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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften XIII 1927 Sonderheft 2/3/4 "Glaube und Brauch""

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XIII. Band 


1927 


Heft 2 / 3/4 


IMAGO 

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.Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse 
auf die ^Tatur>- und Geisteswissenschaften 

Herausgegehen von 

iSigm. Freud 

Redigiert von iSäüdor Rä(Jo 7 HällllS iS ädlS und A.. «J • iStOrfcr 


77 


Sonderheft 


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Daly: Hindu^-jMLythologie und Kiastrationskomplex / Jones: Das Aiutterredit 
und die sexuelle Unwissenheit der Wilden / Fromm: Oer Sabbath / Fromm - 
Reickmann: Das jüdische Speiseritual / Reih: Doj^ma und Zwangsidee / 
Ckadunck: Die (jiott—JPliantasie bei Kindern / JR-orsckadi: Zwei sch weizei ische 
Sektenstifter (Binggeli-Unternährer) / Rokeim: Mordmythologie und Mond¬ 
religion / Zulliger: Totemmahl eines fünfeinhalbjährigen Knaben / Referate / 
Sigm. Freud: Nachtrag zur Arbeit über den Moses des Michelangelo 


Internationale tP Psychoanalytische tP Verlag 

Wien VII, Andreasgasse 3 








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IMAGO 


ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE 
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN 

XIII. Bd., 1 9^7 Sonderheft: „Glaube un d Brauch“ Heft 2j3j^ 



C. D. Daly 


Quetta, Indien 

(Aus dem englischen Manuskript übersetzt von Peter Mendelssohn) 


I 



A) Allgemeines zur Psychologie der Hindu 


Ein flüchtiges Studium der Zeremonien und Riten der Hindu und der 
verwandten Völker ist ausreichend, um zu zeigen, daß sie unter kollektiven 
Zwangsvorstellungen leiden, die in vieler Hinsicht denen gleichkommen, 
die wir bei den europäischen Zwangsneurotikern zu beobachten gewöhnt 
sind. Ein früherer Autor hat die Aufmerksamkeit bereits auf die Tatsache 
gelenkt, daß ihre Charakterzüge fast ausschließlich dem analen Reaktions¬ 
typus 1 angehören. 

Die Trauerstimmung des Hinduvolkes ist nicht allein durch eine Bezug¬ 
nahme auf die Analerotik zu erklären; denn die anale Erotik kann in keinem 
Stadium des primitiven Lebens als der Menschen größtes Vergnügen hin¬ 
gestellt werden; nur in der Beziehung zu der direkten Hemmung des sexu¬ 
ellen Impulses kann ein solcher ernster Zustand der Dinge entstehen, wie 

1) O. B erkeley - Hill: Der anal erotische Faktor in der Religion, der Philo¬ 
sophie und in dem Charakter der Hindu. International Journal of Psycho-Analysis. 
Bd. II, Teil 5/4, S. 306. 

Imago XIII. 10 



INTERNATIONAL 

DQVrUnAMAI VTI 


PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 










1^6 C. D. Daly 


er sich bei dem Hinduvolk findet. Aber wenn wir imstande sind, im pri¬ 
mitiven Leben ein Stadium aufzuzeigen, in dem der Mensch sich angstvoll 
von dem abwendet, was vormals seine wesentliche Lust, wenn man jene 
visuellen und olfaktorischen Reizmittel in Betracht zieht, die vorher die 
stärksten sexuellen Erreger gewesen waren, dann und nur dann kann man 
dieses komplizierte Rätsel lösen. 

Wir wollen vorerst einige Fragen aus unserer Kenntnis ähnlicher Phä¬ 
nomene beim europäischen Individuum aufwerfen. 

Welches ist diese äußerste Furcht, die sie zur Vollführung ihrer lang¬ 
wierigen Zeremonien und Riten getrieben hat? Es sollte uns nicht ver¬ 
wundern zu finden, daß unter Menschen, die offensichtlich Linga und Yoni 
huldigen, das Kastrationstrauma außerordentlich schwer ist und eine so mäch¬ 
tige Regression veranlaßt, daß eine Parallele unter den Europäern nur in iso¬ 
lierten und pathologischen Fällen aufzufinden ist. Wenn das Kastrations¬ 
trauma den Menschen veranlaßt, auf anale Interessen zurückzugehen, dann 
werden diese letzteren verstärkt durch die Energie des vergeblichen Ver¬ 
langens nach dem Inzest und durch die der ergänzenden Kastrationsängste, 
während die Mutter, die ursprünglich auf die primitiven Neigungen störend 
einwirkte, gefürchtet wird (der Hauptgrund dafür wird im Laufe der Unter¬ 
suchung klar hervortreten) als die Quelle und das Symbol der Kastration. 

Ähnlich stehen wir dem Problem gegenüber, warum die Hindu in 
charakterlicher Hinsicht sich so stark von anderen Rassen unterscheiden. 
Warum sind gerade sie nicht imstande, anale Tendenzen zu sublimieren, 
wie andere Rassen es mit Erfolg tun? Obwohl die Begründung teilweise 
in den oralen sadistischen Tendenzen zu finden sein mag, so erscheint 
der Ernst des Kastrationstraumas doch ohne Zweifel als der Hauptgrund . 1 
Und warum leiden sie schließlich unter solch einer entsetzlichen Angst vor 
der Befleckung? 

Die außergewöhnlichen Zeremonien, denen der Hindu in bezug auf 
Sauberkeit geradezu versklavt ist, sind religiöser Natur im Dienste der Re- 


1) Ich bin ebensosehr geneigt, einen zweiten Faktor zu mutmaßen (obgleich ich kein 
sehr großes Gewicht auf ihn lege), der in der Verschiedenheit der frühen Umgebung und 
Erziehung des Kindes liegt. Den europäischen Kindern wird Sauberkeit von Kindheit 
auf anerzogen, während die Mehrheit der Hindukinder in unsauberer und schmutziger 
Umgebung aufwächst. Die europäischen Kinder haben daher schon einen verhältnis- 
mäßig größeren Teil ihrer analen Interessen sublimiert als die Hindukinder, ehe sie 
durch Kastrationsängste in ihre anale Erotik zurückgeworfen werden; darüber hinaus 
haben sie noch den Vorteil ihrer sauberen Umgebung, die ihnen wiederum in dem 
Maße bei der Sublimierung hilft, als das Kastrationstrauma heilt. 














Hinclu-jMytliologie und Kastrationskomplex 


*47 


aktionsbildungen als eine positive Sublimierung ihrer anal erotischen Ten¬ 
denzen. Es ist offenkundig genug, daß die Hindu als Volk an sanitären 
Maßnahmen nicht interessiert sind. Es ist der besonderen Erwähnung wert, 
daß die Hindu in ihren Zeremonien die Begattung als die unanständigste 
und ekelerregendste ihrer natürlichen Funktionen ansehen. Die größten 
Säuberungsvorsichtsmaßregeln haben nach dem Verkehr zu erfolgen, was 
beweist, daß das stärkste Gefühl der Schuld und der Verunreinigung ebenso 
wie der größten Befleckung sich hier festgesetzt hat. Ein Brahmane muß 
seinen Mund viermal waschen, nachdem er Wasser getrunken hat, acht¬ 
mal nach der Ausleerung, zwölfmal nach der Nahrungsaufnahme und 
sechzehnmal nach geschlechtlichem Verkehr. 

Die extremen Formen des hinduistischen Asketismus sind in der Haupt¬ 
sache der Tatsache zuzuschreiben, daß eine allgemeine innere Wendung 
gegen das Ich aus einem starken, grausamen Wunsch gegen die Eltern und 
gegen das schuldbeladene Gewissen, das durch eine unendliche Vielfalt 
auferlegter Bestrafungen Befreiung zu erlangen sucht, stattfindet. Mit dem 
Anwachsen der Libido während der Pubertät kehrt das verdrängte Ver¬ 
langen nach dem Inzest der Ödipus-Phase wieder und unterliegt nochmals 
beträchtlichen Verdrängungen, die als direkter, verletzender Vorstoß gegen 
das neuerlich gebildete Ichideal in der Projektion ihrer Eltern, des großen 
Gottes Siva und seiner Gattin Varvati empfunden werden. Während die¬ 
jenigen, die keinerlei Bewußtsein entwickelt haben, nur unter dem Über¬ 
gewicht ihrer primären Emotionen stehen geblieben sind (sie werden zu¬ 
meist Revolutionäre, Diebe, Prostituierte usw.) und dazu neigen, sich mit 
der Gottheit Kali zu identifizieren, die nicht nur die Projektion ihrer pri¬ 
mären Agressivität darstellt, sondern auch die sekundäre sadistische Kom¬ 
ponente, die ihrerseits mit dem sexuellen Impuls eng verknüpft ist. 

B) Die Abspaltung 

Wir haben uns hier mit einem in der Mythologie so gewöhnlichen Mecha¬ 
nismus zu befassen, der in der psychoanalytischen Literatur als Spaltung 
bekannt ist. Diese Spaltung ist in mancher Hinsicht der Gegensatz zur „Ver¬ 
dichtung“, die für Träume charakteristisch ist, in denen die Attribute ver¬ 
schiedener Leute zu einer Figur zusammenfließen, während in der Mytho¬ 
logie eine Anzahl von Göttern und Göttinnen existiert, von denen 
ein jedes die Projektion besonderer Attribute früher Libido¬ 
objekte darstellt. Diese können, grob genommen, in zwei Gruppen ge- 









1 48 


C. D, Daly 


teilt werden, und zwar in diejenigen, die die Projektion primärer aggressiver 
und Haßtendenzen sind, und in die, die die Projektion der Ichidealtendenzen 
der Liebe und des Verlangens Eltern und nahen Verwandten gegenüber dar¬ 
stellen. Wir werden uns hier hauptsächlich mit den ersteren zu befassen 
haben. Von den vornehmsten Hindugottheiten wird angenommen, daß sie 
eine Doppelnatur oder zwei Charaktere besitzen — einen in Ruhe befind¬ 
lichen und einen aktiven; letzterer wird Sakti genannt und als das Weib 
oder die weibliche Hälfte des göttlichen Wesens, auf der linken Seite be¬ 
findlich, vorgestellt. Es ist nunmehr zu beachten, daß gerade, als die männ¬ 
liche Gottheit Siva unter ihrer Person die Attribute und Funktionen aller haupt¬ 
sächlich wichtigen Gottheiten zusammenfaßte, und zu dem „großen“ Gott 
(Maha-deva) wurde, d. h. zum strengsten und erhabensten Gott des hinduisti- 
schen Pantheons, daß gerade da das weibliche Gegenstück „die eine große 
Göttin (devi, maha-devi) wurde, die mehr Sühnopfer verlangte als irgend¬ 
eine andere Göttin, und die in gewissem Ausmaß alle anderen Manifestationen 
der Tri-murti darstellte und alle ihre Funktionen in sich vereinigte. Aus 
eben diesem Grunde behauptet man von den Weibern des Brahma und 
Vishnu , daß sie ihre Töchter seien. Dem Vayu-purana zufolge war nicht 
nur Siva selbst eine zwiefache Natur, männlich und weiblich, sondern 
auch seine weibliche Natur war zweigeteilt, und zwar in die eine weiße 
Hälfte oder Asita und in die andere schwarze Sita, von denen jede 
wiederum vielfältig war. Die weiße oder milde Natur teilte sich in die 
Sakti , genannt Uma, Gauri , Lakshmi Sarasvati usw., die schwarze oder 
strenge Natur in solche, genannt Durga , Kali Candi , Camunda usw. Kurz, 
alle anderen Saktis scheinen durch die Sakta in der Sakti oder Energie 
des Siva inbegriffen zu sein, die sich unter Umständen zu ungezählten 
getrennten Manifestationen und Personifikationen aller natürlichen, physi¬ 
schen, moralischen und intellektuellen Kräfte entwickeln können. Diese 
Kräfte oder besser diese Gott gleichgemachten Personifizierungen, die über 
ihnen herrschen, werden in verschiedene Klassen geteilt, wie Manavidyas 
(Quellen des großen Wissens), Matris (göttliche Mütter) und Yoginis (Gott¬ 
heit mit magischen Kräften usw .). 1 Monier Williams ist der Meinung, daß 
der Grund für die Oberherrschaft der Kali über die Hindu in einer Furcht 
vor der Zerstörung liegt. In seiner Analyse und in weiteren Untersuchungen 
hoffen wir, die Genesis dieser Furcht vor der Zerstörung aufzeigen zu 
können. 


1) Monier Williams: Hinduism. S. 123, 124. 



















Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 


149 


Nach Ernest Jones entspricht die fortschreitende Abspaltungsreihe dem 
weiteren Stadium der Verdrängung . 1 

Der folgende hinduistische Mythos ist ein interessantes Beispiel für die 
Kastration des Vaters durch den Sohn, indem sie nämlich die Abspaltung 
des Vaters zeigt. Sie wird von der Anugrahamurti- Form des Siva erzählt, 
in der er Gnade gegenüber seinen Untergebenen walten läßt, und illustriert 
besonders gut die ambivalente Natur des Sohnes zum Vater: 

„In dem Dorfe Seynatur am Ufer des Flusses Manni im Lande Cholu lebte 
ein frommer und gelehrter Brahmane namens Yajnadatta von Kasyapagotra . 
Er hatte einen Sohn mit Namen Vicha-rasarman , der von großer Intelligenz 
war. Eines Tages, als der Junge zur Schule ging, sah er, wie ein Kuhhirt eine 
Kuh, jenes heilige Tier, das verehrt wird, in brutaler Weise mißhandelte. Gereizt 
wegen des Verhaltens jenes Kuhhirten, nahm es der junge Vicha-rasarman auf 
sich, die Kühe des Dorfes zu hüten, worein die Dorfbewohner willigten. Von 
diesem Tage an waren die Kühe glücklich und begannen viel mehr Milch zu 
geben als ihre Euter halten konnten, worauf die überflüssige Milch auszufließen 
begann. Als Vicha-rasarman sah, daß die Milch verschwendet wurde, sammelte 
er sie in Gefäßen, setzte aus Sand geformte Lingas auf und begann sie mit 
der überflüssigen Milch zu baden unter dem Anzeichen intensiver Frömmigkeit. 
Der Kuhhirt, der seine Stellung wegen des Br ahminen jungen verlor, befand 
das als einen geeigneten Grund, um ihn zu beschuldigen. Er begab sich un¬ 
verzüglich nach dem Dorf zurück und berichtete den Bewohnern, daß der Knabe 
Vicha-rasarman mutwillig die Kühe melke, die Milch mit seinen Kameraden 
austrinke und den Best über kleine Sandhügel ausgieße. Da die Klage in dieser 
Weise zu oft wiederholt wurde, machte sich einer der Dorfbewohner auf, um 
selbst zu sehen, was an der von dem Kuhhirten vorgebrachten Anklage wahr 
sei; und zu seinem Erstaunen sah er, wie der junge Vicha-rasarman tatsächlich 
Milch auf kleine Sandhügel ausgoß, aber er ließ sich nicht die Zeit, die Sache 
genauer zu untersuchen und zu sehen, daß es nur die überflüssige Milch war, 
die der Knabe in seiner tiefen Ehrerbietung vor Siva dem aus Sand gebildeten 
Symbol der Linga opferte. 

Sofort beklagte er sich bei dem Vater des Knaben Yajnadatta über die 
Schlechtigkeit seines Sohnes. Auf diese Klage hin begab sich der Vater gleich¬ 
falls eines Tages nach dem Flußufer, um zu sehen, was sein Sohn da tat und 
fand ihn gerade dabei, Milch auf den Sand zu verschütten. Er näherte sich 
ihm und stand nahe bei ihm, aber Vicha-rasarman , ganz versunken in seine 
Hingabe, bemerkte seinen Vater nicht. Als er die offensichtliche Untat seines 
Sohnes sah, zerstörte Yajnadatta im Zorn die Sandhügel, worauf der Sohn aus 
seinen Träumereien erwachte und ihm mit der Axt das Bein abschlug , 2 das den 
Gegenstand seiner Verehrung gestört hatte, so daß Yajnadatta fünftel. 


1) Ernest Jones: Essays in applied Psycho-Analysis. S. 75, 76. 

2) Dies bestätigt die psychoanalytische Deutung ähnlicher Phänomene in Träumen, 
die stets das Symbol der Kastration sind. 








l5o C. D. Daly 


Siva, dem die Ergebenheit des Knaben gefiel, erschien darauf mit seinem 
Weibe Parvati und überschüttete ihn mit seiner Gnade, versprach, ihn hin¬ 
fort an Sohnes statt anzunehmen, umarmte ihn und machte ihn zu seinem Haus¬ 
hofmeister. “ 1 

Versuchen wir nun eine kurze Deutung dieses Mythos: zuerst sieht der 
Knabe Vicha-rasarman (von großer Intelligenz, wie bemerkt werden muß; 
finden wir doch oft in der Analyse von Träumen diese Überkompensation 
für die Minderwertigkeit der Kindheit ) 2 wie ein Kuhhirt (Vater) in brutaler 
Weise eine Kuh, ein geheiligtes Tier (Mutter), mißhandelt, was einer sadisti¬ 
schen Auffassung des Koitus entspricht. Er nimmt die Pflicht auf sich, die 
Kühe zu hüten (Inzest und Verstoßen des Vaters). Er gießt Milch auf das 
Symbol des Siva . Vielleicht dürfen wir dies als Bestätigung ansehen für 
die Übertragung früherer Libidobefriedigung von der Brustwarze zum Penis. 
Er beginnt dann seinen Genitalien seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, zu 
onanieren und schließlich viel über seines Vaters außergewöhnlich großen 
Phallus nachzudenken, der für ihn die Quelle des Neides ist; während er 
seinem Vater zürnt, der auf beides störend und hemmend einwirkt kraft 
seiner autoerotischen Gelüste, und der Beziehungen zu seiner Mutter unter¬ 
hält. Daraufhin kastriert der Sohn in seiner Phantasie den Vater. Das Schuld¬ 
gefühl wird beschwichtigt durch die Einführung der projizierten Ichideale 
der Eltern, des großen Gottes und der Göttin. Der Gott nimmt ihn in 
Gnaden auf, umarmt ihn, adoptiert ihn usw. 

Das primäre Verhalten, das des Knaben Eifersucht auf seines Vaters Be¬ 
ziehungen zur Mutter zeigt, sein Neid gegen des Vaters Penis und der Wunsch 
zur Kastration zeichnen sich hier klar ab . 3 * 5 

Er ist aktiv und aggressiv seinen Untergebenen gegenüber, wie dem 
Kuhhirten, und passiv und unterwürfig gegenüber Höhergestellten, dem 
Ichideal, dem Gott. Seine Verehrung der Linga und deren aktive Be- 
schützung beweist seine Ängstlichkeit in Verbindung damit; während seine 
Furcht vor der Gemeinde, nämlich daß der Brahmine die Angelegenheit 
den Dorfbewohnern hinterbringen könne, angedeutet wird. Der Mythos 
sorgt nicht nur für einen Abfluß der verpönten vatermörderischen Impulse 

1) Gopinath Rao: Elements of Hindu Iconography. Bd. II, Teil I, S. 245—247. 

2) Diese Überkompensation des Minderwertigkeitskomplexes findet sich bei den 

Hindu. Der Hindu selbst glaubt, daß er intellektuell allen anderen Kassen überlegen 

sei, indem er die Abneigung anderer Völker ihrem Neid und Eifersucht zuschreibt. 
Berkeley-Hill op . cit. 

5) In einem Traum ermordet X. seinen Vater, schneidet ihn so in Stücke, daß 
der aufrechte Penis des Vaters in seiner Hand bleibt. 





















Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 


i 5 i 


des Unbewußten, indem klar gezeigt wird, wie der Penisneid als Resultat der 
Inzestwünsche in bezug auf die Mutter entsteht; sondern er gibt auch eine 
definitive Zustimmung und Befreiung von irgendwelchen Schuldgefühlen, 
indem der Inzestwunsch in diesem Falle als lobenswert, als eine religiöse 
Zeremonie dargestellt wird. 

Die Spaltung des Ich zeigt sich in diesem Mythos ganz klar. Die aggressive 
Seite der Natur des Knaben, die auf einer niedrigen Stufe bleibt, erhält 
einen sadistischen Anstrich, während die zärtliche Seite mit Gott identifiziert 
wird und im masochistischen Licht erscheint. 


C) Kurze Analyse gewisser Bestandteile des Hinduismus 

Freud zeigt in seinem „Totem und Tabu“, daß das erste Verbrechen 
im ersten Stadium ein Resultat des Neides ist, im zweiten der Homosexualität 
und im dritten der passiven Unterwerfung unter Gott (Totem usw.), also 
der Minderwertigkeitsgefühle. 

Der Hindu leidet unter einem Vaterkomplex, der aber, soweit ich gegen¬ 
wärtig sehe, abgesehen von seiner Intensität kein neues Material zu unserer 
schon vorhandenen Kenntnis dieses Gegenstandes beiträgt; so daß ich mich 
eigentlich vorerst mit der mütterlichen Seite dieses Elternkomplexes 
beschäftigen möchte. Scheint es mir doch, als ob die Göttin Kali den 
Schlüssel bietet zu gewissen Phänomenen, die uns in so weitgehendem 
Maße vor Rätsel gestellt und sich unserer Forschung entzogen haben. Ich 
möchte die Aufmerksamkeit auf gewisse Gebräuche lenken, die einiges 
Licht auf diesen Gegenstand zu werfen geeignet sind, da sie anzudeuten 
scheinen, daß die Hindus unter einem anormalen unbewußten Widerwillen 
und Haß gegen die Frauen leiden. Ich werde mich jedoch mit ihnen nur 
kurze Zeit befassen . 1 

a) Mädchenmord. 

b) Sati. Die Sitte, nach der die Weiber der Hindu sich selbst auf dem 
Begräbnisscheiterhaufen ihrer Männer opfern. 

c) Johur. Eine Sitte, nach der die Hindu bei Kriegen der Stämme unter¬ 
einander eher ihre Weiber selbst opfern, als sie Gefahr laufen zu lassen, 
durch den Feind befleckt zu werden. 


l) Der Grund dafür, daß die Aufmerksamkeit auf diese Gebräuche gelenkt wird, 
liegt hauptsächlich darin, daß im Hinduismus ein gewisses Element in einer aus¬ 
gesprocheneren Form existiert als hei den europäischen Rassen. Hier ist nur eine 
grobe und oberflächliche Analyse angestrebt worden. 








l52 C. D. Daly 


Nach Todd 1 sind Statistiken vorhanden, die zeigen, daß durch diese 
Sitte ganze Stämme ausgerottet worden sind. 

Die Hauptpunkte unseres Interesses sind kurz die folgenden: 

a) Was den Kindesmord angeht, so ist die Tochter im Kindesalter unter 
Übergehung des allen Rassen gemeinen Ökonomischen Faktors für das 
Unbewußte der Hindu eine doppelte Drohung. In erster Linie hat der 
Hindu dieses beschämende Etwas, ein Weib, hervorgebracht, und zweitens 
wird er, wenn er seiner Tochter zu leben erlaubt, bei ihrer Verheiratung 
einen schweren Verlust zu tragen haben, und deshalb wird sie in dieser 
Weise die Drohung, die ein weibliches Wesen ihm an tun kann, nämlich 
die Kastration, realisieren. Besonders in diesen Punkten scheint das Motiv 
von dem abzuweichen, was bei anderen Nationen beobachtet wurde. 

b) Sati. Die psychologischen Quellen dieser Sitte liegen höchstwahr¬ 
scheinlich erstens in der Furcht des Hindus vor der Befleckung seines 
Weibes, und zweitens in dem Haß gegen die Mutter, der Quelle seines 
alten Inzestkonfliktes. Uma (Kali) war zu einer gewissen Zeit ihrer Existenz 
als Sati bekannt mit einer Anspielung auf den Mythos, der besagt, daß, 
als ihr Vater ihren Gemahl geringschätzig behandelte, indem er ihn nicht 
zu einem großen Opfer einlud, das er veranstaltete, sie sich aus freiem 
Willen in die Flammen stürzte. Die Psychoanalyse läßt uns angesichts 
einer solchen sekundären Bearbeitung tiefer blicken. Wir wissen, daß der 
Sohn oft die Mutter haßt, weil sie sich dem Vater hingibt, daß er seine 
Mutter für eine Hure hält und grausame und schlimme Wünsche gegen 
sie hegt. In dem Ichideal wird dies umgeformt in den Wunsch, die Mutter 
soll sich aus Liebe zu ihm opfern, und in diesem Wunsch werden auch 
die Ichstrebungen nebstbei befriedigt. Ich bin daher der Ansicht, daß dieser 
Mythos mehr oder weniger wie folgt zu deuten ist: 

Da die Mutter den Sohn geringschätzig behandelt, indem sie sich im 
geschlechtlichen Verkehr dem Vater hingibt, wünscht der Sohn in seinem 
Zorn und Ärger, sie möge in den Flammen umkommen. Mythen arbeiten 
gleicherweise wie Träume oft genau mit dem Gegenteil. Damit gelangen 
wir zu der Phantasie des Beleidigten, sterben oder sich selbst töten zu 
wollen, um die geliebte Person zu bestrafen, die ihn verletzt hat. 

Die Göttin stellt sich als frühere Sati beim Daksha's Opfer ihrem Gemahl 
in zehn feierlichen Gestalten dar, als dashama havidya — Kali, Bagala , 
Chhinnamasta , Bhuvaneshvari , Matanzini , Shorosi, Dhumavati , Tripura- 


1) Todd: Rajosthan, Bd. I. 



















HmJu-Mytliologie und Kastrationskomplex i53 


sundari , Tara und Bhairavi; — und sie tut dies, um ihrem Gemahl ihre 
Macht zu zeigen, der ihrem Wunsche nicht willfahren hat, d. h. ihr 
erlaubt hatte, dem Daksha -Opfer beizuwohnen. In Scham und Sorge gibt 
sie bei dem Opfer ihr Leben auf, da ihr Vater ihren Gemahl so behandelt 
hat. Ihr Gemahl Siva nimmt den Körper hinweg, tragt ihn immer mit 
sich, bleibt völlig verzweifelt und verbringt sein Leben in Kummer und 
Gram. 

Um die Welt vor den bösen Mächten zu bewahren, die aus der Ent¬ 
ziehung der göttlichen Kontrolle erwuchsen und erstanden, schnitt Vishnu 
nun den Körper in fünfzig Stücke, die auf die Erde an die verschiedensten 
Orte fielen, an denen die Göttin unter den verschiedensten Namen ver¬ 
ehrt wird. Ihr Yoni fiel auf den geheiligten Schrein von Kamrup in Assam, 
auf dem nach dem Glauben der Hindu die Menstruation der Erde sich 
im Monat Assar manifestiert . 1 

Für uns sind hier einige Einzelheiten von Interesse, selbst wenn sie keine 
Beweise für unsere Theorien enthalten. Erstens, daß die Frau ihren Mann 
mit der Beschreibung und Erläuterung dieser schrecklichen Formen ein¬ 
zuschüchtern versucht, die nach des Verfassers Meinung nicht nur die 
Kastration symbolisieren, sondern auch die ursprüngliche Todesangst, die 
aus dem Menstruationskomplex des jungen Mannes erwächst; denn dieses 
sind die blutigsten der zahlreichen Manifestationen der Mutter, und man 
muß beachten, daß es ein Resultat ihres unbefriedigten Wunsches ist, 
daß sie sich vor Siva selbst so darstellt. 

Ich bitte meinen Leser, diese Gedankengänge bei der Lektüre der zweiten 
und dritten Studie dieser Serie gegenwärtig zu halten. Was den Standpunkt 
der Frau anlangt, so möchte ich sagen, daß die Tatsache, daß der Mann 
sich der Frau während ihrer Periode vorenthält, einer der 
primären Gründe ihrer Ambivalenz ist. Ebenso wird man bemerkt 
haben, daß während der Zeit, in der die göttliche Kontrolle dieses Gottes 
fehlte, die bösen Kräfte in der Welt gewachsen sein sollen, ein Umstand, 
der sich der Freudschen Theorie von der Entwicklung des Psychischen 
außerordentlich gut einfügt. In Wahrheit kränkt der Vater nicht sein Weib, 
sondern seinen Sohn, indem er ihn nicht einlädt, an den sexuellen Orgien 
mit seiner Mutter teilzunehmen, wie auch die Mutter den Sohn durch 
die Manifestation ihrer Menstruationsperioden schreckt, eine fürchterliche 
Mahnung an die Strafe, mit der er belegt wird, wenn er das Inzestgesetz 


U Avalon: Hymns to the Goddess. S. 8, 9. 









verletzt. Diese Deutung können wir uns gestatten, wenn wir die Theorie 
annehmen, daß diese frühen Mythen in sich den Kern der Verdrängungen 
des noch viel früheren primitiven Menschen bergen. 

c) Johur. Es wird durch ähnliche unbewußte Gedankengänge wie die 
oben angeführten motiviert, namentlich durch die Furcht vor der Be¬ 
fleckung durch den Feind. Wenn wir beobachten, daß diese Sitte ihre 
Auswirkung in den Kämpfen der Stämme untereinander fand, so finden 
wir dafür nur eine ähnliche Rechtfertigung, wenn wir annehmen, daß die 
Feinde Barbaren waren; besonders da ein Heiratssystem an der Tagesordnung 
war, das das Vermächtnis früher stattgehabter Exogamie zu sein schien, ein 
System, das Todd für einen mit allen Kräften betriebenen Kindesmord 
hält. Er sagt: „Nicht nur das Heiraten der Rajputs untereinander wird ver¬ 
hindert, und zwar in Familien desselben Klan (Campa), sondern auch unter 
den Leuten des gleichen Stammes (Goti)\ und mögen Jahrhunderte über 
diese Trennung hinweggegangen sein und abgespaltene Zweige ihr ur¬ 
sprüngliches Patronymikon verloren haben, so können sie trotzdem nie¬ 
mals dem ursprünglichen Stamm wieder aufgepfropft werden. Dafür ein 
Beispiel: obgleich die beiden großen Unterteilungen der Gehloten seit 
acht Jahrhunderten getrennt sind, und die jüngere, die Seesodia , über 
die ältere, die Aharya, die Oberhand behalten hat, und eine jede ihren 
eigenen Staat regiert, wurde eine Heirat der Zweige untereinander als 
Inzest aufs höchste verurteilt; der Seesodia ist noch immer der Bruder 
des Aharya und sieht jedes weibliche Wesen dieser Rasse als seine 
Schwester an .“ 1 

Es scheint nun, als ob der allgemein angenommene Grund, und 
zweifellos der den Rajsputen bewußte, der war, die Ehre ihrer Frauens¬ 
leute vor der Befleckung durch den Feind zu retten. Aber die Tatsache, 
daß dieses Opfer schon vorher, gewissermaßen als Resultat eines Ver¬ 
nichtungskampfes ausgeführt wird, ist keine gewöhnliche Erscheinung im 
Leben der Völker und erinnert uns an die unbewußte Einstellung des 
Sohnes Vater und Mutter gegenüber, der sich einerseits dem Vater gegen¬ 
über machtlos fühlt, anderseits aber auf seine Mutter, die sich einem 
Feinde hingibt, eifersüchtig ist, und in seiner Phantasie eher sie töten 
würde, als sie dem Vater zu überlassen. Dieses unbewußte Motiv ist dem 
der Geliebtenmorde ähnlich, wie man sie häufig in den Zeitungen ange¬ 
führt findet. 


1) Todd: Rajasthan. Bd. I, S. 61. 
























Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 


i55 



ixierung in l 


in ihnen 


Als Ergänzungsstück zu dem bereits erwähnten Mythos findet sich ein 
anderer, der Bezug auf die Kastration des Sohnes durch den Vater nimmt 
und sehr überzeugend ist, weil er eine direkte Rückkehr zur Analerotik 
und zu einer Fixierung in ihr zeigt als Resultat eben dieser Kastration durch 
den Vater. 

Ganesa , der Gott des Wohlstandes, mit dem Elefantenhaupt, wurde aus¬ 
drücklich durch Uma ( Parvati —Ichideal—Göttin) aus den Unreinheiten ihres 
Körpers geschaffen, und zwar gab sie ihm das Leben, indem sie ihn mit 
dem Wasser des Ganges benetzte. Sie setzte ihn am Eingang ihrer Höhle 
nieder, um Eindringlinge fernzuhalten, während sie badete. Siva kam dazu, 
und als er versuchte, die Höhle auf der Suche nach Uma zu durchforschen 
und durch den Wächter gehindert wurde, schlug er in seiner Wut dem Knaben 
den Kopf ab. Dann entdeckte er sie, und sie sagte ihm weinend, daß er 
ihr Kind getötet habe. Um sie zu versöhnen, beschloß der Gott, den Knaben 
wieder zum Leben zu erwecken und befahl, daß man ihm den ersten Kopf, 
den man erlangen könne, bringen solle. Dieser erste Kopf stellte sich aber 
als ein Elefantenhaupt heraus; Siva setzte ihn auf den Rumpf auf und 
erweckte so seinen Sohn wieder zum Leben. 

Dieser Mythos ist einer ganzen Anzahl von Träumen sehr ähnlich. Das 
Kind wird geboren aus den Unreinheiten, die aus dem Körper der Mutter 
herrühren, — anale Konzeption der Geburt, — es nimmt seines Vaters Platz 
als Hüter der Tugend seiner Mutter ein, wird kastriert durch den Vater, seinen 
in der Gunst der Mutter allmächtigen Rivalen, erhält aber auf die Bitte des 
letzteren hin das polyphallische Symbol (das Elefantenhaupt) auf dem Wege 
der Kompensation, da der Elefant selbst anscheinend ein Vatersymbol ist. 
(Kopf, Rüssel und Fangzähne sind sämtlich männliche phallische Symbole.) 
Ganesa ist daher eine passende Form für den Gott des Wohlstandes, der aus 
den Unreinheiten ( faeces , Gold ) 1 geschaffen ist, zum Hüter der Porta seiner 
Mutter wird, durch die Kastration wehrlos gemacht und schließlich wieder 

1) Aus der Tatsache, daß er aus Unreinheiten (faeces) geboren wurde, und daß 
sein Haupt durch ein polyphallisches Symbol ersetzt worden ist, können wir eine 
reiche Quelle des polyphallischen Symbolismus herleiten. Es sind besonders drei Um¬ 
stände in Verbindung mit ihren Exkrementen, an denen Kinder ein besonderes Interesse 
zeigen, das sind: Menge, Größe und Anzahl, wenn wir die Frage der Farbe, des Ge¬ 
ruchs und der Konsistenz beiseite lassen, die bereits von Jones angemessen besprochen 
wurde. 











i66 


C. D. Daly 


hergestellt wird durch den Empfang von des Vaters Phallus. Selbstverständ¬ 
lich wird er als Gott des Erfolges versöhnt mit seinem Körper als Symbol 
der Macht und mit seinem fetten Leib als dem Symbol des Wohlstandes 
der Zufriedenheit und der Fruchtbarkeit. 

Das Fortbewegungsmittel dieses Gottes ist die Ratte, und Ratten werden 
allgemein oft als Götter begleitend angeführt und gezeigt. Von besonderem 
Interesse für uns ist nun aber die anale Konzeption der Geburt und 
die Rückkehr zur Analerotik als einem Resultat des Kastrations¬ 
traumas. Ich brauche dabei nicht in die Fragen des Wohlstandes, Reich¬ 
tums und des Geldes und in ihre Reziehung zur Analerotik einzudringen, 
da doch über diesen Gegenstand erschöpfende Analysen bereits von Freud, 
Ferenczi, Jones u. a. veröffentlicht worden sind, deren Stoff und Gegen¬ 
stand den Lesern dieser Zeitschrift wohl bekannt sein dürfte. 

z) Ambivalente Einstellung zu den weiblichen Genitalien 

Ein intensives ambivalentes Verhalten des Mannes zu den weiblichen 
Genitalien in der Kindheit des Menschengeschlechtes entspricht einem ähn¬ 
lichen Stadium in der Entwicklung des Kindes von heute. Abraham lenkte, 
als er von der Anziehungskraft sprach, die in des Knaben Verhalten dem 
Körper der Mutter gegenüber vorherrschend ist, die Aufmerksamkeit auf 
die Tatsache, daß diese Vorgänge in einem frühen Stadium einer Mischung 
aus Neugier und Furcht gleichkommen, mit anderen Worten: ambivalente 
Gefühle im Kinde erwecken. 

Wir wollen nunmehr mit Rezug auf die heutigen Wilden auf das ent¬ 
sprechende Verhalten den weiblichen Genitalien gegenüber hin weisen, ein 
Verhalten, welches während der Menstruationsperiode sich in solch über¬ 
triebenen Formen äußert. Abraham 1 hat gezeigt, daß das Kind allmählich 
zu einer Libidobesetzung seines Liebesobjektes als Ganzes gelangt, wenn 
in ihm zielgehemmte Libidoströmungen zum Liebesobjekt zum Ausdruck 
kommen, wie z. R. die Gefühle der Zuneigung, der Ehrerbietung usw. In 
der normalen Entwicklung gehen diese Gefühle erst auf den Vater über, 
dann auf nahestehende Personen der Umgebung, bis sie schließlich die 
Gemeinschaft als Ganzes umfassen. Abraham geht mit seiner Auffassung 
so weit, zu behaupten, daß die definitive Charakterbildung eines Individuums 
notwendigerweise bedingt, daß es in seinen Objektrelationen eine Stufe 

1) Abraham: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung (III. Zur Charakter¬ 
bildung auf der „genitalen“ Stufe). Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Nr. XV. 


















HinJu-Mytliologie und Kastrationskomplex 


i 5 / 


erreicht, „auf welcher das Genitalorgan des anderen Geschlechts nicht mehr 
Gegenstand einer ambivalenten Affekteinstellung ist, sondern bereits als 
Bestandteil einer als Ganzes geliebten Person anerkannt wird.“ 

Freud hat in seinem „Totem und Tabu“ als erster eine definitive Theorie 
der psychischen Evolution geliefert, aber er wußte wohl um eine bestimmte 
Lücke und ließ es durchblicken, daß eben sie durch die Lösung des Ge¬ 
heimnisses ausgefüllt werden könnte, das die Muttergottheiten umgibt. 
Nachdem er seine bekannte Theorie von der Apotheose des Vaters, die der 
vorangegangenen Vernichtung durch den Sohn entspringt, erläutert hat, 
sagt er: „Wo sich in dieser Entwicklung die Stelle für die großen Mutter¬ 
gottheiten findet, die vielleicht allgemein den Vatergottheiten vorhergegangen 
sind, weiß ich nicht anzugeben“ (Ges. Schriften, Bd. X,S. 180). Später schreibt 
er in demselben Werk: „Wir haben so oft Gelegenheit gehabt, die Gefühls¬ 
ambivalenz im eigentlichen Sinne, also das Zusammentreffen von Liebe und 
Haß gegen dasselbe Objekt, an der Wurzel wichtiger Kulturbildungen auf¬ 
zuzeigen. Wir wissen nichts über die Herkunft dieser Ambivalenz. Man 
kann die Annahme machen, daß sie ein fundamentales Phänomen unseres 
Gefühlslebens sei. Aber auch die andere Möglichkeit scheint mir beachtens¬ 
wert, daß sie, dem Gefühlsleben ursprünglich fremd, von der Menschheit 
an dem Vaterkomplex (respektive Elternkomplex) erworben wurde, wo die 
psychoanalytische Erforschung des Einzelmenschen heute noch ihre stärkste 
Ausprägung nachweist“ (Ges. Schriften, Bd. X, S. 189). 

Man wird sehen, daß meine Theorie von der Bedeutung des Menstrualtabus 
den Entdeckungen nicht widerspricht, zu denen Freud auf objektivem Wege 
in seiner Neurosenforschung gelangte, sondern sie vielmehr stützt. Der Haß 
gegen den Vater, der von jenem allmählich auf alle Menschen überging, 
brachte die großen Gesetze mit sich, wie „Du sollst nicht töten“ oder „Du 
sollst nicht ehebrechen“, die des Menschen Todesfurcht in direkte Beziehung 
zu seinem größten Wunsch bringen, und die nicht nur aus der Verschiebung 
seines primär-ambivalenten Verhaltens vom Manne zur Frau resultieren, im 
besonderen ihren Genitalien zur Zeit des Gebärens gegenüber, sondern zu 
einem exzessiven Anwachsen von Furcht und Haß führen. Der daraus ent¬ 
springende vergebliche Wunsch zeigt vielleicht den ersten Anfang der Hysterie 
im Menschen an. 

Die Furcht vor der Destruktion, die in den periodischen Manifestationen 
der Frau ihren Ursprung nimmt, sorgt für die Reaktion, die den Menschen 
endlich in der homosexuellen Gemeinschaft zusammenschließt, wie sie bis 
auf die heutige Zeit überkommen ist. 







158 C. D. Daly 


Freud zeigte schon 1908, daß mit der Einschränkung der sexuellen Be¬ 
tätigung bei jedem Volke ganz allgemein eine Zunahme der Lebensängstlichkeit 
und der Todesangst einhergeht, was der Fähigkeit, Freude zu empfinden, 
die jeder Irdische besitzt, stört und die Bereitwilligkeit, Todesgefahr auf sich 
zu nehmen aufhebt. 1 

Die Tendenz dieser Einschränkungen bringt ohne Zweifel eine Wieder¬ 
kehr verdrängter Todesängste mit sich, deren Ursprung in den Menstruations¬ 
tabus der Primitiven zu finden ist — nämlich die aufgespeicherte Energie, 
die auf eine primitivere den prähistorischen Perioden des Lebens der Indi¬ 
viduen angehörenden Ebene zurückkehrt. 


II 


Die k mduistisdie Göttin Kali 


A) Allgemeine Beschreibung der Göttin und ihrer Attribute 


Eine der frappantesten Erscheinungen in der Mythologie ist die der 
hinduistischen Göttin Kali , die als alles umfassende Mutter verehrt wird, 
eine Form Parvatis, der Berggöttin (.Bhagavait oder Durga ), deren Symbol 
der Yoni ist. Sie ist die Göttin des Schreckens, der Zerstörung, der Nacht 
und des Chaos; sie ist das Weib Sivas (dessen Symbol die Linga ist) und 
stellt gewisse Attribute der personifizierten weiblichen Hälfte der Energie 
dieses Gottes dar. Sie ist der Hauptgöttin der Saktas oder der Verehrer des 
aktiven energieerfüllten Willens Gottes (Sakti). Von den Hauptgottheiten 
der Hindu wird zuweilen angenommen, daß sie eine Doppelnatur, mit 
anderen Worten zwei Charaktere, einen ruhigen und einen tätigen, besitzen. 
Der Tätige wird Sakti genannt, wozu zu sagen ist, daß das tätige schöpferische 
Prinzip, sei es, daß es sich in der Schöpfung, in der Erhaltung oder in der 
Zerstörung dartut, von denen ein jedes das andere mit sich zieht, in späteren 
Stadien des Hinduismus eine lebende, sichtbare Personifikation wurde. „An 
einigen Orten der Verehrung, besonders an denen der Jains, wird von der 
Sakti angenommen, daß sie sich in einem Wasserbehälter darstellt, der als 
ihr Emblem errichtet ist.“ 2 


S. 


1) Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität (Ges. Schriften, Bd. V, 
167). 

2) Wilson, Essays on the religion of the Hindus. Bd. I, S. 523. 

















Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 169 


w Da die Zerstörung gefürchteter war als die Neuschaffung oder Erhaltung, 
wurde das Weib des Gottes Siva , das über der Auflösung und Zerstörung 
waltete und Kali (Bhawari , Durga) hieß, für die große Mehrheit der Ver¬ 
ehrer, deren Religion sich in abergläubischen Ängsten auswirkt, die wichtigste 
Persönlichkeit im ganzen Pantheon.“ 1 

Die Hindu verehren eine Mischung von männlichen und weiblichen 
Prinzipien nicht nur als notwendige Ursache einer Produktion und einer 
Reproduktion, sondern als eine Quelle der Kraft, der Stärke und der erfolg¬ 
reichen Unternehmungen. Unter den vielen Formen ist diejenige, die hier 
besonders Beachtung findet, als Kali-JMa bekannt, als das schwarze Weib 
oder die schwarze Mutter. Sie ist die schrecklichste von allen, und das Bild, 
das wir hier wiedergeben, ist dasjenige, auf dem sie für gewöhnlich in 
Basaren Indiens und Ceylons zu sehen ist. Die Göttin wird zumeist als 
schwarzes oder blaues Weib mit vier Armen abgebildet, in einer Hand hält 
sie das Haupt des von ihr erschlagenen Riesen, während sie mit der anderen 
das Blut in einem Becher oder in einer Schüssel auffängt; eine dritte Hand 
hält das vertilgende Schwert, während die vierte nach unten auf die Zer¬ 
störung um sie herum hinweist. Zuweilen hält die untere Hand ein Haupt, 
während die obere ein Schwert hält, und in diesem Falle ist die vierte Hand 
hocherhoben. Man nimmt dann an, daß das eine Anspielung auf die zu¬ 
künftige Regeneration des Volkes durch eine neue Schöpfung darstellen soll, 
während andere Autoren vermuten, daß sie mit diesen beiden Händen ihre 
Anbeter ermutigt, indem sie mit der einen Hand einen Segen austeilt, mit 
der anderen aber die Furcht untersagt (wobei die Korrelation zwischen Liebe 
und Furcht beachtet werden muß). 

Zuweilen wird sie mit menschlichen Körpern als Ohrringen dargestellt, 
während an anderer Stelle, wie in der Abbildung, die hier wiedergegeben 
wird, sie mit Elefantenhäuptern dargestellt wird. Sie trägt fast unver¬ 
änderlich ein Halsband von Menschenköpfen oder Schädeln. 

Um die Hüften hat sie einen Ring von Menschenhänden (Unter¬ 
arm und Hand), die sie ihren besiegten Feinden abgeschlagen hat. 
Die verwundete Oberfläche wird immer besonders hervorgehoben. 

Sie tanzt auf der Leiche ihres Gemahles Siva , während ihre Zunge zu¬ 
weilen, vom Blut der erschlagenen Riesen tropfend, weit heraushängt, wie 
man annimmt aus Reue über die Respektlosigkeit, die sie ihm gegenüber 
gezeigt hat. Der gewöhnlichen Version dieses Mythos gemäß, sagt man, 


1) Monier Williams: Indian Wisdom, 4. Edition, S. 525, 524. 










6 o 



C. D. Daly 


daß sie nach einem Sieg über die Riesen vor Freude verrückt wurde und 
soviel tanzte, daß sogar die Erde erzitterte und bebte, und die Götter 
nahten und Siva ersuchten, ihr Einhalt zu gebieten. Sie aber war so toll 
vor Erregung wegen ihres Sieges über die Riesen, deren Blut sie getrunken 
hatte, daß sie ihn nicht hörte und er sich also zu den Erschlagenen legte. 
Kali fuhr fort zu tanzen, bis sie ihres Gemahls gewahr wurde, der zu 
ihren Füßen lag. Das Bild zeigt, wie Siva an der Erde in einer Blutlache 
liegt, in deren rechten Hand eine Trommel, das allgemeine Attribut dieses 
Gottes, das zu seinem Yogi- Charakter gehört. Der 36. Vers der „ Unmai 
Vilakham“ erzählt, daß die Schöpfung aus der Trommel erstehe, während 
wir das folgende den „ChicLambara Mummani Kovai entnehmen: „Oh, 
mein Herr, deine Hand, die die geheiligte Trommel hält, hat die Himmel 
geschaffen und hält sie im Bann und die Erde und die Welten und die 
unzähligen Seelen.“ 

Der andere Körper auf dem Bild ist der eines Riesen, den sie erschlagen 
hat. Ihr wildes und verwirrtes Haar reicht in großen Massen bis an die 
Erde, während ihre Hände und Füße mit Blut befleckt sind. Auf anderen 
Bildern, besonders im Süden von Indien (und in dem tibetanischen Gegen¬ 
stück, Lha-mo), wird sie mit flammendem Haar gezeigt oder mit einem 
flammenden Hintergrund, was beides ihre Beziehung zu Agni und ihren 
destruktiven Charakter an deutet. 

Ihre Augen werden zuweilen so rot wie die der Säufer und Trunken¬ 
bolde dargestellt; sie sind für gewöhnlich starr und hervorstechend. Ein drittes 
Auge hat sie auf der Stirn. 

Es gibt zahllose Bilder, Bronzen und Skulpturen von dieser Göttin, von 
denen nahezu alle mit Ausnahme der Werke einiger moderner Künstler 
mehr oder weniger schrecklich und ekelerregend sind, wie auch die gottes¬ 
dienstlichen Riten, die ihr zu Ehren veranstaltet werden. Wahr ist, daß 
wir, wie Coleman sagt, was wir auch immer vom Geschmack der Hindu 
denken mögen, ihnen in bezug auf die außerordentliche und höchst frucht¬ 
bare Kraft ihrer Einbildung restlose Anerkennung nicht versagen können. 
Diese Mischung von Farben, Gesten und Ausdrucksformen ist gewiß eine 
höchst machtvolle Verkörperung des dunklen Charakters, der hier abgebildet 
wird. 

Als Durga (Kali) geschaffen wurde aus einer Vermischung der Götter, 
überlieferten jene in ihre Hände das Emblem ihrer Macht, mit dem sie 
das Monstrum Mabisha an griff und schlug und die Götter wieder in ihre 
himmlischen Wohnsitze einsetzte. Bei dieser Gelegenheit erhielt sie von 
















































r~ 

Hmdu-Alytliologie und Kastrationskomplex 161 


Vishnu den Diskus, von Siva den Dreizack, von Varuna die Muschel (die 
Kriegshülle), von Agni einen flammenden Wurfspieß, von Vayi einen Bogen, 
von Surya einen Köcher und Pfeile, von Yama eine eiserne Rute und eine 
ebensolche Keule, von Brahma den Kopfschmuck, von Indra einen Donner¬ 
keil, von Kuvera einen Knüppel, von Visva-Kurma eine Streitaxt, von 
Samudra (dem Meer) kostbare Steine und Waffen, von dem Milchozean ein 
Perlenhalsband, vom Berg Himalaya einen Löwen als Hüter und von Huanta 
ein geflochtenes Schlangenhalsband. Die übrigen Götter beschenkten sie mit 
zahlreichen anderen Edelsteinen und mit Kriegsgerät. 

Kali wird auch die Göttin der Friedhöfe genannt, und wird zuweilen 
als Schutz gegen Cholera verehrt, ein Übel, von dem man annimmt, daß 
es als Folge ihres Zornes ausbricht. 

Weiterhin ist sie die Zerstörerin der Zeit. Auf einigen Bildern soll ein 
Palmzweig ihren Sieg über die Zeit andeuten. Auch vertreibt sie Angst 
und Furcht (Bhaya-Nasini), da ja nach dem Amdu-Dharma der Tod 
schließlich nur eine Pforte ist, durch die die ewige Seele aus einem Körper 
in den anderen übergeht. 1 

Früher waren Menschenopfer zu Ehren dieser grausamen Göttin üblich, 
und die Kaliha-Purana legen Form, Art und Weise dieser Handlung fest; 
dasselbe Werk gibt an, wie einem Menschen sein eigenes Fleisch abzu¬ 
hacken und den Göttern darzubringen sei, und wie es anderseits verbrannt 
werden müsse. Golem an 2 zitiert den folgenden Auszug aus dem Rudhira- 
Dhyaya oder dem Blutkapitel obengenannten Werkes: „Durch Opfer er¬ 
reichen Fürsten die Seligkeit im Himmel und den Sieg über ihre Feinde. 
Vögel, Alligatoren, Fische, neun Spezies von wilden Tieren, Büffel, Bullen, 
Ziegen, Löwen, Tiger, Menschen und das Blut der Geopferten sind ge¬ 
eignete Opfergabe.“ 

Das Purana legt die Länge der Zeit fest, in der die verschiedenen 
Opfer die Göttin befriedigen werden; so heißt es z. B., daß. ein Mensch 
oder ein Löwe ihr tausend Jahre hindurch gefällig sein werden, aber daß 
sie durch Opfer von drei Menschen für hunderttausend Jahre befriedigt 
sein wird. Die Opfernden müssen den Namen Kali sprechen, wiederholen 
und sie mit den Worten ehren: „ Hrang, bring, Kali, Kali! O schrecklich 
gezähnte Göttin! Friß, zerschlag, zerstöre alles Böse, schlag mit der Axt, 
binde, binde, greif und trinke Blut, springe, rette, heil Dir, Kali!“ 

x) Eine offensichtliche Geburtsprojektion: der Tod als Folge einer bestimmten 
Rückkehr in den Himmel des Mutterleibes verdrängt alle Angstgefühle. 

2) Coleman: Hindu Mythology. S. 94. 


Imago XIII 


11 














I 


_I 

C. D. Daly 


Die Riten und Zeremonien, die an den Altären dieser blutdürstigen 
Göttin gefeiert werden, sind bis auf den heutigen Tag höchst blutig und 
von einer aufreizenden Natur; man findet eine große Anzahl von Büffeln 
und Ziegen usw. zu ihren Ehren regelmäßig geopfert. Die Darbringungen 
und Opfer, die veranstaltet werden, um sie zu besänftigen, sind so er¬ 
staunlich zahlreich, daß an einigen Festtagen die Tempel buchstäblich von 
Blut schwimmen. Sie ist die Göttin der Diebe, die ihr tiefe Ehr¬ 
erbietung zollen und blutige Opfer bringen, damit sie weiterhin ihre 
bösen Absichten begünstige. Die Zeremonien, die sie in Verbindung damit 
ausführen, dürften Stoff für interessante Untersuchungen bieten, die einiges 
Licht in die Psychologie des Diebstahls bringen könnten, der, wie wir 
wissen, mit dem Kastrationskomplex eng verknüpft ist. Die Thugs, die so 
lange die Geißel Indiens waren, mordeten durch Erhängen der Opfer, die 
sie dann unter der religiösen Sanktion dieser Göttin ausraubten. 

Nach Ward 1 sind unter den Geschenken, die reiche Leute der Göttin 
machen, silberne Hände, goldene Zungen und Augen, deren sym¬ 
bolische Bedeutung nicht zu übersehen ist. In diesem Zusammenhang 
möchte ich auf die interessante Tatsache aufmerksam machen, daß die 
Prostituierten ebenfalls der Kali ihre Ergebenheit bezeigen und für 
Gesundheit und Wohlstand ihrer Geliebten beten. 

Auch wenn der Regen fehlt, wird Kali durch Opfer umgestimmt. 

Obgleich man von Kali annimmt, daß sie der Furcht und Angst ent¬ 
gegenwirkt, wird auf der anderen Seite behauptet, sie habe einen beson¬ 
deren Geruch an sich, der dazu bestimmt sei, in den Sinnen der 
Menschen Furcht zu erwecken. 2 

Brennand 3 weist darauf hin, daß sie, obgleich sie die so zarte Be¬ 
zeichnung „Mutter“ führe, doch gefürchtet sei als die Quelle aller Übel, 
viel häufiger als Segenspenderin. 

Sie ist die Göttin der Friedhöfe. Wenn die Cholera in einem Dorfe aus¬ 
bricht, so glauben die Leute, daß Kali ihnen einen Besuch abgestattet habe, 
weil sie nicht befriedigt worden sei. 

ß) Lha-Mo, das tiletanische Gegenstück zu Kali 

Die tibetanisch-buddhistischen Gegenstücke zu dem hinduistischen Gott 
Siva und seiner Gemahlin Kali sind Fudo-myo-o (Myo-o „Mahi Devi“) 

1) Ward: History of the Hindus. 

2) Gopinath Roa: Elements of Hindu Mythology, Bd. I, S. 368. 

5) Brennand: Hindu Astronomy, S. 141. 
































Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 


163 


und Lha-Mo? Fudo-myo-o wird als streng und bösartig dargestellt, obwohl 
man trotzdem auf ihn als den Gott der Liebe blickt. Er wird in Tibet 
gewöhnlich mit einem Schwert in der rechten Hand abgebildet, um die 
Schuldigen zu schlagen, und einem Lasso in der Linken, um die Bösen 
zu fangen und zu binden. Zuweilen wird er vierarmig und auf einem 
Drachen stehend gezeigt. Hinter ihm ist eine Flammenglorie, die die Zer¬ 
störung des Übels symbolisieren soll. Seine Farbe ist schwarz. 1 2 

Die Göttin Lha-Mo ist wie Kali die Gemahlin Yamas , des Gottes der 
Zerstörung und des Todes. Sie ist eine der schrecklichsten Gestalten im 
nordbuddhistischen Pantheon. Ähnlich wie Kali wird sie in blauer Farbe 
dargestellt. Ihr Symbol ist das Schwert und die Keule. Die Mäuse sind die 
heiligen Tiere dieser Göttin. 

Als die älteste Göttin unter den acht Schrecklichen wurde sie von den 
Göttern bewaffnet. 

Hevajra gab ihr zwei Würfel, um das Leben der Menschen zu be¬ 
stimmen, Brahma gab ihr eine Tonne voll Pfauenfedern, und von Vishnu 
erhielt sie zwei leuchtende Gegenstände, von denen sie einen in ihrem 
Kopfputz trägt, während der andere über ihrem Nabel angebracht ist. 

Kuvera , der Gott des Wohlstandes, gab ihr einen Löwen, den sie im 
rechten Ohr trägt, und Nanda , der Schlangengott, gab ihr eine Schlange, 
die von ihrem linken Ohr herabhängt. 3 Von Vajrapani erhielt sie einen 
Hammer, andere Götter gaben ihr ein Maultier, dessen Decke die Haut 
eines Yaksha oder Dämonen ist, und die Zügel sind aus giftigen Schlangen. 
Sie sitzt seitlich auf dem Maulesel. Hinter der Krone, die sie auf dem 
Kopfe trägt, erhebt sich ihr Haar, in dem eine Schlange und ein Halb- 
Vajra sind, in Flammengestalt, zuweilen von einem Mond überragt. Sie 
trägt eine lange Girlande von Köpfen und über ihrem Nabel hängt ein 
radähnliches Ornament; ihre Bekleidung ist ein Tigerfell; in der rechten 
Hand schwingt sie ein Zepter, das zuweilen oben mit einer Krone ver¬ 
sehen ist, während die Linke eine Kappe vor die Brust hält. Das Hinter¬ 
teil des Maultieres ist mit der Haut eines Dämonen bedeckt, dessen Kopf 
herunterhängt. 

Nach der Legende 4 „ist die Haut die ihres Sohnes, den sie getötet hat 

1) Eine ausgezeichnete Photographie einer alten Bronze dieser Göttin ist re¬ 
produziert in Elenkenburgs „Die Donnerwaffe in Religion und Folklore“. 

2) Es zeigt tatsächlich die Beziehung zu Agni , wie in dem hinduistischen Gegenstück. 

3) Von ähnlicher Bedeutung wie die Elefantenköpfe oder Menschenkörper in 
Kalis Ohren. 

4) A. Getty: The Gods of Northern Buddhism. 


11* 








l 6 j C. D. Daly 


gemäß dem Schwur, ihn umzubringen, wenn sie nicht imstande sein sollte, 
ihre Leute zum Buddhismus zu bekehren, während eine andere Erzählung 
besagt, sie sei in einer ihrer Inkarnationen das Weib eines Königs der 
Yakshas auf Ceylon gewesen. Sie habe geschworen, ihren Gemahl zum 
Buddhismus zu bekehren oder aber im Falle des Mißlingens das könig¬ 
liche Geschlecht auszurotten. Da sie sich nun außerstande sah, ihren Gemahl 
zu beeinflussen, begann sie, ihren Sohn bei lebendigem Leibe zu schinden 
und zu martern, trank darauf sein Blut und aß sein Fleisch“. 

Sie wird von zwei Akolythen begleitet, dem Zauberer Makarovaktra (blau) 
mit einem Elefantenhaupt, der die Zügel des Maultieres hält, und der 
Hexe Simhavatra (rot) mit einem Löwenhaupt, die ihr folgt und ein Hack¬ 
messer und eine Sturmhaube hält. Die Gruppe schreitet in einem Blut¬ 
meer, in dem Schädel und Menschenknochen auf und niederfluten. Wie 
Kali hat sie verschiedene Erscheinungsformen und ist das erschreckendste 
und grauenerregendste Wesen innerhalb der Gruppe. Ihre Beziehungen zum 
Bösen und zum Haßgefühl sollen durch die Schlangen angezeigt werden, 
die zwischen ihren Beinen hervorkommen. 

Angesichts der Theorien, die in der dritten Folge dieser Studien ent¬ 
wickelt werden sollen, und denen zufolge die Phänomene, die hier ge¬ 
schildert sind, als Ursachen genommen werden für die Unterwerfung des 
Mannes unter die Frau, möchte der Verfasser die Aufmerksamkeit auf eine 
sehr bezeichnende Tatsache lenken. 

Die Krishna -Legende soll angeblich die Herrschaft der unbarmherzig 
grausamen nordischen Dämonin in der Weise beschreiben, daß die mörde¬ 
rische Göttin Kali bei einem Massaker der Priester und des Viehes (der 
Totemtiere) dabei gewesen sein soll, während die Tempel der Götter mit 
Blut besudelt waren. 1 Ob dies eine Phantasie oder eine Tatsache ist, weiß 
ich nicht, aber es wird uns nicht überraschen zu erfahren, je nachdem, 
ob Tatsache oder Phantasie, daß die Herrschaft der Muttergöttin den Mann 
einer Behandlung unterwarf, ähnlich der, die die Herrschaft der Götter 
der Frau bereitete. 

C) Bemerkungen zu einer hinduistisdien Abli andlung über Kali 

Der Verfasser der hinduistischen Abhandlung über Kali, betitelt „Was 
ist Kali} i 2 zeigt, daß diese Göttin alle Wunschformen in sich begreift von 

1) Hewitt: Ruling Races of Prehistoric Times. Bd. I, Essay 5, S. 465. 

2) Was ist Kali? Sidharta Deepitra, Madras, Juni 1899. Der Verfasser ist Sir John 
Marshall, dem Generaldirektor des Archäologischen Departements Indien und seiner 
























r 


Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex i 65 


der niedrigsten bis zur höchstsublimiertesten Form spiritueller Liebe. Sakti 
m ag als die Verehrung der Libido in allen ihren Formen angesehen werden 
und scheint nach diesem Autor nicht nur alle gegenständlichen Wünsche, 
sondern auch die regressiven Ausdrucksformen zu umfassen, die mit den 
frühen analen und mit vielen der analerotischen Tendenzen Zusammen¬ 
hängen. Wir meinen, der Autor wird da, um mit den Worten Freuds zu 
sprechen: „von innerlich tief begründeten Vorlieben beherrscht, denen er 
mit seiner Spekulation unwissentlich in die Hände arbeitet.“ * 1 

Seine Bemerkungen zeigen die analerotische Quelle seines Denkens und 
die Formen seiner unbewußten Phantasien in bezug auf Geburt und Inzest. 
a) „Gott schafft, unterhält, bildet neu und befreit.“ b) „Das ursprüngliche 
Sakti ist rein, formlos, unbegreiflich und unendlich.“ c) „Gottes Macht ist 
unergründlich, ein kleiner Teil seiner Macht steigt herab und spiegelt sich 
in einer geringeren Kraft, Sakti genannt.^ Das Verhältnis ist wie die Be¬ 
ziehungen der gröbsten Erde zu dem höchsten Sakti des Klanges und der 
Form.“ d) „Der Klang ist das erste, was in der Entwicklung hervorgebracht 
wird.“ 

Der Verfasser verbindet den Begriff Klang mit den rhythmischen Tänzen 
des Siva und der Kali , hinter denen wir kindliche Bewegungen, Drehungen 
und Windungen vermuten, die Folgen vorübergehender Blähungen sind, 
als Vorläufer späterer Windungen und Bewegungen, die ihrerseits mit den 
zeitweiligen faeces Zusammenhängen, in denen wir vielleicht einen Teil 
entdecken können des Ursprungs der Freude, Musik durch Tanz zu inter¬ 
pretieren. In der Form finden wir sodann das höchste Stadium der Sakti 
dargestellt, und es wird uns nicht überraschen zu sehen, daß der Schreiber 
einen Diamanten als Beispiel nimmt, um zu erklären, was die „Form“ 
Sakti ist, dessen symbolische Bedeutung von Ferenczi 2 so außerordentlich 
gut entwickelt worden ist, als die Sublimation des faeces-lnleresses über 
die Steine zu Geldreichtümern; während Jones 3 dieses weiter entwickelt 
und zeigt, daß Klang, Feuer und Licht Äquivalente sind, wofür die Schrift 
„Was ist Kali ?“ den exakten Beleg liefert. 

Die ganze Schrift hindurch befaßt sich der Verfasser mit dem Übergang 


Abteilung zu Dank verpflichtet, daß sie ihm eine Kopie dieser Abhandlung zur Ver- 
stellten und ihm weitere Werke dieser wertvollen Bibliothek ankündigten. 

1) Freud: Jenseits des Lustprinzips. Ges. Schriften, Bd. VI, S. 252. 

2) Ferenczi: Die Ontogenese des Geldinteresses (Bausteine zur Psychoanalyse, 
Bd. I, S. 109. Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1927). 

5) Ernest Jones: Essays in applied Psycho-Analysis, Kapitel 8, III.Teil, S.269—317. 








i66 


C. D. Daly 


vom Narzißmus zur Objekterotik. Diese allmähliche Entwicklung des be¬ 
schreibenden logischen Denkens als einer Form der Abwehr ist eine der 
ursprünglichen Mechanismen im Dienst der archaischen Kultur und auch die 
Ursache der Schwierigkeiten jeder vor-psychoanalytischen Mythendeutung. 

In den archäologischen Funden, die aus den Tagen der primitiven Kunst 
auf uns überkommen sind, in diesen symbolisierten Verdrängungen der 
Völker in ihrer Kindheit, finden wir zahlreiche, noch nicht mit anderen 
vermischte und unverarbeitete psychoanalytische Begriffe vor, und zwar mit 
einer Offenheit, wie wir sie heute nur noch in unseren Träumen finden 
können. 

Moderne Hindukünstler haben bei der Behandlung desselben Gegen¬ 
standes diese archäologischen und frühen bildnerischen Darstellungen so 
entstellt und verdeckt, daß sie nahezu unerkennbar geworden sind. So z. B. 
unser Bild der Kali*, die modernen Künstler 1 wechseln so oft das Beiwerk, 
daß das Bild der ursprünglichen Kali kaum mehr ähnlich ist; während alle 
tatsächlichen Anzeichen der Kastration und der Menstruation weggelassen 
werden, beschränken sie sich nur mehr auf die Darstellung des Tanzes . 2 

Die Funktion dieser verfeinerten Ausarbeitung scheint die Umbildung 
der frühen Symbolik zu sein, die für die heutige Auffassung zu roh dar¬ 
gestellt ist, so daß die Verdrängungsleistungen nicht in scharfer Weise 
gefährdet werden sollen. Wir können diesen Beginn der nächsten Entwick¬ 
lungsstufe in der hinduistischen Kunst (unter dem Einfluß europäischer 
Erziehung, obgleich man als Reaktion gegen den europäischen Einfluß 
heute seine eigenen Themata behandelt) mit dem vergleichen, was in 
Griechenland geschah . 3 


1) Siehe z. B. das Bild der Kali auf S. 390, Mythen der Hindu und Buddhisten 
von Nivaditta. 

2) Noch weiter geht ein sehr modernes Bild von F. Cadogan Cowpers A. R. A. 
in der Königlichen Akademie 1926. Es heißt „La belle Dame sans Merci“ und 
illustriert die folgenden Zeilen von Keats: 

„And there she lulled me asleep , 

And there I drearrCd — Ah! woe betide — 

The latest dream I ever dreamed 
On the cold hilVs side. a 

Die Frau auf diesem Bild ist besonders schön, sie ist rot gekleidet und sitzt in 
einem Feld von roten Mohnblumen, während der Ritter in wachem Tod vor ihr 
liegt. Wenn meine Interpretation richtig ist, so ist dies ein unbewußtes Porträt der 
Kali der Europäer. 

3) Lecky: Entstehen und Einfluß des Rationalismus in Europa. Kapitel III, 
S. 230—234, 260 f. 


































Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 


i6y 


Flügel 1 hat gezeigt, daß Sphinx und Medusa gleicherweise dazu ten¬ 
dieren ihre aggressiven Attribute zu verlieren, die er der „Wiederkehr des 
Verdrängten“ zuschreibt. Diese Wiederkehr bedingt und erweckt wieder 
den ewigen Wunsch der Menschheit, all das zu verdecken, was peinlich 
und unerfreulich ist durch eine immer weitergehende sekundäre Bearbeitung 
der noch immer nicht zureichend verhüllten Symbole. Nach Ansicht Freuds 2 
hat Ferenczi mit völliger Berechtigung die Spuren des mythologischen 
Symboles des Ekels — des Medusenhauptes — zurückverfolgt bis zu dem 
Eindruck, der durch den Mangel des Penis in den weiblichen Genitalien 
hervorgerufen wird. Wozu er noch hinzufügt: „daß im Mythos das Genitale 
der Mutter gemeint ist. Athene, die das Medusenhaupt an ihrem Panzer 
trägt, wird eben dadurch das unnahbare Weib, dessen Anblick jeden 
Gedanken an sexuelle Annäherung erstickt .“ 3 

In Übereinstimmung mit diesen Autoren möchte ich ihre Theorien 
weiter ausbauen, bis auf die, wie ich glaube, ursprüngliche Quelle, indem 
ich besonderen Nachdruck auf die Tatsache lege, daß es immer die blutige 
Oberfläche der Wunden ist, die bei Medusa, China-mastuba und anderen 
Formen der Kali so betont wird, und die, wie ich meine, an erster 
Stelle zu stehen hat auf Grund des frühen Menstruationstabu, 
das aus den nachdrücklichen und scharfen Inzestgesetzen der 
Primitiven entstanden ist. 

In der Gestalt der Kali und der mit ihr vereinigten Göttinnen kann 
jeweils der Ersatz der Vagina durch den Phallus zurückverfolgt werden 
bis auf die Projektion der verdrängten männlichen Inzestwünsche auf die 
Mutter. Flügel behandelt in seiner Schrift „Polyphallischer Symbolismus 
und der Kastrationskomplex“ zahlreiche Erscheinungsformen, unter denen 
der polyphallische Symbolismus in der Folklore und Mythologie zutage 
tritt, und vieles in seiner Schrift bringt Beweise, die mit einer wenig 
weitergehenden Deutung die hier vorgetragene Theorie stützen. Wo er über 
weibliche Ungeheuer spricht, bezieht er sich auf Echidna und diese Klasse 
mythologischer Gestalten, die die gefährliche und verführerische Weiblichkeit 
repräsentieren, deren Wirkungskreis anfängt bei dem zeitweiligen Aufhören 
heroischer Betätigung (Circe oder Tannhäusers Venus) oder zur Zerstörung 
und Vernichtung führen (die kaukasische Königin Thamar, Loreley, die 


1) Flügel: Polyphalliseher Symbolismus und der Kastrationskomplex. Inter¬ 
national Journal of Psycho-Analysis, Bd. II, S. 185. 

2) Freud: Ges. Schriften, Bd. V, S. 255. 

5) Von mir gesperrt. 









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C. D. Daly 



Sirenen). Und doch kann ich -mit Flügels Interpretation des Echidna 
Herakles-Mythos nicht völlig üb er ein stimmen. Wenn sie z. B. seine Pferde 
gestohlen hat und sie nur zurückgibt unter der Bedingung, daß er einige 
Zeit bei ihr verweilt, deutet dies Flügel so, daß sie ihn dadurch zwingt 
ein ruhiges, unheroisches und relativ feminines Leben zu führen; ich würde 
die Deutung bevorzugen, daß sie ihn zwingt, ihrem sexuellen Verlangen 
zu genügen. In der Tat des Perseus, der die Medusa erschlägt, können wir 
anderseits das Spiel der beiden Seiten beobachten in Anbetracht des Ver¬ 
haltens des Mannes der Mutter gegenüber. Ich möchte aber immerhin 
bemerken, daß, wenn wir den aus der Traumlehre bekannten Mechanismus 
der „Darstellung durch das Gegenteil“ in der Interpretation des Mythos 
in Anwendung bringen, wir bereit sein müssen, ihn nötigenfalls auf jeden 
einzelnen Teil des Mythos anzuwenden. In vielen Mythen beschenkt die 
Göttin den Helden mit magischen Waffen, in anderen stiehlt er sie zuweilen 
seiner Mutter und zuweilen dem Vater. In dem fraglichen Mythos stiehlt 
er sie den Graeae, aber — da wir wissen, daß die Graeae die Hüter der 
Gorgonen sind, und da Wächter fast überall gleichmäßig männlichen 
Geschlechts sind, dürfen wir nicht vermuten, daß die Graeae in diesem 
Teil des Mythos nun „alte Weiber“ sind eben im Sinne der „Darstellung 
durch das Gegenteil“? Es ist leichter, schwache alte Weiber zu bestehlen 
als den mächtigen Vater, — ist er jedoch mit diesen magischen Waffen 
gerüstet, so ist er imstande, beide, seine gehaßte Mutter (Medusa) und 
den Vater (das Ungeheuer) zu überwinden, während er seine ideale Mutter 
(Andromeda) rettet. 

Flügel erklärt die Unnahbarkeit der Athene durch die Kraft des Medusen¬ 
hauptes auf ihrem Panzer, da ja das Haupt ein Penissymbol ist, das die 
Frau vor sexuellen Angriffen schützt. So wurde Athene das unnahbare Weib, 
dessen Anblick jeden Gedanken an sexuelle Annäherung erstickt. Wenn wir 
indessen hier dem Mechanismus der Darstellung durch das Gegenteil Rechnung 
tragen, dann symbolisiert eben der Penis die Vagina, aber in diesem Fall 
füge ich dem geöffneten Mund der Medusa das Moment der Furcht hinzu, 
verbunden mit dem blutigen Äußeren des abgeschlagenen Hauptes, das, wie 
ich behaupten möchte, als die sexuell bereite, gefährliche und verführerische 
Frau aufgefaßt werden soll, die vorher das menstruierende Weib war. Und 
was kann den Mann mehr zum Helden machen und ihm mehr Kraft geben, 
als das Überwinden seiner größten Angst? Der Perseus-Mythos zeigt den 
Weg, auf dem alle Männer wieder tapfer werden, wenn sie nur diese intra¬ 
psychischen Schwächen überwinden können. Dadurch, daß er seine größte 










































Hmdu-Mytliologie und Kastrationskomplex 


169 


Angst überwand, wurde Perseus fähig, seinen Vater zu erschlagen und den 
Inzest mit seiner Schwester—Mutter, Andromeda zu begehen. Freud hat 
es schon gesagt, daß der Mann auf jeden Fall imstande sein muß, diese 
Vorstellung zu ertragen, d. h. seine Neigungen völlig und offen zu erkennen, 
wenn er wieder stark werden soll. Und wenn er dann Erfolg hat, dann 
kann und wird die Frau wieder auf ihre natürlichen Funktionen stolz sein, 
stark im Geist zum ewigen Wohl der Menschheit. 

Daß Medusa aus einem schönen und begehrenswerten Weibe zu einem 
gefährlichen, grauenerregenden wurde, ist nun ganz eindeutig auf die Mutter 
zu beziehen, die nicht mehr begehrenswert war kraft ihrer abstoßenden äußeren 
Genitalien; nimmt man doch an, daß diese Verwandlung als Folge eines 
sexuellen Verkehrs im Tempel der Athene aufzufassen ist, der wahren Göttin, 
die später das Haupt der Medusa auf ihrem Schild trug. Die Identifikation 
ist nun vollständig und das Motiv liegt klar auf der Hand. Denn wie die 
unendlichen Tabus der Menstruation zeigen, haben die äußeren Organe des 
Weibes seit Jahrtausenden in das Herz des Mannes den Schrecken gejagt, 
während der Anblick des aufrechten männlichen Penis in einem viel ge¬ 
ringeren Grad erschreckend ist. So ist der offene Mund der Vagina der 
Medusa—Athene—Mutter in richtiger Weise als Schild gegen den Inzest 
gebraucht worden, denn auf Grund von völligen Verdrängungen des männ¬ 
lichen Wunsches, sich zu dieser Zeit mit der Frau zu vereinigen, hatte als 
Resultat die Todesstrafe bei Übertretung des Inzestgesetzes, die vorherige 
Anziehungskraft in Abstoßung verwandelt und die einst Schöne wurde häßlich 
und ekelerregend. Aber sie blieb respekteinflößend. Es muß eine Periode 
gegeben haben, in der es noch nicht nötig war, die Göttin mit einem Penis 
auszustatten; und die Medusa stellte dieses Zwischenstadium dar, wenn sie 
die abstoßende Vagina auf ihrem Schild trägt, während sie als schöne Frau 
aufgefaßt wird, ist es für Schild und Haupt kaum mehr ein Schritt weiter, 
durch den Penis ersetzt zu werden. Gewiß bin ich der zahlreichen anderen 
Elemente gewahr geworden, wie Homosexualität usw., die hier eine Rolle 
gespielt haben mögen; aber sie sind in weitgehendstem Maße von anderen 
Autoren behandelt worden, und es ist nicht die Absicht dieser Arbeit, sich 
mit ihnen zu befassen, da ich lediglich das Ziel habe, die Aufmerksamkeit 
auf den Menstruationskomplex zu lenken, der meiner Ansicht nach aus 
ersichtlichen Gründen in unseren psychoanalytischen Neurosentheorien nur 
in so ungenügendem Maße in Betracht gezogen worden ist. 











lyo C. D. Daly 


III 

Der KalisymLolismus 

In diesem Bild der Kali ist der Symbolismus besonders offenkundig i n 
Anbetracht seiner Beziehung zum Kastrationskomplex. Die Köpfe, Unter¬ 
arme und Hände , 1 die sie ihren Feinden, den Riesen, abschlug und die 
ihr von den Lenden herabhängen, sind offensichtlich Symbole der Kastration. 
Ich habe während des Schreibens sechs Bilder der Kali vor mir, die alle von 
verschiedenen Künstlern stammen. Eines von ihnen zeigt die Kastrations- 
symbole besonders vollständig. Die Gestalt des Siva liegt, umgeben von 
allen Zeichen des Blutbades, auf dem Schlachtfeld. Zwei blutüberströmte 
Beine liegen, die rauhe Oberfläche nach außen gekehrt, auf dem Gras, eine 
mit Blut bedeckte Gestalt, auf der ein Rabe 2 sitzt, schneidet die Leber aus 
dem Körper, ein Hund beißt einem abgeschlagenen Kopf Kinn und Zähne 
ab usw., während Kali auf dem Körper ihres Gemahls, Siva , tanzt. Dieses 
und drei andere Bilder enthalten sehr bezeichnende Merkmale; so hängen 
um den Hals bis zu den Knien herab die Häupter der besiegten Feinde — 
beide, diese und die Stirne der erschlagenen Riesen, die am Boden liegen, 
tragen die Merkmale der Saivitenkaste und zeigen damit, daß die Feinde 
gleichzeitig die nahen Verwandten gewesen sind. Sie bestätigen damit die 
psychoanalytische Theorie, daß Haß, Penisneid und Kastrationsphantasien 
primär direkt gegen nahe Verwandte gerichtet sind. Wir wissen aus den 
Traumanalysen, daß ein Riese fast immer einen Vater repräsentiert. So sind 
wir berechtigt, die Häupter und Hände als phallische Kastrationssymbole 
der männlichen Familienmitglieder anzusehen. Auf einem anderen dieser 
Bilder liegt der Gemahl der Kali anstatt auf dem Schlachtfeld, wo sie auf 
ihm tanzt, mit dem Gesicht nach unten auf einer Lotusblüte, einem weib¬ 
lichen Symbol, das den Ersatz des männlichen Organs durch das weibliche ’ 
anzeigt. Man kann daraus schließen, daß die Demütigung ihres Gemahles, 


1) Im museo secreto in Neapel befinden sich zahlreiche Amulette in Bronze usw., 
die von den Römern in Pompeji getragen wurden; sie bestehen aus einem Unterarm, 
an dessen Hand der Daumen zwischen den Fingern liegt, was die Vereinigung von 
Umga und Yoni bedeutet, während das Ende, das dem gerundeten Unterarm auf dem 
Bild der Kali entspricht, ein Penis ist. Dieselbe Form findet sich auch auf einigen 

er Lampen. Da man eine große Anzahl gefunden hat, müssen sie bei den Römern 
dieser Periode sehr gebräuchlich gewesen sein. 

2) Eine Symbolik ähnlich der des Adlers, der die Leber des Prometheus auffrißt. 
Auch der Rabe ist ein Symbol des Todes. 

























