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Full text of "Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen XX 1934 Heft 3"

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XX. Band 1934 Heft 3 
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IMAGO 


Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie 
ihre Grenzgebiete und Anwendungen 


Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 


Herausgegeben von 


Sigm. Freud 


Redigiert von Ernst Kris und Robert Wälder 


Hermann Nunberg ....... Das Schuldgefühl 

Otto Fenihel .......... Zur Psychologie der Langeweile 

Raymond de Saussure ........ Über genetische Psychologie und Psycho= 
analyse 

Britz Wittels..... .2.... Mona Lisa und weibliche Schönheit. Eine 
Studie über Bisexualität 

Edmund Bergler ........ Zur Problematik des „oralen“ Pessimi=- 
sten. Demonstriert an Christian Dietrich 
Grabbe 


Besprehungen 





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Wir machen hiemit unsere Autoren auf die folgenden gesetzlichen Bestimmungen auf- 
merksam: 

Bis zum Ablauf von zwei dem Erscheinungsjahr einer Arbeit folgenden Kalenderjahren 
kann über die betreffenden Verlagsrechte (Wiederabdruck und Übersetzungen) nur mit Ge- 
nehmigung des Verlages verfügt werden. Es steht jedoch auf Grund eines generellen Über- 
einkommens, das wir mit dem „International Journal of Psychoanalysis“ getroffen haben, 
jedem Autor frei, ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages der letztgenannten Zeit- 
schrift Rechte zur Übersetzung und zum Wiederabdruck einzuräumen. 

Ansuchen um die Genehmigung einer Wiederveröffentlichung oder Übersetzung in einem 
anderen Organ müßten zugleich mit Übersendung des Manuskriptes gestellt werden, um Be- 
rücksichtigung finden zu können. i A 

5 Die Redaktion 





ı) Die in der „Imago“ veröffentlichten Beiträge werden mit Mark 25.— per sechzehn- 
seitigen Druckbogen honoriert. 

2) Die Autoren von Originalbeiträgen sowie von Mitteilungen im Umfange über zwei 
Druckseiten erhalten zwei Freiexemplare des betreffenden Heftes. 

3) Die Kosten der Übersetzung von Beiträgen, die die Autoren nicht in deutscher Sprache 
zur Verfügung stellen, werden vom Verlag getragen; die Autoren solcher Beiträge erhalten 
kein Honorar. 

4) Die Manuskripte sollen gut leserlich sein, möglichst in Schreibmaschinenschrift (ein- 
seitig und nicht eng geschrieben). Es ist erwünscht, daß die Autoren eine Kopie ihres Manu- 
skriptes behalten. Zeichnungen und Tabellen sollen auf das unbedingt notwendige Maß be- 
schränkt sein. Die Zeichnungen sollen tadellos ausgeführt sein, damit die Vorlage selbst 
reproduziert werden kann. 

5) Mehrkosten, die durch Autorkorrekturen, das heißt durch Textänderungen, Einschal- 
tungen, Streichungen, Umstellungen während der Druckkorrektur verursacht werden, werden 
vom Autorenhonorar in Abzug gebracht. 

6) Separata werden nur auf ausdrücklichen Wunsch und auf Kosten des Autors ange- 
fertigt. Die Kosten (einschließlich Porto der Zusendung der Separata) betragen für Beiträge 


bis 8 Seiten für 25 Exemplare Mark ı5.—, für so Exemplare Mark 20.— 


von 9.16 5 » 25 » » 20, „ 50 » » 25. 
”» I 7 » 24 » » 2 5 » ” 39.5,» 50 ”» » 49. 
”» 25 » 32 ”» » 25 ” ” 35.» 50 » » 45. 


Mehr als 5o Separata werden nur nach besonderer Vereinbarung mit dem Verlag an- 
gefertigt. 





Preis des Heftes Mark 6.-, Jahresabonnement Mark 22.- 
Jährlich 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa 560 Seiten 


Einbanddecken zu dem abgeschlossenen XIX. Band (1933) sowie zu allen früheren 
Jahrgängen: in Halbleinen Mark 2.50, in Halbleder Mark 5.— 





Bei Adressenänderungen 


bitten wir freundlich, auch den bisherigen Wohnort bekanntzugeben, denn die Abonnenten- 
kartei wird nach dem Ort und nicht nach dem Namen geführt. 






























IMAGO 


ZEITSCHRIFT FUR PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOLOGIE, 
IHRE GRENZGEBIETE UND ANWENDUNGEN 





XX. Band 1934 Heft 3 





Das Schuldgefühl' 


Von 


Hermann Nunberg 
Phifadelphia 


Meine Damen und Herren! 

Nach Freud müssen wir zwei Arten von Schuldgefühlen unterscheiden: 
Die eine erscheint als soziale Angst, Angst vor der äußeren Autorität, die 
andere als Angst vor der inneren Autorität oder als Gewissensangst; das 
Schuldgefühl aus Angst vor der äußeren Autorität fällt mit der Angst vor 
Liebesverlust zusammen; die Angst vor der inneren Autorität fällt mit der 
Angst vor dem Über-Ich zusammen. Wie Freud das Schuldgefühl ableitet, 
ist bekannt; er meint, es entstehe durch Verinnerlichung der Aggression, also 
durch Wendung der Destruktion gegen das eigene Ich. Diese Aggression 
komme am Ich als unbewußtes Strafbedürfnis zum Vorschein. Deshalb und 
aus Gründen der leichteren Verständlichkeit für den Patienten wird oft die 
Bezeichnung „Schuldgefühl“ durch die Bezeichnung „Strafbedürfnis“ ersetzt. 
Nun ergibt sich die Frage, ob der Begriff des Strafbedürfnisses sich immer 
vollständig mit dem Begriff des Schuldgefühls deckt. Schon vor mehreren 
Jahren habe ich diese Frage aufgeworfen und möchte sie heute wiederholen. 
Bei jedem Versuche, das Schuldgefühl gegen andere verwandte Gefühle ab- 
zugrenzen, stoßen wir auf Schwierigkeiten. Als Aquivalente oder Ergänzun- 
gen des Schuldgefühls treten oft Scham, Ekel, Mitleid, Minderwertigkeits- 
gefühle und Angst auf. Schon der Sprachgebrauch weist darauf hin, daß diese 
Gefühle zu einer gemeinsamen Gruppe gehören, denn die Wörter „häßlich“, 
„schlecht“, „ekelhaft“, „böse“, „minderwertig“, oder aber „schön“, „gut“, 
„sauber“ werden oft füreinander gebraucht. Der Rahmen gestattet es nicht, 
alle Fragen zu erörtern, die sich anschließen lassen und es sei nur hervorge- 





1) Vortrag, gehalten bei der Winterzusammenkunft der American Psychanalytic Associa- 


tion in Washington am 26. Dezember 1933. 
I xX 
er °, INTERNATIONAL 
u PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 











258 Hermann Nunberg 





hoben, daß Schuldgefühl, Scham, Ekel usw. eines gemeinsam haben: Die innere 
Wahrnehmung eines unlustvollen Zustandes bei einem Triebverzicht. 

Die Ausdrucksformen des Schuldgefühls sind zahlreich und in ihrer Inten- 
sität und Qualität recht verschieden. Das Schuldgefühl kann in der Form 
eines einfachen Unbehagens auftreten, es kann sich im Gefühle einer inneren 
dumpfen Spannung äußern, in einem Drang, irgend etwas zu tun, irgendeiner 
Verpflichtung nachzukommen. Liebeswerben, Werben um die Gunst des 
| anderen, kann aus diesem Drang entstehen. Es drückt sich auch in über- 
mäßigem Schenken aus, in Geldausgeben und in übertriebener Hilfsbereit- 
schaft. Mache Patienten haben das Gefühl, als ob sie ihr Innerstes hergeben 
müßten, um die unerträgliche Spannung loszuwerden. Das Ziel all dieser 
Strebungen und Handlungen ist Versöhnung. Damit sind aber die Außerun- 
| gen des Schuldgefühls nicht erschöpft. Es tritt auch in Gestalt der Erwartung 
| eines drohenden Unglücks auf, als Demut, als Leiden, als Streben nach Strafe, 
| 





als Reue, als Selbstaufopferung, als Läuterungs- und Reinigungszwang. 
Schon bei dieser kurzen Übersicht der Außerungsformen des Schuldgefühls 
N ist leicht festzustellen, daß sie in zwei Gruppen zerfallen. Das Ziel der einen 
ist die Außenwelt — aus der Fülle der Erscheinungen sei nur das Liebes- 
werben herausgegriffen —, das der zweiten ist das Ich; — es genügt, das Straf- 
\ bedürfnis zu erwähnen. Da das Schuldgefühl im allgemeinen eine Reaktion 
auf ein in Wirklichkeit oder in Gedanken begangenes Verbrechen ist, kann 
N die erste Gruppe nur einen Versuch darstellen, dieses Verbrechen gutzumachen, 
sich mit der Außenwelt zu versöhnen, die zweite einen Versuch, sich selbst 
zu strafen, also zu leiden. 

| Was ist nun dieses Verbrechen? Seine Spuren führen zunächst in die Odipus- 
| situation, zum Vatermorde. Nach der Hypothese Freuds über Vatermord 
| und Totemmahlzeit entstanden nach der kannibalischen Tat, nach der Intro- 
| jektion des Vaters Reue und Sehnsucht, die zur Projektion des Vaters in Ge- 
stalt eines Gottes führten. Reue und Sehnsucht erweckten das Bestreben, die 
begangene Tat rückgängig zu machen, den verzehrten Vater auszuscheiden 
und wiederzubeleben. In historischen Zeiten wird der Vater nicht mehr ver- 
|| zehrt, sondern introjiziert, psychisch einverleibt. Diesen Prozeß nennen wir 
Identifizierung; auf diesem Wege entsteht, wie Freud gezeigt hat, das Über- 
Ich. In der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich spiegelt sich die Beziehung 
\ Vater-Sohn wider. 

IN Die Projektion und Vergottung des Vaters gehört einer relativ späten kul- 
ii turellen Entwicklungsepoche an. Röheim nimmt eine noch frühere an, bei 
der in einem bestimmten Trauerritus am Grabe eines geliebten Verstorbenen 
defäziert wurde. Das sollte uns nicht zu sehr befremden, denn es gibt heute 
noch Menschen, die in Momenten tiefster Trauer Stuhldrang bekommen. Ein 














| ES A: — 











Das Schuldgefühl 259 





Analogon dazu sind die Kranken, die im Schuldgefühl zur Analerotik re- 
gredieren. Hier sei auf den katatonen Anfall hingewiesen, in dem der 
Patient mit Kot schmiert und meint, damit ein Opfer zu bringen und die 
Welt wiederzugebären, die er in seinem Wahne soeben vernichtet zu haben 
wähnt. Der Katatoniker behauptet ja oft, daß dieser Kot ein Kind sei, das er 
soeben geboren habe. In seinen Phantasien belebt er also die Welt, die er in 
seinem Wahn vernichtet hat. Daß die Defäkation im Unbewußten oft die Be- 
deutung des Gebärens hat, wissen wir auch aus anderen Quellen, aus Phan- 
tasien der Neurotiker und aus ihren Träumen. Nicht selten hören wir, daß 
der Stuhl nicht etwas Totes sei, sondern etwas Lebendiges, ein Stück des eige- 
nen Körpers. Manche Patienten mit schweren Schuldgefühlen und Depressio- 
nen fühlen sich nach der Defäkation erleichtert und vom Schuldgefühl be- 
freit. Die Melancholie ist von anal-oralen Symptomen beherrscht, der 
Melancholiker leidet an schwerer Obstipation. Während der Katatoniker mit 
dem Opfer der Defäkation seine Schuld zu sühnen glaubt, der Neurotiker oft 
in Träumen und Phantasien durch Geschenke oder Gebären eines analen 
Kindes Erleichterung seines Schuldgefühles findet, hält der Melancholiker 
hartnäckig den Stuhl zurück und leidet unvermindert unter seinen Schuld- 
gefühlen. Wenn ich Sie daran erinnere, daß der Melancholiker das ambivalent 
geliebte Objekt auf dem Wege der Identifizierung oral einverleibt hat, so ver- 
stehen wir, daß er weiter leidet, wenn er es nicht ausscheidet, d.h. nicht 
wieder hergeben kann oder will. 

Wir sehen also, daß das Schuldgefühl von einer Regression zur analen Ent- 
wicklungsstufe begleitet wird, die anscheinend den Zweck verfolgt, das ver- 
nichtete oder oral einverleibte Objekt auf analem Wege wieder auszustoßen. 
Das Schuldgefühl scheint dadurch abgeschwächt zu werden. 

Die Ausstoßung zur Entlastung vom Schuldgefühl muß aber nicht immer 
nur auf analem Wege erfolgen. Sie kann auch auf oralem Wege stattfinden, 
wie die analytische Praxis immer wieder zeigt. Heute möchte ich mir nur 
gestatten, Ihnen ein Beispiel zu geben, das ein Patient kürzlich im Anschluß 
an die Besprechung seines Schuldgefühles brachte. Unter den Jägern ist das 
sogenannte Bockfieber bekannt. Dieses „Fieber“ besteht darin, daß der Jäger 
verwirrt wird, wenn er einen Bock zu Gesicht bekommt und nicht imstande 
ist, ihn zu erschießen. Der Patient, ein Arzt, berichtet nun folgendes: Er ging 
mit einem Freunde auf die Hirschjagd. Sie stellten einen Bock, der Freund 
schoß und tötete das Tier, wurde unruhig, sprang wie verwirrt herum, stieß 
unverständliche Laute hervor, warf sich schließlich neben das erschossene Tier 
und blieb wie leblos liegen. Sein Gefährte glaubte, daß er verrückt geworden 
sei. Nach eine Weile stand er aber auf, trat neben das tote Tier und erbrach. 
Er wurde daraufhin plötzlich ganz klar und ging ruhig fort. Ich weiß nicht, 


17? 











en, 


260 Hermann Nunberg 








ob diese Geschichte in allen Einzelheiten wirklich so vorgefallen ist wie sie 
geschildert wurde; jedenfalls verrät sie einen tiefen psychologischen Sinn: 
denken Sie daran, daß jedes Tier für das Unbewußte ein Totemtier darstellt. 
. Das Schuldgefühl entsteht bei feindseliger Identifizierung, gewissermaßen 
als ihr Nebenprodukt. Die Identifizierung drückt psychisch die (orale) Ein- 
verleibung aus, das Insichaufnehmen, kurz die Aneignung. Das Schuld- 
gefühl entsteht also durch Einverleibung, im weitesten Sinne des Wortes durch 
Aneignung. Die Schuld wird durch Ausscheidung gutgemacht, im weitesten 
Sinne des Wortes durch Zurückgeben. Jedermann kann sich leicht davon 
überzeugen, daß dem Schuldgefühl oft ein Gefühl der Verpflichtung etwas zu 
geben, zu schenken, zu opfern, anhaftet. Kurz, es drückt sich im Schuld- 
gefühl neben vielem anderen auch die Beziehung von „Nehmen und Geben“ 
aus. Natürlich erfolgt das „Nehmen“ nicht nur durch den Mund. Wir nehmen 
mit allen Körperpforten, etwa mit der Atmung, auf, auch mit den Sinnes- 
organen. Wir saugen die Eindrücke der Außenwelt mit allen Poren ein. Auch 
das „Geben“ erfolgt nicht nur durch den Darm, sondern auch durch die 
Atmung, die Haut usw. Es gibt auch eine Ausscheidung in das Innere des 
Körpers. Die mit den Sinnesorganen eingenommenen Eindrücke werden pro- 
jiziert.? 

Es scheint also, daß das Schuldgefühl auch mit dem primitiven Eigentums- 
gefühl zusammenhängt, dessen psychologische Interpretation außerhalb dieses 
Rahmens liegt. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit daher nur für einige An- 
deutungen in Anspruch nehmen. Das Eigentumsgefühl ist triebhaften Cha- 
rakters und hat mehrere Wurzeln. Eine Wurzel liegt im Bemächtigungstrieb 
— einer Spielart der Aggression. Zu einer anderen führt folgende Überlegung: 
Beim Schuldgefühl erfolgt eine Regression zum Analen, bei der eine früh- 
infantile Situation wieder hergestellt wird. Das kleine Kind verzichtet aus 
Liebe zur Erziehungsperson auf die anale Lust, die es aus dem Zurückhalten 
des Kotes gewinnt, und gibt den Stuhl, sein primäres Eigentum, zu fest- 
gesetzten Zeiten her. Aus Angst vor Liebesverlust verzichtet es also auf eine 
Triebbefriedigung. Indem der Erwachsene etwas von seinem „Eigentum“ her- 
gibt, wenn er sich vor Liebesverlust schützen will, benimmt er sich wie ein 
kleines Kind. Mit dem Hergeben eines Stückes von seinem „Eigentum“ ver- 
zichtet er zugleich auf den momentanen Drang zur Bemächtigung, was auch 
eine Lockerung seiner Aggressionsneigung zur Folge haben muß. Dies alles 





2) Ich habe mit Befriedigung festgestellt, daß meine Annahme, das Nehmen und Geben sei 
gewissermaßen ein Äquivalent derphysiologischen Vorgänge im Verdauungsschlauch — die ich 
zum ersten Male im Jahre 1926, zum zweiten Male in meinem Buche (Allg. Neurosenlehre, 
1932) vertreten habe — in F. Alexanders Washingtoner Vortrag „Über den psycho- 
logischen Faktor bei gastro-intestinalen Störungen“ und in den Vorträgen seiner Schüler an 
einem größeren Material bestätigt wurde. 





| A 


Das Schuldgefühl 261 





stimmt mit der Tatsache überein, das Ansätze des Schuldgefühls schon in der 
präödipalen Entwicklungsphase beobachtet werden können. 

Die Tendenz, sich vom Schuldgefühl durch Herausgeben des einverleibten 
Objektes zu befreien, scheint klar. Daß damit auch die Wiederbelebung ge- 
meint wird, ist nicht mißzuverstehen. Das Schuldgefühl regt also das Bestre- 
ben an, das „Verbrechen“ rückgängig zu machen, und das „vernichtete“ Ob- 
jekt wieder aufleben zu lassen, um an ihm die Libido zu befriedigen. Wo die 
Regression die genitale Stufe nicht überschreitet, entsteht oft der Wunsch, an 
Stelle des „Vernichteten“ Kinder in die Welt zu setzen. Viele Menschen 
glauben ja, mit der Zeugung eines Kindes ihre Schuld an die Menschheit ab- 
zutragen. 

Hinter dem Schuldgefühl verbirgt sich also unbefriedigte Libido, die ent- 
weder auf dem Umwege über die Regression oder direkt nach Befriedigung 
strebt, danach strebt, das vernichtete Objekt zu beleben und in der Realität zu 
lieben, oder aber danach sich mit dem verletzten oder gekränkten Objekt zu 
versöhnen. (Der „Vernichtung“ kann auch eine einfache Zurückziehung der 
Libido gleichkommen.) Der Paranoiker erlangt diese Befriedigung in seinem 
Wahn durch die Projektion, der Religiöse durch die Religion, der Normale 
durch produktives Schaffen und Zusammenschließen zu sozialer Gemein- 
schaft. Der Neurotiker ist in diesem Bestreben insoferne gestört, als er ent- 
weder zu wenig oder zu viel tut, um das verletzte oder gekränkte Objekt zu 
versöhnen, und das meistens an unrichtiger Stelle. Er findet schwer oder über- 
haupt nicht Anschluß an den anderen. Der Schuldige fühlt sich oft isoliert, 
von der Gemeinschaft ausgeschlossen und leidet darunter. Es gibt Menschen, 
die sich aus Schuldgefühl zwar selbst aus der Gemeinschaft ausschließen, ins 
Kloster flüchten, dafür sich aber mit Gott vereinen. Letzten Endes deckt sich 
wohl das Schuldgefühl mit Angst vor Einsamkeit. Die Angst vor Liebes- 
verlust, die sich im Schuldgefühl ausdrückt, wird also durch das versöhnende 
Element der Liebe, durch den alles verbindenden Eros überwunden. 

Es kann aber nicht sein, daß das Schuldgefühl nur Tendenzen gebiert, deren 
Ziel allein Befriedigung objekt-libidinöser Strebungen ist. Sehen wir doch, 
daß der mit Schuld Beladene leidet, ja nach Leiden strebt. Es verlangt in ihm 
nach Selbstbestrafung und Selbstvernichtung, die ihm der einzige Weg zur 
Sühne zu sein scheint. Darin kann man schwerlich eine Objektbeziehung ent- 
decken, wenn man nicht das Ich selbst als Objekt betrachtet. Im Schuldge- 
fühl erfüllen sich also auch aggressive, destruktive Strebungen, jedoch nicht 
am Objekte, sondern am Ich. Es fragt sich bloß, wie das Ich zu diesem Stre- 
ben nach Strafe (eigentlich: zu dieser Destruktion), kommt. Um das zu ver- 
stehen, müssen wir uns wieder den Wurzeln des Schuldgefühls zuwenden. Ich 
komme auf die Bockgeschichte zurück. Nachdem der Jäger das Tier getötet 





















































262 Hermann Nunberg 





hatte, legte er sich wie tot daneben hin. Was dem Tier widerfahren war, 
agierte er an sich selbst, er identifizierte sich mit dem Tiere im Tode. Er war 
tot wie das Tier, wiederholte das Verbrechen des Mordes an sich selbst und 
bestrafte sich anscheinend auf diese Weise. Die Aggression gegen ein äußeres 
Objekt wendete sich gegen die eigene Person. 

An dieser Stelle taucht eine Frage auf: Wie kommt es zur Wendung der 
Aggression gegen die eigene Person? Diese Frage kann zum Teil durch die 
Einsicht in die Entstehungsgeschichte des Über-Ichs beantwortet werden. 

Das Über-Ich löst bekanntlich den Odipuskomplex ab. Es entsteht durch 
Identifizierung mit dem Vater. Diese Identifizierung hat hauptsächlich feind- 
seligen Charakter. In der Odipussituation haßt der Knabe den Vater und hat 
Angst vor der Kastration. Um ihr zu entgehen, introjiziert er den Vater, 
frißt ihn gewissermaßen auf. Dadurch wird der Vater in das Ich aufgenom- 
men, die Aggression kann nicht nach außen abgeführt werden, sie bleibt im 
Ich stecken und verbindet sich mit den Vatervorstellungen zu einem neuen 
Gebilde, dem Über-Ich. An Stelle des strengen, gebietenden, verbietenden und 
hemmenden Vaters in der Außenwelt befindet sich jetzt sein Ebenbild im 
Innern. Wenn das Ich dann gewisse Absichten ausführt oder auszuführen ge- 
denkt, die den Intentionen des Über-Ichs zuwiderlaufen, entsteht Schuldge- 
fühl. Mit andern Worten: Es werden gewisse Absichten und Regungen des 
Es, die der Außenwelt gelten, gehemmt und die Aggression vom Über-Ich 
auf das Ich abgelenkt, als ob das Ich zum Objekte des Über-Ichs geworden 
wäre. Die Aggression wird dann vom Ich erlebt. Es macht den Eindruck, als 
ob sich das Über-Ich für die Tat der Identifizierung — der Feindseligkeit, 
der Aggression, kurz, für das Verschlucken des Vaters — in fortwährender 
Wiederholung am Ich rächen würde. Diese spezifische Ablenkung der ge- 
hemmten Aggression auf das Ich kommt als Bedürfnis nach Strafe zum 
Vorschein. Warum die Strafe zum Bedürfnis und meistens nicht abgelehnt 
wird, werden wir später sehen. 

Es wäre aber falsch, anzunehmen, daß die Wendung der Aggression gegen 
die eigene Person erst in der Odipussituation auftritt. Die Analysen unserer 
Patienten sprechen dafür, daß der Mechanismus der Wendung gegen die 
eigene Person schon sehr früh, bereits auf der präödipalen Stufe am Werke 
ist. So gestatten Sie mir, eine Beobachtung an einem fünfzehn Monate alten 
Kinde mitzuteilen. Mit Vorliebe zerrte es jeden Menschen, der in seine Nähe 
kam, an den Haaren, kratzte und zwickte ihn und stieß nicht mißzuver- 
stehende Laute der Lust aus. Als ihm einmal gesagt wurde „nein, nein, das 
tut weh“, sagte es „‚Bo(bb)y (sch)lagen‘‘, zerrte sich selbst an den Haaren, 
schlug sich heftig ins Gesicht und zerkratzte sich so, daß es von seinen eigenen 
Mißhandlungen geschützt werden mußte. (Ähnliche Beobachtungen sind jeder- 











Das Schuldgefühl 263 





mann zugänglich.) Wenn sich also die Aggression bei der Abwehr des 
Odipuskomplexes gegen die eigene Person wendet, so wird nur ein alter, ein- 
gefahrener Mechanismus wiederholt. Dieser greift ein, sobald sich die Not- 

wendigkeit zur Selbstbestrafung ergibt — und sie ergibt sich nur allzu oft. Die 

Ansätze zur Selbstbestrafung können also ähnlich wie die des Schuldgefühls 

bis tief in die präödipale Entwicklungsstufe verfolgt werden. 

Der Unterschied zwischen Schuldgefühl und Strafbedürfnis wird jetzt greif- N 
bar. Das Schuldgefühl ist eigentlich Angst vor Liebesverlust und verfolgt die | 
Tendenz, eine Liebesbeziehung, die verloren ist oder verloren zu gehen droht, 
wieder herzustellen; das Strafbedürfnis ist Ausdruck einer aggressiven Tendenz 
und wiederholt eine reale, phantasierte oder bloß beabsichtige Vernichtung des 
Objektes am eigenen Ich. 

Das Verbrechen muß nicht immer real sein, um zum Erleben von Schuld 

und Strafe zu führen. Es genügt meistens bloß die Absicht, eine verpönte Tat 
zu begehen, um sich gleich Selbstvorwürfen und Selbstquälereien zu ergeben. 
Woran liegt das? Am Gewissen, wird die Antwort lauten. Das Gewissen ist 
eine Funktion des Über-Ichs. Vor ihm gibt es keine Geheimnisse. Bedeutet 
doch Gewissen ein „Mit-wissen“, d.h. ein inneres Sehen und Hören. Es ist 
sozusagen ein Sinnesorgan des Über-Ichs, das bestimmte Vorgänge im Ich 
kontrolliert und sie dem Über-Ich mitteilt. Nach der Aufrichtung des Über- 
Ichs wird die Bedeutung des äußeren Richters eingeschränkt, der Richter be- 
findet sich jetzt im Innern. Für diesen gibt es keinen Unterschied zwischen 
ausgeführter Tat und einem Gedanken, einer Absicht oder Regung. Sein Ur- 
teil trifft in gleicher Weise die wirkliche Tat wie bloße Ansätze zum Handeln. 
Wenn also ein Gedanke oder eine Absicht den Idealen des Über-Ichs zuwider- 
läuft, so wird unter dem Einflusse des Gewissens die verpönte Tat oder Ab- 
sicht im Keime unterdrückt und so das Ich vor Strafe geschützt. Das Ge- 
wissen verkörpert somit die Angst vor dem Über-Ich. Nicht ohne Grund 
sprechen wir von Gewissensangst. | 

Wir stehen wieder vor einer Frage. Wie verhält sich die Gewissensangst 
zum Strafbedürfnis? Scheint doch dieses der direkte Gegensatz zur ep 
zu sein. 

Das kleine Kind hemmt seine Aggression und kehrt sie nach innen, wenn 
es durch die Erziehungsperson: gehindert wird, sie nach außen abzuführen. 

Mit der Entwicklung zu einem sozialen Wesen, mit der Stärkung des Über- 
Ichs wird aber die Hemmung der Aggression immer mehr von einem inneren 
Faktor abhängig. Wie ist es nun zu verstehen, daß die Hemmung der .Aggres- 
sion aus Angst vor Liebesverlust erfolgt, wenn sie von einem äußeren Moment 
abhängt, hingegen aus Strafangst, wenn sie einem inneren Zwange gehorcht? 
Die Beantwortung dieser Frage ist sehr kompliziert, ich möchte hier nur 






































264 Hermann Nunberg 





ein Moment hervorheben. Der Mensch ist von Anfang an sehr ambivalent. 
Im Laufe der Entwicklung wird die Ambivalenz eingeschränkt, ob aber für 
immer, ist fraglich. In dem Augenblick, da das kleine Kind unter dem Ein- 
flusse der Erziehungsperson auf die Aggression verzichtet, eignet es sich den 
Wunsch, den Willen dieser Person an, es introjiziert gewissermaßen ihr Ver- 
bot, erlebt aber zugleich die beabsichtigte Aggression in der Rückwendung 
gegen die eigene Person. Ursprünglich galt die Aggression der geliebten 
Mutter, also einer ambivalent geliebten Person. Die Identifizierung half die 
ambivalenten Strebungen abzuwehren, mit dem Ergebnis jedoch, daß die 
Aggression das Ich zum Objekt nahm. Ein ähnlicher Prozeß, vielleicht nur 
viel intensiver, wiederholt sich in der Odipussituation. Der Knabe identifiziert 
sich mit dem ambivalent geliebten Vater. Die Vorstellungen des Vaters gehen 
im Ich auf, und die gegen den geliebten Vater gerichtete Aggression wird ge- 
hemmt und im Ich aufgespeichert. Das so entstandene Über-Ich wird zu einer 
das Ich ständig bedrohenden Instanz. Entspricht aber diese Konzeption des 
Über-Ichs vollkommen den Tatsachen? Freud betont in seinem neuen 
Buche,3 daß das Über-Ich wesentlich die Härte, Verbote und Strafen der 
Eltern repräsentiert. An einer anderen Stelle sagt er aber auch, daß eine der 
Funktionen des Über-Ichs die Idealbildung ist. Diese Funktion ist, wie aus 
- früheren Arbeiten Freuds ohneweiters hervorgeht, von der Libido ableitbar. 
Diese Gegensätzlichkeit der Funktionen des Über-Ichs wird verständlich, wenn 
man seine Entstehung aus der Ambivalenz der Gefühle berücksichtigt. Bei 
der Identifizierung ging nicht nur der gehaßte, sondern auch der geliebte 
Vater im Ich auf, mit andern Worten, nicht Aggression allein hat sich zum 
Ich geschlagen, sondern auch Libido. Diese zum Ich geschlagene Libido ver- 
wandelt sich in den sekundären Narzißmus und macht das Über-Ich zum 
Objekte des Ichs, wie das Ich zum Objekte des Über-Ichs. (Liebe und Gegen- 
liebe im Innern.)* Nur daraus erklärt sich die Tatsache, daß das Ich den For- 
derungen des Über-Ichs sich so oft und willig unterwirft, die von ihm dik- 
tierten Einschränkungen und Strafen auf sich nimmt. Dieses libidinöse Moment 
macht erst die Wendung der Aggression gegen die eigene Person zum Be- 
dürfnis der Strafe. Im Strafbedürfnis genießt das Ich den Sadismus des 
Über-Ichs masochistisch. 
Die narzißtisch-libidinöse Komponente des Über-Ichs erklärt noch eine 
andere Erscheinung, nämlich das Gefühl der Ruhe, Geborgenheit und Zuver- 





3) Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Wien, 1932. 

4) Wie frühzeitig die libidinöse Identifizierung auftritt, mag folgende Episode, die nach 
der Niederschrift dieser Arbeit stattfand, beweisen: Ein Vater streichelt seinem ı6 Monate 
alten Sohn das Gesichtchen. Das Kind ist glückselig. Kaum daß der Vater mit dem Streicheln 
aufhört, beginnt das Kind sich selbst zu streicheln und wiederholt in einem tiefen Ton- 
fall den Laut „Ei—ei“. Dieser Laut bedeutet bei ihm immer höchste Zärtlichkeit. 








A 





Das Schuldgefühl 265 


| sicht, wenn man sich mit seinem Gewissen im Einklang befindet. Für das 
Kind bilden die Eltern die Verkörperung aller Machtvollkommenheit, sie er- 
scheinen ihm als die von der Natur gegebenen Beschützer und sind der ruhige 
Pol, um den alle seine widerspruchsvollen Leidenschaften kreisen dürfen, sie 
sind nicht nur streng, sondern auch gerecht und nachsichtig. Fühlt sich das 
Kind von ihnen geliebt, so fühlt es sich geschützt und geborgen, in seinem 
Selbstgefühl ungestört. Will das Kind die beschützende Liebe seiner Eltern 
nicht verlieren, so muß es sich so benehmen, wie sie es wünschen. Diese Be- 
ziehung zwischen Kind und Eltern kommt dann gewöhnlich in mehr oder 
weniger modifizierter Gestalt in der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich 
zum Vorschein. Will das Ich die Liebe und den Schutz des Über-Ichs ge- 
nießen, so darf es sich ihm nicht widersetzen, im Gegenteil, es muß sich mit I 
all seinen Intentionen identifizieren. Denken Sie nur an den strengen Gott 
Jahve, der nicht nur Gehorsam bis zur Selbstaufopferung, sondern auch Liebe 
fordert, dafür aber Schutz und Gegenliebe bietet. Das Gefühl, von den Schick- 
salsmächten verlassen zu sein, ist — wie wir von Freud gelernt haben — mit 
dem Gefühle, die liebende und beschützende Macht des Über-Ichs, der Eltern, 
verloren zu haben, und dem Nichts, dem Tode preisgegeben zu sein, gleich- 
bedeutend. 

Ein Konflikt mit dem Über-Ich kleidet sich also nicht nur in Strafangst 
und Strafbedürfnis, sondern auch in Angst vor Gefahren, die der Verlust seiner 
liebenden und beschützenden Macht mit sich bringt. In der Über-Ich-Angst 
wirkt sich daher, ähnlich wie im äußeren Schuldgefühle, Angst vor Liebes- 
verlust aus; der Unterschied ist jedoch der, daß die Gefahr, der die Über-Ich- 
Angst gilt, Verlust narzißtischer Libido ist, während es beim Schuldgefühl um 
Objektlibido geht. 

Die Ambivalenz der Gefühle, der Gegensatz zwischen Haß und Liebe, bildet 
nun den Hintergrund, aus dem das Über-Ich auftaucht. Obwohl die Ambi- 
valenz bei der Bildung des Über-Ichs im großen und ganzen vom Ich be- 
wältigt wird, gibt es, wie wir wissen, im Leben Gelegenheit genug, wo sie 
wieder erscheint. Treten doch die Triebe nie in ganz reiner Form auf, die 
sexuellen sind mit den destruktiven mehr oder weniger gemischt. Wird etwa 
Libido gehemmt, so stellt sich eine Triebentmischung ein, bei der der Aggres- 
sionstrieb wieder frei wird. Falls die freigewordene Aggression ebenfalls ge- 
hemmt werden muß, so verwandelt sie sich in Strafbedürfnis. Man kann 
sagen, daß jede Hemmung der Libido zum Freiwerden der Aggression führt, 
woraus sich in weiterer Folge der Zustand von Schuld und Strafe ergibt. Wo 
aber die Triebmischung mangelhaft, die Ambivalenz von Haus aus verstärkt 
ist, Haß und Liebe sich in ungemilderter Form gegenüber stehen, dort ist die 
Neigung zu Schuldgefühl und Strafbedürfnis noch intensiver. In solchen 




















266 Hermann Nunberg 





Fällen, z.B. in der Zwangsneurose, ist jede libidinöse Regung von einer aggres- 
siven begleitet, die aber von jener gleich gehemmt wird. Das Lieben führt 
also hier unausweichlich zu Schuldgefühlen. Das gleiche gilt für das über- 
mäßige Geliebtwerden. Dies erklärt auch die Tatsache, daß Kinder, die ver- 
zärtelt, übermäßig geliebt wurden und zu nachsichtige Eltern hatten, oft ein 
zarteres Gewissen haben als Kinder, die in einer robusten Umgebung aufge- 
wachsen sind. Auch hier hemmt die Liebe die Aggression. Wo ich liebe oder 
geliebt werde, darf ich nicht hassen, sonst droht mir die Gefahr des Liebes- 
verlustes. Um dieser zu entgehen, wende ich lieber den Haß gegen mich 
selbst und bestrafe mich. Aus ähnlichen Gründen bringt oft ein Mißgeschick 
in der Liebe oder der Verlust einer geliebten Person eine Aggression gegen 
das eigene Ich hervor und in weiterer Folge Schuld und Strafgefühle. Kurz, 
in der Ambivalenz ist die wichtigste Bedingung für die Entstehung des ganzen 
Komplexes von Schuld und Strafe zu erblicken. 

Dieser Komplex ist zwar anfänglich vom Über-Ich unabhängig, später ge- 
rät er jedoch immer mehr in seine Abhängigkeit. Es kommt dabei eine eigen- 
artige Verkettung von Ursache und Wirkung zustande, die nicht ganz durch- 
sichtig ist. Soviel steht jedoch fest, daß das Über-Ich — ähnlich dem primären, 
präödipalen Schuldgefühl — bei der Abwehr und Hemmung von Triebbedürf- 
nissen entsteht. Diese Bedürfnisse werden unter dem Einflusse des Über-Ichs 
zum eigentlichen Schuldgefühl weiter verarbeitet. Wir bekommen so einen 
schwachen Einblick in die Werkstätte des Triebablaufes: Hemmung der Triebe 
führt zum Erleben von Schuld und Strafe, und diese ihrerseits werden zur 
Ursache von weiteren Triebhemmungen. 

Es ist nun klar, daß es in Wirklichkeit nicht leicht ist, das Schuldgefühl 
gegen das Strafbedürfnis streng abzugrenzen. Mit Sicherheit kann aber ge- 
sagt werden, daß sich hinter dem Schuldgefühl unbefriedigte Libido verbirgt, 
Libido, die zur Wiedervereinigung mit dem psychisch oder real verletzten 
Objekte drängt, also Eros, hinter dem Strafbedürfnis aber Aggression, also 
Todestrieb, der am Ich die Destruktion immer von neuem wiederholt. Ob- 
wohl beide innig miteinander verwoben sind, ist doch das Strafbedürfnis an 
der Tendenz zur Selbstzerstörung zu erkennen, das Schuldgefühl an der Angst, 
die einmal der Gefahr des Liebesverlustes, das andere Mal dem Über-Ich gilt. 
Wir haben aber gehört, daß auch Angst vor dem Über-Ich ein Moment des 
Liebesverlustes enthält. Stellen wir uns doch vor, was Liebesverlust für ein 
kleines Kind bedeutet. Es bedeutet Verlust der beschützenden Pflegeperson, 
eigentlich Vernichtungsgefahr. Schuld und Strafe fallen also in bezug auf die 
Gefahrenquelle zusammen. Die Situation der Gefahr stellt sich ein, ob nun 
die Libido eingezogen werden muß oder ob die Aggression sich gegen das Ich 
wendet. 











4 


Man darf fragen, welchen Sinn es habe, das Schuldgefühl gegen das 
Strafbedürfnis abzugrenzen, wenn sie so schwer voneinander zu unter- 
scheiden sind. Eine gemeinsame Wurzel haben sie gewiß, sie entstehen auch 
zur gleichen Zeit, aber sie haben verschiedene Erscheinungsformen, in denen 
einmal die libidinöse Seite, das andere Mal die destruktive vorherrscht. Deut- 
lich kann dies beobachtet werden, wenn man die einzelnen Krankheitstypen 
miteinander vergleicht. In der Hysterie z.B. überwiegt das Schuldgefühl. Wir 
verstehen die Gründe. Die genitale Organisation ist hier nur verdrängt, nicht 
aber aufgehoben. Ein Streben nach dem Objekt ist vorhanden. Deshalb über- 
wiegt das Schuldgefühl in Gestalt von Reue, Sehnsucht und Angst vor Liebes- 
verlust. Die Zwangsneurose regrediert zwar zur anal-sadistischen Organisation, 
die Beziehung zum Objekt ist aber nicht aufgehoben. Daher überwiegt der 
Sadismus, der im Strafbedürfnis zum Vorschein kommt. Da in der Melan- 
cholie noch der Verlust der Objektlibido hinzukommt, so erreicht in dieser 
Krankheitsform die Aggression gegen das Ich den Höhepunkt. Da in der 
Schizophrenie das Triebleben vollständig zerfallen ist, so nimmt in den pro- 
duktiven Formen dieser Krankheit das Schuldgefühl die Gestalt von Wahn- 
vorstellungen über die Erlösung der Welt an, und das Strafbedürfnis kleider 
sich in die mannigfachen Abwandlungen des Verfolgungswahnes. 

Die Gefühle der Schuld und Strafe sind höchst peinliche Gefühle, sie lösen 
Spannungszustände aus, von denen der Mensch sich nach Möglichkeit zu be- 
freien trachter. Die Erleichterung vom Druck des Schuldgefühls gelingt nor- 
malerweise verhältnismäßig leicht. Wie im ersten Teil dieser Überlegungen 
gezeigt werden sollte, bemüht sich der mit Schuld Beladene um die Liebe des 
anderen im weitesten Sinne des Wortes und sucht sich mit ihm zu vereinigen. 
Das Schuldgefühl steigert ja das Liebesbedürfnis, anders ausgedrückt, es steigert 
die Angst vor dem Liebesverlust, das ist die Liebessehnsucht. Diese Sehn- 
sucht weckt im Schuldigen die Hoffnung, daß er vor der Angst, eigentlich vor 
der tötenden Einsamkeit geschützt werden wird. Als negativen Beweis für 
diese Auffassung kann man die Strafe des Gefängnisses betrachten, mit der der 
Verbrecher von der Gemeinschaft abgesperrt und in der Einsamkeit sich selbst 
überlassen wird. Das Gefängnis gibt vielleicht am besten die psychische Ver- 
fassung des mit Schuldgefühl Beladenen wieder: er leidet nicht nur unter der 
Hemmung der Aggression gegen den anderen, sondern auch unter der Hem- 
mung der Libido. 

Die Befreiung vom Strafbedürfnisse ist jedoch unvergleichlich schwieriger, 
denn im Strafbedürfnis strebt die Aggression dem Ich, der Innenwelt zu, während 
im Schuldgefühl die Libido der Außenwelt zustrebt. Alexander behauptet 
zwar, daß die Energie des Strafbedürfnisses sich von selbst erschöpft, wenn 
das Über-Ich einmal befriedigt, im Strafakte gewissermaßen bestochen, nach- 


Das Schuldgefühl 267 














268 Hermann Nunberg 





sichtig geworden ist und so ein Ausleben der sonst verpönten Sexualziele ge- 
währt. Die Prämie für die Selbstbestrafung wäre also Befreiung der Libido. 
Gewiß gibt es solche Fälle, sie sind aber nicht die Regel. Es gibt im Gegen- 
teil Fälle, wo die Strafe bis ans Ende, bis zur Selbstvernichtung, durchgeführt 
wird, ohne jede Hoffnung auf eine libidinöse Prämie. Ja, es gibt Patienten, 
die in ihrem meistens sehr merkwürdigen Sexualleben nicht sexuelle Befriedi- 
gung suchen, sondern Selbstbestrafung, wie es einen Typus von Masturbanten 
gibt, der während der Onanie Selbstkastration phantasiert. Wird aber die 
Strafe zu unerträglich, die Angst vor ihr zu heftig, so verschiebt sich die 
Energie des Strafbedürfnisses auf die Arbeit im weitesten Sinne des Wortes, 
auf die geistige wie auf die manuelle. In ihr lebt sich, wie Jekels sagt, der 
Bewältigungs- und Aggressionstrieb aus. Zur Sühne für ein Verbrechen straft 
das Gesetz nicht nur mit Gefängnis, sondern auch mit Zwangsarbeit. „Im 
Schweiße Deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, heißt es in der Bibel. 
Den Ersatz der Strafe durch Arbeit kann man gelegentlich in den Analysen 
mancher Patienten direkt beobachten. Nach endlosen Widerständen, in denen 
sie in unheimlicher Weise der Erfüllung ihres Strafbedürfnisses nachjagen, fan- 
gen sie plötzlich an, das verborgene Material mit einer so finsteren und selbst- 
verzehrenden Entschlossenheit zu liefern und zu bewältigen, daß dem Ana- 
lytiker nichts anderes übrig bleibt als stillschweigend zu staunen. Für diese 
Patienten stellt die Analyse im wahrsten Sinn des Wortes die Erfüllung ihres 
Strafbedürfnisses dar. 

Nun komme ich zum Schluß. Das Schuldgefühl ist ein ambivalentes Ge- 
bilde, genau so ambivalent wie die Elemente, die zu seiner Entstehung bei- 
getragen haben. Rufen wir uns Freuds Worte in Erinnerung, daß bei der 
Triebabwehr die Tendenz entsteht, das ganze Triebleben in seine Komponenten 
zu zerlegen, in die libidinösen und die destruktiven. Da aber das Ich keine 
Gegensätze verträgt, das Streben nach Synthese immer beibehält, so trachtet 
es auch hier, die Abkömmlinge der gehemmten Triebe zu einem Kompromiß, 
Schuld und Strafe, zusammenzufassen. Es hängt anscheinend von der Trieb- 
konstitution ab, vom Grade der Triebmischung bzw. -entmischung, ob das 
Gefühl der Schuld oder das der Strafe überwiegt. 

Nun ist Libido ein Abkömmling des Eros, Aggression ein Abkömmling der 
Todestriebe. Eros bringt die Menschen zusammen, Aggression treibt sie aus- 
einander. Wo sich zwei Menschen zusammenfinden, oder wo sich eine Masse 
bildet, geraten diese Urtriebe in Konflikt miteinander, und Schuldgefühle 
müssen entstehen. Kurz, das Gefühl der Schuld und Strafe scheint das End- 
produkt des ewigen Kampfes zwischen Lebens- und Todestrieben zu sein. Es 
zeigt, unter welcher Selbstüberwindung und unter welchen Leiden die Mensch- 
heit die Herrschaft über ihre Triebe erobert hat. Eine Kompensation für all 




















Das Schuldgefühl 269 








die Opfer scheint jedoch die Entwicklung der Fähigkeit zum Gemeinschafts- 
leben. Lassen Sie mich mit einer Abwandlung des bekannten Dichterwortes 
schließen: Das ist der Trost der bösen Tat, daß sie fortzeugend Gutes muß 
gebären.? 





5) In der Diskussion, die sich an diesen Vortrag anschloß, machte F. Alexander geltend, 
daß meine Ausführungen nichts Neues enthielten, das über seine eigenen Arbeiten und die von 
Th. Reik und $. Rado hinausginge. Ich möchte darauf verzichten, diesen Einwurf im ein- 
zelnen zu entkräften; im nachfolgenden sei jedoch eine Aufstellung der in Betracht kom- 
menden psychoanalytischen Arbeiten zu diesem Gegenstande gegeben, um dem Leser die 
eigene Urteilsbildung zu ermöglichen: 

Th. Reik: Strafbedürfnis und Geständniszwang, Wien, 1925. — H. Nunberg: Schuld- 
gefühl und Strafbedürfnis, Int. Zschr. f. Psa., XI, 1926. — S. Rado: Eine ängstliche 
Mutter, Int. Zschr. f. Psa., XII, 1927. — F. Alexander: Psychoanalyse der Gesamtpersön- 
lichkeit, Wien, 1927. — S. Rado: Das Problem der Melancholie, Int. Zschr. f. Psa., XIII, 
Wien, 1927. — Sigm. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien, 1930. — H. Nunberg: 
Allgemeine Neurosenlehre, Bern, 1932. — L. Jekels: Die Psychologie des Schuldgefühls, 
Psa. Bewegung, IV, 1932. 








Zur Psydiologie der Langeweile 
Von 


Otto Fenichel 


Oslo 


Über das merkwürdige Erscheinungsgebiet der Langeweile liegt von psycho- 
analytischer Seite nur eine einzige Arbeit vor, „Angst vor dem Neuen, Neu- 
gier und Langeweile“ von Alfred Winterstein,! die wir im folgenden auch 
öfter heranziehen werden, die aber viele Probleme ungelöst läßt. Wahrschein- 
lich sind es psychologisch recht verschiedene Zustände oder Verhaltungsweisen, 
die mit dem Namen „Langeweile“ bezeichnet werden. Auch der folgende 
Versuch macht keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und hofft nur, einen 
bestimmten Typus von Langeweile zu kennzeichnen. 


Gehen wir von der Definition von Lipps aus, die auch Winterstein 
heranzieht. Die Langeweile „ist ein Unlustgefühl aus dem Widerstreit zwi- 
schen dem Bedürfnis intensiver psychischer Betätigung und dem Mangel der 
Anregung dazu, bzw. der Unfähigkeit, sich dazu anregen zu lassen“. Fügen 
wir hinzu, daß neben dem „Bedürfnis intensiver psychischer Betätigung“ 
stets gleichzeitig eine Hemmung solcher Betätigung vorhanden ist, die als 
solche gefühlt wird — man weiß nicht, wie man sich betätigen soll oder 
will —, und daß aus diesem Zwiespalt heraus die Anregung von der Außen- 
welt gesucht wird. Ferner, daß der „Mangel der Anregung“ — wie ja auch 
der Zusatz „die Unfähigkeit, sich dazu anregen zu lassen“ ausführt — sehr 
häufig nicht äußerer Wirklichkeit entspricht; wie das Nebeneinander von Be- 
tätigungsdrang und Betätigungshemmung die Langeweile charakterisiert, so 
auch das von Reizhunger und Unzufriedenheit mit den gebotenen Reizen. 
Die Frage nach den Hemmungen sowohl des Betätigungsdranges als auch 
der Bereitschaft, die ersehnten anregenden Reize anzunehmen, wird also zum 
Hauptproblem der Psychologie der Langeweile. 


Würde man versuchen, rein deskriptiv den Gemütszustand der Langeweile 
zu erfassen, so könnte man sie am ehesten bezeichnen als ein „unlustvolles 
Erleben von Impulslosigkeit“. Diese Formel stellt ein Problem, das zunächst 
aus dem Wege zu räumen ist: Wir nehmen an, daß der Spannungszustand des 
psychischen Apparats durch innere und äußere Reize steigt, und daß die ge- 
steigerte Spannung Impulse auslöst, d.h. Tendenzen, die wieder die Span- 
nungslosigkeit herbeiführen wollen. Man sollte also unlustvolle Triebregun- 





ı) In „Die psychoanalytische Bewegung“ II, 1930. 
2) „Leitfaden der Psychologie“. 











4 | 


Zur Psychologie der Langeweile 271 1 





gen und lustvolle Triebbefriedigungen bzw. unlustvolle Impulse und lustvolle 
Impulslosigkeit erwarten. Das Problem, daß es dennoch auch lustvolle Im- 
pulse gibt, ist schon öfter diskutiert worden.® Das entsprechende Problem der i 
lustvollen Impulslosigkeit scheint dem der Langeweile zu entsprechen. — 
Aber die Langeweile hat, wie schon die obige Definition sagte, neben der Im- 
pulslosigkeit ein „Bedürfnis intensiver psychischer Betätigung“; „Impulslosig- 
keit“ und „Spannungslosigkeit“ fallen durchaus nicht zusammen. Warum, 
lautet vielmehr das Problem, führt hier Spannung nicht zu Impulsen, warum 
verlangt sie, statt sich in Form von Triebimpulsen bemerkbar zu machen, nach 
„Anregungen“ von seiten der Außenwelt, die dem Betreffenden erst sagen 
sollen, was er tun solle, um seine Spannung abzubauen? 

„Reizhunger“, der sich an die Außenwelt wendet, gibt es selbstverständlich 
auch außerhalb des Erscheinungsgebietes der Langeweile. Er entsteht in dem 
Moment, wo das kleine Kind erkennt, daß von der Außenwelt Reize aus- 
gehen, die zur Triebbefriedigung benutzt werden können. Ist die Erfahrung 
lustvoller Reize einmal gemacht, so tritt im Zustand der Triebspannung eine 
Sehnsucht nach solchen Reizen auf. Sie geht mit Unwillen gegen zur Ent- 
spannung ungeeignete gerade vorhandene Objekte oder Reize einher und 
führt, wenn geeignetere nicht erreicht werden können, zu Introversion und 
Phantasietätigkeit und schließlich zu aktualneurotischen Erscheinungen der 
Libidostauung. Kann man einen solchen Zustand der Sehnsucht nach 
adäquaten Objekten und der Unlust an vorhandenen inadäquaten „Lange- 
weile“ nennen? Korrekterweise wohl nicht; es geschieht aber dennoch manch- 
mal. Von Objekten oder Reizen, die einem nicht die „Abfuhrhilfe“ geben, 
die man legitimerweise verlangen kann, pflegt man zu sagen, sie „langweilen“ 
einen. Wir kommen darauf zurück. Aber wer „sich“ im eigentlichen Sinne 
„langweilt“, sucht ein Objekt, nicht um an ihm seine Triebimpulse zu betäti- 
gen, sondern um mit seiner Hilfe ein ihm fehlendes Triebziel zu gewinnen. 

Die Triebspannung ist da, das Triebziel fehlt. Die Langeweile muß ein Zu- 
stand von Triebspannung bei verdrängten Zielen sein, wobei die Spannung 
sich dennoch als solche spürbar macht, weshalb man im Verdrängungskampf 
Hilfe von der Außenwelt verlangt. Wer sich langweilt, ist demjenigen zu ver- 
gleichen, der, nachdem er einen Namen vergessen hat, ihn von anderen er- 
fahren will. 

Diese Formel, die zwar richtig, aber nicht spezifisch ist, macht uns immer- 
hin schon einiges verständlich, z. B. die „Unfähigkeit, sich anregen zu lassen“. 
Wenn derjenige, der sich langweilt, nach „Anregungen“ verlangt, weil ihm 
Triebziele durch Verdrängung verlorengegangen sind, so ist es verständlich, 








3) Von Freud in „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, Ges. Schr. Bd. V., und in 
„Das ökonomische Problem des Masochismus“, Ges. Schr. Bd. V. 








