XIX. BanJ
Haft 4
IMAGO
Zeitschrift für psychoanalytische Isychologie
ihre Grenzgebiete und Anwendungen
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
/Sigm. Freud
Redigiert von Ernst Kris un d Robert Wälder
Paul Federn.D ie Ichbesetzung hei den Fehlleistungen. (VI bisVIII)
R. A. Spitz .EinBeitragzumProhlemderWandlungder Neurosen¬
form (D ie infantile Frau und ihre Gegenspieler)
JAarie Bonaparte .Der jMensch und sein Zahnarzt
JA. D. Eder .Die jüdischen Gehetsneinen und andere rituelle Ge¬
bräuche der Juden
StefF Bornstein .Das Atärchen vom Dornröschen in psychoanalytisdier
Darstellung
Helene Deutsch .Uher die Weiblichkeit
Istvän Hollos .Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erschei¬
nungen
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IMAGO
*
ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOLOGIE,
IHRE GRENZGEBIETE UND ANWENDUNGEN
XIX. Band 1933 Heft 4
Die Ichbesetzung Lei Jen Fehlleistungen
Von
Paul Federn
Wien
VI ) 1 „Äquivalent einer Fehlleistung“ im Traume
Ich habe früher (S. 515) die „geträumte Fehlleistung“ an wenigen Bei¬
spielen besprochen und dabei erklärt, daß man von einer Fehlleistung des
Traumes, d. h. der Traumarbeit, nicht sprechen kann, denn der Traum
verfährt überhaupt kontrollos mit den Objektbesetzungen. Wenn wir aber
auch das Verhalten des Ichs mit heranziehen, so finden wir mitunter ein
Zurückbleiben der Ichgrenze hinter der Aufgabe, die die Objektbesetzungen
stellen, analog wie wir es für die Fehlleistung beschrieben haben. Auch
könnten Kontaminationen und Mischbildungen im Traume darauf beruhen,
daß mehrere Ichgrenzen sich gleichzeitig mit verschiedenen Objekten be¬
schäftigen; andere Verdichtungen entstehen hingegen durch das Zusammen¬
treten verschiedener Objektbesetzungen in unbewußter Arbeit. Ich kann
aber für diese Unterscheidung noch keine bestimmten Kriterien angeben.
Ich will nur ein Beispiel für ein derartiges traumhaftes Äquivalent des
Vergessens bringen.
Man träumt ja sehr oft, daß man etwas nicht weiß; das beruht darauf,
daß nur ein geringer Teil des Denkmaterials bei jedem Traumbilde dem
partiell erwachten Ich ins Bewußtsein tritt. Der Träumer setzt sich darüber
hinweg, manchmal mit Gleichgültigkeit, oft auch mit Ärger. Wahrscheinlich
wirkt ein determinierter Widerstand gegen das ärgerlich Vergessene dabei
1) Siehe diese Zeitschrift XIX, 1933, Heft 3.
Imago XIX.
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
28
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Paul Federn
454
mit. Das traumhafte Äquivalent des tatsächlichen Vorganges des Vergessens
ist aber eine bestimmte Art der Unterbrechung im Ablauf des Traumes
während andere Arten von Lücken und Absätzen ihre bestimmte Deutung
in den latenten Traumgedanken, beziehungsweise in der logischen Beziehung
der einzelnen Traumgedanken zueinander, ihre Erklärung bei Freud ge¬
funden haben.
Es gibt Träume, bei denen innerhalb eines Traumes ein Hiatus nur i n
bezug auf die Anwesenheit der Person des Träumers bei dem Traumgeschehen
auftritt, während in der Handlung selbst keine Pause eintritt; die Szene
wechselt dabei oder bleibt die gleiche. Aber während die Traumgeschehnisse
weiter abrollen, ist bei einem neuen Geschehen der Träumer nicht von
Anbeginn da; er ist gleich wieder da, hat ein Gefühl, wie wenn er eine
Gesellschaft verloren hätte und sie leicht wieder einholte. Er meint auch
zu wissen, wo er in dem Intervall verweilte, jedenfalls weiß er, daß er
sich verweilt hat. Das scheint dann zu geschehen, wenn der eine Traum¬
teil etwas bedeutet, was dem Über-Ich gar nicht gefällt, oder wenn der
zweite Traumteil etwas Furchtbares bedeutet. Das Ich kann bei dem ersten
Traumteil verharren oder vor dem zweiten Teile zurückschrecken. So ist
das Zurückbleiben entweder eine Parteinahme für den ersten Traumteil
oder ein Nicht-mit-ihm-fertig-werden-Können. Ich will als Beispiel einen
eigenen Traum mit zwei Unterbrechungen berichten, den ich vor andert¬
halb Jahren notiert habe. Eine Novelle, die ich den Abend zuvor vor¬
gelesen hatte, war in der Architektur des Traumes dem Stile, auch der
tieferen Bedeutung nach festgehalten, ohne daß inhaltlich Reste des Ge¬
lesenen in den Trauminhalt gelangten. Daß manche nächtliche Träume
Dichtung sind, wurde mir dabei klar. Sehr oft ist die Gesamtstimmung
des Abends für die des Traumes verantwortlich.
1) Der Traum beginnt damit , daß ich wieder Arzt für innere Krankheiten
bin , aber nicht in Wien, sondern wie wenn ich auf Manöver wäre.
2) Ich werde berufen , d. h. mir wird ein Patient angekündigt und es wird an~
gefragt, wann er aus Wien zu mir herauskommen soll. Erste Unterbrechung!
Ich schlage vor , ob er nicht warten könne, bis ich nach Wien zurückfahren würde ,
was nur die Frage von ein -paar Tagen sei, das würde doch dem Kranken
billiger zu stehen kommen.
j) Nun ist plötzlich der Mann schon da , der mich konsultieren wollte. Es
ist ein Jude mit rötlichem Spitzbart, etwa wie der Kollege X. Plötzlich wird
er aufgeregt und verzweifelt , jammert und schreit wie verrückt. Ich bleibe kalt ,
und sehe , daß er mich mißverstanden hat , da ich ja bereit war , auch sofort
nach Wien zu fahren. — Zweite Unterbrechung.
Die IcLbesetzung bei den Fehlleistungen
435
Plötzlich sind in meinem Zimmer drei überlebensgroße Kaftanjuden und
ammern über mich . Sie sind schwarz , mächtig , mit überlangem Barte. Mein
Qedanke ist: „Wie kann man mir mein Zimmer verunreinigen , sie haben gewiß
Ungeziefer — was soll ich tun?“ Im Gefühle meiner Hilflosigkeit gegenüber
Eindringlingen wache ich aus dieser rätselhaft eingetretenen und peinlich
unangenehmen Szene auf mit dem sofortigen Wissen, daß da eine übernatür¬
liche Offenbarung zur Interpretation nötig sei, weil diese alten Juden über mich
verzweifelt waren und zu mir gekommen sind, um mich zu warnen. Den Eindruck,
daß diese Traumgestalten wirklich Gewalten der Vorzeit sind, die wirklich als
Geister leben und mich im Traume besuchten, um mich zu bekehren, wurde
ich lange nicht los. Ich fühle mich durch den Traum in mein Alter hinein¬
gewachsen, ernst und aktiver geworden, wie fähig, eine Mission zu erfüllen.
Die Novelle, die ich Abends zuvor gelesen hatte, war „Die Narrenburg“
Stifters. Inhaltlich besteht nur die Beziehung, daß der zu der Burg seiner
Väter zurückgekehrte Urenkel beziehungsweise Großneffe dort eine große
Tätigkeit beginnt und der Dichter so die düstere Geschichte mit neuer
Hoffnung enden läßt. Die mystische Stimmung von rätselhaften Zusammen¬
hängen und Ahnungen ist jedem Leser des großen österreichischen Dichters
erinnerlich.
Ich bringe einiges zur Deutung des Traumes, obgleich diese selbst ohne
allgemeines Interesse ist. Vorher will ich an diesem Beispiele hervorheben,
daß, wie ich an anderer Stelle angegeben habe, die Art des Ichgefühls aus
dem Traume ganz deutlich erinnerlich sein kann. In diesem Traume war
die ganze Zeit hindurch kein Körper-Ich, sondern nur das geistige Ich vor¬
handen gewesen, trotz der mitunter starken Affekte; der Traumgedanke
hat also nichts mit dem, was ich im Wachen wollte, zu tun. Die Traum¬
gestalten waren besonders plastisch und überlebendig, der sehr starke Affekt
ist erst im Erwachen aufgetreten.
Absatz 1: Tages wünsch und Tagesrest aus einem Gespräch mit meiner
Frau, die sagte, daß meine schon in früher Jugend brennend gewesene (sie
nannte es) Neugier, Menschenschicksale zu verstehen und kennenzulernen,
an ihnen teilzuhaben, längst gestillt sein müsse. Ich erwiderte zustimmend,
daß ich froh wäre, allein und frei von allem Fremd-Seelischen natur¬
wissenschaftlich oder auch sonst etwas zu arbeiten. Der Wunsch, jung und
unbekümmert zu sein, kommt auch im „Manöver“ zur Geltung, in dem
ich ein junger eingerückter Arzt war. In Wirklichkeit habe ich kein Manöver
als Militärarzt, sondern nur eines als Infanterist mitgemacht; die Manöver¬
zeit als Landwehrarzt habe ich in Wien abgedient, was mir nachher leid
tat. Der Tagesrest war ein Gespräch mit einem befreundeten Maler, in
28*
43 6
Paul Federn
dem ich das beim Militär verbrachte Halbjahr lobte und erzählte, wie ich
ohne rechte militärische Eignung, nur dank meiner Ambition, bei den
Offizieren gut angeschrieben war und dank meiner Freundlichkeit mit den
Kameraden ausgezeichnet stand, dabei das ungeistige, körperliche Leben
sehr gerne hatte, allerdings die Zeitvergeudung und manches andere nicht
mochte.
Zum zweiten Absatz: Dieser Teil ist mehr gewußt als szenisch erlebt
Auch hier kommt der negative Wunsch gegen die analytische Tätigkeit
zur Geltung. Ich würde vom Lustprinzip aus jetzt keine Patienten wünschen
gerne auf Urlaub gehen, muß mich aber stets „besinnen“ und sie nicht
ablehnen. Dieses Nicht-Wünschen, der „narzißtische Widerstand“ gegen die
von außen kommende Aufgabe, der im Wachen, wie wir gezeigt haben
zur Fehlleistung führen würde, bedingt die erfolgende Unterbrechung. Aller¬
dings wird das Zurückbleiben wieder eingeholt, ich vergesse nicht wirklich
— der Patient und ich sollen Zusammenkommen. Auch im Traum besinne
ich mich meiner Pflicht. In meinem Vorschlag, der Patient möge warten
bis ich nach Wien komme, ist ein Kompromiß zwischen Wunsch und Pflicht
zustandegekommen. Die Rücksicht auf die vom Patienten zu tragenden Kosten
ist eine aus der Wirklichkeit genommene Rationalisierung, da ich in dieser
Rücksicht manchmal weiter gehe, als der Patient es selbst erwartet.
Absatz 3: Die neuerliche Unterbrechung in der Handlung, indem an¬
gekündigte Ereignisse gleich da sind, ist ein typisches Vorkommen im
Traume. Der Traum vermag den Satz Rinets (?): Chaque idee tend ä
se rendre acte bis zur vollen Wirklichkeit zu erfüllen. Es ist das eigentlich
keine Unterbrechung, sondern eine besonders enge Kontinuität, indem die
Aufeinanderfolge des Geschehens durch den verbindenden Gedanken her¬
gestellt wird. Die Zeitlosigkeit im Traume besteht eben zum Teil darin,
daß lange Zeiträume, wie sie in der Wirklichkeit zur Vollführung einer
Tat oder zum Eintritt eines Zustandes nötig wären, einfach ausgelassen
werden. Man erlebt nicht das „Wie“ des Geschehens, sondern erlebt nur,
ohne bei der Kritik des unbegreiflichen sofortigen Eintretens verweilen zu
können, das „Was“ des Geschehens als unwidersprochene Wirklichkeit.
Solches Überspringen unwichtiger Zeitperioden im Traume hat aber nichts
mit dem spezifischen Gefühl von Unterbrechung des Gegenwärtig-Seins des
Träumers zu tun, in welchem ich das Äquivalent eines wachen Vergessens
erkannt habe.
Ich übergehe die Deutung des dritten Absatzes, was Tagesreste und sonst
Persönliches betrifft. Das Problem meines Verhältnisses zum Judentum,
Die IcLbesetstmg bei Jen Fehlleistungen
welches im letzten Bild zur unerwarteten, übernatürlich gestalteten Er¬
ledigung kommt, ist auch in diesem Absatz dargestellt, aber noch aus den
Erfahrungen und vom Standpunkte des Alltags. Die zweite Unterbrechung
des Ichs im Traume geht dem Einsetzen der ganz neuen Darstellung des
Problems voraus. Das Ich des Träumers verlor sich für einige Zeit und
dieses Mal ohne das Gefühl, daß er wußte, wo er in der Zwischenzeit war.
Kein Besinnen repariert diesen Hiatus. Ich schrieb zwar, daß die drei über¬
lebensgroßen Gestalten in meinem Zimmer sind. Richtiger ist, daß die Szene
bald überhaupt kein Milieu hatte, während vorher mein Zimmer deutlich
geträumt wurde. Was die Eigenschaft der Überlebensgroße bedeutet, wenn
sie nicht, wie in sexuellen Träumen, die Erektion symbolisiert, weiß ich
nicht; ich dachte, es könnte das „Über-Ich“ so zur Darstellung kommen;
vielleicht ist es die archäische Symbolik der Biesen, der Cherubim und
sonstiger überweltlicher Symbole, die sich in solchen Träumen aus dem
kindlichen oder phylogenetischen Erfahrungsmateriale erneut. Auch das
würde dem Über-Ich entsprechen. Sicher ist, daß die Tagesreste zu den
Patriarchen führen. Einen Witz, den Kollege X einmal gemacht hatte, habe
ich den Abend zuvor erzählt. (Ein Kollege hatte den Namen Stephan für
seinen alttestamentarischen Namen „Isaak“ eingetauscht. Und Kollege X
benützte dann durch mehrere Tage wiederholt die Bekräftigungsformel: Bei
unsern Vätern Abraham, Stephan und Jakob!) Der überlange Bart führt zu
Moses, eine Mosesbüste stand den Abend gerade mir gegenüber, Moses zu
Mahomet, von dem ich kurz zuvor las, daß er im Alter zwischen Fünfzig
und Sechzig den Islam geschaffen hat. Moses war noch viel älter, als er
das gelobte Land erreichte. Mein Name könnte alttestamentarisch Saulus
sein, wenn ich kein Paulus geworden wäre. Saul hat sich aber gegen das
Gebot des Propheten gewehrt. Auch der Name des Dichters, Stifter, mag
mitgewirkt haben. Auch mein Vater hat seine bedeutenden Funde und
Arbeiten mit 60 Jahren zu publizieren begonnen. Die warnenden Patriarchen,
die meinen Vater vertreten, von denen ich nichts wissen will, sind sie doch
nur alte Juden mit Ungeziefer, die aber mich und meine Abwehr völlig
überwältigen, alles das bezieht sich auf mir gestellte Aufgaben, die ich nicht
dazukam zu erfüllen. Das Ende des Traumes kehrt damit zum Beginn zu¬
rück, denn wenn ich Internist geblieben wäre, so hätte ich das Arbeits¬
gebiet meines Vaters nicht verlassen.
Ich habe mit vielen Auslassungen diese autobiographische Deutung ge¬
geben, weil ich noch folgende Erklärung der Unterbrechung der Anwesen¬
heit des Ichs — ohne nachfolgendes Gefühl der Ausfüllung der Unterbrechung
— hinzuzufügen habe, nämlich die, daß von diesem Moment des Traumes an
das projizierte Über-Ich die Herrschaft angetreten hat, und das Ich weiter-
hin nur mehr mit passivem Ichgefühl das Geschehen erlebt, während es
zu Beginn des Traumes wehrhaft, aktiv, ablehnend gegen die Probleme
eingestellt war. Der Übergang von der Ichgrenze mit aktiver Besetzung zu
der mit passiver Besetzung erfolgt durch einen Hiatus von Geistesabwesen¬
heit im Traume.
Ich glaube, berechtigt zu sein, in solchem Aussetzen der Ichbesetzung
die Andeutung einer Fehlleistung im Traume zu sehen, zu der es freilich
nie kommen kann, weil die Bealitätsprüfung fehlt. Jedenfalls verrät das
Aussetzen der Gegenwart des Träumers einen das Ich besiegenden Wider¬
stand. Ein Sprung im Traume entspricht daher einer argen Diskrepanz
zwischen narzißtischer Einstellung und den kommenden Objektbesetzungen;
ein dem subjektiven Gefühl nach reparierter Sprung entspräche einem nicht
zustande gekommenen, weil sofort durch Selbstbesinnung wieder gelösten
Vergessen im Wachen.
Man kann zusammenfassen: dort, wo eine Fehlleistung im Wachen ein-
treten würde, bleibt es im Traum bei der Unterbrechung der Gegenwart
des Ichs. — Es bleibt aber das Gefühl für die Kontinuität des Ichs des
Träumenden trotz der Unterbrechung dieser Kontinuität bestehen.
Die vorliegende Untersuchung hat den Anteil des Ichs als Subjekt bei
der Fehlleistung gezeigt. Wann immer das Ich hinter der Objektrepräsentanz
zurückbleibt oder aber ihr vorauseilt, ist die Gelegenheit zum akuten Ver¬
gessen (Verlegen, Verfehlen, Verwechseln sind nur Sonderfälle des Ver-
gessens) gegeben. Wann immer mehrere Ichgrenzen gleichzeitig von der
Objektrepräsentanz angeregt werden, ist die Gelegenheit zum Versprechen
(Verschreiben, Verhören, Verlesen sind Sonderfälle der gleichen Art) ge¬
geben. Der Akt der „Selbstbesinnung“ verhütet oft den Eintritt der Fehl¬
leistung; das Besinnen geschieht ganz unbemerkt; es besteht darin, daß
man den abgebrochenen Zusammenhang wieder aufnimmt, sich, analog
dem Vorgänge beim Reparieren der Fehlleistung, in den Ichzuständen zeit¬
lich und inhaltlich zurückbegibt und nun besser den Objektbesetzungen
folgt. In andern Fällen kommt es nicht zur Fehlleistung, wenngleich die
Ichgrenze gegenüber der Objektbesetzung sich verschob, weil genügend
andere vorbewußte richtige Verbindungen hergestellt sind, die eine richtige
4$9
Wortwahl sichern, wenngleich die bewußterweise sich vorbereitende ge¬
fährdet wurde. Erst wenn in bezug auf das zu wählende Wort unbewußte
Widerstande und Gegenströmungen sich stark geltend machen, wird das
Steckenbleiben der Ichgrenze zur Fehlleistung führen, vorausgesetzt, daß
auch dieses Steckenbleiben durch so starke Affekte bedingt ist, gegen welche
die Selbstbesinnung nicht aufkommen konnte oder vermöge welcher man
zum Versuch einer Besinnung gar nicht kommen kann. Die Fehlleistung
geschieht also immer dort, wo das Ich im Augenblick mehr beteiligt ist,
als daß es das objektiv Richtige allein walten ließe, oder wo es früher
einmal so stark beteiligt gewesen war, daß die Objektvorstellungen ihrer¬
seits einen solchen früheren Ichzustand wieder erwecken konnten
Wir sind so zur Beobachtung des Vorganges gekommen, durch welchen
das Realitätsprinzip allmählich immer mehr an Stelle des Lustprinzips zur
Anwendung gelangte. Es geschah dadurch, daß die Objekt Vorstellungen
mehr und mehr von den ihnen anhaftenden Beziehungen zum Ich frei
wurden. Damit werden sie auch von dem ihnen anhaftenden Affektbetrag
frei. In seiner Arbeit „Die Verdrängung“ hebt Freud 1 es besonders her¬
vor, daß die Verdrängung eine Vorstellung oder Vorstellungsgruppe betrifft,
welche vom Trieb her mit einem bestimmten Betrag von psychischer Energie
(Libido, Interesse) besetzt ist, zu welchem eine Besetzung mit einem Derivat
des Triebes, nämlich dem Affekte, in bestimmtem Betrage hinzukommt.
Es fördert hier nicht die Untersuchung, wenn wir den Anteil des Es und
Ichs zu trennen versuchen würden, indem wir von den Definitionen aus¬
gingen. Wir ziehen es vor, die Vorgänge selbst nachzuzeichnen. Dann lehrt
uns die Beobachtung, daß der anhaftende Affektbetrag aus all den vielen
einmal bewußt gewesenen Erlebnissen herrührt, in welchen die Objekt¬
vorstellung oder die Objektwahrnehmung selbst Reaktionen des Ichs her¬
vorrief, welche leid- und lustvolle waren, je nachdem der triebhafte Anteil
der Objektbesetzung und die entsprechende triebhafte Einstellung des Ichs
(und auch des Über-Ichs) eine Versagung oder Erfüllung erlebten. 2 Bei all
diesen Erlebnissen war aber die Objektvorstellung vorübergehend oder längere
Zeit mit Ichgefühl besetzt, in das Ich einbezogen gewesen. Die Befreiung
von diesen Affektbeträgen geschieht zum großen Teile ohne unser Zutun
durch die unbewußte Arbeit des Vor bewußten, wahrscheinlich zumeist im
Schlafe dadurch, daß überhaupt alle Besetzung dem Ich entzogen wird und
1) Ges. Werke, Bd. V, S. 473. Das Zitat zieht zwei Sätze des Originals zusammen,
2) Ich vergesse nicht, sondern vernachlässige hier absichtlich den eventuellen An¬
teil des phylogenetisch Unbewußten.
die den Objektbesetzungen anhaftenden Affektbeträge zum Ausgleich komm
Soweit dieser Ausgleich nicht unbewußt geschehen kann, kommt es zu m
Traume, d. h. zum Erwecken des Ichs durch die Affektbeträge. Das geschieht
weil eben jeder Affekt, wie Freud in anderem Zusammenhang lehrte und
ich nur hier neuerlich hervorhebe, das Residuum einer Ichsituation ist
Soweit das Loslösen der Affektbeträge durch unbewußten ausgleichenden
Entzug der Besetzung und durch die Traumarbeit nicht genügte, kann
sie noch durch das bewußte Erinnern, Wiedererleben, Beurteilen und viel¬
seitige Betrachten in bewußter Überlegung geschehen. Das ist eine der
wichtigsten Aufgaben des Bewußtseins. Sie gelingt nur, soweit nicht Ver¬
drängungen das Bewußtwerden solcher affektgeladenen Vorstellungen hindern
und damit auch das Zurückrufen jener Ichsituationen, in welchen der
Affektbetrag mit den Objekten sich verband. Der Widerstand des lchs gegen
solches Bewußtwerden von Vorstellungsgruppen zeigt sich unter anderem
in der Fehlleistung. Außerdem aber ist das Bewußtsein imstande, eine Kontrolle
darüber auszuüben, daß die Vorstellungen, trotz der ihnen anhaftenden
Affektbeträge, realitätsgemäß verknüpft werden. Die Fähigkeit zu solcher
Kontrolle ist individuell verschieden. Je öfter diese geschah, um so mehr
Affektbetrag wird den Vorstellungen entzogen und um so mehr werden
viele Objektrepräsentanzen völlig realitätsgemäß auch in vorbewußter Arbeit
verknüpfbar, weil sie keinen Affektbetrag mehr enthalten. Dieses Objektiv¬
machen der Vorstellungen begann phylogenetisch und ontogenetisch mit
dem Aufhören der Herrschaft des primären Narzißmus und der Magie, es
ist eine mühsam erfolgende Arbeit. Sie wird immer wieder durch die Stärke
der Ichreaktionen im Erleben und Erinnern gestört und verlangsamt. Weil
aber diese Arbeit nicht vollendet ist und die Ichsituationen, die mit den
Objektrepräsentanzen in Verbindung standen, nicht völlig verdrängt wurden,
haben wir für sehr viele Objekte sowohl die subjektiven, affektbetonten
und durch den Affektbetrag mit Ichsituationen verknüpften Repräsentanzen
und auch die mühsam erworbenen, „purifizierten“, affektlosen, eigentlich
richtigen Objektvorstellungen nebeneinander bestehen. Die ersteren machen
unser Denken und Handeln lebenswarm und originell, die zweiten setzen
uns instand, unindividuell, aber dafür objektiv richtig zu denken und zu
handeln. Die ersten bringen Reaktionen nach dem Lustprinzip, die zweiten
solche nach dem Realitätsprinzip zustande. Mit Hilfe der zweiten prüfen
wir die Möglichkeit, den ersteren nachzugeben; wegen der ersteren ver¬
zichten wir auf die Vorteile des absoluten Realitätsprinzips. Das ist aber
auch nötig, weil die ersteren allein libidinöse Verbindungen mit den an-
Die Ichbesetzung bei Jen Fehlleistungen
44i
dem Menschen setzen, während die zweiten, wie der Verstand es überhaupt
tut, eine kalte, verbindungslose Art zu reagieren mit sich brächten, wenn
sie allein herrschen würden.
Diese Gefahr des unpersönlichen Erlebens ist aber auch für das objek¬
ive, richtige Denken und Handeln gering, wenn das Ich normale und ge¬
nügend libidinöse Ohjektbeziehungen hat. Sobald nämlich eine Objektreprä¬
sentanz in unser Bewußtsein tritt, sobald sie nur vorbewußterweise unserem
aktuellen Interesse dient, wird sie vorübergehend mit Ichgefühl besetzt, und
nun kommt unsere gesamte oder auch nur ein Teil unserer Ichbesetzung,
nämlich unser Interesse, ihr entgegen und verleiht auch der „purifizierten“
Objektvorstellung aktuelle neue Besetzung. Sie wird so instandgesetzt, in¬
tensiv die weitere Wahl unter den Assoziationen zu beeinflussen, wenngleich
in ihr, als objektiv richtiger Vorstellung, kein Affektbetrag weder für noch
gegen sie wirkt, ihr weder für ihr Prävalieren zu Hilfe kommt noch da¬
gegen hinderlich ist.
Ich komme so von der Analyse der Fehlleistung neuerdings zum gleichen
Resultate, das ich aus der Untersuchung des Narzißmus früher abgeleitet
habe. Heute kann ich noch präziser sagen, die Ichgrenze wechselt ständig,
und zwar bilden die eben ins Bewußtsein getretenen Objektrepräsentanzen
stets die Ichgrenze für den nächsten Denkakt. Wir wissen aus eigener Er¬
fahrung, wie sich das eben Gedachte und vom Ich Erfaßte durch dieses
neuerliche Erleben meistens neuerdings anders verknüpft hat und wieder
vom Ich sich löst, aus dem Bewußtsein tritt und als isolierte Objektreprä¬
sentanz ins Vorbewußte zurücktritt. Über das Verhältnis zum Bewußtsein
wurde das Verhältnis zum Ich lange übersehen oder beides für identisch
angesehen (Janet). Daß sie nicht identisch sind, ergibt sich erstens daraus,
daß die Ichzugehörigkeit selbst Gegenstand des Bewußtseins oder Bewußt¬
werdens ist, denn wir wissen von jedem Einfall, ob er aus dem Bereich
der Ichzugehörigkeit oder dem der isolierten Objektrepräsentanzen kommt,
wir wissen von letzteren, ob sie ichverbunden sind oder nicht, wir können
schließlich im Falle der Entfremdung die Ichlosigkeit eines Teiles unseres
Ichs wahrnehmen, ohne daß dieser darum weniger bewußt wäre. Schließlich
kennen wir alle die Enge unseres Bewußtseins; diese bezieht sich jedoch
immer nur auf die auftauchenden Objektrepräsentanzen. Für das mit dem
Ich verbundene Vorstellungsmaterial besteht sie nicht. Soweit unser Ich¬
gefühl jeweilig uns bewußt ist, können wir gleichzeitig von mehreren
Sinnespforten bewußt Eindrücke erhalten. Wie schon Schopenhauer es
schilderte, dehnt sich das Ichgefühl auf das, was ich vorstelle, aus.
Man kann z. B. in einem Saale, wenn man, wie es älteren Personen
mitunter zufällt, einer Versammlung präsidiert, ja, wenn man nur einen
Vortrag hält und in gutem Kontakte mit der Zuhörerschaft, von ihrem
Aufmerken getragen, spricht, deutlich den Unterschied bemerken, daß sich
dann das Ichgefühl nicht nur auf die eigene Person beschränkt, nicht i n
der Frontal ebene der Stirne sich begrenzt, sondern den ganzen Saal ein-
bezieht. Ändert sich dieser Zustand, so werden diese Wahrnehmungen zwar
Objekte ohne Ichbesetzung, sie bleiben aber bewußt und stören nicht die
Gedanken, die in der Rede oder beim Zuhören auftauchen. Das liegt daran
daß sie einer verschiedenen Ichgrenze zugehören. Man kann aber auch*
während man einen Gedankengang verfolgt, einen andern in suspenso
lassen und ihn wieder aufnehmen, sobald etwa ein ihn bereicherndes
Argument gehört wird. Der geübte Simultanspieler läßt viele Schach¬
partien abwechselnd mit Aufmerksamkeit besetzt in sein Bewußtsein treten
in der Zwischenzeit ist der bisherige Stand des Spiels mit Ichgefühl be¬
setzt, aber nur vorbewußt vorhanden. In dieser Art sind ständig verschiedene
Teil-Ichgrenzen vorbewußt bereit, um wieder ins Bewußtsein zu treten
wenn sie durch äußere Anregung oder durch einen Einfall aktuell nötig
werden. Erst wenn Affekte oder die Unklarheit der Entscheidung solche
vorbewußt bereite Ichgrenzen zurückdrängen oder wenn sie mehrere mitein¬
ander in Konkurrenz treten lassen, tritt die Störung der Ichgrenzenfunktion
ein, welche die Fehlleistung einleiten kann. Immer besteht auch die Mög¬
lichkeit, daß eine Ichgrenze nicht mehr in das Bewußtsein treten kann;
wir würden sagen, daß sie verdrängt wird, wenn es sich um Objekt¬
besetzungen handeln würde, so aber glauben wir mit Recht zu sagen, daß
der Vorgang der Sperrung es ist, den wir hier als Mechanismus beschrieben
haben. Man wehrt sich zuerst gegen diese Annahme, weil, wie ich in einer
früheren Arbeit ausgeführt habe, Ichzustände und die jeweiligen Ichgrenzen
auch der Verdrängung unterliegen, sie können erst nach Überwindung von
Widerständen und durch umwegige Assoziation zurückgerufen werden. Die
Schwierigkeit erledigt sich damit, daß Ichzustände und die Ichgrenze auch
Objekt der Erinnerung, also selbst Inhalt einer Vorstellungsgruppe sein
können. Als Objektvorstellung unterliegt die Ichgrenze, die in einer be¬
stimmten Ichsituation bestanden hatte, mit dieser und der Objektvorstellung,
welche zu der bestimmten Ichgrenze in jener bestimmten Ichsituation hinzu¬
trat, der Verdrängung. Als Teil des Ichs unterliegt die Ichgrenze dem
Mechanismus der Sperrung, wie wir oben beschrieben haben. Es ist wahr¬
scheinlich. daß eine vorübergehende Sperrung jener Vorgang am Ich ist,
Die Ichbesetzung bei den Fehlleistungen 44^
sicher die spätere Verdrängung einleitet. Ich habe (S. 533) dargetan, daß
'vir viel öfter einem Fehldenken infolge Zurückbleiben der Ichgrenze unter¬
liegen als einem manifesten Fehlleisten. Wird solches Fehldenken nicht
wieder aufgelöst, so leitet es gleichfalls eine Verdrängung ein; wenn die
affektive Veranlassung der Sperrung andauert, so wird auch weiter die nicht
von der zugehörigen Ichgrenze aufgenommene Objektvorstellung dem Be¬
wußtsein ferngehalten. Damit aber eine Verdrängung wirkliche Unerreich¬
barkeit eine der Objektvorstellung veranlasse, müssen alle ihre Verbindungen
it dem Ich durch Fehldenken verhindert werden. Wir erkennen daran
wie sehr die affektive Belastung auch alles intellektuelle Leisten erschwert
und verschlechtert.
Wir haben weiter das affektmäßige Verdrängen früherer Ichzustände zu
unterscheiden vom naturgemäßen Hinauswachsen aus früheren Ichzuständen
infolge des Eintretens in andere Phasen der Entwicklung und damit der
Objektinteressen. Es ist das normale Verhalten, daß man von seinem früh¬
infantilen Ich nur mehr eine Erinnerung wie von einer dritten Person hat
und nur wenige echte oder Deckerinnerungen mit dem Identitätsgefühl be¬
hält. Es ist pathologisch, wenn jemand, wie wir es in manchen Analysen
finden, auf ein früheres Ichstadium regrediert und in diesem Falle auch
in seinem Ichgefühl das infantile Ich mit seinen Grenzen wiederkehrt.
Aber nur bei psychotischen Fällen geschieht das in vollem Ausmaße, sonst
wird nur das Gesamtgefühl einer früheren Phase und einzelne Ichgrenzen
mit den dazugehörigen Affektreaktionen neu belebt. Was wir neurotische
Einstellung nennen, ist sehr oft, vielleicht immer, die Wiederbelebung eines
früheren Ichstadiums. W T ir lassen darum während der Analyse keine Ent¬
scheidung treffen, weil es schwerlich gut ausgehen kann, wenn ein erwach¬
sener Mensch aus einer Einstellung, welche auf das Kindesalter oder die
Pubertät regrediert, eine Liebeswahl trifft oder den Beruf wechselt.
Mehr werden wir überrascht, wenn ein Patient dauernd mit manchen
seiner Ichgrenzen auf einer früheren Stufe seiner Entwicklung geblieben
ist. Ich will den Unterschied an einem Beispiel klarstellen. Ein Patient
erinnert sich an die Ödipussituation, in welcher die Mutter ihn aus dem
elterlichen Bette, in dem er sich störend breit machte, oft entfernte. Wir
würden uns nicht wundern, wenn vor dem Bewußtwerden dieser Erinnerung
AffekteinStellungen, die der Ödipussituation entsprechen, in Übertragung auf
andere Personen sich geltend machen oder wenn er überhaupt in allen
seinen Handlungen während des Wiedererweckens dieser Erinnerungen ge¬
stört wäre. Wohl aber überrascht es, zu hören, daß der vierzigjährige Mann
444
Paul FeJern
beim Wiedererinnern dieser Situationen als Gesamtpersönlichkeit noch d
gleichen Groll und dieselbe ohnmächtige Eifersucht empfindet, wie er ^
damals erlebt hat; daß er noch heute das damals Geschehene als schwer' 6
Unrecht der Mutter empfindet und erst durch die Bemerkung des Anal ^
tikers auf die infantile Art solcher Einstellung, die er sein Leben lang f 0 „
behalten hat, aufmerksam wird und einen ersten Versuch macht, mit den
anderen Teilen seines Ichs mit Vernunft und objektiver Einsicht diese Affekt-
einstellung und damit sein Gesamtverhalten zur Mutter und zur Mutter
Imago zu ändern.
Die Änderung der Ichgrenzen und des dazugehörigen Ichgefühls in langen
Perioden des Lebens ist, wenn man einmal darauf aufmerksam gemacht
wurde, von jedem leicht erkennbar. Schwieriger ist es, zu erkennen, daß
sich die Ichgrenzen ständig wandeln, und vor allem, daß die aktuellen Wahr¬
nehmungen oder die Worte als Sachbenennung es sind, welche das Zu-
einandergelangen von Ichgrenze und Objektrepräsentanz stetig vermitteln
Nach jedem gehörten oder von innen aufgetauchten Worte ist die von ihm
als Etikette bezeichnete Objektrepräsentanz mit erreicht, und diese wird selbst
wieder zur neuen Ichgrenze; diese verlangt nach einem neuen Inhalt, der
immer einer Fortführung, Ergänzung, Einschränkung oder Erfüllung bedarf
und deshalb zur entsprechenden Assoziation mit der sachlich richtig nächst¬
folgenden Wortrepräsentanz führt. Derart setzt die Auffassung von den Libido¬
besetzungen die Assoziationspsychologie fort; sie fügt aber mit der Annahme
einer Ichbesetzung einen neuen dynamischen Faktor hinzu, welcher die
mechanische Determination durch die Assoziationsgesetze aufhebt und den
Affekten und den vielseitigen Richtungen des Ichs die richtende und die
verdrängende Wirkungsmöglichkeit zuweist. Die psychophysische Beschreibung
dieser Vorgänge setzt auch zum Teil eine andere Auffassung des psychischen
Apparates voraus, welche einer späteren Arbeit Vorbehalten bleibt. Phäno¬
menologisch wollen wir noch auf Einzelnes eingehen.
So wie der Rahmen um unser Ich, die tatsächliche Umgebung, wechselt,
so auch, und zwar noch viel mehr, wechselt jeweilig der mit Ichgefühl
und Affektbeziehung zu uns besetzte aktuelle Vorstellungsraum, der die
Ichgrenze bildet. Von dieser Ichgrenze gehen die Bedürfnisse, Wünsche,
Interessen, auch die negativen Bedürfnisse (Abneigungen), die negativen
Interessen, d. h. Interesseverweigerung, die negativen Wünsche, d. s. die
Befürchtungen, Sorgen, Ablehnungen, aus. Durch wirkliche Wahrnehmung
der eventuell durch Handlung in der Außenwelt erst herangeführten Ob¬
jekte oder durch im Denken auftauchende Objektrepräsentanzen treten die
Die Ichbesetzung bei den Fehlleistungen
4^5
dynamisch besetzten Ichgrenzen, jeweilig aus ihrer positiven und nega¬
tiven Ungestilltheit heraus und wird das von ihnen ausgehende Besetzungs¬
bedürfnis teils gesättigt, teils gesteigert. Im ersten Falle regen die hinzu¬
getretenen Objektrepräsentanzen oder Wahrnehmungen andere Ichgrenzen
^ erwecken sie oft aus partiellem Schlafe; damit ändern sich die Ich¬
grenzen, und die erledigten Repräsentanzen bleiben nicht weiter mit Ich-
gefühl besetzt; jede neue Erfahrung ändert so die Ichgrenzen, ordnet sie
nach neuen Objektrepräsentanzen um. Dabei walten sowohl Lust-Unlust¬
prinzip als Realitätsprinzip. Aber auch im andern Falle, wenn es nicht
möglich ist, die von der Ichgrenze ausgehenden Strebungen wunschgemäß
zu stillen, besteht die Tendenz, dem Lust-Unlust-Prinzip entsprechend, die
Ichgrenze zu wechseln, indem man den hinzugekommenen Wahrnehmungen
und Objektrepräsentanzen folgt; so wird die unlustvolle Ichgrenze mit ihren
positiven und negativen Wünschen verlassen und auch eventuell als Denk¬
gegenstand aus der Erinnerung verdrängt. In diesem Falle ist aber unser
Wille imstande, das Nachgeben gegenüber dem Lustprinzip aufzuhalten und
durch Zuwendung von der dem Gesamt-Ich zur Verfügung stehenden Be¬
setzung (sowohl der mit Libido als der mit Quantitäten Todestrieb) die
unbefriedigte Ichgrenze nicht aufzulassen. In andern Fällen ist das Fest¬
halten der Ichgrenze nicht dem Willen zuzuschreiben, sondern die den Vor¬
stellungen angehörenden Strebungen und Affekte (wiederum teils Libido,
teils Todestrieb) sind zu stark, um trotz ihres Unlustcharakters aus dem
Bewußtsein zu treten und als Ichgrenze aufgegeben zu werden. In beiden
Fällen ist die Gelegenheit zur Fehlleistung gegeben. Dem Lustprinzip nach
hätte eine akute Verdrängung ein treten müssen, aber dem Realitäts- oder dem
Lustprinzip nach ist eine Entscheidung in einer bestimmten Richtung nötig.
Eine Sperrung der Ichgrenze und die Fehlleistung sind die Folgen. Wir
sehen, daß die beiden Prinzipien in den Vorgängen zwischen Ichgrenze
und Objektbesetzungen ihre Wirksamkeit entfalten.
Im Falle der Fehlleistung hat entweder das vom Willen vertretene
Realitätsprinzip oder das Lust-Unlust-Prinzip in bezug auf die Ichgrenze
versagt. Denn sie folgt nicht weiteren Anregungen, sondern verbleibt beim
früheren Zustande; genauer ist es zu sagen, daß beim versagenden Lust¬
prinzip zwar andere Ichgrenzen besetzt wurden, aber der unbefriedigten nicht
ihre Besetzung entzogen werden konnte; beim Versagen des Willens war
das Gesamt-Ich zwar imstande, die Ichgrenze festzuhalten, aber nicht imstande,
den störenden neuen Anregungen die Besetzungen zu entziehen. Den andern
Fall, daß die Ichgrenze wegen der lustvollen Affekte (etwa durch eine
Paul Federn
44 &
erotische oder Größenphantasie) festgehalten wird, während der Wille ander
Aufgaben durchsetzt, besprechen wir nicht weiter, weil es im Prinzip nicht
anders verläuft.
In diesem Falle des partiellen Versagens kommt es nun zu den Re¬
gressionen in bezug auf die Sprache und die Motilität und zur Sperrung
der Ichgrenze. Die Beziehung der Sprache zur Ichgrenze habe ich bisher
nicht erörtert, weil ich vorher das zickzackartige Binden und Lösen der
Objektvorstellungen an die Ichgrenze dem Leser vorführen wollte. (Das Wort
und die Wahrnehmung, in diesem Falle wirkt ja das Wort auch als innere
akustische Wahrnehmung, spielen bei diesem Binden und Lösen die gleiche
Rolle wie etwa das bewegliche Mittelstück bei dem bekannten Zippverschluß
von Kleidern und Taschen.) Das Wort gehört an sich nie zur Ichgrenze
sondern nur in Verbindung mit den in das Ich einbezogenen Objektvorstel¬
lungen. Es ist auch von den isolierten Objekt Vorstellungen getrennt. Isoliert
zwischen beiden stehend, ist das Wort von beiden aus zugänglich, aber nicht
von beiden in gleicher Weise.
Wenn wir das Vergessen eines Namens auf lösen, so fällt uns der ver¬
gessene Name oft erst eine kurze Spanne Zeit später ein, als wir die Analyse
beendet haben, oft so, wie wenn er uns in uns gesagt worden wäre. Das
wiederholt einen Vorgang der Kindheit. Beim Lernen der Sprache werden
dem Kinde die Dinge gezeigt und genannt; das Kind hat sie vielfach vorher
anders genannt und übernimmt die gemeinsamen Benennungen und gibt
die eigenen auf. Das Kind akzeptiert daher die Worte und muß sie selbst
üben und selbst erst die Dinge nach dem Beispiel benennen. Oder es lernt
Worte auswendig und versteht nicht ihren Sinn. Für gewöhnlich erweckt
die Sachvorstellung die ihr zugehörige Benennung, das Ich hört das auf¬
tauchende Wort und innerviert dann die zugehörige Sprachbewegung. Des¬
halb haben wir wohl das Wort auf der Zunge, aber nicht im Gehör, wenn
wir dem Vergessen unterlegen sind. Das ist ein Argument dafür, daß es
sich bei dem Vergessen von Benennungen nicht bloß um die Verdrängung
der vorbewußten Wortvorstellungen handelt, sondern um eine isolierte Ab¬
trennung (Sperrung) der zugehörigen Ichgrenze. Wenn man uns ein ver¬
gessenes Wort sagt, so ist es uns sofort bekannt; teilt man uns hingegen
etwas mit, was wir verdrängt haben, ohne vorherige Analyse, so berührt
es uns fremd und befriedigt uns nicht. Wie die Worte den Verkehr zwischen
Individuum und Außenwelt vermitteln, so auch zwischen dem Ich und
den Repräsentanzen der Außenwelt, das sind die Objektvorstellungen. Das
gehörte Wort weckt gleichsam, ruft auf sowohl die Objektrepräsentanz als
Die Icbbesetzung bei den Fehlleistungen
447
jje dazugehörige Ichgrenze. Ebenso ruft die Wahrnehmung die Objekt-
r epräsentanz hervor, die sie wiederholt, und erweckt sofort ein lebhaftes
Gefühl der Beziehung des Ichs zum realen Objekt. So bringen Worte und
Wahrnehmungen fortlaufend Ichgrenze und Objektbesetzung zum Zusammen¬
stimmen und ermöglichen erst dadurch das richtige Denken, Sprechen und
Handeln. Denken, Sprechen und Handeln werden daher verfehlt, wenn
dieses Zusammenstimmen nicht gelang oder verfehlt wurde.
Dieses Zusammenstimmen von Ichgrenze, Wahrnehmung beziehungsweise
Wort und Objektrepräsentanz geschieht immer im bewußten Denken, denn
ihm ist die Wahrnehmung und speziell die des gehörten eigenen Wortes
als Bestätigung des selbst gesprochenen und gedachten zugänglich. Aus diesem
Grunde ist das bewußte Denken die ständige Kontrolle der Richtigkeit der
Objektrepräsentanzen. Da die andern Menschen das objektiv Richtige zu
hören erwarten, getrennt von dem Subjektiven, am Ich Haftenden, hilft
das bewußte Denken ständig, die reinen Objektvorstellungen von den vom
Ich ausgehenden Beziehungsresten zu isolieren. Daß das mangelhaft gelingt,
beweist die Fehlleistung. Obgleich dieses Symptom affektiver Abwehr das
bewußte Denken selbst betrifft, hat man doch das merkwürdige Gefühl,
daß die Fehlhandlung überhaupt nie geschieht; sie wird erst am Resultat
bemerkt, wenn sie schon geschah. Sie geschieht im vorbewußten Denken,
welches unbewußten Mechanismen verfiel, weil „das Ich nicht dabei war“.
VIII) Das psychotische Äquivalent cler Fehlleistung
Eine Fehlleistung versetzt nicht nur in harmlosen Ärger; diesem Ärger
ist immer eine, wenn auch nicht starke Angst beigemengt, die der Unruhe
wegen der Ichstörung entspringt. Im Innern ist etwas nicht in Ordnung
gewesen. Es liegt nun im Wesen der Psychose, daß in ihr die Orientierung
in bezug auf „innen und außen“ so tief gestört ist, daß keine Hilfe des
eigenen, sonst trotz Psychose funktionierenden Verstandes, kein Erproben
durch Einflußnahme auf die Außenwelt und auch keine Beweise seitens
anderer Personen die Störung korrigieren können. Um daher den Vorgang
der Fehlleistung bei einem Fall von paranoider Schizophrenie wiederzufinden,
dürfen wir mit unserem Interesse nicht bei der psychotischen Erklärung ver¬
weilen, welche der Kranke selbst für seine Fehlleistungen gibt; wir dürfen
das ebensowenig tun, als wir uns bei dem normalen Fehlleister von seiner
Angabe, er habe nicht aufgepaßt oder er sei zerstreut gewesen, abhalten
lassen, auch nicht davon, daß er zu müde war. (Hätte Freud gewartet, bis
das Problem der normalen Denkarbeit gelöst wäre, um erst dann die V
fehlungen zu untersuchen, so müßten wir mit ihm noch auf seine Fund
warten.) So ist es auch bei dem Psychotiker. Auch er gibt Erklärungen für
sein Verfehlen; doch entfernen sich diese weit von dem, was richtig i st
während wir die Erklärungen des Normalen wohl glauben und sie bloß fü^
unzulänglich halten.
Unser Kranker verhält sich gegenüber der Frage, von wo aus seine Krankheits
Symptome ausgehen, in für die Art der Psychose typischer Weise. Er verirrt
sich sozusagen ganz dabei, es irrt nicht nur sein Irrtum. Es ist vielmehr eine zum
Falschen geänderte Orientiertheit, der er unterliegt. Dieses Irregehen hängt
mit der Erkrankung des Ichs, mit der Einschränkung der Ichgrenzen zu¬
sammen, wie wir später ausführen wollen, soweit es zu unserm Thema gehört
Hier wollen wir nur die Folge seiner Umorientierung in bezug auf innen
und außen mitteilen. Wenn unbewußte und nicht ichgerechte Triebwünsche
solche Kranke packen, so meinen sie, daß fremde Individuen sie ihnen ein¬
gegeben haben, oder, soweit sie noch solcher Wünsche Herr werden, wehren
sie sich dagegen, daß andere (bestimmte Personen oder später mehrere un¬
bestimmte, dann alle, zuletzt die ganze Welt) diese Wünsche und Gedanken
bei ihnen voraussetzen, sie solcher Handlungen beschuldigen. Sie verlegen
also das, was sie innerlich bekämpfen müssen, oder das, was sie von innen
befällt, nach außen. Und so machen sie es auch mit ihren Fehlleistungen.
Sie sagen nur dann, wie der Gesunde, sie haben etwas vergessen oder sie
können sich nicht erinnern, wenn es sich um einen Gedanken, um ein
Wort handelt, das nichts mit jenem Gebiete zu tun hat, für welches sie die
Orientierung verloren haben, welches nun außerhalb ihres Ichs liegt, oder
welches sie außerhalb ihres Ichs verlegt (projiziert) haben; sie geben also die
Erklärung des normalen Menschen, nur soweit sie normal geblieben sind.
Ich hebe das hervor, weil der nicht völlig Psychotische auch alle Fehlleistungen
wie ein Gesunder auf weisen kann. Wenn ihm aber eine Fehlleistung auf
dem Geistesgebiete widerfährt, in welchem er die Orientierung über „innen
und außen“ verloren hat, wo er also sich geistig verirren mußte, weil ihm
die wichtigste Orientierung fehlt — die Sprache nennt ihn deshalb in psycho¬
logisch richtiger Weise einen „Irren“ —, dann gibt der Kranke nicht zu,
daß er einfach ein Wort, ein Wissen, einen Gedanken vergessen hat, er be¬
hauptet, vielmehr er weiß, er hat das zweifellose innere Gefühl, daß ihm
Name oder Kenntnis, Gedanken, Erinnerung „entzogen“ wurden. Je nach
der Krankheitstheorie, die er gebildet hat, ist es sein persönlicher Feind und
Verfolger, oder es sind überirdische Mächte oder kosmische Umwandlungen,
■■
Die Icbbesetzung Lei Jen Fehlleistungen
449
Jenen er unterliegt. Alle diese Wahnideen oder -Systeme sind Rationali¬
sierungen für die Verirrtheit, der er in bezug auf die Verursachung seiner
$ymp tome ’ unserm Falle seiner Fehlleistung, unterliegt. Der Wahn ist die
Rationalisierung des Irreseins, wobei die Rationalisierung bei manchen partiell
erkrankten Menschen wirklich folgerichtig verläuft, bei andern kritiklos mit
irren Elementen arbeitet. Es ist nun interessant, daß der Kranke die vom
Gesunden so gerne angenommene Erklärung, daß er „einfach“ vergessen
hat, zurückweist; ebenso verneint er, daß er zerstreut, müde oder nicht bei
j er Sache gewesen sei. Sagt man ihm den Namen, so nimmt er ihn an und
erkennt ihn, ein Zeichen, daß es sich auch bei ihm nur um eine Störung,
nicht um Verlust der Wissensfähigkeit handelt. Man kann auch — bei leichteren
Fällen, die den Kontakt mit Umwelt und Arzt noch haben — durch Assozia¬
tion und erneutes Erzählenlassen der Umstände und Vorgänge, zu welchen
das Vergessene gehörte, den Namen wieder finden lassen; oder der Kranke
findet ihn gleich dem Normalen von selbst nach der wohltätigen Neuordnung
der Gedankenverbindungen durch den Schlaf. Je nach der dauernden oder
zeitweiligen Schwere des Zustandes gibt der Kranke zu, er erinnere sich nun
an den vergessenen Namen, oder er bemerkt, nun sei der Name vom äußeren
Einflüsse freigegeben worden, fügt oft hinzu, dafür erstrecke sich der Einfluß
jetzt auf anderes in Körper oder Seele. Er teilt damit in seiner Auffassungs¬
weise mit, daß jetzt andere Ichgrenzen der Störung unterliegen, welche den
Wort- oder Gedankenentzug, das ist die Fehlleistung des Vergessens, bedingt.
Für die psychologische Erforschung der Schizophrenie führt die Gleichheit
von Vergessen und Wort- oder Gedankenentzug viel weiter, als ich hier aus¬
führen kann, denn in schweren Fällen nimmt der Gedankenentzug solche
Dauer und Stärke an, daß er eine völlige Sperrung der mitgeteilten, bemerk¬
baren oder erschließbaren Geistestätigkeit für kurze oder lange Zeit bedeutet.
Im Prinzip handelt es sich auch dann um das Zurückbleiben der Ichgrenze
hinter der Objektrepräsentanz, um ein „Fehldenken“, wie ich es früher dar¬
gelegt habe. Dadurch, daß die Ichstörung bei diesen Erkrankungen eine
ausgedehnte und dauernde ist, kann das einfache Fehlleisten des Gesunden
beim Kranken ein so enormes Ausmaß erreichen. Dies auszuführen gehört
zum Thema der psychotischen Mechanismen. Ich habe es auch hier beigefügt,
weil dies meine Behauptung, daß die Fehlleistung eine winzige Psychose
sei, neuerdings begründet.
Man lacht über Fehlleistungen, und man lacht über den Narren; dem
Narren wird auch der Witzbold gleichgestellt, wie auch die Fehlleistung
dem unbeabsichtigten Witze nahesteht. Freilich lacht man nur über Narr-
Iraago XIX.
29
heiten, die etwas Kluges aufdecken. Dieses Lachen enthält auch den Beifall
für die Kunst, in die Irre zu gehen und doch das Ziel zu treffen. Daß die
möglich ist, liegt daran, daß unsere kluge, richtige Orientierung i n der
innern und äußern Welt nicht nur auf Ordnung, sondern auch auf Au s
schalten vieler Kenntnisse beruht, die den unbewußten und irren Leistungen
zu Gebote stehen. Deshalb kann auch der Traum weiser sein als das wache
Denken. Beim Irren wurde solche Weisheit in früheren Zeiten mit Sicher
heit erwartet, und auch heute findet er viel öfter Glauben, als man an-
nimmt. Das liegt auch daran, daß soviel, was vor dem Eintreten der Geistes¬
krankheit nur Gedanke war, nun als äußere Wirklichkeit erlebt wird und
darum mit ganz anderer Sicherheit vorgebracht wird, als sonst Menschen
von dem, was in ihnen vorgeht, sprechen. (Daß vielleicht Geisteskranke
tatsächlich feinsinniger werden als Gesunde und auch sogenannte mediale
Kräfte haben können [s. Strindberg], sei der Exaktheit halber hier erwähnt)
Die Glaubwürdigkeit des Kranken wird noch dadurch gesteigert, daß er
nicht nur mit innerer Überzeugung, wie etwa ein Fanatiker spricht, sondern
aus innerer Überzeugung weiß, daß all sein Wissen von höheren Mächten
ihm eingegeben wurde. Was sich so offenbart, ist wirklich und wahrhaftig
und kommt nicht von ihm, sondern zu ihm, und enthält Unbewußtes,
das den andern sich verbirgt. Es sind Dauerträume, die aber ganz zuläng¬
licher sekundärer Bearbeitung unterliegen, weil ja alle — d. h. alle nicht
von der Krankheit sonst gestörten — Fähigkeiten im Wachen die Ideen
und Bilder weiter verarbeiten konnten.
Ich führe diese abnormen Vorgänge hier an, weil sie auf das Verhältnis
der Ichgrenze zur Außenwelt und zum Unbewußten aufmerksam machen,
das sich sonst unserer Beachtung entzieht. Vom Ich wird das als Wirk¬
lichkeit wahrgenommen, was die körperliche und geistige Ichgrenze
von außen trifft. Was die geistige Ichgrenze von außerhalb des Ichs trifft,
ist psychische Realität. Diese von Freud zuerst erschlossene Art von Wirk¬
lichkeit können wir von Geisteskranken in ihren Mitteilungen immer wieder
dargestellt bekommen, ohne daß es sich dabei um Halluzinationen, also um
als körperlich bestehende Außenwelt handeln würde. Meist setzen diese
Kranken voraus, daß der Hörer weiß, daß das Geschilderte den Charakter
der Wirklichkeit hat. Bei allem nicht gegenwärtig Vorhandenen oder Ge¬
schehenen liegt der Unterschied nur im Ausschluß jeder Kritik an der Tat¬
sächlichkeit des unbezeugten Geschehens. Für Gegenwärtiges widerspricht
die unrichtige Annahme des psychisch Realen dem Augenschein, daß es
nicht so sei und sich nur um Gedanken des Kranken handle. Prinzipiell
Die Idibesetzung Lei den Fehlleistungen
4^1
ist aber das Verhältnis von Außen- und Innenwelt beim Gesunden und Kranken
dasselbe. Der Unterschied liegt nur daran, daß das Ich sich von vielen
geistigen Vorgängen nach innen zurückgezogen hat, so daß diese nicht mehr
innerhalb, sondern außerhalb desselben verlaufen. Welcher spezifische Vor¬
gang i m psychischen Apparate die Ichzugehörigkeit ausmacht, kann nur
vermutet werden; es soll den Gegenstand einer späteren Mitteilung bilden.
Beim Traume und ebenso bei halluzinatorischen Wahnvorgängen kommt
die Erregung der Wahrnehmungsorgane hinzu; doch ist diese spezifische
Qualität der Gestaltetheit des Traumes nicht psychische, sondern körper¬
liche Realität. Der Traum besitzt beide Wirklichkeiten, denn auch im Traume
kommen Teile vor, die nicht halluziniert, sondern nur gewußt werden und
doch als wirklich erlebt werden. Anderseits sollen — mir fehlen solche Er¬
fahrungen — wirklich plastisch gesehene Halluzinationen als bloße Vor¬
stellungen, also als Innenvorgänge ohne Realität erlebt werden können. Wenn
wir so annehmen, daß das Verhältnis zum Ich über die Realität entscheidet,
so wird vieles sonst Gedachte wirklich, ohne projiziert worden zu sein, sondern
infolge der Einschränkung des dem Ich Zugehörigen. Der Vorgang der Pro¬
jektion bezieht sich dann nur mehr auf sekundäre Folgen dieser Verkleine¬
rung der geistigen Innen- und dieser Vergrößerung der geistigen Außen¬
welt.
Wenn wir aber das Verhältnis der Ichgrenze zum Unbewußten unter¬
suchen, dann finden wir einen wesentlichen Unterschied zwischen der Norm
auf der einen und Traum und Psychose auf der andern Seite. Das patho¬
logische Verhalten ist, wie meistens, mehr auffallend und soll uns erst das
unauffällige, aber sehr merkwürdige Verhalten der Norm bemerken und
verstehen lassen. Wir haben früher ausgeführt, daß unbewußte Gedanken
als von außen kommende Wirklichkeit den Psychotiker deutlich beschäftigen,
ihn verfolgen oder ihm seine Gedanken oder sein Wissen entziehen. Sie
kommen von außen über das Vorbewußte, wie wenn sie nicht dem Un¬
bewußten entstammten. Wir dürfen aber nicht sagen, daß das Unbewußte
selbst dieses von außen Kommende sei; die unbewußten Wünsche sind zum
Teil unbewußt geblieben, zum Teil sogar bewußt geworden, sie sind aber
erst von als reale Außenwelt erlebten Einflüssen erweckt worden. Sie sind
demnach nicht als im Ich auftauchend, sondern als von außen ans Ich
gebracht erlebt worden. Es hat demnach das Ich — selbstverständlich nur
soweit es psychotisch wurde — sich auch vom Unbewußten zurückgezogen.
Das Unbewußte regt es sozusagen von außen an. Dieses Verhalten ist ebenso,
vielleicht noch deutlicher, im Traume erkennbar, in welchem gleichfalls
29
Paul Federn
das aus dem Unbewußten Aufgetauchte als weckend erlebt wird. Sow *
das Erwachen nicht aus traumlosem Schlaf erfolgt, wird immer das E r
weckende als etwas von außen Weckendes erlebt; nach dem Erwachen erst
bemerkt man, daß einen so oft eine unbewußte Regung oder der eigene
Körper in Form von äußeren Vorgängen, Personen, Dingen geweckt hat
Alles, was aus dem Unbewußten kommt, kommt demnach auch bei der
Traumpsychose von außen.