Hindu-Mytliologie und Kastrationskomplex 


V 1 


des großen Gottes, dadurch, daß sie auf seinem Körper tanzt, das Resultat 
ihres Neides ist, beziehungsweise des Hasses gegen den Mann, den sie zuerst 
fregen ihren Riesenvater bewies; daß die Hände den Feinden angehören, 
wissen wir aus unserer Kenntnis ähnlicher Traumsymbole. Dies ist jedoch 
mehr eine vorläufige Deutung auf Grundlage des Penisneides und gibt uns 
keineswegs die volle Bedeutung des Bildes, das eine männliche Phantasie 
ist, obwohl es viele weibliche Wünsche erfüllt, die zum Teil für die universale 
Popularität dieser Göttin sprechen, und die Kastration und Annahme des 
Phallus und die aktive Rolle, die die Frau ausübt, darstellen sollen. In 
dem tibetanischen Gegenstück zur Kali , bekannt als Lha-Mo , kann man 
weit mehr überzeugendes Beweismaterial finden, indem nämlich dort anstatt 
des Ringes von Unterarmen zwei Schlangen zwischen den beiden der Göttin 

aufgehängt sind. 

Der folgende Traum einer Europäerin zeigt eine ähnliche Symbolik: 

„Ich träumte, ich schritt eine Treppenflucht hinauf \ um nach einem Künstler 
zu sehen; das Treppenhaus war sehr eng und steil. Der Künstler modellierte eine 
Venusstatue, aber er gab ihr keine Arme, und ich sagte, daß die Venus mit 
Armen noch viel schöner sein würde. 

Darauf schichte er nach einer Anzahl Mädchen mit Armen , und sie standen 
alle in einer Reihe, von der Größten angefangen herab bis zur Kleinsten. Kr 
ging sie der Reihe nach durch, und wählte das kleinste Mädchen, weil er fand, 
daß es die wohlgebildetsten Arme hätte. Es war ein kleines Mädchen, und 
doch schien es alt und irgendwie erwachsen. Kr modellierte seine Arme, aber 
er heftete sie der Venus nicht an. Später blieben alle Arme der Mädchen in 
seinem Atelier und hingen von einem Seil herab. 

Ich fragte ihn, warum er nicht die schönen Arme an der Venus anbringe, 
und er sagte, daß die Arme die Statue verdorben hätten, wenn er es getan 
hätte. So behielt er sie getrennt in seinem Atelier, damit die Deute sie ansehen 
könnten . In diesen Traum scheint eine Diebesgeschichte verwebt zu sein. Der 
Künstler verliebte sich in das kleine Mädchen, — es war nicht dagewesen, als 
die Mädchen zuerst hereingebracht wurden, — sie wurde erst später entdeckt. 
Es war ein kleines Mädchen, das sich in seinem Atelier umsah. Es folgt eine 
Beschreibung des Mädchens, die deutlich zeigt, daß es die Träumende selbst ist. 

Der Künstler entdeckte, daß sie die schönsten Arme von allen hatte, daher 
wählte er sie und setzte sie in ein kleines hölzernes Gehäuse, das sie rings¬ 
herum passend umschloss. ce 

Eine teilweise Analyse dieses Traumes zeigt, daß die Träumende auf den 
Penis neidisch war und es beklagte, daß sie keinen besaß. Sie dachte, daß 
die Frau schöner sein würde, wenn sie einen Penis hätte — dessen Symbol 
die Arme sind. Der Künstler ist ihr Vater, der sie schuf und sie in ihrer 
Mutter Schoß legte — sie ist eifersüchtig auf ihre Mutter, deren Symbol 











17 a C. D. Daly 


die Frauen sind, die zuerst in das Atelier gebracht werden. Aber endlich 
wählt ihr Vater sie aus, die kleine, unbedeutende Zuspätkommerin, und 
beginnt, sie zu lieben. Aber die Frauen, die zuerst mit Armen erschienen 
lassen diese nun hinter sich zurück. Sie glaubte, daß ihr Vater, der 
Schöpfer, wenn er gewollt hätte, ihr Arme hätte geben können und daß 
Frauen Wesen sind, die entweder ganz ohne Penis geschaffen, oder die 
von ihren Vätern des Penis beraubt worden sind. 

Sie verehrte, beneidete und haßte ihren Vater, da er einen Penis 
besaß, und beneidete und haßte ihre Mutter, weil sie den Penis empfing. 
Der Traum befriedigt ihren unbewußten Wunsch, daß der Vafer sie der 
Mutter vorziehen möge. Die Symbolik des Künstlers, der sie in ein Gehäuse 
sperrt, muß umgekehrt werden, um verstanden werden zu können, obwohl 
der Glaube sichtbar ist, daß das Mädchen durch den Vater in die Mutter 
hineingesetzt worden ist. 

Die Träumende gehört dem egoistischen und antisozialen Typ an. Sie 
ist sadistisch und erfreut sich an der Demütigung ihres Liebhabers und hat 
dabei eine starke Tendenz zu Betrug und Täuschung. Sie bewundert Leute 
mit schönen Armen und Händen und freut sich, wenn sie ihre eigenen 
Arme und Hände zeigen kann. Der Grad dieser Neigung zu Betrug 
und Täuschung hängt teilweise von der unbewußten Lust ab, die sie aus 
dem Gedanken an eine psychische Kastration empfängt, der seinerseits in 
dem daraus resultierenden Erfolg begründet ist — Rache an dem Mann, 
weil er ihr den Penis vorenthalten hat, und am Vater, der ihre Wünsche 
nicht befriedigte. Die Geburt eines Kindes (die Empfängnis des Penis) modi¬ 
fiziert diese Charakterzüge sehr stark, die zu dem männlichen Protest ge¬ 
hören. 

Ich bedauere, eine vollständige Analyse dieses Traumes nicht erlangt zu 
haben, aber für unseren Zweck genügt es: i) den Symbolismus der Hände, 
zu zeigen, 2) den Penisneid, 3J die Idee der Schönheit, verbunden mit dem 
Besitz des Penis, und 4) den Vater als den Spender von beidem, des Penis 
und des Kindes. 

Flügel führt einige Fälle an von Schlangen- und Haarsymbolik mit 
einem ausgesprochenen Kastrationskomplex, unter denen sich ein besonders 
schlagendes Traumbeispiel befindet, das kürzlich von Dr. H. Flournoy 1 2 
berichtet wurde, und das hier wiederzugeben ich nicht widerstehen kann. 


1) Flügel, a. a. O. S. 156. 

2) H. Flournoy: Civa Androgyne. Archives de Psychol. 1922, XVII, S. 21 




























73 


Hindu-jMytliologie und Kastrationskomplex 1 


„Ich halte in meiner Hand mein Organ, das enorme Proportionen angenommen 
hat; es gibt eine Flüssigkeit in einem ununterbrochenen Strom von sich, und ich 
habe einen klaren Eindruck von meiner Kraft und Männlichkeit, ohne irgend¬ 
welche wollüstige Sensationen. Das Organ nimmt solche Dimensionen an, daß 
ich anfange, aufgeregt zu werden; sein äußerstes Ende bildet sich in einen 
Schlangenkopf um; es bewegt sich in allen Richtungen, und ich bekomme Angst, 
daß es mich in die Hand beißen konnte. Auch habe ich den Eindruck, daß nun 
aus dem Schlangenmaul nicht mehr eine Flüssigkeit, sondern Feuer strömt. An 
diesem Punkt erwache ich und habe ganz unwillkürlich das Bild eines gewissen 
Frauenkopfes vor mir, dessen Haar aus Schlangen besteht.“ 

Der Symbolismus dieses Traumes zeigt in mehreren Punkten Ähnlich¬ 
keit mit dem des iGzZHBildes. Obgleich das Haar der Kali nicht medusen- 
haft dargestellt wird, — als siedende, kochende Schlangenmasse, — so wird 
sie doch mit einer übergroßen Menge von Haar abgebildet, zweifellos einem 
Symbol der Macht, oder mit Flammenhaar, so die Beziehung zu Agni = Feuer 
zeigend. Die symbolische Bedeutung des Feuers* liegt in dem Traum von 
Flournoys Patienten ganz klar, indem die Schlange gleichfalls Feuer = Sperma 
ausspeit; Feuer wird gewöhnlich als Symbol der Libido benützt. Das besonders 
stark betonte Haar der Kali muß als eine überdeterminierte Kom¬ 
pensation des Phallusmangels bei den Frauen gedeutet werden. 1 

Vielleicht darf man es nicht nur als eine Modealbernheit auffassen, daß 
die modernen Frauen mit der Erlangung ihrer Unabhängigkeit sich dem 
kurzen Haar zugewendet haben. Die phallische Bedeutung des Haares und 
des Feuers zeigt sehr klar der ungarische Brauch, die Geburt zu beschleunigen, 
indem der Gemahl einige seiner Schamhaare abschneidet und anzündet, 
so daß der Rauch mit der Vagina in Berührung kommt. 2 Die symbolische 
Gleichwertigkeit des Feueranzündens und der Sexualität bei den Primitiven 
ist wohl bekannt. 

Im museo secreto zu Neapel, das die phallischen Überreste Pompejis ent¬ 
hält, finden sich zahlreiche Lampen, bei denen die Flamme einem großen 
Penis entspringt. Löwen mit Penis statt Köpfen, aus denen Flammen hervor¬ 
kommen. Auf einer ist der Kopf eines großen Penis und das Haar besteht 
aus lauter kleinen Penes. Der Symbolismus in dem Bilde der Kali kann 
allein aus diesem Material gedeutet werden ohne Hilfe der Traum Symbolik. 


1) Zeus erlaubte, daß das Haar des Attis als Ersatz für seine Kastration wachsen 
dürfe. Weiterhin erzählt die Bibel, daß Simson mit dem Verlust seines Haares auch 
seine Kraft verlor. 

2) G. Röheim: Die Bedeutung des Überschreitens. Internationale Zeitschrift für 
Psychoanalyse, VI, 1920, S. 244. 








1 74 


C. D. Daly 


Und ich mochte denjenigen Kritikern Freuds, die die psychoanalytische 
Theorie der Traumsymbolik als Resultat einer Verbohrtheit in dem Thema 
„Sexualität“ ansehen, empfehlen, diesem Museum einen Besuch abzustatten. 
Sie mögen dort z. B. die Symbolik der Vorderarme, die Kalis Lenden ver¬ 
zieren, mit den römischen Vorderarmen = Zaubermitteln vergleichen, bei 
denen das obere Ende die Eichel des Penis ist. 

Kali ist wie ein Weihnachtsbaum mit phallischen Symbolen bedeckt. Die 
Überdeterminierung ist höchst vollständig ausgeführt. 

Die Elefanten- oder Menschenköpfe als Ohrringe der Kali sind aus dem 
Mechanismus der Verlegung von unten nach oben zu deuten. Die Ohren 
können so entweder den Anus oder die Vagina symbolisieren im Sinne dieser 
Verschiebung von unten nach oben, obwohl der Mund noch öfters Symbol der 
Vagina ist. Ein Beispiel für diese Symbolik kann in dem Hindumythos von 
der zwiefachen Geburt des Ganges gesehen werden, des ersten aller heiligen 
Ströme Indiens, der vom Himmel herab auf das Haupt des Gottes Siva fiel, später 
von der heiligen Jahna verschluckt und aus den Ohren wiedergeboren wurde. 
Eine ähnliche Idee findet sich bei Kindern, die glauben, daß die Empfängnis 
durch Aufnahme von Nahrung oder irgendwelcher Substanzen durch den 
Mund erfolgt und die Geburt durch den Anus. Schließlich zeigt die Tat¬ 
sache, daß die Ohren auf vielen der Kali -Bilder durch phallische Symbole 
von Elefantenköpfen oder Menschenleibern ersetzt werden, mit unabweis- 
licher Beweiskraft, daß die Ohren in diesem Falle als weibliche Organe 
angesehen werden müssen, die in Übereinstimmung mit dem ganzen Schema 
durch männliche zu ersetzen sind. 

Wir wissen auch aus einem Madonnenmythos, der von Jones 1 zum 
Gegenstand einer gelehrten Arbeit gemacht worden ist, daß von der Jung¬ 
frau Maria angenommen wurde, sie habe empfangen, indem der Atem des 
Heiligen Geistes in ihr Ohr eindrang, während Piero di Cosimo auf 
seinem Bild von der Befreiung der Andromeda durch Perseus (Uffizien,' 
Florenz) zeigt, wie der Atem geradeswegs aus den Nüstern des Ungeheuers 
in die Vagina der Andromeda hineinströmt. 

Von Kali wird gesagt, daß sie sich dem Trinken des Blutes ihrer Feinde, 
der Riesen, hingegeben habe, durch welche Tat, wie es heißt, sie deren 
Kraft erlangt haben soll. 

Opferblut wurde von vielen Völkern auf den Erdboden vergossen, um 


1) Emest Jones: Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr. Jahrbuch 
für Psychoanalyse, Bd. VI, 1914. 























Hindu-jVIytliologie und Kastrationskomplex i 7 5 


der Fruchtbarkeit ganz sicher zu sein. Ebenso Milch. Die Kinder der Medusa 
entsprangen dem Blut, das ihrem Rumpf entströmte, während in ähnlicher 
Weise in der hinduistischen Mythologie zahlreiche Stellen zu finden sind, 
bei denen das Leben aus dem Blut entspringt als Resultat einer Enthauptung, 
die möglicherweise in gewissem Maße aus der sadistischen Auffassung des 
Geschlechtsverkehrs mit der Kastration als Folge entspringen. August 
Stärcke 1 hat auf die Beziehung hingewiesen, die zwischen Milch, Blut, 
Urin und dem männlichen Samen besteht, in einer Schrift, in der er 
großen Nachdruck auf seine Annahme legt, daß die Hauptquelle früher 
prägenitaler Prädispositionen zu den späteren Auswirkungen des Kastrations¬ 
komplexes der Verlust der Brustwarze sei; er nimmt desgleichen an, daß 
die primäre Form des Sadismus in der Situation zu finden ist, in der das 
Kind der Mutter Schmerzen verursacht, indem es die Warze verletzt, 
während es zugleich eine erhöhte Befriedigung empfindet und so lernt, 
a gg ress iv und kannibalistisch zu werden. 2 Eine andere der vielen Manifesta¬ 
tionen des weiblichen Gegenstückes des Siva ist jene schreckliche Gestalt, 
die von den Saktas verehrt wird und als Chinaa-mastak bekannt ist; ihre 
bildliche Darstellung zeigt eine nackte Göttin, die auf einem Menschen¬ 
paar steht, in der einen Hand einen bluttriefenden Krummsäbel hält, in 
der anderen Hand ihr eigenes abgeschlagenes Haupt an den Haaren haltend, 
das das aus dem kopflosen Rumpf strömende Blut trinkt. Zwei andere 
Bilder zeigen, wie zwei ihrer Untergebenen zwei weitere Blutströme auf¬ 
fangen. (Die Deutung dieser Gestalt wird später gegeben werden.) 

In der hinduistischen Mythologie wird das Kuheuter oft als Leben ent¬ 
haltend dargestellt, das sich a) auf die assoziative Verbindung zwischen 
Milch, Samen und Urin bezieht, b) auf die Tatsache, daß beide einem 
hervortretenden Körperteil entspringen, c) auf die Kuh als Symbol der 
Frau mit dem Penis, 3 d) auf die natürliche Assoziation von Euter und 
Brustwarze. 

Es ist eine bezeichnende Tatsache, daß in früheren Zeiten (ebenso wie 
bei zeitgenössischen wilden Stämmen) den jungen und schwachen Mit¬ 
gliedern der Gemeinschaft Beschränkungen auferlegt werden in bezug auf 


1) August Stärcke: Der Kastrationskomplex. Internationale Zeitschrift für Psycho¬ 
analyse, Bd. VII (1921). 

2) Bei genauer Lektüre dieser Studien wird man bemerken, daß dieses Phänomen 
auf viel früher liegenden Faktoren in der Kindheit des Menschengeschlechts basiert. 

3) Meine Auffassung an dieser Stelle ist von Melanie Klein in ihren Artikeln 
über die Entwicklung des Kindes bestätigt und bekräftigt worden. Imago, Bd. XI. 







1^6 C. D. Daly 


Nahrungsaufnahme, wie auf die Realisationen ihrer sexuellen Impulse, die 
später, wenn das Bewußtsein sich entwickelt, auf die Götter übertragen 
werden. „Gesundheit, soweit sie ein Attribut der Götter ist, wird durch 
eine ununterbrochene Fülle von Opfern erhalten.“ 1 Freud hat das weiter 
entwickelt und gezeigt, daß die Sühnung der Götter auf dem Wege über 
den Instinkt der Selbsterhaltung geschieht. 

Von der Zunge (die auf dem Bild der Kali heraushängt) wissen wir, 
daß sie ein in Träumen häufig erscheinendes phallisches Symbol ist, in 
welchen Fällen sie für gewöhnlich heraussteht. Melanie Klein führt 
einen Fall von ähnlicher Symbolik an in dem Traum eines vierjährigen 
Kindes (loc. cit.). Die Hindu hingegen hängen die Zunge heraus als Zeichen 
der Scham, so daß sie in diesem Falle als Symbol der weiblichen Genitale 
aufzufassen ist. 

Die sekundäre Bearbeitung des TGzZi-Mythos, die besagt, daß die Göttin 
die Zunge heraushängen läßt, um anzudeuten, daß sie sich ihres schlechten 
Benehmens dem Gemahl gegenüber schämt, ist ein Trostwörtchen für das 
Ich des Hindu-Ehemannes auf den mangelnden Respekt hin, den sie seiner 
erhöhten und gesteigerten Form, dem Gotte Siva, gegenüber an den Tag 
gelegt hat. Die phallische Bedeutung der Zunge wird klar durch die Tat¬ 
sache, daß die reichen Verehrer und Anhänger dieser Göttin ihr Geschenke 
in Gestalt von goldenen und silbernen Zungen gemacht haben. 2 Jones 
sagt: „Ihr physiologischer Charakter macht sie besonders geeignet für diese 
Symbolik; so eben die Tatsache, daß sie ein spitzes Organ ist mit ge¬ 
fährlichen inneren Möglichkeiten, fähig sich selbst zu bewegen, gewöhnlich 
vorsichtig verborgen, jedoch mit der Möglichkeit, jeweils hervorzustoßen 
(wie bei trotzigen und verbotenen Äußerungen der Kinder), ein Organ, 
das schließlich noch eine Flüssigkeit hervorbringen kann (den Speichel), 
die ein gewöhnliches Symbol des männlichen Samens ist.“ 3 Die Assoziatio¬ 
nen zwischen Zunge und Sprache sind bekannt genug, als daß man sie' 
hier weiter erwähnen müßte. Die Tatsache, daß die Hindu ihre Zunge 
als ein Zeichen von Scham aus dem Munde hängen lassen, gibt uns den 
Schlüssel zur Deutung dieses Mythos, und zwar bedeutet er im Sinne der 


1) E. J. Payne: History of the New World called America, Oxford 1882, Bd. I, 
S. 437 und 434. 

2) Auf einigen der Terrakottalampen aus Pompeji, jetzt im Nationalmuseum 
Neapel, haben die Kopfe an Stelle der Zunge einen Penis. 

3) Ernest Jones: Essays in applied Psycho-analysis, The Madonna’s Conception, 
S. 311. 


































Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex l// 

Verschiebung von oben nach unten die Ströme des Menstruationsblutes aus 
der Vagina. 1 

Auch das Auge ist ein phallisches Symbol. Das dritte Auge, das oft 
ähnlich stark leuchtend wie die Sonne dargestellt wird, ist das älteste der 
männlichen Symbole. Das hervortretende und starrende Auge, das Kali auf 
Bildern des öfteren hat, kann in gleicher Weise als das „starre Glotzen“ 
mancher Frauen, d. i. als das Äquivalent zu einer Erektion 2 ausgelegt 
werden. In einigen Fällen besteht die Vorstellung, daß der starre Blick die 
Menschen erschreckt, ähnlich den männlichen Exhibitionisten, die die 
Frauen durch den Anblick ihres aufgerichteten Phallus zu erschrecken suchen. 

Die zahlreichen Wunden auf den Bildern der Kali sind als Vagina¬ 
symbole aufzufassen, während ich weiterhin glaube, daß die vorerwähnten 
Blutlachen nicht nur den Zusammenhang dieser Wunden mit der Kastrations¬ 
vorstellung, sondern auch mit der Menstruation der Frau zeigen, wie sie 
in der Girlande scharlachroter Hybiskusblüten symbolisiert sind. Ich werde 
zu diesem wichtigen Gegenstand später zurückkehren. 

Um zu einer richtigen Deutung des ÄaZZ-Bildes der Sage zu gelangen, 
muß die Verschiebung der Kastrationsangst des Sohnes, der eigent¬ 
lich die kastrierende Mutter fürchtet, auf den Vater als gehaßten 
Rivalen herangezogen werden. Professor Freud, der so freundlich war, 
meine früheren Notizen zu dieser Arbeit durchzulesen, sagte, daß er diese 
Bestätigung der psychoanalytischen Theorie sehr interessant finde und schlug 
vor, daß ich die Theorie noch mehr hervorheben soll. Die Berufung auf 
seine Autorität macht weitere Ausführungen überflüssig. Die sekundären 
Bearbeitungen des ACßZZ-Mythos geben zahlreiche oberflächliche Begrün¬ 
dungen für die Demütigungen, die Kali dem großen Gotte Siva, ihrem 
Gemahl, antut. Es ist nun interessant festzustellen, daß bei den Legenden 
um ihr tibetanisches Gegenstück Lha-Mo diese Verschiebung fehlt. Diese 
Göttin, die nicht imstande war, ihren Gemahl zu beeinflussen, schindete 
ihren Sohn bei lebendigem Leibe, trank sein Blut und aß sein Fleisch. 3 

In Anbetracht dessen, daß die Mäuse der Lha-Mo heilig waren, wird 
man mit der Vorstellung vertraut, daß eine Frau sich auf einen Stuhl 


1) Abraham: Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes. Internatio¬ 
nale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. VII (1921). 

2) Eine demnächst erscheinende Abhandlung handelt von der Analyse des Men¬ 
struationstabus und der Psychogenesis der Scham. 

5) In dieser Weise vermuten wir eine Verschiebung der kannibalistischen Tendenzen 
des Sohnes auf die Mutter. 


Imago XIII. 


12 








iy 8 C. D. Daly 


stellt, wenn eine Maus im Zimmer ist. Jedoch sind nach Monroe 1 i n 
der Kindheit Knaben Mäusen gegenüber furchtsamer als Mädchen. Wenn 
das stimmt, so ist es darin begründet, daß Männer stets eine heftige Freude 
empfinden bei dem Gedanken, daß die Frau auf dem Stuhl steht (die Angst 
wird motiviert durch den offenbar unbewußten Wunsch, die Maus möge 
ihr Loch die Vagina finden). Das liegt hinwiederum teilweise an der 
Homosexualität des Knaben, aber ich vermute hier in dieser Beziehung 
andere Erklärungsmöglichkeiten; so z. B. i) des Knaben Angst, daß sein 
Penis (Maus) in einer Falle gefangen werden könne (die Vagina), 2) die 
Vorstellung, daß die Frau, die er fürchtet, durch eine Maus erschreckt 
werden könnte und so seine eigenen unterdrückten Ängste Gelegenheit 
hätten, sich im Gelächter zu befreien. 

Jetzt können wir auch verstehen, warum die Maus der Göttin der 
Kastration und der Menstruation heilig ist. Denn die Menstruation erinnert 
die Frau zutiefst im Unbewußten an die Tausende von Jahren des Konfliktes, 
die sie durchgemacht hat bei dem Versuch, ihre natürlichen Wünsche zu 
einer Zeit zu verdrängen, da sie ihr sexuelles Objekt heftig forderte und 
begehrte. Hierin liegt eine teilweise Erklärung des „männlichen Protestes“, 
wie auch der Psychologie des Diebstahles und der Prostitution, die so eng 
mit der des Penisneides verknüpft ist. 2 Ich sehe keinen Grund, warum 
die Frau auf den Phallus neidisch sein sollte, ehe sie sich seiner beraubt 
gefühlt hat, obgleich diese Situation erst um weniges früher entstand, als 
der Mann versuchte, mehr Frauen zu beherrschen, als er befriedigen konnte; 
und doch glaube ich, daß nur geringe Zweifel an der Tatsache bestehen, 
daß dies nur seine wahre Bedeutung erlangte, wo er sich der Frau versagte, 
da die Befriedigung ihrer Wünsche im Menstruationstabu begründet ist, 
das seinerseits vom Manne aufgerichtet wurde. Dadurch wurde die Inzest¬ 
schranke verstärkt. Es war etwas, das endgültig zwischen die Geschlechter 
gekommen war, und zwar auf der Höhe ihrer Wünsche und endlich alle’ 
Beziehungen des Mannes zur Frau überdeckte. Der Weg von der 
Lösung des Mäuse- und Rattensymbolismus bis hierher scheint etwas lang 
gewesen zu sein, aber dem ist nicht so, denn diese beiden Tiere sind die 
größten Diebe, die der Mensch kennt. {Kali ist, wie gesagt, die Göttin 
der Diebe und der Prostitution.) Sie stehlen des Menschen Nahrung, kehren 
zu ihren Höhlen zurück und stillen ihren Hunger. So können Ratten und 

1) Die Entwicklung des sozialen Bewußtseins der Kinder, zitiert nach Havelock 
Ellis, Man and Woman, S. 410. 

2) Diese Fragen sollen in einer späteren Schrift behandelt werden. 











































Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 


Mause, besonders aber die letzteren, obgleich gewöhnlich Symbol des Vaters, 
auch den Phallus symbolisieren. Ebenso wie die Mäuse der Göttin Lha-Mo 
(Kali) heilig sind, begleiten die Ratten den Ganesa oder sind seine Fort¬ 
bewegungsmittel, jenes Sohnes, der von seinem Vater kastriert wurde und 
als Kompensation dessen Phallus erhielt (den Elefantenkopf), und von 
dessen geheimnisvoller Geburt wir schon in der Einleitung gesprochen 
haben. 

Der Zusammenhang zwischen dem Geld und den Fäzes ist jetzt in der 
psychoanalytischen Literatur wohl bekannt, so daß ich ihn nur kurz streifen 
werde. Der Gott des Reichtums wurde, laut der Sage, aus Exkrementen 
geboren. Wir sehen sogleich, daß Fäzes, Ratten, Phallus und Kinder alle 
untereinander in einer gewissen Beziehung stehen und gewisse, auf der 
Hand liegende Berührungspunkte haben. Freud 1 hat die Ratten Vorstellung 
bereits 1909 in einer Schrift über die Zwangsneurose besprochen, in der 
er die Aufmerksamkeit auf zwei heute sehr wohl bekannte infantile Sexual¬ 
theorien lenkt. Die eine sagt, daß die kleinen Kinder dem Anus ent¬ 
springen, und die andere, daß Männer ebenso gut Kinder haben können 
wie Frauen. In der Geschichte seiner Fälle, in der er dies Phänomen be¬ 
spricht, zeigt er, wie die Rattenvorstellung die anale Erotik des Patienten 
aufregt, und daß die Ratten das Geld darstellen. Sein Patient, der wußte, 
daß Ratten Träger von Infektionskrankheiten sind, verwandte sie als Sym¬ 
bole seiner Furcht vor einer syphilitischen Infektion, die er ihrerseits in 
Beziehung zum Penis brachte, der ja tatsächlich Träger dieser Krankheit 
ist. Wir wissen, daß die Furcht vor einer Krankheit eng verknüpft ist mit 
dem verdrängten Wunsch, schwanger zu werden. Die Ratten kommen wie 
die Fäzes aus schmutzigen Höhlen und die Vertauschbarkeit der Vorstellung 
vom Heraus- und Hineingehen ist eine Tatsache, die allen Analytikern 
geläufig ist. Bei Freuds Patienten hatten die Ratten diese Bedeutung, vor 
allem aber die von Kindern. 

Was die Girlande von roten Hibiskusblüten oder die der Kali geheiligten 
Zauberblume angeht, so sagen Thompson und Spencer, daß rote Hibiskus¬ 
blumen der Kali dargebracht werden, weil sie die Farbe des Blutes haben. 
Ich möchte hier einen Vers aus Artur Avalons Hymnus auf die Göttin 
anführen: 2 


1) Freud: Über einen Fall von Zwangsneurose. Ges. Schriften, Bd. VIII. 

2) Aval on: Hymns to the Goddess. S. 27, 39, 40, 115 und die entsprechenden 
Fußnoten. 


12’ 










i8o 


C. D. Daly 


Ich nahm meine Zuflucht zu Tripurasandari , 

Der Gemahlin des Dreiäugigen, 

Über die man nachsinnen soll, im ersten Aufwallen ihrer mannbaren Jugend 
Ihr blaues Gewand von roten Blutstropfen befleckt. 


Smaretprathama Pushpinive , die „erste Blüte“ haben, im selben sym¬ 


bolischen Sinn gebraucht, wie im Englischen. Der Pushpotsava ist das reli¬ 
giöse Fest, das bei den ersten Anzeichen der Pubertät gefeiert wird. 

Nach dem Glauben der Hindu 1 hängt die Farbe einer Göttin von der 
Form ab, in der sie betrachtet wird, und gerade dieses bietet eine gute 
Stütze für die psychoanalytischen Theorien von der Bevorzugung gewisser 
Farben. Und zwar wie folgt: 

Weiß — bei Erteilung der Freiheit. 

Rot — der Gewalthaber über Frauen, Männer und Könige, 

Safran — Gewalthaber über das Geld. 

Rosa — Leidenschaft der erschauernden Liebe. 

Loh färben — Ursprung der Feindschaft. 

Schwarz — die Aktion des Erschlagens. 

Wir haben uns in unserer Studie über Kali hauptsächlich mit ihren 
schwarzen und roten Manifestationen beschäftigt. Es wird uns nicht ver¬ 
wundern zu finden, daß sie in Rot, einer der Symbole von Gefahr und 
Angst, Beherrscherin der Menschenwesen ist, wurde doch in früheren 
Zeiten die Menschheit hauptsächlich durch Angst und Schrecken regiert. 


IV 



Es ist nicht meine Absicht, in dieser Schrift eine erschöpfende Ab¬ 
handlung über die mannigfaltigen Aspekte des Kastrationskomplexes zu 

1) Avalon: Hymns to the Goddess, S. 7. Verschiedene andere Stellen dieser alten 
Hymnen haben eine Beziehung auf diese Studien. „Zwei lotosgleiche Brüste, duftend 
von Sandelholz, mit Aschen bedeckt, erzählend von Sivas Umarmung, erinnern an 
die rotgetünchten Tempel, triefend von Götterhlut.“ — Samadasydkumbhan , der Götter 
Ichor, der den Schläfen des brünstigen Elefanten entsteigt, ein geschlechtlich an¬ 
ziehender Geruch; während im 25. Vers desselben Hymnus Kalis Haarreichtum, dessen 
Symbol schon besprochen wurde, hingestellt wird als ein Schwarm von Bienen, der 
über duftende Blüten hinsummt. — Karala-Vadana (weit offener Mund) ist Epithet der 
Kali, „starren Mundes, vierarmig, mit gelöstem Haar“. — Karala-Vadanany gharang 
mukta-keshing chalurbhuj am, wie der Kali dhyana lautet, das Karali-Kruse (grausam), wie 
auch die verschiedenen Bilder der Kali zeigen sicher, daß sie die Göttin der Grau¬ 
samkeit par excellence ist. 





































Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 181 


geben, sondern vielmehr diejenigen Punkte zu besprechen, die Bezug haben 
auf die hier vorgebrachte Theorie des chronologisch früher liegenden Kom¬ 
plexes, aus dem, wie der Autor glaubt, der Kastrationskomplex entstanden 
ist. Es scheint mir, als ob das regelmäßige Auftreten eines Phänomens, 
wie der Penisneid im sogenannten männlichen Protest, den Mann infolge 
des männlichen Narzißmus zu dem irrigen Glauben verleitet haben, daß 
der Penisneid primärer Natur sei, während er es tatsächlich nicht ist. So 
ist z. B. der Umstand, daß viele Frauen sich der Tatsache bewußt sind, 
daß gewisse Phänomene ihres Geisteslebens aus einem intensiven Wider¬ 
willen gegen ihr Weibsein entspringen, 1 der heute klinisch fast überall 
regelmäßig auf den Penisneid zurückgeführt werden kann, kein Beweis 
dafür, daß wir es mit einer primären Stufe in der Phylogenese zu tun 
haben. 

Der Verlust des narzißtischen Wertes ihrer .Genitalien für die Frau ist 
ihr, wie man glaubt, durch den Mann aufgezwungen worden als Resultat 
seiner damit verbundenen Ängste, — phylogenetisch gesprochen, der Todes¬ 
angst, und später in der religiösen Phase, der Angst vor der Kastration als 
Resultat einer Verletzung des Inzestgesetzes. Abraham weist daraufhin, daß 
bei Vollendung der Entwicklung des Weibes ihre Libido an die Idee der 
Erwartung, in Verbindung mit dem Manne gebunden ist. 2 Da ihre Ausdrucks¬ 
möglichkeit durch gewisse Verhinderungsmaßregeln unterbunden wird, 
nämlich durch das Schamgefühl, scheint kein bestimmter Versuch gemacht 
worden zu sein, den Ursprung dieses Schamgefühls zu erforschen und seine 
Quelle festzustellen, obwohl Abraham so weit geht zu sagen, daß „eine 
tägliche Beobachtung uns zeigt, wie häufig dieses normale Endziel der Ent¬ 
wicklung nicht erreicht wird“. Diese Tatsache sollte uns nicht verwundern, 
denn das Leben einer Frau gibt Anlässe genug, die die Überwindung des 
Kastrationskomplexes schwierig gestalten. Wir beziehen uns auf diejenigen 
Faktoren, die die Kastration beständig ins Gedächtnis der Frau zurück¬ 
rufen. Die frühere Vorstellung von der Wunde wird wieder belebt durch 
den Eindruck, der durch die erste und jede folgende Menstruation und 
schließlich durch die Defloration hervorgerufen wird; denn beide Prozesse 
sind mit einem Blutverlust verbunden und erinnern an eine Verletzung. 3 
Ich spreche vorerst vom Entwicklungsmäßigen und nicht vom klinischen 

1) Abraham: Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes. Internationale 
Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. VII (1921). 

2) Abraham, a. a. O. 

5) Abrah am, op. cit. 












Standpunkt. Diese Verletzung war vielleicht das Resultat einer Versagung 
von seiten des Mannes, so daß das Verlangen der Frau nach dem Phallus 
unbefriedigt blieb und ihre Annäherungen, vorher so willkommen, nunmehr 
mit offensichtlichen Zeichen von Haß und Abscheu zurückgestoßen wurden. 
Dies ist natürlich eine Hypothese, die im Lichte der offensichtlichen 
Beweiskraft, die ihrer Stützung entspringt, gesichert zu sein scheint. Zweifellos 
gab es Zeiten, in denen die Tochter während der Pubertät nicht vergebens 
nach des Vaters Phallus verlangte, noch wurden die Anzeichen ihrer 
kommenden Bereitschaft zu gebären mit einer Gebärde des Ekels und des 
Abscheus entgegengenommen. Daß die Rache eine so große Rolle in den 
Charakterzügen der Frau spielt, scheint dem Verfasser nicht weiter er¬ 
staunlich zu sein, oder daß die Furcht vor der Rache der Frau einem ähn¬ 
lichen Charakterzug des Mannes entspreche, und schließlich ist es, im 
ganzen betrachtet, ein Glück für den Mann, daß der Mutterinstinkt der 
Frau in weitgehendem Maße der Aktivierung ihres verdrängten, archaisch 
erworbenen Racheinstinkts entgegen wirkt. Der Wunscherfüllungstyp und 
der Rachetyp der Frauen repräsentieren zwei Seiten des weiblichen Kastrations¬ 
komplexes, die vermutlich in dem phylogenetisch früheren Menstruations¬ 
komplex ein gemeinsames Organ hatten. Wir dürfen uns vielleicht ge¬ 
statten anzunehmen, daß aus dem Wunsch der Frau nach dem Phallus in 
der Brunstzeit und der späteren größeren Freiheit, die der Mann genoß, 
allmählich der Wunsch entstand, Mann zu sein, einen Phallus zu haben 
wie er an Stelle einer Vagina, zusammen mit den Privilegien, die der Mann 
für sich selbst aufgehoben hatte, — kurz der Wunscherfüllungstyp. Während 
aus der Weigerung des Mannes, der verächtlichen Behandlung und den 
Zurücksetzungen, denen sich zu unterwerfen er die Frau veranlaßte zur Zeit 
ihrer natürlichen Neigungen und Offenbarungen, der Rachetyp entstand, der 
sogenannte „archaische“ Typ. Abraham schreibt mit Bezug auf den Rachetyp 
(a. a. O. S. 438): „Es sind zwei Tendenzen, die uns in verdrängter Form 
bei diesen Patientinnen mit großer Regelmäßigkeit begegnen: Das Verlangen 
nach Rache am Manne und das Begehren, sich das ersehnte Organ ge¬ 
waltsam zu nehmen, es also dem Manne zu rauben.“ Primitiven Frauen 
mag es wohl möglich gewesen sein, in ihren Reaktionen den Mann zu 
kastrieren, und wir können ganz sicher sein, daß sie es, wenn nicht in 
Wirklichkeit, jedoch oft in der Phantasie getan haben. Bei Frauen mit 
ausgesprochenen Kastrationskomplexen entsprechen die Neigungen i) den 
Liebhaber zu enttäuschen, 2) ihn zu demütigen, der Behandlung, die der 
Frau in Zeiten früher Vergangenheit durch den Mann zuteil geworden ist. 
































i83 



Hmd u-JVIytliologie und Kastrationskomplex 


Es scheint mir, als ob wir bei dem weiblichen Kastrationskomplex ebensoviel 
Nachdruck auf das hinzutretende Gefühl der Minderwertigkeit der weib¬ 
lichen Genitalien, wie auf den Penisneid zu legen hätten, denn es gibt 
Fälle, in denen ersteres stärker ist, obgleich der Penisneid nicht zum Aus¬ 
druck kommt, während ein beträchtlicher Teil der Vorstellung von der 
Wunde“, die der infantilen Idee kastriert worden zu sein angehört, tat¬ 
sächlich auf den Wunsch der Frau zurückzuführen ist, den Vater oder sein 
Surrogat zu kastrieren, den sie nun gegen sich selbst wendet. Daher kommt 
das Schmerzgefühl in den eigenen Genitalien beim Anblick einer Wunde 
am Körper des Mannes, das vielleicht zu oft vollständig der Vorstellung, 
verletzt worden zu sein, zugeschrieben wird, die im Unbewußten gelegentlich 
nur eine geringe Rolle spielt. Vielleicht ist dies auch ein Resultat des 
Narzißmus des Mannes; er zieht es vor, von der Frau zu glauben, daß sie 
bei Nichtempfang seines eigenen Stolz- und Machtsymbols gedemütigt oder 
gar vernichtet werde, als daß sie unbewußt vor der Demütigung des Mannes 
Ekel empfindet. Der Verfasser hofft, daß seine Leser bemerken werden, daß es 
der Gegenstand der vorliegenden Diskussion ist, die Aufmerksamkeit auf die¬ 
jenigen Faktoren zu lenken, die übersehen oder nurungenügend bemerkt worden 
sind, ohne den Anteil der offenbaren Komponenten des Kastrationskomplexes 
zu schmälern, die der psychoanalytischen Wissenschaft schon bekannt sind. 
Das oben beschriebene Phänomen steht in engster Beziehung zu dem, was 
Freud in seinem „Tabu der Virginität“ beschrieben hat, wo jemand anderer 
die Defloration der Braut vollzieht, um die Rachereaktion gegen den Gemahl 
zu vermeiden, und zwar — dies sei hervorgehoben — zumeist der Vater 
oder ein Vaterersatz. Es scheint mir, daß nahezu jede Frau, wenn wir tief 
genug geforscht haben, an einem phylogenetisch erlangten Minderwertigkeits¬ 
gefühl leidet, das nach meiner Ansicht das Resultat der Verstoßung der Frau 
während der Menstruationsperioden ist, was die Tatsache erklärt, daß Schön¬ 
heit die narzißtische Wunde kompensiert, und auch teilweise auf Rechnung 
des Verlangens der Frauen nach Kleidung zu setzen ist. Dies aber ist wiederum 
nur die Ergänzung zu demselben Wunsche beim Manne; wünschen doch 
beide, das Häßliche zu verbergen und durch das Schöne zu ersetzen. Der 
Wunsch der Frau, den Mann auf die Erleichterung, die sie ihm bieten kann, 
warten zu lassen, kann wohl außer den Gründen, die durch die klinische 
Analyse ermittelt wurden, eine viel primitivere Basis haben, die mit der 
langen Entwicklungsperiode, während deren sie auf die Geneigtheit des 
Mannes, ihres Herrn und Meisters, zu warten hatte, zusammenhängt. Ich 
mache absichtlich auf eine besondere Seite der psychischen Entwicklung auf- 







C. D. Daly 


l&f 

merksam, aber ich möchte der Annahme begegnen, ich legte keinen Wert 
auf die zahlreichen psychoanalytischen Theorien, zu denen man auf medi¬ 
zinischem Wege im Zusammenhang mit dem Kastrationskomplex gelangt 
ist. Da es ja in Wahrheit ohne ausgiebige Beobachtung des Hineinspielens 
der verschiedenen Faktoren dieser menschlichen Komplexe unmöglich ge¬ 
wesen wäre, unsere Theorie zu formulieren, obwohl diese zum Teil durch 
die allmähliche Überwindung beträchtlicher interner psychischer Widerstände 
auf seiten des Verfassers, was gewissermaßen als bekräftigender Beweis an¬ 
gesehen werden kann, zustande kam. Karen Horney 1 stellt fest, indem sie 
sich auf die von mir oben teilweise besprochene Schrift von Abraham be¬ 
zieht: „Dennoch ist das bisherige Resultat der Untersuchungen, welches 
doch nichts weniger besagen würde, als daß die eine Hälfte des Menschen¬ 
geschlechts unzufrieden sei mit ihrer Geschlechtsrolle und diese Un¬ 
zufriedenheit nur unter günstigen Verhältnissen überwinden könne, nicht 
nur für den weiblichen Narzißmus, sondern auch für das biologische Denken 
recht unbefriedigend." Eine Ansicht, mit der ich übereinstimme. In der 
Diskussion der geläufigen psychoanalytischen Theorien im Zusammenhang 
mit dem Penisneid liefert die Verfasserin eine sehr tief eindringende Analyse 
gewisser Aspekte, indem sie die Wichtigkeit des frühen Liebesbandes zwischen 
Tochter \ind Vater betont, als einer der frühesten Ursachen des Penisneides, 
sowohl in ontogenetischer wie auch phylogenetischer Hinsicht. Die Verfasserin 
versäumt jedoch, dies in Beziehung zu den frühen Tabus zu bringen, die 
im Dienste der Triebeinschränkung errichtet worden sind. Dennoch mußte 
sie der Lösung sehr nahe gewesen sein, als sie zu der Auffassung gelangte, 
daß die aktive und passive Koprophilie die Kräfte liefern, die die urethrale 
Erotik hervorbringen und erhalten. Die Tatsache, daß die Menstruation 
nicht erwähnt wird, gibt uns den Schlüssel zu der Hemmung, die die Ver¬ 
fasserin daran hinderte, sich dem Gegenstand von beiden Seiten zu nähern; 
denn ich setze schon als möglich voraus, daß die völlige Unterdrückung der 
Exhibition ihrer anschwellenden Organe eine der Grundursachen für den 
Penisneid der Frau ist, insbesondere wenn wir bedenken, daß der erigierte 
Phallus lange Zeit hindurch als Gegenstand des Stolzes und der Schönheit 
angesehen wurde, während die Frauen ihre Perioden als eine Ekel und 
Scham erregende Angelegenheit betrachten mußten und die geringste An¬ 
spielung darauf mit tiefster Demütigung bestraft wurde. Vielleicht entspricht 


1) Karen Horney: Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes. Internationale 
Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. IX. 





































Hindu-^Mythologie und Kastrationskomplex 


85 


es den Tatsachen, daß, je tiefer der Penisneid sitzt, desto größer das Ver¬ 
langen nach der Demütigung des Mannes ist, deren Grund und Ursache 
so vielen Spekulationen den Weg geöffnet hat. Karen Horney bemerkt, 
daß „wie die Frau für den Mann das große Rätsel bleibt wegen der Ver¬ 
borgenheit ihrer Genitalien, ist der Mann für die Frau eben wegen der 
Sichtbarkeit ein Gegenstand heftigen Neides.“ Wir können, glaube ich, diesen 
Gedanken unbehelligt weiter verfolgen und sagen, daß dies anfänglich daher 
kommt, daß der Mann sein Verlangen nach dem Geschlechtsverkehr offen 
zeigen kann, während die Frau erst erforscht werden muß. Wir können 
den Einwand, daß kleinen Mädchen das Phänomen der Erektion nicht be¬ 
kannt ist, nicht akzeptieren, denn solche Naturtatsachen bleiben nie ver¬ 
borgen, ja sie erstehen in der Phantasie, wenn sie praktisch noch nicht 
erfahren worden sind. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die Frau 
vor dem Tabu der Menstruation und des Gebärens schon unter 
dem Penisneid litt, da die Anzeichen ihrer Gebärbereitschaft 
genügten, um das „Besitzen“ des Phallus, nach dem es sie ver¬ 
langte, herbeizuführen, während die Männer um das Vorrecht, 
sie zu besitzen und zu schwängern, kämpften. Wir können daher 
sagen, daß der Penisneid phylogenetisch nicht primär ist, und daß eben¬ 
deshalb kein Grund besteht, warum mittels der Erziehung dieses Hindernis 
weiterer psychischer Entwicklung nicht mit der Zeit aufgehoben werden 
sollte, was vielleicht in Zukunft dadurch erlangt wird, daß man den Tat¬ 
sachen der Sexualität gegenüber ein gesundes Verhalten zeigt, das aller 
falschen Scham entledigt sein wird, die jetzt den ganzen Gegenstand um¬ 
gibt — eine der Hauptaufgaben der Psychoanalyse. 

Die Idee des Raubes, die der weiblichen Phantasie so geläufig ist, hat 
etwas Archaisches an sich und bezieht sich fast überall auf das Vatersurrogat, — 
jener groteske Vorgang, den Frauen in Träumen erleben, indem sie nämlich 
von Löwen oder anderen großen Tieren geschwängert werden, kann immer 
in diesem Sinne ausgelegt werden. In diesem Zusammenhang sagt Karen 
Horney: „Zahlreiche eindeutige Beobachtungen gleicher Art lassen es 
wichtig erscheinen, sich klar zu machen, daß das Kind in dieser ersten 
Phase auf Grund der — feindlichen oder freundlichen — Mutteridentifi¬ 
zierung als ontogenetische Widerholung einer phylogenetischen Periode eine 
völlige Besitzergreifung durch den Vater phantasiert, und daß es dieses in 
der Phantasie ebenso real erlebt, wie es einmal real gewesen ist, zu einer 
Zeit, wo alle Frauen in erster Linie dem Vater gehörten.“ 

Wir wissen, daß das natürliche Schicksal dieser Liebesphantasie ihre 







Verneinung durch die Wirklichkeit ist. In Fällen, in denen der Kastrations¬ 
komplex nachträglich dominiert, führt dieser Fehlschlag oft zu einer tiefen 
Enttäuschung, die ihre eindringlichen Spuren in der Neurose hinterläßt. 1 
Der Gegenstand der Identifikation ist von äußerster Wichtigkeit für das 
völlige Verständnis der Phänomene, die wir zu besprechen versuchen, doch 
davon wird ausführlich in einer späteren Schrift die Rede sein, in der wir 
den Zusammenhang zwischen Inzest, Penisneid, Kriminalität, Prostitution 
und Revolution aufzeigen werden, alles Dinge, die von der indischen Göttin 
Kali regiert werden. 

Eine der wichtigsten Ursachen des Penisneides ist die Enttäuschung beim 
Nichtempfang eines Kindes vom Vater, eine Reaktion auf die tiefste Quelle 
vergeblichen Inzestverlangens. Ich kann in dieser Reziehung nichts Resseres 
tun, als einen Teil der Geschichte eines Falles zu wiederholen, die von 
Karen Horney angegeben worden ist. Die Patientin Z. behält nach dem 
Verschwinden einiger zwangsneurotischer Symptome als letztes und hartnäckig¬ 
stes Symptom „eine heftige Angst vor Schwangerschaft und Entbindung“. 
„Es erwies sich hier neben spät fortgesetzten Koitusbeobachtungen der Eltern 
eine Schwangerschaft der Mutter und die Geburt eines Bruders, als sie zwei 
Jahre alt war, als das entscheidende Erlebnis. Dieser Fall erschien lange 
Zeit so recht geeignet, die zentrale Bedeutung des Penisneides darzutun. 
Der Penisneid, der sich an den Bruder anknüpfte und die Wut gegen den 
Bruder, als den Eindringling, der sie aus der Position des einzigen Kindes 
verdrängte, wurden — einmal aufgedeckt — sehr affektvoll bewußt ver¬ 
treten; mit ihm alle Äußerungsformen, die wir als seine Folgeerscheinung 
zu sehen gewohnt sind. Also vor allem die Racheeinstellung gegen den 
Mann mit intensiven Kastrationsphantasien, die Ablehnung weiblicher 
Arbeiten und weiblicher Funktionen, insbesondere der Schwangerschaft, 
sowie eine starke, unbewußte Homosexualität. Erst als die Psychoanalyse 
unter den denkbar größten Widerständen in tiefere Schichten eindrang, 
zeigte es sich, daß der Penisneid zurückging auf einen Neid auf 
das Kind, das die Mutter und nicht sie vom Vater bekommen hatte, und 
daß er erst vom Kinde auf den Penis verschoben war“. Das Resultat dieser 
sehr vollständigen Analyse war die Heilung der Patientin und die Wieder¬ 
aufnahme der weiblichen Rolle. Karen Horney weist darauf hin, daß hier 
der Mechanismus ganz klar zutage trat, den Freud entdeckt hat, daß näm¬ 
lich, nachdem der Vater als Liebesobjekt aufgegeben wird, die Objekt- 


1) Karen Horney, op. cit. 
























Hmdu-Alytliologie und Kastrationskomplex l 8 p 


beziehung regressiv durch eine Identifikation mit ihm ersetzt wird. — 
Etwa wie folgt: Verschiebung des Neides in bezug auf den Bruder und 
seinen Penis, Identifizierung mit dem Vater und Regression auf eine prä¬ 
genitale Phase. Dies alles wirkt in ein und derselben Richtung, nämlich 
den mächtigen Penisneid zu entfachen, der dann auch im Vordergrund 
bleibt und das ganze Bild zu beherrschen scheint. 

Ich glaube, es ist aus dieser sehr klaren Beschreibung des Prozesses 
offensichtlich, daß ein vergebliches Verlangen, vom Vater geschwängert zu 
werden, ein Kind von ihm zu haben, eine der Hauptursachen des Penis¬ 
neides ist, und in dem antisozialen, rachedurstigen Verhalten, das als Be¬ 
gleiterscheinung auftritt, eine hervorragende Rolle spielt als Komponente 
des Kastrationskomplexes. 

In Karen Horneys Arbeit findet sich eine Äußerung, die sich meiner 
Meinung nach auf das tiefer liegende Phänomen bezieht, das an der Wurzel 
des Kastrationskomplexes der Menschheit liegt. Sie spricht von einer Patientin, 
deren Verlangen nach dem Penis völlig groteske Formen annahm. Das Ge¬ 
fühl, eine Wunde erhalten zu haben (die Phantasie des Raubes durch den 
Vater resultiert in der Kastration), wurde hier auf andere Organe ver¬ 
schoben, so daß, als die zwangsneurotischen Symptome aufgelöst waren, 
das klinische Bild ausgesprochen hypochondrisch war. An diesem Punkt 
nahm der Widerstand die folgenden Formen an: „Es ist doch lächerlich, 
daß ich mich analysieren lasse, denn mein Herz, meine Lungen, mein 
Magen und mein Darm sind doch organisch krank.“ (Von mir ge¬ 
sperrt.) Ihre Assoziationen führten schließlich zu der Vorstellung, daß sie 
von ihrem Vater mit einer Krankheit geschlagen sei. 1 Karen Horney sagt 
dazu: „Ich sehe keine Möglichkeit, diesen Erscheinungen nur vom Penis¬ 
neidkomplex her gerecht zu werden“ — womit ich völlig übereinstimme, 
aber ich glaube, daß sie nicht tief genug geht, um zu der vollständigen 
Lösung zu gelangen. Die Verfasserin sagt, sie sei geneigt zu glauben, daß 
diese „Grundphantasie des durch die Liebesbeziehungen zum Vater Kastriert¬ 
seins“ die zweite Wurzel des Kastrationskomplexes bei der Frau ist. 2 Ich 
glaube, daß diese Feststellung grundsätzlich richtig, aber unvollständig ist, 
obgleich der nächste Satz sie fast vervollständigt: „Die große Bedeutung 
dieser Kombination liegt darin, daß solcherart ein wichtigstes Stück ver¬ 
drängter Weiblichkeit auf das innigste mit Kastrationsphantasien verknüpft 
wird.“ Oder aber, wenn man vom Standpunkt des zeitlichen Nacheinander 


1) Karen Horney, op. cit. S. 24. 

2) Karen Horney, op. cit. S. 24. 













die Sache betrachtet, ist es die verletzte Weiblichkeit, die den Kastrations¬ 
komplex erwachsen läßt, und dann ist es eben dieser Komplex, der die 
weibliche Entwicklung (wenngleich nicht primär) stört. Hier haben wir 
wahrscheinlich die Grundbasis des rachedurstigen Verhaltens gegen den 
Mann, das so oft ein hervorstechender Zug ist bei Frauen, die Anzeichen 
des Kastrationskomplexes tragen. 1 

Bis hierhin stimme ich völlig mit der Autorin überein; und sie zeigt 
auch ganz folgerichtig, daß der Penisneid in der Psychoanalyse weit eher 
beschrieben wurde, als die tiefer verdrängte Phantasie, die den Verlust der 
männlichen Genitalien einem sexuellen Akt mit dem Vater als Partner 
zuschreibt. Ich glaube, daß wir trotzdem andere Faktoren auch in Betracht 
ziehen müssen, um dieses Rätsel vollkommen zu verstehen, i) In den 
Beschreibungen der Folklore von dem Ursprung der Menstruation ruft ent¬ 
weder eine Schlange oder ein Vatersurrogat den Erguß hervor. 2) Die 
Menstruation wird als ein organisches Übel angesehen, dem die Frau peri¬ 
odisch unterworfen ist. ß) Der wichtigste Teil der zu erfassenden ver¬ 
drängten Weiblichkeit liegt in der Verdrängung ihrer Triebe, zur natür¬ 
lichen Zeit zu kohabitieren. 4) Die gefährlichste psychische Wunde, die 
überhaupt möglich war, entstand sicher, als der Mann begann, auf die 
Zeit der größten Schönheit und Anziehungskraft der Frau als auf eine 
unbegreiflich häßliche, Abscheu und Ekel erregende zu sehen. In der end' 
liehen Zusammenfassung ihrer Theorien sagt Karen Horney: „Denn es 
kommt dadurch die geschilderte Verknüpfung der Kastrations Vorstellungen 
mit den den Vater betreffenden Inzestphantasien gerade zu dem verhängnis¬ 
vollen Resultat, daß nun umgekehrt das Weibsein an sich als Schuld 
empfunden wird.“ 2 Aber warum sollte die Frau so fühlen? Des Verfassers 
Antwort darauf wird sich in einer demnächst erscheinenden Arbeit finden, 
die sich mit dem Menstruationskomplex befaßt. 


V 

s&u 


Die Todesangst der Hindu 

Die Muttergöttin Kali ist die schreckliche, gefürchtete Frau, die blutige 
Göttin, die Krankheiten verbreitet und die Kastration und den Tod der 


1) Karen Horney, op. cit. S. 24. 

2) Karen Horney, a. a. O. S. 26. 
































Hindu-Afytliologie und Kastrationskomplex 


189 


Männer verursacht, die alle Attribute besitzt, die der Mann in der Ver¬ 
gangenheit auf sie verschoben hat, und die ihm nun, wie er fürchtet, aus 
Rache all seiner Macht berauben und ihn so weit demütigen wird, wie 
er es in seinem Unbewußten zu verdienen glaubt; es ist die schreckliche 
Strafe, die der Sohn in seinen Phantasien auf den Vater überträgt. Wenn 
diese Deutung der Göttin des Hasses und der Zerstörung richtig ist, dann 
glaube ich, stützt sie meine Ansicht, daß die Rasse der Hindu in einem 
frühen Stadium menschlicher Entwicklung, welches der dunklen Vergangen¬ 
heit angehört, eine Fixierung erfuhr, und daß die Besonderheiten ihres 
Temperamentes, ihrer Kunst und ihrer Religion das Resultat von Subli¬ 
mierungen sind, die auf dieser Basis stattgefunden haben, was seinerseits 
einigen Aufschluß gibt über die Extreme ihrer geistigen Richtung, in denen 
ihre philosophische Doktrin verläuft. Der Hindu wird beherrscht und be¬ 
stimmt durch die Furcht vor dem Tode, und wir mögen uns wenden, 
wie wir wollen und versuchen, was wir können, um auf den Grund der 
Hauptprobleme des menschlichen Seelenlebens zu gelangen, wir stoßen 
überall stets auf diese Todesangst als dem Ausgangspunkt dieser psychi¬ 
schen Systeme. 

Während die Todesangst auf dem Hindu lastet, ist es immer Kali , die 
er um Hilfe anruft; und obgleich einige sich mit der Erklärung zufrieden 
geben, daß am Ende die menschliche Psyche in Augenblicken, die zu einer 
starken Regression zwingen, sich immer zu der Mutter, als der frühesten 
Quelle des Schutzes wendet, so erscheint für den Verfasser diese Erklärung 
doch nicht als zureichend, um diese intensive Todesfurcht und ihre nahe 
Verbindung mit der Mutter, die, wie eine genauere Analyse zeigt, das 
indische Gemüt charakterisiert, zu erklären. 

Ein Studium der hinduistischen Hymnen und der Tantras wird zeigen, 
daß in diesem Zusammenhang immer von Kalis bluttriefenden Füßen die 
Rede ist. Ramprasad Sen sagt: „Nimm diese Binde von meinen Augen, 
damit ich die Füße sehe, die die Furcht verbannten.“ 1 

Ich glaube, daß diese Füße der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ge¬ 
worden sind, als Resultat einer Verschiebung nach unten. Derselbe Autor 
schreibt in dieser Hymne, die „Sivas Sturm-Prozession“ genannt worden 
ist: „Sieg, Sieg, Kali, rufen sie dir — die Verehrer und Anbeter sollen 
zittern, der blumengeschmückte Wagen ist am Himmel.“ Die Sym¬ 
bolik des blumengeschmückten Wagens wird auf meine Leser nicht ohne 


) Thompson und Spencer, op. cit. S. 49. 










190 C. D. Daly 


Eindruck bleiben. Die zahllosen Lobpreisungen ihrer Schönheit hören zu¬ 
meist auf mit einem Hinweis auf ihre bluttriefenden Füße. 

Da sie die Mutter der ganzen Welt ist, repräsentieren die menschlichen 
Köpfe um den Hals der Kali die Häupter ihrer Söhne, und als solche sind 
sie richtigerweise von bengalischen Dichtern unsterblich gemacht worden, 
wie das folgende Zitat beweist: 

„Häupter Deiner Söhne, jeden Tag aufs neue getötet, 

Hängen wie eine Girlande um Deinen Hals.“ 1 
„Schande Dir, Mutter, Schande Deinen bösen Wegen, 

Daß Du in Deinen tollen Freuden das Lebensblut 
Deiner Söhne um Dich spritzest. 

Wer kann eine solche Seele verstehen?“ 2 

In der Einleitung wies ich auf das Leichentuch hin, das über der hin- 
duistischen Rasse hängt, und bemerkte dazu, daß, wenn wir ein Stadium 
im primitiven Leben aufzeigen könnten, in dem der Mensch sich von dem, 
was vorher seine größte Freude war, zu Furcht und Angst hinwandte, dann 
wären wir vielleicht imstande, dieses Rätsel zu lösen. In dieser Studie über 
die Hindugöttin und ihre verschiedenen Formen, besonders aber über Kali, 
die Zerstörerin, hoffen wir, das Geheimnis in einigem Ausmaß aufgedeckt 
zu haben. Ich kann weder die Redingungen, unter denen der Hindu lebt, 
so niederdrückend sie ohne Zweifel sind, noch den analerotischen Faktor 
als ausreichend betrachten, um diesen bemerkenswerten Stand der Dinge 
in der hinduistischen Rasse zu rechtfertigen. Ramprasad sagt: „Meine 
Seele, warum so verdrießlich, wie ein mutterloses Kind? W r enn du in die 
Welt kommst, sitzt du brütend und sinnend und schauernd in der Furcht 
vor dem Tode — welcher Todesschrecken ist dieser, der in dir ist, du Kind 
des Mutterherzens aller? Was für eine Tollheit ist dies, welche Verrücktheit 
geradezu? Kind des Mutterherzens, was wirst du fürchten? Wonach sinnst 
du in vergeblicher Sorge ?“ 3 

Kak die SchladitenLönigin 

„Immer tanzest Du in der Schlacht, o Mutter, 

Nie war einer schöner als Du, mit Deinem wehenden Haar 
Die Du tanzest, ein nackter Krieger auf Sivas Brust; 

x) Nach der englischen Übertragung aus dem Ramprasad von E. J. Thompson 
und A. M. Spencer, enthalten in der religiösen bengalischen Lyrik, Saktu, S. 46. 

2) Daselbst S. 79. 

3) Thompson und Spencer, S. 57. 









































Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 


191 


Die Häupter Deiner Söhne, täglich von neuem getötet, hängen kettengleich 

um Deinen Hals. 

Wie sind Deine Hüften mit Menschenhänden geschmückt! Kleine Kinder Deine 

Ohrringe! 

Gedankenlos Deine herrlichen Lippen, und schön wie Kunda in voller Blüte 

Deine Zähne! 

Dein Antlitz glänzt, wie das der Lotosblume, und schrecklich ist sein ewiges 

Lächeln, 

Schön, wie die Regenwolken ist Dein Leib und vom Blute gerötet Deine Füße.“ 

Präs ad sagt: „Mir ist, als tanze meine Seele. Nicht länger mehr können 
meine Augen solche Schönheit ertragen/' Wir können, denkeich, die letzte 
Zeile getrost umkehren, um zu dem wahren Verständnis der schrecklichen 
Todesfurcht zu gelangen, deren höchster Ausdruck die Verehrung dieser 
Göttin ist. Hingegen äußert sich die Inzestfixierung in der letzten Hoffnung 
des Ramprasad: „Daß ich am Ende Ruhe finden möge zu deinen Füßen.“ 
Es ist eine der Besonderheiten unbewußter Vorgänge, daß Gegensätze 
stets durch ein und dasselbe Symbol dargestellt werden 5 deshalb dürfen 
wir annehmen, daß sie in der Vergangenheit auch synonym gewesen sind. 
Ich weiß von keiner anderen Situation, außer der der Tabus der Menstrua¬ 
tion und des Gebärens, in der diese Zustände im Leben der Primitiven 
auffindbar wären und glaube demnach, daß die psychischen Erscheinungen, 
die als Grundlage der „Darstellung durch das Gegenteil“ und der „Reak¬ 
tionsbildung“ anzunehmen sind, zum guten Teil auf diesen Komplexen 
beruhen. Es handelt sich um den Konflikt zwischen Liebestrieb und Selbst¬ 
erhaltungstrieb und vielleicht (ich weiß nicht, ob ich schon so weit gehen 
kann) zwischen dem Lebens- und dem Todestrieb. Auf jeden Fall bin ich 
davon überzeugt, daß die Doppelnatur der Frau, wie sie aus Mythos und 
Folklore erwiesen ist, letzten Endes auf den Menstruations- und Geburts¬ 
komplex zurückzuführen ist. Freud begründet in seiner Analyse des Themas 
von den drei Kästchen die Ersetzung der Göttin der Liebe durch die Göttin 
des Todes folgenderweise: „Diese Ersetzung . . . war durch eine alte Ambi¬ 
valenz vorbereitet, sie vollzog sich längs eines uralten Zusammenhanges, 
der noch nicht lange vergessen sein konnte.“ „Die Liebesgöttin selbst, die 
jetzt an die Stelle der Todesgöttin trat, war einst mit ihr identisch 
gewesen. (Von mir gesperrt.) Noch die griechische Aphrodite entbehrt 
nicht völlig der Beziehungen zur Unterwelt, obwohl sie ihre chthonische 
Rolle längst an andere Göttergestalten, an die Persephone, die dreigestaltige 
Artemis-Hekate abgegeben hatte. Die großen Muttergottheiten der orienta¬ 
lischen Völker scheinen aber alle ebensowohl Zeugerinnen wie Vernich- 









19a 


C. D. Daly 


terinnen, Göttinen des Lebens und der Befruchtung wie Todesgöttinen 
gewesen zu sein. So greift die Ersetzung durch ein Wunschgegenteil bei 
unserem Motive auf eine uralte Identität zurück.“ 1 

Wenn meine Mutmaßung richtig ist, haben wir damit die Lösung des 
Geheimnisses der fast immer gegenwärtigen Todesfurcht in der Psyche der 
Hindu gewonnen. Freud erinnert uns in seinem Essay „Zeitgemäßes 
über Krieg und Tod“ 2 3 * daran, daß es etwas Sekundäres war, was gewöhnlich 
für das Resultat des Schuldbewußtseins gehalten wurde, da die Schuld 
primär auf eine Übertretung des Inzestgesetzes zurückzuführen sei — i m 
animistischen Stadium der Entwicklung vor der Bildung des Ödipus¬ 
komplexes während einer späteren Entwicklungsperiode. 

Das „Unheimliche“ und das „Geheimnisvolle “ 5 

Die unheimliche oder schreckeneinflößende Natur der Kali ist von nicht 
geringer Bedeutung für die Lösung unseres Problems. Freud hat schon 
das Gefühl des Unheimlichen zum Gegenstand einer besonderen Unter¬ 
suchung gemacht, so daß wir nichts Besseres tun können, als diese kurz 
hier wieder aufzurollen. Nach Freud gehört das Unheimliche zu all dem, 
was schrecklich ist, — zu allem, was Furcht und Schrecken hervorruft — 
zur Verdrängung. Es ist jene Art des Erschreckenden, die zu etwas uns 
sehr Bekanntem, einst sogar Vertrautem, zurückführt. Zu etwas, das ver¬ 
borgen geblieben sein sollte, und jetzt ans Licht kommt. Freud analysiert 
daraufhin die Worte „heimlich und unheimlich“, und nachdem er die 
verschiedenen Situationen, in denen das Gefühl des Unheimlichen geweckt 
wird, besprochen hat, stellt er endlich zwei Überlegungen an, die die 
wesentlichen Punkte seiner Untersuchung enthalten. 

„Erstens, wenn die psychoanalytische Theorie in der Behauptung recht hat, 
daß jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig von welcher Art, durch die 
Verdrängung in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des Ängst¬ 
lichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen läßt, daß dies Ängstliche etwas 
wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das 
Unheimliche und dabei muß es gleichgültig sein, ob es ursprünglich selbst 
ängstlich war oder von einem anderen Affekt getragen. Zweitens, wenn dies 
wirklich die geheime Natur des Unheimlichen ist, so verstehen wir, daß der 


1) Freud: Das Motiv der Kästchen wähl. Ges. Schriften, Bd. X, S. 253. 

2) Ges. Schriften, Bd. X, S. 315. 

3) Der Autor hat diese Diskussion des Unheimlichen eingeschohen, als diese 

Schrift schon geschrieben war, nach der Lektüre von Freuds Abhandlung über diesen 

Gegenstand. Freud, Ges. Schriften, Bd. X, S. 369. 
































Hmdu-jMytliologie und Kastrationskomple 


193 


Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen 
läßt, denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern 
etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den 
Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. Die Beziehung auf die Ver¬ 
drängung erhellt uns jetzt auch die Schellingsche Definition, das Unheimliche 
sei etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.“ 

Freud bringt sodann das Unheimlich-ungemütliche in Verbindung mit 
dem Tode, und hier nähert er sich sehr stark der endlichen und primären 
Analyse dieses Faktors oder dem, was ich dafür halte. Aber bevor ich 
diese endliche Lösung hinzufüge, möchte ich einige wenige Auszüge aus 
der oben erwähnten Schrift machen, von denen die ersten beiden in der 
umgekehrten Ordnung wie in der Originalschrift erscheinen. 

„Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arm gelöste Hand 
wie in einem Märchen von Hauff, Füße, die für sich allein tanzen wie in 
dem erwähnten Buche von A. Schaeffer, haben etwas ungemein Unheim¬ 
liches an sich, besonders wenn ihnen wie im letzten Beispiel noch eine selb¬ 
ständige Tätigkeit zugestanden wird. Wir wissen schon, daß diese Unheimlich¬ 
keit von der Annäherung an den Kastrationskomplex herrührt. Manche Menschen 
würden die Krone der Unheimlichkeit der Vorstellung zuweisen, scheintot 
begraben zu werden. Allein die Psychoanalyse hat uns gelehrt, daß diese 
schreckende Phantasie nur die Umwandlung einer anderen ist, die ursprünglich 
nichts Schreckhaftes war, sondern von einer gewissen Lüsternheit getragen 
wurde, nämlich der Phantasie vom Leben im Mutterleib.“ 

Ich stimme mit dieser Feststellung völlig überein, möchte aber das 
Phänomen des Menstruationskomplexes (und im geringeren Grade das der 
Schöpfung) der frühen animistischen Periode als primärsten Faktor unter 
allen angesehen wissen, denn diese waren es, die den Menschen auf dem 
Wege über das Inzestgesetz von Angesicht zu Angesicht dem Tode gegen¬ 
überstellen. Bei der Menstruation haben wir die Tatsache, daß etwas Ver¬ 
drängtes zurückkehrt und immer wieder zurückkehrt, trotzdem gerade in 
diesem Zusammenhang wir es mit dem Beispiel der hartnäckigsten Ver¬ 
drängungsarbeit zu tun haben, das uns die Geschichte der Menschheit bietet. 

Freud weist auf die ambivalente Beziehung des männlichen Patienten 
zu den weiblichen Genitalien hin (ein Gegenstand, über den Abraham 
eine sehr genaue Beobachtung angestellt hat), als auf ein schönes Beispiel 
seiner Theorie vom Unheimlichen, da doch der unheimliche Ort das 
frühere Heim jedes menschlichen Wesens ist. Man braucht nur diese 
Gedanken in Verbindung mit dem Inzestgesetz und dem Menstruations¬ 
komplex zu bringen, um die Theorie zu vervollständigen, denn sie geben 
Imago XIII. 


13 







C. D. Daly 


die Ursache für die Verdrängung von Gedanken, die früher zu des Men¬ 
schen größtem Vergnügen gehört haben müssen. Wir können das tun 
gestützt auf zwei in dieser Schrift angeführte Beispiele von visuellen und 
Geruchstimuli, auf die ich in meiner früheren Schrift über «Psychologische 
Reaktion auf Geruchstimuli“ hingewiesen habe. 

Freud führt einen Fall an, in dem er das Gefühl des Unheimlichen 
selbst erfuhr, und der in ihm jenes Gefühl der Hilflosigkeit erweckte, die 
man zuweilen in Träumen hat. Er sagt: 

„Als ich einst an einem heißen Sommernachmittag die mir unbekannten, 
menschenleeren Straßen einer italienischen Kleinstadt durchstreifte, geriet ich 
in eine Gegend, über deren Charakter ich nicht lange im Zweifel bleiben 
konnte. Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen Häuser 
zu sehen, und ich beeilte mich, die enge Straße durch die nächste Einbiegung 
zu verlassen. Aber nachdem ich eine Weile führerlos herumgewandert war, 
fand ich mich plötzlich in derselben Straße wieder, in der ich nun Aufsehen 
zu erregen begann, und meine eilige Entfernung hatte nur die Folge, daß 
ich auf einem neuen Umwege zum dritten Male dahingeriet. Dann aber erfaßte 
mich ein Gefühl, das ich nur als unheimlich bezeichnen kann, und ich war 
froh, als ich unter Verzicht auf weitere Entdeckungsreisen auf die kürzlich 
von mir verlassene Piazza zurückfand.“ 

Es besteht nun die Frage, was die primäre Ursache dieses unheimlichen 
Gefühls sei. Wir erklären es mit Hilfe der psychoanalytischen Theorien, 
d. i. mit demjenigen der Verdrängung und der Verschiebung, der Anziehung, 
der Abstoßung und der Wiederkehr. Die gemalten Gesichter 1 stellten 
eine Verschiebung von unten nach oben dar, und zwar dessen, was einst 
für den Mann der größte Anziehungspunkt gewesen war und später Gegen¬ 
stand seiner größten Furcht wurde — der geschwollenen und roten weib¬ 
lichen Genitalien. Die Rückkehr zu derselben Örtlichkeit berührte diesen 
alten Verdrängungskomplex an seinem schwächlichsten Punkt — die un¬ 
widerstehliche Anziehung und ihre Rückkehr. 

Es ist nunmehr nötig, diesen Faktor des Menstruationskomplexes in 
Beziehung zu der Theorie von der Zwangswiederholung zu bringen, in 
bezug auf welche Freud schreibt: 


1) Wir finden das Folgende in den Anmerkungen, die zu der Prophezeiung des 
Enoch gegeben worden sind. Man nahm von der Welt an, daß sie voll von bösen 
Geistern sei, von denen einige Engel waren und in der antidiluvialen Welt mit den 
Töchtern der Menschen vereinigt worden waren, und die, da ihnen gelehrt worden 
war, Wolle zu färben und sich sogar die Gesichter zu malen, zu ewigen Leiden 
verurteilt worden seien. Lecky, Aufkommen und Einfluß des Rationalismus in Europa, 

S. 6 f. 






































Hindu-Mytliologie und Kastrationskomplex 


195 


„Im seelisch. Unbewußten läßt sich nämlich die Herrschaft eines von den 
Triebregungen ausgehenden Wiederholungszwanges erkennen, der wahrscheinlich 
von der innersten Natur der Triebe selbst abhängt, stark genug ist, sich über 
das Lustprinzip hinauszusetzen, gewissen Seiten des Seelenlebens den dämoni¬ 
schen Charakter verleiht usw.“ 

Alles in allem bereitet uns das Voran gegangene auf die Entdeckung 
vor, daß, was immer auch an diesen inneren AViederholungszwang erinnert, 
das Gefühl des „Unheimlichen“ erregt. Ich bedauere, daß mir der Raum¬ 
mangel nicht gestattet, dieses interessante Thema in diesem Zusammen¬ 
hang weiter zu verfolgen. Wir haben uns jetzt mit einem anderen Beispiel 
des Unheimlichen zu befassen, das Freud anführt. Es handelt sich um 
eine Geschichte, aus dem englischen Magazin „Strand“, in der erzählt 
wird, „wie ein junges Paar eine möblierte Wohnung bezieht, in der sich 
ein seltsam geformter Tisch mit holzgeschnitzten Krokodilen befindet. Gegen 
Abend pflegt sich dann ein unerträglicher, charakteristischer Gestank in 
der Wohnung zu verbreiten, man stolpert im Dunkeln über irgend etwas, 
man glaubt zu sehen, wie etwas Undefinierbares über die Treppe huscht, 
man soll erraten, daß infolge der Anwesenheit dieses Tisches gespenstische 
Krokodile im Hause spuken, oder daß die hölzernen Scheusale im Dunkeln 
Leben bekommen oder etwas Ähnliches. Es war eine recht einfältige Ge¬ 
schichte, aber ihre unheimliche Wirkung verspürte man als ganz hervor¬ 
ragend“. 

Diese Erzählung gibt zwei Faktoren an, die ich als Quellen des Un¬ 
heimlichen hingestellt habe, Menstruation und Erektion und die Lust in 
Beziehung auf erstere, die eine der tiefsten Verdrängungen des Mannes 
darstellt. Sie manifestiert sich hier in dem typischen Geruch, der die 
Wohnung durchzieht. 

Alle die Elemente, auf die ich hier hin wies, sind in den iGzZi-Bildern 
symbolisiert — Erektion — Menstruation — Tod. 

Im Schlußteil dieser Schrift schreibt Freud: 

„Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile 
Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden, oder wenn üb erwundene 
primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen. Endlich darf man sich durch 
die Vorliebe für glatte Erledigung und durchsichtige Darstellung nicht vom Be¬ 
kenntnis abhalten lassen, daß die beiden hier aufgestellten Arten des Unheim¬ 
lichen im Erleben nicht immer scharf zu sondern sind. Wenn man bedenkt, daß 
die primitiven Überzeugungen auf das innigste mit den infantilen Komplexen Zu¬ 
sammenhängen und eigentlich in ihnen wurzeln, wird man sich über diese Ver¬ 
wischung der Abgrenzungen nicht viel verwundern.“ 


*3* 










96 


C. D. Daly 


Der jMenstruationshomplex 

Es scheint mir, daß die „Menstruationstabus“ von viel größerer Wichtig¬ 
keit sind, als wir vormals angenommen haben, und weit zurück in der Ver¬ 
gangenheit der Menstruationskomplexe hinter zahlreichen Phänomenen liegt 
die wir gewöhnt sind, dem Kastrationskomplex zuzuschreiben. Er ist, chrono¬ 
logisch gesehen, in der psychischen Entwicklung des Menschen ein früher¬ 
liegendes Phänomen, das dem animistischen Entwicklungsstadium angehört. 
Der Kastrationskomplex, wie wir ihn jetzt kennen, gehört der religiösen Phase 
an, und die Tatsache, daß beide in der Gestalt der Kali vereinigt sind, ist 
vielleicht auf die Regression zurückzuführen, der die hinduistische Rasse 
unterlag auf Grund ihrer anormalen Reaktion auf den späteren Kastrations¬ 
komplex, der sie zu einer Rasse machte, die von Resessenheiten und Zwangs¬ 
vorstellungen ähnlicher Natur beherrscht wird, wie die, die wir bei den 
Neurotikern gefunden haben. Es gibt reichlich Re weise, um zu zeigen, daß 
die hinduistische Religion viel psychisches Material enthält, das dem Zeit¬ 
alter der Geister und der Magie angehört, weswegen seine Analyse uns 
auch viel direkter zu einigen tiefer liegenden Problemen führt. Das erklärt, 
denke ich, die Art, in der die europäischen Völker geneigt sind, sich von 
dem Versuch abzuwenden, ihre Rätsel zu lösen. Seine sehr primitive Natur 
zeigt nur zu klar ihre eigenen Verdrängungen. 

Die Psychologie des weiblichen Geschlechtes war von jeher dunkler als 
die des männlichen. Wir dürfen, glaube ich, vermuten, daß die Genese 
des männlichen Protestes in der Frau teilweise auf eine Reaktion auf das 
Menstruationstabu zurückzuführen ist. Denn, um es nochmals zu betonen, 
der Frau ist auf der Höhe ihrer Wünsche der Phallus versagt geblieben, 
nach dem es sie verlangte. Aber nicht nur das, vielmehr wurde sie zu der 
Zeit, da sie für den Verkehr mit dem Manne reif war und voraussichtlich 
höchst anziehend gewesen wäre, von ihm behandelt, als sei sie physisch 
Abscheu erregend und unnahbar; während sie anderseits, wenn sie ihre 
natürlichen Instinkte benützte, um den Mann zu versuchen, damit er ihr 
Verlangen befriedige, der unvermeidlichen Restrafung durch den Tod ent¬ 
gegensah. 

Freud 1 hat darauf hingewiesen, daß „die unzähligen Tabuvorschriften, 
denen die Frauen der Wilden während der Menstruation unterliegen, durch 
die abergläubische Scheu vor dem Blute motiviert werden und in ihr wohl 


1) Freud: Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X, S. 121. 



































Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex 


19 7 


auch eine reale Begründung haben“. Wenn der Anblick von Blut Tod be¬ 
deutet, dann hat er für die W T ilden einmal Leben bedeutet. Blut ist aufs 
engste mit der Fruchtbarkeit in der Menschenseele verknüpft, was aus den ver¬ 
schiedenen Riten erhellt, in denen um die Erhaltung der Fruchtbarkeit der 
Felder gebeten wird. Aber darüber hinaus hat das Blut direkte Beziehungen zur 
Schwängerung, nahm man doch im primitiven Leben an, daß das Leben 
ganz allgemein dem Blut entspringe, wie auch die Schlangenbrut der 
Medusa dem Blut entspringt, das aus ihrem abgetrennten Haupte fließt. 
Wenden wir uns aber zu einem der Gegenstücke der Kali , so finden wir, 
daß diese Göttin dargestellt wird, als habe sie ihr eigenes Haupt abge¬ 
schlagen und halte es in der linken Hand, während sie mit dem Mund 
einen Blutstrom auffängt, das blutige Schwert, mit dem sie die Tat voll¬ 
brachte, in der Rechten schwingend. Zwei weitere Blutfontänen werden von 
zwei ihrer Untergebenen mit dem Munde aufgefangen. Diese halten in der 
Linken mit Blut gefüllte Gefäße und in der Rechten blutige Messer. Sie 
alle tanzen auf den Leibern eines menschlichen Liebespaares. Das Messer 
stellt in diesem Fall die Parallele zu der Schlangensymbolik dar, die wahr¬ 
scheinlich auch das Haupt der Göttin, während ihr blutiger Nacken und 
die mit Blut gefüllten Gefäße wahrscheinlich die menstruierende Vagina 
darstellen. Die Göttin macht so sich selbst und ihr Geschlecht durch ihre 
eigene Kastration vom Manne unabhängig. Der Nichtbesitz des Phallus wird 
als Beraubung aufgefaßt, — diese Gabe, die der Vater ihr hätte doppelt geben 
können, wenn er gewollt hätte. Das ist eine Seite des „männlichen Protestes“ 
der Frauen, der, wie ich glaube, in erster Linie daher rührt, daß der Frau die 
Befriedigung in der animistischen Periode versagt wurde, da der Mann sich 
der Frau auf Grund seiner Furcht vor dem Inzesttabu vorenthielt. Wir dürfen 
ganz gewiß sein, daß dieses Tabu aus einem Verbot entstand, das vom Manne 
und nicht von der Frau aufgestellt wurde, und daß die Frau nur hinein¬ 
gezogen wurde auf Grund ihrer untergeordneten Stellung, in der sie sich 
den Anordnungen des stärkeren Geschlechtes zu unterwerfen hatte. 

