in einer gewissen Schaden-
freude, mit der auf gelegentlich nicht sofort eintretende oder auch
gänzlich ausbleibende Erfolge hingewiesen wird. Nun ist es aber,
wie erwähnt, nicht so selten, daß der Erfolg nicht unmittelbar mit
Beendigung der Behandlung eintritt, sondern daß sich das Befinden
der Kranken erst einige Zeit nach Beendigung der Analysenarbeit der
Gesundheit nähert, und zwar von dem Zeitpunkte an, wo die Be-
ziehungen zum Arzte vollkommen und glatt gelöst sind. Der Aufschub
der Heilung oder Besserung scheint im allgemeinen wesentlich durch
das früher geschilderte Übertraguugsverhältnis bedingt. Die Erfolge
der Neurosenbehandlung scheitern übrigens nicht selten an den
äußeren Lebensverhältnissen der Kranken, deren heilsame Änderung
ja meist außerhalb der Machtsphäre des Arztes liegt. Auch stehen der
Heilung vielfach unbewußte Motive entgegen, indem die Kranken in
die Neurose geflüchtet sind, und so manches, trotz weit vorgeschrit-
tener Analysenarbeit nicht zu beseitigende Symptom verdankt seine
Hartnäckigkeit einer solchen „sekundären Funktion" im Seelenleben,
welche einer psychischen Störung Nahrung gibt. Wer den Kranken
gesund machen will, stößt dann zu seinem Erstaunen auf einen großen
Widerstand, der ihn belehrt, daß es dem Kranken mit der Absicht,
das Leiden aufzugeben, nicht so ganz, so voll ernst ist. In der Be-
kämpfung dieser Krankheitsmotive, wie sie Freud nennt, liegt
ganz allgemein die Schwäche einer jeden Therapie, auch der psycho-
analytischen : So wenn sich z. B. eine vernachlässigte oder sich ver-
nachlässigt fühlende Frau die vermißte Teilnahme, Beachtung und
Liebe ihres Mannes durch ihre Krankheit zu verschaffen weiß, mit
deren Aufgeben das frühere unerquickliche Eheleben wieder begänne.
Es ist überhaupt die Vorbedingung jeder Heilungsmöglichkeit, daß die
Kranken unter ihren Symptomen leiden oder, besser gesagt, mehr
leiden, als ihnen der Krankheitseffekt wert ist. Ein Homosexueller,
ein Fetischist, ein Perverser werden ihre krankhaften Neigungen in
der Regel gar nicht aufgeben wollen. Tritt dieser Fall aber aus
äußeren oder inneren Gründen ein, dann dürfte sich — nach den
wenigen bis jetzt günstig beeinflußten Fällen zu schließen — die
psychoanalytische Therapie auch bei derartigen abnormen Zuständen
bewähren. Es sei schließlich noch erwähnt, daß auch eine unvollendet
gebliebene psychoanalytische Kur relativ gute Erfolge aufweisen, den
Patienten berufs- und genußfähig und lebensfreudig machen kann.
150 VIII. Die psychoanalytische Untersuchung und Behandlang.
Und wenn auch der Kranke nicht völlig hergestellt i.st, so hat er doch
meist "gelernt, seine Symptome durch Selbstdeutung teilweise ab-
zuschwächen und sein Unbewußtes zu beherrschen.
Man ersieht aus alldem, daß die Methode der Psychoanalyse an
den Kranken wie an den Arzt hohe Anforderungen stellt ; von ersterem
verlangt sie das Opfer voller Aufrichtigkeit, gestaltet sich für ihn
zeitraubend und daher auch kostspielig; für den Arzt ist sie gleich-
falls zeitraubend und macht deswegen, wie auch wegen der müh-
selig zu erlernenden und schwierig auszuübenden Technik eine Speziali-
sierung auf dieses Fach wünschenswert. Es ist daher zunächst be-
greiflich, daß man teils bequemere, teils in kürzerer Zeit Heilung
versprechende Methoden vorzog. In die Hände des Psychoanalitikers
kamen anfangs meist Kranke, die bereits alle anderen Methoden er-
folglos versucht und durch Jahre in Anstalten geweilt hatten. Diese
Kranken gleichen aber in einem solchen Stadium etwa den kavernösen
Lungentuberkulosen, welche, als leichte Spitzenkatarrhe behandelt, zu
den blendendsten Erfolgen Gelegenheit gegeben hätten. Es soll damit
nicht gesagt sein, daß die Psychoanalyse schwere Fälle von Neurose
nicht zu heilen vermöchte — ist doch die Technik gerade an solchen
all erschwersten Fällen geschaffen und erprobt worden — ; jedoch
müssen diese Fälle auch rechtzeitig in die Hände des geeigneten Psy-
choanalytikers kommen. Dazu fehlt es aber noch lange an einer ge-
nügenden Verbreitung der Erkenntnis vom Wesen und der Bedeutung
der psychoneurotischen Erkrankungen sowohl in ärztlichen Kreisen
als auch unter Laien, und hierin liegen die wesentlichen Schwierig-
keiten, die sich jetzt noch der psychoanalytischen Heilmethode ent-
gegensetzen, und nicht, wie man immer noch meint, in der Sache
selbst. Die Psychoneurosen sind als Genus keineswegs leichte Er-
krankungen, wie zum größten Teil die Ärzte und vor allem der Laie
meint, der von der Überflüssigkeit all dieser Krankheitserscheinungen
tief überzeugt ist und darum weder dem Krankheitsverlaufe Geduld,
noch der Therapie eine besondere Opferbereitschaft entgegenbringt.
Die Aufrichtigkeit der Ärzte und die Gefügigkeit der Laien wird sich
auch für die Psychoneurosen herstellen, wenn erst die Einsicht in das
Wesen dieser Affektionen ärztliches Gemeingut geworden ist, wenn
man wissen wird, daß eine schwere Neurose in ihrer Be-
deutung für das ihr unterworfene Individuum hinter
keinem der gefürchteten Allgemeinleiden zurücksteht
und daß man die Herstellung von einem jahrelang währenden,
Ausblick auf die Prophylaxe.
151
existenzunfähig machenden Leiden, entsprechend der Äquivalenz
der Energien, nicht in wenigen Wochen und durch eine mühelose
Behandlung erwarten darf. Die psychoanalytische Therapie hat den
Triumph, daß sie eine befriedigende Anzahl von allerschwersten
Fällen dauernd existenzfähig gemacht hat, und gegen diesen Erfolg
erscheint aller Aufwand geringfügig. Danach ist es selbstverständlich,
daß die analytische Behandlung bei den leichteren, episodisch auf-
tretenden Erkrankungen oder im Anfangsstadium schwerer Fälle eine
geradezu glänzende und oft verblüffend rasche und dauernde
Wirkung erzielen kann, und es ist nur eine Frage der Zeit und des
wachsenden Verständnisses für diese Erkrankungen, wann die Psycho-
analyse als eigentlich prophylaktische Methode (Erziehung,
Aufklärung) ihre große kulturelle und soziale Bedeutung wird erweisen
können.
IX.
Zur allgemeinen Prophylaxe der Neurosen.
Die kulturelle Sexualmoral. — Sexuelle Erziehung. — Sexuelle Aufklärung.
Die Ärzte sind seit jeher gewohnt, sich mit der Therapie eine
Krankheit nicht zu begnügen, sondern die ideale Forderung der Ver-
hütung derselben aufzustellen. Es muß daher die wichtige Frage be-
antwortet werden : Wie verhält sich die Prophylaxe der Neurosen
nunmehr, nachdem wir neue Tatsachen über die Ätiologie kennen
gelernt haben ? Freud hat sich über einige Gesichtspunkte in seinem
Artikel: „Die „kulturelle" Sexualmoral und die moderne
Nervosität"*) ausführlich geäußert und ist dort zu dem sehr tröst-
lichen Resultat gekommen, daß die Häufigkeit der nervösen Er-
krankungen in unserer Zeit nicht, wie bisher allgemein angenommen
wurde, vom Fortschritt der Kultur und den Errungenschaften der
Technik sowie dem dadurch bedingten komplizierteren und rascheren
Ablauf des Lebens der Kulturmenschen abhänge. Nicht als ob diese
weitverbreitete Anschauung irrtümlich wäre, sie erweist sich vielmehr
als unzulänglich, die Einzelheiten in der Erscheinung der nervösen
Störungen aufzuklären und läßt gerade das bedeutsamste der ätiologisch
wirksamen Momente außer acht. Sieht man nämlich von den unbe-
stimmteren Arten, „nervös" zu sein, ab und faßt die eigentlichen
Formen des nervösen Krankseins ins Auge, so reduziert sich der
schädigende Einfluß der Kultur im wesentlichen auf die schädliche
Unterdrückung des Sexuallebens der Kulturvölker (oder Schichten),
durch die bei ihnen herrschende kulturelle Sexualmoral. Die Freud-
scheu Forschungen haben gezeigt, daß die Kultur ganz allgemein auf
der Unterdrückung von Trieben aufgebaut ist. Die Erfahrung lehrt
aber, daß es für die meisten eine Grenze gibt, über die hinaus ihre
Konstitution der Kulturanforderung nicht folgen kann. Es ist eine
der offenkundigen sozialen Ungerechtigkeiten, daß der kulturelle
*) Lit.-V. Nr. 30.
