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Full text of "Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen XIX 1933 Heft 4"

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XIX. BanJ 


Haft 4 




IMAGO 

Zeitschrift für psychoanalytische Isychologie 
ihre Grenzgebiete und Anwendungen 

Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

Herausgegeben von 

/Sigm. Freud 

Redigiert von Ernst Kris un d Robert Wälder 


Paul Federn.D ie Ichbesetzung hei den Fehlleistungen. (VI bisVIII) 

R. A. Spitz .EinBeitragzumProhlemderWandlungder Neurosen¬ 

form (D ie infantile Frau und ihre Gegenspieler) 

JAarie Bonaparte .Der jMensch und sein Zahnarzt 

JA. D. Eder .Die jüdischen Gehetsneinen und andere rituelle Ge¬ 

bräuche der Juden 

StefF Bornstein .Das Atärchen vom Dornröschen in psychoanalytisdier 

Darstellung 

Helene Deutsch .Uher die Weiblichkeit 

Istvän Hollos .Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erschei¬ 

nungen 



















Wir madien hiemit unsere Autoren auf die folgenden gesetzlichen Bestimmungen aufmerksam: 

Bis zum Ablauf von zwei dem Erscheinungsjahr einer Arbeit folgenden Kalenderjahren kann über 
die betreffenden Verlagsredite (Wiederabdruck und Übersetzungen) nur mit Genehmigung des Verlages 
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national Journal of Psycboanalysis“ getroffen haben, jedem Autor frei, ohne ausdrückliche Genehmigung 
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zurau men. 

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Die Kosten (einschließlich Porto der Zusendung der Separata) betragen für Beiträge 



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8 Seiten 

für 

25 Exemplare 

Mark 1 5.—, 

für 5o Exemplare 

Mark 20 .— 

von 9 

77 

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7 , 45.- 


Mehr als So Separata werden nur nadi besonderer Vereinbarung mit dem Verlag angefertigt. 


Preis des Heftes Mark 6 .—, Jakresatonnement jMLark 22.— 

Jährlich 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa 56o Seiten 

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gängen: in Halbleinen Mark z.5o, in Halbleder Mark 5 .— 


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IMAGO 

* 

ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOLOGIE, 
IHRE GRENZGEBIETE UND ANWENDUNGEN 

XIX. Band 1933 Heft 4 


Die Ichbesetzung Lei Jen Fehlleistungen 

Von 

Paul Federn 

Wien 


VI ) 1 „Äquivalent einer Fehlleistung“ im Traume 

Ich habe früher (S. 515) die „geträumte Fehlleistung“ an wenigen Bei¬ 
spielen besprochen und dabei erklärt, daß man von einer Fehlleistung des 
Traumes, d. h. der Traumarbeit, nicht sprechen kann, denn der Traum 
verfährt überhaupt kontrollos mit den Objektbesetzungen. Wenn wir aber 
auch das Verhalten des Ichs mit heranziehen, so finden wir mitunter ein 
Zurückbleiben der Ichgrenze hinter der Aufgabe, die die Objektbesetzungen 
stellen, analog wie wir es für die Fehlleistung beschrieben haben. Auch 
könnten Kontaminationen und Mischbildungen im Traume darauf beruhen, 
daß mehrere Ichgrenzen sich gleichzeitig mit verschiedenen Objekten be¬ 
schäftigen; andere Verdichtungen entstehen hingegen durch das Zusammen¬ 
treten verschiedener Objektbesetzungen in unbewußter Arbeit. Ich kann 
aber für diese Unterscheidung noch keine bestimmten Kriterien angeben. 
Ich will nur ein Beispiel für ein derartiges traumhaftes Äquivalent des 
Vergessens bringen. 

Man träumt ja sehr oft, daß man etwas nicht weiß; das beruht darauf, 
daß nur ein geringer Teil des Denkmaterials bei jedem Traumbilde dem 
partiell erwachten Ich ins Bewußtsein tritt. Der Träumer setzt sich darüber 
hinweg, manchmal mit Gleichgültigkeit, oft auch mit Ärger. Wahrscheinlich 
wirkt ein determinierter Widerstand gegen das ärgerlich Vergessene dabei 

1) Siehe diese Zeitschrift XIX, 1933, Heft 3. 


Imago XIX. 



INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


28 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 













Paul Federn 



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mit. Das traumhafte Äquivalent des tatsächlichen Vorganges des Vergessens 
ist aber eine bestimmte Art der Unterbrechung im Ablauf des Traumes 
während andere Arten von Lücken und Absätzen ihre bestimmte Deutung 
in den latenten Traumgedanken, beziehungsweise in der logischen Beziehung 
der einzelnen Traumgedanken zueinander, ihre Erklärung bei Freud ge¬ 
funden haben. 

Es gibt Träume, bei denen innerhalb eines Traumes ein Hiatus nur i n 
bezug auf die Anwesenheit der Person des Träumers bei dem Traumgeschehen 
auftritt, während in der Handlung selbst keine Pause eintritt; die Szene 
wechselt dabei oder bleibt die gleiche. Aber während die Traumgeschehnisse 
weiter abrollen, ist bei einem neuen Geschehen der Träumer nicht von 
Anbeginn da; er ist gleich wieder da, hat ein Gefühl, wie wenn er eine 
Gesellschaft verloren hätte und sie leicht wieder einholte. Er meint auch 
zu wissen, wo er in dem Intervall verweilte, jedenfalls weiß er, daß er 
sich verweilt hat. Das scheint dann zu geschehen, wenn der eine Traum¬ 
teil etwas bedeutet, was dem Über-Ich gar nicht gefällt, oder wenn der 
zweite Traumteil etwas Furchtbares bedeutet. Das Ich kann bei dem ersten 
Traumteil verharren oder vor dem zweiten Teile zurückschrecken. So ist 
das Zurückbleiben entweder eine Parteinahme für den ersten Traumteil 
oder ein Nicht-mit-ihm-fertig-werden-Können. Ich will als Beispiel einen 
eigenen Traum mit zwei Unterbrechungen berichten, den ich vor andert¬ 
halb Jahren notiert habe. Eine Novelle, die ich den Abend zuvor vor¬ 
gelesen hatte, war in der Architektur des Traumes dem Stile, auch der 
tieferen Bedeutung nach festgehalten, ohne daß inhaltlich Reste des Ge¬ 
lesenen in den Trauminhalt gelangten. Daß manche nächtliche Träume 
Dichtung sind, wurde mir dabei klar. Sehr oft ist die Gesamtstimmung 
des Abends für die des Traumes verantwortlich. 


1) Der Traum beginnt damit , daß ich wieder Arzt für innere Krankheiten 
bin , aber nicht in Wien, sondern wie wenn ich auf Manöver wäre. 

2) Ich werde berufen , d. h. mir wird ein Patient angekündigt und es wird an~ 
gefragt, wann er aus Wien zu mir herauskommen soll. Erste Unterbrechung! 
Ich schlage vor , ob er nicht warten könne, bis ich nach Wien zurückfahren würde , 
was nur die Frage von ein -paar Tagen sei, das würde doch dem Kranken 
billiger zu stehen kommen. 

j) Nun ist plötzlich der Mann schon da , der mich konsultieren wollte. Es 
ist ein Jude mit rötlichem Spitzbart, etwa wie der Kollege X. Plötzlich wird 
er aufgeregt und verzweifelt , jammert und schreit wie verrückt. Ich bleibe kalt , 
und sehe , daß er mich mißverstanden hat , da ich ja bereit war , auch sofort 
nach Wien zu fahren. — Zweite Unterbrechung. 




















































Die IcLbesetzung bei den Fehlleistungen 


435 


Plötzlich sind in meinem Zimmer drei überlebensgroße Kaftanjuden und 
ammern über mich . Sie sind schwarz , mächtig , mit überlangem Barte. Mein 
Qedanke ist: „Wie kann man mir mein Zimmer verunreinigen , sie haben gewiß 
Ungeziefer — was soll ich tun?“ Im Gefühle meiner Hilflosigkeit gegenüber 
Eindringlingen wache ich aus dieser rätselhaft eingetretenen und peinlich 
unangenehmen Szene auf mit dem sofortigen Wissen, daß da eine übernatür¬ 
liche Offenbarung zur Interpretation nötig sei, weil diese alten Juden über mich 
verzweifelt waren und zu mir gekommen sind, um mich zu warnen. Den Eindruck, 
daß diese Traumgestalten wirklich Gewalten der Vorzeit sind, die wirklich als 
Geister leben und mich im Traume besuchten, um mich zu bekehren, wurde 
ich lange nicht los. Ich fühle mich durch den Traum in mein Alter hinein¬ 
gewachsen, ernst und aktiver geworden, wie fähig, eine Mission zu erfüllen. 


Die Novelle, die ich Abends zuvor gelesen hatte, war „Die Narrenburg“ 
Stifters. Inhaltlich besteht nur die Beziehung, daß der zu der Burg seiner 
Väter zurückgekehrte Urenkel beziehungsweise Großneffe dort eine große 
Tätigkeit beginnt und der Dichter so die düstere Geschichte mit neuer 
Hoffnung enden läßt. Die mystische Stimmung von rätselhaften Zusammen¬ 
hängen und Ahnungen ist jedem Leser des großen österreichischen Dichters 
erinnerlich. 


Ich bringe einiges zur Deutung des Traumes, obgleich diese selbst ohne 
allgemeines Interesse ist. Vorher will ich an diesem Beispiele hervorheben, 
daß, wie ich an anderer Stelle angegeben habe, die Art des Ichgefühls aus 
dem Traume ganz deutlich erinnerlich sein kann. In diesem Traume war 
die ganze Zeit hindurch kein Körper-Ich, sondern nur das geistige Ich vor¬ 
handen gewesen, trotz der mitunter starken Affekte; der Traumgedanke 
hat also nichts mit dem, was ich im Wachen wollte, zu tun. Die Traum¬ 
gestalten waren besonders plastisch und überlebendig, der sehr starke Affekt 
ist erst im Erwachen aufgetreten. 

Absatz 1: Tages wünsch und Tagesrest aus einem Gespräch mit meiner 
Frau, die sagte, daß meine schon in früher Jugend brennend gewesene (sie 
nannte es) Neugier, Menschenschicksale zu verstehen und kennenzulernen, 
an ihnen teilzuhaben, längst gestillt sein müsse. Ich erwiderte zustimmend, 
daß ich froh wäre, allein und frei von allem Fremd-Seelischen natur¬ 
wissenschaftlich oder auch sonst etwas zu arbeiten. Der Wunsch, jung und 
unbekümmert zu sein, kommt auch im „Manöver“ zur Geltung, in dem 
ich ein junger eingerückter Arzt war. In Wirklichkeit habe ich kein Manöver 
als Militärarzt, sondern nur eines als Infanterist mitgemacht; die Manöver¬ 
zeit als Landwehrarzt habe ich in Wien abgedient, was mir nachher leid 
tat. Der Tagesrest war ein Gespräch mit einem befreundeten Maler, in 


28* 













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Paul Federn 



dem ich das beim Militär verbrachte Halbjahr lobte und erzählte, wie ich 
ohne rechte militärische Eignung, nur dank meiner Ambition, bei den 
Offizieren gut angeschrieben war und dank meiner Freundlichkeit mit den 
Kameraden ausgezeichnet stand, dabei das ungeistige, körperliche Leben 
sehr gerne hatte, allerdings die Zeitvergeudung und manches andere nicht 
mochte. 

Zum zweiten Absatz: Dieser Teil ist mehr gewußt als szenisch erlebt 
Auch hier kommt der negative Wunsch gegen die analytische Tätigkeit 
zur Geltung. Ich würde vom Lustprinzip aus jetzt keine Patienten wünschen 
gerne auf Urlaub gehen, muß mich aber stets „besinnen“ und sie nicht 
ablehnen. Dieses Nicht-Wünschen, der „narzißtische Widerstand“ gegen die 
von außen kommende Aufgabe, der im Wachen, wie wir gezeigt haben 
zur Fehlleistung führen würde, bedingt die erfolgende Unterbrechung. Aller¬ 
dings wird das Zurückbleiben wieder eingeholt, ich vergesse nicht wirklich 
— der Patient und ich sollen Zusammenkommen. Auch im Traum besinne 
ich mich meiner Pflicht. In meinem Vorschlag, der Patient möge warten 
bis ich nach Wien komme, ist ein Kompromiß zwischen Wunsch und Pflicht 
zustandegekommen. Die Rücksicht auf die vom Patienten zu tragenden Kosten 
ist eine aus der Wirklichkeit genommene Rationalisierung, da ich in dieser 
Rücksicht manchmal weiter gehe, als der Patient es selbst erwartet. 

Absatz 3: Die neuerliche Unterbrechung in der Handlung, indem an¬ 
gekündigte Ereignisse gleich da sind, ist ein typisches Vorkommen im 
Traume. Der Traum vermag den Satz Rinets (?): Chaque idee tend ä 
se rendre acte bis zur vollen Wirklichkeit zu erfüllen. Es ist das eigentlich 
keine Unterbrechung, sondern eine besonders enge Kontinuität, indem die 
Aufeinanderfolge des Geschehens durch den verbindenden Gedanken her¬ 
gestellt wird. Die Zeitlosigkeit im Traume besteht eben zum Teil darin, 
daß lange Zeiträume, wie sie in der Wirklichkeit zur Vollführung einer 
Tat oder zum Eintritt eines Zustandes nötig wären, einfach ausgelassen 
werden. Man erlebt nicht das „Wie“ des Geschehens, sondern erlebt nur, 
ohne bei der Kritik des unbegreiflichen sofortigen Eintretens verweilen zu 
können, das „Was“ des Geschehens als unwidersprochene Wirklichkeit. 
Solches Überspringen unwichtiger Zeitperioden im Traume hat aber nichts 
mit dem spezifischen Gefühl von Unterbrechung des Gegenwärtig-Seins des 
Träumers zu tun, in welchem ich das Äquivalent eines wachen Vergessens 
erkannt habe. 

Ich übergehe die Deutung des dritten Absatzes, was Tagesreste und sonst 
Persönliches betrifft. Das Problem meines Verhältnisses zum Judentum, 






































Die IcLbesetstmg bei Jen Fehlleistungen 





welches im letzten Bild zur unerwarteten, übernatürlich gestalteten Er¬ 
ledigung kommt, ist auch in diesem Absatz dargestellt, aber noch aus den 
Erfahrungen und vom Standpunkte des Alltags. Die zweite Unterbrechung 
des Ichs im Traume geht dem Einsetzen der ganz neuen Darstellung des 
Problems voraus. Das Ich des Träumers verlor sich für einige Zeit und 
dieses Mal ohne das Gefühl, daß er wußte, wo er in der Zwischenzeit war. 
Kein Besinnen repariert diesen Hiatus. Ich schrieb zwar, daß die drei über¬ 
lebensgroßen Gestalten in meinem Zimmer sind. Richtiger ist, daß die Szene 
bald überhaupt kein Milieu hatte, während vorher mein Zimmer deutlich 
geträumt wurde. Was die Eigenschaft der Überlebensgroße bedeutet, wenn 
sie nicht, wie in sexuellen Träumen, die Erektion symbolisiert, weiß ich 
nicht; ich dachte, es könnte das „Über-Ich“ so zur Darstellung kommen; 
vielleicht ist es die archäische Symbolik der Biesen, der Cherubim und 
sonstiger überweltlicher Symbole, die sich in solchen Träumen aus dem 
kindlichen oder phylogenetischen Erfahrungsmateriale erneut. Auch das 
würde dem Über-Ich entsprechen. Sicher ist, daß die Tagesreste zu den 
Patriarchen führen. Einen Witz, den Kollege X einmal gemacht hatte, habe 
ich den Abend zuvor erzählt. (Ein Kollege hatte den Namen Stephan für 
seinen alttestamentarischen Namen „Isaak“ eingetauscht. Und Kollege X 
benützte dann durch mehrere Tage wiederholt die Bekräftigungsformel: Bei 
unsern Vätern Abraham, Stephan und Jakob!) Der überlange Bart führt zu 
Moses, eine Mosesbüste stand den Abend gerade mir gegenüber, Moses zu 
Mahomet, von dem ich kurz zuvor las, daß er im Alter zwischen Fünfzig 
und Sechzig den Islam geschaffen hat. Moses war noch viel älter, als er 
das gelobte Land erreichte. Mein Name könnte alttestamentarisch Saulus 
sein, wenn ich kein Paulus geworden wäre. Saul hat sich aber gegen das 
Gebot des Propheten gewehrt. Auch der Name des Dichters, Stifter, mag 
mitgewirkt haben. Auch mein Vater hat seine bedeutenden Funde und 
Arbeiten mit 60 Jahren zu publizieren begonnen. Die warnenden Patriarchen, 
die meinen Vater vertreten, von denen ich nichts wissen will, sind sie doch 
nur alte Juden mit Ungeziefer, die aber mich und meine Abwehr völlig 
überwältigen, alles das bezieht sich auf mir gestellte Aufgaben, die ich nicht 
dazukam zu erfüllen. Das Ende des Traumes kehrt damit zum Beginn zu¬ 
rück, denn wenn ich Internist geblieben wäre, so hätte ich das Arbeits¬ 
gebiet meines Vaters nicht verlassen. 

Ich habe mit vielen Auslassungen diese autobiographische Deutung ge¬ 
geben, weil ich noch folgende Erklärung der Unterbrechung der Anwesen¬ 
heit des Ichs — ohne nachfolgendes Gefühl der Ausfüllung der Unterbrechung 














— hinzuzufügen habe, nämlich die, daß von diesem Moment des Traumes an 
das projizierte Über-Ich die Herrschaft angetreten hat, und das Ich weiter- 
hin nur mehr mit passivem Ichgefühl das Geschehen erlebt, während es 
zu Beginn des Traumes wehrhaft, aktiv, ablehnend gegen die Probleme 
eingestellt war. Der Übergang von der Ichgrenze mit aktiver Besetzung zu 
der mit passiver Besetzung erfolgt durch einen Hiatus von Geistesabwesen¬ 
heit im Traume. 

Ich glaube, berechtigt zu sein, in solchem Aussetzen der Ichbesetzung 
die Andeutung einer Fehlleistung im Traume zu sehen, zu der es freilich 
nie kommen kann, weil die Bealitätsprüfung fehlt. Jedenfalls verrät das 
Aussetzen der Gegenwart des Träumers einen das Ich besiegenden Wider¬ 
stand. Ein Sprung im Traume entspricht daher einer argen Diskrepanz 
zwischen narzißtischer Einstellung und den kommenden Objektbesetzungen; 
ein dem subjektiven Gefühl nach reparierter Sprung entspräche einem nicht 
zustande gekommenen, weil sofort durch Selbstbesinnung wieder gelösten 
Vergessen im Wachen. 

Man kann zusammenfassen: dort, wo eine Fehlleistung im Wachen ein- 
treten würde, bleibt es im Traum bei der Unterbrechung der Gegenwart 
des Ichs. — Es bleibt aber das Gefühl für die Kontinuität des Ichs des 
Träumenden trotz der Unterbrechung dieser Kontinuität bestehen. 



Die vorliegende Untersuchung hat den Anteil des Ichs als Subjekt bei 
der Fehlleistung gezeigt. Wann immer das Ich hinter der Objektrepräsentanz 
zurückbleibt oder aber ihr vorauseilt, ist die Gelegenheit zum akuten Ver¬ 
gessen (Verlegen, Verfehlen, Verwechseln sind nur Sonderfälle des Ver- 
gessens) gegeben. Wann immer mehrere Ichgrenzen gleichzeitig von der 
Objektrepräsentanz angeregt werden, ist die Gelegenheit zum Versprechen 
(Verschreiben, Verhören, Verlesen sind Sonderfälle der gleichen Art) ge¬ 
geben. Der Akt der „Selbstbesinnung“ verhütet oft den Eintritt der Fehl¬ 
leistung; das Besinnen geschieht ganz unbemerkt; es besteht darin, daß 
man den abgebrochenen Zusammenhang wieder aufnimmt, sich, analog 
dem Vorgänge beim Reparieren der Fehlleistung, in den Ichzuständen zeit¬ 
lich und inhaltlich zurückbegibt und nun besser den Objektbesetzungen 
folgt. In andern Fällen kommt es nicht zur Fehlleistung, wenngleich die 
Ichgrenze gegenüber der Objektbesetzung sich verschob, weil genügend 
andere vorbewußte richtige Verbindungen hergestellt sind, die eine richtige 








































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Wortwahl sichern, wenngleich die bewußterweise sich vorbereitende ge¬ 
fährdet wurde. Erst wenn in bezug auf das zu wählende Wort unbewußte 
Widerstande und Gegenströmungen sich stark geltend machen, wird das 
Steckenbleiben der Ichgrenze zur Fehlleistung führen, vorausgesetzt, daß 
auch dieses Steckenbleiben durch so starke Affekte bedingt ist, gegen welche 
die Selbstbesinnung nicht aufkommen konnte oder vermöge welcher man 
zum Versuch einer Besinnung gar nicht kommen kann. Die Fehlleistung 
geschieht also immer dort, wo das Ich im Augenblick mehr beteiligt ist, 
als daß es das objektiv Richtige allein walten ließe, oder wo es früher 
einmal so stark beteiligt gewesen war, daß die Objektvorstellungen ihrer¬ 
seits einen solchen früheren Ichzustand wieder erwecken konnten 

Wir sind so zur Beobachtung des Vorganges gekommen, durch welchen 
das Realitätsprinzip allmählich immer mehr an Stelle des Lustprinzips zur 
Anwendung gelangte. Es geschah dadurch, daß die Objekt Vorstellungen 
mehr und mehr von den ihnen anhaftenden Beziehungen zum Ich frei 
wurden. Damit werden sie auch von dem ihnen anhaftenden Affektbetrag 
frei. In seiner Arbeit „Die Verdrängung“ hebt Freud 1 es besonders her¬ 
vor, daß die Verdrängung eine Vorstellung oder Vorstellungsgruppe betrifft, 
welche vom Trieb her mit einem bestimmten Betrag von psychischer Energie 
(Libido, Interesse) besetzt ist, zu welchem eine Besetzung mit einem Derivat 
des Triebes, nämlich dem Affekte, in bestimmtem Betrage hinzukommt. 
Es fördert hier nicht die Untersuchung, wenn wir den Anteil des Es und 
Ichs zu trennen versuchen würden, indem wir von den Definitionen aus¬ 
gingen. Wir ziehen es vor, die Vorgänge selbst nachzuzeichnen. Dann lehrt 
uns die Beobachtung, daß der anhaftende Affektbetrag aus all den vielen 
einmal bewußt gewesenen Erlebnissen herrührt, in welchen die Objekt¬ 
vorstellung oder die Objektwahrnehmung selbst Reaktionen des Ichs her¬ 
vorrief, welche leid- und lustvolle waren, je nachdem der triebhafte Anteil 
der Objektbesetzung und die entsprechende triebhafte Einstellung des Ichs 
(und auch des Über-Ichs) eine Versagung oder Erfüllung erlebten. 2 Bei all 
diesen Erlebnissen war aber die Objektvorstellung vorübergehend oder längere 
Zeit mit Ichgefühl besetzt, in das Ich einbezogen gewesen. Die Befreiung 
von diesen Affektbeträgen geschieht zum großen Teile ohne unser Zutun 
durch die unbewußte Arbeit des Vor bewußten, wahrscheinlich zumeist im 
Schlafe dadurch, daß überhaupt alle Besetzung dem Ich entzogen wird und 

1) Ges. Werke, Bd. V, S. 473. Das Zitat zieht zwei Sätze des Originals zusammen, 

2) Ich vergesse nicht, sondern vernachlässige hier absichtlich den eventuellen An¬ 
teil des phylogenetisch Unbewußten. 









die den Objektbesetzungen anhaftenden Affektbeträge zum Ausgleich komm 
Soweit dieser Ausgleich nicht unbewußt geschehen kann, kommt es zu m 
Traume, d. h. zum Erwecken des Ichs durch die Affektbeträge. Das geschieht 
weil eben jeder Affekt, wie Freud in anderem Zusammenhang lehrte und 
ich nur hier neuerlich hervorhebe, das Residuum einer Ichsituation ist 
Soweit das Loslösen der Affektbeträge durch unbewußten ausgleichenden 
Entzug der Besetzung und durch die Traumarbeit nicht genügte, kann 
sie noch durch das bewußte Erinnern, Wiedererleben, Beurteilen und viel¬ 
seitige Betrachten in bewußter Überlegung geschehen. Das ist eine der 
wichtigsten Aufgaben des Bewußtseins. Sie gelingt nur, soweit nicht Ver¬ 
drängungen das Bewußtwerden solcher affektgeladenen Vorstellungen hindern 
und damit auch das Zurückrufen jener Ichsituationen, in welchen der 
Affektbetrag mit den Objekten sich verband. Der Widerstand des lchs gegen 
solches Bewußtwerden von Vorstellungsgruppen zeigt sich unter anderem 
in der Fehlleistung. Außerdem aber ist das Bewußtsein imstande, eine Kontrolle 
darüber auszuüben, daß die Vorstellungen, trotz der ihnen anhaftenden 
Affektbeträge, realitätsgemäß verknüpft werden. Die Fähigkeit zu solcher 
Kontrolle ist individuell verschieden. Je öfter diese geschah, um so mehr 
Affektbetrag wird den Vorstellungen entzogen und um so mehr werden 
viele Objektrepräsentanzen völlig realitätsgemäß auch in vorbewußter Arbeit 
verknüpfbar, weil sie keinen Affektbetrag mehr enthalten. Dieses Objektiv¬ 
machen der Vorstellungen begann phylogenetisch und ontogenetisch mit 
dem Aufhören der Herrschaft des primären Narzißmus und der Magie, es 
ist eine mühsam erfolgende Arbeit. Sie wird immer wieder durch die Stärke 
der Ichreaktionen im Erleben und Erinnern gestört und verlangsamt. Weil 
aber diese Arbeit nicht vollendet ist und die Ichsituationen, die mit den 
Objektrepräsentanzen in Verbindung standen, nicht völlig verdrängt wurden, 
haben wir für sehr viele Objekte sowohl die subjektiven, affektbetonten 
und durch den Affektbetrag mit Ichsituationen verknüpften Repräsentanzen 
und auch die mühsam erworbenen, „purifizierten“, affektlosen, eigentlich 
richtigen Objektvorstellungen nebeneinander bestehen. Die ersteren machen 
unser Denken und Handeln lebenswarm und originell, die zweiten setzen 
uns instand, unindividuell, aber dafür objektiv richtig zu denken und zu 
handeln. Die ersten bringen Reaktionen nach dem Lustprinzip, die zweiten 
solche nach dem Realitätsprinzip zustande. Mit Hilfe der zweiten prüfen 
wir die Möglichkeit, den ersteren nachzugeben; wegen der ersteren ver¬ 
zichten wir auf die Vorteile des absoluten Realitätsprinzips. Das ist aber 
auch nötig, weil die ersteren allein libidinöse Verbindungen mit den an- 


































Die Ichbesetzung bei Jen Fehlleistungen 


44i 


dem Menschen setzen, während die zweiten, wie der Verstand es überhaupt 
tut, eine kalte, verbindungslose Art zu reagieren mit sich brächten, wenn 
sie allein herrschen würden. 

Diese Gefahr des unpersönlichen Erlebens ist aber auch für das objek¬ 
ive, richtige Denken und Handeln gering, wenn das Ich normale und ge¬ 
nügend libidinöse Ohjektbeziehungen hat. Sobald nämlich eine Objektreprä¬ 
sentanz in unser Bewußtsein tritt, sobald sie nur vorbewußterweise unserem 
aktuellen Interesse dient, wird sie vorübergehend mit Ichgefühl besetzt, und 
nun kommt unsere gesamte oder auch nur ein Teil unserer Ichbesetzung, 
nämlich unser Interesse, ihr entgegen und verleiht auch der „purifizierten“ 
Objektvorstellung aktuelle neue Besetzung. Sie wird so instandgesetzt, in¬ 
tensiv die weitere Wahl unter den Assoziationen zu beeinflussen, wenngleich 
in ihr, als objektiv richtiger Vorstellung, kein Affektbetrag weder für noch 
gegen sie wirkt, ihr weder für ihr Prävalieren zu Hilfe kommt noch da¬ 
gegen hinderlich ist. 

Ich komme so von der Analyse der Fehlleistung neuerdings zum gleichen 
Resultate, das ich aus der Untersuchung des Narzißmus früher abgeleitet 
habe. Heute kann ich noch präziser sagen, die Ichgrenze wechselt ständig, 
und zwar bilden die eben ins Bewußtsein getretenen Objektrepräsentanzen 
stets die Ichgrenze für den nächsten Denkakt. Wir wissen aus eigener Er¬ 
fahrung, wie sich das eben Gedachte und vom Ich Erfaßte durch dieses 
neuerliche Erleben meistens neuerdings anders verknüpft hat und wieder 
vom Ich sich löst, aus dem Bewußtsein tritt und als isolierte Objektreprä¬ 
sentanz ins Vorbewußte zurücktritt. Über das Verhältnis zum Bewußtsein 
wurde das Verhältnis zum Ich lange übersehen oder beides für identisch 
angesehen (Janet). Daß sie nicht identisch sind, ergibt sich erstens daraus, 
daß die Ichzugehörigkeit selbst Gegenstand des Bewußtseins oder Bewußt¬ 
werdens ist, denn wir wissen von jedem Einfall, ob er aus dem Bereich 
der Ichzugehörigkeit oder dem der isolierten Objektrepräsentanzen kommt, 
wir wissen von letzteren, ob sie ichverbunden sind oder nicht, wir können 
schließlich im Falle der Entfremdung die Ichlosigkeit eines Teiles unseres 
Ichs wahrnehmen, ohne daß dieser darum weniger bewußt wäre. Schließlich 
kennen wir alle die Enge unseres Bewußtseins; diese bezieht sich jedoch 
immer nur auf die auftauchenden Objektrepräsentanzen. Für das mit dem 
Ich verbundene Vorstellungsmaterial besteht sie nicht. Soweit unser Ich¬ 
gefühl jeweilig uns bewußt ist, können wir gleichzeitig von mehreren 
Sinnespforten bewußt Eindrücke erhalten. Wie schon Schopenhauer es 
schilderte, dehnt sich das Ichgefühl auf das, was ich vorstelle, aus. 










Man kann z. B. in einem Saale, wenn man, wie es älteren Personen 
mitunter zufällt, einer Versammlung präsidiert, ja, wenn man nur einen 
Vortrag hält und in gutem Kontakte mit der Zuhörerschaft, von ihrem 
Aufmerken getragen, spricht, deutlich den Unterschied bemerken, daß sich 
dann das Ichgefühl nicht nur auf die eigene Person beschränkt, nicht i n 
der Frontal ebene der Stirne sich begrenzt, sondern den ganzen Saal ein- 
bezieht. Ändert sich dieser Zustand, so werden diese Wahrnehmungen zwar 
Objekte ohne Ichbesetzung, sie bleiben aber bewußt und stören nicht die 
Gedanken, die in der Rede oder beim Zuhören auftauchen. Das liegt daran 
daß sie einer verschiedenen Ichgrenze zugehören. Man kann aber auch* 
während man einen Gedankengang verfolgt, einen andern in suspenso 
lassen und ihn wieder aufnehmen, sobald etwa ein ihn bereicherndes 
Argument gehört wird. Der geübte Simultanspieler läßt viele Schach¬ 
partien abwechselnd mit Aufmerksamkeit besetzt in sein Bewußtsein treten 
in der Zwischenzeit ist der bisherige Stand des Spiels mit Ichgefühl be¬ 
setzt, aber nur vorbewußt vorhanden. In dieser Art sind ständig verschiedene 
Teil-Ichgrenzen vorbewußt bereit, um wieder ins Bewußtsein zu treten 
wenn sie durch äußere Anregung oder durch einen Einfall aktuell nötig 
werden. Erst wenn Affekte oder die Unklarheit der Entscheidung solche 
vorbewußt bereite Ichgrenzen zurückdrängen oder wenn sie mehrere mitein¬ 
ander in Konkurrenz treten lassen, tritt die Störung der Ichgrenzenfunktion 
ein, welche die Fehlleistung einleiten kann. Immer besteht auch die Mög¬ 
lichkeit, daß eine Ichgrenze nicht mehr in das Bewußtsein treten kann; 
wir würden sagen, daß sie verdrängt wird, wenn es sich um Objekt¬ 
besetzungen handeln würde, so aber glauben wir mit Recht zu sagen, daß 
der Vorgang der Sperrung es ist, den wir hier als Mechanismus beschrieben 
haben. Man wehrt sich zuerst gegen diese Annahme, weil, wie ich in einer 
früheren Arbeit ausgeführt habe, Ichzustände und die jeweiligen Ichgrenzen 
auch der Verdrängung unterliegen, sie können erst nach Überwindung von 
Widerständen und durch umwegige Assoziation zurückgerufen werden. Die 
Schwierigkeit erledigt sich damit, daß Ichzustände und die Ichgrenze auch 
Objekt der Erinnerung, also selbst Inhalt einer Vorstellungsgruppe sein 
können. Als Objektvorstellung unterliegt die Ichgrenze, die in einer be¬ 
stimmten Ichsituation bestanden hatte, mit dieser und der Objektvorstellung, 
welche zu der bestimmten Ichgrenze in jener bestimmten Ichsituation hinzu¬ 
trat, der Verdrängung. Als Teil des Ichs unterliegt die Ichgrenze dem 
Mechanismus der Sperrung, wie wir oben beschrieben haben. Es ist wahr¬ 
scheinlich. daß eine vorübergehende Sperrung jener Vorgang am Ich ist, 








































Die Ichbesetzung bei den Fehlleistungen 44^ 

sicher die spätere Verdrängung einleitet. Ich habe (S. 533) dargetan, daß 
'vir viel öfter einem Fehldenken infolge Zurückbleiben der Ichgrenze unter¬ 
liegen als einem manifesten Fehlleisten. Wird solches Fehldenken nicht 
wieder aufgelöst, so leitet es gleichfalls eine Verdrängung ein; wenn die 
affektive Veranlassung der Sperrung andauert, so wird auch weiter die nicht 
von der zugehörigen Ichgrenze aufgenommene Objektvorstellung dem Be¬ 
wußtsein ferngehalten. Damit aber eine Verdrängung wirkliche Unerreich¬ 
barkeit eine der Objektvorstellung veranlasse, müssen alle ihre Verbindungen 
it dem Ich durch Fehldenken verhindert werden. Wir erkennen daran 
wie sehr die affektive Belastung auch alles intellektuelle Leisten erschwert 
und verschlechtert. 

Wir haben weiter das affektmäßige Verdrängen früherer Ichzustände zu 
unterscheiden vom naturgemäßen Hinauswachsen aus früheren Ichzuständen 
infolge des Eintretens in andere Phasen der Entwicklung und damit der 
Objektinteressen. Es ist das normale Verhalten, daß man von seinem früh¬ 
infantilen Ich nur mehr eine Erinnerung wie von einer dritten Person hat 
und nur wenige echte oder Deckerinnerungen mit dem Identitätsgefühl be¬ 
hält. Es ist pathologisch, wenn jemand, wie wir es in manchen Analysen 
finden, auf ein früheres Ichstadium regrediert und in diesem Falle auch 
in seinem Ichgefühl das infantile Ich mit seinen Grenzen wiederkehrt. 
Aber nur bei psychotischen Fällen geschieht das in vollem Ausmaße, sonst 
wird nur das Gesamtgefühl einer früheren Phase und einzelne Ichgrenzen 
mit den dazugehörigen Affektreaktionen neu belebt. Was wir neurotische 
Einstellung nennen, ist sehr oft, vielleicht immer, die Wiederbelebung eines 
früheren Ichstadiums. W T ir lassen darum während der Analyse keine Ent¬ 
scheidung treffen, weil es schwerlich gut ausgehen kann, wenn ein erwach¬ 
sener Mensch aus einer Einstellung, welche auf das Kindesalter oder die 
Pubertät regrediert, eine Liebeswahl trifft oder den Beruf wechselt. 

Mehr werden wir überrascht, wenn ein Patient dauernd mit manchen 
seiner Ichgrenzen auf einer früheren Stufe seiner Entwicklung geblieben 
ist. Ich will den Unterschied an einem Beispiel klarstellen. Ein Patient 
erinnert sich an die Ödipussituation, in welcher die Mutter ihn aus dem 
elterlichen Bette, in dem er sich störend breit machte, oft entfernte. Wir 
würden uns nicht wundern, wenn vor dem Bewußtwerden dieser Erinnerung 
AffekteinStellungen, die der Ödipussituation entsprechen, in Übertragung auf 
andere Personen sich geltend machen oder wenn er überhaupt in allen 
seinen Handlungen während des Wiedererweckens dieser Erinnerungen ge¬ 
stört wäre. Wohl aber überrascht es, zu hören, daß der vierzigjährige Mann 







444 


Paul FeJern 


beim Wiedererinnern dieser Situationen als Gesamtpersönlichkeit noch d 
gleichen Groll und dieselbe ohnmächtige Eifersucht empfindet, wie er ^ 
damals erlebt hat; daß er noch heute das damals Geschehene als schwer' 6 
Unrecht der Mutter empfindet und erst durch die Bemerkung des Anal ^ 
tikers auf die infantile Art solcher Einstellung, die er sein Leben lang f 0 „ 
behalten hat, aufmerksam wird und einen ersten Versuch macht, mit den 
anderen Teilen seines Ichs mit Vernunft und objektiver Einsicht diese Affekt- 
einstellung und damit sein Gesamtverhalten zur Mutter und zur Mutter 
Imago zu ändern. 

Die Änderung der Ichgrenzen und des dazugehörigen Ichgefühls in langen 
Perioden des Lebens ist, wenn man einmal darauf aufmerksam gemacht 
wurde, von jedem leicht erkennbar. Schwieriger ist es, zu erkennen, daß 
sich die Ichgrenzen ständig wandeln, und vor allem, daß die aktuellen Wahr¬ 
nehmungen oder die Worte als Sachbenennung es sind, welche das Zu- 
einandergelangen von Ichgrenze und Objektrepräsentanz stetig vermitteln 
Nach jedem gehörten oder von innen aufgetauchten Worte ist die von ihm 
als Etikette bezeichnete Objektrepräsentanz mit erreicht, und diese wird selbst 
wieder zur neuen Ichgrenze; diese verlangt nach einem neuen Inhalt, der 
immer einer Fortführung, Ergänzung, Einschränkung oder Erfüllung bedarf 
und deshalb zur entsprechenden Assoziation mit der sachlich richtig nächst¬ 
folgenden Wortrepräsentanz führt. Derart setzt die Auffassung von den Libido¬ 
besetzungen die Assoziationspsychologie fort; sie fügt aber mit der Annahme 
einer Ichbesetzung einen neuen dynamischen Faktor hinzu, welcher die 
mechanische Determination durch die Assoziationsgesetze aufhebt und den 
Affekten und den vielseitigen Richtungen des Ichs die richtende und die 
verdrängende Wirkungsmöglichkeit zuweist. Die psychophysische Beschreibung 
dieser Vorgänge setzt auch zum Teil eine andere Auffassung des psychischen 
Apparates voraus, welche einer späteren Arbeit Vorbehalten bleibt. Phäno¬ 
menologisch wollen wir noch auf Einzelnes eingehen. 

So wie der Rahmen um unser Ich, die tatsächliche Umgebung, wechselt, 
so auch, und zwar noch viel mehr, wechselt jeweilig der mit Ichgefühl 
und Affektbeziehung zu uns besetzte aktuelle Vorstellungsraum, der die 
Ichgrenze bildet. Von dieser Ichgrenze gehen die Bedürfnisse, Wünsche, 
Interessen, auch die negativen Bedürfnisse (Abneigungen), die negativen 
Interessen, d. h. Interesseverweigerung, die negativen Wünsche, d. s. die 
Befürchtungen, Sorgen, Ablehnungen, aus. Durch wirkliche Wahrnehmung 
der eventuell durch Handlung in der Außenwelt erst herangeführten Ob¬ 
jekte oder durch im Denken auftauchende Objektrepräsentanzen treten die 















































Die Ichbesetzung bei den Fehlleistungen 


4^5 


dynamisch besetzten Ichgrenzen, jeweilig aus ihrer positiven und nega¬ 
tiven Ungestilltheit heraus und wird das von ihnen ausgehende Besetzungs¬ 
bedürfnis teils gesättigt, teils gesteigert. Im ersten Falle regen die hinzu¬ 
getretenen Objektrepräsentanzen oder Wahrnehmungen andere Ichgrenzen 
^ erwecken sie oft aus partiellem Schlafe; damit ändern sich die Ich¬ 
grenzen, und die erledigten Repräsentanzen bleiben nicht weiter mit Ich- 
gefühl besetzt; jede neue Erfahrung ändert so die Ichgrenzen, ordnet sie 
nach neuen Objektrepräsentanzen um. Dabei walten sowohl Lust-Unlust¬ 
prinzip als Realitätsprinzip. Aber auch im andern Falle, wenn es nicht 
möglich ist, die von der Ichgrenze ausgehenden Strebungen wunschgemäß 
zu stillen, besteht die Tendenz, dem Lust-Unlust-Prinzip entsprechend, die 
Ichgrenze zu wechseln, indem man den hinzugekommenen Wahrnehmungen 
und Objektrepräsentanzen folgt; so wird die unlustvolle Ichgrenze mit ihren 
positiven und negativen Wünschen verlassen und auch eventuell als Denk¬ 
gegenstand aus der Erinnerung verdrängt. In diesem Falle ist aber unser 
Wille imstande, das Nachgeben gegenüber dem Lustprinzip aufzuhalten und 
durch Zuwendung von der dem Gesamt-Ich zur Verfügung stehenden Be¬ 
setzung (sowohl der mit Libido als der mit Quantitäten Todestrieb) die 
unbefriedigte Ichgrenze nicht aufzulassen. In andern Fällen ist das Fest¬ 
halten der Ichgrenze nicht dem Willen zuzuschreiben, sondern die den Vor¬ 
stellungen angehörenden Strebungen und Affekte (wiederum teils Libido, 
teils Todestrieb) sind zu stark, um trotz ihres Unlustcharakters aus dem 
Bewußtsein zu treten und als Ichgrenze aufgegeben zu werden. In beiden 
Fällen ist die Gelegenheit zur Fehlleistung gegeben. Dem Lustprinzip nach 
hätte eine akute Verdrängung ein treten müssen, aber dem Realitäts- oder dem 
Lustprinzip nach ist eine Entscheidung in einer bestimmten Richtung nötig. 
Eine Sperrung der Ichgrenze und die Fehlleistung sind die Folgen. Wir 
sehen, daß die beiden Prinzipien in den Vorgängen zwischen Ichgrenze 
und Objektbesetzungen ihre Wirksamkeit entfalten. 

Im Falle der Fehlleistung hat entweder das vom Willen vertretene 
Realitätsprinzip oder das Lust-Unlust-Prinzip in bezug auf die Ichgrenze 
versagt. Denn sie folgt nicht weiteren Anregungen, sondern verbleibt beim 
früheren Zustande; genauer ist es zu sagen, daß beim versagenden Lust¬ 
prinzip zwar andere Ichgrenzen besetzt wurden, aber der unbefriedigten nicht 
ihre Besetzung entzogen werden konnte; beim Versagen des Willens war 
das Gesamt-Ich zwar imstande, die Ichgrenze festzuhalten, aber nicht imstande, 
den störenden neuen Anregungen die Besetzungen zu entziehen. Den andern 
Fall, daß die Ichgrenze wegen der lustvollen Affekte (etwa durch eine 








Paul Federn 


44 & 


erotische oder Größenphantasie) festgehalten wird, während der Wille ander 
Aufgaben durchsetzt, besprechen wir nicht weiter, weil es im Prinzip nicht 
anders verläuft. 

In diesem Falle des partiellen Versagens kommt es nun zu den Re¬ 
gressionen in bezug auf die Sprache und die Motilität und zur Sperrung 
der Ichgrenze. Die Beziehung der Sprache zur Ichgrenze habe ich bisher 
nicht erörtert, weil ich vorher das zickzackartige Binden und Lösen der 
Objektvorstellungen an die Ichgrenze dem Leser vorführen wollte. (Das Wort 
und die Wahrnehmung, in diesem Falle wirkt ja das Wort auch als innere 
akustische Wahrnehmung, spielen bei diesem Binden und Lösen die gleiche 
Rolle wie etwa das bewegliche Mittelstück bei dem bekannten Zippverschluß 
von Kleidern und Taschen.) Das Wort gehört an sich nie zur Ichgrenze 
sondern nur in Verbindung mit den in das Ich einbezogenen Objektvorstel¬ 
lungen. Es ist auch von den isolierten Objekt Vorstellungen getrennt. Isoliert 
zwischen beiden stehend, ist das Wort von beiden aus zugänglich, aber nicht 
von beiden in gleicher Weise. 

Wenn wir das Vergessen eines Namens auf lösen, so fällt uns der ver¬ 
gessene Name oft erst eine kurze Spanne Zeit später ein, als wir die Analyse 
beendet haben, oft so, wie wenn er uns in uns gesagt worden wäre. Das 
wiederholt einen Vorgang der Kindheit. Beim Lernen der Sprache werden 
dem Kinde die Dinge gezeigt und genannt; das Kind hat sie vielfach vorher 
anders genannt und übernimmt die gemeinsamen Benennungen und gibt 
die eigenen auf. Das Kind akzeptiert daher die Worte und muß sie selbst 
üben und selbst erst die Dinge nach dem Beispiel benennen. Oder es lernt 
Worte auswendig und versteht nicht ihren Sinn. Für gewöhnlich erweckt 
die Sachvorstellung die ihr zugehörige Benennung, das Ich hört das auf¬ 
tauchende Wort und innerviert dann die zugehörige Sprachbewegung. Des¬ 
halb haben wir wohl das Wort auf der Zunge, aber nicht im Gehör, wenn 
wir dem Vergessen unterlegen sind. Das ist ein Argument dafür, daß es 
sich bei dem Vergessen von Benennungen nicht bloß um die Verdrängung 
der vorbewußten Wortvorstellungen handelt, sondern um eine isolierte Ab¬ 
trennung (Sperrung) der zugehörigen Ichgrenze. Wenn man uns ein ver¬ 
gessenes Wort sagt, so ist es uns sofort bekannt; teilt man uns hingegen 
etwas mit, was wir verdrängt haben, ohne vorherige Analyse, so berührt 
es uns fremd und befriedigt uns nicht. Wie die Worte den Verkehr zwischen 
Individuum und Außenwelt vermitteln, so auch zwischen dem Ich und 
den Repräsentanzen der Außenwelt, das sind die Objektvorstellungen. Das 
gehörte Wort weckt gleichsam, ruft auf sowohl die Objektrepräsentanz als 





































Die Icbbesetzung bei den Fehlleistungen 


447 



jje dazugehörige Ichgrenze. Ebenso ruft die Wahrnehmung die Objekt- 
r epräsentanz hervor, die sie wiederholt, und erweckt sofort ein lebhaftes 
Gefühl der Beziehung des Ichs zum realen Objekt. So bringen Worte und 
Wahrnehmungen fortlaufend Ichgrenze und Objektbesetzung zum Zusammen¬ 
stimmen und ermöglichen erst dadurch das richtige Denken, Sprechen und 
Handeln. Denken, Sprechen und Handeln werden daher verfehlt, wenn 
dieses Zusammenstimmen nicht gelang oder verfehlt wurde. 

Dieses Zusammenstimmen von Ichgrenze, Wahrnehmung beziehungsweise 
Wort und Objektrepräsentanz geschieht immer im bewußten Denken, denn 
ihm ist die Wahrnehmung und speziell die des gehörten eigenen Wortes 
als Bestätigung des selbst gesprochenen und gedachten zugänglich. Aus diesem 
Grunde ist das bewußte Denken die ständige Kontrolle der Richtigkeit der 
Objektrepräsentanzen. Da die andern Menschen das objektiv Richtige zu 
hören erwarten, getrennt von dem Subjektiven, am Ich Haftenden, hilft 
das bewußte Denken ständig, die reinen Objektvorstellungen von den vom 
Ich ausgehenden Beziehungsresten zu isolieren. Daß das mangelhaft gelingt, 
beweist die Fehlleistung. Obgleich dieses Symptom affektiver Abwehr das 
bewußte Denken selbst betrifft, hat man doch das merkwürdige Gefühl, 
daß die Fehlhandlung überhaupt nie geschieht; sie wird erst am Resultat 
bemerkt, wenn sie schon geschah. Sie geschieht im vorbewußten Denken, 
welches unbewußten Mechanismen verfiel, weil „das Ich nicht dabei war“. 

VIII) Das psychotische Äquivalent cler Fehlleistung 

Eine Fehlleistung versetzt nicht nur in harmlosen Ärger; diesem Ärger 
ist immer eine, wenn auch nicht starke Angst beigemengt, die der Unruhe 
wegen der Ichstörung entspringt. Im Innern ist etwas nicht in Ordnung 
gewesen. Es liegt nun im Wesen der Psychose, daß in ihr die Orientierung 
in bezug auf „innen und außen“ so tief gestört ist, daß keine Hilfe des 
eigenen, sonst trotz Psychose funktionierenden Verstandes, kein Erproben 
durch Einflußnahme auf die Außenwelt und auch keine Beweise seitens 
anderer Personen die Störung korrigieren können. Um daher den Vorgang 
der Fehlleistung bei einem Fall von paranoider Schizophrenie wiederzufinden, 
dürfen wir mit unserem Interesse nicht bei der psychotischen Erklärung ver¬ 
weilen, welche der Kranke selbst für seine Fehlleistungen gibt; wir dürfen 
das ebensowenig tun, als wir uns bei dem normalen Fehlleister von seiner 
Angabe, er habe nicht aufgepaßt oder er sei zerstreut gewesen, abhalten 
lassen, auch nicht davon, daß er zu müde war. (Hätte Freud gewartet, bis 







das Problem der normalen Denkarbeit gelöst wäre, um erst dann die V 
fehlungen zu untersuchen, so müßten wir mit ihm noch auf seine Fund 
warten.) So ist es auch bei dem Psychotiker. Auch er gibt Erklärungen für 
sein Verfehlen; doch entfernen sich diese weit von dem, was richtig i st 
während wir die Erklärungen des Normalen wohl glauben und sie bloß fü^ 
unzulänglich halten. 

Unser Kranker verhält sich gegenüber der Frage, von wo aus seine Krankheits 
Symptome ausgehen, in für die Art der Psychose typischer Weise. Er verirrt 
sich sozusagen ganz dabei, es irrt nicht nur sein Irrtum. Es ist vielmehr eine zum 
Falschen geänderte Orientiertheit, der er unterliegt. Dieses Irregehen hängt 
mit der Erkrankung des Ichs, mit der Einschränkung der Ichgrenzen zu¬ 
sammen, wie wir später ausführen wollen, soweit es zu unserm Thema gehört 
Hier wollen wir nur die Folge seiner Umorientierung in bezug auf innen 
und außen mitteilen. Wenn unbewußte und nicht ichgerechte Triebwünsche 
solche Kranke packen, so meinen sie, daß fremde Individuen sie ihnen ein¬ 
gegeben haben, oder, soweit sie noch solcher Wünsche Herr werden, wehren 
sie sich dagegen, daß andere (bestimmte Personen oder später mehrere un¬ 
bestimmte, dann alle, zuletzt die ganze Welt) diese Wünsche und Gedanken 
bei ihnen voraussetzen, sie solcher Handlungen beschuldigen. Sie verlegen 
also das, was sie innerlich bekämpfen müssen, oder das, was sie von innen 
befällt, nach außen. Und so machen sie es auch mit ihren Fehlleistungen. 
Sie sagen nur dann, wie der Gesunde, sie haben etwas vergessen oder sie 
können sich nicht erinnern, wenn es sich um einen Gedanken, um ein 
Wort handelt, das nichts mit jenem Gebiete zu tun hat, für welches sie die 
Orientierung verloren haben, welches nun außerhalb ihres Ichs liegt, oder 
welches sie außerhalb ihres Ichs verlegt (projiziert) haben; sie geben also die 
Erklärung des normalen Menschen, nur soweit sie normal geblieben sind. 
Ich hebe das hervor, weil der nicht völlig Psychotische auch alle Fehlleistungen 
wie ein Gesunder auf weisen kann. Wenn ihm aber eine Fehlleistung auf 
dem Geistesgebiete widerfährt, in welchem er die Orientierung über „innen 
und außen“ verloren hat, wo er also sich geistig verirren mußte, weil ihm 
die wichtigste Orientierung fehlt — die Sprache nennt ihn deshalb in psycho¬ 
logisch richtiger Weise einen „Irren“ —, dann gibt der Kranke nicht zu, 
daß er einfach ein Wort, ein Wissen, einen Gedanken vergessen hat, er be¬ 
hauptet, vielmehr er weiß, er hat das zweifellose innere Gefühl, daß ihm 
Name oder Kenntnis, Gedanken, Erinnerung „entzogen“ wurden. Je nach 
der Krankheitstheorie, die er gebildet hat, ist es sein persönlicher Feind und 
Verfolger, oder es sind überirdische Mächte oder kosmische Umwandlungen, 


■■ 






































Die Icbbesetzung Lei Jen Fehlleistungen 


449 



Jenen er unterliegt. Alle diese Wahnideen oder -Systeme sind Rationali¬ 
sierungen für die Verirrtheit, der er in bezug auf die Verursachung seiner 
$ymp tome ’ unserm Falle seiner Fehlleistung, unterliegt. Der Wahn ist die 
Rationalisierung des Irreseins, wobei die Rationalisierung bei manchen partiell 
erkrankten Menschen wirklich folgerichtig verläuft, bei andern kritiklos mit 
irren Elementen arbeitet. Es ist nun interessant, daß der Kranke die vom 
Gesunden so gerne angenommene Erklärung, daß er „einfach“ vergessen 
hat, zurückweist; ebenso verneint er, daß er zerstreut, müde oder nicht bei 
j er Sache gewesen sei. Sagt man ihm den Namen, so nimmt er ihn an und 
erkennt ihn, ein Zeichen, daß es sich auch bei ihm nur um eine Störung, 
nicht um Verlust der Wissensfähigkeit handelt. Man kann auch — bei leichteren 
Fällen, die den Kontakt mit Umwelt und Arzt noch haben — durch Assozia¬ 
tion und erneutes Erzählenlassen der Umstände und Vorgänge, zu welchen 
das Vergessene gehörte, den Namen wieder finden lassen; oder der Kranke 
findet ihn gleich dem Normalen von selbst nach der wohltätigen Neuordnung 
der Gedankenverbindungen durch den Schlaf. Je nach der dauernden oder 
zeitweiligen Schwere des Zustandes gibt der Kranke zu, er erinnere sich nun 
an den vergessenen Namen, oder er bemerkt, nun sei der Name vom äußeren 
Einflüsse freigegeben worden, fügt oft hinzu, dafür erstrecke sich der Einfluß 
jetzt auf anderes in Körper oder Seele. Er teilt damit in seiner Auffassungs¬ 
weise mit, daß jetzt andere Ichgrenzen der Störung unterliegen, welche den 
Wort- oder Gedankenentzug, das ist die Fehlleistung des Vergessens, bedingt. 
Für die psychologische Erforschung der Schizophrenie führt die Gleichheit 
von Vergessen und Wort- oder Gedankenentzug viel weiter, als ich hier aus¬ 
führen kann, denn in schweren Fällen nimmt der Gedankenentzug solche 
Dauer und Stärke an, daß er eine völlige Sperrung der mitgeteilten, bemerk¬ 
baren oder erschließbaren Geistestätigkeit für kurze oder lange Zeit bedeutet. 
Im Prinzip handelt es sich auch dann um das Zurückbleiben der Ichgrenze 
hinter der Objektrepräsentanz, um ein „Fehldenken“, wie ich es früher dar¬ 
gelegt habe. Dadurch, daß die Ichstörung bei diesen Erkrankungen eine 
ausgedehnte und dauernde ist, kann das einfache Fehlleisten des Gesunden 
beim Kranken ein so enormes Ausmaß erreichen. Dies auszuführen gehört 
zum Thema der psychotischen Mechanismen. Ich habe es auch hier beigefügt, 
weil dies meine Behauptung, daß die Fehlleistung eine winzige Psychose 
sei, neuerdings begründet. 

Man lacht über Fehlleistungen, und man lacht über den Narren; dem 
Narren wird auch der Witzbold gleichgestellt, wie auch die Fehlleistung 
dem unbeabsichtigten Witze nahesteht. Freilich lacht man nur über Narr- 


Iraago XIX. 


29 








heiten, die etwas Kluges aufdecken. Dieses Lachen enthält auch den Beifall 
für die Kunst, in die Irre zu gehen und doch das Ziel zu treffen. Daß die 
möglich ist, liegt daran, daß unsere kluge, richtige Orientierung i n der 
innern und äußern Welt nicht nur auf Ordnung, sondern auch auf Au s 
schalten vieler Kenntnisse beruht, die den unbewußten und irren Leistungen 
zu Gebote stehen. Deshalb kann auch der Traum weiser sein als das wache 
Denken. Beim Irren wurde solche Weisheit in früheren Zeiten mit Sicher 
heit erwartet, und auch heute findet er viel öfter Glauben, als man an- 
nimmt. Das liegt auch daran, daß soviel, was vor dem Eintreten der Geistes¬ 
krankheit nur Gedanke war, nun als äußere Wirklichkeit erlebt wird und 
darum mit ganz anderer Sicherheit vorgebracht wird, als sonst Menschen 
von dem, was in ihnen vorgeht, sprechen. (Daß vielleicht Geisteskranke 
tatsächlich feinsinniger werden als Gesunde und auch sogenannte mediale 
Kräfte haben können [s. Strindberg], sei der Exaktheit halber hier erwähnt) 
Die Glaubwürdigkeit des Kranken wird noch dadurch gesteigert, daß er 
nicht nur mit innerer Überzeugung, wie etwa ein Fanatiker spricht, sondern 
aus innerer Überzeugung weiß, daß all sein Wissen von höheren Mächten 
ihm eingegeben wurde. Was sich so offenbart, ist wirklich und wahrhaftig 
und kommt nicht von ihm, sondern zu ihm, und enthält Unbewußtes, 
das den andern sich verbirgt. Es sind Dauerträume, die aber ganz zuläng¬ 
licher sekundärer Bearbeitung unterliegen, weil ja alle — d. h. alle nicht 
von der Krankheit sonst gestörten — Fähigkeiten im Wachen die Ideen 
und Bilder weiter verarbeiten konnten. 

Ich führe diese abnormen Vorgänge hier an, weil sie auf das Verhältnis 
der Ichgrenze zur Außenwelt und zum Unbewußten aufmerksam machen, 
das sich sonst unserer Beachtung entzieht. Vom Ich wird das als Wirk¬ 
lichkeit wahrgenommen, was die körperliche und geistige Ichgrenze 
von außen trifft. Was die geistige Ichgrenze von außerhalb des Ichs trifft, 
ist psychische Realität. Diese von Freud zuerst erschlossene Art von Wirk¬ 
lichkeit können wir von Geisteskranken in ihren Mitteilungen immer wieder 
dargestellt bekommen, ohne daß es sich dabei um Halluzinationen, also um 
als körperlich bestehende Außenwelt handeln würde. Meist setzen diese 
Kranken voraus, daß der Hörer weiß, daß das Geschilderte den Charakter 
der Wirklichkeit hat. Bei allem nicht gegenwärtig Vorhandenen oder Ge¬ 
schehenen liegt der Unterschied nur im Ausschluß jeder Kritik an der Tat¬ 
sächlichkeit des unbezeugten Geschehens. Für Gegenwärtiges widerspricht 
die unrichtige Annahme des psychisch Realen dem Augenschein, daß es 
nicht so sei und sich nur um Gedanken des Kranken handle. Prinzipiell 





























Die Idibesetzung Lei den Fehlleistungen 


4^1 


ist aber das Verhältnis von Außen- und Innenwelt beim Gesunden und Kranken 
dasselbe. Der Unterschied liegt nur daran, daß das Ich sich von vielen 
geistigen Vorgängen nach innen zurückgezogen hat, so daß diese nicht mehr 
innerhalb, sondern außerhalb desselben verlaufen. Welcher spezifische Vor¬ 
gang i m psychischen Apparate die Ichzugehörigkeit ausmacht, kann nur 
vermutet werden; es soll den Gegenstand einer späteren Mitteilung bilden. 

Beim Traume und ebenso bei halluzinatorischen Wahnvorgängen kommt 
die Erregung der Wahrnehmungsorgane hinzu; doch ist diese spezifische 
Qualität der Gestaltetheit des Traumes nicht psychische, sondern körper¬ 
liche Realität. Der Traum besitzt beide Wirklichkeiten, denn auch im Traume 
kommen Teile vor, die nicht halluziniert, sondern nur gewußt werden und 
doch als wirklich erlebt werden. Anderseits sollen — mir fehlen solche Er¬ 
fahrungen — wirklich plastisch gesehene Halluzinationen als bloße Vor¬ 
stellungen, also als Innenvorgänge ohne Realität erlebt werden können. Wenn 
wir so annehmen, daß das Verhältnis zum Ich über die Realität entscheidet, 
so wird vieles sonst Gedachte wirklich, ohne projiziert worden zu sein, sondern 
infolge der Einschränkung des dem Ich Zugehörigen. Der Vorgang der Pro¬ 
jektion bezieht sich dann nur mehr auf sekundäre Folgen dieser Verkleine¬ 
rung der geistigen Innen- und dieser Vergrößerung der geistigen Außen¬ 
welt. 

Wenn wir aber das Verhältnis der Ichgrenze zum Unbewußten unter¬ 
suchen, dann finden wir einen wesentlichen Unterschied zwischen der Norm 
auf der einen und Traum und Psychose auf der andern Seite. Das patho¬ 
logische Verhalten ist, wie meistens, mehr auffallend und soll uns erst das 
unauffällige, aber sehr merkwürdige Verhalten der Norm bemerken und 
verstehen lassen. Wir haben früher ausgeführt, daß unbewußte Gedanken 
als von außen kommende Wirklichkeit den Psychotiker deutlich beschäftigen, 
ihn verfolgen oder ihm seine Gedanken oder sein Wissen entziehen. Sie 
kommen von außen über das Vorbewußte, wie wenn sie nicht dem Un¬ 
bewußten entstammten. Wir dürfen aber nicht sagen, daß das Unbewußte 
selbst dieses von außen Kommende sei; die unbewußten Wünsche sind zum 
Teil unbewußt geblieben, zum Teil sogar bewußt geworden, sie sind aber 
erst von als reale Außenwelt erlebten Einflüssen erweckt worden. Sie sind 
demnach nicht als im Ich auftauchend, sondern als von außen ans Ich 
gebracht erlebt worden. Es hat demnach das Ich — selbstverständlich nur 
soweit es psychotisch wurde — sich auch vom Unbewußten zurückgezogen. 
Das Unbewußte regt es sozusagen von außen an. Dieses Verhalten ist ebenso, 
vielleicht noch deutlicher, im Traume erkennbar, in welchem gleichfalls 


29 







Paul Federn 




das aus dem Unbewußten Aufgetauchte als weckend erlebt wird. Sow * 
das Erwachen nicht aus traumlosem Schlaf erfolgt, wird immer das E r 
weckende als etwas von außen Weckendes erlebt; nach dem Erwachen erst 
bemerkt man, daß einen so oft eine unbewußte Regung oder der eigene 
Körper in Form von äußeren Vorgängen, Personen, Dingen geweckt hat 
Alles, was aus dem Unbewußten kommt, kommt demnach auch bei der 
Traumpsychose von außen. 

