Skip to main content

Full text of "Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie ihre Grenzgebiete und Anwendungen XXI 1935 Heft 3"

See other formats


XXI. Band 1935 Heft 3 


IMAGO 


Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie 
ihre Grenzgebiete und Anwendungen 





Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 


Herausgegeben von 


Si gm. Freud 


Redigiert von Ernst Kris und Robert Wälder 








Raul ee en Psycopathologie der Zeit 

et Le ENE REIEFRREREREUEN Der Narzißbegriff. Versuch einer neuen Deutung 
ee ‚Alfred Winterstein und Edmund Bergler. Zur Psychologie des Pathos 
| Ernst Kris \ EEE aa mr Zur Psychologie älterer Biographik (dargestellt an 
— der des bildenden Künstlers) 

Johannes Landmark .............2.% Der Freudsce Triebbegriff und die erogenen Zonen 

Ludwig Eidelberg ................ Das Verbotene lockt 

Friedih S. Krauss .............. .. Die Ödipussage in südslawisher Volksüber- 

3 lieferung 
sn N Ne Frühkindlihes Erleben und Erwadhsenenkultur bei 


den Primitiven 


Besprechungen 


EEE EEE EEE EEE BETT EI TEEET 21 EEE EEE MEETS N Ben IRB ED BEISPIEL DEBITEL n 

Wir machen hiemit unsere Autoren auf die folgenden gesetzlichen Bestimmungen auf- 
merksam: 

Bis zum Ablauf von zwei dem Erscheinungsjahr einer Arbeit folgenden Kalenderjahren 
kann über die betreffenden Verlagsrechte (Wiederabdruck und Übersetzungen) nur mit Ge- 
nehmigung des Verlages verfügt werden. Es steht jedoch auf Grund eines generellen Über- 
einkommens, das wir mit dem „International Journal of Psychoanalysis“ getroffen haben, 
jedem Autor frei, ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages der letztgenannten Zeit- 
schrift Rechte zur Übersetzung und zum Wiederabdruck einzuräumen. 

Ansuchen um die Genehmigung einer Wiederveröffentlichung oder Übersetzung in einem 


anderen Organ müßten zugleich mit Übersendung des Manuskriptes gestellt werden, um Be- 
rücksichtigung finden zu können. . P 
Die Redaktion 





ı) Die in der „Imago“ veröffentlichten Beiträge werden mit Mark 25.— per sechzehn- 
seitigen Druckbogen honoriert. 

2) Die Autoren von Originalbeiträgen sowie von Mitteilungen im Umfange über zwei 
Druckseiten erhalten zwei Freiexemplare des betreffenden Heftes. 

3) Die Kosten der Übersetzung von Beiträgen, die die Autoren nicht in deutscher Sprache 
zur Verfügung stellen, werden vom Verlag getragen; die Autoren solcher Beiträge erhalten 
kein Honorar. 

4) Die Manuskripte sollen gut leserlich sein, möglichst in Schreibmaschinenschrift (ein- 
seitig und nicht eng geschrieben). Es ist erwünscht, daß die Autoren eine Kopie ihres Manu- 
skriptes behalten. Zeichnungen und Tabellen sollen auf das unbedingt notwendige Maß be- 
schränkt sein. Die Zeichnungen sollen tadellos ausgeführt sein, damit die Vorlage selbst 
reproduziert werden kann. 

5) Mehrkosten, die durch Autorkorrekturen, das heißt durch Textänderungen, Einschal- 
tungen, Streichungen, Umstellungen während der Druckkorrektur verursacht werden, werden 
vom Autorenhonorar in Abzug gebracht. 

6) Separata werden nur auf ausdrücklichen Wunsch und auf Kosten des Autors ange- 
fertigt. Die Kosten (einschließlich Porto der Zusendung der Separata) betragen für Beiträge 


bis 8Seiten für 25 Exemplare Mark ı5.—, für 5o Exemplare Mark 20.— 


von 9.71 6 ”» » 25 ”» ” 20.5, 9» 5o ” » 25. 
” 17» 24 » » 25 » » 39,» 5O » » 409. 
» 25 » 32 » » 25 ” » 357» 50 ” » 45. 


Mehr als 5o Separata werden nur nach besonderer Vereinbarung mit dem Verlag an- 
gefertigt. 





Preis des Heftes Mark 6.-, Jahresabonnement Mark 22.- 
Jährlich 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa 560 Seiten 


Einbanddecken zu dem abgeschlossenen XX.Band (1934) sowie zu allen früheren 
Jahrgängen: in Halbleinen Mark 2.50, in Halbleder Mark 5.— 





Bei Adressenänderungen 


bitten wir freundlich, auch den bisherigen Wohnort bekanntzugeben, denn die Abonnenten- 
kartei wird nach dem Ort und nicht nach dem Namen geführt. 





me 





nr 
h} 
Fi 
r 
Y 
I 


ie 
. 
Ei 
6: 
fi 
y 
! 
3 
5 
- 


ET 





















ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOLOGIE, 


IHRE GRENZGEBIETE UND ANWENDUNGEN 


2 Er BEER BE EEE 
XXI. Band 1935 Heft 3 





Psychopathologie der Zeit‘ 
Von 


Paul Schilder 
New York 


Die Welt, in der wir leben, ist nie in Ruhe. Immer gibt es Bewegung. In 
der Welt primitiver Erfahrung ist diese Bewegung, wie ich an anderer Stelle 
gezeigt habe, alldurchdringend.? Die primitive Erfahrung ist auf den Gebieten 
der verschiedenen Sinneseindrücke stets eine Erfahrung an bewegten Gegen- 
ständen. In einem Prozeß schrittweiser Konstruktion kommen wir zu Er- 
fahrungen von verhältnismäßig ruhenden Objekten. Aber diese Objekte waren 
vorher anwesend, und wir vermuten, daß sie vorhanden bleiben werden. Die 
Objekte verändern sich, und jede Veränderung ist auf zeitliche Erfahrung ge- 
gründet. Manche der Veränderungen in der Außenwelt haben periodischen 
Charakter: der Wechsel von Tag und Nacht, der Wechsel der Jahreszeiten, 
die Veränderungen am gestirnten Himmel. Wir bilden feste Erwartungen 
über diese Veränderungen aus. Wie es in der unbelebten Welt Bewegung, d.h. 
Veränderung gibt, gibt es sie auch in der belebten, an den Tieren, Menschen 
und Pflanzen unserer Umwelt. Die Pflanzen verändern sich mit den Jahres- 
zeiten; Menschen und Tiere wachsen und sterben. Auch in uns selbst gibt es 
fortwährend Veränderungen. Wir erwachen, werden müde und schlafen 
wieder ein. Wir sind hungrig und gesättigt. Veränderungen gehen in unserem 
Körper und in unseren körperlichen Bedürfnissen vor sich. Es gibt Zeit um 
uns und in uns. Zeit ist eine Wahrnehmung. Sie ist ein Teil der Außenwelt, 
aber auch eine Erfahrung, die wir an uns selbst machen. Wir organisieren 
und kristallisieren die Wahrnehmung der Zeit in der Kenntnisnahme eines 
dauernd fließenden zeitlichen Ablaufs, den wir durch Uhren messen, und sind 
bemüht, die gleichen Maße auf die Zeiterfahrung in uns selbst anzuwenden, die 





....ı) Aus dem Bellevue Hospital. (Nach einem Vortrag in der Academy of medicine in New 
York, Februar 1935.) 
2) Space, Time and Perception. Psyche XIV (1934), S. 124 ff. 


Imago XXI/3 ® 18 
& INTERNATIONAL 
O9 PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 






























































































































































262 Paul Schilder 





wir auch die Zeitempfindung nennen können. Ich sehe keinen Grund dafür, 
daß wir mit Kant die Zeit die Form innerer Erfahrung nennen sollten. Zeit ist 
ein integrierender Teil der Wahrnehmungswelt um uns und in unserem Körper 
selbst. Es ist wahr, daß es schwer ist, diese Erfahrung von anderen zu unter- 
scheiden. Aber das gilt auch vom Raum, und die Analyse des Kontinuums 
unserer Erfahrung von der Welt bleibt auch hinsichtlich jeder anderen Er- 
fahrung schwierig, ob sie sich nun auf unsere Sinne beziehen oder auf irgend- 
ein anderes Objekt. 

Wahrnehmung und Erfahrung sind nicht in irgendeinem Sinne festgelegte 
Einheiten. Es ist wahr, daß unsere anatomische Struktur, die Form und Funk- 
tionsweise unseres Organismus unsere Erfahrungen grundlegend bestimmen. 
Aber der Organismus, der: die Struktur unserer Wahrnehmungswelt letztlich 
bestimmt, ist lebend, ist in Bewegung, ist in Funktion, in steter Anspannung, 
ist ein psychischer Organismus mit Gefühlen und Triebimpulsen. Auch die 
Zeitwahrnehmung muß von den gleichen Faktoren abhängig sein. 

Ich möchte mit folgendem einfachen Fall beginnen: 


Ein z7jähriger Kollege berichtet: „Während einer Woche von Prüfungen, die auf 
eine schwierige Zeit in meinem Leben folgte, fand ich wenig Schlaf. Ich erinnere 
mich an die Heimfahrt in der Straßenbahn. Ich hatte das sonderbare Gefühl, daß 
die Zeit und alle Dinge um mich her stillstanden, daß mein Sitz höher war als ın 
Wirklichkeit und der Gehsteig weiter weg. Diese Empfindung erhielt sich, obgleich 
ich wußte, daß ich in Bewegung war. Sie verschwand, ehe ich mein Ziel erreichte.“ 


Bei Ermüdungszuständen sind solche Erlebnisse nicht selten. In dem so- 
genannten „dej& vu“ scheint die Welt weit weg zu sein. Die Zeit scheint still 
zu stehen und alles, was sich ereignet, eine Wiederholung von etwas zu sein, 
was sich vor langem ereignet hatte. „„Deja vw“ und Depersonalisation sind, wie 
besonders Bernhard-Leroy? gezeigt hat, oft miteinander verbunden. Es 
ist weiters bekannt, daß das Eintreten dieser Zustände durch Ermüdung be- 
günstigt wird. 

Physiologische und psychologische Faktoren scheinen für die beschriebenen 
Erscheinungen gleichmäßig bedeutsam zu sein. Bei dem oben angeführten 
Fall hat es den Anschein, als ob das Individuum sich weigerte, weiter in einer 
Welt zu verweilen, in der es so viele Schwierigkeiten gibt. Die Welt liegt im 
Weiten, in den Raum hinausgerückt, und die Zeit schreitet nicht vor. Das 
„dejä vu“ in epileptischen Traumzuständen entspricht dem unbewußten Wunsch, 
in den Leib der Mutter zurückzufinden. Das zeitlose Dasein ist das Dasein, 
in dem man von allen Problemen entfernt ist. Psychische Haltungen drücken 
sich in der Art aus, in der wir Zeit erleben. 


Te rer Er REBEL IR SERIEHIRRETBIEREERREENEBER FRE SSH. NEE nn 
3) Sur PIllusion dite „Depersonalisation“, IV. Kongr. Int. Psych, 1900, S, 482, und Revue 
philos., XLVI (1898), S, 157 ff. 








































Psychopathologie der Zeit 263 





Fälle von Depersonalisation liefern reiches Material über die Störungen des 
Zeiterlebnisses. Ich habe solches Material gesammelt.t 

Eine Patientin von D’Allonnes klagt darüber, daß sie das unmittelbare Erlebnis 
der Zeit verloren habe. Sie kann sich zeitlich nur durch gedächtnismäßige Hilfs- 
mittel orientieren. Objektive Störungen der Zeitwahrnehmung waren nicht fest- 
stellbar. Ein Fall von Krishaber fühlt sich von seinem früheren: Leben sehr weit 
entfernt, einer von Janet klagt, daß das Wort Zeit, seinen Sinn verloren habe. 
Patienten von Löwy und Heveroch und ein Patient. von mir erleben die Gegen- 
wart, als ob es eine weit zurückliegende Vergangenheit wäre, ein anderer meiner 
Patienten sagt, daß die unmittelbare Vergangenheit für ihn sofort zum längst Ge- 
wesenen gehöre. 


Obgleich wir weit entfernt vom Verständnis der psychogenen Faktoren der 
Depersonalisation sind, wissen wir doch wenigstens, daß narzißtische, voyeuri- 
stische und sadistische Elemente von Bedeutung sind. Oberndorf? betont 
die Bedeutung der Sexualisierung des Denkens und den Konflikt zwischen 
männlicher und weiblicher Denkweise. Diese psychogenen Faktoren beein- 
flussen sicherlich das Zeiterlebnis und das Zeitgefühl. Wenn das Leben leer 
geworden ist, wenn wir nicht mehr ganz an unserem Erleben teil haben, ver- 
ändert sich auch das Erleben der Zeit. „Gegenwart“ heißt, daß wir imstande 
sind, uns zu freuen und in die Zukunft fortzuschreiten. Wir gelangen zu 
einem besseren Verständnis der Probleme, wenn wir uns Fällen von Zwangs- 
neurose zuwenden. Bromberg und ich haben bei einem solchen Fall 
quälende Todesangst beobachtet, die für den Patienten dauernde Qual und 
Vernichtung bedeutet. In seiner sadistischen Welt gibt es ewige Vernichtung 
und Zerstückelung und keine Grenze für die Zeit. Wenn sadistische Ein- 
stellungen zu vollem Ausdruck gelangen, wie in dem Zwangsleben dieses Pa- 
tienten, verlangen sie nach Ewigkeit. Man mag den Gedanken erwägen, daß 
die ewige Dauer der Qual bis zu einem gewissen Grad den Tod ausschaltet. 
Mord an anderen Menschen bedeutet für ihn nicht deren Ende. Die psycho- 
genen Determinanten waren in diesem Falle, der lang analysiert wurde, ver- 
hältnismäßig klar. Homosexuelle sadistische Einstellungen gegen den Vater 
spielten die Hauptrolle. Die Vorstellung von der Hölle mit dem ewig dauern- 
den Höllenfeuer hat offenbar verwandte psychische Wurzeln. Aber das Ver- 
hältnis zur Zeit kann in Zwangsneurosen in anderer Weise gestört sein. 

Einer unserer Patienten klagte: „Ich hatte das Gefühl, daß die Zeit verflog. Ich 
war in einem Augenblick da und im nächsten weg. Ich habe das Gefühl, als ob ich 
in dem einen Augenblick mit Ihnen spreche, im nächsten mit jemand anderem. Ich 
habe das Gefühl, daß die Zeit davonfliegt. Ich berechne mir, wie kurz die Zeit ist. 





4) Selbstbewußtsein und Persönlichkeitsbewußtsein, Berlin, Springer, 1914, $, 74ff. 
5) Depersonalization in Relation to the Erotization of Thought. Int. Journ. of Ps. A., XV 
(1934), S. 277 ff. Kaas 


ı8* 


































































































Paul Schilder 


264 





Wir sterben schnell. Die Bilder, die ich vor mir sehe, stehen nie still, sie bewegen 
sich ständig. Ich kann mich nicht auf eine Arbeit konzentrieren. Ich fühle mich 
niedergedrückt. Der Gedanke an die dahinfliehende Zeit bedrückt mich. Ich weiß, 
wir sterben in 40 oder 5o Jahren, aber der Gedanke daran drückt mich nieder.“ 


Das Individuum fühlt hier, daß es seinen aggressiven Tendenzen gegen das 
Leben nicht folgen kann. Das Leben enteilt, und der Inhalt des Zwangs ist 
die Angst des Patienten, daß er sterben könne, bevor er seine Aggressionen 
befriedigt hat.° Einen ähnlichen Fall hat Gebsattel? beschrieben: 

Eine Frau ist gezwungen, fortgesetzt daran zu denken, daß die Zeit vorbeigehe., 
Sie klagt über ihre Unfähigkeit, sich dem Leben zuzuwenden. Ihr Zwang stellt sich 
vornehmlich ein, wenn sie jemanden sich bewegen sieht. Es handelt sich klinisch 
um einen Fall von Depression. 

E. Strauß® hat die Beschwerden von depressiven Fällen studiert, die das 
Gefühl haben, daß die Zeit nicht mehr fortschreite, daß nichts mehr sich er- 
eigne. Strauß gibt eine sehr formalistische Deutung. Aber der Fall von De- 
pression ist gehemmt, da er sich vor seinen eigenen aggressiven Impulsen 
fürchtet, und will nicht handeln, da handeln morden heißt. Strauß spricht 
nur von dem Anhalten der inneren Zeit durch die Depression, die den Fort- 
schritt in die Zukunft unmöglich macht. Er geht sogar so weit zu glauben, 
daß die Struktur des Zeiterlebnisses es ermöglichen wird, die anderen Sym- 
ptome der Depression deduktiv zu erschließen. Er sieht die Störungen des 
Zeiterlebnisses als unmittelbaren Ausdruck des organischen Prozesses an und 
vernachlässigt die psychogenen Determinanten. 

Wenn die destruktiven Tendenzen der Fälle mit Depression zum Durch- 
bruch kommen, klagen die Patienten, daß sie die Welt von Anfang an zer- 
stört haben und bis in die Ewigkeit fortfahren werden, sie zu zerstören. Zeit 
und Ewigkeit werden zu äquivalenten Vorstellungen. Sie sind voll von end- 
loser Zerstörung. Dann mögen die Patienten wohl auch sagen, daß die Zeit 
überhaupt nicht vergehe. Sie klagen dann, daß sie nicht sterben können. 

Einer meiner Patienten sagte: „Ich bin Adam, das erste menschliche Wesen, Adam, 
der nicht sterben konnte. Mein ganzes Wesen ist verändert.“ 


Störungen der Zeitwahrnehmung stehen auch bei einigen Fällen von De- 
pression,. die ich jüngst veröffentlicht habe, sehr im Vordergrund.? Patient 4 
(dieser Veröffentlichung) etwa klagt: 


6) Bromberg und Schilder: Attitudes towards death in neurotic patients, Im Er- 
scheinen, 

7):Gebsattel,. V. E. Freiherr v.: Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie. Der 
Nervenarzt V, S. 275 ff. 

8) Strauß, E.: Das Zeiterlebnis in der endogenen Depression und in der psychopathischen 
Verstimmung. Monatsschr. f, Psychiatrie u. Neurologie LXVII, 1928, S. 640 ff. 

9) Clinical’studies on particular types of depressive psychoses. Their differential diagnosis 








Psychopathologie der Zeit 265 









„Ich bin schon viele Jahre hier. Meine Mutter muß 2000 Jahre in Foltern und 
"Qualen leben.“ Fall 5 sagt: „Ich habe die Welt vernichtet. Ich begann, als ich noch 
klein war, und wußte es nicht.“ 


Das mitgeteilte Material zeigt, daß einige dieser Fälle eine Störung ihres 
Zeitbewußtseins zeigen (die Zeit schreitet nicht mehr vor), und die Störung 
mag auch den Inhalt der Halluzinationen bestimmen. Eine der Patientinnen 
klagt über Stimmen, die ihr sagen, daß ihre Mutter Millionen Jahre gequält 
werden wird. 

Franz Fischer! beschreibt Störungen des Zeiterlebnisses bei akuter Schizo- 

hrenie. Einer seiner Patienten klagt darüber, daß alles sich ständig verändere. 
Er fühlt sich wohler, wenn er bewegte Dinge sieht, aber wenn er den Zeit- 
ablauf im Zusammenhang mit bewegten Dingen gefühlt hat, verliert er ihn 
wieder. Ein anderer Fall fühlt eine Zeitlang eine Leere der Zeit. Es scheint, 
als ob der Schizophrene bei seiner Regression die innere Beziehung zur Zeit 
verlieren würde. Das Zeiterlebnis wird sinnlos, wenn die Libido von der Welt 
abgezogen ist. E. Minkowski!! sieht in der Beziehung des Schizophrenen 
zum Zeiterlebnis die Grundlagen der Symptome. Er schreibt: „Unser Wissen 
und unser Gedächtnis gruppieren sich um das grundlegende Ich — Hier — 
Jetzt (moi — ici— maintenant) und erlauben uns, je nach den Umständen zu 
sagen, ‚ich bin jetzt in Paris, in England oder in meinem Amt‘. In der Paralyse 
fehlt die Kenntnis, das Gedächtnis oder — mit einem Wort gesagt — es fehlen 
die statischen Faktoren. Der Paralytiker ist im gewöhnlichen Sinne des Wortes 
zeitlich nicht unterrichtet. Die fundamentale Beziehung Ich — Hier ist intakt. 
Im Gegensatz dazu sagt der Schizophrene, wo er ist, aber das Jetzt — Hier hat 
nicht mehr die übliche Tönung und ist gestört.“ Mit anderen Worten, das 
Erlebnis der Zeit ist bei Schizophrenen als Empfindungserlebnis, nicht aber als 
Wahrnehmungserlebnis gestört. Minkowski!?2 und Binswanger? ver- 
gleichen auch die schizophrene Störung des Zeiterlebnisses mit dem Zeiterlebnis 
bei Manisch-Depressiven. 

Einer von Fischers Patienten, ein Psychopath mit sado-masochistischen. Sym- 
ptomen sagt: „Wenn ich mich wohl fühle, vergeht die Zeit so schnell, daß ich oft 
nicht mit ihr Schritt halten kann, aber ich habe es nicht'gerne, wenn ich mich wohl 








from schizophrenic pictures and some remarks on the psychology of depressions, Journal of 
Nervous and Mental Disease, LXXX, 1934, S. sor ff. und S. 658 ff, 

10) Fischer, F.: Zeitstruktur und Schizophrenie. Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u. Psy- 
chiatrie. CXXI, S. 544 ff.; ders.: Raum-Zeit-Struktur und Denkstörung in der Schizo- 
phrenie. Ebenda, CXXIV, 1930, $. 241 ff. 

ı1) Minkowski, E.: La Schizophrenie. Paris, Alcan, 1927. ; 

12) Minkowski, E.: Bleulers Schizoidie und Syntonie und das Zeiterlebnis. Zeitschr. 
f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie. LXXXII, 1923. — Zeit- und Raumproblem in der kalz 
pathologie. Wiener Klin, Wochenschr, 1931, H. ı u. 2. 

13) Binswanger, L.: Über Ideenflucht. Zürich, Orell Füßli, 1933. 





u 


266 Paul Schilder 





fühle. Andere nennen mich reizbar. Manchmal geht es zu langsam. Dann bin ich 
traurig und deprimiert. Nichts kommt zu Ende, und ich kann nichts beginnen und 
habe nur den Wunsch, daß es aufhören sollte.“ 

Einer seiner. schizophrenen Patienten sagt: „Mein Kopf ist eine Uhr, ein Apparat. 
Ich mache die Zeit, die neue Zeit, wie sie sein sollte.“ Ein anderer Patient klagt, 
daß die Zeit plötzlich stehen bleibe, und wieder ein. anderer sagt, daß sie einem 
Stück Eis gleiche — schweigsam, wie wenn sie gefroren wäre. Sie müsse still bleiben, 
während draußen auf dem Feld kleine Feuer brennen. Viele Dinge bewegten sich um 
sie, die sie anschauen müsse. Ein anderer Patient beklagt sich darüber, daß er in die 
Vergangenheit zurückgegangen sei, und ein anderer sagt: „Ich kann mich in der Welt 
nicht orientieren — ich bin nicht mehr klar. Früher war ich ein menschliches 
Wesen mit Leib und Seele und jetzt bin ich so ein Wesen. Ich weiß nichts mehr... 
Der Körper ist leicht und ich fürchte, daß er bald wegfliegen wird. Ich fahre for, 
in Ewigkeit zu leben. Es gibt keine Stunde, keinen Mittag, keine Nacht... Die Zeit 
bewegt sich nicht. Ich taumle einher zwischen Vergangenheit und Zukunft.“ Ein 
anderer Patient sagt: „Gibt es überhaupt eine Zukunft? Früher einmal hatte ich 
eine Zukunft, aber jetzt schrumpft sie mehr und mehr zusammen. Die Vergangen- 
heit ist so aufdringlich, sie wirft sich auf mich und zieht mich zurück.“ Auch ein 
anderer Fall klagt darüber, er habe das Gefühl, daß er wohl sterben müsse, und daß 
sich nichts mehr bewege. Er hat das Gefühl, daß es keine Zeit mehr geben wird, 
und er selbst fühlt sich zeitlos. 

Man kann das Gefühl nicht loswerden, daß viele dieser Protokolle von 
Fischer einen mehr oder weniger künstlichen Charakter haben. Es sind nicht 
bloß Beschreibungen von Erlebnissen der Patienten, sondern sie drücken auf 
symbolische Art das Gefühl der Patienten aus, daß sich ihre Libido von den 
wechselnden Erlebnissen der Außen- und Innenwelt zurückgezogen hat. Diese 
Störungen des Zeiterlebnisses sind vom unmittelbaren Erlebnis weiter entfernt 
als solche Störungen, die an Fällen von Depression und Depersonalisation be- 
obachtet werden. Wichtig aber ist es, daß die Patienten sich einer Zeitsymbolik 
bedienen.: Wir messen die Zeit selbst nach unseren Erlebnissen, und jeder 
kann es von Zeit zu Zeit erleben, daß er sich von der Welt zurückzieht, und 
daß der Fluß der Zeit sich dann verändert. Jedem steht daher eine Symbolik 
der Zeit zur Verfügung. Auch die Sprache selbst bietet uns ein Stück weit 
eine ähnliche Symbolik. ‘Wir sagen, die Zukunft liege vor uns, aber „vor“ 
bedeutet auch etwas Räumliches, eine Richtung, in die sich unsere Aktivität 
erstrecken soll. „Etwas hinter sich lassen“ bedeutet sowohl eine zeitliche Be- 
ziehung als eine räumliche. Man darf nicht vergessen, daß menschliche Wesen 
immer handeln, und handelnd leben wir in die Zukunft; wir handeln in dem 
Raum, der vor uns liegt. Die Zeitwahrnehmungen führen daher selbst leicht 
zu Symbolisierungen. Die Vergangenheit ist die Zeit, in der Handeln nicht 
möglich und nicht mehr notwendig ist. Wir lieben Geschichte und Märchen, 
wenn wir uns fürchten, etwas in Gegenwart und Zukunft zu tun. 

















































































































































































































Psychopathologie der Zeit 267 





Aber von unserem psychogenetischen Gesichtspunkt aus haben wir zu 
fragen, warum die Zeit sich für den Schizophrenen verändert. Was immer 
auch die Pathologie des Schizophrenen sein mag, wir haben doch zu fragen, 
warum der Schizophrene seine Zeitwahrnehmung aufgibt. Was bedeutet Zeit 
für ihn? Zeiteindrücke sind immer verbunden mit Eindrücken in der Außen- 
welt, nur sind sie plastischer als viele andere Wahrnehmungen innerhalb und 
außerhalb unseres Körpers. Wir finden so zurück zu analytischer Erfahrung. 
Harnik!* zeigt in Übereinstimmung mit Jones,?5 daß zwangsneurotische 
Fälle und Fälle mit analem Charakter hinsichtlich der Zeit ebenso sparsam 
sind wie mit den Faeces, und daß es enge Beziehungen gibt zwischen der Zeit- 
vorstellung und der Analerotik. Er meint, daß Kinder die Zeit zuerst in Ver- 
bindung mit der Stuhlentleerung berücksichtigen, und betont weiter die Be- 
deutung des Hungers für die Zeiterlebnisse. Das Interesse für die Verwendung 
der Zeit wäre danach bloß eine Sublimierung solcher Tendenzen. Er gelangt 
zu dem weitreichenden Schluß, daß für das Unbewußte die Zeit der intro- 
jizierte und verzehrte Vater ist, der zum Stuhl geworden ist. 

Wir werden diesen übertrieben weit gespannten Schluß nicht annehmen, 
aber es ist wahr, daß die Beziehung zur objektiven Zeit durch alle Arten von 
triebhaften Impulsen verändert werden kann, und diese Veränderungen können 
auch das objektive Erlebnis der Zeit, das uns hier in erster Linie beschäftigt, 
beeinflussen.!® 

Das Erlebnis der Zeit kann von unseren Zielen im Leben und besonders von 
unserer Beziehung zur Zukunft nicht isoliert werden. Wir leben in der Gegen- 
wart und drängen in die Zukunft, d.h. wir haben Ziele und Zwecke, die wir 
verstehen müssen. Spielrein!” hat mit Recht betont, daß das Kind vor 
allem in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft lebt. Wechsler und 
ich!® haben dieselbe Beobachtung gemacht. Bei Schwachsinnigen ist das Inter- 
esse an der Zukunft begrenzt, wie wir selbst und andere (F. Rossel!P) beob- 
achtet haben. Keller? hat darauf hingewiesen, daß wir auch auf die Zu- 
kunft eingestellt sind, wenn wir etwas erwarten, wenn wir uns unserer Fähig- 
keit, etwas zu tun, bewußt sind. So ist unser gegenwärtiges Erlebnis durch- 
tränkt mit dem der Zukunft. 








14) Harnik: Die triebhaft-affektiven Momente im Zeitgefühl. Imago, Jg. XI, 1925, S..32 ff. 

15) Jones: Papers on Psycho-Analysis, Third Edition, 1924. 

16) Vgl. auch die psychoanalytische Schrift von Hollös „Über das Zeitgefühl“. Int. 
Ztschr. f. Psa., Jg. VII, S. 421 ff., 1922. 

17) Spielrein: Die Zeit im unterschwelligen Seelenleben. Imago, Jg. IX, 1923, $. 300 ff. 

18) Wechsler, D., und Schilder, P.: Attitudes of children towards death. Journal for 
Genetic Psychology, 1934, B. 45, S. 406. 

19) Rossel, F.: Das Hilfsschulkind. Beihefte zur Hilfsschule, Halle, 1925, S. 47. 

20) Keller, Hans: Psychologie des Zukunftsbewußtseins. Ztschr. f. Psych., 1932, 
Bd. CXXIV, S. zıı ff, 








\ ” z 


| 
| 
| | 268 Paul Schilder 
| 
| 





|| i Aber was wissen wir über das Erlebnis der Zukunft beim Erwachsenen? 
Wenn man sich mit den Gedanken der Kinder über Leben und Tod beschäf- 
tigt, mit ihrer Einstellung zu den allgemeinen Problemen des menschlichen 
Ei Lebens, und sie nachträglich mit ähnlichen Einstellungen der Erwachsenen 
| vergleicht, ist man erstaunt festzustellen, daß der ungebildete Erwachsene, 
ll! dessen Antworten nicht lediglich sprachlich sind, nicht viel mehr Gedanken 
Il) und keine klareren Vorstellungen hat als das Kind. Auch die Gedanken des 
Erwachsenen über die Zukunft sind vage und unbestimmt, soweit sie nicht die 
unmittelbare Zukunft betreffen. Alle seine anderen Vorstellungen von der 
Zukunft sind unanalysiert und in hohem Grade symbolisch. Die Berufswahl, 
| der Plan zu heiraten, der Wunsch, Kinder zu haben, und alle Gedanken über 
| die Tätigkeit im späteren Leben, sind in den meisten Fällen weit davon ent- 

N 

! 








fernt, das Resultat logischen Denkens und Planens zu sein. Sie fassen nur auf 
| symbolische Weise den gegenwärtigen libidinösen Zustand des Individuums 
| zusammen. Das unmittelbare Erlebnis der Zukunft liegt in dem Mehr oder 
Weniger an Streben, das das Individuum entwickelt. Wir gelangen zu dem 
allgemeinen Schluß, daß wir die Zeit als einen Ausdruck unseres Triebstrebens 
erleben, und daß jede Veränderung in der libidinösen Situation das Zeiterlebnis 
verändert. | 

Wir sind in der Diskussion der psychoanalytischen Faktoren des Zeiterleb- 
nisses recht weit gegangen, und es scheint, daß wir die organischen Faktoren, 
die wir am Anfang unserer Ausführungen erwähnten, vernachlässigt haben. 
Nach den Funden der Psychologen ist es organisch festgelegt, welche Zeit- 
räume im absoluten Sinn als kurz und welche als lang angesehen werden. Das 
Material zu dieser Frage kann in einer älteren Monographie von Benussi?! 
und in den Lehrbüchern der Experimentalpsychologie leicht aufgefunden wer- 
den. Aber es ist erwähnenswert, daß nach E. R. Jaensch und A. Kretz”? 
auch hier der Typus der Persönlichkeit eine bedeutende Rolle spielt, und daß 
Faktoren wie Aufmerksamkeit, Einstellung und Rhythmus gleichfalls von Be- 
deutung sind. Die Psychologen haben klar gezeigt, daß die objektive Folge 
von zwei Reizen nicht immer der Folge entspricht, in der die Reize wahr- 
genommen werden. Die Erwartung spielt hier eine große Rolle. So erklärt 
sich, daß auch in der Wahrnehmung und im Erlebnis von kleinen und isoliert 
wahrnehmbaren Zeitstücken die Persönlichkeitsfaktoren nicht ganz ausge- 
schaltet werden können. 








Wir wenden uns jetzt organischen Faktoren zu, die das Zeiterlebnis ver- 












































21) Benussi, Vittorio: Psychologie der Zeitauffassung. Heidelberg, 1913. 

22) Jaensch, E. R., und Kretz, A.: Experimentell-strukturpsychologische Untersuchun- 
gen über die Auffassung der Zeit unter Berücksichtigung der Personaltypen. Ztschr. f. Psych., 
S. 312 ff, Bd. CXXVI, 1932. ö 





































































P Psychopathologie der Zeit 269 





ändern. Auffallend sind vor allem die Störungen bei Mescalin- und Haschisch- 
Intoxikationen. ; 

Bromberg?® hat die Literatur zu dieser Frage gesammelt. Der Ablauf der Zeit 
scheint während der Dauer der Intoxikation außerordentlich verlangsamt. Im Rück- 
blick erscheint die Zeitspanne außerordentlich verkürzt. So erklärt Fall 2, daß er 
sich, nachdem die Periode von Intoxikationen abgelaufen war, darüber klar wurde, 
daß, was auf ihn als eine Zeit von mehreren Tagen gewirkt hatte, nur wenige Stunden 
waren. Nach Jo&l und Frankel scheint diese Veränderung des Zeitsinns von 
räumlichen oder Bewegungswahrnehmungen unabhängig zu sein. Sie glauben etwa, 
daß Störungen des Zeitsinnes absolut existieren. Fernberger hat das so ausge- 
drückt: „Die Zeit ist außerordentlich verlangsamt und der Raum außerordentlich 
erweitert.“ Brombergs Fall 9 gab folgenden Bericht über sein Zeiterlebnis: „Ich 
dachte, daß ich mich kaum bewegte. Meine Knie waren sehr schwer. Wenn ich 
ging, war es, als ob jemand mich zurückhielte. Ich kam nicht vorwärts, wenn ich 
ausschreiten wollte. Ich hatte das Gefühl, als ob ich sehr langsam ginge.“ 

In einem meiner Fälle sagte die Versuchsperson: „Sie schauen auf Ihre Uhr und 
der Sekundenzeiger bewegt sich in einem unsichtbaren Schneckentempo. Fünf 
Minuten scheinen wie eine halbe Stunde. Ich erlebte jetzt die befremdende Sen- 
sation, daß der Hügel vor mir — gleichviel, wieviel Schritte ich auch machte — 
nicht näher kam. Ich war verurteilt, ewig in diesem Tal zu gehen, niemals meinem 
Ziel näherzukommen und mich niemals weiter von dem Platz, den ich verlassen 
hatte, zu entfernen. Man geht leicht und angenehm ohne wahrnehmbaren Aufwand 
oder Ermüdung.“ 

Beide Berichte legen den Nachdruck darauf, daß die Störungen des Zeit- 
erlebnisses besonders ausgesprochene sind, wenn die Versuchsperson geht. Es 
ist schwer, daraus nicht den Schluß zu ziehen, daß der motorische Faktor in 
der Störung der Zeitwahrnehmung eine Rolle spielt. Man darf auch nicht 
vergessen, daß die meisten Fälle zu gleicher Zeit optische Eindrücke mit 
schnellen Bewegungen haben. Es ist zumindest wahrscheinlich, daß der Kon- 
trast zwischen der Wahrnehmung dieser Eindrücke und den Schwierigkeiten 
der Bewegung bei der Störung der Zeitwahrnehmung eine bedeutende Rolle 
spielt. Bromberg hat bei seinen Fällen kataleptische Haltungen gesehen. 
In einzelnen Phasen der Intoxikation scheinen die Bewegungen schneller zu 
sein. H. Hartmann”* konnte in einem Falle von Kokain-Intoxikation be- 
obachten, daß sich alles schneller bewegte. Der Eindruck von Bewegung in 
der Außenwelt in Beziehung zur Beweglichkeit des eigenen Körpers ist zweifel- 
los ein wichtiger Faktor für unser Urteil über die Länge eines Zeitabschnittes, 
der abgelaufen ist. Auch bei Mescalin-Intoxikationen- scheint die Zeit nicht 





23) Bromberg, W.: Marihuana Intoxication. The American Journal of Psychiatry, 
Jg.XCI, 1934, Nr. 2, S. 303 ff. 

24) Hartmann, Heinz: Halluzinierte Flächenfarben und Bewegungen, Monatsschrift f. 
Neurol. u. Psychiatrie, "Bd. 56, 1924. 
























































































































































270 Paul Schilder 





fortzuschreiten. Eine Bewegung wird als sehr langsam erlebt. Mayer-Groß2 
erwähnt einen Fall von Schizophrenie von Beringer, bei welchem Verände- 
rungen der sinnlichen Wahrnehmungen im Vordergrunde standen. Seine 
eigenen Handlungen schienen nicht fortzuschreiten. 

Wir haben keinen Anlaß zu vermuten, daß Störungen der Zeitwahrnehmung 
unter den beschriebenen Bedingungen primär seien. Sie stehen in naher Be- 
ziehung zu den Störungen der Wahrnehmung von Bewegungen und von Ver- 
änderungen in Bewegungsimpulsen.?* Freilich wissen wir nicht sehr viel über 
die physiologische Grundlage aller dieser Störungen. Vielleicht kommen wir 
zu einem besseren Verständnis, wenn wir bedenken, daß in vestibularen 
Träumen häufig die Objekte vergrößert zu sein scheinen. Gelegentlich sieht 
man auch, daß alles sehr langsam vor sich geht. Ein Fall einer Neurose mit 
Schwindelsymptomen auf psychogener Basis zeigte dieselben Erscheinungen. 
Auch bei alkoholischen Psychosen kann man ähnliche Beobachtungen machen. 


So sagt ein Patient, daß Elephanten da waren, die sich sehr langsam bewegten. 
Ein anderer sagt: „Ich hatte das Gefühl, am Strande zu stehen, an dem der Fluß vor- 
beifloß, und eine große Zahl Männer kam vorüber, als ob sie zum Fischen gingen.“ 
„Sie gingen sehr langsam.“ „Boote auf dem Fluß kamen sehr langsam vorwärts.“ 
„Ich dachte, daß sie so schön seien, daß es nett wäre, wenn sie nicht zu schnell an 
mir vorbeizögen, so daß ich Gelegenheit hätte, sie anzuschauen.“ „Die Vorhänge an 
den Fenstern im Spital waren sehr schön.“ „Jede Farbe stand durchaus still, als ob 
die Fenster geschlossen wären.“ (Wie ist die Zeit vorbeigegangen?) „Es schien mir 
sehr, sehr lange. Ich bin um neun Uhr eingeschlafen, und als ich aufwachte, dachte 
ich, es wäre gegen sechs Uhr morgens, aber die Schwester sagte, es sei erst zwei Uhr 
nachts.“ 


Die Symptomatologie dieses Falles macht vestibulare Einflüsse mehr als 
wahrscheinlich. Der Vestibularapparat verändert nicht nur unsere Be- 
wegungswahrnehmung, sondern übt auch einen bedeutenden Einfluß auf unsere 
tonischen Impulse aus. Stein (siehe oben) beobachtete einen Fall von zentraler 
vestibularer Störung (ähnlich den von Weizsäcker beschriebenen Fällen), 
bei welchem an einer Seite Strecken aller Art zu hoch geschätzt wurden. Das 
galt sowohl für optische Wahrnehmungen als auch für taktile. Gleichzeitig 
wurden Zeitintervalle unterschätzt. Die Prüfung der Chronaxie bewies, daß 
eine längere Darbietung des Reizes auf dieser Seite nötig war, um einen Ein- 





25) Mayer-Groß, W., und Stein, I: Handbuch der Geisteskrankheiten. Band I, 
Teil ı, S. 490. 

26) Hoagland beschreibt die Abhängigkeit der Zeitwahrnehmung von der Körper- 
temperatur, die teilweise abhängig ist von dem Ausmaß an Bewegung. Aber auch wenn wir 
diese Tatsachen nicht bezweifeln, besteht doch das Problem, ob die Veränderung in der Zeit- 
wahrnehmung sich nicht auf andere Wahrnehmungen, die zur Temperatur in einem Korre- 
lationsverhältnis stehen, gründet. (The Physiological Control of Judgments of Duration. The 
Journal of General Psychology, 1933, Jg. IX, Nr. 2, S. 267 ff.) 














Psychopathologie der Zeit 271 





druck hervorzurufen. Diese Beobachtung kann vielleicht dazu verhelfen, 
besser zu verstehen, daß die unmittelbaren Wahrnehmungsfaktoren verändert 
sind, und daß diese Veränderung nicht nur die Wahrnehmung des Raumes, 
sondern auch die der Zeit betrifft. Auch dieser Patient sah die wahrgenomme- 
nen Objekte in Bewegung. Wiederum scheint Bewegung das primäre Symptom 
zu sein, oder es scheint, daß der Zeitfaktor eng mit einem Raumfaktor ver- 
bunden ist, und daß die Wahrnehmung als solche gestört ist. Goldstein 
und Reichmann?” haben bei Kleinhirnkranken beobachtet, daß Distanzen 
an der Haut überschätzt wurden, und daß gleichzeitig auch Zeitintervalle 
überschätzt wurden. Es ist die Frage, ob wir es nicht auch in diesem Falle 
mit grundsätzlich identischen Phänomenen zu tun haben. 


L. Bender®® beobachtete einen Fall von Delir, bei dem halluzinatorische 
Bewegungserlebnisse beobachtet wurden und die Zeit ungemein verlängert 
schien. Der Fall zeigte histopathologisch das Bild einer diffusen Arteriolitis 
mit beträchtlicher Verengung der Blutgefäße in manchen Schichten des 
Cortex und besonders in der Region der Purkinje-Zellen. Man könnte glauben, 
daß die Verlangsamung der Blutzirkulation etwas mit der Störung der Zeit- 
wahrnehmung zu tun habe. Das mag im besonderen für die Cerebellar-Funk- 
tionen gelten. Aber die Frage bleibt bestehen, ob nicht auch in diesem Falle 
die Wahrnehmungen als solche gestört sind. Es handelt sich nicht um primäre 
Störungen „im Zeitsinn“, und ich komme daher zum Schlusse, daß, wann 
immer wir Störungen in der Zeitwahrnehmung feststellen können, auch 
Störungen in der Wahrnehmungsfunktion vorhanden sind. Die Sinnesfunktion 
ist primitiver geworden und die Bewegung ist vorherrschend oder beeinträch- 
tigt in der Wahrnehmungssphäre. Wir verstehen jetzt besser, warum in der 
zuerst angeführten Beobachtung nicht nur die Zeit-, sondern auch die Raum- 
wahrnehmung verändert ist. 


Ich habe bisher Störungen der Zeitwahrnehmung, die als solche erlebt wur- 
den, diskutiert. Bei manchen diffusen Erkrankungen des Zentralnervensystems 
findet man Störungen, welche vermutlich die gleiche Basis haben. Ein Patient 
mit alkoholischer Encephalopathie sagte, daß die Zeit im Krankenhaus lang- 
samer abzulaufen schien. Sechs Wochen erschienen ihm als sechs Monate. 
Auch die Tage erschienen ihm länger. Oft sagte er um 2 Uhr, daß es 5 Uhr 
sei. Strümpell?® berichtet von Typhusfällen, bei denen die Patienten die 
abgelaufene Zeit überschätzten. Eine Patientin sagte z.B., daß sie schon 





27) Goldstein, K, und Reichmann, F.: Zur Kasuistik und Symptomatologie der 
Kleinhirnerkrankungen. Ztschr. f. Psych., Jg. LIL. 

28) Bender, L.: Im Erscheinen. 

29) Strümpell, A.: Über das Zeitbewußtsein. Neurolog. Zentralblatt, Bd. XXX VIII, 1919, 
S. 642 ff, 




































































































































































272 Paul Schilder 





17 Jahre im Spital se. Bouman und Grünbaum?® beobachteten einen 
Patienten, der nach einer Influenzapsychose eine Verkürzung des Zeitablaufes 
erlebte. Eine Besprechung von 2o Minuten schien ihm nur 5 Minuten zu 
dauern, eine von 60 Minuten ı5 Minuten, 6 Tage erschienen als 3 Tage. Der 
Patient erklärte, daß die Tage nicht mehr so lang seien, wie sie vorher waren. 
Der Patient berichtete auch, daß von Zeit zu Zeit Gegenstände verschwänden. 
Ich glaube, daß wir auch in diesem Falle einer Veränderung in der Zeitwahr- 
nehmung gegenüberstehen. Aber in diesem Falle spielt offenbar auch ein 
anderer Faktor eine Rolle, der nicht so sehr mit der unmittelbaren Wahr- 
nehmung zu tun hat, sondern mit der Wahrnehmung von längeren Zeitinter- 
vallen und ihrer psychischen Verarbeitung. Um zu einem Verständnis dieses 
Problems zu gelangen, haben wir die Frage nach der Wahrnehmung von 
längeren Zeitintervallen zu erörtern. 

Gegenstände unmittelbarer Beobachtung stehen still oder bewegen sich. Es 
gibt einen ununterbrochenen Strom von Erlebnissen, die den eigenen Körper 
betreffen. Das unmittelbare Zeiterlebnis ist mit diesen Wahrnehmungen ver- 
bunden. Das unmittelbare Zeiterlebnis ist kein mathematischer Punkt, son- 
dern ein Strom mit zeitlicher Ausdehnung. Die unmittelbare Vergangenheit 
ist der sinnliche Eindruck. Die unmittelbare Zukunft in Verbindung mit 
libidinösen Ansprüchen, tonischen Haltungen und motorischen Impulsen ist 
ein Datum der Wahrnehmung. Wir stehen vor der Frage, wie wir zur 
Schätzung längerer Zeitintervalle gelangen. Von diesem Gesichtspunkt aus 
ist es interessant, die Schätzung der Zeit während des Schlafes zu prüfen. 


Boring?! berichtet von einem Experiment von Brush,?? bei welchem Versuchs- 
personen, die in einer ruhigen Umgebung lebten, zwischen Mitternacht und fünf 
Uhr morgens während langer Winternächte zu verschiedenen Malen geweckt wurden. 
Man bat sie, die Zeit zu schätzen und die Grundlage ihrer Schätzung, soweit sie ihnen 
bewußt war, zu berichten. Der durchschnittliche Fehler betrug etwa 5o Minuten, 
doch war der Fehler in der Mehrzahl der Fälle weit kleiner. Die Versuchspersonen 
fanden in ihrem eigenen Körper einen guten Maßstab für die Zeitschätzung. 
Frobenius®® fand, daß viele Menschen zu einer Zeit aufwachten, zu der sie auf- 
wachen wollten. In einer anderen Serie von Versuchen wurden die Versuchspersonen 
aufgefordert, nach einer festgesetzten Stundenzahl zu erwachen. In ungefähr zwei 








30) Bouman, L., und Grünbaum, A.A.: Eine Störung der Chronognosis und ihre Be- 
deutung im betreffenden Symptomenbild. Monatsschr. f. Psychiatr, u. Neurol., Bd. LXXII, 
1929, S. ı ff. 

31) Boring, E.: The Physical Dimensions of Consciousness. The Century Psychological 
Series, 1933. 

32) Brush, E. N.: Observations on the temporal judgement during sleep. American 
J. Psychol. XLII, 1930, S. 408 ff. 

33) Frobenius, K.: Über die zeitliche Orientierung im Schlaf und einige Aufwach- 
phänomene. Ztschr. f. Psych., Bd. CI, 1927, S. 100 ff. 











Psychopathologie der Zeit 273 


[I 





Fünfteln der Fälle gelang es den Versuchspersonen, um die gewünschte Zeit zu er- 


wachen. 
Frobenius ist geneigt zu glauben, daß diese Funktion nicht nur den auf die 


Körperorgane gerichteten Wahrnehmungen zuzuschreiben ist, sondern glaubt an eine 
undefinierte höhere Funktion im Zeitsinne. Es gibt keinen Beweis für eine solche 
Annahme. Während des Schlafes ereignen sich sehr viel mehr psychische Vorgänge, 
als wir gewöhnlich annehmen. Ehrenwald?® konnte zeigen, daß Versuchspersonen 
während der Hypnose kurze Zeitabläufe während ihres hypnotischen Schlafes richtig 
einzuschätzen vermochten, und auch die Dauer des Schlafes konnte richtiger ge- 
schätzt werden als im Wachzustand. Hypnotisierte schätzen auch die Dauer des 
Schlafes während der Nacht richtiger als die, die unter normalen Bedingungen 


schlafen. 


So hat es den Anschein, daß uns ausreichende Zeichen und Daten zur Ver- 
fügung stehen, um zu einer korrekten Schätzung der abgelaufenen Zeit zu ge- 
langen. Diese Angaben werden nicht immer bei der Bildung einer Zeitwahr- 
nehmung benützt. Wenn wir hypnotisieren und die Versuchsperson zu einer 
korrekten Schätzung der Zeit auffordern, wenden wir uns nicht an einen 
mysteriösen höheren Zeitsinn, sondern richten an die Versuchsperson den 
Appell, daß sie die ihr zugänglichen Wahrnehmungsdaten sorgfältiger be- 
nützen solle. Das konstruktive Bemühen der Versuchsperson ist dann bei 
der endgültigen Durcharbeitung der Schätzung abgelaufener Zeit energischer. 
Diese konstruktiven Bemühungen sind daher von überragender Bedeutung. 
Es war von diesem Gesichtspunkt her interessant, Fälle mit amnestischen Er- 
innerungslücken auf psychogener Basis zu prüfen. 


Drei solcher Fälle wurden untersucht. Ein Patient mit einer amnestischen Lücke 
für einen Monat hatte das Gefühl, daß ungefähr ein Monat vergangen sein müsse 
von seiner letzten Erinnerung bis zu seinem ersten Eindruck, nachdem er wieder zu 
sich gekommen war. In einem anderen Falle, in dem sich die Amnesie über acht 
Monate erstreckte, hatte der Patient den Eindruck, daß die erste und die letzte Er- 
innerung nur durch den Schlaf einer Nacht getrennt seien. In einem dritten Fall, in 
dem der Zustand nur etwa zwei Tage dauerte, schien die abgelaufene Zeit erheblich 
länger zu sein. 

Wir wissen, daß es in allen solchen Fällen möglich ist, die richtige Folge 
und Zeitbeziehung aller Vorgänge, die in der vergessenen Periode vorgefallen 
waren, wieder herzustellen. Es kann daher die Zeitwahrnehmung, wie jede 
andere Wahrnehmung, verdrängt werden, und die Wahrnehmung längerer 





34) Ehrenwald: Versuche zur Zeitauffassung des Unbewußten. Archiv f.d. ges. Psych., 
Bd. XLV, 1923. — Störung der Zeitauffassung, der räumlichen Orientierung usw, bei einem 
Hirnverletzten. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie, Bd. CXXXII, 1931, S. sı8 ff. — Über 
den Zeitsinn und die gnostische’ Störung der Zeitauffassung beim Korsakow, Ebenda, 
Bd. CXXXIV, 1931, S.sı2 ff. — Gibt es einen Zeitsinn? Ein Beitrag zur Psychologie und 
Hirnpathologie der Zeitauffassung. Klin. Wochenschr, 1931, Nr. 32, S. 1481 ff, 









































































































































































































































274 Paul Schilder 





oder kürzerer Zeit wird ebenso behandelt wie jede andere Wahrnehmung. 
Die Versuche im Schlaf zeigen, daß für die Zeitwahrnehmung Sensationen, 
die vom Körper ausgehen, im allgemeinen ausreichend sind, so daß die Ein- 
schränkung der äußeren Sinneseindrücke während des Schlafes die richtige 
Schätzung der Zeit nicht verhindert. 

Wenn ein vom Körper oder von der Außenwelt ausgehender Eindruck ge- 
schwunden ist, bleibt doch die Erinnerung an ihn bestehen. Diese Erinnerung 
hat zuerst volle sinnliche Qualität und ist vorhanden ohne jedes aktive Be- 
mühen, sie hervorzurufen, aber sie verblaßt allmählich. Ihre Bedeutung für 
die Handlungen des Individuums vermindert sich. Sie verschwindet aus der 
gegenwärtigen Situation, sie wird nur wieder belebt, wenn die gegenwärtige 
Situation mit der vergangenen eine Einheit bildet. Die vergangene Situation 
wird im Dienste der gegenwärtigen Situation wieder belebt. In diesem Sinne 
ist die ganze Vergangenheit eines Individuums potentiell gegenwärtig. Es ist 
ein altes Problem der Psychologie, ob diese Gegenwärtigkeit echte Gegen- 
wärtigkeit ist oder bloße Erinnerungsspur. Ich bin geneigt, an die „psycho- 
logische Gegenwärtigkeit der Vergangenheit“ zu glauben. Wenn wir einem 
unmittelbaren Erlebnis gegenüberstehen, verlaufen kontinuierlich Prozesse in 
unserem Denken und prüfen die Erinnerungen der Vergangenheit, um fest- 
zustellen, welche Stücke der Vergangenheit in die gegenwärtige Situation 
passen, welche in sie verarbeitet werden können und welche nicht. Der Grad 
der Blässe der Erinnerung und der Aufwand an aktiven Bemühungen zur In- 
tegration, um die Erinnerung zu beleben, gibt uns einen vorläufigen Hinweis 
über die Lokalisierung der Vorfälle in der Zeit. Es ist unmöglich, diese Pro- 
bleme nur in formalem Sinne zu behandeln. Die Vergangenheit zurückrufen, 
heißt nicht nur den Vorfall zurückrufen, sondern heißt, eine Folge von Vor- 
fällen in ihrer Beziehung zum Gesamterlebnis wiederherstellen. Es handelt 
sich nicht nur um die Stellung eines Vorfalles, sondern auch um die Ver- 
knüpfung dieses Vorfalles mit anderen. So steigt die Vergangenheit auf in- 
folge eines aktiven Prozesses, der aus einer fortgesetzten Prüfung der ver- 
gangenen Situation hinsichtlich ihres Zusammenhanges mit der gegenwärtigen 
Situation, ihren Erlebnissen und Triebansprüchen besteht. Es ist wahr, daß 
diese Ordnung der Zeitfolge nicht identisch ist mit der Schätzung des Zeit- 
ablaufs kurzer Zeitintervalle. Ehrenwald hat gezeigt, daß bei Fällen von 
Korsakow mit schwerer Gedächtnisstörung im gewöhnlichen Sinne in der 
Hypnose eine genaue Schätzung der abgelaufenen Zeit möglich ist. Ich habe 
schon darauf hingewiesen, daß diese Zeitwahrnehmung darauf beruht, daß 
spezifische Erfahrungen ausgenützt werden, und daß die weiter zurückliegende 
Vergangenheit uns vor ganz andere Probleme stellt. Es ist leicht zu verstehen, 
daß eine so komplizierte Struktur wie der Aufbau der Vergangenheit und die 














Psychopathologie der Zeit 275 








Vorstellung von der Vergangenheit bei Kindern nicht ganz entwickelt sein 
kann. Bei erwachsenen Geisteskranken sieht man ähnliche Schwierigkeiten. 
Es ist nicht nötig, hier weiter auf das Problem einzugehen, wie eine Ordnung 
vergangener Vorfälle hergestellt wird. Bei Korsakow-Kranken sieht man 
deutlich, daß das Gedächtnis als solches beeinträchtigt ist. Die Experimental- 
psychologie hat gezeigt, daß bei Korsakow-Fällen eine Verlangsamung im 
Lernversuch festzustellen ist. Die Konfabulation des Korsakow-Patienten 
bringt Material ans Licht, an das er sich aktiv nicht erinnern kann. Die Folge 
der Erlebnisse kann nicht wiederhergestellt werden, aber die Erlebnisse als 
solche sind gegenwärtig. 


Eine meiner Patientinnen hatte völlig vergessen, daß sie ein Kind geboren hatte; 
aber sie konfabulierte beständig, daß Kinder in ihrem Bett lägen. Von besonderer Be- 
deutung sind die Versuche von Betlhei'im und Hartmann,® die Korsakow-Kranken 
unanständige Geschichten erzählten. Ein Patient, dem eine Geschichte über einen 
Sexualverkehr erzählt worden war, berichtet nachher von einem Stiegenhaus, in dem 
eine Frau die Stiegen hinabging. 

Mit einem Wort, die Erinnerungen tauchen in symbolischer, verdichteter 
und transponierter Art wieder auf. Die Analyse hat gezeigt, daß die Mehr- 
zahl von Erinnerungen an die Vergangenheit zuerst in solch symbolischer 
Weise wieder auftauchen. In der praktischen Ausübung der Psychoanalyse be- 
obachten wir das täglich. Es ist auch interessant zu sehen, daß beim Versuch, 
die Vergangenheit wieder zu gewinnen, das Individuum sich zuerst bemüht, 
irgendwelche allgemeinen Anhaltspunkte zu finden, feste Punkte der Orien- 
tierung, denen sich allmählich durch einen fortgesetzten Prozeß der Kon- 
struktion und Rekonstruktion andere Details hinzufügen lassen. Bei der 
Analyse sieht man, daß etwa die Übersiedlung von einer Wohnung in die 
andere, der Tod einer geliebten Person, das Auftauchen eines neuen Freundes, 
der Kindergarten, der Schulbeginn, Möglichkeiten bieten, ein vorläufiges Dia- 
gramm der Erlebnisse aufzustellen. In der Tat ist das Erinnern der Ver- 
gangenheit ein konstruktiver Prozeß. Der Titel des Romanes von Proust 
lautet: „A la recherche du temps perdu.“ Es ist nicht notwendig zu betonen, 
wie sehr dieser Prozeß abhängig ist von gefühlsmäßigen Faktoren oder, besser 
gesagt, von der biologischen und psychologischen Gesamtsituation. 

Das aktuelle Zeiterlebnis wird nun mit diesem konstruktiven Prozesse un- 
unterbrochen verwoben. Es wird symbolisch in die Vergangenheit ausgedehnt. 
Und doch ist die Rekonstruktion der Erinnerungen aus dem Vergangenen ein 
anderes Problem. Es handelt sich um eine Funktion, für die spezifische Teile 
des Gehirns erforderlich sind. 





35) Betlheim, Hans, und Hartmann, Heinz: Über Fehlleistungen des Gedächtnisses 
bei der Korsakowschen Psychose. Arch, f. Psychiatrie, Bd. LXXII, 1927; 






































































































































































































































276 Paul Schilder 








Ehrenwald hat einen Fall mit einer Parieto-Occipitalläsion veröffentlicht, in 
dem diese Funktion beeinträchtigt war. Allgemeine Erwägungen, die ich im ein- 
zelnen an dieser Stelle nicht diskutieren kann, machen es sehr wahrscheinlich, daß 
der Parietallappen und die anschließenden Teile des Temporallappens in Verbindung 
mit dem Vestibularapparat für die Wahrnehmung der’Folge von Erlebnissen in der 
Zeit von Bedeutung sind. Gamper?® hat die Gedächtnisstörungen der Korsakow- 
Fälle mit der Verletzung des Corpus mamillare in Verbindung gebracht, obgleich 
es wahrscheinlich ist, daß die Läsion der vegetativen Zentren, die man bei Fällen von 
Korsakow findet, nicht ohne Einfluß ist auf das Korsakowsche Syndrom und beson- 
ders auf die Triebeinstellung, welche zur Konfabulation führt. Ich glaube nicht, 
daß das der einzige Faktor ist, mit dem wir zu rechnen haben. Ich bin geneigt an- 
zunehmen, daß kortikale Läsionen für die Pathologie der Korsakow-Psychose Vor- 
aussetzung sind. (Vgl. Bender und Schilder.”) Kleist?® brachte amnestische 
Symptome, die sich auf Zeitvorstellungen beziehen, mit dem Zwischenhirn in Ver- 
bindung und legte den Nachdruck auf vegetative Funktionen. Er stellt fest, daß 
beim Korsakow keine Beziehung zum Ich gegeben ist; aber seine psychologische 
Analyse ist nicht ausreichend, und er bringt für das Problem der Lokalisierung keine 
Beweise. Probleme der Lokalisierung können nach meiner Meinung nur auf Grund 
einer vorhergehenden sorgfältigen psychologischen Analyse gelöst werden. 