Ganz anders verhält es sich beim gesunden, wachen Ich. Auch bei ihm
kann eine unbewußte Regung, die vom Bewußtsein abgehalten wird, von
der Außenwelt kommende Einflüsse und Eindrücke verstärken oder provo¬
zieren. Nirgends ist die Grenze zwischen normal und abnorm eine scharfe
Wenn aber aus dem Unbewußten über das Vorbewußte ein Triebwunsch
oder eine verdrängte Erinnerung auftaucht, so wird sie als im Ich auf¬
tauchend erlebt, sie ist vom Anbeginn ihres Auftauchens schon ichzugehörig.
Es ist immer beruhigend, wenn eigene Folgerungen in Einklang mit
denen Freuds stehen, auch wo sie auf anderm Wege erreicht wurden. Auch
Freud bezeichnet das Ich nur als modifiziertes Es. Zwischen dem Unbe¬
wußten und dem Ich gibt es keine andere Grenze als jene, welche über
das Bewußtsein geht. Wenn eine vorher unbewußte Regung in uns auf¬
taucht, so taucht sie — in der Norm — in uns auf, sie kommt in der
Norm nicht von außen und ist nicht fremd, sondern sofort uns eigen.
Jeder andere Fall ist abnorm. Selbst eine vorher nie erlebte Art von erster
Sexualregung überrascht das unvorbereitete Individuum, ist aber doch sofort
die dem Ich eigen zugehörige Regung. Es überrascht das Individuum, daß
es solche unbekannte Regungen hat. Wir kommen so wieder zum gleichen
Schlüsse wie im siebenten Abschnitt: Die Ichgrenze geht durch das Bewußt¬
sein; was eben bewußt wurde, ist aktuelle Ichgrenze geworden. Aus diesem
Grunde hat Jan et Bewußtsein und Ichgrenze nicht expressis verbis, aber
dem Sinne nach gleichgesetzt.
Wir kommen dadurch auf einen wichtigen Unterschied zwischen dem
normalen Verhalten der Ichgrenze und dem psychotischen, inklusive dem
beim Träumen. In beiden letzteren Fällen wird nicht die eben aufgetauchte
Objekt Vorstellung zur Ichgrenze, wie ich es im siebenten Abschnitte be¬
schrieben habe. Es bleibt vielmehr ein und dieselbe Ichgrenze fortbestehen,
und die jeweilig aufgetauchten Objektvorstellungen sind eigentlich nicht mit
richtig angepaßter Ichgrenze aufgefaßt worden und tauchen wieder au s dem
Bewußtsein, ohne den Wechsel der Ichgrenze, der den Assoziationen oder
Wahrnehmungen in der Norm folgt, im beschriebenen Zickzack zu beein-
Die Ichbesetsung Lei Jen Fehlleistungen
463
wi
flussen. Das erklärt, warum die Fehlleistung in dieser Art Psychosen eine
s0 große Bedeutung gewinnt, und es erklärt auch, weshalb der Traum
__ von sekundärer Bearbeitung abgesehen — so oft diskontinuierlich ver¬
läuft. Nur wenn aus besonderen Gründen die Ichgrenze selbst im Traume
in größerem Ausmaß erwacht, kann der Traum sich der Art des wachen
fließenden Erlebens nähern; und nur soweit der Psychotiker gesund blieb,
kann er mit fortschreitend sich wandelnder Ichgrenze geistig reagieren und
denken. Im Traume beruht darauf wahrscheinlich die sekundäre Bearbeitung
während des Schlafes; in der Psychose beruht darauf die sekundäre Be¬
arbeitung der Wahnideen und viele Dissimulation.
Ein Beitrag zum Problem der Wandlung
der ISIeurosenforrn
P ie m fantile Frau und ilire Gegenspieler)
Von
R. A. Spitz
Pari 5
Es ist meine Absicht, in den folgenden Ausführungen einige der Wirkungs¬
und Entstehungsbedingungen eines bestimmten, heute ziemlich weit ver¬
breiteten Frauentypus zu untersuchen. Dazu werde ich mich einerseits der
Erfahrungen des täglichen Lebens, andererseits einer Reihe von Tatsachen
bedienen, welche ich einigen von mir analysierten Fällen verdanke. Zuvor
sei mir jedoch gestattet, einen knappen Exkurs allgemeinerer Natur über
gewisse Erscheinungen der Objektwahl im neunzehnten Jahrhundert, ver¬
glichen mit der Objektwahl im zwanzigsten Jahrhundert, folgen zu lassen.
Eine flüchtige Betrachtung der Kunst, Kleidung und Literatur des neun¬
zehnten Jahrhunderts zeigt uns, daß die damaligen Männer als Liebesobjekt
eine ziemlich üppige Frau bevorzugten. Charakterlich scheinen diese Frauen
im großen ganzen zwei Typen anzugehören, die man bezeichnen könnte
als den „hingebungsvollen“ und, im Gegensatz dazu, den „dämonischen“.
Letzterer Typus, „la femme fatale “, wird meistens spanisch brünett, aus¬
nahmsweise rothaarig, dargestellt und spukt durch die gesamte Literatur
der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, von Prosper Merimees
Carmen bis zu den Figuren von Maupassant und Pierre Louis. Das rein
utilitaristische Ideal der „guten Hausfrau 6 hat mit Erotik wenig zu tun
und kann im Rahmen dieser Betrachtungen vernachlässigt werden.
Nach der ersten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts erleben wir eine
Wandlung dieses Ideales. Die Frauen werden schlank, knabenhaft, die Klei¬
dung übertreibt nicht mehr wie im neunzehnten Jahrhundert einzelne
Körperteile, wie Gesäß, Busen, Oberarm, durch Kunstmittel, die eine üppige
Femininität der Formen unterstreichen oder Vortäuschen.
Gegen Ende der zweiten Dekade erscheint das kurzgeschnittene Frauen¬
haar, um in der dritten und vierten Dekade durch eine immer stärkere Ver¬
männlichung der weiblichen Tracht ergänzt zu werden, welche schließlich,
als scheinbar letztes Zeichen der Ablehnung der Femininität in der Ver¬
wendung der Herrenhose durch Frauen gipfelt.
Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform
466
W-
Die gleichzeitig stattfindende, immer stärkere Zuwendung der Frauen
zU den männlichen Berufen hat auch ihre psychologischen Ursachen, wie
denn überhaupt der sukzessive Übergang von der sehr weiblichen Frau des
vorigen Jahrhunderts über die Mütter der heutigen Generation zu dem nun¬
mehr ganz allgemeinen Typus, welcher sämtliche Leistungen und Rechte
des Mannes usurpiert, einer eigenen Studie bedürfte. Doch das Studium der
Strukturänderung der weiblichen Psyche, die das mit sich brachte, und ihre
Begründung wäre so umfangreich, daß sie den Rahmen der gegenwärtigen
Arbeit sprengen würde.
Überdies aber wird das Problem durch Änderung der ökonomischen Be¬
dingungen beherrscht, die gerade hier eine besonders wesentliche und auf¬
fällige Rolle spielen. Diese komplizieren das Problem und wir wollen daher
die Frage der Berufswahl im folgenden vernachlässigen, um uns an die viel
schärfer isolierbare Frage der Änderung des Schönheitsideales zu halten.
Für den Psychoanalytiker unterliegt es keinem Zweifel, daß eine solche
Änderung des weiblichen Schönheitsideales nicht allein durch ökonomisch¬
historische Überlegungen, wie sie etwa auf Grund einer veränderten Wirt¬
schaftsstruktur oder in Verbindung mit den Forderungen und Folgen des
Weltkrieges angestellt werden könnten, und noch viel weniger durch eine
Laune der Frauen erklärt werden kann. Denn die äußere Erscheinung der
Frau paßt sich zweifellos nicht ihrer zufälligen Laune an; sie entspricht
vielmehr der Realisierung der Wunschträume ihrer männlichen Zeitgenossen.
Im Gegensatz zur aggressiv aktiven, besitzergreifenden Rolle des Mannes
fällt in der Erotik der Frau eine passiv verführende Rolle zu. Weitaus mehr
als der Mann ist die Frau daher gezwungen, sich äußerlicher Mittel zu
bedienen, welche sie dem Geschlechtspartner begehrenswert erscheinen lassen,
Mittel, die sie aus eben diesen Gründen seinen Wünschen weitgehend an¬
passen muß.
Natürlich beschränken sich die Mittel der Verführung keineswegs auf
das Äußere — es sind dies nur die augenfälligsten. Auch der Charakter
dient als Werkzeug in der Liebes Werbung. Da muß es nun auffallen, daß
in unserem Jahrhunderte das Frauenideal sich auch in dieser Beziehung
gewandelt hat. Die dämonische Frau ist verschwunden, zumindest sind die
Verheerungen, die sie anrichtet, auf ein sehr bescheidenes Maß eingeschränkt.
Nicht nur im Gerichtssaal, auch im Theater und in der schönen Literatur
spielt sie eine immer geringere Rolle.
Welches ist jedoch das weibliche Schönheitsideal, das den Mann in unserem
Jahrhundert anzieht? Das können wir heutzutage viel leichter feststellen
als in vergangenen Zeiten, denn wir besitzen heute etwas, das mit der
Genauigkeit einer chemischen Reaktion die jeweiligen Ideale der breiten
Massen verrät: das Kino.
Vor der Einführung des Kinos waren wir darauf angewiesen, das all
gemein gültige Ideal mühsam aus Schöpfungen der darstellenden Kunst
der Literatur oder der Tracht zu konstruieren. Nunmehr wird uns das Ideal
in Reinkultur präsentiert. Denn auf die Dauer kann niemand Filmstar
bleiben, der nicht den Ansprüchen eines Publikums gewachsen ist, welches
heute die gesamte zivilisierte Bevölkerung der Erde umfaßt.
Dabei müssen wir auch auf eine neue Möglichkeit hin weisen, die durch
die Einführung des Kinos erschlossen wurde. Ich denke hier an eine ver¬
änderte Möglichkeit der Idealbildung, an deren Beeinflußbarkeit durch
Schichten, die dazu früher keinerlei Gelegenheit hatten. Vor der Jahr¬
hundertwende erfolgte die Idealbildung nach dem Muster der Identifizierung
mit den Eltern, auf der Basis und nach dem Grundsatz der patriarchalen
Familie, also von oben. Das Ideal wurde gesucht und gefunden in dem
von Gott angestammten Herrscherhause oder dessen Repräsentanten und war
als solches eben gegeben. Es ist die Zeit der Franz-Josefs- und König-
Eduards-Bärte, des Es-ist-erreicht-Schnurrbartes, der Töchter, die Elisabeth,
Viktoria oder Eugenie genannt wurden.
Heute geht dieser Idealfindung ein gegenläufiger Prozeß voraus: das
Ideal wird erst geschaffen in einem schöpferisch zu nennenden Akte von
der Masse selbst. Denn das Publikum verwirklicht seine Wunschträume
in einer Projektion, im Star. Ist diese Projektion, man möchte sagen, in
jedem Sinne des Wortes, gelungen, so ist der Filmliebling, der Star, kreiert.
Dann erst findet der vorhin erwähnte, uns aus dem vorigen Jahrhundert
bekannte Prozeß der Identifizierung statt und zahllos sehen wir nach dem Er-
folge die Greta Garbos, Marlene Dietrichs, Menjous und Douglas Fairbanks
unter uns herumlaufen.
Schon an der Aufzählung dieser Namen fällt uns etwas auf: keiner von
den Genannten stellt etwas dar, was man als ein ewiges Ideal, wie die
Venus von Milo, den Apoll von Belvedere oder den Farnesischen Herkules,
bezeichnen könnte. Dabei würde man doch derartiges erwarten, wenn die
Gesamtmenschheit darüber abstimmt, welches die begehrenswerteste Frau
oder der unwiderstehlichste Mann ist.
Auf den ersten Blick sehen wir, daß die „allgemein gültigen ewigen
Typen zugunsten bestimmter Sondertypen vernachlässigt wurden, die einer
wechselnden Mode unterworfen sind. Es scheint sich also um die Be-
Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform
4^7
friedigung der Bedürfnisse bestimmter Konstellationen von Partialtrieben
z u handeln, die bei der Schöpfung dieser Ideale Pate gestanden haben.
Die Modegebundenheit dieser Ideale ist ein Beweis dafür, daß die jeweilige
Zusammensetzung dieser Partialtriebe von der augenblicklichen psycho¬
logischen Situation der Masse abhängt. Ein Wechsel dieser psychologischen
Situation jedoch muß von den Umweltsbedingungen abhängen, also von
der gleichzeitigen historischen Situation. In parenthesi: wir werden uns
des Verdachtes nicht erwehren können, daß auch die „allgemein gültigen
ewigen Typen“ ähnlichen Entstehungsbedingungen unterworfen waren.
Danach muß es sich also ermöglichen lassen, aus den Eigenschaften,
die der Filmstar besitzt, auf die jeweilige Konstellation der Partialtriebe
der führenden Völker der zivilisierten Massen Folgerungen zu ziehen, die
entsprechende psychologische Situation zu erfassen und mit der historischen
Situation zu verbinden.
In den folgenden Betrachtungen will ich das an einem extremen Falle
versuchen; extreme Fälle zeigen häufig die betreffenden psychologischen
Mechanismen klarer als die andern.
Der Typus, welche i ich im Titel gekennzeichnet habe und der uns
hier beschäftigt, wur|e\ im Film zuerst verkörpert durch Mary Pickford
(in Amerika als „Our Mary“ bekannt). Etwas später kam Lil;an Gish und
zahlreiche andere mehr oder weniger deutliche Typen, von denen in Deutsch¬
land Elisabeth Bergner der bekannteste ist. Allen diesen Darstellerinnen
gemeinsam ist die Kleinheit und Zierlichkeit, die Kindlichkeit der äußeren
Erscheinung. Alle spielen sie hilfsbedürftige, schwache, vielfach verfolgte,
leidende Wesen. Ob es nur an der Happy-end-Technik des Filmes liegt,
daß sie schließlich siegreich durch alle Intriguen und Gefahren hindurch¬
kommen und die stärksten und großartigsten Männer erobern?
Wir wollen uns nun von diesen Erscheinungen aus der Welt der Kunst
denen des täglichen Lebens zuwenden. Hier finden wir, daß, zumindest
heutzutage, solche Frauen von infantilem Typus, grazilem Körperbau, kind¬
lichem Gesichtsausdruck und ebensolchem, ja oft sogar kindischem Be¬
nehmen für eine ganz breite Schichte der Männer eine außerordentlich
starke Anziehungskraft haben. Man wäre fast versucht zu behaupten, daß
sie den Platz der ,femme fatale i von spanisch brünettem, hochbusigem
Typus des vorigen Jahrhunderts eingenommen haben.
Dementsprechend spielen sie auch in Kriminalprozessen immer öfter
eine Rolle, immer häufiger sind sie in Prozesse von der Art der „crimes
passioneis “ verwickelt. Bei dieser Gelegenheit erweist es sich, daß diese
kleinen, zarten, oft gar nicht schönen Frauen eine erstaunliche Wirk
auf die Männer im allgemeinen, auf ihre Verteidiger, auf das Publikunf
ja auch auf Richter und Staatsanwalt auszuüben vermögen.
Der letzte derartige Fall, der in der Öffentlichkeit Frankreichs und En
lands großes Aufsehen erregte, ist der der Lady Edmee Owen. Wie aus
ihren eigenen Memoiren hervorgeht, ist sie eine vollkommen minderwertig
Person, die ein messalinenhaftes Leben führte, wobei„es ihr stets nur auf
die Befriedigung ihres Exhibitionismus und der damit verknüpften Trieb
sowie ihrer Geldgier ankam. Nichtsdestoweniger gelang es ihr, trotz eines
ruchlosen Mordes, dem auch das weitgehendste Wohlwollen nur schwer
den Charakter eines „crime passionel“ zubilligen konnte, ein auffallend
mildes Urteil von ihren Richtern zu erzielen. Sie wurde zu fünf Jahren
Zuchthaus verurteilt. Doch nicht genug: geheimnisvolle Einflüsse, sicher¬
lich von Lady Owens großem Vermögen unterstützt, bringen es fertig, daß
ihretwegen ein spezielles Ministerialdekret erlassen wird, das ihr das Ab¬
sitzen der fünfjährigen Zuchthausstrafe erspart. Schon nach zweieinhalb
Jahren einer Gefängnisstrafe, welche durch besondere Zuvorkommenheit
und Vergünstigungen sehr erleichtert worden war, wird sie in Freiheit
gesetzt ein Fall, wie er wohl in der Rechtspflege einzig dastehen dürfte.
Um so mehr als man ihr auch den Weiterbesitz ihres sehr beträchtlichen
Vermögens beläßt.
Immer wieder finden sich in ihren Memoiren gewisse, sehr charakte¬
ristische Redewendungen, wie: „Die Leute sagten, daß ich wie fünfzehn¬
jährig aussehe.“ „Ich war sehr klein und sehr dünn, meine hellen Haare
hingen rückwärts herunter.“
Wie in einer Illustration zeigen uns diese Sätze das Bild des kindlichen,
unentwickelten, schwachen und wehrlosen Geschöpfes. Nun entspräche es
ja der allgemeinen Meinung, daß starke Männer etwas Schwaches zum
Beschützen haben wollen, und somit scheinen wir zu einer höchst banalen,
allgemein akzeptierten Erklärung unseres Problems gekommen zu sein. Das
Verführende an der infantilen Frau liegt eben in ihrer Schutzbedürftigkeit
und befriedigt auf diese Weise das Machtstreben der Männer, denn es er¬
leichtert ihnen die Kompensation ihrer Minderwertigkeitsgefühle.
Aber bei näherem Zusehen entdecken wir, daß dieser Erklärung eine
erfahrungsgemäße Tatsache widerspricht. Alle diese kindlich schwachen
Geschöpfe sind nämlich im Leben keineswegs so schutzbedürftig, wie sie
aussehen. Es sind im Gegenteil höchst energische, selbstbewußte Persönchen,
die ganz genau wissen, was sie wollen, und die ihre Ziele meist mit einer
n__
Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der FTeurosenlorm 4^9
selbst bei Männern selten angetroffenen Rücksichtslosigkeit verfolgen. Wir
werden sogar finden, daß diese Frauen in ihren Beziehungen zur Umwelt
sich oft außergewöhnlich sadistisch, kastrierend verhalten. Es ist kein Zufall,
daß dieser Typ unter den Kriminellen so häufig vertreten ist.
Dieser Befund, der den Erklärungsversuch aus der Kompensation der
Minderwertigkeitsgefühle entwertet, läßt also weiterhin die Frage offen,
worin das Verführerische dieser Frauen besteht? Schließlich sind die eben
geschilderten Charakterzüge doch bei keinem Menschen besonders erfreulich,
noch weniger aber bei der Frau, von der der Mann schon aus biologischen
i £ r ünden eine gewisse Unterwerfung oder zumindest Passivität erwarten
sollte.
Ich glaube auch nicht, daß es als Erklärung genügt, wenn wir etwa
annehmen, daß in der Schwäche, welche das kindliche Äußere vortäuscht,
eben die gewünschte Passivität zum^Ausdruck kommt. Beim ersten Anblick
mag sich der Eine oder der Andere einer solchen Täuschung hingeben. Aber
wie wir schon vorhin gesehen haben, kann dieses Äußere schwerlich jemanden
lange über die Wirklichkeit hinwegtäuschen. Schon das so häufige infantile
Benehmen dieser Frauen zeigt sehr rasch ihre hemmungslose Triebhaftigkeit.
Da wir aus der Betrachtung des Objektes selbst zu keiner Erklärung
seiner Wirkung zu kommen vermögen, muß man das Problem wohl von
der anderen Seite anpacken, nämlich von den Männern aus, die diesen Wir¬
kungen unterliegen und dem Zauber des Infantilen nicht widerstehen können.
Bei dieser Untersuchung werde ich aber aus naheliegenden Gründen von
der Bühnenkünstlerin absehen. Ich habe mich ihrer vorhin nur zur Illu¬
strierung des Typus bedient, um langatmige Erklärungen zu ersparen. Doch
abgesehen von allen Gründen, die einer analytischen Untersuchung allgemein
bekannter Persönlichkeiten ohne deren Einwilligung widersprächen, besteht
bekanntlich das Publikum der Bühnenkünstlerin zumindest zur Hälfte aus
Frauen, bei denen gleichfalls eine außerordentlich starke Wirkung fest¬
zustellen ist. Der Beifall der Frauen aber dürfte aus ganz anderen Quellen
fließen als der Beifall der Männer. Wir werden erwarten, daß der Erfolg
der kindlichen Bühnenkünstlerin bei den Frauen einerseits auf wunsch¬
erfüllenden Identifizierungen mit dem Star, anderseits auf der Produktion
homosexueller Strebungen und auf den Mischformen oder Abarten dieser
zwei Beziehungen beruht.
Dagegen habe ich unter den von mir behandelten Fällen öfter Gelegen¬
heit gehabt, Männer zu beobachten, die ihre Liebeswahl nach diesem Typus
getroffen haben. Die betreffenden Männer sind sowohl äußerlich wie auch
charakterlich, ja sogar in der seelischen Struktur voneinander sehr
schieden, und man ist erstaunt, daß scheinbar so verschiedene Mann
ähnliche Frauen gewählt haben. Diese Ähnlichkeit geht so weit, daßV^
betreffenden Frauen, die einander nicht kennen, sehr aufschlußreiche f **
wörtlich gleiche Äußerungen zu tun pflegen. Ein solcher Ausspruch i”
zum Beispiel: „Ich kaufe mir immer Kinderspangenschuhe und Kinderhüt
und trage weiße Kinderstrümpfe, weil mein Mann mich nur als KinH *
kleidet sehen will.“ ® e "
Man wäre danach eigentlich geneigt anzunehmen, daß im Vorleben
dieser Männer eine jüngere Schwester eine große Rolle gespielt hat. Dem
ist aber durchaus nicht so. Im Gegenteil, zwei dieser Fälle haben eine
weitaus ältere Schwester gehabt.
Dagegen ist allen Fällen gemeinsam eine außerordentlich liebevolle Be¬
ziehung zur Mutter. Diese Fixierung nimmt in dem einen der Fälle die
Form einer weitgehenden Identifizierung an, so daß der Betreffende die
Menstruation seiner Mutter, das Gefühl des Sich-unwohl-Fühlens mit Kopf-
schmerzen miterlebt.
Im zweiten Falle liebte und liebt noch die Mutter den Patienten über
alles. Bis weit in die Latenz hielt sie ihn stets auf dem Schoße (er war
ihr einziges Kind, und die obenerwähnte ältere Schwester ist nur eine Stief¬
schwester aus der ersten Ehe des wesentlich älteren Mannes). Die Mutter
machte beinahe ein Mädchen aus ihm; noch während der ganzen Volks¬
schulzeit ließ sie ihn mit einer Schürze in die Schule gehen.
Dieses merkwürdige starke Fixierungsverhältnis zur Mutter erinnert an
einen uns vertrauten Mechanismus: an den einen der beiden uns bekannten
Mechanismen der männlichen Homosexualität.
Wir werden in unserer Meinung durch den dritten Fall bestärkt, in
welchem zwar die ältere Schwester fehlt, nicht aber die Bindung an die
Mutter, und in welchem ein von der Mutter und von dem Patienten sehr
geliebter, wesentlich jüngerer Bruder eine große Rolle spielt.
Doch die beiden ersten Fälle bringen uns eine Vermutung nahe. Die
Form der Homosexualität, von der ich vorhin sprach, besteht darin, daß
bei der Liebeswahl solche Knaben bevorzugt werden, wie derjenige Knabe
es war, den die Mutter geliebt hat, als man selbst noch klein war. In unseren
Fällen scheint es so zu sein, daß bei der Liebeswahl ein Mädchen gesucht
wird, das so sein soll, wie es die Mutter aus dem kleinen Knaben machen
wollte, der man damals selber war. Denn es ist klar, daß es sich bei diesem
etwas merkwürdigen pädagogischen Verhalten darum dreht, daß die betreffen-
Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform
461
den Mütter aus ihren Söhnen Mädchen machen, weil sie sich Mädchen
wünschten. Daß zugleich diese Situation eine außerordentliche Verwöhnung
bedeutet, ist selbstverständlich: erstens werden Mädchen von vornherein
nachsichtiger behandelt als Knaben; zweitens erzwingt das Schuldgefühl, das
in den Müttern infolge der künstlich erzeugten falschen Situation entsteht,
gleichfalls ein Plus an Verwöhnung dem Kinde gegenüber. Ist doch hinter
diesem liebevollen Verhalten der Mütter letzten Endes der geheime Wunsch
verborgen, diesen Knabe^a^eines Penisses zu berauben und auf diese Weise,
indem man ein Mädcher| aus ihm macht, seine männliche Aggression zu
schwächen, was dem psychoanalytisch Geschulten weitere Rückschlüsse auf
die Beziehung solcher Mütter zu ihren eigenen Vätern erlaubt.
Anderseits hat das Akzeptieren dieser Situation für den Knaben bedeut¬
same Vorteile. Denn wenn er ein Mädchen ist, so ist er kein Rivale des
Vaters, und er vermeidet die offene Konkurrenz mit diesem. Es zeigt sich
in den von mir beobachteten Fällen, daß es sich um Zwangsneurotiker
beziehungsweise zwangsneurotische Charaktere handelt. Ich bin mir natür¬
lich der Bedeutung der spezifischen psychischen Struktur, welche für die
Entstehung der Zwangsneurose verantwortlich ist, bewußt. Ich habe jedoch
in der frühen Kindheitsgeschichte der Zwangsneurotiker regelmäßig eine
Erscheinung beobachten können, welche unter die übrigen Momente, die
für die Ätiologie dieser Erkrankung maßgebend sind, als ein konstanter
Faktor aufgenommen zu werden verdient. Man findet nämlich in der phalli-
schen Phase stets eine außerordentlich vehemente, in der Realität ausgelebte
Aggression gegen den Vater, welche ihrer Vehemenz entsprechend (die Kinder
gehen meist mit Fäusten und Füßen auf den Vater los, und die Erwach¬
senen stehen sprachlos diesem Temperamentausbruch des Kindes gegenüber;
siehe Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, Ges.
Schriften, Bd. VIII, S. 314/315), von den Vätern ungemein energisch unter¬
drückt wurde. Jedenfalls ist es begreiflich, wenn diese Kinder von da ab
ihre Aggressionen auch selbst sehr stark unterdrücken und sich zu Zwangs¬
neurotikern mit stark sadistischem Über-Ich entwickeln. Den von mir er¬
wähnten Fällen machen die Mütter das Ausweichen vor dem Konflikt mit
dem Vater durch die Fiktion leicht, daß sie Mädchen sind, ohne deswegen
eine Kastration erdulden zu müssen.
Aber die Liebeswahl nach dem Typus des kleinen Mädchens, als das die
Mutter den Knaben einst geliebt hat, hat auch für den Erwachsenen ihre
Vorteile. Das Objekt, das man geliebt hat, das infantile kleine Mädchen,
ist in jeder Beziehung weit von der Mutter entfernt und ihr unähnlich.
Erstens hat die Mutter selbst ein solches Objekt geliebt, es ist also nicht
mit ihr identisch. Zweitens ist es eben durch seine Infantilität und durch
sein zweideutiges, halb jungenhaftes, halb mädchenhaftes Aussehen auch
äußerlich von der erwachsenen Weiblichkeit der Mutter denkbar verschieden
So vermeidet diese Liebeswahl sicher und verläßlich die Gefahr einer E r
innerung an die Ödipussituation oder gar deren Wiederholung.
Freilich wird in manchen Fällen eine vikariierende Ödipussituation belebt-
die Beziehung zu der älteren Schwester. Ich habe vorhin erwähnt, daß i n
vielen dieser Fähe eine wesentlich ältere Schwester eine große Rolle spielte
Es läßt sich zweifellos nachweisen, daß in zumindest drei der von mir
analysierten Fälle diese ältere Schwester die Eifersucht des kleinen Knaben
außerordentlich stark erregt hat. Dem älteren Mädchen wurden Vorrechte
eingeräumt, die der Knabe nicht genießen durfte; erwähnte vielfach, daß
man sie ihm vorzöge.
Man kann auch vermuten, daß der Knabe es der Mutter leichter gemacht
hat, ihn in eine mädchenhafte Rolle zu drängen, indem er sich mit seiner
älteren Schwester identifizierte. Allerdings findet eine solche Identifizierung
nur mangelhaft statt, wenn die ältere Schwester vom Vater real dem Knaben
vorgezogen wird. Denn dann erreicht die Eifersucht einen solchen Grad,
der Konflikt spitzt sich so stark zu, daß der Knabe sich zwar eventuell
vorübergehend in eine mädchenhafte Rolle drängen läßt oder sie sogar auf
sich nimmt, doch in diesem Falle bemüht er sich, jegliches manifeste
Zeichen einer Identifizierung mit der Schwester ängstlich zu vermeiden.
Jedenfalls erfolgte diese Identifizierung zwar mit einer älteren Schwester,
immerhin aber noch mit einem kleinen Mädchen, das auch äußerlich die
Merkmale eines solchen hat.
Ich will versuchen, noch einige andere Aspekte dieser Form der Liebes¬
wahl von dem Gesichtspunkte der eben ausgesprochenen Hypothese zu be¬
trachten. Auch das Glück, das solche Männer in der fordernden, eigentlich
sadistischen Behandlung durch ihre Frauen finden, läßt sich dem eben be¬
sprochenen doppelten Gesichtspunkte unterordnen: erstens dem Glück, welches
sie bei der Mutter gefunden haben, und zweitens der Vermeidung der Ödipus¬
situation. Denn die infantilen Frauen behandeln ihre Männer so, wie diese
Männer selbst ihre Mütter behandelt haben. Ihr Sadismus und ihre Forde¬
rungen sind oraler Herkunft. Sie haben ihre Mütter mit oralen Forderungen
gequält, weil ihnen als Kinder keiner der Liebesbeweise der Mutter genügen
konnte; jeder noch so weitgehende Liebesbeweis blieb ja hinter der wirk¬
lichen genitalen Liebe, welche die Mutter dem Vater erwies, weit zurück.
Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der jMeurosenform
463
So haben sie gerade durch ihre oralen Forderungen, durch ihr Quälen der
Mutter bewiesen, wie sel\r sie sie lieben. Als Erwachsene büßen sie durch
ihre Frauen für ihre eig<na~eh Missetaten und werden ebenso gequält, wie
sie die Mutter gequält haben. Doch eben die Tatsache dieser Quälerei ist
für diese Männer der Beweis, daß sie aufs äußerste von ihren Frauen ge¬
lebt werden, ebenso wie sie auch selbst bei ihren Quälereien die Mutter
aufs äußerste geliebt haben. Dieser Situation entspricht auch der Haß, den
die Mütter dieser Männer gerade diesen Frauen entgegenbringen. Wir er¬
innern uns daran, daß hinter der Liebe dieser Mütter zu dem Söhnchen,
aus dem sie eine Tochter machen wollten, der Wunsch vorlag, seine männ¬
liche Aggression herabzusetzen. Zwar kommt es in den meisten Fällen nicht
z u einer tatsächlichen Sexualversagung durch die Mutter, doch ist die Er¬
ziehung häufig auf Grund vorgeblicher Ideale die Sexualität versagend ge¬
richtet; schließlich, wenn der Sohn sich von der Mutter loslöst, verrät
sich diese Tendenz durch den Haß dieser Mütter gegen die Frauen ihrer
Söhne.
Anderseits sind solche Ehen meistens sehr glücklich, wenn auch für den
Zuschauer unerträglich. Sie stellen ein ausgesprochenes Hörigkeitsverhältnis
der Männer dar. Die Frauen sind meist viel weniger gebunden, ja es ist
sogar fraglich, ob solche Frauen überhaupt einer wirklich starken Objekt¬
beziehung fähig sind.
Die Eifersucht spielt nicht in allen diesen Ehen die gleiche Rolle.
In manchen Fällen zeigt sie sich überhaupt nicht, in andern Fällen ist sie
pathologisch stark. Dort wo sie sich nicht zeigt, handelt es sich wohl um eine
besonders starke Hemmung der Aggressionen; wo sie sehr stark ist, möchte
ich mich zu der Ansicht, die ein psychologisch interessierter Laie mir gegen¬
über geäußert hat, bekennen: Bei Frauen, die keine Objekbeziehungen haben,
bei denen es sich um rein narzißtische Liebe handelt, kann für den Mann
selbstverständlich keinerlei Sicherheit des Besitzes der Frau außer in dem
unmittelbaren Akte bestehen.
Sowie man dem Gesichtkreis der narzißtischen Frau entschwindet, bei
jeder kleinsten Abwendung, hat man sie verloren. Denn nur eine echte
Objektbeziehung hat die Fähigkeit, das Objekt auch in dessen Abwesenheit
fcäizuhalten und geht in diesem Festhalten bis zur Introjektion. Wo keine
wirkliche Objektbeziehung besteht, wo nur auf dem Wege narzißtischer
Bestätigung eine Beziehung zustande kommt, gleicht diese Beziehung der¬
jenigen, die wir zu einem Spiegel haben: tritt man vom Spiegel fort, so
besteht keinerlei Verbindung mehr zwischen dem Spiegel und uns; unser
Bild hat im Spiegel zu existieren aufgehört und damit auch sowohl unser
Existenz für den Spiegel wie die Existenz des Spiegels für uns.
Diese Frage der Fähigkeit, Eifersucht zu erwecken, beleuchtet eines der
Machtmittel der infantilen Frau. Denn man wird um etwas nie voh
kommen Erreichbares, nie ganz Gesichertes immer stärker kämpfen als
um etwas Sicheres. Doch ist dieses Detail für die ganze Frage von unter
geordneter Bedeutung und wir wollen uns wieder unserem ursprünglichen
Problem zu wenden, uns die Frage vorlegen, worauf, abgesehen von der
speziellen Wirkung auf die einzelnen Männer, zu denen sie in Beziehun
stehen, die Wirkung solcher Frauen auf die große Allgemeinheit beruht
welche in unseren einleitenden Betrachtungen über diesen Typus der
Bühnenkünstlerin bereits erwähnt wurde.
Man kann annehmen, daß die Situation des von der Mutter zärtlich
geliebten Knaben eine ganz allgemeine ist und daher vielen Männern
einen Tagtraum in der angedeuteten Bichtung ermöglicht, sei es auch nur
versuchsweise. Freilich scheiden sich hier die Männer sehr scharf in zwei
Gruppen, von denen die eine laut unseren Ausführungen der infantilen Frau
verfallen ist. Die andere Gruppe dagegen lehnt sie energisch, unter Umständen
mit Abscheu ab. Wir folgern demgemäß, daß diejenigen Männer, die
positiv zu den infantilen Frauen stehen, in ihrer frühen Kindheit nicht
nur die normale Form der Ödipussituation erlebt haben, also von dem
Vater eine Kastration wegen ihrer auf die Mutter gerichteten Wünsche
erwarten, sondern überdies von der Mutter durch eine übermäßig liebe¬
volle Behandlung zumindest eine Zeitlang in eine sanfte mädchenhafte Rolle
gedrängt worden sind.
Man könnte sagen, daß es nicht statthaft ist, die an einigen Patienten
gemachten Erfahrungen über eine bestimmte Form der Familiensituation
zu verallgemeinern und sie auf einen ganz großen Teil der Menschheit
anzuwenden. Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Pädagogik der
letzten fünf Jahrzehnte wird uns jedoch eine unvermutete Bestätigung
unserer Annahmen bringen. Denn tatsächlich hat die Kindererziehung in
den letzten fünfzig Jahren eine auffällige Wandlung durchgemacht: Indes
vorher der Grundsatz der Bibel: „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“
das Fundament aller Erziehung war, trat plötzlich um die Jahrhundert¬
wende eine gegenläufige Strömung auf. Sie ist charakterisiert durch das
von Ellen Key geprägte Schlagwort „Das Jahrhundert des Kindes“. Es
schei nt den Erwachsenen vielfach bewußt geworden zu sein, daß sie bei
der Erziehung der Kinder Triebe ausgelebt hatten, die in der Realität nicht
Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform
465
gerechtfertigt sind, die nichts mit Erziehung zu tun haben, und daß sie bei
den Kindern Regungen straften, welche beim Strafenden selbst mit Schuld¬
gefühlen belastet waren. Es ist das der bekannte Mechanismus des strengen
Richters, der durch die Strenge, fnit welcher er das Verbrechen verfolgt,
seine eigene Absolution erreicht. \
Als aber den Erwachsenen bewußt 1 wurde, daß mit ihrer Erziehung und
ihren Erziehungsmaßregeln etwas nicht stimmte, daß da unsachliche Re¬
gungen mitspielten, wurden sie begreiflicherweise für diese bewußt ge¬
wordenen Regungen durch Schuldgefühle bestraft. Diese Schuldgefühle für
die überstrenge, vielfach sadistische Erziehung bewirkten eine Reaktion,
die zu dem entgegengesetzten Extrem führte. Das Kind wurde nunmehr
verzärtelt. Jeglicher Zwang, jede Fessel der Erziehung verschwand zu¬
gunsten einer uneingeschränkten Willensäußerung — ein Verhalten, das
natürlich ebenso unzweckmäßig sein mußte wie das andere, da ja kulturelle
und soziale Einordnung unmöglich durch Triebfreiheit, sondern durch ein
bestimmtes, wohl ausgewogenes Maß von Versagungen erzielt wird.
Der Natur der Sache gemäß erfolgte die Verzärtelung der Kinder durch
die Mutter. Der in unserem Jahrhundert wesentlich verschärfte Konkurrenz¬
kampf bewirkt, daß die Männer in noch geringerem Maße als früher in
der Lage sind, ihre Zeit der Erziehung der Kinder zu widmen.
Wie aber mögen sich diese Mütter eine liebevolle Erziehung vorgestellt
haben ? In überwiegendem Maße natürlich doch so, wie sie selbst als kleine
Kinder behandelt worden sind: also als kleine Mädchen.
Eine zweite Bestätigung unserer Annahme finden wir auf einem Ge¬
biete, das ich am Anfänge dieser Ausführungen erwähnt habe, auf dem
Gebiete der Bühne. Aber während die Bestätigung, die wir aus dem Ge¬
biete der Pädagogik beziehen, uns einen ursächlichen Beweis gibt, ist das,
was wir aus der Bühnengeschichte sehen, eine Bestätigung a posteriori.
Denn in einer Galerie von Schauspielerbildern des vorigen Jahrhunderts finden
wir keines, das dem uns so wohlbekannten Star mit dem kindlichen Äußern
entspricht. Im Gegenteil, diese Theaterheroinen sind große, üppige, hoch-
busige Frauen.
Nachdem uns diese beiden Bestätigungen die Hypothese, die wir über
die spezielle Form der Objekt wähl des Mannes aufgestellt haben, wahr¬
scheinlicher machen, wollen wir das Problem auf Grund dieser Annahme
wieder in Augenschein nehmen. Wie sehen die Triebe aus, die durch
eine Erziehung, wie die vorhin angedeutete, im Knaben gefördert werden?
Wir haben gesehen, daß der Mechanismus, dessen sich diese Kinder be-
Imago XIX.
30
dienen, dem der manifesten Homosexualität sehr ähnlich ist. Wir werde j
uns nicht wundern, als Resultat eine Liebeswahl zu finden, bei welch
homosexuelle Strebungen eine starke Rolle spielen. Die manifeste Homo
Sexualität wird zwar vermieden, dagegen ein Objekt gewählt, bei dem zu
mindest äußerlich, die weiblichen Attribute, die sekundären Sexualmerkmal
eine untergeordnete Rolle spielen.
Wir sprachen vorhin von der autoplastischen Wirkung des von den
Massen im Film aufgestellten Ideales; hier finden wir einen analogen
Vorgang. In der Beziehung der Geschlechter ist der Mann stets der aggressive
Teil, der sich seine Partnerin wählt; notgedrungen wird die Frau sich
autoplastisch nach den Wünschen des Mannes gestalten. Sie wird genau
so viel Widerstand leisten, als notwendig ist, um die Libido des Mannes durch
Stauung zu steigern, niemals aber so viel, als nötig wäre, um den Mann
zu entmutigen. Und sie wird auch diejenigen Verführungsmittel und Ver¬
lockungen verwenden, die der augenblicklichen Triebkonstellation des Mannes
gemäß sind.
Es vergehen nach der Jahrhundertwende, von welcher an wir die mädchen¬
hafte Erziehung des Knaben datieren, anderthalb Jahrzehnte und wir sehen
das Auftreten eines neuen Frauentypus: die kurzen Haare werden modern,
erobern die gesamte zivilisierte Welt mit blitzartiger Geschwindigkeit und
noch heute scheitern alle Bestrebungen, die Mode, die schließlich eine
Tracht geworden ist, durch eine andere zu ersetzen. Diese Entwicklung
zum männlichen Äußern schreitet zweifellos fort; ich habe schon in der
Einleitung angedeutet, daß die Vermännlichung der Frau, zumindest in
ihrer äußeren Erscheinung, bis zum heutigen Tage noch nicht haltgemacht hat.
Zugleich sehen wir eine auffallend starke Verbreitung der manifesten
Homosexualität, die sich überdies einer früher unbekannten Duldung, ja,
man könnte sagen, eines wohlwollenden Verständnisses erfreut. Anderseits
ist jedem Psychoanalytiker, Neurologen und Psychiater, der in diesen letzten
drei Jahrzehnten gearbeitet hat, das Phänomen der Wandlung der Neurosen
bekannt. Es gibt schon wenige unter uns, die die Charcotsche „ grande
Hysterie erlebt haben. Monosymptomatische Hysterien werden selten, typische
Zwangsneurosen kommen kaum mehr vor. Die Fälle, die wir zu behandeln
haben, gehören meist dem Mischbegriffe der Charakterneurosen an, sie
zeigen nicht mehr die klar umschriebenen, scharf Umrissenen Züge ehe¬
maliger seelischer Erkrankungen.
Akzeptieren wir meine Hypothese der ätiologischen Bedeutsamkeit einer
manifest ausgelebten und brutal unterdrückten Aggression gegen den Vater
zutn Problem der Wandlung der Neurosenform
für die Entstehung der Zwangsneurose, so braucht uns die Wandlung dieser
Krankheit nicht weiter zu wundern. Denn die Erziehung hat sich auch
dementsprechend gewandelt: man sucht solche Aggressionen des Kindes zu
UII igehen, zu übersehen, keinesfalls~äber~s^ie brutal zu bestrafen.
Ich weiß, daß meine Annahme keine Erklärung für die Wandlung der
Hysterie gibt, wäre jedoch geneigt anzunehmen, daß auch hier ähnliche
historische Faktoren wirksam sind, da mir das Bewußtwerden der symboli¬
schen Bedeutung der Symptome bei den breiten Massen als Erklärung nicht
auszureichen scheint.
Nun ist gerade jetzt ein Augenblick eingetreten, in welchem sich vor
unseren Augen eine Änderung im Erziehungsideal einer Reihe europäischer
Völker vollzieht. Die Art der Änderung ist dem verschiedenen Charakter
der Völker gemäß verschieden und wie bei allen historischen Ereignissen
finden wir zugleich eine Reihe von Völkern, die erst jetzt die Übergangs¬
periode des Ellen Keyschen Erziehungsideales der Gewährung durchmachen.
Doch bei jenen Völkern, bei denen der Wandel am sichtbarsten ist, zeigt er,
trotz aller denkbaren Verschiedenheiten, einen gemeinsamen Charakterzug: den
einer stärker wirksamen Versagung. Diese Versagung wird wohl nicht das Maß
des im vorigen Jahrhundert Üblichen erreichen, sie dürfte sich auch anderer
Mittel bedienen, denn schließlich haben die Pädagogen, nicht zuletzt dank
der Psychoanalyse, einiges zugelernt. Das Wesentliche scheint mir jedoch,
daß wir erwarten können, entsprechend dieser Wandlung des Erziehungs¬
ideales innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte nicht nur eine Wandlung
in der äußeren Erscheinung und in der seelischen Struktur des Frauen¬
ideales zu erleben, sondern auch eine grundlegende Änderung im Charakter
der Neurosen zu beobachten. Es würde jedoch den Rahmen und die Ab¬
sichten dieser Erwägungen bei weitem überschreiten, wollten wir uns Mut¬
maßungen über die Art dieser Wandlungen hingeben.
30*
Der JVlenscIi und sein Zahnarzt 1
Von
JMarie Bonaparte
Paris
„Meine Liebe, Sie müssen unbedingt zu meinem Zahnarzt kommen- er
ist einfach unerreicht!“ „Oh, nichts wird mich dazu bringen, dem meinigen
weiterzugehen! In ganz Paris gibt es keinen, der ihm gleichkommt!“ Die
beiden Damen setzen ihre Diskussion fort — und das Ergebnis ist daß
jede von ihnen ihrem Zahnarzt treu bleibt.
Man wird vielleicht sagen, daß es sich hier um weibliche Vorurteile
handle, daß vielleicht zumindest einer dieser beiden Zahnärzte ein Herzen¬
brecher sei. Das ist aber nicht der Fall; wir finden bei Männern das gleiche
Verhalten gegenüber ihrem Zahnarzt. Nur ist die Tonart der Debatte zwischen
Männern eine etwas andere; es liegt mehr Ernsthaftigkeit in den Stimmen.
Aber die Tatsache ist die gleiche, mögen die Männer mondäne Müßig¬
gänger, Ingenieure, Rechtsanwälte, ja selbst Ärzte sein.
Wir Psychoanalytiker kennen nun dieses Phänomen genau; wir nennen
es die „Übertragung“. Diese bildet im allgemeinen die Grundlage, auf
der sich jede Liebesbindung, jede Zuneigung auf baut. Es ist das gleiche
Gefühl von Anhänglichkeit, Bewunderung und Abhängigkeit gegenüber
jenen, die uns in der Kindheit beschützt und betreut haben, das wir später
besonders auf unsere Ärzte übertragen, auf die Psychoanalytiker so gut wie
auf die Zahnärzte, die uns ihre Sorgfalt angedeihen lassen.
Das Unterbleiben jeglicher Kritik, das für alle Liebesbeziehungen charakte¬
ristisch ist, kann man im Verhalten des Patienten zu seinem Zahnarzt im
höchsten Maße beobachten. Infolgedessen kann man Professoren der Medizin
antreffen, die, durch die Macht der Übertragung an einen mittelmäßigen
Zahnarzt gebunden, ein gut Teil ihrer Zähne verlieren, ehe sie sich ent¬
schließen, einen anderen Arzt aufzusuchen. Ist dies aber endlich geschehen,
die alte Bindung gelöst, die neue vollzogen, dann erscheint der verlassene
Zahnarzt durch die geänderte Einstellung plötzlich in grausam mitleidsloser
Beleuchtung wie ein entthronter Gott. Allerdings trägt der Nachfolger sein
Teil zu dieser Beleuchtung bei: es hat den Anschein, als würden die Zahn¬
ärzte dazu verwendet, untereinander an Kritik das nachzuholen, was ihre
Patienten verabsäumt haben. Denn der geringste Fehler, die kleinste Ver¬
schiedenheit oder gar Rückständigkeit in der Technik des Vorgängers werden
1) Aus dem Französischen übertragen von Mathilde Hollitscher.
Der Mensch und sein Zahnarzt
469
dem unglücklichen Patienten vorgehalten^>®<4aß dieser ernüchtert fast dem
Bedauern erliegt, daß er in seiner Verblendung so lange seine Kiefer habe
mißhandeln lassen.
Diese Feststellungen ruhen nun zum Teil auf realer Basis. Der Fort¬
schritt der zahnärztlichen Technik hat sich in den letzten Dezennien, in
den letzten Jahren in einem solchen Tempo vollzogen, daß es einem Zahn¬
arzt, besonders wenn er nicht in Amerika arbeiten kann, schwer fallen
mag, stets mit allen Neuerungen Schritt zu halten. Außerdem kann man
von den Patienten, selbst wenn sie Ärzte sind, nicht erwarten, über alle
Vervollkommnung der zahnärztlichen Technik genügend unterrichtet zu sein,
um während der Dauer ihrer Behandlung ein gültiges Werturteil über ihren
Zahnarzt fällen zu können. Nichtsdestoweniger bieten sich die regelmäßig zu
konstatierende Vorliebe des Patienten für seinen Zahnarzt sowie die ebenso
häufig auftretende Ernüchterung nach Wechsel des Arztes unserer Betrachtung
dar und bilden ein kleines psychologisches Problem, das wohl wert erscheint,
näher beleuchtet zu werden.
* * *
In der Psychoanalyse wird der Zahnarzt oft als Kastrator bezeichnet.
Bestimmte Träume, bestimmte Phantasien, in denen er mit drohend ge¬
schwungener Zange auftritt, scheinen die Verleihung gerade dieser Bezeich¬
nung voll zu rechtfertigen. Andererseits wissen wir durch ethnographische
Studien, daß es in Australien ganze Völkerstämme gibt, bei denen das Aus¬
brechen oder Reißen eines Zahnes an den Novizen während der Pubertäts¬
riten der bei anderen Völkern geübten Beschneidung gleichkommt; die
Beschneidung ist aber unzweifelhaft der Kastration verwandt; sie ist einfach
eine mildere Form derselben.
Wie aber sollen wir nun die Tatsache, daß der Zahnarzt der Kastrator
sein kann, mit der anderen, daß die meisten Patienten ihrem Zahnarzt bei¬
nahe hörig sind, in Übereinstimmung bringen ? Sollte die gesamte Mensch¬
heit in solchem Grade masochistisch veranlagt sein, daß selbst die männ¬
lichsten Männer diesen symbolischen Kastrator, der ihr Zahnarzt für sie ist,
verehren ?
Vielleicht haben unsere Leser es schon aus den vorhergehenden Beispielen
erraten: wenn der Zahnarzt unserer Zeit das Objekt einer so starken positiven
Übertragung ist, dann ist er es, weil er nicht nur Kastrator ist, sondern
noch etwas anderes.
Welche Bedeutung er erworben hat, werden wir verstehen, wenn wir
A 7 °
Alane Bonapärte
die Einstellung der Patienten zu dem gewöhnlichen Zahnbrecher der Markt,
mit der zu dem Zahnarzt in unseren großen Städten vergleichen.
Man muß auf das Land fahren, um noch Patienten von Zahnbrechern
zu finden. Mir bot sich anläßlich eines Aufenthaltes im Süden die Gelegen¬
heit, den Sohn eines Opfers eines solchen Zahnreißers zu befragen. Der
alte Bauer, der das Opfer geworden war, hatte infolge einer durch einen
dieser Scharlatane vorgenommenen Zahnextraktion eine Infektion bekommen
und geschworen, sich an dem Mann zu rächen, falls dieser wieder einmal
in seine Gegend kommen sollte. Ich weiß nicht, ob der ambulante Scharlatan
zurückgekehrt und ob er gezüchtigt worden ist; was uns vor allem inter¬
essiert, ist die Reaktion des alten Bauern, des Opfers.
Man hat mir gesagt, daß die Reaktion der Opfer häufig die gleiche war
Der Patient des Zahnbrechers blieb nicht durch eine positive Übertragung
an seinen Peiniger fixiert. Dieser hatte außerdem durch sein Wanderleben
die Möglichkeit, sich der Rachsucht seiner Opfer, der negativen Über¬
tragung, zu entziehen; jener Opfer, deren Schmerzensschreie während der
quälenden Behandlung seinerzeit durch Trommelwirbel übertönt worden
waren.
Die Tätigkeit unsrer diplomierten Zahnärzte ist natürlich ganz anderer
Art. Nicht nur, daß sie Novokain anwenden und beinahe nie mehr Zähne
ziehen, sie machen auch noch etwas anderes, worüber wir noch sprechen
wollen und was ihnen eben zu der positiven Übertragung seitens ihrer
Patienten verhilft. + +
*
Wir wissen seit langem durch die Psychoanalyse, welch psychisches
Trauma für das Kind das Ausfallen und natürlich mit noch viel mehr
Berechtigung das Ausziehen der Milchzähne bedeutet. Das Kind stellt diesen
Verlust einer Kastration gleich, die entweder „Mutter“ Natur oder, im Fall
der Extraktion, die- oder derjenige, der ihm den Zahn gezogen hat, an
ihm vorgenommen haben. Wir wissen aber durch die Psychoanalyse seit
ebenso langer Zeit, daß die Natur, diese grausame, mitunter gütige Mutter,
das Kind bald über seinen Verlust tröstet: tatsächlich läßt sie in der von
ihr verursachten Wunde den Ersatzzahn erscheinen, und zwar ist das der
Zahn der Erwachsenen, Und auf den Schmerz, die Kränkung über den
Verlust des ausgefallenen oder gezogenen Zahnes folgt der Triumph, ihn
ersetzt zu sehen — und zwar ersetzt durch einen größeren, stärkeren, an¬
sehnlicheren Zahn, durch einen Zahn, wie die Erwachsenen ihn haben.
Das will heißen, daß für das Unbewußte des Kindes auf den Schmerz
-T--
Der JVfensdi und sein Zahnarzt x 47 1
Über die symbolische Kastration durch den verlorenen oder gezogenen Zahn
ü er Triumph über die symbolische Wiedergabe des Phallus durch das Wachsen
des zweiten Zahnes folgt. Im Bereich der Zähne kann auf diese Weise die
Kastration ungeschehen gemacht werden und wird es ja tatsächlich auch.
Was nun die heutigen Zahnärzte für die Erwachsenen leisten, können
wir mit dem vergleichen, was die Natur so wohlwollend am Kind zur
2 , e it seines Zahnwechsels vollbringt. Die Zahnärzte unserer Zeit sind im
Gegensatz zu den primitiven Zahnbrechern im Wesentlichen Verfertiger von
Ersatzstücken geworden: wenn sie Löcher bohren, besteht ihre Kunst darin,
sie sogleich wieder auszufüllen. Dazu gibt es die Plomben aus Zement
und Amalgam, die Goldfüllungen, die „ inlays “, die Kronen aus Gold oder
Porzellan, die Stiftzähne, die Brücken und schließlich die künstlichen
Gebisse.
Der Kastrator im Zahnarzt unserer Tage wird also so stark durch den
Wiederbringer des Phallus überdeckt, daß er beinahe dahinter verschwindet.
Man muß nur die tiefe narzißtische Befriedigung eines jeden Patienten
beobachten, dem sein Zahnarzt ein gut passendes „ inlay“ angefertigt oder
besser noch einen gut angeglichenen Porzellanzahn, der vollkommen einem
natürlichen Zahn gleicht, eingesetzt hat. Der Patient empfindet außer dem
funktionellen, vernunftgemäßen Vergnügen des Essens und Kauens auf einer
festen, glatten Fläche noch die Freude, sich wieder „ganz“ zu fühlen, im
letztzitierten Fall in seinem Spiegel eine vollkommene, lückenlose Zahnreihe
dort zu entdecken, wo vorher ein Glied aus der Kette gefehlt hatte.
Ich erinnere mich eines kleinen Jungen, den ich gut kenne, dem einmal,
als er vier Jahre alt war, durch eine Schiebetüre in der Eisenbahn die ganze
Spitze eines Fingers abgezwickt wurde. Er hielt seinen armen kleinen, ver¬
stümmelten und ganz blutigen Finger in die Höhe und schrie dabei: „der
Doktor muß mir einen neuen Finger einsetzen!“ Das ist nun gerade das,
was der moderne Zahnarzt zum Ersatz für gefährdete oder verlorene Zähne
macht: er gibt den Menschen das wieder, was ihnen genommen worden ist.
Die starke positive Übertragung, die die Menschen unserer Zeit an ihren
Zahnarzt bindet, bezieht also ihre Kraft aus einer primitiven, elementaren
Regung: aus dem Trieb, der im Unbewußten die Kastration ungeschehen
machen will, was mit Bezug aut die Zähne in der Kindheit durch die
Natur selbst, später durch die Kunst der Menschen tatsächlich geschieht.
Der Zahnarzt, der ursprünglich von dem gewöhnlichen Zahnbrecher, dem
unbarmherzigen „Vater“ Kastrator herstammt, ist also gegen Ende des letzten
Jahrhunderts durch die Vervollkommnung der Zahntechnik zum sich er-
47 * M ane Bonaparte: Der Atensrti und sein ^aLtnarzt
barmenden „Vater“ geworden, der bereit ist, so wie die bisweilen güti
Mutter Natur, den Söhnen und sogar den Töchtern wieder zu seh™ **
o vucu i Was
ihnen vorher so grausam genommen worden war.
Hat es ein Zahnarzt aber durch schlecht angewandte Technik, durch z u
offenbares Unvermögen verfehlt, der symbolische Wiederbringer des Phallus
zu sein und damit das Vertrauen seines Patienten oder seiner Patientin ver¬
loren, dann sinkt er beinahe zum Rang des Zahnbrechers, des primitiven
Zerstörers der Zähne, herab und zieht sich nachträglich die oft sehr starke
negative Übertragung seines Expatienten zu. Und die ambivalenten Gefühle
die früher auf den Urvater konzentriert waren, spalten sich jetzt in ihre
beiden Abzweigungen: dem ersten, dem verlassenen, verleugneten Zahnarzt
der die körperliche Integrität seines Sohnes oder seiner Tochter nicht ge¬
nügend zu wahren verstand, wenden sich Rachsucht, sogar Haß zu, der
Einstellung zur Kastration entsprechend; seinem Nachfolger, der alle Hoff¬
nung auf Wiedererlangung des Phallus auf sich vereinigt, flutet eine an¬
steigende Welle von Vertrauen, Zuneigung, sogar Liebe entgegen.
I
J)ie jüdischen Gehetsriemen und andere rituelle
Gebräuche der Jude
len
Von
JVL D. Eder
London
Vor etwa zwei Jahren wurde meine Aufmerksamkeit durch klinisches
Material auf das Studium des jüdischen Rituals gelenkt, besonders auf die
Bedeutung der Gebetsriemen, des Gebetsshawls und des Türpfostensymbols.
Zur selben Zeit etwa wurden in der Imago (1930, Heft 3/4) zwei Arbeiten
veröffentlicht, eine von Reik über „Gebetsshawl und Gebetsriemen der Juden“,
die andere von Langer „Über die jüdischen Gebetsriemen“. Die vorliegende
Arbeit wird klinisches Material in dieser Richtung bringen und einen
Überblick über die verschiedenen psychoanalytischen Gesichtspunkte sowie
einen Hinweis auf sonstige Literatur, und zwar in folgender Anordnung:
A) Beschreibung von Aussehen und Gebrauch:
1) Von Phylakterien-Gebetsriemen (hebräisch; tefillin).
2) Des kleinen viereckigen Umhangs (hebräisch: tsitsith- Quasten, Fransen oder
arba’kanfoth , vier Ecken).
3) Des großen, viereckigen Gebetsshawls (hebräisch: talith , Umhang).
4) Der Türpfostenrolle (hebräisch: mesusah , Türpfosten).
B) Allgemein jüdische Meinung über Gebrauch und Bedeutung dieser Zierate.
C) Anschauungen einiger moderner Gelehrten, die als 1) Amulett- und 2) Phallus¬
theorie zu bezeichnen wären.
D) Einige klinische Beobachtungen.
E) Psychoanalytische Theorien (Abraham, Frieda Fromm-Reichmann, Marie Bona¬
parte, Georg Langer und Th. Reik).
F) Ergebnisse.
Glover hat kürzlich in einer Vorlesung am Royal Institute of Anthropo-
logy auf verschiedene Methoden hingewiesen, um die Anthropologie zu
fördern (1): der Analytiker könnte das klinische Material, das er bei der
Arbeit am Individuum gesammelt hat, bringen, der Anthropologe die Er¬
gebnisse seiner empirischen Forschungsarbeit, wobei es sich zeigen würde,
inwieweit sie die Funde des Analytikers bestätigen oder nicht. Ich glaube,
1) Dieser Vortrag wurde zuerst in der Britischen PsA. Gesellschaft am 29. Juni
1 93 2 gehalten und dann erweitert. Auf Dr. Jones’ Rat habe ich einen ausführlichen
Auszug der Arbeiten von Reik und Langer (Imago, XVI, 1930) gegeben. Die Über¬
setzung der vorliegenden Arbeit besorgte Dr. Edith Buxbaum.