Die sexuelle Abstinenz. 153
Standard von allen Personen die nämliche Führung des Sexuallebens
fordert, die den einen dank ihrer Organisation mühelos gelingt,
während sie den anderen die schwersten psychischen Opfer auferlegt.
Namentlich ist in diesem Sinne die relativ große Anzahl pervers
Veranlagter benachteiligt. Manche ideale Reformer wollen sogar
die Sexualmoral noch dahin verschärfen , daß sie die Abstinenz
bis zur Ehe für beide Geschlechter fordern und die lebenslange Ab-
stinenz für alle, die keine legitime Ehe eingehen. Demgegenüber darf
man sagen, daß die Aufgabe der Bewältigung einer so mächtigen
Regung, wie des normal ausgebildeten Sexualtriebes, alle Kräfte eines
Menschen in Anspruch nehmen kann. Die Bewältigung durch Subli-
mierung, durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte, vom sexuellen
Ziele weg auf höhere kulturelle Ziele, gelingt nur einer Minderzahl ;
die meisten anderen werden neurotisch oder kommen sonst zu Schaden.*)
Die Erfahrung zeigt, daß die Mehrzahl der unsere Gesellschaft zu-
sammensetzenden Personen der Aufgabe der Abstinenz konstitutionell
nicht gewachsen ist. Wer auch bei milderer Suxualeinschränkung er-
krankt wäre, erkrankt unter den Anforderungen unserer heutigen
kulturellen Sexualmoral um so eher und um so intensiver, denn gegen
c\ "e Bedrohungen des normalen Sexualstrebens durch
fehlerhafte An lagen und Entwicklungsstörungen kennen
w i r keine bessere Sicherung, als die Sexualbe friedig ung
selbst. Je mehr jemand zur Neurose disponiert ist, desto schlechter
verträgt er die Abstinenz. Die gestaute Libido wird nämlich in den
Stand gesetzt, irgend eine der selten fehlenden schwächeren Stellen
im Aufbau der vita sexualis aufzuspüren, um dort zu neurotischer
Ersatzbefriedigung in Form krankhafter Symptome durchzubrechen.
Wer in die Bedingtheit nervöser Krankheit einzudringen versteht, ver-
schafft sich bald die Überzeugung, daß die Zunahme der nervösen
Erkrankungen in unserer Gesellschafft von der Stei-
gerung der sexuellen Einschränkung herrührt. In der
weitaus größeren Mehrheit der Fälle zehrt der Kampf gegen die Sinn-
lichkeit die verfügbare Energie des Charakters auf und dies gerade
zu einer Zeit, wo der junge Mann aller seiner Kräfte bedarf, um sich
seinen Anteil und Platz in der Gesellschaft zu erobern. Anderseits ist
die bis in die erwachsene Lebenszeit fortgesetzte Onanie nichts Seltenes,
*) Vgl. H. Körb er: „Sexualpädagogik und Sexualabstinenz u („Die neue
Generation«, Berlin 1912, Nr. 7). Ferner vgl. Anton Ny ström: „Sexualleben und
Gesundheit" (Berlin 1911).
154 K, Zur allgemeinen Prophylaxe der Neurosen.
und man unterscheidet, wenn man die Frage der Abstinenz behandelt
viel zu wenig strenge zwei Formen derselben: die Enthaltung von
jeder Sexualbetätigung überhaupt und die Enthaltung vom sexuellen
Verkehre mit dem anderen Geschlechte. Vielen Personen, die sich der
gelungenen Abstinenz vom anderen Geschlechte rühmen, ist dieselbe
nur mit Hilfe der Masturbation möglich geworden. Auch diese ent-
spricht keineswegs den idealen Anforderungen der kulturellen Sexual-
moral und treibt darum die jungen Menschen in die nämlichen Kon-
flikte mit dem Erziehungsideal, denen sie durch die Abstinenz ent-
gehen wollten. Sie verdirbt ferner den Charakter auf mehr als eine
Weise, vornehmlich aber aus dem Grunde, weil das sexuelle Verhalten
eines Menschen vorbildlich ist für seine ganze sonstige Keaktionsweise
in der Welt (psychisch-sexueller Parallelismus). Wer sein Sexualobjekt
energisch erobert, dem trauen wir ähnliche rücksichtslose Energie auch
in der Verfolgung anderer Ziele zu. Wer hingegen auf die Befriedigung
seiner starken sexuellen Triebe aus allerlei Rücksichten verzichtet,
der wird sich auch anderwärts im Leben eher konziliant und
resigniert, als tatkräftig benehmen. Aber selbst eine mögliche volle
Abstinenz während der Jugendzeit ist für den jungen Mann nicht die
beste Vorbereitung für die Ehe. Die Unterdrückung des Sexuellen ist
— es gilt dies besonders für die strengen Erziehungsvorschriften den
Mädchen gegenüber — , wie Freud es ausgedrückt hat, häufig zu gut
gelungen und so weit geführt worden, daß der Sexualtrieb nach seiner
Freilassung dauernd geschädigt erscheinen kann.
Aber auch der sexuelle Verkehr in der legitimen Ehe
bietet keine volle Entschädigung für die Einschränkung vor der Ehe,
hauptsächlich deshalb, weil sich sehr häufig die Ehe aus kulturellen und
materiellen Gründen mit einer geringen Anzahl von Kinderzeugungen
begnügen muß, wodurch der eheliche Verkehr nach ein paar Jahren
durch alle jene Mittel, welche zur Verhütung der Konzeption ange-
wendet werden, eingeschränkt, der sexuelle Genuß verkümmert, die
feinere Empfindlichkeit beider Teile gestört wird oder, wo Intoleranz
gegen diese Mittel vorliegt, die Gesundheit leidet. Es sind besonders
die Frauen, welche unter den Enttäuschungen der Ehe an schweren
und das Leben dauernd trübenden Neurosen erkranken können. Die
Ehe hat unter den heutigen kulturellen Bedingungen längst aufgehört,
em Allheilmittel gegen die nervösen Leiden des Weibes zu sein ; und
wenn wir Arzte auch noch immer in solchen Fällen zu ihr raten, so
wissen wir doch, daß im Gegenteil ein Mädchen recht gesund sein
Die Prophylaxe in der Kindheit. 155
muß, um die Ehe zu „vertragen", und raten unseren männlichen
Klienten dringend ab, ein bereits vor der Ehe nervöses Mädchen zur
Frau zu nehmen. Denn es ist auch für den Mann eine schwere Ent-
täuschung, auch nur eine dauernd sexual-anästhetische Frau in die Ehe zu
bekommen, ein sehr häufiges Ergebnis der heute allgemein beliebten
strengen und übermoralischen Erziehung der jungen Mädchen. Die
unterempfindliche Frau und der durch Keuschheit und Masturbation
wenig potente, besonders häufig an Ejaculatio praecox leidende Mann
geben dann das Bild einer modernen „nervösen" Ehe, wo die unvoll-
kommene Geschlechtsbefriedigung jene Nervosität und Reizbarkeit
herbeiführt, die das Familienleben zerstört. Die von ihrem Manne un-
befriedigte neurotische Frau ist als Mutter überzärtlich und überängst-
lich gegen das Kind, auf das sie ihr Liebesbedürfnis überträgt, wo-
durch sie in demselben die sexuelle Frühreife weckt.*) Das schlechte
Einverständnis zwischen den Eltern reizt dann das Gefühlsleben des
Kindes auf, und läßt es im zartesten Alter Liebe, Haß und Eifersucht
intensiv empfinden. Die strenge Erziehung, die keinerlei Äußerung
des früh geweckten Sexuallebens duldet, stellt die unterdrückende
Macht bei, und dieser Konflikt in diesem Alter enthält alles, wessen
es zur Verursachung der lebenslangen Nervosität bedarf.