Es ist falsch, den fundamentalen Unterschied zwischen diesen Problemen 
und denen der Wahrnehmung der Zeit als eines unmittelbaren Erlebnisses 
nicht zu sehen. 

Ich habe früher kurz das Erlebnis der Zukunft erörtert. Die Einstellungen 
auf unmittelbares Handeln und auf unmittelbare Bedürfnisse enthalten ein un- 
mittelbares Element der Zukunft. Pläne und Phantasien dehnen den Be- 
reich der unmittelbaren Zukunft bis zu dem der ferneren Zukunft aus. Selbst 
die Erfahrungen des nächsten Tages sind jenseits aller Vorstellungsmöglichkeit. 
Die Zukunft wird in der Perspektive gesehen und erscheint in Verkürzung. 
Die Realität übersteigt selbst in kleinen Details jede mögliche Vorstellung und 
‚Phantasie. Die Perspektive und die Verkürzung sind daher grundsätzlich jen- 
seits der unmittelbaren Erfaßbarkeit. Es ist demnach selbstverständlich, daß 
symbolische Umgestaltungen, Verdichtungen und Verschiebungen die wesent- 
lichsten Bestandteile von Zukunftserwartungen sind. Es ist sogar unmöglich, 
sich annähernd auszumalen, was es bedeuten wird, verheiratet zu sein, zu 
lieben, ein Kind zu haben, von jemandem betrogen zu werden, den man liebt, 





36) Gamper, Eduard: Zur Frage der Polioencephalitis haemorrhagica. Deutsche Ztschr. 
f. Nervenheilkunde, Bd. CII, 1928, S. 22, 

37) Bender, L., und Schilder, P.: Encephalopathia alcoholica. Archiv of Neurol. and 
Psychiatry, Bd. XXIX, 1933, $. 990. 

38) Kleist, K.: Hirnpathologie. Handbuch der pathologischen Erfahrungen im Weltkriege, 
Berlin, 1933. 

39) Hillebrand, M. I.: Untersuchungen über Vergangenheits- und Zukunftsreaktionen. 
Arch. f.d. ges. Psych., Bd. LXXXII, 1931, $. 153. 








Psychopathologie der Zeit 277 








reich oder arm zu sein. Alle solchen Erwartungen sind nur symbolischer Aus- 
druck der gegenwärtigen libidinösen Situation. Dieses Prinzip, die Zukunft 
in Verkürzung zu sehen, und der symbolische Charakter der Erwartung wur- 
den nie ganz verstanden; Psychologen und Philosophen kamen so zu falschen 
Auffassungen des Zeitproblems. Mit dieser Zeitverkürzung setzt ein neuer 
Prozeß ein, den wir als Prozeß der Verbalisation der Zukunft bezeichnen 
dürfen. Worte ohne bestimmten Inhalt, die nur das Produkt der eigenen 
oder fremder Gefühlseinstellungen und schwer mit Vorurteilen und unanaly- 
sierten Gefühlen belastet sind, werden zu Signalen für Handlungen. Je ge- 
bildeter einer ist, desto mehr ist seine Auffassung seiner Zukunft das Produkt 
von vage verstandenen Worten, die nur die Träger von unanalysierten Ge- 
fühlskomplexen sind. Sie werden zu Verstecken für unanalysierte symbolische 
Erwartungen. 

Ich hätte diese Frage in Ihrer Gesellschaft nicht erörtert, wäre nicht die 
Einsicht in das Zeitproblem eine unerläßliche Vorbedingung für jedes tiefere 
Verständnis der Psychotherapie. Ziel der Psychotherapie ist es, die Trieb- 
kräfte und Ziele der Persönlichkeit zu verstehen. Wenn wir aber den sym- 
bolischen Charakter der Lebenserwartungen und -pläne nicht verstehen, wer- 
den wir auch unfähig sein, mit unseren Patienten umzugehen. 

Als Letztes haben wir noch zu erörtern, wie sich der Physiker dem Zeit- 

problem nähert. Er ermöglicht eine sorgfältige Voraussage der Zukunft, aber 
nur für die unkomplizierte mechanische Seite des Lebens. Es handelt sich um 
eine Konstruktion zur Behandlung der Probleme im Sinne der Realität. Es 
ist eine Konstruktion, die in einem kombinierenden Verfahren die subjektiven 
Erfahrungen menschlicher Individuen durch die Einsicht in die Natur der Ob- 
jekte ergänzt und endlich auf diesem Wege zu einer objektiven Zeitvorstellung 
kommt, die die Erfahrungen von verweilenden und verschwindenden Objekten 
in der Welt um uns verwertet. 
_ Die Zeit erscheint dann unbegrenzt und geradlinig von der Vergangenheit 
in die Zukunft fließend. Die Auffassung des Physikers von der Zeit unter- 
scheidet sich in nichts von seinen anderen Auffassungen, die auf der Not- 
wendigkeit des Handelns gegründet sind. Seine Konstruktion ist also abhängig 
von der Notwendigkeit des tatsächlichen Handelns, soweit es nicht moralisch 
ist, und von den Erfordernissen mechanischer Probleme; seine Auffassungen 
sind dementsprechend einseitig. Er darf sogar den Begriff von der Relativität 
der Zeit einführen, eine Auffassung, die philosophisch sinnlos ist, solange die 
Lichtgeschwindigkeit als konstant angenommen wird. Geschwindigkeit schließt 
in sich bereits den primitiven Faktor der Zeitwahrnehmung. 

Wir bestehen darauf, uns dem Zeitproblem auf biologischem Wege zu 
nähern. Philosophen haben, durch das Wort „Zeit“ getäuscht, die Zeitphäno- 


Imago XXI/3 19 





nn 















































































































































































































































278 Paul Schilder: Psychopathologie. der Zeit 





mene als Einheit aufgefaßt und diesen Ausdruck zur Befriedigung ihrer eigenen 
triebhaften Bedürfnisse verwendet. Einer der führenden Philosophen Deutsch- 
lands, Heidegger,:? behauptet fälschlich, daß die Erfahrung vom unvermeid- 
lichen Tode die Basis des wahren Zeiterlebens bilde. Ich habe in verschiedent- 
lichen Untersuchungen mit Bromberg*! und Wechsler? nachgewiesen, 
daß das Wort „Tod“ ähnlich wie das Wort „Zeit“ für viele verschiedenartige 
Erfahrungen gebraucht wird. Es gibt weder ein vereinheitlichtes Erleben der 
Zeit noch ein vereinheitlichtes Erleben des Todes. Die Vorstellung des Todes 
in einem Individuum stellt nur dessen Erwartungen und Triebansprüche gegen- 
über dem Leben dar. Dasselbe gilt für ‘unsere Haltung zur Zeit. Wir haben 
Beispiele dafür, wie die Sprache Philosophen und Psychologen irregeführt hat, 
und stehen vor der Aufgabe, auf die wirkliche biologische Erfahrung am Men- 
schen zurückgreifen. Die Analyse des Zeitproblems und des Problems des 
Todes wird so zu einem grundsätzlichen Faktor für Psychologen und auch zu 
einem wichtigen Bestandteil der Psychotherapie. Wir verstehen das Zeitpro- 
blem besser, wenn wir zu den wirklichen Erlebnissen der Menschen zurück- 
kehren. Von Primitiven bekommen wir tiefere Informationen als von Philo- 
sophen. Die primitiven Stämme von Uganda sagen nach Werner®? statt 
6 Uhr „die Zeit des Melkens“, für ı5 Uhr „die Zeit der Viehtränke“, für 
17 Uhr „die Zeit der Heimkehr des Viehs“. Wenn wir den Neurotiker zu 
einem ähnlich klaren Verständnis seiner theoretischen Vorstellungen bringen 
können, so haben wir einen bedeutsamen Schritt vorwärts gemacht. 

Bei der Analyse der Psychologie der Zeit gewinnen wir so Einblick in die 
Arbeitsweise des Denkens. Es gibt die Daten der Wahrnehmung, die Empfin- 
dungen und Gefühle in uns selbst, die Außenwelt, die Objekte und die aus 


‘dem Körper stammenden Daten. Dann gibt es auch das lebende Individuum 


selbst mit seinen Trieben und Impulsen, das in einem Prozeß von dauernder 
Konstruktion und Rekonstruktion den Objekten und ihrer Beziehung in der 
Zeit endgültige Gestalt gibt. Diese konstruktiven Kräfte in uns bringen auch 
unsere Erfahrungen in eine bestimmte Ordnung und schaffen so die schließ- 
liche Wahrnehmung des Zeitablaufs. Psychologie und Psychopathologie der 
Zeit verhelfen uns so zu einer tieferen Einsicht in die konstruktiven Kräfte 


der Psyche. 





40) Heidegger, M.: Sein und Zeit, 1929, 2. Auflage. 

41) Siehe oben Nr. 6. 

42) Siehe oben Nr. 18, 

43) Werner, H.: Raum und Zeit in der Urform der Künste. Bericht über d. Kongr. f. 
Asthet. u. Kunstwiss., 1930, in Hamburg 1931. — Einführung in die Entwicklungspsychologie, 
Leipzig, 1925, S. 227 ff. 








Der Narzißbegriff 


Versuch einer neuen Deutung 
Von 


Ludwig Pfandi 


IIoiloi oe ulonoovorv 
dv oavıov puAns 
(Suidas) 



























1. Voraussetzungen 


Der Mythos von dem göttergleichen Griechenjüngling, der, im Spiegel eines 
klaren Teiches sein eigenes Bild erspähend, von betörender Liebe zu sich selbst 
erfaßt wird und keinen anderen Ausweg findet, als daß er den zwischen Drang 
und Erfüllung bestehenden Konflikt mit dem eigenen Tode löse, dieser zum 
schönsten Sagengut des unsterblichen Griechentums zählende Mythos durch- 
wandert seit Jahrhunderten in ewiger Jugend die poetische Welt aller Natio- 
nen. Manchen von den Dichtern, bei denen er auf diesem Wege durch die 
Zeiten und Völker freundliche Einkehr hielt, ist er zu so lebendigem inneren 
Erlebnis geworden, daß sie selbst einen Teil seines Wesens in sich wieder- 
fanden, daß sie zu Trägern und Eignern einer seelischen Haltung wurden, die 
man nicht anders denn als Narzißmus bezeichnen konnte. An die Fersen 
der Sage und Dichtung sodann hat sich noch immer und überall die Schar 
der Erklärer geheftet. So auch hier. Aber es ist ein durchaus nicht erhebendes 
Schauspiel zu sehen, wie die vielfältigen Deutungen und Sinngebungen des 
Narzißbegriffs sich gegenseitig verneinen und ausschließen, wie immer wieder 
der Verfechter einer neuen alle älteren, sei es ausdrücklich oder implizite, als 
unwahrscheinlich oder veraltet oder unmöglich oder verrückt, je nachdem, 
ablehnt und beiseite schiebt. Manche Erklärer leiten den Narzißmythos von 
einem uralten primitiven Regenzauber her, andere sehen in ihm nur die Idee 
des frühen Dahinwelkens aller Schönheit, andere erkennen ihn als Spielart 
des Aberglaubens vom bösen Blick, andere meinen, er sei nur die Symboli- 
sierung kalter Selbstliebe, andere halten dafür, daß er eine warnende Abwehr 
der Feindseligkeit gegen die Knabenliebe sei, andere nehmen ihn für das ab- 
schreckende Beispiel eines törichten Hinopferns der Seele um des Leibes 
willen, andere begreifen ihn als eine sinnbildliche Einkleidung der winterlichen 
Jahreszeit oder eine dämonologische Verkörperung der Ruhe und des Todes, 
andere deuten ihn als Strafe für die Versündigung am Prinzip des Mutter- 
rechts, andere sind für die Antithese von Geist und Leben, und wieder andere 
endlich verstehen ihn als die vollkommenste in der Weltliteratur auffirmdbare 
Symbolisierung des Statischen und als den stärksten. Gegensatz zu der fausti- 


ıg* 



























































280 Ludwig Pfandl 





schen Verkörperung des Dynamischen.! Wer immer die Mühe nicht scheut, 
eine Wanderung durch den Irrgarten dieser vielfältigen Deutungen und Wer- 
tungen zu unternehmen, der wird, wenn er aufatmend wieder ins Freie tritt, 
nichts anderes sagen können als dieses: Auch der Narzißbegriff ist einer von 
den tausend kleinen und großen Bezirken, in denen die ewige Pilatusfrage 
nach der Wahrheit immer noch unbeantwortet blieb. 

Merkwürdigerweise hat es zur Klärung und Reinigung dieses Gewimmels 
der Meinungen nicht sonderlich beigetragen, daß man in den letztvergange- 
nen Jahrzehnten von der Seite der ärztlichen Seelenkunde her einen ganz 
neuen Begriff des Narzißmus zu finden und abzugrenzen begann, daß man 
zur Erkenntnis gelangte, der Narzißmus sei nicht nur eine Form und ein 
Fortleben des griechischen Mythos, sondern auch eine der gesamten Mensch- 
heit-gemeinsame, von vielen unbewußt durchlittene Art des seelischen Er- 
krankens, Ich meine damit die Entdeckung von Sigmund Freud, der als 
erster den von ihm so benannten Narzißmus als einen Bezirk des seelischen 
Krankseins und Andersseins erkannt und durchleuchtet hat. Warum die 
zunftmäßige Mythenforschung bis jetzt immer noch gezögert hat, die Errun- 
genschaften der medizinischen Psychologie auch hier in vollem Umfange zu 
den ihrigen zu machen und die entsprechenden Nutzanwendungen aus dem 
benachbarten Grenzgebiet freimütig herüberzunehmen, dafür eine Erklärung 
zu geben, ist nicht unsere Aufgabe. Wir wollen uns vielmehr damit begnügen, 
ein bis jetzt noch ganz vereinzeltes Urteil, die Stimme eines Predigers in der 
Wüste sozusagen, hörbar zu machen und ihn als Kronzeugen aufzurufen für 
die Berechtigung unserer eigenen Art und Weise, an die Lösung des Narziß- 
problems heranzugehen. Der klassische Philologe Otto Kiefer nennt in sei- 
ner ebenso glänzend geschriebenen wie gedankentiefen Kulturgeschichte Roms 
(Berlin 1933, $. 237) die Gestalt des sich selbst liebenden Narcissus 
einen uralten Mythos, der auf tiefsinniger Erkenntnis von häufigen psychologischen 
Eigentümlichkeiten des Menschen beruht. Der Versuch, auf dem Wege einer 
Gegenüberstellung von Mythos und Psychoneurose darüber Klarheit zu ge- 
winnen, inwiefern die Aussage von Otto Kiefer zu Recht besteht, das soll 
das: vornehmste Ziel unserer gegenwärtigen Untersuchung sein. Wir wollen 
uns, anders gesagt, die folgenden Fragen stellen und zu beantworten ver- 
suchen: Welches ist die urtümliche Form des Mythos einschließ- 





ı) Man vergleiche hierüber: F. Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, 
2. Aufl., Bd. 3, Leipzig 1821, S. 548; Fr. Wieseler, Narkissos, eine kunstmythologische 
Abhandlung, Göttingen 1856; F. G. Welcker, Alte. Denkmäler, Bd. 4, Göttingen 1861; 
W. H. Röscher, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. 3, Abt. ı, 
Leipzig 1897; ©. Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte, Bd. 2, Mün- 
chen 1906, S. 1026; J. G. Frazer, The Golden Bough, Bd. 3, London ı9ı1, $. 94; H. Mit- 
lacher, Die Entwicklung des Narcissbegriffs, in GRM., Bd. 21 (1933), S. 373. 












































Der Narzißbegriff 281 





TE 


lich seiner sekundären Bearbeitungen? Das heißt also: Welches war 
seine rein sagenmäßige Gestaltung, bevor die Dichter über ihn kamen? 
Welches ist der Gewinn, der sich aus den Ergebnissen der Freud- 
schen Psychoanalyse für die Erkenntnis des Mythos ziehen läßt? 
Welches ist die einzig mögliche und vielleicht auch einzig rich- 
tige Deutung, die sich aus einem solchen Zusammenhalt und 
Vergleich für den Mythos ergibt? Hat es alsdann noch länger einen 
Sinn, am Narzißmythos in der bisherigen Weise herumzudeuten, ihn: bald 
naturmythologisch, bald dämonologisch, bald moralisch, bald. aus den Zeit- 
sitten, bald nach Gegensatzpaaren der menschlichen Typenlehre zu erklären 
oder nicht, und inwiefern mögen sich diese Kriterien immerhin noch für die 
Würdigung des narzißtischen Erlebnisses bei den späteren Dichtern als ver- 
wertbar erweisen? 

Was sich bei der Erörterung des Narzißbegriffs vor allen anderen als un- 
entbehrlich und unerläßlich erweist, das ist eine möglichst klare und reinlich 
abgegrenzte Unterscheidung der zweifach denkbaren Sinngebung. Man muß 
jederzeit und in jedem Stadium der Erkundung genau wissen, was von den 
beiden gemeint ist: einerseits der Mythos von dem Jüngling, der die ‚Liebe 
zur eigenen Gestalt mit dem Leben büßte, anderseits die psychische Erkran- 
kung oder Entartung des einzelnen Individuums, bei der sich in mannig- 
fachen Schattierungen bestimmte Einzelzüge dessen, was der Mythos in eine 
Art Kollektivform bringt, wirksam zeigen. Der Narzißmus als seelische Erkran- 
kung ist eine Art der Neurose?; der Narzißmus als Mythos aber ist die älteste 
und vielleicht schönste Darstellung dieser Neurose in der Form einer die 
psychischen Vorgänge erzählerisch und symbolisch veranschaulichenden Sage. 
Das Primäre im Narzißbegriff ist nicht der Mythos, sondern die Neurose. 
Zuerst war der Mensch da und mit ihm seine Erlebnisse, Zweifel, Kämpfe 
und Leiden; dann erst kamen die Versuche, diesen Dingen befreienden Aus- 
druck zu geben, sie durch Projektion in die Wirklichkeit ihrer Geheimnisse 
und damit ihrer Schrecken zu entkleiden; dann erst entstand, mit anderen 
Worten gesagt, der Mythos. Ihm kann in einzelnen Fällen und heute oft gar 
nicht mehr nachweisbar eine primitive Formulierung oder kurzgefaßte Ursage 
vorausgegangen sein, aus deren spärlichem Erdreich dann, wenn ihre Zeit ge- 
kommen war, das heißt, wenn der Mensch geistig und seelisch die entspre- 
chende Entwicklungsstufe erreicht hatte, die mythische Erzählung wie 'eine 
Wunderblume, duftschwer und der Geheimnisse voll, erblühte. Der Mythos 
aber ist in seinen besten Formen immer und je die symbolische Darstellung 





2) Mit dieser schroffen Formulierung wird vielleicht der Fachmann nicht ohne weiteres 
einverstanden sein; aber.ich hoffe, da hier der nötige Raum dazu fehlt, sie bei einer anderen 
Gelegenheit ausführlich begründen zu können. 









































































































































282 Ludwig Pfandl 





der dem Menschen rätselhaften Mysterien gewesen. Wie die Odipus-Geschichte 
nur die erzählerische Formgebung eines uralten seelischen Erlebniskonfliktes 
der Menschheit war, so ist auch das Mythenmärchen von Narcissus und sei- 
nem tragischen Liebestod nichts anderes, als die sinnfällige Gestaltung einer 
derartigen, den Menschen aller Zeiten auferlegten und zu Leid gewordenen 
„Verwirrung der Gefühle“, eine sagenhaft verklärte Episode aus dem mille- 
naren Kampf des Individuums mit den dunklen Mächten des Unbewußten. 
Wir orientieren uns also folgerichtig zuerst über das Wesen und die Beson- 
derheit der. narzißtischen Neurose und dann erst über Sinn und Gehalt des 
auf sie bezüglichen Mythos. 
: % 


2. Der Narzißmus als Neurose 


Sigmund Freud gebührt das Verdienst, diesen in: der klinischen Diagnose 
schon vor ihm gebräuchlichen Begriff, ihn erweiternd und präzisierend zu- 
gleich, aufgenommen und zum Kennwort einer ganz neuen Deutung bestimm- 
ter Anormalitäten des menschlichen Seelenlebens gemacht zu haben.* Narziß- 
mus ist, in zwei Worten ausgedrückt, eine krankhafte Verlagerung oder Ver- 
schiebung der Objektwahl im Liebesleben des heranreifenden Menschen. Der 
Säugling ist Narzißt von Natur aus: Er entnimmt seine Sexualobjekte ganz 
und gar autoerotisch aus seinen leiblichen Befriedigungserlebnissen. Man nennt 
das den primitiven Narzißmus, den jeder Mensch, wenn auch unbewußt und 
späterer Erinnerung daran nicht mehr mächtig, an sich selbst erlebt. Mit fort- 
schreitendem Wachstum verschiebt sich die Objektwahl vom Ich auf die Per- 
sonen, denen Ernährung, Pflege und Schutz obliegt. Das sind zunächst die 
Mutter oder die sie ersetzende Amme, Wärterin, Kinderfrau, in einem weite- 
ren Stadium der Entwicklung aber, jetzt mit geschlechtlicher Differenzierung, 
für den Knaben die Mutter als die sorgende Frau, für das Mädchen der Vater 
als der schützende Mann. An ihre Stelle treten dann, normale Umstände vor- 
ausgesetzt, ‚die in Reihen von ihnen ausgehenden Ersatzpersonen: für die 
Mutter die Geliebte, die Braut, die Gattin; für den Vater der Liebhaber, 
Bräutigam und Gatte. 


3) Sehr eindringlich hat diesen Gedanken der amerikanische Neurologe J.Putnam in 
einem (Juni ı9r0) vor der Canadian Medical Association zu Toronto gehaltenen Vortrag 
formuliert: „Das ganze Gebäude der Mythologie’ ist nichts anderes als die Projektion, die 
Verlegung nach’ außen, der inneren Wahrnehmungen von Aufruhr, Kampf und Sieg, wie 
sie in uns vorfallen zwischen. den Gedanken und Regungen, die wir klar erfassen, und jenen, 
die uns vielleicht nur halb oder zu einem Viertel klar werden, und jenen ‚anderen, die wir 
nicht zu kennen vorgeben und überhaupt nicht klar erfassen, die aber in Wirklichkeit doch 
unsere Be eorenginge und unsere Handlungen PelaeEn “ (Zentralblatt für Psycho- 
analyse ıgıı, Bd,r, $, 148.) 

. 4).$. Freud,' Zur Einführung des Narzißmus, zuerst in Jahrbuch für Psychoanalyse, 
Bd.6 (1914), S. ı, wiederholt in Ges. Schr., Bd. VI (1925). 








Der Narzißbegriff 283 








Anders freilich gestaltet sich diese Entwicklung, wenn das Individuum, 
durch Erbanlage oder durch sonstwie veranlaßte Konflikte zwischen Lust- 
prinzip und Realitätsprinzip behindert, den Weg zur normalen Objektwahl 
nicht zu finden vermag. Erbanlage ist in diesem Fall entweder eine schon 
vorhandene Abweichung von der Linie des normalen Sexualempfindens, die 
etwa durch sublimierende Verdrängung auf die eigene Person umgelegt wird, 
oder aber eine infolge krankhafter Disposition vorhandene Spaltung des Per- 
sönlichkeitsempfindens (der sogenannte Doppelgängerkomplex), dem ein ab- 
normes Interesse an der eigenen Person und ihren seelischen und körperlichen 
Zuständen entspricht. Die übrigen hemmenden Konflikte sind, je nach dem 
Geschlecht des Individuums, in Herkunft und Art verschieden gestaltet und 
kommen, während die Erbanlage zumeist eine Angelegenheit des Mannes ist, 
vorwiegend im Leben der Frau zur Auswirkung. Hier also tritt dann die so- 
genannte Regression in Kraft und mit ihr das Hängenbleiben an einem frü- 
heren, mit besonderer Anziehungskraft begabten Punkte des psychischen 
Werdeganges, und das führt zum sekundären oder neurotischen Narzißmus. 
Es erfolgt etwas wie ein ratloses Haltmachen vor einer unübersteiglichen Mauer, 
wie ein erschrecktes Zurückweichen vor einer im letzten Augenblicke wahr- 
genommenen Gefahr; es beginnt eine ängstliche Abkehr von der Realität und 
eine Flucht in den sicher umhegten Bezirk der eigenen Person. Jetzt werden 
die Wahrnehmungen der eigenen körperlichen und geistigen Vorzüge (oder 
dessen, was dafür gehalten wird) zu lustbetonten Erlebnissen, deren beständige 
Wiederholung zur vollständigen Triebumstellung auf den eigenen Körper 
führt. Jede dern neuen Seelenzustand hinderliche oder abträgliche Vorstellung 
wird mit Eifer aus dem Bewußtsein verdrängt; am eifrigsten und beharrlich- 
sten die des Todes, denn gerade sie ist für die narzißtische Eigenliebe die 
peinvollste von allen. Gelingt diese Verdrängung nicht, so kann die Angst 
vor dem Sterbenmüssen und die mit ihr gleichbedeutende Furcht vor dem 
Altern dem Bewußtsein so unerträglich werden, daß das Individuum im 
Selbstmord die einzige Lösung des Konfliktes zu finden vermeint. Hier führen 
die dunklen Pfade des Narzißmus und der Melancholie ein gutes Stück weit 
ineinander. Auch die Melancholiker leben in fortwährender Todesangst und 
stürzen sich nicht selten, nur um ihr zu entfliehen, in den Tod. Jeder Narzißt 
ist darum von heimlicher Traurigkeit überschattet. 

Nach der Lehre der Gnostiker wäre kein geringerer als unser Stammvater 
Adam der erste Narzißt gewesen. Er habe sich, so behauptet sie, in einem 
Wasserspiegel beschaut, sich in sein eigenes Bild verliebt und ob dieses sündi- 
gen Gehabens seine himmlische Natur verloren.® Aus dem Sumpf des Narziß- 
mus also wäre dieser Ansicht nach die giftige und verderbliche Blume der 





5) W. Menzel, Die vorchristliche Unsterblichkeitslehre, Leipzig 1870, Bd, 2, S. 68. 
























































































































































284 Ludwig Pfandl 





Erbsünde entsprossen. Wir lassen das unentschieden, retten uns mit einem 
kühnen Sprung aus dieser dunklen Urzeit in die hellere Gegenwart und sehen 
uns auf diesem ungleich festeren Boden nach Trägern Pe Veranla- 
gung beim Manne um. 


Leo Tolstoi etwa ist ein typisches Beispiel. Bis zum Alter von vier Jahren 
läßt sich die erste Fixierung des anormalen Triebes zurückverfolgen, wo er 
bei Gelegenheit eines Bades einen seiner glücklichsten Eindrücke empfing: 
Zum erstenmal erblickte ich meinen kleinen Körper mit den mir sichtbaren Rippen auf 
der Brust und gewann ihn lieb. Von Tolstois beruflicher Tätigkeit als Lehrer 
heißt es bei seinem Biographen, daß er sich, ein ewiger Narziß, an der Ab- 
spiegelung seines Ich in den kindlichen Seelen erfreute, daß er auch in den 
Kindern nur sich selbst und sich allein liebte. Die übermäßige Todesfurcht, 
die ihn in seinen späteren Jahren quälte und einigemal bis an die Grenze 
des Selbstmordes trieb, war nichts anderes als gesteigerte Angst um das Leben, 
die sich um so stärker erwies, je mehr sich das Lebensgefühl in eine über- 
mächtige Liebe zum eigenen Körper verdichtet hatte. 


Ein anderer Typus narzißtischer Einstellung begegnet uns in Oscar Wilde, 
der sich gerade von dieser Seite her im Dorian Gray mit aller wünschenswerten 
Offenheit selbst porträtiert hat. Der Künstler Basil Hallward malt diesen 
Dorian zuerst als Verkörperung seines griechischen Vorbildes: You had leant 
over the still pool of some Greek woodland and seen in the water's silent silver the 
marvel of your own face.’ Dann stellt er ihn, so wie er wirklich leibt und lebt, 
in jenem Bildnis dar, das für Dorian zum Doppelgänger werden, für ihn 
altern und alle Folgen der Ausschweifungen willig tragen soll, das ihm dann 
aber auch, als die Zeit erfüllt und das Maß voll ist, zum Todesbringer werden 
muß. When I find that I am growing old, I shall kill myself, so ruft Dorian mit 
Emphase aus,® und es wird berichtet, daß Oscar Wilde diesen Spruch ganz 


' gewohnheitsmäßig von sich selber gebrauchte. Wie ein zweiter Narziß hat 


Dorian das rätselhafte Bildnis zuweilen geküßt und ist stundenlang wie ver- 
zaubert in seine Betrachtung versunken gesessen.? In dieser narzißtischen Ein- 
stellung — hierin ist Dorian Gray völlig identisch mit Oscar Wilde — 
wurzelt sein Egoismus, seine Unfähigkeit zur Liebe gegenüber anderen und 
sein auf Abwege geratenes Geschlechtsleben. Die Frauen bieten ihm nur 
flüchtigen und rein animalischen Genuß und eine seelische Bindung zu ihnen 
gibt. es nicht. Seine verbotenen Beziehungen zu jungen Männern aber sind 
nichts anderes als ein Versuch, der Verliebtheit in das eigene Ich und Eben 





6) D. Mereschowski, Tolstoi und Dostojewski, Leipzig 1903, S. 52. 
7) The Picture of Dorian Gray. Tauchnitz Edition, $. 149. 

8) Ibid. S. 40. 

9) Ibid. S. 138, 





Der Narzißbegriff 285 




































bild eine Art Ersatzbefriedigung zu verschaffen. Dieses Fehlen der Liebes- 
fähigkeit haben Dorian Gray und Oscar Wilde mit fast allen Narzißten 
gemeinsam, und sie sprechen es auch einmal, mit trefflicher Erkenntnis der 
narzißtischen Fixierung, deutlich aus: / wish I could love, cried Dorian with a 
deep note of pathos in his voice. But I seem to have lost the passion and forgotten 
the desire. I am too much concentrated on myself.!° 18 
Daß auch Strindbergs Liebesleben und seine Einstellung zur Frau typisch 
narzißtisch unterbaut war, das zeigt uns die folgende Stelle aus seinem 
Legendenbuch ($. 293): Wir beginnen ein Weib zu lieben, indem wir bei ihr Stück 
für Stück unsere Seele niederlegen. Wir verdoppeln unsere Persönlichkeit, und die Ge- 
liebte, die bisher gleichgültig, neutral war, beginnt sich in unser anderes Ich zu kleiden, und 
sie wird umser Doppelgänger. Anders ausgedrückt: Was Strindberg im Weibe 
liebt und anbetet, das ist das eigene Ich, dessen er sich zugunsten der Geliebten 
entäußert hat. Der Narzißmus von Walt Whitman hat in seinem Song of 
myself einen zu Herzen gehenden Ausdruck gefunden, während andere Teile 
der Leaves of Grass keinen Zweifel darüber lassen, daß hier eine angeborene 
Homoerotik sublimierenderweise auf die eigene Person übertragen wurde. Ein 
Künstlertypus von stark narzißtischem Einschlag sodann ist Arnold Böcklin 
gewesen. Nie arbeitete er nach Modellen, sondern studierte stets den nackten 
Körper im Spiegel an sich selbst.!! Bekannt ist sein Selbstbildnis, auf dem der 
Tod die Geige spielt, während der Maler ihm gespannt zuhorcht. Es ist eine 
symbolische Darstellung der narzißtischen Todesfurcht, die in ambivalentem 
Sinne zugleich eine Todessehnsucht bedeutet. 


Schließen wir an diese Beispiele namhafter, weitum gerühmter Dichter- 
und Künstlergestalten noch die Selbstbeobachtungen eines Unbekannten, und 
unser Vorstellungsbild von Entstehung und Wesen des neurotischen Narziß- 
mus wird sich beträchtlich runden. Ich meine die bekenntnisartigen Aufzeich- 
nungen, die ein nicht genannter Psychopath unter dem Pseudonym Loquens 
veröffentlicht hat,!? und die sich zum Teil auf Gespräche mit seinem zweiten 
Ich, zum Teil auf ausgeprägt narzißtische Praktiken beziehen. Es heißt da: 
Besonders abends nehme ich meinen Stuhl und Spiegel her und betrachte nahezu eine 
Stunde lang mein Gesicht, wende es nach allen Seiten, lächle mir zu, freue mich dar- 
über, daß mein Profil gut geraten ist. Dann lege ich mich ins Bett, nehme den Spiegel 
vor, lächle mich an und denke mir: „Es ist/jammerschade, daß dich jetzt niemand. 
sieht‘. Dann küsse ich mich im Spiegel, das heißt, ich ziehe den Spiegel, mich darin 
beschend, langsam an meine Lippen. Ich küsse also derart mein zweites Ich und be- 
wundere mein gutes Aussehen. 





10) Ibid. $, 262, 
ıı) F. Runkel und C. Böcklin, Neben meiner Kunst, Berlin 1909, S. 27. 
12) Zentralblatt für Psychoanalsye, Bd. 4 (1914), S. 414. 


























286 Ludwig Pfandl 





Grundprinzip bei der narzißtischen Abirrung vom geraden Wege seelischer 
Entwicklung ist immer, daß die der Außenwelt entzogene Libido dem Ich 
zugeführt wird. Natürlich verbindet sich mit dieser Abkehr von der Realität 
eine starke Introversion und in ihrer Folge eine Selbstbespiegelung und eine 
Selbstüberschätzung, die dem gesunden Empfinden anfänglich ganz unfaßbar 
zu sein scheinen, die uns aber anderseits erst das volle Verständnis für Kon- 
fessionen von der Art der folgenden — sie stammt aus der Feder von Fried- 
rich Nietzsche!® — aufgehen läßt: 

Einsam mit dir, 

Zweisam im eignen Wissen, 
Zwischen hundert Spiegeln 

Vor dir selber falsch, 

Zwischen hundert Erinnerungen 
Ungewiß, 

An jeder Wunde müd, 

An jedem Froste kalt, 

An eigenen Stricken gewürgt, 
Selbstkenner! 

Selbsthenker! 

Was bandest du dich 

Mit dem Strick deiner Weisheit ? 
Was locktest du dich 

Ins Paradies der alten Schlange ? 
Was schlichst du dich ein 

In dich, in dich?... 


Was wir hier lesen, ist das erschütternde Zeugnis eines vom Körperlichen 
ins Geistige abgedrängten Narzißmus, der sich vor allem in Philosophen- 
hirnen häufig einnistet, und bei dem, wie Karl Joel sagt,!t das Denken in stiller 
Kammer als bloße Erkenntnis der Erkenntnis sich zu bloßer Selbstbespiegelung ver- 
kapselt. Der geistige Narzißmus der Philosophen wandelt das nur um seiner 
selbst willen betriebene Denken förmlich in eine erotischeHandlung um. Das 
primum vivere, deinde philosophari wird ins Gegenteil verkehrt: Das Leben, so 
versichert Schopenhauer, ist eine mißliche Sache; ich habe mir vorgenommen, 
das meinige mit dem Nachdenken darüber hinzubringen. 

Da der Narzißmus in erster Linie eine Angelegenheit und eine Begleiter- 
scheinung des psychisch-sexuellen Stadiums der Objektwahl ist, so versteht 
es sich beinahe von selbst, daß die durch Natur und Gesellschaftsordnung 
beeinflußte Freiheit dieser Wahl bei den zwei Geschlechtern unter sehr ver- 
schiedenen Vorbedingungen vor sich geht. Wo der Mann hundert Wegeund Mög- 
lichkeiten der freien Entscheidung hat, da ist die Frau durch hundert Fesseln 





13) Werke, Bd. 8, $, 414. 


14) Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, S. 87. 











































Der Narzißbegriff 287 





und Verbote des Geschlechts und der Sitte gebunden. Wenn je, so gilt hier das 
Wort, daß der Mann das aktive, die Frau das passive Prinzip im Leben dar- 
stellt; ja man könnte das Verhältnis der beiden im Leben und im Lieben kurzer- 
hand auf die Formel bringen: Der Mann kommt; die Frau erwartet, daß er 
kommt, und wartet, bis er kommt.!? Weil nun aber die Frau in ungleich höhe- 
rem Grade als der Mann bei ihrer Objektwahl durch Natur und Herkommen 
behindert ist, darum bleibt sie auch in viel größerem Ausmaße als jener der 
Gefahr des Abgleitens in den Narzißmus ausgesetzt. Denn es braucht zu den 
erwähnten Hemmungen und Einschränkungen nur noch ein wesentlicher 
Aktivposten im Ich-Haushalte zu kommen, nämlich körperliche Schönheit 
oder geistige Begabung oder beides zusammen, so lehnt sich die weibliche 
Psyche in vielen Fällen mit schärfster Negierung gegen die ihr unwürdig dün- 
kende Lage auf, und damit ist ohne weiteres die Konfliktsmöglichkeit gege- 
ben: Regression auf den primären Narzißmus, der jetzt, unter ganz neuen 
Bedingungen, zum sekundären, in seinen Trieben viel einseitigeren, in seinen 
Auswirkungen viel quälenderen wird. Solche Frauen lieben nur sich selbst, 
vergöttern nur sich selbst, wollen ohne Gegenliebe geliebt sein und üben, 
weil sie gewöhnlich sehr schön und sehr gescheit sind, weil ihre Sonderart 
reizvolle seelische Spannungen in Aussicht stellt, und weil nun einmal in den 
Wechselbeziehungen der Geschlechter gerade alles Nichtalltägliche die Män- 
ner besonders lockt, die stärkste Anziehungskraft auf die Herren der Schöp- 
fung aus. Sie spielen die Rolle des Lichtes, das in wildem Tanz die Motten 
und Mücken umkreisen, sich die Flügel, wenn nicht gar das Leben selbst ver- 
brennend. Frauen dieser Art sind nun durchaus nicht in Bausch und Bogen 
für die Ehe ungeeignet; sie sind ihr auch nicht ohne weiteres abgeneigt, frei- 
lich nicht aus Bedürfnis nach dem Manne, sondern aus Sehnsucht nach dem 
Kinde, das ihnen ja als ihr fleischgewordenes zweites Ich eine Fortdauer des 
narzißtischen Gefühlslebens gewährleistet. Wenn jedoch zu der gegebenen 
narzißtischen Einstellung noch eine die bereits vorhandene Hemmung und Be- 
hinderung verstärkende Komponente hinzukommt, wie etwa eine geistige Be- 
gabung oder Veranlagung von ausgeprägt männlicher Eigenart, so ist es nahezu 
naturnotwendig, daß sich die latente mindere Bereitschaft zur Ehe in eine Ab- 
neigung, ja sogar in eine positive Ablehnung aktiviert und verdichtet. Einen teil- 
weisen Ersatz für die gehemmte, aufgeschobene oder gänzlich unterlassene 
männliche Objektwahl suchen und finden diese Frauen sehr oft in idealen und 
sittlich durchaus einwandfreien Freundschaften mit geistig hochstehenden, 








15) Ganz vortrefflich hat R. Wahle, Die Entstehung der Charaktere, München 1928, 
S. 340/341, diese Zwangslage der Frau umschrieben. Im allgemeinen vergleiche man auch 
das freilich ziemlich veraltete Büchlein von J. Stuart Mill, Die Hörigkeit der Frau, deutsch 
von J. Hirsch, Berlin 1869, 





















































































































































288 Ludwig Pfandl 





liebenswerten und edlen Geschlechtsgenossinnen, Freilich besteht hier wieder- 
um die Gefahr, daß weiblicher Überschwang und geschlechtliche Stauungs- 
überreiztheit, verstärkt durch allzu williges Entgegenkommen vonseiten der 
Freundschaftspartnerin, zu einer sexuell gefärbten Hörigkeit des narzißtischen 
Teiles führen, einer Hörigkeit, die dann nicht immer frei ist von Äußerungen 
und Merkmalen des Masochismus, d. h. des lustbetonten Dranges nach Ge- 
quältwerden. Wenn mich nun aber einer ungläubig fragen würde: wo gibt 
es oder wo gab es je das lebendige Beispiel einer solchen Frau?, so könnte 
ich ohne Besinnen zur Antwort geben, daß die hier dargelegten Besonder- 
heiten des weiblichen Narzißmus fast ohne Ausnahme an der mexikanischen 
Nonne Juana In&s de la Cruz (f 1695) sichtbar sind. 

Inwiefern bei Mann und Frau, also ohne Unterschied der Geschlechter, 
auch das religiöse Erlebnis, das Verhältnis zu Gott und göttlichen Dingen, 
in den Ausstrahlungskreis des Narzißmus gelangen kann, darüber sind bis 
jetzt abschließende Erkenntnisse noch nicht gewonnen. Vielversprechende 
Anfänge liegen immerhin bereits vor.!® 

Das ist, wenn auch nur in allgemeinen Zügen und nur den Zwecken einer 
literarischen Orientierung dienstbar, der Grundriß unseres gegenwärtigen 
Wissens von der psychologischen Erkrankungsform des Narzißmus. Nach den 
Erfahrungen der Männer vom Fach stellt er die Grenze der ärztlichen Beein- 
flußbarkeit dar; er ist also, mit einem Wort gesagt, unheilbar. Ist es nur ein 
Zufall, daß die Schöpfer des Narzißmythos schon vor ein paar Jahrtausenden, 
wenn auch unbewußt, zu der gleichen Erkenntnis gelangt sind? Auch dort 
bringt Lösung und Heilung nur der Tod. 


3. Der Narzißmus als Mythos 

Der Mythos vom schönen Narziß und seinem tragischen Ende, so sagten 
wir, ist nichts anderes als die sinnfällige Gestaltung eines uralten seelischen 
Erlebniskonfliktes der Menschheit. Um ihn richtig zu begreifen und sinnge- 
mäß zu deuten, ist es — wir wiederholen auch das mit allem Nachdruck — 
unerläßlich, daß man aus der Reihe der mythologischen Quellen die poeti- 
schen Umgestaltungen sorgfältig ausscheide. Nur die ersteren geben das eigent- 
liche kritische Material her, während die letzteren in dieser Hinsicht wertlos 
bleiben, ja sogar wilde Verwirrung anstiften können, so bedeutsam und er- 
giebig sie naturgemäß auch sind, wo immer es um die Erkundung v von Werk 
oder Erlebnis eines bestimmten Dichters geht. 

Die antiken Quellenberichte sind verhältnismäßig gering an Zahl und leicht 
zu gruppieren. 





16) Siehe H. Schjelderup und K. Schjelderup, Über drei a der reli- 
giösen Erlebnisform und ihre psychologische Grundlage, Berlin 1932. 











7 Der Narzißbegriff 289 


J 





ı. Nicht der früheste zwar, aber der auf die ältesten und nicht mehr vor- 
'handenen schriftlichen Überlieferungen zurückgehende stammt aus der Be- 
schreibung Griechenlands!” des im 2. Jahrhundert nach Christus lebenden 
Pausanias. Im Gebiete von Thespiae, so heißt es da (Buch 9, Kap. 31), liegt eine 
Flur, genannt Donakon (Schilfbett), und hier zeigt man die Narcissusquelle. In diesem 
Wasser soll sich Narcissus beschaut haben; da er indes nicht gemerkt, daß er seinen 
eigenen Schatten erblicke, habe er sich unversehens in sich selbst verliebt und sei vor 
Liebe an dieser Quelle gestorben. Es ist aber ein Unsinn anzunehmen, daß ein Mensch, 
der das liebesfähige Alter erreicht hat, nicht imstande sei, die lebendige Gestalt vom 
Schattenbilde zu unterscheiden. 

Auch die angebliche Entstehung der Blume Narzisse aus dem Liebestod 
des Jünglings will Pausanias nicht gelten lassen, denn diese Blume findet er 
bereits in der seiner Meinung nach unendlich viel älteren Sage von der Ent- 
führung der Demetertochter Persephone verwendet.!8 

2. Der gleiche Pausanias hat aber auch Kenntnis von einer stark veränder- 
ten Version, die zwar von der späteren Kritik in der Regel unbeachtet ge- 
lassen wurde, die aber von großer Bedeutung für die Genesis dieses Mythos 
ist. Nach ihr besaß Narcissus eine Zwillingsschwester, mit der er in Liebe 
verbunden war. Beide glichen einander zum Verwechseln, trugen die gleiche. 
Gewandung und dieselbe Haartracht, waren unzertrennlich und kannten 
keinen lieberen Zeitvertreib als die gemeinsame Jagd. Da starb das Mädchen, 
und nun war es des überlebenden Bruders und Liebhabers einziger Trost, im 
Spiegel des Teiches sich an seinem Bilde zu letzen; denn in ihm sah er zu- 
gleich das lebendige Abbild der geliebten Toten. 

3. Wir kommen zur dritten und letzten der ursprünglichen Fassungen. Sie 
stammt aus der Zeit um Christi Geburt, steht im Sagenbuch von Konon!®? 
und hat folgenden Inhalt: Der durch körperliche Schönheit ausgezeichnete 
Narcissus war von freundschaftheischenden Männern und Jünglingen eifrig 





17) Ilegınynoısjs"EAAedos: Ausgaben und Übersetzungen sind angeführt bei W, Christ, 
Geschichte der griechischen Literatur, 5. Aufl, München ı913, Bd. 2, $, 597. Ebendort ist 
auch ausführlich dargelegt, daß Pausanias die von ihm beschriebenen Gegenden Griechen- 
lands zwar selbst bereist, die geschichtlichen, archäologischen und mythologischen Befunde 

“ aber nicht an Ort und Stelle geschöpft, sondern aus den ihm zu seiner Zeit noch zugäng- 
lichen Handschriften älterer Autoren entnommen hat. 

18) Daß die Völker in einer bestimmten Periode ihrer Entwicklung die eigenen Mythen 

ihrer Frühzeit nicht mehr verstehen, diese Erkenntnis ist längst Gemeingut der Forschung. 
Es soll aber dennoch der Hinweis nicht unterbleiben, daß uns Pausanias mit seinen 
pseudorationalistischen Einwänden ein dokumentarisches Beispiel dafür liefert, 
19) Kövwvos dınynosıs. Ausgabe bei U. Höfer, Konon, Text und Quellenunter- 
suchung, Greifswald 1890. Der Text allein auch in Mv36ygawor, scriptores poeticae histo- 
riae Graeci, edidit A. Westermann, Braunschweig 1843, $. 134. Konon lebte in der 
2. Hälfte des 1. Jahrhunderts vor Christus oder etwas später, jedenfalls zwischen den Jahren 
36 v. Chr. und 17 n. Chr. 





















































































































































290 Ludwig Pfandl 





umworben, indes er verschmähte nicht nur alle Bewerber, sondern mißachtete 
auch den Liebesgott. Dem Ameinias aber, der sich durch keine Schroffheit 
und Kälte abweisen ließ, schickte er statt jeder Antwort ein Schwert. In 
seiner Enttäuschung tötete sich der Jüngling vor der Türe des stolzen und 
selbstgefälligen Narcissus. Diesen aber trifft bald darauf die Strafe des belei- 
digten Gottes Eros. Er sieht im klaren Spiegel einer Quelle seine schöne Ge- 
stalt und erleidet das traurige Schicksal, sein eigener Liebhaber und Geliebter 
zu werden. Von Verzweiflung ergriffen ob der unerträglichen Pein dieses 
Zustandes und seine Strafe für eine gerechte erkennend, begeht er Selbstmord 
am Rande der Quelle. Seitdem haben die Thespier beschlossen, den Liebesgott 
noch mehr zu verehren; auch glauben sie, daß die Blume Narzisse zuerst da 
aus der Erde entsprossen sei, wo diese das Blut des unseligen Jünglings ge- 
trunken habe. 

Wir brauchen uns nicht weiter damit aufzuhalten, daß spätere Berichte, 
die alle auf Pausanias oder Konon oder gar nur auf die Dichtung des 
Ovid zurückgreifen, einen Flußgott Kephissos und eine Quellnymphe Leirioessa 
oder auch Leiriope als Elternpaar des Narcissus hinzuerfinden, daß sie ferner 
den Jüngling nicht, wie es bei Pausanias und Konon geschieht, am Rande 
der Quelle dahinsterben, sondern im Wasser ertrinken lassen, oder daß end- 
lich zwei von ihnen (Choricius und Servius) von einem unmittelbaren Ge- 
staltwandel des Opfers wissen, also von einer Verzauberung in die nach ihm 
benannte Blume. Wir können darum ohne weitere Verzögerung zur psycho- 
logischen Gruppierung und Ausdeutung unserer alten Quellenberichte schrei- 
ten. Dabei wird es gut sein, sich einige allgemeine Voraussetzungen zu ver- 
gegenwärtigen. 

Es gibt nur zwei Arten von Mythen, entsprechend der großen Zweiheit: 
Mensch und Welt um ihn. Die einen sind die psychischen Mythen. Mit ihnen 
bestrebt sich der Mensch, sein eigenes Inneres zu durchleuchten, seine seelische 
Struktur zu erkennen. Die anderen sind die Naturmythen, in sich schließend 
die Zeugungs-, Schöpfungs- und Wiedergeburtsmythen. In ihnen sucht der 
Mensch die Rätsel und Zusammenhänge der Dinge außer ihm zu erklären. 
Alles was sonst sich als Mythos ausgibt oder fälschlich dafür gehalten wird, 
ist nicht Mythos, sondern Sage. Der Mythos ist Bild und Gleichnis, ist Deu- 
tung und Bewältigung dessen, was der Mensch auf einer bestimmten Entwick- 
lungsstufe mit dem Logos noch nicht zu erfassen und zu durchdringen ver- 
mag. Der Mythos ist dem Drang nach Wissen dienstbar, die Sage ist, an ihm 
gemessen, nur eine archaische Form der Befriedigung des Unterhaltungs- 
bedürfnisses. Bei den folgenden Ausführungen haben wir insonderheit den 
psychischen Mythos im Auge, also jenen engeren Bezirk, dem auch Narcissus 
zugehört. 











Der Narzißbegriff 291 








Mythen, Märchen und Träume sind alle drei die leichtbeschwingten Kinder 
der menschlichen Phantasie. Die ersten beiden stammen aus der Kollektiv- 
phantasie ganzer Völker, die letzteren aus der Individualphantasie des einzel- 
nen Menschen. Gemeinsam ist ihnen allen dreien die enge Bindung an das 
Unbewußte, ihre starke Beziehung zur Sexualität und schließlich das Bestre- 
ben, einen inneren Konflikt des Individuums oder des Volks (das hier gleich- 
sam als Vertreter der Menschheit fungiert) in symbolisch verdeckter Ein- 
kleidung einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Mythos, Märchen und 
Traum haben darum neben dem manifesten auch einen latenten Sinn. Wie ein 
in Abständen sich wiederholender Trompetenstoß ertönt aus ihnen der 
delphische Ruf: Ivo oavrov! Sie sind gleichsam das Gewissen des zum 
Verstehen und Deuten des Unbewußten reif gewordenen Volkes. Zwei Bei- 
spiele aus dem Gebiete der Inzestmythen: Tiresias, ein Sohn der Nymphe 
Chariklo, wird von Athene mit Blindheit geschlagen, weil er sie überrascht 
hat, als sie zusammen mit seiner Mutter im Bade war. Zur Milderung der 
harten Strafe schenkt ihm die gütige Göttin die innere Gabe des Voraus- 
sehens der Zukunft; der Verlust an Gütern des Bewußtseins-wird durch Be- 
reicherung des Unbewußten ausgeglichen. Die Nymphen als. lebenspendende 
Quellgottheiten sind Urbilder des fruchttragenden Weibes, sind Repräsentan- 
tinnen der Mutterschaft. Athene ist hier eine Doppelung der Mater-Imago. 
Sie übt die Zaubergewalt, deren die einfache Quellnymphe nicht mächtig ge- 
wesen wäre. Sie vertritt die Mutter in ihrer zweifachen Eigenschaft als ge- 
rechte Straferin und als liebende Trösterin. Sie blendet den Frevler (womit sie 
gleichzeitig die leibliche Mutter von einer Grausamkeit entlastet, die als un- 
natürlich wäre empfunden worden) und kompensiert daneben die Strafe durch 
eine versöhnende Gabe. Der Jäger Aktäon wird von Artemis in einen Hirsch 
verwandelt und von den eigenen Hunden zerrissen; er hat die Kühnheit be- 
gangen, die Göttin im Bade zu beschleichen. Hier ist Artemis eine Mater- 
Imago, gleichsam die Mutter aller Jäger.” Alle diese Mythen aber stehen im 
Dienste der Inzestabwehr. Das Belauschen der Mütter im Zustande der Nackt- 
heit ist das Decksymbol für die auf sie gerichteten libidinösen Triebe und Be- 
gierden. Der bildmäßigen Hüllen entkleidet, besagen die Schicksale des Tiresias 
und des Aktäon nichts anderes als dieses: Furchtbare Strafe der Götter trifft 
jeden, der es wagt, der Mutter mit Inzestwünschen zu nahen. Mythos und 
Märchen im besonderen sind, solange ein Volk ihrer Pflege huldigt, stets in 
lebendigem Flusse; sie werden von den nacheinander kommenden Generatio- 
nen den jeweiligen religiösen, kulturellen, ethischen, moralischen Begriffen 
und Auffassungen angeglichen. Daher die so häufigen sekundären Bearbeitun- 





20) Über den auf Zeugung und Mutterschaft bezüglichen Artemis-Kult vergleiche man 
L. R, Farnell, The Cults of the Greek States, Oxford 1896, II, 444, 456. 

















































































































































































































































































































292 Ludwig Pfandl 





gen, die, unter anderen Vorbedingungen, auch dem Traum zu eigen sind. Der 
Mythos entsteht, sobald ein latenter Konflikt, ein rätselhaftes inneres Erlebnis, 
ein seelischer Knoten sich an die Oberfläche des Kollektivbewußtseins drängt, 
hier Deutung und Lösung, Befreiung und Entbindung heischend. Nicht immer 
braucht seine erzählerische Einkleidung ersonnen zu werden. Oft liegt eine 
viel ältere Ursage bereit, bei deren Bildung das Volk gar keinen Anlaß zu 
einer eigentlich mythischen Gestaltung, also keinen Antrieb aus den Tiefen 
des Unbewußten empfunden hatte, in deren einfachen Rahmen aber der 
Mythos sich mit neuer Sinngebung und Symbolik mühelos einfügt.”! Immer 
aber gilt im Einzelnen wie im Gesamten der Erfahrungsgrundsatz, daß die 
Mythenschöpfung nach jenen Gesetzen des unbewußten Seelenlebens vor sich 
geht, denen auch das Traumgetriebe und das neurotische Erlebnis unterworfen 
sind. Laßt uns nun diese Kriterien auch auf Narcissus, den „phantastischen 
Mythos“, wie ihn Erwin Rohde genannt hat,?? zur Anwendung bringen. 
Wer den griechischen Bericht bei Pausanias aufmerksam liest, der wird 
alsbald eines gewichtigten Unterschiedes zwischen ihm und Konon gewahr. 
Während es in der Fassung von Konon heißt, Narziß habe seinen Anblick und 
seine Gestalt gesehen und sich darein verliebt,?? sagt Pausanias, der Jüngling 
habe seinen Schatten erblickt. Hierin verrät sich die deutliche Spur der dem 
späteren Mythos zugrunde liegenden Ursage. Sie weist in die Zeiten echt 
archaischen Denkens zurück und brauchte darum dem Pausanias ebenso wie 
seinem uns unbekannten Gewährsmann längst nicht mehr geläufig oder auch 
nur verständlich zu sein. Der eigene Schatten war für den primitiven Men- 
schen das natürlichste Abbild seines Wesens und wohl auch das früheste; 
denn den Schatten hatte er neben sich, lange bevor er sein Bild im Spiegel sah. 
Das magische Band, das Körper und Schatten verknüpfte, war bald gefunden: 
Nur den Lebenden, den aufrecht Gehenden, begleitete er; der Toote hingegen, 
der Liegende, entbehrte seiner. Der Schatten war also nichts anderes als Leben 
und Seele. Die Patagonier und die Azteken halten den Schatten für die 
Seele.?° Die Arowaken haben für die Begriffe Schatten, Seele, Bild nur das 
einzige Wort ueja, die Jabim für das gleiche nur die Benennung katu. Die 
Basutos hüten sich davor, daß ihr Schatten auf einen Fluß falle, sonst könnte 





21) Unter einem anderen Vergleichsbilde hat K. Reinhardt (Platons Mythen, Bonn 
1927, S. 32) denselben Gedanken also formuliert: „Die Anfänge auch der Mythen wachsen 
vielerorten wie die Keime, die man nicht erkennt, es sei denn aus den ausgewachsenen 
Pflanzen.“ 

22) Der griechische Roman und seine Vorläufer, 3. Auflage, Leipzig 1914, S. 133. 

23) ziv Or xal nv uoopNr. 

24) oxıdv Tv Euvtov. i 

25) Die Einzelbelege für dieses und das folgende in Zeitschrift für Völkerpsychologie, 
Bd. 13 (1889), S. 346; Archiv für Religionswissenschaft, Bd, 5 (1902), S. 12; J. G. Frazer, 
The Golden Bough, Bd. 3 (191r), $. 78 und 92. 














D. E 


Der Narzißbegriff 293 





ein Krokodil den seriti (das Wort bedeutet wiederum Schatten und Seele) 
packen und an sich reißen. Jeder plötzliche und unerklärliche Todesfall wird 
einem solchen Schattenraub zugeschrieben. Die Baganda in Zentralafrika glau- 
ben, ihren Feinden erheblichen Nachteil an Leib und Leben zuzufügen, wenn 
sie deren Schatten mit dem Speer durchbohren oder auf ihn treten. Bei ge- 
wissen Kaffernstämmen endlich herrscht die Überzeugung, daß eines kranken 
Mannes Schatten immer schwächer werde, je mehr er sich selbst dem Tode 
nähere. Mensch und Tier, Stein und Baum, jedes Wesen und Ding hat seinen 
Schatten; das ist klar, denn für das primitive Empfinden gibt es nichts, das 
nicht beseelt wäre. Da gelten im wörtlichen Sinne die tiefgründigen Verse 
von Max Dauthendey: 


Alle Dinge können sehen. 

Sag nicht, daß sie blind dastehen! 
Sag nicht, daß sie dunkel gehen! 
Häuser, Bäume, Wege, Wind, 
Stühle, Tische, Bett und Spind, 
Alle Dinge sehend sind. 


Seinen eigenen Schatten getrennt von sich, also im Wasserspiegel, zu er- 
blicken, bedeutet bei vielen Völkern soviel wie bevorstehendes Sterben. Der 
Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ist leicht ersichtlich: Durch 
die Trennung ist die Einheitlichkeit von Seele und Körper zerstört und der 
letztere dem Tode verfallen. Auch mochte auf noch primitiverer Stufe diese 
Erkenntnis von der Anschauung überlagert sein, daß der Wasserdämon den 
Schatten an sich reißen würde, ähnlich wie heute noch das Krokodil bei den 
Basutos. Auf Saddle Island in Melanesien gibt es einen Teich, oder vielmehr 
eine teichartige Erweiterung in einem Fluß, in die man nur hineinzusehen 
braucht, um des unvermeidlichen Todes sicher zu sein.26 Bei bestimmten afri- 
kanischen Stämmen gilt das Verbot ohne Einschränkung für jeden Wasser- 
spiegel, und sie geben uns zugleich eine wundervolle Erklärung des psychi- 
schen Sachverhaltes.?” Den indischen Brahmanen war es nach dem Gesetz des 
Manu untersagt, ihr Gesicht im Wasser zu betrachten.?® Die alten Griechen 
warnte zwar kein geschriebenes Gesetz vor der gleichen Übertretung, wohl 
aber ein festgewurzelter Aberglaube, der genau der gleichen Anschauung 
dienstbar war; ja bei ihnen genügte es schon, daß einer vom Schatten oder 





26) R. H. Codrington, The Melanesians, Oxford 1891, S. 186. 

27) It is said, there is a beast in the water which can seize the shadow of a man. When 
he looks into the water, it takes his shadow. The man no longer wishes to turn back, but 
has a great wish to enter the pool. It seems to him that there is no death in the water; 
it is as if he was going to real happiness, where there is no harm; and he dies through going 
into the pool, being eaten by the beast. C,Callaway, Nursery Tales, Traditions and Histo- 
ties of the Zulus, Natal 1868, Bd. 1, S. 342. 

28) Laws of Manu, translated by G. Bühler, Oxford 1886, Bd. 4, S. 38. 


Imago XXI/3 





20 




































































































































































294 Ludwig Pfandl 








Abbild im Wasserspiegel auch nur träumte, um des bevorstehenden Todes 
sicher zu sein.?? Die Narziß-Ursage ist demnach zwar noch lange kein Mythos, 
wohl aber das in erzählender Form dargebotene Exempel eines mit der primi- 
tiven Seelenkunde und Seelenauffassung verbundenen Aberglaubens. Der Be- 
griff „Aberglaube“ will hier richtig verstanden sein. Jeder Aberglaube ist ein- 
mal ein echter Glaube gewesen. Erst wenn eine Erkenntnis ihn verdrängt hat, 
ist er zum Aberglauben herabgesunken. In unserem Falle besagt also der da- 
mals noch echte Glaube: Wenn du deinen Schatten im Wasserspiegel be- 
schaust, dann mußt du sterben. Das Exempel erzählt: Narziß mißachtete 
dieses Verbot und starb. Man wagt, der Zulu-Weisheit eingedenk, die heim- 
liche Ergänzung: Es schien ihm, als ob hier die Pforte zum Garten Eden wäre, 
als ob er nur durch den Wasserspiegel hindurch bräuchte, um dann ledig alles 
Harms und aller Erdenschwere in den Gefilden der Seligen'zu ewigem Glücke 
neu zu erwachen. 


