XX. Band 1934 Heft 3
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IMAGO
Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie
ihre Grenzgebiete und Anwendungen
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Sigm. Freud
Redigiert von Ernst Kris und Robert Wälder
Hermann Nunberg ....... Das Schuldgefühl
Otto Fenihel .......... Zur Psychologie der Langeweile
Raymond de Saussure ........ Über genetische Psychologie und Psycho=
analyse
Britz Wittels..... .2.... Mona Lisa und weibliche Schönheit. Eine
Studie über Bisexualität
Edmund Bergler ........ Zur Problematik des „oralen“ Pessimi=-
sten. Demonstriert an Christian Dietrich
Grabbe
Besprehungen
= dienen
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Wir machen hiemit unsere Autoren auf die folgenden gesetzlichen Bestimmungen auf-
merksam:
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kann über die betreffenden Verlagsrechte (Wiederabdruck und Übersetzungen) nur mit Ge-
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schrift Rechte zur Übersetzung und zum Wiederabdruck einzuräumen.
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5 Die Redaktion
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”» I 7 » 24 » » 2 5 » ” 39.5,» 50 ”» » 49.
”» 25 » 32 ”» » 25 ” ” 35.» 50 » » 45.
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IMAGO
ZEITSCHRIFT FUR PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOLOGIE,
IHRE GRENZGEBIETE UND ANWENDUNGEN
XX. Band 1934 Heft 3
Das Schuldgefühl'
Von
Hermann Nunberg
Phifadelphia
Meine Damen und Herren!
Nach Freud müssen wir zwei Arten von Schuldgefühlen unterscheiden:
Die eine erscheint als soziale Angst, Angst vor der äußeren Autorität, die
andere als Angst vor der inneren Autorität oder als Gewissensangst; das
Schuldgefühl aus Angst vor der äußeren Autorität fällt mit der Angst vor
Liebesverlust zusammen; die Angst vor der inneren Autorität fällt mit der
Angst vor dem Über-Ich zusammen. Wie Freud das Schuldgefühl ableitet,
ist bekannt; er meint, es entstehe durch Verinnerlichung der Aggression, also
durch Wendung der Destruktion gegen das eigene Ich. Diese Aggression
komme am Ich als unbewußtes Strafbedürfnis zum Vorschein. Deshalb und
aus Gründen der leichteren Verständlichkeit für den Patienten wird oft die
Bezeichnung „Schuldgefühl“ durch die Bezeichnung „Strafbedürfnis“ ersetzt.
Nun ergibt sich die Frage, ob der Begriff des Strafbedürfnisses sich immer
vollständig mit dem Begriff des Schuldgefühls deckt. Schon vor mehreren
Jahren habe ich diese Frage aufgeworfen und möchte sie heute wiederholen.
Bei jedem Versuche, das Schuldgefühl gegen andere verwandte Gefühle ab-
zugrenzen, stoßen wir auf Schwierigkeiten. Als Aquivalente oder Ergänzun-
gen des Schuldgefühls treten oft Scham, Ekel, Mitleid, Minderwertigkeits-
gefühle und Angst auf. Schon der Sprachgebrauch weist darauf hin, daß diese
Gefühle zu einer gemeinsamen Gruppe gehören, denn die Wörter „häßlich“,
„schlecht“, „ekelhaft“, „böse“, „minderwertig“, oder aber „schön“, „gut“,
„sauber“ werden oft füreinander gebraucht. Der Rahmen gestattet es nicht,
alle Fragen zu erörtern, die sich anschließen lassen und es sei nur hervorge-
1) Vortrag, gehalten bei der Winterzusammenkunft der American Psychanalytic Associa-
tion in Washington am 26. Dezember 1933.
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UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
258 Hermann Nunberg
hoben, daß Schuldgefühl, Scham, Ekel usw. eines gemeinsam haben: Die innere
Wahrnehmung eines unlustvollen Zustandes bei einem Triebverzicht.
Die Ausdrucksformen des Schuldgefühls sind zahlreich und in ihrer Inten-
sität und Qualität recht verschieden. Das Schuldgefühl kann in der Form
eines einfachen Unbehagens auftreten, es kann sich im Gefühle einer inneren
dumpfen Spannung äußern, in einem Drang, irgend etwas zu tun, irgendeiner
Verpflichtung nachzukommen. Liebeswerben, Werben um die Gunst des
| anderen, kann aus diesem Drang entstehen. Es drückt sich auch in über-
mäßigem Schenken aus, in Geldausgeben und in übertriebener Hilfsbereit-
schaft. Mache Patienten haben das Gefühl, als ob sie ihr Innerstes hergeben
müßten, um die unerträgliche Spannung loszuwerden. Das Ziel all dieser
Strebungen und Handlungen ist Versöhnung. Damit sind aber die Außerun-
| gen des Schuldgefühls nicht erschöpft. Es tritt auch in Gestalt der Erwartung
| eines drohenden Unglücks auf, als Demut, als Leiden, als Streben nach Strafe,
|
als Reue, als Selbstaufopferung, als Läuterungs- und Reinigungszwang.
Schon bei dieser kurzen Übersicht der Außerungsformen des Schuldgefühls
N ist leicht festzustellen, daß sie in zwei Gruppen zerfallen. Das Ziel der einen
ist die Außenwelt — aus der Fülle der Erscheinungen sei nur das Liebes-
werben herausgegriffen —, das der zweiten ist das Ich; — es genügt, das Straf-
\ bedürfnis zu erwähnen. Da das Schuldgefühl im allgemeinen eine Reaktion
auf ein in Wirklichkeit oder in Gedanken begangenes Verbrechen ist, kann
N die erste Gruppe nur einen Versuch darstellen, dieses Verbrechen gutzumachen,
sich mit der Außenwelt zu versöhnen, die zweite einen Versuch, sich selbst
zu strafen, also zu leiden.
| Was ist nun dieses Verbrechen? Seine Spuren führen zunächst in die Odipus-
| situation, zum Vatermorde. Nach der Hypothese Freuds über Vatermord
| und Totemmahlzeit entstanden nach der kannibalischen Tat, nach der Intro-
| jektion des Vaters Reue und Sehnsucht, die zur Projektion des Vaters in Ge-
stalt eines Gottes führten. Reue und Sehnsucht erweckten das Bestreben, die
begangene Tat rückgängig zu machen, den verzehrten Vater auszuscheiden
und wiederzubeleben. In historischen Zeiten wird der Vater nicht mehr ver-
|| zehrt, sondern introjiziert, psychisch einverleibt. Diesen Prozeß nennen wir
Identifizierung; auf diesem Wege entsteht, wie Freud gezeigt hat, das Über-
Ich. In der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich spiegelt sich die Beziehung
\ Vater-Sohn wider.
IN Die Projektion und Vergottung des Vaters gehört einer relativ späten kul-
ii turellen Entwicklungsepoche an. Röheim nimmt eine noch frühere an, bei
der in einem bestimmten Trauerritus am Grabe eines geliebten Verstorbenen
defäziert wurde. Das sollte uns nicht zu sehr befremden, denn es gibt heute
noch Menschen, die in Momenten tiefster Trauer Stuhldrang bekommen. Ein
| ES A: —
Das Schuldgefühl 259
Analogon dazu sind die Kranken, die im Schuldgefühl zur Analerotik re-
gredieren. Hier sei auf den katatonen Anfall hingewiesen, in dem der
Patient mit Kot schmiert und meint, damit ein Opfer zu bringen und die
Welt wiederzugebären, die er in seinem Wahne soeben vernichtet zu haben
wähnt. Der Katatoniker behauptet ja oft, daß dieser Kot ein Kind sei, das er
soeben geboren habe. In seinen Phantasien belebt er also die Welt, die er in
seinem Wahn vernichtet hat. Daß die Defäkation im Unbewußten oft die Be-
deutung des Gebärens hat, wissen wir auch aus anderen Quellen, aus Phan-
tasien der Neurotiker und aus ihren Träumen. Nicht selten hören wir, daß
der Stuhl nicht etwas Totes sei, sondern etwas Lebendiges, ein Stück des eige-
nen Körpers. Manche Patienten mit schweren Schuldgefühlen und Depressio-
nen fühlen sich nach der Defäkation erleichtert und vom Schuldgefühl be-
freit. Die Melancholie ist von anal-oralen Symptomen beherrscht, der
Melancholiker leidet an schwerer Obstipation. Während der Katatoniker mit
dem Opfer der Defäkation seine Schuld zu sühnen glaubt, der Neurotiker oft
in Träumen und Phantasien durch Geschenke oder Gebären eines analen
Kindes Erleichterung seines Schuldgefühles findet, hält der Melancholiker
hartnäckig den Stuhl zurück und leidet unvermindert unter seinen Schuld-
gefühlen. Wenn ich Sie daran erinnere, daß der Melancholiker das ambivalent
geliebte Objekt auf dem Wege der Identifizierung oral einverleibt hat, so ver-
stehen wir, daß er weiter leidet, wenn er es nicht ausscheidet, d.h. nicht
wieder hergeben kann oder will.
Wir sehen also, daß das Schuldgefühl von einer Regression zur analen Ent-
wicklungsstufe begleitet wird, die anscheinend den Zweck verfolgt, das ver-
nichtete oder oral einverleibte Objekt auf analem Wege wieder auszustoßen.
Das Schuldgefühl scheint dadurch abgeschwächt zu werden.
Die Ausstoßung zur Entlastung vom Schuldgefühl muß aber nicht immer
nur auf analem Wege erfolgen. Sie kann auch auf oralem Wege stattfinden,
wie die analytische Praxis immer wieder zeigt. Heute möchte ich mir nur
gestatten, Ihnen ein Beispiel zu geben, das ein Patient kürzlich im Anschluß
an die Besprechung seines Schuldgefühles brachte. Unter den Jägern ist das
sogenannte Bockfieber bekannt. Dieses „Fieber“ besteht darin, daß der Jäger
verwirrt wird, wenn er einen Bock zu Gesicht bekommt und nicht imstande
ist, ihn zu erschießen. Der Patient, ein Arzt, berichtet nun folgendes: Er ging
mit einem Freunde auf die Hirschjagd. Sie stellten einen Bock, der Freund
schoß und tötete das Tier, wurde unruhig, sprang wie verwirrt herum, stieß
unverständliche Laute hervor, warf sich schließlich neben das erschossene Tier
und blieb wie leblos liegen. Sein Gefährte glaubte, daß er verrückt geworden
sei. Nach eine Weile stand er aber auf, trat neben das tote Tier und erbrach.
Er wurde daraufhin plötzlich ganz klar und ging ruhig fort. Ich weiß nicht,
17?
en,
260 Hermann Nunberg
ob diese Geschichte in allen Einzelheiten wirklich so vorgefallen ist wie sie
geschildert wurde; jedenfalls verrät sie einen tiefen psychologischen Sinn:
denken Sie daran, daß jedes Tier für das Unbewußte ein Totemtier darstellt.
. Das Schuldgefühl entsteht bei feindseliger Identifizierung, gewissermaßen
als ihr Nebenprodukt. Die Identifizierung drückt psychisch die (orale) Ein-
verleibung aus, das Insichaufnehmen, kurz die Aneignung. Das Schuld-
gefühl entsteht also durch Einverleibung, im weitesten Sinne des Wortes durch
Aneignung. Die Schuld wird durch Ausscheidung gutgemacht, im weitesten
Sinne des Wortes durch Zurückgeben. Jedermann kann sich leicht davon
überzeugen, daß dem Schuldgefühl oft ein Gefühl der Verpflichtung etwas zu
geben, zu schenken, zu opfern, anhaftet. Kurz, es drückt sich im Schuld-
gefühl neben vielem anderen auch die Beziehung von „Nehmen und Geben“
aus. Natürlich erfolgt das „Nehmen“ nicht nur durch den Mund. Wir nehmen
mit allen Körperpforten, etwa mit der Atmung, auf, auch mit den Sinnes-
organen. Wir saugen die Eindrücke der Außenwelt mit allen Poren ein. Auch
das „Geben“ erfolgt nicht nur durch den Darm, sondern auch durch die
Atmung, die Haut usw. Es gibt auch eine Ausscheidung in das Innere des
Körpers. Die mit den Sinnesorganen eingenommenen Eindrücke werden pro-
jiziert.?
Es scheint also, daß das Schuldgefühl auch mit dem primitiven Eigentums-
gefühl zusammenhängt, dessen psychologische Interpretation außerhalb dieses
Rahmens liegt. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit daher nur für einige An-
deutungen in Anspruch nehmen. Das Eigentumsgefühl ist triebhaften Cha-
rakters und hat mehrere Wurzeln. Eine Wurzel liegt im Bemächtigungstrieb
— einer Spielart der Aggression. Zu einer anderen führt folgende Überlegung:
Beim Schuldgefühl erfolgt eine Regression zum Analen, bei der eine früh-
infantile Situation wieder hergestellt wird. Das kleine Kind verzichtet aus
Liebe zur Erziehungsperson auf die anale Lust, die es aus dem Zurückhalten
des Kotes gewinnt, und gibt den Stuhl, sein primäres Eigentum, zu fest-
gesetzten Zeiten her. Aus Angst vor Liebesverlust verzichtet es also auf eine
Triebbefriedigung. Indem der Erwachsene etwas von seinem „Eigentum“ her-
gibt, wenn er sich vor Liebesverlust schützen will, benimmt er sich wie ein
kleines Kind. Mit dem Hergeben eines Stückes von seinem „Eigentum“ ver-
zichtet er zugleich auf den momentanen Drang zur Bemächtigung, was auch
eine Lockerung seiner Aggressionsneigung zur Folge haben muß. Dies alles
2) Ich habe mit Befriedigung festgestellt, daß meine Annahme, das Nehmen und Geben sei
gewissermaßen ein Äquivalent derphysiologischen Vorgänge im Verdauungsschlauch — die ich
zum ersten Male im Jahre 1926, zum zweiten Male in meinem Buche (Allg. Neurosenlehre,
1932) vertreten habe — in F. Alexanders Washingtoner Vortrag „Über den psycho-
logischen Faktor bei gastro-intestinalen Störungen“ und in den Vorträgen seiner Schüler an
einem größeren Material bestätigt wurde.
| A
Das Schuldgefühl 261
stimmt mit der Tatsache überein, das Ansätze des Schuldgefühls schon in der
präödipalen Entwicklungsphase beobachtet werden können.
Die Tendenz, sich vom Schuldgefühl durch Herausgeben des einverleibten
Objektes zu befreien, scheint klar. Daß damit auch die Wiederbelebung ge-
meint wird, ist nicht mißzuverstehen. Das Schuldgefühl regt also das Bestre-
ben an, das „Verbrechen“ rückgängig zu machen, und das „vernichtete“ Ob-
jekt wieder aufleben zu lassen, um an ihm die Libido zu befriedigen. Wo die
Regression die genitale Stufe nicht überschreitet, entsteht oft der Wunsch, an
Stelle des „Vernichteten“ Kinder in die Welt zu setzen. Viele Menschen
glauben ja, mit der Zeugung eines Kindes ihre Schuld an die Menschheit ab-
zutragen.
Hinter dem Schuldgefühl verbirgt sich also unbefriedigte Libido, die ent-
weder auf dem Umwege über die Regression oder direkt nach Befriedigung
strebt, danach strebt, das vernichtete Objekt zu beleben und in der Realität zu
lieben, oder aber danach sich mit dem verletzten oder gekränkten Objekt zu
versöhnen. (Der „Vernichtung“ kann auch eine einfache Zurückziehung der
Libido gleichkommen.) Der Paranoiker erlangt diese Befriedigung in seinem
Wahn durch die Projektion, der Religiöse durch die Religion, der Normale
durch produktives Schaffen und Zusammenschließen zu sozialer Gemein-
schaft. Der Neurotiker ist in diesem Bestreben insoferne gestört, als er ent-
weder zu wenig oder zu viel tut, um das verletzte oder gekränkte Objekt zu
versöhnen, und das meistens an unrichtiger Stelle. Er findet schwer oder über-
haupt nicht Anschluß an den anderen. Der Schuldige fühlt sich oft isoliert,
von der Gemeinschaft ausgeschlossen und leidet darunter. Es gibt Menschen,
die sich aus Schuldgefühl zwar selbst aus der Gemeinschaft ausschließen, ins
Kloster flüchten, dafür sich aber mit Gott vereinen. Letzten Endes deckt sich
wohl das Schuldgefühl mit Angst vor Einsamkeit. Die Angst vor Liebes-
verlust, die sich im Schuldgefühl ausdrückt, wird also durch das versöhnende
Element der Liebe, durch den alles verbindenden Eros überwunden.
Es kann aber nicht sein, daß das Schuldgefühl nur Tendenzen gebiert, deren
Ziel allein Befriedigung objekt-libidinöser Strebungen ist. Sehen wir doch,
daß der mit Schuld Beladene leidet, ja nach Leiden strebt. Es verlangt in ihm
nach Selbstbestrafung und Selbstvernichtung, die ihm der einzige Weg zur
Sühne zu sein scheint. Darin kann man schwerlich eine Objektbeziehung ent-
decken, wenn man nicht das Ich selbst als Objekt betrachtet. Im Schuldge-
fühl erfüllen sich also auch aggressive, destruktive Strebungen, jedoch nicht
am Objekte, sondern am Ich. Es fragt sich bloß, wie das Ich zu diesem Stre-
ben nach Strafe (eigentlich: zu dieser Destruktion), kommt. Um das zu ver-
stehen, müssen wir uns wieder den Wurzeln des Schuldgefühls zuwenden. Ich
komme auf die Bockgeschichte zurück. Nachdem der Jäger das Tier getötet
262 Hermann Nunberg
hatte, legte er sich wie tot daneben hin. Was dem Tier widerfahren war,
agierte er an sich selbst, er identifizierte sich mit dem Tiere im Tode. Er war
tot wie das Tier, wiederholte das Verbrechen des Mordes an sich selbst und
bestrafte sich anscheinend auf diese Weise. Die Aggression gegen ein äußeres
Objekt wendete sich gegen die eigene Person.
An dieser Stelle taucht eine Frage auf: Wie kommt es zur Wendung der
Aggression gegen die eigene Person? Diese Frage kann zum Teil durch die
Einsicht in die Entstehungsgeschichte des Über-Ichs beantwortet werden.
Das Über-Ich löst bekanntlich den Odipuskomplex ab. Es entsteht durch
Identifizierung mit dem Vater. Diese Identifizierung hat hauptsächlich feind-
seligen Charakter. In der Odipussituation haßt der Knabe den Vater und hat
Angst vor der Kastration. Um ihr zu entgehen, introjiziert er den Vater,
frißt ihn gewissermaßen auf. Dadurch wird der Vater in das Ich aufgenom-
men, die Aggression kann nicht nach außen abgeführt werden, sie bleibt im
Ich stecken und verbindet sich mit den Vatervorstellungen zu einem neuen
Gebilde, dem Über-Ich. An Stelle des strengen, gebietenden, verbietenden und
hemmenden Vaters in der Außenwelt befindet sich jetzt sein Ebenbild im
Innern. Wenn das Ich dann gewisse Absichten ausführt oder auszuführen ge-
denkt, die den Intentionen des Über-Ichs zuwiderlaufen, entsteht Schuldge-
fühl. Mit andern Worten: Es werden gewisse Absichten und Regungen des
Es, die der Außenwelt gelten, gehemmt und die Aggression vom Über-Ich
auf das Ich abgelenkt, als ob das Ich zum Objekte des Über-Ichs geworden
wäre. Die Aggression wird dann vom Ich erlebt. Es macht den Eindruck, als
ob sich das Über-Ich für die Tat der Identifizierung — der Feindseligkeit,
der Aggression, kurz, für das Verschlucken des Vaters — in fortwährender
Wiederholung am Ich rächen würde. Diese spezifische Ablenkung der ge-
hemmten Aggression auf das Ich kommt als Bedürfnis nach Strafe zum
Vorschein. Warum die Strafe zum Bedürfnis und meistens nicht abgelehnt
wird, werden wir später sehen.
Es wäre aber falsch, anzunehmen, daß die Wendung der Aggression gegen
die eigene Person erst in der Odipussituation auftritt. Die Analysen unserer
Patienten sprechen dafür, daß der Mechanismus der Wendung gegen die
eigene Person schon sehr früh, bereits auf der präödipalen Stufe am Werke
ist. So gestatten Sie mir, eine Beobachtung an einem fünfzehn Monate alten
Kinde mitzuteilen. Mit Vorliebe zerrte es jeden Menschen, der in seine Nähe
kam, an den Haaren, kratzte und zwickte ihn und stieß nicht mißzuver-
stehende Laute der Lust aus. Als ihm einmal gesagt wurde „nein, nein, das
tut weh“, sagte es „‚Bo(bb)y (sch)lagen‘‘, zerrte sich selbst an den Haaren,
schlug sich heftig ins Gesicht und zerkratzte sich so, daß es von seinen eigenen
Mißhandlungen geschützt werden mußte. (Ähnliche Beobachtungen sind jeder-
Das Schuldgefühl 263
mann zugänglich.) Wenn sich also die Aggression bei der Abwehr des
Odipuskomplexes gegen die eigene Person wendet, so wird nur ein alter, ein-
gefahrener Mechanismus wiederholt. Dieser greift ein, sobald sich die Not-
wendigkeit zur Selbstbestrafung ergibt — und sie ergibt sich nur allzu oft. Die
Ansätze zur Selbstbestrafung können also ähnlich wie die des Schuldgefühls
bis tief in die präödipale Entwicklungsstufe verfolgt werden.
Der Unterschied zwischen Schuldgefühl und Strafbedürfnis wird jetzt greif- N
bar. Das Schuldgefühl ist eigentlich Angst vor Liebesverlust und verfolgt die |
Tendenz, eine Liebesbeziehung, die verloren ist oder verloren zu gehen droht,
wieder herzustellen; das Strafbedürfnis ist Ausdruck einer aggressiven Tendenz
und wiederholt eine reale, phantasierte oder bloß beabsichtige Vernichtung des
Objektes am eigenen Ich.
Das Verbrechen muß nicht immer real sein, um zum Erleben von Schuld
und Strafe zu führen. Es genügt meistens bloß die Absicht, eine verpönte Tat
zu begehen, um sich gleich Selbstvorwürfen und Selbstquälereien zu ergeben.
Woran liegt das? Am Gewissen, wird die Antwort lauten. Das Gewissen ist
eine Funktion des Über-Ichs. Vor ihm gibt es keine Geheimnisse. Bedeutet
doch Gewissen ein „Mit-wissen“, d.h. ein inneres Sehen und Hören. Es ist
sozusagen ein Sinnesorgan des Über-Ichs, das bestimmte Vorgänge im Ich
kontrolliert und sie dem Über-Ich mitteilt. Nach der Aufrichtung des Über-
Ichs wird die Bedeutung des äußeren Richters eingeschränkt, der Richter be-
findet sich jetzt im Innern. Für diesen gibt es keinen Unterschied zwischen
ausgeführter Tat und einem Gedanken, einer Absicht oder Regung. Sein Ur-
teil trifft in gleicher Weise die wirkliche Tat wie bloße Ansätze zum Handeln.
Wenn also ein Gedanke oder eine Absicht den Idealen des Über-Ichs zuwider-
läuft, so wird unter dem Einflusse des Gewissens die verpönte Tat oder Ab-
sicht im Keime unterdrückt und so das Ich vor Strafe geschützt. Das Ge-
wissen verkörpert somit die Angst vor dem Über-Ich. Nicht ohne Grund
sprechen wir von Gewissensangst. |
Wir stehen wieder vor einer Frage. Wie verhält sich die Gewissensangst
zum Strafbedürfnis? Scheint doch dieses der direkte Gegensatz zur ep
zu sein.
Das kleine Kind hemmt seine Aggression und kehrt sie nach innen, wenn
es durch die Erziehungsperson: gehindert wird, sie nach außen abzuführen.
Mit der Entwicklung zu einem sozialen Wesen, mit der Stärkung des Über-
Ichs wird aber die Hemmung der Aggression immer mehr von einem inneren
Faktor abhängig. Wie ist es nun zu verstehen, daß die Hemmung der .Aggres-
sion aus Angst vor Liebesverlust erfolgt, wenn sie von einem äußeren Moment
abhängt, hingegen aus Strafangst, wenn sie einem inneren Zwange gehorcht?
Die Beantwortung dieser Frage ist sehr kompliziert, ich möchte hier nur
264 Hermann Nunberg
ein Moment hervorheben. Der Mensch ist von Anfang an sehr ambivalent.
Im Laufe der Entwicklung wird die Ambivalenz eingeschränkt, ob aber für
immer, ist fraglich. In dem Augenblick, da das kleine Kind unter dem Ein-
flusse der Erziehungsperson auf die Aggression verzichtet, eignet es sich den
Wunsch, den Willen dieser Person an, es introjiziert gewissermaßen ihr Ver-
bot, erlebt aber zugleich die beabsichtigte Aggression in der Rückwendung
gegen die eigene Person. Ursprünglich galt die Aggression der geliebten
Mutter, also einer ambivalent geliebten Person. Die Identifizierung half die
ambivalenten Strebungen abzuwehren, mit dem Ergebnis jedoch, daß die
Aggression das Ich zum Objekt nahm. Ein ähnlicher Prozeß, vielleicht nur
viel intensiver, wiederholt sich in der Odipussituation. Der Knabe identifiziert
sich mit dem ambivalent geliebten Vater. Die Vorstellungen des Vaters gehen
im Ich auf, und die gegen den geliebten Vater gerichtete Aggression wird ge-
hemmt und im Ich aufgespeichert. Das so entstandene Über-Ich wird zu einer
das Ich ständig bedrohenden Instanz. Entspricht aber diese Konzeption des
Über-Ichs vollkommen den Tatsachen? Freud betont in seinem neuen
Buche,3 daß das Über-Ich wesentlich die Härte, Verbote und Strafen der
Eltern repräsentiert. An einer anderen Stelle sagt er aber auch, daß eine der
Funktionen des Über-Ichs die Idealbildung ist. Diese Funktion ist, wie aus
- früheren Arbeiten Freuds ohneweiters hervorgeht, von der Libido ableitbar.
Diese Gegensätzlichkeit der Funktionen des Über-Ichs wird verständlich, wenn
man seine Entstehung aus der Ambivalenz der Gefühle berücksichtigt. Bei
der Identifizierung ging nicht nur der gehaßte, sondern auch der geliebte
Vater im Ich auf, mit andern Worten, nicht Aggression allein hat sich zum
Ich geschlagen, sondern auch Libido. Diese zum Ich geschlagene Libido ver-
wandelt sich in den sekundären Narzißmus und macht das Über-Ich zum
Objekte des Ichs, wie das Ich zum Objekte des Über-Ichs. (Liebe und Gegen-
liebe im Innern.)* Nur daraus erklärt sich die Tatsache, daß das Ich den For-
derungen des Über-Ichs sich so oft und willig unterwirft, die von ihm dik-
tierten Einschränkungen und Strafen auf sich nimmt. Dieses libidinöse Moment
macht erst die Wendung der Aggression gegen die eigene Person zum Be-
dürfnis der Strafe. Im Strafbedürfnis genießt das Ich den Sadismus des
Über-Ichs masochistisch.
Die narzißtisch-libidinöse Komponente des Über-Ichs erklärt noch eine
andere Erscheinung, nämlich das Gefühl der Ruhe, Geborgenheit und Zuver-
3) Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Wien, 1932.
4) Wie frühzeitig die libidinöse Identifizierung auftritt, mag folgende Episode, die nach
der Niederschrift dieser Arbeit stattfand, beweisen: Ein Vater streichelt seinem ı6 Monate
alten Sohn das Gesichtchen. Das Kind ist glückselig. Kaum daß der Vater mit dem Streicheln
aufhört, beginnt das Kind sich selbst zu streicheln und wiederholt in einem tiefen Ton-
fall den Laut „Ei—ei“. Dieser Laut bedeutet bei ihm immer höchste Zärtlichkeit.
A
Das Schuldgefühl 265
| sicht, wenn man sich mit seinem Gewissen im Einklang befindet. Für das
Kind bilden die Eltern die Verkörperung aller Machtvollkommenheit, sie er-
scheinen ihm als die von der Natur gegebenen Beschützer und sind der ruhige
Pol, um den alle seine widerspruchsvollen Leidenschaften kreisen dürfen, sie
sind nicht nur streng, sondern auch gerecht und nachsichtig. Fühlt sich das
Kind von ihnen geliebt, so fühlt es sich geschützt und geborgen, in seinem
Selbstgefühl ungestört. Will das Kind die beschützende Liebe seiner Eltern
nicht verlieren, so muß es sich so benehmen, wie sie es wünschen. Diese Be-
ziehung zwischen Kind und Eltern kommt dann gewöhnlich in mehr oder
weniger modifizierter Gestalt in der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich
zum Vorschein. Will das Ich die Liebe und den Schutz des Über-Ichs ge-
nießen, so darf es sich ihm nicht widersetzen, im Gegenteil, es muß sich mit I
all seinen Intentionen identifizieren. Denken Sie nur an den strengen Gott
Jahve, der nicht nur Gehorsam bis zur Selbstaufopferung, sondern auch Liebe
fordert, dafür aber Schutz und Gegenliebe bietet. Das Gefühl, von den Schick-
salsmächten verlassen zu sein, ist — wie wir von Freud gelernt haben — mit
dem Gefühle, die liebende und beschützende Macht des Über-Ichs, der Eltern,
verloren zu haben, und dem Nichts, dem Tode preisgegeben zu sein, gleich-
bedeutend.
Ein Konflikt mit dem Über-Ich kleidet sich also nicht nur in Strafangst
und Strafbedürfnis, sondern auch in Angst vor Gefahren, die der Verlust seiner
liebenden und beschützenden Macht mit sich bringt. In der Über-Ich-Angst
wirkt sich daher, ähnlich wie im äußeren Schuldgefühle, Angst vor Liebes-
verlust aus; der Unterschied ist jedoch der, daß die Gefahr, der die Über-Ich-
Angst gilt, Verlust narzißtischer Libido ist, während es beim Schuldgefühl um
Objektlibido geht.
Die Ambivalenz der Gefühle, der Gegensatz zwischen Haß und Liebe, bildet
nun den Hintergrund, aus dem das Über-Ich auftaucht. Obwohl die Ambi-
valenz bei der Bildung des Über-Ichs im großen und ganzen vom Ich be-
wältigt wird, gibt es, wie wir wissen, im Leben Gelegenheit genug, wo sie
wieder erscheint. Treten doch die Triebe nie in ganz reiner Form auf, die
sexuellen sind mit den destruktiven mehr oder weniger gemischt. Wird etwa
Libido gehemmt, so stellt sich eine Triebentmischung ein, bei der der Aggres-
sionstrieb wieder frei wird. Falls die freigewordene Aggression ebenfalls ge-
hemmt werden muß, so verwandelt sie sich in Strafbedürfnis. Man kann
sagen, daß jede Hemmung der Libido zum Freiwerden der Aggression führt,
woraus sich in weiterer Folge der Zustand von Schuld und Strafe ergibt. Wo
aber die Triebmischung mangelhaft, die Ambivalenz von Haus aus verstärkt
ist, Haß und Liebe sich in ungemilderter Form gegenüber stehen, dort ist die
Neigung zu Schuldgefühl und Strafbedürfnis noch intensiver. In solchen
266 Hermann Nunberg
Fällen, z.B. in der Zwangsneurose, ist jede libidinöse Regung von einer aggres-
siven begleitet, die aber von jener gleich gehemmt wird. Das Lieben führt
also hier unausweichlich zu Schuldgefühlen. Das gleiche gilt für das über-
mäßige Geliebtwerden. Dies erklärt auch die Tatsache, daß Kinder, die ver-
zärtelt, übermäßig geliebt wurden und zu nachsichtige Eltern hatten, oft ein
zarteres Gewissen haben als Kinder, die in einer robusten Umgebung aufge-
wachsen sind. Auch hier hemmt die Liebe die Aggression. Wo ich liebe oder
geliebt werde, darf ich nicht hassen, sonst droht mir die Gefahr des Liebes-
verlustes. Um dieser zu entgehen, wende ich lieber den Haß gegen mich
selbst und bestrafe mich. Aus ähnlichen Gründen bringt oft ein Mißgeschick
in der Liebe oder der Verlust einer geliebten Person eine Aggression gegen
das eigene Ich hervor und in weiterer Folge Schuld und Strafgefühle. Kurz,
in der Ambivalenz ist die wichtigste Bedingung für die Entstehung des ganzen
Komplexes von Schuld und Strafe zu erblicken.
Dieser Komplex ist zwar anfänglich vom Über-Ich unabhängig, später ge-
rät er jedoch immer mehr in seine Abhängigkeit. Es kommt dabei eine eigen-
artige Verkettung von Ursache und Wirkung zustande, die nicht ganz durch-
sichtig ist. Soviel steht jedoch fest, daß das Über-Ich — ähnlich dem primären,
präödipalen Schuldgefühl — bei der Abwehr und Hemmung von Triebbedürf-
nissen entsteht. Diese Bedürfnisse werden unter dem Einflusse des Über-Ichs
zum eigentlichen Schuldgefühl weiter verarbeitet. Wir bekommen so einen
schwachen Einblick in die Werkstätte des Triebablaufes: Hemmung der Triebe
führt zum Erleben von Schuld und Strafe, und diese ihrerseits werden zur
Ursache von weiteren Triebhemmungen.
Es ist nun klar, daß es in Wirklichkeit nicht leicht ist, das Schuldgefühl
gegen das Strafbedürfnis streng abzugrenzen. Mit Sicherheit kann aber ge-
sagt werden, daß sich hinter dem Schuldgefühl unbefriedigte Libido verbirgt,
Libido, die zur Wiedervereinigung mit dem psychisch oder real verletzten
Objekte drängt, also Eros, hinter dem Strafbedürfnis aber Aggression, also
Todestrieb, der am Ich die Destruktion immer von neuem wiederholt. Ob-
wohl beide innig miteinander verwoben sind, ist doch das Strafbedürfnis an
der Tendenz zur Selbstzerstörung zu erkennen, das Schuldgefühl an der Angst,
die einmal der Gefahr des Liebesverlustes, das andere Mal dem Über-Ich gilt.
Wir haben aber gehört, daß auch Angst vor dem Über-Ich ein Moment des
Liebesverlustes enthält. Stellen wir uns doch vor, was Liebesverlust für ein
kleines Kind bedeutet. Es bedeutet Verlust der beschützenden Pflegeperson,
eigentlich Vernichtungsgefahr. Schuld und Strafe fallen also in bezug auf die
Gefahrenquelle zusammen. Die Situation der Gefahr stellt sich ein, ob nun
die Libido eingezogen werden muß oder ob die Aggression sich gegen das Ich
wendet.
4
Man darf fragen, welchen Sinn es habe, das Schuldgefühl gegen das
Strafbedürfnis abzugrenzen, wenn sie so schwer voneinander zu unter-
scheiden sind. Eine gemeinsame Wurzel haben sie gewiß, sie entstehen auch
zur gleichen Zeit, aber sie haben verschiedene Erscheinungsformen, in denen
einmal die libidinöse Seite, das andere Mal die destruktive vorherrscht. Deut-
lich kann dies beobachtet werden, wenn man die einzelnen Krankheitstypen
miteinander vergleicht. In der Hysterie z.B. überwiegt das Schuldgefühl. Wir
verstehen die Gründe. Die genitale Organisation ist hier nur verdrängt, nicht
aber aufgehoben. Ein Streben nach dem Objekt ist vorhanden. Deshalb über-
wiegt das Schuldgefühl in Gestalt von Reue, Sehnsucht und Angst vor Liebes-
verlust. Die Zwangsneurose regrediert zwar zur anal-sadistischen Organisation,
die Beziehung zum Objekt ist aber nicht aufgehoben. Daher überwiegt der
Sadismus, der im Strafbedürfnis zum Vorschein kommt. Da in der Melan-
cholie noch der Verlust der Objektlibido hinzukommt, so erreicht in dieser
Krankheitsform die Aggression gegen das Ich den Höhepunkt. Da in der
Schizophrenie das Triebleben vollständig zerfallen ist, so nimmt in den pro-
duktiven Formen dieser Krankheit das Schuldgefühl die Gestalt von Wahn-
vorstellungen über die Erlösung der Welt an, und das Strafbedürfnis kleider
sich in die mannigfachen Abwandlungen des Verfolgungswahnes.
Die Gefühle der Schuld und Strafe sind höchst peinliche Gefühle, sie lösen
Spannungszustände aus, von denen der Mensch sich nach Möglichkeit zu be-
freien trachter. Die Erleichterung vom Druck des Schuldgefühls gelingt nor-
malerweise verhältnismäßig leicht. Wie im ersten Teil dieser Überlegungen
gezeigt werden sollte, bemüht sich der mit Schuld Beladene um die Liebe des
anderen im weitesten Sinne des Wortes und sucht sich mit ihm zu vereinigen.
Das Schuldgefühl steigert ja das Liebesbedürfnis, anders ausgedrückt, es steigert
die Angst vor dem Liebesverlust, das ist die Liebessehnsucht. Diese Sehn-
sucht weckt im Schuldigen die Hoffnung, daß er vor der Angst, eigentlich vor
der tötenden Einsamkeit geschützt werden wird. Als negativen Beweis für
diese Auffassung kann man die Strafe des Gefängnisses betrachten, mit der der
Verbrecher von der Gemeinschaft abgesperrt und in der Einsamkeit sich selbst
überlassen wird. Das Gefängnis gibt vielleicht am besten die psychische Ver-
fassung des mit Schuldgefühl Beladenen wieder: er leidet nicht nur unter der
Hemmung der Aggression gegen den anderen, sondern auch unter der Hem-
mung der Libido.
Die Befreiung vom Strafbedürfnisse ist jedoch unvergleichlich schwieriger,
denn im Strafbedürfnis strebt die Aggression dem Ich, der Innenwelt zu, während
im Schuldgefühl die Libido der Außenwelt zustrebt. Alexander behauptet
zwar, daß die Energie des Strafbedürfnisses sich von selbst erschöpft, wenn
das Über-Ich einmal befriedigt, im Strafakte gewissermaßen bestochen, nach-
Das Schuldgefühl 267
268 Hermann Nunberg
sichtig geworden ist und so ein Ausleben der sonst verpönten Sexualziele ge-
währt. Die Prämie für die Selbstbestrafung wäre also Befreiung der Libido.
Gewiß gibt es solche Fälle, sie sind aber nicht die Regel. Es gibt im Gegen-
teil Fälle, wo die Strafe bis ans Ende, bis zur Selbstvernichtung, durchgeführt
wird, ohne jede Hoffnung auf eine libidinöse Prämie. Ja, es gibt Patienten,
die in ihrem meistens sehr merkwürdigen Sexualleben nicht sexuelle Befriedi-
gung suchen, sondern Selbstbestrafung, wie es einen Typus von Masturbanten
gibt, der während der Onanie Selbstkastration phantasiert. Wird aber die
Strafe zu unerträglich, die Angst vor ihr zu heftig, so verschiebt sich die
Energie des Strafbedürfnisses auf die Arbeit im weitesten Sinne des Wortes,
auf die geistige wie auf die manuelle. In ihr lebt sich, wie Jekels sagt, der
Bewältigungs- und Aggressionstrieb aus. Zur Sühne für ein Verbrechen straft
das Gesetz nicht nur mit Gefängnis, sondern auch mit Zwangsarbeit. „Im
Schweiße Deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, heißt es in der Bibel.
Den Ersatz der Strafe durch Arbeit kann man gelegentlich in den Analysen
mancher Patienten direkt beobachten. Nach endlosen Widerständen, in denen
sie in unheimlicher Weise der Erfüllung ihres Strafbedürfnisses nachjagen, fan-
gen sie plötzlich an, das verborgene Material mit einer so finsteren und selbst-
verzehrenden Entschlossenheit zu liefern und zu bewältigen, daß dem Ana-
lytiker nichts anderes übrig bleibt als stillschweigend zu staunen. Für diese
Patienten stellt die Analyse im wahrsten Sinn des Wortes die Erfüllung ihres
Strafbedürfnisses dar.
Nun komme ich zum Schluß. Das Schuldgefühl ist ein ambivalentes Ge-
bilde, genau so ambivalent wie die Elemente, die zu seiner Entstehung bei-
getragen haben. Rufen wir uns Freuds Worte in Erinnerung, daß bei der
Triebabwehr die Tendenz entsteht, das ganze Triebleben in seine Komponenten
zu zerlegen, in die libidinösen und die destruktiven. Da aber das Ich keine
Gegensätze verträgt, das Streben nach Synthese immer beibehält, so trachtet
es auch hier, die Abkömmlinge der gehemmten Triebe zu einem Kompromiß,
Schuld und Strafe, zusammenzufassen. Es hängt anscheinend von der Trieb-
konstitution ab, vom Grade der Triebmischung bzw. -entmischung, ob das
Gefühl der Schuld oder das der Strafe überwiegt.
Nun ist Libido ein Abkömmling des Eros, Aggression ein Abkömmling der
Todestriebe. Eros bringt die Menschen zusammen, Aggression treibt sie aus-
einander. Wo sich zwei Menschen zusammenfinden, oder wo sich eine Masse
bildet, geraten diese Urtriebe in Konflikt miteinander, und Schuldgefühle
müssen entstehen. Kurz, das Gefühl der Schuld und Strafe scheint das End-
produkt des ewigen Kampfes zwischen Lebens- und Todestrieben zu sein. Es
zeigt, unter welcher Selbstüberwindung und unter welchen Leiden die Mensch-
heit die Herrschaft über ihre Triebe erobert hat. Eine Kompensation für all
Das Schuldgefühl 269
die Opfer scheint jedoch die Entwicklung der Fähigkeit zum Gemeinschafts-
leben. Lassen Sie mich mit einer Abwandlung des bekannten Dichterwortes
schließen: Das ist der Trost der bösen Tat, daß sie fortzeugend Gutes muß
gebären.?
5) In der Diskussion, die sich an diesen Vortrag anschloß, machte F. Alexander geltend,
daß meine Ausführungen nichts Neues enthielten, das über seine eigenen Arbeiten und die von
Th. Reik und $. Rado hinausginge. Ich möchte darauf verzichten, diesen Einwurf im ein-
zelnen zu entkräften; im nachfolgenden sei jedoch eine Aufstellung der in Betracht kom-
menden psychoanalytischen Arbeiten zu diesem Gegenstande gegeben, um dem Leser die
eigene Urteilsbildung zu ermöglichen:
Th. Reik: Strafbedürfnis und Geständniszwang, Wien, 1925. — H. Nunberg: Schuld-
gefühl und Strafbedürfnis, Int. Zschr. f. Psa., XI, 1926. — S. Rado: Eine ängstliche
Mutter, Int. Zschr. f. Psa., XII, 1927. — F. Alexander: Psychoanalyse der Gesamtpersön-
lichkeit, Wien, 1927. — S. Rado: Das Problem der Melancholie, Int. Zschr. f. Psa., XIII,
Wien, 1927. — Sigm. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien, 1930. — H. Nunberg:
Allgemeine Neurosenlehre, Bern, 1932. — L. Jekels: Die Psychologie des Schuldgefühls,
Psa. Bewegung, IV, 1932.
Zur Psydiologie der Langeweile
Von
Otto Fenichel
Oslo
Über das merkwürdige Erscheinungsgebiet der Langeweile liegt von psycho-
analytischer Seite nur eine einzige Arbeit vor, „Angst vor dem Neuen, Neu-
gier und Langeweile“ von Alfred Winterstein,! die wir im folgenden auch
öfter heranziehen werden, die aber viele Probleme ungelöst läßt. Wahrschein-
lich sind es psychologisch recht verschiedene Zustände oder Verhaltungsweisen,
die mit dem Namen „Langeweile“ bezeichnet werden. Auch der folgende
Versuch macht keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und hofft nur, einen
bestimmten Typus von Langeweile zu kennzeichnen.
Gehen wir von der Definition von Lipps aus, die auch Winterstein
heranzieht. Die Langeweile „ist ein Unlustgefühl aus dem Widerstreit zwi-
schen dem Bedürfnis intensiver psychischer Betätigung und dem Mangel der
Anregung dazu, bzw. der Unfähigkeit, sich dazu anregen zu lassen“. Fügen
wir hinzu, daß neben dem „Bedürfnis intensiver psychischer Betätigung“
stets gleichzeitig eine Hemmung solcher Betätigung vorhanden ist, die als
solche gefühlt wird — man weiß nicht, wie man sich betätigen soll oder
will —, und daß aus diesem Zwiespalt heraus die Anregung von der Außen-
welt gesucht wird. Ferner, daß der „Mangel der Anregung“ — wie ja auch
der Zusatz „die Unfähigkeit, sich dazu anregen zu lassen“ ausführt — sehr
häufig nicht äußerer Wirklichkeit entspricht; wie das Nebeneinander von Be-
tätigungsdrang und Betätigungshemmung die Langeweile charakterisiert, so
auch das von Reizhunger und Unzufriedenheit mit den gebotenen Reizen.
Die Frage nach den Hemmungen sowohl des Betätigungsdranges als auch
der Bereitschaft, die ersehnten anregenden Reize anzunehmen, wird also zum
Hauptproblem der Psychologie der Langeweile.
Würde man versuchen, rein deskriptiv den Gemütszustand der Langeweile
zu erfassen, so könnte man sie am ehesten bezeichnen als ein „unlustvolles
Erleben von Impulslosigkeit“. Diese Formel stellt ein Problem, das zunächst
aus dem Wege zu räumen ist: Wir nehmen an, daß der Spannungszustand des
psychischen Apparats durch innere und äußere Reize steigt, und daß die ge-
steigerte Spannung Impulse auslöst, d.h. Tendenzen, die wieder die Span-
nungslosigkeit herbeiführen wollen. Man sollte also unlustvolle Triebregun-
ı) In „Die psychoanalytische Bewegung“ II, 1930.
2) „Leitfaden der Psychologie“.
4 |
Zur Psychologie der Langeweile 271 1
gen und lustvolle Triebbefriedigungen bzw. unlustvolle Impulse und lustvolle
Impulslosigkeit erwarten. Das Problem, daß es dennoch auch lustvolle Im-
pulse gibt, ist schon öfter diskutiert worden.® Das entsprechende Problem der i
lustvollen Impulslosigkeit scheint dem der Langeweile zu entsprechen. —
Aber die Langeweile hat, wie schon die obige Definition sagte, neben der Im-
pulslosigkeit ein „Bedürfnis intensiver psychischer Betätigung“; „Impulslosig-
keit“ und „Spannungslosigkeit“ fallen durchaus nicht zusammen. Warum,
lautet vielmehr das Problem, führt hier Spannung nicht zu Impulsen, warum
verlangt sie, statt sich in Form von Triebimpulsen bemerkbar zu machen, nach
„Anregungen“ von seiten der Außenwelt, die dem Betreffenden erst sagen
sollen, was er tun solle, um seine Spannung abzubauen?
„Reizhunger“, der sich an die Außenwelt wendet, gibt es selbstverständlich
auch außerhalb des Erscheinungsgebietes der Langeweile. Er entsteht in dem
Moment, wo das kleine Kind erkennt, daß von der Außenwelt Reize aus-
gehen, die zur Triebbefriedigung benutzt werden können. Ist die Erfahrung
lustvoller Reize einmal gemacht, so tritt im Zustand der Triebspannung eine
Sehnsucht nach solchen Reizen auf. Sie geht mit Unwillen gegen zur Ent-
spannung ungeeignete gerade vorhandene Objekte oder Reize einher und
führt, wenn geeignetere nicht erreicht werden können, zu Introversion und
Phantasietätigkeit und schließlich zu aktualneurotischen Erscheinungen der
Libidostauung. Kann man einen solchen Zustand der Sehnsucht nach
adäquaten Objekten und der Unlust an vorhandenen inadäquaten „Lange-
weile“ nennen? Korrekterweise wohl nicht; es geschieht aber dennoch manch-
mal. Von Objekten oder Reizen, die einem nicht die „Abfuhrhilfe“ geben,
die man legitimerweise verlangen kann, pflegt man zu sagen, sie „langweilen“
einen. Wir kommen darauf zurück. Aber wer „sich“ im eigentlichen Sinne
„langweilt“, sucht ein Objekt, nicht um an ihm seine Triebimpulse zu betäti-
gen, sondern um mit seiner Hilfe ein ihm fehlendes Triebziel zu gewinnen.
Die Triebspannung ist da, das Triebziel fehlt. Die Langeweile muß ein Zu-
stand von Triebspannung bei verdrängten Zielen sein, wobei die Spannung
sich dennoch als solche spürbar macht, weshalb man im Verdrängungskampf
Hilfe von der Außenwelt verlangt. Wer sich langweilt, ist demjenigen zu ver-
gleichen, der, nachdem er einen Namen vergessen hat, ihn von anderen er-
fahren will.
Diese Formel, die zwar richtig, aber nicht spezifisch ist, macht uns immer-
hin schon einiges verständlich, z. B. die „Unfähigkeit, sich anregen zu lassen“.
Wenn derjenige, der sich langweilt, nach „Anregungen“ verlangt, weil ihm
Triebziele durch Verdrängung verlorengegangen sind, so ist es verständlich,
3) Von Freud in „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, Ges. Schr. Bd. V., und in
„Das ökonomische Problem des Masochismus“, Ges. Schr. Bd. V.
272 Otto Fenichel
daß er einerseits solchen Anregungen, die ihm die ersehnte Entspannung wirk-
lich bringen könnten, den gleichen Widerstand entgegensetzt, der auch die
Verdrängung der Triebziele herbeigeführt hat; ist anderseits die „Anregung“,
die die Außenwelt bietet, vom ursprünglichen Triebziel zu weit entfernt, so
kann die Verschiebung der Besetzungsenergie auf die neu vorgeschlagene
Tätigkeit nicht erfolgen.
Wer einen Triebanspruch abwehrt, befindet sich in einem Konflikt; das Es
will eine Triebhandlung, das Ich will sie nicht. Derselbe Konflikt wiederholt
sich nun auch gegenüber den Reizen, die aus der Außenwelt kommen. Das
Es strebt sie als „Triebersatz“ an, das Ich will zwar seine Spannung lösen,
aber dabei nicht an das ursprüngliche Triebziel erinnert werden, es sucht
„Ablenkung“ oder „Zerstreuung“ seiner auf das unbewußte Triebziel fixierten
Energien. Man widersetzt sich der Ablenkung und Zerstreuung, insofern der
ursprüngliche Trieb fortbesteht; man widersetzt sich ihr aber auch, wenn der
Ersatz dem Ursprünglichen zu nahe ist.