Ganz anders verhält es sich beim gesunden, wachen Ich. Auch bei ihm 
kann eine unbewußte Regung, die vom Bewußtsein abgehalten wird, von 
der Außenwelt kommende Einflüsse und Eindrücke verstärken oder provo¬ 
zieren. Nirgends ist die Grenze zwischen normal und abnorm eine scharfe 
Wenn aber aus dem Unbewußten über das Vorbewußte ein Triebwunsch 
oder eine verdrängte Erinnerung auftaucht, so wird sie als im Ich auf¬ 
tauchend erlebt, sie ist vom Anbeginn ihres Auftauchens schon ichzugehörig. 

Es ist immer beruhigend, wenn eigene Folgerungen in Einklang mit 
denen Freuds stehen, auch wo sie auf anderm Wege erreicht wurden. Auch 
Freud bezeichnet das Ich nur als modifiziertes Es. Zwischen dem Unbe¬ 
wußten und dem Ich gibt es keine andere Grenze als jene, welche über 
das Bewußtsein geht. Wenn eine vorher unbewußte Regung in uns auf¬ 
taucht, so taucht sie — in der Norm — in uns auf, sie kommt in der 
Norm nicht von außen und ist nicht fremd, sondern sofort uns eigen. 
Jeder andere Fall ist abnorm. Selbst eine vorher nie erlebte Art von erster 
Sexualregung überrascht das unvorbereitete Individuum, ist aber doch sofort 
die dem Ich eigen zugehörige Regung. Es überrascht das Individuum, daß 
es solche unbekannte Regungen hat. Wir kommen so wieder zum gleichen 
Schlüsse wie im siebenten Abschnitt: Die Ichgrenze geht durch das Bewußt¬ 
sein; was eben bewußt wurde, ist aktuelle Ichgrenze geworden. Aus diesem 
Grunde hat Jan et Bewußtsein und Ichgrenze nicht expressis verbis, aber 
dem Sinne nach gleichgesetzt. 

Wir kommen dadurch auf einen wichtigen Unterschied zwischen dem 
normalen Verhalten der Ichgrenze und dem psychotischen, inklusive dem 
beim Träumen. In beiden letzteren Fällen wird nicht die eben aufgetauchte 
Objekt Vorstellung zur Ichgrenze, wie ich es im siebenten Abschnitte be¬ 
schrieben habe. Es bleibt vielmehr ein und dieselbe Ichgrenze fortbestehen, 
und die jeweilig aufgetauchten Objektvorstellungen sind eigentlich nicht mit 
richtig angepaßter Ichgrenze aufgefaßt worden und tauchen wieder au s dem 
Bewußtsein, ohne den Wechsel der Ichgrenze, der den Assoziationen oder 
Wahrnehmungen in der Norm folgt, im beschriebenen Zickzack zu beein- 



















Die Ichbesetsung Lei Jen Fehlleistungen 


463 


wi 


flussen. Das erklärt, warum die Fehlleistung in dieser Art Psychosen eine 
s0 große Bedeutung gewinnt, und es erklärt auch, weshalb der Traum 
__ von sekundärer Bearbeitung abgesehen — so oft diskontinuierlich ver¬ 
läuft. Nur wenn aus besonderen Gründen die Ichgrenze selbst im Traume 
in größerem Ausmaß erwacht, kann der Traum sich der Art des wachen 
fließenden Erlebens nähern; und nur soweit der Psychotiker gesund blieb, 
kann er mit fortschreitend sich wandelnder Ichgrenze geistig reagieren und 
denken. Im Traume beruht darauf wahrscheinlich die sekundäre Bearbeitung 
während des Schlafes; in der Psychose beruht darauf die sekundäre Be¬ 
arbeitung der Wahnideen und viele Dissimulation. 











Ein Beitrag zum Problem der Wandlung 
der ISIeurosenforrn 

P ie m fantile Frau und ilire Gegenspieler) 

Von 

R. A. Spitz 

Pari 5 

Es ist meine Absicht, in den folgenden Ausführungen einige der Wirkungs¬ 
und Entstehungsbedingungen eines bestimmten, heute ziemlich weit ver¬ 
breiteten Frauentypus zu untersuchen. Dazu werde ich mich einerseits der 
Erfahrungen des täglichen Lebens, andererseits einer Reihe von Tatsachen 
bedienen, welche ich einigen von mir analysierten Fällen verdanke. Zuvor 
sei mir jedoch gestattet, einen knappen Exkurs allgemeinerer Natur über 
gewisse Erscheinungen der Objektwahl im neunzehnten Jahrhundert, ver¬ 
glichen mit der Objektwahl im zwanzigsten Jahrhundert, folgen zu lassen. 

Eine flüchtige Betrachtung der Kunst, Kleidung und Literatur des neun¬ 
zehnten Jahrhunderts zeigt uns, daß die damaligen Männer als Liebesobjekt 
eine ziemlich üppige Frau bevorzugten. Charakterlich scheinen diese Frauen 
im großen ganzen zwei Typen anzugehören, die man bezeichnen könnte 
als den „hingebungsvollen“ und, im Gegensatz dazu, den „dämonischen“. 
Letzterer Typus, „la femme fatale “, wird meistens spanisch brünett, aus¬ 
nahmsweise rothaarig, dargestellt und spukt durch die gesamte Literatur 
der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, von Prosper Merimees 
Carmen bis zu den Figuren von Maupassant und Pierre Louis. Das rein 
utilitaristische Ideal der „guten Hausfrau 6 hat mit Erotik wenig zu tun 
und kann im Rahmen dieser Betrachtungen vernachlässigt werden. 

Nach der ersten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts erleben wir eine 
Wandlung dieses Ideales. Die Frauen werden schlank, knabenhaft, die Klei¬ 
dung übertreibt nicht mehr wie im neunzehnten Jahrhundert einzelne 
Körperteile, wie Gesäß, Busen, Oberarm, durch Kunstmittel, die eine üppige 
Femininität der Formen unterstreichen oder Vortäuschen. 

Gegen Ende der zweiten Dekade erscheint das kurzgeschnittene Frauen¬ 
haar, um in der dritten und vierten Dekade durch eine immer stärkere Ver¬ 
männlichung der weiblichen Tracht ergänzt zu werden, welche schließlich, 
als scheinbar letztes Zeichen der Ablehnung der Femininität in der Ver¬ 
wendung der Herrenhose durch Frauen gipfelt. 




























Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform 


466 


W- 


Die gleichzeitig stattfindende, immer stärkere Zuwendung der Frauen 
zU den männlichen Berufen hat auch ihre psychologischen Ursachen, wie 
denn überhaupt der sukzessive Übergang von der sehr weiblichen Frau des 
vorigen Jahrhunderts über die Mütter der heutigen Generation zu dem nun¬ 
mehr ganz allgemeinen Typus, welcher sämtliche Leistungen und Rechte 
des Mannes usurpiert, einer eigenen Studie bedürfte. Doch das Studium der 
Strukturänderung der weiblichen Psyche, die das mit sich brachte, und ihre 
Begründung wäre so umfangreich, daß sie den Rahmen der gegenwärtigen 
Arbeit sprengen würde. 

Überdies aber wird das Problem durch Änderung der ökonomischen Be¬ 
dingungen beherrscht, die gerade hier eine besonders wesentliche und auf¬ 
fällige Rolle spielen. Diese komplizieren das Problem und wir wollen daher 
die Frage der Berufswahl im folgenden vernachlässigen, um uns an die viel 
schärfer isolierbare Frage der Änderung des Schönheitsideales zu halten. 

Für den Psychoanalytiker unterliegt es keinem Zweifel, daß eine solche 
Änderung des weiblichen Schönheitsideales nicht allein durch ökonomisch¬ 
historische Überlegungen, wie sie etwa auf Grund einer veränderten Wirt¬ 
schaftsstruktur oder in Verbindung mit den Forderungen und Folgen des 
Weltkrieges angestellt werden könnten, und noch viel weniger durch eine 
Laune der Frauen erklärt werden kann. Denn die äußere Erscheinung der 
Frau paßt sich zweifellos nicht ihrer zufälligen Laune an; sie entspricht 
vielmehr der Realisierung der Wunschträume ihrer männlichen Zeitgenossen. 
Im Gegensatz zur aggressiv aktiven, besitzergreifenden Rolle des Mannes 
fällt in der Erotik der Frau eine passiv verführende Rolle zu. Weitaus mehr 
als der Mann ist die Frau daher gezwungen, sich äußerlicher Mittel zu 
bedienen, welche sie dem Geschlechtspartner begehrenswert erscheinen lassen, 
Mittel, die sie aus eben diesen Gründen seinen Wünschen weitgehend an¬ 
passen muß. 

Natürlich beschränken sich die Mittel der Verführung keineswegs auf 
das Äußere — es sind dies nur die augenfälligsten. Auch der Charakter 
dient als Werkzeug in der Liebes Werbung. Da muß es nun auffallen, daß 
in unserem Jahrhunderte das Frauenideal sich auch in dieser Beziehung 
gewandelt hat. Die dämonische Frau ist verschwunden, zumindest sind die 
Verheerungen, die sie anrichtet, auf ein sehr bescheidenes Maß eingeschränkt. 
Nicht nur im Gerichtssaal, auch im Theater und in der schönen Literatur 
spielt sie eine immer geringere Rolle. 

Welches ist jedoch das weibliche Schönheitsideal, das den Mann in unserem 
Jahrhundert anzieht? Das können wir heutzutage viel leichter feststellen 








als in vergangenen Zeiten, denn wir besitzen heute etwas, das mit der 
Genauigkeit einer chemischen Reaktion die jeweiligen Ideale der breiten 
Massen verrät: das Kino. 

Vor der Einführung des Kinos waren wir darauf angewiesen, das all 
gemein gültige Ideal mühsam aus Schöpfungen der darstellenden Kunst 
der Literatur oder der Tracht zu konstruieren. Nunmehr wird uns das Ideal 
in Reinkultur präsentiert. Denn auf die Dauer kann niemand Filmstar 
bleiben, der nicht den Ansprüchen eines Publikums gewachsen ist, welches 
heute die gesamte zivilisierte Bevölkerung der Erde umfaßt. 

Dabei müssen wir auch auf eine neue Möglichkeit hin weisen, die durch 
die Einführung des Kinos erschlossen wurde. Ich denke hier an eine ver¬ 
änderte Möglichkeit der Idealbildung, an deren Beeinflußbarkeit durch 
Schichten, die dazu früher keinerlei Gelegenheit hatten. Vor der Jahr¬ 
hundertwende erfolgte die Idealbildung nach dem Muster der Identifizierung 
mit den Eltern, auf der Basis und nach dem Grundsatz der patriarchalen 
Familie, also von oben. Das Ideal wurde gesucht und gefunden in dem 
von Gott angestammten Herrscherhause oder dessen Repräsentanten und war 
als solches eben gegeben. Es ist die Zeit der Franz-Josefs- und König- 
Eduards-Bärte, des Es-ist-erreicht-Schnurrbartes, der Töchter, die Elisabeth, 
Viktoria oder Eugenie genannt wurden. 

Heute geht dieser Idealfindung ein gegenläufiger Prozeß voraus: das 
Ideal wird erst geschaffen in einem schöpferisch zu nennenden Akte von 
der Masse selbst. Denn das Publikum verwirklicht seine Wunschträume 
in einer Projektion, im Star. Ist diese Projektion, man möchte sagen, in 
jedem Sinne des Wortes, gelungen, so ist der Filmliebling, der Star, kreiert. 
Dann erst findet der vorhin erwähnte, uns aus dem vorigen Jahrhundert 
bekannte Prozeß der Identifizierung statt und zahllos sehen wir nach dem Er- 
folge die Greta Garbos, Marlene Dietrichs, Menjous und Douglas Fairbanks 
unter uns herumlaufen. 

Schon an der Aufzählung dieser Namen fällt uns etwas auf: keiner von 
den Genannten stellt etwas dar, was man als ein ewiges Ideal, wie die 
Venus von Milo, den Apoll von Belvedere oder den Farnesischen Herkules, 
bezeichnen könnte. Dabei würde man doch derartiges erwarten, wenn die 
Gesamtmenschheit darüber abstimmt, welches die begehrenswerteste Frau 
oder der unwiderstehlichste Mann ist. 

Auf den ersten Blick sehen wir, daß die „allgemein gültigen ewigen 
Typen zugunsten bestimmter Sondertypen vernachlässigt wurden, die einer 
wechselnden Mode unterworfen sind. Es scheint sich also um die Be- 








































Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform 


4^7 


friedigung der Bedürfnisse bestimmter Konstellationen von Partialtrieben 
z u handeln, die bei der Schöpfung dieser Ideale Pate gestanden haben. 
Die Modegebundenheit dieser Ideale ist ein Beweis dafür, daß die jeweilige 
Zusammensetzung dieser Partialtriebe von der augenblicklichen psycho¬ 
logischen Situation der Masse abhängt. Ein Wechsel dieser psychologischen 
Situation jedoch muß von den Umweltsbedingungen abhängen, also von 
der gleichzeitigen historischen Situation. In parenthesi: wir werden uns 
des Verdachtes nicht erwehren können, daß auch die „allgemein gültigen 
ewigen Typen“ ähnlichen Entstehungsbedingungen unterworfen waren. 

Danach muß es sich also ermöglichen lassen, aus den Eigenschaften, 
die der Filmstar besitzt, auf die jeweilige Konstellation der Partialtriebe 
der führenden Völker der zivilisierten Massen Folgerungen zu ziehen, die 
entsprechende psychologische Situation zu erfassen und mit der historischen 
Situation zu verbinden. 

In den folgenden Betrachtungen will ich das an einem extremen Falle 
versuchen; extreme Fälle zeigen häufig die betreffenden psychologischen 
Mechanismen klarer als die andern. 

Der Typus, welche i ich im Titel gekennzeichnet habe und der uns 
hier beschäftigt, wur|e\ im Film zuerst verkörpert durch Mary Pickford 
(in Amerika als „Our Mary“ bekannt). Etwas später kam Lil;an Gish und 
zahlreiche andere mehr oder weniger deutliche Typen, von denen in Deutsch¬ 
land Elisabeth Bergner der bekannteste ist. Allen diesen Darstellerinnen 
gemeinsam ist die Kleinheit und Zierlichkeit, die Kindlichkeit der äußeren 
Erscheinung. Alle spielen sie hilfsbedürftige, schwache, vielfach verfolgte, 
leidende Wesen. Ob es nur an der Happy-end-Technik des Filmes liegt, 
daß sie schließlich siegreich durch alle Intriguen und Gefahren hindurch¬ 
kommen und die stärksten und großartigsten Männer erobern? 

Wir wollen uns nun von diesen Erscheinungen aus der Welt der Kunst 
denen des täglichen Lebens zuwenden. Hier finden wir, daß, zumindest 
heutzutage, solche Frauen von infantilem Typus, grazilem Körperbau, kind¬ 
lichem Gesichtsausdruck und ebensolchem, ja oft sogar kindischem Be¬ 
nehmen für eine ganz breite Schichte der Männer eine außerordentlich 
starke Anziehungskraft haben. Man wäre fast versucht zu behaupten, daß 
sie den Platz der ,femme fatale i von spanisch brünettem, hochbusigem 
Typus des vorigen Jahrhunderts eingenommen haben. 

Dementsprechend spielen sie auch in Kriminalprozessen immer öfter 
eine Rolle, immer häufiger sind sie in Prozesse von der Art der „crimes 
passioneis “ verwickelt. Bei dieser Gelegenheit erweist es sich, daß diese 









kleinen, zarten, oft gar nicht schönen Frauen eine erstaunliche Wirk 
auf die Männer im allgemeinen, auf ihre Verteidiger, auf das Publikunf 
ja auch auf Richter und Staatsanwalt auszuüben vermögen. 

Der letzte derartige Fall, der in der Öffentlichkeit Frankreichs und En 
lands großes Aufsehen erregte, ist der der Lady Edmee Owen. Wie aus 
ihren eigenen Memoiren hervorgeht, ist sie eine vollkommen minderwertig 
Person, die ein messalinenhaftes Leben führte, wobei„es ihr stets nur auf 
die Befriedigung ihres Exhibitionismus und der damit verknüpften Trieb 
sowie ihrer Geldgier ankam. Nichtsdestoweniger gelang es ihr, trotz eines 
ruchlosen Mordes, dem auch das weitgehendste Wohlwollen nur schwer 
den Charakter eines „crime passionel“ zubilligen konnte, ein auffallend 
mildes Urteil von ihren Richtern zu erzielen. Sie wurde zu fünf Jahren 
Zuchthaus verurteilt. Doch nicht genug: geheimnisvolle Einflüsse, sicher¬ 
lich von Lady Owens großem Vermögen unterstützt, bringen es fertig, daß 
ihretwegen ein spezielles Ministerialdekret erlassen wird, das ihr das Ab¬ 
sitzen der fünfjährigen Zuchthausstrafe erspart. Schon nach zweieinhalb 
Jahren einer Gefängnisstrafe, welche durch besondere Zuvorkommenheit 
und Vergünstigungen sehr erleichtert worden war, wird sie in Freiheit 
gesetzt ein Fall, wie er wohl in der Rechtspflege einzig dastehen dürfte. 
Um so mehr als man ihr auch den Weiterbesitz ihres sehr beträchtlichen 
Vermögens beläßt. 


Immer wieder finden sich in ihren Memoiren gewisse, sehr charakte¬ 
ristische Redewendungen, wie: „Die Leute sagten, daß ich wie fünfzehn¬ 
jährig aussehe.“ „Ich war sehr klein und sehr dünn, meine hellen Haare 
hingen rückwärts herunter.“ 

Wie in einer Illustration zeigen uns diese Sätze das Bild des kindlichen, 
unentwickelten, schwachen und wehrlosen Geschöpfes. Nun entspräche es 
ja der allgemeinen Meinung, daß starke Männer etwas Schwaches zum 
Beschützen haben wollen, und somit scheinen wir zu einer höchst banalen, 
allgemein akzeptierten Erklärung unseres Problems gekommen zu sein. Das 
Verführende an der infantilen Frau liegt eben in ihrer Schutzbedürftigkeit 
und befriedigt auf diese Weise das Machtstreben der Männer, denn es er¬ 
leichtert ihnen die Kompensation ihrer Minderwertigkeitsgefühle. 

Aber bei näherem Zusehen entdecken wir, daß dieser Erklärung eine 
erfahrungsgemäße Tatsache widerspricht. Alle diese kindlich schwachen 
Geschöpfe sind nämlich im Leben keineswegs so schutzbedürftig, wie sie 
aussehen. Es sind im Gegenteil höchst energische, selbstbewußte Persönchen, 
die ganz genau wissen, was sie wollen, und die ihre Ziele meist mit einer 






























n__ 

Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der FTeurosenlorm 4^9 

selbst bei Männern selten angetroffenen Rücksichtslosigkeit verfolgen. Wir 
werden sogar finden, daß diese Frauen in ihren Beziehungen zur Umwelt 
sich oft außergewöhnlich sadistisch, kastrierend verhalten. Es ist kein Zufall, 
daß dieser Typ unter den Kriminellen so häufig vertreten ist. 

Dieser Befund, der den Erklärungsversuch aus der Kompensation der 
Minderwertigkeitsgefühle entwertet, läßt also weiterhin die Frage offen, 
worin das Verführerische dieser Frauen besteht? Schließlich sind die eben 
geschilderten Charakterzüge doch bei keinem Menschen besonders erfreulich, 
noch weniger aber bei der Frau, von der der Mann schon aus biologischen 
i £ r ünden eine gewisse Unterwerfung oder zumindest Passivität erwarten 
sollte. 

Ich glaube auch nicht, daß es als Erklärung genügt, wenn wir etwa 
annehmen, daß in der Schwäche, welche das kindliche Äußere vortäuscht, 
eben die gewünschte Passivität zum^Ausdruck kommt. Beim ersten Anblick 
mag sich der Eine oder der Andere einer solchen Täuschung hingeben. Aber 
wie wir schon vorhin gesehen haben, kann dieses Äußere schwerlich jemanden 
lange über die Wirklichkeit hinwegtäuschen. Schon das so häufige infantile 
Benehmen dieser Frauen zeigt sehr rasch ihre hemmungslose Triebhaftigkeit. 

Da wir aus der Betrachtung des Objektes selbst zu keiner Erklärung 
seiner Wirkung zu kommen vermögen, muß man das Problem wohl von 
der anderen Seite anpacken, nämlich von den Männern aus, die diesen Wir¬ 
kungen unterliegen und dem Zauber des Infantilen nicht widerstehen können. 

Bei dieser Untersuchung werde ich aber aus naheliegenden Gründen von 
der Bühnenkünstlerin absehen. Ich habe mich ihrer vorhin nur zur Illu¬ 
strierung des Typus bedient, um langatmige Erklärungen zu ersparen. Doch 
abgesehen von allen Gründen, die einer analytischen Untersuchung allgemein 
bekannter Persönlichkeiten ohne deren Einwilligung widersprächen, besteht 
bekanntlich das Publikum der Bühnenkünstlerin zumindest zur Hälfte aus 
Frauen, bei denen gleichfalls eine außerordentlich starke Wirkung fest¬ 
zustellen ist. Der Beifall der Frauen aber dürfte aus ganz anderen Quellen 
fließen als der Beifall der Männer. Wir werden erwarten, daß der Erfolg 
der kindlichen Bühnenkünstlerin bei den Frauen einerseits auf wunsch¬ 
erfüllenden Identifizierungen mit dem Star, anderseits auf der Produktion 
homosexueller Strebungen und auf den Mischformen oder Abarten dieser 
zwei Beziehungen beruht. 

Dagegen habe ich unter den von mir behandelten Fällen öfter Gelegen¬ 
heit gehabt, Männer zu beobachten, die ihre Liebeswahl nach diesem Typus 
getroffen haben. Die betreffenden Männer sind sowohl äußerlich wie auch 











charakterlich, ja sogar in der seelischen Struktur voneinander sehr 
schieden, und man ist erstaunt, daß scheinbar so verschiedene Mann 
ähnliche Frauen gewählt haben. Diese Ähnlichkeit geht so weit, daßV^ 
betreffenden Frauen, die einander nicht kennen, sehr aufschlußreiche f ** 
wörtlich gleiche Äußerungen zu tun pflegen. Ein solcher Ausspruch i” 
zum Beispiel: „Ich kaufe mir immer Kinderspangenschuhe und Kinderhüt 
und trage weiße Kinderstrümpfe, weil mein Mann mich nur als KinH * 
kleidet sehen will.“ ® e " 

Man wäre danach eigentlich geneigt anzunehmen, daß im Vorleben 
dieser Männer eine jüngere Schwester eine große Rolle gespielt hat. Dem 
ist aber durchaus nicht so. Im Gegenteil, zwei dieser Fälle haben eine 
weitaus ältere Schwester gehabt. 

Dagegen ist allen Fällen gemeinsam eine außerordentlich liebevolle Be¬ 
ziehung zur Mutter. Diese Fixierung nimmt in dem einen der Fälle die 
Form einer weitgehenden Identifizierung an, so daß der Betreffende die 
Menstruation seiner Mutter, das Gefühl des Sich-unwohl-Fühlens mit Kopf- 
schmerzen miterlebt. 

Im zweiten Falle liebte und liebt noch die Mutter den Patienten über 
alles. Bis weit in die Latenz hielt sie ihn stets auf dem Schoße (er war 
ihr einziges Kind, und die obenerwähnte ältere Schwester ist nur eine Stief¬ 
schwester aus der ersten Ehe des wesentlich älteren Mannes). Die Mutter 
machte beinahe ein Mädchen aus ihm; noch während der ganzen Volks¬ 
schulzeit ließ sie ihn mit einer Schürze in die Schule gehen. 

Dieses merkwürdige starke Fixierungsverhältnis zur Mutter erinnert an 
einen uns vertrauten Mechanismus: an den einen der beiden uns bekannten 
Mechanismen der männlichen Homosexualität. 

Wir werden in unserer Meinung durch den dritten Fall bestärkt, in 
welchem zwar die ältere Schwester fehlt, nicht aber die Bindung an die 
Mutter, und in welchem ein von der Mutter und von dem Patienten sehr 
geliebter, wesentlich jüngerer Bruder eine große Rolle spielt. 

Doch die beiden ersten Fälle bringen uns eine Vermutung nahe. Die 
Form der Homosexualität, von der ich vorhin sprach, besteht darin, daß 
bei der Liebeswahl solche Knaben bevorzugt werden, wie derjenige Knabe 
es war, den die Mutter geliebt hat, als man selbst noch klein war. In unseren 
Fällen scheint es so zu sein, daß bei der Liebeswahl ein Mädchen gesucht 
wird, das so sein soll, wie es die Mutter aus dem kleinen Knaben machen 
wollte, der man damals selber war. Denn es ist klar, daß es sich bei diesem 
etwas merkwürdigen pädagogischen Verhalten darum dreht, daß die betreffen- 






















Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform 


461 


den Mütter aus ihren Söhnen Mädchen machen, weil sie sich Mädchen 
wünschten. Daß zugleich diese Situation eine außerordentliche Verwöhnung 
bedeutet, ist selbstverständlich: erstens werden Mädchen von vornherein 
nachsichtiger behandelt als Knaben; zweitens erzwingt das Schuldgefühl, das 
in den Müttern infolge der künstlich erzeugten falschen Situation entsteht, 
gleichfalls ein Plus an Verwöhnung dem Kinde gegenüber. Ist doch hinter 
diesem liebevollen Verhalten der Mütter letzten Endes der geheime Wunsch 
verborgen, diesen Knabe^a^eines Penisses zu berauben und auf diese Weise, 
indem man ein Mädcher| aus ihm macht, seine männliche Aggression zu 
schwächen, was dem psychoanalytisch Geschulten weitere Rückschlüsse auf 
die Beziehung solcher Mütter zu ihren eigenen Vätern erlaubt. 

Anderseits hat das Akzeptieren dieser Situation für den Knaben bedeut¬ 
same Vorteile. Denn wenn er ein Mädchen ist, so ist er kein Rivale des 
Vaters, und er vermeidet die offene Konkurrenz mit diesem. Es zeigt sich 
in den von mir beobachteten Fällen, daß es sich um Zwangsneurotiker 
beziehungsweise zwangsneurotische Charaktere handelt. Ich bin mir natür¬ 
lich der Bedeutung der spezifischen psychischen Struktur, welche für die 
Entstehung der Zwangsneurose verantwortlich ist, bewußt. Ich habe jedoch 
in der frühen Kindheitsgeschichte der Zwangsneurotiker regelmäßig eine 
Erscheinung beobachten können, welche unter die übrigen Momente, die 
für die Ätiologie dieser Erkrankung maßgebend sind, als ein konstanter 
Faktor aufgenommen zu werden verdient. Man findet nämlich in der phalli- 
schen Phase stets eine außerordentlich vehemente, in der Realität ausgelebte 
Aggression gegen den Vater, welche ihrer Vehemenz entsprechend (die Kinder 
gehen meist mit Fäusten und Füßen auf den Vater los, und die Erwach¬ 
senen stehen sprachlos diesem Temperamentausbruch des Kindes gegenüber; 
siehe Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, Ges. 
Schriften, Bd. VIII, S. 314/315), von den Vätern ungemein energisch unter¬ 
drückt wurde. Jedenfalls ist es begreiflich, wenn diese Kinder von da ab 
ihre Aggressionen auch selbst sehr stark unterdrücken und sich zu Zwangs¬ 
neurotikern mit stark sadistischem Über-Ich entwickeln. Den von mir er¬ 
wähnten Fällen machen die Mütter das Ausweichen vor dem Konflikt mit 
dem Vater durch die Fiktion leicht, daß sie Mädchen sind, ohne deswegen 
eine Kastration erdulden zu müssen. 

Aber die Liebeswahl nach dem Typus des kleinen Mädchens, als das die 
Mutter den Knaben einst geliebt hat, hat auch für den Erwachsenen ihre 
Vorteile. Das Objekt, das man geliebt hat, das infantile kleine Mädchen, 
ist in jeder Beziehung weit von der Mutter entfernt und ihr unähnlich. 








Erstens hat die Mutter selbst ein solches Objekt geliebt, es ist also nicht 
mit ihr identisch. Zweitens ist es eben durch seine Infantilität und durch 
sein zweideutiges, halb jungenhaftes, halb mädchenhaftes Aussehen auch 
äußerlich von der erwachsenen Weiblichkeit der Mutter denkbar verschieden 
So vermeidet diese Liebeswahl sicher und verläßlich die Gefahr einer E r 
innerung an die Ödipussituation oder gar deren Wiederholung. 

Freilich wird in manchen Fällen eine vikariierende Ödipussituation belebt- 
die Beziehung zu der älteren Schwester. Ich habe vorhin erwähnt, daß i n 
vielen dieser Fähe eine wesentlich ältere Schwester eine große Rolle spielte 
Es läßt sich zweifellos nachweisen, daß in zumindest drei der von mir 
analysierten Fälle diese ältere Schwester die Eifersucht des kleinen Knaben 
außerordentlich stark erregt hat. Dem älteren Mädchen wurden Vorrechte 
eingeräumt, die der Knabe nicht genießen durfte; erwähnte vielfach, daß 
man sie ihm vorzöge. 

Man kann auch vermuten, daß der Knabe es der Mutter leichter gemacht 
hat, ihn in eine mädchenhafte Rolle zu drängen, indem er sich mit seiner 
älteren Schwester identifizierte. Allerdings findet eine solche Identifizierung 
nur mangelhaft statt, wenn die ältere Schwester vom Vater real dem Knaben 
vorgezogen wird. Denn dann erreicht die Eifersucht einen solchen Grad, 
der Konflikt spitzt sich so stark zu, daß der Knabe sich zwar eventuell 
vorübergehend in eine mädchenhafte Rolle drängen läßt oder sie sogar auf 
sich nimmt, doch in diesem Falle bemüht er sich, jegliches manifeste 
Zeichen einer Identifizierung mit der Schwester ängstlich zu vermeiden. 
Jedenfalls erfolgte diese Identifizierung zwar mit einer älteren Schwester, 
immerhin aber noch mit einem kleinen Mädchen, das auch äußerlich die 
Merkmale eines solchen hat. 

Ich will versuchen, noch einige andere Aspekte dieser Form der Liebes¬ 
wahl von dem Gesichtspunkte der eben ausgesprochenen Hypothese zu be¬ 
trachten. Auch das Glück, das solche Männer in der fordernden, eigentlich 
sadistischen Behandlung durch ihre Frauen finden, läßt sich dem eben be¬ 
sprochenen doppelten Gesichtspunkte unterordnen: erstens dem Glück, welches 
sie bei der Mutter gefunden haben, und zweitens der Vermeidung der Ödipus¬ 
situation. Denn die infantilen Frauen behandeln ihre Männer so, wie diese 
Männer selbst ihre Mütter behandelt haben. Ihr Sadismus und ihre Forde¬ 
rungen sind oraler Herkunft. Sie haben ihre Mütter mit oralen Forderungen 
gequält, weil ihnen als Kinder keiner der Liebesbeweise der Mutter genügen 
konnte; jeder noch so weitgehende Liebesbeweis blieb ja hinter der wirk¬ 
lichen genitalen Liebe, welche die Mutter dem Vater erwies, weit zurück. 























Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der jMeurosenform 


463 


So haben sie gerade durch ihre oralen Forderungen, durch ihr Quälen der 
Mutter bewiesen, wie sel\r sie sie lieben. Als Erwachsene büßen sie durch 
ihre Frauen für ihre eig<na~eh Missetaten und werden ebenso gequält, wie 
sie die Mutter gequält haben. Doch eben die Tatsache dieser Quälerei ist 
für diese Männer der Beweis, daß sie aufs äußerste von ihren Frauen ge¬ 
lebt werden, ebenso wie sie auch selbst bei ihren Quälereien die Mutter 
aufs äußerste geliebt haben. Dieser Situation entspricht auch der Haß, den 
die Mütter dieser Männer gerade diesen Frauen entgegenbringen. Wir er¬ 
innern uns daran, daß hinter der Liebe dieser Mütter zu dem Söhnchen, 
aus dem sie eine Tochter machen wollten, der Wunsch vorlag, seine männ¬ 
liche Aggression herabzusetzen. Zwar kommt es in den meisten Fällen nicht 
z u einer tatsächlichen Sexualversagung durch die Mutter, doch ist die Er¬ 
ziehung häufig auf Grund vorgeblicher Ideale die Sexualität versagend ge¬ 
richtet; schließlich, wenn der Sohn sich von der Mutter loslöst, verrät 
sich diese Tendenz durch den Haß dieser Mütter gegen die Frauen ihrer 
Söhne. 

Anderseits sind solche Ehen meistens sehr glücklich, wenn auch für den 
Zuschauer unerträglich. Sie stellen ein ausgesprochenes Hörigkeitsverhältnis 
der Männer dar. Die Frauen sind meist viel weniger gebunden, ja es ist 
sogar fraglich, ob solche Frauen überhaupt einer wirklich starken Objekt¬ 
beziehung fähig sind. 

Die Eifersucht spielt nicht in allen diesen Ehen die gleiche Rolle. 
In manchen Fällen zeigt sie sich überhaupt nicht, in andern Fällen ist sie 
pathologisch stark. Dort wo sie sich nicht zeigt, handelt es sich wohl um eine 
besonders starke Hemmung der Aggressionen; wo sie sehr stark ist, möchte 
ich mich zu der Ansicht, die ein psychologisch interessierter Laie mir gegen¬ 
über geäußert hat, bekennen: Bei Frauen, die keine Objekbeziehungen haben, 
bei denen es sich um rein narzißtische Liebe handelt, kann für den Mann 
selbstverständlich keinerlei Sicherheit des Besitzes der Frau außer in dem 
unmittelbaren Akte bestehen. 

Sowie man dem Gesichtkreis der narzißtischen Frau entschwindet, bei 
jeder kleinsten Abwendung, hat man sie verloren. Denn nur eine echte 
Objektbeziehung hat die Fähigkeit, das Objekt auch in dessen Abwesenheit 
fcäizuhalten und geht in diesem Festhalten bis zur Introjektion. Wo keine 
wirkliche Objektbeziehung besteht, wo nur auf dem Wege narzißtischer 
Bestätigung eine Beziehung zustande kommt, gleicht diese Beziehung der¬ 
jenigen, die wir zu einem Spiegel haben: tritt man vom Spiegel fort, so 
besteht keinerlei Verbindung mehr zwischen dem Spiegel und uns; unser 







Bild hat im Spiegel zu existieren aufgehört und damit auch sowohl unser 
Existenz für den Spiegel wie die Existenz des Spiegels für uns. 

Diese Frage der Fähigkeit, Eifersucht zu erwecken, beleuchtet eines der 
Machtmittel der infantilen Frau. Denn man wird um etwas nie voh 
kommen Erreichbares, nie ganz Gesichertes immer stärker kämpfen als 
um etwas Sicheres. Doch ist dieses Detail für die ganze Frage von unter 
geordneter Bedeutung und wir wollen uns wieder unserem ursprünglichen 
Problem zu wenden, uns die Frage vorlegen, worauf, abgesehen von der 
speziellen Wirkung auf die einzelnen Männer, zu denen sie in Beziehun 
stehen, die Wirkung solcher Frauen auf die große Allgemeinheit beruht 
welche in unseren einleitenden Betrachtungen über diesen Typus der 
Bühnenkünstlerin bereits erwähnt wurde. 

Man kann annehmen, daß die Situation des von der Mutter zärtlich 
geliebten Knaben eine ganz allgemeine ist und daher vielen Männern 
einen Tagtraum in der angedeuteten Bichtung ermöglicht, sei es auch nur 
versuchsweise. Freilich scheiden sich hier die Männer sehr scharf in zwei 
Gruppen, von denen die eine laut unseren Ausführungen der infantilen Frau 
verfallen ist. Die andere Gruppe dagegen lehnt sie energisch, unter Umständen 
mit Abscheu ab. Wir folgern demgemäß, daß diejenigen Männer, die 
positiv zu den infantilen Frauen stehen, in ihrer frühen Kindheit nicht 
nur die normale Form der Ödipussituation erlebt haben, also von dem 
Vater eine Kastration wegen ihrer auf die Mutter gerichteten Wünsche 
erwarten, sondern überdies von der Mutter durch eine übermäßig liebe¬ 
volle Behandlung zumindest eine Zeitlang in eine sanfte mädchenhafte Rolle 
gedrängt worden sind. 

Man könnte sagen, daß es nicht statthaft ist, die an einigen Patienten 
gemachten Erfahrungen über eine bestimmte Form der Familiensituation 
zu verallgemeinern und sie auf einen ganz großen Teil der Menschheit 
anzuwenden. Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Pädagogik der 
letzten fünf Jahrzehnte wird uns jedoch eine unvermutete Bestätigung 
unserer Annahmen bringen. Denn tatsächlich hat die Kindererziehung in 
den letzten fünfzig Jahren eine auffällige Wandlung durchgemacht: Indes 
vorher der Grundsatz der Bibel: „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“ 
das Fundament aller Erziehung war, trat plötzlich um die Jahrhundert¬ 
wende eine gegenläufige Strömung auf. Sie ist charakterisiert durch das 
von Ellen Key geprägte Schlagwort „Das Jahrhundert des Kindes“. Es 
schei nt den Erwachsenen vielfach bewußt geworden zu sein, daß sie bei 
der Erziehung der Kinder Triebe ausgelebt hatten, die in der Realität nicht 





















Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform 


465 



gerechtfertigt sind, die nichts mit Erziehung zu tun haben, und daß sie bei 
den Kindern Regungen straften, welche beim Strafenden selbst mit Schuld¬ 
gefühlen belastet waren. Es ist das der bekannte Mechanismus des strengen 
Richters, der durch die Strenge, fnit welcher er das Verbrechen verfolgt, 
seine eigene Absolution erreicht. \ 

Als aber den Erwachsenen bewußt 1 wurde, daß mit ihrer Erziehung und 
ihren Erziehungsmaßregeln etwas nicht stimmte, daß da unsachliche Re¬ 
gungen mitspielten, wurden sie begreiflicherweise für diese bewußt ge¬ 
wordenen Regungen durch Schuldgefühle bestraft. Diese Schuldgefühle für 
die überstrenge, vielfach sadistische Erziehung bewirkten eine Reaktion, 
die zu dem entgegengesetzten Extrem führte. Das Kind wurde nunmehr 
verzärtelt. Jeglicher Zwang, jede Fessel der Erziehung verschwand zu¬ 
gunsten einer uneingeschränkten Willensäußerung — ein Verhalten, das 
natürlich ebenso unzweckmäßig sein mußte wie das andere, da ja kulturelle 
und soziale Einordnung unmöglich durch Triebfreiheit, sondern durch ein 
bestimmtes, wohl ausgewogenes Maß von Versagungen erzielt wird. 

Der Natur der Sache gemäß erfolgte die Verzärtelung der Kinder durch 
die Mutter. Der in unserem Jahrhundert wesentlich verschärfte Konkurrenz¬ 
kampf bewirkt, daß die Männer in noch geringerem Maße als früher in 
der Lage sind, ihre Zeit der Erziehung der Kinder zu widmen. 

Wie aber mögen sich diese Mütter eine liebevolle Erziehung vorgestellt 
haben ? In überwiegendem Maße natürlich doch so, wie sie selbst als kleine 
Kinder behandelt worden sind: also als kleine Mädchen. 

Eine zweite Bestätigung unserer Annahme finden wir auf einem Ge¬ 
biete, das ich am Anfänge dieser Ausführungen erwähnt habe, auf dem 
Gebiete der Bühne. Aber während die Bestätigung, die wir aus dem Ge¬ 
biete der Pädagogik beziehen, uns einen ursächlichen Beweis gibt, ist das, 
was wir aus der Bühnengeschichte sehen, eine Bestätigung a posteriori. 
Denn in einer Galerie von Schauspielerbildern des vorigen Jahrhunderts finden 
wir keines, das dem uns so wohlbekannten Star mit dem kindlichen Äußern 
entspricht. Im Gegenteil, diese Theaterheroinen sind große, üppige, hoch- 
busige Frauen. 

Nachdem uns diese beiden Bestätigungen die Hypothese, die wir über 
die spezielle Form der Objekt wähl des Mannes aufgestellt haben, wahr¬ 
scheinlicher machen, wollen wir das Problem auf Grund dieser Annahme 
wieder in Augenschein nehmen. Wie sehen die Triebe aus, die durch 
eine Erziehung, wie die vorhin angedeutete, im Knaben gefördert werden? 
Wir haben gesehen, daß der Mechanismus, dessen sich diese Kinder be- 


Imago XIX. 


30 










dienen, dem der manifesten Homosexualität sehr ähnlich ist. Wir werde j 
uns nicht wundern, als Resultat eine Liebeswahl zu finden, bei welch 
homosexuelle Strebungen eine starke Rolle spielen. Die manifeste Homo 
Sexualität wird zwar vermieden, dagegen ein Objekt gewählt, bei dem zu 
mindest äußerlich, die weiblichen Attribute, die sekundären Sexualmerkmal 
eine untergeordnete Rolle spielen. 

Wir sprachen vorhin von der autoplastischen Wirkung des von den 
Massen im Film aufgestellten Ideales; hier finden wir einen analogen 
Vorgang. In der Beziehung der Geschlechter ist der Mann stets der aggressive 
Teil, der sich seine Partnerin wählt; notgedrungen wird die Frau sich 
autoplastisch nach den Wünschen des Mannes gestalten. Sie wird genau 
so viel Widerstand leisten, als notwendig ist, um die Libido des Mannes durch 
Stauung zu steigern, niemals aber so viel, als nötig wäre, um den Mann 
zu entmutigen. Und sie wird auch diejenigen Verführungsmittel und Ver¬ 
lockungen verwenden, die der augenblicklichen Triebkonstellation des Mannes 
gemäß sind. 

Es vergehen nach der Jahrhundertwende, von welcher an wir die mädchen¬ 
hafte Erziehung des Knaben datieren, anderthalb Jahrzehnte und wir sehen 
das Auftreten eines neuen Frauentypus: die kurzen Haare werden modern, 
erobern die gesamte zivilisierte Welt mit blitzartiger Geschwindigkeit und 
noch heute scheitern alle Bestrebungen, die Mode, die schließlich eine 
Tracht geworden ist, durch eine andere zu ersetzen. Diese Entwicklung 
zum männlichen Äußern schreitet zweifellos fort; ich habe schon in der 
Einleitung angedeutet, daß die Vermännlichung der Frau, zumindest in 
ihrer äußeren Erscheinung, bis zum heutigen Tage noch nicht haltgemacht hat. 

Zugleich sehen wir eine auffallend starke Verbreitung der manifesten 
Homosexualität, die sich überdies einer früher unbekannten Duldung, ja, 
man könnte sagen, eines wohlwollenden Verständnisses erfreut. Anderseits 
ist jedem Psychoanalytiker, Neurologen und Psychiater, der in diesen letzten 
drei Jahrzehnten gearbeitet hat, das Phänomen der Wandlung der Neurosen 
bekannt. Es gibt schon wenige unter uns, die die Charcotsche „ grande 
Hysterie erlebt haben. Monosymptomatische Hysterien werden selten, typische 
Zwangsneurosen kommen kaum mehr vor. Die Fälle, die wir zu behandeln 
haben, gehören meist dem Mischbegriffe der Charakterneurosen an, sie 
zeigen nicht mehr die klar umschriebenen, scharf Umrissenen Züge ehe¬ 
maliger seelischer Erkrankungen. 

Akzeptieren wir meine Hypothese der ätiologischen Bedeutsamkeit einer 
manifest ausgelebten und brutal unterdrückten Aggression gegen den Vater 
















zutn Problem der Wandlung der Neurosenform 




für die Entstehung der Zwangsneurose, so braucht uns die Wandlung dieser 
Krankheit nicht weiter zu wundern. Denn die Erziehung hat sich auch 
dementsprechend gewandelt: man sucht solche Aggressionen des Kindes zu 
UII igehen, zu übersehen, keinesfalls~äber~s^ie brutal zu bestrafen. 

Ich weiß, daß meine Annahme keine Erklärung für die Wandlung der 
Hysterie gibt, wäre jedoch geneigt anzunehmen, daß auch hier ähnliche 
historische Faktoren wirksam sind, da mir das Bewußtwerden der symboli¬ 
schen Bedeutung der Symptome bei den breiten Massen als Erklärung nicht 
auszureichen scheint. 

Nun ist gerade jetzt ein Augenblick eingetreten, in welchem sich vor 
unseren Augen eine Änderung im Erziehungsideal einer Reihe europäischer 
Völker vollzieht. Die Art der Änderung ist dem verschiedenen Charakter 
der Völker gemäß verschieden und wie bei allen historischen Ereignissen 
finden wir zugleich eine Reihe von Völkern, die erst jetzt die Übergangs¬ 
periode des Ellen Keyschen Erziehungsideales der Gewährung durchmachen. 
Doch bei jenen Völkern, bei denen der Wandel am sichtbarsten ist, zeigt er, 
trotz aller denkbaren Verschiedenheiten, einen gemeinsamen Charakterzug: den 
einer stärker wirksamen Versagung. Diese Versagung wird wohl nicht das Maß 
des im vorigen Jahrhundert Üblichen erreichen, sie dürfte sich auch anderer 
Mittel bedienen, denn schließlich haben die Pädagogen, nicht zuletzt dank 
der Psychoanalyse, einiges zugelernt. Das Wesentliche scheint mir jedoch, 
daß wir erwarten können, entsprechend dieser Wandlung des Erziehungs¬ 
ideales innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte nicht nur eine Wandlung 
in der äußeren Erscheinung und in der seelischen Struktur des Frauen¬ 
ideales zu erleben, sondern auch eine grundlegende Änderung im Charakter 
der Neurosen zu beobachten. Es würde jedoch den Rahmen und die Ab¬ 
sichten dieser Erwägungen bei weitem überschreiten, wollten wir uns Mut¬ 
maßungen über die Art dieser Wandlungen hingeben. 


30* 

















Der JVlenscIi und sein Zahnarzt 1 


Von 

JMarie Bonaparte 

Paris 



„Meine Liebe, Sie müssen unbedingt zu meinem Zahnarzt kommen- er 
ist einfach unerreicht!“ „Oh, nichts wird mich dazu bringen, dem meinigen 
weiterzugehen! In ganz Paris gibt es keinen, der ihm gleichkommt!“ Die 
beiden Damen setzen ihre Diskussion fort — und das Ergebnis ist daß 
jede von ihnen ihrem Zahnarzt treu bleibt. 

Man wird vielleicht sagen, daß es sich hier um weibliche Vorurteile 
handle, daß vielleicht zumindest einer dieser beiden Zahnärzte ein Herzen¬ 
brecher sei. Das ist aber nicht der Fall; wir finden bei Männern das gleiche 
Verhalten gegenüber ihrem Zahnarzt. Nur ist die Tonart der Debatte zwischen 
Männern eine etwas andere; es liegt mehr Ernsthaftigkeit in den Stimmen. 
Aber die Tatsache ist die gleiche, mögen die Männer mondäne Müßig¬ 
gänger, Ingenieure, Rechtsanwälte, ja selbst Ärzte sein. 

Wir Psychoanalytiker kennen nun dieses Phänomen genau; wir nennen 
es die „Übertragung“. Diese bildet im allgemeinen die Grundlage, auf 
der sich jede Liebesbindung, jede Zuneigung auf baut. Es ist das gleiche 
Gefühl von Anhänglichkeit, Bewunderung und Abhängigkeit gegenüber 
jenen, die uns in der Kindheit beschützt und betreut haben, das wir später 
besonders auf unsere Ärzte übertragen, auf die Psychoanalytiker so gut wie 
auf die Zahnärzte, die uns ihre Sorgfalt angedeihen lassen. 

Das Unterbleiben jeglicher Kritik, das für alle Liebesbeziehungen charakte¬ 
ristisch ist, kann man im Verhalten des Patienten zu seinem Zahnarzt im 
höchsten Maße beobachten. Infolgedessen kann man Professoren der Medizin 
antreffen, die, durch die Macht der Übertragung an einen mittelmäßigen 
Zahnarzt gebunden, ein gut Teil ihrer Zähne verlieren, ehe sie sich ent¬ 
schließen, einen anderen Arzt aufzusuchen. Ist dies aber endlich geschehen, 
die alte Bindung gelöst, die neue vollzogen, dann erscheint der verlassene 
Zahnarzt durch die geänderte Einstellung plötzlich in grausam mitleidsloser 
Beleuchtung wie ein entthronter Gott. Allerdings trägt der Nachfolger sein 
Teil zu dieser Beleuchtung bei: es hat den Anschein, als würden die Zahn¬ 
ärzte dazu verwendet, untereinander an Kritik das nachzuholen, was ihre 
Patienten verabsäumt haben. Denn der geringste Fehler, die kleinste Ver¬ 
schiedenheit oder gar Rückständigkeit in der Technik des Vorgängers werden 


1) Aus dem Französischen übertragen von Mathilde Hollitscher. 




















Der Mensch und sein Zahnarzt 


469 


dem unglücklichen Patienten vorgehalten^>®<4aß dieser ernüchtert fast dem 
Bedauern erliegt, daß er in seiner Verblendung so lange seine Kiefer habe 
mißhandeln lassen. 

Diese Feststellungen ruhen nun zum Teil auf realer Basis. Der Fort¬ 
schritt der zahnärztlichen Technik hat sich in den letzten Dezennien, in 
den letzten Jahren in einem solchen Tempo vollzogen, daß es einem Zahn¬ 
arzt, besonders wenn er nicht in Amerika arbeiten kann, schwer fallen 
mag, stets mit allen Neuerungen Schritt zu halten. Außerdem kann man 
von den Patienten, selbst wenn sie Ärzte sind, nicht erwarten, über alle 
Vervollkommnung der zahnärztlichen Technik genügend unterrichtet zu sein, 
um während der Dauer ihrer Behandlung ein gültiges Werturteil über ihren 
Zahnarzt fällen zu können. Nichtsdestoweniger bieten sich die regelmäßig zu 
konstatierende Vorliebe des Patienten für seinen Zahnarzt sowie die ebenso 
häufig auftretende Ernüchterung nach Wechsel des Arztes unserer Betrachtung 
dar und bilden ein kleines psychologisches Problem, das wohl wert erscheint, 
näher beleuchtet zu werden. 

* * * 

In der Psychoanalyse wird der Zahnarzt oft als Kastrator bezeichnet. 
Bestimmte Träume, bestimmte Phantasien, in denen er mit drohend ge¬ 
schwungener Zange auftritt, scheinen die Verleihung gerade dieser Bezeich¬ 
nung voll zu rechtfertigen. Andererseits wissen wir durch ethnographische 
Studien, daß es in Australien ganze Völkerstämme gibt, bei denen das Aus¬ 
brechen oder Reißen eines Zahnes an den Novizen während der Pubertäts¬ 
riten der bei anderen Völkern geübten Beschneidung gleichkommt; die 
Beschneidung ist aber unzweifelhaft der Kastration verwandt; sie ist einfach 
eine mildere Form derselben. 

Wie aber sollen wir nun die Tatsache, daß der Zahnarzt der Kastrator 
sein kann, mit der anderen, daß die meisten Patienten ihrem Zahnarzt bei¬ 
nahe hörig sind, in Übereinstimmung bringen ? Sollte die gesamte Mensch¬ 
heit in solchem Grade masochistisch veranlagt sein, daß selbst die männ¬ 
lichsten Männer diesen symbolischen Kastrator, der ihr Zahnarzt für sie ist, 
verehren ? 

Vielleicht haben unsere Leser es schon aus den vorhergehenden Beispielen 
erraten: wenn der Zahnarzt unserer Zeit das Objekt einer so starken positiven 
Übertragung ist, dann ist er es, weil er nicht nur Kastrator ist, sondern 
noch etwas anderes. 

Welche Bedeutung er erworben hat, werden wir verstehen, wenn wir 










A 7 ° 


Alane Bonapärte 


die Einstellung der Patienten zu dem gewöhnlichen Zahnbrecher der Markt, 
mit der zu dem Zahnarzt in unseren großen Städten vergleichen. 

Man muß auf das Land fahren, um noch Patienten von Zahnbrechern 
zu finden. Mir bot sich anläßlich eines Aufenthaltes im Süden die Gelegen¬ 
heit, den Sohn eines Opfers eines solchen Zahnreißers zu befragen. Der 
alte Bauer, der das Opfer geworden war, hatte infolge einer durch einen 
dieser Scharlatane vorgenommenen Zahnextraktion eine Infektion bekommen 
und geschworen, sich an dem Mann zu rächen, falls dieser wieder einmal 
in seine Gegend kommen sollte. Ich weiß nicht, ob der ambulante Scharlatan 
zurückgekehrt und ob er gezüchtigt worden ist; was uns vor allem inter¬ 
essiert, ist die Reaktion des alten Bauern, des Opfers. 

Man hat mir gesagt, daß die Reaktion der Opfer häufig die gleiche war 
Der Patient des Zahnbrechers blieb nicht durch eine positive Übertragung 
an seinen Peiniger fixiert. Dieser hatte außerdem durch sein Wanderleben 
die Möglichkeit, sich der Rachsucht seiner Opfer, der negativen Über¬ 
tragung, zu entziehen; jener Opfer, deren Schmerzensschreie während der 
quälenden Behandlung seinerzeit durch Trommelwirbel übertönt worden 
waren. 

Die Tätigkeit unsrer diplomierten Zahnärzte ist natürlich ganz anderer 

Art. Nicht nur, daß sie Novokain anwenden und beinahe nie mehr Zähne 

ziehen, sie machen auch noch etwas anderes, worüber wir noch sprechen 

wollen und was ihnen eben zu der positiven Übertragung seitens ihrer 

Patienten verhilft. + + 

* 


Wir wissen seit langem durch die Psychoanalyse, welch psychisches 
Trauma für das Kind das Ausfallen und natürlich mit noch viel mehr 
Berechtigung das Ausziehen der Milchzähne bedeutet. Das Kind stellt diesen 
Verlust einer Kastration gleich, die entweder „Mutter“ Natur oder, im Fall 
der Extraktion, die- oder derjenige, der ihm den Zahn gezogen hat, an 
ihm vorgenommen haben. Wir wissen aber durch die Psychoanalyse seit 
ebenso langer Zeit, daß die Natur, diese grausame, mitunter gütige Mutter, 
das Kind bald über seinen Verlust tröstet: tatsächlich läßt sie in der von 
ihr verursachten Wunde den Ersatzzahn erscheinen, und zwar ist das der 
Zahn der Erwachsenen, Und auf den Schmerz, die Kränkung über den 
Verlust des ausgefallenen oder gezogenen Zahnes folgt der Triumph, ihn 
ersetzt zu sehen — und zwar ersetzt durch einen größeren, stärkeren, an¬ 
sehnlicheren Zahn, durch einen Zahn, wie die Erwachsenen ihn haben. 

Das will heißen, daß für das Unbewußte des Kindes auf den Schmerz 


























-T-- 

Der JVfensdi und sein Zahnarzt x 47 1 


Über die symbolische Kastration durch den verlorenen oder gezogenen Zahn 
ü er Triumph über die symbolische Wiedergabe des Phallus durch das Wachsen 
des zweiten Zahnes folgt. Im Bereich der Zähne kann auf diese Weise die 
Kastration ungeschehen gemacht werden und wird es ja tatsächlich auch. 

Was nun die heutigen Zahnärzte für die Erwachsenen leisten, können 
wir mit dem vergleichen, was die Natur so wohlwollend am Kind zur 
2 , e it seines Zahnwechsels vollbringt. Die Zahnärzte unserer Zeit sind im 
Gegensatz zu den primitiven Zahnbrechern im Wesentlichen Verfertiger von 
Ersatzstücken geworden: wenn sie Löcher bohren, besteht ihre Kunst darin, 
sie sogleich wieder auszufüllen. Dazu gibt es die Plomben aus Zement 
und Amalgam, die Goldfüllungen, die „ inlays “, die Kronen aus Gold oder 
Porzellan, die Stiftzähne, die Brücken und schließlich die künstlichen 
Gebisse. 

Der Kastrator im Zahnarzt unserer Tage wird also so stark durch den 
Wiederbringer des Phallus überdeckt, daß er beinahe dahinter verschwindet. 
Man muß nur die tiefe narzißtische Befriedigung eines jeden Patienten 
beobachten, dem sein Zahnarzt ein gut passendes „ inlay“ angefertigt oder 
besser noch einen gut angeglichenen Porzellanzahn, der vollkommen einem 
natürlichen Zahn gleicht, eingesetzt hat. Der Patient empfindet außer dem 
funktionellen, vernunftgemäßen Vergnügen des Essens und Kauens auf einer 
festen, glatten Fläche noch die Freude, sich wieder „ganz“ zu fühlen, im 
letztzitierten Fall in seinem Spiegel eine vollkommene, lückenlose Zahnreihe 
dort zu entdecken, wo vorher ein Glied aus der Kette gefehlt hatte. 

Ich erinnere mich eines kleinen Jungen, den ich gut kenne, dem einmal, 
als er vier Jahre alt war, durch eine Schiebetüre in der Eisenbahn die ganze 
Spitze eines Fingers abgezwickt wurde. Er hielt seinen armen kleinen, ver¬ 
stümmelten und ganz blutigen Finger in die Höhe und schrie dabei: „der 
Doktor muß mir einen neuen Finger einsetzen!“ Das ist nun gerade das, 
was der moderne Zahnarzt zum Ersatz für gefährdete oder verlorene Zähne 
macht: er gibt den Menschen das wieder, was ihnen genommen worden ist. 

Die starke positive Übertragung, die die Menschen unserer Zeit an ihren 
Zahnarzt bindet, bezieht also ihre Kraft aus einer primitiven, elementaren 
Regung: aus dem Trieb, der im Unbewußten die Kastration ungeschehen 
machen will, was mit Bezug aut die Zähne in der Kindheit durch die 
Natur selbst, später durch die Kunst der Menschen tatsächlich geschieht. 

Der Zahnarzt, der ursprünglich von dem gewöhnlichen Zahnbrecher, dem 
unbarmherzigen „Vater“ Kastrator herstammt, ist also gegen Ende des letzten 
Jahrhunderts durch die Vervollkommnung der Zahntechnik zum sich er- 








47 * M ane Bonaparte: Der Atensrti und sein ^aLtnarzt 


barmenden „Vater“ geworden, der bereit ist, so wie die bisweilen güti 

Mutter Natur, den Söhnen und sogar den Töchtern wieder zu seh™ ** 

o vucu i Was 

ihnen vorher so grausam genommen worden war. 

Hat es ein Zahnarzt aber durch schlecht angewandte Technik, durch z u 
offenbares Unvermögen verfehlt, der symbolische Wiederbringer des Phallus 
zu sein und damit das Vertrauen seines Patienten oder seiner Patientin ver¬ 
loren, dann sinkt er beinahe zum Rang des Zahnbrechers, des primitiven 
Zerstörers der Zähne, herab und zieht sich nachträglich die oft sehr starke 
negative Übertragung seines Expatienten zu. Und die ambivalenten Gefühle 
die früher auf den Urvater konzentriert waren, spalten sich jetzt in ihre 
beiden Abzweigungen: dem ersten, dem verlassenen, verleugneten Zahnarzt 
der die körperliche Integrität seines Sohnes oder seiner Tochter nicht ge¬ 
nügend zu wahren verstand, wenden sich Rachsucht, sogar Haß zu, der 
Einstellung zur Kastration entsprechend; seinem Nachfolger, der alle Hoff¬ 
nung auf Wiedererlangung des Phallus auf sich vereinigt, flutet eine an¬ 
steigende Welle von Vertrauen, Zuneigung, sogar Liebe entgegen. 
















I 

J)ie jüdischen Gehetsriemen und andere rituelle 
Gebräuche der Jude 


len 


Von 

JVL D. Eder 

London 


Vor etwa zwei Jahren wurde meine Aufmerksamkeit durch klinisches 
Material auf das Studium des jüdischen Rituals gelenkt, besonders auf die 
Bedeutung der Gebetsriemen, des Gebetsshawls und des Türpfostensymbols. 
Zur selben Zeit etwa wurden in der Imago (1930, Heft 3/4) zwei Arbeiten 
veröffentlicht, eine von Reik über „Gebetsshawl und Gebetsriemen der Juden“, 
die andere von Langer „Über die jüdischen Gebetsriemen“. Die vorliegende 
Arbeit wird klinisches Material in dieser Richtung bringen und einen 
Überblick über die verschiedenen psychoanalytischen Gesichtspunkte sowie 
einen Hinweis auf sonstige Literatur, und zwar in folgender Anordnung: 

A) Beschreibung von Aussehen und Gebrauch: 

1) Von Phylakterien-Gebetsriemen (hebräisch; tefillin). 

2) Des kleinen viereckigen Umhangs (hebräisch: tsitsith- Quasten, Fransen oder 
arba’kanfoth , vier Ecken). 

3) Des großen, viereckigen Gebetsshawls (hebräisch: talith , Umhang). 

4) Der Türpfostenrolle (hebräisch: mesusah , Türpfosten). 

B) Allgemein jüdische Meinung über Gebrauch und Bedeutung dieser Zierate. 

C) Anschauungen einiger moderner Gelehrten, die als 1) Amulett- und 2) Phallus¬ 
theorie zu bezeichnen wären. 

D) Einige klinische Beobachtungen. 

E) Psychoanalytische Theorien (Abraham, Frieda Fromm-Reichmann, Marie Bona¬ 
parte, Georg Langer und Th. Reik). 

F) Ergebnisse. 

Glover hat kürzlich in einer Vorlesung am Royal Institute of Anthropo- 
logy auf verschiedene Methoden hingewiesen, um die Anthropologie zu 
fördern (1): der Analytiker könnte das klinische Material, das er bei der 
Arbeit am Individuum gesammelt hat, bringen, der Anthropologe die Er¬ 
gebnisse seiner empirischen Forschungsarbeit, wobei es sich zeigen würde, 
inwieweit sie die Funde des Analytikers bestätigen oder nicht. Ich glaube, 

1) Dieser Vortrag wurde zuerst in der Britischen PsA. Gesellschaft am 29. Juni 
1 93 2 gehalten und dann erweitert. Auf Dr. Jones’ Rat habe ich einen ausführlichen 
Auszug der Arbeiten von Reik und Langer (Imago, XVI, 1930) gegeben. Die Über¬ 
setzung der vorliegenden Arbeit besorgte Dr. Edith Buxbaum. 





474 


M. D. E-de] 


daß das Studium des jüdischen Rituals in dieser Hinsicht ein Forschungs 
gebiet von besonderem Werte darstellt, weil wir oft die klinischen Unter- 
suchungen und das Studium der primitiven Gebräuche an ein und der¬ 
selben Person anstellen können. Natürlich meine ich nicht, daß die Juden 
Primitive in der üblichen Bedeutung des Wortes sind, wohl aber stammen 
ihre Gebräuche aus sehr alter Zeit und haben sich weitgehend unverändert 
erhalten; überdies aber bieten die Juden eine Fülle klinischen Materials 
für den Analytiker. 