Obgleich wir gewöhnlich finden, daß die Traumen der Individual¬ 
neurose in einer Periode auftreten, die fast genau den Parallelen in der 
Kindheit der Rasse entspricht, so vermute ich doch, wegen der Erbveran- 
lagung, die sich auf der einen, und wegen der rezessiven Züge gewisser 
Phänomene, die sich auf der anderen Seite entwickelt haben, daß bei den 
Europäern die Kastration und andere Traumen zuweilen in früheren Stadien 
der Entwicklung stattgefunden haben, als ihre Parallelen bei unseren wilden 
Vorfahren. (Ich möchte diese Ansicht nicht restlos vertreten, sondern sie viel- 












198 Daly: HmJu~.Mytliologie und Kastrationskomplex 


mehr als Anregung aufgestellt haben, um sie in der analytischen Praxis zu 
untersuchen oder zu bestätigen.) 

Wir haben früher nicht gewußt, was hinter der Intensität der Kastrations¬ 
ängste lag. Wir nahmen, natürlich in Anbetracht der allseitigen schlagenden 
Beweise, an, daß die Angstvorstellung der Kastration ein Ergebnis der Inzest¬ 
versuchung sei, ohne zu vermuten, daß weit zurückliegend in der Vergangen¬ 
heit ein sehr stark wirkender Faktor existiert habe, der inzwischen über¬ 
überlagert geworden sei. Ich stütze mich hiebei auf den Kastrationskomplex 
des primitiven Menschen. Vielleicht gaben wir uns mit dem Gedanken zu¬ 
frieden, daß die Vagina eine Wunde symbolisiere und deshalb den Knaben 
an die Kastration erinnerte, ohne zu bedenken, daß das in sich eine un¬ 
genügende Erklärung für eine solche Intensität sei, wenn sie nicht auf etwas 
im primitiven Leben noch Fundamentaleres basiert wäre. Die Kastration selbst 
scheint keine primäre Angstvorstellung in der Geschichte der Rasse zu sein, 
aber sie entstand, wie ich glaube, in der späten animistischen und frühen 
religiösen Phase der Entwicklung, während die Todesfurcht auf die Angst¬ 
vorstellung des Verlustes des Phallus 1 verschoben wurde. Ich stelle nunmehr 
die Theorie auf, daß der größte geistige Konflikt, mit dem die Menschen 
zu kämpfen hatten, aus dem Wunsche nach der Vereinigung während der 
weiblichen Menstruationsperiode und aus der Todesfurcht, als Folge dieses 
Wunsches, resultierte. 


1) Es gibt eine Art von Träumen, in der der Träumende seinen Phallus in der 
einen oder anderen Weise opfert. Das Motiv dafür ist: „Nimm mein Genitale, aber 
laß mir das Leben.“ Diese Träume entstehen auf dem Wege über den Selbst- 
erhaltungs tri eb. 





























Das JVLutterreckt und die sexuelle U: 

der Wild 


nwissenheit 


nlieil 


len 


Vortrag in der British Psycho-Analytical Society am 19. November 1924 

Von 

Ernest Jones 

London 


IEinleitung 

Seit dem Erscheinen im Jahre 1860 von Bachofens berühmten Werk 
„Das Mutterrecht“, das sich in seinen Untersuchungen hauptsächlich auf 
das Studium der klassischen Literatur stützt, haben die dort aufgedeckten 
Sitten und Meinungen der primitiven Völker stetig wachsende Aufmerksamkeit 
gefunden und heute steht dieser Gegenstand im Mittelpunkte des anthro¬ 
pologischen Interesses. Spätere Forschungen haben zwar einige Behauptungen 
Bachofens erheblich modifiziert, die meisten jedoch bestätigt und gezeigt, 
daß ihr Geltungsbereich noch ausgedehnter ist, als Bachofen beweisen 
konnte. 

Aus Gründen, die ich sofort nennen werde, pflegt dieses Thema jedoch 
starke Gefühlsreaktionen auszulösen, so daß die Schlußfolgerungen und 
wahrscheinlich auch die Beobachtungen selbst nur allzu häufig parteiisch 
sind. Naturgemäß sind daher viele Bilder, die man vom primitiven „Matri¬ 
archats“ Staat entworfen hat, sehr phantastischer Art. So finden wir beispiels¬ 
weise in Vaertings „The Dominant Sex“ eine stark gefärbte Darstellung 
von einer extremen Umkehrung des Verhältnisses der beiden Geschlechter. 
Vaerting berichtet, daß nicht bloß die Kinder ausschließlich der Mutter 
gehören und mit dem Vater weder blutsverwandt noch versippt sind, sondern 
daß auch alles Vermögen einzig der Frau gehört und nur durch sie ver- 







erbt wird. Die Frau ist der aktive Teil im Liebeswerben, sie kann so viele 
Gatten und Liebhaber haben wie sie will und darf sich jederzeit von ihrem 
Gatten scheiden, dieser jedoch nicht von ihr. Nach der Heirat kommt er 
zu ihr ins Haus und lebt dort als ihr Gast, kurzum seine einzige Existenz¬ 
berechtigung ist das sexuelle Vergnügen, das er ihr bietet und die Arbeits¬ 
leistung, die er auf ihr Geheiß verrichtet — in jeder anderen Hinsicht 
ist er bloß geduldet. Eine entsprechende Herrschaftsstellung nimmt die Frau 
auch in der Gesellschaft, dem Rat und der Regierung ein. Diese Schilderung 
liest sich wie der Wunschtraum einer Feministin, die Vision eines Paradieses 
aus dem sie von dem protestierenden Männchen vertrieben wurde, in das 
sie aber eines Tages zurückzukehren hofft. 

Man braucht keine großen Kenntnisse in Sexualpsychologie zu besitzen, 
um die Richtigkeit dieser Schilderung anzuzweifeln, deren Glut von den 
kalten Tatsachen der Anthropologie gedämpft wird. Der Skeptizismus regt 
sich bereits bei der Behauptung, daß die Männer der barbarischen Zeiten 
zahmer gewesen sein sollen als die heutigen Männer, die kulturelle Ent¬ 
wicklung also von einer zunehmenden Wildheit der brutalen Männchen 
gegen ihre Weibchen begleitet gewesen sei. Wenn man die Einrichtungen 
der heutigen Wilden beobachtet, erst recht, wenn man ihnen genauer aut 
den Grund geht, muß man vielmehr zu dem Schlüsse kommen, daß diese 
Völker, um überhaupt ein soziales Leben zu ermöglichen, viel strengere 
und genauere Vorschriften und Einrichtungen besessen haben müssen, um 
ihre grausamen und sadistischen Triebe, vor allem die gegen ihre Weiber 
gerichteten, wenigstens einigermaßen im Zaume zu halten; als Beispiel 
verweisen wir auf Reiks 1 Untersuchung über die pseudomütterliche Couvade 
und auf die sonstigen Erfahrungen der Fprschungsreisenden. In diesen 
Zusammenhang gehört auch folgende Stelle aus Frazers 2 „Golden Bough“: 
„Um die auf diesem Gebiete reichlich vorhandenen Irrtümer zu zerstreuen, 
wollen wir den Leser erinnern, daß die alte und weitverbreitete Sitte, 
Abstammung und Erbfolge nach der mütterlichen Linie zu rechnen, noch 
keineswegs besagt, daß diese Stämme auch von Frauen regiert werden; er 
muß sich stets vor Augen halten, daß Muttersippe nicht gleichbedeutend 
ist mit Mutterherrschaft. Im Gegenteil, diö Muttersippe ist am verbreitetsten 
bei den tiefstehenden Wilden, bei denen die Frau nicht bloß den Mann 
nicht beherrscht, sondern sein Lasttier, oft nichts besseres als sein Sklave 


1) Reik: Probleme der Religionspsychologie, 1919, Kap. II. 

2) Frazer: Adonis, Attis, Osiris. Bd. II, S. 208, 209. 



































Das Mutterredit und die sexuelle Unwissenheit 


201 


ist. Weit entfernt davon, eine Überlegenheit des weiblichen Geschlechts 
vorauszusetzen, ist dieses System vermutlich seiner tiefsten Entwürdigung 
entsprungen, nämlich einem Gesellschaftszustand, in dem die Beziehungen 
zwischen den Geschlechtern so lose und unbestimmt waren, daß man die 
Kinder keinem bestimmten Vater zuschreiben konnte. Wenn wir von dieser 
niedrigsten Kulturstufe fortschreitend zu jener höheren Stufe gelangen, bei 
der die Akkumulation von Eigentum, vor allem von Landbesitz, zu einem 
mächtigen Werkzeug des sozialen und kulturellen Einflusses geworden 
ist, so finden wir naturgemäß überall dort, wo sich die alte Vorliebe für 
Abstammungsrechnung in weiblicher Linie erhalten hat, ein gesteigertes 
Ansehen der Frau; am stärksten äußert sich diese höhere soziale Bedeutung 
in fürstlichen Familien, wo die Frau entweder selbst königliche Autorität 
ausübt und Privateigentum besitzt oder wenigstens beides auf ihren Gemahl 
oder ihre Kinder überträgt. Aber die gesellschaftliche Bedeutng der Frauen 
ging niemals so weit, daß sie ihnen die Männer politisch untertan ge¬ 
macht hätte. Selbst da, wo das System der Abstammungsrechnung und 
Erbfolge in mütterlicher Linie am vollständigsten ausgebildet war, blieb 
die wirkliche Regierungsgewalt in der Regel, wenn nicht immer, den 
Männern Vorbehalten. Ausnahmen sind zweifellos vorgekommen; gelegent¬ 
lich kamen Frauen durch ihre bloße Charakterstärke in die Höhe und 
leiteten eine Zeitlang das Geschick ihres Volkes. Solche Ausnahmen waren 
jedoch selten und von vorübergehender Wirkung; sie besagen nichts gegen 
die allgemeine Regel, derzufolge die menschliche Gesellschaft in der Ver¬ 
gangenheit und — vorausgesetzt, daß die menschliche Natur sich nicht 
ändert — wohl auch in Zukunft vornehmlich durch männliche Kraft und 
männlichen Verstand beherrscht wird.“ 

Es gibt wenig Themata, die stärkere, gefühlsmäßig bedingte Vorurteile 
erregen als der Vergleich zwischen männlich und weiblich, zumal wenn die 
Frage nach der respektiven Rolle von Vater und Mutter im Leben ange¬ 
schnitten wird. Ohne die durch Psychoanalyse gewonnene Einsicht in die 
charakteristischen Komplexe von Männern und Frauen wäre es ein nahezu 
aussichtsloses Beginnen, diesen Gegenstand auch nur einigermaßen objektiv 
behandeln zu wollen, und selbst trotz aller uns heute zur Verfügung 
stehenden Kenntnisse können wir auf diesem gefährlichen Boden gar nicht 
vorsichtig genug Vorgehen. 

Die zweite Schwierigkeit ist mehr materieller Natur, nämlich die 
ungeheure Kompliziertheit und nahezu endlose Verschiedenartigkeit der 
Erscheinungen selbst. Die folgenden Betrachtungen mögen uns eine unge- 








202 Kniest Jones 


fahre Vorstellung davon geben. Alle Anthropologen sind übereinstimmend 
der Meinung, daß das Wichtigste, vielleicht das einzig Wesentliche der 
vielen Phänomene, die man unter der Bezeichnung „Mutterrecht“ zusammen¬ 
faßt, die „Muttersippe“ ist, d. h. die Abstammungsrechnung nach mütter¬ 
licher Linie, die matrilineale Abstammung, wie man sie nennt, also nicht 
eine patrilineale oder agnatische. 1 Dieses Hauptmerkmal wird in der Regel 
von einer Reihe anderer Merkmale begleitet, deren wichtigste wir sofort 
besprechen wollen; aber die Korrelation dieser zahlreichen verschiedenen 
Merkmale ist so außerordentlich unregelmäßig, daß sie jeden verwirrt, der 
eine Ordnung darin entdecken will. Die Schwierigkeiten fangen gleich bei 
dem Hauptmerkmal an, denn das Kind braucht nicht zum mütterlichen 
Clan zu gehören, selbst wenn seine Abstammung in mütterlicher Linie 
gerechnet wird; das Totem, das seine Mutter zufällig geschwängert hat, zu 
dessen Clan das Kind daher gehört, kann ein ganz anderes sein als Totem 
und Clan der Mutter. Die Abstammung selbst kann natürlich matrilineal, 
patrilineal oder beides zugleich gerechnet werden. Die Schwierigkeiten 
werden noch größer, sobald wir auf die Zusammenhänge zwischen Mutter¬ 
sippe und ihren Begleiterscheinungen kommen. 

i) Autorität . Die Bezeichnung „Matriarchat“ sollte nur auf die Fälle 
von wirklicher Mutterherrschaft beschränkt bleiben, also auf solche, wo die 
Mutter das Haupt der Familie ist und die Gewalt über die Kinder besitzt. 
Diese Fälle sind äußerst selten, wo sie jedoch Vorkommen, stellen sie die 
reinste Form des Mutterrechts dar. Häufig ist der Vater das Haupt der 
Familie und übt die potestas — um den juristischen Ausdruck zu„gebrauchen — 
aus, wie er es fast immer da tut, wo patrilineale Abstammung besteht. Der 
häufigste Fall jedoch, der so typisch ist, daß sem Vorkommen selbst in 

1 ) Rivers (Hastings Encyclopedia of Religion and Ethics; Art. Motherright) 
benutzt den Ausdruck „Muttersippe“ in einem etwas anderen und engeren Sinne, 
er macht nämlich einen Unterschied zwischen Muttersippe und matrilinealer Ab¬ 
stammung. „Sippe“ ist für ihn gleichbedeutend mit unserer „Verwandtschaft“ in 
genealogischem Sinne, obgleich der Begriff der tatsächlichen Blutsverbundenheit bei 
den Wilden vermutlich keine wichtige Rolle spielt. In diesem strengen Sinne hat 
die Muttersippe wahrscheinlich nie in reiner Form existiert, so daß wir für unsere 
Zwecke von ihr absehen können; d. h. es gab kein Volk, bei dem zwischen Kind 
und Vater (und den Verwandten des Vaters) keinerlei Art von Versippung angenommen 
wurde. Unter Abstammung, mag sie matrilineal oder patrilineal gerechnet werden, 
versteht man den Ursprung, der darüber entscheidet, zu welcher Gesellschaftsgruppe 
(Horde oder Clan) das Kind gehören soll. Entscheidet der Stand der Mutter darüber, 
so haben wir eine matrilineare Abstammung — von anderen Autoren als „Mutter¬ 
sippe“ bezeichnet — und dies ist das wesentlichste Kennzeichen des Mutterrechts. 


























Das Mutterredit und die sexuelle Unwissenheit 


2o3 



abgeschwächter Form stets die Vermutung auf das frühere oder gegen¬ 
wärtige Bestehen einer Mutterrechtsordnung nahelegt, ist der, wo der Bruder 
der Mutter die potestas ausübt, also der Onkel mütterlicher Seite; man 
bezeichnet dies als avunkulare Organisation. In anderen Fällen teilen sich 
Vaterbruder und Mutterbruder in die potestas , je nachdem welche Fragen 
gerade zur Entscheidung stehen; in noch anderen besitzt der Onkel die 
Gewalt über den Sohn, der Vater über die Tochter, oder aber der Vater 
behält die Autorität über die Kinder nur bis zu einem bestimmten Alter 
derselben und gibt sie nachher an den Onkel ab. 

2 ) Vererbung und Erbfolge. Bei der mutterrechtlichen Organisation geht 
die Erbfolge (Königsrang, Häuptling*chaft usw.) zumeist, wenn auch keines¬ 
wegs immer, von dem Manne auf den Sohn seiner Schwester, nicht auf den 
Sohn seines Weibes, über; mit anderen Worten, der Rang vererbt sich — 
gleichgültig ob die Frau ihn selbst bekleiden kann oder nicht — oftmals 
durch die Frau, nicht, wie bei uns, durch den'Mann. Aber auch dafür läßt 
sich keine feste Regel aufstellen. In Melanesien z. B., wo die matrilineale 
Abstammung vorherrscht, ist die Erbfolge gewöhnlich patrilineal geregelt. 

Die Gesetze der Vererbung (des Eigentums) sind ebenfalls außerordentlich 
verschieden. Das Eigentum kann, in sehr seltenen Fällen, nur den Frauen 
gehören, zumeist jedoch wird es auf den Schwestersohn übertragen; aber 
wir kennen auch Fälle von Mutterrecht (wie bei den Malaien von Moerong), 
wo der Sohn den Vater beerbt. 

Man sollte sich stets vor Augen halten, daß zwischen den angeführten 
einzelnen Eigentümlichkeiten keine enge Korrelation besteht. Ich will aus 
zahllosen Beispielen eines zum Beweis dafür herausgreifen: in der Torresstraße 
ist bei den Eingebornen die potestas avunkular, Abstammung, Vererbung 
und Erbfolge jedoch sämtlich patrilineal. 

3 ) Woh nsitz. Bei den extremsten Formen der Mutterrechtsorganisation 
besucht der Gatte sein Weib bloß gelegentlich oder er läßt sich unter ihrem 
Dache oder bei ihrer Sippe nieder (Matrilokalehe). In diesen Fällen unter¬ 
steht er gewöhnlich dem Oberhaupt des Hauswesens, nämlich dem Onkel 
oder dem Bruder seiner Frau. Die matrilokale Ehe geht fast stets mit matri- 
linealer Abstammungsrechnung einher, wir kennen bisher nur zwei Aus¬ 
nahmen von dieser Regel. Patrilineale Abstammung ist stets mit patrilokaler 
Ehe verbunden, nicht aber umgekehrt, denn man findet patrilokale Ehe 
sehr häufig mit Muttersippe verbunden; die australischen Ehen beispielsweise 
sind zumeist patrilokal, während die Muttersippe nahezu ebenso verbreitet 
ist wie die Vatersippe. 









20 ^ 


Ernest Jones 



Wie schwierig es ist, eine Korrelation zwischen der Einrichtung des 
Mutterrechts wie der mit ihr verbundenen hohen oder niedrigen Stellung 
der Frau mit der jeweils bestehenden Zivilisationsstufe und der Kenntnis 
oder Sicherheit der Vaterschaft bei jenen Völkern aufzustellen, soll später 
gesagt werden, wenn wir auf die verschiedenen Hypothesen darüber zu 
sprechen kommen. 


II. Erklärung für das Mutterrecht 

Nach diesen einleitenden Bemerkungen wollen wir dazu übergehen, die 
wichtigsten Probleme des Mutterrechts, seine allgemeine Bedeutung, sowie 
die Ursachen seiner Entstehung und späteren Verdrängung zu besprechen. 
Dabei stoßen wir auf die grundlegendsten Probleme der Anthropologie — 
auf die Frage nach der Entstehung von Totemismus und Religion, von 
Ehe und Familie und von anderen sozialen Einrichtungen. Uns erscheint die 
Vorstellung einer Familie, in welcher der Vater nur eine untergeordnete 
Rolle spielt und fast völlig durch den Onkel ersetzt ist, naturgemäß sehr 
sonderbar und erklärungsbedürftig. Und doch behaupten viele Gelehrte, 
darunter McLennan, Spencer, Avebury, Frazer und Hartland, daß 
dieser Zustand für die primitive Gesellschaftsstufe der ganz natürliche ge¬ 
wesen sei, so daß ihnen die Frage, wie er durch einen anderen ersetzt 
werden konnte, viel schwerer zu beantworten erscheint. Sie stützen ihre 
Ansicht mit dem Hinweis auf den viel intimeren Zusammenhang zwischen 
Mutter und Kind und die Unsicherheit der Vaterschaft. Andere Forscher 
hingegen betrachten das Mutterrecht als einen sekundären Zustand, der nur 
durch rein zeitliche Umstände entstanden sei. Er könne entweder durch die 
Stellung der Frau bedingt gewesen sein — vielleicht durch die Rolle, die man 
ihr häufig in bezug auf die Landwirtschaft zuschreibt — oder durch noch 
dunklere Ursachen, die wir weiter unten anführen wollen. Zunächst wollen 
wir die wichtigsten Hypothesen eingehender besprechen. 

Die einleuchtendste Erklärung für die Existenz des Mutterrechts, die 1757 
zuerst von Schouten gegeben und seither von vielen Forschungsreisenden 
bestätigt worden ist, besagt, das Mutterrecht sei eine Folge der Unsicherheit 
der Vaterschaft, oder, wie man sich zynisch ausgedrückt hat: die Mutterschaft 
ist eine Tatsache, die Vaterschaft eine Glaubenssache. Aber schon die ober¬ 
flächlichste Untersuchung läßt uns erkennen, daß diese Ansicht mit den 
Tatsachen durchaus nicht übereinstimmt. Es besteht keinerlei Korrelation 
zwischen Vaterrecht und ehelicher Treue oder zwischen Mutterrecht und 



















Das MLutterrecht und die sexuelle Unwissenheit 2o5 


ehelicher Untreue. 1 So hat sich beispielsweise das Mutterrecht an der Küste 
VVestafrikas und im nördlichen Abessynien erhalten, wo man es mit der 
Treue des Weibes sehr ernst nimmt, Ehebruch außerordentlich selten vor¬ 
kommt und sogar mit dem Tode bestraft wird. Noch viel häufiger finden 
wir eine lockere Ehemoral bei bestehendem Vaterrecht. Hartland 2 sagt 
von den Kafiren am Hindukusch, bei denen ein ganz strenges Vaterrecht 
herrscht: „Der Kafire, der allzu sicher auf die Echtheit des Kindes wetten 
wollte, dessen gesetzlicher Vater er ist, hätte ein gewaltiges Risiko zu tragen.“ 
Ja noch mehr: bei vielen Völkern mit patrilinealer Abstammung bezeigen 
die Männer die größte Gleichgültigkeit gegenüber der tatsächlichen Bluts¬ 
verwandtschaft mit ihren gesetzliehen Söhnen, sofern sie nur überhaupt 
einen Sohn für die zahlreichen rituellen und ökonomischen Zwecke haben, 
bei denen ein Sohn erwünscht ist; ein Adoptivsohn oder der Sohn der 
Ehefrau von einem anderen Manne erfüllt diesen Zweck genau so gut wie 
einer, den sie selbst gezeugt haben. 

Dieser Hypothese ziemlich nahe stehen die beiden anderen Hypothesen, 
die einen besonders engen Zusammenhang zwischen Mutter und Kind aus 
der Tatsache der Polygynie (W int erb ott om) oder Polyandrie (McLennan) 
herleiten. Keine von beiden wird durch die Tatsachen bestätigt. 

Eine scharfsinnigere und interessantere Hypothese, die McLennan vor 
mehr als einem halben Jahrhundert in seinen „Primitive Marriage“ an¬ 
gedeutet und Hartland 1895 in seiner „Legend of Perseus“ entwickelt 
hat, bezeichnet das Mutterrecht als ein Überbleibsel einer Epoche, in der 
man die Tatsachen der Zeugung noch nicht gekannt hat. Sobald man dem 
Vater bei der Zeugung keinen notwendigen Anteil zuschreibt, folgt daraus, 
daß nur die Mutter über das Kind zu bestimmen hat, es muß also ein 
Mutterrecht existieren; diese Hypothese setzt jedoch voraus, daß das Mutter¬ 
recht dem Vaterrecht auf der ganzen Welt vorangegangen sein muß. Aller¬ 
dings finden wir das Mutterrecht auch noch bei Völkern, welche die Rolle 
des Vaters bei der Zeugung vollkommen erkannt haben; ja es gibt sogar, 
wie Westermarck 3 gezeigt hat, australische Stämme, welche die matri- 
lineare Abstammungsrechnung beibehalten haben, trotzdem sie meinen, das 
Kind werde lediglich vom Vater erzeugt, die Mutter nähre es bloß. Nun 


1) Eine ausführliche Erörterung dieses Gegenstandes siehe bei Hartland, Primi¬ 
tive Society, S. 12—17. 

2) Hartland, Primitive Paternity, 1909, Bd. I, S. 503. 

3) Westermarck: The History of Human Marriage. Fünfte Auflage, 1921, Bd. I, 
S. 294. 










ist es natürlich denkbar, daß psychologische oder soziologische Ursachen 
ein bestimmtes Organisationssystem fortdauern lassen, auch wenn seine ur¬ 
sprünglichen Motive fortgefallen sind, so daß die angeführten Tatsachen an 
sich die Hypothese nicht notwendig zu entkräften brauchten. Wir müssen 
also, ehe wir an die Untersuchung herangehen, die vielumstrittene Frage 
nach der sexuellen Unwissenheit der Wilden zu lösen versuchen. 

Die 1895 von Hartland geäußerte Vermutung, daß die sexuelle Un¬ 
wissenheit 1 einen großen Einfluß auf die Entwicklung der sozialen Ansichten 
und Einrichtungen ausgeübt habe, wurde wenige Jahre später durch die 
Entdeckungen Spencers und Gillens glänzend bestätigt. Sie fanden, daß 
es heute noch m Australien Stämme gibt, vor allem die bekannten Aruntas, 
welche die Tatsache der väterlichen Zeugung nicht kennen. Diese Beob¬ 
achtungen wurden von anderen Forschungsreisenden, wie Strehlow und 
Leonhardi, die Schlußfolgerungen von Westermarck, Heape und Car- 
veth Read bestritten. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wie bei 
allen Untersuchungen auf sexuellem Gebiete ist auch hier die Wahrheit 
besonders schwer festzustellen und Irrtümer sind unerwartet häufig. Der 
einzige Forscher, der diese Irrtümer besonders studiert und bei ihrer Deutung 
ungewöhnlichen Scharfsinn entwickelt hat, ist Malinowski. Die Schilderung, 
die er von dem Sexualleben der Trobriander, einer papuamelanesischen Rasse, 
die einen Archipel der Küste Neu-Guineas bewohnt, entwirft, ist sicherlich 
bis heute die vollständigste, die wir besitzen, und von so hervorragender 
Qualität, daß sie uns großes Vertrauen in die Richtigkeit seiner Beobach¬ 
tungen ein flößt. 2 Nach sorgfältiger Sichtung aller erreichbaren Daten kommt 
Malinowski zu dem Schluß, daß die Eingebornen keine Ahnung von der 
Rolle des Samens bei der Zeugung besitzen. Sie scheinen zu glauben, die 
Schwangerschaft werde nur von einem „baloma 11 , dem Geist eines (in der 
Regel weiblichen) Verstorbenen verursacht, der ein Geisterkind „waiwaia“ 
in den Leib der Mutter hineinschaffe. Doch geben sie zu, daß, um dies 
zu ermöglichen, die Vagina erst geöffnet werden müsse, und das geschieht 
natürlich gewöhnlich durch den Geschlechtsverkehr. Die australischen Aruntas 
hegen offenbar eine ähnliche Ansicht, denn sie meinen, die Frau müsse 


1) Unter „sexueller Unwissenheit“ verstehe ich hier die Unkenntnis der Tatsache, 
dalj der Samen die befruchtende Flüssigkeit ist. 

2) Malinowski: „Baloma; the spirits of the dead in the Trobriand Islands.“ 

tCT 1 °a ♦ ^ al Anthropological Institute, 1916; „The Psycho logy of Sex and 
*1 c '° n of Kmship m Primitive Societies“ und „Psycho-Analysis and Anthro- 

pology“, beides in Psyche, Bd. IV. 
























Das Mutterredit und clie sexuelle Unwissenheit 207 


den Beischlaf für die Empfängnis der „ ratapa“ vorbereitet werden. 
Um dies verständlicher zu machen, weist Mal in owski daraufhin, daß der 
Kausalzusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft 
durchaus nicht so klar erkennbar ist für eine Rasse, die seit früher Kindheit 
an häufige Kopulation gewöhnt ist; der Geschlechtsakt kann hunderte von 
Malen stattfinden, ehe eine einzige Empfängnis eintritt. Er ist der Richtigkeit 
seiner Beobachtungen völlig sicher und schließt aus ihnen: „Ich bin der 
festen Überzeugung, daß die absolute Unkenntnis der Vaterschaft ein ur¬ 
sprüngliches Merkmal der primitiven Psychologie ist, das wir bei allen 
Theorien über den Ursprung der Ehe und die Entwicklung der sexuellen 
Sitten berücksichtigen müssen . Ul 

Wenn wir diese Beobachtungen als richtig anerkennen, vor allem Mali¬ 
no wskis sorgfältige Untersuchungen, — was wir meines Erachtens zu tun 
gar nicht umhin können, — könnte die Frage gelöst erscheinen. Trotzdem 
läßt sich die Stimme des Zweifels nicht zum Schweigen bringen. Eine Reihe 
anderer Erwägungen deuten sehr stark darauf hin, daß wir dieser Materie 
trotz alledem noch immer nicht auf den Grund gekommen sind. 

Dafür spricht zunächst dm unleugbare Tatsache, daß die meisten Wilden 
auf Erden, einschließlich der Stämme mit mutterrechtlicher Organisation, 
die Rolle des Mannes bei der Zeugung ganz genau kennen. Das beweisen 
nicht bloß ihre eigenen Aussagen, sondern auch zahlreiche auf der Kenntnis 
dieser Tatsache beruhende Gebräuche. 1 2 Selbst bei den Wilden, die schein¬ 
bar nichts von dem väterlichen Zeugungsanteil wissen, finden wir in anderen 
Gedankenkreisen Andeutungen einer Ahnung dieser Kenntnisse. Die Intichiuma- 
Zeremonien der australischen Eingebornen setzen entschieden eine gewisse 
Ahnung von dem Befruchtungsvorgang bei Tieren und Pflanzen voraus. Eine 
sehr sonderbare Eigentümlichkeit, die von Malino wski bei den Trobriandern 
beobachtet wurde und später eingehender besprochen werden soll, deutet nach 
der gleichen Richtung: ein Trobriander ist geradezu entsetzt über die Idee, 
er könne körperlich der Mutter, dem Bruder oder der Schwester ähneln, 
also gerade jenen, die er für seine einzigen Blutsverwandten hält, die bloße 
Vermutung verletzt ihn schon; dagegen behauptet er, das körperliche Ab¬ 
bild seines — Vaters zu sein. 

Einen Psychoanalytiker muß der unmißverständliche Symbolismus dieser 
unwissenden Wilden in allen ihren Äußerungen über Fortpflanzung be- 



1) Psyche, S. 128. 

2) Siehe Westermarck, op. cit. S. 287, 288. 












208 


Erliest Jones 


eindrucken, ein so genauer Symbolismus, daß er zum mindesten die un¬ 
bewußte Ahnung der Wirklichkeit verrät. So spielt das Wasser eine große 
Rolle bei der Befruchtung. Die Geisterkinder, waiwaias, kommen über das 
große Wasser, häufig in einem Körbchen (dem Symbol des Mutterleibes, i n 
dem Moses angeschwommen kam) und treten gewöhnlich während des Badens 
in den Leib der Mutter ein; wenn die Frauen eine Empfängnis vermeiden 

wollen, müssen sie sich am sorgfältigsten vor dem Meeresschaum hüten -_ 

ganz offensichtlich einem Symbol des Samens. In Australien glaubt man 
daß die Befruchtung durch Steine, Schlangen oder Vögel stattfinden könne’ 
lauter bekannten Phallussymbolen. Die churinga nanja bei den Aruntas 
sind Steinblöcke, die mit den Ahnen Zusammenhängen, von denen der 
Samengeist kommt; in der Traumwelt der Acheringa hat jedes Kind zwei 
Ahnen, nicht einen, wie man nach der Hypothese der Parthenogenese 
erwarten sollte. 

Bekanntlich sind die Kausalitätsvorstellungen bei den Wilden besonders 
schwer zu ergründen, weil sie von den unseren oft merkwürdig verschieden 
sind. Es ist beispielsweise durchaus nicht leicht zu deuten, warum zwei 
Ursachen für die Empfängnis notwendig sein sollen: die eröffnende Kopula 
und die Einsetzung des Geisterkindes durch den baloma in den Leib der 
Mutter. Die Eingebornen sagen, der zw.eite Vorgang werde erstNlurch den 
ersten ermöglicht; es ist aber genau so gut denkbar, daß sie das Umgekehrte 
meinen, nämlich daß der Einfluß des baloma (also des Ahnengeistes) erst 
den Erfolg der Kopulation ermögliche. Diese Multiplizität der Ursachen 
finden wir bei den Vorstellungen über die Empfängnis sehr häufig, denn 
es gibt wenig Vorgänge, die mit mehr unterstützenden Begleiterscheinungen 
einhergehen, vom Baden in heiligem Wasser angefangen, bis zu der Heilung 
der Unfruchtbarkeit durch gynäkologisches Kurettement. Die Benützung 
dieser Hilfsmittel und der Glaube an sie kann mit jedem Grad bewußter 
Kenntnis der wirklichen Zeugungskräfte zusammen ■ bestehen; es wäre 
beispielsweise ganz unsinnig zu behaupten, die Griechen hätten die Fort¬ 
pflanzungsvorgänge nicht gekannt, nur weil ihre Frauen alle möglichen 
Fruchtbarkeitszeremonien verrichteten und den Sprößling für eine Gabe 
der Götter hielten. 

Das von Hartland und Malinowski angeführte Argument, der Zu¬ 
sammenhang zwischen den häufigen Kopulationsakten und den seltenen 
Konzeptionen sei schwer zu erkennen, widerspricht nicht nur der einfachen 
Tatsache, daß schließlich so ziemlich alle Völker diesen Zusammenhang 
erkannt haben, sondern ist auch aus psychologischen Gründen von Carveth 
































Das Mutterrecät und die sexuelle Unwissenheit 


Read sehr scharfsinnig widerlegt worden. Er schreibt: 1 „Wir müssen uns 
immer vor Augen halten, daß das sogenannte Wissen der Tiere und ein 
großer Teil des Wissens der Wilden, ja sogar der zivilisierten Völker, nicht 
so unterscheidend, beziehungsreich und zusammenhängend ist wie unser 
formallogisches Wissen.“ Das stimmt genau damit überein, was wir bei 
der Analyse des kindlichen Seelenlebens finden; auch die Kinder erraten 
die sexuellen Vorgänge in großen Zügen hauptsächlich durch Intuition. 
Wenn ein zweijähriges Kind sich ein Bild vom genitalen Koitus zu bilden 
und diesen ein oder zwei Jahre später mit der Geburt eines zweiten Kindes 
in Zusammenhang zu bringen vermag, so sollte man meinen, daß dies auch 
den Verstand eines erwachsenen Wilden wirklich nicht übersteigt. 


III* Isinc psychoanalytische I^heorie des jMLuttevTechts 

Die vorstehenden Überlegungen lassen die Frage entstehen, ob die Un¬ 
wissenheit der Wilden nach alledem wirklich so echt und so vollständig ist, 
wie es zuerst den Anschein hatte. Die merkwürdige Art von Unwissenheit 
in Dingen, wo man vernünftigerweise Wissen oder Halbwissen erwarten 
sollte, ist eine Erscheinung, die uns auf anderen Gebieten des Denkens 
durchaus vertraut ist. 

Autoren, die sich gegen die angeblich völlige Unwissenheit skeptisch 
verhalten, neigen dazu, sie als etwas Sekundäres und Künstliches anzusehen; 
einige von ihnen haben auch Gründe für diese Erscheinung angegeben. 
So erklärt Frazer den australischen Glauben, .daß ein „ ratapa “ den Mutter¬ 
leib in dem Augenblick betritt, in dem sich die Frucht zum ersten Male 
regt, aus den „kranken Phantasien schwangerer Frauen“. Heape 2 äußert 
folgende Meinung: „Vom vergleichenden Gesichtspunkt aus weisen alle 
Tatsachen darauf hin, daß der primitive Mensch der fundamentalen Tat¬ 
sache der Zeugung nicht unwissend gegenüberstand; ich halte diese Be¬ 
weise für so gewichtig, daß sie mir unwiderleglich dünken. Überdies 
wissen wir, daß die australischen Wilden zwar angeben, sie kennten die 
Tatsachen nicht, dabei aber vielfach so handeln, als ob ihnen die Wahrheit 
bekannt wäre. Ich behaupte infolgedessen, daß die totemistische Konzep¬ 
tionsvorstellung ursprünglich auf einen Aberglauben zurückgeht, der die 


1) Carveth Read: No Paternity. Journal of the Royal Anthropologfcal Institute, 
Bd. XLVIII, S. 146. 

2) Heape: Sex Antagonism, 1913, S. 103, 112. 

Imago XIII. ,, 


J 











210 


Ernest Jones 


instinktive Kenntnis der Tatsachen überdeckte; mit anderen Worten, daß 
diese Vorstellung nicht auf Unwissenheit beruht, sondern eine wissentlich 
hergestellte ist, die einer Geschichtsepoche entstammt, in welcher noch 
starke abergläubische Angst vor Geistern herrschte, daß sie also aus diesem 
Aberglauben heraus entstanden ist.“ „Ich erkläre mir also die Entstehung 
dieser konzeptionellen Vorstellung des Totemismus folgendermaßen: als 
einen Antrieb, der von den kranken Phantasien schwangerer Frauen aus¬ 
geht, die aus Angst, Furcht, Wunsch oder allem zusammen entstanden 
sind, und einen Aberglauben gezüchtet haben, der das frühere instinktive 
Wissen verdeckte und verwischte; aber nicht ganz verdeckte, denn die 
Intichiuma -Zeremonien finden immer nur dann statt, wenn ein sehr frucht¬ 
bares Jahr in Aussicht steht, die Wahrheit also bekannt werden muß. Die 
Schwarzen vom Tullyfluß 1 nehmen an, daß die Fortpflanzung der Tiere 
Naturgesetzen unterworfen sei, die der Menschen aber nicht, offenbar weil 
dies ihren Glauben an die eigene Überlegenheit über die rohe Natur 
bestärkt. * Er meint, daß die (ganz bewußten) Motive, welche die Ein- 
gebornen zur Aufrechterhaltung dieses Glaubens veranlassen, entweder den 
Ehebruch und seine Verzeihung erleichtern 2 oder den Hoffnungen der 
Mutter entgegenkommen sollen, die für ihr Kind Gutes erwartet, wenn 
es die Eigenschaften eines Ahnengeistes auf jenes überträgt. ^Diese Erklä¬ 
rungen bringen uns freilich nicht viel weiter. 

Carveth Read 3 macht entschieden einen Schritt vorwärts, indem er 
behauptet, die Kenntnis der Tatsachen sei zwar vorhanden, aber unbewußt, 
weil sie „verdrängt 4 5 worden sei oder, wie er sich ausdrückt, sie ist „durch 
die animistische Philosophie unterdrückt und aus dem Bewußtsein ver¬ 
drängt worden. Malmowski hingegen glaubt nicht an die Verdrängung 
durch einen animistischen Überbau, weil die Wilden bei der Bestimmung 
der „Abstammung der Blutsverwandtschaft weiter keine Bedeutung zulegen. 

Sobald die Frage angeschnitten wird, ob Ideen im Zustand der Ver¬ 
drängung vorhanden sind und, wenn dem so ist, welches die vermutlichen 
Ursachen ihrer Verdrängung gewesen sein mögen, dann hat gewiß der 


\ Z1 /o ert Hler R0t . h ’ ” North Queensland Ethnography“, Bericht Nr. 5, S. 22. 

2) r fuhrt (S. 100) die Sitte der Bagandas an, Ehebruch nur dann zu bestrafen, 
wenn der Bananenstrauch nicht mehr in Blüte steht, andernfalls wird die Befruch¬ 
tung diesem zugeschrieben. Da aber der Bananenstrauch das ganze Jahr blüht - 

im^nT he « UnSere A e - denSart ” Wenn der Ginster nicht mehr blüht, wird das Küssen 

ZlIVu , G ^ Gin deutliches Phallussymbol ist, so sollte diese Sitte 
weiteren Nachforschungen unterzogen werden. 

5) Carveth Read, op. dt. S. 146. 




















Das MutterreAt und die sexuelle Unwissenheit 


311 


Psychoanalytiker auch ein Wort zu sagen. Ich möchte daher an dieser 
Stelle eine psychoanalytisch fundierte Hypothese entwickeln, die — ihre 
Richtigkeit vorausgesetzt — uns zeigen soll, daß zwischen der Unkenntnis 
des väterlichen Zeugungsanteils einerseits und der Institution des Mutter¬ 
rechts anderseits eine sehr enge Korrelation besteht. Meiner Ansicht nach 
sind beide Erscheinungen durch das gleiche Motiv bedingt; ihr chrono¬ 
logisches Verhältnis ist eine ganz andere Frage, über die wir später sprechen 
wollen. Dieses Motiv ist zufolge meiner Hypothese in beiden Fällen: den 
Haß des heranwachsenden Knaben gegen den Vater abzulenken. 

Die nachstehenden Beobachtungen mögen zur Stütze dieser Hypothese 
herangezogen werden. Erstens wissen wir, daß von den beiden Komponenten 
des ursprünglichen Ödipus-Komplexes — Liebe zur Mutter und Haß gegen 
den Vater — die zweite eine weit größere Rolle gespielt hat, weil sie zur 
Verdrängung des Komplexes und zur Entstehung der vielen Hilfsmittel zur 
Erhaltung dieser Verdrängung geführt hat. Der Grund dafür leuchtet ohne- 
weiters ein, er ist die gefährliche Rivalität zwischen zwei blutdürstigen 
Männchen mit allen ihren Konsequenzen. Zahlreiche Gründe sprechen 
dafür, daß der ambivalente Konflikt zwischen Liebe und Haß bei den 
wilden Völkerschaften viel stärker ausgeprägt ist als bei uns, 1 es ist daher 
nicht weiter verwunderlich, daß sie auch kompliziertere Einrichtungen 
schaffen müssen, um ihre Triebe dauernd unterdrückt zu halten. Sie haben 
gewissermaßen mehr Ursache, sie zu fürchten als wir, beziehungsweise 
weniger Kraft, sie abzulenken. Beispiele derartiger Einrichtungen sind 
Totemismus und Exogamie 2 einerseits und die. unzähligen Zeremonien beim 
Eintritt der Geschlechtsreife anderseits.^ (Aber auch wenn man die Ansicht 
vertritt, daß alle diese Einrichtungen vor allem dem oben genannten Zweck 
dienen sollen, kann man sich durchaus bewußt sein, daß sie daneben auch 
noch viele andere Funktionen besitzen.) 

Unter den Anthropologen scheint es heute modern geworden zu sein, 
der Sippe und der Abstammung keine besonders wichtige Beziehung zur 
Blutsverwandtschaft zuzuschreiben. Ich bin geneigt zu glauben, daß sie in 
dieser Hinsicht dem tendenziösen Bestreben der Wilden selbst folgen, denn 
es scheint ziemlich einwandfrei bewiesen, daß die Wilden mit allen Mitteln 


i) Als Beispiel fuhrt Reik die Stellungscouvade an, die er als Mittel zur Unter 

p dui ? ir A " blict d “ süSZ. 7.u“ 

) Sl . elie Freud: Totem und Tabu, Ges. Schriften, Bd, X. 

analytischer Verlag.^ 0 Kap!' ^ Re%ionS P s y chologie > ^ Internationaler Psycho- 




14 * 
















212 Ernest Jones 


diese beiden Dinge ganz auseinanderhalten möchten, 1 trotzdem wir aus 
verschiedenen Gründen schließen können, daß sie der Blutsverwandtschaft 
eine ungeheure, vielleicht sogar übertriebene Bedeutung zulegen. Nicht 
nur daß der soziale Stand des Kindes bei ihnen in viel stärkerem Maße 
als bei uns durch die Geburt entschieden wird, sondern die ausgezeichneten 
Arbeiten Reiks über die Pubertätsriten haben es auch sehr wahrscheinlich 
gemacht, daß die Geburt im Zusammenhang mit dem Ödipus-Komplex bei 
den Wilden eine ungewöhnlich große Rolle spielt. 2 Reik wies nach, daß 
die Pubertätsriten in Wirklichkeit dazu dienen, durch eine komplizierte 
Kastrations- und Geburtssymbolik die wirkliche Geburt zu verwischen und 
eine imaginäre homosexuelle Geburtsvorstellung an ihre Stelle zu setzen. 
Diesem Bestreben liegt offenbar der Gedanke zugrunde, daß die Liebe zur 
Mutter einfach aus der Tatsache erwächst, daß sie das Kind geboren hat; 
der einzige Weg, die Inzestneigungen, die dem freundschaftlichen Verhältnis 
des Kindes zu anderen Männern im Wege stehen, unschädlich zu machen, 
besteht also darin, ihre vermutliche Ursache (Geburt) durch eine symbolische 
Wiedergeburt auszutilgen. Wenn also, nach der Theorie der Wilden, die 
mütterliche Hälfte des Ödipus-Komplexes, die blutschänderische Liebe, 
einfach auf die Tatsache des von der Mutter Geboren Werdens zurück¬ 
geführt werden kann, so muß dies logischerweise mutatis mutandis auch 
für die väterliche Hälfte, den Vaterhaß, gelten. Jedenfalls scheinen die 
Wilden, wie wir noch hören werden, nach dieser Voraussetzung zu handeln. 

Indem sie die Inzestneigungen unbewußt der Tatsache der Geburt zu¬ 
schreiben, scheinen sich die Wilden in den gleichen „retrospektiven Phan¬ 
tasien“ zu ergehen wie unsere Neurotiker, die sich in dieser Beziehung 
oft ganz genau so verhalten und von denen wir wissen, daß sie durch ihr 
Verhalten dem Verbrechen der infantilen Sexualität zu entgehen suchen, 
indem sie es durch unschuldige Gedanken über den Geburtsakt ersetzen. 
Wenn Freuds Hypothese von der Triebvererbung seit den Zeiten der 
primären Horde richtig ist, so hätten die Neurotiker und die Wilden aller¬ 
dings ein gewisses, wenn auch sehr indirektes Recht auf ihrer Seite, denn 
dann würde wirklich ein gewisser kausaler Zusammenhang zwischen Geburt, 
d. h. Erblichkeit, und Ödipus-Komplex bestehen. 

Wie dem aber auch sein möge ist es auf alle Fälle klar, daß man allen 
unerwünschten Trieben, die man auf den Geburtsakt zurückführt, am 

1 ) Das ist vielleicht mit ein Grund, warum das Mutterrecht so häufig auch dann 
noch fortbesteht, wenn die Tatsachen der väterlichen Zeugung vollkommen bekannt sind. 

2) Ibid. 






















Das Mutterredit und die sexuelle Unwissenheit 



2l3 


radikalsten entgegenwirkt, indem man diesen Akt einfach leugnet, wie es 
beispielsweise bei den Pubertätsriten geschieht. Durch die Analyse unserer 
Neurotiker sind wir ganz genau über die Wunschphantasien unterrichtet, 
bei denen diese Leugnung in bezug auf den Vater eintrifft. Viele ergeben 
sich, bewußt oder unbewußt, gerne dem Gedanken, daß ihr „Vater“ nichts 
mit ihrer Empfängnis oder Geburt zu schaffen gehabt habe, diese vielmehr 
lediglich eine Angelegenheit zwischen ihnen und der Mutter gewesen sei. 
Wir wissen alle, wie überaus verbreitet der Mythos der jungfräulichen 
Mutter auf der ganzen Welt ist, und wir haben allen Grund zu der An¬ 
nahme, daß er für die Allgemeinheit die gleiche Bedeutung besitzt, die 
wir bei der Analyse der Individuen aufgefunden haben. 1 Dieser allgemeine 
Glaube kommt offenbar mehr als einer tiefwurzelnden Neigung entgegen: 
Ablehnung des väterlichen Anteils an dem Koitus und der Zeugung und 
infolgedessen Milderung und Ablenkung des Hasses gegen den Vater — ein 
Zustand, der von Vater und Sohn gleich lebhaft herbeigewünscht wird. 
Diese Folge sehen wir überall eintreten, wo die Institution des Mutter¬ 
rechts mit der Leugnung des väterlichen Zeugungsanteils .verbunden ist. 
Man könnte sagen, daß ebenso wie die Stellungscouvade dazu bestimmt ist, 
das Kind vor der Feindscha.^| des Vaters zu schützen, 2 auch die Kombination 
von Mutterrecht und sexueller Unwissenheit Vater und Sohn beide vor 
ihrer gegenseitigen Rivalität und Feindschaft schützen soll. 

Ich neige dazu, diese tendenziöse Leugnung des väterlichen Zeugungs¬ 
anteils mit der merkwürdigen und unerwarteten Entdeckung Malinowskis 3 
in Zusammenhang zu bringen, der uns berichtet, bei den Trobriandern 
gelte das Thema des Geschlechtsverkehrs zwischen Eheleuten als höchst 
anstößig, trotzdem sie in sexuellen Dingen sonst ungewöhnlich frei sind. 
Das scheint eine gesteigerte Form der allgemeinen Abneigung darzustellen, 
welche die meisten Menschen gegenüber der Vorstellung des elterlichen 
Koitus empfinden, und dient gleichermaßen der Fernhaltung der Ödipus¬ 
eifersucht. 

Aber mit dem Vater ist doch nicht so leicht fertig zu werden, eine Tat¬ 
sache, die Freuds Hypothese stützt, daß die ererbte Idee des Urvaters in 
uns unbewußt noch sehr lebendig ist. Der Vater verschwindet von der 


1) Siehe Rank: Der Mythus von der Geburt des Helden, zweite Auflage, 1922 und 
Emest Jones „A Psycho-Analytic Study of the Holy Ghost“, Essays in Applied Psycho- 
Analysis, 1925, Kap. XIII. 

2) Siehe Reik, op. cit. 

5) Malinowski: Psyche, Bd. V, S. 207. 













21 4 Ernest Jones 


Bildfläche, nur um in maskierter Gestalt wieder zu erscheinen. Die Vor¬ 
stellung eines mächtigen und gehaßten Vaters wird der Idee eines Ahnen¬ 
geistes geopfert, der die Mutter auf übernatürliche Weise befruchtet; denn so¬ 
wohl die australischen „ratapas“ wie die trobriandrischen „waiwaias“ kommen 
von Ahnen her, und jeder, der Gelegenheit hatte, das Mitglied einer alten 
englischen Familie oder einen Amerikaner mit genealogischen Neigungen 
zu analysieren, hat erfahren, daß Ahnen psychologisch nichts anderes sind 
als etwas entfernte Väter. Dieser gehobene Vater ist also nichts anderes als 
der ursprüngliche mächtige Vater in anderer Gestalt. Die Idee entspricht 
der tiefen Überzeugung, daß schließlich nur der große Vater zeugen kann 
(oder die Zeugung gestattet), wobei das Weib den Wunsch hat, vom Vater 
zu empfangen, wie im Falle der Jungfrau Maria. 1 

Praktisch erfüllt diese Art der Vatereinstellung ihren Zweck, indem sie 
e m weit intimeres und freundschaftlicheres Verhältnis zwischen Vater und 
Kind bewirkt, als in patrilinearen Gesellschaften sonst üblich zu sein pflegt. 
Bei den Trobriandern, bei denen der Vater natürlich keinerlei Gewalt über 
seine Kinder besitzt, da die Gesellschaft matrilinear organisiert ist und der 
mütterliche Onkel die potestas ausübt, wird der Vater als „geliebter, wohl¬ 
wollender Freund“ bezeichnet. Malinowski 2 3 schreibt darüber: „Bei den 
Melanesiern ist die Vaterschaft 4 bekanntlich eine rein soziale ^Beziehung. 
Zum Teil besteht sie in der Erfüllung der Pflichten gegen die Kinder seines 
Weibes; er muß sie ,in seine Arme aufnehmen 4 , wie die bereits angeführte 
Redensart lautet, er muß sie auf dem Marsch tragen, wenn die Mutter müde 
ist, er muß zu Hause bei ihrer Pflege mithelfen. Er hält sie ab, wenn sie 
ein natürliches Bedürfnis verrichten und reinigt sie; wir finden denn auch 
m der Sprache der Eingebornen viele stereotype Redensarten, die sich auf 
die Mühsale der Vaterschaft beziehen und auf die Dankbarkeit, die man 
dem Vater schuldet. Ein typischer trobriandrischer Vater ist gewissermaßen 
eine angestrengte, gewissenhafte Kinderpflegerin, das ist einfach seine Pflicht 
und Schuldigkeit. Tatsache ist, daß der Vater stets an den Kindern Anteil 
nimmt, zuweilen sogar leidenschaftlichen Anteil, und alle seine Pflichten 
eifrig und liebevoll erfüllt. “3 

So einfach wie hier war jedoch der Vaterkomplex nicht immer zu lösen, 
und bei der zwangsmäßigen Ambivalenz der Wilden mußte man einen anderen 


1) Ein Beitrag von weiblicher Seite, der sich Frazers Bemerkung (s. o.) über die 
kranken Phantasien schwangerer Frauen an die Seite stellen läßt. 

2) Malinowski: Psyche, Bd. IV, S. 298. 

3) Ibid. S. 304. 




























Das Mutterredit und die sexuelle Unwissenheit 2i5 


Gegenstand finden, auf den sich alle weniger freundlichen Gefühle, wie 
Scheu, Furcht, Achtung und unterdrückte Feindschaft, die mit der Idee 
d er Vaterimago untrennbar verbunden sind, ablenken ließen. Bekanntlich 
hat die christliche Theologie Jahrhunderte gebraucht, ehe sie auf die Idee 
des Teufels (der, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, nur das genetische 
Gegenstück zu Gott ist) verzichten und einen Gott verehren konnte, der 
die Verantwortung sowohl für Gut wie für Böse trägt. Ebenso mußten sich 
auch die Wilden eine Gestalt schaffen, welche die gehaßten und gefürchteten 
Attribute des Vaterbildes verkörpert. In fast allen matrilinearen Gesellschaften, 
und auch in manchen, die bereits zur patrilinearen Organisation übergegangen 
sind, spielt der Mutterbruder diese Rolle. Er besitzt die unmittelbare 
potestas über die Kinder, er ist die höchste Autorität und hält Disziplin, 
von ihm erben die Kinder den Besitz, er unterrichtet sie in allen möglichen 
Fertigkeiten, oft muß er auch für ihre Ernährung und Erhaltung aufkommen. 
Trotzdem wohnt er zumeist nicht mit den Kindern unter dem gleichen Dache, 
häufig nicht einmal im gleichen Dorf, und seine Beziehungen zu der Mutter 
sind äußerst formell und von zahlreichen Tabus umgeben. Malinowski 1 
vergleicht die Stellung der beiden Männer in folgender Weise: „Bei dem 
Vater suchen die Kinder daher nur liebende Fürsorge und zärtliche Kamerad¬ 
schaft. Der Bruder ihrer Mutter verkörpert für sie das Prinzip der Disziplin, 
der Autorität und der Exekutivgewalt in der Familie.“ Naturgemäß ist also 
Liebe nicht das hervorstechendste Merkmal der Beziehungen zwischen Knabe 
und Onkel, obgleich während der Jünglingszeit, wenn ihm die ernsten Pflichten 
des Lebens eingeimpft werden, ein ganz Teil Kameradschaft zwischen ihnen 
besteht. Malinowski 2 äußert sich über dieses Stadium: „Der Vater wird 
während dieser Zeit vorübergehend in den Schatten gestellt. Der Knabe, 
der als Kind ziemlich viel Freiheit genoß und Mitglied einer kleinen Knaben¬ 
gemeinschaft war, gewinnt nun einerseits die höhere Freiheit des bukumatula, 
anderseits wird er durch die zahlreichen Pflichten gegen seinen kada , den 
Mutterbruder, in seiner Bewegungsfreiheit viel mehr beschränkt. Er behält 
weniger Zeit und weniger Interesse für den Vater. Später, wenn die Reibungen 
mit dem Onkel einsetzen, wendet er sich in der Regel wiederum zu seinem 
Vater zurück und damit ist ihre Freundschaft fürs Leben besiegelt.“ 

Ich bin der Meinung, daß der eben geschilderte Zustand nur ein Bei¬ 
spiel jenes Vorganges ist, den wir unter dem Namen Spaltung aus dem 


1) loc, dt. 

2) op. dt. S. 324. 










Studium der Mythologie kennen und der auch bei Psychoneurosen häufi 
vorkommt. Mittels dieses Prozesses lassen sich viele Attribute von der ur¬ 
sprünglichen Persönlichkeit ablösen und in eine andere einverleiben, die 
von nun ab diese personifiziert. In dem vorliegenden Fall, ebenso wie in 
zahlreichen anderen Fällen, dient der Prozeß dazu, die Affektbetonung von 
einem Verhältnis, in dem sie vielleicht unangenehme Folgen haben könnte 
auf ein anderes, entfernteres zu verschieben. Die britische Verfassung hat 
etwas Ähnliches entwickelt; der Vater des Landes, der König, kann nach 
der Verfassung nichts Unrechtes tun, er ist daher vor Kritik geschützt und 
genießt dauernd die Liebe und Achtung seiner Landeskinder. Das wurde 
dadurch möglich, daß man, als das Volk die absolute Monarchie nicht länger 
dulden wollte, in der Person des Ministerpräsidenten einen Gegenspieler schuf, 
auf den alle Klagen, Groll und Feindschaftsgefühle abgeladen werden konnten! 
Das Maß der Opposition gegen ihn sammelt sich periodisch und unver¬ 
meidlich auf, bis der Ministerpräsident einem Nachfolger weichen muß. 
E in subtileres Beispiel hat Freud in seiner Arbeit über „Das Tubu der 
Virgimtät “ 1 2 analysiert. Er zeigte, daß der Sitte, die Braut von einem an¬ 
deren Manne als dem Gatten deflorieren zu lassen, die Absicht zugrunde 
liegt, das Ressentiment, das häufig nach diesem Vorgang zurückbleibt, von 
dem künftigen Lebensgefährten auf einen anderen Mann abzulehken. 

Da die beiden Männer unbewußte Äquivalente sind, kann es nicht über¬ 
raschen, daß sie bei manchen Stämmen mit dem gleichen Namen bezeichnet 
werden, beispielsweise in Loango, wo der Onkel Tate (Vater ) 3 genannt wird. 
Eine Beobachtung Hartlands 3 führt uns die psychologische Kompliziertheit 
dieses Verhältnisses sehr deutlich vor Augen. „Wenn ein Kind stirbt oder 
auch nur einen Unfall ohne ernstere Folgen erleidet, rückt die ganze Sipp¬ 
schaft der Mutter, ihr Bruder an der Spitze, in voller Kriegsausrüstung 
gegen den Vater aus. Dieser muß sich verteidigen, bis er verwundet wird 
Sobald das erste Blut fließt, ist der Kampf zu Ende, aber die angreifende 
Partei plündert das Haus des Vaters und nimmt sich alles, was nicht niet- 
und nagelfest ist; zum Schlüsse wird ein Festmahl gefeiert, das der trau¬ 
ernde Vater ausrichten muß.“ Der Vater wird also bestraft, weil seine ver¬ 
drängten bösen Wünsche sich verwirklicht haben und das Kind zu Schaden 
gekommen ist. Dabei geschieht dies in einer patrilinealen Gesellschaft, bei 
den Maoris; aber die vom Mutterbruder geführte Aktion deutet auf eine 


1) Ges. Schriften, Bd. V. 

2) Hartland, op. dt. S. 281. 

3) Ibid. S. 27g. 





























Das jMutterredit und die sexuelle Unwissenheit 


frühere avunkulare und zweifellos matrilineale Gesellschaftsorganisation hin. 
Bei diesem Übergang von einer Organisationsform in die andere kann man 
deutlich sehen, wie sich die entsprechende Rolle des Vaters und des Onkels 
in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Frau Seligman 1 teilte mir mit, daß 
bei manchen sudanesischen Stämmen, bei denen dieser Übergang gerade 
stattfindet, der Vater gehaßt und der Onkel geliebt wird. 

In dieser Spaltung des Urvaters in einen liebevollen und milden Vater 
einerseits und einen strengen und moralischen Onkel anderseits ist es kein 
Zufall, daß der letztere gewählt wurde, um diese Rolle zu spielen. Ich will 
die Entwicklung einmal schematisch skizzieren. Wenn wir von der primären 
Trinität von Vater, Mutter und Sohn ausgehend ein Surrngat für den eifer¬ 
süchtigen Haß gegen den Vater suchen, bieten sich uns nur zwei Personen 
dar: der Vater und der Bruder der Mutter. Die Gründe dafür gehen auf 
die eigenen Inzestneigungen der Mutter zurück; ihr Vater und ihr Bruder 
sind in gewissem Sinne auch Rivalen ihres Sohnes, nur etwas entferntere 
Rivalen als dessen eigener Vater. Daher ist es auch nicht weiter verwunder¬ 
lich, daß wir Parallelen der Ödipus-Sage in bezug auf die anderen Männer 
finden. Man hat beispielsweise dem Akrisios geweissagt, er werde vom Sohne 
seiner Tochter getötet werden; und trotz aller Vorsichtsmaßregeln — erst 
brachte er seine Tochter Danae in völlige Abgeschiedenheit, später, nach¬ 
dem Zeus seine Absicht, die Jungfräulichkeit der Tochter zu erhalten, ver¬ 
eitelt hatte, suchte er sie und ihren Sohn Perseus zu ertränken — traf 
diese Prophezeiung auch wirklich ein: Perseus tötete seinen Großvater. 
Ähnliche Geschichten werden auch von anderen Helden erzählt, so von 
Cyrus, Gilgamesch und Telephosr » 

Wir wissen aus unserer analytischen Arbeit, daß die Liebe der Tochter 
zum Vater gewöhnlich auf den Bruder übertragen wird, ebenso wie der 
Sohn die Liebe zur Mutter auf die Schwester überträgt. Die Neigung zum 
Kinder-Eltern-Inzest wird auf diese Weise mit der zum Bruder-Schwester¬ 
inzest vertauscht, der selbst heute weniger tabu ist als der erstere und sich 
oft genug in Wirklichkeit umsetzt. Bekanntlich waren Ehen zwischen 
königlichen Brüdern und Schwestern im alten Ägypten gang und gäbe 
und waren es bis zu unserer Zeit in Hawai , 2 wo sie den gemeinen Bürgern 
allerdings verboten sind. Man versteht also ohneweiters, daß die eifersüchtige 
Rivalität um die Frau zwischen Onkel und Neffe die Rivalität zwischen Vater 


1) Persönliche Mitteilung, für die ich zu großem Dank verpflichtet bin. 

2) Rivers: Social Organization, 1924, S. 59. 


V 










21 8 


Ernest Jones 


und Sohn eine Doublette ist, jener Zustand also diesen ersetzen soll. Die 
klassische Sage, welche diese Situation am deutlichsten erhellt, ist die 
Tristan-Legende, zumal in ihren älteren Fassungen. Bevor Tristan Isolde 
erringen kann, muß er ihren Onkel mütterlicherseits, Morolt, töten (das 
wird natürlich anders begründet) und nachdem sie seinen eigenen Mutter¬ 
bruder, Marke, geheiratet hat, wird er der Nebenbuhler seines Onkels- i n 
der neuesten Fassung der Legende lüftet Thomas Hardy die Maske ’von 
Wohlwollen, die über Marke gebreitet wurde, und legt die natürliche 
Feindschaft der beiden Männer bloß. In den ältesten Versionen der Lanzelot- 
Sage aus dem Sagenkreis der Tafelrunde des Königs Artus 1 finden sich 
sehr deutliche Anklänge des gleichen Themas. Nach der ersten Fassung 
liebte Gawän die Königin Ginevra, die Frau seines Onkels mütterlicher¬ 
seits. In den späteren Fassungen tritt Lanzelot an seine Stelle (der auch 
die Stellung des ersten Gralsritters usurpiert); daß aber dadurch das eigent¬ 
liche Thema nur verschleiert werden soll beweist der Umstand daß 
Lanzelots Pflegemutter ebenfalls eine Schwester Königs Artus war. ’ Zum 
Schlüsse kommt das ursprüngliche Thema wieder zutage, denn ein anderer 
Neffe, Modred, entführt Ginevra und tötet Artus, seinen Onkel mütter¬ 
licherseits. Ein anderer Fall von Verdrängung, der uns aus der Hamlet- 
Gestalt des Ödipus-Komplexes bekannt ist, läßt sich ebenfalls auf das Ver¬ 
hältnis zwischen Onkel und Neffe zurückführen; hier rächt dejf Neffe den 
Mord, den der Onkel begangen hat; ein Beispiel ist die Geschichte von 
Otuel aus dem Sagenkreis um Karl den Großen. 2 Wohl die vollständigste 
Inversion stellt die kaukasische Legende von Chopa dar,3 der die Erschla- 
gung seines Onkels mütterlicherseits an dem eigenen Vater rächt. 

Doch kehren wir wieder zu den Trobriandern zurück. Wie bei den 
meisten matrilinealen Gesellschaften besteht auch bei ihnen ein außer¬ 
ordentlich strenges Tabu für die sexuellen Beziehungen zwischen Bruder 
und Schwester, das bereits im zartesten Lebensalter einsetzt. Malinowskis 
Scharfsinn konnte es nicht entgehen, daß dieses Tabu der Ausdruck unter¬ 
drückter Inzestneigungen ist, obzwar er offenbar den Zusammenhang zwischen 
diesem Tabu und der avunkularen Gesellschaftsorganisation nicht erkannt 
hat, d. h. er sah nicht, daß der Onkel, als unbewußter Liebhaber der 
utter, der imaginäre Vater ihrer Kinder ist und daher logischerweise die 


1) Sl eh e die Arbeiten Jessie L. Westons, Arthur and Guinevere, 
and !"c nlghts ' The Le g:end of Sir Gawayne and Lancelot du Lac. 

2) Eüis: Specimens of Early English Metrical Romances, 180s, S. 
5) Zitiert bei Hartl and, op . dt, S. 271. 


King Arthur 

375 ff- 
























Das Mutterredit und die sexuelle Unwissenheit 


219 


potestas über sie besitzt. Er erkannte jedoch, daß der Onkel die negative 
Rolle des Vaters unserer Zivilisation spielt und faßt die Sachlage in fol¬ 
genden Worten zusammen: 1 „Wenn wir jede Gesellschaft mit einer ein¬ 
fachen, wenn auch rohen Formel charakterisieren wollen, so können wir 
von der unseren sagen, in ihr herrsche der unterdrückte Wunsch, ,den 
Vater zu töten und die Mutter zu heiraten 4 , während in der matrilinealen 
Gesellschaft in Melanesia der Wunsch dahin gehe, ,die Schwester zu hei¬ 
raten und den Mutterbruder zu töten 4 .“ Einen schlagenden Beweis für 
diese Behauptung findet er in einem sehr typischen Mythenzyklus bei den 
matrilinealen Völkern, der den europäischen Ödipusmythen entspricht und 
von Inzest zwischen Bruder und Schwester sowie Haß zwischen Neffen und 
Onkel mütterlicherseits handelt. 2 

Malinowskis Schlußfolgerung ist in beschreibender Hinsicht sicherlich 
richtig, aber er baut eine höchst zweifelhafte Hypothese auf ihr auf, durch 
die er Freuds Theorie von dem Familien-Kernkomplex zu modifizieren 
sucht. Freud betrachtet bekanntlich das Verhältnis zwischen Vater, Mutter 
und Sohn als das Schema, von dem sich alle übrigen komplizierteren Ver¬ 
wandtschaftsverhältnisse ableiten. Malinowski dagegen behauptet, der 
Familien-Kernkomplex variiere je nach der bestehenden Gesellschaftsordnung. 
Bei dem matrilinealen Familiensystem, das ihm zufolge aus unbekannten 
sozialen und ökonomischen Ursachen entsteht, ist der unterdrückte Kern¬ 
komplex die Liebe von Bruder zu Schwester und der Haß zwischen Neffe 
und Onkel; sobald die matrilineale Gesellschaftsordnung in die patrilineale 
übergeht, wird der Kernkomplex zu dem bekannten Ödipus-Komplex. 

Solange wir nur die soziologische Seite der Tatsachen im Auge haben, 
erscheint diese Hypothese sehr geistreich und vielleicht sogar einleuchtend. 
Die Vernachlässigung der genetischen Seite des Problems jedoch führt 
meiner Ansicht nach zu dem Fehlen der, wie ich es an anderer Stelle 
genannt habe, räumlichen Perspektive, d. h. dem Gefühl für Wert und 
Maß, das sich auf eine genaue Kenntnis des Unbewußten gründet; ich 
glaube daher, daß das Gegenteil von Malinowskis Annahme der Wahrheit 
näher kommt. Ich halte es für wahrscheinlicher, daß das matrilineare System 
mit seinem Avunkularkomplex auf die vorhin beschriebene Weise als Abwehr 
gegen die primären Ödipustendenzen entstand, als daß es aus unbekannten 
soziologischen Ursachen entstanden ist, die den Avunkularkomplex zur Folge 


1) Malinowski: Psyche, Bd. V, S. 195. 

2) Ibid ., S. 216. 










220 


Ernest Jones 




hatten und der Ödipus-Komplex erst wieder auftauchte als die Gesellschafts- 
Organisation in die patrilineare Form überging. Die verboten und unbewußt 
geliebte Schwester ist nur ein Ersatz für die Mutter, ebenso wie der Onkel 
ganz unzweideutig ein Ersatz für den Vater ist. Nach Malinowskis Hypo¬ 
these wäre der Ödipus-Komplex ein spätes Produkt; nach der psychoanaly¬ 
tischen Hypothese ist er fons et origo. ^ 

VI. Verhältnis zwischen Mutterrecht und Vaterrecht 

1861, im gleichen Jahr wie Bachofens berühmtes Werk „Das Mutter¬ 
recht“, erschien ein nicht minder berühmtes Werk von Sir Henry Maine 
unter dem Titel „Primal Law“. Maine setzt in diesem Werk, zum großen 
Teil auf Grund juristischer Studien in Indien, auseinander, daß der ur¬ 
sprüngliche Gesellschaftszustand ein patriarchalischer gewesen sein müsse. 
Die seitherigen historischen und ethnologischen Beobachtungen und For¬ 
schungen, vor allem von McLennan, Lewis Morgan, Lubbock und 
Hartland, haben sich aber immer mehr zugunsten der entgegengesetzten 
Ansicht aufgehauft, daß nämlich der ursprüngliche Gesellschaftszustand (mit 
oder ohne vorhergehendes Promiskuitätsstadium) die matrilineale Organisation 
war, eine Annahme, der wohl die Mehrzahl der Anthropologen zuneigt. Auf 
alle Falle steht es fest, daß das Mutterrecht bei den wilden Völkerschaften 
außerordentlich verbreitet ist und vermutlich vor fünftausend Jahren noch 
viel verbreiteter war. 

Eine erregte Kontroverse entspann sich über die Frage, ob das Vaterrecht 
in der Gestalt, wie wir es kennen, oder das Mutterrecht, wie wir es bei 
den Wilden finden, früher bestanden hat. Nach der Auffassung, die wir 
hier entwickelt haben, ist beides unrichtig. Die Frage ist unseres Erachtens 
nicht richtig gestellt, denn die beiden Alternativen erschöpfen nicht alle 
Möglichkeiten. Wir wissen aus unserer analytischen Arbeit, daß häufig drei 
seelische Schichten vorhanden sind, wo zunächst nur zwei zu bestehen scheinen. 
Eine hochmütige Überheblichkeit beispielsweise ist gewöhnlich nur der kom¬ 
pensatorische Ausdruck eines tiefsitzenden Minderwertigkeitsgefühls, aber die 
Analyse zeigt uns, daß dieses seinerseits auf unterdrücktem Narzißmus be¬ 
ruht. Die erste und die dritte Schicht sind sich also inhaltlich ähnlich, aber 
darum lassen sie sich doch noch nicht miteinander identifizieren. Das vor¬ 
liegende Problem könnte also sehr wohl ähnlich gelagert sein. 

Ehe wir jedoch diese Idee weiterführen, wollen wir einen kurzen Über¬ 
blick über die Ansichten anderer Autoren geben. Jene Autoren, die sich 


■ 



























Das Mutterredit und die sexuelle Unwissenheit 




für das primäre Auftreten des Patriarchats aussprechen, haben zu erklären, 
wie das Mutterrecht überhaupt entstehen konnte; und jene, die die ent¬ 
gegengesetzte Ansicht vertreten, müssen Gründe dafür beibringen, wieso 
das ursprüngliche Mutterrecht von dem Yaterrecht verdrängt werden konnte. 
Die erste Reihe von Autoren sieht in dem Mutterrecht eine vorübergehende 
Entwicklungsphase und erklärt es vor allem mit agrikulturellen Ursachen, 
weil damals die Frauenarbeit in der Landwirtschaft besonders wertvoll 
gewesen sei; die Korrelation zwischen Mutterrecht und Landwirtschaft ist 
jedoch keineswegs eng genug, um diesen Zusammenhang zu beweisen. 1 
Die zweite Reihe von Autoren, die sich häufig geradezu enthusiastisch über 
den idyllischen Zustand in der Mutterrechtsgesellschaft ausläßt, hält diese 
für die ursprüngliche Gesellschaftsform und meint, die Frauen seien mit 
brutaler Gewalt aus diesem Paradiese vertrieben worden. 2 Hartl and, 3 dem 
das Vaterrecht „ein ganz künstliches System“ bedeutet, meint dazu: „Wir 
kommen meines Erachtens nicht um die Schlußfolgerung herum, daß das 
Vaterrecht bei den Wilden oder Barbaren nicht auf einen Wandel der 
Blutsverwandtschaftstheorien zurückgeht, sondern auf soziale und ökonomische 
Ursachen.“ 4 Sowohl er wie Rivers, 5 der nebenbei keine Vermutung über 
das relative Alter von Vater- und Mutterrecht äußert, legen in diesem 
Zusammenhänge den kriegerischen Einwanderungen der Frühzeit große 
Bedeutung bei, welche die Eroberer instand setzten, den Schwächeren ihren 
Willen aufzuzwingen. 6 

Die auf den vorstehenden Seiten entwickelte Ansicht gründet sich auf 
die analytische Erkenntnis der fundamentalen Bedeutung des Ödipus- 
Komplexes. Sie deckt sich weder mit der Idee einer primitiven Promiskuität, 
noch mit der des primären Mutterrechts noch mit der des Patriarchats in 
seiner uns bekannten monogamen Form. Unsere Überlegungen haben mich, 
im Gegensatz zu Malinowski, nicht nur nicht von der Freud sehen Vor¬ 
stellung der „Urhorde“ (Atkinsons Zyklopenfamilie) abgebracht, sondern 
sie im Gegenteil als die befriedigendste Erklärung des komplizierten Problems 


1) Siehe Westermarck, op. cit. S. 297. 

2) Man muß sich unwillkürlich fragen, welchen Anteil die kindliche „sadistische 
Vorstellung vom Koitus“ an der Idee gehabt haben mag, daß die Männer durch 
„nackte Gewalt“ das „Vaterrecht“ an die Stelle des „Mutterrechts“ gesetzt haben 
sollen. 

3) Hartl and, op. cit. Bd. II, S. 248. 

4) Ibid S. 100. 

5) Idem , Primitive Society, 1921, S. 161. 

6) Rivers, op. cit. S. 97. 











erwiesen. Infolge dieser Erklärung ist das Mutterrechtssystem mit sein 
Avunkularkomplex eine der vielen Methoden, die zur Abwehr der u ^ 
dem Namen Ödipus-Komplex zusammengefaßten Tendenzen dienen soß^ 
Wir können natürlich nichts darüber aussagen, ob das Mutterrecht T 
notwendiges Entwicklungsstadium des heutigen patriarchalischen System, 

arstellt ; doch ich sehe keinen Grund dafür und die Tatsache, daß manche 
der niedrigstehenden australischen Wilden, deren primitive Triebe schwe 
genug zu bändigen sind, mit ihnen durch eine dritte Methode — d * 

otem- und Tabusystem — fertig werden können, bestärkt uns noch in 
unserem Zweifel. Noch haben wir auch gar keinen Grund zu der Ver 
mutung, daß die Unkenntnis oder vielmehr die Verdrängung der väterlichen 
Zeugungstatsachen eine notwendige Begleiterscheinung des Mutterrechts sei 
o gleich sie natürlich bei den Motiven mitgewirkt haben mag, die zur 
Einrichtung des Mutterrechts führten. 

Das patriarchalische System in seiner heutigen Gestalt bedeutet die An¬ 
erkennung der Vorherrschaft des Vaters, noch dazu eine willige Anerkennung 

“ r" der Zuflucht ZUm Mutterrecht oder zu komplizierten Tabus 

bedarf Es bedeutet die Zähmung des Menschen, die allmähliche Verarbeitung 
es Odipus-Komplexes. Endlich kann der Mensch seinem wirklichen Vater 
frei ins Gesicht sehen und mit ihm leben. Freud sagt mit Recht, die 
ner ennung er dem Vater gebührenden Stellung innerhalb der Familie 
bezeichne den wichtigsten Kulturfortschritt. 

Soweit wir wissen, ist dies — wenigstens zum Teil - dem Ersatz des 

i\/ S !r , Ur , Ch 6me sublimierte Homosexualität zu danken, dem Ersatz von 
Mordgedanken durch Kastrationsvorstellungen. Der Preis, der dafür gezahlt 
werden mußte, ist die verminderte sexuelle Potenz des zivilisierten Mannes 
mit allen ihren komplizierten Konsequenzen. 


























Der iSa bbatk 

Von 

Erick Fromm 

Heidelberg 


Die Institution eines wöchentlichen Ruhetages scheint sich aus sozialen 
und hygienischen Ursachen so sehr von selbst zu empfehlen, daß sie der 
Aufhellung durch eine tiefenpsychologische Untersuchung nicht weiter zu 
bedürfen scheint. Wenden wir uns aber der Sabbathinstitution zu, wie sie 
sich bei den isrealitischen Propheten, in der Bibel, und in der späteren 
jüdischen Tradition entwickelt hat, so erheben sich sofort eine Reihe recht 
dringlicher und bisher ungelöster Fragen. 

Wenn der Sabbath ein Tag der Ruhe und Erholung für den Menschen 
sein, wenn das Arbeitsverbot als Wohltat und nicht als Versagung wirken 
soll, wie lassen sich dann einige für diesen Tag geltende Verbote erklären, 
die offensichtlich eine entgegengesetzte Tendenz verfolgen? So wirken die 
biblischen Verbote, am Sabbath zu kochen und zu backen (Ex. 16, 23), 
das Haus zu verlassen (Ex. 16, 29), oder Feuer anzuzünden (Ex. 35, 3), doch 
durchaus nicht als Erleichterungen, sondern als Erschwerungen, 
die wir viel eher an einem Trauer- und Bußtage erwarten würden denn 
es sind ja typische Trauer- und Bußriten, wie wir sie sonst in der 
jüdischen Religion sowohl, wie bei anderen Religionsbildungen anzutreffen 
gewohnt sind (vgl. etwa die jüdischen Trauervorschriften beim Tode naher 
Angehörigen, cf. weiter unten). Dieser düstere, angsterfüllte, asketische Stirn- 
mun gsgehalt der Sabbathgesetze verschwindet auch nicht in der späteren 
rabbinischen Entwicklung des Judentums. Zwar dient der Sabbath hier auf 
der einen Seite in wachsendem Maße der Erholung, wird ein „Tag der 

1) Vgl. J. Hehn: Siebenzahl und Sabbath bei den Babyloniern und im Alten 
Testament. Leipzig 1907 (Leipziger semitische Studien II, 5, siehe dort auch Jastrow). 
Beer: Der Mischnahtraktat Sabbath, Tübingen 1908. 







22-4 Eridi Fromm 


Lust“, an dem auch der Körper durch reichliches Essen und langen Schlaf 
auf seine Kosten kommen soll; dennoch bleibt auf der anderen Seite deut¬ 
lich genug die entgegengesetzte Tendenz erkennbar, }a sie verstärkt sich 
teilweise immer mehr. 