Für die individuelle Prophylaxe ergibt sich aus der
ganzen Ätiologie der Neurosen nach Freud mit Selbstverständlichkeit,
daß sie schon in frühester Kindheit einzusetzen hat. Das Kind kann
nicht peinlich genug vor jeder üblen Beeinflussung von seiten anderer
Kinder wie Erwachsener, namentlich der Pflegepersonen, behütet werden,
die sich gar nicht so selten des Mißbrauches und der Verführung
kleiner Kinder schuldig machen. Eine konsequente Aufsicht der Kinder
bei einer auch nur irgendwie un verläßlichen Umgebung muß nach-
drücklichst empfohlen werden. Daß auch die Eltern selbst in ihrer
Unwissenheit durch übergroße Zärtlichkeit,**) stürmische Lieb-
kosungen, allzu häufiges Ins-Bett-nehmen der Kinder deren Triebe
vorzeitig wecken und ihnen dadurch Schaden bringen können, sei
nochmals hervorgehoben. Daß auch der übermäßigen Masturbation
*) Über die besonderen Gefahren für das „einzige Kind" vgl. Friedjung
(Wiener med. Wochenschr. Nr. 6, 1911), Sadger (Fortschr. d. Med. 1911, Nr. 26),
Brill (New York State Journ. of Med. August 1912).
**) Vgl. A. Adler: „Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes" (Monatshefte für
Pädagogik und Schulpolitik, 1908).
156 £X- Zur allgemeinen Prophylaxe der Neurosen.
rechtzeitig entgegengetreten werden muß, wurde schon früher betont.*)
Es soll aber nicht der Anschein erweckt werden, als ob die Ver-
meidung der endlich auch Aufklärung bringenden Sexualerlebnisse
allein die Entstehung der Neurosen verhüten könnte. Es muß viel-
mehr eindringlich betont werden, daß es für die Prophylaxe von ent-
scheidender Bedeutimg ist, daß man an die Kinder keine allzu
st r engen Verdrängungsforderun gen stellt, zumal nicht an
Belastete. Denn eben das rechtzeitige Nachlassen der Verdrängung,
entsprechend den Anforderungen des Lebens, ermöglicht das Gesund-
bleiben. In diesem Sinne ist F r e u d selbstverständlich auch Anhänger
einer systematischen Aufklärung der Kinder.**) Ihre Notwendig-
keit ergibt sich daraus, daß die Kinder für die Tatsachen und Rätsel
des Geschlechtslebens oft großes Interesse und Verständnis zeigen.
Dies äußert sich nicht nur in dem sexuellen Forschungstrieb der
Kinder, der zu den schon besprochenen, mitunter sehr folgenschweren
Geburts- und Zeugungsphantasien führt, sonder auch in verkappter
Form in ihrem unermüdlichen Fragedrang, den die Erziehung ver-
ständnisvoll zu befriedigen hat. Die Befürchtung, daß das Kind dabei
vorzeitig aufgeklärt werden könnte, ist völlig unbegründet; denn wenn
das Kind einmal zu fragen beginnt, so hat es sich schon längere
Zeit aufs Intimste mit dem Sexualproblem beschäftigt und die Er-
fahrung lehrt, daß es unzweckmäßig ist, dieses einmal geweckte
Interesse des Kindes zum Schweigen bringen oder auf falsche Fährten
leiten zu wollen. Durch solche Verhehlung den Geschlechtstrieb des
Kindes überhaupt zurückhalten zu wollen, könnte nur dazu führen,
daß die Kinder späterhin alles Geschlechtliche als etwas Niedriges und
Vorabscheuungswürdiges verurteilen lernen. Sucht man sie aber durch
falsche Auskünfte, wie das Storchmärchen usw. zu täuschen, so ver-
lieren sie, wenn sie hinter diese Unaufrichtigkeit der Eltern oder Er-
zieher gekommen sind, das Vertrauen und den Respekt und können
oft für ihr ganzes Leben den Charakterzug des Mißtrauens behalten.
Die Art der sexuellen Aufklärung stellt sich Freud als eine stufen-
weise fortschreitende und eigentlich zu keiner Zeit unterbrochene
Unterweisung vor, bei welcher an Stelle der meist hiezu ungeeigueten
Eltern die Schule die Initiative zu ergreifen hätte. Das Wichtigste
dabei ist, daß den Kleinen nie die Idee kommt, man wolle ihnen aus
*) Vgl. die ausführliche Besprechung des Onanieproblems im IL Heft der
„Diskussionen der Wiener psychoanalyt. Vereinigung" (Bergmann, Wiesbaden 1912).
**) Lit.-V. Nr. 26.
Li
Die sexuelle Erziehung. 157
den Tatsachen des Geschlechtslebens mehr ein Geheimnis machen, als
aus etwas anderem, was ihrem Verständnis noch nicht zugänglich ist.
Daß sich für den öffentlichen E r z i e h e r, ja sogar für den Seelsorger
Gelegenheit findet, die Freudschen Erkenntnisse zum Wohle der ihm
Anvertrauten anzuwenden, zeigen die einschlägigen Publikationen des
Züricher Pfarrers Pf ist er.*) Leider fehlt es jedoch sowohl den
Eltern wie auch den Lehrern heute noch an dem nötigen Sexual-
wisse n, insbesondere in bezug auf die neurotischen Störungen. Unseren
Eltern und Erziehern fehlt überdies die Unbefangenheit, das sexuelle
Problem, an dem sie ja großenteils selbst leiden, den Kindern gegen-
über in offener Weise zu besprechen ; es fehlt ihnen somit auch die
Möglichkeit, dieselben vor sexuellen Schäden zu bewahren und sie in
ausreichender Weise über alle einschlägigen Themen aufzuklären. Ein
sexuell unfreies Kind wird aber in der Schule und im Leben ein ganz
anderes Schicksal haben, als ein sexuell aufgeklärtes. Wir ersehen
daraus, daß die sexuelle Erziehung nicht nur zur Verhütung der Neu-
rosen von großer Wichtigkeit ist, sondern auch maßgebend für die
ganze Charakterentwicklung des Kindes. Daher ist die sexuelle Er-
ziehung**) das Grundproblem der Erziehung überhaupt, welches von
der Frage der sexuellen Aufklärung nicht getrennt werden kann. Wie
aber die Erziehung einzugreifen oder bereits eingetretene schädliche
Folgen zu beseitigen hätte, darüber hat sich Freud nicht ausführlich
geäußert, da er seine Tätigkeit als eine vorwiegend untersuchende
und therapeutische, nicht aber als pädagogisch-reformatorische be-
trachtet. Man könnte jedoch aus den Freudschen Arbeiten etwa
folgende drei Hauptgesichtspunkte für die sexuelle Erziehung im all-
gemeinen ableiten. In einer ersten Periode hätte die Erziehung die
Unterdrückung der normalerweise der Verdrängung verfallenden (per-
versen) Triebregungen des heranwachsenden Kindes kräftig zu unter-
*) Oskar Pf ist er: „Psychoanalytische Seelsorge und experimentelle Moral-
pildagogik". Protestantische Monatshefte. 13. Jahrg., Heft 1, 1909. — Derselbe:
„Ein Fall von psychoanalytischer Seelsorge und Seelenheilung". Monatsschrift
„Evangelische Freiheit", 9. Jahrg., 1909. — Derselbe: „Die Psychoanalyse als wissen-
schaftliches Prinzip und seelsorgerliche" Methode". Ebenda, X. Jahrg., 1910. — Der-
selbe: „Analyt. Unters, über die Psych, d. Hasses und der Versöhnung". Jahrb.
f. Psa., XI, 1910. — Derselbe: „Anwendung der Psa. in d. Pädagogik und Seel-
sorge". Iniago 1912. — Die Theologen suchte auch Dr. med. A. Muthmann zu
interessieren : „Psychiatr. -theolog. Grenzfragen". Halle a. d. Saale. Karl Marhold, 1907.
**) Vgl. A. Adler: „Das sexuelle Problem in der Erziehung". (Die neue Ge-
sellschaft, 190f>.)
IX. Zur allgemeinen Prophylaxe der Neurosen.
stützen und so Irrwege und Entwicklungsstörungen zu verhüten- in
einer weiteren Periode hätte sie positiv einzugreifen und das Kind
vorwiegend durch Liebe, zu erziehen ; in einer dritten Periode endlich
wäre der Herangewachsene unter Mithilfe der eigenen Eltern von deren
Autorität abzulösen und seine psychische und soziale Selbständigkeit,
anzustreben. Es lassen sich diese Aufgaben der Erziehung als An-
regung zur Überwindung des „Lustprinzips" und Ersetzung desselben
durch das „Realitätsprinzip" zusammenfassen.