* 

A) 1) Die jüdischen Phylakterien (vom griechischen Wort phylassein, be¬ 
wachen) führen bei den Juden den Namen „ tefillin “ oder Schmuck, ein Wort 
dessen Ursprung dunkel ist und mit dem wir uns später noch befassen werden 
Die Gebetsriemen sind Lederstreifen oder -riemen, mit welchen Lederkassetten 
verbunden sind; in diesen befinden sich vier Stellen aus der Torah (dem Gesetz) 
auf Pergament geschrieben. Die Bibelstellen sind die folgenden: Exodus XIII, 
1 —10, Exodus XIII, 11 —16; Deuteronomium IV, 4 — 9, und XI, 15—21. 
Die traditionsgemäße Vorschrift wird noch immer folgendermaßen ausgeführt: 

Die vier Bibelstellen werden zweimal auf Pergament geschrieben, einmal auf 
einem Blatt, einmal auf vier Streifen, wobei jeder Streifen eine Stelle enthält. Die 
beiden Torahauszüge (jeder vier Stellen enthaltend) werden in zwei Lederkassetten 
(bayith ) gelegt; diese ist in vier Teile geteilt, zur Aufnahme je eines Stückes des 
viergeteilten Pergaments, außen mit dem Buchstaben Shin = der Allmächtige, 
bezeichnet. Auf beiden Seiten der Kassette ist der Buchstabe eingepreßt, rechts 
hat er drei Striche t 2 ? (gewöhnliche Schreibart), links aber hat er vier, um — 
wie es heißt — die richtige Ordnung der vier Paragraphen in der Kassette 
(bayith), nämlich von links nach rechts, zu sichern. Durch eine Schlinge, die an 
jeder der beiden Kassetten befestigt ist, wird ein Lederriemen durchgezogen 
und seine beiden Enden werden so verknüpft, daß die Kassette (bayith) am Kopf 
oder am Arm befestigt werden kann. Auf den Arm kommt die Kassette, die den 
ganzen Pergamentstreifen enthält, auf den Kopf die mit den vier geteilten 
Streifen. Die eine Kassette heißt tefillin shel yad (Tefillin der Hand), die andere 
tefillin shel rosh (Tefillin des Kopfes). 

Die Tefillin werden in folgender Weise angelegt: 1) Kopftefillin, tefillah 
shel rosh. Die Kassette wird vorne, genau in die Mitte der Stirn gelegt, der 
Riemen genau über der Mitte des Nackens verknotet, was von den zwei Riemen 
übrig ist, hängt zu beiden Seiten nach vorne herunter. 2) Handgebetsriemen 
(tefillin shel yad). Die Kassette mit dem Pergament wird an der Innenseite des 
linken Oberarmes knapp über dem Ellbogen angelegt. Der Knoten ist nahe an 
der Kassette, der Riemen wird siebenmal um den Arm und dreimal um den 
Mittelfinger gewunden. Die Riemen müssen auf der nackten Haut liegen, und 
auf dieser Seite soll das Leder schwarz sein; rot ist ausdrücklich verboten. 

Das Tefillin der Hand wird zuerst angelegt, weil sie in der Bibel als erste 
genannt wird. Beim Abnehmen der Tefillin wird die umgekehrte Reihenfolge 













f 

Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräudie der Juden d/d 

beobachtet. In neuerer Zeit werden die Tefillin nur beim Morgengebet getragen. 
]\Ian findet es natürlich, daß man am Abend den kleinen Umhang und die 
rpefülin ablegt, da der größte Teil der Nacht dem Schlaf gehört. Daher wurde 
a ls allgemeine Regel aufgestellt: „Die Nacht ist nicht die rechte Zeit, Tefillin 
anzulegen.“ Aber auch das entgegengesetzte Prinzip: „Auch die Nacht ist eine 
Zeit, zu der man Tefillin anlegen kann“, fand seine Vertreter unter rabbinischen 

Autoritäten. 

Die Vorschrift, Tefillin anzulegen, gilt für alle Männer von ihrem dreizehnten 
Geburtstag an. Frauen dürfen Tefillin nicht anlegen. Mit der Beendigung des 
dreizehnten Jahres verlangt man vom Knaben die volle Erfüllung seiner religiösen 
Pflichten. 

Am Sabbath und an Festtagen werden die Tefillin nicht angelegt. So sollen 
denn gerade die Ruhetage Mahnungen an den Glauben bedeuten, für den die 
Tefillin ein Zeichen sind. 

Früher war es Sitte, die Tefillin den ganzen Tag zu tragen, und sie nur 
zum Essen, Schlafen und bei den exkretorischen Funktionen abzunehmen. Es 
ist verboten, die Tefillin auf den Abtritt und ins Badezimmer mitzunehmen; 
so lange die Tefillin ausgelegt sind, darf man nicht koitieren; sollte das doch 
geschehen, so muß man die Hände vor dem Anlegen waschen. Tefillin werden 
nicht getragen, so lange ein Toter im Hause liegt, noch darf man sich einem 
Leichnam oder einem Friedhof nähern, wenn man sie gerade trägt. Die Tefillin 
müssen aus der Haut eines vorschriftsmäßig reinen Tieres gemacht werden. 
Die Schriften sind genau in Text und Stellung vorgeschrieben; wenn ein Fehler 
beim Schreiben gemacht wird, muß man ein frisches Pergament nehmen. 

A) 2) Außer der Tefillin gebraucht der orthodoxe Jude zwei weitere rituelle 
Kleidungsstücke: das kleine Tsitsith und den großen Gebetsshawl. Das Tsitsith 
oder die Fransen sind im Deuteronomium XXII, 12, anbefohlen. Entsprechend 
dieser Vorschrift gibt es zwei viereckige Kleidungsstücke mit „Fransen . Das 
eine ist klein und wird während des ganzen Tages unter dem Obergewand 
getragen; es heißt arba i 'kanfoth , „vierEcken“, oder talith latan, „kleiner Umhang". 

Das Tsitsith oder die Fransen, welche an jeder Ecke angehängt sind, bestehen 
aus vier langen Fäden, die durch ein schmales Loch, ein Zoll von der Ecke 
entfernt, durchgezogen werden. Die beiden Enden der Fäden werden in einen 
Doppelknoten verknüpft; der längste Faden shcunTncish , „der Diener ge¬ 
nannt — wird dann sieben, beziehungsweise acht, elf und dreizehnmal um die 
sieben übrigen Hälften der Fäden gewunden; jedesmal zum Schluß wird ein 
Doppelknoten gemacht. Ist eine der Fransen unvollständig, z. B. zwei Fäden 
herausgerissen, so wird das Tsitsith „pasul , disqualifiziert, genannt und darf 
nicht getragen werden, bis die Franse durch eine neue ersetzt ist. 

„Ein wichtiges Element der göttlichen Vorschrift,“ sagt Friedländer, „wird 
nun ständig vernachlässigt“. Nämlich folgendes: „Und sie sollen geben in die 
Franse an der Ecke einen Faden von purpurblauer Wolle.“ (No. XV, 38.) Die 
Tradition bestimmte die genaue Nuance dieses Purpurblaus durch den Ausdruck 
„techeleth “ im Talmud, wo auch die verschiedenen Arten für die Herstellung 
desselben angegeben werden. Aber die Farbe scheint selten gewesen zu sein, und 











man warnt die Juden davor, Nachahmungen des techeleth zu verwende 
wurden auch Maßnahmen getroffen für den Fall, daß das techeleth • u 
erhältlich war. Das natürliche Weiß sollte dann Ersatz sein, aber sonst fc- 
andere Farbe. In der Zeit nach der Beendigung des Talmuds begann 
zu zweifeln, ob es auch die vorgeschriebene Nuance des Purpurblaus sei 
man habe, und daher hörte der blaue Faden schließlich auf, ein Bestandteil a 
Tsitsith zu sein. (Siehe S. 488.) 1 des 

A) 3) Der Gebetsshawl wird nur während der Morgengebete getragen P 
ist ein großer, viereckiger Shawl, der über dem Kopf getragen wird sei 
freien Enden hängen lose über die Schultern. 

A) 4) Das letzte dieser Schmuckstücke, die zu erwähnen sind, ist die T " 
pfostenrolle oder mesusah, ein Stück Pergament, auf dem die beiden erst^ 
Paragraphe des Schema (Deuteronomium VI, 4—9, XI, 13 — 20) stehen. D 
Pergament wird zusammengerollt, in eine schmale Kassette gesteckt und an de^ 
rechten Türpfosten des Hauses und jedes Zimmers befestigt. In der Kassette i t 
eine kleine Öffnung, in der das Wort „Gott“ sichtbar wird, das auf der RürV 
Seite der Rolle geschrieben steht. 


B) Außerdem sind, sagt Friedländer (3), an der Rückseite der Rolle, an 
den Stellen, wo vorne die Namen Gottes in der ersten Zeile stehen, drei 
Wörter von mystischer Bedeutung, bestehend aus den Buchstaben, die 
hinter den Buchstaben der Namen Gottes im Alphabet stehen. Die Wörter 
bedeuten an sich nichts, möglicherweise sollen sie nur von außen die Stelle 
bezeichnen, wo die Namen Gottes stehen, damit bei Befestigung der Mesusah 
kein Nagel gerade durch diese Stelle getrieben wird. Ich komme später 
darauf zurück. (S. 479 f.) 

Die Aufgabe der Mesusah ist es, nach Deuteronomium VI 9 und XI 20, 
die Juden beim Betreten und Verlassen des Hauses an die Allgegenwart’ 
Einzigkeit, Vorsehung und Allmacht Gottes zu erinnern; an sein Auge, 
das uns immer sieht und bewacht, an seine Allmacht, die eines Tages 
Rechenschaft von uns fordern wird für Taten, Worte und Gedanken. Beim 
Eintritt in das Haus oder Zimmer wird die Mesusah berührt und geküßt. 

Nach der Auslegung von Maimonides (5) sollen die mit Teffilin und 
Mesusah verbundenen Pflichten uns ständig an Gott erinnern. „Die Aus¬ 
führung all dieser Vorschriften prägt unserem Herzen notwendige Lehren 
ein. Dies ist vollkommen klar und bedarf keiner weiteren Erklärung.“ 

Strebei (6) behauptet, daß die Tefillin erst nach der babylonischen Ge¬ 
fangenschaft aufgekommen sind; die Phylakterien, die in Matthäus (XXIII,5) 
erwähnt sind, seien das Tsitsith oder Fransengewand. 

Die moderne, aufgeklärt-orthodoxe Meinung behauptet, die Vorschrift 











Die jüdischen Gehetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


477 


Über die Tefillin müßten gewiß nicht wörtlich genommen werden, aber 
man gibt zu > daß die Phylakterien in früherer Zeit dazu dienten, den 
Menschen vor Übel zu schützen, obwohl die Bibel texte keine Ursache für 
diesen Aberglauben boten. Derselbe Gesichtspunkt wird auch von einigen 
nicht] üdischen Kommentatoren aufgenommen: „Der Befehl, das Gesetz als 
Zeichen auf die Hände zu schreiben und zu binden. .., will zweifellos 
metaphorisch verstanden sein.“ (7) Obwohl die aufgeklärte jüdische Meinung 
zugibt, daß der Gebrauch dieser Zierate bis auf die heidnische Zeit zurück¬ 
geht, lehnt man den Gesichtspunkt, daß die biblische Vorschrift durch etwas 
anderes als durch göttlichen Befehl begründet sei, doch vollkommen ab. 

* 

C) Die Forschung vertritt im allgemeinen die Meinung, diese Zierate 
seien Amulette, die das jüdische Volk wie andere Primitivvölker annahm, 
„aus dem inneren Drang, etwas zu seinem Schutz zu tun und zu versuchen, die 
Zukunft zu enträtseln. Zweifellos waren die Tetaphoth (Phylakterien)Mesusah, 
und das Tsitsith Amulette, deren Gebrauch bis in die Prähistorie zurück¬ 
geht. Ursprünglich waren die Tefillin wertvolle Steine, die die unveränder¬ 
liche Fähigkeit hatten, böse Geister zu vertreiben; sie brauchten daher 
keine Inschriften.“ (8) Wallis Budge zieht in Erwägung, daß die Hebräer 
in biblischen Zeiten Amulette getragen haben und daß sie „möglicherweise 
den heidnischen Glauben an deren Wirksamkeit stillschweigend inoffiziell 
übernommen haben; ferner daß die Kabbalah, das Buch des jüdischen Mystizis¬ 
mus, an vielen Stellen beweist, daß diese mit Inschriften versehenen Amulette 
eigentlich magische Zaubergeräte waren; so sollten die Inschriften z. B. Kranke 
heilen. In Wallis Budges Arbeit (8) findet man Beweise dafür, daß die 
verschiedenen Zierate ägyptischen, persischen, sumerischen und babyloni¬ 
schen Ursprungs sind. Er gibt eine interessante Beschreibung der von diesen 
Völkern benützten Amulette und der Bedeutung, die ihrer Farbe, Form 
und Beschaffenheit zugeschrieben wird. Bidgway hat darauf hingewiesen, 
daß das Tragen von Schmuckstücken auf magischen Ursprung zurückgehe; 
sie waren ursprünglich Amulette, in die man, um die magische Kraft der 
Steine zu erhöhen, verschiedene Formeln einschnitt (g). 

Das Leder für die Riemen der Phylakterien muß aufs sorgfältigste aus¬ 
gesucht werden — nicht jedes Leder darf dafür verwendet werden; die Leder¬ 
riemen, wie auch die Fransen der Umhänge, weisen darauf hin, daß sie 
Teile eines Mantels oder Gewandes sind; Gott der Herr, so erzählt die 
Genesis III, 21, machte Mäntel aus Fell für Adam und Eva. Die Kleidung 







4/8 


M. D. E<* e] 



bildet, wie W. Robertson Smith zeigt (10), einen bestimmten Teil de 


göttlichen Schutz. Es ist ein allgemeiner Brauch, sagt Frazer (11), ein Tier 
zu opfern, seine Haut in Streifen zu schneiden und sie um Gelenke oder 


Finger einer Person zu legen, um sie zu schützen. 

Die Phylakterien hingegen, die man auf dem Kopfe trägt, haben die¬ 
selbe Bedeutung wie die Ehrenhörner — sie sind heute noch auf der Mitra 
des Bischofs zu sehen —, sie sind „schützende Amulette“, Symbole des 
höchsten Gottes. Das einzelne Horn, wie es das Kopf-Phylakterium repräsentiert 
stammt wahrscheinlich von dem einfachen Horn, das bei menschlichen 
Wesen die Doppelhörner vertreten soll. Die Hörner, die der Moses des 
Michel Angelo trägt, entsprechen der Beschreibung des Exodus XXXIV, 29 
— „Moses wußte nicht, daß die Haut seines Gesichtes Hörner gebildet 
hatte.“ (12). 

T. R. Campbell Thompson (13) hat darauf hingewiesen, daß es den 
Primitiven immer entsprochen hat, Amulette am Körper zu tragen und 
daß das Wort „Phylakterien“ den Sinn der Gebetsriemen deutlich aus¬ 
drückt. Angefangen von den blauen Perlen, die man den Pferden in Mähne 
und Schweif einflicht, den Kindern auf die Kopfbedeckung näht, bis zu den 
feingearbeiteten Lederbehältern, die lange, von Bazarschreibern geschriebene 
Zauberformeln enthalten: all dies bleibt ein ebenso ewiger Zauber für 
den Glauben der Semiten wie für den der Christen das Kreuz. 

Budge und andere Autoritäten beweisen, daß der große und der kleine 
Gebetsumhang nicht nur Bestandteile des magischen, sondern sogar des 
priesterlichen Lebens waren. W. Robertson Smith vergleicht die Fransen 
oder Quasten am kleinen oder Gebetsshawl mit den Riemen aus Ziegen¬ 
haut, die die lybischen Frauen trugen. Das Gewand bei den Opferungen 
bezeichnet den Glauben eines Mannes und seine heilige Sippe. Als man 
dieses Kleid im täglichen Leben nicht mehr trug, behielt man es doch 
bei den heiligen Handlungen noch bei. 

Der sexuelle Charakter — männlich oder weiblich — dieser jüdischen 
Amulette wurde von Elworthy (15) und andern Autoren angedeutet und 
von Hannay (16) deutlich beschrieben. Nach der Darstellung von Joseph 
(17) sollten die färbigen Fransen dazu dienen, den männlichen Umhang 
von dem weiblichen, dem sie im übrigen sehr ähnlich waren, zu unter¬ 
scheiden. 

Während des Priestersegens am Versöhnungstag stehen die Priester vor 
der Bundeslade, dem Behälter, in dem das Gesetz aufbewahrt wird, und 





























hüllen sich vollständig in ihre Gebetsshawls (talith) ein, wobei sie auch 
den Kopf bedecken; die Hände sind im Gebet erhoben, dabei müssen der 
vierte und fünfte Finger von den andern entfernt sein und während der 
ganzen Zeremonie in dieser gezwungenen Stellung bleiben. Elworthy (17 a) 
erklärt, diese Stellung der Hand mit weggespreiztem vierten und fünften 
Finger bezeuge eine nahe Verbindung zu den allmächtigen Hörnern der 
sexuellen Frauen-Gottheiten — Jsthar, Isis, Hera, Diana usw. —, die, wie 
man glaubte, bereit waren, ihren Gläubigen zu helfen; diese Stellung der 
Hand läßt leicht die Darstellung solcher Hörner erkennen. Hannay, der 
aber ein sehr unverläßlicher Philologe ist, leitet das Wort Phylakterien 
von Phallus ab. 

Die Mesusah (Türpfostenrolle) ist ein babylonisches Wort und bedeutet 
r Gottesplatz“. Hastings (17b) beweist seine weite Verbreitung; bei den 
Phönikern war sie oft mit dem Phallus versehen. Eine ähnliche Sitte findet 
sich bis zum heutigen Tag in mohammedanischen Ländern. „Am Neu¬ 
jahrstag der Mohammedaner hängt jede Familie, besonders in den Städten, 
einen grünen Zweig über die Tür des Hauses.“ Diese Sitte wird auch in 
Palästina befolgt, und zwar, wenn die Braut zum erstenmal das Haus des 
Bräutigams betritt, wenn der Dachstuhl eines Ziegeldaches errichtet wird, 
manchmal auch bei Beendigung eines Bogens. Beim Dachbau wird gern 
ein Olivenzweig am Giebel des Dachstuhles befestigt. Diese Sitten sind von 
symbolischer Bedeutung. Der grüne Zweig eines lebenden Baumes ist 
das Zeichen von Frieden und Gedeihen. Aus demselben Grunde sagt man 
von einer Frau, einem Haus oder einem Pferd, die angeblich Glück ge¬ 
bracht haben, sie haben einen „grünen“ Fuß oder „grüne“ Hand, idjirha 
hadra , idha hadra (18). 

Langer (19) weist ähnliche Zierate (Türpfosten) in alter und neuer, 
in babylonischer und griechisch-römischer Zeit nach (Phallus). Sie finden 
sich auch bei afrikanischen Negern, Melanesiern und südamerikanischen 
Indianern. Eine primitive Form der Mesusah ist die steinerne Säule, die 
Jakob errichtete, und die er zu einem lebenden Gott machte, indem er Öl 
darüber goß. 

In der Mesusah stehen, wie ich erwähnte, drei Wörter auf der Rück¬ 
seite der Rolle, gerade hinter dem Wort Gott, d. h. vier Wörter sind sichtbar; 
wie bei dem vierzackigen Shin wieder ein Zeichen dafür, daß hier 
eine Vereinigung von Männlich und Weiblich dargestellt ist, wie es ja auch 
aus der Stellung der Mesusah hervorgeht, nämlich ihrer Anbringung im 
Türeingang, dem weiblichen Symbol. Dieselbe nachdrückliche Bedeutung 











M. D. EJe: 


480 


r 



kommt dem Hufeisen zu, das häufig als glückbringend über das Haustor 
gehängt wird; häufig findet es sich an Kirchentüren, um, wie Hannay ( 2o ) 
sagt, die weibliche Bedeutung der Kirche zu bezeichnen. Er fügt hinzu 
daß das weibliche Symbol im jüdischen Brauch von sehr sexueller Bedeutung 
gewesen sein muß, weil das Weibliche in der Religion tabu war. 


* 


D) Ich komme nun von der Beschreibung der Kultgeräte und ihrer 
Deutung durch Religion und Fquschung zur Darstellung einiger klinischer 
Beobachtungen an jüdischen Patienten. 

Phylakterien. 

Ein vierunddreißigjähriger Patient pflegte zu gewissen Zeiten, wenn er be¬ 
sonders feindlich gegen mich gesinnt war, den größten Teil der Sitzung sadistische 
Phantasien zu produzieren. Dies geschah häufig in der Form, daß er die 
Phylakterien, die er zu tragen phantasierte, beleidigte oder verstümmelte. „Ich 
beiße die Kassette auf und zerkaue ihren Inhalt — ich kümmere mich nicht 
um die Schmerzen, die mir das macht — ich fürchte mich nicht vor ein 
bißchen Leibschmerzen. Jetzt bin ich es los — Ihr schöner Penis ist weg. 
ich zerspalte ihn (die Kassette war für ihn der Penis) von der Öffnung an und 
bohre eine lange Nadel in Sie hinein — ich reiße die Riemen in Stücke — 
ja, ich werde Ihnen lebendig die Haut abziehen. Was haben Sie mir getan? 
Gestern ging ich zum Telephon um mit R. zu sprechen, der mich angerufen 
hatte. Ich hatte eine Pollution. Ich spucke auf Ihre Tefillin — geben Sie mir 
die Hand und ich will sie abschneiden.“ 

Der Patient kam wegen vollkommener Impotenz zu mir. Er hatte viele 
Freundinnen, aber weder mit Frauen noch mit Männern jemals Verkehr gehabt, 
obwohl er mit Frauen geschlafen und alle Arten der Vorlust erlebt hatte. Seine 
latente, gewöhnlich reaktive Homosexualität kam in der Analyse heraus. Er 
erinnerte sich nicht, jemals onaniert zu haben, hatte aber bei Nacht und auch 
bei Tag Pollutionen seit der Pubertät. Ich hatte ihm geraten zu onanieren, und 
diese Phantasien über die Phylakterien produzierte er, nachdem er in einer Nacht 
meinen Rat befolgt hatte. Manchmal hatte er beim Verlassen des Zimmers eines 
Freundes einen Samenerguß, besonders dann, wenn er den Freund nicht ge¬ 
sehen hatte. 

Er kam aus einer kleinen fernen Stadt: seine Mutter war durchaus domi¬ 
nierend — sie führte das Geschäft und das Haus; sein Vater war ein sanfter 
inoffensiver Mann, der an chronischen Verdauungsstörungen litt. Die Familie 
war orthodox und mein Patient hatte den üblichen Cheder (die jüdische Schule) 
besucht, Talmud gelernt und, der Sitte gemäß, mit dreizehn Jahren die Tefillin 
zu legen begonnen. Später hatte er jeden Glauben und alle religiösen Gebräuche 
fallen lassen. 

Die Phantasien zeigen deutlich den Wunsch des Patienten, mich zu kastrieren, 
indem er die Tefillin, die ich in seinen Phantasien trug, zerriß oder zerbiß. 




























Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


£r brachte Erinnerungen aus der Kindheit, wie er wütend war, wenn er 
den Vater und den um sechs Jahre älteren Bruder die Gebete mit den Tefillin 
verrichten sah. Zwischen sechs bis acht Jahren beneidete er den älteren Bruder, 
daß er Tefillin legen durfte, während es ihm noch nicht erlaubt war. Mehr 
a l$ einmal hatte er die Tefillin fallen lassen, wenn er sie dem Vater bringen 
sollte. Die Tefillin wurden eine Quelle des Neides, als sein Bruder dreizehn 
Jahre alt wurde; die spezielle Bedeutung der Phylakterien für ihn als Penis¬ 
symbol stammte aus diesem Zeit. 

Ähnliche Phantasien entwickelten auch andere Patienten bei vielen Gelegen¬ 
heiten. Manchmal wurden die Phylakterien um meinen Penis gewunden, ein 
andermal wieder riß ich dem Patienten die Riemen weg; in einem Fall wand 
ich die Riemen um den Penis des Patienten, . hatte die Enden im Mund und 
schnürte so sein Glied ab; manchmal waren die Riemen um seinen Hals gelegt. 
In einer anderen Phantasie litt der Patient große Schmerzen, weil die Riemen 
zu eng um den Arm gewunden waren. Er erinnerte sich, daß er als Kind 
einmal hörte, wie der Vater über Schmerzen im Arm klagte, weil er die 
Riemen wirklich zu eng befestigt hatte. 

Andere Patienten hatten wieder den Einfall, ich werde dafür, daß ich die 
phylakterien nicht gebrauchte, durch meinen Tod oder den meiner Frau und 
meiner Kinder bestraft werden; ich muß hinzufügen, daß keiner dieser Patienten 
die rituellen Zierate anlegte, obwohl sie alle in deren Gebrauch erzogen waren. 
Manchmal war die Krankheit des Patienten die Folge seiner Abwendung von 
der Religion; dann allerdings war es nicht nur das Aufgeben der Phylakterien 
und des Tsitsith, um das es sich handelte, obgleich es als eine böse Tat an¬ 
gesehen wurde. 

In einem Teil eines Traumes war der Patient mit dem Arm, auf den die 
Gebetsriemen gebunden waren, an mich gekettet, und die Riemen mußten durch¬ 
geschnitten werden, damit er sich befreien konnte. Es war naheliegend, die Riemen 
als Nabelschnur aufzufassen. Ich war für diesen Patienten zwar oft eine Mutter¬ 
figur, in diesem Traum aber nicht so eindeutig. Ich weise auf den Traum und 
seine mögliche Bedeutung in Verbindung mit psychoanalytischen Gesichtspunkten 
hin, die ich später auseinandersetze; demnach bedeutet das Arm-Tefillin, d. i. 
die kleinere Kassette, das weibliche Genitale, während der Kopfkasette die 
größere, ursprünglich phallische Bedeutung zukommt, später vielleicht beide 
Bedeutungen, sowohl die des männlichen als auch des weiblichen Organs. 

Ein andermal halluzinierte der Patient, ich habe die Tefillin angelegt und 
schlüge ihn damit auf Rücken und Gesäß; er sah den Teil meiner Person, 
der die Tefillin trug, als finstern, schwarzen Gott (Satan oder Feind) und flehte 
zu mir, dem weißen Gott, ihn vor dem schwarzen Gott — Satan — zu retten. 
Schwarz bedeutete für ihn die Finsternis und das Böse, das man in der Nacht 
sieht und tut; die Riemen der Phylakterien, die der böse Gott trägt, führten zu 
Assoziationen der üblichen Teufelsbilder mit Schwanz. In der nächsten Sitzung 
zitierte der Patient aus dem Buch Hiob: „Also ging Satan hinweg vom Angesicht 
des Herrn und schlug Hiob mit einem sehr bösen Geschwür von seiner Fu߬ 
sohle an bis zum Scheitel seines Hauptes.“ Die „Verdoppelung“, die wir aus 

Imago XIX. 


3i 











483 


M. D. Eder 



Mythen und Sagen wohl kennen, spielt sich auch in dieser Phantasie ab: der 
Analytiker mit den Phylakterien ist Satan, der böse, feindliche Vater mit den 
Emblemen des schwarzen Gottes oder Satans; der freundliche, „gute“ V at * 
hingegen ist der schützende Gott, der den Patienten vor seinen eigenen, in der 
Gott projizierten, aggressiven und sadistischen Impulsen bewahrt. 



Das Tsitsith oder der kleine Umhang. 


Das Tsitsith ist, wie schon gesagt, der kleine viereckige, mit Fransen 
versehene Umhang, den alle Männer unter dem Obergewand tragen. Zum 
Unterschied von anderen rituellen Gewändern wird es von Kindheit an 
getragen — natürlich genießen nur Knaben diesen Vorzug. Den Um¬ 
hang wegzulassen, ist eine Sünde. Ich weiß nicht, welche Strafen der Talmud 
dem Individuum auferlegt wenn es daran beim Anziehen vergißt; meine 
Patienten jedenfalls phantasierten von strengen Strafen für dieses Vergehen 
Möglicherweise führt die Kindheitserinnerung an die Mutter, die beim An¬ 
ziehen zugegen ist, gerade beim Tsitsith so häufig zu Assoziationen über 
Frauen im allgemeinen, — Mutter, Schwester und Gattin. So weit es mir 
bekannt ist, hat es nichts zu besagen, wenn das Tsitsith unter dem Ober¬ 



gewand hervorsieht; die Patienten aber schämten sich sehr, wenn eine 


Franse unten vorhing, genau wie etwa ein Knabe, dem das Hemd heraus¬ 
hängt— und auch aus demselben Grund: der Wunsch, das Glied zu zeigen, 
und gleichzeitig die Angst, bei diesem Wunsch ertappt zu werden, brachte 
die Scham hervor. Ein zweites Motiv für die Scham konnte ich in einem 
Falle finden: 

Ein Patient durchlebte noch einmal denselben Ärger, als er sich daran er¬ 
innerte, wie seine Schwester ihn ausgelacht hatte, als ihm die Fransen des 
Tsitsith vorne und hinten herunterhingen. Er war wütend geworden, hatte 
die Schwester geschlagen und gesagt, sie solle dieses Gewand tragen — es sei 
überhaupt kein Männerkleid, wenn er groß sei, werde er die Tefillin anlegen. 
Für ihn war es ein Mädchenkleid, weil der Kopf zwischen zwei schmalen 
Bändern stak; es war keine männliche Kleidung, weil sie nicht zu sehen war. 
Er sagte, die beiden Enden lägen um den Kopf, wie die zwei Beine der Frau 
beim Koitus um den Mann liegen, auch sei das Tsitsith versteckt wie das weib¬ 
liche Genitale, nicht sichtbar wie die Tefillin und der Talith — die männ¬ 
lichen Organe. Es war klein, weil er noch ein Knabe war, dennoch aber war 
er stolz, daß es die Schwester nicht tragen durfte — sie hatte keinen Penis. 

Anders als mit dem Tsitsith ist es mit dem Talith oder mit dem großen 
Gebetsumhang: er wird nur zum Beten, auch nur von Männern getragen, 
aber erst mit dreizehn Jahren, nach der Konfirmation. Der folgende Talith- 
Traum berührt auch andere rituelle Gebräuche. 


























Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


483 


Talith- Traum. 

Ich träumte, ich ging in den Klub, der sich anscheinend in meiner Geburts¬ 
stadt befand. Ich sah Herrn A., einen alten Freund, draußen stehen, und da 
er nicht Mitglied ist, wollte ich ihn mit hineinnehmen . Zu meinem Erstaunen 
ging er geradeiuegs hinein. Ich war einigermaßen ärgerlich. Innen sah der 
Klub wie das Beth-Hamidrash in meiner Heimatstadt aus. Ich bemerkte, daß 
Herr A. keinen Hut auf hatte, und dann sah ich, daß die anderen auch keinen 
auf hatten. Ich behielt meinen auf. — Jetzt war es die Synagoge in meiner 
Heimatstadt (das Beth-Hamidrashfvar ein Teil desselben Hauses). Herr A. und 
Herr B. — beide ältere Herren — auch einige andere waren da und beteten. 
Hun sah ich, daß sie Hut und Talith trugen. Herr A. kam zu mir und 
sagte, ich sollte den Talith umlegen. Das machte mich wütend. Ich riß Herrn 
^ und Herrn B. den Talith weg, schlug ihnen die Hüte herunter und warf 
sie in eine Ecke. Ein allgemeiner Tumult entstand. 

Das Beth-Hamidrash. ist das Studienhaus neben der Synagoge, wo die Heran¬ 
wachsenden Bibel, Talmud usw. studieren. Alle Männer über dreizehn Jahre treffen 
sich hier, diskutieren über theologische Fragen und studieren hier. Das Tragen 
des Hutes ist bei den orthodoxen Juden Pflicht, während sie eines der heiligen 
Bücher lesen. Herr A. und Herr B. sind Freunde des Träumers, die ver¬ 
schiedene Aspekte seines Vaters darstellen. Während des Gebetes wird in der 
Synagoge sowohl Hut als auch Talith getragen. Die aggressive Handlung 
war sündig und gotteslästerlich. Es war nicht schwer, ihre symbolische Hand¬ 
lung zu enthüllen: die Kastration des Vaters (und Gottes). 

Ich kann hinzufügen, daß eine Reihe von homosexuellen Phantasien bei dem 
Patienten, einem fiinfundvierzigjährigen Mann, mit dem Beth-Hamidrash ver¬ 
bunden waren. Er war in einer kleinen russischen Stadt orthodox erzogen 
worden und kam, um sich unter anderem wegen vollkommener Impotenz be¬ 
handeln zu lassen. 

Mit zwanzig Jahren heiratete er, um der militärischen Anwerbung zu ent¬ 
gehen, das erstbeste Mädchen. Es war die Tochter des Ortsfleischhauers; er 
war während der zwei Jahre, die die Ehe dauerte, potent, obwohl er seine 
Frau von der ersten Nacht an haßte und verachtete. Um diesen besonderen 
Haß verständlich zu machen, muß ich auf einige andere jüdische Bräuche 
etwas näher eingehen. 

Die Tiere, die die Juden essen dürfen, müssen auf besondere Art getötet 
werden. Diese rituelle Tötung — bekannt als Schechita — vertraut man nur 
Männern an, die die Vorschriften kennen, geschickt und verläßlich sind. 

Der Oberrabbiner oder eine andere Tempelautorität hat den Betreffenden 
zu prüfen und gibt ihm die Lizenz, ein ritueller Schächter zu werden. Der 
Schächter muß auch vor und nach dem Tod des Tieres feststellen, ob das 
Tier gegessen werden darf oder nicht; er muß Lungen usw. untersuchen, um 
festzustellen, ob es vor dem Tode nicht krank war. In vielen kleinen Ge¬ 
meinden ist der Schochet — er muß, wie noch zu zeigen sein wird, ein Mann 
von einigen Kenntnissen, vor allem auf veterinärem und rituellem Gebiet, sein 
— gleichzeitig Tempeldiener und Lehrer. Zwischen dem Schächter und dem 















M. D. Eder 


4^4 



Fleischhauer, der das Fleisch zerteilt und verkauft, wird ein großer Unt 
schied gemacht. Der Schächter ist in der Gemeinde eine Person von ein * 61 
Bedeutung, der Fleischhauer hingegen kann ganz ungebildet sein, ist einfk 
Handelsmann, oft verachtet, der niedrigste unter den Geschäftsleuten. ^ 

Man ist überrascht darüber, daß ein Schächter Tempeldienste versehen und 
lehren soll. Es wäre sicherlich merkwürdig, wenn etwa der Vikar des Orte 
in diesen beiden Eigenschaften auftreten würde. Der Schochet aber hat die 
rituelle Tötung auszuführen, er ist unzweifelhaft der direkte Abkömmling des 
Priesters, „der seine Hand soll legen auf des Ochsen Haupt und soll ihn töten 
vor dem Herrn“. Ich will hier nicht weiter auf die Bedeutung der geheiligten 
Tötung eingehen. Der Schächter hat, daran ist für mich kaum zu zweifeln 1 
nach der jüdischen Tradition auf die Anerkennung als Priester größere An* 
Sprüche als der Oberrabbiner selbst und die andern, die den Schächter an¬ 
stellen. 

Die Frau des Träumers nun war die Tochter des verachtetsten Handels¬ 
mannes im Ort, des Fleischhauers, und diese Verachtung übertrug sich auch 
auf sie. Der Träumer hatte weit unter seinem Rang geheiratet, aber mit ihr 
die er haßte und verachtete, konnte er verkehren. Er verließ seine Frau nach 
zwei Jahren und hatte seitdem in verschiedenen Ländern gelebt und im Krieg 
gedient. Seit er seine Frau verlassen hatte, war er impotent, obwohl er in 
verschiedenen Ländern mit Jüdinnen und Nichtjüdinnen zu verkehren versucht 
hatte, auch Monate oder Jahre mit Frauen, die er liebte, zusammenlebte. 


Kehren wir nun zur Hauptsache zurück: der Talith repräsentiert den 
Vater und im besonderen den Penis des Vaters. Das Symbol des Hutes ist 

bekannt. Die Orthodoxen legen die Kopfbedeckung — Kappe oder Hut _ 

niemals ab, und rationalisieren dies damit, daß man unerwartet ein Wort 
der Heiligen Schrift gebrauchen könnte. Die wirkliche Erklärung aber findet 
sich in der symbolischen Bedeutung des Hutes — kein kastrierter Mann 
darf vor seinen Gefährten oder Vätern oder Gott erscheinen. Und tatsächlich 
durfte niemand, der einen körperlichen Fehler hatte, Priester werden. 


In anderen Träumen ist der Träumer äußerst beunruhigt darüber, daß er 
seinen Talith nicht finden kann, oder er fürchtet, ihn nicht mitgenommen zu 
haben, und man könnte ihn danach fragen. Diese Träume bedeuten im all¬ 
gemeinen, daß er ohne Talith kein vollständiger Mann sei. Seine Freunde 
werden daraufkommen, daß seine Eigentümlichkeiten mit seiner Impotenz Zu¬ 
sammenhängen. 

Eine Phantasie desselben Patienten: Ich möchte zu Ihnen kommen und auf 
Ihrem Schoß sitzen, ich möchte Sie küssen und möchte Sie umarmen; ich wage 
es nicht, zu Ihnen zu kommen, weil Sie mit dem Tefillin beten. 

Frühe Erinnerungen rechtfertigen diese Angst; sein Vater war sehr fromm 
und peinlich in der Erfüllung ritueller Pflichten; er durfte von niemandem, 
nicht einmal von den geliebten Kindern, sagte der Patient, zu dieser Zeit gestört 
werden, zum Unterschied von vielen, auch orthodoxen Juden, die vielleicht, 


































Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


485 


-Kreil sie sich wohler dabei fühlen als er, ganz gut auch während des Gebetes 
durch Gebärden eine Unterhaltung führen können. Jede Annäherung des kleinen 
Kindes wurde von der Mutter verhindert oder vom Vater gerügt, der mit dem 
Tefdli n oder dem Talith 'gekleidet, eine strenge und gebietende Gestalt zu sein 
schien. Wir wissen aus der Analyse, daß jede Veränderung in der Kleidung 
des Erwachsenen ebenso wie in der Wohnungseinrichtung oder wie ein anderes 
Zimmer auf das junge Kind tiefen Eindruck machten. So war für meinen Pa¬ 
tienten von frühester Kindheit an (als Säugling?) der strenge, aggressive Vater 
mit dem Tefillin, der freundliche, gütige Vater aber mit der Abwesenheit von 
Tefillin und Gebetsshawl verbunden; dieser Vater aber wurde wieder mit der 
Mutter assoziiert, die niemals so gekleidet war. Wenn mein Patient eine sexuelle 
Verbindung mit mir wünscht — auf meinem Schoß zu sitzen — meinen Penis 
zu untersuchen — Verkehr mit Vater und Mutter —, verbietet ihm dies sein 
Über-Ich, gewissermaßen im Namen des Vaters mit dem Tefillin, des ver¬ 
bietenden Vaters, und daher projiziert er die Tefillin auf meinen Kopf und 
Arm. Ich bin einerseits die Mutter und der nachsichtige Vater, und gleich¬ 
zeitig der aggressive, verbietende, kastrierende Vater. 

Das letzte rituelle Ornament, für das ich klinisches Material beibringe, 
ist im folgenden dargestellt: 

Mesusah-Traum. 

Es war ein großes Haus , vielleicht ein italienisches Hotel, von wunderbaren 
Gärten umgeben. Im Hintergrund kommt eine Prozession von Frauen ein tiefes , 
von Bäumen umschlossenes Tal herauf ein Bach fließt rauschend das Tal hinab. 
Sie trugen helle Gewänder , vielleicht Nachthemden. Die Frauen waren in einem 
großen Hof. Viele Männer waren dort mit schwarzen Bärten. Sie nahmen die 
Mesusah herunter und trugen sie; ich nahm an , daß sie das Haus verlassen. Die 
Männer tanzten mit den Mesushen in der Hand — ich sagte: „Oh, chassidimß 
Die Männer und Frauen waren vermischt. Vielleicht tanzten sie zusammen oder 
waren sie alle verrückt? Ich zu achte mit einem unangenehmen Gefühl auf. 

Der Träumer, ein vierundzwanzigjähriger, in England geborener Jude, hatte alle 
religiösen Gebräuche aufgegeben, war aber sehr abergläubisch. Den Abend vorher 
hatte er in Gesellschaft von Braut, Mutter und Schwester La Boutique Fantastique 
besucht. Sein Vater war tot, es gab aber im Haus ein Porträt von ihm, auf dem er 
als junger Mann mit Bart dargestellt war. Nach seinem Tode war die Familie in 
ein anderes Haus gezogen; in dem neuen Haus gab es keine Mesusah — vermut¬ 
lich hatte es im alten welche gegeben. Die bärtigen Männer stellten den Vater des 
Patienten dar, der von chassidischer Abstammung war; er hielt seinen Penis 
(Mesusah) in der Hand — eine Erlaubnis, zu masturbieren. Die Frauen waren 
die, die mit dem Träumer bei dem Ballett gewesen waren, und erinnerten an 
seine zahlreichen, kurz dauernden Liebesgeschichten. Er wußte, daß die Ver¬ 
lobung nicht weiterführen würde — war er doch jedes Mädchens nach dem 
ersten Kuß oder der ersten Umarmung überdrüssig. Weitere Assoziationen führten 
zur Erinnerung des Träumers an die Urszene; er schlief im Zimmer neben 

















M. D. Ede 


486 



den Eltern bei offenen Türen. Der chassidische Vater nahm alle Frauen 
Mutter, Schwester, Bräute — der Träumer konnte keine bekommen. 

Eine vollständige Analyse des Traumes würde die Schwierigkeiten im Leben 
des Träumers aufdecken, ich berichte über diesen Traum hier nur wegen der 
Mesusah, die das Genitale des Vaters bei der Urszene darstellt, wobei die Kassette 

und ihr Inhalt das weibliche, die Form das männliche Genitale bedeuten _ 

ein weiterer Beweis für diese Verbindung in den religiösen Riten, auf die schon 
Langer (siehe S. 495ff.) hingewiesen hat. 

Diese Halluzinationen, Phantasien, Träume sind ein repräsentativer 
Auszug aus dem klinischen Material, das ich vorwiegend in den letzten 
acht Jahren sammeln konnte. Es stammt aus den Analysen männlicher 
Patienten, die, im Osten Europas oder irgendwo anders, in Häusern, i n 
welchen die jüdische Tradition gehalten wurde, aufwuchsen. In einigen 
Fällen wurde die Analyse Jiddisch oder in einer Mischung von Jiddisch 
und Deutsch geführt. 

Ich habe kein Material von jüdischen Frauen hinzugefügt, weil dies das 
Ergebnis, das ich hier darzulegen hoffe, noch weiter komplizieren würde. 
Einige dieser Patienten hatten die traditionellen Bräuche fallen gelassen 
andere hatten sie beibehalten, aber alle, sowohl die einen als auch natür¬ 
lich die anderen, hatten etwas an sich, das an ihre religiöse Erziehung er¬ 
innerte. In manchen Fällen äußerte sich dieses Etwas in einer so auf¬ 
fallenden Trivialität wie in der Ablehnung jeder nichtjüdischen Speise, dabei 
verbunden mit heftigen Anklagen gegen den jüdischen Glauben und den 
rituellen Aberglauben. Die Beibehaltung oder Aufgabe des orthodoxen 
Glaubens und der Gebräuche zeigte sich natürlich in der ganzen Per¬ 
sönlichkeit, in der Neurosenwahl und den Symptomen des Individuums; 
hier aber ist dies nicht von Bedeutung. 

Durch Verdichtung, wie wir sie gewohnt sind, stellen die Phylakterien 
den aggressiven oder kastrierenden Vater, die versagende Mutter und den 
elterlichen Verkehr dar, der Analytiker hingegen ist entweder ein Teil der 
Phylakterien oder er repräsentiert den helfenden, freundlichen Vater, die 
Mutter und verteidigt den Patienten (Sohn) gegen die bösen Eltern in den 
Phylakterien. Wenn der Patient die Phylakterien, Taleth oder Mesusah, zu 
küssen wünscht, so hat er dazu ambivalente Wünsche als Motive. 

So weit ich es aus der Beziehung der Patienten zu mir (der als Träger 
der Phylakterien oder des Talith phantasiert wurde), verstehen konnte, stellt 
das Küssen der Ornamente verschiedene Stadien der Entwicklung dar, die 
sich mit der analytischen Situation verändern. Mit dem Kuß bietet der 
Patient dem Phylakterium (der Vater-Imago) seine Liebe an; machmal ver- 




















Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


spürt er dabei erotische Sensationen und sogar Erektionen. Der Kuß ist ver¬ 
söhnend, der Patient versucht damit die Angst, die von der Urszene her- 
stammt, zu beschwichtigen. Er überliefert sich damit den Phylakterien, 
die die Eltern - Imagines 'repräsentieren. Oft ist auch der Analytiker von 
den Phylakterien getrennt und spielt dann die Rolle des Vermittlers zwischen 
diesen Geräten (den Imagines) und den Eltern. Der Analytiker ist ein 
wohlwollender Vater; oft werden ihm die Attribute und Funktionen des 
Priesters beigegeben. Der Kuß kann eine Aggression auf die Phyläiklerien 
verhüllen — so in der oral-sadistischen Phase —, was in der Praxis 
von den kannibalistischen Wünschen gewöhnlich nicht zu unterscheiden 
ist. Die erwähnten Patienten schrieben die Aggression den Phylakterien 
(der Vater-Imago) zu, der Analytiker wurde dann mit dem Ich des Patienten 
identifiziert; oder der mit Tefillin versehene Analytiker war der Aggressive 
(Analytiker und Tefillin waren dann eins). Es war bei diesem Patienten 
häufig, daß er sich vorstellte, wie er sich gegen den aggressiven oder sadisti¬ 
schen Vater 1 (Phylakterien) verteidigte. 

Es mag den Anschein erwecken, als wäre die analytische Situation 
der Analytiker trägt die Pylakterien, und ist durch sie mit freundlichen oder 
feindlichen Attributen ausgestattet; der Analytiker ist aber gleichzeitig von 
dem Analytiker mit Pylakterien getrennt — als wäre diese Situation viel 
komplizierter als in dem Fall, in dem der Jude das religiöse Zeremoniell 
ausführt. Aber mein Material — das allerdings nicht endgültig ist — läßt 
mich glauben, daß das Ritual mit denselben Komplikationen belastet sein 
könnte. Mein Material sind die Erinnerungen der Patienten — einige hievon 
wurden angeführt — an Beobachtungen ihrer Väter und Brüder beim Gebet 
und Erinnerungen an Angst und Panik bei der Wiederholung ihrer Gebete. 
Im allgemeinen wird natürlich diese Angst verschoben und durch Gescheh¬ 
nisse des täglichen Lebens rationalisiert. 

E) Ich habe bisher eine allgemeine Beschreibung und eine interpretierte 
Darstellung der jüdischen Zeremonielle mit einigen klinischen Beobach¬ 
tungen gegeben und lege nun gewisse psychoanalytische Theorien vor. 

In einem Kommentar zu Reik „Das Ritual macht Abraham (21) auf 
die Bedeutung der Priestergebärde, die ich erwähnte (S. 478f.), aufmerksam 
und darauf, daß sich die Priester vollständig mit dem Talith verhüllen. Er 
versteht die Stellung der Hand als Darstellung des spalthufigen Tieres, des 

1) In einer unveröffentlichten Mitteilung in der PsA. Gesellschaft in London am 6. Ok¬ 
tober 1929 sprach ich über die klinischen und historischen Aspekte der „feindlichen 
Einstellung des Vaters zum Sohn“. 













488 M. D. Eder 


Widders, der eines von den wenigen vierfüßigen Tieren ist, die se 
werden dürfen. (Leviticus XI, 26.) 

Abraham zeigt, daß Ochs und Widder Totemtiere sind und weist auf j- 
merkwürdige Tatsache hin, daß gerade die Tiere, die auch als die einzi e 
vierfüßigen Opfertiere bezeichnet werden, gegessen werden dürfen. wf* 
wir uns daran erinnern“, setzt er fort, daß in vielen Kulten die feierlich stT 
Feste die sind, bei welchen die Priester sich mit der Haut der Totem F ^ 
bedecken und ihre Stellung nachahmen, dann zwingt sich einem folgender 
Schluß auf: Im Priestersegen ahmen die Priester (Kohenim) durch die Ge¬ 
bärde der getrennten Finger die gespaltenen Hufe des Totemtieres (des 
Widders) nach. Der Gebetsshawl aus weißer Wolle ist der Ersatz für das 
Widderfell. Die Priester sind in der Zeremonie gleichgestellt mit dem Tote 
und daher mit Gott (3). 1 

Frieda Fromm-Reichmann (22) meint, die Annahme, daß ein gehörntes 
Tier ursprünglich das Totem der Juden gewesen sei, werde durch den Ge 
brauch der Phylakterien erhärtet. Sie behauptet, daß die Lederstreifen das Fell 
des Tieres, mit dem sich die betende Person bedeckt, darstellen. Die Kassette 
inmitten der Stirn stehe für das eine Horn des Tieres, und nur durch 
eine einfache Verschiebung sei die andere Kassette, d. h. das zweite Horn, 
von der Stirn auf den Oberarm gekommen. Sie meint, „die vollkommene 
Identifizierung mit dem Tiere, durch die Bekleidung mit Fell und Hörnern, 
könne sich nur auf das Totemtier beziehen und bestätige die Hypothese, 
daß gehörnte Tiere ursprünglich die Totemtiere der Juden waren“. 

Marie Bonaparte (23) hat in ihrer Arbeit über die Kopftrophäen ge¬ 
zeigt, daß das Horn das Symbol des kastrierten, männlichen Genitales ist. 

Beik geht von dem Vorwurf aus, den man den Pharisäern wegen der Breite 
ihrer Phylakterien macht, und schließt dann, nach sehr genauer Prüfung 
der Literatur, daß der Gebetsshawl Ersatz für das Widderfell sei und daß 
die Phylakterien eine vollständige Identifizierung mit dem Totem durch 
Haut und Hörner ermöglichen. 

Auszug aus Th. Reiks Arbeit: „Gebetsmantel und Gebetsriemen der Juden \ 
(Imago XVI , 1930, pp. 388—434). 

Reik beschreibt zuerst den Gebrauch von Tefillin und Talith in alter und 
neuer Zeit, und geht dann auf ihre relig iöse Bedeutung ein. Die religiöse 

1) Der Faden aus gefärbter Wolle — hebräisch techeleth, — der in den Fransen sein soll, 

' Vir ersetzt mit „Purpurblau“. Die genaue Nuance der Farbe soll unbekannt sein, und 
der farbige Faden wurde aus einem pseudo-rationalen Grund aufgegeben. Die Schnecke, 
von der man den Purpur gewann, wurde selten und die Farbe zu teuer. Purpur ist 
im Ubw — ein Ersatz für Rot — die Farbe des Blutes, d. h. des Opfertieres (des Totems). 

















Die jüdischen Gebe^sriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


Literatur bietet einen verwirrenden Reichtum von Vorschriften, die den magi¬ 
schen Charakter der Tefillin zeigen. Die Erklärungen der Fachgelehrten sind 
oft recht einleuchtend aber für gewöhnlich nicht ausreichend. 

Gottlieb Klein (24) meint, die Tefillin oder Totaphot des alten Testaments 
wurden als physische Verstümmelungen angesehen, als Brandmal auf der Stirn 
des erstgeborenen Sohnes, den man ursprünglich beim Passahfest Gott dar¬ 
brachte. Dies sei später vollkommen in Vergessenheit geraten, und man habe 
den Text dann so gelesen, als handle es sich um Amulette. Reik ist der Meinung, 
daß Klein, obwohl seine Theorie etwas Wahres enthalte, doch auf einem 
Irrweg sei. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das Totaphot ursprünglich eine 
andere Bedeutung hatte und daß es erst später als Amulett angesehen wurde, 
aber zwischen der ursprünglichen und der späteren Bedeutung muß irgendeine 
Verbindung bestehen; es genügt nicht zu schließen, die ursprüngliche Bedeu¬ 
tung sei eben verlorengegangen. Die körperliche Verstümmelung paßt weder 
zur Form noch zur Beschaffenheit der Tefillin. 

Bernhard Strade (25) folgt derselben Spur; er versucht eine Verbindung 
zwischen dem Kainszeichen — einer primitiven Tätowierung — und dem 
Gebrauch der Tefillin zu finden. 

Insofern als diese Theorie den Charakter der Tefillin als Ritualzeichen betont, 
ist sie befriedigender als die von Klein; aber sie erklärt nicht, wieso diese 
Tätowierung gerade in ein System von Kassetten und Riemen verwandelt wurde, 
und trägt nichts dazu bei, um die besondere Bedeutung oder das besondere 
Ritual der Tefillin zu erklären. 

Auch Baentsch (26) sieht die Totaphot als Amulett an; als ein altes Täto¬ 
wierungskultzeichen, ein Amulett, das sich zu den Tefillin entwickelt hat. Hol- 
zinger (27) betrachtet es ebenfalls als ein tätowiertes Jahve-Zeichen. Well hausen 

(28) versteht das Totaphot auch als Amulett am Stirnriemen. Robertson Smith 

(29) meint, „die Phylakterien sind Überreste von altem Aberglauben, und ihr 
Gebrauch während des Gebetes kann als das genommen werden, was der Aber¬ 
glaube war: sie sind ein Zubehör, um das Gebet wirkungsvoller zu machen“. 
Anhänger dieser Amulettheorie sind Grün bäum (30), Blau (31), Bousset (32), 
Emil Schürer (33) und viel andere Autoritäten. 1 

„Es scheint immer klarer“, sagt Reik, „daß die höhere Kritik glaubt, sie 
werde das Problem lösen, wenn sie sage, die Tefillin seien Amulette, Mas¬ 
kotten usw., die Gelehrten hören eine Kritik dieser Theorie nur ungeduldig 
an. M. Friedländer (34) z. B. hält die Tefillin nicht für jüdischen Ursprungs, 
sondern für ein gnostisches Zeichen der Schlange. Diese gnostischen Zeichen 
durchdrangen die jüdischen Massen, und da man sie nicht unterdrücken konnte, 
sanktionierte man sie schließlich. Reik meint, dieser Gesichtspunkt enthalte 
unter vielen Irrtümem einen Funken Wahrheit. 

Emil G. Hirsch (35), Eduard Mack (36) und A. R. S. Kennedy (37) sind 
der Meinung, daß man die biblischen Behelfe metaphorisch verstehen müsse. 2 
Obwohl der Talmud behauptet, daß Gott auf dem Berg Sinai Moses den Ge¬ 


il Vgl. S. 477. 

2) Vgl. S. 478. 










brauch der Tefillin gelehrt habe, gab es doch in den letzten Jahren v * ) 
Diskussionen darüber, zu welcher Zeit sie wohl eingeführt worden seien 6 
Wünsche (38) meint, es sei in der Zeit vor Christus gewesen. Klein ( 
hält sie für persischen Ursprungs. Kennedy (40) verlegt sie aus sprach wissen 
schaftlichen Gründen in die Zeit von 300 v. Chr. Josephus (41) 
seine Zeitgenossen betrachteten sie als eine alte Einrichtung. Wenn es auch 
unbestimmt ist, wann die Juden begonnen haben, Tefillin zu gebrauchen so 
liefert die Mischnah doch reichliche Informationen über die Zeit nach Christi 
Geburt. Im achten und zehnten Jahrhundert n. Chr. (42) wurden die Tefillin 
kaum geschätzt. Das Tragen des Tsitsith wurde allgemein als eine alte Sitte 
anerkannt. Ähnliche Kultgeräte waren auch bei anderen Völkern — Persern 
Babyloniern — in Gebrauch. Kennedy (43) sieht die Fransen als ursprüngliches 
Amulett an. Die Fransen wie die Gebetsriemen bezeichneten ursprünglich 
Phylakterien oder Amulette. Robertson Smiths (44) Hypothese geht dahin 
daß den alten Semiten das Fell bestimmter Tiere heilig war (wir haben schon 
einmal darauf hingewiesen (S. 478); Reik schätzt diese Hypothese höher ein 
als die Gesichtspunkte der Archäologen und anderer Kritiker: „Sein Hinweis ist 
von entscheidender Bedeutung, aber seine Erklärungen zu allgemein, als daß 
sie das Rätsel des Tsitsith lösen könnten.“ Anschließend an den biblischen Befehl 
— Exodus XIII, 9 — „und es soll sein zum Zeichen unter euch“ usw. stehen 
ohne sichtliche Verbindung Abschnitte über das Fest desMazzes und über die Weihe 
des Erstgeborenen. Es ist schwer, das verbindende Glied hier zu sehen. Viele 
Kommentatoren stimmen mit Kennedy (45) überein: „das Fest des Mazzes und 
die Weihe des Erstgeborenen sollen an die Befreiung aus Ägypten erinnern und 
auf die Ansprüche, die Jahve daher auf sie habe“, und er kommt zu dem Schluß, 
den ich schon erwähnte, nämlich, daß die Tefillin eine symbolische Erinnerung 
an diese Ansprüche sind. Nach einer exegetischen und philologischen Kritik 
schließt Reik, daß die Weihe des Erstgeborenen etwas mit einem mysteriösen 
Zeichen, das an drei Stellen bei dem Wort Totaphot vorkommt, zu tun habe. 
Die Bedeutung dieses Wortes ist unbekannt, seine Wurzel bedeutete ursprünglich 
sicher „herumkommen, herumlaufen“. 

Reik findet die Stellungnahme schwierig. Einerseits behauptet die religiöse 
Tradition, daß die Tefillin als Erinnerungszeichen benützt werden müssen; daß 
Gott sie Moses auf dem Berg Sinai gegeben hat und daß sie daher von höchster 
religiöser Bedeutung sind. Es ist nicht bekannt, woran sie erinnern sollen, man 
glaubt nicht, daß Gott sie in dieser Form dem Moses befohlen habe, und man 
versteht nicht, worin die Bedeutung bei einer Kombination von Lederkassetten 
und Lederriemen liegen könnte. Entgegen der Tradition behaupten einige 
Kommentatoren des Alten Testaments, es sei eine späte Erfindung, die nichts 
mit der ursprünglichen Religion Israels zu tun habe. Eine Stelle der Bibel, die 
rein metaphorisch aufzufassen sei, sei viele Jahrhunderte später wörtlich über¬ 
setzt worden und habe so zu Mißverständnissen geführt. Die Tefillin sind 
Amulette, die die bösen Geister fernhalten sollen. Die traditionelle Anschauung 
scheint absurd, während die Theorien der Kommentatoren, wenn auch nicht 
frei von Widersprüchen, doch logisch und vernünftig aussehen. Eine vernunft¬ 
gemäße Wahl böte keine Schwierigkeiten, und doch sträubt sich etwas, diese 






















Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


4i 


vernünftigen Erklärungen anzunehmen, und zwar ihre unübersehbaren Wider¬ 
liche miteinander, die durch keine vernünftigen Erwägungen zu beseitigen sind. 

Reik schlägt einen neuen Weg — die Psychoanalyse — zur Lösung dieser 
Rätsel vor; sie soll aber als eine heuristische Methode verwendet werden, ohne 
Verwendung irgendwelcher, von der Psychopathologie der Neurosen abgeleiteten 
psychoanalytischen Voraussetzungen. 

Der neue Ausgangspunkt für seine analytischen Forschungen ist ein Buch 
von Johannes Lund (46), 1701 gedruckt, über alte, jüdische Reliquien usw., mit 
einer genauen Beschreibung des jüdischen Rituals und einem besonderen Ab¬ 
schnitt über Tefillin. Die Pergamentrollen, bemerkt der Autor, die die Bibel- 
verse enthalten, sind mit dem Schwanzhaar einer Kuh oder eines Kalbes zu- 
sammengebunden; die Haare müssen gutgewachsen und gereinigt, „purifiziert“, 
sein. Sie werden nicht zusammengebunden, sondern mit den Fingern zusammen¬ 
gedreht, ein Haar bleibt außerhalb, so daß es von außen sichtbar ist. Lund 
bemerkte, daß aus den Tefillin eines bestimmten Rabbi ein rotes Haar ein¬ 
einhalb Fingerlängen heraushing. Er entdeckte, daß dies zur Erinnerung an 
die rote Kuh war; sie flehten zu Gott, er möge sie von ihren Sünden reinigen, 
wie die rote Kuh, die ihre Sünden getragen und sie davon gereinigt hatte — 
dies erinnerte den Frommen an das Goldene Kalb, zu dem sie in der Wüste 
gebetet hatten. 

Es ist kein weiter Sprung, wenn man von diesem Kuhhaar schließt, daß 
die Kopf-Tefillin etwas mit einem Kleidungsstück zu tun habe. Reiks Hypothese 
ist, daß die Kopf-Tefillin der Rest eines Kleidungsstückes seien, das die Israeliten 
bei bestimmter Gelegenheit trugen. Die Hand-Tefillin und die Lederriemen, 
Tsitsith und Talith, repräsentieren ebenfalls primitive Gebräuche. Die Hand- 
Tefillin stehen für die Hufe des Tieres, die Riemen für seine Haut. Die vier 
Fransen weisen auf die vier Beine des Tieres hin. Die Knoten in den Quasten 
stehen an Stelle der Gelenke. Ursprünglich hingen die Fransen bis auf den Boden 
hinab; dies ist ein weiterer Beweis für ihre Ähnlichkeit mit den Tier¬ 
füßen. 

Anthropologische Forschungen haben uns gezeigt, daß die meisten primitiven 
Völker derartige Kleidung zu magischen Zwecken benützen. Ich habe schon 
die Arbeiten von Frazer (47), Levis und Clarke (48), Robertson Smith (49), 
Spencer und Gillin (50) erwähnt. W. Robertson Smith hat gezeigt, daß der 
Haut des Opfertieres bei den Semiten ein besonders heiliger Charakter zukam. 
Es war die Kleidung des Götzen oder des heiligen Steines und auch das Gewand 
der Gläubigen. Gott, seine Gläubigen und das Opfertier waren verwandt. Smith 
fügt hinzu, daß die Riemen den Fransen am Tsitsith entsprechen. Die assyri¬ 
schen Dagon-Verehrer brachten ihr Opfer dem Fisch-Gott in eine Fischhaut 
gewickelt dar; die Zypern trugen ein Schaffell, wenn sie der Göttin der Schafe 
ein Schaf zum Opfer brachten. Wie andere Völker auch, kleideten sich die 
Hebräer in das Fell ihres Totemtieres — Widder oder Stier — und identifizierten 
sich auf diese Weise mit dem heiligen Tier. Ursprünglich gebrauchte man das 
ganze Fell, allmählich aber, sowie der Totemismus an Bedeutung verlor und 
auch unter dem Einfluß anderer Elemente, fanden die großen Veränderungen, 
die zu den späteren Tefillin führten, statt. Das ursprünglich wichtigste Element 










— das Totemtier — wurde allmählich auf ein Minimum reduziert und schließ]* 
in dem Haar, das außen hing, nur gerade angedeutet. 