So kam man in der Makkabäerzeit zu der — übrigens in der Praxis 
nicht lange haltbaren — Auffassung, daß man sich am Sabbath gegen 
kriegerische Angriffe nicht verteidigen dürfe, selbst wenn es das Leben 
kosten sollte (i. Makk. 2, 31 ff. 2. Makk. 5, 25 ff. 6, 11). Das Arbeits¬ 
verbot wurde so weit ausgedehnt, daß es z. B. als strafwürdig erschien, auch 
nur eine Ähre zu pflücken, oder einen Gegenstand, und sei es den leich¬ 
testen, über die Straße zu tragen. Im Buch der Jubiläen 50, 8 (aus den letzten 
Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts v. Chr.) ist der eheliche Verkehr 
am Sabbath verboten. Ferner war das Heilen Leichtkranker und ursprüng¬ 
lich wohl das Heilen überhaupt untersagt. Eine deutliche Parallele zu alt¬ 
arabischen Trauergebräuchen 1 bietet auch folgendes „Arbeits u verbot der 
Mischnah: (Sabbath, X, 6). „Wer abnimmt seine Fingernägel . . . und 
ebenso sein Haupthaar und ebenso seinen Schnurrbart und ebenso seinen 
Backenbart und ebenso eine (Frau), die sich (das Haar) flicht und ebenso 
eine, die (die Augenlider) bemalt und ebenso eine, die (die Wangen sich) 
rot färbt, die(se alle) erklärt Babbi Eliezer für schuldig ein Sündopfer.^ 

Unser Erstaunen über den bisher aufgezeigten eigenartigin Charakter 
der Arbeitsverbote am Sabbath verstärkt sich, wenn wir sehen, daß die 
Übertretung dieser Verbote, die doch scheinbar der Buhe und dem Wohl¬ 
befinden der Menschen dienen sollen, wie die schwersten Verbrechen (etwa 
der Ehebruch) mit der Todesstrafe geahndet wird (Ex. 35, 2). Diese so 
wenig zu einer humanen Institution, wie dem Ruhetag, passende Strenge 
wird noch verdeutlicht durch die Tatsache, daß schon die Berührung von 
Gegenständen, mit denen eine verbotene Arbeit geschehen könnte, unter¬ 
sagt ist. 

Fügen wir noch weiter hinzu, daß der Sabbath neben der Beschneidung 
als Grundnorm, ja geradezu als Kriterium der jüdischen Nationalität galt, 
so vermehrt diese seine ethnische Bedeutung nur noch die Schwierigkeiten 
seiner Erklärung als eines aus sozialen Gründen verordneten Ruhetages von 
allgemein menschlicher Bedeutung. 

Auch die in der Bibel angegebenen Begründungen für den Sabbath 
bringen keine Aufklärung. Zwar scheint die im V. Buch Moses (15, 25) 


1) Vgl. auch Deut. 21 


12. 

























Der jSabbatL 


226 


gegebene Berufung auf die ägyptische Knechtschaft im Sinne des modernen 
Ruhetages zu liegen, dafür aber kompliziert die im II. Buch Moses (10, 11) 
gegebene Erklärung des Sabbaths mit der Ruhe Gottes am siebenten Tag 
nach der Schöpfung das Problem nur um so mehr. Denn wenn der Ruhe¬ 
tag zugunsten und zur Erholung des sich die Woche über abmühenden 
Menschen eingesetzt ist, welche (aus der theologischen Perspektive ge¬ 
sehen) beinahe blasphemische Vorstellung von Gott ist es dann, ihn als 
den ersten hinzustellen, der nach sechs Tagen schwerer Arbeit die Ruhe 
nötig hatte. 

Zu diesen aus der Eigenart des Sabbathgesetzes selbst sich ergebenden 
Fragen kommen andere, historische, die Entwicklung des Sabbaths be¬ 
treffende, die nicht minder schwierig sind. Vor allem das Problem des 
Zusammenhangs zwischen den Babylonischen Siebenertagen, die Unglücks¬ 
und Versöhnungstage waren, mit dem hebräischen Sabbath, der doch ein 
Freudentag sein sollte, weiterhin des Zusammenhangs des Sabbaths mit dem 
biblischen Versöhnungstag, der ein Sabbath der Sabbathe genannt wird, 
und den späteren Vorstellungen von der messianischen Zeit, die eine „ganz 
sabbathliche Zeit“ heißt, und endlich seine Beziehung zum christlichen 
Sonntag, dessen Inhalt gar nicht mehr das Arbeitsverbot, sondern die Feier 
der Auferstehung Christi ist. 

Beginnen wir die Untersuchung dieser Fragen mit der Feststellung dessen, 
was das biblisch-talmudische Schrifttum unter „Arbeit“ versteht. Ganz im 
Gegensatz zum heutigen Arbeitsbegriff, der ein psychologisches Moment 
(Ermüdung, Unlust) und ein ökonomisches 1 (wirtschaftlicher Zweck) enthält, 
sagt der jüdische Arbeitsbegriff etwas inhaltlich Bestimmtes aus, über die 
Beziehung zwischen Mensch und Natur. „Arbeit“ verrichtet nicht der, der 
sich abmüht, oder wirtschaftliche Werte schafft, sondern derjenige, welcher 
auf die Natur im aufbauenden oder zerstörenden Sinne einwirkt, d. h. sie 
in ihrem Bestände verändert. Anders ausgedrückt: die Natur wird für Tabu 
erklärt, und jede Veränderung, sei es auch die räumliche von Dingen und 
Menschen, ist verpönte „Arbeit“. 2 Diese Einwirkung auf die Natur, bei 
einem Agrarvolk also praktisch in erster Linie die Bearbeitung des Bodens, 
ist es, die durch das Arbeitsverbot am Sabbath verhindert werden soll; und 
die schwerste Strafe unterstützt dieses Verbot. 


1) Siehe etwa Harms im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, IV. Aufl., 
Bd. I, S. 568. 

2) Von diesem Gesichtspunkt aus ist auch das Arbeitsverbot für das Tier zu ver¬ 
stehen. Als Teil der Natur wird es am Sabbath auch zum Tabu. 


Imago XIII. 













2 26 Erich Fromm 


Alle Arbeit ist Bezwingung der Materie, des mütterlichen Stoffes, durch den 
Menschen, und die Bearbeitung des Bodens im besonderen ist uns als Symbol 
des Inzests aus manchen Analogien wohl bekannt. Das also, was ursprüng¬ 
lich in erster Linie am Sabbath verhütet werden sollte, war, dyna¬ 
misch betrachtet, die inzestuöse Bezwingung der Mutter Erde wie 
der Natur überhaupt durch den Menschen. Der ursprüngliche Charakter 
des Sabbaths war also offenbar gar nicht ein positiver, der Ruhe und Er¬ 
holung dienender, sondern ein negativer, der durch den Verzicht auf die 
Bezwingung der Natur bestimmt war. Dieser Verzicht Charakter wird um so 
deutlicher, wenn wir bedenken, daß bei der geringen Produktivität der 
Arbeit in der biblischen Zeit der Verzicht auf einen Arbeitstag gleichzeitig 
den Verzicht auf lebenswichtige Güter bedeutete, so daß ein Ruhetag also 
auch von der ökonomischen Seite her notwendigerweise Verzichtcharakter trug. 

Dient der Sabbath ursprünglich der Abwehr von Inzesttendenzen, und 
erblicken wir in ihm noch Bußelemente, wie das Feuer- und Kochverbot 
oder das des Koitus, so liegt es nicht ferne, daran zu denken, daß er auch 
der Einnerung an das Urverbrechen, die inzestuös determinierte Vater¬ 
tötung geweiht ist. Vielleicht führt uns hier die Begründung des Sabbaths 
mit der Ruhe Gottes einen Schritt weiter. Die hebräische Mythologie hat 
die Erinnerung an den ursprünglichen Kampf der Horde mij dem Vater 
und an die Tötung des Vaters weitgehend ausgemerzt. Erinnern uns auch 
Reste, wie das Essen von der verbotenen Frucht, die Adam werden lassen 
konnte wie Gott, und der Turmbau zu Babel, der die gleiche Tendenz ver¬ 
folgt, an einen ursprünglichen Kampf zwischen dem Vater-Gott und seinen 
Söhnen, so erscheint dieser Gott doch von Anfang an als der mächtige, un¬ 
besiegbare Vater, der die Welt schafft, d. h. mit der mütterlichen Erde ver¬ 
mählt ist. Enthält noch der babylonische Schöpfungsmythos (im Fragment 
des Berosus) die Erinnerung an die ursprüngliche Tötung des Vaters, daß 
Bel einem der Götter befohlen habe, ihm den Kopf abzuschlagen und aus 
dem herabfließenden Blut, mit Erde vermischt, Menschen und Tiere ge¬ 
macht habe, 1 so scheint der biblische Bericht davon ganz zu schweigen. 
Doch sollten wir nicht in der Erzählung von der Ruhe Gottes nach dem 
Schöpfungswerk eine letzte Erinnerung an die Tötung des Vaters erblicken? 
Aus der Sprache der Träume und der Kinder ist uns ja die symbolische 
Gleichung Ruhe — Totsein wohlbekannt, und so wären wir nicht erstaunt, 
in der Erzählung von Gottes Ruhe nach dem letzten Schöpfungsakt, der 


1) Schräder: Die Keilinschriften und das Alte Testament. 1902, S. 489. 



























Der iSaLLatk 


227 


dem Manne die Frau gibt, wohinter sich wohl die Gewinnung der Mutter 
durch den Sohn verbirgt, einen letzten Nachhall einer sonst im 
Mythos der Bibel bereits verdrängten Erinnerung an die Tötung 
des Vaters zu finden. 1 

Einige Schwierigkeiten hätten wir mit dieser Antwort erklärt. Wir ver¬ 
ständen den Verhütungscharakter des Sabbathgesetzes, die Rigorosität der 
Strafen, die ethnische Bedeutung der Institution, den Bußcharakter gewisser 
Bestimmungen und die „Blasphemie“ der Bezugnahme auf Gottes Ruhe. 
Aber so sehr alle diese Züge unter sich und mit der hier gegebenen Er¬ 
klärung übereinstimmen mögen, so wenig passen sie zu der Tatsache, daß 
der Sabbath anderseits, wie wir oben sahen, eben doch nicht nur der düstere 
Buß- und Versöhnungstag geblieben ist, sondern — wenn auch dieser Charakter 
weiterhin durchschimmert — im Lauf der Entwicklung zugleich zu einem 
Tage freudigen Ausruhens, zur Grundlage einer der lebenbejahendsten 
Errungenschaften der Menschheit geworden ist. 

Schon der Prophet Jesaia verlangt, daß der Sabbath eine Lust sei 
(jes. 58, 13), und die spätere Entwicklung des Judentums gibt diesem Lust¬ 
charakter des Tages mannigfachen gesetzlichen Ausdruck. Es ist Pflicht, 
sich vor Sabbatheingang Gesicht, Hände und Füße mit warmem Wasser 
zu waschen; 2 man soll zu Ehren des Sabbaths Lichter anzünden, sich schöne 
Kleider anziehen und dem Sabbath freudig wie einem König oder einem 
Brautpaar entgegengehen. 3 Wenn man Kranke besucht, so soll man anders 
zu ihnen sprechen, als am Werktag, und sie auf die große Liebe Gottes 
hinweisen. 4 Es wird verboten, am Sabbath, und sei es sogar durch Lernen 
und Beten, länger als sechs Stunden zu fasten, 5 man soll mindestens drei Fest¬ 
mahlzeiten genießen, viele und gute Früchte essen und den Mittagsschlaf, 
wenn man ihn gewohnt ist, nicht aufgeben. 6 Offenbar im Gegensatz zu 


1) Auf den Zusammenhang der Sabbathinstitution mit den Mondphasen und dem 
Mondkult soll hier nicht näher eingegangen werden. Es sei nur an die Tatsache erinnert, 
daß in Babylonien und Südarabien der Stier, das altsemitische Totemtier, mit dem Mond¬ 
gott identifiziert wurde und die Hörner ein hervorragendes Symbol des Mondgottes 
bildeten. Ein Tag, der zeitlich durch die Mondphasen bestimmt war, konnte demnach 
sehr wohl der Erinnerung an die Tötung des Vaters (= Totemtiers) geweiht sein. (Ver¬ 
schwinden und Wiederkehr der Mondsichel !) Vgl. Schräder, a. a. O. S. 562 ff.; Ni eisen, 
Die altarahische Mondreligion und die mosaische Überlieferung. 1904. S. 110 ff, 

2) Schulchan Aruch: Orach Ghajim, 260. 

3) Sc hui chan Aruch: Orach Chajim, 262. 

4) Schulchan Aruch: Orach Chajim, 287. 

5^ Schulchan Aruch: Orach Chajim, 288. 

6) Schulch an Aruch: Orach Chajim, 290, 


15' 








228 


Erich Fromm 


älteren Tendenzen wird die Heilung eines in Gefahr schwebenden Kranken 1 
wie die Übertretung des Sabbathgesetzes bei Lebensgefahr, 2 ganz ausdrücklich 
zur besonderen Pflicht gemacht. Am deutlichsten wird die Umwandlung 
des Sabbaths aus einem Buß- in einen Freudentag an der Bestimmung 
daß der eheliche Verkehr, als zu den Vergnügungen des Sabbaths gehörend 
gerade für diesen Tag empfohlen wird. 3 In all diesen Bestimmungen setzt 
sich heiteres, positives Lebensgefühl durch, das Arbeitsverbot wird zur 
Wohltat und der Sabbath zum freudigen Höhepunkt der Woche. 

Wie sind diese entgegengesetzten Tendenzen in der Sabbathinstitution 
zu verstehen? Den Historikern sind sie ein unlösbares Rätsel, das viele 
dazu verführte, entweder nur die eine oder nur die andere Seite des Sabbaths 
zu bemerken. Sehen wir, ob die psychoanalytische Methode uns dieses 
Rätsel besser lösen kann. 

Gehen wir davon aus, daß der Verzicht- und Versagungscharakter nur 
die eine Seite des Ruhegebotes ausmacht. Ist doch die Arbeit Ausdruck 
der Bedürftigkeit des Menschen, durch die Versagung der Mutter Erde 
ihm aufgezwungener Kampf mit Natur und Umwelt. Dieser Charakter der 
Arbeit spiegelt sich deutlich im Sündenfallmythos wieder, wo der Mensch 
aus dem Garten Eden, dem Garten der Lust (dem Mutterleib), vertrieben wird, 
und Kampf zwischen Mensch und Tier, Mensch und Boden, ^zwischen dem 
Menschen und der Natur überhaupt, und als Ausdruck dieses Kampfes 
Arbeit, Schmerzen und Triebe verheißen werden. Das Arbeitsverbot kann hier¬ 
nach nicht nur eine negative Bedeutung im Sinne der Inzestverhütung haben, 
sondern es dient umgekehrt auch der Wiederherstellung des paradiesischen 
gleich arbeitslosen Zustandes, der Harmonie des Menschen mit der Natur, 
der Rückkehr in den Mutterleib. So wären wir denn zur Feststellung des 
zwiespältigen, polaren Charakters des Arbeitsverbotes gekommen, das neben 
der Inzestverhütung und Strafe gleichzeitig die Wiederherstellung der 
Harmonie der Mutterleibssituation und die Aufhebung einer Strafe zum 
Inhalt hätte; und wir müßten bei der Feststellung dieses Gegensatzes stehen 
bleiben, wenn Freud uns nicht den Weg zu seiner dynamischen Aufklärung 
gewiesen hätte. Er schreibt in: „Hemmung, Symptom und Angst“ (S. 46 ff.) 
über die Zwangssymptome (und es ist nicht zu verkennen, daß das Arbeits¬ 
verbot deutlich zwangsneurotischen Charakter trägt): „Zwei Eindrücke 
ergeben sich sofort aus der flüchtigen Überschau der Zwangssymptome. 

1) Schulchan Aruch: Orach Chajim, 328. 

2) Schulchan Aruch: Orach Chajim, 329. 

3) Schulchan Aruch: Orach Chajim, 280. 


































Der erste, daß hier ein fortgesetzter Kampf gegen das Verdrängte unter¬ 
halten wird, der sich immer mehr zuungunsten der verdrängenden Kräfte 
wendet . . . Die Ausgangssituation der Zwangsneurose ist wohl keine andere, 
als die der Hysterie, die notwendige Abwehr der libidinösen Ansprüche 
des Ödipus-Komplexes . . . Dann aber wird die weitere Gestaltung durch 
einen konstitutionellen Faktor entscheidend verändert. Die genitale Organi¬ 
sation der Libido erweist sich als schwächlich und zu wenig resistent. 
Wenn das Ich sein Abwehrstreben beginnt, so erzielt es als ersten Erfolg, 
daß die Genitalorganisation (der phallischen Phase) ganz oder teilweise auf 
die frühere sadistisch anale Stufe zurückgeworfen wird. Diese Tatsache der 
Regression bleibt für alles folgende bestimmend.“ Und weiterS. 54: „Die 
allgemeine Tendenz der Symptombildung bei der Zwangsneurose geht dahin, 
der Ersatzbefriedigung immer mehr Raum auf Kosten der Versagung zu 
schaffen. Dieselben Symptome, die ursprünglich Einschränkungen des Ichs 
bedeuteten, nehmen dank der Neigung des Ichs zur Synthese später auch 
die von Befriedigungen an, und es ist unverkennbar daß die letztere 
Bedeutung allmählich die wirksamere wird.“ Diese Bemerkungen Freuds 
werfen entscheidendes Licht auch auf unser Problem. War der Sabbath 
ursprünglich der Buße für das Urverbrechen, der Vatertötung und des 
Inzestwunsches geweiht, und diente das Arbeitsverbot einerseits der Be¬ 
strafung für die Untat, anderseits der Abwehr der von neuem zum Inzest 
drängenden Impulse, so nehmen die Schutz- und Verhütungsmaßnahmen 
allmählich immer mehr Erfüllungscharakter an. Durch Regression auf 
die prägenitale Stufe wird der Inzest, als Rückkehr in den Mutterleib, 
doch verwirklicht; aus dem Bußtag, an dem der Mensch auf die Arbeit 
verzichten muß, wird ein Tag der Lust, der Harmonie zwischen Mensch 
und Natur, der gerade das zur Erfüllung bringt, was ursprünglich ver¬ 
hindert werden sollte. 

Es darf nicht übersehen werden, daß diese psychologische Funktions¬ 
veränderung des Arbeitsverbotes erst bei einer bestimmten wirtschaftlichen 
Veränderung möglich war. Die Produktivität der Arbeit mußte so gewachsen 
sein, daß ein Tag Arbeitsruhe keine wesentliche Herabminderung der 
Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung mehr darstellte, und daß die 
Arbeit schon so intensiv und zusammenhängend war, daß ein Tag Nicht¬ 
arbeit wirkliches Ausruhen bedeutete; dieser soziologische Faktor mag bei 
der Tatsache, daß sich der Erfüllungscharakter des Sabbaths auch historisch 
später entwickelte als der Verhütungscharakter, mitbestimmend gewesen sein. 

Wir haben bisher versucht, das Grundsätzliche und Allgemeine der 











23 o 


Trieb Fromm 


Sabbathinstitution aufzuzeigen und die Zwiespältigkeit und den Funktions¬ 
wandel des ArbeitsVerbots psychologisch zu erklären. Es wird im folgenden 
zu zeigen sein, wie sich diese Erklärung an der geschichtlichen Entwick¬ 
lung der Sabbathinstitution bewährt und wiederum von dieser Entwicklung 
heller beleuchtet wird. 

Zu den wichtigsten Behauptungen, die Friedrich Delitzsch in seinem 
Vortrage „Babel und Bibel“ 1 aufstellte, gehört die von der Abhängigkeit 
des biblischen Sabbaths von einem babylonischen Ruhetage (Sabattu). Neben 
diesem Sabattu-Tdige, der wohl am fünfzehnten jedes Monats gefeiert wurde 
spielen im babylonischen Festkalender der siebente, vierzehnte, neunzehnte 
(der siebenmal siebente Tag des vorigen Monats), der einundzwanzigste 
und achtundzwanzigste Tag des Elul II (vielleicht auch anderer Monate) 
eine besondere Rolle. Die Verbote, welche diesen Tagen gemeinsam sind, 
lauten 2 : „Der Hirte der zahlreichen Völker darf Fleisch, das auf Kohlen 
gebraten ist, Aschenbrot, nicht essen, sein Leibesgewand nicht wechseln, 
helle Kleider nicht anziehen, eine Opferspende nicht ausgießen. Der König 
soll seinen Wagen nicht besteigen, als Herrscher nicht sprechen, an ge¬ 
heimnisvoller Stätte soll der Magier keine Sprüche sagen, der Arzt soll an 
den Kranken seine Hand nicht legen, einen Bannfluch zu vollziehen, ist 
nicht möglich.“ Statt „einen Bannfluch zu vollziehen“ übersetzt Delitzsch 
mit anderen „zu irgendwelchen Anliegen ist der Tag nicht geeignet“ 3 
und auch Hehn gibt die Übersetzung „zur Vollbringung irgendeiner Sache 
nicht geeignet“ als möglich zu. 

Ist auch der Name „ Sabattu “ für die babylonischen Siebenertage nicht 
belegt, so halten doch, angesichts der sonstigen engen Beziehung zwischen 
der babylonischen und der biblischen Kultur, maßgebende Autoren einen 
Zusammenhang dieser bösen Tage mit dem israelitischen Sabbath für wahr¬ 
scheinlich. Der Haupteinwand, der gegen die Annahme dieses Zusammen¬ 
hangs gemacht wurde, ist der so überaus verschiedene Charakter der beiden 
Tage. Bei den babylonischen Siebenertagen steht deutlich genug nicht die 
der Erholung von der Arbeit dienende Ruhe im Vordergrund, sondern ganz 
im Gegenteil sind es finstere, der „Herzensversöhnung der Götter“ geweihte 
Buß- und Bettage. Der Mensch soll sich von allen Annehmlichkeiten des 
Lebens zurückhalten, „von all dem, was ihn in glücklicher Harmonie mit 


1) F. Delitzsch: Babel und Bibel. Leipzig 1902, S. 27 ff. 

2) Nach J. Hehn: Siebenzahl und Sabbath bei den Babyloniern und dem Alten 
Testament. Leipzig 1907, S. 106. 

3) Delitzsch, a. a. O. S. 62. 





















Der Sakkath 




der Gottheit zeigt, wie die Unterlassung der Opferspende, welche ja eine 
Teilnahme der Götter am Mahle des Menschen ausdrückt, besonders deutlich 
macht. Die Vorschriften laufen allesamt darauf hinaus, daß sich der Mensch 
vor der Gottheit demütigt und ihr gegenüber seine Ohnmacht bekennt“. 1 

Einen entscheidenden Einwand gegen den Zusammenhang der babylonischen 
Bußtage mit dem biblischen Sabbath bildete für viele Religionswissenschaftler 
die düstere Angststimmung jener Tage; dieser Einwand ist aber nur für 
denjenigen möglich, der die Zwiespältigkeit im Charakter des Sabbaths 
selber übersieht. Umgekehrt macht die Annahme dieses Zusammenhangs 
zwischen „Babel und Bibel“ den Buß- und Sühncharakter des Sabbaths 
nur noch deutlicher. Das, was in Babylonien das Hauptmerkmal der Siebener¬ 
tage war, wurde in Israel, wie wir oben zeigen konnten, zu einer auch 
nach der späteren Umwandlung noch deutlich erkennbaren Unterströmung, 
von der unter anderen auch die erneut rigorose Sabbathgesetzgebung der 
Pharisäer ihre Antriebe erhielt. 

Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, zu entscheiden, 
ob der Sabbath eine Entlehnung aus dem Babylonischen ist, oder ob er bei 
Gemeinsamkeit des Bodens das Ergebnis einer selbständigen Entwicklung 
ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob der hebräische Sabbath, wie 
Jastrow meint, in der älteren Zeit dem babylonischen Tage ganz ähnlich 
gewesen sei; wichtig ist für uns nur die Tatsache, die wir als zweifels¬ 
freies Ergebnis der heutigen Forschung annehmen können, daß die Ent¬ 
wicklung von einem babylonischen Bußtage, an dem die Angst vor dem 
Zorn der Götter die Verrichtung verschiedener Arbeiten verbot, bis zum 
hebräischen Sabbath, der im späteren Bewußtsein ein Tag freudigen Aus- 
ruhens für den Menschen sein sollte, noch in der Zwiespältigkeit des Sabbaths 
selber, auf die wir oben hingewiesen haben, deutliche Spuren hinter¬ 
lassen hat. 

Diese scheinbare Diskrepanz zwischen den babylonischen Siebenertagen 
einerseits und dem hebräischen siebenten Tag anderseits, sowie die schein¬ 
bare Zwiespältigkeit im Charakter des hebräischen Sabbaths selbst, die trotz 
aller rationalen Deutungsversuche bisher unverständlich blieb, dürfte im 
Lichte der hier aufgezeigten psychoanalytischen Betrachtungsweise ihre Rätsel¬ 
haftigkeit verlieren. 

Noch eine andere religiöse Institution können wir zum besseren Ver¬ 
ständnis des Sühneanteils in den Sabbathgeboten heranziehen, den jüdischen 


l) Vgl. Hehn, a. a. O. 








z3z 


Eridi Fromm 


Versöhnungstag. In ihm kommt der Bußcharakter, der das Wesen der 
babylonischen „Ruhe“tage noch ganz ausmacht und die jüdische Sabbath- 
institution noch teilweise mitbestimmt, mit aller Deutlichkeit wieder zum 
Ausdruck. Von ihm wird in der Bibel (Lev. 16, 31) gesagt: „Ein Sabbath 
der Sabbathe (Ausdruck des Superlativs der Sabbathruhe) soll er euch sein“ 
„und ihr sollt euch kasteien . . .“ In der späteren Entwicklung findet 
dieses Gebot der Kasteiung folgenden fünffachen Ausdruck (Mischnah Joma 
VIII, 1): „Am Versöhnungstage ist es verboten zu essen, zu trinken,' sich 
zu waschen, die Sandalen anzuziehen, den Beischlaf zu vollziehen.“ Er gilt 
als der Tag der Versöhnung mit Gott, dem totgewünschten Vater. An 
diesem „Sabbath der Sabbathe“ ist jegliche Arbeit verboten; und hier 
trägt das Arbeitsverbot ganz eindeutig asketischen, prohibitiven Charakter 
im oben aufgezeigten Sinne der Inzestverhütung. Darauf weisen auch die 
fünf Kasteiungsverbote hin: Essen und Trinken sind als Symbole der 
oralen Einverleibung des Vaters, der Beischlaf ist als Wiederholung des 
Inzests untersagt. Besonders bezeichnend ist das Verbot, Sandalen, d. h. aus 
Leder verfertigte Schuhe, anzuziehen. Jede Bekleidung mit Leder, d. h. 
mit der Haut des Totemtieres, ist der Versuch einer Identifizierung mit 
dem Vater und als solcher am Versöhnungstage, wie Beischlaf und Arbeit, 
verboten. 

Auf das Urverbrechen der Vatertötung, das an diesem Tage offenbar 
nicht nur gesühnt, sondern auch symbolisch wiederholt werden soll, weist 
ferner die im Mittelpunkt des Opferritus für den Versöhnungstag stehende 
Vorschrift (Lev. 16, 8) hin, daß man durch das Los einen Bock zur Tötung 
„für Jahwe“ bestimmen solle. In der Opferung dieses Bockes, des Totemtieres 
der Hebräer, wird die Tötung des Gottes = Vaters symbolisch wiederholt — 
und durch die Verbote des Tages gleichzeitig wieder gesühnt. 1 

Aber auch der Versöhnungstag weist, wie der Sabbath, die Tendenz auf, 
die abwehrenden Maßnahmen in erfüllende umzuwandeln. Ein deutlicher 
Ausdruck hiefür ist, daß neben dem Kasteiungsritus der Begriff der Buße 
im Lauf der Entwicklung immer mehr zum Mittelpunkt der Institution 
wird. Diese Buße wird „Teschuba“ genannt, d. h. Rückkehr; analytisch 
gesehen, die Kasteiung für das Urverbrechen des Inzests wird ersetzt durch 
die Rückkehr in den Mutterleib, die Wiederholung des Verbrechens auf der 
prägenitalen Stufe. Beginnt der Versöhnungstag mit Angst und Grauen, so 
schließt er in heiterer Stimmung, oft mit Gesang und Tanz; die Jahrhun- 


0 Vgl. Reik: Probleme der Religionspsychologie. 1919. 


























derte dauernde Wandlung vom babylonischen zum jüdischen Sabbath wird 
hier in nuce im Laufe eines Tages vollzogen. 1 


Fanden wir in den Vorschriften des Versöhnungstages zunächst einen 
Ausdruck der verhütenden Tendenzen der Sabbathgebote, so finden sich 
auch für die Erfüllungstendenzen der Sabbathinstitution charakteristische 
Belege in der jüdischen Vorstellungswelt. So wird im Talmud verheißen, 
der Messias müsse kommen, wenn Israel nur einmal den Sabbath ganz 
hüten werde. Der Talmud gibt damit nur seinen Vorstellungen vom 
Sabbath einen besonderen, dessen Erfüllungscharakter treffenden Ausdruck: 
Die Propheten sehen in der messianischen Zeit einen Zustand, in dem 
der Kampf zwischen Mensch und Natur sein Ende gefunden hat. Lamm 
und Wolf werden miteinander wohnen, ein Knabe wird den Löwen führen 
(Jes. 11, 6J, das Licht des Mondes wird dem Licht der Sonne gleichen 
(Jes. 30, 26). Der paradiesische Zustand wird wieder hergestellt sein. War 
der Mensch aus dem Paradies vertrieben worden, weil er wie Gott = der 
Vater werden, d. h. die Mutter gewinnen wollte, und war die Arbeit eine 
Strafe für dieses Urverbrechen, so wird nach der Vorstellung der Propheten 
in der messianischen Zeit der Mensch wieder in völliger Harmonie mit 
der Natur, d. h. ohne Arbeitsnotwendigkeit im Paradies = im Mutterleib 
leben. So sehen wir, wie in der rabbinischen Verknüpfung der messianischen 
mit der sabbathlichen Zeit die triebbefriedigende Tendenz des Arbeitsver¬ 
botes dominierend wird. 

Eine ganz neue äußere Gestaltung gewinnt die Sabbathinstitu¬ 
tion durch das Christentum. Wenn ursprünglich das Arbeitsverbot für 
den Sabbath im Neuen Testament auch nicht geradezu aufgehoben, sondern 
nur in seiner lebensfeindlichen Strenge getadelt wird (Mark. 23 ff.), so wird 
es doch bald als konstituierendes Moment des Sabbaths beseitigt und dem 
Ruhetag wird als Tag „der Feier der Auferstehung des Herrn“ ein neuer 
Inhalt gegeben. Aber doch nur scheinbar ein neuer Inhalt! Galt der alte 
Sabbath der Erinnerung an die Tötung des Vaters, und war das Arbeits¬ 
verbot Sühne für diese Tötung und Abwehr der von neuem dazu drän¬ 
genden Impulse, so wird hier die Tötung des Vaters durch die Erinnerung 
an die Auferstehung des Sohnes symbolisch wieder rückgängig gemacht. 
Bei aller Veränderung der äußeren Form des Sabbaths, behält er also, dynamisch 
betrachtet, im christlichen Ruhetag die alte psychische Funktion bei. * 2 


Vgl. Abraham: Der Versöhnungstag. Imago V. 

2 ) Vgl. Reik: Der eigene und der fremde Gott. 1923. 









Fromm: Der iSaf&atli 


234 


Verfolgen wir die Geschichte des jüdischen Sabbaths sowohl wie die des 
christlichen Sonntags weiter, so bemerken wir, daß für die jeweilige kon¬ 
krete Gestaltung des Ruhetages entscheidend ist, ob die triebbefriedigende 
oder die triebversagende Qualität des Ruhetages prävaliert. Der puritanische 
Sonntag etwa trug durchaus den düsteren asketischen Charakter, der uns in 
den babylonischen Ruhetagen am deutlichsten entgegengetreten ist, während 
umgekehrt der jüdische Sabbath, wie ihn z. B. der Chassidismus gestaltet 
hat, eine freudige triebbejahende Stimmung zum Ausdruck bringt*. Wir 
wollen uns an dieser Stelle mit diesen Andeutungen begnügen und den 
Einzelschicksalen des Ruhetages in der Entwicklung der verschiedenen 
Religionen nicht weiter nachgehen. 

Fassen wir das Ergebnis dieser Untersuchung kurz zusammen: Der Sabbath 
galt ursprünglich der Erinnerung an die Tötung des Vaters und die 
Gewinnung der Mutter, das Arbeitsverbot gleichzeitig der Buße 
für das Urverbrechen und seine Wiederholung durch Regression 
auf die prägenitale Stufe. Diese psychoanalytische Deutung ließ uns 
nicht nur die seelenökonomische Bedeutung des Ruhetages verstehen, sondern 
gab uns auch die dynamische Erklärung für den inneren Zusammenhang 
der so gegensätzlichen Elemente innerhalb der jüdischen Sabbathinstitution, 
und für die historische Kontinutät zwischen dem babylonischen, dem 
jüdischen und dem christlichen Ruhetag in ihrer, deskriptiv betrachtet, 
voneinander so durchaus abweichenden Gestalt. 





















r 



Vortrag in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Berlin am 18 . Dezember 1926 


In meiner psychoanalytischen Praxis habe ich häufig Gelegenheit gehabt, 
Ablösungen jüdisch-orthodoxer Analysanden von den früher für sie ver¬ 
bindlichen Riten und Zeremonien zu beobachten. Bei diesen Ablösungen, die 
sich selbstredend ebensowenig auf einmal vollziehen, wie etwa diejenigen 
eines Zwangsneurotikers vom neurotischen Zeremoniell seiner „Privat¬ 
religion“, 1 konnte ich die auffallende Beobachtung machen, daß die 
Reihenfolge, in der die verschiedenen Verbote und die zu ihrer Sicherung 
dienenden Vorschriften aufgegeben wurden, bei sonst noch so verschieden 
gelagerten Neurosen ungefähr die gleiche ist; und zwar werden in der 
Regel zuerst die täglichen Gebetsübungen, zuletzt die Befolgung der rituellen 
Speisegesetze aufgegeben. 

Selbstredend können zum Teil Gründe der Milieufixation bei dieser Aus¬ 
wahl mitbestimmend wirken: die von der Umwelt nicht kontrollierbaren 
Religionsübungen werden später aufgegeben als solche, die der Beobachtung 
durch Autoritätspersonen ausgesetzt sind. Indessen genügt diese Deutung 
um so weniger, als auch bei isoliert lebenden Personen der gleiche Mecha¬ 
nismus nachweisbar bleibt. 

Es muß deshalb an eine besonders tiefliegende ontogenetische Ver¬ 
ankerung des Speiserituals gedacht werden; und da wir von Freud lernten, 
daß „der Satz, die Ontogenie sei eine Wiederholung der Phylogenie auch 


1) Freud: Das Interesse an der Psychoanalyse: Das entwicklungsgeschichtliche 
Interesse. Ges. Schriften, Bd. IV. 


[ 











auf das Seelenleben anwendbar sein müsse“, 1 so dürfen wir schließen, daß 
die Speisegesetze auch phylogenetisch zu den ältesten Riten gehören 
eine Annahme, die auch mit religionshistorischen Forschungsergebnissen 
übereinstimmt. 

Wir beginnen deshalb unsere psychoanalytischen Untersuchungen über 
die jüdisch-religiösen Riten mit der Analyse der jüdischen Speisegesetze. 
Ich gehe dabei nach dem Vorgänge Abrahams 2 3 4 und Reiks ,3 nach den 
uns allen vertrauten, von Freud* festgelegten methodischen Gesichtspunkten 
vor, „in den nämlichen psychischen Komplexen, in denselben affektiven 
Strebungen, welche die Psychoanalyse zugrunde der Träume und der 
Symptombildungen nachgewiesen hat“, die Erklärung „für unverständlich 
gewordene Kultvorschriften und Gebräuche“ zu suchen. 

Ich fasse die Speisegebote zunächst dem uns hier angehenden Inhalt 
nach kurz zusammen: 

1) Die zum Essen bestimmten Tiere müssen von besonders qualifizierten 
Personen nach sorgfältig festgelegter Methode geschlachtet werden, wobei 
besonderer Wert auf eine weitgehende Entblutung des Tieres gelegt wird. 
Der Schlachtakt gilt als Kulthandlung. Ein nicht rituell geschlachtetes 
Tier darf nicht nur nicht gegessen werden, sondern schon seine Berührung 
macht unrein. 

2 ) Nur einige sehr sorgfältig bestimmte — wie die Bibel es ausdrückt 
„reine Tierarten dürfen gegessen werden, und zwar von den Säuge¬ 
tieren ^ die, welche „völlig durchgespaltene Klauen haben und Wieder¬ 
käuen“, unter den Wassertieren die Flossen- und Schuppenbildner, unter 
den Kriechtieren und Vögeln einzelne, für die keine Gruppenmerkmale 
genannt sind. 

ß) Milch und Milchprodukte dürfen nicht mit Fleisch und Fleisch¬ 
produkten zusammen genossen werden; zwischen dem Genuß des einen 
und des anderen müssen bestimmt normierte Zeitintervalle inne gehalten 
werden. 

4) gekochten Speisen müssen von Angehörigen 'des eigenen, ]üdi~ 

sehen Stammes zubereitet sein. Unter den übrigen Nahrungsmitteln darf 
Wein auch nur dann getrunken werden, wenn er von Stammesgenossen 


1) Freud: Zwangshandlungen und Religionsübungen. Ges. Schriften, Bd. X. 

2) Abraham: Der Versöhnungstag. Imago, Bd. V. 

3) Reik: Probleme der Religionspsychologie. Internat. PsA. Verlag. 1919. 

4) Freud: Das Interesse an der Psychoanalyse: Das kulturhistorische Interesse. 
Ges. Schriften, Bd. IV. 





































Das jüdische iSpeiseritual 2-3^ 


verarbeitet wurde. Ist ein geöffnetes Weingefäß von einem Nichtjuden 
berührt worden, so darf sein Inhalt auch nicht getrunken werden. 1 

Unschwer wird man in diesen Riten die gleichen Prinzipien aufzeigen 
können, die in den totemistischen Religionsbildungen wirksam sind. 

In den totemistischen Religionen, dem ersten Ansatz zur Religionsbil¬ 
dung überhaupt, besteht bekanntlich als eines der ältesten und wichtigsten 
Tabuverbote das Grundgesetz, das Totemtier, d. h. „in der Regel ein e߬ 
bares, harmloses oder gefährliches, gefürchtetes Tier . . ., welches in einem 
besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht“ und als ihr Stammvater 
angesehen wird (Totem und Tabu, S. 7), „nicht zu töten . . . und sich 
seines Fleisches zu enthalten“. 

Dies Verbot darf Aach Freud um so eher auf dasjenige des Urverbrechens 
der Tötung des Vaters durch die Söhne der Urhorde zurückgeführt werden, 
dessen Wiederholung gleichwohl im Unbewußten mit ursprünglicher Lust 
gewünscht wird, als die Primitiven selbst, wie Kinder dem Tiere „ohne 
Bedenken volle Ebenbürtigkeit zuerkennen“ (Totem und Tabu, S. 154). 
„Mußte man aber dennoch ein Totemtier töten, so geschah es unter einem 
vorgeschriebenen Rituale von Entschuldigungen und Sühnezeremonien.“ 

Vergleichen wir diese Vorschriften mit denjenigen des jüdischen Speise¬ 
rituals: Daß das im jüdischen Speiseritual gegebene Verbot, bestimmte 
Tiere zu essen, mit dem totemistischen Verbot, das Totemtier zu töten und 
zu genießen, in Verbindung gebracht werden muß, unterliegt an sich für 
den Psychoanalytiker keinem Zweifel und ist auch schon von Abraham 
und Reik hervorgehoben worden. 

In Frage gestellt muß nur werden, ob es möglich ist, daß bei den alten 
Hebräern gerade der Genuß besonders benannter Tiere als Totemtiere er¬ 
laubt sein kann, der doch, wie wir sahen, in den anderen totemistischen 
Religionen in der Regel verboten ist. Hier könnte, wie auch Abraham 
annimmt, 2 eine Verschiebung gegenüber den verbreitetesten ursprünglichen 
Totemgeboten eingetreten sein, die ja für den Psychoanalytiker nichts Auf 
fallendes darstellt. 

Die Tatsache, daß die zweiteilig gespreizte Hand (Nachahmung der 
Spaltklaue) als Wahrzeichen des jüdischen Priesters galt und gilt, der mit 

1) Wir machen hier keinen Unterschied zwischen den biblischen Vorschriften und 
denen der späteren jüdischen Religionsentwicklung, weil religionspsychologisch ge¬ 
sehen, die Bestimmungen der „mündlichen Tradition“ der gleichen seelischen Schicht 
entstammen, wie die entsprechenden der Bibel. 

2) Abraham: Der Versöhnungstag, a. a. O. 













238 


Frieda Fromm-Reidunann 


der Wahrnehmung aller Kulthandlungen zwischen Volk und Gottheit (gleich 
Totemtier) betraut ist, also vom Volke als Vertreter des Gottes — d. h. auf 
primitiver Stufe mit ihm indentifizierbar — erlebt wird, spricht nach 
Abraham auch für diese Hypothese. (Vgl. dazu das Tabuverbot, den Priester 
anzuschauen, wenn er die heilige Kulthandlung des Priestersegens mit 
gespreizter [Klauen-] Hand vollzieht.) 

An Stelle des ursprünglichen totemistischen Ausleseprinzips, das Totem¬ 
tier nicht zu essen, wäre hiernach das für das unbewußte Erleben mit 
ihm gleichbedeutende getreten, nur das Totemtier zu essen. 

Bietet so die Tatsache, daß gerade das Essen des Totemtieres erlaubt ist 
dem psychoanalytischen Verständnis keine Schwierigkeiten mehr, so wird 
uns die von Robertson Smith (zitiert nach Freud: Tot<®m und Tabu, S. 161) 
erwähnte Tatsache von Totemopfern (gleich Totemmahlzeiten) bei den Ur- 
semiten aus der Zeit „vor der Verehrung antromorpher Gottheiten“, die 
in der „periodischen Tötung und Aufzehrung des Totem“ selbst bestanden, 
(Totem und Tabu, S. 167) auch von der historischen Seite her erwarten 
lassen, daß auch die den Hebräern zum Genuß gestattenen Tiere in Wirk¬ 
lichkeit die alten Totemtiere sind. 

Dann aber erhebt sich die weitere Frage, auf Grund welcher gemein¬ 
samen Eigenschaften denn gerade die Tiere, die gespaltene Klauen haben 
und Wiederkäuen, zu Totemtieren geworden sind. 

An rationalen Deutungsversuchen für dieses Ausleseprinzip hat es nicht 
gefehlt, vor allem von sanitären und hygienischen Gesichtspunkten aus; 
aber abgesehen von der prinzipiellen Unzulänglichkeit solcher Erklärungen, 
scheiterten sie in diesem Falle besonders an der Tatsache, daß sie nicht 
der Gruppe von erlaubten Tieren eine andere ebensolche Gruppe von ver¬ 
botenen Tieren gegenüberstellten und deren gemeinsame Merkmale zu 
erkennen suchten, sondern daß sie immer wieder fälschlich vom Schwein 
als allein verbotenem Tier ausgingen, und so durch die auf das heute 
praktisch wichtigste Tabutier eingeengte Blickrichtung den wirklichen In¬ 
halt des Speiserituals von vornherein verfälschten. 

Welche psychoanalytische Deutung läßt nun aber die Auswahl der zum 
Genuß zugelassenen Totemtiere im jüdischen Speiseritual zu? Der Bibel¬ 
text läßt uns hier im Stich. Der Wortlaut der Vorschrift über die reinen 
Tiere steht offenbar schon im Dienste der Verdrängung der Tötung und 
Verzehrung des Vatertieres; denn es werden alle anderen, den erlaubten 
Tieren gemeinsamen Merkmale, die gespaltenen Klauen und das Wieder¬ 
käuen, aufgezählt, nur das Sinnfälligste und deshalb offenbar am meisten 































Das jüdische Speiseritual 


a39 


Charakteristische wird uns verschwiegen. Füllen wir nun den Inhalt dieser 
Zensurlücke mit Hilfe der Kenntnis geringer zoologischer Selbstverständ¬ 
lichkeiten richtig aus, so haben wir den Schlüssel zur Lösung dieses wohl 
verdrängten Geheimnisses gefunden: 


Die Tiere, deren Genuß das biblische Gesetz ausschließlich erlaubt, sind 
nämlich durchweg solche Säugetiere, welche zugleich die Fähigkeit zur 
Hörner- und Geweihbildung haben. 

Mit Hilfe dieser Auffassung verstehen wir gleichzeitig den Zusammen¬ 
hang zwischen der Gruppe der reinen Fische mit derjenigen der erlaubten 
Säugetiere; denn auch bei der Auswahl der nicht verbotenen Fische ist das 
gleiche Prinzip der Fähigkeit, Hornsubstanz zu bilden, ausschlaggebend. 
Nur Fische, die Schuppen und Flossen haben, dürfen gegessen werden. 

Abraham 1 und Reik 2 haben schon bei ihrer Untersuchung über die 
Bedeutung des Schofars und den Mythus von der Opferung Isaaks die Ver¬ 
mutung ausgesprochen und belegt, daß Stier und Widder die alten Totem- 
tiere der Juden gewesen seien. Unsere Annahme, daß das Charakteristikum 
der reinen Tiere ihre Fähigkeit zur Hornbildung sei, liefert einen neuen 
Beweis für diese Vermutung; hinzuzufügen wäre nur noch, daß die Gruppe 
der reinen Tiere nach unseren Untersuchungen über das Totemtier hinaus 
auf alle diejenigen ausgedehnt wurde, welche dessen sinnfälligstes Merkmal, 
das Horn, tragen. 

Es wäre nun noch die Frage zu prüfen, worauf unsere Annahme beruht, 
daß gerade das Horn der Gruppe der reinen Tiere ihren totemistischen 
Charakter gibt, und nicht die anderen im Bibeltext genannten Merkmale 
ausschlaggebend sind. Wir glauben, daß dies in erster Linie auf die sym¬ 
bolische Penisbedeutung des Horns zurückzuführen ist, die ja auch das 
horntragende Tier ursprünglich zur Vater-Imago im Sinne des Totemismus 
besonders geeignet gemacht hat. Aus dieser sexuellen Symbolqualität des 
Hornes erklärt sich uns auch zwanglos die Tatsache seiner Verdrängung 
im Bibeltext. 

Endlich bestätigt auch die für die Reinheit der Wassertiere einzig ent- 
- scheidende Qualität, Hornsubstanz — Schuppen und Flossen bilden zu 
können, die Richtigkeit unserer Hypothese. Im Wortlaut dieser Vorschrift 
braucht die Auslassung nicht, wie bei der die Säugetiere betreffenden, im 
Dienste der Zensur wirksam zu werden, weil hier das zur Unterdrückung 
bestimmte, wesentliche Stück der Vorschrift, die hornbildende Qualität, 


1) und 2) a. a. O. 














a 4° Frieda Fromm-Reidimann 


durch die Verschiebung vom Totemtier und seinen Hörnern auf die Wasser¬ 
tiere und ihre Schuppen und Flossen bereits genügend verhüllt worden ist 

Haben uns bisher das eben gedeutete Speiseritual und die Reiksche 
Deutung des Schofargebrauches die Annahme wahrscheinlich gemacht, daß 
ein hörnertragendes Tier das ursprüngliche Totemtier der Hebräer gewesen 
sei, so glauben wir im folgenden noch eine weitere Tatsache des jüdischen 
Rituals zur Restätigung dieser Annahme heranziehen zu können. Es ist 
die Vorschrift, am Morgen jedes Werktages die sogenannten Gebetriemen 
anzulegen; das sind zwei Lederriemen, von denen der eine um den Kopf 
der andere um linken Arm und Hand gewickelt wird, und die beide je 
einen würfelförmigen Aufsatz tragen, der bei Anlegen der Riemen auf dem 
linken Oberarm und auf der Mitte der Stirn in der Höhe des Haaransatzes 
zu liegen kommt. Denken wir an den von Abraham schon zur Erklärung 
der rituellen Verwendung des Gebetmantels herangezogenen totemistischen 
Gebrauch, sich durch Umhüllung mit dem Fell des Totemtieres mit diesem 
selbst zu identifizieren, so werden wir auch unschwer die Redeutung der 
Gebetriemen verstehen. 

Die Lederriemen stellen die Tierhaut dar, in die man sich einhüllt; 
der Würfel auf der Stirn das Horn des Tieres; und es wird nur ein ein¬ 
facher Verschiebungsmechanismus sein, wenn der zweite Würfel, d. h. das 
zweite Horn, von der Stirn auf den Oberarm verlegt worden ist. 

Diese durch die Bekleidung mit Haut und Hörnern vollzogene Tier¬ 
identifizierung kann sich sinngemäß nur auf das Totemtier beziehen, und 
so hätten wir auch in diesem Ritus einen Beweis für die Hypothese, daß 
die hörnertragenden Tiere die ursprünglichen Totemtiere der Hebräer 
gewesen sind. 1 

Diese Hypothese wird durch Funde der letzten Jahrzehnte aufs nach¬ 
drücklichste bestätigt; bei den babylonischen Ausgrabungen fand man ge¬ 
hörnte Götterfiguren, die nach dem Urteil der maßgebenden Fachgelehrten 
Gottheiten der Ursemiten darstellen. 

Kommen wir auf das Speiseritual zurück: Wir sahen, daß das Auslese¬ 
prinzip erlaubter und verbotener Tiere dahin zu verstehen ist, daß nur der 
Genuß des Totemtieres erlaubt ist; da damit aber zugleich das Urverbrechen 
der Vatertötung vollzogen wird, so muß die Tiertötung, wie im Totemismus, 
unter ganz bestimmten Beschränkungen und zeremoniellen Handlungen, 

1) Auf den Zusammenhang der Wahl des speziellen Totemtiers mit der wirt¬ 
schaftlichen Situation der Juden als Viehzüchter sei nur hingewiesen, ohne daß diese 
soziologische Tatsache hier weiter verfolgt werden soll. 



























Das jüchsdie Speiseritual 2^1 


die Tat und Täter betreffen, vorgenommen werden. (Schlachten als mit 
Gebeten verbundene Kulthandlung besonders rituell qualifizierter Persön¬ 
lichkeiten.) Insbesondere darf auch die „im Akte des Yerzehrens versuchte 
Identifizierung“ mit dem Vater und Aneignung seiner Stärke (Totem und 
Tabu S. 172) keine vollständige sein. Deshalb streben sowohl die rituelle 
Schlachtmethode, wie die Vorbehandlung des Fleisches vor dem Kochen 
eine möglichst weitgehende Entblutung an. 

In diesem speziellen Verbot des Blutgenusses des geschlachteten Totem- 
tieres, das ja seinen Genuß für das Unbewußte wieder rückgängig macht, — 
besonders für den alten Hebräer, dem das Blut ausdrücklich der eigentliche 
Träger der Persönlichkeit, der Lebenskraft („Nefesch“) ist, — dürfen wir 
vielleicht einen weiteren Beitrag zu der schon oben erörterten Frage er¬ 
blicken, warum nach der hebräischen Beligion im Gegensatz zu den meisten 
anderen Totemreligionen das Totemtier ein zum Genuß erlaubtes und nicht 
verbotenes Tier ist. 

Ich komme nun zur Untersuchung der dritten der oben aufgezählten 
Vorschriften des jüdischen Speiserituals, Fleisch und Fleischprodukte nicht 
zugleich und nur unter Innehaltung bestimmter Intervalle mit Milch und 
Milchprodukten zu genießen. Diese rational so unerklärliche Vorschrift be¬ 
zieht sich auf den einfachen biblischen Satz: Du sollst das Böcklein nicht 
in der Milch seiner Mutter kochen. 

Wenn auch alle jüdisch-rituellen Vorschriften durch ein ausgedehntes 
System von „kleinen Verrichtungen, Zutaten, Einschränkungen und An¬ 
ordnungen“ geschützt sind, die mit zwangsneurotischer Gewissenhaftigkeit 
durchgeführt werden, 1 so läßt doch die Unsumme von tabuistischen Vor¬ 
sichtsmaßregeln, „Zäunen“, mit denen gerade diese Vorschrift im Laufe 
der Zeiten umgeben worden ist (getrennte Gefäße, Tische und Tischtücher 
für Fleisch- und Milchmahlzeiten, ja selbst getrennte Tücher und Wannen 
zum Beinigen der Gefäße) darauf schließen, daß hier besonders starke 
Urtriebregungen mit besonders energischen Tabuverboten belegt werden 
müssen. Und in der Tat glauben wir aufzeigen zu können, daß sie sich 
auf den Urkomplex der Menschheit, den „Kern aller Neurosen und aller 
Religionsbildungen, den ÖdipUs-Komplex“ (Totem und Tabu, S. 189), zu¬ 
rückführen lassen. 

Mit dem Essen des Bockes, des Totemtieres, wird, wie wir weiter oben 
näher ausführten, eine Identifizierung mit dem Vater im Unbewußten voll- 


1) Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Ges.Schriften, Bd. VIII. 
Imago XIII. 16 










2 4 2 Frieda Fromm-Reichmann 


zogen. Überhaupt bedeutet, wie wir aus dem Studium der Traumdeutung 
der Neurosenlehre und des Totemismus ja wissen, das Verspeisen irgend¬ 
einer Substanz für das Unbewußte die Einverleibung der Charaktere ihres 
Trägers. 

Genießt man also gleichzeitig einen Bock (= Totemtier = Vater) und die 
Milch seiner Mutter, so begeht man damit das Urverbrechen des Inzests 
Demnach glauben wir annehmen zu dürfen, daß das Verbot des gleich¬ 
zeitigen Genusses von Fleisch- und Milchspeisen zunächst ganz allgemein 
als unbewußte Abwehr des Inzest Wunsches aufgefaßt werden muß. 

Auch die Erlaubnis, innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls Milch¬ 
speisen nach Fleischspeisen zu genießen, läßt sich mühelos in diesen Deu¬ 
tungsversuch einordnen. Nach gewissen totemistischen Vorstellungen bewährt 
sich nämlich die psychologische Wirksamkeit eines Nahrungsmittels nur so 
lange, als der „genossene Stoff der Annahme nach im . . . Körper verbleibt“ 
(Totem und Tabu, S. 163.) Nach Ablauf dieser Zeit ist also in unserem 
Falle die durch den Genuß des Totemtiers (Fleischgenuß) vollzogene 
Vateridentifizierung nicht mehr wirksam, und das Individuum kann sich 
nun mütterliche Substanz (Milchspeisen) einverleiben, ohne sich damit 
nun noch eines inzestuösen Vergehens schuldig zu machen. 

Für die Richtigkeit dieser Deutung finden wir einen weiteren Beleg in 
einem biblischen Gebot aus einer scheinbar ganz anderen Sphäre, nach 
dem verboten ist, die Vogelmutter gleichzeitig mit ihren Jungen aus dem 
Nest zu nehmen, ein Gebot, das seinen besonderen Akzent durch eine 
darin verheißene Belohnung für seine Befolgung erhält. 

Widersetzte sich das Verbot gemeinsamen Milch- und Fleischgenusses 
bisher überhaupt jeder Deutung, 1 so hat bei diesem Gebot gerade sein 
scheinbar selbstverständlicher rationaler Sinn einer humanitären Tierschutz¬ 
maßnahme, die wirkliche Aufhellung bisher verhindert. Würde es sich nämlich 
wirklich nur um ein Verbot vom Range eines Tierschutzgesetzes handeln, 
so wäre seine Befolgung — das kann man aus der sonstigen Haltung der 
Bibel zu entsprechenden Vorschriften schließen — sicherlich nicht durch 
die Verheißung einer besonderen Belohnung ausgezeichnet. Diese Tatsache 
weist uns vielmehr auf die tiefere Schicht hin, aus der auch dieses Verbot 
stammen muß, und die uns in unserem Zusammenhang speziell angeht: 

Auch hier bedeutet nämlich des Nehmen der Tiere offenbar eine Identi- 

1) Nur bei Ferenczi (Versuch einer Genitaltheorie S. 30) findet sich die Be¬ 
merkung, daß es sich vielleicht um eine Einrichtung handle, welche „die Entwöh¬ 
nung sichern soll“. 

























Das jüdische Speiseritual 


2^3 


fizierung mit der Vogelmutter sowohl wie mit ihren Jungen, ihr gleich¬ 
zeitiges Nehmen, den Inzest, der demnach mit diesem Verbot in gleicher 
Weise wie durch das Verbot, das Böcklein in der Milch seiner Mutter zu 
kochen, verhütet werden soll. Ebenso ist nach Radö 1 das Gebot der Ehrung 
von Vater und Mutter als einziges der Zehn Gebote durch das Versprechen 
einer Belohnung ausgezeichnet, weil es seinem unbewußten Sinn nach 
ebenfalls der Inzestverhütung dient. 

Gleichzeitig soll das Verbot, das Böcklein in der Milch seiner Mutter 
zu kochen, offenbar der Abwehr prägenitaler Triebregungen dienen, auf 
die der Vater im Kampf mit den um den inzestuösen Besitz der Mutter 
mit ihm rivalisierenden Söhnen zu regredieren Gefahr läuft. 2 

„Du sollst das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen“ wird 
in der Sprache des Unbewußten auf der oralen (von Freud auch kanni¬ 
balischen genannten) Stufe 3 heißen: du sollst den Sohn nicht in der Milch 
seiner Mutter = deines Weibes kochen, d. h. du sollst deinen Sohn nicht 
kochen, also ihn nicht essen. 

Die Deutung des Verbotes im Sinne der Verhütung der oralen Ein¬ 
verleibung und Tötung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn wir die an¬ 
deren Beweise der ambivalenten Stellung des Vaters zu den ihn bedrohenden 
Söhnen beim hebräischen Vater betrachten: sie zeigt sich vor allem in der 
zur Kulthandlung umgedichteten Beschneidungszeremonie, die mit wenigen 
anderen Zeremonien im Mittelpunkt des jüdischen Ritus überhaupt steht, 
als deutlicher Rest der ursprünglichen Entmannungsphantasien des Vaters 
mit Bezug auf die mit ihm rivalisierenden Söhne. 

Und daß dieser Kastrationswunsch nicht der einzige sadistische Impuls 
des Vaters gegen die Söhne ist, sondern daß in der Tat auch Tötungs¬ 
wünsche vorliegen, deren Durchbruch durch Ritenbildung verhütet werden 
muß, wird neben unserer oben gegebenen Deutung durch die Tatsache 
wahrscheinlich gemacht, daß speziell die Kindertötung den alten Hebräern — 
ganz unabhängig vom allgemeinen Töteverbot — ausdrücklich in der Bibel 
verboten wird. Hierfür bildet die Tatsache ihrer kultischen Ausübung unter 
den Nachbarvölkern, von denen die zuwandernden Juden sich getrennt 
halten sollten, (was gewöhnlich als Rationalisierung für dies Verbot heran¬ 
gezogen wird), keine genügende Erklärung. Sondern es muß angenommen 


1) Radö: Das fünfte Gebot, Imago, Bd. VII. (1922). 

2) Die Anregung zu diesem Deutungsversuch verdanke ich Diskussionsbemerkungen 
zu diesem Vortrag. 

3) Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Schriften, Bd. V. 
















Frieda Fromm-Reidimann 


werden, daß die sadistischen Impulse des hebräischen Stammes selbst im 
Kampf der Väter mit den Söhnen durch dies Verbot getroffen weiden 
sollten. 

Zur Erklärung der an vierter Stelle aufgeführten Vorschrift des Speise- 
rituals, des Verbotes, Speisen zu genießen, die nicht von Stammesgenossen 
zubereitet sind, wollen wir uns der von Robertson Smith 1 herangezogenen 
Macht der öffentlichen Opfermahlzeit (Totemmahlzeit) und der Bedeutung 
des gemeinsamen Essens und Trinkens in den ursemitischen Religionen 
für die Konsolidierung der Stammesgenossenschaft erinnern. „Wer den 
kleinsten Bissen mit (einem anderen) geteilt hatte . . , der braucht ihn 
nicht mehr als Feind zu fürchten, sondern darf seines Schutzes und seiner 
Hilfe sicher sein.“ 

Wenn die gemeinsame Opfermahlzeit den Stammesgenossen ausdrücklich 
wechselseitigen Schutz und gegenseitige Hilfe vermittelt, so dürfen wir 
umgekehrt schließen, daß ihnen von seiten der von der Mahlzeit aus¬ 
geschlossenen Fremdstämmlinge, auf die sich dieser Schutz nicht erstreckt, 
eine ebenso große Gefahr droht, vor allem, wenn wir bedenken, daß die 
primitiven Völker sich in permanentem gegenseitigem Kriegszustand befinden, 
wenn dieser nicht ausdrücklich aufgehoben worden ist. 

Wenn ferner die gemeinsame Mahlzeit als Stammeseinigendes und freund¬ 
schaftsicherndes Band dient, so sicher auch die Gemeinsamkeit mit dem, 
der die Mahlzeit zubereitet. Von ihm allein wird man im Gegensatz zum 
Fremdstämmling erwarten dürfen, daß er die Mahlzeit in der von Feind¬ 
seligkeit freien Gesinnung des Stammesgenossen bereitet, ihr also keine ge¬ 
fährlichen Tabusubstanzen beimengen wird. (Rationalisierung: Daß er sich 
bei Bereitung der Speisen genau nach den rituellen Vorschriften richten 
werde.) 

Somit läßt sich die noch heute in Wirkung stehende jüdische Ritual¬ 
vorschrift des Ausschlusses der Nichtjuden von der Bereitung der für Juden 
bestimmten Speisen als Sicherung gegen die Urfeindschaft der Fremd¬ 
stämmlinge im Sinne einer Wiederholung der Gebräuche bei den Totem- 
mahlzeiten der alten Semiten deuten. 

Daß diese Vorschrift eine spezielle Verstärkung im Hinblick auf die 
Bereitung des Weines enthält, wird uns nicht in Erstaunen setzen. Wein, 
der von einem Fremden bereitet war, stellt ja in symbolischer Gleichung 
Blut dar, das von ihm stammt, stellt also nach dem symbolischen Prinzip 


1) a. a. O. 


























Das jüdische Speiseritual 


2^5 



des pars pro toto den Fremden selbst dar, besonders in der hebräischen 
Auffassung, nach der ja, wie oben erwähnt, das Blut ausdrücklich der 
Persönlichkeit seines Trägers gleichgesetzt wird. 

Berührt ein Fremder auch nur den Wein (das Blut) des Semiten, so 
wird der Wein mit den gleichen gefährlichen Eigenschaften beladen, die 
dem Fremden selbst anhaften, weil sie den „Charakter der Ansteckungs¬ 
fähigkeit und Übertragbarkeit“ haben (Totem und Tabu, S. 37). 

Daß sich dieses spezielle System von tabuistischen Geboten und Ver¬ 
hütungen mit Bezug auf den Wein auch noch heute in den Religions¬ 
gesetzen der Juden erhalten hat, dürfte wohl auch damit Zusammenhängen, 
daß der Wein als rauscherzeugendes Getränk (Rausch == Sexualrausch, 
Orgasmus) besonders geeignet ist, um seinen Genuß mit Tabugeboten zu 
umgeben. (Rationalisierung: Der Genuß verbotenen Weines führt zur ge¬ 
schlechtlichen Vereinigung mit fremdstämmigen, d. h. verbotenen Frauen.) 

Wenn unsere theoretischen Untersuchungen über die generelle triebliche 
Genese des Fleischspeiserituals und seine spezielle ökonomische Aufgabe, 
den Durchbruch inzestuös gerichteter sexueller Wünsche zu verhüten, 
richtig sind, so müssen sie ihre empirische Bestätigung im analytisch nach¬ 
weisbaren Verhältnis des einzelnen Individuums zu den rituellen Speise¬ 
gesetzen finden. 

Insbesondere muß nach der Analogie des zwangsneurotischen Mechanismus 
überall dort, wo ein früher an das Ritual gebundenes Individuum sich 
davon zu lösen versucht, zunächst ein starker Durchbruch derjenigen sexu¬ 
ellen Triebkräfte erwartet werden, deren Befriedigung durch die Vor¬ 
schriften des Speiserituals unbewußt unmöglich gemacht werden sollte. 

In der Tat lieferte uns die Analyse orthodoxer Neurotiker während 
ihrer Ablösung von den Speisegesetzen sehr häufig Beispiele für ein solches 
Verhalten. 

So berichtete einer meiner Analysanden, ein intelligenter Student im 
fünften Semester, der sich anschickte, das Speiseritual zu durchbrechen 
(was er übrigens vor dem Vater sorgsam verheimlichte), daß der Genuß 
verbotener Fleischspeisen stärkste sexuelle Reaktionen bei ihm auslöste. Er 
konnte in dieser Zeit, wie er angab, an keinem Fleischerladen vorüber¬ 
gehen, ohne sich minutenlang davorstellen zu müssen und gierig die dort 
ausgelegten Wurst- und Fleischwaren zu betrachten. „Ich kam mir vor 
wie ein Hund, der nach der Wurst schnappt“, so schilderte er den Zu¬ 
stand wörtlich, „bekam, sowie ich das Fleisch nur ansah, lang anhaltende 
Erektionen, atmete rasch und erregt und befand mich im ganzen in einem 









Frieda Fromm-Reidimann : Das jüdische Speisentual 




Zustand höchster sexueller Spannung. Dieser steigert sich dann beim 
Bestellen verbotener Fleischspeisen im Restaurant bis zum Höhepunkt und 
macht nach dem Essen einer starken Erschlaffung wie nach einem Koitus 
Platz.“ 

Dieser Zustand des Analysanden dauerte einige Monate; erst dann wurde 
die Erregung beim Betrachten und Essen des verbotenen Fleisches all¬ 
mählich schwächer, bis schließlich der Fleischgenuß keinerlei sexuelle 
Reaktionen mehr hervorrief. 

Ein ganz entsprechendes Verhalten zeigte eine zwanzigjährige weibliche 
Analysandin. Sie durchbrach das Speisetabu erstmalig, als sie mit einem 
Freunde, mit dem sie eine Liebesbeziehung anbahnen wollte, zusammen 
auswärts zu Mittag aß; sie teilte ein Fleischgericht mit ihm, das er für 
sich bestellt hatte; (sie selbst hatte ursprünglich beabsichtigt, erlaubte 
Speisen zu genießen.) 

Diese Durchbrechung, wie die darauffolgenden, welche sie (unter ängst¬ 
licher Verheimlichung vor den Eltern) allein unternahm, waren, wie die 
Patientin wörtlich produzierte, „mit einer zappelnden Erregung — wie vor 
einem Geschlechtsakt“ — verknüpft, in einer Zeit übrigens, als die Patientin 
andere Religionsübungen seit langem völlig unbetont unterließ. 

Diese beiden Beispiele zeigen uns den Durchbruch sexueller Trieb¬ 
regungen bei Individuen, die sich vom Speiseritual lösen, und lassen somit 
den nach unseren theoretischen Untersuchungen erwarteten Rückschluß 
auf die unbewußte Absicht des Speiserituals zu, die Erfüllung verbotener 
inzestuöser Triebtendenzen zu verhindern. 

Ein beachtenswertes Nebenergebnis im Verhalten beider Personen stellt 
ihre Angst dar, die Eltern könnten erfahren, daß sie verbotene Fleisch¬ 
speisen essen, mit anderen Worten, sie erlebten bewußt die gleichen Schuld¬ 
gefühle gegenüber dem lebenden Vater, die vom Unbewußten her der 
verbotenen Lust gelten, das Fleisch des im Totemtier getöteten Vaters zu 
verzehren. 






































D, 


,cl z 


ogma und Zwangsidee 

Eine psydioanalytisdie ^Studie zur Entwicklung der Religion 

Von 

Tlieodor Reit 






„Wehe, wenn ein Mensch , der nicht weiß, was im Menschen ist, einen Gedanken, 
der in Enge und Einseitigkeit geboren wurde, mit dem Feuer der Leidenschaft aus - 
zustatten versteht. Er wird verheerend wirken können .. . Eine solche Bewegung ist 
die Psychoanalystik, die von Wien ihren Ausgang nimmt . Wenn Freud sein 
Begriffsnetz über das Seelenleben wirft, was fängt er damit ein? . . . Die Antwort 
lautet nämlich: Nur Sexuelles .. . An der -psychoanalytischen Methode hat vor 
allem die Logik sehr viel auszusetzen. Ihre termini stammen alle aus der Stoff weit; 
was sie auf seelischem Gebiet bedeuten sollen, bleibt fraglich. Wie falsch die ganze 
Methode ist, sieht man an ihrer Stellung zum katholischen Dogma ... Das 
Dogma steht ewig und hat nie nach einer praktischen Begründung gefragt . . . Völker 
und Jahrhunderte haben das Dogma abgewogen und nicht zu leicht befunden . . . 
Die Psychoanalyse kann von der Kirche mehr lernen als von der 
Psychoanalyse die Kirche . ..“ 

(Aus einem Vortrage „Psychoanalyse und Katholizismus“ von Prof. Dr. Linus 
Bopp auf der „Katholischen Weltanschauungswoche“ in Wien, Mai 1924.) 

„Seine Eminenz befolgt, zumindest was seinen Geist anlangt, das Gebot der 
evangelischen Armut“ (Anatole France: Die Ulme am Walde.) 

Vorbemerkung 

Es mangelt in der analytischen Literatur keineswegs an Arbeiten, welche 
die großen Glaubens Vorstellungen zum Gegenstand haben und deren unbewußte 
Motive und Triebgrundlage zeigen. Freuds analytische Erklärung der Er¬ 
lösungslehre des Christentums ist sicher als das bedeutsamste Beispiel dieser 
Art anzusehen. 1 In den wertvollen Arbeiten von K. Abraham, 2 E. Jones, 3 

1) Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X. 

2) Amenhotep IV. Imago 1912. 

3) A Psycho-Analytical Study of the Holy Ghost in „Essays in Applied Psycho- 
Analysis“, 1923. 


,1 












2^8 


Theodor Reit 


O. Pfister, 1 A. J. Storfer 2 und anderer Autoren erscheinen das völkerpsycho¬ 
logische Material und die psychischen Tendenzen religiöser Vorstellungen unter¬ 
sucht. Auch meine Beiträge zur analytischen Religionsforschung setzen teilweise 
dieselbe Richtung fort. 3 

Die nachfolgende Studie 4 schlägt einen abweichenden Weg ein. Sie legt das 
Hauptgewicht nicht auf die analytische Deutung und Aufklärung der religiösen 
Vorstellungen. Sie stellt vielmehr das Dogma selbst als religionspsychologisches 
Problem in den Vordergrund und entspricht einem ersten Versuch, die. Stellung 
des Dogmas innerhalb der religiösen Entwicklung zu bestimmen, sein Wesen 
zu zeigen und die unbewußten Triebregungen und seelischen Mechanismen, 
welche die Dogmenbildung beherrschen, darzustellen. 

Die Art der Entstehung der vorliegenden kleinen Schrift mag es entschuldigen, 
daß sie die Probleme auch analytisch nur bis zu einem bestimmten Punkte ver¬ 
folgt, die Untersuchung dort abbricht und deren Fortführung aufschiebt: sie 
hat sich mir als Nebenprodukt aus Bemühungen, die bisher kaum gewürdigte 
Bedeutung der Blasphemie für die Entstehung und Entwicklung der Religion 
darzustellen, ergeben. Das Stadium de r Re ligionen^ i stjwie das der menschlichen 
Geschichte überhaupt ein andächtiges Sich versenken in, ein.wüstes Gemisch von 
Wahnsinn, Verbrechen und Erbärmlichkeit. Der Wert dieses Studiums kann nicht 
geleugnet werden. Ein Abbe, Direktor eines Priesterseminars, spricht beiAnatole 
France die nachdenklichen Worte: „ Telle est la force de la discipline theo - 
logique que seule eile est capable de former les grands impies; un incredule 
qui ri*a point passe par nos mains est sans force et sans armes pour le mal. 
C’est dans nos murs qu’on recoit toute Science , meme celle du blaspheme. 6C 

Wenn ich so diese Untersuchung ihrer Entstehung nach nur mit jenen 
Abfallsprodukten, die eine große Industrie liefert, vergleichen kann, so will ich 
doch der Hoffnung Ausdruck geben, daß ihr gleich diesen von den Fachleuten 
ein gewisser Wert und Nutzen zugeschrieben werde. 

Wien , am 6 . Mai 1927. 


1) Die Entwicklung des Apostel Paulus. Imago 1920. 

2) Marias jungfräuliche Mutterschaft. Berlin 1914. 

3) Probleme der Religionspsychologie. 1919 (Internationale Psychoanalytische Biblio¬ 
thek, Nr. V); Der eigene und der fremde Gott. 1923 (Imago-Bücher, Nr. III.) 

4) In Erweiterung eines in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 
16. Januar 1924 gehaltenen Vortrages. 


































Dogma und Zwangsidee 


M9 



I)D as Dogma 

Das Eindringen in den latenten Sinn der Neurosensymptome hatte der 
Analyse einen Vergleich zwischen den Zwangshandlungen der Ner¬ 
vösen und den Einzelheiten des religiösen Rituals nahegelegt. Die 
nächste Einsicht ergab, daß es tiefreichende Analogien neben einschneidenden 
Differenzen zwischen Zwangshandlungen und Religionsübung gebe, die Freud 
berechtigten, in der Zwangsneurose ein individuelles Zerrbild der Religion 
zu sehen. Freud ist es dann gelungen, die Ursprünge der Religion ana¬ 
lytisch zu erfassen und die psychischen Wurzeln ihrer Wirkung aufzudecken. 
Den Weg meines Lehrers verfolgend, habe ich mich bemüht, die Parallele 
zwischen Religion und Zwangsneurose fortzuführen und den Zusammenhang 
beider Erscheinungen an einzelnen Reispielen zu zeigen. 

Die Religionswissenschaft und die Theologie sind mit steigender Auf¬ 
merksamkeit, an der manchmal eine wachsende Resorgtheit einen wesent¬ 
lichen Anteil hatte, diesen Studien gefolgt und beginnen nun, da die üb¬ 
liche Latenzzeit abgelaufen ist, die Resultate der analytischen Bemühungen 
auf diesem Felde eifrig zu diskutieren. 

An bestimmter Stelle dieser Diskussion der analytischen Religionsforschung 
erhebt sich nun ein Einwand, der uns bedrohlicher klingt als die frommen 
Verwünschungen, welche den Himmel zum Zeugen des frevlerischen Ver¬ 
suches der Forschung anrufen. Die Kritiker haben dem Bedenken Aus¬ 
druck gegeben, daß das Ritual jene Bedeutsamkeit für das religiöse Leben, 
die ihm die Analyse zuschreibt, nicht besitze. Konnte der Einwand nicht 
mit Recht darauf hin weisen, daß ja Religion nicht von der Erfüllung be¬ 
stimmter Zeremonien, von der Beobachtung gewisser Riten abhänge, daß 
beispielsweise nicht der Besuch der Messe, nicht Gebet, Beichte und Kom¬ 
munion darüber entscheide, ob jemand als Katholik betrachtet werde? Auf 
den ersten Blick kann man dieser Argumentation eine gewisse Berechtigung 
nicht absprechen. Diese relative Berechtigung hängt indessen sicher mit 
dem Absinken des religiösen Interesses und der Funktion der Religion im 
allgemeinen in der sozialen Struktur der Gegenwart zusammen. Die Ge- 

I bildeten unserer Zeit verbinden freilich, soweit sie überhaupt noch einen 

religiösen Glauben mit ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis vereinbaren 
können, mit dem Begriffe Religion eine bestimmte Gefühlseinstellung, die 
von Ritual und Zeremoniell fast unabhängig ist. Es ist dabei gleichgültig, 
ob sie den Gottesbegriff durch den des Schicksals ersetzt haben, einer spi- 
nozistischen Identifikation von Gott und Natur oder anderen Abstraktionen 












a5o 


Theodor Reih. 


zugeneigt sind. Es ist ja nicht wichtig, welche Illusion wir wählen, um 
uns das Leben ertragbar zu machen. Die breiten Massen der Bevölkerung 
in allen Erdteilen haben aber den alten Religionsbegriff festgehalten; Reli¬ 
gion ist ihnen keineswegs Privatsache, sie fühlen sich als Glieder einer 
großen Gemeinschaft. Hier erscheint die Religion noch als eine mächtige 
soziale Institution, die ihren wichtigen Ausdruck in dem gemeinsam geüb¬ 
ten Ritual findet. Es ist nicht zu verkennen, daß diese Religionsauffassung 
die der Antike und der primitiven Völker der Jetztzeit ist: die Beobachtung 
der religiösen Zeremonien gilt dort als wichtigstes Zeugnis der Religions¬ 
zugehörigkeit. 1 Die Frage: „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“ 
wird nicht durch die Tatsachen des Gefühlslebens, sondern durch die der 
Befolgung oder Nichtbefolgung des vorgeschriebenen Kultus entschieden. 
Mag Faust immerhin versichern, daß er die heil’gen Sakramente ehre, immer 
wird Margarete ihm entgegenhalten: „Doch ohne Verlangen, zur Messe, zur 
Beichte bist du lange nicht gegangen.“ Jedermann weiß, wieviel von dieser 
Anschauung noch mehr oder weniger verhüllt in unserer Gegenwart fort¬ 
lebt. Man könnte dem Einwand noch mit manchem historischen und psy¬ 
chologischen Argument begegnen. Wir wollen uns hier indessen darauf 
beschränken, zu betonen, daß wir das Ritual nur aus heuristischen Gründen 
zum Ausgangspunkt der analytischen Erforschung des religiösen Erlebens 
gewählt haben, weil es den Vorteil der Deutlichkeit und äußeren Auffäl¬ 
ligkeit zeigt und weil es den mannigfachen, durch die kulturelle Entwick¬ 
lung bedingten Faktoren, die zur Veränderung drängen, größere Resistenz 
entgegensetzt als andere religiöse Phänomene. Wenn wir auch die Bedeut- 

i) „Mit dem Worte religio verband der Römer, so verschieden auch im übrigen 
dessen etymologische Deutung bei den späteren römischen Schriftstellern sein mochte, 
in erster Linie den Begriff der Gebundenheit an bestimmte Normen des Kultus, die 
als solche einen Teil der öffentlichen Rechtsordnung bildeten. Diese Bindung des ein¬ 
zelnen an den Kultus ist aber ein gemeinsames Merkmal aller antiken Religionen. 
Daß Glaube und Kultus einander entsprechen, erscheint dabei als eine so selbstver¬ 
ständliche Voraussetzung, daß man der Hervorhebung einer besonderen regula fidei 
entraten kann. Erst in dem Augenblick, wo die Philosophie den hinter dem Kultus 
verborgenen Glaubensgehalt spekulativ zu durchdringen beginnt, sucht sie ihn zugleich 
m bestimmte Lehrsätze zu formen. Damit wandert dann auch die religiöse Gebun¬ 
denheit vom Kultus auf die Lehre und die Lehre fixiert sich in dem Bekenntnis, durch 
das der Gläubige nicht mehr bloß wie zuvor durch Handlungen, sondern durch das 
Wort und dessen eidliche Bekräftigung seine Zugehörigkeit zur religiösen Gemein- 
schaft bekundet.« (Wundt, Völkerpsychologie. VI. Bd. 3. 2. Aufl. 1915. S. 545.) In 
ähnlichem Sinne äußert sich ausführlich W. Robertson Smith („The religion of 
the Semites“. Second edition. London 1907). Vgl. die Diskussion über die Frage in 
meinen „Problemen der Religionspsychologie“. 1919. S, XVII. 


i 





















Dogma und Zwangsidee 



a5i 


samkeit des Rituals als eine der wichtigsten Ausdrucksformen latenter, un¬ 
bewußter Trieb Strömungen in der Religion hervor gehoben haben, so haben 
wir doch niemals vergessen, daß tieferliegende Kriterien das Wesen der Reli¬ 
gion bestimmen. 

Die auf die Religionswissenschaft angewandte Psychoanalyse ist eine 
noch junge Wissenschaft, die mit mannigfachen äußeren und inneren 
Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Sie kann nur langsam und vorsichtig an 
die großen Probleme einer fremden, eifersüchtig bewachten Wissenschaft 
herangehen. Ihre Fortschritte auf religionspsychologischem Felde werden 
deshalb nur schrittweise errungen werden. Das hindert nicht, daß sie manch¬ 
mal beanspruchen dürfen, eine zentrale Stellung in der psychologischen 
Erfassung der religiösen Fragen einzunehmen. Einen solchen Schritt nach 
vorwärts in die Richtung auf die noch schwierigen Probleme, die in der 
Religionspsychologie noch eindringlicher analytischer Forschungsarbeit be¬ 
dürfen, soll die vorliegende Schrift darstellen. Ich bin mir ihres unfertigen 
und vorbereitenden Charakters bewußt, ohne genau angeben zu können, 
wo ihre Fortsetzung verlaufen wird. 