Soll aber die Prophylaxe eine wirklich durchgreifende und all-
gemein wirksame werden, so müssen weitere Kreise für diese Probleme
interessiert werden. Denn in Sachen der Prophylaxe ist der einzelne
ziemlich ohnmächtig. Die Gesamtheit muß ein Interesse an dem Gegen-
stand gewinnen und ihre Zustimmung zur Schöpfung von gemein-
gültigen Einrichtungen geben. Vorläufig sind wir jedoch von einem
solchen Zustand, der Abhilfe versprechen würde, noch weit entfernt,
und darum kann man mit Recht auch unsere Zivilisation und Sexual-
moral für die Verbreitung der Neurosen verantwortlich machen. Es
müßte sich vieles ändern. Der Widerstand einer Generation von
Ärzten muß gebrochen werden, die sich nicht mehr an ihre eigene
Jugend erinnern können; der Hochmut der Väter ist zu überwinden,
die vor ihren Kindern nicht gern auf das Niveau der Menschlichkeit
herabsteigen wollen, die unverständige Verschämtheit der Mütter ist
zu bekämpfen, denen es jetzt als unerforschliche und unverdiente
Schicksalsfügung erscheint, daß gerade ihre Kinder nervös geworden
sind.*) Vor allem aber muß in der öffentlichen Meinung Raum ge-
schaffen -werden für die Diskussion der Probleme des Sexuallebens;
man muß von diesen reden können, ohne für einen Ruhestörer oder
für einen Spekulanten auf niedrige Instinkte erklärt zu werden. Und
somit verbliebe auch hier genügend Arbeit für ein nächstes Jahr-
hundert, in dem unsere Zivilisation es lernen soll, sich mit den An-
sprüchen unserer Sexualität zu vertragen!
Es kann auch nicht als Utopie verworfen werden, daß die von
Freud entdeckten Grundtatsachen von den Neurosen, wenn sie erst
zum Allgemeingut der ärztlichen Wissenschaft und dadurch auch in-
direkt ein Teil des allgemeinen Wissens geworden sind, die Entstehung
der Neurosen zu vermindern vermögen.**) Die psychoanalytische Er-
*) Vgl. auch „Über den Selbstmord, insbesondere den Schulerselbstmord".
(Diskuss. der Wiener psychoanalyt. Vereinigung), J. F. Bergmann, Wiesbaden, 1910.
**) Vgl. Chr. v. Ehrenfels: „Sexuales Ober- und Unterbewußtsein". (Polit.-
anthropolog. Revue, IT. Jahrg., Heft 6.)
Die sexuelle Aufklärung. X59
kenntnis vom Wesen dieser Erkrankungen, von ihrer psychosexuellen
Wurzel, sowie die Maßregeln für die Prophylaxe, auf die sie hinweist,
werden in gleicher Weise zusammenwirken, um die Neurosen nur in
unscheinbarer Weise zu Tage treten zu lassen. Es werden die neuro-
tisch disponierten Individuen auf die Darstellung von Symptomen ver-
zichten müssen, nachdem deren Provenienz und Symbolik durchsichtig
geworden ist.*) Überdies kann es der Psychoanalyse gelingen, die
Neurosen in der Kindheit im Keime zu unterdrücken, wenn der Er-
zieher, mit den Hauptpunkten der Lehre vertraut, an der Verhütung
mitarbeitet. Es muß für die Menschen sehr trostreich klingen, daß
Degeneration und Nervosität nicht unentrinnbare Folgen des Kulturfort-
schrittes sind, sondern vermeidbare, erzeugt nur durch dessen Auswüchse.
Ein gesunder Optimismus und eine freie, neben aller Vergeistigung und
Verfeinerung natürlich bleibende Lebensauffassung, die auch die Sinn-
lichkeit nicht völlig unterbinden will, ergibt sich ungezwungen aus all
diesen Aufklärungen. Daß neben dem Lebenstrieb des Ich der Liebes-
trieb eine alles durchsetzende Urkraft bedeutet, die deshalb auch
krank machen muß, wenn sie im Kampfe dieser beiden Grundtriebe
unterliegt, ist ein für die Kulturentwicklung bedeutsames Ergebnis.
Freuds Forschungsergebnisse stellen eine Warnung an die heutigen
Kulturmenschen dar, das ursprünglich Animalische der Menschennatur
nicht völlig zu vernachlässigen und nicht daran zu vergessen, daß
die Glücksbefriedigung des einzelnen nicht aus den Zielen unserer
Kultur gestrichen werden darf.**) Wenn auch die Unterdrückung des
Sexualtriebes durch seine besondere Fähigkeit zur Sublimierung, d. h.
zur Vertauschung eines ursprünglichen Zieles mit einem entlegeneren
und sozial wertvolleren, kulturelle Werte schafft, so hat doch ein ge-
wisser Anteil seiner Kegungen ein Anrecht auf direkte Befriedigung,
denn ein Übermaß von Verdrängung fördert die Abwendung von der
Realität und damit die Entstehung der Neurosen.
*) Vgl. Freud: „Die zukünftigen Chancen der psychoana-
lytischen Therapie", Lit.-V. Nr. 42.
**) Vgl. das populär gehaltene Buch von J. P. Müller, „Geschlechtsmoral
und Lebensgluck". Leipzig, K. F. Köhler, 1909.
X.
Anwendungen der Psychoanalyse.
Bedeutung der p 8 ychoanaIyse für die Pönologie der Normale* und die Norraalpsychologie
(das Unbewußte, der Traum, der Witz). Psychopathologie des Alltags. - Aufklarung zur
Psychologie des Psychopathen, Verbrecheis, Künstlers, Dichters, Genies (Charakterologie).
-Bedeutung für die Kulturgeschichte, Völkerpsychologie und andere Geisteswissenschaften.
Es ist Freuds Verdienst, die Psychoanalyse zu einer Methode
ausgebaut zu haben, welche nicht nur die Pathogenese und den
Inhalt der psychoneurotischen Störungen aufzuzeigen vermag, son-
dern auch zu deren Behandlung wertvoll ist. Die Psychoanalyse ist
aber nicht nur eine Methode zur Untersuchung der kranken
Seele, sondern scheint bestimmt zu einer, vielleicht der wich-
tigsten Methode der Seelenuntersuchung überhaupt zu
werden. Die Psychoanalyse ergibt so reiche Aufklärungen über die
Mechanismen des seelischen Geschehens, daß sie gegenüber einer
gewissen Stagnation in der offiziellen Universitätspsychologie überaus
hoffnungsvolle Ausblicke gestattet. Die „Hoffnungslosigkeit aller Psycho-
logie",*) die P. J. Möbius proklamiert hat, kann sich mit einer
gewissen Berechtigung nur auf die herrschende Bewußtseinspsychologie
beziehen, während die von Freud inaugurierte Methode der Unter-
suchung des unbewußten psychischen Geschehens zukunftsreiche Aus-
sichten gewährt.**) Zu den "seit Jahrhunderten im Wesen unverändert
gebliebenen Spekulationen der Metaphysik kann die exakte psycho-
analytische Methode als eine Art „Metapsychologie" treten. Die individual-
psychologische Analyse hat so Neuartiges und Grundlegendes über das
Vergessen, über den seelischen Zwang, der mit der Willenslehre m so
engem Zusammenhang steht, gebracht und vor allem die Determination
alles seelischen Geschehens auf so breite Basis gestellt, daß von hier aus
eine überaus ergebnisreiche wissenschaftliche Periode ihren Ausgang
nehmen wird. Sie hat schon jetzt die Grundtatsachen der Denk-
*) Verlag Marhold. Halle a. d. Saale. 2. Aufl., 1907.
**) Vgl. Else VoigtUnder: „Die Bedeutung Freuds für die Psychologie
(A. Barth, Leipzig 1911).
.
Allgemeine und Völker-Psychologie. 161
Organisation in ein neues Licht gerückt, vor allem aber das ewig rege
Wünschen der Psyche, den ewig treibenden Trieb und das fortwährende
Streben nach Lust, das sich als Haupttendenz der Psyche enthüllt,
aufgezeigt.*) Daneben sind die Mechanismen der Verdrängung, der
Verdichtung, der Verschiebung, welche von der völlig neuen Auffassung
der Affektbesetzung von Vorstellungen und der Trennbarkeit dieses
Kontakts ausgeht, ferner die Ersatzbildungen und endlich die kultur-
historisch so bedeutsame Sublimierung geeignet, auf den verschiedensten
Teilgebieten der Psychologie wertvolle Bausteine zu liefern. Vereinzelte
Partialgebiete der allgemeinen Psychologie hat Freud durch seine
detaillierten Untersuchungen zur Psychopathologie des Alltagslebens,
über die Technik der Witzbildung und die Mechanismen der Traum-
entstehung geklärt. Er hat das uralte Rätsel des Traumes gelöst und
gegenüber der Bewußtseinspsychologie eine Art Inthronisation des Un-
bewußten bewerkstelligt. Die eigenartige Auffassung von dem engen
Zusammenhange der Kulturentwicklung mit der Triebunterdrückung
und Sublimierung deutet so vieles in der Entwicklungsgeschichte ein-
zelner Völker und der Menschheit um, daß auch auf diesem Gebiete
sich reiche Arbeit und fruchtbringende Erkenntnis von der Psycho-
analyse her ergibt. Auf „einige Übereinstimmungen im Seelen-
leben der Wilden und der Neurotiker",**) die zu über-
raschenden Aufklärungen ethnologischer und kulturhistorischer Probleme
führen, hat Freud in einer Reihe von Abhandlungen hingewiesen.