Der Wechsel ist graduell verschieden; nur gewisse Teile des Felles werd 
dazu benützt, die Identifizierung mit dem Totemtier herzustellen. Was früh 60 
von höchster Bedeutung war, ist nun auf ein Minimum reduziert; was früh** 
sehr wichtig war, wird jetzt nur angedeutet. An Stelle der natürlichen Teil** 
des Tieres — sagen wir der Hörner des Ochsen — ist nun künstlicher Ers 6 
getreten. Die Verwandtschaft mit dem alten Zeichen wird nur durch die Äh^ ? 
lichkeit in Material und Form gezeigt. Ihr heiliger Charakter und ihre V e r 
Wendung im Ritus und Kult wird insofern gezeigt, als sie ihre alten Funktio ^ 
beibehalten. nen 

Wenn die Tefillin später den Charakter von Amulett oder Zauber bekamen 
so war dies dadurch möglich, daß sie ja den lebendigen Gott selbst — durch 
seinen Stellvertreter, das Totemtier — darstellten. Obwohl sie im intellektuellen 
Judentum von heute nur mehr symbolischen Wert haben mögen, zeigt doch 
die analytische Forschung, daß der fromme Jude dem Fühlen und Denken 
seiner Ahnen nähersteht als die pseudo-wissenschaftlichen Forscher, die höhere 
Kritik, es jemals vermöchten. 

Reik überlegt gewisse Einwände, die man gegen seine Hypothese machen 
könnte. So hat er z. B. angenommen, daß der Talith den Rest des heiligen 
Widderfelles darstelle. Das Tsitsith deutete die vier Beine des Tieres an, die 
Fransen und Knoten die Muskeln und Glieder desselben Tieres. Dem Einwand 
daß die Fäden wegen ihrer Stellung nicht den Füßen des Tieres gleichgestellt 
werden könnten, begegnet er damit, daß er daran erinnert, daß die Kürze 
des Talith einer späteren Entwicklungsphase angehört. Ursprünglich war es ein 
langes Gewand; Lund sagt, daß die Fransen der Rabbis bis zum Boden reichten. 

Die Tefillin, ursprünglich ein Stück des Gottes selbst, wurden zum Amulett, 
d. h. wer immer so einen Teil des Gottes an sich trägt, steht unter seinem 
besonderen Schutz. Diese Bedeutung ist natürlich von der Idee abgeleitet, daß 
der Träger der Tefillin ursprünglich selbst zu Gott wurde und die Götter brauchen 
keine Amulette. Der ursprüngliche Sinn wird wieder erkennbar, wenn z. B. 
die religiöse Tradition behauptet, daß die Verschlingung der Riemen der Kopf- 
Tefillin, die Buchstaben des Namens Gottes bilden. Zeigt sich nicht die ursprüng¬ 
liche Natur der Tsitsith in der mystischen Erklärung vom Werte der Zahlen! 

das Ganze gibt gleichzeitig Jahve allein und gleichzeitig die Zahl der religiösen 
Befehle? Die Identifizierung des Gläubigen mit dem Gott, dessen Kleidung er 
trägt, ist wirklich primitive Religion, der wesentliche Befehl. Der Herr selbst 
trug Tefillin, wenn wir sie verstehen als das Horn, das ursprünglich das heilige 
Tier schmückte. Die Erklärung des Talmud über eine Prophezeiung, daß die 
Völker der Erde, vor Israel erschrecken würden, bezieht sich darauf, daß die 
Völker die Kopf-Tefillin fürchten würden; sicher eine Anspielung auf seine ur¬ 
sprüngliche Bedeutung, das Totem des Stammes auf dem Kopf. Den Einwand, daß 
der Talith aus Wolle hergestellt ist und daher Widder oder Schaf darstellt aber 
nicht das Rind, widerlegt er leicht damit, daß er daran erinnert, daß in vielen 
Stämmen ein Totemtier für ein anderes eingesetzt wurde, und daß häufig beide 
Tiere lange Zeit hindurch nebeneinander verehrt wurden. 




















Reik kehrt nun zu seinem Ausgangspunkt zurück und weist darauf hin, daß 
die Pharisäer, indem sie breite Phylakterien und breite Riemen trugen, die 
Zeichen des lebendigen Gottes vorzeigten. 

Der religiöse Gebrauch rechtfertigt die Richtung, die eingeschlagen wurde, 
der Befehl, die Tefillin zu küssen, erinnert daran, daß die alten Semiten ihre 
religiösen Symbole und Idole mit Küssen bedeckten; ihre heiligen Steine, 
Bäume usw. waren ursprünglich die Götter selbst. Wenn der Israelit das Tsitsith 
küßt, so führt er damit dieselbe ehrfürchtige Handlung aus, wie der Araber, 
der die Kaaba küßt, oder der fromme Katholik, der den Fuß des Papstes zu 
küssen pflegte. Man könnte verlangen, daß man den Talith als den Ursprung 
jenes heiligen Gewandstückes ansieht, dessen sich die Katholiken bei der Buße 
bedienen des Skapulars. Das Tragen des Skapulars ist mit ebensovielen Riten 
verbunden wie das Tragen des Talith. Kleins Anschauung, daß die Gebote über 
die Tefillin mit anderen Vorschriften in Verbindung stehen, ordnet sich nun, 
meint Reik, in seine eigene Hypothese ein. 

Es muß von Bedeutung sein, daß das Ritual in Verbindung mit dem sehr 
alten Passahfest erwähnt wird und daß der Vater dem Sohn auf seine Frage 
antwortet, die Tefillin seien ein Zeichen oder Gedächtnis. Die archaische Natur 
dieses Festes ist gut bewiesen, der Befehl, das Osterlamm roh zu essen, weist 
auf eine frühere Sitte hin: auf das Verzehren des noch blutenden und zitternden 
Fleisches. Ebenso primitiv ist das Besprengen der Türpfosten mit Blut, eine 
alte nomadische Sitte, die Warnung, etwas von dem Opfertier für den nächsten 
Tag zum Gebrauch übrigzulassen. Zweifellos war das geschlachtete Tier ur¬ 
sprünglich der geopferte Gott selbst; nun verstehen wir, warum die Vorschriften 
über die Tefillin, die von dem Fell des Tieres stammen, mit der großen Totem- 
mahlzeit verbunden sind. Das offensichtlich unbedeutende „Es“, des Exodus XIII, 9, 
bezog sich ursprünglich auf das göttliche Fell und nicht auf die Vorschrift, die 
einer späteren Zeit angehört. 

Auszug- aus Georg Langers Arbeit: „Die jüdischen Gebetsriemen . 66 


(Imago XVI, I 9 jO, pp. 43S—48;J 


Langer beginnt seine Arbeit mit einer sehr detaillierten Beschreibung der 
Tefillin (Riemen und Kassette) und ihrem rituellen Gebrauch; das meiste davon 
wurde bereits auf Seite 474 ff. gesagt, ich will aber noch weiteres, beschreibendes 
Material von Langer auszugsweise wiedergeben. 

Beide Kassetten sind kubisch; bei den Westjuden sind sie ziemlich klein, 
bei den Ostjuden hingegen viel größer. Sie müssen aus der Haut eines „reinen“ 
Tieres gemacht werden. Jeder Behälter, der zum Tragen der Tefillin benützt 
wird, darf nicht für gewöhnliche Zwecke gebraucht werden. In früheren Zeiten 
— und gelegentlich sogar heute — trugen die Frommen und Gelehrten die Tefillin 
den ganzen Tag, und legten sie nur vor dem Schlafen, beim Essen und bei 
Verrichtung der körperlichen Bedürfnisse ab. Dieser ständige Gebrauch ver¬ 
ursachte in vielen Fällen schwere Armlähmungen. Ein Linkshänder legt die 
Tefillin an den rechten Arm, da sie nach der Thoravorschrift, an das schwächere 
Glied gelegt werden sollen. Wenn ein Familienmitglied stirbt, dürfen die männ- 












liehen Verwandten erst nach dem Begräbnis wieder Tefillin anlegen. Ein Bräutigam 
und seine Hochzeitsgesellschaft sind vom Tefillinlegen befreit, da man fürchtet 
sie könnten unpassend fröhlich sein. Sollte eine Frau den Wunsch äußern' 
Tefillin zu legen, so muß man sie daran hindern. Dennoch erzählt die Tradition 
von einigen besonders frommen „wirklichen“ Frauen, denen man in biblischen 
Zeiten die Tefillin zu legen erlaubte. Der Befehl über das Legen der Tefillin 
wird für so wichtig gehalten, daß man ihn allein allen übrigen sechshundert 
dreizehn Gesetzen der Thora gleichstellt. Nach Gebrauch müssen die Riemen 
sorgfältig aufgerollt und in einer Tasche auf bewahrt werden. Wer die Tefillin 
zu Boden fallen läßt, bevor sie in der Tasche sind, muß fasten. Die Kassette 
wird beim Anlegen und Ablegen der Tefillin geküßt. Gott trägt nach dem 
Talmud Tefillin. 

Die beiden Teile der Phylakterien, die Kassetten mit dem Text auf Pergament 
und die Lederriemen, verlangen getrennte Behandlung. Das Binden der Riemen 
erinnert uns beim ersten Blick an eine Fesselung, eine Selbstfesselung im wahrsten 
Sinn des Wortes. Ein solcher Gesichtspunkt steht im vollsten Widerspruch zu 
den Prinzipien der jüdischen Religion, die einen gesunden Zustand aller Körper¬ 
organe verlangt. Der Ursprung für eine solche Fesselung muß in irgendeinem 
unterdrückten Wunsche liegen, etwas anderes als den harmlosen linken Ober¬ 
arm zu schädigen. Die Psychoanalyse erkennt die Fesselung als Symbol der 
Kastration, in diesem Falle der Selbstkastration. Dies stimmt mit dem Zweck 
der Tefillin überein, der der jüdischen Tradition nach darin besteht, die 
Menschen vor der Sünde zu warnen. Die Kastration ist der beste Schutz vor 
Sünde. Die Riemen haben auch im allgemeinen eine positiv erotische Bedeutung. 
Bei dem alten römischen Fest der Luperkalien z. B. schlugen die in Ziegen¬ 
felle gekleideten Luperci die anwesenden Frauen mit Riemen aus Ziegenhaut, 
damit sie schwanger werden (51). In Mythos und Sage ist das Leder ein Symbol 
für Todes- oder Kastrationswünsche (52), aber es hat gleichzeitig eine erotische 
Bedeutung; die letztere ist zum Teil wohl dadurch begründet, daß frisches Leder 
eine sexuelle Wirkung auf den Geruchsinn ausübt (55), eine Empfindung, die 
wir von jüdischen Knaben in der Pubertät erfahren können, die freudig in 
der Dämmerung aufstehen, um Tefillin zu legen, die, für gewöhnlich neu, den 
scharfen Geruch von Leder haben. 

Im alten China waren zwei Häute ein Teil des vorschriftsmäßigen Heirats¬ 
geschenkes (54). Bei dem ekstatischen Zerreißen oder Opfern der dionysischen 
Tiere, bei den orgiastisch-bacchischen Mänadenfesten, endet die Kleidung mit 
Häuten (55). Das Vater-Opfertier wird kastriert, und der Mystiker, deutlich 
in der Identifizierung mit ersterem, kleidet sich in seine Haut. Bei dem Fest 
des Dionysos waren die Spieler im Mittelteil des Satyrspieles mit Schürzen 
aus Ziegenfell und Phallus bekleidet (56). Diese alten Sitten müssen, was be¬ 
sonders bei dem letzten Beispiel klar wird, einen ähnlichen Inhalt haben, wie 
bei den von Zulliger beschriebenen „Roichtschäggeten“ im Lötschental mit 
ihren Ziegenfellmasken (57). 

Frieda Fromm Reichmanns (58) Erklärung, daß die Tefillin eine zeremonielle 
Identifizierung mit dem Vater-Totem-Tier sind, wird zwar durch unser Material 
bestätigt; dennoch aber darf man nicht meinen, daß durch diese Hypothese das 

















Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


4 9 5 


ganze Tefillin-Problem gelöst sei. Dieses Material bringt uns zwei wichtige 
Erwägungen nahe, die nur unzulänglich beachtet wurden; die Tefillin-Fesselung 
als Kastrationsersatz (Selbstkastration und Kastration des Vaters) und die Tefillin 
m it ihrem ambivalenten Janusgesicht von Leben und Tod. 

J. Schuster (59) behandelt die Gewohnheit der männlichen Algolagnien, 
lange Handschuhe sowie Schnüre um den Kopf zu tragen, und schließt dann, 
Handschuhe seien in gewissem Sinn Fesseln, in die die Hände eingehüllt seien. Die 
Handriemen der Phylakterien erfüllen eine ähnliche Funktion wie die Hand¬ 
schuhe bei der Algolagnie, während die Riemen der Kopf-Phylakterien mit 
diesen Kopfschnüren übereinstimmen. Die Fesselung als Kastrationssymbol be¬ 
friedigt die masochistische Komponente des Trieblebens, in dem Gott, als Sexual¬ 
objekt, sadistische Tendenzen zugeschrieben werden. Das Hauptgewicht dieses 
Problems liegt aber nicht bei den Riemen, sondern eher bei den Kassetten. 
Kassetten (oft von auffallend phallischem Aussehen), die dem Kopf-Totaphot über¬ 
raschend ähnlich sehen, finden sich bei afrikanischen Negern, besonders auf den 
Masken. An derselben Stelle, wo der Jude die Kassette an dem Kopf befestigt, 
nämlich mitten im Haar über der Stirn — der jüdischen Tradition gegen den 
Pentateuch folgend — hat die Negermaske einen kubischen, leeren Körper 
ohne geschriebenen Inhalt (60). Indianische Götterköpfe tragen ein kleines Horn, 
offensichtlich desselben Ursprungs, auf der Stirn. Bieber (61) gibt Illustrationen 
des Kopf-Phallus der abessinischen Neger. Bei den Negern wird der Kopf-Phallus 
oft durch eine Stirntätowierung ersetzt. Es gibt sowohl runde als auch modi¬ 
fiziert viereckige Tätowierungen. Solche Tätowierungszeichen stimmen mit Bibel- 
versen überein, denen zufolge die Kassette über der Nase, d. h. zwischen den 
Augen befestigt werden soll. Es gibt Negermasken aus der biblischen Zeit, die 
mit den charakteristischen Rundzeichnungen geschmückt sind. 

Diese Art der Tätowierungen erinnert teilweise an das israelitische Korhah, 
das im Deuteronomium XIV, 1, erwähnt ist. Reik (62) erkennt die Verbindung 
zwischen dem Korhah und dem jüdischen Kopf-Tefillin; der Talmud scheint 
die Verbindung der Tefillin mit Afrika geahnt zu haben. 

Die ägyptischen Könige (63) trugen die magischen Schlangen-Haar-Omamente 
an derselben Stelle, wie die Juden ihre Kopf-Tefillin und die Neger ihre Kopf- 
Phallusse. Die Römer ersetzten den Phallus durch ein symbolisches Horn (64). 
In früheren talmudistischen Zeiten waren die Totaphot entweder kubisch oder 
zylindrisch. Die zylindrische Form wurde erst später durch die kubische ganz 
ersetzt. Der Talmud beschreibt die runde Form des Totaphot als gefährlich. 
Die Gefahr bestand sichtlich eher darin, etwas zu glauben, als in etwas Physi¬ 
schem. An anderen Stellen des Talmud wird die kubische Form der Kopf¬ 
kassette, als die einzig richtige bezeichnet. So wurde sie wörtlich Moses auf 
dem Berge Sinai angegeben, die wörtlichen Befehle Gottes bedürfen aber keiner 
weiteren Erklärung. Die „Gefahr“, die die Mischnah fürchtet, war nur in dem 
Fall da, wenn nämlich das runde Totaphot die Gestalt einer Nuß hatte. Die 
Nuß, die oft in alten Gräbern gefunden wurde, war dem Mond geweiht (65); 
ihre Verwendung beim Kult kann bis in die moderne Zeit herauf verfolgt 
werden. Die Nuß hat eine nahe Verbindung mit Hochzeits- und Geburtsfesten, 
sie ist mehr ein Symbol des Mutterleibes. 











Der Ersatz der ursprünglich zylindrischen Form des Totaphot durch die 
kubische „Haus“-Form (ähnlich auch bei den Negern) hat eine tiefere Bedeutung 
Das Haus ist ein weibliches Genitalsymbol. In der Bildung des Symbols zeigt sich 
deutlich eine Tendenz zur Verheimlichung der symbolischen Form; die auffallende 
Erscheinung der allzu deutlichen phallischen Form wird durch die Verbindung mit 
einem weiblichen Symbol gemildert, was aber gleichzeitig den Koitus symbolisiert 
In einem Artikel über die Funktion der Türpfostenrolle (65) gab Langer mehrere 
Beispiele für die Verwandlung der männlichen Kleidung in weibliche und verband 
dies mit dem Wechsel des sozialen Systems, von der Gynarchie zur Patriarchie 
Malinowski erkennt dieses Problem, wenn er feststellt, „welcher Natur ist 
der Einfluß des Kernkomplexes auf die Bildung von Mythus, Legende und 
Märchen; auf gewisse Typen wilder und barbarischer Sitten, Formen der sozialen 
Organisation und Errungenschaften der materiellen Kultur? Dieses Problem 
wurde von psychoanalytischen Schriftstellern, die ihre Prinzipien auf das Studium 
von Mythus, Religion und Kultur angewendet haben, klar erkannt. Aber die 
Theorie, wie der soziale Mechanismus, Kultur und Gesellschaft, durch die Kräfte 
des Kernkomplexes beeinflußt wurden, wurde nicht herausgearbeitet. Die meisten 
Anschauungen, die sich mit diesen zwei Problemen befassen, bedürfen einer voll¬ 
ständigen Revision vom soziologischen Gesichtspunkte aus“ (67). Langer nimmt 
dies mit einer gewissen Zurückhaltung an. 

Dieser Wechsel des Gewandes spielt bei den phylakterischen Problemen eine 
bedeutende Rolle, und Langer zählt eine Reihe solcher Fälle auf, bei den Ägyptern, 
Juden (6 8) und Moslem (6 g), Nandi und anderen hamitischen Rassen (70), indianische 
Mädchen im Südwesten Nordamerikas (71), aus den Reisebeschreibungen von Leo 
Frobenius. Von diesen Beobachtungen, die seine eigenen Arbeiten bestätigen, 
schließt Langer, daß die Tendenz zum Transvestitismus bei der religiösen Symbol¬ 
bildung einen ständigen Wunsch des Unbewußten verrät. Die peinliche Dar¬ 
stellung der Vaterfigur wird durch die Hinzufügung der symbolischen Mutter¬ 
attribute gemildert und gleichzeitig der Koitus dargestellt. 

Während das Totaphot offen an der Stirn zur Schau getragen wurde, wurde seine 
ursprüngliche phallische Form in die kubische, in ein sehr verhülltes, weibliches 
Symbol verwandelt. Die Kassette der Hand-Tefillin behielt zumindest unter den 
orientalischen Juden, vollkommen ihre phallische Gestalt. Ursprünglich stellten die 
Hand- und Kopf kassetten, sowie die Amulette vieler anderer Kulte (75) den Phallus 
dar. Erst in talmudistischen Zeiten wich die phallische Form der Kopfbüchse, der 
weiblichen, kubischen „Haus“-Form. Die europäischen Juden unterdrückten die 
phallische Form der Kopfbüchse indem sie sie mit einem Tuch bedeckten. 

Langer bezieht sich auf die vogelähnliche Gestalt der Kopf-Tefillin in Legende 
und Brauch und auf die wohlbekannte Bedeutung des Vogels in der Folklore 
und weist dann darauf hin, daß das Kopf-Tefillin eine auffallende Ähnlichkeit 
mit dem männlichen Genitale habe. Die Testikeln werden durch die herab- 
hängenden Enden der Riemen dargestellt, das Skrotum durch die Riemen, die 
durch den Boden der Kassette gezogen sind, und die hervorstehende Kassette 
selbst würde mit dem Penis in statu erectionis übereinstimmen. Die Tefillin- 
tasche muß dementsprechend dem Skrotum gleichgesetzt werden. Nach Ge¬ 
brauch müssen die zwei Tefillin zusammengerollt in die Tasche gelegt werden, 

















Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


497 


und zwar nicht eines über das andere, sondern eines neben das andere, und 
dies erinnert so an die Lage der Testikeln im Skrotum. Tatsächlich nennt ein 
Vulgärausdruck der Ostjuden das Skrotum „die Tefillin-Tasche“. 

Der Pentateuch empfiehlt, die Worte der Torah „zwischen den Augen u zu 
tragen, was dadurch geschah, daß man die Schrift in die Kopfkassette legte, 
per Tradition nach wurden die Kassetten über der Stirn im Haaransatz und 
genau in der Mitte befestigt; dies bildet mit den Augen zusammen ein Dreieck 
— ein erotisches Symbol. Bei den Griechen war es als weibliches Symbol bekannt, 
und in der Hindureligion ist das Dreieck ein Symbol Gottes. Andere Quellen, die 
Langer anführt, zeigen, daß Dreieck und Auge sowohl ein männliches als auch ein 
weibliches Symbol sein können. Das Auge in der Mitte des Dreiecks, ein bekanntes 
mystisches Symbol der Kirche, bedeutete ursprünglich die Vereinigung des Männ¬ 
lichen mit dem Weiblichen. Der Schild Davids war ein Symbol der beiden schöpfe¬ 
rischen Prinzipien, als solches auch den Babyloniern, Etruskern und südamerika¬ 
nischen Indianern bekannt. Der Schild Davids wird mit Vorliebe auf die Tefillin- 
Tasche gezeichnet, und Spiez (74) hat die phallische Bedeutung des Dreiecks be¬ 
wiesen. Langer gibt verschiedene Quellen für die phallische Bedeutung der Drei 
an, und zwar in Verbindung mit dem dreimaligen Umbinden des Handriemens 
um den Mittelfinger, d. i. um den dritten und längsten Finger. Die Hand- 
Tefillin werden siebenmal um den Oberarm gewunden; diese Zahl, die sich in 
Religion, Mythus und Folklore findet, ist einerseits mit Todesmotiven, andererseits 
mit libidinösen, schöpferischen Wünschen eng verknüpft. Die Hand stellt in der 
Mythologie den Phallus dar und bestätigt so die Anschauung, daß die Hand-Tefillin 
sowohl mit Kastration als auch mit erhöhter phallischer Kraft verbunden sind. 

Die Verbote des Koitus usw. in Gegenwart der Phylakterien sollen die Angst 
in Gegenwart des Totem-Vater-Phallus herabsetzen. Die Phylakterien sind eine 
apotropäische Verteidigung gegen Dämonen, die gerade solche Plätze wie das 
Klosett aufsuchen. 

Die Riemen haben eine ambivalente Bedeutung, wie das im allgemeinen 
bei ritueller Kleidung, Masken und besonders Häuten der Fall ist. Bei den 
gehörnten Phylakterien, die als eine Art Maske erklärt wurden, ist der ambi¬ 
valente Inhalt von Haut, Maske und Riemen in eins zusammengezogen. 

Diese Phylakterien sind eine Verdichtung von Elementen des Eros und des 
Todes (oder der Kastration); außerdem enthalten sie die Ersetzung eines männ¬ 
lichen Symbols durch ein kastriertes, maskiert männlich-weibliches Emblem; 
sie sind so ein klassisches Beispiel für die Art von Verbindungen, wie sie bei 
„verhüllten“ religiösen Symbolen üblich sind. 

Die \ erbindung Eros-Tod scheint hier eine Erweiterung des Ödipuskomplexes 
zu sein, in dem Eros die Stelle der Mutter-Imago einzunehmen scheint, und 
Tod (Kastration, Selbstkastration) die Stelle des ins Ich introjizierten Vaters 
oder der später nachfolgenden ubiv Schuldgefühle. In dieser ungeheueren Ver¬ 
dichtungsarbeit spielt wie immer die Tendenz des Ubiv, eine große Menge ver¬ 
schiedener, einander entgegengesetzter Ideen in einem einzigen Ausdruck zu¬ 
sammenzufassen, eine Rolle, ebenso aber auch eine Tendenz des Widerstandes, 
die wahre Bedeutung möglichst unkenntlich zu machen. 

Imago XIX. 


32 








4^8 M. D. Eder 

Langer hat drei Anhänge zu seiner Arbeit: i) Die Verwandtschaft der Tefillin 
mit afrikanischen Kulten; 2) das Feuer; 3) die Schlange, worin er speziell 
über die phallische Natur der Schlange spricht und den schlangengleichen Riemen 
der Phylakterien eine weitere Bedeutung hinzugefügt. 

Es ist interessant, wie jüdisches Gelehrtentum über die psychoanalytischen 
Untersuchungen urteilt. Die Jewish Quarterly Review, von einem hervorragenden 
jüdischen Gelehrten herausgegeben, gibt in wenigen Zeilen einen Überblick 
über Reiks und Langers Arbeiten (7 5): 

Reik: „Eine psychoanalytische Untersuchung über Talith und Tefillin, die 
zu dem bizarren Schluß führt, diese Ritualobjekte seien Ersatz für gewisse Teile 
einer Tierhaut, in die sich die alten Israeliten kleideten, um sich mit ihrem 
totemistischen Gott zu identifizieren.“ 

Langer: „Mit überwältigendem Scharfsinn und mit Hilfe der Psychoanalyse 
bringt der Autor eine Theorie vor, wonach die Tefillin oder Phylakterien nichts 
anderes seien als erotische Symbole aus primitiver Zeit . l 2 

Zusammenfassung. 

Die jüdische und die christliche orthodoxe Meinung über diese rituellen 
Geräte und Gebräuche ist, daß ihre Anwendung Moses auf dem Berg Sinai 
von Gott anbefohlen wurden. Die aufgeklärte Meinung, die alles, was ihr 
dunkel ist, zu rationalisieren versucht, will den Bibeltext nur rein meta¬ 
phorisch aufgefaßt wissen. 

Eine Untersuchung der Gebräuche zeigt die minutiöse Genauigkeit, die 
jedem Detail gewidmet ist, sowohl bei der Herstellung als auch beim zeremo¬ 
niellen Gebrauch der Gegenstände. 

Die Forschungen der Gelehrten wie Wallis Budge, Kennedy u. a. haben 
ergeben, daß diese Geräte magischer Zauber oder Amulette sind, wie sie 
auch sonst über die ganze Welt verbreitet sind; aber hier ist die Forschung 
für gewöhnlich stehengeblieben. 

Nur ein oder zwei Forscher sind noch einen Schritt weitergegangen: W. Ro¬ 
bertson Smith hat die Verbindung von Phylakterien und Shawls mit den Opfer 
tieren erkannt, Elworthy die von Gebärden und Hörnern, J. B. Hannay 

1) Abraham Cronbach: „Psychoanalytische Untersuchungen des Judentums.“ 

Hebrew Union College Annual, Vol. VIII-IX, pp. 605—740. Eine eingehende Be¬ 
sprechung und Kritik dieser Arbeit ist mir während der Korrekturen zugänglich 

geworden. . . * 

2) Er hat in einer philologischen Untersuchung (die größtenteils phantastisc is ) 
und durch vergleichende Studien über die der hebräischen Götter zu zeigen versuc t, 
daß die hebräischen Religionen, wie alle anderen, auf den Triebstätten wilder Zauberei 
geboren sind Er hat auf die Macht des phallischen Symbols und auf die mehr ver¬ 
borgenen weiblichen Symbole hingewiesen — als Beweis führt er (S. 554 ) an ‘ ” 
die alte Matriarchie verschwand und die Männerherrschaft, das Patriarchat, 










Die jüdischen Gehetsnemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


499 


hat die ganze Fülle von Sexualsymbolen in diesen Kultgeräten (und in allen 
Riten) erkannt. 

Das Material von jüdischen männlichen Patienten bietet Belege für die 
sexual- symbolische Natur der Geräte und Bräuche. Phantasien und Träume, 
von welchen ich nur Auszüge gegeben habe, beweisen, daß die in Frage 
kommenden Geräte nicht nur als männliche oder weibliche Symbole auf¬ 
gefaßt wurden, sondern daß sie eng verbunden sind mit den Imagines von 
Vater und Mutter, mit Kastrationsideen, mit der Urszene, mit dem Inhalte 
der Ödipussituation in vollstem Umfange. 

Es soll daran erinnert werden, daß die Phylakterien und der Talith von 
jedem Mann vom dreizehnten Jahr an, wenn er Sohn des Bundes (barmitz 
ivah) wird, getragen werden müssen. In früheren Zeiten fand bei den 
Hebräern die Zirkumzision zur Pubertätszeit statt (76). Im fünfzehnten Jahr¬ 
hundert n. Chr. wurde bei dieser Zeremonie ein merkwürdiger Brauch aus¬ 
geführt, bei dem man das Haar des Barmitzwahknaben abschnitt (77). Die 
symbolische Bedeutung des Haarabschneidens als Kastration ist wohlbekannt 
und muß daher hier nicht weiter ausgeführt werden. Die Patienten zeigen 
eine Tendenz, den Träger von Phylakterien oder Talith von den Geräten 
selbst zu trennen. Die Phylakterien usw. werden mit dem strengen grau¬ 
samen und aggressiven Vater und der gleichgearteten Mutter identifiziert, 
während ihr Träger die nachsichtige oder gütige Vater-Mutter-Imago ist. Die 
Phylakterien werden so zu einer Projektion der introjizierten „bösen“ Vater- 
und Mutter-Imagines, und der Patient (oder ihr Träger) besänftigt seine 
eigenen aggressiven Wünsche oder archaischen, phantasierten Taten durch 
Handlungen der Versöhnung: er zeigt große Sorgfalt im Gebrauch der 
Phylakterien, Ehrfurcht gegenüber den Geräten, er küßt sie, was ver¬ 
schiedene Bedeutungen haben kann; diese hängen nicht nur von der Situation 
des Patienten ab, sondern von der Objektkathexe, die mit den gefühls¬ 
mäßigen Haltungen, die sich chronologisch vom Säugling bis zum Jüngling 
erstrecken, übereinstimmt. 

Tefillin und Talith zeigten sich als Repräsentanten des aggressiven Vaters, 
der bereit ist, den Sohn zu kastrieren und zu verschlingen; gegen ihn 
ruft der Sohn den Vater ohne Tefillin zu Hilfe, für gewöhnlich auf die 
Weise, daß er die Phantasie vom verschlingenden Vater ablehnt, oder aber 

Stelle einnahm, waren die Schriftsteller immer noch von der Idee beeinflußt, das Weib¬ 
liche sei die treibende Macht.“ Obwohl seine Schlüsse oft ziemlich richtig sind, gelangt 
er zu ihnen unglücklicherweise durch reines Darauflosraten und durch eine grausame, 
selbsterfundene Philologie. 


3 2 * 















5oo 


M. D. Eder 


der Sohn sucht den „bösen“ Vater zu versöhnen, indem er sich ihm 
bietet (durch Kuß, ehrfürchtige Geste) oder durch Gebet. 

Das Verständnis des Materials, das ich beigebracht habe, wurde jede, 
falls durch die Forschungen der Psychoanalitiker Marie Bonaparte R e j^ 
Langer, Abraham um vieles weitergeführt. Die Geräte sind letzte R est p 
des Totemtieres, das einst von den Hebräern verehrt wurde, und sie ent 
halten Spuren eines früheren Kults. 

Die Analyse meiner Patienten weist auf die psychologische, wenn nicht 
historische Wahrheit des Gesetzes hin, das den Juden verbietet, ihre Kinder 
zu Moloch übergehen zu lassen. Die Mesusah-Träume und Phantasien zeigen 
die psychologische Wahrheit, die in dem Blutverspritzen liegt. Die alten 
Israeliten mußten die Schwellen und die linken Türpfosten ihres Hauses 
mit Blut bestreichen: im Exodus XXII und XXIII wird die Blutfarbe von 
einem „ bunch of Hyssop“ (Strauß von Ysop) abgeleitet und ist ein Schutz 
gegen die Tötung des hebräischen Erstgeborenen, während der erste Sohn 
des Feindes — des Ägypters — geopfert werden muß. Purpur bedeutet im 
Ubw so häufig Blut, daß man unwillkürlich daran denkt, daß der Techeleth 
der Faden aus purpurblauer Wolle, eine Anspielung auf das geschlachtete 
Totemtier sein könnte. Abraham u. a. haben gezeigt, daß der wollene Gebets- 
shawl ein Ersatz für das Widderfell ist (siehe S. 488). 

Wir sehen nun, daß die Motive für die sadistischen Phantasien meiner 
Patienten aus Urzeiten stammen. Indem sie den Vater mit dem Tefillin 
angreifen, greifen sie das Totemtier an; das ganze Opferritual, das im Levitikus 
auseinandergesetzt wird, ist eine Darstellung von der Ermordung und Ver¬ 
zehrung des Urvaters, des urzeitlichen, großen Vaters, 

whose mortal taste 

Brought gods into the world and all our woe . 


Nachdem wir nun Phylakterien, Gebetsshawl und Türpfostensymbol bis 
zu ihrem primitiven Ursprung zurückverfolgt haben, bleibt uns noch die 
Aufgabe, die historische Aufeinanderfolge vom Urvater zum Urgott und 
dem vertretenden Totemtier aufzudecken; wie das Totemtier allmählich bei¬ 
nahe all seine erkennbaren Eigenschaften verlor, bis auf jenes einzige Haar, 
an dem wir schließlich, wie Reik sagt, das Totemtier in den Phylakterien 
entdecken. Diese Änderungen sind die historischen Aufzeichnungen von 
tausenden Generationen, und sie sind zu unvollständig, als daß man jetzt 
mit ihrer Hilfe der Entwicklung Schritt für Schritt nachspüren könnte. 




























Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


5o 


Wohl aber ermöglicht uns das Studium der Zeitgenossen, nämlich jener 
Personen, deren Analyse ich — soweit sie mit dem Problem zu tun hat — 
hier vorgelegt habe, ein Licht auf die Funktion der Phylakterien und anderer 
Geräte zu werfen; auf diese Weise wird es uns weiters möglich zu ver¬ 
stehen, welchem Zweck die Veränderungen dienten. 

Wenn der Patient halluziniert, der Analytiker trage die Tefillin, und wenn 
die Person des Analitikers verdoppelt wird, so hat der Patient hier etwas 
getan, das mit der Analyse einer komplizierten chemischen Verbindung zi} 
vergleichen ist; er hat die Eltern-Imago teilweise oder ganz in ihre pri¬ 
mären Elemente aufgelöst. In diesem Fall sind die Elemente die aggres¬ 
siven oder sadistischen Eltern und die nachsichtigen, liebenden Eltern. Der 
Elternteil, der halluzinativ introjiziert wurde (das Opfertotemtier in der 
Geschichte des Volkes, der lebende Vater im Individuum), ist zu einer 
Quelle des Schmerzes, des Unbehagens geworden und wird nun in Form 
von Phylakterien Talith, Mesusah ausgestoßen und projiziert. 

Unter normalen Bedingungen wird die projizierte Imago ein Objekt der 
Verehrung und Huldigung für den religiösen Juden. Der Vater (Penis oder 
der ganze Vater) wurde ja gar nicht kastriert oder vernichtet — hier ist er, 
man kann ihn täglich sehen, berühren, küssen; man behandelt ihn mit un¬ 
gewöhnlichem oder übertriebenem Respekt oder mit Liebe, um sich zu 
beweisen, wie falsch das unbewußte Schuldgefühl des Individuums in bezug 
auf die Vater- (Mutter-) Imago war. 

Die Funktion der Phylakterien besteht darin, das Strafbedürfnis dadurch 
aufzulösen, daß sie das Bild des lebendigen Gottes aufstellen. Es ist wahr, 
das ist den Hebräern verboten: „Du sollst dir kein Bild machen und kein 
Abbild von dem, was im Himmel über dir oder in der Erde ist“, aber 
die Phylakterien sind für das Bewußtsein eine so kleine Überschreitung des 
Verbots wie die Malereien der Kubisten und Vortizisten. Es ist die Aufgabe 
der Phylakterien und der rituellen Kultgeräte das Gleichgewicht zwischen 
den Trieben des Es und den Forderungen des Über-Ichs in der Ödipus¬ 
situation zu erhalten, und dem Ich dadurch eine mehr oder weniger harmoni¬ 
sche Handlungsweise zu gestatten. 

Die rituellen Handlungen wirken in dieser Richtung so lange fort, als 
die Natur der rituell verehrten Objekte, wenn auch nur unbewußt, erkannt 
wird; d. h. so lange die unbewußte Idee, daß die Phylakterien symbolischer 
Natur sind, anerkannt wird, obwohl die genaue Bedeutung der Symbole 
unbewußt bleibt. Unter diesen Bedingungen, durch das Verständnis und die 
Anwendung des „Kulturkontaktes“, wird es gelingen, Kultur-,,Probleme“ zu 









M. D. Eder 



5o» 


lösen; dies versuchen die Anthropologen den Kolonial-und 
begreiflich zu machen. „Es hat keinen Sinn, eine Kultur 
zwangsweise zu ersetzen“ schreibt Driberg (78). 

Es gibt viele Formen des Zwanges, und die Soziologen haben erst vor 
kurzem das Interesse auf die Resultate ihrer Studien gelenkt, die sich mit 
der Einwanderung von Rassenminoritäten in neue Gebiete befassen — 
auf ihre Studien über den „Heiligtumsfremden“. Der „Heiligtumsfremde* 
tendiert unter dem Druck des fremden Milieus dazu, seine Traditionen 
verlieren; das Ich wird heterogen. Wenn dies vor sich geht, dann werden 
die unbewußten Ideen, die in Phylakterien und Talith liegen, derart ver¬ 
drängt, daß sie all ihre symbolische Bedeutung, anders ausgedrückt, ihre 
magische Kraft, verlieren; sie werden nicht mehr abergläubisch verehrt- 
aber die Phylakterien, die nicht mehr in irgendeiner Art als Symbole des 
lebendigen Gottes oder der Vater-Imago empfunden werden, haben damit 
auch ihre Funktion verloren, und dem Über-Ich bleibt kein anderer Weg 
für Spannung-Entspannung als Schuldgefühl, Strafbedürfnis usw., als der 
neurotische Weg. Die Symbole sind zu Metaphern geworden und die Bibel¬ 
kommentatoren haben recht, wenn sie die Geräte für nichts anderes als 
Metaphern erklären, d. h. sie dienen keinem Bedürfnis des Individuums 
mehr; sie sind mit seinem Ubw nicht mehr verbunden. 

Aber dieser Weg vom Symbol zur Metapher, von der Besänftigung ubw 
Schuldgefühle durch symbolische Darstellung bis zum Versuch, sie durch 
Rationalisierung (Metapher) zu besänftigen, führt nicht näher an die Realität 
heran; ein äußerer Zwang hat diese Entwicklung hervorgerufen und hat 
zum Verschwinden der ursprünglichen Kraft geführt, ohne dem Ich einen 
annehmbaren Ersatz zu bieten. Die Religion hat ihren Inhalt verloren, und 
an ihre Stelle traten Rationalisierung und Dogma. 

Literaturverzeichnis. 

1. Edward Glover: „Common Problems in Psvcho-Analysis and Anthropoiogy.“ 
British Journal of Medical Psychology, 1922, Bd. XII, S. 109. 

2. M. Friedländer: The Jewish Religion. London, 1891, S. 333ff“. 

3. Ders.: S. 337. 

4. Ders.: S. 340. 

5. Maimonides: Guide for the Perplexed. Translated by G. M. Friedländer. New 
edition, Routledge, 1925, S. 332. 

6. G. S. Strebel: De Antiquis Judaeorum: Ritibus et Moribus. 1664, S. 8. 

7. David Jennings: Jewish Antiquities. A New Edition, 1825, S. 217. 

8. Sir E. A. Wallis Budge: Amulets and Superstitions. 1930, S. 217 ff. 

9. W. Ridgway: „Jewellery and Magic.“ B. A. A. S. Report, 1903, S. 815. 

10. W. Robertson Smith: Religion of the Semites. New Edition, 1923, S. 437ff- 


Landesregierungen 
durch eine andere 





























Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 


5o3 


J G. Fra zer: Folk-Lore in the Old Testament. Bd. II, S. 4. 

F. T. Elworthy: Horns of Honour. 1900, S. 75 ff. 
r. Campbell Thompson: Semitic Magic. 1905, S. IX. 

W. Robertson Smith: Op. cit., S. 459 ff. 

^ p. T. Elworthy: The Evil Eye. 1895, S. 198f. 

jg J. B. Hannay: Sex Symbolism in Religion. Bd. I, S. 212—222. 

Max Joseph: Jüdisches Lexikon. 1930, s. v. „Tefillin“. 

- a . F. T. Elworthy: Horns of Honour. S. 75—79. 

l7 b. Hastings: s. v. „Charms and Amulets.“ Encyclopaedia of Religion and Ethics. 
i8. T. Canaan: „Plant-Life in Palestinian Superstition.“ Journal of the Palestinian 
Oriental Society, Bd. VIII, Nr. 3, S. 159. 

jg. Langer: „Zur Funktion der jüdischen Türpfostenrolle.“ Imago XIV, 1928, S. 457 ff. 

2 0. J- B. Hannay: Op. cit., S. 221. 

21. Abraham: „Der Versöhnungstag.“ Imago VI, 1920, S. 88 ff. 

22. Fromm-Reichmann: „Das jüdische Speiseritual.“ Imago XIII, 1927, S. 240. 

23. Marie Bonaparte: „Du symbolisme des trophees de tete.“ Revue francaise de 
Psychanalyse, Bd. I, S. 677. 

24. Gottlieb Klein: „Die Totaphot nach Bibel und Tradition.“ Jahrbuch für pro¬ 
testantische Theologie, 1881, VII, S. 661 ff. 

25. Bernhard Stade: „Das Kainszeichen.“ Z. f. Alttestament. Wissenschaft, 1894, XIV. 

26. Baentsch: „Handkommentar zum Alten Testament.“ Herausgegeben von Nowak. 
Exodus—Levitus—Numeri, 1903, S. 113. 

27. Holzinger: „Kurzer Handkommentar zum Alten Testament.“ Tübingen 1900 
Exodus erklärt von Holzinger. 

28. Wellhausen: Reste arabischen Heidentums. S. 165. 

29. W. Robertson Smith: „Divination and Magic“ in Deuteronomium XVIII, 10 and 11. 
Journal of Philology, 1885, XIII, S. 286. 

30. Max Grünbaum: Gesammelte Aufsätze zur Sprach-und Sagenkunde. Berlin 1901, 
S. 208 ff. 

31. Ludwig Blau: Das altjüdische Zauberwesen. Straßburg 1898, S. 87 ff. 

32. Wilhelm Bousset: Die Religion des Judentums im späthellenischen Zeitalter. 
3. Auflage, 1926, S. 179. 

33. Emil Schürer: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. 4. Auf¬ 
lage, Bd. II, S. 568. 

34. M. Friedländer: Der Antichrist in den vorchristlichen Quellen. Göttingen 1901, 
S. 161 ff. 

35. Hirsch: s. v. „Phylacteries“. Jewish Encyclopaedia, Bd. X, S. 26. 

36. Mack: „Phylacteries“ in the International Standard Bible Encyclopaedia. Bd. IV, 
S. 2392. 

37. Kennedy: s. v. „Phylacteries“ in A Dictionary of the Bible, by James Hastings. 
Bd. III, S. 871. 

38. Wünsche: s. v. „Tephillin“ in Herzogs Realenzyklopädie für protestantische 
Theologie. 1907, Bd. XIX, S. 512. 

39. Klein: Die Totaphot. S. 678. 

40. Kennedy: Op. cit., S. 872. 

41. Josephus: Antiquities. IV, VIII, 13. 

42. M. Rodkinsohn: Ursprung und Entwicklung des Phylakterienritus bei den Juden. 
1883. (Der Text dieses Buches ist hebräisch; nur der Titel ist deutsch.) 

43. Kennedy: Op. cit., S. 872. 

44. W. Robertson Smith: Op. cit., S, 437, Fußnote 2. 













5o 4 M. D. Eder: Die jüdisdien Getetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Jude 

45. Kennedy: Op. cit., S. 871. 

46. Johannes Lund: Die Alten jüdischen Heiligtümer / Gottes-Dienste und G 
heiten / für Augen gestellet / in einer ausführlichen Beschreibung des 
Levitischen Priestertums / und fünf unterschiedenen Büchern, etc. Hambur 3ntZeö 

47. J. G. Prazer: Totemism and Exogamy. 1910, Bd. I, S. 26ff. S X 7 01 - 

48. Lewis and Clarke: Travels through the Source of the Missouri River r 

S. 125 (zitiert nach Frazer). * 15 

49. W. Robertson Smith: Op. cit., S. 435 ff. 

50. Spencer and Gillin: The Native Tribes of Central Australia. 1899, S. za 

51. Wissowa: Religion und Kultur der Römer. 2. Auflage, S. 209. ’ * 543 ‘ 

52. Alf. Jeremias: Altes Testament. S. 658. 

53. Alex. Elster: „Kleidung und Mode“ in Marcuses Handlexikon. 

54. Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Jena 1921, S. 51. 

55. E. Thraemer in Roscher. S. 1038. 

56. Mannhardt: Baum- und Feldkulte. Bd. II, S. 138 ff. 

57. Hans Zull lg er: „Die Roichtschäggeten.“ Imago XIV, 1928, S. 4470. 

58. Fromm-Reichmann: Op. cit., S. 240. 

59. J. Schuster: Schmerz und Geschlechtstrieb. Leipzig 1923, S. 8 ff. 

60. Carl Einstein: Negerplastik. München 1920, Abb. 105 und 51. 

61. J. Bieber: Anthropophyteia. Bd. V (Taf. I, III, IV, VIII). 

62. Th. Reik: „Kainszeichen.“ Imago V, 1919, S. 33. 

63. Günther Röder: Altägyptische Erzählungen. Jena 1927, S. 240fr. 

64. J. Scheftelo witz: „Das Hörnermotiv in den Religionen.“ Im Archiv für Religions¬ 
wissenschaft, Bd. XV, S. 451 ff. 

65. J. J. Bachofen: Urreligion. Bd. I, S. 494. 

66. Langer: Op. cit., Imago X, 1924, S. 464. 

67. B. Malinowski: „Psychoanalysis and Anthropology.“ Psyche, Bd. IV. 

68. Samter: Geburt, Hochzeit und Tod. 1911, S. 91 ff. 

69. A. Jeremias: Altes Testament. S. 407. 

70. H. Fehling er: Geschlechtsleben der Naturvölker in Max Hirschs Monographien, 
Nr. 1, Leipzig 1921, S. 78 ff. 

71. Ales Hrdlicka: Physiological and Medicinal Observations among the Indians. 
1908, S. 125 ff. 

72. Leo Frobenius: Erlebte Erdteile. 1928, Bd. V, S. 440fr. 

73. Marie Bonaparte: Op. cit., S. 677. 

74. Spiez: „Zwei Kapitel über kulturelle Entwicklung.“ Imago X, 1924, S. 330. 

75. The Jewish Quarterly Review. 1932, Bd. XXII, S. 446. 

76. Kirschner and M. Rosenfeld: s. v. „Barmizvah“. Jüdisches Lexikon. 

77. Israel Abrahams: Jewish Life in the Middle Ages. Revised by Cecil Roth, 1922. 
Edward Goldston Ltd., S. 160, Fußnote. 

78. J. H. Driberg: At Home with the Savage. 1953, S. 32. 















Das M ärcken vom Dornröschen 
in psychoanalytischer Darstellung 


Von 

iSteff Bornstein 

Prag 


In Kinderanalysen erleben wir oft, daß die kleinen Patienten Märchen 
und Geschichten dichten und uns so ein Tor zu ihren verdrängten Wün¬ 
schen und Phantasien erschließen. 

Gehen wir an das Märchen Dornröschen mit der Erwartung heran, wir 
würden in ihm wie in einer Produktion eines in der Analyse befindlichen 
Kindes einen verborgenen Sinn finden und hätten nun zu erschließen, welche 
Kräfte im Kinde zu dieser Äußerung drängten und warum sie gerade diese 
Form des Ausdrucks gewählt haben. 

Daß es ein weibliches Kind ist, das so vor uns phantasiert, kann leicht 
angenommen werden. Ihr Alter läßt sich erraten : das dramatische Ereignis 
des Märchens — das Stechen mit der Spindel und der Beginn des hundert¬ 
jährigen Schlafes — fällt in das fünfzehnte Jahr. Also dürfte das Mädchen, 
das wir uns als Dichterin des Märchens denken wollen, dem fünfzehnten 
Jahr nicht mehr fern sein, und die Angst der etwa Zwölf- bis Dreizehn¬ 
jährigen vor den kommenden Jahren dürfte den Motor zu solchem Phan¬ 
tasieren gegeben haben. Wir kennen diese Angst der Mädchen in der Vor¬ 
pubertät: was wird mit mir geschehen, wenn ich fünfzehn Jahre alt bin, 
wie wird das später mit den Männern sein? Hätte ich es doch schon endlich 
hinter mir! — Und so dichtet sie das Märchen, in dem das Böse geschieht, 
das Erlebnis des fünfzehnten Jahres, das Stechen mit der Spindel — wir 
erraten die Menstruation — dichtet dann als Folge ihres Weibgewordenseins 
den hundertjährigen Schlaf im Schutz der Dornenhecke, weil dieses aber 
nicht der Sinn des Lebens sein kann, das sie erträumt, dichtet sie das happy 
end dazu, den Bräutigam, die Hochzeit. 

Gehen wir nun hier (anders als wir es in der realen Kinderanalyse tun, 
wo wir aus therapeutischen Gründen ein in sublimierte Form gebrachtes 
unbewußtes Material selten deuten) an die Entzauberung der Phantasien 
heran, so drängt sich uns sofort einiges auf, was zu untersuchen lockt. Das 
Stechen der Spindel im fünfzehnten Jahr dürfte einer Verdichtung von Men¬ 
struation und Defloration entsprechen, der jämmerliche Tod der vielen Jüng¬ 
linge in der Dornenhecke als Antwort auf ihr Durch dringenwollen, weist 
auf eine feindselige Angst vor den Männern hin, vielleicht auf eine Rache- 











5o6 


iSteff Bornstein 


tendenz gegen die Männer; die schließliche Erlösung durch den Kuß d es 
Mannes deutet darauf hin, daß die Rückkehr zur Weiblichkeit gelungen ist 

Die Heldin des Märchens heißt Dornröschen und sagt schon mit ihrem 
Namen, wie abweisend sie ist. Schaut, wie lieb, wie schön ich bin ein 
Röschen, aber kommt mir nicht zu nahe, ich habe Dornen, ich steche 

Uns interessiert die Vorgeschichte dieses stolzen Kindes. Natürlich sind 
König und Königin ihre Eltern. Wir wissen aus Analysen, wie häufig das 
Kind und der Jugendliche seinen Familienroman dichtet, in dem er phan¬ 
tastisch erhöht wird, Königssohn oder Prinzessin ist. Aber noch tiefer ist 
das Glück ihrer Geburt: sie ist ein langerwartetes, ein ersehntes Königskind 

Meine Eltern lieben mich nicht, weil sie mich eigentlich gar nicht haben 
wollten, sagt der Patient und phantasiert: hätte mich doch die Mutter mit 
Freude erwartet, dann wäre ich in ihrem Leib schön geworden, und sie 
und der Vater hätten mich mit allen Schätzen beschenkt, statt mich so 
jämmerlich auszustatten. 

Das Übermaß an Gaben, mit denen das Dornröschen beschenkt wird — 
sie hat nicht eine Mutter, sondern zwölf Mütter sorgen für Glück und 
daß sie „Wundergaben“ genannt werden und „alles, was auf der Welt zu 
wünschen ist“, läßt uns argwöhnen: es muß bei der kleinen Märchen¬ 
dichterin, die sich in der Heldin darstellt, ein Groll gegen die Mutter vor¬ 
handen sein, daß sie ihr zu wenig gegeben hat. Und wir erinnern uns, 
welchen Vorwurf oft kleine Mädchen ihrer Mutter machen: du hast mir 
nicht alles gegeben, was du kannst, mir fehlt ja das Glied. Und richtig: 
die böse Mutter, die nichts Gutes gibt, erscheint ja neben den guten im 
Märchen und sie wird Schuld an dem Unglück im fünfzehnten Jahr. Im 
fünfzehnten Jahr aber, wenn die Menstruation eingetreten ist, am Körper 
Veränderungen wahrzunehmen sind, die Genitalbehaarung wächst, da stellt 
es sich als unabwendbar heraus, daß man ein Weib ist, da hält es schwer, 
länger zu phantasieren, daß man alles hat, was auf der Welt zu wünschen ist. 

Der Wunsch nach der guten Mutter ist übergroß, die gute Zwölfzahl 
besiegt die böse Dreizehn, der Todeswunsch der bösen dreizehnten Frau wird 
gemildert durch die gute zwölfte: nicht Tod, sondern Schlaf. Und wie sie 
es sagt: „es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer 
Schlaf, in welchen die Königstochter fällt“, klingt es eher wie ein Segen 
als wie ein Fluch. Das entspricht dem Wunsch des jungen Mädchens: 
wenn die Blutung kommt und der Mann etwas Schreckliches von mir will, 
schlafen möchte ich dann lieber und keinen an mich heranlassen. Schlafen 
und von nichts wissen. 











Das JVLärdien vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung 



Boy 


Warum gibt es aber die böse Mutter? Was hat das kleine Mädchen getan, 
daß die Mutter böse geworden ist? Sie hat nichts getan, sie ist ja „sittsam, 
freundlich und verständig“. Der Vater hat es getan, die Mutter gekränkt, 
keinen goldenen Teller für die Mutter gehabt. Weil sie aber unbewußt die 
Kränkung der Mutter gewünscht hat, hat sie die Strafe zu tragen. Hier 
haben wir den Ödipuskomplex des kleinen Mädchens: da ist der Vater, der 
sich vor Freude über sein kleines Mädchen nicht zu lassen weiß“ — ist er 
zu der Mutter (sie ist in den zwölf weisen Frauen vertreten) freundlich 
und läßt sie kommen, so ist es nur um der Tochter willen, — „damit sie 
dem Kind hold und gewogen wären“. Nur auf sein Kind konzentriert er 
seine Liebe, ja er macht sich nichts aus der Mutter (das wird bei der drei¬ 
zehnten weisen Frau dargestellt), beachtet nicht ihre Empfindlichkeit, kränkt 
sie, gibt ihr nichts zu essen, hat für sie den Teller nicht und kein Geld für 
sie, es wird der dreizehnte goldene Teller nicht angeschafft. 

Aber noch schlimmer hat sich die Tochter in ihren Wünschen gegen 
die Mutter vergangen. Das ist nur leicht angedeutet. Erinnern wir uns 
an den Anfang: die Eltern bekommen kein Kind. Das ist für das kleine 
Mädchen dasselbe wie: meine Eltern haben keinen Geschlechtsverkehr, mein 
Vater liebt meine Mutter nicht. Das kleine Mädchen glaubt ja meistens, 
daß jeder Koitus ein Kind zur Folge hat, und weil ihm der Gedanke an 
die Bevorzugung der Mutter so unleidlich ist, bestimmt sie in ihrer Phantasie: 
der König und die Königin kriegten immer kein Kind. Wie löst sich aber 
das Problem, daß sie lebt? Einmal zumindest muß der Vater die Mutter 
geliebt haben. Gut, aber das nur ihretwegen, der Tochter wegen. „Du wirst 
eine Tochter zur Welt bringen“ nur um das der Königin zu sagen, ging 
der Frosch zur Königin, nicht der Vater geht zur Mutter, nur der Frosch, 
der unvermeidliche Penis des Vaters. Das kleine Mädchen flieht zu sym¬ 
bolischen Darstellungen, weil sie die Realität, den Koitus der Eltern und 
den Penis des Vaters nicht anerkennen will. Der Frosch, das ist für das 
Mädchen ein erschreckendes, ekelhaftes Etwas. (Wir wissen, wie in einem 
anderen Märchen, dem „Froschkönig“, das kleine Mädchen sich ekelt, als 
dieses Etwas zu ihr ins Bett will. Und erst nach einem heftigen Durch¬ 
bruch ihrer Sexualscheu, als sie den Frosch gegen die Wand wirft, steht 
dieser vor ihr als ein herrlicher Mann.) 

Vielleicht verweilen wir zu lange beim Anfang. Aber hier in diesem 
unscheinbaren Detail scheint die Exposition zu dem zentralen Problem zu 
liegen, das aufgebaut ist auf den Kampf zwischen Tochter und Mutter und 
der Ablehnung der weiblichen Sexualität. 


J 










5o8 


iSteff Bornstein 


Darin aber finden sich Vater und Tochter zusammen. Der Vater läßt alle 
Spindeln im ganzen Königreich verbrennen. Der Vater liebt ja seine Tocht 
so sehr, er wird es nicht zulassen, daß ihrem Leib etwas geschieht. Und 
darin ahnt die Tochter richtig: der Vater gönnt die reifende Tochter wirk¬ 
lich den fremden Männern nicht, er möchte sie bei sich und unberührt 
und als Eigentum behalten. Nur ist der Vater nicht so ausschließlich darauf 
eingestellt, wie es die Tochter wünscht. Er vergißt auch mal sein Kind 
über seiner Frau. Er geht mit der Frau weg und läßt das Kind allein zu Hause 
obwohl das Kind schon fünfzehn Jahre ist und in der Erregtheit und der Neu¬ 
gier ihrer Pubertät besonders stark nach dem Vater verlangt. Wird sie aber so 
von ihm im Stich gelassen, hat er vergessen, welche Gefahren ihr drohen, so 
gibt sie ihre verständige Tugend auf, gibt der Neugier nach, geht aller 
Orten herum, wie sie Lust hat, besieht Stuben und Kammern, steigt die 
Wendeltreppe hinauf und gelangt zu einer kleinen Tür. So ausführlich 
wird das berichtet, wie das Mädchen der neugierigen Schaulust gehorcht 
es erinnert uns, daß so in der Sprache des Traumes der Onaniewunsch des 
Mädchens dargestellt wird. 

Es steht uns frei anzunehmen, daß das fünfzehnjährige Mädchen das 
Alleinsein dazu benutzt, um sich über ihr kompliziertes Genitale zu orien¬ 
tieren. Bis zu der kleinen Tür geht es gut. Da, vor der verschlossenen Vagina, 
beginnt die Gefahr. Das Märchen berichtet, daß sie den Schlüssel zu der 
kleinen Türe umdreht, daß sie aufspringt. Ist das die Phantasie, daß sie 
selber in die Vagina eindringt? Das alte Mütterchen soll ihr nun alles erklären. 
Sie ist ja im Besitz der Spindel, der bisher der Tochter verborgenen, und tut 
etwas damit. „Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt ?“ fragt sie 
das alte Mütterchen und will es auch in die Hand nehmen und damit spinnen. 

Wir kennen ein anderes Märchen, in dem ein Mädchen mit Hilfe des 
kleinen Männchens Rumpelstilzchen eine Zauberkunst mit dem Spinnen 
versteht Gold aus dem Stroh spinnt, bis sie sich den König und das 
Kind erspinnt. Dort aber hat der Vater selber und der König dazu die Kunst 
befohlen, hier sind beide Eltern Verbieter, die ehemals gekränkte Mutter 
erlaubt nicht die sexuelle Lust, und das alte Mütterchen läßt sich auch von der 
reifenden Tochter den Alleinanspruch auf den Besitz des Mannes nicht 
nehmen. Das lustige Spinnen, wo aus einem Knäuel der lange Faden wird, 
die vom Phantasieren begleitete Sublimierung des Männlichkeitswunsches 
der Frau, soll der Tochter versagt werden. Dornröschen wird für den Wunsch, 
von der Spindel Besitz zu ergreifen, gestraft, sie sticht sich damit in den 
Finger und verfällt in den Schlaf. 










Das Giardien vom Domrösdien an psydaoanalytisdier Darstellung 



509 


Wir wissen aus Analysen von Mädchen, daß sie die Menstruation als 
Strafe für die Onanie auffassen. Die Onaniephantasie unseres Mädchens heißt: 
ich will auch ein Ding haben, das so lustig herumspringt, den Penis, ich 
will ihn meiner alten Mutter wegnehmen, selber etwas daraus produzieren. 
Die Mutter straft sie mit der Menstruation. Du willst eine erwachsene Frau 
sein, mit mir konkurrieren? Da sieh, was man als erwachsene Frau erleidet, 
du blutest jetzt, auch wenn der Penis in dich eindringt, wirst du bluten 
müssen. 

Im Unbewußten herrscht ein Chaos. Es wird nicht sehr differenziert. 
Blut ist Blut, ob es vom Stechen des Fingers, von der Zirkumzision, Kastra¬ 
tion oder Defloration stammt. Tatsächlich wissen wir aus Analysen von 
Frauen, daß sie im Unbewußten die Menstruation und Defloration der 
Kastration gleichsetzen. Im Märchen darf es nicht deutlich gesagt werden; 
ich blute, weint das ganz kleine Mädchen, wenn es sich in den Finger 
gestochen hat, und so wird hier von dem fünfzehnjährigen, wenn es blutet, 
in Verschiebung auf die infantile Sprache gesagt, es habe sich in den Finger 
gestochen. 

Im Hintergrund der uns aus Analysen bekannten Vorstellung der Mädchen, 
die Mutter sei schuld an der Menstruation, steht die Anklage, die Mutter 
habe sie zur Strafe kastriert. Unser Märchen scheint diese Anklage zu spiegeln, 
indem es das alte Mütterchen im Turm das Werkzeug handhaben läßt, 
das den entscheidenden Stich beibringt; und wenn wir hören, daß da ein 
Bett steht, auf dem Dornröschen nach dem Stich in einen tiefen Schlaf 
verfällt, so scheint die Darstellung eines operativen Eingriffes eindeutig 
gegeben. Indessen Zweifel entstehen, ob dieser Eingriff als eine Kastration 
angesehen werden soll, wie sie kleine Mädchen als einmal in der frühesten 
Kindheit geschehen phantasieren. Die Annahme, daß in unserem Märchen 
die Spindel das Werkzeug einer Defloration vertritt, leuchtet eher ein, ob¬ 
wohl kein Mann bei dem Vorgang gewesen ist, die Spindel von einer alten 
Frau stammte. Hier kommen wir mit unserem Verständnis nicht weiter, 
wenn wir uns weiter mit Hilfe der Fiktion, irgend ein heute lebendes 
Kind produziere das Märchen aus der Tiefe seines Unbewußten, vortasten. 
Wir müssen uns vielmehr daran erinnern, daß unsere Volksmärchen ein 
auf Kinder heruntergekommenes uraltes Kulturgut darstellen, daß sie bei 
den entferntesten und verschiedensten Völkern aufgefunden werden, daß 
wir in ihnen einen Niederschlag ältester Volksanschauungen suchen können. 
Was in unbewußten Phantasien der einzelne heute produziert, was das 
Märchen wie eine sonderbare Phantasie aufzeichnet, war einmal, das lehrt 














5io Stell Bomstein 


uns die Völkerkunde, ein Stück Realität. Alfred Winterstein hat in einer 
ausführlichen Arbeit völkerkundliches Material über die Pubertätsriten der 
Mädchen zusammengetragen und auf ihre Spuren in verschiedenen Märchen¬ 
stoffen hingewiesen . 1 

Wir lesen dort, daß bei verschiedenen australischen Stämmen und bei 
den Conibos, einem Indianerstamm in Peru, die Defloration künstlich vor¬ 
genommen wird, kurz nach der ersten Menstruation, meistens mit dem 
Finger, einem Stein, einem Stock oder Messer und meist durch eine alte 
Frau ausgeführt wird. Bei manchen Stämmen, so bei den Bakulia und 
Massai im ehemaligen Deutsch-Ostafrika, und bei einigen Nomadenstämmen 
Persiens werden auch Mädchen von den sogenannten weisen Frauen be¬ 
schnitten. Die Klitoris wird abgetrennt, vorher oder unmittelbar darauf wird 
das Haupthaar abrasiert. Die beschneidenden alten Frauen der Jombustämme 
aus Deutsch-Tongo sprechen dem Mädchen bei der Operation die Worte 
vor: „Ich weiß nichts, ich bin ein kleines Kind.“ Das soll wohl heißen: 
nun, wo ich keine Klitoris mehr habe, bin ich unschuldig wie ein Kind. 