Wir kennen verschiedene Zustände von hoher Spannung bei Verdrängung
des Triebziels. Wir erwarten in solchem Falle zunächst ein Bild, das von dem
der Langeweile recht erheblich abweicht. Jeder kennt die allgemeine innere
und meist auch motorische Unruhe, die allgemeine „Zappligkeit“, die in
solchem Falle eintritt. So verschieden ein solcher Unruhezustand von der
manifesten Ruhe des sich Langweilenden ist, so erkennen wir doch, daß tat-
sächlich diese beiden Zustände eine innere Verwandtschaft haben. Langeweile-
zustände dieser Art sind intonischer Bindung dasselbe, was die moto-
rische Unruhe sozusagen klonisch ist. Es bleibt die Frage, unter wel-
chen Umständen eine solche tonische Bindung erfolgt, und unter welchen sie
die typische Gestalt der Langeweile annimmt; denn auch tonische Bindungen
akuter Triebspannungen bei verdrängtem Triebziel gibt es offenbar in ver-
schiedenen Formen.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die bisherigen Überlegungen für alle
Formen der Langeweile gelten. Sicher treffen sie für einen besonderen patho-
logischen Typ der Langeweile zu, den man klinisch untersuchen kann. Sein
Verständnis wird uns erleichtert, wenn wir mit ein paar Bemerkungen über
das Verhältnis von Langeweile und Monotonie beginnen.
Man empfindet eine monotone Außenwelt oft als langweilig. Eine monotone
Außenwelt liefert von sich aus nicht neue Reize, erhöht nicht spontan die
innere Spannung. Monotone Reize wirken einschläfernd. Wenn die Außen-
welt nicht reizt, zieht man die Libido von ihr zurück. Oft aber können ge-
rade monotone Reize in bestimmt geartete Erregung versetzen. Man er-
innere sich nur an die Wirkung der Monotonie beim Gebet oder bei primitiven
Au
mn un a
—. ee
Zur Psychologie der Langeweile 273
Tänzen u. dgl. Bei diesen Maßnahmen dient die Monotonie offenbar in gleicher
Weise wie bei den als Schlafmittel angewendeten monotonen Reizen dazu,
das Subjekt zu bewegen, die Libido von der monoton gewordenen Außen-
welt zurückzuziehen, nur hier zu dem Zwecke, um die narzißtische Libido
entsprechend zu erhöhen. Dies aber wird wiederum durch die besonderen
Eigenschaften der monotonen Reize, die ja doch tatsächlich Reize sind und Ei
etwas anderes als Reizlosigkeit, erleichtert. Monotone Reize, besonders ‚wenn F|
sie rhythmisch sind, erleichtern offenbar besondere Zustände der Erregung, I
nämlich Erregungen mit einem gewissen narzißtischen Einschlag, Ekstasezu-
stände. Nicht nur starke Außenweltreize, sondern auch schwache, wenn sie
monoton-rhythmisch erfolgen, erregen sexuell (und zwar in einer Weise,
daß mehr die Erregung als solche und nicht das erregende Objekt im Mittel-
punkt der Aufmerksamkeit steht). Beim kleinen Kind, wo die sexuelle Er-
regung von der sexuellen Befriedigung noch nicht recht zu unterscheiden ist,
wirken sie einschläfernd. Später können sie auch gesteigertes Verlangen nach
Befriedigung setzen. Würde man fragen, ob solche Reize nun also beruhigend
| oder beunruhigend sind, so wäre eine solche Frage falsch gestellt; sie können
beides sein; ob sie das eine oder das andere mehr sind, hängt vom Verhältnis
der Erregung zur Befriedigung ab.
Monotone Rhythmen als Erlebnisse auf einzelnen Sinnesgebieten oder auf
allen zugleich, besonders häufig monoton-rhythmische Sensationen im Be-
reiche des Gleichgewichts- und Raumsinnes, finden wir häufig‘in Analysen
als Erinnerungsspuren an infantil-sexuelle Erregungen. Die Selbstwahrnehmung
| des eigenen Pulsrhythmus spielt dabei eine große Rolle. Die Bedeutung des
Fiebers als sexuelles Stimulans bei Kindern hängt damit zusammen.
Unter Umständen wirkt Monotonie nicht nur einschläfernd oder eksta-
sierend, sondern intensiv unlustvoll. Man erlebt etwa plötzlich den Impuls,
den monotonen Reiz unbedingt sofort zu unterbrechen. — Solche Unlust ist
vergleichbar der Unlust, die entsteht, wenn eine sexuelle Betätigung in
vorgeschrittenem Zustand der Erregung plötzlich abgebrochen werden muß.
In solchem Fall hat also der monotone Reiz eine sexuelle Erregung: erzeugt,
deren Ablauf gestört wurde. Eine solche Störung kann entweder von innen
kommen und psychogen bei Menschen auftreten, die ihre sexuelle Erregung.
nur bis zu einem gewissen Grad angstfrei vertragen, besonders wenn sie quali-
tativ infantilen Charakter trägt, wie es offenbar bei solcher „Monotonie-
erregung“ der Fall ist; oder sie kann äußerlicher Natur sein, indem die wach-
sende Erregung auch sich steigernder Reize oder der Aussicht auf irgendeine
„Endlust“ bedarf, so daß die sich nicht steigernde Monotonie des weiter wir-
kenden Reizes inadäquat wird.
Imago XX/3 18
274 Otto Fenichel
Das Studium dieser Wirkungen gelingt besonders bei der direkten oder in-
direkten (am Erwachsenen vorgenommenen) Analyse der Wirkung nächtlicher
Geräusche auf neurotische Kinder, z.B. einer tropfenden Wasserleitung, eines
Schnarchens u. dgl. Solche Geräusche versetzen das Kind in Erregung, resp.
in Angst und „Unterbrechungsunlust“. Wir pflegen bei der Entdeckung
solcher Erregungen oder Ängste mit Recht zunächst an Erlebnisse vom Cha-
rakter der „Urszene‘“ zu denken. Wir dürfen aber über dieser Deutung nicht
vergessen, daß Erregung, Angst und Unruhe auch jenen Situationen ent-
sprechen, wo nach einmal erlebter Urszene deren Wiederholung vergebens er-
wartet wurde. In solchen nächtlichen Erwartungen ist das Kind zur Außen-
welt in ähnlicher Weise konfliktuös eingestellt, wie wir es vorhin für den
Erwachsenen, der sich langweilt, ausgeführt haben. Der Trieb verlangt, die
Außenwelt möge jenes sexuell erregende Schauspiel wiederholen und so die
unerträgliche Erwartungsspannung beendigen; das Ich, das die gewaltige Er-
regung der Urszene mehr fürchtet als die unangenehme Erwartungsspannung,
verlangt von der Außenwelt, sie möge es „zerstreuen, Licht anzünden, Mut
zusprechen und von all dem Spuk der nächtlichen Ängste und Erregungen
zur nüchternen Wirklichkeit ablenken“.
Erregung, Angst und Unterbrechungsunlust stehen einander dabei sehr nahe
und können ineinander umschlagen. Daß gerade auf diesem Gebiete Wollust
‚bei kleinsten quantitativen Veränderungen der Konstellation in Angst um-
schlagen kann, ist bekannt. Aber auch Zuständen, die subjektiv nur als „Lange-
weile“ erlebt werden, steht beides nahe. Man kann z.B. häufig bei „Unmusi-
kalischen“, die sich beim Anhören von Musik „langweilen“, ein Umschlagen
in Angst oder Unlust vom geschilderten Charakter beobachten. Von der
gleichen quälenden Art ist die „Langeweile“ der langen Nächte, über die
manche Schlaflosen klagen.
Bei solcher Langeweile scheint also eine intensive konfliktvolle Erregung
subjektiv verschwunden, während Zeichen dafür vorhanden sind, daß sie noch
fortbesteht. Insofern scheint die Langeweile als eine Variante oder Unter-
abteilung der „Depersonalisation“, bei der ja ebenfalls meist keine Rede davon
ist, daß die Libido der inneren Wahrnehmung wirklich entzogen wurde, son-
dern wo nur eine Gegenbesetzung, meist bemerkbar an der gesteigerten Selbst-
beobachtung, sich ihr entgegenstellt.*
Es gibt Kinder, die vor „Langeweile“ schließlich zu weinen beginnen. Mit
solchem Weinen und Unruhigwerden ist die tonische Bindung wieder durch-
brochen, und was die Kinder „Langeweile“ nennen, ist nun von der mani-
4) Vgl. Fenichel „Über organlibidinöse ep euerecheinuhgen der Triebabwehr“, Int.
Ztschr. f. Psa., XIII, 1927.
nd
Zur Psychologie der Langeweile 275
festen Unruhe der „Zappligkeit“ kaum zu unterscheiden. Daß die Kinder es
aber so nennen, zeigt die Verwandtschaft der Zustände an. — Den Sinn dieser
Langeweile kann man also schematisch ungefähr folgendermaßen formulieren:
„Ich bin erregt. Lasse ich die Erregung weiter zu, so bekomme ich Angst.
Deshalb sage ich mir: Ich bin gar nicht erregt, ich will gar nichts tun. Gleich-
zeitig spüre ich aber, daß ich dennoch etwas tun will; da ich aber mein
ursprüngliches Ziel vergessen habe, weiß ich nicht, was. Die Außenwelt muß
etwas tun, was mich aus meiner Spannung befreit und mir doch nicht
Angst macht. Sie muß machen, daß ich handle, dann bin ich: der Ver-
antwortung enthoben. Sie muß mich ‚ablenken‘, ‚zerstreuen‘, damit das,
was ich tue, von meinem ursprünglichen Ziele weit genug entfernt ist. Sie
soll das Unmögliche möglich machen: mir Entspannung ohne Triebhandlung
verschaffen.“
Diese Bedeutung von Zuständen der Langeweile wurde besonders klar bei
einem Patienten, dessen ganze Analyse unter dem Zeichen heftigster Über-
tragungswiderstände stand. Diese Widerstände waren von zweierlei Art: rast-
lose motorische Unruhe oder Langeweile; die Analyse ergab eben, daß diese
beiden manifest so verschiedenen Zustandsbilder derselben latenten seelischen
Situation auf verschiedene Weise Ausdruck gaben. Die Zustände der motori-
schen Unruhe nannte der Patient das „Bösesein“. Er war ständig auf den
Arzt ärgerlich, mitunter wütend, und wußte ihm nichts anderes vorzuwerfen,
als daß er ihn nicht durch ein Wunder mit einem Schlage gesund mache. Er
war in seinen Assoziationen vollkommen gehemmt und auf den Analytiker
wütend, daß nicht ein Zauberwort von ihm den Mangel an Assoziationen be-
hob. Dieses „Bösesein‘ war eben von lebhafter allgemeiner Unruhe und von
quälenden subjektiven Gefühlen der Unerträglichkeit der gegenwärtigen Ge-
mütslage begleitet, wie wir sie von akut libidogestörten Menschen kennen.
Den Sinn dieses Verhaltens klärt ein Blick auf das Sexualleben des Patienten.
Er litt an einer akuten Libidostörung von der Art, daß er, wenn er mit einer
Frau zusammen war, das Beisammensein normal einleitete, auch normale
Wollust empfand, bis die Erregung einen gewissen Grad erreicht hatte; dann
trat — oft vor, manchmal auch nach der Einführung des Gliedes — ein plötz-
licher Umschlag ein. Er empfand nicht Lust, sondern intensive Unlust all-
gemeiner Art, wußte nicht, was er nun machen sollte, und wurde auf die Frau
„böse“, weil er meinte, sie müßte ihn durch irgendein Eingreifen momentan
aus seiner unangenehmen Lage befreien. — Auch außerhalb des Sexuellen
zeigte er einen masochistischen Charakter, d.h. er demonstrierte immer sein
Unglücklichsein und war auf die jeweils Anwesenden „böse“, daß sie nicht,
von Mitleid ergriffen, sofort irgendein Wunder taten, das ihn befreite. Die
Analyse ergab, daß die ständige, aber im Sexuellen exazerbierende Erregung
infantile Situationen wiederholte, bei denen er bei seiner Mutter im Bett ge-
ı8*
276 Otto Fenichel
legen hatte. In Verdrängung seiner aktiven auf die Mutter gerichteten phalli-
schen Wünsche erwartete er von ihr ein Eingreifen, das ihm einerseits die
schuldlose sexuelle Befriedigung bieten, andrerseits ihn von seinen sexuellen
Gedanken ablenken sollte. Charakteristischerweise war diese Tätigkeit, die er
von der Mutter und später von allen Menschen ersehnte, als orale Befriedi-
gung gedacht. — Derselbe Patient hatte nun an manchen Tagen statt seiner
masochistischen anklagenden Erregung Zustände von „Langeweile“. An diesen
Tagen konnte er zwar auch nicht assoziieren, aber er fühlte sich subjektiv
ganz anders. Er spürte keine unerträgliche Spannung, sondern angeblich „gar
nichts“, und erklärte andauernd die Analyse und alles, was dazu gehört, für
so langweilig, daß er keine Lust habe, erst etwas zu sagen, auch gar nicht
wüßte, was er sagen sollte, und demnächst die Analyse aufgeben werde. Die
Art, wie diese Zustände mit den oben geschilderten abwechselten, ließ keinen
Zweifel daran, daß. sie zunächst eine gelungene Abwehr der Erwartungs-
erregung war, mit der der Patient sonst auf das von ihm ersehnte (orale)
zaubernde Eingreifen des Analytikers wartete. — Ein kleines Assoziations-
experiment an einem solchen Tage sei mitgeteilt als Beweis dafür, daß in dieser
Stimmung die sonst ‚manifeste Erregung auch vorhanden, nur tonisch gebun-
den war: Als der Patient erklärte, er langweile sich so, wurde er aufgefordert,
die Grundregel ganz besonders genau einzuhalten und darauf zu achten, daß
er keinen Einfall als „zu langweilig“ unterdrücke. Er sagte, er sehe in die
Zimmerecke und denke, wie es wäre, wenn da ein Spinnennetz säße. Man
könnte dann einen Besen nehmen und damit die Wand auf- und abkehren,
immer auf und ab. Im übrigen habe er Zahnweh; er komme eben vom Zahn-
arzt, der ihm mit seiner Bohrmaschine die Zähne auf- und abgefahren sei. —
Er wird darauf aufmerksam gemacht, daß man Sensationen im Munde in den
Dimensionen verkenne, daß die Idee vom Abkehren der Wand also zeige, daß
er sich innerlich noch beim ‘Zahnarzt und. nicht beim Analytiker fühle. Er
phantasiere, der Analytiker tue ihm etwas Erregendes im Mund. „Jetzt fällt
mir nur Unsinn ein“, setzt der Patient ‚fort, „ich könnte beliebige Wörter
sagen, etwa Lichtschalter oder Nachttopf.“ Lichtschalter und Nachttopf sind
Hilfsmittel, mit denen die Erwachsenen ein nächtlich angsterregtes Kind zu
beruhigen suchen. Der ganze Zustand war also zu deuten: „Ich habe Angst,
tue mir etwas Beruhigendes (Beunruhigendes) im Munde!“. Die Langeweile,
in der sich der Patient befand, leugnete die eigene Erregung in der Art der
Depersonalisation.
Man könnte fragen, ob es für diese Art der „tonischen“ Erregungsbindung
in: der Langeweile charakteristisch sei, daß es sich um „Triebe mit passivem
Ziel“ handelt, die abgewehrt werden und als unbestimmte Aufforderungen an
die Außenwelt nach „Anregung“ aus der Abwehr wiederkehren. Wir würden
Zur Psychologie der Langeweile 277
das verneinen und eher meinen, daß wir bei diesem Mechanismus sozusagen
einer „Verwandlung von Aktivität in Passivität“ in 'statu nascendi zusehen
können: man will. durch passives Erleben aus einer Spannung befreit werden,
die entstand, weil man Angst vor seinen eigenen aktiven Impulsen hat.
Wir können uns nicht verhehlen, daß wir mit all dem bisher Ausgeführten
die vorhin gestellte Frage nicht gelöst haben, was die „tonische Bindung“ er-
mögliche, und wodurch sich die „tonische Bindung“ der „Langeweile“ von
anderen unterscheide. Wann tritt motorische Unruhe auf und wann das Ge-
fühl der Impulslosigkeit und die Sehnsucht nach Ablenkung?
Eine endgültige Antwort auf diese Frage können wir nicht bieten. Wir
müssen uns zunächst an eines halten: Bei jeder tonischen Bindung, also auch
bei der Langeweile, ist mehr abgewehrt als bei motorischer Unruhe, nämlich
die motorischen Impulse selbst. Aber auch dies ist keine prinzipielle Antwort,
denn es gibt sowohl Menschen, die in Zuständen der Libidostauung, die keines-
wegs als Langeweile bezeichnet werden können, sich motorisch vollkommen
ruhig verhalten, als auch solche, die im Zustand der Langeweile herumlaufen
und alle möglichen Handlungen begehen. „Blasierte“ Menschen sind dafür
bekannt, daß sie aus „Langeweile“ allerhand mehr oder minder sinnlose Hand-
lungen begehen. Der sogenannte „Spleen“ der Engländer ist von dieser Art.
Wir haben hier eine Variante der Langeweile vor uns, bei der das sich lang-
weilende Ich nicht die Außenwelt in Anspruch nimmt, sondern sich selbst
„Ersatzhandlungen“ ausdenkt, die die Spannung lösen, also Vertreter der
Triebhandlungen sein, andrerseits aber von ihnen „ablenken“ und sie ver-
leugnen sollen. — Die Lahmlegung der Motorik ist also nicht das einzige und
nicht das wesentliche Charakteristikum. Sie kann auch ausbleiben und jeden-
falls muß zu ihr noch etwas hinzukommen: jener Mechanismus, den wir als
depersonalisationsverwandt bezeichnet haben, der Umstand, daß der innerlich
so hoch gespannte Mensch es fertigbringt, die Tatsache dieser Spannung so
weitgehend vor sich selbst zu verleugnen. Bekannt ist, daß, wer phantasie-
begabt ist, sich selten langweilt, und daß die zur Langeweile disponierten
Menschen unfähig oder gehemmt sind in der Produktion. von Tagträumen.
(Mein früher erwähnter Patient war in ausgesprochenem Maße phantasielos.)
Offenbar ermöglicht eine reiche Phantasie, sich in Tagträumen bis zu einem
gewissen Grade zu entlasten, während der Wegfall dieser Möglichkeit die
massive Gegenbesetzung der Absperrung innerer Wahrnehmungen erfordert.
Fehlt in einem Zustand dieser Art die innere Wahrnehmung der eigenen
Erregung? Wir haben schon die Tränenausbrüche aus Langeweile erwähnt;
mußten allerdings auch hinzufügen, daß wir gerade sie als nicht charakteristisch
„langweilig“ ansehen können. Offenbar sind die Übergänge von „Zapplig-
278 Otto Fenichel
keit“ zur „Langeweile“ fließend; die ausgesprochenen Fälle aber sind eben da-
durch charakterisiert, daß der Betreffende selbst glaubt, in gewissem Grade
erregungslos zu sein, was er eben „sich langweilen“ nennt.
Die Frage, ob es vorwiegend Triebe mit passiven Zielen sind, deren Ziel-
verdrängung zu der beschriebenen Art der Langeweile führt, haben wir ver-
neint; aber vielleicht läßt sich ein anderer Triebinhalt als charakteristischer
herausheben: Sind es nicht vielleicht einerseits aggressive, andrerseits narziß-
tische Bedürfnisse, die da vorwiegend in Betracht kommen? Die Beziehungen
der Langeweile zu Schwankungen des Selbstgefühls, zu „Stimmungen“, sind
nicht zu übersehen. Es gibt auch Fälle von „periodischer Langeweile“, die von
vornherein an einer Verwandtschaft mit dem manisch-depressiven Kreis
keinen Zweifel lassen. — Solche Formen der Langeweile gehen fließend in
bestimmte Arten der Depression über. — Wir kennen ja auch sonst Formen
von Depressionsabwehr bzw. -äquivalenten, die der depressiven Herabsetzung
des Selbstgefühls dadurch entgehen wollen, daß sie sich von der Außenwelt
„ablenken“ lassen. Die Süchtigen greifen in solchen Zuständen zu Außenwelt-
reizen, die dank ihrer chemischen Beschaffenheit die Selbstgefühlslage wirklich
zu ändern imstande sind. Der Psychopath mit „Wandertrieb“ verläßt, wenn
die Depression kommt, den Ort seines Aufenthaltes, um durch Wechsel seines
Milieus „Zerstreuung“ zu finden.
Widerspricht diese Verwandtschaft mit der Depression unseren früheren
Überlegungen über die Psychogenese der Langeweile? Keineswegs. Die der
Depression verwandte Langeweile ordnet sich als Spezialfall der geschilderten
pathologischen Form der Langeweile überhaupt ein. Haben wir gesagt, es
handle sich stets um Triebspannungen, die bei verdrängtem Ziel dennoch
wahrgenommen, aber verleugnet werden, aus denen man durch Eingriffe der
Außenwelt gerettet zu werden hofft, so hier um Spannungen der narzißtischen
Bedürfnisse eines gekränkten Selbstgefühls bzw. all jener aus der Psychogenese
der Depression bekannter oral-sadistischer Triebansprüche. Von hier aus werden
wir verstehen, wenn unter den Handlungen, die man in Langeweile „zur Zer-
streuung“ unternimmt, Essen, Trinken 'und Rauchen eine bevorzugte Stellung
einnehmen, sowie daß pathologische Langeweile lange einer Sucht, einer Neurose
mit „Impulshandlungen“ o. dgl. vorangehen kann. — Aber wir glauben nicht,
daß narzißtische Bedürfnisse bzw. oral-sadistische Impulse die einzigen sind,
deren Stauung zu Langeweile führen können.
Die Beziehungen zwischen Langeweile und Einsamkeit sind nun unschwer
zu verstehen. Ist es richtig, daß die unbewußte Situation desjenigen, der sich
langweilt, darin besteht, daß er in einer ihm selbst nicht bewußten: Trieb-
erregung, die er für gefährlich hält, Hilfe durch Außenweltreize erwartet, so
Zur Psychologie der Langeweile 279
ist klar, daß die ätiologischen Bedingungen für Langeweile und Einsamkeits-
angst die gleichen sein müssen. Die Beziehungen zur Onanie sind, ebenso wie
beim Neurotiker mit „Budenangst“, von zweierlei Art: Wer sich langweilt, kann,
ebenso wie der Einsame, eigentlich die Onanieversuchung fürchten und be-
kämpfen, so daß ihm die Sehnsucht nach Zerstreuung anstatt eines Onanie-
impulses bewußt wird; oder er kann im Versuch, einer lästigen Trieb-
spannung, deren Ziel ihm völlig unbewußt ist, zu entgehen, gerade zu wieder-
holten Onanieakten greifen; auch zwischen Langeweile und sogenannter
Zwangsonanie bestehen breite Verbindungen.5
Man erinnere sich in diesem Zusammenhang auch an die von Ferenczi
so genannten „Sonntagsneurosen“.® Es gibt „Sonntagsneurotiker“‘, deren
Symptom nur darin besteht, daß sie sich an Sonntagen oder im Urlaub u. dgl.
nur langweilen. Das sind Menschen, denen, solange sie arbeiten, das Ziel
gelingt, das der sich Langweilende vergebens zu erreichen sucht, nämlich sich
in einer Situation der Triebstauung „abzulenken“. Fällt die Ablenkung
weg, so macht sich die Spannung bemerkbar, und die sonst latente „Lange-
weile“ wird manifest. Gewöhnlich wirken dabei Erinnerungen an Sonntage
aus der Kinderzeit mit, in denen die Triebstauung dadurch noch künstlich
gesteigert wurde, daß die triebhungrigen Kinder ganz besonders an Trieb-
äußerungen gehindert wurden.
Haben wir nun die Mechanismen einer pathologischen Form der Lange-
weile skizziert, so bleibt die Frage, ob sie für das Phänomen Langeweile über-
haupt die wesentlichen sind. Wie sieht denn eine anders gebaute „normale“
Langeweile aus? Sie tritt ein, wenn man nicht tun darf, was man will, oder
wenn man etwas tun muß, was man nicht will. Diese „harmlose“ Langeweile
scheint auf den ersten Blick ein ganz anderes Phänomen als die bisher be-
schriebene, aber man erkennt leicht, worin die Gemeinsamkeit mit ihr liegt:
Etwas Erwartetes tritt nicht ein. Dort nicht, weil man die erwartete
Triebhandlung aus Angst verdrängt, hier nicht, weil die Beschaffenheit der
realen Situation die erwartete Entspannung nicht zuläßt. (Hierher gehört
auch, daß im Zustand der unbefriedigbaren Müdigkeit die schlafhindernde
Außenwelt als langweilig empfunden wird.) Wann allerdings eine solche ver-
sagende Außenwelt Aggression mobilisiert, wann sie ohne weiteres ertragen
werden kann, wann sie Enttäuschung hervorruft und wann man sie bloß als
„langweilig“ empfindet, ist nicht so leicht zu sagen. Man vergesse nicht, daß
man ja eine gewisse „Abfuhrhilfe‘“ von der Außenwelt fordern darf. Bleibt
sie aus, dann langweilt man sich sozusagen mit Recht. Es ist die Situation,
5) Siehe Fenichel „Perversionen, Psychosen, Charakterstörungen“, S. sr.
6) Ferenczi „Sonntagsneurosen“, Int. Ztschr. f. Psa., V., 1919.
280 Otto Fenichel
zu deren Kennzeichnung Winterstein den Feldmarschall Fürsten Ligne
zitiert: „Nicht ich langweile mich, es sind die anderen, die mich langweilen.“
Deshalb wirkt ein „affektgesperrter“ oder sonst mit stark charakterlich ver-
ankerten Gegenbesetzungen ausgestatteter, etwa besonders korrekter oder
sonstwie „starrer“ Mensch so langweilig. Seine Gefühlsferne entspricht nicht
den Trieberwartungen, die die Menschen einander entgegenbringen. Wir fin-
den häufig, daß solche Menschen unter der Angst leiden, sie könnten lang-
weilig wirken, und müssen sagen,. sie haben mit solcher Angst Recht.
Analysiert man diese Angst, so findet man, daß in der vom Patienten selbst
so gefürchteten Art, andere Menschen zu langweilen, große Quantitäten von
Sadismus gebunden sein können.
Eine für die Konstitution der Langeweile zweifellos wichtige Beziehung
haben wir bisher noch nicht erwähnt, die zur Zeit. Schon das Wort „Lange-
weile“ deutet ja darauf hin, daß bei diesem Zustand stets Veränderungen des
subjektiven Zeitgefühls bestehen. Erlebt man vielerlei Reize aus der Außen-
welt, so erscheint die verbrachte Zeit bekanntlich kurz; bringt die Außen-
welt nur monotone Reize, oder können ihre Reize infolge subjektiver
Umstände nicht als spannungslösend erlebt werden, so wird die „Weile lang“.
Infolge dieser Grundeigenschaft des subjektiven Zeitgefühls scheint die Sensa-
tion, die dem ganzen Erlebnis „Langeweile“ den Namen gegeben hat, nur eine
sekundäre Folge der geschilderten Mechanismen zu sein. Es läßt sich aber
auch nicht die Möglichkeit von der Hand weisen, daß dort, wo primäre
Störungen des subjektiven Zeitgefühls vorliegen, das Eintreten :oder. das
Spielen der geschilderten Mechanismen dadurch erleichtert wird. Das ist aber
der Fall bei Menschen, die das Zeitempfinden sexualisiert haben®, und das ist
wieder der Fall besonders bei gewissen Typen des Analcharakters. Von hier
aus können wir Winterstein beipflichten, wenn er manchen Analcharakter
als zur Langeweile besonders disponiert beschreibt und die Langeweile über-
haupt mit dem Phänomen des „Zeitgeizes“ in Beziehung bringt.?
Was Winterstein sonst über die Disposition zur Langeweile ausführt,
stimmt mit unseren Überlegungen gut überein. Er schreibt, man „möchte
hier zwei Typen unterscheiden: den blasierten, durch Überreizung abge-
stumpften, nach Genuß schmachtenden und genußunfähigen Menschen (viel-
leicht beruht hier die Langeweile auf physiologischer Grundlage) und jenen,
der vor der peinigenden Langeweile in die Arbeit flieht, weil ihn alles, was
nicht Pflichterfüllung ist, langweilt“. Nun scheinen uns diese zwei Typen
lediglich als zwei Varianten der chronischen Libidostauung, die sich als Span-
7) Winterstein, a.a.O., S. 550.
8) Vgl. Harnik „Die triebhaft-affektiven Momente im: an Imago XI, 1925.
9) a.a.0O., S. 552.
Zur Psychologie der Langeweile 281
_ nung bemerkbar macht, während das Triebziel verdrängt ist. Der erste Typ
‚ist der orgastisch Impotente, der infolge seiner Genußunfähigkeit „schmach-
ren“ muß. (Daß seine „Abstumpfung“ durch „Überreizung“ entstanden ist,
möchten wir allerdings nicht glauben. Wir würden meinen, daß seine
psychogene Libidostauung ebenso Ursache seines Schmachtens nach Reizen
wie seiner Abstumpfung ist.) Der zweite ist der „Sonntagsneurotiker“, von
dem wir vorhin sprachen. Auf physiologischer Grundlage aber, meinen wir,
beruht die Langeweile in beiden Fällen, nämlich auf der physiologischen
_ Grundlage der Libidostauung.
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse‘
Von
Raymond de Saussure
Genf
Einleitung
Am Internationalen Psychologischen Kongreß in Kopenhagen im August
1932 sagte Clapar&de: „Unser Kollege Murchison veröffentlicht alle fünf
Jahre Bücher über Psychologien“ — er gebrauchte den Plural —, „über Be-
haviourismus, Reflexologie, dynamische Psychologie, Psychoanalyse... sehr
interessante Sammelwerke, die vor allem beweisen, daß unsere Wissenschaft
noch recht zurück ist. Es gibt nicht mehrere Physiken und nicht mehrere
Chemien, ebenso gibt es nur eine Psychologie oder besser, es sollte nur eine
geben“ (1).
Wir stimmen diesen Worten unseres Lehrers vollkommen zu und dieser
Bericht möchte den bescheidenen Versuch bedeuten, einen Teil der Ergebnisse
der Psychoanalyse in den Rahmen einer allgemeinen Psychologie einzufügen.
Wir glauben, daß die Psychoanalyse eine große Zahl endgültig gesicherter
Tatsachen enthält und wenn dem so ist, so müssen diese Tatsachen zwangs-
läufig mit den Kenntnissen einer allgemeinen Psychologie zahlreiche Berüh-
rungen besitzen. Diese Tatsachen können nur dadurch gesichert werden, daß
sie, nachdem sie unter psychoanalytischer Betrachtung gewonnen wurden,
auch von anderer Seite her bestätigt werden und zu weiteren, von anderen
Methoden her beleuchteten Erörterungen Anlaß geben.
Das Ganze der psychoanalytischen Forschungen wird dadurch gekennzeich-
net, daß sie neues Licht auf den Inhalt des kindlichen Denkens geworfen
haben. Das unmittelbare Denken des Kindes mußte jenen Beobachtern ent-
gehen, die zugleich auch ein pädagogisches Ziel verfolgen und die sich daher
1) Übersetzt von Dr. Helmut Polt. Vortrag, gehalten am „Congre&s des Psychanalystes
de langue frangaise“ in Paris am 18. Dezember 1933.
Diese Tagung stand im Zeichen der Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen und
psychologischen Anschauungen Jean Piagets. An das hier vorliegende Einleitungsreferat schloß
sich ein Vortrag von Jean Piaget an, dessen Abdruck in deutscher Sprache mit Genehmigung des
Verfassers in einer der nächsten Nummern dieser Zeitschrift erfolgen wird. Über die Diskussion,
die beiden Vorträgen folgte, unterrichtet ein Sitzungsbericht in der „Revue frangaise de Psych-
analyse‘‘ (tome VII, 1934, pag. 116—136), deren Schriftleitung wir für ihr freundliches Enigegen-
kommen verpflichtet sind.
Die in Rede siehenden Probleme scheinen so bedeutsam zu sein, daß die Redaktion der „Imago“
nach Erscheinen der Abhandlung Prof. Piagets einen Meinungsaustausch auf breiterer Grundlage
anzuregen beabsichtigt.
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 283
vornehmlich für die Art interessieren, in der sich das Kind die Gedanken des
Erwachsenen zu eigen macht.
Parallel mit den Entdeckungen Freuds, nur später als er, suchte eine
Schule von Psychologen, deren bedeutendste Vertreter Piaget und Luquet
sind, die Struktur des kindlichen Denkens zu erfassen. Es schien mir inter-
essant, Herrn Prof. Piaget zur Mitarbeit aufzufordern, um die Ergebnisse
beider Betrachtungsweisen einander gegenüberzustellen. Diese Gegenüber-
stellung schien mir um so interessanter, als sich Freud nicht nur auf den
Inhalt des kindlichen Denkens beschränkt, sondern auch versucht hat,
einzelne Mechanismen seiner Struktur zu beschreiben, etwa den Vorgang der
Identifizierung, der Projektion, der Verschiebung von Affekten und
der Symbolisierung.
Piaget wiederum hat, um die kindliche Logik zu veranschaulichen, aus-
führliche Untersuchungen über den Inhalt des spontanen Denkens der Kinder
angestellt. Er bediente sich dabei einer von der Psychoanalyse abweichen-
den Methode, die wir sogleich zu beschreiben haben werden. Diese beiden
_ Arten von Untersuchungen unterscheiden sich vor allem dadurch, daß Freud
vor allem die Mechanismen des unbewußten Denkens berücksichtigte, wäh-
rend Piaget sich um die Beschreibung der Mechanismen jenes Denkens be-
mühte, das danach strebt, seiner selbst bewußt zu werden. Freud erforschte
vor allem die Vorgänge, die das Denken vor der Sozialisierung zu bewahren
streben. Piaget sucht im Gegensatz dazu die Stufen aufzuzeigen, die das
Denken auf dem Wege zur Sozialisierung durchläuft. Freud legt auf den
Inhalt des affektiven und subjektiven kindlichen Denkens Nachdruck, Piaget
beschäftigt sich vor allem mit seinem objektiven Gehalt.
Diese Unterschiede des Standpunktes mußten notwendig neben Berührungs-
punkten auch Trennungspunkte zwischen beiden Lehren entstehen lassen; es
scheint interessant, die wichtigsten von ihnen aufzuzeigen.
Es ist sicher, daß man sich Fehlern aussetzt, wenn man Phänomene nur
unter einem dieser Gesichtspunkte betrachtet.
Da die Methoden Freuds und Piagets verschieden sind, ist es von Inter-
esse, auch die Phänomene selbst zu vergleichen, die von verschiedenen Wegen
her beobachtet wurden. Unglücklicherweise war es Piaget aus leicht ver-
ständlichen Gründen unmöglich, seine Umfragen bei den Kindern auch auf
ihre Auffassung der die Sexualität betreffenden Tatsachen zu erstrecken. In-
dessen gibt es ein gemeinsames Gebiet für die Untersuchungen Freuds und
Piagets, nämlich die Entwicklung der moralischen Vorstellungen beim
Kind.
Bei dieser Gegenüberstellung werden viele Einwände, die uns von außen
gemacht werden, in sich zusammenbrechen. Denn zahlreiche Behauptungen
284 Raymond de Saussure
erscheinen nur solange irrig, als wir sie vom Standpunkt der Logik der Er-
wachsenen betrachten, werden aber ungleich wahrscheinlicher, wenn wir sie
mit anderen kindlichen Auffassungen vergleichen und versuchen, sie aus dem
Ganzen der Gesetze zu verstehen, die das Denken des Kindes beherrschen.
Eine vertieftere Erkenntnis der Logik der ersten Lebensjahre hat nicht nur
akademischen Wert, sondern darf auch als wertvolle Stütze der "Therapie
gelten. Wenn der Kranke die Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten
des Denkens kennen lernt, wird es ihm leichter gelingen, den Ausdruck für
seine infantilen Ideen und für das, was ihn noch von der Heilung trennt, zu
finden.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich eine Bemerkung über bestimmte Patien-
ten einschalten, deren Analyse sich ohne klare Linie hinschleppt, obgleich sie
eine Fülle interessanter Assoziationen bringen.
Diesen Kranken fällt es durchaus nicht schwer frei zu assoziieren, und zwar
darum, weil sie beschäftigungslos sind und einen großen Teil des Tages allein
verbringen. Ihr Denken ist „dissozialisiert“, der Gemeinschaft entfremdet,
und spinnt sich fast den ganzen Tag auf derselben Stufe fort wie in den freien
Assoziationen der Analysenstunde.
Nun hat Piaget in seiner Mitteilung über das ribolisshe Denken (2) auf
dem Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Berlin 1922 nachdrücklich
darauf hingewiesen, daß sich das Kind vor dem 6. bis 7. Lebensjahre seines
Denkens nicht bewußt wird, sondern sein Denken gleichsam „erleidet“.
Jene — freilich seltenen — Fälle, auf die ich eben anspielte, sind auf diese
Stufe des Denkens regrediert. Ihre freien Einfälle sprechen durchaus nicht für
die Befolgung der Grundregel, sondern sind ein Symptom ihres Zustandes.
Die therapeutische Indikation gebietet es in diesen Fällen — so paradox es
auch scheinen mag —, vom Patienten die Konzentration auf einen bestimmten
Gegenstand zu fordern.
Diese Kranken sind arbeitsunfähig, weil sie vergessen, daß sie die Absicht
hatten, zu arbeiten oder diese Absicht, selbst wenn sie vorhanden ist, schon
für die Erfüllung nehmen. Sie lehnen sich in einen Fauteuil, überlegen, was
sie tun sollen, und geben sich der Illusion hin, es schon getan zu haben.
Die Analyse kann auf diese Patienten nur Einfluß. gewinnen, wenn sie sie
zuerst dazu erzieht, ihre eigenen Gedanken und das Bestehen einer Realität
zur Kenntnis zu nehmen. Wenn sie es versäumt, diese Form kindlichen Den-
kens zu erkennen, geht sie schwerem Scheitern entgegen. Denn der Kranke
vermöchte aus der Deutung einer Kette von Einfällen keinen Nutzen zu
ziehen, solange sein Geist nicht zur Logik der Erwachsenen erwacht ist.
Ich bin bei diesem Beispiel länger verweilt, denn es zeigt die Notwendig-
keit, im therapeutischen Verfahren ebenso auf die Struktur wie auf den Inhalt
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 285
des Denkens zu achten. Wir verstehen jetzt, wie überaus förderlich die Gegen-
überstellung der Forschungen Freuds und Piagets uns sein kann.
Man könnte auf zahlreiche Berührungspunkte zwischen der Psychoanalyse |
und dem gesamten Forschungsgebiet über die Entwicklung kindlicher Intel-
ligenz hinweisen. Häufig handelt es sich dabei um Einzelheiten, die darzulegen |
die Einheitlichkeit dieses Referats zerstört hätte. Ich habe es daher vorge- |
zogen, eine Anzahl von Problemen, die mir wichtig scheinen, auszuwählen i
und andere, nebensächliche, unberücksichtigt zu lassen. Um jedoch den mög-
lichen Nutzen aufzuzeigen, den eine mehr methodische Gegenüberstellung
beider Erfahrungsgebiete abzugeben vermöchte, bringe ich auf gut Glück
wenigstens ein Beispiel. |
Freud hat seit langem auf die Amnesie hingewiesen, die unsere ersten |
Lebensjahre betrifft. Er hat sie aus den Verdrängungen sexueller Regungen
abgeleitet — eine sehr natürliche Erklärung, da er sich vornehmlich für Er- i
innerungen interessierte, die bei dem Kind Schockerlebnisse hätten auslösen
können.
Es hat indessen den Anschein, als ob die Amnesie der ersten Lebensjahre
ein viel allgemeineres Phänomen sei. Piaget belehrt uns darüber, daß die
meisten Knaben bis zum Alter von sechs oder sieben Jahren versichern, die
Sonne sei lebendig, da sie sich bewege; sobald sie es aber nicht mehr glauben,
sind sie überzeugt, es niemals geglaubt zu haben. Anderseits meinen sie immer,
das, was man sie eben gelehrt hat, selbst entdeckt zu haben und auch dabei
handelt es sich um eine einfache Amnesie.
Man sieht also, daß sich der Widerstand gegen das Auftauchen kindlicher
Erinnerungen nicht nur auf das sexuelle Gebiet beschränkt.
Das Kind empfindet wahrscheinlich in diesem Alter das Bedürfnis, seine
Überzeugungen mit denen seiner Umwelt in Beziehung zu bringen, und dieser
Umstand zwingt es auch wohl, sein „autistisches“ Denken, ob es nun die Kos-
mologie oder die Sexualität betrifft, in gleicher Weise zu verdrängen.
Prof. Piaget und ich haben unsere Arbeit folgendermaßen geteilt: Ich will
versuchen, die von der Analyse aufgedeckten Erscheinungen der frühen Kind-
heit unter dem Gesichtswinkel der Theorien Piagets zu behandeln. Dabei
beschränke ich mich, um mich nicht in Einzelheiten zu verlieren, darauf,
einerseits die sexuellen Gedanken des kleinen Mädchens in der phallischen
Phase und anderseits die Bildung. des Über-Ichs beim Knaben ins Auge zu
fassen.
Piaget hat die heiklere Aufgabe übernommen, einige Probleme der allge-
meinen Psychologie mit den Resultaten der beiden in Rede stehenden Unter-
suchungsmethoden zu vergleichen.
286 Raymond de Saussure
Die Methode
Die Methode, die wir anwenden, besteht einesteils in der direkten Beob-
achtung des spontanen Denkens des Kindes, andernteils aus dem Verfahren,
das wir die klinische Methode nennen wollen. Die beiden Methoden ergänzen
einander und die eine kann als Gegenprobe für die andere verwendet werden.
Will man mit dem Kind über das sprechen, was es denkt, geht man zweck-
mäßig von dessen eigenen Fragen aus, widrigenfalls man schwerlich in den
kindlichen Vorstellungsbereich eindringen wird.
Die Methode der reinen Beobachtung ist ungenügend. Das Kind hat auch
gerade in seiner egozentrischen Einstellung keineswegs das Bedürfnis, sein
Denken freiwillig mitzuteilen. Anderseits wird es meist nur in Gesellschaft
von seinesgleichen gesprächig, dann aber ist es an die unmittelbaren Hand-
lungen gebunden und nicht auf jenen wesentlichen Teil des Denkens einge-
stellt, der mit dem Handeln nichts zu tun hat und der sich dann entwickelt,
wenn das Kind mit dem Gebaren der Erwachsenen oder mit Naturvorgängen
in Berührung kommt.
Der zweite im System der reinen Beobachtung liegende Mangel besteht in
der Schwierigkeit zu unterscheiden, ob das Kind spielt oder an seine Vorstel-
lung wirklich glaubt. Nehmen wir ein Kind, das allein zu sein meint und zu
einer Straßenwalze sagt: „Die dicken Steine hast du aber fein zerdrückt.“
Spielt es oder personifiziert es die Maschine wirklich? In einem solchen Falle
ist das unmöglich zu unterscheiden, weil es eben ein Einzelfall ist. Die reine
Beobachtung ist nicht imstande, das Geglaubte vom Fabulierten zu unter-
scheiden. Ihre Kriterien basieren lediglich auf der Vielheit der Resultate und
auf dem Vergleich individueller Reaktionen (3).
Wir müssen also die Methoden der reinen Beobachtung verlassen und wen-
den uns der klinischen Methode zu. Präzisieren wir, was wir unter klinischer
Methode verstehen.
Der Kliniker kann tatsächlich gleichzeitig folgendes tun: ı. er kann sich
mit dem Kranken unterhalten und ihm dabei mit seinen eigenen Antworten
so folgen, daß er nichts aus dem Auge verliert, was etwa an deliranten Ideen
zum Vorschein kommen könnte; 2. er vermag ihn nach und nach an die
kritischen Zonen heranbringen (seine Geburt, seine Rasse, sein Vermögen, sein
militärischer oder politischer Rang, seine Talente, sein mystisches Leben usw.)
und sucht aber, natürlich ohne vorher zu wissen, wo die delirante Idee auf-
scheinen wird, die Konversation ständig auf einem ergiebigen Gebiet zu erhal-
ten. Die klinische Prüfung benützt also die Erfahrung insofern, als der Kliniker
sich Probleme stellt, Hypothesen aufrichtet, die Versuchsbedingungen ändert
und schließlich jede seiner Hypothesen an den durch die Konversation her-
Mi
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 287
vorgerufenen Reaktionen kontrolliert. Die klinische Prüfung benützt aber
auch die direkte Beobachtung in dem Sinne, daß der gute Kliniker sich führen
läßt indem er führt, dabei den geistigen Bindegliedern Rechnung trägt, statt
das Opfer systematischer Irrtümer zu werden, wie es beim reinen Experiment
so oft geschieht.
In der Psychologie des Kindes muß der gute Experimentator ebenso wie in
der Psychopathologie zwei oft unverträgliche Eigenschaften vereinigen: er
muß beobachten, d.h. das Kind frei sprechen lassen und gleichzeitig einen
festen Richtpunkt suchen können, muß in jedem Augenblick irgend eine
Arbeitshypothese zur Hand und irgendeine richtige oder falsche Theorie zu
kontrollieren haben. Man muß natürlich die Vorsichtsmaßregel, die diese
Methode erfordert, beobachten; man darf dem Kind nichts suggerieren und
hat eine auf vorgefaßte Ideen gegründete Systematik ebenso zu vermeiden,
wie die durch das Fehlen jeder Arbeitshypothese entstehende Zusammenhang-
losigkeit.
Da ich zu Ärzten spreche, will ich nicht länger bei derlei bekannten Dingen
verweilen.
Die phallische Phase unter dem Gesichtspunkt der infantilen Logik.
Es erscheint uns vorerst bemerkenswert, daß die bei vier- bis sechsjährigen
Kindern angestellten Untersuchungen eine außerordentliche Ähnlichkeit der
kosmologischen Ideen aufzeigen. Dieses Alter ist völlig von dem Gedanken
beherrscht, alle Dinge seien künstlich herstellbar. Gebirge, Flußbett und Seen-
becken sind Gebilde von Menschenhand. Die Mythen, wie sie von Kind zu
Kind als Erklärung für die Gestaltung der Sonne, den Ursprung der Flüsse,
den Eintritt der Nacht usw. weitergegeben werden, zeigen äußerst geringe
Unterschiede. Dieser Umstand interessiert uns deshalb ganz besonders, weil
die Kritiker der Psychoanalyse vielfach die Rolle des Odipuskomplexes, den
Penisneid des Mädchens, die analen Geburtstheorien u.a. als etwas darstellen,
das wohl in Ausnahmsfällen bei gewissen psychopathischen Kindern vorkom-
men mag, die Allgemeingültigkeit dieser Vorstellungen aber schroff ablehnen.
Nun zeugen aber Untersuchungen, die auf anderen Gebieten direkt am Kinde
angestellt wurden, für die Wahrscheinlichkeit der Annahme, daß alle Kinder
und nicht nur einige diese Gedankengänge zeitweise aufnehmen. Sobald sie
aber in ein anderes Stadium des Denkens getreten sind, meinen sie, immer an
die neue Lösung und niemals an eine andere geglaubt zu haben.
Nach dieser allgemeinen Bemerkung wollen wir die phallische Phase beim
Mädchen darstellen und hierauf den ganzen Gedankengang unter dem Ge-
sichtspunkt der kindlichen Logik betrachten.
288 Raymond de Saussure
Abraham (4) hat als erster darauf hingewiesen, daß sich hinter dem Männ-
lichkeitswunsche der Frau eine schlecht verarbeitete Erfahrung der frühen
Kindheit verbirgt. Sobald das Mädchen zur Wahrnehmung des männlichen
Gliedes kommt, sagt es sich: „Ich muß einmal ein Glied wie die Knaben ge-
habt haben, man hat es mir aber weggenommen.“ Das Mädchen betrachtet
folglich sein Genitale als Wunde. Diese Feststellung hat eine Reihe von Beob-
achtungen veranlaßt, die wir hier zusammenfassen (5).
Nach Karen Horneys überzeugender Darstellung wird der Peniswunsch
des Mädchens nicht durch die Enttäuschung darüber ausgelöst, daß es kein
Knabe ist, sondern durch die Enttäuschung, sich selbst beim Urinieren nicht
zusehen und dabei nicht exhibieren zu können und vor allem keine Möglich-
keit des Lustgewinns an diesem Glied zu haben. Während dieser ganzen ersten
Phase scheint das Mädchen zu glauben, daß es eines Tages doch einen: Penis
besitzen werde. Wenn es später begreift, daß alle Personen seines Geschlechtes
ebenso beschaffen sind, stellt sich die Auflehnung gegen ein solches Wissen ein
und es versucht, sich gegen die Realität, die es nicht akzeptieren will, zu
schützen. Zu dieser Zeit identifiziert es sich mit dem Bruder oder dem Vater
oder es versucht auf symbolischem Wege Ersatz zu schaffen, indem es dem
Kinde, der Brust, der Kotsäule usw. phallische Bedeutung gibt. In seiner Wut
über den Nichtbesitz des Penis will das Mädchen den männlichen Wesen
seiner Umgebung das Glied abbeißen und es verschlingen (6).
In diesem Alter wünscht das Mädchen, daß sein Vater ihm zum Trost ein
lebendes Kind schenke. 227
Wie wir wissen, kennt dieses Stadium auch verschiedene Geburtstheorien,
die sich: fast alle um das eine Schema gruppieren: Man bringt ein Kind zur
Welt, wenn man etwas Besonderes gegessen hat (wie z. B. in den Märchen)
und die Kinder kommen aus den Eingeweiden wie beim Stuhlgang (7).
Es ist bekannt, daß diese Ideen bei einer. großen Anzahl von Neurotikern
fortbestehen, daß sie für alle Arten von Minderwertigkeitsgefühlen entschei-
dend sind und daß sie oft zu Frigidität und zu weiblicher Homosexualität
führen. Man könnte die Grundzüge der phallischen Phase noch ausführlicher
darstellen, das Gesagte genügt aber für unsere Zwecke. Wir wollen nun die
psychoanalytischen Forschungsergebnisse im Lichte der kindlichen Logik
prüfen und .werden sehen, daß so manche Feststellung, die dem Verstand des
Erwachsenen befremdend erscheint, der Logik des Kindes durchaus ange-
messen ist. ; Bi
Nach Ansicht der Psychoanalyse verzichtet das Mädchen, sobald es das
Glied des Knaben gesehen hat, nicht sofort auf den Wunsch, diesen vorteil-
haften Vorsprung auch zu besitzen und glaubt, er werde ihr noch nachwachsen.
mn
Erst wenn es sich über die Unabänderlichkeit dieses Mangels klar geworden
ist, stellt es sich vor, daß ihm jenes Glied abgeschnitten wurde.
Eine solche Art der Betrachtung macht aber die allgemeine Verbreitung
dieser Kastrationsidee nicht deutlich. Wir meinen, daß es sich um eine kom-
plexe Reaktion handle. Vor allem erfaßt das Kind erst nach und nach, daß
das männliche Glied nur dem männlichen Geschlecht angehört. Freuds Dar-
stellung, daß in dieser Phase nur der Phallus von Bedeutung ist, besteht hier |
wohl völlig zu Recht. Das Mädchen skotomisiert während dieser Periode ein- \
fach seinen Penismangel. Der Erwachsene aber kann sich nur schwer einen i
Zustand vorstellen, in welchem das Mädchen zugleich weiß und nicht weiß,
daß ihm das männliche Glied fehlt.