474
M. D. E-de]
daß das Studium des jüdischen Rituals in dieser Hinsicht ein Forschungs
gebiet von besonderem Werte darstellt, weil wir oft die klinischen Unter-
suchungen und das Studium der primitiven Gebräuche an ein und der¬
selben Person anstellen können. Natürlich meine ich nicht, daß die Juden
Primitive in der üblichen Bedeutung des Wortes sind, wohl aber stammen
ihre Gebräuche aus sehr alter Zeit und haben sich weitgehend unverändert
erhalten; überdies aber bieten die Juden eine Fülle klinischen Materials
für den Analytiker.
*
A) 1) Die jüdischen Phylakterien (vom griechischen Wort phylassein, be¬
wachen) führen bei den Juden den Namen „ tefillin “ oder Schmuck, ein Wort
dessen Ursprung dunkel ist und mit dem wir uns später noch befassen werden
Die Gebetsriemen sind Lederstreifen oder -riemen, mit welchen Lederkassetten
verbunden sind; in diesen befinden sich vier Stellen aus der Torah (dem Gesetz)
auf Pergament geschrieben. Die Bibelstellen sind die folgenden: Exodus XIII,
1 —10, Exodus XIII, 11 —16; Deuteronomium IV, 4 — 9, und XI, 15—21.
Die traditionsgemäße Vorschrift wird noch immer folgendermaßen ausgeführt:
Die vier Bibelstellen werden zweimal auf Pergament geschrieben, einmal auf
einem Blatt, einmal auf vier Streifen, wobei jeder Streifen eine Stelle enthält. Die
beiden Torahauszüge (jeder vier Stellen enthaltend) werden in zwei Lederkassetten
(bayith ) gelegt; diese ist in vier Teile geteilt, zur Aufnahme je eines Stückes des
viergeteilten Pergaments, außen mit dem Buchstaben Shin = der Allmächtige,
bezeichnet. Auf beiden Seiten der Kassette ist der Buchstabe eingepreßt, rechts
hat er drei Striche t 2 ? (gewöhnliche Schreibart), links aber hat er vier, um —
wie es heißt — die richtige Ordnung der vier Paragraphen in der Kassette
(bayith), nämlich von links nach rechts, zu sichern. Durch eine Schlinge, die an
jeder der beiden Kassetten befestigt ist, wird ein Lederriemen durchgezogen
und seine beiden Enden werden so verknüpft, daß die Kassette (bayith) am Kopf
oder am Arm befestigt werden kann. Auf den Arm kommt die Kassette, die den
ganzen Pergamentstreifen enthält, auf den Kopf die mit den vier geteilten
Streifen. Die eine Kassette heißt tefillin shel yad (Tefillin der Hand), die andere
tefillin shel rosh (Tefillin des Kopfes).
Die Tefillin werden in folgender Weise angelegt: 1) Kopftefillin, tefillah
shel rosh. Die Kassette wird vorne, genau in die Mitte der Stirn gelegt, der
Riemen genau über der Mitte des Nackens verknotet, was von den zwei Riemen
übrig ist, hängt zu beiden Seiten nach vorne herunter. 2) Handgebetsriemen
(tefillin shel yad). Die Kassette mit dem Pergament wird an der Innenseite des
linken Oberarmes knapp über dem Ellbogen angelegt. Der Knoten ist nahe an
der Kassette, der Riemen wird siebenmal um den Arm und dreimal um den
Mittelfinger gewunden. Die Riemen müssen auf der nackten Haut liegen, und
auf dieser Seite soll das Leder schwarz sein; rot ist ausdrücklich verboten.
Das Tefillin der Hand wird zuerst angelegt, weil sie in der Bibel als erste
genannt wird. Beim Abnehmen der Tefillin wird die umgekehrte Reihenfolge
f
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräudie der Juden d/d
beobachtet. In neuerer Zeit werden die Tefillin nur beim Morgengebet getragen.
]\Ian findet es natürlich, daß man am Abend den kleinen Umhang und die
rpefülin ablegt, da der größte Teil der Nacht dem Schlaf gehört. Daher wurde
a ls allgemeine Regel aufgestellt: „Die Nacht ist nicht die rechte Zeit, Tefillin
anzulegen.“ Aber auch das entgegengesetzte Prinzip: „Auch die Nacht ist eine
Zeit, zu der man Tefillin anlegen kann“, fand seine Vertreter unter rabbinischen
Autoritäten.
Die Vorschrift, Tefillin anzulegen, gilt für alle Männer von ihrem dreizehnten
Geburtstag an. Frauen dürfen Tefillin nicht anlegen. Mit der Beendigung des
dreizehnten Jahres verlangt man vom Knaben die volle Erfüllung seiner religiösen
Pflichten.
Am Sabbath und an Festtagen werden die Tefillin nicht angelegt. So sollen
denn gerade die Ruhetage Mahnungen an den Glauben bedeuten, für den die
Tefillin ein Zeichen sind.
Früher war es Sitte, die Tefillin den ganzen Tag zu tragen, und sie nur
zum Essen, Schlafen und bei den exkretorischen Funktionen abzunehmen. Es
ist verboten, die Tefillin auf den Abtritt und ins Badezimmer mitzunehmen;
so lange die Tefillin ausgelegt sind, darf man nicht koitieren; sollte das doch
geschehen, so muß man die Hände vor dem Anlegen waschen. Tefillin werden
nicht getragen, so lange ein Toter im Hause liegt, noch darf man sich einem
Leichnam oder einem Friedhof nähern, wenn man sie gerade trägt. Die Tefillin
müssen aus der Haut eines vorschriftsmäßig reinen Tieres gemacht werden.
Die Schriften sind genau in Text und Stellung vorgeschrieben; wenn ein Fehler
beim Schreiben gemacht wird, muß man ein frisches Pergament nehmen.
A) 2) Außer der Tefillin gebraucht der orthodoxe Jude zwei weitere rituelle
Kleidungsstücke: das kleine Tsitsith und den großen Gebetsshawl. Das Tsitsith
oder die Fransen sind im Deuteronomium XXII, 12, anbefohlen. Entsprechend
dieser Vorschrift gibt es zwei viereckige Kleidungsstücke mit „Fransen . Das
eine ist klein und wird während des ganzen Tages unter dem Obergewand
getragen; es heißt arba i 'kanfoth , „vierEcken“, oder talith latan, „kleiner Umhang".
Das Tsitsith oder die Fransen, welche an jeder Ecke angehängt sind, bestehen
aus vier langen Fäden, die durch ein schmales Loch, ein Zoll von der Ecke
entfernt, durchgezogen werden. Die beiden Enden der Fäden werden in einen
Doppelknoten verknüpft; der längste Faden shcunTncish , „der Diener ge¬
nannt — wird dann sieben, beziehungsweise acht, elf und dreizehnmal um die
sieben übrigen Hälften der Fäden gewunden; jedesmal zum Schluß wird ein
Doppelknoten gemacht. Ist eine der Fransen unvollständig, z. B. zwei Fäden
herausgerissen, so wird das Tsitsith „pasul , disqualifiziert, genannt und darf
nicht getragen werden, bis die Franse durch eine neue ersetzt ist.
„Ein wichtiges Element der göttlichen Vorschrift,“ sagt Friedländer, „wird
nun ständig vernachlässigt“. Nämlich folgendes: „Und sie sollen geben in die
Franse an der Ecke einen Faden von purpurblauer Wolle.“ (No. XV, 38.) Die
Tradition bestimmte die genaue Nuance dieses Purpurblaus durch den Ausdruck
„techeleth “ im Talmud, wo auch die verschiedenen Arten für die Herstellung
desselben angegeben werden. Aber die Farbe scheint selten gewesen zu sein, und
man warnt die Juden davor, Nachahmungen des techeleth zu verwende
wurden auch Maßnahmen getroffen für den Fall, daß das techeleth • u
erhältlich war. Das natürliche Weiß sollte dann Ersatz sein, aber sonst fc-
andere Farbe. In der Zeit nach der Beendigung des Talmuds begann
zu zweifeln, ob es auch die vorgeschriebene Nuance des Purpurblaus sei
man habe, und daher hörte der blaue Faden schließlich auf, ein Bestandteil a
Tsitsith zu sein. (Siehe S. 488.) 1 des
A) 3) Der Gebetsshawl wird nur während der Morgengebete getragen P
ist ein großer, viereckiger Shawl, der über dem Kopf getragen wird sei
freien Enden hängen lose über die Schultern.
A) 4) Das letzte dieser Schmuckstücke, die zu erwähnen sind, ist die T "
pfostenrolle oder mesusah, ein Stück Pergament, auf dem die beiden erst^
Paragraphe des Schema (Deuteronomium VI, 4—9, XI, 13 — 20) stehen. D
Pergament wird zusammengerollt, in eine schmale Kassette gesteckt und an de^
rechten Türpfosten des Hauses und jedes Zimmers befestigt. In der Kassette i t
eine kleine Öffnung, in der das Wort „Gott“ sichtbar wird, das auf der RürV
Seite der Rolle geschrieben steht.
B) Außerdem sind, sagt Friedländer (3), an der Rückseite der Rolle, an
den Stellen, wo vorne die Namen Gottes in der ersten Zeile stehen, drei
Wörter von mystischer Bedeutung, bestehend aus den Buchstaben, die
hinter den Buchstaben der Namen Gottes im Alphabet stehen. Die Wörter
bedeuten an sich nichts, möglicherweise sollen sie nur von außen die Stelle
bezeichnen, wo die Namen Gottes stehen, damit bei Befestigung der Mesusah
kein Nagel gerade durch diese Stelle getrieben wird. Ich komme später
darauf zurück. (S. 479 f.)
Die Aufgabe der Mesusah ist es, nach Deuteronomium VI 9 und XI 20,
die Juden beim Betreten und Verlassen des Hauses an die Allgegenwart’
Einzigkeit, Vorsehung und Allmacht Gottes zu erinnern; an sein Auge,
das uns immer sieht und bewacht, an seine Allmacht, die eines Tages
Rechenschaft von uns fordern wird für Taten, Worte und Gedanken. Beim
Eintritt in das Haus oder Zimmer wird die Mesusah berührt und geküßt.
Nach der Auslegung von Maimonides (5) sollen die mit Teffilin und
Mesusah verbundenen Pflichten uns ständig an Gott erinnern. „Die Aus¬
führung all dieser Vorschriften prägt unserem Herzen notwendige Lehren
ein. Dies ist vollkommen klar und bedarf keiner weiteren Erklärung.“
Strebei (6) behauptet, daß die Tefillin erst nach der babylonischen Ge¬
fangenschaft aufgekommen sind; die Phylakterien, die in Matthäus (XXIII,5)
erwähnt sind, seien das Tsitsith oder Fransengewand.
Die moderne, aufgeklärt-orthodoxe Meinung behauptet, die Vorschrift
Die jüdischen Gehetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
477
Über die Tefillin müßten gewiß nicht wörtlich genommen werden, aber
man gibt zu > daß die Phylakterien in früherer Zeit dazu dienten, den
Menschen vor Übel zu schützen, obwohl die Bibel texte keine Ursache für
diesen Aberglauben boten. Derselbe Gesichtspunkt wird auch von einigen
nicht] üdischen Kommentatoren aufgenommen: „Der Befehl, das Gesetz als
Zeichen auf die Hände zu schreiben und zu binden. .., will zweifellos
metaphorisch verstanden sein.“ (7) Obwohl die aufgeklärte jüdische Meinung
zugibt, daß der Gebrauch dieser Zierate bis auf die heidnische Zeit zurück¬
geht, lehnt man den Gesichtspunkt, daß die biblische Vorschrift durch etwas
anderes als durch göttlichen Befehl begründet sei, doch vollkommen ab.
*
C) Die Forschung vertritt im allgemeinen die Meinung, diese Zierate
seien Amulette, die das jüdische Volk wie andere Primitivvölker annahm,
„aus dem inneren Drang, etwas zu seinem Schutz zu tun und zu versuchen, die
Zukunft zu enträtseln. Zweifellos waren die Tetaphoth (Phylakterien)Mesusah,
und das Tsitsith Amulette, deren Gebrauch bis in die Prähistorie zurück¬
geht. Ursprünglich waren die Tefillin wertvolle Steine, die die unveränder¬
liche Fähigkeit hatten, böse Geister zu vertreiben; sie brauchten daher
keine Inschriften.“ (8) Wallis Budge zieht in Erwägung, daß die Hebräer
in biblischen Zeiten Amulette getragen haben und daß sie „möglicherweise
den heidnischen Glauben an deren Wirksamkeit stillschweigend inoffiziell
übernommen haben; ferner daß die Kabbalah, das Buch des jüdischen Mystizis¬
mus, an vielen Stellen beweist, daß diese mit Inschriften versehenen Amulette
eigentlich magische Zaubergeräte waren; so sollten die Inschriften z. B. Kranke
heilen. In Wallis Budges Arbeit (8) findet man Beweise dafür, daß die
verschiedenen Zierate ägyptischen, persischen, sumerischen und babyloni¬
schen Ursprungs sind. Er gibt eine interessante Beschreibung der von diesen
Völkern benützten Amulette und der Bedeutung, die ihrer Farbe, Form
und Beschaffenheit zugeschrieben wird. Bidgway hat darauf hingewiesen,
daß das Tragen von Schmuckstücken auf magischen Ursprung zurückgehe;
sie waren ursprünglich Amulette, in die man, um die magische Kraft der
Steine zu erhöhen, verschiedene Formeln einschnitt (g).
Das Leder für die Riemen der Phylakterien muß aufs sorgfältigste aus¬
gesucht werden — nicht jedes Leder darf dafür verwendet werden; die Leder¬
riemen, wie auch die Fransen der Umhänge, weisen darauf hin, daß sie
Teile eines Mantels oder Gewandes sind; Gott der Herr, so erzählt die
Genesis III, 21, machte Mäntel aus Fell für Adam und Eva. Die Kleidung
4/8
M. D. E<* e]
bildet, wie W. Robertson Smith zeigt (10), einen bestimmten Teil de
göttlichen Schutz. Es ist ein allgemeiner Brauch, sagt Frazer (11), ein Tier
zu opfern, seine Haut in Streifen zu schneiden und sie um Gelenke oder
Finger einer Person zu legen, um sie zu schützen.
Die Phylakterien hingegen, die man auf dem Kopfe trägt, haben die¬
selbe Bedeutung wie die Ehrenhörner — sie sind heute noch auf der Mitra
des Bischofs zu sehen —, sie sind „schützende Amulette“, Symbole des
höchsten Gottes. Das einzelne Horn, wie es das Kopf-Phylakterium repräsentiert
stammt wahrscheinlich von dem einfachen Horn, das bei menschlichen
Wesen die Doppelhörner vertreten soll. Die Hörner, die der Moses des
Michel Angelo trägt, entsprechen der Beschreibung des Exodus XXXIV, 29
— „Moses wußte nicht, daß die Haut seines Gesichtes Hörner gebildet
hatte.“ (12).
T. R. Campbell Thompson (13) hat darauf hingewiesen, daß es den
Primitiven immer entsprochen hat, Amulette am Körper zu tragen und
daß das Wort „Phylakterien“ den Sinn der Gebetsriemen deutlich aus¬
drückt. Angefangen von den blauen Perlen, die man den Pferden in Mähne
und Schweif einflicht, den Kindern auf die Kopfbedeckung näht, bis zu den
feingearbeiteten Lederbehältern, die lange, von Bazarschreibern geschriebene
Zauberformeln enthalten: all dies bleibt ein ebenso ewiger Zauber für
den Glauben der Semiten wie für den der Christen das Kreuz.
Budge und andere Autoritäten beweisen, daß der große und der kleine
Gebetsumhang nicht nur Bestandteile des magischen, sondern sogar des
priesterlichen Lebens waren. W. Robertson Smith vergleicht die Fransen
oder Quasten am kleinen oder Gebetsshawl mit den Riemen aus Ziegen¬
haut, die die lybischen Frauen trugen. Das Gewand bei den Opferungen
bezeichnet den Glauben eines Mannes und seine heilige Sippe. Als man
dieses Kleid im täglichen Leben nicht mehr trug, behielt man es doch
bei den heiligen Handlungen noch bei.
Der sexuelle Charakter — männlich oder weiblich — dieser jüdischen
Amulette wurde von Elworthy (15) und andern Autoren angedeutet und
von Hannay (16) deutlich beschrieben. Nach der Darstellung von Joseph
(17) sollten die färbigen Fransen dazu dienen, den männlichen Umhang
von dem weiblichen, dem sie im übrigen sehr ähnlich waren, zu unter¬
scheiden.
Während des Priestersegens am Versöhnungstag stehen die Priester vor
der Bundeslade, dem Behälter, in dem das Gesetz aufbewahrt wird, und
hüllen sich vollständig in ihre Gebetsshawls (talith) ein, wobei sie auch
den Kopf bedecken; die Hände sind im Gebet erhoben, dabei müssen der
vierte und fünfte Finger von den andern entfernt sein und während der
ganzen Zeremonie in dieser gezwungenen Stellung bleiben. Elworthy (17 a)
erklärt, diese Stellung der Hand mit weggespreiztem vierten und fünften
Finger bezeuge eine nahe Verbindung zu den allmächtigen Hörnern der
sexuellen Frauen-Gottheiten — Jsthar, Isis, Hera, Diana usw. —, die, wie
man glaubte, bereit waren, ihren Gläubigen zu helfen; diese Stellung der
Hand läßt leicht die Darstellung solcher Hörner erkennen. Hannay, der
aber ein sehr unverläßlicher Philologe ist, leitet das Wort Phylakterien
von Phallus ab.
Die Mesusah (Türpfostenrolle) ist ein babylonisches Wort und bedeutet
r Gottesplatz“. Hastings (17b) beweist seine weite Verbreitung; bei den
Phönikern war sie oft mit dem Phallus versehen. Eine ähnliche Sitte findet
sich bis zum heutigen Tag in mohammedanischen Ländern. „Am Neu¬
jahrstag der Mohammedaner hängt jede Familie, besonders in den Städten,
einen grünen Zweig über die Tür des Hauses.“ Diese Sitte wird auch in
Palästina befolgt, und zwar, wenn die Braut zum erstenmal das Haus des
Bräutigams betritt, wenn der Dachstuhl eines Ziegeldaches errichtet wird,
manchmal auch bei Beendigung eines Bogens. Beim Dachbau wird gern
ein Olivenzweig am Giebel des Dachstuhles befestigt. Diese Sitten sind von
symbolischer Bedeutung. Der grüne Zweig eines lebenden Baumes ist
das Zeichen von Frieden und Gedeihen. Aus demselben Grunde sagt man
von einer Frau, einem Haus oder einem Pferd, die angeblich Glück ge¬
bracht haben, sie haben einen „grünen“ Fuß oder „grüne“ Hand, idjirha
hadra , idha hadra (18).
Langer (19) weist ähnliche Zierate (Türpfosten) in alter und neuer,
in babylonischer und griechisch-römischer Zeit nach (Phallus). Sie finden
sich auch bei afrikanischen Negern, Melanesiern und südamerikanischen
Indianern. Eine primitive Form der Mesusah ist die steinerne Säule, die
Jakob errichtete, und die er zu einem lebenden Gott machte, indem er Öl
darüber goß.
In der Mesusah stehen, wie ich erwähnte, drei Wörter auf der Rück¬
seite der Rolle, gerade hinter dem Wort Gott, d. h. vier Wörter sind sichtbar;
wie bei dem vierzackigen Shin wieder ein Zeichen dafür, daß hier
eine Vereinigung von Männlich und Weiblich dargestellt ist, wie es ja auch
aus der Stellung der Mesusah hervorgeht, nämlich ihrer Anbringung im
Türeingang, dem weiblichen Symbol. Dieselbe nachdrückliche Bedeutung
M. D. EJe:
480
r
kommt dem Hufeisen zu, das häufig als glückbringend über das Haustor
gehängt wird; häufig findet es sich an Kirchentüren, um, wie Hannay ( 2o )
sagt, die weibliche Bedeutung der Kirche zu bezeichnen. Er fügt hinzu
daß das weibliche Symbol im jüdischen Brauch von sehr sexueller Bedeutung
gewesen sein muß, weil das Weibliche in der Religion tabu war.
*
D) Ich komme nun von der Beschreibung der Kultgeräte und ihrer
Deutung durch Religion und Fquschung zur Darstellung einiger klinischer
Beobachtungen an jüdischen Patienten.
Phylakterien.
Ein vierunddreißigjähriger Patient pflegte zu gewissen Zeiten, wenn er be¬
sonders feindlich gegen mich gesinnt war, den größten Teil der Sitzung sadistische
Phantasien zu produzieren. Dies geschah häufig in der Form, daß er die
Phylakterien, die er zu tragen phantasierte, beleidigte oder verstümmelte. „Ich
beiße die Kassette auf und zerkaue ihren Inhalt — ich kümmere mich nicht
um die Schmerzen, die mir das macht — ich fürchte mich nicht vor ein
bißchen Leibschmerzen. Jetzt bin ich es los — Ihr schöner Penis ist weg.
ich zerspalte ihn (die Kassette war für ihn der Penis) von der Öffnung an und
bohre eine lange Nadel in Sie hinein — ich reiße die Riemen in Stücke —
ja, ich werde Ihnen lebendig die Haut abziehen. Was haben Sie mir getan?
Gestern ging ich zum Telephon um mit R. zu sprechen, der mich angerufen
hatte. Ich hatte eine Pollution. Ich spucke auf Ihre Tefillin — geben Sie mir
die Hand und ich will sie abschneiden.“
Der Patient kam wegen vollkommener Impotenz zu mir. Er hatte viele
Freundinnen, aber weder mit Frauen noch mit Männern jemals Verkehr gehabt,
obwohl er mit Frauen geschlafen und alle Arten der Vorlust erlebt hatte. Seine
latente, gewöhnlich reaktive Homosexualität kam in der Analyse heraus. Er
erinnerte sich nicht, jemals onaniert zu haben, hatte aber bei Nacht und auch
bei Tag Pollutionen seit der Pubertät. Ich hatte ihm geraten zu onanieren, und
diese Phantasien über die Phylakterien produzierte er, nachdem er in einer Nacht
meinen Rat befolgt hatte. Manchmal hatte er beim Verlassen des Zimmers eines
Freundes einen Samenerguß, besonders dann, wenn er den Freund nicht ge¬
sehen hatte.
Er kam aus einer kleinen fernen Stadt: seine Mutter war durchaus domi¬
nierend — sie führte das Geschäft und das Haus; sein Vater war ein sanfter
inoffensiver Mann, der an chronischen Verdauungsstörungen litt. Die Familie
war orthodox und mein Patient hatte den üblichen Cheder (die jüdische Schule)
besucht, Talmud gelernt und, der Sitte gemäß, mit dreizehn Jahren die Tefillin
zu legen begonnen. Später hatte er jeden Glauben und alle religiösen Gebräuche
fallen lassen.
Die Phantasien zeigen deutlich den Wunsch des Patienten, mich zu kastrieren,
indem er die Tefillin, die ich in seinen Phantasien trug, zerriß oder zerbiß.
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
£r brachte Erinnerungen aus der Kindheit, wie er wütend war, wenn er
den Vater und den um sechs Jahre älteren Bruder die Gebete mit den Tefillin
verrichten sah. Zwischen sechs bis acht Jahren beneidete er den älteren Bruder,
daß er Tefillin legen durfte, während es ihm noch nicht erlaubt war. Mehr
a l$ einmal hatte er die Tefillin fallen lassen, wenn er sie dem Vater bringen
sollte. Die Tefillin wurden eine Quelle des Neides, als sein Bruder dreizehn
Jahre alt wurde; die spezielle Bedeutung der Phylakterien für ihn als Penis¬
symbol stammte aus diesem Zeit.
Ähnliche Phantasien entwickelten auch andere Patienten bei vielen Gelegen¬
heiten. Manchmal wurden die Phylakterien um meinen Penis gewunden, ein
andermal wieder riß ich dem Patienten die Riemen weg; in einem Fall wand
ich die Riemen um den Penis des Patienten, . hatte die Enden im Mund und
schnürte so sein Glied ab; manchmal waren die Riemen um seinen Hals gelegt.
In einer anderen Phantasie litt der Patient große Schmerzen, weil die Riemen
zu eng um den Arm gewunden waren. Er erinnerte sich, daß er als Kind
einmal hörte, wie der Vater über Schmerzen im Arm klagte, weil er die
Riemen wirklich zu eng befestigt hatte.
Andere Patienten hatten wieder den Einfall, ich werde dafür, daß ich die
phylakterien nicht gebrauchte, durch meinen Tod oder den meiner Frau und
meiner Kinder bestraft werden; ich muß hinzufügen, daß keiner dieser Patienten
die rituellen Zierate anlegte, obwohl sie alle in deren Gebrauch erzogen waren.
Manchmal war die Krankheit des Patienten die Folge seiner Abwendung von
der Religion; dann allerdings war es nicht nur das Aufgeben der Phylakterien
und des Tsitsith, um das es sich handelte, obgleich es als eine böse Tat an¬
gesehen wurde.
In einem Teil eines Traumes war der Patient mit dem Arm, auf den die
Gebetsriemen gebunden waren, an mich gekettet, und die Riemen mußten durch¬
geschnitten werden, damit er sich befreien konnte. Es war naheliegend, die Riemen
als Nabelschnur aufzufassen. Ich war für diesen Patienten zwar oft eine Mutter¬
figur, in diesem Traum aber nicht so eindeutig. Ich weise auf den Traum und
seine mögliche Bedeutung in Verbindung mit psychoanalytischen Gesichtspunkten
hin, die ich später auseinandersetze; demnach bedeutet das Arm-Tefillin, d. i.
die kleinere Kassette, das weibliche Genitale, während der Kopfkasette die
größere, ursprünglich phallische Bedeutung zukommt, später vielleicht beide
Bedeutungen, sowohl die des männlichen als auch des weiblichen Organs.
Ein andermal halluzinierte der Patient, ich habe die Tefillin angelegt und
schlüge ihn damit auf Rücken und Gesäß; er sah den Teil meiner Person,
der die Tefillin trug, als finstern, schwarzen Gott (Satan oder Feind) und flehte
zu mir, dem weißen Gott, ihn vor dem schwarzen Gott — Satan — zu retten.
Schwarz bedeutete für ihn die Finsternis und das Böse, das man in der Nacht
sieht und tut; die Riemen der Phylakterien, die der böse Gott trägt, führten zu
Assoziationen der üblichen Teufelsbilder mit Schwanz. In der nächsten Sitzung
zitierte der Patient aus dem Buch Hiob: „Also ging Satan hinweg vom Angesicht
des Herrn und schlug Hiob mit einem sehr bösen Geschwür von seiner Fu߬
sohle an bis zum Scheitel seines Hauptes.“ Die „Verdoppelung“, die wir aus
Imago XIX.
3i
483
M. D. Eder
Mythen und Sagen wohl kennen, spielt sich auch in dieser Phantasie ab: der
Analytiker mit den Phylakterien ist Satan, der böse, feindliche Vater mit den
Emblemen des schwarzen Gottes oder Satans; der freundliche, „gute“ V at *
hingegen ist der schützende Gott, der den Patienten vor seinen eigenen, in der
Gott projizierten, aggressiven und sadistischen Impulsen bewahrt.
Das Tsitsith oder der kleine Umhang.
Das Tsitsith ist, wie schon gesagt, der kleine viereckige, mit Fransen
versehene Umhang, den alle Männer unter dem Obergewand tragen. Zum
Unterschied von anderen rituellen Gewändern wird es von Kindheit an
getragen — natürlich genießen nur Knaben diesen Vorzug. Den Um¬
hang wegzulassen, ist eine Sünde. Ich weiß nicht, welche Strafen der Talmud
dem Individuum auferlegt wenn es daran beim Anziehen vergißt; meine
Patienten jedenfalls phantasierten von strengen Strafen für dieses Vergehen
Möglicherweise führt die Kindheitserinnerung an die Mutter, die beim An¬
ziehen zugegen ist, gerade beim Tsitsith so häufig zu Assoziationen über
Frauen im allgemeinen, — Mutter, Schwester und Gattin. So weit es mir
bekannt ist, hat es nichts zu besagen, wenn das Tsitsith unter dem Ober¬
gewand hervorsieht; die Patienten aber schämten sich sehr, wenn eine
Franse unten vorhing, genau wie etwa ein Knabe, dem das Hemd heraus¬
hängt— und auch aus demselben Grund: der Wunsch, das Glied zu zeigen,
und gleichzeitig die Angst, bei diesem Wunsch ertappt zu werden, brachte
die Scham hervor. Ein zweites Motiv für die Scham konnte ich in einem
Falle finden:
Ein Patient durchlebte noch einmal denselben Ärger, als er sich daran er¬
innerte, wie seine Schwester ihn ausgelacht hatte, als ihm die Fransen des
Tsitsith vorne und hinten herunterhingen. Er war wütend geworden, hatte
die Schwester geschlagen und gesagt, sie solle dieses Gewand tragen — es sei
überhaupt kein Männerkleid, wenn er groß sei, werde er die Tefillin anlegen.
Für ihn war es ein Mädchenkleid, weil der Kopf zwischen zwei schmalen
Bändern stak; es war keine männliche Kleidung, weil sie nicht zu sehen war.
Er sagte, die beiden Enden lägen um den Kopf, wie die zwei Beine der Frau
beim Koitus um den Mann liegen, auch sei das Tsitsith versteckt wie das weib¬
liche Genitale, nicht sichtbar wie die Tefillin und der Talith — die männ¬
lichen Organe. Es war klein, weil er noch ein Knabe war, dennoch aber war
er stolz, daß es die Schwester nicht tragen durfte — sie hatte keinen Penis.
Anders als mit dem Tsitsith ist es mit dem Talith oder mit dem großen
Gebetsumhang: er wird nur zum Beten, auch nur von Männern getragen,
aber erst mit dreizehn Jahren, nach der Konfirmation. Der folgende Talith-
Traum berührt auch andere rituelle Gebräuche.
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
483
Talith- Traum.
Ich träumte, ich ging in den Klub, der sich anscheinend in meiner Geburts¬
stadt befand. Ich sah Herrn A., einen alten Freund, draußen stehen, und da
er nicht Mitglied ist, wollte ich ihn mit hineinnehmen . Zu meinem Erstaunen
ging er geradeiuegs hinein. Ich war einigermaßen ärgerlich. Innen sah der
Klub wie das Beth-Hamidrash in meiner Heimatstadt aus. Ich bemerkte, daß
Herr A. keinen Hut auf hatte, und dann sah ich, daß die anderen auch keinen
auf hatten. Ich behielt meinen auf. — Jetzt war es die Synagoge in meiner
Heimatstadt (das Beth-Hamidrashfvar ein Teil desselben Hauses). Herr A. und
Herr B. — beide ältere Herren — auch einige andere waren da und beteten.
Hun sah ich, daß sie Hut und Talith trugen. Herr A. kam zu mir und
sagte, ich sollte den Talith umlegen. Das machte mich wütend. Ich riß Herrn
^ und Herrn B. den Talith weg, schlug ihnen die Hüte herunter und warf
sie in eine Ecke. Ein allgemeiner Tumult entstand.
Das Beth-Hamidrash. ist das Studienhaus neben der Synagoge, wo die Heran¬
wachsenden Bibel, Talmud usw. studieren. Alle Männer über dreizehn Jahre treffen
sich hier, diskutieren über theologische Fragen und studieren hier. Das Tragen
des Hutes ist bei den orthodoxen Juden Pflicht, während sie eines der heiligen
Bücher lesen. Herr A. und Herr B. sind Freunde des Träumers, die ver¬
schiedene Aspekte seines Vaters darstellen. Während des Gebetes wird in der
Synagoge sowohl Hut als auch Talith getragen. Die aggressive Handlung
war sündig und gotteslästerlich. Es war nicht schwer, ihre symbolische Hand¬
lung zu enthüllen: die Kastration des Vaters (und Gottes).
Ich kann hinzufügen, daß eine Reihe von homosexuellen Phantasien bei dem
Patienten, einem fiinfundvierzigjährigen Mann, mit dem Beth-Hamidrash ver¬
bunden waren. Er war in einer kleinen russischen Stadt orthodox erzogen
worden und kam, um sich unter anderem wegen vollkommener Impotenz be¬
handeln zu lassen.
Mit zwanzig Jahren heiratete er, um der militärischen Anwerbung zu ent¬
gehen, das erstbeste Mädchen. Es war die Tochter des Ortsfleischhauers; er
war während der zwei Jahre, die die Ehe dauerte, potent, obwohl er seine
Frau von der ersten Nacht an haßte und verachtete. Um diesen besonderen
Haß verständlich zu machen, muß ich auf einige andere jüdische Bräuche
etwas näher eingehen.
Die Tiere, die die Juden essen dürfen, müssen auf besondere Art getötet
werden. Diese rituelle Tötung — bekannt als Schechita — vertraut man nur
Männern an, die die Vorschriften kennen, geschickt und verläßlich sind.
Der Oberrabbiner oder eine andere Tempelautorität hat den Betreffenden
zu prüfen und gibt ihm die Lizenz, ein ritueller Schächter zu werden. Der
Schächter muß auch vor und nach dem Tod des Tieres feststellen, ob das
Tier gegessen werden darf oder nicht; er muß Lungen usw. untersuchen, um
festzustellen, ob es vor dem Tode nicht krank war. In vielen kleinen Ge¬
meinden ist der Schochet — er muß, wie noch zu zeigen sein wird, ein Mann
von einigen Kenntnissen, vor allem auf veterinärem und rituellem Gebiet, sein
— gleichzeitig Tempeldiener und Lehrer. Zwischen dem Schächter und dem
M. D. Eder
4^4
Fleischhauer, der das Fleisch zerteilt und verkauft, wird ein großer Unt
schied gemacht. Der Schächter ist in der Gemeinde eine Person von ein * 61
Bedeutung, der Fleischhauer hingegen kann ganz ungebildet sein, ist einfk
Handelsmann, oft verachtet, der niedrigste unter den Geschäftsleuten. ^
Man ist überrascht darüber, daß ein Schächter Tempeldienste versehen und
lehren soll. Es wäre sicherlich merkwürdig, wenn etwa der Vikar des Orte
in diesen beiden Eigenschaften auftreten würde. Der Schochet aber hat die
rituelle Tötung auszuführen, er ist unzweifelhaft der direkte Abkömmling des
Priesters, „der seine Hand soll legen auf des Ochsen Haupt und soll ihn töten
vor dem Herrn“. Ich will hier nicht weiter auf die Bedeutung der geheiligten
Tötung eingehen. Der Schächter hat, daran ist für mich kaum zu zweifeln 1
nach der jüdischen Tradition auf die Anerkennung als Priester größere An*
Sprüche als der Oberrabbiner selbst und die andern, die den Schächter an¬
stellen.
Die Frau des Träumers nun war die Tochter des verachtetsten Handels¬
mannes im Ort, des Fleischhauers, und diese Verachtung übertrug sich auch
auf sie. Der Träumer hatte weit unter seinem Rang geheiratet, aber mit ihr
die er haßte und verachtete, konnte er verkehren. Er verließ seine Frau nach
zwei Jahren und hatte seitdem in verschiedenen Ländern gelebt und im Krieg
gedient. Seit er seine Frau verlassen hatte, war er impotent, obwohl er in
verschiedenen Ländern mit Jüdinnen und Nichtjüdinnen zu verkehren versucht
hatte, auch Monate oder Jahre mit Frauen, die er liebte, zusammenlebte.
Kehren wir nun zur Hauptsache zurück: der Talith repräsentiert den
Vater und im besonderen den Penis des Vaters. Das Symbol des Hutes ist
bekannt. Die Orthodoxen legen die Kopfbedeckung — Kappe oder Hut _
niemals ab, und rationalisieren dies damit, daß man unerwartet ein Wort
der Heiligen Schrift gebrauchen könnte. Die wirkliche Erklärung aber findet
sich in der symbolischen Bedeutung des Hutes — kein kastrierter Mann
darf vor seinen Gefährten oder Vätern oder Gott erscheinen. Und tatsächlich
durfte niemand, der einen körperlichen Fehler hatte, Priester werden.
In anderen Träumen ist der Träumer äußerst beunruhigt darüber, daß er
seinen Talith nicht finden kann, oder er fürchtet, ihn nicht mitgenommen zu
haben, und man könnte ihn danach fragen. Diese Träume bedeuten im all¬
gemeinen, daß er ohne Talith kein vollständiger Mann sei. Seine Freunde
werden daraufkommen, daß seine Eigentümlichkeiten mit seiner Impotenz Zu¬
sammenhängen.
Eine Phantasie desselben Patienten: Ich möchte zu Ihnen kommen und auf
Ihrem Schoß sitzen, ich möchte Sie küssen und möchte Sie umarmen; ich wage
es nicht, zu Ihnen zu kommen, weil Sie mit dem Tefillin beten.
Frühe Erinnerungen rechtfertigen diese Angst; sein Vater war sehr fromm
und peinlich in der Erfüllung ritueller Pflichten; er durfte von niemandem,
nicht einmal von den geliebten Kindern, sagte der Patient, zu dieser Zeit gestört
werden, zum Unterschied von vielen, auch orthodoxen Juden, die vielleicht,
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
485
-Kreil sie sich wohler dabei fühlen als er, ganz gut auch während des Gebetes
durch Gebärden eine Unterhaltung führen können. Jede Annäherung des kleinen
Kindes wurde von der Mutter verhindert oder vom Vater gerügt, der mit dem
Tefdli n oder dem Talith 'gekleidet, eine strenge und gebietende Gestalt zu sein
schien. Wir wissen aus der Analyse, daß jede Veränderung in der Kleidung
des Erwachsenen ebenso wie in der Wohnungseinrichtung oder wie ein anderes
Zimmer auf das junge Kind tiefen Eindruck machten. So war für meinen Pa¬
tienten von frühester Kindheit an (als Säugling?) der strenge, aggressive Vater
mit dem Tefillin, der freundliche, gütige Vater aber mit der Abwesenheit von
Tefillin und Gebetsshawl verbunden; dieser Vater aber wurde wieder mit der
Mutter assoziiert, die niemals so gekleidet war. Wenn mein Patient eine sexuelle
Verbindung mit mir wünscht — auf meinem Schoß zu sitzen — meinen Penis
zu untersuchen — Verkehr mit Vater und Mutter —, verbietet ihm dies sein
Über-Ich, gewissermaßen im Namen des Vaters mit dem Tefillin, des ver¬
bietenden Vaters, und daher projiziert er die Tefillin auf meinen Kopf und
Arm. Ich bin einerseits die Mutter und der nachsichtige Vater, und gleich¬
zeitig der aggressive, verbietende, kastrierende Vater.
Das letzte rituelle Ornament, für das ich klinisches Material beibringe,
ist im folgenden dargestellt:
Mesusah-Traum.
Es war ein großes Haus , vielleicht ein italienisches Hotel, von wunderbaren
Gärten umgeben. Im Hintergrund kommt eine Prozession von Frauen ein tiefes ,
von Bäumen umschlossenes Tal herauf ein Bach fließt rauschend das Tal hinab.
Sie trugen helle Gewänder , vielleicht Nachthemden. Die Frauen waren in einem
großen Hof. Viele Männer waren dort mit schwarzen Bärten. Sie nahmen die
Mesusah herunter und trugen sie; ich nahm an , daß sie das Haus verlassen. Die
Männer tanzten mit den Mesushen in der Hand — ich sagte: „Oh, chassidimß
Die Männer und Frauen waren vermischt. Vielleicht tanzten sie zusammen oder
waren sie alle verrückt? Ich zu achte mit einem unangenehmen Gefühl auf.
Der Träumer, ein vierundzwanzigjähriger, in England geborener Jude, hatte alle
religiösen Gebräuche aufgegeben, war aber sehr abergläubisch. Den Abend vorher
hatte er in Gesellschaft von Braut, Mutter und Schwester La Boutique Fantastique
besucht. Sein Vater war tot, es gab aber im Haus ein Porträt von ihm, auf dem er
als junger Mann mit Bart dargestellt war. Nach seinem Tode war die Familie in
ein anderes Haus gezogen; in dem neuen Haus gab es keine Mesusah — vermut¬
lich hatte es im alten welche gegeben. Die bärtigen Männer stellten den Vater des
Patienten dar, der von chassidischer Abstammung war; er hielt seinen Penis
(Mesusah) in der Hand — eine Erlaubnis, zu masturbieren. Die Frauen waren
die, die mit dem Träumer bei dem Ballett gewesen waren, und erinnerten an
seine zahlreichen, kurz dauernden Liebesgeschichten. Er wußte, daß die Ver¬
lobung nicht weiterführen würde — war er doch jedes Mädchens nach dem
ersten Kuß oder der ersten Umarmung überdrüssig. Weitere Assoziationen führten
zur Erinnerung des Träumers an die Urszene; er schlief im Zimmer neben
M. D. Ede
486
den Eltern bei offenen Türen. Der chassidische Vater nahm alle Frauen
Mutter, Schwester, Bräute — der Träumer konnte keine bekommen.
Eine vollständige Analyse des Traumes würde die Schwierigkeiten im Leben
des Träumers aufdecken, ich berichte über diesen Traum hier nur wegen der
Mesusah, die das Genitale des Vaters bei der Urszene darstellt, wobei die Kassette
und ihr Inhalt das weibliche, die Form das männliche Genitale bedeuten _
ein weiterer Beweis für diese Verbindung in den religiösen Riten, auf die schon
Langer (siehe S. 495ff.) hingewiesen hat.
Diese Halluzinationen, Phantasien, Träume sind ein repräsentativer
Auszug aus dem klinischen Material, das ich vorwiegend in den letzten
acht Jahren sammeln konnte. Es stammt aus den Analysen männlicher
Patienten, die, im Osten Europas oder irgendwo anders, in Häusern, i n
welchen die jüdische Tradition gehalten wurde, aufwuchsen. In einigen
Fällen wurde die Analyse Jiddisch oder in einer Mischung von Jiddisch
und Deutsch geführt.
Ich habe kein Material von jüdischen Frauen hinzugefügt, weil dies das
Ergebnis, das ich hier darzulegen hoffe, noch weiter komplizieren würde.
Einige dieser Patienten hatten die traditionellen Bräuche fallen gelassen
andere hatten sie beibehalten, aber alle, sowohl die einen als auch natür¬
lich die anderen, hatten etwas an sich, das an ihre religiöse Erziehung er¬
innerte. In manchen Fällen äußerte sich dieses Etwas in einer so auf¬
fallenden Trivialität wie in der Ablehnung jeder nichtjüdischen Speise, dabei
verbunden mit heftigen Anklagen gegen den jüdischen Glauben und den
rituellen Aberglauben. Die Beibehaltung oder Aufgabe des orthodoxen
Glaubens und der Gebräuche zeigte sich natürlich in der ganzen Per¬
sönlichkeit, in der Neurosenwahl und den Symptomen des Individuums;
hier aber ist dies nicht von Bedeutung.
Durch Verdichtung, wie wir sie gewohnt sind, stellen die Phylakterien
den aggressiven oder kastrierenden Vater, die versagende Mutter und den
elterlichen Verkehr dar, der Analytiker hingegen ist entweder ein Teil der
Phylakterien oder er repräsentiert den helfenden, freundlichen Vater, die
Mutter und verteidigt den Patienten (Sohn) gegen die bösen Eltern in den
Phylakterien. Wenn der Patient die Phylakterien, Taleth oder Mesusah, zu
küssen wünscht, so hat er dazu ambivalente Wünsche als Motive.
So weit ich es aus der Beziehung der Patienten zu mir (der als Träger
der Phylakterien oder des Talith phantasiert wurde), verstehen konnte, stellt
das Küssen der Ornamente verschiedene Stadien der Entwicklung dar, die
sich mit der analytischen Situation verändern. Mit dem Kuß bietet der
Patient dem Phylakterium (der Vater-Imago) seine Liebe an; machmal ver-
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
spürt er dabei erotische Sensationen und sogar Erektionen. Der Kuß ist ver¬
söhnend, der Patient versucht damit die Angst, die von der Urszene her-
stammt, zu beschwichtigen. Er überliefert sich damit den Phylakterien,
die die Eltern - Imagines 'repräsentieren. Oft ist auch der Analytiker von
den Phylakterien getrennt und spielt dann die Rolle des Vermittlers zwischen
diesen Geräten (den Imagines) und den Eltern. Der Analytiker ist ein
wohlwollender Vater; oft werden ihm die Attribute und Funktionen des
Priesters beigegeben. Der Kuß kann eine Aggression auf die Phyläiklerien
verhüllen — so in der oral-sadistischen Phase —, was in der Praxis
von den kannibalistischen Wünschen gewöhnlich nicht zu unterscheiden
ist. Die erwähnten Patienten schrieben die Aggression den Phylakterien
(der Vater-Imago) zu, der Analytiker wurde dann mit dem Ich des Patienten
identifiziert; oder der mit Tefillin versehene Analytiker war der Aggressive
(Analytiker und Tefillin waren dann eins). Es war bei diesem Patienten
häufig, daß er sich vorstellte, wie er sich gegen den aggressiven oder sadisti¬
schen Vater 1 (Phylakterien) verteidigte.
Es mag den Anschein erwecken, als wäre die analytische Situation
der Analytiker trägt die Pylakterien, und ist durch sie mit freundlichen oder
feindlichen Attributen ausgestattet; der Analytiker ist aber gleichzeitig von
dem Analytiker mit Pylakterien getrennt — als wäre diese Situation viel
komplizierter als in dem Fall, in dem der Jude das religiöse Zeremoniell
ausführt. Aber mein Material — das allerdings nicht endgültig ist — läßt
mich glauben, daß das Ritual mit denselben Komplikationen belastet sein
könnte. Mein Material sind die Erinnerungen der Patienten — einige hievon
wurden angeführt — an Beobachtungen ihrer Väter und Brüder beim Gebet
und Erinnerungen an Angst und Panik bei der Wiederholung ihrer Gebete.
Im allgemeinen wird natürlich diese Angst verschoben und durch Gescheh¬
nisse des täglichen Lebens rationalisiert.
E) Ich habe bisher eine allgemeine Beschreibung und eine interpretierte
Darstellung der jüdischen Zeremonielle mit einigen klinischen Beobach¬
tungen gegeben und lege nun gewisse psychoanalytische Theorien vor.
In einem Kommentar zu Reik „Das Ritual macht Abraham (21) auf
die Bedeutung der Priestergebärde, die ich erwähnte (S. 478f.), aufmerksam
und darauf, daß sich die Priester vollständig mit dem Talith verhüllen. Er
versteht die Stellung der Hand als Darstellung des spalthufigen Tieres, des
1) In einer unveröffentlichten Mitteilung in der PsA. Gesellschaft in London am 6. Ok¬
tober 1929 sprach ich über die klinischen und historischen Aspekte der „feindlichen
Einstellung des Vaters zum Sohn“.
488 M. D. Eder
Widders, der eines von den wenigen vierfüßigen Tieren ist, die se
werden dürfen. (Leviticus XI, 26.)
Abraham zeigt, daß Ochs und Widder Totemtiere sind und weist auf j-
merkwürdige Tatsache hin, daß gerade die Tiere, die auch als die einzi e
vierfüßigen Opfertiere bezeichnet werden, gegessen werden dürfen. wf*
wir uns daran erinnern“, setzt er fort, daß in vielen Kulten die feierlich stT
Feste die sind, bei welchen die Priester sich mit der Haut der Totem F ^
bedecken und ihre Stellung nachahmen, dann zwingt sich einem folgender
Schluß auf: Im Priestersegen ahmen die Priester (Kohenim) durch die Ge¬
bärde der getrennten Finger die gespaltenen Hufe des Totemtieres (des
Widders) nach. Der Gebetsshawl aus weißer Wolle ist der Ersatz für das
Widderfell. Die Priester sind in der Zeremonie gleichgestellt mit dem Tote
und daher mit Gott (3). 1
Frieda Fromm-Reichmann (22) meint, die Annahme, daß ein gehörntes
Tier ursprünglich das Totem der Juden gewesen sei, werde durch den Ge
brauch der Phylakterien erhärtet. Sie behauptet, daß die Lederstreifen das Fell
des Tieres, mit dem sich die betende Person bedeckt, darstellen. Die Kassette
inmitten der Stirn stehe für das eine Horn des Tieres, und nur durch
eine einfache Verschiebung sei die andere Kassette, d. h. das zweite Horn,
von der Stirn auf den Oberarm gekommen. Sie meint, „die vollkommene
Identifizierung mit dem Tiere, durch die Bekleidung mit Fell und Hörnern,
könne sich nur auf das Totemtier beziehen und bestätige die Hypothese,
daß gehörnte Tiere ursprünglich die Totemtiere der Juden waren“.
Marie Bonaparte (23) hat in ihrer Arbeit über die Kopftrophäen ge¬
zeigt, daß das Horn das Symbol des kastrierten, männlichen Genitales ist.
Beik geht von dem Vorwurf aus, den man den Pharisäern wegen der Breite
ihrer Phylakterien macht, und schließt dann, nach sehr genauer Prüfung
der Literatur, daß der Gebetsshawl Ersatz für das Widderfell sei und daß
die Phylakterien eine vollständige Identifizierung mit dem Totem durch
Haut und Hörner ermöglichen.
Auszug aus Th. Reiks Arbeit: „Gebetsmantel und Gebetsriemen der Juden \
(Imago XVI , 1930, pp. 388—434).
Reik beschreibt zuerst den Gebrauch von Tefillin und Talith in alter und
neuer Zeit, und geht dann auf ihre relig iöse Bedeutung ein. Die religiöse
1) Der Faden aus gefärbter Wolle — hebräisch techeleth, — der in den Fransen sein soll,
' Vir ersetzt mit „Purpurblau“. Die genaue Nuance der Farbe soll unbekannt sein, und
der farbige Faden wurde aus einem pseudo-rationalen Grund aufgegeben. Die Schnecke,
von der man den Purpur gewann, wurde selten und die Farbe zu teuer. Purpur ist
im Ubw — ein Ersatz für Rot — die Farbe des Blutes, d. h. des Opfertieres (des Totems).
Die jüdischen Gebe^sriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
Literatur bietet einen verwirrenden Reichtum von Vorschriften, die den magi¬
schen Charakter der Tefillin zeigen. Die Erklärungen der Fachgelehrten sind
oft recht einleuchtend aber für gewöhnlich nicht ausreichend.
Gottlieb Klein (24) meint, die Tefillin oder Totaphot des alten Testaments
wurden als physische Verstümmelungen angesehen, als Brandmal auf der Stirn
des erstgeborenen Sohnes, den man ursprünglich beim Passahfest Gott dar¬
brachte. Dies sei später vollkommen in Vergessenheit geraten, und man habe
den Text dann so gelesen, als handle es sich um Amulette. Reik ist der Meinung,
daß Klein, obwohl seine Theorie etwas Wahres enthalte, doch auf einem
Irrweg sei. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das Totaphot ursprünglich eine
andere Bedeutung hatte und daß es erst später als Amulett angesehen wurde,
aber zwischen der ursprünglichen und der späteren Bedeutung muß irgendeine
Verbindung bestehen; es genügt nicht zu schließen, die ursprüngliche Bedeu¬
tung sei eben verlorengegangen. Die körperliche Verstümmelung paßt weder
zur Form noch zur Beschaffenheit der Tefillin.
Bernhard Strade (25) folgt derselben Spur; er versucht eine Verbindung
zwischen dem Kainszeichen — einer primitiven Tätowierung — und dem
Gebrauch der Tefillin zu finden.
Insofern als diese Theorie den Charakter der Tefillin als Ritualzeichen betont,
ist sie befriedigender als die von Klein; aber sie erklärt nicht, wieso diese
Tätowierung gerade in ein System von Kassetten und Riemen verwandelt wurde,
und trägt nichts dazu bei, um die besondere Bedeutung oder das besondere
Ritual der Tefillin zu erklären.
Auch Baentsch (26) sieht die Totaphot als Amulett an; als ein altes Täto¬
wierungskultzeichen, ein Amulett, das sich zu den Tefillin entwickelt hat. Hol-
zinger (27) betrachtet es ebenfalls als ein tätowiertes Jahve-Zeichen. Well hausen
(28) versteht das Totaphot auch als Amulett am Stirnriemen. Robertson Smith
(29) meint, „die Phylakterien sind Überreste von altem Aberglauben, und ihr
Gebrauch während des Gebetes kann als das genommen werden, was der Aber¬
glaube war: sie sind ein Zubehör, um das Gebet wirkungsvoller zu machen“.
Anhänger dieser Amulettheorie sind Grün bäum (30), Blau (31), Bousset (32),
Emil Schürer (33) und viel andere Autoritäten. 1
„Es scheint immer klarer“, sagt Reik, „daß die höhere Kritik glaubt, sie
werde das Problem lösen, wenn sie sage, die Tefillin seien Amulette, Mas¬
kotten usw., die Gelehrten hören eine Kritik dieser Theorie nur ungeduldig
an. M. Friedländer (34) z. B. hält die Tefillin nicht für jüdischen Ursprungs,
sondern für ein gnostisches Zeichen der Schlange. Diese gnostischen Zeichen
durchdrangen die jüdischen Massen, und da man sie nicht unterdrücken konnte,
sanktionierte man sie schließlich. Reik meint, dieser Gesichtspunkt enthalte
unter vielen Irrtümem einen Funken Wahrheit.
Emil G. Hirsch (35), Eduard Mack (36) und A. R. S. Kennedy (37) sind
der Meinung, daß man die biblischen Behelfe metaphorisch verstehen müsse. 2
Obwohl der Talmud behauptet, daß Gott auf dem Berg Sinai Moses den Ge¬
il Vgl. S. 477.
2) Vgl. S. 478.
brauch der Tefillin gelehrt habe, gab es doch in den letzten Jahren v * )
Diskussionen darüber, zu welcher Zeit sie wohl eingeführt worden seien 6
Wünsche (38) meint, es sei in der Zeit vor Christus gewesen. Klein (
hält sie für persischen Ursprungs. Kennedy (40) verlegt sie aus sprach wissen
schaftlichen Gründen in die Zeit von 300 v. Chr. Josephus (41)
seine Zeitgenossen betrachteten sie als eine alte Einrichtung. Wenn es auch
unbestimmt ist, wann die Juden begonnen haben, Tefillin zu gebrauchen so
liefert die Mischnah doch reichliche Informationen über die Zeit nach Christi
Geburt. Im achten und zehnten Jahrhundert n. Chr. (42) wurden die Tefillin
kaum geschätzt. Das Tragen des Tsitsith wurde allgemein als eine alte Sitte
anerkannt. Ähnliche Kultgeräte waren auch bei anderen Völkern — Persern
Babyloniern — in Gebrauch. Kennedy (43) sieht die Fransen als ursprüngliches
Amulett an. Die Fransen wie die Gebetsriemen bezeichneten ursprünglich
Phylakterien oder Amulette. Robertson Smiths (44) Hypothese geht dahin
daß den alten Semiten das Fell bestimmter Tiere heilig war (wir haben schon
einmal darauf hingewiesen (S. 478); Reik schätzt diese Hypothese höher ein
als die Gesichtspunkte der Archäologen und anderer Kritiker: „Sein Hinweis ist
von entscheidender Bedeutung, aber seine Erklärungen zu allgemein, als daß
sie das Rätsel des Tsitsith lösen könnten.“ Anschließend an den biblischen Befehl
— Exodus XIII, 9 — „und es soll sein zum Zeichen unter euch“ usw. stehen
ohne sichtliche Verbindung Abschnitte über das Fest desMazzes und über die Weihe
des Erstgeborenen. Es ist schwer, das verbindende Glied hier zu sehen. Viele
Kommentatoren stimmen mit Kennedy (45) überein: „das Fest des Mazzes und
die Weihe des Erstgeborenen sollen an die Befreiung aus Ägypten erinnern und
auf die Ansprüche, die Jahve daher auf sie habe“, und er kommt zu dem Schluß,
den ich schon erwähnte, nämlich, daß die Tefillin eine symbolische Erinnerung
an diese Ansprüche sind. Nach einer exegetischen und philologischen Kritik
schließt Reik, daß die Weihe des Erstgeborenen etwas mit einem mysteriösen
Zeichen, das an drei Stellen bei dem Wort Totaphot vorkommt, zu tun habe.
Die Bedeutung dieses Wortes ist unbekannt, seine Wurzel bedeutete ursprünglich
sicher „herumkommen, herumlaufen“.
Reik findet die Stellungnahme schwierig. Einerseits behauptet die religiöse
Tradition, daß die Tefillin als Erinnerungszeichen benützt werden müssen; daß
Gott sie Moses auf dem Berg Sinai gegeben hat und daß sie daher von höchster
religiöser Bedeutung sind. Es ist nicht bekannt, woran sie erinnern sollen, man
glaubt nicht, daß Gott sie in dieser Form dem Moses befohlen habe, und man
versteht nicht, worin die Bedeutung bei einer Kombination von Lederkassetten
und Lederriemen liegen könnte. Entgegen der Tradition behaupten einige
Kommentatoren des Alten Testaments, es sei eine späte Erfindung, die nichts
mit der ursprünglichen Religion Israels zu tun habe. Eine Stelle der Bibel, die
rein metaphorisch aufzufassen sei, sei viele Jahrhunderte später wörtlich über¬
setzt worden und habe so zu Mißverständnissen geführt. Die Tefillin sind
Amulette, die die bösen Geister fernhalten sollen. Die traditionelle Anschauung
scheint absurd, während die Theorien der Kommentatoren, wenn auch nicht
frei von Widersprüchen, doch logisch und vernünftig aussehen. Eine vernunft¬
gemäße Wahl böte keine Schwierigkeiten, und doch sträubt sich etwas, diese
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
4i
vernünftigen Erklärungen anzunehmen, und zwar ihre unübersehbaren Wider¬
liche miteinander, die durch keine vernünftigen Erwägungen zu beseitigen sind.
Reik schlägt einen neuen Weg — die Psychoanalyse — zur Lösung dieser
Rätsel vor; sie soll aber als eine heuristische Methode verwendet werden, ohne
Verwendung irgendwelcher, von der Psychopathologie der Neurosen abgeleiteten
psychoanalytischen Voraussetzungen.
Der neue Ausgangspunkt für seine analytischen Forschungen ist ein Buch
von Johannes Lund (46), 1701 gedruckt, über alte, jüdische Reliquien usw., mit
einer genauen Beschreibung des jüdischen Rituals und einem besonderen Ab¬
schnitt über Tefillin. Die Pergamentrollen, bemerkt der Autor, die die Bibel-
verse enthalten, sind mit dem Schwanzhaar einer Kuh oder eines Kalbes zu-
sammengebunden; die Haare müssen gutgewachsen und gereinigt, „purifiziert“,
sein. Sie werden nicht zusammengebunden, sondern mit den Fingern zusammen¬
gedreht, ein Haar bleibt außerhalb, so daß es von außen sichtbar ist. Lund
bemerkte, daß aus den Tefillin eines bestimmten Rabbi ein rotes Haar ein¬
einhalb Fingerlängen heraushing. Er entdeckte, daß dies zur Erinnerung an
die rote Kuh war; sie flehten zu Gott, er möge sie von ihren Sünden reinigen,
wie die rote Kuh, die ihre Sünden getragen und sie davon gereinigt hatte —
dies erinnerte den Frommen an das Goldene Kalb, zu dem sie in der Wüste
gebetet hatten.
Es ist kein weiter Sprung, wenn man von diesem Kuhhaar schließt, daß
die Kopf-Tefillin etwas mit einem Kleidungsstück zu tun habe. Reiks Hypothese
ist, daß die Kopf-Tefillin der Rest eines Kleidungsstückes seien, das die Israeliten
bei bestimmter Gelegenheit trugen. Die Hand-Tefillin und die Lederriemen,
Tsitsith und Talith, repräsentieren ebenfalls primitive Gebräuche. Die Hand-
Tefillin stehen für die Hufe des Tieres, die Riemen für seine Haut. Die vier
Fransen weisen auf die vier Beine des Tieres hin. Die Knoten in den Quasten
stehen an Stelle der Gelenke. Ursprünglich hingen die Fransen bis auf den Boden
hinab; dies ist ein weiterer Beweis für ihre Ähnlichkeit mit den Tier¬
füßen.
Anthropologische Forschungen haben uns gezeigt, daß die meisten primitiven
Völker derartige Kleidung zu magischen Zwecken benützen. Ich habe schon
die Arbeiten von Frazer (47), Levis und Clarke (48), Robertson Smith (49),
Spencer und Gillin (50) erwähnt. W. Robertson Smith hat gezeigt, daß der
Haut des Opfertieres bei den Semiten ein besonders heiliger Charakter zukam.