Wann sich die Ursage in den Mythos gewandelt hat, das läßt sich natür- 
lich durch kein geschriebenes oder in Stein gemeißeltes Dokument erweisen; 
nicht umsonst sind schon Jahrtausende darüber verflossen. Aber die logische 
Überlegung zwingt zu der Annahme, daß es in einem Zeitraum der geistigen 
und seelischen Entwicklung des Griechenvolkes geschehen sein muß, wo dieses 
reif geworden war zu jener „tiefsinnigen Erkenntnis von häufigen psycholo- 
gischen Eigentümlichkeiten des Menschen“, die neuerdings der von uns ein- 
gangs erwähnte Otto Kiefer am Narzißmythos festgestellt hat, reif genug 
also, um psychische Konflikte von der Art des Narzißmus als solche zu emp- 
finden und sich mit ihnen auf dem ihm vertrauten Weg des Mythos in 
klärender und befreiender Weise seelisch zu konfrontieren. Pausanias hat 
uns nicht nur die Ursage, sondern, mit ihr in einen einzigen Kurzbericht ver- 
knotet, auch die Hauptzüge des Mythos überliefert. Er ist mit Redensarten 
sparsam und darum im Ausdruck genau. Seine stilistische Knappheit belädt 
auch hier jedes Wort mit doppeltem Gewicht, und es müßte eine schlechte 
Interpretation sein, die dieses Umstandes nicht sorgsam achten würde. Wir 
übersetzen wörtlich aus dem griechischen Original: ...Narkissos soll sich in 
diesem Wasser beschaut haben. Da er aber nicht gemerkt (00 ovv&vra), daß er seinen 
eigenen Schatten sah, habe er sich unversehens (AaJeiv) in sich selbst verliebt, und vor 
Liebe sei er am Rande dieser Quelle gestorben. Hier schieben sich drei selb- 
ständige Gedankenzüge zu einem logischen Gefüge von besonderer Eigenart 
zusammen. Fürs erste: Der Jüngling entbrennt in Liebe zu sich selbst. Fürs 
zweite: Dieser Triebvorstoß ist zunächst sowohl seiner Richtung als auch seiner 





29) Fragmenta philosophorum graecorum, ed. F. G. A. Mullach, Bd. ı, S. 5ıo, wo 
Pythagoras das Wort hat; Artemidorus, Oneirocritica II, 7; Preller, Griechische Mytholo- 
gie, Berlin 1872, Bd. 1, S. 598. 











Der Narzißbegriff 295 











































Stärke nach ein unbewußter. Fürs dritte: Der Auswirkung dieses Triebes 
fällt nichts Geringeres zum Opfer als das Leben. Hier sind Verwicklungen 
und geheime Zusammenhänge. Hier überschattet der manifeste Inhalt einen 
Jatenten Sinn. Hier sind wir mit einem Schritt aus dem hellen Bezirk der 
Ursage in den dämmerigen Hain des Mythos eingetreten. Jetzt ist es auch 
Zeit, die trockene Dürre des Pausanias mit Hilfe der schönen Künste seines 
Volkes aufzufrischen und zu blühendem Leben zu erwecken. Die antike 
Malerei und Plastik hat nämlich nirgendwo die einfache und einfältige Ur- 
sage darzustellen sich bemüht, aber sie ist mit besonderer Vorliebe zum Inhalt 
des Mythos in künstlerische Beziehungen getreten.3° 

Die uns erhaltenen Denkmäler bestehen aus Wandgemälden, Gemmen, 
Reliefbildern und Statuen.?! Überall ist Narcissus ein dem Knabenalter ent- 
wachsener, bartloser, reichgelockter Jüngling von griechischer Edelgestalt. 
Nicht selten drückt sich auch Traurigkeit und tiefer Liebesgram in seinem 
Antlitz aus. Diese Schwermut charakterisiert insbesondere ohne Ausnahme 
die vorhandenen Statuen, wobei freilich die kleine Einschränkung gilt, daß die 
Archäologen nicht in allen Fällen darüber einig sind, ob es sich um einen 
Narcissus oder um eine andere Ephebengestalt der antiken Sagenwelt handelt. 
Auf den Wandgemälden ist der Jüngling häufig von einem Eros begleitet. 
Der kleine Liebesgott schaut entweder mit traurigem Gesicht in das Wasser, 
oder er löscht eine umgekehrte Leuchte aus; er symbolisiert den Wandel der 
Liebesfackel in die Todesfackel. Auch die Blume Narzisse läßt hier und dort, 
wenn schon nur in vereinzelten Fällen, ihr melancholisches Köpfchen hängen. 
Daß Narcissus auch sonst als eines der Urbilder männlicher Jugendschönheit 
galt, ersieht man auch einer Stelle bei Oppianos.?? Nach ihm pflegten die 
Spartaner ihren schwangeren Frauen gern Bilder des Narcissus und anderer 
Jünglinge seiner Art vor Augen zu bringen, weil sie dadurch schöne Söhne 
zu erzielen hofften. Damit füllt und rundet sich nun, ohne daß wir die kargen 
Angaben des Pausanias gewaltsam zu dehnen und zu deuten brauchten, der 
Mythos zu plastischer Lebensnähe. Er besagt, wenn wir es mit aller Kürze 
noch einmal präzisieren, dieses: Narcissus, der schönste aller Epheben, wird 
seines Abbildes im Wasserspiegel gewahr und entbrennt in Liebe zu sich selbst; 











30) Sofern sie dabei die Nymphe Echo miteinbezieht, ist es antike Spätkunst, die aus 
Ovid schöpft und die darum vorwiegend in pompejanischen und ähnlichen Wandmalereien 
in die Erscheinung tritt. Sie kann uns hier, weil sie mit dem Mythos nur durch das Mittel- 
glied späterer Umdichtung zusammenhängt, nicht weiter beschäftigen. 

31) Über Narcissus in der Kunst handeln F. Wieseler, S.7—74, und W.H.Roscher, 
Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. 3, Abt. ı, Sp. 16—.21. Vergleiche 
außerdem E. Pfuhl, Malerei und Zeichnung der Griechen, München 1923, Bd. 2, S. 838 
und Bd, 3, Abbildung 92 und 674, sowie K. A. Neugebauer, Die Bronzestatuette des 
Narkissos von Mechtersheim, Berlin 1927. 

32) Cynegetica I, 357. Das genaue Zitat kann man bei Wieseler, S. 8, nachlesen. 


20* 








296 Ludwig Pfandl 





[PN unbewußt, das heißt ohne zu wissen, wie und warum es geschehen muß, und 
ohne sich helfen zu können. Am Konflikt zwischen Wunsch und Erfüllung, 
zwischen Trieb und Befriedigung, geht er, von seiner sexuellen Not aufge- 
| zehrt, zugrunde. An seiner Statt entsprießt der Erde die an Gestalt und Duft 
Hl | gleich liebliche Blume Narzisse. 
| Nun gilt es, den Leser davon zu überzeugen, daß dieser Mythos — genau, 
wie der Odipusmythos nur ein Ringen mit dem uralten Konflikte des Vater- 
N hasses und des Mutterinzestes darstellt — nichts anderes ist, als eine bildmäßig 
| verkleidete Auseinandersetzung mit jenen psychischen Reiz- und Erkrankungs- 
| zuständen, die wir heute als Form der Neurose kennen und Narzißmus 
| E benennen. | 
| Das Wesen des Narzißmus haben wir bereits früher mit hinreichender 
Ausführlichkeit klargestellt. Die Frage aber, ob denn den alten Griechen die 
| Existenz derartiger Seelenzustände je ins Bewußtsein kommen, ihnen zu 
| einem Erlebnis an sich selbst oder anderen werden und sie zum Nachdenken 
| darüber anregen konnte, diese Frage beantworten wir mit folgenden Erwä- 
| gungen. Den Bewohnern des alten Hellas war die Liebe in allen Formen und 
Abarten bekannt und vertraut: die edle Gattenliebe, die außereheliche oder 
| freie Liebe, die ehebrecherische Liebe, die Inzestliebe, die Knabenliebe, die 
i lesbische Liebe; die Liebe als rein materialistischer Zeugungsakt und als ihr 
ul Gegenpol die selbstlose asexuelle Liebe der höchsten Opferbereitschaft; da- 
| zwischen liegend dann die somatisch-spiritualistische Hetärenliebe, deren 
ll Objekt die geistvolle und gebildete Hure war; endlich die Liebe mit Tieren, 
sofern sie verwandelte Götter waren, und die magische Liebe, die als gold- 
i flimmernder Regen oder als säuselnder Windhauch ihr Befruchtungswerk und 
| Befriedigungswerk vollzog. Wie dürfte man da im Ernst zu behaupten wagen, 
| es sei ihnen in dieser bunten Fülle des Liebeslebens und bei der wißbegierigen 
Anteilnahme, die sie den Äußerungen dieser Triebe an Menschen und Göttern 
| entgegenbrachten, gerade die narzißtische Abart der Liebe verborgen geblie- 
ben oder der Beachtung nicht wert erschienen? Daß sie ihr schon den Namen 
ll „Neurose“ hätten geben sollen, wird man kaum von ihnen verlangen wollen; 
anderseits aber soll man sich auch nicht mit dem Einwande bloßstellen, so etwas 





wie die narzißtische Liebe habe es damals noch nicht gegeben, das sei eine 
psychopathische Entartung des modernen Menschen und eine Folge der heuti- 
| gen Überkultur. In Wirklichkeit sind natürlich alle Stauungen und Defor- 
I mationen des menschlichen Seelenlebens (genau wie der Krebs oder die Blind- 
| darmentzündung oder die Schwindsucht oder der Altersbrand) so alt wie die 
ältesten Kulturnationen selber, und der Neuzeit haftet nicht der Makel an, 
diese Dinge erfunden oder degenerativ gezüchtet zu haben, wohl aber kommt 
ihr das Verdienst zu, sie in ihren Ursachen und damit in ihrem wahren Wesen 





























Der Narzißbegriff 297 








erkannt zu haben. Zum besseren Verständnis des Gesamtgebietes der griechi- 
schen Erotik und damit auch der Stellung des Narzißmus innerhalb dieses 
Bezirkes wird es sicherlich beitragen, wenn wir uns noch Folgendes vor Augen 
halten. Nennt man die Person, von der die geschlechtliche Anziehung aus- 
geht, das Sexualobjekt, die Handlung aber, nach welcher der Trieb drängt, 
das Sexualziel, so läßt sich an der Hand dieser beiden Begriffe ein wesentlicher 
Unterschied der Liebesauffassung der alten Griechen und jener der europäi- 
schen Kulturvölker der Gegenwart erkennbar machen. Bei den Griechen stand 
das Sexualziel über dem Sexualobjekt, bei uns Heutigen ist es umgekehrt. 
Die Griechen dienten dem Trieb, wie man einer Gottheit dient, und diese 
Trieberhöhung war imstande, auch ein uns minderwertig erscheinendes Ob- 
jekt zu veredeln und dem Empfinden annehmbar zu gestalten. Für uns hin- 
gegen ist das Höhere, Edlere, Erstrebenswertere das Objekt, und nur seine Vor- 
züge legitimieren uns die an sich gering geschätzte und als animalisch abge- 
wertete Triebbetätigung. So besehen, begreift sich um Vieles besser die Weit- 
räumigkeit der griechischen Liebesauffassung und die zwanglose Natürlichkeit, 
mit der sich auch Triebgruppen von der Art der narzißtischen innerhalb ihrer 
Grenzen einordnen ließen. 

Wir setzen also voraus, daß der Narzißmus, wenn auch nicht als Psycho- 
neurose, so doch als Abnormität des Liebeslebens, als sexuelle Not, den alten 
Griechen bekannt sein mußte. Der Mythos nun, mit dem sie diese Erschei- 
nung umkleideten, ist, wie jeder andere seiner Art, eine Auswirkung des kollek- 
tiven Unbewußten; er strebt, Verwicklungen und Nöte zu lösen, die das 
Volk in seiner Gesamtheit angehen, weil eben jeder Beliebige aus seiner Mitte 
in eigener Person oder in der Person eines durch Verwandtschaft oder Gefühls- 
bindung ihm Nahestehenden davon betroffen werden kann. Welches ist nun 
der Weg der versuchten Konfliktlösung? Wie wird der Mythos auch hier seiner 
uralten und ewigen Aufgabe gerecht, die kulturelle Einordnung des Indivi- 
duums in die Stammesgemeinschaft zu spiegeln, zu begleiten, zu fördern? 
Hier ist die Antwort: Der Narzißmus liegt nach den Erfahrungen der neu- 
zeitlichen Psychiatrie jenseits der Grenzen menschlicher Heilkunst, an ihm ist 
nichts mehr zu retten.®® Auch der griechische Mythos hat sein Verdikt „un- 
heilbar“ gefällt, indem er den Tod als Lösung und die Entstehung der duften- 
den Blume als versöhnlichen Trostgedanken wählte. Der Narzißt ist für das 
‚griechische Empfinden ein liebenswertes, jegliches Verständnis verdienendes 
Glied der Volksgemeinschaft; an ihm ist nichts Widerwärtiges, nichts, das Ab- 
Scheu erregen oder ein Gefühl des Ekels hinterlassen würde. Das beweist die 
zarte Schönheit, in die der Mythos getaucht ist; das beweist der Umstand, 





33) Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung, Bd. 5 (1913), 
$. 528, 





298 Ludwig Pfandl 





daß zu seinem Träger ein Ephebe, die höchste Vollendung, die Blüte der 
Spezies Mensch ausersehen wird; das beweist die liebevolle Rechtfertigung des 
unseligen Jünglings, die in der wiederholten Hervorhebung des Unbewußten 
oÖ ovvevra und Aaserv bei Pausanias) zum Ausdruck kommt; das beweist 
endlich auch die Blume, die den Liebreiz und den Duft der Erzählung auch 
über Tod und Grab hinaus rettet. Aber dessenungeachtet ist der Narzißt ein 
nutzloses Glied der Gemeinschaft, das, wie ein verdorrter Ast am frucht- 
tragenden Baum, der Vernichtung anheimfällt, weil es zwar nicht ein beliebi- 
ges Einzelwesen gefährdet, indes gleichwohl infolge der Sinnlosigkeit seines 
Liebeslebens ohne edlen Zweck für die Gemeinschaft bleibt. Die griechische 
Psyche umfängt den Narzißten mit der gleichen verständnisbereiten Anteil- 
nahme wie die Hetäre oder den Anhänger der Knabenliebe, aber sie ver- 
mag keine ideellen Werte, keine Gemeinschaftsförderung, wie etwa bei dem 
letzteren, daraus herzuleiten; sie weiht ihm daher nur ein trauerndes Geden- 
ken unter dem Symbol der zarten Blume. Nach Andr& Jolles kommt der 
Mythos dem geistigen Geschäft von Frage und Antwort innerlich sehr nahe. 
Er ist eine Art Delphisches Orakel in den Wissensnöten der antiken Mensch- 
heit.3® Und in ihren seelischen Nöten, möchten wir hinzufügen. So besehen, 
scheint darum der Narzißmythos vor allem (auch bis in die Gegenwart her- 
ein) die schmerzliche Narcissusfrage zu beantworten: „Warum hassen mich 
so viele unter euch?“ Und wir erinnern uns dabei an die Aussage des Suidas, 
die wir als Leitwort an die Spitze unserer gegenwärtigen Bemühungen ge- 
stellt haben: 720AAoi ve uıorjoovow &v oavrov yuAls. 

| Mythos und Märchen, Traum und Neurose arbeiten als Emanationen des 

Unbewußten mit den gleichen psychischen Mechanismen. Wenn man sagt: 





I 
| 
| 
34) Der von H, Mitlacher (a. a. O.) gegebenen Anregung, die berühmte Bachofen- 
| sche Mutterrechtstheorie zur Erklärung mit heranzuziehen, vermag ich nicht beizustimmen. 
il) Narcissus hat sich in keiner Weise gegen den Mutterrechtsbegriff vergangen oder gar an ihm 
| „gefrevelt“, wie Mitlacher es ausdrückt. Denn von einer Mißachtung des weiblichen, ge- 
bärenden und fortpflanzenden Prinzips ist im eigentlichen Mythos keine Spur. Auch in der 
sekundären Bearbeitung, die bei Konon aufgezeichnet ist, erstreckt sich diese Mißachtung 
nur auf die eingeschlechtliche Freundschaftsliebe. Die ovidianische Fassung endlich ist eine 
||} freie dichterische Neubearbeitung und hat für die Mythendeutung so wenig Gewicht wie 
| | etwa das Narzißdrama des Calderön. Außerdem ist zu betonen, daß sich Narcissus durch- 








| aus nicht mit Orestes, Alkmäon, Herakles, Aktäon, Coriolan auf eine Stufe stellen läßt. 
IN Orestes war ein Muttermörder, Alkmäon desgleichen; Herakles erwürgte den Antaios, den 
ıl * Sohn der Erdmutter Gaia; Aktäon, der Jäger, ist dem Tode verfallen, weil er die mütter- 
liche Göttin Artemis im Bade überrascht hat; Coriolan endlich führt einen fremden Volks- 
stamm gegen seine Mutterstadt Rom zu Felde und wird darob von Attius Tullius getötet; 
er ist überdies kein Held der Sage, sondern eine geschichtliche Persönlichkeit und damit ein 
Hi schlechtes Paradigma für eine Mythendeutung. Bachofen selbst hat nirgends auf Narcissus 
Il Bezug genommen; er hat ihn also offenbar auch nicht in dem von Mitlacher angeregten 
Sinne aufgefaßt, 

IN 35) Einfache Formen, Halle 1929, S. 97/98. 


























































































































Der Narzißbegriff 299 


x 








Symbolisierung, Aktivierung, Verdichtung, Verlegung, Sublimierung, so hat 
man die wichtigsten dieser Begriffe mit ziemlicher Vollständigkeit beisammen. 
Ein eisernes Schema für ihren Nachweis im Einzelfall gibt es natürlich nicht. 
Das ist bei der unbegrenzten Weitschichtigkeit der genannten Bezirke, bei 
der kaum faßbaren Variationsfähigkeit der ihnen zugehörigen seelischen Vor- 
gänge ein Ding der Unmöglichkeit. Aber die Grundlinien bleiben im großen 
und ganzen die gleichen. Wie steht es nun damit bei unserem Narzißmythos? 
Er leistet zunächst einmal, hierin von den anderen seiner Art sich kaum 
unterscheidend, die Arbeit der Aktivierung, das heißt des Umsetzens der psy- 
chischen Zustände in eine einmalige, erzählerisch darstellbare Handlung. Er 
webt gleichsam aus den bunten Fäden des seelischen Materials einen bildmäßig 
schaubaren Teppich. Man dürfte es zur Not auch so formulieren: Er dramati- 
siert die Vorgänge des Unbewußten, indem er sie an Erlebnisse und Handlun- 
gen bestimmter Personen bindet. Man könnte es endlich auch psychiatrisch 
ausdrücken und sagen, es sei das etwa die beispielhafte Konstruierung eines 
Neurosefalles. Das Ergebnis dieser Tätigkeit aber, wie immer man sie auch 
vergleichsartig umschreiben mag,?® ist nichts anderes als der schlichte narrative 
Verlauf des Mythenberichtes, den wir hier nicht zu wiederholen brauchen. 
Ein weiterer Mechanismus, den unser Mythos mit Erfolg handhabt, ist die 
Symbolisierung. Was heißt das? Symbol ist Deckbild. An ihm haftet etwas 
vom Gegensinn der Urworte, die zuweilen Ja und Nein, Weiß und Schwarz, 
Leben und Tod in einem bedeuten. Das Symbol kann — nennen wir es in 
diesem Sinne negativ — der Verkleidung, Verhüllung, Verheimlichung die- 
nen, wie fast stets im Traum und sehr oft im Märchen, das ja unendlich viel 
‚mehr Anstößiges zu verdecken hat, als der harmlose Leser gewöhnlich ahnt.?? 
Es kann aber auch — hier dürfen wir es dann positiv heißen — die Verständ- 
lichmachung, das leichtere Erfassen, die Verdeutlichung zum Ziele haben. 
Nach beiden Richtungen hin verwendet es der Mythos. Für Belege negativen 
Sinnes braucht man sich nur an Prometheus den Feuerbringer zu erinnern,3® 
für Proben positiver Richtung aber dient gerade unser Narcissus als anschau- 
liches Beispiel. Rein psychische Zustände und Verwicklungen in symboli- 
scher Bildform darzubieten, ergab eine Schwierigkeit, die nicht unterschätzt 
werden darf. Da bot sich nun für die Gestaltung des Mythos ein erwünschtes 





36) Hören wir, wie A. Jolles sich die Sache vorstellt: „Die Sprachgebärde der Mythe.., 
ist wie ein Nadelöhr. Alles, worauf sich die Geistesbeschäftigung des Wissens richtet, alles, 
was in der Welt stetig und vielfach ist, wird in der Form Mythe durch die Sprachgebärde 
zusammengerissen, zusammengepreßt, durch das einmalige Geschehen hindurchgezogen und 
empfängt in diesem Geschehen die Deutung seiner Vielheit und Stetigkeit“ (a. a. O,, S. ı15). 

37) Man vergleiche hierüber F, Ricklin, Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen, 
Wien 1908, 

38) A. Kuhn, Mythologische Studien, Gütersloh 1886—ı9gı2. Bd. ı: Die Herabkunft des 
Feuers und des Göttertrankes, 





FENET REEL TEE IT. 


2er 










































































30 Ludwig. Pfandl 





Vorbild und ein glänzender Rahmen in der bereits vorhandenen Ursage. Die 
verpönte, den Tod nach sich ziehende Schattenbeschauung im Wasser ließ 
sich wie kaum ein anderes Motiv dazu verwenden, die unbewußte Wandlung 
im Seelenleben des unglücklichen Jünglings bildhaft sichtbar zu machen. 
Selbstbespiegelung und Selbstliebe sind zwei sich völlig deckende Begriffe, 
Die Königin im Märchen frägt das Spiegelein, Spiegelein an der Wand nach der 
schönsten Frau im ganzen Land aus dem sicheren Bewußtsein heraus, daß sie es 
selber ist. Der von uns früher erwähnte Neurotiker und Narzißt Loquens 
besieht sich schwärmerisch, lächelt sich an und küßt sich selbst, alles im Spie- 
gel. Nichts konnte darum natürlicher, eingängiger und auch psychologisch 
folgerichtiger sein, als das autoerotische Erlebnis des Narcissus in Form einer 
Spiegelschau zu symbolisieren.3® Es legt aber auch den Gedanken nahe, daß 
die Entstehung des Narzißmythos durch die um vieles ältere und primitivere 
Ursage unmittelbar angeregt worden sein könnte. Freilich muß diese An- 
nahme, weil es schwer fällt, sie schlüssig zu beweisen, zunächst auf der Unter- 
stufe der bloßen Vermutung liegen bleiben. 

Neben der Spiegelschau enthält unser Mythos noch ein zweites Symbol, 
und das ist die Blume. Durch sie wird unversehens eine neue, tiefere Schicht 
des Mythos bloßgelegt: die Idee der Wiedergeburt, die in echt antiker sereni- 
tas dem tragischen Narzißkonflikt einen friedlichen, tröstlichen, erhebenden 
Ausklang gibt. Eine uralte Überzeugung des Menschengeschlechtes sagt ihm, 
daß jedes Leben dem Tod geweiht ist, daß jeder Tod neues Leben gebiert. 
Rückkehr in den Mutterleib verbürgt Wiedergeburt und damit Unsterblich- 
keit. Im Altnordischen heißt „sterben“ soviel wie „in den Schoß der Mutter 
zurückfallen“.* Die Sonnenmythen aller Völker sind nichts anderes als Wie- 
dergeburtsträume. Der arme Lazarus geht ein in den Schoß Abrahams, der 
tote Jesus wird in den Schoß der schmerzhaften Mutter gebettet, die christ- 
liche Kirche übergibt ihre Gestorbenen der Mutter Erde, und ihnen allen, 
dem Dulder Lazarus, dem Helden Jesus und dem ärmsten Christenknechtlein 
erblüht aus dieser Rückkehr zur Mutter die dereinstige Neugeburt und Auf- 
erstehung. Denn in diesem Schoße schlummern süße Heimatgefühle und die 
unendlichen Hoffnungen alles Werdenden. Auch aus der Vereinigung des 
Narcissus mit der Mutter Erde entsteht neues Leben. Die Blume ist hier das 
Symbol des durch den Tod vermittelten Übergangs zu einem neuen, an 





39) Der Archäologe F. G. Welcker hat das schon vor einigen 75 Jahren richtig er- 
kannt, wenn er sagte: „Die Eingenommenheit von sich selbst, die den Schönen und Stolzen 
zu der harten Unempfindlichkeit verleitet, ist auf das lieblichste versinnbildlicht durch das 
Selbstbespiegeln, wozu die klare Quelle dienen muß, da der Ländlichkeit andere Spiegel nicht 
zukommen.“ Alte Denkmäler, Bd. 4, Göttingen 1861, S. 166. 

40) i moduroeit falla. Siehe. Jakob Grimm, Deutsche Mythologie, 4. Aufl., Berlin 1875, 
Bd. ı, $. 534. 





Der Narzißbegriff 301 












































Schönheit reicheren, an Leid und Entsagung ärmeren Dasein. Der Traum 
von der Wiedergeburt bereichert sich sogar um die Idee der sieghaften Über- 
windung von Tod und Dunkel durch Licht, Farbe, Duft und Leben. Die 
Blume fügt sich auch in organischer Hinsicht sinnreich in das Milieu des 
Narcissus-Erlebnisses ein; denn die Sümpfe und sumpfigen Niederungen, wo 
alles Pflanzliche am üppigsten gedeiht, sowie das feuchte, poseidonische Ele- 
ment überhaupt, gelten als der Sitz der ewig zeugenden und gebärenden 
Kraft.*! Jetzt wird es uns auch klar, warum es im Berichte des Pausanias 
heißt, daß die Narcissusquelle in einer Flur lag, die man Donakon (Schilf- 
bett) nannte. 


Ein weiterer von den psychischen Mechanismen, die unser Mythos in An- 
wendung bringt, sich dadurch wiederum eng verwandt mit Traum, Märchen 
und Neurose erweisend, ist die Verdichtung. Im Schicksal dieses Jünglings 
gibt es keine Anzeichen einer mählichen Veränderung der kranken Psyche, 
kein progressives Handeln, keine langsame Entwicklung; alles wird in ein einzi- 

ges einmaliges Erlebnis zusammengepreßt: Narcissus entbrennt und vergeht in 
_ Liebe zu sich selbst. Hier zeigt es sich klar, daß der Mythos kein Roman ist, 
sondern ein Symbol; raumfigürlich gedacht: keine Linie, sondern ein Ball. 
Eben weil er diese Verdichtung nicht erkannte und auch sonst den latenten 
Sinn des Mythos nicht zu erfassen vermochte, darum glaubte der alte Fabulie- 
rer Ovid, ihn um das triviale Motiv der verliebten Nymphe Echo erweitern 
zu müssen.“* Nichts anderes als Verdichtung ist auch die prachtvolle Art, wie 
der Mythos die Isolierung des ganz auf sich selbst gestellten, völlig introver- 
tierten Psychopathen versinnbildet. Da gibt es keinen Tröster, keinen Rat- 
geber, weder Freund noch Feind, nicht einmal einen Zuschauer; alles, Trieb, 
Leid, Kampf und Tod, macht der bis zum äußersten Vereinsamte mit sich 
allein ab. Darum nannte man auch, wie Strabon berichtet,“ das ihm in der 
Nähe von Oropos errichtete Epitaphium das Denkmal „des Schweigenden“. 
Darum auch ist dieser Mythos so vieler geheimer Reize voll. Darum auch hat 
ihn Erwin Rohde mit Recht „den phantastischen“ genannt. Die ihm inne- 
wohnende emotionelle Färbung, der leise Hauch von Verzicht und Trauer, 
der über allem liegt, die gedämpfte abendliche Stimmung, in der sich die 
Todesahnung mit der gelassenen Ergebung in das Schicksal verbindet, hat 





41) J. Bachofen, Mutterrecht, Stuttgart 1861, S. 423, 

42) Daß diese Dame Echo eine Erfindung Ovids ist, darüber sind die klassischen Philo- 
logen einig. Man vergleiche etwa G. H. Lenz, Anmerkungen zu Ovids Metamorphosen, 
Braunschweig 1792, Bd. 1, S. 214; U. Höfer, Konon, Greifswald 1890, S. 92; O. Gruppe, 
Griechische Mythologie und Religionsgeschichte, München 1902, Bd. 2, $. 1027, Anm. 6; 
Langenscheidtsche ‚Bibliothek griechischer und römischer Klassiker, Bd. 69, Berlin 1930, 
S. 89, Anmerkung. 

43) Rerum geographicarum libri XVII, graeca et latine, Paris 1620, S. 404. 






























































































































































Te — — 
302 . Ludwig Pfandl 





dann zweifellos auch das spätere Abgleiten des Mythos in die Gräbersym- 
bolik veranlaßt. Särge und Leichensteine wurden (nach Wieseler, S. 8) zu- 
weilen mit dem Bilde des betrübt nach abwärts blickenden Narcissus ge- 
schmückt, und die Narzisse galt, weil ihr Duft an Betäubung und Lethargie 
gemahnte, als die Blume der Unterwelt und des Todes. 


4. Die sekundären Bearbeitungen 


Wir sprachen an einer früheren Stelle von einer Generationsschichtung in 
den Mythen und sagten, die Mythenbildung sei stets im Fluß, weil sie von 
den sich folgenden Geschlechtern den jeweiligen Bedürfnissen der Verdrän- 
gung angeglichen werde. Die äußere Form dieses inneren Prozesses sind die 
sekundären Bearbeitungen. Im psychischen Konflikt des Narcissus blieben uns 
deren zwei in mehr oder weniger deutlicher Formulierung erhalten. Die eine 
davon, oder wenigstens deren zertrümmerten Torso, hat uns Pausanias ge- 
rettet; die andere, diese in nahezu unbeschädigter Frische, verdanken wir 
Konon. Pausanias berichtet von des Jünglings Zwillingsschwester, der die- 
ser in innigster Liebe zugetan war, und über deren Tod er sich durch den 
Anblick seines eigenen Bildes im Wasserspiegel, das ihrige sich vortäuschend, 
zu trösten versucht. Sogar in der nüchternen Fassung des kurzen und trocke- 
nen, voll rationalistischer Wenn und Aber steckenden Pausanias läßt diese 
verstümmelte Form des Mythos keinen Zweifel darüber, daß diese Zwillings- 
schwester nichts anderes darstellt, als eine Doppelung der Narcissusgestalt sel- 
ber. In dieser Narcissa (so nennen wir sie auf gut Glück) liebt er nur sein 
eigenes Ebenbild, dessen ans Wunderbare grenzende natürliche Ähnlichkeit 
mit ihm von den beiden Geschwistern auch noch künstlich verstärkt wird 
durch völlig gleiche Haartracht und Kleidung, Lebenshaltung und Lieblings- 
beschäftigung. An eine blutschänderische Liebe und damit an eine Inzestsage 
zu denken, dazu ist weder Anlaß noch Berechtigung. Aber daran dürfte nicht 
zu mängeln und zu deuteln sein, daß wir hier eine auf die Doppelgänger-Idee 
verschobene Bearbeitung des ursprünglichen Mythos vor uns haben. 

Der Doppelgänger, gewiß eine der geheimnisvollsten und gruseligsten Fi- 
guren aus dem Panoptikum des Unbewußten, ist ursprünglich eine Form und 
eine Auswirkung des uralten Glaubens an die Schattenseele. Schon die nordi- 
sche Sage kennt den Begriff der fylgja. Das ist die „Folgerin“, die Seele des 
Menschen, die sich ihrem Träger sichtbar machen kann und dieses häufig vor 
bedeutsamen Ereignissen, namentlich vor dem Tode, zu tun pflegt; sie er- 
scheint ihm dann in der eigenen Gestalt als treues Abbild seiner selbst.** Auch 
die alten Agypter haben die Schattenseele, die sie Ka nannten, zu etwas vom 
Leibe beliebig Trennbarem, zu einem Doppelgänger erhoben, der nicht nur 








44) W. Golther, Handbuch der germanischen Mythologie, Leipzig 1895, S. 98. 








11° TTS FETT ge en m nn mn go Bon Each 1300 om ENT Te sg me one m Terme msi een open" no gt 
% Der Narzißbegriff 303 








eine abgespaltene, zweite Persönlichkeit bildete, sondern auch aller mensch- 
lichen Gebrechlichkeit, dem Hunger und Durst, der Hitze und Kälte, dem 
Schmerz und der Krankheit ausgeliefert war. Zahllos sind die Beispiele der 
neueren Dichtung, in denen das Doppelgänger-Motiv, sei es als ein vom Ich los- 
gelöstes und selbständig gewordenes Ebenbild, sei es in der Form eines Teufels- 
paktes (Seelenverschreibung durch Überlassung des Schattens oder des Spiegel- 
bildes), sei es durch nicht bewußte Zwillingsbrüderschaft, sei es durch zwei ver- 
schiedene, aus Amnesie gespaltene Existenzen ein und desselben Menschen, zur 
Darstellung gelangt. Chamisso, Hoffmann, Heine, Raimund, Jean Paul, 
Ewers, Musset, Maupassant, Poe, Kipling, Strindberg, Dostojewski, 
alle miteinander psychopathisch mehr oder weniger schwer belastet, kamen 
irgendwie mit dem gespaltenen Ich in Händel und suchten sich von ihrem unter- 
irdischen Begleiter dadurch zu befreien, daß sie ihn in eine dichterische Form 
banden. Bekannt ist auch das Doppelgänger-Erlebnis von Goethe in Sesen- 
heim, das er in „Dichtung und Wahrheit“ (3. Teil, ıı. Buch) sehr schön als 
nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes gesehen schildert.*® 

Das Doppelgänger-Motiv dient auch in der Fortbildung des Narzißmythos 
als Handhabe jener Umformung, die wir „sekundäre Bearbeitung“ genannt 
haben. Wieder ist es einer der uns aus Mythos, Märchen, Traum und 
Neurose schon geläufigen Mechanismen, der hier in Aktion tritt, nämlich die 
Verlegung. Wie der Darsteller auf der Bühne durch eine neue Verkleidung 
immer wieder eine andere Person verkörpert, redet und handelt, wie sie es tun 
würde, im Innern aber gänzlich er selbst bleibt, so nimmt auch der Mythos 
im Mechanismus der Verlegung gleichsam eine neue Maske vors Gesicht; er 
verändert die manifeste Gestalt, während er dem latenten Sinne nach der 
gleiche bleibt. Das geschieht, auf unseren besonderen Fall bezogen, zu einer 
Zeit und aus ethischen Anschauungen heraus, denen das Motiv der narzißti- 
schen Selbstliebe schlechthin entweder als so anstößig oder als so schwer be- 
greiflich gilt, daß es einer Abdrängung zum Opfer fallen muß; es soll dorthin 
zurückweichen, woher es stammt: ins Unbewußte. An seine Stelle tritt die 
Verlegung des Schwergewichtes auf weniger Peinliches und leichter Verständ- 
liches. Der introvertierte Trieb wird nach außen projiziert und erfährt da- 
durch eine Abschwächung ins Harmlose. Nicht sich selber liebt Narcissus 
jetzt, sondern seine Zwillingsschwester, hinter der sich in Wirklichkeit sein 
Doppelgänger und damit er selbst verbirgt. Die psychische Tat bleibt dieselbe, 
nur der Täter sieht sich scheinbar entlastet. Folgerichtig wird auch der latente 
Sinn nicht beeinträchtigt. Narcissus ist, was er war: das Opfer einer krank- 


45) Archiv für Religionswissenschaft, Bd. 5 (1902), S. 14. 
46) Zu näherem Eingehen auf diese Dinge ist hier nicht der Ort; ich verweise auf die 
weitschichtige und sachkundige Studie von O. Rank, Der Doppelgänger, in Imago, Bd. 3 


(1914). 





MT eve  — Te ee | | ih 
304 Ludwig Pfandl 








haften seelischen Veranlagung. Nur daß man ihr äußerlich ein bergendes Män- 
telchen umgeworfen hat, weil Schamhaftigkeit oder Unverstand (die zuweilen 
ein und dasselbe sind) an ihr Ärgernis nahmen. Daß diese Verkleidung (Motiv 
der Schattenseele) mit den Behelfen einer Stufe und Periode des menschlichen 
Denkens vorgenommen wird, die um vieles älter ist als die Entstehung des 
Mythos selbst, darin vollzieht sich ein der Psychoanalyse längst geläufiger 
Vorgang, den sie als Regression bezeichnet. Wie der Neurotiker in seinen 
seelischen Beziehungen und Wertungen oft auf eine infantile Stellung zurück- 
weicht, sich dort fixiert und gleichsam verschanzt, so auch die sekundäre Be- 
arbeitung der Mythen in ihrer Abwehrhaltung gegen Formen, die sie nicht 
mehr begreifen zu können vermeint. Wie gut die Verkleidung gelang, das 
beweist der Umstand, daß sie noch einen der besten unter den Archäologen 
des 19. Jahrhunderts gründlich zu täuschen vermochte.?7 Das bei Pausanias 
fehlende Ende des Mythenberichtes freilich müssen wir. ergänzen. Es kann 
nicht anders gelautet haben als etwa so: „Auch der Anblick des geliebten 
Bildes im Wasserspiegel brachte ihm statt Trost nur Verschärfung seiner 
Liebesnot, aus der ihn erst der Tod zu befreien vermochte.“ Wer das nicht 
genehmigen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als die Angelegenheit aus 
jedem inneren Zusammenhang mit dem Mythos zu lösen und sie auf die 
Stufe einer bloßen Liebessage herabzudrücken. 

Eine sekundäre Bearbeitung ist auch die bei Konon erhaltene Fassung des 
Narziß-Mythos. Sie unterscheidet sich von der vorhin genannten in mehr als 
einer Hinsicht. Vor allem durch ihre sorgfältige Überlieferung, dann durch 
ihre breit ausladende, fast ins Novellistische übergreifende Darstellung, so- 
dann durch die Lokalisierung auf eine bestimmte Provinz (Böotien), ja sogar 
auf eine namentlich bezeichnete Stadt (T'hespiae) dieses Bezirkes, und endlich 
durch die Verschiebung des Konfliktes auf das Gebiet der griechischen Kna- 
benliebe.*® Das Letztere ist der Schwerpunkt ihres Wandels vom eigentlichen 
Mythos zur sekundären Bearbeitung. Narcissus hat im böotischen Thespiae 
eine neue Seele bekommen. Er ist nicht mehr Autoerotiker aus Zwang und 
Veranlagung, er ist lediglich ein eitler, hochmütiger Fant, dem keiner von 

47) F. G. Welcker, Alte Denkmäler, Bd. 4, Göttingen 1861, S. 168, stellt mit Bezug 
| auf das Motiv der Zwillingsschwester, vor Befriedigung und Erleichterung hörbar aufatmend, 
fest: „Diese natürliche Erklärung nimmt von dem rührenden Jüngling den Flecken ‚selbst- 
| süchtiger Eitelkeit und Herzlosigkeit und macht ihn zu einem sentimentalen Schwächling 
Jill der Treue.“ 
| | ' 48) Über Wesen, Entwicklung und Milieu dieser ethischen und sozialen Einrichtung 


Ill : Ba = : : r : ; 
| brauchen wir uns hier nicht des näheren zu verbreiten. Es gibt darüber zwei ausgezeichnete 


li Abhandlungen: E. Bethe, Die dorische Knabenliebe, ihre Ethik und ihre Idee, in Rheini- 




















j | sches Museum für Philologie, Neue Folge, Bd. 62 (1907), S. 438, und W, Kroll, Freund- 

schaft und Knabenliebe, München 1924, Heft 4 der Tusculum-Schriften. Man vergleiche fer- 
ner: H. Licht, Sexual Life in Ancient Greece, London 1932, und E. Bethe, Tausend Jahre 
altgriechischen Lebens, München 1933, $. 30. 

















Der Narzißbegriff 305 








_ den ihn umwerbenden Erasten (£gasroı) gut genug erscheinen will. Damit ist 
also schon die völlige Entkernung und Aushöhlung des schönen alten Mythos 
vollzogen. Das psychoneurotische Motiv wird zwar beibehalten, aber es 
kommt wie der Blitz aus heiterem Himmel über einen, der ursprünglich weder 
dafür bestimmt, noch dazu veranlagt ist; es überfällt ihn als magische Straf- 
und Rachehandlung des beleidigten Gottes Eros, gegen dessen Kult er ver- 
messentlich gefrevelt hat. Er selbst sieht sein Vergehen ein und sühnt es durch 
freiwilligen Tod. Auch die lehrhafte Zuspitzung fehlt nicht: die Thespier be- 
schlossen daraufhin, den Eros noch mehr zu verehren und ihm außer dem 
gemeinsamen Dienst noch jeder für sich zu opfern. Der Mythos ist also hier, 
um es in zwei Worten zu sagen, in eine lokale Kultsage abgeschwächt. Ihr 
äschetischer und künstlerischer Eigenwert freilich soll damit nicht geleugnet 
und auch nicht herabgemindert werden. Er besteht vor allem in der inneren 
Geschlossenheit der Erzählung, in der wirksamen Gruppierung der beteiligten 
Personen — Narcissus, der eigenwillige Einschichtige, steht einer vielköpfigen 
Schar von Liebeswerbern gegenüber, als deren Sprecher und Sendbote (wir 
erkennen den Mechanismus der Verdichtung) der beharrliche Ameinias sich 
ablöst und die Begegnung zu Verwicklung und Katastrophe treibt — in der 
dramatisch bewegten und zielbewußt sich steigernden Handlung und in der 
tragischen Konfliktlösung durch einen zweifachen Selbstmord.“ 


$. Die Dichter und die Deuter 


Die Neurose wird vom Individuum seelisch erlebt oder, besser gesagt, durch- 
litten, vom Arzt der Diagnose unterzogen und, sofern die Möglichkeit dazu 
besteht, der Heilung nähergebracht. Es liegt im Wesen der ärztlichen Kunst 
begründet, daß jeder Arzt seine therapeutische Methode für die beste hält. 
Der Mythos wird zunächst einmal von den Dichtern, weil er sie entweder 
stofflich anlockt und inspiriert, oder aber aus Gründen innerer Gleich- 
gestimmtseins seelisch in Erregung versetzt, in einer ihnen zweckmäßig 
scheinenden Form, sei es in lyrischem, dramatischem oder epischem Gewande, 
sei es auch nur in erzählender Prosa, immer wieder erneuert. Es wird ihm 
aber auch eine Art Diagnose gestellt. Wie die Ärzte um den Kranken, so sind 
die Philologen um den Mythos beschäftigt, den sie mit Sachverständnis und 





- 49) „Ein merkwürdiges Seitenstück“ zum Mythos von Narcissus nennt Erwin Rohde 
(Der griechische Roman, 3. Aufl.; S.133) die spärlichen durch Plutarch überlieferten 
Reste einer arkadischen Sage von Eutelidas. Dieser soll den „bösen Blick“ besessen haben 
und dessen verderblicher Wirkung an sich selber innegeworden sein, als er sein Spiegelbild 
im Wasser beschaute. Der griechische Bericht ist in deutscher Übersetzung leicht zugänglich 
in: Plutarchs Vermischte Schriften, München ıgrı, bei Gg. Müller, Bd. 1, S. 197. Ich für 
meinen Teil vermag keinen tieferen Zusammenhang zwischen diesem Sagenbruchstück und 
dem Narzißmythos zu erkennen und begnüge mich deshalb mit der vorstehenden kurzen 
Erwähnung. 

















TE EEE 


306 Ludwig Pfandl 





Hingabe sagenkundlich und psychologisch, philosophisch und ethnologisch 
durchforschen und erklären. Es liegt im Wesen der Philologie begründet, daß 
jeder ihrer Jünger seine Deutung für die einzig richtige hält. Proben der viel- 
gestaltigen Exegese, die insonderheit unserem Narzißmythos zuteil geworden 
ist, haben wir schon im ersten Abschnitt gegeben. Hier mag lediglich noch 
ein Wort über die dabei erforderliche Grundeinstellung angefügt werden. 
Um den Narzißmythos richtig zu begreifen und sinngerecht .zu deuten, 
dazu ist eigentlich nur Eines unerläßlich: nämlich, daß man die mythologi- 
schen Quellen von den poetischen Umgestaltungen sorgfältig scheide und die 
letzteren gänzlich außer Betracht lasse. Sonst besteht die Gefahr, daß die indi- 
viduelle Schau und Formgebung des einen oder anderen Dichters die reine 
Überlieferung trübt und Verwirrung in den Köpfen der Erklärer anrichtet. 
Denn ein anderes ist es, ob der Dichter ein narzißtisches Empfinden oder ein 
diesem analoges, aus dem Unbewußten sich heraufdrängendes Trieberlebnis in 
ein Kunstwerk freier Wahl und Gestaltung überleitet und dazu als Rahmen 
und Gefäß den griechischen Narzißmythos wählt, und wieder ein anderes, ob 
der nur mit Behelfen des verstandesmäßigen, des geschulten und gerichteten 
Denkens ausgerüstete Historiker oder Philologe daran geht, den griechischen 
Mythos auf seinen manifesten Inhalt und seinen latenten Sinn zu prüfen. Des 
Dichters Freiheit ist hier unbeschränkt. Er schöpft nur aus dem eigenen Brun- 
nen, gibt nur Persönliches und Individuelles, ja er kann jederzeit sagen: das 
ist mein Narzißbild und wem es nicht behagt, dem steht es frei, sich einem 
anderen zuzuwenden. Niemals wird man ihm entgegnen können, seine Auf- 
fassung sei falsch; denn der Dichter ist allerwege frei, und wo Freiheit ist, da 
gibt es keinen Zwang, keine Regel und Norm. Anders beim Philologen. Er 
schafft nicht Werte in dem Sinne, wie es der Dichter tut; er findet, bestimmt 
und ordnet sie nur, er arbeitet nicht mit imaginären, sondern mit fest um- 
grenzten und vorweg gegebenen Größen. Er darf darum, wenn er einen 
Mythos deuten will, nicht die späteren Dichter fragen, was sie gemeint oder 
beabsichtigt haben; denn von dem Augenblick an, wo der Mythos in die 
Hände des Dichters gerät, ist er nicht mehr Kollektivdichtung, das heißt 
Sagenbegriff, sondern Individualdichtung, das heißt eine nach persönlichem 
Talent oder Erlebnis vollzogene Umformung und Neubelebung des von der 
Sage überlieferten Stoffes. Darin besteht aber gerade das Unheil fast aller 
bisherigen dem Narzißmythos zugefügten Sinngebungen, daß die Erklärer zu 
häufig und zu gründlich in die Fallgrube der Vermengung von mythologischer 
Quelle und poetischer Umgestaltung hineingetappt sind. Unbeschreiblich ist 
zum Beispiel die Verwirrung, die in diesen Dingen, freilich ohne es zu wollen, 
der schlimme Ovid angerichtet hat. Infolge seines ehrwürdigen Alters näm- 
lich rückte er ohne viel Umstände in die Reihe der sagenkundlichen Quellen 








Der Narzißbegriff 307 









B 


hinauf, während er doch in Wirklichkeit nicht mehr und nicht weniger ist, 
als der früheste aller jener Dichter, die den überkommenen Mythos eigen- 
willig umgeformt, durch freihändige Zutaten und Erfindungen erweitert und 
novellistisch aufgebläht haben.5® 

Von den Philologen redend, haben wir uch schon einiges Wesentliche 
über das Verhältnis der Dichter zu unserem Mythos sagen können. Wir 
setzen das Gespräch in dieser Richtung noch eine kurze Weile fort, aber wir 
behalten uns vor, es unvermittelt abzubrechen; denn eine Geschichte der 
Narcissus-Dichtung zu geben, liegt begreiflicherweise ganz und gar außerhalb 
des Rahmens und der Fassungskraft unseres T'hemas. 

Wo immer der Narzißmus als dichterische Ausdrucksform in die Erschei- 
nung tritt, da gehört er einer von zwei deutlich sich scheidenden Gruppen 
an. Entweder er ist eine ohne inneres Selbsterlebnis unternommene Nach- 
bildung der ovidianischen Fassung, wobei die Zusammenhänge zwischen ihr 
und der Neuformung nur stofflicher Art sind, während nicht selten eine 
mannigfache Durchsetzung mit Personen und Geschehnissen anderer Bezirke 
dem leer gebliebenen Gerippe und Schema zu Fleisch und Blut verhelfen muß. 
Immerhin mag auch hier ein überragender Kopf (Calderön etwa) in Ideen- 
führung und Sprache ein dichterisches Kunstwerk hervorbringen, obschon er 
den wahren Sinn des Mythos weder erfaßt noch nacherlebt hat. Oder aber 
es begibt sich dieses: Die künstlerische Darstellung bildet die Emanation eines 
seelischen Zustandes, die Lösung eines Konfliktes, das Abheben eines lastenden 
Druckes sozusagen, also eine durchaus innerliche Sache des Dichters, der hier 
nur sein eigenes Ich, sein eigenes psychisches Erleben ins befreiende Kunst- 
werk projiziert. Hier ist zumeist eine vom Gesunden und Normalen abwei- 
chende Disposition die luftige Brücke, auf der sich Neurose und Mythos wie- 
der begegnen; oder grob gesagt: nur neurotisch veranlagte Dichter sind im- 
stande, den narzißtischen Komplex in ein dem Mythos innerlich verwandtes 
Kunstwerk umzugestalten. Die stoffliche Anregung geht auch hier (wenigstens 
soweit meine Belesenheit reicht) nicht vom echten und eigentlichen Mythos 
aus, sondern erfolgt durch Vermittlung des in dieser Hinsicht wirklich un- 





50) Ovids Metamorphosenstelle (Buch 3, Vers 339—510) ist die älteste aller Veräußer- 
lichungen des, wie wir sahen, von ganz anderen Problemen und Spannungen trächtigen 
Mythos in ein alltägliches Liebesdrama zwischen Mann und Weib. Hier stirbt Narcissus 
nicht, weil ihm die Liebe zu sich selbst angeboren wäre, sondern weil: sie ihm als rächende 
Strafe für seine Sprödigkeit gegen die an Liebesgram dahingeschwundene Nymphe Echo auf- 
erlegt wird. Narcissus und Echo bilden hier nur mehr eine Variante des Themas von 
Hermaphrodites und Salmacis (IV, 285—388), Minos und Scylla (VIII, r—ısr), Glaucos und 
Circe (XIV, 320—396). In der Nymphe Echo aber erkennen wir ohne Mühe den Ameinias 
jener sekundären Bearbeitung des Mythos wieder, die uns Konon überliefert hat, und wer- 
den gewahr, daß Ovid der Hauptsache nach lediglich die Liebesbegebenheit aus der homo- 
sexuellen in die heterosexuelle Sphären herüberverlegt, also sozusagen „normalisiert“ hat. 























308 Ludwig Pfandl 





sterblichen Ovid. Als wahrhaft dichterische, weil aus dem Unbewußten 
schöpfende Leistung aber erweist sich dabei stets die Erkenntnis, daß in der 
Narcissus-Gestalt ganz andere Kräfte und Säfte ihr Wesen treiben, als sich 
der leichtfertige Meister der Ars amatoria hatte träumen lassen. 

Aus der erstgenannten Gruppe scheinen mir, um nur ein paar beispiel- 
mäßige Andeutungen vorwegzunehmen, die Narcissus-Dichtungen des Ovid, 
Lope de Vega, Calderön und Gozzi°! anschauliche, wenn, auch unter 
sich sehr verschiedenwertige Proben zu sein. Für die zweite Gruppe ist es 
naheliegend, auf das Drama vom Divino Narciso der mexikanischen Nonne 
Juana In&s de la Cruz, oder auf die sogenannten Narziß-Fragmente des 
Franzosen Paul Val&ry°® hinzuweisen. 


6. Rückblick und Zusammenschau 


Wir haben uns zu Eingang unserer Studie, die wir den „Versuch einer 
neuen Deutung des Narzißbegriffs‘“ nannten, eine Anzahl von Fragen vor- 
gelegt und uns Mühe gegeben, sie nach bestem Wissen und Gewissen einer 
Lösung und Klärung zuzuführen; freilich ohne daß wir die Untersuchung 
streng nach dem Schema dieser Fragestellung gegliedert und immer wieder 
auf sie Bezug genommen hätten. Nun mag es erwünscht sein, die nach unserer 
Meinung dabei gewonnenen Erkenntnisse in einer kurzen Übersicht rück- 
schauend zu vertiefen. Das geschieht vielleicht am besten, indem wir uns so 
verhalten, als wäre es uns zur Pflicht gemacht, das Versäumte nachzuholen 
und die von uns selbst aufgeworfenen Fragen nunmehr der Reihe nach und 
jede für sich mit aller erzielbaren Knappheit und Verdichtung zu beant- 
worten. 

Unsere erste Frage ging nach der urtümlichen Form des Mythos, das heißt 
nach seiner Gestaltung, bevor die Dichter über ihn kamen. Das Ergebnis war, 
daß der Narzißmythos sich auf eine ganz einfache und gedanklich anspruchs- 
lose Ursage zurückführen läßt, die nichts anderes wollte, als den archaischen 
Glauben an die Schattenseele und die Gefahr ihrer Beschauung im Wasser- 
spiegel exempelmäßig darzustellen. In die Hülle dieses Beispiels aber schlüpfte 





51) Ovids Metamorphosen kennt jeder von der Schulbank her. Über die Narziß-Episode 
bei Lope de Vega (Laurel de Apolo, SilvaX), in der die Sage nur als Wunschsymbol eines 
in der Liebe enttäuschten Galans dienen muß, hat sich meines Wissens bisher noch niemand 
des Näheren geäußert. Für Calderön und Gozzi mag als nächstliegende Informations- 
quelle das Buch von E. Günthner, Calderön und seine Werke, Freiburg 1888, I, 273— 285; 
dienen, 

52) Über sie: K, Voßler, Die „zehnte Muse von Mexiko“, München 1934. Dazu: 
Deutsche Literaturzeitung 1934, Heft 19, Sp. 874. 

53) Das Nähere bei F. Rauhut, Paul Valery, München 1930. — Eine Aufzählung der 
in H. Mitlachers Studie unerwähnt gebliebenen Narziß-Dichtungen verbietet sich hier 
schon aus räumlichen Gründen; es ist aber selbstverständlich, daß meine etwa 20 Nummern 
umfassende Ergänzungsliste auf Wunsch jedem Interessenten brieflich zur Verfügung steht. 




















Der Narzißbegriff 309 
zu gegebener Zeit der eigentliche Mythos wie in ein für ihn bereitliegendes 
Gewand hinein. Es diente ihm sinnvoll als symbolisches Kleid für einen nun 
viel lebensnäheren und gedankenreicheren Organismus. Wer Ohren hatte zu 
hören, der erfuhr dieses: Schet alle her und erkennet, wie es Menschen gibt, 
deren Los und Schicksal es ist, daß sie weder zu Mann noch zu Weib die 
natürliche Liebe empfinden können, daß sie vielmehr .(sie wissen nicht wie, 
noch warum) sich selber lieben müssen und an dieser ihnen von der Natur 
aufgezwungenen unseligen Liebeswahl zugrunde gehen. So besagte es der 
Mythos in seiner eigentlichen, ursprünglichen und reinsten Gestaltung. Iha 
af nun aber im Laufe der Generationen das Geschick aller Mythen: er 
wurde, je mehr das archaische Denken sich von der ratio durchdrungen und 
überdeckt sah, desto weniger in seinem latenten Sinn mehr begriffen. Er 
wurde ersetzt und verdrängt durch die sekundären Bearbeitungen, deren eine 
ihn zu verständlichen und zu verharmlosen strebte, deren andere ihn zu einer 
lokalen Kultsage erniedrigte und aushöhlkte. 

Wir fragten an zweiter Stelle, welches der Gewinn sei, der sich aus den 
Ergebnissen der Freudschen Psychoanalyse für die Erkenntnis des Mythos 
ziehen ließ. Wir fanden: Die Lehre Sigmund Freuds hat uns einerseits die 
Augen dafür geöffnet, daß die psychischen Vorgänge und Zustände der 
Mythen-Erzählung nicht nur als solche existieren, sondern auch in Form einer. 
allgemein menschlichen Erlebnismöglichkeit zu Recht bestehen, als etwas 
allen Sterblichen Gemeinsames, das heute meinem Kinde und morgen: meinem 
Enkel als leidvolles Vermächtnis von Urzeiten her, als eine Abart der Erb- 
sünde gleichsam, in die Wiege gelegt werden kann. Die Psychoanalyse hat 
uns anderseits aber auch die tiefen Zusammenhänge erkennen lassen, die be- 
stehen zwischen den wichtigsten Emanationsformen des Unbewußten: Mythos, 
Märchen, Traum und Neurose, die gemeinsamen psychischen Gesetze, denen 
sie unterliegen, die identischen Mechanismen, deren sie sich bedienen; Zusam- 
menhänge mit anderen Worten, die so tief und eindeutig sind, daß heute nur 
noch die absichtlich Blinden das Vorrecht haben, darob mitleidig zu lächeln 
oder vor Entrüstung fassungslos zu werden, je nachdem. 

Eine dritte Frage formulierten wir so: Welches ist die einzig mögliche und 
darum auch einzig richtige Deutung, die sich aus einem solchen Zusammen- 
halt und Vergleich für den Mythos ergibt? Wir kamen zu dem Schlusse, daß 
unser Mythos, auf die besagten Eigentümlichkeiten hin geprüft, sich als ein 
echtes und rechtes Beispiel seiner Art erweist, und daß er nichts anderes ist, 
als die symbolisch verschleierte, ästhetisch verschönte, gleichwohl aber in er- 
kenntnismäßigem Sinne klärende und warnende Darstellung des neurotischen 
Narziß-Komplexes. 

An diese Einsicht schlossen wir als vierte Frage den Zweifel, ob es alsdann 


Imago XXI/3 e 21 































































































































































































































































































310 Ludwig Pfandl:.Der Narzißbegriff 





noch länger einen Wert habe, am Narzißmythos in der bisherigen Weise her- 
umzudeuten, ihn bald naturmythologisch, bald dämonologisch, bald mora- 
lisch, bald aus den Zeitsitten, bald nach Gegensatzpaaren der menschlichen 
Typenlehre zu erklären, oder nicht. Eine Antwort darauf kann erst hier er- 
folgen und muß auch hier noch zwiespältig bleiben. Das heißt: Wer sich von 
unseren Darlegungen, wie wir es wünschen und hoffen, überzeugen ließ, der 
wird nicht zögern, mit uns ein entschiedenes Nein zu sprechen. Die Wahrheit 
kann immer nur in der Einzahl, nie in der Mehrzahl auftreten. Liegen Wesen 
und Entwicklung von Mythos und Neurose auf der gleichen Linie, so müssen 
zwangsweise alle nicht in unserem Sinne verlaufenden Deutungen ebensoviele 
Irrwege sein. Wer hingegen — sei es weil er a priori ein Gegner und Verächter 
der von der Psychoanalyse angewandten Methoden und der durch sie gewon- 
nenen Erkenntnisse ist, sei es weil ihm unsere Deduktionen und Beweise nicht 
schlüssig genug zu sein scheinen — die wechselseitige Aufeinanderbeziehung 
von Mythos und Neurose nicht gelten lassen will, der sieht sich vor die Alter- 
native gestellt, entweder eine von den vielen bis heute versuchten Deutungen 
des Narzißmythos als die ihm am meisten zusagende auszuwählen, oder aber aus 
eigenem den neunundneunzig eine sie alle erledigende hundertste anzufügen. 

Unsere fünfte und letzte Frage verlangte Auskunft darüber, ob und inwiefern 
sich die dem Narzißbegriff gegenüber bisher üblich gewesenen Kriterien auch 
künftig noch für die Würdigung wenigstens der Narziß-Dichtungen verwert- 
bar erweisen können. Darauf ist zu sagen, daß hier zweifellos jede strenge 
Bindung gegenüber dem Mythos aufhört. Denn nicht er wird erkannt, erklärt 
und gedeutet, sondern der Dichter. Nicht was die Absicht der Mythenschöpfer 


war, gilt es zu erkunden, sondern warum und wie das Schicksal des antiken 


Narcissus den späteren Dichter in einen mehr oder weniger starken seelischen 
Aufruhr versetzt hat. Da können also recht gut Antithesen wie'Geist und 
Leib, oder Gegensatzpaare der menschlichen Typenlehre oder Übertragungen 


aus dem Begriffsschatze hellenischer Geisteshaltung wie dionysisch und apolli- 


nisch am Platze sein. Nur darf die grundlegende Unterscheidung nicht außer 
acht gelassen werden, ob das Verhältnis des Dichters zum Mythos ein inner- 
liches, gewissermaßen psychoneurotisches, oder nur ein äußerliches, also von 
bloß stofflichem Interesse durchwärmtes war. 