Eben diese Gemütsverfassung wollen wir näher untersuchen. Zu ihrem
besseren Verständnis bedienen wir uns verschiedener, an Kinderzeichnungen
gewonnener Ergebnisse, die Luquet genau studiert hat (8).
Er weist darauf hin, daß das Kind beim Zeichnen eine gedachte Realität
und nicht eine sinnlich wahrgenommene vor Augen hat. Zur Illustration sei
die Zeichnung eines siebenjährigen Knaben angeführt: es soll ein Kartoffel-
acker dargestellt werden; statt nun den aus dem Erdreich hervorwachsenden
Teil der Pflanze wiederzugeben, zeichnet das Kind die dem Auge unsichtbaren
Kartoffelknollen.
Das Kind schafft sich auf diese Weise Typen, innere Modelle, wie Luquet
sie nennt, welche dem real Geschauten gegenüber vorherrschen. Dank dem-
selben intellektuellen Realismus schaffen das Mädchen und der Knabe von
vier bis fünf Jahren den phallischen Typus, der für sie universelle Gültig-
keit hat.
Nach meiner Meinung erhält der männliche Typ aus zwei Gründen den
Vorzug; erstens deshalb, weil er mehr Lustmöglichkeiten bietet; er befriedigt
die Tendenz zum Spiel ebenso wie die zur Exhibition; zweitens ist er unter
dem Gesichtspunkt des Handelns der besser Geeignete und das Denken des
Kindes ist sehr stark auf das Handeln gerichtet.
Angesichts der genannten Vorzüge des männlichen Typs kommt das Kind
ganz von selbst zur Überzeugung, daß dieser Typ der allgemeine sei und des-
halb fesselt auch er allein die Aufmerksamkeit des Kindes. Übereinstimmend
damit lautet eine von Luqu et beobachtete Regel: „Die Entwicklung im Zeich-
nen beweist, daß individuelle Details (hier: Penismangel) dem Kinde erst
später auffallen als allgemeine Merkmale, es sieht nicht nur das Allgemeine
im Besonderen, sondern es sieht auch noch das Individuelle als etwas Allge-
meines an, ehe es ihm als etwas Besonderes bewußt wird“ (9).
Das Studium der Kinderzeichnung bietet uns auch noch eine andere Ver-
Imago XX/3 19
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 289
290 Raymond de Saussure
gleichsmöglichkeit, die uns den Gemütszustand des Mädchens nach der Ent-
deckung des anderen Geschlechts noch verständlicher macht.
Es kommt häufig vor, daß ein Kind einen Fehler nicht in der Zeichnung
selbst verbessert, sondern die Korrektur einfach neben das zuerst Gezeich-
nete setzt. E
„Der. Grund für diese Art der Verbesserung ohne Radieren“, schreibt
Luquet, ‚ist nicht in einer materiellen Schwierigkeit zu suchen, denn das
Kind kennt, wie wir sahen, den Gebrauch des Radiergummis... Sobald
ein Strich als fehlerhaft erkannt ist, existiert er auch schon nicht mehr; das
Kind sieht ihn buchstäblich nicht, ist durch den Ersatzstrich gleichsam
hypnotisiert und beachtet den früheren ebensowenig wie irgendwelche Linien,
die sich sonst etwa auf dem Papier befinden“ (10).
An dem Mädchen zeigt sich nach der Entdeckung des männlichen Gliedes
dieselbe Erscheinung. Die Beschaffenheit des eigenen Körpers wird als Irrtum
betrachtet, hört auf zu existieren und nur die männliche Realität bleibt be-
stehen. Wie wir später sehen werden, redet sich das Mädchen ein, daß es das
fehlende Glied doch noch irgendwie besitze.
Wie man sieht, nimmt das Kind zwei Dinge wahr und merkt sich nur ein
einziges. Das Interesse für die momentane Wahrnehmung ist so groß, daß die
früher gemachte Wahrnehmung vergessen oder wenigstens nicht beachtet
wird. Das Kind schaltet das Gegensätzliche nicht aus und nimmt die ver-
schiedene Beschaffenheit von Knaben und Mädchen nicht wie der Erwachsene
zur Kenntnis. Das Mädchen merkt wohl den Gegensatz zwischen sich und
dem Knaben, zieht daraus aber nicht dieselben Schlüsse wie der Erwachsene.
Zum besseren Verständnis dieser Erscheinung müssen wir hier noch das
Gesetz von der Koexistenz der Gegensätze zu Hilfe nehmen, das Piaget bei
Kindern eingehend studiert hat.
„Anfangs“, schreibt er, „erscheinen zwei Objekte gleichzeitig in der Wahr-
nehmung des Kindes oder es sind zwei Merkmale gemeinsam in der Vorstel-
lung gegeben. Für die Wahrnehmung oder für das Verständnis des Kindes
sind sie daher verbunden, besser gesagt zu einem einzigen Schema verschmol-
zen. Dieses Schema gewinnt schließlich durch den gegenseitigen Widerspruch
der Elemente an Stärke, d.h. wenn man eines der Merkmale herausgreift und
nach dessen Ursache fragt, beruft sich das Kind zu dessen Erklärung oder
Rechtfertigung einfach auf die Existenz des andern Merkmals“ (11).
Diese Art der Begründung ist maßgebend für das Verständnis der allge-
meinen Verbreitung der Kastrationsidee beim Kinde, selbst wenn die Straf-
drohung unterblieben ist.
In dem besonderen Falle, den wir hier untersuchen, sind die beiden Objekte,
die der Wahrnehmung gleichzeitig dargeboten werden, der Penis und die
urn
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 291
Kastration. Im Denken des Erwachsenen schließen die beiden Wahrnehmun-
gen einander aus; im Denken des Kindes tun sie das nicht, sondern vereinigen
sich zu einem Gesamt-Schema. Man muß also die eine durch die andere er-
klären: Das weibliche Geschlecht ist nur die Kastration des männlichen.
Wir halten aber daran fest, daß die Kastration nicht ganz klar verstanden 4
wird; sie ist eher Möglichkeit als Wirklichkeit. Die Wahrnehmung des Ge- |
schlechtsunterschiedes bleibt ein Gesamt-Schema, d.h. das Kind realisiert zu
gleicher Zeit die Vorstellung und realisiert sie auch nicht.
Das Kind eliminiert tatsächlich das Gegensätzliche erst nach und nach.
Luquet gibt uns ein hübsches Beispiel:
„Ein kleines Mädchen von viereinhalb Jahren zeichnet einen Mann, der gleich-
zeitig eine Pfeife und Ohrringe hat, und erklärt, das sei eine Dame. Auf die Pfeife
hingewiesen, antwortet sie, das sei der Mann der Dame, den sie vorhin gezeichnet.
Als man ihr nun die Ohrringe zeigt, sagt sie: „Das sind die Ohrringe, eine Dame hat
doch Ohrringe.“ Sie kommt also auf die Erklärung ‚Dame‘ zurück. Auf die Pfeife
zurückverwiesen, sagt sie aber wieder, es sei ein Herr, und um das Detail, das nun
keine Ohrringe mehr vorstellen darf, abzutun, will sie nur einfache Zeichenornamente
ohne jede figürliche Bedeutung darin sehen. „Das sind keine Ohrringe, das soll es nur
hübsch machen und dann raucht er doch die Pfeife“ (12).
Das Kind hat, wie man sieht, das Gegensätzliche erst auf Anraten des Er-
wachsenen ausgeschaltet. Seine Zeichnung stellt ursprünglich gleichzeitig
Mann und Frau dar. Ebenso bleibt für das vier- bis fünfjährige Kind beiderlei
Geschlechts der Penis das Symbol des Harnorgans.
„Das Kind kann zwischen zwei gegensätzlichen Erklärungen derselben Er-
scheinung nicht unterscheiden, läßt sie gleichzeitig gelten und verwechselt
sogar die eine mit der andern“ (13).
Die vierjährige Jaqueline versucht durch die Stäbe eines Gitters hindurch
zu urinieren wie ein Knabe und will „so ein kleines, langes Ding, das rinnt,“
haben. Sie handelt dann so, als ob sie es besäße. Diese Stufe intellektueller
Entwicklung ist also derart komplex, daß sie das Gefühl des Mangels und das
des Besitzes des Gliedes gleichzeitig zuläßt. Um diesen Zustand besser zu ver-
stehen, müssen wir unsere Kenntnis von der All-Verbundenheit noch prä-
zisieren.
Piaget unterscheidet in der Entwicklung des kindlichen Denkens vom
Magischen zum Realen drei Zeiten, die er folgendermaßen charakterisiert:
»Während der ersten Zeit ist das Ich vollkommen mit den Dingen ver-
schmolzen; alles ist mit allem verbunden und alles ist magische Wirkung des
Wunsches auf die Realität. Während des zweiten Zeitabschnittes differenziert
sich das Ich von den Dingen, die jedoch noch subjektiv überdeckt bleiben.
Von da an fühlt sich das Ich mit den Dingen nur mehr teilweise verbunden
ıg*
292 Raymond de Saussure
und glaubt sich imstande, auf sie aus der Entfernung zu wirken, weil es die
verschiedenen Mittel, die es zum Denken braucht (Worte, Bilder, Gesten),
mit den Dingen verbunden glaubt. Anderseits sind alle Dinge notwendiger-
weise belebt, da das Ich von den Dingen noch nicht geschieden ist und die
psychischen Wahrnehmungen von den physischen noch nicht gesondert wer-
den. Während dieses zweiten Zeitabschnittes ergänzen sich also Magie und
Animismus. Zu dieser Zeit kann ein Kind glauben, daß Sonne und Mond ihm
nachfolgen und diesem Vorgang sowohl magischen Ausdruck geben (ich setze
sie in Bewegung) wie animistischen (sie folgen mir nach). In einem dritten
Zeitabschnitt ist das Ich schließlich von den Dingen schon zu weit abgeson-
dert, als daß die Mittel des Denkens noch als den Dingen zugehörig aufgefaßt
werden könnten. Die Worte sind nicht mehr in den Dingen, die Bilder und
das Denken befinden sich im Kopfe. Die Gesten sind unwirksam geworden,
die magische Kraft ist verschwunden“ (14).
Ob das Kind nun den anatomischen Unterschied während der ersten oder
zweiten Entwicklungsperiode wahrnimmt, das Resultat bleibt das gleiche. In
beiden Fällen unterscheidet sich das Mädchen kaum vom Knaben und der
Knabe kaum vom Mädchen. In der frühen Kindheit verhindert diese Verbun-
denheit die Zurkenntnisnahme der Kastration. Selbst der. Knabe glaubt, daß
jenes Glied beim Mädchen nur verborgen sei. In einer vorgeschrittenen Alters-
stufe, in der sich die Unterscheidung zwischen Ich und Außenwelt von selbst
auszuwirken beginnt, steht die Kastrationsangst bei beiden Geschlechtern im
Vordergrund. Die magische Verbundenheit des Mädchens mit dem Penis ver-
blaßt und die Furcht vor dem dauernden Mangel gewinnt die Oberhand.
Ebenso beginnt im Knaben der Gedanke an die Möglichkeit der Kastration
wachzuwerden und ihn zu beunruhigen. Während der ganzen Periode der
Verbundenheit aber genügt es dem Mädchen, die Gesten des Knaben nachzu-
machen, um sich seiner Verschiedenheit von ihm nicht bewußt zu werden. In
gleicher Weise äußert sich Piaget darüber (15):
„Wenn wir also diese Angleichung der Welt an das Ich und des Ichs an die
Welt als gegeben nehmen, werden Verbundenheit und Kausalität begreiflich.
Einerseits müssen die Bewegungen des eigenen Körpers mit einer wie immer
gearteten äußeren Bewegung verwechselt werden; anderseits müssen Wünsche,
müssen Lust und Unlust nicht in einem Ich, sondern im Absoluten liegen: in
einer Welt also, die wir vom Standpunkt des Erwachsenen eine allen gemein-
same nennen würden, die aber vom Standpunkt des kleinen Kindes die einzige
mögliche Welt ist... Die Verbundenheit resultiert, wenn man will, daraus,
daß zwischen dem Bewußtsein der eigenen Wirkung auf das eigene Ich und
dem Bewußtsein der eigenen Wirkung auf die Dinge kein Unterschied ge-
macht wird.“ Um die Bedeutung dieser kindlichen Einstellung in der phalli-
Mi
schen Phase besser hervorzuheben, müssen wir noch unsere Kenntnisse von
der Symbolik genau untersuchen. Wir haben weiter oben gesagt, daß das
Mädchen versucht, für den Penis symbolischen Ersatz zu finden. Man darf
sich dieses Suchen nicht vom Gedankengang des Erwachsenen aus vorstellen,
sondern muß es in den Rahmen des kindlichen Denkens stellen.
Die Ideen, die Piaget über diesen Gegenstand schon vor Jahren geäußert
hat, sind meiner Meinung nach von den Psychoanalytikern allzuwenig be-
achtet worden. Wir können den Unterschied zwischen der Ansicht Freuds
und Piagets kurz dahin zusammenfassen, daß sich bei F reud die Symboli-
sierung vor allem aus der Projektion eines Wunsches auf ein Objekt erklärt,
während es sich bei Piaget darum handelt, daß zwischen Außenwelt und Ich
nicht unterschieden wird.
Piaget (16) hat diese beiden Gesichtspunkte einander gegenübergestellt;
nach unserer Auffassung ergänzen sie sich, ohne einander auszuschließen.
Nehmen wir ein junges Mädchen, das mit dem Wasserhahn spielt und da-
mit das männliche Glied symbolisiert, so zeigen sich hier gleichzeitig Unter-
scheidungsunvermögen und Wunschprojektion. Man kann von der Tatsache
des Wunsches nicht gänzlich absehen, weil eine Auswahl unter den Symbolen
stattfindet und ein Mädchen z.B. niemals eine Austernschale oder ein anderes
weibliches Symbol zur Darstellung des männlichen Gliedes benützen wird.
Die Symbolik erscheint uns wie eine libidinöse Verkleidung eines Objektes,
das sich dann nicht mehr vom Subjekt unterscheidet.
Hingegen können wir sagen, daß dieses Bedürfnis nach Symbolik durch das
Bedürfnis nach Verbundenheit genährt wird. Man darf dabei nicht vergessen,
daß es nicht leicht zu unterscheiden ist, ob das Kind die Dinge nebeneinander
stellt oder sie symbolisiert (17); statt eine kausale Verbindung herzustellen,
setzt es gewisse Tatsachen, die dieselbe affektive Bedeutung haben, nebenein-
ander. Das ist nur die Folge der Auffassung von koexistenten Gegensätzen.
Gerade diese veranlaßt die Kinder, nach umfassenden und subjektiven Schemen
vorzugehen und sich nicht an die allgemein nachprüfbaren kausalen Binde-
glieder zu halten. „Zwei gleichzeitig wahrgenommene Erscheinungen sind in
der Tat zu einem Schema verwoben, das die Vorstellung nicht mehr zer-
legt“ (18); oder wie Piaget an anderer Stelle sagt: „Einem Mangel objektiver
Bindungen entspricht ein Übermaß subjektiver Bindungen“ (19).
Da das Mädchen den Unterschied zwischen sich und dem Knaben nicht
akzeptiert (was wieder nur ein Sonderfall des mangelnden Unterscheidungs-
vermögens zwischen dem Ich und der umgebenden Welt ist), legt es alle mög-
lichen Elemente der Realität im Sinne seiner Verbundenheit mit dem Penis
aus. Man könnte sagen, daß ihm weniger an dem Besitz des Organs gelegen
ist, als an der mit ihm verbundenen Aktivität. Daher die Verwendung aller
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 293
294 Raymond de Saussure
Gegenstände, die dieser Aktivität zu dienen vermögen. Solange also die Funk-
tion der Verbundenheit über die der Unterscheidung dominiert, verbleibt
das Mädchen in dem oben beschriebenen unentschiedenen Zustand, in dem es
die Tatsache ihrer Kastration sowohl kennt als auch nicht kennt.
Man begreift nun wohl, welch außerordentliche Bedeutung für die Zukunft
eines Mädchens jener Zeitpunkt haben kann, in dem es den anatomischen Ge-
schlechtsunterschied feststellt. In der Periode der vorherrschenden Tendenz
der Verbundenheit wird der Peniswunsch über das Kastrationsgefühl domi-
nieren; im Alter des vorherrschenden Unterscheidungsvermögens, wird die
Kastrationsidee ins Zentrum seiner Besorgnisse rücken.
Beim normalen Mädchen verläuft die Entwicklung offenbar vom Stadium
der Verbundenheit zum Stadium des Unterscheidungsvermögens. Von da an
akzeptiert das Mädchen den Unterschied der Geschlechter und mit ihm die
soziale Gleichberechtigung der weiblichen und männlichen Funktionen. Bei
abnormaler Entwicklung zeigen sich dann an den erwachsenen Frauen zwei
verschiedene Typen, je nachdem, ob das ursprüngliche, nicht vernarbte Schock-
erlebnis in der Periode der Verbundenheit oder in der Periode des Unter-
scheidungsvermögens stattgefunden hat.
Ohne auf eine vollständige klinische Beschreibung einzugehen, wollen wir
hier einige Unterschiede festhalten.
Die an das Stadium der Verbundenheit fixiert gebliebene Frau zeigt vor
allem maskuline Züge; sie ist nicht frigid, sie findet aber oft Gefallen an einer
ihr selbst verderblichen Ambivalenz; sie weiß nicht, ob sie den Vorzug einem
weibischen, psychisch kastrierten Manne geben soll, dessen Penis sie nicht zu
fürchten hat, oder ob sie einen besonders potenten Mann wünscht, bei dem sie
ihren phallischen Kult fortsetzen kann, indem sie dann Mann und Glied
identifiziert. Im allgemeinen findet sie nur dann, wenn sie auf diesen zweiten
Typ verfällt, von selbst das sexuelle Gleichgewicht. An einen weibischen Mann
kann sich eine Frau dieser Art nicht anpassen, weil sie auf diesem Gebiet an
ihren absoluten Urteilen festhält. Ein Mann ist für sie sexuell oder er ist es
nicht. Sie kommt gar nicht zur Erfassung der verbindenden Logik und be-
findet sich in der gleichen Situation wie das Kind, für das z.B. der Begriff
„schwer“ qualitativ ein Absolutum darstellt. Für das Kind ist ein Gegenstand
schwer oder leicht; er ist aber nicht schwer oder leicht im Vergleich mit
anderen Gegenständen; ein Kilo Federn wird nach seinem Gefühl immer
weniger wiegen als ein Kilo Blei.
Die Frau, die an das Stadium des beginnenden Unterscheidungsvermögen
fixiert geblieben ist, kommt von dem Schockerlebnis ihrer Kastration nicht
los. Sie ist vor allem von Minderwertigkeitsgefühlen durchdrungen, die sie
durch eine Reihe narzißtischer Haltungen kompensiert. Sie verträgt keine
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Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 295
Kritik und fühlt sich unablässig gezwungen, sich zu rechtfertigen; ihre Haltung
ist dadurch beherrscht, daß sie ihre Kastration wahrnimmt, sie aber in ihren |
eigenen Augen nicht wahr haben will. Ihren Schutz findet sie nicht mehr in
der Verbundenheit mit der Libido des anderen Geschlechts, sondern in einer
narzißtischen Überhebung. Im allgemeinen bleibt sie frigid und männlichen
Forderungen gegenüber feindlich eingestellt.
Von anderen Überlegungen ausgehend, unterscheidet Jones (20):
1. Die protophallische Phase, in der das Kind glaubt, daß jedes mensch-
liche Wesen einen Phallus besitze.
2. Die deuterophallische Phase, in der das Kind die Menschheit in
zwei Teile geteilt glaubt: in solche, die den Phallus besitzen und in solche, die
ihn nicht besitzen. Die Erklärung, die sich das Kind für diesen Unterschied
gibt, ist die Kastration.
Nach den hier gegebenen Erklärungen kann es für sicher gelten, daß die
Kastration dem kindlichen Denken von der künstlichen Herstellbarkeit aller
Dinge entspricht. Nicht der Zufall kann das Geschlecht entscheiden, sondern
nur ein Eingriff der Eltern. Man darf dabei nicht vergessen, daß „das Kind
sich von den Eltern abhängig fühlt und sie als Ursache alles dessen ansieht, was
es besitzt“ (21).
Um nun auf das allgemeine Kastrationsgefühl im menschlichen Unbewußten
zurückzukommen, können wir es einerseits durch die Koexistenz der Gegen-
sätze in unserer Vorstellung erklären, die sich zu vereinigen trachten, ander-
seits durch die T’atsache, daß auf die Phase der Verbundenheit, welche mit der
phallischen Phase zusammenfällt, die Phase des Unterscheidungsvermögens
folgt, welche das Fehlen des Penis feststellt, ohne die funktionelle Ursache be-
greifen zu können.
Ich sage „funktionelle Ursache“, denn das Denken des Kindes ist vor allem
auf die Handlung gerichtet, und diese allein findet bei ihm Verständnis. Gerade
deshalb kann die frühzeitige Erklärung der weiblichen Funktion günstig und
befreiend wirken.
Die Probleme des Peniswunsches und der Kastration haben wir nun aufge-
klärt und setzen jetzt unsere eigentliche Arbeit fort, die den Inhalt des kind-
lichen Denkens, wie es durch die Analyse aufgedeckt wird, in den Rahmen der
Logik einpassen soll.
Wir haben gesehen, daß das Mädchen, sobald es das Alter des Unter-
scheidungsvermögens erreicht und seinen Penismangel wahrgenommen hat,
dazu neigt, seine Mutter für seine Minderwertigkeit verantwortlich zu machen.
Daß dies allgemein zutrifft, ist zwar überraschend, in Wirklichkeit aber
nicht so sehr erstaunlich. Das Kind ist noch zu jung, um eine funktionelle
Erklärung auffassen zu können; es befindet sich, im Gegenteil, in jenem Alter,
ae ee
nee
296 Raymond de Saussure
in dem alles als künstlich hergestellt gilt. Anderseits fehlt dem Kinde bis
zum Alter von 7 bis 8 Jahren die Erkenntnis des Zufalls völlig.
Piaget schreibt darüber: „Bis dahin wird die Welt aufgefaßt als ein Zu-
sammenwirken von Absichten und wohlgeregelten, gewollten Handlungen;
für zufälliges Zusammentreffen und für Unerklärlichkeiten ist kein Raum ge-
geben. Alles läßt sich rechtfertigen, außer die Berufung auf Willkür, die nicht
das Äquivalent des Zufalls, sondern des Wohlgefallens allmächtiger Kräfte
ist“ (22). Nun, diese guten Mächte sind die Eltern; und wenn das Mädchen
seine Mutter seiner Benachteiligung wegen anklagt, so geschieht das aus dem
Gefühl, daß diese es benachteiligt habe. Diese Auffassung entspricht auch
durchaus der kindlichen Vorstellung von der künstlichen Entstehung aller
Dinge.
Aus denselben Gründen glaubt das Mädchen, daß sein Vater ihm ein Kind
oder einen Penis geben könne.
In dieser Phase erscheint nichts unmöglich. Wenn das Mädchen dann mit
Enttäuschung feststellen muß, daß der Vater ihm weder den Penis noch ein
Kind bringt, regrediert es oft genug auf die narzißtisch-analen Positionen und
gibt dem Stuhl die Bedeutung dieses zweifachen Wunsches.
Wir wollen hier einige Fragmente aus einer Krankenanalyse einschalten, die
uns ein klares Bild der hier beschriebenen Mechanismen geben sollen, und
greifen einige uns typisch erscheinende Vorfälle aus der Behandlung heraus.
Alice hat einen um zwei Jahre jüngeren Bruder, der an einem Bruch leidet und
ein Bruchband tragen muß. Sie legt es ihm selbst an und zeigt dabei ihr Unvermögen
zur Unterscheidung nach zwei Richtungen: sie verwechselt den Bruch mit dem
Penis und ihren Bruder mit sich selbst. Sie nimmt den Bruch für sich in Anspruch.
Dieses Unterscheidungsunvermögen überträgt sich auch auf die Sprache. Sie sagt
nicht „ich“, sondern „man“, was als „mein Bruder und ich“ zu verstehen ist. Be-
merkenswerterweise gebraucht sie dieses „man“ nicht, wenn sie von sich und ihrer
Schwester spricht.
Zwanzig Jahre später, nach ihrer Verheiratung, nimmt sie die gleiche Gewohnheit
wieder auf und gebraucht das „man“ für sich und ihren Gatten. Daß sie sich wirk-
lich von ihrem Gatten nicht unterscheiden und mit dem Penis verbunden bleiben
will, beweisen uns die folgenden Tatsachen: ı. Selbst in der Analyse gebraucht die
Patientin selten das Wort „ich“. Sie überspringt es. Ihre Assoziationen folgen
einander etwa so: „Heute nach Bern gegangen, mit meinem Mann gestritten, nicht
zufrieden. Sehe alles verkehrt. Möchte alles vernichten. Will nicht in der Analyse
arbeiten“ usw. Diese Sprache ist nicht einfach ein Infantilismus, sie ist eine Weigerung,
von sich selbst Kenntnis zu nehmen. 2. Um zu betonen, daß ihr Mann und sie
keinen Unterschied zeigen, zwingt sie ihn zuweilen, stundenlang an ihrer Seite zu
bleiben, und das ganz plötzlich, weil sie sich ohne ihre andere Hälfte zu geängstigt
fühlt. Ebenso geschieht es, daß sie, bei Freunden zu Tisch geladen, ihren Mann an
ihrer Seite haben will. Sie kann es keinesfalls ertragen, daß er ihr gegenüber sitzt.
3. In ihren Beziehungen zu ihrem Mann „übernimmt sie die Funktion“, wie sie sich
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 297
ausdrückt. Er darf nur handeln, wenn sie es will. Es hat danach bei Alice eine
Phase der Verbundenheit gegeben; als aber ihr Bruder im Alter von 7 Jahren an
Bruch operiert wurde, interessierte sie sich nicht mehr für ihn. In einer Periode
des Unterscheidungsvermögens gewann also die Kastrationsangst die Oberhand.
Gleichzeitig zeigt sich bei ihr aber ein Rachebedürfnis: der Wunsch, „die Garnitur“
ihres Bruders abzubeißen. Während der Ferien werden viele Stunden damit ver-
bracht, Schnecken in den Wäldern mit systematischen und wohl vorbereiteten
Schlägen zu zerschmettern. Dann reißt sie ihrer Puppe den Arm aus und lebt fortan
in entsetzlicher Angst, daß die Zigeuner sie mitnehmen und ihr dasselbe antuen
könnten. Nachdem alle Bienen mit Ausnahme der Königin ihrer Meinung nach
männlich sind, sucht sie alle toten Bienen, die sie finden kann, zusammen, richtet
einen kleinen Scheiterhaufen auf und verbrennt sie.
Die Aktivität dieser zweiten Phase ist wie man sieht ganz verschieden von
der der ersten. Der Phase der pallischen Verbundenheit folgt eine Phase der
Aggression gegen den Penis.
Mit 12 Jahren verliert Alice ihre Mutter, eine frigide und religiöse Frau, die an
einer Angstneurose gelitten zu haben scheint. Der Reinlichkeitszwang der Mutter
äußert sich unter anderm in der Manie, ihren Kindern Klistiere zu geben und ihre
Töchter daran zu gewöhnen, ständig ein Gegengift gegen Schlangenbisse bei sich zu
tragen.
Vom elften Jahr bis zu ihrer Heirat scheint sich Alice mit der toten Mutter
identifiziert und die Sexualität aus ihrem Leben verbannt zu haben. Der Gatte, den
sie schließlich erwählte, ist eine Vaterimago; ein Mann, der sie mehr beschützt als
befriedigt.
Die ersten sexuellen Beziehungen sind schwierig und die Regression tritt ein,
sobald Alice schwanger ist. Sie zeigt unbeherrschbare Brechanfälle, beginnt einen
Hungerstreik und verfällt in einen deliranten Zustand. Sie fleht ihre Umgebung an,
die Schwangerschaft zu unterbrechen; ihrem Wunsche wird aber nicht stattgegeben.
Im Alter von 3 Jahren hatte Alice zum ersten Male einen Hungerstreik versucht.
Ihre Mutter war nach ihrer letzten Schwangerschaft sehr stark geblieben und Alice
hatte entsetzliche Abscheu vor dem enormen Körper. Beim Essen lief sie Gefahr,
schwanger zu werden (infantile Auffassung der Schwangerschaft); nun wollte sie
aber einen Penis und nicht ein Kind. Jeder Stuhlgang brachte sie außer sich; sie
stellte sich jedesmal vor, daß sie damit einen Phallus verliere.
Das Bewußtsein ihrer Schwangerschaft mußte alle ihr infantilen Ideen wachrufen.
Daraus folgte, daß sie bei der Entbindung keineswegs ihr Kind erkannte, sondern sich.
einbildete, das ersehnte Glied endlich zu besitzen. Sie kleidet dieses Kind hundertmal
am Tage an und aus. Sie gibt ihm zu trinken, bringt es darauf aber wieder zum
brechen und denkt, es sei ihr ejakulierender Penis. Ihre Brüste, die sie nur als Ersatz
für die ersehnte „Garnitur“ betrachtet hat, haben keinen Wert mehr für sie, Sie
läßt einen Chirurgen kommen und bittet ihn, sie ihr wegzunehmen.
Mit einem Wort, die Phase der Verbundenheit ist zu Gänze wieder erwacht.
Dieser Fall scheint mir zur Illustrierung der Ideen Piagets besonders be-
weiskräftig zu sein. Wenn wir vom Standpunkt des Unbewußten be-
rechtigt sind, von einer libidinösen Besetzung als dem Resultat einer
298 Raymond de Saussure
Affektprojektion auf dieses oder jenes Objekt zu sprechen, dann kann man
vom Standpunkt der Bewußtseinspsychologie und der logischen Denkformen
eines Kindes oder eines Kranken berechtigterweise von einem Unterscheidungs-
unvermögen sprechen.
In dem Augenblick, in dem Alice ihr Kind als Penis auffaßte, war ihre Re-
gression so vollständig, daß sie Symbol und Realität nicht mehr unterscheiden konnte.
Im übrigen liefert unsere Patientin fortwährend neue Beweise dafür. Kaum befindet
sie sich in einer Periode der Aggressivität gegen ihren Gatten, müssen sofort alle
Möbel, die ihm gehören, verkauft werden. Aus ähnlichen Gründen hat sie alles, was
ihrer Mutter gehörte, wegschaffen lassen. Nach der ersten Analysenperiode hat sie
alle Kleider, die sie im Laufe der Behandlung getragen hatte, verbrannt. Ich könnte
Beispiele dieser Art unbegrenzt weiter aufzählen.
Bei Alice sehen wir besonders deutlich, wie schlecht sich das Gegensätzliche aus-
schließt. Einerseits gesteht sie sich ihre Kastration ein und leidet darunter, ander-
seits findet sie keinen Unterschied zwischen sich und ihrem Bruder oder ihrem Gatten.
Daher kommen auch ihr gleichzeitig männliches und weibliches Verhalten, ein ver-
zweifeltes Minderwertigkeitsgefühl und eine unfaßbare männliche Sicherheit. Das
Realitätsprinzip beraubt sie des Penis, das Lustprinzip gestattet ihr jedoch ständig eine
völlige Verbundenheit mit der Männlichkeit.
Darin liegt eine Bestätigung für eine Behauptung Piagets aus dem Jahre
1924: „Für das kindliche Denken, das egozentrisch bleibt, ist von da an keine
Hierarchie unter den verschiedenen Realitäten mehr möglich und dieses Fehlen
der Hierarchie wird mangels eines fortlaufenden Kontaktes mit dem Denken
der andern nicht einmal empfunden; in gewissen Augenblicken glaubt das in
seinem Ich eingeschlossene Kind an seine Fiktion und macht sich über das,
was es früher glaubte, lustig, in anderen Augenblicken, vor allem wenn es
Kontakt mit dem Denken der andern gewinnt, vergißt es, was es eben ge-
glaubt, und gelangt zu dem andern Pol jener Realität, die sich ihm dar-
‚stellt‘ (23).
Wir müssen nun noch einige Aspekte der kindlichen Geburtstheorien unter-
suchen. Wenn sie keine der Kenntnis der Erwachsenen entlehnten Elemente
enthalten, beruhen sie auf dem folgenden Schluß: das Kind ist im Bauche der
Mutter gewesen. Die Exkremente sind in meinem Bauche. Exkremente und
Kind sind also etwas Gleiches. Diese Folgerungen sind im Denken des Kindes
möglich, weil dieses Denken nicht infolge Induktion und Deduktion vor sich
geht, sondern, um den Ausdruck Sterns zu gebrauchen, durch Transduktion.
Das Kind sucht seine Urteile nicht durch die nötigen Bindeglieder zu ver-
knüpfen. „Eine Absicht allein ohne jeden Akt des Urteilens, oder eine Wirkung
auf die Realität allein gibt solchen Urteilen im Augenblick ihren Platz. Über
diese äußerliche Systematik hinaus gibt es aber keine bewußten Widersprüche
zwischen ihnen und keine aufzeigbaren Verbindungen“ (24).
In diesem Stadium bleibt der Widerspruch eher ein motorisches oder Ge-
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 299
fühlsphänomen als ein gedankliches und kommt nicht über die Bewußtseins-
schwelle. Beim Kinde stellen sich nun Widersprüche bei allem ein, was ihm ge-
heimnisvoll und verboten ist, bei allem, woran es der Erwachsene mit den
Worten „das ist schmutzig“ hindert. Es bringt also in verschiedenen Kom-
binationen die Sexualorgane, die Exkremente, die Geburt der Kinder und,
wenn es davon sprechen gehört hat, den Sexualakt miteinander in Verbin-
dung. Wenn wir nun an diese Phänomene bei erwachsenen Patienten heran-
gehen, die wie Alice ihre infantilen Einstellungen bewahrt haben, müssen wir
uns hüten, sie in das System der Logik der Erwachsenen bringen zu wollen.
Sie bewahren ausgesprochen den Charakter koexistenter Gegensätze, enthalten
eine Menge gefühlsmäßiger Widersprüche, die sich durch Erklärungen, wie sie
uns gemäß sind, nicht auflösen lassen.
Die Psychoanalyse erklärt das Fortdauern infantiler Ideen beim Erwachsenen
durch den Mechanismus der Verdrängungen. Viele dieser Ideen werden aber
niemals gänzlich verdrängt und beunruhigen das Kind ebenso wie den Jugend-
lichen und den Erwachsenen. Sie bewahren indessen ihren infantilen Cha-
rakter, denn der Kranke spricht nicht von ihnen. Es handelt sich also um
eine Gruppe nicht sozialisierter Ideen, die infolgedessen alle Charakteristika
egozentrischen Denkens beibehalten.
Die Beobachtung zeigt tatsächlich, daß ein Kind, das zur Objektivierung
seines Denkens auf dem einen Gebiet gelangt ist, darum noch nicht allent-
halben auf andern Gebieten vorwärtskommen muß.
Wir konnten auf jedem Gebiete besondere Stadien unterscheiden, es wäre
jedoch außerordentlich schwierig, allgemeine, geschlossene Stadien aufzu-
stellen, vor allem deshalb, weil das Kind während der ersten Stadien unein-
heitlich bleibt. Im Alter, in dem das Kind in gewisser Hinsicht noch ani-
mistisch oder dynamistisch eingestellt ist, oder noch glaubt, daß alle Dinge ‚„ge-
macht“ seien, ist es nach anderen Richtungen schon darüber hinaus. Das
Kind zieht aus einem Fortschritt nicht Folgerungen auf allen Gebieten, oder
aber dieser Fortschritt kann eines Tages zu einem Rückschlag führen (25).
Diese Umstände beweisen von neuem, wie notwendig es ist, dem Kinde die
Möglichkeit der freien Aussprache über sexuelle Probleme zu geben, damit es
sein Denken auch in dieser Richtung sozial gestalten kann.
Vom therapeutischen Standpunkt aus glaube ich nicht, daß es genügt, den
Patienten über den Inhalt seines infantilen Denkens aufzuklären; man muß
ihm vielmehr auch Struktur und Mechanismen dieses Denkens deutlich machen.
Vom Standpunkt der Behandlung aus darf man keinesfalls die Notwendig-
keit aus dem Auge verlieren, das Denken des Patienten aus der infantilen
Form zur gereiften Form des Erwachsenen hinüberzuführen.
r———————— m Te nn,
300 Raymond de Saussure
Zu diesem Zwecke wollen wir hier über einige Erfahrungen berichten, uns
vorerst aber die Etappen der Denkentwicklung ins Gedächtnis rufen, wie sie
Piaget beschrieben hat (26):
„Die Geschichte der intellektuellen Entwicklung des Kindes ist zum guten
Teil die Geschichte der fortschreitenden Sozialisierung eines individuellen
Denkens, das sich vorerst gegen die soziale Anpassung wehrt, später aber
mehr und mehr unter den Einfluß der Erwachsenenumgebung gerät... Wie
geht also diese Sozialisierung vor sich?... Wir begnügen uns mit der Auf-
zählung der drei Punkte, die dabei zu berücksichtigen sind: das Universum,
dem sich das Kind anpaßt, das Denken des Kindes selbst und die Gesellschaft
der Erwachsenen, die dieses Denken beeinflussen. Die Mehrzahl der Ge-
danken ist vom Erwachsenen beeinflußt und nicht von ihm diktiert. Das
Kind verarbeitet, was es aufnimmt, vermöge einer ihm eigenen Chemie des
Geistes. Daraus entstehen dann die realen Konflikte zwischen dem Denken
des Kindes und dem der Umgebung, Konflikte, die zur systematischen Ent-
stellung der Vorstellungen der Erwachsenen im Geiste des Kindes führen.
Man bemerkt bald, daß die Sprache der Erwachsenen für das Kind eine oft
undurchsichtige Realität darstellt und daß eine der Denktätigkeiten darin
besteht, sich an diese Realität anzupassen, ebenso wie eine Anpassung an die
physische Realität stattfinden muß. Diese für das verbale Denken charakte-
ristische Anpassung ist ursprünglich und setzt Schemata sui generis bei der
geistigen Verarbeitung voraus. So kann also ein Begriff, auch wenn er ein-
mal aus einem Wort der Erwachsenen geschöpft ist, doch durchaus kindlich
sein; das Wort kann für die Fassungskraft des Kindes so undurchsichtig ge-
wesen sein, wie ein unverständliches physisches Phänomen; das Kind hat das
Wort nur mittels seiner eigenen geistigen Struktur entstellt und assimiliert,
um es aufnehmen zu können.“
Im Verlaufe einer Analyse beobachtet man die Umbildung einer Reihe
infantil gebliebener Begriffe, die ihr Wachstum nachholen wollen. An diesem
Prozeß, den der Analytiker durch seine Deutungen zu beschleunigen sucht,
ist leicht zu ersehen, daß der Analysand vielfach gezwungen ist, sich nicht
nur einer neuen Realität anzupassen, sondern auch einem neuen Wortschatz;
nicht weil seine Ausdrücke von denen des Analytikers verschieden sind, son-
dern weil er ihnen einen verschiedenen Sinn unterlegt. Als ganz banales Bei-
spiel brauchen wir nur das Wort „Sexualität“ zu nehmen; für den Analysan-
den, der die Sexualität verdrängt, hat das Wort eine ganz andere Bedeutung,
als für den Analytiker, der sie kennt. Der erstere wird sich zuerst der Auf-
fassung der Erwachsenen anpassen und dann erst dem Sexualleben. Die Be-
deutung des Wortes wird ihm aber nicht klar werden, solange er selbst nicht
zu einem normalen Sexualleben gelangt ist, genauer ausgedrückt, er wird
glauben, sie schon vorher erfaßt zu haben, aber erst nach der Erfahrung wird
er hinzufügen: „Erst jetzt habe ich verstanden.“
a
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 301
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Das Kind nimmt seinen Wunsch für die
Realität und verwechselt auch leicht seine Absicht mit der Realisierung dieser
Absicht. Es kommt vor, daß es voll guten Willens ist zu arbeiten, und dabei N
seine Arbeit doch vernachlässigt. Wenn es dann deswegen auf unverständige }
Weise gescholten wird, wird es sich sicherlich in seiner Eigenliebe gekränkt
fühlen und den Vorwurf ungerecht finden. Ein Stillstand auf dem betreffen-
den Arbeitsgebiet ist dann die Folge. Das Kind wird versucht sein, den Wert
seiner Absicht aus narzißtischer Abwehr zu überschätzen und der Realisierung
seiner Absicht immer weniger Bedeutung beilegen. Wenn es theoretisch auch
fähig ist, die beiden Dinge zu unterscheiden, wird es sie in der Praxis doch
verwechseln, und erscheint infolgedessen unaufrichtig. Das echte Gefühl (Ab-
scheu vor der Arbeit) wird verdrängt und der Kranke lebt in einem sentimen-
talen Wortschwall, mit dem er sich aus seiner Umgebung vollgesogen hat und
den er für seine wahren Gefühle hält.
Im Verlauf einer Analyse ist mir ein in dieser Hinsicht besonders typischer Vor-
fall untergekommen. Ein Patient, der selbst kein Geld besaß und dessen Analyse von
einem seiner Verwandten bezahlt wurde, bezeigte tiefes Bedauern wegen einer Honorar-
rechnung von 15 Francs, die zwei Jahre unbeglichen geblieben war. Da er auch sonst
eine Menge Schulden hatte, schien mir dieses Bedauern eine negative Übertragung zu
maskieren. Ich wollte die Echtheit seines Gefühles prüfen und bat ihn, mir zum
Ausgleich seiner Schuld ein Referat über ein holländisches Werk zu schreiben. Nach
68 Tagen brachte mir der Patient einen kleinen Aufsatz, den er, ohne das Werk zu
lesen, geschrieben hatte, einen banalen Kommentar des Titels und des Inhalts-
verzeichnisses. Der Patient hatte sich bei Übernahme der Arbeit ganz aufrichtig bei
mir bedankt, gerührt darüber, daß endlich jemand zu ihm Vertrauen hatte. Er
wußte selbst nichts um seine feindliche Einstellung und nahm seine unter dem
sozialen Zwang stehenden Absichten für seine realen Gefühle.
Es ist leicht ersichtlich, daß bei einem solchen Menschen der Begriff der
Aufrichtigkeit nicht dieselbe Bedeutung haben kann wie bei einem, der sich
seiner Gefühle bewußt ist. Für den einen bildet die Absicht das Kriterium der
Aufrichtigkeit, für den anderen die Realisierung seiner Absicht. Die zwei Per-
sonen sprechen eine verschiedene Sprache und können sich solange nicht
wirklich verständigen, als sie den Ausdrücken, die sie verwenden, verschiedene
Bedeutung geben.
Aus diesem Beispiel erhellt eine für die Psychologie der intellektuellen Ent-
wicklung wie für die Psychoanalyse gleich interessante Tatsache. Sie zeigt
nämlich einerseits einen Berührungspunkt, anderseits einen Trennungspunkt
der beiden Methoden; einen Berührungspunkt dadurch, daß die Analyse hier
eine der typischen egozentrischen Haltungen offenbart, wie sie auch die auf
302 Raymond de Saussure
die Kinderforschung angewandte klinische Methode aufzeigt; einen Trennungs-
punkt in der Hinsicht, daß die klinische Methode ständig die Beobachtung
der Tatsachen im Auge hat, während die Analyse die Mechanismen und die
determinierenden Beweggründe aufhellen will. Gewiß vernachlässigt auch die
genetische Methode den Faktor des sozialen Zwanges nicht, sie zieht aber die
besondere Determiniertheit gewisser Verzögerungen in der Entwicklung nicht
in Betracht. Das liegt wohl daran, daß die beiden Methoden nicht dasselbe
Ziel verfolgen. Die genetische Methode will die Reihenfolge der Erwerbungen
des Kindes beobachten, während die Psychoanalyse die Stockungen in seiner
Entwicklung und deren Ursachen erklären will. Damit ist nicht gesagt, daß
die beiden Methoden einander nichts zu geben hätten. Die Analyse zeigt uns
zum großen Teil die Gründe, warum das Kind nicht auf der ganzen Linie von
einem Stadium ins andere übertritt. Die klinische Methode der Kinderbeob-
achtung leistet der Analyse den großen Dienst, daß sie zeigt, auf welchen
Wegen die normale Entwicklung von einem Stadium in das andere übergeht;
sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die zweifache Anpassung an die Sprache
und an die Realität. Ich halte diese Unterscheidung für wichtig und glaube,
daß der Analytiker sie in den Deutungen, die er dem Kranken gibt, nicht ver-
nachlässigen darf.
Wir haben eben gesehen, daß die Analyse denselben Sachverhalt (die ego-
zentrische Haltung) ebenso erklären kann wie die klinische Methode. Sie be-
stätigt auch die Tatsache, daß der Übergang von einem Stadium ins andere
nur langsam und über verschiedene Zwischenstufen geschieht. Ein Beispiel
hiefür ist in dem folgenden Vorfall gegeben:
Zwei Tage, nachdem mir der oben erwähnte Patient sein Referat übergeben hatte,
berichtet er den folgenden Traum: „Ich bin in einer Klasse und Sie sind der Pro-
fessor, obwohl Sie einen Arztemantel anhaben. Sie lehren holländische Sprache und
ich frage mich, ob Sie mich vom Unterricht dispensieren werden, da ich diese Sprache
besser beherrsche als Sie.“
Im Anschluß an den Traum gesteht der Patient, daß er das Buch nicht gelesen
hat, was einen Fortschritt in seiner Aufrichtigkeit bedeutet; im Traum aber bleibt
das Geständnis unvollständig. Es handelt sich nicht um einen Verstoß (was der
Angst vor der Zurückweisung der Arbeit durch den Analytiker entsprechen würde),
sondern um eine Dispensierung. Der Träumende verdrängt das durch die Mittel-
mäßigkeit seiner Arbeit und durch seine Faulheit hervorgerufene Minderwertigkeits-
gefühl. Er läßt nur die Narbe der narzißtischen Kränkung erkennen. Er ist dispen-
siert, weil er besser holländisch kann als der Analytiker. Von neuem wird er für
seine Absicht belohnt und nicht für die Qualität seiner Leistung (Realisierung).
Abschließend können wir sagen, daß die beiden Methoden bezüglich des
Übergangs des kindlichen Denkens zum Denken der Erwachsenen zu über-
einstimmenden Resultaten kommen. Da ihr Ziel aber verschieden ist, legt
jede von ihnen den Nachdruck auf eine andere Kategorie von Tatsachen.
r
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 303
Aufrichtung des Über-Ichs beim Knaben
Die Vorgänge, welche das Über-Ich des Mädchens formen, sind denen, die i
wir beim Knaben darstellen, sehr ähnlich, nur daß die Rolle des Vaters bei
diesem durch die der Mutter ersetzt wird. Für das Problem, das uns be-
schäftigt, genügt es, die diesbezüglichen Vorgänge bei einem der beiden Ge- |
schlechter zu untersuchen.
Rufen wir uns die Theorien Freuds in Erinnerung, wie sie in „Das Ich und
das Es‘ dargestellt sind (27).
„Uranfänglich in der primitiven oralen Phase des Individuums sind Objekt-
besetzung und Identifizierung wohl nicht voneinander zu unterscheiden.
Späterhin kann man nur annehmen, daß die Objektbesetzungen vom Es aus-
gehen, welches die erotischen Strebungen als Bedürfnisse empfindet... Soll
oder muß ein solches Sexualobjekt aufgegeben werden, so tritt dafür nicht
selten die Ich-Veränderung auf, die man als Aufrichtung des Objekts im Ich
wie bei der Melancholie beschreiben muß; die näheren Verhältnisse dieser Er-
setzung sind uns noch nicht bekannt. Vielleicht erleichtert oder ermöglicht
das Ich durch diese Introjektion, die eine Art von Regression zum Mechanis-
mus der oralen Phase ist, das Aufgeben des Objekts. Vielleicht ist diese Identi-
fizierung überhaupt die Bedingung, unter der das Es seine Objekte auf-
gibt“ (28).
„Wie immer sich auch die spätere Resistenz des Charakters gegen die Ein-
flüsse aufgegebener Objektbesetzungen gestalten mag, die Wirkungen der
ersten, im frühesten Alter erfolgten Identifizierungen werden allgemeine und
nachhaltige sein. Dies führt zur Entstehung des Ich-Ideals zurück, denn hinter
ihm verbirgt sich die erste und bedeutsamste Identifizierung des Individuums,
die mit dem Vater der persönlichen Vorzeit. Diese scheint zunächst nicht
Erfolg oder Ausgang einer Objektbesetzung zu sein, sie ist eine direkte und
unmittelbare und frühzeitiger als jede Objektbesetzung. Aber die Objekt-
wahlen, die der ersten Sexualperiode angehören und Vater und Mutter be-
treffen, scheinen beim normalen Ablauf den Ausgang in solche Identifi-
zierungen zu nehmen und somit die primäre Identifizierung zu ver-
stärken“ (29).
Zum besseren Verständnis und zur Vervollständigung dieser Stelle möchte
ich, ehe wir die Untersuchung des Über-Ichs fortsetzen, die Ideen Freuds
über die Identifizierung ins Gedächtnis rufen. Sie sind im 7. Kapitel von
»Massenpsychologie und Ich-Analyse“ enthalten (30).
„Die Identifizierung ist der Psychoanalyse als früheste Außerung einer Ge-
fühlsbindung an eine andere Person bekannt. Sie spielt in der Vorgeschichte
des Odipuskomplexes eine Rolle. Der kleine Knabe legt ein besonderes Inter-
Dee) EEE
304 .. Raymond de Saussure
esse für seinen Vater an den Tag, er möchte so werden und so sein wie er, in
allen Stücken an seine Stelle treten. Sagen wir ruhig: er nimmt den Vater zu
seinem Ideal. Dies Verhalten hat nichts mit einer passiven oder femininen
Einstellung zum Vater (und zum Manne überhaupt) zu tun, es ist vielmehr
exquisit männlich“ (31).
»... Gleichzeitig mit dieser Identifizierung mit dem Vater, vielleicht sogar
vorher, hat der Knabe begonnen, eine richtige Objektbesetzung der Mutter
nach dem Anlehnungstypus vorzunehmen... Die beiden (Bindungen) be-
stehen eine Weile nebeneinander, ohne gegenseitige Beeinflussung oder Störung.
Infolge der unaufhaltsam fortschreitenden Vereinheitlichung des Seelenlebens
treffen sie sich endlich und durch dies Zusammenströmen entsteht der normale
Odipuskomplex. Der Kleine merkt, daß ihm der Vater bei der Mutter im
Wege steht; seine Identifizierung mit dem Vater nimmt jetzt eine feindselige
Tönung an und wird mit dem Wunsch identisch, den Vater auch bei der
Mutter zu ersetzen“ (32).