272 Otto Fenichel 








daß er einerseits solchen Anregungen, die ihm die ersehnte Entspannung wirk- 
lich bringen könnten, den gleichen Widerstand entgegensetzt, der auch die 
Verdrängung der Triebziele herbeigeführt hat; ist anderseits die „Anregung“, 
die die Außenwelt bietet, vom ursprünglichen Triebziel zu weit entfernt, so 
kann die Verschiebung der Besetzungsenergie auf die neu vorgeschlagene 
Tätigkeit nicht erfolgen. 


Wer einen Triebanspruch abwehrt, befindet sich in einem Konflikt; das Es 
will eine Triebhandlung, das Ich will sie nicht. Derselbe Konflikt wiederholt 
sich nun auch gegenüber den Reizen, die aus der Außenwelt kommen. Das 
Es strebt sie als „Triebersatz“ an, das Ich will zwar seine Spannung lösen, 
aber dabei nicht an das ursprüngliche Triebziel erinnert werden, es sucht 
„Ablenkung“ oder „Zerstreuung“ seiner auf das unbewußte Triebziel fixierten 
Energien. Man widersetzt sich der Ablenkung und Zerstreuung, insofern der 
ursprüngliche Trieb fortbesteht; man widersetzt sich ihr aber auch, wenn der 
Ersatz dem Ursprünglichen zu nahe ist. 


Wir kennen verschiedene Zustände von hoher Spannung bei Verdrängung 
des Triebziels. Wir erwarten in solchem Falle zunächst ein Bild, das von dem 
der Langeweile recht erheblich abweicht. Jeder kennt die allgemeine innere 
und meist auch motorische Unruhe, die allgemeine „Zappligkeit“, die in 
solchem Falle eintritt. So verschieden ein solcher Unruhezustand von der 
manifesten Ruhe des sich Langweilenden ist, so erkennen wir doch, daß tat- 
sächlich diese beiden Zustände eine innere Verwandtschaft haben. Langeweile- 
zustände dieser Art sind intonischer Bindung dasselbe, was die moto- 
rische Unruhe sozusagen klonisch ist. Es bleibt die Frage, unter wel- 
chen Umständen eine solche tonische Bindung erfolgt, und unter welchen sie 
die typische Gestalt der Langeweile annimmt; denn auch tonische Bindungen 
akuter Triebspannungen bei verdrängtem Triebziel gibt es offenbar in ver- 
schiedenen Formen. 


Es mag dahingestellt bleiben, ob die bisherigen Überlegungen für alle 
Formen der Langeweile gelten. Sicher treffen sie für einen besonderen patho- 
logischen Typ der Langeweile zu, den man klinisch untersuchen kann. Sein 
Verständnis wird uns erleichtert, wenn wir mit ein paar Bemerkungen über 
das Verhältnis von Langeweile und Monotonie beginnen. 

Man empfindet eine monotone Außenwelt oft als langweilig. Eine monotone 
Außenwelt liefert von sich aus nicht neue Reize, erhöht nicht spontan die 
innere Spannung. Monotone Reize wirken einschläfernd. Wenn die Außen- 
welt nicht reizt, zieht man die Libido von ihr zurück. Oft aber können ge- 
rade monotone Reize in bestimmt geartete Erregung versetzen. Man er- 
innere sich nur an die Wirkung der Monotonie beim Gebet oder bei primitiven 





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Zur Psychologie der Langeweile 273 





Tänzen u. dgl. Bei diesen Maßnahmen dient die Monotonie offenbar in gleicher 
Weise wie bei den als Schlafmittel angewendeten monotonen Reizen dazu, 
das Subjekt zu bewegen, die Libido von der monoton gewordenen Außen- 
welt zurückzuziehen, nur hier zu dem Zwecke, um die narzißtische Libido 
entsprechend zu erhöhen. Dies aber wird wiederum durch die besonderen 
Eigenschaften der monotonen Reize, die ja doch tatsächlich Reize sind und Ei 
etwas anderes als Reizlosigkeit, erleichtert. Monotone Reize, besonders ‚wenn F| 
sie rhythmisch sind, erleichtern offenbar besondere Zustände der Erregung, I 
nämlich Erregungen mit einem gewissen narzißtischen Einschlag, Ekstasezu- 
stände. Nicht nur starke Außenweltreize, sondern auch schwache, wenn sie 
monoton-rhythmisch erfolgen, erregen sexuell (und zwar in einer Weise, 
daß mehr die Erregung als solche und nicht das erregende Objekt im Mittel- 
punkt der Aufmerksamkeit steht). Beim kleinen Kind, wo die sexuelle Er- 
regung von der sexuellen Befriedigung noch nicht recht zu unterscheiden ist, 
wirken sie einschläfernd. Später können sie auch gesteigertes Verlangen nach 
Befriedigung setzen. Würde man fragen, ob solche Reize nun also beruhigend 

| oder beunruhigend sind, so wäre eine solche Frage falsch gestellt; sie können 
beides sein; ob sie das eine oder das andere mehr sind, hängt vom Verhältnis 
der Erregung zur Befriedigung ab. 








Monotone Rhythmen als Erlebnisse auf einzelnen Sinnesgebieten oder auf 
allen zugleich, besonders häufig monoton-rhythmische Sensationen im Be- 
reiche des Gleichgewichts- und Raumsinnes, finden wir häufig‘in Analysen 
als Erinnerungsspuren an infantil-sexuelle Erregungen. Die Selbstwahrnehmung 
| des eigenen Pulsrhythmus spielt dabei eine große Rolle. Die Bedeutung des 
Fiebers als sexuelles Stimulans bei Kindern hängt damit zusammen. 





Unter Umständen wirkt Monotonie nicht nur einschläfernd oder eksta- 
sierend, sondern intensiv unlustvoll. Man erlebt etwa plötzlich den Impuls, 
den monotonen Reiz unbedingt sofort zu unterbrechen. — Solche Unlust ist 
vergleichbar der Unlust, die entsteht, wenn eine sexuelle Betätigung in 
vorgeschrittenem Zustand der Erregung plötzlich abgebrochen werden muß. 
In solchem Fall hat also der monotone Reiz eine sexuelle Erregung: erzeugt, 
deren Ablauf gestört wurde. Eine solche Störung kann entweder von innen 
kommen und psychogen bei Menschen auftreten, die ihre sexuelle Erregung. 
nur bis zu einem gewissen Grad angstfrei vertragen, besonders wenn sie quali- 
tativ infantilen Charakter trägt, wie es offenbar bei solcher „Monotonie- 
erregung“ der Fall ist; oder sie kann äußerlicher Natur sein, indem die wach- 
sende Erregung auch sich steigernder Reize oder der Aussicht auf irgendeine 
„Endlust“ bedarf, so daß die sich nicht steigernde Monotonie des weiter wir- 
kenden Reizes inadäquat wird. 

Imago XX/3 18 














274 Otto Fenichel 





Das Studium dieser Wirkungen gelingt besonders bei der direkten oder in- 
direkten (am Erwachsenen vorgenommenen) Analyse der Wirkung nächtlicher 
Geräusche auf neurotische Kinder, z.B. einer tropfenden Wasserleitung, eines 
Schnarchens u. dgl. Solche Geräusche versetzen das Kind in Erregung, resp. 
in Angst und „Unterbrechungsunlust“. Wir pflegen bei der Entdeckung 
solcher Erregungen oder Ängste mit Recht zunächst an Erlebnisse vom Cha- 
rakter der „Urszene‘“ zu denken. Wir dürfen aber über dieser Deutung nicht 
vergessen, daß Erregung, Angst und Unruhe auch jenen Situationen ent- 
sprechen, wo nach einmal erlebter Urszene deren Wiederholung vergebens er- 
wartet wurde. In solchen nächtlichen Erwartungen ist das Kind zur Außen- 
welt in ähnlicher Weise konfliktuös eingestellt, wie wir es vorhin für den 
Erwachsenen, der sich langweilt, ausgeführt haben. Der Trieb verlangt, die 
Außenwelt möge jenes sexuell erregende Schauspiel wiederholen und so die 
unerträgliche Erwartungsspannung beendigen; das Ich, das die gewaltige Er- 
regung der Urszene mehr fürchtet als die unangenehme Erwartungsspannung, 
verlangt von der Außenwelt, sie möge es „zerstreuen, Licht anzünden, Mut 
zusprechen und von all dem Spuk der nächtlichen Ängste und Erregungen 
zur nüchternen Wirklichkeit ablenken“. 


Erregung, Angst und Unterbrechungsunlust stehen einander dabei sehr nahe 
und können ineinander umschlagen. Daß gerade auf diesem Gebiete Wollust 
‚bei kleinsten quantitativen Veränderungen der Konstellation in Angst um- 
schlagen kann, ist bekannt. Aber auch Zuständen, die subjektiv nur als „Lange- 
weile“ erlebt werden, steht beides nahe. Man kann z.B. häufig bei „Unmusi- 
kalischen“, die sich beim Anhören von Musik „langweilen“, ein Umschlagen 
in Angst oder Unlust vom geschilderten Charakter beobachten. Von der 
gleichen quälenden Art ist die „Langeweile“ der langen Nächte, über die 
manche Schlaflosen klagen. 


Bei solcher Langeweile scheint also eine intensive konfliktvolle Erregung 
subjektiv verschwunden, während Zeichen dafür vorhanden sind, daß sie noch 
fortbesteht. Insofern scheint die Langeweile als eine Variante oder Unter- 
abteilung der „Depersonalisation“, bei der ja ebenfalls meist keine Rede davon 
ist, daß die Libido der inneren Wahrnehmung wirklich entzogen wurde, son- 
dern wo nur eine Gegenbesetzung, meist bemerkbar an der gesteigerten Selbst- 
beobachtung, sich ihr entgegenstellt.* 


Es gibt Kinder, die vor „Langeweile“ schließlich zu weinen beginnen. Mit 
solchem Weinen und Unruhigwerden ist die tonische Bindung wieder durch- 
brochen, und was die Kinder „Langeweile“ nennen, ist nun von der mani- 





4) Vgl. Fenichel „Über organlibidinöse ep euerecheinuhgen der Triebabwehr“, Int. 
Ztschr. f. Psa., XIII, 1927. 








nd 











Zur Psychologie der Langeweile 275 








festen Unruhe der „Zappligkeit“ kaum zu unterscheiden. Daß die Kinder es 
aber so nennen, zeigt die Verwandtschaft der Zustände an. — Den Sinn dieser 
Langeweile kann man also schematisch ungefähr folgendermaßen formulieren: 
„Ich bin erregt. Lasse ich die Erregung weiter zu, so bekomme ich Angst. 
Deshalb sage ich mir: Ich bin gar nicht erregt, ich will gar nichts tun. Gleich- 
zeitig spüre ich aber, daß ich dennoch etwas tun will; da ich aber mein 
ursprüngliches Ziel vergessen habe, weiß ich nicht, was. Die Außenwelt muß 
etwas tun, was mich aus meiner Spannung befreit und mir doch nicht 
Angst macht. Sie muß machen, daß ich handle, dann bin ich: der Ver- 
antwortung enthoben. Sie muß mich ‚ablenken‘, ‚zerstreuen‘, damit das, 
was ich tue, von meinem ursprünglichen Ziele weit genug entfernt ist. Sie 
soll das Unmögliche möglich machen: mir Entspannung ohne Triebhandlung 
verschaffen.“ 

Diese Bedeutung von Zuständen der Langeweile wurde besonders klar bei 
einem Patienten, dessen ganze Analyse unter dem Zeichen heftigster Über- 
tragungswiderstände stand. Diese Widerstände waren von zweierlei Art: rast- 
lose motorische Unruhe oder Langeweile; die Analyse ergab eben, daß diese 
beiden manifest so verschiedenen Zustandsbilder derselben latenten seelischen 
Situation auf verschiedene Weise Ausdruck gaben. Die Zustände der motori- 
schen Unruhe nannte der Patient das „Bösesein“. Er war ständig auf den 
Arzt ärgerlich, mitunter wütend, und wußte ihm nichts anderes vorzuwerfen, 
als daß er ihn nicht durch ein Wunder mit einem Schlage gesund mache. Er 
war in seinen Assoziationen vollkommen gehemmt und auf den Analytiker 
wütend, daß nicht ein Zauberwort von ihm den Mangel an Assoziationen be- 
hob. Dieses „Bösesein‘ war eben von lebhafter allgemeiner Unruhe und von 
quälenden subjektiven Gefühlen der Unerträglichkeit der gegenwärtigen Ge- 
mütslage begleitet, wie wir sie von akut libidogestörten Menschen kennen. 
Den Sinn dieses Verhaltens klärt ein Blick auf das Sexualleben des Patienten. 
Er litt an einer akuten Libidostörung von der Art, daß er, wenn er mit einer 
Frau zusammen war, das Beisammensein normal einleitete, auch normale 
Wollust empfand, bis die Erregung einen gewissen Grad erreicht hatte; dann 
trat — oft vor, manchmal auch nach der Einführung des Gliedes — ein plötz- 
licher Umschlag ein. Er empfand nicht Lust, sondern intensive Unlust all- 
gemeiner Art, wußte nicht, was er nun machen sollte, und wurde auf die Frau 
„böse“, weil er meinte, sie müßte ihn durch irgendein Eingreifen momentan 
aus seiner unangenehmen Lage befreien. — Auch außerhalb des Sexuellen 
zeigte er einen masochistischen Charakter, d.h. er demonstrierte immer sein 
Unglücklichsein und war auf die jeweils Anwesenden „böse“, daß sie nicht, 
von Mitleid ergriffen, sofort irgendein Wunder taten, das ihn befreite. Die 
Analyse ergab, daß die ständige, aber im Sexuellen exazerbierende Erregung 
infantile Situationen wiederholte, bei denen er bei seiner Mutter im Bett ge- 


ı8* 




















276 Otto Fenichel 





legen hatte. In Verdrängung seiner aktiven auf die Mutter gerichteten phalli- 
schen Wünsche erwartete er von ihr ein Eingreifen, das ihm einerseits die 
schuldlose sexuelle Befriedigung bieten, andrerseits ihn von seinen sexuellen 
Gedanken ablenken sollte. Charakteristischerweise war diese Tätigkeit, die er 
von der Mutter und später von allen Menschen ersehnte, als orale Befriedi- 
gung gedacht. — Derselbe Patient hatte nun an manchen Tagen statt seiner 
masochistischen anklagenden Erregung Zustände von „Langeweile“. An diesen 
Tagen konnte er zwar auch nicht assoziieren, aber er fühlte sich subjektiv 
ganz anders. Er spürte keine unerträgliche Spannung, sondern angeblich „gar 
nichts“, und erklärte andauernd die Analyse und alles, was dazu gehört, für 
so langweilig, daß er keine Lust habe, erst etwas zu sagen, auch gar nicht 
wüßte, was er sagen sollte, und demnächst die Analyse aufgeben werde. Die 
Art, wie diese Zustände mit den oben geschilderten abwechselten, ließ keinen 
Zweifel daran, daß. sie zunächst eine gelungene Abwehr der Erwartungs- 
erregung war, mit der der Patient sonst auf das von ihm ersehnte (orale) 
zaubernde Eingreifen des Analytikers wartete. — Ein kleines Assoziations- 
experiment an einem solchen Tage sei mitgeteilt als Beweis dafür, daß in dieser 
Stimmung die sonst ‚manifeste Erregung auch vorhanden, nur tonisch gebun- 
den war: Als der Patient erklärte, er langweile sich so, wurde er aufgefordert, 
die Grundregel ganz besonders genau einzuhalten und darauf zu achten, daß 
er keinen Einfall als „zu langweilig“ unterdrücke. Er sagte, er sehe in die 
Zimmerecke und denke, wie es wäre, wenn da ein Spinnennetz säße. Man 
könnte dann einen Besen nehmen und damit die Wand auf- und abkehren, 
immer auf und ab. Im übrigen habe er Zahnweh; er komme eben vom Zahn- 
arzt, der ihm mit seiner Bohrmaschine die Zähne auf- und abgefahren sei. — 
Er wird darauf aufmerksam gemacht, daß man Sensationen im Munde in den 
Dimensionen verkenne, daß die Idee vom Abkehren der Wand also zeige, daß 
er sich innerlich noch beim ‘Zahnarzt und. nicht beim Analytiker fühle. Er 
phantasiere, der Analytiker tue ihm etwas Erregendes im Mund. „Jetzt fällt 
mir nur Unsinn ein“, setzt der Patient ‚fort, „ich könnte beliebige Wörter 
sagen, etwa Lichtschalter oder Nachttopf.“ Lichtschalter und Nachttopf sind 
Hilfsmittel, mit denen die Erwachsenen ein nächtlich angsterregtes Kind zu 
beruhigen suchen. Der ganze Zustand war also zu deuten: „Ich habe Angst, 
tue mir etwas Beruhigendes (Beunruhigendes) im Munde!“. Die Langeweile, 
in der sich der Patient befand, leugnete die eigene Erregung in der Art der 
Depersonalisation. 

Man könnte fragen, ob es für diese Art der „tonischen“ Erregungsbindung 
in: der Langeweile charakteristisch sei, daß es sich um „Triebe mit passivem 
Ziel“ handelt, die abgewehrt werden und als unbestimmte Aufforderungen an 
die Außenwelt nach „Anregung“ aus der Abwehr wiederkehren. Wir würden 











Zur Psychologie der Langeweile 277 





das verneinen und eher meinen, daß wir bei diesem Mechanismus sozusagen 
einer „Verwandlung von Aktivität in Passivität“ in 'statu nascendi zusehen 
können: man will. durch passives Erleben aus einer Spannung befreit werden, 
die entstand, weil man Angst vor seinen eigenen aktiven Impulsen hat. 


Wir können uns nicht verhehlen, daß wir mit all dem bisher Ausgeführten 
die vorhin gestellte Frage nicht gelöst haben, was die „tonische Bindung“ er- 
mögliche, und wodurch sich die „tonische Bindung“ der „Langeweile“ von 
anderen unterscheide. Wann tritt motorische Unruhe auf und wann das Ge- 
fühl der Impulslosigkeit und die Sehnsucht nach Ablenkung? 


Eine endgültige Antwort auf diese Frage können wir nicht bieten. Wir 
müssen uns zunächst an eines halten: Bei jeder tonischen Bindung, also auch 
bei der Langeweile, ist mehr abgewehrt als bei motorischer Unruhe, nämlich 
die motorischen Impulse selbst. Aber auch dies ist keine prinzipielle Antwort, 
denn es gibt sowohl Menschen, die in Zuständen der Libidostauung, die keines- 
wegs als Langeweile bezeichnet werden können, sich motorisch vollkommen 
ruhig verhalten, als auch solche, die im Zustand der Langeweile herumlaufen 
und alle möglichen Handlungen begehen. „Blasierte“ Menschen sind dafür 
bekannt, daß sie aus „Langeweile“ allerhand mehr oder minder sinnlose Hand- 
lungen begehen. Der sogenannte „Spleen“ der Engländer ist von dieser Art. 
Wir haben hier eine Variante der Langeweile vor uns, bei der das sich lang- 
weilende Ich nicht die Außenwelt in Anspruch nimmt, sondern sich selbst 
„Ersatzhandlungen“ ausdenkt, die die Spannung lösen, also Vertreter der 
Triebhandlungen sein, andrerseits aber von ihnen „ablenken“ und sie ver- 


leugnen sollen. — Die Lahmlegung der Motorik ist also nicht das einzige und 


nicht das wesentliche Charakteristikum. Sie kann auch ausbleiben und jeden- 
falls muß zu ihr noch etwas hinzukommen: jener Mechanismus, den wir als 
depersonalisationsverwandt bezeichnet haben, der Umstand, daß der innerlich 
so hoch gespannte Mensch es fertigbringt, die Tatsache dieser Spannung so 
weitgehend vor sich selbst zu verleugnen. Bekannt ist, daß, wer phantasie- 
begabt ist, sich selten langweilt, und daß die zur Langeweile disponierten 
Menschen unfähig oder gehemmt sind in der Produktion. von Tagträumen. 
(Mein früher erwähnter Patient war in ausgesprochenem Maße phantasielos.) 
Offenbar ermöglicht eine reiche Phantasie, sich in Tagträumen bis zu einem 
gewissen Grade zu entlasten, während der Wegfall dieser Möglichkeit die 
massive Gegenbesetzung der Absperrung innerer Wahrnehmungen erfordert. 


Fehlt in einem Zustand dieser Art die innere Wahrnehmung der eigenen 
Erregung? Wir haben schon die Tränenausbrüche aus Langeweile erwähnt; 
mußten allerdings auch hinzufügen, daß wir gerade sie als nicht charakteristisch 
„langweilig“ ansehen können. Offenbar sind die Übergänge von „Zapplig- 














278 Otto Fenichel 





keit“ zur „Langeweile“ fließend; die ausgesprochenen Fälle aber sind eben da- 
durch charakterisiert, daß der Betreffende selbst glaubt, in gewissem Grade 
erregungslos zu sein, was er eben „sich langweilen“ nennt. 


Die Frage, ob es vorwiegend Triebe mit passiven Zielen sind, deren Ziel- 
verdrängung zu der beschriebenen Art der Langeweile führt, haben wir ver- 
neint; aber vielleicht läßt sich ein anderer Triebinhalt als charakteristischer 
herausheben: Sind es nicht vielleicht einerseits aggressive, andrerseits narziß- 
tische Bedürfnisse, die da vorwiegend in Betracht kommen? Die Beziehungen 
der Langeweile zu Schwankungen des Selbstgefühls, zu „Stimmungen“, sind 
nicht zu übersehen. Es gibt auch Fälle von „periodischer Langeweile“, die von 
vornherein an einer Verwandtschaft mit dem manisch-depressiven Kreis 
keinen Zweifel lassen. — Solche Formen der Langeweile gehen fließend in 
bestimmte Arten der Depression über. — Wir kennen ja auch sonst Formen 
von Depressionsabwehr bzw. -äquivalenten, die der depressiven Herabsetzung 
des Selbstgefühls dadurch entgehen wollen, daß sie sich von der Außenwelt 
„ablenken“ lassen. Die Süchtigen greifen in solchen Zuständen zu Außenwelt- 
reizen, die dank ihrer chemischen Beschaffenheit die Selbstgefühlslage wirklich 
zu ändern imstande sind. Der Psychopath mit „Wandertrieb“ verläßt, wenn 
die Depression kommt, den Ort seines Aufenthaltes, um durch Wechsel seines 
Milieus „Zerstreuung“ zu finden. 


Widerspricht diese Verwandtschaft mit der Depression unseren früheren 
Überlegungen über die Psychogenese der Langeweile? Keineswegs. Die der 
Depression verwandte Langeweile ordnet sich als Spezialfall der geschilderten 
pathologischen Form der Langeweile überhaupt ein. Haben wir gesagt, es 
handle sich stets um Triebspannungen, die bei verdrängtem Ziel dennoch 
wahrgenommen, aber verleugnet werden, aus denen man durch Eingriffe der 
Außenwelt gerettet zu werden hofft, so hier um Spannungen der narzißtischen 
Bedürfnisse eines gekränkten Selbstgefühls bzw. all jener aus der Psychogenese 
der Depression bekannter oral-sadistischer Triebansprüche. Von hier aus werden 
wir verstehen, wenn unter den Handlungen, die man in Langeweile „zur Zer- 
streuung“ unternimmt, Essen, Trinken 'und Rauchen eine bevorzugte Stellung 
einnehmen, sowie daß pathologische Langeweile lange einer Sucht, einer Neurose 
mit „Impulshandlungen“ o. dgl. vorangehen kann. — Aber wir glauben nicht, 
daß narzißtische Bedürfnisse bzw. oral-sadistische Impulse die einzigen sind, 
deren Stauung zu Langeweile führen können. 


Die Beziehungen zwischen Langeweile und Einsamkeit sind nun unschwer 
zu verstehen. Ist es richtig, daß die unbewußte Situation desjenigen, der sich 
langweilt, darin besteht, daß er in einer ihm selbst nicht bewußten: Trieb- 
erregung, die er für gefährlich hält, Hilfe durch Außenweltreize erwartet, so 











Zur Psychologie der Langeweile 279 





ist klar, daß die ätiologischen Bedingungen für Langeweile und Einsamkeits- 
angst die gleichen sein müssen. Die Beziehungen zur Onanie sind, ebenso wie 
beim Neurotiker mit „Budenangst“, von zweierlei Art: Wer sich langweilt, kann, 
ebenso wie der Einsame, eigentlich die Onanieversuchung fürchten und be- 
kämpfen, so daß ihm die Sehnsucht nach Zerstreuung anstatt eines Onanie- 
impulses bewußt wird; oder er kann im Versuch, einer lästigen Trieb- 
spannung, deren Ziel ihm völlig unbewußt ist, zu entgehen, gerade zu wieder- 
holten Onanieakten greifen; auch zwischen Langeweile und sogenannter 
Zwangsonanie bestehen breite Verbindungen.5 


Man erinnere sich in diesem Zusammenhang auch an die von Ferenczi 
so genannten „Sonntagsneurosen“.® Es gibt „Sonntagsneurotiker“‘, deren 
Symptom nur darin besteht, daß sie sich an Sonntagen oder im Urlaub u. dgl. 
nur langweilen. Das sind Menschen, denen, solange sie arbeiten, das Ziel 
gelingt, das der sich Langweilende vergebens zu erreichen sucht, nämlich sich 
in einer Situation der Triebstauung „abzulenken“. Fällt die Ablenkung 
weg, so macht sich die Spannung bemerkbar, und die sonst latente „Lange- 
weile“ wird manifest. Gewöhnlich wirken dabei Erinnerungen an Sonntage 
aus der Kinderzeit mit, in denen die Triebstauung dadurch noch künstlich 
gesteigert wurde, daß die triebhungrigen Kinder ganz besonders an Trieb- 
äußerungen gehindert wurden. 


Haben wir nun die Mechanismen einer pathologischen Form der Lange- 
weile skizziert, so bleibt die Frage, ob sie für das Phänomen Langeweile über- 
haupt die wesentlichen sind. Wie sieht denn eine anders gebaute „normale“ 
Langeweile aus? Sie tritt ein, wenn man nicht tun darf, was man will, oder 
wenn man etwas tun muß, was man nicht will. Diese „harmlose“ Langeweile 
scheint auf den ersten Blick ein ganz anderes Phänomen als die bisher be- 
schriebene, aber man erkennt leicht, worin die Gemeinsamkeit mit ihr liegt: 
Etwas Erwartetes tritt nicht ein. Dort nicht, weil man die erwartete 
Triebhandlung aus Angst verdrängt, hier nicht, weil die Beschaffenheit der 
realen Situation die erwartete Entspannung nicht zuläßt. (Hierher gehört 
auch, daß im Zustand der unbefriedigbaren Müdigkeit die schlafhindernde 
Außenwelt als langweilig empfunden wird.) Wann allerdings eine solche ver- 
sagende Außenwelt Aggression mobilisiert, wann sie ohne weiteres ertragen 
werden kann, wann sie Enttäuschung hervorruft und wann man sie bloß als 
„langweilig“ empfindet, ist nicht so leicht zu sagen. Man vergesse nicht, daß 
man ja eine gewisse „Abfuhrhilfe‘“ von der Außenwelt fordern darf. Bleibt 
sie aus, dann langweilt man sich sozusagen mit Recht. Es ist die Situation, 








5) Siehe Fenichel „Perversionen, Psychosen, Charakterstörungen“, S. sr. 
6) Ferenczi „Sonntagsneurosen“, Int. Ztschr. f. Psa., V., 1919. 














280 Otto Fenichel 





zu deren Kennzeichnung Winterstein den Feldmarschall Fürsten Ligne 
zitiert: „Nicht ich langweile mich, es sind die anderen, die mich langweilen.“ 
Deshalb wirkt ein „affektgesperrter“ oder sonst mit stark charakterlich ver- 
ankerten Gegenbesetzungen ausgestatteter, etwa besonders korrekter oder 
sonstwie „starrer“ Mensch so langweilig. Seine Gefühlsferne entspricht nicht 
den Trieberwartungen, die die Menschen einander entgegenbringen. Wir fin- 
den häufig, daß solche Menschen unter der Angst leiden, sie könnten lang- 
weilig wirken, und müssen sagen,. sie haben mit solcher Angst Recht. 
Analysiert man diese Angst, so findet man, daß in der vom Patienten selbst 
so gefürchteten Art, andere Menschen zu langweilen, große Quantitäten von 
Sadismus gebunden sein können. 

Eine für die Konstitution der Langeweile zweifellos wichtige Beziehung 
haben wir bisher noch nicht erwähnt, die zur Zeit. Schon das Wort „Lange- 
weile“ deutet ja darauf hin, daß bei diesem Zustand stets Veränderungen des 
subjektiven Zeitgefühls bestehen. Erlebt man vielerlei Reize aus der Außen- 
welt, so erscheint die verbrachte Zeit bekanntlich kurz; bringt die Außen- 
welt nur monotone Reize, oder können ihre Reize infolge subjektiver 
Umstände nicht als spannungslösend erlebt werden, so wird die „Weile lang“. 
Infolge dieser Grundeigenschaft des subjektiven Zeitgefühls scheint die Sensa- 
tion, die dem ganzen Erlebnis „Langeweile“ den Namen gegeben hat, nur eine 
sekundäre Folge der geschilderten Mechanismen zu sein. Es läßt sich aber 
auch nicht die Möglichkeit von der Hand weisen, daß dort, wo primäre 
Störungen des subjektiven Zeitgefühls vorliegen, das Eintreten :oder. das 
Spielen der geschilderten Mechanismen dadurch erleichtert wird. Das ist aber 
der Fall bei Menschen, die das Zeitempfinden sexualisiert haben®, und das ist 
wieder der Fall besonders bei gewissen Typen des Analcharakters. Von hier 
aus können wir Winterstein beipflichten, wenn er manchen Analcharakter 
als zur Langeweile besonders disponiert beschreibt und die Langeweile über- 
haupt mit dem Phänomen des „Zeitgeizes“ in Beziehung bringt.? 

Was Winterstein sonst über die Disposition zur Langeweile ausführt, 
stimmt mit unseren Überlegungen gut überein. Er schreibt, man „möchte 
hier zwei Typen unterscheiden: den blasierten, durch Überreizung abge- 
stumpften, nach Genuß schmachtenden und genußunfähigen Menschen (viel- 
leicht beruht hier die Langeweile auf physiologischer Grundlage) und jenen, 
der vor der peinigenden Langeweile in die Arbeit flieht, weil ihn alles, was 
nicht Pflichterfüllung ist, langweilt“. Nun scheinen uns diese zwei Typen 
lediglich als zwei Varianten der chronischen Libidostauung, die sich als Span- 








7) Winterstein, a.a.O., S. 550. 


8) Vgl. Harnik „Die triebhaft-affektiven Momente im: an Imago XI, 1925. 
9) a.a.0O., S. 552. 





Zur Psychologie der Langeweile 281 





_ nung bemerkbar macht, während das Triebziel verdrängt ist. Der erste Typ 
‚ist der orgastisch Impotente, der infolge seiner Genußunfähigkeit „schmach- 
ren“ muß. (Daß seine „Abstumpfung“ durch „Überreizung“ entstanden ist, 
möchten wir allerdings nicht glauben. Wir würden meinen, daß seine 

psychogene Libidostauung ebenso Ursache seines Schmachtens nach Reizen 

wie seiner Abstumpfung ist.) Der zweite ist der „Sonntagsneurotiker“, von 
dem wir vorhin sprachen. Auf physiologischer Grundlage aber, meinen wir, 
beruht die Langeweile in beiden Fällen, nämlich auf der physiologischen 
_ Grundlage der Libidostauung. 








Über genetische Psychologie und Psychoanalyse‘ 
Von 


Raymond de Saussure 
Genf 


Einleitung 


Am Internationalen Psychologischen Kongreß in Kopenhagen im August 
1932 sagte Clapar&de: „Unser Kollege Murchison veröffentlicht alle fünf 
Jahre Bücher über Psychologien“ — er gebrauchte den Plural —, „über Be- 
haviourismus, Reflexologie, dynamische Psychologie, Psychoanalyse... sehr 
interessante Sammelwerke, die vor allem beweisen, daß unsere Wissenschaft 
noch recht zurück ist. Es gibt nicht mehrere Physiken und nicht mehrere 
Chemien, ebenso gibt es nur eine Psychologie oder besser, es sollte nur eine 
geben“ (1). 

Wir stimmen diesen Worten unseres Lehrers vollkommen zu und dieser 
Bericht möchte den bescheidenen Versuch bedeuten, einen Teil der Ergebnisse 
der Psychoanalyse in den Rahmen einer allgemeinen Psychologie einzufügen. 
Wir glauben, daß die Psychoanalyse eine große Zahl endgültig gesicherter 
Tatsachen enthält und wenn dem so ist, so müssen diese Tatsachen zwangs- 
läufig mit den Kenntnissen einer allgemeinen Psychologie zahlreiche Berüh- 
rungen besitzen. Diese Tatsachen können nur dadurch gesichert werden, daß 
sie, nachdem sie unter psychoanalytischer Betrachtung gewonnen wurden, 
auch von anderer Seite her bestätigt werden und zu weiteren, von anderen 
Methoden her beleuchteten Erörterungen Anlaß geben. 


Das Ganze der psychoanalytischen Forschungen wird dadurch gekennzeich- 
net, daß sie neues Licht auf den Inhalt des kindlichen Denkens geworfen 
haben. Das unmittelbare Denken des Kindes mußte jenen Beobachtern ent- 
gehen, die zugleich auch ein pädagogisches Ziel verfolgen und die sich daher 








1) Übersetzt von Dr. Helmut Polt. Vortrag, gehalten am „Congre&s des Psychanalystes 
de langue frangaise“ in Paris am 18. Dezember 1933. 


Diese Tagung stand im Zeichen der Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen und 
psychologischen Anschauungen Jean Piagets. An das hier vorliegende Einleitungsreferat schloß 
sich ein Vortrag von Jean Piaget an, dessen Abdruck in deutscher Sprache mit Genehmigung des 
Verfassers in einer der nächsten Nummern dieser Zeitschrift erfolgen wird. Über die Diskussion, 
die beiden Vorträgen folgte, unterrichtet ein Sitzungsbericht in der „Revue frangaise de Psych- 
analyse‘‘ (tome VII, 1934, pag. 116—136), deren Schriftleitung wir für ihr freundliches Enigegen- 
kommen verpflichtet sind. 


Die in Rede siehenden Probleme scheinen so bedeutsam zu sein, daß die Redaktion der „Imago“ 
nach Erscheinen der Abhandlung Prof. Piagets einen Meinungsaustausch auf breiterer Grundlage 
anzuregen beabsichtigt. 














Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 283 





vornehmlich für die Art interessieren, in der sich das Kind die Gedanken des 
Erwachsenen zu eigen macht. 

Parallel mit den Entdeckungen Freuds, nur später als er, suchte eine 
Schule von Psychologen, deren bedeutendste Vertreter Piaget und Luquet 
sind, die Struktur des kindlichen Denkens zu erfassen. Es schien mir inter- 
essant, Herrn Prof. Piaget zur Mitarbeit aufzufordern, um die Ergebnisse 
beider Betrachtungsweisen einander gegenüberzustellen. Diese Gegenüber- 
stellung schien mir um so interessanter, als sich Freud nicht nur auf den 
Inhalt des kindlichen Denkens beschränkt, sondern auch versucht hat, 
einzelne Mechanismen seiner Struktur zu beschreiben, etwa den Vorgang der 
Identifizierung, der Projektion, der Verschiebung von Affekten und 
der Symbolisierung. 

Piaget wiederum hat, um die kindliche Logik zu veranschaulichen, aus- 
führliche Untersuchungen über den Inhalt des spontanen Denkens der Kinder 
angestellt. Er bediente sich dabei einer von der Psychoanalyse abweichen- 
den Methode, die wir sogleich zu beschreiben haben werden. Diese beiden 
_ Arten von Untersuchungen unterscheiden sich vor allem dadurch, daß Freud 
vor allem die Mechanismen des unbewußten Denkens berücksichtigte, wäh- 
rend Piaget sich um die Beschreibung der Mechanismen jenes Denkens be- 
mühte, das danach strebt, seiner selbst bewußt zu werden. Freud erforschte 
vor allem die Vorgänge, die das Denken vor der Sozialisierung zu bewahren 
streben. Piaget sucht im Gegensatz dazu die Stufen aufzuzeigen, die das 
Denken auf dem Wege zur Sozialisierung durchläuft. Freud legt auf den 
Inhalt des affektiven und subjektiven kindlichen Denkens Nachdruck, Piaget 
beschäftigt sich vor allem mit seinem objektiven Gehalt. 

Diese Unterschiede des Standpunktes mußten notwendig neben Berührungs- 
punkten auch Trennungspunkte zwischen beiden Lehren entstehen lassen; es 
scheint interessant, die wichtigsten von ihnen aufzuzeigen. 

Es ist sicher, daß man sich Fehlern aussetzt, wenn man Phänomene nur 
unter einem dieser Gesichtspunkte betrachtet. 

Da die Methoden Freuds und Piagets verschieden sind, ist es von Inter- 
esse, auch die Phänomene selbst zu vergleichen, die von verschiedenen Wegen 
her beobachtet wurden. Unglücklicherweise war es Piaget aus leicht ver- 
ständlichen Gründen unmöglich, seine Umfragen bei den Kindern auch auf 
ihre Auffassung der die Sexualität betreffenden Tatsachen zu erstrecken. In- 
dessen gibt es ein gemeinsames Gebiet für die Untersuchungen Freuds und 
Piagets, nämlich die Entwicklung der moralischen Vorstellungen beim 
Kind. 

Bei dieser Gegenüberstellung werden viele Einwände, die uns von außen 
gemacht werden, in sich zusammenbrechen. Denn zahlreiche Behauptungen 











284 Raymond de Saussure 





erscheinen nur solange irrig, als wir sie vom Standpunkt der Logik der Er- 
wachsenen betrachten, werden aber ungleich wahrscheinlicher, wenn wir sie 
mit anderen kindlichen Auffassungen vergleichen und versuchen, sie aus dem 
Ganzen der Gesetze zu verstehen, die das Denken des Kindes beherrschen. 

Eine vertieftere Erkenntnis der Logik der ersten Lebensjahre hat nicht nur 
akademischen Wert, sondern darf auch als wertvolle Stütze der "Therapie 
gelten. Wenn der Kranke die Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten 
des Denkens kennen lernt, wird es ihm leichter gelingen, den Ausdruck für 
seine infantilen Ideen und für das, was ihn noch von der Heilung trennt, zu 
finden. 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich eine Bemerkung über bestimmte Patien- 
ten einschalten, deren Analyse sich ohne klare Linie hinschleppt, obgleich sie 
eine Fülle interessanter Assoziationen bringen. 

Diesen Kranken fällt es durchaus nicht schwer frei zu assoziieren, und zwar 
darum, weil sie beschäftigungslos sind und einen großen Teil des Tages allein 
verbringen. Ihr Denken ist „dissozialisiert“, der Gemeinschaft entfremdet, 
und spinnt sich fast den ganzen Tag auf derselben Stufe fort wie in den freien 
Assoziationen der Analysenstunde. 

Nun hat Piaget in seiner Mitteilung über das ribolisshe Denken (2) auf 
dem Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Berlin 1922 nachdrücklich 
darauf hingewiesen, daß sich das Kind vor dem 6. bis 7. Lebensjahre seines 
Denkens nicht bewußt wird, sondern sein Denken gleichsam „erleidet“. 

Jene — freilich seltenen — Fälle, auf die ich eben anspielte, sind auf diese 
Stufe des Denkens regrediert. Ihre freien Einfälle sprechen durchaus nicht für 
die Befolgung der Grundregel, sondern sind ein Symptom ihres Zustandes. 
Die therapeutische Indikation gebietet es in diesen Fällen — so paradox es 
auch scheinen mag —, vom Patienten die Konzentration auf einen bestimmten 
Gegenstand zu fordern. 

Diese Kranken sind arbeitsunfähig, weil sie vergessen, daß sie die Absicht 
hatten, zu arbeiten oder diese Absicht, selbst wenn sie vorhanden ist, schon 
für die Erfüllung nehmen. Sie lehnen sich in einen Fauteuil, überlegen, was 
sie tun sollen, und geben sich der Illusion hin, es schon getan zu haben. 

Die Analyse kann auf diese Patienten nur Einfluß. gewinnen, wenn sie sie 
zuerst dazu erzieht, ihre eigenen Gedanken und das Bestehen einer Realität 
zur Kenntnis zu nehmen. Wenn sie es versäumt, diese Form kindlichen Den- 
kens zu erkennen, geht sie schwerem Scheitern entgegen. Denn der Kranke 
vermöchte aus der Deutung einer Kette von Einfällen keinen Nutzen zu 
ziehen, solange sein Geist nicht zur Logik der Erwachsenen erwacht ist. 

Ich bin bei diesem Beispiel länger verweilt, denn es zeigt die Notwendig- 
keit, im therapeutischen Verfahren ebenso auf die Struktur wie auf den Inhalt 











Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 285 








des Denkens zu achten. Wir verstehen jetzt, wie überaus förderlich die Gegen- 
überstellung der Forschungen Freuds und Piagets uns sein kann. 

Man könnte auf zahlreiche Berührungspunkte zwischen der Psychoanalyse | 
und dem gesamten Forschungsgebiet über die Entwicklung kindlicher Intel- 
ligenz hinweisen. Häufig handelt es sich dabei um Einzelheiten, die darzulegen | 
die Einheitlichkeit dieses Referats zerstört hätte. Ich habe es daher vorge- | 
zogen, eine Anzahl von Problemen, die mir wichtig scheinen, auszuwählen i 
und andere, nebensächliche, unberücksichtigt zu lassen. Um jedoch den mög- 
lichen Nutzen aufzuzeigen, den eine mehr methodische Gegenüberstellung 
beider Erfahrungsgebiete abzugeben vermöchte, bringe ich auf gut Glück 
wenigstens ein Beispiel. | 

Freud hat seit langem auf die Amnesie hingewiesen, die unsere ersten | 
Lebensjahre betrifft. Er hat sie aus den Verdrängungen sexueller Regungen 
abgeleitet — eine sehr natürliche Erklärung, da er sich vornehmlich für Er- i 
innerungen interessierte, die bei dem Kind Schockerlebnisse hätten auslösen 
können. 

Es hat indessen den Anschein, als ob die Amnesie der ersten Lebensjahre 
ein viel allgemeineres Phänomen sei. Piaget belehrt uns darüber, daß die 
meisten Knaben bis zum Alter von sechs oder sieben Jahren versichern, die 
Sonne sei lebendig, da sie sich bewege; sobald sie es aber nicht mehr glauben, 
sind sie überzeugt, es niemals geglaubt zu haben. Anderseits meinen sie immer, 
das, was man sie eben gelehrt hat, selbst entdeckt zu haben und auch dabei 
handelt es sich um eine einfache Amnesie. 

Man sieht also, daß sich der Widerstand gegen das Auftauchen kindlicher 
Erinnerungen nicht nur auf das sexuelle Gebiet beschränkt. 

Das Kind empfindet wahrscheinlich in diesem Alter das Bedürfnis, seine 
Überzeugungen mit denen seiner Umwelt in Beziehung zu bringen, und dieser 
Umstand zwingt es auch wohl, sein „autistisches“ Denken, ob es nun die Kos- 
mologie oder die Sexualität betrifft, in gleicher Weise zu verdrängen. 








Prof. Piaget und ich haben unsere Arbeit folgendermaßen geteilt: Ich will 
versuchen, die von der Analyse aufgedeckten Erscheinungen der frühen Kind- 
heit unter dem Gesichtswinkel der Theorien Piagets zu behandeln. Dabei 
beschränke ich mich, um mich nicht in Einzelheiten zu verlieren, darauf, 
einerseits die sexuellen Gedanken des kleinen Mädchens in der phallischen 
Phase und anderseits die Bildung. des Über-Ichs beim Knaben ins Auge zu 
fassen. 

Piaget hat die heiklere Aufgabe übernommen, einige Probleme der allge- 
meinen Psychologie mit den Resultaten der beiden in Rede stehenden Unter- 
suchungsmethoden zu vergleichen. 














286 Raymond de Saussure 





Die Methode 


Die Methode, die wir anwenden, besteht einesteils in der direkten Beob- 
achtung des spontanen Denkens des Kindes, andernteils aus dem Verfahren, 
das wir die klinische Methode nennen wollen. Die beiden Methoden ergänzen 
einander und die eine kann als Gegenprobe für die andere verwendet werden. 


Will man mit dem Kind über das sprechen, was es denkt, geht man zweck- 
mäßig von dessen eigenen Fragen aus, widrigenfalls man schwerlich in den 
kindlichen Vorstellungsbereich eindringen wird. 


Die Methode der reinen Beobachtung ist ungenügend. Das Kind hat auch 
gerade in seiner egozentrischen Einstellung keineswegs das Bedürfnis, sein 
Denken freiwillig mitzuteilen. Anderseits wird es meist nur in Gesellschaft 
von seinesgleichen gesprächig, dann aber ist es an die unmittelbaren Hand- 
lungen gebunden und nicht auf jenen wesentlichen Teil des Denkens einge- 
stellt, der mit dem Handeln nichts zu tun hat und der sich dann entwickelt, 
wenn das Kind mit dem Gebaren der Erwachsenen oder mit Naturvorgängen 
in Berührung kommt. 


Der zweite im System der reinen Beobachtung liegende Mangel besteht in 
der Schwierigkeit zu unterscheiden, ob das Kind spielt oder an seine Vorstel- 
lung wirklich glaubt. Nehmen wir ein Kind, das allein zu sein meint und zu 
einer Straßenwalze sagt: „Die dicken Steine hast du aber fein zerdrückt.“ 
Spielt es oder personifiziert es die Maschine wirklich? In einem solchen Falle 
ist das unmöglich zu unterscheiden, weil es eben ein Einzelfall ist. Die reine 
Beobachtung ist nicht imstande, das Geglaubte vom Fabulierten zu unter- 
scheiden. Ihre Kriterien basieren lediglich auf der Vielheit der Resultate und 
auf dem Vergleich individueller Reaktionen (3). 


Wir müssen also die Methoden der reinen Beobachtung verlassen und wen- 
den uns der klinischen Methode zu. Präzisieren wir, was wir unter klinischer 
Methode verstehen. 

Der Kliniker kann tatsächlich gleichzeitig folgendes tun: ı. er kann sich 
mit dem Kranken unterhalten und ihm dabei mit seinen eigenen Antworten 
so folgen, daß er nichts aus dem Auge verliert, was etwa an deliranten Ideen 
zum Vorschein kommen könnte; 2. er vermag ihn nach und nach an die 
kritischen Zonen heranbringen (seine Geburt, seine Rasse, sein Vermögen, sein 
militärischer oder politischer Rang, seine Talente, sein mystisches Leben usw.) 
und sucht aber, natürlich ohne vorher zu wissen, wo die delirante Idee auf- 
scheinen wird, die Konversation ständig auf einem ergiebigen Gebiet zu erhal- 
ten. Die klinische Prüfung benützt also die Erfahrung insofern, als der Kliniker 
sich Probleme stellt, Hypothesen aufrichtet, die Versuchsbedingungen ändert 
und schließlich jede seiner Hypothesen an den durch die Konversation her- 








Mi 








Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 287 





vorgerufenen Reaktionen kontrolliert. Die klinische Prüfung benützt aber 
auch die direkte Beobachtung in dem Sinne, daß der gute Kliniker sich führen 
läßt indem er führt, dabei den geistigen Bindegliedern Rechnung trägt, statt 
das Opfer systematischer Irrtümer zu werden, wie es beim reinen Experiment 
so oft geschieht. 


In der Psychologie des Kindes muß der gute Experimentator ebenso wie in 
der Psychopathologie zwei oft unverträgliche Eigenschaften vereinigen: er 
muß beobachten, d.h. das Kind frei sprechen lassen und gleichzeitig einen 
festen Richtpunkt suchen können, muß in jedem Augenblick irgend eine 
Arbeitshypothese zur Hand und irgendeine richtige oder falsche Theorie zu 
kontrollieren haben. Man muß natürlich die Vorsichtsmaßregel, die diese 
Methode erfordert, beobachten; man darf dem Kind nichts suggerieren und 
hat eine auf vorgefaßte Ideen gegründete Systematik ebenso zu vermeiden, 
wie die durch das Fehlen jeder Arbeitshypothese entstehende Zusammenhang- 
losigkeit. 


Da ich zu Ärzten spreche, will ich nicht länger bei derlei bekannten Dingen 
verweilen. 


Die phallische Phase unter dem Gesichtspunkt der infantilen Logik. 


Es erscheint uns vorerst bemerkenswert, daß die bei vier- bis sechsjährigen 
Kindern angestellten Untersuchungen eine außerordentliche Ähnlichkeit der 
kosmologischen Ideen aufzeigen. Dieses Alter ist völlig von dem Gedanken 
beherrscht, alle Dinge seien künstlich herstellbar. Gebirge, Flußbett und Seen- 
becken sind Gebilde von Menschenhand. Die Mythen, wie sie von Kind zu 
Kind als Erklärung für die Gestaltung der Sonne, den Ursprung der Flüsse, 
den Eintritt der Nacht usw. weitergegeben werden, zeigen äußerst geringe 
Unterschiede. Dieser Umstand interessiert uns deshalb ganz besonders, weil 
die Kritiker der Psychoanalyse vielfach die Rolle des Odipuskomplexes, den 
Penisneid des Mädchens, die analen Geburtstheorien u.a. als etwas darstellen, 
das wohl in Ausnahmsfällen bei gewissen psychopathischen Kindern vorkom- 
men mag, die Allgemeingültigkeit dieser Vorstellungen aber schroff ablehnen. 
Nun zeugen aber Untersuchungen, die auf anderen Gebieten direkt am Kinde 
angestellt wurden, für die Wahrscheinlichkeit der Annahme, daß alle Kinder 
und nicht nur einige diese Gedankengänge zeitweise aufnehmen. Sobald sie 
aber in ein anderes Stadium des Denkens getreten sind, meinen sie, immer an 
die neue Lösung und niemals an eine andere geglaubt zu haben. 

Nach dieser allgemeinen Bemerkung wollen wir die phallische Phase beim 
Mädchen darstellen und hierauf den ganzen Gedankengang unter dem Ge- 
sichtspunkt der kindlichen Logik betrachten. 























288 Raymond de Saussure 





Abraham (4) hat als erster darauf hingewiesen, daß sich hinter dem Männ- 
lichkeitswunsche der Frau eine schlecht verarbeitete Erfahrung der frühen 
Kindheit verbirgt. Sobald das Mädchen zur Wahrnehmung des männlichen 
Gliedes kommt, sagt es sich: „Ich muß einmal ein Glied wie die Knaben ge- 
habt haben, man hat es mir aber weggenommen.“ Das Mädchen betrachtet 
folglich sein Genitale als Wunde. Diese Feststellung hat eine Reihe von Beob- 
achtungen veranlaßt, die wir hier zusammenfassen (5). 

Nach Karen Horneys überzeugender Darstellung wird der Peniswunsch 
des Mädchens nicht durch die Enttäuschung darüber ausgelöst, daß es kein 
Knabe ist, sondern durch die Enttäuschung, sich selbst beim Urinieren nicht 
zusehen und dabei nicht exhibieren zu können und vor allem keine Möglich- 
keit des Lustgewinns an diesem Glied zu haben. Während dieser ganzen ersten 
Phase scheint das Mädchen zu glauben, daß es eines Tages doch einen: Penis 
besitzen werde. Wenn es später begreift, daß alle Personen seines Geschlechtes 
ebenso beschaffen sind, stellt sich die Auflehnung gegen ein solches Wissen ein 
und es versucht, sich gegen die Realität, die es nicht akzeptieren will, zu 
schützen. Zu dieser Zeit identifiziert es sich mit dem Bruder oder dem Vater 
oder es versucht auf symbolischem Wege Ersatz zu schaffen, indem es dem 
Kinde, der Brust, der Kotsäule usw. phallische Bedeutung gibt. In seiner Wut 
über den Nichtbesitz des Penis will das Mädchen den männlichen Wesen 
seiner Umgebung das Glied abbeißen und es verschlingen (6). 


In diesem Alter wünscht das Mädchen, daß sein Vater ihm zum Trost ein 
lebendes Kind schenke. 227 

Wie wir wissen, kennt dieses Stadium auch verschiedene Geburtstheorien, 
die sich: fast alle um das eine Schema gruppieren: Man bringt ein Kind zur 
Welt, wenn man etwas Besonderes gegessen hat (wie z. B. in den Märchen) 
und die Kinder kommen aus den Eingeweiden wie beim Stuhlgang (7). 

Es ist bekannt, daß diese Ideen bei einer. großen Anzahl von Neurotikern 
fortbestehen, daß sie für alle Arten von Minderwertigkeitsgefühlen entschei- 
dend sind und daß sie oft zu Frigidität und zu weiblicher Homosexualität 
führen. Man könnte die Grundzüge der phallischen Phase noch ausführlicher 
darstellen, das Gesagte genügt aber für unsere Zwecke. Wir wollen nun die 
psychoanalytischen Forschungsergebnisse im Lichte der kindlichen Logik 
prüfen und .werden sehen, daß so manche Feststellung, die dem Verstand des 
Erwachsenen befremdend erscheint, der Logik des Kindes durchaus ange- 
messen ist. ; Bi 

Nach Ansicht der Psychoanalyse verzichtet das Mädchen, sobald es das 
Glied des Knaben gesehen hat, nicht sofort auf den Wunsch, diesen vorteil- 
haften Vorsprung auch zu besitzen und glaubt, er werde ihr noch nachwachsen. 








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Erst wenn es sich über die Unabänderlichkeit dieses Mangels klar geworden 
ist, stellt es sich vor, daß ihm jenes Glied abgeschnitten wurde. 