Die fruchtbare Anwendung der am Individuum psychoanalytisch ge-
fundenen Resultate auf andere Probleme der Völkerpsychologie und
Geisteswissenschaften zeitigt zahlreiche Arbeiten von Fachgelehrten
(Mythologen, Folkloristen, Literar-, Kunst- und Rechtshistorikern, Sprach-
und Religionsforschern, Pädagogen usw.), für welche als Sammelpunkt
die Zeitchrift „Iniago" dient. Rank und Sachs haben „die Bedeutung der
Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften" ausführlich dargelegt.***)
Die Psyche des Neurotikers hat sich der psychoanalytischen
Durchleuchtung nur als ein verzerrtes Abbild der Psyche des Normalen
*) Vgl. die bereits genannte Arbeit Freuds „Über die zwei Prinzipien
des psychischen Geschehens".
**) „Imago", Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes-
wissenschaften (Verlag H. Heller & Cie., Wien, 1912 u. ff.). 1. u. 2. Jhg.: I. „Die
Inzestscheu". — II. „Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühls-
regungen". — III. „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken".
***) In „Grenzfragen des Nerven- u. Seelenl.", Bergmann, Wiesbaden 1913.
Hitschmann, Freuds Neurosenichte. 2. Aufl. 11
1^2 X. Anwendungen der Psychoanalyse.
entschleiert, denn auch der gesund Gebliebene hat mit denselben
Komplexen zu kämpfen, an denen der Neurotiker erkrankt (Jung).
Ist die Neurose unter gewissen Kräfteverhältnissen ein Ausgang dieses
Kampfes, so kommen unter anderen Relationen der miteinander ringenden
Kräfte andere Ausgänge zu stände: es sind dies besonders die anti-
sozialen Typen des Psychopathen und Verbrechers, sowie sozial über-
wertige, wie der Künstler, der Dichter, der Philosoph, überhaupt das
Genie. Die Charakteranalyse hochbegabter, insbesondere künstlerisch
veranlagter Personen ergibt jedes Mengungsverhältnis zwischen
Leistungsfähigkeit, Perversion und Neurose. Die Psychologie der
Kriminellen ist noch nicht auf psychoanalytischer Basis in Angriff ge-
nommen, scheint aber von dieser Seite her einen lohnenden Zugang
zu bieten, wofür Storfer in seiner Arbeit über die „Sonder-
stellung des Vatermordes" (Schriften z. angew. Seelenk., Heft 12)
ein Beispiel liefert.*) Nebenbei gesagt ist die Psychoanalyse, be-
sonders in der Form des Assoziationsversuches, bereits von ernsthafter
Seite zur Konstatierung des Tatbestandes respektive zur Eruierung
eines Schuldbewußtseins in der Gerichtspraxis verwendet worden.**)
Sollte jedoch die Assoziationsmethode in ihrer gegenwärtigen Form
sich als forensische Methode nicht bewähren, so verspricht doch die
Deutung der sogenannten „unbewußten Aussage" viel Erfolg.***) Die
Bedeutung verschiedener sonderbarer Menschentypen (Sonderlinge,
Heilige, Reformer)!) und vieler psychopathischer Individuen ff) findet
im Lichte psychoanalytischer Untersuchung in oft überraschender
Weise Aufklärung. Ebenso die Durchleuchtung okkultistischer ff f)
*) Vgl. auch Wulffen: „Der Sexualverbrechen, Berlin 1910, und andere
seiner Arbeiten.
•*)Freiid: „Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse." Lit.-V.
Nr. 24. — Jung: „Die psychologische Diagnostik des Tatbestandes" (Jur.-psych.
Grenzfragen, 1906). Die übrige Literatur in E. Rittershaus „Die Komplex-
forschung." Journ. f. Psych, u. Neur., Bd. 15, 1910. — Ferner Otto Lipmann
(Zeitschr. f. angew. Psychol. usw., 1911).
***) Vgl. A. St öhr: „Psychologie der Aussage." Berlin 1911.
t) Hitschmann: „Die Werbekraft der Naturheilkunde" (Wr. klin. Rund-
schau, 1910). — 0. Pfister: „Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzen-
doxf." Sehr. z. angew. Seelenk., Nr. 8, 1910.
tt) Otto Groß: „Über psychopathische Minderwertigkeit." Wien, Brau-
müller, 1909.
tft) Jung: „Zur Psychologie und Pathologie sog. okkulter Phänomene",
Leipzig, 0. Mutze, 1902. — Hitschmann: „Zur Kritik des Hellsehens" (Wr. klin,
Rundsch., 1910). — Vgl. ferner H. Silber er: „Mantik und Psychanalyse", sowie
„Lekanomantische Versuche" (Zentralbl. f. Psa., n. Jahrg.).
Psychogenese des Künstlers und Dichters. 163
und hypnotischer*) Phänomone respektive der Personen, die zu solchen
Dingen neigen. — Daß das Genie hier in einem Atem genannt wird,
kann dem nicht befremdlich erscheinen, der ein inneres Verständnis
dieser Dinge bereits gewonnen hat. Die psychoanalytischen Forschungen
scheinen zu der Formel zu berechtigen, daß das Genie den edelsten
Ausgang der Überwindung einer abnormen Anlage darstellt, woraus
sich die Nähe seiner Stellung zum Neurotiker ableitet. Rank hat in
einer geistreichen kleinen Schrift**) die Beziehungen des künstleri-
schen Schaffens zur Neurose aufzuzeigen versucht und ist dort zu dem
Ergebnis gelangt, daß insbesondere der Dichter, sowohl in den Mecha-
nismen als auch in. der letzten Tendenz seines Schaffens dem Psycho-
neurotiker sehr nahe stehe und sich nur vermöge und mit Hilfe seiner
künstlerischen Begabung vor der Neurose zu bewahren wisse. Rank
hat ferner aus seinen umfassenden Untersuchungen über das „Inzest-
motiv in Dichtung und Sage" Grundzüge einer Psychologie des
dichterischen Schaffens abgeleitet.***) Mit Spezialuntersuchungen in
dieser Richtung haben sich Stekelf) und Sadger beschäftigt.
Speziell hat letzterer versucht, das Leben einzelner, später geistes-
kranker Dichter, wie C. F. Meyer, ff) Lenau,fff) Kleist, §) psycho-
graphisch zu durchleuchten. §§) Wagners „Fliegenden Holländer" hat
Graf§§§), „Flauberts Versuchung des heiligen Antonius" Reik 1 )
psychoanalytisch bearbeitet. Die erste Anregung zur Anwendung der
psychoanalytisch gewonnenen Seelenkenntnis auf ein tieferes Eindringen
in die Dichterpsyche hatte Freud im Anschluß an die Lösung des
Traumproblems in seiner Deutung von Shakespeares Hamlet-Drama 8 )
geboten, welches er im Zusammenhalt mit dem Sophokleischen Ödipus
*) Ferenczi: „Introjektion und Übertragung -4 (Jahrbuch, I, 2, 1909), ferner
The Psycho-Analysis of Suggestion and Hypnosis" (Transaction of the Psycho-
Medical Society, London, 1912).
**) „Der Künstler." Ansalze zu einer Sexualpsychologie. Wien, H. Heller, 1907.
***) F. Deuticke, 1912. (685 Seiten.)
f) „Dichtung und Neurose." Bergmann, Wiesbaden 1909.
ff) „Eine pathographische Studie." Bergmann, Wiesbaden 1908.
t|t) Iaus dem Liebesleben Nik. Lenaus« (Sehr. z. angew. Seelenk., Nr. <J, 1909).
§) Bergmann, Wiesbaden 1010.
§§) Vgl. dazu Sadger: „Von der Pathographie zur Psychographie." (Imago,
I, 1912.)
§§§) Schriften z. angew. Seelenk., Heft 9, 1911.
J ) Verlag Bruns, Minden 1912.
2 ) „Traumdeutung", 2. Aufl., pag. 187.