Im weiteren Verlauf dieser Identifizierung kann der Vater auch zum
Liebesobjekt genommen werden. „Es ist leicht, den Unterschied einer solchen
Vateridentifizierung von einer Vaterobjektwahl in einer Formel auszusprechen.
[m ersten Falle ist der Vater das, was man sein, im zweiten das, was man
haben möchte“ (33).
„Das aus diesen drei Quellen Gelernte können wir dahin zusammenfassen,
daß erstens die Identifizierung die ursprünglichste Form der Gefühlsbindung
an ein Objekt ist, zweitens, daß sie auf regressivem Wege zum Ersatz für eine
libidinöse Objektbindung wird, gleichsam durch Introjektion des Objekts ins
Ich, und daß sie drittens bei jeder neu wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit
einer Person, die nicht Objekt der Sexualtriebe ist, entstehen kann“ (34).
„Da das Über-Ich ‚der Erbe des Odipuskomplexes‘ (35) ist, wäre erst die
Entwicklung dieses Komplexes festzulegen. Wir können aber immerhin als
gegeben annehmen, daß der Knabe dank seiner bisexuellen Anlage durch eine
Phase der libidinösen Bindung an den Vater geht, auf die er später verzichten
muß und die dann gemäß den oben beschriebenen drei Mechanismen in Identi-
fizierung übergeht.“
Sobald sich der Knabe voll in der Odipusphase befindet, nimmt „die Vater-
identifizierung eine feindselige Tönung an, sie wendet sich zum Wunsch, den
Vater zu beseitigen, um ihn bei der Mutter zu ersetzen. Von da an ist das Ver-
hältnis zum Vater ambivalent; es scheint, als ob die in der Identifizierung von
Anfang enthaltene Ambivalenz manifest geworden wäre. Die ambivalente
Einstellung zum Vater und die nur zärtliche Objektstrebung nach der Mutter
beschreiben für den Knaben den Inhalt des einfachen, positiven Odipus-
komplexes.“
7
urn
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 305
„Bei der Zertrümmerung des Odipuskomplexes muß die Objektbesetzung
der Mutter aufgegeben werden. An ihre Stelle kann zweierlei treten, entweder
eine Identifizierung mit der Mutter oder eine Verstärkung der Vateridentifi-
zierung. Den letzteren Ausgang pflegen wir als den normaleren anzusehen, er
gestattet es, die zärtliche Beziehung zur Mutter in gewissem Maße festzuhalten.
Durch den Untergang des Odipuskomplexes hätte so die Männlichkeit im
Charakter des Knaben eine Festigung erfahren“ (36).
Die Identifizierung mit dem Vater hat also nach der vorausgehenden Be-
gründung die Neutralisierung der Aggression zum Ziel.
„Da die Feindseligkeit nicht zu befriedigen ist, stellt sich eine Identifizierung
mit dem anfänglichen Rivalen her. Beobachtungen an milden Homosexuellen
stützen die Vermutung, daß auch diese Identifizierung Ersatz einer zärtlichen
Objektwahl ist, welche die aggressiv-feindselige Einstellung abgelöst hat“ (37).
Ehe wir unsere Ausführungen über das Über-Ich abschließen, wollen wir
einen kurzen Abschnitt über die Ambivalenz einschalten, die in der Freud-
schen Theorie eine so wichtige Rolle spielt. Der Ausdruck ist, nebenbei gesagt,
von Bleuler geprägt worden.
In den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ stellt Freud
fest (38), daß die Ambivalenz beim Knaben auf Grund seines Konfliktes mit
dem Vater entsteht. Es handelt sich dabei um ein ganz primitives Gefühl, in
welchem Liebe und Haß nebeneinander stehen, was beim Erwachsenen unaus-
bleiblich zu einem Konflikt führen müßte. Diese Ambivalenz findet man beim
Erwachsenen aber im Unbewußten wieder. Mit fortschreitendem Alter läßt
das Kind die ambivalenten Mechanismen mehr und mehr fallen. In gleicher
Weise hat sich auch die Menschheit mehr und mehr von den Tabu-Beziehun-
gen zurückgezogen, die für primitive Kulturen charakteristisch und im Grunde
ambivalenter Natur sind (39).
Nach der Klärung des Begriffes Ambivalenz kehren wir zur Untersuchung
des Über-Ichs zurück und legen seine Rolle gegenüber dem Odipuskomplex
genauer fest.
„Das Über-Ich ist aber nicht einfach ein Residuum der ersten Objektwahlen
des Es, sondern es hat auch die Bedeutung einer energischen Reaktionsbildung
gegen dieselben. Seine Beziehung zum Ich erschöpft sich nicht in der
Mahnung: So (wie der Vater) sollst du sein, sie umfaßt auch das Verbot: So
(wie der Vater) darfst du nicht sein, das heißt, nicht alles tun, was er tut;
manches bleibt ihm vorbehalten. Dies Doppelangesicht des Ich-Ideals leitet
sich aus der Tatsache ab, daß das Ich-Ideal zur Verdrängung des Odipus-
komplexes bemüht wurde, ja, diesem Umschwung erst seine Entstehung dankt.
Die Verdrängung des Odipuskomplexes ist offenbar keine leichte Aufgabe ge-
wesen. Da die Eltern, besonders der Vater, als das Hindernis gegen die Ver-
Imago XX/3 20
306 Raymond de Saussure
wirklichung der Odipuswünsche erkannt werden, stärkte sich das infantile
Ich für diese Verdrängungsleistung, indem es dies selbe Hindernis in sich auf-
richtete. Es lieh sich gewissermaßen die Kraft dazu vom Vater aus, und diese
Anleihe ist ein außerordentlich folgenschwerer Akt. Das Über-Ich wird den
Charakter des Vaters bewahren, und je stärker der Odipuskomplex war, je
beschleunigter (unter dem Einfluß von Autorität, Religionslehre, Unterricht,
Lektüre) seine Verdrängung erfolgte, desto strenger wird später das Über-Ich
als Gewissen, vielleicht als unbewußtes Schuldgefühl über das Ich herr-
schen .. .“ (40).
„Fassen wir die beschriebene Entstehung des Über-Ichs nochmals ins Auge,
so erkennen wir es als Ergebnis zweier höchst bedeutsamer biologischer Fak-
toren, der langen kindlichen Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Menschen
und der Tatsache seines Odipuskomplexes, den wir ja auf die Unterbrechung
der Libidoentwicklung durch die Latenzzeit, somit auf den zweizeitigen An-
satz seines Sexuallebens zurückgeführt haben“ (41).
Alexander hat die Entstehung des Über-Ichs weit einfacher erklärt (42).
Das Kind gerät in Konflikt mit der Außenwelt: gewöhnlich entsteht dieser
erste Konflikt bei der Reinlichkeitserziehung. Das Kind lernt, daß es bei
seiner Umgebung Unzufriedenheit hervorruft, wenn es sich beschmutzt, eine
Wirkung, die allenfalls noch durch Drohungen verschärft wird.
Um sich die Mißgunst der Erwachsenen zu ersparen, kommt das Kind ihr
zuvor, indem es sich eine solche Befriedigung versagt. Der Konflikt, der sich
ursprünglich zwischen dem Ich des Kindes und dem Erwachsenen abspielte,
verläuft jetzt zwischen demselben Ich und dem introjizierten Erwachsenen.
Anders gesagt, der Konflikt wurde verinnerlicht und das Über-Ich geschaffen.
Der Odipuskomplex ist nur ein Sonderfall, der diese ersten Reaktionen ver-
stärkt. Das Über-Ich gewinnt neue Macht, wenn der Erwachsene das Kind
bei den ersten Onanieversuchen mit Kastration bedroht oder wenn sich diese
Drohung bei der Wahrnehmung des anatomischen Geschlechtsunterschiedes
von selbst einstellt.
Aus allem Vorangegangenen ist eine gewisse peinliche Unschlüssigkeit der
Psychoanalytiker betreffs der Bildung des Über-Ichs zu ersehen. Ehe wir die
genetischen Mechanismen festzulegen versuchen, wollen wir das Resultat der
Untersuchungen Piagets über die Entwicklung des moralischen Denkens
beim Kinde darstellen.
Wir werden dann die beiden Gesichtspunkte einander gegenüberstellen und
versuchen, eine klare Kenntnis des Über-Ichs und seiner Genese zu erlangen.
„Es scheint beim Kinde eine zweifache Moral zu bestehen, deren Rückwir-
kungen dann in der Moral der Erwachsenen ersichtlich werden. Diese zwei-
fache Moral wird durch aufeinanderfolgende Bildungsprozesse hervorgerufen,
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 307
die sich indessen nicht zu ausgesprochenen Stadien ausdehnen. Immerhin läßt
sich die Existenz einer Zwischenphase nachweisen. Der erste Prozeß wird
durch den moralischen Zwang des Erwachsenen ausgelöst und führt in der
Folge zur Heteronomie und zum moralischen Realismus. Der zweite besteht
in der gemeinsamen Arbeit und führt zur Autonomie. Zwischen beiden kann
man eine Phase der Verinnerlichung und Verallgemeinerung von Geboten und
Vorschriften unterscheiden.
Der moralische Zwang ist durch einseitige Hochachtung charakterisiert.
Diese Hochachtung ist nun, wie Bovet klar gezeigt hat, die Quelle der
moralischen Bindung und des Pflichtgefühls: jede von einer Respektsperson
gegebene Vorschrift ist für die Zukunft verbindlich... Diese Pflichtmoral ist
in ihrer ursprünglichen Form wesentlich heteronom. Das Gute ist der Gehor-
sam gegen den Willen des Erwachsenen. Das Schlechte ist das Handeln nach
eigenem Gutdünken. In einer solchen Moral ist kein Platz für das, was die
Moralphilosophen „das Gute“ im Gegensatz zur reinen Pflicht genannt haben,
wobei das Gute ein Ideal bildet, das dem freien bewußten Entschluß und der
Beeinflussung näher steht als dem Zwang. Gewiß ruhen die Beziehungen
zwischen Kindern und Eltern nicht rein auf Zwang. Es besteht eine
gegenseitige unmittelbare Zuneigung, die das Kind von Anfang an zu Akten
von Großmut, sogar von Opfermut, zu rührenden Kundgebungen bringt, die
durchaus nicht vorgeschrieben sind. Hier ist zweifellos der Ausgangspunkt
jener Moral des Guten gegeben, die sich parallel zur Pflichtmoral entwickelt
und die dann bei gewissen Menschen vorherrschend wird. Das Gute ist dann
das Produkt der gemeinsamen Arbeit. Der Moraltrieb aber, der auch der
Urheber aller Pflicht ist, könnte aus sich heraus nur zur Heteronomie und in
seinen äußersten Konsequenzen zum moralischen Realismus führen.
Es kommt dann zu einer Zwischenphase, auf die Bovet glücklich hinge-
wiesen hat: das Kind gehorcht nicht nur den Befehlen der Erwachsenen, son-
dern dem Gebote an sich, das selbständig verallgemeinert und im einzelnen
angewendet wird... Wir können darin sicherlich eine Arbeit des Verstandes
erblicken, der sich der Moralgebote wie aller andern Gegebenheiten bedient
und sie verallgemeinert oder differenziert. Wenn wir damit auch auf dem
Wege zu einer Autonomie des Bewußtseins zu sein glauben, kann es sich hier
doch nur um eine teilweise Autonomie handeln: das Gebot wird immer wieder
von außen auferlegt und erscheint nicht als das notwendige Ergebnis des Be-
wußtseins selbst.
Die Gegenseitigkeit allein wird zum Träger der Autonomie.
„Die autoritäre Moral, also die Moral der Pflicht und des Gehorsams, führt
auf dem Gebiete der Rechtspflege zu einer Verwechslung dessen, was ‚recht‘
ist mit dem Inhalt des bestehenden Gesetzes und zur Anerkennung der sühnen-
20*
308 Raymond de Saussure
den Strafe. Die Moral der gegenseitigen Achtung, also die Moral des Guten
(im Gegensatz zur Pflicht) und der Autonomie führt auf dem Gebiete des
öffentlichen Rechts zur Entwicklung der Gleichheit, dem verfassungsmäßigen
Begriff für ausgleichende Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit. Die Solidarität
unter Gleichen erscheint daher abermals als Quelle eines Ineinanderwirkens
zusammenhängender und einander ergänzender Moralbegriffe, welche die
rationale Mentalität charakterisieren. Man kann sich natürlich fragen, ob
derartige Verhältnisse sich überhaupt entwickeln können, ohne eine voraus-
gehende Phase, in welcher die einseitige Hochachtung des Kindes für den Er-
wachsenen das kindliche Bewußtsein formt. Bei der Unmöglichkeit einer Veri-
fizierung ist eine Diskussion dieses Problems nicht recht am Platze. Soviel aber
ist sicher, daß das Gleichgewicht zwischen den ergänzenden Begriffen der
heteronomen Pflicht und der Sühne an sich labil ist, weil die Persönlichkeit
darin nicht volle Ausbreitungsmöglichkeit finden kann. Je größer das Kind
wird, um so unberechtigter erscheint ihm die Unterwerfung seines Gewissens
unter das des Erwachsenen. Abgesehen von den eigentlichen moralischen Ver-
irrungen, die sich in endgültiger innerlicher Unterwerfung (Erwachsene, die
ihr Leben lang Kinder bleiben) oder in immerwährendem Aufruhr äußern,
nimmt die einseitige Achtung von selbst die Richtung zur gegenseitigen
Achtung und zur einverständlichen, gemeinsamen Arbeit, die das normale
Gleichgewicht darstellt“ (43).
Vor dem Stadium der gemeinsamen Arbeit gibt es also ein Stadium, in wel-
chem die Moral des Kindes fast ausschließlich durch den Zwang des Er-
wachsenen beherrscht wird. Dieses Stadium müßte genauer untersucht werden,
um seine Beziehungen zum Über-Ich zu prüfen. Es könnte sich dann tat-
sächlich ergeben, daß das Über-Ich nur die letzte Spur einer Entwicklungs-
phase wäre, in der Art, wie die magische und animistische Periode bei unvoll-
ständig Entwickelten einen unverletzlichen Bestand in Form von Aberglauben
und Vorahnungen hinterläßt. Der Kampf zwischen Ich und Über-Ich wäre
also das Bemühen des einzelnen, die im Unbewußten durch die kindliche
Furcht vor dem Erwachsenen eingeprägten Moralgewohnheiten durch eine
Moral der gemeinsamen Arbeit zu ersetzen.
Um die Gedanken Freuds und Piagets besser vergleichen zu können,
setzen wir die Entwicklungsstadien des Über-Ichs gemäß der psychoanalyti-
schen Lehre hierher.
ı. Primäre Identifizierung aus Hochachtung vor dem Erwachsenen.
2. Sekundäre Identifizierung aus Furcht.
Odipuskomplex und Onanie sind nur Sonderfälle dieses Mechanismus, die
die Furcht wegen der mit ihnen verbundenen Kastrationsideen verstärken.
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 309
3. Tertiäre Identifizierung durch Neutralisierung der Aggression.
4. Einfacher Mechanismus der Verinnerlichung des Konfliktes, wie Alex-
ander ihn beschreibt.
A. Die primäre Identifizierung
Die primäre Identifizierung entspricht dem was Piaget Entscheidungs-
unvermögen genannt hat. Ich halte den letzteren Ausdruck für den glück-
licheren. Das Kind empfindet die Macht des Erwachsenen und macht dank
den Mechanismen der Verbundenheit keinen Unterschied zwischen sich und
dem Vater. Es hat keine klare Vorstellung davon, was es von dem Wesen,
das es sein möchte, unterscheidet. Ich habe erst unlängst die Richtigkeit dieser
Auslegung bei einem 25jährigen Psychopathen feststellen können, der alle
glücklichen Ereignisse, die seinem Vater begegneten, so aufnahm, als seien sie
ihm selbst begegnet. Der Patient, dessen Analyse von seinem Vater bezahlt
wurde, reagierte auf Honorarrechnungen genau so, als ob er sie mit seinem
eigenen Gelde bezahlte.
Die Erfüllung seiner Wünsche durch den Erwachsenen unterstützt das Kind
in seinem Beharren auf dem Stadium des Unterscheidungsunvermögens.
„Wie wir bei der Besprechung der Magie gesehen haben“, schreibt Piaget,
„muß das Kind, dessen Aktivität von der Wiege an an die ergänzende Akti-
vität der Eltern gebunden ist, in seinen ersten Lebensjahren den Eindruck
haben, daß es ununterbrochen von wohlwollenden Gedanken und Handlun-
gen umgeben sei, daß die Seinen alle seine Absichten kennen und billigen. Es
muß annehmen, daß man es in jedem Augenblick sieht, begreift und seinen
Wünschen zuvorkommt“ (44).
Der Erwachsene ist eine Zeitlang für das Kind sozusagen der bessere Teil
seiner selbst.
Bei dieser primären Identifizierung darf man die Rolle nicht vergessen, die
der kindliche Realismus spielt. Wie schmerzlich die Erfahrungen, die das Kind
an seinem Vater gemacht hat, auch sein mögen, für den kindlichen Eindruck
bleibt der Vater doch ein vollkommenes, allmächtiges und allwissendes Wesen.
„Das Wichtigste für das Kind“, schreibt Luquet hinsichtlich des Zeichnens,
„ist nicht der Aspekt, den das Objekt von irgendeinem zufälligen und ver-
änderlichen Standpunkt gewinnt, sondern, wenn man so sagen kann, der
Aspekt an sich sub specie aeternitatis“‘ (45). Dasselbe gilt für den moralischen
Standpunkt. Dieser absolute Begriff gibt auch der Funktion des Über-Ichs
Ihren Charakter.
Auch bei den ersten Konflikten mit dem Vater modifiziert sich dieses
Schema nicht, wodurch erst klar wird, warum die Ambivalenz in diesem
Stadium überhaupt möglich ist. Das Gegensätzliche ist in diesem Stadium
310 Raymond de Saussure
nicht gesondert. Wie etwa aus der ganz primitiven Männchen-Zeichnung eines
Kindes nicht hervorgeht, daß das Kind den Unterschied zwischen Kopf, Hals
und Rumpf nicht begriffen habe, ebenso beweist die Vorstellung vom all-
mächtigen Vater nicht das Fehlen der Einsicht in einige seiner Fehler. Aber
diese ersten Erfahrungen haben noch nicht die Kraft, das primitive, intellek-
tuelle Schema zu zerstören.
B. Sekundäre Identifizierung aus Furcht
In dem Werke „Le jugement moral de l’Enfant“ faßt Piaget die von
Bovet übernommene These folgendermaßen zusammen (46):
„Wie entsteht also das Pflichtbewußtsein? Zwei Bedingungen und ihre hin-
reichende Verbindung sind dazu notwendig: r. Ein Individuum muß Vor-
schriften von einem anderen Individuum erhalten; das zu befolgende Gebot
ist psychologisch also von der individuellen Gewohnheit oder von dem, was
wir das motorische Gebot genannt haben, verschieden; 2. das Individuum, das
die Vorschriften erhält, muß diese annehmen, d.h. also den, von dem das
Gebot ausgeht, respektieren... Was nun das Kind betrifft, so erklärt sich die
Entstehung des Pflichtgefühls auf die einfachste Art dadurch, daß die Alteren
(im Spiel) oder die Erwachsenen (im Leben) Vorschriften machen und daß die
Kinder Ältere und Erwachsene respektieren (47).
Die Beschreibung Piagets stimmt also zu jener Vorschrift, die infolge der
eben untersuchten primären Identifizierung frei akzeptiert wird.
So einfach liegt nun der Fall meist nicht. Das Gebot des Erwachsenen ruft
beim Kinde, das seinen eigenen Ansichten den Vorzug geben möchte, einen
Konflikt hervor. Das Kind wird schließlich von der Macht (Unterdrückung)
oder den Drohungen des Erwachsenen besiegt. So entsteht die Furcht, die,
nach dem Schema Alexanders, den Schwächeren veranlaßt, seinen Kon-
flikt zu verinnerlichen.
Das kann auf zweierlei Art vor sich gehen.
ı. Das Kind lehnt sich auf, läßt seiner Aggression freien Lauf, besinnt sich
auf sich selbst und weist das Gebot des Erwachsenen zurück. Das kommt in
verschiedener Heftigkeit bei jedem Kinde früher oder später einmal vor.
2. Das Kind, mehr oder weniger eingeschüchtert durch die Drohungen mit
Kastration, mit der Hölle und durch körperliche Züchtigungen usw., ent-
wickelt sich nur mehr als Funktion der Gebote der Erwachsenen. Durch
die Verinnerlichung des Konfliktes repräsentiert das Über-Ich dauernd den
Willen des Erwachsenen. In diesem zweiten Falle bringt es das Kind nicht
mehr zum Bewußtsein seiner selbst und seiner Wünsche, die sofort verdrängt
werden. Man kann auch sagen: je strenger das Über-Ich, desto stärker die
Ambivalenz. Versuchen wir den Begriff der Ambivalenz zu präzisieren.
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse gıı
Sie scheint uns auf dem Gebiete der Affektivität das zu sein, was auf intel-
lektuellem Gebiet das Gesamtschema ist: ein zusammengesetztes Gefühl, das
Gegensätze vereinigt, weil das Individuum nicht imstande ist, sie voneinander
zu sondern. In diesem Sinne beschreibt Freud es mit Recht als ein durchaus
primitives Gefühl. Auch an ihm fehlt das Unterscheidungsvermögen; Liebe
und Haß bestehen bis zu einem gewissen Grade nebeneinander. Um Haß
und Aufruhr zu unterdrücken, überschätzt das Kind die primäre Identifi-
zierung.
Das Kind sieht sich also eingekreist in einen circulus vituosus; es muß auf
Zwang beruhende Beziehungen verstärken, und diese halten es in seinem In-
fantilismus fest.
„Der moralische Realismus“, schreibt Piaget, „basiert anscheinend auf der
Verbindung zweier Kausalreihen, wovon die eine dem freien Denken des
Kindes (infantiler Realismus) und die andere dem durch den Erwachsenen
ausgeübten Zwang entspricht. Diese Verbindung aber ist keineswegs eine zu-
fällige, sondern scheint uns kennzeichnend für die hauptsächlichsten psycho-
logischen Prozesse sowohl auf intellektuellem wie auf moralischem Ge-
biete“ (48).
Ich zitiere hier eine Stelle, in der Piaget die schädliche Wirkung des
Zwangs noch viel deutlicher zum Ausdruck bringt: „Der Zwang wirkt ganz
anders als die gemeinsame Arbeit und verstärkt infolgedessen gerade die ego-
zentrischen Strebungen in gewisser Hinsicht, bis die gemeinsame Arbeit das
Kind auf einmal von seinem egozentrischen Denken und von den Folgen
dieses Zwanges befreit“ (49).
Wenn das Über-Ich eine letzte Spur jener Moral ist, die das Kies unter dem
Druck des Erwachsenen schafft, muß es dieselben Merkmale haben wie der
moralische Realismus des Kindes.
Wir wissen nun, daß sein wesentlichster Zug seine Unbeugsamkeit ist; der
einzelne kann sich ihm nicht entziehen, ohne in schwere innere Konflikte zu
geraten und ohne sich selbst Bußen aufzuerlegen.
Gelegentlich der allgemeinen Darstellung der Ideen Piagets haben wir ge-
sehen, daß das Gebot der Erwachsenen für das Kind eine absolute Regel dar-
stellt, so daß der Begriff der Pflicht mit dem des Guten verwechselt wird.
Der Mechanismus der Selbstbestrafung hat schließlich noch ein wichtiges
Kennzeichen: der moralische Realismus kennt in der Rechtspflege lediglich
die strafende Gerechtigkeit.
Die Strenge des Über-Ichs hängt also von der Verbindung zweier Ursachen
ab: dem egozentrischen und realistischen Denken des Kindes einerseits und
der Furcht vor der Bestrafung durch den Erwachsenen anderseits.
312 Raymond de Saussure
Wenn wir nun das Problem der Entstehung des Über-Ichs vom Standpunkte
der allgemeinen Psychologie betrachten, scheint der Odipuskomplex nicht jene
genetische Rolle zu spielen, die Freud ihm zuschreibt. Wir können höchstens
sagen, daß der Haß, den der Knabe gegen seinen Vater richtet, die Angst-
mechanismen verstärkt. Dieser Haß stößt nun auf das Gebot „Du sollst deinen
Vater lieben“, löst Schuldgefühle aus, und diese verstärken wiederum die For-
derungen des Über-Ichs.
Das gilt ebenso für das Problem der Kastration und der Onanie. Indessen
muß man betonen, daß es im Schicksal des einzelnen vorkommen kann, daß
einer dieser Komplexe so überragend gewesen ist, daß er die Reaktion des
Über-Ichs endgültig fixierte und eine normale Entwicklung zur Moral der ge-
meinsamen Arbeit nicht zuließ.
Das Über-Ich ist das Residuum des realistischen und egozentrischen Denkens
auf moralischem Gebiet. Und nun, was für uns Psychoanalytiker vor allem
interessant ist: das ganze Denken des Kindes, selbst soweit es nicht ausge-
sprochen affektiver oder moralischer Art ist, nimmt normalerweise um das
siebente bis achte Lebensjahr einen anderen Charakter an.
„Die Verminderung der Egozentrik“, schreibt Piaget, „die um das siebente
und achte Lebensjahr sehr deutlich wird, ist die Folge der fortschreitenden
Sozialisierung des kindlichen Denkens. Die Loslösung von der ausschließlichen
Bindung an die Eltern und die Loslösung vom subjektiven oder Ich-Stand-
punkt sind also die beiden hauptsächlichsten Faktoren, die die Abwendung
vom Animismus und vom Glauben an die künstliche Herstellung aller Dinge
herbeiführen“ (50).
Piaget läßt also den Fortschritt von der Sozialisierung des Denkens ab-
hängen. Diese Idee könnte vielleicht als Überbau der psychoanalytischen Lehre
betrachtet werden, die den Fortschritt in der Transformierung der (stets mehr
oder weniger an Triebmechanismen und Ambivalenz gebundenen) Fixierungs-
beziehungen in Objektbeziehungen sieht, die die eigentlichen frei erwählten
Beziehungen sind.
Das Über-Ich ist ein typisches Residuum der Fixierung an irgendeine Auto-
rität. Es ist ein hindernder und kein fortschrittlicher Faktor.
Damit schließen wir die Betrachtungen, die sich aus einer Gegenüberstellung
der Ideen Freuds und Piagets über dieses Thema ergeben.
Die Geburt von Geschwistern
Die Forschungen Piagets über das Recht eröffnen uns neue Einblicke in die
Konflikte, die bei manchen Kindern die Geburt von Geschwistern verursachen
und lassen uns besser verstehen, warum dieses Ereignis von den einen gut und
von den andern schlecht vertragen wird.
4
Über genetische Psychologie und Psychoanalyse 313
Piaget entdeckt nun in der Kindheit wirklich drei Rechtsstadien:
ı. Das Recht wird mit dem Befehl des Erwachsenen verwechselt.
2. Das Recht wird ausgleichend: jeder hat gleiches Recht.
3. Das ausgleichende Recht verliert seine starre Funktion und beginnt den |
besonderen Verhältnissen jedes einzelnen Rechnung zu tragen. h
Wenn wir uns in die Lage des Kindes versetzen, das die Zuneigung der
Seinen mit einem Neuangekommenen teilen soll, werden wir verstehen, daß
ein solches Ereignis sehr verschiedene Reaktionen hervorruft.
Vor dem fünften Lebensjahr bleibt die Idee eines Rechts, das mit einem
erteilten Befehl verwechselt wird, fast rein theoretischer Natur. In der Praxis
wird, da es sich um die Persönlichkeit des Kindes handelt, das egozentrische
Denken überwiegen. In jener Phase, in der es sich von seinen Eltern nicht
zu unterscheiden meint, entsteht auch die Illusion, daß es an deren Allmacht
teilnimmt. Da es nun die Eltern mit sich selbst verwechselt, glaubt es An-
spruch auf deren alleinigen Besitz zu haben. Sein egozentrisches Denken ge-
stattet ihm keine Abweichung von dieser Anschauungsweise, es kann gegen
den Neuankömmling nur revoltieren und gegen ihn Beseitigungswünsche
äußern.
}
N
|
Tritt nun eine Hemmung der Entwicklung ein, kann diese Reaktion
dauernd fixiert bleiben. Da das Kind in diesem Stadium aber das Recht mit
dem vom Erwachsenen ausgehenden Befehl verwechselt, verdrängt es sein
eigenes egozentrisches Gefühl und der unter der Asche glimmende Konflikt
erzeugt oft bedeutsame neuropathische Symptome.
Falls Geschwister während der zweiten Phase der Moralentwicklung zur
Welt kommen, können sich Eifersuchtskonflikte nur in dem Maße entwickeln,
in welchem das Ältere durch das Jüngere benachteiligt zu sein glaubt.
Wenn das Jüngstgeborene erst zur Welt kommt, sobald das andere Kind
schon das Stadium der ausgleichenden Rechtsauffassung erreicht hat, gibt es
überhaupt keinen Konflikt.
Das Problem kann natürlich auf dem schematischen Wege, den wir hier
verfolgen, nicht gelöst werden. Das Verhalten der Eltern und ihr Verständ-
nis für die Konflikte ihrer Kinder spielen hier eine ausschlaggebende Rolle.
Die Entwicklungsstadien des Rechtsgefühles geben uns eine bessere Einsicht
in die Frage, warum Mitglieder kinderreicher Familien so verschieden auf die
Geburt nachkommender Geschwister reagieren.
Ich halte diese Feststellungen auch therapeutisch für sehr wichtig. Man
wird die Widerstände eines Patienten oft viel besser überwinden können,
| wenn man ihn in die charakteristische Haltung jener Phase zurückversetzt,
die er bei Entstehung des Konfliktes durchlief.
En,
314 Raymond de Saussure
Literaturverzeichnis
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Mona Lisa und weibliche Schönheit
Eine Studie über Bisexualität
Von
Fritz Wittels
(New=York)
%
Lionardo ist der Maler der Androgynie (Bisexualität). In seinen eigenen
Gesichtszügen wie in seinem Lebenswandel hat er die Neigung zur Androgynie
hinter strengen, zwangsneurotischen Linien verborgen. Die Jünglinge aber,
die er malte, sind wieder und wieder feminine Männer. Auch in seinem
„Heiligen Abendmahl“ sind die Hauptfigur und mindestens zwei Apostel .
feminin. In seinen Frauenbildnissen ist die Neigung zur Androgynie nicht
ganz so durchgehend. In den Zügen mancher seiner Männergestalten meint
man die der Mona Lisa wiederzufinden, deren berühmtes Porträt jenes rätsel-
hafte Lächeln zeigt, das nun schon vier Jahrhunderte in Atem hält.
Freud führt in seiner Studie! dieses Lächeln auf ein Besinnen des Meisters
auf das Lächeln seiner Mutter zurück. Es sei ihm nach seinem fünfzigsten
Lebensjahr mit großer Macht wieder aufgetaucht. Freud sagt nicht ausdrück-
lich, daß dieses Lächeln männlich sei. Jedoch zeigt er mit außerordentlichem
Scharfsinn und unter Heranziehung des spärlichen biographischen Materiales,
das wir über Lionardo besitzen? ferner gestützt auf psychoanalytische und
mythologische Erfahrung, daß Lionardo seine Mutter — wie alle Kinder in
ihren ersten Jahren — als männlich, das ist mit dem Phallus behaftet, auffaßte
und in den Tiefen seines Unbewußten von dieser Auffassung nicht mehr los
kam. Es liegt nahe zu vermuten, daß auch das Lächeln, dem die Welt den
Namen „lionardesk“ gegeben hat, eine Beziehung zum Mutter-Phallus-Kom-
plex enthalte. Es wurde als frivol, als drohend, verbrecherisch, zynisch, teuf-
lisch, verführerisch bezeichnet. Aber alle Beobachter sind darin einig, daß
keine dieser Kennzeichnungen und auch nicht mehrere zusammen diese einzig-
artige malerische Leistung ausschöpfen.
Es ist auch interessant, daß gerade dieses Lächeln als lionardesk durch die
Jahrhunderte lebt, während man von androgyner Malerei, die doch so auf-
fallend zu Lionardo gehört, nicht zu sagen pflegt, daß sie lionardesk sei. Oft
lebt ein künstlerischer Ausdruck in seiner verdrängten, nicht mehr leicht ver-
ständlichen Form unangefochten fort, der in seiner ursprünglichen Form Un-
ı) Eine Kindheitserinnerung des Lionardo da Vinci, Ges. Schriften, Bd. ı.
2) Ibidem.
Mona Lisa und weibliche Schönheit 317
behagen erregt. Auffallend ist das zum Beispiel mit dem landläufigen Be-
griffe der „platonischen Liebe“ geschehen. Man gibt wohl auch nicht gerne
zu, daß Musik und symbolische Dichtung Richard Wagners androgyn sei.
Nur wenige Bewunderer dieses Genius der Tonmalerei wissen, daß Wagners
Androgynie die Quelle ist, aus der die ungeheure Wucht seiner Musik stammt.
Im Sommer 1932 stand ich im Pariser Louvre lange vor dem Porträt der
Mona Lisa. Ich kam mit der Erwartung, in dem Bildnis ein Mannweib zu
entlarven. Aber ich mußte mir bald sagen, daß dieses Porträt weit weniger
androgyn ist als viele andere Gemälde des Meisters. Es zeigt die Züge einer
klugen Frau im noch halb mittelalterlichen Geiste der Renaissance, nicht ein-
mal besonders schön und sehr mittelmäßig in ihrer sexuellen Anziehungskraft
(die freilich heute überhaupt andere Wege wandelt als damals). Alles das kann
von dem Bilde natürlich nur unter gewaltsamem Hinwegdenken des Lächelns
ausgesagt werden. Vielleicht werden manche sagen, daß man dieses Lächeln
gar nicht wegdenken kann, weil Mona Lisa ohne ihr Lächeln (gestaltpsycho-
logisch) nicht schaubar sei. Dem ist aber schon aus dem Grunde nicht so, weil
das Lächeln — wie Kennern wohlbekannt — nur von der linken Hälfte des
Antlitzes schimmert. Wenn man diese Hälfte des Gesichtes zudeckt — man
kann das auch an jeder besseren Reproduktion versuchen —, dann hat man ein
großes ernsthaftes Auge und einen geraden rechten Mundwinkel vor sich.
Hier haben wir also die erste, objektiv feststellbare Spaltung vor uns, die in
links und rechts. Die Beziehungen zwischen Links-Rechts und der Andro-
gynie sind der Psychoanalyse bekannt.
Neben dieser ersten Polarität entdeckt der Beobachter des Originals im
Louvre bald eine zweite. Je länger man das Bild anschaut, desto mehr scheint
das Lächeln aus der Leinwand heraus zu treten, bis es schließlich nicht sowohl
auf dem Bilde selbst mehr liegt als zwischen dem Bilde und dem Beschauer,
heißer Luft vergleichbar, die im Sommer über Sträuchern zittert. Man kann
sagen, das Lächeln löse sich los, es emaniere in einer halb körperlichen, halb
unkörperlichen Zartheit. Dabei wird es immer intensiver, man glaubt, jetzt
und jetzt wird sie in Gelächter ausbrechen, und der Ton meiner Bemerkung
liegt auf dem Worte „ausbrechen“, das ist der Loslösung des Lächelns von der
lächelnden Person. Ich glaube nicht, daß Reproduktionen diese Eigenschaft
des Bildes voll widergeben können. Andrerseits halte ich den eben geschilder-
ten Eindruck des Lächelns der Mona Lisa für objektiv. Wer immer das Ge-
mälde lange genug ansieht, um das Lächeln zu seiner vollen Auswirkung ge-
langen zu lassen, muß zum Erlebnis seiner Loslösung gelangen. Es ist nicht
statisch, sondern strömt von der Frau weg.
Das rein malerische Problem des Lächelns kann ich nicht diskutieren. Viel-
leicht ist die Abspaltung des Lächelns technisch malerisch eins mit der vorher
318 Fritz Wittels
besprochenen Spaltung in links und rechts. Psychologisch interessiert uns die
Tatsache, daß die Gesichtszüge eines Weibes ein Lächeln tragen, das sich von
ihnen loslösen läßt: ein ernsthaftes, statisches Ich plus einem aktiven Zusatz,
der die Welt herausfordert und erobert. Lächeln verhält sich ja überhaupt zur
Person, die das Lächeln ausschickt wie eine libidinöse Besetzung des Objektes
außerhalb zu einem narzißtischen Sein. Es ist eine soziale Angelegenheit, tritt
in Verkehr mit der Außenwelt. Dieses Objekt der Außenwelt kann freilich
unter Umständen das eigene Ich sein, das sich zum Objekt nimmt. Man kann
etwa in den Spiegel schaun, ist mit sich zufrieden und lächelt sich zu. Für
gewöhnlich aber dient das Lächeln dem Verkehre mit dem Du und das schon
von dem ersten Lächeln des Säuglings angefangen, der von sich selber und
jedenfalls von Selbstspiegelung noch nichts weiß.
Schon eine oberflächliche Analyse von Frauen, von denen man sagt, sie
hätten das lionardeske Lächeln — eine Eigenschaft, auf die solche Frauen ge-
wöhnlich nicht wenig stolz sind —, zeigt regelmäßig, daß die männliche Kom-
ponente in ihnen rege ist. Von einer solchen Frau, die ich kannte, sagte ein
Bildhauer, sie sei für ihn ein unmögliches Modell, denn, wenn im Marmor
oder Bronze die Farben des Antlitzes verschwänden, würde niemand die
Porträtstudie für etwas anderes als einen Jüngling halten. Ein anderes Mäd-
chen mit lionardeskem Lächeln wollte von Männern als Liebhabern nichts
wissen, sehnte sich nach parthenogenetischen Kindern und hatte ihre lesbischen
Triebe in paranoiden Verfolgungsideen abzuwehren. Ich habe überdies den
Eindruck, als ob auch die Nase im Lionardo-Lächeln ihre besondere Rolle
spielte. Eine fein geschnittene Nase, die — wenn man so sagen darf — ihr
eigenes, geheimnisvoll anmutendes Leben hat, gehört dazu.
Lächeln steht in einer bestimmten Beziehung zu Schönheit. Hätte Mona
Lisa nicht ihr Lächeln, wäre sie gar nicht besonders schön zu nennen. Sie ist
schön und unsterblich dadurch, daß sie lächelt: Lächeln und Schönheit sind
eins. Das wissen Photographen, die ihre Kunden auffordern zu lächeln und so
auf künstlichem, nicht immer mißglückendem Wege Schönheit erzeugen, wo
keine ist oder nicht viel davon. Dichter sagen von einer Landschaft etwa,
daß sie lächle und meinen damit anmutige Schönheit, die sie anthropomorphi-
sieren. Auf dem Höhepunkt des sexuellen Genusses, wenn alle Menschen in
ihrer Art transzendent werden, dann werden sie auch schön — von patho-
logischen Ausnahmen abgesehn, die mörderisch häßlich werden in ihrer
Transzendenz. Der Ausdruck dieser orgastischen Schönheit ist gewöhnlich ein
Lächeln. Der leidende Zug, den man an manchen Frauen sieht, ist wohl
die Ausnahme. Wir wären im psychologischen Verständnis der lächelnden
Frau um vieles weiter, wenn wir mit psychoanalytischer Schärfe zu sagen
wüßten, was Frauenschönheit ist.
Mona Lisa und weibliche Schönheit 319:
Es handelt sich also darum, Frauen von ungewöhnlicher Schönheit zu
analysieren. Wir wissen, daß es pathologische Schönheit gibt wie pathologische
Häßlichkeit. Emile Zola hat in seiner Folge „Les Rougon-Maquarts“ in
zwanzig Romanen die Geschichte einer degenerierenden Famile dargestellt.
Da erscheinen Säufer, Verbrecher, Hysteriker, Besessene aller Art und mitten
unter ihnen Nana, die giftige Schönheit, die alles korrumpiert, was im Lande
würdig und sittlich ist. Zola erkannte also, daß Schönheit unter Umständen
eine Degenerationserscheinung ist. Was man damals Degeneration nannte,
sollte sich heute im Zeitalter der Psychoanalyse schärfer und tiefer fassen
lassen. An der Richtigkeit der Beobachtung Zolas ist aber kein Zweifel. Ich
kenne eine Familie, in der mehrere Geschwister wegen neurotischer und
schwererer Störungen in Behandlung kamen. Ein Bruder litt an Zwangsideen,
ein anderer wurde schizophren, ein dritter zeigte Fettsucht und eine der
Schwestern brach im Pubertätsalter in Schönheit aus, flammend von sexueller
Anziehungskraft mit ihren großen, schwülen Augen, leuchtenden Gesichts-
farben und geschmeidigem Körper. Das Wesentliche an dieser Art Schönheit
ist, daß sie ganz aus dem Rahmen der Familie fällt, in den sie eingebettet ist
und den sie sprengt. Das Märchen vom häßlichen jungen Entlein hat nicht
sowohl den Sinn, daß ein Geschöpf, das schöner ist als alle andern, ein Schwan,
als solcher nicht erkannt wird. Es wird plötzlich anders als die anderen. Es
ist ihr etwas zugestoßen, das ihr Schicksal bestimmt, sie und die Umwelt oft
genug zerstört. Sie wird durch ihre Schönheit aus allem herausgerissen, was.
die Gesellschaft zum Schutze unseres kulturellen Lebens an Institutionen auf-
gerichtet hat.
Es soll uns nicht schwer fallen, die pathologische Schönheit in die Krank-
heitsgruppe einzureihen, zu der sie gehört. Wenn die Schönheit ein Symptom
ist, dann ist sie ein Konversionssymptom und gehört zur Hysterie. Die ver-
drängte Idee: ich will gefallen, den Mann anziehn, von ihm befriedigt werden,
mit allen Konflikten zwischen Ich und Es, die daraus entstehen, auf allen
Stufen des Narzißmus, der Homo- und Heterosexualität — diese Idee ist zur.
Organsprache konvertiert und auf die Oberfläche des Körpers geschrieben.
Wir wissen, daß die Kastration dahinter steckt, daß in tausend hysterischen
Symptomen um den Besitz des Penis gekämpft wird. Das Symptom macht
den Penis auf narzißtischem Wege entbehrlich, indem es ihn allegorisiert oder
„tautegorisiert“, wie man mit einem Worte des Philosophen Schelling sagen
möchte (Tauton = dasselbe). Es lockt ihn gleichzeitig an.
Diese Überlegung legt den Gedanken nahe, daß die Abspaltung, die man
als Schönheit empfindet — hier ist zunächst nur von einer bestimmten Art
der Frauenschönheit die Rede — männlichen Ursprungs sei. Wir werden aber
die Ausspinnung dieses Gedankens verschieben, weil wir nach dem Mysterium
320 Fritz Wittels
des Lächelns, das wir mit dem Geheimnis der Schönheit gekoppelt haben, un-
gern ein drittes psychologisch Rätselhaftes wie Männlich und Weiblich ein-
führen wollen, ohne vorerst ausreichendes psychoanalytisches Material zu
studieren. Immerhin läßt sich aus allgemeiner Menschenkenntnis sagen, daß
weibliche, oft künstlerisch veranlage Männer von dieser Art von Schönheit
(Beaut& du diable!) besonders angezogen werden. Diese Frauen entwickeln
häufig sadistische Tendenzen und dem richtigen hysterischen Mechanismus
gemäß wissen sie nicht einmal, was sie ihren Liebhabern antun. Sie ent-
wickeln oft Charakterzüge, die man als unweiblich bezeichnet oder wenigstens
bis vor kurzem so bezeichnet hat: Herzlosigkeit, Schamlosigkeit, Angriffslust,
Zynismus, Treulosigkeit. Man hat alle diese und ähnliche Eigenschaften aus
dem Narzißmus eines Typs erklärt, den ich das Kindweib genannt habe. Man
hat auch gesagt — ich glaube, daß ich unter den ersten war, die es aus-
gesprochen haben —, daß die Regression zum Sadismus aus der Tatsache zu
erklären sei, daß solche Frauen ringsum von masochistischen Männern um-
geben sind, die vor ihnen knien. Sie können doch nicht so viele lieben! Was
bleibt ihnen sonst übrig, als die Männer zu quälen und so den Lustgewinn zu
ziehn aus ihrer besonderen Situation? Das ist alles richtig. Man kann aber,
wie ich glaube, nicht übersehen, daß in diesen Frauen ein Zwiespalt besteht
zwischen der ungeheueren Wirkung, die von ihrer Schönheit ausgeht und der
oft verzweifelten Leere, die man dahinter findet. Die Schönheit ist ihnen
aufgesetzt wie ein Fremdkörper. Deshalb sind sie lauter Versprechen und
keine Erfüllung. Der liebende Mann wird unwiderstehlich angezogen und ver-
durstet wie der Wüstenwanderer, der hinter der Luftspiegelung her ist. Man
möchte das populäre Doppelwort sex appeal in seine Teile zerlegen: der Ruf
ist laut, aber die sexuelle Potenz im weiblichen Sinne fehlt. \
Natürlich, beeile ich mich hinzuzufügen, gibt es schöne Frauen genug, die
auch halten, was ihre Schönheit verspricht. Die bisexuellen Komponenten
existieren ja aus biologischen Gründen in uns allen und befinden sich im
postulierten Normalmenschen in harmonischer Vereinigung. Aber die har-
monisierte Schönheit hat nie die niederwerfende Gewalt der desintegrierten.
Das klingt seltsam, aber man kann es verstehn. Ähnlich verlieren Gifte in
gewissen chemischen Zusammensetzungen ihre Giftigkeit: Chlornatrium, Ferro-
zyankali. In der Abspaltung kommt das Gift zum Vorschein. Psychoanalyse
kann vielleicht entscheiden, worin diese Wirkung besteht und wie sie zustande
kommt.
II.
Peggy D., auffallend schön, 27 Jahre alt, sieht aber viel jünger und mädchenhaft
aus, schlank, anmutig, von sanften, graziösen Umgangsformen. Sie ist seit drei
Jahren geschieden, nach zweijähriger Ehe, und wohnt jetzt wieder bei ihren Eltern.
Mona Lisa und weibliche Schönheit 321
Diese sind beide „nervös“. Die Mutter leidet an hysterischen Herzanfällen, der
Vater, ein mäßig erfolgreicher Geschäftsmann, an Wutausbrüchen. In seine schöne
Tochter ist er ziemlich verliebt, und da seine ältere Tochter verheiratet ist und
mehrere Kinder hat, ist es ihm im Grunde ganz recht, daß die jüngere wieder im
Hause ist. Er zeigt ihr seine Liebe in Form von heftigen Vorwürfen, weil sie nicht
wieder heiratet. Peggy quittiert das mit Tränen. Er nimmt sie aber auch auf die
Knie und gibt ihr mit Vorliebe einen Kosenamen, der im Volksidiom das weibliche
Genitale bedeutet. Sie ist an ihren Vater fixiert und war es immer. Die Eifersucht
auf die Mutter ist auf die ältere Schwester abgeglitten und das schon in früher
ugend.
J Peggy ist körperlich infantil, die inneren Sexualorgane unterentwickelt, Menstrua-
tion unregelmäßig und schwach. Vasomotorische Störungen sind deutlich. Hände
meistens kalt, Gesichtsfarben lebhaft und wechselnd. Zur Behandlung kommt sie
wegen Depression, die in leichtem Grade immer bestanden hat, seit ihrer Ehescheidung
aber immer zunimmt. Sie fühlt sich depersonalisiert, befindet sich fast fortwährend
in einem Nebel der Unwirklichkeit. Sie weiß nicht, ob sie wirklich ist — und das
ist wörtlich gemeint —, hat das Gefühl, als ob ihre Füße den Boden nicht berührten
und mit Schrecken bemerkt sie plötzlich, daß gar nichts mehr sicher ist. Sie muß
dann laut zu sich selber sagen: „Heute ist Freitag, es ist Sommer und die Sonne
scheint. Ich bin wirklich und heiße Peggy. Ja, Peggy heiße ich wirklich.“ Ge-
legentlich zweifelt sie schmerzhaft, ob ihre Füße, ihre Hände wirklich zu ihr ge-
hören (Kastrationsangst).
Wir werden bald sehen, daß diesem Zweifel eine Spaltung in männlich und weib-
lich zugrunde liegt. Sie weiß nicht, ob sie ganz das ist, was man mit einem weib-
lichen Vornamen benennen kann. Dieser (androgyne) Zwiespalt reißt dann auch
jede andere Einigkeit entzwei. Im Nebel begegnen sich Wirklich und Unwirklich.
Vielleicht haben wir in der Androgynie einen wichtigen Punkt zur Erklärung der
Depersonalisation zu erblicken. Auf die Rolle des Kastrationskomplexes bei De-
personalisation ist ja von der Psychoanalyse schon hingewiesen worden.
Träumerisch war Peggy immer veranlagt. Sie erinnert sich, daß sie als Kind
immer als letzte am Frühstückstisch zurückblieb, wenn die anderen schon fertig
waren. Sie saß da und war geistesabwesend. Ihr Vater ärgerte sich und ärgerte sie,
indem er den Tisch regelmäßig mit den Worten verließ: „Träume weiter, stolze
Schönheit!“ Sie hielt sich damals für alles andere als schön und nahm ihres Vaters
Wort für einen Vorwurf, weil sie im Gegensatz zu ihrer Schwester häßlich sei. Sie
war brünett, die Schwester blond und der Vater nannte sie gerne sein Mohrl. Sie
hielt ihre Schwester für den Inbegriff aller weiblichen Schönheit und Vollkommen-
heit, glaubte auch, daß die Schwester des Vaters Liebling sei. Auch in der Schule
und später als Ehefrau und Mutter war die schöne, kluge und gute Schwester Daisy
weit voran. Es ist bekannt genug, daß in der Kinderstube Paare entstehen, die ich
zentrifugal oder fratrifugal genannt habe: Die ältere Schwester, ein Muster aller
Weiblichkeit, die jüngere infolgedessen in die maskuline Richtung gedrängt. Dabei
steht weiblich für schön und männlich für unschön.