Eine solche Art der Betrachtung macht aber die allgemeine Verbreitung 
dieser Kastrationsidee nicht deutlich. Wir meinen, daß es sich um eine kom- 
plexe Reaktion handle. Vor allem erfaßt das Kind erst nach und nach, daß 
das männliche Glied nur dem männlichen Geschlecht angehört. Freuds Dar- 
stellung, daß in dieser Phase nur der Phallus von Bedeutung ist, besteht hier | 
wohl völlig zu Recht. Das Mädchen skotomisiert während dieser Periode ein- \ 
fach seinen Penismangel. Der Erwachsene aber kann sich nur schwer einen i 
Zustand vorstellen, in welchem das Mädchen zugleich weiß und nicht weiß, 
daß ihm das männliche Glied fehlt. 

Eben diese Gemütsverfassung wollen wir näher untersuchen. Zu ihrem 
besseren Verständnis bedienen wir uns verschiedener, an Kinderzeichnungen 
gewonnener Ergebnisse, die Luquet genau studiert hat (8). 

Er weist darauf hin, daß das Kind beim Zeichnen eine gedachte Realität 
und nicht eine sinnlich wahrgenommene vor Augen hat. Zur Illustration sei 
die Zeichnung eines siebenjährigen Knaben angeführt: es soll ein Kartoffel- 
acker dargestellt werden; statt nun den aus dem Erdreich hervorwachsenden 
Teil der Pflanze wiederzugeben, zeichnet das Kind die dem Auge unsichtbaren 
Kartoffelknollen. 

Das Kind schafft sich auf diese Weise Typen, innere Modelle, wie Luquet 
sie nennt, welche dem real Geschauten gegenüber vorherrschen. Dank dem- 
selben intellektuellen Realismus schaffen das Mädchen und der Knabe von 
vier bis fünf Jahren den phallischen Typus, der für sie universelle Gültig- 
keit hat. 

Nach meiner Meinung erhält der männliche Typ aus zwei Gründen den 
Vorzug; erstens deshalb, weil er mehr Lustmöglichkeiten bietet; er befriedigt 
die Tendenz zum Spiel ebenso wie die zur Exhibition; zweitens ist er unter 
dem Gesichtspunkt des Handelns der besser Geeignete und das Denken des 
Kindes ist sehr stark auf das Handeln gerichtet. 

Angesichts der genannten Vorzüge des männlichen Typs kommt das Kind 
ganz von selbst zur Überzeugung, daß dieser Typ der allgemeine sei und des- 
halb fesselt auch er allein die Aufmerksamkeit des Kindes. Übereinstimmend 
damit lautet eine von Luqu et beobachtete Regel: „Die Entwicklung im Zeich- 
nen beweist, daß individuelle Details (hier: Penismangel) dem Kinde erst 
später auffallen als allgemeine Merkmale, es sieht nicht nur das Allgemeine 
im Besonderen, sondern es sieht auch noch das Individuelle als etwas Allge- 
meines an, ehe es ihm als etwas Besonderes bewußt wird“ (9). 

Das Studium der Kinderzeichnung bietet uns auch noch eine andere Ver- 

Imago XX/3 19 


Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 289 
































290 Raymond de Saussure 





gleichsmöglichkeit, die uns den Gemütszustand des Mädchens nach der Ent- 
deckung des anderen Geschlechts noch verständlicher macht. 

Es kommt häufig vor, daß ein Kind einen Fehler nicht in der Zeichnung 
selbst verbessert, sondern die Korrektur einfach neben das zuerst Gezeich- 
nete setzt. E 

„Der. Grund für diese Art der Verbesserung ohne Radieren“, schreibt 
Luquet, ‚ist nicht in einer materiellen Schwierigkeit zu suchen, denn das 
Kind kennt, wie wir sahen, den Gebrauch des Radiergummis... Sobald 
ein Strich als fehlerhaft erkannt ist, existiert er auch schon nicht mehr; das 
Kind sieht ihn buchstäblich nicht, ist durch den Ersatzstrich gleichsam 
hypnotisiert und beachtet den früheren ebensowenig wie irgendwelche Linien, 
die sich sonst etwa auf dem Papier befinden“ (10). 

An dem Mädchen zeigt sich nach der Entdeckung des männlichen Gliedes 
dieselbe Erscheinung. Die Beschaffenheit des eigenen Körpers wird als Irrtum 
betrachtet, hört auf zu existieren und nur die männliche Realität bleibt be- 
stehen. Wie wir später sehen werden, redet sich das Mädchen ein, daß es das 
fehlende Glied doch noch irgendwie besitze. 

Wie man sieht, nimmt das Kind zwei Dinge wahr und merkt sich nur ein 
einziges. Das Interesse für die momentane Wahrnehmung ist so groß, daß die 
früher gemachte Wahrnehmung vergessen oder wenigstens nicht beachtet 
wird. Das Kind schaltet das Gegensätzliche nicht aus und nimmt die ver- 
schiedene Beschaffenheit von Knaben und Mädchen nicht wie der Erwachsene 
zur Kenntnis. Das Mädchen merkt wohl den Gegensatz zwischen sich und 
dem Knaben, zieht daraus aber nicht dieselben Schlüsse wie der Erwachsene. 

Zum besseren Verständnis dieser Erscheinung müssen wir hier noch das 
Gesetz von der Koexistenz der Gegensätze zu Hilfe nehmen, das Piaget bei 
Kindern eingehend studiert hat. 

„Anfangs“, schreibt er, „erscheinen zwei Objekte gleichzeitig in der Wahr- 
nehmung des Kindes oder es sind zwei Merkmale gemeinsam in der Vorstel- 
lung gegeben. Für die Wahrnehmung oder für das Verständnis des Kindes 
sind sie daher verbunden, besser gesagt zu einem einzigen Schema verschmol- 
zen. Dieses Schema gewinnt schließlich durch den gegenseitigen Widerspruch 
der Elemente an Stärke, d.h. wenn man eines der Merkmale herausgreift und 
nach dessen Ursache fragt, beruft sich das Kind zu dessen Erklärung oder 
Rechtfertigung einfach auf die Existenz des andern Merkmals“ (11). 

Diese Art der Begründung ist maßgebend für das Verständnis der allge- 
meinen Verbreitung der Kastrationsidee beim Kinde, selbst wenn die Straf- 
drohung unterblieben ist. 

In dem besonderen Falle, den wir hier untersuchen, sind die beiden Objekte, 
die der Wahrnehmung gleichzeitig dargeboten werden, der Penis und die 








urn 





Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 291 





Kastration. Im Denken des Erwachsenen schließen die beiden Wahrnehmun- 
gen einander aus; im Denken des Kindes tun sie das nicht, sondern vereinigen 
sich zu einem Gesamt-Schema. Man muß also die eine durch die andere er- 
klären: Das weibliche Geschlecht ist nur die Kastration des männlichen. 

Wir halten aber daran fest, daß die Kastration nicht ganz klar verstanden 4 
wird; sie ist eher Möglichkeit als Wirklichkeit. Die Wahrnehmung des Ge- | 
schlechtsunterschiedes bleibt ein Gesamt-Schema, d.h. das Kind realisiert zu 
gleicher Zeit die Vorstellung und realisiert sie auch nicht. 

Das Kind eliminiert tatsächlich das Gegensätzliche erst nach und nach. 
Luquet gibt uns ein hübsches Beispiel: 








„Ein kleines Mädchen von viereinhalb Jahren zeichnet einen Mann, der gleich- 
zeitig eine Pfeife und Ohrringe hat, und erklärt, das sei eine Dame. Auf die Pfeife 
hingewiesen, antwortet sie, das sei der Mann der Dame, den sie vorhin gezeichnet. 
Als man ihr nun die Ohrringe zeigt, sagt sie: „Das sind die Ohrringe, eine Dame hat 
doch Ohrringe.“ Sie kommt also auf die Erklärung ‚Dame‘ zurück. Auf die Pfeife 
zurückverwiesen, sagt sie aber wieder, es sei ein Herr, und um das Detail, das nun 
keine Ohrringe mehr vorstellen darf, abzutun, will sie nur einfache Zeichenornamente 
ohne jede figürliche Bedeutung darin sehen. „Das sind keine Ohrringe, das soll es nur 
hübsch machen und dann raucht er doch die Pfeife“ (12). 

Das Kind hat, wie man sieht, das Gegensätzliche erst auf Anraten des Er- 
wachsenen ausgeschaltet. Seine Zeichnung stellt ursprünglich gleichzeitig 
Mann und Frau dar. Ebenso bleibt für das vier- bis fünfjährige Kind beiderlei 
Geschlechts der Penis das Symbol des Harnorgans. 

„Das Kind kann zwischen zwei gegensätzlichen Erklärungen derselben Er- 
scheinung nicht unterscheiden, läßt sie gleichzeitig gelten und verwechselt 
sogar die eine mit der andern“ (13). 

Die vierjährige Jaqueline versucht durch die Stäbe eines Gitters hindurch 
zu urinieren wie ein Knabe und will „so ein kleines, langes Ding, das rinnt,“ 
haben. Sie handelt dann so, als ob sie es besäße. Diese Stufe intellektueller 
Entwicklung ist also derart komplex, daß sie das Gefühl des Mangels und das 
des Besitzes des Gliedes gleichzeitig zuläßt. Um diesen Zustand besser zu ver- 
stehen, müssen wir unsere Kenntnis von der All-Verbundenheit noch prä- 
zisieren. 

Piaget unterscheidet in der Entwicklung des kindlichen Denkens vom 
Magischen zum Realen drei Zeiten, die er folgendermaßen charakterisiert: 
»Während der ersten Zeit ist das Ich vollkommen mit den Dingen ver- 
schmolzen; alles ist mit allem verbunden und alles ist magische Wirkung des 
Wunsches auf die Realität. Während des zweiten Zeitabschnittes differenziert 
sich das Ich von den Dingen, die jedoch noch subjektiv überdeckt bleiben. 
Von da an fühlt sich das Ich mit den Dingen nur mehr teilweise verbunden 


ıg* 























292 Raymond de Saussure 





und glaubt sich imstande, auf sie aus der Entfernung zu wirken, weil es die 
verschiedenen Mittel, die es zum Denken braucht (Worte, Bilder, Gesten), 
mit den Dingen verbunden glaubt. Anderseits sind alle Dinge notwendiger- 
weise belebt, da das Ich von den Dingen noch nicht geschieden ist und die 
psychischen Wahrnehmungen von den physischen noch nicht gesondert wer- 
den. Während dieses zweiten Zeitabschnittes ergänzen sich also Magie und 
Animismus. Zu dieser Zeit kann ein Kind glauben, daß Sonne und Mond ihm 
nachfolgen und diesem Vorgang sowohl magischen Ausdruck geben (ich setze 
sie in Bewegung) wie animistischen (sie folgen mir nach). In einem dritten 
Zeitabschnitt ist das Ich schließlich von den Dingen schon zu weit abgeson- 
dert, als daß die Mittel des Denkens noch als den Dingen zugehörig aufgefaßt 
werden könnten. Die Worte sind nicht mehr in den Dingen, die Bilder und 
das Denken befinden sich im Kopfe. Die Gesten sind unwirksam geworden, 
die magische Kraft ist verschwunden“ (14). 

Ob das Kind nun den anatomischen Unterschied während der ersten oder 
zweiten Entwicklungsperiode wahrnimmt, das Resultat bleibt das gleiche. In 
beiden Fällen unterscheidet sich das Mädchen kaum vom Knaben und der 
Knabe kaum vom Mädchen. In der frühen Kindheit verhindert diese Verbun- 
denheit die Zurkenntnisnahme der Kastration. Selbst der. Knabe glaubt, daß 
jenes Glied beim Mädchen nur verborgen sei. In einer vorgeschrittenen Alters- 
stufe, in der sich die Unterscheidung zwischen Ich und Außenwelt von selbst 
auszuwirken beginnt, steht die Kastrationsangst bei beiden Geschlechtern im 
Vordergrund. Die magische Verbundenheit des Mädchens mit dem Penis ver- 
blaßt und die Furcht vor dem dauernden Mangel gewinnt die Oberhand. 
Ebenso beginnt im Knaben der Gedanke an die Möglichkeit der Kastration 
wachzuwerden und ihn zu beunruhigen. Während der ganzen Periode der 
Verbundenheit aber genügt es dem Mädchen, die Gesten des Knaben nachzu- 
machen, um sich seiner Verschiedenheit von ihm nicht bewußt zu werden. In 
gleicher Weise äußert sich Piaget darüber (15): 

„Wenn wir also diese Angleichung der Welt an das Ich und des Ichs an die 
Welt als gegeben nehmen, werden Verbundenheit und Kausalität begreiflich. 
Einerseits müssen die Bewegungen des eigenen Körpers mit einer wie immer 
gearteten äußeren Bewegung verwechselt werden; anderseits müssen Wünsche, 
müssen Lust und Unlust nicht in einem Ich, sondern im Absoluten liegen: in 
einer Welt also, die wir vom Standpunkt des Erwachsenen eine allen gemein- 
same nennen würden, die aber vom Standpunkt des kleinen Kindes die einzige 
mögliche Welt ist... Die Verbundenheit resultiert, wenn man will, daraus, 
daß zwischen dem Bewußtsein der eigenen Wirkung auf das eigene Ich und 
dem Bewußtsein der eigenen Wirkung auf die Dinge kein Unterschied ge- 
macht wird.“ Um die Bedeutung dieser kindlichen Einstellung in der phalli- 











Mi 


schen Phase besser hervorzuheben, müssen wir noch unsere Kenntnisse von 
der Symbolik genau untersuchen. Wir haben weiter oben gesagt, daß das 
Mädchen versucht, für den Penis symbolischen Ersatz zu finden. Man darf 
sich dieses Suchen nicht vom Gedankengang des Erwachsenen aus vorstellen, 
sondern muß es in den Rahmen des kindlichen Denkens stellen. 

Die Ideen, die Piaget über diesen Gegenstand schon vor Jahren geäußert 
hat, sind meiner Meinung nach von den Psychoanalytikern allzuwenig be- 
achtet worden. Wir können den Unterschied zwischen der Ansicht Freuds 
und Piagets kurz dahin zusammenfassen, daß sich bei F reud die Symboli- 
sierung vor allem aus der Projektion eines Wunsches auf ein Objekt erklärt, 
während es sich bei Piaget darum handelt, daß zwischen Außenwelt und Ich 
nicht unterschieden wird. 

Piaget (16) hat diese beiden Gesichtspunkte einander gegenübergestellt; 
nach unserer Auffassung ergänzen sie sich, ohne einander auszuschließen. 

Nehmen wir ein junges Mädchen, das mit dem Wasserhahn spielt und da- 
mit das männliche Glied symbolisiert, so zeigen sich hier gleichzeitig Unter- 
scheidungsunvermögen und Wunschprojektion. Man kann von der Tatsache 
des Wunsches nicht gänzlich absehen, weil eine Auswahl unter den Symbolen 
stattfindet und ein Mädchen z.B. niemals eine Austernschale oder ein anderes 
weibliches Symbol zur Darstellung des männlichen Gliedes benützen wird. 

Die Symbolik erscheint uns wie eine libidinöse Verkleidung eines Objektes, 
das sich dann nicht mehr vom Subjekt unterscheidet. 

Hingegen können wir sagen, daß dieses Bedürfnis nach Symbolik durch das 
Bedürfnis nach Verbundenheit genährt wird. Man darf dabei nicht vergessen, 
daß es nicht leicht zu unterscheiden ist, ob das Kind die Dinge nebeneinander 
stellt oder sie symbolisiert (17); statt eine kausale Verbindung herzustellen, 
setzt es gewisse Tatsachen, die dieselbe affektive Bedeutung haben, nebenein- 
ander. Das ist nur die Folge der Auffassung von koexistenten Gegensätzen. 
Gerade diese veranlaßt die Kinder, nach umfassenden und subjektiven Schemen 
vorzugehen und sich nicht an die allgemein nachprüfbaren kausalen Binde- 
glieder zu halten. „Zwei gleichzeitig wahrgenommene Erscheinungen sind in 
der Tat zu einem Schema verwoben, das die Vorstellung nicht mehr zer- 
legt“ (18); oder wie Piaget an anderer Stelle sagt: „Einem Mangel objektiver 
Bindungen entspricht ein Übermaß subjektiver Bindungen“ (19). 

Da das Mädchen den Unterschied zwischen sich und dem Knaben nicht 
akzeptiert (was wieder nur ein Sonderfall des mangelnden Unterscheidungs- 
vermögens zwischen dem Ich und der umgebenden Welt ist), legt es alle mög- 
lichen Elemente der Realität im Sinne seiner Verbundenheit mit dem Penis 
aus. Man könnte sagen, daß ihm weniger an dem Besitz des Organs gelegen 
ist, als an der mit ihm verbundenen Aktivität. Daher die Verwendung aller 


Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 293 






































294 Raymond de Saussure 





Gegenstände, die dieser Aktivität zu dienen vermögen. Solange also die Funk- 
tion der Verbundenheit über die der Unterscheidung dominiert, verbleibt 
das Mädchen in dem oben beschriebenen unentschiedenen Zustand, in dem es 
die Tatsache ihrer Kastration sowohl kennt als auch nicht kennt. 

Man begreift nun wohl, welch außerordentliche Bedeutung für die Zukunft 
eines Mädchens jener Zeitpunkt haben kann, in dem es den anatomischen Ge- 
schlechtsunterschied feststellt. In der Periode der vorherrschenden Tendenz 
der Verbundenheit wird der Peniswunsch über das Kastrationsgefühl domi- 
nieren; im Alter des vorherrschenden Unterscheidungsvermögens, wird die 
Kastrationsidee ins Zentrum seiner Besorgnisse rücken. 

Beim normalen Mädchen verläuft die Entwicklung offenbar vom Stadium 
der Verbundenheit zum Stadium des Unterscheidungsvermögens. Von da an 
akzeptiert das Mädchen den Unterschied der Geschlechter und mit ihm die 
soziale Gleichberechtigung der weiblichen und männlichen Funktionen. Bei 
abnormaler Entwicklung zeigen sich dann an den erwachsenen Frauen zwei 
verschiedene Typen, je nachdem, ob das ursprüngliche, nicht vernarbte Schock- 
erlebnis in der Periode der Verbundenheit oder in der Periode des Unter- 
scheidungsvermögens stattgefunden hat. 

Ohne auf eine vollständige klinische Beschreibung einzugehen, wollen wir 
hier einige Unterschiede festhalten. 

Die an das Stadium der Verbundenheit fixiert gebliebene Frau zeigt vor 
allem maskuline Züge; sie ist nicht frigid, sie findet aber oft Gefallen an einer 
ihr selbst verderblichen Ambivalenz; sie weiß nicht, ob sie den Vorzug einem 
weibischen, psychisch kastrierten Manne geben soll, dessen Penis sie nicht zu 
fürchten hat, oder ob sie einen besonders potenten Mann wünscht, bei dem sie 
ihren phallischen Kult fortsetzen kann, indem sie dann Mann und Glied 
identifiziert. Im allgemeinen findet sie nur dann, wenn sie auf diesen zweiten 
Typ verfällt, von selbst das sexuelle Gleichgewicht. An einen weibischen Mann 
kann sich eine Frau dieser Art nicht anpassen, weil sie auf diesem Gebiet an 
ihren absoluten Urteilen festhält. Ein Mann ist für sie sexuell oder er ist es 
nicht. Sie kommt gar nicht zur Erfassung der verbindenden Logik und be- 
findet sich in der gleichen Situation wie das Kind, für das z.B. der Begriff 
„schwer“ qualitativ ein Absolutum darstellt. Für das Kind ist ein Gegenstand 
schwer oder leicht; er ist aber nicht schwer oder leicht im Vergleich mit 
anderen Gegenständen; ein Kilo Federn wird nach seinem Gefühl immer 
weniger wiegen als ein Kilo Blei. 

Die Frau, die an das Stadium des beginnenden Unterscheidungsvermögen 
fixiert geblieben ist, kommt von dem Schockerlebnis ihrer Kastration nicht 
los. Sie ist vor allem von Minderwertigkeitsgefühlen durchdrungen, die sie 
durch eine Reihe narzißtischer Haltungen kompensiert. Sie verträgt keine 








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Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 295 





Kritik und fühlt sich unablässig gezwungen, sich zu rechtfertigen; ihre Haltung 

ist dadurch beherrscht, daß sie ihre Kastration wahrnimmt, sie aber in ihren | 
eigenen Augen nicht wahr haben will. Ihren Schutz findet sie nicht mehr in 
der Verbundenheit mit der Libido des anderen Geschlechts, sondern in einer 
narzißtischen Überhebung. Im allgemeinen bleibt sie frigid und männlichen 
Forderungen gegenüber feindlich eingestellt. 

Von anderen Überlegungen ausgehend, unterscheidet Jones (20): 

1. Die protophallische Phase, in der das Kind glaubt, daß jedes mensch- 
liche Wesen einen Phallus besitze. 

2. Die deuterophallische Phase, in der das Kind die Menschheit in 
zwei Teile geteilt glaubt: in solche, die den Phallus besitzen und in solche, die 
ihn nicht besitzen. Die Erklärung, die sich das Kind für diesen Unterschied 
gibt, ist die Kastration. 

Nach den hier gegebenen Erklärungen kann es für sicher gelten, daß die 
Kastration dem kindlichen Denken von der künstlichen Herstellbarkeit aller 
Dinge entspricht. Nicht der Zufall kann das Geschlecht entscheiden, sondern 
nur ein Eingriff der Eltern. Man darf dabei nicht vergessen, daß „das Kind 
sich von den Eltern abhängig fühlt und sie als Ursache alles dessen ansieht, was 
es besitzt“ (21). 

Um nun auf das allgemeine Kastrationsgefühl im menschlichen Unbewußten 
zurückzukommen, können wir es einerseits durch die Koexistenz der Gegen- 
sätze in unserer Vorstellung erklären, die sich zu vereinigen trachten, ander- 
seits durch die T’atsache, daß auf die Phase der Verbundenheit, welche mit der 
phallischen Phase zusammenfällt, die Phase des Unterscheidungsvermögens 
folgt, welche das Fehlen des Penis feststellt, ohne die funktionelle Ursache be- 
greifen zu können. 

Ich sage „funktionelle Ursache“, denn das Denken des Kindes ist vor allem 
auf die Handlung gerichtet, und diese allein findet bei ihm Verständnis. Gerade 
deshalb kann die frühzeitige Erklärung der weiblichen Funktion günstig und 
befreiend wirken. 

Die Probleme des Peniswunsches und der Kastration haben wir nun aufge- 
klärt und setzen jetzt unsere eigentliche Arbeit fort, die den Inhalt des kind- 
lichen Denkens, wie es durch die Analyse aufgedeckt wird, in den Rahmen der 
Logik einpassen soll. 

Wir haben gesehen, daß das Mädchen, sobald es das Alter des Unter- 
scheidungsvermögens erreicht und seinen Penismangel wahrgenommen hat, 
dazu neigt, seine Mutter für seine Minderwertigkeit verantwortlich zu machen. 

Daß dies allgemein zutrifft, ist zwar überraschend, in Wirklichkeit aber 
nicht so sehr erstaunlich. Das Kind ist noch zu jung, um eine funktionelle 
Erklärung auffassen zu können; es befindet sich, im Gegenteil, in jenem Alter, 


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nee 









































296 Raymond de Saussure 





in dem alles als künstlich hergestellt gilt. Anderseits fehlt dem Kinde bis 
zum Alter von 7 bis 8 Jahren die Erkenntnis des Zufalls völlig. 


Piaget schreibt darüber: „Bis dahin wird die Welt aufgefaßt als ein Zu- 
sammenwirken von Absichten und wohlgeregelten, gewollten Handlungen; 
für zufälliges Zusammentreffen und für Unerklärlichkeiten ist kein Raum ge- 
geben. Alles läßt sich rechtfertigen, außer die Berufung auf Willkür, die nicht 
das Äquivalent des Zufalls, sondern des Wohlgefallens allmächtiger Kräfte 
ist“ (22). Nun, diese guten Mächte sind die Eltern; und wenn das Mädchen 
seine Mutter seiner Benachteiligung wegen anklagt, so geschieht das aus dem 
Gefühl, daß diese es benachteiligt habe. Diese Auffassung entspricht auch 
durchaus der kindlichen Vorstellung von der künstlichen Entstehung aller 
Dinge. 

Aus denselben Gründen glaubt das Mädchen, daß sein Vater ihm ein Kind 
oder einen Penis geben könne. 

In dieser Phase erscheint nichts unmöglich. Wenn das Mädchen dann mit 
Enttäuschung feststellen muß, daß der Vater ihm weder den Penis noch ein 
Kind bringt, regrediert es oft genug auf die narzißtisch-analen Positionen und 
gibt dem Stuhl die Bedeutung dieses zweifachen Wunsches. 


Wir wollen hier einige Fragmente aus einer Krankenanalyse einschalten, die 
uns ein klares Bild der hier beschriebenen Mechanismen geben sollen, und 
greifen einige uns typisch erscheinende Vorfälle aus der Behandlung heraus. 


Alice hat einen um zwei Jahre jüngeren Bruder, der an einem Bruch leidet und 
ein Bruchband tragen muß. Sie legt es ihm selbst an und zeigt dabei ihr Unvermögen 
zur Unterscheidung nach zwei Richtungen: sie verwechselt den Bruch mit dem 
Penis und ihren Bruder mit sich selbst. Sie nimmt den Bruch für sich in Anspruch. 
Dieses Unterscheidungsunvermögen überträgt sich auch auf die Sprache. Sie sagt 
nicht „ich“, sondern „man“, was als „mein Bruder und ich“ zu verstehen ist. Be- 
merkenswerterweise gebraucht sie dieses „man“ nicht, wenn sie von sich und ihrer 
Schwester spricht. 

Zwanzig Jahre später, nach ihrer Verheiratung, nimmt sie die gleiche Gewohnheit 
wieder auf und gebraucht das „man“ für sich und ihren Gatten. Daß sie sich wirk- 
lich von ihrem Gatten nicht unterscheiden und mit dem Penis verbunden bleiben 
will, beweisen uns die folgenden Tatsachen: ı. Selbst in der Analyse gebraucht die 
Patientin selten das Wort „ich“. Sie überspringt es. Ihre Assoziationen folgen 
einander etwa so: „Heute nach Bern gegangen, mit meinem Mann gestritten, nicht 
zufrieden. Sehe alles verkehrt. Möchte alles vernichten. Will nicht in der Analyse 
arbeiten“ usw. Diese Sprache ist nicht einfach ein Infantilismus, sie ist eine Weigerung, 
von sich selbst Kenntnis zu nehmen. 2. Um zu betonen, daß ihr Mann und sie 
keinen Unterschied zeigen, zwingt sie ihn zuweilen, stundenlang an ihrer Seite zu 
bleiben, und das ganz plötzlich, weil sie sich ohne ihre andere Hälfte zu geängstigt 
fühlt. Ebenso geschieht es, daß sie, bei Freunden zu Tisch geladen, ihren Mann an 
ihrer Seite haben will. Sie kann es keinesfalls ertragen, daß er ihr gegenüber sitzt. 
3. In ihren Beziehungen zu ihrem Mann „übernimmt sie die Funktion“, wie sie sich 














Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 297 





ausdrückt. Er darf nur handeln, wenn sie es will. Es hat danach bei Alice eine 
Phase der Verbundenheit gegeben; als aber ihr Bruder im Alter von 7 Jahren an 
Bruch operiert wurde, interessierte sie sich nicht mehr für ihn. In einer Periode 
des Unterscheidungsvermögens gewann also die Kastrationsangst die Oberhand. 
Gleichzeitig zeigt sich bei ihr aber ein Rachebedürfnis: der Wunsch, „die Garnitur“ 
ihres Bruders abzubeißen. Während der Ferien werden viele Stunden damit ver- 
bracht, Schnecken in den Wäldern mit systematischen und wohl vorbereiteten 
Schlägen zu zerschmettern. Dann reißt sie ihrer Puppe den Arm aus und lebt fortan 
in entsetzlicher Angst, daß die Zigeuner sie mitnehmen und ihr dasselbe antuen 
könnten. Nachdem alle Bienen mit Ausnahme der Königin ihrer Meinung nach 
männlich sind, sucht sie alle toten Bienen, die sie finden kann, zusammen, richtet 
einen kleinen Scheiterhaufen auf und verbrennt sie. 


Die Aktivität dieser zweiten Phase ist wie man sieht ganz verschieden von 
der der ersten. Der Phase der pallischen Verbundenheit folgt eine Phase der 
Aggression gegen den Penis. 


Mit 12 Jahren verliert Alice ihre Mutter, eine frigide und religiöse Frau, die an 
einer Angstneurose gelitten zu haben scheint. Der Reinlichkeitszwang der Mutter 
äußert sich unter anderm in der Manie, ihren Kindern Klistiere zu geben und ihre 
Töchter daran zu gewöhnen, ständig ein Gegengift gegen Schlangenbisse bei sich zu 
tragen. 

Vom elften Jahr bis zu ihrer Heirat scheint sich Alice mit der toten Mutter 
identifiziert und die Sexualität aus ihrem Leben verbannt zu haben. Der Gatte, den 
sie schließlich erwählte, ist eine Vaterimago; ein Mann, der sie mehr beschützt als 
befriedigt. 

Die ersten sexuellen Beziehungen sind schwierig und die Regression tritt ein, 
sobald Alice schwanger ist. Sie zeigt unbeherrschbare Brechanfälle, beginnt einen 
Hungerstreik und verfällt in einen deliranten Zustand. Sie fleht ihre Umgebung an, 
die Schwangerschaft zu unterbrechen; ihrem Wunsche wird aber nicht stattgegeben. 

Im Alter von 3 Jahren hatte Alice zum ersten Male einen Hungerstreik versucht. 
Ihre Mutter war nach ihrer letzten Schwangerschaft sehr stark geblieben und Alice 
hatte entsetzliche Abscheu vor dem enormen Körper. Beim Essen lief sie Gefahr, 
schwanger zu werden (infantile Auffassung der Schwangerschaft); nun wollte sie 
aber einen Penis und nicht ein Kind. Jeder Stuhlgang brachte sie außer sich; sie 
stellte sich jedesmal vor, daß sie damit einen Phallus verliere. 

Das Bewußtsein ihrer Schwangerschaft mußte alle ihr infantilen Ideen wachrufen. 
Daraus folgte, daß sie bei der Entbindung keineswegs ihr Kind erkannte, sondern sich. 
einbildete, das ersehnte Glied endlich zu besitzen. Sie kleidet dieses Kind hundertmal 
am Tage an und aus. Sie gibt ihm zu trinken, bringt es darauf aber wieder zum 
brechen und denkt, es sei ihr ejakulierender Penis. Ihre Brüste, die sie nur als Ersatz 
für die ersehnte „Garnitur“ betrachtet hat, haben keinen Wert mehr für sie, Sie 
läßt einen Chirurgen kommen und bittet ihn, sie ihr wegzunehmen. 

Mit einem Wort, die Phase der Verbundenheit ist zu Gänze wieder erwacht. 


Dieser Fall scheint mir zur Illustrierung der Ideen Piagets besonders be- 
weiskräftig zu sein. Wenn wir vom Standpunkt des Unbewußten be- 


rechtigt sind, von einer libidinösen Besetzung als dem Resultat einer 
























































298 Raymond de Saussure 





Affektprojektion auf dieses oder jenes Objekt zu sprechen, dann kann man 
vom Standpunkt der Bewußtseinspsychologie und der logischen Denkformen 
eines Kindes oder eines Kranken berechtigterweise von einem Unterscheidungs- 
unvermögen sprechen. 

In dem Augenblick, in dem Alice ihr Kind als Penis auffaßte, war ihre Re- 
gression so vollständig, daß sie Symbol und Realität nicht mehr unterscheiden konnte. 
Im übrigen liefert unsere Patientin fortwährend neue Beweise dafür. Kaum befindet 
sie sich in einer Periode der Aggressivität gegen ihren Gatten, müssen sofort alle 
Möbel, die ihm gehören, verkauft werden. Aus ähnlichen Gründen hat sie alles, was 
ihrer Mutter gehörte, wegschaffen lassen. Nach der ersten Analysenperiode hat sie 
alle Kleider, die sie im Laufe der Behandlung getragen hatte, verbrannt. Ich könnte 
Beispiele dieser Art unbegrenzt weiter aufzählen. 

Bei Alice sehen wir besonders deutlich, wie schlecht sich das Gegensätzliche aus- 
schließt. Einerseits gesteht sie sich ihre Kastration ein und leidet darunter, ander- 
seits findet sie keinen Unterschied zwischen sich und ihrem Bruder oder ihrem Gatten. 
Daher kommen auch ihr gleichzeitig männliches und weibliches Verhalten, ein ver- 
zweifeltes Minderwertigkeitsgefühl und eine unfaßbare männliche Sicherheit. Das 
Realitätsprinzip beraubt sie des Penis, das Lustprinzip gestattet ihr jedoch ständig eine 
völlige Verbundenheit mit der Männlichkeit. 

Darin liegt eine Bestätigung für eine Behauptung Piagets aus dem Jahre 
1924: „Für das kindliche Denken, das egozentrisch bleibt, ist von da an keine 
Hierarchie unter den verschiedenen Realitäten mehr möglich und dieses Fehlen 
der Hierarchie wird mangels eines fortlaufenden Kontaktes mit dem Denken 
der andern nicht einmal empfunden; in gewissen Augenblicken glaubt das in 
seinem Ich eingeschlossene Kind an seine Fiktion und macht sich über das, 
was es früher glaubte, lustig, in anderen Augenblicken, vor allem wenn es 
Kontakt mit dem Denken der andern gewinnt, vergißt es, was es eben ge- 
glaubt, und gelangt zu dem andern Pol jener Realität, die sich ihm dar- 
‚stellt‘ (23). 

Wir müssen nun noch einige Aspekte der kindlichen Geburtstheorien unter- 
suchen. Wenn sie keine der Kenntnis der Erwachsenen entlehnten Elemente 
enthalten, beruhen sie auf dem folgenden Schluß: das Kind ist im Bauche der 
Mutter gewesen. Die Exkremente sind in meinem Bauche. Exkremente und 
Kind sind also etwas Gleiches. Diese Folgerungen sind im Denken des Kindes 
möglich, weil dieses Denken nicht infolge Induktion und Deduktion vor sich 
geht, sondern, um den Ausdruck Sterns zu gebrauchen, durch Transduktion. 
Das Kind sucht seine Urteile nicht durch die nötigen Bindeglieder zu ver- 
knüpfen. „Eine Absicht allein ohne jeden Akt des Urteilens, oder eine Wirkung 
auf die Realität allein gibt solchen Urteilen im Augenblick ihren Platz. Über 
diese äußerliche Systematik hinaus gibt es aber keine bewußten Widersprüche 
zwischen ihnen und keine aufzeigbaren Verbindungen“ (24). 

In diesem Stadium bleibt der Widerspruch eher ein motorisches oder Ge- 




















Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 299 





fühlsphänomen als ein gedankliches und kommt nicht über die Bewußtseins- 
schwelle. Beim Kinde stellen sich nun Widersprüche bei allem ein, was ihm ge- 
heimnisvoll und verboten ist, bei allem, woran es der Erwachsene mit den 
Worten „das ist schmutzig“ hindert. Es bringt also in verschiedenen Kom- 
binationen die Sexualorgane, die Exkremente, die Geburt der Kinder und, 
wenn es davon sprechen gehört hat, den Sexualakt miteinander in Verbin- 
dung. Wenn wir nun an diese Phänomene bei erwachsenen Patienten heran- 
gehen, die wie Alice ihre infantilen Einstellungen bewahrt haben, müssen wir 
uns hüten, sie in das System der Logik der Erwachsenen bringen zu wollen. 
Sie bewahren ausgesprochen den Charakter koexistenter Gegensätze, enthalten 
eine Menge gefühlsmäßiger Widersprüche, die sich durch Erklärungen, wie sie 
uns gemäß sind, nicht auflösen lassen. 

Die Psychoanalyse erklärt das Fortdauern infantiler Ideen beim Erwachsenen 
durch den Mechanismus der Verdrängungen. Viele dieser Ideen werden aber 
niemals gänzlich verdrängt und beunruhigen das Kind ebenso wie den Jugend- 
lichen und den Erwachsenen. Sie bewahren indessen ihren infantilen Cha- 
rakter, denn der Kranke spricht nicht von ihnen. Es handelt sich also um 
eine Gruppe nicht sozialisierter Ideen, die infolgedessen alle Charakteristika 
egozentrischen Denkens beibehalten. 

Die Beobachtung zeigt tatsächlich, daß ein Kind, das zur Objektivierung 
seines Denkens auf dem einen Gebiet gelangt ist, darum noch nicht allent- 
halben auf andern Gebieten vorwärtskommen muß. 

Wir konnten auf jedem Gebiete besondere Stadien unterscheiden, es wäre 
jedoch außerordentlich schwierig, allgemeine, geschlossene Stadien aufzu- 
stellen, vor allem deshalb, weil das Kind während der ersten Stadien unein- 
heitlich bleibt. Im Alter, in dem das Kind in gewisser Hinsicht noch ani- 
mistisch oder dynamistisch eingestellt ist, oder noch glaubt, daß alle Dinge ‚„ge- 
macht“ seien, ist es nach anderen Richtungen schon darüber hinaus. Das 
Kind zieht aus einem Fortschritt nicht Folgerungen auf allen Gebieten, oder 
aber dieser Fortschritt kann eines Tages zu einem Rückschlag führen (25). 


Diese Umstände beweisen von neuem, wie notwendig es ist, dem Kinde die 
Möglichkeit der freien Aussprache über sexuelle Probleme zu geben, damit es 
sein Denken auch in dieser Richtung sozial gestalten kann. 

Vom therapeutischen Standpunkt aus glaube ich nicht, daß es genügt, den 
Patienten über den Inhalt seines infantilen Denkens aufzuklären; man muß 
ihm vielmehr auch Struktur und Mechanismen dieses Denkens deutlich machen. 

Vom Standpunkt der Behandlung aus darf man keinesfalls die Notwendig- 
keit aus dem Auge verlieren, das Denken des Patienten aus der infantilen 
Form zur gereiften Form des Erwachsenen hinüberzuführen. 






































r———————— m Te nn, 


300 Raymond de Saussure 








Zu diesem Zwecke wollen wir hier über einige Erfahrungen berichten, uns 
vorerst aber die Etappen der Denkentwicklung ins Gedächtnis rufen, wie sie 
Piaget beschrieben hat (26): 

„Die Geschichte der intellektuellen Entwicklung des Kindes ist zum guten 
Teil die Geschichte der fortschreitenden Sozialisierung eines individuellen 
Denkens, das sich vorerst gegen die soziale Anpassung wehrt, später aber 
mehr und mehr unter den Einfluß der Erwachsenenumgebung gerät... Wie 
geht also diese Sozialisierung vor sich?... Wir begnügen uns mit der Auf- 
zählung der drei Punkte, die dabei zu berücksichtigen sind: das Universum, 
dem sich das Kind anpaßt, das Denken des Kindes selbst und die Gesellschaft 
der Erwachsenen, die dieses Denken beeinflussen. Die Mehrzahl der Ge- 
danken ist vom Erwachsenen beeinflußt und nicht von ihm diktiert. Das 
Kind verarbeitet, was es aufnimmt, vermöge einer ihm eigenen Chemie des 
Geistes. Daraus entstehen dann die realen Konflikte zwischen dem Denken 
des Kindes und dem der Umgebung, Konflikte, die zur systematischen Ent- 
stellung der Vorstellungen der Erwachsenen im Geiste des Kindes führen. 
Man bemerkt bald, daß die Sprache der Erwachsenen für das Kind eine oft 
undurchsichtige Realität darstellt und daß eine der Denktätigkeiten darin 
besteht, sich an diese Realität anzupassen, ebenso wie eine Anpassung an die 
physische Realität stattfinden muß. Diese für das verbale Denken charakte- 
ristische Anpassung ist ursprünglich und setzt Schemata sui generis bei der 
geistigen Verarbeitung voraus. So kann also ein Begriff, auch wenn er ein- 
mal aus einem Wort der Erwachsenen geschöpft ist, doch durchaus kindlich 
sein; das Wort kann für die Fassungskraft des Kindes so undurchsichtig ge- 
wesen sein, wie ein unverständliches physisches Phänomen; das Kind hat das 
Wort nur mittels seiner eigenen geistigen Struktur entstellt und assimiliert, 
um es aufnehmen zu können.“ 

Im Verlaufe einer Analyse beobachtet man die Umbildung einer Reihe 
infantil gebliebener Begriffe, die ihr Wachstum nachholen wollen. An diesem 
Prozeß, den der Analytiker durch seine Deutungen zu beschleunigen sucht, 
ist leicht zu ersehen, daß der Analysand vielfach gezwungen ist, sich nicht 
nur einer neuen Realität anzupassen, sondern auch einem neuen Wortschatz; 
nicht weil seine Ausdrücke von denen des Analytikers verschieden sind, son- 
dern weil er ihnen einen verschiedenen Sinn unterlegt. Als ganz banales Bei- 
spiel brauchen wir nur das Wort „Sexualität“ zu nehmen; für den Analysan- 
den, der die Sexualität verdrängt, hat das Wort eine ganz andere Bedeutung, 
als für den Analytiker, der sie kennt. Der erstere wird sich zuerst der Auf- 
fassung der Erwachsenen anpassen und dann erst dem Sexualleben. Die Be- 
deutung des Wortes wird ihm aber nicht klar werden, solange er selbst nicht 
zu einem normalen Sexualleben gelangt ist, genauer ausgedrückt, er wird 











glauben, sie schon vorher erfaßt zu haben, aber erst nach der Erfahrung wird 
er hinzufügen: „Erst jetzt habe ich verstanden.“ 


a 
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 301 





Nehmen wir ein anderes Beispiel. Das Kind nimmt seinen Wunsch für die 
Realität und verwechselt auch leicht seine Absicht mit der Realisierung dieser 
Absicht. Es kommt vor, daß es voll guten Willens ist zu arbeiten, und dabei N 
seine Arbeit doch vernachlässigt. Wenn es dann deswegen auf unverständige } 
Weise gescholten wird, wird es sich sicherlich in seiner Eigenliebe gekränkt 
fühlen und den Vorwurf ungerecht finden. Ein Stillstand auf dem betreffen- 
den Arbeitsgebiet ist dann die Folge. Das Kind wird versucht sein, den Wert 
seiner Absicht aus narzißtischer Abwehr zu überschätzen und der Realisierung 
seiner Absicht immer weniger Bedeutung beilegen. Wenn es theoretisch auch 
fähig ist, die beiden Dinge zu unterscheiden, wird es sie in der Praxis doch 
verwechseln, und erscheint infolgedessen unaufrichtig. Das echte Gefühl (Ab- 
scheu vor der Arbeit) wird verdrängt und der Kranke lebt in einem sentimen- 
talen Wortschwall, mit dem er sich aus seiner Umgebung vollgesogen hat und 
den er für seine wahren Gefühle hält. 





Im Verlauf einer Analyse ist mir ein in dieser Hinsicht besonders typischer Vor- 
fall untergekommen. Ein Patient, der selbst kein Geld besaß und dessen Analyse von 
einem seiner Verwandten bezahlt wurde, bezeigte tiefes Bedauern wegen einer Honorar- 
rechnung von 15 Francs, die zwei Jahre unbeglichen geblieben war. Da er auch sonst 
eine Menge Schulden hatte, schien mir dieses Bedauern eine negative Übertragung zu 
maskieren. Ich wollte die Echtheit seines Gefühles prüfen und bat ihn, mir zum 
Ausgleich seiner Schuld ein Referat über ein holländisches Werk zu schreiben. Nach 
68 Tagen brachte mir der Patient einen kleinen Aufsatz, den er, ohne das Werk zu 
lesen, geschrieben hatte, einen banalen Kommentar des Titels und des Inhalts- 
verzeichnisses. Der Patient hatte sich bei Übernahme der Arbeit ganz aufrichtig bei 
mir bedankt, gerührt darüber, daß endlich jemand zu ihm Vertrauen hatte. Er 
wußte selbst nichts um seine feindliche Einstellung und nahm seine unter dem 
sozialen Zwang stehenden Absichten für seine realen Gefühle. 

Es ist leicht ersichtlich, daß bei einem solchen Menschen der Begriff der 
Aufrichtigkeit nicht dieselbe Bedeutung haben kann wie bei einem, der sich 
seiner Gefühle bewußt ist. Für den einen bildet die Absicht das Kriterium der 
Aufrichtigkeit, für den anderen die Realisierung seiner Absicht. Die zwei Per- 
sonen sprechen eine verschiedene Sprache und können sich solange nicht 
wirklich verständigen, als sie den Ausdrücken, die sie verwenden, verschiedene 
Bedeutung geben. 


Aus diesem Beispiel erhellt eine für die Psychologie der intellektuellen Ent- 
wicklung wie für die Psychoanalyse gleich interessante Tatsache. Sie zeigt 
nämlich einerseits einen Berührungspunkt, anderseits einen Trennungspunkt 
der beiden Methoden; einen Berührungspunkt dadurch, daß die Analyse hier 
eine der typischen egozentrischen Haltungen offenbart, wie sie auch die auf 



































302 Raymond de Saussure 





die Kinderforschung angewandte klinische Methode aufzeigt; einen Trennungs- 
punkt in der Hinsicht, daß die klinische Methode ständig die Beobachtung 
der Tatsachen im Auge hat, während die Analyse die Mechanismen und die 
determinierenden Beweggründe aufhellen will. Gewiß vernachlässigt auch die 
genetische Methode den Faktor des sozialen Zwanges nicht, sie zieht aber die 
besondere Determiniertheit gewisser Verzögerungen in der Entwicklung nicht 
in Betracht. Das liegt wohl daran, daß die beiden Methoden nicht dasselbe 
Ziel verfolgen. Die genetische Methode will die Reihenfolge der Erwerbungen 
des Kindes beobachten, während die Psychoanalyse die Stockungen in seiner 
Entwicklung und deren Ursachen erklären will. Damit ist nicht gesagt, daß 
die beiden Methoden einander nichts zu geben hätten. Die Analyse zeigt uns 
zum großen Teil die Gründe, warum das Kind nicht auf der ganzen Linie von 
einem Stadium ins andere übertritt. Die klinische Methode der Kinderbeob- 
achtung leistet der Analyse den großen Dienst, daß sie zeigt, auf welchen 
Wegen die normale Entwicklung von einem Stadium in das andere übergeht; 
sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die zweifache Anpassung an die Sprache 
und an die Realität. Ich halte diese Unterscheidung für wichtig und glaube, 
daß der Analytiker sie in den Deutungen, die er dem Kranken gibt, nicht ver- 
nachlässigen darf. 

Wir haben eben gesehen, daß die Analyse denselben Sachverhalt (die ego- 
zentrische Haltung) ebenso erklären kann wie die klinische Methode. Sie be- 
stätigt auch die Tatsache, daß der Übergang von einem Stadium ins andere 
nur langsam und über verschiedene Zwischenstufen geschieht. Ein Beispiel 
hiefür ist in dem folgenden Vorfall gegeben: 

Zwei Tage, nachdem mir der oben erwähnte Patient sein Referat übergeben hatte, 
berichtet er den folgenden Traum: „Ich bin in einer Klasse und Sie sind der Pro- 
fessor, obwohl Sie einen Arztemantel anhaben. Sie lehren holländische Sprache und 
ich frage mich, ob Sie mich vom Unterricht dispensieren werden, da ich diese Sprache 
besser beherrsche als Sie.“ 

Im Anschluß an den Traum gesteht der Patient, daß er das Buch nicht gelesen 
hat, was einen Fortschritt in seiner Aufrichtigkeit bedeutet; im Traum aber bleibt 
das Geständnis unvollständig. Es handelt sich nicht um einen Verstoß (was der 
Angst vor der Zurückweisung der Arbeit durch den Analytiker entsprechen würde), 
sondern um eine Dispensierung. Der Träumende verdrängt das durch die Mittel- 
mäßigkeit seiner Arbeit und durch seine Faulheit hervorgerufene Minderwertigkeits- 
gefühl. Er läßt nur die Narbe der narzißtischen Kränkung erkennen. Er ist dispen- 
siert, weil er besser holländisch kann als der Analytiker. Von neuem wird er für 
seine Absicht belohnt und nicht für die Qualität seiner Leistung (Realisierung). 


Abschließend können wir sagen, daß die beiden Methoden bezüglich des 
Übergangs des kindlichen Denkens zum Denken der Erwachsenen zu über- 
einstimmenden Resultaten kommen. Da ihr Ziel aber verschieden ist, legt 
jede von ihnen den Nachdruck auf eine andere Kategorie von Tatsachen. 











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Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 303 





Aufrichtung des Über-Ichs beim Knaben 


Die Vorgänge, welche das Über-Ich des Mädchens formen, sind denen, die i 
wir beim Knaben darstellen, sehr ähnlich, nur daß die Rolle des Vaters bei 
diesem durch die der Mutter ersetzt wird. Für das Problem, das uns be- 
schäftigt, genügt es, die diesbezüglichen Vorgänge bei einem der beiden Ge- | 
schlechter zu untersuchen. 

Rufen wir uns die Theorien Freuds in Erinnerung, wie sie in „Das Ich und 
das Es‘ dargestellt sind (27). 


„Uranfänglich in der primitiven oralen Phase des Individuums sind Objekt- 
besetzung und Identifizierung wohl nicht voneinander zu unterscheiden. 
Späterhin kann man nur annehmen, daß die Objektbesetzungen vom Es aus- 
gehen, welches die erotischen Strebungen als Bedürfnisse empfindet... Soll 
oder muß ein solches Sexualobjekt aufgegeben werden, so tritt dafür nicht 
selten die Ich-Veränderung auf, die man als Aufrichtung des Objekts im Ich 
wie bei der Melancholie beschreiben muß; die näheren Verhältnisse dieser Er- 
setzung sind uns noch nicht bekannt. Vielleicht erleichtert oder ermöglicht 
das Ich durch diese Introjektion, die eine Art von Regression zum Mechanis- 
mus der oralen Phase ist, das Aufgeben des Objekts. Vielleicht ist diese Identi- 
fizierung überhaupt die Bedingung, unter der das Es seine Objekte auf- 
gibt“ (28). 

„Wie immer sich auch die spätere Resistenz des Charakters gegen die Ein- 
flüsse aufgegebener Objektbesetzungen gestalten mag, die Wirkungen der 
ersten, im frühesten Alter erfolgten Identifizierungen werden allgemeine und 
nachhaltige sein. Dies führt zur Entstehung des Ich-Ideals zurück, denn hinter 
ihm verbirgt sich die erste und bedeutsamste Identifizierung des Individuums, 
die mit dem Vater der persönlichen Vorzeit. Diese scheint zunächst nicht 
Erfolg oder Ausgang einer Objektbesetzung zu sein, sie ist eine direkte und 
unmittelbare und frühzeitiger als jede Objektbesetzung. Aber die Objekt- 
wahlen, die der ersten Sexualperiode angehören und Vater und Mutter be- 
treffen, scheinen beim normalen Ablauf den Ausgang in solche Identifi- 
zierungen zu nehmen und somit die primäre Identifizierung zu ver- 
stärken“ (29). 

Zum besseren Verständnis und zur Vervollständigung dieser Stelle möchte 
ich, ehe wir die Untersuchung des Über-Ichs fortsetzen, die Ideen Freuds 
über die Identifizierung ins Gedächtnis rufen. Sie sind im 7. Kapitel von 
»Massenpsychologie und Ich-Analyse“ enthalten (30). 





„Die Identifizierung ist der Psychoanalyse als früheste Außerung einer Ge- 
fühlsbindung an eine andere Person bekannt. Sie spielt in der Vorgeschichte 
des Odipuskomplexes eine Rolle. Der kleine Knabe legt ein besonderes Inter- 









































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304 .. Raymond de Saussure 





esse für seinen Vater an den Tag, er möchte so werden und so sein wie er, in 
allen Stücken an seine Stelle treten. Sagen wir ruhig: er nimmt den Vater zu 
seinem Ideal. Dies Verhalten hat nichts mit einer passiven oder femininen 
Einstellung zum Vater (und zum Manne überhaupt) zu tun, es ist vielmehr 
exquisit männlich“ (31). 

»... Gleichzeitig mit dieser Identifizierung mit dem Vater, vielleicht sogar 
vorher, hat der Knabe begonnen, eine richtige Objektbesetzung der Mutter 
nach dem Anlehnungstypus vorzunehmen... Die beiden (Bindungen) be- 
stehen eine Weile nebeneinander, ohne gegenseitige Beeinflussung oder Störung. 
Infolge der unaufhaltsam fortschreitenden Vereinheitlichung des Seelenlebens 
treffen sie sich endlich und durch dies Zusammenströmen entsteht der normale 
Odipuskomplex. Der Kleine merkt, daß ihm der Vater bei der Mutter im 
Wege steht; seine Identifizierung mit dem Vater nimmt jetzt eine feindselige 
Tönung an und wird mit dem Wunsch identisch, den Vater auch bei der 
Mutter zu ersetzen“ (32). 

Im weiteren Verlauf dieser Identifizierung kann der Vater auch zum 
Liebesobjekt genommen werden. „Es ist leicht, den Unterschied einer solchen 
Vateridentifizierung von einer Vaterobjektwahl in einer Formel auszusprechen. 
[m ersten Falle ist der Vater das, was man sein, im zweiten das, was man 
haben möchte“ (33). 

„Das aus diesen drei Quellen Gelernte können wir dahin zusammenfassen, 
daß erstens die Identifizierung die ursprünglichste Form der Gefühlsbindung 
an ein Objekt ist, zweitens, daß sie auf regressivem Wege zum Ersatz für eine 
libidinöse Objektbindung wird, gleichsam durch Introjektion des Objekts ins 
Ich, und daß sie drittens bei jeder neu wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit 
einer Person, die nicht Objekt der Sexualtriebe ist, entstehen kann“ (34). 