Es war die Kleidung des Götzen oder des heiligen Steines und auch das Gewand
der Gläubigen. Gott, seine Gläubigen und das Opfertier waren verwandt. Smith
fügt hinzu, daß die Riemen den Fransen am Tsitsith entsprechen. Die assyri¬
schen Dagon-Verehrer brachten ihr Opfer dem Fisch-Gott in eine Fischhaut
gewickelt dar; die Zypern trugen ein Schaffell, wenn sie der Göttin der Schafe
ein Schaf zum Opfer brachten. Wie andere Völker auch, kleideten sich die
Hebräer in das Fell ihres Totemtieres — Widder oder Stier — und identifizierten
sich auf diese Weise mit dem heiligen Tier. Ursprünglich gebrauchte man das
ganze Fell, allmählich aber, sowie der Totemismus an Bedeutung verlor und
auch unter dem Einfluß anderer Elemente, fanden die großen Veränderungen,
die zu den späteren Tefillin führten, statt. Das ursprünglich wichtigste Element
— das Totemtier — wurde allmählich auf ein Minimum reduziert und schließ]*
in dem Haar, das außen hing, nur gerade angedeutet.
Der Wechsel ist graduell verschieden; nur gewisse Teile des Felles werd
dazu benützt, die Identifizierung mit dem Totemtier herzustellen. Was früh 60
von höchster Bedeutung war, ist nun auf ein Minimum reduziert; was früh**
sehr wichtig war, wird jetzt nur angedeutet. An Stelle der natürlichen Teil**
des Tieres — sagen wir der Hörner des Ochsen — ist nun künstlicher Ers 6
getreten. Die Verwandtschaft mit dem alten Zeichen wird nur durch die Äh^ ?
lichkeit in Material und Form gezeigt. Ihr heiliger Charakter und ihre V e r
Wendung im Ritus und Kult wird insofern gezeigt, als sie ihre alten Funktio ^
beibehalten. nen
Wenn die Tefillin später den Charakter von Amulett oder Zauber bekamen
so war dies dadurch möglich, daß sie ja den lebendigen Gott selbst — durch
seinen Stellvertreter, das Totemtier — darstellten. Obwohl sie im intellektuellen
Judentum von heute nur mehr symbolischen Wert haben mögen, zeigt doch
die analytische Forschung, daß der fromme Jude dem Fühlen und Denken
seiner Ahnen nähersteht als die pseudo-wissenschaftlichen Forscher, die höhere
Kritik, es jemals vermöchten.
Reik überlegt gewisse Einwände, die man gegen seine Hypothese machen
könnte. So hat er z. B. angenommen, daß der Talith den Rest des heiligen
Widderfelles darstelle. Das Tsitsith deutete die vier Beine des Tieres an, die
Fransen und Knoten die Muskeln und Glieder desselben Tieres. Dem Einwand
daß die Fäden wegen ihrer Stellung nicht den Füßen des Tieres gleichgestellt
werden könnten, begegnet er damit, daß er daran erinnert, daß die Kürze
des Talith einer späteren Entwicklungsphase angehört. Ursprünglich war es ein
langes Gewand; Lund sagt, daß die Fransen der Rabbis bis zum Boden reichten.
Die Tefillin, ursprünglich ein Stück des Gottes selbst, wurden zum Amulett,
d. h. wer immer so einen Teil des Gottes an sich trägt, steht unter seinem
besonderen Schutz. Diese Bedeutung ist natürlich von der Idee abgeleitet, daß
der Träger der Tefillin ursprünglich selbst zu Gott wurde und die Götter brauchen
keine Amulette. Der ursprüngliche Sinn wird wieder erkennbar, wenn z. B.
die religiöse Tradition behauptet, daß die Verschlingung der Riemen der Kopf-
Tefillin, die Buchstaben des Namens Gottes bilden. Zeigt sich nicht die ursprüng¬
liche Natur der Tsitsith in der mystischen Erklärung vom Werte der Zahlen!
das Ganze gibt gleichzeitig Jahve allein und gleichzeitig die Zahl der religiösen
Befehle? Die Identifizierung des Gläubigen mit dem Gott, dessen Kleidung er
trägt, ist wirklich primitive Religion, der wesentliche Befehl. Der Herr selbst
trug Tefillin, wenn wir sie verstehen als das Horn, das ursprünglich das heilige
Tier schmückte. Die Erklärung des Talmud über eine Prophezeiung, daß die
Völker der Erde, vor Israel erschrecken würden, bezieht sich darauf, daß die
Völker die Kopf-Tefillin fürchten würden; sicher eine Anspielung auf seine ur¬
sprüngliche Bedeutung, das Totem des Stammes auf dem Kopf. Den Einwand, daß
der Talith aus Wolle hergestellt ist und daher Widder oder Schaf darstellt aber
nicht das Rind, widerlegt er leicht damit, daß er daran erinnert, daß in vielen
Stämmen ein Totemtier für ein anderes eingesetzt wurde, und daß häufig beide
Tiere lange Zeit hindurch nebeneinander verehrt wurden.
Reik kehrt nun zu seinem Ausgangspunkt zurück und weist darauf hin, daß
die Pharisäer, indem sie breite Phylakterien und breite Riemen trugen, die
Zeichen des lebendigen Gottes vorzeigten.
Der religiöse Gebrauch rechtfertigt die Richtung, die eingeschlagen wurde,
der Befehl, die Tefillin zu küssen, erinnert daran, daß die alten Semiten ihre
religiösen Symbole und Idole mit Küssen bedeckten; ihre heiligen Steine,
Bäume usw. waren ursprünglich die Götter selbst. Wenn der Israelit das Tsitsith
küßt, so führt er damit dieselbe ehrfürchtige Handlung aus, wie der Araber,
der die Kaaba küßt, oder der fromme Katholik, der den Fuß des Papstes zu
küssen pflegte. Man könnte verlangen, daß man den Talith als den Ursprung
jenes heiligen Gewandstückes ansieht, dessen sich die Katholiken bei der Buße
bedienen des Skapulars. Das Tragen des Skapulars ist mit ebensovielen Riten
verbunden wie das Tragen des Talith. Kleins Anschauung, daß die Gebote über
die Tefillin mit anderen Vorschriften in Verbindung stehen, ordnet sich nun,
meint Reik, in seine eigene Hypothese ein.
Es muß von Bedeutung sein, daß das Ritual in Verbindung mit dem sehr
alten Passahfest erwähnt wird und daß der Vater dem Sohn auf seine Frage
antwortet, die Tefillin seien ein Zeichen oder Gedächtnis. Die archaische Natur
dieses Festes ist gut bewiesen, der Befehl, das Osterlamm roh zu essen, weist
auf eine frühere Sitte hin: auf das Verzehren des noch blutenden und zitternden
Fleisches. Ebenso primitiv ist das Besprengen der Türpfosten mit Blut, eine
alte nomadische Sitte, die Warnung, etwas von dem Opfertier für den nächsten
Tag zum Gebrauch übrigzulassen. Zweifellos war das geschlachtete Tier ur¬
sprünglich der geopferte Gott selbst; nun verstehen wir, warum die Vorschriften
über die Tefillin, die von dem Fell des Tieres stammen, mit der großen Totem-
mahlzeit verbunden sind. Das offensichtlich unbedeutende „Es“, des Exodus XIII, 9,
bezog sich ursprünglich auf das göttliche Fell und nicht auf die Vorschrift, die
einer späteren Zeit angehört.
Auszug- aus Georg Langers Arbeit: „Die jüdischen Gebetsriemen . 66
(Imago XVI, I 9 jO, pp. 43S—48;J
Langer beginnt seine Arbeit mit einer sehr detaillierten Beschreibung der
Tefillin (Riemen und Kassette) und ihrem rituellen Gebrauch; das meiste davon
wurde bereits auf Seite 474 ff. gesagt, ich will aber noch weiteres, beschreibendes
Material von Langer auszugsweise wiedergeben.
Beide Kassetten sind kubisch; bei den Westjuden sind sie ziemlich klein,
bei den Ostjuden hingegen viel größer. Sie müssen aus der Haut eines „reinen“
Tieres gemacht werden. Jeder Behälter, der zum Tragen der Tefillin benützt
wird, darf nicht für gewöhnliche Zwecke gebraucht werden. In früheren Zeiten
— und gelegentlich sogar heute — trugen die Frommen und Gelehrten die Tefillin
den ganzen Tag, und legten sie nur vor dem Schlafen, beim Essen und bei
Verrichtung der körperlichen Bedürfnisse ab. Dieser ständige Gebrauch ver¬
ursachte in vielen Fällen schwere Armlähmungen. Ein Linkshänder legt die
Tefillin an den rechten Arm, da sie nach der Thoravorschrift, an das schwächere
Glied gelegt werden sollen. Wenn ein Familienmitglied stirbt, dürfen die männ-
liehen Verwandten erst nach dem Begräbnis wieder Tefillin anlegen. Ein Bräutigam
und seine Hochzeitsgesellschaft sind vom Tefillinlegen befreit, da man fürchtet
sie könnten unpassend fröhlich sein. Sollte eine Frau den Wunsch äußern'
Tefillin zu legen, so muß man sie daran hindern. Dennoch erzählt die Tradition
von einigen besonders frommen „wirklichen“ Frauen, denen man in biblischen
Zeiten die Tefillin zu legen erlaubte. Der Befehl über das Legen der Tefillin
wird für so wichtig gehalten, daß man ihn allein allen übrigen sechshundert
dreizehn Gesetzen der Thora gleichstellt. Nach Gebrauch müssen die Riemen
sorgfältig aufgerollt und in einer Tasche auf bewahrt werden. Wer die Tefillin
zu Boden fallen läßt, bevor sie in der Tasche sind, muß fasten. Die Kassette
wird beim Anlegen und Ablegen der Tefillin geküßt. Gott trägt nach dem
Talmud Tefillin.
Die beiden Teile der Phylakterien, die Kassetten mit dem Text auf Pergament
und die Lederriemen, verlangen getrennte Behandlung. Das Binden der Riemen
erinnert uns beim ersten Blick an eine Fesselung, eine Selbstfesselung im wahrsten
Sinn des Wortes. Ein solcher Gesichtspunkt steht im vollsten Widerspruch zu
den Prinzipien der jüdischen Religion, die einen gesunden Zustand aller Körper¬
organe verlangt. Der Ursprung für eine solche Fesselung muß in irgendeinem
unterdrückten Wunsche liegen, etwas anderes als den harmlosen linken Ober¬
arm zu schädigen. Die Psychoanalyse erkennt die Fesselung als Symbol der
Kastration, in diesem Falle der Selbstkastration. Dies stimmt mit dem Zweck
der Tefillin überein, der der jüdischen Tradition nach darin besteht, die
Menschen vor der Sünde zu warnen. Die Kastration ist der beste Schutz vor
Sünde. Die Riemen haben auch im allgemeinen eine positiv erotische Bedeutung.
Bei dem alten römischen Fest der Luperkalien z. B. schlugen die in Ziegen¬
felle gekleideten Luperci die anwesenden Frauen mit Riemen aus Ziegenhaut,
damit sie schwanger werden (51). In Mythos und Sage ist das Leder ein Symbol
für Todes- oder Kastrationswünsche (52), aber es hat gleichzeitig eine erotische
Bedeutung; die letztere ist zum Teil wohl dadurch begründet, daß frisches Leder
eine sexuelle Wirkung auf den Geruchsinn ausübt (55), eine Empfindung, die
wir von jüdischen Knaben in der Pubertät erfahren können, die freudig in
der Dämmerung aufstehen, um Tefillin zu legen, die, für gewöhnlich neu, den
scharfen Geruch von Leder haben.
Im alten China waren zwei Häute ein Teil des vorschriftsmäßigen Heirats¬
geschenkes (54). Bei dem ekstatischen Zerreißen oder Opfern der dionysischen
Tiere, bei den orgiastisch-bacchischen Mänadenfesten, endet die Kleidung mit
Häuten (55). Das Vater-Opfertier wird kastriert, und der Mystiker, deutlich
in der Identifizierung mit ersterem, kleidet sich in seine Haut. Bei dem Fest
des Dionysos waren die Spieler im Mittelteil des Satyrspieles mit Schürzen
aus Ziegenfell und Phallus bekleidet (56). Diese alten Sitten müssen, was be¬
sonders bei dem letzten Beispiel klar wird, einen ähnlichen Inhalt haben, wie
bei den von Zulliger beschriebenen „Roichtschäggeten“ im Lötschental mit
ihren Ziegenfellmasken (57).
Frieda Fromm Reichmanns (58) Erklärung, daß die Tefillin eine zeremonielle
Identifizierung mit dem Vater-Totem-Tier sind, wird zwar durch unser Material
bestätigt; dennoch aber darf man nicht meinen, daß durch diese Hypothese das
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
4 9 5
ganze Tefillin-Problem gelöst sei. Dieses Material bringt uns zwei wichtige
Erwägungen nahe, die nur unzulänglich beachtet wurden; die Tefillin-Fesselung
als Kastrationsersatz (Selbstkastration und Kastration des Vaters) und die Tefillin
m it ihrem ambivalenten Janusgesicht von Leben und Tod.
J. Schuster (59) behandelt die Gewohnheit der männlichen Algolagnien,
lange Handschuhe sowie Schnüre um den Kopf zu tragen, und schließt dann,
Handschuhe seien in gewissem Sinn Fesseln, in die die Hände eingehüllt seien. Die
Handriemen der Phylakterien erfüllen eine ähnliche Funktion wie die Hand¬
schuhe bei der Algolagnie, während die Riemen der Kopf-Phylakterien mit
diesen Kopfschnüren übereinstimmen. Die Fesselung als Kastrationssymbol be¬
friedigt die masochistische Komponente des Trieblebens, in dem Gott, als Sexual¬
objekt, sadistische Tendenzen zugeschrieben werden. Das Hauptgewicht dieses
Problems liegt aber nicht bei den Riemen, sondern eher bei den Kassetten.
Kassetten (oft von auffallend phallischem Aussehen), die dem Kopf-Totaphot über¬
raschend ähnlich sehen, finden sich bei afrikanischen Negern, besonders auf den
Masken. An derselben Stelle, wo der Jude die Kassette an dem Kopf befestigt,
nämlich mitten im Haar über der Stirn — der jüdischen Tradition gegen den
Pentateuch folgend — hat die Negermaske einen kubischen, leeren Körper
ohne geschriebenen Inhalt (60). Indianische Götterköpfe tragen ein kleines Horn,
offensichtlich desselben Ursprungs, auf der Stirn. Bieber (61) gibt Illustrationen
des Kopf-Phallus der abessinischen Neger. Bei den Negern wird der Kopf-Phallus
oft durch eine Stirntätowierung ersetzt. Es gibt sowohl runde als auch modi¬
fiziert viereckige Tätowierungen. Solche Tätowierungszeichen stimmen mit Bibel-
versen überein, denen zufolge die Kassette über der Nase, d. h. zwischen den
Augen befestigt werden soll. Es gibt Negermasken aus der biblischen Zeit, die
mit den charakteristischen Rundzeichnungen geschmückt sind.
Diese Art der Tätowierungen erinnert teilweise an das israelitische Korhah,
das im Deuteronomium XIV, 1, erwähnt ist. Reik (62) erkennt die Verbindung
zwischen dem Korhah und dem jüdischen Kopf-Tefillin; der Talmud scheint
die Verbindung der Tefillin mit Afrika geahnt zu haben.
Die ägyptischen Könige (63) trugen die magischen Schlangen-Haar-Omamente
an derselben Stelle, wie die Juden ihre Kopf-Tefillin und die Neger ihre Kopf-
Phallusse. Die Römer ersetzten den Phallus durch ein symbolisches Horn (64).
In früheren talmudistischen Zeiten waren die Totaphot entweder kubisch oder
zylindrisch. Die zylindrische Form wurde erst später durch die kubische ganz
ersetzt. Der Talmud beschreibt die runde Form des Totaphot als gefährlich.
Die Gefahr bestand sichtlich eher darin, etwas zu glauben, als in etwas Physi¬
schem. An anderen Stellen des Talmud wird die kubische Form der Kopf¬
kassette, als die einzig richtige bezeichnet. So wurde sie wörtlich Moses auf
dem Berge Sinai angegeben, die wörtlichen Befehle Gottes bedürfen aber keiner
weiteren Erklärung. Die „Gefahr“, die die Mischnah fürchtet, war nur in dem
Fall da, wenn nämlich das runde Totaphot die Gestalt einer Nuß hatte. Die
Nuß, die oft in alten Gräbern gefunden wurde, war dem Mond geweiht (65);
ihre Verwendung beim Kult kann bis in die moderne Zeit herauf verfolgt
werden. Die Nuß hat eine nahe Verbindung mit Hochzeits- und Geburtsfesten,
sie ist mehr ein Symbol des Mutterleibes.
Der Ersatz der ursprünglich zylindrischen Form des Totaphot durch die
kubische „Haus“-Form (ähnlich auch bei den Negern) hat eine tiefere Bedeutung
Das Haus ist ein weibliches Genitalsymbol. In der Bildung des Symbols zeigt sich
deutlich eine Tendenz zur Verheimlichung der symbolischen Form; die auffallende
Erscheinung der allzu deutlichen phallischen Form wird durch die Verbindung mit
einem weiblichen Symbol gemildert, was aber gleichzeitig den Koitus symbolisiert
In einem Artikel über die Funktion der Türpfostenrolle (65) gab Langer mehrere
Beispiele für die Verwandlung der männlichen Kleidung in weibliche und verband
dies mit dem Wechsel des sozialen Systems, von der Gynarchie zur Patriarchie
Malinowski erkennt dieses Problem, wenn er feststellt, „welcher Natur ist
der Einfluß des Kernkomplexes auf die Bildung von Mythus, Legende und
Märchen; auf gewisse Typen wilder und barbarischer Sitten, Formen der sozialen
Organisation und Errungenschaften der materiellen Kultur? Dieses Problem
wurde von psychoanalytischen Schriftstellern, die ihre Prinzipien auf das Studium
von Mythus, Religion und Kultur angewendet haben, klar erkannt. Aber die
Theorie, wie der soziale Mechanismus, Kultur und Gesellschaft, durch die Kräfte
des Kernkomplexes beeinflußt wurden, wurde nicht herausgearbeitet. Die meisten
Anschauungen, die sich mit diesen zwei Problemen befassen, bedürfen einer voll¬
ständigen Revision vom soziologischen Gesichtspunkte aus“ (67). Langer nimmt
dies mit einer gewissen Zurückhaltung an.
Dieser Wechsel des Gewandes spielt bei den phylakterischen Problemen eine
bedeutende Rolle, und Langer zählt eine Reihe solcher Fälle auf, bei den Ägyptern,
Juden (6 8) und Moslem (6 g), Nandi und anderen hamitischen Rassen (70), indianische
Mädchen im Südwesten Nordamerikas (71), aus den Reisebeschreibungen von Leo
Frobenius. Von diesen Beobachtungen, die seine eigenen Arbeiten bestätigen,
schließt Langer, daß die Tendenz zum Transvestitismus bei der religiösen Symbol¬
bildung einen ständigen Wunsch des Unbewußten verrät. Die peinliche Dar¬
stellung der Vaterfigur wird durch die Hinzufügung der symbolischen Mutter¬
attribute gemildert und gleichzeitig der Koitus dargestellt.
Während das Totaphot offen an der Stirn zur Schau getragen wurde, wurde seine
ursprüngliche phallische Form in die kubische, in ein sehr verhülltes, weibliches
Symbol verwandelt. Die Kassette der Hand-Tefillin behielt zumindest unter den
orientalischen Juden, vollkommen ihre phallische Gestalt. Ursprünglich stellten die
Hand- und Kopf kassetten, sowie die Amulette vieler anderer Kulte (75) den Phallus
dar. Erst in talmudistischen Zeiten wich die phallische Form der Kopfbüchse, der
weiblichen, kubischen „Haus“-Form. Die europäischen Juden unterdrückten die
phallische Form der Kopfbüchse indem sie sie mit einem Tuch bedeckten.
Langer bezieht sich auf die vogelähnliche Gestalt der Kopf-Tefillin in Legende
und Brauch und auf die wohlbekannte Bedeutung des Vogels in der Folklore
und weist dann darauf hin, daß das Kopf-Tefillin eine auffallende Ähnlichkeit
mit dem männlichen Genitale habe. Die Testikeln werden durch die herab-
hängenden Enden der Riemen dargestellt, das Skrotum durch die Riemen, die
durch den Boden der Kassette gezogen sind, und die hervorstehende Kassette
selbst würde mit dem Penis in statu erectionis übereinstimmen. Die Tefillin-
tasche muß dementsprechend dem Skrotum gleichgesetzt werden. Nach Ge¬
brauch müssen die zwei Tefillin zusammengerollt in die Tasche gelegt werden,
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
497
und zwar nicht eines über das andere, sondern eines neben das andere, und
dies erinnert so an die Lage der Testikeln im Skrotum. Tatsächlich nennt ein
Vulgärausdruck der Ostjuden das Skrotum „die Tefillin-Tasche“.
Der Pentateuch empfiehlt, die Worte der Torah „zwischen den Augen u zu
tragen, was dadurch geschah, daß man die Schrift in die Kopfkassette legte,
per Tradition nach wurden die Kassetten über der Stirn im Haaransatz und
genau in der Mitte befestigt; dies bildet mit den Augen zusammen ein Dreieck
— ein erotisches Symbol. Bei den Griechen war es als weibliches Symbol bekannt,
und in der Hindureligion ist das Dreieck ein Symbol Gottes. Andere Quellen, die
Langer anführt, zeigen, daß Dreieck und Auge sowohl ein männliches als auch ein
weibliches Symbol sein können. Das Auge in der Mitte des Dreiecks, ein bekanntes
mystisches Symbol der Kirche, bedeutete ursprünglich die Vereinigung des Männ¬
lichen mit dem Weiblichen. Der Schild Davids war ein Symbol der beiden schöpfe¬
rischen Prinzipien, als solches auch den Babyloniern, Etruskern und südamerika¬
nischen Indianern bekannt. Der Schild Davids wird mit Vorliebe auf die Tefillin-
Tasche gezeichnet, und Spiez (74) hat die phallische Bedeutung des Dreiecks be¬
wiesen. Langer gibt verschiedene Quellen für die phallische Bedeutung der Drei
an, und zwar in Verbindung mit dem dreimaligen Umbinden des Handriemens
um den Mittelfinger, d. i. um den dritten und längsten Finger. Die Hand-
Tefillin werden siebenmal um den Oberarm gewunden; diese Zahl, die sich in
Religion, Mythus und Folklore findet, ist einerseits mit Todesmotiven, andererseits
mit libidinösen, schöpferischen Wünschen eng verknüpft. Die Hand stellt in der
Mythologie den Phallus dar und bestätigt so die Anschauung, daß die Hand-Tefillin
sowohl mit Kastration als auch mit erhöhter phallischer Kraft verbunden sind.
Die Verbote des Koitus usw. in Gegenwart der Phylakterien sollen die Angst
in Gegenwart des Totem-Vater-Phallus herabsetzen. Die Phylakterien sind eine
apotropäische Verteidigung gegen Dämonen, die gerade solche Plätze wie das
Klosett aufsuchen.
Die Riemen haben eine ambivalente Bedeutung, wie das im allgemeinen
bei ritueller Kleidung, Masken und besonders Häuten der Fall ist. Bei den
gehörnten Phylakterien, die als eine Art Maske erklärt wurden, ist der ambi¬
valente Inhalt von Haut, Maske und Riemen in eins zusammengezogen.
Diese Phylakterien sind eine Verdichtung von Elementen des Eros und des
Todes (oder der Kastration); außerdem enthalten sie die Ersetzung eines männ¬
lichen Symbols durch ein kastriertes, maskiert männlich-weibliches Emblem;
sie sind so ein klassisches Beispiel für die Art von Verbindungen, wie sie bei
„verhüllten“ religiösen Symbolen üblich sind.
Die \ erbindung Eros-Tod scheint hier eine Erweiterung des Ödipuskomplexes
zu sein, in dem Eros die Stelle der Mutter-Imago einzunehmen scheint, und
Tod (Kastration, Selbstkastration) die Stelle des ins Ich introjizierten Vaters
oder der später nachfolgenden ubiv Schuldgefühle. In dieser ungeheueren Ver¬
dichtungsarbeit spielt wie immer die Tendenz des Ubiv, eine große Menge ver¬
schiedener, einander entgegengesetzter Ideen in einem einzigen Ausdruck zu¬
sammenzufassen, eine Rolle, ebenso aber auch eine Tendenz des Widerstandes,
die wahre Bedeutung möglichst unkenntlich zu machen.
Imago XIX.
32
4^8 M. D. Eder
Langer hat drei Anhänge zu seiner Arbeit: i) Die Verwandtschaft der Tefillin
mit afrikanischen Kulten; 2) das Feuer; 3) die Schlange, worin er speziell
über die phallische Natur der Schlange spricht und den schlangengleichen Riemen
der Phylakterien eine weitere Bedeutung hinzugefügt.
Es ist interessant, wie jüdisches Gelehrtentum über die psychoanalytischen
Untersuchungen urteilt. Die Jewish Quarterly Review, von einem hervorragenden
jüdischen Gelehrten herausgegeben, gibt in wenigen Zeilen einen Überblick
über Reiks und Langers Arbeiten (7 5):
Reik: „Eine psychoanalytische Untersuchung über Talith und Tefillin, die
zu dem bizarren Schluß führt, diese Ritualobjekte seien Ersatz für gewisse Teile
einer Tierhaut, in die sich die alten Israeliten kleideten, um sich mit ihrem
totemistischen Gott zu identifizieren.“
Langer: „Mit überwältigendem Scharfsinn und mit Hilfe der Psychoanalyse
bringt der Autor eine Theorie vor, wonach die Tefillin oder Phylakterien nichts
anderes seien als erotische Symbole aus primitiver Zeit . l 2
Zusammenfassung.
Die jüdische und die christliche orthodoxe Meinung über diese rituellen
Geräte und Gebräuche ist, daß ihre Anwendung Moses auf dem Berg Sinai
von Gott anbefohlen wurden. Die aufgeklärte Meinung, die alles, was ihr
dunkel ist, zu rationalisieren versucht, will den Bibeltext nur rein meta¬
phorisch aufgefaßt wissen.
Eine Untersuchung der Gebräuche zeigt die minutiöse Genauigkeit, die
jedem Detail gewidmet ist, sowohl bei der Herstellung als auch beim zeremo¬
niellen Gebrauch der Gegenstände.
Die Forschungen der Gelehrten wie Wallis Budge, Kennedy u. a. haben
ergeben, daß diese Geräte magischer Zauber oder Amulette sind, wie sie
auch sonst über die ganze Welt verbreitet sind; aber hier ist die Forschung
für gewöhnlich stehengeblieben.
Nur ein oder zwei Forscher sind noch einen Schritt weitergegangen: W. Ro¬
bertson Smith hat die Verbindung von Phylakterien und Shawls mit den Opfer
tieren erkannt, Elworthy die von Gebärden und Hörnern, J. B. Hannay
1) Abraham Cronbach: „Psychoanalytische Untersuchungen des Judentums.“
Hebrew Union College Annual, Vol. VIII-IX, pp. 605—740. Eine eingehende Be¬
sprechung und Kritik dieser Arbeit ist mir während der Korrekturen zugänglich
geworden. . . *
2) Er hat in einer philologischen Untersuchung (die größtenteils phantastisc is )
und durch vergleichende Studien über die der hebräischen Götter zu zeigen versuc t,
daß die hebräischen Religionen, wie alle anderen, auf den Triebstätten wilder Zauberei
geboren sind Er hat auf die Macht des phallischen Symbols und auf die mehr ver¬
borgenen weiblichen Symbole hingewiesen — als Beweis führt er (S. 554 ) an ‘ ”
die alte Matriarchie verschwand und die Männerherrschaft, das Patriarchat,
Die jüdischen Gehetsnemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
499
hat die ganze Fülle von Sexualsymbolen in diesen Kultgeräten (und in allen
Riten) erkannt.
Das Material von jüdischen männlichen Patienten bietet Belege für die
sexual- symbolische Natur der Geräte und Bräuche. Phantasien und Träume,
von welchen ich nur Auszüge gegeben habe, beweisen, daß die in Frage
kommenden Geräte nicht nur als männliche oder weibliche Symbole auf¬
gefaßt wurden, sondern daß sie eng verbunden sind mit den Imagines von
Vater und Mutter, mit Kastrationsideen, mit der Urszene, mit dem Inhalte
der Ödipussituation in vollstem Umfange.
Es soll daran erinnert werden, daß die Phylakterien und der Talith von
jedem Mann vom dreizehnten Jahr an, wenn er Sohn des Bundes (barmitz
ivah) wird, getragen werden müssen. In früheren Zeiten fand bei den
Hebräern die Zirkumzision zur Pubertätszeit statt (76). Im fünfzehnten Jahr¬
hundert n. Chr. wurde bei dieser Zeremonie ein merkwürdiger Brauch aus¬
geführt, bei dem man das Haar des Barmitzwahknaben abschnitt (77). Die
symbolische Bedeutung des Haarabschneidens als Kastration ist wohlbekannt
und muß daher hier nicht weiter ausgeführt werden. Die Patienten zeigen
eine Tendenz, den Träger von Phylakterien oder Talith von den Geräten
selbst zu trennen. Die Phylakterien usw. werden mit dem strengen grau¬
samen und aggressiven Vater und der gleichgearteten Mutter identifiziert,
während ihr Träger die nachsichtige oder gütige Vater-Mutter-Imago ist. Die
Phylakterien werden so zu einer Projektion der introjizierten „bösen“ Vater-
und Mutter-Imagines, und der Patient (oder ihr Träger) besänftigt seine
eigenen aggressiven Wünsche oder archaischen, phantasierten Taten durch
Handlungen der Versöhnung: er zeigt große Sorgfalt im Gebrauch der
Phylakterien, Ehrfurcht gegenüber den Geräten, er küßt sie, was ver¬
schiedene Bedeutungen haben kann; diese hängen nicht nur von der Situation
des Patienten ab, sondern von der Objektkathexe, die mit den gefühls¬
mäßigen Haltungen, die sich chronologisch vom Säugling bis zum Jüngling
erstrecken, übereinstimmt.
Tefillin und Talith zeigten sich als Repräsentanten des aggressiven Vaters,
der bereit ist, den Sohn zu kastrieren und zu verschlingen; gegen ihn
ruft der Sohn den Vater ohne Tefillin zu Hilfe, für gewöhnlich auf die
Weise, daß er die Phantasie vom verschlingenden Vater ablehnt, oder aber
Stelle einnahm, waren die Schriftsteller immer noch von der Idee beeinflußt, das Weib¬
liche sei die treibende Macht.“ Obwohl seine Schlüsse oft ziemlich richtig sind, gelangt
er zu ihnen unglücklicherweise durch reines Darauflosraten und durch eine grausame,
selbsterfundene Philologie.
3 2 *
5oo
M. D. Eder
der Sohn sucht den „bösen“ Vater zu versöhnen, indem er sich ihm
bietet (durch Kuß, ehrfürchtige Geste) oder durch Gebet.
Das Verständnis des Materials, das ich beigebracht habe, wurde jede,
falls durch die Forschungen der Psychoanalitiker Marie Bonaparte R e j^
Langer, Abraham um vieles weitergeführt. Die Geräte sind letzte R est p
des Totemtieres, das einst von den Hebräern verehrt wurde, und sie ent
halten Spuren eines früheren Kults.
Die Analyse meiner Patienten weist auf die psychologische, wenn nicht
historische Wahrheit des Gesetzes hin, das den Juden verbietet, ihre Kinder
zu Moloch übergehen zu lassen. Die Mesusah-Träume und Phantasien zeigen
die psychologische Wahrheit, die in dem Blutverspritzen liegt. Die alten
Israeliten mußten die Schwellen und die linken Türpfosten ihres Hauses
mit Blut bestreichen: im Exodus XXII und XXIII wird die Blutfarbe von
einem „ bunch of Hyssop“ (Strauß von Ysop) abgeleitet und ist ein Schutz
gegen die Tötung des hebräischen Erstgeborenen, während der erste Sohn
des Feindes — des Ägypters — geopfert werden muß. Purpur bedeutet im
Ubw so häufig Blut, daß man unwillkürlich daran denkt, daß der Techeleth
der Faden aus purpurblauer Wolle, eine Anspielung auf das geschlachtete
Totemtier sein könnte. Abraham u. a. haben gezeigt, daß der wollene Gebets-
shawl ein Ersatz für das Widderfell ist (siehe S. 488).
Wir sehen nun, daß die Motive für die sadistischen Phantasien meiner
Patienten aus Urzeiten stammen. Indem sie den Vater mit dem Tefillin
angreifen, greifen sie das Totemtier an; das ganze Opferritual, das im Levitikus
auseinandergesetzt wird, ist eine Darstellung von der Ermordung und Ver¬
zehrung des Urvaters, des urzeitlichen, großen Vaters,
whose mortal taste
Brought gods into the world and all our woe .
Nachdem wir nun Phylakterien, Gebetsshawl und Türpfostensymbol bis
zu ihrem primitiven Ursprung zurückverfolgt haben, bleibt uns noch die
Aufgabe, die historische Aufeinanderfolge vom Urvater zum Urgott und
dem vertretenden Totemtier aufzudecken; wie das Totemtier allmählich bei¬
nahe all seine erkennbaren Eigenschaften verlor, bis auf jenes einzige Haar,
an dem wir schließlich, wie Reik sagt, das Totemtier in den Phylakterien
entdecken. Diese Änderungen sind die historischen Aufzeichnungen von
tausenden Generationen, und sie sind zu unvollständig, als daß man jetzt
mit ihrer Hilfe der Entwicklung Schritt für Schritt nachspüren könnte.
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
5o
Wohl aber ermöglicht uns das Studium der Zeitgenossen, nämlich jener
Personen, deren Analyse ich — soweit sie mit dem Problem zu tun hat —
hier vorgelegt habe, ein Licht auf die Funktion der Phylakterien und anderer
Geräte zu werfen; auf diese Weise wird es uns weiters möglich zu ver¬
stehen, welchem Zweck die Veränderungen dienten.
Wenn der Patient halluziniert, der Analytiker trage die Tefillin, und wenn
die Person des Analitikers verdoppelt wird, so hat der Patient hier etwas
getan, das mit der Analyse einer komplizierten chemischen Verbindung zi}
vergleichen ist; er hat die Eltern-Imago teilweise oder ganz in ihre pri¬
mären Elemente aufgelöst. In diesem Fall sind die Elemente die aggres¬
siven oder sadistischen Eltern und die nachsichtigen, liebenden Eltern. Der
Elternteil, der halluzinativ introjiziert wurde (das Opfertotemtier in der
Geschichte des Volkes, der lebende Vater im Individuum), ist zu einer
Quelle des Schmerzes, des Unbehagens geworden und wird nun in Form
von Phylakterien Talith, Mesusah ausgestoßen und projiziert.
Unter normalen Bedingungen wird die projizierte Imago ein Objekt der
Verehrung und Huldigung für den religiösen Juden. Der Vater (Penis oder
der ganze Vater) wurde ja gar nicht kastriert oder vernichtet — hier ist er,
man kann ihn täglich sehen, berühren, küssen; man behandelt ihn mit un¬
gewöhnlichem oder übertriebenem Respekt oder mit Liebe, um sich zu
beweisen, wie falsch das unbewußte Schuldgefühl des Individuums in bezug
auf die Vater- (Mutter-) Imago war.
Die Funktion der Phylakterien besteht darin, das Strafbedürfnis dadurch
aufzulösen, daß sie das Bild des lebendigen Gottes aufstellen. Es ist wahr,
das ist den Hebräern verboten: „Du sollst dir kein Bild machen und kein
Abbild von dem, was im Himmel über dir oder in der Erde ist“, aber
die Phylakterien sind für das Bewußtsein eine so kleine Überschreitung des
Verbots wie die Malereien der Kubisten und Vortizisten. Es ist die Aufgabe
der Phylakterien und der rituellen Kultgeräte das Gleichgewicht zwischen
den Trieben des Es und den Forderungen des Über-Ichs in der Ödipus¬
situation zu erhalten, und dem Ich dadurch eine mehr oder weniger harmoni¬
sche Handlungsweise zu gestatten.
Die rituellen Handlungen wirken in dieser Richtung so lange fort, als
die Natur der rituell verehrten Objekte, wenn auch nur unbewußt, erkannt
wird; d. h. so lange die unbewußte Idee, daß die Phylakterien symbolischer
Natur sind, anerkannt wird, obwohl die genaue Bedeutung der Symbole
unbewußt bleibt. Unter diesen Bedingungen, durch das Verständnis und die
Anwendung des „Kulturkontaktes“, wird es gelingen, Kultur-,,Probleme“ zu
M. D. Eder
5o»
lösen; dies versuchen die Anthropologen den Kolonial-und
begreiflich zu machen. „Es hat keinen Sinn, eine Kultur
zwangsweise zu ersetzen“ schreibt Driberg (78).
Es gibt viele Formen des Zwanges, und die Soziologen haben erst vor
kurzem das Interesse auf die Resultate ihrer Studien gelenkt, die sich mit
der Einwanderung von Rassenminoritäten in neue Gebiete befassen —
auf ihre Studien über den „Heiligtumsfremden“. Der „Heiligtumsfremde*
tendiert unter dem Druck des fremden Milieus dazu, seine Traditionen
verlieren; das Ich wird heterogen. Wenn dies vor sich geht, dann werden
die unbewußten Ideen, die in Phylakterien und Talith liegen, derart ver¬
drängt, daß sie all ihre symbolische Bedeutung, anders ausgedrückt, ihre
magische Kraft, verlieren; sie werden nicht mehr abergläubisch verehrt-
aber die Phylakterien, die nicht mehr in irgendeiner Art als Symbole des
lebendigen Gottes oder der Vater-Imago empfunden werden, haben damit
auch ihre Funktion verloren, und dem Über-Ich bleibt kein anderer Weg
für Spannung-Entspannung als Schuldgefühl, Strafbedürfnis usw., als der
neurotische Weg. Die Symbole sind zu Metaphern geworden und die Bibel¬
kommentatoren haben recht, wenn sie die Geräte für nichts anderes als
Metaphern erklären, d. h. sie dienen keinem Bedürfnis des Individuums
mehr; sie sind mit seinem Ubw nicht mehr verbunden.
Aber dieser Weg vom Symbol zur Metapher, von der Besänftigung ubw
Schuldgefühle durch symbolische Darstellung bis zum Versuch, sie durch
Rationalisierung (Metapher) zu besänftigen, führt nicht näher an die Realität
heran; ein äußerer Zwang hat diese Entwicklung hervorgerufen und hat
zum Verschwinden der ursprünglichen Kraft geführt, ohne dem Ich einen
annehmbaren Ersatz zu bieten. Die Religion hat ihren Inhalt verloren, und
an ihre Stelle traten Rationalisierung und Dogma.
Literaturverzeichnis.
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Landesregierungen
durch eine andere
Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
5o3
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^ p. T. Elworthy: The Evil Eye. 1895, S. 198f.
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- a . F. T. Elworthy: Horns of Honour. S. 75—79.
l7 b. Hastings: s. v. „Charms and Amulets.“ Encyclopaedia of Religion and Ethics.
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jg. Langer: „Zur Funktion der jüdischen Türpfostenrolle.“ Imago XIV, 1928, S. 457 ff.
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31. Ludwig Blau: Das altjüdische Zauberwesen. Straßburg 1898, S. 87 ff.
32. Wilhelm Bousset: Die Religion des Judentums im späthellenischen Zeitalter.
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33. Emil Schürer: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. 4. Auf¬
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34. M. Friedländer: Der Antichrist in den vorchristlichen Quellen. Göttingen 1901,
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36. Mack: „Phylacteries“ in the International Standard Bible Encyclopaedia. Bd. IV,
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37. Kennedy: s. v. „Phylacteries“ in A Dictionary of the Bible, by James Hastings.
Bd. III, S. 871.
38. Wünsche: s. v. „Tephillin“ in Herzogs Realenzyklopädie für protestantische
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39. Klein: Die Totaphot. S. 678.
40. Kennedy: Op. cit., S. 872.
41. Josephus: Antiquities. IV, VIII, 13.
42. M. Rodkinsohn: Ursprung und Entwicklung des Phylakterienritus bei den Juden.
1883. (Der Text dieses Buches ist hebräisch; nur der Titel ist deutsch.)
43. Kennedy: Op. cit., S. 872.
44. W. Robertson Smith: Op. cit., S, 437, Fußnote 2.
5o 4 M. D. Eder: Die jüdisdien Getetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Jude
45. Kennedy: Op. cit., S. 871.
46. Johannes Lund: Die Alten jüdischen Heiligtümer / Gottes-Dienste und G
heiten / für Augen gestellet / in einer ausführlichen Beschreibung des
Levitischen Priestertums / und fünf unterschiedenen Büchern, etc. Hambur 3ntZeö
47. J. G. Prazer: Totemism and Exogamy. 1910, Bd. I, S. 26ff. S X 7 01 -
48. Lewis and Clarke: Travels through the Source of the Missouri River r
S. 125 (zitiert nach Frazer). * 15
49. W. Robertson Smith: Op. cit., S. 435 ff.
50. Spencer and Gillin: The Native Tribes of Central Australia. 1899, S. za
51. Wissowa: Religion und Kultur der Römer. 2. Auflage, S. 209. ’ * 543 ‘
52. Alf. Jeremias: Altes Testament. S. 658.
53. Alex. Elster: „Kleidung und Mode“ in Marcuses Handlexikon.
54. Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Jena 1921, S. 51.
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56. Mannhardt: Baum- und Feldkulte. Bd. II, S. 138 ff.
57. Hans Zull lg er: „Die Roichtschäggeten.“ Imago XIV, 1928, S. 4470.
58. Fromm-Reichmann: Op. cit., S. 240.
59. J. Schuster: Schmerz und Geschlechtstrieb. Leipzig 1923, S. 8 ff.
60. Carl Einstein: Negerplastik. München 1920, Abb. 105 und 51.
61. J. Bieber: Anthropophyteia. Bd. V (Taf. I, III, IV, VIII).
62. Th. Reik: „Kainszeichen.“ Imago V, 1919, S. 33.
63. Günther Röder: Altägyptische Erzählungen. Jena 1927, S. 240fr.
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wissenschaft, Bd. XV, S. 451 ff.
65. J. J. Bachofen: Urreligion. Bd. I, S. 494.
66. Langer: Op. cit., Imago X, 1924, S. 464.
67. B. Malinowski: „Psychoanalysis and Anthropology.“ Psyche, Bd. IV.
68. Samter: Geburt, Hochzeit und Tod. 1911, S. 91 ff.
69. A. Jeremias: Altes Testament. S. 407.
70. H. Fehling er: Geschlechtsleben der Naturvölker in Max Hirschs Monographien,
Nr. 1, Leipzig 1921, S. 78 ff.
71. Ales Hrdlicka: Physiological and Medicinal Observations among the Indians.
1908, S. 125 ff.
72. Leo Frobenius: Erlebte Erdteile. 1928, Bd. V, S. 440fr.
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74. Spiez: „Zwei Kapitel über kulturelle Entwicklung.“ Imago X, 1924, S. 330.
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76. Kirschner and M. Rosenfeld: s. v. „Barmizvah“. Jüdisches Lexikon.
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Edward Goldston Ltd., S. 160, Fußnote.
78. J. H. Driberg: At Home with the Savage. 1953, S. 32.
Das M ärcken vom Dornröschen
in psychoanalytischer Darstellung
Von
iSteff Bornstein
Prag
In Kinderanalysen erleben wir oft, daß die kleinen Patienten Märchen
und Geschichten dichten und uns so ein Tor zu ihren verdrängten Wün¬
schen und Phantasien erschließen.
Gehen wir an das Märchen Dornröschen mit der Erwartung heran, wir
würden in ihm wie in einer Produktion eines in der Analyse befindlichen
Kindes einen verborgenen Sinn finden und hätten nun zu erschließen, welche
Kräfte im Kinde zu dieser Äußerung drängten und warum sie gerade diese
Form des Ausdrucks gewählt haben.
Daß es ein weibliches Kind ist, das so vor uns phantasiert, kann leicht
angenommen werden. Ihr Alter läßt sich erraten : das dramatische Ereignis
des Märchens — das Stechen mit der Spindel und der Beginn des hundert¬
jährigen Schlafes — fällt in das fünfzehnte Jahr. Also dürfte das Mädchen,
das wir uns als Dichterin des Märchens denken wollen, dem fünfzehnten
Jahr nicht mehr fern sein, und die Angst der etwa Zwölf- bis Dreizehn¬
jährigen vor den kommenden Jahren dürfte den Motor zu solchem Phan¬
tasieren gegeben haben. Wir kennen diese Angst der Mädchen in der Vor¬
pubertät: was wird mit mir geschehen, wenn ich fünfzehn Jahre alt bin,
wie wird das später mit den Männern sein? Hätte ich es doch schon endlich
hinter mir! — Und so dichtet sie das Märchen, in dem das Böse geschieht,
das Erlebnis des fünfzehnten Jahres, das Stechen mit der Spindel — wir
erraten die Menstruation — dichtet dann als Folge ihres Weibgewordenseins
den hundertjährigen Schlaf im Schutz der Dornenhecke, weil dieses aber
nicht der Sinn des Lebens sein kann, das sie erträumt, dichtet sie das happy
end dazu, den Bräutigam, die Hochzeit.
Gehen wir nun hier (anders als wir es in der realen Kinderanalyse tun,
wo wir aus therapeutischen Gründen ein in sublimierte Form gebrachtes
unbewußtes Material selten deuten) an die Entzauberung der Phantasien
heran, so drängt sich uns sofort einiges auf, was zu untersuchen lockt. Das
Stechen der Spindel im fünfzehnten Jahr dürfte einer Verdichtung von Men¬
struation und Defloration entsprechen, der jämmerliche Tod der vielen Jüng¬
linge in der Dornenhecke als Antwort auf ihr Durch dringenwollen, weist
auf eine feindselige Angst vor den Männern hin, vielleicht auf eine Rache-
5o6
iSteff Bornstein
tendenz gegen die Männer; die schließliche Erlösung durch den Kuß d es
Mannes deutet darauf hin, daß die Rückkehr zur Weiblichkeit gelungen ist
Die Heldin des Märchens heißt Dornröschen und sagt schon mit ihrem
Namen, wie abweisend sie ist. Schaut, wie lieb, wie schön ich bin ein
Röschen, aber kommt mir nicht zu nahe, ich habe Dornen, ich steche
Uns interessiert die Vorgeschichte dieses stolzen Kindes. Natürlich sind
König und Königin ihre Eltern. Wir wissen aus Analysen, wie häufig das
Kind und der Jugendliche seinen Familienroman dichtet, in dem er phan¬
tastisch erhöht wird, Königssohn oder Prinzessin ist. Aber noch tiefer ist
das Glück ihrer Geburt: sie ist ein langerwartetes, ein ersehntes Königskind
Meine Eltern lieben mich nicht, weil sie mich eigentlich gar nicht haben
wollten, sagt der Patient und phantasiert: hätte mich doch die Mutter mit
Freude erwartet, dann wäre ich in ihrem Leib schön geworden, und sie
und der Vater hätten mich mit allen Schätzen beschenkt, statt mich so
jämmerlich auszustatten.
Das Übermaß an Gaben, mit denen das Dornröschen beschenkt wird —
sie hat nicht eine Mutter, sondern zwölf Mütter sorgen für Glück und
daß sie „Wundergaben“ genannt werden und „alles, was auf der Welt zu
wünschen ist“, läßt uns argwöhnen: es muß bei der kleinen Märchen¬
dichterin, die sich in der Heldin darstellt, ein Groll gegen die Mutter vor¬
handen sein, daß sie ihr zu wenig gegeben hat. Und wir erinnern uns,
welchen Vorwurf oft kleine Mädchen ihrer Mutter machen: du hast mir
nicht alles gegeben, was du kannst, mir fehlt ja das Glied. Und richtig:
die böse Mutter, die nichts Gutes gibt, erscheint ja neben den guten im
Märchen und sie wird Schuld an dem Unglück im fünfzehnten Jahr. Im
fünfzehnten Jahr aber, wenn die Menstruation eingetreten ist, am Körper
Veränderungen wahrzunehmen sind, die Genitalbehaarung wächst, da stellt
es sich als unabwendbar heraus, daß man ein Weib ist, da hält es schwer,
länger zu phantasieren, daß man alles hat, was auf der Welt zu wünschen ist.
Der Wunsch nach der guten Mutter ist übergroß, die gute Zwölfzahl
besiegt die böse Dreizehn, der Todeswunsch der bösen dreizehnten Frau wird
gemildert durch die gute zwölfte: nicht Tod, sondern Schlaf. Und wie sie
es sagt: „es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer
Schlaf, in welchen die Königstochter fällt“, klingt es eher wie ein Segen
als wie ein Fluch. Das entspricht dem Wunsch des jungen Mädchens:
wenn die Blutung kommt und der Mann etwas Schreckliches von mir will,
schlafen möchte ich dann lieber und keinen an mich heranlassen. Schlafen
und von nichts wissen.
Das JVLärdien vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung
Boy
Warum gibt es aber die böse Mutter? Was hat das kleine Mädchen getan,
daß die Mutter böse geworden ist? Sie hat nichts getan, sie ist ja „sittsam,
freundlich und verständig“. Der Vater hat es getan, die Mutter gekränkt,
keinen goldenen Teller für die Mutter gehabt. Weil sie aber unbewußt die
Kränkung der Mutter gewünscht hat, hat sie die Strafe zu tragen. Hier
haben wir den Ödipuskomplex des kleinen Mädchens: da ist der Vater, der
sich vor Freude über sein kleines Mädchen nicht zu lassen weiß“ — ist er
zu der Mutter (sie ist in den zwölf weisen Frauen vertreten) freundlich
und läßt sie kommen, so ist es nur um der Tochter willen, — „damit sie
dem Kind hold und gewogen wären“. Nur auf sein Kind konzentriert er
seine Liebe, ja er macht sich nichts aus der Mutter (das wird bei der drei¬
zehnten weisen Frau dargestellt), beachtet nicht ihre Empfindlichkeit, kränkt
sie, gibt ihr nichts zu essen, hat für sie den Teller nicht und kein Geld für
sie, es wird der dreizehnte goldene Teller nicht angeschafft.
Aber noch schlimmer hat sich die Tochter in ihren Wünschen gegen
die Mutter vergangen. Das ist nur leicht angedeutet. Erinnern wir uns
an den Anfang: die Eltern bekommen kein Kind. Das ist für das kleine
Mädchen dasselbe wie: meine Eltern haben keinen Geschlechtsverkehr, mein
Vater liebt meine Mutter nicht. Das kleine Mädchen glaubt ja meistens,
daß jeder Koitus ein Kind zur Folge hat, und weil ihm der Gedanke an
die Bevorzugung der Mutter so unleidlich ist, bestimmt sie in ihrer Phantasie:
der König und die Königin kriegten immer kein Kind. Wie löst sich aber
das Problem, daß sie lebt? Einmal zumindest muß der Vater die Mutter
geliebt haben. Gut, aber das nur ihretwegen, der Tochter wegen. „Du wirst
eine Tochter zur Welt bringen“ nur um das der Königin zu sagen, ging
der Frosch zur Königin, nicht der Vater geht zur Mutter, nur der Frosch,
der unvermeidliche Penis des Vaters. Das kleine Mädchen flieht zu sym¬
bolischen Darstellungen, weil sie die Realität, den Koitus der Eltern und
den Penis des Vaters nicht anerkennen will. Der Frosch, das ist für das
Mädchen ein erschreckendes, ekelhaftes Etwas. (Wir wissen, wie in einem
anderen Märchen, dem „Froschkönig“, das kleine Mädchen sich ekelt, als
dieses Etwas zu ihr ins Bett will. Und erst nach einem heftigen Durch¬
bruch ihrer Sexualscheu, als sie den Frosch gegen die Wand wirft, steht
dieser vor ihr als ein herrlicher Mann.)
Vielleicht verweilen wir zu lange beim Anfang. Aber hier in diesem
unscheinbaren Detail scheint die Exposition zu dem zentralen Problem zu
liegen, das aufgebaut ist auf den Kampf zwischen Tochter und Mutter und
der Ablehnung der weiblichen Sexualität.
J
5o8
iSteff Bornstein
Darin aber finden sich Vater und Tochter zusammen. Der Vater läßt alle
Spindeln im ganzen Königreich verbrennen. Der Vater liebt ja seine Tocht
so sehr, er wird es nicht zulassen, daß ihrem Leib etwas geschieht. Und
darin ahnt die Tochter richtig: der Vater gönnt die reifende Tochter wirk¬
lich den fremden Männern nicht, er möchte sie bei sich und unberührt
und als Eigentum behalten. Nur ist der Vater nicht so ausschließlich darauf
eingestellt, wie es die Tochter wünscht. Er vergißt auch mal sein Kind
über seiner Frau. Er geht mit der Frau weg und läßt das Kind allein zu Hause
obwohl das Kind schon fünfzehn Jahre ist und in der Erregtheit und der Neu¬
gier ihrer Pubertät besonders stark nach dem Vater verlangt. Wird sie aber so
von ihm im Stich gelassen, hat er vergessen, welche Gefahren ihr drohen, so
gibt sie ihre verständige Tugend auf, gibt der Neugier nach, geht aller
Orten herum, wie sie Lust hat, besieht Stuben und Kammern, steigt die
Wendeltreppe hinauf und gelangt zu einer kleinen Tür. So ausführlich
wird das berichtet, wie das Mädchen der neugierigen Schaulust gehorcht
es erinnert uns, daß so in der Sprache des Traumes der Onaniewunsch des
Mädchens dargestellt wird.
Es steht uns frei anzunehmen, daß das fünfzehnjährige Mädchen das
Alleinsein dazu benutzt, um sich über ihr kompliziertes Genitale zu orien¬
tieren. Bis zu der kleinen Tür geht es gut. Da, vor der verschlossenen Vagina,
beginnt die Gefahr. Das Märchen berichtet, daß sie den Schlüssel zu der
kleinen Türe umdreht, daß sie aufspringt. Ist das die Phantasie, daß sie
selber in die Vagina eindringt? Das alte Mütterchen soll ihr nun alles erklären.
Sie ist ja im Besitz der Spindel, der bisher der Tochter verborgenen, und tut
etwas damit. „Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt ?“ fragt sie
das alte Mütterchen und will es auch in die Hand nehmen und damit spinnen.
Wir kennen ein anderes Märchen, in dem ein Mädchen mit Hilfe des
kleinen Männchens Rumpelstilzchen eine Zauberkunst mit dem Spinnen
versteht Gold aus dem Stroh spinnt, bis sie sich den König und das
Kind erspinnt. Dort aber hat der Vater selber und der König dazu die Kunst
befohlen, hier sind beide Eltern Verbieter, die ehemals gekränkte Mutter
erlaubt nicht die sexuelle Lust, und das alte Mütterchen läßt sich auch von der
reifenden Tochter den Alleinanspruch auf den Besitz des Mannes nicht
nehmen. Das lustige Spinnen, wo aus einem Knäuel der lange Faden wird,
die vom Phantasieren begleitete Sublimierung des Männlichkeitswunsches
der Frau, soll der Tochter versagt werden. Dornröschen wird für den Wunsch,
von der Spindel Besitz zu ergreifen, gestraft, sie sticht sich damit in den
Finger und verfällt in den Schlaf.
Das Giardien vom Domrösdien an psydaoanalytisdier Darstellung
509
Wir wissen aus Analysen von Mädchen, daß sie die Menstruation als
Strafe für die Onanie auffassen. Die Onaniephantasie unseres Mädchens heißt:
ich will auch ein Ding haben, das so lustig herumspringt, den Penis, ich
will ihn meiner alten Mutter wegnehmen, selber etwas daraus produzieren.
Die Mutter straft sie mit der Menstruation. Du willst eine erwachsene Frau
sein, mit mir konkurrieren? Da sieh, was man als erwachsene Frau erleidet,
du blutest jetzt, auch wenn der Penis in dich eindringt, wirst du bluten
müssen.
Im Unbewußten herrscht ein Chaos. Es wird nicht sehr differenziert.
Blut ist Blut, ob es vom Stechen des Fingers, von der Zirkumzision, Kastra¬
tion oder Defloration stammt. Tatsächlich wissen wir aus Analysen von
Frauen, daß sie im Unbewußten die Menstruation und Defloration der
Kastration gleichsetzen. Im Märchen darf es nicht deutlich gesagt werden;
ich blute, weint das ganz kleine Mädchen, wenn es sich in den Finger
gestochen hat, und so wird hier von dem fünfzehnjährigen, wenn es blutet,
in Verschiebung auf die infantile Sprache gesagt, es habe sich in den Finger
gestochen.
Im Hintergrund der uns aus Analysen bekannten Vorstellung der Mädchen,
die Mutter sei schuld an der Menstruation, steht die Anklage, die Mutter
habe sie zur Strafe kastriert. Unser Märchen scheint diese Anklage zu spiegeln,
indem es das alte Mütterchen im Turm das Werkzeug handhaben läßt,
das den entscheidenden Stich beibringt; und wenn wir hören, daß da ein
Bett steht, auf dem Dornröschen nach dem Stich in einen tiefen Schlaf
verfällt, so scheint die Darstellung eines operativen Eingriffes eindeutig
gegeben. Indessen Zweifel entstehen, ob dieser Eingriff als eine Kastration
angesehen werden soll, wie sie kleine Mädchen als einmal in der frühesten
Kindheit geschehen phantasieren. Die Annahme, daß in unserem Märchen
die Spindel das Werkzeug einer Defloration vertritt, leuchtet eher ein, ob¬
wohl kein Mann bei dem Vorgang gewesen ist, die Spindel von einer alten
Frau stammte. Hier kommen wir mit unserem Verständnis nicht weiter,
wenn wir uns weiter mit Hilfe der Fiktion, irgend ein heute lebendes
Kind produziere das Märchen aus der Tiefe seines Unbewußten, vortasten.
Wir müssen uns vielmehr daran erinnern, daß unsere Volksmärchen ein
auf Kinder heruntergekommenes uraltes Kulturgut darstellen, daß sie bei
den entferntesten und verschiedensten Völkern aufgefunden werden, daß
wir in ihnen einen Niederschlag ältester Volksanschauungen suchen können.
Was in unbewußten Phantasien der einzelne heute produziert, was das
Märchen wie eine sonderbare Phantasie aufzeichnet, war einmal, das lehrt
5io Stell Bomstein
uns die Völkerkunde, ein Stück Realität. Alfred Winterstein hat in einer
ausführlichen Arbeit völkerkundliches Material über die Pubertätsriten der
Mädchen zusammengetragen und auf ihre Spuren in verschiedenen Märchen¬
stoffen hingewiesen . 1
Wir lesen dort, daß bei verschiedenen australischen Stämmen und bei
den Conibos, einem Indianerstamm in Peru, die Defloration künstlich vor¬
genommen wird, kurz nach der ersten Menstruation, meistens mit dem
Finger, einem Stein, einem Stock oder Messer und meist durch eine alte
Frau ausgeführt wird. Bei manchen Stämmen, so bei den Bakulia und
Massai im ehemaligen Deutsch-Ostafrika, und bei einigen Nomadenstämmen
Persiens werden auch Mädchen von den sogenannten weisen Frauen be¬
schnitten. Die Klitoris wird abgetrennt, vorher oder unmittelbar darauf wird
das Haupthaar abrasiert. Die beschneidenden alten Frauen der Jombustämme
aus Deutsch-Tongo sprechen dem Mädchen bei der Operation die Worte
vor: „Ich weiß nichts, ich bin ein kleines Kind.“ Das soll wohl heißen:
nun, wo ich keine Klitoris mehr habe, bin ich unschuldig wie ein Kind.
Bei manchen Völkern, so bei den Siamesen, herrscht der Glaube, daß
die erste Menstruation von der Defloration durch Luftgeister herrühre. Ein
Bestandteil der Pubertätsriten der Mädchen bei verschiedenen Stämmen sind
Quälereien und Züchtigungen durch alte Frauen: alte Weiber laufen mit
Stecken bewaffnet um die zum ersten Male Menstruierende herum, um den Geist
zu vertreiben, der das Mädchen angefallen hat, um die Schlange zu schlagen,
die das Mädchen gebissen hat.