11*
Iß4 X. Anwendungen der Psychoanalyse.
als eine verhüllte Form des allgemeinmenschlichen Inzestkomplexes
aufdecken konnte.*)
Einen tiefen Einblick in das geheimnisvolle Gefüge des dichterischen
Schaffens hat die von Freud unternommene Analyse des „Wahns
und der Träume in W. Jensens Gradiva"**) ergeben.
Es zeigte sich dort, daß der Dichter sein „Phantasiestück'- 4 ohne Kenntnis
der Traum- und Neurosenpsychologie doch so zu schaffen ver-
mochte, daß es der Arzt wie eine reale Krankengeschichte zerglie-
dern kann. Daraus ergibt sich der Schluß, daß der Psycho-
analytiker und der Dichter aus der gleichen Quelle geschöpft haben
müssen, daß sie das nämliche Objekt bearbeiten, aber ein jeder mit
einer anderen Methode, und die Übereinstimmung im Ergebnis scheint
dafür zu bürgen, daß beide richtig gearbeitet haben. Das Verfahren
des Analytikers besteht in der bewußfln Beobachtung der abnormen
seelischen Vorgänge bei anderen, um deren Gesetze zu erraten und
aussprechen zu können. Der Dichter geht anders vor: er richtet
seine Aufmerksamkeit auf das Unbewußte in seiner eigenen Seele,
lauscht den Entwicklungsmöglichkeiten desselben und gestattet ihm
den künstlerischen Ausdruck, anstatt es mit bewußter Kritik zu unter-
drücken. So erfährt er aus sich, was der Analytiker bei anderen er-
lernt : welchen Gesetzen die Betätigung dieses Unbewußten folgen muß ;
aber er braucht diese Gesetze nicht auszusprechen, nicht einmal sie
klar zu erkennen; sie sind infolge der Duldung seiner Intelligenz in
seinen Schöpfungen verkörpert enthalten. Der Analytiker entwickelt
dieselben Gesetze auch durch Analyse aus den Dichtungen, wie er sie
aus den Fällen realer Erkrankung herausfindet; der Schluß scheint
unabweisbar : entweder haben beide, der Dichter wie der Arzt, das
Unbewußte in gleicher Weise mißverstanden oder beide haben es richtig
verstanden.
Die Quellen der dichterischen Phantasie entspringen nicht weit
von den Quellen des Traumes und der Tagesphantasien der Menschen,
und Freud hat in seinem Vortrage „Der Dichter und das
Phantasieren" gezeigt ,***) daß der Stoff des erzählenden (Roman-)
Dichters, soweit er freier Erfindung entspringt, seine Genese durch
*) Den detaillierten Nachweis hat E. Jones erbracht: „The Oedipus-Complex
ae an Explanation of Hamlets Mystery" (Americ. Journal ofPsychol., January 1910).
Deutsch in Schriften z. angew. Seelenkunde, Heft 10, 1911.
**) Schriften z. angew. Seelenkunde, I. Heft, 1907; 2. Aufl., 1912.
***) Lit.-V. Nr. 81.
Zum dichterischen und künstlerischen Schaffen. 1(35
den analogen Aufbau mit dem Tagtraum verrät. Diese Phantasien
sind freilich durch die dichterische Technik, die im einzelnen noch nicht
erforscht ist, ihres rein individuellen Interesses entkleidet und zur
allgemeinen Lustquelle umgeschaffen. Der Künstler ist ursprünglich
ein Mensch, welcher sich von der Realität abwendet, weil er sich mit
dem von ihr zunächst geforderten Verzicht auf Triebbefriedigung nicht
befreunden kann und seine erotischen und ehrgeizigen Wünsche im
Phantasieleben gewähren läßt. Er findet aber den Rückweg aus dieser
Phantasiewelt, zur Realität, indem er dank besonderer Begabungen
seine Phantasien zu einer neuen Art von Wirklichkeit gestaltet, die
von den Menschen als wertvolle Abbilder der Realität zur Geltung zu-
gelassen werden. Er wird so auf eine gewisse Weise wirklich der
Held, König, Schöpfer, Liebling, der er werden wollte, ohne den ge-
waltigen Umweg über die wirkliche Veränderung der Außenwelt ein-
zuschlagen. Er kann dies aber nur darum erreichen, weil die anderen
Menschen die nämliche Unzufriedenheit mit dem real erforderlichen
Verzicht verspüren, wie er selbst.*)
Freud hat eine psychoanalytische Studie über die eigenartige
seelische Physiognomie eines der hervorragendsten bildenden Künstler
geliefert,**) „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da
Vinci", und damit ein Beispiel für die Beeinflussung der Biographik
durch die psychoanalytischen Erkenntnisse gegeben. Die Untersuchung
gewährt, von der Deutung einer Kindheitsphantasie ausgehend, ein
originelles und in die Bedingungen des künstlerischen Schaffens über-
raschende Einblicke gewährendes Bild dieses Universalgenies. Es wird
hier an dem Ausnahmsfall eines der größten Genies der Menschheit
einer der bedeutsamsten Grundsätze der psychoanalytischen Wissen-
schaft neuerlich abzuleiten und zu erweisen versucht, nämlich die
grundlegende und für den ganzen seelischen Entwicklungsgang be-
stimmende Bedeutung der allerersten Kindheitseindrücke,
deren Nachwirkung durch kein noch so intensives späteres Erleben
wesentlich abgeschwächt werden kann. Die nachhaltige Wirkung er-
klärt sich daraus, daß diese ersten Eindrücke sinnliche Lust gewährt
haben. Infaiitilismus und Sexualität, die durch die Freudschen For-
*) Vgl. auch Stokel „Dichtung und Neurose", Hinrichsen „Zur Psy-
chologie und Psychopathologie des Dichters", heides in Grenzfragen des Nerven- und
Seelenlebens, Wiesbaden, J. F. Bergmann, sowie Reik „Dichtung und Psycho-
analyse" (Pan, 1912). — Einen Beitrag „Zum Werden des Romandichters" hat
Hit seh mann gebracht, (Imago I, 1912).
**) Schriften z. ang. Seelenk., Nr. 7, 1910.
igg X. Anwendungen der Psychoanalyse.
schlingen als Hauptkomponenten der Neurosen enthüllt worden sind,
erweisen sich auch als die richtunggebenden Strömungen in der Ent-
wicklung jedes, des überwertigen sowohl wie des normalen Charakter-
bildes.*)
Insoweit ein philosophisches System Ausfluß der Persönlichkeit
des Philosophen ist, können beide Gegenstand der Psychoanalyse
werden: den ersten Versuch machte Hitschmann an Schopenhauer.
„Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie" mit
ausführlicherem Eingehen auf Plato verdanken wir A. Freiherrn
v. Winterst ein.**)
All diese individualpsychologischen Untersuchungen ebnen einer
Art Charakterologie den Weg, welche vielleicht im stände sein wird,
Typen aufzustellen und deren Entwicklung in engen Zusammenhang
mit bestimmten Ausprägungen gewisser Triebbetätigungen zu bringen.
Für eine solche Bildung endgültiger Charaktereigenschaften aus be-
stimmten konstitutionellen Triebregungen und ihrem späteren Schicksal
hat Freud eine Formel angegeben, wonach diese bleibenden Züge
entweder unveränderte Fortsetzungen der ursprünglichen Triebe, Subli-
mierungen derselben oder Reaktionsbildungen gegen dieselben sind.
Es ist begreiflich, daß diese und andere zugehörige Einsichten der
Pädagogik neue Aufgaben und Methoden nahebringen mußten, wofür
außer den bereits genannten Arbeiten Pfisters die inhaltsreiche
Diskussion der „Psychoanalytischen Vereinigung Zürich", an der sich
unter anderen Maed er und Meßmer beteiligten.***) Beweise liefert.
Auch Jones hat einschlägige Publikationen gebracht. y)
Es wurde bereits erwähnt, daß so bedeutsame Ergebnisse für das
Verständnis des Seelenlebens nicht auf die Psychologie des einzelnen
Individuums beschränkt bleiben konnten, und es ist ein, wenn auch
indirekter Beweis für die Richtigkeit der Freud sehen Lehre, daß
es sich auch auf dem Gebiete der Völkerpsychologie so überaus
fruchtbar erwiesen hat. In den von Freud herausgegebenen „Schriften
zur angewandten Seelenkunde" sind einige diesbezügliche Arbeiten
enthalten. Riklin konnte die „Wunscherfüllung und Symbolik", die
*) Einen psychoanalytischen Versuch über „Giovanni Segantini« verdanken
wir Abraham (Schriften z. ang. Seelenkunde Heft 11, 1911).
*•) Beides in n Imago u , II, 1913, Nr. 2.