„Da das Über-Ich ‚der Erbe des Odipuskomplexes‘ (35) ist, wäre erst die 
Entwicklung dieses Komplexes festzulegen. Wir können aber immerhin als 
gegeben annehmen, daß der Knabe dank seiner bisexuellen Anlage durch eine 
Phase der libidinösen Bindung an den Vater geht, auf die er später verzichten 
muß und die dann gemäß den oben beschriebenen drei Mechanismen in Identi- 
fizierung übergeht.“ 

Sobald sich der Knabe voll in der Odipusphase befindet, nimmt „die Vater- 
identifizierung eine feindselige Tönung an, sie wendet sich zum Wunsch, den 
Vater zu beseitigen, um ihn bei der Mutter zu ersetzen. Von da an ist das Ver- 
hältnis zum Vater ambivalent; es scheint, als ob die in der Identifizierung von 
Anfang enthaltene Ambivalenz manifest geworden wäre. Die ambivalente 
Einstellung zum Vater und die nur zärtliche Objektstrebung nach der Mutter 
beschreiben für den Knaben den Inhalt des einfachen, positiven Odipus- 
komplexes.“ 





7 











urn 





Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 305 





„Bei der Zertrümmerung des Odipuskomplexes muß die Objektbesetzung 
der Mutter aufgegeben werden. An ihre Stelle kann zweierlei treten, entweder 
eine Identifizierung mit der Mutter oder eine Verstärkung der Vateridentifi- 
zierung. Den letzteren Ausgang pflegen wir als den normaleren anzusehen, er 
gestattet es, die zärtliche Beziehung zur Mutter in gewissem Maße festzuhalten. 
Durch den Untergang des Odipuskomplexes hätte so die Männlichkeit im 
Charakter des Knaben eine Festigung erfahren“ (36). 

Die Identifizierung mit dem Vater hat also nach der vorausgehenden Be- 
gründung die Neutralisierung der Aggression zum Ziel. 

„Da die Feindseligkeit nicht zu befriedigen ist, stellt sich eine Identifizierung 
mit dem anfänglichen Rivalen her. Beobachtungen an milden Homosexuellen 
stützen die Vermutung, daß auch diese Identifizierung Ersatz einer zärtlichen 
Objektwahl ist, welche die aggressiv-feindselige Einstellung abgelöst hat“ (37). 

Ehe wir unsere Ausführungen über das Über-Ich abschließen, wollen wir 
einen kurzen Abschnitt über die Ambivalenz einschalten, die in der Freud- 
schen Theorie eine so wichtige Rolle spielt. Der Ausdruck ist, nebenbei gesagt, 
von Bleuler geprägt worden. 

In den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ stellt Freud 
fest (38), daß die Ambivalenz beim Knaben auf Grund seines Konfliktes mit 
dem Vater entsteht. Es handelt sich dabei um ein ganz primitives Gefühl, in 
welchem Liebe und Haß nebeneinander stehen, was beim Erwachsenen unaus- 
bleiblich zu einem Konflikt führen müßte. Diese Ambivalenz findet man beim 
Erwachsenen aber im Unbewußten wieder. Mit fortschreitendem Alter läßt 
das Kind die ambivalenten Mechanismen mehr und mehr fallen. In gleicher 
Weise hat sich auch die Menschheit mehr und mehr von den Tabu-Beziehun- 
gen zurückgezogen, die für primitive Kulturen charakteristisch und im Grunde 
ambivalenter Natur sind (39). 

Nach der Klärung des Begriffes Ambivalenz kehren wir zur Untersuchung 
des Über-Ichs zurück und legen seine Rolle gegenüber dem Odipuskomplex 
genauer fest. 

„Das Über-Ich ist aber nicht einfach ein Residuum der ersten Objektwahlen 
des Es, sondern es hat auch die Bedeutung einer energischen Reaktionsbildung 
gegen dieselben. Seine Beziehung zum Ich erschöpft sich nicht in der 
Mahnung: So (wie der Vater) sollst du sein, sie umfaßt auch das Verbot: So 
(wie der Vater) darfst du nicht sein, das heißt, nicht alles tun, was er tut; 
manches bleibt ihm vorbehalten. Dies Doppelangesicht des Ich-Ideals leitet 
sich aus der Tatsache ab, daß das Ich-Ideal zur Verdrängung des Odipus- 
komplexes bemüht wurde, ja, diesem Umschwung erst seine Entstehung dankt. 
Die Verdrängung des Odipuskomplexes ist offenbar keine leichte Aufgabe ge- 
wesen. Da die Eltern, besonders der Vater, als das Hindernis gegen die Ver- 

Imago XX/3 20 


























306 Raymond de Saussure 





wirklichung der Odipuswünsche erkannt werden, stärkte sich das infantile 
Ich für diese Verdrängungsleistung, indem es dies selbe Hindernis in sich auf- 
richtete. Es lieh sich gewissermaßen die Kraft dazu vom Vater aus, und diese 
Anleihe ist ein außerordentlich folgenschwerer Akt. Das Über-Ich wird den 
Charakter des Vaters bewahren, und je stärker der Odipuskomplex war, je 
beschleunigter (unter dem Einfluß von Autorität, Religionslehre, Unterricht, 
Lektüre) seine Verdrängung erfolgte, desto strenger wird später das Über-Ich 
als Gewissen, vielleicht als unbewußtes Schuldgefühl über das Ich herr- 
schen .. .“ (40). 

„Fassen wir die beschriebene Entstehung des Über-Ichs nochmals ins Auge, 
so erkennen wir es als Ergebnis zweier höchst bedeutsamer biologischer Fak- 
toren, der langen kindlichen Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Menschen 
und der Tatsache seines Odipuskomplexes, den wir ja auf die Unterbrechung 
der Libidoentwicklung durch die Latenzzeit, somit auf den zweizeitigen An- 
satz seines Sexuallebens zurückgeführt haben“ (41). 

Alexander hat die Entstehung des Über-Ichs weit einfacher erklärt (42). 

Das Kind gerät in Konflikt mit der Außenwelt: gewöhnlich entsteht dieser 
erste Konflikt bei der Reinlichkeitserziehung. Das Kind lernt, daß es bei 
seiner Umgebung Unzufriedenheit hervorruft, wenn es sich beschmutzt, eine 
Wirkung, die allenfalls noch durch Drohungen verschärft wird. 

Um sich die Mißgunst der Erwachsenen zu ersparen, kommt das Kind ihr 
zuvor, indem es sich eine solche Befriedigung versagt. Der Konflikt, der sich 
ursprünglich zwischen dem Ich des Kindes und dem Erwachsenen abspielte, 
verläuft jetzt zwischen demselben Ich und dem introjizierten Erwachsenen. 
Anders gesagt, der Konflikt wurde verinnerlicht und das Über-Ich geschaffen. 
Der Odipuskomplex ist nur ein Sonderfall, der diese ersten Reaktionen ver- 
stärkt. Das Über-Ich gewinnt neue Macht, wenn der Erwachsene das Kind 
bei den ersten Onanieversuchen mit Kastration bedroht oder wenn sich diese 
Drohung bei der Wahrnehmung des anatomischen Geschlechtsunterschiedes 
von selbst einstellt. 

Aus allem Vorangegangenen ist eine gewisse peinliche Unschlüssigkeit der 
Psychoanalytiker betreffs der Bildung des Über-Ichs zu ersehen. Ehe wir die 
genetischen Mechanismen festzulegen versuchen, wollen wir das Resultat der 
Untersuchungen Piagets über die Entwicklung des moralischen Denkens 
beim Kinde darstellen. 

Wir werden dann die beiden Gesichtspunkte einander gegenüberstellen und 
versuchen, eine klare Kenntnis des Über-Ichs und seiner Genese zu erlangen. 

„Es scheint beim Kinde eine zweifache Moral zu bestehen, deren Rückwir- 
kungen dann in der Moral der Erwachsenen ersichtlich werden. Diese zwei- 
fache Moral wird durch aufeinanderfolgende Bildungsprozesse hervorgerufen, 























Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 307 





die sich indessen nicht zu ausgesprochenen Stadien ausdehnen. Immerhin läßt 
sich die Existenz einer Zwischenphase nachweisen. Der erste Prozeß wird 
durch den moralischen Zwang des Erwachsenen ausgelöst und führt in der 
Folge zur Heteronomie und zum moralischen Realismus. Der zweite besteht 
in der gemeinsamen Arbeit und führt zur Autonomie. Zwischen beiden kann 
man eine Phase der Verinnerlichung und Verallgemeinerung von Geboten und 
Vorschriften unterscheiden. 

Der moralische Zwang ist durch einseitige Hochachtung charakterisiert. 
Diese Hochachtung ist nun, wie Bovet klar gezeigt hat, die Quelle der 
moralischen Bindung und des Pflichtgefühls: jede von einer Respektsperson 
gegebene Vorschrift ist für die Zukunft verbindlich... Diese Pflichtmoral ist 
in ihrer ursprünglichen Form wesentlich heteronom. Das Gute ist der Gehor- 
sam gegen den Willen des Erwachsenen. Das Schlechte ist das Handeln nach 
eigenem Gutdünken. In einer solchen Moral ist kein Platz für das, was die 
Moralphilosophen „das Gute“ im Gegensatz zur reinen Pflicht genannt haben, 
wobei das Gute ein Ideal bildet, das dem freien bewußten Entschluß und der 
Beeinflussung näher steht als dem Zwang. Gewiß ruhen die Beziehungen 
zwischen Kindern und Eltern nicht rein auf Zwang. Es besteht eine 
gegenseitige unmittelbare Zuneigung, die das Kind von Anfang an zu Akten 
von Großmut, sogar von Opfermut, zu rührenden Kundgebungen bringt, die 
durchaus nicht vorgeschrieben sind. Hier ist zweifellos der Ausgangspunkt 
jener Moral des Guten gegeben, die sich parallel zur Pflichtmoral entwickelt 
und die dann bei gewissen Menschen vorherrschend wird. Das Gute ist dann 
das Produkt der gemeinsamen Arbeit. Der Moraltrieb aber, der auch der 
Urheber aller Pflicht ist, könnte aus sich heraus nur zur Heteronomie und in 
seinen äußersten Konsequenzen zum moralischen Realismus führen. 

Es kommt dann zu einer Zwischenphase, auf die Bovet glücklich hinge- 
wiesen hat: das Kind gehorcht nicht nur den Befehlen der Erwachsenen, son- 
dern dem Gebote an sich, das selbständig verallgemeinert und im einzelnen 
angewendet wird... Wir können darin sicherlich eine Arbeit des Verstandes 
erblicken, der sich der Moralgebote wie aller andern Gegebenheiten bedient 
und sie verallgemeinert oder differenziert. Wenn wir damit auch auf dem 
Wege zu einer Autonomie des Bewußtseins zu sein glauben, kann es sich hier 
doch nur um eine teilweise Autonomie handeln: das Gebot wird immer wieder 
von außen auferlegt und erscheint nicht als das notwendige Ergebnis des Be- 
wußtseins selbst. 

Die Gegenseitigkeit allein wird zum Träger der Autonomie. 

„Die autoritäre Moral, also die Moral der Pflicht und des Gehorsams, führt 
auf dem Gebiete der Rechtspflege zu einer Verwechslung dessen, was ‚recht‘ 
ist mit dem Inhalt des bestehenden Gesetzes und zur Anerkennung der sühnen- 


20* 


























308 Raymond de Saussure 





den Strafe. Die Moral der gegenseitigen Achtung, also die Moral des Guten 
(im Gegensatz zur Pflicht) und der Autonomie führt auf dem Gebiete des 
öffentlichen Rechts zur Entwicklung der Gleichheit, dem verfassungsmäßigen 
Begriff für ausgleichende Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit. Die Solidarität 
unter Gleichen erscheint daher abermals als Quelle eines Ineinanderwirkens 
zusammenhängender und einander ergänzender Moralbegriffe, welche die 
rationale Mentalität charakterisieren. Man kann sich natürlich fragen, ob 
derartige Verhältnisse sich überhaupt entwickeln können, ohne eine voraus- 
gehende Phase, in welcher die einseitige Hochachtung des Kindes für den Er- 
wachsenen das kindliche Bewußtsein formt. Bei der Unmöglichkeit einer Veri- 
fizierung ist eine Diskussion dieses Problems nicht recht am Platze. Soviel aber 
ist sicher, daß das Gleichgewicht zwischen den ergänzenden Begriffen der 
heteronomen Pflicht und der Sühne an sich labil ist, weil die Persönlichkeit 
darin nicht volle Ausbreitungsmöglichkeit finden kann. Je größer das Kind 
wird, um so unberechtigter erscheint ihm die Unterwerfung seines Gewissens 
unter das des Erwachsenen. Abgesehen von den eigentlichen moralischen Ver- 
irrungen, die sich in endgültiger innerlicher Unterwerfung (Erwachsene, die 
ihr Leben lang Kinder bleiben) oder in immerwährendem Aufruhr äußern, 
nimmt die einseitige Achtung von selbst die Richtung zur gegenseitigen 
Achtung und zur einverständlichen, gemeinsamen Arbeit, die das normale 
Gleichgewicht darstellt“ (43). 

Vor dem Stadium der gemeinsamen Arbeit gibt es also ein Stadium, in wel- 
chem die Moral des Kindes fast ausschließlich durch den Zwang des Er- 
wachsenen beherrscht wird. Dieses Stadium müßte genauer untersucht werden, 
um seine Beziehungen zum Über-Ich zu prüfen. Es könnte sich dann tat- 
sächlich ergeben, daß das Über-Ich nur die letzte Spur einer Entwicklungs- 
phase wäre, in der Art, wie die magische und animistische Periode bei unvoll- 
ständig Entwickelten einen unverletzlichen Bestand in Form von Aberglauben 
und Vorahnungen hinterläßt. Der Kampf zwischen Ich und Über-Ich wäre 
also das Bemühen des einzelnen, die im Unbewußten durch die kindliche 
Furcht vor dem Erwachsenen eingeprägten Moralgewohnheiten durch eine 
Moral der gemeinsamen Arbeit zu ersetzen. 

Um die Gedanken Freuds und Piagets besser vergleichen zu können, 
setzen wir die Entwicklungsstadien des Über-Ichs gemäß der psychoanalyti- 
schen Lehre hierher. 


ı. Primäre Identifizierung aus Hochachtung vor dem Erwachsenen. 
2. Sekundäre Identifizierung aus Furcht. 


Odipuskomplex und Onanie sind nur Sonderfälle dieses Mechanismus, die 
die Furcht wegen der mit ihnen verbundenen Kastrationsideen verstärken. 

















Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 309 





3. Tertiäre Identifizierung durch Neutralisierung der Aggression. 
4. Einfacher Mechanismus der Verinnerlichung des Konfliktes, wie Alex- 
ander ihn beschreibt. 


A. Die primäre Identifizierung 


Die primäre Identifizierung entspricht dem was Piaget Entscheidungs- 
unvermögen genannt hat. Ich halte den letzteren Ausdruck für den glück- 
licheren. Das Kind empfindet die Macht des Erwachsenen und macht dank 
den Mechanismen der Verbundenheit keinen Unterschied zwischen sich und 
dem Vater. Es hat keine klare Vorstellung davon, was es von dem Wesen, 
das es sein möchte, unterscheidet. Ich habe erst unlängst die Richtigkeit dieser 
Auslegung bei einem 25jährigen Psychopathen feststellen können, der alle 
glücklichen Ereignisse, die seinem Vater begegneten, so aufnahm, als seien sie 
ihm selbst begegnet. Der Patient, dessen Analyse von seinem Vater bezahlt 
wurde, reagierte auf Honorarrechnungen genau so, als ob er sie mit seinem 
eigenen Gelde bezahlte. 

Die Erfüllung seiner Wünsche durch den Erwachsenen unterstützt das Kind 
in seinem Beharren auf dem Stadium des Unterscheidungsunvermögens. 

„Wie wir bei der Besprechung der Magie gesehen haben“, schreibt Piaget, 
„muß das Kind, dessen Aktivität von der Wiege an an die ergänzende Akti- 
vität der Eltern gebunden ist, in seinen ersten Lebensjahren den Eindruck 
haben, daß es ununterbrochen von wohlwollenden Gedanken und Handlun- 
gen umgeben sei, daß die Seinen alle seine Absichten kennen und billigen. Es 
muß annehmen, daß man es in jedem Augenblick sieht, begreift und seinen 
Wünschen zuvorkommt“ (44). 

Der Erwachsene ist eine Zeitlang für das Kind sozusagen der bessere Teil 
seiner selbst. 

Bei dieser primären Identifizierung darf man die Rolle nicht vergessen, die 
der kindliche Realismus spielt. Wie schmerzlich die Erfahrungen, die das Kind 
an seinem Vater gemacht hat, auch sein mögen, für den kindlichen Eindruck 
bleibt der Vater doch ein vollkommenes, allmächtiges und allwissendes Wesen. 
„Das Wichtigste für das Kind“, schreibt Luquet hinsichtlich des Zeichnens, 
„ist nicht der Aspekt, den das Objekt von irgendeinem zufälligen und ver- 
änderlichen Standpunkt gewinnt, sondern, wenn man so sagen kann, der 
Aspekt an sich sub specie aeternitatis“‘ (45). Dasselbe gilt für den moralischen 
Standpunkt. Dieser absolute Begriff gibt auch der Funktion des Über-Ichs 
Ihren Charakter. 

Auch bei den ersten Konflikten mit dem Vater modifiziert sich dieses 
Schema nicht, wodurch erst klar wird, warum die Ambivalenz in diesem 
Stadium überhaupt möglich ist. Das Gegensätzliche ist in diesem Stadium 


























310 Raymond de Saussure 





nicht gesondert. Wie etwa aus der ganz primitiven Männchen-Zeichnung eines 
Kindes nicht hervorgeht, daß das Kind den Unterschied zwischen Kopf, Hals 
und Rumpf nicht begriffen habe, ebenso beweist die Vorstellung vom all- 
mächtigen Vater nicht das Fehlen der Einsicht in einige seiner Fehler. Aber 
diese ersten Erfahrungen haben noch nicht die Kraft, das primitive, intellek- 
tuelle Schema zu zerstören. 


B. Sekundäre Identifizierung aus Furcht 


In dem Werke „Le jugement moral de l’Enfant“ faßt Piaget die von 
Bovet übernommene These folgendermaßen zusammen (46): 

„Wie entsteht also das Pflichtbewußtsein? Zwei Bedingungen und ihre hin- 
reichende Verbindung sind dazu notwendig: r. Ein Individuum muß Vor- 
schriften von einem anderen Individuum erhalten; das zu befolgende Gebot 
ist psychologisch also von der individuellen Gewohnheit oder von dem, was 
wir das motorische Gebot genannt haben, verschieden; 2. das Individuum, das 
die Vorschriften erhält, muß diese annehmen, d.h. also den, von dem das 
Gebot ausgeht, respektieren... Was nun das Kind betrifft, so erklärt sich die 
Entstehung des Pflichtgefühls auf die einfachste Art dadurch, daß die Alteren 
(im Spiel) oder die Erwachsenen (im Leben) Vorschriften machen und daß die 
Kinder Ältere und Erwachsene respektieren (47). 

Die Beschreibung Piagets stimmt also zu jener Vorschrift, die infolge der 
eben untersuchten primären Identifizierung frei akzeptiert wird. 

So einfach liegt nun der Fall meist nicht. Das Gebot des Erwachsenen ruft 
beim Kinde, das seinen eigenen Ansichten den Vorzug geben möchte, einen 
Konflikt hervor. Das Kind wird schließlich von der Macht (Unterdrückung) 
oder den Drohungen des Erwachsenen besiegt. So entsteht die Furcht, die, 
nach dem Schema Alexanders, den Schwächeren veranlaßt, seinen Kon- 
flikt zu verinnerlichen. 

Das kann auf zweierlei Art vor sich gehen. 

ı. Das Kind lehnt sich auf, läßt seiner Aggression freien Lauf, besinnt sich 
auf sich selbst und weist das Gebot des Erwachsenen zurück. Das kommt in 
verschiedener Heftigkeit bei jedem Kinde früher oder später einmal vor. 

2. Das Kind, mehr oder weniger eingeschüchtert durch die Drohungen mit 
Kastration, mit der Hölle und durch körperliche Züchtigungen usw., ent- 
wickelt sich nur mehr als Funktion der Gebote der Erwachsenen. Durch 
die Verinnerlichung des Konfliktes repräsentiert das Über-Ich dauernd den 
Willen des Erwachsenen. In diesem zweiten Falle bringt es das Kind nicht 
mehr zum Bewußtsein seiner selbst und seiner Wünsche, die sofort verdrängt 
werden. Man kann auch sagen: je strenger das Über-Ich, desto stärker die 
Ambivalenz. Versuchen wir den Begriff der Ambivalenz zu präzisieren. 

















Über genetische Psychologie und Psychoanalyse gıı 





Sie scheint uns auf dem Gebiete der Affektivität das zu sein, was auf intel- 
lektuellem Gebiet das Gesamtschema ist: ein zusammengesetztes Gefühl, das 
Gegensätze vereinigt, weil das Individuum nicht imstande ist, sie voneinander 
zu sondern. In diesem Sinne beschreibt Freud es mit Recht als ein durchaus 
primitives Gefühl. Auch an ihm fehlt das Unterscheidungsvermögen; Liebe 
und Haß bestehen bis zu einem gewissen Grade nebeneinander. Um Haß 
und Aufruhr zu unterdrücken, überschätzt das Kind die primäre Identifi- 
zierung. 

Das Kind sieht sich also eingekreist in einen circulus vituosus; es muß auf 
Zwang beruhende Beziehungen verstärken, und diese halten es in seinem In- 
fantilismus fest. 

„Der moralische Realismus“, schreibt Piaget, „basiert anscheinend auf der 
Verbindung zweier Kausalreihen, wovon die eine dem freien Denken des 
Kindes (infantiler Realismus) und die andere dem durch den Erwachsenen 
ausgeübten Zwang entspricht. Diese Verbindung aber ist keineswegs eine zu- 
fällige, sondern scheint uns kennzeichnend für die hauptsächlichsten psycho- 
logischen Prozesse sowohl auf intellektuellem wie auf moralischem Ge- 
biete“ (48). 

Ich zitiere hier eine Stelle, in der Piaget die schädliche Wirkung des 
Zwangs noch viel deutlicher zum Ausdruck bringt: „Der Zwang wirkt ganz 
anders als die gemeinsame Arbeit und verstärkt infolgedessen gerade die ego- 
zentrischen Strebungen in gewisser Hinsicht, bis die gemeinsame Arbeit das 
Kind auf einmal von seinem egozentrischen Denken und von den Folgen 
dieses Zwanges befreit“ (49). 

Wenn das Über-Ich eine letzte Spur jener Moral ist, die das Kies unter dem 
Druck des Erwachsenen schafft, muß es dieselben Merkmale haben wie der 
moralische Realismus des Kindes. 

Wir wissen nun, daß sein wesentlichster Zug seine Unbeugsamkeit ist; der 
einzelne kann sich ihm nicht entziehen, ohne in schwere innere Konflikte zu 
geraten und ohne sich selbst Bußen aufzuerlegen. 

Gelegentlich der allgemeinen Darstellung der Ideen Piagets haben wir ge- 
sehen, daß das Gebot der Erwachsenen für das Kind eine absolute Regel dar- 
stellt, so daß der Begriff der Pflicht mit dem des Guten verwechselt wird. 
Der Mechanismus der Selbstbestrafung hat schließlich noch ein wichtiges 
Kennzeichen: der moralische Realismus kennt in der Rechtspflege lediglich 
die strafende Gerechtigkeit. 

Die Strenge des Über-Ichs hängt also von der Verbindung zweier Ursachen 
ab: dem egozentrischen und realistischen Denken des Kindes einerseits und 
der Furcht vor der Bestrafung durch den Erwachsenen anderseits. 





























312 Raymond de Saussure 





Wenn wir nun das Problem der Entstehung des Über-Ichs vom Standpunkte 
der allgemeinen Psychologie betrachten, scheint der Odipuskomplex nicht jene 
genetische Rolle zu spielen, die Freud ihm zuschreibt. Wir können höchstens 
sagen, daß der Haß, den der Knabe gegen seinen Vater richtet, die Angst- 
mechanismen verstärkt. Dieser Haß stößt nun auf das Gebot „Du sollst deinen 
Vater lieben“, löst Schuldgefühle aus, und diese verstärken wiederum die For- 
derungen des Über-Ichs. 

Das gilt ebenso für das Problem der Kastration und der Onanie. Indessen 
muß man betonen, daß es im Schicksal des einzelnen vorkommen kann, daß 
einer dieser Komplexe so überragend gewesen ist, daß er die Reaktion des 
Über-Ichs endgültig fixierte und eine normale Entwicklung zur Moral der ge- 
meinsamen Arbeit nicht zuließ. 

Das Über-Ich ist das Residuum des realistischen und egozentrischen Denkens 
auf moralischem Gebiet. Und nun, was für uns Psychoanalytiker vor allem 
interessant ist: das ganze Denken des Kindes, selbst soweit es nicht ausge- 
sprochen affektiver oder moralischer Art ist, nimmt normalerweise um das 
siebente bis achte Lebensjahr einen anderen Charakter an. 

„Die Verminderung der Egozentrik“, schreibt Piaget, „die um das siebente 
und achte Lebensjahr sehr deutlich wird, ist die Folge der fortschreitenden 
Sozialisierung des kindlichen Denkens. Die Loslösung von der ausschließlichen 
Bindung an die Eltern und die Loslösung vom subjektiven oder Ich-Stand- 
punkt sind also die beiden hauptsächlichsten Faktoren, die die Abwendung 
vom Animismus und vom Glauben an die künstliche Herstellung aller Dinge 
herbeiführen“ (50). 

Piaget läßt also den Fortschritt von der Sozialisierung des Denkens ab- 
hängen. Diese Idee könnte vielleicht als Überbau der psychoanalytischen Lehre 
betrachtet werden, die den Fortschritt in der Transformierung der (stets mehr 
oder weniger an Triebmechanismen und Ambivalenz gebundenen) Fixierungs- 
beziehungen in Objektbeziehungen sieht, die die eigentlichen frei erwählten 
Beziehungen sind. 

Das Über-Ich ist ein typisches Residuum der Fixierung an irgendeine Auto- 
rität. Es ist ein hindernder und kein fortschrittlicher Faktor. 

Damit schließen wir die Betrachtungen, die sich aus einer Gegenüberstellung 
der Ideen Freuds und Piagets über dieses Thema ergeben. 


Die Geburt von Geschwistern 


Die Forschungen Piagets über das Recht eröffnen uns neue Einblicke in die 
Konflikte, die bei manchen Kindern die Geburt von Geschwistern verursachen 
und lassen uns besser verstehen, warum dieses Ereignis von den einen gut und 
von den andern schlecht vertragen wird. 








4 


Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 313 





Piaget entdeckt nun in der Kindheit wirklich drei Rechtsstadien: 

ı. Das Recht wird mit dem Befehl des Erwachsenen verwechselt. 

2. Das Recht wird ausgleichend: jeder hat gleiches Recht. 

3. Das ausgleichende Recht verliert seine starre Funktion und beginnt den | 
besonderen Verhältnissen jedes einzelnen Rechnung zu tragen. h 

Wenn wir uns in die Lage des Kindes versetzen, das die Zuneigung der 
Seinen mit einem Neuangekommenen teilen soll, werden wir verstehen, daß 
ein solches Ereignis sehr verschiedene Reaktionen hervorruft. 

Vor dem fünften Lebensjahr bleibt die Idee eines Rechts, das mit einem 
erteilten Befehl verwechselt wird, fast rein theoretischer Natur. In der Praxis 
wird, da es sich um die Persönlichkeit des Kindes handelt, das egozentrische 
Denken überwiegen. In jener Phase, in der es sich von seinen Eltern nicht 
zu unterscheiden meint, entsteht auch die Illusion, daß es an deren Allmacht 
teilnimmt. Da es nun die Eltern mit sich selbst verwechselt, glaubt es An- 
spruch auf deren alleinigen Besitz zu haben. Sein egozentrisches Denken ge- 
stattet ihm keine Abweichung von dieser Anschauungsweise, es kann gegen 
den Neuankömmling nur revoltieren und gegen ihn Beseitigungswünsche 
äußern. 





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Tritt nun eine Hemmung der Entwicklung ein, kann diese Reaktion 
dauernd fixiert bleiben. Da das Kind in diesem Stadium aber das Recht mit 
dem vom Erwachsenen ausgehenden Befehl verwechselt, verdrängt es sein 
eigenes egozentrisches Gefühl und der unter der Asche glimmende Konflikt 
erzeugt oft bedeutsame neuropathische Symptome. 

Falls Geschwister während der zweiten Phase der Moralentwicklung zur 
Welt kommen, können sich Eifersuchtskonflikte nur in dem Maße entwickeln, 
in welchem das Ältere durch das Jüngere benachteiligt zu sein glaubt. 

Wenn das Jüngstgeborene erst zur Welt kommt, sobald das andere Kind 
schon das Stadium der ausgleichenden Rechtsauffassung erreicht hat, gibt es 
überhaupt keinen Konflikt. 

Das Problem kann natürlich auf dem schematischen Wege, den wir hier 
verfolgen, nicht gelöst werden. Das Verhalten der Eltern und ihr Verständ- 
nis für die Konflikte ihrer Kinder spielen hier eine ausschlaggebende Rolle. 

Die Entwicklungsstadien des Rechtsgefühles geben uns eine bessere Einsicht 
in die Frage, warum Mitglieder kinderreicher Familien so verschieden auf die 
Geburt nachkommender Geschwister reagieren. 

Ich halte diese Feststellungen auch therapeutisch für sehr wichtig. Man 
wird die Widerstände eines Patienten oft viel besser überwinden können, 

| wenn man ihn in die charakteristische Haltung jener Phase zurückversetzt, 
die er bei Entstehung des Konfliktes durchlief. 





























En, 
314 Raymond de Saussure 





Literaturverzeichnis 


1. Revue Philosophique de la France et de l’Etranger, 1933, S.zf. 

2. Archives de Psychologie, 1923, S. 282. 

3. Piaget: Repr&sentation du Monde chez l’Enfant, Paris 1926, $.XII. (Im folgenden 
zitiert: R. M. E.) 

4. Abraham: Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes. Int. Ztschr. f. Psa., 
VII, 1921, S. 422 ff. 

5. Freud: Die infantile Genitalorganisation. Ges. Schr. Bd. V. 

Jones: The early development of female sexuality. Int. Journ. f. Psa., VII, 1927. 

Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psa,, Wien 1933. 

Jones: Bemerkungen zu Dr. Abrahams „Außerungsformen usw.“. Int. Ztschr. f. Psa., 
VIII, 1922, S. 329. 

Eisler: Unter gleichem Titel, ebendort. 

Sachs: Der Wunsch, ein Mann zu sein. Int. Ztschr. f. Psa., VI, 1919. 

Karen Horney: Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes. Int. Ztschr. f. Psa., 
IX, 1923. 

Karen Horney: Flucht aus der Weiblichkeit. Int. Ztschr. f. Psa., XII, 1926. 

Freud: Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiedes. Ges. Schr. 
Bd. XI. 

Lewis: Psychology of the Castration Complex. Psa. Rev. Bd. XIV u. XV. 

Bonsfield: Castration Complex in Women. Psa. Rev. Bd. XIV, 1924, S. ı21 ff. 

Beatrice Hinkle: On the arbitrary use of the terms Masculine and Feminine, Psa. Rev. 
Bd. VII, 1920, S. ı5 ff. 

Helene Deutsch: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen, Wien 1925. 

Melanie Klein: The Psycho-Analysis of Children, London 1932. 

Melanie Klein: Frühstadien des Odipuskonflikts. Int. Ztschr. f. Psa., XIV, 1928. 

Josine Müller: Ein Beitrag zur Frage der Libidoentwicklung des Mädchens in der 
genitalen Phase. Int. Ztschr. f. Psa., XVII, 1931. 

Jones: The Phallic Phase. Int. Journ. f. Psa.,, XIV, 1933. 

Wulff: Mutter-Kind-Beziehungen als Außerungsform des weiblichen Kastrationskom- 
plexes. Int. Ztschr. f. Psa., XVII, 1932. 

Helene Deutsch: Über die weibliche Homosexualität. Int. Ztschr. f. Psa., XVII, 1932. 

6. Saussure: Les fixations homosexuelles chez les femmes n&vroses. Rapport & la IVe 
Conf. des Psa. de langue frangaise. Siehe auch Ferenczi: Gulliver-Phantasien. Int. Ztschr. 
f. Psa., XIII, 1927, S. 383. 

7. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ferner: Über infantile Sexualtheorien. 
Ges. Schr. Bd. V. 

8. Luquet: Le Dessin enfantin. Paris 1927. 

9. Ebendort, $. 233 f. 

10. Ebendort, S. 14. 

ı1. Piaget: Le Jugement et le Raisonnement chez l’enfant, Paris 1924, S. 304. (Im fol- 
genden zitiert: J. et R.) 

12. Luquet: Op. cit.,, S. 42. 

13. Piaget: J. et R., S. 320. 

14. Piaget:R.M. E,, S. 251. 

ı$. Ebendort, S. 140. 

16. Ebendort, $. 236. 

17. Piaget: J. et R., S.292—3oo. 

18. Ebendort, S.303. 

19. Piaget: Causalit& physique, S. 317. 

20. Jones: The Phallic Phase. Int. Journ. f. PsA., XIV, 1933. 

21. Piaget: R.M. E., S. 393. 

22. Piaget: J. et R., S. 336. 














23. 


24- 
25. 
26. 


27. 
238. 


29. 
30. 


3I. 


32. 
33. 
34- 


35- 


36. 
37: 
38. 
39. 
40. 
41. 
43. 
43. 
44: 
45. 








Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 315 


Ebendort, $. 325. 

Ebendort, S. 310. 

Piaget: Causalit€ physique, S. 328. 

Piaget: R.M. E, S.XXXVILff. 

Freud: Das Ich und das Es. Ges. Schr. Bd. VI. 
Ebendort, $. 373. 

Ebendort, $. 375. 

Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Schr. Bd. VI. 
Ebendort, $. 303. 

Ebendort, $. 303. 

Ebendort, S. 304. 

Ebendort, $. 306. 

Freud: Das Ich und das Es. Ges. Schr. Bd. VI, S. 380. 
Ebendort, $. 375 f. 

Ebendort, S. 382. 

Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Schr. Bd. VII. $. 344. 
Freud: Totem und Tabu. Ges. Schr. Bd.X, $. 83 f. 
Freud: Das Ich und das Es. Ges. Schr. Bd. VI, $. 378 £. 
Ebendort, $. 379. 

Piaget: Jugement moral chez l’enfant. Paris 1932. 
Piaget: Jugement moral chez l’Enfant. Paris 1932. 
Piaget: R.M. E,, S. 246. 

Luquet: Op, cıt., $. 239. 


46. Bovet: Les conditions de P’obligation de conscience. Anne Psychologique de 1912. 
‚Paris 1912. 


47: 
48. 


Piaget: Jugement moral, S. ıır ff. 
Ebendort, S. 210. 


49. Ebendort, S. zırf. 


50. 


Piaget: R.M.E,, S. 409. 


























Mona Lisa und weibliche Schönheit 
Eine Studie über Bisexualität 


Von 


Fritz Wittels 
(New=York) 


% 


Lionardo ist der Maler der Androgynie (Bisexualität). In seinen eigenen 
Gesichtszügen wie in seinem Lebenswandel hat er die Neigung zur Androgynie 
hinter strengen, zwangsneurotischen Linien verborgen. Die Jünglinge aber, 
die er malte, sind wieder und wieder feminine Männer. Auch in seinem 
„Heiligen Abendmahl“ sind die Hauptfigur und mindestens zwei Apostel . 
feminin. In seinen Frauenbildnissen ist die Neigung zur Androgynie nicht 
ganz so durchgehend. In den Zügen mancher seiner Männergestalten meint 
man die der Mona Lisa wiederzufinden, deren berühmtes Porträt jenes rätsel- 
hafte Lächeln zeigt, das nun schon vier Jahrhunderte in Atem hält. 

Freud führt in seiner Studie! dieses Lächeln auf ein Besinnen des Meisters 
auf das Lächeln seiner Mutter zurück. Es sei ihm nach seinem fünfzigsten 
Lebensjahr mit großer Macht wieder aufgetaucht. Freud sagt nicht ausdrück- 
lich, daß dieses Lächeln männlich sei. Jedoch zeigt er mit außerordentlichem 
Scharfsinn und unter Heranziehung des spärlichen biographischen Materiales, 
das wir über Lionardo besitzen? ferner gestützt auf psychoanalytische und 
mythologische Erfahrung, daß Lionardo seine Mutter — wie alle Kinder in 
ihren ersten Jahren — als männlich, das ist mit dem Phallus behaftet, auffaßte 
und in den Tiefen seines Unbewußten von dieser Auffassung nicht mehr los 
kam. Es liegt nahe zu vermuten, daß auch das Lächeln, dem die Welt den 
Namen „lionardesk“ gegeben hat, eine Beziehung zum Mutter-Phallus-Kom- 
plex enthalte. Es wurde als frivol, als drohend, verbrecherisch, zynisch, teuf- 
lisch, verführerisch bezeichnet. Aber alle Beobachter sind darin einig, daß 
keine dieser Kennzeichnungen und auch nicht mehrere zusammen diese einzig- 
artige malerische Leistung ausschöpfen. 

Es ist auch interessant, daß gerade dieses Lächeln als lionardesk durch die 
Jahrhunderte lebt, während man von androgyner Malerei, die doch so auf- 
fallend zu Lionardo gehört, nicht zu sagen pflegt, daß sie lionardesk sei. Oft 
lebt ein künstlerischer Ausdruck in seiner verdrängten, nicht mehr leicht ver- 
ständlichen Form unangefochten fort, der in seiner ursprünglichen Form Un- 





ı) Eine Kindheitserinnerung des Lionardo da Vinci, Ges. Schriften, Bd. ı. 
2) Ibidem. 

















Mona Lisa und weibliche Schönheit 317 





behagen erregt. Auffallend ist das zum Beispiel mit dem landläufigen Be- 
griffe der „platonischen Liebe“ geschehen. Man gibt wohl auch nicht gerne 
zu, daß Musik und symbolische Dichtung Richard Wagners androgyn sei. 
Nur wenige Bewunderer dieses Genius der Tonmalerei wissen, daß Wagners 
Androgynie die Quelle ist, aus der die ungeheure Wucht seiner Musik stammt. 

Im Sommer 1932 stand ich im Pariser Louvre lange vor dem Porträt der 
Mona Lisa. Ich kam mit der Erwartung, in dem Bildnis ein Mannweib zu 
entlarven. Aber ich mußte mir bald sagen, daß dieses Porträt weit weniger 
androgyn ist als viele andere Gemälde des Meisters. Es zeigt die Züge einer 
klugen Frau im noch halb mittelalterlichen Geiste der Renaissance, nicht ein- 
mal besonders schön und sehr mittelmäßig in ihrer sexuellen Anziehungskraft 
(die freilich heute überhaupt andere Wege wandelt als damals). Alles das kann 
von dem Bilde natürlich nur unter gewaltsamem Hinwegdenken des Lächelns 
ausgesagt werden. Vielleicht werden manche sagen, daß man dieses Lächeln 
gar nicht wegdenken kann, weil Mona Lisa ohne ihr Lächeln (gestaltpsycho- 
logisch) nicht schaubar sei. Dem ist aber schon aus dem Grunde nicht so, weil 
das Lächeln — wie Kennern wohlbekannt — nur von der linken Hälfte des 
Antlitzes schimmert. Wenn man diese Hälfte des Gesichtes zudeckt — man 
kann das auch an jeder besseren Reproduktion versuchen —, dann hat man ein 
großes ernsthaftes Auge und einen geraden rechten Mundwinkel vor sich. 
Hier haben wir also die erste, objektiv feststellbare Spaltung vor uns, die in 
links und rechts. Die Beziehungen zwischen Links-Rechts und der Andro- 
gynie sind der Psychoanalyse bekannt. 

Neben dieser ersten Polarität entdeckt der Beobachter des Originals im 
Louvre bald eine zweite. Je länger man das Bild anschaut, desto mehr scheint 
das Lächeln aus der Leinwand heraus zu treten, bis es schließlich nicht sowohl 
auf dem Bilde selbst mehr liegt als zwischen dem Bilde und dem Beschauer, 
heißer Luft vergleichbar, die im Sommer über Sträuchern zittert. Man kann 
sagen, das Lächeln löse sich los, es emaniere in einer halb körperlichen, halb 
unkörperlichen Zartheit. Dabei wird es immer intensiver, man glaubt, jetzt 
und jetzt wird sie in Gelächter ausbrechen, und der Ton meiner Bemerkung 
liegt auf dem Worte „ausbrechen“, das ist der Loslösung des Lächelns von der 
lächelnden Person. Ich glaube nicht, daß Reproduktionen diese Eigenschaft 
des Bildes voll widergeben können. Andrerseits halte ich den eben geschilder- 
ten Eindruck des Lächelns der Mona Lisa für objektiv. Wer immer das Ge- 
mälde lange genug ansieht, um das Lächeln zu seiner vollen Auswirkung ge- 
langen zu lassen, muß zum Erlebnis seiner Loslösung gelangen. Es ist nicht 
statisch, sondern strömt von der Frau weg. 

Das rein malerische Problem des Lächelns kann ich nicht diskutieren. Viel- 
leicht ist die Abspaltung des Lächelns technisch malerisch eins mit der vorher 


















































318 Fritz Wittels 





besprochenen Spaltung in links und rechts. Psychologisch interessiert uns die 
Tatsache, daß die Gesichtszüge eines Weibes ein Lächeln tragen, das sich von 
ihnen loslösen läßt: ein ernsthaftes, statisches Ich plus einem aktiven Zusatz, 
der die Welt herausfordert und erobert. Lächeln verhält sich ja überhaupt zur 
Person, die das Lächeln ausschickt wie eine libidinöse Besetzung des Objektes 
außerhalb zu einem narzißtischen Sein. Es ist eine soziale Angelegenheit, tritt 
in Verkehr mit der Außenwelt. Dieses Objekt der Außenwelt kann freilich 
unter Umständen das eigene Ich sein, das sich zum Objekt nimmt. Man kann 
etwa in den Spiegel schaun, ist mit sich zufrieden und lächelt sich zu. Für 
gewöhnlich aber dient das Lächeln dem Verkehre mit dem Du und das schon 
von dem ersten Lächeln des Säuglings angefangen, der von sich selber und 
jedenfalls von Selbstspiegelung noch nichts weiß. 

Schon eine oberflächliche Analyse von Frauen, von denen man sagt, sie 
hätten das lionardeske Lächeln — eine Eigenschaft, auf die solche Frauen ge- 
wöhnlich nicht wenig stolz sind —, zeigt regelmäßig, daß die männliche Kom- 
ponente in ihnen rege ist. Von einer solchen Frau, die ich kannte, sagte ein 
Bildhauer, sie sei für ihn ein unmögliches Modell, denn, wenn im Marmor 
oder Bronze die Farben des Antlitzes verschwänden, würde niemand die 
Porträtstudie für etwas anderes als einen Jüngling halten. Ein anderes Mäd- 
chen mit lionardeskem Lächeln wollte von Männern als Liebhabern nichts 
wissen, sehnte sich nach parthenogenetischen Kindern und hatte ihre lesbischen 
Triebe in paranoiden Verfolgungsideen abzuwehren. Ich habe überdies den 
Eindruck, als ob auch die Nase im Lionardo-Lächeln ihre besondere Rolle 
spielte. Eine fein geschnittene Nase, die — wenn man so sagen darf — ihr 
eigenes, geheimnisvoll anmutendes Leben hat, gehört dazu. 

Lächeln steht in einer bestimmten Beziehung zu Schönheit. Hätte Mona 
Lisa nicht ihr Lächeln, wäre sie gar nicht besonders schön zu nennen. Sie ist 
schön und unsterblich dadurch, daß sie lächelt: Lächeln und Schönheit sind 
eins. Das wissen Photographen, die ihre Kunden auffordern zu lächeln und so 
auf künstlichem, nicht immer mißglückendem Wege Schönheit erzeugen, wo 
keine ist oder nicht viel davon. Dichter sagen von einer Landschaft etwa, 
daß sie lächle und meinen damit anmutige Schönheit, die sie anthropomorphi- 
sieren. Auf dem Höhepunkt des sexuellen Genusses, wenn alle Menschen in 
ihrer Art transzendent werden, dann werden sie auch schön — von patho- 
logischen Ausnahmen abgesehn, die mörderisch häßlich werden in ihrer 
Transzendenz. Der Ausdruck dieser orgastischen Schönheit ist gewöhnlich ein 
Lächeln. Der leidende Zug, den man an manchen Frauen sieht, ist wohl 
die Ausnahme. Wir wären im psychologischen Verständnis der lächelnden 
Frau um vieles weiter, wenn wir mit psychoanalytischer Schärfe zu sagen 
wüßten, was Frauenschönheit ist. 











Mona Lisa und weibliche Schönheit 319: 




































Es handelt sich also darum, Frauen von ungewöhnlicher Schönheit zu 
analysieren. Wir wissen, daß es pathologische Schönheit gibt wie pathologische 
Häßlichkeit. Emile Zola hat in seiner Folge „Les Rougon-Maquarts“ in 
zwanzig Romanen die Geschichte einer degenerierenden Famile dargestellt. 
Da erscheinen Säufer, Verbrecher, Hysteriker, Besessene aller Art und mitten 
unter ihnen Nana, die giftige Schönheit, die alles korrumpiert, was im Lande 
würdig und sittlich ist. Zola erkannte also, daß Schönheit unter Umständen 
eine Degenerationserscheinung ist. Was man damals Degeneration nannte, 
sollte sich heute im Zeitalter der Psychoanalyse schärfer und tiefer fassen 
lassen. An der Richtigkeit der Beobachtung Zolas ist aber kein Zweifel. Ich 
kenne eine Familie, in der mehrere Geschwister wegen neurotischer und 
schwererer Störungen in Behandlung kamen. Ein Bruder litt an Zwangsideen, 
ein anderer wurde schizophren, ein dritter zeigte Fettsucht und eine der 
Schwestern brach im Pubertätsalter in Schönheit aus, flammend von sexueller 
Anziehungskraft mit ihren großen, schwülen Augen, leuchtenden Gesichts- 
farben und geschmeidigem Körper. Das Wesentliche an dieser Art Schönheit 
ist, daß sie ganz aus dem Rahmen der Familie fällt, in den sie eingebettet ist 
und den sie sprengt. Das Märchen vom häßlichen jungen Entlein hat nicht 
sowohl den Sinn, daß ein Geschöpf, das schöner ist als alle andern, ein Schwan, 
als solcher nicht erkannt wird. Es wird plötzlich anders als die anderen. Es 
ist ihr etwas zugestoßen, das ihr Schicksal bestimmt, sie und die Umwelt oft 
genug zerstört. Sie wird durch ihre Schönheit aus allem herausgerissen, was. 
die Gesellschaft zum Schutze unseres kulturellen Lebens an Institutionen auf- 
gerichtet hat. 

Es soll uns nicht schwer fallen, die pathologische Schönheit in die Krank- 
heitsgruppe einzureihen, zu der sie gehört. Wenn die Schönheit ein Symptom 
ist, dann ist sie ein Konversionssymptom und gehört zur Hysterie. Die ver- 
drängte Idee: ich will gefallen, den Mann anziehn, von ihm befriedigt werden, 
mit allen Konflikten zwischen Ich und Es, die daraus entstehen, auf allen 
Stufen des Narzißmus, der Homo- und Heterosexualität — diese Idee ist zur. 
Organsprache konvertiert und auf die Oberfläche des Körpers geschrieben. 
Wir wissen, daß die Kastration dahinter steckt, daß in tausend hysterischen 
Symptomen um den Besitz des Penis gekämpft wird. Das Symptom macht 
den Penis auf narzißtischem Wege entbehrlich, indem es ihn allegorisiert oder 
„tautegorisiert“, wie man mit einem Worte des Philosophen Schelling sagen 
möchte (Tauton = dasselbe). Es lockt ihn gleichzeitig an. 

Diese Überlegung legt den Gedanken nahe, daß die Abspaltung, die man 
als Schönheit empfindet — hier ist zunächst nur von einer bestimmten Art 
der Frauenschönheit die Rede — männlichen Ursprungs sei. Wir werden aber 
die Ausspinnung dieses Gedankens verschieben, weil wir nach dem Mysterium 





























320 Fritz Wittels 





des Lächelns, das wir mit dem Geheimnis der Schönheit gekoppelt haben, un- 
gern ein drittes psychologisch Rätselhaftes wie Männlich und Weiblich ein- 
führen wollen, ohne vorerst ausreichendes psychoanalytisches Material zu 
studieren. Immerhin läßt sich aus allgemeiner Menschenkenntnis sagen, daß 
weibliche, oft künstlerisch veranlage Männer von dieser Art von Schönheit 
(Beaut& du diable!) besonders angezogen werden. Diese Frauen entwickeln 
häufig sadistische Tendenzen und dem richtigen hysterischen Mechanismus 
gemäß wissen sie nicht einmal, was sie ihren Liebhabern antun. Sie ent- 
wickeln oft Charakterzüge, die man als unweiblich bezeichnet oder wenigstens 
bis vor kurzem so bezeichnet hat: Herzlosigkeit, Schamlosigkeit, Angriffslust, 
Zynismus, Treulosigkeit. Man hat alle diese und ähnliche Eigenschaften aus 
dem Narzißmus eines Typs erklärt, den ich das Kindweib genannt habe. Man 
hat auch gesagt — ich glaube, daß ich unter den ersten war, die es aus- 
gesprochen haben —, daß die Regression zum Sadismus aus der Tatsache zu 
erklären sei, daß solche Frauen ringsum von masochistischen Männern um- 
geben sind, die vor ihnen knien. Sie können doch nicht so viele lieben! Was 
bleibt ihnen sonst übrig, als die Männer zu quälen und so den Lustgewinn zu 
ziehn aus ihrer besonderen Situation? Das ist alles richtig. Man kann aber, 
wie ich glaube, nicht übersehen, daß in diesen Frauen ein Zwiespalt besteht 
zwischen der ungeheueren Wirkung, die von ihrer Schönheit ausgeht und der 
oft verzweifelten Leere, die man dahinter findet. Die Schönheit ist ihnen 
aufgesetzt wie ein Fremdkörper. Deshalb sind sie lauter Versprechen und 
keine Erfüllung. Der liebende Mann wird unwiderstehlich angezogen und ver- 
durstet wie der Wüstenwanderer, der hinter der Luftspiegelung her ist. Man 
möchte das populäre Doppelwort sex appeal in seine Teile zerlegen: der Ruf 
ist laut, aber die sexuelle Potenz im weiblichen Sinne fehlt. \ 

Natürlich, beeile ich mich hinzuzufügen, gibt es schöne Frauen genug, die 
auch halten, was ihre Schönheit verspricht. Die bisexuellen Komponenten 
existieren ja aus biologischen Gründen in uns allen und befinden sich im 
postulierten Normalmenschen in harmonischer Vereinigung. Aber die har- 
monisierte Schönheit hat nie die niederwerfende Gewalt der desintegrierten. 
Das klingt seltsam, aber man kann es verstehn. Ähnlich verlieren Gifte in 
gewissen chemischen Zusammensetzungen ihre Giftigkeit: Chlornatrium, Ferro- 
zyankali. In der Abspaltung kommt das Gift zum Vorschein. Psychoanalyse 
kann vielleicht entscheiden, worin diese Wirkung besteht und wie sie zustande 
kommt. 

II. 
Peggy D., auffallend schön, 27 Jahre alt, sieht aber viel jünger und mädchenhaft 


aus, schlank, anmutig, von sanften, graziösen Umgangsformen. Sie ist seit drei 
Jahren geschieden, nach zweijähriger Ehe, und wohnt jetzt wieder bei ihren Eltern. 