Häßlich steht hier auch im moralischen Sinne. In einer Erinnerung der Patientin
tritt diese moralische Häßlichkeit als verhüllte Eifersucht und Neid zutage. Sie
mochte zwölf gewesen sein, als sie eines Tages in Tränen ausbrach und wiederholt
ausrief: „Ich muß sterben und meine wunderschöne Schwester Daisy wird zu meinem
Begräbnis gehn müssen!“ Ihrer Erinnerung nach weinte sie nicht; weil sie ihren
Imago XX/3 21
322 Fritz Wittels
eigenen Tod vor Augen sah, sondern weil ein so schönes und edles Geschöpf wie
ihre Schwester den Kummer eines Leichenbegängnisses erleben mußte. Deutlicher
kann man unbewußte Todeswünsche kaum äußern. Der Vater nannte sie auch
ernsthaft eine Hexe und sie wurde es und ist es in gewissem Sinne bis heute geblieben
(„nachträglicher Gehorsam“). Als Kind war sie voll abergläubischer Gedanken und
magischer Tätigkeit. Einmal fing sie eine rothaarige Katze (Schwester rotblond!),
riß ihr vier oder fünf Haare aus dem Pelz und grub sie unter feierlichen Be-
schwörungsformeln ein. Während der Analyse passierte folgendes: Sie kam aus dem
Theater und war zu einem späten Gelage eingeladen. Ein kleiner abgerissener
Zeitungsjunge bot ihr ein Abendblatt an. Sie beugte sich zu dem hungrigen Kinde
nieder und sagte zu ihm: „Wir brauchen deine Zeitungen nicht, wir gehen jetzt
Champagner trinken!“ Kaum hatte sie das gesagt, als sie in Tränen ausbrach und
sich wegen dieser grausamen Worte heftige Vorwürfe machte. Sie war schlecht und
gut zugleich, ein sanftes, wohlerzogenes Mädchen und eine Hexe. Auch in dieser
Beziehung war sie doppelt.
Immer gab es Figuren ihrer Phantasie, mit denen sie Zwiegespräche führte. Eine
dieser Figuren war der Daumen ihrer linken Hand, den sie Jimmy nannte. Sie hielt
ihn sich vor Augen, erzählte ihm von ihrem Kummer und ließ sich von ihm trösten.
Aber auch der Daumen erzählte und wurde für seine Mitteilungen meistens belobt.
Er war ihr bester, heimlicher Freund, vor der Analyse wußte außer ihr niemand,
daß sie den kleinen Jimmy besaß. Hier wird der androgyne, auf Kastration auf-
gebaute Charakter ihrer Verdoppelung schon deutlicher. Dieser Charakter wird
schlagend durch die Tatsache, daß keiner ihrer Freunde — und deren wurden immer
mehr — sie bei ihrem weiblichen Vornamen Peggy ansprach. Der Name war nahezu
in Vergessenheit geraten. Die Burschen nannten sie Jimmy und dabei blieb es.
Unter diesem Namen begann sie um ihr zwanzigstes Lebensjahr herum gesellschaft-
liche Triumphe zu feiern oder was man so nennt. Allabendlich wurde sie von
jungen Leuten abgeholt und zu Unterhaltungen mitgenommen. Sie wurde eine
Königin von Tanzlokalen, siegte in Schönheitskonkurrenzen, ihr Name wurde be-
kannt. Der Vater erlaubte dieses Leben und unterstützte es sogar, indem er ihr
reichlich Mittel für Kleider, Pelze, Juwelen zur Verfügung stellte. Er war stolz auf
die gefeierte Schönheit, rationalisierte auch mit seiner Hoffnung, daß Peggy, die
jetzt Jimmy geworden war, auf diesem Wege reich heiraten würde.
Dabei war es eine kalte, indifferente Schönheit. Die Burschen waren stolz, die
berühmte Jimmy ausführen zu dürfen, aber sie wechselten ab. Man wurde bei ihr
nicht warm. Nicht nur behielt sie ihre Jungfräulichkeit, sie war auch niemals in
Gefahr, sie zu verlieren. Ein geistesabwesender Blick, ein allgemeines Nicht-inter-
essiert-sein langweilten nach einiger Zeit selbst hartnäckige Verehrer. Sie weiß nicht
genau, wann ihre Schönheit ausbrach. Es dürfte einige Jahre nach ihrer Pubertät
gewesen sein. Eines war ganz sicher: Nur Jimmy war schön. Peggy kam als Schön-
heit nicht in Frage. Übrigens zweifelte sie trotz ihrer Erfolge an ihrer Schönheit.
Wirklich schön erschien ihr nach wie vor nur die allgemach hausbacken gewordene
Schwester Daisy, obgleich objektiv an Peggys Überlegenheit kein Zweifel aufkommen
konnte. Manchmal machte ihr die Frage, wo eigentlich Peggy hingekommen sei,
Beschwerden. Das Verdoppelungsproblem sah so aus: Jimmy ist schön und gefällt.
Aber Jimmy existiert doch eigentlich nicht. Sie sollte ja Peggy sein. Wenn sie nur
wieder Peggy sein könnte! Aber dann wäre sie wieder das Aschenbrödel und das
will sie auch nicht.
Mona Lisa und weibliche Schönheit 323
Als sie einige Jahre später in meine Behandlung kam — die Jahre des allnächt-
lichen Glanzes waren damals lange vorüber — war sie noch immer schön. Sie war
tief verstimmt, sah kaum und hörte nicht, was um sie her vorging, aber sie vernach-
lässigte ihr Außeres niemals. Immer erschien sie nach der letzten Mode und mit
sorgfältigem Geschmack gekleidet. Das stand sicher im Gegensatz zu der Gleich-
gültigkeit, die man sonst bei Depressionszuständen sieht. Sie trat herein, lächelte
zauberhaft und sagte: „Ich fühle mich heute entsetzlich!“ Wenn ich dann fragte:
„Wissen Sie auch, daß Sie das lächelnd sagen?“, dann antwortete sie: „Ich weiß das.“
Dabei brach sie in Tränen aus und lächelte gleich wieder, weil sie geweint hatte.
Wie man von Kindern sagt: Lachen und Weinen in einem Sack. Ihre Schönheit
war ihr Leben oder alles was von ihrem Leben übrig geblieben war: es lächelte. Die
Depression mit ihren Vernichtungsideen war der Tod. Hier wäre einiges über
manisch-depressive Zustände zu sagen und deren mutmaßliche Androgynie, aber ich
kann nicht zu viele verschiedene Probleme anschneiden. Manchmal sagte sie zu
mir: „Bitte, nennen wenigstens Sie mich Peggy. Als Jimmy kann ich ja doch nicht
weiter.“ Wenn ich es aber dann tat, dann rollte sie auf dem Sofa hin und her und
konnte es nicht ertragen. Die Aufgabe bestand wirklich darin, zwei getrennte Teile,
die nicht zusammen paßten, zu vereinigen.
Ihre Geschichte verlief so: als ihre glanzvollen Tage in die Jahre kamen und der
Millionärbewerber sich nicht einstellte, heiratete sie einen femininen Typ, der bald
nach der Hochzeit sein mäßig großes Vermögen verlor. Sie hat sich ihres Mannes
immer geschämt. Er hat sie auch nicht defloriert. Das besorgte sie selbst mit den
Fingern wenige Tage vor der Hochzeit. Man darf da vielleicht sagen: Jimmy de-
florierte Peggy. Der Weg von Jimmy zum Vater konnte auf analytischem Wege
eindeutig aufgezeigt werden. In der Ehe war sie lange frigid, gegen Ende des zweiten
Jahres begann sie mit Orgasmus zu reagieren. Die Erklärung für diesen Fortschritt
ist eher traurig. Im Anfang gönnte sie sich ihrem Manne nicht (Brunhilt-Komplex).
Als er ihr aber feminin bis zur Lächerlichkeit erschien und so gar keine Ähnlichkeit
mehr mit dem väterlichen Urbild hatte, sie auch mit dem Plane, ihm davon zu
laufen, fast fertig war: da erlaubte sie sich sexuell zu fühlen. Ihr eigentliches Ge-
schlechtsleben waren vor und nach der Ehe mäßige Masturbation und prägenitale,
besonders anale Praktiken. Einen großen Teil des Tages verbrachte sie im Bade-
zimmer.
Nach ihrer Scheidung kehrte sie, wie oben erwähnt, zu ihren Eltern zurück. Die
Fixierung an den Vater machte die Heimkehr erstrebenswert und das Leben zu Hause
zu einer masochistischen Hölle. Sie quälte den Vater mit ihrer niemals endenden
Depression. Die Mutter schützte sich gegen die Tochter mit ihren eigenen hysteri-
schen Zuständen. Im Laufe der Jahre kam einmal ein Freier, von dem sie eine Zeit-
lang hoffte, daß sie ihn werde heiraten können. Diese Hoffnung verdankte er einer
wirklichen oder eingebildeten Charakterähnlichkeit mit dem Vater: er war tüchtig,
verläßlich, zielsicher. Aber aus dem nämlichen Grunde wurde er dann von Peggys
Odipuskomplex verscheucht. „Gut!“ schrie der Vater, „Ich werde dich erhalten bis
an dein Lebensende.“ Sie war um diese Zeit von allen ihren früheren Freunden ver-
lassen; sie war zu teilnahmslos geworden. Sie ging wenig aus, fast niemals ohne
Vater und Mutter wie ein gutes, sanftes Kind, das sich aber unglücklich fühlte und
das um so intensiver, je mehr sie sich der gefürchteten „dreißig“ näherte.
Die Aufgabe der Behandlung, Peggy und Jimmy miteinander in Harmonie zu
bringen, bedeutete auch Harmonisierung von Wirklichkeit und Phantastik, Häßlich
21%
324 Fritz Wittels
und Schön, Schlecht und Gut, Tod und Leben, Hexe und Mensch — wie oben aus-
geführt. Peggy, der weibliche Teil, war unterdrückt, für immer der älteren
Schwester (Mutterimago) unterlegen. Sie war nicht imstande, die als Jimmy in Er-
scheinung tretende Schönheit zu tragen. Auch konnten die beiden Teile miteinander
nicht verschmelzen. Die „synthetische Kraft des Ichs“ (Nunberg) reichte hiezu
nicht aus. Nach einer Analyse, die mit Unterbrechungen fast drei Jahre dauerte,
war Patientin auf den Namen Peggy eingestellt und ihre Schönheit hatte ihren
Charakter verändert. In gewissem Sinn war sie weniger schön, aber sie interessierte
mehr.
Der Fall scheint mir für die Annahme zu sprechen, daß weibliche Schön-
heit, oder wenigstens abgespaltene (pathologische) Schönheit von so lärmender
Art, von der männlichen Komponente des Weibes gespeist wird.
II.
Flora ist 34 Jahre alt, schwarzes Haar, blaue Augen, klein, puppenhaft. Sie ist
schön. Ihr Mann, ein wohlhabender Fabrikant, hat sie vor fünfzehn Jahren aus
diesem Grunde geheiratet. Er sagt, daß sie ihm gesellschaftlich nützt und außerdem
hat sie ihm drei Kinder geboren. „Wenn ich heute vor der Wahl stünde“, sagte er,
„würde ich sie nicht heiraten. Sie ist zu egoistisch, denkt ausschließlich an sich selbst
und ihre Schönheit. In den letzten Jahren quält sie mich mit ihrer eingebildeten
Krankheit.“ Sie leidet nämlich an Angstzuständen, in deren Mittelpunkt die Angst
vor Krebs steht. Sie muß immer daran denken. Ihr Mann ist eine brutale Herr-
schernatur, der seiner Frau nicht verzeihen kann, daß er sie nicht erobern konnte.
Floras narzißtischer Panzer war undurchdringlich. Diesem Manne mindestens konnte
sie sich nicht hingeben.
Sie war das jüngste Kind und das einzige Mädchen unter sieben Kindern. Die
Buben umgaben sie mit Anbetung und eifersüchtiger Bewachung. Das hinderte
natürlich nicht, daß von eben dieser Seite gelegentlich sexuelle Annäherungen vor-
kamen, die Flora vorzeitig stimulierten. Der Penisneid wurde übermächtig und ihr
Gatte war dann nicht danach, um ihn herabzusetzen. Die Eltern waren puritanisch
und die abergläubische Mutter brachte ihr einen fast panischen Schrecken vor den
Gefahren des Sexuallebens bei. Der Vater war der Inbegriff des rechtgläubigen
Patriarchen. Er schlug die Kinder niemals, aber er drohte mit der Rache Gottes.
Im Alter von dreizehn Jahren schaffte Flora sich einen Penis an in Gestalt einer
Kerze, mit der sie dann Jahre lang bis kurz vor ihrer Verheiratung heimlich
masturbierte. Sie entwickelte dabei regelmäßig die Phantasie von irgendeinem ehr-
würdigen, älteren Manne, der sie schlug. Als sie heiratete, fürchtete sie erst, ihr
Mann werde sie wegen des Verlustes der Jungfräulichkeit befragen. Das geschah
aber nicht und die Furcht wurde als grundlos aufgegeben. Im Ehebett war sie
frigid, machte sich aber wenig Gedanken darüber und glaubte in den ersten Jahren
ihrem Manne, der ihr sagte, sie sei eben ohne sexuelle Bedürfnisse wie ein Kind. In
kurzen Abständen gebar dieses „Kind“ dann ihre drei Kinder. Flora war so nar-
zißtisch, daß es allen ihren Bekannten auffiel. Ihr Tag war ganz ausgefüllt mit
Kleidung und persönlicher Aufmachung. Wenn eine Abendgesellschaft zu lange
dauerte, auch wenn sie selbst die Gastgeberin war, ging sie zu Bett, weil sie so und
so viele Stunden Schlaf benötigte, um ihre Schönheit zu erhalten. Auch aus dem
EEE
Mona Lisa und weibliche Schönheit 325
Theater ging sie vor Schluß nach Hause — aus dem nämlichen Grunde. Sie lebte
nur für ihre Schönheit, den Spiegel und den Photographen, der sie in hundert Posen,
im Badetrikot, in tief ausgeschnittenen Toiletten oder in Sportkleidern, gestiefelt und
gespornt, aufnehmen mußte. An die Masturbation ihrer Mädchenjahre dachte sie
oft. Wenn sie diese mit ihrem Ehebett verglich, gab sie der ersteren unbedingt den
Vorzug. Aber sie kam dennoch nicht wieder darauf zurück.
Ihr Gatte hatte eine Schwester, die ihm sehr ähnlich sah. Sie war eine ausge-
zeichnete Reiterin, auch sonst in männlichem Sport geschickt, groß, schlank und das
Ideal ihres Bruders. Man nannte sie Pete. Floras Leiden fing damit an, daß sie, um Pete
zu gleichen, reiten lernte und vom Pferde fiel. Pete war ihr immer unsympathisch,
übte gleichwohl faszinierende Wirkung auf sie aus. Nach ihrem Sturze litt sie
Monate lang an Rückenschmerzen. Nach der ersten Diagnose „Rückenmarkerschüt-
terung“ konnte man keinerlei organische Ursache für die Schmerzen finden und
schickte die Frau schließlich zu einem Frauenarzt, der eine kaum merkliche Gebär-
muttersenkung feststellte und diese für das Leiden verantwortlich machte. Flora
spürte auch irgend etwas im Genitale. Es war nicht gerade ein Schmerz, eher eine
Art Organgefühl. Der Arzt verschrieb ihr einen Ring (Pessar), den sie noch drei
Jahre nach dem Unfall trug, als sie wegen ihrer Angstzustände zu mir in Behandlung
kam. Der Gynäkologe, mit dem ich mich in Verbindung setzte, erklärte mir, daß
derzeit keinerlei Ursache mehr bestehe für das Tragen des Pessars, aber die Patientin
wolle nicht darauf verzichten, sie fürchte sich, ohne den Ring auszugehn.
In der Analyse kam der lange aufgespeicherte Haß gegen den Gatten und die
eigene älteste Tochter zutage, die der Liebling des Mannes war. Der Vater des
Gatten und noch ein Mitglied seiner Familie waren an Krebs gestorben. Ferner gab
es eine endlose Reihe von Kastrationsträumen. Gewächse kamen aus allen Teilen
ihres Körpers heraus, im Gesicht, im Nacken. Verlängerungen wuchsen aus dem
Ofen. Diese Gewächse standen mit der Furcht vor Krebs in Zusammenhang. Manch-
mal sprang ihr der Gedanke in den Sinn: mein Mann ist mein Krebs! oder: Dr. W.
(der Analytiker) ist mein Krebs!
In ihren Träumen waren auch lesbische Wünsche erkennbar von Anfang an. Sie
waren aber nur für den Traumdeuter verständlich und auch später, als manifest von
Frauen geträumt wurde, mit denen sie schlief, konnten sie kaum therapeutisch ver-
wendet werden. Sie fragte nämlich immer in großer Angst: „Herr Doktor, bin ich
lesbisch”? Das wäre das Furchtbarste. Es wäre eine unerträgliche Schmach.“ Wenn
man ihr dann sagte, sie müsse doch wissen, ob Frauen sexuellen Reiz auf sie aus-
übten, dann leugnete sie das entschieden. Aber Männer hatten auch keine geschlecht-
liche Anziehungskraft. Weder ihr eigener Mann noch andere. Hingegen langweilte
sie die wenigen Freundinnen, die ihr geblieben waren, zu Tode, indem sie durch das
Telephon und im persönlichen Umgang stundenlang nur von sich selbst und ihren
monotonen Angstzuständen sprach. In der Nacht träumte sie dann etwa, daß eine
dieser Freundinnen mit einem Revolver ins Zimmer schlich und als die Träumende
angstvoll fragte: „willst du mich erschießen?“, antwortete die Freundin: „Nein. Hier
ist der Revolver, du wirst dich selbst damit erschießen.“ Einmal dankte sie einer
Freundin unter Tränen, die nicht enden wollten, für einen Freundschaftsdienst, der
kaum der Rede wert war.
Sie suchte Lokale auf, wo bekannte Lesbier verkehrten, schaute sich diese Frauen
gut an und stellte mit Befriedigung fest, daß sie keinen Eindruck auf sie machten.
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|
326 Fritz Wittels
Ihre narzißtische Abwehr schützte sie vollkommen, bis auf die Angstzustände, deren
homosexuelle Quelle eindeutig festgestellt werden konnte. Von ihrem Manne be-
hauptete sie, daß er hypnotischen Einfluß auf sie habe. Sie entwickelte auch eine
paranoide Eifersucht auf ihn, die insoferne keinen Sinn hatte, als sie froh war, wenn
ihr Mann sie sexuell in Ruhe ließ. Wenn man ihr den Widerspruch vor Augen
hielt, rationalisierte sie ihre Eifersucht mit ihrem Entschlusse, sogleich selbst ein
Liebesverhältnis eingehen zu wollen, so wie sie erfahre, daß ihr Mann eines habe,
Gleiches Recht für beide Teile sei ihr Wahlspruch.
Dabei war kein Mann da, der ihr gefiel und sie selbst gefiel auch nur auf den
ersten Blick und langweilte bald trotz ihrer Schönheit. Schließlich verstand sie sich
nach langem Selbstquälen zu einer Beziehung mit dem Chauffeur ihres Mannes,
Darin lag eine Art Gehorsam gegen ihren Mann, der ihr immer höhnisch versicherte,
sie könne keinen Mann auf die Dauer fesseln, es sei denn einen Allesfresser, einen
Don Juan oder einen, der sich von ihr materiellen Vorteil erhoffe. So etwas war
nun geschehen. Sie entwickelte viel Sentimentalität, fühlte zum erstenmal im Leben
und haßte ihren Gatten weniger, weil sie sich beweisen konnte, daß sie weiblich
fühle. Sie nahm auch Rache, indem sie ihren Mann betrog und entglitt seinem
„hypnotischen“ Einfluß. Das Verhältnis dauerte nicht lange. Es wurde niemals
richtig konsumiert, weil die Zusammenkünfte mit ominöser Ungeschicklichkeit immer
an ungeeigneten und bedrohten Stellen stattfanden. Eine Zeitlang war sie von fast
unwiderstehlichem Geständniszwang gequält. Sie wollte ihrem Manne alles beichten.
Ihr Triumph: ich bin eine Frau, kann fühlen wie eine Frau!, war freilich durch den
niederen Stand ihres Geliebten gedämpft und die sichere Aussicht, von ihrem Manne
hinausgeworfen zu werden, gab den Ausschlag. Gelöst wurde das Verhältnis von
Seiten des Chauffeurs, der ihr erklärte, er könne seinen Herrn nicht länger betrügen.
Er fürchtete sich vor dem Gesetze und um seine Stellung. Wahrscheinlich erkannte
er auch, daß im Gehaben der Frau etwas nicht stimmte. Sie quälte ihn mit tausend
Fragen, mit ihren ungeschickten Zusammenkünften, die manchmal in ihrer eigenen
Wohnung und knapp vor der Heimkehr des Mannes stattfanden. Der Charakter
dieser Beziehung und einer ähnlichen, die kurz darauf ins Leben trat, ist deutlich
genug als Abwehr der homosexuellen Neigung zu erkennen. Man könnte sie Flucht
in die Heterosexualität nennen und sie ist ja auch von Freud als „Erotomanie“
längst in diesem Sinne beschrieben. Die andere Abwehr, in regressiver Richtung
bestand in Narzißmus, der ihr eigentliches Wesen ausmachte. Ihre Schönheit, das
Geschenk dieses Narzißmus, war nahezu zwecklos, wenn man Anziehungskraft als
Ziel der Schönheit ansieht. Sieht man aber die Auskunft des Spiegels: du bist eine
schöne Frau! als den Zweck dieser Schönheit an, dann ist deutlich genug erkennbar,
daß des Spiegels Antwort die bange Frage beruhigt: bin ich denn überhaupt Weibs
genug? Der Spiegel sagt: Sei unbesorgt. Siehst du nicht, daß sie dich wegen deiner
weiblichen Schönheit bewundern müssen?
Das therapeutische Ergebnis war gut. Die Angstzustände verschwanden, der
phallische Charakter der Krebsdrohung wurde erkannt und auch mit der lesbischen
Tendenz konnte die Patientin sich schließlich zurecht finden. Sie sublimierte sie in
bescheidene Äußerungen von Freundschaft. Den Rest, der dann noch zurückblieb,
konnte sie mit ihrem Manne befriedigen, der belehrt wurde und sich etwas in seinem
Gehaben änderte. Diese Frau war ja nicht lesbisch im eigentlichen Sinne, da ihre
maskuline Komponente narzißtisch im Schönheitskult aufgebraucht war.
Mona Lisa und weibliche Schönheit 327
Viele manifest homosexuelle Frauen sind auffallend schön und mädchenhaft. Im
Falle Floras ist die Schönheit eine glückliche Abwehr der lesbischen Tendenz. Im
Falle der bewußt homosexuellen Schönheiten ist die Abwehr mißglückt. Sie war
vermutlich der erste Versuch einer Abwehr, der aufgegeben wurde, aber erhalten
blieb wie ein schönes Portal an einem Bau, der später anderen Zwecken zugeführt
wurde, die ein prunkendes Portal nicht benötigen.
* x *
IV?
Ein dritter Fall soll uns der Mühe entheben zu definieren, was Schönheit
eigentlich sei. Das ästhetische Problem kommt für den Psychologen nicht in
Betracht. Wir haben der berühmten und so unzulänglichen Definition:
„schön ist, was gefällt“, gegenüber zu stellen: „Schön (in unserem Sinne) ist,
was gefallen will.“ So kommt es also gar nicht darauf an, ob eine Frau „wirk-
lich“ schön ist, oder es sich nur einbildet. Wir leben gerade jetzt in einer
Zeit, die zahllosen von der Natur weniger gut ausgestatteten Mädchen ver-
spricht, daß sie schön sein können, wenn sie nur wollen: Gymnastik, Mode,
Schönheitsindustrie mit Farbe und Pinsel sind am Werke. Viel Zeit, Energie,
Geld wird darauf verwendet. Das Resultat ist dann, daß solche Frauen von
ihrer mühsam erworbenen und täglich instand gehaltenen Schönheit mehr
oder minder überzeugt sind. Wir werden uns nicht wundern, daß diese Art
von „psychologischer“ Schönheit erst recht die Neigung zeigt, sich von ihrer
Trägerin abzuspalten. Sie ist ja von außen aufgetragen und findet nicht leicht
den Zugang zu der Persönlichkeit, die körperlich durch die Haut von der
Schönheit getrennt ist.
Bella stammt aus Kreisen, in denen man zu viel ißt; von armen Leuten, die alles
was sie verdienen in Form von Nahrung durch die Kehle jagen. In ihren Pubertäts-
jahren war Bella fett. Sie war sehr aggressiv und lebte auch diese Tendenz oral aus,
nämlich in Form von beißendem Witz und einer Vorliebe für Schamlosigkeit im
sprachlichen Ausdruck. Sie heiratete jung einen Arbeiter aus ihren eigenen Kreisen,
dem ein Jahr später eine Erfindung glückte, so daß er dauernd zum wohlhabenden
Manne wurde. Er war ein 'Tatmensch, der für Frauen wenig übrig hatte. Ihm lag
nicht viel dran, wie seine Frau aussah. Er wünschte sich einen ruhigen Herd und
es wäre ihm nie eingefallen, eine anspruchsvolle Schönheit zu heiraten. Die aggres-
siven Tendenzen seiner Frau erkannte er in jener Zeit nicht oder beachtete sie nicht.
Seine Interessen lagen anderswo.
Kaum waren sie reich geworden, als Bella beschloß, schön zu werden. Zunächst
unterzog sie sich einer heftigen (aggressiven) Abmagerungskur. Sie hungerte,
schluckte Schilddrüse und nahm in viel zu kurzer Zeit an die sechzig Pfund ab. Sie
arbeitete an sich, bis sie eine überschlanke, blonde „Schönheit“ geworden war. Ihre
Aggression gegen die Außenwelt nahm zwar nicht ab, änderte aber ihre Form. Sie
sprach jetzt auffallend geziert und ihr burschikoser Witz verschwand. Sie war eine
a sun uusren ont
328 Fritz Wittels
vornehme Schönheit geworden und eroberte. Auf ihren Mann machte diese Ver-
änderung zum großen Kummer Bellas keinen Eindruck. Obgleich sie nicht wirklich,
sondern nur künstlich schön war, hatte sie doch mancherlei Erfolge und über-
kompensierte ihren eigenen Zweifel an sich mit dem unerschütterlichen Glauben an
ihre Unwiderstehlichkeit. Ihren Mann, den sie äußerlich mit lärmender Liebe um-
gab, begann sie innerlich zu hassen. Er war wie ein Felsen der Gleichgültigkeit, an
dem ihre Angriffe scheiterten. Sie strafte ihn damit, daß sie ihm keine Kinder gebar,
nach denen er sich sehnte. Sie sagte, daß sie selbst durchaus ein Kind haben wollte,
aber — und damit begannen ihre Angstzustände — ihre Hemmungen seien unüber-
windlich. Bella rächte sich auch sonst an ihrem Mann. Er pflegte sehr früh aufzu-
stehn und zur Arbeit zu gehen. Sie hatte fast allnächtlich Gesellschaft, die bis zwei
oder drei in der Früh beisammen blieb, so daß der Mann zu wenig schlief und
herunterkam.
Sie begann auch einige Liebesverhältnisse, die ihr nicht viel bedeuteten und ihrem
Manne auch nicht. Er war nicht eifersüchtig. Schließlich lernte sie einen jungen
Mann kennen, der sich sterblich in sie verliebte und mit ihr einig war, daß sie das
wunderbarste Geschöpf unter der Sonne sei. Er zeigte, was ich die Lilithneurose®
nenne. Sie quälte ihn in der raffiniertesten Art, was seine Liebe zu ihr immer ver-
stärkte. In dieser Zeit, als sie mit dem Gedanken umging, ihren Mann zu verlassen
und es hauptsächlich aus dem Grunde nicht tat, weil sie fürchtete, ihr Mann warte
nur darauf — brach eine schwere Angsthysterie bei ihr aus, wegen der sie in Analyse
kam. Den Inhalt der Analyse teile ich nicht mit. Man wird mir glauben, daß
Kastration (Penisneid) eine Hauptrolle darin spielte.
Wir haben hier eine künstliche Schönheit vor uns. Aggression und Penisneid
wurden in den Willen zur Schönheit umgewandelt. Ganz im Sinne der christlichen
Literatur zerstört sie den schwachen, femininen Mann, während der starke ihr un-
angefochten entkommt.
* * *
Freud bemerkt, daß die Genitalien die Entwicklung des Menschen zur
Schönheit nicht mitgemacht hätten und daß man von ihnen eigentlich nie-
mals sagen könne, daß sie schön seien. Ich habe die Richtigkeit dieser Be-
merkung in einer früheren Publikation? angezweifelt. Es ist ja auch ein
ästhetisches Urteil, über das man nicht disputieren kann. Wenn aber weib-
liche Schönheit — wir wollen einschränkend sagen: eine gewisse Art weib-
licher Schönheit und uns eine etwaige Verallgemeinerung vorbehalten — wie
aus meinen Mitteilungen hervorzugehen scheint, ein phallisches Konversions-
symptom ist, dann hat Freud mit seiner Bemerkung recht. Der Psycho-
analyse sind geläufig: der ganze Körper, ein Teil des Körpers, ein Exkret, das
geborene Kind als phallische Aquivalente. Schönheit gehört auch in diese
Reihe. Theoretisch, das ist im luftleeren Raum, müßte sich Schönheit analy-
3) Lilithneurosis, Psychoanalytic Review, Washington, 1932; deutsch in Psychoanalytische
Bewegung, 1932.
4) Psychoanalytische Bewegung 1930. — Freud and his Time 1931.
Mona Lisa und weibliche Schönheit 329
tisch auflösen lassen, indem sie auf ihren phallischen (genitalen) Ursprung zu-
rückgeführt wird. Frauen, die am Gifte ihrer Schönheit neurotisch erkranken,
können diese Schönheit unmöglich vor einer gewissen Auflösung bewahren,
wenn sie geheilt werden sollen. In Wirklichkeit aber ist die Schönheit doch
beinahe ein „irreversibles“ Symptom; ist ein zu wertvoller Besitz und die
meisten Frauen werden eher jedes Leiden auf sich nehmen als auf sie ver-
zichten.
N Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten
IN Demonstriert an Christian Dietrich Grabbe
Von
Edmund Bergler
Wien
Drum Fluch der Welt, wo jeder Bauernlümmel
| Mit Hilfe einer Viehmagd
Iılılı Etwas Unsterbliches verfertigen kann.
I Gothland in Grabbes „Herzog Theodor von Gothland“ 1820.
Ich stehe erträglich, aber ich bin nicht glücklich, werde es wohl
auch nie wieder. Ich glaube, hoffe, wünsche, liebe, achte, hasse
nichts, sondern verachte nur noch immer das Gemeine; ich bin
| mir selbst so gleichgültig, wie es mir ein Dritter ist: ich lese
| tausend Bücher, aber keins zieht mich an... Ruhm und Ehre
sind Sterne, derenthalben ich nicht einmal aufblicke; ich bin über-
j zeugt, alles zu können, was ich will, aber auch der Wille scheint
il ı mir so erbärmlich, daß ich ihn nicht bemühe; ich glaube, ich habe
Hi] so ziemlich die Tiefen des Lebens, der Wissenschaft und der Kunst
Il genossen; ich bin satt von den Hefen; nur Musik wirkt noch
magisch auf mich, weil ich sie nicht genug verstehe. Meine jahre-
lange Operation, den Verstand als Scheidewasser auf mein Gefühl
zu gießen, scheint ihrem Ende zu nahen: Der Verstand ist aus-
gegossen und das Gefühl zertrümmert.
Aus einem Brief Grabbes an Kettembeil am 4. Mai 1827.
Thumelico: Mutter!
Thusnelda: Was begehrst du, mein Junge?
Thumelico: Ein kleines Butterbrot, nicht größer als meine Hand.
Thusnelda: Ein großes, ein ganz großes sollst du haben! Iß, trink
und freue dich des Augenblicks, ehe die schweren Jahre
kommen!
Aus Grabbes letztem Drama „Die Hermannschlacht“ 1836.
I. Triebtendenzen des Pessimisten
Ein Pessimist ist ein Mensch, der die Existenz der Sonne am Schatten er-
kennt. Diese Definition, die mir ein geistvoller pessimistischer Patient gab,
berücksichtigt, so scharf sie auch einen Zug des Pessimisten — den düsteren
| Aspekt der Welt — herausarbeitet, eine Reihe von Eigenschaften nicht. Vor
ll) allem die bekannte Tatsache, daß der Pessimismus eine narzißtische Schutz-
maßnahme des Ichs darstellt: durch gedankliche Vorwegnahme künftigen Un-
ı) Nach einem Vortrag, gehalten in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung innerhalb
des Seminars für die theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse am 9. März 1934.
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 331
heils schützt sich der Pessimist vor seinem Schreckgespenst: der Düpierte zu
sein. Es sieht manchmal so aus, als hätte sich der Pessimist mit der Tatsache,
daß alles im Leben mißlingt, abgefunden, doch erträgt er diese Tragödie nur
um den Preis eines narzißtischen Lustgewinns, den er aus der richtigen Vor-
aussage schöpft. Dieses krampfhafte Sich-nicht-Düpieren-lassen-wol-
len läßt vermuten, daß der infantile Allmachtswahn der Pessimisten be-
sonders empfindliche Schläge in allerfrühester Kindheit er-
litten haben muß, d.h. diese Menschen haben den Zusammenbruch der
„autarkischen Fiktion“ nicht verwunden und begnügen sich nicht mit
den üblichen Restitutionsversuchen der verlorenen narzißtischen Einheit.? Ge-
rade dieses Fixiertbleiben an die Enttäuschung macht das Krankhafte aus und
bedingt die Unfähigkeit zur Objektbesetzung und Liebe, die die „normalen“
narzißtischen Restitutionsversuche darstellen. All dies läßt die Erwartung auf-
kommen, daß der Pessimist in seinen Unheilsprophezeiungen immer gegen
einen Unsichtbaren polemisiert, etwa nach der Formel: Ich habe ja immer ge-
wußt, daß du ein schlechter Kerl bist und mich nicht liebst. Nun ist es im
ersten Augenblick nicht ersichtlich, wie aus der Tatsache eines erwarteten un-
heilvollen Ausgangs, der sich gegen die eigene Person richtet — wann er-
wartete der Pessimist von der Welt Gutes? —, Lust geschöpft werden kann,
es sei denn ein Stück masochistischer Befriedigung. Diese kommt beim oralen
Pessimisten in ausgiebigem Maße zur Geltung, genau so wichtig ist aber das
Ad-absurdum-Führen, resp. das Ins-Unrecht-Setzen der infantilen Machtperson
— es handelt sich immer um die phallische Mutter —, die sich hinter dem,
erst später vermännlichten, supponierten Schicksal, Fatum usw. verbirgt.
Dieses Ins-Unrecht-Setzen dient doppeltem Zweck: es schafft ein Stück Lust
aus dem schadenfrohen Ausleben der unbewußten Aggression (es ist bekannt,
wie schadenfroh Pessimisten sind, wenn sie die „Harmlosen“ durch Prophe-
zeiungen schrecken), und nimmt ein Stück Über-Ich-Bestrafung vorweg, indem
es die peinliche Vorstellung der Nichterfüllung verschafft. Der orale Pessimist
leitet aus diesen ständigen Enttäuschungen die Berechtigung zu seinem Haß
gegen die erhöhte Mutterimago ab, da — wie nachzuweisen sein wird — der
orale Pessimist gar nicht der Erfüllung seiner Kinderwünsche,
sondern der Kindheitsenttäuschung nachjagt. Wie jeder Neurotiker
ist er einem Grammophonliebhaber vergleichbar, der aber nur für eine Platte
Interesse hat, die er immer bei sich trägt: wo er ein Grammophon sieht, stürzt
er sich mit Feuereifer darauf und läßt, nie ermüdend, seine einzige Platte ab-
2) Siehe Jekels und Bergler „Übertragung und Liebe“, Imago 1934. H. 1.
3) Bei Zwangsneurotikern hat der (anale) Pessimismus noch den Sinn, daß das „Günstige“
nicht ausgesprochen werden darf, um das „Schicksal“ nicht zu „provozieren“, da ja in der
Zwangsneurose Worte magische Bedeutung haben.
4 { u —
332 Edmund Bergler
laufen. Der orale Pessimismus ist wie ein neurotisches Symptom aufgebaut:
unbewußte Lust und unbewußte Bestrafungsmechanismen halten einander die
Waage und das Ich schafft in seinem Versuch der Vereinheitlichung ein Kom-
promiß.*
II. Die analytische Literatur zum Problem des Pessimismus
Der erste Analytiker, der die Grundzüge einer Philosophie des Pessimismus
— es war die Schopenhauers — aus dem Unbewußten ihres Schöpfers ab-
leitete, war Eduard Hitschmann, der bewies, daß die frühesten und zutiefst
reichenden Wurzeln des Pessimismus dieses Philosophen aus der eigenartigen
Elternkonstellation entsprangen. Pessimismus sei keine Weltanschauung, son-
dern eine krankhafte Verstimmung. Zur Rechtfertigung der primär subjektiv-
pessimistischen Verstimmung werde sekundär die Verwerflichkeit und Schlech-
tigkeit der Welt herangezogen, wobei ein großes Stück der Systembildung auf
unbewußten Projektionen beruhe. Schopenhauer war einer aus jener Minorität
von Tischgängern an des Herrgotts Tafel, denen es nicht schmeckt; ihr Kost-
verachten beweist nicht, daß das Gebotene schlecht ist, sondern — ihre
psycho-physische Konstitution. Hitschmann betont die Bedeutung des Nar-
zißmus und vor allem des masochistischen Lustgewinns beim Pessimismus in
Übereinstimmung mit Nietzsche.
„Deutlich läßt sich die Freude am eigenen Leiden in der ganzen pessimistischen Dar-
stellung und Auffassung des Lebens erkennen, da ja am Mißraten, Verkümmern, am Schmerz,
am Unfall, am Häßlichen, an der willkürlichen Buße, an der Entstellung, Selbstgeißelung,
Selbstopferung ein Wohlgefallen gefunden und gesucht wird. Dies ist alles im höchsten Grade
paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst nicht zwiespältig will,
welche sich selbst an diesen Leiden genießt“ (Nietzsche). Das, was ein Philosoph für die
objektive Wahrheit, für letzte Lösungen der Welträtsel ansieht, ist nach Hitschmann
psychologisch individuellste Zwangsgedankenbildung und deren Projektion und es sind die
ureigensten Affekte des Philosophen, die ihn in bestimmte Richtungen zwingen.
Bedenkt man, daß diese geistreiche Arbeit aus der Frühzeit der Analyse
stammt, ist man über die Treffsicherheit der Formulierungen — vor allem
das Aufspüren des masochistischen Genusses beim Pessimisten ist staunens-
wert — frappiert und versteht, weshalb Freud diese Arbeit in seinem Werk
„Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ zugleich mit dem philo-
4) Man darf nicht vergessen, daß das ganze neurotische Gebäude des Pessimisten etwas
Sekundäres darstellt und einem der vielen möglichen Ausgänge des realen oder ver-
meintlichen Nicht- oder Zuwenig-Geliebtseins in der frühesten Kindheit entspricht. Nur darf.
man sich die „Enttäuschungen“, an denen der Pessimist erkrankt, nicht allzu primitiv vor-
stellen. So fragt etwa der Grabbe-Biograph Ziegler: „Was hatte denn die Welt dem jungen
Grabbe groß zuleide getan?“ — Die Enttäuschungen liegen in der unwahrscheinlich frühen
oralen Säuglingsperiode und gehen auf die Mutter-Kind-Beziehung zurück.
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 333
sophisch-analytischen Aufsatz Wintersteins „Psychoanalytische Anmerkun-
gen zur Geschichte der Philosophie“ besonders hervorhebt.
Und die Triebkonstituenten des Pessimismus? Wir wissen, daß es einen
„analen“ und einen „oralen“ Pessimisten gibt. Der anale Pessimist hat eine
glänzende Beschreibung in einer späteren Arbeit Eduard Hitschmanns ge-
funden, der nichts hinzuzufügen ist. Hitschmann rekonstruiert in dieser Ar-
beit den Charakter des zwangsneurotischen Misanthropen von Molitre:
„Nehmen wir an, er sei ein der zärtlichen Mutter besonders ergebenes und ursprünglich
verwöhntes Kind. Der Vater war aus derberem Holz, grob, von nicht der strengsten Sitten-
strenge. Der Sohn, an die Mutter fixiert, dem Vater eifersüchtig und immer kritischer
gegenüberstehend, würde sich, aus der zu überwindenden Feindseligkeit heraus, ein besonders
strenges Über-Ich aufrichten. Inzestuöse Phantasien auf die Mutter ließen das Sexuelle
doppelt ablehnungswert erscheinen; es fiele auch mit unter das viele Ekelhafte, das ein anal Ver-
anlagter verwirft. Narzißmus plus Analität geben eine Disposition zur Homosexualität, die durch
Identifizierung mit der Mutter verstärkt, aber nie manifest würde. Das Vorbild der Mutter müßte
viel strenge Gesittung, etwa auch kritisch gegen den weniger gediegenen Vater ausgespielt, zur
Nachlebung enthalten. Innerer Zwang zur Enthaltsamkeit, gesteigert durch ängstlich ein-
schüchternde Erziehung der Mutter, welche die Forderung, ausschließlich ihn zu lieben, ent-
täuschen mußte, ließe nichts übrig, als Unfähigkeit und Kränkung. Das Resultat ein
nazarenischer, gar nicht hellenischer Mann, ein Enttäuschter, ein Weltverbesserer, ein Ethiker,
aber ein polternder, ohne Liebe, über dem ein düsterer Schatten ruht.“ — Der Autor hebt
in der Arbeit noch hervor: das gesteigerte Selbstgefühl des Alceste, sein Opponieren aus
Prinzip, seine verbalen Übertreibungen, masochistische Züge des Leidenwollens, sein para-
noides Mißtrauen und die Tatsache, daß Haß, Verneinung, Pedanterie und Übermoral
dominieren.
Ansonsten berichtet die analytische Literatur wenig über den oralen
Pessimisten. Die erste Äußerung finden wir bei Abraham, der in seinen
„Beiträgen der Oralerotik zur Charakterbildung“ darauf hinweist, daß der
schwerblütige Ernst der analen Pessimisten nicht unmittelbarer analer Her-
kunft ist, sondern aus der Enttäuschung der oralen Wünsche des frühesten
Alters entstand. Abraham nimmt eine Unterteilung der oralen Stufe in zwei
Teile vor, wobei in der ersten das Saugen, in der zweiten das Beißen die
Hauptrolle spielt, und meint, daß eine geglückte Verarbeitung der oralen
Erotik die erste und somit vielleicht wichtigste Voraussetzung eines späteren
normalen Verhaltens in sozialer wie in sexueller Beziehung bildet. Ob nun
das Kind in der Säuglingsperiode Lust entbehren mußte oder durch Übermaß
an Lust verwöhnt wurde — die Wirkung sei die gleiche. Das Kind nimmt
unter erschwerten Bedingungen Abschied vom Stadium des Saugens. Da sein
Lustbedürfnis entweder nicht genügend gestillt wurde oder zu anspruchsvoll
geworden ist, stürzt sich sein Begehren mit besonderer Intensität auf die Lust-
möglichkeiten des nächsten Stadiums, wobei ständig die Gefahr der Regression
lauert. Das heißt, die Lust am Beißen wird besonders hervortreten, ebenso
334 Edmund Bergler
die überstarke Ambivalenz. In manchen Fällen stehe die Charakterbildung
unter oralem Einfluß: dem unerschütterlichen Optimismus, daß die Mutter-
brust ewig fließen werde (eine Einstellung, die zu weltfremder Sorglosigkeit
führen kann), stehe der Pessimist gegenüber, der dem Leben gegenüber eine
sorgenvolle Einstellung habe und die Neigung „es sich sauer werden zu
lassen“ und sich selbst einfachste Vorgänge des Lebens über Gebühr erschwere.
Abraham nennt ferner eine Reihe von Abkömmlingen dieser Einstellung: z. B.
den Beamten, dem die Subsistenzmittel bis zum Tode garantiert werden
müssen, den Ungeduldigen, Ehrgeizigen, Geizigen, oral Aggressiven, den Hast-
und Ruhelosen usw. Die auf der oral-sadistischen Stufe Fixierten seien feind-
selig und bissig (Neid, Mißgunst, Eifersucht), während die auf der ersten —
saugenden — Stufe Zurückgebliebenen ein heiteres und umgängliches Wesen
an den Tag legen.
Freud hat in seinen letzten Arbeiten die präödipale Mutterbindung des
Kindes hervorgehoben und gemeint, „daß die Gier des Kindes nach seiner
ersten Nahrung überhaupt unstillbar ist, daß es den Verlust niemals ver-
schmerzt“, und sarkastisch hinzugefügt, er wäre nicht überrascht, wenn die
Analyse eines Primitiven, der noch an der Mutterbrust saugen durfte, als er
schon laufen und sprechen konnte, ebenfalls den Vorwurf, zu wenig Milch er-
halten zu haben, zutage fördern würde.
Ferenczi hat den Pessimismus im allgemeinen mit einer Störung des Wirk-
lichkeitssinnes zu erklären versucht:
„Alle Kinder leben im glücklichen Wahne der Allmacht, der, sie irgend einmal — wenn
auch nur im Mutterleibe — wirklich teilhaftig waren. Es hängt von ihrem „Daimon“ und
ihrer „Iyche“ ab, ob sie die Allmachtsgefühle auch ins spätere Leben hinüberretten — und
Optimisten werden können, oder ob sie die Zahl der Pessimisten vermehren werden, die
sich mit der Versagung ihrer unbewußten irrationalen Wünsche nie versöhnen, sich durch
die nichtigsten Anlässe beleidigt, zurückgesetzt fühlen und sich für Stiefkinder des Schicksals
halten — weil sie nicht seine einzigen oder Lieblingskinder bleiben können.“
(„Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes“, 1913.)
III. Aus Grabbes Kindheit
Im folgenden wird der Versuch gemacht, an Hand eines Bruchstücks einer
psychoanalytischen Dichterbiographie dem Problem des oralen Pessimisten
näherzukommen. Daß gerade Christian Dietrich Grabbe als Testobjekt ge-
wählt wird, hängt mit mehreren Gründen zusammen: mit der Bewunderung
des Verfassers für Grabbes Werke, mit der Tatsache, daß drei der hervor-
stechendsten Eigenschaften Grabbes — seine Oralität,5 seine Allmachtsidee®
5) „Zur Problematik der Pseudodebilität.“ Int. Zeitschr. f. Psa., XVII, 1932. — „Der Mamma-
komplex des Mannes“ gemeinsam mit L. Eidelberg. Int. Zeitschr. f. Psa., XIX, 1933. —
„Übertragung und Liebe“ gemeinsam mit L. Jekels, Imago, XX, 1934. — „Über einige
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 335
und sein Zynismus’ — zum engeren Arbeitsgebiet des Verfassers gehören, und
endlich mit dem Reiz, ein von den wissenderen Biographen als unlösbar er-
klärtes Problem zu lösen: „Einen Proteus in hundert Gestalten und nirgends
zu fassen“ nennt ihn z.B. Ziegler; „keine Formel deckt ihn ganz“ resümiert
Hillekamps.
Über die Bedeutung Grabbes — dieses Buonarotti der Tragödie
(Marggraff) — sei ein Urteil Heinrich Heines angeführt:
»... Will hier nur bemerken, daß besagter Dietrich Grabbe einer der größten deutschen
Dichter war und von allen unseren dramatischen Dichtern wohl als derjenige genannt werden
darf, der die meiste Verwandtschaft mit Shakespeare hat. Er mag weniger Saiten auf seiner
Leier haben als andre, die dadurch ihn vielleicht überragen, aber die Saiten, die er besitzt,
haben einen Klang, der nur bei dem großen Briten gefunden wird. Er hat dieselben Plötz-
lichkeiten, dieselben Naturlaute, womit uns Shakespeare erschreckt, erschüttert, entzückt.
Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch eine Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und
eine Ausgelassenheit, die das Tollste und Abscheulichste überbieten, das je ein Gehirn zutage
gefördert. Es ist aber nicht Krankheit, etwa Fieber oder Blödsinn, was dergleichen hervor-
brachte, sondern eine geistige Intoxikation des Genies. Wie Plato den Diogenes
einen wahnsinnigen Sokrates nannte, so könnte man unseren Grabbe leider mit doppeltem
Rechte einen betrunkenen Shakespeare nennen.“
„Ein origineller und ziemlich absonderlicher Dichter‘ — so nennt Freud im
„Unbehagen in der Kultur“ Grabbe — hatte eine ungewöhnliche Jugend:
Grabbe wuchs im Zuchthaus zu Detmold auf. Sein Vater war Zuchtmeister,
d. h. Gefangenenaufseher. „Die Wohnung der Eltern lag über und neben den
Zellen, in welchen Verbrecher eingesperrt saßen und man gelangte zu ihnen
nur, indem man an Schildwachen und Türen, die mit eisernen Stangen ver-
riegelt waren, vorüberging“ (Ziegler). Der Vater wird als gutmütiger, freund-
lich-liebenswürdiger Pantoffelheld geschildert. Das Regiment im Hause führte
Frau Grabbe — „der Zuchthauskommissarius“ —, wie sie scherzweise genannt
wurde. Da Grabbes Mutter für seine spätere Entwicklung die entscheidende
Rolle spielte, seien die einander widersprechenden Außerungen von beiden
Biographen Grabbes, Duller und Ziegler, nebeneinandergestellt. Es sei im vor-
hinein hervorgehoben, daß sowohl Dullers, wie Zieglers Objektivität wieder-
holt angezweifelt wurde: Duller stand unter dem Einfluß von Grabbes Witwe,
die mit der Mutter Grabbes in erbitterter Feindschaft lebte — „sie stiehlt, sie
sauft“, zeterte sie — und Ziegler wieder wird Voreingenommenheit gegen Frau
noch nicht beschriebene Spezialformen der Ejakulationsstörung.“ Int. Zeitschr, f. Psa., XX,
1934. — „Über die Vorstadien der männlichen Schlagephantasie.“ Erscheint in Int. Zeitschr.
f. Psa.
6) „Das Unheimliche.“ Erscheint demnächst in International Journal of Psychoanalysis
(London). — Eine Arbeit des Verf. über die Entwicklung der kindlichen Größenideen ist in
Vorbereitung.
7) „Zur Psychologie des Zynikers“, Psa. Bewegung, V, 1933. — „Ialleyrand. Ein Beitrag,
zur Psychologie des Zynikers.“ In Druck.
336 Edmund Bergler
Grabbe vorgeworfen und angedeutet, daß seine Informationen von seiner
Frau, einem früheren Dienstmädchen der Frau Grabbe, stammen.