Bei manchen Völkern, so bei den Siamesen, herrscht der Glaube, daß 
die erste Menstruation von der Defloration durch Luftgeister herrühre. Ein 
Bestandteil der Pubertätsriten der Mädchen bei verschiedenen Stämmen sind 
Quälereien und Züchtigungen durch alte Frauen: alte Weiber laufen mit 
Stecken bewaffnet um die zum ersten Male Menstruierende herum, um den Geist 
zu vertreiben, der das Mädchen angefallen hat, um die Schlange zu schlagen, 
die das Mädchen gebissen hat. 

Freud hat in seiner Arbeit „Tabu der Virginität“ eine psychologische 
Erklärung der Sitte, außerhalb der Ehe und vor dem ersten Verkehr zu 
deflorieren, gegeben! Der Primitive fürchtet die feindselige Reaktion der 
Frau auf die Defloration. 

Wo die Defloration von einer Frau vorgenommen wird, wie hier im 
Märchen, scheint sie nicht nur eine dem späteren Ehemann freundliche Ab¬ 
sicht auszudrücken: — ich nehme dir die gefährliche Leistung ab, — sondern 
vor allem eine sadistische Strafaktion der Mutter: ich tue dir das an, damit 
du mich fürchtest und auf den Mann verzichtest. Bei den Achtukabo in 
Portugiesisch-Ostafrika wird die Reifekandidatin geschlagen, während die 
Mutter spricht: „Schlagt mein Kind, denn es hört nicht auf das, was ich 

1) Imago XIV, Heft 2/3, Alfred Winterstein: Pubertätsriten der Mädchen. Die 
nachfolgenden Beispiele sind sämtlich dieser Arbeit entnommen. Winterstein bezieht 
sein Material vor allem von Frazer: The golden Bough; Ernest Crawleys: The 
Mystic Kose; Ploss-Renz: Das Kind; Ploss-Bartl: Das Weih. 










Das Märchen vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung 


5 11 


sa ge“, unc ^ Z< erem onieaufseherin die Ohrfeigen mit den Worten begleitet: 

Damit sie denke, das was ich tat, ist schecht.“ 

Ti 

Wenn in unserem Märchen das Dornröschen in einen tiefen Schlaf ver- 
fällt in dem Turm, so ist das ein freundliches Exil, verglichen mit dem, 
von dem uns bei einigen Völkern berichtet wird. Zwar ist sie wie ihre 
unglücklicheren Schwestern abgeschlossen von der Welt, einsam im Turm, 
im Dunkel, und da sie schläft, erfüllt sie das Schweigegebot, das in manchen 
Stämmen gefordert wird, und kann wie die primitiven Mädchen die Sonne 
nicht schauen, was überall eine strenge Forderung ist, — aber im Märchen 
schläft Dornröschen nicht allein, Vater und Mutter, der ganze Hofstaat, 
alle Tiere schlafen mit. Und so wie uns dieser ausgebreitete Schlaf geschildert 
wird, macht er eher den Eindruck eines tiefen Glückes als einer Strafe. 
Als ob es sich um einen postorgastischen Schlaf handelte: die Begierde ist 
befriedigt: „Das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein.“ 

An verschiedenen Stellen der Erde wird den in der Pubertät von der 
Außenwelt streng abgeschlossenen Mädchen auch verboten, sich zu bewegen, 
sich zu kratzen, den Körper mit eigenen Händen zu berühren. Mit solchen 
sichtlich der Vermeidung autoerotischer Befriedigung dienenden Verboten 
wird das Märchen gut fertig. Schläft Dornröschen, so vermeidet sie die 
Qual der Versuchung, das Onanieverbot zu durchkreuzen, und fühlt sich 
nicht verantwortlich, wenn der Onaniewunsch als Traum in den Schlaf 
herabreicht. 

Der König und die Königin stören nicht den Schlaf der reif gewordenen 
Tochter: sie müssen mitschlafen. So wie ehemals das kleine Mädchen mit 
den Eltern miterleben wollte, als sie wachten und sie schlafen sollte, so 
müssen sie jetzt sich mit ihr identifizieren und mit ihr schlafen. Das ist 
fast ein Ungültigmachen des Fluches der bösen Mutter: wenn alles vom 
Glück des Lebens ausgeschlossen ist, auch die Eltern, auch die Tiere, dann 
ist die Isolierung Dornröschens halb so schlimm. 

Das Exil der Mädchen dient der Abschließung der Mädchen von dem 
Vater und dient der Einschließung des Mädchens für den Vater: es ist eine 
Einrichtung zugunsten der Mutter: die Rivalin ist entfernt; und es befriedigt 
zugleich die inzestuöse Bindung des Vaters an die Tochter: „Wenn ich sie 
nicht habe, soll sie auch niemand anderem gehören.“ In unserem Märchen 
ist die Einrichtung zugunsten der Mutter ungeschehen gemacht: wenn die 
Mutter mitschläft, so hat sie nichts davon, daß Dornröschen entfernt ist. 
Die Absicht des Vaters aber wird in hohem Maße durchgeführt: kein Lieb¬ 
haber dringt zu seiner Tochter. 














5l3 


Steff Bornstein 


Das entpricht den Vorschriften bei den Primitiven: kein Mann darf sich 
dem Mädchen nähern; so wird das Mädchen in ein kleines Zimmer i n 
eine Zelle eingebaut, in eine Hängematte eingenäht, die nur eine kleine 
Öffnung zum Atemholen läßt. Aber das Märchen hat zu stark eine Tendenz 
zur Wunschbefriedigung, ist zu sehr vom Standpunkt des Geschädigten, Ge¬ 
ängsteten, des Ohnmächtigen gedichtet, als daß es uns diese Situation des 
leidenden Mädchens unverändert vorführen möchte. Wie neben der bösen 
Mutter die zwölf guten erscheinen, wie aus dem Tod ein Schlaf, aus der 
Einzelhaft ein Gemeinschaftsglück wird, so wird bei der Isolierung Dorn¬ 
röschens von den Männern ein Wunsch Dornröschens erfüllt. Die Männer 
sollen, weil sie defloriert ist, gestraft werden, Dornröschen lockt sie mit 
ihrer Schönheit und läßt sie in den Schlingen ihrer Dornenhecke umkommen 

Dornröschen ist aufgeteilt in die eine, die in der Turmzelle schläft 
gestraft und doch glücklich im Schlaf, unschuldig, von nichts wissend, und in 
die andere, durch die Dornenhecke symbolisierte, die ihre sadistische Rache 
auslebt. 

Es heißt im Märchen: „Die Dornen halten fest zusammen, als hätten sie 
Hände“ — und „die Jünglinge können sich nicht wieder losmachen“. 
Dornröschen, das seine Weiblichkeit anerkennen soll und doch Angst vor dem 
Eindringen des Mannes hat, bildet die Phantasie der vagina dentata , die den 
Penis des Mannes vernichtet. Hierzu eine Parallele aus den Pubertätsriten der 
Bamangwato im südlichen Afrika: dort wird bei den vierzehnjährigen Mädchen 
die Beschneidung vorgenommen. Die Mädchen werden danach phantastisch 
gekleidet, ziehen umher, schwingen eine Geißel mit Dornenzweigen 
und verfolgen und peitschen damit gleichaltrige Burschen. Bei einem Stamm 
in Brasilien wurden die Mädchen mit einem Dorn tätowiert, — so sollen 
Männer Angst vor ihrer Gefährlichkeit bekommen und sich fernhalten. 
Was die Reifekandidatinnen mit ihren Dornenzweigen zum Ausdruck bringen, 
das sagt Dornröschen mit ihrer Dornenhecke: ihr glaubt, weil ich ohne 
einen Penis bin, sei ich schutzlos euch preisgegeben ? Seht hier meine 
gefährliche Schutzwaffe gegen euch! 

Es trifft in dieser Warnung die Angst des Mädchens (mein Körper soll 
heil bleiben) zusammen mit der Über-Ich-Forderung, die von der Mutter 
stammt, „Du sollst nicht meine Nebenbuhlerin sein, sollst nicht Männer 
an dich heranlassen“ und mit dem vom Es stammenden Wunsch des Mäd¬ 
chens: ich gehöre meinem Vater allein, sein gewaltiger Penis, der mich 
schützt, macht den jungen Männern Furcht, an mich heranzukommen. 
Bei vielen Völkern herrscht die Anschauung, daß das zuerst menstruierende 










Das jMärdien vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung 


5i3 


Mädchen vom Luftgeist defloriert wurde, mit den Dämonen verkehre, also 
einem gewaltigen Vater an gehöre. 

Die aggressive Wirksamkeit der Dornenhecke —viele Königssöhne bleiben 
in ihr hangen und sterben einen traurigen Tod — wird aber nicht aus¬ 
reichend mit Dornröschens Angst erklärt. Wohl sehen wir häufig in Analysen 
a gg ress iv er Kinder, daß ihre Aggressionen ein Ausdruck der Angst sind, 
Aggressionen zu erleiden, aber suchen wir dann in ihrer Geschichte nach 
Motiven für diese besondere Form der Angstabwehr, so finden wir, daß sie 
so zugleich ihre Rache- und Haßtendenzen für erlittenes Unrecht abzuführen 
versuchen. Vielleicht findet die Angstabwehr Dornröschens deshalb einen 
so sadistischen Ausdruck, weil Dornröschen mit ihrem Vater zerfallen ist: 
Du, der sonst so Vorsichtige, Liebevolle, hast mich an meinem gefährlichen 
Tag im Stich gelassen, mich der bösen alten Mutter ausgeliefert, so räche 
ich mich dafür an allen Männern. 

Die Dornenhecke läßt auch an die Genitalbehaarung der Frau denken, 
die den Kindern und dem Neurotiker so viel Grauen erweckt. Die Pubertäts¬ 
riten der Primitiven befehlen an manchen Stellen, daß den Mädchen vor 
ihrem Exil Haare geschnitten werden, ln Südostafrika wird den Mädchen 
am Tage nach der Beschneidung das Kopfhaar glatt rasiert. Bei einem Stamm 
Südbrasiliens muß das Mädchen so lange Fleischgenuß meiden, bis ihr das 
wegrasierte Haar über die Ohren gewachsen ist. Ist so Haarschur äquivalent 
der Kastration, so entspräche es dem wunscherfüllenden Charakter des Mär¬ 
chens, daß das Haar so gewaltig wächst. Als ob Dornröschen sagte: ich 
lasse mich nicht kastrieren, im Gegenteil, es wächst bei mir und wächst 
immer mehr, so sehr, daß ich kastrieren kann. Wir werden hier an das 
lange Haar des Rapunzel erinnert, das in einem anderen deutschen Volks¬ 
märchen ebenfalls von einer Zauberin in einem Turm versteckt gehalten 
wird und dem die Zöpfe so lange herunterhängen, daß die Zauberin daran 
hinaufsteigen kann. Aber im Geheimen steigt auch der junge Königssohn 
an ihren Flechten zu Rapunzel hinauf, bis die Alte den Betrug merkt, dem 
Rapunzel die Zöpfe abschneidet und sie fortjagt. Den Königssohn zieht die 
Alte an den abgeschnittenen Zöpfen Rapunzels hinauf, er aber, als er die 
alte Hexe statt Rapunzel vor sich sieht, springt herunter, zersticht sich in 
den Dornen vor dem Turm die Augen, so daß er blind wird. Auch in diesem 
Märchen könnte also wie in Dornröschen ein Zusammenhang zwischen Haar, 
Dornen und Kastrierung des Mannes erdeutet werden, obwohl hier die 
kastrierende Frau eine Mutter-Imago ist, Rapunzel selbst keineswegs so wie 
Dornröschen den Mann ablehnt. 


Imago XIX. 


33 











Steff Bornstein 


614 


Schließlich ist aber auch die Sexualablehnung Dornröschens zu Ende 
Den Mann, der die weibliche Sexualität nicht fürchtet (trotz der Warnung 
des alten Mannes wagt sich der Königssohn an die Dornenhecke), 
weil er selbst nicht so viel sadistische Impulse zu verdrängen hat, läßt Dorn- 
röschen ohne Angst an sich heran. Die Dornenhecke laßt ihn unbeschädigt 
hindurch; es waren jetzt lauter große, schöne Blumen, die taten sich von 
selbst auseinander und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke 
zusammen. Dornröschens vaginale Potenz ist erreicht, nachdem sie ihre Angst 
vor dem Mann überwunden und ihre kastrativen Impulse gegen ihn auf¬ 
gegeben hat. Nun stimmt auch ihre sinnliche Liebe mit der zärtlichen 
überein. Das Märchen hebt hervor, daß sie den Königssohn ganz freundlich 
anblickt, als er sie mit einem Kuß aus dem Schlafe weckt. Und da die 
genitale Angst überwunden ist, darf auch die prägenitale Lust triumphieren 
Dornröschens ursprünglich gegen den Mann gerichteter Sadismus kann jetzt 
in einer Art von Sublimierung auf andere Objekte verschoben werden: die 
Magd rupft das Huhn, und der Koch darf nun endlich, nachdem er hundert 
Jahre die Hand zum Schlag ausgeholt hielt, dem Küchenjungen die ver¬ 
diente Ohrfeige geben. Auch orales Glück erwacht zu neuem Leben: „das 
Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen, der Braten 
fing an zu brutzeln.“ Auch die Initiationsriten endeten mit einem festlichen 
Schmaus. — 

Wir stehen vor dem Problem, wodurch die Spontanheilung Dornröschens 
hervorgerufen wurde. Die lange Zeit, die seit der Begegnung mit der bösen 
Spindelfrau vergangen ist, hat Dornröschen die Deflorationswunde ver¬ 
schmerzen lassen. Sie ist nun auch kein kleines Mädchen mehr, sondern 
ein zur sexuellen Reife aufgeblühtes. Wenn das Märchen die Wartefrist 
auf hundert Jahre abrundet (die Exilzeit der pubertierenden Mädchen der 
Primitiven erstreckt sich bei verschiedenen Völkern über einen Zeitraum 
von zwei Monaten bis zu sieben Jahren), so zählt es, wie die Kinder zählen, 
für die hundert ein Synonym für sehr viel ist. Die Enthemmung Dorn¬ 
röschens, die sich uns in ihrem Erwachen aus dem Schlaf und in dem 
Sichöffnen der Dornenhecke darstellt, führt das Märchen auf das Aufhören 
des Fluches der bösen weisen Frau zurück, der sollte ja hundert Jahre 
wirksam sein. In anderen Worten: Dornröschen kann erst einen Mann lieben, 
wenn es die Mutter erlaubt, wenn sie die Mutter als Rivalin nicht mehr 
zu fürchten braucht. 

Die Sexualität verbietende Mutter wird im Märchen durch die dreizehnte 
weise Frau und durch das spinnende alte Mütterchen im Turm dargestellt, 










Das Märchen vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung 


5i5 



während die reale Mutter Dornröschens Frau Königin ist und mit der Tochter 
schläft. Das Märchen tut etwas, was uns aus Kinderanalysen bekannt ist: Die 
jVlutter wird in eine geschätzte, nachgiebige, gute und in eine böse, verbietende 
aufgeteilt, und wir erleben es gelegentlich, daß uns in der Übertragung 
die Rolle der einen zugeschoben wird, während von der anderen berichtet 
oder phantasiert wird. Dies entspricht aber nicht etwa einer Erkenntnis, 
daß im Menschen Gutes neben Bösem vorhanden ist oder der Erfahrung, 
daß die Mutter einmal freundlich und einmal streng ist; die Aufteilung der 
Mutter entspricht vielmehr der Spaltung im Innern des Kindes: da ist 
die Mutter, wie sie dem Ich des Kindes sich im Alltag zeigt, eine Schicht 
tiefer lebt aber die bereits verinnerlichte Mutter-Imago, die so sadistisch ist, 
wie sie in der sadistischen Periode der frühen Kindheit von dem schwachen 
Ich des Kindes aufgefaßt wurde. Die reale Mutter Dornröschens sagt: „Mein 
Kind, es tut nichts, daß du schlafen mußt, sieh, wir gehen auch schlafen, 
und wir wachen auch nicht auf, ehe du aufgewacht sein wirst.“ Die ver¬ 
innerlichte Mutter aber sagt: „Ich liebe dich nur, solange du brav und ein 
unschuldig Kind bist, wirst du dich sexuell betätigen und einen Mann 
haben wollen (fünfzehn Jahre alt werden), so lasse ich dich sterben.“ In 
jenen Zeiten, deren Spuren wir durch Parallelen mit den uns bekannt 
gewordenen Initiationsriten der primitiven Völker auch in deutschen Märchen 
aufzufinden glauben, war es einfach für die so schwer gequälten Mädchen, 
ihre Mütter für so sadistisch zu halten, wie sie unsere kleinen Mädchen 
heute in ihren verdrängten Phantasien wähnen. Die fortgeführten Erfahrun¬ 
gen der Kindergenerationen mußten im Laufe der Jahrhunderte die Angst¬ 
bereitschaft der Kinder größer machen. Vermutlich konnte mit der größeren 
Angst der Kindergenerationen der Sadismus der älteren Generation geringer 
werden, weil der aus Angst nicht mehr begehrliche Jugendliche nicht mehr 
gefürchtet zu werden brauchte, — die ehemals so grausamen Pubertätsriten 
konnten bis auf die Reifeprüfung für die Gymnasiasten und die Backpfeifen 
für die Lehrlinge herabgemildert werden. Es wäre aber ein spielerischer 
Mißbrauch der Phylogenese, wenn wir sie in der Analyse des Individuums 
zur Verantwortung mit heranziehen wollen. Hier müssen wir in der indivi¬ 
duellen Vergangenheit nach realen Anlässen für die phantastischen Vorstel¬ 
lungen suchen, um therapeutisch zu wirken. 

Hätten wir im „Dornröschen“ tatsächlich eine Phantasie eines heute 
lebenden Mädchens, das sich in der Heldin darstellt, zu untersuchen, so 
stünden wir vor dem Problem, welche Momente in Dornröschens früher 
Kindheit ihr Über-Ich so streng gemacht haben. Wir würden in dem Bild 


33 










Stell Bornstein 


6 l6 


des hundertjährigen Schlafes eine Neigung unserer Patientin zu Dämmer 
zuständen, zur Abwendung von der Realität wiederfinden und müßten uns 
sagen, daß eine so gründliche Ablehnung des Lebens als Antwort auf die 
ersten sexuellen Versuchungen der Pubertät und die ersten genitalen Er¬ 
fahrungen der Frau (Menstruation, Defloration) ein übermäßig strenges 
Über-Ich zur Voraussetzung haben müsse. Nur wenige Daten aus Dornrös¬ 
chens Kindheit stehen uns zur Verfügung. Wir erfahren, daß Dornröschen 
ein sehr braves, verständiges und sittsames Kind ist und daß jedermann 
es dafür liebt, wir haben also ein Kind vor uns, dessen ÜberTch-Bildung 
zur Zufriedenheit der Erwachsenen gelungen ist. Wir wissen aber aus 
Analysen und Erfahrungen der Pädagogik, daß so günstige Resultate fast 
nur da erzielt werden, wo das Kind einerseits Liebe erfuhr, andererseits 
um die Erhaltung der Liebe bangen mußte, so daß ein Ungehorsam gegen¬ 
über elterlichen Verboten einer Herabsetzung des Geliebtwerdens gleich¬ 
gekommen wäre. 

Wie sehr der Vater Dornröschen liebt, wird im Märchen eingehend 
berichtet. Von der Liebe der Mutter kein Wort. Wir entdecken sie aber 
in den Liebesgaben der zwölf weisen Frauen, die der Vater einladet, „damit 
sie dem Kind hold und gewogen wären“. Ausdrücklich hervorgehoben 
werden nur drei: Schönheit, Reichtum, Tugend. Wir sehen: während der 
Vater das Kind liebt, ganz abgesehen von seinem Wert von Geburt an 
liebt, legt die Mutter Wert auf seine Tugendhaftigkeit. Aber ihre Forde¬ 
rungen dürften für Dornröschen nicht schwer zu erfüllen sein, da Ver¬ 
sagungen, die eine Tugend erforderlich macht, ausgeglichen werden mit 
narzißtischen Ersatzbefriedigungen. Denn die Mutter will zwar das Kind 
tugendhaft, sorgt aber auch für seine Schönheit — und nichts stärkt den 
Narzißmus eines weiblichen Wesens mehr als Schönheit — und gibt dem 
Kind Reichtum, erleichtert ihm also die Selbstbehauptung in der Außen¬ 
welt. Die dreizehnte weise Frau klärt uns vollends über den Inhalt der 
verlangten Tugend auf: sie ist gleichbedeutend mit Kindbleiben, mit Ver¬ 
zicht auf erwachsene sexuelle Wünsche, denn nur bis zum fünfzehnten Jahr 
darf Dornröschen am Leben bleiben. Will Dornröschen sich die Liebe 
ihrer Mutter erhalten, so muß sie sich mit ihrem Verbot identifizieren, 
und je schwerer es ihr der liebende und somit verführende Vater macht, 
in ihren Liebeswünschen auf die Identifizierung mit der Mutter zu ver¬ 
zichten, um so strenger muß die Identifizierung mit der Sexualität ver¬ 
bietenden Mutter werden. So scheint Dornröschens strenges Über-Ich ein 
vorwiegend durch den Einfluß der Mutter erworbenes. Indessen dürfte auch 










Das jM.ärdien vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung 


6l 7 

die Erziehungsrichtung des Vaters keinen geringen Anteil an Dornröschens 
Erkrankung in der Pubertät haben. Der Vater ließ ja alle Spindeln im 
Reiche verbrennen, ließ das Kind in einer unrealen Welt aufwachsen, damit 
ihm kein Schaden geschehe. Dies abnorme Maß an Behüten und Verhüten- 
wollen macht, daß Dornröschen unaufgeklärt und völlig unvorbereitet ihre 
ersten erwachsenen Erfahrungen macht. Die schockartige Wirkung des 
traumatischen Erlebnisses im fünfzehnten Jahr ist dann eine uns verständlich 
erscheinende Folge. 

Das Märchen aber, als ein Kunstprodukt mit der Funktion eines Mittlers 
zwischen dem Über-Ich und den Ansprüchen des Es, bringt ein Kom¬ 
promiß zustande; dem Über-Ich zuliebe muß Dornröschen in den Dämmer¬ 
schlaf verfallen und dem Leben fern gehalten bleiben, aber schließlich 
darf das Es sein happy end mit der Vereinigung von Mann und Frau 
proklamieren. 












MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN 

über die w eiklichkeit 1 

Von 

Jtlelene Deutsck 

Wien 

In der Einleitung zur XXXIII. Vorlesung der „Neuen Folge“ sagt Freud, die 
Männer grübelten mehr über das Rätsel Weib als die Frauen. Wie mir scheint 
ist die mächtige Neugierde der Frau über das eigene Rätsel ein wichtiges Motiv 
für die psychologischen Fähigkeiten, die ihr zuzuerkennen sind. Diese entwickeln 
sich par excellence durch das introspektive Insichselbstschauen, durch den bren¬ 
nenden Wunsch, das Rätsel des eigenen Ichs zu lösen. 

Von der Tatsache der menschlichen Bisexualität ausgehend, bemüht sich Freud 
dem Begriffe „weiblich“ eine eindeutige Definition zu geben. So bringt uns 
diese Publikation eine absolute Klarlegung und Abgrenzung dieses Begriffes. 
Freud weist auf die Schwierigkeiten hin, diese Frage vom anatomischen Stand¬ 
punkte aus zu erklären, da auch bei eindeutigen anatomischen und physio¬ 
logischen Merkmalen der Genitalorgane und -produkte das Verhältnis von Männ¬ 
lichkeit und Weiblichkeit in einem Individuum doch sehr verschieden sein kann. 

Freud diskutiert nun die Möglichkeiten der Begriffsklärung vom Psycho¬ 
logischen aus. 

Die früher angenommene Identität männlich-aktiv und weiblich-passiv wurde 
von Freud längst in Frage gestellt. Diese Identität besteht seiner Ansicht nach 
wohl im Sexualakt selbst, verwischt sich aber bereits in den Aktionen der 
vorausgehenden Werbung. Er verweist auf die Tierwelt, in der wohl in der 
Mehrzahl der Gattungen die Aggressionen der Werbung vom Männchen aus¬ 
gehen. Doch gibt es auch Tierarten, bei denen diese Aggression vom Weibchen 
ausgeführt wird. Als Beispiel dafür darf vielleicht auch das vielbesprochene 
Verhalten mancher Spinnen gelten, die sich wohl im Sexualakt selbst passiv, 
bei der Werbung jedoch höchst aggressiv verhalten. 

Ich muß gestehen, daß ich trotz dieser Argumentation in konservativer Weise 
an der ursprünglichen Identität weiblich-passiv festhalten möchte. Der Hinweis 
auf die Tierreihe vermochte mich nicht zu überzeugen. Das Verhalten der 
Spinnen ist für mich nur Beweis dafür, daß bei dieser Tiergattung die ana¬ 
tomischen Verhältnisse und psychologischen Vorgänge eine andere Situation 


1) Auszüge aus einem Referat über die XXXIII. Vorlesung „Die Weiblichkeit“ 
aus Sigm. Freuds „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ 
(Int. PsA. Verlag, Wien 1953), vorgetragen in der Wiener Psychoanalytischen Ver¬ 
einigung am 31. Mai 1953. 














Uber die Weiblichkeit 5i9 


erzeugen als beim Menschen. Ein analoges Verhalten beim menschlichen Weib¬ 
chen müßte wohl als „männlich“ qualifiziert werden. Erinnern wir uns, daß 
unser Unbewußtes gerade die Spinne als männlich-aktiv anzusehen gewohnt ist. 
In den Äußerungen des Unbewußten, etwa im Traum, wird die Spinne als 
Symbol der „phallischen“, der „männlichen“ Frau verwendet. 

Zur Unterstützung meiner konservativen Anschauung möchte ich mir erlauben, 
schon hier einige Argumente vorzubringen. Wir wissen, daß an der Schwelle 
der Aktivität die Aggression steht. Wir wollen hier gewisse biologisch vorge¬ 
zeichnete, quantitative Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen, auf die 
Freud aufmerksam macht, vernachlässigen und die Aggression als Vorstufe der 
Aktivität bei beiden Geschlechtern in den frühinfantilen prägenitalen Phasen 
betrachten. Wir wissen, wie im Laufe der Sexualentwicklung die aggressiven 
Tendenzen der oralen und analen Phase in die aktiven der phallischen ver¬ 
arbeitet werden. Die analytische Beobachtung lehrt uns, wie häufig der Umstand, 
daß die Aktivität von den Aggressionen nicht genügend losgelöst wurde, zur 
Ursache der Potenzstörung wird. Aus Angst vor den eigenen Aggressionen wird 
dann dem Organ die Erlaubnis zur aktiven Funktionsleistung verweigert. 

Ich darf mich hier auf eine frühere Arbeit berufen , 1 in der ich die Penis - 
losigkeit des Mädchens in erster Linie für die Entstehung des weiblichen Maso¬ 
chismus verantwortlich zu machen versuchte. Dasselbe gilt, wie ich glaube, auch 
für die Entstehung der Passivität, an der ich als integrierenden Bestandteil des 
Begriffes „weiblich“ festzuhalten versuche. Während sich die Aggression des 
Knaben in die Aktivität seines Organs umsetzt, ist die Entwicklung von Ag¬ 
gressivität zur Aktivität beim Mädchen an der Organlosigkeit zum Scheitern 
bestimmt. An Stelle der Aggression tritt der Masochismus, an Stelle der Aktivität 
die Passivität. Diese, durch den anatomischen Unterschied bedingte Entwicklung 
ist ebenso für die Entstehung der Weiblichkeit wie auch der passiven und der 
masochistischen Regungen verantwortlich. 

Freud ist geneigt, für den weiblichen Masochismus konstitutionelle wie soziale 
Momente verantwortlich zu machen; die letzteren durch die dem Weibe auf¬ 
erlegte Unterdrückung der Aggression. Ich würde vorschlagen, diesem Momente 
doch nur eine sekundäre Bedeutung zuzuschreiben und die Motive in der diffe¬ 
renzierenden, anatomisch bedingten Entwicklung der Geschlechter zu suchen. 

Gegen die Identität weiblich-passiv weist Freud auf die stark aktive Rolle 
hin, die das Weib im Verhältnis zu seinem Kinde entwickelt. Beim Suchen 
nach Unterschieden zwischen der weiblichen und der männlichen Aktivität 
— Unterschieden, an deren Bestand kein Zweifel sein kann — gewann ich 
den Eindruck, daß die weibliche einen eher defensiven Charakter hat und mehr 


1) H. Deutsch: Der feminine Masochismus und seine Beziehung zur Frigidität. 
Int. Ztschr. f. PsA. XVI. 1930. S. 172 fr. 










520 


Helene Deutsch 


dem Schutze dient, der Abwehr der Gefahren. Sie ist nicht identisch mit der 
männlichen Aktivität, die sich dem Leben gegenüber in Offensive befindet u n( j 
ihre Kräfte aus dem entwicklungsgeschichtlich erworbenen Drang schöpft die 
Aggressionen in Aktivität umzusetzen. Auch hier berufe ich mich auf das un 
bewußte Wissen, das die kindliche Phantasie dazu drängt, der aktiven Mutter 
— der spinnenhaften — einen Phallus anzudichten und so die Aktivität mit 
dem Penisbesitz, d. h. mit der Männlichkeit, gleichzusetzen. Auch die analytischen 
Erkenntnisse drängen uns immer wieder dazu, die stärkeren aktiven Tendenzen 
im Weibe doch in einen Zusammenhang mit ihrer „Männlichkeit“ zu bringen 

Entschuldigen Sie, daß ich vom Wege abgewichen bin und einige Minuten 
für die Darlegung eigener Ansichten in Anspruch genommen habe. 

Im weiteren Verlauf der Vorlesung verweist Freud auf die Gleichsinnig¬ 
keiten und Unterschiede der prägenitalen Entwicklungen bei beiden Geschlechtern 
Die geringeren Aggressionen, das größere Bedürfnis nach zärtlichen Objekt¬ 
besetzungen und eine lebhaftere Intelligenz beim Mädchen scheinen für diese 
erste Kindheit charakteristisch zu sein. Im großen und ganzen jedoch treten 
diese Unterschiede in ihrer Bedeutung gegen die psychische Undifferenziertheit 
zurück, die die beiden Geschlechter bis in die ersten Zeiten der phallischen, 
beziehungsweise Klitorisonanie begleitet. 

Freud geht nun davon aus, daß die Tatsache der Bisexualität, d. h. die Tat¬ 
sache, daß man die vornehmlich dem Weibe eigenen psychologischen Merkmale 
auch beim Manne findet und umgekehrt, die Situation undurchsichtig gestaltet 
und dadurch die Definition der Weiblichkeit vom psychologischen Standpunkte 
aus unmöglich macht. Zur Klärung des Rätsels Weib schlägt Freud einen anderen 
Weg ein, und dieser hängt innig mit der Aufdeckung der präödipalen Phase 
der Mutterbindung zusammen. 

Wir wissen, daß trotz gewisser biologisch bedingter Differenzen die Bedeutung 
des anatomischen Geschlechtsunterschieds bis zur phallischen Entwicklungsphase 
auf psychischem Gebiete gering ist. Wir wissen, daß diese Gleichheit der Ge¬ 
schlechter noch eine Zeitlang auch die phallische Phase begleitet: in der Gleich¬ 
setzung Penis-Klitoris. 

Freud hält in seiner letzten Publikation an der Annahme fest, die auch ich 
in allen meinen Arbeiten vertreten habe, obwohl anderweitige Beobachtungen 
dies zu verneinen schienen, an der Anschauung nämlich, daß es in der in¬ 
fantilen Zeit keine maßgebenden vaginalen Sensationen beim kleinen Mädchen 
gebe. Im Laufe der Erfahrung ist es mir immer wahrscheinlicher geworden, 
daß es sich bei den Angaben, die in diese Richtung weisen, um eine Ver¬ 
wechslung zwischen genitalen und analen Sensationen handeln muß, um einen 
Irrtum, der um so verständlicher ist, als die Lokalisierung der Empfindungen 
hier besonders schwer ist. Die wahre Einsicht, daß es sich dabei um anale 
Lustempfindungen handle, kann man aus den Inhalten der Phantasien jener 
















Uber die Weiblichkeit 


5äi 


infantilen Lebensphase gewinnen. Im Zentrum dieser Phantasien steht unzwei¬ 
deutig das anale und nur das anale Kind. 

Das Fehlen der vaginalen Sensationen hat schwerwiegende Folgen für die 
weitere Sexualentwicklung des Mädchens. 

Die zweite große Schwierigkeit, auf die Freud immer hin weist, ist der 
Objektwechsel, die Herstellung der weiblichen Ödipussituation. 

Freud widmet einen Teil dieser Vorlesung Erwägungen über die präÖdipale 
Mutterbindung, in deren Schicksalen der mächtigste Faktor auch für die Ge¬ 
staltung der späteren Beziehung zum Vater gegeben ist. In der Phase der prä- 
ödipalen Mutterbindung selbst, scheint der Vater nur die Rolle eines lästigen 
Rivalen zu spielen. 

Die letzten Publikationen Freuds haben uns gezeigt, daß wir die Beziehungen 
der Kinder zu den Eltern zu stark im Bilde des Ödipuskomplexes gesehen und so 
z. B. gerade in der Einstellung des kleinen Mädchens zum Vater die ursprüng¬ 
liche präödipale Mutterbeziehung vernachlässigt haben. Die „Überschreibung“ der 
Mutterbindung auf den Vater, nach dem plastischen Terminus Freuds, die Fort¬ 
setzung der libidinösen Struktur, die an der Mutter gebildet wurde, ist eine 
der jüngsten Erweiterungen unseres Wissens. 

Freud weist nun auf jene pathologischen Prozesse hin, deren Spuren in die 
Zeit der ersten präödipalen Mutterbeziehung führen. Hieher gehören die Ver¬ 
giftungsängste der Paranoia, die mit der oralen Mutterbeziehung zusammenzu¬ 
hängen scheinen, und vor allem die hysterischen Verführungsphantasien, deren 
Held sich in der Analyse immer als der Vater enthüllt, der aber doch als ein 
Träger der „Überschreibung der Mutterbeziehung“ zu erkennen ist. Den realen 
Kern zum Phantasiegebilde hat die wirkliche Verführung durch die Mutter er¬ 
geben, die bei verschiedenen Handlungen zur Pflege und Ernährung des Kindes 
einmal real zur sexuellen Lust verführt hatte. 

Die Quellen und Motive dieser ersten Mutterbindung sind uns so klar, daß 
wichtiger und schwieriger die Frage erscheint, welche Motive das Mädchen 
zur Aufgabe des Mutterobjekts und zur Bildung der heterosexuellen Strömungen 
veranlassen. 

Freud zeigt nun, daß die Lösung von der Mutter durch die Wendung der 
Liebe in Feindseligkeit und Haß vor sich geht. Dieser Weg kann zu großen 
Komplikationen führen. Die Übertragung der ursprünglichen Mutterbeziehung 
auf den Vater, die von Freud so genannte „Überschreibung“, die nunmehr vor 
sich geht, kann gerade unter dem Zeichen dieses Mutterhasses stehen und die 
spätere Beziehung zum Manne beeinträchtigen. In dem Konflikt zwischen der 
positiven Vaterübertragung auf das neue spätere Objekt und der Mutterfeind¬ 
seligkeit, die mitübertragen wird, kann es geschehen, daß das ganze Liebes¬ 
und Eheleben von Ambivalenzkämpfen erfüllt wird. Zahlreiche Beispiele aus 
der analytischen Praxis stehen hier zur Verfügung; das einleuchtendste Beispiel 













Helene Deutsch 


5aa 


gibt uns Freud durch den Hinweis auf jene Fälle, bei denen sich erst di 
zweite Ehe der Frau glücklich gestalten kann, nachdem die Haßreaktion gegen 
die Mutter in der ersten Ehe ausgelebt ist. 


Auch wird der libidinöse Haushalt in einer dreieckigen Beziehung sehr häuft* 
durch die Spaltung des Ambivalenzkonfliktes auf zwei Männer bestritten die 
wohl beide eine Vaterübertragung bilden können, von denen aber nur der eine 
die Mutterüberschreibung an sich zieht. Gewöhnlich ist der Gatte, seltener der 
Geliebte das Objekt der negativen Regungen und der Spaltung des Ambivalenz 
konfiikts; wenn es der Liebhaber ist, so ist er sozusagen gerufen worden die 


Ehe positiv zu gestalten, indem er die aggressiven Reaktionen der Frau an sich 
zieht. Manchmal wechseln die Männer von Zeit zu Zeit ihre Rolle. Ich habe 
in den letzten Jahren den weiblichen Partner eines solchen Dreieckes analysiert 
in welchem sich die schwersten Komplikationen abspielten. Meine Patientin 
konnte sich durch Jahre hindurch von keinem der beiden Männer trennen, obwohl 
beide auf eine Lösung drängten. In der Analyse erwies sich der Ehemann als 
eine Verdichtung einer Vater- und Mutterübertragung; dieses ist mir erst klar 
geworden, nachdem ich den Begriff der „Überschreibung“ kennengelemt hatte. 
Der Geliebte in diesem Dreieck entsprach dem zärtlichen und gewährenden 
Vater, der frei von jener verhängnisvollen „Überschreibung“ war. Unter der 
Wirkung der von der Analyse vermittelten Einsicht brachte es die Patientin 
zustande, sich von dem Gatten scheiden zu lassen. Die Liebe zum Geliebten 
jedoch verblaßte bald danach, denn sie hatte nur den Wert einer komplemen¬ 
tären Ergänzung zu der anderen Vaterbeziehung, die die überaus starke, ur¬ 
sprüngliche Mutterbindung repräsentierte. 

Eine andere, häufig zu beobachtende Komplikation dieser Haßwendung entsteht 
dadurch, daß die Schuldgefühlsreaktion schon in dieser präÖdipalen Zeit das kleine 
Mädchen dazu drängen kann, den Haß zu unterdrücken und der Mutter in 
neurotischer Bindung treu zu bleiben. 

Die Frage nach den Motiven dieser Haß Wendung ist eines der wichtigsten 
Probleme der Freudschen Publikation. Wie wir später sehen werden, ist eines 
dieser Motive die eigentliche Quelle zur Weibwerdung, weil es nur für das 
Mädchen spezifisch ist und weil es direkt vom anatomischen Geschlechtsunter¬ 
schied abhängig und durch ihn bedingt ist. 

Die anderen Motive sind beiden Geschlechtern gemeinsam. Sie allein sind, 
wie wir beim Knaben sehen, nicht genügend, um normalerweise das Verlassen 
der Mutter als Liebesobjekt zu provozieren. Nur unter bestimmten, bereits ab¬ 
normen Bedingungen können sie zum Anlaß werden, daß sich auch der Knabe 
von der Mutter wegwendet oder doch in ewig vorwurfsvollem Ambivalenzgefühl 
bei ihr verbleibt. 


Zu diesen Motiven gehören vor allem die Versagungssituationen, von denen 
die mächtigste und allgemeinste, am tiefsten konservierte, die orale ist. Die 





















Uber die Weiblichkeit 


5 a3 


orale Versagung ist jene erste große menschliche Enttäuschung an der Mutter, 
u nd das analytische Studium pathologischer Prozesse hat uns eine Fülle von Er¬ 
scheinungen gezeigt, die das Resultat dieser Enttäuschungsreaktion darstellen. 
Schon in seiner früheren Publikation über die weibliche Sexualität führte Freud 1 
die weibliche Paranoia auf die orale Mutterphase zurück; von dort schöpfen 
die Vergiftungszwänge ihre Kräfte. Auch der kriminelle Typus der Giftmischerin 
entsteht, wie ich in einer in Vorbereitung befindlichen Arbeit an Hand zahl¬ 
reichen Materials zu beweisen versuche, aus Rache für die orale Versagung, 
in der die einstmals vergiftende Mutter jetzt vergiftet werden muß. Unter dem 
von mir gesammelten Material, das aus analytischen Reobachtungen und Berichten 
Über Kriminalfälle besteht, findet sich auch der Fall einer jungen Frau, die 
in Paris ältere, zimmervermietende Frauen unter dem Vorwand aufsuchte, sie 
wolle ein Zimmer mieten. Im Verlaufe der Unterhandlungen pflegte sie ihren 
Opfern vergiftete Bonbons anzubieten, die sie zu mörderischen Zwecken mit sich 
führte. Wie sie vor Gericht gestand, war das einzige Motiv zu dieser Handlung 
der ungeheure Lustgewinn, den sie aus dem Anblick oder der Vorstellung der 
Qualen schöpfte, an denen die ihr bis dahin unbekannte Frau zu leiden hatte. 

Ein anderes Motiv zu Haßreaktionen gegen die Mutter ist die Geburt von 
Geschwistern, die in der präödipalen Phase als schwere Liebesuntreue der Mutter 
gewertet wird. Dieses Ereignis bekräftigt die erste Gruppe von Enttäuschungs- 
motiven dadurch, daß die Befriedigung verschiedener Sexualwünsche oraler, 
analer und genitaler Natur, die einmal von der Mutter gewährt worden ist, nun¬ 
mehr aber schon versagt wird, dem Neugeborenen bei der intensiven Körper¬ 
pflege und Ernährung doch gewährt wird; die Enttäuschungsreaktionen des 
älteren Kindes werden so verstärkt. 

Alle diese Enttäuschungsreaktionen, gestützt durch die Tatsache der Ambivalenz 
infantiler Regungen im allgemeinen, könnten uns vielleicht als genügendes Motiv 
zum haßerfüllten Verlassen der Mutterbindung erscheinen. Die Erfahrung lehrt 
uns aber doch, daß sie beim männlichen Kinde nicht genügen und daß bei diesen 
etwas Exzeptionelles dazutreten muß, um ein Verlassen der Mutter hervorzurufen. 
Hier also tritt uns zum ersten Male aus der Undifferenziertheit der Kindheit 
etwas entgegen, was von nun an dem Mädchen den Stempel der Weiblichkeit 
aufdrücken wird. Dieses spezifische Moment erweist sich, wie wir sehen werden, 
— um es noch einmal zu wiederholen — als direkte und unmittelbare psychische 
Folge des anatomischen Unterschiedes und liegt im weiblichen Kastrationskomplex. 

Die Entdeckung des Geschlechtsunterschiedes, die Anerkennung der Tatsache 
ihres Penismangels mobilisiert im kleinen Mädchen den Penisneid und im Zu¬ 
sammenhang damit Wut gegen die Mutter, die nun für den Penismangel ver¬ 
antwortlich gemacht wird. Dieser Vorwurf gegen die Mutter ist das kräftigste 


1) Über die weibliche Sexualität. Int. Ztschr. f. PsA. XVII, 1931. S. 517 ff. 













Helene Deutsch 


624 


und mächtigste Motiv, um sie als Liebesobjekt aufzugeben. Der Vorwurf der 
schweren narzißtischen Kränkung wird um so stärker ausfallen, je stärker die 
Mutterbindung war; hier werden noch andere Strömungen wirksam, die mit der 
Mutterbindung Zusammenhängen. Die eine besteht in dem Wunsche, die Mutter 
lieben zu können und von ihr geliebt zu werden; mit der Entdeckung des 
Geschlechtsunterschiedes erwacht im kleinen Mädchen der Verdacht, die Mutter 
versage sich ihr, weil sie keinen Penis besitze. 

Ein anderes verstärkendes Motiv geht daraus hervor, daß allmählich der Ver 
dacht oder die Sicherheit entsteht, daß die Mutter seihst auch keinen Penis be¬ 
sitze, also seihst so entwertet sei wie das kleine Mädchen. Freud erinnert uns 
hier daran, daß die Hoffnung des kleinen Mädchens, doch noch einmal einen 
Penis zu bekommen, oft vom erwachsenen Weibe als Forderung und Erwartung 
in die Analyse gebracht wird. Ich glaube, daß wir weiblichen Analytiker unter 
dieser Forderung der weiblichen Patienten viel mehr zu leiden haben als die 
männlichen Analytiker unter der analogen Forderung der Patientinnen, ihnen ein 
Kind zu gehen. Ist doch der Peniswunsch aggressiver, trotziger als die weibliche 
Forderung nach dem Kinde, um so mehr als in der Mutterübertragung der weib¬ 
liche Analytiker immer für die Penislosigkeit verantwortlich gemacht wird. 

Ein häufiges Motiv für die Wahl des weiblichen Analytikers ist die Hoffnung, 
eine vollwertige, penisbesitzende Mutter zu finden. Eine meiner Patientinnen 
verfiel in eine tiefe Depression, als in einer Gesellschaft von einem Analytiker 
die Rede war, der mir überlegen sei. Die Tatsache, daß ein Mann mehr sei als 
ich, brachte das ganze infantile Material des Vorwurfes gegen die Mutter, sie 
sei weniger als der Vater, zutage. 

Die Entdeckung der Kastration ist also, wie schon erwähnt, der entscheidende 
Moment der Wegwendung von der Mutter. Nicht ganz so befriedigend scheint 
mir die Erklärung der nächsten Phase in der Entwicklung, nämlich die der Zu¬ 
wendung zum Vater. Ihr Motto ist die Hoffnung auf die Erfüllung des genitalen 
Wunsches, vom Vater im Liebesakt den Penis zu bekommen, der in einer 
weiteren Phase der Entwicklung zur Weiblichkeit gegen den Kindeswunsch 
ausgetauscht wird. 

Die Zuwendung zum Vater ist, wie mir scheint, darüber hinaus auch vom 
Schicksal der aggressiven Strebungen der prägenitalen Phasen abhängig. Ich habe 
in früher schon erwähntem Zusammenhang zu zeigen versucht, daß die aggressiven 
und aktiven Tendenzen der prägenitalen und der phallischen Phase beim Mädchen 
am Mangel des aktiven Organs, also an den anatomischen Gegebenheiten zer¬ 
schellen. Das Entwicklungsschicksal der Aggressionen beim Knaben liegt in ihrer 
Überführung zur Aktivität des genitalen Organs. Beim Mädchen führt die Organ- 
losigkeit zur Wendung der Aggressionen gegen das eigene Ich und zu einer maso¬ 
chistischen Einstellung zum Vater. Die Wendung zum Vater als Objekt ist hier 
also auch durch das Triebschicksal bestimmt, indem die aggressiven und aktiven 










Uber die Weiblichkeit 


5a5 


Strebungen in masochistische und passive gewendet werden. Hier darf ich nochmals 
auf meine weiblich, passiv und masochistisch gleichsetzende, konservative An¬ 
schauung zurückgreifen. Diese Gleichsetzung läßt sich hier neuerlich durch den 
Hinweis darauf stützen, daß das von Freud hervorgehobene zentralste Motiv zur 
Entwicklung der Weiblichkeit ebenso zum Motiv des Passivitätsschubes und des 
weiblichen Masochismus wird. Dieses Motiv liegt im anatomischen Geschlechts¬ 
unterschied und im weiblichen Kastrationskomplex. Wenn ich mir so die Frei¬ 
heit gestattet habe, vom klaren Gebäude der Freudschen Gedankengänge etwas 
abzuweichen, so sei das dadurch entschuldigt, daß ich, obgleich ich Gedanken¬ 
gänge vertrete, die mir seit langem vertraut geworden sind, mir dabei der 
Schwäche meiner Argumentation dennoch bewußt bin. Es liegt mir ferne, dem 
Weibe jede Aktivität abstreiten zu wollen. Auch das weibliche Wesen hat eine 
Phase, vielleicht eine recht lange, der Undifferenziertheit durchgemacht. Wir 
wissen, daß die Aktivität eine Fortsetzung dieser undifferenzierten eher männ¬ 
lichen Vorzeit darstellt, derart, daß sich die alten aggressiven Triebe zur Aktivität 
fortentwickeln. Es ist natürlich, daß im weiblichen Wesen diese Vorzeit fort¬ 
wirkt und daß trotz des Passivitätsschubes infolge der bisexuellen Anlage vieles 
von alten Aktivitäten im weiblichen Wesen zurückbleibt. Sie sind im Weibe 
aber nur trotz und manchmal sogar gegen ihre Weiblichkeit vorhanden. Wenn 
sie ein bestimmtes Maß übersteigen, werden sie zum Bestandteil des Männlichkeits- 
komplexes. 

Ich darf mit Freud hier daran erinnern, daß die Frau nicht nur ein Trieb¬ 
wesen ist. Ihr Ich steht im Verhältnis zur Außenwelt, die zur Aktivität drängt, 
es wehrt sich aktiv gegen die masochistischen Triebforderungen und vielleicht 
um so stärker, je stärker diese Komponente der triebhaften Weiblichkeit aus¬ 
gefallen ist. In der Auffassung der „Weiblichkeit“ als Triebwesen decken sich 
doch die Begriffe weiblich-passiv-masochistisch. 

Kehren wir zum Gedankengang Freuds zurück. Mit der Aufdeckung der 
Penislosigkeit entsteht im kleinen Mädchen ein starker Impuls, die nun un¬ 
befriedigende Onanie aufzugeben. Wir wissen alle aus analytischer Erfahrung, 
daß die Phantasien der Klitorisaktivität nicht immer einen aktiven, der Mutter 
als Objekt geltenden Inhalt haben. Auch die masochistischen Vergewaltigungs¬ 
phantasien, in deren Zentrum der Vater steht, benützen die Klitoris als Abfuhr¬ 
organ. Zu den von Freud angegebenen Motiven, aus denen das kleine Mädchen 
die Onanie aufgibt, versuchte ich schon früher einmal, ein anderes anzugeben, 
das bereits innerhalb des Passivitätsschubes liegt und eine Angstreaktion auf 
die masochistische Gefahr bedeutet. 

Freud macht uns hier auf die Wichtigkeit der verschiedenen Onanieformen 
der frühen Kindheit für die spätere Neurose und Charakterbildung aufmerksam. 
Die Abwehrkämpfe beim Mädchen scheinen sehr kompliziert zu sein, und ich 
darf an dieser Stelle auch auf einen zuweilen vernachlässigten Umstand auf- 










5a6 


Helene Deutsch. 


merksam machen. Beim Mädchen tritt nach dem Aufgeben der Klitorisonanie 
eine Phase auf, in der es ohne ein bewußtes und aktives Dazutun onanistische 
Befriedigung erreicht. Diese versteckte Onanie hat beim Mädchen andere Formen 
als die unbewußte Onanie beim Knaben. Bei diesen spielt sie sich viel häufiger 
aktiv in Ersatzhandlungen und Organ Verschiebungen ab. Zupfen an einem Kleidungs 
stück, an der Nase oder am Ohrläppchen ist bei Knaben viel häufiger als 
beim Mädchen. Die latente Onanie der Mädchen spielt sich in den Phantasien 
ab, ohne aktive Betätigungen, und der Drang dieser Phantasien wird außerordent¬ 
lich häufig nicht mehr der Klitoris, sondern der Analgegend zugeführt. Ich 
glaube, daß sich die Beobachtungen der vaginalen Reizzustände eben auf diese 
Phase der latenten Onanie beziehen, wobei die anale Reizung fälschlich als 
vaginale angenommen wird. Ich glaube auch, daß die Umstellung des Peniswunsches 
auf den Kindeswunsch in der Phase der latenten Onanie entsteht und daß die 
anale Reizabfuhr auch diesen ersten Kindesphantasien durchwegs den analen 
Charakter gibt. 

Freud macht uns hier aufmerksam, daß der Wunsch nach einem Kinde 
vom Vater eine Vorgeschichte hat. Der ursprüngliche Wunsch stammte noch aus 
der Zeit der Mutterbindung und entsprach der Mutteridentifizierung, indem 
das kleine Mädchen in der Umwandlung der passiven Rolle des kleinen Kindes 
in die aktive der Mutter sich selbst so manche ihr versagte Wünsche er¬ 
füllen konnte. 

Freud weist darauf hin, daß es vor der Stabilisierung des weiblichen 
Wunsches nach einem Kinde vom Vater noch eine Beziehung zum Kinde gibt, 
die ich vor Jahren „parthenogenetische Phantasie“ genannt habe, in der der 
Vater selbst keine oder eine verleugnete Rolle spielt. Die Befriedigung liegt 
da im Besitze einer neuen Körperlichkeit. Dadurch wird die Genese des Kindes¬ 
wunsches als Penisersatz ins Zentrum gebracht. 

Freud macht uns hier wiederum auf den Unterschied aufmerksam, der 
zwischen den Geschlechtern im Verhältnis des Ödipuskomplexes zum Kastrations¬ 
komplex besteht. Dieser schwerwiegende Unterschied ist uns bereits so vertraut 
geworden und läßt sich in wenigen Worten ausdrücken: Die Kastrationsangst 
zwingt den Knaben, die Ödipuseinstellung aufzugeben, ihr Erbe liegt in der 
Bildung des Über-Ichs. Beim Mädchen dagegen ist der Kastrationskomplex das 
Motiv zur Bildung des Ödipuskomplexes, und der Wegfall der Kastrationsangst 
erlaubt dem Mädchen unbestimmt lange in der Liebe zum Vater zu verharren. 
Die geringere Stärke der Über-Ich-Bildung beim Weibe führt Freud auf diesen 
Umstand zurück. 

Ich möchte mir hier einen kleinen Abstecher ins Feministische erlauben. 
Vielleicht könnten wir statt „ein schwächeres Über-Ich“ ein „anderes“ sagen. 
Die Tatsache, daß die Frau unter dem Drucke des Schuldgefühls genau die¬ 
selben Neurosen bildet wie der Mann, legt Zeugnis ab für dieselben grausamen 
































Uber die Weiblichkeit 



627 


Fähigkeiten ihres Über-Ichs. Die andersartige Gestaltung ihres Über-Ichs scheint 
von mehreren noch wenig berücksichtigten Momenten abzuhängen. Ihre erste 
Idealbildung wurde unbestreitbar an der Mutter gewonnen und mündet in die 
Phase der präödipalen Mutterbindung. Die erste Mutter-Imago hat noch nichts 
mit der späteren Entdeckung zu tun, daß die Mutter ein Sexualwesen ist. Diese 
stammt erst aus der Ödipusphase. Wir wissen, zu welchen Enttäuschungs- 
katastrophen an der Mutter die Entdeckung ihrer Sexualrolle für das kleine 
Mädchen führt. Die Verleugnung der Mutter als Sexualwesen geht parallel mit 
der eigenen Sexualhemmung des kleinen Mädchens, und was sie an der Mutter 
zu verleugnen versucht, wird an der eigenen Person als Keuschheitsforderung 
fortgesetzt. Dazu kommen noch die Einflüsse der Erziehung und der Gesell¬ 
schaftsordnung, die dem Mädchen ein viel größeres Ausmaß von sexuellem Ver¬ 
zicht auferlegten. Infolgedessen sind die Über-Ich-Forderungen des Weibes mehr 
auf die Hemmung der Sexualität als auf soziale Werte gerichtet. Diesen Tat¬ 
bestand verrät schon der Sprachgebrauch. Sagt man von einer Frau sie sei an¬ 
ständig, eine „anständige Frau“, so meint man, sie habe keine Liebesverhält¬ 
nisse, sie sei unsexuell und monogam, wie man einmal die Mutter gewünscht 
hatte. Der Begriff Anständigkeit beim Mann hat selten mit seinem Sexual¬ 
verhalten zu tun. Die Umwälzung der sozialen Verhältnisse läßt vor unseren 
Augen auch eine Umgestaltung des weiblichen Über-Ichs in statu nascendi sicht¬ 
bar werden. Es bleibt ungewiß, wohin diese Entwicklung führen wird. 

Bei der Besprechung des Männlichkeitskomplexes macht Freud neuerlich be¬ 
sonders auf die Bedeutung der präödipalen Phase für die Entstehung der Homo¬ 
sexualität aufmerksam, für die früher nur der Männlichkeitskomplex verant¬ 
wortlich gemacht worden ist. 

Der Satz Freuds „Frigidität ist manchmal psychogen und dann der Beein¬ 
flussung zugänglich, in anderen Fällen legt sie die Annahme einer konstitutio¬ 
nellen Bedingtheit, selbst den Beitrag eines anatomischen Faktors, nahe“ darf 
als Anerkennung meiner vielfach bestrittenen Ansicht, daß die Frigidität nicht 
immer ein neurotisches Symptom sei, aufgefaßt werden. Freilich hatte ich versucht, 
meine Auffassung auf die normalen Schicksale der Libido des ^Veibes zu stützen. 

In der Folge bespricht Freud einzelne weibliche Charaktereigenschaften und 
Schicksale. Der weibliche Narzißmus und die stärkere Tendenz zum Neid werden 
auf die Penislosigkeit zurückgeführt. Auch hier möchte ich als Verteidigerin 
auftreten. Ich glaube, daß der männliche Neid nur etwas andere Formen an¬ 
nimmt als der weibliche, ihm aber an Intensität nicht nachsteht. Ich habe auch 
im allgemeinen den Eindruck, daß es nicht die Besitzlosigkeit allein ist, die den 
Neid schafft. Wer nichts hat, will etwas haben, wer etwas hat, will mehr be¬ 
sitzen, und schon der kleine penisstolze Junge schaut mit genau so neiderfülltem 
Herzen auf den Besitz des älteren Bruders, des großen Nachbars, und umsomehr 
des Vaters wie seine penislose Schwester auf den Besitz des kleinen Jungen. 












5a8 Helene Deutsch: Uber die Weiblichkeit 


Auch eine Erklärung jener Fähigkeit der Frau, die sie zur Erfinderin des 
Flechtens und Webens gemacht hat, wird uns hier gegeben. Ein Stimulans 
dazu liegt in der schamhaften Tendenz der Frau, den Genitaldefekt zu v er 
bergen, und als natürliches Vorbild diente die verhüllende Genitalbehaarung 

Freud spricht dann von dem Einfluß, den die Geburt eines Kindes auf die 
Gestaltung der Ehe hat: Wie da die Identifizierung mit der Mutter mobilisiert 
wird und wie die Umwandlung des Eheverhältnisses nach dem Vorbild der 
elterlichen Ehe vollzogen werden kann; wie dieses Ereignis der Geburt, das 
so geeignet ist, die mütterliche Einstellung zu erwecken, auch den Männlich- 
keitskomplex befriedigen kann. Wiederum, wie schon in seinen früheren Arbeiten 
betont Freud, daß die einzige unambivalente menschliche Beziehung die der 
Mutter zum Sohne ist. Zu dieser Ambivalenzfreiheit trägt auch der Umstand 
bei, daß der Besitz des Sohnes ein restloser Ersatz für die Penislosigkeit ist und 
daß hier der Frau Gelegenheit geboten wird, den eigenen unbefriedigten Ehrgeiz 
auf den Sohn zu übertragen. Die Einzigartigkeit dieser Beziehung besteht wohl 
auch, wie mir scheint, in der Tatsache, daß hier ein menschliches Wesen imstande 
ist, zugunsten eines anderen auf jede narzißtische Befriedigung zu verzichten. 

Eine weitere unerwartete Einsicht danken wir dem letzten Abschnitt des 
Kapitels: Vom Anbeginn unserer analytischen Erkenntnisse sind wir gewohnt 
gewesen, die Mutteridentifizierung der Frau und die Mutterübertragung des 
Mannes bei beiden Geschlechtern in die Phase des Ödipuskomplexes zu ver¬ 
legen. Mit der Aufdeckung der präödipalen Mutterbindung beim Weibe mußte 
man zur Differenzierung dieser Mutteridentifizierung in eine präÖdipale und 
eine spätere aus dem Ödipuskomplex stammende schreiten. Die erstere beruht 
auf der zärtlichen Mutterbindung und ist — wie Freud sagt — für die Zu¬ 
kunft des Weibes die entscheidende. Während die aus dem Ödipuskomplex, 
die feindselig-aggressive, gegen die Rivalin gerichtete Kräfte mobilisiert, liefert 
die zärtlich-präödipale die Fähigkeit zu jenen Eigenschaften, die die mütterlich¬ 
zärtliche Geste des Weibes bestimmen und die größte Anziehung für die ödipalen 
Strebungen des Mannes bedeuten. „Man hat den Eindruck“, sagt Freud, „daß 
die Liebe des Mannes und die der Frau um eine psychologische Phasen¬ 
differenz auseinander sind.“ 

Freud bespricht zum Schluß die geringere Sublimierungsfähigkeit der Frau, 
die ich meinerseits auf die Absorbierung der Sublimierungskräfte für die Fort¬ 
pflanzungsfunktion zurückzuführen versucht hatte. 

Auf einen für die analytische Therapie besonders wichtigen Umstand macht 
Freud noch aufmerksam. Er ist der Meinung, daß eine Frau mit dreißig 
Jahren ein fertiges, in den Libidopositionen bereits erstarrtes und unveränder¬ 
liches Wesen besitzt, das den Einflüssen der Analyse wenig Möglichkeiten bietet, 
in scharfem Gegensätze zum Manne, der mit dreißig Jahren unfertig, zu allen 
Neueroberungen und Entwicklungen fähig ist. 














Psychopathologie alltäglicher telepathisch 
Erscheinungen 1 


Von 

Istvän Hollos 

Budapest 


Freud 2 hat sich in seiner Arbeit über Traum und Telepathie dagegen ver¬ 
wahrt, als hätte er in okkultem Sinne Partei genommen, und bedauert, „daß 
es so schwer ist, solchen Eindruck zu vermeiden“. 