Mona Lisa und weibliche Schönheit 321 







































Diese sind beide „nervös“. Die Mutter leidet an hysterischen Herzanfällen, der 
Vater, ein mäßig erfolgreicher Geschäftsmann, an Wutausbrüchen. In seine schöne 
Tochter ist er ziemlich verliebt, und da seine ältere Tochter verheiratet ist und 
mehrere Kinder hat, ist es ihm im Grunde ganz recht, daß die jüngere wieder im 
Hause ist. Er zeigt ihr seine Liebe in Form von heftigen Vorwürfen, weil sie nicht 
wieder heiratet. Peggy quittiert das mit Tränen. Er nimmt sie aber auch auf die 
Knie und gibt ihr mit Vorliebe einen Kosenamen, der im Volksidiom das weibliche 
Genitale bedeutet. Sie ist an ihren Vater fixiert und war es immer. Die Eifersucht 
auf die Mutter ist auf die ältere Schwester abgeglitten und das schon in früher 
ugend. 
J Peggy ist körperlich infantil, die inneren Sexualorgane unterentwickelt, Menstrua- 
tion unregelmäßig und schwach. Vasomotorische Störungen sind deutlich. Hände 
meistens kalt, Gesichtsfarben lebhaft und wechselnd. Zur Behandlung kommt sie 
wegen Depression, die in leichtem Grade immer bestanden hat, seit ihrer Ehescheidung 
aber immer zunimmt. Sie fühlt sich depersonalisiert, befindet sich fast fortwährend 
in einem Nebel der Unwirklichkeit. Sie weiß nicht, ob sie wirklich ist — und das 
ist wörtlich gemeint —, hat das Gefühl, als ob ihre Füße den Boden nicht berührten 
und mit Schrecken bemerkt sie plötzlich, daß gar nichts mehr sicher ist. Sie muß 
dann laut zu sich selber sagen: „Heute ist Freitag, es ist Sommer und die Sonne 
scheint. Ich bin wirklich und heiße Peggy. Ja, Peggy heiße ich wirklich.“ Ge- 
legentlich zweifelt sie schmerzhaft, ob ihre Füße, ihre Hände wirklich zu ihr ge- 
hören (Kastrationsangst). 
Wir werden bald sehen, daß diesem Zweifel eine Spaltung in männlich und weib- 
lich zugrunde liegt. Sie weiß nicht, ob sie ganz das ist, was man mit einem weib- 
lichen Vornamen benennen kann. Dieser (androgyne) Zwiespalt reißt dann auch 
jede andere Einigkeit entzwei. Im Nebel begegnen sich Wirklich und Unwirklich. 
Vielleicht haben wir in der Androgynie einen wichtigen Punkt zur Erklärung der 
Depersonalisation zu erblicken. Auf die Rolle des Kastrationskomplexes bei De- 
personalisation ist ja von der Psychoanalyse schon hingewiesen worden. 
Träumerisch war Peggy immer veranlagt. Sie erinnert sich, daß sie als Kind 
immer als letzte am Frühstückstisch zurückblieb, wenn die anderen schon fertig 
waren. Sie saß da und war geistesabwesend. Ihr Vater ärgerte sich und ärgerte sie, 
indem er den Tisch regelmäßig mit den Worten verließ: „Träume weiter, stolze 
Schönheit!“ Sie hielt sich damals für alles andere als schön und nahm ihres Vaters 
Wort für einen Vorwurf, weil sie im Gegensatz zu ihrer Schwester häßlich sei. Sie 
war brünett, die Schwester blond und der Vater nannte sie gerne sein Mohrl. Sie 
hielt ihre Schwester für den Inbegriff aller weiblichen Schönheit und Vollkommen- 
heit, glaubte auch, daß die Schwester des Vaters Liebling sei. Auch in der Schule 
und später als Ehefrau und Mutter war die schöne, kluge und gute Schwester Daisy 
weit voran. Es ist bekannt genug, daß in der Kinderstube Paare entstehen, die ich 
zentrifugal oder fratrifugal genannt habe: Die ältere Schwester, ein Muster aller 
Weiblichkeit, die jüngere infolgedessen in die maskuline Richtung gedrängt. Dabei 
steht weiblich für schön und männlich für unschön. 
Häßlich steht hier auch im moralischen Sinne. In einer Erinnerung der Patientin 
tritt diese moralische Häßlichkeit als verhüllte Eifersucht und Neid zutage. Sie 
mochte zwölf gewesen sein, als sie eines Tages in Tränen ausbrach und wiederholt 
ausrief: „Ich muß sterben und meine wunderschöne Schwester Daisy wird zu meinem 
Begräbnis gehn müssen!“ Ihrer Erinnerung nach weinte sie nicht; weil sie ihren 
Imago XX/3 21 


























322 Fritz Wittels 





eigenen Tod vor Augen sah, sondern weil ein so schönes und edles Geschöpf wie 
ihre Schwester den Kummer eines Leichenbegängnisses erleben mußte. Deutlicher 
kann man unbewußte Todeswünsche kaum äußern. Der Vater nannte sie auch 
ernsthaft eine Hexe und sie wurde es und ist es in gewissem Sinne bis heute geblieben 
(„nachträglicher Gehorsam“). Als Kind war sie voll abergläubischer Gedanken und 
magischer Tätigkeit. Einmal fing sie eine rothaarige Katze (Schwester rotblond!), 
riß ihr vier oder fünf Haare aus dem Pelz und grub sie unter feierlichen Be- 
schwörungsformeln ein. Während der Analyse passierte folgendes: Sie kam aus dem 
Theater und war zu einem späten Gelage eingeladen. Ein kleiner abgerissener 
Zeitungsjunge bot ihr ein Abendblatt an. Sie beugte sich zu dem hungrigen Kinde 
nieder und sagte zu ihm: „Wir brauchen deine Zeitungen nicht, wir gehen jetzt 
Champagner trinken!“ Kaum hatte sie das gesagt, als sie in Tränen ausbrach und 
sich wegen dieser grausamen Worte heftige Vorwürfe machte. Sie war schlecht und 
gut zugleich, ein sanftes, wohlerzogenes Mädchen und eine Hexe. Auch in dieser 
Beziehung war sie doppelt. 

Immer gab es Figuren ihrer Phantasie, mit denen sie Zwiegespräche führte. Eine 
dieser Figuren war der Daumen ihrer linken Hand, den sie Jimmy nannte. Sie hielt 
ihn sich vor Augen, erzählte ihm von ihrem Kummer und ließ sich von ihm trösten. 
Aber auch der Daumen erzählte und wurde für seine Mitteilungen meistens belobt. 
Er war ihr bester, heimlicher Freund, vor der Analyse wußte außer ihr niemand, 
daß sie den kleinen Jimmy besaß. Hier wird der androgyne, auf Kastration auf- 
gebaute Charakter ihrer Verdoppelung schon deutlicher. Dieser Charakter wird 
schlagend durch die Tatsache, daß keiner ihrer Freunde — und deren wurden immer 
mehr — sie bei ihrem weiblichen Vornamen Peggy ansprach. Der Name war nahezu 
in Vergessenheit geraten. Die Burschen nannten sie Jimmy und dabei blieb es. 
Unter diesem Namen begann sie um ihr zwanzigstes Lebensjahr herum gesellschaft- 
liche Triumphe zu feiern oder was man so nennt. Allabendlich wurde sie von 
jungen Leuten abgeholt und zu Unterhaltungen mitgenommen. Sie wurde eine 
Königin von Tanzlokalen, siegte in Schönheitskonkurrenzen, ihr Name wurde be- 
kannt. Der Vater erlaubte dieses Leben und unterstützte es sogar, indem er ihr 
reichlich Mittel für Kleider, Pelze, Juwelen zur Verfügung stellte. Er war stolz auf 
die gefeierte Schönheit, rationalisierte auch mit seiner Hoffnung, daß Peggy, die 
jetzt Jimmy geworden war, auf diesem Wege reich heiraten würde. 

Dabei war es eine kalte, indifferente Schönheit. Die Burschen waren stolz, die 
berühmte Jimmy ausführen zu dürfen, aber sie wechselten ab. Man wurde bei ihr 
nicht warm. Nicht nur behielt sie ihre Jungfräulichkeit, sie war auch niemals in 
Gefahr, sie zu verlieren. Ein geistesabwesender Blick, ein allgemeines Nicht-inter- 
essiert-sein langweilten nach einiger Zeit selbst hartnäckige Verehrer. Sie weiß nicht 
genau, wann ihre Schönheit ausbrach. Es dürfte einige Jahre nach ihrer Pubertät 
gewesen sein. Eines war ganz sicher: Nur Jimmy war schön. Peggy kam als Schön- 
heit nicht in Frage. Übrigens zweifelte sie trotz ihrer Erfolge an ihrer Schönheit. 
Wirklich schön erschien ihr nach wie vor nur die allgemach hausbacken gewordene 
Schwester Daisy, obgleich objektiv an Peggys Überlegenheit kein Zweifel aufkommen 
konnte. Manchmal machte ihr die Frage, wo eigentlich Peggy hingekommen sei, 
Beschwerden. Das Verdoppelungsproblem sah so aus: Jimmy ist schön und gefällt. 
Aber Jimmy existiert doch eigentlich nicht. Sie sollte ja Peggy sein. Wenn sie nur 
wieder Peggy sein könnte! Aber dann wäre sie wieder das Aschenbrödel und das 
will sie auch nicht. 











Mona Lisa und weibliche Schönheit 323 


















































Als sie einige Jahre später in meine Behandlung kam — die Jahre des allnächt- 
lichen Glanzes waren damals lange vorüber — war sie noch immer schön. Sie war 
tief verstimmt, sah kaum und hörte nicht, was um sie her vorging, aber sie vernach- 
lässigte ihr Außeres niemals. Immer erschien sie nach der letzten Mode und mit 
sorgfältigem Geschmack gekleidet. Das stand sicher im Gegensatz zu der Gleich- 
gültigkeit, die man sonst bei Depressionszuständen sieht. Sie trat herein, lächelte 
zauberhaft und sagte: „Ich fühle mich heute entsetzlich!“ Wenn ich dann fragte: 
„Wissen Sie auch, daß Sie das lächelnd sagen?“, dann antwortete sie: „Ich weiß das.“ 
Dabei brach sie in Tränen aus und lächelte gleich wieder, weil sie geweint hatte. 
Wie man von Kindern sagt: Lachen und Weinen in einem Sack. Ihre Schönheit 
war ihr Leben oder alles was von ihrem Leben übrig geblieben war: es lächelte. Die 
Depression mit ihren Vernichtungsideen war der Tod. Hier wäre einiges über 
manisch-depressive Zustände zu sagen und deren mutmaßliche Androgynie, aber ich 
kann nicht zu viele verschiedene Probleme anschneiden. Manchmal sagte sie zu 
mir: „Bitte, nennen wenigstens Sie mich Peggy. Als Jimmy kann ich ja doch nicht 
weiter.“ Wenn ich es aber dann tat, dann rollte sie auf dem Sofa hin und her und 
konnte es nicht ertragen. Die Aufgabe bestand wirklich darin, zwei getrennte Teile, 
die nicht zusammen paßten, zu vereinigen. 

Ihre Geschichte verlief so: als ihre glanzvollen Tage in die Jahre kamen und der 
Millionärbewerber sich nicht einstellte, heiratete sie einen femininen Typ, der bald 
nach der Hochzeit sein mäßig großes Vermögen verlor. Sie hat sich ihres Mannes 
immer geschämt. Er hat sie auch nicht defloriert. Das besorgte sie selbst mit den 
Fingern wenige Tage vor der Hochzeit. Man darf da vielleicht sagen: Jimmy de- 
florierte Peggy. Der Weg von Jimmy zum Vater konnte auf analytischem Wege 
eindeutig aufgezeigt werden. In der Ehe war sie lange frigid, gegen Ende des zweiten 
Jahres begann sie mit Orgasmus zu reagieren. Die Erklärung für diesen Fortschritt 
ist eher traurig. Im Anfang gönnte sie sich ihrem Manne nicht (Brunhilt-Komplex). 
Als er ihr aber feminin bis zur Lächerlichkeit erschien und so gar keine Ähnlichkeit 
mehr mit dem väterlichen Urbild hatte, sie auch mit dem Plane, ihm davon zu 
laufen, fast fertig war: da erlaubte sie sich sexuell zu fühlen. Ihr eigentliches Ge- 
schlechtsleben waren vor und nach der Ehe mäßige Masturbation und prägenitale, 
besonders anale Praktiken. Einen großen Teil des Tages verbrachte sie im Bade- 
zimmer. 

Nach ihrer Scheidung kehrte sie, wie oben erwähnt, zu ihren Eltern zurück. Die 
Fixierung an den Vater machte die Heimkehr erstrebenswert und das Leben zu Hause 
zu einer masochistischen Hölle. Sie quälte den Vater mit ihrer niemals endenden 
Depression. Die Mutter schützte sich gegen die Tochter mit ihren eigenen hysteri- 
schen Zuständen. Im Laufe der Jahre kam einmal ein Freier, von dem sie eine Zeit- 
lang hoffte, daß sie ihn werde heiraten können. Diese Hoffnung verdankte er einer 
wirklichen oder eingebildeten Charakterähnlichkeit mit dem Vater: er war tüchtig, 
verläßlich, zielsicher. Aber aus dem nämlichen Grunde wurde er dann von Peggys 
Odipuskomplex verscheucht. „Gut!“ schrie der Vater, „Ich werde dich erhalten bis 
an dein Lebensende.“ Sie war um diese Zeit von allen ihren früheren Freunden ver- 
lassen; sie war zu teilnahmslos geworden. Sie ging wenig aus, fast niemals ohne 
Vater und Mutter wie ein gutes, sanftes Kind, das sich aber unglücklich fühlte und 
das um so intensiver, je mehr sie sich der gefürchteten „dreißig“ näherte. 

Die Aufgabe der Behandlung, Peggy und Jimmy miteinander in Harmonie zu 
bringen, bedeutete auch Harmonisierung von Wirklichkeit und Phantastik, Häßlich 


21% 



































324 Fritz Wittels 





und Schön, Schlecht und Gut, Tod und Leben, Hexe und Mensch — wie oben aus- 
geführt. Peggy, der weibliche Teil, war unterdrückt, für immer der älteren 
Schwester (Mutterimago) unterlegen. Sie war nicht imstande, die als Jimmy in Er- 
scheinung tretende Schönheit zu tragen. Auch konnten die beiden Teile miteinander 
nicht verschmelzen. Die „synthetische Kraft des Ichs“ (Nunberg) reichte hiezu 
nicht aus. Nach einer Analyse, die mit Unterbrechungen fast drei Jahre dauerte, 
war Patientin auf den Namen Peggy eingestellt und ihre Schönheit hatte ihren 
Charakter verändert. In gewissem Sinn war sie weniger schön, aber sie interessierte 
mehr. 


Der Fall scheint mir für die Annahme zu sprechen, daß weibliche Schön- 
heit, oder wenigstens abgespaltene (pathologische) Schönheit von so lärmender 
Art, von der männlichen Komponente des Weibes gespeist wird. 


II. 


Flora ist 34 Jahre alt, schwarzes Haar, blaue Augen, klein, puppenhaft. Sie ist 
schön. Ihr Mann, ein wohlhabender Fabrikant, hat sie vor fünfzehn Jahren aus 
diesem Grunde geheiratet. Er sagt, daß sie ihm gesellschaftlich nützt und außerdem 
hat sie ihm drei Kinder geboren. „Wenn ich heute vor der Wahl stünde“, sagte er, 
„würde ich sie nicht heiraten. Sie ist zu egoistisch, denkt ausschließlich an sich selbst 
und ihre Schönheit. In den letzten Jahren quält sie mich mit ihrer eingebildeten 
Krankheit.“ Sie leidet nämlich an Angstzuständen, in deren Mittelpunkt die Angst 
vor Krebs steht. Sie muß immer daran denken. Ihr Mann ist eine brutale Herr- 
schernatur, der seiner Frau nicht verzeihen kann, daß er sie nicht erobern konnte. 
Floras narzißtischer Panzer war undurchdringlich. Diesem Manne mindestens konnte 
sie sich nicht hingeben. 

Sie war das jüngste Kind und das einzige Mädchen unter sieben Kindern. Die 
Buben umgaben sie mit Anbetung und eifersüchtiger Bewachung. Das hinderte 
natürlich nicht, daß von eben dieser Seite gelegentlich sexuelle Annäherungen vor- 
kamen, die Flora vorzeitig stimulierten. Der Penisneid wurde übermächtig und ihr 
Gatte war dann nicht danach, um ihn herabzusetzen. Die Eltern waren puritanisch 
und die abergläubische Mutter brachte ihr einen fast panischen Schrecken vor den 
Gefahren des Sexuallebens bei. Der Vater war der Inbegriff des rechtgläubigen 
Patriarchen. Er schlug die Kinder niemals, aber er drohte mit der Rache Gottes. 

Im Alter von dreizehn Jahren schaffte Flora sich einen Penis an in Gestalt einer 
Kerze, mit der sie dann Jahre lang bis kurz vor ihrer Verheiratung heimlich 
masturbierte. Sie entwickelte dabei regelmäßig die Phantasie von irgendeinem ehr- 
würdigen, älteren Manne, der sie schlug. Als sie heiratete, fürchtete sie erst, ihr 
Mann werde sie wegen des Verlustes der Jungfräulichkeit befragen. Das geschah 
aber nicht und die Furcht wurde als grundlos aufgegeben. Im Ehebett war sie 
frigid, machte sich aber wenig Gedanken darüber und glaubte in den ersten Jahren 
ihrem Manne, der ihr sagte, sie sei eben ohne sexuelle Bedürfnisse wie ein Kind. In 
kurzen Abständen gebar dieses „Kind“ dann ihre drei Kinder. Flora war so nar- 
zißtisch, daß es allen ihren Bekannten auffiel. Ihr Tag war ganz ausgefüllt mit 
Kleidung und persönlicher Aufmachung. Wenn eine Abendgesellschaft zu lange 
dauerte, auch wenn sie selbst die Gastgeberin war, ging sie zu Bett, weil sie so und 
so viele Stunden Schlaf benötigte, um ihre Schönheit zu erhalten. Auch aus dem 








EEE 
Mona Lisa und weibliche Schönheit 325 








Theater ging sie vor Schluß nach Hause — aus dem nämlichen Grunde. Sie lebte 
nur für ihre Schönheit, den Spiegel und den Photographen, der sie in hundert Posen, 
im Badetrikot, in tief ausgeschnittenen Toiletten oder in Sportkleidern, gestiefelt und 
gespornt, aufnehmen mußte. An die Masturbation ihrer Mädchenjahre dachte sie 
oft. Wenn sie diese mit ihrem Ehebett verglich, gab sie der ersteren unbedingt den 
Vorzug. Aber sie kam dennoch nicht wieder darauf zurück. 


Ihr Gatte hatte eine Schwester, die ihm sehr ähnlich sah. Sie war eine ausge- 
zeichnete Reiterin, auch sonst in männlichem Sport geschickt, groß, schlank und das 
Ideal ihres Bruders. Man nannte sie Pete. Floras Leiden fing damit an, daß sie, um Pete 
zu gleichen, reiten lernte und vom Pferde fiel. Pete war ihr immer unsympathisch, 
übte gleichwohl faszinierende Wirkung auf sie aus. Nach ihrem Sturze litt sie 
Monate lang an Rückenschmerzen. Nach der ersten Diagnose „Rückenmarkerschüt- 
terung“ konnte man keinerlei organische Ursache für die Schmerzen finden und 
schickte die Frau schließlich zu einem Frauenarzt, der eine kaum merkliche Gebär- 
muttersenkung feststellte und diese für das Leiden verantwortlich machte. Flora 
spürte auch irgend etwas im Genitale. Es war nicht gerade ein Schmerz, eher eine 
Art Organgefühl. Der Arzt verschrieb ihr einen Ring (Pessar), den sie noch drei 
Jahre nach dem Unfall trug, als sie wegen ihrer Angstzustände zu mir in Behandlung 
kam. Der Gynäkologe, mit dem ich mich in Verbindung setzte, erklärte mir, daß 
derzeit keinerlei Ursache mehr bestehe für das Tragen des Pessars, aber die Patientin 
wolle nicht darauf verzichten, sie fürchte sich, ohne den Ring auszugehn. 


In der Analyse kam der lange aufgespeicherte Haß gegen den Gatten und die 
eigene älteste Tochter zutage, die der Liebling des Mannes war. Der Vater des 
Gatten und noch ein Mitglied seiner Familie waren an Krebs gestorben. Ferner gab 
es eine endlose Reihe von Kastrationsträumen. Gewächse kamen aus allen Teilen 
ihres Körpers heraus, im Gesicht, im Nacken. Verlängerungen wuchsen aus dem 
Ofen. Diese Gewächse standen mit der Furcht vor Krebs in Zusammenhang. Manch- 
mal sprang ihr der Gedanke in den Sinn: mein Mann ist mein Krebs! oder: Dr. W. 
(der Analytiker) ist mein Krebs! 


In ihren Träumen waren auch lesbische Wünsche erkennbar von Anfang an. Sie 
waren aber nur für den Traumdeuter verständlich und auch später, als manifest von 
Frauen geträumt wurde, mit denen sie schlief, konnten sie kaum therapeutisch ver- 
wendet werden. Sie fragte nämlich immer in großer Angst: „Herr Doktor, bin ich 
lesbisch”? Das wäre das Furchtbarste. Es wäre eine unerträgliche Schmach.“ Wenn 
man ihr dann sagte, sie müsse doch wissen, ob Frauen sexuellen Reiz auf sie aus- 
übten, dann leugnete sie das entschieden. Aber Männer hatten auch keine geschlecht- 
liche Anziehungskraft. Weder ihr eigener Mann noch andere. Hingegen langweilte 
sie die wenigen Freundinnen, die ihr geblieben waren, zu Tode, indem sie durch das 
Telephon und im persönlichen Umgang stundenlang nur von sich selbst und ihren 
monotonen Angstzuständen sprach. In der Nacht träumte sie dann etwa, daß eine 
dieser Freundinnen mit einem Revolver ins Zimmer schlich und als die Träumende 
angstvoll fragte: „willst du mich erschießen?“, antwortete die Freundin: „Nein. Hier 
ist der Revolver, du wirst dich selbst damit erschießen.“ Einmal dankte sie einer 
Freundin unter Tränen, die nicht enden wollten, für einen Freundschaftsdienst, der 
kaum der Rede wert war. 


Sie suchte Lokale auf, wo bekannte Lesbier verkehrten, schaute sich diese Frauen 
gut an und stellte mit Befriedigung fest, daß sie keinen Eindruck auf sie machten. 





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' 
j 
| 






































326 Fritz Wittels 





Ihre narzißtische Abwehr schützte sie vollkommen, bis auf die Angstzustände, deren 
homosexuelle Quelle eindeutig festgestellt werden konnte. Von ihrem Manne be- 
hauptete sie, daß er hypnotischen Einfluß auf sie habe. Sie entwickelte auch eine 
paranoide Eifersucht auf ihn, die insoferne keinen Sinn hatte, als sie froh war, wenn 
ihr Mann sie sexuell in Ruhe ließ. Wenn man ihr den Widerspruch vor Augen 
hielt, rationalisierte sie ihre Eifersucht mit ihrem Entschlusse, sogleich selbst ein 
Liebesverhältnis eingehen zu wollen, so wie sie erfahre, daß ihr Mann eines habe, 
Gleiches Recht für beide Teile sei ihr Wahlspruch. 


Dabei war kein Mann da, der ihr gefiel und sie selbst gefiel auch nur auf den 
ersten Blick und langweilte bald trotz ihrer Schönheit. Schließlich verstand sie sich 
nach langem Selbstquälen zu einer Beziehung mit dem Chauffeur ihres Mannes, 
Darin lag eine Art Gehorsam gegen ihren Mann, der ihr immer höhnisch versicherte, 
sie könne keinen Mann auf die Dauer fesseln, es sei denn einen Allesfresser, einen 
Don Juan oder einen, der sich von ihr materiellen Vorteil erhoffe. So etwas war 
nun geschehen. Sie entwickelte viel Sentimentalität, fühlte zum erstenmal im Leben 
und haßte ihren Gatten weniger, weil sie sich beweisen konnte, daß sie weiblich 
fühle. Sie nahm auch Rache, indem sie ihren Mann betrog und entglitt seinem 
„hypnotischen“ Einfluß. Das Verhältnis dauerte nicht lange. Es wurde niemals 
richtig konsumiert, weil die Zusammenkünfte mit ominöser Ungeschicklichkeit immer 
an ungeeigneten und bedrohten Stellen stattfanden. Eine Zeitlang war sie von fast 
unwiderstehlichem Geständniszwang gequält. Sie wollte ihrem Manne alles beichten. 
Ihr Triumph: ich bin eine Frau, kann fühlen wie eine Frau!, war freilich durch den 
niederen Stand ihres Geliebten gedämpft und die sichere Aussicht, von ihrem Manne 
hinausgeworfen zu werden, gab den Ausschlag. Gelöst wurde das Verhältnis von 
Seiten des Chauffeurs, der ihr erklärte, er könne seinen Herrn nicht länger betrügen. 
Er fürchtete sich vor dem Gesetze und um seine Stellung. Wahrscheinlich erkannte 
er auch, daß im Gehaben der Frau etwas nicht stimmte. Sie quälte ihn mit tausend 
Fragen, mit ihren ungeschickten Zusammenkünften, die manchmal in ihrer eigenen 
Wohnung und knapp vor der Heimkehr des Mannes stattfanden. Der Charakter 
dieser Beziehung und einer ähnlichen, die kurz darauf ins Leben trat, ist deutlich 
genug als Abwehr der homosexuellen Neigung zu erkennen. Man könnte sie Flucht 
in die Heterosexualität nennen und sie ist ja auch von Freud als „Erotomanie“ 
längst in diesem Sinne beschrieben. Die andere Abwehr, in regressiver Richtung 
bestand in Narzißmus, der ihr eigentliches Wesen ausmachte. Ihre Schönheit, das 
Geschenk dieses Narzißmus, war nahezu zwecklos, wenn man Anziehungskraft als 
Ziel der Schönheit ansieht. Sieht man aber die Auskunft des Spiegels: du bist eine 
schöne Frau! als den Zweck dieser Schönheit an, dann ist deutlich genug erkennbar, 
daß des Spiegels Antwort die bange Frage beruhigt: bin ich denn überhaupt Weibs 
genug? Der Spiegel sagt: Sei unbesorgt. Siehst du nicht, daß sie dich wegen deiner 
weiblichen Schönheit bewundern müssen? 


Das therapeutische Ergebnis war gut. Die Angstzustände verschwanden, der 
phallische Charakter der Krebsdrohung wurde erkannt und auch mit der lesbischen 
Tendenz konnte die Patientin sich schließlich zurecht finden. Sie sublimierte sie in 
bescheidene Äußerungen von Freundschaft. Den Rest, der dann noch zurückblieb, 
konnte sie mit ihrem Manne befriedigen, der belehrt wurde und sich etwas in seinem 
Gehaben änderte. Diese Frau war ja nicht lesbisch im eigentlichen Sinne, da ihre 
maskuline Komponente narzißtisch im Schönheitskult aufgebraucht war. 














Mona Lisa und weibliche Schönheit 327 








Viele manifest homosexuelle Frauen sind auffallend schön und mädchenhaft. Im 
Falle Floras ist die Schönheit eine glückliche Abwehr der lesbischen Tendenz. Im 
Falle der bewußt homosexuellen Schönheiten ist die Abwehr mißglückt. Sie war 
vermutlich der erste Versuch einer Abwehr, der aufgegeben wurde, aber erhalten 
blieb wie ein schönes Portal an einem Bau, der später anderen Zwecken zugeführt 
wurde, die ein prunkendes Portal nicht benötigen. 


* x * 


IV? 


Ein dritter Fall soll uns der Mühe entheben zu definieren, was Schönheit 
eigentlich sei. Das ästhetische Problem kommt für den Psychologen nicht in 
Betracht. Wir haben der berühmten und so unzulänglichen Definition: 
„schön ist, was gefällt“, gegenüber zu stellen: „Schön (in unserem Sinne) ist, 
was gefallen will.“ So kommt es also gar nicht darauf an, ob eine Frau „wirk- 
lich“ schön ist, oder es sich nur einbildet. Wir leben gerade jetzt in einer 
Zeit, die zahllosen von der Natur weniger gut ausgestatteten Mädchen ver- 
spricht, daß sie schön sein können, wenn sie nur wollen: Gymnastik, Mode, 
Schönheitsindustrie mit Farbe und Pinsel sind am Werke. Viel Zeit, Energie, 
Geld wird darauf verwendet. Das Resultat ist dann, daß solche Frauen von 
ihrer mühsam erworbenen und täglich instand gehaltenen Schönheit mehr 
oder minder überzeugt sind. Wir werden uns nicht wundern, daß diese Art 
von „psychologischer“ Schönheit erst recht die Neigung zeigt, sich von ihrer 
Trägerin abzuspalten. Sie ist ja von außen aufgetragen und findet nicht leicht 
den Zugang zu der Persönlichkeit, die körperlich durch die Haut von der 
Schönheit getrennt ist. 


Bella stammt aus Kreisen, in denen man zu viel ißt; von armen Leuten, die alles 
was sie verdienen in Form von Nahrung durch die Kehle jagen. In ihren Pubertäts- 
jahren war Bella fett. Sie war sehr aggressiv und lebte auch diese Tendenz oral aus, 
nämlich in Form von beißendem Witz und einer Vorliebe für Schamlosigkeit im 
sprachlichen Ausdruck. Sie heiratete jung einen Arbeiter aus ihren eigenen Kreisen, 
dem ein Jahr später eine Erfindung glückte, so daß er dauernd zum wohlhabenden 
Manne wurde. Er war ein 'Tatmensch, der für Frauen wenig übrig hatte. Ihm lag 
nicht viel dran, wie seine Frau aussah. Er wünschte sich einen ruhigen Herd und 
es wäre ihm nie eingefallen, eine anspruchsvolle Schönheit zu heiraten. Die aggres- 
siven Tendenzen seiner Frau erkannte er in jener Zeit nicht oder beachtete sie nicht. 
Seine Interessen lagen anderswo. 


Kaum waren sie reich geworden, als Bella beschloß, schön zu werden. Zunächst 
unterzog sie sich einer heftigen (aggressiven) Abmagerungskur. Sie hungerte, 
schluckte Schilddrüse und nahm in viel zu kurzer Zeit an die sechzig Pfund ab. Sie 
arbeitete an sich, bis sie eine überschlanke, blonde „Schönheit“ geworden war. Ihre 
Aggression gegen die Außenwelt nahm zwar nicht ab, änderte aber ihre Form. Sie 
sprach jetzt auffallend geziert und ihr burschikoser Witz verschwand. Sie war eine 





a sun uusren ont 









































328 Fritz Wittels 





vornehme Schönheit geworden und eroberte. Auf ihren Mann machte diese Ver- 
änderung zum großen Kummer Bellas keinen Eindruck. Obgleich sie nicht wirklich, 
sondern nur künstlich schön war, hatte sie doch mancherlei Erfolge und über- 
kompensierte ihren eigenen Zweifel an sich mit dem unerschütterlichen Glauben an 
ihre Unwiderstehlichkeit. Ihren Mann, den sie äußerlich mit lärmender Liebe um- 
gab, begann sie innerlich zu hassen. Er war wie ein Felsen der Gleichgültigkeit, an 
dem ihre Angriffe scheiterten. Sie strafte ihn damit, daß sie ihm keine Kinder gebar, 
nach denen er sich sehnte. Sie sagte, daß sie selbst durchaus ein Kind haben wollte, 
aber — und damit begannen ihre Angstzustände — ihre Hemmungen seien unüber- 
windlich. Bella rächte sich auch sonst an ihrem Mann. Er pflegte sehr früh aufzu- 
stehn und zur Arbeit zu gehen. Sie hatte fast allnächtlich Gesellschaft, die bis zwei 
oder drei in der Früh beisammen blieb, so daß der Mann zu wenig schlief und 
herunterkam. 


Sie begann auch einige Liebesverhältnisse, die ihr nicht viel bedeuteten und ihrem 
Manne auch nicht. Er war nicht eifersüchtig. Schließlich lernte sie einen jungen 
Mann kennen, der sich sterblich in sie verliebte und mit ihr einig war, daß sie das 
wunderbarste Geschöpf unter der Sonne sei. Er zeigte, was ich die Lilithneurose® 
nenne. Sie quälte ihn in der raffiniertesten Art, was seine Liebe zu ihr immer ver- 
stärkte. In dieser Zeit, als sie mit dem Gedanken umging, ihren Mann zu verlassen 
und es hauptsächlich aus dem Grunde nicht tat, weil sie fürchtete, ihr Mann warte 
nur darauf — brach eine schwere Angsthysterie bei ihr aus, wegen der sie in Analyse 
kam. Den Inhalt der Analyse teile ich nicht mit. Man wird mir glauben, daß 
Kastration (Penisneid) eine Hauptrolle darin spielte. 


Wir haben hier eine künstliche Schönheit vor uns. Aggression und Penisneid 
wurden in den Willen zur Schönheit umgewandelt. Ganz im Sinne der christlichen 
Literatur zerstört sie den schwachen, femininen Mann, während der starke ihr un- 
angefochten entkommt. 


* * * 

Freud bemerkt, daß die Genitalien die Entwicklung des Menschen zur 
Schönheit nicht mitgemacht hätten und daß man von ihnen eigentlich nie- 
mals sagen könne, daß sie schön seien. Ich habe die Richtigkeit dieser Be- 
merkung in einer früheren Publikation? angezweifelt. Es ist ja auch ein 
ästhetisches Urteil, über das man nicht disputieren kann. Wenn aber weib- 
liche Schönheit — wir wollen einschränkend sagen: eine gewisse Art weib- 
licher Schönheit und uns eine etwaige Verallgemeinerung vorbehalten — wie 
aus meinen Mitteilungen hervorzugehen scheint, ein phallisches Konversions- 
symptom ist, dann hat Freud mit seiner Bemerkung recht. Der Psycho- 
analyse sind geläufig: der ganze Körper, ein Teil des Körpers, ein Exkret, das 
geborene Kind als phallische Aquivalente. Schönheit gehört auch in diese 
Reihe. Theoretisch, das ist im luftleeren Raum, müßte sich Schönheit analy- 





3) Lilithneurosis, Psychoanalytic Review, Washington, 1932; deutsch in Psychoanalytische 
Bewegung, 1932. 
4) Psychoanalytische Bewegung 1930. — Freud and his Time 1931. 











Mona Lisa und weibliche Schönheit 329 











tisch auflösen lassen, indem sie auf ihren phallischen (genitalen) Ursprung zu- 
rückgeführt wird. Frauen, die am Gifte ihrer Schönheit neurotisch erkranken, 
können diese Schönheit unmöglich vor einer gewissen Auflösung bewahren, 
wenn sie geheilt werden sollen. In Wirklichkeit aber ist die Schönheit doch 
beinahe ein „irreversibles“ Symptom; ist ein zu wertvoller Besitz und die 
meisten Frauen werden eher jedes Leiden auf sich nehmen als auf sie ver- 
zichten. 








N Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 
IN Demonstriert an Christian Dietrich Grabbe 
Von 


Edmund Bergler 


Wien 





Drum Fluch der Welt, wo jeder Bauernlümmel 

| Mit Hilfe einer Viehmagd 

Iılılı Etwas Unsterbliches verfertigen kann. 

I Gothland in Grabbes „Herzog Theodor von Gothland“ 1820. 


Ich stehe erträglich, aber ich bin nicht glücklich, werde es wohl 
auch nie wieder. Ich glaube, hoffe, wünsche, liebe, achte, hasse 
nichts, sondern verachte nur noch immer das Gemeine; ich bin 
| mir selbst so gleichgültig, wie es mir ein Dritter ist: ich lese 
| tausend Bücher, aber keins zieht mich an... Ruhm und Ehre 
sind Sterne, derenthalben ich nicht einmal aufblicke; ich bin über- 
j zeugt, alles zu können, was ich will, aber auch der Wille scheint 
il ı mir so erbärmlich, daß ich ihn nicht bemühe; ich glaube, ich habe 
Hi] so ziemlich die Tiefen des Lebens, der Wissenschaft und der Kunst 
Il genossen; ich bin satt von den Hefen; nur Musik wirkt noch 
magisch auf mich, weil ich sie nicht genug verstehe. Meine jahre- 
lange Operation, den Verstand als Scheidewasser auf mein Gefühl 
zu gießen, scheint ihrem Ende zu nahen: Der Verstand ist aus- 
gegossen und das Gefühl zertrümmert. 

Aus einem Brief Grabbes an Kettembeil am 4. Mai 1827. 








Thumelico: Mutter! 
Thusnelda: Was begehrst du, mein Junge? 
Thumelico: Ein kleines Butterbrot, nicht größer als meine Hand. 
Thusnelda: Ein großes, ein ganz großes sollst du haben! Iß, trink 
und freue dich des Augenblicks, ehe die schweren Jahre 
kommen! 
Aus Grabbes letztem Drama „Die Hermannschlacht“ 1836. 


I. Triebtendenzen des Pessimisten 


Ein Pessimist ist ein Mensch, der die Existenz der Sonne am Schatten er- 
kennt. Diese Definition, die mir ein geistvoller pessimistischer Patient gab, 
berücksichtigt, so scharf sie auch einen Zug des Pessimisten — den düsteren 
| Aspekt der Welt — herausarbeitet, eine Reihe von Eigenschaften nicht. Vor 
ll) allem die bekannte Tatsache, daß der Pessimismus eine narzißtische Schutz- 
maßnahme des Ichs darstellt: durch gedankliche Vorwegnahme künftigen Un- 























ı) Nach einem Vortrag, gehalten in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung innerhalb 
des Seminars für die theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse am 9. März 1934. 




















Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 331 





heils schützt sich der Pessimist vor seinem Schreckgespenst: der Düpierte zu 
sein. Es sieht manchmal so aus, als hätte sich der Pessimist mit der Tatsache, 
daß alles im Leben mißlingt, abgefunden, doch erträgt er diese Tragödie nur 
um den Preis eines narzißtischen Lustgewinns, den er aus der richtigen Vor- 
aussage schöpft. Dieses krampfhafte Sich-nicht-Düpieren-lassen-wol- 
len läßt vermuten, daß der infantile Allmachtswahn der Pessimisten be- 
sonders empfindliche Schläge in allerfrühester Kindheit er- 
litten haben muß, d.h. diese Menschen haben den Zusammenbruch der 
„autarkischen Fiktion“ nicht verwunden und begnügen sich nicht mit 
den üblichen Restitutionsversuchen der verlorenen narzißtischen Einheit.? Ge- 
rade dieses Fixiertbleiben an die Enttäuschung macht das Krankhafte aus und 
bedingt die Unfähigkeit zur Objektbesetzung und Liebe, die die „normalen“ 
narzißtischen Restitutionsversuche darstellen. All dies läßt die Erwartung auf- 
kommen, daß der Pessimist in seinen Unheilsprophezeiungen immer gegen 
einen Unsichtbaren polemisiert, etwa nach der Formel: Ich habe ja immer ge- 
wußt, daß du ein schlechter Kerl bist und mich nicht liebst. Nun ist es im 
ersten Augenblick nicht ersichtlich, wie aus der Tatsache eines erwarteten un- 
heilvollen Ausgangs, der sich gegen die eigene Person richtet — wann er- 
wartete der Pessimist von der Welt Gutes? —, Lust geschöpft werden kann, 
es sei denn ein Stück masochistischer Befriedigung. Diese kommt beim oralen 
Pessimisten in ausgiebigem Maße zur Geltung, genau so wichtig ist aber das 
Ad-absurdum-Führen, resp. das Ins-Unrecht-Setzen der infantilen Machtperson 
— es handelt sich immer um die phallische Mutter —, die sich hinter dem, 
erst später vermännlichten, supponierten Schicksal, Fatum usw. verbirgt. 
Dieses Ins-Unrecht-Setzen dient doppeltem Zweck: es schafft ein Stück Lust 
aus dem schadenfrohen Ausleben der unbewußten Aggression (es ist bekannt, 
wie schadenfroh Pessimisten sind, wenn sie die „Harmlosen“ durch Prophe- 
zeiungen schrecken), und nimmt ein Stück Über-Ich-Bestrafung vorweg, indem 
es die peinliche Vorstellung der Nichterfüllung verschafft. Der orale Pessimist 
leitet aus diesen ständigen Enttäuschungen die Berechtigung zu seinem Haß 
gegen die erhöhte Mutterimago ab, da — wie nachzuweisen sein wird — der 
orale Pessimist gar nicht der Erfüllung seiner Kinderwünsche, 
sondern der Kindheitsenttäuschung nachjagt. Wie jeder Neurotiker 
ist er einem Grammophonliebhaber vergleichbar, der aber nur für eine Platte 
Interesse hat, die er immer bei sich trägt: wo er ein Grammophon sieht, stürzt 
er sich mit Feuereifer darauf und läßt, nie ermüdend, seine einzige Platte ab- 








2) Siehe Jekels und Bergler „Übertragung und Liebe“, Imago 1934. H. 1. 


3) Bei Zwangsneurotikern hat der (anale) Pessimismus noch den Sinn, daß das „Günstige“ 
nicht ausgesprochen werden darf, um das „Schicksal“ nicht zu „provozieren“, da ja in der 
Zwangsneurose Worte magische Bedeutung haben. 



































4 { u — 





332 Edmund Bergler 





laufen. Der orale Pessimismus ist wie ein neurotisches Symptom aufgebaut: 
unbewußte Lust und unbewußte Bestrafungsmechanismen halten einander die 
Waage und das Ich schafft in seinem Versuch der Vereinheitlichung ein Kom- 
promiß.* 


II. Die analytische Literatur zum Problem des Pessimismus 


Der erste Analytiker, der die Grundzüge einer Philosophie des Pessimismus 
— es war die Schopenhauers — aus dem Unbewußten ihres Schöpfers ab- 
leitete, war Eduard Hitschmann, der bewies, daß die frühesten und zutiefst 
reichenden Wurzeln des Pessimismus dieses Philosophen aus der eigenartigen 
Elternkonstellation entsprangen. Pessimismus sei keine Weltanschauung, son- 
dern eine krankhafte Verstimmung. Zur Rechtfertigung der primär subjektiv- 
pessimistischen Verstimmung werde sekundär die Verwerflichkeit und Schlech- 
tigkeit der Welt herangezogen, wobei ein großes Stück der Systembildung auf 
unbewußten Projektionen beruhe. Schopenhauer war einer aus jener Minorität 
von Tischgängern an des Herrgotts Tafel, denen es nicht schmeckt; ihr Kost- 
verachten beweist nicht, daß das Gebotene schlecht ist, sondern — ihre 
psycho-physische Konstitution. Hitschmann betont die Bedeutung des Nar- 
zißmus und vor allem des masochistischen Lustgewinns beim Pessimismus in 
Übereinstimmung mit Nietzsche. 


„Deutlich läßt sich die Freude am eigenen Leiden in der ganzen pessimistischen Dar- 
stellung und Auffassung des Lebens erkennen, da ja am Mißraten, Verkümmern, am Schmerz, 
am Unfall, am Häßlichen, an der willkürlichen Buße, an der Entstellung, Selbstgeißelung, 
Selbstopferung ein Wohlgefallen gefunden und gesucht wird. Dies ist alles im höchsten Grade 
paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst nicht zwiespältig will, 
welche sich selbst an diesen Leiden genießt“ (Nietzsche). Das, was ein Philosoph für die 
objektive Wahrheit, für letzte Lösungen der Welträtsel ansieht, ist nach Hitschmann 
psychologisch individuellste Zwangsgedankenbildung und deren Projektion und es sind die 
ureigensten Affekte des Philosophen, die ihn in bestimmte Richtungen zwingen. 


Bedenkt man, daß diese geistreiche Arbeit aus der Frühzeit der Analyse 
stammt, ist man über die Treffsicherheit der Formulierungen — vor allem 
das Aufspüren des masochistischen Genusses beim Pessimisten ist staunens- 
wert — frappiert und versteht, weshalb Freud diese Arbeit in seinem Werk 
„Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ zugleich mit dem philo- 





4) Man darf nicht vergessen, daß das ganze neurotische Gebäude des Pessimisten etwas 
Sekundäres darstellt und einem der vielen möglichen Ausgänge des realen oder ver- 
meintlichen Nicht- oder Zuwenig-Geliebtseins in der frühesten Kindheit entspricht. Nur darf. 
man sich die „Enttäuschungen“, an denen der Pessimist erkrankt, nicht allzu primitiv vor- 
stellen. So fragt etwa der Grabbe-Biograph Ziegler: „Was hatte denn die Welt dem jungen 
Grabbe groß zuleide getan?“ — Die Enttäuschungen liegen in der unwahrscheinlich frühen 
oralen Säuglingsperiode und gehen auf die Mutter-Kind-Beziehung zurück. 











Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 333 





sophisch-analytischen Aufsatz Wintersteins „Psychoanalytische Anmerkun- 
gen zur Geschichte der Philosophie“ besonders hervorhebt. 


Und die Triebkonstituenten des Pessimismus? Wir wissen, daß es einen 
„analen“ und einen „oralen“ Pessimisten gibt. Der anale Pessimist hat eine 
glänzende Beschreibung in einer späteren Arbeit Eduard Hitschmanns ge- 
funden, der nichts hinzuzufügen ist. Hitschmann rekonstruiert in dieser Ar- 
beit den Charakter des zwangsneurotischen Misanthropen von Molitre: 

„Nehmen wir an, er sei ein der zärtlichen Mutter besonders ergebenes und ursprünglich 
verwöhntes Kind. Der Vater war aus derberem Holz, grob, von nicht der strengsten Sitten- 
strenge. Der Sohn, an die Mutter fixiert, dem Vater eifersüchtig und immer kritischer 
gegenüberstehend, würde sich, aus der zu überwindenden Feindseligkeit heraus, ein besonders 
strenges Über-Ich aufrichten. Inzestuöse Phantasien auf die Mutter ließen das Sexuelle 
doppelt ablehnungswert erscheinen; es fiele auch mit unter das viele Ekelhafte, das ein anal Ver- 
anlagter verwirft. Narzißmus plus Analität geben eine Disposition zur Homosexualität, die durch 
Identifizierung mit der Mutter verstärkt, aber nie manifest würde. Das Vorbild der Mutter müßte 
viel strenge Gesittung, etwa auch kritisch gegen den weniger gediegenen Vater ausgespielt, zur 
Nachlebung enthalten. Innerer Zwang zur Enthaltsamkeit, gesteigert durch ängstlich ein- 
schüchternde Erziehung der Mutter, welche die Forderung, ausschließlich ihn zu lieben, ent- 
täuschen mußte, ließe nichts übrig, als Unfähigkeit und Kränkung. Das Resultat ein 
nazarenischer, gar nicht hellenischer Mann, ein Enttäuschter, ein Weltverbesserer, ein Ethiker, 
aber ein polternder, ohne Liebe, über dem ein düsterer Schatten ruht.“ — Der Autor hebt 
in der Arbeit noch hervor: das gesteigerte Selbstgefühl des Alceste, sein Opponieren aus 
Prinzip, seine verbalen Übertreibungen, masochistische Züge des Leidenwollens, sein para- 
noides Mißtrauen und die Tatsache, daß Haß, Verneinung, Pedanterie und Übermoral 
dominieren. 


Ansonsten berichtet die analytische Literatur wenig über den oralen 
Pessimisten. Die erste Äußerung finden wir bei Abraham, der in seinen 
„Beiträgen der Oralerotik zur Charakterbildung“ darauf hinweist, daß der 
schwerblütige Ernst der analen Pessimisten nicht unmittelbarer analer Her- 
kunft ist, sondern aus der Enttäuschung der oralen Wünsche des frühesten 
Alters entstand. Abraham nimmt eine Unterteilung der oralen Stufe in zwei 
Teile vor, wobei in der ersten das Saugen, in der zweiten das Beißen die 
Hauptrolle spielt, und meint, daß eine geglückte Verarbeitung der oralen 
Erotik die erste und somit vielleicht wichtigste Voraussetzung eines späteren 
normalen Verhaltens in sozialer wie in sexueller Beziehung bildet. Ob nun 
das Kind in der Säuglingsperiode Lust entbehren mußte oder durch Übermaß 
an Lust verwöhnt wurde — die Wirkung sei die gleiche. Das Kind nimmt 
unter erschwerten Bedingungen Abschied vom Stadium des Saugens. Da sein 
Lustbedürfnis entweder nicht genügend gestillt wurde oder zu anspruchsvoll 
geworden ist, stürzt sich sein Begehren mit besonderer Intensität auf die Lust- 
möglichkeiten des nächsten Stadiums, wobei ständig die Gefahr der Regression 
lauert. Das heißt, die Lust am Beißen wird besonders hervortreten, ebenso 












































334 Edmund Bergler 





die überstarke Ambivalenz. In manchen Fällen stehe die Charakterbildung 
unter oralem Einfluß: dem unerschütterlichen Optimismus, daß die Mutter- 
brust ewig fließen werde (eine Einstellung, die zu weltfremder Sorglosigkeit 
führen kann), stehe der Pessimist gegenüber, der dem Leben gegenüber eine 
sorgenvolle Einstellung habe und die Neigung „es sich sauer werden zu 
lassen“ und sich selbst einfachste Vorgänge des Lebens über Gebühr erschwere. 
Abraham nennt ferner eine Reihe von Abkömmlingen dieser Einstellung: z. B. 
den Beamten, dem die Subsistenzmittel bis zum Tode garantiert werden 
müssen, den Ungeduldigen, Ehrgeizigen, Geizigen, oral Aggressiven, den Hast- 
und Ruhelosen usw. Die auf der oral-sadistischen Stufe Fixierten seien feind- 
selig und bissig (Neid, Mißgunst, Eifersucht), während die auf der ersten — 
saugenden — Stufe Zurückgebliebenen ein heiteres und umgängliches Wesen 
an den Tag legen. 

Freud hat in seinen letzten Arbeiten die präödipale Mutterbindung des 
Kindes hervorgehoben und gemeint, „daß die Gier des Kindes nach seiner 
ersten Nahrung überhaupt unstillbar ist, daß es den Verlust niemals ver- 
schmerzt“, und sarkastisch hinzugefügt, er wäre nicht überrascht, wenn die 
Analyse eines Primitiven, der noch an der Mutterbrust saugen durfte, als er 
schon laufen und sprechen konnte, ebenfalls den Vorwurf, zu wenig Milch er- 
halten zu haben, zutage fördern würde. 

Ferenczi hat den Pessimismus im allgemeinen mit einer Störung des Wirk- 
lichkeitssinnes zu erklären versucht: 

„Alle Kinder leben im glücklichen Wahne der Allmacht, der, sie irgend einmal — wenn 
auch nur im Mutterleibe — wirklich teilhaftig waren. Es hängt von ihrem „Daimon“ und 
ihrer „Iyche“ ab, ob sie die Allmachtsgefühle auch ins spätere Leben hinüberretten — und 
Optimisten werden können, oder ob sie die Zahl der Pessimisten vermehren werden, die 
sich mit der Versagung ihrer unbewußten irrationalen Wünsche nie versöhnen, sich durch 
die nichtigsten Anlässe beleidigt, zurückgesetzt fühlen und sich für Stiefkinder des Schicksals 


halten — weil sie nicht seine einzigen oder Lieblingskinder bleiben können.“ 
(„Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes“, 1913.) 


III. Aus Grabbes Kindheit 


Im folgenden wird der Versuch gemacht, an Hand eines Bruchstücks einer 
psychoanalytischen Dichterbiographie dem Problem des oralen Pessimisten 
näherzukommen. Daß gerade Christian Dietrich Grabbe als Testobjekt ge- 
wählt wird, hängt mit mehreren Gründen zusammen: mit der Bewunderung 
des Verfassers für Grabbes Werke, mit der Tatsache, daß drei der hervor- 
stechendsten Eigenschaften Grabbes — seine Oralität,5 seine Allmachtsidee® 





5) „Zur Problematik der Pseudodebilität.“ Int. Zeitschr. f. Psa., XVII, 1932. — „Der Mamma- 
komplex des Mannes“ gemeinsam mit L. Eidelberg. Int. Zeitschr. f. Psa., XIX, 1933. — 
„Übertragung und Liebe“ gemeinsam mit L. Jekels, Imago, XX, 1934. — „Über einige 











Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 335 


































und sein Zynismus’ — zum engeren Arbeitsgebiet des Verfassers gehören, und 
endlich mit dem Reiz, ein von den wissenderen Biographen als unlösbar er- 
klärtes Problem zu lösen: „Einen Proteus in hundert Gestalten und nirgends 
zu fassen“ nennt ihn z.B. Ziegler; „keine Formel deckt ihn ganz“ resümiert 
Hillekamps. 

Über die Bedeutung Grabbes — dieses Buonarotti der Tragödie 
(Marggraff) — sei ein Urteil Heinrich Heines angeführt: 

»... Will hier nur bemerken, daß besagter Dietrich Grabbe einer der größten deutschen 
Dichter war und von allen unseren dramatischen Dichtern wohl als derjenige genannt werden 
darf, der die meiste Verwandtschaft mit Shakespeare hat. Er mag weniger Saiten auf seiner 
Leier haben als andre, die dadurch ihn vielleicht überragen, aber die Saiten, die er besitzt, 
haben einen Klang, der nur bei dem großen Briten gefunden wird. Er hat dieselben Plötz- 
lichkeiten, dieselben Naturlaute, womit uns Shakespeare erschreckt, erschüttert, entzückt. 
Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch eine Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und 
eine Ausgelassenheit, die das Tollste und Abscheulichste überbieten, das je ein Gehirn zutage 
gefördert. Es ist aber nicht Krankheit, etwa Fieber oder Blödsinn, was dergleichen hervor- 
brachte, sondern eine geistige Intoxikation des Genies. Wie Plato den Diogenes 


einen wahnsinnigen Sokrates nannte, so könnte man unseren Grabbe leider mit doppeltem 
Rechte einen betrunkenen Shakespeare nennen.“ 


„Ein origineller und ziemlich absonderlicher Dichter‘ — so nennt Freud im 
„Unbehagen in der Kultur“ Grabbe — hatte eine ungewöhnliche Jugend: 
Grabbe wuchs im Zuchthaus zu Detmold auf. Sein Vater war Zuchtmeister, 
d. h. Gefangenenaufseher. „Die Wohnung der Eltern lag über und neben den 
Zellen, in welchen Verbrecher eingesperrt saßen und man gelangte zu ihnen 
nur, indem man an Schildwachen und Türen, die mit eisernen Stangen ver- 
riegelt waren, vorüberging“ (Ziegler). Der Vater wird als gutmütiger, freund- 
lich-liebenswürdiger Pantoffelheld geschildert. Das Regiment im Hause führte 
Frau Grabbe — „der Zuchthauskommissarius“ —, wie sie scherzweise genannt 
wurde. Da Grabbes Mutter für seine spätere Entwicklung die entscheidende 
Rolle spielte, seien die einander widersprechenden Außerungen von beiden 
Biographen Grabbes, Duller und Ziegler, nebeneinandergestellt. Es sei im vor- 
hinein hervorgehoben, daß sowohl Dullers, wie Zieglers Objektivität wieder- 
holt angezweifelt wurde: Duller stand unter dem Einfluß von Grabbes Witwe, 
die mit der Mutter Grabbes in erbitterter Feindschaft lebte — „sie stiehlt, sie 
sauft“, zeterte sie — und Ziegler wieder wird Voreingenommenheit gegen Frau 


noch nicht beschriebene Spezialformen der Ejakulationsstörung.“ Int. Zeitschr, f. Psa., XX, 
1934. — „Über die Vorstadien der männlichen Schlagephantasie.“ Erscheint in Int. Zeitschr. 
f. Psa. 