Duller entwirft ein grausiges Bild der Mutter Grabbes, das offenbar haß-
verzerrt ist und aus diesem scharfsichtigen Haß heraus — Duller ist ja ein
Sprachrohr der Gemahlin Grabbes — sogar die Wichtigkeit der präödipalen
Mutterbindung ahnt:
„Grabbes Mutter lebt noch. An ihrer Brust begann sein Unglück. In jenem zarten Alter,
da der Vater dem Kinds noch nichts sein kann, die Mutter ihm alles sein muß, fand er am
Herzen der Mutter kein Weichtum, keinen Schutz, fand er darin fast sein Verderben. Die
Kombinationen seiner frühesten Kindheit hatten etwas Dämonisches, dessen Einfluß, wiewohl
durch Erziehung und Bildung geschwächt, und wie es schien, verwischt, doch in der Folge
mit einem Male gebieterisch wieder zum Vorschein kam, und sich als feindseliges, vernich-
tendes Element geltend machte. Denkt euch eine weibliche Natur, in welcher jede geistige
Regung unter der starren, schmutzigen Rinde des Sinnenlebens erstickt bleibt, in welcher die
Wahrheit nie zum Durchbruch gelangt, in welcher — statt des Bewußtseins — nur der In-
stinkt, mit welcher — statt des Willens — nur dies oder jenes bizarre Verlangen, wie
sinnliche Anregung eines gebar, schaltet und waltet, — eine solche bösartige, halbverrückte
Natur, und — in eines solchen Wesens Schutz gegeben denkt euch ein Kind, das jeden
Anblick, jedes Wort, jede Vorstellung wie Muttermilch einsaugt, dem die Mutter das
lebendige Evangelium, dem sie erste und letzte, dem sie die heiligste Liebe, die es noch nicht
zu fassen und später nie zu erwidern und zu vergelten vermag, das Organ sein soll, durch
welches es das ganze Geheimnis seines Lebens wie einen Traum übersieht, auf den es viel-
leicht erst auf dem Sterbebette sich wieder besinnt. Von allem diesen fand das Kind Grabbe
das Gegenteil. Denkt euch eine Mutter, die ihrem Kinde von dessen viertem Lebensjahre an
täglich betäubende geistige Getränke darbietet, und ihm des Nachts beim Schlafengehen
solche vor das Bette setzt. In tiefstem Schmerze erzählt Grabbe dies von der seinigen.“
Ziegler behauptet so ziemlich das Gegenteil:
„Grabbes Mutter, eine starke, hochgebaute Frau, die in ihrer Jugend schön gewesen sein
soll und deren noch jetzt ausdrucksvolle Züge und helle Augen noch jetzt sehr viel Energie
und Willenskraft andeuten, stellt in ihrer weißen Pikeemütze und ihrem breitgesteckten
Tuch eine repräsentable Bürgersfrau dar. Freilich ist ihr etwas Leidenschaftliches und
Hastiges eigen, weswegen sie manchmal auf Erfüllung wunderlicher Einbildungen, die sie sich
in den Kopf gesetzt hat, mit Beharrlichkeit bestehen kann... Wenn Duller in seiner Bio-
graphie Grabbes von ihr erzählt, daß sie Letzteren in seiner Kindheit durch Roheit und
Härte eingeschüchtert und ihm des Nachts beim Schlafengehen betäubende geistige Getränke
vors Bett gesetzt habe, so lautet das freilich sehr romantisch... indessen ist dieser phan-
tastische Aufputz lediglich in dem Gehirn der Witwe Grabbes entstanden. Die Eltern liebten
den Sohn mit der zärtlichsten Liebe, zumal sie sich einen Sohn gewünscht. (Grabbe war das
einzige Kind.) Besonders scheint er der Augenstern der Mutter gewesen zu sein, in der
Weise, daß sie wohl nicht ganz frei davon gewesen sein möchte, ihn in seiner Jugend ver-
zärtelt und ihm viel zugute gehalten zu haben.“
Um die Unsicherheit voll zu machen, sei noch auf eine Stelle in Heines
„Memoiren“ verwiesen, in welcher Heine direkt hervorhebt, daß Grabbes
Mutter ihm das Trinken abgeraten habe:
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 337
„Eine Geschichte will ich hier einweben, da sie die verunglimpfte Mutter eines meiner
Kollegen in der öffentlichen Meinung rehabilitieren dürfte. Ich las nämlich einmal in der
Biographie des armen Dietrich Grabbe, daß das Laster des Trunks, woran derselbe zugrunde
gegangen, ihm durch seine eigene Mutter frühe eingepflanzt worden sei, indem sie dem
Knaben, ja dem Kinde Branntwein zu trinken gegeben habe. Diese Anklage, die der
Herausgeber der Biographie aus dem Munde feindseliger Verwandter erfahren, scheint grund-
falsch, wenn ich mich der Worte erinnere, womit der selige Grabbe mehrmals von seiner
Mutter sprach, die ihn oft gegen „dat Suppen“ mit den nachdrücklichsten Worten ver-
warnte. Sie war eine rohe Dame, die Frau eines Gefängniswärters, und wenn sie ihren
Wolf-Dietrich karessierte, mag sie ihn wohl manchmal mit den Tatzen einer Wölfin auch
ein bischen gekratzt haben. Aber sie hatte doch ein echtes Mutterherz.“
(Memoiren, Ausg. Bong, Bd. 15, S. 79.)
Der ganze Streit um die Person der Mutter Grabbes ist dadurch provoziert
worden, daß man annahm, Grabbe sei an seiner Trunksucht zugrunde ge-
gangen, wobei die Tendenz bestand, die Schuld an dem Alkoholismus der
Mutter zuzuschieben. In Wirklichkeit starb Grabbe im Alter von 351/, Jahren
(tr. Dezember 1801— 12. September 1836) an Tabes, der Spätfolge einer in
der Studentenzeit akquirierten Lues.® Dieser Fehldiagnose ist es zu danken,
daß wir von den Biographen einiges über die Mutter Grabbes erfahren. Nach-
dem dieser Streit wegen der Schuld oder Unschuld der Mutter an Grabbes
Trunksucht durch die Verifizierung der Diagnose gegenstandslos geworden ist,
gewinnt er doch wieder eine ganz andere Bedeutung, und zwar vom analyti-
schen Gesichtspunkt, von Grabbes überstarker Oralität her. Und wenn auch
| der primitive Vorwurf der „Anlernung“ des Säuglings zum Potus ein der
psychoanalytischen Deutung bedürftiges Märchen ist, das Grabbe selbst kolpor-
tiert hat,? so ist natürlich immer wieder die Beziehung des Kindes zur Mutter
der Ausgangspunkt und der Schlüssel zum Verständnis jeder Persönlichkeit.
Jede Analyse zeigt immer wieder, in welchem Ausmaß die Bedeutung des
Vaters für die psychische Entwicklung bisher überschätzt und die der Mutter
unterschätzt wurde. Die letzten Arbeiten Freuds über die „präödipale Mutterbin-
dung“ sprechen im Sinne dieser Annahme.!?
Nach dem von Duller, Ziegler und Heine Angeführten ist anzunehmen, daß
die Erziehung der Mutter durchaus inkonsequent war: Überzärtlichkeit und
unmotivierte Strenge wechselten ab, wobei das Rabiate der Mutter beim Kinde
selbst bei Liebkosungen Angstbereitschaft hervorrief. Sehr treffend ist Heines
8) Vgl. Erich Ebstein, „Grabbes Krankheit“.
9) „Aber es kam Grabbe auch nicht darauf an, wenn sich’s gerade schickte, seine Romantik
aus dem Milieu der Hintertreppe zu schöpfen. So entstanden denn Geschichten, wie die von
dem begnadigten Mörder, den er als kleines Kind an einem Wollfaden im Gefängnishofe
herumführte oder das gräßliche, von ihm selbst in die Welt gesetzte Gerücht, daß die
eigene Mutter dem vierjährigen Kinde Branntwein vors Bett gesetzt habe.“
(Wukadinowic.)
10) Vgl. E. Bergler und L. Eidelberg, a.a.O.
Imago XX/3 22
338 Edmund Bergler
Vergleich mit einer Wölfin, die mit ihren Tatzen auch liebend gekratzt haben
mag. Dafür spricht auch folgende Szene zwischen Mutter und Knabe in der
„Hermannsschlacht“ („Eingang“, 6.):
Thusnelda: Einen Kuß, Junge! Noch einen und noch tausende — ich werde nicht satt.
Thumelico: Deine Küsse tun weh.
Thusnelda: Kind, ich bin zu froh.
IV. Grabbes Oralität
Es muß bei Grabbe eine offenbar konstitutionell bedingte Verstärkung
der oral-sadistischen Komponente angenommen werden, die durch
akzidentelle Erlebnisse! in die Höhe getrieben sein mag. Auf diese Stufe der
Sexualentwicklung regredierte Grabbe, wobei man begreiflicherweise Zeitpunkt
und akzidentellen Anlaß, dem bloß die Rolle des agent provocateur zufällt,
nicht mehr feststellen kann. Das sadistische Aussaugen und Beißen anderer
und die Rückwendung dieser Aggression gegen die eigene Person unter dem
Drucke des unbewußten Schuldgefühls, das sich im Strafbedürfnis äußert, in
Form der Angst vor dem Gefressenwerden, spielen bei Grabbe eine übergroße
Rolle. Diese Einstellung kann man im realen Verhalten Grabbes finden und
mit einer Unzahl von Zitaten aus seinen Werken belegen.
So erzählt z.B. Gräfin Elisa v. Ahlefeld (die Freundin Immermanns), daß
sie Grabbe mit ihrer schönen Hand nicht zu nahe kommen durfte, da er sonst
sofort hineinbiß, „weil sie gar so appetitlich sei“. „Er war wie ein Kind“, sagte
die Gräfin von ihm, „so gut, so unartig, so lenksam, aber auch so schmutzig“.
Eine ähnliche Szene — diesmal handelt es sich um einen Mann — erzählt
Ziegler (S. 77):
„Einst traf er auf einem Balle mit ein paar Berliner Studenten, die, ich weiß nicht von
wem, eingeführt waren, zusammen, der eine von ihnen hieß Eichholz... Die jungen Leute
hatten sich an ihn gedrängt, saßen mit ihm in einer Nebenstube, wo sie miteinander zechten,
und flossen hier über in Lobeserhebungen über die Grabbeschen Werke, was allerdings nicht
ohne Reiz für Grabbe blieb, der für Schmeicheleien zu Zeiten sehr empfänglich war. Das
hatte eine Weile gedauert, da näherten sich mehrere von Grabbes älteren Bekannten und
warfen spöttische Blicke auf diese seine Unterhaltung. Grabbe merkte das, schien sich
darüber zu schämen, daß er sich mit den jungen Leuten in solche Vertraulichkeit eingelassen
habe und brach nun auf höchst seltsame Art auf. Er sprang auf und während der Herr
Eichholz noch vor ihm stand und fortfuhr zu demonstrieren, drückte er ihm die Hand mit
den Worten: ‚Ja, ja, Sie haben ganz recht‘, neigte sich zu ihm, als ob er ihn küssen wollte
und biß ihn auf die Wange, indem er versetzte: ‚hier haben Sie ein Zeichen meiner Hoch-
achtung.‘ Dann drehte er sich um, verzog das Gesicht zu einer lächerlichen Miene und ging
aus dem Zimmer.“
ı1) Wir wissen nichts über den Zeitpunkt der Mutterbrustentwöhnung Grabbes und kön-
nen nur aus Indizien auf die Stärke dieses Traumas schließen.
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 339
Ein Studienkollege Grabbes erzählte folgende Szene, die Ebstein ($.2r)
zitiert:
„Daß Grabbe sich oftmals sehr herabwürdigte, ist ein bekanntes Ding... Grabbe war
geradezu ein Schwein. Mehrere junge Juristen machten wir einen Spaziergang auf dem
Detmolder Stadtbruche. Da es dämmerte, liefen Mäuse hin und her. Plötzlich warf sich
Grabbe auf die Erde, haschte wie ein Kater nach den Tieren, erhaschte eines und nahm es
zwischen die Zähne. Einer rief: ‚Trägst du es so zur yStadt Frankfurt« hin, gebe ich so
und so viel aus.‘ — Grabbe gab sich auch hiezu her.“
Aus Grabbes „Nanette und Marie“ stammt folgende Episode:
Nanette: Weh!
Pietro (Vater): Was ist?
Nanette: Die Nadel hier — sie stach
Mir in den Finger — er bluter —
Leonardo (Liebhaber): Laß mich ihn
Aussaugen!
Nanette: Ha, der Unbarmherzige!
Ich fühl es, wie er mir die Seele wegsaugt!
Ebenfalls aus „Nanette und Marie“:
Leonardo: Oh, Nanette, holder Name! .
Sollt ich dereinst verzweifelt und verlassen
Im fürchterlichsten Schmerz darniederliegen,
So würde ich „Nanette“ sagen und
Wie Himmelsfrieden würd’ es mich umweben!
Nanette: Pah,
Ich liebe meinen Namen nicht, er klingt
Zu zimperlich! — Ein Wort wie Krokodil,
Das wär’ ein Nam’ gewesen, welcher zu
Der grimmen Miene paßte, die ich dir
So gerne zeigte und nicht zeigen kann.
Leonardo: Nein, keine grimme Miene, auch nicht nur
Zu scherzen! Deine Augenbrauen sind
Zwei Raben in dem Schnee, und wenn du sie
Zusammenzögst, so würd’ ich denken, daß
Sie ihre Flügel regten, um mir auf
Den Busen loszufliegen und ihn aus-
Zuhacken!
Nanette: Pfui doch, du erschreckst mich vor
Mir selbst, — kaum wage ich an meine Stirn
Zu fassen, — meine Augenbrauen könnten
Mir in den Finger beißen...
Leonardo: Deine Finger
Verdienten das um meinetwillen! Halb
Geöffnet, gleich schlau ausgestellten Mäusefallen
Erwischen sie mit einem Druck die Herzen
Und lassen ihren Fang nicht eher — Ei,
Sieh da! Wie niedlich!
22*
340 Edmund Bergler
Besonders beweisend ist eine Szene aus dem Märchenspiel „Aschenbrödel“.
Dort stellt die Feenkönigin der Olympia eine sonderbare Dienerschaft zur
Verfügung: der Kutscher ist eine verwandelte Ratte, die Kammerzofe eine
verzauberte Katze.
Königin der Feen:
Doch müssen wir bei all den Feengaben
Zur Freude auch den Scherz noch haben.
Der Kutscher fehlt — ’ne Ratte naget dort.
„Ratte sei Kutscher! Fahre du wild! Wild wie du bist!“
Die Zofe fehlt — ei, will die Katz da fort?
„Katze werd’ Zofe! Sanft und doch beißig! Katzennatur!“
(Der Kutscher, eine verwandelte Ratte, tritt ein, graugekleidet, mit einem Zopf bis an
die Fersen und einer großen Peitsche.)
(Er will in das Loch kriechen.) Weh’ mir, ich ward zu groß.
Zofe (sieht den Kutscher, für sich murmelnd): Häh, die Ratte! Ich springe auf sie los! —
Doch still — Ich habe keine Krallen mehr.
Kutscher: Wie unbehaglich ist mir! Wie wohl war mir in meiner süßen Heimat — Wie
schön war ich! Wie schändlich bin ich verwandelt!
Zofe (sacht geschlichen): Fassen muß ich die Ratte, doch —
Kutscher (erblickt die Zofe): Huh, was riech’ ich?
Königin der Feen: Kutscher, wirst du kindisch?
Kutscher: Wenn man mir ans Leben will?
Königin der Feen: An das Leben?
Kutscher: Das Geschöpf da will mich fressen — aber kommt’s mir, ich sterbe nicht
umsonst, ich wehre mich.
Königin der Feen: Das holde Mädchen erschreckt dich? Du nimmst sie einst noch zur
Frau.
Kutscher: Daß ich morgens nach der Hochzeitsnacht statt neben ihr in ihrem Magen
läge... ’S ist ’ne Katze. Der Hund hol ihre Schönheit. Damit betrügt sie die Mäuse. —
Aber wir Ratten, — doch wir ersten Geschöpfe, wir ahnen gleich, was so ’ne St. Simonistin
für eine auffresserische Tendenz unterm Fell hat.
Königin der Feen: Sie sieht dich so mild, so traurig an.
Kutscher: Mild? Ja, um mich heranzulocken! Traurig? Ja, weil ich nicht komme! Sie
hat meinen Vater ermordet, den braven Greis, nun ist sie noch nicht satt,!? sie will noch
den Sohn.
Königin der Feen: Du rasest!
Kutscher: Ich sollt’ es, ich hab Ursach’ über Ursach’. Denn auch meiner Geliebten biß
sie neulich das vierte Bein aus — Gottlob, die hat noch drei behalten, mehr als du je
gehabt. — Und ich — hab’ ich nicht gestern mit ihr auf dem Kornboden gekämpft bis aufs
Blut? Ich, meine Geliebte, einige gute Freunde und Freundinnen aßen ein bißchen Korn,
klatschten ein wenig, hielten nachher einen kleinen Ball, der etwas Lärm machte. — Jene
Kreatur hört das, schleicht heran, springt mir in den Nacken, krallt sich hinein, beißt mir
12) Vgl einen Brief Grabbes an seine Mutter (21. Juli 1835): „Dein letzter Brief hat
mich sehr krank gemacht. Wirst Du —, ich mags nicht sagen. Du willst hieher kommen? —
mich nun ganz ausziehen, weil ich Dir vieles geschickt und schicken werde? Noch nicht satt?“
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 341
den Kopf, ich ihr in meiner Angst das Ohr... schaut, da hat sie noch die Narbe — und nur
ihr erster Schreck vor meinem verzweifelten Widerstand rettete uns.
Zofe: Mein Lieber, du irrst dich in der Person — laß dich umarmen — komm’, fern
von Menschen laß uns tändeln und spielen auf grüner Au.
Kutscher: Ei, Madmoiselle Miau! Er wird sich hüten! Spricht sie schon wieder von „Au“?
Kann sie das „auen“ und „miauen“ auch jetzt nicht lassen?
Zofe (zur Königin der Feen): Oh, laß mich mit dem guten Mann allein!
Kutscher: Eh’ soll der Gottseibeiuns bei mir sein.
Zofe: Ich werde mich mit ihm verständigen!
Kutscher: Zu fressen mich, will sie mich bändigen.
Königin der Feen (zum Kutscher):
Genug! zum Wagen stracks,
Und zu des Königs Hofe
Fahr du Olympia und ihre Zofe!
Kutscher: Ich auf dem Bock und das Tier hinter mir? Daß es jeden Augenblick mir ins
Genick fällt?
Königin der Feen: Ich werde dich vor ihr beschützen,
Doch auf dem Bocke sollst du sitzen!
Kutscher: Schon wieder soll. Ich fühl’s, ich muß...
In Grabbes „Napoleon“ schreit Jouve:
„Hacket dem verräterischen Schneider die Finger ab und steckt sie in den
Mund als Zigarren der Nation.“
Einer der Grundsätze von Grabbes Faust („Don Juan und Faust“, IV. 3.)
lautet:
Was ich wünsche, muß ich haben oder
Ich schlag’s zu Trümmern! Wenn ich schmachte
(Sei’s nach der Liebe oder nach dem Himmel),
So werd ich nicht, wie manche Sehnsuchtsnarren,
Vom Schmachten satt und freu’ in süßlicher
Melancholie und Selbstzufriedenheit daran mich —
Nein, nein, da halt’ ich’s lieber mit dem Tiger, der
So lange Hunger fühlt, bis er der Speise
Genug hat und den Raub zerreißt,
Auf den er lauert. — Muß man denn zerreißen,
Um zu genießen? Glaub’s fast, wegen der
Verdauung. Ganze Stücke schmecken schlecht,
Mir sagen’s Seel’ und Magen...
In „Marius und Sulla“ kommt diese kannibalische Tendenz noch deut-
licher zum Ausdruck:
Flavius (in der Senatsrede):
Blut oder Brot! Wir hungern! Unten an
Dem Tiber liegt der Marius und sperrt
Die Zufuhr! Nicht ein Stäubchen Mehls gelangt
Zur Stadt! Er läßt es in die Wellen schütten!
Die Mütter wollen ihre Kinder schlachten,
Pest, Seuchen, Jammer brechen jäh herein!
342 Edmund Bergler
In Grabbes Jugenddrama „Herzog Theodor von Gothland“ wimmelt
es von oral-sadistischen Anspielungen. Skiöld spricht von Menschenopfern,
der alte Gothland drückt den Wunsch, seinen Sohn zu töten, folgendermaßen
aus: „Nun wollen wir ihn schlachten wie ein Huhn“, Berdoa höhnt des Helden
Träume als Wiederkäuen des Brudermords: „Er kann kein Bruderfleisch ver-
dauen“, Herzog Theodor erzählt einen Traum, in welchem sein ermordeter
Bruder in Gestalt einer ungeheuren Spinne ihm „die Brust aussog“, Rolf zeigt
seine selbstangenagten Fingerknochen und der Kanzler bricht in den Ver-
zweiflungsschrei aus:
Hier
Ist meine nackte Brust! Durchbohr’ sie, reiß
Sie auf! Saug ihre Wunden! Bruderblut
Ist Nektartrank! Schlürf’ es! Hin strömt es dir!
Mit Freuden geb? ich’s, wenn es dich
Beglückt! Berausche dich darin,
Bis daß du dich davon erbrichst!...
Ja, ja, Kettet’s, kettet’s an,
Das Ungetüm, das seine Brüder frißt.
Grabbe verließ die orale Entwicklungsphase mit einer schweren
Läsion: die gütige und die fressende Mutter sollten von nun an ständig um
die Herrschaft in seiner Brust ringen und seine Beziehung zum Leben be-
stimmen.
Es ist auffallend — und für die These der oralen Regression beweisend —,
daß bei Grabbe Frauen und Männer als „Fressende“ und „Gefressene‘“ ohne
Geschlechtsunterschied vorkommen. Das hängt damit zusammen, daß es für
das Kind auf der oralen Stufe einen Geschlechtsunterschied noch nicht gibt:
die Frauen sind ebenso phallische, d.h. Wesen mit einem Brustpenis, wie die
Männer.
Aus dieser nicht überwundenen oralen Phase ist Grabbes Alkoholismus,
vieles an seiner Dichtung, seine Größenideen, sein Pessimismus, ja seine ganze
Sexualität zu verstehen.
V. Grabbes Alkoholismus
Grabbes alkoholische Süchtigkeit erwächst auf dem Boden der oralen Trieb-
konstitution und stellt ein schr komplexes Phänomen dar. Alle bisherigen
analytischen Versuche, das tiefste Agens der Süchtigkeit zu finden, haben keine
Lösung gebracht. Die Arbeiten von Rado, Wulff, M.Klein, M.Schmide-
berg, Glover, E.P. Hoffmann geben trotz höchst bedeutungsvollen Hin-
weisen keine befriedigende Antwort. Daß die orale Triebkonstitution allein
nicht genügt, ist anerkannt. Dazu muß neben einer offenbar konstitutionellen
Gift-Affinität — eine Süchtigkeit zu einem speziellen Gift kann sich, wie eine
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 343
Reihe von nichtanalytischen Autoren hervorhob, nur dort entwickeln, wo der
Körper dieses Gift mit Lustreaktionen beantwortet: gibt es doch Individuen,
die z. B. Morphium mit dysphorischen Reaktionen beantworten —, noch ein
Etwas hinzukommen, das uns bisher nicht bekannt ist. Vielleicht ergeben
die psychischen Reparationsversuche des Entwöhnungstraumas einen weiteren
Zugang zum Problem.
Mit diesen Vorbehalten — derzeitige Unlösbarkeit des Problems — können
wir bei Grabbes Alkoholismus folgende Konstituenten finden:
1. Der Potus ist vorerst eine Wiederholung der oralen Lust und ein
Versuch einer Wiedergutmachung der oralen Enttäuschung. Der Alkoholiker
bekommt soviel zu trinken, als er nur will, die infantile Sehnsucht scheint
erfüllt, die dahinter lauernde, aus der Versagung resultierende Depression zeit-
weise überwunden.
2. Der Potus stellt zugleich eine „magische Geste“ dar, die zeigt, wie
der Potator in der Kindheit bezüglich der Milch hätte behandelt werden
wollen.
3. Das Animieren anderer zum Trinken (eine von Grabbe wiederholt be-
richtete Attitüde) bedeutet die Identifizierung mit der gütigen, oral-
spendenden Mutter. (Bei jedem Menschen besteht nach Freud die Tendenz,
passiv Erlebtes aktiv zu wiederholen.)
4. Auch die konsekutive Logorrhoe und das bombastische Bramarbasieren
im Rausch sind einerseits Identifizierungsprodukte mit der gütigen Mutter,
anderseits stellen sie durch Amovierung des verbietenden Über-Ichs jenen Zu-
stand narzißtischer Glückseligkeit und das Zurückgleiten auf die Stufe der
kindlichen Allmacht dar, die bei jeder Süchtigkeit zu konstatieren ist. Das
schwache aktuelle Ich kann sich der unbewußten Triebtendenzen nicht er-
wehren und erliegt immer wieder der narzißtischen „Versuchung“.
5. Ein weiterer Beweis der kindlichen Allmacht beim Alkoholiker ergibt
sich aus der Urethralerotik. Ich konnte wiederholt in Analysen feststellen,
daß Alkoholiker beim häufigen, durch Alkoholgenuß bedingten Urinieren
infantil-sadistische Größenideen auslebten. Bezeichnend hiefür ist eine Störung
des Zeitgefühls bei diesen Menschen, die, ohne betrunken zu sein, beim durch
Saufen bedingten Urinieren das Gefühl einer unendlich langen Zeitspanne
haben. Diese Größenideen kombinieren sich mit urethral-analen Herab-
setzungstendenzen, für die gerade Grabbe ein Beispiel liefert. So erzählt
Grabbes Biograph Ziegler folgende Szene:
»... Erinnere ich mich, als Hannibal gezwungen war, Italien zu verlassen, hielt er einen
Kriegsrat und während nun seine Generale weise beraten, stellt er sich bei Seite und schlägt
sein Wasser ab. ‚Wartet erst einmal!‘ sagt er verächtlich zu seiner Umgebung, ‚ich muß erst
einmal p...“ Als er wirklich abreist, verrichtet er erst seine Notdurft, indem er spricht:.
344 Edmund Bergler
‚Das ist mein Denkmal, welches ich hinterlasse‘. Wenn man Grabbe fragte, ob er denn der-
gleichen drucken lassen wolle, versetzte er: ‚Allerdings. Und keinen Buchstaben werde ich
streichen.‘ “
Wenn man die bei Grabbe klar nachweisbare Gleichsetzung von Mutter und
Heimat in Rechnung stellt (siehe S. 366), ergibt diese Miktion eine allerstärkste
Aggression gegen die Mutter . (Italien war Hannibals „erweiterte“ und er-
oberte Wahlheimat.)
6. Im Potus liegt zugleich eine Anklage gegen die die Milch verweigernde
Mutter (der gegenüber der Potator ambivalent eingestellt ist) etwa nach der
Formel: Schau, was du aus mir gemacht hast: einen Säufer.
7. Anderseits ist in der Trunksucht eine Rachehandlung gegen die
Mutter auf dem Umwege über die introjizierte Mutter unverkennbar.!® Der
Potator ist dann psychologisch nicht er selbst, sondern die Mutter. Die Schä-
digung gilt nicht dem Säufer, sondern der zu bestrafenden introjizierten
Mutter. Es ist die Umkehrung der Situation: säugende Mutter — saugendes
Kind, wobei die Mutter aus Rache mit Gift „angefüllt“ wird.
8. Zugleich ist eine Trotzhandlung gegen die Mutter, resp. die Autorität
unverkennbar:
„Eines Tages ist Grabbe in einem Konditorladen, dessen Besuch den Schülern verboten war,
mit einigen seiner Altersgenossen anwesend, als einer der Lehrer hereintritt, vielleicht, um
eine Erfrischung zu nehmen. Da wandelt ihn eine solche Verlegenheit und Keckheit an, daß
er augenblicklich sechs Liköre fordert und alle sechs in Gegenwart des Lehrers hinunter-
stürzt.“ (Ziegler.)
9. Daß unbewußte homosexuelle und exhibitionistische Tenden-
zen im Potus in männlicher Gesellschaft hervortreten, ist eine bekannte Kom-
ponente. Das gilt nicht für den „stillen Suff“, wo das früher hervorgehobene
Hinabgleiten in frühe narzißtische Stufen und das Sich-Hingeben an solche
Phantasien mehr hervortritt.
Grabbe, der ursprünglich immer in Männergesellschaft trank, kam in letzten
Jahren immer mehr davon ab. Aus seiner Düsseldorfer Zeit werden Szenen
geschildert, in welchen er halbe Tage lang mit dem epileptischen Komponisten
Burgmüller ohne zu sprechen trinkend „verdöste“, d.h. sich schweigend
seinen Phantasien hingab. Bezeichnend ist, daß er in dieser Zeit an der „Her-
mannschlacht“, also einem Mutterproblem arbeitete (siehe S. 367f.). Endlich sei
auf die Zusammenhänge zwischen Oralität und Homosexualität verwiesen
(siehe „Mammakomplex““).
13) Dieser Mechanismus steht der Melancholie nahe und unterscheidet sich von ihr durch
die partielle Einverleibung. H. Wulff nennt den Vorgang bei seinen Fällen von Freßsucht
treffend „ein Mittelding zwischen Melancholie und Sucht“. („Über einen interessanten oralen
Symptomenkomplex und seine Beziehung zur Sucht.“ Int. Zschr. f. Psa, XVII, 1932.) Eben-
dort Hinweise auf die Differenzen zur Melancholie und Hervorheben der Triebentmischung.
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 345:
10. Die Schuldgefühlsentlastung erfolgt beim Potus auf verschiedenen
Wegen. Beim Trinken in Gesellschaft dadurch, daß auch andere sich be-
rauschen, also durch deren Mitschuldigmachen. Ferner in der realen Selbst-
schädigung durch den Potus, im folgenden Katzenjammer, den Selbstvor-
würfen, dem Odium bei den Mitmenschen usw. usw.
„Anfangs Elend und später häuslicher Gram trieben den unglücklichen Grabbe, im
Rausche Erheiterung oder Vergessenheit zu suchen, und zuletzt mochte er wohl zur Flasche
gegriffen haben, wie andere zur Pistole, um dem Jammertum ein Ende zu machen. ‚Glauben
Sie mir‘, sagte mir einst ein naiver westfälischer Landsmann Grabbes, ‚der konnte viel ver-
tragen und wäre nicht gestorben, weil er trank, sondern er trank, weil er sterben wollte‘;
er starb durch Selbsttrunk.“ (Heine, „Memoiren“, $.79.)
Erinnern wir uns, daß Grabbe selbst das Gerücht kolportierte, seine Mutter
hätte ihn schon als Säugling und Knabe zum Trunke angehalten. Ich halte
dieses Gerücht für eine nur psychoanalytisch erklärbare Rache an der die
Brust entziehenden Mutter: Es ist ein phantasiertes Festhalten an der Mutter-
brust, wobei der Mutter aus Rache für die Entwöhnung die Schuld am Potus
aufgehalst wird. Die aggressive Triebenergie bezieht ihre Verstärkung aus der
bei jeder Sucht stattfindenden Triebentmischung (Wulff).
Daß im Trunke eine liebende und hassende Beziehung zur Mutter zutage
tritt, beweist folgende Stelle aus „Kaiser Heinrich VI.“ (IL. 3.):
Otto: Meine Mutter, meine Mutter!
Heinrich der Löwe: Ging
Dahin, von woher niemand rückkehrt — weine
Nicht länger — Hilft dir nichts — Ich rief schon oft
Zu ihrem Grab — doch nicht einmal ein Echo
Schallt draus hervor. — Das Gute schwindet, nur
Erinnrung bleibt. — Darum, solang’ du atmest,
Erinnre dich an sie, — wenn dir im Römer
Der Saft der Traube blinkt, so denk’ an sie
Und Götternektar wirst du schlürfen...
Diese liebende Trunkintrojektion von Personen hat ihr haßvolles Gegen-
stück. So sagt etwa Erzbischof Mathäus („Kaiser Heinrich VL“, II. I.) seinem
zum Tode verurteilten kirchlichen Gegner („Verkehrt auf einem Esel mit dir
zum Schafott!“):
Ophamilla, heute abend noch,
Wenn du in deinem Blute liegst, trink’ ich
Den schönsten Syrakuser deiner Keller.
Ein anderes Beispiel der Kombination beider Tendenzen ist die Tatsache,
daß Berdoa („Herzog Theodor von Gothland‘) Schnaps in großen
Mengen trinkt und das Glas (Brust) auffrißt. Von Marius („Marius und
Sulla“) heißt es: „Blut und Wein sind seine Losung.“
346 Edmund Bergler
Noch klarer wird der Zusammenhang des Potus mit der milchspendenden
Mutter, wenn wir folgende von Ziegler geschilderte Szene analytisch durch-
denken:
„1829/30 hatte sich Grabbe bei einer Schlittenpartie den Arm gebrochen und ließ sich
in der Wohnung seiner Eltern auf dem Zuchthofe, wohin er solange gezogen war, wieder
heilen... Während wir so saßen, fiel es Grabbe ein, ob wir nicht eine Zigarre rauchen
wollten und indem er ein Bund hervorzog, präsentierte er uns davon. Mein Bekannter neben
mir dankte und versetzte, um Grabbe zu necken: ‚Ach, ich weiß schon, du siehst es doch
nicht gern, wenn wir eine nehmen; darum hast du solange gewartet‘. Da nahm Grabbe das
ganze Bund und zerrieb es so auf Tische, daß alle Zigarren verdorben waren. ‚Sieh, wenn
du das meinst!‘ ‚Das wußte ich‘, sagte mein Nachbar und fing laut an zu lachen und darauf
schämte sich Grabbe. — Als dies vorgegangen war, sprang die Katze der Madame Grabbe
auf den Tisch und nahm sich die Freiheit, mit ihrem roten Züngelchen die Michkanne zu
belecken. Kaum hatte Grabbe dies gesehen, so langte er in seiner Aufregung nach dem
YTintenfasse, das auf dem Tische stand und schüttete es auf die Katze aus, sodaß diese einen
ziemlichen Teil davon wirklich auf ihren Pelz bekam und nun ein großes Unglück anrichtete,
denn sie hüpfte fort auf die Betten und machte auf denselben an mehreren Stellen große
schwarze Flecken. Grabbes Mutter wurde im hohen Grade erzürnt, sprang herbei, ein
noch größeres Unglück zu verhüten und konnte sich nicht enthalten, ihrem Unmut in
einigen derben Ausdrücken gegen ihren Sohn Luft zu machen. ‚Wat sint dat för Naren-
streuche,‘ rief sie in ihrem plattdeutschen Dialekte, ‚diu bist en ganz unkläugen Jungen.“ Er
ließ sich übrigens nicht verblüffen: ‚Och, wat‘, sagte er, — ‚lick..eck kann er nicht vör!
Diu aule Katte, Katte, Katte, drink äust mol!“ Hierbei rührte er seiner Mutter eine Tasse
Tee mit Zucker und Rum zurecht und darauf mußte sie denn natürlich ihrem verzogenen
Sohne wieder vergeben.“
Die Identifizierung zwischen Mutter und Katze ist klar, ebenso die ambi-
valente Einstellung des Sohnes zu ihr. Bezeichnend die Aufregung Grabbes
beim Wegtrinken der Milch: alle oralen Menschen wollen ständig „etwas be-
kommen“ (zutiefst die ewig fließende Mutterbrust) und sind äußerst intolerant
gegen das „Geben“. Eine Ausnahme bildet die Situation, in welcher der oral
Fixierte oder Regredierte sich mit der spendenden Mutter identifiziert.
ır. Endlich sei darauf verwiesen, daß der Potus für die oral Regredierten
eine Art von Sexualbefriedigungsersatz darstellt, da die normale Ab-
fuhr der unbewußten prägenitalen Wünsche infolge ihrer Struktur auf der
dafür nicht eingerichteten Genitalapparatur nicht befriedigbar erscheint. Unter
dem Einfluß der analytischen Erkenntnisse haben auf diesen Tatbestand auch
nicht analytische Sexualforscher hingewiesen.
ı2. Das früher hervorgehobene Festhalten infantiler Allmachtsideen ver-
bunden mit der Schwäche des Ichs bedingen die imperative Forderung des
Potators nach dem „Sofort-Haben-Müssen“ (Federn). Das insistierende,
sich ansaugende im oralen Charakterzug hat Abraham hervorgehoben. Der
Alkohol gibt die Möglichkeit der supponierten Erfüllung dieser Wünsche.
Auch ist der Rausch eine Art „neurotischer Dauerlust“ (Pfeifer), zumindest
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 347
eine protrahierte, stundenlang dauernde Befriedigung, zum Unterschied von
der normalen, im Orgasmus gipfelnden Sexualität.
Resumierend sei nochmals hervorgehoben, daß Verfasser das Moment der
verschiedenen Reparations- und B ewältigungsversuche des Ent-
wöhnungstraumas!* für eine der wichtigsten — vielleicht die wichtigste —
Komponente im Orchester der unbewußten Motive bei der Süchtigkeit hält.
VI. Grabbes infantile Allmachtsideen, ihr Zusammenbruch und
konsekutiver Pessimismus
Bei oralen Menschen setzt der Konflikt mit der supponierten eigenen All-
macht an der gleichen Stelle wie bei jedem Kind ein: bei der Erkenntnis, daß
die Mutterbrust kein Teil des eigenen Ichs ist und es vom Belieben der Mutter
abhängt, ob, wann und wie lange sie dem Kinde gereicht wird. Es folgen Ab-
leugnungs- resp. Restitutionsversuche dieses Traumas. Doch sei nochmals aus-
drücklich hervorgehoben, daß diese Reparationsversuche zutiefst nicht der
Mutter als Objekt gelten, sondern der Mutterbrust, wie sie noch als Teil des
eigenen Ich perzipiert wurde. Das ganze stellt sich somit als rein narzißti-
scher Restitutionsversuch dar.!%“ Es resultieren z.B. Menschen, die zum Essen
eine sehr lose Beziehung haben und jede Enttäuschung mit Appetitlosigkeit
quittieren, die sie häufig aggressiv gegen die Umgebung verwenden; oder aber
Typen, die die Entziehung der Mutterbrust mit einem ewigen, stets erfolg-
losen Suchen derselben beantworten. Häufig sind diese zwei Typen nicht
scharf getrennt:
Don Juan: Verwünscht ist der Gedanke: jedes Ziel
Ist Tod. — Wohl dem, der ewig stirbt, ja Heil,
Heil ihm, der ewig hungern könnte,
Leporello: Danke!
Ich merk’s, ihr laßt mich hungern nach Prinzipien, —
Wenn’s nur mein Magen duldete, doch der
Ruft immer dar: Heil ihm, der ewig frißt.
(„Don Juan und Faust“ I. ı.)
In Träumen oral fixierter oder regredierter Patienten findet man häufig den
sogenannten „Mannatypus“.15 Diese Träume sind immer nach dem Prinzip
des alimentären Unabhängigkeitswunsches von der Mutter (später Vater) auf-
gebaut.1®
14) Vgl. E. Bergler und L. Eidelberg, a.a.O.
14a) Vgl. dazu L. Jekels und E. Bergler, a.a.O., S. 25.
15) Ein oral regredierter Patient, dessen Krankengeschichte ich publizierte („Zur Proble-
matik der Pseudodebilität“, Int. Zeitschr. f. Psa., 1932, H. 4) träumte in symbolischer Ver-
kleidung häufig, daß er an seinem eigenen Penis Milch sauge und so von der Mutter unab-
hängig sei.
16) In der Arbeit „Zur Psychologie des Zynikers“, Psa. Bewegung, V, 1933, habe ich die
PH _ 2). 2027er EEE EEE EREE:
348 Edmund Bergler
Eine weitere Wurzel der Allmachtsidee Grabbes liegt in seinem Wunsche,
das Lieblingskind der Mutter zu sein. Die analytische, von Freud in der
„Traumdeutung“ ausgesprochene Feststellung, daß der Lieblingssohn der
Mutter Optimist wird, hat Grabbe vorausgeahnt, als er seinen Sulla, der nach
seinen eigenen Worten ein Idealbild seiner selbst darstellen sollte,!7 sagen läßt:
Ich merk’ es an der mütterlichen Huld:
Ich bin ein Sohn des Glücks!
An einer anderen Stelle heißt es:
Der Erdball liegt wie ein
Gekrümmter Sklave unter seinem Fuß,
Laut jauchzend, wie den Wetterstrahl der Donner,
Begrüßt das Volk sein Lächeln.
Und trotzdem verzichtet Sulla auf seine Machtstellung:
Da zuckt es durch seinen Geist: Dies alles ist mir unnütz, ich bedarf
es nicht, das Meinige hab’ ich getan, fortan bin ich mir selbst genug.
Ähnlich ist das im Motto erwähnte Zitat zu verstehen, in welchem Grabbe
die Verfluchung der Eltern ausspricht, weil ein solches Genie nicht auf
asexuellem Wege zur Welt kam.!$ Grabbe kolportierte übrigens zeitlebens
einen „Familienroman nach oben“ und deutete zeitweise seine Abkunft von
einem Prinzen an.
Die einzige neurotische Währung, die diese oralen Menschen kennen, ist
Milch, resp. Milchäquivalente. So nennt z. B. Don Juan Gott einen Koch, der
die „Speise“ Donna Anna fabriziert hat („Don Juan und Faust“, II. r.):
Vermutung ausgesprochen, ob nicht die immer rigorosere Bedürfnislosigkeit bezüglich des
Essens, die Diogenes gepredigt hat, als später Versuch der infantilen alimentären Unabhängig-
keit von Mutter und Vater zu deuten ist.
17) „Sulla werde... ein höchst kurioser Kerl. Er soll das Ideal, vergiß nicht das Ideal,
denn sonst wär’ er sehr wenig, von mir werden.“ (Brief an Kettembeil.)
18) Man erklärt nichts, wenn man, wie dies manche Biographen tun, den Anteil der be-
wußten und prononcierten Allmachtsidee und Großsprechereien mit Sucht nach Effekt allein
begründet. Das Problem bleibt bestehen, weshalb gerade diese „Effekthascherei“ bei Grabbe so
groß war. Daß zu allen Zeiten verkommene Genies modern waren, ist eine Banalität. —
Wichtig ist, daß bei diesem Demonstrieren seiner Einstellungen ein großes Stück Exhibi-
tionismus bei Grabbe zur Geltung kam. So pflegte er mit allergrößter Offenheit über
seine Ehemisere zu sprechen, anderseits war diese Exhibition wieder gehemmt, wie Grabbes
mißlungene Versuche, Schauspieler zu werden, seine Schüchternheit und linkische Art be-
weisen. — Es seien noch zwei Beispiele seiner Größenideen genannt: Als er als Gymnasiast
beim Präparieren einer Cäsarstelle saß und ein Kollege ihn besuchte, klappte er rasch das
Buch zu, da er den Anschein erwecken wollte, daß er alle Schwierigkeiten „vermöge seines
angeborenen Genies überwinde“ (Ziegler). — Ähnlich, wenn auch mit sexualsymbolischem
Nebensinn, ist die Gewohnheit Grabbes zu deuten, lediglich unreifes Obst im elterlichen
Garten zu essen und der Versuch, in diesem Stadium jeden andern am Essen der Früchte
dieser Bäume zu verhindern, während er, wenn das Obst reif war, ruhig alle essen ließ. Er
wiederholte damit also unter anderem seine infantile Ausnahmestellung.
——___eeeee—— —
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 349
Gouverneur: ... Es lebe in Gott!
Don Juan: Meinethalben!
Die Erde ist so allerliebst, daß mir
Vor lauter Lust und Wonne Zeit fehlt, um
An den zu denken, der sie schuf. Ist’s Gott —
Nun, um so größ’rer Ruhm für ihn — den Koch
Lobt man mit dem Genuss seiner Speis’ am besten.
Leporello ruft in demselben Drama (IV. 4.) aus:
O wär’ die Welt
Doch ein gebratener Kapaun, und wär’
Ich ’s doch, der ihn anfräß’.
Und Don Juan legt das Bekenntnis ab (I. 2.):
Die einz’ge Speise,!? deren man nicht satt
Kann werden, ist der Kuß — wo man ihn nimmt
In meiner Gegenwart, da raubt man mir
Das Essen vor dem Munde.
Nun merkte aber Grabbe an der Inkonsequenz „der mütterlichen Huld“,
daß er kein „Sohn des Glücks“ sei und dies ist in Verbindung mit der dadurch
bedingten Störung des infantilen Allmachtsgefühls die tiefste Ursache seines
Pessimismus. Pessimisten sind Menschen, die schon im Stadium der präödipalen
Mutterbindung scheitern, Unglückliche, deren Narzißmus, resp. dessen kon-
sekutive Allmachtsideen den Stoß der Liebesentziehung durch die Mutter bei
der Entwöhnung nicht ertragen. Dabei spielt es im Effekt keine Rolle, ob
dieser „Liebesentzug“ real durch Versagung oder Verwöhnung in der Sauge-
periode zustande kam, das heißt, ob die Liebe, die dem Kind entgegengebracht
wurde, zu gering oder die Liebesforderungen des Kindes unmäßige waren.
Auf diesen Umstand hat — auf die Entwöhnung bezogen — Abraham mit
aller Deutlichkeit hingewiesen und dies ist um so mehr zu unterstreichen, als
die Brustentwöhnung ein allgemeines, jedes Kind treffendes Unglück ist.
Auf die Brustentwöhnung muß Grabbe mit maßlosen aggressiven Freß-
regungen reagiert haben, die der Mutter galten. Von der Unbändigkeit dieses
Fressenwollens der Mutter können wir uns annähernd einen Begriff machen,
wenn wir die früher zitierten grotesken Äußerungen der Angst Grabbes, ge-
19) Wir wissen leider nichts über Grabbes Einstellung zum Essen. Aus der Tatsache, daß
er in einem Briefe die gute lippesche Butter erwähnt und aus dem Refus, das er einem ein-
flußreichen Mann (Rat Blümmer) gab, der ihm einen Posten verschaffen wollte — er schüttelte
ihn mit dem Hinweis auf den Eierkuchen, den er gerade verzehrte, ab —, kann man keine
Schlüsse ziehen. Heranzuziehen wäre lediglich die von Ziegler erwähnte Tatsache, daß Grabbe
den Eindruck eines Menschen machte, der einen widerlichen Geschmack auf der Zunge hatte
(schon in Zeiten vor der Tabes) und daß er als Begründung seiner Depressionen „is sauer“
Be Man muß sich also diesbezüglich an die zahlreichen Stellen aus Grabbes Dramen
alten.
350 Edmund Bergler
fressen zu werden, die später unter dem Druck des Über-Ichs zustandekam,
heranziehen. Dabei ist es bezeichnend, daß sich Grabbe die Gewissensinstanz,
das Über-Ich, ebenfalls in Gestalt fressender Tiere vorstellte:
„Ein Palast der Stürme ist
Mein Haupt; wie’n tollgeword’ner Hund
Schlägt mein Gewissen seine Zähne in
Die Tiefen meiner Seele; meine
Gedanken würgen, meine Glieder
Bekriegen sich — (mit höchstem Schmerzgefühl)
Ich bin ein Haufe von zusammen-
Gesperrten Tigern, die einander
Auffressen ..... (Herzog Theodor von Gothland“.)
Thusnelda nennt in der „Hermannschlacht“ das Gewissen „Nachkläffer im
Busen“.
Zu den Restitutionsversuchen gehört auch die immer wieder wild und
trotzig vorgebrachte Abwehr gegen die Knickung der infantilen Allmachts-
ideen, wie etwa folgende Szene aus „Kaiser Heinrich VI“ (V. ı.) beweist:
Konstanze: Sei nun zufrieden.
Kaiser Heinrich: Nimmer — Hätt’ ich auch
Die ganze Welt — Schaut nicht der Himmel dort,
So tief und sehnsuchtsvoll, ein blaues Auge
Der Liebe, auf uns nieder, daß die Busen?°)
Hoch klopfen müssen, auch zu ihm zu stürmen,
An ihm zu schlagen...
Man vergleiche damit den Ausspruch Grabbes (in einem Brief an Kettem-
beil, als Motto abgedruckt): „Ich bin überzeugt, alles zu können, was ich
will.“ Hierher gehören viele seiner bombastischen Großsprechereien, etwa die
Behauptung, in die fünf Akte seines „Kosciuszko“ solle alles „was in Wissen-
schaft, Kunst und Leben bis dato passiert ist“, gepreßt werden und „Don Juan
und Faust“ solle besser werden als Goethes „Faust“.
Und weil die stets wache Selbstkritik Grabbes diese Großsprechereien er-
schwerte, flüchtete er in einen Zustand, in welchem die kritische Gewissens-
instanz partiell amoviert war: in den Alkoholrausch.
Immer wieder kommt Grabbe auf die Bedeutung der weiblichen Brust zu-
rück. So etwa, wenn Faust klagt („Don Juan und Faust“, I. 2.):
Entriß ich dich dem Schwefelpfuhl,
Daß ich in eines Mädchens Kreis mich bannen,
Daß ich Stecknadeln lösen sollte statt
Der Riegel, womit die Geheimnisse
Des Alls verschlossen sind?
20) In allen Dramen Grabbes wird „Busen“ als Brustbezeichnung bei Frau und Mann
verwendet. Vielleicht ist auch dies mehr als eine licentia poetica.
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 351
Der Ritter (= Mephisto): Es kommt die Stunde,
Wo dir der Donna Anna Busennadel
Weit mehr verschließt, als dir die Welt kann geben.
Ähnliches wird im „Herzog Theodor von Gothland“ gesagt, wo der Vater
von Gothlands Frau in der Einöde jammert:
Skiold (bitterlich weinend): Ach,
Mich hungert sehr. (Sinkt auf die Erde.)
Cäcilia (stürzt in die Knie und beugt sich jammernd über ihn): Es ist
Doch grausam, daß ich hier nicht helfen kann!
Hätt’ ich nur Milch in dieser Brust,
Doch statt der Milch brennt Fieberglut
In ihren innern, qualdurchzuckten Räumen!
Steh auf, mein Vater, steh auf!
Nun gab es ja für Grabbe einen Weg, seine Größenideen zu sublimieren: in
seiner Dichtung. Doch gerade die Tatsache, daß der neurotische Pessimist
gar nicht mehr der Erfüllung seiner Wünsche nachjagt, sondern aus Strafbe-
dürfnis und sekundär erotisierter und rückgewendeter Aggression in seiner
Technik des „Ins-Unrecht-Setzens“ der Mutter an den winzigen Punkt der
Enttäuschung gebannt ist, welche Enttäuschung er aus unbewußtem Wieder-
holungszwang immer wieder abhaspelt, bedingte, daß sich Grabbe selbst um
jede Anerkennung brachte: er zerstritt sich konsequent mit seinen Mäzenen,
baute technisch seine Stücke derart auf, daß sie bühnenunfähig waren und
die Ablehnung der Umwelt direkt provozierten, forderte die Maßgebenden
durch Zynismen und Aggressionen heraus — kurz Grabbe war aus unbewußten
Motiven ein genialer Organisator seiner Mißerfolge. Dem widersprechen
keineswegs die krampfhaften manchmal mit grotesken Mitteln durchgeführten
Versuche, sich literarisch und menschlich zur Geltung zu bringen („Reklamo-
manie“). Auch da ist es für Grabbes Infantilismus bezeichnend, daß er seine
Berüchtigtheit (von Berühmtheit konnte man zu seinen Lebzeiten kaum
sprechen), lediglich dazu ausnützte, um prägenitale Tendenzen straffrei aus-
zuleben: etwa wenn er in Gesellschaft „scherzweise“ exhibierte, beim Vor-
lesen sich auf das Corpus juris setzte, zwei Freunden den Militäreid in Unter-
hosen und Frack abnahm, Bekannte in die Wange oder Hand biß, mit ihnen
Pferd und Reiter spielte usw.?! Trotzdem hatte Grabbe recht, wenn er ein-
mal von sich sagte, „er sei trotz aller Tollheit ein gesetzter Mann“.