Ich glaube, man kann diesem Eindrücke überhaupt nicht entgehen. Er¬ 
scheinungen nämlich, welche unserem naturwissenschaftlichen Denken diametral 
widersprechen, sind geeignet, in uns die einstige, überwundene, magische Arbeits¬ 
weise gefühlsmäßig anzuregen. Der wissenschaftlich Denkende wird damit 
nicht gleich zur Infantilität regredieren. Die Existenz der Infantilität jedoch ist 
ewig, wie es der Traum, der Schlaf und die psychopathologischen Erscheinungen 
im Alltagsleben jedes Menschen dokumentieren. Die immerwährenden Allmachts¬ 
wünsche müssen rege werden, wenn dem Beobachter Fakten vorgelegt werden, 
welche die ausschließliche Möglichkeit der psychischen Macht über die sonst 
unerbittliche physische Realität ahnen lassen, bei welcher, ohne Zuhilfenahme 
unserer sensiblen und motorischen Mechanismen, doch reale Befriedigungen erlebt 
werden. Dies wären also die telepathischen, telekinetischen, tele plastischen usw. 
Phänomene, bei welchen von der Ferne, d. h. allein von unserer Willens¬ 
allmacht abhängig (willing game), unsere Gedanken sich übertragen, Tische 
sich in die Höhe erheben und Materien erschaffen werden. Die Untersuchung 
solcher Fragen muß scheitern, wenn diese in uns erweckten Allmachts¬ 
wünsche bei der Arbeit nicht ständig kontrolliert werden. Diese Regung 
kann die Arbeit in zweifacher Weise vereiteln. Es gibt Forscher, bei denen 
einfach der unerledigte infantile Wunsch nach dem Wunder, für sie selbst 
unerkannt, am Werke ist. An Stelle einer Selbstkontrolle tritt hier dann eine 
peinliche exakte Prüfung, ein Beschreiben, Beleuchten, Photographieren und 
Abwägen usw. des Untersuchungsobjektes. Indem solcherart der Forscher sich 
beruhigt, objektiv vorgegangen zu sein, kann der latente Wunsch unbeobachtet 
durchbrechen und auf dem Wege gröbster Täuschungen Beweise einstiger magi¬ 
scher Allmacht liefern. Die andere Einstellung repräsentieren jene, die jede 
„okkulte“ Erscheinung a limine mit der Begründung zurückweisen, daß schon 
die Zulassung einer ernsten Beschäftigung mit solchen Fragen dem naturwissen- 


1) Nach einem Vortrag in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung am 
io. Juni 1952. 

2) Freud: Traum und Telepathie. Ges. Schriften. Bd. III. S. 304. 



Imago XIX. 


34 












53o 


Istv^n Hollös 


schaftlichen Denken widerspricht und eines Forschers unwürdig ist. Hiebei besteht 
die Angst, in schlechten Ruf zu geraten und zum Phantasten herabgewürdigt 
zu werden. Diese Angst ist nicht so unberechtigt, sie zeigt an, daß man ein 
Phantast nicht nur scheinen, sondern hinter dieser Angst tatsächlich auch sein 
kann. Dieses Zurückschrecken vor gewissen Tatsachen, ja bloß vor ihrer Kenntnis¬ 
nahme beweist gerade keine große Sicherheit in der naturwissenschaftlichen 
Denkweise. Es spricht von einer Unerledigtheit infantiler Allmachtsgedanken, 
deren Wiedererwachen unbewußt gewünscht, bewußt jedoch eben deswegen 
peinlichst befürchtet wird. 

Gegen Fehlgriffe dieser Arten kann uns die Lehre der Psychoanalyse ge¬ 
eignete Hilfe bieten, indem sie uns die Entwicklung unseres Seelenlebens er¬ 
kennen und unseren ewigen Hang zur Infantilität bekennen lehrt. Durch 
die ständige Kontrolle und auch die Korrektur der Auswirkungen des Lust- 
Unlust-Prinzipes kann einerseits das Realitätsprinzip vor einer Überrumpelung 
gesichert, anderseits aber auch eine streng objektive Beobachtungsmethode durch¬ 
geführt werden. Inwiefern mir dies in dieser Arbeit gelungen ist, mögen jene 
beurteilen, denen der schwere Weg durch ein gefährliches Neuland zwischen 
dem Wunsche nach unserer einstigen Allmacht und der blinden Flucht vor der¬ 
selben — als Überkompensierung — bekannt ist. 

Die Erscheinungen, über welche ich hier berichte, sind nicht Ergebnisse von 
Experimenten. Sie sind spontane, zumeist anspruchslose Vorkommnisse des Alltags¬ 
lebens. Auch dadurch unterscheiden sie sich von dem bekannten Material der 
Okkultistik; sie sind keine „großen Wunder“. Doch haben auch sie einen „wunder¬ 
lichen Charakter“. Während man aber von den großen zumeist nur zu hören 
und zu lesen bekommt, werden diese von jedermann spontan selbst erlebt. Es sind 
dies jene sonderbaren Vorkommnisse, die momentan verblüffend und unwahrschein¬ 
lich wirken, aber eben wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit einfach als Zufälle abgetan 
werden. Auch ich hatte sie lange Zeit so aufgefaßt. Da sie sich jedoch besonders 
in einem ernsten Abschnitte meines Lebens auffallend oft wiederholten, ent¬ 
schloß ich mich, ihnen eine gewisse Beachtung zu schenken. Dies mußte ich 
um so mehr, da sie sich nicht nur wiederholten, sondern auch mit der Zeit 
eine Konsequenz der Bedingungen erkennen ließen, unter welchen sie er¬ 
schienen. Diese Gesetzmäßigkeit widerspricht der Natur des Zufalls. Bald stand 
ich diesen wie den alltäglichen psychopathologischen Erscheinungen gegenüber, 
welche einst ebenfalls als Zufälligkeiten aufgefaßt wurden, bis die Psychoanalyse 
deren psychologische Gesetzmäßigkeit enthüllte. Die Beobachtungen, welche sich 
zumeist während der analytischen Kur zwischen dem Arzte und dem Patienten 
ergaben, erstrecken sich auf nahezu zwanzig Jahre. Pünktliche Notizen hatte 
ich erst seit zehn bis zwölf Jahren gemacht. In Kollegenkreisen habe ich 
dieser Sonderbarkeiten öfters Erwähnung getan, und fast jeder konnte von 
ähnlichen Erlebnissen berichten. Ja, die endgültige Anregung kam von Ferenczi 














Psydiopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 53, 


vor vielen Jahren, der mir bei einer ähnlichen Besprechung von einer In¬ 
duktion des Unbewußten sprach. 

Trotz der allgemeinen Bekanntheit solcher Vorkommnisse ist meines Wissens 
keine Arbeit über solche Beobachtungen erschienen. Eine bemerkenswerte Aus¬ 
nahme, in welcher von einem, den meinigen ähnlichen Falle berichtet wird, 
bildet die Mitteilung von Helene Deutsch . 1 

Wahrend der genannten Beobachtungszeit sind die notierten Fälle auf über 
fünfhundert gestiegen. Der Raum dieser Mitteilung erlaubt jedoch nicht alle 
anzuführen. 

Die Erscheinungen sind spontan und, wie gesagt, experimentell nicht hervor¬ 
zurufen, denn ihr Wesen widerspricht dem Experiment, wie auch kein Ver¬ 
sprechen experimentell hervorgebracht werden kann. Sie bestanden hauptsächlich 
darin, daß ich an etwas dachte und der Patient von derselben Sache zu sprechen 
anfing. Wir wissen, daß unsere Gedanken von dem gerade besprochenen Thema 
oder von der freien Assoziation des Kranken oft abschweifen. Dies ist einesteils 
unvermeidlich, andernteils eine Folge unserer frei schwebenden Aufmerksamkeit, 
wobei unsere Kollateralgedanken nicht nur nicht stören, sondern in gewissen 
Schranken bei der- Arbeit nützlich verwertet werden können. 

Die erste Bemerkung, die ich hier vorangehen lassen muß, ist die Distink¬ 
tion, welche ich bei jedem Falle unternehmen mußte, um mir nur reine“ 
Fälle zu vermerken. Ich muß bemerken, daß ich als vollwertig nur jene Fälle 
notierte, in welchen die Gleichheit des Gedankens des Patienten mit mei¬ 
nem Gedanken ohne jedwede Vermittlung der Sinneswerkzeuge 
entstand; jene daher, welche nicht einem Gespräch folgten, welches uns beide 
zu weiteren Assoziationen in derselben Richtung führen könnte. Hier muß eine 
scharfe Kritik geübt werden, die sich trotz aller Behutsamkeit oft unzulänglich 
erweist und die Aufnahme auch unreiner Fälle unvermeidlich macht. Aber es 
ergaben sich Fälle, wo solche Besorgnisse überhaupt nicht in Frage kamen. Man 
kann von autochthonen, eigenen Gedanken sprechen, mit welchen ich zum Bei¬ 
spiel frühmorgens an die Arbeit ging, und der Patient begann in der ersten 
tunde mit dem ersten Satz von diesen meinen Gedanken zu sprechen. 

Auch muß ich der Schwierigkeit gedenken, die sich während der Nieder¬ 
schrift vorliegender Mitteilung ergab. Es stellte sich bald heraus, daß die Fälle 
viel mehr vom Seelenleben des Beobachters aufdecken, als es konventionell 
angenehm ist. Daher war es oft schwer, mit dem Opfer des sich Entblößens 
so weit zu gehen, als es die Klarstellung des Materials erforderte. Ich hoffe 


1) Helene Deutsch: Okkulte Vorgänge während der Analyse. Imago XII. 1026. S 418 
Auch muß ich hier der Arbeit Freuds „Traum und Okkultismus“ (Neue Folge der 
. ZU " Einführung in die Psychoanalyse, S. 42) gedenken, die an meinem im Juni 

dort U fT n V ° r , t i rage mchtS andert und k ann hier nur auf die Ähnlichkeit des 

dort behandelten Falles (Forsyth) mit den hier folgenden Fällen hinweisen. 


34 * 



















53a 


Istvan Hollos 


jedoch, den Mut aufgebracht zu haben, der Forderung, die der wissenschaftliche 
Ernst stellt, auch möglichst Genüge zu tun. 

Zuletzt muß noch bemerkt werden, daß jeder einzelne Fall für sich 
eigentlich eine Enttäuschung hervorrufen wird. In dem Moment, in welchem 
man von telepathischen Erscheinungen spricht, wird die Erwartung wieder aus 
infantilen Gefühlen heraus, hoch gespannt, und man meint Wunder zu hören zu 
bekommen. Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit auf den Umstand lenken, 
daß der Zuhörer denselben Weg in Kürze durchmachen muß, den ich im Laufe 
von Jahren gemacht habe. Nach sehr vielen ähnlichen Erscheinungen begann 
ich nicht nur nicht mehr Zufälle zu sehen, sondern eine spezielle Bedingung 
derselben zu beobachten. Was mir den Mut zur Veröffentlichung dieser Arbeit 
gab, war gerade diese und eine andere Gesetzmäßigkeit, unter welcher die 
einzelnen Fälle standen. Mit einem Gesetz wird die Zufallsmotivierung 
entkräftet. 

Ich werde hier von zwei Arten von Gesetzmäßigkeiten sprechen: 

A. Eine Bedingung, unter welcher die telepathischen Erscheinungen stets zu 
Tage treten. 

B. Die Art, in welcher sich die Erscheinungen selbst zeigen. 

A. Zur Illustration der Bedingung werde ich vorderhand zwei Fälle anführen: 

Fall /. Ich denke während der Stunde an einen anderen Patienten, der 
mir viel Sorge machte. Der Fall könnte doch organisch sein. Ich war nicht 
genug behutsam, ich hätte vor Beginn der Kur eine Blutuntersuchung — ob 
Wassermann positiv oder negativ — machen lassen müssen. Das ist mein 
sorgenvoller Gedanke. 

In dem Moment setzt der Kranke ein: 

„Wenn ich von der Angelegenheit nur wüßte, ist es ein Positivum oder 
ein Negativum.“ 

Fall 2. In der Inflationszeit wollte ich mir eine neue Wohnung kaufen. Ich 
dachte daran, daß ich einem Freunde vor Monaten zehn Millionen Kronen 
geliehen hatte, die der Freund mir, falls ich sie brauchte, zurückzuzahlen versprach. 
Zu diesen zehn Millionen, dachte ich, werde ich jetzt noch zehn Millionen 
von ihm ausleihen. Bei Beginn der Stunde einer Patientin, die sich verspätet 
hat, dachte ich, zehn Millionen und zehn Millionen seien zwanzig 
und damit kann ich schon etwas anfangen. Sie begann: 

„Ich hatte noch Zeit, war hungrig, wollte noch etwas essen gehen, dachte: 
zehn Minuten hin, zehn Minuten zurück, wird noch langen .... 

Aus den mitgeteilten zwei Fällen ist zu ersehen, daß ich an etwas dachte, 
was mich affektbetont beschäftigte. In dem ersten Falle war ich besorgt um 
einen Kranken, im zweiten Falle um eine Wohnung. In beidei^ kommt nocn 
der affektiv störende Gedanke hinzu, daß ich mich von meiner Pflicht auf Kosten 
des Kranken entfernt habe. Es entsteht eine Spaltung zwischen dem Wunsche, 























Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 


533 





meinen Gedanken nachzugehen und zwischen meinem Gewissen, das sich diesen 
Wünschen entgegengesetzt. Ich will die störenden Elemente in ihrer realen Er¬ 
scheinung vor dem Patienten verheimlichen und auch innerlich verscheuchen. 
Dies gelingt oder gelingt nicht, je nach der Stärke des Willens und der Wünsche. 
Aber nicht das Resultat dieser Kräfteverhältnisse ist für uns wichtig, sondern 
der sehr bezeichnende Zustand selbst. Es ist nicht die Verdrängung als Resultat 
etwa im Unbewußten, sondern ein dynamischer Zustand, eine Verdrängungs¬ 
tendenz, die sich durch den ganzen psychischen Apparat, vom Ich wahrscheinlich 
durch das Vorbewußte bis ins Unbewußte zieht. Ich halte es für nötig, diesen 
sonst bekannten Tatbestand zur späteren Verwertung in dieser Form zu präzisieren. 

B. Zur Illustrierung der Gesetzmäßigkeit im Phänomene selbst, sollen hier 
mehrere Fälle stehen: 

Fall 3 . Ich habe mir vor Beginn der Arbeit beim Öffnen einer Konserven¬ 
dose den Finger verletzt und mir während der Stunde plötzlich Gedanken darüber 
gemacht, ob das IVIetall nicht rostig gewesen sei und eine Blutvergiftung ver¬ 
ursacht habe. 

Der Patient spricht von einem Manne und erzählt, daß derselbe einmal 
renommierend ein Taschentuch mit Blutflecken als Trophäe einer Defloration 
vorzeigte, doch „das Blut hatte nicht die typische rostige Farbe“. 

Fall 4. Die Fälle häuften sich, wie schon erwähnt, besonders in einem Zeit¬ 
räume, welcher Umstand für die späteren Ausführungen bedeutsam sein wird. 
In dieser Zeit war eine liebe, mir in Freundschaft nahestehende Tante im 
Sterben. Ich litt viel um sie. Dieselbe hatte einen Sohn im Kriege verloren; 
nach vielen Recherchen war es wahrscheinlich, daß er in einem galizischen 
Dorfe begraben lag. Ihr innigster Wunsch war, die irdischen Reste des Sohnes 
nach Hause führen zu lassen. Sie beauftragte mich, noch zu ihren Lebzeiten 
diesen Wunsch zu erfüllen, und übergab mir ein Röntgenbild von einem Arm- 
bruch und eine Aufzeichnung des Zahnarztes über das Gebiß des Sohnes, damit 
ich bei der Exhumierung den Toten agnosziere. Die Ausführung dieser Aufgabe 
verzögerte sich und wenn dies auch nicht aus meinem Verschulden geschah, be¬ 
drückte mich die Angelegenheit. Eines Morgens nahm ich die Röntgenbilder, 
Dokumente usw. zu mir. Am Anfang der ersten Stunde griff ich scheinbar ziellos 
gerade in die Tasche zu dem Paket, was ein Aufflackern des Komplexes dieser 
peinlichen Gefühle und Gedanken zur Folge hatte. Die Patientin fing die Arbeit 
folgen der weise an: 

„Ich hatte heute einen Traum von einer Köchin, namens Rosa, die vor vielen 
Jahren bei mir im Dienste stand und aus merkwürdigen Gründen plötzlich aus 
dem Dienste ging. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß ihr Vater, der Fried¬ 
hofswächter war, nächtlich die Toten exhumierte, um deren Wertgegenstände 
zu stehlen. Die Rosa hat aus Scham hierüber plötzlich den Dienst verlassen.“ 

Die sonst intelligente, sprachkundige Patientin benützte das Wort exhumieren 

















634 


Ist van Hollo,; 


und nicht das in diesem Falle richtigere ausgraben. Im Sprachgebrauch wird 
das lateinische Exhumieren, obwohl es dieselbe Bedeutung hat, nur bei legaler 
Ausgrabung benutzt. Weiter muß bemerkt werden, daß die geliebte Tante auch 
Rosa hieß. 

Fall j . Dieselbe Tante wurde vor zehn Jahren an einem beginnenden Karzinom 
operiert. Seither zeigte sich keine Spur der Krankheit, so daß man im Zweifel 
sein konnte, ob das haselnußgroße Gebilde, das einst exstirpiert wurde, wirk 
lieh ein Karzinom gewesen war. Nun und jetzt nach fünfzehn Jahren zeigte 
sich eine Karzinose des Peritoneums. Da denke ich während einer Stunde- 
Nun leider mußte sie damals doch ein Karzinom gehabt haben. Da erzählt 
die Patientin einen Traum, wobei sie sagt: 

„Sie hatte doch ein Karzinom.“ 

Fall 6 . Ich war erregt, da der nächste Kranke schon im Wartezimmer war 
der in der letzten Stunde seinen Revolver gegen sich gewandt hatte. Er war 
ein hitzköpfiger junger Mann. Ich dachte mit Besorgnis daran, er könnte gerade 
jetzt im anderen Zimmer seinen Revolver abfeuern; in der Phantasie hörte 
ich schon den Schuß. Die Patientin sprach von ihrer'Mutter, die sie nicht in 
Ruhe läßt und in der Wohnung zornig herumrennt: 

„Dann schießt sie in der Wohnung herum“, sagt sie ungarisch, doch benützt 
sie das deutsche Wort in verhunzter ungarischer Wendung — „ schiesszol ide 
— oda “. Richtig ungarisch kann man nur sagen: rennt hin und her. 

Fall 7. Eine Patientin spricht von einer Abmagerungskur, die sie anfangen 
möchte. Da kommt mir ein plötzlicher, unverantwortlicher Einfall in die impera¬ 
tiven Worte gefaßt: „Gehen Sie ins Wasser“, den ich natürlich verschweige. 
Die Patientin fährt dann fort: 

„. . . .im vorigen Jahre sind wir jeden Tag bis zum Wasserturm spazieren 
gegangen. “ 

Fall 8. Ich denke an einen Zahnarzt, dem ich telephonieren soll. Der Arzt 
heißt Barät. Das Wort bedeutet Freund, doch wird ein Mönch auch barät 
(Frater) genannt. Da sagt die Patientin: 

„Balzac hatte in Mönchskutte gearbeitet.“ (Mönchskutte = bardtesuha.) 

Fall p. Ich schaue in mein Notizbuch und setze um einen Namen aus be¬ 
stimmten Gründen eine Klammer. Der Patient sagt: „ Inter parenthesim muß ich 
bemerken“ (ungarisch: Zdrjeleh kozÖtt ). 

Fall IO . Mit derselben Patientin geschah es, daß, als ich gerade ausnahms¬ 
weise eine Zigarette anzündete und den Namen derselben „Dames“ betrachtete, 
sie ausnahmsweise deutsch ausrief: 

„Es ist so verdammt“, und setzt dann ungarisch fort, „daß ich der Sache 
solche Wichtigkeit beimesse“. 

Wir haben bisher festgestellt, daß bei der Entstehung dieser spontanen 
Erscheinungen eine Tendenz zur Verdrängung in mir bestand. In all den 






















535 



Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 


angeführten Fällen ist diese Bedingung entweder ohne weiteres ersichtlich oder 
sie besteht, ohne daß ich sie aus weiteren subjektiven Gründen erwähnt hätte. 

Bei näherer Betrachtung werden wir finden, daß die auftauchenden Einfälle 
der Patienten nicht meine Gedanken logisch fortsetzen, sondern in einem frei 
assoziativen Verhältnis zu denselben stehen, wie der Trauminhalt 
zum latenten Traumgedanken oder ein neurotisches Symptom zu dem 
realen Wunsche. Es herrscht der Primärmechanismus. Das ist die Gesetz¬ 


mäßigkeit, welche sich in dem 

Ich denke an die Wassermannsche 
Reaktion. ' 

Zehn Millionen und zehn Millionen 
sind zwanzig Millionen. 

Rostig, Blutvergiftung. 

Ich soll eine Exhumierung auf An¬ 
trag der Tante Rosa veranlassen. 

Ich befürchte, daß ein Schuß ab ge¬ 
feuert wird. 

„Gehen Sie ins Wasser.“ 

Sie hatte doch ein Karzinom. 

Ich rauche Dam es. 

Der Zahnarzt namens Bar dt (Freund, 
Mönch). 


rozeß selbst kundgibt. 

Pati ent: 

Ein Positivum, ein Negativum. 

Zehn Minuten hin, zehn Minuten 
zurück. 

Das Blut hatte nicht die rostige Farbe. 
Traum von der Köchin Rosa, deren 
Vater die Toten exhumierte. 

Die Mutter schießt herum. 

Wir sind täglich zum Wasserturm 
gegangen. 

Sie hatte doch ein Karzinom. 

„Es ist so verdammt.“ 

Balzac arbeitete in einer Mönchskutte. 


Wir hatten vorher hervorgehoben, daß die Bedingung zur Entstehung der¬ 
artiger Phänomene die Verdrängung sei. Nun wissen wir aber, daß es die 
vom Bewußtsein abgespaltenen Gedankenelemente sind, die dem Primärvorgang 
verfallen. Und wenn diese Elemente wieder zum Vorschein kommen, wie bei 
der Wiederkehr des Verdrängten im Traume oder im Symptome, oder in den 
Fehlhandlungen, so verraten sie die Einstellung des Primärvorganges. 
Unsere Beispiele der Telepathie repräsentieren einen Vorgang, in welchem 
meine verdrängten Gedanken in entstellter Form im Bewußtsein einer anderen 
Person auftreten. Diese Gesetzmäßigkeit wird die Aufmerksamkeit des Ana¬ 
lytikers besonders fesseln. Wenn die als telepathische Gedankenübertragung 
beschriebenen Erscheinungen nicht bewiesen sind, so müssen wir doch von 
einer sonderbaren Analogie sprechen, welche zwischen einer Fehlhandlung, 
besonders zwischen einem Versprechen und diesen hier besteht. Das Versprechen 
ist ein verdrängter Gedanke, der sich unter geeigneten Verhältnissen Bahn 
bricht und in verstellter Form zum Vorschein kommt. Der ziemlich bedenk¬ 
liche Unterschied ist hier der, daß während beim Versprechen das Individuum, 
das etwas verdrängt hat, sich selbst verspricht, hier ein anderer es ist, bei 





J 












536 


Istvän Holl<5; 


dem das Versprechen zum Vorschein kommt. Ich könnte die Sachlage mit den 
kuriosen Worten formulieren, daß der Kranke es ist, der „mich verspricht“ 

Manchmal machen die Fälle auch den Eindruck, als ob die Worte des 
Patienten einen Vorwurf gegen mich enthielten. Ein Kollege gab ihnen über¬ 
haupt die Bedeutung, daß das Unbewußte des Kranken, ihn, den Arzt auf¬ 
merksam machen will, er solle mehr bei der Sache sein. Allerdings muß bei 
diesem Eindruck das Schuldbewußtsein des Arztes eine Rolle spielen. 

Fall II. In jener Zeit hatte ich hie und da gezeichnet oder gekritzelt 
allerdings sehr behutsam, um den Patienten dadurch nicht zu stören. Bei einer 
solchen Gelegenheit sagt die Patientin: 

„Der Arzt im Sanatorium zeichnete mir ein solch ödes Leben von meiner 
Zukunft. “ 

Fall 12. Ich zeichnete zwei konzentrische Halbkreise auf einer horizontalen 
Linie, und zwei auseinanderstehende Radien darin, als Embleme eines Zirkels; 
ich wollte mir gerade ein Reißzeug kaufen. Da sagt der Kranke: 

„Nun, es ist unmöglich, daß mein Unbewußtes das gerade so herauszirkeln 
konnte, daß die Frau N. in der Umgebung der kleinen Stadt ein Gut hat usw.“ 

Das Wort herauszirkeln wird im Ungarischen selten benützt ( kicirkalmazni) 
und bedeutet „herausfinden“, „schnüffeln von versteckten Verhältnissen“. 

Fall Iß. Ich fand gerade eine Zeichnung in meinen Notizen vor, die ich 
zur Unterhaltung meines kleinen Sohnes machte und auf welcher ich ihn auf 
meinem Nacken trug. Ich betrachtete das Bild und dachte das vor mir 
stehende Fenster als Hintergrund dazu zu skizzieren. Auch dachte ich an 
einen mir bekannten jungen Maler, der mir die Schwierigkeit der Wieder¬ 
gabe bei der Zeichnung eines Glasfensters erklärte. Da sagt die Patientin: 

„Ich lebe hinter einer Glasmauer; ich bin zwar geboren, aber ich lebe 
noch wie ein Känguruh mit meinerMutter.“ Känguruh heißt im Ungarischen 
wörtlich: Sohnträger, auch Jungenträger ( Fiahordö ). 

Sehr bezeichnend ist, daß Zahlen, an die ich dachte, ähnlich wiederkehren, 
wie die Zahlen der rezenten Tageserinnerungen im Traume. Sie werden zumeist 
pünktlich wiederholt, jedoch in anderer Anwendung. Die Wiedergabe einer 
Relation ist zumeist unverkennbar. Das haben wir schon in dem Falle ge¬ 
sehen, wo ich an zehn und zehn Millionen dachte und die Patientin von 
zehn Minuten hin und zehn Minuten her sprach. Solcherart sind die folgen¬ 
den Fälle: 


Ich denke: 

Fall 14. Ich werde eins, zwei, drei, vier 
bis zehn Stunden heute haben. 

Fall if. Eine Patientin könnte vierund¬ 
zwanzig Jahre alt sein. 


Patient spricht: 

„Eins, zwei, drei, vier Besuche werde ich 
bekommen, es drückt mich.“ 

„Jede Minute kommt mir vor, als dauerte 
sie vierundzwanzig Stunden.“ 
























m 

Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 53^ 


Fall 16. Es bleiben noch zwanzig Pengö. 

Fall iy> leb habe Schnupfen, pflege auf 
einmal fünfundzwanzigmal zu nießen. 

Der Gedanke war mit einer mir 
sehr peinlichen Angelegenheit in Zu¬ 
sammenhang. 

Fall 18. Es waren dreizehn Stunden. 

Fall 19. Ich rechne nach der Fließ sehen 
Periode, wie oft dreiundzwanzig Tage 
seit einem Datum verstrichen sind. 

Fall 20, Ich werde zwanzig PengÖ ver¬ 
langen. Zwanzig heißt im Ungarischen 
husz. Der Soldat Husar hat wortwört¬ 
lich die Bedeutung Preis von zwanzig, 

Wert von zwanzig. 

Die Fälle, die eigentlich immer unerwartet kommen, haben bei jeder neuen 
Erscheinung einen überraschenden Charakter. Es ist das Gefühl, das man auch 
bei dem Versprechen oder sonstigen Fehlhandlungen hat, das Gefühl der Über¬ 
raschung, der Entlarvung und der heimlich-unheimlichen Nähe der unbe¬ 
kannten Macht: des Unbewußten. Auch bleibt sehr oft die Entbindung der 
aufgesparten Kraft des so überrumpelten bewußten Ichs, das Lachen, nicht aus. 

Bevor ich weitergehe, muß ich noch von einem subjektiven und objektiven 
Umstand dieser Fälle in Kürze berichten. 

Gerade dieses subjektive Moment geht bei einer sprachlichen oder schrift¬ 
lichen Mitteilung zum größten Teile verloren, da das Moment der Unerwartet- 
heit hier wegfällt, ebenso wie die wirksamste Situationskomik durch eine 
Vorbereitung auf sie, durch Verminderung des überraschenden Elementes, ihre 
größte Wirkung einbüßt. Bei privaten Erörterungen solcher Fälle habe ich 
oft zu hören bekommen: Ja, dieser Fall überzeugt mich nicht, aber was ich 
erlebt habe, das hat schon etwas für sich. Daß hier nicht zuletzt auch wieder 
der Narzißmus im Spiele ist, das Wunderbare selbst erlebt zu haben, ist sehr 
wahrscheinlich. 

Ein objektives Moment ist demgegenüber der Zeitabstand, der zwischen 
meinen Gedanken und den „darauffallenden“ Worten des Patienten besteht. Diese 
Reaktionszeit ist immer eine kurze Spanne. Die Reaktion kommt, wie ein 
Donnern nach dem Blitze, mit dem Unterschiede, daß man bei den Gedanken¬ 
blitzen keine Ahnung eines darauffolgenden Donnerns hat und nur nach dem 
„Donnern“ gewahr wird, daß es vorher geblitzt hat. In ganz krassen Fällen 
kommen die Worte des Patienten wie ein prompter Schlag auf unsere Gedanken, 


„leb steige zumindest zwanzigmal die 
Stiege hinauf.“ 

„Und wenn mir etwas hier fünfund¬ 
zwanzigmal einfällt, muß ich es fünf¬ 
undzwanzigmal sagen?“ 

Sie hatte die Blutung in ihrem drei¬ 
zehnten Jahre bekommen. 

Bezeichnet das Haus, das im Traume 
vorkommt dort, von welcher Richtung 

der Bruder von.unter Nr. 23 

wohnt. 

„Mein Mann verlangte zum Nachtmahl 
Husaren rostbraten.“ 




















538 


Istvän Hollös 


manchmal nach einem längeren Zeitabstand, der jedoch nie über einige Sekun 
den währt. 

Bisher hatte ich nachzuweisen getrachtet, daß immer ein Verdrängungs- 
prozeß in der einen Person und eine Wiederkehr in entstellter Form des 
Verdrängten in der anderen Person besteht. Die Richtigkeit dieses Satzes möchte 
ich auch in anderer Richtung nachweisen. 

Ich konnte konstatieren, daß meine Fälle sich auffällig häuften in den Zeit¬ 
punkten, in welchen mich das Leben vor schwere Aufgaben stellte, wo ich 
Konflikte mit mir oder Besorgnisse hatte. In einer solchen Zeit, vor vielen 
Jahren, hatte ich fast mehr Fälle zu konstatieren als sonst in meiner ganzen 
Beobachtungszeit. Mit einer gewissen Beruhigung kann ich daher konstatieren 
daß in den letzten Jahren die Fälle sich seltener zeigen. Man kennt die 
sogenannten kritischen Tage, wo alles „schief geht“ und eine Fehlhandlung 
der anderen folgt. Ich hatte in jenen früheren Peiioden kritische Tage zu ver¬ 
zeichnen, wo ein telepathischer Fall der Spur des anderen folgte. 

Besonders bezeichnend sind in dieser Hinsicht jene, an welchen ein, zwei 
oder mehr Patienten nacheinander von derselben Angelegenheit sprechen oder 
träumen und dies aus einer äußeren, gemeinschaftlichen Quelle nicht begründet 
werden kann. Es sollen hier einige solche Fälle stehen: 

Fall 21. Eine Kranke (Stunde 10 bis 11) erzählt mir: „Zweimal habe ich 
geträumt, daß meine Mutter verrückt geworden ist.“ 

Die nächste Kranke (Stunde 11 bis 12): „Die Mutter des Hausfräuleins ist 
auf die Beobachtungsabteilung überführt worden.“ 

Die folgende Kranke (12 bis 1), am Ende der Kur, die zur letzten Stunde 
kommt, beginnt folgender weise: „Zuletzt bringe ich Ihnen einen verrückten 
Traum. “ 

In allen diesen Assoziationen kommt das Wort verrückt ( bolond ) in dieser 
Form vor. In jener Zeit hat mich aus vielen nahegehenden Gründen die Psychose 
stark affektbetont beschäftigt. Bemerkenswert ist, wie hier das Wort verrückt 
in zwei Fällen auf verschiedene Objekte bezogen, verschoben ward und wie im 
Traume und in der WTtztechnik im dritten Falle als Eigenschaftswort (ver¬ 
rückter Traum) benutzt worden ist. 

Fall 22. Eine Patientin träumt, daß sie sehr abgenutzte Pantoffeln trug 
und jemand ihre Schuhe angezogen hat. 

Fall 2ß. Eine andere Patientin an demselben Tag hatte den Traum, daß sie 
Schuhe gewechselt hat, da diese besser wären, doch waren diese auffallend 
abgenutzt und schäbig. 

An dem Vortage dieser Träume hatte die Patientin mit dem ersten Traum 
(Fall 22) nach langer Zeit und großen Widerständen einen Durchbruch ihrer 
aggressiven und zärtlichen Regungen in der heftigsten Art kundgegeben. Sie fing zu 
schreien und zu jammern an, warf sich zur Erde, schlug um sich und kroch dann 



























Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 


53 9 


zu meinen Füßen, die sie umschlang. Sie kam mit ihrem Gesichte dicht an meine 
Schuhe. Die analytische Arbeit in mir, um der Deutung dieser Handlung 
nachzuspüren (die Patientin wollte auch die Schuhbänder anzünden), konnte 
mich nicht abhalten an ganz persönliche Nebensächlichkeiten zu denken, die 
da waren, daß meine Schuhe sehr abgenutzt und schmutzig seien und daß 
ich schon lange Zeit zögere, mir neue Schuhe anzuschaffen. Meine weitere 
Selbstanalyse erwies nachher, daß der Vorfall in mir tiefe narzißtische Unlust¬ 
gefühle zurückließ. Diese anhaltende und verdrängte Kränkung meines Narzißmus 
konnte verantwortlich gemacht werden für die Erscheinung, daß zwei Patienten 
Träume gerade dieses gemeinschaftlichen Inhaltes gebracht haben. 

Fall 24. An einem Dienstagvormittag erzählt eine Patientin einen Traum, 
in welchem das Sanatorium, wo sie sich auf hält, und ein Liftjunge namens Pista 
(StefL) — auch mein Name — vorkommt. 

An demselben Tage nachmittags kommt eine Patientin mit folgendem Traume: 

Fall 2$, „Ich befinde mich in einem sehr hohen Gebäude und stehe an einem liftartigen Teil , 
cage , Abstieg, Es ist fürchterlich tief und zum Absteigen ungeeignet. Ich überlege , wie denn die Leute 
nicht daran denken , daß , wenn ein Gebäude so hoch ist, man herabsteigen könne. Später hing 
hier ein Strang, an welchem ich abzusteigen versuchte und besorgt war, ob denn der Strick halten 
wird. Das Seil hatte ein Gegengewicht. Unterdessen kam ein kleiner Lift in die Höhe , und ich 
denke , ob ich das Seil loslassen soll. Dann lasse ich mich doch hinunter und staune, wie ich 
ohne Gefahr hinunter gleit e; doch war ich oben , kam ich wieder hinunter. Dies wiederholt sich 
mindestens dreimal. Ich stand steif. Dann erzählte ich dem Herrn Doktor , daß ich so leicht 
geschwebt bin, wie dies im Traume zu sein pflegt. Dann antworten Sie, ob man dies nicht 
technisch, anstatt chemisch machen könnte .... Die Chemie, die man jetzt betreibt , ist keine 
analytische Chemie , nur technische Empirie ... P. (ein bekannter Soziologe und Nationalökonom) 
fragt höhnisch: Was ist analytische Chemie?“ 

Ich analysierte für mich die beiden Träume als die meinigen. In beiden 
Träumen fielen mir die auffallenden Bezüglichkeiten zu dem Lift ins Auge. 
Schon nach dem ersten Traume von dem Liftj ungen Pista fiel mir ein, daß 
vor zwei Tagen, also am letzten Sonntag, ein Wiener Kollege samt Frau und 
auch ein Budapester Kollege samt Frau zu uns zu Besuch kamen. Im deutschen 
Gespräche machte ich einen groben Sprachfehler. Der deutschen Sprache ziemlich 
kundig, mache ich doch manchmal unerklärliche Fehler. Die Gattin des Wiener 
Kollegen hatte mich lachend ausgebessert, und ich fühlte mich beschämt. Sie 
erzählte sogleich einen ähnlichen Fall von einem Kellner im Hotel, wo sie 
wohnten. Der Kellner ist sehr gesprächig, kann jedoch sehr schlecht Deutsch, 
hatte sich über Kopfschmerzen beklagt, da, wie er sagte, „hier viel liftiert 
wird“. Er wollte „gelüftet“ sagen. Es scheint, daß ich durch dieses „liftieren“ 
noch mehr gekränkt wurde, als ob ich gedacht hätte: Nun so arg ist es mit 
meinem Deutsch noch lange nicht. 

Ich hatte diese Erinnerung schon nach dem ersten Pista „Liftjungentraum 
beachtenswert gefunden und mit der Sonntagsbegebenheit und dem Traum, 










^ 4 ° Istvän Hollos 


nach der Stunde notiert. Zufällig bemerkte ich nachher, daß ich diese Notiz 
auf dem Umschlagblatte meines Notizheftchens unversehens dorthin geschrieben 
habe, wo ich am Sonntag eben diesen meinen Gästen den Grundriß der Irren 
anstalt skizzierte, in welcher wir damals wohnten. 

Der zweite Traum enthält ein wüstes Gewirr von Liftphantasien und ich 
bringe diese, ebenso wie auch im ersten Traume den Liftjungen, in Beziehung 
mit jener Begebenheit und meiner Beschämung am Sonntag. Merkwürdigerweise 
finde ich in diesem zweiten Traume auch ein Element, das mich an eine 
vielleicht an die größte Beschämung meines Lebens erinnern muß. 

Ich hatte vor dreißig Jahren eine Arbeit über die Verbreitung der progres¬ 
siven Paralyse in Ungarn geschrieben. Die Folgerungen, die ich damals auf¬ 
stellte, würde ich heute nicht im ganzen Umfange aufrechterhalten. Doch hatte 
die Arbeit aus ihrer soziologisch interessanten Einstellung in weiten Kreisen 
einen ziemlichen Erfolg und im großen Publikum Aufsehen erregt. Zur Beweis¬ 
führung hatte ich statistische Daten benutzt. Nun, von der Seite der Statistik 
wurde meine Arbeit arg angegriffen, und derjenige, der meine Arbeit unhaltbar 
fand, war gerade jener Herr P., der mich im Traume höhnisch fragt: Was ist 
analytische Chemie? Es muß hinzugefügt werden, daß ich damals eine Polemik 
mit P- einging, bei welcher P. noch schärfer erwiderte; eine Gegenantwort 
konnte wegen des Widerstandes des Redakteurs der Zeitschrift nicht erscheinen. 
Ich hatte zwei Beschämungen zu erdulden; die eine, daß ich eine Spezialwissen¬ 
schaft zu Hilfe nahm, in welcher ich meine Unzulänglichkeit — allerdings nicht 
in jenem Sinne, wie es mein Kritiker fand — anerkennen mußte, zweitens, 
daß ich meine Richtigstellung nicht veröffentlichen durfte und den Schein einer 
bedingungslosen Waffenstreckung erwecken mußte. 

Bemerkenswert ist, daß im Traume auch von einer Spezialwissenschaft — 
von der Chemie — die Rede ist, mit welcher die Patientin meine Tüchtig¬ 
keit vor P. beweisen will, der — vom Hörensagen aus — ein starker Gegner 
der Psychoanalyse ist. Bemerkt sei, daß die Patientin davon Kenntnis hatte, 
daß ich mich in jener Zeit mit Chemie befaßt habe. Es scheint, daß auch hier 
die Träume, wie oben die Assoziationen, in verschobenem Felde an Elemente 
rühren, die in mir peinlich sind und einer Verdrängung unterliegen. In diesem 
Falle war das Peinliche am Sonntag vorgefallen. Eine solche Beschämung scheint 
dazu geeignet zu sein, alle analogen, unlustbetonten Erlebnisse, welche verdrängt 
worden sind wie wir das aus der Traumarbeit kennen —, wieder zu er¬ 
wecken. Somit können, wie beim Entzünden einer Zündschnur, alle abgeblaßten, 
vorbewußten, wie auch ins Unbewußte verdrängten, narzißtischen Kränkungen 
aufflackern. Dieser Zustand, der bis ins Unbewußte mobilisierten und 
aktuell verdrängten Affekte, hier narzißtischer Kränkung, welchen man 
aktuell zu verdrängen, beziehungsweise nachzudrängen bestrebt ist, scheint eine 
Bedingung der oben beschriebenen Telepathie zu sein. Hier hatten 






















Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 


5-41 


Tagesreste vom Sonntag frühere verdrängte analoge, narzißtische Kränkungen 
geweckt, welche man wahrscheinlich bis in die Kindheit verfolgen könnte. Diese 
Elemente meines Seelenlebens lassen sich in der Deutung als Traumelemente 
beider Traume der Patientinnen auffinden. Ich könnte also daran denken, daß 
ebenso wie in den früher mitgeteilten telepathischen Einfällen der Patienten 
meine verdrängten Gedanken „versprochenhier meine verdrängten Ge¬ 
danken von den Patienten geträumt werden. 

Es entsteht auch die Frage, von wem die telepathische Übertragung ausgeht. 
Man ist nicht immer sicher, ob der Arzt oder der Patient der „Sender“ be¬ 
ziehungsweise „Empfänger“ ist. Es gibt Fälle, in denen nach dem ersten Eindruck 
der Patient meinen Gedanken wiedergab, doch konnte dieser mein Gedanke 
schon eine Übertragung von dem Patienten auf mich gewesen sein. 

Wir wollen hier solche Fälle betrachten, in denen der Gedanke des Patienten 
auf mich übertragen wurde. 

Fall 26 . Die Patientin fängt die Stunde mit der Mitteilung an, sie habe 
einen Traum gehabt, doch habe sie ihn vergessen. Sie ist, wie gewöhnlich, be¬ 
ängstigt, steht auf und wie sie es in einem solch erregteren Zustand zu tun pflegt, 
geht sie im Zimmer umher, kommt zu meinem Schreibtisch und sieht oben eine 
Schrift liegen. 

„Eine kuriose Schrift“, sagte sie, „Steilschrift, interessant. Wer mag der Mann 
gewesen sein?“ 

„Ja“, sage ich, „ein interessanter Mann. Ein Mathematiker.“ 

Nach einer Pause fahre ich fort: 

„Ein erstrangiger Mathematiker. Er hielt einmal in einem kleinen privaten 
Kreise von Gelehrten einen sehr klaren Vortrag über Einsteins Relativität“. 

Dann lasse ich mich sonderbarerweise noch weiter ein: 

„In diesem Kreise befand sich auch ein anderer Mathematiker.“ Ich wollte 
nicht den Namen nennen, doch fand ich nichts dabei: „Es war Professor B.“ 

Da schlug sich die Patientin auf die Stirne: 

„Von Professor B. habe ich geträumt“, und sie erzählte ihren Traum. 

Von diesem Professor war während unseren vielmonatigen Besprechungen 
nie ein Wort gefallen. Obwohl sein Name bekannt ist, steht er persönlich uns 
beiden ferne. 

Wie man bemerken kann, habe ich in diesem Falle eine größere Mitteil¬ 
samkeit, ich möchte sagen eine überflüssige Redseligkeit bekundet, was im all¬ 
gemeinen der analytischen Technik widerspricht. 

Es gibt zwar Fälle, wo man in dieser Hinsicht eine gewisse Nachgiebigkeit 
zeigt, die jedoch immer begründet sein muß. Nun, in diesem Falle wie auch 
in anderen späteren hatte ich nachher das Gefühl, daß ich mein Verfahren eher 
einer gewissen Laxheit, als einer Zielstrebigkeit zuzuschreiben war. In diesem 
Falle konnte ich allerdings nachher konstatieren, daß ich von Satz zu Satz, 









Istvän Holld^ 


542 


ohne bewußten Grund von dem Mathematiker weiter und weiter sprach und 
wie einem unbekannten Zwange folgend, eine Nachgiebigkeit bewies. Hier ist 
es klar, daß ich es war, der den Gedanken (hier den Traum) des Patienten 
empfing. Hier bestätigt sich auch, daß der telepathisch in mir empfangene Ge¬ 
danke des Patienten ein verdrängter, ein vergessener war. Gerade bei dieser 
Patientin wiederholten sich ähnliche Fälle öfters. 

Fall 27. Die Patientin vergaß wieder ihren Traum. Sie ließ davon ab, das 
Vergessene in Erinnerung zu bringen und fing an frei zu assoziieren. Da fiel 
ihr ein, daß gestern ihre Mutter eine Geldbörse verloren, dies erst sehr bedauert 
sich nachher damit getröstet habe, daß vielleicht arme Leute sie gefunden haben' 
Und dann wird der liebe Gott, so sagte die Mutter, ihren Kindern den Verlust 
vielfach vergüten. 

Da fiel mir eine Begebenheit ein, die uns jedoch anscheinend von unserer 
Arbeit weit wegführen hätte können. Nichtsdestoweniger überkam mich eine 
unerklärliche Neigung, wenn auch gegen meine Einsicht, die folgende kleine 
Geschichte zu erzählen: 

»Da fällt mir eine Geschichte aus der Zeit ein“, erzählteich, „als ich noch 
in der Irrenanstalt tätig war. Der Oberwärter kam zur Türe gerannt und die 
barmherzige Schwester frug den Hinauseilenden, wohin er laufe. 

„Ein Kranker ist durchgegangen “, sagt der Wärter außer Atem und will 
weiter. Doch die Schwester sagt ihm ruhig: 

„Lassen Sie ihn, laufen sie ihm nicht nach, der heilige Antonius wird ihn 
schon zurückbringen.“ 

Bei diesen Worten platzt die Patientin heraus: 

„Ich weiß schon den Traum. Vom heiligen Antonius, dessen Kapelle ich 
in N. in Italien gesehen habe, fällt mir ein Choral ein, davon habe ich geträumt.“ 

Fall 28. So ist es auch vorgekommen, daß der Patient meine vergessenen 
Gedanken hervorgebracht hat. 

Ich dachte an einen Ausflug, den ich in einer mir nicht angenehmen Ge¬ 
sellschaft hätte machen sollen. Dies war auch wahrscheinlich der Grund, wes¬ 
wegen mir der Name des geplanten Ausflugsortes entfallen war. Die Stunde 
fing an, und der erste Satz der Patientin war: 

„Pochenden Herzens denke ich . . .“ 

Der Name der Anhöhe, mir sonst ganz geläufig, ist „Pochender Stein“ 

(Dobogokö — dobogö szivvet). 

Fall 2y. Ich vergaß den Namen einer Kollegin, sonst ein geläufiges Wort. 
Ich dachte den Vormittag öfters daran, aber den Namen konnte ich nicht finden. 
Da sprach eine Patientin von einem jungen Manne, an dessen Namen sie sich 
nicht erinnern kann. 

Ich denke wieder daran, daß ich meinen vergessenen Namen suche, aber 
ich habe kaum Zeit nachzudenken, als die Patientin fortfährt: 





















Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 


543 


„Er ist jener gewisse Hajdu, der einen nie erkennt und dessen Namen ich 
gestern von einer gemeinsamen Freundin erfuhr/ 4 

Die Kollegin hieß Haj du. 

In welcher Richtung die Übertragung auch gehe, von mir auf den Patienten 
oder vom Patienten auf mich, müssen wir bei einem Erklärungsversuch von 
der Libido ausgehen. Bei dieser Gelegenheit werde ich mich jedoch nur auf 
Registrierung der Erscheinungen und Umstände beschränken, unter welchen 
dieselben entstehen. So viel muß ich jedoch hier vorausschicken, daß eine libidinöse 
Besetzung zur Entstehung notwendig ist und, wo keine Übertragung in der Be¬ 
handlung bestand, auch solche Erscheinungen kaum vorkamen. 

Somit kann die Realität des Libidobegriffes und der Übertragung eine neue 
Bestätigung gewinnen. 

Wenn man neben diesen Phänomenen ähnliche Erscheinungen in Betracht 
zieht, die auch außer der ärztlichen Praxis mit Fremden, Unbekannten Vor¬ 
kommen, so könnte man darauf schließen, daß die Libido einen weiteren 
Wirkungskreis hat, als man aus dem Aktionskreise der Sinn es Werkzeuge abzu¬ 
schätzen gewohnt ist. 

Ich werde einige Fälle mitteilen, die außer dem Arzt-Patient-Verhältnis stehen. 

Fall Ich hatte eines Abends in einer mich verletzenden Angelegenheit 
an einen Herrn telephoniert und mich, durch das Benehmen dieses Herrn auf¬ 
geregt, dazu hinreißen lassen, das beleidigende Wort: bauernhaftes Vorgehen 
{paraszt eljäras) zu gebrauchen. Im Ungarischen ist dies eine schwere Beleidi¬ 
gung. Nachher bedauerte ich die Unbesonnenheit. Dabei dachte ich auch an die 
Möglichkeit, daß mir Unannehmlichkeiten daraus erwachsen könnten. An diesem 
Abend begegnete ich einem Freunde und, obzwar mich die Angelegenheit und 
hauptsächlich das Wort „Bauer 44 , das ich nicht benutzen hätte sollen, ständig 
mit den Gefühlen der Beschämung, des Bedauerns, Unbehagens und einer damals 
leicht verständlichen realen Angst beschäftigte, habe ich von der Angelegenheit 
nicht geprochen. Mein Freund fing von seinem zwölfjährigen Sohne zu sprechen 
an und beklagte sich, daß er in der letzten Zeit öfters Angstzustände habe. 
Dann setzte er fort: 

„Ich muß bemerken, daß ich in diesem Alter ebenfalls an Angstzuständen 
litt. Besonders überkam mich eine Angst, als ich aus unserem Hause“ — sie 
wohnten in der damaligen Waitznerstraße — „herauskam und vom Dorfe 
Bauern wagen mit Schellen an den Pferden Paradeis brachten“ (Parasztkocsik 
paradicsommal). Bemerkenswert ist, daß das Wort, worüber ich mich so auf¬ 
geregt habe, — Bauer, ungarisch paraszt — im Satze des Freundes zweimal 
nachklingt: paraszt-paradicson. 

In ganz fremder Umgebung ereignete sich folgender Fall: 

Fall JI. Auf einer Reise von Wien nach Budapest nahm ich schon gegen 
Ende der Fahrt gelangweilt eine Wiener Zeitung zur Hand, um ein Kreuz- 














$44 


Istvan Ho11<5^ 


Worträtsel zu lösen. Inzwischen sprachen zwei fremde Herren im Abteil ziemlich 
laut über landwirtschaftliche Dinge. Ich kam bei dem Rätsel dazu, ein Wort 
mit sieben Buchstaben „eine griechische Göttin“ zu suchen. Der erste Buch 
stabe ist schon bekannt: M; ich denke eine Sekunde nach und sofort kommt 
mir die Lösung: Minerva. Doch hatte ich noch nicht Zeit, den Buchstaben i 
nach M zu schreiben, als der eine Herr dem andern sagte: „Die Leute kauften 
einen Minerva-Wagen.“ 

Und zuletzt noch einen Fall, den man nur dem Zufall zuschreiben sollte 
Fall J 2 . Während der Durchreise in einer österreichischen Stadt mache ich 
mir, im Zusammenhänge mit dem Falle eines Bekannten, lebhafte Vorstellungen 
darüber, wie sich Ehemänner auf Reisen manche Freiheiten nehmen. Ich stellte 
mir die Situation vor, wie ein Mann mit seiner Reisegefährtin in einem Hotel 
absteigt und sich und seine Dame als „Herr X und Frau X — Gattin“ meldet 
In diesem Moment biegt die Straßenbahn, mit welcher ich gerade fuhr, um die 
Ecke und da springen mir die auffallenden Buchstaben einer Firmentafel ins 
Auge: Gattinger. 

Ich weiß, daß ich durch die Mitteilung dieser letzten Fälle Gefahr laufe, kritiklos 
zu erscheinen und auch jenes Vertrauen, das die vorherigen Fälle erwecken 
konnten, zu verlieren. Ich kann und darf es auch nicht ausschließen, daß ich 
unbewußter weise unter die Macht animistischer Wünsche gerate. Doch dem 
wäre auch mit dem Verschweigen dieser so bekannten Fälle „von der Straße“ 
nicht abgeholfen. Es darf — vor der Untersuchung — der Ungläubig¬ 
keit ebensowenig Folge geleistet werden wie der Gläubigkeit. Ich 
habe mir auch die unglaublichsten Fälle notiert und werde es in einer bevor¬ 
stehenden Arbeit nicht verabscheuen, in der Menge derselben ebenfalls Ge¬ 
setzmäßigkeiten zu suchen. Was ich an dieser bisher fand, ist sehr wenig. Manch¬ 
mal scheinen diese Zufälligkeiten — wie in dem 32. Fall — der Witztechnik 
zu folgen. Doch hoffe ich, wenn ich nichts finden kann, auch den Mut zu haben, 
die Mutmaßungen nach dieser Richtung hin fallen zu lassen. 

* * * 

Zum Schlüsse möchte ich hier einige lose Bemerkungen anknüpfen. Fast alle 
Fälle müßten weiter analysiert werden. Ich hatte bei der Fortführung der Analysen 
mancher Fälle, ebenso wie bei den Analysen der Träume oder Symptome, die 
Erfahrung gemacht, daß sie vieldeutig sind und hochwertige Verdichtungen von 
verschiedenen Strebungen repräsentieren. 

Weiters hatte ich mir eine Theorie dieser telepathischen Übertragung zurecht¬ 
gelegt. Diese Theorie, von weicher ich heute eingehender nicht berichten kann, 
hat eine Geschichte. Wie ich oben schon angeführt habe, sprach ich von diesen 
Erscheinungen sehr lange, im Jahre 1915 mit Ferenczi, als wir uns zufälliger¬ 
weise auf der Reise von Wien nach Budapest auf der Bahn trafen. Damals 






















PsydLopatkologie alltäglich er telepathischer ErsdieiiiuDgen S^S 

befaßte ich mich mit einer anderen Frage, mit dem Problem der Nervenbündel¬ 
kreuzung. Gemeinsam mit einem Physiker stellte ich die Theorie auf, daß die 
Kreuzung beziehungsweise die Achsendrehung der Nervenbündel die Aufhebung 
der störenden „Induktionsströme“ bezweckt und nur dort besteht, wo die Nerven¬ 
bündel nicht korrespondierende Reize leiten. Ich sprach also von einer Nerven- 
induktion. Mit dem Worte „Induktion“ machte jedoch Ferenczi eine Wendung 
des Themas zu den telepathischen Erscheinungen, die er Induktion des Unbe¬ 
wußten zweier Personen benannte. Nach vielen Jahren nun konnte ich den Ein¬ 
fall wagen, daß diese Erklärung der Nervenkreuzung vermitteh-einer „neuromotori- 
schen Induktion und jene Induktion der Unbewußten nicht nur zufällig, sondern 
auch logisch zu verbinden sind. Wenn nach unserer Theorie eine intra¬ 
individuelle Nerveninduktion besteht, so kann eine solche auch int er individuell 
Torgestellt werden. Diese induzierte Fernwirkung des Nervenreizes im Nerven¬ 
system könnte dieErklärung der sogenannten telepathischen Wirkungen zwi sehen 
den Nervensystemen verschiedener Personen abgeben. Doch glaube ich über diese 
Frage bei späterer Gelegenheit eingehender sprechen zu können. 

Zuletzt ein Wort über einen Gedanken, der sich einstellen muß, wenn 
tatsächlich eine solche Gedankenübertragung zwischen dem Arzte und dem 
Patienten während der analytischen Arbeit bestehen würde. Der Analytiker 
müßte dann mit solchen Faktoren rechnen, welche ohne sein Wissen und 
ohne sein Zutun, also unberechenbar wirksam sind. Ich glaube aber, es wäre 
verfrüht, aus diesen Erscheinungen heraus heute praktische Konsequenzen 
zu ziehen. 

Wenn man jedoch die Technik der Psychoanalyse näher betrachtet, so sieht 
sie so aus, als ob sie durch das Gefühl einer solchen unbewußten Beziehung 
zwischen Arzt und Patient beeinflußt worden wäre. Allerdings ist es wahr, 
daß alles rationell begründet ist: Wir sind berechtigt, unsere eigenen Ein¬ 
falle in der Deutung der Träume anderer zu benutzen, da in allen 
Menschen gemeinschaftliche Mechanismen der Verdrängung, der Abwehr und 
Symbolbildung herrschen. Die Bedingung, unter welcher die Einfälle des 
Arztes in das Deutungsmaterial des Patienten „hineinpassen“, daß der Arzt 
von Komplexen, welchen der Patient unterliegt, frei sei, um frei assoziieren 
zu können, ist auch ziemlich rationell. Doch gerade dieser Punkt, die Be¬ 
dingung der inneren Freiheit des Arztes, kann auf Grund der oben angeführten 
Erfahrungen eine tiefere Bedeutung gewinnen. Wir sagten bisher, daß der 
Arzt, der mit Eigenkomplexen kämpft, den ähnlichen Klagen des Patienten 
gegenüber ebenso verdrängen und abwehren wird wie der Kranke. Mit einer 
Heilung, Aufhebung dieser Verdrängung des Arztes selbst, wird er den Ver¬ 
drängungen des Patienten gegenüber frei und dem verdrängten unbewußten 
Material gegenüber empfänglich. Nach den oben angeführten Fällen könnten 
wir auch sagen, daß gerade die Verdrängung des Patienten, dem freien emp- 
Imago XIX. 


55 












Istvan Hollös: Psychopathologie alltäglidier telepathischer Erstellungen 


fänglichen Unbewußten des Arztes gegenüber die geeigneteste Situation für 
eine eventuelle Kommunikation der Unbewußten darstelle. 

Wir machen manchmal die Erfahrung, daß nach langer analytischer Arbeit, 
trotz entsprechender Deutungen und trotz der Einsicht des Patienten, das 
Symptom sich nicht löst, bis plötzlich ein Wort, das sich uns aufgedrängt 
hat, wie eine Erleuchtung wirkt. Das alte Problem hat sich gelöst, die 
Situation, die vorher nur verstanden wurde, wird jetzt zwingend, überzeugend, 
ohne daß wir in dem Worte selbst, das diese Wirkung hervorbrachte, eine 
Erklärung dieses Wunders auffinden könnten. Wir erklären den Erfolg aus 
der endlichen ^Virkung des Durcharbeitens und der Wiederholung. Diese 
Geduldarbeit ist wahrscheinlich zum Erfolge unvermeidlich. Doch sollen wir 
nach den vorgebrachten Tatsachen ausschließen, daß das erlösende Wort, das 
in seiner Verdichtung den Patienten im Zentrum traf, eigentlich das tiefst- 
verdrängte Wort des Patienten war, das dank der günstigen Situation dem 
Arzt übertragen wurde? 

Wir haben hier eine Vermutung ausgesprochen, die uns Tatsachen auf¬ 
gebürdet haben. Über ihre Richtigkeit entscheide die Untersuchung, die sehr 
kompliziert zu sein verspricht. Und wir wiederholen, daß die von vorne- 
herein zurückweisende Haltung des Unglaubens ein hochtrabender Deckmantel 
unerledigter Gläubigkeit ist. 


Bemerkung der Redaktion 

Seit der Niederschrift dieser Arbeit ist auf Grund der jüngsten Ausführungen 
Freuds (Neue Folge der Vorlesungen , S. 42ff.) das hier behandelte Thema 
innerhalb einzelner Gruppen der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 
zum Gegenstand lebhafter Erörterung geworden , in der oft einander wider¬ 
sprechende Standpunkte vertreten wurden. Im Einvernehmen mit Dr. Hollos 
ergeht daher an dieser Stelle an Leser und Mitarbeiter der Imago die Bitte , 
durch — gegebenenfalls nur kurze — Mitteilungen von Einzelbeobachtungen 
oder aber durch — etwa auch nur thesenhaft formulierte — Diskussion grund¬ 
sätzlicher Fragen die Einsicht in den Problemkreis „Psychopathologie alltäglicher 
telepathischer Vorgänge 66 zu fördern. Bisher haben Prof. Schilder (New York) 
und Frau Dr. Grete Bibring-Lebner (Wien) Beiträge zugesagt. 

Die Redaktion. 
























r 

BESPRECHUNGEN 

Aus der psyckoanalytiscken Literatur 

Bennett, Victoria und Isaacs, jSusan: HealtL. and Education in tlie 
Nursery. London, George Routledge, 1932. 

Victoria Bennett schildert die körperliche, Susan Isaacs die seelische Ent¬ 
wicklung des kleinen Kindes. Susan Isaacs’ klare, für jedermann verständliche 
Ausführungen über die normale Entwicklung des Kindes mit all ihren Schwierig¬ 
keiten und Konflikten werden durch reiche Beispiele illustriert. Es besteht 

bei psychoanalytischen Schriften über Pädagogik die Gefahr, daß entweder _ 

aus der Erkenntnis der komplizierten Struktur und der tiefen unbewußten 
Determinierungen der Neurose heraus — die Möglichkeiten, sie durch ver¬ 
nünftige pädagogische Maßnahmen zu beeinflussen, unterschätzt werden, oder 
aber, daß gerade unser Verständnis der neurosebildenden Faktoren dazu ver¬ 
führt, einige dieser Momente herauszugreifen und ein richtiges Verhalten der 
Eltern in bestimmten Punkten zum Allheilmittel zu stempeln. Susan Isaacs 
entgeht in glücklicher Weise sowohl der Scylla der Unterschätzung wie auch 
der Charybdis der Überschätzung pädagogischer Maßnahmen. Ihre auf Ein¬ 
fühlung, praktischer Erfahrung und theoretischer Erkenntnis beruhenden Rat¬ 
schläge werden sicherlich in vielen Fällen eine große Hilfe sein. 

M. Sdx mideberg (London) 

Dell, Floyd: An Autokiograpliical Critique. Psydioanalytic Quar- 
terly I, igSa, aS. 716 — y 3 o. 

Der amerikanische Dichter Floyd Dell nimmt die Lektüre eines Buches 
von Rank zum Anlaß, um an seiner mit überraschendem psychoanalytischem 
Verständnis dargestellten Autobiographie, die man besser eine Autoanalyse nennen 
könnte, zu untersuchen, welche Motive ihn selbst zur dichterischen Produktion 
veranlaßt haben mögen. Die Untersuchung zwingt, Rank, der die Bedeutung 
der infantilen Sexualität für die dichterische Produktion neuerdings herabzu¬ 
setzen versucht, Unrecht zu geben. Die dichterische Produktion erscheint auch 
hier wieder, wie Freud uns gezeigt hat, als ein erfolgreicher Ausweg aus 
schuldbeladener Introversion, die aus den Kämpfen zwischen Ödipuskomplex 
und entgegenstehender Angst entstand. O. Fenichel (Oslo) 

Glover, Edward: V^ar, iSadism and Pacifism. London, George Allen 
and Unwin, 1933. 148 ^Seiten. 

Der Krieg ist bisher mit ethischen und ökonomischen Argumenten bekämpft? 
aber nicht vom psychologischen Standpunkt aus untersucht worden. Obzwar 
die Richtigkeit der Argumente „Du sollst nicht töten“ und „Der Krieg lohnt 
nicht“, wohl kaum angezweifelt wurde, blieb die Propaganda der Pazifisten 
ziemlich wirkungslos. Das vorliegende Buch versucht, die Ursachen für diesen 
Fehlschlag aufzudecken und das Problem des Krieges psychologisch zu er¬ 
forschen. 