Wir haben uns entschlossen, unsere Gegenargumente zu unterdrücken 
und jenem Einwande, der das Ritual als nicht entscheidend für das 
religiöse psychische Erleben gelten lassen wollte, vorläufig Gehör zu schenken. 
Es muß also auch auf dem Boden der institutioneilen Religion Kennzeichen 
anderer Art geben, die darüber entscheiden, ob sich jemand als Gläubiger 
einer bestimmten Religion bekennen darf. Hat uns da nicht die Sprache 
selbst — scheinbar zufällig — einen Hinweis auf eines der wichtigsten 
Kennzeichen der Religion gegeben? Wenn wir von der Religionszugehörig¬ 
keit von Einzelnen und Völkern sprechen, behaupten wir, sie seien Gläubige 
des Christentums, des Islams, des Buddhismus usw. Wir sagen aber auch, 
jemand bekenne sich zu dieser oder jener Religion. Das Bekenntnis gilt 
uns dann als Ausdruck dieses Glaubens: wir meinen damit, er bekenne 
sich zum Glauben an die Vorstellungen oder Lehren der betreffenden 
Religion. Wir sagen von einem Atheisten, er glaube nicht an Gott, d. h. an 
Gottes Existenz und haben ihn durch diesen Mangel an Glauben als außer¬ 
halb der Religion stehend gekennzeichnet. Wir werden gewiß nicht behaupten 
wollen, daß der Glaube allein das Wesen der Religion ausmache; es gibt 
ja verschiedene Arten und Grade des Glaubens und manche der unbestritten 
größten religiösen Geister waren lange erbitterte Zweifler. Niemand aber 
wird leugnen, daß der Glaube und das Bekenntnis zu diesem Glauben zu 
den bedeutsamsten religiösen Phänomenen gehören. 







Wir wenden unsere Aufmerksamkeit also jenem Glaubensgut zu, dessen 
unbedingte Anerkennung jede entwickeltere Religion und jede Kirche 
mit Berufung auf die göttliche Autorität von ihren Angehörigen fordert 
Es wird uns leicht einzusehen, daß Glaubens Vorstellungen solcher Art im 
Keime auch in der Religion primitiver Stämme vorhanden sind, wenn 
sie dort auch nicht dieselbe überragende Stellung einnehmen mögen. Wenn 
etwa die Jambim in Neu-Guinea an einen Geist Balum und an mit 
dämonischen Kräften ausgestattete Häuptlinge glauben, der Islam verkündet 
Allah allein sei Gott und Mohammed sein Prophet, der Mazdadiener gläubig 
bejaht: „Ahura Mazda gibt dem Propheten das Reich“ und das Christen¬ 
tum sich zu Gottvater und seinem göttlichen Sohn bekennt, so besteht 
prinzipiell kein Unterschied zwischen diesen Glaubensvorstellungen. 

Auch die Art der Unterweisung ist fast die gleiche: die Männer im 
Busch Australiens führen die Novizen in den Glauben an den totemistischen 
Ahnengeist im wesentlichen ebenso ein wie die Priester die Kinder in die 
christlichen Glaubensvorstellungen in Kirche und Schule. Es ist natür¬ 
lich unschwer zu erkennen, welche bedeutsame Differenzen zwischen den 
Glaubensvorstellungen dieser Religionen trotzdem bestehen und daß diese 
Unterschiede in erster Linie auf die Verschiedenheit des kulturellen 
Niveaus ihrer Bekenner zurückzuführen sind. Wir wollen als für unsere 
speziellen Zwecke wichtig nur zwei von diesen Unterschieden hervor¬ 
heben: die Glaubens Vorstellungen der Primitiven sowie die der antiken 
Völker scheinen weit unbestimmter als die etwa des Islams oder des 
Katholizismus und der Glaube an sie wird nicht mit jener ausschließenden 
Strenge gefordert, welche den Glauben an bestimmte Sätze in unseren 
Kulturbreiten als den Kernpunkt jeder hochorganisierten Religion erscheinen 
läßt. Die tragenden religiösen Vorstellungen sind, wenn wir etwa an die 
großen monotheistischen Religionen der Gegenwart denken, keineswegs 
unbestimmt, sie sind in feste Formen gebracht und es wird von den 
Gläubigen gefordert, daß sie sich ihnen schlechthin unterwerfen. Dieser 
einfache Glaube, der sich keineswegs auf das Studium des tieferen Sinnes 
der einzelnen religiösen Vorstellungen stützen muß (dafür aber auch jede 
Kritik an ihnen ausschließt), ist unerläßlich; er wird aber auch als ge¬ 
nügend erachtet. 

Die Glaubensvorstellungen so entscheidender Art werden ihren Ausdruck 
in einzelnen, präzise formulierten Lehrsätzen finden, die nach der Meinung 
der obersten Autoritäten den wesentlichen Inhalt, die Quintessenz der 
betreffenden Religionen einschließen und von der Gemeinde allgemein 






























anerkannt werden. Wir nennen Lehrsätze von dieser Beschaffenheit Dogmen. 1 

Wenn wir heute von religiösen Dogmen sprechen, so meinen wir im 
allgemeinen die dogmatischen Lehrsätze des Christentums, aber es ist 
klar, daß dies eine ungerechtfertigte Einschränkung darstellt, weil jede 
entwickeltere Religion, wie der Islam, das Judentum, der Konfuzianismus 
us w. Lehrsätze aufweist, welche diese Bezeichnung verdienen. 2 Es kann 
für den Forscher, der die psychologischen Probleme des Dogmas studieren 
will, gewiß im Tiefsten gleichgültig sein, welcher Religion er sein Unter¬ 
suchungsmaterial entnimmt, da das Dogma in allen Religionen dieselben 
wesentlichen Züge trägt. Wir werden hier unter dem Eindrücke mehrerer 
Momente das christliche Dogmenmaterial heranziehen: das Christentum 
hat zuerst dem Begriffe des Dogmas einen religiösen Sinn gegeben und 
die Entwicklung des Christentums bedeutet wirklich einen Höhepunkt 
in der Ausbildung des Dogmas. Wir können noch andere Gründe für die 
Bevorzugung des Materials aus dem Christentum geltend machen: seine 
historische und religiöse Entwicklung ist am besten erforscht und seine 
Dogmen erscheinen von allen für unsere Kulturregionen noch am wichtigsten. 

Wie entsteht ein Dogma? Hier stock’ ich schon. Die Kirche behauptet 
nämlich, es entstehe gar nicht; sie erkennt ein Werden des Dogmas nicht 

1) Das Wort hat einen vielfachen Bedeutungswandel erfahren: in der klassischen 
Literatur wird Dogma im Sinne eines theologischen Lehrsatzes gebraucht. Im Neuen 
Testament bedeutet es kaiserliche Verordnung (Luk. 2, 1, Apostelgeschichte 17, 7), 
Konzilsbeschluß (Apostelgeschichte 16, 4). Der moderne Sprachgebrauch hat den später 
auf das Religiöse eingeschränkten Begriff des Dogmatischen wieder erweitert, ihm 
aber auch den uns bekannten Nebensinn einer beschränkten und hartnäckig fest¬ 
gehaltenen vorgefaßten Meinung gegeben. — Die oben angedeutete Definition des 
Dogmas ist Einwänden im gleichen Maße ausgesetzt wie Definitionen im allgemeinen. 
Harnack definiert die kirchlichen Dogmen als „die begrifflich formulierten und 
für eine wissenschaftlich-apologetische Behandlung ausgeprägten Glaubenslehren, 
welche die Erkenntnis Gottes, der Welt und der durch Christus geschehenen Erlösung 
umfassen und den objektiven Inhalt der Religion darstellen“ (Lehrbuch der Dogmen¬ 
geschichte, Bd. I, 4. Aufl., 1919, S. 3). Nach Loofs (Leitfaden zum Studium der 
Dogmengeschichte, 3. Aufl., 1893, S. 7) sind es „jene Glaubenssätze, deren Anerkennung 
eine kirchliche Gemeinschaft von ihren Gliedern ausdrücklich fordert“. S e eb erg (Lehr¬ 
buch der Dogmengeschichte, Bd. 1 ,1895,8.1) betont, Dogmen seien nicht irgendwelche 
theologische Sätze oder Formeln des kirchlichen Gemeindebewußtseins, sondern nur 
solche „die zu kirchlichen Sätzen geworden sind, d. h. die von der Kirche oder einer 
Sonderkirche durch öffentliche Erklärung als Ausdruck der kirchlichen Wahrheit an¬ 
erkannt sind“. I. Kaftan (Dogmatik, Freiburg 1897, S. 1) erklärt Dogmen als „die 
kirchlichen Grundwahrheiten, die in der Kirche autoritative Geltung haben“. 

2) Noch hei Paulus wird auch das jüdische Gesetz als Dogma (Eph. 2, 5) bezeichnet 
und die griechischen Väter sprechen von heidnischen Dogmen im Gegensatz zu den 
christlichen. 
















264 Theodor Reik 


an. Jenes Glaubensgut, das der Kirche von allem Anfang gegeben 
(depositum fidei) und das die ganze Wahrheit umschließt, kann nicht etwas 
Gewordenes sein. Das Dogma war immer da; auch von seiner Entwicklung 
kann man nur in einem formalen oder begrifflichen Sinne sprechen. Diese 
war freilich notwendig, weil die von Gott kommende Wahrheit zur Abwehr 
der Ketzer und Zweifler und zum besseren Verständnis der Gläubigen ver¬ 
deutlicht, erläutert und verteidigt werden mußte. Die christlichen Kirchen 
erklären, daß die das Glaubensgut umschließenden Wahrheiten in den heiligen 
Schriften bzw. in der Tradition enthalten sind und von hier aus in dog¬ 
matische Form überliefert werden konnten. Es ist nachweisbar, daß die 
Bekenner des Urchristentums kein solches Dogma von Anfang an besaßen. 1 

Die Kirche hat die Dogmen in Synoden und Konzilien formuliert, jenen 
großen und imposanten Versammlungen des hohen Klerus, die von erbittertsten 
Streitigkeiten durchtobt waren und im Namen und zu Ehren dessen geführt 
wurden, der gekommen war, den Menschen den Frieden zu bringen. Der 
Heilige Geist, der die Bischöfe erleuchtete sprach dann aus dem Munde 
der Versammlung und machte ihre Meinung unfehlbar. Doch kann auch 
der ex cathedra lehrende Papst die in der Überlieferung enthaltene ewige 
Wahrheit jederzeit in eine allgemein gültige Fixierung überführen. 2 Ob nun 
das Dogma auf einem Konzil promulgiert oder vom Papste ausgesprochen 
wurde, es wird immer auf die Autorität Gottes zurückgeführt und die gött¬ 
liche Offenbarung als das Erkenntnisprinzip hat exochen anerkannt. 

Wenn wir die Entstehung und die wesentlichen psychologischen Züge 
des Dogmas studieren wollen, ist es vielleicht am besten, dies vorerst an 
einem einzelnen, bedeutungsvollen Beispiel von repräsentativer Bedeutung 
zu versuchen. Wir wählen aus der Fülle des sich uns aufdrängenden Materials 

1) Der Widerspruch gegen das Dogma der Dreieinigkeit geht häufig davon aus, 
daß es im Neuen Testament nicht gelehrt wird. — Auch ein so warmer Verteidiger 
des christlichen Dogmas wie Georg Lasson (Grundfragen der Glaubenslehre, Leipzig 
1 9 1 5 » S. 128) muß zugeben, daß für die christliche Wahrheit durch das Dogma eine 
Form geschaffen worden ist, die es im Neuen Testament nicht gibt. 

2) Die Entwicklung des Dogmas innerhalb der morgenländischen Kirche erscheint 
seit dem siebenten ökumenischen Konzil (787) abgeschlossen; seither sind im Christentum 
des Morgenlandes keine weiteren Dogmen offiziell formuliert worden. Die römische 
Kirche hat noch 1870 ein neues, den früheren ebenbürtiges Dogma promulgiert. Der 
alte Protestantismus hat an die Stelle des kirchlichen Dogmas die Gesamtheit der 
Bibelsätze, soweit sie Lehrbestimmungen enthält, gesetzt. Die Bekenntnisschriften 
dienten dann zur Formulierung dieser das Dogma ersetzenden Formeln. Die Ent¬ 
wicklung des modernen Protestantentums, das in der Bibel nicht mehr die absolute 
Autorität sah, nahm eine vom Dogmatischen abweichende Richtung, ohne die Relikte 
des Dogmas völlig ausscheiden zu können. 

































Dogma und Zwangsidee 


265 


das Grunddogma des Christentums, die Lehre von der Göttlichkeit 
Christi, der, wie wir glauben, niemand eine solche Bedeutung absprechen 
kann. 1 Diese Zentrallehre des Christentums ist ein ökumenisches Symbol, 
d. h. eines jener allgemein gültigen Bekenntnisse, die allen christlichen 
Kirchen gemeinsam sind. Das Symbolum Nicaeum, das auf der ersten Synode 
zu Nicaea (525) geformt wurde, — es hat freilich erst um ^81 seine end¬ 
gültige Formulierung erhalten, erscheint als Bekenntnis der griechisch- 
katholischen Kirche, als Meßsymbol der römischen, als Glaubenssatz der 
protestantischen sowie als liturgisches Bekenntnis („Nicene Creed “) der 
anglikanischen Kirche. Es empfiehlt sich uns nicht nur wegen seiner über¬ 
ragenden Wichtigkeit innerhalb der christlichen Glaubenslehre, es ist auch 
zeitlich das erste, präzise formulierte Dogma der Kirche und erst von seiner 
Fixierung an kann man von einer Entwicklung des christlichen Dogmas 
sprechen. 2 3 

In der Anmerkung zitieren wir den endgültigen Wortlaut dieses nicäno- 
konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses, welches das christliche 
Grunddogma für ewige Zeiten festlegen solltet Wenn man den Text dieses 


1) Das Dogma von der Dreipersönlichkeit Gottes ist nach christlicher Auffassung „der 
Höhepunkt zugleich alles theologischen Wissens und das schärfste Maß aller wahren 
theologischen Bildung“. (Franz Friedhoff, Katholische Dogmatik, 2. Aufl., 1871, S. 294A 

2) Harnack betont, daß man dort den die Entwicklung des Dogmas entscheiden¬ 
den Einschnitt zu suchen habe, „wo zuerst ein begrifflich formulierter und mit den 
Mitteln der Wissenschaft ausgeprägter Glaubenssatz in bezug auf Christus zur Zentral¬ 
lehre erhoben und als solche allgemein in der Kirche durchgesetzt worden ist. Das 
ist aber zuerst damals geschehen, als die Lehre, Christus sei der präexistente und 
persönliche Logos Gottes, in den Kirchen als die fundamentale Glaubenslehre zum 
Siege kam, d. h. um die Wende des dritten Jahrhunderts zum vierten“. (Lehrbuch 
der Dogmengeschichte, S. 3.) 

3 ) »Wir glauben an einen Gott, allmächtigen Vater, Schöpfer Himmels und der 
Erden, aller sichtbaren wie auch unsichtbaren Dinge. Und an einen Herrn, Jesus 
Christus, den eingeborenen Sohn Gottes, den aus dem Vater vor allen Weltzeiten 
geborenen, Licht aus Licht, wahren Gott aus wahrem Gott geboren, nicht gemacht, 
desselben Wesens mit dem Vater, durch den alle Dinge geworden sind, der um unser, 
der Menschen willen aus den Himmeln herabgekommen und Fleisch geworden ist 
aus heiligem Geist und Maria, der Jungfrau, und Mensch geworden ist, gekreuzigt für 
uns unter Pontius Pilatus und gelitten und begraben und auferstanden am dritten 
Tag nach den Schriften und aufgefahren in die Himmel, sitzet zur Rechten des Vaters, 
von dannen er wiekerkommen wird in Herrlichkeit zu richten Lebendige und Tote, 
dessen Herrschaft kein Ende ist. Und an den Heiligen Geist, der da Herr ist und 
lebendig macht, der vom Vater ausgeht, der mit Vater und Sohn zusammen angebetet 
und verherrlicht wird, der durch die Propheten geredet hat. An eine heilige katho¬ 
lische und apostolische Kirche. Wir bekennen eine Taufe zur Vergebung der Sünden. 
Wir erwarten eine Totenauferstehung und Leben der zukünftigen Weltzeit. Amen.“ 












256 


Theodor Reih 


so klar formulierten Dogmas, das die höchsten Glaubenswahrheiten des 
Christentums umschließt, hört, könnte man nicht vermuten, welchen Kämpfen 
gegen den Starrsinn und das Unverständnis christlicher Ketzer es seine scharf 
umrissene Fassung verdankt. In den mehrere Jahrhunderte andauernden, mit 
höchstem Glaubenseifer geführten Kämpfen um dieses Dogma, das die er¬ 
habensten Wahrheiten des Christentums umfaßt, sind Ströme Blut unter 
den Gläubigen geflossen, denen Christus verkündet hatte: Selig sind die 
Friedfertigen. 

Wir werden uns im folgenden mit der Entstehungsgeschichte der dog¬ 
matischen Formeln beschäftigen. Aus leicht ersichtlichen Gründen werden 
wir gerade die letzten, entscheidenden Schwierigkeiten und Konflikte, die 
zur Konstituierung des Dogmas führen, ausführlicher behandeln. Indem ich 
die Vorgänge, die das Wesentliche in der Geschichte dieses wichtigsten 
Dogmas des Christentums bilden, zu schildern versuche, möchte ich an einem 
konkreten Beispiel von repräsentativer Geltung die psychischen Voraus¬ 
setzungen und seelischen Prozesse der Dogmatisierung im allgemeinen dar¬ 
stellen und das Problem zu lösen versuchen, was ein Dogma im psycho¬ 
logischen Sinne bedeutet und wieso es überhaupt zur Dogmenbildung kommt. 
Es w T äre sicher bequemer gewesen, ein Dogmabeispiel zu wählen, das weniger 
kompliziert ist und dessen Entstehung leichter darzustellen ist. Eine solche 
Konzession an unsere Bequemlichkeit aber hätte uns vielleicht dazu ver¬ 
führt, den psychologischen Sachverhalt ungerechtfertigterweise für zu einfach 
zu halten und hätte uns gerade den Einblick in die am schwersten erfa߬ 
baren Probleme des Dogmas in seiner hochorganisierten Form verwehrt. 
Die Vereinfachung, die sich in unserer Untersuchung als notwendig erweist, 
wird sich vielmehr in anderen Richtungen zeigen: in der Beschränkung 
auf den wichtigsten Teil des Grunddogmas, im Verzicht auf die möglichst 
vielseitige Behandlung des Dogmenproblems und in der Art der Darstellung. 
Wir werden also unsere Aufmerksamkeit insbesondere dem für die Entwicklung 
des Christentums bedeutungsvollsten Teil, der christologischen Frage des 
Verhältnisses von Gottvater und Sohn, zuwenden. 1 Die Entstehung 

1) Für das Studium des Trinitätsdogmas und seiner Entwicklung seien außer den 
oben angeführten Dogmengeschichten von Harnack, Loofs und Seeberg noch 
folgende Werke erwähnt: Heinrich Holtzmann, Lehrbuch der neutestamentlichen 
Theologie, 1897; Eduard Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums, 3 Bände, 
1921; F. C. Baur, Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung 
Gottes, 1843; Dorner, Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, 
2. Auf 1 ., 1845—1853; A. Reville, Histoire du dogme de la divinite de Jesus Christ, 
2. edit., 1876; H. Schultz, Die Lehre von der Gottheit Christi, 1881; Gustav Krüger^ 






























und Entwicklung dieses dogmatischen Problems aber werden wir nur unter 
analytischen Gesichtspunkten zu verstehen versuchen. Wir wissen wohl, 
daß es andere Seiten des Dogmenproblems gibt, deren Diskussion durch 
die Religions- und Kirchengeschichte, die Religionsphilosophie und die syste¬ 
matische Theologie erörtert werden. Die Einschränkung auf die analytische 
Erklärung erscheint uns aber notwendig. Wir haben dabei nicht vergessen, 
daß sie nicht das Ganze der Erklärung geben kann und geben will. Unsere 
Darstellung wird dementsprechend von vornherein auf alle jene Ansprüche, 
die an eine dogmengeschichtliche und kirchenhistorische Beschreibung, an 
eine religionsphilosophische und theologisch-systematische Behandlung ge¬ 
stellt werden müssen, verzichten und ausschließlich jene wesentlichen Fragen 
heranziehen, die uns unserem Ziele, der analytischen Erforschung der Ent¬ 
stehung und der psychischen Bedeutung des Dogmas, näherbringen. 

Bevor wir uns der dogmengeschichtlichen Darstellung der wichtigsten 
Glaubensvorstellung des Christentums zuwenden, wird vielleicht eine Be¬ 
merkung nicht überflüssig sein: die historische Existenz eines religiösen 
und sozialen Revolutionärs, dessen Erinnerung in der mythisch erhöhten 
Figur des Jesus Christus der Evangelien fortlebt, scheint mir gegenüber der 
allzu rationalistischen Kritik eines Drews 1 * und eines Brandes 3 wahrscheinlich, 


Das Dogma von der Dreieinigkeit und Gottmenscheit, 1905. Ferner der Artikel Christo¬ 

logie von M. Köhler und Loofs in der Realenzyklopädie f. prot. Theol. u. Kirche, 

3. Aufl., Bd. IV, 1898, S. 4 ff. — Für die Geschichte und Lehren des Arianismus wurden 
vom Autor neben gelegentlicher Einsicht in die Werke der Kirchenväter des vierten 
Jahrhunderts (Athanasius, Hilarius, Hieronymus) und in die Kirchengeschichten des 
Socrates, Sozomenus, Theodoret, die Vita Constantini des Eusebius folgende Literatur 
benützt: Hort, On the Constantinop. Creed and other eastern Creeds of the 4th Century, 
1874; H. M. Gwatkin, Studies of Arianism, 2nd ed., 1900 (populärer Auszug: The 
Arian. Controversy, 2nd ed., 1897). P. Snellmann, Die Anfänge des arianischen Streites, 
1904; O. Seeck, Untersuchungen zur Geschichte des nizänischen Konzils in der Zeit¬ 
schrift für Kirchengeschichte XVII. 1—72, 319—363; KÖlling, Ceschichte der ariani¬ 
schen Häresie, 2 Bände, 1874—1883; I. Gummerus, Die homöousianische Partei bis 
zum Tode des Konstantius, 1900; Tillemont, Memoires pour servir ä l’histoire eccle- 
siastique, 1732; W. F. Walch, Entwurf einer vollständigen Historie der Ketzerei, Bd. II, 
1767; C. I. Hefele, Conciliengeschichte, 2. Aufl., 1875; A. Hahn, Bibliothek der 
Symbole und Glaubensregeln der alten Kirche, 2. Aufl., 1877; Rogalla, Die Anfänge 
des arianischen Streites, 1907; Bernouilli, Das Konzil von Nicäa, 1896; Duchene, 
Hist. Ancienne de l’eglise, Bd. II, 1907; F. Bethume Baker, Introduction to the early 
History of Christ, doctrine, 1902; Revillont, De PArianisme des peuples Germaniques, 
1850; Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 1896, 
Vol. II, HI usw. 

1) „Die Christusmythe“, 1912, und „Die Leugnung der Geschichtlichkeit Jesu“, 1916. 

2) „Die Jesussage“, 1925. 


Imago XIII. 


17 













a58 


Theodor R.eik 


wenn auch nicht gesichert. Daß die Römer und mit ihnen die Kulturwelt 
diesen Aufrührer völlig ignorierte, ist ziemlich erklärlich. Es fiel niemandem 
ein, sich um die theologischen Streitigkeiten einer kleinen Sekte eines 
kleinen, verachteten Volkes zu kümmern. Nehmen wir auch die Existenz 
einer der Jesusgestalt nahestehenden Figur an, so müssen wir uns vor Augen 
halten, daß der betreffende Rabbi weder seiner Lehre noch seinem Lebenslauf 
nach eine Besonderheit innerhalb des Judentums der Zeit war. Sogar die 
Passionsgeschichte verliert ihre Einzigartigkeit, wenn wir erfahren, daß zur 
Zeit Trajans mehr als 700 Juden gekreuzigt wurden. Warum soll nur Jesus 
von ihnen allein mit einem Zitat aus dem 22. Psalm auf den Lippen ge¬ 
storben sein („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“)? 
Man hat nicht mit Unrecht gesagt, daß ein Engel im Himmel keine 
Rarität sei. 

Es liegt in einer wissenschaftlichen Publikation kein Anlaß vor, auf 
die christlichen Mythen anders als vom psychologischen Gesichtspunkte aus 
einzugehen. Eine ernsthafte kritische Beweisführung, daß diese Erzählungen 
nicht die geschichtlichen Tatsachen wiedergeben, erübrigt sich. Der Eifer, 
der noch heute diese Legenden als unglaubwürdige Geschichten entlarvt, 
ist etwa so sinnreich wie jene Kritik, die nach Swifts Bericht ein gewiß 
wohlmeinender irischer Bischof an „Gullivers Reisen“ übte. Der kluge Priester 
erklärte nämlich voll Entrüstung: 1 “ the book was full of improbable lies 
and for bis pari he hardly believed a word of it •“ 


II) D ie Entstellung des Dogmas 

Wir wissen, wie unsicher die uns überlieferten Zeugnisse sind, wie viel¬ 
fach entstellt, Falsches mit Wahrem vermischt, oft überarbeitet sie auf 
uns gekommen sind. Kein vernünftiger Mensch glaubt die Ideengeschichte 
von zweitausend Jahren ihrem wirklichen Verlaufe und ihrem wahren Sinne 
entsprechend rekonstruieren zu können. Soweit wir uns in jenem überaus 
unsicheren und trüben Scheine, welchen die Gelehrten mit Vorliebe die 
Klarheit der geschichtlichen Überlieferung nennen, zurechtfinden, sind die 
Voraussetzungen für die Aufrollung der dogmatischen Frage die folgenden: 
Jesus verkündete die frohe Botschaft Gottes über die Welt und jede einzelne 
Seele. Seine getreuen Jünger, welche ihren Meister in seinem Sterben 


1) Nach Leslie Stephen, Swift. London 1899, S. 171. 










































verließen, haben ihn, ehe die Osterhotschaft sie traf, für einen Menschen 
wie andere gehalten. Die himmlische Welt, zu der man ihn auferstanden 
wähnte, warf nun ihren Reflex auf sein Erdenwallen: die „Verklärungs¬ 
geschichte Christi beginnt. Noch Petrus scheint es in der Pfingstpredigt 
(Apostelgeschichte 2, 36, vgl. 10,42), daß Gott diesen Jesus, den die Juden 
gekreuzigt haben, durch seine Auferstehung zum Herrn und Christ gemacht 
hat. Erst später wird die Goltesgesandtschaft auf die Taufe zurückdatiert: 
das frühe Judentum sah in Jesus den leiblichen Sohn Josefs, den Zimmer¬ 
mann, der durch die Taufe von göttlichem Geiste erfüllt, zum Messias 
wurde. Der Glaube an die Auferstehung und seine Installierung zur Rechten 
des Vaters wurde später zum Anlaß, sich auch die Anfänge seiner Existenz 
entsprechend vorzustellen. So war der schlichte Glaube der Apostel in der 
Frühzeit in dem Bekenntnis zu dem Gotte Israels und zu Jesus als dem 
Messias, der jeden Einzelnen mit Gott verband, beschlossen; der Messias 
war der Weg zum Vater. Die Vergöttlichung des Zimmermannes Jesus 
ging allmählich vor sich; schon um 113 hörte indessen Plinius von abge¬ 
fallenen Christen, sie hätten Christus als Gott angebetet 1 und die Heiden 
der Apologetenzeit hielten die Anbetung „Jesu, des gekreuzigten Sophisten“ 
für ein Kennzeichen der Christen. 2 Die religiöse Verehrung des Heilands 
kommt bei Paulus zum deutlichen Ausdruck: nicht nur er selbst betet zu 
Christus (2. Kap. 128), er hält auch die Anrufung Christi für allgemein 
christlich. Die Apokalypse bezeugt die Anbetung Christi bereits in der 
Umgebung des Autors (5, 13; 22, 17, 20) und das Johannesevangelium setzt 
das Gebet zu Jesus voraus. 3 Der Hebräerbrief und der Barnabasbrief machen 
oft zwischen Gott und Jesus keinen Unterschied. Der zweite Clemensbrief 
schreibt vor: „Ihr sollt über Jesus Christus so denken wie über Gott, wie 
über den Richter Lebendiger und Toter.“ Bei Paulus ist das Bild des 
Messias ganz ins Himmlische gerückt. Jesus ist nun bald nicht mehr der 
Gottessohn, der gekommen war, das Reich des Vaters zu verkündigen, 
sondern der erscheinende Gott. Der kleine, hitzig e Tepp ichmacher aus 
Kilikien, Saulus, den man mit Recht einen der Gründer des Christentums 
genannt hat und der Christus nie mit leiblichen Augen gesehen hat, war 
jenes Erlebnisses vor Damaskus voll, das ihn alle seine Tage begleitete. 


1) Plin. ep. 96. ed. Keil. p. 307. 

2) Lucian de morte Peregr. 13. opp. ed. Lehmann. VIII. 271. Celsus bei Origenes 
c. Cels. 8, 12—14. 

3) 14,3b. Vgl. Zahn: Anbetung Jesu im Zeitalter der Apostel in „Skizzen aus 
dem Leben der alten Kirche“, 1894, 1 ff. 

17 * 





















Tkeodor Reik 


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Wir wollen uns hier nicht mit der Christologie des großen Heidenbekehrers 
beschäftigen, es sei nur hervorgehoben, daß durch sie die Vorstellung des 
messianischen Königs aus Davids Geschlecht von der des Gottessohnes, der 
die pneumatische, die himmlische Welt bringt, verdrängt wird. 

Ignatius von Antiochien zeigt, wenn er von „Jesus Christus, unserem 
Gott“, von „dem ins Fleisch gekommenen Gott“ spricht, bereits Anschauungen 
die denen des vierten Evangeliums nahestehen. Wir wissen nicht, wer der 
Verfasser dieser Urkunde ist, — der Jünger Christi Johannes, dem die Kirche 
die Autorschaft zuschreibt, müßte mit etwa 150 Jahren das Buch zu 
schreiben begonnen haben, — es ist aber sicher in Kleinasien im zweiten 
Jahrhundert entstanden. Wie weit ist es vom Anschauungskreis, von 
Denkungsweise und Redeweise jener Jünger, die ungebildete galiläische 
Fischer waren, entfernt! Es wird nicht mehr die Botschaft Gottes durch 
Jesus Christus verkündet. Das irdische Wandeln des göttlichen Wortes, das 
seit Ewigkeit beim Vater gewesen und Fleisch geworden das Licht gebracht 
hat, wird geschildert. Der Christus dieser Botschaft ist entschieden ein 
anderer als jener, der die Bergpredigt und die Gleichnisreden der ersten 
drei Evangelien gehalten hat. Es soll erzählt werden, warum das göttliche 
Wort, der Logos, vom Vater zum irdischen Dasein herabgesandt wurde. 
Erinnern wir uns des fanfarenartigen Prologes dieses Evangeliums: „Im 
Anfang war der Logos und der Logos war bei Gott und der Logos ist Gott. 
Alles ist durch ihn geworden und ohne ihn ist auch nicht eines, das 
geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. 
Und das Licht scheinet in die Finsternis und die Finsternis hat es nicht 
ergriffen.“ Der Evangelist läßt Jesus immer wieder versichern, daß er und 
der Vater eines seien. Noch immer ist indessen der Sohn dem Vater unter¬ 
geordnet. Für Tatian wird der Logos das Anfangswerk des Vaters und der 
Anfang des Kosmos. Denn es war ja das Wort Gottes, das sagte: Es werde 
Licht und es ward Licht. Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht 
und all sein Heer durch den Geist seines Mundes. (Psalm 35, 6.) Immerhin 
ergibt sich eine Schwierigkeit, die Tatian rasch löst: der Logos ist durch 
Unterscheidung, nicht aber durch Abtrennung vom Vater geworden, „denn 
was abgeschnitten, das ist vom ersten getrennt, das aber, was durch Unter¬ 
scheidung entstand, hat Teil an der Selbstbestimmung (des Vaters) und hat 
doch nicht arm gemacht den, von dem es genommen wurde. Denn wie 
von einer Fackel viele Feuer entzündet werden, das Licht der ersten Fackel 
aber durch die Entzündung nicht vermindert wird, so hat auch der Logos, 
indem er aus der Kraft des Vaters hervorging, seinen Vater nicht des Logos 


































Dogma und Zwangsidee 261 


beraubt. Wir bemerken hier schon das gesteigerte Interesse an einer Dar¬ 
stellung und Klarstellung des Verhältnisses von Vater und Sohn. Die Frühzeit 
des Christentums hatte Christus oft naiv an die Stelle Gottes treten lassen, 
ohne sich Gedanken über die Einheitlichkeit, Unterscheidung und Ab¬ 
trennung, Beraubung und Resistenz zu machen. Schon im zweiten Jahr¬ 
hundert bei den Apologeten wird deutlich, daß hier Fragen sind, die äußerst 
kompliziert erscheinen. Wir verstehen die Notwendigkeit jener feinen und 
subtilen Unterscheidungen, wenn wir uns vor Augen halten, daß die 
werdende Religion in jener Zeit einen ihrer gefährlichsten Kämpfe aus¬ 
zufechten hatte. Die Gnostiker hatten die äußerste Konsequenz jener Ten¬ 
denzen, die den Christus zur Gottheit machten, gezogen: sie setzten ihn 
nicht mehr neben, sondern über Gott-Vater. Der Gott-Vater des Alten 
Testaments erscheint ihnen, besonders den Anhängern Marcions und Valen- 
tinians, als der eigentliche Feind der wahren Erkenntnis; er ist der Demiurg, 
der Weltbaumeister, der durch den Heiland Christus gestürzt wurde. Mit 
dem Vatergott fällt auch das Alte Testament als heilsverbindliche Urkunde. 
Die Art, wie z. B. Marcion das Lukasevangelium umarbeitet, ist für die 
gnostische Christologie bezeichnend. Er beseitigt radikal die Jugendgeschichte 
Christi, verbindet den Eingang des dritten und den Ausgang des vierten 
Evangeliums und setzt für Gott kurz entschlossen Jesus ein: „Im fünfzehnten 
Jahre der Regierung des Kaisers Tiberius kam Gott herab nach Kapernaum 
und lehrte an den Sabbaten. Das Christentum wäre dem Gnostizismus 
fast erlegen; fast hätte eine reine Sohnesreligion, die den Vatergott deposse- 
diert, die Erde beherrscht. Man darf behaupten, daß das christliche Tauf¬ 
bekenntnis, das aus der Aufforderung des Matthäusevangeliums 1 entstanden 
ist, zur Abgrenzung gegen die Anhänger der Gnosis diente. Wer sich in 
dieser Formel, die zwischen 150 und 175 zuerst auftaucht, zum Glauben 
an Gott-Vater, den Sohn und den Heiligen Geist bekannte, konnte unmög¬ 
lich der gnostischen Lehre anhängen. 

Wir sehen in den ersten zwei Jahrhunderten die werdende Kirche 
gegen zwei Fronten energisch ankämpfen: gegen die Gnostiker, welche 
Gott-Vater degradieren und aus der neuen Religion verdrängen wollen, 
und gegen die verschiedenen Strömungen des Judenchristentums, welche 
in Christus nur einen großen Propheten, dem Jesaias und Jeremias 
ähnlich, sehen wollten. Die Urgemeinde war sicherlich dieser Ansicht. 


J ) 28, 9: „Gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters 
und des Sohnes und des Heiligen Geistes. 44 

















a6a 


Theodor Reit 


Noch die Ebioniten hielten an dem mosaischen Zeremonialgesetz fest und 
erklärten Jesus für den leiblichen Sohn Josefs. Wir haben in großen Zügen 
die Entwicklung der Christologie verfolgt und zu erkennen geglaubt, wie 
der galiläische Rabbi immer mehr zum Logos wurde. Damit war nun -— 
freilich in philosophisch-allegorischer Umgestaltung — der alte Mythos von 
dem Sohnesgott, der zum Vater emporsteigt, zurückgekehrt; die mythische 
Figur des großen Erlösers hatte sich durchgesetzt. 

Es wäre völlig verfehlt, anzunehmen, daß die Logoslehre damals All¬ 
gemeingut des Christentums gewesen wäre. Was hätte auch eine Gemeinde, 
die hauptsächlich aus armen jüdischen und heidnischen Sklaven, Zuhältern, 
Dirnen und Handwerkern bestand, mit der Logos Spekulation gemein? Wozu 
alle diese Spekulationen neben der unmittelbaren Heilsgewißheit durch Jesus 
Christus? 

Auch unter den Gebildeteren der neuen Religion hatte man ernsteste 
Bedenken gegen die Logosauffassung eines Tatian, eines Irenäus und anderer 
Apologeten. In ihr war ja die Gefahr, in den Polytheismus der Heiden 
zurückzu verfallen, nahegerückt. War Christus, wenn er Gott und zugleich 
Mensch war, nicht ein zweiter Gott neben Gott-Vater? So wissen wir, daß 
die Aloger, eine Gruppe gutkirchlicher Männer in Kleinasien, den johannei- 
schen Logos energisch ablehnten. Sie verweisen frevelhaft darauf, daß das 
Markusevangelium nichts von der himmlischen Herkunft, von der dvcoüev yevEai^ 
Jesu lehre und verwarfen die Bezeichnung Logos für den Sohn Gottes. Die 
Monarchianer verfochten die Alleinherrschaft (Monarchie) Gottes; sie glaubten 
an einen einpersönlichen Gott und an den aus der Kraft göttlichen Geistes 
wunderbar geborenen, vom göttlichen Geist beseelten Menschen Jesus, der, 
nach seinem Tode zu gottgleicher Würde erhoben, von Gott adoptiert worden 
ist. Es stehen sich also hierin den Anfängen des Christentums eine pneu¬ 
matische und eine adoptianische Christuslehre gegenüber. In der einen 
war Christus ein ins Fleisch verwandeltes göttliches Wesen, in der 
anderen ein zum gottgleichen Herrscher erhobener Prophet. Der 
Kampf zwischen diesen beiden Richtungen hat mehr als ein Jahrhundert 
gedauert und mit der definitiven Schwächung des Monotheismus und 
dem Siege der Logoslehre geendet. Die monarchianische Partei, die 
natürlich wie ihre Gegnerin auf dem Boden des Christentums stand, d. h. 
der werdenden Kirche angehörte, wurde zuerst von dem Lederarbeiter 
Theodotus geführt, der um 190 in Rom lebte und von den Kirchen¬ 
vätern als der „Vater des gottesleugnerischen Abfalls “ bezeichnet wird. Er 
wurde als Ketzer behandelt und von dem römischen Bischof Viktor ex- 










































Dogma und Zwangsidee 


*63 


kommuniziert: übrigens der erste Fall, daß ein auf der Glaubensregel 
stehender Christ als Irrlehrer gemaßregelt wurde. Die Anmaßung der 
Monarchianer ging aber auch zu weit: sie behaupteten, die alte, unver¬ 
fälschte christliche Lehre zu vertreten; sie beriefen sich auf Jesus selbst, 
der sich einen Menschen genannt hat. Im Alten Testament werde nicht 
ein Gott, sondern ein Prophet wie Moses, also unzweifelhaft ein Mensch 
ge weissagt. Sie gingen in ihrer Verblendung so weit, daß sie auf das Lukas¬ 
evangelium (1, 35) hinwiesen, wo der Engel mit nichten sage, daß Christus 
Gott sei, sondern nur, daß er der von der Jungfrau durch die Kraft heiligen 
Geistes Geborene, Gottes-Sohn genannt werden sollte. Eine Gruppe der 
Monarchianer, nach ihrem Führer Artemonisten genannt, wagte es sogar, 
von der geheiligten allegorischen Erklärung der Schrift abzuweichen. Sie 
anerkannten den Kanon, auch das Johannes-Evangelium, aber sie unter¬ 
suchten das Wort Gottes in einer Art, die nicht erlaubt war, nämlich kritisch. 
So prüften sie die schon damals Abweichungen enthaltenden Lesarten, um 
Belege für ihre Anschauungen zu gewinnen. Sie haben ihre Hände unter 
dem abscheulichen Vorwände, sie richtigzustellen, an die Heilige Schrift 
gelegt und ihre Vernunft in den Dienst solcher verdammenswerten Kritik 
gestellt. Die Kirche konnte auf die zahlreichen Schriften der würdigen Väter, 
eines Justin, eines Miltiades, eines Tatian hinweisen, in denen allen Christus 
Gott genannt wird, aber die Monarchianer verblieben in ihrer Verblendung. 
Eusebius wirft ihnen entrüstet vor, daß sie sich mit Geometrie beschäftigen, 
daß sie Euklid, Aristoteles und Theophrast studieren „als Leute, die da 
irdisch sind und irdisch reden und den nicht kennen, der von oben kommt“. 
Die Monarchianer leugneten keineswegs, daß der von Gottes Geist in eigen¬ 
artiger Weise erfüllte Mensch Jesus Christus, der den Gott-Vater geoffen- 
bart habe, als sein Sohn benannt und verehrt werden solle, aber die Kirche 
verwies strenge darauf, daß hier das Göttliche in unserem Herrn geleugnet 
oder nur zur Phrase herabgesetzt erscheine. Die Monarchianer bildeten eine 
besondere, große Gemeinde, die noch durch viele Jahrzehnte bestand. 

Zur Zeit des römischen Bischofs Zephirin (199—218) ging diese Kirchen¬ 
bildung so weit, daß ein Kleriker Bischof dieser Partei wurde. Aber Ge¬ 
sichte, die ihm kamen, forderten ihn milde auf, zum orthodoxen Glauben 
zurückzukehren, und als er, so freundlicher Warnung trotzend, in der 
Häresie aushielt, verabfolgten ihm „heilige Engel“ in der Nacht eine 
solche Tracht Prügel, daß er reuig in den Schoß der alleinseligmachenden 
Kirche zurückkehrte. Wir wissen nur wenig Authentisches über die Lehren 
jener Ketzer. Gott hat in seiner Voraussicht die Schriften dieser Leugner 















Theodor Reih 


264 


der Gottheit Christi zerstreut, wobei er sich des frommen Eifers der Recht¬ 
gläubigen bediente. Man war immerhin noch milde mit den Vertretern 
des Adoptianismus umgegangen. Noch war ja um die Mitte des dritten 
Jahrhunderts die Logoschristologie im Orient nicht allgemein anerkannt. 
Erst als der Bischof des angesehenen Bischofsitzes von Antiochien, Paul 
von Samosata (um 260), noch einmal die Lehre von der menschlichen 
Person Christi aufstellte, entschied sich die Kirche, energisch vorzugehen. 
Nach Paul ist Gott schlechthin einpersönlich zu denken. Wohl kann man 
in Gott einen Logos unterscheiden, ihn auch Sohn benennen, aber er ist 
eine Eigenschaft Gottes, eine unpersönliche Kraft. Dieser Logos hat in den 
Propheten und in Moses gewirkt, am stärksten in dem von der Jungfrau 
geborenen Christus. Die Verbindung des Logos mit Jesus ist eine Einwohnung 
durch eine Inspiration; daher ist der Logos stets von Jesus zu unterscheiden. 
Er ist größer als dieser. Der Erlöser ist also ein Mensch, in der Zeit durch 
die Geburt entstanden, er ist „von unten her“, aber „von oben her“ wirkt 
der Logos Gottes in ihm. Paul sagt freilich, daß Christus sich durch die 
Gemeinschaft mit Gott bewährt hat, kraft solcher Bewährung nach Tod 
und Auferstehung durch Gottes Gnade zu gottgleicher Würde erhoben worden 
sei, so daß man ihn jetzt auch „den Gott aus der Jungfrau“ nennen kann. Er 
polemisierte aber gegen die Anhänger der naturhaften Göttlichkeit Christi, 
die er für ein Zeugnis von Zweigöttertum hielt und die keine Vorbildlichkeit 
Christi möglich macht. Nach der Meinung des Bischofs Paul war die natur¬ 
hafte Göttlichkeit nichts Verdienstliches. 

Der gefährlichste Gegner der Logoschristologie vor der Wende des vierten 
Jahrhunderts war aber nicht jener Irrwahn des Adoptianismus, sondern jene 
Lehre, nach welcher die Gottheit selbst in Christus inkarniert und Christus 
als der fleischgewordene Gott-Vater betrachtet wurde. Die großen Kirchen¬ 
lehrer Tertullian, Origenes, Novatian, Hippolyt und so viele andere, sie 
kämpften alle gegen diese Ansicht, welche die ganze Kirche lange be¬ 
wegte, mit verzweifelter Energie an. Wenn man alle zahlreichen Gruppen, 
welche in verschiedener Form dieser Ansicht zuneigten, mit einem Sammel¬ 
namen umfassen will, so empfiehlt sich die Bezeichnung Modalismus, 
insofern ihnen allen Christus als eine andere Erscheinungsart (modus) des 
einen Gottes gilt. In Rom war der Modalismus ein Menschenalter hindurch 
die offizielle kirchliche Lehre. In der Tat hatte es die werdende Kirche 
nicht leicht: vermied sie die Scylla des Monarchianismus, lief sie Gefahr, in 
die Charybdis des Modalismus zu fallen. Unter den modalistischen Lehren 
gibt es eine besondere Form, die uns der fromme Hippolyt in seiner 








































Dogma und Zwangsidee 


266 


Schrift gegen Noet am klarsten beschreibt. Die hier geschilderten älteren 
Monarchianer lehrten, Christus selbst sei der Vater und der Vater selbst 
sei geboren, habe gelitten und sei gestorben. Diese Ansicht, daß Christus 
der Gott-Vater sei und der Vatergott gelitten habe, nennt man Patri- 
passianismus (von lat. pater = Vater und pati = leiden). Die Lehre des 
Patripassianismus, die von vielen Bischöfen und der breiten Masse lange 
anerkannt wurde, verteidigte also den Monotheismus in dieser Gott-Vater 
und Christus vereinigenden Form. Sie wirft ihren Gegnern vor, sie seien 
ötöeoi, an zwei Götter glaubend, und betont, daß sie selbst erst die volle 
Gottheit Christi in ihrem ganzen Umfange erkannt habe. Die Patripassianer 
berufen sich natürlich auf den Kanon der heiligen Schriften (ihre Gegner 
tun desgleichen). Die logischen Schwierigkeiten, welche durch ihre An¬ 
schauungen entstehen, werden von ihnen durch eine Art überlogischer 
Beweise überwunden. Der römische Bischof Hippolyt, der die Christuslehre 
eines Führers dieser Partei, Noet, und seiner Anhänger in Kleinasien dar¬ 
stellt, berichtet: „Sie sagen, der eine und selbe Gott sei aller Dinge Schöpfer 
und Vater; er sei in seiner Güte den Gerechten in alter Zeit erschienen, 
obgleich er unsichtbar sei. Wenn er nämlich nicht gesehen wird, sei er 
unsichtbar; wenn er sich aber zu sehen gibt, ist er sichtbar. Er ist unfaßbar, 
wenn er nicht gefaßt werden will, faßbar aber, wenn er sich zu fassen gibt. 
So ist er in gleicher Weise unüberwindlich und überwindlich, ungezeugt 
und gezeugt, unsterblich und sterblich. “ Die Mannigfaltigkeit der göttlichen 
Eigenschaften ist sonach keinesfalls in Zweifel gestellt. Ziemlich einfach 
scheint dem Modalisten auch das Erden wallen des mit Jesus identischen 
Vaters. Es ergeben sich in der großzügigen Auffassung eines Noet keinerlei 
Widersprüche: „Sofern also der Vater nicht gemacht worden ist, ist er zu¬ 
treffend Vater genannt worden. Sofern er aber geruht hat, sich einer Geburt 
zu unterziehen, ist er selbst als Geborener sein eigener, nicht eines anderen 
Sohn.“ Diese relativ einfache Genealogie ergibt so den Kern der Biographie 
Gottes; sie stellt aber auch die Monarchie Gottes sicher. Schlicht behaupten 
Noet und seine Anhänger, was Vater und Sohn genannt wird, sei ein und 
dasselbe, nicht Einer aus dem Anderen, sondern Er aus sich selbst. Dem 
Namen nach wurde er zwar unterschieden als Vater und Sohn gemäß dem 
Wechsel der Zeiten; es sei aber der eine, der sich der Geburt aus der Jungfrau 
unterzogen habe und als Mensch unter Menschen gewandelt habe. Er habe 
sich denen, die ihn sahen, als Sohn bekannt; daß er aber der Vater sei, 
habe er denen nicht verhüllt, die es fassen konnten. Dieser sei also ans 
Kreuz geschlagen worden und habe sich seinem Geiste empfohlen, dieser 









3 66 


Theodor Reit 


sei gestorben und nicht gestorben, habe sich selbst am dritten Tage auf¬ 
geweckt; sei von den Lanzen durchbohrt worden usw. In knapper Formel 
und mit jenem konsequenten Scharfsinn, den der radikale monarchistische 
Standpunkt seinen Bekennern zu verleihen scheint, sagt Noet: „Wenn ich 
nun doch Christus als Gott bekenne, so ist er offenbar der Vater, wenn 
anders er Gott ist. Nun hat Christus gelitten, der doch selbst der Vater 
ist; also hat der Vater gelitten, denn er war der Vater.“ Eine andere Form 
des Modalismus ist mit dem Namen des Libyers Sabellius verknüpft, der 
in Rom um 220 eine Gemeinde um sich sammelte und sich eines großen 
Anhanges erfreute. Die vereinheitlichende Arbeitsweise seines Geistes wird 
durch den Grundgedanken, daß der Vater, Sohn und der Heilige Geist der¬ 
selbe sei, deutlich. Dieses eine Wesen ist von Sabellius mcond-cqQ genannt 
worden. Jene großartige Identität will besagen, daß es sich um drei auf¬ 
einanderfolgende Erscheinungsformen des einen göttlichen Wesens handle. Die 
Wirkung dieser einleuchtenden Idee, besonders im Morgenlande, war eine 
außerordentlich nachhaltige und starke und erweckte den ganzen Eifer der 
Kirchenväter zur Bekämpfung der ketzerischen Gedanken. 

Unter den eifrigsten Verteidigern der orthodoxen Lehren aus jener Zeit 
ragt Tertullian, als Sohn eines römischen Centurios in Karthago geboren, 
hervor. Umfassend gebildet, wandte er sich bei seinem 197 erfolgten Über¬ 
tritt zum Christentum von allen vergänglichen Lüsten dieser Welt und von 
allen Gütern, die Rost und Motten fressen, ab und verfolgte Wissenschaft 
und Kunst mit jenem Haß, den sie verdienen. Er wurde nicht müde, das 
Geheimnis der Dreieinigkeit gegenüber allen Ketzern in immer neuen 
Wendungen klarzulegen. Niemand war eifriger als er in seiner erfolgreichen 
Arbeit, das Unfaßbare in der präzisesten Form darzustellen und das Uner¬ 
klärbare auf das Genaueste zu demonstrieren. Er bekämpft aufs erbittertste 
jene Unwissenden und Unverständigen, welche die Dreiheit für eine Zer¬ 
trümmerung der Einheit halten, „während doch die Einheit, die aus sich 
selbst die Dreiheit fließen läßt, von dieser nicht aufgelöst wird, sondern 
sich in ihr betätigt. So schwatzen sie stets davon, wir predigen zwei oder 
drei Götter; sie selbst aber geben sich als Verehrer des einen Gottes aus, 
als ob nicht die Einheit, wenn sie grundlos eingeschränkt wird, zur Häresie 
führte und die Dreiheit, wenn sie richtig verstanden wird, die Wahrheit 
enthielte“. Immerhin mußte auch dieser große Sohn der ecclesia militans 
zugeben, daß die Wahrheit nicht leicht richtig verstanden werde. So zieht 
er mit Vorliebe Bilder heran, um den Unterschied zwischen Vater, Sohn und 
Heiligen Geist zu verdeutlichen: der Sohn verhalte sich zum Vater wie der 































Strahl zur Sonne, der Schößling zur Wurzel, der Bach zur Quelle. Mit 
niederschmetternden Argumenten tritt Tertullian dem Frevel des Monarchi- 
anismus entgegen: „Nenne ich doch auch einen Sonnenstrahl für sich allein 
Sonne; wenn ich aber von Sonne spreche, der der Strahl angehört, so werde 
ich die Sonne nicht sofort auch Strahl nennen.“ Mit ebenso blendender 
Logik hat Tertullian das Geheimnis der Gottmenschheit Christi und viele 
andere Glaubenslehren behandelt. Jeder, der sich in das Studium des großen 
Karthagers vertieft, wird dem Urteile des Vinzenz von Lerinum beistimmen: 
soviel Siege wie Sätze. 1 Den Sieg der Logoschristologie verdankt die Welt 
neben Tertullian, Irenaus und Hippolyt den großen Kirchenlehrern Clemens 
(um 210) und Origenes (um 250). Insbesondere Origenes, der zu Alexan¬ 
drien wirkte, war für die weitere Entwicklung der Christologie bedeutsam. 
In seiner Darstellung ist die Beziehung zwischen Gott-Vater und Sohn von 
so einfacher Beschaffung, daß sich späterhin die entgegengesetzten kirch¬ 
lichen Parteien auf seine Autorität berufen konnten. Dem Logos gebühren 
fast alle Eigenschaften, die Gott zugeteilt werden müssen, dennoch ist er 
selbständig. Origenes verfällt nicht der flachen Zweigötterlehre; der Logos 
sei vom Vater kausiert, dessen Geschöpf, aber er sei von Ewigkeit an von 
dem Wesen Gottes gezeugt, er sei fast gleichgestellt und doch untergeordnet. 
Seine Zeugung sei ein einzigartiger und unbeschreiblicher Akt; Vergleich¬ 
bares damit gebe es weder in wirklichen Dingen noch in Gedanken. Dies um¬ 
somehr, als „nie eine Zeit war, wo er nicht war“ („oux eoxi Öts ovk fjv“). Der 
fromme Vinzenz von Lerinum hat im fünften Jahrhundert die Theologie des 
Origenes eine Versuchung Gottes genannt. Tatsächlich war es schwierig, 
Origenes nicht zu widersprechen; es war noch schwieriger, ihm zu wider¬ 
sprechen. Einer seiner Schüler, der Bischof Dionysius von Alexandrien, ist 
der Gefahr, seinen großen Lehrer mißzuverstehen, nicht entgangen. In seiner 
so verstehbaren Abneigung gegen den Sabellianismus, jene verbrecherische 
Lehre, welche die Trinität nur als Erscheinungsformen des Vaters ansah, 
ging er so weit, das andere Extrem, die Subordination des Sohnes, in seinen 


1) Nur böswillige oder unwissende Menschen haben Tertullian jenes berüchtigte 
„Credo quia absurdum est“ zugeschrieben. In Wahrheit heißen jene erhabenen Sätze des 
streitbaren Vaters folgendermaßen: „ Crucifixus est dei filius, non pudet, quia pudendum est. 
Et mortuus est dei filius; prorsus credibile est , quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum 
est , quia impossibile est.“ (De carne Chr. 5.) Unserer skeptischen Zeit fehlt das Verständ¬ 
nis und die Glaubensbereitschaft, die kleinere Widersprüche wie diese vornehm über¬ 
sieht. Noch aber lebt die Hoffnung, daß die Seele, die wie Tertullian zuerst aussprach, 
einen natürlichen Zug zum Christentum hat („anima naturaliter christiana De testim. 
ad. 1. Apol. 17), den Glauben zurückgewinne. 












268 TLeodor Reit 


Vergleichen nicht zu vermeiden. Er hat freilich die Unterschiedenheit der 
beiden genugsam klargemacht, dagegen ihre wesenhafte Gleichstellung zu 
wenig entschieden festgestellt. Vergleichsweise gesprochen: er hat zwar richtig 
behauptet, daß Drei gleich Drei und nicht Eins seien, aber zu wenig Ver¬ 
ständnis dafür gezeigt, daß Drei gleichzeitig Eins seien. Der Sohn, meinte 
er in jenen so gefährlichen Gleichnissen, sei vom Vater gemacht, ihm fremd 
dem Wesen nach, so etwa wie sich der Weinstock zum Winzer verhält, der 
Kahn zum Schiffsbaumeister. Die Würde Christi schien durch solche unge¬ 
bührliche Subordination aufs Ernsthafteste gefährdet: man wandte sich im 
frommen Eifer klageführend an den Bischof von Rom. Dieser versammelte 
261 eine Synode in Rom, welche die von dem Alexandriner gebrauchten 
Ausdrücke mißbilligte. Nach Erhalt eines Schreibens von dem römischen 
Bischof, der ihn zu Erklärungen aufforderte, zeigte sich Dionysius von 
Alexandrien zum Rückzug bereit. In einer längeren Schrift führte er aus, 
daß der Vater sich zum Sohne verhalte wie die Quelle zum Fluß, wie die 
Wurzel zum Stamm, wie die Eltern zu den Kindern. 

Der Streit dieser beiden Bischöfe kann als kleines, unbedeutsames Vorspiel 
der arianischen Wirren gelten. Er wird für den Gegensatz der Theologie 
des Abend- und Morgenlandes symptomatisch. In Rom hatte man, obwohl 
man die Lehre von der heiligen Trias rezipiert hatte, ohne tiefere Spekulationen 
an der Einheit Christi festgehalten. In Alexandrien hatte man die sub- 
ordinatianische Lehre des Origenes weitergeführt und die Unterordnung des 
Sohnes unter den Vater bis zur Entfremdung festgehalten. 

Bevor ich auf den Arianismus eingehe, dessen Bekämpfung erst zur 
Feststellung des wichtigsten Dogmas des Christentums führte, will ich die 
dogmengeschichtliche und allgemein kirchengeschichtliche Situation der 
Zeit festzuhalten versuchen. Der heilige Epiphanius belehrt uns darüber, 
daß die Ursache der jetzt einsetzenden großen Kämpfe der Kirche darin lag, daß 
Satanas in den Arius fuhr und ihn zu schrecklichen Neuerungen veranlaßte. 1 
Ohne uns dieser naheliegenden Ansicht zu verschließen, wollen wir betonen, 
daß es eine Zeit war, in welcher die Kirchenlehre sich in bedauerlicher Ver¬ 
irrung befand, die Verbindung von Überlieferung, Schrift und Spekulation 
in der Form des Dogmas zwar schon gefordert, aber noch nicht gefunden 
war. Wir haben das zentrale Problem der Christologie in großen Zügen 
verfolgt, die Lehrmeinungen in ihren Gegensätzen und in den Versuchen, 
diese zu überbrücken, darzustellen versucht. Wir haben beobachten können, 


1) H. 69. 2. 
































Dogma und -Zwangsidee 


wie die Gegensätze sich bereits im zweiten Jahrhundert um die Frage der gött¬ 
lichen Natur des Heilands und um seine Beziehung zu Gott-Yater zentralisierte. 
Zwei große Tendenzen ringen um den Sieg: die eine verneint oder reduziert 
die Göttlichkeit Christi und degradiert ihn zum Menschen oder zum Halb¬ 
gott. Die andere akzeptiert die volle Göttlichkeit Christi, macht ihn aber 
zu einer Erscheinungsform des Vaters und gefährdet die Möglichkeit der 
Unterscheidung. Es gab hingegen schon am Anfang des dritten Jahrhunderts 
keine Streitfrage mehr über die Geltung der Schrift, die Mehrzahl der 
Bücher des Neuen Testamentes; auch das Alte Testament war sogar von 
den christlichen Ketzern allgemein anerkannt. Auch die Tatsachen des 
Evangeliums waren nicht zweifelhaft; Christus wurde allgemein mit dem 
Logos identifiziert; der Glaube an seine Präexistenz, an seine Wunder, an 
Auferstehung und Himmelfahrt wurde von jedem Christen geteilt. 

Wir befinden uns in einer Zeit, die noch die grausamen Christenver¬ 
folgungen eines Diokletian, eines Galerius, vor allem die Wut des Maximinius 
Daza miterlebt hat. In Syrien, Kleinasien und Ägypten wüteten noch die 
Verfolgungen, als Konstantin heranwuchs. Der erste christliche Herrscher, 
der Retter der Kirche, der bis knapp vor seinen Tod ungetauft blieb und 
seinen wahrhaft christlichen Sinn in der Ermordung seines Sohnes, seines 
Neffen, seiner Frau und zahlreicher Freunde betätigte, erließ 313 das be¬ 
rühmte Mailänder Edikt, durch das die neue Religion ungekränkt neben 
der alten bestehen konnte. 

Es kann hier nicht dargestellt werden, wie der Schutz der Kirche durch 
Konstantin, dem die Toleranz durch eine unüberwindliche Gleichgültigkeit in 
religiösen Dingen wesentlich erleichtert wurde, zur Verweltlichung der Kirche 
führte. 1 Das Christentum wird nun für lange Zeit der Verbündete des jeweiligen 
Kaisers, aber auch sein unselbständiger Diener. Konstantin und seine Nach¬ 
folger haben es für selbstverständlich gehalten, daß sie Bischöfe zu Synoden 
zusammenriefen, die Gegenstände der Verhandlung festsetzten und großen¬ 
teils entschieden und jene Häretiker verfolgten, die ihnen gefährlich schienen. 


1) Der redliche Eusebius schildert uns das Mahl, das Kaiser Konstantin gelegent¬ 
lich seines Regierungsjubiläums den Bischöfen zu Nicäa gegeben hat und das deutlich 
genug zeigt, wie aus der verfolgten Religion eine triumphierende Staatsreligion ge¬ 
worden war: „Die Prätorianer und die Schwerbewaffneten bewachten mit gezogenen 
Schwertern im Kreise den Vorhof des Kaiserhofes. Mitten durch sie gingen die Männer 
Gottes hin und kamen in das Innere des Palastes. Da lagen nun die einen mit dem Kaiser 
selbst an der Tafel, die anderen ruhten zu beiden Seiten auf Polstern. Da hätte man 
glauben können, daß Christi Reich im Bilde dargestellt werden solle und daß Traum, 
nicht Wirklichkeit war, was geschah.“ (Const. Vit. III. 15.) 








Theodor Reik 


2?o 


Der Beginn des arianischen Streites fallt nun in die Zeit, da Konstantin 
nach Besiegung des Licinius Alleinherrscher des großen römischen Reiches 
wurde. Arius, ein Libyer von Geburt, wurde in gereiftem Alter Presbyter 
in Alexandrien. Der ernste, asketisch lebende, dialektisch gut geschulte 
Presbyter der nach Loofs Urteil „seinen Namen als den des meist ver¬ 
fluchten Ketzers durch die Jahrhunderte trägt“, 1 war namentlich bei den 
Asketen und den frommen Jungfrauen sehr angesehen. Der Anfang des 
Streites wird von dem Kirchenschriftsteller Socrates (I. 5) etwa folgender¬ 
maßen geschildert: eines Tages sprach Bischof Alexander in Gegenwart 
seiner Presbyter und Diakone über das Geheimnis der Dreieinigkeit, wobei 
er fromme Betrachtungen über die Einheit in der Dreiheit anstellte. Arius 
glaubte in den Äußerungen des Bischofs Sabellianismus zu erblicken und 
widersprach heftig. Diese kleine Szene, die sich um 518 abspielte, wurde 
der Anlaß des Streites, der jahrhundertelang wütete, die ernsteste Gefahr 
bedeutete, welche die Kirche zu bestehen hatte, zu unzähligen Metzeleien 
und grausamen Verfolgungen führte und zur Festlegung des christlichen 
Dogmas zwang, das wieder viele Tausende von Menschenleben durch Feuer 
und Schwert umkommen ließ. Der Bischof Alexander scheint sich nur 
gezwungen zum Einschreiten veranlaßt gesehen, wobei sein freundschaftliches 
Verhältnis zu Arius sowie seine eigene Unsicherheit in bestimmten Fragen 
in gleicher Art mitgewirkt haben mögen. In einigen kleineren Versamm¬ 
lungen hat Alexander Arius und dessen Gegnern ruhig zugehört, sich selbst 
aber zuwartend verhalten. Er wollte vermutlich die strittige Frage durch 
theologische Diskussionen ruhig lösen. 

Von dem Zeitgenossen des Bischofs Alexander, Pachomius, wird erzählt, 2 
er habe, als einst fremde Mönche zu ihm kamen, einen häßlichen Geruch 
verspürt. Er bat Gott, ihm zu offenbaren, woher dieser Geruch stamme 
und habe in einer Vision die Erklärung erhalten, daß die von ihm beher¬ 
bergten Mönche Ketzer, d. h. Anhänger des Origenes seien. Es scheint, als 
sei der Bischof Alexander in jener Zeit nicht der Gnadengabe so feiner 
Unterscheidung der Geister (xÜQinpa öiaxQi'aetg jtveupdtcov) teilhaftig gewesen; 
er hätte sonst nicht so lange mit der Parteinahme gewartet. Schließlich 
mußte er, um seine Würde zu wahren, außer Arius noch mehrere Diakone 
und Presbyter exkommunizieren. Arius floh aus Alexandrien und suchte 
seine alten Studienkollegen, die viel esprit du corps hatten und einflußreiche 


1) Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. II, 4. Aufl., Tübingen 1909, S. 187. 

2) Grützmacher: Pachomius und das älteste Klosterlehen, S. 75. 





























■ 


Dogma und Zwangsidee 


kirchliche Stellungen bekleideten, für sich zu gewinnen. Der Bischof der 
kaiserlichen Residenzstadt, Eusebius von Nikomedien, Eusebius von Cäsarea, 
zahlreiche Bischöfe und Presbyter schlossen sich ihm an. Bald rühmte er 
sich, zwei Bischöfe von Ägypten, sieben Presbyter, zwölf Diakone und 
siebenhundert Jungfrauen auf seiner Seite zu haben. Er entfaltete eine 
rührige Propaganda für seine Ansichten, aber auch Alexander schrieb zahl¬ 
reiche Briefe, um das Vorgefallene zu berichten und die Bischöfe vor den 
arianischen Irrlehren zu warnen. 

Wir wollen uns vorerst mit diesen Lehren des Arius, über die sich 
Alexander in seiner Epistola encyclica an den alexandrinischen und mareoti- 
schen Klerus beklagte, beschäftigen. Die wichtigsten Lehren des Arius sind 
die folgenden: i) Gott war nicht immer Vater, sondern es gab eine 
Zeit, da er nicht Vater war. — 2) Der Logos war nicht von jeher, 
sondern ist aus dem Nichts geschaffen. Er hat einen Anfang gehabt, es 
gab eine Zeit, da er nicht war. — j) Dem Wesen nach ist der Sohn 
eine der Natur des Vaters fremde Wesenheit. Hätte er die gleiche 
Naturbeschaffenheit wie der Vater, so wären zwei Götter. Der Logos ist 
seiner Natur nach veränderlich im Gegensatz zum Vater, d. h. er konnte in 
Sünde verfallen. Arius zeigt an Hand von Bibelstellen das Nichtwissen, die 
Angst, die Unterwerfung Christi. — 4) Er ist dem göttlichen Wesen 
fremd, von ihm verschieden und kennt den Vater nicht vollständig, ja 
nicht einmal sich selbst vollkommen. — 4) Er ist unseretwillen ge¬ 
schaffen, damit Gott uns durch ihn als Werkzeug schaffen konnte; er 
würde gar nicht existieren, wenn nicht um unseretwegen. Der Sohn ist 
vorweltlich, aber er besteht nicht ewig. Bevor er erzeugt war, war er nicht; 
denn er ist nicht unerzeugt wie Gott. — Fassen wir diese Lehre ins Auge, 
so erkennen wir, daß in ihr der Wunsch mächtig war, den Vater allein 
als unerzeugt und unveränderlich darzustellen und jede Emanation 
von dem göttlichen Wesen fernzuhalten. Die Spitze des Ganzen war gegen 
den Sabellianismus gerichtet. Aber gerade dadurch, daß Arius den Sohn zu 
einem substantiell von Gott verschiedenen Wesen machte, vernichtet er 
den Monotheismus, den er doch schützen will, und bringt wieder den 
Polytheismus in der Form eines Halbgottes ins Christentum. 

Der Bischof Alexander ist ob der Ketzerei des Arius jetzt entsetzt, er 
nennt Arius und seine Anhänger Feinde Gottes, Mörder der Gottheit Jesu 
und belegt sie mit anderen freundlichen Namen. Er widerlegt die Sätze, 
der Sohn sei nicht ewig, sei aus dem Nichtseienden geschaffen, sei wandel¬ 
bar, habe eine sittliche Entwicklung durchgemacht usw. auf Grund der 













Theodor Reit 


272 

Heiligen Schrift, die ihm ebenso geduldig bleibt wie dem Arius. Die zahl¬ 
reichen Widersprüche in den Ausführungen Alexanders hat Arius unnach- 
sichtlich verspottet. Wenn Alexander behauptet, auch der Sohn sei unerzeugt, 
so ergebe sich ein merkwürdiges Verwandtschaftsverhältnis: Vater und Sohn 
wären demnach Brüder. Die Lehre des Alexanders, daß der Sohn das 
vollkommene Ebenbild des Vater sei, wird von den Arianern ad absurdum 
geführt: dann müsse der Sohn wie der Vater zeugen usw. In der Tat 
war es schwierig sich vorzustellen, daß der Sohn existiere, bevor er er¬ 
zeugt wurde. 

Arius hatte sich noch, als er in Alexandrien weilte, bemüht, die Massen 
zu gewinnen. Er schrieb seine „Thalia", eine teils prosaische, teils poetische 
Schrift über seine Lehre, und Lieder in leichtem Metrum. Die Müller und 
Hafenarbeiter von Alexandrien sangen bereits davon, „wie der Vater nicht 
immer Vater war". Der heilige Athanasius berichtet entrüstet über die 
Proselytenmacherei der Arianer, welche die Weiber auf dem Markte 
fragten: „Hattest du einen Sohn, bevor du gebarst?" usw. Der Streit hatte 
bereits alle Küstenprovinzen des Orients ergriffen; nicht nur die Bischöfe 
und die Kleriker stritten erbittert, das Volk erregte sich außerordentlich. 
Die verdammte Frage trug Zwietracht allenthalben in die Familien; die 
Heiden und Juden verspotteten die Sache auf den Theatern und mit den 
heiligsten Gütern der christlichen Lehre wurde das bekannte frevle Spiel 
getrieben. Alexander spricht von mehreren Kirchen — er nennt sie freilich 
Räuberhöhlen — worin die Arianer Tag und Nacht abscheuliche Ver¬ 
leumdungen gegen Christus ausheckten. 

Wir können uns schwer in jene Situation ein fühlen, in der so subtile 
theologische Fragen die breite Masse des Volkes auf das Leidenschaftlichste 
erregten. Aber wir haben durchaus zuverlässige Zeugen für diese Zeit¬ 
stimmung. Ich will nur Gregor von Nyssa (gestorben etwa 394) anführen, 
der wenige Jahre später schrieb: „Die ganze Stadt ist voll von derlei Kram, 
Gassen, Märkte und freie Plätze. Fragst du Trödler, Wechsler oder Gemüse¬ 
händler nach dem Preis, so reden sie dir von ,gezeugt* und ,ungezeugt\ 
Willst du wissen, was das Brot kostet, so lautet die Antwort: ,Der Vater 
ist größer als der Sohn und der Sohn ist ihm untertan. 4 Fragst du den 
Badeknecht ob das Bad bereit sei, so setzt er dir auseinander, daß der Sohn 
aus Nichtseiendem entstanden sei. Wie soll man solch ein Übel nennen: 
Verrücktheit, Wahnsinn, oder sonstwie..." 

Jetzt, da der göttliche Konstantin Alleinherrscher geworden war, griff er 
in den bedrohlich umsichgreifenden Streit ein. Er schrieb einen ausführlichen 
























Dogma und Zwangsidee 


Brief an den Bischof von Alexandrien und an seinen widerspenstigen Presbyter, 
bezeichnete die Kontroverse als ein müßiges Gezanke über unbegreifliche 
Dinge, da die Gegner in der Hauptsache einig seien. 1 

Sechs Jahre waren seit Beginn des Streites vergangen, — in Ägypten war 
der Tumult so gestiegen, daß man sich sogar am Bilde des Kaisers vergriff, 2 — 
da sah sich Konstantin genötigt, ein allgemeines Konzil nach Nizäa einzu¬ 
berufen. Dieses erste ökumenische Konzil (325) — nach Athanasius „eine 
wahre Säule und ein Siegeszeichen gegen jede Häresie“ — faßte Beschlüsse, 
denen die Kirche ewige Geltung zuschreibt: keine Lehrdeklaration des Christen¬ 
tums kommt an Bedeutung den nizänischen Beschlüssen nahe. Als etwa 300 
Bischöfe anwesend waren, welche „das Abbild des Apostelreigens“ und die 
„Wiederholung des ersten Pfingstreigens“ bildeten, eröffnete Konstantin, in 
Gold, Purpur und Edelsteinen prangend, die Verhandlungen. Die Arianer 
waren voll Hoffnung zum Konzil gekommen; der Bischof von Nizäa selbst 
war auf ihrer Seite und sie hatten gute Beziehungen zum Hofe. Der erste 
Akt des Nizänums war indessen, daß die Bischöfe die Lehre, der Sohn sei 
aus dem Nichts geschaffen und anderen Wesens als der Vater, als Blasphemie 
erklärten. Nach dem lebensvollen Vergleich des Ambrosius benützten die 
Bischöfe das Schwert, das die Häresie aus der Scheide gezogen hatte, um 
das Haupt des gehaßten Ungeheuers abzuschlagen. Die Bischöfe waren freilich 
in der Verurteilung des nackten Arianismus in ihrer Mehrzahl einig, aber 
sie fanden es schwer, das, was sie selbst meinten, in Worte zu kleiden, 
welche der sophistischen Meisterschaft ihrer Gegner klar begegnen konnten. 
Die Arianer, die bald die ihnen drohende Gefahr erkannten, betätigten nun 
jene evangelischen Tugenden, die von den Schwächeren gerne gepriesen 
werden; sie empfahlen christliche M^äßigung und Geduld. Auch waren sie 
zu großen Zugeständnissen bereit, indem sie den Formeln der Bischöfe immer 
wieder insgeheim jenen Sinn gaben, der ihren Ideen angemessen war. Aber 
die Versammlung war entschlossen, die Arianer zu besiegen, behandelte ihre 
Konzessionen mit gerechtfertigtem Mißtrauen und beschloß endlich, die 
Beziehung von Gott-Vater und Sohn dahin zu bezeichnen, daß dieser aus 
dem Wesen des Vaters (ex ttj g ovöiag rov Tlargög) und mit dem Vater wesens- 


1) Alexander hätte nicht fragen und Arius nicht antworten sollen. Die Gegner 
sollten sich einigen, das große Friedenswerk des Kaisers könnte durch den unnötigen 
Streit gehindert werden. Der Brief klingt in die bewegliche Bitte aus: „Geht mir 
meine ruhigen Tage und meine sorglosen Nächte zurück; laßt mich meine übrige 
Lebenszeit nicht freudlos hinbringen.“ 

2) Vita Const. III. 4. 

Imago XIII. 












Theodor Reih 


eins sei. 1 Die meisten Arianer hatten sich wenigstens offiziell den Beschlüssen 
gefügt; Arius und andere Priester, die ihre Unterschrift verweigerten, wurden 
verbannt. 

Die Homousie, die Wesensgleichheit von Gott-Vater und Sohn wurde 
später als Fundamentalsatz des christlichen Glaubens einstimmig von der 
griechischen, lateinischen, orientalischen und protestantischen Kirche an¬ 
genommen. Niemals wieder, sagt Harnack, ist in der Kirchengeschichte 
ein Sieg so vollkommen und so schnell errungen worden wie in Nizäa. 
Aber es war ein Pyrrhussieg. Für die Lateiner war die Vorstellung, daß 
der Sohn ejusdem substantiae mit dem Vater sei, selbstverständlich; die 
Majorität der griechisch sprechenden Bischöfe indessen war, obwohl sie 
sich den Beschlüssen gefügt hatten und nicht dem Arianismus anhingen, 
gegen diese Wesensgleichheit. Das Wort Homousion wollten sie nicht gelten 
lassen, denn es kam in der Schrift nicht vor. Es barg auch die Gefahr des 
Sabellianismus und den dialektischen Geistern lag es nahe, die eine Ousia, 
das eine Wesen, das dem Vater und Sohn gemeinsam war, als eine materielle 
Urform, sozusagen als dritte Gottheit anzusehen, die früher gewesen war als 
Vater und Sohn. Es gab noch einen gewichtigen Grund dagegen: fünfzig 
Jahre vorher hatte das Konzil von Antiochien im Kampfe gegen den Sabel¬ 
lianismus den Ausdruck Homousios verworfen. 

Wenn nun der nizänische Beschluß, statt den Streit rasch zu beenden, 
geradezu einer seiner Ursachen geworden ist, so ist dies sowohl dem starren 
Konservatismus, der keine unbiblischen Ausdrücke dulden wollte, als auch 
der Furcht vor dem Sabellianismus im Orient zuzuschreiben. Das ominöse 
Homousion entfesselte nun einen dogmatischen Streit, wie ihn die Kirche 
niemals gesehen hatte. Im Laufe weniger Jahre wurden achtzehn ver- 


1) Wir haben allen Grund zu vermuten, daß Kaiser Konstantin auf das Wort 
öpoouoioi;, des gleichen Wesens, besonderen Wert legte. Weder die Reden des Arius 
noch die hitzigen Gegenreden seines Gegners, des heiligen Athanasius, gaben den 
Ausschlag. Der Kaiser, der die Gabe des Zuhörens in hohem Maße besaß (Euseb. IV, 
33, 46; Panegyr« IX, 1), — besonders wenn die Redner ihm Schmeichelhaftes sagten, — 
griff mit milder Entschiedenheit in diese subtilen dogmatischen Formulierungsversuche 
ein. Es geschah sicherlich mit den besten Absichten, aber der rauhe Kriegsmann war 
kaum die kompetente Persönlichkeit, den Streit wegen einer Eigenschaft der zweiten 
Person der Dreieinigkeit theologisch einwandfrei zu entscheiden. Konstantin, der sich, 
obzwar noch nicht Christ, als „gemeinschaftlichen Bischof“ bezeichnete, hat später 
sein Verständnis für die Formel der Homousie, der Wesensgleichheit, in einem Brief 
bewiesen, in dem er äußerte, Gott und der Heiland seien so sehr eins, daß man 
nicht nur vom ersteren, sondern auch vom letzteren aussagen könne, er sei Vater 
und Sohn. 





