Eine andere Außerungsform von Grabbes Größenideen bestand in seinem
21) Eine ausgesprochene Schizophrenie lag ebensowenig vor, wie eine progressive Paralyse.
Letzteres ist schon deshalb auszuschließen, weil Grabbes Benehmen und Schriften vor und
nach der luetischen Infektion keine Anderung erfuhren. Grabbe war lediglich ein schizoider,
sehr infantiler Mensch. Ähnliches behauptet Kretschmer.
352 Edmund Bergler
Verhalten zu einzelnen seiner literarischen Produkte. Es wird von verschiede-
nen Seiten übereinstimmend berichtet, daß er nicht wenige seiner Werke „zu
Fidibus verbrannte“ (etwa den „Ranuder“ und „Brutus“), mit der Begründung,
der „kleine englische Pferdedieb Shakespeare“ hätte alles schon viel besser ge-
sagt. Analyseerfahrungen bezeugen, daß es neben einer oralen eine „respira-
torische Introjektion“ (Fenichel) gibt, und es spricht einiges dafür, daß sie
unter dem Druck der prägenitalen Kastrationsangst zustande kommt, die orale
Introjektion substituiert,” wenn auch Beziehungen zur analen Stufe vor-
handen sind. In Grabbes „Napoleon oder die Hundert Tage“ gibt es einen
interessanten Hinweis. Dort gibt Blücher während der Schlacht einem Frei-
willigen seine Pfeife zum Weiterrauchen, „damit er sie in Brand halte“ und
der Freiwillige sagt dann zu Blücher:
Seit der Zeit, daß ich aus ihrer Pfeife rauchte, ist’s mir, als hätt’ ich mir an einem Vulkan
vollgesogen wie ein unmündiges Kind und ich krepiere vor Schlachtwut.
Die aufdringliche homosexuelle Komponente (der Freiwillige bittet z.B.
Blücher um ein „Endchen von der Pfeife zum Andenken“) ist, wie Eidelberg
an einem Fall von Homosexualität nachwies,??® bloß eine Verarbeitung der
Suche nach der phallischen Mutter; auch die Ausdrucksweise („vollgesogen,
wie ein unmündiges Kind“) spricht für die orale, also Mutterbeziehung.
Somit wäre das „Verrauchen“ eigener Werke wieder ein aus infantilem All-
machtswahn unternommener Versuch, sich unabhängig zu machen von der
enttäuschenden Mutterbrust, und gehört in die gleiche Richtung wie die
früher zitierten „Mannaträume“.
Ich will noch einige Beispiele aus Grabbes Poesie und Leben anführen, die
beweisen, daß der neurotische Pessimist aus unbewußtem Strafbedürfnis bloß
die Enttäuschung sucht. Im „Don Juan und Faust“ wirbt Faust um die
Liebe Donna Annas, die er mit Hilfe des Teufels auf ein Märchenschloß auf
den Montblanc?® entführt hat. Donna Anna liebt aber Don Juan nicht und
zeigt sich abgeneigt, Faust droht mit der ihm vom Teufel leihweise verliehenen
Allmacht:
Faust: Nur eine Sylbe brauch’ ich auszusprechen
Und tot sinkst du zu meinem Fuß!..
22) Siehe Arbeiten über das Asthma von Oberndorf und Fenichel, die die respiratorische
Phase berücksichtigen. In einem Fall von Asthma bronchiale, den ich analysierte, wurde die
respiratorische Erotik erst nach Scheitern der oralen Wünsche im Sinne der neurotischen
Exazerbation aktiviert.
22a) Bergler-Eidelberg, a.a.O.
23) Wieder ein infantiles sexualsymbolisches Moment: alles geschieht bei Grabbe in Super-
lativen. Faust entführt Donna Anna auf den höchsten Berg Europas, Kaiser Heinrich stirbt
beim Besteigen des Aetna usw.
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 353
BERADERE Willst du mein sein?
Ich warne dich! — Der Tod, er zuckt schon längst
Auf meinen Lippen, und du weißt, den Lippen
Entfälle gar leicht das Unheil!
Donna Anna (von Faust weggewandt, emporblickend): Du,
Der Tugend gold’ne Blume, winde dich
Um meine Scheitel, laß mich fallen als
Dein Opfer!
Faust: Was ich sagte, sagt’ ich, es
Vollführend, weil ich es gesagt! — Bedenk’ das —
Mir bebt der Mund. — Nicht die Minute mehr
Seufz’ ich um dich, die ich mit einem Wort
Zertrümmern kann. — Nie seufzt’ ich, ohne
Daß ich mich rächte! Hassest du mich?
Donna Anna: Ja!
Faust: Stirb!
Donna Anna: Weh mir — ich vergehe! (Sie stirbt.)
Faust (erstarrt): Meine Macht
Ist schneller fast als meine Zunge. — Tot!
Dahin. — Was ist die Welt? — Viel ist — viel war
Sie wert. — Man kann drin lieben! — Und was ist
Die Liebe ohne Gegenstand? — Nichts, nichts.
Das Mädchen, das ich lieb’, ist alles, — an
Der Liebe Donna Annas ahn?’ ich’s: —
Armselig ist der Mensch! Nichts Großes, sei’s
Religion, sei’s Liebe, kommt unmittelbar
Zu ihm. — Er muß ’ne Wetterleiter haben!
Neben der magischen Wortmacht — dem Stigma der Infantilen (Donna
Anna stirbt auf ein Machtwort Fausts) — kommt hier wieder die bereits bei
den „Mannaträumen“ besprochene Abwehr der Mittelsperson — Mutter („Der
Mensch muß ’ne Wetterleiter haben“) — zum Ausdruck. Vor allem aber muß
die Frage aufgeworfen werden, warum der allmächtige Faust Donna Anna
nicht zur Liebe zwingt? Der billige Einwand, daß Liebe nicht zur Kompetenz
des Teufels gehört, er also die Fähigkeit, Liebe einzuflößen, auch nicht weiter-
verborgen kann, ist in einem Phantasiedrama nicht zulässig.
Es handelt sich also wieder nur darum, daß der orale neurotische Pessimist
an die Enttäuschung gebunden ist und — grob ausgedrückt — bloß dem Fuß-
tritt nachjagt.
Eine ähnliche Szene wie im „Don Juan“ berichtet Ziegler von Grabbe.
In einer Gesellschaft von Volltrunkenen zog Grabbe seine „Hermann-
schlacht“ hervor, begann vorzulesen und war zutiefst erschüttert, daß die
Zechkumpane vom „dummen Zeug“ nichts hören wollten. Grabbe — so be-
tichtete ein Zimmernachbar — weinte in seiner Stube und wollte sich er-
schießen.
Imago XX/3 23
——6—— Ta
354 Edmund Bergler
In die gleiche Gruppe gehört Grabbes Ehemisere. Er heiratete ein um
zehn Jahre älteres Mannweib, das vermögend und habgierig war. Eine der
konsequentesten Handlungen Grabbes in der Ehe bestand im geschickten
Untergraben seiner Staatsanstellung — Grabbe war Militärauditor — durch
heillose Mißwirtschaft in seinen Amtsgeschäften. Er verstand es — trotzdem
er genau wußte, wessen er sich zu versehen hatte, wenn er von seiner geizigen
Frau materiell abhängig sein werde — sich „irrtümlicherweise“ vorzeitig ohne
Pension aus dem Amte drängen zu lassen. Dies führte zum erbitterten Kampfe
seiner Frau um Aufhebung der Gütergemeinschaft, zur Flucht Grabbes nach
Frankfurt und Düsseldorf, zu seiner beschämenden Rückkehr nach Detmold
und zur polizeilich erzwungenen Wiederaufnahme des Schwerkranken im
Hause seiner Frau. Der unbewußte Sinn dieser ganzen Aktionen bestand im
Ins-Unrecht-Setzen der Frau (= Mutter) und dem masochistischen Jagen nach
der Enttäuschung. Dabei war es keineswegs so, daß Grabbe lediglich das un-
schuldige Opfer seiner Frau war.?* Er reizte sie in geschickter Weise, ver-
höhnte sie, als sie um ihr Geld besorgt war und von „ihrem Recht“ sprach,
und trällerte:
Jawohl, das fas! °s ist eigentlich ein nefas.
Ich kenne nur ein Faß: Gib mir das Heidelberger Faß,
Gefüllt mit edlem Naß, das ist mein Fas!
Gäbst du mir das, — so hätt’ ich was.......
Das Recht ist ein Geschäft, von Schurken erdacht,
Von Klugen gemieden, gescheut, verlacht,
Vom Klügsten Gelder damit gemacht.
Für die Frau Grabbes — die den unbewußten Zusammenhang nicht ver-
stehen konnte — war Grabbe ein impotenter,? sie ausplündernder Tauge-
nichts.
Endlich sei auf die infantile Auffassung des Zeitgefühls bei Grabbe
verwiesen. Kaum, daß ein Gedanke ausgesprochen wird, ist er schon erfüllt.
Diese irreale Promptheit ist auf die kindlichen Allmachtsideen reduzierbar.
Einige Beispiele: Im „Gothland“ läßt der Held 5000 Gefangene niedermetzeln.
24) Damit soll keine Ehrenrettung der Frau Grabbes versucht werden. Sie war eine herz-
lose, böse Frau, die Grabbe noch auf dem Sterbebette quälte, beschimpfte und ihm mit
Advokaten kam, Als Grabbe starb, rief sie: „Topp, das ist gut, daß der Unhold tot ist.
Nun kommen Sie, nun wollen wir einen guten Kaffee machen.“ Die Bestialität dieser Frau
ging so weit, daß sie Grabbes Mutter von seinem Sterbebette fernhalten wollte. — Auch
aus anderen unbewußten Gründen war diese Ehe zum Scheitern verurteilt: es spielte bei
Grabbe das Schuldgefühl wegen seines Vaters mit: Luise Klostermeyer (die spätere Frau
Grabbes) war die Tochter des Vorgesetzten des alten Grabbe. Grabbe wurde mit seiner Be-
werbung wiederholt abgewiesen und erst der Tod seines Vaters „ermöglichte“ die Heirat.
25) Grabbe war in den letzten Ehejahren impotent — eine Folge der Tabes. Das ist aus
vielen Bemerkungen mit Sicherheit zu schließen. Zum gleichen Schluß kommen einige seiner
Biographen.
—————————
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 355
Acht Zeilen nach jener, in der Gothland den Befehl gab, meldet Arboga: „Die
Kriegsgefangenen sind tot...“ In „Kaiser Heinrich VI.“ läßt Heinrich der
Löwe am Domportal der zerstörten Stadt Bardewick die Worte einmeißeln:
„Vestigia leonis.“ Diesen Auftrag vollführt Graf Borgholt „nach dem Diktat“
Heinrichs und das Einmeißeln geht so rasch vonstatten, wie etwa das Schrei-
ben. Im gleichen Drama wird Caleb als Bote zum Kaiser gesandt. Der Weg
hin und zurück dauert die Zeitspanne von ı2 Verszeilen! In „Scherz, Satire,
Ironie und tiefere Bedeutung“ geht’s noch blitzschneller: der Weg vom Schloß
ins Dorf, vom Dorf zum Schloß wird vom Bedienten und dem Schmied in der
Zeit dreier Prosazeilen zurückgelegt. — Diese Beispiele ließen sich vermehren. |
Bezeichnend ist, daß Grabbes Gothland ein Bekenntnis zur Allmacht und All- "
gegenwart der Zeit ablegt: |
„Ich glaube
Die Allmacht und Allgegenwart der Zeit!
Die Zeit erschafft, vollendet und zerstört
Die Welt und alles, was darin ist:
Doch einen Gott, der höher als die Zeit
Steht, glaub’ ich nicht...“
Auch die Zeit hat also für Grabbe zerstörend-fressende Bedeutung. ?®
VII. Grabbes prägenitale Sexualität
Die bisherige Schilderung handelte von Grabbes Oralität und ihren Folgen
für Charakter und Sucht. Die weiteren Entwicklungsstufen, die normaler-
weise in die Genitalität münden, hat Grabbe nur andeutungsweise erreicht,
resp. ist recht bald zum Prägenitalen regrediert.
In seiner Studentenzeit — Grabbe studierte in Leipzig und Berlin — war
er Stammgast in Bordellen, wie er denn überhaupt über die Gleichsetzung der
Frau als Sexualwesen mit der Dirne innerlich niemals hinauskam, was auf das
bekannte, von Freud beschriebene Ressentiment gegen die entwertete Mutter
schließen läßt. Die typische Frauenverachtung dieses Typus ist bei Grabbe
unverkennbar:
Berdoa: Die Liebe
Ist Wollust; wer verliebt ist, der ist geil,
Ist Geck, ist schwach, ist geil,
Ist Geck, ist schwach, ist Narr.
Gustav: 0 aan mein Leben würf ich weg
Für einen Kuß auf ihre Lippen.
Berdoa: Wenn sie nun aber aus dem Halse stänke?
Gustav: Wie, Neger?
26) Härnik und Winterstein haben auf den Zusammenhang zwischen Kronos
und Chronos aufmerksam gemacht. Verfasser bereitet eine Arbeit über die Entwicklung des
Zeitgefühls vor.
23*
tt, ae
356 Edmund Bergler
Berdoa: O du Geck der Gecken, Narr
Der Narren! Deine Göttin ist ein Mensch
Wie du! Hat sie auf ihrem Kopf viel Haare,
Was du so rühmst, so hat sie sicher auch
Viel Ungeziefer drauf, und ihre Nas’
Ist schleimig wie die Nase andrer Leute!
Sie trinkt und ißt so gut wie du,
Und so wie du gibt sie’s auch wieder von sich.
Gustav: Schäme dich!
Berdoa: Lüg’ ich denn? — Schäme du dich, weil
Du ohn’ Erröten eingestanden, daß
Du liebest.
Gustav: Mich der Liebe schämen, die
Das Höchste auf der Erde ist?
Berdoa: Das Höchste?
Aufs Kindermachen läuft’s hinaus! — Was liebt
Ihr denn am Weib? Etwa den Geist?
An einer Gans? Ich glaub’ es kaum; und wär’
Es wahr — weshalb liebt ihr denn nie ’nen Mann?
Ihr liebt das Fleisch! Sieht’s Fleisch nur hübsch, so denkt
Ihr euch die Seele schon hinzu! — Doch das
Empört mich nicht; allein wenn ihr den Trieb,
Den ihr mit Kröte, Katz’ und Hund gemein habt,
Zu einer Tugend macht und göttlich nennt,
Pfui, das ist unerträglich.........
Ein Schritt nur ist’s, der von der Liebe zu
Der Unzucht führt.
(„Herzog Theodor von Gothland“)
Die analytische Erfahrung beweist, daß Frauenverächter meist Neurotiker
sind, deren Libido vielfach prägenital fixiert ist. Beweisend ist bei Grabbe
folgende Stelle aus „Herzog Theodor von Gothland“, die in knappster, kon-
zentriertester Form ein Bekenntnis zum Prägenitalen darstellt, wie es meines
Wissens einzig in der Weltliteratur dasteht:
Berdoa:
Irnak:
Berdoa:
Irnak:
Berdoa:
Wie geht
Es deinem hübschen Nachtgeschirre?
Nacht-
Geschirre?
Nun, ich mein’ das wohlgebaute,
Breithüft’ge Christenmädchen, welches du
Vergangnes Jahr im Schwedenkrieg
Erbeutet hast....
Ho!
Da habt Ihr recht, sie ist ein Nachttopf!
Sie sitzt in meinem Zelte; wenn
Ihr pissen wollt, so steht sie Euch zu Diensten.
Was treibt sie denn?
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 357
Irnak: Sie melkt die Männer.
Berdoa: Sie war damals recht üppig schon; ist sie
Es noch?
Irnak: Wo sie vorbeigeht, springen
Die Hosenknöpfe los.
Berdoa: Wenn sie nur fett ist.
Irnak: Ihr solltet ihren weißen, blühenden Nacken,
Auf dem sie doch so häufig liegen muß,
Und ihre vollen Arme sehen, auch ihr —
Berdoa: Hat sie ’ne tüchtige —?
Irnak: Man kann darin
Die Stiefeln ausziehn.......
Berdoa: Laß das nur sein, sie hat ’nen hübschen Arsch!
Wie prachtvoll wölbt er sich!
Gustav: Fürwahr, da hast
Du Recht. Ihr Steiß ist delikat, ist göttlich.
Berdoa: Sollt er nicht auch unsterblich sein?
Zu diesem Sammelsurium oraler (‚Sie melkt die Männer“, Penis = Brust),
analer („unsterblicher Arsch“, „Nachtgeschirr“), urethraler („Wenn Ihr pissen
wollt“, Pissen = Koitieren), Voyeur-, exhibitionistischer und koprophemer
Tendenzen paßt recht gut, daß Grabbes Liebesvorstellung mit sadistischen
Elementen geradezu durchsetzt ist. So sagt etwa Don Juan über seine Liebe
zu Donna Anna:
»— — wie göttlich, über solch
Ein Weib zu triumphieren.“
Ein anderer Ausspruch Don Juans lautet: „Ehedem führte man zum Altar Kälber und
Schafe, um sie zu schlachten, jetzt die Mädchen, um sie zu heiraten. Nichts Neues unter
der Sonne.“
Und Faust spricht Donna Anna an:
O, Abgottschlange!
So schön geschmückt, als grausam und zerreißend.
Donna Anna: Der Schreckliche! O rette, Gott! Sein Geist
Schnaubt nach der Liebe, wie nach Blut der Tiger.
Die Einleitung der Hochzeitsnacht in „Nanette und Marie“ wird mit ausgesprochen sadisti-
schen Motiven geschildert:
Leonardo: Doch schau! Schon sinkt die Sonne!
Nanette: Freut dich das?
Leonardo: Warum nicht? Geht mir dafür doch
Die Doppelsonne deines Busens auf!
Das wird ’ne helle Nacht!
Nanette: Weh’ mir, der Wilde!
Ich kann mich nicht wehren —
Ich kann nur weinend fleh’n: verschone mich!
Te ee
358 Edmund Bergler
Leonardo: Was bist du bang? Es ist nicht mit den Mädchen
Wie mit den Schmetterlingen, welche beim
Erhaschen abfärben!
Nanette: e Törin, die ich war!
Ich selbst gab mich ihm hin! Nun ist’s, als ging’
Ich in den Tod! — Mich friert, mich friert!
Leonardo: Man merkt,
Wie viel du zu verlieren hast.
Auch in Grabbes realem Liebesleben spielen diese prägenitalen Wünsche
eine dominierende Rolle. Grabbe war als Erwachsener bloß einmal in ein
sozial tief unter ihm stehendes Mädchen verliebt (Henriette Meyer), das bei
einem Krämer, dessen Verwandte sie war, die Kinder beaufsichtigte.
„und wenn nun zufällig das kleine Kind in harmloser Unschuld sich das Röckchen
über den Kopf zusammenzog, da übergoß die Scham ihr ganzes Gesicht mit einem so schönen
Rot und sie wehrte der Kleinen so besorgt und so bürgerlich sittlich, daß man fast gerührt
davon werden möchte.“ (Ziegler.)
Dieses Sich-Schämen-Können („in kaiserlich Gewand, in Purpur hüllt sie
deine Wange“ sagt Don Juan zu Donna Anna), das Grabbe durch zynische
Gespräche immer wieder provozierte und genoß, scheint den Hauptreiz?%&
Henriettes für den verliebten Grabbe gebildet zu haben. Als ihm Henriette
den Laufpaß gab, da sie sein zynisches, ambivalentes Verhalten nicht vertrug,
war Grabbe tief unglücklich.
Bisher wurde hier nur von oralen, oral-sadistischen, analen, urethralen,
Voyeur-, exhibitionistischen und koprophemen Tendenzen bei unserem
Dichter gesprochen und des Odipuskomplexes keine Erwähnung getan. Natür-
lich hat Grabbe einen Odipuskomplex entwickelt, natürlich waren seine prä-
genitalen Ängste (vor allem die Angst vor dem Gefressenwerden) mit dem
Kastrationskomplex liiert, natürlich bezogen sich seine Onanieängste auf das
Genitale. Doch ist, wie immer bei den „Prägenitalen“, das Genitale vorwiegend
Exekutivorgan prägenitaler Wünsche und der genitale Odipuskomplex fällt
speziell bei den Oralen „blasser‘ aus, da die nicht gelöste präödipale Mutter-
bindung das Feld beherrscht.?”
26a) Wahrscheinlich liegen noch andere unbewußte Motive vor: etwa Identifizierung mit
dem Kind, das Henriette mit Güte beaufsichtigte, ferner die niedere Herkunft (man denke
an Grabbes Mutter). Zutiefst liebte Grabbe in Henriette sich selbst, bzw. einen Teil seiner
kindlichen Persönlichkeit.
27) Näheres bei E. Bergler-L. Eidelberg, a.a.O. — Grabbes grimmig-witzige
Verhöhnungen der Autorität gehen zum Teil auf die nicht gelöste Odipussituation zurück.
Besonders bezeichnend ist eine Szene aus „Gothland“: „Ich kann Euch Erdenkön’ge nur be-
dauern, Ihr sollt der Götter Rolle spielen und seid Menschen.“ Ferner ein zweiter Ausspruch
Gothlands: „Wenn nicht einmal ein Königsohn oder ein König glücklich ist, ja dann gibt es
kein Glück auf Erden.“ Man beachte endlich die Behauptung Grabbes, „das Große besteht
meist aus ein paar Kniffen“ und die berserkerische Ironie im „Hannibal“ — der Siegesbote
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 359
Durch eine Bemerkung Zieglers sind wir über die Onanieängste Grab-
bes informiert.
„Wenn nun auch hiernach Geburtsort, Haus und Familie Grabbes als keine dämonischen
Mächte an seiner Wiege gestanden haben, so mag es nichtsdestoweniger sein, daß eine andere
unheimliche Macht schon in seine früheste Jugend eingegriffen hat und wir eben deshalb
etwas Gespenstisches wie Samiels roten Mantel im Hintergrunde seines Lebens auf- und ab-
wandeln sehen. Nur können wir uns hierüber nicht näher aussprechen.“ ($. 12.)
Einige andere Biographen haben die Onaniefolgen maßlos übertrieben
(Nieten, P. Friedrich, Hillekamps) und Grabbes Unglück vielfach darauf
zurückgeführt. Vor allem hat Hillekamps in düsteren Folgen der Onanie
Grabbes exzelliert:
„Mehr noch als Vererbung mag aber ein Laster zur Stärkung dieser Minderwertigkeits-
gefühle beigetragen haben: — das furchtbare Jugendlaster der Onanie. Wir wissen darüber
nichts bestimmtes, aber eine Bemerkung Zieglers ist so deutlich, daß sie uns, namentlich des
angehängten diskreten Schlußsatzes wegen, alles vermuten läßt. Auch Paul Friedrich berührt
in seinem Nachwort zu den Werken diesen Punkt, sowie Nieten. Sicher ist, daß dieses Laster
sowohl Grabbes Haltlosigkeit den Erscheinungen der Welt gegenüber, wie auch, selbst aus
einer Willensschwäche entspringend, nun seinerseits den ohnehin schon schwachen Willen
immer noch mehr zermürbt und widerstandslos gemacht hat. Es wirkte erkältend auf seine
seelischen Kräfte und lähmte sein Erlebnisvermögen. Vgl. dazu Nieten (Biographie, S. 421):
‚Diese Selbstzerstörung raubte Grabbe nicht nur die Möglichkeit, ein glücklicher Mensch zu
werden, worüber er später die bitterste Reue um das Unwiderbringliche empfand (vgl. Don
Juan und Faust); sie bedeutet auch viel für die äußere Art und Erscheinung seiner Poesie,
in der sich das Unfruchtbare einer zerstörten Natur, die einsame Abgeschlossenheit, die
bizarre Kälte, das geringe Erleben ausdrückt.‘ Bei der Würdigung von Grabbes Verhältnis
zur Frau, die ihm im Grunde nur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse war, wird diese
krankhafte Folge seines verheerenden Jugendlasters besonders zu erwähnen sein.“ ($. 20/21.)
Alle diese Schlußfolgerungen sind nach Ergebnissen der Psychoanalyse, so-
weit eine direkte Onanieschädigung angenommen wird, nicht stichhaltig, es
sei denn, man rechnet die ungenügende Aggressionsabfuhr (Nunberg, Jekels
und Bergler) bei der Onanie zu den direkten Schädigungen. Dagegen haben
die Schuldgefühle, die sich als Reaktion auf die unbewußt die Onanie be-
gleitenden Phantasien einstellten, bei Grabbe unleugbar eine Rolle gespielt,
um so mehr, als er seine luetische Infektion, seine ständigen Krankheiten und
endlich seine vielen Tabessymptome (vor allem die Impotenz) wahrscheinlich
auf die Onanie zurückgeführt hat. Auch dürfte Grabbe ein Zwangsonanist
gewesen sein.
Von hier aus gewinnen wir einen Zugang zu Grabbes Stellung zum Schuld-
gefühl. Er erklärt es zwar als etwas „Überflüssiges“, macht sich hohnlachend
ec
’
von Cannae wird in Karthago zurechtgewiesen: „Schrei nicht so!“ und ähnliche Stellen mehr.
— Grabbes Odipuskomplex war aber prägenital stark unterbaut und viele Aggressionen die-
ser Phase scheinen ursprünglich der phallischen Mutter gegolten zu haben.
ne are EEE Er A une u
360 Edmund Bergler
darüber lustig und läßt Gothlands Sohn schwören, daß er nie Reue fühlen
will („So schwör’, daß du nicht Reue fühlen willst“, IV. 1.). Auch Sulla,
Grabbes Idealgestalt, hat Gewissensbisse. So sagt Grabbe im unvollendeten
Sulla-Szenarium:
„Sulla selbst tritt auf. Er übersieht den weiten Aschenhaufen, aus eingestürzten Häusern
und verbrannten Menschen bestehend. Momentan fällt ihm der Gedanke ein, daß es mög-
lich sein könnte, über diese Verwüstung einstmals Reue zu fühlen, er bricht in den alle
Umstehenden erschütternden Naturschrei aus: ‚Entsetzlich! Schrecklich! Ungeheuer!‘ — Doch
schnell ist Sulla beruhigt und belächelt seinen menschlichen Ausruf, dessen Natur er richtig
beurteilt...“ An einer anderen Stelle heißt es von Sulla: „Ernstliche Gewissensbisse braucht
er nicht zu fürchten, dazu ist er in sich selbst zu abgerundet.“
In die gleiche Kerbe schlagen Aussprüche, die das Unwiederbringliche be-
trauern und die Bestrafung akzeptieren. Etwa ein Ausspruch Fausts:
Verwünscht, der Mensch erkennt nur dann,
Wann er’s bereits getan hat, das, was er
Getan, und Teufelshände
Sind öfters unsichtbar im Spiel.....
Aus Nichts schafft Gott, wir schaffen aus
Ruinen. Erst zu Stücken müssen wir
Uns schlagen, eh’ wir wissen, was wir sind
Und was wir können! — Schrecklich’ Los!
Ähnliches bedeutet es, wenn Grabbe sagt: „Der Mensch trägt Adler in dem
Haupt, und steckt mit seinen Füßen in dem Kot.“ Den gleichen Gedanken
spricht der Ritter — Mephisto — in „Don Juan und Faust“ aus:
Die Pflanze, die vom Boden sich empor
Will schwingen, muß mit Kot gedüngt erst sein,
Bevor sie frei kann wurzeln und aufschießen.
Der Kot — ihr nennt ihn Leidenschaft, sei’s Geiz,
Sei’s Ruhm, sei’s Aberglaube, sei es Liebe.
Anderseits sind wilde Anklagen gegen das Schicksal?® bei Grabbe zu kon-
statieren. Dies führt zum Problem seines dichterischen Schaffens.
29) Grabbe war zutiefst ein sentimentaler Mensch und seine Zynismen sind vielfach nach
dem Typus der „sentimental-pathetischen Zynismen“ aufgebaut: „Es sind dies Pathetiker,
die über die Ungerechtigkeiten der besten aller Welten empört sind, Sentimentale, die sich
ihres inneren Gefühls schämen und es umgemünzt in Form des Zynismus — als Distanzie-
rungsmittel — vorbringen. Dieser Zynismus trägt aber das Zeichen ‚made in sentiments‘ in
seiner ganzen Art: er ist dem Weinen näher als dem Lachen.“ Näheres in der Arbeit „Zur
Psychologie des Zynikers“ a.a.O. — Ziegler berichtet ($.75), Grabbe habe eine „sonder-
bare Abneigung gegen alles gehabt, was nach Sentimentalität aussah, wobei man aus der oft-
maligen Äußerung: ‚Um Gotteswillen, nur nicht sentimental, nur nicht süß!“ mit Sicherheit
annehmen konnte, daß tief im Grunde sein Gemüt sehr zart und weich beschaffen war“. —
Wie bei allen Zynismen handelt es sich um ein Ausleben der unbewußten Aggression um den
Preis der Beschwichtigung des Über-Ichs durch einen spezifischen Ich-Vorgang, den „zynischen
Mechanismus“. Wie groß Grabbes Aggression war, beweisen die berüchtigten Grabbeismen.
%
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 361
VII. Der Einfluß der Prägenitalität Grabbes auf sein
dichterisches Schaffen
Grabbes unbewußte Angst war die des Gefressenwerdens vom Weibe, eine
Angst, die, wie früher ausgeführt, die Schuldgefühlsreaktion auf eigene (ur-
sprünglich auf die Mutter bezogene) oral-aggressive Tendenzen darstellte.
Grabbes ganze Dichtung ist für ihn ein Beweis, daß die Frau ungefährlich,
dumm, bedeutungslos ist, dient also vorerst der unbewußten Selbstberuhigung,
wobei es wohl überflüssig ist zu betonen, daß der ganze hier zu schildernde
Vorgang Grabbe nicht bewußt war. Deshalb sind Grabbes Helden grausam,
hinterlistig, blutgierig und vor allem — Männer. Einerseits färbt also die
grausame Frau, gegen die Grabbe sich wehrt, auf seine Helden ab, in einer
anderen Schicht identifiziert sich Grabbe selbst mit ihnen. Es ist, als würde
jemand aus Angst vor einer Maffia selbst Mitglied dieser Maffia. Anderseits
genügt dieser indirekte Beweis der Ungefährlichkeit der Frau nicht, es folgt
ein zweiter: die Helden selbst sind keine Helden, Grabbe zeigt deren „Brüchig-
keit“ auf. Ich habe den Eindruck, als könnte man Grabbes unbewußte Argu-
mentation wie folgt präzisieren: Erstens kann mir die Frau nichts antun, weil
sie bedeutungslos und schwach ist, zweitens sind nur Männer grausam und ge-
fährlich und drittens sind auch diese Männer letzten Endes doch nicht gefähr-
lich, da sie innerlich schwach sind,®° ich kann also sicher sein. Die „Wieder-
kehr des Verdrängten“ bedingt aber, daß Grabbes dichterische Frauengestalten
nur dann pulsierendes Leben fühlen lassen, wenn sie — Mannweiber sind. Die
Herzogin von Angoul&me („Der einzige bourbonische Sprößling, der ver-
diente, Hosen zu tragen“, sagte Napoleon), die Baronin im „Aschenbrödel“
und Thusnelda in der ‚Hermannschlacht“ atmen wirkliches Leben, alle
andern, übrigens recht seltenen Frauengestalten Grabbes („Man ist zu sehr
unter Männern“ warf ihm schon Ziegler vor) sind blutleer. An einer Stelle
kommt Grabbe das beinahe zum Bewußtsein:
Ingomar: Deine Frau ist kein Weib,
Hermann: Alle Wetter, was denn?
Ingomar: Kann’s nicht recht sagen. Doch gegen ihre Stirn tauscht’ ich nicht die Sonne,
nicht den Blitz gegen ihr Lächeln, und ihren Mut und Verstand betreffend...
(„Die Hermannsschlacht“, erster Tag.)
Das, was die Biographen Grabbes „Nihilismus“ und „Dämonologie“ nennen,
ist ein verzweifeltes unbewußtes Ringen mit der Frage: Welchen Sinn hat eine
Welt, in der das Kind von der Mutter nicht geliebt wird, ja von ihr gefressen
werden kann? Begreiflicherweise kommt Grabbe diese Frage bloß auf dem
Umweg einer „Verschiebung“ zum Bewußtsein. Grabbes Antwort lautet:
30) Gewiß kompliziert sich der Vorgang durch die aus dem Odipuskomplex stammende
Aggression gegen den Helden = Vater.
362
Edmund Bergler
Diese Welt hat keinen Sinn. Bei einem innerlich so aggressiven?! Menschen,
wie Grabbe, löst diese Erkenntnis nicht Resignation, sondern titanenhafte An-
klage aus. Schon im „Gothland“ des zwanzigjährigen Grabbe heißt es:
(Donnerschläge.) Horcht! Horcht!
Das sind die Fußtritte des Schicksals! — Oh,
Jetzt erst, jetzt erst begreif ich euch,
Ihr himmelstürmenden Giganten! —
Zerstörend, unerbittlich, Tod
Und Leben, Glück und Unglück, an-
Einander kettend, herrscht
Mit alles niederdrückender Gewalt
Das ungeheure Schicksal über unsern Häuptern!
Aus den Orkanen flicht
Es seine Geißeln sich zusammen
Und peitscht damit die Rosse seines Wagens durch
Die Zeit und schleppt, wie
Der Reiter an des Pferdes Schweife den
Gefangenen mit sich fortreißt,
Das Weltall hinterdrein!
Die Himmelsbogen sind gekrümmte Würmer,
Und krampfhaft ringeln sie
Sich unter seinen Füßen!
Die Menschenherzen sind der Staub,
Worauf es geht! — Oh, immer, immer mehr
Begreif ich euch, Giganten!
Was ist natürlicher als Himmelssturm? —
Oh, der Glaube an
Ein Schicksal ist nicht furchtbar — hold und tröstlich
Ist dieser Kinderglaube aus der Zeit
Der Griechen, welche noch nichts Schlimmes ahnten! Das
Geschick ist grausam und entsetzlich,
Doch planvoll, tückisch, listig ist es nicht!
Allmächt’ge Bosheit also ist es, die
Den Weltkreis lenkt und ihn zerstört!
... weil es verderben soll,
Ist das Erschaffene erschaffen!
Deshalb ist unsres Leibes kleinster Schmerz,
Empfänglich für den ungeheu’rsten Schmerz,
Deshalb sind unsre Glieder so gebrechlich,
Deshalb sind wir so fasernackt geboren!
Daß die Verführung sicher uns
Beliste, wurden wir
31) Grabbes überstarke Aggression verführt noch den Schwerkranken zum Ausspruch:
„Gäb’s nur Krieg, gesund wär ich. Doch nun muß ich ihn machen in Tragödien.“ Prinz
Heinrich sagt in „Kaiser Friedrich Barbarossa“ (I. 2): „Der Kampf auch, ob wir
siegen oder fallen, ist Lust
ge
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 363
Mit Dummheit reichlich ausgestattet, und
Unsterblich sind wir für — die Höllenstrafen.
— Weil es verderben soll, ist das Erschaffene
Erschaffen! Wie ein ries’ges Henkerrad
Kreist dort der sogenannte Himmelsbogen;
Die Tage und die Nächte, Sonne, Mond
Und Sterne sind
Wie arme Delinquenten draufgeflochten, und
Mit ausgesparten Gnadenstößen
Zerrädert und zermalmt er sie!
Pfui, pfui! wie ekelt mich die Schöpfung an!
Der Jahreszeiten wechselnde
Erscheinungen, die immer wiederkehrenden
Verwandlungen an dem
Gestirnten Firmament — was sind sie anders als
Ein ew’ges Fratzenschneiden der Natur?
— Zwar habe ich gemordet,
Doch Morden ist
So schlimm nun grade nicht!
Vom Morden lebt ja alles Leben, wenn
Du atmest, mordest du! — Ein Ding, das nichts
Ist, einen Menschen machte ich zu etwas, sei’s
Auch nur zu Mist! Bei einem Vieh
Bedenk ich mich, eh’ ich das Messer zücke!
(Sein Dasein hat ’nen Zweck — es wird
Gegessen.) Doch bei einem Menschen
Bedenke ich mich nicht; sein Leben
Nützt weder anderen, noch ihm ...
Vor wem sollt’ ich erröten?
Ei, mordet jene schwärende, gift-
Geschwollne, aufgebrochne, eiternde
Pestbeule, die ihr Sonne nennt und als
Das Ebenbild der Gottheit ehrt, nicht auch?
Wie an der Amme Brust das Kind, so liegt
An ihr das durst’ge All — und boshaft tränkt
Sie es mit ihrer fieberheißen Milch;
Daß sie zum Mord aufgären mögen, tropft
Sie Feu’r in unsre Adern,
Und zärtlich, wie ’ne Mutter brütet sie
Die lieben Krokodile aus den Eiern!
Ha, Sonne! Könnt?
Ich dich einmal bei deinem Strahlenhaare packen —
Am Felsen wollt ich dein Gehirn zerschmettern
Und dich, was Schmerz heißt, fühlen lassen.
In späteren Werken wird immer wieder dieses Thema mit großer dichte-
rischer Genialität abgewandelt, eine Orgie des Pessimismus und der Welt-
verneinung:
364 Edmund Bergler
„Ist nicht jedes seiner Stücke“ — fragt Hillekamp — „gleichsam Illustration des Wortes:
Wie klein ist der Mensch? Was bleibt vom mächtigen Gothland nach gewaltig rausch-
haftem Dasein als die Erkenntnis, daß es nicht lohne, zu leben? Denn nur:
Weil es verderben soll,
Ist das Erschaffene erschaffen.“ (II, r.)
„Faust gelangt weder an sein Ziel der Erkenntnis noch zur Beschränkung
auf das Irdische durch die Liebe, und Don Juan versinkt mit einem „Nein“
auf den Lippen. Auch die Idee der „Hohenstaufen“ liegt ähnlich, obschon
es zunächst anders scheinen mag. Zunächst Barbarossa: Hier liegt der Schwer-
punkt des Dramas im Kampf der Welfen und Waiblinger, des Löwen und
Barbarossas. Der Staufer siegt in diesem Kampf, aber es ist nur ein äußerlicher
Sieg, denn in Wirklichkeit hat er mit seinem Sieg auch die innere Einheit
Deutschlands getroffen und den Grund für die unselige Zukunft des Landes
gelegt. Er triumphiert, aber seine Glorie ist Lüge. Wenn er stolz von sich
sagt: „Mein Erdgeschäft ist aus“ — so sagt er damit zugleich, daß er seinem
Ideal, der Herrschaft über Italien, Deutschlands beste Kraft geopfert hat —,
damit wird das selbstbewußte Wort fast zu einer Ironie. Er ist ein großer
Mann, aber er hat den Keim zum Untergang seines Geschlechts und seiner
Macht selbst gelegt: Tragische Ironie des Schicksals — die der pessimistische
Dichter hier erspürt. Dieser Nihilismus wirkt sich noch stärker in „Hein-
rich VI.“ aus. Das Ziel dieses Menschen ist ungeheuer groß:
Ich, Kaiser, —
Die Kaiserkrone erblich, — Deutschland, Neapel
Unter meinem Fuß, — der Papst
Zu meinem Bischof erniedrigt, — wert
Ist das zahlloser Leichen.
Ja, dieser Zweck erscheint ihm „groß genug, die Welt aufzuopfern“ (I. 2.).
Und was erreicht er? Seine Lebenskraft wird in der Blüte vernichtet, alles
Errungene zerfällt wieder, sein Thronerbe ist ein schwaches Kind, und an
seiner Stelle nimmt der Papst, des Kaisers schlimmster Feind, die Regierung
an sich. Grabbe entläßt uns hier, fühlbarer noch als sonst, mit dem Bewußt-
sein: Der Mensch beginne, was er will, es ist nichtig vor dem unerforschlichen
Es, dem Schicksal, das ihm alles aus der Hand reißen kann, wenn es ihm paßt.
Heinrich geht unter, aber der Hirte überlebt ihn. Die Großen verschwinden
wie Meteore, aber die Kleinen, die Masse, das Volk überdauern sie. Auch
Napoleon: Er vergeht nach dem Traum der Hundert Tage („Wir haben
hundert Tage groß geträumt“), aber „statt eines großen 'Tyrannen kommen
lauter kleine und statt der goldenen Zeit wird eine sehr irdene, zerbröckliche
kommen“ (V.7.). — Auch hier hat das Kleine, Zähe, Beharrliche, die Masse,
die Quantität, gesiegt. Und voll bitterer Ironie läßt Grabbe den kleinen
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 365
Schwätzer Prusias über den großen Hannibal triumphieren, seine Leiche mit
dem roten Königsmantel decken: „Grad? so machte es Alexander mit Dareios.“
(Aus Hillekamps „Grabbe“.)
Grabbes Oralität hat noch eine andere Wirkung auf die Gestaltung seiner
Dramen:”” Immer wieder geht der Held an einer von außen kommenden Ver-
sagung zugrunde: Hannibal und Varus z.B. bekommen keine Hilfstruppen,
Napoleon ist ein Opfer der Dummheit Grouchys („Grouchy hat viel daran
verdorben — daß das Schicksal des großen Frankreichs von der Dummheit,
Nachlässigkeit oder Schlechtigkeit eines einzigen Elenden abhängen kann“ —
„Napoleon“, V.5.), Heinrich VI. fällt dem blinden Zufall zum Opfer. Es
wird also — eine im Drama unmögliche Prämisse — die Bösartigkeit der Um-
welt an Stelle des inneren Konflikts gesetzt. Dies ist einigen Kritikern Grab-
bes aufgefallen.322
Was aber die Kritiker Grabbe bloß als dramatischen Fehler vorhalten, kann
nun auf Grund der früher vorgebrachten Annahmen erklärt werden: da Grab-
bes dramatische Produktion der Abreagierung des Traumas der Brustent-
ziehung dient, muß der Schuldige die versagende Außenwelt, d.h. die erste
Repräsentanz derselben, die Mutter sein!
IX. Das „Positive“ in Grabbes Weltbild: Freundschaft und
Heimat
Grabbes Biographen unterteilen vielfach in primitiver Weise seine Eigen-
schaften fein säuberlich in „positive“ und „negative“ und kommen betrübt
zum Resultat, daß die zerstörenden (in ihrer Sprache: die negativen) Ten-
denzen die Oberhand hatten. Diese Schwarzweißmalerei sei erwähnt, weil sie
die ganze Hilf- und Sinnlosigkeit einer nicht analytisch fundierten Biographik
aufzeigt.
Nun hat — in der Terminologie der Biographen — Grabbes Weltbild doch
zwei Lichtseiten: seine Anerkennung der Freundschaft und das Lob der Heimat.
Wie steht es damit?
Die Liebe welkt dahin;
Sie ist auf Irdisches gegründet,
32) Es sei hervorgehoben, daß die hier vorgebrachten psychoanalytischen Deutungen der
Triebtendenzen und ihre Wirkungen auf Grabbes Dramatik die Frage der spezifischen Be-
gabung Grabbes unberührt lassen, da es sich dabei nach Freud um ein konstitutionelles,
psychologisch nicht weiter determinierbares Etwas handelt.
32a) Ploch: Grabbes Helden gehen nicht an sich selber, an ihren sie zum tragischen
Untergang prädestinierenden Charaktereigenschaften, sondern immer nur an äußeren Ver-
hältnissen, Intriguen und puren Zufällen zugrunde.
Zaunert:....der Dichter Grabbe ringt sich fast nie zu einer wirklichen tragischen Idee
durch, er hat nie den Schuldbegriff in seiner ganzen Tiefe erlebt; immer wieder werden
äußere Ursachen herbeigeholt, um den Fall des Helden zu erklären.
BR een ar
366 Edmund Bergler
Gemeines ist’s, wofür sie flammt;
Nur Freundschaft, die die Geister bindet,
Ist ewig wie der Geist, aus dem sie stammt;
Drum strahlt hoch auf des Himmels mächt’gem Feld
Der Freundschaft Bild und leuchtet durch die Welt.
— — — Doch wer am Busen seines Bruders liegt,
Der fand die heil’ge Stätte auf, an der
Er sicher ruhet im Gewühl des Lebens. („Gothland“.)
Es wurde früher betont, daß Grabbes Beziehung zum Mann stark homo-
sexuell gefärbt war: man denke an den Potus in Männergesellschaft. Diese
sublimierte Homosexualität war zugleich ein Stützpunkt gegen die „fressende“
Frau, auch ein Beweis, daß sie ungefährlich ist. Die jahrelangen Bordellbesuche
Grabbes in Männergesellschaft sind nicht nur von der homosexuellen Seite aus
zu erklären, die Männergesellschaft war zugleich Schutzgarde und Beweis, daß
die Dirne — da so viele Männer mit ihr verkehrten — ungefährlich sei.
Ebenso ist Grabbes Lob der Heimat aus der Mutterbeziehung determinier-
bar. Die Biographen zitieren bei dieser Gelegenheit einige Lobverse der Vater-
landsliebe in „Don Juan und Faust“ und führen als entscheidenden Beweis das
Nationaldrama „Die Hermannschlacht“ an. Vorerst: der gleiche Don Juan
sagt höhnisch:
Den gewinn’ ich noch
Mit patriotschen Phrasen, um so eher,
Als ich sie ernstlich meine!
Die analytische Erfahrung, daß Vaterland fürs Unbewußte die Valenz
Mutter?® besitzt, kann bei Grabbe mit vielen Stellen seiner Werke belegt wer-
den. So sagt etwa Tankred in „Kaiser Heinrich VI.“ ER
Was wir Normannen einst hier waren, sind
Hier jetzt die Deutschen. — Sie erwartet künftig
Vielleicht das gleiche Los. — Wie sich der Held
Die Braut erringt, errangen wir mit Kraft
Und Stahl dies Land — bei Gott, es ist ’ne Braut — wo wäre
Ein Mädchen in Europa, flammender
Und bräutlicher als unser Reich’? — Es ruht
Ja unter Myrthen, unter Blumen, — zwei Vulkane
Sind seine Hochzeitsfackeln — Rebenketten,
Festlich durchleuchtet von dem Gold der Trauben, schlingen
Als Gürtel prangend sich um seine Küsten,
Und an Siziliens Ufern schmachten Palmen,
Mit ihren Blättern wie mit Zungen lechzend,
Dem Liebenden entgegen! — Doch als der
Alcide sich die Omphale gewonnen,
33) Siehe z. B. Beispiele aus der Biographie Napoleons, bei L. Jekels, Imago II, 1914 und
E. Bergler, Psa.-Bewegung V, 1933.
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 367:
Entnervte er an ihres Busens Flaum
Und der Normannen Stärke schmolz im Kuß
Und in des Südens Sonne...
Konstanze beklagt sich im gleichen Drama (I. 2.) über Heinrich:
Ach, ich Unselige! — Er liebt mich nicht —
Sein Blick irrt durch die Welt und übersieht mich —
Anstatt nach einem Busen, streckt er seine Arme
Nach ganzen Ländern, ganzen Völkern aus. —
Noch klarer spricht sich Grabbe aus, wenn er Don Juan beim Anblick des
Bildes Donna Annas sagen läßt:
Ich blick’ und blicke — zu ’nem Kinde werd’
Ich wieder. — Eine Heimat, die ich nie geschaut,
Umlächelt mich. — Gibt’s andre Heimaten
Als das Geburtsland?
Und Heinrich der Löwe („Kaiser Heinrich VL“, II. 3.) ruft:
O Heimat, Heimat, meiner Größe Land
Und meines Falles! — Heil’ge Erde, sei
Gegrüßt! — Kein Kind stürzt sehnender
An seiner Mutter Brust, als ich an deinen Schoß!
Brasidas nennt im „Hannibal“ Karthago „die allgemeine Mutter“, Turnu
heißt Hannibal:
„Herr, Fürst, Vater, Mutter, du mir
Alles!“
Es sei nochmals auf das ständige Durcheinandermischen und Gleichsetzen
von Frau und Mann verwiesen, was aus der Tatsache erklärlich ist, daß es für
das Kind auf der oralen Stufe nur ein Geschlecht gibt. So wird es verständlich,
wenn Hannibal für Turnu ‚Vater und Mutter“ ist.
Grabbes letztes Drama „Die Hermannschlacht“ beweist, daß auch für.
den Superlativ des Pessimisten das Leben nur unter Aufrechterhaltung von:
jeweils wechselnden Überwertungen möglich ist. Der schwerkranke Dichter,
der sein Ende herannahen sieht, flüchtet zur idealisierten Mutter: die Heimat-
wird verherrlicht. Es ist nicht bloß durch Krankheit bedingte Erschöpfung,
die Grabbe bei der Arbeit an seinem letzten Drama ausrufen läßt: „Der
Hermannschlacht erlieg ich fast. Wer kann das Ungeheure, jeden Nerv auf-
regende, vollenden ohne zu sterben? Wär’ ich tot!“ Und das Resultat?
Neben einem für Grabbe typischen, hinterlistigen, grausamen Helden (,Die
Fortsetzung des Blutbades folgt morgen“ sagt Hermann) steht Grabbes Ideal-
gestalt, das Mannweib Thusnelda, das aber hier meist in der Gestalt der:
Gebenden auftritt: Thusnelda bringt für 20.000 Kämpfer Lebensmittel, be-
368 Edmund Bergler
handelt ihren Sohn Thumelico gütig (vergleiche unser Motto), ist überhaupt
ständig besorgt, ob man genug zu essen hat:
Varus: ....Ich bin satt.
Thusnelda (zum Gesinde): Seid ihr es auch?
Das Gesinde: Ja.
Thusnelda (mißtrauisch): Lügt nicht. Eßt noch.
Das Gesinde: Wir können nicht mehr.
Dabei werden Hermanns Gefährten mit geradezu bösartigem, in einem
Nationaldrama sonderbar anmutendem Hohn überschüttet:
Hermann: Deutschland!
Einige in seinem Heere:
Er spricht oft davon. Wo liegt das Deutschland eigentlich?
Einer: Bei Engern, wie ich glaube, oder irgendwo im kölnischen Sauerlande.
Zweiter: Ach was, es ist chattisches Gebiet!
Hermann: Und kennst du deinen Namen nicht, mein Volk?
Stimmen: O ja, Herr, wir sind Marser; Cherusker wir — wir Bructerer, Teucterer.