6) „Das Unheimliche.“ Erscheint demnächst in International Journal of Psychoanalysis 
(London). — Eine Arbeit des Verf. über die Entwicklung der kindlichen Größenideen ist in 
Vorbereitung. 

7) „Zur Psychologie des Zynikers“, Psa. Bewegung, V, 1933. — „Ialleyrand. Ein Beitrag, 
zur Psychologie des Zynikers.“ In Druck. 






































336 Edmund Bergler 





Grabbe vorgeworfen und angedeutet, daß seine Informationen von seiner 
Frau, einem früheren Dienstmädchen der Frau Grabbe, stammen. 

Duller entwirft ein grausiges Bild der Mutter Grabbes, das offenbar haß- 
verzerrt ist und aus diesem scharfsichtigen Haß heraus — Duller ist ja ein 
Sprachrohr der Gemahlin Grabbes — sogar die Wichtigkeit der präödipalen 
Mutterbindung ahnt: 


„Grabbes Mutter lebt noch. An ihrer Brust begann sein Unglück. In jenem zarten Alter, 
da der Vater dem Kinds noch nichts sein kann, die Mutter ihm alles sein muß, fand er am 
Herzen der Mutter kein Weichtum, keinen Schutz, fand er darin fast sein Verderben. Die 
Kombinationen seiner frühesten Kindheit hatten etwas Dämonisches, dessen Einfluß, wiewohl 
durch Erziehung und Bildung geschwächt, und wie es schien, verwischt, doch in der Folge 
mit einem Male gebieterisch wieder zum Vorschein kam, und sich als feindseliges, vernich- 
tendes Element geltend machte. Denkt euch eine weibliche Natur, in welcher jede geistige 
Regung unter der starren, schmutzigen Rinde des Sinnenlebens erstickt bleibt, in welcher die 
Wahrheit nie zum Durchbruch gelangt, in welcher — statt des Bewußtseins — nur der In- 
stinkt, mit welcher — statt des Willens — nur dies oder jenes bizarre Verlangen, wie 
sinnliche Anregung eines gebar, schaltet und waltet, — eine solche bösartige, halbverrückte 
Natur, und — in eines solchen Wesens Schutz gegeben denkt euch ein Kind, das jeden 
Anblick, jedes Wort, jede Vorstellung wie Muttermilch einsaugt, dem die Mutter das 
lebendige Evangelium, dem sie erste und letzte, dem sie die heiligste Liebe, die es noch nicht 
zu fassen und später nie zu erwidern und zu vergelten vermag, das Organ sein soll, durch 
welches es das ganze Geheimnis seines Lebens wie einen Traum übersieht, auf den es viel- 
leicht erst auf dem Sterbebette sich wieder besinnt. Von allem diesen fand das Kind Grabbe 
das Gegenteil. Denkt euch eine Mutter, die ihrem Kinde von dessen viertem Lebensjahre an 
täglich betäubende geistige Getränke darbietet, und ihm des Nachts beim Schlafengehen 
solche vor das Bette setzt. In tiefstem Schmerze erzählt Grabbe dies von der seinigen.“ 


Ziegler behauptet so ziemlich das Gegenteil: 


„Grabbes Mutter, eine starke, hochgebaute Frau, die in ihrer Jugend schön gewesen sein 
soll und deren noch jetzt ausdrucksvolle Züge und helle Augen noch jetzt sehr viel Energie 
und Willenskraft andeuten, stellt in ihrer weißen Pikeemütze und ihrem breitgesteckten 
Tuch eine repräsentable Bürgersfrau dar. Freilich ist ihr etwas Leidenschaftliches und 
Hastiges eigen, weswegen sie manchmal auf Erfüllung wunderlicher Einbildungen, die sie sich 
in den Kopf gesetzt hat, mit Beharrlichkeit bestehen kann... Wenn Duller in seiner Bio- 
graphie Grabbes von ihr erzählt, daß sie Letzteren in seiner Kindheit durch Roheit und 
Härte eingeschüchtert und ihm des Nachts beim Schlafengehen betäubende geistige Getränke 
vors Bett gesetzt habe, so lautet das freilich sehr romantisch... indessen ist dieser phan- 
tastische Aufputz lediglich in dem Gehirn der Witwe Grabbes entstanden. Die Eltern liebten 
den Sohn mit der zärtlichsten Liebe, zumal sie sich einen Sohn gewünscht. (Grabbe war das 
einzige Kind.) Besonders scheint er der Augenstern der Mutter gewesen zu sein, in der 
Weise, daß sie wohl nicht ganz frei davon gewesen sein möchte, ihn in seiner Jugend ver- 
zärtelt und ihm viel zugute gehalten zu haben.“ 


Um die Unsicherheit voll zu machen, sei noch auf eine Stelle in Heines 
„Memoiren“ verwiesen, in welcher Heine direkt hervorhebt, daß Grabbes 
Mutter ihm das Trinken abgeraten habe: 














Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 337 








„Eine Geschichte will ich hier einweben, da sie die verunglimpfte Mutter eines meiner 
Kollegen in der öffentlichen Meinung rehabilitieren dürfte. Ich las nämlich einmal in der 
Biographie des armen Dietrich Grabbe, daß das Laster des Trunks, woran derselbe zugrunde 
gegangen, ihm durch seine eigene Mutter frühe eingepflanzt worden sei, indem sie dem 
Knaben, ja dem Kinde Branntwein zu trinken gegeben habe. Diese Anklage, die der 
Herausgeber der Biographie aus dem Munde feindseliger Verwandter erfahren, scheint grund- 
falsch, wenn ich mich der Worte erinnere, womit der selige Grabbe mehrmals von seiner 
Mutter sprach, die ihn oft gegen „dat Suppen“ mit den nachdrücklichsten Worten ver- 
warnte. Sie war eine rohe Dame, die Frau eines Gefängniswärters, und wenn sie ihren 
Wolf-Dietrich karessierte, mag sie ihn wohl manchmal mit den Tatzen einer Wölfin auch 
ein bischen gekratzt haben. Aber sie hatte doch ein echtes Mutterherz.“ 

(Memoiren, Ausg. Bong, Bd. 15, S. 79.) 


Der ganze Streit um die Person der Mutter Grabbes ist dadurch provoziert 
worden, daß man annahm, Grabbe sei an seiner Trunksucht zugrunde ge- 
gangen, wobei die Tendenz bestand, die Schuld an dem Alkoholismus der 
Mutter zuzuschieben. In Wirklichkeit starb Grabbe im Alter von 351/, Jahren 
(tr. Dezember 1801— 12. September 1836) an Tabes, der Spätfolge einer in 
der Studentenzeit akquirierten Lues.® Dieser Fehldiagnose ist es zu danken, 
daß wir von den Biographen einiges über die Mutter Grabbes erfahren. Nach- 
dem dieser Streit wegen der Schuld oder Unschuld der Mutter an Grabbes 
Trunksucht durch die Verifizierung der Diagnose gegenstandslos geworden ist, 
gewinnt er doch wieder eine ganz andere Bedeutung, und zwar vom analyti- 
schen Gesichtspunkt, von Grabbes überstarker Oralität her. Und wenn auch 


| der primitive Vorwurf der „Anlernung“ des Säuglings zum Potus ein der 
psychoanalytischen Deutung bedürftiges Märchen ist, das Grabbe selbst kolpor- 
tiert hat,? so ist natürlich immer wieder die Beziehung des Kindes zur Mutter 


der Ausgangspunkt und der Schlüssel zum Verständnis jeder Persönlichkeit. 
Jede Analyse zeigt immer wieder, in welchem Ausmaß die Bedeutung des 
Vaters für die psychische Entwicklung bisher überschätzt und die der Mutter 
unterschätzt wurde. Die letzten Arbeiten Freuds über die „präödipale Mutterbin- 
dung“ sprechen im Sinne dieser Annahme.!? 

Nach dem von Duller, Ziegler und Heine Angeführten ist anzunehmen, daß 
die Erziehung der Mutter durchaus inkonsequent war: Überzärtlichkeit und 
unmotivierte Strenge wechselten ab, wobei das Rabiate der Mutter beim Kinde 
selbst bei Liebkosungen Angstbereitschaft hervorrief. Sehr treffend ist Heines 











8) Vgl. Erich Ebstein, „Grabbes Krankheit“. 

9) „Aber es kam Grabbe auch nicht darauf an, wenn sich’s gerade schickte, seine Romantik 
aus dem Milieu der Hintertreppe zu schöpfen. So entstanden denn Geschichten, wie die von 
dem begnadigten Mörder, den er als kleines Kind an einem Wollfaden im Gefängnishofe 
herumführte oder das gräßliche, von ihm selbst in die Welt gesetzte Gerücht, daß die 
eigene Mutter dem vierjährigen Kinde Branntwein vors Bett gesetzt habe.“ 

(Wukadinowic.) 

10) Vgl. E. Bergler und L. Eidelberg, a.a.O. 


Imago XX/3 22 
































338 Edmund Bergler 





Vergleich mit einer Wölfin, die mit ihren Tatzen auch liebend gekratzt haben 
mag. Dafür spricht auch folgende Szene zwischen Mutter und Knabe in der 
„Hermannsschlacht“ („Eingang“, 6.): 

Thusnelda: Einen Kuß, Junge! Noch einen und noch tausende — ich werde nicht satt. 


Thumelico: Deine Küsse tun weh. 
Thusnelda: Kind, ich bin zu froh. 


IV. Grabbes Oralität 


Es muß bei Grabbe eine offenbar konstitutionell bedingte Verstärkung 
der oral-sadistischen Komponente angenommen werden, die durch 
akzidentelle Erlebnisse! in die Höhe getrieben sein mag. Auf diese Stufe der 
Sexualentwicklung regredierte Grabbe, wobei man begreiflicherweise Zeitpunkt 
und akzidentellen Anlaß, dem bloß die Rolle des agent provocateur zufällt, 
nicht mehr feststellen kann. Das sadistische Aussaugen und Beißen anderer 
und die Rückwendung dieser Aggression gegen die eigene Person unter dem 
Drucke des unbewußten Schuldgefühls, das sich im Strafbedürfnis äußert, in 
Form der Angst vor dem Gefressenwerden, spielen bei Grabbe eine übergroße 
Rolle. Diese Einstellung kann man im realen Verhalten Grabbes finden und 
mit einer Unzahl von Zitaten aus seinen Werken belegen. 


So erzählt z.B. Gräfin Elisa v. Ahlefeld (die Freundin Immermanns), daß 
sie Grabbe mit ihrer schönen Hand nicht zu nahe kommen durfte, da er sonst 
sofort hineinbiß, „weil sie gar so appetitlich sei“. „Er war wie ein Kind“, sagte 
die Gräfin von ihm, „so gut, so unartig, so lenksam, aber auch so schmutzig“. 


Eine ähnliche Szene — diesmal handelt es sich um einen Mann — erzählt 
Ziegler (S. 77): 


„Einst traf er auf einem Balle mit ein paar Berliner Studenten, die, ich weiß nicht von 
wem, eingeführt waren, zusammen, der eine von ihnen hieß Eichholz... Die jungen Leute 
hatten sich an ihn gedrängt, saßen mit ihm in einer Nebenstube, wo sie miteinander zechten, 
und flossen hier über in Lobeserhebungen über die Grabbeschen Werke, was allerdings nicht 
ohne Reiz für Grabbe blieb, der für Schmeicheleien zu Zeiten sehr empfänglich war. Das 
hatte eine Weile gedauert, da näherten sich mehrere von Grabbes älteren Bekannten und 
warfen spöttische Blicke auf diese seine Unterhaltung. Grabbe merkte das, schien sich 
darüber zu schämen, daß er sich mit den jungen Leuten in solche Vertraulichkeit eingelassen 
habe und brach nun auf höchst seltsame Art auf. Er sprang auf und während der Herr 
Eichholz noch vor ihm stand und fortfuhr zu demonstrieren, drückte er ihm die Hand mit 
den Worten: ‚Ja, ja, Sie haben ganz recht‘, neigte sich zu ihm, als ob er ihn küssen wollte 
und biß ihn auf die Wange, indem er versetzte: ‚hier haben Sie ein Zeichen meiner Hoch- 
achtung.‘ Dann drehte er sich um, verzog das Gesicht zu einer lächerlichen Miene und ging 
aus dem Zimmer.“ 








ı1) Wir wissen nichts über den Zeitpunkt der Mutterbrustentwöhnung Grabbes und kön- 
nen nur aus Indizien auf die Stärke dieses Traumas schließen. 














Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 339 





Ein Studienkollege Grabbes erzählte folgende Szene, die Ebstein ($.2r) 
zitiert: 

„Daß Grabbe sich oftmals sehr herabwürdigte, ist ein bekanntes Ding... Grabbe war 
geradezu ein Schwein. Mehrere junge Juristen machten wir einen Spaziergang auf dem 
Detmolder Stadtbruche. Da es dämmerte, liefen Mäuse hin und her. Plötzlich warf sich 
Grabbe auf die Erde, haschte wie ein Kater nach den Tieren, erhaschte eines und nahm es 
zwischen die Zähne. Einer rief: ‚Trägst du es so zur yStadt Frankfurt« hin, gebe ich so 
und so viel aus.‘ — Grabbe gab sich auch hiezu her.“ 


Aus Grabbes „Nanette und Marie“ stammt folgende Episode: 


Nanette: Weh! 

Pietro (Vater): Was ist? 

Nanette: Die Nadel hier — sie stach 
Mir in den Finger — er bluter — 

Leonardo (Liebhaber): Laß mich ihn 
Aussaugen! 

Nanette: Ha, der Unbarmherzige! 


Ich fühl es, wie er mir die Seele wegsaugt! 
Ebenfalls aus „Nanette und Marie“: 


Leonardo: Oh, Nanette, holder Name! . 
Sollt ich dereinst verzweifelt und verlassen 
Im fürchterlichsten Schmerz darniederliegen, 
So würde ich „Nanette“ sagen und 
Wie Himmelsfrieden würd’ es mich umweben! 
Nanette: Pah, 
Ich liebe meinen Namen nicht, er klingt 
Zu zimperlich! — Ein Wort wie Krokodil, 
Das wär’ ein Nam’ gewesen, welcher zu 
Der grimmen Miene paßte, die ich dir 
So gerne zeigte und nicht zeigen kann. 
Leonardo: Nein, keine grimme Miene, auch nicht nur 
Zu scherzen! Deine Augenbrauen sind 
Zwei Raben in dem Schnee, und wenn du sie 
Zusammenzögst, so würd’ ich denken, daß 
Sie ihre Flügel regten, um mir auf 
Den Busen loszufliegen und ihn aus- 


Zuhacken! 

Nanette: Pfui doch, du erschreckst mich vor 
Mir selbst, — kaum wage ich an meine Stirn 
Zu fassen, — meine Augenbrauen könnten 
Mir in den Finger beißen... 

Leonardo: Deine Finger 


Verdienten das um meinetwillen! Halb 
Geöffnet, gleich schlau ausgestellten Mäusefallen 
Erwischen sie mit einem Druck die Herzen 
Und lassen ihren Fang nicht eher — Ei, 

Sieh da! Wie niedlich! 





22* 



































340 Edmund Bergler 





Besonders beweisend ist eine Szene aus dem Märchenspiel „Aschenbrödel“. 
Dort stellt die Feenkönigin der Olympia eine sonderbare Dienerschaft zur 
Verfügung: der Kutscher ist eine verwandelte Ratte, die Kammerzofe eine 
verzauberte Katze. 


Königin der Feen: 
Doch müssen wir bei all den Feengaben 
Zur Freude auch den Scherz noch haben. 
Der Kutscher fehlt — ’ne Ratte naget dort. 
„Ratte sei Kutscher! Fahre du wild! Wild wie du bist!“ 
Die Zofe fehlt — ei, will die Katz da fort? 
„Katze werd’ Zofe! Sanft und doch beißig! Katzennatur!“ 


(Der Kutscher, eine verwandelte Ratte, tritt ein, graugekleidet, mit einem Zopf bis an 
die Fersen und einer großen Peitsche.) 

(Er will in das Loch kriechen.) Weh’ mir, ich ward zu groß. 

Zofe (sieht den Kutscher, für sich murmelnd): Häh, die Ratte! Ich springe auf sie los! — 
Doch still — Ich habe keine Krallen mehr. 

Kutscher: Wie unbehaglich ist mir! Wie wohl war mir in meiner süßen Heimat — Wie 
schön war ich! Wie schändlich bin ich verwandelt! 

Zofe (sacht geschlichen): Fassen muß ich die Ratte, doch — 

Kutscher (erblickt die Zofe): Huh, was riech’ ich? 

Königin der Feen: Kutscher, wirst du kindisch? 

Kutscher: Wenn man mir ans Leben will? 

Königin der Feen: An das Leben? 

Kutscher: Das Geschöpf da will mich fressen — aber kommt’s mir, ich sterbe nicht 
umsonst, ich wehre mich. 

Königin der Feen: Das holde Mädchen erschreckt dich? Du nimmst sie einst noch zur 
Frau. 

Kutscher: Daß ich morgens nach der Hochzeitsnacht statt neben ihr in ihrem Magen 
läge... ’S ist ’ne Katze. Der Hund hol ihre Schönheit. Damit betrügt sie die Mäuse. — 
Aber wir Ratten, — doch wir ersten Geschöpfe, wir ahnen gleich, was so ’ne St. Simonistin 
für eine auffresserische Tendenz unterm Fell hat. 

Königin der Feen: Sie sieht dich so mild, so traurig an. 

Kutscher: Mild? Ja, um mich heranzulocken! Traurig? Ja, weil ich nicht komme! Sie 
hat meinen Vater ermordet, den braven Greis, nun ist sie noch nicht satt,!? sie will noch 
den Sohn. 

Königin der Feen: Du rasest! 

Kutscher: Ich sollt’ es, ich hab Ursach’ über Ursach’. Denn auch meiner Geliebten biß 
sie neulich das vierte Bein aus — Gottlob, die hat noch drei behalten, mehr als du je 
gehabt. — Und ich — hab’ ich nicht gestern mit ihr auf dem Kornboden gekämpft bis aufs 
Blut? Ich, meine Geliebte, einige gute Freunde und Freundinnen aßen ein bißchen Korn, 
klatschten ein wenig, hielten nachher einen kleinen Ball, der etwas Lärm machte. — Jene 
Kreatur hört das, schleicht heran, springt mir in den Nacken, krallt sich hinein, beißt mir 











12) Vgl einen Brief Grabbes an seine Mutter (21. Juli 1835): „Dein letzter Brief hat 
mich sehr krank gemacht. Wirst Du —, ich mags nicht sagen. Du willst hieher kommen? — 
mich nun ganz ausziehen, weil ich Dir vieles geschickt und schicken werde? Noch nicht satt?“ 


















































Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 341 





den Kopf, ich ihr in meiner Angst das Ohr... schaut, da hat sie noch die Narbe — und nur 
ihr erster Schreck vor meinem verzweifelten Widerstand rettete uns. 
Zofe: Mein Lieber, du irrst dich in der Person — laß dich umarmen — komm’, fern 
von Menschen laß uns tändeln und spielen auf grüner Au. 
Kutscher: Ei, Madmoiselle Miau! Er wird sich hüten! Spricht sie schon wieder von „Au“? 
Kann sie das „auen“ und „miauen“ auch jetzt nicht lassen? 
Zofe (zur Königin der Feen): Oh, laß mich mit dem guten Mann allein! 
Kutscher: Eh’ soll der Gottseibeiuns bei mir sein. 
Zofe: Ich werde mich mit ihm verständigen! 
Kutscher: Zu fressen mich, will sie mich bändigen. 
Königin der Feen (zum Kutscher): 
Genug! zum Wagen stracks, 
Und zu des Königs Hofe 
Fahr du Olympia und ihre Zofe! 
Kutscher: Ich auf dem Bock und das Tier hinter mir? Daß es jeden Augenblick mir ins 
Genick fällt? 
Königin der Feen: Ich werde dich vor ihr beschützen, 
Doch auf dem Bocke sollst du sitzen! 
Kutscher: Schon wieder soll. Ich fühl’s, ich muß... 


In Grabbes „Napoleon“ schreit Jouve: 


„Hacket dem verräterischen Schneider die Finger ab und steckt sie in den 
Mund als Zigarren der Nation.“ 


Einer der Grundsätze von Grabbes Faust („Don Juan und Faust“, IV. 3.) 

lautet: 
Was ich wünsche, muß ich haben oder 
Ich schlag’s zu Trümmern! Wenn ich schmachte 
(Sei’s nach der Liebe oder nach dem Himmel), 
So werd ich nicht, wie manche Sehnsuchtsnarren, 
Vom Schmachten satt und freu’ in süßlicher 
Melancholie und Selbstzufriedenheit daran mich — 
Nein, nein, da halt’ ich’s lieber mit dem Tiger, der 
So lange Hunger fühlt, bis er der Speise 
Genug hat und den Raub zerreißt, 
Auf den er lauert. — Muß man denn zerreißen, 
Um zu genießen? Glaub’s fast, wegen der 
Verdauung. Ganze Stücke schmecken schlecht, 
Mir sagen’s Seel’ und Magen... 


In „Marius und Sulla“ kommt diese kannibalische Tendenz noch deut- 
licher zum Ausdruck: 
Flavius (in der Senatsrede): 
Blut oder Brot! Wir hungern! Unten an 
Dem Tiber liegt der Marius und sperrt 
Die Zufuhr! Nicht ein Stäubchen Mehls gelangt 
Zur Stadt! Er läßt es in die Wellen schütten! 
Die Mütter wollen ihre Kinder schlachten, 
Pest, Seuchen, Jammer brechen jäh herein! 




















342 Edmund Bergler 





In Grabbes Jugenddrama „Herzog Theodor von Gothland“ wimmelt 
es von oral-sadistischen Anspielungen. Skiöld spricht von Menschenopfern, 
der alte Gothland drückt den Wunsch, seinen Sohn zu töten, folgendermaßen 
aus: „Nun wollen wir ihn schlachten wie ein Huhn“, Berdoa höhnt des Helden 
Träume als Wiederkäuen des Brudermords: „Er kann kein Bruderfleisch ver- 
dauen“, Herzog Theodor erzählt einen Traum, in welchem sein ermordeter 
Bruder in Gestalt einer ungeheuren Spinne ihm „die Brust aussog“, Rolf zeigt 
seine selbstangenagten Fingerknochen und der Kanzler bricht in den Ver- 
zweiflungsschrei aus: 

Hier 
Ist meine nackte Brust! Durchbohr’ sie, reiß 
Sie auf! Saug ihre Wunden! Bruderblut 
Ist Nektartrank! Schlürf’ es! Hin strömt es dir! 
Mit Freuden geb? ich’s, wenn es dich 
Beglückt! Berausche dich darin, 
Bis daß du dich davon erbrichst!... 
Ja, ja, Kettet’s, kettet’s an, 
Das Ungetüm, das seine Brüder frißt. 

Grabbe verließ die orale Entwicklungsphase mit einer schweren 
Läsion: die gütige und die fressende Mutter sollten von nun an ständig um 
die Herrschaft in seiner Brust ringen und seine Beziehung zum Leben be- 
stimmen. 

Es ist auffallend — und für die These der oralen Regression beweisend —, 
daß bei Grabbe Frauen und Männer als „Fressende“ und „Gefressene‘“ ohne 
Geschlechtsunterschied vorkommen. Das hängt damit zusammen, daß es für 
das Kind auf der oralen Stufe einen Geschlechtsunterschied noch nicht gibt: 
die Frauen sind ebenso phallische, d.h. Wesen mit einem Brustpenis, wie die 
Männer. 

Aus dieser nicht überwundenen oralen Phase ist Grabbes Alkoholismus, 
vieles an seiner Dichtung, seine Größenideen, sein Pessimismus, ja seine ganze 
Sexualität zu verstehen. 


V. Grabbes Alkoholismus 


Grabbes alkoholische Süchtigkeit erwächst auf dem Boden der oralen Trieb- 
konstitution und stellt ein schr komplexes Phänomen dar. Alle bisherigen 
analytischen Versuche, das tiefste Agens der Süchtigkeit zu finden, haben keine 
Lösung gebracht. Die Arbeiten von Rado, Wulff, M.Klein, M.Schmide- 
berg, Glover, E.P. Hoffmann geben trotz höchst bedeutungsvollen Hin- 
weisen keine befriedigende Antwort. Daß die orale Triebkonstitution allein 
nicht genügt, ist anerkannt. Dazu muß neben einer offenbar konstitutionellen 
Gift-Affinität — eine Süchtigkeit zu einem speziellen Gift kann sich, wie eine 



































Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 343 





Reihe von nichtanalytischen Autoren hervorhob, nur dort entwickeln, wo der 
Körper dieses Gift mit Lustreaktionen beantwortet: gibt es doch Individuen, 
die z. B. Morphium mit dysphorischen Reaktionen beantworten —, noch ein 
Etwas hinzukommen, das uns bisher nicht bekannt ist. Vielleicht ergeben 
die psychischen Reparationsversuche des Entwöhnungstraumas einen weiteren 
Zugang zum Problem. 

Mit diesen Vorbehalten — derzeitige Unlösbarkeit des Problems — können 
wir bei Grabbes Alkoholismus folgende Konstituenten finden: 

1. Der Potus ist vorerst eine Wiederholung der oralen Lust und ein 
Versuch einer Wiedergutmachung der oralen Enttäuschung. Der Alkoholiker 
bekommt soviel zu trinken, als er nur will, die infantile Sehnsucht scheint 
erfüllt, die dahinter lauernde, aus der Versagung resultierende Depression zeit- 
weise überwunden. 

2. Der Potus stellt zugleich eine „magische Geste“ dar, die zeigt, wie 
der Potator in der Kindheit bezüglich der Milch hätte behandelt werden 
wollen. 

3. Das Animieren anderer zum Trinken (eine von Grabbe wiederholt be- 
richtete Attitüde) bedeutet die Identifizierung mit der gütigen, oral- 
spendenden Mutter. (Bei jedem Menschen besteht nach Freud die Tendenz, 
passiv Erlebtes aktiv zu wiederholen.) 

4. Auch die konsekutive Logorrhoe und das bombastische Bramarbasieren 
im Rausch sind einerseits Identifizierungsprodukte mit der gütigen Mutter, 
anderseits stellen sie durch Amovierung des verbietenden Über-Ichs jenen Zu- 
stand narzißtischer Glückseligkeit und das Zurückgleiten auf die Stufe der 
kindlichen Allmacht dar, die bei jeder Süchtigkeit zu konstatieren ist. Das 
schwache aktuelle Ich kann sich der unbewußten Triebtendenzen nicht er- 
wehren und erliegt immer wieder der narzißtischen „Versuchung“. 

5. Ein weiterer Beweis der kindlichen Allmacht beim Alkoholiker ergibt 
sich aus der Urethralerotik. Ich konnte wiederholt in Analysen feststellen, 
daß Alkoholiker beim häufigen, durch Alkoholgenuß bedingten Urinieren 
infantil-sadistische Größenideen auslebten. Bezeichnend hiefür ist eine Störung 
des Zeitgefühls bei diesen Menschen, die, ohne betrunken zu sein, beim durch 
Saufen bedingten Urinieren das Gefühl einer unendlich langen Zeitspanne 
haben. Diese Größenideen kombinieren sich mit urethral-analen Herab- 
setzungstendenzen, für die gerade Grabbe ein Beispiel liefert. So erzählt 
Grabbes Biograph Ziegler folgende Szene: 

»... Erinnere ich mich, als Hannibal gezwungen war, Italien zu verlassen, hielt er einen 
Kriegsrat und während nun seine Generale weise beraten, stellt er sich bei Seite und schlägt 


sein Wasser ab. ‚Wartet erst einmal!‘ sagt er verächtlich zu seiner Umgebung, ‚ich muß erst 
einmal p...“ Als er wirklich abreist, verrichtet er erst seine Notdurft, indem er spricht:. 





























344 Edmund Bergler 








‚Das ist mein Denkmal, welches ich hinterlasse‘. Wenn man Grabbe fragte, ob er denn der- 
gleichen drucken lassen wolle, versetzte er: ‚Allerdings. Und keinen Buchstaben werde ich 
streichen.‘ “ 

Wenn man die bei Grabbe klar nachweisbare Gleichsetzung von Mutter und 
Heimat in Rechnung stellt (siehe S. 366), ergibt diese Miktion eine allerstärkste 
Aggression gegen die Mutter . (Italien war Hannibals „erweiterte“ und er- 
oberte Wahlheimat.) 

6. Im Potus liegt zugleich eine Anklage gegen die die Milch verweigernde 
Mutter (der gegenüber der Potator ambivalent eingestellt ist) etwa nach der 
Formel: Schau, was du aus mir gemacht hast: einen Säufer. 

7. Anderseits ist in der Trunksucht eine Rachehandlung gegen die 
Mutter auf dem Umwege über die introjizierte Mutter unverkennbar.!® Der 
Potator ist dann psychologisch nicht er selbst, sondern die Mutter. Die Schä- 
digung gilt nicht dem Säufer, sondern der zu bestrafenden introjizierten 
Mutter. Es ist die Umkehrung der Situation: säugende Mutter — saugendes 
Kind, wobei die Mutter aus Rache mit Gift „angefüllt“ wird. 

8. Zugleich ist eine Trotzhandlung gegen die Mutter, resp. die Autorität 
unverkennbar: 

„Eines Tages ist Grabbe in einem Konditorladen, dessen Besuch den Schülern verboten war, 
mit einigen seiner Altersgenossen anwesend, als einer der Lehrer hereintritt, vielleicht, um 
eine Erfrischung zu nehmen. Da wandelt ihn eine solche Verlegenheit und Keckheit an, daß 
er augenblicklich sechs Liköre fordert und alle sechs in Gegenwart des Lehrers hinunter- 
stürzt.“ (Ziegler.) 


9. Daß unbewußte homosexuelle und exhibitionistische Tenden- 
zen im Potus in männlicher Gesellschaft hervortreten, ist eine bekannte Kom- 
ponente. Das gilt nicht für den „stillen Suff“, wo das früher hervorgehobene 
Hinabgleiten in frühe narzißtische Stufen und das Sich-Hingeben an solche 
Phantasien mehr hervortritt. 

Grabbe, der ursprünglich immer in Männergesellschaft trank, kam in letzten 
Jahren immer mehr davon ab. Aus seiner Düsseldorfer Zeit werden Szenen 
geschildert, in welchen er halbe Tage lang mit dem epileptischen Komponisten 
Burgmüller ohne zu sprechen trinkend „verdöste“, d.h. sich schweigend 
seinen Phantasien hingab. Bezeichnend ist, daß er in dieser Zeit an der „Her- 
mannschlacht“, also einem Mutterproblem arbeitete (siehe S. 367f.). Endlich sei 
auf die Zusammenhänge zwischen Oralität und Homosexualität verwiesen 
(siehe „Mammakomplex““). 





13) Dieser Mechanismus steht der Melancholie nahe und unterscheidet sich von ihr durch 
die partielle Einverleibung. H. Wulff nennt den Vorgang bei seinen Fällen von Freßsucht 
treffend „ein Mittelding zwischen Melancholie und Sucht“. („Über einen interessanten oralen 
Symptomenkomplex und seine Beziehung zur Sucht.“ Int. Zschr. f. Psa, XVII, 1932.) Eben- 
dort Hinweise auf die Differenzen zur Melancholie und Hervorheben der Triebentmischung. 











Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 345: 




























10. Die Schuldgefühlsentlastung erfolgt beim Potus auf verschiedenen 
Wegen. Beim Trinken in Gesellschaft dadurch, daß auch andere sich be- 
rauschen, also durch deren Mitschuldigmachen. Ferner in der realen Selbst- 
schädigung durch den Potus, im folgenden Katzenjammer, den Selbstvor- 
würfen, dem Odium bei den Mitmenschen usw. usw. 

„Anfangs Elend und später häuslicher Gram trieben den unglücklichen Grabbe, im 
Rausche Erheiterung oder Vergessenheit zu suchen, und zuletzt mochte er wohl zur Flasche 
gegriffen haben, wie andere zur Pistole, um dem Jammertum ein Ende zu machen. ‚Glauben 
Sie mir‘, sagte mir einst ein naiver westfälischer Landsmann Grabbes, ‚der konnte viel ver- 


tragen und wäre nicht gestorben, weil er trank, sondern er trank, weil er sterben wollte‘; 
er starb durch Selbsttrunk.“ (Heine, „Memoiren“, $.79.) 


Erinnern wir uns, daß Grabbe selbst das Gerücht kolportierte, seine Mutter 
hätte ihn schon als Säugling und Knabe zum Trunke angehalten. Ich halte 
dieses Gerücht für eine nur psychoanalytisch erklärbare Rache an der die 
Brust entziehenden Mutter: Es ist ein phantasiertes Festhalten an der Mutter- 
brust, wobei der Mutter aus Rache für die Entwöhnung die Schuld am Potus 
aufgehalst wird. Die aggressive Triebenergie bezieht ihre Verstärkung aus der 
bei jeder Sucht stattfindenden Triebentmischung (Wulff). 

Daß im Trunke eine liebende und hassende Beziehung zur Mutter zutage 
tritt, beweist folgende Stelle aus „Kaiser Heinrich VI.“ (IL. 3.): 
Otto: Meine Mutter, meine Mutter! 
Heinrich der Löwe: Ging 
Dahin, von woher niemand rückkehrt — weine 
Nicht länger — Hilft dir nichts — Ich rief schon oft 
Zu ihrem Grab — doch nicht einmal ein Echo 
Schallt draus hervor. — Das Gute schwindet, nur 
Erinnrung bleibt. — Darum, solang’ du atmest, 
Erinnre dich an sie, — wenn dir im Römer 
Der Saft der Traube blinkt, so denk’ an sie 
Und Götternektar wirst du schlürfen... 


Diese liebende Trunkintrojektion von Personen hat ihr haßvolles Gegen- 
stück. So sagt etwa Erzbischof Mathäus („Kaiser Heinrich VL“, II. I.) seinem 
zum Tode verurteilten kirchlichen Gegner („Verkehrt auf einem Esel mit dir 
zum Schafott!“): 

Ophamilla, heute abend noch, 

Wenn du in deinem Blute liegst, trink’ ich 

Den schönsten Syrakuser deiner Keller. 


Ein anderes Beispiel der Kombination beider Tendenzen ist die Tatsache, 
daß Berdoa („Herzog Theodor von Gothland‘) Schnaps in großen 
Mengen trinkt und das Glas (Brust) auffrißt. Von Marius („Marius und 
Sulla“) heißt es: „Blut und Wein sind seine Losung.“ 














346 Edmund Bergler 





Noch klarer wird der Zusammenhang des Potus mit der milchspendenden 
Mutter, wenn wir folgende von Ziegler geschilderte Szene analytisch durch- 


denken: 

„1829/30 hatte sich Grabbe bei einer Schlittenpartie den Arm gebrochen und ließ sich 
in der Wohnung seiner Eltern auf dem Zuchthofe, wohin er solange gezogen war, wieder 
heilen... Während wir so saßen, fiel es Grabbe ein, ob wir nicht eine Zigarre rauchen 
wollten und indem er ein Bund hervorzog, präsentierte er uns davon. Mein Bekannter neben 
mir dankte und versetzte, um Grabbe zu necken: ‚Ach, ich weiß schon, du siehst es doch 
nicht gern, wenn wir eine nehmen; darum hast du solange gewartet‘. Da nahm Grabbe das 
ganze Bund und zerrieb es so auf Tische, daß alle Zigarren verdorben waren. ‚Sieh, wenn 
du das meinst!‘ ‚Das wußte ich‘, sagte mein Nachbar und fing laut an zu lachen und darauf 
schämte sich Grabbe. — Als dies vorgegangen war, sprang die Katze der Madame Grabbe 
auf den Tisch und nahm sich die Freiheit, mit ihrem roten Züngelchen die Michkanne zu 
belecken. Kaum hatte Grabbe dies gesehen, so langte er in seiner Aufregung nach dem 
YTintenfasse, das auf dem Tische stand und schüttete es auf die Katze aus, sodaß diese einen 
ziemlichen Teil davon wirklich auf ihren Pelz bekam und nun ein großes Unglück anrichtete, 
denn sie hüpfte fort auf die Betten und machte auf denselben an mehreren Stellen große 
schwarze Flecken. Grabbes Mutter wurde im hohen Grade erzürnt, sprang herbei, ein 
noch größeres Unglück zu verhüten und konnte sich nicht enthalten, ihrem Unmut in 
einigen derben Ausdrücken gegen ihren Sohn Luft zu machen. ‚Wat sint dat för Naren- 
streuche,‘ rief sie in ihrem plattdeutschen Dialekte, ‚diu bist en ganz unkläugen Jungen.“ Er 
ließ sich übrigens nicht verblüffen: ‚Och, wat‘, sagte er, — ‚lick..eck kann er nicht vör! 
Diu aule Katte, Katte, Katte, drink äust mol!“ Hierbei rührte er seiner Mutter eine Tasse 
Tee mit Zucker und Rum zurecht und darauf mußte sie denn natürlich ihrem verzogenen 


Sohne wieder vergeben.“ 

Die Identifizierung zwischen Mutter und Katze ist klar, ebenso die ambi- 
valente Einstellung des Sohnes zu ihr. Bezeichnend die Aufregung Grabbes 
beim Wegtrinken der Milch: alle oralen Menschen wollen ständig „etwas be- 
kommen“ (zutiefst die ewig fließende Mutterbrust) und sind äußerst intolerant 
gegen das „Geben“. Eine Ausnahme bildet die Situation, in welcher der oral 
Fixierte oder Regredierte sich mit der spendenden Mutter identifiziert. 

ır. Endlich sei darauf verwiesen, daß der Potus für die oral Regredierten 
eine Art von Sexualbefriedigungsersatz darstellt, da die normale Ab- 
fuhr der unbewußten prägenitalen Wünsche infolge ihrer Struktur auf der 
dafür nicht eingerichteten Genitalapparatur nicht befriedigbar erscheint. Unter 
dem Einfluß der analytischen Erkenntnisse haben auf diesen Tatbestand auch 
nicht analytische Sexualforscher hingewiesen. 

ı2. Das früher hervorgehobene Festhalten infantiler Allmachtsideen ver- 
bunden mit der Schwäche des Ichs bedingen die imperative Forderung des 
Potators nach dem „Sofort-Haben-Müssen“ (Federn). Das insistierende, 
sich ansaugende im oralen Charakterzug hat Abraham hervorgehoben. Der 
Alkohol gibt die Möglichkeit der supponierten Erfüllung dieser Wünsche. 
Auch ist der Rausch eine Art „neurotischer Dauerlust“ (Pfeifer), zumindest 











Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 347 





eine protrahierte, stundenlang dauernde Befriedigung, zum Unterschied von 
der normalen, im Orgasmus gipfelnden Sexualität. 

Resumierend sei nochmals hervorgehoben, daß Verfasser das Moment der 
verschiedenen Reparations- und B ewältigungsversuche des Ent- 
wöhnungstraumas!* für eine der wichtigsten — vielleicht die wichtigste — 
Komponente im Orchester der unbewußten Motive bei der Süchtigkeit hält. 


VI. Grabbes infantile Allmachtsideen, ihr Zusammenbruch und 
konsekutiver Pessimismus 


Bei oralen Menschen setzt der Konflikt mit der supponierten eigenen All- 
macht an der gleichen Stelle wie bei jedem Kind ein: bei der Erkenntnis, daß 
die Mutterbrust kein Teil des eigenen Ichs ist und es vom Belieben der Mutter 
abhängt, ob, wann und wie lange sie dem Kinde gereicht wird. Es folgen Ab- 
leugnungs- resp. Restitutionsversuche dieses Traumas. Doch sei nochmals aus- 
drücklich hervorgehoben, daß diese Reparationsversuche zutiefst nicht der 
Mutter als Objekt gelten, sondern der Mutterbrust, wie sie noch als Teil des 
eigenen Ich perzipiert wurde. Das ganze stellt sich somit als rein narzißti- 
scher Restitutionsversuch dar.!%“ Es resultieren z.B. Menschen, die zum Essen 
eine sehr lose Beziehung haben und jede Enttäuschung mit Appetitlosigkeit 
quittieren, die sie häufig aggressiv gegen die Umgebung verwenden; oder aber 
Typen, die die Entziehung der Mutterbrust mit einem ewigen, stets erfolg- 
losen Suchen derselben beantworten. Häufig sind diese zwei Typen nicht 
scharf getrennt: 

Don Juan: Verwünscht ist der Gedanke: jedes Ziel 

Ist Tod. — Wohl dem, der ewig stirbt, ja Heil, 
Heil ihm, der ewig hungern könnte, 
Leporello: Danke! 
Ich merk’s, ihr laßt mich hungern nach Prinzipien, — 
Wenn’s nur mein Magen duldete, doch der 
Ruft immer dar: Heil ihm, der ewig frißt. 
(„Don Juan und Faust“ I. ı.) 

In Träumen oral fixierter oder regredierter Patienten findet man häufig den 
sogenannten „Mannatypus“.15 Diese Träume sind immer nach dem Prinzip 
des alimentären Unabhängigkeitswunsches von der Mutter (später Vater) auf- 
gebaut.1® 





14) Vgl. E. Bergler und L. Eidelberg, a.a.O. 

14a) Vgl. dazu L. Jekels und E. Bergler, a.a.O., S. 25. 

15) Ein oral regredierter Patient, dessen Krankengeschichte ich publizierte („Zur Proble- 
matik der Pseudodebilität“, Int. Zeitschr. f. Psa., 1932, H. 4) träumte in symbolischer Ver- 
kleidung häufig, daß er an seinem eigenen Penis Milch sauge und so von der Mutter unab- 
hängig sei. 

16) In der Arbeit „Zur Psychologie des Zynikers“, Psa. Bewegung, V, 1933, habe ich die 























PH _ 2). 2027er EEE EEE EREE: 
348 Edmund Bergler 





Eine weitere Wurzel der Allmachtsidee Grabbes liegt in seinem Wunsche, 
das Lieblingskind der Mutter zu sein. Die analytische, von Freud in der 
„Traumdeutung“ ausgesprochene Feststellung, daß der Lieblingssohn der 
Mutter Optimist wird, hat Grabbe vorausgeahnt, als er seinen Sulla, der nach 
seinen eigenen Worten ein Idealbild seiner selbst darstellen sollte,!7 sagen läßt: 


Ich merk’ es an der mütterlichen Huld: 
Ich bin ein Sohn des Glücks! 


An einer anderen Stelle heißt es: 


Der Erdball liegt wie ein 

Gekrümmter Sklave unter seinem Fuß, 

Laut jauchzend, wie den Wetterstrahl der Donner, 
Begrüßt das Volk sein Lächeln. 


Und trotzdem verzichtet Sulla auf seine Machtstellung: 


Da zuckt es durch seinen Geist: Dies alles ist mir unnütz, ich bedarf 
es nicht, das Meinige hab’ ich getan, fortan bin ich mir selbst genug. 

Ähnlich ist das im Motto erwähnte Zitat zu verstehen, in welchem Grabbe 
die Verfluchung der Eltern ausspricht, weil ein solches Genie nicht auf 
asexuellem Wege zur Welt kam.!$ Grabbe kolportierte übrigens zeitlebens 
einen „Familienroman nach oben“ und deutete zeitweise seine Abkunft von 
einem Prinzen an. 

Die einzige neurotische Währung, die diese oralen Menschen kennen, ist 
Milch, resp. Milchäquivalente. So nennt z. B. Don Juan Gott einen Koch, der 
die „Speise“ Donna Anna fabriziert hat („Don Juan und Faust“, II. r.): 








Vermutung ausgesprochen, ob nicht die immer rigorosere Bedürfnislosigkeit bezüglich des 
Essens, die Diogenes gepredigt hat, als später Versuch der infantilen alimentären Unabhängig- 
keit von Mutter und Vater zu deuten ist. 

17) „Sulla werde... ein höchst kurioser Kerl. Er soll das Ideal, vergiß nicht das Ideal, 
denn sonst wär’ er sehr wenig, von mir werden.“ (Brief an Kettembeil.) 

18) Man erklärt nichts, wenn man, wie dies manche Biographen tun, den Anteil der be- 
wußten und prononcierten Allmachtsidee und Großsprechereien mit Sucht nach Effekt allein 
begründet. Das Problem bleibt bestehen, weshalb gerade diese „Effekthascherei“ bei Grabbe so 
groß war. Daß zu allen Zeiten verkommene Genies modern waren, ist eine Banalität. — 
Wichtig ist, daß bei diesem Demonstrieren seiner Einstellungen ein großes Stück Exhibi- 
tionismus bei Grabbe zur Geltung kam. So pflegte er mit allergrößter Offenheit über 
seine Ehemisere zu sprechen, anderseits war diese Exhibition wieder gehemmt, wie Grabbes 
mißlungene Versuche, Schauspieler zu werden, seine Schüchternheit und linkische Art be- 
weisen. — Es seien noch zwei Beispiele seiner Größenideen genannt: Als er als Gymnasiast 
beim Präparieren einer Cäsarstelle saß und ein Kollege ihn besuchte, klappte er rasch das 
Buch zu, da er den Anschein erwecken wollte, daß er alle Schwierigkeiten „vermöge seines 
angeborenen Genies überwinde“ (Ziegler). — Ähnlich, wenn auch mit sexualsymbolischem 
Nebensinn, ist die Gewohnheit Grabbes zu deuten, lediglich unreifes Obst im elterlichen 
Garten zu essen und der Versuch, in diesem Stadium jeden andern am Essen der Früchte 
dieser Bäume zu verhindern, während er, wenn das Obst reif war, ruhig alle essen ließ. Er 
wiederholte damit also unter anderem seine infantile Ausnahmestellung. 














——___eeeee—— — 


Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 349 





Gouverneur: ... Es lebe in Gott! 

Don Juan: Meinethalben! 
Die Erde ist so allerliebst, daß mir 
Vor lauter Lust und Wonne Zeit fehlt, um 
An den zu denken, der sie schuf. Ist’s Gott — 
Nun, um so größ’rer Ruhm für ihn — den Koch 
Lobt man mit dem Genuss seiner Speis’ am besten. 


Leporello ruft in demselben Drama (IV. 4.) aus: 


O wär’ die Welt 
Doch ein gebratener Kapaun, und wär’ 
Ich ’s doch, der ihn anfräß’. 


Und Don Juan legt das Bekenntnis ab (I. 2.): 


Die einz’ge Speise,!? deren man nicht satt 

Kann werden, ist der Kuß — wo man ihn nimmt 
In meiner Gegenwart, da raubt man mir 

Das Essen vor dem Munde. 


Nun merkte aber Grabbe an der Inkonsequenz „der mütterlichen Huld“, 
daß er kein „Sohn des Glücks“ sei und dies ist in Verbindung mit der dadurch 
bedingten Störung des infantilen Allmachtsgefühls die tiefste Ursache seines 
Pessimismus. Pessimisten sind Menschen, die schon im Stadium der präödipalen 
Mutterbindung scheitern, Unglückliche, deren Narzißmus, resp. dessen kon- 
sekutive Allmachtsideen den Stoß der Liebesentziehung durch die Mutter bei 
der Entwöhnung nicht ertragen. Dabei spielt es im Effekt keine Rolle, ob 
dieser „Liebesentzug“ real durch Versagung oder Verwöhnung in der Sauge- 
periode zustande kam, das heißt, ob die Liebe, die dem Kind entgegengebracht 
wurde, zu gering oder die Liebesforderungen des Kindes unmäßige waren. 
Auf diesen Umstand hat — auf die Entwöhnung bezogen — Abraham mit 
aller Deutlichkeit hingewiesen und dies ist um so mehr zu unterstreichen, als 
die Brustentwöhnung ein allgemeines, jedes Kind treffendes Unglück ist. 

Auf die Brustentwöhnung muß Grabbe mit maßlosen aggressiven Freß- 
regungen reagiert haben, die der Mutter galten. Von der Unbändigkeit dieses 
Fressenwollens der Mutter können wir uns annähernd einen Begriff machen, 
wenn wir die früher zitierten grotesken Äußerungen der Angst Grabbes, ge- 





19) Wir wissen leider nichts über Grabbes Einstellung zum Essen. Aus der Tatsache, daß 
er in einem Briefe die gute lippesche Butter erwähnt und aus dem Refus, das er einem ein- 
flußreichen Mann (Rat Blümmer) gab, der ihm einen Posten verschaffen wollte — er schüttelte 
ihn mit dem Hinweis auf den Eierkuchen, den er gerade verzehrte, ab —, kann man keine 
Schlüsse ziehen. Heranzuziehen wäre lediglich die von Ziegler erwähnte Tatsache, daß Grabbe 
den Eindruck eines Menschen machte, der einen widerlichen Geschmack auf der Zunge hatte 
(schon in Zeiten vor der Tabes) und daß er als Begründung seiner Depressionen „is sauer“ 
Be Man muß sich also diesbezüglich an die zahlreichen Stellen aus Grabbes Dramen 

alten. 



































350 Edmund Bergler 





fressen zu werden, die später unter dem Druck des Über-Ichs zustandekam, 
heranziehen. Dabei ist es bezeichnend, daß sich Grabbe die Gewissensinstanz, 
das Über-Ich, ebenfalls in Gestalt fressender Tiere vorstellte: 


„Ein Palast der Stürme ist 
Mein Haupt; wie’n tollgeword’ner Hund 
Schlägt mein Gewissen seine Zähne in 
Die Tiefen meiner Seele; meine 
Gedanken würgen, meine Glieder 
Bekriegen sich — (mit höchstem Schmerzgefühl) 
Ich bin ein Haufe von zusammen- 
Gesperrten Tigern, die einander 
Auffressen ..... (Herzog Theodor von Gothland“.) 


Thusnelda nennt in der „Hermannschlacht“ das Gewissen „Nachkläffer im 
Busen“. 

Zu den Restitutionsversuchen gehört auch die immer wieder wild und 
trotzig vorgebrachte Abwehr gegen die Knickung der infantilen Allmachts- 
ideen, wie etwa folgende Szene aus „Kaiser Heinrich VI“ (V. ı.) beweist: 

Konstanze: Sei nun zufrieden. 

Kaiser Heinrich: Nimmer — Hätt’ ich auch 

Die ganze Welt — Schaut nicht der Himmel dort, 
So tief und sehnsuchtsvoll, ein blaues Auge 
Der Liebe, auf uns nieder, daß die Busen?°) 


Hoch klopfen müssen, auch zu ihm zu stürmen, 
An ihm zu schlagen... 


Man vergleiche damit den Ausspruch Grabbes (in einem Brief an Kettem- 
beil, als Motto abgedruckt): „Ich bin überzeugt, alles zu können, was ich 
will.“ Hierher gehören viele seiner bombastischen Großsprechereien, etwa die 
Behauptung, in die fünf Akte seines „Kosciuszko“ solle alles „was in Wissen- 
schaft, Kunst und Leben bis dato passiert ist“, gepreßt werden und „Don Juan 
und Faust“ solle besser werden als Goethes „Faust“. 

Und weil die stets wache Selbstkritik Grabbes diese Großsprechereien er- 
schwerte, flüchtete er in einen Zustand, in welchem die kritische Gewissens- 
instanz partiell amoviert war: in den Alkoholrausch. 

Immer wieder kommt Grabbe auf die Bedeutung der weiblichen Brust zu- 
rück. So etwa, wenn Faust klagt („Don Juan und Faust“, I. 2.): 

Entriß ich dich dem Schwefelpfuhl, 
Daß ich in eines Mädchens Kreis mich bannen, 
Daß ich Stecknadeln lösen sollte statt 


Der Riegel, womit die Geheimnisse 
Des Alls verschlossen sind? 











20) In allen Dramen Grabbes wird „Busen“ als Brustbezeichnung bei Frau und Mann 
verwendet. Vielleicht ist auch dies mehr als eine licentia poetica. 














Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 351 





Der Ritter (= Mephisto): Es kommt die Stunde, 
Wo dir der Donna Anna Busennadel 
Weit mehr verschließt, als dir die Welt kann geben. 


Ähnliches wird im „Herzog Theodor von Gothland“ gesagt, wo der Vater 
von Gothlands Frau in der Einöde jammert: 


Skiold (bitterlich weinend): Ach, 
Mich hungert sehr. (Sinkt auf die Erde.) 


Cäcilia (stürzt in die Knie und beugt sich jammernd über ihn): Es ist 
Doch grausam, daß ich hier nicht helfen kann! 
Hätt’ ich nur Milch in dieser Brust, 
Doch statt der Milch brennt Fieberglut 
In ihren innern, qualdurchzuckten Räumen! 
Steh auf, mein Vater, steh auf! 