Freud hat in seiner Arbeit „Tabu der Virginität“ eine psychologische
Erklärung der Sitte, außerhalb der Ehe und vor dem ersten Verkehr zu
deflorieren, gegeben! Der Primitive fürchtet die feindselige Reaktion der
Frau auf die Defloration.
Wo die Defloration von einer Frau vorgenommen wird, wie hier im
Märchen, scheint sie nicht nur eine dem späteren Ehemann freundliche Ab¬
sicht auszudrücken: — ich nehme dir die gefährliche Leistung ab, — sondern
vor allem eine sadistische Strafaktion der Mutter: ich tue dir das an, damit
du mich fürchtest und auf den Mann verzichtest. Bei den Achtukabo in
Portugiesisch-Ostafrika wird die Reifekandidatin geschlagen, während die
Mutter spricht: „Schlagt mein Kind, denn es hört nicht auf das, was ich
1) Imago XIV, Heft 2/3, Alfred Winterstein: Pubertätsriten der Mädchen. Die
nachfolgenden Beispiele sind sämtlich dieser Arbeit entnommen. Winterstein bezieht
sein Material vor allem von Frazer: The golden Bough; Ernest Crawleys: The
Mystic Kose; Ploss-Renz: Das Kind; Ploss-Bartl: Das Weih.
Das Märchen vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung
5 11
sa ge“, unc ^ Z< erem onieaufseherin die Ohrfeigen mit den Worten begleitet:
Damit sie denke, das was ich tat, ist schecht.“
Ti
Wenn in unserem Märchen das Dornröschen in einen tiefen Schlaf ver-
fällt in dem Turm, so ist das ein freundliches Exil, verglichen mit dem,
von dem uns bei einigen Völkern berichtet wird. Zwar ist sie wie ihre
unglücklicheren Schwestern abgeschlossen von der Welt, einsam im Turm,
im Dunkel, und da sie schläft, erfüllt sie das Schweigegebot, das in manchen
Stämmen gefordert wird, und kann wie die primitiven Mädchen die Sonne
nicht schauen, was überall eine strenge Forderung ist, — aber im Märchen
schläft Dornröschen nicht allein, Vater und Mutter, der ganze Hofstaat,
alle Tiere schlafen mit. Und so wie uns dieser ausgebreitete Schlaf geschildert
wird, macht er eher den Eindruck eines tiefen Glückes als einer Strafe.
Als ob es sich um einen postorgastischen Schlaf handelte: die Begierde ist
befriedigt: „Das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein.“
An verschiedenen Stellen der Erde wird den in der Pubertät von der
Außenwelt streng abgeschlossenen Mädchen auch verboten, sich zu bewegen,
sich zu kratzen, den Körper mit eigenen Händen zu berühren. Mit solchen
sichtlich der Vermeidung autoerotischer Befriedigung dienenden Verboten
wird das Märchen gut fertig. Schläft Dornröschen, so vermeidet sie die
Qual der Versuchung, das Onanieverbot zu durchkreuzen, und fühlt sich
nicht verantwortlich, wenn der Onaniewunsch als Traum in den Schlaf
herabreicht.
Der König und die Königin stören nicht den Schlaf der reif gewordenen
Tochter: sie müssen mitschlafen. So wie ehemals das kleine Mädchen mit
den Eltern miterleben wollte, als sie wachten und sie schlafen sollte, so
müssen sie jetzt sich mit ihr identifizieren und mit ihr schlafen. Das ist
fast ein Ungültigmachen des Fluches der bösen Mutter: wenn alles vom
Glück des Lebens ausgeschlossen ist, auch die Eltern, auch die Tiere, dann
ist die Isolierung Dornröschens halb so schlimm.
Das Exil der Mädchen dient der Abschließung der Mädchen von dem
Vater und dient der Einschließung des Mädchens für den Vater: es ist eine
Einrichtung zugunsten der Mutter: die Rivalin ist entfernt; und es befriedigt
zugleich die inzestuöse Bindung des Vaters an die Tochter: „Wenn ich sie
nicht habe, soll sie auch niemand anderem gehören.“ In unserem Märchen
ist die Einrichtung zugunsten der Mutter ungeschehen gemacht: wenn die
Mutter mitschläft, so hat sie nichts davon, daß Dornröschen entfernt ist.
Die Absicht des Vaters aber wird in hohem Maße durchgeführt: kein Lieb¬
haber dringt zu seiner Tochter.
5l3
Steff Bornstein
Das entpricht den Vorschriften bei den Primitiven: kein Mann darf sich
dem Mädchen nähern; so wird das Mädchen in ein kleines Zimmer i n
eine Zelle eingebaut, in eine Hängematte eingenäht, die nur eine kleine
Öffnung zum Atemholen läßt. Aber das Märchen hat zu stark eine Tendenz
zur Wunschbefriedigung, ist zu sehr vom Standpunkt des Geschädigten, Ge¬
ängsteten, des Ohnmächtigen gedichtet, als daß es uns diese Situation des
leidenden Mädchens unverändert vorführen möchte. Wie neben der bösen
Mutter die zwölf guten erscheinen, wie aus dem Tod ein Schlaf, aus der
Einzelhaft ein Gemeinschaftsglück wird, so wird bei der Isolierung Dorn¬
röschens von den Männern ein Wunsch Dornröschens erfüllt. Die Männer
sollen, weil sie defloriert ist, gestraft werden, Dornröschen lockt sie mit
ihrer Schönheit und läßt sie in den Schlingen ihrer Dornenhecke umkommen
Dornröschen ist aufgeteilt in die eine, die in der Turmzelle schläft
gestraft und doch glücklich im Schlaf, unschuldig, von nichts wissend, und in
die andere, durch die Dornenhecke symbolisierte, die ihre sadistische Rache
auslebt.
Es heißt im Märchen: „Die Dornen halten fest zusammen, als hätten sie
Hände“ — und „die Jünglinge können sich nicht wieder losmachen“.
Dornröschen, das seine Weiblichkeit anerkennen soll und doch Angst vor dem
Eindringen des Mannes hat, bildet die Phantasie der vagina dentata , die den
Penis des Mannes vernichtet. Hierzu eine Parallele aus den Pubertätsriten der
Bamangwato im südlichen Afrika: dort wird bei den vierzehnjährigen Mädchen
die Beschneidung vorgenommen. Die Mädchen werden danach phantastisch
gekleidet, ziehen umher, schwingen eine Geißel mit Dornenzweigen
und verfolgen und peitschen damit gleichaltrige Burschen. Bei einem Stamm
in Brasilien wurden die Mädchen mit einem Dorn tätowiert, — so sollen
Männer Angst vor ihrer Gefährlichkeit bekommen und sich fernhalten.
Was die Reifekandidatinnen mit ihren Dornenzweigen zum Ausdruck bringen,
das sagt Dornröschen mit ihrer Dornenhecke: ihr glaubt, weil ich ohne
einen Penis bin, sei ich schutzlos euch preisgegeben ? Seht hier meine
gefährliche Schutzwaffe gegen euch!
Es trifft in dieser Warnung die Angst des Mädchens (mein Körper soll
heil bleiben) zusammen mit der Über-Ich-Forderung, die von der Mutter
stammt, „Du sollst nicht meine Nebenbuhlerin sein, sollst nicht Männer
an dich heranlassen“ und mit dem vom Es stammenden Wunsch des Mäd¬
chens: ich gehöre meinem Vater allein, sein gewaltiger Penis, der mich
schützt, macht den jungen Männern Furcht, an mich heranzukommen.
Bei vielen Völkern herrscht die Anschauung, daß das zuerst menstruierende
Das jMärdien vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung
5i3
Mädchen vom Luftgeist defloriert wurde, mit den Dämonen verkehre, also
einem gewaltigen Vater an gehöre.
Die aggressive Wirksamkeit der Dornenhecke —viele Königssöhne bleiben
in ihr hangen und sterben einen traurigen Tod — wird aber nicht aus¬
reichend mit Dornröschens Angst erklärt. Wohl sehen wir häufig in Analysen
a gg ress iv er Kinder, daß ihre Aggressionen ein Ausdruck der Angst sind,
Aggressionen zu erleiden, aber suchen wir dann in ihrer Geschichte nach
Motiven für diese besondere Form der Angstabwehr, so finden wir, daß sie
so zugleich ihre Rache- und Haßtendenzen für erlittenes Unrecht abzuführen
versuchen. Vielleicht findet die Angstabwehr Dornröschens deshalb einen
so sadistischen Ausdruck, weil Dornröschen mit ihrem Vater zerfallen ist:
Du, der sonst so Vorsichtige, Liebevolle, hast mich an meinem gefährlichen
Tag im Stich gelassen, mich der bösen alten Mutter ausgeliefert, so räche
ich mich dafür an allen Männern.
Die Dornenhecke läßt auch an die Genitalbehaarung der Frau denken,
die den Kindern und dem Neurotiker so viel Grauen erweckt. Die Pubertäts¬
riten der Primitiven befehlen an manchen Stellen, daß den Mädchen vor
ihrem Exil Haare geschnitten werden, ln Südostafrika wird den Mädchen
am Tage nach der Beschneidung das Kopfhaar glatt rasiert. Bei einem Stamm
Südbrasiliens muß das Mädchen so lange Fleischgenuß meiden, bis ihr das
wegrasierte Haar über die Ohren gewachsen ist. Ist so Haarschur äquivalent
der Kastration, so entspräche es dem wunscherfüllenden Charakter des Mär¬
chens, daß das Haar so gewaltig wächst. Als ob Dornröschen sagte: ich
lasse mich nicht kastrieren, im Gegenteil, es wächst bei mir und wächst
immer mehr, so sehr, daß ich kastrieren kann. Wir werden hier an das
lange Haar des Rapunzel erinnert, das in einem anderen deutschen Volks¬
märchen ebenfalls von einer Zauberin in einem Turm versteckt gehalten
wird und dem die Zöpfe so lange herunterhängen, daß die Zauberin daran
hinaufsteigen kann. Aber im Geheimen steigt auch der junge Königssohn
an ihren Flechten zu Rapunzel hinauf, bis die Alte den Betrug merkt, dem
Rapunzel die Zöpfe abschneidet und sie fortjagt. Den Königssohn zieht die
Alte an den abgeschnittenen Zöpfen Rapunzels hinauf, er aber, als er die
alte Hexe statt Rapunzel vor sich sieht, springt herunter, zersticht sich in
den Dornen vor dem Turm die Augen, so daß er blind wird. Auch in diesem
Märchen könnte also wie in Dornröschen ein Zusammenhang zwischen Haar,
Dornen und Kastrierung des Mannes erdeutet werden, obwohl hier die
kastrierende Frau eine Mutter-Imago ist, Rapunzel selbst keineswegs so wie
Dornröschen den Mann ablehnt.
Imago XIX.
33
Steff Bornstein
614
Schließlich ist aber auch die Sexualablehnung Dornröschens zu Ende
Den Mann, der die weibliche Sexualität nicht fürchtet (trotz der Warnung
des alten Mannes wagt sich der Königssohn an die Dornenhecke),
weil er selbst nicht so viel sadistische Impulse zu verdrängen hat, läßt Dorn-
röschen ohne Angst an sich heran. Die Dornenhecke laßt ihn unbeschädigt
hindurch; es waren jetzt lauter große, schöne Blumen, die taten sich von
selbst auseinander und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke
zusammen. Dornröschens vaginale Potenz ist erreicht, nachdem sie ihre Angst
vor dem Mann überwunden und ihre kastrativen Impulse gegen ihn auf¬
gegeben hat. Nun stimmt auch ihre sinnliche Liebe mit der zärtlichen
überein. Das Märchen hebt hervor, daß sie den Königssohn ganz freundlich
anblickt, als er sie mit einem Kuß aus dem Schlafe weckt. Und da die
genitale Angst überwunden ist, darf auch die prägenitale Lust triumphieren
Dornröschens ursprünglich gegen den Mann gerichteter Sadismus kann jetzt
in einer Art von Sublimierung auf andere Objekte verschoben werden: die
Magd rupft das Huhn, und der Koch darf nun endlich, nachdem er hundert
Jahre die Hand zum Schlag ausgeholt hielt, dem Küchenjungen die ver¬
diente Ohrfeige geben. Auch orales Glück erwacht zu neuem Leben: „das
Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen, der Braten
fing an zu brutzeln.“ Auch die Initiationsriten endeten mit einem festlichen
Schmaus. —
Wir stehen vor dem Problem, wodurch die Spontanheilung Dornröschens
hervorgerufen wurde. Die lange Zeit, die seit der Begegnung mit der bösen
Spindelfrau vergangen ist, hat Dornröschen die Deflorationswunde ver¬
schmerzen lassen. Sie ist nun auch kein kleines Mädchen mehr, sondern
ein zur sexuellen Reife aufgeblühtes. Wenn das Märchen die Wartefrist
auf hundert Jahre abrundet (die Exilzeit der pubertierenden Mädchen der
Primitiven erstreckt sich bei verschiedenen Völkern über einen Zeitraum
von zwei Monaten bis zu sieben Jahren), so zählt es, wie die Kinder zählen,
für die hundert ein Synonym für sehr viel ist. Die Enthemmung Dorn¬
röschens, die sich uns in ihrem Erwachen aus dem Schlaf und in dem
Sichöffnen der Dornenhecke darstellt, führt das Märchen auf das Aufhören
des Fluches der bösen weisen Frau zurück, der sollte ja hundert Jahre
wirksam sein. In anderen Worten: Dornröschen kann erst einen Mann lieben,
wenn es die Mutter erlaubt, wenn sie die Mutter als Rivalin nicht mehr
zu fürchten braucht.
Die Sexualität verbietende Mutter wird im Märchen durch die dreizehnte
weise Frau und durch das spinnende alte Mütterchen im Turm dargestellt,
Das Märchen vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung
5i5
während die reale Mutter Dornröschens Frau Königin ist und mit der Tochter
schläft. Das Märchen tut etwas, was uns aus Kinderanalysen bekannt ist: Die
jVlutter wird in eine geschätzte, nachgiebige, gute und in eine böse, verbietende
aufgeteilt, und wir erleben es gelegentlich, daß uns in der Übertragung
die Rolle der einen zugeschoben wird, während von der anderen berichtet
oder phantasiert wird. Dies entspricht aber nicht etwa einer Erkenntnis,
daß im Menschen Gutes neben Bösem vorhanden ist oder der Erfahrung,
daß die Mutter einmal freundlich und einmal streng ist; die Aufteilung der
Mutter entspricht vielmehr der Spaltung im Innern des Kindes: da ist
die Mutter, wie sie dem Ich des Kindes sich im Alltag zeigt, eine Schicht
tiefer lebt aber die bereits verinnerlichte Mutter-Imago, die so sadistisch ist,
wie sie in der sadistischen Periode der frühen Kindheit von dem schwachen
Ich des Kindes aufgefaßt wurde. Die reale Mutter Dornröschens sagt: „Mein
Kind, es tut nichts, daß du schlafen mußt, sieh, wir gehen auch schlafen,
und wir wachen auch nicht auf, ehe du aufgewacht sein wirst.“ Die ver¬
innerlichte Mutter aber sagt: „Ich liebe dich nur, solange du brav und ein
unschuldig Kind bist, wirst du dich sexuell betätigen und einen Mann
haben wollen (fünfzehn Jahre alt werden), so lasse ich dich sterben.“ In
jenen Zeiten, deren Spuren wir durch Parallelen mit den uns bekannt
gewordenen Initiationsriten der primitiven Völker auch in deutschen Märchen
aufzufinden glauben, war es einfach für die so schwer gequälten Mädchen,
ihre Mütter für so sadistisch zu halten, wie sie unsere kleinen Mädchen
heute in ihren verdrängten Phantasien wähnen. Die fortgeführten Erfahrun¬
gen der Kindergenerationen mußten im Laufe der Jahrhunderte die Angst¬
bereitschaft der Kinder größer machen. Vermutlich konnte mit der größeren
Angst der Kindergenerationen der Sadismus der älteren Generation geringer
werden, weil der aus Angst nicht mehr begehrliche Jugendliche nicht mehr
gefürchtet zu werden brauchte, — die ehemals so grausamen Pubertätsriten
konnten bis auf die Reifeprüfung für die Gymnasiasten und die Backpfeifen
für die Lehrlinge herabgemildert werden. Es wäre aber ein spielerischer
Mißbrauch der Phylogenese, wenn wir sie in der Analyse des Individuums
zur Verantwortung mit heranziehen wollen. Hier müssen wir in der indivi¬
duellen Vergangenheit nach realen Anlässen für die phantastischen Vorstel¬
lungen suchen, um therapeutisch zu wirken.
Hätten wir im „Dornröschen“ tatsächlich eine Phantasie eines heute
lebenden Mädchens, das sich in der Heldin darstellt, zu untersuchen, so
stünden wir vor dem Problem, welche Momente in Dornröschens früher
Kindheit ihr Über-Ich so streng gemacht haben. Wir würden in dem Bild
33
Stell Bornstein
6 l6
des hundertjährigen Schlafes eine Neigung unserer Patientin zu Dämmer
zuständen, zur Abwendung von der Realität wiederfinden und müßten uns
sagen, daß eine so gründliche Ablehnung des Lebens als Antwort auf die
ersten sexuellen Versuchungen der Pubertät und die ersten genitalen Er¬
fahrungen der Frau (Menstruation, Defloration) ein übermäßig strenges
Über-Ich zur Voraussetzung haben müsse. Nur wenige Daten aus Dornrös¬
chens Kindheit stehen uns zur Verfügung. Wir erfahren, daß Dornröschen
ein sehr braves, verständiges und sittsames Kind ist und daß jedermann
es dafür liebt, wir haben also ein Kind vor uns, dessen ÜberTch-Bildung
zur Zufriedenheit der Erwachsenen gelungen ist. Wir wissen aber aus
Analysen und Erfahrungen der Pädagogik, daß so günstige Resultate fast
nur da erzielt werden, wo das Kind einerseits Liebe erfuhr, andererseits
um die Erhaltung der Liebe bangen mußte, so daß ein Ungehorsam gegen¬
über elterlichen Verboten einer Herabsetzung des Geliebtwerdens gleich¬
gekommen wäre.
Wie sehr der Vater Dornröschen liebt, wird im Märchen eingehend
berichtet. Von der Liebe der Mutter kein Wort. Wir entdecken sie aber
in den Liebesgaben der zwölf weisen Frauen, die der Vater einladet, „damit
sie dem Kind hold und gewogen wären“. Ausdrücklich hervorgehoben
werden nur drei: Schönheit, Reichtum, Tugend. Wir sehen: während der
Vater das Kind liebt, ganz abgesehen von seinem Wert von Geburt an
liebt, legt die Mutter Wert auf seine Tugendhaftigkeit. Aber ihre Forde¬
rungen dürften für Dornröschen nicht schwer zu erfüllen sein, da Ver¬
sagungen, die eine Tugend erforderlich macht, ausgeglichen werden mit
narzißtischen Ersatzbefriedigungen. Denn die Mutter will zwar das Kind
tugendhaft, sorgt aber auch für seine Schönheit — und nichts stärkt den
Narzißmus eines weiblichen Wesens mehr als Schönheit — und gibt dem
Kind Reichtum, erleichtert ihm also die Selbstbehauptung in der Außen¬
welt. Die dreizehnte weise Frau klärt uns vollends über den Inhalt der
verlangten Tugend auf: sie ist gleichbedeutend mit Kindbleiben, mit Ver¬
zicht auf erwachsene sexuelle Wünsche, denn nur bis zum fünfzehnten Jahr
darf Dornröschen am Leben bleiben. Will Dornröschen sich die Liebe
ihrer Mutter erhalten, so muß sie sich mit ihrem Verbot identifizieren,
und je schwerer es ihr der liebende und somit verführende Vater macht,
in ihren Liebeswünschen auf die Identifizierung mit der Mutter zu ver¬
zichten, um so strenger muß die Identifizierung mit der Sexualität ver¬
bietenden Mutter werden. So scheint Dornröschens strenges Über-Ich ein
vorwiegend durch den Einfluß der Mutter erworbenes. Indessen dürfte auch
Das jM.ärdien vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung
6l 7
die Erziehungsrichtung des Vaters keinen geringen Anteil an Dornröschens
Erkrankung in der Pubertät haben. Der Vater ließ ja alle Spindeln im
Reiche verbrennen, ließ das Kind in einer unrealen Welt aufwachsen, damit
ihm kein Schaden geschehe. Dies abnorme Maß an Behüten und Verhüten-
wollen macht, daß Dornröschen unaufgeklärt und völlig unvorbereitet ihre
ersten erwachsenen Erfahrungen macht. Die schockartige Wirkung des
traumatischen Erlebnisses im fünfzehnten Jahr ist dann eine uns verständlich
erscheinende Folge.
Das Märchen aber, als ein Kunstprodukt mit der Funktion eines Mittlers
zwischen dem Über-Ich und den Ansprüchen des Es, bringt ein Kom¬
promiß zustande; dem Über-Ich zuliebe muß Dornröschen in den Dämmer¬
schlaf verfallen und dem Leben fern gehalten bleiben, aber schließlich
darf das Es sein happy end mit der Vereinigung von Mann und Frau
proklamieren.
MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN
über die w eiklichkeit 1
Von
Jtlelene Deutsck
Wien
In der Einleitung zur XXXIII. Vorlesung der „Neuen Folge“ sagt Freud, die
Männer grübelten mehr über das Rätsel Weib als die Frauen. Wie mir scheint
ist die mächtige Neugierde der Frau über das eigene Rätsel ein wichtiges Motiv
für die psychologischen Fähigkeiten, die ihr zuzuerkennen sind. Diese entwickeln
sich par excellence durch das introspektive Insichselbstschauen, durch den bren¬
nenden Wunsch, das Rätsel des eigenen Ichs zu lösen.
Von der Tatsache der menschlichen Bisexualität ausgehend, bemüht sich Freud
dem Begriffe „weiblich“ eine eindeutige Definition zu geben. So bringt uns
diese Publikation eine absolute Klarlegung und Abgrenzung dieses Begriffes.
Freud weist auf die Schwierigkeiten hin, diese Frage vom anatomischen Stand¬
punkte aus zu erklären, da auch bei eindeutigen anatomischen und physio¬
logischen Merkmalen der Genitalorgane und -produkte das Verhältnis von Männ¬
lichkeit und Weiblichkeit in einem Individuum doch sehr verschieden sein kann.
Freud diskutiert nun die Möglichkeiten der Begriffsklärung vom Psycho¬
logischen aus.
Die früher angenommene Identität männlich-aktiv und weiblich-passiv wurde
von Freud längst in Frage gestellt. Diese Identität besteht seiner Ansicht nach
wohl im Sexualakt selbst, verwischt sich aber bereits in den Aktionen der
vorausgehenden Werbung. Er verweist auf die Tierwelt, in der wohl in der
Mehrzahl der Gattungen die Aggressionen der Werbung vom Männchen aus¬
gehen. Doch gibt es auch Tierarten, bei denen diese Aggression vom Weibchen
ausgeführt wird. Als Beispiel dafür darf vielleicht auch das vielbesprochene
Verhalten mancher Spinnen gelten, die sich wohl im Sexualakt selbst passiv,
bei der Werbung jedoch höchst aggressiv verhalten.
Ich muß gestehen, daß ich trotz dieser Argumentation in konservativer Weise
an der ursprünglichen Identität weiblich-passiv festhalten möchte. Der Hinweis
auf die Tierreihe vermochte mich nicht zu überzeugen. Das Verhalten der
Spinnen ist für mich nur Beweis dafür, daß bei dieser Tiergattung die ana¬
tomischen Verhältnisse und psychologischen Vorgänge eine andere Situation
1) Auszüge aus einem Referat über die XXXIII. Vorlesung „Die Weiblichkeit“
aus Sigm. Freuds „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“
(Int. PsA. Verlag, Wien 1953), vorgetragen in der Wiener Psychoanalytischen Ver¬
einigung am 31. Mai 1953.
Uber die Weiblichkeit 5i9
erzeugen als beim Menschen. Ein analoges Verhalten beim menschlichen Weib¬
chen müßte wohl als „männlich“ qualifiziert werden. Erinnern wir uns, daß
unser Unbewußtes gerade die Spinne als männlich-aktiv anzusehen gewohnt ist.
In den Äußerungen des Unbewußten, etwa im Traum, wird die Spinne als
Symbol der „phallischen“, der „männlichen“ Frau verwendet.
Zur Unterstützung meiner konservativen Anschauung möchte ich mir erlauben,
schon hier einige Argumente vorzubringen. Wir wissen, daß an der Schwelle
der Aktivität die Aggression steht. Wir wollen hier gewisse biologisch vorge¬
zeichnete, quantitative Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen, auf die
Freud aufmerksam macht, vernachlässigen und die Aggression als Vorstufe der
Aktivität bei beiden Geschlechtern in den frühinfantilen prägenitalen Phasen
betrachten. Wir wissen, wie im Laufe der Sexualentwicklung die aggressiven
Tendenzen der oralen und analen Phase in die aktiven der phallischen ver¬
arbeitet werden. Die analytische Beobachtung lehrt uns, wie häufig der Umstand,
daß die Aktivität von den Aggressionen nicht genügend losgelöst wurde, zur
Ursache der Potenzstörung wird. Aus Angst vor den eigenen Aggressionen wird
dann dem Organ die Erlaubnis zur aktiven Funktionsleistung verweigert.
Ich darf mich hier auf eine frühere Arbeit berufen , 1 in der ich die Penis -
losigkeit des Mädchens in erster Linie für die Entstehung des weiblichen Maso¬
chismus verantwortlich zu machen versuchte. Dasselbe gilt, wie ich glaube, auch
für die Entstehung der Passivität, an der ich als integrierenden Bestandteil des
Begriffes „weiblich“ festzuhalten versuche. Während sich die Aggression des
Knaben in die Aktivität seines Organs umsetzt, ist die Entwicklung von Ag¬
gressivität zur Aktivität beim Mädchen an der Organlosigkeit zum Scheitern
bestimmt. An Stelle der Aggression tritt der Masochismus, an Stelle der Aktivität
die Passivität. Diese, durch den anatomischen Unterschied bedingte Entwicklung
ist ebenso für die Entstehung der Weiblichkeit wie auch der passiven und der
masochistischen Regungen verantwortlich.
Freud ist geneigt, für den weiblichen Masochismus konstitutionelle wie soziale
Momente verantwortlich zu machen; die letzteren durch die dem Weibe auf¬
erlegte Unterdrückung der Aggression. Ich würde vorschlagen, diesem Momente
doch nur eine sekundäre Bedeutung zuzuschreiben und die Motive in der diffe¬
renzierenden, anatomisch bedingten Entwicklung der Geschlechter zu suchen.
Gegen die Identität weiblich-passiv weist Freud auf die stark aktive Rolle
hin, die das Weib im Verhältnis zu seinem Kinde entwickelt. Beim Suchen
nach Unterschieden zwischen der weiblichen und der männlichen Aktivität
— Unterschieden, an deren Bestand kein Zweifel sein kann — gewann ich
den Eindruck, daß die weibliche einen eher defensiven Charakter hat und mehr
1) H. Deutsch: Der feminine Masochismus und seine Beziehung zur Frigidität.
Int. Ztschr. f. PsA. XVI. 1930. S. 172 fr.
520
Helene Deutsch
dem Schutze dient, der Abwehr der Gefahren. Sie ist nicht identisch mit der
männlichen Aktivität, die sich dem Leben gegenüber in Offensive befindet u n( j
ihre Kräfte aus dem entwicklungsgeschichtlich erworbenen Drang schöpft die
Aggressionen in Aktivität umzusetzen. Auch hier berufe ich mich auf das un
bewußte Wissen, das die kindliche Phantasie dazu drängt, der aktiven Mutter
— der spinnenhaften — einen Phallus anzudichten und so die Aktivität mit
dem Penisbesitz, d. h. mit der Männlichkeit, gleichzusetzen. Auch die analytischen
Erkenntnisse drängen uns immer wieder dazu, die stärkeren aktiven Tendenzen
im Weibe doch in einen Zusammenhang mit ihrer „Männlichkeit“ zu bringen
Entschuldigen Sie, daß ich vom Wege abgewichen bin und einige Minuten
für die Darlegung eigener Ansichten in Anspruch genommen habe.
Im weiteren Verlauf der Vorlesung verweist Freud auf die Gleichsinnig¬
keiten und Unterschiede der prägenitalen Entwicklungen bei beiden Geschlechtern
Die geringeren Aggressionen, das größere Bedürfnis nach zärtlichen Objekt¬
besetzungen und eine lebhaftere Intelligenz beim Mädchen scheinen für diese
erste Kindheit charakteristisch zu sein. Im großen und ganzen jedoch treten
diese Unterschiede in ihrer Bedeutung gegen die psychische Undifferenziertheit
zurück, die die beiden Geschlechter bis in die ersten Zeiten der phallischen,
beziehungsweise Klitorisonanie begleitet.
Freud geht nun davon aus, daß die Tatsache der Bisexualität, d. h. die Tat¬
sache, daß man die vornehmlich dem Weibe eigenen psychologischen Merkmale
auch beim Manne findet und umgekehrt, die Situation undurchsichtig gestaltet
und dadurch die Definition der Weiblichkeit vom psychologischen Standpunkte
aus unmöglich macht. Zur Klärung des Rätsels Weib schlägt Freud einen anderen
Weg ein, und dieser hängt innig mit der Aufdeckung der präödipalen Phase
der Mutterbindung zusammen.
Wir wissen, daß trotz gewisser biologisch bedingter Differenzen die Bedeutung
des anatomischen Geschlechtsunterschieds bis zur phallischen Entwicklungsphase
auf psychischem Gebiete gering ist. Wir wissen, daß diese Gleichheit der Ge¬
schlechter noch eine Zeitlang auch die phallische Phase begleitet: in der Gleich¬
setzung Penis-Klitoris.
Freud hält in seiner letzten Publikation an der Annahme fest, die auch ich
in allen meinen Arbeiten vertreten habe, obwohl anderweitige Beobachtungen
dies zu verneinen schienen, an der Anschauung nämlich, daß es in der in¬
fantilen Zeit keine maßgebenden vaginalen Sensationen beim kleinen Mädchen
gebe. Im Laufe der Erfahrung ist es mir immer wahrscheinlicher geworden,
daß es sich bei den Angaben, die in diese Richtung weisen, um eine Ver¬
wechslung zwischen genitalen und analen Sensationen handeln muß, um einen
Irrtum, der um so verständlicher ist, als die Lokalisierung der Empfindungen
hier besonders schwer ist. Die wahre Einsicht, daß es sich dabei um anale
Lustempfindungen handle, kann man aus den Inhalten der Phantasien jener
Uber die Weiblichkeit
5äi
infantilen Lebensphase gewinnen. Im Zentrum dieser Phantasien steht unzwei¬
deutig das anale und nur das anale Kind.
Das Fehlen der vaginalen Sensationen hat schwerwiegende Folgen für die
weitere Sexualentwicklung des Mädchens.
Die zweite große Schwierigkeit, auf die Freud immer hin weist, ist der
Objektwechsel, die Herstellung der weiblichen Ödipussituation.
Freud widmet einen Teil dieser Vorlesung Erwägungen über die präÖdipale
Mutterbindung, in deren Schicksalen der mächtigste Faktor auch für die Ge¬
staltung der späteren Beziehung zum Vater gegeben ist. In der Phase der prä-
ödipalen Mutterbindung selbst, scheint der Vater nur die Rolle eines lästigen
Rivalen zu spielen.
Die letzten Publikationen Freuds haben uns gezeigt, daß wir die Beziehungen
der Kinder zu den Eltern zu stark im Bilde des Ödipuskomplexes gesehen und so
z. B. gerade in der Einstellung des kleinen Mädchens zum Vater die ursprüng¬
liche präödipale Mutterbeziehung vernachlässigt haben. Die „Überschreibung“ der
Mutterbindung auf den Vater, nach dem plastischen Terminus Freuds, die Fort¬
setzung der libidinösen Struktur, die an der Mutter gebildet wurde, ist eine
der jüngsten Erweiterungen unseres Wissens.
Freud weist nun auf jene pathologischen Prozesse hin, deren Spuren in die
Zeit der ersten präödipalen Mutterbeziehung führen. Hieher gehören die Ver¬
giftungsängste der Paranoia, die mit der oralen Mutterbeziehung zusammenzu¬
hängen scheinen, und vor allem die hysterischen Verführungsphantasien, deren
Held sich in der Analyse immer als der Vater enthüllt, der aber doch als ein
Träger der „Überschreibung der Mutterbeziehung“ zu erkennen ist. Den realen
Kern zum Phantasiegebilde hat die wirkliche Verführung durch die Mutter er¬
geben, die bei verschiedenen Handlungen zur Pflege und Ernährung des Kindes
einmal real zur sexuellen Lust verführt hatte.
Die Quellen und Motive dieser ersten Mutterbindung sind uns so klar, daß
wichtiger und schwieriger die Frage erscheint, welche Motive das Mädchen
zur Aufgabe des Mutterobjekts und zur Bildung der heterosexuellen Strömungen
veranlassen.
Freud zeigt nun, daß die Lösung von der Mutter durch die Wendung der
Liebe in Feindseligkeit und Haß vor sich geht. Dieser Weg kann zu großen
Komplikationen führen. Die Übertragung der ursprünglichen Mutterbeziehung
auf den Vater, die von Freud so genannte „Überschreibung“, die nunmehr vor
sich geht, kann gerade unter dem Zeichen dieses Mutterhasses stehen und die
spätere Beziehung zum Manne beeinträchtigen. In dem Konflikt zwischen der
positiven Vaterübertragung auf das neue spätere Objekt und der Mutterfeind¬
seligkeit, die mitübertragen wird, kann es geschehen, daß das ganze Liebes¬
und Eheleben von Ambivalenzkämpfen erfüllt wird. Zahlreiche Beispiele aus
der analytischen Praxis stehen hier zur Verfügung; das einleuchtendste Beispiel
Helene Deutsch
5aa
gibt uns Freud durch den Hinweis auf jene Fälle, bei denen sich erst di
zweite Ehe der Frau glücklich gestalten kann, nachdem die Haßreaktion gegen
die Mutter in der ersten Ehe ausgelebt ist.
Auch wird der libidinöse Haushalt in einer dreieckigen Beziehung sehr häuft*
durch die Spaltung des Ambivalenzkonfliktes auf zwei Männer bestritten die
wohl beide eine Vaterübertragung bilden können, von denen aber nur der eine
die Mutterüberschreibung an sich zieht. Gewöhnlich ist der Gatte, seltener der
Geliebte das Objekt der negativen Regungen und der Spaltung des Ambivalenz
konfiikts; wenn es der Liebhaber ist, so ist er sozusagen gerufen worden die
Ehe positiv zu gestalten, indem er die aggressiven Reaktionen der Frau an sich
zieht. Manchmal wechseln die Männer von Zeit zu Zeit ihre Rolle. Ich habe
in den letzten Jahren den weiblichen Partner eines solchen Dreieckes analysiert
in welchem sich die schwersten Komplikationen abspielten. Meine Patientin
konnte sich durch Jahre hindurch von keinem der beiden Männer trennen, obwohl
beide auf eine Lösung drängten. In der Analyse erwies sich der Ehemann als
eine Verdichtung einer Vater- und Mutterübertragung; dieses ist mir erst klar
geworden, nachdem ich den Begriff der „Überschreibung“ kennengelemt hatte.
Der Geliebte in diesem Dreieck entsprach dem zärtlichen und gewährenden
Vater, der frei von jener verhängnisvollen „Überschreibung“ war. Unter der
Wirkung der von der Analyse vermittelten Einsicht brachte es die Patientin
zustande, sich von dem Gatten scheiden zu lassen. Die Liebe zum Geliebten
jedoch verblaßte bald danach, denn sie hatte nur den Wert einer komplemen¬
tären Ergänzung zu der anderen Vaterbeziehung, die die überaus starke, ur¬
sprüngliche Mutterbindung repräsentierte.
Eine andere, häufig zu beobachtende Komplikation dieser Haßwendung entsteht
dadurch, daß die Schuldgefühlsreaktion schon in dieser präÖdipalen Zeit das kleine
Mädchen dazu drängen kann, den Haß zu unterdrücken und der Mutter in
neurotischer Bindung treu zu bleiben.
Die Frage nach den Motiven dieser Haß Wendung ist eines der wichtigsten
Probleme der Freudschen Publikation. Wie wir später sehen werden, ist eines
dieser Motive die eigentliche Quelle zur Weibwerdung, weil es nur für das
Mädchen spezifisch ist und weil es direkt vom anatomischen Geschlechtsunter¬
schied abhängig und durch ihn bedingt ist.
Die anderen Motive sind beiden Geschlechtern gemeinsam. Sie allein sind,
wie wir beim Knaben sehen, nicht genügend, um normalerweise das Verlassen
der Mutter als Liebesobjekt zu provozieren. Nur unter bestimmten, bereits ab¬
normen Bedingungen können sie zum Anlaß werden, daß sich auch der Knabe
von der Mutter wegwendet oder doch in ewig vorwurfsvollem Ambivalenzgefühl
bei ihr verbleibt.
Zu diesen Motiven gehören vor allem die Versagungssituationen, von denen
die mächtigste und allgemeinste, am tiefsten konservierte, die orale ist. Die
Uber die Weiblichkeit
5 a3
orale Versagung ist jene erste große menschliche Enttäuschung an der Mutter,
u nd das analytische Studium pathologischer Prozesse hat uns eine Fülle von Er¬
scheinungen gezeigt, die das Resultat dieser Enttäuschungsreaktion darstellen.
Schon in seiner früheren Publikation über die weibliche Sexualität führte Freud 1
die weibliche Paranoia auf die orale Mutterphase zurück; von dort schöpfen
die Vergiftungszwänge ihre Kräfte. Auch der kriminelle Typus der Giftmischerin
entsteht, wie ich in einer in Vorbereitung befindlichen Arbeit an Hand zahl¬
reichen Materials zu beweisen versuche, aus Rache für die orale Versagung,
in der die einstmals vergiftende Mutter jetzt vergiftet werden muß. Unter dem
von mir gesammelten Material, das aus analytischen Reobachtungen und Berichten
Über Kriminalfälle besteht, findet sich auch der Fall einer jungen Frau, die
in Paris ältere, zimmervermietende Frauen unter dem Vorwand aufsuchte, sie
wolle ein Zimmer mieten. Im Verlaufe der Unterhandlungen pflegte sie ihren
Opfern vergiftete Bonbons anzubieten, die sie zu mörderischen Zwecken mit sich
führte. Wie sie vor Gericht gestand, war das einzige Motiv zu dieser Handlung
der ungeheure Lustgewinn, den sie aus dem Anblick oder der Vorstellung der
Qualen schöpfte, an denen die ihr bis dahin unbekannte Frau zu leiden hatte.
Ein anderes Motiv zu Haßreaktionen gegen die Mutter ist die Geburt von
Geschwistern, die in der präödipalen Phase als schwere Liebesuntreue der Mutter
gewertet wird. Dieses Ereignis bekräftigt die erste Gruppe von Enttäuschungs-
motiven dadurch, daß die Befriedigung verschiedener Sexualwünsche oraler,
analer und genitaler Natur, die einmal von der Mutter gewährt worden ist, nun¬
mehr aber schon versagt wird, dem Neugeborenen bei der intensiven Körper¬
pflege und Ernährung doch gewährt wird; die Enttäuschungsreaktionen des
älteren Kindes werden so verstärkt.
Alle diese Enttäuschungsreaktionen, gestützt durch die Tatsache der Ambivalenz
infantiler Regungen im allgemeinen, könnten uns vielleicht als genügendes Motiv
zum haßerfüllten Verlassen der Mutterbindung erscheinen. Die Erfahrung lehrt
uns aber doch, daß sie beim männlichen Kinde nicht genügen und daß bei diesen
etwas Exzeptionelles dazutreten muß, um ein Verlassen der Mutter hervorzurufen.
Hier also tritt uns zum ersten Male aus der Undifferenziertheit der Kindheit
etwas entgegen, was von nun an dem Mädchen den Stempel der Weiblichkeit
aufdrücken wird. Dieses spezifische Moment erweist sich, wie wir sehen werden,
— um es noch einmal zu wiederholen — als direkte und unmittelbare psychische
Folge des anatomischen Unterschiedes und liegt im weiblichen Kastrationskomplex.
Die Entdeckung des Geschlechtsunterschiedes, die Anerkennung der Tatsache
ihres Penismangels mobilisiert im kleinen Mädchen den Penisneid und im Zu¬
sammenhang damit Wut gegen die Mutter, die nun für den Penismangel ver¬
antwortlich gemacht wird. Dieser Vorwurf gegen die Mutter ist das kräftigste
1) Über die weibliche Sexualität. Int. Ztschr. f. PsA. XVII, 1931. S. 517 ff.
Helene Deutsch
624
und mächtigste Motiv, um sie als Liebesobjekt aufzugeben. Der Vorwurf der
schweren narzißtischen Kränkung wird um so stärker ausfallen, je stärker die
Mutterbindung war; hier werden noch andere Strömungen wirksam, die mit der
Mutterbindung Zusammenhängen. Die eine besteht in dem Wunsche, die Mutter
lieben zu können und von ihr geliebt zu werden; mit der Entdeckung des
Geschlechtsunterschiedes erwacht im kleinen Mädchen der Verdacht, die Mutter
versage sich ihr, weil sie keinen Penis besitze.
Ein anderes verstärkendes Motiv geht daraus hervor, daß allmählich der Ver
dacht oder die Sicherheit entsteht, daß die Mutter seihst auch keinen Penis be¬
sitze, also seihst so entwertet sei wie das kleine Mädchen. Freud erinnert uns
hier daran, daß die Hoffnung des kleinen Mädchens, doch noch einmal einen
Penis zu bekommen, oft vom erwachsenen Weibe als Forderung und Erwartung
in die Analyse gebracht wird. Ich glaube, daß wir weiblichen Analytiker unter
dieser Forderung der weiblichen Patienten viel mehr zu leiden haben als die
männlichen Analytiker unter der analogen Forderung der Patientinnen, ihnen ein
Kind zu gehen. Ist doch der Peniswunsch aggressiver, trotziger als die weibliche
Forderung nach dem Kinde, um so mehr als in der Mutterübertragung der weib¬
liche Analytiker immer für die Penislosigkeit verantwortlich gemacht wird.
Ein häufiges Motiv für die Wahl des weiblichen Analytikers ist die Hoffnung,
eine vollwertige, penisbesitzende Mutter zu finden. Eine meiner Patientinnen
verfiel in eine tiefe Depression, als in einer Gesellschaft von einem Analytiker
die Rede war, der mir überlegen sei. Die Tatsache, daß ein Mann mehr sei als
ich, brachte das ganze infantile Material des Vorwurfes gegen die Mutter, sie
sei weniger als der Vater, zutage.
Die Entdeckung der Kastration ist also, wie schon erwähnt, der entscheidende
Moment der Wegwendung von der Mutter. Nicht ganz so befriedigend scheint
mir die Erklärung der nächsten Phase in der Entwicklung, nämlich die der Zu¬
wendung zum Vater. Ihr Motto ist die Hoffnung auf die Erfüllung des genitalen
Wunsches, vom Vater im Liebesakt den Penis zu bekommen, der in einer
weiteren Phase der Entwicklung zur Weiblichkeit gegen den Kindeswunsch
ausgetauscht wird.
Die Zuwendung zum Vater ist, wie mir scheint, darüber hinaus auch vom
Schicksal der aggressiven Strebungen der prägenitalen Phasen abhängig. Ich habe
in früher schon erwähntem Zusammenhang zu zeigen versucht, daß die aggressiven
und aktiven Tendenzen der prägenitalen und der phallischen Phase beim Mädchen
am Mangel des aktiven Organs, also an den anatomischen Gegebenheiten zer¬
schellen. Das Entwicklungsschicksal der Aggressionen beim Knaben liegt in ihrer
Überführung zur Aktivität des genitalen Organs. Beim Mädchen führt die Organ-
losigkeit zur Wendung der Aggressionen gegen das eigene Ich und zu einer maso¬
chistischen Einstellung zum Vater. Die Wendung zum Vater als Objekt ist hier
also auch durch das Triebschicksal bestimmt, indem die aggressiven und aktiven
Uber die Weiblichkeit
5a5
Strebungen in masochistische und passive gewendet werden. Hier darf ich nochmals
auf meine weiblich, passiv und masochistisch gleichsetzende, konservative An¬
schauung zurückgreifen. Diese Gleichsetzung läßt sich hier neuerlich durch den
Hinweis darauf stützen, daß das von Freud hervorgehobene zentralste Motiv zur
Entwicklung der Weiblichkeit ebenso zum Motiv des Passivitätsschubes und des
weiblichen Masochismus wird. Dieses Motiv liegt im anatomischen Geschlechts¬
unterschied und im weiblichen Kastrationskomplex. Wenn ich mir so die Frei¬
heit gestattet habe, vom klaren Gebäude der Freudschen Gedankengänge etwas
abzuweichen, so sei das dadurch entschuldigt, daß ich, obgleich ich Gedanken¬
gänge vertrete, die mir seit langem vertraut geworden sind, mir dabei der
Schwäche meiner Argumentation dennoch bewußt bin. Es liegt mir ferne, dem
Weibe jede Aktivität abstreiten zu wollen. Auch das weibliche Wesen hat eine
Phase, vielleicht eine recht lange, der Undifferenziertheit durchgemacht. Wir
wissen, daß die Aktivität eine Fortsetzung dieser undifferenzierten eher männ¬
lichen Vorzeit darstellt, derart, daß sich die alten aggressiven Triebe zur Aktivität
fortentwickeln. Es ist natürlich, daß im weiblichen Wesen diese Vorzeit fort¬
wirkt und daß trotz des Passivitätsschubes infolge der bisexuellen Anlage vieles
von alten Aktivitäten im weiblichen Wesen zurückbleibt. Sie sind im Weibe
aber nur trotz und manchmal sogar gegen ihre Weiblichkeit vorhanden. Wenn
sie ein bestimmtes Maß übersteigen, werden sie zum Bestandteil des Männlichkeits-
komplexes.
Ich darf mit Freud hier daran erinnern, daß die Frau nicht nur ein Trieb¬
wesen ist. Ihr Ich steht im Verhältnis zur Außenwelt, die zur Aktivität drängt,
es wehrt sich aktiv gegen die masochistischen Triebforderungen und vielleicht
um so stärker, je stärker diese Komponente der triebhaften Weiblichkeit aus¬
gefallen ist. In der Auffassung der „Weiblichkeit“ als Triebwesen decken sich
doch die Begriffe weiblich-passiv-masochistisch.
Kehren wir zum Gedankengang Freuds zurück. Mit der Aufdeckung der
Penislosigkeit entsteht im kleinen Mädchen ein starker Impuls, die nun un¬
befriedigende Onanie aufzugeben. Wir wissen alle aus analytischer Erfahrung,
daß die Phantasien der Klitorisaktivität nicht immer einen aktiven, der Mutter
als Objekt geltenden Inhalt haben. Auch die masochistischen Vergewaltigungs¬
phantasien, in deren Zentrum der Vater steht, benützen die Klitoris als Abfuhr¬
organ. Zu den von Freud angegebenen Motiven, aus denen das kleine Mädchen
die Onanie aufgibt, versuchte ich schon früher einmal, ein anderes anzugeben,
das bereits innerhalb des Passivitätsschubes liegt und eine Angstreaktion auf
die masochistische Gefahr bedeutet.
Freud macht uns hier auf die Wichtigkeit der verschiedenen Onanieformen
der frühen Kindheit für die spätere Neurose und Charakterbildung aufmerksam.
Die Abwehrkämpfe beim Mädchen scheinen sehr kompliziert zu sein, und ich
darf an dieser Stelle auch auf einen zuweilen vernachlässigten Umstand auf-
5a6
Helene Deutsch.
merksam machen. Beim Mädchen tritt nach dem Aufgeben der Klitorisonanie
eine Phase auf, in der es ohne ein bewußtes und aktives Dazutun onanistische
Befriedigung erreicht. Diese versteckte Onanie hat beim Mädchen andere Formen
als die unbewußte Onanie beim Knaben. Bei diesen spielt sie sich viel häufiger
aktiv in Ersatzhandlungen und Organ Verschiebungen ab. Zupfen an einem Kleidungs
stück, an der Nase oder am Ohrläppchen ist bei Knaben viel häufiger als
beim Mädchen. Die latente Onanie der Mädchen spielt sich in den Phantasien
ab, ohne aktive Betätigungen, und der Drang dieser Phantasien wird außerordent¬
lich häufig nicht mehr der Klitoris, sondern der Analgegend zugeführt. Ich
glaube, daß sich die Beobachtungen der vaginalen Reizzustände eben auf diese
Phase der latenten Onanie beziehen, wobei die anale Reizung fälschlich als
vaginale angenommen wird. Ich glaube auch, daß die Umstellung des Peniswunsches
auf den Kindeswunsch in der Phase der latenten Onanie entsteht und daß die
anale Reizabfuhr auch diesen ersten Kindesphantasien durchwegs den analen
Charakter gibt.
Freud macht uns hier aufmerksam, daß der Wunsch nach einem Kinde
vom Vater eine Vorgeschichte hat. Der ursprüngliche Wunsch stammte noch aus
der Zeit der Mutterbindung und entsprach der Mutteridentifizierung, indem
das kleine Mädchen in der Umwandlung der passiven Rolle des kleinen Kindes
in die aktive der Mutter sich selbst so manche ihr versagte Wünsche er¬
füllen konnte.
Freud weist darauf hin, daß es vor der Stabilisierung des weiblichen
Wunsches nach einem Kinde vom Vater noch eine Beziehung zum Kinde gibt,
die ich vor Jahren „parthenogenetische Phantasie“ genannt habe, in der der
Vater selbst keine oder eine verleugnete Rolle spielt. Die Befriedigung liegt
da im Besitze einer neuen Körperlichkeit. Dadurch wird die Genese des Kindes¬
wunsches als Penisersatz ins Zentrum gebracht.
Freud macht uns hier wiederum auf den Unterschied aufmerksam, der
zwischen den Geschlechtern im Verhältnis des Ödipuskomplexes zum Kastrations¬
komplex besteht. Dieser schwerwiegende Unterschied ist uns bereits so vertraut
geworden und läßt sich in wenigen Worten ausdrücken: Die Kastrationsangst
zwingt den Knaben, die Ödipuseinstellung aufzugeben, ihr Erbe liegt in der
Bildung des Über-Ichs. Beim Mädchen dagegen ist der Kastrationskomplex das
Motiv zur Bildung des Ödipuskomplexes, und der Wegfall der Kastrationsangst
erlaubt dem Mädchen unbestimmt lange in der Liebe zum Vater zu verharren.
Die geringere Stärke der Über-Ich-Bildung beim Weibe führt Freud auf diesen
Umstand zurück.
Ich möchte mir hier einen kleinen Abstecher ins Feministische erlauben.
Vielleicht könnten wir statt „ein schwächeres Über-Ich“ ein „anderes“ sagen.
Die Tatsache, daß die Frau unter dem Drucke des Schuldgefühls genau die¬
selben Neurosen bildet wie der Mann, legt Zeugnis ab für dieselben grausamen
Uber die Weiblichkeit
627
Fähigkeiten ihres Über-Ichs. Die andersartige Gestaltung ihres Über-Ichs scheint
von mehreren noch wenig berücksichtigten Momenten abzuhängen. Ihre erste
Idealbildung wurde unbestreitbar an der Mutter gewonnen und mündet in die
Phase der präödipalen Mutterbindung. Die erste Mutter-Imago hat noch nichts
mit der späteren Entdeckung zu tun, daß die Mutter ein Sexualwesen ist. Diese
stammt erst aus der Ödipusphase. Wir wissen, zu welchen Enttäuschungs-
katastrophen an der Mutter die Entdeckung ihrer Sexualrolle für das kleine
Mädchen führt. Die Verleugnung der Mutter als Sexualwesen geht parallel mit
der eigenen Sexualhemmung des kleinen Mädchens, und was sie an der Mutter
zu verleugnen versucht, wird an der eigenen Person als Keuschheitsforderung
fortgesetzt. Dazu kommen noch die Einflüsse der Erziehung und der Gesell¬
schaftsordnung, die dem Mädchen ein viel größeres Ausmaß von sexuellem Ver¬
zicht auferlegten. Infolgedessen sind die Über-Ich-Forderungen des Weibes mehr
auf die Hemmung der Sexualität als auf soziale Werte gerichtet. Diesen Tat¬
bestand verrät schon der Sprachgebrauch. Sagt man von einer Frau sie sei an¬
ständig, eine „anständige Frau“, so meint man, sie habe keine Liebesverhält¬
nisse, sie sei unsexuell und monogam, wie man einmal die Mutter gewünscht
hatte. Der Begriff Anständigkeit beim Mann hat selten mit seinem Sexual¬
verhalten zu tun. Die Umwälzung der sozialen Verhältnisse läßt vor unseren
Augen auch eine Umgestaltung des weiblichen Über-Ichs in statu nascendi sicht¬
bar werden. Es bleibt ungewiß, wohin diese Entwicklung führen wird.
Bei der Besprechung des Männlichkeitskomplexes macht Freud neuerlich be¬
sonders auf die Bedeutung der präödipalen Phase für die Entstehung der Homo¬
sexualität aufmerksam, für die früher nur der Männlichkeitskomplex verant¬
wortlich gemacht worden ist.
Der Satz Freuds „Frigidität ist manchmal psychogen und dann der Beein¬
flussung zugänglich, in anderen Fällen legt sie die Annahme einer konstitutio¬
nellen Bedingtheit, selbst den Beitrag eines anatomischen Faktors, nahe“ darf
als Anerkennung meiner vielfach bestrittenen Ansicht, daß die Frigidität nicht
immer ein neurotisches Symptom sei, aufgefaßt werden. Freilich hatte ich versucht,
meine Auffassung auf die normalen Schicksale der Libido des ^Veibes zu stützen.
In der Folge bespricht Freud einzelne weibliche Charaktereigenschaften und
Schicksale. Der weibliche Narzißmus und die stärkere Tendenz zum Neid werden
auf die Penislosigkeit zurückgeführt. Auch hier möchte ich als Verteidigerin
auftreten. Ich glaube, daß der männliche Neid nur etwas andere Formen an¬
nimmt als der weibliche, ihm aber an Intensität nicht nachsteht. Ich habe auch
im allgemeinen den Eindruck, daß es nicht die Besitzlosigkeit allein ist, die den
Neid schafft. Wer nichts hat, will etwas haben, wer etwas hat, will mehr be¬
sitzen, und schon der kleine penisstolze Junge schaut mit genau so neiderfülltem
Herzen auf den Besitz des älteren Bruders, des großen Nachbars, und umsomehr
des Vaters wie seine penislose Schwester auf den Besitz des kleinen Jungen.
5a8 Helene Deutsch: Uber die Weiblichkeit
Auch eine Erklärung jener Fähigkeit der Frau, die sie zur Erfinderin des
Flechtens und Webens gemacht hat, wird uns hier gegeben. Ein Stimulans
dazu liegt in der schamhaften Tendenz der Frau, den Genitaldefekt zu v er
bergen, und als natürliches Vorbild diente die verhüllende Genitalbehaarung
Freud spricht dann von dem Einfluß, den die Geburt eines Kindes auf die
Gestaltung der Ehe hat: Wie da die Identifizierung mit der Mutter mobilisiert
wird und wie die Umwandlung des Eheverhältnisses nach dem Vorbild der
elterlichen Ehe vollzogen werden kann; wie dieses Ereignis der Geburt, das
so geeignet ist, die mütterliche Einstellung zu erwecken, auch den Männlich-
keitskomplex befriedigen kann. Wiederum, wie schon in seinen früheren Arbeiten
betont Freud, daß die einzige unambivalente menschliche Beziehung die der
Mutter zum Sohne ist. Zu dieser Ambivalenzfreiheit trägt auch der Umstand
bei, daß der Besitz des Sohnes ein restloser Ersatz für die Penislosigkeit ist und
daß hier der Frau Gelegenheit geboten wird, den eigenen unbefriedigten Ehrgeiz
auf den Sohn zu übertragen. Die Einzigartigkeit dieser Beziehung besteht wohl
auch, wie mir scheint, in der Tatsache, daß hier ein menschliches Wesen imstande
ist, zugunsten eines anderen auf jede narzißtische Befriedigung zu verzichten.
Eine weitere unerwartete Einsicht danken wir dem letzten Abschnitt des
Kapitels: Vom Anbeginn unserer analytischen Erkenntnisse sind wir gewohnt
gewesen, die Mutteridentifizierung der Frau und die Mutterübertragung des
Mannes bei beiden Geschlechtern in die Phase des Ödipuskomplexes zu ver¬
legen. Mit der Aufdeckung der präödipalen Mutterbindung beim Weibe mußte
man zur Differenzierung dieser Mutteridentifizierung in eine präÖdipale und
eine spätere aus dem Ödipuskomplex stammende schreiten. Die erstere beruht
auf der zärtlichen Mutterbindung und ist — wie Freud sagt — für die Zu¬
kunft des Weibes die entscheidende. Während die aus dem Ödipuskomplex,
die feindselig-aggressive, gegen die Rivalin gerichtete Kräfte mobilisiert, liefert
die zärtlich-präödipale die Fähigkeit zu jenen Eigenschaften, die die mütterlich¬
zärtliche Geste des Weibes bestimmen und die größte Anziehung für die ödipalen
Strebungen des Mannes bedeuten. „Man hat den Eindruck“, sagt Freud, „daß
die Liebe des Mannes und die der Frau um eine psychologische Phasen¬
differenz auseinander sind.“
Freud bespricht zum Schluß die geringere Sublimierungsfähigkeit der Frau,
die ich meinerseits auf die Absorbierung der Sublimierungskräfte für die Fort¬
pflanzungsfunktion zurückzuführen versucht hatte.
Auf einen für die analytische Therapie besonders wichtigen Umstand macht
Freud noch aufmerksam. Er ist der Meinung, daß eine Frau mit dreißig
Jahren ein fertiges, in den Libidopositionen bereits erstarrtes und unveränder¬
liches Wesen besitzt, das den Einflüssen der Analyse wenig Möglichkeiten bietet,
in scharfem Gegensätze zum Manne, der mit dreißig Jahren unfertig, zu allen
Neueroberungen und Entwicklungen fähig ist.
Psychopathologie alltäglicher telepathisch
Erscheinungen 1
Von
Istvän Hollos
Budapest
Freud 2 hat sich in seiner Arbeit über Traum und Telepathie dagegen ver¬
wahrt, als hätte er in okkultem Sinne Partei genommen, und bedauert, „daß
es so schwer ist, solchen Eindruck zu vermeiden“.
Ich glaube, man kann diesem Eindrücke überhaupt nicht entgehen. Er¬
scheinungen nämlich, welche unserem naturwissenschaftlichen Denken diametral
widersprechen, sind geeignet, in uns die einstige, überwundene, magische Arbeits¬
weise gefühlsmäßig anzuregen. Der wissenschaftlich Denkende wird damit
nicht gleich zur Infantilität regredieren. Die Existenz der Infantilität jedoch ist
ewig, wie es der Traum, der Schlaf und die psychopathologischen Erscheinungen
im Alltagsleben jedes Menschen dokumentieren. Die immerwährenden Allmachts¬
wünsche müssen rege werden, wenn dem Beobachter Fakten vorgelegt werden,
welche die ausschließliche Möglichkeit der psychischen Macht über die sonst
unerbittliche physische Realität ahnen lassen, bei welcher, ohne Zuhilfenahme
unserer sensiblen und motorischen Mechanismen, doch reale Befriedigungen erlebt
werden. Dies wären also die telepathischen, telekinetischen, tele plastischen usw.