Um aber nun zu einem endgültigen Abschluß zu kommen, mache ich es 
wie der unbekannte Landsmann und Zeitgenosse Shakespeares, der englische 
Ovidübersetzer von 1560, und bekenne: 


I have declared what I can conseve, 
Full glade to learne what wiser folk parceave.* 


_ 





54) The Fable of Ovid treting of Narcissus, translated oute of Latin into English Mytre, 


with a Moral therunto, London 1560. 





Zur Psychologie des Pathos 
Von 


Alfred Winterstein und Edmund Bergler 
Wien 


„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht. 

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, 

Wenn unerträglich wird die Last — greift er 

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel 

Und holt herunter seine ew’gen Rechte, 

Die droben hangen unveräußerlich 

Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“ 
SCHILLER 





Unter Pathos versteht man gemeinhin den erhabenen sprachlichen Aus- 
druck einer leidenschaftlichen Gemütsbewegung. Da Gefühl und sprachlicher 
Ausdruck ja ineinander übergehen, bezeichnet man mit Pathos (gr. dos, 
eigentlich das Leiden, das Ergriffensein) auch jeden diesem Ausdruck zugrunde 
liegenden stärkeren Affekt, insbesondere die gehobene, feierliche Stimmung. 
Pathos ist auch der Musik, Architektur, Malerei und Plastik nicht fremd. Mit 
dem Begriffe des Pathos verbindet sich leicht der des Übersteigerten, Ver- 
schwommenen, Hohlen, nicht völlig Echten: dem ausdrucksarmen Typus 
erscheint der pathetische Mensch zumeist manisch-komödiantisch. Der pa- 
thetische Südländer wirkt so auf den Nordländer. 

Auf das Benehmen von Kindern wenden wir wohl nicht die Bezeichnung 
„Pathos“ an. Erst der Pubertierende entwickelt wirkliches „Pathos“; bei einem 
Kinde, das pathetisch redet, haben wir den Eindruck des Übernommenen, . 
Nachgeahmten. Er stimmt auch mit dem überein, was uns klinische Beob- 
achtungen über die Genese des Pathos lehren. 

‚Die Erziehungspersonen pflegen mit dem Kind in pathetischem 
Tone zu reden, wenn sieihm Vorwürfe machen oder Belehrungen 
erteilen. Man denke an die Häufigkeit des pathetischen Ausrufs: „Pfui, das 
tut man nicht“ in der Erziehung. Schon beim Kinde besteht eine nicht seltene 
Reaktion darin, daß es die Vorwürfe, die, ob nun berechtigt oder unberechtigt, 
in jedem Fall als narzißtische Kränkungen empfunden werden, mechanisch 
(als „Retourkutsche“) in dem gleichen Ton zurückgibt. („Du bist es, nicht 
ich“, Projektion auf den anderen.) Nachdem sich dann das Über-Ich als ver- 
innerlichte Elternrepräsentanz gebildet hat, werden dessen Vorwürfe mit der 
gleichen pathetischen Reaktion beantwortet; denn auch das Über-Ich ver- 
kehrt mit dem Ich in pathetischem Ton. Man kann behaupten, daß 
die Umgangssprache („Amtssprache“), in der das Dee mit 
dem Ich verkehrt, meist pathetisch ist. tenag, 
































312 Alfred Winterstein und Edmund Bergler 





Es ist die an und für sich befremdende Tatsache zu verzeichnen, daß jeder 
Vorwurf, und sei er noch so unsinnig, beim Durchschnittsmenschen regel- 
mäßig eine pathetische Reaktion als Abwehr hervorruft, etwa in Form 
einer Beschimpfung des „Feindes“ oder Empörung über ihn. An diesem Tat- 
bestand der pathetischen Reaktion bei berechtigten und unberechtigten Vor- 
würfen ändert sich nichts, ob nun diese Abwehr direkt sichtbar oder durch 
Gleichmut verdeckt: ist, laut ausgesprochen, gedacht wird oder bloß unbewußt 
vor sich geht. Diese Empörung ist logisch um so unverständlicher, als die Er- 
fahrung, die jedermann mit der Aggression der Mitmenschen, deren Objekt er 
ist, macht, ein Ausschalten der Empörung mit sich bringen müßte — schon als 
Abstumpfungsphänomen: 

„Übers Niederträchtige 
Niemand sich beklage, 
Denn es ist das Mächtige, 
Was man dir auch sage.“ 
& ? GOETHE 

Die Erklärung für die Tatsache, daß auch die Abgebrühtesten bei Angriffen 
innerlich stets pathetisch reagieren („Dieser Schuft, dieser Lump!...“), 
liegt in der intrapsychischen Situation. Das Über-Ich nützt in 
seiner chronischen Vorwurfsbereitschaft! jede Gelegenheit zu 
Vorwürfen? gegen das verängstigte Ich aus. (Vorhalten des „stummen 
Modells“ des 'Ich-Ideals durch den Dämon mit konsekutivem Strafbedürfnis 
des Ichs bei Feststellung einer Diskrepanz zwischen Ich und Ich-Ideal.) Eine 
der Abwehrmethoden des Ichs besteht in der Projektion dieser Vorwürfe 
auf das schuldig-unschuldige anklagende Objekt. Der Pathetiker be- 
handelt also das Objekt ebenso aggressiv wie sein Über-Ich sein 
Ich. Diese Verschiebung auf das Objekt hat den Vorteil der Fiktion der be- 
rechtigten Entrüstung und der Verwandlung eines inneren Konfliktes in einen 
leichter lösbaren, projizierten, äußeren. Aus intrapsychischer ökonomi- 
scher Abfuhrmöglichkeit und nicht aus real begründeter Empörung reagiert 
also jedermann? pathetisch bei Angriffen der Außenwelt. 

Die Herkunft der pathetischen Stimme des Über-Ichs von der pathetischen 








ı) Vgl. die in der Arbeit „Übertragung und Liebe“ von L.Jekels u. E.Bergler, Imago, 
Bd.XX, 1934, durchgeführte triebpsychologische und genetische Differenzierung zwischen 
„Dämon“ und „Ich-Ideal“. H, 

2) Das Verhalten. des Über-Ichs dem Ich gegenüber ist — mutatis mutandis — dem Ver- 
halten einer Patientin vergleichbar, die ihren Mann mit apodiktisch vorgebrachten Möglich- 
keiten quälte, in welchen sie ihm jede nur denkbare Bösartigkeit unterschob. Ein Beispiel 
einer solchen Szene: „Also, du wirst morgen, wenn wir bei den Eltern eingeladen sind, sofort 
nach dem Essen weggehen wollen.. Dadurch wirst du mich kränken.“ — „Ich denke gar 
nicht daran, nach dem Essen wegzugehen“, antwortet der Mann. — „Aber du’ könntest 
daran denken,“ repliziert die Frau. / 

3) Eine Ausnahme bilden vielleicht Neurotiker mit unbewußtem Strafbedürfnis. 











Zur Psychologie des Pathos 313 









Stimme des Erziehers wird durch ein hübsches Beispiel von Melanie Klein 
bestätigt.‘ Der viereinhalb Jahre alte Peter, der mit seinem Bruder mutuelle 
Masturbation betrieb, legte in einer Analysenstunde zwei Bleistifte auf einen 
Schwamm und sagte: „Das ist das Boot, auf dem Fritz (sein kleinerer Bruder) 
und ich fahren.“ Er schrie mit tiefer Stimme, die er oft annahm, wenn 
sein Über-Ich in Wirksamkeit trat, die zwei Bleistifte an: „Ihr sollt 
nicht immer so zusammenstecken und Schweinereien machen.“ Dieser durch 
sein Über-Ich ihm selbst und seinem Bruder erteilte Tadel galt. aber auch, 
fügt Melanie Klein hinzu, den gleichfalls verbotene Dinge treibenden, von 
ihm belauschten Eltern, die ihm ja sicherlich zuerst derartige Vorhalte gemacht 
hatten (Projektionsmechanismus). 


“In der Zeit der Pubertät, wo das Ich schwersten Vorwürfen des Über-Ichs 
wegen seiner Odipuswünsche ausgesetzt ist, erledigt das nunmehr erstarkte 
Ich diesen Konflikt auf aggressive Weise, indem es sich gegen den Unter- 
drücker auflehnt und ihn mit Worten („Du bist der Schuldige‘“‘) angreift, die 
aus den Quellen des mächtig gesteigerten Hasses jetzt den Charakter des 
echten, nicht bloß kindlich nachgeahmten Pathos empfangen. Die Erledigung 
des Über-Ich-Konfliktes durch verbale Aggression (pathetische Reaktion) 
dient auch im späteren Leben der Bewältigung des in eigenen Haßregungen 
und Inzestwünschen begründeten Schuldgefühls oder richtiger der Hilflosigkeit, 
die durch dieses erzeugt wird, und zwar in Form einer Wiederkehr des ver- 
drängten Hasses als Pathos; die Genitalschuld ist völlig bewußtseinsunfähig 
geworden. Beim Pathos kommt es sozusagen zu einem intrapsychischen 
Rollentausch mittels Projektion. Ein vom Über-Ich ausgehender oder | 
durch das Über-Ich von der Außenwelt übernommener Vorwurf‘ wird in der 
Weise erledigt, daß das Ich die Rolle des Über-Ichs agiert und das aggredierte 
Objekt zum Ich reduziert. Wie E. Jones ausgeführt hat,5 wird die Abfuhr des 
Hasses durch die Schaffung der phantasierten Annahme möglich, daß die andere 
Person im Unrecht sei, oder durch ein Verhalten in der Realität, das die Ver- h 
wirklichung dieser Phantasie zur Folge hat. Auch das echte, ungehemmte 
Pathos des in seinem Gerechtigkeitssinn Verletzten verdankt also seine Aus- 
drucksstärke oder vielleicht überhaupt Ausdrucksmöglichkeit der verdrängten, 
unbewußten Haßschicht der Pubertätsperiode. er 


Es gibt jedoch außer der aggressiven Austragung des Über-Ich-Kon- 
fliktes, die zutiefst der Schuldgefühlsentlastung dient, auch eine masochisti- | 
sche, die durch das Pathos der Hingabe, des Opfers, gekennzeichnet ist. Man j 





4) Melanie Klein, Die Psychoanalyse des Kindes, Int. Psa. Verl, Wien 1932, 5. 34 N 
-.,5) E.Jones, Angst, Schuldgefühl und Haß, Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XVI, 1930. Siehe auch N) 
A. Winterstein, Der Zornaffekt, Imago, Bd.XX, 1934. a 





314 Alfred Winterstein und Edmund Bergler 









könnte demigemäß von einem Anklage-° und Opfertypus des Patheti- 
kers sprechen. Auch die Äußerungen derjenigen Personen, die sich an über- 
geordnete Mächte bis zur Bereitschaft, ihr eigenes Leben zu opfern, hingeben, 
weisen starkes und echtes Pathos auf. Selbsthingabe an Gott, Vaterland, Partei, 
Bund, Gemeinschaft, überhaupt an eine verpflichtende Idee, sind Projektionen 
der Unterwerfung des Ichs unter das Über-Ich. In diesem Falle wird 
der Konflikt, wie schon erwähnt, masochistisch erledigt, und das Ich hat auch 
noch den sekundären Gewinn des „Wohlverhaltens“. Das zu erhabenem, 
pathetischem Ausdruck drängende ichgerechte Gefühl der höheren Stufe läßt 
auch hier die Verbindung mit der tieferliegenden Schicht des verdrängten 
Odipuskomplexes, und zwar diesmal des umgekehrten, negativen, erkennen. 
Die freudige Hingabe an eine übergeordnete Macht, einen höheren Willen 
schöpft ihre Kraft aus der zärtlichen, femininen Einstellung des Knaben zum 
Vater (Mutteridentifizierung). Vielleicht hat Nietzsche, der vom „Pathos 
der Distanz“ spricht, damit der Distanz zwischen Subjekt und Objekt (letzten 
Endes zwischen Kind und Vater), der masochistischen Art des Pathos Ausdruck 
geben wollen.? 

Kretschmer widmet in seinem Werke „Körperbau und Charakter“ dem 
pathetischen Typus einige Bemerkungen, die sich vielfach mit unserer Auf- 
fassung berühren. Er erblickt in ihm eine hyperästhetische Variante der 
schizoiden Temperamente, doch erscheint dieser Typus auch bei den schizo- 
thymen Durchschnittsmenschen. So wie bei den anderen hyperästhetischen 
Varianten entwickelt sich gleichfalls bei Pathetiker eine schroff antithetische 
Stellung: „Ich“ und „Außenwelt“. Er ist der kämpfende Autist. Beständig 
fragt er sich: Wie wirke ich’ Wer tut mir unrecht? Wo habe ich mir 
etwas vergeben? Wie setze ich mich durch? Solche Konfliktnaturen haben ein 





























:6) Die Tatsache, ‘daß die Eltern bei der Erziehung „pathetisch“ sind, findet ihre Er- 
klärung im „Anklagetypus“: Die „Unarten“ des Kindes aktivieren die verdrängten Wünsche 
der Erzieher und rufen damit den Vorwurf des strengen Über-Ichs hervor. Dieser Konflikt 
im Erzieher wird mittels der pathetischen Reaktion abgewehrt. 

7) Wie zwiespältig sich der Durchschnittsmensch zum Pathos verhält, beweist die Tat- 
sache, daß :es: Situationen gibt, in denen Pathos zugleich gefordert und verpönt wird: im 
Gerichtssaal. Antwortet der Angeklagte auf die ungerechte Anklage pathetisch, wird ihm 
Komödiantenpathos vorgeworfen; verantwortet er sich gefaßt und ruhig, hält man ihm 
wieder Mangel an gerechter Empörung vor. Ist der Angeklagte pathetisch-aggressiv, schärft 
ihm der ‚Vorsitzende ein, daß die wahre Unschuld sich nicht durch verbale Aggressionen 
kundgebe; ist er unbewegt, bekommt er unweigerlich zu hören, daß seine Ruhe und Reue- 
losigkeit sehr’ verdächtig seien. — Damit soll aber nicht bestritten werden, daß Schwindler 
und Spekulanten auf die Tränendrüsen sich des Pathos bewußt zu Täuschungsmanövern 
bedienen. Dieser Fall scheidet aus unseren Betrachtungen der unbewußten Reaktion 
Pathos natürlich aus. — Ebenso scheidet das Pathos eines Führers aus, das den Zweck ver- 
folgt, sich als Identifizierungsobjekt der Masse anzubieten. Sofern das Pathos jedoch dazu 
dient, die unbewußten Gewissensvorwürfe des Führers zu entlasten, fällt dieses Pathos unter 
den „Anklagetypus“.. 











Zur Psychologie des Pathos 315 








natürliches Talent zum Tragischen (in der Kunst tragische Pathetiker). 
Als ein Spezifikum gewisser Schizoider bezeichnet Kretschmer altruistische 
Aufopferung größten Stils, besonders für allgemeine, unpersönliche Ideale. 
_ Der pathetische Typus zeichnet sich gegenüber den anderen Typen der hyper- 
ästhetischen Temperamente durch seine aggressive Erotik, seine intrapsychische 
Aktivität und seinen Drang nach Affektausdruck aus. „Dieses jäh und zuckend 
hin und her geworfene, bis zum Krampf aufgebäumte, leidenschaftliche Sich- 
hineinsteigern, Sichhinausschreien in extremen psychästhetischen Affektlagen 
— das nennen wir Pathos“. (Die Lust an der gesteigerten Abreaktion deutet 
auch auf einen erhöhten Narzißmus des pathetischen Typus hin.) Pathos und 
zarte Schwärmerei, äußerlich gegensätzlich, gehören nach Kretschmers 
Meinung doch psychologisch auf innigste zusammen. „Die schizothyme 
Psyche, von dem lauten Pathos des heroischen Kampfes erschöpft, verfällt 
plötzlich in das Bedürfnis nach dem absoluten Kontrast, nach tränenreicher 
Zärtlichkeit und verträumter bukolischer Stille.“ Die Komplementärstimmun- 
gen des Heroischen und Lyrischen (der männlichen und weiblichen Kom- 
ponente) finden wir regelmäßig etwa bei Schiller, dessen Kunst so sehr auf 
schwungvolles Pathos gestellt ist.® Kretschmer hebt auch hervor, daß die 
Stärke dieses Dichtertypus mehr im Akustischen, sprachlich Musikalischen 
liegt. Unsere Annahmen über die Genese des Pathos haben gezeigt, wie die 
Erziehungspersonen auf dem Wege über die Stimme das Kind beeinflussen 
und in der Art des Verkehrs des Über-Ichs mit dem Ich dann fortwirken. 
Neben dem echten, überzeugenden Pathos gibt es auch ein theatralisches,? 
unechtes!? oder ein gewisses gespreizt-überspanntes Pubertätspathos. Hier wird 
vom Beobachter nicht immer das Gefühl als solches, vielmehr seine anschei- 
nende Intensität, die zu pathetischem Ausdruck treibt, als unecht empfunden. 
Die Steigerung steht dann im Dienst eines starken Geltungsbedürfnisses, das 
für ein tatsächlich vorhandenes tiefes Ohnmachtsgefühl Kompensation sucht.!! 
So bezeichnete ein Patient aber auch die Tatsache, daß der in der pathetischen 
Rede angegriffene Gegner trotz der verbalen Aggression weiterlebte, ironisch 
als eine schwere Kränkung seines Selbstgefühls. Die Analyse ergab, daß der 
Patient unbewußt an der Magie der Worte festhielt und die Wirkungs- 





8) Siehe die schöne Arbeit von H.Sachs, Schillers Geisterseher, Imago, Bd. IV, 1915/16. 

9) Vgl. die Worte Mephistos an den Herrn: „Mein Pathos brächte dich gewiß zum 
Lachen, hätt’st du dir nicht das Lachen abgewöhnt.“ 

10) Einer der Autoren hat in einer anderen Arbeit an Hand einer Krankengeschichte zu 
zeigen gesucht, daß in manchen Fällen der pathetische Gefühlsüberschwang auch eine Ab- 
wehrmethode gegen die dahinter lauernde Gefahr der Depersonalisation bedeutet: 
Fall II in „Der Mechanismus der Depersonalisation“ von Bergler und Eidelberg. Int. 
Ztschr. f. Psa., Bd. XXI, 1935. 

11) Siehe auch Winterstein: Echtheit und Unechtheit im Seelenleben, Imago, Bd: XX, 


1934. 








316 Alfred Winterstein und Edmund Bergler 











losigkeit seiner feindseligen Einstellung mit einem „Wortpenis“ (Steigerung 
zum Pathos) zu kompensieren suchte, den er unbewußt mit der Macht zu 
töten ausstattete. Diese Vorstellung des „magischen Wortpenis“ leitet über 
zum Pathos des Hysterikers. Neben der sadistischen Allmacht dieser 
Fiktion spielt der bereits besprochene „Mechanismus des Pathos“ eine 
Rolle: die Über-Ich-Vorwürfe werden mittels des intrapsychischen 
Rollentausches erledigt. Anders formuliert: das Ich des Hysterikers be- 
handelt das Objekt mit der gleichen Aggression, mit der sein Über-Ich sein 
Ich traktiert. Diese Auffassung erklärt vieles am formalen Verhalten des un- 
bewußt schuldbeladenen hysterischen Charakters. Man denke etwa an den 
chronischen Gefühlsüberschwang der Hysteriker. 


Bisweilen begegnet man auch einem Menschentypus, den man geradezu als 
Antipathetiker bezeichnen könnte. Ihm fällt Pathos überhaupt, und zwar 
in unangenehmer Weise, auf.!? Es handelt sich hier um Individuen, die eine 
ursprüngliche Neigung zum Pathos abwehren, also offenbar aus Angst vor 
dem sadistischen Über-Ich!? verdrängt haben. Diese Angst, letzten Endes 
Kastrationsangst, führt dazu, daß beide Varianten des Pathos, die des 
Anklage- und Opfertypus, als Mechanismen der Über-Ich-Abwehr 
unbrauchbar werden und die „Antipathetiker“ andere Wege der Über-Ich- 
Abwehr suchen müssen. Ein vom Antipathetiker häufig betretener ist der 
des „zynischen Mechanismus“. Wie einer von uns zu zeigen ver- 
suchte,!4 handelt es sich auch beim Zyniker um die Erledigung eines 
Über-Ich-Konfliktes. Der Zyniker steht unter dem ständigen Druck 
seiner Ambivalenz und — so grotesk dies auch klingen mag — unter dem 
ebenso ständigen Druck seines strafenden Über-Ichs, das eben diese Ambivalenz 
verpönt, wobei der unbewußte Geständniszwang (Reik) der Motor der Hand- 
lung wird. Das Ich des Zynikers entledigt sich dieses Konfliktes auf dem 
Wege einer „Retourkutsche“, indem es den übrigen Menschen (den ver- 
achteten „anderen“) beweist, daß diese verpönte Ambivalenz auch bei ihnen 
zu finden ist. Jeder Zynismus enthält implizite die Aufforderung an den Zu- 
hörer: „Gestehe, du denkst innerlich genau so wie der Zyniker, über den du 
dich empörst.“ Die „anderen“ werden dabei als ein Stück des eigenen Über- 
Ichs aufgefaßt. Zu gleicher Zeit ist dieses Aufzeigen der Ambivalenz der 
anderen eine Vorwegnahme des befürchteten Angriffes, wobei die strafende 
Außenwelt als Teil des eigenen Über-Ichs empfunden wird. Es ist dies ein 
sonderbarer Zweifrontenkrieg gegen das eigene Über-Ich, das doppelt auftritt: 





12) Vgl. Metternichs Ausspruch: „Nur kein Pathos!“ 


13) Otto Weininger („Über die letzten Dinge“) nennt die „Selbsthasser“ die unpatheti- 
schesten Menschen. 


14) E. Bergler, Zur Psychologie des Zynikers, Psa. Bew., Bd. V, 1933. 











Zur Psychologie des Pathos 317 












als inneres unbewußttes Gewissen und als Außenwelt. Der Angriff des Zynikers 
} gilt scheinbar diesem Außenweltanteil des Über-Ichs; in Wirklichkeit wehrt 
sich der Zyniker gegen sein strenges, ihm unbewußtes, nur im Schuldgefühl 
wahrnehmbares Über-Ich. Das „Rabiate“ des Zynikers rührt nicht nur von 
seiner Aggression her; es ist zugleich der Ausdruck seines verzweifelten Abwehr- 
kampfes gegen seinen „inneren Feind“, das intrapsychische Über-Ich, wobei 
der Kampf auf fremdem Boden ausgetragen wird. Der Zyniker behandelt die 
Außenwelt mit der gleichen Strenge, mit der sein eigenes Über-Ich sein Ich 
behandelt. Zu gleicher Zeit greift der Zyniker sein eigenes Über-Ich in der 
Außenwelt etwa nach der Formel an: „Die anderen schlägt er, sein Gewissen 
meint er.“ Unter den in der Arbeit aufgezählten 64 Spezialformen ist auch 
der Typus des sentimental-pathetischen Zynikers genannt: „Es sind 
dies Pathetiker, die über die Ungerechtigkeit der besten aller Welten empört 
sind, richtiger gesagt, Menschen, die ihre unerledigten Odipuskonflikte auf die 
Welt im allgemeinen projizieren, da zuletzt immer die Frage gemeint ist: 
„Warum lieben mich die Eltern nicht?“ Es sind dies Sentimentale, die sich 
ihres inneren Gefühls schämen und es umgemünzt in Form des Zynismus als 
Distanzierungsmittel vorbringen. Dieser Zynismus trägt aber das Zeichen 
„made in sentiments‘“ in seiner ganzen Art: Er ist dem Weinen näher als dem 
Lachen.“ 


Ferenczi hat darauf hingewiesen,!® daß sich zwischen das Aufgeben der 
infantilen Befriedigungsarten und den Beginn der eigentlichen Latenzzeit eine 
Periode einschiebt, die durch den Drang zum Aussprechen, Aufschreiben und 
Anhören obszöner Worte gekennzeichnet ist. Diesen Zwang faßt er als eine 
Vorstufe der Hemmung der infantilen Entblößung und sexuellen Schaubegierde 
auf. Erst die Unterdrückung auch dieser zur Rede abgeschwächten geschlecht- 
lichen Phantasien und Handlungen bezeichnet den Beginn der eigentlichen 
Latenzzeit; ein völliges Unbewußtwerden kommt freilich beim Gesunden 
nicht vor. Es scheint nun aber, als ob bei manchen Menschen die Neigung 
zu pathetischer Sprache eine Reaktionsbildung auf eine starke, jedoch unter- 
drückte Lust am Aussprechen obszöner Worte (auch aus der Sphäre des 
Analen und Urethralen) wäre. Flüche, Verwünschungen und Blasphemien 
bilden begrifflich das Bindeglied als Affektentladungen durch das Wort, das 
hier aus den gegensätzlichen Gebieten des Allerheiligsten, Erhabensten und 
Allerunheiligsten, Verpöntesten entnommen wird.!® Also letzten Endes wieder 
eine Verbeugung vor dem Über-Ich, eine präventive und kompensatorische 
„Bravheit“. 








15) „Über obszöne Worte“, Zbl. f. Psa., Bd.I, 1911. 
16) Siehe auch die Studie von Graber: „Zur Psychoanalyse des Fluchens“, Psa. Bew., 
Bd. II, 1931. ) 




















318 Alfred Winterstein und Edmund Bergler 











Humor und Pathos sind einander wesensfremde Elemente, wie ja auch 
Kretschmer den Humoristen dem entgegengesetzten zyklothymen (zy- 
kloiden) Typus zuweist. Der Kontrast liegt auf der Hand. Der Pathetiker 
nimmt alles tragisch, der Humorist nimmt die Realität nicht ernst. Im Pathos 
erledigt das Ich einen Über-Ich-Vorwurf mittels eines intrapsychischen 
Rollentausches auf projektivem Wege: das Ich agiert die Rolle des aggredie- 
renden Über-Ichs und drängt das Objekt in die Rolle des Ichs. Im Humor 
spricht nach Freud das überbesetzte Über-Ich liebevoll!” zum eingeschüch- 
terten Ich und entwertet die dem Ich drohenden Gefahren mit einem Lächeln. 
Beim Pathos wird der Konflikt zwischen Ich und Über-Ich vom Ich aus er- 
ledigt, beim Humor geht der erste Schritt zur Versöhnung vom Über-Ich aus. 
Der Humor verleugnet die den eigenen Narzißmus bedrohenden Ansprüche 
der Außenwelt und nähert sich daher als regressives Phänomen dem Stadium 
des primären Narzißmus, das Pathos des Anklagetypus setzt den Gegensatz 
zwischen einem erstarkten Ich und der Objektwelt voraus. Dieser Narzißmus 
ist sekundär. Anders scheint es sich bei dem masochistischen Pathos des 
Opfertypus zu verhalten, wo der sekundäre Narzißmus zugunsten der ur- 
sprünglichen narzißtischen Allverbundenheit lustvoll abdankt, denn hier löst 
sich das kleine Ich in einer höheren Einheit auf, der regressive Prozeß ist noch 
weiter fortgeschritten als bei der humoristischen Einstellung. 

Man spricht auch in den anderen Künsten von Pathos. Pathos ist ein Fall 
von gesteigertem Ausdruck und Steigerung, ja Übertreibung des Ausdrucks 
wird von manchen als Forderung der Kunst überhaupt bezeichnet.!8 Was das 
Pathos in den bildenden Künsten anbelangt, so entströmt dieses wie nirgends 





17) Die befremdende Tatsache, daß dem Über-Ich, „sonst einem gestrengen Herrn“, von 
Freud im Humor eine liebevoll-tröstliche Haltung gegen das Ich zugeschrieben wird, sucht 
einer der Autoren (Winterstein in den „Beiträgen zum Problem des Humors“) dadurch 
verständlicher zu machen, daß er beim Humoristen ein stark ausgeprägtes mütterliches 
Über-Ich annimmt; die dem väterlichen Über-Ich-Anteil eigentümliche Aggression erscheint 
hier bloß sublimiert als entwertende, nicht ernstnehmende Betrachtung. Damit glaubt 
Winterstein auch das von den Ästhetikern hervorgehobene „Janusgesicht des Humors“ zu 
erklären. — Einen Schritt weiter geht Bergler. In einer kürzlich fertiggestellten klini- 
schen Arbeit über Psychologie des Humors, die in „The Psychoanalytic Review“ erscheint, 
wird das Über-Ich des Humoristen als keineswegs bloß gütig dargestellt, wofür die Tatsache 
spricht, daß der Humor eine unglückliche,. das Ich demütigende Situation zur Voraussetzung 
hat, z.B. Galgenhumor. Der Humor des Über-Ichs hat etwas von einem galanten Henker 
an sich, der mit dem Delinquenten scherzt. Bergler bezweifelt die ausschließlich tröstende 
Funktion des Über-Ichs im Humor, meint, daß das Über-Ich das Ich im Humor keineswegs 
bloß tröstet, sondern auch bösartig verhöhnt, und kommt zum Ergebnis, daß der Humor 
einer Angriffstechnik und wehmütigen Anklage des Ichs gegen das zur Plage gewordene 
Ich-Ideal licht und in diesem Sinne den Phänomenen der Manie, des Witzes, der 
Komödie und Heuchelei anzureihen ist, wie dies bereits in „Übertrabung und Liebe“ von 
Jekels und Bergler angenommen wurde. 

. 18) Siehe auch die Arbeit. von F, Kainz, Das Steigerungsphänomen als künstlerisches 
Gestaltungsprinzip, Leipzig 1924. 








Zur Psychologie des Pathos 319 





e Bst den mit überquellendem Leben beladenen erhabenen Renaissancebild- 
werken eines Michelangelo, wir spüren leidenschaftliche, wuchtige Bewegt- 

ein beständiges Ausdrucksfortissimo, aber bisweilen auch Überlebendig- 

und theatralisches Pathos in den Schöpfungen des Barockstils, ein Be- 
streben nach äußerstem Ausdruckspathos in Farbe und Gebärde kennzeichnet 
den Expressionismus, der, wie schon der Name verrät, Seelenzustände 
ausdrücken will. Der spätmittelalterliche Ahnherr dieser modernen Künst- 
lerbewegung ist der große merkwürdige Matthias Grünewald, der in man- 
chen seiner Gemälde bis zur Verzerrung pathetisch wirkt. 

Wir kommen in unseren Untersuchungen zum Ergebnis, daß Pathos eine 
Abwehrtechnik des Ichs im intrapsychischen Kampfe mit dem 
Über-Ich darstellt. Der „Anklage-“ und „Opfertypus“ des Pathetikers er- 
ledigen auf verschiedenen Wegen einen Über-Ich-Konflikt: der eine durch 
Projektion und Aggression, der andere durch Unterwerfung und masochistische 
Hingabe. Es scheint aber, daß Pathos nicht bloß die passive Reaktion des 
Ichs auf einen vom Über-Ich ausgehenden Angriff ist. Im Pathos ist auch 
eine präventive Aggression des Ichs gegen das Über-Ich enthalten. Nicht 
selten wird ja dem Über-Ich dadurch, daß das Ich den „Mechanis- 
mus des Pathos“ einschaltet, eine der wirksamsten Angriffs- 
waffen gegen das Ich aus der Hand geschlagen. Deshalb ist übrigens 
_ auch das pathetische „Sich-in-die-Brust-schlagen“ des Biedermannes ein so 
wirksames Mittel des Selbstbetruges. 











Zur Psychologie älterer Biographik 
(dargestellt an der des bildenden Künstlers)! 
Von : 


Ernst Kris 
Wien 


I: 
Meine Damen und Herren! 


Ich muß mir heute Ihre besondere Nachsicht erbitten. Denn es handelt 
sich um ein Thema, dem alle Bedenken, die wir Vorträgen aus dem Anwen- 
dungsgebiet der Psychoanalyse entgegenbringen, in besonderem Maße gelten, 
Lassen sich in solchen Vorträgen ermüdende Umwege, die zu den psychologi- 
schen Fragestellungen führen, sonst nur schwer vermeiden, so sehe ich mich 
heute gezwungen, Sie zu einem besonders langen Umweg einzuladen, und kann 
Ihnen die Ergebnisse nicht als in irgend einem Sinn unerwartet ankündigen. 

Das wichtigste Motiv, meine Bedenken zu unterdrücken, war, daß ich 
mich vor Ihnen auf einige seiner Ergebnisse berufen habe, als ich vor zwei 
Jahren die Ehre hatte, über einige Werke des geisteskranken Bildhauers Franz 
Xaver Messerschmidt zu berichten.” Was ich heute zu sagen vorhabe, ist als 
Fortsetzung einiger Problemstellungen gedacht, die damals angekündigt wur- 
den, als Fortsetzung in sachlicher Hinsicht, aber auch hinsichtlich einer 
methodischen Frage. 

Ich kann es nicht vermeiden, diese Frage nochmals kursorisch zu ent- 
wickeln. Sie betrifft Grundsätzliches zur Anwendung der Psychoanalyse auf 
die Geisteswissenschaften. 

Schon als Einleitung zu jenem älteren Vortrag versuchte ich, darauf hin- 
zuweisen, daß die Anwendungen der Psychoanalyse auf die Geisteswissen- 
schaften in ein neues Stadium zu treten scheinen und sich mehrere Aufgaben 
solcher Arbeiten unterscheiden lassen, Aufgaben, die, obgleich sie auch heute 
noch nebeneinander bestehen, sich doch nacheinander ergeben haben; der 
Wichtigkeit nach sind sie heute nicht mehr gleichwertig. Denn die erste 
dieser Aufgaben, die Befunde der Psychoanalyse an dem großen Material zu 
sichern, das die Geschichte der Menschheit bietet, kann uns nicht mehr so 





1) Vorgetragen in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung am 31. Oktober 1934. — 
Bei der Niederschrift wurden Diskussionsbemerkungen von Anna Freud und Heinz Hart- 
mann verwertet. 

2) Vgl. dazu Imago XIX (1933), S. 384 ff.: „Ein geisteskranker Bildhauer. Die Charakter- 
köpfe des Franz Xaver Messerschmidt.“ 


Zur Psychologie älterer Biographik 321 









"Jockend sein, seit wir dieses Mittels nicht mehr bedürfen, um Zweifler von der 
Richtigkeit unserer Anschauungen zu überzeugen. Der zweiten Aufgabe — 
die Ergebnisse der Psychoanalyse da einzusetzen, wo andere Forschungszweige 
‘keinen Zugang haben, gleichsam in die Bresche zu treten, wo andere versagt 
haben — stehen gewichtige Hindernisse im Wege, denn die Auswahl des Ma- 
terials, das uns geboten wird, ermöglicht es in vielen Fällen nicht, unseren 
Ansatz zu finden. Zum besseren Verständnis dieses Sachverhaltes darf ich 
mich auf ein schon verwendetes Beispiel berufen: Hätten Sie eine Kranken- 
geschichte psychoanalytisch zu interpretieren, die ein gewissenhafter Psych- 
jater vor einem halben Menschenalter verfaßt hat, so würden Sie gewiß der 
Schwierigkeit eingedenk sein, die darin liegt, daß er als unwichtig unterdrückt 
haben mag, was Ihnen als wichtig, als ausschlaggebend erscheint. Die nächst- 
liegende Nutzanwendung besagt, daß auch bei Arbeiten aus dem Anwendungs- 
gebiet fertige Ergebnisse der Forschung in der Regel nicht verwertet werden 
können, sondern die Forschungsarbeit mindestens zum größten Teil neu zu 
verrichten ist. So führt denn unsere zweite Aufgabe selbst schon zur dritten 
hinüber, der es zufällt, auf neue Problemstellungen innerhalb der 
Geisteswissenschaften hinzuweisen. Denn die Kolonisten, die nach 
einem Worte Freuds die Pioniere ablösen, bringen als Saatgut die neue Lehre 
mit, eine wissenschaftliche Psychologie, die an Stelle jener popularwissen- 
schaftlichen Ansichten zu treten vermag, die die Geisteswissenschaften bisher 
durchziehen. 

Das Thema dieses Abends nun möchte als Beispiel einer solchen Kolonisten- 
arbeit gelten; mindestens in einem Sinn. Die Arbeit der Kolonisten ist von 
der der Pioniere deutlich unterschieden. Diesen bleibt das Verdienst erster 
Besitznahme; auf ihrem Zuge mögen sie ihre Fahne bald da, bald dort auf- 
pflanzen; sie leben von den ersten, leichter zugänglichen Früchten des Bodens; h 
um die Vorbereitung künftiger Ernte zu sorgen, fällt ihnen nicht zu. Das h 
wird erst die Aufgabe der Siedler, deren Schaffen auf dauernden Besitz und | 
Ertrag gerichtet ist. Sie dürfen des Mutes entbehren, der ihre glücklichen | 
Vorgänger auszeichnete, aber sie bedürfen der Ausdauer. Mit diesem Bilde l 
soll gesagt sein, daß ich heute nicht großen, methodisch weit ausgreifenden 
Gedanken nachzugehen plane, sondern versuchen möchte, ein Stück 
Kasuistik aus dem Anwendungsgebiet vorzubringen; Kasuistik mit allen 
Nachteilen, die ihr anhaften, aber vielleicht auch mit einigen Vorteilen, die 
nur sie eröffnet. Sie zwingt uns, auf Einzelheiten einzugehen, ihnen mehr 
Aufmerksamkeit zu widmen als der Zusammenhang zu fordern scheint — 
aber sie lehrt uns angesichts des lebendigen Zusammenhanges, in den sie uns 
führt, wie begrenzt unser Wissen, wie hypothetisch unser Erkenntnisbesitz 
ist, und nicht zuletzt darin liegt ihr propädeutischer Wert. | 














mm mm Dom ba Som Gm men EEE Eee meer ommmgenEe mE on? neem rem em nn ng ot men TE EEE EEE Te mem — | 
322 Ernst Kris . 





Il. 


Ehe ich auf die Fragestellung eingehen kann, die im Mittelpunkt dieses 
Vortrages stehen soll, sei die Richtung, in die unsere Überlegungen führen, 
durch einen Gedanken Freuds angedeutet.? Er schildert die Beziehung der 
Biographen zu ihrem Helden, „an den sie in eigentümlicher Weise fixiert seien“, 
und kennzeichnet die Idealisierungsarbeit der Biographen durch den Hinweis, 
daß sie ihnen dazu verhelfe, „den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen 
Vorbilder einzutragen“. Damit sind wir auf eine Aufgabe hingewiesen, die 
man als „Psychologie der Biographik“ begreifen mag. 

Man darf zunächst auf die Schwierigkeiten des Themas hinweisen, darauf, 
daß die Frage so umfassend sei, daß man kaum angeben könne, von welcher 
Richtung aus man sich ihr nähern solle; ob man etwa an möglichst zahl- 
reichen Fällen die psychische Einstellung der Biographen zu ihren Helden 
prüfen oder besser diese Aufgabe an einigen paradigmatischen Fällen zu lösen 
versuchen solle. Aber sowohl gegen den Versuch einer statistischen als gegen 
den einer selektiven, aber eindringlicheren Erforschung läßt sich einwenden, 
daß uns letztlich doch nur die Auskunft zu befriedigen vermöchte, die wir 
unter besonderen psychologischen Versuchsbedingungen — von der. heuristi- 
schen Seite her ist auch die psychoanalytische Behandlung eine Versuchsbedin- 
gung — erhalten; dabei aber ist man wieder zu sehr von Bedingungen des 
Zufalls abhängig, als daß sich eine solche Untersuchung planmäßig anstellen 
ließe. 

Indessen bietet sich uns ein anderer Weg, um uns der Fragestellung, die wir 
im Auge haben, zu nähern, nicht der Psychologie der einzelnen Biographen 
freilich, sondern der der Biographik als eines — zunächst anonymen — 
psychischen Geschehens. Dabei kann es sich nur um einige grobe und schema- 
tische Einsichten handeln. Als Ausgangspunkt dient uns der Befund einer 
Wissenschaft, die zu den am besten begründeten gehört, deren methodisches 
Fundament seit Jahrhunderten gesichert und deren Schlußverfahren dem der 
Psychoanalyse in merkwürdiger, aber gewiß nicht zufälliger Weise ver- 
schwägert ist:* die philologische und historische Kritik geschicht- 
licher Quellen. Sie belehrt uns darüber, daß in der älteren Biographik zu- 
weilen bestimmte typische Wendungen, stehende Formeln, mit ‘besonderer 
Häufigkeit begegnen. 

Aus diesem Sachverhalt ließe sich zweierlei ableiten: Man dürfte hoffen, 





3) Ges. Schr., Bd. IX, S. 448. 

4) Die Art dieser Verwandtschaft, auf die schon Freud durch den Vergleich der Arbeits- 
weise der Psychoanalyse mit der der klassischen Archäologie hingewiesen hatte, haben Heinz 
Hartmann (Die Grundlagen der Psychoanalyse, Leipzig 1927) und S.Bernfeld (Über. den 
Begriff der Deutung in der Psychoanalyse, Ztschr. f. angew. Psychol. XLII, 1932) ausführlich 
dargestellt. 














da der gleiche Vorfall, der gleiche Charakterzug in den Lebensbeschreibungen 
gewisser führender Persönlichkeiten öfters begegne, etwas von ihren gemein- 
samen Eigenschaften zu erfahren, und könnte sich dann die Aufgabe stellen, so 
auf statistischer Grundlage einen Beitrag zur Charakterologie des Genies zu 
gewinnen. Aber diese Forschungsrichtung setzt die Verläßlichkeit der 
typischen Berichte voraus, setzt voraus, daß sie in jedem Falle zutreffen. Eben 
daran zweifelt eine zweite, skeptischere Fragestellung. Sie meint, aus der 
Gleichartigkeit der Berichte vor allem auf die gleiche Einstellung der Bio- 
graphik und ihres Publikums schließen zu dürfen. 

Lassen Sie mich diesen zweiten Standpunkt und seine Berechtigung in gröb- 
stem Schema an einem Beispiel illustrieren. Sie kennen alle den Bericht über 
das Verhalten des Archimedes bei der Erstürmung von Syrakus; daß er den 
in seine Arbeitsstätte dringenden Soldaten sein ‚„Noli turbare circulos meos“ 
entgegenrief. Begegnen wir nun dem gleichen Berichte öfter in der Biogra- 
phik älterer oder neuerer Zeit, so wird uns der Gedanke an eine so auffällige 
Wiederholung des gleichen Vorfalles und des gleichen Verhaltens ungläubig 
stimmen, und wir werden der Auffassung zuneigen, die Biographik verwende 
den aus dem Leben des Archimedes bekannten Vorfall, um die Versenkung 
des geistig Tätigen in seine Welt zu kennzeichnen. In der Tat hat denn auch 
die Quellenkritik längst nachgewiesen, daß solche typische Berichte — ich 
nenne sie einfach Formeln der Biographik — in älterer Zeit auch da 
eingesetzt werden, wo dem Biographen über den Lebenslauf des Helden nichts 
bekannt war, nichts bekannt sein konnte. 

Aus diesen Erwägungen lassen sich die Leitsätze der Untersuchungsmethode, 
die ich Ihnen vorschlage, mühelos ableiten. Sie beschäftigt sich mit der 
Deutung biographischer Formeln ohne Ansehung ihres Wahrheitsgehaltes, ob- 
gleich auch in dieser Hinsicht die Formeln lehrreich sind; sie streben nach 
großer Lebensnähe und wirken stets „glaubwürdig“: man kann von ihrer 
„Plausibilität“ sprechen. Als Ausgangsbefund aber ist für uns allein erheblich, 
daß es sich um eine stehende Wendung der Biographik handle. Ist dieser 
Umstand gesichert, so erhebt sich die zentralere Frage, welchen Eigen- 
schaften eine bestimmte Formel ihre Beliebtheit und Verbrei- 
tung danke. 

Wir nehmen dabei bewußtermaßen eine Wendung vor, bei der zunächst 
nicht die Persönlichkeit des Helden, sondern die Tendenz der Biographik in 
Rede steht. Diese Frage müßte ins Uferlose führen, wollte man den Versuch 
wagen, sie ohne eine Begrenzung zu prüfen. Die Struktur der älteren Bio- 
Sraphik selbst bietet uns einen Ansatz zur Einschränkung des Themas. Denn 
die ältere Biographik ist zünftisch gegliedert; die Gruppen einzelner Bio- 
graphien sind nach der soziologischen Stellung der Helden streng getrennt. 


Zur Psychologie älterer Biographik 323 





























JERRSBRUR 202 > Ve AR DOREERENE SEAN ROT TBINEReHe. NE SEN TEE TONERRBRRRRNNERE 


324 Ernst Kris 





Fassen wir nun für die Zwecke unserer Untersuchung einen bestimmten Be- 
rufsstand ins Auge, so wird in unserer Einsicht in den typischen Formel- 
bestand auch enthalten sein, wie Männer dieser oder jener Gruppe der Um- 
welt erscheinen, was ihre Stellung im besonderen auszeichnet, was für ihr 
Publikum ihre besondere Eigenart ausmacht. Damit ist zugleich die Brücke 
gegeben, die von der Psychologie der Biographik zu der ihrer Helden führt. 
Denn man darf vermuten, daß der biographischen Formel auch im Wesen 
des Helden etwas entgegenkomme, daß sie ein Stück seiner Eigenart — in 
einer bestimmten Einstellung freilich — zu erfassen suche. 

Die biographischen Berichte nun — der Formelbestand, von dem ich aus- 
gehe, bezieht sich auf bildende Künstler, ein Material, an dem mir auch 
vor mehr als einem Jahrzehnt die Problematik, die ich eben zu kennzeichnen 
versuchte, aufgefallen war. Die Sammlung des Materials — eine sinnvolle 
Aufgabe erst, seit wir durch psychologische Befunde und Anschauungen auch 
den Zugang zu seiner Auswertung zu besitzen meinen, und eben dadurch ein 
Beleg für die vorher entwickelte Anschauung, nach der der auf Grund psycho- 
analytischer Einsicht gewonnene neue Gesichtspunkt innerhalb der 
Geisteswissenschaften auf neue Forschungsaufgaben hinführe — liegt 
unter dem Titel „Die Legende vom Künstler, ein geschichtlicher Versuch“ als 
kleines Buch vor,’ das ich gemeinsam mit Otto Kurz verfaßt habe. Die Be- 
dingungen gemeinsamer Arbeit verboten es, den Mitverfasser, mehr als un- 
vermeidlich, mit dem Gewicht der psychoanalytischen Anschauungen zu be- 
lasten, die mir die Themenstellung nahegelegt hatten; ich durfte mir schon 
bei der Abfassung dieser Schrift vorbehalten, einiges aus ihrem Inhalt unter 
Betonung der psychologischen Fragen nochmals zu behandeln. Lassen Sie 
mich hinzufügen, daß neben manchen Gründen, die gegen eine solche Teilung 
und Wiederholung der Arbeit sprechen, auch einer sie empfiehlt: Diese 
Teilung der Arbeit scheint eine erträgliche und doch nicht gewissenlose Ver- 
bindung der Sammlung des Materiales und seiner psychoanalytischen Deutung 
zu ermöglichen. 

An dem Material, dessen Eigenart so gekennzeichnet sei, möchte ich an 
zwei Beispielen zwei gesonderte Probleme zu behandeln versuchen, eines, das 
die Grundlagen der Biographik im allgemeinen ein Stück weit be- 
leuchten mag, und ein anderes, das im besonderen die Stellung des bilden- 
den Künstlers betrifft. 





s) Wien, Krystallverlag 1934. Die im folgenden mitgeteilten Fakten sind dieser Arbeit 
entnommen, in der alle näheren Angaben über das herangezogene Material leicht aufzu- 
finden sind. 

6) Dieser Teil ist als Vorarbeit zu einer „Psychologie des bildenden Künstlers“ gedacht, 
einem Thema, das im folgenden nur soweit berührt werden soll, als sich dies aus der hier 
eingehaltenen Untersuchungsbedingung zu ergeben scheint. 














F Zur Psychologie älterer Biographik 325 





Und nun — Sie sehen, wie undankbar solche Themen sind — muß ich Sie, 
statt Sie in medias res zu führen, mit einer weiteren Einleitung befassen, die 
einiges Allgemeine über die Biographik vom bildenden Künstler mit- 
teilen soll. 


III. 


Die Entstehung einer Künstlerbiographik setzt eine besondere Wertschätzung 
des Künstlers durch seine Umwelt voraus, als deren erstes Anzeichen es gelten 
muß, daß sein Name genannt wird. Ich darf daran erinnern, daß das nicht zu 
allen Zeiten geschah, daß wir Kunstwerke von höchstem Wert bei Völkern 
und aus Zeiten kennen, deren Geschichte uns vertraut ist, ohne daß uns 
Künstlernamen überliefert wären. Suchen wir sehr schematisch zusammen- 
zufassen, unter welchen Bedingungen der bildende Künstler ins Licht der Ge- 
schichte tritt, so darf vielleicht die Formulierung gewählt werden, es ge- 
schähe, wenn künstlerisches Schaffen sich aus weiterem Verbande löse, einen 
Eigenwert empfange, etwa nicht mehr allein in kultlicher Abhängigkeit wirke 
und zu einem autonomen Gebiet menschlicher Tätigkeit und menschlicher 
Wertung werde. Der Prozeß dieser Ablösung vollzieht sich schrittweise. Nur 
in zwei Kulturkreisen hat er zur Ausbildung einer eigenen Künstlerbiographik 
geführt: im fernen Osten und im Mittelmeerbecken. Zwischen beiden be- 
stehen hinsichtlich des biographischen Formelbestandes auffällige Übereinstim- 
mungen. Die europäische Tradition, die hier allein berücksichtigt werden 
kann, bietet eine Eigenart, auf die ich vorbereiten muß. Sie zeigt einen „zwei- 
zeitigen Ansatz“. Der eine liegt im Griechentum und läßt sich in die Zeit um 
300 v.Chr. zurückverfolgen, der andere in der Renaissance, in Italien; zwi- 
schen beiden klafft die anonyme Kunst des Mittelalters. Auch die größten 
Meisterwerke dieser Zeit künden nicht den Ruhm ihres Schöpfers. 


So grob dieser Abriß ist, so ist er doch für diesen Zweck ausreichend. Ich 
habe noch hinzuzufügen, daß alle durch die Literatur der Griechen und Römer 
bekannten Formeln der Künstlerbiographik in der Renaissance neu belebt 
werden, und daß einige neue hinzutreten. Denn die Stellung des Künstlers 
ist in der Neuzeit eine andere als im Altertum. Der bildende Künstler bei den 
Griechen und Römern ist geringen Standes, ist „Banausos“, und jene groß- 
artige Wertschätzung, die andere schöpferische Gestalten — die Dichter, die 
Sänger, die Dramatiker oder Philosophen — auszeichnet, bleibt ihm versagt; 
ihn begnadet die Gottheit nicht, ihm fehlt jener „Enthusiasmus“, jene In- 
Spiration, die das Schaffen der anderen ermöglicht. Die Renaissance erhöht 
seine Stellung sehr wesentlich; er steht unter ihren geistigen Führern sogar an 
bevorzugter Stelle. Die Summe von Tatsachen, die kurz angeführt wurde, 
ist einer weiteren, auch einer psychologischen Aufklärung zugänglich; wenn 

Imago XXI/3 22 





























Te 


326 Ernst Kris 





ich sie hier ohne weiteren Interpretationsversuch und in äußerster Ver- 
kürzung vorbringe, geschieht es, um mich nun endgültig dem Thema zu- 
zuwenden. 


IV. 


Das allgemeine Problem der Biographik, das ich an Hand des Materials 
aus den Lebensbeschreibungen der bildenden Künstler prüfen möchte, bezieht 
sich auf die Stellung, die der Jugend des Helden in der Biographik zukommt, 
Es empfiehlt sich zunächst, grundsätzlich zwei Standpunkte zu unterscheiden: 
Der eine erblickt in der Jugend des Helden die Vorgeschichte seines 
Lebens. Diese Auffassung, die wir als die unsere ansehen dürfen, hat sich 
allmählich entwickelt, begegnet etwa seit dem 18. Jahrhundert in breiterer 
Schicht und hat neues und entscheidendes Gewicht erhalten, seit durch die 
Psychoanalyse die Psychologie selbst historische Orientierung erhielt. 

Die andere Anschauung sieht in Erlebnissen und Leistungen des jungen 
Helden — des Kindes überhaupt — nicht dessen Vorgeschichte, sondern Vor- 
zeichen seiner künftigen Artung. Es ist die umfassendere, die ältere An- 
schauung; sie wurzelt im mythischen Denken der Menschheit und ragt fast 
ungebrochen in unsere Zeit. Ihr Platz ist hier nicht das wissenschaftliche 
Denken. Aber in unserem vor- oder außerwissenschaftlichen Verhalten ist sie 
lebendig.” 

Diese Unterscheidung ist noch durch eine Angabe zu ergänzen: Nachrichten 
über die Jugend des Helden sind in der Biographik älterer Zeit selten; sie be 
zeichnen stets den besonderen Rang der Persönlichkeit. So kann die neue 
Bedeutung, die die Renaissance ihren Künstlern zuerkennt, am besten durch 
die Feststellung gekennzeichnet werden, daß sie in biographischer Darstellung 
ihrer Jugend Aufmerksamkeit widmet. Diese Aufmerksamkeit hat in einer 
außerordentlich verbreiteten biographischen Formel einen Niederschlag ge- 
funden. 

Sie wird zuerst von Giotto, dem bedeutendsten italienischen Maler des 
14. Jahrhunderts, berichtet und gewinnt weite Verbreitung, als die italienische 
Künstlerbiographik der Renaissance ihn beinahe an die Spitze der großen 
nationalen Erneuerung der Kunst rückt. Beinahe an die Spitze, denn einer 
älteren Generation noch gehört ein anderer an, Cimabue, ein Maler, aus 
dessen Leben uns so gut wie nichts bekannt ist. Die Namen beider erscheinen 
nicht etwa erst in der Künstlerbiographik des 15. und 16. Jahrhunderts neben- 
einander, vielmehr reicht die Verbindung noch in die Lebenszeit des Giotto 
zurück. Beide Namen begegnen in Dantes „Göttlicher Komödie“; dort wird 
berichtet, daß der einst strahlende Ruhm des älteren, des Cimabue, von dem 





7) Als legitimer Niederschlag innerhalb der Wissenschaft sind manche Ergebnisse und 
Zielsetzungen der Erb- und Konstitutionsforschung anzusehen. 








Zur Psychologie älterer Biographik 327 

























Giottos verdunkelt wurde. Der Zusammenhang, in dem die Stelle steht, 
sichert ihren Sinn: Dante gibt uns ein Beispiel für die Vergänglichkeit irdischen 
"Ruhms, ein „exemplum morale“‘. Die Stelle in der Divina Commedia, ein 
Datum aus dem Leben des Cimabue, einige Daten aus dem des Giotto, dessen 
große künstlerische Leistungen uns vor Augen stehen, während der Stil des 
Cimabue im Dunkel zu zerfließen scheint, ist alles, was an gesicherter Grund- 
lage einer Biographik auf uns gekommen ist. 

Die knappe Stelle bei Dante aber haben die Kommentatoren des Dante — 
die Auslegung der Divina Commedia war in Florenz Lehrgegenstand und ein 
Boccaccio zu Zeiten „Ordinarius“ des Fachs — bald anders interpretiert; 
sie haben den Versen eine historische Aussage entnommen und lassen Giotto 
zum Schüler des Cimabue werden — wofür weder ein dokumentarischer 
Grund vorhanden war noch auch in dem Stil beider Künstler Gründe zu fin- 
den sind — wir kennen nur Gegengründe — und bald bildet sich, offenbar 
geformt von der mündlichen Überlieferung, eine Fabel aus, die zuerst von 
der Dante-Kommentatur überliefert, endlich folgende Gestalt gewinnt: 
Giotto, ein Bauernbub, hütet die Herde seines Vaters und zeichnet die Tiere der 
Herde in den Sand, da kommt zufällig Cimabue des Weges, erkennt die wunderbare 
Begabung des Knaben und nimmt den Bauernbuben zu sich, der unter seiner Leitung 
zu dem großen Ingenium der neuen italienischen Kunst heranwächst. 

"Die Fabel wird schnell Gemeingut der Biographen, wird auf alle möglichen 
Künstler übertragen, auch auf solche, deren uns wohlbekannte Herkunft den 
berichteten Vorfall ausschloß; sie wird mit Vorliebe da verwendet, :wo dem 
Biographen keine Nachrichten vorlagen, wo er gleichsam ein Stück Biographik 
zu fingieren hatte. Wie trefflich das Formelmotiv den Anforderungen der 
Biographik entsprach, mag man aber daraus ersehen, daß die Fabel noch in 
der Künstlerbiographik des 20. Jahrhunderts begegnet. Angehörige Segantinis 
mußten sich dagegen verwahren, daß in einer bekannten Biographie die Fabel 
in seine Jugendgeschichte verwoben wurde, und auch in der Lebensbeschreibung 
eines noch lebenden Künstlers, des südslawischen Bildhauers MeStrovic, findet 
man sie wieder. Hier freilich soll der Künstler sie von sich selbst erzählt 
haben. Sie ist so typisch für die Jugendgeschichte des Künstlers geworden, 
daß auch die Dichter sich ihrer bedienen: Andersen hat sie in einem seiner 
Märchen verwendet, und Octave Feuillet hat sie auf die Jugend eines musi- 
kalischen Genies übertragen, dem er eines seiner Theaterstücke widmet. 

" So kurz die berichtete Fabel auch ist, so setzt sie sich doch aus mehreren 
Motiven zusammen, deren einige aus dem klassischen Altertum stammen. 
Das allgemeine Streben etwa, berühmte Männer miteinander. nachträglich in 
Berührung zu bringen, ist uns als Ferment der griechisch-römischen Ge- 
Schichtsschreibung ebenso bekannt wie der Versuch, auf diese Weise ver- 


22# 






































328 \ . Ernst Kris 





schiedene Generationen zu verbinden und so der „Genealogisierung“ zu dienen; 
eine selbständige Wurzel — in peripathetischer Anschauungsweise — hat dabei 
das Element des Zufalls und das des sozialen Aufstiegs, der in unserem Fall 
aus dem Bauernsohn Giotto den gefeierten Künstler macht. Auch in den sehr 
zahlreichen Varianten, die die Fabel von der Entdeckung des Talentes er- 
fährt, — eine von ihnen schmückt bald auch den Lebenslauf des Cimabue 
aus —, bleiben als Kernmotiv gerade der soziale Aufstieg und die wunderbare 
Fähigkeit des Künstlerkindes gewahrt. 