35’ 









5^8 


Besprechungen 


Schon die einfache Beobachtung ergibt, daß Kriegshandlungen nicht nur 
aus Gehorsam erfolgen, sondern daß bei ihrer Ausführung oft auch bewußt 
Befriedigung oder Faszination empfunden wird. Deutlicher äußern sich die 
sadistischen Regungen in Ausnahmefällen. Ein Gefreiter, im Frieden ein braver 
Kanzleischreiber, benutzte jede Möglichkeit, um gefallenen Feinden die Zähne 
zu ziehen. Diese Leidenschaft, die Zähne der Feinde zu sammeln unter¬ 
scheidet sich ebenso wie das Sammeln von Pickelhauben nicht wesentlich von 
den Kopfjagden der Primitiven. Unsere sadistischen Regungen finden — i n 
gemilderter Form — ein Ventil, wenn wir z. B., behaglich am Frühstücks¬ 
tisch sitzend, voller Interesse vom Blutvergießen im fernen Osten lesen. Offener 
ist der Sadismus zu erkennen, wenn statt Interesses Schadenfreude empfunden 
wird. Der im „Opfern“ der eigenen Angehörigen sich äußernde Sadismus ist 
unbewußt. Es ist immer die Generation der Väter, die die Söhne in den 
Krieg sendet. (Vgl. Abrahams Opferung Isaaks.) 

Wenn sich manche Manifestationen des Sadismus auch deutlich genug be¬ 
obachten lassen, so sind ihre Wurzeln doch immer unbewußt und infantil. 
Der Sadismus wird wesentlich durch Angst verstärkt. Das aggressive Verhalten 
eines „schlimmen“ Kindes ist durch Angst bedingt und hört auf, wenn die 
Angst sich mildert. Ähnlich darf man wohl annehmen, daß es die Angst ist, 
die die Nationen angriffslustig macht. Der Angriff ist die beste Verteidigung. 
Diese Angst hat einen weitgehend irrealen Charakter. Ähnlich wie die Primitiven 
sich von Geistern verfolgt fühlen und Kinder vor harmlosen Tieren Angst 
empfinden, auf die sie ihre eigenen primitiven Regungen projizieren, so 
schreiben auch Nationen ihre sadistischen Regungen gerne anderen Völkern 
zu. Im Kriege war es immer der Feind, der Verwundete mißhandelte oder 
aus Leichen Kerzen fabrizierte. — Eine Phase in der normalen Bewältigung 
der Aggression ist die Aufrichtung einer moralischen Instanz im Ich (das 
Über-Ich). Auf diese Art wird die Aggression von der Außenwelt abgelenkt 
und gegen sich selbst gewendet. Erfolgt dieser Prozeß in extremem Maße, so 
entsteht quälende Spannung. Dieser kann man entgehen, wenn es gelingt, die 
Aggression wieder gegen die Außenwelt zu richten, wenn man z. B. im Dienste 
des Über-Ichs angeblich grausame Feinde angreift. So kann der ursprüngliche 
Sadismus durch die Moral verstärkt werden. 

Im Kriege, im Lagerleben usw. kommen (sublimierte) homosexuelle Impulse 
auf ihre Kosten. Haß und Anstrengungen werden auf den „Feind abgeschoben, 
und nun können sich die Gefühle der Liebe den Kameraden (Brüdern) und der 
Unterwerfung den Vorgesetzten (Vätern) gegenüber ungetrübt von Ambivalenz 
äußern. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird auch durch das Wissen ver¬ 
stärkt, daß man auf ihren Schutz gegen reale und irreale Ängste angewiesen 
ist. So werden Liebesregungen intensiviert, um als Schutz gegen Angst und 
Haß zu dienen. Sexualsymbolische Vorstellungen spielen beim Phänomen des 
Krieges eine große Rolle. Die „Feinde“ sind immer Männer, nie Frauen. 
Man will den bösen Feind (Vater), der die Heimat (Mutter) angreift, Frauen 
vergewaltigt, in ein „kleines unschuldiges Land“ einrückt, an seinem Vorhaben 
hindern. 



















Besprechungen 


649 


Der Masochismus arbeitet dem Selbsterhaltungstrieb entgegen und kann 
ihn in extremen Fallen ganz lähmen. Nur durch den Masochismus ist die 
Wirkungslosigkeit aller rationellen Argumente gegen den Krieg zu erklären. 
Der primäre Masochismus wird sekundär durch den gegen sich selbst gewendeten 
Sadismus und durch das Strafbedürfnis verstärkt. Gefahren und Mißhandlungen 
befriedigen den Masochismus und versöhnen das Über-Ich. Ein gemäßigter 
Masochismus kommt im Genießen des rauhen Lagerlebens und der Disziplin, 
in Selbstaufopferung usw. auf seine Kosten. Der moralische Masochismus läßt 
sich gegen den bewußten Altruismus nur schwer abgrenzen. 

Der Krieg ist ein Versuch, vehemente Triebkonflikte zu lösen, er stellt 
einen Selbstheilungsvorgang dar, der der Hoffnung entspringt, einen Zusammen¬ 
bruch zu vermeiden, der aber in verzweifelter Auflösung endet. Krieg und 
Frieden sind keineswegs Antithesen, sondern verschiedene Ausgänge kompli¬ 
zierter Prozesse. Dem Freigeben vieler sadistischer Regungen im Kriege steht 
eine vermehrte Unterdrückung anderer durch strenge Disziplin entgegen. Es 
läßt sich mit approximativer Richtigkeit sagen, daß der Krieg einer katharti- 
schen Abreaktion entspricht, während der Frieden auf einer Reaktionsbildung 
(Abwehr der Aggression) beruht. Doch wäre es z. B. wichtig, die Beziehungen 
zwischen dem Interesse für Krieg und dem Interesse für Krankheiten, Unfälle, 
Mißbildungen usw. zu kennen und zu wissen, wie Krieg und Kriminalität 
sich zueinander verhalten; ob der Frieden zwischen den Nationen die Be¬ 
kämpfung der Kriminalität und die Justiz zur Voraussetzung hat? 

Krieg und Pazifismus haben gemeinsame Wurzeln . 1 Der Pazifist muß den 
Krieg bekämpfen, um seine eigenen sadistischen Regungen zu bewältigen. Je 
fanatischer ein Pazifist ist, um so mehr wehrt er seinen eigenen Sadismus 
ab, den er nicht überwunden hat, und um so eher bildet er eine Gefahr für 
den Frieden. Der Pazifist, der etwas „tun“ muß, bewältigt seine Konflikte in 
ähnlicher Weise, wie der Zwangsneurotiker, während der Mann aus dem Volke, 
der nicht einmal von etwas hören will, was an den Krieg erinnert, dem 
Hysteriker, der seinen Konflikten durch Amnesie entgeht, entspricht. 

Die Befürchtung, „Noch ein Krieg, und das Ende der zivilisierten Welt ist ge¬ 
kommen' , entspringt der Angst vor den eigenen überwältigenden Triebregungen 
und erinnert an die Weltuntergangsphantasien gewisser Geisteskranker. Der 
Pazifist und der Krieger unterscheiden sich von den andern Menschen dadurch, 
daß sie aus ihrem Verhältnis zum Krieg, ihrer Angstabwehr und ihrer Be¬ 
wältigung des Sadismus einen Beruf machen. Versuche, die Ursachen des Krieges 
ausschließlich in wirtschaftlichen Momenten zu sehen sowie durch Abrüstung 
einen künstlichen Friedenszustand herstellen zu wollen, entspringen dem Wunsche 
nach „Rationalisierung“, einer Verleugnung der psychologischen Faktoren und 
lenken nur von dem eigentlichen Problem ab. Deshalb sind sie letzten Endes 
dem Verständnis und der Prophylaxe des Krieges nur hinderlich. Kein Frieden 
kann haltbar sein, der nur auf Hemmung des Sadismus beruht. Der Krieg 


1) Einer der bekanntesten englischen Pazifisten ist zugleich der Autor eines be¬ 
merkenswerten Kinderbuches, betitelt „Little Wars“. 












55o Besprechungen 


stellt kein isoliertes Problem dar; wir können ihn nicht verstehen, ohne 
die Wurzeln, die Intensität und die Abwehrmechanismen des Sadismus zu kennen. 
Wir dürfen nicht in den Fehler des Arztes vor etwa 50 Jahren verfallen, der, 
nur um „etwas zu tun“, an Hysterikern die absurdesten Operationen vornahm, 
ohne etwas davon zu verstehen. Der erste Schritt zur Vorbeugung des Krieges 
ist sein Verständnis. Während medizinische, biologische, landwirtschaftliche 
Untersuchungen reichlich unterstützt werden, gibt nicht ein Land der Erde 
einen Penny zur Förderung des psychologischen Verständnisses des Krieges 
aus. 

Das Schlußkapitel enthält einen groß angelegten Entwurf für künftige Unter¬ 
suchungen, die sich kurzfristig auf einen Zeitraum von 5 — 50 Jahren und 
langfristig auf einen von 100—1000 Jahren erstrecken und die Wechsel¬ 
beziehungen von Krieg und Frieden erforschen, die Phänomene des Krieges, 
des Pazifismus und bestimmter Probleme des Friedens (bei den primitiven und 
zivilisierten Völkern im Erwachsenen-, Jugend- und Kindheitsalter) beobachten 
und ergründen sollen. 1 Diese Ergebnisse wären durch kriminologische, ethno¬ 
logische, massenpsychologische Spezialuntersuchungen, durch Erforschung der 
Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Umgebung über die Bedeutung 
und Tiefe der „Rationalisierungsmechanismen“, des Problems, in wieferne öko¬ 
nomische Faktoren des Krieges zur Verdeckung tieferer Motive dienen, usw. 
zu ergänzen. 

Eine wirksame Prophylaxe des Krieges müßte in der Kinderstube beginnen. 
Eine Änderung der Umgebung könnte nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn 
sie imstande wäre, die Projektions- und Verdrängungsmechanismen grundlegend 
zu beeinflussen. Dies vermag sie nicht, ebensowenig wie sie es vermeiden 
kann, Versagungen aufzuerlegen, die die Agression des Kindes wecken. Wäre 
die Umgebung imstande, ihren eigenen Sadismus auszuschalten, so könnte sie 
wohl oft — aber bei weitem nicht immer — dem Kinde helfen, seinen 
Sadismus besser zu verarbeiten. Eine grundlegende Änderung in der Bewältigung 
des Sadismus könnte nur eine Psychoanalyse erzielen. Heute erscheint die Idee, 
große Teile der Bevölkerung zu analysieren, utopisch; doch ließe sich diese 
Utopie für weniger als oT Prozent der Rüstungskosten verwirklichen. Aber 
es läßt sich vorstellen, daß es einmal ebenso gefährlich erscheinen wird, daß 
ein Psychopath, Neurotiker oder gar ein hart an der Grenze der Geisteskrankheit 
Stehender eine verantwortliche Stellung einnehme, wie daß ein Cholera¬ 
verdächtiger oder ein Bakterienträger in einer Milchwirtschaft beschäftigt werde. 
Es könnte die Zeit kommen, in der es als „faux pas“ betrachtet würde, wenn 
ein Hysteriker mit Angstzuständen Kabinettsminister würde oder wenn ein 
Mensch mit Verfolgungsideen während einer internationalen Krise Gesandter 
wäre oder ein an Entschluß Unfähigkeit und Zwangszweifeln leidender Neurotiker 
zum Präsidenten einer Abrüstungskonferenz gewählt würde. 

Autoreferat 


1) Vgl. die Beziehungen zwischen: Animismus-Magie, Religion-Vergebung, Sozio 
logie-Friedenskonferenzen. 


















Besprechungen 


55i 


Isaacs, iSusan: Tke Cluldren we Teack. iSeven to Eleven Years. 

University of London Press. London 193». 176 iSeiten. 

Dieses für Lehrer bestimmte Buch versucht zu zeigen, daß Kinder mehr 
sind, als bloße Objekte zum Unterrichtet werden. Dieses Buch zeichnet sich 
ebenso wie die früheren Schriften der Verfasserin durch die lebhafte und 
allgemeinverständliche Darstellung, durch tiefes Verständnis, reiche Erfahrung 
und zahlreiche gut gewählte Beispiele aus. M. ScLmideterg (London) 

Laforgue, Rene: ALisere de l’komme. Recit. Paris, Denoel et Steele. 

193». 3 ^ 2 , Seiten. 

Ein psychoanalytischer Roman von einem Psychoanalytiker verfaßt, ruft im 
ersten Augenblick bei jedem von uns ein Stück affektiver Abwehr hervor, die 
rationalisiert in Form des Einwandes, ein solcher Roman sei eine contradictio 
in adjecto , bewußt wird. Diese affektive Abwehr beruht meist darauf, daß die 
Gegner der Analyse dieser die wissenschaftliche Basis absprechen und sie, besten¬ 
falls bagatellisierend, als literarische Angelegenheit gelten lassen, d. h. nicht ernst 
nehmen wollen. Diese ironisierende Einstellung der Außenwelt ruft wieder beim 
Analytiker ein Stück ubio Abwehr hervor, die sich im Überbetonen der Wissen¬ 
schaftlichkeit äußert. Gelingt es aber, von dieser affektiven Abwehr zu abstrahieren, 
bleiben noch immer recht triftige Gründe gegen die Berechtigung des analytischen 
Romans bestehen. Und zwar: im Roman müssen zum Zwecke der Verständlich- 
machung die komplizierten Vorgänge einer Analyse notwendigerweise simplifiziert 
werden. Oder: die Tatbestände werden bis in alle Einzelheiten wiedergegeben, 
dann müssen wieder die Erklärungen und Deutungen „gemildert“ sein, da sie 
die Außenwelt nicht glauben kann und der Romancier auf seine Leser Rück¬ 
sicht nehmen muß. Denn die ubiv Tatbestände sind für den Laien, für den 
der Roman bestimmt ist, so unwirklich, daß zwischen der Scylla, der bis an 
die Grenze der Lächerlichkeit gehenden Unwahrscheinlichkeit für den Laien, 
und der Charybdis der simplifizierenden, allzu konzessionsbereiten Retusche 
schwer ein Mittelding zu finden ist. 

Die Arbeit von Rene Laforgue bringt dieses Dilemma nicht, da sie kein 
analytischer Roman und eine Aufklärungsschrift über Psychoanalyse in Form 
eines „ recit “ sein will: 

Le cas decrit dans ce journal est un cas fictif. Je Vai imagine pour fa- 
miliariser 1 uvec les problemes de notve etre tous ceux cjui ont besoin de 
connattre Ict verite nue , soit pour se compr endr e ou se guerir* soit pour com- 
prendre ou guerir autruii grdce clu genie de Freud , nous le pouvons desormais. 

Laforgue stellt in seinem Buche in den Mittelpunkt einen passiv — femininen — 
ubio homosexuellen Mann, mit der für diese Fälle typischen launenhaften be¬ 
ziehungsweise versagenden Potenz, Spaltung in die zärtliche und sinnliche Kom¬ 
ponente und überstarken ubiv Selbstbestrafungstendenzen. Ein wenig atypisch 
sind Mordimpulse gegen die Frau, zwangsneurotische Ideen, wie das an das 


1) Vom Ref. gesperrt. 









552 


Besprechungen 


Skelett-denken-Müssen beim Anblick von Frauen. Dieser Patient führt ein fiktives 
Tagebuch, in dem er seine Impressionen während der analytischen Kur sporadisch 
wiedergibt. Wir lernen ihn bereits in einer Phase positiver Übertragung kennen- 
er versucht, alle seine Bekannten zur Analyse bei seinem Arzt zu überreden 
Der Bekanntenkreis des Patienten besteht ausschließlich aus Neurotikern und 
homosexuellen Perversen. Diese Häufung von kranken Menschen hat offenbar 
didaktischen Sinn: der Autor will zeigen, was sich unter der gesellschaftlichen 
Oberfläche abspielt, soweit die sexuelle „Misere de l’homme“ besteht, wobei 
er vor allem die Potenzstörung und Frigidität schon wegen ihrer Häufigkeit 
hervorhebt. Man begreift, daß Laforgue dem Leser nicht allzuviel an analytischen 
Erklärungen zumutet. So kommt es, daß von Widerständen und der negativen 
Übertragung kaum gesprochen wird, ebensowenig von den Konflikten der Über¬ 
tragung überhaupt. Der Analytiker kommt im Bericht des Patienten meist bloß 
als geistvoller Deuter ubiv Zusammenhänge vor. Die tieferen analytischen 
Deutungen, die lange Dauer der Kur, die Kämpfe der Lösung der Übertragung 
sind kaum gestreift. Laforgue will mit diesem Buch vor allem den Neurotikern sagen : 
Es gibt Hilfe für euch. Man denkt bei der Darstellungsweise Laforgues unwill¬ 
kürlich an den hübschen Ausspruch eines dramatischen Dichters: Ich lasse den 
Vorhang in die Höhe gehen, wenn es interessant wird, und lasse ihn fallen, 
wenn ich recht behalten habe . . . Niemand konnte besser als Laforgue ent¬ 
scheiden, ob die Wirkung des Buches in Frankreich (für welches es bestimmt 
ist) unter den gegebenen Verhältnissen, dem jeweiligen Stand der Feindschaft 
gegen die Analyse, ihrer Verbreitung beim großen Publikum usw., die gewünschte 
sein kann. 

Was an dem Buche Laforgues besonders sympathisch berührt, ist der thera¬ 
peutische Optimismus des Autors, der hinter seinen Worten sichtbar ist. 

E. Bergler (Wien) 

Reidi, AVillielm: Der Eintrudi der iSexualmoral. Berlin, Verlag für 

Äexualpolitik, 1932. xZy iSeiten. 

Die Besprechung dieses Buches soll von den positiven Behauptungen des 
Verfassers ausgehen. Reich stützt sich auf folgende Annahmen: 

Am Anfang der menschlichen Gesellschaft stehe die matrilineare Organisation. 
Der Bruder verkehrte mit Schwester und Mutter. Durch die „wirtschaftliche 
Tatsache des Heiratsgutes entstand die Institution der „Cross-cousin“ - Heirat 
auf folgende Whise: In der mutterrechtlich organisierten Gesellschaft mit freier 
Liebe hat nur der Mann Interesse an der monogamen Dauerehe, weil er mit 
der^ Frau eine Mitgift, d. h. eine jährliche Kontribution von Gartenfrüchten 
(Reich nennt sie „Heiratsgut ) erhält. Der Mann bekommt als Gatte „Heiratsgut M , 
muß aber als Bruder „Heiratsgut abgeben. Als schlauer Geschäftsmann erfindet 
nun der „Primitive einen Kniff, um das von ihm gelieferte Heiratsgut wieder 
zurückzubekommen. „Er bezieht durch seine Frauen von ihren Brüdern Heiratsgut, 
das er zu einem großen Teil an die Gatten seiner Schwestern weitergeben muß. 
Heiratet nun eine seiner Nichten seinen Sohn, so kehrt das Heiratsgut wieder 
zu ihm zurück, denn sowohl sein Neffe (Schwestersohn und Erbe) als auch 















Besprechungen 


553 


die Eltern der Nichte, also ihr Vater, der Schwager des Häuptlings, müssen 
Heiratstribut an seinen Sohn alljährlich und so lange liefern, wie die Ehe be¬ 
steht“ (S. 43). 

Es sprechen viele psychologische und psychoanalytische Gründe gegen eine 
solche Deutung. Ich will aber den Versuch machen, an Hand der Tatsachen 
meine Überzeugung von der Unrichtigkeit der Auffassung R.s als Ethnologe 
zu begründen. 

Im Jahre 1930 habe ich eine matrilineare Gesellschaft auf der Normanby- 
insel (Duau) studiert. Meine Leute waren durch die Kunefahrten (Mali¬ 
no vski = kula) und auch sonst in ständigem Kontakt mit den Trobriand- 
inseln. Mein Hauptgewährsmann hatte dort drei Jahre verbracht und kannte 
die meisten der in Malinowskis Buch 1 photographierten und erwähnten Ein¬ 
geborenen persönlich. Einzelne von Malinowski berichtete Vorfälle, die ich 
ihm wiedererzählte, konnte er bestätigen oder ergänzen. Ich kam auch mit 
anderen Eingeborenen aus den umliegenden Inselgruppen zusammen und hatte 
oft Gelegenheit, mit ihnen über Übereinstimmungen und Unterschiede in ethno¬ 
graphischen Einzelheiten herrschender Sitten zu sprechen. Da ergab sich denn, 
daß die Bräuche auf den Trobriandinseln und auf Murua (Woodlark) mit¬ 
einander im großen und ganzen übereinstimmen, von allen anderen aber, 
d. h. von denen auf Duau, Tubetube, Bwayowa, Basilaki usw. in einigen wichtigen 
Zügen abweichen. Zu den abweichenden Punkten gehört insbesondere die In¬ 
stitution des Häuptlingtums und die Einstellung der Gesellschaft zur Sitte des 
vorehelichen Geschlechtsverkehrs. Häuptlinge im eigentlichen Sinne des Wortes 
sind in echt melanesischen Dörfern nicht zu finden; man muß daher annehmen, 
daß es sich hier um eine aus einem anderen Kulturgebiet (Polynesien) entlehnte 
Institution handle. Es wurde auch immer wieder betont, daß die Eingeborenen 
von Boyowa anders sind als andere Papua. Ihrer Anschauung nach ist Boyowa 
wenig sittenrein. Im geschlossenen melanesischen Kulturgebiet steht also Boyowa 
(Trobriand) abseits, und hier wiederum läßt die Institution des Häuptlings auf 
fremde Kultureinflüsse schließen. In dieser ganz spezifischen, offenbar nur einmal 
vorkommenden Situation versucht nun Reich eine Entwicklungsphase der Mensch¬ 
heitsgeschichte zu sehen, für deren regelhaftes Vorkommen er eintritt. Um 
seine Hypothese auch nur einigermaßen zu stützen, müßte er nun die Aus¬ 
schließlichkeit oder Priorität jener spezifischen Form des „Cross-cousin-marriage“ 
erweisen, die auf den Trobriandinseln bevorzugt wird, die Ehe nämlich zwischen 
Brudersohn und Schwestertochter, mit Ausschluß der Ehe zwischen Bruder¬ 
tochter und Schwestersohn; ferner müßte er nachweisen, daß Cross-cousin- 
Ehe und Heiratsgut häufig zusammen auftreten oder wenigstens, daß das Heiratsgut 
in der Form, in der es uns bei den Trobriandinsulanern begegnet, allgemein 
verbreitet ist. 

Einen Versuch in dieser Richtung unternimmt R. nun, indem er behauptet, 
daß auch bei den Kamilaroi immer nur die Söhne der Brüder die Töchter der 
Schwestern und nie die Töchter der Brüder die Söhne der Schwestern 


1) Das Geschlechtsleben der Wilden. 1930. 










55< 


Bespreuungen 


heiraten (S. 84). Wir wollen seine Behauptung an Hand der Tabelle von Howitt 
überprüfen: 

Ippai heiratet Rubbitha, ihre Kinder sind Muri Matha 

+ 0 +0 

Kumbo „ Matha * „ „ Rubbi Rubbitha 

+ 0 +0 

In welcher Verwandtschaft steht nun Rumbo, der Gatte zu seiner Frau, 
die eine Matha ist? Ein Kumbo ist der Sohn einer Ipatha, und so heißt oder 
zu dieser Klasse gehört die Schwester des Ippai. Der Sohn der Schwester 
(Ippatha) heiratet demnach die Tochter ihres Bruders (eines Ippai), d. h. die 
Matha. Das scheint nicht mit der Theorie Reichs zu stimmen. Nehmen wir 
den Fall, den Reich selbst anführt. Eine Butafrau stammt aus folgender Ehe: 

Rubbi heiratet Ipatha 

+ o 

Ihr Gatte ist ein Murri. Wie verhält sich dieser zu den beiden Eltern? Er 
ist der Sohn von 

Ippai -* Rubbitha 

+ o 

Sein Vater ist also der Bruder seiner Schwiegermutter Ipatha, seine Frau ist 
die Tochter der Schwester seines Vaters, wie auch Reich annimmt. Rechnen 
wir aber über die Mutter Rubbitha, so ist diese die Schwester des Vaters der 
Frau, d. h. er heiratet die Tochter des Bruders der Mutter, was nach Reich 
nicht Vorkommen kann. Bedauerlicherweise zitiert R. nach Morgan und nicht 
nach Howitt; 1 auch übersah er die Forschungen Radcliffe-Browns über 
australische Heiratssysteme, sonst wäre ihm aufgefallen, daß man aus der Klassen¬ 
gruppierung allein nicht auf die Eheform schließen kann und daß Radcliffe- 
Brown darauf hin wies, daß es zwei Heiratstypen in Australien gibt: entweder 
heiratet der Mann die Tochter des Bruders seiner Mutter oder die Tochters¬ 
tochter des Bruders der Mutter seiner Mutter. 2 Der zweite Typus ist also ganz 
deutlich als eine Modifikation, eine Ausdehnung des ersten anzusehen. Freilich 
ist nach den australischen Verwandtschaftsbezeichnungen die Schwester des Vaters 
immer auch Frau des Bruders der Mutter. Wunna z. B. bedeutet sowohl 
„Vaters Schwester“ wie auch „Mutterbruders Frau“, „ Jcamuni“ Bruder der 
Mutter, aber auch Gatte der wunna . (Aranda- und Luritjastämme in Zentral¬ 
australien.) Reichs These hängt also von einem Beweis ab, der nicht zu er¬ 
bringen, ja, den australischen Verhältnissen zufolge, schlechterdings als undurch¬ 
führbar gelten muß. Aber auch in dem von Reich herangezogenen Ipai-Kumbo- 
System selbst findet seine These keine Stütze, da das Wort hazi folgende Ver- 


1) A. W. Howitt: The Native Tribes of South East Australia. 1904. 200. 

2) A. R. Brown: Three Tribes of Western Australia. Journ. Roy. Anthr. 1915* 



















Besprechungen 


555 


wandtschaftsbezeichnungen in unserem Sinne einschließt: „mothers brothers , 
ivifes father sisters son , daughters husbctnd“ * 

Die Frau ist eben die Tochter des Mutterbruders und die Söhne der Schwester 
sind eben die rechtmäßigen Gatten der Töchter. Indessen gäbe es noch einen 
Ausweg. Es wäre ja möglich, daß bei der Ehe die Tatsache bestimmend wäre, 
daß es sich um die Tochter der ivunna (Vaterschwester) handle und daß der 
Umstand, daß diese gleichzeitig auch die Tochter des Bruders der Mutter sei, 
eben nur aus den australischen Verwandtschaftstermini folge und, wie Kroeber 
es fassen würde, 1 2 linguistisch determiniert sei. Aber auch dieser Weg ist nicht 
gangbar. Denn in den Stämmen mit dem Ehetypus I ist die Tochter des Bruders 
der Mutter die eigentliche vorschriftsmäßige Gattin. So erzählte mir z. B. Maliki, 
ein alter Kukata, wie ihm die Tochter seines Mutterbruders als Frau gegeben 
wurde. Die termini Mutterbruder und Schwiegervater sind oft identisch, und 
beide spielen eine ähnliche Rolle in der Männerweihe, indem sie die Be¬ 
schneidung vollziehen, den Knaben in seinen neuen Pflichten unterweisen usw. 

Damit fällt einer der Pfeiler, auf dem das Gebäude ruht. Doch gehen wir 
weiter. Damit Reich recht behielte, müßte ja auch das Vorkommen eines 
„Heiratsgutes“ in irgendeiner Form erwiesen werden, d. h. von Gaben, die 
der Mann von Seiten der Familie der Frau erhält. Dieser Nachweis fehlt, 
d. h. er wird mit unzulänglichen Mitteln versucht. 

„So besteht bei der sonstigen Ähnlichkeit der Organisation der Australier 
mit der der Trobriander kein Zweifel, daß auch das Heiratsgut in irgendeiner 
Form von Clan zu Clan existiert (S. 82).“ Die Ähnlichkeit der Organisation 
der Australier, und der der Trobriander besteht nur für den Europäer und 
den Nichtethnologen. In Wirklichkeit ist der Unterschied zwischen den 
Pitchentara und den Trobriandinsulanem wenigstens so groß wie zwischen 
Trobriand und Europa. Ich war zwar nicht selbst in Bwayowa, aber glaube, in 
diesen Fragen ruhig den in Duau gesammelten Erfahrungen vertrauen zu dürfen. 
Für Reich sind alle „Neger“ einander gleich. 3 Tatsächlich kommt aber ein 
„Heiratsgut , in Australien in gar keiner Form vor. Der Mann ist es vielmehr, 
der Abgaben an seinem Schwiegervater zu leisten hat; undenkbar ist es, daß 
der Mann noch etwas bekommen sollte, daß er also ein „ökonomisches“ Interesse 
an der Eheinstitution haben sollte. Überhaupt dürfte das Verhalten der Australier 
wenig geeignet sein, Thesen des Marxismus zu unterstützen. Sie kennen keine 
materiellen Interessen außer der momentanen Sättigung und sind doch sehr 
eifersüchtig. Sie leben in einer echt kommunistischen Gesellschaft und haben 
doch die Pubertätsriten. Sie sind patrilinear und kommunistisch. Dann sind 
sie wieder inatrilinear mit Pubertätsriten — lauter Dinge, die sich dem etwa 
von Reich vertretenen Schema ebensowenig wie eine marxistische Theorie an¬ 
fügen lassen. 


1) A. R. Brown: Notes of the Social Organisation of Australian Tribes. Journal 
of the Royal Anthropological Institute. LIII, 435. 

2) Vgl. zu dieser Frage A. L. Kroeber: Classificatory System of Relationship. 
Journ. Roy. Anthr. 1909. 

3) Er schreibt „Australneger“ (sic !). 








666 


Besprechungen 


„Heiratsgut“, meint der Verfasser ferner, müsse von Clan zu Clan ausgetauscht 
werden. Es gibt aber überhaupt keine „Clans“ in Australien, d. h. nicht in 
dem Sinne, wie auf den Trobriandinseln. Es handelt sich teils um Heirats- 
klassen, teils um Totemgenossenschaften. 

Doch ist das Thema der „Cross-cousins“ damit nicht erschöpft. Rivers 
weist nach, daß in Melanesien wohl auch die Tendenz besteht, die „Vater¬ 
schwester“ und „Mutterbruders Frau“ mit dem gleichen Wort zu bezeichnen 
daß aber hier die Frau, die man heiratet, deshalb gewählt wird, weil sie die 
Tochter des Bruders der Mutter ist. Der Onkel mütterlicherseits ist in diesen 
Gebieten der typische Repräsentant des „guten Vaters“. Alles, was er hat 
gibt er dem Neffen, wenn dieser es verlangt, und so gibt er ihm auch die 
eigene Frau. Als Ablösung dieser unbequemen Freigebigkeit entsteht dann die 
Eheform, in der der Neffe nicht die Frau, sondern die Tochter des Mutter¬ 
bruders heiratet. 1 

Reich hält die Situation anscheinend für einfacher als sie ist. In Kalifornien 
finden wir z. B. patrilineare Stämme, welche die Ehe mit der Tochter der 
Schwester des Vaters, die doch nach Reich eben die Wandlung von der mütter¬ 
lichen Deszendenz zur patrilinearen Organisation herbeiführt — verbieten, dagegen 
die Ehe mit der Tochter des Bruders der Mutter erlauben. 2 * 

Vom psychologischen Standpunkt und mit Vernachlässigung lokaler Unter¬ 
schiede ist das Problem durchsichtig. Reich hat gewiß nicht übersehen, daß 
es sich um eine Kompromißbildung zwischen den inzestuösen Strebungen und 
der Verdrängung handelt. Er beweist dies sogar aus Malinowskis Buch mit 
den Aussagen der Eingeborenen, setzt aber dann hinzu: 

„Aber die wirtschaftlichen Interessen sind so eindeutig, daß wir dem psycho¬ 
logischen Moment dabei höchstens eine sekundäre Rolle zuschreiben können“ 
(S. 44). 

Wie „eindeutig“ ist nun dabei das wirtschaftliche Moment? Ich habe oben 
schon hervorgehoben, wie nach Ansicht der Eingeborenen die Trobriander eine 
lokale Abweichung von dem Durchschnittstypus der Gesellschaften auf diesem 
Gebiet bedeuten. Malinowski betont nun, daß die Verwandten des Mannes die 
Gaben von der Seite der Frau mit Gegengaben erwidern, daß diese aber an 
Wert nicht an die Gaben von Seite der Frau heranreichen. Dies ist aber in Duau 
durchaus nicht der Fall. Im Gegenteil, jede Partei hat bei allen diesen zeremoniellen 
Gaben darauf zu achten, daß sie an Munifizenz nicht hinter der anderen zurück¬ 
bleibt; von einem materiellen Vorteil und auch von ökonomischen Motiven 
kann überhaupt nicht die Rede sein. Welche ökonomische Vorteile man aus 
dem „Gefeiertwerden 4 in diesem Gebiet zieht, kann ich aus persönlicher Er¬ 
fahrung berichten. 


1) W. H. R. Rivers: History of Melanesian Society. 1914, II. 17. 

2) Spier: The Distribution of Kinship Systems in North America. Univ. Wash. 

Publ. Anthr. Vol. I. No. 2. — Es sei hier etwa auf E. W. Gifford: Californian 

Kinship Terminologies — 1922 verwiesen. Dieses Werk zeigt, wie vielfältig diese 
Probleme nach den ethnologischen Einzelheiten sind und wie wenig man sich heute 
auf Morgan berufen darf. 









Besprechungen 


55/ 


Es war mein Geburtstag und meine Frau wollte mich mit einem besonders 
schönen Fisch überraschen. Sie erklärte also den Eingeborenen, was es für eine 
Bewandtnis mit diesem Fest bei den Weißen hat, und ich war der Held des 
Tages. Gaben über Gaben strömten ein, von Boasitoroba einerseits, von Sipupu 
andererseits. 1 Ich verteilte nun die Gaben, indem ich alles, was man aus Sipupu 
gebracht hat (Yams, Taro, Fische) an die Leute von Boasitoroba weitergab und 
umgekehrt. Obwohl ich nun die Speisen gar nicht gegessen hatte, war ich doch 
der Beschenkte und hatte die Geschenke nach Eingeborenenart sofort mit einer 
entsprechenden Gegengabe zu erwidern. Ich teilte Tabak und Reis aus, und der 
„kapitalistische Profit“ war somit höchst zweifelhaft. Und nicht genug damit. 
Später, wenn ich dem Ramoramo oder dem Sawaitoja, Eingeborenen aus diesen 
Dörfern, irgend etwas, nach dem sie Verlangen trugen, nicht geben wollte, 
hieß es immer wieder: „Habe ich dir zu deinem Geburtstag nicht Yams ge¬ 
bracht?“ Ähnlich verhält es sich mit allen diesen „ökonomischen“ Institutionen. 
Es ist ein ewiges Beschenken mit Gegengeschenken: letzten Endes hat niemand 
einen Nutzen. Auch auf den Trobriandinseln ist der Mann, der von seinem 
Schwager Gaben erhält, selbst wiederum Bruder und muß ebenfalls den Gatten 
seiner Schwester beschenken. Einen wirklichen Nutzen aus diesem zieht nur 
der Häuptling auf den Trobriandinseln durch seine weit ausgedehnte Polygamie; 
aber hier handelt es sich, wie ich oben gezeigt habe, um einen Ausnahmefall. 
Das Häuptlingtum ist dem ganzen System von außen aufgepfropft. 

Aber selbst wenn die Kreuz-(Vetter-Basen-)Ehe ökonomisch begründet wäre, 
müßte doch die Institution des Heiratsgutes eine psychologische Erklärung er¬ 
fordern. 

Reich freilich sucht sie zu umgehen. Einige Stämme seien von anderen unter¬ 
jocht worden. Die Fremdlinge hätten den Männern verboten, ihre eigenen 
Schwestern zu heiraten, da sie diese für sich behalten wollten. Sie legten den 
Unterjochten auch die Verpflichtung auf, ihnen Tribut zu entrichten — und 
so entstanden Klassen, Heiratsgut, Kapitalismus und Sexualvemeinung. Nun gibt 
es aber in keiner primitiven Gesellschaft Klassenunterschiede. 2 Der Primitive 
kennt nur zweierlei, Feind oder Freund, nicht aber einen Untergebenen. Wenn 
ein Stamm gegen den anderen Krieg führt, so ist das Ziel nur, die Feinde zu 
töten, nie sie zu versklaven, und Friede beruht immer auf Gleichberechtigung. 

Schließlich sei noch an einigen Beispielen gezeigt, daß Reich Schlußfolge¬ 
rungen aus Annahmen zieht, welche den Tatsachen nicht entsprechen. 

Reich schreibt S. 22: „Da die sexualmoralische Erziehung aber erst mit dem 
Interesse an Privateigentum in die Geschichte der Menschen eintritt und sich 
mit ihm entwickelt, sind die Neurosen Erscheinungen der patriarchalischen 
privateigentümlichen Gesellschaftsordnung. 

Bei der Weihe des Pitchentaraknaben, die ich mitgemacht habe, wurde 
mir erklärt, daß man ihn glimpflich behandelt hat, bei dem Himmelwärts¬ 
werfen nicht zu hart geschlagen hat, weil er stets ein guter Knabe war, den 

1 ) Mein Haus war an der Grenze dieser beiden Dörfer. 

2) Die Trobriander haben in dieser Hinsicht eben die Grenze des Primitiven schon 
überschritten. 










558 


Besprechungen 


alten Männern gehorchte und sich nicht zu viel mit den Mädchen zu schaffen 
machte. Die Pitchentara sind gewiß jene Menschen auf Erden, die man am 
ehesten als Kommunisten bezeichnen kann. Nebstbei bemerkt, sind sie weder 
matri- noch patrilinear organisiert, haben aber auch keine Promiskuität. Eifer¬ 
sucht ist ein Hauptmotiv ihrer Handlungen sowohl im Alltag wie in den 
Märchen — aber hoffentlich würde nicht einmal Reich behaupten, daß es hier 
Klassenherrschaft und Kapitalismus gibt. 1 

Dann erfahren wir zum Beispiel, welche Züge, die wir aus der Organisation 
der Trobriander kennen, sonst noch allgemein festgestellt worden sind: „Gens 
oder Stamm sind durch Sprache, Gebräuche und Mythologie geschieden. Nur 
selten sind es Stämme, die sich unterscheiden.“ Bei den Trobriandern hören 
wir: „Ein Clan, eine Abstammung, eine Magie, ein Garten, ein Rang usw.“ 
(S. 76). 

Daß die „Clans“, sagen wir Magisub (Adler) und Bwajo-bwajo (Eule), in 
Duau 2 voneinander durch Sprache und Gebräuche unterschieden wären, ist eine 
so lächerliche Behauptung, daß man gar nicht weiß, was damit anzufangen. 
Die Vorstellung etwa, daß in Zentralaustralien ein Pultara eine andere Sprache 
spricht wie ein Kamara, würde bei den Aranda lebhafte Komik auslösen. So 
etwas kommt nirgends vor und kann auch nicht Vorkommen. 

Nun aber noch einige Worte über die Leute von Bwayova. Reich fußt aus¬ 
schließlich auf dem in deutscher Übersetzung vorliegenden Buch von Malinowski. 
Timeo hominem unius libri! Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß ich 
hervorheben, daß auch ich der Ansicht bin, daß die Trobriandinsulaner der 
genitalen Stufe im Durchschnitt viel näher kommen als etwa die europäische 
Mittelklasse. Das geht aus den Büchern Malinowskis unzweifelhaft hervor. Man 
darf sagen, daß die Zivilisation auf Kosten der Genitalität entstehe, die Kultur 
eine kollektive Neurose sei. Es ist aber nicht so wie Reich es meint, daß die 
Zivilisation (— der Kapitalismus) aus irgendwelchen wirtschaftlichen Gründen 
entsteht und dann die Neurose erzeugt, sondern umgekehrt; die kollektive Neu¬ 
rose erklärt, bedingt, schafft soziale Organisation, Religion, Wirtschaft, Recht 
und alles andere. 

Aber hüten wir uns vor Prinzipien. Jedem leuchten nur seine eigenen ein 
und nicht die seines Gegners. Bleiben wir bei den Trobriandinsulanern. Was 
will nun Reich beweisen? 1) Diese Insulaner sind mütterrechtlich und kommu¬ 
nistisch. 2) Die infantile Sexualität ist frei, das gesellschaftliche Ideal sexual¬ 
bejahend, folglich gibt es unter den Trobriandinsulanern keine Neurosen, Per¬ 
versionen, keine falschen Sexualtheorien — gibt es unter ihnen ungestörtes 
Glück. 3) Alles Unglück stammt von der patriarchalen Gesellschaftsordnung, 
welche stets mit dem Privateigentum und mit Unterdrückung der Sexualität 
einhergeht. 

Den Ursprung dieser Auffassung finden wir bei Malinowski. Auf Malinowski 
haben die Amphlettinsulaner einerseits und die Mailu andererseits einen viel 
neurotischeren Eindruck gemacht als die Trobriander. Amphlett und Trobriand 


1) Vgl. dazu auch Reich, S. 59 h 

2) Duau, Name von Trobriand. 














r 


Besprechungen °^9 


sind matrilinear, Mailu vaterrechtlich. Jedoch, meint Malinowski, ist die väter¬ 
liche Autorität auf den Amphlettinseln schon viel stärker als in Trobriand. 1 

Mailu und Trobriand hat Malinowski studiert, auf Amphlett hat er nur 
kurze Zeit verbracht. Er würde wahrscheinlich selbst kein allzu großes Gewicht 
auf Amphlett legen. Es bleibt daher der Gegensatz Trobriand—Mailu. Dem¬ 
gegenüber kann ich mich auf die Kenntnis des Gebietes Dobu-Duau berufen. 
Hier finden wir eine Gesellschaft, die nicht nur matrilinear, sondern auch 
matrilokal ist, während auf den Trobriandinseln die Ehe patrilokal ist (die Frau 
dem Manne folgt). 

Duau ist in jeder Beziehung demokratischer, ohne eine wirkliche Häuptlings¬ 
macht, nach Art der Trobriandinseln. Und doch haben wir hier eine mi߬ 
trauische, angsterfüllte Gesellschaft mit einer Sexualeinstellung, die der bürger¬ 
lichen ziemlich verwandt ist, ja diese stellenweise an Prüderie noch überbietet. 
Segeln wir aber hinüber nach Samoa, so finden wir dort eine heitere, offene 
Gesellschaft mit freier Sexualauffassung, 2 die aber patrilinear organisiert ist, 
wenn auch mit Elementen des Mutterrechtes. 3 Die Aranda sind vaterrechtlich, 
aber doch kommunistisch, und viel eher genital in ihrem Charakter wie die 
mutterrechtliche Gesellschaft von Duau. 

Der Versuch, die Trobriandinsulaner als „Kommunisten“ zu erweisen, mi߬ 
lingt. Wie man eine Gesellschaft, die wenigstens ebenso reichtumsbejahend 
wie sexualbejahend ist, in der das Anhäufen von Reichtümern unter steter 
Angst vor den Hexen (Mutter) vor sich geht, kommunistisch nennen kann, ist 
mir nicht einsichtig. In Duau und ebenso auf den Trobriandinseln erbt man 
die Yams, die man in den Garten pflanzt, und auch den Garten selbst; was 
ist das anderes als Privateigentum an Produktionsmitteln. 4 Malinowski hebt 
ausdrücklich hervor, daß termini, die aus unseren Verhältnissen abgeleitet sind, 
auf primitive Zustände nicht anwendbar sind. 5 Es scheint, daß nur ein Ethno¬ 
loge, der diese Völker kennt, die Weisheit dieser Bemerkung würdigen kann. 

Das Wesentliche an Reichs Beweisführung ist demnach die Behauptung, daß 
die Trobriandinsulaner: a) Kommunisten sind; b) sexuell restlos glücklich leben, 
keine falschen Sexualtheorien, keine Perversionen, keine Neurosen kennen 
(vgl. S. 108). 

Die auf die Sexualtheorien bezügliche Behauptung verstehe ich durchaus 
nicht: Ist denn die Lehre, daß die Kinder von den Geistern der verstorbenen 
Mitglieder des mütterlichen Clans stammen, keine falsche Sexualtheorie? Sonst 
wird doch „Unkenntnis der Vaterschaft“ (S. 109) triumphierend gegen die 
Freudsche Annahme von der Urhorde ausgespielt. Man gewinnt hier den Ein¬ 
druck, daß das psychoanalytische Wissen immer in der Anmerkung ein letztes 


1) Br. Malinowski: Sex and Repression in Savage Society. 1927. 86. 

2) M. Me ad: Coming of Age in Samoa. 1928. 

5) R. W. Williamson: The Social and Political Systems of Central Polynesia. 
1924. II. 88. 

4) Vgl. Malinowski: Sexual Life. 1929. 177. Argonauts. 117. 

5) Malinowski: Crime and Custom in Savage Society. 1926. 19. 















56o 


Besprechungen 


Refugium finde (siehe S. 109, Anm.), während die politische Doktrin den Text 
beherrsche. 

Ist es aber richtig, daß wir es hier mit einer perversions fr eien Gesell¬ 
schaft zu tun haben? Malinowski weist ausdrücklich auf das Vorkommen von 
Homosexualität und Bestialität hin; daß sie verurteilt werden, versteht sich von 
selbst, das ist in jeder menschlichen Gesellschaft der Fall. Auch die Ursache 
der Verurteilung dürfte in unserer Gesellschaft keine andere sein als in der 
von Bwayowa;^ auch dort gelten diese Dinge als „armselige Ersatzmittel für den 
Geschlechtsakt . Zu einer anderen Stelle in Reichs Buch (S. 24) habe ich folgen¬ 
des zu bemerken: Über Moniyala, den Mann, der mit der Hündin verkehrte 
habe ich zufällig auch direkte Informationen von solchen, die ihn gut kannten! 
Er wurde von seinen Genossen grausam gequält, man pfiff ihm wie einem 
Hund. Auch die Erklärung, die man für seine Handlung gab, klang wenig 
„genital“: die Frauen hatten ihn nicht gern, weil er ihnen nichts bezahlte* 
Leute, die lange im Land leben und die Trobriandinsulaner aus eigener Er¬ 
fahrung gut kennen, waren der Meinung, daß Malinowski etwas zu stark 
typisiert und daß die Abweichungen von der sexuellen Norm wohl auch in 
alten Zeiten häufiger waren als man glaubt. Ich besitze auch einen Brief des 
weißen Magistraten, der lange Jahre auf den Trobriandinseln lebte, und in dem 
er mitteilt, daß Frauen ihre Gatten bei ihm verklagten, weil sie den Koitus 
nur per rectum ausführen wollten. Ich habe noch mehr Material zu diesem 
Thema, will aber nicht alles in diesem Rahmen Vorbringen. Auch fällt es 
schwer, zu glauben, daß ein Volk, bei dem der Selbstmord 1 so häufig ist, 
nicht neurotisch sei. So kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß 
der Verfasser geneigt ist, über seinem Erzfeind, der patriarchalisch-kapitalistischen 
Gesellschaftsordnung an jene psychischen Mächte — den Ödipuskomplex, die 
Verdrängung und die Über-Ich-Bildung — zu vergessen, die die psychische 
Gestaltung des Individuums bestimmten. 

Ich kann^ es mir aber nicht versagen, noch auf einige Einzelheiten hin¬ 
zuweisen. Australier, die noch heute auf der Stufe der reinen Blutsverwandt¬ 
schaftsfamilie leben (S. 92), gibt es nicht. Auch jene Polynesier, die wirtschaft¬ 
lich noch auf der Stufe der Jagd stehen (natürlich mit Blutsverwandtschafts - 
familie!), könnten auf allgemeines Interesse bei den kompetenten Ethnologen 
rechnen. Die veränderten Triebstrukturen werden nach R. „durch die gesell¬ 
schaftlichen Prozesse (S. 119) geschaffen, und wodurch entstehen die letzteren? 
Durch die Wirtschaft? Und die Wirtschaft, wird sie etwa nicht von Menschen 
gemacht, sondern von Göttern? Reich behauptet, daß „wirtschaftlicher Ur¬ 
kommunismus auf die Dauer engere Familienorganisationen ausschließt“ (S. 75), 
was den Tatsachen glatt widerspricht; er erklärt, daß „die Exogamie immer 
den ganzen Clan, niemals einzelne Familien betrifft u (S. 75), was unrichtig ist. 

Ich setze diese Reihe nicht weiter fort, sondern schließe mit einer grund¬ 
sätzlichen Feststellung: Die Auffassung, die Reich vertritt, erklärt sich aus seinem 
Glauben an die Unfehlbarkeit des historischen Materialismus, Reich schreibt: 


1) Vgl. Malinowski: Sexual Life. Index s, v. Suicid. 














Besprechungen 


561 


„Die patriarchalischen Auffassungen der Urgeschichte haben auch logischerweise 
zu der Annahme geführt, daß die Monogamie beziehungsweise das heutige Vor¬ 
recht des Mannes auf mehrere Frauen, die Eifersucht, die Unterdrückung der 
Frau usw. biologisch begründet seien. Nehmen wir noch hinzu, daß die Auf¬ 
fassung der Rechtfertigung unserer patriarchalischen Organisation dient und ein 
Stück Grundlage der faschistischen Sexualideologie bildet, während die mutter¬ 
rechtliche zeigt, daß sich alles wandelt und daß es auch anders geht, so können 
wir kaum schwanken, welche Auffassung wir zu der unsrigen machen.“ (S. 65.) 

Angesichts der Offenheit, mit der sich der Verfasser hier zu einer politischen 
Doktrin bekennt, darf man fragen, ob der Umweg über das Material einer 
y\ issenschaft, der Ethnologie, gerechtfertigt war, dessen Interpretation umfassende 
V orkenntnisse erfordert und besser dem Ethnologen überlassen bliebe. 

G. R 6 li e 1 m (B udapest) 

e 1 lt 7 Tlieodor: Der unbekannte jMl örd er. V on der Tat zum Täter. 

VvGen, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, igSz. 18a iSeiten. 

Während sich die psychoanalytische Literatur bisher auf die Verbrecher¬ 
psychologie, Verbrecherprophyl^xe und -therapie, den Strafvollzug und die Straf¬ 
rechtsreform erstreckte, versucht R. in der vorliegenden Untersuchung auch zu 
dem Problem des unbekannten Verbrechers Stellung zu nehmen und so ein neues 
bisher unerforschtes Gebiet der Kriminologie ins Licht analytischer Forschung 
zu rücken. 

Die kriminalistische Spurendeutung der Indizien und die psychoanalytische 
Deutungsarbeit suchen beide verborgene Sachverhalte ans Licht zu bringen. 
Während die Kriminologie behauptet, hierbei mit „logischen“ Überlegungen 
zu arbeiten, zeigt R., daß man sich in Wkhrheit psychologischer Argumentationen 
bedient; schon das Tatmotiv verlangt psychologische Klärung. Er sieht aber im 
Gegensatz zu anderen Autoren, wie Alexander, Staub und Fromm, nicht den 
Gerichtssaal als die gegebene Domäne der Psychoanalyse an, da sie auf einer andern 
Ebene liegt als die anderen Kriminalwissenschaften, z. B. die forensische Chemie 
oder Graphologie; während diese der materiellen Realität angehören, erstrecken 
sich die Untersuchungen des Analytikers nur auf die psychische Realität. R. geht 
nun zunächst auf den Selbstverrat des Verbrechers über, und nach den Worten 
Freuds, daß kein Sterblicher ein Geheimnis verbergen könne, zeigt er uns 
in den Kapiteln von der „Improvidenz des Täters“ und der „Visitenkarte des 
Verbrechers“ an der Hand von reichem und interessantem Material diese Tendenz 
zum Selbstverrat. Im Kapitel der „Rückkehr zum Tatorte“ ist dieses zwang¬ 
hafte Verhalten als Wiederholungszwang, als Bestreben, die Tat seelisch zu be¬ 
wältigen, und als Geständnis zwang (ich weiß etwas, was du nicht weißt) erklärt. 
Die Strenge des irdischen Gerichtes ist nichtig gegen die Pein, die das Über- 
Ich über den Mörder verhängt. Die heimliche Bundesgenossenschaft der äußeren 
Verfolgung und der Verfolgung durch das Über-Ich („Es ist jemand hinter mir 
her und das bin ich“, sagte einmal ein vielfacher Mörder) bedient sich einer 
Geheimsprache, von der das Ich nichts weiß; es sind die unbewußt produzierten 
Indizien. 


Imago XIX. 


36 












56s 


Besprechungen 


An Hand der Geschichte und der vergleichenden Völkerkunde versucht uns 
der Autor über die Genese der Indizien aufzuklären. Er zeigt zunächst, daß die 
uns geläufige Auffassung der Reihenfolge Verbrechen —Verbrechensaufklärung — 
Täterermittlung — Bestrafung in prähistorischer Zeit und bei primitiven Völkern 
durchaus verschieden war und daß hier zuerst die Bestrafung und dann die Ver¬ 
brechensaufklärung stand. Für die Menschen einer prähistorischen Periode und 
die Primitiven ist das Verbrechen eine Verletzung der Tabuvorschriften, die sich 
selbst und ohne das Zutun anderer rächt. „Die Rache ist mein“, sagt der Herr, 
da bedurfte es keiner Verbrechensaufklärung, da der Gott oder Dämon des Clans 
selbst über die Einhaltung der Gesetze wachte; so gibt uns z. B. das Wüten 
der Pest in Theben die Aufklärung jener alten Tat des Ödipus. 

Dieser Charakter der archaischen Kriminalistik erlitt durch tiefgehende, im 
vorliegenden Werk nicht ausgeführte Veränderungen in der Tabureligion eine 
langsame Umgestaltung zu der uns geläufigen Reihenfolge Verbrechensaufklärung — 
Strafe. Hier zeigt uns der Autor an Beispielen des Rechtsverfahrens der Primitiven, 
daß die Zauberei das Ursprungsgebiet der Indizien gewesen sei und daß die 
Wilden, die keinen natürlichen Tod kennen, sondern nur den durch böse Zauberer 
verursachten, hierbei die unbewußte Feindseligkeit dieses Zauberers gegen die 
getötete Person als psychologisches Indiz werten. Ihr Analogon in der modernen 
Kriminalistik findet dieses unbewußte psychologische Indiz wohl in der Frage 
„cui bono“ oder wem diese Tat zuzutrauen sei („psychologische Motivforschung). 
Im Glauben der Primitiven und auch noch der alten Germanen, z. B. in der 
Bahrprobe, bezeichnete der Getötete selbst seinen Mörder, indem er verschiedene 
Zeichen, genannt „Inzichten“, gab. 

R. führt uns weiter zur animistischen Auffassung der Primitiven, die durch 
Seelentiere (ursprünglich der Tote selbst) den Mörder eruieren läßt; wie tief 
diese noch im modernen kriminalistischen Denken verwurzelt ist, zeigt er uns 
an der überraschenden Aufklärung eines Mordes an dem amerikanischen Millionär 
Mr. Breese, der durch Giftgas getötet wurde. Die Beobachtung des Kriminal¬ 
inspektors, daß alle Fliegen im Mordzimmer tot am Fensterbrett lagen, führte 
ihn zur Annahme, daß die Tat bei Morgengrauen ausgeführt wurde, und so 
zur Ermittlung des Täters. R. nimmt an, daß auch dieser moderne Kriminalist, 
gleich seinem animistisch denkenden „ coloured“ Kollegen, den Ermordeten mit 
den toten Fliegen am Fensterbrett in seinem Unbewußten identifizierte und so 
zu dem überraschenden Resultat kam. 

Ich möchte allerdings bezweifeln, ob der scharfsinnige amerikanische Beamte 
dem Autor für diese Gleichstellung sehr dankbar sein wird, ebensowenig wie 
unsere Kriminalpolizei für die Annahme, daß sie an Stelle des Tierorakels und 
der Orakeltiere die Dressur der Polizeihunde gestellt habe. 

Wir erfahren sodann einige Zusammenhänge zwischen der Magie, „der 
Technik des Animismus 44 und der modernen kriminalistischen Technik, wie 
z. B. die Verschiebung auf das kleinste usw., und wie auf diese Weise der Kriminalist 
und Sachverständige zum Nachfolger jener Zauberpriester im Dienste der offiziellen 
Magie wird. Weiter zeigt uns der Autor, wie im oralen Ordal (Giftbecher 
oder Verzehren einer anderen Substanz) eine Wiederholung der Tat in Form 















Besprechungen 


563 


des Auffressens des Ermordeten oder von Teilen von ihm dargestellt wird; 
hier sollten die Veränderungen am Körper derjenigen, die sich dem Ordal 
unterwarfen, für schuldig oder unschuldig sprechen, also Indizien an der Person 
des Täters. Überreste dieser kannibalistischen Tatwiederholung findet der Autor, 
nur in entstellter und abstrakter Form, im Eide, in der Rekonstruktion des Ver¬ 
brechens im Verhör und im Plädoyer wieder, sowie im Geständnis der Tat, 
als Wiederholung des Verbrechens in abgeblaßtester Form, in Worten. Die prä¬ 
historischen Indizien waren also ähnlicher Art wie die Indizien unserer modernen 
Kriminalistik, nur anders gewertet und anders gedeutet; die animistische An¬ 
schauung lebt auch heute noch in der wissenschaftlich rationalen Auffassung 
der Indizien fort. Die Sicherheit der richterlichen Entscheidung ist aber durch 
den unbewußten animistischen Glauben gefährdet. R. zeigt nun an dem Beispiel 
eines krassen Justizirrtums die Psychopathologie der Urteilsbildung. Analogien 
zwischen schwer neurotischem Symptomkomplex, Traum und falscher Urteils¬ 
bildung werden hier an reichem und interessantem Material dargestellt, die 
Überschätzung der „Logik“ und Vernachlässigung der psychologischen Faktoren 
aufgezeigt, die zu manchem Verhängnis der Justiz führen, indem die psychische 
Realität der materiellen gleichgesetzt wird. Ferner zeigt uns der Autor Richter, 
die in unbewußter Anerkennung der Allmacht der Gedanken die Gedanken¬ 
sünden Unschuldiger mit dem materiellen Tatbestand verwechselten und den 
bösen Willen der Tat gleichsetzten; weiter, wie die Verdrängungsarbeit den 
Kriminalisten gewichtige Indizien auf den Unschuldigen häufen läßt, während 
vorhandene Indizien gegen den Schuldigen übersehen oder entwertet werden. 
Schließlich führt er in der „Unheimlichkeit des unaufgeklärten Mordes“ aus, 
daß die unbewußten Todeswünsche in uns allen durch das dunkle Schuld¬ 
gefühl des Gedankenmordes eine tiefe Angst auslösen; wir könnten selbst „der 
unbekannte Mörder“ sein, was wohl unser tiefgehendes Interesse für Kriminal¬ 
fälle erklärt. 

R. hat es verstanden, den spröden Stoff in gewandter Darstellung mit dem 
ihm eigenen Scharfsinn und seinem gewohnten Sarkasmus zu behandeln; dem 
aufmerksamen Leser ergibt sich sehr wohl ein innerer Zusammenhang, der für 
den Analytiker wie für den Kriminalisten eine weite Perspektive der Zukunft 
der Strafrechtspflege eröffnet. WMter iSclimideberg (London) 

Reiner, Markus: Causality and Psyclioanalysis. Psyckoanalytic 

Quarterly, I, igZz, S. 701—714. 

Der Autor, Professor der Chemie und Metallurgie, erörtert aus Anlaß des 
Wiederabdrucks von Radös „Die Wege der Naturforschung im Lichte der 
Psychoanalyse“ die Ansichten der heutigen modernen Naturwissenschaft über 
das Kausalitätsproblem, insbesondere über den Unterschied zwischen Kausalität 
und Determinismus. Er benutzt die Gelegenheit, um die Psychoanalytiker, zu 
denen er spricht, auf die methodologische Gefahr der „Interferenz“ zwischen 
Beobachtung und beobachtetem Objekt aufmerksam zu machen, d. h. darauf, 
wie leicht die Bedingungen der Beobachtung das zu Beobachtende ändern. Hier 


36 * 












Besprechungen 


564 


liegt gewiß eine große Gefahr für jede naturwissenschaftliche Forschung, aber 
sie ist auch in der psychoanalytischen Forschung schon mehr beachtet und 
— hoffentlich — vermieden worden, als der Autor meint. O.FenicLel (Oslo) 

Rokeim, Geza: Telepatky in a Dream. Psa. Quarterly I, 19^2, 

pag. 277 —291. 

Einen Tag nachdem der Autor einer Vorlesung über Telepathie beigewohnt 
hatte und innerlich sehr mit diesbezüglichen Problemen beschäftigt gewesen 
war, träumte eine Patientin, sie hätte einen be ,; mmten Traum gehabt und 
käme dann in die Analysenstunde, wo der Analytiker ihr den gleichen Traum 
als seinen eigenen erzählte. Telepathie war also sowohl 1) der Inhalt des 
manifesten Traumes; denn wenn Analytiker und Patientin in der gleichen Nacht 
den gleichen Traum träumten, so wäre das ein telepathisches Phänomen. Tele¬ 
pathie schien aber 2) auch objektiv vorzuliegen, denn das Interesse des Analytikers 
für Telepathie wirkte offenbar in der Patientin als Tagrest für ihren Traum, 
obwohl ihr davon nichts mitgeteilt worden war. Die Analyse ergab, daß es 
sich um einen exquisiten Übertragungstraum handelte, der an ein Ereignis des 
Vortages anknüpfte. Die Patientin hatte bemerkt, wie der Analytiker nach 
ihrer Stunde zu seiner Frau gegangen war, was ihre aus dem Ödipuskomplex 
stammende infantile Eifersucht geweckt hatte. Das Zentrum dieses Ödipus¬ 
komplexes aber war eine Urszene, in der die Patientin sich mit beiden Eltern 
identifiziert hatte. Da auch aus dem übrigen Material dieses Falles klar wurde, 
daß der Umstand, daß sie sich magische Fähigkeiten verschiedener Art zu¬ 
traute, in Urszenenreminiszenzen seinen Grund hatte, kann Röheim es wahr¬ 
scheinlich machen, daß das Urbild des Gefühls des telepathischen Einsseins 
mit einem Objekt das Verhältnis des beobachtenden Kindes zu den Eltern 
während der Urszene ist. Wie das Kind mit den Eltern mitfühle, so fühle der 
telepathisch Infizierte mit dem Infizierenden mit. 

Daß alle diese analytischen Überlegungen nur erklären können, warum die 
Patientin von Telepathie träumte, nicht aber, wieso objektiv Telepathie ein¬ 
trat (wenn das überhaupt der Fall war), bemerkt Röheim selbst. Es bleibt 
unklar, warum ihm die mitgeteilte Beobachtung dennoch für die Psychologie 
der Telepathie wesentlich erscheint. O. Fe nie Lei (Oslo) 

Rokeim, G.: A Csurunga Nepe. (D as Volt des T jurunga.) Her- 

ausgegeken Budapest, Leklang, 1932. 33 i Seiten. 

Zwei Perioden können wir in Röheims Schaffen unterscheiden, die erste 
wurde von ihm selbst mit dem Wort „Symptomanalyse“ charakterisiert, die 
zweite enthält den Fortschritt von dieser zu der Analyse einer Kultur als 
Ganzes. 