Dogma und Zwangsidee 


schiedene Religionsformen gezählt, die alle behaupteten, die wahre Christen¬ 
heit für sich zu haben. 1 

Ich kann hier natürlich nicht auf die achtzehn Glaubensbekenntnisse 
und ihre minutiösen Unterschiede eingehen, die ihre Herkunft auf den 
unglücklichen Streit zurückführen. Die drei Hauptrichtungen, die der 
Haß gegen das Homousion und seinen glühendsten Verfechter, den großen 
Kirchenfürsten Athanasius, verband, waren die folgenden: der extreme 
Arianismus, der später wieder aufflammte, verneinte es entschieden, daß 
der Sohn dem Vater gleich war. Ein ungeheurer Abstand schied in seinen 
Augen Gott-Vater und Sohn. Diese äußerste Konsequenz wurde bei Aetius, 
dem der Zorn seiner Gegner den Namen des Atheisten gegeben hatte, gezogen. 
Diese Partei hatte das Wort avopoiog (anomoios) wesensungleich, das in ihrer 
Diskussion eine große Rolle spielte, zum Schlagwort gewählt. Eine andere 
Partei, von den Dogmenhistorikern häufig Semiarianer genannt, verab¬ 
scheute vielleicht mit ein wenig zu großer Demonstration diese radikale 
Gruppe. Sie bekannte, daß der Sohn von allen anderen Kreaturen verschieden 
und nur dem Vater ähnlich sei. Aber sie verneinten es, daß der Sohn von 
derselben oder auch nur von ähnlicher Substanz wie der Vater sei, und 
drückten ihren Abscheu gegen das Homousion in heftigsten Formen aus. 
Diese Homöer — das griechische Wort öpoiog (homoios) ähnlich stand auf 
ihrem Panier — waren ebenfalls eine mächtige Gruppe, der viele Bischöfe 
angehörten. Die dritte, vielleicht bedeutsamste Gruppe, welche sehr zahl¬ 
reiche Anhänger in Asien umfaßte, hatten das Wort opoioüaiog (homoiousios) 
gewählt, um ihre Ansicht über “die rätselhafte Ähnlichkeit des Vaters mit 
dem Sohne kundzutun. Sie erkannten also den Sohn als der Substanz nach 
wesensgleich, aber nicht wesenseins, wie der nizänische Beschluß es wollte. 
Die Endkämpfe, welche durch viele Jahrzehnte zwischen Homoousianer 
und Homoiousianer die Kirche durchtobten, wurden wirklich um „the 


1) Der fromme Hilarius erklärt, daß er innerhalb der zehn Provinzen Asiens kaum 
einige Priester gefunden habe, welche die Kenntnis des wahren Gottes behalten hätten. 
Der Bischof von Poitiers ruft inmitten dieses jahrelangen theologischen Aufruhres 
schmerzerfüllt aus: „Das Homousion wird von den aufeinanderfolgenden Synoden 
zurückgewiesen, gebilligt und wegerklärt. Die partielle oder totale Ähnlichkeit des 
Vaters und des Sohnes ist ein Diskussionsgegenstand für diese unglückliche Zeit. 
Jedes Jahr, nein, jeden Monat stellen wir neue Glaubensbekenntnisse auf, um unsicht- 
are Geheimnisse zu beschreiben. Wir bereuen, was wir getan haben, wir verteidigen 
die, welche bereuen, wir anathematisieren die, welche wir verteidigten. Wir verdammen 
ie Meinung anderer in uns selbst oder unsere in der anderer und sind, indem wir 
einander in Stücke reißen, gegenseitig die Ursache unseres Untergangs.“ 











important diphthonge“ (Gibbon) geführt. Nur Laien können annehmen, daß 
die Semiarianer dieser Gruppe, welche die Wesensgleichheit des Sohnes 
mit dem Vater bekannten, den Nizänern, welche die Wesenseinheit behaup¬ 
teten, nahestanden. Den gewaltigen Anstrengungen mehrerer aufeinander¬ 
folgender Kaiser, den Bemühungen vieler Bischöfe ist es nicht gelungen, 
die beiden Gruppen zu versöhnen. Zur leichteren Übersicht setze ich die 
wichtigsten Grundanschauungen in einem primitiven Schema hierher: 

1) Homoousios (ojxootjöio^) . . . . = wesenseins 
• 2) Homoiousios (opoioueiog) . . . = wesensgleich 

3) Homoios (öpoiog) .= wesensähnlich 

4) Anomoios (dvopoioq) .= wesensunähnlich 

Die Provinzen von Ägypten und Asien waren dem Gifte der arianischen 
Häresie am zugänglichsten. Die Westprovinzen, von des Gedankens Blässe 
weniger angekränkelt und in ihren Leidenschaften weniger durch unsichtbare 
Dinge erregbar, hatten die Kenntnis des Göttlichen durch das trübe Medium 
einer Übersetzung erlangt. Die Kirche hatte sie, als die arianische Gefahr 
an ihre Grenzen drang, mit dem Homoousion versehen, und so blieben sie, 
da sie sich gläubig dem Bischof von Rom anvertrauten, gehorsam der 
Gebieterin. Auf dem Konzil von Rimini (360), das .vierhundert Bischöfe 
der Westprovinzen vereinigte, schien der Arianismus wenig Aussichten auf 
Erfolg zu haben. Aber Valens und Ursacius, zwei Bischöfe von Illyrium, 
die ihr Leben in Hofintriguen verbracht hatten und in den religiösen 
Kämpfen des Ostens alle notwendigen dialektischen Feinheiten gelernt hatten, 
brachten alle in Verlegenheit. Es glückte ihnen, die schlichte Ehrlichkeit 
der Lateiner dahin zu bringen, daß diese ein Glaubensbekenntnis unter¬ 
schrieben, das durch manche Ausdrücke die Wesensgleichheit außer Geltung 
brachte. Damals war, wie der fromme Hieronymus versicherte, 1 die Welt 
überrascht, sich arianisch zu finden. Aber nach einiger Zeit erkannten die 
Bischöfe der lateinischen Provinzen ihren Irrtum; der Beschluß wurde mit 
entsprechender Verachtung und voll Abscheu zurückgewiesen und die 
homoousianische Fahne im Westen wieder triumphierend aufgepflanzt. Da 
Konstantin und seine Nachfolger ihre Willensmeinung auch auf die Glaubens¬ 
bekenntnisse ihrer Untertanen erstreckten, trat eine Konkurrenz zwischen 
der Macht des Königs der Könige und der des jeweiligen Kaisers zutage. 
Konstantin hatte mit jener starken Hand, die so viele Schlachten siegreich 


1) Advers. Lucifer. tom. I, p. 145. 





















Dogma und -Zwangsidee 


geschlagen hatte, in Nizäa den Beschluß der Wesenseinheit durchgeführt. 
Drei Jahre, nachdem er Arius und seine Anhänger verbannt und die 
Schriften der Ketzer verbrannt hatte, fanden diese wieder Gnade vor seinen 
Augen. Eusebius von Nikomedien, der von Konstantin wegen seiner Zuneigung 
zum Arianismus schmählich von seinem Bischofsitze verjagt worden war, 
kehrte zurück und Arius selbst sollte zur Kommunion feierlich zugelassen 
werden. Nach einem Besuche im kaiserlichen Palast (336) wurde Arius 
auf der Straße plötzlich unwohl und verschied gleich darauf in einer 
Öffentlichen Latrine. 1 

Konstantin verurteilte die Führer der homoousischen Partei, darunter den 
großen Athanasius, zur Verbannung und empfing in den letzten Augenblicken 
seines segenvollen Lebens die Taufe durch den arianischen Bischof von 
Nikomedien. 2 Sein Sohn Konstantius begünstigte die Arianer, trachtete aber 
darnach, ihre Gegner durch Veranstaltungen von Disputationen zu über¬ 
zeugen und zu bekehren. Ammianus, der in der Armee dieses Kaisers diente, 
klagt darüber, daß alle Heeresstraßen mit den vielen Bischöfen überfüllt 
seien, welche von allen Seiten zu den Versammlungen eilen, welche sie 
Synode nennen, und welche die öffentliche Post durch ihre unaufhörlichen 
Reisen ruinieren; sie wandern rund um das große Reich, um den wahren 
Glauben zu suchen. Der Kaiser widmete nach der Beendigung des Bürger¬ 
krieges seine Zeit in Arles, Mailand, Sirmium und Konstantinopel dem 
Nachdenken über jene wichtigen Differenzen. Die Eunuchen, die der heilige 
Athanasius als natürliche Feinde des Sohnes bezeichnete, die Frauen und 
viele Bischöfe hatten diesen schwachen Geist mit Mißtrauen und Abscheu 
vor dem Homoousion erfüllt, aber der Arianismus eines Aetius flößte ihm 
fast ebenso großen Schrecken ein. Unfähig, sich zu entscheiden, verbannte 


1) Noch nach hundert Jahren wurde den erschütterten Gläubigen der Ort gezeigt, 
an dem Gottes gerechter Zorn den ruchlosen Frevler schlug. Der Kirchenhistoriker 
Sokrates überzeugt uns davon (I, 38), daß der Ketzer durch die Gebete des frommen 
Bischofs von Konstantinopel vor Gottes Richterstuhl berufen wurde. Daß, wie andere 
vermuten, eine kleine Dosis Gift die Wirksamkeit dieses Gebetes erhöht hat, wider¬ 
spricht keineswegs dem Glauben, daß der Herr jene fromme Bitte in seiner Gnade 
erhört habe. 

2) Der mächtige Krieger war im theologischen Waffengange nicht geschult genug. 
Er verstand eigentlich nie völlig, um was es sich dabei handelte und glaubte noch 
immer, während er Arius beschützte und Athanasius verfolgte, daß das nizänische 
Konzil die besondere Glorie seines Lebens ausmachte. Wie unkompliziert sich seiner 
kindlich reinen Anschauung die Wahrheit darstellt, erkennt man aus dem Schreiben, 

as der Kaiser nach dem Konzil an die Gemeinde von Alexandrien richtete. Dort heißt 
es: „Was dreihundert Bischöfen gefallen hat, ist nichts anderes als der Wille Gottes.“ 












2?8 


und empfing er abwechselnd die Semi-Arianer, verurteilte und begünstigte 


er die Bekenner des Nizänums. Er verbrachte Tage und Nächte im Suchen 
nach den adäquaten Worten und Abzählen der Silben, welche das wahre 
Glaubensbekenntnis umfassen sollte, und diese schweren Zweifel verfolgten 
ihn in den unruhigen Schlaf. Die Träume des Herrschers wurden als 
himmlische Visionen gedeutet und wohlgefällig empfing er den Titel Bischof 
der Bischöfe, den seine kirchlichen Schmeichler ihm verliehen hatten. 
\TnnVi ,ri oi on Trorrro"hlirlipn An stTPn Denn jctpti- welche die Svnoden m Osllip« 



Italien, Illyrien und Asien bezeugen, entschloß er sich, ein allgemeines 


Wir haben hier keinen Anlaß, die weitere Entwicklung dieser dogmatischen 


Streitigkeiten, welche einer ausführlichen Schilderung bedürften, zu verfolgen. 
Athanasius, der Bischof von Alexandrien, dessen Freude, Stolz und Ruhm 
die Verteidigung der nizänischen Beschlüsse war, wurde fünf Male von 
seinem Sitze vertrieben und aß zwanzig Jahre das tränenvolle Brot der Ver¬ 
bannung, ohne in seinem heiligen Eifer für das Homoousion nachzulassen. 
Jede Provinz war Zeuge seines Leidens für das Symbol. Durch die Regierungs¬ 
zeit Julians, Theodosius und Valentians sowie des Arkadius ziehen sich die 
erbitterten Kämpfe zwischen den Homoousianern und den Homoiousianern. 
Der Semi-Arianismus war durch Jahrzehnte die offizielle Religion des Christen¬ 
tums am Hofe und im Reiche, im Palast des Bischofs und in der Hütte 
des einfachen Gläubigen. Ströme von Blut wurden in diesen Kämpfen um 
jene Eigenschaft des Heilands vergossen und die Christen aller Gruppen 
ertrugen es mit wahrhaft evangelischer Geduld, daß die Gegner, welche 
das Jota einsetzten oder ausließen, auf das grausamste verfolgt, gemartert 
und zur Rechenschaft in das bessere Jenseits befördert wurden. 1 2 Erst zwei 


1) Die Bischöfe des Ostens versammelten sich in Seleucia, die des Westens in 
Rimini. Das östliche Konzil trennte sich nach viertägiger erbitterter Disputation, ohne 
zu einer Entscheidung zu gelangen. Das westliche dauerte sieben Monate und der 
Präfekt der die Patres beschützenden Prätorianer hatte Befehl, den Klerus mit Ge¬ 
walt so lange zusammenzuhalten, bis die Männer Gottes sich über die nähere Natur 
der Beziehung von Gott-Vater und -Sohn geeinigt hatten. Die sophistischen Kunst¬ 
stücke der Bischöfe Valens und Ursacius, Hunger und Kälte sowie die Melancholie 
der Verbannung verschafften dem Herrscher endlich die Genugtuung, in seinem Palast 
die Bischöfe zu versammeln, die ihm ein Glaubensbekenntnis vorlegten, das die Wesens¬ 
gleichheit, aber nicht die Wesenseinheit ausdrückte. 

2) Dabei ist zu bedenken, daß der Unterschied zwischen Homoousion und Homo- 
iousion sogar für theologische Augen fast unsichtbar war. Unter Macedonius, dem 
arianischen Bischof von Konstantinopel, wurde ein Edikt des Konstantius gegen jene 

























Dogma und Zwangsidee 


2 79 


Menschenalter nach Arius wurde der Streit zugunsten des nizänischen 
Dogmas entschieden. Viel später erst traten auch die Germanen, die fast 
alle Arianer geworden waren, zum Christentum der homoousianischen Prägung 
über. Die erste deutsche Bibelübersetzung stammt von dem arianischen 
Bischof Wulfila. Die germanischen Stämme, die erst vor kurzem den Glauben 
an Wotan, Thor und Loki abgeschworen hatten, waren kaum weniger 
fanatisch in bezug auf Wesensgleichheit und Wesenseinheit als die ersten 
Bekenner des Christentums. Als die Vandalen, deren urwüchsigem Tempe - 
rament Halbheiten verhaßt waren, in das blühende Afrika einfielen, ließ 
ihr König Hunerich im frommen christlichen Eifer allen Einwohnern 
Tiglassas, die sich in ihrer Verblendung nicht zum Arianismus bekennen 
wollten, die Zunge ausreißen und die rechte Hand abhauen. Theodosius 
der Große, dem es schließlich gelang, den Arianismus zu unterdrücken, 


trachtete dagegen, 30.000 Christen, welche nur an die Wesensgleichheit 
Christi mit Gott - Vater glaubten, zu ihrem Seelenheile von der Wesenseinlieit 
zu überzeugen: sie wurden mit angenehmer Leichtigkeit von den Soldaten 
in einem Amphitheater niedergemetzelt. * 1 

Wären diese und andere Siege nicht errungen worden, so würde das 
heutige Christentum sich zu dem ruchlosen Glauben bekennen, Christus 
sei der aus der Jungfrau geborene einzige Sohn Gottes, aus dem Nichts 
geschaffen und sei Gott ähnlich, aber nicht gleich. Heute weiß aber der 
Christ mit jener heiligen Gewißheit, welche nur der wahre Glaube ver¬ 
leiht und die jeden Zweifel ausschließt, daß Jesus ein von Ewigkeit her 


Christen, welche nicht das eine Jota anerkennen wollten, mit jener heilsamen Strenge 
durchgeführt, welche allein die Ketzer der ewigen Verdammnis entreißen kann. Die 
Verteidiger des Homoiousion entrissen die Säuglinge den Armen ihrer Mütter, um 
sie zu taufen, den Widerstrebenden wurde die heilige Hostie in den Mund gepreßt, 
der mit hölzernen Maschinen olfengehalten wurde, und die Brüste zarter Jungfrauen 
wurden mit glühendem Eisen gebrannt. Die Haupthelfer des Macedonius in seinem 
heiligen Eifer waren die Bischöfe von Nikomedien und Cyzikus, die wegen ihrer 
Tugenden und insbesondere wegen ihres Mitleides in höchstem Ansehen standen. 
Ammonius war überzeugt, daß die Feindseligkeit der Christen gegeneinander die Wut 
wilder Bestien beiweitem übertreffe (XXII, 5), aber was wußte dieser Heide davon, 
daß nur solche heilige Wut geeignet ist, die Seelen dem ewigen Heil entgegenzuführen? 

1) Julian, den die Kirche Apostata nennt, konfiszierte in Odessa, wo die Arianer 
ihre theologischen Streitigkeiten in offenen Kämpfen ausfochten, ohne viel Bedenken die 
Güter der Kirche und verteilte ihr Geld unter die Soldaten. Mit schrecklicher Ironie 
nennt er sich (Epist. LIII) den wahren Freund der Galiläer, da deren bewunderungs¬ 
würdige Lehre das Königreich des Himmels den Armen versprochen hat. Die Christen 
würden den Pfad der wahren Tugend mit größerem Eifer verfolgen, wenn sie mit 
seiner Hilfe von der Bürde zeitlicher Güter befreit sein würden. 













s 8 o 


TLeodor Reit 


existierendes Wesen ist, gleich ewig mit dem Vater, aber aus dem Wesen 
des Vaters, eine der völlig zu unterscheidenden drei göttlichen Personen, 
welche eine unzertrennbare Einheit bilden. 


III) Dogma und Zwangsidee 

Ich habe die Kämpfe Gottes gekämpft. 

Gen. 30, 8. 

Es war notwendig, die kirchengeschichtlichen Voraussetzungen des Dogmas 
der Trinität mit solcher Ausführlichkeit zu behandeln, denn ich will be¬ 
sonders an diesem repräsentativen Beispiel darzulegen versuchen, daß das 
religiöse Dogma in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit der neuro¬ 
tischen Zwangsidee entspricht, mit anderen Worten, daß es der bedeut¬ 
samste Ausdruck des Zwangsdenkens der Völker ist. Es ist ferner 
zu zeigen, daß die psychischen Vorgänge, welche zur Konstituierung und 
Entwicklung des Dogmas führen, durchaus den seelischen Mechanismen des 
Zwangsdenkens folgen, daß dieselben Motive hier wie dort vorherrschen. 
Ich werde mich aber auch bemühen, zu zeigen, daß in der Dogmenbildung 
dieselben Abwehrtechniken benützt werden wie in den Zwangsvorgängen 
beim Einzelnen. Bei diesem Versuche, das Problem der Dogmenbildung 
psychologisch zu erfassen, werde ich die Entwicklung des christologischen 
Dogmas in den Vordergrund stellen, weil sich an diesem Beispiele fast alle 
typischen Reaktions-, Entstellungs- und Verschiebungsmechanismen klar dar¬ 
stellen lassen. An geeigneter Stelle werde ich aber auch auf die psychische 
Entstehung und Entwicklung anderer Dogmen eingehen, in der wir beson¬ 
dere Vorgänge studieren können. Es kommt hier, wo das Wesen des Dogmas 
in Frage steht, nicht auf Vollständigkeit an, sondern es erscheint nur wich¬ 
tig, die wesentlichen Übereinstimmungen zwischen Dogma und Zwangsidee 
sowie deren psychologische Grundlagen zu zeigen. 


Das Dogma als Kompro mißausdruck von verdrängten und verdrängenden 

Vorstellungen 


Die Am bivalenz, welche die Menschen am Vaterkomplex erworben haben, 
hat sich früh auf ihre Beziehung zur Gottheit verschoben, ja sie hat dort 
vielleicht ihre bedeutsamste Äußerungsform innerhalb der Frühzeit der mensch- 

























Dogma und Zwangsidee 


281 


liehen Kulturentwicklung erhalten. Der Christusmythus wie die ihm nahe¬ 
stehenden Mythen des Mithras, des Adonis, des Attis zeigt den Aufruhr des 
Sohnes und dessen Bestrafung, erzählt von den Äußerungen des Sohnestrotzes 
und von den Bemühungen, den Vater zu ersetzen, ebenso wie von der Vater¬ 
sehnsucht und dem Sühnebedürfnis. Vergegenwärtigen wir uns die Entstehung 
des Christentums, so erkennen wir, daß sich in ihm, den Gesetzen des Wieder¬ 
holungszwanges folgend, der alte Sohnesputsch unter dem kombinierten Ein¬ 
flüsse religiöser, ökonomischer und politischer Momente wieder durchgesetzt 
hatte. Es ist kaum noch gezeigt worden, wie noch in den synoptischen 
Evangelien die Haltung Jesus gegenüber dem Althergebrachten durchaus zwie¬ 
spältig ist, daß Jesus zur Gesetzesreligion, zur Thora und zur Synagoge 
ambivalent eingestellt erscheint. Derselbe Jesus, der die Thora als sakrosankt 
erklärt und der nicht gekommen ist, aufzulösen, sondern zu erfüllen, der 
prophezeit, daß nicht ein Jota vom Gesetz vergehen solle, bis daß vergehen 
Himmel und Erde, derselbe Jesus proklamiert, daß der Mensch auch Herr 
sei über Speiseverbote und Sabbathaltung. Derselbe Jesus, der den Gehorsam 
gegenüber den Schriftgelehrten predigt, hält große Strafreden gegen sie; seine 
Pietät gegen den ererbten Vaterglauben ist kaum weniger groß als sein Eifer 
für dessen Aufhebung. Er, der seinen Jüngern verbietet, zu Heiden und 
Samaritern zu gehen, und das kananäische Weib, das um die Heilung ihrer 
Tochter fleht, hart zurückweist („Ich bin zu den verlorenen Schafen des 
Hauses Israels geschickt“), hat das nationale Selbstbewußtsein des jüdischen 
Volkes radikal zerbrochen und reißt die Sonderstellung der Juden nieder. 
Bald als konservativer, pietätvoller Anhänger der Vaterreligion, bald als Re¬ 
volutionär, dem keine Tradition und keine rabbinische Lehrautorität heilig 
ist, erscheint Jesus in den frühen Urkunden. „Der Vater und ich sind eines“ 
hat doppelte Bedeutung; es zeigt die zärtliche Identifizierung nur stärker 
im Vordergründe als die feindliche, welche den Platz des Vaters einzunehmen 
wünscht. Wirklich erweist sich der Sohn nach Tod und Sühnung siegreich: 
er wird Gott neben dem Vater, eigentlich an seiner Stelle. 

Immer höher stieg die Bedeutung der Sohnesreligion. Wir haben in der 
Geschichte des Christentums jene Wandlungen und Äußerungsformen der 
Ambivalenz verfolgt, bis sich die einander entgegengesetzten Triebströmungen 
im Dogma vereinigen, und die gegensätzlichen Vorstellungen dort einen 
Kompromißausdruck erreichen, dessen widerspruchsvoller, absurd klingender 
Inhalt noch Zeugnis von seiner Genese und psychischen Zusammensetzung 
ablegt. Die Genese des Dogmas ist von ambivalenten Triebströmungen be¬ 
herrscht. Der Ausdruck ihres Ringens um die Herrschaft ist der Zweifel. 










a 8 a 


Theodor Reit 


Das Dogma ist eine zwanghafte Bemühung, den religiösen Zweifel 
zu überwinden. 

Die Dogmenbildung setzt als psychische Reaktionserscheinung ein. Die 
junge Kirche hatte sich, ehe sie sich noch durchgerungen hatte, eines 
mächtigen Feindes zu erwehren, dem sie fast erlegen wäre. Jene rebelli¬ 
schen Regungen, welche die Sohnesreligion des Christentums trugen, waren 
im Gnostizismus bis zum Extrem, bis zur Degradierung des Vater-Gottes 
ausgeprägt. Jahwe wird zum Demiurgen, der die Welt erschaffen hat, aber 
von dem fremden Gott, dem Soter Christus besiegt wird. An dieser Stelle 
nun müssen wir die Entstehung des christlichen Dogmas einsetzen lassen. 
Das Dogma ist, wie die Religionsgeschichte lehrt, aus dem Kampfe gegen 
den Irrglauben entstanden, gegen jenen Irrglauben, dem die Kirche selbst 
zugeneigt hat. Das junge Christentum wäre fast in die Lehre des Gnostikers 
Marcion untergetaucht; der Katholizismus ist nach einem Worte Harnacks 
„gegen Marcion erbaut worden“. 1 Hatte sich die Revolution des Sohnes im 
frühen Christentum durchgesetzt, so stellen sich jetzt die psychischen 
Reaktionserscheinungen ein. Das Dogma ist vielleicht das bedeutsamste 
Reaktionsphänomen dieser Zeit; es trägt wie die Zwangsidee bereits die 
Spuren des ersten Abwehrkampfes an sich. Die verpönten Regungen, 
welche die völlige Eliminierung des Vater-Gottes und dessen Ersatz durch 
den Sohnesgott anstrebten, drohten nun völlig den Sieg zu erringen: der 
Gnostizismus strebte dieses Ziel an. Alle Tradition sollte über Bord geworfen 
werden, alles, was nicht mit dem Evangelium des neuen Gottes vereinbar 
war, ausgemerzt, das ganze Alte Testament ausgeschaltet werden. Da wehrte 
sich die junge Kirche gegen den Versuch, den Sohnesgott an Stelle des 
Vaters zu proklamieren, durch das Dogma, durch Glaubensregel, Kanon 
und Bischofsamt. Wer sich im Taufbekenntnis zum Glauben an Gott- 
Vater, Christus und den Heiligen Geist bekannte, konnte kein Gnostiker sein. 

Die ursprüngliche Zwangsidee war abgewehrt, Christus war nicht zum 
völligen Sieg über den Vater gelangt. Irenäus und Tertullian wiesen im 
Kampf gegen den Gnostizismus immer wieder auf die heilgeschichtliche 
Offenbarung und ihre Verankerung im Alten Testament hin. Sie suchten 
die Häresie durch jene Sätze zu überwinden, die in der Heiligen Schrift 
der beiden Testamente nachgewiesen und verstandesmäßig reproduziert und 
formuliert werden. 

Das Ziel des Gnostizismus, die Absetzung des Vater-Gottes durch Christus 


1) Harnack: Marcion. Leipzig 1921, S. IV. 


















Dog ma und Zwangsidee 


283 



wa r von zwanghaftem Charakter, weil sie von triebhaften Kräften angestrebt 
worden war. Dieser zwanghaften Tendenz setzten nun die Väter des dritten 
Jahrhunderts die Berufung auf das Alte und Neue Testament entgegen. 
Dem Zwang wird ein Gegenzwang gegenübergestellt; der Vorherrschaft 
Christi wird die Hochschätzung Gott-Vaters entgegengehalten. 

Der Weg von der Taufformel, die im Kampf gegen die Gnostiker dem 
rechten Glauben Ausdruck verlieh, bis zum nizänischen Beschluß, der die 
endgültige Formulierung der Christologie brachte, ist die via triumphalis 
des Dogmas. Wir haben gesehen, wie die zuerst zurückgewiesenen Ge¬ 
danken von der Göttlichkeit Christi und seiner Ebenbürtigkeit mit dem 
Vater, eigentlich seiner Überlegenheit über den Vater in immer neuen, 
wechselnden Formen sich Eingang in die werdende Kirche verschafft. So 
kehren Zwangsvorstellungen, die einmal glücklich zurückgewiesen wurden, 
in entstellter Form und vom Bewußtsein unerkannt, gerade aus dem Ver¬ 
drängten und auf ihm fußend wieder. Wir haben die Entstellungsvorgänge, 
die in der Christologie nachweisbar sind, verfolgt; wir haben gesehen, wie 
der Gegensatz zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn, der latent den Christus¬ 
mythus durchdringt, aus seiner Entstehungsgeschichte losgelöst wurde, wie 
Christus langsam zur präexistenten Gottheit wurde. Die verdrängten Ten¬ 
denzen erweisen sich siegreich: Christus ist nicht nur bei der Weltschöpfung 
anwesend, er schafft selbst über Auftrag Gottes die Welt. Hier kommt die 
Christologie ihrem unbewußten Ziele, der Ersetzung Gott-Vaters durch Christus 
am nächsten. Allmählich und auf Umwegen haben sich die verdrängten 
Regungen Eingang in das abwehrende Schutzgebilde verschafft und zeigen 
noch in der Entstellung ihre wirkliche Natur: in dem Detail, daß Christus 
präexistent gedacht wird, ist die Verleugnung des Altersunterschiedes als 
des natürlichen Grundes der Überlegenheit Gottes erreicht. Christus schafft 
selbst die Welt; der eigentlich infantile Motor der sexuellen Rivalität ist 
in diesem Zuge in kosmologischer Umhüllung zum Vorschein gekommen. 
Der Konflikt, der die Menschen seit den Urzeiten der Kultur im Tiefsten 
bewegt hat, ist so in höheren Schichten fortgesetzt wie in den Schlachten 
Homers über den Griechen und ihren Gegnern die Kämpfe der unsterb¬ 
lichen Götter toben. 

Doch der völligen Durchsetzung der unbewußten Triebregungen stehen 
starke Abwehrkräfte entgegen: die Ehrfurcht und die Liebe zu Vater- 
Gott, dessen Rechte unantastbar bleiben mußten. Es ist genau so wie in 
der Genese einer Zwangsidee, in der revolutionäre Strebungen gegen die 
Gegenbesetzungen durchdringen wollen. Die ganze folgende Entwicklung 











284 


Tkeodor Reik 


des Christusdogmas war von diesen zwei starken, entgegengesetzten Regungen 
beherrscht: Christus die Stellung neben, eigentlich über Gott-Vater ein¬ 
zuräumen und die einzigartige Stellung Gott-Vaters festzuhalten. Wie in 
der Symptomatologie der Zwangsneurose bald der eine, bald der andere 
von zwei einander widerstreitenden Impulsen die Oberhand gewinnt, wie 
hier zweizeitige Gedankenzüge Sieg und Niederlage einer Triebströmung 
nacheinander widerspiegeln, so treten in der dogmatischen Kontroverse bald 
die revolutionären, bald die reaktionären Gedanken in den Vordergrund. 
Ganz ebenso wie in der Zwangsneurose ist hier ein Streben nach Kompromi߬ 
bildung, welche eine Vereinheitlichung und Ausgleichung der Gegensätze 
erreichen will, zu konstatieren. Sie ist indessen hier wie dort kurzlebig 
und ihr Gebilde wird von den Unterströmungen angenagt, bis es zu¬ 
sammenbricht. Im dogmatischen Streite wird ein solches Kompromiß etwa 
durch die bei den frühen Vätern beliebten Vergleiche angestrebt; denken 
wir etwa an Tatians Vergleich: Christus ist einem Feuer ähnlich, das an 
einer Fackel entzündet wird. Ängstlich verwehrt sich Tatian gegen die 
Möglichkeit, daß das Licht der ersten Fackel durch die Entzündung der 
zweiten vermindert wird. 

Wenn es gelungen war, die Stellung Gott-Vaters gegen einen Übergriff 
zu schützen, kam man in die Gefahr, die Hochschätzung des Sohnes zu 
verletzen. Hatte man dem Sohne völlig die göttlichen Rechte des Vaters 
zuerkannt, so riskierte man, dem Vater zu nahe zu treten. Der dogmatische 
Vorgang ist der Bewältigung einander entgegengesetzter Zwangsideen völlig 
analog. Es läßt sich nicht verkennen, daß sich hier, wie in den Zwangs¬ 
ideen die Ambivalenz auch auf das Abgeleitete verschiebt, d. h. daß die 
Gegensätze jeder einzeln von dem gleichen Schicksal der Ambivalenzspannung 
betroffen werden. Denn die Gott-Vater geltende Ambivalenz war allmählich 
auch auf seinen Sohn und Rivalen übergegangen. Die revolutionäre Tendenz 
richtete sich allmählich auch gegen denjenigen, der sich an die Stelle 
Gott-Vaters setzen wollte. So stellt sich die Schätzung des Einen nicht nur 
als Gegensatz zur Ehrung des Anderen dar, sondern die Ehrfurcht vor 
Christus ist auch eine Fortsetzung des Gott-Vater geltenden Gefühls, so 
wie die gegen den Sohn gerichtete Feindseligkeit die unbewußten Trotz¬ 
tendenzen gegen Gott-Vater fortsetzt. Auch im Zwangsdenken erscheint 
derselbe Vorgang: was als Gegensatz im Bewußtsein vertreten ist, erscheint 
alternierend von zärtlichen und aggressiven Regungen so betroffen, daß 
man in den Gegensätzen die ursprüngliche Objekteinheit zu erkennen 
glaubt, der die volle Ambivalenzspannung galt. Gehen wir von der dog- 



















Dog ma und -Zwangsidee 


a 85 


matischen Einstellung aus, wie sie zuerst als Reaktionserscheinung zutage 
tritt. Jene Strömungen, die sich die Entsetzung Gott-Vaters und die Inthro- 
nisierung des göttlichen Sohnes zum unbewußten, triebhaften Ziel setzen, 
werden hier von den Gegenströmungen abgewiesen. Diese Tendenz läßt 
sich in wechselnden Erscheinungsformen von den Ebioniten bis zu den 
Monarchianern verfolgen. Trotz aller Energie, ja allem Fanatismus, der 
sich im Eifer für die Superiorität Gott-Vaters kundtat, läßt sich wie in der 
Entwicklung der Zwangsgedanken verfolgen, wie sich die Abwehr den 
zurückgewiesenen Tendenzen langsam annähert. In der Zwangsneurose nähern 
sich so, je länger die neurotischen Prozesse andauern, umsomehr die ab¬ 
weisenden Tendenzen den als peinlich oder unannehmbar empfundenen, 
bis schließlich die zuerst zurüfckgewiesenen Strebungen den Sieg erlangen. 
Hatten noch die Ebioniten in Christus den menschlichen Sohn Josefs ge¬ 
sehen, so waren die Arianer trotz allem Kampf ad maiorem gloriam Dei 
schon der Ansicht, daß Christus göttlich ist und hatten nur insofern 
Anstoß genommen, als er mit Gott-Vater wesensgleich sein sollte. Die 
Distanz zwischen den zurückgewiesenen und den abwehrenden Tendenzen 
hatte sich im Laufe der drei Jahrhunderte so weit verringert, daß sie fast * 
unerkennbar war. Gehen wir vom andern Extrem aus; es läßt sich vom 
Johannesevangelium bis zum Sabellianismus verfolgen. Greifen wir etwa 
auf den Patripassianismus zurück, so stehen wir vor der Ansicht, daß 
Christus mit dem Vater identisch ist, da Christus als der Vater erscheint, der 
am Kreuze gelitten hat. Dieselbe Richtung zeigt der Sabellianismus, der Gott- 
Vater und Christus als Erscheinungsformen der einen göttlichen Substanz auf¬ 
faßt. Vergleichen wir nun den Kampf, den das Christentum gegen zwei Fronten 
zu führen hatte, etwa mit den Zwangsgedanken eines Nervösen, der gegen 
blasphemische Gedanken anzukämpfen hatte. Er kann nicht vorne bei einem 
Stuhle, einem Tische, einer Laterne vorübergehen, denn dies bedeutet für 
ihn, er sei erhabener, wertvoller als Gott. Die Aktion wird zum demon¬ 
strativen Reweis des Gedankens seiner Superiorität; die gedankliche Ver¬ 
knüpfung ist durch den Begriff Vorne gegeben. Wenn er aber hinter dem 
Stuhl, der Laterne usw. vorübergeht, so heißt dies, er verachte Gott, 
denn er mache es so, wie man es Gott nicht machen soll, d. h. er selbst 
ist dann mit der Laterne gleich gesetzt und lasse Gott hinter sich, gebe 
ihm nicht den Vor tritt. Es ist klar, daß seine Zwangsgedanken in beiden 
Fällen als Abwehr seiner revolutionären Tendenzen aufzufassen sind. Den 
gegensätzlichen Tendenzen entspricht aber die doppelte Identifizierung, 
in welcher der Patient einmal der Übeltäter, das anderemal die beleidigte 










2 86 


Theodor Reit 


Gottheit ist. Es bleibt beachtenswert, daß der Kranke weder vor noch 
hinter dem Stuhle vorübergehen kann. In beiden Fällen ergibt sich eine 
Blasphemie, die er aus Angst vor einer geheimnisvollen Strafe vermeiden 
muß. Die Kränkung Gottes erscheint aber unvermeidlich, da sowohl die 
Aktion als ihre Abwehr blasphemischen Charakter hat. Wie kann man 
ihr ausweichen? Der Kranke gebraucht nun ein kompliziertes Zeremoniell 
um seine Sicherheit zu gewährleisten. Er geht um den Gegenstand (Stuhl, 
Laterne usw.) so oft herum, bis er nichts mehr zu fürchten hat. Natür¬ 
lich griff der Zweifel wieder an diesem Punkte an und der Erfolg 
war, daß der Kranke unzähligemal um den Gegenstand herumgehen 
mußte. Es ist übrigens hier ein für die Zwangssymptome charakteristischer 
Zug aufzeigbar: die Abwehrhandlung verstärkt nicht nur die Schutz¬ 
maßregel, sondern auch die ursprüngliche abgewiesene Tendenz. Die 
Kirche befindet sich in der von uns hier besprochenen Zeit in einer 
ähnlichen Situation wie dieser Kranke: das christologische Problem war 
unlösbar. Vermied man eine Art, Gott nahezutreten, war man der 
anderen verfallen. Der Weg des rechten Glaubens war so eng ge¬ 
worden, daß niemand wissen konnte, ob er nicht auf dem Irrwege war. 

Die Frage der Beziehung zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn war auf¬ 
gerollt, sie stand im Mittelpunkt der werdenden Lehre, aber jede Aussage 
über diese Beziehung war gefährlich. Man war unsicher und ungewiß über 
die Art dieser Beziehung und suchte sie deshalb, um den Zweifel zu über¬ 
winden, mit um so größerer Präzision zu erfassen und zu beschreiben. Wir 
haben einige Beispiele aus den großen Kirchenlehrern, die sich um Be¬ 
stimmungen bemühen, zitiert. Sie gebrauchen zur Verdeutlichung viele Bilder 
und Vergleiche, wie den zwischen Vater und Sohn, Sonne und Sonnenstrahl, 
Quelle und Bach. Aber gerade solche Beispiele können dazu geeignet sein, 
die Gefahr der Ketzerei, die sie doch bannen sollen, heraufzubeschwören, 
wie nicht nur das Beispiel des Dionysius zeigte. Die Parallele zum Zwangs¬ 
denken wird noch frappanter, wenn ein und derselbe Kirchenlehrer in 
heiligem Eifer, der einen Irrlehre zu entgehen, der anderen verfällt. Origenes 
ist, wie viele andere große Lehrer der Kirche, dem Los, als Ketzer angesehen 
zu werden, nicht entgangen. Der Prozeß der Dogmenbildung ist vom Zweifel 
beherrscht wie das Zwangsdenken, in dem zuerst der eine Gedanke bis 
zum Extrem durchgeführt wird, um dann gerade dem entgegengesetzten 
zu weichen. In diesem Hin- und Herwogen von Gedankenzügen, die von 
einander widerstreitenden Tendenzen getragen werden, kommt es endlich 
zur Dogmensetzung, welche den Zweifel radikal aufzuheben strebt. Der 



















r 

Dogma und Zwangsidee 


Sukzession einander entgegengesetzter Gedanken beim Neurotiker können 
wir die historische Entwicklung der dogmatischen Gegensätze vergleichen. 
Hatte eine der wirksamen Tendenzen z. B. im Sabellianismus, der die Dreiheit 
in der Einheit auflösen wollte, die Herrschaft an sich gerissen, so wendete 
sich aller Widerstand gegen diese, aber die Reaktion wurde so scharf, daß 
sie beim entgegengesetzt Verbotenen, beim Arianismus, landete, ganz wie 
wir es bei den Zwangsgedanken sehen. Ich werde wieder ein Beispiel aus 
der Symptomatologie der Zwangsneurose wählen, um die Analogie zwischen 
der Dogmenentwicklung und den Zwangsideen klarzumachen. Jener früher 
erwähnte Patient hielt lange Zeit die Defäkation zurück, weil er mit dem 
Entleerungsakt den Gedanken verband, Gott zu beleidigen, d. h. weil er 
gezwungen war, Gott in gedankliche Verbindung mit dieser ungöttlichen 
Funktion zu bringen. Schließlich wurde der ganze Gedankengang in sein 
Gegenteil verkehrt: wenn er weiter Verstopfung habe und nicht ins Klosett 
gehe, bedeute dies eine Blasphemie. Zwischen den beiden kontradiktorischen 
Gedankengängen schwankte er nun mehrere Stunden lang; der Zweifel, 
welche der beiden Aktionen oder Ideen sakrilegisch seien, war lange nicht 
überwindbar. Nach langem Gedankenkampfe hatte er wirklich Stuhl, aber 
als er sich reinigen wollte, kam ihm der Zwangsgedanke, das Klosettpapier 
könne das Evangelium sein. 1 Er stand nun stundenlang unter dem Zweifel, 
ob er sich reinigen solle oder nicht. Sollte er die Reinigung mit jenen 
Blättern vollziehen, welche ein so heiliges Dokument vertraten, oder sollte 
er in dem kaum weniger schrecklichen Zustand des Schmutzigen verbleiben? 

Fassen wir die Resultate unserer historischen Übersicht über jene Vor¬ 
gänge, welche zur Festsetzung des Christendogmas geführt haben zusammen, 
so ergibt sich, daß an seiner Bildung die verdrängten Triebregungen 
des Sohnestrotzes und der Revolution ebenso beteiligt sind, wie die 
der Verehrung und der Liebe zum Vater. Der Ausdruck, den diese 
einander widerstrebenden Gefühlsströmungen im Dogma, z. B. im nizänischen 
Beschluß gefunden haben, ist ein rationaler Versuch, diesen Triebgegensatz 
gedanklich zu überwinden. Es kann hier nicht gezeigt werden, wie sich in 
der Bildung jedes Dogmas dieselben Prozesse, welche gegensätzliche Impulse 
zur Gefühlseinheit zusammenzufassen streben, intellektualisiert wiederholen. 
Es hat sich uns an diesem repräsentativen Beispiele eine erste Auskunft 

1) Wer die unsichere, charakteristische Ausdrucksweise der Zwangsneurose kennt, 
weiß, daß dies nur eine der gedanklichen Formen ist, welche ausdrücken soll, daß 
das Klosettpapier das Evangelium ersetzt oder, auf seinen latenten Sinn zurückgeführt: 
daß das Evangelium nur zu solchen Zwecken verwendbar sei. 














a 88 


Theodor Reik 


über die Psychogenese des Dogmas ergeben. Das Dogma ist ein gedank¬ 
licher Kompromißausdruck von verdrängten und verdrängenden 
Vorstellungen. In seiner historischen Entwicklung wird der Anteil der 
Wiederkehr des Verdrängten ebenso wie der der verdrängenden Instanzen 
alternierend erkennbar. Seine Gestaltung ist durch die Abwehrkämpfe gegen 
das Verdrängte, das in entstellter Form und in Ersatzbildungen wieder¬ 
auftaucht, bedingt. Entspricht so das Dogma in seiner seelischen Genese 
und Struktur in dieser Richtung der Zwangsidee, da auch diese einen 
intellektualisierten Kompromißausdruck von verdrängten Regungen und ab¬ 
wehrenden Instanzen darstellt, so stimmt es auch darin mit dieser überein, 
daß das Mischungsverhältnis der beiden Faktoren in ihrem endgültigen 
Ausdruck ein ungleiches ist. Die Zwangsidee läßt sich in ihrer analytischen 
Auflösung trotz aller sekundären Bearbeitung als Ersatzausdruck einer ver¬ 
drängten Vorstellung erkennen; ihr Charakter als Reaktionserscheinung 
kann doch nicht verhüllen, daß in ihr die unbewußten Triebimpulse eine 
partielle Befriedigung erzielt haben. Ebenso im Dogma: auch dort ist trotz 
den Bemühungen der reaktionären Kräfte die abgewehrte Strebung größten¬ 
teils siegreich geblieben. Trotz allen Einschränkungen und vorsichtigen 
Formulierungen erkennen wir im Christusdogma das Durchbrechen der 
revolutionären Regungen, welche den Sohnes-Gott zum Triumph führen: 
„Christus vincit , Christus regnat , Christus imperat “, so klang siegesberauscht 
der Ruf, als in Rom die Bilder und Altäre der alten Götter stürzten. 



Die analytische Auflösung der Zwangsideen ebenso wie die der religiösen 
Erscheinungen wird durch die Entstellungen, denen beide Phänomene in 
ihrer Entwicklung ausgesetzt sind, erschwert. Die Mechanismen der Ver¬ 
allgemeinerung, der Verschiebung und der Isolierung dienen dazu, den 
latenten Sinn der Zwangsidee wie den einer dogmatischen Aufstellung 
dem Bewußtsein zu entziehen, sie aus ihrer ursprünglichen Ver¬ 
knüpfung loszulösen und den Zweifel auf scheinbar bedeutungs¬ 
lose Details zu verlegen. Als Beispiel eines solchen Vorganges, eines 
Verschiebungsprozesses auf eine unbedeutende Einzelheit sei folgendes an¬ 
geführt : ein Patient hatte stundenlange Grübeleien über die Unterschiede 
zwischen einem Gentleman und einem Kellner, er betrachtete diese Unter¬ 
schiede von allen Seiten und' wurde nicht müde, sie auf das Genaueste zu 
präzisieren. Seine gedankliche Arbeit aber löste alle jene Unterschiede, die 

















Dogma und Zwangsidee 


er erfassen wollte, wieder auf und er sah sich genötigt, neue aufzufinden. 
Er landete endlich bei der schwerwiegenden Unterscheidung, daß der Gentle¬ 
man zum Frack weiße Krawatte, der Kellner aber schwarze Krawatte trage. 
Nur wer die Kinder- und Jugendgeschichte des Patienten und den Einfluß 
seines hocharistokratischen Milieus kennt, kann die Genese dieses Zwangs¬ 
gedankens erkennen. Die Fixierung an die frühen homosexuellen Objekte 
des Knaben, die Kellner oder Diener gewesen waren, die hochmütige Haltung 
seiner Eltern sozial niedriger stehenden Personen gegenüber, Gefühle der 
Liebe und Verachtung gegenüber den Eltern sowie deren Gegenpart sind an 
der Entwicklung der Zwangsidee beteiligt. Die Verwunderung des Knaben 
über die Behandlung der bewunderten Kellner, revolutionäre Impulse gegen 
die Eltern ebenso wie die Neigung, deren Anschauungen zu teilen und sich 
gegen seine Objektwahl zur Wehr zu setzen, werden in den breit angelegten 
Gedankenzügen über die Unterschiede zwischen einem mondainen Aristo¬ 
kraten und einem Kellner erkennbar. Die Verschiebung des Denkzwanges 
auf den kleinen Unterschied der Krawatte läßt diesen Ursprung nicht 
erkennen und läßt uns kaum ahnen, wieviel starke Gefühle der Auflehnung, 
des Schmerzes und des Hohnes, aber auch wieviel Respekt vor den Eltern 
und wieviel nachträglicher Gehorsam am Aufbau der Zwangsidee mit¬ 
wirkten. Man möchte meinen, daß die Grübeleien über die Krawatten¬ 
unterschiede des Gentleman und des Kellners absurde und nichtige Ge¬ 
dankenspielereien seien. Die Analyse zeigt, daß sich hinter ihnen die 
ernsthaftesten und mit den stärksten Interessen verknüpften Konflikte ver¬ 
bergen. 

Der arianische Streit bietet in seiner langen Entwicklung mehr als eine 
Analogie zu solcher zwangsneurotischen Verschiebung der Idee auf ein 
Kleinstes. Der große Streit über die Vorherrschaft Gott-Vaters und Jesu Christi 
war in seinen letzten Stadien nicht mehr als solcher erkennbar. Er war 
zu einem Wortgezänke geworden, das sich um Homoousios, Homoiousios und 
Homoios drehte. Jahrzehntelange Kämpfe darüber, ob der Sohn mit dem Vater 
wesenseins, wesensgleich oder wesensähnlich sei, vertraten jetzt den tief¬ 
gehenden Gegensatz zweier mächtiger Triebregungen. Wenn der Kampf 
um Homoousios und Homoiousios geführt wird, scheint es wirklich „the 
difference of the important diphthonge“ 1 9 der die religiösen Anschauungen 
der Athanasier, der Arianer und der Semi-Arianer trennt, und doch sind 
es die entscheidenden Fragen des Christentums, die in diesen Details ver- 


1) Gibbon II, 351. 
Imago XIII. 


19 












Theodor Reit 


290 

borgen sind. Mephisto, der dem Schüler den Rat gibt, sich nur an Worte 
zu halten: 

„An Worte läßt sich trefflich glauben, 

Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben“ 

denkt vielleicht an diesen Unterschied, der für die Verschiebung auf ein 
Kleinstes sprichwörtlich wurde. Wenn wir in unseren Alltagsgesprächen 
von einem Streit um den I-Punkt sprechen, um ein müßiges Wortgezänk, 
um unbedeutende Kleinigkeiten zu bezeichnen, wissen wir nicht, daß wir 
den Schatten jenes großen und für die Kirche entscheidenden Kampfes 
heraufbeschwören, der zwei Menschenalter lang anscheinend wegen eines 
I-Punktes geführt wurde. Wir tun demnach Unrecht, über diese anscheinend 
so kleinen Differenzen zu lächeln; der ganze Unterschied zweier Religionen 
liegt darin. 

Es seien noch einige ähnliche Züge, welche den Vorgang der Verschiebung 
auf ein Kleinstes mit anderen Zügen kombiniert zeigen, angeführt. Der 
Arianer Eudokius lehrte in seinen Predigten, Gott sei acreßfjg, Christus ei>aeßr)<; 
— wieder der Unterschied eines Lautes, der beinhaltet, daß Gott niemanden, 
Christus aber Gott verehre. Und doch bezeichnen solche Unterschiede eines 
Diphthonges den Abgrund ganzer Glaubensbekenntnisse und entscheiden 
darüber, ob der Einzelne den schwersten himmlischen und irdischen Strafen 
verfallen ist oder nicht. Die Verfolgung des Athanasius und so vieler ehr¬ 
würdiger Bischöfe, die für die Wahrheit des Glaubens oder, skeptischer 
ausgedrückt, für die Integrität ihres Irrtums litten, erfüllte ihre Anhänger 
mit tiefer Trauer und oft wurde der Protest gegen die Gewalttaten des 
Kaisers in merkwürdiger Art zum Ausdruck gebracht. Verweisen wir auf 
eine dieser Methoden, die in Antiochien erfunden und mit Erfolg durch¬ 
geführt wurde; sie verbreitete sich bald über die ganze christliche Welt. 
Die einen wollten öffentlich bezeugen, daß sie mit der schrecklichen Gottes¬ 
lästerung der Arianer nicht einverstanden seien; diese wieder wollten vor 
aller Welt kundtun, daß sie die ihnen sakrilegisch scheinenden Vorstellungen 
der Orthodoxen über die Bezeichungen von Gott und Jesus nicht teilten. 
Die Doxologie oder die heiligen Hymnen, welche die Ehre der Trinität 
nach Gebühr lobpreisen, sind hübschen kleinen Abweichungen unterworfen; 
das Wesen eines orthodoxen, arianischen und semi-arianischen Glaubens¬ 
bekenntnisses kann durch den Unterschied eines disjunktiven oder kopu¬ 
lativen Fürwortes außerordentlich klar ausgedrückt werden. Ein Schwarm 
Mönche aus der nahen Wüste und ein Chor wohl disziplinierter Sänger 
wurden in der Kathedrale von Antiochien aufgestellt und sangen dort 













Dogma und Zwangsidee 


391 


triumphierend: „Ehre dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. 4 ' 
Dieser Gesang beleidigte aufs tiefste die religiösen Gefühle des arianischen 
Bischofs, der auf Befehl des Kaisers den Stuhl des verehrungswürdip’en 
Eustachius eingenommen hat. 

Godefroy hat den Gegenstand mit bemerkenswerter Genauigkeit studiert 
und uns berichtet, daß es damals neben dieser Hymne, die den Ohren des 
Bischofs sakrilegisch klang und Anderen als die einzig rechtgläubige galt, drei 
andere gab, die später sicherlich als häretisch angesehen wurden. Diese 
Formen lauteten: „Ehre dem Vater durch den Sohn und den Heiligen Geist," 
„Ehre dem Vater und dem Sohn in dem Heiligen Geist" und „Ehre dem 
Vater in dem Sohn und in dem Heiligen Geist . 44 Die Differenzen der 
Partikel mag dem Laien unwichtig und die Bedeutsamkeit, die man ihnen 
zuschrieb, lächerlich oder absurd erscheinen. Aber es ist unter analytischen 
Gesichtspunkten klar, daß sie ihre Bedeutung den Verschiebungsvorgängen 
verdanken und hinter ihnen jene Tendenzen wirksam sind, welche dem 
Christentum seine jetzige Gestalt gegeben haben. Nur der Laie, der dem 
Werden der Religion verständnislos gegenübersteht, und der aufgeklärte 
liberale Theologe, der es in rationalistischem Übereifer in flachster Art zu 
erklären sucht, können geringschätzig von so kleinen Unterschieden denken. 
Die Kirche hat instinktsicher den Unterschied eines Diphthonges wichtig 
genug genommen, weil sich in ihm der Unterschied zweier, durch einen 
Abgrund getrennter religiöser Anschauungen spiegelte. Freilich wußten auch 
die Gläubigen, welche das Leben ungezählter Ketzer wegen eines ab¬ 
weichenden Lautes opferten, nichts von dieser Bedeutung, die er durch den 
unbewußten Verschiebungsvorgang erhielt. Sie wußten nicht, was sie taten, 
und so wird ihnen verziehen werden nach dem Worte des Gottes, zu 
dessen Ehre sie ihre Mitmenschen schlachteten. 


Zweifel und Hohn in der D ogmenhildung 


In den Mechanismen der Verschiebung, wie wir sie eben in der Dogmen¬ 
entwicklung dargestellt haben, hat sich nicht nur die Verallgemeinerung 
des andauernden Zweifels, seine Ausdehnung über alles und jedes aus¬ 
gewirkt. Neben diesen und anderen unbewußten Zielen wie denen der 
Isolierung, der Loslösung vom Ursprünglichen und der Unkenntlichmachung 
gegenüber dem Bewußtsein ist auch der große Anteil des unbewußten 
Hohnes in den VerschiebungsVorgängen erkennbar. 


19 











2$2 


Theodor Reik 


Die Bedeutung der unbewußten Verhöhnung tritt in dem intellektuell 
ausgearbeiteten Zweifel nicht auffällig hervor, aber die analytische Auf¬ 
lösung der Zwangsideen, welche den dogmatischen Meinungen so nahe¬ 
stehen, eröffnen uns den Zugang zu ihrer psychologischen Erfassung. E s 
wird zu zeigen sein, daß noch in der Formulierung des Dogmas unbewußte 
Hohntendenzen nachweisbar sind. Wir wollen hier von den zwangsneuroti¬ 
schen Zweifeln ausgehen. Das Bedürfnis nach Zweifel im Seelenleben der 
Zwangskranken findet seine Erfüllung in der Unsicherheit, welche am 
Ende jede Sache und jede Aktion ergreift. Die unbewußte Tendenz, 
jede Sicherheit zu vermeiden, ringt unaufhörlich mit den gegnerischen 
Strebungen, die größtmögliche und genaueste Sicherheit zu gewinnen. 
Dem Bedürfnis nach Unsicherheit und Zweifel dient es auch, wenn die 
Zwangskranken sich mit Vorliebe mit Themen beschäftigen, in deren Natur 
es liegt, daß wir nichts von ihnen wissen können, mit der Abstammung 
vom Vater, mit der Lebensdauer von Verwandten und Freunden, mit der 
Frage der Unsterblichkeit. Die Analogien mit den religiösen Erscheinungen 
gehen hier bis in die Einzelheiten : 1 wir haben gehört, wie es bedeutsame 
Fragen für die Kirche geworden sind, in welcher Art Christus vom Vater 


abstamme, ob er aus dem Nichts geschaffen sei, ob er immer beim Vater 
war usw. Man kann wie über die zwangsneurotischen Zweifel, die für den 
Außenstehenden oft läppisch und absurd erscheinen, auch über die meisten 
theologischen Gedankengänge sagen, daß der Zweifel auch den unbewußten 
Spott und Hohn vertritt. Die Fragestellung selbst entspricht oft diesem Zuge; 
ihre Möglichkeit verrät die unbewußte Tendenz. Tatsächlich setzen die 
Ketzer und Häretiker der Kirche an diesen schwachen Punkten ein und 
verwandeln den unbewußten Hohn in offene und aggressive Verhöhnung. 
Wenn die Arianer sagen, Christus müsse gezeugt haben wie sein Vater, 
falls er mit ihm wesenseins sei, zeigen sie bewußt, wie unsinnig der Wesens¬ 
einheitsglaube sei. Aber der unbewußte Hohn liegt bereits in der Be- 

1 ) Freud bemerkt, daß das Bedürfnis nach Unsicherheit so weit geht, daß die 
Zwangskranken manchmal eine Abneigung gegen die Uhren zeigen, welche wenigstens 
die Zeitbestimmung sichern, und in ihren unbewußt ausgeführten Kunststückchen jedes 
solches, den Zweifel ausschließendes, Instrument unschädlich zu machen wissen. (Be¬ 
merkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Ges. Schriften, Bd. VIII, S. 357") 
gibt manche hübsche Analogie zu diesem Verhalten auf dogmengeschichtlichem Ge¬ 
biete: so hatte z. B. eine der halbarianischen Synoden ihre Beschlüsse, welche die 
Beziehungen von Gott-Vater und -Sohn klarstellen sollten, mit dem Datum versehen. 
Der heilige Athanasius schüttet die Lauge seines Spottes über jene aus, welche glauben, 
daß die von Ewigkeit her bestimmten Glaubens Wahrheiten von einem genauen Datum 
an gerechnet werden könnten. 





























Dogma und Zwangsidee 


ag3 

hauptung, daß Gott und Christus wesenseins und doch verschiedene Per¬ 
sonen seien. 

Die Parallele zwischen jenen Zwangszweifeln der Neurotiker, die sich 
mit den Fragen der Unsterblichkeit und mit so vielen subtilen ethischen 
Problemen beschäftigen, und den religiösen Fragestellungen und deren Be¬ 
antwortungen ist unmittelbar gegeben, da es ja dieselben Themen sind, die 
hier wie dort diskutiert, bezweifelt und beantwortet werden. Immerhin läßt 
sich einwenden, es seien in der Theologie die großen Fragen, welche die 
Menschheit beschäftigen, während es in der Zwangsneurose nichtige Probleme 
und Problemchen sind, welche die Kranken beunruhigen. Aber schon der 
Hinweis auf die einzelnen Fragestellungen der arianischen Kontroverse zeigt, 
daß dieser Unterschied nicht von einschneidender und tiefgehender Art ist. 
Wenn es als unbedingtes Erfordernis für die ewige Seligkeit erscheint, über 
Gott-Ähnlichkeit oder Gott-Gleichheit Christi zu entscheiden, rückt die Über¬ 
einstimmung mit dem Denken der Zwangskranken schon näher. Es gibt 
indessen in der Entwicklung jeder vollausgebildeten Religion ganze Perioden, 
da sie auf bestimmter Stufe Fragen in den Mittelpunkt der Diskussion 
stellt, welche denjenigen der Zwangskranken nach Inhalt und Struktur ganz 
ähnlich sind. Die Hochblüte der Scholastik bezeichnet z. B. für die katho¬ 
lische Religion ein solches Zeitalter. Einer der schärfsten Denker der 
Scholastik, Petrus Lombardus (1164), stellte folgende theologische Fragen 
auf und bemühte sich, sie zu beantworten: Ob ein Vorhersehen oder Vor¬ 
herbestimmen Gottes möglich gewesen wäre, wenn es keine Geschöpfe ge¬ 
geben hätte? Wo Gott vor der Schöpfung war? Ob Gott mehr wissen kann 
als er weiß? Ob Gott etwas Besseres, oder etwas auf bessere Weise machen 
könne, als er es macht? Ob Gott allezeit alles könne, was er gekonnt hat? 
Ferner fragt Petrus, wo die Engel nach ihrer Schöpfung gewesen seien? 
Ob die guten Engel sündigen, die bösen rechtschaffen leben können? Ob 
alle Engel körperlich sind? Ob die Rangordnung der Engel seit dem Anfang 
der Schöpfung bestimmt worden sei? In welchem Alter wurde der Mensch 
erschaffen? Warum Eva gerade aus der Rippe und nicht aus einem anderen 
Körperteil des Mannes gemacht worden sei? Warum Adam dabei schlief, 
nachdem die Wichtigkeit der Sache schon sein Wachen erfordert haben 
dürfte? Könnte der Mensch ewig leben, wenn er nicht vom Baume der 
Erkenntnis gegessen hätte? Wie hätten sich die Menschen fortgepflanzt, 
wenn sie nicht gesündigt hätten? 

Ferner interessiert den großen Scholastiker und seine Zeitgenossen die 
Frage, warum der Sohn und nicht der Vater oder der Heilige Geist Mensch 














*94 


Theodor Reit 


geworden sei? Ob Gott das durch Christus dargebrachte Opfer auch hätte 
annehmen können, wenn der Erlöser ein Weib gewesen sei? Diese Frage 
rief den lebhaftesten Gedankenaustausch der ersten Autoritäten hervor. 
Große Scholastiker, wie Scotus, Lombardus, Thomas von Aquino, Occam, 
Bonaventura, Albertus Magnus prüfen die Frage, ob Gottes Sohn sich auch 
in einen Ochsen, Esel, Kürbis oder gar Teufel verwandeln könne? Noch im 
vierzehnten Jahrhundert konnte man in Konstantinopel in der Geistlichkeit 
und sogar bei Hofe darüber streiten, ob das Licht auf Tabor ein erschaffenes 
oder ein unerschaffenes Licht gewesen sei. Besonders fein sind die Fragen 
über die Sakramente, besonders über die Taufe: Ist ihr Wesen das Wort 
oder das Wasser? Ersteres, sonst könnten ja Fische in der Taufe leben und 
ein Esel, der Taufwasser saufe, ein getaufter Christ sein wollen. Ob sich 
auch das mit dem Wein im Kelch vermischte Wasser in Wein oder Blut 
verwandle? Sogar Augustinus wirft die Frage auf, ob jeder Irrtum Sünde 
sei, z. B. wenn man Zwillinge verwechsle oder etwas Süßes für bitter halte. 
Ein Problem zeugt hunderte, wie man es z. B. in der Diskussion der Frage, 
ob Gott Geschehenes ungeschehen machen könne (z. B. die Gründung Roms), 
sieht (Petrus Damiani). Anselms Sorge gilt z. B. der Frage, ob Christi Tod 
auch seinen Feinden, die ihn gekreuzigt haben, zugute komme. (Cur deus 




homo. II, 15.) 

Ähnliche Fragen erscheinen in den „Summis“ der scholastischen Theo¬ 
logen durch etwa drei Jahrhunderte und erhitzen die Gehirne und Gemüter 
der besten Gottesgelehrten und fesseln das Interesse der Kleriker. Die Fragen, 
ob Gott-Vater stehe oder liege, ob er einen Berg ohne Tal schaffen könne, 
ein Kind ohne Vater, ob er eine gefallene Frau wieder zur Jungfrau machen 
könne, beschäftigen die theologische Forschung der Zeit. Die Spitzfindig¬ 
keit der Fragestellung, der große Aufwand an Scharfsinn in der Beant¬ 
wortung, die erneuten Zweifel, die sich an jeden Lösungsversuch schließen, 
ihn wieder unsicher erscheinen lassen oder neue Fragen aus ihm ableiten, 
alles dies sind Züge, die wir aus der Symptomatologie der Zwangsneurose 
gut kennen. 1 Es ist leicht erkennbar, daß Fragen wie die, ob Gott allzeit 


1) Natürlich treten diese Züge in der Scholastik nur scharf hervor, sie finden 
sich aber in der theologischen Literatur der späteren Zeiten immer wieder. Noch 
1705 wurde in Leipzig das Thema „Oh die Kleider der Juden in der Wüste durch 
ein Wunder alle Strapazen ausgehalten hätten oder gar nachgewachsen seien“ als 
Doktordissertation behandelt. 1793 erscheint eine Abhandlung von Salomon Ranisch. 
„Der Dienst der Engel bei den Eheverbindungen der Frommen.“ Der Konsistorial- 
assessor Christoph Haymann hielt den Gegenstand für bedeutsam genug, um in eine 
gelehrte Polemik mit dem Autor zu treten. Aus der Unzahl von Schriften ähnlicher 
























Dogma und Zwangsidee 


295 


alles könne, was er gekonnt habe oder ob er einen Berg ohne Tal schaffen 
könne, Fragen, deren Antworten natürlich positiv ausfallen müssen, dem 
unterirdischen Zweifel an der Allmacht Gottes dienen. Die Fragestellung, 
ob der Mensch ewig leben könnte, wenn er nicht vom Baume der Er¬ 
kenntnis gegessen hätte, zieht die Voraussicht oder Güte Gottes in Zweifel. 

Nur dem theologisch befangenen Geiste kann es entgehen, daß Fragen, 
welche die Eigenschaften der Taufe und anderer Sakramente klarzustellen 
streben, gleichzeitig dem unbewußten Zweifel an den Sakramenten Aus¬ 
druck geben. Wenn etwa die Scholastik mit großem Ernste die Frage auf¬ 
wirft und erörtert, oh Gottes Sohn die Welt auch in Eselsgestalt hätte erlösen 
können, wird es deutlich, daß in dieser Diskussion unbewußt Christus in 
ungebührliche Nähe eines wenig geachteten Tieres gerückt wurde. Die un¬ 
bewußte Wirksamkeit des Hohnes in der Erörterung des sublimen Problems, 
wieviel Engel auf einer Nadelspitze tanzen können, ist nicht abzuweisen; 
ebensowenig der unterirdische Zweifel an der Existenz der Engel. Wir werden 
sofort verfolgen, in welcher Art die Kirche solche Zweifel bewältigte. In 
einzelnen Fällen kehrt sie sich gegen das Aufwerfen solcher Fragen, als 
spüre sie, wieviel verborgener Hohn in ihnen stecke. Der heilige Epipha- 
nius bezeichnet die heiklen Fragen über bestimmte Details der Jungfräu¬ 
lichkeit Marias als ruchlos. Aber diese Fragen verstummten in der theo¬ 
logischen Diskussion nicht. Scotus hält es für wahrscheinlich, daß Maria 
sündlos empfangen wurde, also fleischliche Begierde nicht gekannt habe. * 1 
Wenn um 1462 zwischen Dominikanern und Franziskanern ein heftiger 
theologischer Kampf über die Frage ausbrach, oh auch das von Christus 
am Kreuz vergossene Blut mit seiner Gottheit verbunden gewesen sei, 2 oder 
wenn Lomhardus und Bonaventura sich mit dem Problem beschäftigen, ob 
Maria bei Schließung ihrer Ehe mit Josef nicht bedingt in eine mögliche 
Geltendmachung des Eherechtes habe einwilligen müssen 3 * 5 , so spottet die 
Kirche ihrer seihst und weiß nicht wie. 

Art heben wir nur noch die gründliche Untersuchung des Johann Georg Walch: 
„Vom Glauben der Kinder im Mutterleib“ (um 1750) hervor, welche den theologisch 
bedeutsamen Gegenstand mit dem heiligen Ernst, der ihm gebührt, behandelt. Jeder, 
der die apologetische und kasuistische Literatur der gegenwärtigen Kirche gut kennt, 
wird bezeugen, daß es an ähnlichen Untersuchungen nicht fehlen kann, solange es 
christliche Frömmigkeit gibt. 

1) Sent. VII. Dist. 3. o, 1. 

2) Pius II. bestimmte in der Bulle vom 1. August 1464, der Streit solle beiderseits 

ruhen und keine der beiden Parteien dürfe die andere als häretisch erklären, bis eine 

Entscheidung des Apostolischen Stuhles erfolgt sei. Diese steht seither noch aus. 

5) Sent. IV. Dist. 30 B. 













Theodor Reih 


296 


Wie bereits erwähnt, spielen subtile Fragestellungen und Zweifel dieser 
Art, welche den zwangsneurotischen so verwandt sind, in jeder hochorga- 
nisierten Religion notwendigerweise eine große Rolle. Es sei an die be¬ 
rühmten Zweifel des Talmuds erinnert, an die vielen spitzfindigen Probleme, 
die dort ihre Erörterung finden. Der Anfang des Traktats Bezah, welcher „das 
fatale Eile, das ein Huhn gelegt am Samstag“ (Heinrich Heine) behandelt, 
ist keineswegs ein singuläres Beispiel. Über alle religiösen Unterschiede hin¬ 
weg erinnern die Fragen der Halachoth, etwa die Spekulationen darüber, 
welche Dinge man am Sabbat tragen dürfe, was als Last und was als 
Zierde gelten darf, ob man einen falschen Zahn tragen dürfe, ob bei einem 
Tier eine Schelle als Last oder Zierde zu betrachten sei usw., an die Haar¬ 
spaltereien der Scholastiker. Der Islam hat in seinem hochkomplizierten 
Käläm, in dem ähnliche Fragen erscheinen (ob der Mensch völlig Herr seines 
Handelns sei oder von Gottes Allmacht gezwungen werde, ob Allah sich 
selbst vernichten könne usw.), dieselben Erscheinungen. Man spürt die¬ 
selbe Atmosphäre wie in der Dogmenbildung der Kirche, wenn die Muta- 
liziten die Lehre des Islams von den sieben Attributen Gottes (Allwissender, 
Allmächtiger usw.) bestritten und sich dabei darauf berufen konnten, daß 
ein ewiger Gott und ewige Attribute neben ihm mehrere ewige Wesen, 
folglich Polytheismus postulierten. Wer denkt nicht an die minutiösen Fragen 
über die mögliche Sündhaftigkeit Christi, wenn der große Dogmatiker Al- 
Ashari (f 941) lehrt: der Prophet habe zwar die Möglichkeit des Sündigen 
gehabt, sei aber von ihrer Wirklichkeit durch die göttliche Bewährung be¬ 
schützt worden? Man vergleiche etwa die Vorschriften des Talmuds über 
das Ausmaß des Wassers für das Tauchbad oder die Erörterung der Frage, 
wie weit man sich am Sabbat bewegen dürfe, mit den Vorschriften, welche 
die Kirche für die Konsekration der Priestergewänder gibt (nach Gihr, Das 
heilige Meßopfer, 4. Aufl. 1887. S. 255). „Durch Ausbesserung verlieren die 
Kultkleider ihre Benediktion nur, wenn der neu an- oder eingesetzte Teil, 
der noch keine Weihe hat, größer ist als der geweihte, nicht aber, wenn 
er kleiner ist“ usw. Mit Unrecht nennt Harnack (Dogmengeschichte. III. 710) 
solche Abschnitte „entsetzlich“ und sagt, die Kirche habe in solchen „Sakra¬ 
mentalien“ „den Rabbinismus und die Theorie und Praxis der Pharisäer 
und Talmudisten im Christentum legitimiert“. Diese Praxis und Theorie 
ist in Wahrheit nichts Spezifisches und entspricht durchaus einer bestimmten 
Entwicklungsstufe einer jeden Religion. 

Die unbewußte Auflehnung und der latente Spott in der Aufwerfung 
spitzfindiger * Fragen ist wie in den Zwangsideen auch in den religiösen 














Dogma und -Zwangsidee 


r 




*9 7 


Spekulationen aller großen Religionen aufzeigbar. Die Rabbis mußten sich 
gegen diese unterirdischen Strömungen sogar innerhalb des Judentums zur 
Wehre setzen. So schloß Rabbi Jehuda eine ganze Generation von seinem 
Lehrhause aus, weil er behauptete, die Schüler von Rabbi Meier seien 
Chikanöre. „Sie kommen nicht (ins Lehrhaus), um Thora zu lernen, sondern 
sie wollen mich mit Halachoth erschlagen.“ (Kidduschim 52 b, Nasir 99 b.) 
Daß sich die revolutionären Tendenzen, die sich in der Aufwerfung subtiler 
Fragen auswirken, eigentlich gegen den überstrengen Gott richten, wird an 
vielen Beispielen klar. Dafür will ich nur ein Beispiel aus der theologischen 
Diskussion des Judentums geben. Im dritten Buch Moses 11, 35 heißt es: „Und 
alles, worauf ein solches Aas fällt, wird unrein. Ist es ein Ofen oder Kessel, 
so soll er zerbrochen werden.“ Es wurde nun im Synhedrion die Frage auf¬ 
geworfen, wie es denn wäre, wenn man den Ofen in zwei Teile zerlege und 
dazwischen Sand schichte. Wird er dann durch die Berührung mit einem 
Aas unrein? Das Synhedrion bejahte, B. Elieser verneinte diese Frage. Der 
Verlauf, den die Debatte genommen hat, wird nun folgendermaßen ge¬ 
schildert: „An jenem Tage führte Rabbi Elieser zahlreiche Beweise an, aber 
er drang nicht durch. Da sagte er: ,Mag dieser Johannisbrotbaum ent¬ 
scheiden! 1 Sofort entfernte sich der Baum hundert, manche sagen vier¬ 
hundert Ellen von seiner Wurzel. Sie aber erwiderten: ,Das beweist nichts. 4 
Hierauf rief Elieser den Fluß zum Schiedsrichter. Sofort strömte der Fluß 
nach rückwärts. Als man auch diesen Beweis nicht gelten ließ, rief Elieser: 
,So mögen die Wände unseres Lehrhauses entscheiden! 4 Sie neigten sich 
und drohten auf die Versammlung zu fallen. Da stand der Vizepräsident 
Rabbi Josua ben Chananja auf und rief den Wänden zu: ,Wenn die Weisen 
untereinander streiten, habt ihr euch nicht-hineinzumischen! 4 Nun blieben 
die Wände in geneigter Stellung. Sie fielen nicht um aus Respekt vor Rabbi 
Josua und richteten sich nicht auf aus Respekt vor Rabbi Elieser. Endlich 
sagte dieser: ,So mag man vom Himmel entscheiden!“ Da kam eine Stimme 
vom Himmel: ,Elieser hat recht! 4 Wieder stand Josua auf und rief: ,Du 
hast uns, o Gott, gesagt: ,Nicht im Himmel ist sie, die Thora. 4 Ferner 
hast du uns befohlen: ,Man soll sich nach der Mehrheit richten. 4 ,Hierauf 4 , 
so schließt der Bericht, ,traten die Weisen zusammen und verhängten über 
Rabbi Elieser den großen Bann 4 “ (Baba Mezia 59 h). Man sieht, hier wird 
Gott mit den eigenen Waffen geschlagen. Der Talmud schließt übrigens 
an den Bericht eine charakteristische Bemerkung. Es wird da erzählt, daß 
der Prophet Elias von Zeit zu Zeit einem Rabbi erschien und über mancherlei, 
was im Himmel vorging, berichtete. Bei einer solchen Gelegenheit fragte 











2g8 


Theodor Reik 


ihn einst der Rabbi, wie Gott die Zurechtweisung Josuas aufgenommen 
habe. „Er hat gelacht,“ erwiderte Elias, „und gesagt: meine Kinder haben 
mich besiegt. “ Der Tosafotkommentar bemüht sich natürlich, einen hier 
auftauchenden Einwand sogleich aus dem Wege zu räumen. Man konnte 
doch hier die Frage aufwerfen: „Es heißt doch, daß Gott seit der Zer¬ 
störung des Tempels nicht mehr lacht.“ Aber, meint der Kommentar be¬ 
schwichtigend: es war kein richtiges Lachen, sondern nur ein Schmunzeln. 
Man sieht, die Gläubigen lassen keine Widersprüche zu und beschränken 
Gottes Freiheit noch bei den seltenen Gelegenheiten, da er in Versuchung 
gerät, über dieses Tal der Tränen, das er geschaffen hat und in dem es 
so wenig Anlaß zur Heiterkeit gibt, zu lachen. 


Dogma und Anathema> Zwangsidee und Ahwehrvorgang 


Die Psychoanalyse zeigt in ihrer regressiven Auflösung der Zwangsidee, 
daß diese nicht fertig und völlig geformt in dem Kranken auftaucht so wie 
Pallas Athene aus dem Haupte des Zeus, sondern zuerst als eine mit zu¬ 
nächst ziemlich unfaßbaren Gefühlen verbundene, unscharfe Vorstellung. 
Die Zwangsidee entwickelt sich dann historisch aus der Abwehr der gegen 
sie gerichteten Zweifel, gewinnt an Extensität und Festigkeit, wird vom übrigen 
gedanklichen Leben des Individuums isoliert, aus ihrer historischen Bedingt¬ 
heit losgelöst und tritt in neue gedankliche Verbindungen. Wie gewisse Bau¬ 
materialien gerade dadurch, daß sie dem Wind und Wetter ausgesetzt werden, 
anscheinend eine erhöhtere Festigkeit und Resistenz erhalten, so gewinnt die 
Zwangsidee gerade im Abwehrkampfe gegen die „Vernunft“ neue Kräfte. Der 
fortwirkende Zweifel, dem sie unterliegt, erzwingt die sekundäre Bearbeitung, 
bedingt es aber auch, daß sie sich entwickelt, neue Verknüpfungen aufnimmt 
und sich im Scheinbar-Vernünftigen verankert. Sie erhält durch diese Prozesse 
Halt und Sinn im Seelenleben des Individuums, während sie früher als völlig 
unmotiviert und unsinnig erscheint. 

Das Dogma, das wir mit der Zwangsidee vergleichen, zeigt dieselben 
Prozesse in seiner Entwicklung. Jede Bemühung, seine Ünsinnigkeit, die 
vielfachen Widersprüche in sich selbst, mit anderen Glaubensvorstellungen 
sowie mit den Realitäten des Lebens aufzulösen, ist bei denjenigen, die an 
die Dogmen glauben, von vornherein zum Scheitern gezwungen, weil das 
Dogma ihnen als ewig und von jeder zeitlichen Bedingtheit losgelöst erscheint. 
Es gelingt auch nicht, eine Zwangsvorstellung analytisch aufzulösen, solange 
man es nicht zustande gebracht hat, sie in ursächlichen und zeitlichen 















Dogma und Zwangsidee 


299 


Zusammenhang mit dem Erleben des Kranken zu bringen. Erst wenn dies 
gelungen ist, erst wenn man dem Patienten zeigen kann, daß seine Zwangs¬ 
idee nicht sozusagen fertig vom Himmel gefallen ist, verschwindet das 
Rätselhafte, das ihr anhaftet, zeigt sich ihre latente Bedeutung, erklären 
sich die Mechanismen ihrer Entstehung und ihre Abkunft von starken psychi¬ 
schen Triebkräften. 

Auch das Dogma bleibt gegenüber allen rationalistischen Bemühungen der 
Religionskritik und allen Versuchen des Freidenkertums, seinen Widersinn 
zu erweisen, unberührt, solange man seine historische Entstehung innerhalb 
der psychischen Entwicklung der Völker nicht erfaßt hat. Die Dogmen- und 
Kirchengeschichte sowie die vergleichende BeligionsWissenschaft werden hier 
zum Teil die Stelle der analytischen Aufklärung der Vorgeschichte beim 
Einzelnen vertreten. Aber die Resultate, welche diese wissenschaftlichen 
Disziplinen liefern können, sind nur geeignet, uns äußere Fakten und ihre 
Verbindungen sowie Vergleichungsmaterial zu geben. Sie können nichts über 
die psychischen Triebkräfte und die seelischen Mechanismen, nichts über 
ihre Voraussetzungen und Ziele in der Dogmenentstehung und -entwicklung 
aussagen. Hier muß die psychoanalytische Religionsforschung einsetzen und 
das von jenen Disziplinen gelieferte Rohmaterial zur psychologischen Er¬ 
klärung zu verwenden wissen. 

Die Dogmengeschichte zeigt uns, daß es in den Anfängen der Religion 
kein Dogma gegeben hat. Jesu Botschaft z. B. war völlig undogmatisch; 
er ahnte auch nicht einmal etwas von einer kommenden Kirche. Nichts 
lag Jesus ferner als der Gedanke an dogmatische Fixierung, nichts würde 
ihn mehr in Erstaunen gesetzt haben als die Existenz des Katholizismus. Immer 
wieder sprechen seine Worte von der nahen Endzeit, vom Reich Gottes, das 
bevorsteht. Er ist vom Glauben an das baldige Gericht und Ende erfüllt. 
Ganz nahe ist die Zeit, da Satans Macht gebrochen und die vollendete 
Gottesherrschaft gesichert ist. Die Weltenuhr zeigt die elfte Stunde. 1 Jesus 

1) Bei der Aussendung seiner Jünger kündigt Jesus an, daß sie mit Israels Städten 
nicht fertig würden, so rasch werde der Menschensohn kommen ^Matth. 10, 23). Das 
Gottesreich steht vor der Tür. Er erklärt, manche unter den Umstehenden würden den 
Tod nicht kosten, bis das Reich Gottes in Kraft gekommen sei (Mark. 9, 1) und ruft 
aus: „Wahrlich ich sage euch, dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß alles 
geschehen ist“ (Mark. 13,30). — Vgl. Joh. Weiß (Die Predigt Jesu vom Reiche 
Gottes. Göttingen. 2. Aufl. 1900), der betont, daß Jesus sein Leben als Opfer für das 
baldige Kommen des Gottesreiches gegeben hat. Auch in Albert Schweitzers großem 
Werke (Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. 2. Aufl., Tübingen 1913) erscheint die 
eschatologische Theorie vom nahen Weitende in ihrer Bedeutsamkeit. Der katholische 
Modernist George Tyr eil (Christianity at the Crossroad. London 1910) übernahm mit 















3oo Theodor Reik 


lebt in der Endzeit, er ruft zur Buße und Umkehr auf — wie soll er, der 
wußte, daß in kürzester Frist das große Gericht bevorstand, Dogmen und recht- 
liehe Kanones fixiert haben? Die Urgemeinde, welche auf das nahe Erscheinen, 
die Parousie des Kyrios, wartete und noch aufs Engste mit der jüdischen Mutter¬ 
religion vereint war, kannte keine Dogmen. Erst Paulus ist der „Stifter“ des 
katholischen Kirchentums. Erst jener jüdische Eiferer, der früher die Naza¬ 
rener erbittert verfolgt hatte, hat die erste Exkommunikationsbulle verfaßt. 
Er hat beschlossen, denjenigen, der die Heiligkeit gröblich verletzt hat, dem 
Satan zum Verderben des Fleisches zu übergeben (Kor. 5, 3 ff. jtapaöiöovai xaj 
aaxava). Er hat zuerst wie die Hierarchen der späteren Zeit sein „ Anathema 
sit“ gegen jeden geschleudert, der ein anderes Evangelium predigen wollte 
wie er: „So jemand auch ein anderes Evangelium verkündet denn das, welches 
ihr empfangen habt, der sei verflucht“ (Gal. 1, 8). Heiler bemerkt mit Recht: 
„Paulus hat die Bannformel geprägt, mit welcher die Konzilien und Päpste 
der römischen Kirche die Häretiker gehrandmarkt haben. Kein Art-, nur ein 
Gradunterschied trennt das paulische Anathem vom römischen.“ 1 

Es kann nicht Zufall sein, daß dieser selbe Paulus, der so intolerant 
gegen Abweichungen im Glauben war, in seiner Christologie und Soterio- 
logie den Grund zur dogmatischen Doktrin legte. Sein Mythus vom Gottes¬ 
sohn lieferte die Grundlagen für die subtile, reich verzweigte christologische 
Dogmatik der späteren Zeit. Das Mysterium crucis zeigt bei Paulus zuerst 
das Gesicht einer verstehbaren Lehre, die der Vernunft zugänglich wird. 