Fragen wir nun nach den Eigenschaften, die der Fabel ihre Beliebtheit und 
Verbreitung sichern. Ich glaube, daß ich mich hier kurz fassen und zunächst 
sagen darf, daß die Fabel von der Entdeckung des Talentes in auf- 
fälliger Weise an das Gebiet der Sage und des Mythos erinnere. Dann aber er- 
hebt sich die speziellere Frage, wie diese Verknüpfung beschaffen sei. Es ist 
leicht zu bemerken, daß die Fabel von der Entdeckung des Talentes mehrere 
Übereinstimmungen mit jenem Kreis von Sagen zeigt, die wir als Mythen 
von der Geburt des Helden durch Rank kennengelernt haben. Sie 
wissen auch, wo in unserem Denken, wo in der Funktionsweise unseres onto- 
genetischen Modells — denn ein ontogenetisches Modell ist es, das wir 
als Psychoanalytiker den Geisteswissenschaften bieten — die Bereitschaft zu 
dieser Mythenbildung aufgezeigt werden kann: in den Konflikten der Familien- 
situation, aus denen der Familienroman entspringt. Aber es empfiehlt sich, 
beide Fabeln einander gegenüberzustellen, ihre gegenseitige Beziehung genauer 
zu prüfen. Die Übereinstimmung erstreckt sich vornehmlich auf gewisse Ge- 
meinsamkeiten von Umwelt und Situation, etwa den Hirtenstand des Helden 
und die Veränderung seines Milieus. Mit einigen Sagen von Helden, die nur 
zum Teil in jene von Rank besprochenen Gruppen fallen, ist eine noch engere 
Beziehung festzustellen, mit Berichten, in denen der Held an seiner Leistung 
erkannt wird; solche wunderbare Leistungen begegnen im Mythos nicht 
selten — ich nenne nur. eine, die berühmteste, erinnere Sie an den jungen 
Herakles, der die Schlangen erwürgt, und möchte Sie nicht weiter mit dem 
Hinweis auf Parallelen aus dem Gebiet der Mythenforschung, einem weiten 
Bereich der Wissenschaft, in dem ich mich nur als Gast fühlen darf, befassen, 
sondern nur einen dieser Berichte kurz erwähnen. Er bezieht sich auf die 
Kindheit Jesu, findet sich in einem der apokryphen Evangelien, in denen die 
Heilsgeschichte des Neuen Testamentes synkretistisch erweitert und entstellt 
wurde, und ist durch die schöne, aber nicht getreue Wiedergabe in Selma 
Lagerlöfs „Christuslegenden“ allgemein bekannt geworden. Der Bericht 
erzählt, wie Christus als Kind Vögel aus Ton geformt hat und diese Vögel 
durch Anhauchen zu beleben wußte; es steht diese Eigenschaft, die den Knaben 
als Weltschöpfer und Künstler kennzeichnet, im großartigen Verbande jener 











Zur Psychologie älterer Biographik 329 





Gedanken, die als Künstlerschaft Gottes den: alttestamentarischen Genesis- 
bericht einleiten; im apokryphen Evangelium freilich ist diese Tätigkeit nicht 
nur als göttliche Freiheit, sondern auch als böser Zauber geschildert; in die 
Charakteristik des Gotteskindes sind Züge gemischt, die der heidnischen Vor- 
stellung von Willkür und Allmacht der Gottheit entstammen. Der Bericht 
vom Christusknaben als Tierbildhauer war zweifellos jenen Florentinern ge- 
läufig, aus deren Mitte die Fabel von der Entdeckung des Talentes stammt. 
Wir stoßen damit gleichsam auf eine zweite Wurzel ihrer Entstehung und 
dürfen nun fragen, wo dieser besondere Zug der Fabel im Seelenleben der 
Menschen eine Entsprechung findet: die besondere Vorstellung von 
der wunderbaren Begabung der Kindheit. Zunächst möchte ich ein 
Beispiel einschalten, das nicht den ganzen Umfang der Frage deckt, sich ihr 
aber nähert und eine Brücke zwischen der Vorstellung vom Wunderkind und 
dem Familienroman darstellt: Ein 25jähriger junger Mann berichtet in der 
Analyse, daß er, im fünften oder sechsten Lebensjahr, die Phantasie ent- 
wickelt habe, er sei der Sohn des Kronprinzen Rudolf von Österreich. Neben 
der typischen und schrittweisen Ablösung der Phantasie aus dem Machtbereich 
des Odipuskomplexes — dem Schritt also vom unehelichen zum ehelichen, den 
wirklichen Eltern nur unterschobenen Sohn des Prinzen — rückt ein anderer 
Zug mehr und mehr in den Vordergrund, der, auf wunderbare Weise 
entdeckt zu werden, um, wozu er allein befähigt sei, sein Land vor drohen- 
den Thronstreitigkeiten zu bewahren. Dieser Teil der Phantasie ist dann von 
schicksalhafter Bedeutung geworden; erst die Analyse konnte die Rolle, die 
die Erwartung künftiger Entdeckung im Phantasieleben und endlich auch in 
der Lebensgestaltung spielte, aufweisen. 

Ich kann mich dem Eindruck dieses Beispiels schwer entziehen und möchte 
vermuten, daß ähnliche Phantasien den typischen Familienroman öfter be- 
gleiten. Es wäre dann die Phantasie von der Entdeckung des Helden die Löt- 
stelle. Aber da es sich hier nur um eine Vermutung handelt, sei der Faden 
nicht weiter verfolgt.$ h 

Einer anderen und näherliegenden Erklärung ist nun zu gedenken. Man 
mag der hier vorgebrachten Vermutung zustimmen, den einen Teil der Hypo- 
these für gerechtfertigt halten und annehmen, in der Fabel von der Entdeckung 
des Talentes sei etwas enthalten, was sich mit dem Familienroman ‘verbinden 








8) In einer anderen Analyse konnte ich eine ähnliche Phantasie — freilich in glücklicher 
Rationalisierung — kennenlernen. Ein darstellender Künstler — in dessen Leben das „Ent- 
decktwerden“ füglich eine erhebliche Rolle spielen durfte — verband mit der Phantasie plötz- 
licher Entfaltungsmöglichkeit für sein Talent die in Träumen verratene Vorstellung, .von 
der Vater-Imago des Entdeckers ein „richtiges“, d.h. ein erwachsenes Glied geschenkt zu 
erhalten. Den Hintergrund dieser Phantasie bildete der alte Wettstreit mit dem in 'dem- 
selben Kunstzweig wie der Patient als Liebhaber erfolgreich tätigen Vater, 










nn — — —  _ 
330 Ernst Kris i 





lasse; aber das gelte, so könnte man sagen, nur für die Einkleidung der Fabel, 
Es liege ihr.ein empirischer Befund zugrunde, die frühe Begabung des künftigen 
Künstlerkindes — und dieser empirische Befund erst gebe den Anlaß zu der 
Ausschmückung des Berichtes. Diesen Erwägungen zu widersprechen bieter 
sich kein Anlaß.: Wir hatten schon einleitend darauf hingewiesen, daß die bio- 
graphische Formel den Charakter des Helden zu erfassen strebe, seiner Eigen- 
art angepaßt sei. Das Faktum der Frühreife sei ein solcher Befund. Indessen 
der letzte Teil des Schlusses ist nicht zu begründen; weder scheint die Neigung 
zum bildenden Künstler zu jenen zu gehören, die sich regelmäßig sehr früh- 
zeitig ausbilden,’ noch wissen wir, ob sich eine solche Frage aus der Ver- 
knüpfung mit geschichtlicher Bedingtheit ablösen läßt.!° Wohl aber werden 
wir durch diese Erwägungen auf einen anderen Gedanken hingelenkt, auf die 
Überlegung, wie gerne wir bereit sind, die Leistungen der Kinder zu über- 
schätzen, in ihnen das Außerordentliche zu suchen, und wie erstaunt wir immer 
wieder sind, wenn die weitere Entwicklung des Kindes unsere Erwartungen 
nicht rechtfertigt. Mit dieser Einstellung hängt denn auch offenbar ein Ver- 
halten zusammen, dessen wir schon einleitend gedachten: das Suchen nach 
Vorzeichen, mit dem wir schon frühe kindliche Lebensäußerungen begleiten. 
Man darf behaupten — ohne damit das Ganze dieses Verhaltens erfassen zu 
wollen —, daß wir dabei nach dem Wunderkind Ausschau halten, 
Einige’ Determinanten dieses Verhaltens lassen sich leicht erschließen: Dem 
eigenen Kind gegenüber mag man sich bewußt werden, bestimmte Fähigkeiten 
und Eigenschaften, die einem versagt waren, oder auch gerade solche, auf die 
man besonders stolz ist, im Kinde entdecken zu wollen; wir stehen im Banne 
des Narzißmus. Auch mag man sich des ewigen Wunsches nach eigener Kind- 
heit besinnen, der Wert und Leistung der Kindheit zu überschätzen verlockt 
— als sagten wir uns, wie reich. und glücklich die eigene Entwicklung war, 





9) Damit soll keineswegs behauptet werden, daß die Anschauung, schon in frühen. Lebens- 
äußerungen verrate:sich die entscheidende „Anlage“, irrig sei — im Gegenteil, je mehr wir 
Einblick in die Wirkungsweise der Erlebnisse, der historischen Schicksale der Persönlichkeit 
gewinnen, desto eindrucksvoller wird uns die Bedeutung der vorgegebenen biologischen Fak- 
toren. Ihre Eigenart — gerade aus der Verhaltungsweise des ‚Kleinkindes — zu bestimmen, 
scheint. eine wichtige Aufgabe der Forschung ‚zu sein; sie wird zu manchem, was die Trieb- 
stärke und bestimmte Reaktionsweisen des Individuums auf äußere Reize betrifft, vielleicht 
schon in absehbarer Zeit beitragen können. Aber diese Seite unseres (wissenschaftlichen) 
Interesses an frühen Leistungen. des Kindes bedeutet nur ein zusätzliches Motiv, eine Ratio- 
nalisierung für unser Streben, im Verhalten des Kindes nach Vorzeichen zu suchen. — Es 
ist nicht zu.bezweifeln, daß auch „die Ausschau nach dem Wunderkind“ nicht das :Ganze 
unseres Verhaltens deckt. Ein weiteres Motiv sei noch angegeben: Das Interesse für Artung 
und: Eigenschaften gerade des Kleinkindes ist — wie sich aus unmittelbarer Beobachtung, 
analytischer Erfahrung und vor allem aus geschichtlichem und folkloristischem Material zu 
ergeben ‚scheint — oft gesteuert von der Tatsache: pater incertus. . 

19) Eben jene Fabeln, deren Urbild wir hier prüfen, werden öfters als Belege für die frühe 
künstlerische Begabung angeführt, so daß die Gefahr einer petitio prineipii gegeben ist. ' 








Zur Psychologie älterer Biographik 331 









ehe die und die Schicksale und Erfahrungen sie in andere Bahnen drängten. 
"Tiefer noch führt eine andere Überlegung: Die Fähigkeit und die Leistung, die 
unsere Bewunderung dem Kinde zuschreibt — damit soll nicht geleugnet 
_ werden, daß das Kind auch Fähigkeiten besitzt, die dem Erwachsenen ver- 
lorengehen —, mögen eine Überlegenheit vertreten, die wir, selbst Kinder, 
herbeigesehnt haben, um die Befriedigung von Triebansprüchen zu finden 
oder auch um Triebkonflikten zu entgehen. So verketten sich hier „Ver- 
gangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges an der Schnur des Wunsches“ 
(Freud). 

Für die Bedeutung der eigenen Kindheit in unserer Stellung zum Kinde, 
zum Wunderkinde, spricht es, daß von dieser Erwägung her eine Einzelheit 
des Berichtes, von dem wir ausgegangen sind, besser verständlich zu werden 
scheint. Die Fabel von der „Entdeckung des Talentes“ erhält ihren vollen 
Sinn, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß ein Kind bei einer „kindlichen 
Betätigung“ überrascht wird und statt der Strafe, die ihr droht, die Förde- 
rung des Vaters erfährt;!! man mag hierin eine der entscheidenden Voraus- 
setzungen sehen, an die unser Unbewußtes künftige Größe des Kindes zu 
knüpfen geneigt ist, eine der Bedingungen sehen, unter denen wir selbst, nach 
unserer Meinung, den Weg zu Glück und Größe frei gefunden hätten. 

Haben wir so versucht, einige der Motive zu verstehen, deren Zusammen- 
wirken unsere Bereitschaft, nach Wunderkindern Ausschau zu halten, im An- 
satz verständlich erscheinen läßt, so lassen Sie mich jetzt die Worte anführen, 
mit denen ein Denker, in dem wir einen der tiefsten Psychologen unserer 
Tage ehren, unsere Stellung zum Wunderkinde beschrieben hat: 

»... da sitzt man nun als ergrauter Kerl und läßt sich von diesem Drei- 
käsehoch Wunderdinge vormachen. Aber man muß bedenken, daß es von 
oben kommt. Gott verteilt seine Gaben, da ist nichts zu tun, und es ist keine 
Schande, ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Es ist etwa wie mit dem Jesu-Kind. 
Man darf sich vor einem Kinde beugen, ohne sich schämen zu müssen. Wie 
seltsam wohltuend das ist.“ 

Diese Worte Thomas Manns vermöchten zu mannigfachen Überlegungen 
anzuregen und mancherlei ließe sich aus verschiedenartigen Wissensgebieten, 
aus Ethnologie, Folklore und Religionswissenschaft zu der Frage anführen, 
auf die sie hinweisen. Uns aber leiten sie zu unserem Ausgangspunkt zurück: 
Ein entscheidender Bruch geht durch unsere Überlegung, die sich auf den 
Vergleich der Fabel von der Entdeckung des Talentes mit den von der Ge- 
burt des Helden handelnden Mythen bezieht. In diesen ist das ausgesetzte 
Heldenkind von hoher Abkunft und wird gleichsam wieder entdeckt. In 





ı1) Der synkretistische Bericht von der Kindheit Jesu stützt diese Auffassung: denn es sind 
Vögel, die der kleine Thaumaturg formt. 





IE 


332 rnst Kris ” 





unserer Fabel aber ist die Abkunft eine niedere und der Entdecker zugleich 
der neue, der erhöhte Vater. 

Wir können auf diese Unstimmigkeit erst jetzt hinweisen; erst jetzt meinen 
wir imstande zu sein, zu ihrer Aufklärung beizutragen. 

Die frühe und nach Ausdruck drängende Begabung des Künstlerkindes ist 
ein Novum der Künstlerbiographik; erst die Renaissance führt dieses Motiv 
ein. Frühere Zeiten hatten dieses auszeichnende Element anderen Arten von 
Helden vorbehalten, das Altertum im wesentlichen seinen Heroen, das Mittel. 
alter der Legende der Heiligen. Aus dieser Quelle dringt das Motiv in die 
Künstlerbiographik ein. Wie die Begnadung der Heroen und Helden wird 
auch die des Künstlers mit der Gottheit verknüpft. Das geschieht nicht aus- 
drücklich, denn eine neue Mythologie vom Künstler kann sich im scharfen 
Licht abendländischer Kulturentwicklung der Neuzeit nicht ausbilden; aber 
ein wichtiges Element neuzeitlicher Ideologie, die nicht allein, aber auch vom 
bildenden Künstler gilt und in der Kunsttheorie einen reichen Niederschlag 
gefunden hat, die Lehre vom Genie tritt stellvertretend ein, eine Lehre, 
die ihr geistvoller Geschichtsschreiber, Edgar Zilsel, mit gutem Grund 
die Geniereligion nennen durfte. Die Gotteskindschaft des Ingeniums 
gehört zum festen Inventar dieser Lehre. Sie hat in der Künstlerbiographik 
selbst deutlichen Niederschlag gefunden. Das Hauptwerk der Kunstgeschichts- 
schreibung der Renaissance, das 1550 in erster Auflage erschienene Vitenwerk 
des Giorgio Vasari ist als Pyramide entworfen, deren Spitze die alles über- 
ragende Erscheinung Michelangelo Buonarottis bilden sollte. Die Le- 
bensbeschreibung dieses Größten der italienischen Künstler beginnt durchaus 
im Tone des Mythos: 

„Da Gott nun sah, daß gerade in Toscana Bildhauer, Maler und-Baumeister sich 
der edlen Kunst mit größter Hingabe gewidmet hatten, wollte er, daß dieser von ihm 
gesandte Geist Florenz als seine Heimat haben sollte .... Dieser Sohn, von dem ich 
rede, wurde am 6. März, einem Sonntag, gegen 8 Uhr abends geboren. Man gab 
ihm den Namen Michelangelo ohne langes Nachsinnen, wie unter einer höheren 
Macht wollte man dadurch andeuten, daß er über jedes menschliche Maß hinausrage, 
himmlisch und göttergleich veranlagt sei.“ 

Durchaus in den Rahmen des Mythos und in den Ablauf seiner Motive 
fügt es sich, wenn im Anschluß an diese Stelle berichtet wird, daß man den 
Knaben nach Settignano brachte, wo die Frau eines Steinmetzen ihn nährte, 
so daß er ‚bei der Amme schon mit der Milch den Willen zu Hammer und Meißel 
einsog“. 

Fassen wir die Anschauung über den Künstler, die sich in der Renaissance 
seit dem 14. Jahrhundert ausbildet, als eine einheitliche auf, die sich schritt- 
weise entfaltet — und alle Gründe sprechen für diese Auffassung —, so 














Zur Psychologie älterer Biographik 333 





dürfen wir jetzt den Unterschied zwischen der Fabel von der Entdeckung 
des Talentes und dem Mythos von der Geburt des Helden ein Stück weit 
verkleinert sehen. Wir dürfen die Gotteskindschaft des Ingeniums an 
Stelle der äußeren hohen Abkunft des verstoßenen Königssohnes ein- 
setzen. Der Entdecker, dessen Urbild wir in Cimabue kennenlernten, der zu- 
fällig seines Weges daherkommt, entdeckt ein Kind, das Gott zum Ingenium 
erwählt hat. 


Das ist der Einzelfall, an dem ich die These verdeutlichen wollte, daß die 
Biographik dem Mythos entstammt und sich seinem Reich in alter 
Zeit nicht ganz hat entziehen können. Wie die mündliche Florentiner Tra- 
dition auf den Mythos zurückgreift, so dürfen wir uns auch das Schaffen der 
einzelnen Biographen oft von ähnlichen Tendenzen beherrscht denken. Denn 
die Genies, denen wir Biographien gewidmet wissen wollen, sind die unter 
uns, die als Helden imponieren, die Erben der Halbgötter und der Götter 
des Mythos. 

V. 


Haben wir bisher versucht, ein allgemeines Problem der Biographik, 
die Heroisierung des Helden, an Hand einer bestimmten Fassung seiner 
Jugendgeschichte zu beleuchten und aus dem Fortleben mythischer Elemente 
zu verstehen, so soll im folgenden die besondere Kennzeichnung des bilden- 
“den Künstlers an Hand einiger biographischer Formeln im Abriß erörtert 
werden. 

Zwei dieser Formeln nehmen eine Sonderstellung ein; sie sind die kenn- 
zeichnendsten und verbreitetsten. Die eine berichtet, daß der griechische 
Maler Zeuxis, als er das Gemälde seiner Helena für die Stadt Kroton schuf, 
von fünf schönen Modellen die jeweils schönsten Teile in sein Werk übernom- 
men habe. Die Wurzeln dieser Fabel liegen in der platonischen Kunstlehre; 
dem Künstler fällt die Aufgabe zu, die Wirklichkeit zu übertreffen. Was ihm 
die Natur an verschiedenen Menschen an Schönheit bietet, soll er zu einem 
Ganzen, zu einem Ideal der Schönheit vereinigen. 

Die zweite Fabel beleuchtet die Leistung des Künstlers von einer anderen, 
entgegengesetzten Seite her. Sie berichtet — in ihrer ältesten Fassung — vom 
Wettstreit zweier griechischer Maler, des Zeuxis und des Parrhasios. Der 
eine, Zeuxis, malt Trauben; Sperlinge fliegen herbei und picken auf die Beeren 
los. Aber Parrhasios ist der überlegene. Denn Zeuxis fordert ihn beim Besuch 
seines Ateliers auf, den Vorhang beiseite zu schieben, der sein, des Parrhasios, 
Werk verdecke. Der Vorhang aber ist das Gemälde: Zeuxis hat die Vögel, 
Parrhasios die Menschen getäuscht. 











? Ernst Kris ; 


334 





Beide Fabeln leben seit dem Griechentum fort — man darf sagen, bis jn 
unsere Tage; die zweite ist die verbreitetere, volkstümlichere. Sie begegnet jn 
hunderten Abwandlungen; es ist die berühmteste, die typische Künstlerfabel 
schlechthin, nach deren Bedeutung wir nun fragen. Vorwegzunehmen ist, daß, 
was die Fabel berichtet, sinnlose Übertreibung ist, wenn wir es wörtlich 
nehmen. Weder ein Kunstwerk der Griechen noch auch eines der vielen 
späteren Kunstwerke, an die die Fabel geknüpft wird, vermag die Natur so 
zu „erfassen“, wie die Fabel es zu berichten scheint. Ihr Kern ist denn auch 
zunächst nicht bloß eine bestimmte Höhe künstlerischer Leistung in der 
Wiedergabe der Natur, sondern vielmehr die Aussage, daß das Kunstwerk 
eine täuschende Wirkung ausübe. Den Sinn dieser Aussage lernen 
wir verstehen, wenn wir zwei Gruppen von Varianten heranziehen. Die eine 
Gruppe solcher Varianten schreibt ähnliche Leistungen wie die, die die Fabel 
von Zeuxis und Parrhasios berichtet, Künstlern der griechischen Vorzeit, des 
griechischen Mythos zu — etwa dem großen Ahnherrn griechischer Kunst, 
dem Daidalos. Wir haben allen Anlaß zu meinen, der Bericht von der 
täuschenden Kraft der Werke des Daidalos stelle eine Abschwächung älterer 
Überlieferung dar, die etwa berichtet, es habe Daidalos bewegliche Frauen- 
gestalten geschaffen. Ähnliches wird von manchen anderen mythischen 
Künstlern berichtet, vom finnischen Götterschmied Illmarinen oder etwa 
vom Hephaistos der Ilias,? der der Thetis begegnet: , 


Schwer auf die Mägde gelehnt, die schleifenden Laufes ihn schleppten, 
Goldene, lebenden gleich, in der Anmut reizender Jugend, | 
In sich haben sie auch Verstand und redende Stimme.... 

(Ilias XVIII, 417 ff.) 


Fügen wir hinzu, daß auf den Wanderungen der Fabel vom Wettstreit der 
Künstler um die größere Täuschungskraft ihrer Werke eine Variante entstan- 
den ist, die einen Teil des unserer Vermutung nach unterdrückten ursprüng- 
licheren Inhalts wieder in unentstellterer Form aufweist: In einer zentralasiati- 
schen Fassung der Fabel sind ein Maler und ein Automatenmacher mit- 
einander in Wettbewerb getreten; auch hier ist das Werk des Automaten- 


 künstlers eine weibliche Gestalt. 


Die Fabel von der täuschenden Kraft des Kunstwerkes gehört der ältesten 
Schicht biographischer Nachrichten über bildende Künstler an; sie stammt aus 
einer dem Duris von Samos zugeschriebenen Sammlung von nur in Fragmen- 
ten und in späteren Exzerpten erhaltenen Biographien; wenn wir sie recht 
verstehen, weist sie uns darauf hin, daß der bildende Künstler, der eben erst 








12) Es scheint zum Wesen dieser Berichte zu gehören, daß das Bildwerk eine Frau sei; 
hier liegt ihre Parallele zum Genesis-Bericht. 








Zur Psychologie älterer Biographik 














































auf der Bühne geschichtlicher Überlieferung erscheint, das = der großen 
Künstler des Mythos angetreten habe. 


Um diese zunächst recht unbefriedigende Einsicht zu ergänzen, ziehen wir 
_ eine zweite Gruppe von Varianten der Fabel heran. Sie beleuchten die 
 täuschende Kraft des Kunstwerkes von anderer Seite; auch sie lassen sich durch 
den Lauf der abendländischen Geschichte hindurch verfolgen. Ich meine Be- 
richte, die besagen, ein Kunstwerk, das Abbild eines Menschen, sei so voll- 
endet, daß es dem oder jenem als lebend, als Liebesobjekt galt. So etwa soll 
ein Eros, soll eine Venus des Praxiteles Beschauer zur Liebe verleitet haben. 
Am berühmtesten ist — wohl durch die Verschränkung mehrerer hier nicht 
zu deutender Motive — jene Legende vom Bildhauerkönig Pygmalion ge- 
worden, dessen Liebe dem Frauenbilde galt, das er selbst geschaffen hatte. 


Wir wissen: Solche Verwechslung geschieht nicht nur im Zeichen des Eros 
— sie mag auch unter der Herrschaft des Thanatos geschehen. Nicht nur 
die Liebeshandlung wird am Bild vollzogen, auch Strafe und Vernichtung 
kann das Bild treffen. Liebende, die das Bild der treulosen Geliebten ver- 
nichten, Revolutionäre, die das Standbild des entthronten Fürsten stürzen, 
handeln im Kern nicht anders als die „Statuenliebhaber“ unter den Griechen: 
Auch ihnen verfließt die Grenze zwischen Bild und Wirklichkeit, 
zwischen Bild und Abgebildetem. Das Verschwimmen dieser Grenze, die 
Identität von Bild und Abbild, gehört einem weiten und großartigen Bereich 
an, dem des Bildzaubers. Es ist an dieser Stelle nötig einzuschalten, daß 
dieser Glaube an die Identität von Bild und Abgebildetem kaum je rein be- 
gegnet.!? Er ist dem „Primitiven“ leichter zugänglich als dem Kultur- 
menschen,!* dem Kinde leichter als dem Erwachsenen, stellt sich unter der 
Herrschaft von Affekten (vornehmlich im Zeichen des Angstaffektes) leichter 
her als ohne diese Bedingung — kurz, wir dürfen zusammenfassend sagen, er 
stelle sich leichter her, wenn das Ich — das Ich einer bestimmten Entwick- 
lungsstufe im ontogenetischen und phylogenetischen Sinn — noch nicht seine 
volle Herrschaft angetreten oder die Zügel seiner Herrschaft gelockert habe. 
In all diesen Fällen ist die Beschaffenheit des Bildes — jeweils in verschiedener 
Hinsicht — von geringerer Bedeutung. 

Die Bedingungen dieses Verhaltens lassen sich an unserem „ontogenetischen 
Modell“ ein Stück weit kennzeichnen. In einer Phase kindlichen Spieles — 
die man als „Rollen- oder Illusionsspiel“ bezeichnet hat — ist die Beschaffen- 











13) Das geschieht, soweit wir wissen, nur unter der Bedingung geistiger Erkrankung. 
Vgl. dazu das (fingierte) Beispiel bei Laforgue, Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XIV (1928), S. 371 ff. 
14) Wie umstritten die Frage nach der Einstellung der Naturvölker zum Abbild der 
menschlichen Gestalt ist, ersieht man aus der — übrigens offenkundig einseitigen — Dar- 
stellung bei Olivier Leroy, La raison primitive, Paris 1927, p. 224 ff. 








DL I nn } 
336 2 Ernst Kris $ 





heit des Spieldinges wenig belangreich. Der Besen wird zum Pferd, die Spule 
zum Geschütz. Es ist umstritten, wie weit die Überzeugung des Kindes von 
der „Wirklichkeit“ dieser Spielsituation reicht,!5 aber es scheint sich die Auf. 
fassung zu bewähren, als entspreche die „Intensität“ der Illusion der der 
Phantasietätigkeit, der der narzißtischen Besetzung. 

Es wäre verlockend, die wechselnden Schicksale des Spieldinges im Leben 
des Kindes weiter zu verfolgen, aber obgleich zu diesem Thema von allen 
Seiten her Anregungen geboten werden, scheinen doch noch Unterlagen zu 
fehlen. Der Zustand des kindlichen Rollenspieles, dessen inhaltliches Erbe 
im späteren Leben die Tagträume antreten, hat in ökonomischer Hinsicht 
eine Parallele in jenen oben angeführten Fällen im Verhalten Erwachsener, in 
denen das Ich seine steuernde Funktion einbüßt; wenn dem Erwachsenen 
die Grenze von Bild und Abbild verschwimmt, „regrediert“ er auf. ein Ver- 
halten, das wir „magisch“ nennen; sein Handeln steht im Zeichen der All- 
macht der Gedanken, einer übermächtigen narzißtischen Besetzung. 

Wir dürfen nun den Anschluß an unseren Gegenstand suchen, .wenn wir 
eine kurze Überlegung einschalten: Je sicherer dem Bild „magische Identität“ 
zugeschrieben wird, desto weniger muß auf seine äußere Beschaffenheit Wert 
gelegt werden. Anders formuliert, wobei ein Gedanke, den vor einem Men- 
schenalter Heinrich Gomperz entwickelt hat, uns leitet: Die Ähnlichkeit ist 
jenes Band, das Bild und Abgebildetes verbindet, wenn der Glaube an ihre 
Identität geschwunden ist. Auch in einer Vorzeit griechischer Kunst war die 
„Ähnlichkeit“ des Bildes mit dem Abgebildeten wenig belangreich. Sie wird 
— als Ergebnis einer Entwicklung, die zwei Jahrhunderte durchlaufen hat — 
in einem neuen Sinne in jener Zeit bedeutsam, da auch der Künstler der 
Griechen in die Biographik einzieht; die erste Formel, die diese Biographik 
uns kennen lehrt, gewinnt nach dieser Auffassung den Sinn, daß der Künstler 
durch die Vollendung seiner Leistung die Brücke zwischen Bild und Abge- 
bildetem wiederherstellt, die auf einer älteren Stufe im Zeichen einer magi- 
schen Auffassung des Bildes bestanden hatte.!® 








15) Vgl. dazu etwa Karl Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, 6. Aufl., 1930, 


S. 329 ff. 
16) Die hier angedeutete Hypothese — wenig aufschlußreich und nur als „Rahmentheorie“ 
brauchbar — kann nichts dazu beitragen, das Problem des Stilwandels zu beleuchten. Sie 


ist als Brücke gedacht, um das biographische Bild vom Künstler verstehen zu lehren. Die 
Zuordnung von narzißtischer Besetzung und antinaturalistischer Kunst ist in der Kunst- 
wissenschaft mit anderen Worten seit. einem Menschenalter immer wieder vorgeschlagen 
worden (von Verworn, Worringer, Kühn, Menghin und anderen); die Aufgabe 
einer Psychologie der bildenden Kunst hätte da zu beginnen, wo diese Formel versagt, bei 
der Erklärung der wechselnden konkreten Realisierungen, der Stilphänomene, die sich in 
dem Ablauf der Wellenbewegung naturnaher und naturferner Stile, die nach dieser An- 
schauung die abendländische Kunstgeschichte durchziehen, im künstlerischen Schaffen durch- 
setzen, : 

















“ Zur Psychologie älterer Biographik 337 








Die mögliche Brauchbarkeit der Hypothese scheint sich zu bestätigen, wenn 
wir dem geschichtlichen Tatbestand eine Gegenprobe ablesen: Jene Werke 
der klassischen Antike, die den sichtbarsten Höhepunkt ihrer neuen, der Natur 
zugewandten Gesinnung vertreten, ihre Rundplastiken, erscheinen dem Mittel- 
alter, einer Zeit erneuerter antinaturalistischer Gesinnung, als angst- und 
schreckenerregend;!? esist eine Zeit, in der auch der bildende Künstler 
wieder von der Bühne der Geschichte abgetreten ist. Die aus literarischer 
Überlieferung bekannten Namen der Künstler des griechischen Altertums 
werden nun zu Namen gefährlicher Zauberer. Diese Auffassung, die schon 
dem antiken Bild vom Künstler bestimmte Züge geliehen hat, hat sich als 
Unterströmung lange über das Mittelalter hinaus erhalten und findet in einer 
Anzahl von Fabeln einen Niederschlag, als deren bekannteste — nicht auf 
den bildenden Künstler beschränkte — der Bund mit dem Teufel ange- 
führt sei; sie lebt immer noch fort und bestimmt auch heute noch die Stellung 
des Künstlers in der Gemeinschaft. 

Der Glaube an die Zauberkraft des Künstlers,18 aber zugleich auch der 
an das Verbotene seines Tuns wurzelt tief im Denken der Menschheit. Denn 
eben jene Künstler des Mythos, deren Erbe die Biographik die bildenden 
Künstler antreten läßt, waren Empörer und Bestrafte, der gefangene Daida- 
los, der gelähmte Wieland, der krumm geworfene Hephaistos und ihrer 
aller großer Ahnherr Prometheus. 

Man darf die Frage aufwerfen, was das Verbotene ihres Tuns sei: Sie bilden 
Menschen, wie die Gottheit selbst. Menschengestalt zu bilden aber sei ver- 
boten, denn an dem Bilde könnte Zauber geübt! und — wenn es an einem 
Götterbild geschähe — die Herrschaft der Gottheit dadurch gefährdet wer- 
den. Diese Erklärung aber muß unbefriedigend bleiben. Denn das Verbot, 
das die Tätigkeit des Künstlers begleitet, bleibt nicht auf die Fälle beschränkt, 
in denen er Abbilder der Wirklichkeit schafft: Auch das Bauwerk gilt als 
Frevel gegen die Gottheit, und jene Gesinnung, die aus der Sage vom babyloni- 
schen Turm spricht, hat in der Weltweite eines Brauches einen Niederschlag 





17) Auch hier vermöchte eine psychoanalytische Erklärung ein Stück weiter vorzu- 
dringen: Wir stehen an der Grenze des Unheimlichen. 

18) Vgl. dazu Freud, Ges. Schr, Bd.X, S.ırı: „Mit Recht spricht man vom 
Zauber der Kunst und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser Vergleich 
ist vielleicht bedeutsamer, als er. zu sein beansprucht.“ Im gleichen Sinne auch Reinach: 
„L’art et la magie“, Cultes, Mythes et Religions, I, 125 ff, 

19) Zum festen Bestand der Künstlerbiographik gehört seit dem klassischen Altertum die 
Nachricht, daß das Kunstwerk — meist: eine Studie über den Ausdruck des menschlichen 
Antlitzes — entstanden sei vor einem vom Künstler ermordeten Modell. Sie reicht, wie mir 
Kurt Rathe freundlich nachweist, bis in die Kurzgeschichten-Literatur unserer Tage. Auch 
die Entstehung dieser Formel ist einer weiteren Rückführung; die hier unterbleiben soll, 
zugänglich. 

















BB —— nn nn an nn 
338 Ernst Kris 





gefunden, nach dem die Vollendung von Bauwerken durch Opfer, Menschen- 
opfer, gesühnt wird. 

Aber Bilden und Bauen ist nicht die einzige Tat, die der Mythos dem 
Künstler zuschreibt. Das Künstlertum steht im weiten Verband der 
Demiurgie, „gehört einer Zeit an, in der magische Übung auch die Kunst 
mit umfaßt, der Zeit eines alten sakralen Urgewerbes, das in ungeschiedener 
Einheit Mantik, Magie und die Einzelhandwerke einbegreift“ (R. Eißler). So 
wird denn dem Daidalos und seinem nordischen Bruder Wieland die Er- 
füllung eines alten Menschheitstraumes zugeschrieben. Der Mythos, der sich 
an ihre Namen knüpft, hat in „sekundärer Bearbeitung“ die Beherrschung 
der Luft und die künstlerische Tätigkeit pragmatisch verknüpft, ebenso wie 
an der Gestalt des Feuergottes Prometheus — dessen Nachfahre der Feuer- 
dämon Hephaistos ist — der Raub des Feuers erst in späterer Verschmelzung 
widersprechender Züge mit der Schöpfung des Bildwerkes „Mensch“ verknüpft 
wird. Wir finden hier Anschluß an schon von der Psychoanalyse geschaffene 
Auffassungen, an eine ältere von Abraham?® und eine jüngere, nach anderer 
Richtung ausgreifende von Freud.?! Verbinden wir diese Anschauungen mit 
unserem "Thema, so wird uns die Vermutung nahegelegt, daß Bilden und 
Bauen in jedem Sinn als Vorrecht der Gottheit gelte, und daß dieser 
Glaube den Erdball umspanne, weil die Schöpfung der Welt und des Men- 
schen die sichtbaren Zeichen der göttlichen Allmacht seien.?? Ich muß nicht 
erst ausführen, an welcher Stelle diese Vermutung sich in unsere Grund- 
anschauung fügt, wie sich so eine neue Brücke vom Erlebnis des einzelnen 
zur Struktur des Glaubens zu eröffnen scheint, aber darf noch einen Punkt 
unterstreichen: Das Vorrecht der Gottheit auf ihren Schöpferberuf bestimmt 
die Form der Heroisierung des Künstlers. Die Künstler der Renaissance 
betonen ihre Souveränität, indem sie sich selbst als Gott und Schöpfer (dio 
e crealore) des Kunstwerkes darstellen (Leonardo), wie denn auch ihre Um- 
welt ihnen unbedenklich das Attribut göttlich, divino zuspricht, das bald 
zur Formel verblaßt — es lebt heute noch im Epitheton der Sängerin, der 
Diva fort —, doch ursprünglich einen volleren Klang hatte. Innere Berechti- 
gung wird dieser Erhöhung des Künstlers zu göttlichem Range durch die 
Kunsttheorie verliehen, die, im Anschluß an die Anekdote über Zeuxis und 





20) Vgl. Abraham, Traum und Mythos, Schriften z. angew. Seelenkunde, 4. Heft, 1909, 
C.G. Jung in Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen IV 
(1912), S.ıgoff,, und C.Baudoin, Psychanalyse de l’art, Paris, 1928, p. 31 ff. 

21) Zur Gewinnung des Feuers, Ges. Schr. XII, 141. 

22) Eine Untersuchung dieses Problems an Hand der Quellen, die über Bild- und Bau- 
verbote berichten, bereite ich gemeinsam mit Otto Kurz vor. Es ist mir ein aufrichtiges Be- 
dürfnis, Herrn Edward W. Warburg-New York auch an dieser Stelle für die verständnis- 
volle Förderung dieses Arbeitsplanes, der mit Unterstützung des Warburg Institute in 
London durchgeführt werden soll, herzlichen Dank zu sagen, 














Zur Psychologie älterer Biographik 339 



































die Mädchen von Kroton,?? dem Künstler die Aufgabe stellt, nicht die Gebilde 
der Wirklichkeit nachzuahmen, sondern einer in der Natur nicht verkörper- 
ten Idee der Schönheit zu dienen. 


Diesem Bilde des göttlichen Künstlers, des „divino artista“, entspricht ein 
Gegenbild: Denn auch die Schöpfertätigkeit der Gottheit kann zuweilen in 
Künstlergestalt dargestellt werden. Der ‚„deus artifex‘ der biblischen Über- 
lieferung hat der Heroisierung des bildenden Künstlers in der Biographik des 
Abendlandes den Weg gewiesen. 


v1. 


Seit dem 16. Jahrhundert tritt in die Biographik des bildenden Künstlers 
neues Formelmaterial ein; es ist von anderer Art als jenes, das wir bisher als 
Ausgangspunkt gewählt hatten. Der Künstler gehört nun dem großen Ver- 
bande der schöpferischen Persönlichkeiten an, der Genies, und alles Lockende 
und Gefährliche, das sie auszeichnet, eignet auch ihm. Die Genies aber kön- 
nen die göttliche Begnadung, die ursprünglich als belebender Hauch der Gott- 
heit verstandene Inspiration, entbehren, die ihnen nach alter Meinung ihre 
Macht verliehen hat. Die „Inspiration“ wird zur inneren Stimme. Wie die 
Gottheit des Mythos, deren Herrschaft sie entrückt sind und deren Erbe sie 
antreten, stehen auch die großen schöpferischen Persönlichkeiten außerhalb 
der Gesellschaft, außerhalb der Normen, die das soziale Leben sonst regeln 
und binden. Sie genießen besondere Vorrechte® — das Vorrecht großer 
Sexualfreiheit etwa —, aber ihre Lebensgestaltung bleibt ausgespannt zwischen 
Parnaß und Bohetme, ihre Erscheinung Gegenstand unserer Verehrung und 
Zielscheibe unserer Ambivalenz. i 


Das ist der Hintergrund, vor dem die jüngeren „Formeln der Biographik“ 
stehen: Sie sind für einzelne Berufsgattungen weniger spezifisch, sind all- 
gemeiner und lebensnäher; oft hat es den Anschein, als ließen sich die An- 
fänge dieser oder jener Verhaltensweise des Künstlers, die bald zur Formel 
erstarrt überliefert wird, noch auf das Leben und die individuelle Eigenart 
des einen oder anderen viel bewunderten Mannes zurückführen. In allen 
Fällen aber ist es das Ziel dieser neueren Formeln, in die Persönlichkeit des 
Künstlers einzudringen, das Rätsel seines Lebens und Schaffens zu vermensch- 





23) Siehe oben S$. 333. 
24) Vgl. dazu die schönen Formulierungen von E. Jones, Das Problem des Hamlet und 
der Odipuskomplex, Schriften z. angew. Seelenkunde, ı0. Heft, ı911, S. 2 f. 

25) Auch ihrem Werk gelten diese Vorrechte. Die „Lizenz“ des Dichters ist die Freiheit, 
die der „ästhetische Wert“ seiner Leistung leiht. Unter der Bedingung, daß es Kunst sei, ist 
gestattet, was sonst verwehrt ist. (Auf diesen Zusammenhang hat im Rahmen der Psycho- 
analyse zuerst Hans Sachs hingewiesen. Vgl. Gemeinsame Tagträume, Imago-Bücherei, 
Bd. V, Wien, Int. Psychoanalytischer Verlag, 1924.) 





















































340 Ernst Kris 





lichen. Ich muß es mir versagen, dieses weite Gebiet zu betreten. Nur ein 
Beispiel sei gewählt, um den Tatbestand zu kennzeichnen. Im Mittelpunkt 
des Geheimnisses, das den Künstler in den Augen seiner Umwelt umgibt, steht 
die Sonderstellung, die seinem Werk in seinem Leben zufällt. Ein alter Ver- 
gleich sieht im Kunstwerk das Kind des Künstlers, hat den Zusammenhang 
künstlerischer und sexueller Betätigung im Scherze erfaßt — in einem Scherze, 
in dem doch schon etwas von unserem Begriff der Sublimierung enthalten ist; 
die neue Einstellung sucht das Thema in ständiger Abwandlung zu erweitern. 
Im Konflikt mit dem Besteller etwa weigert sich der Meister, die Vaterschaft 
preiszugeben, mißgönnt diesem den künftigen Besitz des Kunstwerkes oder ent- 
wickelt, um sich diesen Alleinbesitz zu sichern, die Vorstellung, es dürfe das 
Werk ihn nicht überleben. Aber auch der gegenteilige Gedanke begegnet: Das 
Leben des Künstlers bleibt an sein Werk geknüpft, der eigene Tod begleitet 
die Vernichtung des Werkes. Am deutlichsten und auch in statistischem 
Sinne am häufigsten sind Berichte, die etwa besagen, daß der Künstler sich 
selbst den Tod gibt, da man an dem schon vollendeten Werke einen Fehler — 
häufig: am Pferde eines Reiterstandbildes das Fehlen eines Hufeisens — ent- 
deckt. Wir verstehen, daß hier die besondere Form des künstlerischen Nar- 
zißmus formelbildend gewirkt hat. 

Wir dürfen es vermeiden, die so gekennzeichneten Nachrichten ausführlich 
vorzutragen. Denn unserer Verabredung gemäß sollte die Psychologie der 
Biographik — nicht die des Künstlers — im Vordergrund stehen, und jene 
Gruppe von Formeln, von denen zuletzt die Rede war, gehört schon durch- 
aus diesem großartigen und dunklen Gebiete an. Aber wir werden daran ge- 
mahnt, daß wir einleitend die Vermutung vorgebracht hatten, daß auch aus 
dem älteren legendenhafteren Formelbestand eine Brücke zur Psychologie des 
Künstlers führen, daß etwas in seinem Wesen der Deutung, die die Umwelt in 
alter Zeit seiner Gestalt gibt, entgegenkommen, sie mit hervorrufen und recht- 
fertigen müsse. 

Wir stehen vor der Frage, wie jener mythologische Zusammenhang, in den 
die Legenden zurückzureichen scheinen, die den Künstler als Zauberer und 
Empörer kennzeichnen und die ihn von alters her begleiten, in seinem Leben 
selbst repräsentiert ist. 

Ich möchte versuchen, diese Frage an einem Beispiel zu beleuchten, und 
kehre damit zu der eingangs gegebenen Zusage zurück, daß dieser Vortrag 
einen älteren, den über den Bildhauer Franx Xaver Messerschmidt (1736 
bis 1784) ergänze. Ich mußte vor zwei Jahren, als ich versuchte, Ihnen Wahn 
und Werk dieses Künstlers vorzustellen, vorausschicken, daß ich Ihnen aus 
seinem Leben so gut wie nichts berichten würde. Mehrere Rechtfertigungs- 
gründe ließen sich anführen: 


















































Zur Psychologie älterer Biographik 341 





Einmal, daß seine Biographen im 19. Jahrhundert seinen Lebenslauf unter 
einer bestimmten Einstellung gesehen, ihn als verkanntes Genie geschildert 
End damit jene Version übernommen hatten, die er selbst in seinem 
Verfolgungswahn allen, mit denen er in Berührung gekommen war, über- 
_mittelt hatte, wie denn auch die Tatsache seiner geistigen Erkrankung bis in 
unsere Tage immer wieder geleugnet oder verkannt wurde. Dann aber bildet 
die Grundlage aller oder doch der meisten biographischen Angaben über den 
Künstler eine volkstümliche Schrift, in die das ganze Repertorium der bio- 
graphischen Formeln vom Künstler Aufnahme gefunden hat: Die Geschichte 
vom Hirtenknaben, der die Tiere seiner Herde schnitzt, eine andere, gleich- 
falls typische, die erzählt, wie er als Knabe über dem Anatomiebuch an Speise 
und Trank vergißt, oder eine, die in den Kreis von Berichten gehört, nach 
denen der Künstler sein Modell tötet, um die Gesichtszüge des Sterbenden 
nachzubilden.?® 

Die Liste, in der auch der Bund mit dem Teufel nicht fehlt, ließe sich er- 
heblich vermehren. Die angeführten Beispiele aber genügen, um die These 
zu sichern, daß die Volksmeinung bereitwillig den Bestand an festen Formeln 
aufbietet, um die Gestalt der Künstler zu kennzeichnen. Doch diese Formu- 
lierung führt an der ernsteren Frage vorbei, ob sich denn die Grenze zwischen 
Formelgut der Biographik und gelebter Eigenart des Künstlers scharf ziehen 
lasse. Verläßliche Gewährsmänner, die Messerschmidt begegnet sind, wissen zu 
berichten, daß er immer wieder versichert habe, er werde seine Werke vor 
seinem Tode vernichten; auch daß er unsinnige Preise für seine Arbeiten ge- 
fordert habe, ist nach der Lage unserer Quellen wahrscheinlich. Der Umfang 
und die Tiefe des Problems aber werden erst faßbar, wenn wir daran er- 
innern, daß nicht nur der äußere Aspekt von Messerschmidts Biographie im 
Zeichen jener Motive steht, auf die uns die Legenden vom Künstler hinführen. 
Auch der Aufbau seines Wahns wird ein Stück weit als typischer Künstler- 
wahn verständlich. Denn im Zentrum des Wahns steht der Gedanke, daß 
ihn die Gottheit um seiner Meisterschaft in seiner Kunst, vor allem um 
seiner Kenntnisse der „göttlichen“ Proportion willen verfolge, ein Gedanke, 
der sich leicht als Projektion jenes anderen erkennen läßt, nach dem der 
Künstler mit der Gottheit ringt. 

Das Motiv des Mythos, das prometheische Schicksal steht mit einem 
Male lebendig vor unseren Augen; was der blasse Widerschein literarischer 
Formeln, wie der vom „divino artista‘“ und vom „deus artifex‘ ahnen ließ, 
gewinnt im Wahn des psychotischen Künstlers volles Gewicht: Wir sind 
zur Meinung gedrängt, daß im Unbewußten des Künstlers jene Grundanschau- 
ung über Wert und Gefahr künstlerischen Schaffens fortlebe, die den mythi- 





26) Vgl. oben S. 337, Anm. 19. 
Imago XXI/3 23 

































































342 Ernst Kris 





schen Hintergrund seiner Biographik bildet.: Diese Vermutung führt uns 
auf Fragen, zu deren Lösung wir noch nicht gerüstet sind. Nur eine Hypo- 
these ist noch vorzubringen: 

Unter den typischen Schicksalen des Künstlers, von denen die Biographien 
zu berichten wissen, findet sich der Selbstmord des Baumeisters nach der 
Vollendung des Werkes.?” Sucht man die berichteten Fälle zu überprüfen, so 
gliedern sie sich in zwei — hier einander schematisch gegenübergestellte Grup- 
pen: Es gibt Beispiele dafür, daß sich solche Selbstmorde ereignet haben, und 
Beispiele dafür, daß vom Selbstmord des Baumeisters in einer Formel berichtet 
wird. Verstehen wir recht, so ist das kein Widerspruch. Denn jene Eigen- 
art ihres Helden, die nach der eingangs aufgestellten These in der Formel der 
Biographik ihren Niederschlag fände, würde beide Fälle umgreifen: Was die 
Biographik als typisches Schicksal schildert, was dem Unbewußten des Publi- 
kums entstammt, für das der Künstler schafft, ist auch bestimmend für das 
Erleben des Künstlers selbst.?® 

In dem besonderen Falle, von dem hier die Rede ist, scheint sich die Hypo- 
these zu rechtfertigen, als gäbe es eine geheime und tiefe Verknüpfung zwi- 
schen dem alten Brauch, nach Vollendung des Baues ein Menschenleben als 
Bauopfer darzubringen, und dem Selbstmord noch eines Baumeister Solneß. 

Die Beziehung der Biographik zum Leben des Helden ist nicht mit dem 
Hinweis auf die Gemeinsamkeit unbewußter Einstellungen erschöpft, die die 
Biographik erkennt, und die der Held erlebt, sondern begegnet auch in 
banalerer, pragmatischer Form: Die Biographik liefert Vorbilder. Lassen Sie 
mich eines einfachen, heute schon erwähnten Falles gedenken: jenes Künstlers, 
der seinem ersten Biographen als seine Jugendgeschichte die „Fabel von der 
Entdeckung des Talentes“ erzählt.? Wie immer man über diesen Vorfall ur- 
teile, wir erkennen noch in solcher Entstellung einen Vorgang, der, weit ver- 
breitet, im Menschenleben vielfach bestimmend ist, und den ich unter dem 
Schlagwort „gelebte Vita“ begreifen möchte. Den äußersten Fall, als 





27) Diese Berichte begegnen in mehrfacher Abwandlung. Aber der Zusammenhang in 
.den sie jeweils gefügt sind — etwa der Wettstreit mit dem überlegenen Lehrling, ein spät 
:entdeckter Konstruktionsfehler, das Bündnis mit dem Teufel —, bilden, wie es scheint, nur 
eine Einkleidung. 

28) Das „Kollektive Unbewußte“, auf das wir hier stoßen, ist offenbar der Auf- 
fassung C. G. Jungs in nichts verpflichtet. Es handelt sich um Inhalte des Unbewußten, die 
den Menschen aus gleichen individuellen Quellen her gemeinsam sind. Die hier vorgetragene 
Vermutung über den Freitod des Baumeisters nach Vollendung des Werkes geht von der 
‚Anschauung aus, daß für ein aus tiefen Schichten des Seelischen stammendes Schuldgefühl 
jeweils verschiedene Rationalisierungen — die Einkleidungen dieser Berichte (vgl. oben 
S. 337.) — gesucht werden. 

- 29) Vgl. oben S. 327. j 

30) Wieweit im Einzelfall die Wirkung dieser „Vorbilder“ reicht, ist schwer zu ent- 

scheiden. Wir wissen nicht, — um nochmals am Leben des Messerschmidt zu exemplifizieren, 











Zur Psychologie älterer Biographik 343 











































dessen karikierte Abwandlung das Verhalten unseres Bildhauers ‚angesehen: zu 
werden verdient, hat uns eine Dichtung kürzlich anschaulich vor. Augen ge- 
führt. Ich meine Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“, ein:Buch, in: dem 
der Gedanke immer wieder anklingt, daß die Folge der Geschlechten.ver- 
schwimme, Nähe und Ferne der Zeit durch das Mittel der Identifizierung zu- 
sammenrücke, wie vor allem in der Gestalt jenes Eliezer, eines Freigelassenen 
des Jaakob, „nicht zu verwechseln (wie es Joseph zuweilen geschah und wie. 'es 
auch der Alte selbst sich wohl gerne einmal Sehen ka mit Eliezer“, 
Abrahams ältestem Knecht. ' al 
In einer Welt, deren Halbdunkel immer Are in dei Myehös ‚rn ver- 
schwimmt nach der Schilderung Manns die Grenze: der: Person in der Tra- 
dition, entscheidet die Identifizierung mit den Vätern immer wieder über Art 
und Bestimmung eigenen Daseins. Im Normalfall des menschlichen Schick- 
sals, in unserem Lebensraum kommt dieser Verknüpfung nur eine untergeord- 
nete, aber eine doch schwer überblickbare Rolle zu. Viele von uns „leben“ 
auch heute einen biographischen Typus, das Schicksal eines Standes, einer 
Klasse, eines Berufes. 

Diese Schicksale lassen sich immer wieder auf typische Vorbilder zurück- 
führen, die ihrerseits wieder von der Biographik geprägt wurden. Im Normal- 
fall finden diese Identifizierungen im Über-Ich einen Niederschlag; die Schick- 
sale dieser Identifizierungen sind bestimmend für die Schicksale des mensch- 
lichen Lebenslaufes, dessen psychoanalytische Erforschung eine zentrale Auf- 
gabe der Ich-Psychologie zu werden verspricht. Am durchsichtigsten sind 
offenbar jene Fälle, in dem diese Identifizierungen für die Bildung der be- 
wußten Anteile des Über-Ichs bedeutsam sind; oft sind sie in der Berufs- 
ethik repräsentiert; die außerordentlichen Leistungen, die sie vorschrei- 
ben und auslösen kann, läßt uns von ihrer Macht hoch denken. 

Es wäre eine lockende Aufgabe, hier weiter auszuholen, Möglichkeiten und 
Arten dieser Identifizierungen, von denen einige — namentlich unter den 
mißglückten — der psychoanalytischen Klinik gut bekannt sind, weiter zu 
verfolgen, aber es scheint besser, den Zugang zu diesen Fragen von anderer 
Seite her zu suchen. Nur noch eine Erwägung sei abschließend vorgebracht: 
Die Freiheit in der Lebensgestaltung des Menschen ist offenbar enge mit 
jener Bindung zu verknüpfen, die wir als „gelebte Vita“ bezeichnen. Eine 
Reihenbildung ließe sich ausdenken, die von den lächerlichen Gestalten jener 
— nicht eben seltenen Menschen —, die für Tagebuch oder Nachruf leben, 





— wieweit er in den „typischen“ Aussprüchen und Handlungen, die von ihm berichtet 
werden, „Vorbildern“ folgte, oder wieweit es sich um die „Neuentstehung“ analoger Ein- 
stellungen handelte; beides mag der Fall sein. Denn die Wahl der Identifizierungen folgt in 
diesem Falle offenbar dem durch Anlage und Schicksal gewiesenen Weg. 


23* 








344 Ernst Kris: Zur Psychologie älterer Biographik e j 





dafür leben, „biographische Vorbilder“ in irgend einem Sinne zu sein oder 
zu werden, zu jenen führen, die, ohne diese Beziehung zu Erbe und Tra- 
dition bewußt zu betonen, durch die Tat, die sie setzen — oft, indem sie Tra- 
ditionen überwinden —, die alten Ideale der Biographik in neuer Gestalt re- 
alisieren. 

Denn diese Freiheit ist es, die wir dem Helden zuschreiben; wir sehen ein: 
Wenn wir vom Verhältnis der Biographik zu ihrem Helden sprechen, ver- 
rät sich im metaphorischen Ausdruck schon der entscheidende Sinngehalt. 
Alle Biographik sucht eine neue Gestalt „in die Reihe der infantilen Vor- 
bilder einzutragen“ (Freud), sucht und schafft den Heros, den jungen 
Helden, den neuen Vater. 
































MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN 


Der Freudsche Triebbegriff und die 


erogenen Zonen‘ 
Von 


Johannes Landmark 
Oslo 


I 
Die erogenen Zonen 
Die erogenen Zonen sind nach Freud die Quellen der Sexualtriebe? Über die 
Natur und Wirkungsweise dieser wichtigen Organe scheint aber sowohl bei Freud 
wie in der ganzen psychoanalytischen Literatur eine unklare Zweideutigkeit zu herr- 
schen, die nicht ohne gewisse Konsequenzen für die Triebtheorie geblieben ist. 

Zunächst ist die erogene Zone „ein Organ oder eine Körperstelle, die sexuell er- 
regende Reize ins Seelenleben schickt“. In zwei verschiedenen Weisen wird nun 
dieser Vorgang beschrieben: Einmal entstehe die Erregung dadurch, daß die erogene 
Zone sensibel gereizt werde; die erogene Zone wird hier als Sinnesorgan, Re- 
zeptor (s. unten) aufgefaßt. An vielen anderen Stellen aber wird der Vorgang so 
vorgestellt, als ob die erogenen Zonen chemische Stoffe produzieren und dadurch 
erregende Reize ins Seelische schicken: „Erregungen zweierlei Art werden geliefert, 
die in Differenzen chemischer Natur begründet sind.“s „Es ist unbekannt, ob dieser 
Vorgang regelmäßig chemischer Natur ist oder auch der Entbindung anderer, z.B. 
mechanischer Kräfte entsprechen kann.“ Das besagt, daß die erogene Zone eine 
innersekretorische Funktion ausübe. Und zwar ist eben die letztere Auffassung 
die in der psychoanalytischen Literatur allgemein anerkannte. 

Welche von diesen doch sehr verschiedenen Auffassungen ist nun die richtige, oder 
sind beide richtig? — Denken wir an die erogenen Zonen in concreto, so sehen wir 
sofort, daß jedenfalls die erste Auffassung richtig sein muß: Die Genitalien, der Mund, 
der After, die Brüste, die Haut, sie bewirken alle Sexualerregung dadurch, daß sie in 
irgendeiner geeigneten Weise gereizt, sensorisch gereizt werden. Dasselbe gilt 
auch für die anderen Sinnesorgane, für den Gesichts-, Gehörs- und Geruchssinn; das 
alles sind erogene Organe; ebenso der Gleichgewichtssinn und wahrscheinlich jeder 
Rezeptor des Organismus. 

Wie ist es mit der anderen Auffassung? Produzieren diese erwähnten, unzweifel- 
haft erogenen, Zonen wirklich chemische Sexualstoffe? Das ist keineswegs undenk- 





ı) Ergänzungen zu Landmark, „Über den Triebbegriff“, Imago XXI, 1934, $. 160. 
2) Ges. Schr, Bd. V, S. 41. 

3) Ges. Schr. Bd. V, S.42; Bd. VI, S. 167. 

4) Ges. Schr, Bd. V, S. 108. 

5) Ges. Schr. Bd. V, S. 42. 

6) Ges. Schr. Bd. VI, S. 448, 

7) Vgl. Fenichel, Hysterie und Zwangsneurose, S. 59. 











FTIHEENGEBITAFE "Johannes Landmark 
3a. - 


a 
Sat 





bar, aber völlig unbekannt. Bekannt ist uns eine solche Produktion nur von Seiten 
einer geringen Anzahl innersekretorischer Organe, etwa Testes, Ovarien, Hypophyse, 
Und wir ‚wissen ‚nicht, ob von diesen nur eine ständige, gleichmäßige Ausscheidung 
ausgehe, oder ob darüber hinaus infolge einer sensorischen Reizung auch ein akutes 
Ausschleudern von Sekreten ins Blut erfolgt. Wie dem auch sei — können wir diese 
Funktion als Erogeneität bezeichnen? Können wir z.B. die Hypophyse wegen ihrer 
innersekretorischen Funktion als erogene Zone bezeichnen? Das heißt: Ist man be- 
rechtigt anzunehmen, daß die im Blute zirkulierenden Stoffe „sexuell erregende 
Reize ins Seelische schicken“? Wir wollen das nicht kurzerhand verneinen, jedoch 
wissen wir, daß diese Stoffe auch in anderer Weise wirken, und wir meinen, viel- 
leicht wäre ihr Einfluß damit zur Genüge erklärt und erschöpft, nämlich als Sen- 
sibilisatoren. Wir erinnern an die an anderer Stelle® referierte Sonderung der 
„aufs Seelische wirkenden Stimuli“ in die „sensorischen, indirekten“ und die „chemi- 
schen, direkten“, von denen letztere dadurch wirken, daß sie die Reaktionsbereit- 
schaft der nervösen Mechanismen erhöhen oder verringern. — Wir wollen darauf in 
einem besonderen Abschnitt eingehen, zunächst aber zur Übersicht Sherringtons 
Einteilung des sensorischen Systems heranziehen. 

"Rezeptor ist ein gemeinsamer Name für Sinnesorgan und Sinneszelle. — Die- 
jenigen Rezeptoren, die die von der Außenwelt kommenden Reize aufnehmen, be- 
zeichnet Sherrington als Exterozeptoren, die Rezeptoren der ins Körper- 
innere eingestülpten Schleimhautflächen (insbesondere des Verdauungskanals) als 
Introzeptoren, und als Propriozeptoren die Rezeptoren für Lage und Be 
wegung der Glieder, tiefer Drucksinn u. dgl. 

Einige Autoren (Vogt, Schjelderup!t) benutzen den Terminus Propriozeptor 
sowohl für Intro- wie für Propriozeptoren im Sherringtonschen Sinn. Es wäre 
gewiß eine Erleichterung, das Gebiet, das von körpereigenen, innersomatischen Reiz- 
quellen gereizt wird, dem Gebiet der Exterozeptoren, die von Außenweltsobjekten 
beeinflußt werden, gegenüberzustellen, und wir wollen dafür in dieser Arbeit lieber 
die neutrale Bezeichnung „Endozeptor“ anwenden. 