Nun gab es ja für Grabbe einen Weg, seine Größenideen zu sublimieren: in 
seiner Dichtung. Doch gerade die Tatsache, daß der neurotische Pessimist 
gar nicht mehr der Erfüllung seiner Wünsche nachjagt, sondern aus Strafbe- 
dürfnis und sekundär erotisierter und rückgewendeter Aggression in seiner 
Technik des „Ins-Unrecht-Setzens“ der Mutter an den winzigen Punkt der 
Enttäuschung gebannt ist, welche Enttäuschung er aus unbewußtem Wieder- 
holungszwang immer wieder abhaspelt, bedingte, daß sich Grabbe selbst um 
jede Anerkennung brachte: er zerstritt sich konsequent mit seinen Mäzenen, 
baute technisch seine Stücke derart auf, daß sie bühnenunfähig waren und 
die Ablehnung der Umwelt direkt provozierten, forderte die Maßgebenden 
durch Zynismen und Aggressionen heraus — kurz Grabbe war aus unbewußten 
Motiven ein genialer Organisator seiner Mißerfolge. Dem widersprechen 
keineswegs die krampfhaften manchmal mit grotesken Mitteln durchgeführten 
Versuche, sich literarisch und menschlich zur Geltung zu bringen („Reklamo- 
manie“). Auch da ist es für Grabbes Infantilismus bezeichnend, daß er seine 
Berüchtigtheit (von Berühmtheit konnte man zu seinen Lebzeiten kaum 
sprechen), lediglich dazu ausnützte, um prägenitale Tendenzen straffrei aus- 
zuleben: etwa wenn er in Gesellschaft „scherzweise“ exhibierte, beim Vor- 
lesen sich auf das Corpus juris setzte, zwei Freunden den Militäreid in Unter- 
hosen und Frack abnahm, Bekannte in die Wange oder Hand biß, mit ihnen 
Pferd und Reiter spielte usw.?! Trotzdem hatte Grabbe recht, wenn er ein- 
mal von sich sagte, „er sei trotz aller Tollheit ein gesetzter Mann“. 

Eine andere Außerungsform von Grabbes Größenideen bestand in seinem 








21) Eine ausgesprochene Schizophrenie lag ebensowenig vor, wie eine progressive Paralyse. 
Letzteres ist schon deshalb auszuschließen, weil Grabbes Benehmen und Schriften vor und 
nach der luetischen Infektion keine Anderung erfuhren. Grabbe war lediglich ein schizoider, 
sehr infantiler Mensch. Ähnliches behauptet Kretschmer. 
































352 Edmund Bergler 





Verhalten zu einzelnen seiner literarischen Produkte. Es wird von verschiede- 
nen Seiten übereinstimmend berichtet, daß er nicht wenige seiner Werke „zu 
Fidibus verbrannte“ (etwa den „Ranuder“ und „Brutus“), mit der Begründung, 
der „kleine englische Pferdedieb Shakespeare“ hätte alles schon viel besser ge- 
sagt. Analyseerfahrungen bezeugen, daß es neben einer oralen eine „respira- 
torische Introjektion“ (Fenichel) gibt, und es spricht einiges dafür, daß sie 
unter dem Druck der prägenitalen Kastrationsangst zustande kommt, die orale 
Introjektion substituiert,” wenn auch Beziehungen zur analen Stufe vor- 
handen sind. In Grabbes „Napoleon oder die Hundert Tage“ gibt es einen 
interessanten Hinweis. Dort gibt Blücher während der Schlacht einem Frei- 
willigen seine Pfeife zum Weiterrauchen, „damit er sie in Brand halte“ und 
der Freiwillige sagt dann zu Blücher: 


Seit der Zeit, daß ich aus ihrer Pfeife rauchte, ist’s mir, als hätt’ ich mir an einem Vulkan 
vollgesogen wie ein unmündiges Kind und ich krepiere vor Schlachtwut. 


Die aufdringliche homosexuelle Komponente (der Freiwillige bittet z.B. 
Blücher um ein „Endchen von der Pfeife zum Andenken“) ist, wie Eidelberg 
an einem Fall von Homosexualität nachwies,??® bloß eine Verarbeitung der 
Suche nach der phallischen Mutter; auch die Ausdrucksweise („vollgesogen, 
wie ein unmündiges Kind“) spricht für die orale, also Mutterbeziehung. 

Somit wäre das „Verrauchen“ eigener Werke wieder ein aus infantilem All- 
machtswahn unternommener Versuch, sich unabhängig zu machen von der 
enttäuschenden Mutterbrust, und gehört in die gleiche Richtung wie die 
früher zitierten „Mannaträume“. 

Ich will noch einige Beispiele aus Grabbes Poesie und Leben anführen, die 
beweisen, daß der neurotische Pessimist aus unbewußtem Strafbedürfnis bloß 
die Enttäuschung sucht. Im „Don Juan und Faust“ wirbt Faust um die 
Liebe Donna Annas, die er mit Hilfe des Teufels auf ein Märchenschloß auf 
den Montblanc?® entführt hat. Donna Anna liebt aber Don Juan nicht und 
zeigt sich abgeneigt, Faust droht mit der ihm vom Teufel leihweise verliehenen 
Allmacht: 


Faust: Nur eine Sylbe brauch’ ich auszusprechen 
Und tot sinkst du zu meinem Fuß!.. 








22) Siehe Arbeiten über das Asthma von Oberndorf und Fenichel, die die respiratorische 
Phase berücksichtigen. In einem Fall von Asthma bronchiale, den ich analysierte, wurde die 
respiratorische Erotik erst nach Scheitern der oralen Wünsche im Sinne der neurotischen 
Exazerbation aktiviert. 

22a) Bergler-Eidelberg, a.a.O. 

23) Wieder ein infantiles sexualsymbolisches Moment: alles geschieht bei Grabbe in Super- 
lativen. Faust entführt Donna Anna auf den höchsten Berg Europas, Kaiser Heinrich stirbt 
beim Besteigen des Aetna usw. 











Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 353 





BERADERE Willst du mein sein? 
Ich warne dich! — Der Tod, er zuckt schon längst 
Auf meinen Lippen, und du weißt, den Lippen 
Entfälle gar leicht das Unheil! 

Donna Anna (von Faust weggewandt, emporblickend): Du, 
Der Tugend gold’ne Blume, winde dich 
Um meine Scheitel, laß mich fallen als 
Dein Opfer! 

Faust: Was ich sagte, sagt’ ich, es 
Vollführend, weil ich es gesagt! — Bedenk’ das — 
Mir bebt der Mund. — Nicht die Minute mehr 
Seufz’ ich um dich, die ich mit einem Wort 


Zertrümmern kann. — Nie seufzt’ ich, ohne 
Daß ich mich rächte! Hassest du mich? 
Donna Anna: Ja! 
Faust: Stirb! 
Donna Anna: Weh mir — ich vergehe! (Sie stirbt.) 
Faust (erstarrt): Meine Macht 
Ist schneller fast als meine Zunge. — Tot! 
Dahin. — Was ist die Welt? — Viel ist — viel war 
Sie wert. — Man kann drin lieben! — Und was ist 


Die Liebe ohne Gegenstand? — Nichts, nichts. 
Das Mädchen, das ich lieb’, ist alles, — an 
Der Liebe Donna Annas ahn?’ ich’s: — 
Armselig ist der Mensch! Nichts Großes, sei’s 
Religion, sei’s Liebe, kommt unmittelbar 

Zu ihm. — Er muß ’ne Wetterleiter haben! 

Neben der magischen Wortmacht — dem Stigma der Infantilen (Donna 
Anna stirbt auf ein Machtwort Fausts) — kommt hier wieder die bereits bei 
den „Mannaträumen“ besprochene Abwehr der Mittelsperson — Mutter („Der 
Mensch muß ’ne Wetterleiter haben“) — zum Ausdruck. Vor allem aber muß 
die Frage aufgeworfen werden, warum der allmächtige Faust Donna Anna 
nicht zur Liebe zwingt? Der billige Einwand, daß Liebe nicht zur Kompetenz 
des Teufels gehört, er also die Fähigkeit, Liebe einzuflößen, auch nicht weiter- 
verborgen kann, ist in einem Phantasiedrama nicht zulässig. 

Es handelt sich also wieder nur darum, daß der orale neurotische Pessimist 
an die Enttäuschung gebunden ist und — grob ausgedrückt — bloß dem Fuß- 
tritt nachjagt. 

Eine ähnliche Szene wie im „Don Juan“ berichtet Ziegler von Grabbe. 
In einer Gesellschaft von Volltrunkenen zog Grabbe seine „Hermann- 
schlacht“ hervor, begann vorzulesen und war zutiefst erschüttert, daß die 
Zechkumpane vom „dummen Zeug“ nichts hören wollten. Grabbe — so be- 
tichtete ein Zimmernachbar — weinte in seiner Stube und wollte sich er- 
schießen. 


Imago XX/3 23 


























——6—— Ta 


354 Edmund Bergler 








In die gleiche Gruppe gehört Grabbes Ehemisere. Er heiratete ein um 
zehn Jahre älteres Mannweib, das vermögend und habgierig war. Eine der 
konsequentesten Handlungen Grabbes in der Ehe bestand im geschickten 
Untergraben seiner Staatsanstellung — Grabbe war Militärauditor — durch 
heillose Mißwirtschaft in seinen Amtsgeschäften. Er verstand es — trotzdem 
er genau wußte, wessen er sich zu versehen hatte, wenn er von seiner geizigen 
Frau materiell abhängig sein werde — sich „irrtümlicherweise“ vorzeitig ohne 
Pension aus dem Amte drängen zu lassen. Dies führte zum erbitterten Kampfe 
seiner Frau um Aufhebung der Gütergemeinschaft, zur Flucht Grabbes nach 
Frankfurt und Düsseldorf, zu seiner beschämenden Rückkehr nach Detmold 
und zur polizeilich erzwungenen Wiederaufnahme des Schwerkranken im 
Hause seiner Frau. Der unbewußte Sinn dieser ganzen Aktionen bestand im 
Ins-Unrecht-Setzen der Frau (= Mutter) und dem masochistischen Jagen nach 
der Enttäuschung. Dabei war es keineswegs so, daß Grabbe lediglich das un- 
schuldige Opfer seiner Frau war.?* Er reizte sie in geschickter Weise, ver- 
höhnte sie, als sie um ihr Geld besorgt war und von „ihrem Recht“ sprach, 
und trällerte: 

Jawohl, das fas! °s ist eigentlich ein nefas. 

Ich kenne nur ein Faß: Gib mir das Heidelberger Faß, 
Gefüllt mit edlem Naß, das ist mein Fas! 

Gäbst du mir das, — so hätt’ ich was....... 

Das Recht ist ein Geschäft, von Schurken erdacht, 


Von Klugen gemieden, gescheut, verlacht, 
Vom Klügsten Gelder damit gemacht. 


Für die Frau Grabbes — die den unbewußten Zusammenhang nicht ver- 
stehen konnte — war Grabbe ein impotenter,? sie ausplündernder Tauge- 
nichts. 


Endlich sei auf die infantile Auffassung des Zeitgefühls bei Grabbe 
verwiesen. Kaum, daß ein Gedanke ausgesprochen wird, ist er schon erfüllt. 
Diese irreale Promptheit ist auf die kindlichen Allmachtsideen reduzierbar. 
Einige Beispiele: Im „Gothland“ läßt der Held 5000 Gefangene niedermetzeln. 











24) Damit soll keine Ehrenrettung der Frau Grabbes versucht werden. Sie war eine herz- 
lose, böse Frau, die Grabbe noch auf dem Sterbebette quälte, beschimpfte und ihm mit 
Advokaten kam, Als Grabbe starb, rief sie: „Topp, das ist gut, daß der Unhold tot ist. 
Nun kommen Sie, nun wollen wir einen guten Kaffee machen.“ Die Bestialität dieser Frau 
ging so weit, daß sie Grabbes Mutter von seinem Sterbebette fernhalten wollte. — Auch 
aus anderen unbewußten Gründen war diese Ehe zum Scheitern verurteilt: es spielte bei 
Grabbe das Schuldgefühl wegen seines Vaters mit: Luise Klostermeyer (die spätere Frau 
Grabbes) war die Tochter des Vorgesetzten des alten Grabbe. Grabbe wurde mit seiner Be- 
werbung wiederholt abgewiesen und erst der Tod seines Vaters „ermöglichte“ die Heirat. 

25) Grabbe war in den letzten Ehejahren impotent — eine Folge der Tabes. Das ist aus 
vielen Bemerkungen mit Sicherheit zu schließen. Zum gleichen Schluß kommen einige seiner 
Biographen. 


































 ————————— 
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 355 





Acht Zeilen nach jener, in der Gothland den Befehl gab, meldet Arboga: „Die 
Kriegsgefangenen sind tot...“ In „Kaiser Heinrich VI.“ läßt Heinrich der 
Löwe am Domportal der zerstörten Stadt Bardewick die Worte einmeißeln: 
„Vestigia leonis.“ Diesen Auftrag vollführt Graf Borgholt „nach dem Diktat“ 
Heinrichs und das Einmeißeln geht so rasch vonstatten, wie etwa das Schrei- 
ben. Im gleichen Drama wird Caleb als Bote zum Kaiser gesandt. Der Weg 
hin und zurück dauert die Zeitspanne von ı2 Verszeilen! In „Scherz, Satire, 
Ironie und tiefere Bedeutung“ geht’s noch blitzschneller: der Weg vom Schloß 
ins Dorf, vom Dorf zum Schloß wird vom Bedienten und dem Schmied in der 
Zeit dreier Prosazeilen zurückgelegt. — Diese Beispiele ließen sich vermehren. | 
Bezeichnend ist, daß Grabbes Gothland ein Bekenntnis zur Allmacht und All- " 
gegenwart der Zeit ablegt: | 








„Ich glaube 
Die Allmacht und Allgegenwart der Zeit! 
Die Zeit erschafft, vollendet und zerstört 
Die Welt und alles, was darin ist: 
Doch einen Gott, der höher als die Zeit 
Steht, glaub’ ich nicht...“ 


Auch die Zeit hat also für Grabbe zerstörend-fressende Bedeutung. ?® 


VII. Grabbes prägenitale Sexualität 


Die bisherige Schilderung handelte von Grabbes Oralität und ihren Folgen 
für Charakter und Sucht. Die weiteren Entwicklungsstufen, die normaler- 
weise in die Genitalität münden, hat Grabbe nur andeutungsweise erreicht, 
resp. ist recht bald zum Prägenitalen regrediert. 

In seiner Studentenzeit — Grabbe studierte in Leipzig und Berlin — war 
er Stammgast in Bordellen, wie er denn überhaupt über die Gleichsetzung der 
Frau als Sexualwesen mit der Dirne innerlich niemals hinauskam, was auf das 
bekannte, von Freud beschriebene Ressentiment gegen die entwertete Mutter 


schließen läßt. Die typische Frauenverachtung dieses Typus ist bei Grabbe 
unverkennbar: 


Berdoa: Die Liebe 
Ist Wollust; wer verliebt ist, der ist geil, 

Ist Geck, ist schwach, ist geil, 

Ist Geck, ist schwach, ist Narr. 

Gustav: 0 aan mein Leben würf ich weg 


Für einen Kuß auf ihre Lippen. 
Berdoa: Wenn sie nun aber aus dem Halse stänke? 
Gustav: Wie, Neger? 








26) Härnik und Winterstein haben auf den Zusammenhang zwischen Kronos 


und Chronos aufmerksam gemacht. Verfasser bereitet eine Arbeit über die Entwicklung des 
Zeitgefühls vor. 


23* 





























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356 Edmund Bergler 
Berdoa: O du Geck der Gecken, Narr 
Der Narren! Deine Göttin ist ein Mensch 
Wie du! Hat sie auf ihrem Kopf viel Haare, 
Was du so rühmst, so hat sie sicher auch 
Viel Ungeziefer drauf, und ihre Nas’ 
Ist schleimig wie die Nase andrer Leute! 
Sie trinkt und ißt so gut wie du, 
Und so wie du gibt sie’s auch wieder von sich. 
Gustav: Schäme dich! 
Berdoa: Lüg’ ich denn? — Schäme du dich, weil 
Du ohn’ Erröten eingestanden, daß 
Du liebest. 
Gustav: Mich der Liebe schämen, die 
Das Höchste auf der Erde ist? 
Berdoa: Das Höchste? 


Aufs Kindermachen läuft’s hinaus! — Was liebt 
Ihr denn am Weib? Etwa den Geist? 
An einer Gans? Ich glaub’ es kaum; und wär’ 
Es wahr — weshalb liebt ihr denn nie ’nen Mann? 
Ihr liebt das Fleisch! Sieht’s Fleisch nur hübsch, so denkt 
Ihr euch die Seele schon hinzu! — Doch das 
Empört mich nicht; allein wenn ihr den Trieb, 
Den ihr mit Kröte, Katz’ und Hund gemein habt, 
Zu einer Tugend macht und göttlich nennt, 
Pfui, das ist unerträglich......... 
Ein Schritt nur ist’s, der von der Liebe zu 
Der Unzucht führt. 
(„Herzog Theodor von Gothland“) 


Die analytische Erfahrung beweist, daß Frauenverächter meist Neurotiker 
sind, deren Libido vielfach prägenital fixiert ist. Beweisend ist bei Grabbe 
folgende Stelle aus „Herzog Theodor von Gothland“, die in knappster, kon- 
zentriertester Form ein Bekenntnis zum Prägenitalen darstellt, wie es meines 
Wissens einzig in der Weltliteratur dasteht: 


Berdoa: 


Irnak: 


Berdoa: 


Irnak: 


Berdoa: 


Wie geht 
Es deinem hübschen Nachtgeschirre? 
Nacht- 
Geschirre? 

Nun, ich mein’ das wohlgebaute, 
Breithüft’ge Christenmädchen, welches du 
Vergangnes Jahr im Schwedenkrieg 
Erbeutet hast.... 

Ho! 
Da habt Ihr recht, sie ist ein Nachttopf! 
Sie sitzt in meinem Zelte; wenn 
Ihr pissen wollt, so steht sie Euch zu Diensten. 
Was treibt sie denn? 











Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 357 

Irnak: Sie melkt die Männer. 
Berdoa: Sie war damals recht üppig schon; ist sie 

Es noch? 
Irnak: Wo sie vorbeigeht, springen 

Die Hosenknöpfe los. 
Berdoa: Wenn sie nur fett ist. 
Irnak: Ihr solltet ihren weißen, blühenden Nacken, 


Auf dem sie doch so häufig liegen muß, 
Und ihre vollen Arme sehen, auch ihr — 


Berdoa: Hat sie ’ne tüchtige —? 

Irnak: Man kann darin 
Die Stiefeln ausziehn....... 

Berdoa: Laß das nur sein, sie hat ’nen hübschen Arsch! 
Wie prachtvoll wölbt er sich! 

Gustav: Fürwahr, da hast 
Du Recht. Ihr Steiß ist delikat, ist göttlich. 

Berdoa: Sollt er nicht auch unsterblich sein? 


Zu diesem Sammelsurium oraler (‚Sie melkt die Männer“, Penis = Brust), 
analer („unsterblicher Arsch“, „Nachtgeschirr“), urethraler („Wenn Ihr pissen 
wollt“, Pissen = Koitieren), Voyeur-, exhibitionistischer und koprophemer 
Tendenzen paßt recht gut, daß Grabbes Liebesvorstellung mit sadistischen 
Elementen geradezu durchsetzt ist. So sagt etwa Don Juan über seine Liebe 
zu Donna Anna: 


»— — wie göttlich, über solch 
Ein Weib zu triumphieren.“ 


Ein anderer Ausspruch Don Juans lautet: „Ehedem führte man zum Altar Kälber und 
Schafe, um sie zu schlachten, jetzt die Mädchen, um sie zu heiraten. Nichts Neues unter 
der Sonne.“ 

Und Faust spricht Donna Anna an: 

O, Abgottschlange! 
So schön geschmückt, als grausam und zerreißend. 


Donna Anna: Der Schreckliche! O rette, Gott! Sein Geist 
Schnaubt nach der Liebe, wie nach Blut der Tiger. 


Die Einleitung der Hochzeitsnacht in „Nanette und Marie“ wird mit ausgesprochen sadisti- 
schen Motiven geschildert: 


Leonardo: Doch schau! Schon sinkt die Sonne! 
Nanette: Freut dich das? 
Leonardo: Warum nicht? Geht mir dafür doch 


Die Doppelsonne deines Busens auf! 
Das wird ’ne helle Nacht! 


Nanette: Weh’ mir, der Wilde! 
Ich kann mich nicht wehren — 
Ich kann nur weinend fleh’n: verschone mich! 





Te ee 



































358 Edmund Bergler 





Leonardo: Was bist du bang? Es ist nicht mit den Mädchen 
Wie mit den Schmetterlingen, welche beim 
Erhaschen abfärben! 
Nanette: e Törin, die ich war! 
Ich selbst gab mich ihm hin! Nun ist’s, als ging’ 
Ich in den Tod! — Mich friert, mich friert! 
Leonardo: Man merkt, 
Wie viel du zu verlieren hast. 


Auch in Grabbes realem Liebesleben spielen diese prägenitalen Wünsche 
eine dominierende Rolle. Grabbe war als Erwachsener bloß einmal in ein 
sozial tief unter ihm stehendes Mädchen verliebt (Henriette Meyer), das bei 
einem Krämer, dessen Verwandte sie war, die Kinder beaufsichtigte. 

„und wenn nun zufällig das kleine Kind in harmloser Unschuld sich das Röckchen 
über den Kopf zusammenzog, da übergoß die Scham ihr ganzes Gesicht mit einem so schönen 


Rot und sie wehrte der Kleinen so besorgt und so bürgerlich sittlich, daß man fast gerührt 
davon werden möchte.“ (Ziegler.) 


Dieses Sich-Schämen-Können („in kaiserlich Gewand, in Purpur hüllt sie 
deine Wange“ sagt Don Juan zu Donna Anna), das Grabbe durch zynische 
Gespräche immer wieder provozierte und genoß, scheint den Hauptreiz?%& 
Henriettes für den verliebten Grabbe gebildet zu haben. Als ihm Henriette 
den Laufpaß gab, da sie sein zynisches, ambivalentes Verhalten nicht vertrug, 
war Grabbe tief unglücklich. 

Bisher wurde hier nur von oralen, oral-sadistischen, analen, urethralen, 
Voyeur-, exhibitionistischen und koprophemen Tendenzen bei unserem 
Dichter gesprochen und des Odipuskomplexes keine Erwähnung getan. Natür- 
lich hat Grabbe einen Odipuskomplex entwickelt, natürlich waren seine prä- 
genitalen Ängste (vor allem die Angst vor dem Gefressenwerden) mit dem 
Kastrationskomplex liiert, natürlich bezogen sich seine Onanieängste auf das 
Genitale. Doch ist, wie immer bei den „Prägenitalen“, das Genitale vorwiegend 
Exekutivorgan prägenitaler Wünsche und der genitale Odipuskomplex fällt 
speziell bei den Oralen „blasser‘ aus, da die nicht gelöste präödipale Mutter- 
bindung das Feld beherrscht.?” 


26a) Wahrscheinlich liegen noch andere unbewußte Motive vor: etwa Identifizierung mit 
dem Kind, das Henriette mit Güte beaufsichtigte, ferner die niedere Herkunft (man denke 
an Grabbes Mutter). Zutiefst liebte Grabbe in Henriette sich selbst, bzw. einen Teil seiner 
kindlichen Persönlichkeit. 

27) Näheres bei E. Bergler-L. Eidelberg, a.a.O. — Grabbes grimmig-witzige 
Verhöhnungen der Autorität gehen zum Teil auf die nicht gelöste Odipussituation zurück. 
Besonders bezeichnend ist eine Szene aus „Gothland“: „Ich kann Euch Erdenkön’ge nur be- 
dauern, Ihr sollt der Götter Rolle spielen und seid Menschen.“ Ferner ein zweiter Ausspruch 
Gothlands: „Wenn nicht einmal ein Königsohn oder ein König glücklich ist, ja dann gibt es 
kein Glück auf Erden.“ Man beachte endlich die Behauptung Grabbes, „das Große besteht 
meist aus ein paar Kniffen“ und die berserkerische Ironie im „Hannibal“ — der Siegesbote 




















Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 359 













































Durch eine Bemerkung Zieglers sind wir über die Onanieängste Grab- 
bes informiert. 


„Wenn nun auch hiernach Geburtsort, Haus und Familie Grabbes als keine dämonischen 
Mächte an seiner Wiege gestanden haben, so mag es nichtsdestoweniger sein, daß eine andere 
unheimliche Macht schon in seine früheste Jugend eingegriffen hat und wir eben deshalb 
etwas Gespenstisches wie Samiels roten Mantel im Hintergrunde seines Lebens auf- und ab- 
wandeln sehen. Nur können wir uns hierüber nicht näher aussprechen.“ ($. 12.) 


Einige andere Biographen haben die Onaniefolgen maßlos übertrieben 
(Nieten, P. Friedrich, Hillekamps) und Grabbes Unglück vielfach darauf 
zurückgeführt. Vor allem hat Hillekamps in düsteren Folgen der Onanie 
Grabbes exzelliert: 


„Mehr noch als Vererbung mag aber ein Laster zur Stärkung dieser Minderwertigkeits- 
gefühle beigetragen haben: — das furchtbare Jugendlaster der Onanie. Wir wissen darüber 
nichts bestimmtes, aber eine Bemerkung Zieglers ist so deutlich, daß sie uns, namentlich des 
angehängten diskreten Schlußsatzes wegen, alles vermuten läßt. Auch Paul Friedrich berührt 
in seinem Nachwort zu den Werken diesen Punkt, sowie Nieten. Sicher ist, daß dieses Laster 
sowohl Grabbes Haltlosigkeit den Erscheinungen der Welt gegenüber, wie auch, selbst aus 
einer Willensschwäche entspringend, nun seinerseits den ohnehin schon schwachen Willen 
immer noch mehr zermürbt und widerstandslos gemacht hat. Es wirkte erkältend auf seine 
seelischen Kräfte und lähmte sein Erlebnisvermögen. Vgl. dazu Nieten (Biographie, S. 421): 
‚Diese Selbstzerstörung raubte Grabbe nicht nur die Möglichkeit, ein glücklicher Mensch zu 
werden, worüber er später die bitterste Reue um das Unwiderbringliche empfand (vgl. Don 
Juan und Faust); sie bedeutet auch viel für die äußere Art und Erscheinung seiner Poesie, 
in der sich das Unfruchtbare einer zerstörten Natur, die einsame Abgeschlossenheit, die 
bizarre Kälte, das geringe Erleben ausdrückt.‘ Bei der Würdigung von Grabbes Verhältnis 
zur Frau, die ihm im Grunde nur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse war, wird diese 
krankhafte Folge seines verheerenden Jugendlasters besonders zu erwähnen sein.“ ($. 20/21.) 


Alle diese Schlußfolgerungen sind nach Ergebnissen der Psychoanalyse, so- 
weit eine direkte Onanieschädigung angenommen wird, nicht stichhaltig, es 
sei denn, man rechnet die ungenügende Aggressionsabfuhr (Nunberg, Jekels 
und Bergler) bei der Onanie zu den direkten Schädigungen. Dagegen haben 
die Schuldgefühle, die sich als Reaktion auf die unbewußt die Onanie be- 
gleitenden Phantasien einstellten, bei Grabbe unleugbar eine Rolle gespielt, 
um so mehr, als er seine luetische Infektion, seine ständigen Krankheiten und 
endlich seine vielen Tabessymptome (vor allem die Impotenz) wahrscheinlich 
auf die Onanie zurückgeführt hat. Auch dürfte Grabbe ein Zwangsonanist 
gewesen sein. 

Von hier aus gewinnen wir einen Zugang zu Grabbes Stellung zum Schuld- 
gefühl. Er erklärt es zwar als etwas „Überflüssiges“, macht sich hohnlachend 





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’ 


von Cannae wird in Karthago zurechtgewiesen: „Schrei nicht so!“ und ähnliche Stellen mehr. 
— Grabbes Odipuskomplex war aber prägenital stark unterbaut und viele Aggressionen die- 
ser Phase scheinen ursprünglich der phallischen Mutter gegolten zu haben. 



































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360 Edmund Bergler 








darüber lustig und läßt Gothlands Sohn schwören, daß er nie Reue fühlen 
will („So schwör’, daß du nicht Reue fühlen willst“, IV. 1.). Auch Sulla, 
Grabbes Idealgestalt, hat Gewissensbisse. So sagt Grabbe im unvollendeten 
Sulla-Szenarium: 


„Sulla selbst tritt auf. Er übersieht den weiten Aschenhaufen, aus eingestürzten Häusern 
und verbrannten Menschen bestehend. Momentan fällt ihm der Gedanke ein, daß es mög- 
lich sein könnte, über diese Verwüstung einstmals Reue zu fühlen, er bricht in den alle 
Umstehenden erschütternden Naturschrei aus: ‚Entsetzlich! Schrecklich! Ungeheuer!‘ — Doch 
schnell ist Sulla beruhigt und belächelt seinen menschlichen Ausruf, dessen Natur er richtig 
beurteilt...“ An einer anderen Stelle heißt es von Sulla: „Ernstliche Gewissensbisse braucht 
er nicht zu fürchten, dazu ist er in sich selbst zu abgerundet.“ 


In die gleiche Kerbe schlagen Aussprüche, die das Unwiederbringliche be- 
trauern und die Bestrafung akzeptieren. Etwa ein Ausspruch Fausts: 


Verwünscht, der Mensch erkennt nur dann, 
Wann er’s bereits getan hat, das, was er 
Getan, und Teufelshände 

Sind öfters unsichtbar im Spiel..... 

Aus Nichts schafft Gott, wir schaffen aus 
Ruinen. Erst zu Stücken müssen wir 

Uns schlagen, eh’ wir wissen, was wir sind 
Und was wir können! — Schrecklich’ Los! 


Ähnliches bedeutet es, wenn Grabbe sagt: „Der Mensch trägt Adler in dem 
Haupt, und steckt mit seinen Füßen in dem Kot.“ Den gleichen Gedanken 
spricht der Ritter — Mephisto — in „Don Juan und Faust“ aus: 

Die Pflanze, die vom Boden sich empor 
Will schwingen, muß mit Kot gedüngt erst sein, 
Bevor sie frei kann wurzeln und aufschießen. 


Der Kot — ihr nennt ihn Leidenschaft, sei’s Geiz, 
Sei’s Ruhm, sei’s Aberglaube, sei es Liebe. 


Anderseits sind wilde Anklagen gegen das Schicksal?® bei Grabbe zu kon- 
statieren. Dies führt zum Problem seines dichterischen Schaffens. 








29) Grabbe war zutiefst ein sentimentaler Mensch und seine Zynismen sind vielfach nach 
dem Typus der „sentimental-pathetischen Zynismen“ aufgebaut: „Es sind dies Pathetiker, 
die über die Ungerechtigkeiten der besten aller Welten empört sind, Sentimentale, die sich 
ihres inneren Gefühls schämen und es umgemünzt in Form des Zynismus — als Distanzie- 
rungsmittel — vorbringen. Dieser Zynismus trägt aber das Zeichen ‚made in sentiments‘ in 
seiner ganzen Art: er ist dem Weinen näher als dem Lachen.“ Näheres in der Arbeit „Zur 
Psychologie des Zynikers“ a.a.O. — Ziegler berichtet ($.75), Grabbe habe eine „sonder- 
bare Abneigung gegen alles gehabt, was nach Sentimentalität aussah, wobei man aus der oft- 
maligen Äußerung: ‚Um Gotteswillen, nur nicht sentimental, nur nicht süß!“ mit Sicherheit 
annehmen konnte, daß tief im Grunde sein Gemüt sehr zart und weich beschaffen war“. — 
Wie bei allen Zynismen handelt es sich um ein Ausleben der unbewußten Aggression um den 
Preis der Beschwichtigung des Über-Ichs durch einen spezifischen Ich-Vorgang, den „zynischen 
Mechanismus“. Wie groß Grabbes Aggression war, beweisen die berüchtigten Grabbeismen. 


% 














Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 361 





VII. Der Einfluß der Prägenitalität Grabbes auf sein 
dichterisches Schaffen 


Grabbes unbewußte Angst war die des Gefressenwerdens vom Weibe, eine 
Angst, die, wie früher ausgeführt, die Schuldgefühlsreaktion auf eigene (ur- 
sprünglich auf die Mutter bezogene) oral-aggressive Tendenzen darstellte. 
Grabbes ganze Dichtung ist für ihn ein Beweis, daß die Frau ungefährlich, 
dumm, bedeutungslos ist, dient also vorerst der unbewußten Selbstberuhigung, 
wobei es wohl überflüssig ist zu betonen, daß der ganze hier zu schildernde 
Vorgang Grabbe nicht bewußt war. Deshalb sind Grabbes Helden grausam, 
hinterlistig, blutgierig und vor allem — Männer. Einerseits färbt also die 
grausame Frau, gegen die Grabbe sich wehrt, auf seine Helden ab, in einer 
anderen Schicht identifiziert sich Grabbe selbst mit ihnen. Es ist, als würde 
jemand aus Angst vor einer Maffia selbst Mitglied dieser Maffia. Anderseits 
genügt dieser indirekte Beweis der Ungefährlichkeit der Frau nicht, es folgt 
ein zweiter: die Helden selbst sind keine Helden, Grabbe zeigt deren „Brüchig- 
keit“ auf. Ich habe den Eindruck, als könnte man Grabbes unbewußte Argu- 
mentation wie folgt präzisieren: Erstens kann mir die Frau nichts antun, weil 
sie bedeutungslos und schwach ist, zweitens sind nur Männer grausam und ge- 
fährlich und drittens sind auch diese Männer letzten Endes doch nicht gefähr- 
lich, da sie innerlich schwach sind,®° ich kann also sicher sein. Die „Wieder- 
kehr des Verdrängten“ bedingt aber, daß Grabbes dichterische Frauengestalten 
nur dann pulsierendes Leben fühlen lassen, wenn sie — Mannweiber sind. Die 
Herzogin von Angoul&me („Der einzige bourbonische Sprößling, der ver- 
diente, Hosen zu tragen“, sagte Napoleon), die Baronin im „Aschenbrödel“ 
und Thusnelda in der ‚Hermannschlacht“ atmen wirkliches Leben, alle 
andern, übrigens recht seltenen Frauengestalten Grabbes („Man ist zu sehr 
unter Männern“ warf ihm schon Ziegler vor) sind blutleer. An einer Stelle 
kommt Grabbe das beinahe zum Bewußtsein: 

Ingomar: Deine Frau ist kein Weib, 

Hermann: Alle Wetter, was denn? 

Ingomar: Kann’s nicht recht sagen. Doch gegen ihre Stirn tauscht’ ich nicht die Sonne, 

nicht den Blitz gegen ihr Lächeln, und ihren Mut und Verstand betreffend... 
(„Die Hermannsschlacht“, erster Tag.) 

Das, was die Biographen Grabbes „Nihilismus“ und „Dämonologie“ nennen, 
ist ein verzweifeltes unbewußtes Ringen mit der Frage: Welchen Sinn hat eine 
Welt, in der das Kind von der Mutter nicht geliebt wird, ja von ihr gefressen 
werden kann? Begreiflicherweise kommt Grabbe diese Frage bloß auf dem 
Umweg einer „Verschiebung“ zum Bewußtsein. Grabbes Antwort lautet: 





30) Gewiß kompliziert sich der Vorgang durch die aus dem Odipuskomplex stammende 
Aggression gegen den Helden = Vater. 


























362 


Edmund Bergler 





Diese Welt hat keinen Sinn. Bei einem innerlich so aggressiven?! Menschen, 
wie Grabbe, löst diese Erkenntnis nicht Resignation, sondern titanenhafte An- 
klage aus. Schon im „Gothland“ des zwanzigjährigen Grabbe heißt es: 


(Donnerschläge.) Horcht! Horcht! 
Das sind die Fußtritte des Schicksals! — Oh, 
Jetzt erst, jetzt erst begreif ich euch, 

Ihr himmelstürmenden Giganten! — 

Zerstörend, unerbittlich, Tod 

Und Leben, Glück und Unglück, an- 

Einander kettend, herrscht 

Mit alles niederdrückender Gewalt 

Das ungeheure Schicksal über unsern Häuptern! 
Aus den Orkanen flicht 

Es seine Geißeln sich zusammen 

Und peitscht damit die Rosse seines Wagens durch 
Die Zeit und schleppt, wie 

Der Reiter an des Pferdes Schweife den 
Gefangenen mit sich fortreißt, 

Das Weltall hinterdrein! 

Die Himmelsbogen sind gekrümmte Würmer, 
Und krampfhaft ringeln sie 

Sich unter seinen Füßen! 

Die Menschenherzen sind der Staub, 

Worauf es geht! — Oh, immer, immer mehr 
Begreif ich euch, Giganten! 

Was ist natürlicher als Himmelssturm? — 

Oh, der Glaube an 

Ein Schicksal ist nicht furchtbar — hold und tröstlich 
Ist dieser Kinderglaube aus der Zeit 

Der Griechen, welche noch nichts Schlimmes ahnten! Das 
Geschick ist grausam und entsetzlich, 

Doch planvoll, tückisch, listig ist es nicht! 
Allmächt’ge Bosheit also ist es, die 

Den Weltkreis lenkt und ihn zerstört! 

... weil es verderben soll, 

Ist das Erschaffene erschaffen! 

Deshalb ist unsres Leibes kleinster Schmerz, 
Empfänglich für den ungeheu’rsten Schmerz, 
Deshalb sind unsre Glieder so gebrechlich, 
Deshalb sind wir so fasernackt geboren! 

Daß die Verführung sicher uns 

Beliste, wurden wir 





31) Grabbes überstarke Aggression verführt noch den Schwerkranken zum Ausspruch: 
„Gäb’s nur Krieg, gesund wär ich. Doch nun muß ich ihn machen in Tragödien.“ Prinz 
Heinrich sagt in „Kaiser Friedrich Barbarossa“ (I. 2): „Der Kampf auch, ob wir 


siegen oder fallen, ist Lust 


ge 














Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 363 





Mit Dummheit reichlich ausgestattet, und 
Unsterblich sind wir für — die Höllenstrafen. 
— Weil es verderben soll, ist das Erschaffene 
Erschaffen! Wie ein ries’ges Henkerrad 

Kreist dort der sogenannte Himmelsbogen; 

Die Tage und die Nächte, Sonne, Mond 

Und Sterne sind 

Wie arme Delinquenten draufgeflochten, und 
Mit ausgesparten Gnadenstößen 

Zerrädert und zermalmt er sie! 

Pfui, pfui! wie ekelt mich die Schöpfung an! 
Der Jahreszeiten wechselnde 

Erscheinungen, die immer wiederkehrenden 
Verwandlungen an dem 

Gestirnten Firmament — was sind sie anders als 
Ein ew’ges Fratzenschneiden der Natur? 

— Zwar habe ich gemordet, 

Doch Morden ist 

So schlimm nun grade nicht! 

Vom Morden lebt ja alles Leben, wenn 

Du atmest, mordest du! — Ein Ding, das nichts 
Ist, einen Menschen machte ich zu etwas, sei’s 
Auch nur zu Mist! Bei einem Vieh 

Bedenk ich mich, eh’ ich das Messer zücke! 
(Sein Dasein hat ’nen Zweck — es wird 
Gegessen.) Doch bei einem Menschen 

Bedenke ich mich nicht; sein Leben 

Nützt weder anderen, noch ihm ... 

Vor wem sollt’ ich erröten? 

Ei, mordet jene schwärende, gift- 

Geschwollne, aufgebrochne, eiternde 

Pestbeule, die ihr Sonne nennt und als 

Das Ebenbild der Gottheit ehrt, nicht auch? 
Wie an der Amme Brust das Kind, so liegt 

An ihr das durst’ge All — und boshaft tränkt 
Sie es mit ihrer fieberheißen Milch; 

Daß sie zum Mord aufgären mögen, tropft 

Sie Feu’r in unsre Adern, 

Und zärtlich, wie ’ne Mutter brütet sie 

Die lieben Krokodile aus den Eiern! 

Ha, Sonne! Könnt? 

Ich dich einmal bei deinem Strahlenhaare packen — 
Am Felsen wollt ich dein Gehirn zerschmettern 
Und dich, was Schmerz heißt, fühlen lassen. 


In späteren Werken wird immer wieder dieses Thema mit großer dichte- 
rischer Genialität abgewandelt, eine Orgie des Pessimismus und der Welt- 
verneinung: 


















































364 Edmund Bergler 





„Ist nicht jedes seiner Stücke“ — fragt Hillekamp — „gleichsam Illustration des Wortes: 
Wie klein ist der Mensch? Was bleibt vom mächtigen Gothland nach gewaltig rausch- 
haftem Dasein als die Erkenntnis, daß es nicht lohne, zu leben? Denn nur: 


Weil es verderben soll, 
Ist das Erschaffene erschaffen.“ (II, r.) 


„Faust gelangt weder an sein Ziel der Erkenntnis noch zur Beschränkung 
auf das Irdische durch die Liebe, und Don Juan versinkt mit einem „Nein“ 
auf den Lippen. Auch die Idee der „Hohenstaufen“ liegt ähnlich, obschon 
es zunächst anders scheinen mag. Zunächst Barbarossa: Hier liegt der Schwer- 
punkt des Dramas im Kampf der Welfen und Waiblinger, des Löwen und 
Barbarossas. Der Staufer siegt in diesem Kampf, aber es ist nur ein äußerlicher 
Sieg, denn in Wirklichkeit hat er mit seinem Sieg auch die innere Einheit 
Deutschlands getroffen und den Grund für die unselige Zukunft des Landes 
gelegt. Er triumphiert, aber seine Glorie ist Lüge. Wenn er stolz von sich 
sagt: „Mein Erdgeschäft ist aus“ — so sagt er damit zugleich, daß er seinem 
Ideal, der Herrschaft über Italien, Deutschlands beste Kraft geopfert hat —, 
damit wird das selbstbewußte Wort fast zu einer Ironie. Er ist ein großer 
Mann, aber er hat den Keim zum Untergang seines Geschlechts und seiner 
Macht selbst gelegt: Tragische Ironie des Schicksals — die der pessimistische 
Dichter hier erspürt. Dieser Nihilismus wirkt sich noch stärker in „Hein- 
rich VI.“ aus. Das Ziel dieses Menschen ist ungeheuer groß: 

Ich, Kaiser, — 
Die Kaiserkrone erblich, — Deutschland, Neapel 
Unter meinem Fuß, — der Papst 


Zu meinem Bischof erniedrigt, — wert 
Ist das zahlloser Leichen. 


Ja, dieser Zweck erscheint ihm „groß genug, die Welt aufzuopfern“ (I. 2.). 
Und was erreicht er? Seine Lebenskraft wird in der Blüte vernichtet, alles 
Errungene zerfällt wieder, sein Thronerbe ist ein schwaches Kind, und an 
seiner Stelle nimmt der Papst, des Kaisers schlimmster Feind, die Regierung 
an sich. Grabbe entläßt uns hier, fühlbarer noch als sonst, mit dem Bewußt- 
sein: Der Mensch beginne, was er will, es ist nichtig vor dem unerforschlichen 
Es, dem Schicksal, das ihm alles aus der Hand reißen kann, wenn es ihm paßt. 
Heinrich geht unter, aber der Hirte überlebt ihn. Die Großen verschwinden 
wie Meteore, aber die Kleinen, die Masse, das Volk überdauern sie. Auch 
Napoleon: Er vergeht nach dem Traum der Hundert Tage („Wir haben 
hundert Tage groß geträumt“), aber „statt eines großen 'Tyrannen kommen 
lauter kleine und statt der goldenen Zeit wird eine sehr irdene, zerbröckliche 
kommen“ (V.7.). — Auch hier hat das Kleine, Zähe, Beharrliche, die Masse, 
die Quantität, gesiegt. Und voll bitterer Ironie läßt Grabbe den kleinen 








Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 365 





Schwätzer Prusias über den großen Hannibal triumphieren, seine Leiche mit 
dem roten Königsmantel decken: „Grad? so machte es Alexander mit Dareios.“ 
(Aus Hillekamps „Grabbe“.) 

Grabbes Oralität hat noch eine andere Wirkung auf die Gestaltung seiner 
Dramen:”” Immer wieder geht der Held an einer von außen kommenden Ver- 
sagung zugrunde: Hannibal und Varus z.B. bekommen keine Hilfstruppen, 
Napoleon ist ein Opfer der Dummheit Grouchys („Grouchy hat viel daran 
verdorben — daß das Schicksal des großen Frankreichs von der Dummheit, 
Nachlässigkeit oder Schlechtigkeit eines einzigen Elenden abhängen kann“ — 
„Napoleon“, V.5.), Heinrich VI. fällt dem blinden Zufall zum Opfer. Es 
wird also — eine im Drama unmögliche Prämisse — die Bösartigkeit der Um- 
welt an Stelle des inneren Konflikts gesetzt. Dies ist einigen Kritikern Grab- 
bes aufgefallen.322 

Was aber die Kritiker Grabbe bloß als dramatischen Fehler vorhalten, kann 
nun auf Grund der früher vorgebrachten Annahmen erklärt werden: da Grab- 
bes dramatische Produktion der Abreagierung des Traumas der Brustent- 
ziehung dient, muß der Schuldige die versagende Außenwelt, d.h. die erste 
Repräsentanz derselben, die Mutter sein! 


IX. Das „Positive“ in Grabbes Weltbild: Freundschaft und 
Heimat 


Grabbes Biographen unterteilen vielfach in primitiver Weise seine Eigen- 
schaften fein säuberlich in „positive“ und „negative“ und kommen betrübt 
zum Resultat, daß die zerstörenden (in ihrer Sprache: die negativen) Ten- 
denzen die Oberhand hatten. Diese Schwarzweißmalerei sei erwähnt, weil sie 
die ganze Hilf- und Sinnlosigkeit einer nicht analytisch fundierten Biographik 
aufzeigt. 

Nun hat — in der Terminologie der Biographen — Grabbes Weltbild doch 
zwei Lichtseiten: seine Anerkennung der Freundschaft und das Lob der Heimat. 
Wie steht es damit? 


Die Liebe welkt dahin; 
Sie ist auf Irdisches gegründet, 





32) Es sei hervorgehoben, daß die hier vorgebrachten psychoanalytischen Deutungen der 
Triebtendenzen und ihre Wirkungen auf Grabbes Dramatik die Frage der spezifischen Be- 
gabung Grabbes unberührt lassen, da es sich dabei nach Freud um ein konstitutionelles, 
psychologisch nicht weiter determinierbares Etwas handelt. 

32a) Ploch: Grabbes Helden gehen nicht an sich selber, an ihren sie zum tragischen 
Untergang prädestinierenden Charaktereigenschaften, sondern immer nur an äußeren Ver- 
hältnissen, Intriguen und puren Zufällen zugrunde. 

Zaunert:....der Dichter Grabbe ringt sich fast nie zu einer wirklichen tragischen Idee 
durch, er hat nie den Schuldbegriff in seiner ganzen Tiefe erlebt; immer wieder werden 
äußere Ursachen herbeigeholt, um den Fall des Helden zu erklären. 





BR een ar 
































366 Edmund Bergler 





Gemeines ist’s, wofür sie flammt; 

Nur Freundschaft, die die Geister bindet, 

Ist ewig wie der Geist, aus dem sie stammt; 

Drum strahlt hoch auf des Himmels mächt’gem Feld 

Der Freundschaft Bild und leuchtet durch die Welt. 

— — — Doch wer am Busen seines Bruders liegt, 

Der fand die heil’ge Stätte auf, an der 

Er sicher ruhet im Gewühl des Lebens. („Gothland“.) 


Es wurde früher betont, daß Grabbes Beziehung zum Mann stark homo- 
sexuell gefärbt war: man denke an den Potus in Männergesellschaft. Diese 
sublimierte Homosexualität war zugleich ein Stützpunkt gegen die „fressende“ 
Frau, auch ein Beweis, daß sie ungefährlich ist. Die jahrelangen Bordellbesuche 
Grabbes in Männergesellschaft sind nicht nur von der homosexuellen Seite aus 
zu erklären, die Männergesellschaft war zugleich Schutzgarde und Beweis, daß 
die Dirne — da so viele Männer mit ihr verkehrten — ungefährlich sei. 

Ebenso ist Grabbes Lob der Heimat aus der Mutterbeziehung determinier- 
bar. Die Biographen zitieren bei dieser Gelegenheit einige Lobverse der Vater- 
landsliebe in „Don Juan und Faust“ und führen als entscheidenden Beweis das 
Nationaldrama „Die Hermannschlacht“ an. Vorerst: der gleiche Don Juan 
sagt höhnisch: 

Den gewinn’ ich noch 


Mit patriotschen Phrasen, um so eher, 
Als ich sie ernstlich meine! 


Die analytische Erfahrung, daß Vaterland fürs Unbewußte die Valenz 
Mutter?® besitzt, kann bei Grabbe mit vielen Stellen seiner Werke belegt wer- 
den. So sagt etwa Tankred in „Kaiser Heinrich VI.“ ER 


Was wir Normannen einst hier waren, sind 

Hier jetzt die Deutschen. — Sie erwartet künftig 
Vielleicht das gleiche Los. — Wie sich der Held 

Die Braut erringt, errangen wir mit Kraft 

Und Stahl dies Land — bei Gott, es ist ’ne Braut — wo wäre 
Ein Mädchen in Europa, flammender 

Und bräutlicher als unser Reich’? — Es ruht 

Ja unter Myrthen, unter Blumen, — zwei Vulkane 

Sind seine Hochzeitsfackeln — Rebenketten, 

Festlich durchleuchtet von dem Gold der Trauben, schlingen 
Als Gürtel prangend sich um seine Küsten, 

Und an Siziliens Ufern schmachten Palmen, 

Mit ihren Blättern wie mit Zungen lechzend, 

Dem Liebenden entgegen! — Doch als der 

Alcide sich die Omphale gewonnen, 





33) Siehe z. B. Beispiele aus der Biographie Napoleons, bei L. Jekels, Imago II, 1914 und 
E. Bergler, Psa.-Bewegung V, 1933. 











Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 367: 





Entnervte er an ihres Busens Flaum 
Und der Normannen Stärke schmolz im Kuß 
Und in des Südens Sonne... 


Konstanze beklagt sich im gleichen Drama (I. 2.) über Heinrich: 


Ach, ich Unselige! — Er liebt mich nicht — 

Sein Blick irrt durch die Welt und übersieht mich — 
Anstatt nach einem Busen, streckt er seine Arme 
Nach ganzen Ländern, ganzen Völkern aus. — 


Noch klarer spricht sich Grabbe aus, wenn er Don Juan beim Anblick des 
Bildes Donna Annas sagen läßt: 
Ich blick’ und blicke — zu ’nem Kinde werd’ 
Ich wieder. — Eine Heimat, die ich nie geschaut, 


Umlächelt mich. — Gibt’s andre Heimaten 
Als das Geburtsland? 


Und Heinrich der Löwe („Kaiser Heinrich VL“, II. 3.) ruft: 


O Heimat, Heimat, meiner Größe Land 

Und meines Falles! — Heil’ge Erde, sei 

Gegrüßt! — Kein Kind stürzt sehnender 

An seiner Mutter Brust, als ich an deinen Schoß! 


Brasidas nennt im „Hannibal“ Karthago „die allgemeine Mutter“, Turnu 
heißt Hannibal: 


„Herr, Fürst, Vater, Mutter, du mir 
Alles!“ 


Es sei nochmals auf das ständige Durcheinandermischen und Gleichsetzen 
von Frau und Mann verwiesen, was aus der Tatsache erklärlich ist, daß es für 
das Kind auf der oralen Stufe nur ein Geschlecht gibt. So wird es verständlich, 
wenn Hannibal für Turnu ‚Vater und Mutter“ ist. 

Grabbes letztes Drama „Die Hermannschlacht“ beweist, daß auch für. 
den Superlativ des Pessimisten das Leben nur unter Aufrechterhaltung von: 
jeweils wechselnden Überwertungen möglich ist. Der schwerkranke Dichter, 
der sein Ende herannahen sieht, flüchtet zur idealisierten Mutter: die Heimat- 
wird verherrlicht. Es ist nicht bloß durch Krankheit bedingte Erschöpfung, 
die Grabbe bei der Arbeit an seinem letzten Drama ausrufen läßt: „Der 
Hermannschlacht erlieg ich fast. Wer kann das Ungeheure, jeden Nerv auf- 
regende, vollenden ohne zu sterben? Wär’ ich tot!“ Und das Resultat? 
Neben einem für Grabbe typischen, hinterlistigen, grausamen Helden (,Die 
Fortsetzung des Blutbades folgt morgen“ sagt Hermann) steht Grabbes Ideal- 
gestalt, das Mannweib Thusnelda, das aber hier meist in der Gestalt der: 
Gebenden auftritt: Thusnelda bringt für 20.000 Kämpfer Lebensmittel, be- 














368 Edmund Bergler 





handelt ihren Sohn Thumelico gütig (vergleiche unser Motto), ist überhaupt 
ständig besorgt, ob man genug zu essen hat: 


Varus: ....Ich bin satt. 

Thusnelda (zum Gesinde): Seid ihr es auch? 
Das Gesinde: Ja. 

Thusnelda (mißtrauisch): Lügt nicht. Eßt noch. 
Das Gesinde: Wir können nicht mehr. 


Dabei werden Hermanns Gefährten mit geradezu bösartigem, in einem 
Nationaldrama sonderbar anmutendem Hohn überschüttet: 


Hermann: Deutschland! 

Einige in seinem Heere: 
Er spricht oft davon. Wo liegt das Deutschland eigentlich? 

Einer: Bei Engern, wie ich glaube, oder irgendwo im kölnischen Sauerlande. 

Zweiter: Ach was, es ist chattisches Gebiet! 

Hermann: Und kennst du deinen Namen nicht, mein Volk? 

Stimmen: O ja, Herr, wir sind Marser; Cherusker wir — wir Bructerer, Teucterer. 

Hermann: Schlagen wir jetzt und immer nur gemeinsam zu, und die verschiedenen 
Namen schaden nicht. (Für sich:) Ich muß mit geringeren, aber näheren Mit- 
teln wirken. (Laut:) Grüttemeier, deine beiden schwarzen Ochsen — denkst 
du noch an sie? j 

Grüttemeier (Tränen in den Augen): Jawohl, mein Vater empfahl sie mir im Sterben. 

Hermann: Eine Manipel stürmte in dein Haus, schlachtete, briet und fraß sie und gab 
dir nichts ab! 