Wir sind auf diesem Wege wieder zu unserer Behauptung, daß das Dogma 
als Reaktionserscheinung auf die Häresie entsteht, daß es aus dem Abwehr¬ 
kampfe gegen den Zweifel geboren sei, zurückgekehrt. Die Zwangsneurose 
zeigt in ihrer Symptomatologie ein zweifaches Gepräge: sie schafft Verbote, 
Vorsichtsmaßregeln, Bußen, also Symptome negativer Art, oder im Gegen¬ 
teil Ersatzbefriedigungen in entstellter Form. Freud hat uns gezeigt, daß 
von diesen beiden Symptomengruppen die negative und abwehrende die 
ältere ist. Mit der Dauer des Krankseins rücken dann die Ersatzbefriedi- 


Begeisterung Schweitzers „konsequente Eschatologie“, um den katholischen Jenseits¬ 
glauben apologetisch zu rechtfertigen. Aber sogar gegen diese Anschauungen katho¬ 
lischer Gelehrter, welche eine im Neuen Testament unzweideutig ausgesprochene 
Anschauung wiedergeben, hat die kirchliche Theologie schärfsten Protest erhoben. Der 
Machtspruch Pius’ X. (im Syllabus Lamentabili vom 3. Juli 1907) verfügt: Propositio 
damnata $2 : „Alienum fuit a mente Christi ecclesiam constituere veluti societatem super terram 
per longam saeculorum seriem duraturam : quin imo in mente Christi regnum coeli una cum fine 
mundi iamiam adventurum erat.“ 

1) Heiler, Der Katholizismus. München 1923. S. 53. 





















Dogma und Zwangsidee 


gungen immer mehr in den Vordergrund, so daß sie das Krankheitsbild oft 
zu einem großen Teile beherrschen. Freud hat einen typischen Verlauf 
hervorgehoben, wenn er auf einen oft eintretenden Triumph der Symptom¬ 
bildung hin weist. Dieser erscheint dann, „wenn es gelingt, das Verbot mit 
der Befriedigung zu verquicken, so daß das ursprünglich abwehrende Gebot 
oder Verbot auch die Bedeutung einer Befriedigung bekommt, wozu oft sehr 
künstliche Verbindungswege in Anspruch genommen werden“. 1 

Auch in der Dogmenentwicklung erkennen wir die Abwehr der Häresie 
an der Wurzel der dogmatischen Formel. Dieser Zusammenhang konnte 
weder den Theologen selbst noch den Vertretern der Religionswissenschaft 
völlig entgehen. Die Dogmatik weist darauf hin, wenn sie davon spricht, 
daß das Dogma zwar von Ewigkeit her bestehe, aber zur Abwehr der Häresie 
und der Zweifler sowie zur Vertiefung des Verständnisses der Gläubigen for¬ 
muliert werden mußte. Wir haben im Falle des Christusdogmas gesehen, 
wie die Kirche in ihren Kämpfen mit den Gnostikern, den Monarchianern, 
dem Sabellianismus und schließlich dem Arianismus immer gebieterischer 
zu schärferer Formulierung ihrer Glaubensvorstellungen gezwungen wurde. 
Das Dogma wurde schließlich das Bollwerk, das gegen den mächtigen und 
fortwirkenden Zweifel aufgerichtet werden mußte. Die ganze Geschichte 
der Dogmenbildung, nicht nur der christlichen, sondern auch die der Reli¬ 
gionen des Islams, des Judentums, des Buddhismus zeigt überdeutlich das 
psychisch Gesetzmäßige dieses Prozesses. Ohne Arius gibt es kein nizäni- 
sches, ohne Luther und Calvin kein Trienter Glaubensbekenntnis. Der heilige 
Augustinus legt selbst von dieser Bedingtheit der Dogmenentstehung Zeugnis 
ab, wenn er ausruft: „Ist vollkommen über die Dreifaltigkeit geschrieben 
worden, ehe die Arianer dagegen anbellten? (In Ps. 54* ti. 22.) Immer wieder 
sehen wir denselben Vorgang: so wie die Zwangsvorstellung den Zweifel 
bannen soll, so das Dogma die Häresie. Einer der bedeutendsten Forscher 
des Islams, der Leidener Professor C. Snouk-Hurgronje, hat das Typische 
dieses Vorgangs in der Entwicklung der Religion Mohammeds entschieden 
formuliert: 2 „Nicht anders als in der christlichen Kirche wurde auch im 
Islam die Ketzerei die Hebamme der Dogmatik: das Aufkommen von Mei¬ 
nungen, die in den herrschenden Kreisen Anstoß erregen, nötigte die letzteren, 
die eigenen Ansichten zu revidieren, zu ordnen und mit ähnlichen Waffen 


1) Hemmung, Symptom und Angst. 1926, S. 46. 

2) Im „Lehrbuch der Religionsgeschichte“. Herausgegeben von Alfred Bertholet 
und Edvard Lehmann. I. Bd. 1925. S. 725. 

















3o2 Theodor Reik 


zu verteidigen wie die, deren die Gegner sich bedienten. Jede Häresie erzeugte 
einen oder mehrere Glaubensartikel. 4 

So gab es im Leben der Religion vor der Entstehung des Dogmas nur 
Glaubensvorstellungen mehr oder minder bestimmter Art, die tief im Un¬ 
bewußten wurzelten und deren Vorstellungsinhalte relativ einfach waren. 
Diese Glaubens vorstell ungen haben sich aus den animistischen Anschauungen 
der Vorzeit entwickelt und sind dem jeweiligen Kulturniveau der Gläubigen 
angepaßt; sie tragen dessen Zeitmarke. Sie sind dem Zweifel nicht aus¬ 
gesetzt wegen ihrer einfachen Beschaffenheit und ihrer schwankenden, 
unbestimmten Gestalt. 1 Die Ratio hat mit ihnen nichts zu schaffen. Erst 
mit dem Zweifel ergeben sich die Ansätze zur Dogmenbildung. Alles 
Rätselhafte, Phantastische und Absurde der religiösen Vorstellungen be¬ 
ginnt erst mit der scharfen Formulierung, zu welcher der Zweifel die 
Kirche zwang. 

Das Dogma besteht in Wirklichkeit aus zwei miteinander verbundenen 
Teilen, deren psychische Wertigkeit verschieden ist: aus dem präzisen, be¬ 
grifflichen Ausdruck der Glaubenswahrheit und aus dem Ausdruck der 
Abweisung abweichender Glaubensvorstellungen. Im Laufe der religiösen 
Entwicklung ergibt es sich dann, daß jener zweite Teil mehr und mehr 
zurücktritt. Das Sinken der Macht der Religion hat an solcher Abschwächung 
der Verwerfung abweichender Meinungen einen bedeutenden Anteil. Es 
fällt nicht schwer, milde zu sein, wenn man schwach geworden ist. Nur 
dem oberflächlichen Blick der spekulativen Religionswissenschaft aber kann 
es entgehen, daß die Verurteilung der ketzerischen Ansichten den wesent¬ 
lichen und historisch primären Teil des Dogmas darstellt. Mag sie später 
immerhin nur wie ein Anhängsel erscheinen, ihre Bedeutsamkeit innerhalb 
der Entstehung und im Wesen des Dogmas ist für den analytischen Religions¬ 
forscher unzweifelhaft. Auch hier ergibt sich die Analogie mit der Zwangs¬ 
vorstellung, deren abwehrende Seite die ältere ist und die erst später die 
Ersatzbefriedigung in den Vordergrund rückt. Ein naheliegendes Beispiel 
aus der Symptomatologie einer Zwangsneurose: der Patient, über dessen 

1) Wir wollen hier nur auf das Urchristentum hinweisen, in dem, wie z. B. A. D orner 
(Heilsglaube und Dogma in „Beiträge zur Weiterentwicklung der christlichen Religion“ 
München 1905. S. 140) betont, von einer ausgeprägten Lehre keine Rede Sein kann: 
„Die Art, wie hier der Inhalt des Christentums zum Ausdruck gekommen ist, ist nicht 
scharf begrifflich, sondern in mehr unbestimmter, phantasiemäßiger, rhetorischer 
poetischer Form wurde der Glaubensinhalt ausgedrückt... Von Dogma kann so wenig 
die Rede sein, als von ausgeprägter Lehre.“ Dieselben Merkmale treffen für die 
Glaubensvorstellungen aller Religionen in ihren Anfangsstadien zu. 














r 



Sog 


blasphemische Gedanken ich früher berichtete, rief von Zeit zu Zeit immer 
wieder laut die Worte: „Gott ist ein Fuchs* oder kürzer „Fuchs, Fuchs!“ 
per Sinn dieser seiner dogmatischen Formel wurde von der Analyse bald 
aufgeklärt: es ergab sich nämlich, daß sie in früherer Zeit eine vollständigere 
Fassung hatte, die erst später dieser kürzeren gewichen war. Er hatte nämlich 
früher gerufen: „Nein, sondern Gott ist ein Fuchs“ oder nur: „Sondern ein 
Fuchs.“ Die Verneinung und der Gegensatz legten es nahe, daß diese Vor¬ 
stellung eine andere zurückweisen, zurückdrängen sollte. Nach Überwindung 
großer Widerstände gelang es mir, die ursprüngliche Fassung der Zwangs¬ 
vorstellung zu rekonstruieren. Im Knabenalter des Kranken war in ihm einmal 
der Gedanke, Gott sei ein Esel, aufgetaucht. Mit der Verzweiflung des Frommen 
hatte er diesen blasphemischen Gedanken zurückgewiesen und dem Esel, 
diesem dummen Vieh, sogleich den schlauen Fuchs gegenübergestellt. Sobald 
die blasphemische Idee wieder auftauchte, mußte er zur Abwehr zuerst denken, 
dann rufen: „Nein, Gott ist kein Esel, sondern ein Fuchs.“ Früher noch 
hatte er gerufen: „Der Teufel ist ein Esel, aber Fuchs“ (= aber Gott ist 
ein Fuchs). Die Verkürzung erklärt sich aus dem Bestreben, die sich auf¬ 
drängenden blasphemischen Gedanken fernzuhalten. 1 Diese Formel wich 
im Laufe der Zeit dem abgekürzten und scheinbar Subjekt- und prädikat¬ 
losen Ausrufe: „Fuchs!“ Der Ausfall der Blasphemie und die Verkürzung 
der Abwehrformel sollen die Entschiedenheit der Abweisung des anstößigen 
Gedankens verstärken, wie der Kranke sagt. Er selbst erklärt auch, daß 
die besondere Kraft, mit der er „Fuchs“ sage, sowie die Kürze des Wortes 
ihm in letzter Zeit sozusagen aufgezwungen wurde, weil die Blasphemien 
in immer kürzerer Zeit aufeinanderfolgen, immer größere Gewalt zu er¬ 
langen drohen und er sie deshalb um so rascher und energischer abwehren 
müsse. 

In manchen Beziehungen kann diese Zwangsidee wie eine dogmatische 
Formel einer positiven Religion aufgefaßt werden. Wir sehen, z. B. in ihrer 
Entwicklung, daß der verpönte Gedanke späterhin nicht mehr zum Aus- 


1) Es ist bezeichnend, daß die blasphemische Beschimpfung ursprünglich auf den 
Teufel verschoben wurde. Der Kranke erinnert sich, daß er oft während seiner eng¬ 
lischen Lektionen unvermittelt sagen mußte: „ The devil is an ass and a fool“ Schlie߬ 
lich mußte ihn sein Lehrer wegen dieser „blasphemischen“ Reden zurechtweisen : 
n That is not true , the devil is neither an ass nor a fool , he is on the contrary very clever“. — 
Da die Versuchung, beim Aussprechen des Namens Gottes jene verbotene zoologische 
Vorstellung zu reproduzieren, immer stärker wurde, zog es der Patient vor, den Gottes¬ 
namen zu vermeiden. Wenn er z. B. die belgische Hymne rezitieren wollte („ Dien , qui 
protege la Belgique), sagte er: „Le renard, qui protege la Belgique“ usw. 
















3o 4 Theodor Reik 


druck kommt, sondern nur eine positive Aussage. Kein Einsichtiger wird 
indessen leugnen, daß diese ihre psychische Bedeutung zum größten Teil 
der Abweisung des verschwiegenen, gegensätzlichen Gedankens verdankt 
Wer heute das Dogma, wie es jede hochorganisierte Religion aufweist, nur 
in seiner positiven und präzisen Form kennen lernt so wie etwa das Kind 
die Dogmen im Katechismusunterrichte oder wie es der Gläubige den 
Priester von der Kanzel verkünden hört, weiß im allgemeinen wenig von 
seiner historischen Bedingtheit, in der die Abwehr des Zweifels eine so 
entscheidende Rolle spielt. Dem Dogma, wie es positiv formuliert wird, 
folgt das „anathema sit“, das seit der Synode von Chalcedon der technische 
Ausdruck für den Kirchenbann geworden ist. Es besagt, daß jeder, der eine 
der im Dogma ausgedrückten Meinung entgegengesetzte Anschauung hegt, 
aus der Gemeinde ausgeschlossen und verflucht sein solle („Si quis dixerit ... 
anathema sit“)* Das Anathema stellt den historisch früheren und bedeut¬ 
sameren Teil des Dogmas dar, der erst später seine Wichtigkeit an die 
positive Aussage des Dogmas abgegeben hat. 1 2 Wie es nun völlig unmöglich 
ist, den wirklichen Wortlaut der Zwangsvorstellung meines Patienten zu 
erraten, wenn man ihn nur „Fuchs!“ rufen hört, so unmöglich ist es, den 
wahren Charakter eines dogmatischen Satzes zu erkennen, wenn man nicht 
seine Geschichte, insbesondere aber seine Entstehung aus der abgewehrten 
Häresie kennt. Die Kirche hat einen feinen Instinkt bewiesen, wenn sie 
vor allem die dogmengeschichtlichen und religionswissenschaftlichen Unter¬ 
suchungen verwirft oder nur in eigener Regie und mit den durch die 
Glaubensregeln gegebenen Einschränkungen zuläßt. Nach dem Syllabus 
von 1907 hat eigentlich jede moderne Bibelkritik und Dogmengeschichte 
ihre Existenzberechtigung innerhalb der Theologie verloren. Der Grund ist 
derselbe, der Galileis heliozentrische Theorien als „gefährliche Irrtüme r 
und Häresien“, die dem Glauben zum Verderbnis gereichen (in pernici em 


1) Das Wort kommt vom griechischen avatühripi, das ursprünglich „weihen“ wie 
„bannen“ bedeutet und ein den Göttern dargebrachtes Weihegeschenk bezeichnet. 
Näheres über die kirchliche Verwendung in Wetz er und Weltes „Kirchenlexikon“. 
Bd. I. 1882. S. 796. 

2) Eine naheliegende Analogie liefert die Abrenunciationsformel, das Gelöbnis, 
sich vom Teufel und seinen Diensten loszusagen, das hei der Aufnahme in die Ge¬ 
meinschaft gegeben wurde und seine biblische Grundlage in Mk. 25, 41; Joh. 12, 31; 
Eph. 6, 11, 12; 1. Joh. 2, 13; 5, 19 findet. Diese im Mittelalter beibehaltene Formel 
wurde dann fallen gelassen und ging in die Beichte über. Auch in der Taufe ist die 
Abgrenzung der Gläubigen von den Heiden, Gnostikern und Häretikern das historisch 
bedeutsamere Stück. 


















Dogma und Zwangsidee 3o5 


ficlei), erscheinen ließ: 1 auch Galilei mußte ihnen „abschwören, sie verfluchen 
und verabscheuen“ (abiurare , maledicere , detestari). 

Die Unverständlichkeit und die oft abstrus scheinende Fassade des Dogmas 
löst sich bei näherer geschichtlicher Betrachtung in der Rekonstruktion 
ihrer Entstehungsgeschichte, besonders ihrer Ursprungssituation. Der wissen - 
schaftliche Fortschritt in dieser Richtung ist trotz allem Konservatismus der 
Kirche unaufhaltsam. 2 

Eine andere Eigentümlichkeit der Zwangsneurose bietet sich der kriti¬ 
schen Betrachtung des Dogmas dar: sie geht vom Worte aus. Die Bedeut¬ 
samkeit der Wortwahl, die Wichtigkeit der Formel, das besondere Gewicht, 
das auf Präzision und Bestimmtheit des Ausdruckes gelegt wird, gehören 
ebensowohl der Zwangsvorstellung als dem Dogma an. Sie bilden ein starkes 
Gegengewicht gegen den Zweifel, der sich gerade an den Wortlaut halten 
und dort in die ursprünglichen Vorstellungen eine Bresche schlagen will. 
Diese Züge kontrastieren seltsam zu der verschwommenen, entschwebenden, 
traumhaften Unbestimmtheit der ursprünglichen Zwangsvorstellung und es 
ist sichtbarlich der Zweck solcher Formel, jene Unbestimmtheit zu bannen 
und so den Zweifel und die aggressiven Tendenzen psychisch zu bewältigen. 
Es ist bezeichnend, daß sich an jede solche Formelsetzung in der Zwangs¬ 
neurose wieder neue Zweifel ansetzen können, bis schließlich eine absurde 
große Zwangsidee, die prägnant ausgedrückt erscheint, den Zweifeln schein¬ 
bar endgültig Halt gebielet. Der Kranke, von dem ich berichtete, mußte 
oft während des Tages vor sich hin sagen: „Drei Aristokraten im Himmel, 
zwei Lakaien in der Hölle. Er meinte damit, aus seinem Zwangsjargon 
in unsere Bewußtseinssprache übersetzt, die Trinität auf der einen, Satan 
und Beelzebub auf der anderen Seite. Ich erinnere an das früher über sein 
Verhältnis zur Aristokratie und zur Dienerschaft Gesagte, um die Ausdrücke 
verständlich zu machen. Es war nur konsequent, wenn ihm Diener oder 
Personen in untergeordneten Stellungen als Teufel erschienen, da sie von 
seinen Angehörigen schlecht behandelt wurden und man nach der Lehre 


1) Mirbt: Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katho¬ 
lizismus. 1911. 268 f. 

2) Der hervorragende katholische Forscher Friedrich von Hügel, der die Haltung 
der Kirche gegenüber der historischen Kritik mit ihrer Einstellung gegenüber den natur¬ 
wissenschaftlichen Fortschritten des siebzehnten Jahrhunderts vergleicht, sagt: „It may 
wellbe, that our difßculties do not appear more difßcult to us now than their difficulties appeared 
to the astronomers and theologians of 1616 and 1633 and that some of these historical troubles 
oj ours may last less long than the two centuries required for the full tolerance of Heliocen - 
tnsm (Eternal Life. 1913. S. 347.) 

Imago XIII. 


20 















3 o 6 


TLeodor Reit 


der Evangelien sich nur gegen die Teufel feindselig zeigen darf. Der Hohn 

in der Bezeichnung Aristokraten für die Trinität ist deutlich genug. _ 

Sein zwangsneurotischer Jargon war für mich namentlich am Anfänge der 
Analyse schwer verständlich. So sagte er z. B. „Teufelsmädchen“ und meinte 
Stubenmädchen; „Kirchenteufel“ bezeichnete den Mesner (Diener!). E r 
erzählte mir einmal: „Satan und Beelzebub waren heute bei mir und fragten: 

,Bitte, Kalbscarre gefällig? 4 “ Es kostete mich einige Mühe, die sonderbare 
Anfrage der „Söhne der Finsternis“ dahin zu verstehen, daß der Oberkellner 
und sein Gehilfe sich bei ihm nach dem gewünschten Menu erkundigt 
hatten. Als der Patient Lionardos „Abendmahl“ betrachtete, mußte er 
Christus als „betrunkenen Lakai“ titulieren; als Abwehr sagte er dann: 
„Nüchterner Aristokrat!“ Wenn er erzählte, er sei heute an der Hölle und 
am Himmel vorbeigefahren, so bedeutete dies, an jenem Hotel, wo es so 
viele Diener gibt, und an der kaiserlichen Burg. Seine Aussage, er habe 
dem Beelzebub ein Trinkgeld gegeben, bezog sich auf den Hausknecht; 
sein Gebet „Elegante Dame, hilf!“ galt natürlich der Jungfrau Maria. 

Die Präzision der Formel diente dazu, die blasphemischen Tendenzen 
zurückzudrängen und sich selbst des genauen Glaubens zu versichern. Es 
ist nun für solche zwangsneurotische Formel mit ihrer besonderen Ausdrucks¬ 
präzision charakteristisch, daß sie trotz allen Tendenzen zu Bestimmtheit und 
Genauigkeit der Verschwommenheit und damit dem fort wirkenden Zweifel 
doch nicht entgehen können. Dieser Effekt wird erklärlich, wenn man sich 
vor Augen hält, daß es sich ja in diesen Formeln um Mischprodukte zwischen 
verdrängten und verdrängenden Vorstellungen handelt, daß die abgewehrten 
Zweifel noch in der Formulierung der abwehrenden Gedanken unbewußt 
einspielen und ihre dynamische Kraft entfalten. Oft ist es übrigens gerade 
diese Absicht, jeden Zweifel möglichst schon durch den Ausdruck abzuhalten 
und jedes Mißverständnis, jede Einmischung vorweggenommener Umdeutung 
auszuschließen, was in ihrer Übertreibung zum Teil der Zwangsvorstellung 
ihren absurden Charakter verleiht, d. h. ihren Wortlaut als unsinnig er¬ 
scheinen läßt. 

Die Formulierung des Dogmas zeigt, sagte ich, die gleiche Schein-Exaktheit 
und -Präzision wie die Zwangsidee und dieser Zug dient hier wie dort zur 
Ausschaltung des Zweifels. Die ursprünglichen Glaubensvorstellungen sind 
wie die primären Zwangsgedanken von vieldeutiger Unbestimmtheit und 
erst die Angriffe, die gegen sie gerichtet werden, zwingen die Kirche zu 
scharfer und genauer Fassung ihrer religiösen Meinungen. So wie die An¬ 
nagung der primären Zwangsvorstellung durch die beständigen Zweifel ihre 























oft bis ins Absurde gehende Fortentwicklung notwendig macht, so muß 
auch die Dogmenbildung bis zu ihren äußersten Grenzen fortschreiten, weil 
sie der Kritik im eigenen und fremden Lager ausgesetzt ist. In den Symptomen 
der Zwangsneurose werden jene Gedankenzüge, welche einen bestimmten 
verpönten Gedanken abzuwehren geeignet sind, selbst wieder zum Objekt 
des Zweifels und die verbotene Lust kehrt auf solchem Umwege wieder. 
Vergleichen wir diese charakteristischen 1 VIechanismen mit dem analogen 
Vorgang in der Dogmengeschichte und wählen wir wieder unser Material 
aus der Zeit des arianischen Streites, der uns schon so viele wertvolle Ver¬ 
gleichsmöglichkeiten gezeigt hat. Es war selbstverständlich, daß man sich 
bei den Glaubensbestimmungen auf beiden Seiten an die Ausdrücke der 
Heiligen Schrift als an die höchste Autorität hielt. Was man von der Be¬ 
ziehung Gott-Vaters und Gott-Sohnes sagen wollte, mußte in diesen Aus¬ 
drücken gefaßt sein. Aber der Arianismus berief sich ebenso auf die Schrift 
wie die Orthodoxen und die Arianer zeigten, als die Bischöfe in Nizäa 
diese Beziehung definieren wollten, eine außerordentliche Geschicklichkeit, 
die Gwatkin treffend mit dem Worte „ evasivness “ bezeichnet, wenn es galt, 
jede Bestimmung des Gegners in ihrem Sinne zu nehmen. Wenn die Bischöfe 
behaupteten, Christus sei von Gott, konnten die Arianer ruhig zustimmen, 
weil alle Dinge von Gott seien. Wenn der Heiland in Übereinstimmung 
mit der Schrift und zur Abwehr der verruchten arianischen Ketzerei als 
das Abbild Gottes beschrieben wurde, konnten die Arianer einander schlau 
zulächeln und zustimmen: „Das sind wir auch, denn im Abbilde Gottes 
ist der Mensch geschaffen.“ Auch die Bezeichnung Sohn Gottes konnten 
sie für Christus akzeptieren, denn auch die Menschen sind Söhne Gottes. 
Da sahen sich die Bischöfe gezwungen, das Wort homoousios (wesensgleich) 
zu benutzen, um ihren Gegensatz zu den Arianern zu bekunden, jenes 
Wort, das in der Schrift nicht vorkommt und soviel Elend über die Christen¬ 
heit gebracht hat. Es gab eben keinen anderen Weg, um den Zweifeln der 
Arianer zu begegnen, als selbst eine Art Ketzerei zu begehen. In diesem 
Falle intellektueller Notwehr mußte es auch gestattet sein, eine als unrichtig 
empfundene Waffe zu verwenden. Auch dieser Vorgang wiederholt sich 
bekanntlich in der Zwangsneurose, wo die Abwehr der Zwangsgedanken 
so lange wieder verpönte Gedanken produziert, bis das Verdrängte selbst aus 
der Mitte des Verdrängenden wiederkehrt. Der Gegenimpuls, der die Ab¬ 
wehr der Zwangsgedanken stört und am Wortlaut angreift, ist in jeder 
ausgebildeten Zwangsneurose aufzeigbar. Hier ein kleines Beispiel, das die 
Ähnlichkeit mit den theologischen Streitigkeiten zwischen den Arianern 


20* 















3o8 


Theodor Reik 


und den Homoousianern auf weist. Jener Patient leidet unter der Zwangs¬ 
vorstellung, seine von ihm geliebte und geschätzte Tante werde in nächster 
Zeit sterben, und erwehrt sich dieser Befürchtung durch ein bestimmtes 
Gebet, an dessen Wortlaut er beständig Veränderungen vornehmen muß, 
weil die zurückgedrängten Todesgedanken (Todeswünsche) sich immer wieder 
störend einmengen. Während einer bestimmten Zeit lautet das Gebet: 
„ Seigneur , je mets toute mon esperance en vous et je prie que soit donnee 
une longue vie ci-bas ä ma chere et bien aimee tante“ etc. Der Werdegang 
gerade dieses Wortlautes wird klar, wenn er erklärt, er sage „ Seigneur “ 
und nicht „Dieu“ , weil Gott, mit diesem Worte angerufen, trotzdem viele 
Leute habe sterben lassen. Auch diese Begründung stellt schon eine Ratio¬ 
nalisierung dar, da sie die Abwehr der sich aufdrängenden Blasphemie, die 
sich an den Gottesnamen hängt, verbergen will. Er gebraucht die Wendung: 
ein langes Leben „ci-bas“ , damit kein Zweifel darüber herrsche, es handle 
sich um diese Welt, nicht etwa um das Leben im Jenseits usw. So ist 
fast jedes Wort durch die unterirdische Macht der andauernden Gegen¬ 
tendenzen mitbestimmt. Man denke nur an den großen Wortstreit, ob Maria 
Gottesgebärerin oder Gottesmutter genannt werden solle, an die berühmte 
Debatte über das Filioque, in der entschieden werden sollte, ob der Heilige 
Geist nur vom Vater oder vom Vater und vom Sohne ausgeht usw. Die 
Beispiele aus der Halacha des Judentums und seiner Dialektik sind so 
bekannt und zahlreich, daß wir sie kaum anzuführen brauchen. Das Typische 
des Angriffes des Zweifels am Wortlaut mag der Hinweis auf die christ¬ 
liche Debatte über die Ousia (das Wesen) Gottes und auf die islamitische 
Diskussion der sieben Attribute Allahs zeigen: fürchteten die Christen, daß 
die Ousia Gottes als ein göttliches Wesen neben Gott erscheine, so wiesen 
die Vertreter der Käläms darauf hin, daß die sieben göttlichen Attribute 
die Gefahr des Polytheismus näherbrachten. Die latente Mitarbeit der Ketzer 
und Zweifler an der Entstehung und Entwicklung des Dogmas ist dem 
unterirdischen Anteil des Zweifels am Zustandekommen der Zwangsidee 
völlig analog. 

Das Anathema ist ursprünglicher als das Dogma, mit dem es zusammen 
auftritt. Es dient nicht nur der Abwehr des fremden Irrglaubens; es ist 
insbesondere gegen den eigenen Zweifel der Gläubigen gerichtet. Jener 
Fluch gilt auch den Mitgliedern der Gemeinde, die einer offiziell nicht 
anerkannten Glaubensansicht zuneigen; er stellt unbewußt eine Selbstver¬ 
fluchung für den Fall des Zweifels oder des abweichenden Glaubens dar. 

Wenn die kirchliche Orthodoxie in den Ketzern vom Teufel verführte, 



















r 

Dogma und Zwangsidee 


boshafte und neuerungssüchtige Menschen sieht, die der ewigen Höllenpein 
verfallen sind, setzt sie sich in Widerspruch mit jenem Wbrte des Korinth er- 
briefes (1. Kor. 11, 19)» das ihre tiefe Notwendigkeit ausspricht: „oportet et 
haereses esse“ 


Der Widersinn im Dogma und in der Zwangsidee 

Die Kirche verdankt der Häresie mehr als die Reaktion auf ihre irrigen 
oder frevlerischen Aufstellungen. Der von uns früher zitierte Satz eines 
Religionsforschers, daß die Häresie die Hebamme des Dogmas ist, besteht 
freilich zu Recht, aber es läßt sich dahin ergänzen, daß sie manchmal 
die Mutter des Dogmas geworden ist. Es wird dem Dogmenhistoriker 
nicht schwer, nachzuweisen, daß die Ketzermeinung einer früheren Zeit 
Eingang in das Dogma gefunden hat und dort sakrosankt erklärt wurde. 1 
Es ist demnach richtig zu behaupten, das Dogma sei der umgearbeitete, 
entstellte Ausdruck einer häretischen Anschauung, man möchte sagen: eine 
Blasphemie als Glaubensregel. Dies widerspricht nur scheinbar der Bestimmung 
des Dogmas als einer Abwehr der Blasphemie. Wir verweisen auf das früher 
Gesagte, demzufolge sich das Dogma als Kompromißausdruck von verdrän¬ 
genden und verdrängten Vorstellungen darstellt. Auch in dieser Richtung 
ist die Kirche eine complexio oppositorwn. Diese positive Bedeutung der 
Häresie für das Dogma als einer seiner konstitutiven Faktoren ist für den 
unvoreingenommenen Beurteiler in der Geschichte aller Religionen un¬ 
verkennbar. Sie wird sich nach zwei Richtungen hin unzweideutig äußern: 
erstens zeigt die Religionsforschung an zahllosen Beispielen, daß, was heute 
den Gläubigen als Dogma erschien, ihnen übermorgen schon als Häresie 
erscheinen kann und zweitens beweist sie uns umgekehrt, daß die Häresie 
von heute übermorgen bereits dogmatische Geltung besitzen kann. Aber 
nicht nur dies: dieselbe Anschauung kann sozusagen zu gleicher Zeit die 
vorgeschriebene und verbotene sein. Die Dissenters, welche von den die 
Bekenntnisse feststellenden Reformatoren verworfen wurden, vertraten viele 
Gedanken, welche sich der offizielle Protestantismus in einem späteren 


1) Für den Katholizismus hat Heiler dies richtig dargestellt, wenngleich ihm 
die psychologische Notwendigkeit dieser Erscheinung nicht verständlich wurde. Er 
betont, die Folge der gewaltsamen Opposition und Isolierung der Ketzer sei „stets 
eine gründliche Revision und Prüfung des Wahrheitsrechtes der Häresie, die immer 
mit einer teilweisen und modifizierten Aufnahme des von der Häresie verfochtenen 
religiösen Elementes und damit mit der Wiederherstellung der verletzten Katho- 
lizität, des gestörten Gleichgewichtes endet“. (Der Katholizismus, S. 659.) 














3i 0 Theodor Reit 


Stadium zu eigen machte. Der Arianismus galt durch viele Jahrzehnte 
als die Form des Christentums, nicht nur als Staatsreligion, sondern auch 
als die von der Mehrzahl des Klerus und der christlichen Gemeinde an¬ 
erkannte christliche Lehre. Die mutalizitische Auffassung wurde von den 
abassidischen Kalifen offiziell als Staatsdogma erklärt. Nehmen wir nur 
ein Beispiel aus der Geschichte des Arianismus, um den umgekehrten 
Prozeß zu illustrieren: die Synode von Antiochien hatte die Bezeichnung 
wesenseins für die Beziehung Gott-Vaters und Gott-Sohnes abgewiesen. 
Sie wollten der Konsequenz entgehen, daß das gemeinsame Wesen das Erste 
und Absolute sein könnte, von dem Vater und Sohn als gemeinsame Söhne 
abstammen. Das Konzil von Nizäa hat die Wesenseinheit von Gott-Vater 
und -Sohn dekretiert, obwohl das Wort in der Bibel nicht vorkommt. Die 
Bilderverehrung, einst ein Greuel vor dem Herrn, schien diesem in späterer 
Zeit angenehm und doch gelten die alten Gebote weiter. Was als schreck¬ 
liche Irrlehre galt, wurde Glaübensgebot. Der Zweifel bricht aber in die 
Hürde selbst ein und bald läßt sich nicht mehr unterscheiden, was drinnen 
und was draußen bedeutet. Gilt als Häresie in den Anfängen einer Religion 
jede Anschauung, die dem kirchlichen common sense oder der Glaubens¬ 
regel widerspricht, so wird später mit der Entwicklung der Dogmatik jeder 
zum Häretiker, dessen Überzeugung von der gerade herrschenden Meinung 
abweicht, mag er sonst so orthodox als nur möglich sein. Nicht nur Appo- 
linaris, auch der große Origenes ist der Verurteilung nicht entgangen. Es 
ist dann eine Frage der Minorität und Majorität, oh jemand als Orthodoxer 
oder als Häretiker angesehen wird — aber dies kann über Nacht wechseln 
und die Rollen erscheinen plötzlich vertauscht. Seeberg weist auf die furcht¬ 
bare Gefahr für die Kirche hin, 1 „wenn der Weg der Wahrheit so schmal wird, 
daß nur die Sachverständigen — und auch die nur mit Zittern darüber 
Auskunft geben können, wo er eigentlich geht . 

So wird das Dogma seihst wie die Zwangsidee Objekt der mannigfaltigsten 
Unsicherheiten. Auch auf dem Gebiete der Zwangsgedanken wird der Analytiker 
häufig erkennen, daß das Abgewehrte plötzlich geradezu Gegenstand eines 
zwanghaften Impulses, einer zwanghaften Gedankenahfolge wird: gerade 
das, wogegen die Zwangsidee als Schutz anfgerichtet wurde. Wenn mein 
Patient oft genug seine Abwehrsprüche gegen die Blasphemie aufgesagt hatte, 
war er gegen seinen bewußten Willen gezwungen, die Blasphemie selbst wie 
eine Gebetsformel auszusprechen. Hatte er hundertmal laut versichert: „Die 


1) Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. II. S. 9. 




















Dogma und Zwangsidee 3 n 


Hure ist die Frau des Teufels, aber die Jungfrau ist die Mutter Gottes“, drängte 
sich ihm unversehens die Umkehrung dieses unzweifelhaften Sachverhaltes auf 
die Lippen. Es kam nicht selten vor, daß er die Personen verwechselte, wenn 
er oft genug beteuert hatte: „The holy ghost is elegant, but the devil is 
very vulgär . Im weiteren Verlaufe der Zwangsneurose überwältigt meistens 

das Abzuwehrende die Sicherungsmaßregel und wird siegreich; die verbotene 
Befriedigung bricht durch. Aber auch die anderen Phänomene der Dogmen - 
entwicklung erscheinen in der verzerrten Form des Zwangsdenkens wieder: 
der Zwangskranke schwankt dann zwischen zwei Anschauungen. Das Ver¬ 
botene scheint ihm irgendwie geradezu das Gebotene und in das, was sonst 
als das allein Richtige erschien, haben sich Elemente des Unerlaubten ein¬ 
geschlichen. Wir haben früher darauf hingewiesen, daß in der Zwangs¬ 
symptomatologie nicht selten dieselben Symptome Verbot und Befriedigung 
verquicken, also soweit sie sich als gedankliche Vorgänge darstellen, ver¬ 
gleichsweise Häresie und Dogma in einem Ausdruck vereinigen. Denken 
wir an das in der Entwicklung aller Religionen beobachtete Phänomen, 
daß es häufig völlig unsicher ist, ob ein und dieselbe Anschauung als dog¬ 
matische oder häretische zu gelten habe, so werden wir daran erinnert, in 
wievielen Fällen von Zwangsneurose „die meisten Symptome zu ihrer ur¬ 
sprünglichen Bedeutung auch die des direkten Gegensatzes erworben haben, 
ein Zeugnis für die Macht der Ambivalenz, die, wir wissen nicht warum, 
in der Zwangsneurose eine so große Rolle spielt“. 1 2 

Was uns hier aber zunächst beschäftigen soll, sind die Verbindungswege, 
welche es erlauben, in demselben Symptom, in derselben dogmatischen 
Formel das Verbot und die abgewehrte Befriedigung in einem und dem¬ 
selben Ausdrucke zusammenzuschweißen. Dieser Prozeß hat nun nicht selten 
den Erfolg, daß das Resultat ein groteskes oder absurdes Aussehen gewinnt. 
Die Paradoxie des Dogmas und der Zwangsidee ist es, daß die in ihr voll¬ 
zogene Synthese kontradiktorischer Elemente unsinniger erscheint als jedes 
einzelne Element an sich. Der psychische Effekt dieses Versöhnungsversuches 
zwischen verdrängten und verdrängenden Vorstellungen ist oft eine absurde 


1) Der Patient drückte seine Zwangsgedanken und deren Abwehr in verschiedenen 
Sprachen aus, die er ebenso geläufig sprach wie die seiner Heimat. Dieser Umstand 
wurde in der Analyse bedeutsam, weil sich aus der Benützung der einen oder der 
anderen Sprache Rückschlüsse auf die historischen Bedingungen seiner Ideen ergaben, 
welche fast dieselbe Sicherheit boten wie die analogen Folgerungen der Geologie 
aus der Schichtenbildung. Vgl. die Sakralsprachen (das Sumerische bei den Babyloniern, 
das Lateinische im Katholizismus usw.) im Kult. 

2) Freud: Hemmung, Symptom und Angst. S. 46. 













3 l 2 


Theodor Reit 


Synthese, welche entweder bizarr oder komisch erscheinen muß. Das Christen¬ 
tum lehrt z. B., Christus sei ein wahrer Gott, aber auch ein wahrer Mensch 
die zweite Person der Trinität, aber auch der Sohn der Jungfrau Maria; 
er hat zwei Naturen, besteht aber aus drei Substanzen (Logos, Leib und 
Seele); die beiden Naturen sind unvermischt, sie sind aber auch untrenn¬ 
bar. Das katholische Dogma lehrt sowohl die Zweiheit in der Einheit als 
auch die Einheit in der Zweiheit. Es findet aber auch ein gegenseitiger 
Austausch göttlicher und menschlicher Eigenschaften statt (Idiomenkommuni- 
kation), insofern von Gott Menschliches und vom Menschen Göttliches aus¬ 
gesagt werden darf und muß wie z. B. „Gott hat gelitten“ und „Der Mensch 
ist Gott“. Man hat in Christus zwei Willen zu unterscheiden usw. Wir 
erkennen in diesen dogmatischen Lehren klar das Bestreben, verschiedene 
Ketzeransichten auszuschließen, sowie das Bestreben, diese zum Teil wieder 
aufzunehmen. Die Geschichte dieses Dogmas zeigt uns, wie es im Kampf 
gegen den Arianismus, Apollinarismus, Doketismus, Monophysitismus usw. 
entstanden ist und doch Stücke aller dieser Häresien in sich aufgenommen 
hat. Die abgewehrte Vorstellung war zuerst z. B. diejenige, daß Christus nur 
ein Mensch und Prophet gewesen sei, es mußte deshalb seine Gottheit 
anerkannt und verteidigt werden. Als dann der Doketismus behauptete, 
Christus habe keine echt menschliche Natur besessen, sondern einen bloßen 
Scheinleib (Soxripa, (pavtaopa) mußte wieder die Realität der Menschheit 
Christi verteidigt werden. So weit reicht die Analogie mit den Zwangs¬ 
erscheinungen, daß auch dort, wenn der Zwangskranke eine Gedankenreihe 
bis ans Ende verfolgt, er immer auf einen verpönten Gedanken stößt, gegen 
den er sich wehrt, um dann in der Gegenrichtung denselben Vorgang zu 
wiederholen. So gut wie von zweizeitigen Handlungen könnten wir auch von 
zweizeitigen Gedankenreihen in der Zwangssymptomatologie sprechen. 
Aber das Charakteristische der Fundamentaldogmen und der großen Zwangs¬ 
ideen ist es eben, daß sie die Gegensätze, welche durch die Ambivalenz 
geschaffen wurden, sozusagen aufheben, annullieren will und eine Einheit 
herzustellen bemüht ist, die überlogisch ist und doch allen logischen Ge¬ 
setzen gehorcht. Jones 1 berichtet von einem zwangskranken Patienten, der 
genötigt war, jedesmal, wenn seine Aufmerksamkeit auf eine Vorstellung 
gerichtet war, die ihr gerade entgegengesetzte zu denken, um dann die¬ 
jenige aufzusuchen, welche zwischen den Gegensätzen gerade die Mitte 
hielt, wobei das Suchen nach der adäquatesten MittelvorStellung eine außer- 


1) Jones: Therapie der Neurosen. 1921. S. 147. 

























Dogma und Zwangsidee 3l3 


ordentliche Mühe darstellte. Dies zeigt auf dem Gebiete der Zwangssymptome 
denselben Prozeß, den die Kirche zwischen zwei gegensätzlichen Glaubens¬ 
ansichten durchlief. 

Der Widersinn des Dogmas ist zum größten Teil durch die unter¬ 
irdische Mitarbeit der aggressiven Tendenzen bedingt. Diese ist es auch, 
welche die absurde Verkleidung der Zwangsidee bestimmt. Die Verdrängung 
hat dort in den meisten Fällen den Inhalt der aggressiven Triebregung unbe¬ 
wußt gemacht. Er äußert sich nur in dem unsinnigen Wortlaut der Zwangs¬ 
idee, soweit dieser dem Kranken bewußt wird. Der Widersinn erscheint dann 
wie im Traum als der stellvertretende Ausdruck für Hohn oder Spott. Die 
aggressiven, herabsetzenden und verhöhnenden Tendenzen scheinen ihren 
Ausdruck so in der Formulierung selbst zu finden. Es ist, als wäre es ihr 
Werk, wenn derjenige, der den Zwangsgedanken hört, auszurufen geneigt 
ist: „Was für ein toller Gedanke! Was für ein Unsinn!“ Die Analyse zeigt, 
wieviel Sinn in all dem krausen Unsinn steckt und daß, was die Zwangs¬ 
idee ausdrücken will, gerade der Spott über eine in ihr latent enthaltende 
Vorstellung ist. Greifen wir noch einmal auf jene crux der Christologie, 
auf die „dualitas in unitate“ und die „unitas in dualitate “, zurück. Die 
beiden Naturen in Christi, seine wahre Gottheit und nicht minder reale 
Menschlichkeit, mögen an sich schon für den naturwissenschaftlich Den¬ 
kenden wie Hohn klingen, zumal wenn er die Konsequenzen dieser hypo¬ 
statischen Union bedenkt. Die Agnoeten und manche neuere Theologen 
bringen es zustande, Christus als jenes Wesen zu beschreiben, das gleich¬ 
zeitig als Gott das wußte, was er als Mensch nicht wußte, und Athanasius 
meinte sogar, daß Christus als Mensch spuckte und sein Speichel von der 
Gottheit erfüllt war. 1 Die Betonung der Menschheit Christi, welche vom 
Katholizismus mit derselben Energie wie seine Gottheit aufrechterhalten 
wurde, ist in ihrer Verbindung mit seiner wahren Göttlichkeit ein Ausdruck 
der aggressiven Triebregungen. Es ist so, wie wenn die Behauptung von 
der Zweinatur oder der Zweiwillenhaftigkeit Christi die ganze Christologie 
ad absurdum führen wolle. Trotz und Hohn vermengen sich ununterscheid¬ 
bar in diesem frommen Glauben, als wollten sie wirklich sagen: Credo 


1) Athanasius, ad Serap, IV. 14. Vgl. Luthers kraftvolle Opposition gegen diese 
Art der Christologie: „Also haben die Sophisten Christum gemalet, wie er Mensch 
und Gott sei, zählen seine Beine und Arme, mischen seine beiden Naturen wunderlich 
ineinander, welches dann nur eine sophistische Erkenntnis des Herrn Christi ist. Denn 
Christus ist nicht darumb Christus genennet, das er zwo Naturen hat. Was gehet mich 
dasselbige an?“ (Werke. Erlanger Ausgabe. XXXV. S. 207!.) 











3i4 Theodor Reik 


quia absurdum . Dieser unbewußte Charakter des Hohnes, des trotzigen Starr¬ 
sinns, der so vielen Zwangsideen nicht nur den Stempel aufdrückt, sondern 
ihren eigentlichen latenten Inhalt ausmacht, ist den dogmatischen Be¬ 
hauptungen gemeinsam. Es ist so als wollten sie sagen: wenn ich über¬ 
haupt an Christus glauben soll, warum sollte er nicht Gott und Mensch 
zugleich sein, nicht zwei Willen, drei Naturen usw. besitzen? Oder besser 
ausgedrückt: wenn es wahr ist, daß es einen Jesus gibt, der Gottes Sohn 
war, uns zu erlösen zur Erde kam und durch seine Kreuzigung wieder zum 
Himmel stieg, so kann er auch Gott und Mensch gewesen sein, alle mensch¬ 
lichen Funktionen besitzen und sie doch nicht haben usw. Es klingt wie eine 
Persiflage, wenn Tertullian sagt: „Gekreuzigt wurde der Gottessohn, das ist 
keine Schande, weil es eine ist. Und gestorben ist der Gottessohn; das ist 
glaubwürdig, weil es ungereimt ist. Und begraben ist er auferstanden; das 
ist ganz sicher, weil es unmöglich ist.“ Hier ist in seltsamer Umbiegung — 
wie im Spott — gerade der Widersinn zum Glaubensgrund gemacht worden. 

Wenn ich wieder ein Pendant zu diesem merkwürdigen Charakter des 
Dogmas, der Prädominanz des Widersinnigen aus den Symptomen der Zwangs¬ 
neurotiker geben soll, so will ich auf den früher angeführten Fall zurück¬ 
greifen. Jener Patient, der mit seinen blasphemischen Zweifeln rang, ist 
derjenige von allen Zwangskranken, der in seinen Symptomen die nahe¬ 
liegendsten Analogien zu den Vorgängen der Dogmenbildung lieferte. Er 
hatte sich, wie früher erwähnt, einen persönlichen, typisch zwangsneuroti¬ 
schen Jargon beigelegt, in den ich zuerst schwer eindringen konnte. Er 
sprach also vom „heiligen Oldenburgdienste“ oder sagte, auf den Himmel 
zeigend: „Dort regiert der große Fürst Schwarzenberg!“ oder er schrie 
plötzlich in Schrecken: „Heiliger Graf Kinsky!“ Wenn er die Bibel zitieren 
wollte, geschah es etwa in der Form: „Ich bin dein Hohenlohe, der da rächet 
die Sünden der Väter“; er sprach von „Lobkowitz-Beweisen“ in der Religions- 
philosopie und berichtete, er habe „den Leib des Fürsten von Thurn und 
Taxis in sich“, wenn er von seiner Kommunion erzählen wollte. 1 Es war 


1) Ich habe mir erlaubt, aus Gründen der Diskretion andere Namen einzusetzen, 
welche die wirklich von ihm gebrauchten charakterisiere^. — Das Bildsymbol der 
Taube für den Heiligen Geist schien ihm nicht adäquat. Er mußte denken, ob es 
nicht eine Blasphemie sei, den Heiligen Geist als Vogel darzustellen und landete schlie߬ 
lich bei der Überzeugung, daß der Heilige Geist, wofern er überhaupt ein 
Vogel sei, ein Vogel aus aristokratischem Hause sein müsse. Es gebe ja ver¬ 
schiedene Vögel, es gebe „des oiseaux de race “ und „des oiseaux vulgaires“. Er stellte also 
dem Heiligen Geiste, der in Vogelgestalt sicher Reichsapfel und Zepter trage, einen 
plebejischen Vogel wie den Raben oder den Kanarienvogel gegenüber. Als er einmal in 


















Dogma und Zwangsidee 


3i5 


klar, daß die Namen aristokratischer Geschlechter hier für Gott eingesetzt 
waren, daß er z. B. mit dem heiligen Oldenburgdienste die Messe meinte usw. 
Aber wie kam der intellektuell hochstehende Mann dazu, die Aristokratie 
seines Landes an Gottes Stelle zu setzen ? Die Aufklärung dieser anscheinenden 
Tollheit ergibt sich aus seiner Lebensgeschichte: der Junge hatte bemerkt, daß 
seine etwas snobistischen Eltern die Menschen besonders nach ihrer aristo¬ 
kratischen Abstammung schätzten und höchsten Wert auf ihren adeligen Ver¬ 
kehr legten. Diese Anschauungen der Eltern standen in krassem Widerspruche 
zu den Ideen, die ihm das Evangelium vermittelte, und zu der betonten Frömmig¬ 
keit, welche die von ihm verehrten Personen beständig an den Tag legten. 
Es war angeblich die höchste Steigerung dieser Anschauung, wenn er die 
Fürsten Schwarzenberg, die Grafen Kinsky, die Herzoge von Oldenburg an 
die Stelle von Gott setzte, sie zu göttergleichem Rang erhob, in Wirklich¬ 
keit aber war es der Ausdruck bittersten Hohnes. Es ist so, wie wenn er 
sagen wollte: Wenn das möglich ist, daß man Menschen, nur weil sie 
Aristokraten sind, so hochstellt, warum sie nicht gleich an Gottes Stelle 
setzen? Nichts davon war ihm bewußt; soweit er zurückdenken konnte, 
hatte er die Anschauungen der Eltern über die Aristokratie geteilt und ist 
schwer davon zu überzeugen, daß der Mensch nicht beim Baron anfange. 
Wir rücken in die Nähe der christologischen Fragen des Dogmas, wenn 
wir z. B. von diesem Zwangskranken erfahren, es sei ihm keineswegs recht, 
daß Maria eine „schmutzige Jüdin“ und die Apostel so einfache Leute wie 
Fischer und Teppichweber gewesen seien; er habe sich darüber gekränkt, 
daß Christus der Sohn eines einfachen Zimmermannes sein soll und über 
einen Weg nachgedacht, ihn trotz allem aus aristokratischem Geschlechte 
abstammen zu lassen. Es ist wie ein Versuch, die Dogmenbildung in eigener 
Regie zu wiederholen, sozusagen eine Religion en miniature zum Privat¬ 
gebrauch zu schaffen. Wer denkt angesichts dieser Zwangsgedanken nicht 
an die Dogmen von der Zweinaturenlehre Christi oder an die Versuche, 
seine niedrige Abstammung und die aus Davids königlichem Geschlecht 
zu vereinigen? 

Der unbewußte Anteil des Hohnes am Widersinn des Dogmas tritt für 
die Analyse überall zutage, wo ein ausgebildetes Dogma in der Geschichte 
der Religionen erscheint: er liegt bereits in der dogmatischen Formulierung 
beschlossen. Es ist dabei gleichgültig, ob wir an die Lehre denken, daß 

der Kirche einen Sakristan Geld absammeln sah, mußte er denken: „Die heilige Taube 
mit der Kassa“ und sah sich durch diese hlasphemische Anspielung in die Tiefen der 
Verzweiflung gestürzt. 












3i6 Theodor Reit 


Maria clauso utero geboren habe oder daß die ungetauften Kinder zu ewiger 
Höllenpein verurteilt sind , 1 ob wir das Dogma der Trinität oder die „dornen¬ 
volle ^ Gnadenlehre heranziehen, ob die Transsubstantiation in der Eucha¬ 
ristie, welche die reale Gegenwart Christi in jedem Teilchen der Hostie 
annimmt, oder die Perichorese, die gegenseitige Durchdringung und Inein¬ 
anderwohnung der drei Personen der Trinität, zur Diskussion steht. Es bleibt 
ein vollkommener Widerspruch, der „gleich geheimnisvoll für Kluge und 
für Toren“. 

Der sinnvolle Widersinn des Dogmas ist jener Zug, welcher es am auf¬ 
fälligsten und sinnfälligsten in die Nähe der neurotischen Zwangsidee rückt 
Hier geht die religiöse Entwicklung in ihrer gedanklichen Ausprägung oft 
ununterscheidbar in die Sphäre der Zwangsvorstellung über. Hier, wenn 
irgendwo, trifft jenes Wort Heraklits zu, der Glaube sei eine „heilige 
Krankheit“ (lepog vogo<;). 


Die selcundäre Bearbeitung in der rationalen Theoli 


ogie 


Die Religion ist ein Denksystem, den großen wahnhaften Bildungen der 
Neurotiker und Psychotiker vergleichbar. Der Animismus, dessen Voraus¬ 
setzungen die Religion aufgenommen hat, war ein solches Denksystem, 
das den primitiven Menschen gemeinsam war. Unsere Ahnen haben alle 
an die Existenz und Herrschaft guter und böser Geister in Wald und Flur 
geglaubt. Dieser ihr Glaube war unerschütterlich und wurde deshalb mit 
guten Gründen gestützt. Heute glauben nur noch unsere Kinder an diese 
wohltätigen und boshaften Wesen und dies auch nur solange, als sie 
Märchen hören und lesen. An die Stelle des Glaubens ist bei uns das 
Staunen über die animistischen Vorstellungen getreten. Wir teilen sie nicht 
mehr, sondern wir wollen wissen, was sie bedeuten, wie die Menschen zu 


1) Nach der strengen Theologie, welche Augustinus verfochten hat (Enchirid. 93) 
und welche durch die Entscheidung des Florentiner Konzils bestätigt wurde. Herman 
Schell, der diese dogmatische Annahme zu bezweifeln wagte (Katholische Dogmatik 
III. 2, Paderborn 1893. 478 ff.), hatte seine Milde mit der Indizierung seines Werkes zu 
büßen. Die praktischen Konsequenzen dieses Glaubens geben sich z. B. in dem Ver¬ 
bot mancher katholischer Priester, solche ungetaufte Kinder in geweihter Erde zu 
bestatten, kund. Lassen so manche Pfarrer die (ungetauften) Kleinen nicht zu Ihm 
kommen, so kann die Gefahr abgewehrt werden, wenn man bei drohender Totgeburt 
die „intrauterinische“ Taufe mittels eines besonderen medizinischen Instrumentes vor¬ 
nimmt. (Ausführliche Angaben darüber bei C. Capellmann, Pastoralmedizin. Pader¬ 
born 1920. 18. Aufl. S. 242.) 























ihnen gekommen sind, welche psychische Motive ihnen zugrunde lagen und 
welchen Zielen sie zustrebten. Es wird eine Zeit kommen, da die Religionen 
der Erde unter denselben Gesichtspunkten betrachtet werden. Nicht gläubiger 
Eifer, aber auch nicht der Fanatismus der Freidenker wird dann die 
Anschauungen über die Religion beherrschen. An Stelle des Glaubens wird 
die Erforschung des Glaubens getreten sein. Diese Entwicklung hat ihre 
Schatten vorausgeworfen. Ich meine jetzt nicht das Vordringen der Religions¬ 
wissenschaft, der vergleichenden Religionsforschung und der Religions¬ 
psychologie, sondern das Eindringen wissenschaftlicher Gesichtspunkte in 
das Gefüge der Religion selbst. Mag auch die wissenschaftliche Rearbeitung 
völlig unzureichend, rein dialektisch, sophistisch und religiös gebunden 
erscheinen, mag sie einseitig dazu da sein, die Glaubensnormen gegen den 
Zweifel zu verteidigen und ihre Vernunftgemäßheit zu erweisen, ihre Not¬ 
wendigkeit selbst ist ein unzweideutiges Symptom für jene zukünftige Ent¬ 
wicklung. 

Das Bedürfnis nach einer umfassenden rationalen Fundierung der religiösen 
Erscheinungen, die theologische Bemühung um einen vernunftgemäßen 
Unterbau für die Glaubensnormen bezeichnet in der Geschichte der Reli¬ 
gionen bereits den Anfang vom Ende. Denn die Kritik, der Zweifel werden 
ihre Arbeit höchstens verschieben, nicht aufgeben und der Zusammenbruch' 
der Glaubensvorstellungen wird das Resultat dieser starken psychischen 
Mächte sein müssen. Die Religion kann sich nur aufrecht erhalten, indem 
sie der Vernunft Konzessionen macht, aber diese Konzessionen werden immer 
größere sein müssen, die Anforderungen der Gegner immer dringender und 
gebieterischer. Was einen Abhang hinabrollt, läßt sich nicht mehr festhalten. 

Die großartigste Leistung, welche die religiösen Vorstellungen gegen ihre 
Zerstörung durch die kritischen Faktoren schützt, indem sie diese selbst in 
ihren Dienst stellt, ist durch die rationale Theologie gegeben. Die Bildung 
der rationalen Theologie, welche die Apologetik und die Dogmatik umfaßt, 
ist ein in der Entwicklung aller Gesetzesreligionen mit psychischer Not¬ 
wendigkeit antretender Prozeß. „Ratio recta fidei fundamenta demonstrat“: 
dieser Satz des vatikanischen Konzils *(i. sess. 3 c. 4) enthält das Programm 
der rationalen Theologie nicht nur des Christentums, sondern aller hoch¬ 
organisierten Religionen. 

Das Dogma ist selbst schon in seiner Formulierung ein Zwitterwesen, 
indem es die Glaubens Vorstellungen in eine präzise, begriffliche Form zu 
bringen sucht, welche die Bedenken und Zweifel der Gläubigen ausschließt. 
Es hat insofern Kompromiß Charakter, als es den Anforderungen der Vernunft 














3i8 


Theodor Reit 


als auch denen des Glaubens in seiner Formulierung Genüge leisten will 
Wie bei einer Zwangsvorstellung wird die unbewußte Motivierung i m 
Rationalisierungsprozeß durch eine sekundäre ersetzt. 1 Trägt schon das 
Dogma die Spuren des sekundären Abwehrkampfes an sich, so steht die 
Dogmatik völlig in seinem Zeichen. Was ist nun Dogmatik? Die Dogmatik 
ist Glaubenslehre im engeren Sinne im Gegensatz zur Moral als Sittenlehre 
Sie unterscheidet sich von der Moraltheologie durch den besonderen Gesichts¬ 
punkt, daß sie „nicht die übernatürlichen Normen des sittlichen Handelns 
sondern die des gläubigen Denkens an die Hand gibt“. 2 Die Dogmatik ist 
der Mittelpunkt der Theologie, die von der katholischen Kirche als Glaubens¬ 
wissenschaft (scientia fidei) bezeichnet wird. Dogmatik ist die wissenschaft¬ 
liche Verarbeitung und Darstellung des Glaubensinhaltes einer Religion. Ihre 
Aufgabe ist, den Lehrbegriff aus Schrift und Tradition zu erheben, die 
einzelnen Aussagen vernunftgemäß zu verknüpfen und gegen Zweifel und 
Widerspruch des forschenden Geistes sicherzustellen. 

Wenn ich früher die Religion als ein Denksystem bezeichnet habe, so 
kann man die Dogmatik als die theoretische Darstellung dieses Systems 
betrachten. Wir haben es gelernt, die Eigenschaften einer Systembildung 
im Seelenleben der Psychosen und Neurosen zu verstehen, wir wissen, daß 
es sich dabei um eine Bemühung handelt, ein disparates, zunächst zusammen- 

1) Dieser Kompromißcharakter des Dogmas, welchen es mit der Zwangsvorstel- 
* un g gemeinsam hat, ist von den Religionsforschem nicht unbemerkt gehliehen. Es 
sei nur auf Harnack hingewiesen, der betont, daß aus dem Bestreben der Kirche, 
den sagenhaften Stoff des Gemeindeglauhens mit den philosophischen Begriffen zu 
verbinden, „das wunderliche Zwitterwesen des Dogmas“ entstand, „das weder an¬ 
schauliches Bild noch logisch klarer Gedanke ist“ (Dogmeng. 3. Aufl. I. S. 424). 
Dorner weist ebenfalls darauf hin, wie disparate Elemente das Dogma enthält 
(Heilsglaube und Dogma S. 145): „Einmal ist es mit Hilfe der Wissenschaft ent¬ 
standen und diese verlangt freie Erkenntnis und doch ist es durch die Kirche ab¬ 
geschlossen, die es zum Glaubensgesetz erhebt. Einerseits ist es erst in späterer Zeit 
entstanden und doch erhebt es für gewöhnlich den Anspruch, mit der alten Tradition 
und dem kirchlichen Kanon, der die Urquellen des Christentums enthalten soll, zu 
stimmen, ja die wahre Meinung dieser Autoritäten aus zu drücken.“ Derselbe Autor 
bemerkt an anderer Stelle (Grundriß der Dogmengeschichte, Berlin 1839. S. 13), daß 
das Dogma „teilweise in phantasiemäßiger Form geblieben ist, teils indem es seinem 
halbwissenschaftlichen Ursprung nach keinen populären Charakter trug und dennoch 
unverstanden vom Volke sollte geglaubt werden“. Es „schwebt durch seinen halb¬ 
populären Gemeinschaftscharakter zwischen der immittelbaren Form des Aussprechens 
des Glaubens und der wissenschaftlichen und repräsentiert ein Stadium des reli¬ 
giösen Erkenntnisprozesses, in dem er durch die Gemeinschaft zu einer vorläufigen 
Ruhe gebracht ist, die meist aber keine lange Dauer hat“. (S. 14.') 

2) Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik in „Systematische christliche 
Religion“ (Kultur der Gegenwart. I. Teil. IV. 2. 2. Aufl. 1909. S. 52.) 





























Dogma und Zwangsidee 



3i9 


hangloses und unverständliches Material so umzuordnen, daß es Einheitlich¬ 
keit, Zusammenhang und Sinn erhält. Dies ist nun gerade dasselbe, was 
die Dogmatik an der Gesamtheit der Glaubensvorstellungen vornimmt. Ihr 
Bemühen geht dahin, die einzelnen Dogmen, die aus verschiedenen histori¬ 
schen Schichten stammen und auf verschiedenen Voraussetzungen beruhen, 
als homogen, miteinander verknüpft und untereinander widerspruchsfrei 
hinzustellen. Sie erreicht dies durch eine Behandlung, welche wir in der 
Traum- und Neurosenpsychologie als sekundäre Bearbeitung kennen gelernt 
haben. Dort erzwingt eine intellektuelle Funktion Vereinheitlichung, Zu¬ 
sammenhang und Verständlichkeit bei den Elementen des Materials und 
stellt einen unrichtigen Zusammenhang her, wenn sie den richtigen nicht 
erfassen kann. Die ümordnung des psychischen Materials zu einem neuen 
Ziel tritt in der Dogmenbildung ebenso hervor wie dort 5 sie ist, wie unsere 
Beispiele zeigen, in der Dogmatik nicht minder gewaltsam wie in den 
Psychosen und Neurosen. Auch dieselbe Erscheinung der mehrfachen Mo¬ 
tivierungen trifft bei beiden Erscheinungen zu. Nehmen wir z. B. einen 
Fall von Waschzwang. Der Kranke wird seine vielfachen und ausgedehnten 
Vorsichtmaßregeln mit dem Hinweis auf die theoretisch unbegrenzten Infek¬ 
tionsmöglichkeiten begründen. Seine Ansichten über Infektion zeigen jene 
zweifache Motivierung: eine aus den Voraussetzungen des Systems, in 
diesem Falle die Infektionsmöglichkeiten, die andere, eigentlich wirksame, 
unbewußte bezieht sich auf die Vermeidung der Berührung, ursprünglich 
der Onanie. Genau so verfährt die dogmatische Systembildung: sie ordnet 
die Dogmen um, vervollständigt, detailliert sie und motiviert sie vernunft¬ 
gemäß und verdeckt so ihre Entstehung aus den animistischen Mythen, 
deren eigentlicher Inhalt der Ausdruck aggressiver und sexueller Trieb- 
regungen war. Die Dogmatik hat einen doppelten Boden: ihre Grund¬ 
lagen sind die der rationalistischen, vernunftgemäßen Darstellung und 
Begründung ihrer Sätze, ihre tiefere, eigentlich wirksame Schichte ist das 
Sträuben gegen blasphemische, herabsetzende und aufrührerische Impulse 
gegen jene Autoritäten, auf welche sie sich stützt, Gott, Jesus, die Kirche, 
der Papst. Freilich ist dieser Vergleich nur dem verständlich, der in das 
Innerste, in das Sanctissimum der Dogmenbildung eingedrungen ist und 
zugleich die Psychologie des Zwangsdenkens analytisch erfaßt hat. Aber 
auch derjenige, welcher nur vergleichende Religion Wissenschaft studiert hat, 
erkennt leicht, wie in der Dogmatik eine allgemeine Umprägung und Um¬ 
ordnung des gesamten Materials und jedes einzelnen Elementes stattgefunden 
hat. Der Sinn dieser sekundären Bearbeitung geht historisch primär dahin, 

L_ 
















3ao 


Theodor Reih 


die Zusammenhänge mit den uralten, primitiven Vorstellungen aus einem 
verschollenen Entwicklungsstadium der Religion zu unterbrechen und jedes 
Dogma als angemessene Vorstellung der Hochreligion erscheinen zu lassen 

Die Wirksamkeit der Sakramente in der dogmatischen Auffassung verrät 
ihre Abkunft aus der primitiven Vorstellung der Zauberei oder der Magie 
nur dem Religionsforscher. Die Abkunft der Eucharistie vom primitiven 
Totemmahl wird in der dogmatischen Theorie rationalistisch verschleiert: der 
Priester spricht jene Einsetzungsworte des Herrn: hic est enim corpus meum 
— hic est enim calix sanguinis mei und das Brot hat sich in den Leib Christi 
der Wein in sein Blut verwandelt 1 . Dem Kundigen zeigen sich in der Dog¬ 
matik auf Schritt und Tritt die primitiven Elemente in den einzelnen Dog¬ 
men, welche dann im Katholizismus eine hohe, vergeistigte Umdeutung und 
Umordnung, eine anagogische Umbildung erfahren haben. Der Analytiker 
aber sieht hinter ihnen noch die latenten, verdrängten Triebregungen, zu 
deren Abwehr das Dogma geschaffen wurde und die sich doch in ihm einen 
entstellten Ausdruck geschaffen haben: im Sakramentsdogma die Tabu¬ 
anschauung in der ganzen Wirksamkeit ihrer Ambivalenz, im Christusdogma 
den Mythus vom aufrührerischen Sohn, im Dogma von der Gottesmutter, 
der „ semper virgo, Dei genetrix“ und „ corredemptrix u , die Anbetung der großen 
Liebesgöttin usw. Die Systembildung erlaubt es nun, diesen großen und 
entscheidenden Zusammenhang zu zerreißen, die Dogmen zu entkonkreti- 
sieren, sie abstrakt zu gestalten und intellektuell zu erfassen. 

Der Glaube ist nach Freud ein Abkömmling der Liebe und hat ursprünglich 

i) Es sei bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, daß die Macht des Priesters 
oft die göttliche zu übersteigen droht. Nach Heiler (Der Katholizismus, S. 226) 
zitiere ich aus einem jesuitischen Betrachtungshuche für junge Kleriker: „Moses 
Macht war groß. Ein Wort aus seinem Munde teilte die Wogen des Roten Meeres. 
Josuas Wort gebot sogar der Sonne. Doch waren es nur einzelne Fälle, in denen diese 
großen Männer wunderbare Gewalt Über die Natur besaßen. Aber der Priester hob 
sie über das leblose Geschöpf und über den Schöpfer seihst, und zwar dann, wann 
er will. Ein Wort aus seinem Munde zwingt den Schöpfer des Weltalls und des Himmels 
auf die Erde herab, entkleidet ihn seiner Größe und verbirgt ihn unter die Gestalt 
des Brotes.“ Der Hirtenbrief des Kardinal-Erzbischofs von Salzburg vom 2. Februar 1905 
stellt folgende Betrachtungen an: „Wo im Himmel ist solche Gewalt wie die des katho¬ 
lischen Priesters? . . . Einmal hat Maria das göttliche Kind zur W~elt gebracht und 
siehe, der Priester tut dies nicht einmal, sondern hundert und tausendmal, so oft er 
zelebriert . . . Den Priestern hat er das Recht über seine heilige Menschheit über- 
tragen, ihnen gleichsam Gewalt über seinen Leib gegeben. Der katholische Priester 
kann ihn nicht bloß auf dem Altäre gegenwärtig machen, ihn im Tabernakel ver¬ 
schließen, ihn wieder nehmen und den Gläubigen zum Genuß reichen . , . Christus, 
der eingeborene Sohn Gottes, des Vaters . . . , ist ihm darin zu Willen“. (Nach Mirbt: 
Quellen zur Geschichte des Papsttums. 401.) 

























Dogma und Zwangsidee 


der Argumente nicht bedurft. 1 Das Argument zeigt bereits eine Abschwächung 
der Glaubenskraft; die Rechtfertigung des Glaubens durch seine Begründung 
ist schon ein Zeugnis für sein Sinken. 3 * Ein Zwangsgedanke erwächst aus 
dunklen, unerkannten Triebregungen; er erscheint zunächst unmotiviert und 
alleinstehend und erhält erst später seine Begründung und Einordnung in 
das Seelenleben, soweit dies dem Rationalisierungsstreben des Kranken mög¬ 
lich ist. Ebenso steigen die Glaubensvorstellungen aus uralten Anschauungen 
animistischer Art auf und werden erst auf einer höheren Entwicklungsstufe 
formuliert und begründet, in Übereinstimmung mit der Vernunft gebracht. 

Es bedarf nur eines Hinweises auf den von mir hervorgehobenen Zusammen¬ 
hang zwischen dem Zweifel und dem Dogma, um verstehen zu lassen, daß 
die Dogmatik beim Zweifel und bei der Häresie sozusagen in die Schule 
gegangen ist. Die Verteidigung des Glaubens hat sich der Waffen und der 
Technik seines Angreifers bemächtigt und verwendet sie zur Abwehr. Die 
Logik, das ganze Arsenal von Beweisführungen, das Ziehen von Konklu¬ 
sionen, die Herstellung von Zusammenhängen hat die Dogmatik von den 
Zweiflern, Häretikern und Gegnern genommen und zu ihren Zwecken benützt.3 
Auch dies ganz in Analogie mit den Erscheinungen beim Zwangsdenken: 
die sekundäre Bearbeitung geschieht dort mit denselben Mitteln, welche den 
zersetzenden Bewußtseinsfaktoren eignen: den Einwürfen gegen den Wasch¬ 
zwang, die sich auf den gesunden Menschenverstand berufen, werden Argu¬ 
mente aus derselben Quelle entgegengesetzt. Ich war einmal Zeuge einer 
langen Auseinandersetzung zwischen einem der berühmten Vertreter der Bak- 



1) Ges. Schriften. Bd, VII. S. 463. 

,, 2 i Wobber ™in hat diese abschwächende Wirkung des Versuches, den Glauben 
selbst auf wissenschaftlich-theoretischem Wege beweisen zu wollen, erkannt: „Damit 
wird ja notwendig Glaube irgendwie zu einem Fürwahrhalten gemacht, d. h. des 
Glaubenscharakters beraubt, Selbständigkeit und Eigenart des Glaubens gefährdet. 
Werden die Glaubensüberzeugungen irgendwie auf das Niveau rationeller Vemunft- 

uuh'r S * * ° W6rden 816 ja damit aUch in die S P häre des Hypothetischen 

md Relativen herabgezogen, während der Glaube dem Menschen gerade über diese 
letztere erheben um! herausheben will.« (Artikel Apologetik in „Die Religion in 
Geschichte und Gegenwart«. Bd. II. S. 559.) 8 

desr« h t Verweisa f wa auf die dialektische Bearbeitung, Deutung und Interpretation 
e zes im Judentum. Die Gemara hat ein eigenes Wort für diese Art der Aus- 
^gung: „ein totes Reptil für rein erklären.« Nach Lev. n,z 9 f„ macht die Berührung 

, emem ver ® rideten Reptil unrein. Man kann nun durch mannigfache Schlüsse 
achweisen daß diese Vorschrift nicht zutrifft. Es gab Tanaiten, welche^uf 150 Wegen 
tu (hesem Ergebms gelangen konnten. Rabbi Meir hatte einen Schüler Symmachus 

»ei uni umgTehrt h k ° nnte ’ daß daS ’ was die Th ° ra nenne, unrein 


Imago XIII. 


21 
















322 TLeodor Reik 


teriologie, einem Professor einer auswärtigen Universität, und einem Zwangs¬ 
kranken, der an Syphilophobie litt. Der Kranke, der sich eigene, besonders 
konstruierte Unterwäsche hatte machen lassen, um den tückischen Spiro¬ 
chäten zu entgehen, hatte den Gelehrten um eine Konsultation gebeten, um 
gesicherte Informationen über eine bestimmte Infektionsmöglichkeit zu er¬ 
halten. Alle wissenschaftlichen Argumente waren erfolglos; der Patient griff 
sie begierig auf und verwendete sie so, daß er seine Unsicherheit aufrecht 
erhielt und der Professor am Ende der Unterhaltung zugeben mußte, daß 
sich in den diskutierten Fällen freilich eine minimale Möglichkeit der In¬ 
fektion nicht unbedingt ausschließen lasse. 

Die Dogmatik benützt also die Methode des Zweifels zur Sicherstellung 
der Glaubenssätze: greift der Zweifel das Dogma von rationalistischen Gesichts¬ 
punkten aus an, so wird die Dogmatik es vernunftgemäß begründen; werden 
historische Argumente gebraucht, so wird der Traditionsbeweis von den 
Dogmatikern ins Treffen geführt. Schließlich bleibt immer noch die Be¬ 
rufung auf Gottes Autorität und das Übervernünftige des Dogmas, das sich 
jeder rationalen Erklärung entzieht, als letzter Ausweg. Auch hier enthüllt 
sich das Janusgesicht der Dogmatik: sie betont den Unterschied zwischen 
Dogmata pura und Dogmata mixta. Erstere sind solche, welche ihrem Inhalte 
nach Glaubensgeheimnisse enthalten und nur durch den Glauben und die 
Offenbarung erkennbar sind (z. B. Trinität, Inkarnation, Gnade), letztere solche, 
welche nicht Mysterien sind, daher auch von der Vernunft erkannt und somit 
auch Gegenstand natürlicher Einsicht sind oder sein können (die Einheit 
Gottes, die Schöpfung, die Geistigkeit der Seele). Es darf uns ahnen, daß 
jene Dogmata pura, welche die Geheimlehren enthalten, die älteren und 
bedeutsameren sind. Sogar durch diese Unterscheidung werden wir an be¬ 
stimmte zwangsneurotische Erscheinungen gemahnt: die Zwangsgedanken 
sind zwar keineswegs in so scharfe Gruppen geschieden, aber man kann doch 
oft solche erkennen, welche der Kranke zu begründen versucht und die er 
sogar zu besprechen wagt, und andere, die er sorgfältig für sich behält und 
für deren Wirksamkeit er sich auf eine tiefe, innere Überzeugung beruft, 
die geheimnisvoll und doch gebieterisch spricht. 

Die großen Dogmatiker aller Religionen, welche den tieferen Inhalt der 
Dogmen allseitig erschließen und die Zusammenhänge mit anderen Glaubens¬ 
weisheiten aufzeigen wollen, waren sicher ursprünglich die großen Zweifler. 
Augustinus, einer der größten Geister des Christentums, hat einmal bekannt: 1 

l) „Ego vero evangelio non crederem nisi me caiholicae (ecclesiae) commoveret auctoritas.“ 
(Contra ep. Manichei, 5.) 

































Dogma und Zwangsidee 


3*3 


„Ich glaube in vielem selbst dem Evangelium nur auf die Autorität der Kirche 
hin.“ Es wird so erklärlich, daß sie die Technik der Skepsis und der Häresie 
aufgegriff® 11 haben: die großen Talmudlehrer haben die sophistischen und 
dialektischen Kunststücke der Gegner erlernt und geübt, der große Al Asch’ari 
(874—935) wa ^ selbst ein Mutalizite gewesen und hat von dort die Wissen¬ 
schaft des Käläm in die orthodoxen Schulen des Islam eingeführt. Der 
größte Systematiker des Katholizismus, Thomas von Aquino, der doctor 
angelicus der Kirche, zeigt auf jeder Seite seiner mächtigen „Summa theologica“, 
wieviel er vom Zweifel und der Skepsis gelernt hat. Er selbst macht gegen 
die Dogmen eine Reihe von Einwürfen, bringt gegen sie Argumente und 
Gründe bei, die schließlich widerlegt werden. Nicht nur dies: für jede 
Häresie führt er eine Anzahl von Argumenten an und zeigt z. B., daß die 
simplex fornicatio, welche die Kirche streng verurteilt, keine Todsünde sei. 
In der rationalen Theologie, in der Apologetik und Dogmatik, berühren 
sich demnach Häresie und Dogma. Glaube und Zweifel haben sich hier 
ein Rendezvous gegeben und, da beide maskiert sind, sind ihre Gesichter 
schwer unterscheidbar. Die primäre Ambivalenz, welche die Zärtlichkeit 
und unbewußte Feindseligkeit gegen Gott in demselben Ausdruck zusammen¬ 
faßt, tritt in dem Bestreben der Dogmatik, Gott näher zu kommen „(Nearer, 
my God, to thee beginnt ein schöner englischer Hymnus), hervor. 

Die sekundäre Bearbeitung setzt in allen Religionen bereits beim Gottes¬ 
begriff, beziehungsweise bei den Gottesbeweisen ein. Der Gottesbegriff ist, 
wie Freud uns gezeigt hat, aus jenen seelischen Konflikten erwachsen, die 
sich aus den Ambivalenzregungen des Sohnes gegenüber dem mächtigen 
Vater ergeben haben. Die Auflehnung des Sohnes, die große Urtat des Vater¬ 
mordes und die darauffolgenden psychischen Reaktionen des Schuldbewußt¬ 
seins, der Vatersehnsucht und des Sohnestrotzes haben den Vater der Urzeit 
zum Gott erhoben. Die Gottesbeweise sind intellektualisierende Überkompen¬ 
sationen gegen eine Auflehnung, die sich gerade gegen Gott richtet. Die 
Logik, welche aus der Kontingenz alles geschöpflichen Seins auf das Dasein 
eines absolut Seienden, aus der Ursächlichkeit aller Dinge auf eine erste selbst¬ 
ursächliche Ursache, aus der Stimme des Gewissens auf die Existenz eines 
allgemein gültigen Sittengesetzes schließt, ist der des Zwangskranken völlig 
gleich. Auch der Zwangsneurotiker wird mit solcher Scheinlogik seinen 
Glauben an die Dämonen zu beweisen suchen. Nichts gleicht etwa der 
Argumentation des Zwangskranken über das Problem der Unsterblichkeit der 
Seele mehr als jene Beweise verschiedener Dogmen und Apologien. Als 
die sichersten Beweise (signa certissima) für die übernatürliche Offen- 


21* 














Theodor Reik 


barung werden die „äußeren Kriterien“, d. h. Wunder und Weissagung 
angeführt. Oft taucht in der Lektüre der Dogmatiken vor dem Leser der 
Vergleich mit dem Zwangskranken auf, die sich etwa für die „Allmacht 
der Gedanken“ darauf berufen, daß sie eben an jemanden gedacht haben, 
den sie sogleich darauf auf sich zugehen gesehen haben. Hier wie dort 
ein circulus vitiosus: der Glaube ist primär und aus seinen Voraussetzungen 
werden nun Beweise fabriziert, die wieder ihn begründen sollen. Im Anti- 
modernisteneid muß der katholische Priester beschwören, daß die Existenz 
Gottes bewiesen werden kann, daß die Wunder und Weissagungen die 
sichersten Beweise für die göttliche Offenbarung sind, daß der geschicht¬ 
liche Jesus direkt und unmittelbar die Kirche gestiftet hat usw. 

In der Zwangsneurose erstreckt sich der Grübelzwang insbesondere auf 
Themen, in deren Natur es liegt, daß wir nichts von ihnen wissen können 
(Unsterblichkeit, Lebensdauer, das Leben der Seele nach dem Tode). Die 
Rationalisierung der Mysterien des Glaubens ist der Grundcharakter der 
Lehre der Dogmatik, jener „seltsamen Zwittergebilde von kühner und 
religiöser Phantasie und scharfsinniger Logik“. 1 Sie stellen die Eigen¬ 
schaften Gottes auf das Genaueste fest, der Unterschied zwischen dem 
Ursprung des Sohnes und dem des Heiligen Geistes wird scharf dargelegt 
(generatio, spiratio), die Relationen zwischen diesen drei Personen beschrieben, 
das Wie und Warum der Schöpfung, die Ursächlichkeit Gottes in bezug 
auf das Böse wird erörtert. Die Sünde der gefallenen Engel, ihre Strafe, 
die genauere Beschaffenheit der Seele werden aufs genaueste festgestellt. Die 
Aussagen der Dogmatik von der Beschaffenheit, der Rangverschiedenheit und 
Einteilung der Engel haben jene angenehme Bestimmtheit, welche den 
wissenschaftlichen Behauptungen in beklagenswerter Art abgehen. Die 
Wissenschaft mag sich nur zögernd über Tod und Leben, Weltentstehung 
und -Untergang äußern, der Katechismus weiß genau Bescheid. Das Un¬ 
beschreibliche, hier erscheint es nicht nur getan, sondern auch auf das 
Präziseste beschrieben. 