Es muß berücksichtigt werden, daß gewisse Exterozeptoren funktionell auch wie 
Endozeptoren wirken können; vor allem die Hautsensibilität: sie vermittelt Reize 
nicht nur von der Außenwelt, wie Berührung, Schmerz, Temperatur, sondern auch von 
Zustandsänderungen innerhalb der Haut, wie Spannung, Blutfüllung, lokale Tempe- 
raturerhöhung, Schmerz (etwa bei Entzündungen), Jucken u. dgl. (Vgl. auch ent- 
otische Phänomene.) 

car ii 
Die zweierlei Bedingungen der Sexualerregung 
Die Sexualerregung. entsteht, wenn ein geeigneter Reiz auf einen Rezeptor ein- 
wirkt, ein Gesichts-, Gehörs-, Geruchseindruck, eine taktile Sensation usw. — Die 
Reizung der (als Rezeptoren aufgefaßten) erogenen Zonen ist die auslösende, 





8) Imago XXI, 1934. 
9) Ragnar Vogt: Nogen Hovedlinjer i Medicinsk Psykologi og Psykiatri, Oslo 1923. 
10) Harald Schjelderup: Psykologi, Oslo 1927. 


















Reize nur bei erregbarem Zustand des Organismus; diese Erregbarkeit steht und fällt 
mit der Anwesenheit der chemischen Sexualstoffe: Sie fehlt bei Individuen, die im 


Tieren verlorengegangene Erregbarkeit durch Einspritzung von Testikelextrakt an- 
fragmente. (Vgl. auch die Steinachschen Versuche) — Die Anwesenheit dieser 
sie ist die prädisponierende Bedingung derselben. 


Es erscheint natürlich, diese chemisch-hormonalen Stoffe, und nicht die erogenen 
Zonen, als die Quelle des Sexualtriebes anzusehen, wie auch Nunberg meint.!? 


Reize ins Seelenleben schicken können; oder man kann geltend machen, sie können, 
wenn nicht sexuelle Erregung auslösen, so doch wenigstens das subjektive Gefühl 


des sexuellen Bedürfnisses, die Empfindung des Begehrens hervorrufen, und da- 


durch die Voraussetzung der sensorischen Reizbarkeit herbeiführen; sie könnten, 

| unabhängig von der sensorischen Tätigkeit, einen Impuls, einen Drang 

| zur Sexualbetätigung (und -befriedigung) veranlassen. Das ließe sich etwa in zwei 
Weisen denken: Entweder durch unmittelbare Einwirkung auf die nervöse Substanz, 
etwa auf ein „Zentrum“; oder sie können sich, wie Freu.d meint, in „Organreize“ 
umsetzen, das heißt wohl, auf irgendwelche hypothetische Rezeptoren sensorische 
Reize ausüben. 

Man kann diese beiden Möglichkeiten nicht unbedingt von der Rt weisen, da 
sie unseres Erachtens kaum durch entscheidende Gegenbeweise zu entkräften sind. 
Andererseits liegen, soweit wir durch Mitteilungen von Fachleuten!? dieser Gebiete 
in Erfahrung bringen konnten, weder in der Pharmakologie noch in der Physiologie 
auch nur die geringsten positiven Stützpunkte derartiger Annahmen vor. Es sind 
Hilfshypothesen, Verlegenheitsauswege, die nur solange berechtigt sind, als man keine 
andere Erklärungsmöglichkeit sieht; könnte man aber die Vorgänge in einer anderen 
Weise erklären, in einer Weise, zu der man klare und gut bekannte Analogien hat, 
dürfte man doch diese hypothetischen Möglichkeiten, ohne sie ganz aus dem Auge 

zu verlieren, als weniger wahrscheinlich beiseitestellen. 


II 


Wodurch macht sich das sexuelle Begehren geltend? 
Die Hypothese, die wir verfechten, ist folgende: Die chemischen Stimuli greifen 
nicht direkt in den Handlungsverlauf ein, melden sich nicht unmittelbar dem Be- 
wußtsein, geben keine Impulse; das alles geschieht ausschließlich durch die sensori- 





ır) Nach Rr. Vogt, loc, cit. 

12) H. Nunberg, Allgemeine Neurosenlehre, Bern 1932. 

13) Dr. Sophus Torup, Professor der Physiologie, Dr. Klaus Hansen, Professor der 
Pharmakologie, beide an der. Universität Oslo. : 





Der Freudsche Triebbegriff und die erogenen Zonen 347 


realisierende Bedingung der Sexualerregung. — Doch wirken die geeignetsten. 


frühen Lebensalter kastriert wurden; Pezard!! zeigte, daß man die bei kastrierten. 
derer Tiere wiederherstellen konnte, ebenso durch Einpflanzung kleiner Testikel-: 


Stoffe ist die unerläßliche Voraussetzung jeder sexuellen Erregbarkeit, jeder Erregung, 


Immerhin besteht die Möglichkeit, daß auch die chemischen Agentien erregende 


Sign ren dm u erw 


ee Zi 


2 
| 





348 Johannes Landmark 





schen Reize. Das Begehren, die Empfindung sexuellen Bedürfnisses, das Gefühl 
sexueller Spannung wird uns vor Augen geführt durch die „Aufforderungscharaktere“ 
der sensorischen Reize, der Wahrnehmungen. „Bis zu einem gewissen Grade sind die 
Aussagen: ‚Das und das Bedürfnis besteht‘ und ‚der und der Bereich von Gebilden 
besitzt einen Aufforderungscharakter zu den und den Handlungen‘ äquivalent. Ent- 
spricht doch der Wandlung der Bedürfnisse allemal eine Wandlung von Aufforde- 
rungscharakteren“... „Auf Grund einer (solchen) Sättigung verliert ein gewisser Um- 
kreis von Gebilden und Ereignissen, die vor der Befriedigung (im ‚Hungerzustande‘) 
einen bestimmten Aufforderungscharakter haben, diesen Charakter: Sie werden 
neutral.‘1? 

Die äußeren Gebilde, die Gestalten, die äußeren (aber auch die innersomatischen) 
Reize haben unmittelbar, implizite einen Aufforderungscharakter, der mehr konstant 
sein kann oder mit dem Bedürfniszustand wechselt. Ein Lichtstrahl fordert un- 
mittelbar zur Verengerung der Pupille auf, das ist ein einfacher Reflex. Ein Stück 
Schokolade oder Obst bewirken, bei gegebenem Bedürfniszustand, unmittelbar objek- 
tiv eine Speichelabsonderung, subjektiv ein Gefühl des Begehrens, einen Impuls, das 
Stück zu essen. Ein Sexual-,Gebilde“ (-objekt oder -reiz) bewirkt analog die objek- 
tiven Erscheinungen der Sexualerregung, subjektiv Begehren und Impulse, und 
motorische Ansätze zu den entsprechenden Handlungen, denen auch die körperlichen 
Erscheinungen der Erregung zugehören. 

Nun wird man einwenden: Man kann doch auch in der Abwesenheit jedweder 
„Gebilde“ mit sexuellem Aufforderungscharakter sexuelle Spannung als eine innere 
Unruhe, unbestimmt und gegenstandslos, verspüren, eine Sehnsucht und ein unklares 
Verlangen, das einen treibt, die Objekte zu suchen. 

Dazu ist zu bemerken, daß die rezeptiven Organe des Organismus der sexuell er- 
regenden Reize niemals entbehren. Sowohl von der Außenwelt wie vom inner- 
somatischen Gebiet strömen Reize kontinuierlich auf uns ein. Zunächst vom eigenen 
Organismus: 

Unaufhörlich gehen im Körper Veränderungen vor sich, die Sensationen mannig- 
fachster Art veranlassen, teils durch die Bahnen der zerebrospinalen Nerven, teils 
durch das autonome, vegetative System: Atmung, Herztätigkeit, Verdauung, Harn- 
ausscheidung; Druck, Verschiebung und Reibung der Organe, Zerrung der Bänder, 
wechselnder Füllungsgrad der Hohlorgane, wechselnde Blutfüllung; Bewegungs- (Lage-) 
Empfindungen der Glieder. Welche von diesen Empfindungen „bewußt“ empfunden 
werden und welche nicht, braucht uns hier nicht zu interessieren; esgenügt uns zurwissen, 
daß doch einige davon direkt, andere vielleicht mehr indirekt unser Bewußtsein be- 
einflussen. Dann kommen Reizungen, Sensationen von den Grenzgebieten zwischen 
endo- und exterozeptiver Funktion: z.B. Reibungen, Bewegungen der Schleimhäute 
gegeneinander (Mund, Geschlechtsteile), der Hautflächen des Körpers und der Glieder; 
Betastung des eigenen Körpers, Anblick desselben. Diese gewiß nicht erschöpfende 
Aufzählung soll nur daran erinnern, wie der Strom der Sensationen unaufhörlich 
fließt. — Von diesen Sensationen sind viele, etwa die an den Genitalien, unmittelbar 





14) Vgl. Kurt Lewin: Vorsatz, Wille und Bedürfnis, Berlin, Springer 1926, 





















Der Freudsche Triebbegriff und die erogenen Zonen 349 





geeignet, ein gewisses Niveau sexueller Spannung zu .schaffen und aufrechtzuerhalten 

(„unbedingte“ Sexualreize), andere mittelbar durch assoziative Verknüpfung mit jenen 
(„bedingte“ Reize im Sinne Pawlows). Doch ist die Annahme dieser nur „Ccoen- 
ästhetisch“ erzeugten Spannung lediglich eine Konstruktion; denn der Einfluß der 
Außenwelt wird praktisch immer vorhanden sein. Die äußeren Sinnespforten sind 
niemals vollkommen verschlossen, auch nicht im tiefsten Schlaf; Geräusche dringen 
auf uns ein; die Lage ist an sich eine Reizkonstellation; der Druck der Unterlage, 
der Bettdecken, die Temperatur, die Beschaffenheit der Luft usw. 

Auch die Abwesenheit der originalen (unbedingten) Objekte im äußeren Milieu. 
hat Aufforderungscharaktere, nämlich negative, die zum Suchen, zum Milieuwechsel 
auffordern; es wird ein Mangel an etwas, was einmal da war, empfunden. Beim Men- 
schen war ein Sexualobjekt immer zuerst da; seither wird seine Existenz immer durch 
Assoziationen vertreten sein, immer wird etwas in der aktuellen Situation — inner- 
somatische und äußere Reize — mit dem Objekt verknüpft sein, an dieses erinnern, 
dasselbe Begehren wie dieses auslösen. Die Symbollehre gibt dafür Belege; ein Sym- 
bol ist darum ein Symbol, weil es mit dem Symbolisierten in irgendeiner Hinsicht 
etwas Gemeinsames hat. 

Dieser kontinuierliche Strom von Reizen erzeugt nun eine sexuelle Spannung 
von verhältnismäßig gleichmäßigem Niveau, einen sexuellen „Dauertonus“; es ist 
eine Analogie zum muskulären Tonus, der nach der Anschauung der meisten Physio- 
logen ebenso durch den ständigen Influx der sensorischen Reize unterhalten wird. 

Der Organismus ist jetzt ansprechbar, aber nicht eigentlich erregt, die Spannung 
hält sich auf einem gewissen „Plateau“, bis dann besondere Reize hinzutreten, Reize 
von einer besonderen Relevanz, welche erst die Erregung auslösen, das Begehren in 
die Höhe treiben. 

Damit hoffen wir, dargelegt zu haben, daß man das Entstehen des subjektiven Be- 
gehrens, der Erregung, durch die sensorischen Reize allein erklären kann, und daß 
die Annahme, die chemischen Stoffe schicken sexuell erregende Reize ins Seelenleben, 
überflüssig ist. Wir dürfen ruhig bei der Vermutung bleiben, daß sich die Wirkung 
der Hormone auf Erhöhung der Erregbarkeit der Zentren beschränkt. — Das steht 
in guter Übereinstimmung mit den Theorien anderer Vorgänge, z.B. der Strychnin- 
vergiftung, des Atemmechanismus. 

Diese lange Diskussion war notwendig, um die Frage zu klären, was man unter 
einer erogenen Zone versteht. Wenn man an die Funktion einer Körperstelle denkt, 
sexuell erregende Reize ins Seelische zu schicken, kann man nur ihre sensorische 
Funktion damit meinen. 

Es ist nach Analogie mit dem Angstvorgang sehr wohl möglich, daß der Organis- 
mus, wenn er von einem sexuell erregenden Reiz beeinflußt wird, mit einem momen- 
tanen Ausschleudern von Sexualhormonen ins Blut reagiert, die die Erregungserschei- 
nungen mächtig intensivieren; auf einen Gefahrreiz erfolgt wie bekannt ein plötz- 
liches Ausstoßen von Adrenalin, das dann die weiteren, vegetativ-somatischen Angst- 
erscheinungen erzeugt, die sekundäre Resonanz des Angsterlebnisses (etwas 
schematisiert — Ähnliches auch bei der Hungerreaktion, Sekretin). — Doch muß be- 











350 Johannes Landmark 





tont werden, daß diese Reaktion die primäre Ansprechbarkeit, die auf die Anwesen- 
heit spezifischer Hormone (oder sonstiger chemischer Stoffe) beruht, schon voraus-. 
setzt. 
IV 
Die Freudsche Triebkonzeption 

Wir haben hier die erste, in „Triebe und Triebschicksale“ vertretene Triebkonzep- 
tion im Auge. 

Freud beginnt mit einem Hinweis auf das Reflexschema, wonach ein Reiz (von 
außen her, sagt Freud) an das Nervensystem gebracht und nach außen in Aktion 
übergeführt wird. — Nun fährt er aber fort: „Es hindert uns nichts, den Begriff des 
Triebes unter den des Reizes zu subsumieren; der Trieb sei ein Reiz für das Psy- 
chische.“ Wir glauben jedoch, daß gerade hier der Fehler liegt, den wir nachweisen 
wollen. Der Trieb wird als ein Reiz aufgefaßt, ein Reiz für das Psychische; und. 
zwar als ein sensorischer Reiz, was sowohl aus dem vorhergehenden, wie noch deut- 
licher aus dem folgenden hervorgeht. Und die Sonderung, die Freud zwischen 
Triebreizen und „anderen Reizen für das Psychische, die sich den physiologischen 
Reizen weit ähnlicher benehmen“, durchführt, ändert an dieser Tatsache nichts; der 
Trieb wird als ein sensorischer, und zwar als ein endozeptorischer Reiz auf- 

"gefaßt: „Es sei ein Triebreiz, wenn sich die Austrocknung der Schlundschleimhaut 
fühlbar macht, oder die Anätzung der Magenschleimhaut.“ (Vorausgesetzt nämlich, 
daß diese inneren Vorgänge die organischen Grundlagen der Bedürfnisse Durst und 
Hunger sind.) 4 

Also „die Bedürfnisse Durst und Hunger“ werden auf diese endozeptorischen Sen- 
sationen zurückgeführt, und der Sexualtrieb wird nach diesem Triebreizmuster ent- 
wickelt: „Der Triebreiz stamme nicht aus der Außenwelt, sondern aus dem Inneren 
des Organismus selbst“; „die im Innern des Organismus entstehenden T'riebreize 
stellen weit höhere Anforderungen als die äußeren Reize an das Nervensystem.“ 

Eigentlich ist das dieselbe Auffassung, die R. Vogt vertritt: „Die Propriozeptoren 
geben über Hunger, Durst, sexuellen Drang Orientierung.“® Ebenso Reich: „Eine 
organische Spannung in den Ernährungsorganen erzeugt den Hunger und treibt zum 
Essen“; weiter läßt er den Sexualtrieb von einer körperlichen Erregung etwa an der 
Genitalzone erzeugt werden.!® 

Ich habe an anderer Stelle versucht, diesen Standpunkt zu widerlegen: 

Nicht der eine Reiz erzeugt konstant das Bedürfnis; das kann jeder beliebige Reiz, 
es ist nicht an einen bestimmten gebunden. Dieser oder jener sensorische Reiz ist 
nur die eine von zwei notwendigen Bedingungen, er ist nur die auslösende, reali- 
sierende Ursache. Entscheidend ist der variable Zustand des Organismus, seine 
Disposition. Wenn der bestimmte Zustand vorhanden ist, etwa Hunger oder sexuelles 
Bedürfnis, kann sowohl ein exterozeptiver wie ein endozeptiver Reiz das Bedürfnis 
auslösen. 


Be _. . 





Il: 15) Ragnar Vogt: loc. cit., S. ır. 
Il 16) W. Reich: Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse. 

| 17) Die Auffassung, die wir bekämpfen, ist von Bernfeld sehr klar formuliert: „Die 
iii große Gruppe der Handlungen, die nicht durch Außenreize bestimmt sind, deren Ablauf 





I. 









Der Freudsche Triebbegriff und die erogenen Zonen 351 





Man wird vielleicht sagen: „Macht denn das so viel aus? Ist nicht dies eine Be- 
‚griffstüftelei?“ — Wir glauben, daß es sehr viel bedeutet; denn unser Standpunkt be- 
sagt, daß man den Trieb als selbständiges, von dem Sensorium unabhängiges seelisches 
Agens nicht anerkennen kann; er entscheidet nur das „wie“ des von den sensorischen 
Reizen ausgelösten Vorganges. Auf den Tangenten unseres seelischen Apparates 
spielen nur die sensorischen Reize; und darunter befindet sich nicht der Trieb; denn 
er ist das Qualitative dabei. 

Freud legt seinem Gedankengang das Reflexschema zugrunde, und das ist an sich 
unangreifbar. Was er aber nicht berücksichtigt hat, weil es damals vielleicht weniger 
beachtet war, ist, daß es außer den sensorischen Reizen auch „Stimuli“ gibt, die dem 
Reflexablauf: Peripherie-Zentrum-Peripherie, nicht folgen: die direkten, chemi- 
schen Stimuli. — Sie wirken nicht, wie die sensorischen, an dem einen, rezeptori- 
schen Ende des Reflexbogens, sondern, bildlich gesprochen, senkrecht auf ihn, um- 
hüllen ihn, durchtränken ihn, steuern den Verlauf des Vorganges zwischen den ver- 
schiedenen vorliegenden Alternativen. 

An einer Stelle scheint sich Freud dieser Ansicht sehr genähert zu haben: Er 
spricht davon, daß die Sexualerregung entstehe, indem bestimmte Anteile des zen- 
tralen Nervensystems vorher mit sexueller Spannung geladen werden, und zwar 
durch chemische, von den Keimdrüsen erzeugte Stoffe. — Teils führt er aber, wie 
wir sehen, diesen Gedanken nicht durch, teils und vor allem nimmt er, wie auf S. 345 
erwähnt, an, daß die Wirkung der chemischen Stoffe sich in Organreize umsetze. 

Wir halten, wie gesagt, diese Hypothese für entbehrlich, und würden uns den Vor- 
gang etwa so vorstellen: Die im Blute zirkulierenden Stoffe gelangen an sämtliche 
Zellen des Organismus, darunter an jede Nervenzelle und jedes Zentrum. Ob es nun 


eine Hungerbeschaffenheit des Blutes oder eine Ladung mit Geschlechtsstoffen ist, 


wirkt es sich dadurch aus, daß die Erregbarkeit des Integrators, die Ansprechbarkeit 
für sensorische Reize, enhöht wird; dadurch bekommen diese Reize wiederum ihren 
Aufforderungscharakter (oder er wird davon beeinflußt) — und es. besteht jener 
„Trieb“. 

Und deswegen finden wir, daß der Freudsche Satz: „Der Trieb erscheine als ein 
Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen von dem Körperlichen auferlegt 
ist“, dahin zu ergänzen sei: Die Arbeitsanforderungen an das Seelische werden ge- 
stellt von dem ganzen sensorischen reizgebenden Milieu, sowohl vom innersomati- 
schen wie vom äußeren Anteil desselben; der „Trieb“ ist dabei ein Ausdruck dafür, 
welche von mehreren möglichen Arbeitsanforderungen durch die sensorischen Reize 
an das Seelische gestellt werden. i 





nicht aus der äußeren Gesamtsituation allein ableitbar ist, sollen durch den Begriff Trieb 


erklärt werden.“ (Die Gestalttheorie, Imago 1934, Heft ı, S. 53.) 
18) Ges. Schr. Bd. V, S. 91. 





nennen 


352 udwig Eidelberg 








ne 


Das Verbotene lockt 
| Von 

Ludwig Eidelberg 
In Wien 





Die Tatsache, daß das „Verbotene“ auf viele Menschen eine große Anziehung 
ausübt und, statt eine bestimmte Handlung zu verhindern, sie im Gegenteil Provo- 
ziert, ist so allgemein bekannt und selbstverständlich, daß es fast müßig erscheint, sie 
erklären zu wollen. Bei näherer Betrachtung dieses alltäglichen Geschehens bemerken 
wir aber, wie so oft bei wissenschaftlichen Studien, daß das zu untersuchende Thema 
allmählich unklar, verschwommen und widerspruchsvoll wird. So gelingt es, zu-. 
nächst die Berechtigung der Problemstellung zu erweisen. 

Beginnen wir mit einem Beispiel: Ein zehnjähriger Knabe erzählt, daß er die Ge.: 
wohnheit habe, das Gabelfrühstück nicht in der Pause, sondern während des Unter- 
richts nach der Pause zu verzehren. Obwohl dies — oder weil es verboten ist, schmecke 
ihm die Schinkensemmel besser. Es handelt sich hier um einen Fall, in dem die orale 
Triebbefriedigung eine Zunahme der Lust erfährt, wenn diese Triebbefriedigung gegen 
ein Verbot stattfindet. Da wir über die Lust lediglich die Aussage machen können, daß 
sie eine Empfindung ist, die regelmäßig mit der Triebbefriedigung einhergeht und 
sie anzeigt, wundern wir uns über dieses Schwanken. Die orale Triebbefriedigung ist 
ja mit dem Vorgang des Essens umschrieben, und wenn: die Lust — wie wir 
meinen — an diesen Vorgang geknüpft ist, würden wir erwarten, daß die Ver-: 
änderung der Lust der Veränderung des Befriedigungsaktes (Essen) parallel sei, also 
etwa bei einer qualitativen oder quantitativen Verbesserung des zu verzehrenden‘ 
Objektes eintrete. Doch hier ist nichts dergleichen geschehen: Die Schinkensemmel 
und das Subjekt, das sie verzehrt, sind unverändert geblieben. 

Wenn wir nach dem teleologischen Sinn der Lust fragen, lautet die Antwort, daß 
die Lustprämie geeignet ist, das Individuum zu veranlassen, trotz realer Schwierig- 
keiten eine Triebbefriedigung zu erzwingen. An unserem Beispiel illustriert, würden 
wir sagen: Der Knabe wird, um Lust zu erlangen, die Semmel trotz dem Verbot 
verzehren. Welchen Sinn aber soll es haben, daß der Knabe während der Pause frei- 
willig auf diese Lust verzichtet, die Triebbefriedigung unterdrückt und sie auf einen 
Zeitpunkt verschiebt, in dem ihre Durchführung gefährlich wird? 

Das Verhalten des Knaben scheint so unserem Verständnis zu trotzen. Erst wenn 
er uns angibt, daß er einige Male, vom Lehrer ertappt, das Genossene ausspucken 
mußte, glauben wir zu begreifen, daß hier ein masochistisches Verhalten vorliegt, 
daß also die genossene Lust eine masochistische war. In der Arbeit: „Das ökono- 
| mische Problem des Masochismus“! wirft Freud die Frage auf, ob denn der Maso- 
| chismus nicht dem Lustprinzip widerspreche, und zeigt, daß dies nicht der Fall ist, 
\ da die Versagungen, die der Masochist anstrebt, die symbolische Bedeutung der 
j Kastration haben und das unbewußte Schuldgefühl befriedigen. Wir können also, zu 








1) Ges. Schr., Bd. V. 





Das Verbotene lockt 353 





































unserem Beispiel zurückkehrend, sagen, daß der Knabe das Essen auf die Stunde 
verschiebt, um die Strafe des Lehrers zu provozieren, daß er an Stelle der oralen 
Befriedigung unbewußt die aus dem negativen Odipuskomplex resultierende passiv- 
feminine Befriedigung anstrebt und das Ausspucken der Semmel an Stelle der Ka- 
stration gewählt hat. In meiner Arbeit: „Beiträge zum Studium des Masochismus“,,? 
konnte ich ergänzend zeigen, daß der Masochist nur jene Strafen, Versagungen, Er- 
niedrigungen genießt, die er selbst unbewußt provoziert hat, und alle anderen genau 
wie der Normale vermeidet; daß ferner die unbewußt selbst provozierten Strafen 
seinen kindlichen Größenwahn schützen, da sie, in den Vordergrund geschoben, die 
realen Versagungen in den Schatten stellen und so die Fiktion der Allmacht stützen. 
Heißt das nun, daß wir das aufgeworfene Problem gelöst haben, indem wir die Lust 
am „Verbotenen“ als masochistische Lust entlarvten? Diese können wir ja nur in 
jenen Fällen annehmen, in denen der gegen das Verbot Handelnde bestraft wird, 
nicht aber dann, wenn es ihm gelingt, die Strafe zu umgehen und die Triebbefriedi- 
gung gegen die verbietende Instanz zu erzwingen. 

Versuchen wir noch einmal, das oben zitierte Beispiel kritisch zu betrachten und 
vor allem rein deskriptiv die Lust zu analysieren. Wir wollen den Knaben befragen, 
worin der Unterschied zwischen dem Genuß in der Schulpause und dem in der 
Unterrichtsstunde bestehe, ob etwa der Geschmack ein anderer geworden sei? Er 
wird kaum imstande sein, bestimmte Angaben zu machen, wahrscheinlich wird er 
sich mit der Angabe begnügen, daß das Essen in der Stunde mit einem angenehmen 
Prickeln, einer leichten Angst einhergeht, während das Frühstück in der Pause ohne 
jede Spannung verläuft und eher langweilig ist. Diese so vage Antwort gibt uns, 
wie ich glaube, einen wichtigen Fingerzeig, sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf eine 
Reihe anderer Handlungen des Knaben, in welchen wir eine ähnliche Spannung und 
Angst finden. Wenn er mit seinen Kameraden rauft, empfindet er Ähnliches. Wir 
wissen, daß es sich hier um Befriedigung des Aggressionstriebgemisches handelt, und 
daß die Lust, die dabei entsteht, von der Lust bei der Befriedigung des Sexualtrieb- 
gemisches zu unterscheiden ist. Betrachten wir die Bedingungen, unter denen das 
Aggressionstriebgemisch befriedigt wird, näher, so bemerken wir, daß diese Befriedi- 
gung immer nur dann möglich ist, wenn die Handlung, die ihr dient, gegen ein 
Kraftfeld gerichtet ist. Ich meine, daß das Objekt, das zur Aggressionsbefriedigung 
dient, sich wehren muß, wenn uns der Akt Vergnügen bereiten soll, daß wir uns 
für diese Zwecke nur Objekte wählen, die eine solche Abwehr tatsächlich oder in 
unserer Vorstellung leisten. 

Eine rein deskriptive Betrachtung der Handlungen der Menschen, die der Be- 
friedigung der Aggression dienen, scheint somit eine wichtige Bedingung anzuzeigen, 
die wir regelmäßig vorfinden, gleichgültig, ob das Objekt lebt und sich real. wehrt, 
oder ob der Gegenstand, gegen den sich die Aggression richtet, beim Beschädigten, 
bzw. Bearbeiten einen durch das Material bedingten Widerstand leistet. Kurz, es ist 
irrelevant, ob es sich um eine ernste oder spielerische Betätigung und Abwehr han- 
delt, die Abwehr ist eine conditio sine qua non. Das Fehlen der Abwehr macht die 





2) Int. Ztschr. f. Psa., Bd.XX, 1934. 











354 Ludwig Eidelberg 





aggressive Handlung unlustvoll, ja langweilig. Diese Bedingung verdient unser Inter- 
esse auch deshalb, weil sie nur für die Aggressionsbefriedigung gilt und beim Sexual- 
triebgemisch fehlt. Nur dort, wo eine und dieselbe Handlung sowohl den Sexual- 
triebgemischen als auch den Aggressionstriebgemischen dient, finden wir, daß die 
Befriedigung des Sexualtriebgemisches an diese Bedingung geknüpft wird. 

Wir glauben jetzt die Situation bei unserem Knaben besser zu verstehen: das 
Essen in der Stunde — also trotz Verbot des Lehrers — hat die Lust der oralen 
Qualität nicht erhöht, es trat lediglich eine andere Lust dazu, die mit Derric 
des Aggressionstriebgemisches einhergeht. 

Das Eigentümliche dieses Verhaltens scheint darin zu bestehen, daß der Knabe 
Wert darauf legt, gleichzeitig, d.h. mit einer Handlung das Sexual- und Aggressions- 
triebgemisch befriedigen zu wollen, anstatt sie örtlich und zeitlich getrennt zu be- 
friedigen. Was mag der Grund für dieses Verhalten sein? Um diese Frage zu beant- 
worten, müssen wir uns an unsere Patienten wenden, bei denen wir ähnliche Tar- 
bestände vorfinden. Das neurotische Symptom ist die Folge eines Kampfes zwischen 
infantilen Triebwünschen und den verbietenden Instanzen. Es ist eine Kompromiß- 
bildung und enthält Anteile des Es, Ich, Über-Ich und der Außenwelt. Ursächlich 
gehen die Symptome auf Fixierungen, bzw. Regressionen auf eine der drei infan- 
tilen Entwicklungsstufen zurück. Das Zustandekommen der Fixierungen und Re- 
gressionen erklären wir durch konstitutionelle und akzidentelle Momente. Zu den 
letzteren gehören die Verbote, die zur Unterdrückung der Triebbefriedigung führen, 
Gelegentlich wurde daher der Gedanke erwogen, daß diesen Verboten die entscheidende 
Rolle in der Bildung der Neurosen zukomme, und daraus der Schluß gezogen, daß 
durch Änderung der Erziehung, durch vollständiges Fallenlassen aller Verbote die 
Neurosenfrage prophylaktisch gelöst werden könne. Es ist aber praktisch ünmöglich, 
in der Erziehung des Kleinkindes von Verboten abzusehen: Der Anregung ist ent- 
gegengehalten worden, daß als Folge einer solchen, von allen Verboten gereinigten 
Erziehung das Kind oder die Mutter oder beide zugrunde gehen müßten. Weiters 
aber haben die Kleinkinderanalytikerinnen die Beobachtung gemacht daß die Kinder 
häufig selbst Verbote phantasieren, um sie an Stelle der von der Erzieherin nicht 
ausgesprochenen zu setzen. Die psychologische Ursache dieses sonderbaren Verhaltens 
dürfte in der Projektion thanatischer Elemente des Kindes auf die Erziehungspersonen 
liegen, wie dies Jekels und Bergler in ihrer Arbeit „Übertragung und Liebe“ 
(Imago, Bd. XX, 1934) gezeigt haben. 

Fragen wir, worin denn die pathognomische Bedeutung der Verbote besteht, 
so lautet die Antwort, daß durch diese Verbote eine Stauung von nicht zur Abfuhr, 
i. e. zur Befriedigung gelangender Triebe entsteht, daß diese unterdrückten Triebe 
immer wieder den Versuch machen, gegen die verbietenden Instanzen vorzustoßen, 
um :eine Befriedigung zu erzwingen; daß in einer Reihe von Fällen — eben bei 
Neurosen — auf die Dauer eine vollkommene Unterwerfung der T'riebe unmöglich 
wird, und daß es dann durch Bildung von Symptomen zu einer partiellen Befriedi- 
gung kommt, die aber weder vom Standpunkte der Triebe noch von dem .des Ichs 
eine Ideallösung darstellt. Diese Tatsachen sind heute durch so viele Forscher be- 











Das Verbotene lockt 355 


















































stätigt, daß sie als sicher angesehen werden können; es fragt sich lediglich, ob nicht 
“auch noch ein anderes Moment eine wichtige Rolle spielt. Betrachten wir die Wir- 
kung des Verbotes, so scheint außer seiner, die Triebbefriedigung hemmenden Eigen- 
schaft noch die Verletzung, bzw. Kränkung der kindlichen Allmacht von Bedeu- 
tung zu sein. Auch diese Tatbestände wurden, nachdem Freud sie festgestellt hatte, 
durch seine Schüler immer wieder bestätigt. Sie scheinen nun folgende ergänzenden 
Formulierungen zu gestatten: Wenn es richtig ist, daß das Verbot, an der Mutter- 
brust zu saugen, nicht nur zu einer Versagung der oralen Qualität führt, sondern 
außerdem die Fiktion der kindlichen Allmacht erschüttert, so wird, wenn in einem 
späteren Zeitpunkt die Mutterbrust wieder angeboten wird, damit zwar die Stauung 
des Triebes aufgehoben, nicht aber die narzißtische Kränkung ausgelöscht. Alie 
späteren Verbote haben das gleiche Schicksal, sie führen nicht zu einer dauernden 
Triebunterdrückung, da sie sich entweder mit einer zeitlichen Einschränkung be- 
gnügen, oder an Stelle des verbotenen Objektes ein anderes schaffen; lediglich die 
narzißtische Kränkung, d. h. die Erkenntnis, daß man nicht die Macht habe, jeder- 
zeit und sofort die Triebbefriedigung zu erzwingen, bleibt bestehen. Sie wäre nur 
aus der Welt zu schaffen, wenn man imstande wäre, die einmal verbotene Trieb- 
befriedigung trotz dem noch immer bestehenden Verbot zu erzwingen. Zur Illustra- 
tion dieses Tatbestandes ein Beispiel: Ein Kind betritt die Küche und bemerkt eine 
herrliche Schokoladetorte; es versucht nach ihr zu greifen, doch wird es durch die 
Mutter daran gehindert und muß auf den Genuß verzichten. Wenn es nun groß und 
unabhängig geworden, die Torten der ganzen Stadt haben könnte, wird ihr Genuß 
lediglich die gestaute orale Triebqualität befriedigen. Um den Makel der narzißti- 
schen Kränkung zu löschen, müßte die ganze traumatische Situation wiederholt wer- 
den, die verbietende Mutter müßte erscheinen und ihr zum Trotz die Handlung 
durchgeführt werden. 

Die zweifache Wirkung ist demnach die Hemmung des Sexualtriebes und das 
Wecken der Aggression. Gelingt es nun irgendeinmal der nunmehr erwachten 
Aggression, das Verbot zu durchbrechen, so lernt das Kind eine neue Lustqualität 
kennen, die offenbar mit der Wiederherstellung der beleidigten Allmacht zusammen- 
hängt, und die von der Lust bei Befriedigung des Sexualtriebgemisches ganz scharf 
zu unterscheiden ist. 

Das Vorhandensein eines Verbotes und seine Durchbrechung werden damit zu 
wichtigen Bedingungen für das Zustandekommen dieser neuen Lustqualität. Das Kind 
beginnt nach entsprechenden Situationen zu suchen und findet immer neue Betäti- 
gungsmöglichkeiten. Soweit es der Erziehung gelingt, das Kind konsequenterweise 
zur Sublimierung zu führen, sind die Folgen dieser Neuerwerbung nur günstig; ge- 
fährlich werden sie, wenn die Sublimierung mißlingt und ihre Befriedigung in ur- 
sprünglicher Form gesucht wird; werden sie aber mit den Sexualtrieben gekoppelt, 
so scheinen sie in der Entstehung der Neurosen eine maßgebende Rolle zu spielen. 
Als ursächlich für die Entstehung der Neurosen werden, wie bereits angeführt, 
Fixierungen, bzw. Regressionen auf eine der drei Entwicklungsstufen angesehen. Die 
der Norm gegenüber quantitativ verschiedene Verteilung des Sexualtriebgemisches ver- 














| 





356 Ludwig Eidelberg 





langt dann vom Individuum eine Befriedigung in einer Form, in der sie in diesem 
Ausmaße nicht bewilligt wird. Nehmen wir, um den Sachverhalt anschaulich zu 
schildern, an, daß normalerweise die orale Qualität der Libido bei einem Erwachse. 
nen zwei Einheiten betrage, die der Betreffende auch befriedigt, daß aber ihre Stei- 
gerung auf sechs Einheiten einen Zustand von Versagung schaffe. Das Ich weigert 
sich, diese Mengen zu akzeptieren, aus Gründen, die entweder mit dem Zustande 


‚seiner Organe zusammenhängt, bei denen eine Grenze der Betätigung vorliegt, oder 


weil die Außenwelt Objekte, die diesen Quantitäten entsprechen, nicht liefert. Diese 
vier unbefriedigten Einheiten wären dann der Ursprung des neurotischen Konfliktes.3 

Eine zweite Erklärung für die Abwehr der infantilen Triebwünsche ist ihre Bin- 
dung an die ödipalen und präödipalen Objekte. 

Die Klinik scheint diesen Erklärungsversuchen recht zu geben. Wir sehen immer 
wieder in Fällen, die durch die Analyse geheilt werden, daß erstens die innige Bin- 
dung an die ödipalen und präödipalen Objekte verschwindet, und daß gewisse Men- 
gen oraler, analer oder phallischer Libido zur genitalen Stufe aufsteigen und dort in 
die normale Sexualität eingebaut werden. Dann erst wird die bis dahin abgewehrte 
Triebbefriedigung gestattet. Diesem Gewinn an Lust steht eine Verminderung jener 
Lust gegenüber, die von den Neurotikern unbewußt durch das Vorhandensein ihrer 
Symptome, bei den Perversen bewußt durch ihre Praktiken genossen wird. In man- 
chen Fällen ist der Verlust so deutlich, daß uns das Festhalten der Patienten an der 
Krankheit gut verständlich wird. Versuchen wir nun bei diesen in Heilung begriffe- 
nen Fällen die neue Lust mit der früher vorhandenen zu vergleichen, so erzählen uns 
die Patienten, daß die neue Lust zwar intensiver, aber irgendwie ruhiger, unauffälli- 
ger und vor allem ohne das eigentliche Prickeln der Mischung von Angst und 
Schuldgefühl einhergeht. \ 

Wir glauben nun, die Situation analog jener des Knaben, der die Schinkensemmel 
nur in der Stunde essen wollte, so erklären zu können, daß die Neurotiker in ihren 
Symptomen, bzw. Handlungen gleichzeitig mit dem Sexualtriebgemisch auch das 
Aggressionstriebgemisch befriedigen. 

Was mag der Grund für dieses seltsame Verhalten sein? Wir haben ja die Unter- 
suchung an dem Knaben abgebrochen und uns dem Patientenmaterial zugewendet, 
weil wir erwartet haben, hier Antwort auf diese Frage zu finden; statt dessen scheint 
uns umgekehrt das Verhalten des Knaben ein Detail der Neurosenbildung geklärt 
zu haben. 

Wir fanden bei unseren Patienten, daß das Verbot der Triebbefriedigung gleich- 
zeitig zwei Wirkungen hatte, und könnten nun diese Tatsache als ursächlich anführen 
und sagen, daß der Neurotiker vielleicht unter dem Drucke des Wiederholungs- 
zwanges den Versuch unternimmt, die traumatische Situation zu wiederholen und 
die Triebbefriedigung an der Stelle, wo sie unterbrochen wurde, wieder aufzusuchen 
und dabei die narzißtische Kränkung auszulöschen. Diese Darstellung wäre befriedi- 
gend, wenn sie nicht sofort eine zweite Frage auftauchen ließe, wieso denn nicht 





3) Vgl. L. Eidelberg: „Das Problem der Quantität in der Neurosenlehre.“ Int. Ztschr. 
f. Psa., Jg. XXI, 1935. 














Das Verbotene lockt 357 











































"alle Menschen dieses Verhalten wählen. Die Erkenntnis, daß viele es wirklich tun, 
daß die Neurose offenbar erst mit einer quantitativen Steigerung beginnt, schafft so 
lange keine Erleichterung, als wir nicht imstande sind zu zeigen, warum in be- 
stimmten Fällen: das Verbot eine so große Wirkung hatte. Da die Darstellung des 
uantitativen Momentes vorläufig noch unlösbaren Schwierigkeiten begegnet, ist 
Geduld am Platze. 

Vielleicht können wir wenigstens etwas zu einer anderen Frage beitragen: zu der 
Frage nach den Gründen, die einen Teil der Menschen veranlassen, auf diese gleich- 
zeivige Befriedigung beider Triebgemische zu verzichten. 

Kehren wir zu unserem ersten Beispiel zurück und betrachten wir die Erfahrun- 
gen, die der Knabe bei dem Festhalten an seinem Verhalten machen muß. Diese Er- 
fahrungen lauten in einer schematischen Formulierung: Neben Situationen, in denen 
das in der Stunde verbotene Essen gelingt und es so zu einer Befriedigung des 
Aggressions- und Sexualtriebgemisches kommt, finden wir andere, in denen der Knabe 
vom Lehrer erwischt wird und deshalb auf beide Befriedigungen verzichten muß. 
Diesen Verzicht auf die Befriedigung der Aggression hat er bereits in anderen Hand- 
lungen kennengelernt, immer dort, wo es unmöglich war, das Verbot zu durch- 
brechen. Er hat gelernt, daß das Suchen nach aggressiven Befriedigungen mit einem 
gewissen Risiko verbunden ist. In allen diesen, nur der Aggression dienenden Hand- 
lungen, kam es aber nur zum Verzicht auf diese Befriedigung, während hier 
außerdem noch der Verzicht auf die Sexualbefriedigung hinzutritt. So lustvoll es 
also erscheinen mag, in einer Handlung gleichzeitig die beiden Befriedigungen vereint 
zu genießen, so unpraktisch ist dieses Verhalten, da durch diese Koppelung der 
Sexualbefriedigung Risken aufgezwungen werden, die sie, allein aufgesucht, nicht 
trägt. Der zweite Erfahrungssatz lautet, daß die Befriedigung der Aggression dort, 
wo sie allein gesucht wird, häufiger gelingt als in jenen Fällen, in denen sie an die 
Sexualtriebe gekoppelt wird. Es hat den Anschein, als ob die Intensität, die Durch- 
schlagskraft der Aggression dadurch geringer würde. Versucht man in groben Um- 
rissen dieses Problem zu skizzieren, so ergibt sich, daß die Zweckmäßigkeit der 
Aktionen eine bestimmte Konzentration und eine bestimmte Innervation zu erfor- 
dern scheint, und daß die Konzentration durchbrochen erscheint, wo gleichzeitig ver- 
schiedene Ziele vorliegen. Die für den Koitus notwendige Hyperämie des Genitales 
als Ausdruck der maximalen Besetzung dieser Gegend ist für einen Kampf störend; 
dieser erfordert eine andersartige Besetzung. 

Wir haben zwei Gründe gefunden, die den Menschen zur Trennung der Sexual- 
und Aggressionsbefriedigung zwingen: a) die Schwächung der Aggression durch die 
gleichzeitig vorhandene Sexualität und b) das unnötige Risiko für die Sexualbefriedi. 
gung. Nun gibt es ein Gebiet, auf welchem die beiden Befriedigungen offenbar ohne 
diese Nachteile gleichzeitig gesucht werden können; es ist dies das Gebiet der Phan- 
tasie. Nur in der Realität werden jene eben beschriebenen Beobachtungen auftreten, 
die schließlich zu einer Trennung beider Triebbefriedigungen führen. In der Phan- 
tasie wird das Risiko und die Schwächung der Aggression bedeutungslos bleiben. 

So scheinen jene Menschen, die vorwiegend in der Phantasie leben, imstande zu sein, 


Imago XXI/3 24 











358 Friedrich S. Krauss 





besonders lange an der Koppelung der zwei Triebgemische festzuhalten. Aber auch 
umgekehrt führt das Festhalten an der gleichzeitigen Befriedigung beider Trieb- 
gemische zur Wendung und Flucht in die Phantasie. Faßt man das eben Gesagte zu- 
sammen, ergeben sich folgende Formulierungen: 

ı. Beim Vergleiche der Handlungen, die der Befriedigung des Sexualtriebger 
dienen, mit jenen, die der Befriedigung des Aggressonstriebgemisches dienen, finden 
wir, daß beim Aggressionstriebgemisch eine Befriedigung nur dann möglich ist, wenn 
das Objekt Abwehr zeigt. 

2. Diese Tatsache scheint genetisch mit dem ersten Auftreten des Aggressions- 
gemisches als Folge erster Verbote und Versagungen zusammenzuhängen. 

3. Diese Verbote und Versagungen zerstören den kindlichen Größenwahn. Es 
kommt zu Restitutionsversuchen, etwa nach der Formel: „Wenn ich nun einsehe, 
daß ich nicht allmächtig bin, will ich wenigstens so mächtig sein, daß ich das passiv 
Erduldete aktiv wiederhole und auf diese Weise den Makel der eigenen narzißtischen 
Kränkung, durch Erzeugung solcher Kränkungen bei anderen, verwische.“ 

4. Viele Menschen versuchen in einer Handlung gleichzeitig ihre Aggressions- und 
Sexualtriebgemische zu befriedigen. 

5. Diese Tatsache scheint genetisch damit zusammenzuhängen, daß die ersten Ver- 
bote gleichzeitig die Sexualtriebgemische gestaut und die narzißtische Allmacht ge- 
stört haben. 

6. Das Zustandekommen dieser gleichzeitigen Befriedigung wird aber durch zwei 
Tatsachen erschwert: a) die Durchschlagskraft des Individuums nimmt ab, wenn es 
sich gleichzeitig auf aggressive und sexuelle Ziele konzentriert; b) die Risken wer- 
den erhöht. 


Die Ödnnssage in südslawischer 
Volksüberlieferung 


Von 


Friedrich S. Krauss 
Wien 


Das böse Schicksal wird schon bei der Geburt bestimmt 


Zwei Vilen zogen zwischen zwei Gebirgshöhen hin. Rief die eine der anderen zu: Oh 
Uvid! — Der anderen Antwort gellt schrill zurück: Was gibt es denn, Uris? — Ist jener 
Mutter Sohn schon da? — Oh noch nicht! — Ei, ei, der glückliche Augenblick ist ihm ent- 
schwunden! — Und was war das für einer? — Hallt ihr zur Antwort: Er wäre der be- 
deutendste Kaufherr der ganzen Welt geworden! — Neuerliche Frage: Oh Uvid! — Warum 
rufst du mich, oh Uris? — Ist jener Mutter Sohn schon da? — Noch ist er nicht da! — Ei, 
diesmal ist ihm ein noch günstigerer Augenblick entgangen! — Ja, was denn für einer? — 
Entgegnung: Er wäre der allererste unter den Herrschern der Welt geworden! — Neuerdings: 
Oh Uvid! — Warum rufst du mich an, oh Uris? — Ja fand sich bei jener Mutter der Sohn 














Die Odipussage in südslawischer Volksüberlieferung 359 













































‘schon ein? — Ach ja! — Ei, traf ihn leider ein unglückseliger Augenblick! — Und der 
_ wäre? — Antwort: Er wird seiner eigenen Mutter Gatte werden! 

Jenes Mädchen kam mit dem Kinde nieder, hörte aber dabei das ganze Zwiegespräch mit 
an. Da sie einen Knaben geboren, nahm sie ein Nädelchen zur Hand, fädelte einen Seiden- 
faden ein und zog ihn dem Knäblein durch beide Fersen durch. Und hängte ihn auf einen 
Tannenbaum auf. 

An diesen Ort gelangte zufällig auf der Jagd ein Kaiser mit seinen Knechten und Jagd- 
rüden; die Rüden witterten und entdeckten das ausgesetzte Knäblein. Den Vilen tat es leid, 
die Rüden könnten das ausgehängte Kind erschnappen, und riefen deswegen den Kaiser 
herbei: Oh Kaiser, dir ward nicht das Glück einer Nachkommenschaft zuteil, ergreif dieses 
kleine Kind und heb es empor, auf das es dein Sohn werde, dir ward ja sonst kein leib- 
liches Herzenskind beschieden! — Der Kaiser schweifte von seinem Pfad ab, sah das an der 
Tanne hängende Kind und befahl den Dienern, es herunter zu holen, wickelte es in den einen 
Schoß seines Dolmans ein und kehrte heim. Er rief seine Gemahlin in den Hof herab: 
Komm heraus, oh Edelfrau, siehe da, Gott hat uns einen Sohn beschert, ich fand ihn im 
Grünen! — Die Kaiserin stürzte in den Hof herunter, ergriff das männliche Kind und sprach: 
Heil mir, dieweilen ich unverhofft ein Kind gewann! — Sie hüllte das Kind in Samt und 
Seide, bestellte drei Ammen, hob das Kind empor und zog es dann groß. 

Als der Knabe zum Jüngling herangewachsen war, reiten konnte und mit den Waffen 
umzugehen verstand, pflegte er neben dem Kaiser zu jagen und hielt sich für den leiblichen 
Kaisersohn. Das war dem übrigen Jagdgeleite gar zuwider, und aus Neid begannen sie ihn 
wegen seiner Haltung zu rügen: Du bist kein wahrer kaiserlicher Prinz, vielmehr ein 
Hurenbastard, den man im Waldgrün an einem Aste hängend aufgefunden! — Mit dem 
Kaiser wieder heimgekehrt, sank er der Kaiserin auf den Schoß und beschwor sie: Mutter, 
ich muß es einmal bestimmt wissen, sag es mir unumwunden heraus, bin ich dein leiblicher 


Sohn oder bin ich es nicht? — Heute machte man mir den Vorwurf, ich sei nicht dein 
Sohn, sondern ein Hurenbastard! — Die Kaiserin gestand ihm, sie habe ihn freilich nicht 
geboren, sondern der Kaiser habe ihn an einem Ast hängend im Walde gefunden. — Er 


nahm dich mit, ich aber hob dich empor, so hoffe ich, daß du heute und immerdar mein 
Sohn bist und es bleiben wirst, als ob ich dich unter Schmerzen zur Welt gebracht hätte! — 
Er erwiderte: Meines Bleibens ist hier nicht länger, doch hab ich irgend einen Eigenbesitz, 
so gib ihn mir, ich ziehe in die Welt hinaus, damit dies Gesindel von mir nichts mehr 
wissen soll! — Die Kaiserin wimmerte auf und bat ihn himmelhoch wie einen leiblichen 
Sohn, er möge doch sie und den Kaiser nicht verlassen! — Er nahm keine Rücksicht darauf, 
rüstete ein Reitroß und zog davon. 

So streifte er durch die Welt, von Herberge zu Herberge, bis ihn sein unabwendbares 
Geschick auf Herberge just zu seiner Mutter hinlenkte. Sie war noch jung und rüstig, der 
Jüngling gefiel ihr besonders gut und sie sagte ihm: Hör mal, Bursche: wenn es dir paßt, 
so heiraten wir! Darauf er: Einverstanden, wenn es dir so recht ist! — Also verbrachten 
sie die Nacht, miteinander. Im ersten Morgengrauen beriefen sie den Popen und den Ge- 
vatter und ließen sich trauen. Nach der Trauung begab sich der junge Mann auf die Jagd. 
Abends in Schweiß gebadet heimgekehrt, entkleidete er sich, zog die Schuhe aus und gab 
sie seiner Frau zum Weglegen. Wie sie die Schuhe nun aufhebt, kommt ihr etwas in den 
Sinn, sie starrt entsetzt auf seine nackten Füße und erinnert sich dabei, was bei ihrer Nieder- 
kunft die Vilen einst verkündet haben. Da fragt sie ihn bange: Ja von wannen stammst 
du denn, so Gott dir helfe, gesteh mir’s! — Nachdem er ihr alles erzählt, woher, wieso und 
warum und wo man ihn seinerzeit im Walde aufgefunden, brach sie in Tränen aus. Ruft 
er erschrocken aus: Warum weinst du, so Gott dir helfe? — Ah, wie soll ich denn nicht 


24* 








Ks Verse TE ETF Tas SB DES IE SU nF 
F 





360 riedrich $. Krauss 
weinen, du mein unglücklicher Sohn! — Wie er diese Worte vernimmt, beginnt auch er zu 
klagen: Wehe, dreimal wehe mir und meinem unglücklichen Geschick! — Er springt 


auf der Stelle auf, sattelt sein Roß und ruft aus: Beim Allah, Mutter, deine Augen werden 
mich nimmermehr erschauen. So zog er denn in die unbekannte Welt weinend fort, sie 
aber blieb jammernd und klagend zurück. Und so erhielt die Mutter nie und nimmermehr 
Kunde von ihm, er aber auch nicht von ihr. 

Hier haben wir eine Fassung der Odipussage, wie sie sich seit urältesten Zeiten bis auf die 
Gegenwart im Volksmunde Montenegros erhalten hat. Wie ihr ein Sophokles durch seinen 
Odipus auf Colonos eine Verbreitung über die ganze Welt sicherte, ist uns durch 
seine dichterische Bearbeitung wohlbekannt. Es ist hier nicht der Raum, um die Ab- 
weichungen zu besprechen. Der Volkserzähler geht von dem Glauben an die Un- 
abwendbarkeit des Schicksals aus. Nach altslawischem Glauben ist es ein usud (Be- 
stimmer), der jedem Neugeborenen sein Schicksal bestimmt. In der vorliegenden 
Fassung ist eine Spaltung seiner Persönlichkeit eingetreten. Die eine bestimmt den 
Augenblick der Geburt, d. i. der uvid (Einsicht), die andere, uris (Bestimmung, Zu- 
messung), das Geschick und Glück des Neugeborenen. Der Schicksalsbestimmer waltet 
stumm seines Amtes. Zu seinen Dolmetscherinnen machen sich zwei Vilen, die dabei 
die männlichen Namen seiner Spaltgestalten annehmen. Neu ist, daß der Hohlfuß 
(Odipus) ein Mädchenkind ist, während er bei Sophokles als Prinz zur Welt kommt. 
— Der Kaiser und die Kaiserin adoptieren den Findling durch eine feierliche sinnbild- 
liche Handlung, durch das Hindurchziehen des Kindes zwischen den Schenkeln und 
dessen Emporheben. Dieser Brauch besteht noch gegenwärtig bei einem großen Teil 


des slawischen Bauernvolkes. — Das griechische Lehnwort mantulija (manteuein, vor- 
aussagen, prophezeihen), weist vielleicht auf eine griechische Überlieferung hin. Die 
Wörterbücher enthalten das Wort nicht. — Im übrigen dürfte diese Mär wahr- 


scheinlich dem Erzähler nach einem Guslarenlied bekannt geworden sein, denn mehrere 
weitverbreitete Lieder behandeln diesen Stoff und der Erzähler behält einige Rede- 
wendungen in der Versform bei. Ein Beispiel eines solchen Guslarengedichtes möge 
hier folgen. Aufgezeichnet hat es Alexander Sandi& ums Jahr 1860 im Donaubanat, 
erschienen ist es in Zara, 1861 in der Festschrift zur Hundertjahrfeier der Geburt des 
Volksdichters Ka6ie-Miosig, Seite 132 ff. 

(Der Text der oben angeführten Sage steht in Novica Sauli6 ausgezeichneter 
Sagensammlung, deren Titel zum Schluß folgt.) 


Simeon der Findling 

Der Jagd oblag der Patriarche Sabbas, 
Oblag der Jagd drei Tag hindurch und vier, 
Erlegte nicht das mindeste Gejaid, 
Nur eine Kiste zog er aus dem Wasser. 
Als Sabbas diese Kiste tat erschließen, 
Fand sich darin ein Kind, ein kleiner Knabe. 
Ein zierlich weißer Brief ihm unterm Haupte, 
Und in dem Briefe heißt es trüb und traurig: 

„Die Schwester mit dem Bruder ihn gebar; 
Sie schmiedete aus Blei ein Kistchen klein, 











Die Odipussage in südslawischer Volksüberlieferung 








Warf’s Trühlein in das blaue Meer hinein, 

Und redete das kalte Wasser an: 

Nimm fort, oh Meer, das Unrecht aus der Welt, 
Damit die schwarze Erd’ sich nicht versudle 

Und sie vor Gott dem lieben nicht mehr frevle; 
Nimm’s Unrecht fort, oh Wasser, aus der Welt, 
Auf daß der Sünd ich los und ledig werde!“ 

Als Sabbas dieses Schreiben durchgelesen, 
Erhob er ein Gebet zum lieben Gott, 

Trug fort das Kind zur Kirche Hilendar, 
Mit heiligem Kreuze er das Kind bekreuzte 
Und legte ihm den schönen Namen bei, 
Den schönen Namen: Findling Simeon! 

Er zog ihn auf und hat ihn groß gezogen, 

Bis daß das Kind ein Roß besteigen konnte, 
Zum Reiten reif, und bis zu sechzehn Jahren, 
Da sprach der heilige Sabbas so zu ihm: 

„Oh Findling du, mein teueres Kind, 

Oh Sohn, ich habe dich wohl groß gezogen, 

Dich groß gezogen, doch dich nicht gezeugt! 

Nun aber zählst du deine sechzehn Jahre: 
Soviel als dir behagt, nimm von den Schätzen, 
Dazu auch will ich dir mein Reitroß schenken, 
Und zieh dahin von einer Stadt zur anderen, 
Und trachte deine Eltern aufzufinden!“ 

Dem Jüngling ward es bang und angst zu Mute, 
Es fiel ihm schwer der Abschied von dem Hofe: 
Voll Zärtlichkeit hat Sabbas ihn erzogen 
Und nie hat er ein Wort davon gesagt, 

Er wäre nicht durchs Blut sein eigen Kind. 

Nahm Schätze mit, soviel er tragen konnte, 
Zerfloß in Tränen, sprach zu Sabbas also: 

„Das Herz mir bricht, muß ich vom Hofe scheiden!“ 
Und weiter spricht er demutvoll zu Sabbas: 

„Nach welchem Lande gibst du mir die Weisung?“ 
Auf diese Worte Sabbas Mitleid fühlte 

Und unter Tränen gab dem Kind er Antwort: 

„Oh Findling, du mein allerliebstes Kindlein, 
Bisher hab ich dich bestens groß geatzt, 

Nun will ich dich auch herzlich gut beraten: 

Zum Auszug nun zu guter Frist mit Gott! 
Richt’ dein Gebet zu Gott, dem einzigen Hort, 
Und zieh’ dahin, wohin du immer magst, 

Such’ aufzufinden deine beiden Eltern!“ 

Der Jüngling nahm den Ratschlag sich zu Herzen 
Und zog mit Gott zu guter Stunde weiter. 

Er wandte sich der Sonne zu gen Osten, 

Und richtete zum lieben Gott ein Beten — 


361 








EEE en 
362 i Friedrich S. Krauss ; 





| 
| Und schlug ein Kreuz mit dem geweihten Zeichen. 
Schon flog er über’s weite Flachland hin 
Wie eine Schnuppe über’n klaren Himmel — 
E Als er zur Pribinjstadt gelangt war, 
War just daran die Kaiserin zu heuren. 
| Vom Edelvolk mocht jeder Kaiser werden. 
Sie konnten sich nicht andern Rat verschaffen, 
| Aus ihren Reihen keinen Kaiser küren. 
Da hielten sie den ganzen Tag Beratung, 
Auf welche Weise sie des Rechtens täten, 
Um auf den Thron den rechten Mann zu setzen. 
Sie hielten Rat und faßten solchen Ratschluß: 
„Die Kaiserin, die Fraue, die soll werfen, 
Soll werfen einen Apfel rein im Golde, 
Und werfend soll sie diese Worte sprechen: 
Auf wen der güldne Apfel fallen sollte, 
Den wird die Kaiserin in Lieb umfahen, 
Und auf ihm soll das Kaiserreich verbleiben!“ 
Es näherten sich ihr die Herren alle, 
| Doch traf der Apfel keinen von den Edlen, 
| Vielmehr den letzten, Simeon den Findling! 
Der Herold ruft im Kaiserhof in Runde: 
„Woher der Fahrt der unbekannte Kämpe, 
Auf ihm verbleibt das Kaiserreich zur Stunde!“ 
Ergaben sich dem Gottgericht beruhigt 
Und führten auf den Hof hinauf den Findling. 
| Sie trauten ihm .die Kaiserin nun an 
Und haben dann das Hochzeitmahl gefeiert. 
| Verging der Abend, Nacht war angedunkelt, 
| Man führt das Brautpaar in ihr Brautgemach, 
Auf’s weiche Kissen und auf weiße Arme, 
| So hat mit ihm sie diese Nacht verbracht. 
| Frühmorgens war sie zeitlich aufgewacht 
I Und hat im Selbstgespräch zu sich gesagt: 
| „Oh liebster Gott, liegt’s so in deinem Willen, 
Daß mir genaht ein unbekannter Kämpe, 
| Auf dem das Kaiserreich verbleiben soll!“ 
| Geheim durchsucht sie jetzund sein Gewand 
| Und fand darin das zierlich weiße Schreiben, 
| 
| 


Von welchen Sippen er und Magen stamme, 
Daß ihn gezeugt die Schwester mit dem Bruder, 
Sie kreischt, so kreißt der schwarze Berg in Wehen: 


| 
| 
| „Oh wehe mir, mein Gott, wie strafst du herbe, 
N Womit hab ich, oh Gott, so schwer gesündigt, 
1} 


Daß ich gezeugt ein Kind mit meinem Bruder, 
Und dieses Kind umfahte nachts die Mutter!“ 

N In Tränen aufgelöst, spricht sie zu ihm: 
„Oh du mein Kind, du Findling Simeon, 





Die Odipussage in südslawischer Volksüberlieferung 363 





Erheb’ dich, Sohn, auf deine Heldenbeine, 
Und eile hin zum Patriarchen Sabbas; 
So wird ihn eine Mutter grüßen lassen: 
Er werfe dich ins unterste Verließ, 
Darin du neun der Jahre schmachten mögst, 
Auf daß du deiner Sünde ledig werdest!“ 

Da sprang er hurtig auf die Heldenbeine, 
Enteilte hin zum Patriarchen 'Sabbas 
Und überbrachte ihm das zierlich weiße Schreiben, 
Darin der Mutter Gruß enthalten war. 