Grüttemeier: Abgeben? Was von dem Fraß übrigblieb, traten sie mit den Füßen oder 
schmissen’s an die Wand. Ich hätte auch nichts davon essen mögen. 

Viele Deutsche: Wie dem, ging’s uns! 

Eggius (sehr laut): Rom! 

Hermann (noch lauter): Alle übrigen von den Römern gestohlenen und liederlich ver- 
schwelgten Gottesgaben: Linsen, Kohl, Erbsen und große Bohnen! Widersteht, 
auf daß ihre Fäuste nicht zum zweitenmal in eure Töpfe greifen! 


Vermerkt man noch, daß am Schluß Hermann ausruft: „Ach! wüßte das 
Palatium, daß diese sonst so tapferen Leute nur ein paar Meilen weit sehen 
und lieber in der Nähe äßen und tränken, so würd’ es bei der Nachricht 
meines Sieges nicht so erbeben....“, dann kann nicht bestritten werden, daß 
Grabbes Einstellung zu seiner idealisierten Mutterimago ebenso ambivalent war, 
wie zur realen Mutter. Und wenn diese Behauptung noch eines Beweises be- 
darf, so sprechen Gothlands Worte (IV. r.) eine nicht mißzuverstehende 
Sprache: 

Oh, laßt mich aus der düstren Gegenwart entfliehen, 

Und nur noch einmal laßt mich sie begrüßen, 

Die selige Vergangenheit! 

Dort taucht, umkränzt mit Regenbogen, 

Der Kindheit Insel aus den blauen Wogen! — A) 











Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 369. 





Wie sich’s in mir hinübersehnt! 

Ich seh die Flur, wo ich als Knabe spielte, 

Wo ich mich kindlich glücklich fühlte. 

Ich seh das väterliche Haus! 

Allein vergebens 

Streck ich die Arme zu dir aus, 

Du Tempe meines Lebens! 

So steht der Wandrer an dem Felsgestade, 

An dem er Schiffbruch litt, — blickt voll Verlangen 
Zum fernen Eilande, wo goldne Gärten prangen! 
Er blickt und blickt — die Pfade sind verschlossen, 
Ein Meer ist zwischen ihm und jenseits ausgegossen! 
Wohlbekannte Worte hör ich klingen, 

Die, gleich verwehten Abendglockentönen, 

Aus weiter Fern’ herüberschwimmen! 

Gott! Es sind der Mutter heil’ge Warnungsstimmen. 
Mutter, Mutter! 

Lebtest du, wie würdest du die Hände ringen 

Über mich, 

Den unglückseligsten von allen Söhnen! 

Als ich noch an deiner Seite 

Wallte durch des Lebens Weite, 

Fiel ich nicht, und brach der Sturm auch los — 


Hinweg, vorüber, zieh vorüber, 

Du Kindheitsland! Mein Aug’ wird trüb und trüber! 
Vorbei ist ja vorbei! 

Kindheit und Lieb’ zu ihr ist Kinderei! 

Wer schneidet wohl mehr Fratzen, 

Wen seh’ ich mehr einander beißen und zerkratzen, 
Zanken und greinen, 

Als diese Kinder, die uns selig scheinen! 

Wer kriegt mehr Prügel auf die Hinterbacken 

Als diese Kinder! 

Die frechste Lügnerin 

Ist die Erinnerung! Kindheit fahr hin 

Samt deinen Kindern, welche sich bekacken! 


X. Grabbes Ahnen unbewußter Zusammenhänge 


Jekels hat vor zwei Jahrzehnten als erster auf die bedeutsame, seither an- 
erkannte Tatsache aufmerksam gemacht, daß Dichter häufig eine Gestalt nach 
den divergierenden Tendenzen im Psychischen aufteilen und wie im Traume 
die einzelnen Strebungen als Einzelpersonen repräsentieren. Erst deren Zu- 
sammenfassung ergibt das Mosaik der Gesamtpersönlichkeit. So sind etwa 
Lady und Lord Macbeth, Jago und Othello eine Person. 


Imago XX/3 24 





BE ee 





























370 Edmund Bergler 





Grabbe verwendet diese Aufspaltungstechnik in hohem Maße und ahnt die 
innere Zusammengehörigkeit der Teilpersonen.?* So sind z.B. Berdoa und 
Theodor von Gothland eine Einheit. Der Konflikt im „Herzog Theodor 
von Gothland“ sieht im ersten Augenblick wie ein törichtes Mißverständ- 
nis aus: der Held schenkt den Einflüsterungen seines Feindes Berdoa Glauben, 
der ihm eingibt, sein jüngerer Bruder sei vom Kanzler, dem dritten Bruder, 
ermordet worden. Daraus ergibt sich nun der tragische Konflikt.?® In Wirk- 
lichkeit ahnte Grabbe offenbar die unbewußte Ursache dieses Irrtums, denn 
er läßt, nachdem Gothland ausruft: „Ich war nur das Beil, das Schicksal war 
der Mörder“, Berdoa sagen: 


Tor! Eure Dummheit ist eu’r Schicksal. Eure 
Erbärmlichkeit ist eu’r Verhängnis! 

Wer hieß dich, als ich dich zum Brudermord 
Verführte, meinen Worten glauben? Wußtest du 
Denn nicht, daß ich dein Todfeind war? 

Der blöd’ste Tölpel hätte da Verdacht 
Geschöpft, allein der Herzog Gothland 

Schöpfte keinen, weil 

Er keinen schöpfen wollte! 

Gothland: Weil ich keinen 
Schöpfen wollte? — Wenn das wäre, wenn ich den 
Geringsten Argwohn hätte fassen können, 

Ich aber hätt’ ihn absichtlich 
Nicht fassen wollen, 

Ja, dann durchwühle unermeßliches 
Verderben meine Seele! 

Berdoa: Höre denn, 

Und unermeßliches Verderben wühle dir 
Durch deine Seele! — Manfred war 
Jählings am Schlagflusse verreckt. 
Wahrscheinlich hatte er beim Abendschmaus 
Zu viel gefressen und es nicht 

Verdauen können — ungeheuer war 

Dein Schmerz um ihn; — so traf ich dich, mit großer 
Bestürzung, aber mit noch größ’rer Freude 
Vernahmest du, daß er erschlagen sei: 

Die Rache für den toten Bruder 

War dir ein schmeichelnder, verlockender 
Gedanke! 








34) Es kommt in Grabbes Dramen wiederholt vor, daß sich zwei Gegner, nachdem sie 
einander im Zweikampf verwundet, schluchzend in die Arme fallen: so die Brüder Goth- 
land, so die beiden Männer in „Nannette und Marie“. Auch dies beweist die Einheit 
der „aufgespaltenen“ Personen. 

35) Dieser „Irrtum“ wurde Grabbe übel angekreidet. So sagt z.B. Gottschall: „Eine 
tragische Dialektik von dem großen Wurf der griechischen Tragödie ...nicht zu verkennen; 





Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 371 





Gothland: Satan! Deute meine 
Gedanken nicht ins Schlimme! 

Berdoa: Zwar war Friedrich, 
An welchem du die Rache nehmen mußstest, 
Dein Bruder auch; doch das hielt dich nicht ab, 
Denn er war ja der weniger geliebte! 
Du gingst vielmehr sorgfältig allem, was 
Dir Aufschluß geben konnte, aus 
Dem. Wege... 

Gorthland: Wenn — 
Wenn unter diesen Lügen Wahres wäre — wenn — 
Wenn — wenn — 

Berdoa: ... und schlugst 
Ihn mit Vergnügen tot! 


Nieten ist die Bedeutung dieser Szene aufgefallen und man kann als 
Analytiker seinen Worten nur beipflichten, wenn er sagt: 

„Die bösen Wünsche haben Gothland von Anfang an geleitet und alles andere 
Gebaren stellt sich als bewußt-unbewußter Selbstbetrug dar; in den labyrinthi- 
schen Irrgängen dieser Psychologie spielt Berdoa mehr und mehr die Rolle 
des Unterbewußtseins im Doppel-Ich Gothlands. Mir scheint diese Szene 
(V. 3.) eine geniale Vorwegnahme moderner Psychoanalyse, ein einleuchtendes 
Zeugnis für den dämonischen Tiefsinn des jungen Grabbe“ („Grabbe und 
Schopenhauer“). 

Eine andere, nicht minder bedeutsame Szene ist in „Nannette und 
Marie“ zu finden, die am Hochzeitstage von Nannette und Leonardo spielt: 


Nannette: Da liegt mein väterliches Haus! 
Leonardo: Weshalb 
Wirst du dabei so trübe? 

Nannette: Ich bin dort 
Nur eine Fremde! 

Leonardo: Traure nicht, daß du 
Des Lebens Blütenzeit betrittst! 

Nannette: Ach, daß 


Man mit der Kindheit sie bezahlen muß! 
— Verzeih mir, wenn ich mich in deinen Armen 
So schmerzlich dran erinnere — Ich fürchte, 
Man fühlt sogar im Himmel Heimweh nach 
Der Erde. 
In der Sprache der Analyse ausgedrückt: die Frau muß auf ihre Odipus- 
beziehung zum Vater verzichten, um beim Manne glücklich zu sein. 
Häufig verwendet Grabbe Wortanspielungen zur Andeutung unbewußter 
Vorgänge. So etwa, wenn er im „Aschenbrödel“ die verwandelte Katze von 








schade nur, daß ein unentschuldbarer Irrtum, ein unleugbarer Schwachsinn hier das tragische 
Fatum herbeibeschwören.“ 


24* 








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372 Edmund Bergler 





der Au sprechen läßt, wobei die ängstliche Ratte ein fressendes „Miau‘“ heraus- 
hört (siehe S. 341). Oder wenn Grabbe in „Kaiser Heinrich VI“ in einer 
Situation, in welcher die Stadt Bardewick die Rache des von ihr treulos ver- 
lassenen Heinrich des Löwen fürchtet, den Ratsherrn Hagener die unter- 
gehende Sonne mit einer Löwenmähne vergleichen und den Bürgermeister 
Rudlich erschreckt fragen läßt: „Wie kommt Ihr auf Löwenmähnen?“ 

Ferner sei auf Grabbes Herausarbeitung des doppelten Sohn-Vater-Konflikts 
im „Gothland“ und die Bedeutung der Vergeltung und des unbewußten 
Schuld- und Strafbedürfnisses des Helden verwiesen. 

Ebenso erstaunlich ist eine Antwort Arbogas auf die Frage Gothlands (IV. r.), 
was den Helden vom Mörder unterscheide: „Die Anzahl der Erschlagenen. 
Wer wen’ge totschlägt, ist ein Mörder, wer viele totschlägt, ist ein Held.“ 
Das heißt, wer seinem Über-Ich nur einen Mord abringen kann, ist kein Held. 
Was der Durchschnittsmensch am Helden unbewußt bewundert, ist die Angst- 
überwindung, d.h. das scheinbar schuldgefühlsfreie Übertreten der Über-Ich- 
Gebote, unter denen die anderen seufzen. 

Einmal nennt Grabbe das Wort unbewußt direkt: Im „Aschenbrödel“ 
nimmt der König die Hand der Geliebten und läßt sie sein Herz fühlen. Dann 
heißt es bei Grabbe: „Olympia (läßt die Hand unbewußt da ruhen): Es klopft 
— ja — ja — sehr — stark.“ 


XI. Der orale Pessimist und seine Varianten 


Setzt man sich mit einem oral fixierten oder regredierten Pessimisten in der 
Analyse auseinander, dann bekommt man regelmäßig die Schopenhauerschen 
Rationalisierungen?® zu hören. Etwa Modifikationen der bekannten Stelle aus 
„Die Welt als Wille und Vorstellung“: 


Dieser Welt, dem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch 
bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab 
tausend anderer, und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit 
der Erkenntnis die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, wächst, welche daher im Menschen 
ihren höchsten Grad erreicht, und einen um so höheren, je intelligenter er ist, — dieser 
Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den 
möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend. 


Die Frage der Patienten, ob sie bei ihrer düsteren Schilderung der realen 
Verhältnisse etwa übertreiben, kann man nicht ohneweiteres verneinen. Die 
Welt, in der wir leben, ist ein Gemengsel von „brutalster‘‘ Aggression und 
konzentriertestem Haß, welche beide Äußerungen des Thanatos vom Men- 





36) Aus Platzmangel kann hier auf die psychologischen Parallelen zwischen Grabbe, 
Schopenhauer und Nietzsche nicht eingegangen werden. Grisebach nennt Grabbes Werke 
„Kunst gewordene Philosophie Schopenhauers“. 














Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 373 











schen, gegen den sie gerichtet sind, subjektiv als „Niedertracht und Gemein- 
heit“ empfunden werden, wobei lediglich die Quantität dieser einzelnen In- 
gredienzien — bei einem relativ konstanten Mischungsverhältnis — jeweils 
wechselt. Demgegenüber erscheint die Beimengung des Eros quantitativ ge- 
ring. Auch kann man etwa einem Menschen, der den Satz Bertrand Russels 
als Realität darstellt: „Die Menschen tun das Gute, so weit man sie zwingt, 
es zu tun, und das Schlechte, soweit man nicht die Macht hat, sie daran zu 
hindern“ — die Richtigkeit seiner Beobachtung, mit der Einschränkung des 
Über-Ichs, nicht bestreiten. 

Die Lebenstechnik der praktisch Gesunden besteht also im Übersehen und 
Nicht-tragisch-Nehmen. Grabbes Satz: 


Der Mensch erklärt das Gute sich hinein, 

Wenn er die Weltgeschichte liest, — weil er 

Zu feig ist, ihre grause Wahrheit kühn 

Sich selber zu gestehen — 
hat seine Richtigkeit. Somit kommt es auf den Standpunkt des Beschauers 
an. Grabbe sieht z.B. in der Sonne die Kraft, die die Krokodilseier ausbrütet 
(siehe $. 363), während einem andern an ihr die lebensspendende Wärme zu- 
erst auffällt. Auch ist die Fähigkeit, jeweils wechselnden Fiktionen?? nach- 
zuhängen, wobei die jeweilige Fiktion libidinös überbesetzt wird, deren Zu- 
sammenklappen aber nach einiger Trauerarbeit das Aufrichten der nächsten, 
deren Schicksal wieder im voraus gewiß ist, nicht verhindern darf, ein Stigma 
der Normalität. Endlich — und das ist das Entscheidende — ist es eine bio- 
logisch fundierte Tendenz des Triebes, nach Befriedigung zu verlangen. Wir 
empfinden z.B. Hunger, Sexualwünsche und Schlafbedürfnis, unabhängig da- 
von, ob die Erfüllung dieser Triebe einen „Sinn“ hat oder nicht. 

Der orale Pessimist ist also nicht ganz im Recht, wenn er sein subjektiv 
und psychologisch begründbares Sich-unglücklich-Fühlen mit realen Verhält- 
nissen begründet. Grob ausgedrückt, könnte man, ein altes Wort variierend, 
sagen, nicht er hat den Pessimismus, sondern der Pessimismus hat ihn. Mag 
nun Grabbe minutiös beobachten, wenn er die Welt „ein mittelmäßiges Lust- 
spiel“ nennt, „welches ein unbärtiger, gelbschnäbeliger Engel, der noch in der 
Prima sitzt, während der Schulferien zusammengeschmiert hat“, und an 
anderer Stelle das Herz „für eine in das unrechte Loch gelaufene Billard- 








37) Unter Fiktion ist die Fähigkeit des Gesunden gemeint, mit der Zeit wechselnde Ob- 
jekte (Personen, Dinge, Interessen, Ideen usw.) mit großen Libidoquantitäten zu besetzen, un- 
abhängig von der Wertschätzung der Anderen und trotz der wiederholt gemachten Er- 
fahrung, daß es sich nicht um ständige Libidopositionen handelt, daß also diese hoch- 
bewerteten Objekte mit der Zeit im subjektiven Empfinden verblassen. — Der Unterschied 
zwischen ‚„Fiktionsfähigkeit“ und Sublimierung bleibt einer eigenen Untersuchung vor- 
behalten. 











374 Edmund Bergler 





kugel“ halten —; wer gesund, das heißt: arbeits-, liebes- und fiktionsfähig ist 
(ich halte das letzte Glied dieser Trias für unerläßlich), wird trotz allen 
Lebenstragödien bestehen können. Gerade die „Fiktionsfähigkeit“ ist beim 
oralen Pessimisten herabgesetzt. 


„Arbeits-, liebes- und fiktionsfähig“: das heißt aber relativ neurosefrei sein, 
also die Prägenitalität und den Odipuskomplex in großen Zügen wenigstens 
überwunden haben. Das hat der orale Pessimist nicht zustande gebracht und 
hier ist der springende Punkt. Das Sonderbare ist nun, daß der orale Pessimis- 
mus sich mit keinem der bekannten Krankheitsbilder deckt, daß wir darunter 
schizoide, zykloide und auf den ersten Blick als hysteriform imponierende 
Menschen finden. Bei allen diesen Pessimisten liegt ein Scheitern an der prä- 
ödipalen Mutterbindung vor. Orales Mißtrauen, Haß, Neid, Eßstörungen, 
Sich-Beklagen, den anderen Ins-Unrecht-Setzen, Sich-unglücklich-Fühlen domi- 
nieren. Die Angst vor dem Gefressenwerden kommt meist in der gemilderten 
Form der Angst vor dem Verhungern, resp. Fellatiowünschen zum Ausdruck, 
wobei unbewußte Phantasien resp. Wünsche, betreffend das Abbeißen des 
Penis durch die Frau, zu konstatieren sind. Vielfach hat der Penis noch 
Brustbedeutung. Die unbewußte Technik dieser Menschen liegt darin, daß sie 
mit grandioser Geschicklichkeit ihre selbstgewollten Niederlagen und Ent- 
täuschungen organisieren, wobei sie aus unbewußtem Strafbedürfnis gar nicht 
mehr der Erfüllung ihrer Wünsche nachjagen, sondern der Enttäuschung,?® 
an die sie masochistisch-genießend fixiert sind und die für sie die einzige Form 
des Auslebens ihrer prägenitalen Wünsche und — Aggressionen darstellt. Da- 
bei ergibt sich der typische Circulus vitiosus, da sie aus jeder Enttäuschung die 
unbewußte Berechtigung zu weiteren Aggressionen ableiten. Der orale Pessi- 
mismus ist wie ein neurotisches Symptom aufgebaut und stellt unter anderm 
einen narzißtischen Schutzmechanismus des Ichs dar, der dem schwer lädierten 
Allmachtswahn einen Unterschlupf bietet. 


Und der Ausweg für den oralen Pessimisten nach erfolgreicher Analyse??? 
Die gütige, mütterliche Frau, von der der Patient geliebt wird, die — nach 





38) Anderseits hat man bei Unkenntnis dieses Tatbestandes bei den oralen Pessimisten den 
Eindruck, es handle sich im Gegenteil um Optimisten, da sich diese Menschen von ihren 
unbewußten Wünschen durch keine üble Erfahrung abbringen lassen und ihnen immer 
wieder nachjagen. Es handelt sich, neben der zutiefst infolge der eigenen Allmacht nicht 
völlig aufgegebenen Hoffnung, geliebt zu werden, um die besprochene Technik des Pessi- 
misten, den Anderen ins Unrecht zu setzen. Würde sich der Pessimist durch die Realität 
„belehren“ lassen, könnte er seinen neurotischen Mechanismus nicht mit der gleichen un- 
bewußten Lust abhaspeln lassen. 

39) Ohne Analyse ist m. E. der „orale“ Pessimist unheilbar. Selbst wenn er — ein an sich 
unwahrscheinlicher Glücksfall — dem einzigen, für ihn passenden Typus der „gütigen Frau“ 
begegnete, er würde auch in ihr das bösartige, „fressende“ Weib sehen und die neurotische 
Mutterbeziehung wiederholen. 











Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 375 





analytischer Lösung der Ängste — nicht auffressen und gefährden, sondern in 
überströmender, nie versagender Güte Liebe gibt, gibt und nochmals gibt. 
Und wenn auch der paradiesische Zustand, der Grabbes Olympia im „Aschen- 
brödel“ vorschwebte: 


Mir wird, als kehrten alte Zeiten wieder 
Als hört’ ich zaubervolle Wiegenlieder, 
Als läg’ ich an der Mutter Brust 

Und atmete des Kindes Lust. 


nicht erreichbar ist (wie bei keinem Menschen), ein Stück Lust bleibt auch 
dem früheren oralen Pessimisten nicht versagt. 


Literatur über Grabbe. 


ı. Adams P,, Grabbes Weltbild im „Herzog Theodor v. Gothland“. Diss. Münster. In: 
Lit. hist. Jahrbuch der Görregesellsch. Freibg. 1927. 

2. A. B., Grabbe und Müllner. Im Grabbe-Buch. Detmold 1923. 

3. Bergmann A., Grabbe als Gestalt des Dramas. Im Grabbe-Buch. 

4. Bergmann A., Grabbe-Bibliographie. Im Grabbe-Buch. 

5. Duller E., Grabbes Leben. In „Die Hermannschlacht“. Herausgeg. von Grabbes Witwe. 
Schreiner 1838. 

6. Ebers F., Grabbes „Eulenspiegel“. Im Grabbe-Buch. 

7. Ebers F. Der Blücher der Poesie. Im Grabbe-Buch. 

8. Ebers F., Wie sah Grabbe aus? Im Grabbe-Buch. 

9. Ebstein E., Grabbes Krankheit. In: Grenzfragen der Lit. u. Med. 3. Heft, 1906. 

10. Eulenberg H., Der sterbende Grabbe. Im Grabbe-Buch. 

ı1. Friedrich P. und Ebers F., Das Grabbe-Buch. Detmold 1923. 

ı2. Friedrich P., Grabbes „Marius und Sulla“. Im Grabbe-Buch. 

13. Friedrich P., Neues von Ch. D. Grabbe. Im Grabbe-Buch. 

14. Friedrich P., Einleitung zum Grabbe-Buch. 

15. Friedrich P., Grabbe-Mal. Im Grabbe-Buch. 

16. Friedrich P., Auferstehung. Im Grabbe-Buch. 

17. Friedrich P., Der Auditör. Im Grabbe-Buch. 


40) Auch kann erst die erfolgreiche, lange fortgesetzte Analyse die anderen oralen 


Störungen der oral Fixierten oder Regredierten beseitigen. — In einem Falle eines 
oralen Pessimisten (eines hochbegabten Lyrikers), der in einem bestimmten Zeitpunkt 
seiner Neurose an einer völligen Produktionshemmung litt — dem „Auftrieb von 


Sehnsucht“ (ipsissima verba) stand ein infernalischer Mutterhaß entgegen, der alles unterband 
und höchstens zu literarischen Blasphemien und Koprolalien reichte —, entsprach die Vor- 
liebe für obszöne Worte einem „Verdrecken“ des Lockrufs der Mutter. Vgl. dazu 
E. Bergler, Über obszöne Worte (im Erscheinen). — In anderen Fällen sind es ganz un- 
wahrscheinliche Störungen, die bei den Oralen in Betracht kommen, z. B. Ejakulations- 
unvermögen (siehe die Arbeit des Verf. „Über einige noch nicht beschriebene Spezialformen 
der Ejakulationsstörung“) oder — Pseudodebilität (siehe des Verf. „Zur Problematik der 
Pseudodebilität“. Int Ztschr. f. Psa. 1932 resp. 1934). Natürlich ist nicht der „orale Pessimis- 
mus“ an diesen Symptomen schuldtragend, ist er doch selbst nur eine Außerungsform der 
Neurose der oral fixierten oder regredierten Patienten. 








376 Edmund Bergler: Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 





18. Geyer E., Grabbe. Eine dramatische Studie. Im Grabbe-Buch. 

19. Gottschall R. v. Ch. D., Grabbe. Leipzig, Reclam. 

20. Heine H., Verschiedene Stellen seiner Schriften. Z. B. in den „Memoiren“. Ausg. 
Bong. Bd. ı5, $.78ff.; in den „Gedanken und Einfällen“, in den Artikeln „Über die fran- 
zösische Bühne“, in „Shakespeares Mädchen und Frauen“, in den „Elementargeistern“, 
(Näheres bei Ploch, S. 86—90.) 

21. Hillekamps C. H., C. D. Grabbes Briefe als biographische Quelle. Inaugural 
Dissertation 1929. Verlag Fahle, Münster. 

22. Jakisch H., Grabbe und Nietzsche. Im Grabbe-Buch. 

23. Kutscher A., Grabbe und Hebbel. Im Grabbe-Buch. 

24. Kruse G. R., Musik und Musiker in Grabbes Leben. Im Grabbe-Buch. 

25. Kruse G. R., Grabbe und Lortzing. Im Grabbe-Buch. 

26. Lange F., Grabbe und wir. Im Grabbe-Buch. 

27. Lentwein P., Grabbe als politischer Dichter. Im Grabbe-Buch. 

28. Nieten O., Grabbe und Schopenhauer. Im Grabbe-Buch. 

29. Nieten O., Ch. D. Grabbe, sein Leben und seine Werke. Dortmund 1908. Verlag 
Ruchfuß. 

30. Nieten O, Grabbe und Immermann. Im Grabbe-Buch. 

31. Perger A., System der dramatischen Technik mit besonderer Untersuchung von 
Grabbes Drama. Berlin 1900. Duncker-Verlag. 

32. Piper C. A., Beiträge zum Studium Grabbes, München 1898. Haushalter-Verlag. 

33. Ploch A., Grabbes Stellung in der deutschen Literatur. Leipzig 1905. Verlag Scheffer. 

34. Wukadinowic S., Grabbes Lebensbild. In „Grabbes Werke“. Verlag Bong & Co. 

35. Zaunert P., Grabbes Leben. In „Grabbes Werke“. Ausg. d. Bibliograph. Instituts. 
Herausg. von Franz und Zaunert. 

36. Ziegler K., Grabbes Leben und Charakter. Verl. Hoffmann und Campe. Hamburg 
1855. 














BESPRECHUNGEN 


Aus der Literatur der Grenzgebiete. 


BOVET TH.: Philosophische Grundprobleme der Medizin. Zürich, Rascher & Co., 1934». 
V u. 181 Seiten. 


Der kluge und gebildete Verfasser setzt sich mit den philosophischen Grundproblemen 


der Medizin in seiner Weise auseinander. Das Büchlein, das viele Probleme — Natur, Seele, 
Leben, Geist, Existenz, die Eigenart der Medizin, die mehrdimensionale Diagnostik, die: 
Polarität von Ich und Gott — behandelt, ist notwendigerweise aphoristisch, orientiert aber 


gut über den gegenwärtigen Begriffskreis der psychologischen Medizin in Deutschland. Der 
Verf. will gerade der unter den Ärzten weit verbreiteten Meinung entgegentreten, die geistigen. 
Probleme ließen sich von der Psychologie oder Biologie aus behandeln. Im Tode wird die 
Seele in einen noch höheren geistigen Zusammenhang eingewoben und von der individuellen 
Beschränktheit und dem Alleinsein befreit. Das Gewissen ist für den Verf. der Ort, wo der: 
Geist in die Seele einbricht. Gott als schlechthin existierendes Wesen überragt das Gebier 
jeder Teilwissenschaft. 

Der Referent zieht freilich schlichte Beobachtung und Teilwissenschaft einer geheimnis- 
vollen Einsicht in geistige Probleme und dem Wissen um schlechthin existierende Wesen. 
vor. P. Schilder (New York) 


BÜHLER, CHARLOTTE: Drei Generationen im Jugendtagebuch. Quellen und Studien zur 
Jugendkunde, herausgegeben von Dr. Charlotte Bühler. H. ır. Fischer, Jena. 1934. 
S. 1184. 

B. benützt als Kriterium in diesem Vergleich der Tagebücher von drei Generationen die 
Einstellung zur Familie, die Einstellung zu sachlichen Aufgaben und geistigem Leben, ferner 
die Einstellung zu Natur und Geselligkeit, schließlich die Liebes- und sexuelle Entwicklung. 

In der ältesten Generation findet sich eine selbstverständliche Einbezogenheit in die 
Familie mit bedingungslos positiver Einstellung; in der mittleren Generation findet sich; 
starker Individualismus und heftiger Gegensatz zur Familie. In der jüngsten Generation 
schwindet die Animosität gegen die Familie. Die älteste Generation ist ungeistig und an. 
sachlichen Aufgaben wenig interessiert; in der mittleren findet sich lebendige geistige Proble- 
matik und sachliches Aufgabeverständnis, in der jüngsten findet sich eine starke Hinwendung: 
zur Sachlichkeit und ein starker Wille zu Gemeinschaft, Sport und Geselligkeit. Die Natur- 
auffassung der älteren Generation ist nüchtern, der mittleren und jüngsten lebendig und 
schwärmerisch. Die Liebe der älteren Generation ist kontaktlos, die der mittleren sucht 
individuelles Verstehen, in der jüngsten finden sich Schwärmerei und seelisch fundierte Be-. 
ziehungen neben sexuell fundierten. Vier Tagebücher werden als Belege publiziert. 

Es ist natürlich zuzugeben, daß Tagebücher nichts weniger als ursprünglich sind. Das. 
„Ich“ spielt in deren Ausarbeitung eine bedeutsame Rolle. Entstellungen, Verdichtungen,, 
Verschiebungen verdecken die libidinösen Strebungen. Aber gerade vom Standpunkt der Ich- 
psychologie sind Tagebücher interessant. Man kann dann sehen, inwieweit die gegebene 
soziale Struktur den Aufbau des Ichs beeinflußt. Wir können auch Einblick gewinnen in den 
Aufbau des Über-Ichs. Studien wie die Ch. Bühlers bieten daher auch für den Psycho- 
analytiker interessantes Material, wenn er auch diesem Material in anderer Einstellung gegen- 
übertritt. 


P. Schilder (New York) 














380 Besprechungen 





Erwartung des Graphologen (der Klagesschen Schule) überein? Speziell derjenige, der 
der Graphologie aus wissenschaftlichen Gründen skeptisch gegenübersteht, wird eine solche 
Fragestellung begrüßen. Und daß die anscheinend durchaus zuverlässige statistische Be- 
arbeitung eines Materials von mehr als 700 Handschriften von Personen, die wegen be- 
stimmter Delikte verurteilt wurden und 200 Handschriften von Nichtkriminellen auf die er- 
wähnten Fragen eine eindeutig positive Antwort gibt, wird ihn mehr interessieren als die 
verblüffendste — wirklich oder bloß angeblich zutreffende — graphologische Deutung 
irgend eines Einzelfalles. Daß so manche Behauptung, die sich in der graphologischen 
Literatur findet, der statistischen Prüfung nicht standhielt, überrascht nicht weiter. Über- 
raschender sind — wenigstens für den kritischen Vertreter der Graphologie — manche 
Einzelheiten des Ergebnisses, wie z. B. daß bestimmte Merkmale in 80°/, der Handschriften 
einer bestimmten Verbrecherkategorie vorkommen, dagegen nur in 10°/, der nichtkriminellen 
Handschriften (eine Differenz, die sich noch vergrößert, sobald man den Vergleich auf eine 
Merkmalgruppe statt auf ein isoliertes Merkmal erstreckt). Ref. ist der Ansicht, daß es der 
Autorin wirklich gelang, durch ihre Arbeiten „die gegebenen Grundlagen graphologischer 
Deutung nicht nur zu bestätigen, sondern auch zu erweitern und zu festigen“. 

Vom rein psychologischen Standpunkt aus sind die beiden Abhandlungen ohne sonder- 
liches Interesse. W. hat gut daran getan, den Untertitel „eine charakterologische Studie“, 
den die erste trägt, bei der zweiten (die übrigens die interessantere und ergiebigere ist) fallen 
zu lassen. Sie ist kritisch genug, die Unzulänglichkeit ihres Materials als Grundlage für eine 
psychologische Untersuchung sexuell abnormer Verhaltungsweisen zu erkennen und nichts 
anderes zu erstreben als „eine vom graphologischen Gesichtspunkt unternommene Tat- 
bestandsaufnahme auf Grund der Handschriften von Personen, die wegen bestimmter Sexual- 
delikte verurteilt worden sind“ — eine Beschränkung, welche der Arbeit nur zugute ge- 
kommen ist. W. Marseille (Wien) 


WOLFF GUSTAV: Leben und Erkennen. Vorarbeiten zu einer biologischen Philosophie. 
München, Ernst Reinhardt, 1933, 442 Seiten. 


Der Untertitel kennzeichnet Charakter und Absicht des Buches. W. findet an den 
lebenden Körpern außer zahlreichen Erscheinungen, die sie mit den leblosen gemeinsam 
haben, „eine völlig andersartige Eigenschaft“, „den Charakter der Zielursächlichkeit oder 
Zweckmäßigkeit, eine Eigenschaft, die keinem leblosen Körper innewohnt und keinem leben- 
den Körper fehlt“. Zweckvorstellungen fördern den Ablauf zweckmäßiger Vorgänge, sind 
selbst „nur eine zweckmäßige Einrichtung“. Aber sie spielen nur eine untergeordnete Rolle 
im Ablauf der zweckmäßigen Vorgänge. Der Verfasser betrachtet sodann die Darwinsche 
Abstammungslehre und findet, daß weder der Begriff der Variation, noch der der Mutation 
eine Abstammungslehre ermöglicht. Er findet in der Überproduktion einen zielursächlichen 
Charakter. Er findet in der Formgestaltung ein Prinzip von teleologischem Charakter. Er 
verneint die Wirksamkeit geschlechtlicher Zuchtwahl. Er verneint auch die Bedeutung der 
funktionellen Anpassung (Lamarck) und der direkten Umweltsbeeinflussung (Geoffroy) 
für die Artentwicklung. Sie sind für die Spezialfälle der allgemeinen Erscheinung der organi- 
schen Zweckmäßigkeit nicht maßgebend. W. verweist besonders auf die Regeneration der 
Augenlinse des Wassersalamanders (Triton), welche vom Irisepithel her erfolgt. Es wird also 
ein der neuen Funktion ganz fremdes Gewebe zur Ersatzbildung herangezogen: ein Beweis 
für ein zielstrebiges phylogenetisches Prinzip. Eine Analyse der Ganzheit folgt, sie ist „eine 
Gesamtheit als Zweckeinheit gefaßt“. Der Ganzheitsbegriff ist nur anwendbar auf Lebewesen 
und deren Produkte. Aber die organische Zweckmäßigkeit ist nicht psychisch, sie ist nur 
seelenähnlich. „Der psychoide Faktor ist ja nicht ein Produkt des vitalen Geschehens wie der 











PET —— 
Besprechungen 381 





psychische Faktor, er wird nicht von den Lebensgesetzen beherrscht, sondern beherrscht 
diese... Die psychische Intelligenz ist genau die nämliche in der Amöbe wie im Menschen, 
in der Pflanze wie im Tier.“ Der Verf. lehnt daher die Lehre vom Psychovitalismus und 
von der Pflanzenseele ab. 


Auf Grund der von der organischen Biologie her gewonnenen Ansicht schreibt der Verf. 
zu einer Diskussion der Assoziationspsychologie: sie vernachlässige den psychischen Faktor. 
Auch die psychischen Erscheinungen haben den Charakter der organischen Zweckmäßigkeit. 
Der „teleologische Zusammenhang ist immer ein kausaler“, „Jeder einzelne Vorgang ist 
zugleich Mittel und Zweck.“ Aber in den „seelischen Lebenserscheinungen“ fehlt ein phy- 
sikalisch chemischer Zusammenhang gänzlich. Wenn „Willensfreiheit“ erlebt wird, ist dies 
darauf zurückzuführen, daß im Laufe der Stammesentwicklung Bewegungen, die weder auf 
reflektorischem noch auf triebhaftem Wege auszulösen waren, durch verständige Über- 
legung ausgeführt werden. Dies ist jedoch auch ein teleologisch-organischer Prozeß, der 
kausal bestimmt ist. Es gibt kein unmittelbares Erlebnis des Tuns. Wahrheit und Wert 
werden gleichfalls vom teleologisch-organischen Gesichtspunkte aus betrachtet. Das a priori 
Kants wird zu einem Teil der Erfahrungswissenschaft, logisch zu einem Teil der Biologie. 

Das Buch enthält manche Hinweise auf biologische Tatsachen, die den Psychoanalytiker 
interessieren dürften. Allerdings werden diese in sehr schematischer Weise vorgetragen. Der 
Bedeutung der Mutation in der Abstammungslehre wird der Verf. z. B. in keiner Weise 


gerecht. Er setzt sich so in Widerspruch zu der Lehre führender Biologen und — was 
schlimmer ist — gibt nur eine sehr ungenügende Orientierung über ein wichtiges Tatsachen- 
gebiet. 


Der Analytiker wird sich auch fragen müssen, welchen Sinn es habe, von einer organi- 
schen Zweckmäßigkeit zu sprechen, welche nicht psychisch ist. Ein solcher Begriff kann 
weder den Analytiker, noch den Philosophen befriedigen. Die psychologischen Phänomene 
werden in der Lehre von Wolff zu Epiphänomenen ohne tiefere Bedeutung. Der Verfasser 
weiß nichts von analytischen Begriffen oder verwendet sie nicht. Sie hätten ihm ein tieferes 
Eindringen in die Probleme ermöglicht. Er ist sichtlich unter dem Einfluß seiner ersten 
Entdeckung vom Begriff der organischen Zweckmäßigkeit so gefesselt, daß alles andere dem 
Gesichtskreis entschwindet. Es ist zu begrüßen, daß der Standpunkt naturwissenschaftlicher 
Beobachtung oder besser der Beobachtung schlechthin auch dem Wahrheits- und Wert- 
problem gegenüber angewendet wird. Er findet Hinweise, daß Kant grundsätzlich der 
gleichen Ansicht war. Dem Ref. scheint es psychologisch interessant, daß es offenbar leicht 
möglich ist, zu einander diametral entgegengesetzten Schlußfolgerungen bezüglich der Kant- 
schen Lehre zu kommen. Die meisten Kantianer werden jedenfalls mit W.s Deutung der 
Lehre Kants nicht einverstanden sein. Es scheint offenbar für menschliche Wesen, sogar 
für einen Kant sehr schwer zu sein, im Verlaufe langgestreckter Diskussionen und umfang- 
reicher Bücher Widersprüche fernzuhalten, ein Problem, das den Analytiker gewiß inter- 
essiert. Man fragt sich dann, ob nicht der Versuch, zu Formulierungen zu kommen, welche weitüber 
die Möglichkeiten unmittelbarer Anschauung und Handlung hinausgehen, von vornherein 
zum inneren Widerspruch verurteilt ist, was analytisch natürlich ein Durchbrechen des 
Systems Ubw. bedeuten würde. Das vorliegende Buch, das sehr bald jede Diskussion mit 
dem Zauberwort der organischen Zweckmäßigkeit beendet, würde jenem Prinzip des Un- 
bewußten zuzurechnen sein, das ich als ungebührliche Verallgemeinerung bezeichnet habe. 
Vielleicht kann man diese Philosophien formal je nach dem unbewußten Mechanismus 
gruppieren, dem sie ihren Ursprung verdanken. P. Schilder (New York) 

















N EEEBRSSE HTEHPN=-U NGEN 


1934 


BE oo TEE ET TE | 


SANDOR RADO 


DIE 
KASTRATIONSANGST 
DES WEIBES 


Oktav. go Seiten. In Leinen RM 5.70 


Dr. Sandor Rado, Direktor des Psycho- 
analytischen Instituts in New York, ver- 
folgt in seinem Buch ‚Die Kastrations- 
angst des Weibes‘‘ die mannigfachen Ver- 
zweigungen des Geschlechtsschicksals des 
Weibes. Der Ausdruck „Kastrationskom- 
plex“, der es zu einer gewissen Popularität 
gebracht hat, ist von der Psychoanalyse 
geprägt worden. Seine Anwendung war 
im Anfang auf das männliche Geschlecht 
beschränkt, er diente als Sammelbezeich- 
nung für eine bedeutungsvolle Gruppe 
von Phänomenen, welche die Psychoana- 
lyse im Seelenleben des Mannes aufgedeckt 
hatte. Bei der Frau liegen die Dinge durch- 
aus anders. Rado zeigt, auf welche Weise 
der so typische Masochismus des Weibes 
entsteht und weist auf, daß die Angst vor 
dem eigenen Masochismus in der weib- 
lichen seelischen Entwicklung an derselben 
Stelle steht, an der sich beim Manne die 
Angst um den Verlust der Männlichkeit 
entfaltet. Alle Reaktionen auf den eigenen 
Masochismus, die Formen der Flucht vor 
ihm, die Aufnahme des offenen Kampfes 
und schließlich der Versuch der Wahl 
eines kleineren Übels werden durch alle 
Erscheinungen der weiblichen Neurosen 
hindurch verfolgt und so ein Bild der 
Vielfältigkeit aller Fehlentwicklungen, die 
an einen kritischen Punkt der Entwicklung 
anschließen mögen, entworfen. Schließlich 
wird auch eine neue Theorie der Angst 
überhaupt und ihrer Quellen in der 
Phylogenese skizziert. 


INHALT 
Einleitung 
I. Der Wunschpenis 
II. Die masochistische Deformation des Genitaltriebs 
III. Die Abwandlung der Kastrationsangst 
IV. Der Gestaltungsprozeß der Neurose 
ı. Die Flucht 
Das Angstproblem 
2. Der Kampf 
Der Ödipuskomplex 
3. Die Wahl des kleineren Übels 
V. Schlußfolgerungen 





IMRE HERMANN 


DIE PSYCHOANALYSE 
ALS METHODE 


Beihefte zur „Internationalen Zeitschrift für Psycho- 
analyse“ und zur „Imago“ / Nr. ı 


Großoktav. 114 Seiten. Geheftet RM 6. 50 


Hauptgegenstand der Untersuchung ist einerseits die 
sogenannte „psychoanalytische Situation“, das heißt, 
die für die analytische Erfahrung und therapeutische 
Behandlung günstigste Seeleneinstellung, anderseits die 
methodische Untersuchung der praktischen und wissen- 
schaftlichen Bearbeitung des in dieser Situation ge- 
wonnenen Materials. Demgemäß zerfällt die Methoden- 
lehre in zwei Teile, in die Methodik der Material- 
beschaffung und die der Bearbeitung; dazu kommt ° 
noch die Untersuchung der Art des Stoffes, auf den 
sich die analytische Methode anwenden läßt. Mit großer 
Nachdrücklichkeit erörtert der Verfasser die Grundvor- 
aussetzung aller analytischen Theorien, wonach jede 
Offenbarung der Analysieren sinnvoll ist. Der 
Verfasser versucht eingehend die Bedingungen zu be- 
stimmen, die das Erkennen des sinnvollen Stoffes er- 
leichtern. In all diesen Erwägungen kommt ihm seine 
in früheren Studien bereits bekundete logische Ge- 
schultheit wohl zu statten. Sein anerkennenswerter Ver- 
such wird fortan all denjenigen, die nach tieferem 
Verständnis des logischen Wesens des analytischen 
Verfahrens streben, unentbehrlich sein. 

Dr. Szemere im „Pester Lloyd‘, 


INHALT 


I. Einleitung: ı. Das Bewußte und das Unbewußte; 
2. Die Prinzipien der Bearbeitung der Psycho- 
analytischen Methodenlehre, 

II. Die psychoanalytische Konstellation. Die Beschaf- 
fung des Materials; ı. Die Grundregel. — Die 
Rolle der Aufmerksamkeit; 2. Die ruhige Selbst- 
beobachtung. — Das Lebendigwerden der Ver- 
gangenheit; 3, Die Ableitung der Affekte in 
Worte. — Das Geheimnis; 4. Die rezeptive Ein- 
stellung des Analytikers; 5. Die Widerstände. — 
Ihr Ursprung und ihre Erscheinungsform; 6. Die 
Grundstimmung. — Affekt- und Konfliktübertra- 
gung; 7. Positive Ratschläge zur Sicherung der 
freien Assoziation; 8. Niveau und Schichtung 
der Assoziationsketten. 

III. Die Verarbeitung des gewonnenen Materials: 
ı. Das psychoanalytisch Sinnvolle. — Seelische 
Kontinuität und Determinismus; 2. Zur Charak- 
teristik der spezifischen Kontinuität der seelischen 
Geschehnisse; 3. Spielraum. Zufall. Kausalität; 
4. Die Sinngebung in der Praxis. Die Funktion 
des „Sinn-Organs“; 5. Aufbau der wissenschaft- 
lichen Feststellungen; 6. Leitlinien der psycho- 
analytischen Erklärungsweisen. 

IV. Die Kontrolle: ı. Zur Kontrolle der Begriffe; 
2. Zur Kontrolle der psychoanalytischen For- 
schungsarbeit. 

Literaturnachweis. — Sach- und Namenverzeichnis. 





INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN 









































































BTEUERSCHEINUNG 1934| 


MARIE BONAPARTE 


EDGAR POE 


EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE 
MIT EINEM VORWORT VON SIGM. FREUD 











Vier Teile in drei Bänden 
Oktav. 356, 420 und 396 Seiten | Mit 24 Bildtafeln 
Preis in Leinen RM 30.—, geheftet RM 25.— 


















Die Autorin legt in dieser umfassenden Studie die Ergebnisse 
ihrer Forschung an Leben und Werk des großen amerikanischen 
Poeten vor. Der erste Band enthält die Biographie und mit 
ihr parallel laufend eine Darstellung der Lyrik des Dichters. 
Der zweite und der dritte Teil behandeln vom Standpunkt 
der Analyse aus die erzählenden Werke; der vierte Teil unter- 
sucht das Wesen der literarischen Schöpfung und die soziale 
Bedeutung dieser Leistung. (Poes Botschaft an die Menschen.) 


VORWORT VON SIGM. FREUD 


Meine Freundin und Schülerin Marie Bonaparte hat in diesem 
Buch das Licht der Psychoanalyse auf das Leben und das Werk 
eines großen, krankhaft gearteten Dichters fallen lassen. Dank 
ihrer Deutungsart versteht man jetzt, wieviel von den Charak- 
teren seines Werkes durch die Eigenart des Mannes bedingt 
ist, erfährt aber auch, daß diese selbst der Niederschlag starker 
Gefühlsbindungen und schmerzlicher Erlebnisse seiner frühen 
Jugend war. Solche Untersuchungen sollen nicht das Genie 
des Dichters erklären, aber sie zeigen, welche Motive es ge- 
weckt haben und welcher Stoff ihm vom Schicksal aufgetragen 
wurde. Es hat einen besonderei?’ Reiz, die Gesetze des mensch- 
lichen Seelenlebens an hervorragenden Individuen zu studieren. 















INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN 


Soeben erscheint: 


SIGM. FREUD 
GESAMMELTE SCHRIFTEN 


BAND XII 


420 Seiten. Preis geheftet RM ı6.—, in Leinen RM 20.—, 
in Halbleder RM 25.—, in Leder RM 61.80 


Inhaltsverzeichnis: 


Schriften aus den Jahren 1928 bis 1933: 


Dostojewski und die Vatertötung. 
Das Unbehagen in der Kultur. 
Über libidinöse Typen. 

Über die weibliche Sexualität. 
Zur Gewinnung des Feuers 


Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: Vorwort. 
XXIX.Vorlesung: Revision der Traumlehre. XXX.Vorlesung: Traum und 
Okkultismus. XXXI. Vorlesung: Die Zerlegung der psychischen Persön- 
lichkeit. XXXII. Vorlesung: Angst und Triebleben. XXXIII. Vorlesung: 
Die Weiblichkeit. XXXIV.Vorlesung: Aufklärungen, Anwendungen, Orien- 
tierungen. XXXV. Vorlesung: Über eine Weltanschauung. 


Warum Krieg? 


Altere Schriften (Nachträge zu Bd. I-XI der Gesammelten Schriften): 


Der Familienroman der Neurotiker. — Psycho-Analysis. 


Geleitworte zu Büchern: 


Vorrede zur hebräischen Ausgabe der „Vorlesungen zur Einführung in die 
Psychoanalyse“. — Vorrede zur hebräischen Ausgabe von „Totem und 
Tabu“. — Geleitwort zu „The Psychoanalytic Review“, Vol. XVII, 1930. — 
Vorwort zu „Zehn Jahre Berliner Psychoanalytisches Institut“. — Geleit- 
wort zu „Elementi di Psicoanalisi* von Edoardo Weiss. — Geleitwort 
zu „Allgemeine Neurosenlehre“ von Hermann Nunberg. — Vorwort zu 
„Edgar Poe, Etude psychanalytique“ par Marie Bonaparte. 


Gedenkartikel: 


Ernest Jones zum 50. Geburtstag. — Sändor Ferenczi 18 


Vermischte Schriften: 


Brief an Maxim Leroy über einen Traum des Cartesius. — Goethe-Preis 1930. 
Brief an Dr. Alfons Paquet. Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus. — Das 
Fakultätsgutachten im Prozeß Halsmann. — Brief an den Bürgermeister 
der Stadt Pfibor-Freiberg. — Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus. 


INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN 








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THE 
PSYCHOANALYTIC 
QUARTERLY 


Third year of publication 


THE QUARTERLY 
is devoted to original contributions in 
the field of theoretical, clinical and 
applied psychoanalysis, and is published 
four times a year. 


The Editorial Board of the QUAR- 
TERLY consists of the Editors: Drs. 
Dorian Feigenbaum, Bertram D. Lewin, 
Frankwood E. Williams and Gregory 
Zilboorg. Associate Editors: Drs. Henry 
Alden Bunker, Jr., Raymond Gosselin 
and Lawrence Kubie. Associated with 
the Editorial Board is a group of distin- 
guished American and European 
psychoanalysts. 


CONTENTS FOR $ANUARY 1934: 


Part I: S.Ferenczi: Thalassa. A Theory of Geni- 

tality (6—8). — S. Lorand: A Note on the Psycho- 

logy of the inventor. — O. Fenichel: Outline of 

Clinical Psychoanalysis. — S. Z. Orgel: Reactivation 

of the (CEdipus-Situation. — M.R.Kaufman: Pro- 

jection, Heterosexual and Homosexual. — V. Tausk: 
Ibsen the Druggist. 


Part II: G. Röheim: Primitive High Gods. 


Editorial communications should be sent 
to the Editor in Chief: Dr. Dorian Feigen- 
baum, 60 Gramercy Park, New York City. 


Subscription price ıs # 5.50; 
single issues ı dollar and 75 cents. 
A limited number of back volumes are 
available; volumes in original binding 

# 6.50. 


Business correspondence should be sent to: 


THE PSYCHOANALYTIC 
QUARTERLY PRESS 


372-374 BROADWAY, ALBANY, 
NEW YORK 


THE 
INTERNATIONAL 
JOURNAL OF 
PSYCHO-ANALYSIS 


Directed by 
SIGM. FREUD 


Edited by 
ERNEST JONES 


This Journal is issued quarterly. 

Besides Original Papers, Ab- 

stracts and Reviews, it contains 

the Bulletin of the Internatio- 

nal Psycho-Analytical Associa- 

tion, of which it is the Official 
Organ. 


Editorial communications should be 
sent to Dr. Ernest Jones, 8ı Harley 
Street, London, W. ı. 


The Annual Subscription is 30s per 
volume of four parts. 


The Journal is obtainable by sub- 
scription only, the parts not being 
sold separately. 


Business correspondence should be ad- 
dressed to the publishers, Balliere, 
Tindall & Cox, 8 Henrietta Street, 
Covent Garden, London, W. C. 2., 
who can also supply back volumes. 








IMAGO, Band XX (1934), Heft 3 


(Ausgegeben im August 1934) 


Seite 
Hermann Nunberg: Das Schuldgefühl .......ueessresseeeenunenensenenennnnnennnnnenneneer- 257 
Otto Fenichel: Zur Psychologie der Langeweile .......+-+snsseoeeenenennenenennnnennnnnnee 270 
Raymond de Saussure: Über genetische Psychologie und Psychoanalyse.......uursseerren- 282 
Fritz Wittels: Mona Lisa und weibliche Schönheit. Eine Studie über Bisexualität ....... 316 
Edmund Bergler: Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten. Demonstriert an Christian 
Mietrich Grahbbe2.. ee ne ee ae a nen ea ones ehe nee Be ee 330 
BESPRECHUNGEN 


Aus der Literatur der Grenzgebiete: Bovet: Philosophische Grundprobleme der Medizin (Schilder) 377. — 
Charl. Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch (Schilder) 376. — Koty: Die Behandlung der Alten 
und Kranken bei den Naturvölkern (Kielholz) 378. — Riese: Das Triebverbrechen (Stengel) 378. — Max 
Hartmann: Die methodologischen Grundlagen der Biologie (Stengel) 379. — Wieser: Die Verbrecher- 
handschrift (Marseille) 379. — Wiesengrund-Adorno: Kierkegaard (Marseille) 380. — Wolff: Leben 
und Erkennen (Schilder) 382. 





Anschriften der Mitarbeiter dieses Heftes: 


DR. HERMANN NUNBERG, Professor an der Temple University, 111 North, 49th Street, Philadelphia, U.S.A. 
DR. OTTO FENICHEL, Nobelsgate 27, Oslo 

DRIVATDOZENT DR. RAYMOND DE SAUSSURE, 2 Tertasse, Genf 

DR. FRITZ WITTELS, 93 Central Park West, New York City 

DR. EDMUND BERGLER, Wien I, Seilerstätte 7 





Wir bitten zu richten: 

Redaktionelle Zuschriften aus allen Ländern mit Ausnahme Nordamerikas an die Redaktion der 
„Imago“, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien I, Börsegasse 11. 

Redaktionelle Zuschriften aus Nordamerika an Dr. Sandor Rado, 324 West 86h street, 
New York City. 

Gesdäftlihe Zuscriften aller Art an Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien I, Börse= 
gasse 11. 


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Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Gesellschaft m. b. H.. Wien I, Börsegasse ıı1 
Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion : Dr. Robert Wälder, Wien II, Obere Donaustraße 35 
Druck: Manzsche Buchdruckerei, Wien IX