***) Vgl. „Berner Seminar-Blätter-' (VI. Jahrg., 1912). Diese Zeitschrift ge-
wahrt der psychoanalytischen Bewegung breiten Raum.
f) Im „Journ of Educational Psychol." (Nov. 1910, Mai 1912).
Mythologie und Religion. 167
Freud für den Traum und die Neurose aufgedeckt hatte, auch „im
Märchen" als wirksam nachweisen (Heft 2, 1907): Abraham hat in
einer Studie zur Völkerpsychologie: „Traum und Mythos" (4. Heft, 1908),
anknüpfend an Freuds grundlegende Deutung der Ödipussage, ge-
zeigt, daß in den Mythen der Völker die gleichen psychologischen
Grundtatsachen zur Geltung kommen, und Rank an einer eng-
begrenzten Mythengruppe, dem „Mythus von der Geburt des Helden"
(5. Heft, 1909) den Wert der psychoanalytisch gewonnenen Detail-
kenntnis für das vertiefte Verständnis der Mythenbildung und Mythen-
deutung erwiesen.*)
Auch die neben der Mythen- und Märchenschöpfung kultur-
historisch bedeutsamste Leistung der Volksseele, die Religion, hat
F re u d auf Grund gewisser sich aufdrängender Ähnlichkeiten zwischen
bestimmten Zwangshandlungen der Zwangsneurotiker und den Formen
der Religionsübung von psychoanalytischen Gesichtspunkten aus zu
durchleuchten versucht**) und ist auf Grund gewisser Übereinstim-
mungen und Analogien zu dem Schlüsse gekommen, die Zwangs-
neurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen,
die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine
universelle Zwangsneurose zu bezeichnen. Die Koplexe verlieren hier im
Sinne Jungs sozusagen ihre pathogene Wirkung, „indem sie universell
werden". Die individuelle Wurzel der Gottesgläubigkeit hat Freud in
deren intimem Zusammenhange mit dem Vaterkomplex bloßgelegt;
der persönliche Gott ist psychologisch nichts anderes, als ein erhöhter
Vater, und die Psychoanalyse führt uns täglich vor Augen, wie jugend-
liche Personen den religiösen Glauben verlieren, sobald die Autorität
des Vaters bei ihnen zusammenbricht. Biologisch führt sich die
Religiosität auf die Hilfsbedürftigkeit des kleinen Menschenkindes
zurück, welches, wenn es später seine Schwäche gegen die großen
Mächte des Lebens erkannt hat, seine Lage ähnlich wie in der Kind-
heit empfindet und deren Trostlosigkeit durch die regressive Erneuerung
der infantilen Schutzmächte zu verleugnen sucht,***) In letzter Linie
*) Vgl. auch Rank: „Die Lohengrinsage" (Schriften z. angew. Seelenk.
Heft 13, 1912); ferner „Der Sinn der Griseldafabel" (Irnago, I, 1912) und „Die
Matrono von Ephesus" (Int. Z. f. ärztl. Psa., I, 1913). — E. F. Lorenz analy-
sierte „Das Titanenmotiv in der allgemeinen Mythologie" (Imago, II, 1913).
**) „Zwangshandlungen und Religionsübung" (Lit.-V. Nr. 25).
***) Die „Wandlungen und Symbole der Libido", namentlich in ihrer Be-
deutung als religionsbildende Kräfte, hat Jung in einer weitausholenden Arbeit
Jahrb. Bd. III. und IV.) mythologisch und kulturhistorisch ausführlich belegt.
168 X. Anwendungen der Psychoanalyse.
scheint also auch die Religion, ebenso wie Wahn, Traum und Neurose
uns Menschen, die wir die Wirklichkeit ganz allgemein unbefriedigend
finden, durch Produktion von Wunscherfüllungen über die Mängel
der Realität hinwegzutäuschen.
Aus dem Studium der Neurosenpsychologie hat sich sehr
viel für das Verständnis der Kulturentwicklung ergeben, denn die
Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstim-
mungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, der Religion
und der Philosophie, anderseits erscheinen sie wie Verzerrungen der-
selben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerr-
bild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer
Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen
Systems. Diese Abweichung führt sich in letzter Auflösung darauf
zurück, daß die Neurosen asoziale Bildungen sind; sie suchen mit
privaten Mitteln zu leisten, was in der Gesellschaft durch kollektive
Arbeit entstand. Bei der Triebanalyse der Neurosen erfährt man, daß
in ihnen die Triebkräfte sexueller Herkunft den bestimmenden Einfluß
ausüben, während die entsprechenden Kulturbildungen auf sozialen
Trieben ruhen, solchen, die aus der Vereinigung egoistischer und
sexueller Anteile hervorgegangen sind.
XI.
Chronologische Übersicht der Freudschen Schriften;)
von 1893 bis 1913.
1. Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Von Dr.
Josef Breuer und Dr. Si'gin. Freud in Wien.
Neurologisches Zentralblatt, 1893, Nr. 1 und 2, auch abgedruckt als
Einleitung der „Studien über Hysterie", 1895, und in der „Sammlung kleiner
Schriften zur Neurosenlehre aus den Jahren 1893—1906" (Kl. Sehr., I).
F. Deuticke. Wien und Leipzig 1906.
2. Quelques considörations ponr nne 6tude coniparative des paralysies motri-
ccs organiques et hysttfriques.
Archives de Neurologie, 1893, Nr. 77. (Kl. Sehr., I.)
3. Die Ahwehrneuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der
akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser
halluzinatorischer Psychosen.
Neurologisches Zentralblatt, 1894, Nr. 10 und 11. (Kl. Seh., I.)
4. Über die Berechtigung', von der Neurasthenie einen bestimmten Sym-
ptomenkomplex als „Angstuourose" abzutrennen.
Neurologisches Zentralblatt, 1895, Nr. 2. (Kl. Sehr., I.)
5. Studien über Hysterie. Von Dr. Josef Breuer und Dr. Sigm. Freud, Leipzig
und Wien, F. Deuticke, 1895; 2., unveränderte Auflage, 1909.
6. Obsessions et phobies. Lenr mecanisine psychique et lenr Ätiologie.
Revue neurologie, HI, 1895. (Kl. Sehr., I.)
(Deutsche Übersetzung: Wiener kl. Rundschau, 1895.)
7. Zur Kritik der „Angstnenrose".
Wiener kl. Rundschau, 1895. (Kl. Sehr., I).
8. Weitere Bemerkungen über die Abwehrnenropsychosen.
Neurologisches Zentralblatt, 1896, Nr. 10. (Kl. Sehr., I.)
9. L/heredite et l'etiologie des N6vroses.
Revue neurol., IV, 1896. (Kl. Sehr., I.)
10. Zur Ätiologie der Hysterie.
Wiener kl. Rundschau, 1896, Nr. 22-26. (Kl. Sehr., 1.)
11. Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen.
Wiener kl. Rundschau, 1898, Nr. 2, 4, 5, 7. (Kl. Sehr.. I.)
12. Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit.
Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie, Bd. 4, 1898. (Wiedergegeben
in „Zur Psychopathologie des Alltagslebens".)
*) Vgl. auch Abrahams Bibliographie der Freudschen Schriften im Jahr-
buch für psychoanalytische und psychopathologiscbe Forschungen, Band I, 1909.
17Q Chronologische Übersicht der Freudschen Schriften.
13. Über Dcckeriiuierungen.
Ebenda, Bd. 6, 1899 (Wiederabdruck, ebenda).
14. Die Traumdeutung. F. Deuticke. Leipzig und Wien, 1900; 2., vermehrte Auf-
lage, 1909; 3., neuerdings vermehrte Auflage. 1911.
15. Über den Traum. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1901. (Grenzfragen des
Nerven- und Seelenlebens, herausg. von Löwenfeld und Kurella.)
2., vermehrte Auflage, 1911.
16. Zur Psychopathologie des Alltagslebens. (Über Vergessen, Versprechen,
Vergreifen, Aberglaube und Irrtum.)
Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie, Bd. 10, 1901. (In Buchform:
Berlin, S. Karger, 1904; 2., vermehrte Auflage, 1907; 3., neuerdings vermehrte
Auflage, 1910; 4., vermehrte Auflage, 1912.)
17. Die Froudsche psychoanalytische Methode.
In : Löwenfeld, „Psychische Zwangserscheinungen'', 1904. (Kl. Sehr., I.)
18. Über Psychotherapie.
Wiener med. Presse, 1905, Nr. 1. (Kl. Sehr., I.)
19. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. F. Deuticke. Wien und
Leipzig 1905; 2., unveränderte Auflage, 1912.
20. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. F. Deuticke. Wien und Leipzig
1905; 2., im wesentüchen unveränderte Auflage, 1910.)