Phänomene, bei welchen von der Ferne, d. h. allein von unserer Willens¬
allmacht abhängig (willing game), unsere Gedanken sich übertragen, Tische
sich in die Höhe erheben und Materien erschaffen werden. Die Untersuchung
solcher Fragen muß scheitern, wenn diese in uns erweckten Allmachts¬
wünsche bei der Arbeit nicht ständig kontrolliert werden. Diese Regung
kann die Arbeit in zweifacher Weise vereiteln. Es gibt Forscher, bei denen
einfach der unerledigte infantile Wunsch nach dem Wunder, für sie selbst
unerkannt, am Werke ist. An Stelle einer Selbstkontrolle tritt hier dann eine
peinliche exakte Prüfung, ein Beschreiben, Beleuchten, Photographieren und
Abwägen usw. des Untersuchungsobjektes. Indem solcherart der Forscher sich
beruhigt, objektiv vorgegangen zu sein, kann der latente Wunsch unbeobachtet
durchbrechen und auf dem Wege gröbster Täuschungen Beweise einstiger magi¬
scher Allmacht liefern. Die andere Einstellung repräsentieren jene, die jede
„okkulte“ Erscheinung a limine mit der Begründung zurückweisen, daß schon
die Zulassung einer ernsten Beschäftigung mit solchen Fragen dem naturwissen-
1) Nach einem Vortrag in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung am
io. Juni 1952.
2) Freud: Traum und Telepathie. Ges. Schriften. Bd. III. S. 304.
Imago XIX.
34
53o
Istv^n Hollös
schaftlichen Denken widerspricht und eines Forschers unwürdig ist. Hiebei besteht
die Angst, in schlechten Ruf zu geraten und zum Phantasten herabgewürdigt
zu werden. Diese Angst ist nicht so unberechtigt, sie zeigt an, daß man ein
Phantast nicht nur scheinen, sondern hinter dieser Angst tatsächlich auch sein
kann. Dieses Zurückschrecken vor gewissen Tatsachen, ja bloß vor ihrer Kenntnis¬
nahme beweist gerade keine große Sicherheit in der naturwissenschaftlichen
Denkweise. Es spricht von einer Unerledigtheit infantiler Allmachtsgedanken,
deren Wiedererwachen unbewußt gewünscht, bewußt jedoch eben deswegen
peinlichst befürchtet wird.
Gegen Fehlgriffe dieser Arten kann uns die Lehre der Psychoanalyse ge¬
eignete Hilfe bieten, indem sie uns die Entwicklung unseres Seelenlebens er¬
kennen und unseren ewigen Hang zur Infantilität bekennen lehrt. Durch
die ständige Kontrolle und auch die Korrektur der Auswirkungen des Lust-
Unlust-Prinzipes kann einerseits das Realitätsprinzip vor einer Überrumpelung
gesichert, anderseits aber auch eine streng objektive Beobachtungsmethode durch¬
geführt werden. Inwiefern mir dies in dieser Arbeit gelungen ist, mögen jene
beurteilen, denen der schwere Weg durch ein gefährliches Neuland zwischen
dem Wunsche nach unserer einstigen Allmacht und der blinden Flucht vor der¬
selben — als Überkompensierung — bekannt ist.
Die Erscheinungen, über welche ich hier berichte, sind nicht Ergebnisse von
Experimenten. Sie sind spontane, zumeist anspruchslose Vorkommnisse des Alltags¬
lebens. Auch dadurch unterscheiden sie sich von dem bekannten Material der
Okkultistik; sie sind keine „großen Wunder“. Doch haben auch sie einen „wunder¬
lichen Charakter“. Während man aber von den großen zumeist nur zu hören
und zu lesen bekommt, werden diese von jedermann spontan selbst erlebt. Es sind
dies jene sonderbaren Vorkommnisse, die momentan verblüffend und unwahrschein¬
lich wirken, aber eben wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit einfach als Zufälle abgetan
werden. Auch ich hatte sie lange Zeit so aufgefaßt. Da sie sich jedoch besonders
in einem ernsten Abschnitte meines Lebens auffallend oft wiederholten, ent¬
schloß ich mich, ihnen eine gewisse Beachtung zu schenken. Dies mußte ich
um so mehr, da sie sich nicht nur wiederholten, sondern auch mit der Zeit
eine Konsequenz der Bedingungen erkennen ließen, unter welchen sie er¬
schienen. Diese Gesetzmäßigkeit widerspricht der Natur des Zufalls. Bald stand
ich diesen wie den alltäglichen psychopathologischen Erscheinungen gegenüber,
welche einst ebenfalls als Zufälligkeiten aufgefaßt wurden, bis die Psychoanalyse
deren psychologische Gesetzmäßigkeit enthüllte. Die Beobachtungen, welche sich
zumeist während der analytischen Kur zwischen dem Arzte und dem Patienten
ergaben, erstrecken sich auf nahezu zwanzig Jahre. Pünktliche Notizen hatte
ich erst seit zehn bis zwölf Jahren gemacht. In Kollegenkreisen habe ich
dieser Sonderbarkeiten öfters Erwähnung getan, und fast jeder konnte von
ähnlichen Erlebnissen berichten. Ja, die endgültige Anregung kam von Ferenczi
Psydiopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 53,
vor vielen Jahren, der mir bei einer ähnlichen Besprechung von einer In¬
duktion des Unbewußten sprach.
Trotz der allgemeinen Bekanntheit solcher Vorkommnisse ist meines Wissens
keine Arbeit über solche Beobachtungen erschienen. Eine bemerkenswerte Aus¬
nahme, in welcher von einem, den meinigen ähnlichen Falle berichtet wird,
bildet die Mitteilung von Helene Deutsch . 1
Wahrend der genannten Beobachtungszeit sind die notierten Fälle auf über
fünfhundert gestiegen. Der Raum dieser Mitteilung erlaubt jedoch nicht alle
anzuführen.
Die Erscheinungen sind spontan und, wie gesagt, experimentell nicht hervor¬
zurufen, denn ihr Wesen widerspricht dem Experiment, wie auch kein Ver¬
sprechen experimentell hervorgebracht werden kann. Sie bestanden hauptsächlich
darin, daß ich an etwas dachte und der Patient von derselben Sache zu sprechen
anfing. Wir wissen, daß unsere Gedanken von dem gerade besprochenen Thema
oder von der freien Assoziation des Kranken oft abschweifen. Dies ist einesteils
unvermeidlich, andernteils eine Folge unserer frei schwebenden Aufmerksamkeit,
wobei unsere Kollateralgedanken nicht nur nicht stören, sondern in gewissen
Schranken bei der- Arbeit nützlich verwertet werden können.
Die erste Bemerkung, die ich hier vorangehen lassen muß, ist die Distink¬
tion, welche ich bei jedem Falle unternehmen mußte, um mir nur reine“
Fälle zu vermerken. Ich muß bemerken, daß ich als vollwertig nur jene Fälle
notierte, in welchen die Gleichheit des Gedankens des Patienten mit mei¬
nem Gedanken ohne jedwede Vermittlung der Sinneswerkzeuge
entstand; jene daher, welche nicht einem Gespräch folgten, welches uns beide
zu weiteren Assoziationen in derselben Richtung führen könnte. Hier muß eine
scharfe Kritik geübt werden, die sich trotz aller Behutsamkeit oft unzulänglich
erweist und die Aufnahme auch unreiner Fälle unvermeidlich macht. Aber es
ergaben sich Fälle, wo solche Besorgnisse überhaupt nicht in Frage kamen. Man
kann von autochthonen, eigenen Gedanken sprechen, mit welchen ich zum Bei¬
spiel frühmorgens an die Arbeit ging, und der Patient begann in der ersten
tunde mit dem ersten Satz von diesen meinen Gedanken zu sprechen.
Auch muß ich der Schwierigkeit gedenken, die sich während der Nieder¬
schrift vorliegender Mitteilung ergab. Es stellte sich bald heraus, daß die Fälle
viel mehr vom Seelenleben des Beobachters aufdecken, als es konventionell
angenehm ist. Daher war es oft schwer, mit dem Opfer des sich Entblößens
so weit zu gehen, als es die Klarstellung des Materials erforderte. Ich hoffe
1) Helene Deutsch: Okkulte Vorgänge während der Analyse. Imago XII. 1026. S 418
Auch muß ich hier der Arbeit Freuds „Traum und Okkultismus“ (Neue Folge der
. ZU " Einführung in die Psychoanalyse, S. 42) gedenken, die an meinem im Juni
dort U fT n V ° r , t i rage mchtS andert und k ann hier nur auf die Ähnlichkeit des
dort behandelten Falles (Forsyth) mit den hier folgenden Fällen hinweisen.
34 *
53a
Istvan Hollos
jedoch, den Mut aufgebracht zu haben, der Forderung, die der wissenschaftliche
Ernst stellt, auch möglichst Genüge zu tun.
Zuletzt muß noch bemerkt werden, daß jeder einzelne Fall für sich
eigentlich eine Enttäuschung hervorrufen wird. In dem Moment, in welchem
man von telepathischen Erscheinungen spricht, wird die Erwartung wieder aus
infantilen Gefühlen heraus, hoch gespannt, und man meint Wunder zu hören zu
bekommen. Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit auf den Umstand lenken,
daß der Zuhörer denselben Weg in Kürze durchmachen muß, den ich im Laufe
von Jahren gemacht habe. Nach sehr vielen ähnlichen Erscheinungen begann
ich nicht nur nicht mehr Zufälle zu sehen, sondern eine spezielle Bedingung
derselben zu beobachten. Was mir den Mut zur Veröffentlichung dieser Arbeit
gab, war gerade diese und eine andere Gesetzmäßigkeit, unter welcher die
einzelnen Fälle standen. Mit einem Gesetz wird die Zufallsmotivierung
entkräftet.
Ich werde hier von zwei Arten von Gesetzmäßigkeiten sprechen:
A. Eine Bedingung, unter welcher die telepathischen Erscheinungen stets zu
Tage treten.
B. Die Art, in welcher sich die Erscheinungen selbst zeigen.
A. Zur Illustration der Bedingung werde ich vorderhand zwei Fälle anführen:
Fall /. Ich denke während der Stunde an einen anderen Patienten, der
mir viel Sorge machte. Der Fall könnte doch organisch sein. Ich war nicht
genug behutsam, ich hätte vor Beginn der Kur eine Blutuntersuchung — ob
Wassermann positiv oder negativ — machen lassen müssen. Das ist mein
sorgenvoller Gedanke.
In dem Moment setzt der Kranke ein:
„Wenn ich von der Angelegenheit nur wüßte, ist es ein Positivum oder
ein Negativum.“
Fall 2. In der Inflationszeit wollte ich mir eine neue Wohnung kaufen. Ich
dachte daran, daß ich einem Freunde vor Monaten zehn Millionen Kronen
geliehen hatte, die der Freund mir, falls ich sie brauchte, zurückzuzahlen versprach.
Zu diesen zehn Millionen, dachte ich, werde ich jetzt noch zehn Millionen
von ihm ausleihen. Bei Beginn der Stunde einer Patientin, die sich verspätet
hat, dachte ich, zehn Millionen und zehn Millionen seien zwanzig
und damit kann ich schon etwas anfangen. Sie begann:
„Ich hatte noch Zeit, war hungrig, wollte noch etwas essen gehen, dachte:
zehn Minuten hin, zehn Minuten zurück, wird noch langen ....
Aus den mitgeteilten zwei Fällen ist zu ersehen, daß ich an etwas dachte,
was mich affektbetont beschäftigte. In dem ersten Falle war ich besorgt um
einen Kranken, im zweiten Falle um eine Wohnung. In beidei^ kommt nocn
der affektiv störende Gedanke hinzu, daß ich mich von meiner Pflicht auf Kosten
des Kranken entfernt habe. Es entsteht eine Spaltung zwischen dem Wunsche,
Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen
533
meinen Gedanken nachzugehen und zwischen meinem Gewissen, das sich diesen
Wünschen entgegengesetzt. Ich will die störenden Elemente in ihrer realen Er¬
scheinung vor dem Patienten verheimlichen und auch innerlich verscheuchen.
Dies gelingt oder gelingt nicht, je nach der Stärke des Willens und der Wünsche.
Aber nicht das Resultat dieser Kräfteverhältnisse ist für uns wichtig, sondern
der sehr bezeichnende Zustand selbst. Es ist nicht die Verdrängung als Resultat
etwa im Unbewußten, sondern ein dynamischer Zustand, eine Verdrängungs¬
tendenz, die sich durch den ganzen psychischen Apparat, vom Ich wahrscheinlich
durch das Vorbewußte bis ins Unbewußte zieht. Ich halte es für nötig, diesen
sonst bekannten Tatbestand zur späteren Verwertung in dieser Form zu präzisieren.
B. Zur Illustrierung der Gesetzmäßigkeit im Phänomene selbst, sollen hier
mehrere Fälle stehen:
Fall 3 . Ich habe mir vor Beginn der Arbeit beim Öffnen einer Konserven¬
dose den Finger verletzt und mir während der Stunde plötzlich Gedanken darüber
gemacht, ob das IVIetall nicht rostig gewesen sei und eine Blutvergiftung ver¬
ursacht habe.
Der Patient spricht von einem Manne und erzählt, daß derselbe einmal
renommierend ein Taschentuch mit Blutflecken als Trophäe einer Defloration
vorzeigte, doch „das Blut hatte nicht die typische rostige Farbe“.
Fall 4. Die Fälle häuften sich, wie schon erwähnt, besonders in einem Zeit¬
räume, welcher Umstand für die späteren Ausführungen bedeutsam sein wird.
In dieser Zeit war eine liebe, mir in Freundschaft nahestehende Tante im
Sterben. Ich litt viel um sie. Dieselbe hatte einen Sohn im Kriege verloren;
nach vielen Recherchen war es wahrscheinlich, daß er in einem galizischen
Dorfe begraben lag. Ihr innigster Wunsch war, die irdischen Reste des Sohnes
nach Hause führen zu lassen. Sie beauftragte mich, noch zu ihren Lebzeiten
diesen Wunsch zu erfüllen, und übergab mir ein Röntgenbild von einem Arm-
bruch und eine Aufzeichnung des Zahnarztes über das Gebiß des Sohnes, damit
ich bei der Exhumierung den Toten agnosziere. Die Ausführung dieser Aufgabe
verzögerte sich und wenn dies auch nicht aus meinem Verschulden geschah, be¬
drückte mich die Angelegenheit. Eines Morgens nahm ich die Röntgenbilder,
Dokumente usw. zu mir. Am Anfang der ersten Stunde griff ich scheinbar ziellos
gerade in die Tasche zu dem Paket, was ein Aufflackern des Komplexes dieser
peinlichen Gefühle und Gedanken zur Folge hatte. Die Patientin fing die Arbeit
folgen der weise an:
„Ich hatte heute einen Traum von einer Köchin, namens Rosa, die vor vielen
Jahren bei mir im Dienste stand und aus merkwürdigen Gründen plötzlich aus
dem Dienste ging. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß ihr Vater, der Fried¬
hofswächter war, nächtlich die Toten exhumierte, um deren Wertgegenstände
zu stehlen. Die Rosa hat aus Scham hierüber plötzlich den Dienst verlassen.“
Die sonst intelligente, sprachkundige Patientin benützte das Wort exhumieren
634
Ist van Hollo,;
und nicht das in diesem Falle richtigere ausgraben. Im Sprachgebrauch wird
das lateinische Exhumieren, obwohl es dieselbe Bedeutung hat, nur bei legaler
Ausgrabung benutzt. Weiter muß bemerkt werden, daß die geliebte Tante auch
Rosa hieß.
Fall j . Dieselbe Tante wurde vor zehn Jahren an einem beginnenden Karzinom
operiert. Seither zeigte sich keine Spur der Krankheit, so daß man im Zweifel
sein konnte, ob das haselnußgroße Gebilde, das einst exstirpiert wurde, wirk
lieh ein Karzinom gewesen war. Nun und jetzt nach fünfzehn Jahren zeigte
sich eine Karzinose des Peritoneums. Da denke ich während einer Stunde-
Nun leider mußte sie damals doch ein Karzinom gehabt haben. Da erzählt
die Patientin einen Traum, wobei sie sagt:
„Sie hatte doch ein Karzinom.“
Fall 6 . Ich war erregt, da der nächste Kranke schon im Wartezimmer war
der in der letzten Stunde seinen Revolver gegen sich gewandt hatte. Er war
ein hitzköpfiger junger Mann. Ich dachte mit Besorgnis daran, er könnte gerade
jetzt im anderen Zimmer seinen Revolver abfeuern; in der Phantasie hörte
ich schon den Schuß. Die Patientin sprach von ihrer'Mutter, die sie nicht in
Ruhe läßt und in der Wohnung zornig herumrennt:
„Dann schießt sie in der Wohnung herum“, sagt sie ungarisch, doch benützt
sie das deutsche Wort in verhunzter ungarischer Wendung — „ schiesszol ide
— oda “. Richtig ungarisch kann man nur sagen: rennt hin und her.
Fall 7. Eine Patientin spricht von einer Abmagerungskur, die sie anfangen
möchte. Da kommt mir ein plötzlicher, unverantwortlicher Einfall in die impera¬
tiven Worte gefaßt: „Gehen Sie ins Wasser“, den ich natürlich verschweige.
Die Patientin fährt dann fort:
„. . . .im vorigen Jahre sind wir jeden Tag bis zum Wasserturm spazieren
gegangen. “
Fall 8. Ich denke an einen Zahnarzt, dem ich telephonieren soll. Der Arzt
heißt Barät. Das Wort bedeutet Freund, doch wird ein Mönch auch barät
(Frater) genannt. Da sagt die Patientin:
„Balzac hatte in Mönchskutte gearbeitet.“ (Mönchskutte = bardtesuha.)
Fall p. Ich schaue in mein Notizbuch und setze um einen Namen aus be¬
stimmten Gründen eine Klammer. Der Patient sagt: „ Inter parenthesim muß ich
bemerken“ (ungarisch: Zdrjeleh kozÖtt ).
Fall IO . Mit derselben Patientin geschah es, daß, als ich gerade ausnahms¬
weise eine Zigarette anzündete und den Namen derselben „Dames“ betrachtete,
sie ausnahmsweise deutsch ausrief:
„Es ist so verdammt“, und setzt dann ungarisch fort, „daß ich der Sache
solche Wichtigkeit beimesse“.
Wir haben bisher festgestellt, daß bei der Entstehung dieser spontanen
Erscheinungen eine Tendenz zur Verdrängung in mir bestand. In all den
535
Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen
angeführten Fällen ist diese Bedingung entweder ohne weiteres ersichtlich oder
sie besteht, ohne daß ich sie aus weiteren subjektiven Gründen erwähnt hätte.
Bei näherer Betrachtung werden wir finden, daß die auftauchenden Einfälle
der Patienten nicht meine Gedanken logisch fortsetzen, sondern in einem frei
assoziativen Verhältnis zu denselben stehen, wie der Trauminhalt
zum latenten Traumgedanken oder ein neurotisches Symptom zu dem
realen Wunsche. Es herrscht der Primärmechanismus. Das ist die Gesetz¬
mäßigkeit, welche sich in dem
Ich denke an die Wassermannsche
Reaktion. '
Zehn Millionen und zehn Millionen
sind zwanzig Millionen.
Rostig, Blutvergiftung.
Ich soll eine Exhumierung auf An¬
trag der Tante Rosa veranlassen.
Ich befürchte, daß ein Schuß ab ge¬
feuert wird.
„Gehen Sie ins Wasser.“
Sie hatte doch ein Karzinom.
Ich rauche Dam es.
Der Zahnarzt namens Bar dt (Freund,
Mönch).
rozeß selbst kundgibt.
Pati ent:
Ein Positivum, ein Negativum.
Zehn Minuten hin, zehn Minuten
zurück.
Das Blut hatte nicht die rostige Farbe.
Traum von der Köchin Rosa, deren
Vater die Toten exhumierte.
Die Mutter schießt herum.
Wir sind täglich zum Wasserturm
gegangen.
Sie hatte doch ein Karzinom.
„Es ist so verdammt.“
Balzac arbeitete in einer Mönchskutte.
Wir hatten vorher hervorgehoben, daß die Bedingung zur Entstehung der¬
artiger Phänomene die Verdrängung sei. Nun wissen wir aber, daß es die
vom Bewußtsein abgespaltenen Gedankenelemente sind, die dem Primärvorgang
verfallen. Und wenn diese Elemente wieder zum Vorschein kommen, wie bei
der Wiederkehr des Verdrängten im Traume oder im Symptome, oder in den
Fehlhandlungen, so verraten sie die Einstellung des Primärvorganges.
Unsere Beispiele der Telepathie repräsentieren einen Vorgang, in welchem
meine verdrängten Gedanken in entstellter Form im Bewußtsein einer anderen
Person auftreten. Diese Gesetzmäßigkeit wird die Aufmerksamkeit des Ana¬
lytikers besonders fesseln. Wenn die als telepathische Gedankenübertragung
beschriebenen Erscheinungen nicht bewiesen sind, so müssen wir doch von
einer sonderbaren Analogie sprechen, welche zwischen einer Fehlhandlung,
besonders zwischen einem Versprechen und diesen hier besteht. Das Versprechen
ist ein verdrängter Gedanke, der sich unter geeigneten Verhältnissen Bahn
bricht und in verstellter Form zum Vorschein kommt. Der ziemlich bedenk¬
liche Unterschied ist hier der, daß während beim Versprechen das Individuum,
das etwas verdrängt hat, sich selbst verspricht, hier ein anderer es ist, bei
J
536
Istvän Holl<5;
dem das Versprechen zum Vorschein kommt. Ich könnte die Sachlage mit den
kuriosen Worten formulieren, daß der Kranke es ist, der „mich verspricht“
Manchmal machen die Fälle auch den Eindruck, als ob die Worte des
Patienten einen Vorwurf gegen mich enthielten. Ein Kollege gab ihnen über¬
haupt die Bedeutung, daß das Unbewußte des Kranken, ihn, den Arzt auf¬
merksam machen will, er solle mehr bei der Sache sein. Allerdings muß bei
diesem Eindruck das Schuldbewußtsein des Arztes eine Rolle spielen.
Fall II. In jener Zeit hatte ich hie und da gezeichnet oder gekritzelt
allerdings sehr behutsam, um den Patienten dadurch nicht zu stören. Bei einer
solchen Gelegenheit sagt die Patientin:
„Der Arzt im Sanatorium zeichnete mir ein solch ödes Leben von meiner
Zukunft. “
Fall 12. Ich zeichnete zwei konzentrische Halbkreise auf einer horizontalen
Linie, und zwei auseinanderstehende Radien darin, als Embleme eines Zirkels;
ich wollte mir gerade ein Reißzeug kaufen. Da sagt der Kranke:
„Nun, es ist unmöglich, daß mein Unbewußtes das gerade so herauszirkeln
konnte, daß die Frau N. in der Umgebung der kleinen Stadt ein Gut hat usw.“
Das Wort herauszirkeln wird im Ungarischen selten benützt ( kicirkalmazni)
und bedeutet „herausfinden“, „schnüffeln von versteckten Verhältnissen“.
Fall Iß. Ich fand gerade eine Zeichnung in meinen Notizen vor, die ich
zur Unterhaltung meines kleinen Sohnes machte und auf welcher ich ihn auf
meinem Nacken trug. Ich betrachtete das Bild und dachte das vor mir
stehende Fenster als Hintergrund dazu zu skizzieren. Auch dachte ich an
einen mir bekannten jungen Maler, der mir die Schwierigkeit der Wieder¬
gabe bei der Zeichnung eines Glasfensters erklärte. Da sagt die Patientin:
„Ich lebe hinter einer Glasmauer; ich bin zwar geboren, aber ich lebe
noch wie ein Känguruh mit meinerMutter.“ Känguruh heißt im Ungarischen
wörtlich: Sohnträger, auch Jungenträger ( Fiahordö ).
Sehr bezeichnend ist, daß Zahlen, an die ich dachte, ähnlich wiederkehren,
wie die Zahlen der rezenten Tageserinnerungen im Traume. Sie werden zumeist
pünktlich wiederholt, jedoch in anderer Anwendung. Die Wiedergabe einer
Relation ist zumeist unverkennbar. Das haben wir schon in dem Falle ge¬
sehen, wo ich an zehn und zehn Millionen dachte und die Patientin von
zehn Minuten hin und zehn Minuten her sprach. Solcherart sind die folgen¬
den Fälle:
Ich denke:
Fall 14. Ich werde eins, zwei, drei, vier
bis zehn Stunden heute haben.
Fall if. Eine Patientin könnte vierund¬
zwanzig Jahre alt sein.
Patient spricht:
„Eins, zwei, drei, vier Besuche werde ich
bekommen, es drückt mich.“
„Jede Minute kommt mir vor, als dauerte
sie vierundzwanzig Stunden.“
m
Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 53^
Fall 16. Es bleiben noch zwanzig Pengö.
Fall iy> leb habe Schnupfen, pflege auf
einmal fünfundzwanzigmal zu nießen.
Der Gedanke war mit einer mir
sehr peinlichen Angelegenheit in Zu¬
sammenhang.
Fall 18. Es waren dreizehn Stunden.
Fall 19. Ich rechne nach der Fließ sehen
Periode, wie oft dreiundzwanzig Tage
seit einem Datum verstrichen sind.
Fall 20, Ich werde zwanzig PengÖ ver¬
langen. Zwanzig heißt im Ungarischen
husz. Der Soldat Husar hat wortwört¬
lich die Bedeutung Preis von zwanzig,
Wert von zwanzig.
Die Fälle, die eigentlich immer unerwartet kommen, haben bei jeder neuen
Erscheinung einen überraschenden Charakter. Es ist das Gefühl, das man auch
bei dem Versprechen oder sonstigen Fehlhandlungen hat, das Gefühl der Über¬
raschung, der Entlarvung und der heimlich-unheimlichen Nähe der unbe¬
kannten Macht: des Unbewußten. Auch bleibt sehr oft die Entbindung der
aufgesparten Kraft des so überrumpelten bewußten Ichs, das Lachen, nicht aus.
Bevor ich weitergehe, muß ich noch von einem subjektiven und objektiven
Umstand dieser Fälle in Kürze berichten.
Gerade dieses subjektive Moment geht bei einer sprachlichen oder schrift¬
lichen Mitteilung zum größten Teile verloren, da das Moment der Unerwartet-
heit hier wegfällt, ebenso wie die wirksamste Situationskomik durch eine
Vorbereitung auf sie, durch Verminderung des überraschenden Elementes, ihre
größte Wirkung einbüßt. Bei privaten Erörterungen solcher Fälle habe ich
oft zu hören bekommen: Ja, dieser Fall überzeugt mich nicht, aber was ich
erlebt habe, das hat schon etwas für sich. Daß hier nicht zuletzt auch wieder
der Narzißmus im Spiele ist, das Wunderbare selbst erlebt zu haben, ist sehr
wahrscheinlich.
Ein objektives Moment ist demgegenüber der Zeitabstand, der zwischen
meinen Gedanken und den „darauffallenden“ Worten des Patienten besteht. Diese
Reaktionszeit ist immer eine kurze Spanne. Die Reaktion kommt, wie ein
Donnern nach dem Blitze, mit dem Unterschiede, daß man bei den Gedanken¬
blitzen keine Ahnung eines darauffolgenden Donnerns hat und nur nach dem
„Donnern“ gewahr wird, daß es vorher geblitzt hat. In ganz krassen Fällen
kommen die Worte des Patienten wie ein prompter Schlag auf unsere Gedanken,
„leb steige zumindest zwanzigmal die
Stiege hinauf.“
„Und wenn mir etwas hier fünfund¬
zwanzigmal einfällt, muß ich es fünf¬
undzwanzigmal sagen?“
Sie hatte die Blutung in ihrem drei¬
zehnten Jahre bekommen.
Bezeichnet das Haus, das im Traume
vorkommt dort, von welcher Richtung
der Bruder von.unter Nr. 23
wohnt.
„Mein Mann verlangte zum Nachtmahl
Husaren rostbraten.“
538
Istvän Hollös
manchmal nach einem längeren Zeitabstand, der jedoch nie über einige Sekun
den währt.
Bisher hatte ich nachzuweisen getrachtet, daß immer ein Verdrängungs-
prozeß in der einen Person und eine Wiederkehr in entstellter Form des
Verdrängten in der anderen Person besteht. Die Richtigkeit dieses Satzes möchte
ich auch in anderer Richtung nachweisen.
Ich konnte konstatieren, daß meine Fälle sich auffällig häuften in den Zeit¬
punkten, in welchen mich das Leben vor schwere Aufgaben stellte, wo ich
Konflikte mit mir oder Besorgnisse hatte. In einer solchen Zeit, vor vielen
Jahren, hatte ich fast mehr Fälle zu konstatieren als sonst in meiner ganzen
Beobachtungszeit. Mit einer gewissen Beruhigung kann ich daher konstatieren
daß in den letzten Jahren die Fälle sich seltener zeigen. Man kennt die
sogenannten kritischen Tage, wo alles „schief geht“ und eine Fehlhandlung
der anderen folgt. Ich hatte in jenen früheren Peiioden kritische Tage zu ver¬
zeichnen, wo ein telepathischer Fall der Spur des anderen folgte.
Besonders bezeichnend sind in dieser Hinsicht jene, an welchen ein, zwei
oder mehr Patienten nacheinander von derselben Angelegenheit sprechen oder
träumen und dies aus einer äußeren, gemeinschaftlichen Quelle nicht begründet
werden kann. Es sollen hier einige solche Fälle stehen:
Fall 21. Eine Kranke (Stunde 10 bis 11) erzählt mir: „Zweimal habe ich
geträumt, daß meine Mutter verrückt geworden ist.“
Die nächste Kranke (Stunde 11 bis 12): „Die Mutter des Hausfräuleins ist
auf die Beobachtungsabteilung überführt worden.“
Die folgende Kranke (12 bis 1), am Ende der Kur, die zur letzten Stunde
kommt, beginnt folgender weise: „Zuletzt bringe ich Ihnen einen verrückten
Traum. “
In allen diesen Assoziationen kommt das Wort verrückt ( bolond ) in dieser
Form vor. In jener Zeit hat mich aus vielen nahegehenden Gründen die Psychose
stark affektbetont beschäftigt. Bemerkenswert ist, wie hier das Wort verrückt
in zwei Fällen auf verschiedene Objekte bezogen, verschoben ward und wie im
Traume und in der WTtztechnik im dritten Falle als Eigenschaftswort (ver¬
rückter Traum) benutzt worden ist.
Fall 22. Eine Patientin träumt, daß sie sehr abgenutzte Pantoffeln trug
und jemand ihre Schuhe angezogen hat.
Fall 2ß. Eine andere Patientin an demselben Tag hatte den Traum, daß sie
Schuhe gewechselt hat, da diese besser wären, doch waren diese auffallend
abgenutzt und schäbig.
An dem Vortage dieser Träume hatte die Patientin mit dem ersten Traum
(Fall 22) nach langer Zeit und großen Widerständen einen Durchbruch ihrer
aggressiven und zärtlichen Regungen in der heftigsten Art kundgegeben. Sie fing zu
schreien und zu jammern an, warf sich zur Erde, schlug um sich und kroch dann
Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen
53 9
zu meinen Füßen, die sie umschlang. Sie kam mit ihrem Gesichte dicht an meine
Schuhe. Die analytische Arbeit in mir, um der Deutung dieser Handlung
nachzuspüren (die Patientin wollte auch die Schuhbänder anzünden), konnte
mich nicht abhalten an ganz persönliche Nebensächlichkeiten zu denken, die
da waren, daß meine Schuhe sehr abgenutzt und schmutzig seien und daß
ich schon lange Zeit zögere, mir neue Schuhe anzuschaffen. Meine weitere
Selbstanalyse erwies nachher, daß der Vorfall in mir tiefe narzißtische Unlust¬
gefühle zurückließ. Diese anhaltende und verdrängte Kränkung meines Narzißmus
konnte verantwortlich gemacht werden für die Erscheinung, daß zwei Patienten
Träume gerade dieses gemeinschaftlichen Inhaltes gebracht haben.
Fall 24. An einem Dienstagvormittag erzählt eine Patientin einen Traum,
in welchem das Sanatorium, wo sie sich auf hält, und ein Liftjunge namens Pista
(StefL) — auch mein Name — vorkommt.
An demselben Tage nachmittags kommt eine Patientin mit folgendem Traume:
Fall 2$, „Ich befinde mich in einem sehr hohen Gebäude und stehe an einem liftartigen Teil ,
cage , Abstieg, Es ist fürchterlich tief und zum Absteigen ungeeignet. Ich überlege , wie denn die Leute
nicht daran denken , daß , wenn ein Gebäude so hoch ist, man herabsteigen könne. Später hing
hier ein Strang, an welchem ich abzusteigen versuchte und besorgt war, ob denn der Strick halten
wird. Das Seil hatte ein Gegengewicht. Unterdessen kam ein kleiner Lift in die Höhe , und ich
denke , ob ich das Seil loslassen soll. Dann lasse ich mich doch hinunter und staune, wie ich
ohne Gefahr hinunter gleit e; doch war ich oben , kam ich wieder hinunter. Dies wiederholt sich
mindestens dreimal. Ich stand steif. Dann erzählte ich dem Herrn Doktor , daß ich so leicht
geschwebt bin, wie dies im Traume zu sein pflegt. Dann antworten Sie, ob man dies nicht
technisch, anstatt chemisch machen könnte .... Die Chemie, die man jetzt betreibt , ist keine
analytische Chemie , nur technische Empirie ... P. (ein bekannter Soziologe und Nationalökonom)
fragt höhnisch: Was ist analytische Chemie?“
Ich analysierte für mich die beiden Träume als die meinigen. In beiden
Träumen fielen mir die auffallenden Bezüglichkeiten zu dem Lift ins Auge.
Schon nach dem ersten Traume von dem Liftj ungen Pista fiel mir ein, daß
vor zwei Tagen, also am letzten Sonntag, ein Wiener Kollege samt Frau und
auch ein Budapester Kollege samt Frau zu uns zu Besuch kamen. Im deutschen
Gespräche machte ich einen groben Sprachfehler. Der deutschen Sprache ziemlich
kundig, mache ich doch manchmal unerklärliche Fehler. Die Gattin des Wiener
Kollegen hatte mich lachend ausgebessert, und ich fühlte mich beschämt. Sie
erzählte sogleich einen ähnlichen Fall von einem Kellner im Hotel, wo sie
wohnten. Der Kellner ist sehr gesprächig, kann jedoch sehr schlecht Deutsch,
hatte sich über Kopfschmerzen beklagt, da, wie er sagte, „hier viel liftiert
wird“. Er wollte „gelüftet“ sagen. Es scheint, daß ich durch dieses „liftieren“
noch mehr gekränkt wurde, als ob ich gedacht hätte: Nun so arg ist es mit
meinem Deutsch noch lange nicht.
Ich hatte diese Erinnerung schon nach dem ersten Pista „Liftjungentraum
beachtenswert gefunden und mit der Sonntagsbegebenheit und dem Traum,
^ 4 ° Istvän Hollos
nach der Stunde notiert. Zufällig bemerkte ich nachher, daß ich diese Notiz
auf dem Umschlagblatte meines Notizheftchens unversehens dorthin geschrieben
habe, wo ich am Sonntag eben diesen meinen Gästen den Grundriß der Irren
anstalt skizzierte, in welcher wir damals wohnten.
Der zweite Traum enthält ein wüstes Gewirr von Liftphantasien und ich
bringe diese, ebenso wie auch im ersten Traume den Liftjungen, in Beziehung
mit jener Begebenheit und meiner Beschämung am Sonntag. Merkwürdigerweise
finde ich in diesem zweiten Traume auch ein Element, das mich an eine
vielleicht an die größte Beschämung meines Lebens erinnern muß.
Ich hatte vor dreißig Jahren eine Arbeit über die Verbreitung der progres¬
siven Paralyse in Ungarn geschrieben. Die Folgerungen, die ich damals auf¬
stellte, würde ich heute nicht im ganzen Umfange aufrechterhalten. Doch hatte
die Arbeit aus ihrer soziologisch interessanten Einstellung in weiten Kreisen
einen ziemlichen Erfolg und im großen Publikum Aufsehen erregt. Zur Beweis¬
führung hatte ich statistische Daten benutzt. Nun, von der Seite der Statistik
wurde meine Arbeit arg angegriffen, und derjenige, der meine Arbeit unhaltbar
fand, war gerade jener Herr P., der mich im Traume höhnisch fragt: Was ist
analytische Chemie? Es muß hinzugefügt werden, daß ich damals eine Polemik
mit P- einging, bei welcher P. noch schärfer erwiderte; eine Gegenantwort
konnte wegen des Widerstandes des Redakteurs der Zeitschrift nicht erscheinen.
Ich hatte zwei Beschämungen zu erdulden; die eine, daß ich eine Spezialwissen¬
schaft zu Hilfe nahm, in welcher ich meine Unzulänglichkeit — allerdings nicht
in jenem Sinne, wie es mein Kritiker fand — anerkennen mußte, zweitens,
daß ich meine Richtigstellung nicht veröffentlichen durfte und den Schein einer
bedingungslosen Waffenstreckung erwecken mußte.
Bemerkenswert ist, daß im Traume auch von einer Spezialwissenschaft —
von der Chemie — die Rede ist, mit welcher die Patientin meine Tüchtig¬
keit vor P. beweisen will, der — vom Hörensagen aus — ein starker Gegner
der Psychoanalyse ist. Bemerkt sei, daß die Patientin davon Kenntnis hatte,
daß ich mich in jener Zeit mit Chemie befaßt habe. Es scheint, daß auch hier
die Träume, wie oben die Assoziationen, in verschobenem Felde an Elemente
rühren, die in mir peinlich sind und einer Verdrängung unterliegen. In diesem
Falle war das Peinliche am Sonntag vorgefallen. Eine solche Beschämung scheint
dazu geeignet zu sein, alle analogen, unlustbetonten Erlebnisse, welche verdrängt
worden sind wie wir das aus der Traumarbeit kennen —, wieder zu er¬
wecken. Somit können, wie beim Entzünden einer Zündschnur, alle abgeblaßten,
vorbewußten, wie auch ins Unbewußte verdrängten, narzißtischen Kränkungen
aufflackern. Dieser Zustand, der bis ins Unbewußte mobilisierten und
aktuell verdrängten Affekte, hier narzißtischer Kränkung, welchen man
aktuell zu verdrängen, beziehungsweise nachzudrängen bestrebt ist, scheint eine
Bedingung der oben beschriebenen Telepathie zu sein. Hier hatten
Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen
5-41
Tagesreste vom Sonntag frühere verdrängte analoge, narzißtische Kränkungen
geweckt, welche man wahrscheinlich bis in die Kindheit verfolgen könnte. Diese
Elemente meines Seelenlebens lassen sich in der Deutung als Traumelemente
beider Traume der Patientinnen auffinden. Ich könnte also daran denken, daß
ebenso wie in den früher mitgeteilten telepathischen Einfällen der Patienten
meine verdrängten Gedanken „versprochenhier meine verdrängten Ge¬
danken von den Patienten geträumt werden.
Es entsteht auch die Frage, von wem die telepathische Übertragung ausgeht.
Man ist nicht immer sicher, ob der Arzt oder der Patient der „Sender“ be¬
ziehungsweise „Empfänger“ ist. Es gibt Fälle, in denen nach dem ersten Eindruck
der Patient meinen Gedanken wiedergab, doch konnte dieser mein Gedanke
schon eine Übertragung von dem Patienten auf mich gewesen sein.
Wir wollen hier solche Fälle betrachten, in denen der Gedanke des Patienten
auf mich übertragen wurde.
Fall 26 . Die Patientin fängt die Stunde mit der Mitteilung an, sie habe
einen Traum gehabt, doch habe sie ihn vergessen. Sie ist, wie gewöhnlich, be¬
ängstigt, steht auf und wie sie es in einem solch erregteren Zustand zu tun pflegt,
geht sie im Zimmer umher, kommt zu meinem Schreibtisch und sieht oben eine
Schrift liegen.
„Eine kuriose Schrift“, sagte sie, „Steilschrift, interessant. Wer mag der Mann
gewesen sein?“
„Ja“, sage ich, „ein interessanter Mann. Ein Mathematiker.“
Nach einer Pause fahre ich fort:
„Ein erstrangiger Mathematiker. Er hielt einmal in einem kleinen privaten
Kreise von Gelehrten einen sehr klaren Vortrag über Einsteins Relativität“.
Dann lasse ich mich sonderbarerweise noch weiter ein:
„In diesem Kreise befand sich auch ein anderer Mathematiker.“ Ich wollte
nicht den Namen nennen, doch fand ich nichts dabei: „Es war Professor B.“
Da schlug sich die Patientin auf die Stirne:
„Von Professor B. habe ich geträumt“, und sie erzählte ihren Traum.
Von diesem Professor war während unseren vielmonatigen Besprechungen
nie ein Wort gefallen. Obwohl sein Name bekannt ist, steht er persönlich uns
beiden ferne.
Wie man bemerken kann, habe ich in diesem Falle eine größere Mitteil¬
samkeit, ich möchte sagen eine überflüssige Redseligkeit bekundet, was im all¬
gemeinen der analytischen Technik widerspricht.
Es gibt zwar Fälle, wo man in dieser Hinsicht eine gewisse Nachgiebigkeit
zeigt, die jedoch immer begründet sein muß. Nun, in diesem Falle wie auch
in anderen späteren hatte ich nachher das Gefühl, daß ich mein Verfahren eher
einer gewissen Laxheit, als einer Zielstrebigkeit zuzuschreiben war. In diesem
Falle konnte ich allerdings nachher konstatieren, daß ich von Satz zu Satz,
Istvän Holld^
542
ohne bewußten Grund von dem Mathematiker weiter und weiter sprach und
wie einem unbekannten Zwange folgend, eine Nachgiebigkeit bewies. Hier ist
es klar, daß ich es war, der den Gedanken (hier den Traum) des Patienten
empfing. Hier bestätigt sich auch, daß der telepathisch in mir empfangene Ge¬
danke des Patienten ein verdrängter, ein vergessener war. Gerade bei dieser
Patientin wiederholten sich ähnliche Fälle öfters.
Fall 27. Die Patientin vergaß wieder ihren Traum. Sie ließ davon ab, das
Vergessene in Erinnerung zu bringen und fing an frei zu assoziieren. Da fiel
ihr ein, daß gestern ihre Mutter eine Geldbörse verloren, dies erst sehr bedauert
sich nachher damit getröstet habe, daß vielleicht arme Leute sie gefunden haben'
Und dann wird der liebe Gott, so sagte die Mutter, ihren Kindern den Verlust
vielfach vergüten.
Da fiel mir eine Begebenheit ein, die uns jedoch anscheinend von unserer
Arbeit weit wegführen hätte können. Nichtsdestoweniger überkam mich eine
unerklärliche Neigung, wenn auch gegen meine Einsicht, die folgende kleine
Geschichte zu erzählen:
»Da fällt mir eine Geschichte aus der Zeit ein“, erzählteich, „als ich noch
in der Irrenanstalt tätig war. Der Oberwärter kam zur Türe gerannt und die
barmherzige Schwester frug den Hinauseilenden, wohin er laufe.
„Ein Kranker ist durchgegangen “, sagt der Wärter außer Atem und will
weiter. Doch die Schwester sagt ihm ruhig:
„Lassen Sie ihn, laufen sie ihm nicht nach, der heilige Antonius wird ihn
schon zurückbringen.“
Bei diesen Worten platzt die Patientin heraus:
„Ich weiß schon den Traum. Vom heiligen Antonius, dessen Kapelle ich
in N. in Italien gesehen habe, fällt mir ein Choral ein, davon habe ich geträumt.“
Fall 28. So ist es auch vorgekommen, daß der Patient meine vergessenen
Gedanken hervorgebracht hat.
Ich dachte an einen Ausflug, den ich in einer mir nicht angenehmen Ge¬
sellschaft hätte machen sollen. Dies war auch wahrscheinlich der Grund, wes¬
wegen mir der Name des geplanten Ausflugsortes entfallen war. Die Stunde
fing an, und der erste Satz der Patientin war:
„Pochenden Herzens denke ich . . .“
Der Name der Anhöhe, mir sonst ganz geläufig, ist „Pochender Stein“
(Dobogokö — dobogö szivvet).
Fall 2y. Ich vergaß den Namen einer Kollegin, sonst ein geläufiges Wort.
Ich dachte den Vormittag öfters daran, aber den Namen konnte ich nicht finden.
Da sprach eine Patientin von einem jungen Manne, an dessen Namen sie sich
nicht erinnern kann.
Ich denke wieder daran, daß ich meinen vergessenen Namen suche, aber
ich habe kaum Zeit nachzudenken, als die Patientin fortfährt:
Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen
543
„Er ist jener gewisse Hajdu, der einen nie erkennt und dessen Namen ich
gestern von einer gemeinsamen Freundin erfuhr/ 4
Die Kollegin hieß Haj du.
In welcher Richtung die Übertragung auch gehe, von mir auf den Patienten
oder vom Patienten auf mich, müssen wir bei einem Erklärungsversuch von
der Libido ausgehen. Bei dieser Gelegenheit werde ich mich jedoch nur auf
Registrierung der Erscheinungen und Umstände beschränken, unter welchen
dieselben entstehen. So viel muß ich jedoch hier vorausschicken, daß eine libidinöse
Besetzung zur Entstehung notwendig ist und, wo keine Übertragung in der Be¬
handlung bestand, auch solche Erscheinungen kaum vorkamen.
Somit kann die Realität des Libidobegriffes und der Übertragung eine neue
Bestätigung gewinnen.
Wenn man neben diesen Phänomenen ähnliche Erscheinungen in Betracht
zieht, die auch außer der ärztlichen Praxis mit Fremden, Unbekannten Vor¬
kommen, so könnte man darauf schließen, daß die Libido einen weiteren
Wirkungskreis hat, als man aus dem Aktionskreise der Sinn es Werkzeuge abzu¬
schätzen gewohnt ist.
Ich werde einige Fälle mitteilen, die außer dem Arzt-Patient-Verhältnis stehen.
Fall Ich hatte eines Abends in einer mich verletzenden Angelegenheit
an einen Herrn telephoniert und mich, durch das Benehmen dieses Herrn auf¬
geregt, dazu hinreißen lassen, das beleidigende Wort: bauernhaftes Vorgehen
{paraszt eljäras) zu gebrauchen. Im Ungarischen ist dies eine schwere Beleidi¬
gung. Nachher bedauerte ich die Unbesonnenheit. Dabei dachte ich auch an die
Möglichkeit, daß mir Unannehmlichkeiten daraus erwachsen könnten. An diesem
Abend begegnete ich einem Freunde und, obzwar mich die Angelegenheit und
hauptsächlich das Wort „Bauer 44 , das ich nicht benutzen hätte sollen, ständig
mit den Gefühlen der Beschämung, des Bedauerns, Unbehagens und einer damals
leicht verständlichen realen Angst beschäftigte, habe ich von der Angelegenheit
nicht geprochen. Mein Freund fing von seinem zwölfjährigen Sohne zu sprechen
an und beklagte sich, daß er in der letzten Zeit öfters Angstzustände habe.
Dann setzte er fort:
„Ich muß bemerken, daß ich in diesem Alter ebenfalls an Angstzuständen
litt. Besonders überkam mich eine Angst, als ich aus unserem Hause“ — sie
wohnten in der damaligen Waitznerstraße — „herauskam und vom Dorfe
Bauern wagen mit Schellen an den Pferden Paradeis brachten“ (Parasztkocsik
paradicsommal). Bemerkenswert ist, daß das Wort, worüber ich mich so auf¬
geregt habe, — Bauer, ungarisch paraszt — im Satze des Freundes zweimal
nachklingt: paraszt-paradicson.
In ganz fremder Umgebung ereignete sich folgender Fall:
Fall JI. Auf einer Reise von Wien nach Budapest nahm ich schon gegen
Ende der Fahrt gelangweilt eine Wiener Zeitung zur Hand, um ein Kreuz-
$44
Istvan Ho11<5^
Worträtsel zu lösen. Inzwischen sprachen zwei fremde Herren im Abteil ziemlich
laut über landwirtschaftliche Dinge. Ich kam bei dem Rätsel dazu, ein Wort
mit sieben Buchstaben „eine griechische Göttin“ zu suchen. Der erste Buch
stabe ist schon bekannt: M; ich denke eine Sekunde nach und sofort kommt
mir die Lösung: Minerva. Doch hatte ich noch nicht Zeit, den Buchstaben i
nach M zu schreiben, als der eine Herr dem andern sagte: „Die Leute kauften
einen Minerva-Wagen.“
Und zuletzt noch einen Fall, den man nur dem Zufall zuschreiben sollte
Fall J 2 . Während der Durchreise in einer österreichischen Stadt mache ich
mir, im Zusammenhänge mit dem Falle eines Bekannten, lebhafte Vorstellungen
darüber, wie sich Ehemänner auf Reisen manche Freiheiten nehmen. Ich stellte
mir die Situation vor, wie ein Mann mit seiner Reisegefährtin in einem Hotel
absteigt und sich und seine Dame als „Herr X und Frau X — Gattin“ meldet
In diesem Moment biegt die Straßenbahn, mit welcher ich gerade fuhr, um die
Ecke und da springen mir die auffallenden Buchstaben einer Firmentafel ins
Auge: Gattinger.
Ich weiß, daß ich durch die Mitteilung dieser letzten Fälle Gefahr laufe, kritiklos
zu erscheinen und auch jenes Vertrauen, das die vorherigen Fälle erwecken
konnten, zu verlieren. Ich kann und darf es auch nicht ausschließen, daß ich
unbewußter weise unter die Macht animistischer Wünsche gerate. Doch dem
wäre auch mit dem Verschweigen dieser so bekannten Fälle „von der Straße“
nicht abgeholfen. Es darf — vor der Untersuchung — der Ungläubig¬
keit ebensowenig Folge geleistet werden wie der Gläubigkeit. Ich
habe mir auch die unglaublichsten Fälle notiert und werde es in einer bevor¬
stehenden Arbeit nicht verabscheuen, in der Menge derselben ebenfalls Ge¬
setzmäßigkeiten zu suchen. Was ich an dieser bisher fand, ist sehr wenig. Manch¬
mal scheinen diese Zufälligkeiten — wie in dem 32. Fall — der Witztechnik
zu folgen. Doch hoffe ich, wenn ich nichts finden kann, auch den Mut zu haben,
die Mutmaßungen nach dieser Richtung hin fallen zu lassen.
* * *
Zum Schlüsse möchte ich hier einige lose Bemerkungen anknüpfen. Fast alle
Fälle müßten weiter analysiert werden. Ich hatte bei der Fortführung der Analysen
mancher Fälle, ebenso wie bei den Analysen der Träume oder Symptome, die
Erfahrung gemacht, daß sie vieldeutig sind und hochwertige Verdichtungen von
verschiedenen Strebungen repräsentieren.
Weiters hatte ich mir eine Theorie dieser telepathischen Übertragung zurecht¬
gelegt. Diese Theorie, von weicher ich heute eingehender nicht berichten kann,
hat eine Geschichte. Wie ich oben schon angeführt habe, sprach ich von diesen
Erscheinungen sehr lange, im Jahre 1915 mit Ferenczi, als wir uns zufälliger¬
weise auf der Reise von Wien nach Budapest auf der Bahn trafen. Damals
PsydLopatkologie alltäglich er telepathischer ErsdieiiiuDgen S^S
befaßte ich mich mit einer anderen Frage, mit dem Problem der Nervenbündel¬
kreuzung. Gemeinsam mit einem Physiker stellte ich die Theorie auf, daß die
Kreuzung beziehungsweise die Achsendrehung der Nervenbündel die Aufhebung
der störenden „Induktionsströme“ bezweckt und nur dort besteht, wo die Nerven¬
bündel nicht korrespondierende Reize leiten. Ich sprach also von einer Nerven-
induktion. Mit dem Worte „Induktion“ machte jedoch Ferenczi eine Wendung
des Themas zu den telepathischen Erscheinungen, die er Induktion des Unbe¬
wußten zweier Personen benannte. Nach vielen Jahren nun konnte ich den Ein¬
fall wagen, daß diese Erklärung der Nervenkreuzung vermitteh-einer „neuromotori-
schen Induktion und jene Induktion der Unbewußten nicht nur zufällig, sondern
auch logisch zu verbinden sind. Wenn nach unserer Theorie eine intra¬
individuelle Nerveninduktion besteht, so kann eine solche auch int er individuell
Torgestellt werden. Diese induzierte Fernwirkung des Nervenreizes im Nerven¬
system könnte dieErklärung der sogenannten telepathischen Wirkungen zwi sehen
den Nervensystemen verschiedener Personen abgeben. Doch glaube ich über diese
Frage bei späterer Gelegenheit eingehender sprechen zu können.
Zuletzt ein Wort über einen Gedanken, der sich einstellen muß, wenn
tatsächlich eine solche Gedankenübertragung zwischen dem Arzte und dem
Patienten während der analytischen Arbeit bestehen würde. Der Analytiker
müßte dann mit solchen Faktoren rechnen, welche ohne sein Wissen und
ohne sein Zutun, also unberechenbar wirksam sind. Ich glaube aber, es wäre
verfrüht, aus diesen Erscheinungen heraus heute praktische Konsequenzen
zu ziehen.
Wenn man jedoch die Technik der Psychoanalyse näher betrachtet, so sieht
sie so aus, als ob sie durch das Gefühl einer solchen unbewußten Beziehung
zwischen Arzt und Patient beeinflußt worden wäre. Allerdings ist es wahr,
daß alles rationell begründet ist: Wir sind berechtigt, unsere eigenen Ein¬
falle in der Deutung der Träume anderer zu benutzen, da in allen
Menschen gemeinschaftliche Mechanismen der Verdrängung, der Abwehr und
Symbolbildung herrschen. Die Bedingung, unter welcher die Einfälle des
Arztes in das Deutungsmaterial des Patienten „hineinpassen“, daß der Arzt
von Komplexen, welchen der Patient unterliegt, frei sei, um frei assoziieren
zu können, ist auch ziemlich rationell. Doch gerade dieser Punkt, die Be¬
dingung der inneren Freiheit des Arztes, kann auf Grund der oben angeführten
Erfahrungen eine tiefere Bedeutung gewinnen. Wir sagten bisher, daß der
Arzt, der mit Eigenkomplexen kämpft, den ähnlichen Klagen des Patienten
gegenüber ebenso verdrängen und abwehren wird wie der Kranke. Mit einer
Heilung, Aufhebung dieser Verdrängung des Arztes selbst, wird er den Ver¬
drängungen des Patienten gegenüber frei und dem verdrängten unbewußten
Material gegenüber empfänglich. Nach den oben angeführten Fällen könnten
wir auch sagen, daß gerade die Verdrängung des Patienten, dem freien emp-
Imago XIX.
55
Istvan Hollös: Psychopathologie alltäglidier telepathischer Erstellungen
fänglichen Unbewußten des Arztes gegenüber die geeigneteste Situation für
eine eventuelle Kommunikation der Unbewußten darstelle.
Wir machen manchmal die Erfahrung, daß nach langer analytischer Arbeit,
trotz entsprechender Deutungen und trotz der Einsicht des Patienten, das
Symptom sich nicht löst, bis plötzlich ein Wort, das sich uns aufgedrängt
hat, wie eine Erleuchtung wirkt. Das alte Problem hat sich gelöst, die
Situation, die vorher nur verstanden wurde, wird jetzt zwingend, überzeugend,
ohne daß wir in dem Worte selbst, das diese Wirkung hervorbrachte, eine
Erklärung dieses Wunders auffinden könnten. Wir erklären den Erfolg aus
der endlichen ^Virkung des Durcharbeitens und der Wiederholung. Diese
Geduldarbeit ist wahrscheinlich zum Erfolge unvermeidlich. Doch sollen wir
nach den vorgebrachten Tatsachen ausschließen, daß das erlösende Wort, das
in seiner Verdichtung den Patienten im Zentrum traf, eigentlich das tiefst-
verdrängte Wort des Patienten war, das dank der günstigen Situation dem
Arzt übertragen wurde?
Wir haben hier eine Vermutung ausgesprochen, die uns Tatsachen auf¬
gebürdet haben. Über ihre Richtigkeit entscheide die Untersuchung, die sehr
kompliziert zu sein verspricht. Und wir wiederholen, daß die von vorne-
herein zurückweisende Haltung des Unglaubens ein hochtrabender Deckmantel
unerledigter Gläubigkeit ist.
Bemerkung der Redaktion
Seit der Niederschrift dieser Arbeit ist auf Grund der jüngsten Ausführungen
Freuds (Neue Folge der Vorlesungen , S. 42ff.) das hier behandelte Thema
innerhalb einzelner Gruppen der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
zum Gegenstand lebhafter Erörterung geworden , in der oft einander wider¬
sprechende Standpunkte vertreten wurden. Im Einvernehmen mit Dr. Hollos
ergeht daher an dieser Stelle an Leser und Mitarbeiter der Imago die Bitte ,
durch — gegebenenfalls nur kurze — Mitteilungen von Einzelbeobachtungen
oder aber durch — etwa auch nur thesenhaft formulierte — Diskussion grund¬
sätzlicher Fragen die Einsicht in den Problemkreis „Psychopathologie alltäglicher
telepathischer Vorgänge 66 zu fördern. Bisher haben Prof. Schilder (New York)
und Frau Dr. Grete Bibring-Lebner (Wien) Beiträge zugesagt.
Die Redaktion.
r
BESPRECHUNGEN
Aus der psyckoanalytiscken Literatur
Bennett, Victoria und Isaacs, jSusan: HealtL. and Education in tlie
Nursery. London, George Routledge, 1932.
Victoria Bennett schildert die körperliche, Susan Isaacs die seelische Ent¬
wicklung des kleinen Kindes. Susan Isaacs’ klare, für jedermann verständliche
Ausführungen über die normale Entwicklung des Kindes mit all ihren Schwierig¬
keiten und Konflikten werden durch reiche Beispiele illustriert. Es besteht
bei psychoanalytischen Schriften über Pädagogik die Gefahr, daß entweder _
aus der Erkenntnis der komplizierten Struktur und der tiefen unbewußten
Determinierungen der Neurose heraus — die Möglichkeiten, sie durch ver¬
nünftige pädagogische Maßnahmen zu beeinflussen, unterschätzt werden, oder
aber, daß gerade unser Verständnis der neurosebildenden Faktoren dazu ver¬
führt, einige dieser Momente herauszugreifen und ein richtiges Verhalten der
Eltern in bestimmten Punkten zum Allheilmittel zu stempeln. Susan Isaacs
entgeht in glücklicher Weise sowohl der Scylla der Unterschätzung wie auch
der Charybdis der Überschätzung pädagogischer Maßnahmen. Ihre auf Ein¬
fühlung, praktischer Erfahrung und theoretischer Erkenntnis beruhenden Rat¬
schläge werden sicherlich in vielen Fällen eine große Hilfe sein.
M. Sdx mideberg (London)
Dell, Floyd: An Autokiograpliical Critique. Psydioanalytic Quar-
terly I, igSa, aS. 716 — y 3 o.
Der amerikanische Dichter Floyd Dell nimmt die Lektüre eines Buches
von Rank zum Anlaß, um an seiner mit überraschendem psychoanalytischem
Verständnis dargestellten Autobiographie, die man besser eine Autoanalyse nennen
könnte, zu untersuchen, welche Motive ihn selbst zur dichterischen Produktion
veranlaßt haben mögen. Die Untersuchung zwingt, Rank, der die Bedeutung
der infantilen Sexualität für die dichterische Produktion neuerdings herabzu¬
setzen versucht, Unrecht zu geben. Die dichterische Produktion erscheint auch
hier wieder, wie Freud uns gezeigt hat, als ein erfolgreicher Ausweg aus
schuldbeladener Introversion, die aus den Kämpfen zwischen Ödipuskomplex
und entgegenstehender Angst entstand. O. Fenichel (Oslo)
Glover, Edward: V^ar, iSadism and Pacifism. London, George Allen
and Unwin, 1933. 148 ^Seiten.
Der Krieg ist bisher mit ethischen und ökonomischen Argumenten bekämpft?
aber nicht vom psychologischen Standpunkt aus untersucht worden. Obzwar
die Richtigkeit der Argumente „Du sollst nicht töten“ und „Der Krieg lohnt
nicht“, wohl kaum angezweifelt wurde, blieb die Propaganda der Pazifisten
ziemlich wirkungslos. Das vorliegende Buch versucht, die Ursachen für diesen
Fehlschlag aufzudecken und das Problem des Krieges psychologisch zu er¬
forschen.