Hermann: Schlagen wir jetzt und immer nur gemeinsam zu, und die verschiedenen
Namen schaden nicht. (Für sich:) Ich muß mit geringeren, aber näheren Mit-
teln wirken. (Laut:) Grüttemeier, deine beiden schwarzen Ochsen — denkst
du noch an sie? j
Grüttemeier (Tränen in den Augen): Jawohl, mein Vater empfahl sie mir im Sterben.
Hermann: Eine Manipel stürmte in dein Haus, schlachtete, briet und fraß sie und gab
dir nichts ab!
Grüttemeier: Abgeben? Was von dem Fraß übrigblieb, traten sie mit den Füßen oder
schmissen’s an die Wand. Ich hätte auch nichts davon essen mögen.
Viele Deutsche: Wie dem, ging’s uns!
Eggius (sehr laut): Rom!
Hermann (noch lauter): Alle übrigen von den Römern gestohlenen und liederlich ver-
schwelgten Gottesgaben: Linsen, Kohl, Erbsen und große Bohnen! Widersteht,
auf daß ihre Fäuste nicht zum zweitenmal in eure Töpfe greifen!
Vermerkt man noch, daß am Schluß Hermann ausruft: „Ach! wüßte das
Palatium, daß diese sonst so tapferen Leute nur ein paar Meilen weit sehen
und lieber in der Nähe äßen und tränken, so würd’ es bei der Nachricht
meines Sieges nicht so erbeben....“, dann kann nicht bestritten werden, daß
Grabbes Einstellung zu seiner idealisierten Mutterimago ebenso ambivalent war,
wie zur realen Mutter. Und wenn diese Behauptung noch eines Beweises be-
darf, so sprechen Gothlands Worte (IV. r.) eine nicht mißzuverstehende
Sprache:
Oh, laßt mich aus der düstren Gegenwart entfliehen,
Und nur noch einmal laßt mich sie begrüßen,
Die selige Vergangenheit!
Dort taucht, umkränzt mit Regenbogen,
Der Kindheit Insel aus den blauen Wogen! — A)
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 369.
Wie sich’s in mir hinübersehnt!
Ich seh die Flur, wo ich als Knabe spielte,
Wo ich mich kindlich glücklich fühlte.
Ich seh das väterliche Haus!
Allein vergebens
Streck ich die Arme zu dir aus,
Du Tempe meines Lebens!
So steht der Wandrer an dem Felsgestade,
An dem er Schiffbruch litt, — blickt voll Verlangen
Zum fernen Eilande, wo goldne Gärten prangen!
Er blickt und blickt — die Pfade sind verschlossen,
Ein Meer ist zwischen ihm und jenseits ausgegossen!
Wohlbekannte Worte hör ich klingen,
Die, gleich verwehten Abendglockentönen,
Aus weiter Fern’ herüberschwimmen!
Gott! Es sind der Mutter heil’ge Warnungsstimmen.
Mutter, Mutter!
Lebtest du, wie würdest du die Hände ringen
Über mich,
Den unglückseligsten von allen Söhnen!
Als ich noch an deiner Seite
Wallte durch des Lebens Weite,
Fiel ich nicht, und brach der Sturm auch los —
Hinweg, vorüber, zieh vorüber,
Du Kindheitsland! Mein Aug’ wird trüb und trüber!
Vorbei ist ja vorbei!
Kindheit und Lieb’ zu ihr ist Kinderei!
Wer schneidet wohl mehr Fratzen,
Wen seh’ ich mehr einander beißen und zerkratzen,
Zanken und greinen,
Als diese Kinder, die uns selig scheinen!
Wer kriegt mehr Prügel auf die Hinterbacken
Als diese Kinder!
Die frechste Lügnerin
Ist die Erinnerung! Kindheit fahr hin
Samt deinen Kindern, welche sich bekacken!
X. Grabbes Ahnen unbewußter Zusammenhänge
Jekels hat vor zwei Jahrzehnten als erster auf die bedeutsame, seither an-
erkannte Tatsache aufmerksam gemacht, daß Dichter häufig eine Gestalt nach
den divergierenden Tendenzen im Psychischen aufteilen und wie im Traume
die einzelnen Strebungen als Einzelpersonen repräsentieren. Erst deren Zu-
sammenfassung ergibt das Mosaik der Gesamtpersönlichkeit. So sind etwa
Lady und Lord Macbeth, Jago und Othello eine Person.
Imago XX/3 24
BE ee
370 Edmund Bergler
Grabbe verwendet diese Aufspaltungstechnik in hohem Maße und ahnt die
innere Zusammengehörigkeit der Teilpersonen.?* So sind z.B. Berdoa und
Theodor von Gothland eine Einheit. Der Konflikt im „Herzog Theodor
von Gothland“ sieht im ersten Augenblick wie ein törichtes Mißverständ-
nis aus: der Held schenkt den Einflüsterungen seines Feindes Berdoa Glauben,
der ihm eingibt, sein jüngerer Bruder sei vom Kanzler, dem dritten Bruder,
ermordet worden. Daraus ergibt sich nun der tragische Konflikt.?® In Wirk-
lichkeit ahnte Grabbe offenbar die unbewußte Ursache dieses Irrtums, denn
er läßt, nachdem Gothland ausruft: „Ich war nur das Beil, das Schicksal war
der Mörder“, Berdoa sagen:
Tor! Eure Dummheit ist eu’r Schicksal. Eure
Erbärmlichkeit ist eu’r Verhängnis!
Wer hieß dich, als ich dich zum Brudermord
Verführte, meinen Worten glauben? Wußtest du
Denn nicht, daß ich dein Todfeind war?
Der blöd’ste Tölpel hätte da Verdacht
Geschöpft, allein der Herzog Gothland
Schöpfte keinen, weil
Er keinen schöpfen wollte!
Gothland: Weil ich keinen
Schöpfen wollte? — Wenn das wäre, wenn ich den
Geringsten Argwohn hätte fassen können,
Ich aber hätt’ ihn absichtlich
Nicht fassen wollen,
Ja, dann durchwühle unermeßliches
Verderben meine Seele!
Berdoa: Höre denn,
Und unermeßliches Verderben wühle dir
Durch deine Seele! — Manfred war
Jählings am Schlagflusse verreckt.
Wahrscheinlich hatte er beim Abendschmaus
Zu viel gefressen und es nicht
Verdauen können — ungeheuer war
Dein Schmerz um ihn; — so traf ich dich, mit großer
Bestürzung, aber mit noch größ’rer Freude
Vernahmest du, daß er erschlagen sei:
Die Rache für den toten Bruder
War dir ein schmeichelnder, verlockender
Gedanke!
34) Es kommt in Grabbes Dramen wiederholt vor, daß sich zwei Gegner, nachdem sie
einander im Zweikampf verwundet, schluchzend in die Arme fallen: so die Brüder Goth-
land, so die beiden Männer in „Nannette und Marie“. Auch dies beweist die Einheit
der „aufgespaltenen“ Personen.
35) Dieser „Irrtum“ wurde Grabbe übel angekreidet. So sagt z.B. Gottschall: „Eine
tragische Dialektik von dem großen Wurf der griechischen Tragödie ...nicht zu verkennen;
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 371
Gothland: Satan! Deute meine
Gedanken nicht ins Schlimme!
Berdoa: Zwar war Friedrich,
An welchem du die Rache nehmen mußstest,
Dein Bruder auch; doch das hielt dich nicht ab,
Denn er war ja der weniger geliebte!
Du gingst vielmehr sorgfältig allem, was
Dir Aufschluß geben konnte, aus
Dem. Wege...
Gorthland: Wenn —
Wenn unter diesen Lügen Wahres wäre — wenn —
Wenn — wenn —
Berdoa: ... und schlugst
Ihn mit Vergnügen tot!
Nieten ist die Bedeutung dieser Szene aufgefallen und man kann als
Analytiker seinen Worten nur beipflichten, wenn er sagt:
„Die bösen Wünsche haben Gothland von Anfang an geleitet und alles andere
Gebaren stellt sich als bewußt-unbewußter Selbstbetrug dar; in den labyrinthi-
schen Irrgängen dieser Psychologie spielt Berdoa mehr und mehr die Rolle
des Unterbewußtseins im Doppel-Ich Gothlands. Mir scheint diese Szene
(V. 3.) eine geniale Vorwegnahme moderner Psychoanalyse, ein einleuchtendes
Zeugnis für den dämonischen Tiefsinn des jungen Grabbe“ („Grabbe und
Schopenhauer“).
Eine andere, nicht minder bedeutsame Szene ist in „Nannette und
Marie“ zu finden, die am Hochzeitstage von Nannette und Leonardo spielt:
Nannette: Da liegt mein väterliches Haus!
Leonardo: Weshalb
Wirst du dabei so trübe?
Nannette: Ich bin dort
Nur eine Fremde!
Leonardo: Traure nicht, daß du
Des Lebens Blütenzeit betrittst!
Nannette: Ach, daß
Man mit der Kindheit sie bezahlen muß!
— Verzeih mir, wenn ich mich in deinen Armen
So schmerzlich dran erinnere — Ich fürchte,
Man fühlt sogar im Himmel Heimweh nach
Der Erde.
In der Sprache der Analyse ausgedrückt: die Frau muß auf ihre Odipus-
beziehung zum Vater verzichten, um beim Manne glücklich zu sein.
Häufig verwendet Grabbe Wortanspielungen zur Andeutung unbewußter
Vorgänge. So etwa, wenn er im „Aschenbrödel“ die verwandelte Katze von
schade nur, daß ein unentschuldbarer Irrtum, ein unleugbarer Schwachsinn hier das tragische
Fatum herbeibeschwören.“
24*
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372 Edmund Bergler
der Au sprechen läßt, wobei die ängstliche Ratte ein fressendes „Miau‘“ heraus-
hört (siehe S. 341). Oder wenn Grabbe in „Kaiser Heinrich VI“ in einer
Situation, in welcher die Stadt Bardewick die Rache des von ihr treulos ver-
lassenen Heinrich des Löwen fürchtet, den Ratsherrn Hagener die unter-
gehende Sonne mit einer Löwenmähne vergleichen und den Bürgermeister
Rudlich erschreckt fragen läßt: „Wie kommt Ihr auf Löwenmähnen?“
Ferner sei auf Grabbes Herausarbeitung des doppelten Sohn-Vater-Konflikts
im „Gothland“ und die Bedeutung der Vergeltung und des unbewußten
Schuld- und Strafbedürfnisses des Helden verwiesen.
Ebenso erstaunlich ist eine Antwort Arbogas auf die Frage Gothlands (IV. r.),
was den Helden vom Mörder unterscheide: „Die Anzahl der Erschlagenen.
Wer wen’ge totschlägt, ist ein Mörder, wer viele totschlägt, ist ein Held.“
Das heißt, wer seinem Über-Ich nur einen Mord abringen kann, ist kein Held.
Was der Durchschnittsmensch am Helden unbewußt bewundert, ist die Angst-
überwindung, d.h. das scheinbar schuldgefühlsfreie Übertreten der Über-Ich-
Gebote, unter denen die anderen seufzen.
Einmal nennt Grabbe das Wort unbewußt direkt: Im „Aschenbrödel“
nimmt der König die Hand der Geliebten und läßt sie sein Herz fühlen. Dann
heißt es bei Grabbe: „Olympia (läßt die Hand unbewußt da ruhen): Es klopft
— ja — ja — sehr — stark.“
XI. Der orale Pessimist und seine Varianten
Setzt man sich mit einem oral fixierten oder regredierten Pessimisten in der
Analyse auseinander, dann bekommt man regelmäßig die Schopenhauerschen
Rationalisierungen?® zu hören. Etwa Modifikationen der bekannten Stelle aus
„Die Welt als Wille und Vorstellung“:
Dieser Welt, dem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch
bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab
tausend anderer, und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit
der Erkenntnis die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, wächst, welche daher im Menschen
ihren höchsten Grad erreicht, und einen um so höheren, je intelligenter er ist, — dieser
Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den
möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend.
Die Frage der Patienten, ob sie bei ihrer düsteren Schilderung der realen
Verhältnisse etwa übertreiben, kann man nicht ohneweiteres verneinen. Die
Welt, in der wir leben, ist ein Gemengsel von „brutalster‘‘ Aggression und
konzentriertestem Haß, welche beide Äußerungen des Thanatos vom Men-
36) Aus Platzmangel kann hier auf die psychologischen Parallelen zwischen Grabbe,
Schopenhauer und Nietzsche nicht eingegangen werden. Grisebach nennt Grabbes Werke
„Kunst gewordene Philosophie Schopenhauers“.
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 373
schen, gegen den sie gerichtet sind, subjektiv als „Niedertracht und Gemein-
heit“ empfunden werden, wobei lediglich die Quantität dieser einzelnen In-
gredienzien — bei einem relativ konstanten Mischungsverhältnis — jeweils
wechselt. Demgegenüber erscheint die Beimengung des Eros quantitativ ge-
ring. Auch kann man etwa einem Menschen, der den Satz Bertrand Russels
als Realität darstellt: „Die Menschen tun das Gute, so weit man sie zwingt,
es zu tun, und das Schlechte, soweit man nicht die Macht hat, sie daran zu
hindern“ — die Richtigkeit seiner Beobachtung, mit der Einschränkung des
Über-Ichs, nicht bestreiten.
Die Lebenstechnik der praktisch Gesunden besteht also im Übersehen und
Nicht-tragisch-Nehmen. Grabbes Satz:
Der Mensch erklärt das Gute sich hinein,
Wenn er die Weltgeschichte liest, — weil er
Zu feig ist, ihre grause Wahrheit kühn
Sich selber zu gestehen —
hat seine Richtigkeit. Somit kommt es auf den Standpunkt des Beschauers
an. Grabbe sieht z.B. in der Sonne die Kraft, die die Krokodilseier ausbrütet
(siehe $. 363), während einem andern an ihr die lebensspendende Wärme zu-
erst auffällt. Auch ist die Fähigkeit, jeweils wechselnden Fiktionen?? nach-
zuhängen, wobei die jeweilige Fiktion libidinös überbesetzt wird, deren Zu-
sammenklappen aber nach einiger Trauerarbeit das Aufrichten der nächsten,
deren Schicksal wieder im voraus gewiß ist, nicht verhindern darf, ein Stigma
der Normalität. Endlich — und das ist das Entscheidende — ist es eine bio-
logisch fundierte Tendenz des Triebes, nach Befriedigung zu verlangen. Wir
empfinden z.B. Hunger, Sexualwünsche und Schlafbedürfnis, unabhängig da-
von, ob die Erfüllung dieser Triebe einen „Sinn“ hat oder nicht.
Der orale Pessimist ist also nicht ganz im Recht, wenn er sein subjektiv
und psychologisch begründbares Sich-unglücklich-Fühlen mit realen Verhält-
nissen begründet. Grob ausgedrückt, könnte man, ein altes Wort variierend,
sagen, nicht er hat den Pessimismus, sondern der Pessimismus hat ihn. Mag
nun Grabbe minutiös beobachten, wenn er die Welt „ein mittelmäßiges Lust-
spiel“ nennt, „welches ein unbärtiger, gelbschnäbeliger Engel, der noch in der
Prima sitzt, während der Schulferien zusammengeschmiert hat“, und an
anderer Stelle das Herz „für eine in das unrechte Loch gelaufene Billard-
37) Unter Fiktion ist die Fähigkeit des Gesunden gemeint, mit der Zeit wechselnde Ob-
jekte (Personen, Dinge, Interessen, Ideen usw.) mit großen Libidoquantitäten zu besetzen, un-
abhängig von der Wertschätzung der Anderen und trotz der wiederholt gemachten Er-
fahrung, daß es sich nicht um ständige Libidopositionen handelt, daß also diese hoch-
bewerteten Objekte mit der Zeit im subjektiven Empfinden verblassen. — Der Unterschied
zwischen ‚„Fiktionsfähigkeit“ und Sublimierung bleibt einer eigenen Untersuchung vor-
behalten.
374 Edmund Bergler
kugel“ halten —; wer gesund, das heißt: arbeits-, liebes- und fiktionsfähig ist
(ich halte das letzte Glied dieser Trias für unerläßlich), wird trotz allen
Lebenstragödien bestehen können. Gerade die „Fiktionsfähigkeit“ ist beim
oralen Pessimisten herabgesetzt.
„Arbeits-, liebes- und fiktionsfähig“: das heißt aber relativ neurosefrei sein,
also die Prägenitalität und den Odipuskomplex in großen Zügen wenigstens
überwunden haben. Das hat der orale Pessimist nicht zustande gebracht und
hier ist der springende Punkt. Das Sonderbare ist nun, daß der orale Pessimis-
mus sich mit keinem der bekannten Krankheitsbilder deckt, daß wir darunter
schizoide, zykloide und auf den ersten Blick als hysteriform imponierende
Menschen finden. Bei allen diesen Pessimisten liegt ein Scheitern an der prä-
ödipalen Mutterbindung vor. Orales Mißtrauen, Haß, Neid, Eßstörungen,
Sich-Beklagen, den anderen Ins-Unrecht-Setzen, Sich-unglücklich-Fühlen domi-
nieren. Die Angst vor dem Gefressenwerden kommt meist in der gemilderten
Form der Angst vor dem Verhungern, resp. Fellatiowünschen zum Ausdruck,
wobei unbewußte Phantasien resp. Wünsche, betreffend das Abbeißen des
Penis durch die Frau, zu konstatieren sind. Vielfach hat der Penis noch
Brustbedeutung. Die unbewußte Technik dieser Menschen liegt darin, daß sie
mit grandioser Geschicklichkeit ihre selbstgewollten Niederlagen und Ent-
täuschungen organisieren, wobei sie aus unbewußtem Strafbedürfnis gar nicht
mehr der Erfüllung ihrer Wünsche nachjagen, sondern der Enttäuschung,?®
an die sie masochistisch-genießend fixiert sind und die für sie die einzige Form
des Auslebens ihrer prägenitalen Wünsche und — Aggressionen darstellt. Da-
bei ergibt sich der typische Circulus vitiosus, da sie aus jeder Enttäuschung die
unbewußte Berechtigung zu weiteren Aggressionen ableiten. Der orale Pessi-
mismus ist wie ein neurotisches Symptom aufgebaut und stellt unter anderm
einen narzißtischen Schutzmechanismus des Ichs dar, der dem schwer lädierten
Allmachtswahn einen Unterschlupf bietet.
Und der Ausweg für den oralen Pessimisten nach erfolgreicher Analyse???
Die gütige, mütterliche Frau, von der der Patient geliebt wird, die — nach
38) Anderseits hat man bei Unkenntnis dieses Tatbestandes bei den oralen Pessimisten den
Eindruck, es handle sich im Gegenteil um Optimisten, da sich diese Menschen von ihren
unbewußten Wünschen durch keine üble Erfahrung abbringen lassen und ihnen immer
wieder nachjagen. Es handelt sich, neben der zutiefst infolge der eigenen Allmacht nicht
völlig aufgegebenen Hoffnung, geliebt zu werden, um die besprochene Technik des Pessi-
misten, den Anderen ins Unrecht zu setzen. Würde sich der Pessimist durch die Realität
„belehren“ lassen, könnte er seinen neurotischen Mechanismus nicht mit der gleichen un-
bewußten Lust abhaspeln lassen.
39) Ohne Analyse ist m. E. der „orale“ Pessimist unheilbar. Selbst wenn er — ein an sich
unwahrscheinlicher Glücksfall — dem einzigen, für ihn passenden Typus der „gütigen Frau“
begegnete, er würde auch in ihr das bösartige, „fressende“ Weib sehen und die neurotische
Mutterbeziehung wiederholen.
Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten 375
analytischer Lösung der Ängste — nicht auffressen und gefährden, sondern in
überströmender, nie versagender Güte Liebe gibt, gibt und nochmals gibt.
Und wenn auch der paradiesische Zustand, der Grabbes Olympia im „Aschen-
brödel“ vorschwebte:
Mir wird, als kehrten alte Zeiten wieder
Als hört’ ich zaubervolle Wiegenlieder,
Als läg’ ich an der Mutter Brust
Und atmete des Kindes Lust.
nicht erreichbar ist (wie bei keinem Menschen), ein Stück Lust bleibt auch
dem früheren oralen Pessimisten nicht versagt.
Literatur über Grabbe.
ı. Adams P,, Grabbes Weltbild im „Herzog Theodor v. Gothland“. Diss. Münster. In:
Lit. hist. Jahrbuch der Görregesellsch. Freibg. 1927.
2. A. B., Grabbe und Müllner. Im Grabbe-Buch. Detmold 1923.
3. Bergmann A., Grabbe als Gestalt des Dramas. Im Grabbe-Buch.
4. Bergmann A., Grabbe-Bibliographie. Im Grabbe-Buch.
5. Duller E., Grabbes Leben. In „Die Hermannschlacht“. Herausgeg. von Grabbes Witwe.
Schreiner 1838.
6. Ebers F., Grabbes „Eulenspiegel“. Im Grabbe-Buch.
7. Ebers F. Der Blücher der Poesie. Im Grabbe-Buch.
8. Ebers F., Wie sah Grabbe aus? Im Grabbe-Buch.
9. Ebstein E., Grabbes Krankheit. In: Grenzfragen der Lit. u. Med. 3. Heft, 1906.
10. Eulenberg H., Der sterbende Grabbe. Im Grabbe-Buch.
ı1. Friedrich P. und Ebers F., Das Grabbe-Buch. Detmold 1923.
ı2. Friedrich P., Grabbes „Marius und Sulla“. Im Grabbe-Buch.
13. Friedrich P., Neues von Ch. D. Grabbe. Im Grabbe-Buch.
14. Friedrich P., Einleitung zum Grabbe-Buch.
15. Friedrich P., Grabbe-Mal. Im Grabbe-Buch.
16. Friedrich P., Auferstehung. Im Grabbe-Buch.
17. Friedrich P., Der Auditör. Im Grabbe-Buch.
40) Auch kann erst die erfolgreiche, lange fortgesetzte Analyse die anderen oralen
Störungen der oral Fixierten oder Regredierten beseitigen. — In einem Falle eines
oralen Pessimisten (eines hochbegabten Lyrikers), der in einem bestimmten Zeitpunkt
seiner Neurose an einer völligen Produktionshemmung litt — dem „Auftrieb von
Sehnsucht“ (ipsissima verba) stand ein infernalischer Mutterhaß entgegen, der alles unterband
und höchstens zu literarischen Blasphemien und Koprolalien reichte —, entsprach die Vor-
liebe für obszöne Worte einem „Verdrecken“ des Lockrufs der Mutter. Vgl. dazu
E. Bergler, Über obszöne Worte (im Erscheinen). — In anderen Fällen sind es ganz un-
wahrscheinliche Störungen, die bei den Oralen in Betracht kommen, z. B. Ejakulations-
unvermögen (siehe die Arbeit des Verf. „Über einige noch nicht beschriebene Spezialformen
der Ejakulationsstörung“) oder — Pseudodebilität (siehe des Verf. „Zur Problematik der
Pseudodebilität“. Int Ztschr. f. Psa. 1932 resp. 1934). Natürlich ist nicht der „orale Pessimis-
mus“ an diesen Symptomen schuldtragend, ist er doch selbst nur eine Außerungsform der
Neurose der oral fixierten oder regredierten Patienten.
376 Edmund Bergler: Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten
18. Geyer E., Grabbe. Eine dramatische Studie. Im Grabbe-Buch.
19. Gottschall R. v. Ch. D., Grabbe. Leipzig, Reclam.
20. Heine H., Verschiedene Stellen seiner Schriften. Z. B. in den „Memoiren“. Ausg.
Bong. Bd. ı5, $.78ff.; in den „Gedanken und Einfällen“, in den Artikeln „Über die fran-
zösische Bühne“, in „Shakespeares Mädchen und Frauen“, in den „Elementargeistern“,
(Näheres bei Ploch, S. 86—90.)
21. Hillekamps C. H., C. D. Grabbes Briefe als biographische Quelle. Inaugural
Dissertation 1929. Verlag Fahle, Münster.
22. Jakisch H., Grabbe und Nietzsche. Im Grabbe-Buch.
23. Kutscher A., Grabbe und Hebbel. Im Grabbe-Buch.
24. Kruse G. R., Musik und Musiker in Grabbes Leben. Im Grabbe-Buch.
25. Kruse G. R., Grabbe und Lortzing. Im Grabbe-Buch.
26. Lange F., Grabbe und wir. Im Grabbe-Buch.
27. Lentwein P., Grabbe als politischer Dichter. Im Grabbe-Buch.
28. Nieten O., Grabbe und Schopenhauer. Im Grabbe-Buch.
29. Nieten O., Ch. D. Grabbe, sein Leben und seine Werke. Dortmund 1908. Verlag
Ruchfuß.
30. Nieten O, Grabbe und Immermann. Im Grabbe-Buch.
31. Perger A., System der dramatischen Technik mit besonderer Untersuchung von
Grabbes Drama. Berlin 1900. Duncker-Verlag.
32. Piper C. A., Beiträge zum Studium Grabbes, München 1898. Haushalter-Verlag.
33. Ploch A., Grabbes Stellung in der deutschen Literatur. Leipzig 1905. Verlag Scheffer.
34. Wukadinowic S., Grabbes Lebensbild. In „Grabbes Werke“. Verlag Bong & Co.
35. Zaunert P., Grabbes Leben. In „Grabbes Werke“. Ausg. d. Bibliograph. Instituts.
Herausg. von Franz und Zaunert.
36. Ziegler K., Grabbes Leben und Charakter. Verl. Hoffmann und Campe. Hamburg
1855.
BESPRECHUNGEN
Aus der Literatur der Grenzgebiete.
BOVET TH.: Philosophische Grundprobleme der Medizin. Zürich, Rascher & Co., 1934».
V u. 181 Seiten.
Der kluge und gebildete Verfasser setzt sich mit den philosophischen Grundproblemen
der Medizin in seiner Weise auseinander. Das Büchlein, das viele Probleme — Natur, Seele,
Leben, Geist, Existenz, die Eigenart der Medizin, die mehrdimensionale Diagnostik, die:
Polarität von Ich und Gott — behandelt, ist notwendigerweise aphoristisch, orientiert aber
gut über den gegenwärtigen Begriffskreis der psychologischen Medizin in Deutschland. Der
Verf. will gerade der unter den Ärzten weit verbreiteten Meinung entgegentreten, die geistigen.
Probleme ließen sich von der Psychologie oder Biologie aus behandeln. Im Tode wird die
Seele in einen noch höheren geistigen Zusammenhang eingewoben und von der individuellen
Beschränktheit und dem Alleinsein befreit. Das Gewissen ist für den Verf. der Ort, wo der:
Geist in die Seele einbricht. Gott als schlechthin existierendes Wesen überragt das Gebier
jeder Teilwissenschaft.
Der Referent zieht freilich schlichte Beobachtung und Teilwissenschaft einer geheimnis-
vollen Einsicht in geistige Probleme und dem Wissen um schlechthin existierende Wesen.
vor. P. Schilder (New York)
BÜHLER, CHARLOTTE: Drei Generationen im Jugendtagebuch. Quellen und Studien zur
Jugendkunde, herausgegeben von Dr. Charlotte Bühler. H. ır. Fischer, Jena. 1934.
S. 1184.
B. benützt als Kriterium in diesem Vergleich der Tagebücher von drei Generationen die
Einstellung zur Familie, die Einstellung zu sachlichen Aufgaben und geistigem Leben, ferner
die Einstellung zu Natur und Geselligkeit, schließlich die Liebes- und sexuelle Entwicklung.
In der ältesten Generation findet sich eine selbstverständliche Einbezogenheit in die
Familie mit bedingungslos positiver Einstellung; in der mittleren Generation findet sich;
starker Individualismus und heftiger Gegensatz zur Familie. In der jüngsten Generation
schwindet die Animosität gegen die Familie. Die älteste Generation ist ungeistig und an.
sachlichen Aufgaben wenig interessiert; in der mittleren findet sich lebendige geistige Proble-
matik und sachliches Aufgabeverständnis, in der jüngsten findet sich eine starke Hinwendung:
zur Sachlichkeit und ein starker Wille zu Gemeinschaft, Sport und Geselligkeit. Die Natur-
auffassung der älteren Generation ist nüchtern, der mittleren und jüngsten lebendig und
schwärmerisch. Die Liebe der älteren Generation ist kontaktlos, die der mittleren sucht
individuelles Verstehen, in der jüngsten finden sich Schwärmerei und seelisch fundierte Be-.
ziehungen neben sexuell fundierten. Vier Tagebücher werden als Belege publiziert.
Es ist natürlich zuzugeben, daß Tagebücher nichts weniger als ursprünglich sind. Das.
„Ich“ spielt in deren Ausarbeitung eine bedeutsame Rolle. Entstellungen, Verdichtungen,,
Verschiebungen verdecken die libidinösen Strebungen. Aber gerade vom Standpunkt der Ich-
psychologie sind Tagebücher interessant. Man kann dann sehen, inwieweit die gegebene
soziale Struktur den Aufbau des Ichs beeinflußt. Wir können auch Einblick gewinnen in den
Aufbau des Über-Ichs. Studien wie die Ch. Bühlers bieten daher auch für den Psycho-
analytiker interessantes Material, wenn er auch diesem Material in anderer Einstellung gegen-
übertritt.
P. Schilder (New York)
380 Besprechungen
Erwartung des Graphologen (der Klagesschen Schule) überein? Speziell derjenige, der
der Graphologie aus wissenschaftlichen Gründen skeptisch gegenübersteht, wird eine solche
Fragestellung begrüßen. Und daß die anscheinend durchaus zuverlässige statistische Be-
arbeitung eines Materials von mehr als 700 Handschriften von Personen, die wegen be-
stimmter Delikte verurteilt wurden und 200 Handschriften von Nichtkriminellen auf die er-
wähnten Fragen eine eindeutig positive Antwort gibt, wird ihn mehr interessieren als die
verblüffendste — wirklich oder bloß angeblich zutreffende — graphologische Deutung
irgend eines Einzelfalles. Daß so manche Behauptung, die sich in der graphologischen
Literatur findet, der statistischen Prüfung nicht standhielt, überrascht nicht weiter. Über-
raschender sind — wenigstens für den kritischen Vertreter der Graphologie — manche
Einzelheiten des Ergebnisses, wie z. B. daß bestimmte Merkmale in 80°/, der Handschriften
einer bestimmten Verbrecherkategorie vorkommen, dagegen nur in 10°/, der nichtkriminellen
Handschriften (eine Differenz, die sich noch vergrößert, sobald man den Vergleich auf eine
Merkmalgruppe statt auf ein isoliertes Merkmal erstreckt). Ref. ist der Ansicht, daß es der
Autorin wirklich gelang, durch ihre Arbeiten „die gegebenen Grundlagen graphologischer
Deutung nicht nur zu bestätigen, sondern auch zu erweitern und zu festigen“.
Vom rein psychologischen Standpunkt aus sind die beiden Abhandlungen ohne sonder-
liches Interesse. W. hat gut daran getan, den Untertitel „eine charakterologische Studie“,
den die erste trägt, bei der zweiten (die übrigens die interessantere und ergiebigere ist) fallen
zu lassen. Sie ist kritisch genug, die Unzulänglichkeit ihres Materials als Grundlage für eine
psychologische Untersuchung sexuell abnormer Verhaltungsweisen zu erkennen und nichts
anderes zu erstreben als „eine vom graphologischen Gesichtspunkt unternommene Tat-
bestandsaufnahme auf Grund der Handschriften von Personen, die wegen bestimmter Sexual-
delikte verurteilt worden sind“ — eine Beschränkung, welche der Arbeit nur zugute ge-
kommen ist. W. Marseille (Wien)
WOLFF GUSTAV: Leben und Erkennen. Vorarbeiten zu einer biologischen Philosophie.
München, Ernst Reinhardt, 1933, 442 Seiten.
Der Untertitel kennzeichnet Charakter und Absicht des Buches. W. findet an den
lebenden Körpern außer zahlreichen Erscheinungen, die sie mit den leblosen gemeinsam
haben, „eine völlig andersartige Eigenschaft“, „den Charakter der Zielursächlichkeit oder
Zweckmäßigkeit, eine Eigenschaft, die keinem leblosen Körper innewohnt und keinem leben-
den Körper fehlt“. Zweckvorstellungen fördern den Ablauf zweckmäßiger Vorgänge, sind
selbst „nur eine zweckmäßige Einrichtung“. Aber sie spielen nur eine untergeordnete Rolle
im Ablauf der zweckmäßigen Vorgänge. Der Verfasser betrachtet sodann die Darwinsche
Abstammungslehre und findet, daß weder der Begriff der Variation, noch der der Mutation
eine Abstammungslehre ermöglicht. Er findet in der Überproduktion einen zielursächlichen
Charakter. Er findet in der Formgestaltung ein Prinzip von teleologischem Charakter. Er
verneint die Wirksamkeit geschlechtlicher Zuchtwahl. Er verneint auch die Bedeutung der
funktionellen Anpassung (Lamarck) und der direkten Umweltsbeeinflussung (Geoffroy)
für die Artentwicklung. Sie sind für die Spezialfälle der allgemeinen Erscheinung der organi-
schen Zweckmäßigkeit nicht maßgebend. W. verweist besonders auf die Regeneration der
Augenlinse des Wassersalamanders (Triton), welche vom Irisepithel her erfolgt. Es wird also
ein der neuen Funktion ganz fremdes Gewebe zur Ersatzbildung herangezogen: ein Beweis
für ein zielstrebiges phylogenetisches Prinzip. Eine Analyse der Ganzheit folgt, sie ist „eine
Gesamtheit als Zweckeinheit gefaßt“. Der Ganzheitsbegriff ist nur anwendbar auf Lebewesen
und deren Produkte. Aber die organische Zweckmäßigkeit ist nicht psychisch, sie ist nur
seelenähnlich. „Der psychoide Faktor ist ja nicht ein Produkt des vitalen Geschehens wie der
PET ——
Besprechungen 381
psychische Faktor, er wird nicht von den Lebensgesetzen beherrscht, sondern beherrscht
diese... Die psychische Intelligenz ist genau die nämliche in der Amöbe wie im Menschen,
in der Pflanze wie im Tier.“ Der Verf. lehnt daher die Lehre vom Psychovitalismus und
von der Pflanzenseele ab.
Auf Grund der von der organischen Biologie her gewonnenen Ansicht schreibt der Verf.
zu einer Diskussion der Assoziationspsychologie: sie vernachlässige den psychischen Faktor.
Auch die psychischen Erscheinungen haben den Charakter der organischen Zweckmäßigkeit.
Der „teleologische Zusammenhang ist immer ein kausaler“, „Jeder einzelne Vorgang ist
zugleich Mittel und Zweck.“ Aber in den „seelischen Lebenserscheinungen“ fehlt ein phy-
sikalisch chemischer Zusammenhang gänzlich. Wenn „Willensfreiheit“ erlebt wird, ist dies
darauf zurückzuführen, daß im Laufe der Stammesentwicklung Bewegungen, die weder auf
reflektorischem noch auf triebhaftem Wege auszulösen waren, durch verständige Über-
legung ausgeführt werden. Dies ist jedoch auch ein teleologisch-organischer Prozeß, der
kausal bestimmt ist. Es gibt kein unmittelbares Erlebnis des Tuns. Wahrheit und Wert
werden gleichfalls vom teleologisch-organischen Gesichtspunkte aus betrachtet. Das a priori
Kants wird zu einem Teil der Erfahrungswissenschaft, logisch zu einem Teil der Biologie.
Das Buch enthält manche Hinweise auf biologische Tatsachen, die den Psychoanalytiker
interessieren dürften. Allerdings werden diese in sehr schematischer Weise vorgetragen. Der
Bedeutung der Mutation in der Abstammungslehre wird der Verf. z. B. in keiner Weise
gerecht. Er setzt sich so in Widerspruch zu der Lehre führender Biologen und — was
schlimmer ist — gibt nur eine sehr ungenügende Orientierung über ein wichtiges Tatsachen-
gebiet.
Der Analytiker wird sich auch fragen müssen, welchen Sinn es habe, von einer organi-
schen Zweckmäßigkeit zu sprechen, welche nicht psychisch ist. Ein solcher Begriff kann
weder den Analytiker, noch den Philosophen befriedigen. Die psychologischen Phänomene
werden in der Lehre von Wolff zu Epiphänomenen ohne tiefere Bedeutung. Der Verfasser
weiß nichts von analytischen Begriffen oder verwendet sie nicht. Sie hätten ihm ein tieferes
Eindringen in die Probleme ermöglicht. Er ist sichtlich unter dem Einfluß seiner ersten
Entdeckung vom Begriff der organischen Zweckmäßigkeit so gefesselt, daß alles andere dem
Gesichtskreis entschwindet. Es ist zu begrüßen, daß der Standpunkt naturwissenschaftlicher
Beobachtung oder besser der Beobachtung schlechthin auch dem Wahrheits- und Wert-
problem gegenüber angewendet wird. Er findet Hinweise, daß Kant grundsätzlich der
gleichen Ansicht war. Dem Ref. scheint es psychologisch interessant, daß es offenbar leicht
möglich ist, zu einander diametral entgegengesetzten Schlußfolgerungen bezüglich der Kant-
schen Lehre zu kommen. Die meisten Kantianer werden jedenfalls mit W.s Deutung der
Lehre Kants nicht einverstanden sein. Es scheint offenbar für menschliche Wesen, sogar
für einen Kant sehr schwer zu sein, im Verlaufe langgestreckter Diskussionen und umfang-
reicher Bücher Widersprüche fernzuhalten, ein Problem, das den Analytiker gewiß inter-
essiert. Man fragt sich dann, ob nicht der Versuch, zu Formulierungen zu kommen, welche weitüber
die Möglichkeiten unmittelbarer Anschauung und Handlung hinausgehen, von vornherein
zum inneren Widerspruch verurteilt ist, was analytisch natürlich ein Durchbrechen des
Systems Ubw. bedeuten würde. Das vorliegende Buch, das sehr bald jede Diskussion mit
dem Zauberwort der organischen Zweckmäßigkeit beendet, würde jenem Prinzip des Un-
bewußten zuzurechnen sein, das ich als ungebührliche Verallgemeinerung bezeichnet habe.
Vielleicht kann man diese Philosophien formal je nach dem unbewußten Mechanismus
gruppieren, dem sie ihren Ursprung verdanken. P. Schilder (New York)
N EEEBRSSE HTEHPN=-U NGEN
1934
BE oo TEE ET TE |
SANDOR RADO
DIE
KASTRATIONSANGST
DES WEIBES
Oktav. go Seiten. In Leinen RM 5.70
Dr. Sandor Rado, Direktor des Psycho-
analytischen Instituts in New York, ver-
folgt in seinem Buch ‚Die Kastrations-
angst des Weibes‘‘ die mannigfachen Ver-
zweigungen des Geschlechtsschicksals des
Weibes. Der Ausdruck „Kastrationskom-
plex“, der es zu einer gewissen Popularität
gebracht hat, ist von der Psychoanalyse
geprägt worden. Seine Anwendung war
im Anfang auf das männliche Geschlecht
beschränkt, er diente als Sammelbezeich-
nung für eine bedeutungsvolle Gruppe
von Phänomenen, welche die Psychoana-
lyse im Seelenleben des Mannes aufgedeckt
hatte. Bei der Frau liegen die Dinge durch-
aus anders. Rado zeigt, auf welche Weise
der so typische Masochismus des Weibes
entsteht und weist auf, daß die Angst vor
dem eigenen Masochismus in der weib-
lichen seelischen Entwicklung an derselben
Stelle steht, an der sich beim Manne die
Angst um den Verlust der Männlichkeit
entfaltet. Alle Reaktionen auf den eigenen
Masochismus, die Formen der Flucht vor
ihm, die Aufnahme des offenen Kampfes
und schließlich der Versuch der Wahl
eines kleineren Übels werden durch alle
Erscheinungen der weiblichen Neurosen
hindurch verfolgt und so ein Bild der
Vielfältigkeit aller Fehlentwicklungen, die
an einen kritischen Punkt der Entwicklung
anschließen mögen, entworfen. Schließlich
wird auch eine neue Theorie der Angst
überhaupt und ihrer Quellen in der
Phylogenese skizziert.
INHALT
Einleitung
I. Der Wunschpenis
II. Die masochistische Deformation des Genitaltriebs
III. Die Abwandlung der Kastrationsangst
IV. Der Gestaltungsprozeß der Neurose
ı. Die Flucht
Das Angstproblem
2. Der Kampf
Der Ödipuskomplex
3. Die Wahl des kleineren Übels
V. Schlußfolgerungen
IMRE HERMANN
DIE PSYCHOANALYSE
ALS METHODE
Beihefte zur „Internationalen Zeitschrift für Psycho-
analyse“ und zur „Imago“ / Nr. ı
Großoktav. 114 Seiten. Geheftet RM 6. 50
Hauptgegenstand der Untersuchung ist einerseits die
sogenannte „psychoanalytische Situation“, das heißt,
die für die analytische Erfahrung und therapeutische
Behandlung günstigste Seeleneinstellung, anderseits die
methodische Untersuchung der praktischen und wissen-
schaftlichen Bearbeitung des in dieser Situation ge-
wonnenen Materials. Demgemäß zerfällt die Methoden-
lehre in zwei Teile, in die Methodik der Material-
beschaffung und die der Bearbeitung; dazu kommt °
noch die Untersuchung der Art des Stoffes, auf den
sich die analytische Methode anwenden läßt. Mit großer
Nachdrücklichkeit erörtert der Verfasser die Grundvor-
aussetzung aller analytischen Theorien, wonach jede
Offenbarung der Analysieren sinnvoll ist. Der
Verfasser versucht eingehend die Bedingungen zu be-
stimmen, die das Erkennen des sinnvollen Stoffes er-
leichtern. In all diesen Erwägungen kommt ihm seine
in früheren Studien bereits bekundete logische Ge-
schultheit wohl zu statten. Sein anerkennenswerter Ver-
such wird fortan all denjenigen, die nach tieferem
Verständnis des logischen Wesens des analytischen
Verfahrens streben, unentbehrlich sein.
Dr. Szemere im „Pester Lloyd‘,
INHALT
I. Einleitung: ı. Das Bewußte und das Unbewußte;
2. Die Prinzipien der Bearbeitung der Psycho-
analytischen Methodenlehre,
II. Die psychoanalytische Konstellation. Die Beschaf-
fung des Materials; ı. Die Grundregel. — Die
Rolle der Aufmerksamkeit; 2. Die ruhige Selbst-
beobachtung. — Das Lebendigwerden der Ver-
gangenheit; 3, Die Ableitung der Affekte in
Worte. — Das Geheimnis; 4. Die rezeptive Ein-
stellung des Analytikers; 5. Die Widerstände. —
Ihr Ursprung und ihre Erscheinungsform; 6. Die
Grundstimmung. — Affekt- und Konfliktübertra-
gung; 7. Positive Ratschläge zur Sicherung der
freien Assoziation; 8. Niveau und Schichtung
der Assoziationsketten.
III. Die Verarbeitung des gewonnenen Materials:
ı. Das psychoanalytisch Sinnvolle. — Seelische
Kontinuität und Determinismus; 2. Zur Charak-
teristik der spezifischen Kontinuität der seelischen
Geschehnisse; 3. Spielraum. Zufall. Kausalität;
4. Die Sinngebung in der Praxis. Die Funktion
des „Sinn-Organs“; 5. Aufbau der wissenschaft-
lichen Feststellungen; 6. Leitlinien der psycho-
analytischen Erklärungsweisen.
IV. Die Kontrolle: ı. Zur Kontrolle der Begriffe;
2. Zur Kontrolle der psychoanalytischen For-
schungsarbeit.
Literaturnachweis. — Sach- und Namenverzeichnis.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN
BTEUERSCHEINUNG 1934|
MARIE BONAPARTE
EDGAR POE
EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE
MIT EINEM VORWORT VON SIGM. FREUD
Vier Teile in drei Bänden
Oktav. 356, 420 und 396 Seiten | Mit 24 Bildtafeln
Preis in Leinen RM 30.—, geheftet RM 25.—
Die Autorin legt in dieser umfassenden Studie die Ergebnisse
ihrer Forschung an Leben und Werk des großen amerikanischen
Poeten vor. Der erste Band enthält die Biographie und mit
ihr parallel laufend eine Darstellung der Lyrik des Dichters.
Der zweite und der dritte Teil behandeln vom Standpunkt
der Analyse aus die erzählenden Werke; der vierte Teil unter-
sucht das Wesen der literarischen Schöpfung und die soziale
Bedeutung dieser Leistung. (Poes Botschaft an die Menschen.)
VORWORT VON SIGM. FREUD
Meine Freundin und Schülerin Marie Bonaparte hat in diesem
Buch das Licht der Psychoanalyse auf das Leben und das Werk
eines großen, krankhaft gearteten Dichters fallen lassen. Dank
ihrer Deutungsart versteht man jetzt, wieviel von den Charak-
teren seines Werkes durch die Eigenart des Mannes bedingt
ist, erfährt aber auch, daß diese selbst der Niederschlag starker
Gefühlsbindungen und schmerzlicher Erlebnisse seiner frühen
Jugend war. Solche Untersuchungen sollen nicht das Genie
des Dichters erklären, aber sie zeigen, welche Motive es ge-
weckt haben und welcher Stoff ihm vom Schicksal aufgetragen
wurde. Es hat einen besonderei?’ Reiz, die Gesetze des mensch-
lichen Seelenlebens an hervorragenden Individuen zu studieren.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN
Soeben erscheint:
SIGM. FREUD
GESAMMELTE SCHRIFTEN
BAND XII
420 Seiten. Preis geheftet RM ı6.—, in Leinen RM 20.—,
in Halbleder RM 25.—, in Leder RM 61.80
Inhaltsverzeichnis:
Schriften aus den Jahren 1928 bis 1933:
Dostojewski und die Vatertötung.
Das Unbehagen in der Kultur.
Über libidinöse Typen.
Über die weibliche Sexualität.
Zur Gewinnung des Feuers
Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: Vorwort.
XXIX.Vorlesung: Revision der Traumlehre. XXX.Vorlesung: Traum und
Okkultismus. XXXI. Vorlesung: Die Zerlegung der psychischen Persön-
lichkeit. XXXII. Vorlesung: Angst und Triebleben. XXXIII. Vorlesung:
Die Weiblichkeit. XXXIV.Vorlesung: Aufklärungen, Anwendungen, Orien-
tierungen. XXXV. Vorlesung: Über eine Weltanschauung.
Warum Krieg?
Altere Schriften (Nachträge zu Bd. I-XI der Gesammelten Schriften):
Der Familienroman der Neurotiker. — Psycho-Analysis.
Geleitworte zu Büchern:
Vorrede zur hebräischen Ausgabe der „Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse“. — Vorrede zur hebräischen Ausgabe von „Totem und
Tabu“. — Geleitwort zu „The Psychoanalytic Review“, Vol. XVII, 1930. —
Vorwort zu „Zehn Jahre Berliner Psychoanalytisches Institut“. — Geleit-
wort zu „Elementi di Psicoanalisi* von Edoardo Weiss. — Geleitwort
zu „Allgemeine Neurosenlehre“ von Hermann Nunberg. — Vorwort zu
„Edgar Poe, Etude psychanalytique“ par Marie Bonaparte.
Gedenkartikel:
Ernest Jones zum 50. Geburtstag. — Sändor Ferenczi 18
Vermischte Schriften:
Brief an Maxim Leroy über einen Traum des Cartesius. — Goethe-Preis 1930.
Brief an Dr. Alfons Paquet. Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus. — Das
Fakultätsgutachten im Prozeß Halsmann. — Brief an den Bürgermeister
der Stadt Pfibor-Freiberg. — Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN
einen
ee TE ER
ee z
THE
PSYCHOANALYTIC
QUARTERLY
Third year of publication
THE QUARTERLY
is devoted to original contributions in
the field of theoretical, clinical and
applied psychoanalysis, and is published
four times a year.
The Editorial Board of the QUAR-
TERLY consists of the Editors: Drs.
Dorian Feigenbaum, Bertram D. Lewin,
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Zilboorg. Associate Editors: Drs. Henry
Alden Bunker, Jr., Raymond Gosselin
and Lawrence Kubie. Associated with
the Editorial Board is a group of distin-
guished American and European
psychoanalysts.
CONTENTS FOR $ANUARY 1934:
Part I: S.Ferenczi: Thalassa. A Theory of Geni-
tality (6—8). — S. Lorand: A Note on the Psycho-
logy of the inventor. — O. Fenichel: Outline of
Clinical Psychoanalysis. — S. Z. Orgel: Reactivation
of the (CEdipus-Situation. — M.R.Kaufman: Pro-
jection, Heterosexual and Homosexual. — V. Tausk:
Ibsen the Druggist.
Part II: G. Röheim: Primitive High Gods.
Editorial communications should be sent
to the Editor in Chief: Dr. Dorian Feigen-
baum, 60 Gramercy Park, New York City.
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Edited by
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This Journal is issued quarterly.
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nal Psycho-Analytical Associa-
tion, of which it is the Official
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Tindall & Cox, 8 Henrietta Street,
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who can also supply back volumes.
IMAGO, Band XX (1934), Heft 3
(Ausgegeben im August 1934)
Seite
Hermann Nunberg: Das Schuldgefühl .......ueessresseeeenunenensenenennnnnennnnnenneneer- 257
Otto Fenichel: Zur Psychologie der Langeweile .......+-+snsseoeeenenennenenennnnennnnnnee 270
Raymond de Saussure: Über genetische Psychologie und Psychoanalyse.......uursseerren- 282
Fritz Wittels: Mona Lisa und weibliche Schönheit. Eine Studie über Bisexualität ....... 316
Edmund Bergler: Zur Problematik des „oralen“ Pessimisten. Demonstriert an Christian
Mietrich Grahbbe2.. ee ne ee ae a nen ea ones ehe nee Be ee 330
BESPRECHUNGEN
Aus der Literatur der Grenzgebiete: Bovet: Philosophische Grundprobleme der Medizin (Schilder) 377. —
Charl. Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch (Schilder) 376. — Koty: Die Behandlung der Alten
und Kranken bei den Naturvölkern (Kielholz) 378. — Riese: Das Triebverbrechen (Stengel) 378. — Max
Hartmann: Die methodologischen Grundlagen der Biologie (Stengel) 379. — Wieser: Die Verbrecher-
handschrift (Marseille) 379. — Wiesengrund-Adorno: Kierkegaard (Marseille) 380. — Wolff: Leben
und Erkennen (Schilder) 382.
Anschriften der Mitarbeiter dieses Heftes:
DR. HERMANN NUNBERG, Professor an der Temple University, 111 North, 49th Street, Philadelphia, U.S.A.
DR. OTTO FENICHEL, Nobelsgate 27, Oslo
DRIVATDOZENT DR. RAYMOND DE SAUSSURE, 2 Tertasse, Genf
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Wir bitten zu richten:
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„Imago“, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien I, Börsegasse 11.
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\
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Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion : Dr. Robert Wälder, Wien II, Obere Donaustraße 35
Druck: Manzsche Buchdruckerei, Wien IX