Den Unterschied zwischen den beiden Perioden sehe ich darin, daß in der 
zweiten nicht mehr so sehr von angewandter Psychoanalyse, sondern wieder¬ 
um weit eher von Ethnologie par excellence die Rede ist, für die die Psycho¬ 
analyse ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden ist. Die Entwicklung, die wir 








Besprechungen 


565 


da vor Augen haben, könnte am besten mit einem IntrojektionsVorgang 
verglichen werden. Die Psychoanalyse wird immer mehr und mehr der 
Ethnologie einverleibt, bis wir am Ende einem neuen Wissenschaftsindividuum 
gegenüberstehen. Dies kann nicht genügend betont werden, denn ein häufiger 
Einwand der Gegner lautet, es sei ja eigentlich derselbe starre Formalismus, 
ob man alles mit dem Mond oder mit dem Ödipuskomplex erklären will. 

Einen weiteren Schritt in diesem Einverleibungsprozeß bedeutete die 
Expedition Röheims, indem er die spezielle Arbeitsweise der Psychoanalyse, 
die Individualanalyse, in den Dienst der ethnologischen Forschung gestellt hat. 
Ebenso wie das Kind durö? 2 ~Introjektion der Eltern und die Identifizierung 
mit ihnen zu einem selbständigen erwachsenen Menschen wird, der auch 
seinerseits imstande ist zu „geben“, so kommt auch die mit der Psycho¬ 
analyse zu einer neuen Einheit verschmolzene Ethnologie nunmehr in die 
Lage, der Psychologie grundsätzlich Neues zu bieten. 

Das neue Problem, das von Röheim bereits vor seiner Forschungsreise 
immer mehr in den Vordergrund gerückt wurde, war, ,,Differentialpsycho¬ 
logie der Völker zu betreiben, das heißt, einfacher ausgedrückt, soviel wie 
festzustellen, warum die Primitiven primitiv sind. Nun wissen wir ja, daß 
die Psychoanalyse als Grundlage der Kultur die Triebunterdrückung erkannt 
hat. Wir sehen zugleich, daß diese Entsagungen für sehr viele Menschen eine 
so schwere Aufgabe bilden, daß sie daran scheitern. Wir sehen jetzt besser 
die Bedeutung der Erziehungsfehler, haben aber sehr wenig Anhaltspunkte 
dafür, wieviel an Trieb Unterdrückung zur Erhaltung unserer Kultur unbedingt 
notwendig ist. Es ist klar, daß die Beantwortung der Frage, warum die 
Primitiven so sind wie sie eben sind, besser gesagt, wie Art und Grad der 
Triebunterdrückung mit der Höhe der Kultur Zusammenhängen, für das Haupt¬ 
problem der Individualanalyse von grundlegender Bedeutung sein wird. 

Was Röheim bis jetzt von seinem Material publiziert hat, läßt uns seiner 
Ansicht beipflichten, (die nebenbei die Ansicht der gesamten modernen Ethno¬ 
logie ist,) daß nur die Arbeit mit dem lebenden Material wirklich fruchtbar 
sein kann, und daß es nur dem psychoanalytisch geschulten Ethnologen mög¬ 
lich ist, in die tieferen Schichten des Seelenlebens der Befragten einzudringen. 
Ich möchte nun die wichtigsten Ergebnisse des in Frage stehenden Buches 
kurz skizzieren: 

Das intime und verständnisvolle Zusammenleben mit den Eingeborenen Zentral¬ 
australiens brachte Röheim ein tieferes Verständnis des Dämonenglaubens, der 
bei diesen Stämmen neben dem Totemismus herrscht. Dieser Glaube entpuppte 
sich als der primitivere. Denn mit Hilfe von Traumanalysen und der Beob¬ 
achtung der Lebensweise dieser Leute ließ sich der Glaube an Dämonen, die 
in Gestalt paarweise zusammengeklebter (koitierender) Hunde in der Luft 
herumfliegen und den Menschen bedrohen, auf die Urszene (d. h. die Beob¬ 
achtung des elterlichen Koitus) zurückführen, an der das australische Kind 
genau so mit Angstgefühlen teilnimmt wie unsere Kinder. Obwohl diese 
Kinder die größtmögliche Triebfreiheit genießen, wird der elterliche Koitus 
doch vor ihnen verheimlicht in der Weise, daß er (genau wie bei uns) erst 










566 


Besprechungen 


dann ausgeübt wird, wenn die Eltern glauben, das Kind schlafe bereits. Obwohl 
Männer und Frauen nackt einhergehen, schämt sich der Mann seiner Erektion 
vor einem Dritten und ist in seiner Wut imstande, den ungebetenen Zeugen 
zu erschlagen. Der Dämonenglaube ist also eine Projektion der Urszene, wobei 
die ursprüngliche Angst noch erkennbar ist und bloß von den Eltern auf die 
Hundsdämonen verschoben wurde. Der Totemismus bedeutet im Vergleich zu 
dieser unzulänglichen Art der Angstbewältigung einen Fortschritt. Im totemi- 
stischen Kult wird ebenfalls die Urszene aktiviert, doch in sublimierter, an¬ 
nehmbarer Form, und es wird dem Novizen die Möglichkeit geboten, sich mit 
den Eltern zu identifizieren. 

Der andere, vielleicht noch bedeutsamere, neue Gesichtspunkt, den die un¬ 
mittelbare Beobachtung lieferte, ist die Idee, daß das Leitsymptom einer ge¬ 
wissen Kultur auf ein Kollektivtrauma zurückzuführen ist. (Das nennt Röheim 
die Ontogenese der Kulturen.) Unter Kollektivtrauma versteht Röheim ein 
Trauma, daß sich im Leben jedes einzelnen Kindes innerhalb der Gruppe 
wiederholt. Dieses Trauma wirkt sich im Stammescharakter aus, es wird nicht 
etwas, was den Einzelnen der Gruppe entfremdet, sondern wird als Kollektiv- 
Über-Ich zu einer gesellschaftlichen Realität. Als solches Leitsymptom der be¬ 
obachteten australischen Stämme erkannte Röheim die Angst vor der Frau, 
die sich sowohl in dem (vor den Frauen streng geheimgehaltenen) Tjurunga- 
kult wie in der Vorstellung der „unerreichbaren“, ihre Augen abwendenden 
Frau ( alknarintsa) auswirkt. Die dieser Angst entsprechende traumatische 
Situation ist die bei diesen Stämmen allgemeine Sitte, daß die Mutter in halb 
kniender Stellung über dem Kinde liegend schläft, um es vor der Nachtkälte 
zu schützen. Der Arandajunge ist also nahe daran, die Ödipussituation wirklich 
zu erleben, doch in invertierter Form. Die seelischen Gefahren, denen der 
Knabe dadurch ausgesetzt wird, liegen neben der starken Mutterbindung so¬ 
wohl in der Erstarkung der femininen Einstellung seitens des Knaben wie 
in der Kastrationsangst. Die Pubertätsriten sollen unter anderem die Bewältigung 
dieses Traumas ermöglichen. Sie machen den Knaben verschämt (d. h. sie 
trennen ihn von der Mutter) und geben ihm in Form des Namatuna einen 
magischen Penis, mit dem er sich „von weither“ eine der „unerreichbaren“ 
Frauen zaubern kann. 

Außer diesen zwei Hauptgedankengängen enthält Röheims Buch eine ganze 
Anzahl sowohl für die Kulturpsychologie wie für die Individualanalyse wert¬ 
voller Beobachtungen. Unter anderem möchte ich die Beschreibung des oralen 
Optimismus erwähnen, die einen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung des 
Realitätssinnes liefert. Röheims Aranda kennen keine Angst vor der Zukunft, 
obwohl sie häufig schlimme Hungerzeiten durchmachen müssen. Röheim meint, 
daß sich die Menschen, denen in der Kindheit von jeder stillenden Frau ohne 
weiteres die Brust gereicht wird, wenn es sie danach gelüstet, anscheinend keine 
karge Mutter Natur vorstellen können. 

Eine Latenzperiode konnte Röheim bei den Australiern nicht beobachten. 
Die Koitusversuche der Kinder werden ohne Unterbrechung bis zum voll¬ 
gültigen Koitus des Erwachsenen fortgesetzt. Die Beobachtungen in bezug auf 









56/ 


das Geschlechtsleben lassen übrigens eine ganze Reihe von Fragen offen, was 
bei der verhältnismäßig kurzen Zeit, die Röheim zu Gebote stand, auch nicht 
verwunderlich ist. Es sind eigentlich Kostproben, die uns ahnen lassen, wie¬ 
viel grundsätzlich Wichtiges weitere ähnliche Forschungsarbeit der Psycho¬ 
analyse bieten könnte. Der Analytiker hätte z. B. gerne erfahren, wie sich 
bei diesen Völkern die Zärtlichkeitsbeziehungen zwischen Erwachsenen und 
Kindern gestalten. Eine Bemerkung Röheims über die verhältnismäßig seltene 
Ausübung des Beischlafs (eine Wiederholung in derselben Nacht ist nicht üblich) 
läßt z. B. das (auch von Ferenczi in seinem letzten Kongreßvortrag aufge¬ 
worfene) Problem auftauchen, wieweit das direkte Ausleben der Aggression 
und der Grad der Hemmung der Partialtriebe mit der Leidenschaftlichkeit 
des Geschlechtslebens Zusammenhängen. 

Das ungarische Buch ist eigentlich eine kurze und volkstümliche Zusammen¬ 
fassung der australischen Forschungsreise. Die ausführliche, wissenschaftliche 
Bearbeitung desselben Materials wird demnächst in englischer Sprache er¬ 
scheinen. Wir wollen hoffen, daß die Ergebnisse der ersten psychoanalytischen 
Forschungsreise auch im Kreise der Schulethnologie die gebührende Beachtung 
finden werden. Alice Bälint (Budapest) 



Butler. IV. Band. Leipzig, iS. Hirzel, iy 33 . XVI und 3 z 8 /Seiten. 


28 Abbildungen. 


Charlotte Bühler hat es sich zur Aufgabe gesetzt, den menschlichen Lebens¬ 
lauf als psychologisches Problem zu betrachten. Sie behandelt zunächst das Ver¬ 
halten und die objektiven Daten, geht dann zum Aspekt des Erlebnisses und 
der subjektiven Daten über und betrachtet schließlich den Lebenslauf unter 
dem Gesichtspunkt des M r erkes und Ergebnisses. Der Lebenslauf erweist sich 
als gegliedert in Phasen. Im zweiten Abschnitt des Buches werden Strukturen 
von Lebensverläufen untersucht. Die Normalstruktur und ihre Modifikationen 
werden dargestellt. Dem Kurzleben wird besondere Aufmerksamkeit zugewendet. 
Das Verhältnis von Leben und Werk wird untersucht. Schließlich werden zu¬ 
sammenfassend fünf Phasen des Lebenslaufes unterschieden. Der Schritt vom 
Tentativen zum Definitiven und zum Ergebnis wird als Grundtatsache des 
Lebens angesehen. 

Mit wenigen Ausnahmen entstammt das Material reich dokumentierten Lebens¬ 
geschichten der Literatur. Das objektive Produkt des Lebensverlaufes, das Werk, 
wurde, soweit ein solches erfaßbar vorlag, in die Untersuchung einbezogen. 

Bevor wir uns den Einzelproblemen dieses Buches, dem der große Wurf nicht 
abgesprochen werden kann, zuwenden, ist es nötig, sich ins Gedächtnis zurückzu¬ 
rufen, was die Psychoanalyse über das Problem des Lebenslaufes zu sagen hat. 

1) Das Leben eines Individuums ist mehr als eine Kette von Ereignissen, 









68 


in denen immer wieder derselbe Gegenstand erscheint. Es erhält seine innere 
Einheit durch die Tatsache, daß lückenlose Erinnerung die Erlebnisse ver¬ 
bindet. Es handelt sich demnach um Einheit in der Erinner ungs v er knüp fu ng 
In diesem Zusammenhang ist es von keiner Bedeutung, daß außerdem ein 
spezifisches konstantes Icherlebnis besteht, das der eigentliche Träger des Kon- 
tinuitätserlebnisses ist. 

2) Das Leben steht unter dem Zwange, sich Ziele und Aufgaben zu setzen. 
Ziele und Aufgaben sind sinnvoll. Was immer die tatsächliche Abfolge der 
psychologischen Erfahrungen sein mag, das Individuum fühlt sich gedrängt, sich 
das Leben sinnhaft, zweckhaft darzustellen. In der analytischen Terminologie 
würden wir auf den Triebcharakter hindeuten — der Trieb strebt irgendwohin 
und will etwas und auf die Organisation des Ichs. Das Ich sorgt dafür, 
daß es zwischen den verschiedenen Triebregungen zum Ausgleich, zum Sinn 
kommt. Das Ich in analytischem Sinn ist bestrebt, die widerstrebenden Einzel¬ 
erfahrungen sinnhaft zusammenzufassen. Es besteht also ein unwiderstehbarer 
Zwang, im eigenen Leben einen Sinn zu sehen. Daß dieser Zwang besteht, 
ist bereits ein Hinweis darauf, daß Leben nicht schlechthin sinnvoll ist und 
daß die Sinnlosigkeit, die überwunden wird, zu den Grundfaktoren des mensch¬ 
lichen Lebens gehört. Zu den an sich sinnlosen Konstanten des Lebens gehört 
die mitgegebene Individualität als solche. Es ist, um bei den leicht erfaßbaren 
intellektuellen Faktoren zu verbleiben, eine sinnlose Tatsache, daß der eine 
begabt, der andere unbegabt ist. Die Metaphysik des verschiedenen Intelligenz¬ 
quotienten in verschiedenen Individuen ist undurchschaubar. 

3) Wir treffen die Verschiedenheiten in der Anatomie im weitesten Sinn: 
die Konstanten der Konstitution; die Minderwertigkeiten; die Überwertigkeiten 
und schließlich in engem Zusammenhang hiemit die Krankheiten, die (lediglich 
von außen bedingten) Unfälle. Das Individuum antwortet auf jede Einschränkung 
und Bedrohung der Sinnhaftigkeit seines Lebens mit einer Umkonstruktion seiner 
psychischen Struktur. Es fühlt sich bestraft, verdammt, verfolgt, und gewinnt 
hieraus das unmittelbare Gefühl der Wichtigkeit (mit oder ohne Hilfe der 
Religion) oder findet, daß die Sinnhaftigkeit seines Lebens unter solchen Um¬ 
ständen besonders klar in Erscheinung tritt. Wir mögen dieses Gefühl der Sinn¬ 
haftigkeit des Lebens analytisch zum Narzißmus rechnen. 

4) Individuen und Personen leben natürlich in der Welt. Da ist zunächst 
die Umgebung des Alltags. Man hat Ziele, Zwecke, Absichten in dieser Welt. 
Die Philosophie schien diesen Tatbestand vergessen zu haben. Neuerdings hat 
ihn Heidegger wieder gesehen und hat allerdings die cura, die Sorge, ein¬ 
seitig in den Vordergrund gestellt. Für die Psychoanalyse hat die Welt immer 
existiert und es ist eines der großen Verdienste Freuds, daß er immer wieder 
das Individuum in seiner Umgebung und in seinem natürlichen Verhalten gesehen 
hat. Nun bedeutet das natürlich nicht lediglich eine theoretische Beziehung. 
In der Welt sein heißt in der Welt eine Veränderung hervorbringen. Sein 
heißt demnach Wirken. Charlotte Bühler folgt Karl Bühl er, wenn sie von 
einer Funktionslust spricht und in den ersten Phasen der Kindheit von einer 
Betätigung um der Betätigung willen. Nun ist das sicherlich ungenau. Es ist 













56g 


Besprechungen 


keine Frage, daß auch die primitive Bewegung etwas will, der Gegenstand ist 
unbestimmt. Wenn das Kind spielt, will es nicht nur sich betätigen, sondern 
sich an etwas betätigen. Beißen, Lallen, Schreien, Fassen, Halten, Strampeln 
haben definitive Beziehungen zur Welt. Es gibt keine Vitalfunktionen, die 
lediglich der eigenen Erbauung dienen. Das Individuum ist immer der Welt 
zugewendet. Andernteils ist bei jeder Werkbetätigung das Erlebnis der eigenen 
Funktion vorhanden. Wahrscheinlich konstatieren wir ständig die eigene Funktion. 
Silberer hat gezeigt, daß sich die Funktion als solche sehr häufig in Symbolen 
darstellt. Gewiß ist diese Symbolik nicht rein funktional, wir müssen uns eben 
immer an etwas betätigen. Psychologie hat es natürlich grundsätzlich zu tun 
mit dem Verhalten des Individuums zur Welt und zu den Änderungen, die 
es in der Außenwelt hervorbringt. Das ist der Standpunkt der Analyse, der 
allerdings nirgends formuliert ist. Werk und Leben sind daher vom Stand¬ 
punkt der allgemeinen Psychologie keine Gegensätze. Es ist richtig, daß manche 
unserer Haltungen tiefer gehende Spuren zurücklassen als andere, manche mögen 
dokumentierte Spuren zurücklassen. Das Wbrk ist eine solche dokumentierte 
Spur des Lebensprozesses. Man trifft hier bereits ein Problem, das uns bald 
noch von einem anderen Gesichtspunkt aus beschäftigen wird, nämlich, ob die 
zweifellos vorhandenen Unterschiede zwischen scheinbar zweckloser Funktion 
und planmäßigem Werk Artunterschiede oder Gradunterschiede sind. Es ist 
das Problem: Phase oder Entwicklung. Nun besteht sicherlich bei Ch. B. die 
Tendenz, das Werk — gleichsam als objektiven Geist — gegenüber dem 
psychischen Prozeß, der undokumentiert ist, zu überschätzen; man hat auch 
immer wieder das Gefühl, daß, der Verfasserin unbewußt, moralische War¬ 
tungen hier sehr stark hineinspielen. Es ist zweifellos ein Verdienst B.s, 
wenn sie Werkstatistik in weitem Maß heranzieht. Aber das Werk ist nur 
ein Indizienbeweis für psychologische Vorgänge, welche für den Psychologen 
allein wesentlich sind. Es ist teilweise das Material der „Berühmten“, welches 
Ch. B. zur psychologischen Überschätzung des Werkes verleitet. Sie hat aber 
die gleichen Kategorien zur Beschreibung der kindlichen Entwicklung heran¬ 
gezogen. Nun gehört es zu den analytischen Grundgedanken, daß sich das Kind 
von einer Haltung, die zunächst vorwiegend dem eigenen Körper zugewendet 
ist, immer mehr dem Objekt, „Liebesobjekt“, zuwendet. Die Psychoanalyse 
hat also diesen Grundgedanken B.s nicht nur als Gedanken vorweggenommen, 
sondern auch reich belegt. Ich würde im allgemeinen formulieren, daß jede 
Erlebnisphase körper- und umweltbezogen ist, daß aber die Umweltbezogenheit 
im Laufe der Entwicklung zunimmt. Die Formulierung ist aber sehr schematisch. 
Wir haben vom analytischen Gesichtspunkt allen Grund anzunehmen, daß das 
Werk, sei es dauernd oder nicht, seine eigentümliche Bestimmtheit dadurch 
erhält, daß es unter dem Schein der Umweltbestimmtheit Komplexe, Körper- 
bezogenheiten absättigt. 

5) Damit kommen wir zu einem Hauptproblem des Buches, zu dem Problem 
der Phasen. Ch. B. hat bereits in ihrem Buche „Kindheit und Jugend“ fünf 
Phasen aufgestellt: die funktionelle Phase ist mit unspezifischer Materialbehand¬ 
lung verbunden. In der zweiten Phase beginnt das Kind sein Ich der Welt 












Syo 


gegenüberzustellen und sich Ziele zu setzen. Es verfügt über das Werk mit 
großer Willkür. Affektive Beziehungen zu einzelnen Personen bilden sich. In 
der dritten Phase beginnt das Kind, das Material adäquat zu behandeln: Werk¬ 
reife. In der vierten Phase treten neue Spannungen auf, gleichzeitig werden 
geistige Zusammenhänge gesucht. In der fünften Phase treten neue persönliche 
Beziehungen hinzu. Vorausblick und Rückblick charakterisieren diese Phase. 
Im Gesamtverlauf des Lebens unterscheidet sie gleichfalls fünf Phasen. In der 
ersten Phase weiß man nicht, wofür man lebt. Die zweite Phase enthält den 
Versuch zu selbstständiger Entscheidung. In der dritten Phase folgen die eigent¬ 
lichen Bestimmungen. In der vierten Phase tritt der Gesichtspunkt des Er¬ 
gebnisses in den Vordergrund. Die fünfte Phase bringt den Abschluß oder den 
Rückblick. 

Der unspezifischen oder provisorischen Bestimmung folgt die spezifische und 
definitive und der Gesichtspunkt des Ergebnisses. Die Gewinnung des Gesichts¬ 
punktes des Ergebnisses ist häufig mit der Einstellung von der Selbstbehauptung 
zur Entsagung verbunden. (Durchschnittlich fünfundvierzigstes Lebensjahr.) Die 
Spezifikation liegt in der Zeit um das dreißigste Lebensjahr. Das Ende der 
vierten Lebensperiode wird mit sechzig Jahren angesetzt. 

Die Analogie zur biologischen Entwicklung ist deutlich: Jugend, frühes 
Mannesalter, spätes Mannesalter, Beginn der Involution, Greisenalter. 

B.s Gliederung gilt für Erlebnisse, Ereignisse und Werke. Jeder Phasenschritt 
wird zuerst im Erlebnis deutlich. Man mag das im allgemeinen zu dem all¬ 
gemeinen Gesetz in Beziehung bringen, daß das Erlebnis der feinste Indikator 
des Lebens und zugleich sein tiefster Ausdruck ist. Nun ist wohl ein Zweifel 
an der Phasenhaftigkeit der Existenz nicht möglich. Aber es schließt sich hieran 
sofort die Paradoxie, daß selbst dort, wo die Phase relativ deutlich wird, 
z. B. in der Pubertät, doch ein allmählicher Übergang stattzufinden scheint. 
Man kommt zur Antinomie: natura non facit saltum — natura facit saltum. 
Man begegnet den gleichen Problemen in der Physik in dem Gegensatz Quantum 
und Feld. Wenn man demselben Grundproblem auf so verschiedenen Gebieten 
begegnet, so liegt ihm wahrscheinlich eine menschliche Grundeigentümlichkeit 
zugrunde. Wir brauchen feste Punkte und finden sie doch unbefriedigend; so 
läßt jede Phaseneinteilung einen unbefriedigenden Rest. Auch die Analyse hat 
das versucht. Sie hat die narzißtische (primärer Narzißmus), die oral-sadistische, 
die anal-homosexuell-sadistische und die Ödipusphase unterschieden, hat aber 
in der letzten Zeit erleben müssen, daß der Versuch unternommen wurde 
(M. Klein), die Ödipusphase in die allererste Entwicklungsphase zu verlegen. 
Auch die Bestimmung der Latenzperiode stößt auf Schwierigkeiten. Ich halte 
diese Schwierigkeiten der Phasenbestimmung für immanent. Ich glaube daher, 
daß man im Phasenprinzip nie mehr als einen vorläufigen Ordnungsfaktor sehen 
soll. Die Freude an der Phasenbestimmung scheint Ch. B. zu oft von der 
Betrachtung der individuellen Lebenseigentümlichkeit wegzuleiten. Es wird 
natürlich besonders schwierig, die schematische Phasenbestimmung anzuwenden, 
wenn das Leben früh endet und dann auf Grund der Phasenlehre zu entscheiden 
ist, ob es sich um ein abgeschlossenes oder abgebrochenes Kurzleben handelt. 






5/i 


6) Das führt zu der allgemeinen Frage der Bedeutung der Krankheit im 
Lebenslauf. Es wäre natürlich einfach, wenn man Krankheit und Tod als freie 
Selbstbestimmung des Individuums auffassen würde. Manche Analytiker, wie 
Groddeck, neigen zu dieser Auffassung. Auch Ch. B. ist ihr nicht abgeneigt. 
Krankheit verändert nicht nur die Zielsetzungen, sondern macht auch die Aus¬ 
führung gesetzter Ziele beträchtlich schwieriger. Sieht man, was ich hier im 
einzelnen nicht ausführen kann, die Bestimmung des Menschen in der Selbst¬ 
verwirklichung, so ist Krankheit ein ernstes, oft unüberwindliches Hindernis. 
Das kommt in der Materialsammlung Ch. B.s nur ungenügend zum Ausdruck. 
Nun ist Krankheit ein typisches Menschenschicksal. Das Bild wird einseitig, 
wenn es lediglich den der Krankheit völlig oder fast Entronnenen zeichnet. Es 
macht das Leben viel unproblematischer, als es in Wirklichkeit ist. Die gleiche 
Rolle, welche der Krankheit zukommt, spielt eine unübersichtliche Gestaltung 
der politischen und ökonomischen Welt. Ich glaube, daß die Verbiegung des 
Lebenslaufes und die Hinderung der Selb st Verwirklichung zu den grundlegenden 
Tatsachen des Lebenslaufes gehören. 

7) Nun finden solche Verbiegungen nicht nur durch mehr oder minder äußere 
„physikalische“ Einwirkungen statt. Sie kommen, wie besonders die Psychoanalyse 
gezeigt hat, durch die psychologische Einstellung der Umgebung zustande. Es 
finden jene Verzerrungen statt, welche mit der Erziehung und dem Verhalten 
der Eltern gegeben sind. Hier muß auf die Gesamtergebnisse der Psychoanalyse 
verwiesen werden. Nun verweist Ch. B. im Vorwort auf die Verfehlungen 
des menschlichen Lebenslaufes. Aber der menschliche Lebenslauf ist so häufig 
verfehlt, daß es seinem Wesen zugehört, so leicht in Verfehlung zu geraten. 
Es rührt freilich wieder an das Problem der Norm, wenn wir fragen, was 
verfehlt und was nicht verfehlt sei. Dürfen wir das Urteil des Individuums 
nicht als maßgebend ansehen? Ich zweifle daran. Das Urteil der anderen? Auch 
das bleibt zweifelhaft. Haben wir das Recht, das Leben als Ganzes, als Einheit 
zu betrachten? Das hohe Alter ist eine Verfehlung in sich. Ist die Paralyse des 
Beau Brummei nicht eine schwerere Verfehlung in diesem Sinn als die Art, 
wie er sein Leben anlegt? All das erscheint zu klar und systematisch in B.s 
Buch. Man nehme etwa den Lebenslauf Conrad Ferdinand Meyers mit seiner 
späten Entwicklung, einer relativ kurzen Spanne der Blüte, einem Absinken 
in eine unheilbare Psychose von langer Dauer. Man würde auch gerne mehr 
über individuelle Bestimmtheiten des Lebens erfahren. Analytisch wissen wir, 
daß die wesentlichen Situationen des späten Lebens in der frühen Kindheit 
vorgebildet sind. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß diese frühen Er¬ 
lebnisse mehr sind als lediglich das erste Aufleuchten der individuellen Ver¬ 
haltungsweise in spezifischen Situationen. Sie sind typische Gestaltbildungen, 
Muster, welche auf den ganzen weiteren Verlauf des Lebens gestaltend ein¬ 
wirken. Wir wissen, daß Kinder, wenn ihnen eine Aufgabelösung einmal ge¬ 
lungen ist und wenn sie die Antwort einmal (objektiv richtig oder falsch) 
formuliert haben, bei dieser Lösung bleiben und bei Wiederholung der Auf¬ 
gabe stereotyp in derselben Weise reagieren. Freud hat gezeigt, daß die Aufgabe¬ 
lösung nicht nur von der Konstitution, sondern auch von der Situation bestimmt 








Besprechungen 


Sp2 


wird. Wir können uns ein Verständnis des Lebenslaufes ohne ein tiefes Ein¬ 
gehen auf diese Tatsachen schwer vorstellen. Man sieht, daß sich dann die 
typische Situation immer wieder einstellt, daß das Individuum sie wieder er¬ 
zwingt. Man mag von Wiederholungszwang sprechen, gleichgültig, ob man sich 
mit Freud darunter einen eigenen Mechanismus vorstellt oder an der Vor¬ 
stellung festhält, daß es sich um Triebeinstellungen und Aufgabestellungen handelt, 
die immer wieder zu derselben Situation drängen. Man kann nicht leugnen' 
daß die kurzen Darstellungen der Lebensläufe, welche das Rückgrat des Buches 
bilden, so fesselnd sie vom literarischen Gesichtspunkt sein mögen, aus diesem 
Grund den Analytiker nicht voll befriedigen: er möchte gern mehr von den 
Dingen wissen, die nach seiner Erfahrung für die Gestaltung des Lebenslaufes 
entscheidend sind, die Einstellung zu den Eltern, die Sexualhaltung und manches 
andere mehr. Man nehme etwa den Bericht über das Leben des Schauspielers 
Kainz. „Frauen scheinen eine seltsam geringe Rolle in diesem Leben gespielt 
zu haben.“ Aber welches war sein Verhältnis zu König Ludwig, sein Verhältnis 
zu seinem Vater, wie stand es mit seiner Homosexualität, welche Beziehung 
hat die homosexuelle Komponente zum Beruf und zum Werk? Man ist von 
der Feststellung nicht recht befriedigt, daß er sein Lebensziel mit einund vierzig 
Jahren erreicht hatte und daß mit fünfzig Jahren Äußerungen des Greisentums 
auftreten. Wenn er 1910 an Karzinom stirbt, so treten die gelegentlichen 
Schwankungen der Stimmung — und des Werkes —, die vielleicht schon seelische 
Reaktion auf das erste Krankheitsgefühl sind, eben in eine ganz andere Beleuchtung. 
Hier scheint die innere Gefahr des Lebens unterschätzt zu werden, und viel 
vom Sinn des Erlebens bleibt völlig im Unklaren. Oder man nehme das Leben 
Kants. Was trieb ihn zur Vernachlässigung des Lebens? Ist das Werk der Aus¬ 
druck einer inneren Unfähigkeit zum Erleben? Wie spiegelt es die Situation? 
Ist die betrübende Leere seines späten Lebens nicht lediglich Ausdruck der 
Tatsache, daß er lange lebte? Endet nicht das menschliche Leben durch äußere 
Gewalt oder in der Leere des Greisentums, welche wir im allgemeinen vor 
uns zu verheimlichen pflegen? 

Fraglos, Ch. B.s Buch ist ein bedeutsamer erster Versuch, das große Problem 
darzustellen. Es versucht eine vorläufige Ordnung. Es gibt ein Phasenschema. 
Es gibt eine Reihe wichtiger Einzeldarstellungen, die wir zum Teil hier nicht 
erwähnt haben, das Problem von Chance, Einsatz, Wagnis, Erfüllung wird 
behandelt und erreicht so eine größere Lebensnähe als sonst in psychologischen 
Darstellungen. Die Lebensnähe würde größer gewesen sein, hätte die Verfasserin 
analytische Fragestellungen und Probleme näher berücksichtigt. Es bleibt auch 
die Frage offen, ob sie nicht in dem Hinweis auf Werk und Erfolg die Problematik 
der menschlichen Existenz zu sehr vereinfacht hat. Man würde gern mehr über 
die unausgesprochenen metaphysischen und ethischen Voraussetzungen hören, 
die dem Werke zugrunde liegen. Aber es ist ein auch für den Analytiker wichtiges 
Buch. Man sieht den Menschen unter selbstgesetzten Aufgaben. Ch. B. sieht ihn 
nach Versuch und Irrtum zum Ergebnis schreiten. Aber obwohl es in ihrem 
Material deutlich erscheint, betont sie nicht, daß das Ergebnis wohl objektiv 
festgehalten werden kann, daß es aber subjektiv nicht bestehen bleibt, zerrinnt, 








Besprediimgen 


5^3 


und daß das Individium sich neue Aufgaben setzt, so lange es hiezu fähig ist, 
bis es unter dem Einfluß biologischer Unfähigkeit zu neuem Versuch und Irrtum 
nicht mehr fähig ist. Vielleicht ist das Leben problematischer als es nach dem 
Buche Ch. B.s den Anschein hat. Vielleicht ist das Werk kein so sicherer Ruhe¬ 
punkt in der menschlichen Existenz, wie Charlotte Bühler annimmt. 

P. iSckilder (N ew- York) 

Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit. Sammlung Göschen, 

Band 1000, Berlin und Leipzig, Walter de Gruyter & Co., 1931. 

191 Seiten. 

Seit Spenglers „Untergang des Abendlandes“ hat noch keine Kultur¬ 
philosophie in Deutschland in weiten Kreisen der Gebildeten so bereitwillige 
und dankbare Leser gefunden wie das Buch von Karl Jaspers. Diesmal handelt 
es sich nicht um ein interessant schillerndes und leicht zugängliches Hypo¬ 
thesengebäude, sondern um eine philosophische Weltanschauung, die eine eigen¬ 
tümliche Strenge hervorkehrt und deren eindringliche Sprache weit mehr an 
das Suchen der Jugend appelliert als an die weltanschaulichen Interessen der 
Intellektuellen. Zwei Tatsachen sind es vor allem, die eine ausführliche Be¬ 
sprechung rechtfertigen: die phänomenologische Schule hat im Laufe der letzten 
Jahre besonders in Gestalt der „Existenzphilosophie“ immer mehr an Einfluß 
gewonnen; nirgends zeigt sich das deutlicher als in der psychotherapeutischen 
Literatur. Und die zweite, wichtigere Tatsache: dieses Buch will zwar nur 
Ausdruck eines „philosophischen Glaubens“ sein; aber dieser Glaube verrät 
immer wieder die Tendenz, sich an die Stelle der Psychologie zu setzen. 

„Die geistige Situation der Zeit“ ist bei Jaspers der Titel für den Inbegriff 
aller Probleme, die sich für den „Einzelnen“ aus dem gegenwärtigen Zustand 
der Kultur ergeben. Es geht also nicht um das Schicksal der menschlichen 
Gesellschaft, sondern um das des Individuums in ihr. Auf kurzen 191 Seiten 
unternimmt Jaspers den Versuch, schlechthin alle wesentlichen Probleme des 
menschlichen Daseins aufzurollen. Durch vier Themenkreise verfolgt er das 
Schicksal des „Selbstseins“ des Menschen, in dessen zentrale Problematik er 
alle Fragen einmünden läßt. Er geht aus vom Massendasein im Zeitalter 
der Technik und findet, daß die wachsende rationale Durchdringung der 
menschlichen Daseinsordnung die Durchschnittlichkeit züchte und das „eigent¬ 
liche Sein“ des Menschen niederhalte. Dieser Verfall habe einen „geistigen 
Grund“: den Verlust der „Bindung durch Autorität“. Die Gefahr des immer 
weiter fortschreitenden Substanzverlustes in allen menschlichen Beziehungen 
könnte nur durch einen neuen „Willen zum Ganzen“ besiegt werden. Dieser 
Wille bejahe vor allem den Staat, und zwar nicht als ein Mittel der ratio¬ 
nalen Daseinsordnung zur möglichst richtigen Welteinrichtung, sondern als das 
übergeordnete Ganze, mit dem der Einzelne sich identifizieren müsse, um sein 
eigentliches Sein realisieren zu können. Der Staatswille schließe Bejahung der 
Wehrhaftigkeit, ja unter Umständen auch des Krieges, ein. Die Substanz des 
Ganzen aber, die der Staat birgt, sei abhängig von dem „ursprünglichen Leben 
einer geistigen Welt“. In der geistigen Schöpfung werde der Mensch sich 










6 74 


Besprechungen 


seines eigentlichen Lebens bewußt, doch werde ihm heute der Geist in jeder 
bestehenden Objektivität fragwürdig, und so finde er sich schließlich zurück¬ 
geworfen auf die Frage nach der „Wahrheit, die er selbst ist“, nach dem 
eigentlichen Menschsein: dem „Selbstsein“. Durch diese Interpretation ge¬ 
lingt es dem Philosophen, alle Realprobleme in metaphysisch begründete Anti¬ 
nomien zu verwandeln, aus denen nur die Philosophie selbst zu erretten vermag. 

Was Jaspers hier unternommen hat, ist nicht weniger als der Versuch einer 
Deutung des Lebens. Man soll nicht von vornherein sagen, daß ein solcher 
Versuch auf dem Boden der Wissenschaft nicht zu rechtfertigen sei. Aber dem 
wissenschaftlichen Erkenntnisverlangen, wie es Freud bei der Verfolgung der 
Fragen nach dem „Sinn des Lebens“ in seiner Schrift „Das Unbehagen in der 
Kultur geleitet hat, ist die philosophische Tendenz von Jaspers geradezu ent- 
gegengesetzt: im Glauben, „das Maß eigentlich menschlichen Wesens“ sei „die 
Gewalt, die . . . die Forderungen der Natur als unausweichlich nicht anerkennt“, 
befragt er alles, was Menschen denken und tun, auf die „ursprünglichen Möglich¬ 
keiten des Geistes , der sich darin verwirklicht. Er sieht überall zwei Grund¬ 
möglichkeiten: Sichverlieren durch das Verfallen an die Durchschnittlichkeit 
des Massendaseins und (niemals endgültiges) Sichgewinnen in der Entscheidung 
für das „Selbstsein . Was immer Gegenstand der philosophischen Betrachtung 
wird — die Interpretation befriedigt sich darin, dieses Grundschema durch¬ 
zusetzen. Vom Schicksal des „Selbstseins“ hängt alles ab: „echte“ Wissenschaft, 
„ursprüngliche“ Kunst, „unbedingte“ Liebe, „berufenes“ Führertum u. s. f. Will 
man Jaspers verstehen,^ so kommt es offenbar vor allem darauf an, seinen 
Begriff des „Selbstseins“ zu verstehen. 

Doch hier beginnt unsere Verlegenheit: es wird uns nämlich bündig mit¬ 
geteilt, daß man darüber, was und wie es selbst sei, nichts wissen könne; auch 
die Existenzphilosophie selbst nicht: sie „würde sogleich verloren sein, wenn 
sie wieder “Zu wissen glaubt, was der Mensch ist“. (S. 146.) Daß Jaspers dem 
„Selbstsein geradezu Allmachtskräfte beilegt und daß er es mit einem Denktabu 
umgibt, erregt den Verdacht, daß es sich um eine Lehre handelt, die nicht 
nur wissenschaftlich nicht zu begründen ist, sondern die sich auch wissen¬ 
schaftlicher Kritik entziehen will. Wo die Schwierigkeiten des Gegenstandes 
von der menschlichen Erkenntniskraft nicht bewältigt werden, bescheidet sich 
die Naturwissenschaft die Philosophie wird pathetisch. Jedoch: „Die Un¬ 
wissenheit ist die Unwissenheit; kein Recht, etwas zu glauben, leitet sich aus 
ihr ab.“ 

Jaspers selbst weist auf die geistesgeschichtliche Herkunft seiner Ideen von 
dem religiösen Denken Kierkegaards hin. Aber man darf nicht übersehen, 
daß bei Jaspers der Akzent nicht auf das Religiöse fällt, sondern darauf, daß 
durch Vermittlung des Begriffs vom „Selbstsein“ jeder psychische Tatbestand 
in letzter Instanz der Naturwissenschaft weggenommen und einer philosophi¬ 
schen Interpretation unterworfen wird. Diese erst wird aller Wissenschaft nicht 
nur ihren eigentlichen Sinn geben, sondern auch in entscheidenden Stücken 
Weg und Ziel der Forschung bestimmen. Wenn auch der sachliche Gehalt 
des dabei leitenden Begriffes vom „Selbstsein“ in völliges Dunkel gehüllt bleibt, 












5 7 5 


Besprechungen 


so wird doch die methodische Funktion dieser Begriffsbildung innerhalb des 
Jaspers’schen Denkens aus ihrer philosophischen Verwendung nur allzu deutlich. 
Bei allen Erscheinungen fragt die Philosophie nach dem „Wesen“; diesem 
Begriff haftet eine unzulässige Doppeldeutigkeit an: „Wesen“ bedeutet einmal 
das „wirkliche Sein“ einer Sache und ein anderes Mal das, was sie im Sinne 
bestimmter, von nicht weiter analysierten Wünschen diktierter Wertungen sein 
sollte, und diese Doppeldeutigkeit dient Jaspers als die Brücke, auf welcher die 
immer von neuem bei der empirischen Wirklichkeit des menschlichen Lebens 
einsetzende Betrachtung in das Reich der wertenden Interpretation hinüber¬ 
wechselt. 

Was bewahrt aber das Jaspers’sche Denken davor, in die Inhaltlosigkeit eines 
Philosophierens mit dem Wort „eigentlich“ zu verfallen? — nur die einheit¬ 
liche Weltanschauung, die seine Wertungen durchgehend bestimmt. Was sich 
ihr entgegensetzt, wird als Verfall des Selbstseins interpretiert; sehr „frag¬ 
würdige“ Phänomene dagegen werden einseitig auf ihre ideale Möglichkeit hin 
ausgelegt, weil sie ihr entsprechen. Was sich uns in seiner letzten Bedeutung 
als der tragische Kampf des Menschengeschlechts um die Bändigung des Aggres¬ 
sionstriebs darstellt, erscheint hier unter dem Titel „Massenordnung in Daseins¬ 
fürsorge“; vom Kriege dagegen glaubt Jaspers, daß es die Aufgabe des „echten 
Führers sein könne, ihn „vordenkend mit dem Gehalt einer geschichtlich 
relevanten Entscheidung zu füllen“. Der Sinn der Erziehung soll im „geistigen 
Ergriffenwerden des Einzelnen“ liegen, — daß ein solches Phänomen nur 
möglich ist auf Grund vorausgehender Eingriffe in den Ablauf des Trieblebens, 
wird gänzlich ignoriert. Das Wesen der Liebe liegt in der „Unbedingtheit 
lebensentscheidender Treue“, (S. 54) — eine irgendwie geartete Abhängigkeit 
von einer bloßen Naturgewalt „Sexualität“ wird ausdrücklich abgelehnt; dagegen 
wird von der „vitalen Das eins Wirklichkeit“ des Menschen gesagt, daß er sie 
im Sport (!) ergreife (S. 52). Wenn Jaspers dazu übergeht, seine abstrakten 
Formulierungen zu konkretisieren, so zeigt es sich immer wieder, wie wenig 
tief eigentlich der Sinn der zuerst so tief anmutenden Philosopheme ist. Aber 
noch etwas anderes können die vorstehenden Zitate zeigen: hier wie bei vielen 
anderen Gelegenheiten reduziert sich der Gehalt dieser idealistischen Philosophie 
darauf, eine reaktionäre Weltanschauung in eine komplizierte und unanschau¬ 
liche Sprache zu übersetzen 

Noch in einer zweiten Hinsicht ist diese Philosophie ideologisch gebunden. 
Diese Abhängigkeit spricht Jaspers am klarsten auf der letzten Seite seines 
Buches aus: „Ohne die in kirchlicher Tradition geborgene Religion ist in der 
Welt kein philosophisches Selbstsein . . .‘ Von hier aus muß man auch den¬ 
jenigen Charakter des Jaspers’schen Denkens verstehen, der so viele fasziniert 
hat und der in Wirklichkeit seine eigentliche Schwäche ist: die tief begründete 
Ambivalenz gegenüber dem Erkennen. Seite um Seite führt Jaspers einen 
verzweifelten Kampf um die Begründung eines über das bloß „erkenntnismäßige 
Wissen“ (gibt es anderes?) hinausgehenden Philosophierens. Am Schlüsse des 
Abschnittes „Krise“ kommt er dahin, geradezu zwei miteinander nicht zu ver¬ 
einende Wahrheiten zu postulieren. In konsequenter Verkennung des Sinnes 







5 7 6 


Besprechungen 


wissenschaftlicher Forschung unterschiebt Jaspers der Wissenschaft einen ihrem 
Wesen fremden Absolutheitsanspruch, so daß sie leicht durch die Kritik der 
Philosophie zu beschämen ist — einer Philosophie, die mit Stolz bekennt, daß 
„sie in ihrer Gegenständlichkeit bodenlos bleibt“ (S. 146). 

Wie steht es nun in Wirklichkeit mit der von Jaspers behaupteten prin¬ 
zipiellen Unzugänglichkeit des „Selbstseins“ für eine wissenschaftliche Erforschung? 
Die einzige rationale Begründung dieser Unzugänglichkeit beruft sich darauf, daß 
hier das zu Erkennende durch das Erkennen selbst modifiziert werde. Diese 
Eigentümlichkeit ist aber weder für das Erkennen des Psychischen spezifisch (was 
die heutige Physik mit zunehmender Deutlichkeit zeigt) noch stellt sie ein unüber¬ 
windliches Hindernis dar — sie ist vielmehr ihrerseits genuiner Gegenstand 
wissenschaftlicher Untersuchung. Die Erforschung dessen, was als realer Kern 
in dem mit „Selbstsein“ Gemeinten steckt, ist dagegen von der Psychoanalyse 
längst in Gang gebracht worden. Es ist nämlich unverkennbar, daß die Grund¬ 
funktion des „Selbstseins“ darin besteht, Schuldgefühl, genauer: unbewußtes 
Schuldgefühl, zu mindern. Wenn man will, kann man also die Aussagen der 
Psychoanalyse über das Schuldgefühl als Aussagen über das „Selbstsein“ lesen. 
Jaspers dagegen hat an keiner Stelle den Versuch einer psychologischen Analyse 
der eigentümlichen Realität des „Selbstseins“ gemacht. Es geht ihm auch nicht 
um Untersuchen und Erklären, sondern um Verstehen und Interpretieren. Solche 
„phänomenologische“ Methode erkennt bestenfalls morphologische Gesetz¬ 
mäßigkeiten; sie verschließt sich aber von vornherein der Möglichkeit, Gesetze 
des psychischen Geschehens zu entdecken, und immer wird sie dazu neigen, 
ad hoc zu bestimmten Werten psychische Realitäten zu konstruieren. 

Das Gefühl des „Unbehagens in der Kultur“ schlägt heute in weiten Kreisen 
in eine Stimmung der Verzweiflung um; doch vermag sich bei den meisten 
Gebildeten die durch sie geweckte Tendenz zur Auflehnung nicht durchzusetzen 
gegen die instinktive Neigung zum Festhalten an den psychisch tief verankerten alten 
Werten. Die Kulturphilosophie von Jaspers bietet in solchem Zwiespalt einen Aus- 
weg, weil sie grundsätzlich die ungelösten Probleme des menschlichen Zusammen¬ 
lebens in moralische Aufgaben des Einzelnen umdeutet und weil ihre ambivalente 
Struktur es erlaubt, an allem die faktische Gestalt zu hassen und doch gleich¬ 
zeitig seine ideale Möglichkeit zu lieben. Genau gesehen vollzieht sich dabei 
folgendes: die in cfer Bedrängnis der gegenwärtigen Krise geweckten aggressiven 
Regungen werden durch die pathetische Zeitkritik von Jaspers zutiefst bestätigt, — 
auf der anderen Seite wird aber das mit ihnen verbundene Schuldgefühl durch 
den „Appell an das Selbstsein“ noch gesteigert, — im „inneren Aufschwung“, 
den der Philosoph fordert, werden dann die aggressiven Tendenzen aufs neue 
mit den Schuldgefühlen verlötet und dadurch auf ihren Träger zurückgewendet. 

Es ist leicht zu begreifen, daß sich dieser Prozeß nur unter dem Schutz 
von Denkverboten vollziehen kann. Begreiflich ist auch, daß die Psychoanalyse, 
deren allgemeinste Wirkung in der Aufhebung von Denkverboten besteht, bei 
Jaspers keine Gnade findet. Aber es ist doch erstaunlich, welches Maß von 
Feindseligkeit sie bei ihm weckt. Angesichts der schier unglaublichen Ver¬ 
ständnislosigkeit ist eine Diskussion unmöglich. Wir beschränken uns auf die 










Besprechungen 


5 77 


Wiedergabe einiger bezeichnender Stellen. „Die Selbstreflexion des redlichen 
Menschen ... ist hier denaturiert zur Aufdeckung sexueller Begehrungen . . .; 
es ist die Verdeckung echter, gefahrvoller Selbstreflexion. . ., welche das mensch¬ 
liche Dasein in seinen Niederungen verabsolutiert.“ (S. 139.) „Das gradlinig 
Brutale im Hassen und Preisen, wie es mit dem Massendasein zur Herrschaft 
gekommen ist, findet darin seinen Ausdruck . . (S. 142). „Das Höchste wie 

das Gemeinste bekommt die gleiche Terminologie umgehängt, um gerichtet ins 
Nichts zu schreiten.“ (S. 143.) Und schließlich im ersten Band seines philosophi¬ 
schen Hauptwerkes, zu dem der Göschen-Band gleichsam nur ein Vorreiter ist: 

. Formeln, von denen etwa psychoanalytische . . . die größte Eignung er¬ 
wiesen haben zur Ausrottung menschlicher Würde, die im Selbstsein aus Frei¬ 
heit wurzelt. (S. 205.) Wie kann man Freud so mißverstehen? Im umgekehrten 
Fall würde Jaspers gewiß nicht zögern, solche Urteile als „Wertblindheit“ zu 
brandmarken. Im Vergleich damit sind die Psychologismen, die uns zur Er¬ 
klärung dienen, milde zu nennen. 

Die Tatsache, daß ein Buch, welches „eigentlich“ nichts will, als den Ein¬ 
zelnen an sich selbst erinnern, einen Massenerfolg haben konnte, beleuchtet 
eigenartig die „geistige Situation der Zeit“ : nicht das Denken eines Einzelnen 
wird hier für Einzelne ausgesprochen, sondern ein Mittel der Tröstung wird 
angeboten, welches heute in weiten Kreisen der Intelligenz die letzte Zuflucht 
geworden ist: der Irrationalismus. W. Marseille (Wien) 

(Eingelangt Anfang 1932.) 


Imago XIX 


37 







INHALTSÜBERSICHT DES XIX. BANDES 


O RI Gl N AL A RB EI T EN 

Seite 

Gustav Bally: Die frühkindliche Motorik im Vergleich mit der Mo¬ 
torik der Tiere.^ 

Marie Bonaparte: Der Mensch und sein Zahnarzt.468 

Steff Bornstein: Das Märchen vom Dornröschen in psychoanalytischer 

Darstellung.505 

A> A. Brill: Über Dichtung und orale Befriedigung. 145 

Helene Deutsch: Mütterlichkeit und Sexualität. 5 

M . D. Eder: Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche 

der Juden. 473 

Max Eitingon: Abschiedsworte an Sändor Ferenczi.289 

Paul Federn: Die Ichbesetzung bei den Fehlleistungen.312, 433 

Ludwig Jekels: Das Problem der doppelten Motivgestaltung. 17 

Ham Kelsen: Die platonische Liebe., . 34, 225 

Ernst Kris: Ein geisteskranker Bildhauer. (Die Charakterköpfe des Franz 

Xaver Messerschmidt.) Mit 29 Abbildungen außer Text.384 

Harold D. Las sw eil: Psychoanalyse und Sozioanalyse.. 377 

Max Levy - Suhl: Über die frühkindliche Sexualität des Menschen im 

Vergleich mit der Geschlechtsreife bei Säugetieren. 27 

Walter Muschg: Dichtung als archaisches Erbe. 99 

Hans Peters: Die Sexualbiologie der Spinnen.198 

Albrecht Schaeffer: Noch einmal: Der Feuermythos.256 

Paul Schilder: Psychoanalyse und Biologie.168 

— Das Körperbild und die Sozialpsychologie.367 

Ernst Simmel: Gedenkrede für Sändor Ferenczi.296 

R. A. Spitz: Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform 454 

MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN 

Helene Deutsch: Über die Weiblichkeit.518 

Dorian Feigenbaum: Bemerkungen zu den „Libidinösen Typen“ . . 260 
Imre Hermann: Zum Triebleben der Primaten. Bemerkungen zu 

S. Zuckermann: Social life of monkeys and apes.113 

Istvdn Hollos; Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen 529 
Paul Kecskemeti: Psychologie und Ontologie.261 





























Inhaltsübersicht des XIX. Bandes &79 


REFERATE 

Aus der psychoanalytischen Literatur 

Seite 

Bennett und Isaacs: Health and Education in the Nursery (Schmideberg) . . 547 

Bernfeld: Der Begriff der Deutung in der Psychoanalyse (Gero) .126 

Dell: An Autobiographical Critique (Fenichel) .*.547 

Glover: War, Sadism and Pacifism (Autoreferat) .547 

Isaacs: The Children we Teach (Schmideberg) .. 551 

Laforgue: Misere de l’homme (Bergler) ... 551 

Reich: Der Einbruch der Sexuälmoral (Röheim) .552 

Reik: Der unbekannte Mörder (TV. Schmideberg) .561 

Reiner: Causality and Psychoanalysis (Fenichel) .563 

Roh eim: Telepathy in a Dream (Fenichel) .564 

Röheim: A Csurunga Nepe (A. Bdlint) .564 

Schjelderup: Über die drei Haupttypen der religiösen Erlebnisformen und 

ihre psychologische Grundlage (Müller-Braunschweig) .131 

Aus der Literatur der Grenzgebiete 

Allendy: La Justice interieure (Weyersberg) .272 

Alverdes: Die Tierpsychologie in ihren Beziehungen zur Psychologie des 

Menschen (Hermann) . 2^2 

v. Aster: Geschichte der Philosophie (Roellenbleck) .272 

Becker: Die Instinktpsychologie William McDougalls (Bally) .412 

Bericht über den XII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in 

Hamburg (Meng) . . 

Bouvier: Sur la Psychanalyse (Winterstein) .^ 2 

v. Bracken: Die Selbstbeobachtung bei Lavater (Kris) .273 

Broch er: Le mythe du höros et la mentalite primitive (Kris) .275 

Büch: Albrecht Dürers „Melencolia § 1“ und die Pest (Winterstein) .415 

Bühl er Charl.: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem (Schilder) 567 
Carnap siehe Christiansen und Carnap 

Carus: Vorlesungen über Psychologie (Haenel) .275 

Christiansen und Carnap: Neue Grundlegung der Graphologie (Marseille) . 413 

Clernen: Urgeschichtliche Religion (Lorenz) .4^ 

Dembo: Der Ärger als dynamisches Problem (Gero) .414 

Dorer: Historische Grundlagen der Psychoanalyse (Hartmann) .133 

Driberg: At Home vvith the Savage (Röheim) .4x8 

Eliasberg: Rechtspflege und Psychologie (Kielholz) .276 

Elkan: Über die Orgasmusunfähigkeit der Frau (Hitschmann) .420 

Feiler: Psycho dyn amik des primitiven Denkens (Marseille) .422 

Henning: Psychologie der Gegenwart (Kris) .422 

Herbert: The Unconscious in Life and Art (Fenichel) . 

Hetzer: Die symbolische Darstellung in der frühen Kindheit (Eisler) .276 

Hetzer: Das volkstümliche Kinderspiel (Hojfer) . ..277 

Jacoby: Handschrift und Sexualität (Marseille) .277 

37 * 










































58o 


Inhaltsübersicht des XIX. Bandes 


Jahn: Tiefenpsychologie und Seelenführung ( Vowinckel) . 2 ^g 

Jaspers: Die geistige Situation der Zeit (Marseille) .^ 

Kankeleit: Die schöpferische Macht des Unbewußten (E. K.) . 42J 

Klag es: Graphologie (Marseille) . 

Köhler: Der Weg des Menschen vom Links- zum Rechtshänder (Isakower) . . 138 

Lauer: Vom neuen Bilde des Menschen (Winterstein) . 2 ^ 9 

Lawton: The Drama of Live after Death (Winterstein) .. . 2 ^ 9 

Le Bon: Psychologie der Massen (Schottlaender) . 13 g 

Lewin: Die psychologische Situation bei Lohn und Strafe (Gero) .. 2 8o 

Licht: Sexual Life in Ancient Greece (E. J.) . 

Lunk: Die Stellung der Assoziation im Seelenleben (Hermann) .282 

Mai dl: Die Lebensgewohnheiten und Instinkte staatenbildender Insekten (Bally) 285 
Man XXXII, Diskussion über die Unkenntnis des Zeugungsvorganges bei den 

Primitiven (Money-Kyrle) . 2 g 3 

Mendelssohn: Schrift und Seele; Wege in das Unbewußte (Marseille) .... 425 

Merkel: Christentum und Sexualethik (Müller-Braunschweig) .284 

Poppelbaum: Mensch und Tier (Bally) .4 2 6 

Prinzhorn: Persönlichkeitspsychologie (Sarasin) .284 

Raiga: L’envie (Schottlaender) .285 

Rank: Erziehung und Weltanschauung (Sterba) .286 

R°gg e: D er Notstand der heutigen Sprachwissenschaft (Muschg) .13g 

Rorschach: Psychodiagnostik (Blum) .426 

Schick: Das Glückskind mit dem Todesbrief (Jones) .428 

Schmitz: Märchen aus dem Unbewußten (R. Sterba) .!4i 

Sclirenck-Notzing: Die Entwicklung des Okkultismus zur Parapsychologie 

(Kielholz) . . 

Schulze-Mai zier: Deutsche Selbstkritik (Roellenbleck) .287 

Servadio: Otto sedute col medium Erto (Winterstein) .288 

Siebert: Fehlleistung und Traum (Bally) .X42 

Steinberg: Die seelische Eingliederung in die Gesellschaft (Marseille) .... 429 
Velikovsky: Über die Energetik der Psyche und die physikalische Existenz 

der Gedankenwelt (Winterstein) .142 

Vergin: Das unbewußte Europa (Fromm) .142 

Vleugels: Soziologie und Psychologie in der Massenforschung (Reik) .... 429 
Yerkes: Genetic Aspects of Grooming; a socially important primate behaviour 

pattem (Hermann) .430 















































THE 

PSYCHOANALYTIC 

QUARTERLY 


Second year of publication 

THE QUARTERLY 

is devoted to original contributions in the 
field of theoretical, clinical and applied 
psychoanalysis, and is published four times 
a year. 

The Editorial Board of the QUARTERLY 
consists of: Drs. Dorian Feigenbaum 
(Managing Editor, 60 Gramercy Park, 
New York City), Bertram D. Lewin, Frank¬ 
wood E. Williams and Gregory Zilboorg. 
Associated with the Editorial Board is a 
group of distinguished American and 
European psychoanalysts. 


Among the contributors to the first volume (1932) 
were: Sigm. Freud, A. A. Brill, Helene Deutsch, 
Paul Federn, Dorian Feigenbaum, Otto Fenichel, 
J. C. Flügel, Eugen J. Harnik, Abraham Kardiner, 
M. R. Kaufman, Bertram D. Lewin, Sandor Radö, 
Geza Röheim and Frankwood E. Williams. 

CONTENTS FOR JANUARY 1933: 

The Psychoanalysis of Pharmacothymia (Drug Ad- 
diction), I. The Clinical Picture, Sandor Rad6; 
The Body as Phallus, Bertram D. Lewin; Anxiety 
without Affect, Gregory Zilboorg; Pregenital 
Anxiety in a Passive Feminine Character, Ives 
Hendrick; Outline of Clinical Psychoanalysis, Pre¬ 
genital Conversion Neuroses, Otto Fenichel; 
Turning Points in the Analysis of a Case of Alcoholism, 
George E. Daniels; Abstracts; Book Reviews; 
Current Psychoanalytic Literature; Notes. 


Subscription price is five dollars; 
single issues one dollar and fifty cents. 
A limited number of Volume 1 (1932) 
copies are still available; Volume 1 in 
original binding , six dollars. 


THE PSYCHOANALYTIC 
QUARTERLY PRESS 

372—374 BROADWAY, ALBANY, 
NEW YORK 


THE INTERNATIONAL 
JOURNAL OF 
PSYCHO-ANALYSIS 

Directed by 

SIGM. FREUD 

Edited by 

ERNEST JONES 


This JOURNAL is issued 
quarterly. Besides Original Pa¬ 
pers, Abstracts and Reviews, 
it contains the Bulletin of the 
International Psycho - Analy tical 
Association, of which it is the 
Official Organ. 

Editorial Communications should be 
sent to Dr. Ernest Jones, 81 Harley 
Street, London, W. 1. 

The Annual Subscription is 30s per 
volume of four parts. 

The JOURNAL is obtainable b y 
subscription only, the parts not 
being sold separately. 

Business correspondence should be 
addressed to the publishers, Balliere, 
Tindall & Cox, 8 Henrietta Street, 
Covent Garden, London, W. C. 2., who 
can also supply back volumes. 









IMAGO, Band XIX (i 9 33), Heft 4 


(Aiisgegeben im Dezember 1955) 

Paul Federn: Die Ichbesetzung bei den Fehlleistungen. VI) „Äquivalent einer Fehl¬ 
leistung“ im Traume. 

R. A. Spitz : Ein Beitrag zum Problem der Wandlung der Neurosenform (Die infantile 

Frau und ihre Gegenspieler).. 

Marie Bonaparte: Der Mensch und sein Zahnarzt.. 

M. D. Eder: Die jüdischen Gebetsriemen und andere rituelle Gebräuche der Juden 
Steff Bornstein: Das Märchen vom Dornröschen in psychoanalytischer Darstellung . 


Seite 


435 

454 

468 

473 

505 


MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN 

Helene Deutsch: Über die Weiblichkeit. 5*8 

Istvan Hollos: Psychopathologie alltäglicher telepathischer Erscheinungen. 529 


BESPRECHUNGEN 

Aus der psychoanalytischen Literatur: Bennet und Isaacs: Health and Education in the Nursery 
(M. Schmideberg) 547. — Dell: An Autobiographical Critique (Fenichel) 547. — Glover: War, Sadism 
and Pacifism (Autoreferat) 547. — Isaacs: The Children we Teach (M. Schmideberg) 551. — Laforgue: 
Misere de l’homme (Bergler) 551. — Reich W.: Der Einbruch der Sexualmoral (Röheim) 552. — Reik: 
Der unbekannte Mörder (JV. Schmideberg) 561. — Reiner: Causality and Psychoanalysis (Fenichel) 563. 
Röheim: Telepathy in a Dream (Fenichel) 564. — Röheim: A Csurunga Nepe (A. Bdlint) 564. 

Aus der Literatur der Grenzgebiete: Charl. Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches 
Problem (Schilder) 567. — Jaspers: Die geistige Situation der Zeit (Marseille) 573. 


Anschriften der AAitar beiter dieses Heftes: 

M me MARIE BONAPARTE, 6 rue Adolphe Yvon, Paris XVI e 

DR. HELENE DEUTSCH , Wollzeile 33, Wien I 

STEFF BORNSTEIN, Pension Axa, Na Porici 3 ä, Prag II 

DR. M. D. EDER, 16 Nottingham Place, London W i 

DR. PAUL FEDERN, Köstlergasse y, WJen VI 

DR. ISTVAN HOLLÖS, Klotild -ncca 4> Budapest V 

DR. R. A. SPITZ, i8 bis rue Henri Heine, Paris XVI e 


Wir bitten zu richten: 

Redaktionelle .Zuschriften aus allen Ländern mit Ausnahme Nordamerikas an die Redaktion 
der „Imago“, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien I, Börsegasse 11. 

Redaktionelle .Zuschriften aus Nordamerika an Dr. iSandor Rad6, 32 4 West 86 th Street, 
New York City. 

Geschäftliche Zuschriften aller Art an Internationaler Psydioanalytischer Verlag, Wien I, 
Börsegasse 11. 


Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Gesellschaft m. b. H., Wien I, Börsegasse 11 
Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Robert Wälder,W'ien II, Obere Donaustraße 55 
Gedruckt bei Christoph Reisser’s Söhne, Wien V, Arbeitergasse 1—7 


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