21. Bruchstück einer Hysterieanalyse.
Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie, Bd. 18, Heft 4 u. 5, 1905.
(Kl. Sehr., II.) L
22. Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der
Neurose.
In Löwenfeld: „Sexualleben und Nervenleiden", 4. Auflage, 190b.
(Kl. Sehr., I.)
23. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre aus den Jahren löi» ois
1906. Wien und Leipzig, F. Deuticke, 1906; 2., unveränderte Auflage, 1911.
(Kl. Sehr., I.)
24. Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse.
Archiv f. Kriminalanthropologie und Kriminalistik von Groß, Bd. 26,
1906. (Kl. Sehr., II.)
25. Zwangshandlungen und Religionsübung.
Zeitschrift f. Religionspsychologie, Bd. 1, Heft 1, 1907. (Kl. Sehr., IL)
26. Zur sexuellen Aufklärung der Kinder.
„Soziale Medizin und Hygiene«, Bd. H, 1907. (Kl. Sehr., II.)
27. Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva".
Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausg. von Prof. Dr . Sigm.
Freud. L Heft. Leipzig und Wien, F. Deuticke, 1908; 2. ^ a S € ' 1912 -
28. Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bi 86 *"^,.]:
Zeitschr. f. Sexualwissenschaft, Jahrg. I, Heft 1, 19UÖ. (KL kehr., ü.)
29. Charakter und Analerotik.
Psychiatr.-neurol. Wochenschr., 9. Jahrg., Nr. 5J, 1 JOB. (hl. Sehr., II.)
30. Die „kulturelle" Sexualmoral und die moderne Nervosität.
„Sexualprobleme«, der Zeitschrift „Mutterschutz" neue Folge. 4. Jahrg.
1908. (Kl. Sehr., IL)
Chronologische Übersicht der Freudschen Schriften. 171
"6
31. Der Dichter und das Phantasieren. ,
Neue Revue, 1. Jahr., 2. Märzheft, 1908. (Kl. Sehr., II.)
32. Über infantile Sexnaltheorien.
„Sexualprobleme", 4. Jahrg., 1908. (Kl. Sehr., II.)
33. Allgemeines über den hysterischen Anfall.
Zeitschrift f. Psychotherapie und med. Psychologie, I. Jahrg., 1909.
(Kl. Sehr., U.)
34. Sammlung kleiner Schriften zur Ncnrosenlehre. Zweite Folge. (Kl. Sehr.,
U.) Wien und Leipzig, F. Deuticke, 1909; 2., unveränderte Auflage, 1912.
35. Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben.
Jahrbuch f. psychoanalytische und psychopathologische Forschungen,
herausg. von Prof. Dr. E. Bleuler und Prof. Dr. S. Freud. Redigiert von
Dozent Dr. C. G. Jung, 1. Bd., 1909. F. Deuticke, Wien und Leipzig.
36. Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose.
Ebenda.
37. Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20jährigen Gründungs-
feier der Clark University in Worcester Mass. September 1909. Leipzig und
Wien, F. Deuticke, 1910; 2., unveränderte Auflage, 1912.
38. Die psychogene Sehstörnng in psychoanalytischer Auffassung.
Ärztliche Standeszeitung, 1910, Nr. 9. (Wien.)
39. Eine Kindheitscrinnerung des Leonardo da Vinci.
7. Heft der Schriften zur angewandten Seelenkunde. Wien und
Leipzig, 1910.
40. „Über den Gegensinn der Urworte." Referat über die gleichnamige Bro-
schüre von Dr. phil. Karl Abel (1881).
Jahrbuch f. psychoanalytische und psychopathologische Forschungen,
II. Band (1910).
41. Beiträge zur Psychologie dos Liebeslebens. I. Über einen besonderen
Typus der Objektwahl beim Manne.
Ebenda.
42. Die zukünftigen Chancen der psychoanalyt. Therapie.
Zentralblatt f. Psychoanalyse, I. Jahrg., II. 1, 1911. J. F. Berg-
mann, Wiesbaden.
43. Über wüde Psychoanalyse.
Ebenda.
44. Nachträge zur Traumdeutung.
Ebenda.
45. Formulierungen Über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens.
Jahrb. f. psa. u. psychop. Forsch., 1911, III. Bd.
46. Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschrie-
benen Fall von Paranoia (Dementia peranoides).
Ebenda,
47. Nachtrag zu dem autobiographisch beschriebenen Falle von Paranoia
(Dementia paranoides).
Ebenda.
48. Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse.
Zentralblatt f. Ps., 1912, II. Jahrg.
172
Chronologische Übersicht der Freudschen Schriften.
49. Zur Dynamik der Übertragung.
Ebenda.
50. Über neurotische Erkrankungstypen.
Ebenda.
51. Ratschläge Wir den Arzt hei der psychoanalyt. Behandlung.
Ebenda.
52. Beiträge zur Psychologie des Liebeslehens. II. Über die allgemeinste
. Erniedrigung des Liebeslebens.
Jahrb. f. psa. Forschg., IV. Bd., 1912.
58. II metodo psicoanalytico. (Übersetzt von R. Amagioli.)
„Psiche". Rivista di studi psicologici, I, Nr. 1, März- April, 1912.
54. Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neu-
rotiker. I. Die Inzeslschen.
Imago, 1912, I. Jahrg.
55. Über einige Übereinstimmungen etc. II. Das Tabu und die Ambivalenz
der Gefühlsregungen.
Ebenda.
56. A Note an the Unconscious iu Psycho- analysis.
Proceedings of the Society for Psychical Research. Part. LXVI,
Vol. XXVI, November, 1912. (Deutsche Übersetzung: Einige Bemerkungen
über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse, „Int. Zeitschr.
f. ärztl. Psychoanalyse, I. Jahrg., 1913. Herausg. von Prof. Dr. S. Freud,
redig. von Dr. S. Ferenczi u. Dr. 0. Rank. Hugo Heller & Cie., Wien.)
57. Weitere Ratschlage zur Technik der Psychoanalyse. I. Zur Einleitung der
Behandlung.
Ebenda.
58. Ein Traum als Beweismittel.
Ebenda.
59. Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der
Neurotiker. III. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken.
Imago, 1913, II. Jahrg., H. 1, Februar, 1913.
60. Weitere Ratschläge znr Technik der Psychoanalyse. 1. Zur Einleitung der
Behandlung. — Die Finge der ersten Mitteilungen. — Die Dynamik der
Heilung.
„Int. Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse", I, 1913, Märzheft.
61. MUrchenstoffe in Träumen.
Ebenda.
I
■
'1.
Verzeichnis der Übersetzungen Freudscher Arbeiten. 173
Verzeichnis der in fremde Sprachen übersetzten
Freudschen Arbeiten.
1. Selected Papers on Hysteria and otlier Psyclioncuroses. Aut. Transl. by
Dr. A. A. Brill (New-York, 1909); 2., vermehrte Auflage, 1912.
2. Zur Psychopathologie des Alltagslebens Russische Übersetzung von
Dr. Medem. (Moskau, 1910.)
3. Three Contributions to the Sexual Theorie. Transl. by Dr. A. A. Brill.
(Nervous and Mental Disease Monograpli Series Nr. 7, New York, 1910.)
4. Drei Abhandlungen zur Sexual-Theorie. Russische Übersetzung in „ Psycho-
therapeut. Bibliothek", redig. von Dr. Ossipow und Dr. Feldsmann, Heft 3.
5. The Origin and Development of Psychoanalysis. (American Journal of
Psychol., April 1910.)
6. Die Psychoanalyse. Russische Übersetzung in „Psychotherapeut. Bibliothek" ,
Moskau, 1911.
7. Over Psychoanalyse. Holländische Übersetzung von Dr. J. E. G. van
Emden, (Leiden, 1912.)
8. Pszichoanalizis. U n g a r. Übersetzung von Dr. S. Ferenczi. (Budapest, 1912.)
9. Psychoanalizic. Polnische Übersetzung von Dr. Ludwig Jekels.
(Lemberg. 1912.)
10. Der Wahn und die Träume in W. Jensons Gradiva. Russische Übersetzung
in der Sammlung „Leben und Seele", redig. von Dr. M. Wulff, Odessa.
11. Freuds Interpretation of Dreams. Transl. by Dr. A. A. Brill. (London und
New- York, 1913.) — Im Erscheinen.
12. On Dreams. Transl. by Dr. M. D. Eder. (London, 1913.) — Im Erscheinen.
K. u. K. Hofbuchdruckerei Karl Prochaaka in Toachen.
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NEUROSENLEHRE
VGN
Dr. EDUARD HITSCHMANN
Zweite ergänzte Auflage
Leipzig und Wien
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