Nachdem das Schreiben Sabbas durchgelesen, 
Warf er zutiefst den Jüngling in’s Verließ, 
Darin er schmachten soll der Jahre neun, 
Und so vielleicht der Sünden los zu werden. 
Das wüst Verließ, das schloß er sorgsam zu 
Und warf den Schlüssel in das blaue Meer. — 
Es schritt von da die Zeit nun wieder weiter 
Ein wenig viel, es waren neun der Jahre, 
Als auf dem Meere Fischer Fische fingen, 
Und fingen einen Mostarflußfisch ein. 

Weil keinem sie den Fisch vergönnen mochten, 
So schenkten sie den Fisch dem heiligen Sabbas. 
Als Sabbas nun den Fischleib aufgeschnitten, 

Fand er im Fisch den Kerkerschlüssel vor; 

Da sprach das Wort der Patriarche Sabbas: 
„Oh wehe mir, Erbarmen hab’, oh Gott, 

Verschlossen hab ich wohl das wüst Verließ, 

Doch auf den Jungen drin so ganz vergessen!“ 
Als Sabbas nun die Türe aufgeschlossen, 

Da war der Junge längst und längst verblichen, 

Verblichen war er und zur Seligkeit gelangt: 

Zu seinen Häupten eine mächtige Kerze; 

War los und ledig seiner Sünde worden! — 





Von mir dies Lied, oh meine liebsten Gäste, 
Von Gott jedoch Gesundheit Fried und Freuden 
Und Seligkeit der Seel im Paradiese! 


In der Narenta, die bei Mostar fließt, gedeihen riesige Forellen, die als Leckerbissen 
besonders hoch geschätzt werden. Einen solchen in die Adria verirrten Fisch er- 
beuten die Fischer, und weil einer dem anderen den kostbaren Fang nicht vergönnt, 
so einigen sie sich, ihn dem hochverehrten Patriarchen Sabbas zu verehren. — Hier 
spricht auch die Fabel vom wiedergefundenen Ring des Polykrates mit. 

Die althellenischen Dramen wurzelten in der Volksüberlieferung und waren ihrem 
Ursprunge nach Darstellungen religiöser Handlungen. Der Dichter durfte die im 
Volke durch Überlieferung erhaltene Sage nicht willkürlich umwandeln, es war ihm 
nur gestattet, sie auszugestalten und zu begründen. Er schuf auf diese Weise aus i 








br TE ERETIETTREFETTE 7 DIE ICHSTE ENT STEERERSTRERSSEHSEREN Fr — le Te 
364 Friedrich S. Krauss 





dem Theatron, dem Schauspiel, eine moralische Anstalt, zu der der Choros, der in 
Strophe und Antistrophe vor der Bühne auf und ab wandelte, seine Erläuterungen im 
Sinne des Volksempfindens singend beisteuerte. Auch Sophokles hat in seinem 
Odipus auf Colonos eine Volkssage verarbeitet. Seine Erfindung durfte sich erstens 
auf die Hinzufügung der Antigonegestalt, der unschuldigen Frucht der als götter- 
widrigen Gräuel betrachteten Tochter, und zweitens auf die Blendung des ohn- 
mächtigen Opfers eines unheimlichen Schicksals beschränken. Wie er diesen Stoff 
künstlerisch zu veredeln gewußt hat, machte ihn zu einem der unsterblichen Dichter 


‚aller späteren Zeiten. Daneben behauptete sich noch weiter die anspruchslosere 


Fassung in der Folklore in eigener Unverwüstlichkeit. Wir haben noch eine dritte 
südslawische Version derselben hellenischen Volkssage. Sie zeichnet sich vor den vor- 
her mitgeteilten zweien durch den wichtigen Zug aus, daß bei der Geburt des Kindes 
zwei Schicksalsgöttinnen in der entscheidenden Stunde das Unheil unwandelbar fest 
bestimmen. Die Eltern vernehmen deutlich die Zukunft ihres Sprößlings und sie be- 
schließen, sie zu vereiteln, indem sie das Kind von einer Brücke in einen Fluß 
schleudern. Fischende Klosterbrüder fangen ihn auf und erziehen ihn, bis er zum 
Jüngling herangereift ist. Er zieht in die Welt aus, wie im Guslarenlied, wird von seinen 
Eltern aufgenommen, tötet unabsichtlich seinen eigenen Vater, heiratet die Mutter, 
wird von ihr als ihr Sohn erkannt und aus dem Hause gewiesen. Nun erfüllt 
sich sein Verhängnis auf eine noch viel schrecklichere Weise. Er gelangt nach 
Jerusalem, tritt in die Dienste des Heilands und dessen Jünger und verrät gegen 
schnöden Sündenlohn seinen Herrn und Gebieter den rachsüchtigen Juden. An dem 
Wunder, das Jesus mit seinem Blutstropfen noch im letzten Augenblicke verrichtet, 
erkennt der Frevler, er habe sogar seinen Gott schnöde preisgegeben, und enteilt ins 
Gebirge, bezeichnenderweise in einen Tannenwald, und knüpft sich dort auf. Hier 
ist der Ursprung der Judaslegende zu suchen, denn wie man weiß, gab es überhaupt 
keinen dreizehnten Apostel Judas, der die bewußte Schande verübt haben könnte, 
Auch der Verräter, der sich selber richtet, ist eine der ältesten Gestalten der asiatischen 
Folkloren. Der südslawische Volksdichter hat davon noch immer nicht genug, sein 
Odipus stiftet sogar nach seinem Ableben mit seinen Knochen ewiges Unheil. denn 
aus ihnen sproß das Tabakkraut hervor. Die Überlieferung bei Novica Saulig 
„Srpske narodne pride iz zbirke narodnik pripovjedaka, Beograd 1931, knjiga 1, 
Nr. 37, S. 58—60“ lautet genau verdeutscht so: 


Vom Schicksal verhängte Verfluchung 
Mann und Frau wanderten durch eine Einöde im Hochgebirge. Die Frau war hoch- 
schwanger. Dort im dunklen Hochwald setzte sich die Frau unter einem Baume müde 
nieder. Ihr Mann fragt sie: Warum setztest du dich? — Sie schweigt. — Warum sitzt du 
denn? — Es fällt ihr schwer, ihm die Wahrheit zu gestehen. Nach einer geraumen Weile 


erst versetzte sie: Merkst du nicht, warum ich sitze, ich möchte das Kind haben! — So hat 

es uns das Schicksal (Bog) bestimmt, wir haben doch auch danach gestrebt! — entgegnete 
der Mann. 

; Auf einmal ließ sich eine Stimme aus dem Hochwald vernehmen: Ist das Kind schon 

erschienen? — Nein, bei Gott, noch nicht! — so hallt es zurück. Und wieder ertönt jene 











Die Odipussage in südslawischer Volksüberlieferung 365 






































_ Stimme: Ist das Kind schon da? — Nein, noch immer nicht! — Zum dritten Male erscholl 
der Ruf: Ist’s Kind endlich da? — Bei Gott, ja! — Die erste Stimme: Beim Allah, es war 
zur Unglücksstunde erschienen. — Um Gottes willen, wieso denn? — Wäre es, als ich dich 
zum ersten Male befrug, geboren worden, wäre es zum Herrscher der halben Welt ge- 
_ worden. Bei meiner zweiten Anfrage wäre aus dem Neugeborenen ein Eigentümer gar 
vieler Völker erstanden. Jetzt aber ist er zu einer unseligen Frist auf die Welt gekommen, 
denn: er wird sich den Bluthenker seines eigenen Vaters heißen, wird seiner leiblichen 
Mutter Buhle werden, gegen Gott selber wird er seine Hand ausstrecken und zu böser Letzt 
sich selber einen Strang um den Hals legen! 

Die junge Mutter hob ihr Kindlein auf, nahm es auf den Arm und schritt mit ihrem 
Manne weiter. Sie gelangten an einen Strom, über den eine große Brücke führte. Als sie 
sich in der Brückenmitte befanden, warf sie das Kind plötzlich in weitem Bogen ins Ge- 
wässer und rief dabei aus: Beim Allah, ich mag nicht, daß er mein Buhle und des Vaters 
Bluthenker geheißen werde! 

Just zur gleichen Zeit fischte ein frommer Mönch mit seinen Schülern im Weiden- 
gesträuch am Stromufer. Die Fischer gewahrten das Kind, die Strömung trug es ihnen zu 
und der Mönch fing es auf. Er wickelte es in den Schoß seines Dolmans ein, trug es zur 
Kirche, taufte es im selben Augenblick, besorgte ihm eine Amme und hob es hoch, damit 
es als sein Sohn gelte. 

Das Kind ist von auserlesenster Schönheit, gleich einer Vila, und gedeiht prächtig. Mit 
einem Jahr ist es schon größer und kräftiger als sonst ein Knabe von drei Jahren. Es ist ein 
unbändig wilder Range, der seinesgleichen nicht hat. Er zerfetzt die Kirchenbücher im 
Heiligtum, zerschlägt die Heiligenbilder, zerbricht die aufgestellten Kreuze, verwüstet die 
Gartenanlagen um die Kirche herum; man prügelt in ihn hinein, doch fruchtet es nichts, 
denn er ist und bleibt ein ungebärdiger Wildfang. 

Als er sein fünfzehntes Jahr erreicht hatte, vermochte der Mönch schon überhaupt keine 
Herrschaft über ihn auszuüben, so sehr war er ihm über den Kopf gewachsen. Es blieb ihm 
nichts anderes übrig, als ihn von Kopf bis zu den Füßen neu einzukleiden und auszustatten. 
Er versah ihn noch überdies mit einigem Kleingeld und sprach zu ihm: Zieh in die Welt 
hinaus, ich kann dich hier nicht länger halten, du bereitest mir Ungemach, das mir über 
den Kopf steigt! 

Der Jüngling treibt sich nun in der Welt herum. Er zieht von Ort zu Ort, dahin und 
dorthin, bis er schließlich bei Vater und Mutter landet. Das sind überaus reiche Leute, bei 
denen Überfluß herrscht. Bei ihnen frägt er an: Könntet Ihr mir wohl eine Nachtherberge 
gewähren? — Ja freilich, warum denn nicht, nächtigen kannst du schon hier! — Und 
abends unterhielt man sich. — Wohin der Fahrt, Jüngling? — erkundigte sich der Vater. Er 
antwortet: Ich möchte mich halt gerne irgendwo verdingen! — Wie willst denn du dich ver- 
dingen, du, so jung an Jahren und so ein feines Herrchen! — Bei Gott, so gedenke ich’s 
zu tun, nimmt mich nur wer auf! — Ich bin dazu bereit, wenn du schon geneigt bist, 
einen Dienst anzutreten! — Und so vereinbarten sie, daß er ihr Winzer werden solle. 

So ging er denn in den auf einer Hochlehne gelegenen Weinberg hinauf, um ihn zu be- 
aufsichtigen. Die Trauben litten großen Schaden durch die genäschigen Vögel, die daran ge- 
wöhnt waren, den Weinberg heimzusuchen, und ließen sich durch nichts verscheuchen, Der 
junge Winzer verfertigte nunmehr eine Schleuder, legte einen Stein in sie, rannte damit 
zwischen den Rebenstöcken herum und wehrte den Schädlingen. 

Der Vater sagte, eines Tages: Ich muß einmal hingehen und nachschauen, was der Junge 
treibt, ob er mir den Weinberg getreulich behütet, Gott sei es gedankt, daß wir einen 
Hüter haben. Und schlich sich heran, um ihn zu belauschen, wie er sich seiner Aufgabe 








es ss 


366 Friedrich S. Krauss 





entledige. Im selben Augenblick hebt der Jüngling einen Stein auf und schleudert ihn nach 
jener Richtung hin und der Teufel lenkt den Wurf gerade gegen die Stirne des Vaters, 
dringt ins Gehirn und der Getroffene schreit wehvoll auf: Warum tötest du mich? — 
Der Jüngling nahm den Verletzten auf seine Schulter und eilt mit ihm heim. Um den Ver- 
wundeten sammeln sich viele Leute, um zu sehen, was da geschehen sei. Er erzählt ihnen 
den ganzen Vorfall und band es ihnen ans Herz: Das sei auch ein Gottesauftrag, legt ihm 
keine Blutschuld auf, er traf mich unabsichtlich, er hat sich gegen mich nicht im geringsten 
vergangen! — Nach diesen Worten verschied er. 

Der Jüngling verwaltet indessen Haus und Hof im Verein mit der Frau des Verstorbenen, 
seiner Mutter. Leute setzten ihr wiederholt nachdrücklichst zu: Schau, Frau, nimm doch 
diesen Jüngling zum Gatten, verschwende nicht so große Mühewaltung und dein Gut, denn 
dieses Bürschlein ist, so wahr mir Gott, ein vorzüglicher Bräutigam! 

Und so nahm sie ihn zum Manne, und sie versündigten sich. Eines Nachts erkundigte sich 
die Frau, bevor sie sich aufs Lager begeben hatten: Du Unglückseliger, wer bist du eigentlich 
und von wem stammst du ab? Du kamst aus der weiten Welt hergeschneit, hast mir den 
Gatten getötet, ich ehelichte dich und weiß bis heute nicht, wer und woher du bist! — Er 
bekennt ihr, der Mönch habe ihn aus dem Wasser aufgefischt, ihn zu seinem Sohn erhoben 
und großgezogen. Und so bin ich denn in die große Welt, mein Glück zu suchen, aus- 
gezogen! — Entsetzt erinnerte sie sich des Zusammenhanges. — Oh du Gottes Unglücks- 
mensch, woher hat dich der Satan hergebracht! Der Satan trage dich von hier wieder fort! 
Niemand möge je erfahren, daß du diesen Ort betreten hast! — Sie jagt ihn damit zum Haus 
hinaus, und er wandert weiter ins Blaue hinaus. 


So gelangte er bis nach Jerusalem, wo er Christum und die Apostel antraf, in ihre 
Dienste trat, bereitete ihnen ihre Mahlzeiten, trug sie ihnen auf, wusch das Geschirr ab, 
hielt die Behausung sauber, niemand hätte das alles besser verrichtet als er. 


Und die Juden suchten ihn zu bestechen; Verrate uns Christum! — so redeten sie 
ihm zu. — Beim Allah, ich tu’s, wenn Ihr mir diese Büchse mit Dukaten .anfüllt! — Sie 


vergoldeten zwölf der billigsten Münzen und fügten noch einen echten Golddukaten bei, 
so gefüllt händigten sie ihm die Büchse ein. Sagte er zu ihnen: Folgt mir denn nach! — 
In dem Wohnhause gab es neun Türen. Er öffnete eine nach der anderen und sie gingen 
ihm auf Schritt und Tritt nach. Als er in jene Stube kam, wo die Heiligen hausten, trug 
er ihnen Brot und Salz auf, jedem zu gleichem Teil. Zu seinen Begleitern aber sprach er: 
Derjenige, gegen den ich die Hand ausstrecke, der eben ist Christus! — Und er setzte ihnen 
Salz und Brot auf den Tisch hin und wies mit ausgestreckter Hand auf IHN. Ein Einaug 
stand mit einer Lanze am Eingang, sah das Zeichen und schleuderte sein Geschoß dem 
HERRN in die linke Brust. Ein Blutstropfen spritzte jäh auf und traf den Schützen in das 
erblindete Auge. Im selben Augenblick ward auch dieses Auge wieder sehend und der 
Mann rief aus: Vergib mir, oh Herr, ich bin der Deine, bei Gott! — Du weißt ja, mein 
lieber Zuhörer, wie sie ihn dann abgequält, wie sie ihn vors Gericht geschleppt und wie 
arg sie es zuletzt mit ihm getrieben haben! 

Als Judas erkannte, was er angestellt, rief er verzweifelt aus: Bei Allah und bei Gott, 
was hab?’ ich alles aus mir gemacht! So ward ich meines Vaters Bluthenker, meiner Mutter 
Buhle geheißen und habe jetzt sogar wider meinen Gott die Hand ausgestreckt! 

Und er kaufte sich um jenen Dukaten einen Strang, rannte damit in ein ödes Gebirge, 
schrieb einige Zeilen auf, danach die Leute erkennen mögen, wer und was er sei, erklomm 
dann eine hohe Tanne, befestigte an deren Wipfel das eine Ende des Stranges, das andere 
aber schlang er sich um den Hals und erhängte sich so auf der Tanne. 











Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 367 





Und so herabbaumelnd, zerfiel er. Das Volk geriet in große Verwunderung, weil es drei 
Jahre lang nicht erfahren konnte, wohin sein Aas geraten sei, noch wo er sich versteckt 
und hingewandt. Einige Jäger verirrten sich in jene Gegend und bemerkten den von der 
Tanne herabhängenden Strick. Am Fuße des Baumes, gerade unter dem Seil, lag das Gebein 
des Erhängten verstreut, und aus diesen Knochen war das Tabakkraut emporgeschossen. 
Auf daß die Menschen den Tabak rauchen sollen. Der Sünder hatte Buße getan, und dieses 
Kraut soll bis ans Ende der Tage in aller Welt das Andenken an seine Missetat verewigen. 


Bei der Niederschrift dieses Aufsatzes half mir meine vortreffliche gelehrige 
Schülerin der serbischen Folklore und Psychoanalyse in ihrer Anwendung zur Er- 
klärung der südslawischen Volksüberlieferungen Fräulein Annemarie Hlebowicka. 
Diese Überlieferungen gehören wegen ihrer Altertümlichkeit zu den wichtigsten Ur- 
kunden der europäischen geistigen Kulturentwicklung. Sie nach der bisherigen Me- 
thode literarischer Nachweise zu erklären, erweist sich als völlig unzulänglich, denn 
sie reichen häufig weit in eine vorgeschichtliche Zeit zurück, als das Lesen und Schrei- 
ben noch nicht bekannt gewesen. Man muß sie als Erzeugnisse ursprünglichster Den- 
kungsweise über die vorhandenen religiösen und rechtlichen Sitten, Gebräuche, Ge- 
pflogenheiten und Anschauungen psychoanalytisch auszulegen trachten. Mit meiner 
Schülerin habe ich auf solche Art bisher 150 Überlieferungen besprochen und sie mit 
dieser Art der Betrachtung vertraut zu machen gesucht. Bei vielen Stücken bewährte 
sich diese Art sehr einleuchtend. Ein Beispiel davon bildet die angeführte Zusam- 
menstellung und Erklärung der drei Odipussagen. 


Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur 
bei den Primitiven 


Bemerkungen zu Margaret Mead „Growing up in New-Guinea“t 
Von 
R. A. Spitz 


Paris 


Die Schwierigkeiten, in welchen sich heute Psychologie und Pädagogik befinden, 
um Material für ihre Forschung zu beschaffen, das unter experimentell einwandfreien 
Bedingungen gewonnen wurde, sind bekannt. Im europäischen Kulturkreise, in 
unserer Gesellschaft wird jede ihrer Untersuchungen beeinträchtigt durch ein 
Milieu, welches nicht nur seine Zusammensetzung, sondern auch seine Zielsetzungen 
fortwährend ändert, und zu welchem das beobachtete Individuum naturgemäß in 
dauernd wechselnden Affektbeziehungen steht. Den Wechsel, die Entstehung und 
die Veränderung dieser Affekte und der sich daraus ergebenden Resultate zu er- 
forschen, ist eine der Aufgaben dieser beiden Disziplinen; aber der dauernde Wechsel 





.1) London, Routledge, 1931. 








—__ee ee — 
368 R. A. Spitz 





in der Zusammensetzung und den Zielsetzungen des Milieus entzieht dem pädagogi- 
schen wie dem psychologischen Experimente die Grundvoraussetzung des natur- 
wissenschaftlichen Experimentes: die während seiner Dauer gleichbleibenden Be- 
dingungen. 

In dieser Verlegenheit finden beide Wissenschaften eine erwünschte Hilfe in der 
mit modernen Methoden an den Primitiven arbeitenden Ethnologie. Seit Einführung 
der ethnologischen Feldforschung haben es sich die Ethnologen zur Aufgabe gemacht, 
streng abgegrenzte Bezirke möglichst primitiver Völker mit äußerster Genauigkeit 
in allen Details zu erforschen und zu beschreiben. Dabei wurde auf die kulturellen 
Gesichtspunkte großer Wert gelegt, und wir sahen, vielleicht zum ersten Male, die 
Darstellung völlig einheitlicher Kulturen. Zu solchen Forschungen gehören die Ar- 
beiten Malinowskis und Röheims. Einen weiteren wertvollen Beitrag liefert uns 
Margaret Mead in einer Arbeit über die Kindererziehung in Neu-Guinea.? 

Die Untersuchungen von M. Mead verdienen eingehende Würdigung, da sie uns 
ermöglichen, unsere analytischen Befunde nachzuprüfen, und ein ganz eigenartiges 
Licht auf die ungeheuere Verschiedenheit in den Eigenschaften der Erwachsenen 
werfen, welche durch relativ geringfügig erscheinende Unterschiede in der Kinder- 
erziehung entstehen. Denn wir sind auf Grund von Malinowskis Forschungen 
in der Lage, die Trobriander mit dem Objekt der Untersuchungen von M. Mead, 
den Manus-Insulanern, zu vergleichen. Die Manus-Insulaner leben durch kaum drei- 
hundert Kilometer Meeresdistanz von den Trobriandern getrennt. Sie stehen auf 
einer sehr ähnlichen Stufe der Kultur, und bei der regen Schiffahrt und dem Waren- 
tauschverkehr, den alle Südseeinsulaner seit undenklichen Zeiten pflegen, ist diese 
Entfernung durchaus nicht als eine vollständige kulturelle Isolierung voneinander 
anzusehen. Freilich leben die Manus-Insulaner unter anderen physikalischen Ver- 
hältnissen als die Trobriander, denn während diese auf dem Festlande einer Insel 
wohnen, leben die Manus mitten im Meere, in Pfahlbauten, welche auf Untiefen 
ruhen, die nur bei Ebbe vom Wasser entblößt werden. Bis zu der nächsten Insel, 
die ein wirkliches Festland darstellt, ist es eine nicht unerhebliche Kanoereise. 

Diese geographisch isolierte Lage der Manus hat es M. Mead ermöglicht, ein 
wirklich eingehendes Studium des Volkes anzustellen; sie kennt jeden einzelnen der Ein- 
wohner, lebt mit ihnen und nimmt an ihren Tätigkeiten gewissermaßen teil. Sie hat 
überdies den Vorteil, ein von den Weißen fast unberührtes Land zu erforschen — 
es ist noch nie ein Missionär dort gewesen —, das durch seine insulare Lage von allen 
wesentlichen Beeinflussungen durch seine Nachbarn bewahrt wurde. Es ist nun 
überraschend, wie anders sich die Welt der Erwachsenen bei den Manus darstellt als 
bei den Trobriandern, obgleich zwischen den beiden Völkern eigentlich keine Ver- 
schiedenheit in der Kultur besteht. Da sich nun die Untersuchung von M. Mead 
auf die Kindererziehung bezieht, so können wir analytisch den Ursachen nach- 








2) Bemerkung bei der Korrektur: Zu diesem Gegenstande sind seither zwei einander 
widersprechende Auffassungen entwickelt worden, die sich beide auf Befunde der Psycho- 
analyse berufen, und zwar Röheim, „Imago“, Bd.XX, 1934, und Reich, Ztschr. f. polit. 
Psychol. u. Sexualökonomie, Bd.I, 1934. Eine Stellungnahme zu diesen Arbeiten liegt außer- 
halb des Rahmens meiner Ausführungen. 







































Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 369 





forschen, welche diesen Unterschied bei den Erwachsenen erzeugen. Oberflächlich 
gesehen scheint es, daß auch in der Kindererziehung keine sehr wesentliche Differen- 
zen bei diesen primitiven Völkern sein können. Bei näherer Betrachtung entdeckt 
man, daß Dinge, die dem nicht analytisch vorgebildeten Ethnologen gar nicht auf- 
fallen, ganz kleine Abweichungen in der Haltung der Eltern bei der Kindheits- 
erziehung, außerordentliche Unterschiede bei den Erwachsenen verursachen. Es ist 
so, wie wenn man bei der Agave in ein junges Blättchen mit einer Stecknadel Buch- 
staben einritzt: Das erwachsene Blatt zeigt ungeheure Inschriften. 

Bevor ich auf die Würdigung und Darstellung der Befunde von M. Mead eingehe, 
muß ich jedoch einiges über ihre Methode bemerken, soweit diese psychologisch ist 
und auf psychologische Tatbestände Anwendung findet. Sie ist eine moderne Ethno- 
graphin und arbeitet mit dem ganzen Rüstzeug der modernsten amerikanischen 
Ethnographie und behaviouristischen Psychologie. Ihr Gatte, der auch Ethnograph 
ist, ist ihr bei der Arbeit insofern behilflich, als er die Erwachsenenkultur der Manus 
studiert, indes sie sich auf die Welt der Kinder beschränkt; die beiden tauschen 
dann ihre Ergebnisse aus. Trotz der vervollkommneten Technik fallen dem Ana- 
lytiker zahlreiche Lücken auf, besonders dort, wo die Sexualität der Manus be- 
schrieben wird. Es ist ersichtlich, daß die Forscherin bemüht ist, auch auf diesem 
Gebiete möglichst reiche Daten zu sammeln; die Manus jedoch sind sexualablehnend, 
und man kann sich wohl vorstellen, daß ein von vornherein sexualablehnendes Volk 
freiwillig solches Material nicht preisgeben wird. 

Von der eigentlichen frühkindlichen Sexualität der Manus wird nichts gesagt, 
außer daß den Kindern früh eingeprägt wird, scheinbar noch in der Kleinkindzeit, 
daß die Sexualität etwas Schändliches, Sündhaftes, Schambesetztes ist. Sie erlernen 
anscheinend schon um das dritte Jahr, sich ihres Körpers zu schämen, zumindest die 
Mädchen, die bereits um diese Zeit anfangen, in der Öffentlichkeit Bastbüschel vor 
den Geschlechtsteilen zu tragen. Die Knaben laufen bis zum siebenten oder achten 
Jahre in der Offentlichkeit nackt herum, die Mädchen im Familienkreise, Trotzdem 
entwickelt sich bis zum zwölften — dreizehnten Jahre eine sehr ausgesprochene 
Schamhaftigkeit in bezug auf die Genitalien. 

Außerst dürftig sind auch die Daten über die Sexualität der Latenz. Ex omis- 
sione dürfen wir folgern, daß in der Latenz, wo solche Vorgänge ja auffälliger sind 
als in der Kindheit, die Sexualität der Verdrängung unterliegt. 

Die Masturbation wird erwähnt, dagegen nicht, wann diese auftritt, ob in der 
Pubertät oder bereits früher. Es wird dazu nur gesagt, daß Manus-Kinder zu 
masturbieren pflegen, da aber der Akt schambesetzt ist, täten sie das nur in der Ein- 
samkeit, welche jedoch in der Manus-Gesellschaft schwer zu finden ist. Freilich soll 
die Masturbation angeblich nicht durch ein Sexualverbot verwehrt sein, sondern 
dieselben Schamgefühle auslösen, die sämtliche Exkretionsakte betreffen, worüber 
noch später zu sprechen sein wird. 

Auch die angeblich selten vorkommende Homosexualität erweckt kein Scham- 
gefühl und scheint sich in den Jünglingshäusern der mannbaren Knaben abzuspielen, 
die in Ermangelung einer Frau zu dieser Befriedigung greifen. In früheren Zeiten 














u Le __ 
370 R. A. Spitz 





wurde für die Jünglingshäuser von den Nachbarinseln eine fremde Frau geraubt, 
schwer mißhandelt und als „Prostituierte“ gehalten, womit wahrscheinlich gemeint 
ist, daß sie sich wahllos zahlreichen Männern zur Verfügung halten mußte, und ihre 
Gunstbezeugungen vielleicht zwecks Gelderwerbes an andere Männer verkauft 
wurden. 


Wen die Kinder heiraten, wenn sie erwachsen sind, ist aus dem Buche nicht zu 
ersehen, obschon das in bezug auf die Inzestvorstellungen ungemein wichtig wäre, 
Ehe und Ehezeremonien mit dem dazu gehörigen Gütertausch werden ausführlich 
besprochen, auch die Tabus, welche die Eheleute, aber auch Verlobte, ja schon kleine 
Kinder in bezug auf ihre Schwiegerverwandten beobachten müssen. Dagegen werden 
die Ehehindernisse nicht namhaft gemacht, und es bleibt unklar, wer geheirater 
werden darf. Das einzige, was man bestimmt weiß, ist, daß die Kreuzvetter-Basen- 
Ehe nicht erlaubt ist und ersetzt wird durch das, was ich die Kreuzvetter-Basen- 
Sinnlichkeit nennen möchte. Mit diesem Worte bezeichne ich eine Beziehung, die 
einerseits den Sexualverkehr ausschließt, auch keine zärtlicheren Formen annimmt, 
andererseits eine Art Sexualspiel und Sexualfreiheit ohne Geschlechtsverkehr zwischen 
Kreuzvetter-Basen gestattet. 


Andeutungsweise erfahren wir, daß die Erbfolge vorwiegend patrilinear, der Wohn- 
ort vorwiegend patrilokal sein dürfte. Auch die Vermutung einer patriarchalen 
Organisation der Manus-Familie ergibt sich aus der ganzen Situation des Volkes. 


Das soziale, wirtschaftliche und sexuelle Leben der Manus stellt sich nach Mead 
kurz folgendermaßen dar: 


Sie haben eine patrilineare, patrilokale, wahrscheinlich auch patriarchalische Or- 
ganisation, in welcher Spuren des Matriarchates nachzuweisen sind. So ist z.B. die 
Vatizination den Frauen vorbehalten; dem Bruder gegenüber spielt die Frau eine 
wichtige wirtschaftliche Rolle: Sie macht ihm Geschenke von Glasperlengürteln, die 
eine Geldform darstellen. 


Die zentrale Rolle spielt der Privatbesitz, man möchte beinahe sagen, daß eine 
„kapitalistische“ Wirtschaftsordnung herrscht. Es existiert überhaupt kein Interesse, 
das nicht dem Besitze gälte. Das hat mit Not nichts zu tun; die Manus sind ein 
Handelsvolk, das seine Bedürfnisse reichlich befriedigen kann. Ersichtlich hat die 
Ungeeignetheit der Naturalwerte für die Zwecke der Wirtschaft auf ihrer daselbst 
erreichten Entwicklungsstufe die Erschaffung einer Geldform erzwungen. Bis zum 
Auftreten der Weißen, mit denen die Manus dank ihrer Schiffahrt in Handels- 


beziehungen stehen, bestand diese Geldform in Hundezähnen und wahrscheinlich, 


auch Muscheln; seit dem Auftreten der Weißen ist eine dritte Währung eingeführt: 
der Glasperlengürtel. 


Die Wichtigkeit der Besitzfrage für die Manus kann gar nicht überschätzt werden. 
Von früh bis spät bemühen sich sämtliche verheirateten Mitglieder der Manus- 
Sozietät durch Fischfang, Taro-Kultivation und Taro-Beschaffung die Grundlage für 
Tauschgeschäfte zu schaffen, in welchen sie Hundezähne dafür erwerben werden. 
Indessen arbeiten sämtliche weiblichen Mitglieder der Manus-Gesellschaft, abgesehen 





Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 371 












































von ihren Verpflichtungen im Haushalt, welche sie sehr in Anspruch nehmen, an 
der Herstellung der gleichfalls zu Tauschzwecken benötigten Glasperlengürteln. 
Zugleich erfolgt seitens der Männer ein ununterbrochenes Handeln und Tauschen, 
Beitreiben von Schulden und Bemühen um Kredite. Überdies wird für die laufende 
Währung von Hundezähnen, Glasperlen und Nahrungsmitteln eine Menge Besitz 
anderer Art erworben, wie Töpfe, Muschelschnitzereien, Schmuckgegenstände, die 
jedoch alle nur insoweit einen Wert darstellen, als sie für eventuelle weitere Tausch- 
transaktionen günstige Objekte sind. Ein Dretium affectionis ist unbekannt. Vom 
Manus-Insulaner kann man alles kaufen, was er besitzt, soferne man es bezahlt, sogar 
das Zentralheiligtum jedes Hauses: die Ahnenknochen und Ahnenschädel, in welchen 
die Geister der Verstorbenen, sehr gefürchtet, wohnen. Nicht einmal die Ehe, bzw. 
das Sexualobjekt bedeutet dem Manus-Insulaner etwas anderes als die Anzahl der 
Hundezähne, die sein Vater oder sein Onkel für die Frau bezahlt hat. 


Die Sexualorganisation der Manus-Insulaner verbietet die Kreuzvetter-Basen-Ehe. 
Die Ehe als solche ist das Zeichen des Erwachsenseins und erlaubt den Eintritt in die 
Gesellschaft. Ehebruch ist verboten, voreheliche Liebesbeziehungen _ gleichfalls. 
Sexualvergehen unterliegen schwerer sozialer Achtung. Aber die Ehe als solche 
stellt wiederum eigentlich nur eine sehr eng umgrenzte sexuelle Beziehung dar. 
Ähnlich wie in manchen, hauptsächlich protestantischen religiösen Sekten möchte 
man sagen, daß sie nur dem Zweck der Kinderzeugung dient. Der Koitus in der Ehe 
erfolgt in der Form der Vergewaltigung und wird von der Frau bis zum ersten Kind 
nur als schmerzhaft empfunden; auch späterhin scheint er keine Lust auszulösen und 
wird nur geduldet. 


Die seelische Beziehung, die zwischen Mann und Frau herrscht, kann nur als 
feindlich bezeichnet werden. Die Frau ist der Abkömmling jenes Clans, an welchen 
die Zahlungen für die Frau zu richten sind. Daher hat der Mann in ihr seinen 
Feind zu sehen. Er teilt seiner Frau nichts von seinen Sorgen mit, er hält zur 
Familie seiner Schwester, bzw. Eltern. Die Frau wiederum hält zu ihren Verwandten, 
zu denen sie öfter vor den Mißhandlungen ihres Mannes flüchtet. Die Verwandten 
des Mannes dagegen behandeln die Frau immer schlecht und mit Haß und Miß- 
trauen. Ist der Mann mit seiner Frau unzufrieden, so nimmt er die Kinder mit 
sich und sucht und findet auch im Hause seiner Schwester Zuflucht, damit diese 
seine Kinder betreue und verpflege, während er seiner Arbeit nachgeht. 


Die Beziehung der Ehepartner bietet in der Frage der Kindererziehung ein ebenso 
auffälliges Bild. Auf diesem Gebiete ist die Frau wirklich nur ein Werkzeug. Nach- 
‚dem sie dem Gatten die Kinder geboren hat, hat sie sie zu nähren, für den Mann und 
die Kinder zu kochen und zu gehorchen. Sie hat die Kinder bis zu der Zeit, wo 
diese gehen und schwimmen können, also bis zu achtzehn Monaten, in der auf- 
opferndsten Weise zu betreuen, ohne von den Kindern Gegenliebe fordern zu dürfen. 
Sobald die Kinder flügge sind, verlassen sie die Mutter und wenden sich dem Vater 
zu. Denn der Vater ist der stets Gewährende, der jedes Verlangen des Kindes be- 
friedigt und überdies die Mutter, womöglich in grober brutaler Weise, zwingt, alle 
Wünsche des Kindes, alle seine Launen, besonders aber die, die das Essen betreffen, 








ee EEE, 








u LE me un 
372 £ R. A. Spitz 





ohne Widerrede zu erfüllen. Die Mutter dagegen bleibt für das Kind eine lästige 
Querulantin. ; 

Betrachten wir nun die Sexualität der Manus, so entdecken wir darin sehr scharfe 
Differenzierungen, Trennungen von Triebanteilen, welche sonst vereinigt die normale 
Sexualität ausmachen. Bei unseren Neurotikern sind wir gewohnt, eine Trennung 
von Zärtlichkeit und Sinnlichkeit zu beobachten. Bei den Manus gibt es noch ein 
Drittes, ja sogar ein Viertes. In Ermangelung einer dafür existierenden Termino- 
logie werde ich gezwungen sein, ad hoc eine solche einzuführen. Und zwar werde 
ich von Geschlechtlichkeit, sublimierter analer Zärtlichkeit, wirk- 
licher Zärtlichkeit und Sinnlichkeit sprechen. 

Unter diesem Aspekte ist die Beziehung des Manus-Mannes zu seiner Frau, welche 
wir vorhin geschildert haben, eine rein geschlechtliche, mit phallischem 
Charakter. 

Dagegen hat er eine zärtliche Beziehung zu seiner Schwester (wobei die Bluts- 
verwandtschaft, wie auch sonst überhaupt bei den Manus, keine sehr große Rolle 
spielt, und das Wesentliche die formalen, eventuell durch Adoption geschaffenen 
Familienbande darstellen). Diese Zärtlichkeit muß man freilich nach der Manus-Art 
verstehen. Sie trägt einen ausgesprochenen rationalen, ja analen Charakter. Der 
Manus-Mann drückt sie in wirtschaftlicher Form aus: „Ich gebe meiner Schwester 
Nahrungsmittel, sie macht für mich Glasperlenarbeiten.“ Trotz dieser sachlichen 
Bewertung sind die Beziehungen zur Schwester sehr innig. Der Bruder bespricht 
mit ihr seine geschäftlichen Unternehmungen, holt sich von ihr Rat und erteilt ihr 
solchen, während er sich hütet, vor seiner Frau, die einem wirtschaftlich feindlichen 
Clan angehört, über solche Dinge zu sprechen. Andererseits sind in dem Gespräch 
mit der Schwester irgendwelche Anspielungen auf die Sexualität oder auch nur Ehe 
oder Tabuverwandtschaft usw. strengstens ausgeschlossen. Man sieht, daß das In- 
zestverbot außerordentlich streng gesichert ist. Die eigentliche Gemeinsamkeit der 
Schwester-Bruder-Beziehung beschränkt sich auf die der sublimierten analen Sphäre 
zugeordneten Themata unter Ausschließung von allem anderen, was mit Sexualität 
oder wirklicher Zärtlichkeit zu tun hat, was vermuten läßt, daß letztere Vorstel- 
lungskreise angstbesetzt sind. 

Wir werden daher hier von einer sublimierten analen Zärtlichkeit 
sprechen. 

Anders ist das Dritte, die wirkliche Zärtlichkeit zum Kinde. Keinerlei Be- 
schäftigung kann dem Manus-Mann ein größeres Vergnügen bereiten, als mit seinem 
Kinde zu spielen, dessen Launen zu befriedigen, und die gesamte Zärtlichkeit, deren 
sich die Manus-Kinder erfreuden, wird ihnen vom Vater zuteil. Diese Haltung er- 
fassen die Kinder frühzeitig so sehr, daß, als Mead ihnen Puppen zum Spielen gab, 
die Mädchen sich um diese gar nicht bekümmerten. Die Knaben indessen spielten 
leidenschaftlich gerne mit den Puppen, wiegten sie in ihren Armen und sangen ihnen 
Schlaflieder. 

Aber auch nachts kann sich der Manus-Vater von seinem Kinde nicht trennen, 
hält es beim Schlafen in den Armen, und die Manus-Frauen haben ein Sprichwort: 





Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 373 










































„Diejenige Ehe ist glücklich, in welcher zwei Kinder sind. Denn da schläft das 
jüngere Kind mit dem Vater, das ältere mit der Mutter, und so verhindern sie, daß 
der Vater mit der Mutter schläft.“ Wir sehen hier übrigens, wie die Manus-Frau es 
als Glück ansieht, daß ihr der schreckliche Koitus erspart bleibt; zugleich aber 
auch ein nach unseren Begriffen unwahrscheinliches Ausmaß an Zärtlichkeit seitens 
des Vaters, der, um mit seinem Kinde schlafen zu können, auf die ehelichen Be- 
ziehungen verzichtet. 

Viertens finden wir noch sinnliche Beziehungen, die weder das Element der 
Zärtlichkeit und des Vertrauens, welches zwischen Schwester und Bruder herrscht, 
enthalten, noch auch die rein genitale oder vielleicht noch richtiger phallische 
Sexualität, welche die Ehe der Manus charakterisiert. Das ist die merkwürdige Be- 
ziehung zwischen Kreuzvetter-Basen und auch zwischen Kreuzvettern. Während 
sonst den Manus (mit ganz bestimmten Ausnahmen, die wir später noch erwähnen 
wollen) jegliche Obszönität, jede Verletzung des Schamgefühls unerträglich und ver- 
boten ist, während niemals über Ehe, Geschlechtsbeziehungen, Inzestmöglichkeiten 
usw. auch nur andeutungsweise gesprochen wird, und irgendwelche Themata, 
welche an solche Gebiete streifen, mit Hilfe langer Umschreibungen umgangen wer- 
den, gilt dies zwischen Kreuzvetter-Basen nicht. So wäre z.B. eine Manus-Frau 
moralisch empört, wenn sie ihr Mann, selbst in der Einsamkeit ihrer Hütte, an den 
Brüsten fassen würde. Eine Frage von Mead danach beantwortet die Manus-Frau 
mit den Worten: „Meine Brüste gehören meinem Kreuzvetter.“ Tatsächlich darf 
der Kreuzvetter in vollster Öffentlichkeit seine Kreuzvetter-Base an den Brüsten 
packen, ihr unter die Armhöhlen greifen, sie herumwirbeln, mit einem Wort, ein 
rauhes, aber herzliches Spiel mit ihr treiben, das deutlich sexuellen Einschlag hat. 
Über die Straßenbreite hinüber, von einem Haus zum andern, darf er ihr obszöne 
Scherze zurufen, ihr scherzhaft phantastische Inzestwünsche, ja selbst Inzesthandlun- 
gen vorwerfen. Niemand wird an diesem Verhalten etwas Ungehöriges finden, es 
gehört zum guten Ton. Dagegen verfallen sexuelle Vergehen zwischen Kreuzvetter- 
Basen der sozialen Achtung und werden strengstens geahndet. 

Dieselbe Freiheit herrscht in dem Verkehre zwischen männlichen Kreuzvettern. 
Während sonst im Leben der Manus-Männer ernste Reden, zweckhaftes Handeln ge- 
boten sind, necken sich Kreuzvettern und dürfen sich gegenseitig Sexualvergehen vor- 
werfen. Während die Frau ihrem Manne keinen schlimmeren Vorwurf machen kann, 
als „Gatte deiner Schwester“, ist dies unter Kreuzvettern oder Kreuzvetter-Basen 
eine beliebte Neckerei. 

Zusammenfassend stellen sich also die Manus als Menschen dar, deren Gespräche 
zweckvoll, deren Erzählungen kurz sind, die Freundschaft nur zu Handelszwecken ken- 
nen. und für die die Liebe, zumindest in einem mehr als phallischen Sinne, unbekannt 
ist. Andererseits finden wir eine Ehrlichkeit in der Geschäftsführung, eine Pünkt- 
lichkeit und Genauigkeit im Zurückzahlen von Schulden, ein peinliches Mißbehagen 
bei unerfüllten Verpflichtungen, das sich beim Schuldner bis zur Unrast steigert. 

Es wird dem Analytiker nicht überraschend sein, daß sich dieses Bild durch 
folgende Züge vervollständigt: Der Forderung nach strengst geregelter und einge- 
Imago XXI/3 ; 25 








a ee se ee er 


374 ; R. A. Spitz 





schränkter Sexualität, der sexuellen Prüderie gesellt sich eine ebenso große Prüderie 
und Schamhaftigkeit auf dem Gebiete des Exkrementellen. Strenge Vorschriften 
regeln auch diese Tätigkeit, und die Trennung von Mann und Frau in bezug auf 
Exkretion ist so weitgehend, daß die Männer gemeinsam an einem bestimmten außer. 
halb des Dorfes liegenden Exkretionsplatze, zu welchem die Frauen keinen Zutritt 
haben, ihre Bedürfnisse morgendlich verrichten. 


Wodurch wird nun die Einhaltung dieser Vorschriften und Tabus gesichert, die in 
ihrer außerordentlich umfangreichen und detaillierten, in jede Einzelheit des Lebens 
eingreifenden Art ein unwahrscheinlich kompliziertes Zwangssystem darstellen? Durch 
die Geister der abgeschiedenen Verwandten. Diese wachen strenge über die Einhaltung 
der Sexualvorschriften und ahnden Verstöße dagegen wie auch wirtschaftliche Un- 
korrektheit, Insubordination, Nachlässigkeit im Hause durch Krankheit und Tod, 
Diese Strafe trifft zwar unter Umständen den Sünder selbst, vorzugsweise aber seine 
Verwandten. Da nun jede Erkrankung und jeder Todesfall auf das Vergehen eines 
Verwandten zurückgeführt wird, so ist es klar, daß Verwandte untereinander mit 
außerordentlicher Strenge über ihre gegenseitige Tugend wachen. 


Diese Methode der Strafe, bei welcher der Sünder dadurch bestraft wird, daß seine 
Verwandten erkranken oder sterben, gibt zu denken. Bei anderen Primitiven er- 
folgt eine Rache oder Strafe nach dem System der magischen Partizipation, d.h. es 
ist gleichgültig, ob der Sünder oder irgend jemand, z.B. zum Clan des Sünders Ge- 
höriger, von der Strafe betroffen wird. Bei den Manus dagegen wird ausdrücklich 
ein Verwandter des Verbrechers von der Strafe betroffen, ja es wird scheinbar vom 
Ahnengeiste lieber der Verwandte bestraft als der Verbrecher selbst. Man ist ge- 
neigt, in diesem Ahnengeiste eine Projektion der Wünsche des Verbrechers zu 
sehen. Wie wir bisher sahen und noch weiterhin sehen werden, herrschen ja in der 
Manusgesellschaft die Aggressionsgefühle vor. Es müßte also merkwürdig zugehen, 
wenn der Manus seinen Verwandten gegenüber keine feindseligen Gefühle haben 
würde. Der Familie seiner Frau gegenüber hat er diese sowieso, das ist ja der wirt- 
schaftlich feindliche Clan; aber auch der wirtschaftlich freundliche Clan, seine eigene 
Familie, kann in ihm schwerlich angenehme Gefühle erwecken. Seine eigene Familie 
nämlich streckt ihm das Geld vor, welches er der Familie seiner Frau zu zahlen hat. 
Um sich dieses Geld zu verschaffen, muß er schwerste Arbeit durch viele Jahre 
seines Lebens leisten. Unter diesen Umständen muß man sagen, daß die Ahnen- 
geister, die statt des Verbrechers die Verwandten bestrafen, womöglich umbringen, 
ein diesem wohlgefälliges Werk zu vollbringen scheinen. Daß dieser Mechanismus 
sich schließlich als eine gegenseitige bösartige Kontrolle auswirkt, vermag an seinem 
Ursprung wohl nichts zu ändern; letzten Endes läuft es darauf hinaus, daß für die 
Sünde, die man begangen hat, der Feind bestraft wird. 


Nach diesem flüchtigen Bilde der Sitten der Manus wollen wir uns nun die Er- 
ziehung der Kinder ansehen. Auch hier wird der Analytiker die Erwartungen, die 
er nach diesen Prämissen hegt, bestätigt finden. Die Erziehung der Kinder könnte 
an und für sich eine sehr milde genannt werden. Sie ist jedoch außerordentlich kon- 
sequent. Während seines ersten Jahres erlernt der Säugling, sich am Halse der 











Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 375 








Mutter festzuklammern, und wird, wenn er Zeichen des Loslassens zeigt, mit einem 
energischen Ruck zurückgesetzt und eines Besseren belehrt. Das ist auch unbedingt 
notwendig, da ja die Manus-Frau ihr Kind bei jeder Tätigkeit mitschleppen muß 
und jedes Ungeschick einen Sturz des Kindes ins Meer bedeuten würde. Kaum daß 
es kriechen kann, kommt das Manus-Kind bei Ebbe ins seichte Meer. Stets von 
seiner Mutter bewacht, passieren ihm zwar kleine Unfälle, doch weiß es die Für- 
sorge der Mutter immer in seiner Nähe. Sie läßt es nicht ertrinken, und das Kind 
erlernt es, sich auf seine Eltern vollkommen zu verlassen. Das würde eine außer- 
ordentlich Abhängigkeit erzeugen, wenn nicht an das Kind gleichzeitig die höchsten 
Forderungen in bezug auf Geschicklichkeit und Anpassung gestellt würden, welche 
es jeweilig seinem Alter gemäß erfüllen kann. Ein Rückschritt von einer einmal 
erreichten Stufe wird nicht geduldet, jeder Fortschritt mit Bewunderung und Lob 
belohnt. Ein Rückschritt trägt eine sofortige narzißtische Kränkung, ein Fort- 
schritt eine narzißtische Lust ein. 

Dementsprechend erlernt das Manus-Kind das Schwimmen zur selben Zeit wie das 
Gehen und kann ein Kanoe bereits mit drei Jahren rudern und staken; in diesem 
Alter stakt es bereits stolz auf den Riesenkanoes der Erwachsenen den Vater aus 
dem Dorfe hinaus ins freie Meer, und wenn es sich um einen Knaben handelt, so 
stakt er allmorgendlich den Vater zum Defäkationsplatz. Bei dieser Gelegenheit: 
erlernt der Knabe am Beispiele der Eltern, daß die Erwachsenen ihre Defäkation 
streng getrennt verrichten. 

Ein anderer Teil der Erziehung betrifft die Hüttenordnung. Wiederum spielt die 
Reinlichkeit eine überaus große Rolle; das Kind wird dauernd angehalten, im Falle 
es in der Nacht urinieren muß, das nicht in die Hütte zu tun, sondern dazu eine 
Latte im Boden der Hütte auszuheben. Ferner darf-es keinen Schmutz in die Hütte 
bringen und muß die Feuerordnung, das Zudecken des Feuers mit Asche usw. genau 
einhalten. 

Die dritte strenge Vorschrift betrifft den Besitz. Unaufhörliche Mahnungen brin- 
gen bereits den Säugling dazu, etwas, was nicht sein Eigentum ist, niemals auch nur 
anzurühren. Selbst unter den verlockendsten Bedingungen berührt ein Manus-Kind, 
das dem Säuglingsalter entwachsen ist, niemals einen Gegenstand, der nicht ihm ge- 
hört. Immer wird es, selbst bei im Meere herumschwimmenden Papierfetzen, halb 
verfaulten Früchten usw. fragen, ob diese jemandem gehören, ehe es sie sich nimmt, 
weil es sonst als Dieb bezeichnet würde. 

Diese Erziehung zur Achtung fremden Eigentums müßte eigentlich im heran-. 
wachsenden Kinde ein eifersüchtiges Festhalten am eigenen. Besitze erzeugen. Man 
sollte meinen, daß diese Kinder unter gar keinen Umständen zugeben werden, daß 
andere ihr Eigentum verwenden. Zu unserem Erstaunen sehen wir, daß das Gegen- 
teil der Fall ist: Sowie das Kind mit sechs Jahren mit anderen Kindern eine Gruppe 
bildet, hört jeder persönliche Besitz auf, und es entsteht eine Art Kindersozietät mit 
Eigentumsgemeinschaft. Wir können nur vermuten, daß diese Erscheinung eine der 
Wirkungen der mit der Latenz auftretenden Ablehnung der Sitten und der Ge- 
bräuche der Eltern ist. 


25* 





——eeeeeeee nf 
376 le R. A. Spitz 





Schließlich die ‚Sexualität: Sehr früh scheint das Kind angehalten zu werden, sich 
der Genitalien und der Sexualität zu schämen. Eine Ausnahme von dieser Vor- 
schrift bilden nur die aggressiv-obszönen phallischen Tänze, welche anläßlich 
zeremonieller Gütertausche von den Männern und auch von den Knaben ausgeführt 
werden. Sonst aber ist das Kind von früh auf gewöhnt, daß die Mädchen die vorne 
und hinten getragenen. Bastbüschel, die Männer das Lendentuch sorgsamst vor einem 
Fortrutschen hüten. 


Wie werden alle diese Ge- und Verbote, die freilich einfach sind und eng um- 
grenzte Bezirke betreffen, durchgesetzt? Nun, was den Besitz betrifft, so steigern 
sich hier die Strafen bis zu Prügeln bei Vergehen gegen das Eigentum anderer. In 
den übrigen Dingen ist das eine Mittel zur Erzielung des gewünschten Erfolges 
energische Konsequenz. mit hier und da eingestreuter, äußerst seltener körperlicher 
Züchtigung, das andere die außerordentlich starke kollektive Mißbilligung der Er- 
wachsenen- und Kindergemeinschaft. Anläßlich eines Diebstahles z. B., welcher nach 
unseren Begriffen gar keiner war, denn es handelte sich darum, daß drei Kinder ein 
fremdes Kanoe zum Spielen verwendet hatten, wobei ein darin befindlicher Topf 
zerbrach, äußerte sich: diese Mißbilligung folgendermaßen: 24 Stunden hindurch 
war. das ganze Dorf um die drei Kinder, die die „Missetat“ verbrochen hatten, ver- 
sammelt. Die gesamte Einwohnerschaft des Dorfes hielt den Kindern abwechselnd 
empörte Strafreden,. während der Vater der Kinder erzählte, wie diese geprügelt 
worden waren, und sich sämtliche kindlichen Spielgenossen verachtungsvoll von ihnen 
abwendeten. Es ist klar, daß kein Trotz einer solchen Massenmißbilligung gewachsen 
ist, daß kein Kind sich oft einem solchen Trauma aussetzen wird, welches nicht nur 
die Mißbilligung und Strafe durch den aufs äußerste geliebten Vater, sondern. über- 
dies auch eine einmütige Kollektivächtung zur Folge hat. 

Die vorhin erwähnten anderen Ge- und Verbote eignen sich die Kinder auch durch 
die übertriebene Reaktion der Erwachsenen auf Übertretungen derselben an. Da 
die Erwachsenen Verletzungen des Schamgefühles, der Tabus usw. wirklich ernst 
nehmen, so kann das Kind nicht umhin, jeweils, wenn eine solche Übertretung er- 
folgt, von dem Ausdruck schamerfüllter Wut, der sich des Erwachsenen bemächtigt, 
beeindruckt zu sein, und es scheint sich infolgedessen dieser Haltung der Erwachsenen 
anzupassen. has: 

‚- Damit: aber hört auch die Identifizierung mit dem Erwachsenen auf. Während 
wir aus dem Bisherigen den Eindruck haben mußten, daß diese eine sehr weitgehende 
ist, zeigt sich in sämtlichen anderen Lebensäußerungen ein ganz abweichendes Bild. 

Außer Bootfahren und einer kindlichen Form der Fischerei übernehmen die Kinder 
gar nichts von den Beschäftigungen und Interessen der Eltern. Sie spielen: nicht 
Verheiratetsein, ahmen nicht deren Ehesitten nach, spielen nicht Tauschhandel. Im 
Gegensatz zu den Eltern, für die es nur den strikt individuellen Besitz gibt, ist der 
Besitz: der Kinder an Kanoes, Fischwerkzeug, Tabak usw. völlig gemeinsam. Ich er- 
wähnte. bereits, welch eine große Rolle im Leben der Erwachsenen die Schutzgeister 
spielen, die: über Moral und Sitte wachen und Verstöße mit dem Töde des Schuldi- 
gen oder seiner Anverwandten bestrafen. Bei den Kindern kommen die Schutzgeister 

















Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 377 





nur den Jungen zu, und diese kümmern sich nicht um sie. Während die erwachsenen 
Männer sich ihrer Überlegenheit über die Frauen rühmen, welche ihnen ihr Schutz- 
geist erteilt, verwenden die Knaben auch diese Waffe nicht. Die Kinder kümmern 
sich auch um die im Dorfe dauernd vor sich gehenden Divinationsprozeduren nicht, 
mit deren Hilfe Krankheit, Geschäfts- und Unternehmungserfolg usw. durch Wahr- 
sagerinnen von den Geistern erforscht werden, obwohl diese seltsamen Riten in einem 
unheimlichen Trancezustand vor sich gehen und geeignet sein müßten, das Inter- 
esse der Kinder zu erwecken. Sie ahmen sie auch nicht nach, obschon kein Mensch 
ihnen den Zutritt zu diesen Zeremonien verwehrt. Die einzigen Jugendlichen, die 
sich um die Geister kümmern, sind die verlassenen Kinder, bei denen die Geister 
eine Art Vaterstelle vertreten. Die andern, die einen wirklichen Vater zum Ver- 
wöhnen und Beschützen haben, finden offenbar die notwendige Befriedigung dieser 
Bedürfnisse bei ihm und brauchen nicht ihre Phantasie mit Geistergeschichten an- 
zustrengen. 

Entsprechend der eminent praktischen Erziehung sind die Kinder während der 
frühkindlichen und auch während der Latenz- und Pubertätszeit fröhliche, kräftige, 
vergnügte Individuen. Sie sind auch intelligent. Dabei aber sind sie völlig phan- 
tasielose, nüchterne, sachliche Geschöpfe, die sehr wenig Spiele oder gar Märchen 
kennen. 

Andererseits aber beginnen schon verhältnismäßig frühzeitig, etwa zwischen dem 
achten und zehnten Jahre, infolge der Kinderverlöbnisse für die Mädchen die Tabus, 
welche die Schwiegerverwandten betreffen, und unter dem Drucke der Erwachsenen 
fangen sie bald an, sie zu beachten. Etwas später erfolgt das auch bei den Knaben. 
Die Mädchen nämlich erwerben die Kenntnisse der Traditionen überhaupt früh- 
zeitiger, weil sie nach und nach zu den Arbeiten der Mütter hinzugezogen werden 
und so anfangen, die Tabus der Mütter, Großmütter und sonstiger weiblicher Ver- 
wandten mitzuhalten. Die Knaben, die zu keiner Arbeit herangezogen werden und 
so länger der Gesellschaft der Erwachsenen fernbleiben, sind an diesen Dingen des- 
interessierter. Erst in der Ehe erfahren sie Genaueres über ihre zeremoniellen Ver- 
pflichtungen. 

Was nun das Verhältnis der Kinder zu den Eltern betrifft, so habe ich schon an- 
gedeutet, daß die Mutter sehr rasch aus dem Gesichtskreis des Kindes fortgeschoben 
wird. Die Mutter ist weder eine Respekts- noch eine Liebesperson, man kann mit 
ihr kommandieren, man kann von ihr zu jeder Tages- und Nachtzeit Bemühungen 
fordern, ohne irgendeine Verpflichtung, ihr zu gehorchen, ihr einen Gefallen zu 
tun oder gar sie zu lieben — ja man kann sie schlagen; denn nicht nur die Männer 
schlagen ihre Frauen, auch die Kinder schlagen ihre Mutter, ohne daß diese es wagen 
würde, sie zu züchtigen. 

Das hievon sehr verschiedene Verhältnis zum Vater, dem Gewährende habe ich 
schon vorhin erwähnt, und es ist bei diesem gegensätzlichen Verhalten der Eltern 
kein Wunder, daß die Kinder am verwöhnenden Vater hängen. 


Um das sechste Jahr freilich vollzieht sich eine Wandlung, die win bereits an- 
gedeutet haben, und die wir dem Einflusse der Latenz zuschrieben. Die Kinder 











378 id: R. A. Spitz 





trennen sich endgültig von den Eltern und bilden eigene Gemeinschaften, die lose 
nach Altersgruppen zusammengesetzt sind. 

Mit der Latenz scheint wohl auch ein auffälliges Zeichen affektbesetzter Haltung 
zusammenzuhängen, das Verhalten in bezug auf das Trommeln. Getrommelt wird 
bei zeremoniellen Gelegenheiten von den Männern. Mädchen und Frauen trom- 
meln nur den sehr einfachen Rhythmus des Todes, anläßlich von Todesfällen. Knaben 
trommeln alle Rhythmen bis zu ihrem fünften, sechsten Jahre begeistert und ge- 
schickt nach. Ebenso erlernen und üben sie in der Öffentlichkeit bis zu dieser Zeit, 
von ihren Vätern dafür gelobt, die phallisch-akrobatischen Tänze. Während über 
das weitere Schicksal dieser Tänze während der Latenz nichts ausgesagt wird, stellt 
Mead fest, daß vom sechsten Jahre bis zur Pubertät die Knaben unter gar keinen 
Umständen dazu zu bringen sind, in der Offentlichkeit eine Trommel anzurühren. 
Unter sich im Knabenhause tun sie das dagegen. Wie schon vorhin erwähnt, herrscht 
im Knabenhause übrigens ein gewisses Maß von Homosexualität. 

Eine ähnliche Rolle wie das Trommeln spielt das Singen. Bis zum sechsten Jahre 
können die Kinder Melodien, wenn auch nur dürftig, nachsingen. Nach dem 
sechsten Jahre verlieren sie jedes musikalische Gehör. Nur ein einziger Manus- 
Insulaner war fähig, Lieder nachzusingen; aber dieser hatte sechs Jahre in einer aus- 
wärtigen Schule, bei Missionaren verbracht. 