35’
5^8
Besprechungen
Schon die einfache Beobachtung ergibt, daß Kriegshandlungen nicht nur
aus Gehorsam erfolgen, sondern daß bei ihrer Ausführung oft auch bewußt
Befriedigung oder Faszination empfunden wird. Deutlicher äußern sich die
sadistischen Regungen in Ausnahmefällen. Ein Gefreiter, im Frieden ein braver
Kanzleischreiber, benutzte jede Möglichkeit, um gefallenen Feinden die Zähne
zu ziehen. Diese Leidenschaft, die Zähne der Feinde zu sammeln unter¬
scheidet sich ebenso wie das Sammeln von Pickelhauben nicht wesentlich von
den Kopfjagden der Primitiven. Unsere sadistischen Regungen finden — i n
gemilderter Form — ein Ventil, wenn wir z. B., behaglich am Frühstücks¬
tisch sitzend, voller Interesse vom Blutvergießen im fernen Osten lesen. Offener
ist der Sadismus zu erkennen, wenn statt Interesses Schadenfreude empfunden
wird. Der im „Opfern“ der eigenen Angehörigen sich äußernde Sadismus ist
unbewußt. Es ist immer die Generation der Väter, die die Söhne in den
Krieg sendet. (Vgl. Abrahams Opferung Isaaks.)
Wenn sich manche Manifestationen des Sadismus auch deutlich genug be¬
obachten lassen, so sind ihre Wurzeln doch immer unbewußt und infantil.
Der Sadismus wird wesentlich durch Angst verstärkt. Das aggressive Verhalten
eines „schlimmen“ Kindes ist durch Angst bedingt und hört auf, wenn die
Angst sich mildert. Ähnlich darf man wohl annehmen, daß es die Angst ist,
die die Nationen angriffslustig macht. Der Angriff ist die beste Verteidigung.
Diese Angst hat einen weitgehend irrealen Charakter. Ähnlich wie die Primitiven
sich von Geistern verfolgt fühlen und Kinder vor harmlosen Tieren Angst
empfinden, auf die sie ihre eigenen primitiven Regungen projizieren, so
schreiben auch Nationen ihre sadistischen Regungen gerne anderen Völkern
zu. Im Kriege war es immer der Feind, der Verwundete mißhandelte oder
aus Leichen Kerzen fabrizierte. — Eine Phase in der normalen Bewältigung
der Aggression ist die Aufrichtung einer moralischen Instanz im Ich (das
Über-Ich). Auf diese Art wird die Aggression von der Außenwelt abgelenkt
und gegen sich selbst gewendet. Erfolgt dieser Prozeß in extremem Maße, so
entsteht quälende Spannung. Dieser kann man entgehen, wenn es gelingt, die
Aggression wieder gegen die Außenwelt zu richten, wenn man z. B. im Dienste
des Über-Ichs angeblich grausame Feinde angreift. So kann der ursprüngliche
Sadismus durch die Moral verstärkt werden.
Im Kriege, im Lagerleben usw. kommen (sublimierte) homosexuelle Impulse
auf ihre Kosten. Haß und Anstrengungen werden auf den „Feind abgeschoben,
und nun können sich die Gefühle der Liebe den Kameraden (Brüdern) und der
Unterwerfung den Vorgesetzten (Vätern) gegenüber ungetrübt von Ambivalenz
äußern. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird auch durch das Wissen ver¬
stärkt, daß man auf ihren Schutz gegen reale und irreale Ängste angewiesen
ist. So werden Liebesregungen intensiviert, um als Schutz gegen Angst und
Haß zu dienen. Sexualsymbolische Vorstellungen spielen beim Phänomen des
Krieges eine große Rolle. Die „Feinde“ sind immer Männer, nie Frauen.
Man will den bösen Feind (Vater), der die Heimat (Mutter) angreift, Frauen
vergewaltigt, in ein „kleines unschuldiges Land“ einrückt, an seinem Vorhaben
hindern.
Besprechungen
649
Der Masochismus arbeitet dem Selbsterhaltungstrieb entgegen und kann
ihn in extremen Fallen ganz lähmen. Nur durch den Masochismus ist die
Wirkungslosigkeit aller rationellen Argumente gegen den Krieg zu erklären.
Der primäre Masochismus wird sekundär durch den gegen sich selbst gewendeten
Sadismus und durch das Strafbedürfnis verstärkt. Gefahren und Mißhandlungen
befriedigen den Masochismus und versöhnen das Über-Ich. Ein gemäßigter
Masochismus kommt im Genießen des rauhen Lagerlebens und der Disziplin,
in Selbstaufopferung usw. auf seine Kosten. Der moralische Masochismus läßt
sich gegen den bewußten Altruismus nur schwer abgrenzen.
Der Krieg ist ein Versuch, vehemente Triebkonflikte zu lösen, er stellt
einen Selbstheilungsvorgang dar, der der Hoffnung entspringt, einen Zusammen¬
bruch zu vermeiden, der aber in verzweifelter Auflösung endet. Krieg und
Frieden sind keineswegs Antithesen, sondern verschiedene Ausgänge kompli¬
zierter Prozesse. Dem Freigeben vieler sadistischer Regungen im Kriege steht
eine vermehrte Unterdrückung anderer durch strenge Disziplin entgegen. Es
läßt sich mit approximativer Richtigkeit sagen, daß der Krieg einer katharti-
schen Abreaktion entspricht, während der Frieden auf einer Reaktionsbildung
(Abwehr der Aggression) beruht. Doch wäre es z. B. wichtig, die Beziehungen
zwischen dem Interesse für Krieg und dem Interesse für Krankheiten, Unfälle,
Mißbildungen usw. zu kennen und zu wissen, wie Krieg und Kriminalität
sich zueinander verhalten; ob der Frieden zwischen den Nationen die Be¬
kämpfung der Kriminalität und die Justiz zur Voraussetzung hat?
Krieg und Pazifismus haben gemeinsame Wurzeln . 1 Der Pazifist muß den
Krieg bekämpfen, um seine eigenen sadistischen Regungen zu bewältigen. Je
fanatischer ein Pazifist ist, um so mehr wehrt er seinen eigenen Sadismus
ab, den er nicht überwunden hat, und um so eher bildet er eine Gefahr für
den Frieden. Der Pazifist, der etwas „tun“ muß, bewältigt seine Konflikte in
ähnlicher Weise, wie der Zwangsneurotiker, während der Mann aus dem Volke,
der nicht einmal von etwas hören will, was an den Krieg erinnert, dem
Hysteriker, der seinen Konflikten durch Amnesie entgeht, entspricht.
Die Befürchtung, „Noch ein Krieg, und das Ende der zivilisierten Welt ist ge¬
kommen' , entspringt der Angst vor den eigenen überwältigenden Triebregungen
und erinnert an die Weltuntergangsphantasien gewisser Geisteskranker. Der
Pazifist und der Krieger unterscheiden sich von den andern Menschen dadurch,
daß sie aus ihrem Verhältnis zum Krieg, ihrer Angstabwehr und ihrer Be¬
wältigung des Sadismus einen Beruf machen. Versuche, die Ursachen des Krieges
ausschließlich in wirtschaftlichen Momenten zu sehen sowie durch Abrüstung
einen künstlichen Friedenszustand herstellen zu wollen, entspringen dem Wunsche
nach „Rationalisierung“, einer Verleugnung der psychologischen Faktoren und
lenken nur von dem eigentlichen Problem ab. Deshalb sind sie letzten Endes
dem Verständnis und der Prophylaxe des Krieges nur hinderlich. Kein Frieden
kann haltbar sein, der nur auf Hemmung des Sadismus beruht. Der Krieg
1) Einer der bekanntesten englischen Pazifisten ist zugleich der Autor eines be¬
merkenswerten Kinderbuches, betitelt „Little Wars“.
55o Besprechungen
stellt kein isoliertes Problem dar; wir können ihn nicht verstehen, ohne
die Wurzeln, die Intensität und die Abwehrmechanismen des Sadismus zu kennen.
Wir dürfen nicht in den Fehler des Arztes vor etwa 50 Jahren verfallen, der,
nur um „etwas zu tun“, an Hysterikern die absurdesten Operationen vornahm,
ohne etwas davon zu verstehen. Der erste Schritt zur Vorbeugung des Krieges
ist sein Verständnis. Während medizinische, biologische, landwirtschaftliche
Untersuchungen reichlich unterstützt werden, gibt nicht ein Land der Erde
einen Penny zur Förderung des psychologischen Verständnisses des Krieges
aus.
Das Schlußkapitel enthält einen groß angelegten Entwurf für künftige Unter¬
suchungen, die sich kurzfristig auf einen Zeitraum von 5 — 50 Jahren und
langfristig auf einen von 100—1000 Jahren erstrecken und die Wechsel¬
beziehungen von Krieg und Frieden erforschen, die Phänomene des Krieges,
des Pazifismus und bestimmter Probleme des Friedens (bei den primitiven und
zivilisierten Völkern im Erwachsenen-, Jugend- und Kindheitsalter) beobachten
und ergründen sollen. 1 Diese Ergebnisse wären durch kriminologische, ethno¬
logische, massenpsychologische Spezialuntersuchungen, durch Erforschung der
Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Umgebung über die Bedeutung
und Tiefe der „Rationalisierungsmechanismen“, des Problems, in wieferne öko¬
nomische Faktoren des Krieges zur Verdeckung tieferer Motive dienen, usw.
zu ergänzen.
Eine wirksame Prophylaxe des Krieges müßte in der Kinderstube beginnen.
Eine Änderung der Umgebung könnte nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn
sie imstande wäre, die Projektions- und Verdrängungsmechanismen grundlegend
zu beeinflussen. Dies vermag sie nicht, ebensowenig wie sie es vermeiden
kann, Versagungen aufzuerlegen, die die Agression des Kindes wecken. Wäre
die Umgebung imstande, ihren eigenen Sadismus auszuschalten, so könnte sie
wohl oft — aber bei weitem nicht immer — dem Kinde helfen, seinen
Sadismus besser zu verarbeiten. Eine grundlegende Änderung in der Bewältigung
des Sadismus könnte nur eine Psychoanalyse erzielen. Heute erscheint die Idee,
große Teile der Bevölkerung zu analysieren, utopisch; doch ließe sich diese
Utopie für weniger als oT Prozent der Rüstungskosten verwirklichen. Aber
es läßt sich vorstellen, daß es einmal ebenso gefährlich erscheinen wird, daß
ein Psychopath, Neurotiker oder gar ein hart an der Grenze der Geisteskrankheit
Stehender eine verantwortliche Stellung einnehme, wie daß ein Cholera¬
verdächtiger oder ein Bakterienträger in einer Milchwirtschaft beschäftigt werde.
Es könnte die Zeit kommen, in der es als „faux pas“ betrachtet würde, wenn
ein Hysteriker mit Angstzuständen Kabinettsminister würde oder wenn ein
Mensch mit Verfolgungsideen während einer internationalen Krise Gesandter
wäre oder ein an Entschluß Unfähigkeit und Zwangszweifeln leidender Neurotiker
zum Präsidenten einer Abrüstungskonferenz gewählt würde.
Autoreferat
1) Vgl. die Beziehungen zwischen: Animismus-Magie, Religion-Vergebung, Sozio
logie-Friedenskonferenzen.
Besprechungen
55i
Isaacs, iSusan: Tke Cluldren we Teack. iSeven to Eleven Years.
University of London Press. London 193». 176 iSeiten.
Dieses für Lehrer bestimmte Buch versucht zu zeigen, daß Kinder mehr
sind, als bloße Objekte zum Unterrichtet werden. Dieses Buch zeichnet sich
ebenso wie die früheren Schriften der Verfasserin durch die lebhafte und
allgemeinverständliche Darstellung, durch tiefes Verständnis, reiche Erfahrung
und zahlreiche gut gewählte Beispiele aus. M. ScLmideterg (London)
Laforgue, Rene: ALisere de l’komme. Recit. Paris, Denoel et Steele.
193». 3 ^ 2 , Seiten.
Ein psychoanalytischer Roman von einem Psychoanalytiker verfaßt, ruft im
ersten Augenblick bei jedem von uns ein Stück affektiver Abwehr hervor, die
rationalisiert in Form des Einwandes, ein solcher Roman sei eine contradictio
in adjecto , bewußt wird. Diese affektive Abwehr beruht meist darauf, daß die
Gegner der Analyse dieser die wissenschaftliche Basis absprechen und sie, besten¬
falls bagatellisierend, als literarische Angelegenheit gelten lassen, d. h. nicht ernst
nehmen wollen. Diese ironisierende Einstellung der Außenwelt ruft wieder beim
Analytiker ein Stück ubio Abwehr hervor, die sich im Überbetonen der Wissen¬
schaftlichkeit äußert. Gelingt es aber, von dieser affektiven Abwehr zu abstrahieren,
bleiben noch immer recht triftige Gründe gegen die Berechtigung des analytischen
Romans bestehen. Und zwar: im Roman müssen zum Zwecke der Verständlich-
machung die komplizierten Vorgänge einer Analyse notwendigerweise simplifiziert
werden. Oder: die Tatbestände werden bis in alle Einzelheiten wiedergegeben,
dann müssen wieder die Erklärungen und Deutungen „gemildert“ sein, da sie
die Außenwelt nicht glauben kann und der Romancier auf seine Leser Rück¬
sicht nehmen muß. Denn die ubiv Tatbestände sind für den Laien, für den
der Roman bestimmt ist, so unwirklich, daß zwischen der Scylla, der bis an
die Grenze der Lächerlichkeit gehenden Unwahrscheinlichkeit für den Laien,
und der Charybdis der simplifizierenden, allzu konzessionsbereiten Retusche
schwer ein Mittelding zu finden ist.
Die Arbeit von Rene Laforgue bringt dieses Dilemma nicht, da sie kein
analytischer Roman und eine Aufklärungsschrift über Psychoanalyse in Form
eines „ recit “ sein will:
Le cas decrit dans ce journal est un cas fictif. Je Vai imagine pour fa-
miliariser 1 uvec les problemes de notve etre tous ceux cjui ont besoin de
connattre Ict verite nue , soit pour se compr endr e ou se guerir* soit pour com-
prendre ou guerir autruii grdce clu genie de Freud , nous le pouvons desormais.
Laforgue stellt in seinem Buche in den Mittelpunkt einen passiv — femininen —
ubio homosexuellen Mann, mit der für diese Fälle typischen launenhaften be¬
ziehungsweise versagenden Potenz, Spaltung in die zärtliche und sinnliche Kom¬
ponente und überstarken ubiv Selbstbestrafungstendenzen. Ein wenig atypisch
sind Mordimpulse gegen die Frau, zwangsneurotische Ideen, wie das an das
1) Vom Ref. gesperrt.
552
Besprechungen
Skelett-denken-Müssen beim Anblick von Frauen. Dieser Patient führt ein fiktives
Tagebuch, in dem er seine Impressionen während der analytischen Kur sporadisch
wiedergibt. Wir lernen ihn bereits in einer Phase positiver Übertragung kennen-
er versucht, alle seine Bekannten zur Analyse bei seinem Arzt zu überreden
Der Bekanntenkreis des Patienten besteht ausschließlich aus Neurotikern und
homosexuellen Perversen. Diese Häufung von kranken Menschen hat offenbar
didaktischen Sinn: der Autor will zeigen, was sich unter der gesellschaftlichen
Oberfläche abspielt, soweit die sexuelle „Misere de l’homme“ besteht, wobei
er vor allem die Potenzstörung und Frigidität schon wegen ihrer Häufigkeit
hervorhebt. Man begreift, daß Laforgue dem Leser nicht allzuviel an analytischen
Erklärungen zumutet. So kommt es, daß von Widerständen und der negativen
Übertragung kaum gesprochen wird, ebensowenig von den Konflikten der Über¬
tragung überhaupt. Der Analytiker kommt im Bericht des Patienten meist bloß
als geistvoller Deuter ubiv Zusammenhänge vor. Die tieferen analytischen
Deutungen, die lange Dauer der Kur, die Kämpfe der Lösung der Übertragung
sind kaum gestreift. Laforgue will mit diesem Buch vor allem den Neurotikern sagen :
Es gibt Hilfe für euch. Man denkt bei der Darstellungsweise Laforgues unwill¬
kürlich an den hübschen Ausspruch eines dramatischen Dichters: Ich lasse den
Vorhang in die Höhe gehen, wenn es interessant wird, und lasse ihn fallen,
wenn ich recht behalten habe . . . Niemand konnte besser als Laforgue ent¬
scheiden, ob die Wirkung des Buches in Frankreich (für welches es bestimmt
ist) unter den gegebenen Verhältnissen, dem jeweiligen Stand der Feindschaft
gegen die Analyse, ihrer Verbreitung beim großen Publikum usw., die gewünschte
sein kann.
Was an dem Buche Laforgues besonders sympathisch berührt, ist der thera¬
peutische Optimismus des Autors, der hinter seinen Worten sichtbar ist.
E. Bergler (Wien)
Reidi, AVillielm: Der Eintrudi der iSexualmoral. Berlin, Verlag für
Äexualpolitik, 1932. xZy iSeiten.
Die Besprechung dieses Buches soll von den positiven Behauptungen des
Verfassers ausgehen. Reich stützt sich auf folgende Annahmen:
Am Anfang der menschlichen Gesellschaft stehe die matrilineare Organisation.
Der Bruder verkehrte mit Schwester und Mutter. Durch die „wirtschaftliche
Tatsache des Heiratsgutes entstand die Institution der „Cross-cousin“ - Heirat
auf folgende Whise: In der mutterrechtlich organisierten Gesellschaft mit freier
Liebe hat nur der Mann Interesse an der monogamen Dauerehe, weil er mit
der^ Frau eine Mitgift, d. h. eine jährliche Kontribution von Gartenfrüchten
(Reich nennt sie „Heiratsgut ) erhält. Der Mann bekommt als Gatte „Heiratsgut M ,
muß aber als Bruder „Heiratsgut abgeben. Als schlauer Geschäftsmann erfindet
nun der „Primitive einen Kniff, um das von ihm gelieferte Heiratsgut wieder
zurückzubekommen. „Er bezieht durch seine Frauen von ihren Brüdern Heiratsgut,
das er zu einem großen Teil an die Gatten seiner Schwestern weitergeben muß.
Heiratet nun eine seiner Nichten seinen Sohn, so kehrt das Heiratsgut wieder
zu ihm zurück, denn sowohl sein Neffe (Schwestersohn und Erbe) als auch
Besprechungen
553
die Eltern der Nichte, also ihr Vater, der Schwager des Häuptlings, müssen
Heiratstribut an seinen Sohn alljährlich und so lange liefern, wie die Ehe be¬
steht“ (S. 43).
Es sprechen viele psychologische und psychoanalytische Gründe gegen eine
solche Deutung. Ich will aber den Versuch machen, an Hand der Tatsachen
meine Überzeugung von der Unrichtigkeit der Auffassung R.s als Ethnologe
zu begründen.
Im Jahre 1930 habe ich eine matrilineare Gesellschaft auf der Normanby-
insel (Duau) studiert. Meine Leute waren durch die Kunefahrten (Mali¬
no vski = kula) und auch sonst in ständigem Kontakt mit den Trobriand-
inseln. Mein Hauptgewährsmann hatte dort drei Jahre verbracht und kannte
die meisten der in Malinowskis Buch 1 photographierten und erwähnten Ein¬
geborenen persönlich. Einzelne von Malinowski berichtete Vorfälle, die ich
ihm wiedererzählte, konnte er bestätigen oder ergänzen. Ich kam auch mit
anderen Eingeborenen aus den umliegenden Inselgruppen zusammen und hatte
oft Gelegenheit, mit ihnen über Übereinstimmungen und Unterschiede in ethno¬
graphischen Einzelheiten herrschender Sitten zu sprechen. Da ergab sich denn,
daß die Bräuche auf den Trobriandinseln und auf Murua (Woodlark) mit¬
einander im großen und ganzen übereinstimmen, von allen anderen aber,
d. h. von denen auf Duau, Tubetube, Bwayowa, Basilaki usw. in einigen wichtigen
Zügen abweichen. Zu den abweichenden Punkten gehört insbesondere die In¬
stitution des Häuptlingtums und die Einstellung der Gesellschaft zur Sitte des
vorehelichen Geschlechtsverkehrs. Häuptlinge im eigentlichen Sinne des Wortes
sind in echt melanesischen Dörfern nicht zu finden; man muß daher annehmen,
daß es sich hier um eine aus einem anderen Kulturgebiet (Polynesien) entlehnte
Institution handle. Es wurde auch immer wieder betont, daß die Eingeborenen
von Boyowa anders sind als andere Papua. Ihrer Anschauung nach ist Boyowa
wenig sittenrein. Im geschlossenen melanesischen Kulturgebiet steht also Boyowa
(Trobriand) abseits, und hier wiederum läßt die Institution des Häuptlings auf
fremde Kultureinflüsse schließen. In dieser ganz spezifischen, offenbar nur einmal
vorkommenden Situation versucht nun Reich eine Entwicklungsphase der Mensch¬
heitsgeschichte zu sehen, für deren regelhaftes Vorkommen er eintritt. Um
seine Hypothese auch nur einigermaßen zu stützen, müßte er nun die Aus¬
schließlichkeit oder Priorität jener spezifischen Form des „Cross-cousin-marriage“
erweisen, die auf den Trobriandinseln bevorzugt wird, die Ehe nämlich zwischen
Brudersohn und Schwestertochter, mit Ausschluß der Ehe zwischen Bruder¬
tochter und Schwestersohn; ferner müßte er nachweisen, daß Cross-cousin-
Ehe und Heiratsgut häufig zusammen auftreten oder wenigstens, daß das Heiratsgut
in der Form, in der es uns bei den Trobriandinsulanern begegnet, allgemein
verbreitet ist.
Einen Versuch in dieser Richtung unternimmt R. nun, indem er behauptet,
daß auch bei den Kamilaroi immer nur die Söhne der Brüder die Töchter der
Schwestern und nie die Töchter der Brüder die Söhne der Schwestern
1) Das Geschlechtsleben der Wilden. 1930.
55<
Bespreuungen
heiraten (S. 84). Wir wollen seine Behauptung an Hand der Tabelle von Howitt
überprüfen:
Ippai heiratet Rubbitha, ihre Kinder sind Muri Matha
+ 0 +0
Kumbo „ Matha * „ „ Rubbi Rubbitha
+ 0 +0
In welcher Verwandtschaft steht nun Rumbo, der Gatte zu seiner Frau,
die eine Matha ist? Ein Kumbo ist der Sohn einer Ipatha, und so heißt oder
zu dieser Klasse gehört die Schwester des Ippai. Der Sohn der Schwester
(Ippatha) heiratet demnach die Tochter ihres Bruders (eines Ippai), d. h. die
Matha. Das scheint nicht mit der Theorie Reichs zu stimmen. Nehmen wir
den Fall, den Reich selbst anführt. Eine Butafrau stammt aus folgender Ehe:
Rubbi heiratet Ipatha
+ o
Ihr Gatte ist ein Murri. Wie verhält sich dieser zu den beiden Eltern? Er
ist der Sohn von
Ippai -* Rubbitha
+ o
Sein Vater ist also der Bruder seiner Schwiegermutter Ipatha, seine Frau ist
die Tochter der Schwester seines Vaters, wie auch Reich annimmt. Rechnen
wir aber über die Mutter Rubbitha, so ist diese die Schwester des Vaters der
Frau, d. h. er heiratet die Tochter des Bruders der Mutter, was nach Reich
nicht Vorkommen kann. Bedauerlicherweise zitiert R. nach Morgan und nicht
nach Howitt; 1 auch übersah er die Forschungen Radcliffe-Browns über
australische Heiratssysteme, sonst wäre ihm aufgefallen, daß man aus der Klassen¬
gruppierung allein nicht auf die Eheform schließen kann und daß Radcliffe-
Brown darauf hin wies, daß es zwei Heiratstypen in Australien gibt: entweder
heiratet der Mann die Tochter des Bruders seiner Mutter oder die Tochters¬
tochter des Bruders der Mutter seiner Mutter. 2 Der zweite Typus ist also ganz
deutlich als eine Modifikation, eine Ausdehnung des ersten anzusehen. Freilich
ist nach den australischen Verwandtschaftsbezeichnungen die Schwester des Vaters
immer auch Frau des Bruders der Mutter. Wunna z. B. bedeutet sowohl
„Vaters Schwester“ wie auch „Mutterbruders Frau“, „ Jcamuni“ Bruder der
Mutter, aber auch Gatte der wunna . (Aranda- und Luritjastämme in Zentral¬
australien.) Reichs These hängt also von einem Beweis ab, der nicht zu er¬
bringen, ja, den australischen Verhältnissen zufolge, schlechterdings als undurch¬
führbar gelten muß. Aber auch in dem von Reich herangezogenen Ipai-Kumbo-
System selbst findet seine These keine Stütze, da das Wort hazi folgende Ver-
1) A. W. Howitt: The Native Tribes of South East Australia. 1904. 200.
2) A. R. Brown: Three Tribes of Western Australia. Journ. Roy. Anthr. 1915*
Besprechungen
555
wandtschaftsbezeichnungen in unserem Sinne einschließt: „mothers brothers ,
ivifes father sisters son , daughters husbctnd“ *
Die Frau ist eben die Tochter des Mutterbruders und die Söhne der Schwester
sind eben die rechtmäßigen Gatten der Töchter. Indessen gäbe es noch einen
Ausweg. Es wäre ja möglich, daß bei der Ehe die Tatsache bestimmend wäre,
daß es sich um die Tochter der ivunna (Vaterschwester) handle und daß der
Umstand, daß diese gleichzeitig auch die Tochter des Bruders der Mutter sei,
eben nur aus den australischen Verwandtschaftstermini folge und, wie Kroeber
es fassen würde, 1 2 linguistisch determiniert sei. Aber auch dieser Weg ist nicht
gangbar. Denn in den Stämmen mit dem Ehetypus I ist die Tochter des Bruders
der Mutter die eigentliche vorschriftsmäßige Gattin. So erzählte mir z. B. Maliki,
ein alter Kukata, wie ihm die Tochter seines Mutterbruders als Frau gegeben
wurde. Die termini Mutterbruder und Schwiegervater sind oft identisch, und
beide spielen eine ähnliche Rolle in der Männerweihe, indem sie die Be¬
schneidung vollziehen, den Knaben in seinen neuen Pflichten unterweisen usw.
Damit fällt einer der Pfeiler, auf dem das Gebäude ruht. Doch gehen wir
weiter. Damit Reich recht behielte, müßte ja auch das Vorkommen eines
„Heiratsgutes“ in irgendeiner Form erwiesen werden, d. h. von Gaben, die
der Mann von Seiten der Familie der Frau erhält. Dieser Nachweis fehlt,
d. h. er wird mit unzulänglichen Mitteln versucht.
„So besteht bei der sonstigen Ähnlichkeit der Organisation der Australier
mit der der Trobriander kein Zweifel, daß auch das Heiratsgut in irgendeiner
Form von Clan zu Clan existiert (S. 82).“ Die Ähnlichkeit der Organisation
der Australier, und der der Trobriander besteht nur für den Europäer und
den Nichtethnologen. In Wirklichkeit ist der Unterschied zwischen den
Pitchentara und den Trobriandinsulanem wenigstens so groß wie zwischen
Trobriand und Europa. Ich war zwar nicht selbst in Bwayowa, aber glaube, in
diesen Fragen ruhig den in Duau gesammelten Erfahrungen vertrauen zu dürfen.
Für Reich sind alle „Neger“ einander gleich. 3 Tatsächlich kommt aber ein
„Heiratsgut , in Australien in gar keiner Form vor. Der Mann ist es vielmehr,
der Abgaben an seinem Schwiegervater zu leisten hat; undenkbar ist es, daß
der Mann noch etwas bekommen sollte, daß er also ein „ökonomisches“ Interesse
an der Eheinstitution haben sollte. Überhaupt dürfte das Verhalten der Australier
wenig geeignet sein, Thesen des Marxismus zu unterstützen. Sie kennen keine
materiellen Interessen außer der momentanen Sättigung und sind doch sehr
eifersüchtig. Sie leben in einer echt kommunistischen Gesellschaft und haben
doch die Pubertätsriten. Sie sind patrilinear und kommunistisch. Dann sind
sie wieder inatrilinear mit Pubertätsriten — lauter Dinge, die sich dem etwa
von Reich vertretenen Schema ebensowenig wie eine marxistische Theorie an¬
fügen lassen.
1) A. R. Brown: Notes of the Social Organisation of Australian Tribes. Journal
of the Royal Anthropological Institute. LIII, 435.
2) Vgl. zu dieser Frage A. L. Kroeber: Classificatory System of Relationship.
Journ. Roy. Anthr. 1909.
3) Er schreibt „Australneger“ (sic !).
666
Besprechungen
„Heiratsgut“, meint der Verfasser ferner, müsse von Clan zu Clan ausgetauscht
werden. Es gibt aber überhaupt keine „Clans“ in Australien, d. h. nicht in
dem Sinne, wie auf den Trobriandinseln. Es handelt sich teils um Heirats-
klassen, teils um Totemgenossenschaften.
Doch ist das Thema der „Cross-cousins“ damit nicht erschöpft. Rivers
weist nach, daß in Melanesien wohl auch die Tendenz besteht, die „Vater¬
schwester“ und „Mutterbruders Frau“ mit dem gleichen Wort zu bezeichnen
daß aber hier die Frau, die man heiratet, deshalb gewählt wird, weil sie die
Tochter des Bruders der Mutter ist. Der Onkel mütterlicherseits ist in diesen
Gebieten der typische Repräsentant des „guten Vaters“. Alles, was er hat
gibt er dem Neffen, wenn dieser es verlangt, und so gibt er ihm auch die
eigene Frau. Als Ablösung dieser unbequemen Freigebigkeit entsteht dann die
Eheform, in der der Neffe nicht die Frau, sondern die Tochter des Mutter¬
bruders heiratet. 1
Reich hält die Situation anscheinend für einfacher als sie ist. In Kalifornien
finden wir z. B. patrilineare Stämme, welche die Ehe mit der Tochter der
Schwester des Vaters, die doch nach Reich eben die Wandlung von der mütter¬
lichen Deszendenz zur patrilinearen Organisation herbeiführt — verbieten, dagegen
die Ehe mit der Tochter des Bruders der Mutter erlauben. 2 *
Vom psychologischen Standpunkt und mit Vernachlässigung lokaler Unter¬
schiede ist das Problem durchsichtig. Reich hat gewiß nicht übersehen, daß
es sich um eine Kompromißbildung zwischen den inzestuösen Strebungen und
der Verdrängung handelt. Er beweist dies sogar aus Malinowskis Buch mit
den Aussagen der Eingeborenen, setzt aber dann hinzu:
„Aber die wirtschaftlichen Interessen sind so eindeutig, daß wir dem psycho¬
logischen Moment dabei höchstens eine sekundäre Rolle zuschreiben können“
(S. 44).
Wie „eindeutig“ ist nun dabei das wirtschaftliche Moment? Ich habe oben
schon hervorgehoben, wie nach Ansicht der Eingeborenen die Trobriander eine
lokale Abweichung von dem Durchschnittstypus der Gesellschaften auf diesem
Gebiet bedeuten. Malinowski betont nun, daß die Verwandten des Mannes die
Gaben von der Seite der Frau mit Gegengaben erwidern, daß diese aber an
Wert nicht an die Gaben von Seite der Frau heranreichen. Dies ist aber in Duau
durchaus nicht der Fall. Im Gegenteil, jede Partei hat bei allen diesen zeremoniellen
Gaben darauf zu achten, daß sie an Munifizenz nicht hinter der anderen zurück¬
bleibt; von einem materiellen Vorteil und auch von ökonomischen Motiven
kann überhaupt nicht die Rede sein. Welche ökonomische Vorteile man aus
dem „Gefeiertwerden 4 in diesem Gebiet zieht, kann ich aus persönlicher Er¬
fahrung berichten.
1) W. H. R. Rivers: History of Melanesian Society. 1914, II. 17.
2) Spier: The Distribution of Kinship Systems in North America. Univ. Wash.
Publ. Anthr. Vol. I. No. 2. — Es sei hier etwa auf E. W. Gifford: Californian
Kinship Terminologies — 1922 verwiesen. Dieses Werk zeigt, wie vielfältig diese
Probleme nach den ethnologischen Einzelheiten sind und wie wenig man sich heute
auf Morgan berufen darf.
Besprechungen
55/
Es war mein Geburtstag und meine Frau wollte mich mit einem besonders
schönen Fisch überraschen. Sie erklärte also den Eingeborenen, was es für eine
Bewandtnis mit diesem Fest bei den Weißen hat, und ich war der Held des
Tages. Gaben über Gaben strömten ein, von Boasitoroba einerseits, von Sipupu
andererseits. 1 Ich verteilte nun die Gaben, indem ich alles, was man aus Sipupu
gebracht hat (Yams, Taro, Fische) an die Leute von Boasitoroba weitergab und
umgekehrt. Obwohl ich nun die Speisen gar nicht gegessen hatte, war ich doch
der Beschenkte und hatte die Geschenke nach Eingeborenenart sofort mit einer
entsprechenden Gegengabe zu erwidern. Ich teilte Tabak und Reis aus, und der
„kapitalistische Profit“ war somit höchst zweifelhaft. Und nicht genug damit.
Später, wenn ich dem Ramoramo oder dem Sawaitoja, Eingeborenen aus diesen
Dörfern, irgend etwas, nach dem sie Verlangen trugen, nicht geben wollte,
hieß es immer wieder: „Habe ich dir zu deinem Geburtstag nicht Yams ge¬
bracht?“ Ähnlich verhält es sich mit allen diesen „ökonomischen“ Institutionen.
Es ist ein ewiges Beschenken mit Gegengeschenken: letzten Endes hat niemand
einen Nutzen. Auch auf den Trobriandinseln ist der Mann, der von seinem
Schwager Gaben erhält, selbst wiederum Bruder und muß ebenfalls den Gatten
seiner Schwester beschenken. Einen wirklichen Nutzen aus diesem zieht nur
der Häuptling auf den Trobriandinseln durch seine weit ausgedehnte Polygamie;
aber hier handelt es sich, wie ich oben gezeigt habe, um einen Ausnahmefall.
Das Häuptlingtum ist dem ganzen System von außen aufgepfropft.
Aber selbst wenn die Kreuz-(Vetter-Basen-)Ehe ökonomisch begründet wäre,
müßte doch die Institution des Heiratsgutes eine psychologische Erklärung er¬
fordern.
Reich freilich sucht sie zu umgehen. Einige Stämme seien von anderen unter¬
jocht worden. Die Fremdlinge hätten den Männern verboten, ihre eigenen
Schwestern zu heiraten, da sie diese für sich behalten wollten. Sie legten den
Unterjochten auch die Verpflichtung auf, ihnen Tribut zu entrichten — und
so entstanden Klassen, Heiratsgut, Kapitalismus und Sexualvemeinung. Nun gibt
es aber in keiner primitiven Gesellschaft Klassenunterschiede. 2 Der Primitive
kennt nur zweierlei, Feind oder Freund, nicht aber einen Untergebenen. Wenn
ein Stamm gegen den anderen Krieg führt, so ist das Ziel nur, die Feinde zu
töten, nie sie zu versklaven, und Friede beruht immer auf Gleichberechtigung.
Schließlich sei noch an einigen Beispielen gezeigt, daß Reich Schlußfolge¬
rungen aus Annahmen zieht, welche den Tatsachen nicht entsprechen.
Reich schreibt S. 22: „Da die sexualmoralische Erziehung aber erst mit dem
Interesse an Privateigentum in die Geschichte der Menschen eintritt und sich
mit ihm entwickelt, sind die Neurosen Erscheinungen der patriarchalischen
privateigentümlichen Gesellschaftsordnung.
Bei der Weihe des Pitchentaraknaben, die ich mitgemacht habe, wurde
mir erklärt, daß man ihn glimpflich behandelt hat, bei dem Himmelwärts¬
werfen nicht zu hart geschlagen hat, weil er stets ein guter Knabe war, den
1 ) Mein Haus war an der Grenze dieser beiden Dörfer.
2) Die Trobriander haben in dieser Hinsicht eben die Grenze des Primitiven schon
überschritten.
558
Besprechungen
alten Männern gehorchte und sich nicht zu viel mit den Mädchen zu schaffen
machte. Die Pitchentara sind gewiß jene Menschen auf Erden, die man am
ehesten als Kommunisten bezeichnen kann. Nebstbei bemerkt, sind sie weder
matri- noch patrilinear organisiert, haben aber auch keine Promiskuität. Eifer¬
sucht ist ein Hauptmotiv ihrer Handlungen sowohl im Alltag wie in den
Märchen — aber hoffentlich würde nicht einmal Reich behaupten, daß es hier
Klassenherrschaft und Kapitalismus gibt. 1
Dann erfahren wir zum Beispiel, welche Züge, die wir aus der Organisation
der Trobriander kennen, sonst noch allgemein festgestellt worden sind: „Gens
oder Stamm sind durch Sprache, Gebräuche und Mythologie geschieden. Nur
selten sind es Stämme, die sich unterscheiden.“ Bei den Trobriandern hören
wir: „Ein Clan, eine Abstammung, eine Magie, ein Garten, ein Rang usw.“
(S. 76).
Daß die „Clans“, sagen wir Magisub (Adler) und Bwajo-bwajo (Eule), in
Duau 2 voneinander durch Sprache und Gebräuche unterschieden wären, ist eine
so lächerliche Behauptung, daß man gar nicht weiß, was damit anzufangen.
Die Vorstellung etwa, daß in Zentralaustralien ein Pultara eine andere Sprache
spricht wie ein Kamara, würde bei den Aranda lebhafte Komik auslösen. So
etwas kommt nirgends vor und kann auch nicht Vorkommen.
Nun aber noch einige Worte über die Leute von Bwayova. Reich fußt aus¬
schließlich auf dem in deutscher Übersetzung vorliegenden Buch von Malinowski.
Timeo hominem unius libri! Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß ich
hervorheben, daß auch ich der Ansicht bin, daß die Trobriandinsulaner der
genitalen Stufe im Durchschnitt viel näher kommen als etwa die europäische
Mittelklasse. Das geht aus den Büchern Malinowskis unzweifelhaft hervor. Man
darf sagen, daß die Zivilisation auf Kosten der Genitalität entstehe, die Kultur
eine kollektive Neurose sei. Es ist aber nicht so wie Reich es meint, daß die
Zivilisation (— der Kapitalismus) aus irgendwelchen wirtschaftlichen Gründen
entsteht und dann die Neurose erzeugt, sondern umgekehrt; die kollektive Neu¬
rose erklärt, bedingt, schafft soziale Organisation, Religion, Wirtschaft, Recht
und alles andere.
Aber hüten wir uns vor Prinzipien. Jedem leuchten nur seine eigenen ein
und nicht die seines Gegners. Bleiben wir bei den Trobriandinsulanern. Was
will nun Reich beweisen? 1) Diese Insulaner sind mütterrechtlich und kommu¬
nistisch. 2) Die infantile Sexualität ist frei, das gesellschaftliche Ideal sexual¬
bejahend, folglich gibt es unter den Trobriandinsulanern keine Neurosen, Per¬
versionen, keine falschen Sexualtheorien — gibt es unter ihnen ungestörtes
Glück. 3) Alles Unglück stammt von der patriarchalen Gesellschaftsordnung,
welche stets mit dem Privateigentum und mit Unterdrückung der Sexualität
einhergeht.
Den Ursprung dieser Auffassung finden wir bei Malinowski. Auf Malinowski
haben die Amphlettinsulaner einerseits und die Mailu andererseits einen viel
neurotischeren Eindruck gemacht als die Trobriander. Amphlett und Trobriand
1) Vgl. dazu auch Reich, S. 59 h
2) Duau, Name von Trobriand.
r
Besprechungen °^9
sind matrilinear, Mailu vaterrechtlich. Jedoch, meint Malinowski, ist die väter¬
liche Autorität auf den Amphlettinseln schon viel stärker als in Trobriand. 1
Mailu und Trobriand hat Malinowski studiert, auf Amphlett hat er nur
kurze Zeit verbracht. Er würde wahrscheinlich selbst kein allzu großes Gewicht
auf Amphlett legen. Es bleibt daher der Gegensatz Trobriand—Mailu. Dem¬
gegenüber kann ich mich auf die Kenntnis des Gebietes Dobu-Duau berufen.
Hier finden wir eine Gesellschaft, die nicht nur matrilinear, sondern auch
matrilokal ist, während auf den Trobriandinseln die Ehe patrilokal ist (die Frau
dem Manne folgt).
Duau ist in jeder Beziehung demokratischer, ohne eine wirkliche Häuptlings¬
macht, nach Art der Trobriandinseln. Und doch haben wir hier eine mi߬
trauische, angsterfüllte Gesellschaft mit einer Sexualeinstellung, die der bürger¬
lichen ziemlich verwandt ist, ja diese stellenweise an Prüderie noch überbietet.
Segeln wir aber hinüber nach Samoa, so finden wir dort eine heitere, offene
Gesellschaft mit freier Sexualauffassung, 2 die aber patrilinear organisiert ist,
wenn auch mit Elementen des Mutterrechtes. 3 Die Aranda sind vaterrechtlich,
aber doch kommunistisch, und viel eher genital in ihrem Charakter wie die
mutterrechtliche Gesellschaft von Duau.
Der Versuch, die Trobriandinsulaner als „Kommunisten“ zu erweisen, mi߬
lingt. Wie man eine Gesellschaft, die wenigstens ebenso reichtumsbejahend
wie sexualbejahend ist, in der das Anhäufen von Reichtümern unter steter
Angst vor den Hexen (Mutter) vor sich geht, kommunistisch nennen kann, ist
mir nicht einsichtig. In Duau und ebenso auf den Trobriandinseln erbt man
die Yams, die man in den Garten pflanzt, und auch den Garten selbst; was
ist das anderes als Privateigentum an Produktionsmitteln. 4 Malinowski hebt
ausdrücklich hervor, daß termini, die aus unseren Verhältnissen abgeleitet sind,
auf primitive Zustände nicht anwendbar sind. 5 Es scheint, daß nur ein Ethno¬
loge, der diese Völker kennt, die Weisheit dieser Bemerkung würdigen kann.
Das Wesentliche an Reichs Beweisführung ist demnach die Behauptung, daß
die Trobriandinsulaner: a) Kommunisten sind; b) sexuell restlos glücklich leben,
keine falschen Sexualtheorien, keine Perversionen, keine Neurosen kennen
(vgl. S. 108).
Die auf die Sexualtheorien bezügliche Behauptung verstehe ich durchaus
nicht: Ist denn die Lehre, daß die Kinder von den Geistern der verstorbenen
Mitglieder des mütterlichen Clans stammen, keine falsche Sexualtheorie? Sonst
wird doch „Unkenntnis der Vaterschaft“ (S. 109) triumphierend gegen die
Freudsche Annahme von der Urhorde ausgespielt. Man gewinnt hier den Ein¬
druck, daß das psychoanalytische Wissen immer in der Anmerkung ein letztes
1) Br. Malinowski: Sex and Repression in Savage Society. 1927. 86.
2) M. Me ad: Coming of Age in Samoa. 1928.
5) R. W. Williamson: The Social and Political Systems of Central Polynesia.
1924. II. 88.
4) Vgl. Malinowski: Sexual Life. 1929. 177. Argonauts. 117.
5) Malinowski: Crime and Custom in Savage Society. 1926. 19.
56o
Besprechungen
Refugium finde (siehe S. 109, Anm.), während die politische Doktrin den Text
beherrsche.
Ist es aber richtig, daß wir es hier mit einer perversions fr eien Gesell¬
schaft zu tun haben? Malinowski weist ausdrücklich auf das Vorkommen von
Homosexualität und Bestialität hin; daß sie verurteilt werden, versteht sich von
selbst, das ist in jeder menschlichen Gesellschaft der Fall. Auch die Ursache
der Verurteilung dürfte in unserer Gesellschaft keine andere sein als in der
von Bwayowa;^ auch dort gelten diese Dinge als „armselige Ersatzmittel für den
Geschlechtsakt . Zu einer anderen Stelle in Reichs Buch (S. 24) habe ich folgen¬
des zu bemerken: Über Moniyala, den Mann, der mit der Hündin verkehrte
habe ich zufällig auch direkte Informationen von solchen, die ihn gut kannten!
Er wurde von seinen Genossen grausam gequält, man pfiff ihm wie einem
Hund. Auch die Erklärung, die man für seine Handlung gab, klang wenig
„genital“: die Frauen hatten ihn nicht gern, weil er ihnen nichts bezahlte*
Leute, die lange im Land leben und die Trobriandinsulaner aus eigener Er¬
fahrung gut kennen, waren der Meinung, daß Malinowski etwas zu stark
typisiert und daß die Abweichungen von der sexuellen Norm wohl auch in
alten Zeiten häufiger waren als man glaubt. Ich besitze auch einen Brief des
weißen Magistraten, der lange Jahre auf den Trobriandinseln lebte, und in dem
er mitteilt, daß Frauen ihre Gatten bei ihm verklagten, weil sie den Koitus
nur per rectum ausführen wollten. Ich habe noch mehr Material zu diesem
Thema, will aber nicht alles in diesem Rahmen Vorbringen. Auch fällt es
schwer, zu glauben, daß ein Volk, bei dem der Selbstmord 1 so häufig ist,
nicht neurotisch sei. So kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß
der Verfasser geneigt ist, über seinem Erzfeind, der patriarchalisch-kapitalistischen
Gesellschaftsordnung an jene psychischen Mächte — den Ödipuskomplex, die
Verdrängung und die Über-Ich-Bildung — zu vergessen, die die psychische
Gestaltung des Individuums bestimmten.
Ich kann^ es mir aber nicht versagen, noch auf einige Einzelheiten hin¬
zuweisen. Australier, die noch heute auf der Stufe der reinen Blutsverwandt¬
schaftsfamilie leben (S. 92), gibt es nicht. Auch jene Polynesier, die wirtschaft¬
lich noch auf der Stufe der Jagd stehen (natürlich mit Blutsverwandtschafts -
familie!), könnten auf allgemeines Interesse bei den kompetenten Ethnologen
rechnen. Die veränderten Triebstrukturen werden nach R. „durch die gesell¬
schaftlichen Prozesse (S. 119) geschaffen, und wodurch entstehen die letzteren?
Durch die Wirtschaft? Und die Wirtschaft, wird sie etwa nicht von Menschen
gemacht, sondern von Göttern? Reich behauptet, daß „wirtschaftlicher Ur¬
kommunismus auf die Dauer engere Familienorganisationen ausschließt“ (S. 75),
was den Tatsachen glatt widerspricht; er erklärt, daß „die Exogamie immer
den ganzen Clan, niemals einzelne Familien betrifft u (S. 75), was unrichtig ist.
Ich setze diese Reihe nicht weiter fort, sondern schließe mit einer grund¬
sätzlichen Feststellung: Die Auffassung, die Reich vertritt, erklärt sich aus seinem
Glauben an die Unfehlbarkeit des historischen Materialismus, Reich schreibt:
1) Vgl. Malinowski: Sexual Life. Index s, v. Suicid.
Besprechungen
561
„Die patriarchalischen Auffassungen der Urgeschichte haben auch logischerweise
zu der Annahme geführt, daß die Monogamie beziehungsweise das heutige Vor¬
recht des Mannes auf mehrere Frauen, die Eifersucht, die Unterdrückung der
Frau usw. biologisch begründet seien. Nehmen wir noch hinzu, daß die Auf¬
fassung der Rechtfertigung unserer patriarchalischen Organisation dient und ein
Stück Grundlage der faschistischen Sexualideologie bildet, während die mutter¬
rechtliche zeigt, daß sich alles wandelt und daß es auch anders geht, so können
wir kaum schwanken, welche Auffassung wir zu der unsrigen machen.“ (S. 65.)
Angesichts der Offenheit, mit der sich der Verfasser hier zu einer politischen
Doktrin bekennt, darf man fragen, ob der Umweg über das Material einer
y\ issenschaft, der Ethnologie, gerechtfertigt war, dessen Interpretation umfassende
V orkenntnisse erfordert und besser dem Ethnologen überlassen bliebe.
G. R 6 li e 1 m (B udapest)
e 1 lt 7 Tlieodor: Der unbekannte jMl örd er. V on der Tat zum Täter.
VvGen, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, igSz. 18a iSeiten.
Während sich die psychoanalytische Literatur bisher auf die Verbrecher¬
psychologie, Verbrecherprophyl^xe und -therapie, den Strafvollzug und die Straf¬
rechtsreform erstreckte, versucht R. in der vorliegenden Untersuchung auch zu
dem Problem des unbekannten Verbrechers Stellung zu nehmen und so ein neues
bisher unerforschtes Gebiet der Kriminologie ins Licht analytischer Forschung
zu rücken.
Die kriminalistische Spurendeutung der Indizien und die psychoanalytische
Deutungsarbeit suchen beide verborgene Sachverhalte ans Licht zu bringen.
Während die Kriminologie behauptet, hierbei mit „logischen“ Überlegungen
zu arbeiten, zeigt R., daß man sich in Wkhrheit psychologischer Argumentationen
bedient; schon das Tatmotiv verlangt psychologische Klärung. Er sieht aber im
Gegensatz zu anderen Autoren, wie Alexander, Staub und Fromm, nicht den
Gerichtssaal als die gegebene Domäne der Psychoanalyse an, da sie auf einer andern
Ebene liegt als die anderen Kriminalwissenschaften, z. B. die forensische Chemie
oder Graphologie; während diese der materiellen Realität angehören, erstrecken
sich die Untersuchungen des Analytikers nur auf die psychische Realität. R. geht
nun zunächst auf den Selbstverrat des Verbrechers über, und nach den Worten
Freuds, daß kein Sterblicher ein Geheimnis verbergen könne, zeigt er uns
in den Kapiteln von der „Improvidenz des Täters“ und der „Visitenkarte des
Verbrechers“ an der Hand von reichem und interessantem Material diese Tendenz
zum Selbstverrat. Im Kapitel der „Rückkehr zum Tatorte“ ist dieses zwang¬
hafte Verhalten als Wiederholungszwang, als Bestreben, die Tat seelisch zu be¬
wältigen, und als Geständnis zwang (ich weiß etwas, was du nicht weißt) erklärt.
Die Strenge des irdischen Gerichtes ist nichtig gegen die Pein, die das Über-
Ich über den Mörder verhängt. Die heimliche Bundesgenossenschaft der äußeren
Verfolgung und der Verfolgung durch das Über-Ich („Es ist jemand hinter mir
her und das bin ich“, sagte einmal ein vielfacher Mörder) bedient sich einer
Geheimsprache, von der das Ich nichts weiß; es sind die unbewußt produzierten
Indizien.
Imago XIX.
36
56s
Besprechungen
An Hand der Geschichte und der vergleichenden Völkerkunde versucht uns
der Autor über die Genese der Indizien aufzuklären. Er zeigt zunächst, daß die
uns geläufige Auffassung der Reihenfolge Verbrechen —Verbrechensaufklärung —
Täterermittlung — Bestrafung in prähistorischer Zeit und bei primitiven Völkern
durchaus verschieden war und daß hier zuerst die Bestrafung und dann die Ver¬
brechensaufklärung stand. Für die Menschen einer prähistorischen Periode und
die Primitiven ist das Verbrechen eine Verletzung der Tabuvorschriften, die sich
selbst und ohne das Zutun anderer rächt. „Die Rache ist mein“, sagt der Herr,
da bedurfte es keiner Verbrechensaufklärung, da der Gott oder Dämon des Clans
selbst über die Einhaltung der Gesetze wachte; so gibt uns z. B. das Wüten
der Pest in Theben die Aufklärung jener alten Tat des Ödipus.
Dieser Charakter der archaischen Kriminalistik erlitt durch tiefgehende, im
vorliegenden Werk nicht ausgeführte Veränderungen in der Tabureligion eine
langsame Umgestaltung zu der uns geläufigen Reihenfolge Verbrechensaufklärung —
Strafe. Hier zeigt uns der Autor an Beispielen des Rechtsverfahrens der Primitiven,
daß die Zauberei das Ursprungsgebiet der Indizien gewesen sei und daß die
Wilden, die keinen natürlichen Tod kennen, sondern nur den durch böse Zauberer
verursachten, hierbei die unbewußte Feindseligkeit dieses Zauberers gegen die
getötete Person als psychologisches Indiz werten. Ihr Analogon in der modernen
Kriminalistik findet dieses unbewußte psychologische Indiz wohl in der Frage
„cui bono“ oder wem diese Tat zuzutrauen sei („psychologische Motivforschung).
Im Glauben der Primitiven und auch noch der alten Germanen, z. B. in der
Bahrprobe, bezeichnete der Getötete selbst seinen Mörder, indem er verschiedene
Zeichen, genannt „Inzichten“, gab.
R. führt uns weiter zur animistischen Auffassung der Primitiven, die durch
Seelentiere (ursprünglich der Tote selbst) den Mörder eruieren läßt; wie tief
diese noch im modernen kriminalistischen Denken verwurzelt ist, zeigt er uns
an der überraschenden Aufklärung eines Mordes an dem amerikanischen Millionär
Mr. Breese, der durch Giftgas getötet wurde. Die Beobachtung des Kriminal¬
inspektors, daß alle Fliegen im Mordzimmer tot am Fensterbrett lagen, führte
ihn zur Annahme, daß die Tat bei Morgengrauen ausgeführt wurde, und so
zur Ermittlung des Täters. R. nimmt an, daß auch dieser moderne Kriminalist,
gleich seinem animistisch denkenden „ coloured“ Kollegen, den Ermordeten mit
den toten Fliegen am Fensterbrett in seinem Unbewußten identifizierte und so
zu dem überraschenden Resultat kam.
Ich möchte allerdings bezweifeln, ob der scharfsinnige amerikanische Beamte
dem Autor für diese Gleichstellung sehr dankbar sein wird, ebensowenig wie
unsere Kriminalpolizei für die Annahme, daß sie an Stelle des Tierorakels und
der Orakeltiere die Dressur der Polizeihunde gestellt habe.
Wir erfahren sodann einige Zusammenhänge zwischen der Magie, „der
Technik des Animismus 44 und der modernen kriminalistischen Technik, wie
z. B. die Verschiebung auf das kleinste usw., und wie auf diese Weise der Kriminalist
und Sachverständige zum Nachfolger jener Zauberpriester im Dienste der offiziellen
Magie wird. Weiter zeigt uns der Autor, wie im oralen Ordal (Giftbecher
oder Verzehren einer anderen Substanz) eine Wiederholung der Tat in Form
Besprechungen
563
des Auffressens des Ermordeten oder von Teilen von ihm dargestellt wird;
hier sollten die Veränderungen am Körper derjenigen, die sich dem Ordal
unterwarfen, für schuldig oder unschuldig sprechen, also Indizien an der Person
des Täters. Überreste dieser kannibalistischen Tatwiederholung findet der Autor,
nur in entstellter und abstrakter Form, im Eide, in der Rekonstruktion des Ver¬
brechens im Verhör und im Plädoyer wieder, sowie im Geständnis der Tat,
als Wiederholung des Verbrechens in abgeblaßtester Form, in Worten. Die prä¬
historischen Indizien waren also ähnlicher Art wie die Indizien unserer modernen
Kriminalistik, nur anders gewertet und anders gedeutet; die animistische An¬
schauung lebt auch heute noch in der wissenschaftlich rationalen Auffassung
der Indizien fort. Die Sicherheit der richterlichen Entscheidung ist aber durch
den unbewußten animistischen Glauben gefährdet. R. zeigt nun an dem Beispiel
eines krassen Justizirrtums die Psychopathologie der Urteilsbildung. Analogien
zwischen schwer neurotischem Symptomkomplex, Traum und falscher Urteils¬
bildung werden hier an reichem und interessantem Material dargestellt, die
Überschätzung der „Logik“ und Vernachlässigung der psychologischen Faktoren
aufgezeigt, die zu manchem Verhängnis der Justiz führen, indem die psychische
Realität der materiellen gleichgesetzt wird. Ferner zeigt uns der Autor Richter,
die in unbewußter Anerkennung der Allmacht der Gedanken die Gedanken¬
sünden Unschuldiger mit dem materiellen Tatbestand verwechselten und den
bösen Willen der Tat gleichsetzten; weiter, wie die Verdrängungsarbeit den
Kriminalisten gewichtige Indizien auf den Unschuldigen häufen läßt, während
vorhandene Indizien gegen den Schuldigen übersehen oder entwertet werden.
Schließlich führt er in der „Unheimlichkeit des unaufgeklärten Mordes“ aus,
daß die unbewußten Todeswünsche in uns allen durch das dunkle Schuld¬
gefühl des Gedankenmordes eine tiefe Angst auslösen; wir könnten selbst „der
unbekannte Mörder“ sein, was wohl unser tiefgehendes Interesse für Kriminal¬
fälle erklärt.
R. hat es verstanden, den spröden Stoff in gewandter Darstellung mit dem
ihm eigenen Scharfsinn und seinem gewohnten Sarkasmus zu behandeln; dem
aufmerksamen Leser ergibt sich sehr wohl ein innerer Zusammenhang, der für
den Analytiker wie für den Kriminalisten eine weite Perspektive der Zukunft
der Strafrechtspflege eröffnet. WMter iSclimideberg (London)
Reiner, Markus: Causality and Psyclioanalysis. Psyckoanalytic
Quarterly, I, igZz, S. 701—714.
Der Autor, Professor der Chemie und Metallurgie, erörtert aus Anlaß des
Wiederabdrucks von Radös „Die Wege der Naturforschung im Lichte der
Psychoanalyse“ die Ansichten der heutigen modernen Naturwissenschaft über
das Kausalitätsproblem, insbesondere über den Unterschied zwischen Kausalität
und Determinismus. Er benutzt die Gelegenheit, um die Psychoanalytiker, zu
denen er spricht, auf die methodologische Gefahr der „Interferenz“ zwischen
Beobachtung und beobachtetem Objekt aufmerksam zu machen, d. h. darauf,
wie leicht die Bedingungen der Beobachtung das zu Beobachtende ändern. Hier
36 *
Besprechungen
564
liegt gewiß eine große Gefahr für jede naturwissenschaftliche Forschung, aber
sie ist auch in der psychoanalytischen Forschung schon mehr beachtet und
— hoffentlich — vermieden worden, als der Autor meint. O.FenicLel (Oslo)
Rokeim, Geza: Telepatky in a Dream. Psa. Quarterly I, 19^2,
pag. 277 —291.
Einen Tag nachdem der Autor einer Vorlesung über Telepathie beigewohnt
hatte und innerlich sehr mit diesbezüglichen Problemen beschäftigt gewesen
war, träumte eine Patientin, sie hätte einen be ,; mmten Traum gehabt und
käme dann in die Analysenstunde, wo der Analytiker ihr den gleichen Traum
als seinen eigenen erzählte. Telepathie war also sowohl 1) der Inhalt des
manifesten Traumes; denn wenn Analytiker und Patientin in der gleichen Nacht
den gleichen Traum träumten, so wäre das ein telepathisches Phänomen. Tele¬
pathie schien aber 2) auch objektiv vorzuliegen, denn das Interesse des Analytikers
für Telepathie wirkte offenbar in der Patientin als Tagrest für ihren Traum,
obwohl ihr davon nichts mitgeteilt worden war. Die Analyse ergab, daß es
sich um einen exquisiten Übertragungstraum handelte, der an ein Ereignis des
Vortages anknüpfte. Die Patientin hatte bemerkt, wie der Analytiker nach
ihrer Stunde zu seiner Frau gegangen war, was ihre aus dem Ödipuskomplex
stammende infantile Eifersucht geweckt hatte. Das Zentrum dieses Ödipus¬
komplexes aber war eine Urszene, in der die Patientin sich mit beiden Eltern
identifiziert hatte. Da auch aus dem übrigen Material dieses Falles klar wurde,
daß der Umstand, daß sie sich magische Fähigkeiten verschiedener Art zu¬
traute, in Urszenenreminiszenzen seinen Grund hatte, kann Röheim es wahr¬
scheinlich machen, daß das Urbild des Gefühls des telepathischen Einsseins
mit einem Objekt das Verhältnis des beobachtenden Kindes zu den Eltern
während der Urszene ist. Wie das Kind mit den Eltern mitfühle, so fühle der
telepathisch Infizierte mit dem Infizierenden mit.
Daß alle diese analytischen Überlegungen nur erklären können, warum die
Patientin von Telepathie träumte, nicht aber, wieso objektiv Telepathie ein¬
trat (wenn das überhaupt der Fall war), bemerkt Röheim selbst. Es bleibt
unklar, warum ihm die mitgeteilte Beobachtung dennoch für die Psychologie
der Telepathie wesentlich erscheint. O. Fe nie Lei (Oslo)
Rokeim, G.: A Csurunga Nepe. (D as Volt des T jurunga.) Her-
ausgegeken Budapest, Leklang, 1932. 33 i Seiten.
Zwei Perioden können wir in Röheims Schaffen unterscheiden, die erste
wurde von ihm selbst mit dem Wort „Symptomanalyse“ charakterisiert, die
zweite enthält den Fortschritt von dieser zu der Analyse einer Kultur als
Ganzes.
Den Unterschied zwischen den beiden Perioden sehe ich darin, daß in der
zweiten nicht mehr so sehr von angewandter Psychoanalyse, sondern wieder¬
um weit eher von Ethnologie par excellence die Rede ist, für die die Psycho¬
analyse ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden ist. Die Entwicklung, die wir
Besprechungen
565
da vor Augen haben, könnte am besten mit einem IntrojektionsVorgang
verglichen werden. Die Psychoanalyse wird immer mehr und mehr der
Ethnologie einverleibt, bis wir am Ende einem neuen Wissenschaftsindividuum
gegenüberstehen. Dies kann nicht genügend betont werden, denn ein häufiger
Einwand der Gegner lautet, es sei ja eigentlich derselbe starre Formalismus,
ob man alles mit dem Mond oder mit dem Ödipuskomplex erklären will.
Einen weiteren Schritt in diesem Einverleibungsprozeß bedeutete die
Expedition Röheims, indem er die spezielle Arbeitsweise der Psychoanalyse,
die Individualanalyse, in den Dienst der ethnologischen Forschung gestellt hat.
Ebenso wie das Kind durö? 2 ~Introjektion der Eltern und die Identifizierung
mit ihnen zu einem selbständigen erwachsenen Menschen wird, der auch
seinerseits imstande ist zu „geben“, so kommt auch die mit der Psycho¬
analyse zu einer neuen Einheit verschmolzene Ethnologie nunmehr in die
Lage, der Psychologie grundsätzlich Neues zu bieten.
Das neue Problem, das von Röheim bereits vor seiner Forschungsreise
immer mehr in den Vordergrund gerückt wurde, war, ,,Differentialpsycho¬
logie der Völker zu betreiben, das heißt, einfacher ausgedrückt, soviel wie
festzustellen, warum die Primitiven primitiv sind. Nun wissen wir ja, daß
die Psychoanalyse als Grundlage der Kultur die Triebunterdrückung erkannt
hat. Wir sehen zugleich, daß diese Entsagungen für sehr viele Menschen eine
so schwere Aufgabe bilden, daß sie daran scheitern. Wir sehen jetzt besser
die Bedeutung der Erziehungsfehler, haben aber sehr wenig Anhaltspunkte
dafür, wieviel an Trieb Unterdrückung zur Erhaltung unserer Kultur unbedingt
notwendig ist. Es ist klar, daß die Beantwortung der Frage, warum die
Primitiven so sind wie sie eben sind, besser gesagt, wie Art und Grad der
Triebunterdrückung mit der Höhe der Kultur Zusammenhängen, für das Haupt¬
problem der Individualanalyse von grundlegender Bedeutung sein wird.
Was Röheim bis jetzt von seinem Material publiziert hat, läßt uns seiner
Ansicht beipflichten, (die nebenbei die Ansicht der gesamten modernen Ethno¬
logie ist,) daß nur die Arbeit mit dem lebenden Material wirklich fruchtbar
sein kann, und daß es nur dem psychoanalytisch geschulten Ethnologen mög¬
lich ist, in die tieferen Schichten des Seelenlebens der Befragten einzudringen.
Ich möchte nun die wichtigsten Ergebnisse des in Frage stehenden Buches
kurz skizzieren:
Das intime und verständnisvolle Zusammenleben mit den Eingeborenen Zentral¬
australiens brachte Röheim ein tieferes Verständnis des Dämonenglaubens, der
bei diesen Stämmen neben dem Totemismus herrscht. Dieser Glaube entpuppte
sich als der primitivere. Denn mit Hilfe von Traumanalysen und der Beob¬
achtung der Lebensweise dieser Leute ließ sich der Glaube an Dämonen, die
in Gestalt paarweise zusammengeklebter (koitierender) Hunde in der Luft
herumfliegen und den Menschen bedrohen, auf die Urszene (d. h. die Beob¬
achtung des elterlichen Koitus) zurückführen, an der das australische Kind
genau so mit Angstgefühlen teilnimmt wie unsere Kinder. Obwohl diese
Kinder die größtmögliche Triebfreiheit genießen, wird der elterliche Koitus
doch vor ihnen verheimlicht in der Weise, daß er (genau wie bei uns) erst
566
Besprechungen
dann ausgeübt wird, wenn die Eltern glauben, das Kind schlafe bereits. Obwohl
Männer und Frauen nackt einhergehen, schämt sich der Mann seiner Erektion
vor einem Dritten und ist in seiner Wut imstande, den ungebetenen Zeugen
zu erschlagen. Der Dämonenglaube ist also eine Projektion der Urszene, wobei
die ursprüngliche Angst noch erkennbar ist und bloß von den Eltern auf die
Hundsdämonen verschoben wurde. Der Totemismus bedeutet im Vergleich zu
dieser unzulänglichen Art der Angstbewältigung einen Fortschritt. Im totemi-
stischen Kult wird ebenfalls die Urszene aktiviert, doch in sublimierter, an¬
nehmbarer Form, und es wird dem Novizen die Möglichkeit geboten, sich mit
den Eltern zu identifizieren.
Der andere, vielleicht noch bedeutsamere, neue Gesichtspunkt, den die un¬
mittelbare Beobachtung lieferte, ist die Idee, daß das Leitsymptom einer ge¬
wissen Kultur auf ein Kollektivtrauma zurückzuführen ist. (Das nennt Röheim
die Ontogenese der Kulturen.) Unter Kollektivtrauma versteht Röheim ein
Trauma, daß sich im Leben jedes einzelnen Kindes innerhalb der Gruppe
wiederholt. Dieses Trauma wirkt sich im Stammescharakter aus, es wird nicht
etwas, was den Einzelnen der Gruppe entfremdet, sondern wird als Kollektiv-
Über-Ich zu einer gesellschaftlichen Realität. Als solches Leitsymptom der be¬
obachteten australischen Stämme erkannte Röheim die Angst vor der Frau,
die sich sowohl in dem (vor den Frauen streng geheimgehaltenen) Tjurunga-
kult wie in der Vorstellung der „unerreichbaren“, ihre Augen abwendenden
Frau ( alknarintsa) auswirkt. Die dieser Angst entsprechende traumatische
Situation ist die bei diesen Stämmen allgemeine Sitte, daß die Mutter in halb
kniender Stellung über dem Kinde liegend schläft, um es vor der Nachtkälte
zu schützen. Der Arandajunge ist also nahe daran, die Ödipussituation wirklich
zu erleben, doch in invertierter Form. Die seelischen Gefahren, denen der
Knabe dadurch ausgesetzt wird, liegen neben der starken Mutterbindung so¬
wohl in der Erstarkung der femininen Einstellung seitens des Knaben wie
in der Kastrationsangst. Die Pubertätsriten sollen unter anderem die Bewältigung
dieses Traumas ermöglichen. Sie machen den Knaben verschämt (d. h. sie
trennen ihn von der Mutter) und geben ihm in Form des Namatuna einen
magischen Penis, mit dem er sich „von weither“ eine der „unerreichbaren“
Frauen zaubern kann.
Außer diesen zwei Hauptgedankengängen enthält Röheims Buch eine ganze
Anzahl sowohl für die Kulturpsychologie wie für die Individualanalyse wert¬
voller Beobachtungen. Unter anderem möchte ich die Beschreibung des oralen
Optimismus erwähnen, die einen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung des
Realitätssinnes liefert. Röheims Aranda kennen keine Angst vor der Zukunft,
obwohl sie häufig schlimme Hungerzeiten durchmachen müssen. Röheim meint,
daß sich die Menschen, denen in der Kindheit von jeder stillenden Frau ohne
weiteres die Brust gereicht wird, wenn es sie danach gelüstet, anscheinend keine
karge Mutter Natur vorstellen können.
Eine Latenzperiode konnte Röheim bei den Australiern nicht beobachten.
Die Koitusversuche der Kinder werden ohne Unterbrechung bis zum voll¬
gültigen Koitus des Erwachsenen fortgesetzt. Die Beobachtungen in bezug auf
56/
das Geschlechtsleben lassen übrigens eine ganze Reihe von Fragen offen, was
bei der verhältnismäßig kurzen Zeit, die Röheim zu Gebote stand, auch nicht
verwunderlich ist. Es sind eigentlich Kostproben, die uns ahnen lassen, wie¬
viel grundsätzlich Wichtiges weitere ähnliche Forschungsarbeit der Psycho¬
analyse bieten könnte. Der Analytiker hätte z. B. gerne erfahren, wie sich
bei diesen Völkern die Zärtlichkeitsbeziehungen zwischen Erwachsenen und
Kindern gestalten. Eine Bemerkung Röheims über die verhältnismäßig seltene
Ausübung des Beischlafs (eine Wiederholung in derselben Nacht ist nicht üblich)
läßt z. B. das (auch von Ferenczi in seinem letzten Kongreßvortrag aufge¬
worfene) Problem auftauchen, wieweit das direkte Ausleben der Aggression
und der Grad der Hemmung der Partialtriebe mit der Leidenschaftlichkeit
des Geschlechtslebens Zusammenhängen.
Das ungarische Buch ist eigentlich eine kurze und volkstümliche Zusammen¬
fassung der australischen Forschungsreise. Die ausführliche, wissenschaftliche
Bearbeitung desselben Materials wird demnächst in englischer Sprache er¬
scheinen. Wir wollen hoffen, daß die Ergebnisse der ersten psychoanalytischen
Forschungsreise auch im Kreise der Schulethnologie die gebührende Beachtung
finden werden. Alice Bälint (Budapest)
Butler. IV. Band. Leipzig, iS. Hirzel, iy 33 . XVI und 3 z 8 /Seiten.
28 Abbildungen.
Charlotte Bühler hat es sich zur Aufgabe gesetzt, den menschlichen Lebens¬
lauf als psychologisches Problem zu betrachten. Sie behandelt zunächst das Ver¬
halten und die objektiven Daten, geht dann zum Aspekt des Erlebnisses und
der subjektiven Daten über und betrachtet schließlich den Lebenslauf unter
dem Gesichtspunkt des M r erkes und Ergebnisses. Der Lebenslauf erweist sich
als gegliedert in Phasen. Im zweiten Abschnitt des Buches werden Strukturen
von Lebensverläufen untersucht. Die Normalstruktur und ihre Modifikationen
werden dargestellt. Dem Kurzleben wird besondere Aufmerksamkeit zugewendet.
Das Verhältnis von Leben und Werk wird untersucht. Schließlich werden zu¬
sammenfassend fünf Phasen des Lebenslaufes unterschieden. Der Schritt vom
Tentativen zum Definitiven und zum Ergebnis wird als Grundtatsache des
Lebens angesehen.
Mit wenigen Ausnahmen entstammt das Material reich dokumentierten Lebens¬
geschichten der Literatur. Das objektive Produkt des Lebensverlaufes, das Werk,
wurde, soweit ein solches erfaßbar vorlag, in die Untersuchung einbezogen.
Bevor wir uns den Einzelproblemen dieses Buches, dem der große Wurf nicht
abgesprochen werden kann, zuwenden, ist es nötig, sich ins Gedächtnis zurückzu¬
rufen, was die Psychoanalyse über das Problem des Lebenslaufes zu sagen hat.
1) Das Leben eines Individuums ist mehr als eine Kette von Ereignissen,
68
in denen immer wieder derselbe Gegenstand erscheint. Es erhält seine innere
Einheit durch die Tatsache, daß lückenlose Erinnerung die Erlebnisse ver¬
bindet. Es handelt sich demnach um Einheit in der Erinner ungs v er knüp fu ng
In diesem Zusammenhang ist es von keiner Bedeutung, daß außerdem ein
spezifisches konstantes Icherlebnis besteht, das der eigentliche Träger des Kon-
tinuitätserlebnisses ist.
2) Das Leben steht unter dem Zwange, sich Ziele und Aufgaben zu setzen.
Ziele und Aufgaben sind sinnvoll. Was immer die tatsächliche Abfolge der
psychologischen Erfahrungen sein mag, das Individuum fühlt sich gedrängt, sich
das Leben sinnhaft, zweckhaft darzustellen. In der analytischen Terminologie
würden wir auf den Triebcharakter hindeuten — der Trieb strebt irgendwohin
und will etwas und auf die Organisation des Ichs. Das Ich sorgt dafür,
daß es zwischen den verschiedenen Triebregungen zum Ausgleich, zum Sinn
kommt. Das Ich in analytischem Sinn ist bestrebt, die widerstrebenden Einzel¬
erfahrungen sinnhaft zusammenzufassen. Es besteht also ein unwiderstehbarer
Zwang, im eigenen Leben einen Sinn zu sehen. Daß dieser Zwang besteht,
ist bereits ein Hinweis darauf, daß Leben nicht schlechthin sinnvoll ist und
daß die Sinnlosigkeit, die überwunden wird, zu den Grundfaktoren des mensch¬
lichen Lebens gehört. Zu den an sich sinnlosen Konstanten des Lebens gehört
die mitgegebene Individualität als solche. Es ist, um bei den leicht erfaßbaren
intellektuellen Faktoren zu verbleiben, eine sinnlose Tatsache, daß der eine
begabt, der andere unbegabt ist. Die Metaphysik des verschiedenen Intelligenz¬
quotienten in verschiedenen Individuen ist undurchschaubar.
3) Wir treffen die Verschiedenheiten in der Anatomie im weitesten Sinn:
die Konstanten der Konstitution; die Minderwertigkeiten; die Überwertigkeiten
und schließlich in engem Zusammenhang hiemit die Krankheiten, die (lediglich
von außen bedingten) Unfälle. Das Individuum antwortet auf jede Einschränkung
und Bedrohung der Sinnhaftigkeit seines Lebens mit einer Umkonstruktion seiner
psychischen Struktur. Es fühlt sich bestraft, verdammt, verfolgt, und gewinnt
hieraus das unmittelbare Gefühl der Wichtigkeit (mit oder ohne Hilfe der
Religion) oder findet, daß die Sinnhaftigkeit seines Lebens unter solchen Um¬
ständen besonders klar in Erscheinung tritt. Wir mögen dieses Gefühl der Sinn¬
haftigkeit des Lebens analytisch zum Narzißmus rechnen.
4) Individuen und Personen leben natürlich in der Welt. Da ist zunächst
die Umgebung des Alltags. Man hat Ziele, Zwecke, Absichten in dieser Welt.
Die Philosophie schien diesen Tatbestand vergessen zu haben. Neuerdings hat
ihn Heidegger wieder gesehen und hat allerdings die cura, die Sorge, ein¬
seitig in den Vordergrund gestellt. Für die Psychoanalyse hat die Welt immer
existiert und es ist eines der großen Verdienste Freuds, daß er immer wieder
das Individuum in seiner Umgebung und in seinem natürlichen Verhalten gesehen
hat. Nun bedeutet das natürlich nicht lediglich eine theoretische Beziehung.
In der Welt sein heißt in der Welt eine Veränderung hervorbringen. Sein
heißt demnach Wirken. Charlotte Bühler folgt Karl Bühl er, wenn sie von
einer Funktionslust spricht und in den ersten Phasen der Kindheit von einer
Betätigung um der Betätigung willen. Nun ist das sicherlich ungenau. Es ist
56g
Besprechungen
keine Frage, daß auch die primitive Bewegung etwas will, der Gegenstand ist
unbestimmt. Wenn das Kind spielt, will es nicht nur sich betätigen, sondern
sich an etwas betätigen. Beißen, Lallen, Schreien, Fassen, Halten, Strampeln
haben definitive Beziehungen zur Welt. Es gibt keine Vitalfunktionen, die
lediglich der eigenen Erbauung dienen. Das Individuum ist immer der Welt
zugewendet. Andernteils ist bei jeder Werkbetätigung das Erlebnis der eigenen
Funktion vorhanden. Wahrscheinlich konstatieren wir ständig die eigene Funktion.
Silberer hat gezeigt, daß sich die Funktion als solche sehr häufig in Symbolen
darstellt. Gewiß ist diese Symbolik nicht rein funktional, wir müssen uns eben
immer an etwas betätigen. Psychologie hat es natürlich grundsätzlich zu tun
mit dem Verhalten des Individuums zur Welt und zu den Änderungen, die
es in der Außenwelt hervorbringt. Das ist der Standpunkt der Analyse, der
allerdings nirgends formuliert ist. Werk und Leben sind daher vom Stand¬
punkt der allgemeinen Psychologie keine Gegensätze. Es ist richtig, daß manche
unserer Haltungen tiefer gehende Spuren zurücklassen als andere, manche mögen
dokumentierte Spuren zurücklassen. Das Wbrk ist eine solche dokumentierte
Spur des Lebensprozesses. Man trifft hier bereits ein Problem, das uns bald
noch von einem anderen Gesichtspunkt aus beschäftigen wird, nämlich, ob die
zweifellos vorhandenen Unterschiede zwischen scheinbar zweckloser Funktion
und planmäßigem Werk Artunterschiede oder Gradunterschiede sind. Es ist
das Problem: Phase oder Entwicklung. Nun besteht sicherlich bei Ch. B. die
Tendenz, das Werk — gleichsam als objektiven Geist — gegenüber dem
psychischen Prozeß, der undokumentiert ist, zu überschätzen; man hat auch
immer wieder das Gefühl, daß, der Verfasserin unbewußt, moralische War¬
tungen hier sehr stark hineinspielen. Es ist zweifellos ein Verdienst B.s,
wenn sie Werkstatistik in weitem Maß heranzieht. Aber das Werk ist nur
ein Indizienbeweis für psychologische Vorgänge, welche für den Psychologen
allein wesentlich sind. Es ist teilweise das Material der „Berühmten“, welches
Ch. B. zur psychologischen Überschätzung des Werkes verleitet. Sie hat aber
die gleichen Kategorien zur Beschreibung der kindlichen Entwicklung heran¬
gezogen. Nun gehört es zu den analytischen Grundgedanken, daß sich das Kind
von einer Haltung, die zunächst vorwiegend dem eigenen Körper zugewendet
ist, immer mehr dem Objekt, „Liebesobjekt“, zuwendet. Die Psychoanalyse
hat also diesen Grundgedanken B.s nicht nur als Gedanken vorweggenommen,
sondern auch reich belegt. Ich würde im allgemeinen formulieren, daß jede
Erlebnisphase körper- und umweltbezogen ist, daß aber die Umweltbezogenheit
im Laufe der Entwicklung zunimmt. Die Formulierung ist aber sehr schematisch.
Wir haben vom analytischen Gesichtspunkt allen Grund anzunehmen, daß das
Werk, sei es dauernd oder nicht, seine eigentümliche Bestimmtheit dadurch
erhält, daß es unter dem Schein der Umweltbestimmtheit Komplexe, Körper-
bezogenheiten absättigt.
5) Damit kommen wir zu einem Hauptproblem des Buches, zu dem Problem
der Phasen. Ch. B. hat bereits in ihrem Buche „Kindheit und Jugend“ fünf
Phasen aufgestellt: die funktionelle Phase ist mit unspezifischer Materialbehand¬
lung verbunden. In der zweiten Phase beginnt das Kind sein Ich der Welt
Syo
gegenüberzustellen und sich Ziele zu setzen. Es verfügt über das Werk mit
großer Willkür. Affektive Beziehungen zu einzelnen Personen bilden sich. In
der dritten Phase beginnt das Kind, das Material adäquat zu behandeln: Werk¬
reife. In der vierten Phase treten neue Spannungen auf, gleichzeitig werden
geistige Zusammenhänge gesucht. In der fünften Phase treten neue persönliche
Beziehungen hinzu. Vorausblick und Rückblick charakterisieren diese Phase.
Im Gesamtverlauf des Lebens unterscheidet sie gleichfalls fünf Phasen. In der
ersten Phase weiß man nicht, wofür man lebt. Die zweite Phase enthält den
Versuch zu selbstständiger Entscheidung. In der dritten Phase folgen die eigent¬
lichen Bestimmungen. In der vierten Phase tritt der Gesichtspunkt des Er¬
gebnisses in den Vordergrund. Die fünfte Phase bringt den Abschluß oder den
Rückblick.
Der unspezifischen oder provisorischen Bestimmung folgt die spezifische und
definitive und der Gesichtspunkt des Ergebnisses. Die Gewinnung des Gesichts¬
punktes des Ergebnisses ist häufig mit der Einstellung von der Selbstbehauptung
zur Entsagung verbunden. (Durchschnittlich fünfundvierzigstes Lebensjahr.) Die
Spezifikation liegt in der Zeit um das dreißigste Lebensjahr. Das Ende der
vierten Lebensperiode wird mit sechzig Jahren angesetzt.
Die Analogie zur biologischen Entwicklung ist deutlich: Jugend, frühes
Mannesalter, spätes Mannesalter, Beginn der Involution, Greisenalter.
B.s Gliederung gilt für Erlebnisse, Ereignisse und Werke. Jeder Phasenschritt
wird zuerst im Erlebnis deutlich. Man mag das im allgemeinen zu dem all¬
gemeinen Gesetz in Beziehung bringen, daß das Erlebnis der feinste Indikator
des Lebens und zugleich sein tiefster Ausdruck ist. Nun ist wohl ein Zweifel
an der Phasenhaftigkeit der Existenz nicht möglich. Aber es schließt sich hieran
sofort die Paradoxie, daß selbst dort, wo die Phase relativ deutlich wird,
z. B. in der Pubertät, doch ein allmählicher Übergang stattzufinden scheint.
Man kommt zur Antinomie: natura non facit saltum — natura facit saltum.
Man begegnet den gleichen Problemen in der Physik in dem Gegensatz Quantum
und Feld. Wenn man demselben Grundproblem auf so verschiedenen Gebieten
begegnet, so liegt ihm wahrscheinlich eine menschliche Grundeigentümlichkeit
zugrunde. Wir brauchen feste Punkte und finden sie doch unbefriedigend; so
läßt jede Phaseneinteilung einen unbefriedigenden Rest. Auch die Analyse hat
das versucht. Sie hat die narzißtische (primärer Narzißmus), die oral-sadistische,
die anal-homosexuell-sadistische und die Ödipusphase unterschieden, hat aber
in der letzten Zeit erleben müssen, daß der Versuch unternommen wurde
(M. Klein), die Ödipusphase in die allererste Entwicklungsphase zu verlegen.
Auch die Bestimmung der Latenzperiode stößt auf Schwierigkeiten. Ich halte
diese Schwierigkeiten der Phasenbestimmung für immanent. Ich glaube daher,
daß man im Phasenprinzip nie mehr als einen vorläufigen Ordnungsfaktor sehen
soll. Die Freude an der Phasenbestimmung scheint Ch. B. zu oft von der
Betrachtung der individuellen Lebenseigentümlichkeit wegzuleiten. Es wird
natürlich besonders schwierig, die schematische Phasenbestimmung anzuwenden,
wenn das Leben früh endet und dann auf Grund der Phasenlehre zu entscheiden
ist, ob es sich um ein abgeschlossenes oder abgebrochenes Kurzleben handelt.
5/i
6) Das führt zu der allgemeinen Frage der Bedeutung der Krankheit im
Lebenslauf. Es wäre natürlich einfach, wenn man Krankheit und Tod als freie
Selbstbestimmung des Individuums auffassen würde. Manche Analytiker, wie
Groddeck, neigen zu dieser Auffassung. Auch Ch. B. ist ihr nicht abgeneigt.
Krankheit verändert nicht nur die Zielsetzungen, sondern macht auch die Aus¬
führung gesetzter Ziele beträchtlich schwieriger. Sieht man, was ich hier im
einzelnen nicht ausführen kann, die Bestimmung des Menschen in der Selbst¬
verwirklichung, so ist Krankheit ein ernstes, oft unüberwindliches Hindernis.
Das kommt in der Materialsammlung Ch. B.s nur ungenügend zum Ausdruck.
Nun ist Krankheit ein typisches Menschenschicksal. Das Bild wird einseitig,
wenn es lediglich den der Krankheit völlig oder fast Entronnenen zeichnet. Es
macht das Leben viel unproblematischer, als es in Wirklichkeit ist. Die gleiche
Rolle, welche der Krankheit zukommt, spielt eine unübersichtliche Gestaltung
der politischen und ökonomischen Welt. Ich glaube, daß die Verbiegung des
Lebenslaufes und die Hinderung der Selb st Verwirklichung zu den grundlegenden
Tatsachen des Lebenslaufes gehören.
7) Nun finden solche Verbiegungen nicht nur durch mehr oder minder äußere
„physikalische“ Einwirkungen statt. Sie kommen, wie besonders die Psychoanalyse
gezeigt hat, durch die psychologische Einstellung der Umgebung zustande. Es
finden jene Verzerrungen statt, welche mit der Erziehung und dem Verhalten
der Eltern gegeben sind. Hier muß auf die Gesamtergebnisse der Psychoanalyse
verwiesen werden. Nun verweist Ch. B. im Vorwort auf die Verfehlungen
des menschlichen Lebenslaufes. Aber der menschliche Lebenslauf ist so häufig
verfehlt, daß es seinem Wesen zugehört, so leicht in Verfehlung zu geraten.
Es rührt freilich wieder an das Problem der Norm, wenn wir fragen, was
verfehlt und was nicht verfehlt sei. Dürfen wir das Urteil des Individuums
nicht als maßgebend ansehen? Ich zweifle daran. Das Urteil der anderen? Auch
das bleibt zweifelhaft. Haben wir das Recht, das Leben als Ganzes, als Einheit
zu betrachten? Das hohe Alter ist eine Verfehlung in sich. Ist die Paralyse des
Beau Brummei nicht eine schwerere Verfehlung in diesem Sinn als die Art,
wie er sein Leben anlegt? All das erscheint zu klar und systematisch in B.s
Buch. Man nehme etwa den Lebenslauf Conrad Ferdinand Meyers mit seiner
späten Entwicklung, einer relativ kurzen Spanne der Blüte, einem Absinken
in eine unheilbare Psychose von langer Dauer. Man würde auch gerne mehr
über individuelle Bestimmtheiten des Lebens erfahren. Analytisch wissen wir,
daß die wesentlichen Situationen des späten Lebens in der frühen Kindheit
vorgebildet sind. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß diese frühen Er¬
lebnisse mehr sind als lediglich das erste Aufleuchten der individuellen Ver¬
haltungsweise in spezifischen Situationen. Sie sind typische Gestaltbildungen,
Muster, welche auf den ganzen weiteren Verlauf des Lebens gestaltend ein¬
wirken. Wir wissen, daß Kinder, wenn ihnen eine Aufgabelösung einmal ge¬
lungen ist und wenn sie die Antwort einmal (objektiv richtig oder falsch)
formuliert haben, bei dieser Lösung bleiben und bei Wiederholung der Auf¬
gabe stereotyp in derselben Weise reagieren. Freud hat gezeigt, daß die Aufgabe¬
lösung nicht nur von der Konstitution, sondern auch von der Situation bestimmt
Besprechungen
Sp2
wird. Wir können uns ein Verständnis des Lebenslaufes ohne ein tiefes Ein¬
gehen auf diese Tatsachen schwer vorstellen. Man sieht, daß sich dann die
typische Situation immer wieder einstellt, daß das Individuum sie wieder er¬
zwingt. Man mag von Wiederholungszwang sprechen, gleichgültig, ob man sich
mit Freud darunter einen eigenen Mechanismus vorstellt oder an der Vor¬
stellung festhält, daß es sich um Triebeinstellungen und Aufgabestellungen handelt,
die immer wieder zu derselben Situation drängen. Man kann nicht leugnen'
daß die kurzen Darstellungen der Lebensläufe, welche das Rückgrat des Buches
bilden, so fesselnd sie vom literarischen Gesichtspunkt sein mögen, aus diesem
Grund den Analytiker nicht voll befriedigen: er möchte gern mehr von den
Dingen wissen, die nach seiner Erfahrung für die Gestaltung des Lebenslaufes
entscheidend sind, die Einstellung zu den Eltern, die Sexualhaltung und manches
andere mehr. Man nehme etwa den Bericht über das Leben des Schauspielers
Kainz. „Frauen scheinen eine seltsam geringe Rolle in diesem Leben gespielt
zu haben.“ Aber welches war sein Verhältnis zu König Ludwig, sein Verhältnis
zu seinem Vater, wie stand es mit seiner Homosexualität, welche Beziehung
hat die homosexuelle Komponente zum Beruf und zum Werk? Man ist von
der Feststellung nicht recht befriedigt, daß er sein Lebensziel mit einund vierzig
Jahren erreicht hatte und daß mit fünfzig Jahren Äußerungen des Greisentums
auftreten. Wenn er 1910 an Karzinom stirbt, so treten die gelegentlichen
Schwankungen der Stimmung — und des Werkes —, die vielleicht schon seelische
Reaktion auf das erste Krankheitsgefühl sind, eben in eine ganz andere Beleuchtung.
Hier scheint die innere Gefahr des Lebens unterschätzt zu werden, und viel
vom Sinn des Erlebens bleibt völlig im Unklaren. Oder man nehme das Leben
Kants. Was trieb ihn zur Vernachlässigung des Lebens? Ist das Werk der Aus¬
druck einer inneren Unfähigkeit zum Erleben? Wie spiegelt es die Situation?
Ist die betrübende Leere seines späten Lebens nicht lediglich Ausdruck der
Tatsache, daß er lange lebte? Endet nicht das menschliche Leben durch äußere
Gewalt oder in der Leere des Greisentums, welche wir im allgemeinen vor
uns zu verheimlichen pflegen?
Fraglos, Ch. B.s Buch ist ein bedeutsamer erster Versuch, das große Problem
darzustellen. Es versucht eine vorläufige Ordnung. Es gibt ein Phasenschema.
Es gibt eine Reihe wichtiger Einzeldarstellungen, die wir zum Teil hier nicht
erwähnt haben, das Problem von Chance, Einsatz, Wagnis, Erfüllung wird
behandelt und erreicht so eine größere Lebensnähe als sonst in psychologischen
Darstellungen. Die Lebensnähe würde größer gewesen sein, hätte die Verfasserin
analytische Fragestellungen und Probleme näher berücksichtigt. Es bleibt auch
die Frage offen, ob sie nicht in dem Hinweis auf Werk und Erfolg die Problematik
der menschlichen Existenz zu sehr vereinfacht hat. Man würde gern mehr über
die unausgesprochenen metaphysischen und ethischen Voraussetzungen hören,
die dem Werke zugrunde liegen. Aber es ist ein auch für den Analytiker wichtiges
Buch. Man sieht den Menschen unter selbstgesetzten Aufgaben. Ch. B. sieht ihn
nach Versuch und Irrtum zum Ergebnis schreiten. Aber obwohl es in ihrem
Material deutlich erscheint, betont sie nicht, daß das Ergebnis wohl objektiv
festgehalten werden kann, daß es aber subjektiv nicht bestehen bleibt, zerrinnt,
Besprediimgen
5^3
und daß das Individium sich neue Aufgaben setzt, so lange es hiezu fähig ist,
bis es unter dem Einfluß biologischer Unfähigkeit zu neuem Versuch und Irrtum
nicht mehr fähig ist. Vielleicht ist das Leben problematischer als es nach dem
Buche Ch. B.s den Anschein hat. Vielleicht ist das Werk kein so sicherer Ruhe¬
punkt in der menschlichen Existenz, wie Charlotte Bühler annimmt.
P. iSckilder (N ew- York)
Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit. Sammlung Göschen,
Band 1000, Berlin und Leipzig, Walter de Gruyter & Co., 1931.
191 Seiten.
Seit Spenglers „Untergang des Abendlandes“ hat noch keine Kultur¬
philosophie in Deutschland in weiten Kreisen der Gebildeten so bereitwillige
und dankbare Leser gefunden wie das Buch von Karl Jaspers. Diesmal handelt
es sich nicht um ein interessant schillerndes und leicht zugängliches Hypo¬
thesengebäude, sondern um eine philosophische Weltanschauung, die eine eigen¬
tümliche Strenge hervorkehrt und deren eindringliche Sprache weit mehr an
das Suchen der Jugend appelliert als an die weltanschaulichen Interessen der
Intellektuellen. Zwei Tatsachen sind es vor allem, die eine ausführliche Be¬
sprechung rechtfertigen: die phänomenologische Schule hat im Laufe der letzten
Jahre besonders in Gestalt der „Existenzphilosophie“ immer mehr an Einfluß
gewonnen; nirgends zeigt sich das deutlicher als in der psychotherapeutischen
Literatur. Und die zweite, wichtigere Tatsache: dieses Buch will zwar nur
Ausdruck eines „philosophischen Glaubens“ sein; aber dieser Glaube verrät
immer wieder die Tendenz, sich an die Stelle der Psychologie zu setzen.
„Die geistige Situation der Zeit“ ist bei Jaspers der Titel für den Inbegriff
aller Probleme, die sich für den „Einzelnen“ aus dem gegenwärtigen Zustand
der Kultur ergeben. Es geht also nicht um das Schicksal der menschlichen
Gesellschaft, sondern um das des Individuums in ihr. Auf kurzen 191 Seiten
unternimmt Jaspers den Versuch, schlechthin alle wesentlichen Probleme des
menschlichen Daseins aufzurollen. Durch vier Themenkreise verfolgt er das
Schicksal des „Selbstseins“ des Menschen, in dessen zentrale Problematik er
alle Fragen einmünden läßt. Er geht aus vom Massendasein im Zeitalter
der Technik und findet, daß die wachsende rationale Durchdringung der
menschlichen Daseinsordnung die Durchschnittlichkeit züchte und das „eigent¬
liche Sein“ des Menschen niederhalte. Dieser Verfall habe einen „geistigen
Grund“: den Verlust der „Bindung durch Autorität“. Die Gefahr des immer
weiter fortschreitenden Substanzverlustes in allen menschlichen Beziehungen
könnte nur durch einen neuen „Willen zum Ganzen“ besiegt werden. Dieser
Wille bejahe vor allem den Staat, und zwar nicht als ein Mittel der ratio¬
nalen Daseinsordnung zur möglichst richtigen Welteinrichtung, sondern als das
übergeordnete Ganze, mit dem der Einzelne sich identifizieren müsse, um sein
eigentliches Sein realisieren zu können. Der Staatswille schließe Bejahung der
Wehrhaftigkeit, ja unter Umständen auch des Krieges, ein. Die Substanz des
Ganzen aber, die der Staat birgt, sei abhängig von dem „ursprünglichen Leben
einer geistigen Welt“. In der geistigen Schöpfung werde der Mensch sich
6 74
Besprechungen
seines eigentlichen Lebens bewußt, doch werde ihm heute der Geist in jeder
bestehenden Objektivität fragwürdig, und so finde er sich schließlich zurück¬
geworfen auf die Frage nach der „Wahrheit, die er selbst ist“, nach dem
eigentlichen Menschsein: dem „Selbstsein“. Durch diese Interpretation ge¬
lingt es dem Philosophen, alle Realprobleme in metaphysisch begründete Anti¬
nomien zu verwandeln, aus denen nur die Philosophie selbst zu erretten vermag.
Was Jaspers hier unternommen hat, ist nicht weniger als der Versuch einer
Deutung des Lebens. Man soll nicht von vornherein sagen, daß ein solcher
Versuch auf dem Boden der Wissenschaft nicht zu rechtfertigen sei. Aber dem
wissenschaftlichen Erkenntnisverlangen, wie es Freud bei der Verfolgung der
Fragen nach dem „Sinn des Lebens“ in seiner Schrift „Das Unbehagen in der
Kultur geleitet hat, ist die philosophische Tendenz von Jaspers geradezu ent-
gegengesetzt: im Glauben, „das Maß eigentlich menschlichen Wesens“ sei „die
Gewalt, die . . . die Forderungen der Natur als unausweichlich nicht anerkennt“,
befragt er alles, was Menschen denken und tun, auf die „ursprünglichen Möglich¬
keiten des Geistes , der sich darin verwirklicht. Er sieht überall zwei Grund¬
möglichkeiten: Sichverlieren durch das Verfallen an die Durchschnittlichkeit
des Massendaseins und (niemals endgültiges) Sichgewinnen in der Entscheidung
für das „Selbstsein . Was immer Gegenstand der philosophischen Betrachtung
wird — die Interpretation befriedigt sich darin, dieses Grundschema durch¬
zusetzen. Vom Schicksal des „Selbstseins“ hängt alles ab: „echte“ Wissenschaft,
„ursprüngliche“ Kunst, „unbedingte“ Liebe, „berufenes“ Führertum u. s. f. Will
man Jaspers verstehen,^ so kommt es offenbar vor allem darauf an, seinen
Begriff des „Selbstseins“ zu verstehen.
Doch hier beginnt unsere Verlegenheit: es wird uns nämlich bündig mit¬
geteilt, daß man darüber, was und wie es selbst sei, nichts wissen könne; auch
die Existenzphilosophie selbst nicht: sie „würde sogleich verloren sein, wenn
sie wieder “Zu wissen glaubt, was der Mensch ist“. (S. 146.) Daß Jaspers dem
„Selbstsein geradezu Allmachtskräfte beilegt und daß er es mit einem Denktabu
umgibt, erregt den Verdacht, daß es sich um eine Lehre handelt, die nicht
nur wissenschaftlich nicht zu begründen ist, sondern die sich auch wissen¬
schaftlicher Kritik entziehen will. Wo die Schwierigkeiten des Gegenstandes
von der menschlichen Erkenntniskraft nicht bewältigt werden, bescheidet sich
die Naturwissenschaft die Philosophie wird pathetisch. Jedoch: „Die Un¬
wissenheit ist die Unwissenheit; kein Recht, etwas zu glauben, leitet sich aus
ihr ab.“
Jaspers selbst weist auf die geistesgeschichtliche Herkunft seiner Ideen von
dem religiösen Denken Kierkegaards hin. Aber man darf nicht übersehen,
daß bei Jaspers der Akzent nicht auf das Religiöse fällt, sondern darauf, daß
durch Vermittlung des Begriffs vom „Selbstsein“ jeder psychische Tatbestand
in letzter Instanz der Naturwissenschaft weggenommen und einer philosophi¬
schen Interpretation unterworfen wird. Diese erst wird aller Wissenschaft nicht
nur ihren eigentlichen Sinn geben, sondern auch in entscheidenden Stücken
Weg und Ziel der Forschung bestimmen. Wenn auch der sachliche Gehalt
des dabei leitenden Begriffes vom „Selbstsein“ in völliges Dunkel gehüllt bleibt,
5 7 5
Besprechungen
so wird doch die methodische Funktion dieser Begriffsbildung innerhalb des
Jaspers’schen Denkens aus ihrer philosophischen Verwendung nur allzu deutlich.
Bei allen Erscheinungen fragt die Philosophie nach dem „Wesen“; diesem
Begriff haftet eine unzulässige Doppeldeutigkeit an: „Wesen“ bedeutet einmal
das „wirkliche Sein“ einer Sache und ein anderes Mal das, was sie im Sinne
bestimmter, von nicht weiter analysierten Wünschen diktierter Wertungen sein
sollte, und diese Doppeldeutigkeit dient Jaspers als die Brücke, auf welcher die
immer von neuem bei der empirischen Wirklichkeit des menschlichen Lebens
einsetzende Betrachtung in das Reich der wertenden Interpretation hinüber¬
wechselt.
Was bewahrt aber das Jaspers’sche Denken davor, in die Inhaltlosigkeit eines
Philosophierens mit dem Wort „eigentlich“ zu verfallen? — nur die einheit¬
liche Weltanschauung, die seine Wertungen durchgehend bestimmt. Was sich
ihr entgegensetzt, wird als Verfall des Selbstseins interpretiert; sehr „frag¬
würdige“ Phänomene dagegen werden einseitig auf ihre ideale Möglichkeit hin
ausgelegt, weil sie ihr entsprechen. Was sich uns in seiner letzten Bedeutung
als der tragische Kampf des Menschengeschlechts um die Bändigung des Aggres¬
sionstriebs darstellt, erscheint hier unter dem Titel „Massenordnung in Daseins¬
fürsorge“; vom Kriege dagegen glaubt Jaspers, daß es die Aufgabe des „echten
Führers sein könne, ihn „vordenkend mit dem Gehalt einer geschichtlich
relevanten Entscheidung zu füllen“. Der Sinn der Erziehung soll im „geistigen
Ergriffenwerden des Einzelnen“ liegen, — daß ein solches Phänomen nur
möglich ist auf Grund vorausgehender Eingriffe in den Ablauf des Trieblebens,
wird gänzlich ignoriert. Das Wesen der Liebe liegt in der „Unbedingtheit
lebensentscheidender Treue“, (S. 54) — eine irgendwie geartete Abhängigkeit
von einer bloßen Naturgewalt „Sexualität“ wird ausdrücklich abgelehnt; dagegen
wird von der „vitalen Das eins Wirklichkeit“ des Menschen gesagt, daß er sie
im Sport (!) ergreife (S. 52). Wenn Jaspers dazu übergeht, seine abstrakten
Formulierungen zu konkretisieren, so zeigt es sich immer wieder, wie wenig
tief eigentlich der Sinn der zuerst so tief anmutenden Philosopheme ist. Aber
noch etwas anderes können die vorstehenden Zitate zeigen: hier wie bei vielen
anderen Gelegenheiten reduziert sich der Gehalt dieser idealistischen Philosophie
darauf, eine reaktionäre Weltanschauung in eine komplizierte und unanschau¬
liche Sprache zu übersetzen
Noch in einer zweiten Hinsicht ist diese Philosophie ideologisch gebunden.
Diese Abhängigkeit spricht Jaspers am klarsten auf der letzten Seite seines
Buches aus: „Ohne die in kirchlicher Tradition geborgene Religion ist in der
Welt kein philosophisches Selbstsein . . .‘ Von hier aus muß man auch den¬
jenigen Charakter des Jaspers’schen Denkens verstehen, der so viele fasziniert
hat und der in Wirklichkeit seine eigentliche Schwäche ist: die tief begründete
Ambivalenz gegenüber dem Erkennen. Seite um Seite führt Jaspers einen
verzweifelten Kampf um die Begründung eines über das bloß „erkenntnismäßige
Wissen“ (gibt es anderes?) hinausgehenden Philosophierens. Am Schlüsse des
Abschnittes „Krise“ kommt er dahin, geradezu zwei miteinander nicht zu ver¬
einende Wahrheiten zu postulieren. In konsequenter Verkennung des Sinnes
5 7 6
Besprechungen
wissenschaftlicher Forschung unterschiebt Jaspers der Wissenschaft einen ihrem
Wesen fremden Absolutheitsanspruch, so daß sie leicht durch die Kritik der
Philosophie zu beschämen ist — einer Philosophie, die mit Stolz bekennt, daß
„sie in ihrer Gegenständlichkeit bodenlos bleibt“ (S. 146).
Wie steht es nun in Wirklichkeit mit der von Jaspers behaupteten prin¬
zipiellen Unzugänglichkeit des „Selbstseins“ für eine wissenschaftliche Erforschung?
Die einzige rationale Begründung dieser Unzugänglichkeit beruft sich darauf, daß
hier das zu Erkennende durch das Erkennen selbst modifiziert werde. Diese
Eigentümlichkeit ist aber weder für das Erkennen des Psychischen spezifisch (was
die heutige Physik mit zunehmender Deutlichkeit zeigt) noch stellt sie ein unüber¬
windliches Hindernis dar — sie ist vielmehr ihrerseits genuiner Gegenstand
wissenschaftlicher Untersuchung. Die Erforschung dessen, was als realer Kern
in dem mit „Selbstsein“ Gemeinten steckt, ist dagegen von der Psychoanalyse
längst in Gang gebracht worden. Es ist nämlich unverkennbar, daß die Grund¬
funktion des „Selbstseins“ darin besteht, Schuldgefühl, genauer: unbewußtes
Schuldgefühl, zu mindern. Wenn man will, kann man also die Aussagen der
Psychoanalyse über das Schuldgefühl als Aussagen über das „Selbstsein“ lesen.
Jaspers dagegen hat an keiner Stelle den Versuch einer psychologischen Analyse
der eigentümlichen Realität des „Selbstseins“ gemacht. Es geht ihm auch nicht
um Untersuchen und Erklären, sondern um Verstehen und Interpretieren. Solche
„phänomenologische“ Methode erkennt bestenfalls morphologische Gesetz¬
mäßigkeiten; sie verschließt sich aber von vornherein der Möglichkeit, Gesetze
des psychischen Geschehens zu entdecken, und immer wird sie dazu neigen,
ad hoc zu bestimmten Werten psychische Realitäten zu konstruieren.
Das Gefühl des „Unbehagens in der Kultur“ schlägt heute in weiten Kreisen
in eine Stimmung der Verzweiflung um; doch vermag sich bei den meisten
Gebildeten die durch sie geweckte Tendenz zur Auflehnung nicht durchzusetzen
gegen die instinktive Neigung zum Festhalten an den psychisch tief verankerten alten
Werten. Die Kulturphilosophie von Jaspers bietet in solchem Zwiespalt einen Aus-
weg, weil sie grundsätzlich die ungelösten Probleme des menschlichen Zusammen¬
lebens in moralische Aufgaben des Einzelnen umdeutet und weil ihre ambivalente
Struktur es erlaubt, an allem die faktische Gestalt zu hassen und doch gleich¬
zeitig seine ideale Möglichkeit zu lieben. Genau gesehen vollzieht sich dabei
folgendes: die in cfer Bedrängnis der gegenwärtigen Krise geweckten aggressiven
Regungen werden durch die pathetische Zeitkritik von Jaspers zutiefst bestätigt, —
auf der anderen Seite wird aber das mit ihnen verbundene Schuldgefühl durch
den „Appell an das Selbstsein“ noch gesteigert, — im „inneren Aufschwung“,
den der Philosoph fordert, werden dann die aggressiven Tendenzen aufs neue
mit den Schuldgefühlen verlötet und dadurch auf ihren Träger zurückgewendet.
Es ist leicht zu begreifen, daß sich dieser Prozeß nur unter dem Schutz
von Denkverboten vollziehen kann. Begreiflich ist auch, daß die Psychoanalyse,
deren allgemeinste Wirkung in der Aufhebung von Denkverboten besteht, bei
Jaspers keine Gnade findet. Aber es ist doch erstaunlich, welches Maß von
Feindseligkeit sie bei ihm weckt. Angesichts der schier unglaublichen Ver¬
ständnislosigkeit ist eine Diskussion unmöglich. Wir beschränken uns auf die
Besprechungen
5 77
Wiedergabe einiger bezeichnender Stellen. „Die Selbstreflexion des redlichen
Menschen ... ist hier denaturiert zur Aufdeckung sexueller Begehrungen . . .;
es ist die Verdeckung echter, gefahrvoller Selbstreflexion. . ., welche das mensch¬
liche Dasein in seinen Niederungen verabsolutiert.“ (S. 139.) „Das gradlinig
Brutale im Hassen und Preisen, wie es mit dem Massendasein zur Herrschaft
gekommen ist, findet darin seinen Ausdruck . . (S. 142). „Das Höchste wie
das Gemeinste bekommt die gleiche Terminologie umgehängt, um gerichtet ins
Nichts zu schreiten.“ (S. 143.) Und schließlich im ersten Band seines philosophi¬
schen Hauptwerkes, zu dem der Göschen-Band gleichsam nur ein Vorreiter ist:
. Formeln, von denen etwa psychoanalytische . . . die größte Eignung er¬
wiesen haben zur Ausrottung menschlicher Würde, die im Selbstsein aus Frei¬
heit wurzelt. (S. 205.) Wie kann man Freud so mißverstehen? Im umgekehrten
Fall würde Jaspers gewiß nicht zögern, solche Urteile als „Wertblindheit“ zu
brandmarken. Im Vergleich damit sind die Psychologismen, die uns zur Er¬
klärung dienen, milde zu nennen.
Die Tatsache, daß ein Buch, welches „eigentlich“ nichts will, als den Ein¬
zelnen an sich selbst erinnern, einen Massenerfolg haben konnte, beleuchtet
eigenartig die „geistige Situation der Zeit“ : nicht das Denken eines Einzelnen
wird hier für Einzelne ausgesprochen, sondern ein Mittel der Tröstung wird
angeboten, welches heute in weiten Kreisen der Intelligenz die letzte Zuflucht
geworden ist: der Irrationalismus. W. Marseille (Wien)
(Eingelangt Anfang 1932.)
Imago XIX
37
INHALTSÜBERSICHT DES XIX. BANDES
O RI Gl N AL A RB EI T EN
Seite
Gustav Bally: Die frühkindliche Motorik im Vergleich mit der Mo¬
torik der Tiere.^
Marie Bonaparte: Der Mensch und sein Zahnarzt.468
Steff Bornstein: Das Märchen vom Dornröschen in psychoanalytischer
Darstellung.505
A> A. Brill: Über Dichtung und orale Befriedigung. 145
Helene Deutsch: Mütterlichkeit und Sexualität. 5
M . D. Eder: Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche
der Juden. 473
Max Eitingon: Abschiedsworte an Sändor Ferenczi.289
Paul Federn: Die Ichbesetzung bei den Fehlleistungen.312, 433
Ludwig Jekels: Das Problem der doppelten Motivgestaltung. 17
Ham Kelsen: Die platonische Liebe., . 34, 225
Ernst Kris: Ein geisteskranker Bildhauer. (Die Charakterköpfe des Franz
Xaver Messerschmidt.) Mit 29 Abbildungen außer Text.384
Harold D. Las sw eil: Psychoanalyse und Sozioanalyse.. 377
Max Levy - Suhl: Über die frühkindliche Sexualität des Menschen im
Vergleich mit der Geschlechtsreife bei Säugetieren. 27
Walter Muschg: Dichtung als archaisches Erbe. 99
Hans Peters: Die Sexualbiologie der Spinnen.198
Albrecht Schaeffer: Noch einmal: Der Feuermythos.256
Paul Schilder: Psychoanalyse und Biologie.168
— Das Körperbild und die Sozialpsychologie.367
Ernst Simmel: Gedenkrede für Sändor Ferenczi.296
R. A. Spitz: Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform 454
MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN
Helene Deutsch: Über die Weiblichkeit.518
Dorian Feigenbaum: Bemerkungen zu den „Libidinösen Typen“ . . 260
Imre Hermann: Zum Triebleben der Primaten. Bemerkungen zu
S. Zuckermann: Social life of monkeys and apes.113
Istvdn Hollos; Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 529
Paul Kecskemeti: Psychologie und Ontologie.261
Inhaltsübersicht des XIX. Bandes &79
REFERATE
Aus der psychoanalytischen Literatur
Seite
Bennett und Isaacs: Health and Education in the Nursery (Schmideberg) . . 547
Bernfeld: Der Begriff der Deutung in der Psychoanalyse (Gero) .126
Dell: An Autobiographical Critique (Fenichel) .*.547
Glover: War, Sadism and Pacifism (Autoreferat) .547
Isaacs: The Children we Teach (Schmideberg) .. 551
Laforgue: Misere de l’homme (Bergler) ... 551
Reich: Der Einbruch der Sexuälmoral (Röheim) .552
Reik: Der unbekannte Mörder (TV. Schmideberg) .561
Reiner: Causality and Psychoanalysis (Fenichel) .563
Roh eim: Telepathy in a Dream (Fenichel) .564
Röheim: A Csurunga Nepe (A. Bdlint) .564
Schjelderup: Über die drei Haupttypen der religiösen Erlebnisformen und
ihre psychologische Grundlage (Müller-Braunschweig) .131
Aus der Literatur der Grenzgebiete
Allendy: La Justice interieure (Weyersberg) .272
Alverdes: Die Tierpsychologie in ihren Beziehungen zur Psychologie des
Menschen (Hermann) . 2^2
v. Aster: Geschichte der Philosophie (Roellenbleck) .272
Becker: Die Instinktpsychologie William McDougalls (Bally) .412
Bericht über den XII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in
Hamburg (Meng) . .
Bouvier: Sur la Psychanalyse (Winterstein) .^ 2
v. Bracken: Die Selbstbeobachtung bei Lavater (Kris) .273
Broch er: Le mythe du höros et la mentalite primitive (Kris) .275
Büch: Albrecht Dürers „Melencolia § 1“ und die Pest (Winterstein) .415
Bühl er Charl.: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem (Schilder) 567
Carnap siehe Christiansen und Carnap
Carus: Vorlesungen über Psychologie (Haenel) .275
Christiansen und Carnap: Neue Grundlegung der Graphologie (Marseille) . 413
Clernen: Urgeschichtliche Religion (Lorenz) .4^
Dembo: Der Ärger als dynamisches Problem (Gero) .414
Dorer: Historische Grundlagen der Psychoanalyse (Hartmann) .133
Driberg: At Home vvith the Savage (Röheim) .4x8
Eliasberg: Rechtspflege und Psychologie (Kielholz) .276
Elkan: Über die Orgasmusunfähigkeit der Frau (Hitschmann) .420
Feiler: Psycho dyn amik des primitiven Denkens (Marseille) .422
Henning: Psychologie der Gegenwart (Kris) .422
Herbert: The Unconscious in Life and Art (Fenichel) .
Hetzer: Die symbolische Darstellung in der frühen Kindheit (Eisler) .276
Hetzer: Das volkstümliche Kinderspiel (Hojfer) . ..277
Jacoby: Handschrift und Sexualität (Marseille) .277
37 *
58o
Inhaltsübersicht des XIX. Bandes
Jahn: Tiefenpsychologie und Seelenführung ( Vowinckel) . 2 ^g
Jaspers: Die geistige Situation der Zeit (Marseille) .^
Kankeleit: Die schöpferische Macht des Unbewußten (E. K.) . 42J
Klag es: Graphologie (Marseille) .
Köhler: Der Weg des Menschen vom Links- zum Rechtshänder (Isakower) . . 138
Lauer: Vom neuen Bilde des Menschen (Winterstein) . 2 ^ 9
Lawton: The Drama of Live after Death (Winterstein) .. . 2 ^ 9
Le Bon: Psychologie der Massen (Schottlaender) . 13 g
Lewin: Die psychologische Situation bei Lohn und Strafe (Gero) .. 2 8o
Licht: Sexual Life in Ancient Greece (E. J.) .
Lunk: Die Stellung der Assoziation im Seelenleben (Hermann) .282
Mai dl: Die Lebensgewohnheiten und Instinkte staatenbildender Insekten (Bally) 285
Man XXXII, Diskussion über die Unkenntnis des Zeugungsvorganges bei den
Primitiven (Money-Kyrle) . 2 g 3
Mendelssohn: Schrift und Seele; Wege in das Unbewußte (Marseille) .... 425
Merkel: Christentum und Sexualethik (Müller-Braunschweig) .284
Poppelbaum: Mensch und Tier (Bally) .4 2 6
Prinzhorn: Persönlichkeitspsychologie (Sarasin) .284
Raiga: L’envie (Schottlaender) .285
Rank: Erziehung und Weltanschauung (Sterba) .286
R°gg e: D er Notstand der heutigen Sprachwissenschaft (Muschg) .13g
Rorschach: Psychodiagnostik (Blum) .426
Schick: Das Glückskind mit dem Todesbrief (Jones) .428
Schmitz: Märchen aus dem Unbewußten (R. Sterba) .!4i
Sclirenck-Notzing: Die Entwicklung des Okkultismus zur Parapsychologie
(Kielholz) . .
Schulze-Mai zier: Deutsche Selbstkritik (Roellenbleck) .287
Servadio: Otto sedute col medium Erto (Winterstein) .288
Siebert: Fehlleistung und Traum (Bally) .X42
Steinberg: Die seelische Eingliederung in die Gesellschaft (Marseille) .... 429
Velikovsky: Über die Energetik der Psyche und die physikalische Existenz
der Gedankenwelt (Winterstein) .142
Vergin: Das unbewußte Europa (Fromm) .142
Vleugels: Soziologie und Psychologie in der Massenforschung (Reik) .... 429
Yerkes: Genetic Aspects of Grooming; a socially important primate behaviour
pattem (Hermann) .430
THE
PSYCHOANALYTIC
QUARTERLY
Second year of publication
THE QUARTERLY
is devoted to original contributions in the
field of theoretical, clinical and applied
psychoanalysis, and is published four times
a year.
The Editorial Board of the QUARTERLY
consists of: Drs. Dorian Feigenbaum
(Managing Editor, 60 Gramercy Park,
New York City), Bertram D. Lewin, Frank¬
wood E. Williams and Gregory Zilboorg.
Associated with the Editorial Board is a
group of distinguished American and
European psychoanalysts.
Among the contributors to the first volume (1932)
were: Sigm. Freud, A. A. Brill, Helene Deutsch,
Paul Federn, Dorian Feigenbaum, Otto Fenichel,
J. C. Flügel, Eugen J. Harnik, Abraham Kardiner,
M. R. Kaufman, Bertram D. Lewin, Sandor Radö,
Geza Röheim and Frankwood E. Williams.
CONTENTS FOR JANUARY 1933:
The Psychoanalysis of Pharmacothymia (Drug Ad-
diction), I. The Clinical Picture, Sandor Rad6;
The Body as Phallus, Bertram D. Lewin; Anxiety
without Affect, Gregory Zilboorg; Pregenital
Anxiety in a Passive Feminine Character, Ives
Hendrick; Outline of Clinical Psychoanalysis, Pre¬
genital Conversion Neuroses, Otto Fenichel;
Turning Points in the Analysis of a Case of Alcoholism,
George E. Daniels; Abstracts; Book Reviews;
Current Psychoanalytic Literature; Notes.
Subscription price is five dollars;
single issues one dollar and fifty cents.
A limited number of Volume 1 (1932)
copies are still available; Volume 1 in
original binding , six dollars.
THE PSYCHOANALYTIC
QUARTERLY PRESS
372—374 BROADWAY, ALBANY,
NEW YORK
THE INTERNATIONAL
JOURNAL OF
PSYCHO-ANALYSIS
Directed by
SIGM. FREUD
Edited by
ERNEST JONES
This JOURNAL is issued
quarterly. Besides Original Pa¬
pers, Abstracts and Reviews,
it contains the Bulletin of the
International Psycho - Analy tical
Association, of which it is the
Official Organ.
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Street, London, W. 1.
The Annual Subscription is 30s per
volume of four parts.
The JOURNAL is obtainable b y
subscription only, the parts not
being sold separately.
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addressed to the publishers, Balliere,
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can also supply back volumes.
IMAGO, Band XIX (i 9 33), Heft 4
(Aiisgegeben im Dezember 1955)
Paul Federn: Die Ichbesetzung bei den Fehlleistungen. VI) „Äquivalent einer Fehl¬
leistung“ im Traume.
R. A. Spitz : Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform (Die infantile
Frau und ihre Gegenspieler)..
Marie Bonaparte: Der Mensch und sein Zahnarzt..
M. D. Eder: Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden
Steff Bornstein: Das Märchen vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung .
Seite
435
454
468
473
505
MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN
Helene Deutsch: Über die Weiblichkeit. 5*8
Istvan Hollos: Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen. 529
BESPRECHUNGEN
Aus der psychoanalytischen Literatur: Bennet und Isaacs: Health and Education in the Nursery
(M. Schmideberg) 547. — Dell: An Autobiographical Critique (Fenichel) 547. — Glover: War, Sadism
and Pacifism (Autoreferat) 547. — Isaacs: The Children we Teach (M. Schmideberg) 551. — Laforgue:
Misere de l’homme (Bergler) 551. — Reich W.: Der Einbruch der Sexualmoral (Röheim) 552. — Reik:
Der unbekannte Mörder (JV. Schmideberg) 561. — Reiner: Causality and Psychoanalysis (Fenichel) 563.
Röheim: Telepathy in a Dream (Fenichel) 564. — Röheim: A Csurunga Nepe (A. Bdlint) 564.
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Problem (Schilder) 567. — Jaspers: Die geistige Situation der Zeit (Marseille) 573.
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