Es gibt uns zu denken, daß solche auffällige Hemmungen in bezug auf den Ge- 
hörssinn gerade in der Latenzzeit auftreten. Wir finden jedoch etwas Weiteres unter 
dem bisher erwähnten Material: Wir haben gesagt, daß die Manus beim Gütertausch 


einen scheinbar höhnischen, phallischen Exhibitionstanz vollführen, bei welchem es 


darauf ankommt, durch entsprechende Körperbewegungen den Penis abwechselnd 
vorwärts, aufwärts und seitwärts zu schwingen. Dies ist, abgesehen von den 
Obszönitäten, die in der Kreuzvettern-Basen-Beziehung Sitte sind, die einzig ge- 
stattete, ja gebotene Obszönität im Leben der Manus. Nun erlernen die Manus- 
Knaben diese Tänze schon in der frühesten Kindheit und ihre darin erworbene 
Fertigkeit wird von den zuschauenden Vätern durch ein Lob belohnt, bei welchem 
die Väter scheinbar keinerlei Zweifel darüber walten lassen, daß ihnen diese Exhibi- 
tion lustvoll ist. Der Beginn des Zeitpunktes, zu welchem die Knaben diesen Tanz 
erlernen, fällt zwischen das dritte und vierte Jahr. Leider sagt Mead nichts dar- 
über aus, ob’ die Knaben die Tänze auch nach dem sechsten Jahr, wenn sie eine 
eigene Gesellschaft bilden, beibehalten. Da jedoch ihre Berichterstattung über alles, 
was sie gesehen hat, eine sehr genaue ist, gibt schon die Tatsache zu denken, daß 
sie nichts darüber erwähnt, daß Knaben in der Latenzzeit, bzw. in der Pubertät, 
an solchen Tänzen teilnähmen. Ferner müssen wir noch in Rechnung ziehen, daß 
diese Tänze zu den zeremoniellen Tauschaktionen gehören, und da ja Mead aus- 
drücklich sagt, daß die Kinder von dem Beginn der Latenzzeit an weder Interesse 
noch Anteil an diesen haben, da wir wissen, daß sie die Tänze vorher nur in Gegen- 
wart der Väter bei eben diesen Gütertauschen ausführten, so ist es wohl statthaft 
anzunehmen, daß die Knaben die phallischen Tänze nach Eintritt der Latenzzeit 
unterlassen. 

















Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 379 





Weiterhin ist es auffällig, daß die Kinder, denen Mead die Möglichkeiten des 
Zeichnens zeigte, und die daraufhin der Forscherin an die 30.000 Zeichnungen 
lieferten, nur sehr selten Geschlechtsmerkmale an den von ihnen im übrigen nüchtern 
und sachlich gezeichneten Figuren anbringen. Wenn sie das aber tun, so bezeichnen 
sie den Mann durch den Penis, die Frau dagegen nicht durch die Vulva, sondern 
durch das Bastbüschel, das diese vor der Vulva trägt. 


Diese Beobachtung legt uns die Vermutung nahe, daß die Vorstellung der Vulva 


angstbesetzt ist. Fügen wir nun hinzu, daß diese Kinder von ihrer Geburt an nackt 
herumlaufen, also gegenseitig ihre Genitalien sehen — andererseits aber immer wieder 
Zeugen davon sind, wie sich die Eltern der eigenen Genitalien schämen; zweitens, 
daß die Mädchen diejenigen sind, die bereits im dritten Jahre, wenn auch nur ge- 
legentlich, ein Bastbüschel vorgebunden bekommen, während sich die Knaben ihrer 
freien Nacktheit viel länger erfreuen dürfen; drittens, daß die Knaben befähigt sind, 
die phallisch-aggressive Akrobatik auszuführen, die Mädchen dagegen nicht; daß die 
Knaben hierfür das lustvoll erteilte und empfangene Lob der von beiden Geschlech- 
tern geliebten Väter erhalten; viertens, daß nur die Knaben die Väter zu den für 
die Männer reservierten Latrinen begleiten dürfen; fünftens, daß die Knaben von 
ihrem dritten bis vierten Lebensjahre an Bogen, Speer und Fischzeug vom Vater be- 
kommen und auch verwenden, was bei den Mädchen nicht der Fall ist, so werden 
wir durch diese Feststellungen in unserer Vermutung bestärkt, daß die Kinder das 
Fehlen des Penis als eine Benachteiligung empfinden, denn es zeigt sich, daß auf allen 
möglichen phallischen Gebieten die Knaben den Mädchen gegenüber Vorrechte und 
Vorteile haben. 

Dazu kommt, daß die Kinder ja in einem Raume mit den Eltern schlafen und 
infolgedessen sowohl die grobe, unwirsche, feindselige Behandlung beobachten kön- 
nen, die der Vater der Mutter bei jeder Gelegenheit angedeihen läßt, wie auch Zeugen 
des elterlichen Koitus bei Nacht sind. Es besteht die Fiktion, daß die Kinder von dem 
elterlichen Koitus keine Kenntnis haben, da sie während dieser Zeit schlafen. Daß 
es eine Fiktion ist, zeigt folgende Bemerkung eines sechsjährigen Manus-Knaben über 
eine schlechtgehende Ehe: „Warum schlägt er seine Frau die ganze Zeit, statt sie zu 
koitieren?“ Auffallend an diesem Ausspruch ist übrigens auch die Gleichsetzung mit 
einer Aggression, in diesem Falle Schlagen und Koitieren. An der Fiktion, daß die 
Kinder während des elterlichen Koitus schlafen, beteiligen sich nicht nur die Eltern, 
sondern sogar auch die Kinder; wenn sie nämlich in einem fremden Hause schlafen, 
so verabschieden sie sich am darauffolgenden Morgen mit den Worten: „Wir haben 
gestern nachts geschlafen, wir haben nichts gesehen und gehört.“ 

Obschon diese formale Aufrechterhaltung der Fiktion durch die Kinder eigentlich 
nur ein Ritual darstellt, sehen wir dennoch daran, daß die Sexualablehnung verinner- 
licht wurde. Von Malinowski ist uns bekannt, daß die nicht entfernt lebenden 
und auf derselben Kulturstufe stehenden Trobriander sich ganz anders verhalten. 
Diese nehmen es als selbstverständlich an, daß das Kind dem elterlichen Koitus zu- 
sehen will, was wir daraus entnehmen können, daß die Eltern vor. dem Beginn des 
Koitus dem Kinde zurufen: „Steck den Kopf unter die Decke!“ 








ET ra ne ne Be 
— a — — . 











nn mm m ml 


380 5 R. A. Spitz 





Die Manus-Kinder beobachten und wissen natürlich, daß dieser Koitus sich unter 
Formen abspielt, die für die Frau unangenehm, ekelhaft, brutal und schmerzhaft 
sind, denn das Ideal des Manus-Mannes ist ja, wie schon gesagt, die Vergewaltigung. 

Diese Kinder müssen also eine ungemein eindrucksvolle Vorstellung vom Koitus 
als sadistischem Akt haben, bei welchem der Mann der Frau Gewalt antut, ihr Leiden 
zufügt und sie immer besiegt. Die Frau ist eben nur die Minderwertige, Unter- 
legene, Leidende, die verachtete Sklavin. Was aber eine Frau ist, wie sie beschaffen 
ist, erfahren die Kinder ja durch die Art der Bekleidung frühzeitig. Wie im Gegen- 
satz hierzu ein Mann aussieht und funktioniert, wird ihnen durch die Zärtlichkeit 
der Manus-Väter, von denen wir vorhin hörten, daß sie nachts mit den Kindern im 
Arme schlafen, ebenso früh beigebracht. - 

Es ist nun wohl unzweifelhaft, daß bei diesen Gelegenheiten das Kind bei seinem 
Vater Erektionen erlebt und eine recht genaue Kenntnis und Vorstellung vom Penis 
und von dessen Möglichkeiten hat. Sicher wird es, dieser Tatsachen innegeworden, 
ihnen auch die entsprechende Bedeutung im unterschiedlichen Lose des Mannes und 
der Frau zuschreiben. 

Andererseits dürfen die Kinder über das Thema nicht sprechen, die Erwachsenen 
zeigen bei der kleinsten Anspielung darauf empörte, wuterfüllte Scham. Es ist 
also Tabu. 

Hier müssen wir einer weiteren, sehr merkwürdigen Tatsache gedenken. Die 
Manus sind der Ansicht, daß die Frau nur einmal, und zwar das erste Mal men- 
struiert. Bei dieser Gelegenheit wird eine Menstruationsfeier für das kleine Mädchen 
abgehalten, an welcher vorwiegend Frauen beteiligt sind. Von da ab erlernt das 
Manus-Mädchen, daß die Menstruation eine ungeheure Schande ist, welche sie sorg- 
fältig zu verbergen hat. Der Manus-Mann dagegen ist der Meinung, daß die weiteren 
Menstruationen nur durch den jeweiligen Koitus ausgelöst werden. 

Hier sehen wir ganz deutlich, daß der Koitus als blutig-sadistischer Akt vor- 
gestellt wird, den der Mann den benachteiligten Frauen aufzwingt — hat er ja die 
blutige Schande der Menstruation zur Folge. 

Es ist freilich aus dem Buche von Mead nicht zu ersehen, worauf der Penismangel 
der Mädchen zurückgeführt wird, wenn auch in dem einen oder dem anderen 
Brauche Zeichen der Kastrationsangst sichtbar werden; um nur eines zu erwähnen, 
z.B. die Rolle der Ahnengeister, die bei der Aufrechterhaltung der Moral dem Über- 
treter durch Krankheit oder Tod an seiner Person oder an seinen Angehörigen 
schaden. 

Wir wollen hier die Darstellung der Sitten, Bräuche und Ansichten der Manus- 
Insulaner abbrechen; ich meine, das bisher Gesagte genügt, um aus diesem Material 
analytische Folgerungen zu ziehen. 

In der Manus-Gesellschaft wird also die Sexualität ganz besonders streng abge- 
lehnt und gehemmt. Desgleichen sind besonders strenge Ge- und Verbote auf dem 
Gebiete der Analität eingeführt. Das Resultat sind Kinder, die sich schon sehr 
früh diesen Ge- und Verboten fügen; nicht einmal in der Phantasie wagen sie sich 
in diese Bezirke. Die analen Triebkomponenten werden in der Form sublimiert, 

















Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 381 





daß eine Überschätzung des Besitzes erfolgt. Aus dem Bereiche. der Sexualität 
schließt sich dieser Überschätzung des Besitzes die phallisch-anale Triebkomponente 
der Aggression an. Demgemäß entwickeln sich aus diesen Kindern Erwachsene, 
deren Leben sich in aggressivem Streben nach Besitz erfüllt. 


Einen Fingerzeig für die Entstehungsgeschichte dieser seelischen Struktur der 
Manus liefert die auffällige Hemmung im Bereiche der Hörfunktion. Es ist keine 
Rede von einer konstitutionellen Minderwertigkeit des Gehörsinnes, wir haben ja 
gesehen, daß die Manus-Kinder singen, aber nur bis zum sechsten Jahre, daß sie vor 
sechs Jahren und nach der Eheschließung Rhythmen zu trommeln vermögen, nicht 
aber in der Zwischenzeit. Die Beobachtung Meads, daß die Manus-Kinder, im 
selben Raume mit den koitierenden Erwachsenen schlafend, vom Akte selbst nichts 
gehört oder gesehen haben wollen, läßt uns den Ursprung dieser Störung vermuten. 
Sicher ist die Unterlassung einer Zurkenntnisnahme dieses Aktes auf eine Aufforde- 
rung, einen Befehl, ein Verbot der Eltern zurückzuführen. Doch dieses Verbot er- 
reicht seine volle Wirksamkeit erst in der Latenz, denn eine vorhin zitierte Be- 
obachtung besagt, daß ein sechsjähriger Junge ganz ungehemmt vom Koitus spricht. 


Nun kann auf dem Gebiete des Sehorgans das Verbot keine solche Rolle spielen, 
wie auf dem des Gehörorgans, sind doch die Hütten der Manus nachts zweifellos 
nicht beleuchtet. Überdies ist es leicht, die Augen zu schließen, indes man sich der 
Gehöreindrücke schwer oder gar nicht erwehren kann, selbst wenn man es möchte. 
Es scheint unter diesen Umständen begreiflich, daß eine starke Ablehnung der 
rhythmischen Geräusche beim Trommeln erfolgt; man kann sich vorstellen, daß alles 
stark Rhythmisierte mit den rhythmischen Geräuschen des Koitus in Verbindung 
gebracht, bzw. identifiziert wird; darüber aber hinaus dürfte die stark sadistische Art 
der Ausführung des Koitus bei den Manus-Insulanern diesen zu einem ziemlich ge- 
räuschvollen, von Stöhnen und Schreien begleiteten Akt machen. Erinnern wir uns 
daran, daß im Zusammenhang mit dem Geschlechtsakte die meisten Tiere auffällige 
Laute ausstoßen. Am auffälligsten ist dies beim Vogel, dessen Gesang ja eine 
Werbung bedeutet, doch auch bei den andern Tieren sind die mit der Geschlechts- 
tätigkeit zusammenhängenden Laute besonders auffällig. Hören wir uns die Musik, 
richtiger die Gesänge der Primitiven an, welche nach unseren Begriffen eher einem 
rhythmisch-organisierten Schreien als einem Singen in unserem Sinne gleichen, so 
können wir hier eine der Wurzeln des Gesanges, wenn nicht der Musik vermuten. 
Es ist nicht anzunehmen, daß der Gesang der Manus sich von dem Gesang der 
andern Primitiven wesentlich unterscheidet, und unter solchen Umständen können 
wir es verstehen, wenn die Manus-Kinder auch eine Hemmung in bezug auf das 
Singen aufweisen. 

Aber nicht nur auf dem Gebiete des Gehörsinnes ist eine solche Hemmung nach- 
weisbar. Wir haben ja gesehen, daß vom sechsten Jahre an die Kinder eigene Grup- 
pen bilden, welche sich in jeder Beziehung bemühen, Sitten und Gebräuche zu be- 
obachten, die von denen der Väter und Mütter, der Welt der Erwachsenen, so ver- 
schieden wie irgend möglich sind. Weder ahmen sie die Bräuche der Erwachsenen 
nach, noch unterwerfen sie sich ihnen, noch auch versuchen sie an diesen, selbst 








nn u TE u a Er EEE EFT - 
382 R. A. Spitz 





wenn sie für Kinder interessant sein müßten, teilzunehmen. Sie schaffen sich, be. 
sonders die Knaben, eine streng getrennte Welt, die zur Erwachsenenwelt einen 
völligen Gegensatz bildet. Es ist für den analytisch geschulten Beobachter klar, daß 
hier ein im Laufe der ersten sechs Jahre wahrscheinlich unter heftigen Kämpfen und 
Auflehnung gebildetes Über-Ich verinnerlicht wurde, welches dem Ich als einzigen Aus- 
weg aus den zahllosen mit Angst besetzten Versuchungssituationen, denen die Kinder, 
dank der Manus-Einrichtung des Schlafens im selben Bett mit den Eltern, ausgesetzt 
sind, nur eine Ablehnung der gesamten elterlichen Welt erlaubt. Das Ergebnis ist 
diese merkwürdige, phantasiearme, mit höchst eintönigen Spielen, die sich haupt- 
sächlich auf Balgereien beschränken, beschäftigte Kinderwelt; man wird geradezu an 
eine zwangsneurotische Erscheinung erinnert: an die Verarmung der Persönlichkeit. 
Kein Wunder, wenn diese Kinder nach einem neuen Spiel, das ihnen Mead vor- 
schlägt, nach dem Zeichnen, mit Begeisterung greifen — ist es doch nichts von dem, 
was die Erwachsenen tun. Jedoch auch kein Wunder, wenn sie unter dem Drucke 
der Kastrationsangst, den gefährlichen Identifizierungen mit den Erwachsenen aus- 
weichend, in der Latenz den Privatbesitz zugunsten der Eigentumsgemeinschaft auf- 
geben. 


Aber auch ein anderer Weg ist den Kindern versperrt, der Weg der Objekt- 
beziehung. Die erste Objektbeziehung zur Mutter wird durch das Verhalten des 
Vaters zu dieser untergraben, denn es stellt sich heraus, daß das Objekt, welches man 
geliebt hat, positiver Gefühle nicht würdig ist, wird es doch von dem geliebten Vater 
verächtlich behandelt und erniedrigt. Ja, es wird von ihm gezwungen, einem die- 
jenigen Dienstleistungen, deretwegen man es zu allererst schätzen gelernt hat, in 
sklavischer Abhängigkeit darzubringen. Warum sollte man dann noch um die Liebe 
eines solchen Wesens werben, warum eine echte Objektbeziehung aufrechterhalten. 
Man möchte sagen, daß die Objektbeziehung zur Mutter außer an der Herabsetzung 
des Objektes an einer allzu weitgehenden Gewährung zugrunde geht. 


Dieser Vorgang bildet zweifellos nur eine Ergänzung zur besonders starken Inzest- 
schranke, welche wir schon zu Beginn der Latenz bei den Manus-Kindern voraus- 
setzen dürfen. Die besondere Stärke dieser Inzestschranke ist begründet durch die 
Verführungssituation, welche dadurch entsteht, daß die Kinder zuerst beim Vater 
und später bei der Mutter schlafen. Sie müssen also wohl durch den Kontrast zwi- 
schen dem väterlichen und mütterlichen Genitale ganz besonders beeindruckt wer- 
den. Dazu dürfte noch kommen, daß sie beim Schlafen im Bette der Mutter deren 
sorgsam geheimgehaltene Menstruation unmittelbar miterleben, also eine Bestätigung 
dafür erhalten, daß der Penis ihr durch einen blutigen, gewaltsamen Akt geraubt 
wurde. Welches dieser Akt ist, sagen ihnen die Eltern selbst: Unter den Manus- 
Männern ist ja die Überzeugung verbreitet, daß die Menstruationen der Frau durch 
den jeweiligen Koitus verursacht werden. So muß in der Phantasie der Manus- 
Kinder beim gewalttätigen Koitus der Vater mit seinem furchtbaren Penis .die 
Mutter ihres Gliedes berauben, immer wieder eine blutige Wunde hinterlassend. 
Dadurch macht er sie zur minderwertigen Frau, die an einem periodisch verursachten 
ekelhaften Leiden krankt, dessen man sich schämt. Krankheiten jedoch sind Strafen 











Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 383 
















































der Ahnengeister für Vergehen sexueller Natur. An diesem Punkte zeigt sich der 
Zusammenhang des Vaters mit dem Ahnengeist, ist er ja in diesem Falle das aus- 
führende Organ der strafenden Gerechtigkeit. Den engen Zusammenhang von Vater 
und Ahnengeist sahen wir übrigens auch vorhin, als davon die Rede war, daß Waisen- 
kinder sich an den Ahnengeist halten, der sie wie ein Vater beschützt. Es wird auch 
begreiflich, daß der Ahnengeist bei Vergehen Verwandte, richtiger Gegner, des Ver- 
brechers straft. Er benimmt sich dann so, wie der liebevolle Vater es in der Kind- 
heit tat, der, um die Launen des schlimmen Kindes zu befriedigen, die Mutter schalt 
und schlug. 

Der Untergang der Objektbeziehung zur Mutter ist also doppelt begründet: Einer- 
seits ist sie der Zärtlichkeit nicht wert; andererseits sind sexuelle Strebungen nach 
ihr allzu gefährlich, weil man, wegen sexueller Vergehen bestraft, ihr gleich werden 
könnte. Sich mit ihr zu identifizieren, ist wieder unmöglich, eben weil sie des Penis 
beraubt, daher minderwertig und ihr Los so unlusterweckend ist. 

Anders die Objektbeziehung zum Vater. Diese ist wohl von vornherein in 
günstigere Bahnen gelenkt worden, doch hier erfolgt eine Störung dieser Beziehung, 
wenn auch ganz anders als im Falle der Mutter, wiederum durch eine allzu weit- 
gehende Gewährung. Ich meine damit die Verwöhnung, welche das Kind durch 
das Schlafen im Bette des Vaters erlebt. Man kann ruhig annehmen, daß diese Ver- 
suchungssituation früher oder später, angesichts der außerordentlich sexualablehnenden 
Haltung der Erwachsenen, Schwierigkeiten machen muß. Es gibt zweifellos einen 
Punkt, über den hinaus die Gewährung nicht gehen kann, und bei welchem Ver- 
suche der Kinder, ihre Beziehung zu dem betreffenden Elternteil voll auszuleben, 
strenge zurückgewiesen werden. Als Folge dieser Versagung muß wohl sehr bald 
eine starke Verdrängung der Objektbeziehung zum Vater einsetzen, während die 
Objektbeziehung zur Mutter schon von vornherein durch die Herabsetzung durch 
den Vater sowie durch die vorhin dargestellte Kastrationsangst im ambivalenten 
Stadium festgehalten wurde und sich nie zu einer rechten Objektbeziehung ent- 
wickeln konnte. 

Die besten Beziehungen werden die Manus-Kinder wohl zu den eigenen Ge- 
schwistern entwickeln können, da ja die Kinder von vornherein während der Nacht 
dadurch voneinander getrennt sind, daß jedes bei einem anderen Elternteil schläft. 
Doch da die ursprünglichen Vorbilder für solche Beziehungen versagt haben, da 
überdies die Sexualität und die Sinnlichkeit sozial geächtet ist, die Zärtlichkeit in- 
folge der bedenklichen Erlebnisse mit dem Vater gehemmt ist, so wird diese Be- 
ziehung zu den Geschwistern sich in den Bahnen des Rationalen, der sublimierten 
Analität, abspielen. 

Die späteren Identifizierungen erfolgen ausschließlich mit dem Vater, wenngleich 
nicht auf dem Gebiete seiner Tätigkeit (mit Ausnahme von Fischfang), sondern im 
Bereich des Charakters. Es ist auch Mead aufgefallen, daß die Manus-Kinder, 
gleichgültig ob Knaben oder Mädchen, ausnahmslos den Charakter des Vaters genau 
reproduzieren. Die Mädchen freilich tun das in augenfälliger Weise nur bis zu ihrem 
zehnten Jahre. Dann werden sie in die Frauengesellschaft aufgenommen, wo sie 








a re 














334 R. A. Spitz 





jedoch keine richtige Identifizierung mehr fertigbringen, da sie bereits gegen dreizehn 
unter die Herrschaft der Tabus fallen, welche ihnen so vielerlei Hemmungen auf. 
erlegen, daß es dann nur schwer zu einer entsprechenden Charakterbildung kom- 
men kann. 


Für den Manus-Knaben ist die Zerstörung der früheren Objektbeziehungen weiter. 
hin entscheidend. Als Erwachsener keiner richtigen Objektbeziehung zu Gleich- 
altrigen fähig, teilt er seinen Trieb in zahllose Unterteile auf und lebt ihn sozusagen 
fraktioniert aus. Diese Aufteilung des Triebes habe ich bereits bei der Schilderung 
der Manus-Sexualität erwähnt. 


Die Aufsplitterung in phallische Sexualität, sinnliche Kreuzvetter-Basen-Beziehung, 
zärtliche Bruder-Schwester-Beziehung, zärtlich-sinnliche Vater-Kind-Beziehung, die 
alle voneinander strenge geschieden werden, erinnert uns jedoch an eine Erscheinung, 
die uns aus der Pathologie der Neurosen bekannt ist; ich meine den Mechanismus 
der Isolierung, der in der Zwangsneurose eine so wichtige Rolle spielt. In der 
Zwangsneurose erreicht der Patient durch die Isolierung, daß Tätigkeiten, die sonst 
angstbesetzt sind, nunmehr angstfrei vorgenommen werden können. Dasselbe scheint 
auch im Falle der Manus zuzutreffen. Die Person der Frau ist, wie wir gesehen 
haben, schon rationell angstbesetzt, da sie dem wirtschaftlich feindlichen Clan an- 
gehört. Dazu mögen noch die unbewußten Angstvorstellungen kommen, welche 
durch die Vulva ausgelöst werden: Wir haben gesehen, daß bei den Manus zweifellos 
eine große Dosis Kastrationsangst vorhanden ist. Überdies haben auch sicherlich 
die Männer infolge der außerordentlich starken Aggressionen, die sie in ihrer 
Sexualität ausleben, den Frauen gegenüber entsprechende Schuldgefühle. Es ist nun 
begreiflich, daß — nachdem Sexualität als Aggression mit Schuldgefühlen beladen ist 
und die zärtlichen, bzw. sinnlichen Regungen auch als Sexualität empfunden werden 
— die Manus-Männer diese Regungen von der phallischen Sexualität, die die 
Trägerin der eigentlichen Aggression ist, streng isolieren. Diese Isolierung ermög- 
licht ihnen, diese Splitteranteile des Triebes abzuführen. Die eigentliche phallische 
Sexualität ist darum allerdings noch keineswegs frei von Schuldgefühlen, wie das ja 
aus der Art, wie sie ausgeführt wird, klar hervorgeht. Dies ist übrigens auch beim 
Zwangsneurotiker der Fall, der, insofern er überhaupt zu einer genitalen Sexualität 
kommt, diese in klandestiner und schuldbeladener Weise ausübt. 


Wenn wir nun die übrigen Erscheinungen des Lebens, bzw. der Kultur der Manus- 
Insulaner betrachten, so müssen wir uns sagen, daß ihre Genauigkeit in bezug auf 
Verpflichtungen, Geldangelegenheiten usw. sehr stark an das entsprechende Ver- 
halten des Zwangsneurotikers erinnert. Auch bei diesem finden wir die übergenaue 
Einhaltung von Verpflichtungen, die bekanntlich unter Umständen das gesamte Leben 
unmöglich machen, die außerordentliche Aufmerksamkeit, welche den Exkretions- 
vorgängen geschenkt wird, und jenen phantasieleeren Realismus, der scheinbar das 
gesamte Leben der Manus-Insulaner beherrscht. Es wirft sich nun die Frage auf, 
ob man deswegen die Manus als Zwangsneurotiker ansehen will. Ich bin der 
Meinung, daß dies eine falsche Fragestellung wäre. „Neurotisch“ kann man de- 
finieren als ein der Realität und der Umwelt nicht angepaßtes Verhalten, welches 

















Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 385 












































durch eine Sexualisierung von Tätigkeiten, bzw. Verhaltungsweisen, welche sonst in 
eben dieser gegebenen Umwelt aus sachlichen nichtsexuellen Ursachen ausgeübt wer- 
den, charakterisiert ist. Von dieser Voraussetzung ausgehend muß der Zwangs- 
neurotiker in unserer Umwelt tatsächlich als Kranker gelten. Nehmen wir dagegen 
die Voraussetzungen der Umwelt der Manus-Insulaner als die ihnen gegebene Reali- 
tät, so müssen wir uns sagen, daß sie dieser Realität angepaßt sind. Es sind für sie 
sachliche Gründe, die sie veranlassen, sich zu verhalten, wie sie es tun, nämlich ein- 
fach die Gründe der Sitten, Gewohnheiten und Forderungen ihrer Umwelt. Es ist 
zweifellos, daß alle diese Verhaltungsweisen auch sexualisiert sind; sie werden jedoch 
nicht um ihrer Sexualisierung willen vom Einzelindividuum betrieben, sondern des- 
wegen, weil er sich durch ein Andersverhalten von seinen Dorfgenossen unliebsam 
unterscheiden, ja Strafe und Gefährdung riskieren würde, während sich die Anpas- 
sung an die Umwelt durch sozialen Erfolg belohnt macht. Wir können also dieses 
Verhalten des Einzelindividuums nur als realitätsangepaßt ansehen, mögen aber, 
sofern dies einen Sinn hat, von der Gesamtkultur der Manus als von einer Kultur 
mit zwangsneurotischem Einschlag sprechen. Es ist zweifellos, daß auch unserer 
Kultur gegenüber ein Beobachter, der sich so weit objektiviert, wie wir dies der 
Manus-Kultur gegenüber zu tun versuchen, gleichfalls Züge entdecken könnte, welche 
an pathologische Erscheinungen erinnern — wir können dies ja selber schon, wenn 
wir historisch vergangene Perioden unserer Kultur betrachten. 


Bei den Manus-Insulanern ist die Aufsplitterung der Triebanteile zu einer institu- 
tionellen Einrichtung erhoben worden. Solche Erscheinungen mögen unter dem 
Drucke religiöser Forderungen bei manchen andern Völkern aufgetreten sein, 
schwerlich aber in dem Maße, wie bei den Manus, welche die gesamte Sexualität 
dosi refracta zu vertragen scheinen. Das mag unsere Aufmerksamkeit auf ähnliche 
Vorgänge bei unseren Neurotikern lenken, wo ich in manchen Fällen den Eindruck 
hatte, daß die einfache Aufteilung des Triebes in Sinnlichkeit und Zärtlichkeit nicht 
ausreicht. Freilich ist es fraglich, ob man weitgehende Generalisierungen vornehmen 
kann; während bei den Manus der institutionelle Charakter der Triebanteile diesen 
ihre Unveränderlichkeit wahrt, wird die Aufsplitterung des Triebes, die unsere 
Neurotiker über die Trennung der Zärtlichkeit von der Sinnlichkeit hinaus vor- 
nehmen, ad hoc gemacht sein und für uns jeweils als eine Identifizierung mit einem 
oder dem anderen Familienmitglied, bzw. als eine Wiederholung einer Beziehung zu 
einem solchen gelten. Immerhin wird es der Mühe verlohnen, unsere Aufmerksamkeit 
in unseren Analysen auf die Frage zu lenken, welche Angst in einer solchen Beziehung 
erspart wurde, indem darin Anteile zumindest des T'riebes ungefährdet unterge- 
bracht werden konnten. 


Es wäre interessant, festzustellen, wieso sich eigentlich die Gemeinschaft der 
„urkommunistisch“ lebenden Manus-Kinder und -Jünglinge bis zum Alter von vier- 
undzwanzig Jahren übergangslos, ohne Anleitung, außer den rituellen Belehrungen, 
die dem jungverheirateten Mann von seiner Frau und seiner Familie zuteil werden, 
in die Wirtschaftsform der Erwachsenen mit ihren strengen Eigentumsbegriffen um- 
wandelt. Ich habe schon vorhin angedeutet, daß für Kind und Jüngling der Besitz 























Mm nn m 
386 R. A. Spitz 





in ähnlicher Weise mit Kastrationsangst behaftet war wie so viele andere selbstver- 
ständliche Dinge, die vor der Latenzzeit erlaubt waren (Trommeln, Singen, Tanzen 
usw.). Die Achtung vor fremdem Eigentum ist eine ungeheuere, die Erwerbung 
eigenen Besitzes kann nur in Identifizierung mit dem Vater geschehen. Gerade 
diese vermeiden die Kinder sorgfältig, selbst in ihren Spielen, und so kommen sie zu 
der eigenbesitzlosen Wirtschaftsform. Von dieser freiwilligen Entsagung werden sie dann 
durch die von der Familie gewünschte und gebotene Ehe befreit, und die Schuld- 
gefühle, die sie noch haben, werden befriedigt durch die schwere Fron, welche sie 
zur Abtragung der für die Braut gezahlten Beträge auf sich nehmen müssen. Nicht 
ganz; zu einer freien, unbelasteten Sexualität kommen sie trotzdem unter keinen 
Umständen. Es bleibt eine klandestine verwerfliche Tätigkeit, die eigentlich außer 
Kinderzeugung keinen Zweck hat, die aus dem Stadium der Ambivalenz kaum je 
herauskommt, und in der sie ihre Aggressionen teilweise unterbringen. 

Diese Vermutungen sollen jedoch nur andeuten, in welcher Richtung ich mir eine 
weitere Untersuchung dieser Probleme vorstelle, die ich an diesem Orte nicht vor- 
nehmen will, da sie uns von unserem Hauptthema fortführt. . Dagegen will ich, 
nachdem wir einen Einblick in die Kindererziehung und die daraus resultierende 
Kultur der Manus getan haben, diese mit dem vergleichen, was Malinowski über 
die Trobriander und Röheim über die Aruntas berichten.® 


Während bei den patriarchal organisierten Manus die Aggressionen begünstigt, die 
Traditionen vernachlässigt werden, die Sexualität unterdrückt und in der analen 
Phase fixiert wird und infolgedessen der Besitz eine zentrale Bedeutung erlangt, der 
Erwachsene seine Aggressionen im Besitze auslebt, aber auch die Sexualität nur 
aggressiv und unbefriedigend erleben kann, ist es bei den matriarchal organisierten 
Trobriandern ganz anders. Hier finden wir eine Kindererziehung, die in weit- 
gehendem Maße gewährend ist; die Sexualität wird in keiner Form wirklich ver- 
sagt oder abgelehnt, Einschränkungen der kindlichen Sexualität und der einzelnen 
Partialtriebe scheinen nur zu erfolgen, wo diese in die Sphäre der andern störend 
eingreifen würde. Man könnte sagen, daß bei den Trobriandern eine gleichmäßige 
Freiheit mit einer mäßigen, realitätsgerechten Einschränkung der Sexualität, der 
Analität und der Aggressionen bei der Kindererziehung herrscht. Dementsprechend 
finden wir auch beim Trobriander keine Fixierung im Prägenitalen, keine Perver- 
sionen, wenig Masturbation, wenig Aggressionen und am allerwenigsten solche in 
der Sexualität. Eine Fixierung an den Besitz ist erst im Werden, Andeutungen davon 
sind bereits sichtbar und begründet in der Wandlung ihrer sozialen Struktur vom 
Matriarchat zum Patriarchat. Zweifellos werden diese Wandlungen mit der Zeit 
auch die entsprechenden psychologischen Veränderungen mit sich bringen. 


Noch einen Schritt weiter, bei den zentralaustralischen Aruntas haben wir, nach 
Röheim, abgesehen von einigen unerheblichen Inzest-Tabus kaum Versagungen auf 
dem sexuellen Gebiete, überdies aber eine Ignorierung aller Sauberkeitsbegriffe. Der 





3) Das Folgende stellt die Hypothese des Psychoanalytikers dar, die ohne den Anspruch, 
das gesamte einschlägige Forschungsmaterial der Ethnologie zu überblicken, vorgelegt wer- 
den soll. 











Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven 387 


































Säugling und das Kleinkind bleiben tagelang in ihren Fäkalien liegen, und auch in 
der weiteren Kindererziehung, insofern von einer solchen die Rede sein kann, sind 
die analen Versagungen unbekannt. Dafür kennt der Erwachsene den Begriff des 
Besitzes scheinbar überhaupt nicht. Noch mehr: Trotz den prekären Verhältnissen, 
in denen dieses Volk lebt — denn die zentralaustralische Steppe liefert als Nahrung 
nur Würmer, Käfer, Reptilien und kleinere Säuger, welche alle in mühsamster und 
unsicherster Weise von den Aruntas erbeutet werden müssen —, kennen sie nicht 
einmal die Sorge um den nächsten Tag. Ohne einen Gedanken an die Zukunft, an 
die Möglichkeit einer Gefahr des Verhungerns, die doch nahe genug liegt, leben sie 
zufrieden in ihrem kargen Lande. 

Wir sehen also bei den Aruntas in der Kindererziehung eine weitgehende Trieb- 
gewährung, ein Fehlen jeder Versagung selbst auf dem analen Gebiete; daraus ent- 
wickelt sich eine Erwachsenengesellschaft, die weder den Privatbesitz noch die Sorge 
um diesen kennt. Bei der Kindererziehung der Trobriander finden wir hingegen 
eine realitätsangepaßte Triebentwicklung mit möglichst wenig Versagungen auf dem 
Gebiete des Sexuellen und eine Erwachsenengesellschaft, welche sich im Übergang 
von der Naturalwirtschaft ohne Sondereigentum zum Privatbesitz befindet, aber in 
sexueller Beziehung frei und ohne Neurosen und Perversionen zu sein scheint. Und 
schließlich haben wir die Manus, bei denen wir in der Kindererziehung eine außer- 
ordentlich konsequente Versagung sowohl auf dem Gebiete der Analität wie der 
Genitalität finden; das Resultat ist eine Erwachsenengesellschaft, in der Privateigen- 
tum und Ansätze einer „kapitalistischen“ Wirtschaftsform die zentrale Rolle spielen; 
die Sexualität der Erwachsenen nimmt neurotische Formen an, die an die uns be- 
kannte Zwangsneurose erinnern. 

Es kann natürlich gar nicht die Rede davon sein, daß, historisch und in zeitlicher 
Abfolge betrachtet, die Form der Erwachsenengesellschaft und der Wirtschaftsordnung 
als eine Folge jener Form gelten soll, in welcher die Kindererziehung vor sich geht. 
Eine solche Behauptung liegt mir fern — ebensowenig kann man aber das Gegenteil 
sagen. In der Wirklichkeit kann man nur vermuten, daß das eine zwangsläufig das 
andere bedingt und vice versa. 

Diese knappe Nebeneinanderstellung der Forschungsergebnisse dreier Ethnologen 
gibt eine Vorstellung davon, wie eigentlich die Resultate einer exakten psychologisch- 
pädagogischen Forschung aussehen müßten. Dazu ist unter den heutigen Verhält- 
nissen in den Kulturländern keine Möglichkeit gegeben. Diese Resultate aber be- 
stätigen in weitestem Maße die Anschauungen, welche die psychoanalytische Wissen- 
schaft bisher von diesen Fragen gehabt hat, und zwar sowohl die theoretischen An- 
nahmen wie auch jene praktischen Folgerungen, welche sich in bezug auf die Wirkun- 
gen kleinster Unterschiede sowie der Relativität quantitativer Verhältnisse bei Ver- 
sagung und Gewährung in der frühen Kindheitserziehung ergeben hatten. 


Eingelangt Anfang 1933. 





























BESPRECHUNGEN 


Aus der Literatur der Grenzgebiete, 


BURKERSRODE, JOHANNES und ILLE, KURT: Charakterbeurteilung von Kindern und 
Jugendlichen auf Grund typologischer Betrachtungsweise. Mit einem Vorwort von Johannes 
Schlag. I. Anhang: Charakteristik von Kindern über Kinder, von Johannes Zarn. II, An- 
hang: Selbst- und Fremdcharakteristik im 9. Schuljahre, von Albert Stein. II. Anhang: 
Beispiele für die Ausfüllung des Fragebogens zur Selbstbeurteilung. Pädagogisch-Psycho- 
logische Arbeiten aus dem Institut des Leipziger Lehrervereins. Herausgegeben von Jo- 
hannes Schlag. XX. Band. ı. Teil. Leipzig. Verlag der Dürrschen Buchhandlung, 1933. 
84 Seiten. 


Die Verfasser verfolgen mit ihrer Arbeit zwei Ziele: die Bearbeitung von. Spezialproblemen 
der Typenforschung und die Anwendung der Typenlehre in der Praxis, vornehmlich als 
Hilfsmittel der Schülerkenntnis. Wenn auch gerade an letzterer die Überlegenheit der 
psychoanalytischen Lehre gezeigt werden könnte, möge doch der Rahmen einer Inhalts- 
angabe nicht überschritten werden. 


Nach einem Überblick über den heutigen Stand der Typenforschung (Freuds Typen 
werden in einer Übersicht genannt) wird auf „die Vertreter der beiden wichtigsten Typo- 
logien“ näher eingegangen: Jaensch und Kretschmer-Pfahler-Kroh. Die Verfasser 
schließen sich diesen im wesentlichen an, nehmen von der Erörterung des Somatischen und 
Pathologischen bewußt Abstand und beschränken die Arbeit auf rein psychologische T'ypen 
innerhalb des Normalen. Der schizothyme und der zyklothyme Typus werden starrer 
und aufgeschlossener Typus genannt. Die Außerungsformen des Starren und Auf- 
geschlossenen (aus den verschiedenen Typenlehren, Beobachtung und Experimenten an Kin- 
dern, Jugendlichen und Erwachsenen gewonnen) werden auf verschiedenen Gebieten ein- 
ander gegenübergestellt: Stellung zum Ich, Stellung zu den einzelnen Menschen, Stellung zur 
Gemeinschaft, Stellung zur Welt, die Gefühlswelt, die Gedankenwelt, die Welt der Werte. 


Die Typenzugehörigkeit der Versuchspersonen (142 Jugendliche im Alter von ı2 Jahren 
ı0 Monaten bis 16 Jahren 2 Monaten, aus vier Klassen höherer Volksschule und zwei Klassen 
Berufsschule in Leipzig) wird durch Selbstbeurteilung in Fragebogen (43 Fragen), Fremd- 
beurteilung durch Mitschüler und Lehrer (wobei die Charakteristik nach einem Beurteilungs- 
schema verlief) und experimentelle Prüfung festgestellt. Auf Grund der Selbstbeurteilung er- 
gaben sich 60%/, als dem aufgeschlossenen, 40%, als dem starren Typus zugehörend. In 
ı0°/, der Urteile von Lehrern und Mitschülern bestand keine Übereinstimmung, in 25%) 
halbe Übereinstimmung, in 65 °/, volle Übereinstimmung. 


Um die Charakterbeurteilung zu kontrollieren, wurden die Versuchspersonen im Gruppen- 
experiment geprüft, und zwar: Auffassungsumfang, teilinhaltliche Beachtung (tachistoskopi- 
sche Darbietung von sinnvollen, sinnleeren und mit Druckfehlern versehenen Wörtern), ganz- 
heitliche Auffassung, Aufmerksamkeitsverteilung, Umstellbarkeit und assoziative Beweglich- 
keit (Finden von möglichst vielen passenden Überschriften zu vorgelegten Bildern), Ablenk- 
barkeit, Figurensuchen (der starre Typus neigt zu planmäßigem Suchen, der aufgeschlossene 
zu planlosem), Figurenmerken, wobei die Formseher (starrer Typus) und Farbseher (auf- 
geschlossener Typus) unterschieden werden konnten. 


Im allgemeinen ließ sich einerseits ein Zusammenhang zwischen aufgeschlossenem Cha- 
raktertypus und weiter, fluktuierender, ganzheitlich gerichteter Aufmerksamkeit, anderseits 











Besprechungen 389 









































zwischen starrem Charaktertypus und enger, fixierender Aufmerksamkeit und teilinhaltlicher 
Beachtung feststellen, 


Die Verfasser legen größten Wert darauf, daß die Unterrichts- und Erziehungsmethoden 
vom typologischen Standpunkt revidiert werden und die Erzieher eine diesbezügliche Aus- 
bildung erfahren. „Der Wert der Typologie besteht darin, dies richtige erzieherische Handeln 
bewußt zu machen, rational faßbar und damit lehrbar.“ 

Die drei Anhänge geben praktische Beispiele und Ergebnisse der Selbst- und Fremdcharak- 
teristik. 

Es berührt den psychoanalytisch Orientierten eigentümlich, daß — wenn auch an einer 
für den Gedankengang der Arbeit unwichtigen Stelle — Handgeschicklichkeit und Schreib- 
geschwindigkeit zu den „konstitutionellen Symptomen“ gezählt werden. Auch diese Arbeit 
konnte den‘ Referenten nicht davon überzeugen, daß wir „in den Bauplan seelischer 
Strukturen einen gewissen Einblick durch typologische Einsichten“ erhalten. 

K. Eißler (Wien) 


BURRIDGE, W.: A new physiological Psychology. With a foreword by Leonard Hill 
Edward Arnold & Comp., London, 1933. VI und 158 Seiten. 


Das Vorwort besagt, daß auf Grund einer experimentellen Studie über das Herz die 
Theorie aufgestellt wurde, daß die zentralen Neurone und die peripheren Endorgane 
rhythmische Kolloidsysteme mit zwei Energiequellen sind: Absorption und kolloidale 
Aggregation. Die Empfindungen haben Beziehungen zur Absorption, Bewußtsein zur 
Aggregation. Rascher Rhythmus ist zu Lust, langsamer zu Unlust zugeordnet. Der Ref. 
gesteht, daß er nicht imstande ist, die physiologischen Theorien des Autors zu beurteilen. 
Sie mögen ausgezeichnet sein. Der Autor ist jedoch nicht imstande zu zeigen, daß sie 
irgendwie zum Verständnis psychologischer Probleme beitragen. 

P. Schilder (New York) 





REICH, OTHMAR: Das Qualitätsproblem in der Psychologie und seine Lösung. Eine 
musikpsychologisch-psychologische Abhandlung. Selbstverlag des Verf. Prag. 1933. VIII und 
139 Seiten. 


Der Fundamentalgedanke der Abhandlung lautet: Es gibt ein Urquale des Seelischen, 
das mehr oder weniger unbewußte schlichte Lebensgefühl; hievon differenzieren sich auf dem 
Wege komplexer Wirkungserlebnisse speziellere subjektive Lebensgefühle sowie objektivierte 
Wahrnehmungsqualitäten. Demnach besitzen alle Qualitäten im Bewußtsein, ebenso aber 
auch das Urquale selbst eine biologisch verfolgbar Genese. Diese hier kurz gefaßte 
Theorie wird auf Grund spezieller tonpsychologischer Tatsachen einerseits, einer energetisch 
fundierten allgemeinen Naturphilosophie der Reaktionsweisen der Lebewesen andererseits 
abgeleitet und durch diese erläutert. Die Darstellungen der verschiedenen energetischen 
Hintergründe der Lust-Unlust sowie des Entwicklungsweges des Seelischen von 
traumatischer Erschütterung bis zum vorbeugenden Qualitätserlebnis 
werden den Theoretiker der Psychoanalyse näher interessieren. Der gründlich durchdachten 
Arbeit mangelt an mehreren Stellen ein Hinweis auf ähnliche Gedanken (auf G. Rev&sz 
bei der Ableitung der Grundtatsachen der Tonpsychologie, auf H. Werner bei Heraus- 
arbeitung der entwicklungspsychologischen Prinzipien, auf Bernfeld-Feitelberg bei 
dem streng energetischen Aufbau der Reaktionsweisen, auf J. Pikler mit seiner aktiven 
Anpassungstheorie des Empfindungsvorganges). I. Hermann (Budapest) 


Imago XXI/3 26 





nn ER 




















390 j Besprechungen 





SCHUON, FRITHJOF: Leitgedanken zur Urbesinnung, Zürich, Orell-Füßli-Verlag, 1935, 

109 Seiten. 

Der Autor gehört zu jenen, die in verschwommenen mystischen Ausflüssen durch reich- 
liche Vorsetzungen der Silbe „Ur“ vor die verschiedensten Ausdrücke die Unklarheiten der 
eigenen Erlebnisse als Urerlebnisse darstellen und vermitteln wollen, „Uranblick“, „Urgehalt“, 
„Urwirklichkeit“, „Ursatz“ trifft man schon im ersten Absatz, und so zieht es durch das 
Buch durch. Nirgends trifft man auf festen Grund, da jeder sonst eindeutige Ausdruck im 
Zusammenhange des Übrigen sogleich seine feste Form und seinen gewohnten Inhalt verliert 
und in Wortmystik zerfließt. 

Zwei Proben aus dem Inhalt mögen über das Buch sprechen. 

„Als wirkender Ursatz ist das Sein Gott, als Schöpfer der Welt; jedoch ist Sein oder Gott 
dasjenige, was durch diese Wörter ausgedrückt wird, nur dadurch, daß das gebrochene Er- 
kennen nicht über diesen Wendepunkt hinausgeht; das Sein ist gleichsam der Schleier, 
dahinter sich die höchste Wirklichkeit verbirgt. Die Welt ist einem Stufenbau vergleichbar, 
dessen Grundfesten die Erscheinungswelt und dessen Gipfel das Sein bedeutet; jenseits dehnt 
sich der endlose Raum aus, welchen der Gipfel berührt, während der Raum als solcher kein 
Verhältnis zum Gipfel hat, trotzdem vom Gipfel aus ein umgekehrter, ins Endlose weiter- 
gehender Stufenbau denkbar ist; der unbegrenzte Raum bedeutet dem Bau, was das un- 
begrenzte, alles übersteigende, allein herrliche und alles auflösende Letzte, das reine Göttliche, 
der Welt bedeutet.“ 

Und an einer späteren Stelle: 

„Genuß ist ein Ausfluß der Lust; diese ist weiter und tiefer als aller Genuß. Lust ist ein 
Ausfluß der Freude; diese ist weiter und tiefer als alle Lust. Freude ist ein Ausfluß des 
Lebens; dieses ist weiter und tiefer als alle Freude. Leben ist ein Ausfluß des Daseins; dieses ist 
weiter und tiefer als alles Leben. Das Dasein ist der Ausfiuß des Seins; dieses ist weiter und 
tiefer als alles Dasein. Das Sein ist der Ausfluß des Letzten, Unendlichen, Allwirklichen, 
Allweiten und Alltiefen.“ R. Sterba (Wien) 


STERN, WILLIAM: Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage. Martinus 
Nijhoff, Haag, 1935. XIX und 364 Seiten. Erste Lieferung. 


Dies ist die erste Lieferung eines Werkes über allgemeine Psychologie, das den Gegen- 
stand lehrbuchmäßig behandelt, jedoch die philosophische Grundeinstellung des Autors zur 
Basis hat. Psychologie ist „die Wissenschaft von der erlebenden und erlebnisfähigen Person“, 
Die sinnhaltige, einheitliche, lebendige Person ist so Hauptgegenstand Sternscher Psycho- 
logie. Das Objekt ist nur insoweit Gegenstand der Psychologie, als es auf diesen Träger 
bezogen wird. Dem Ref. erscheinen die Auseinandersetzungen über die personalen Dimen- 
sionen am glücklichsten zu sein. „Die personale Welt hat eine natürliche Mitte.“ Diese 
Mitte hat aber eine Erstreckung. Innen-außen ist die Dimension als Grundpolarität innerhalb 
des Personalen. In der personalen Gegenwart ist das akute Lebnis (der Person) und die 
akute Situation (der personalen Welt) durchaus in eins verschmolzen. „Die personale 
Gegenwart ist raum-zeitlich neutral; sie ist das ungetrennte ‚jetzt-hier‘; die personale Gegen- 
wart ist... ausgedehnt und strukturiert.“ Der Bericht über das psychologische Tatsachen- 
material ist im allgemeinen knapp und übersichtlich, die Literatur ist nicht systematisch 
berücksichtigt. Der Bericht über Psychoanalyse ist sehr dürftig. Stern spricht von einer 
psychoanalytischen Komplextheorie. Der Komplex ist ein in der Tiefe lauernder Feind. 
St. tadelt den mechanistischen Zug der Psychoanalyse. Der Begriff unbewußter Vorstel- 
lungskomplexe wird als abenteuerlich bezeichnet und durch den Begriff der mnemischen 

































TE 
Besprechungen 391 





Bereitschaft ersetzt. Hingegen glaubt St. an Verdrängung und die Wiederbelebung ver- 
drängten Materiales. Man wird die Fortsetzung des Sternschen Werkes abwarten müssen, 
bevor man zu einem endgültigen Urteil gelangt. Die Klarheit der Darbietung geht Hand 
in Hand mit einer gewissen Schematisierung (so ist z.B. der Bericht über das deja vue 
und über die Amnesien sehr unbefriedigend; ebenso ist die Darstellung der Gestaltprobleme 
zu schematisch). Es ist zu erwarten, daß die Fortsetzung manche Lücken ausfüllen wird. 
Aber auch der Torso ist lesenswert. P. Schilder (New York) 


SYDOW, ECKART V.: Dichtungen der Naturvölker. Religiöse, magische und profane 
Lyrik. Gesammelt, gesichtet und in deutscher Sprache herausgegeben von Eckart v. Sydow, 
Wien, Phaidon-Verlag, 1935. 266 Seiten. 


Einführend weist der Herausgeber dieser prächtigen Sammlung mit Recht darauf hin, daß 
dieses Gebiet der künstlerischen Weltproduktion im Gegensatz zur Plastik der Primitiven 
bisher nur sehr selten beachtet worden ist, obwohl ihre poetische Begabung keineswegs ge- 
ringer ist als ihr plastisches Talent. Für Frömmigkeit, Liebe, Krieg, Trauer und Schmerz 
findet der Naturmensch ergreifenden, allmenschlichen Ausdruck. 

In einem Nachtrag werden die Formen dieser Dichtung, ihre Verschmolzenheit zu 
Wort, Ton, Geste, die häufige Verwendung von Wiederholungen, die seelischen Quellen, 
wobei die Wirkung der Landschaft eine besondere Überraschung bildet, hervorgehoben; es 
wird gezeigt, wie es bei einzelnen primitiven Völkern eine bewußte Pflege der Dichtkunst 
sowohl bei der Gemeinschaft als beim Einzelnen gibt, die uns doch auf den ersten Blick 
als ein Zeichen hoher Kultur erscheint, und es wird schließlich auf die Stileinheit von bil- 
dender und plastischer Kunst bei den verschiedenen primitiven Kulturen hingewiesen, Ein 
Register der Stämme und der europäischen Autoren schließt den vornehm ausgestatteten 
Band. 

Die Dichtungen stammen von den Naturvölkern der ganzen Erde und gruppieren sich 
in folgende Themen: Religion und Magie; Tod und Krankheit; Liebe und Familienleben; 
Geselligkeit; Kampf, Triumph, Lobpreis, Jagd; Monologe; Kinderschlaflieder; Tierlieder 
und Landschaft, 

Sie erwecken beim Leser ein ähnlich verwundertes Staunen wie etwa der Anblick der 
Malereien der Eiszeit in den Höhlen von Altamira oder das Studium von gewissen Zeichnun- 
gen von Kindern oder Geisteskranken, in denen der Psychoanalytiker in analoger Weise die 
tiefsten Quellen produktiver Schönheit wirksam sieht. 

A. Kielholz (Königsfelden-Aargau). 











ZEITSCHRIFT FÜR 
PSYCHOANALYTISCHE 
PADAGOGIK 


Herausgegeben von 


AUGUST AICHHORN, PAUL FEDERN, ANNA FREUD, 
HEINRICH MENG, ERNST SCHNEIDER, HANS ZULLIGER 


Redigiert von WILHELM HOFFER 


Jährlich 6 Hefte im Umfang von je ca. 72 Seiten 
Gesamtumfang etwa 450 Seiten 


Einzelheft RM 2.— 


Jahresabonnement RM 10.— 


Einbanddecken zu jedem Jahrgang in Halbleder RM 3.20 


EINIGE SONDERHEFTE: 


Über Hochstapler und Verwahrloste 


Jenny Wälder: Analyse eines 
Falles von Pavor nocturnus 


Die Angst des Kindes 
Heilpädagogik 
Montessori-Pädagogik 


Editha Sterba: Ein abnormes 
Kind 


Erziehungsberatung 


Herta Fuchs: Psychoanalytische 
Heilpädagogik im Kindergarten 


Spielen und Spiele 


Alice Bälint: Die Psychoanalyse 
des Kinderzimmers 





Marie Bonaparte: Die Sexualität 
des Kindes 


Strafen 
Menstruation 


Richard Sterba: Einführung in 
die psychoanalytische Libidolehre 


Intellektuelle Hemmungen 
Selbstmord 


Aus der Kindheit eines Proletarier- 
mädchens 


Nacktheit 
Stottern 
Onanie 


Sexuelle Aufklärung 


INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN 











THE 
PSYCHOANALYTIC 
QUARTERLY 


Fourth year of publication 


THE QUARTERLY 
is devoted to original contributions in 
the field of theoretical, clinical and 
applied psychoanalysis, and is published 
four times a year. 


The Editorial Board of the QUAR- 
TERLY consists of the Editors: Drs. 
Dorian Feigenbaum, Bertram D. Lewin 
and Gregory Zilboorg. Associate Edi- 
tors: Drs. Henry Alden Bunker, Jr., 
Raymond Gosselin and Lawrence S. 
Kubie. Associated with the Editorial 
Board is a group of distinguished Ameri- 
can and European psychoanalysts. 


CONTENTS FOR $FULY 1935: 
Franz Alexander and George W. Wilson: Quan- 
titative Dream Studies, — Karl A. Menninger‘ 
A Psychoanalytic Study of the Significance of Self- 
Mutilations. - Gustav Hans Graber: Primal Scene, 
Play, and Destiny. — Leon J. Saul: A Note on the 
Psychogenesis of Organic Symptoms. — Walter 
Briehl and Ernst W. Kulka: Lactation in a 
Virgin. — In memoriam William Julian Spring. — 
Book reviews. — Current Psychoanalytic Literature. — 
Notes. 


Editorial communications should be sent 
to the Editor-in-Chief: Dr. Dorian Feigen- 
baum, 60 Gramercy Park, New York, N.Y. 


Foreign subscription price ıs # 5.50; 
single issues, one dollar and 75 cenis. 
A limited number of back copies are 
avarlable; volumes ın original binding 

# 6.50. 


Business correspondence should be sent to: 


THE PSYCHOANALYTIC 


QUARTERLY PRESS 


372-374 BROADWAY, ALBANY, 
NEW YORK 


THE 
INTERNATIONAL 
JOURNAL OF 
PSYCHO-ANALYSIS 


Directed by 
SIGM. FREUD 


Edited by 
ERNEST JONES 


This Journal is issued quarterly. 

Besides Original Papers, Ab- 

stracts and Reviews, it contains 

the Bulletin of the Internatio- 

nal Psycho-Analytical Associa- 

tion, of which it is the Official 
Organ. 


Editorial communications should be 
sent to Dr. Ernest Jones, 8ı Harley 
Street, London, W. ı. 


The Annual Subscription is 30s per 
volume of four parts. 


The Journal is obtainable by sub- 


scription only, the parts not being 
sold separately. 


Business correspondence should be ad- 
dressed to the publishers, Balliere, 
Tindall & Cox, 8 Henrietta Street, 
Covent Garden, London, W. C. 2., 
who can also supply back volumes. 





je 





IMAGO, Band XXI (1935), Heft 3 


(Ausgegeben im Oktober 1935) 





Seite 
Paul Schilder: Psychopathologie der Zeit........-cessseenenenneneeennneeeennnnnnnne 263 
Ludwig Pfandl: Der Narzißbegriff. Versuch einer neuen Deutung .»».....«--sreer000. 279 
Alfred Winterstein und Edmund Bergler: Zur Psychologie des Pathos .........s2s2 00.» 301 


Ernst Kris: Zur Psychologie älterer Biographik (dargestellt an der des bildenden Künstlers) 320 


MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN 


Johannes Landmark: Der Freudsche Triebbegriff und die erogenen Zonen ......csr.r 0. . 345 
Ludwig Eidelberg: Das Verbotene lockt .........-..cceeereeneenenennnnnnnensnenn nen 352 
Friedrich S. Krauss: Die Ödipussage in südslawischer Volksüberlieferung .............. 358 
R. A. Spitz: Frühkindliches Erleben und Erwachsenenkultur bei den Primitiven ....... 367 
BESPRECHUNGEN 


Aus der Literatur der Grenzgebiete: Burkersrode und Ille: Charakterbeurteilung von Kindern und 
Jugendlichen auf Grund psychologischer Betrachtungsweise (Eißler) 388. — Burridge: A new physio- 
logical Psychology (Schilder) 389. — Reich: Das Qualitätsproblem in der Psychologie und seine Lösung 
(Hermann) 389. — Schuon: Leitgedanken zur Urbesinnung (Sterba) 390. — Stern: Allgemeine Psycho- 
logie auf personalistischer Grundlage (Schilder) 390. — Sydow: Dichtungen der Naturvölker (Kielholz) 391 


2 vun 


Ansdififten der Mitarbeiter dieses Heftes: 


DR. EDMUND BERGLER, Wien L, Seilerstätte 7. 

DR. LUDWIG EIDELBERG, Wien XIX., Chimanistraße 11. 

PROF. DR. FRIEDRICH S. KRAUSS, Wien VII., Neustiftgasse 12. 

DR. ERNST KRIS, Wien XIX., Schwarzspanierstraße 11, 

DR. JOHANNES LANDMARK, Oslo, Universitetsgate 2. 

PROF. DR. LUDWIG PFANDL, Zuschriften an die Redaktion. 

DR. MED. ET PHIL. PAUL SCHILDER, Professsor an der New York University, 52 Gramercy BR New 
York, N. Y. 

DR. R. A. SPITZ, 18 bis, rue Henri Heine, Paris XVle, 

DR. ALFRED FRHR. V. WINTERSTEIN, Wien XIII, Wattmanngasse 38. 





Wir bitten zu richten: 
Redaktionelle Zuschriften aus allen Ländern mit Ausnahme Nordamerikas an die Redaktion der 
„Imago“, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien I, Börsegasse 11. 


Redaktionelle Zuschriften aus Nordamerika an Dr. Sandor Rado, 324 West 86h street, 
New York City. 


Gescäftlihe Zuscriften aller Art an Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien I, Börse- 
gasse 11. 





Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Gesellschaft m. b. H., Wien I, Börsegasse 11 
Herausgeber: Prof. Dr.Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion : Dr. Robert Wälder, Wien II Obere Donaustraße33 
Druck: Manzsche Buchdruckerei, Wien IX 
Printed in Austria 


Zum 


Pe 4 


Eh Ze 0 u un 


u