Uns interessieren hier besonders die Verbindungswege, welche die sekun¬ 
däre Bearbeitung einschlägt, um zwischen den latenten und den wahrhaften 
Motiven eines Elementes eine Beziehung herzustellen. Wie in der Zwangs¬ 
neurose werden auch im theologischen Denken diese Wege oft an den mi߬ 
verstandenen Wortlaut anknüpfen. In der Dogmatik wird die Wortwahl des 
Alten und Neuen Testamentes besonders zu einer scheinlogischen Begründung 


l) Heiler: Der Katholizismus. S. 361. 



































Dogma und Zwangsidee 3a5 


herangezogen: die wirkliche Geburt Christi durch Maria wird etwa von Ter- 
tullian gegen die Gnostiker dadurch verteidigt, daß Christus nach der Schrift 
nicht etwa per virginem oder in virgine , sondern ex virgine geboren wurde. 1 
Paulus deutet die Worte Gottes anläßlich der Weltschöpfung: „Lasset uns 
Menschen machen nach unserem Bilde“ als Christusbeweis; heißt es doch 
„uns“! Aus der Verheißung an den Samen Abrahams (1. Mos. 22, 18) zieht 
er folgenden Schluß: „Es heißt nicht: und den Samen in der Mehrzahl, 
sondern in der Einzahl: und deinem Samen, d. h. „Christus“. Verweisen 
wir aus der Fülle des Materials, das die talmudische Halacha gibt, nur 
auf die scholastischen Deutungen des Wortes „Einzig“ im Schema Jisroel 
der Juden; als Beispiel aus der islamitischen Theologie darauf, daß im 
Neuen Testament bereits Mohammeds Erscheinen geweissagt werde, wobei 
das Wort Paraklet (jtapaxMjTog) in Periklytos (jteQwdÜTo«; = der Ruhmreiche) 
umgedeutet wird. Ein anderer Verbindungsweg wird in der Dogmatik 
nicht weniger benützt wie in der Zwangsneurose: es ist die symbolische 
Umdeutung. Man vergleiche etwa jene Gedanken meines Patienten, der 
mit blasphemischen Ideen ringt, mit scholastischen Umdeutungen. Der 
Kranke hatte einmal den besonders unsinnigen Gedanken, ein gold¬ 
geschmückter Sessel schreibe in sein Stammbuch. Die Auflösung dieser 
Zwangsidee ging von ihrer Genese aus: er mußte einmal, als er auf 
dem Klosett war, gegen den blasphemischen Gedanken kämpfen, Gott sei 
ein Klosett, auf das man sich setze. 2 Sofort mußte er zur Abwehr die 
entgegengesetzte Vorstellung eines prunkvollen Sessels aus dem Salon eines 
Aristokraten denken. Später, während des Tages, dachte er daran, daß so 
viele vornehme Herrschaften sich in seinem Stammbuche verewigt haben 
und erging sich in allerlei ehrgeizigen Phantasien darüber, welche Größen 
dieser Erde sich noch eintragen sollten. Es war nicht nur die Fortsetzung, 
sondern auch eine groteske Persiflage dieses Gedankenzuges, wenn er dachte, 
Gott selbst solle sich unterschreiben. Die Einsetzung jenes Bildes Gottes, 
eines goldgeschmückten Sessels, in diesen Gedankengang ergibt dann die 

1) De came Christi 20. 

2) Ursprünglich: ob sich Gott auch auf das Klosett setze? Der Zusammenhang 
blasphemischer Gedanken mit koprophilen Vorstellungen ist überhaupt bemerkenswert. 
Der erwähnte Patient verbindet mit dem Namen Jesus Christus sofort die Assoziation 
Water-Closet, da beide Bezeichnungen aus zwei zusammengehörigen Worten bestehen. 
Eine Zwangsneurotikerin aus puritanischem Milieu muß beim Anblicke des Klosetts 
an die biblische Vorstellung „1 throne of Grace“ denken. Ein Kranker grübelte als 
Konfirmand darüber nach, ob die heilige Hostie auch mit dem Stuhle abgehe; der 
Kommunionskelch wurde in Zwangsgedanken mit dem Nachttopfe gleichgestellt usw. 














Lösung: ein goldener Sessel schreibt in sein Stammbuch. Wir wählen 
ein relativ einfaches Beispiel einer solchen symbolischen Umdeutung aus der 
theologischen Sphäre: Paulus sah an jenen Stellen des Alten Testamentes 
an welchen vom Engel des Herrn gesprochen wird, in dem Engel Christus' 
Der Fels, aus dem Moses das Wasser schlug (2. Moses 17, 6) kann gewiß 
nur Christus gewesen sein: „denn sie tranken aus einem geistlichen mit¬ 
wandelnden Felsen. Der Felsen aber war der Christus“ (I. Kor. 17, 4) 

Die Dogmatik erinnert besonders an jene sonderbaren Mischbildungen 
der Zwangsneurose, die Freud als Delirien bezeichnet hat. Ebenso wie 
diese, zeigt sie, daß sie sich nicht den Einflüssen und Einwendungen der 
Bewußtseinsfaktoren entziehen kann. In der Neurose erscheinen jene Misch¬ 
bildungen als Produkte, die sich mit den Mitteln der Vernunft auf krank¬ 
haften Boden stellen. Erinnern wir an die Spekulationen des Johannes 
Damascenus darüber, an welchem Tage die Engel geschaffen sind, wodurch 
sie sich vervielfältigen (da sie körperlos sind), ob sie eine Sprache haben, 
ob sie einen Raum einnehmen, an die Entscheidungen des Gregor von 
Nazianz, wie viele Engel es gebe. Anselm beantwortet in dieser delirösen 
Art die Frage, ob Christi Tod auch seinen Feinden, die ihn gekreuzigt 
haben, zugute komme (Cur deus homo II, 15). Die Satisfaktionstheorie 
Anselms von Canterbury gehört gewiß hieher. Sie ist sogar ein ausgezeich¬ 
netes Beispiel einer Delirienbildung: sie geht von der Frage aus, ob der 
Tod Christi freiwillig war. Der Christus habe für sich, nicht als Repräsentant 
der Menschheit gehandelt. Aber der Vater muß ihm das vergelten. Nun 
kann dem Sohne nichts gegeben werden, weil er alles hat. Ein Frevel wäre 
es, anzunehmen, die ganze Tat des Sohnes sei ohne Effekt geblieben. Also 
ist es notwendig, daß sie einem anderen zugute komme und wenn der Sohn 
das will, kann sich der Vater dessen nicht weigern, sonst wäre er ungerecht. 
So rechnet er also den Menschen als Verwandten das Verdienst Christi an 
(II, 19). Es sei auf die scharfsinnigen Überlegungen und Begründungen hin¬ 
gewiesen, welche der Talmudtraktat Beza der Frage widmet, ob es am 
Sabbath erlaubt sei, einen im Hofe liegenden Span aufzuheben und als 
Zahnstocher zu verwenden. 

Eine der besonderen Aufgaben der Systembildung und insbesondere der 
sekundären Bearbeitung in der Zwangsneurose ist die Bewältigung und 
Ausgleichung der Widersprüche zwischen den einzelnen Zwangsgedanken. 
Wie sich dort der Kranke bemüht, die Widerspruchsfreiheit und Kontinuität 
seiner Symptome vor seinem Bewußtsein herzustellen, ebenso wird die 
rationale Theologie ihre Anstrengungen darauf richten, daß die Wider- 






























Dogma und Zwangsidee 




spräche und Inkonsequenzen innerhalb der Glaubenslehre ausgeschaltet, 
überbrückt oder verschleiert werden. Die ganze Infallibilität der Kirche 
bedingt diese Einstellung. Die Bemühung des Zwangsneurotikers um eine 
geschlossene Systembildung wird verständlich; ein einigermaßen erheblicher 
Riß im System bringt den Zusammenbruch des ganzen Gebäudes oder 
bewirkt zumindestens dessen Zerbröckelung. Der wahre Gläubige kann es 
ebensowenig zulassen, daß sich auch nur ein Stein in dem Hause, in dem 
er wohnt, lockert. Wie jenes Kästchen im „Kaufmann von Venedig“ scheint 
die Kirche den Frager zu mahnen: „Who chooseth me must give and hazar d 
all he hath.“ Wir werden verstehen, daß der Zweifel an einem unbedeuten¬ 
den Detail des Dogmas ein Zweifel gegen Gott ist. Scheeben * 1 sagt mit 
Recht, das Allerwesentlichste sei die Unfehlbarkeit der Lehre, „so daß, wenn 
diese Lehre auch nur einen Tag und in einem Punkte irrig wäre,’ damit 
die Kirche zugrunde ginge und alle von ihr gelehrten Wahrheiten ihre 
Kraft verlieren würden.“ Die schwersten Fälle von Zwangsneurose zeigen 
dieselbe eiserne Konsequenz und dieselbe großartige Resistenz, dieselbe 
Unbeugsamkeit bis in die Details wie der orthodoxe Katholizismus oder das 
talmudische Judentum. Die Kirche hat aber auch die großartigsten An¬ 
strengungen gemacht, die Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit ihrer 
religiösen Lehre zu bewahren. Ein ungeheurer Scharfsinn wurde seit den 
Tagen der Apologeten bis zu den Dogmatikern unserer Zeit aufgeboten, 
intellektuelle Anstrengungen und Gedankenkämpfe heroischer Art waren 
notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Renan ruft bewundernd aus, 
daß eigentlich „im Grunde wenige Personen das Recht haben, nicht an 
das Christentum zu glauben. Wenn sie wüßten, wie haltbar das von den 
Theologen angefertigte Netz ist, wie schwer es hält, eine der Maschen zu 
zerreißen, welche Gelehrsamkeit dabei aufgewendet und wieviel Übung 
es braucht, um alles zu entknoten!“ 

Nur der Psychoanalytiker, der sich durch viele Jahre bemüht hat, allen 
Gedankengängen, Zweifeln und Zwangsvorstellungen, Begründungen und 
Überlegungen der Zwangsneurotiker zu folgen, kann beurteilen, welche 


1) M. Jos. Scheeben: Handbuch der katholischen Dogmatik. Freiberg 1873. 

I. Bd., S. toi. — Ernest Renan hat diese imponierende Starrheit und Inflexibilität 
des Katholizismus betont. („Souvenirs d’enfance et de jeunesse.“ 1883.) Er versteht, 
wie Recht seine Lehrer von Saint-Sulpice hatten und daß man als Katholik kon¬ 
sequent sein muß: „Une seule erreur prouve qu’une Eglise n’est pas infaillible, une seule 
partie faible prouve qu’un livre n’est pas revele“ (S. 292). An anderer Stelle (S. 301): 
„De la part de l’eglise catholique avouer que Daniel est un apocryphe du temps des Maccabees 
serait avouer qu’elle s’est trompee en autre chose, eile n’est plus divinement inspire'e.“ 


















3^8 


TLeodor Reilc 


Summe von intellektueller Energie und Arbeit für den Aufbau, die Ent¬ 
wicklung und Systembildung der Zwangsvorstellungen geleistet wird. Auch 
hier besteht übrigens eine Art Analogie zwischen dem Verhalten der Außen¬ 
welt zu dieser gedanklichen Arbeit der Dogmatik und der Zwangsneurose- 
die Familie und die Freunde des Zwangskranken ahnen in den meisten 
Fällen nicht einmal das Ausmaß, viel weniger die Intensität und die 
Kapazität des Zwangsdenkens. Ebensowenig weiß der gläubige Laie, welche 
gedankliche Leistungen die Dogmatik und Apologetik vollbracht haben. Der 
asoziale Charakter des Zwangsdenkens berührt sich hier mit der abgeschlos¬ 
senen, nur einzelnen Priestern und Religionsforschern zugänglichen Natur 
der theologischen Spekulation. Aber die Übereinstimmung beider Erschei¬ 
nungen führt weiter: der Gläubige weiß nicht einmal den Wortlaut der 
Dogmen; er kennt nicht einmal ihren genauen Inhalt, kann weder über 
ihre Begründung noch über ihren Zusammenhang untereinander etwas 
aussagen. Er mag unklare, phantasiemäßige Glaubensvorstellungen haben, 
aber sicherlich kennt er nicht den genauen Inhalt der kirchlich anerkannten 
Anschauungen. Die Religion des Priesters und die des schlichten Gläubigen 
sind streng genommen zwei verschiedene Erscheinungen: wer wollte 
behaupten, daß der Spender und der Empfänger des Sakramentes dieselben 
Vorstellungen über dessen Wesen und Wirkung haben? Die Feinheiten der 
dogmatischen Mariologie haben nichts zu tun mit der volkstümlichen Auf¬ 
fassung der schmerzensreichen Gottesmutter, die ihr Antlitz gnädig der Not 
Gretchens neigt. Die Kirche ist dessen zufrieden. Sie verpflichtet den 
Christen nur zur fides implicita, dazu, sich allgemein zu jenem Glauben zu 
bekennen, den die Kirche vorschreibt. Die Kenntnis der Dogmatik ist in allen 
Religionen auf einen engen Kreis beschränkt: das schlichte Schäflein der 
christlichen Gemeinde folgt, ohne nachzugrübeln, dem Glauben seines 
Pfarrers so wie der Amhorez des Ghettos den Vorstellungen des Rabbis, 
der ungelehrte Muslim den Entscheidungen der Ulemas. Auch der Zwangs¬ 
neurotiker kennt den eigentlichen Wortlaut seiner Zwangsideen nicht; er 
erfährt ihn erst durch die mühselige analytische Arbeit, welche die Ent¬ 
stellungsarbeit rückgängig macht. 

Es weist auf die von uns beschriebene Art der sekundären Bearbeitung, 
also insbesondere auf die Wirksamkeit unbewußter seelischer Mächte hin, 
wenn die Methoden, deren sich die rationale Theologie bedient, in allen 
Religionen dieselben sind, ob es sich um die katholische Dogmatik und 
Apologetik, um die Halachoth oder den Käläm handelt. Überall sind es 
dieselben triumphierenden Syllogismen, dieselbe blendende Scheinlogik, die 





















Dogma und Zwangsidee 


ins Leere baut, dieselbe Berufung auf alte, verstümmelte und miß verstau den e 
Texte, dieselben falschen Verknüpfungen und Konklusionen, welche alle 
historische Entwicklung vernachlässigen, dieselbe Verwirrung von Daten 
und Umständen, dieselbe Kritiklosigkeit, welche in der rationalen Theologie 
herrschen. 1 Der ontologische Gottesbeweis, wie man ihn bei Anselm von 
Canterbury liest, erscheint in jeder rationalistischen Religion: daraus, daß 
der Begriff eines vollkommenen Wesens besteht, wird auf dessen Existenz 
als Notwendigkeit geschlossen. Die Berufung auf geheiligte Texte, die schein¬ 
historische Zurückführung eines Dogmas, als ob es seit Ewigkeit bestanden 
habe, jene „ Mausefall en-Methode 2 theologischer Logik und Beweisführung, 
die Talmi-Konsequenz und -Folgerichtigkeit erscheinen in jedem religiösen 
Lehrgebäude. 

Es sind dieselben weithergeholten Zusammenhänge, dieselben Auslassungen, 
dieselben schwachen Begründungen, dieselben gewaltsamen Versuche, Wider¬ 
sprüche auszuschalten, die in den katholischen Dogmatiken, im Talmud, 
in der Fikhliteratur Islams und im Zwangsdenken erscheinen. 3 Die Über- 

1) Man schlage eine beliebige katholische Dogmatik etwa die von Josef Pohle 
(Lehrbuch der Dogmatik in sieben Büchern. Paderborn 1911) auf und lese dort die 
Traditionsbeweise, die Begründung aus der Schrift, die Grundsätze der Deutung und 
Auslegung und vergleiche damit die theologischen Beweis- und Deutungsmethoden, 
welche der Talmud zeigt, das ganze syllogistische System, wie es sich aus den Regeln 
Hillels langsam entwickelt hat, sowie die entsprechenden Partien der Fikhbücher des 
Islams, um zu erkennen, daß es sich nicht um zufällige, sondern um psychisch tief be¬ 
gründete Ähnlichkeiten handelt. 

2) Schopenhauers Bezeichnung für die euklidische Beweisart in der Geometrie. 

3) Popper-Lynkeus weist auf den ungemein interessanten Zug und Trieb in 
der menschlichen Natur hin, „religiöse und metaphysische Behauptungen mittels 
foppender Argumentationen zu stützen“. Der durchaus rationalistisch gerichtete Denker 
glaubt als ein merkwürdiges Gesetz zu erkennen, daß in der Theologie „in jenen 
Fällen, wo man mit Vernunftsgründen oder mit philosophischer Argumentation arbeiten 
will, immer eine Art von (wohl zumeist unbewußter) Spitzbüberei versteckt liegt, 
deren Aufdeckung nicht immer leicht fällt, die man aber dennoch selbst, wenn man 
sie nicht aufdecken kann, fühlt, und von deren zuversichtlicher Keckheit man geradezu 
verblüfft wird“. (Über Religion, 1924, S. 38.) Man sieht, wie nahe Popper-Lynkeus 
den analytischen Anschauungen über das Dogma gekommen ist, und wie weit er doch 
von ihnen entfernt war, da er in ihm nur Betrug und Spitzbüberei sah. Die hier dar¬ 
gestellten Zusammenhänge lassen freilich die unbewußte Notwendigkeit dieses Gesetzes 
erkennen, die Popper-Lynkeus nicht ahnte. Ich verweise auf das in der vorliegenden 
Arbeit Gesagte, um zu zeigen, um wieviel tiefer die Psychoanalyse führt als eine nur ratio¬ 
nalistische Auffassung der Dogmenprobleme. Popper-Lynkeus’ affektvolle Ablehnung 
des Dogmenglaubens wird etwa in der Beschreibung des Eindruckes des ontologischen 
Gottesbeweises klar: „wie man sich nach Anhören eines solchen philosophisch-theo¬ 
logischen Witzes wie angenagelt Vorkommen kann und wie man förmlich erstarrt 
vor Staunen über den Mut, der zu solcher Taschenspielerei gehört.“ 














33° Theod or Reit 


einstimmungen zwischen der Art und der Wirkung der sekundären Be¬ 
arbeitung in der theologischen Diskussion und im Zwangsdenken frappieren 
jeden, der beide Erscheinungen studiert. In einzelnen Fällen, in denen 
religiöse Probleme im Vordergründe der Zwangsvorstellungen stehen, gehen 
sie bis ins Einzelne und legen so Zeugnis für die Gleichartigkeit des 
menschlichen Seelenlebens ab. Der Zwangskranke, von dem hier die Rede 
war, hat in der Bekämpfung seiner Blasphemien dieselben Argumente und 
Gegenargumente, dieselben Zweifel und Beweise, oft nahezu wörtlich ge¬ 
braucht, die bei den Kirchenvätern und den Autoren der Hochscholastik 
zu finden sind. Aber auch in den Fällen von Zwangsdenken, die von 
diesem ab weichen, würde jeder Dogmatiker, der sie vorurteilslos studiert 
die Ähnlichkeiten mit den Methoden der eigenen Wissenschaft finden. Es ist 
diese Identität der psychischen Motivierung und der seelischen Mechanismen, 
die Gleichheit der verdrängten Triebregungen und der verdrängenden Faktoren’ 
nicht eine vom Himmel kommende Offenbarung, welche der Kirche den Mut 
geben, zu behaupten, sie lehre quod semper, quod ubique, quod ab omnibus 
creditum est . 1 


Fides und Ratio$ die zwei Überzeugungen 

Der große Thomas von Aquino nnd alle doctores ecclesiae haben sich 
bemüht, die Widersprüche zwischen Glauben und Vernunft zu über¬ 
brücken. Aber diese Widersprüche sind nicht wegzuleugnen. Ja, es ergeben 
sich zahlreiche Disharmonien und Unsicherheiten in den Heiligen Schriften, 
auf welche sich die Theologie beruft, untereinander. Sylvester de Sacy, 
dessen besondere Sorge die im Neuen Testamente angeführten Zitate aus dem 
Alten Testamente waren, fand viele Schwierigkeiten bei ihrer Rechtfertigung. 

tt ^l^ atÜrHch behau P tet der Islam dasselbe. Der christlich-katholischen Lehre der 
Unfehlbarkeit des consensus entspricht dort das Dogma der idschmä. „Meine Gemeinde 
wird me m einem Irrtum übereinstimmen“, soll der Prophet gesagt haben; er hat 
so die anerkannten Lehrer der Gemeinde in ihrer Gesamtheit zur unfehlbaren Kirche 
gemacht. 

Die Kirche ist eben daran, sich kraft jener unfehlbaren Logik auch die Psycho¬ 
analyse „einzuverleiben“. Sie beklagt zwar die unmoralische „Überschätzung“ der 
Sexualität, aber sie sucht jenen Teil der analytischen Lehren, den sie brauchen kann, 
soweit umzubilden und umzuformen, bis sie in ihm das wiederzuerkennen glaubt, 
was die Kirche seit jeh’ und eh’ gelehrt hat und was bereits in den Evangelien steht. 
Einige kluge Priester haben ein weitgehendes Verständnis für die Psychoanalyse 
gezeigt; daneben den unbeugsamen, wenngleich verhüllten Willen, sie in den Dienst 
der Kirche zu stellen. 




























Dogma und Zwangsidee 


33l 


Schweren Herzens mußte er schließlich im Prinzipe feststellen, daß die 
beiden Testamente, jedes für sich genommen, unfehlbar seien; daß das 
Neue aber nicht unfehlbar sei, wenn es das Alte Testament zitiert. 

Der großartige Versuch der Harmonisierung von fides und ratio , der in 
der Theologie des Thomas von Aquino vorliegt, wurde für die Kirche rich¬ 
tunggebend. Der Glaube wird ein Gotteserkennen, eine cognitio des Gött¬ 
lichen. „Der Dom der christlichen Offenbarungstheorie hat einen Vorbau 
in der natürlichen Theologie . Ul Es gibt nach kirchlicher Lehre keinen Wider¬ 
spruch zwischen Glaubenswahrheit und Vernunftwahrheit, zwischen dem 
Lumen divinae revelationis und dem Lumen naturalis rationis , da Gott die 
Quelle aller Wahrheit und Erkenntnis ist. 1 2 

Aber es gibt keine „Religion in den Grenzen der Vernunft“. Die Ver¬ 
nunft beruht auf der Realitätsfunktion, der Glaube aber auf Autorität. Die 
kirchlichen Dogmen als „veritates a coelo delapsae “ 3 und die Anschauungen 
der Vernunft können nicht zusammenstimmen. Es ergaben sich früh un¬ 
überwindliche Hindernisse, beide zu versöhnen, zumal die Kirche unnach- 
sichtlich auf jedem Punkte ihrer Lehre bestand. Der Katholik ist heute ver¬ 
pflichtet, an den Teufel zu glauben wie an den Exorzismus, die leibliche 
Aufnahme Marias in den Himmel als notwendige conclusio aus den maria- 
nischen Dogmen anzuerkennen. Jede Umdeutung wird zurückgewiesen: das 
höllische Feuer ist ein wirkliches Feuer. Wer annimmt, daß es sich dabei 
um eine Metapher für die seelischen Qualen der Reue handelt, hat sich 
einer sententia temeraria schuldig gemacht und läuft Gefahr, sich von der 
wirklichen Natur des Höllenfeuers selbst zu überzeugen. 

Wenn es zum Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben kommt, so 
hat die menschliche Vernunft der überlegenen, göttlichen zu weichen. Die 
großen Wahrheiten des Sakramentes oder der Trinität sind nicht wider¬ 
vernünftig, sie sind übervernünftig. 

Die Widersprüche zwischen Glaube und Wissenschaft werden endlich durch 
die Lehre von der doppelten Wahrheit, die sich im Mittelalter herausgebildet 
hat, aus dem Wege geräumt. Siger von Brabant hat diese erkenntnistheo¬ 
retische Lehre um 1270 formuliert, sie ist dann noch von vielen Lehrern 
der Kirche anerkannt worden. Es handelt sich darum, daß etwas für die 
Philosophie wahr und für die Theologie zugleich unwahr sein könne. Man 
sieht hier, daß für alle Möglichkeiten vorgesorgt wurde; gelang es nicht, 


1) Heiler: Der Katholizismus. S. 115. 

2) Thomas von Aquino: Summa theologica. I. 9. 1, a. 1. 

3) Syllabus Lamen'tabili prop. 22. 











die Widersprüche mit der Realität gewaltsam zu überbrücken, so wurd 
dieser letzte Ausgang gewählt. Es muß dem Glauben gestattet sein j a 6 
sagen, wo die agnostische Wissenschaft nein sagt“. 1 Wirklich hat Abälard^ 
sein großes Werk „Ja und Nein“ (Sic et Non) genannt und für jede Thes 
eine Pro- und Contra-Argumentation geschrieben. Man fühlt sich völlig tl 
ie Atmosphäre der Zwangsneurose versetzt, wenn man Werke der Sch n- 
lastik wie dieses liest. 

Die Lehre von der doppelten Wahrheit, die sich zuerst bei dem Araber 
Averroes findet, ist als religionspsychologische Parallele jenes eigenartigen 
uges einzusehen, der in der Zwangssymptomatologie so häufig als der Be 
sitz zweier Überzeugungen in Bezug auf ein und dieselbe Sache erscheint 
Wenn ein Zwangskranker etwa an Macht und Einfluß der Dämonen glaubt 
so schließt dies durchaus nicht aus, daß er zu gleicher Zeit Freigeist ist’ 
ichtenberg hat einmal bemerkt, man könne sich vor Geistern fürchten 
ohne an sie zu glauben. Die Zwangskranken haben häufig zwei verschiedene’ 
und einander entgegengesetzte Überzeugungen, zwischen denen sie oszillieren- 
die eine entspricht ihrem gesunden Menschenverstände, die andere der krank¬ 
haften, zwanghaften Art ihres Denkens. Es sieht aus, als ob diese beiden 
getrennten Überzeugungen auf verschiedenen Ebenen liegen. In den Delirien 
erkennen wir Mischbildungen zwischen den beiden Denkungsarten, die etwa 
den rationalen Bemühungen der Theologie, die Glaubensgeheimnisse zu 
er aren, entsprechen. Die Mischungsverhältnisse in jedem Falle und in jeder 
ituation sind verschieden. Es kommt vor, daß ein Zwangskranker etwa 
u er eine abergläubische Anschauung lächelt und spottet, der er sich doch 
nicht entziehen kann und die ihn völlig beherrscht. Diese charakteristische 
instellung der zweifachen Überzeugung entspricht völlig der theologischen 
Lehre von der doppelten Wahrheit. Auch die Argumentation, welche zu¬ 
gunsten der doppelten Wahrheit gebraucht wird, kann mit gewissen Über- 
egungen verglichen werden, welche der Zwangskranke anstellt, um die 
Widerstande gegen den Zwang niederzukämpfen. Ein Patient von mir be¬ 
diente sich kleiner Amulette, wie elfenbeinener Affen, indischer Götzen- 
figurchen usw., die er ständig bei sich trug, um sich gegen Unglück, Fehl- 
schlagen seiner Absichten usw. zu schützen. Als die Analyse so weit vor- 


S. i4 7 Pr0gramm der italienischen Modernisten. Reformkatholische Schriften. 1508. II. 

darzusfe?w dS Me .*° de Strebt vornehmlich dahin, die Widersprüche in der Tradition 

die Autorität **+ Sldl * 80 aus ’ als habe dle Schrift eine skeptische Tendenz, welche 

täten mitet ’ lm Pr ° l0g wird die Absicbt ^gegeben, die Autori- 

taten miteinander zu versöhnen („solvere controversias in scriptis sanctoreum“). 



























Dog ma und Zwangsidee 


333 


eschritten war, ihm die unbewußten Motivierungen seiner Befürchtungen 
und der gegen sie angewandten Schutzmaßregel zu erweisen, nahm er die 
Amulette nicht mehr mit. Als er aber vor einem besonders entscheidenden 
Schritt stand, steckte er doch vor dem Weggehen eine kleine Götterfigur 
ein die alles mögliche Unheil ab wenden sollte, und sagte sich: „Wenn es 
vielleicht auch nichts nützt, so schadet es sicher nichts. Wenn mir aber 
etwas passiert, werde ich doch denken müssen, es ist geschehen, weil ich 
das Amulett nicht mitgehabt habe.“ Man vergleiche solche Überlegungen 
mit den Argumenten, welche religiöse Menschen zugunsten ihres Glaubens 
gebrauchen, wenn sie keine andere Zuflucht mehr haben, etwa mit Pascals 
Gedankengang, wie er in den „Pensees“ erscheint: „Die Vernunft kann nicht 


darüber entscheiden, ob ein Gott ist oder nicht. Von dieser Seite kann man 
wetten, ob ein Gott ist oder nicht. Aber man muß wetten, es sei Gott 
und in diesem Glauben leben, weil man hiemit alles gewinnt, wenn Gott 
wirklich ist; aber nichts verliert, wenn Gott nicht wirklich ist, während man 
bei der Wette, Gott sei nicht, nichts gewinnt, wenn man Recht hat, und 
alles verliert, wenn man nicht Recht hat.“ Wie man sieht, könnte solche 
Überlegung durchaus von einem Zwangskranken stammen. (Sie stammt auch 
von einem Zwangskranken.) 

Der Zwiespalt in der Behandlung der Dogmen, die übervernünftig und 
doch der rationellen Betrachtung zugänglich sind, entspricht völlig dem der 
Zwangsideen, die tief im Unbewußten entstehen und sich jeder vernunft¬ 
gemäßen Erklärung widersetzen und die der Kranke doch aus rationalen 
Motiven erklären will. 

Es wird uns schwer, uns in das Seelenleben des Zwangskranken zu ver¬ 
setzen, weil wir die Inkonsequenzen und Widersprüche, die im Gegensatz 
vom realitätsangepaßten und krankhaften Denken liegen, beurteilen und 
ihre Koexistenz nicht leicht verstehen. Erst die Analyse hat uns gezeigt, wie 
diese Eigentümlichkeiten der Zwangsneurose zu erfassen sind. In den meisten 
Fällen handelt es sich um eine Spaltung der Persönlichkeit, in der ein unter 
der Herrschaft des Verdrängten stehendes Ich dem übrigen Ich gegenüber¬ 
steht. In jenen Fällen der Zwangsneurose hat die Krankheit nicht von der 
ganzen Persönlichkeit Besitz ergriffen; große Teile von ihr sind intakt ge¬ 
blieben und behandeln die Zwangsidee wie etwas dem Ich Fremdes. 1 Der 


1) Der Benediktiner Paschasius Radbertus hat in seiner Eucharistitheorie (De cor¬ 
pore et sanguine dei; um 830) zuerst ausgesprochen, daß der sakramentale Leib im 
Abendmahl wirklich derselbe Leib sei, den Maria geboren, in Windeln gewickelt, in 
die Krippe gelegt habe usw. Harnack macht in seiner Darstellung der Radbertus- 













334 


Theodor Reih 


Japanforscher Michel Revon erzählt, daß der Philosoph Arai Hakouseki vor 
etwa zweihundert Jahren das Resultat seiner Unterredung mit einem Jesuiten¬ 
pater, der gekommen war, um die Japaner zum Katholizismus zu bekehren 
in die Worte zusammenfaßte: „In diesem Menschen sind eigentlich zwei 
Menschen enthalten. Wenn er von der Wissenschaft seines Landes spricht 
ist er bewunderungswürdig, aber sobald er auf die Religion zu sprechen 
kommt, redet er irre und wird kindisch. Es ist, als hörte man zuerst einen 
Weisen und dann einen Narren.“ 


Das Tabu des Dogmas 

Die Bewertung des Dogmas als übervernünftig dient dem Schutze gegen 
seine Zersetzung; sie läßt eine Diskussion durch den Hinweis auf die 
Unzulänglichkeit des menschlichen Verstandes nicht zu. Hier ist einer der 
Züge, welche das Tabu des Dogmas ausmachen, das in jeder Religion 
erscheint. Seine Separierung von allem übrigen Wissen zeigt diesen sakro¬ 
sankten Charakter; auch hier analog der Zwangsidee, welche die scharfe 
Kritik und Realitätsbeobachtung auf den übrigen Gebieten des Lebens nicht 
ausschließt. Die Tabuierung beweist, wie stark die unbewußte Feindselig- 
keit gegenüber den geheiligten Glaubensgütern ist. Über dem Tore des 
christlichen Paradieses bei Dante stehen die Worte: „Auch mich schuf 
die ewige Liebe.“ Die Geschichte des Dogmas, das zur ewigen Seligkeit 
führt, lehrt, daß die Inschrift mit besserem Rechte heißen könnte: „Auch 
mich schuf der ewige Haß.“ 

Es ist für diesen Tabucharakter des Dogmas entscheidend, daß es sich 
auf die auctoritas dei beruft, aus der es seine Herkunft ableitet. Jeder Zweifel 
am Dogma ist demnach eine Beleidigung Gottes, jede Kritik des Dogmas 
eine Blasphemie. In allen hochorganisierten Religionen ist Gott der auctor 
scripturae, der Verfasser der Heiligen Schrift. Die Dogmen sind somit Gottes 
Wort und zwar nicht nur infolge ihres Ursprungs von Gott, sondern auch 
dadurch, daß sie von Gott durch die Inspiration der heiligen Schriftsteller 
ausgegangen sind. Die Kirche verkündet die Lehre der inspiratio verbalis. 


sehen Schrift darauf aufmerksam, wie viele Fragen die große Sakramentskontroverse 
trotz allem Scharfsinn offen gelassen hatte: „Ein Abgrund rief den anderen; indem 
m der Folgezeit die verständigsten Menschen diesem Rufen Gehör schenkten und 
dabei sonst verständig blieben, beweisen sie, daß die absurdesten Spekulationen auf 
dem Gebiete der Religion nicht notwendig krank machen.“ (Dogmengesch. Bd. III. 





















Dogma und Zwangsidee 


335 



£)er Glaube an die Schrift ist mehr als ein Fürwahrhalten des Verstandes, 
es ist eine Beistimmung (consensus) des Gläubigen, der sich der Autorität 
Gottes unterwirft. 1 Aus dieser Autorschaft der Dogmen ergibt sich, daß 
Gott nicht nur der Glaubensinhalt, sondern auch der Glaubensgrund ist 


( Prima veritas auctoritas dei Das Vatikanum hat ausgesprochen, daß das 


Fürwahrhalten der Dogmen geschehe „propter auctoritatem dei revelantis , qui 
nec falli nec fallere potest“ Derselbe Glaube bezieht sich auf die Veden, auf 
die Thora, auf den Koran. Der Ursprung der Veden wird als eine Emanation 
der Gottheit Prajapati und als ein Teil der Weltschöpfung beschrieben. Ihre 
Metren und Strophen sind Weltpotenzen und von ihrer wortgetreuen Über¬ 
lieferung und Erklärung hängt das Weltschicksal ab. Wenn die Kirche 
behauptet, Gott habe den heiligen Schriftstellern die Dogmen diktiert wie 
ein Autor seinem Sekretär, so sagt die jüdische Theologie, daß in der Thora 
kein Widerspruch und keine Lücke vorhanden sein kann, weil sie von Gott 
dem Moses Wort für Wort in die Feder diktiert worden sei. Selbst von 
den letzten Sätzen, in denen vom Tode Moses die Rede ist, wollten die 
Autoritäten nicht zugeben, daß sie, wie einige meinten, von Josua hin¬ 
zugefügt worden seien. Bis auf die letzten acht Verse, in denen von seinem 
Sterben berichtet wird, so meinten die Rabbiner konsequenterweise, hätte 
Moses Gott nachgesprochen und dann niedergeschrieben: diese letzten Verse 
aber habe er wortlos, tränenden Auges, geschrieben. Der Islam behauptet, 
daß der Koran das ewige, unerschaffene Wort Gottes ist und die extremen 
Anhänger Mohammeds behaupten sogar, das Prädikat der Ewigkeit komme 
den einzelnen geschriebenen Exemplaren des Korans zu. Die Mutaliziten, 
welche den Koran zur erschaffenen Welt rechneten und die Frechheit 
hatten, daran zu zweifeln, daß auch jene Sure, in der Mohammeds Oheim 
verflucht wird, den göttlichen Ursprung zeige, wurden als Ketzer behandelt. 
Das Dogma vom unerschaffenen Koran war freilich in manchen Fällen 
schwer gegenüber dem Inhalt des Buches aufrecht zu erhalten, dennoch 
mußten alle sich daraus ergebenden Widersprüche in den Kauf genommen 


1) Die Dogmatik betont, daß Gott das Recht hat, den Glauben förmlich von uns 
zu verlangen: „Bei Gott also, der als unser Schöpfer und Herr absolut achtungswürdig 
für uns ist und zugleich den Glauben gebieten kann, werden wir auch absolut durch 
die Achtung, die wir ihm schuldig sind, genötigt, die Wahrhaftigkeit seines äußeren 
Wortes vorauszusetzen, wenn er uns den Glauben an eine bestimmte Wahrheit ge¬ 
bietet. Es ist also dazu durchaus nicht ein positiver Beweis oder auch nur die Prä¬ 
sumtion der positiven absoluten Heiligkeit Gottes notwendig, es reicht vielmehr die 
absolute Präsumtion aus, daß Gott unmöglich die personifizierte Lüge sein könne.“ 
(Seheeben: Handbuch der katholischen Dogmatik. Freiburg 1873. Bd. I. S. 278.) 



J 
















3ö6 Theodor Reih 


werden, wenn man seine ewige Geltung und Unantastbarkeit behaupten 
wollte. Es ist klar, daß die Dogmen keine Widersprüche untereinander auf¬ 
weisen konnten, wenn sie von Gott Christus, von Jahwe Moses, von Allah 
Mohammed übergeben worden waren. Es gab demnach auch keine substan¬ 
tielle Veränderung im Dogma, keinen Fortschritt, sondern nur eine aus¬ 
drückliche Formulierung. Gewiß gab es Dogmen, die nicht ausdrücklich 
formuliert worden waren und später auf einem Konzil oder von dem ex 
cathedra lehrenden Papste ausgesprochen wurden. Wenn Pio Nono 1854 
erklärte, daß alle Gläubigen an die Lehre von der unbefleckten Empfängnis 
Marias glauben müssen, daß die anders Gesinnten durch ihr eigenes Urteil 
verdammt werden, so besteht also seit siebzig Jahren eine neue Heils¬ 
bedingung, der Glaube an dieses Dogma, der vorher nicht gefordert wurde 
Es handelt sich also nur um einen Klärungsprozeß, der die in der Tradi¬ 
tion enthaltenen Dogmen ans Licht stellt. Die sogenannten eingeschlossenen 
Dogmen werden so in dogmata explicita verwandelt. Im Verbalinspirations¬ 
streite hat man behauptet, die Autorschaft Gottes an der Schrift erstrecke 
sich bis auf die Schreibung der hebräischen Vokale und Konsonantenpunkte. 
Die traditio divina hat ihre schwerwiegenden Konsequenzen: nicht nur, 
daß die Schrift selbst für alle Zeiten gültig, unfehlbar und unabänderlich 
ist, sondern auch die Entscheidungen aller jener, die vom Heiligen Geiste 
wie sie erfüllt wurden. 1 Die Heiligkeit und Unfehlbarkeit hat kontagiösen 
Charakter; Christus war unmittelbarer Gesandter des ewigen Vaters und 
hatte das verkündigt, was der Vater in ihn als „der Schatzkammer der 
Weisheit und Wissenschaft Gottes“ niedergelegt hatte. So verkündeten die 
von Christus unmittelbar ausgesandten Apostel, was sie von Christus und 
seinem Geiste gehört und empfangen hatten und was in ihnen „gleich 
lebendigen Büchern des Heiligen Geistes“ niedergelegt war. So verkündigen 


1) Nach Heinrich Wetze und Welte (Kirchenlexikon 2. Bd. III. Col. 1879h) 
kann der Grund der Verborgenheit solcher eingeschlossener Dogmen ein doppelseitiger 
sein: „Er kann darin liegen, daß die fragliche Wahrheit zwar in Schrift und kirch¬ 
licher Überlieferung oder selbst in einem Lehrausspruch der Kirche zwar unmittelbar 
ausgesprochen ist, aber nicht mit solcher Klarheit, daß jeder oder doch wenigstens 
der wohlunterrichtete und einsichtsvolle Gläubige dieselbe mit Leichtigkeit und 
Sicherheit zu erkennen vermag. In diesem Falle ist diese Wahrheit zwar unmittelbar 
offenbart und von der Kirche proponiert, aber nicht mit genügender Klarheit. Es liegt 
hier, wie die Theologen sagen, eine relevatio et propositio formalis et immediata , sed con- 
fusa et obscura vor. Eine solche hat man auch quasi implicita genannt. Denn im eigent¬ 
lichen Sinn implicita sind diejenigen Wahrheiten, welche in der Offenbarung und 
kirchlichen Proposition nicht unmittelbar und formell enthalten sind, sondern nur 
wie in ihrem Prinzip, aus dem sie durch eine logische Operation... gefolgert werden.“ 






















Dog ma und Zwangsidee 


ferner die Nachfolger der Apostel, was sie von diesen gehört und empfangen 
haben, und ihre Nachfolger das, was von diesen wieder in ihre Hände 
niedergelegt worden ist. Diese von den Aposteln und ihren Nachfolgern 
überlieferte Wahrheit ist jene traditio apostolica , die unbedingten Glauben 
verlangt. Die Macht der Päpste gründet sich auf die fortwirkende Macht 
des religiösen Tabu; auf ihr auch die Irrtumsunfähigkeit des Nachfolgers Petri 
als des obersten Hirten. Wie die Kirche behauptet das Judentum, die ganze 
Lehre, die mündliche wie die schriftliche, sei eine einzige große Offen¬ 
barung, die gleichmäßig das Spätere wie das Frühere umfasse. Die zehn 
Gebote und die Deutungen, die viele Jahrhunderte später die Sofrim gegeben 
haben, sind dem Moses an einem und demselben Tage mitgeteilt worden. 
(Meg. 19 b.) Die ganze Mischna und Gemara, alles, was in künftigen Zeiten 
ein tüchtiger Schüler seinem Lehrer vortragen werde, sei dem Moses offen¬ 
bart, auf jenem Berge verkündet worden. (S. Ber. 5 a Meg. IV. 1.) So hatte 
also Gott dem Moses neben der schriftlichen auch die mündliche Thora 
gegeben, die alles enthielt, so wie die Bibel alle späteren Dogmen. Diese 
mündliche Überlieferung hätte sich von Moses auf die Nachfolger Moses, 
die Häupter der jeweiligen Lehrhäuser und von Geschlecht zu Geschlecht 
fortgepflanzt. Die Autoritäten verfahren wenigstens in der vorhillelitischen 
Zeit so, daß sie nur solche dogmatische Entscheidungen gelten lassen, die 
sie von ihren Lehrern überkommen hatten. Diese hatten nach ihrer Voraus¬ 
setzung ebenso verfahren usw., bis die betreffende Ansicht bis auf Moses 
zurückgeführt wurde. „Ein förmliches Zeugenverhör stellten sie mit dem 
Tradenten an. Er mußte die Tatsache, daß er die Rechtsentscheidung von 
seinem Lehrer gehört hatte, durch einen Eid bekräftigen.“ 1 Nur zum Nach¬ 
weis der Gleichartigkeit der seelischen Vorgänge folgendes: solange Mohammed 
am Leben war, bot es offenbar wenig Schwierigkeiten, sich mit dem Himmel 
direkt in Verbindung zu setzen. Mit der Verklärung des Propheten wurden 
die Reden und vorbildlichen Handlungen Mohammeds zur Sunnah , Norm 
der Gemeinde. Außer Allah und seinem Gesandten wurde keine Autorität 
als kompetent betrachtet, eine Vorschrift festzusetzen. Das Leben des Pro¬ 
pheten war gewiß inhaltsreich, aber es lebten nur mehr wenige, die sich 
aller Einzelheiten erinnerten. Und dann war die Nachfrage größer als das 
vorhandene Material, denn es galt nicht nur Fragen des Kultus und des 
Dogmas, des Zivil- und Strafrechtes zu beantworten. Prinzipiell waren 
Fragen über Begrüßungsformeln, Gebräuche bei der Mahlzeit, Gespräche, 

0 Vgl. Jakob Fromer: Der Talmud. Berlin 1920. S. 45, 77 f. 


Imago XIII. 


22 














338 


Theodor Reit 


die man am Krankenbette zu führen hatte, gleich. Nun wurde eine Art 
pia fraus durchgeführt, die völlig dem im Talmud erscheinenden gleicht: 1 
„Die gewöhnliche Form der Auskunft über einen fraglichen Punkt wurde 
folgende: Es hat mir A gesagt, es habe B ihm überliefert, er habe von C 
gehört (usw. je nachdem der Redende weiter von dem Zeitalter Mohammeds 
entfernt war): Der Gesandte sprach eines Tages so und so oder handelte 
so und so u. dgl. Die Aufzählung der Überlieferer hieß isndd (Stütze), der 
Text der Erzählung matn (Text). .. Kette und Text zusammen bildeten ein 
hadith , eine Überlieferung, und auch die Gesamtheit dieser Art wird hadith 
genannt.“ Diese Sammlungen von Hadith erhielten nun kanonische Geltung 
und das riesige Material, das diese Bücher enthalten und das alles Erdenk¬ 
liche umfaßt und die heterogensten Bestandteile aufweist, wurde auf 
Mohammed zurückgeführt. Die Fortsetzung der Hadith-Sammlungen, die 
sich in Kommentaren zu diesen ergab, war die Fikhliteratur. 

Wir werden nicht erwarten können, dieselbe Erscheinung auf dem 
Gebiete der Zwangsneurose zu sehen; schließlich ist das Dogma eine so¬ 
ziale Schöpfung und trotz allen Übereinstimmungen keine Zwangsidee. 
Aber es gibt ähnliche Erscheinungen, welche mutatis mutandis eine Fort¬ 
führung des Vergleiches auch hier erlauben. Der Tabucharakter des Dogmas, 
der seine Geltung schützt, ist durch Verschiebung entstanden. Der Schutz, 
welcher der Gottheit galt, wurde auf alle Lehren verschoben, die mit dem 
Wesen Gottes, allen Anschauungen über den ihm geltenden Kultus und 
die mit diesem betrauten Personen in Zusammenhang standen. So wurden 
auch herabsetzende und zweifelnde sowie widerspenstige Gedanken gegen diese 
wie Aggressionen empfunden. Die Sätze, welche die Wahrheiten über Gott, 
Christus und die Kirche zum Ausdruck bringen, wurden geschützt wie 
jene heiligen Personen selbst und ein Widerspruch gegen sie als crimen 
laesae majestatis angesehen. Es gibt gar keinen besseren Schutz, als jene 
Glaubenssätze von Gott selbst herrühren zu lassen, ihn zu ihrem Autor zu 
machen. Sie werden so isoliert und erhalten eine besondere Stellung außer¬ 
halb und abseits von sonstigen Behauptungen. Diese besondere Behandlung 
der Dogmen, welche sie tabu macht, erinnert an eines der ältesten Gebote 
der Zwangsneurose, das Tabu der Berührung. Die Vermeidung von Kontakt 
und Berührung spielt in der Zwangsneurose eine große Rolle und wird 
zum Mittelpunkte ausgedehnter und oft komplizierter Verbot Systeme. Freud 
hat uns gezeigt, warum ihr eine so große Bedeutung zukommt: die Be- 

1) Nach G. Sn ouk - Horgr onj e im Lehrbuche der Religionsgeschichte. Tü¬ 
bingen 1925. Bd. I. S. 697. 



















Dogma und Zwangsidee 


rührung ist das nächste Ziel sowohl der zärtlichen als auch der aggressiven 
Objektbesetzung. Die Wirkung der Verschiebung und die der Regression, 
derzufolge Gedanken Taten ersetzen, läßt es dann verstehen, warum auch 
assoziative Verbindungen, sozusagen Berührungen der Gedanken, verboten 
werden. Die Kettenbildungen, durch welche das Dogma des Katholizismus, 
des Islams und des Judentums durch gedankliche Übertragung die Kon¬ 
tinuität seines Bestandes beweist, erinnern den Analytiker lebhaft an jene, 
freilich negativ betonten Delirienbildungen, in denen an Waschzwang 
leidende Neurotiker die „Unmöglichkeit“, das Tabu eines Objektes dar¬ 
stellen : die Handschuhe sind z. B. tabu, weil sie in einem Winterrocke 
waren, den der Patient trug, als er durch jene Straße ging, in der ein 
Bekannter wohnt, dessen Vetter an Paralyse starb usw. 

Jeder Analytiker weiß, welche Bedeutung der Vermeidung und Abwehr 
verpönter Gedanken in der Zwangsneurose zukommt und daß es gerade 
diese Schwierigkeit ist, welche der Auflösung von Zwangsideen in besonderem 
Maße entgegensteht. Bestimmte kritische, aggressive und sexuelle Gedanken 
werden ausgeschaltet, weil sie mit den Ansprüchen des Über-Ichs nicht 
zusammenstimmen. Es sind dies insbesondere Gedanken, die sich mit den 
dem Patienten nächsten und ihm teuersten Personen beschäftigen. Es ist 
so, als habe die Hemmung von der Aktion auf die Denktätigkeit ubergegriffen. 
Diese Gedanken sollen nicht gedacht werden und sie werden bewußt auch 
nicht gedacht. Die assoziative Verbindung zwischen ihnen und anderen Ge¬ 
danken wird abgebrochen; sie sind isoliert und ihre Domäne erscheint wie ein 
Reservatgebiet. Diese Noli-me-tangere-NditULr der Dogmen führt zu eigen¬ 
artigen Konsequenzen: sie verbietet es, irgendeinen neuen Schritt zu ihrer 
Erforschung zu tun, der nicht mit der Auffassung der Kirche übereinstimmt, 
ja streng genommen, verbietet sie den Nichtgläubigen oder denen, die 
sich in irgendeinem Punkte von der Anschauung der Kirche entfernen, 
die Beschäftigung mit theologischen Fragen. Schon Tertullian (De prae- 
scriptionibus haereticorum c. 20) hat es ausgesprochen, daß die Katholiken 
den Häretikern überhaupt das Recht, die Schrift zu gebrauchen, absprechen 
und so deren Klage von vornherein ab weisen müßten. Ja, die Kirche er¬ 
klärt eine unmittelbare Benützung der Heiligen Schrift „nicht für alle und 
unter allen Umständen heilsam, und so hat die katholische Kirche mit 
hoher Weisheit verschiedene Vorsichtsmaßregeln in dieser Richtung an¬ 
geordnet“. 1 Hier werden also, wie der Talmud es ausdrückt, „Zäune um 


1) Sehe eben: Handbuch der katholischen Dogmatik. Bd. I. S. 124. 















3^o 


Theodor Reik 


das Gesetz“ gemacht, ganz analog den Schutzmaßregeln, durch welche sich 
Zwangsneurotiker gegen die Annäherung an verbotene Regungen und Ge¬ 
danken sichern. Tertullian sagt ausdrücklich, die „Vertrautheit mit der 
Schrift wurzle im Grübelgeiste. Es mache die Wißbegierde dem Glauben 
Platz, die Ruhmsucht dem Seelenheil. Nichts gegen die Glaubensregel wissen 
heißt alles wissen!“ Die Kirche hat später vom Laien nur die Zustimmung 
zum Glaubensbekenntnisse, die fides implicita, verlangt und ihn im übrigen 
auf die Einsicht der Kirche verwiesen. Sie wußte, daß die Forschung des 
Einzelnen ihn in die Gefahr der Versuchung und des Irrtums führe und 
suchte, ihn liebend davor zu schützen. In dem Buche „Kurze und vertrau¬ 
liche Antworten auf die am meisten verbreiteten Einwürfe gegen die katho¬ 
lische Religion“ von Abbe von Segur heißt es: „V. Frage: Wie kann der 
Leib Christi in der konsekrierten Hostie wirklich gegenwärtig sein? Das 
ist ja unmöglich. Antwort: Nur eines habe ich dir zu antworten, aber das 
genügt sicher. Es ist so, also ist’s möglich. Es ist so, also mußt du’s glauben, 
wenn du auch nicht begreifst, wie es geschehen kann.“ (Die Worte „Es ist 
so“ sind mit besonders großen Lettern gedruckt.) 

Das Denkverbot, das so implicite aufgerichtet wird, ist jener Denk¬ 
lähmung zu vergleichen, die wir im Endausgang der schweren Fälle von 
Zwangsneurose manchmal sehen. Jener Zwangskranke, dessen Symptome 
ich hier oft zum Vergleiche herangezogen habe, zeigte in einer bestimmten 
Zeit Zeichen einer solchen Denkhemmung. Als die Blasphemien drohten, 
in ihrer ganzen Schärfe zum Bewußtsein durchzubrechen und die Herrschaft 
über sein gedankliches Leben zu gewinnen, verbot er sich jede Lektüre, 
jedes Gespräch, jede Anregung, weil alles, was er hörte und sah, den An¬ 
stoß zu einer Blasphemie gab. Er setzte sich sogar dunkle Brillen auf, um 
nicht sehen zu müssen, und blieb mehrere Tage in einer Art Denklethargie, 
in der er stumpf und mechanisch vegetierte, um nicht blasphemieren zu 
müssen. Ich will nur, um das praktisch Weitgehende solcher Schutz- und 
Sühnemaßregeln anzudeuten, hinzufügen, daß er gezwungen war, mehrere 
Stunden im Tage völlig unbeweglich auf einem Platze zu stehen und, ohne 
etwas anzusehen, vor sich hinzustarren. Er bot wirklich das Bild eines 
indischen Fakirs; mehr noch erinnerte er mich an die Säulenheiligen in 
der Wüste, wie sie von den christlichen Legenden mit soviel frommer 
Eindringlichkeit, von Anatole France mit soviel verborgener Ironie in seiner 
„Thais“ geschildert wurden. 

Das Tabu des Dogmas erstreckt sich aber weiter; es bezieht sich auf 
alle, welche es verkünden. Der katholische Priester wird Hochwürden ge- 
























nannt, mit demselben Worte, das für das Sanctissimum gebraucht wird . 1 
Der ganze Klerus bis zum Bischof und bis zum Papst hat Teil an diesem 
Tabucharakter. Der heilige Bonifazius konnte sagen: „Die Gläubigen sind 
verbunden, den Bischöfen auch auf den Weg zur Hölle nachzufolgen . u 
Die Gläubigen sind oft mit besonderer Freudigkeit ihren Hirten gerade auf 
diesem Wege, der nicht nur mit guten Vorsätzen gepflastert ist, gefolgt. 

Es ist charakteristisch, daß die Kirche Zensuren über eine heterodoxe oder 
irgendwie mit den Dogmen nicht übereinstimmende Lehre erteilt und daß 
diesen Zensuren derselbe Unfehlbarkeitscharakter eignet wie ihren positiven 
Entscheidungen. Liest man die vielfältigen Abstufungen dieser Beurteilungen, 
so erkennt man, wie sehr die Kirche bemüht ist, das Tabu des Dogmas zu 
schätzen und gegen jeden Einspruch zu sichern . 2 Die Nuancierung der Zensuren 
sowie ihre Begründung führen uns wieder näher zur Psychologie der Zwangs¬ 
gedanken. Auch dort werden die Kranken ihre eigenen Meinungen einer 


1) Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, daß es einem Katholiken sogar unter¬ 
sagt ist, einen Priester bei einem weltlichen Gericht anzuklagen. „Die Tabuangst geht 
bei dem katholischen Volke so weit, daß man es nicht wagt, etwas Nachteiliges über 
den Priester zu sagen, ohne ausdrücklich seine Berufsheiligkeit auszunehmen . . . Die 
Redensart: ,Unser Pfarrer is a Lump — abg’seh’n von der heiligen Weih 4 kann man 
beim bayrischen Landvolk nicht selten hören.“ (Heiler: Der Katholizismus. S. 180.) 

2) Durch die sogenannten Notae theologicae vel ecclesiasticae werden die einzelnen 
möglichen Arten der Verletzung der katholischen Glaubensregel ganz bestimmt be¬ 
zeichnet. Diese vom kirchlichen Lehramte gefällten Urteile (sententiae iudicales) sind 
unfehlbar wie die positiven Glaubensurteile. Ein Satz wird propositio formaliter haeretica 
genannt, wenn er einer formell geoffenbarten Wahrheit widerspricht, materialiter haeretica t 
wenn dies nicht der Fall ist; dagegen erronea ein solcher, welcher einer sicheren theo¬ 
logischen Lehre, die nicht formell geoffenbart ist, widerspricht. Von den übrigen 
Zensuren seien einige zitiert, weil ihre Bezeichnungen wie beim Tabu die Abstufung 
der größeren oder geringeren Gefährlichkeit für das zu schützende Dogma wider¬ 
zuspiegeln scheinen: sententia haeresi proxima , sententia falsa, sententia temeraria , sententia 
scandalosa (ärgerniserregend), sententia blasphemica , schismatica, seditiosa (der Häresie ver¬ 
dächtig), sententia de haeresi suspecta (die an und für sich orthodoxen Sinn haben kann, 
jedoch vermöge der Umstände, unter welchen sie auftritt, vermöge des persönlichen 
Charakters oder des religiösen Charakters der Urheber u. dgl. in häretischem Sinne 
verstanden werden könnte). Zum Beispiel kann der Satz, daß der Sünder durch den 
Glauben Rechtfertigung erlangen könne, unter Umständen häretisch sein, sofern der 
Verdacht vorliegt, daß damit die Rechtfertigungslehre der Reformatoren (sola fides) 
ausgedrückt werden soll. Eine sententia piarum aurum ojfensiva ist ein Satz, der die 
frommen Ohren verletzt. („Man darf das nicht vor frommen Ohren nennen, was fromme 
Herzen nicht entbehren können“,) Es ist dies ein solcher Satz, dem zwar ein kirchlicher 
Sinn unterlegt werden könnte, bei welchem jedoch entweder an sich oder vermöge 
der äußeren Umstände an eine Häresie gedacht werden könnte. Eine sententia captiosa 
ist eine Maxime, welche vermöge einer künstlichen Fassung unter dem Scheine der 
Wahrheit eine unkirchliche oder häretische Lehre zu verbergen sucht. 















Zensur unterwerfen und sorgfältig darauf achten, welche Gedanken sie zum 
Bewußtsein zulassen. Wenn wir in der Analyse einer Zwangsvorstellung die 
Existenz eines Impulses, einer Triebregung oder eines Gedankens als für 
die Zwangsidee verantwortlich erkannt haben, hören wir manchmal von 
dem Patienten, eine solche Triebregung oder ein solcher Gedanke sei freilich 
bei einer bestimmten Gelegenheit aufgetaucht, aber als unerheblich, un¬ 
schicklich, unmoralisch usw. abgewiesen worden. Aus der Art der psychi¬ 
schen Reaktion können wir dann auch beurteilen, wie tief oder entscheidend 
der betreffende Impuls oder Gedanke gewesen ist. 

Wir werden jetzt auch die in jeder Gesetzesreligion wiederkehrende Er¬ 
scheinung besser verstehen, welche zeigt, daß die Theologie buchstäblich, 
wie wir im Arianismusstreite sehen konnten, auch nicht ein Jota ihrer 
Dogmen zu opfern bereit ist. Es ist nicht nur die Herkunft des Dogmas 
von Gott, was diese Einstellung bedingt, es ist weit mehr der Tabucharakter 
der Lehre, der solche Unbedingtheit erfordert. Die Kirche erklärt, wenn 
sie sich an einem Punkte oder in einer noch so geringfügigen Sache etwa 
über die Todesart Kains geirrt habe, sie als ganzes Gebäude zugrunde ginge. Ganz 
so handelt und denkt der Zwangskranke. Wenn z. B. ein Nervöser, der an 
Bakterienangst leidet und viele Stunden seines Tages seinem Waschzwang 
geopfert hat, zufällig an jemanden auf der Straße anstreift oder ein Stäubchen 
an irgendeiner Stelle seines Gewandes bemerkt, so waren alle Vorsichts¬ 
maßregeln umsonst, aller Aufwand früher vergebens und er muß sich wieder 
einer ausgedehnten Reihe von Reinigungswerken unterwerfen. Das Durch¬ 
brechen des Systems an einer einzigen, wenn auch der geringfügigsten Stelle, 
wird psychisch so behandelt, wie wenn das Ganze in Gefahr wäre. Ein 
einziger Widerspruch im Dogma wie eine auch noch so entfernte Berührung 
mit dem Verbotenen in der Zwangssymptomatologie bleibt ein Erdenrest 
zu tragen peinlich, der hier den geheimnisvollen Verboten widerspricht, 
dort mit der göttlichen Herkunft des Dogmas schlechterdings unvereinbar ist. 

Wir werden durch die Tabubeschränkungen, denen das Dogma unter¬ 
liegt, an die vielen Restriktionen und Vorsichtsmaßregeln gemahnt, welche 
die primitiven Völker ihren Häuptlingen und Königen gegenüber 
gebrauchen . 1 Es ist in dieser Analogie verständlich, daß sich die Tabuierung 
des „Königs der Könige“ auch und insbesondere auf die ihm geltenden 
Gedanken bezieht, während sich das Tabu der Wilden auf die Aktionen der 
Berührung beschränkt. Wir werden zur Begründung dieses Unterschiedes 


1) Vgl. Freud: Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X. 


























Dogma und .Zwangside« 


e 3j3 


nicht anführen, daß der himmlische Herrscher von wegen zu beträchtlicher 
Entfernung handgreiflichen Berührungen entrückt ist, denn es gab eine 
Zeit, da die Götter noch Wald und Flur dieser Erde füllten. Wir meinen 
vielmehr in dieser Ausdehnung des Tabus auf die Gedankenwelt eine Ent¬ 
wicklung und Verschiebung des Tabus im Sinne des säkularen Verdrängungs¬ 
fortschrittes zu erkennen . 1 So wie in der Religion selbst das tayopevov, das 
Wort, immer mehr an Stelle des ÖQcopvov, der Handlung, trat, so wurde auch 
das Gewicht des Tabus von der Aktion mehr auf die Gefühle und Gedanken 
verlegt. Darin ist aber nicht nur eine Steigerung der Gewissenhaftigkeit zu 
erblicken, sondern sicherlich auch die Reaktion auf die von der motorischen 
Aktion auf das Intellektuelle verschobene Versuchung zur Aggression. Gleich¬ 
zeitig ist mit dieser Ausdehnung und Verschiebung des Tabus eigentlich eine 
Annäherung an die primitiven Erscheinungen des Tabus erfolgt: denn es waren 
ja aggressive, feindselige und grausame Gedanken und Impulse, gegen deren 
Auswirkungen die Tabubeschränkungen aufgerichtet wurden. Wenn wir den 
Tabucharakter des Glaubens und seiner Inhalte studieren, so wird uns klar, 
daß Gott hier als Träger jener geheimnisvollen und gefährlichen Macht 
erscheint, die wie eine elektrische Ladung wirkt. Im Tabu des Dogmas 
handelt es sich nun um die gedankliche Beschäftigung mit diesem gefürch¬ 
teten Objekte, der die äußersten Beschränkungen auferlegt werden. Es wird 
uns dann verständlich, daß diese Zauberladung sich übertragen kann, daß 
der Glaube gegen jeden geringfügigsten Einwand geschützt werden muß, 
daß die Berührungskraft sich sowohl negativ wie positiv Ausdruck verschafft. 
Wir verstehen es besser, daß die Heiligkeit Gottes und seiner Beschlüsse 
sich seinem Sohne, seinem Gesandten, seinem Propheten mitteilt, von diesen 
auf die ersten Apostel und Lehrer fortgepflanzt wird und sich so weiter 
überträgt, bis sie auf den gegenwärtigen Papst, Chalif oder Zadik übergeht. 


1) Es ist dem Charakter des unbewußt Psychischen gewiß angemessen, daß die 
alten Tabuverbote aufrecht bleiben, auch wenn neue Objekte hinzugefiigt werden. So 
bleibt natürlich das Tabu des Priesters bestehen. Wenn man sich einen Begriff von 
der Ausdehnung des primitiven Tabus innerhalb des Katholizismus machen will, so sei 
an die kontigiöse Gnadenkraft der Reliquien, an das Weihwasser {aqua benedicta), 
an die Amulette mit dem Bilde des Herzens Jesu, des heiligen Benedictus, Aloysius 
oder Antonius, an Rosenkränze und Kerzen, den Weihrauch und die apotropäische 
Macht der Glocken erinnert. Das Sanctissimum enthält noch immer die Fülle der 
Heiligungskräfte. Der Zusammenhang der katholischen Hochreligion mit den ältesten 
und rohesten Religionsformen wurde eigentlich nie völlig unterbrochen. Im Dekret des 
Sanctum officium vom 3. August 1903 hat die kirchliche Oberbehörde in einer offi¬ 
ziellen Entscheidung das Verschlucken von in Wasser aufgelösten Heiligenbildern als 
erlaubten Brauch erklärt. (Mirbt; Quellen zur Geschichte des Papsttums. 400.) 












Mi 


Theodor Reit 


Es macht keinen wesentliche}! Unterschied, ob man sagt, diese Männer, denen 
die magische Kraft zuteil wurde, haben viel Mana oder Orenda, oder behauptet 
der Heilige Geist habe sie erleuchtet und ihren Beschlüssen Unfehlbarkeit und 
Irrtumslosigkeit beschieden. Wir vermissen in der Heiligkeit des Glaubens 
auch jenen anderen Charakter des Tabus nicht, der sich in zwei einander ent¬ 
gegengesetzten Wirkungsformen zeigt. Der Glaube macht selig, aber der Un¬ 
glaube verdammt zu ewiger Höllenpein. Wenn ein Häuptling der Wilden 
oder ein mächtiger König der Vorzeit die Leidenden berührt, sind sie mit 
einem Schlage von ihren Krankheiten befreit. Wenn aber einer ihrer Unter¬ 
tanen ihn selbst oder etwas ihm Angehöriges anrührt, so trat die Strafe 
die auf die Verletzung des Tabu gesetzt war, ein und er starb automatisch 
an den Folgen seiner Freveltat. Einen Begriff dieser Zaubermacht der ersten 
Art gibt nicht nur die Konsekrationstheorie, sondern auch die Gnadenlehre 
der Kirche. Es wäre eine lohnende Aufgabe für einen analytisch geschulten 
Religionsforscher, die vielfach und minutiös unterschiedenen Arten und 
Grade der Gnade, die nach christlicher Auffassung ein übernatürlicher 
Beistand aus dem Verdienstschatze Christi ist, auf diese alten tabuistischen 
Vorstellungen zurückzuführen. 

Aber auch die Strafe für den Bruch des Glaubenstabus gehört hieher 
und besonders diese zeigt die Fortwirkung der alten Tabuanschäuung. Die 
ursprüngliche, negative Vorstellung, welche mit Höllenstrafen droht, wird 
erst allmählich durch die positive, welche <Jem Gläubigen die ewige Selig¬ 
keit zusichert, zurückgedrängt. Das Seelenheil mag immerhin im Mittelpunkte 
der frommen Glaubenserwartung stehen, das „In-den-Himmel-Kommen“ das 
Endziel aller Wünsche sein, primär sind diese Anschauungen sicher nicht. 
Sie haben sich auch nicht nur aus dem allgemeinen Glauben an die Fort¬ 
setzung des irdischen Daseins im Jenseits und an eine spätere Kompensation 
für die geforderten Verzichte hienieden herausgebildet; sie stellen vielmehr 
eine Reaktion auf die Unheilserwartung des den Versuchungen ausgesetzten 
Gläubigen dar. Der Glaube sollte zuerst durch die heilsame Todesangst ge¬ 
sichert werden. Die Kirche droht dem Ungläubigen mit den schrecklichsten 
Strafen, mit der Hölle, wo die Diener Satans die Verdammten mit glühenden 
Zangen und schrecklichen Folterwerkzeugen quälen. Wer etwa von einem 
Missionsprediger aus dem Kapuziner- und Redemptoristenorden in einer Predigt 
eine lebendige und ausführliche Schilderung der Höllenqualen gehört hat, 
weiß, warum der Katholik nach Absolution, letzter Ölung und Altarsakrament 
verlangt, ehe er stirbt. Nicht mehr der Tod wird gefürchtet, sondern das 
Jenseits; die Religion hat die Todesangst potenziert. Sie hat gleichzeitig durch 



























Dogma und Zwangsidee 


den Hinweis auf das Schuldgefühl des Menschen an eine der wichtigsten 
unbewußten Quellen dieser Angst gerührt. Die Vorstellung der Auferstehung 
und des Jüngsten Gerichtes am Ende der Zeiten hat dann die Angst des 
Einzelnen noch erhöht . 1 * * 

Wir erkennen hier, daß die Verletzungen des Tabu des Dogmas nicht 
minder schreckliche Wirkungen hervorbringt, als der Bruch eines Tabus 
bei den Wilden: wer nicht glaubt, verfällt der ewigen Höllenpein. Der 
Charakter des Glaubens als eines Liebesaktes, des Unglaubens als des Aus¬ 
druckes der unbewußten Feindseligkeit erklärt diese strenge Konsequenz. 
Das Schuldgefühl des Ungläubigen bezieht sich eben auf jene unbewußten 
aggressiven und revolutionären Triebregungen gegen die Vater-Gottheit und 
die dem Schuldgefühl entsprechende Gewissensangst des Neurotikers steht 
dem „Heulen und Zähneklappern 4 des Gläubigen nahe, der sich vom Rachen 
der Hölle verschlungen sieht. Wir werden später besser verstehen, warum 
gerade der Unglaube so schreckliche Folgen in den Anschauungen der 
Religion mit sich bringen muß. Auch die'antiken Religionen, etwa die ägypti¬ 
sche, sehen ein großes Todesgericht vor, aber nur die guten oder schlechten 
Taten werden dort beurteilt. Dies geschieht freilich auch in den übrigen 
Religionen, aber in den späteren Entwicklungsstufen der Religionen ist der 
Unglaube die Ketzerei kat exochen , eine der schrecklichsten Sünden. Hier 
wollen wir uns nur mit der vorläufigen Auskunft begnügen, daß der Un¬ 
glaube an die Stelle der Auflehnung und der Aggression getreten ist. Es 
paßt gut zu unseren psychologischen Erwartungen und stimmt mit den 
von mir hier dargestellten seelischen Grundlagen des Glaubens, dem unbe- 

1) Freilich auch seine Hoffnungen belebt, wofeme er nicht Heines Skepsis teilt: 
„Und ist man tot, so muß man lang 
Im Grabe liegen; ich bin bang, 

Ja, ich bin bang, das Auferstehen 
Wird nicht so rasch vonstatten gehen.“ 

Zum Vergleiche sei auf die Eschatologie des Islams hingewiesen. Auch dort erscheint 

der Glaube als Heilsbedingung. Beim Sterbebette rezitieren die Umstehenden die 
36. Koransure und geben dem Sterbenden das ihm fleißig zugeflüsterte Glaubens¬ 
bekenntnis als viaticum mit. Auch im Grabe wird ihm das Bekenntnis wieder vor¬ 
gesagt. Nach der Beerdigung besuchen ihn die Engel Munkar und Nakir, die ihn 
über seinen Glauben und seine Werke befragen. Falls seine Antwort nicht befriedigend 
ausfällt, wird er empfindlich gezüchtigt. Am Ende der Zeiten kommt dann für die 
Toten das große Gericht, dessen die Menschheit in schrecklicher Angst harrt. Die 
Schlußszene der Weltgeschichte ist in der Eschatologie des Islams mit derselben 
dramatischen Kraft geschildert wie in der des Christentums. — Gustav Mahler hat 
das Schuldgefühl, das mit diesen Vorstellungen verknüpft ist, in der erschütternden 
Vision seiner II. Symphonie zum Ausdruck gebracht. 










3^6 


TlieoJor Reils; 


wußten Schuldgefühl und der Gewissensangst, überein, wenn letzten Endes 
nicht einmal der Glaube allein als ausreichender Schutz gegen die ver¬ 
drängten feindseligen Impulse angesehen wird. Mag Paulus immerhin das 
Gesetz des Glaubens“ gegenüber dem „Gesetz der Werke“ aufrichten 
(Röm. c, 27) und offen verkünden: „Sine fide autem impossibile est placere 
Deo (Heb. 11, 6), derselbe Paulus weiß doch: „und wenn ich allen Glauben 
hatte, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so 
wäre ich nichts.“ (I. Kor. 132.) 

Die analytische Einsicht in das Wesen des Dogmas ergibt, daß es unan¬ 
tastbar und tabu ist, weil jeder Angriff auf die in ihm enthaltenen Glaubens¬ 
inhalte eine Attacke auf Gott und seine Vertreter in sich schließt. Gerade 
die strenge Tabuierung, das Verbot, die Dogmen einer Kritik zu unterziehen, 
den Mysteria divina mit dem menschlichen Verstand zu nahen, zeigt, wie 
intensiv jene unbewußten feindseligen Strömungen sind. Das Tabu des 
Dogmas erwächst aus der ambivalenten Gefühlseinstellung der Gläubigen 
gegenüber Gott und den mit ihm verknüpften Glaubensvorstellungen; seine 
Existenz selbst ist ein Beweis für die unbewußte Angriffslust von seiten 
seiner Bekenner. Es sind nicht nur die Häretiker, die Abtrünnigen und 
die Atheisten, gegen welche das Tabu des Dogmas aufgerichtet wurde; es 
soll insbesondere die Möglichkeit der Aggression von seiten der Gläubigen 
ausschalten. Aber ist nicht, was so sorgfältig beschützt wird, des Schutzes 
sehr bedürftig? 

Das Dogma soll der irrenden und unwissenden Seele in den Wirren der 
Welt den rechten Weg zeigen wie der Leuchtturm dem Schiffer in der 
Brandung. Allein ein tiefes Wort sagt: „ There is a darkness at the foot 
of the lighthouse.“ 

Das Zwangsmoment im Dogma 

Das Tabu des Dogmas kann aus seinem Ursprung von Gott und den 
von ihm auserwählten Propheten hergeleitet werden. Als der letzte Repräsentant 
dieser erleuchteten Reihe erscheint der jeweilige Papst, der den Priester¬ 
königen der Primitiven völlig entspricht. Aus ihm spricht Gottes Geist. 
„Tu es Petrus et super hanc petrarn aedificabo ecclesiam rneam et portae 
inferi non praevalebunt adversus eam“; diese Worte, die in goldenen, riesigen 
Lettern an der Kuppel der Petruskirche in Rom prangen, bezeichnen die 
feierliche Stiftungsurkunde des römischen Papsttums. Christus, Gottes Sohn, 
der sich freilich von der Gründung der Kirche nichts hat träumen lassen, soll 
sie in feierlicher Stunde gesagt haben. Die Tabuierung des Papstes zeigt 
























Dogma und Zwangsidee 


347 


sich in jenen charakteristischen Formen, die wir in den Vorschriften für 
die Priesterkönige der primitiven Völker wiederfinden. Wirklich ist der 
Papst der „Gefangene des Vatikans“. 1 2 Aber welche Macht besitzt dieser 
vorsichtig und sorgfältig überwachte Souverän über Millionen von Geistern! 
Und welche größere hat er einmal besessen! Sein Wort ist Gottes Wort, 
fehlerfrei und unfehlbar. Die ganze katholische Welt beugt sich demütig 
den Glaubensentscheidungen der Inhaber der sedes apostolica. Die besondere 
Rolle, welche der Glaube in den nomistischen Religionen spielt, wird erklär¬ 
lich, wenn man das Gehorsammoment im Glaubensakt gebührend einschätzt. 
Die Kirche erklärt den Glauben ebensosehr als einen Akt des Intellekts 
als des Willens. Der Glaube ist ein verstandesmäßiges Fürwahrhalten dessen, 
was Gott zum Heil der Menschen offenbart hat. Im Tiefsten aber ist er 
nach kirchlicher Lehre ein Akt des Gehorsams, eine willensmäßige Unter¬ 
werfung unter die auctoritas dei , welche den Glauben fordert. Ja, die Kirche 
selbst spricht vom credere debere (Tertullian, de praescr. haer. 11), von 
Glaubenspflicht und Glaubensgehorsam. Im sacrificio delV intelleto , das dem 
Glauben gebracht wird, wird bei vielen Frommen gewiß nichts Schwer¬ 
wiegendes geopfert. Bei den anderen aber muß der Wille die Widerstände des 
Verstandes überwinden. „Der Wille zwingt alle die skeptischen Einwände 
nieder, er zertritt alle entgegenstehenden eigenen Meinungen und beugt so den 
Intellekt unter die lex fidei“ 2 Heiler berichtet eine kategorische Erklärung, 
die einer der gegenwärtigen führenden Theologen im Vatikan einem deutschen 
Gelehrten gab, als dieser sich über gewisse Glaubensschwierigkeiten beklagte: 
„La chiesa non e un credo , la chiesa e una disciplina“. Dem im Glaubens¬ 
akte enthaltenen Gehorsam gemäß erscheint der Glaube im Katholizismus 
als ein Verdienst, als ein Meritum, der Unglaube als schwere Sünde. Der 
erste, „freiwillige“ Glaubenszweifel ist bereits Sünde und muß bekämpft 
und unterdrückt werden; wenn er innerlich bejaht wird, wird er zur Tod ¬ 
sünde. 3 Um die Gläubigen bereits vor der Gelegenheit zum Zweifel zu b e- 

1) Pius X. hat sich einmal geäußert: „Nicht genug, daß sie mich zum Gefangenen 
gemacht haben, werden sie mir noch die Türen verriegeln, und die Keller vermauern, 
daß ich nicht mehr heraus kann.“ (Ignis Ardens, Pius X. und der päpstliche Hof. 
Übersetzt von Maria Textor, Leipzig 1908.) 

2) Heiler, Der Katholizismus. S. 242. 

3) Die früher erörterte Koexistenz von zwei Überzeugungen sowie die fortdauernde 
psychische Wirkung des Zweifels wird auch hier dadurch bewiesen, daß man in der 
Theologie an ein gegebenes Dogma zwar „nicht mit dem wirklichen“, aber mit dem 
sogenannten „methodischen Zweifel“ herantreten kann. (Christlich-katholische Dog¬ 
matik in „Systematische christliche Religion“. Kultur der Gegenwart. I. IV. 2. S. 53.) 
Die Dogmatiker würden niemals zugestehen, daß der „methodische Zweifel“ auch 













hüten, wird ihnen im Index librorum prohibitorum jede gefährliche LeVf 

7 * 7 * Die „nächste Geilheit“ ebenso’ve™L e „ “ 

der Symptomatologie einer folie de toucher eine Situation welch! 
gefürchtete Berührung in den Bereich des Möglichen rückt ’ 

Der Kurie ist die Gewissensfreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerun 
ein „pestdenUsstmus error“, wie es Gregor XVI. bezeichnet. Die Kirche h ! 
die christlichen Häretiker dem Rade und dem Feuertode ausgeliefert 
ammen es cheiterhaufens („O benedictas rogorum flammas!“) bewah t 
segensreich und völlig unparteiisch christliche Ketzer, Juden und MohamLiT 
aner davor, ein Leben zu führen, das nicht lebenswert ist da extra 7 ■ 

non est salus.“ Wer sich in r u- u , ’ ” eXtra eccle siam 

... er Slch ln dle Geschichte der religiösen Verfolgungen 

der Inquisition vertieft, weiß, daß der Glaubenseifer der Kirche den all 

Religionen überstieg'. Die heidnischen Römer haben der Staatsräson viele' 

Christen geopfert, aber sie haben sie nicht ad maiorem Dei gloriam ve! 

rann un le Roheit ihrer Anschauungen verhinderte sie daran die Ab 

ic ungen im Glauben durch Folter und Autodafe zu korrigieren 2 

Kenntnis" T™ 11 ’ S ° fern er nicht Theologe ist, hat eine genaue 

Kenntnis der einzelnen Dogmen. Aber dies ist auch nicht notwendig- er 

hat Zugang zum ewigen Heil, wenn er bekennt: „Ich glaube gänzlich dies 

r U ' eil 'S e katholische Kirche zu glauben vorstellt.“ Luthers grimmiger 

daß dfe R f 16 FldeS impUCita ' den ” Köhlerglauben “, hat es nicht verhindert 

und ” ren )6den emSten Glau ^nszweifel nicht minder streng 

und grausam bestraften. Melanchthon hat gefordert, die Obrigkeit solle di! 

s ronomische Lehre des Kopernikus als umstürzlerische Häresie unterdrücken 

hatte T 1 SerV6de ’ ^ die kirchlic he Trinitätslehre angezweifelt 

hatte, wurde vom calvinischen Rate der Stadt Genf i 553 verbranm 


bei aller Gebunde’nheU^werttn. ^ BeW61S fur dle » do g m atische Bewegungsfreiheit 

»Ach, man will auch hier schon wieder 

Nlcht so wie die Geistlichkeit.« (Wilhelm Busch.) 

Of i. WÄ1 'S"“ 5 vol. ,888, Hi«,, 




















Dogma und Zwangsidee 


Die Fides implicita macht streng kirchengläubig. 1 Aber auch der Priester, 
dessen Glaube auf der Kenntnis der Glaubenssätze beruht, also fides explicita 
ist, muß im Antimodernisteneide bekennen, daß er jeden einzelnen Glaubens¬ 
satz (die Einsegnung der sieben Sakramente durch Christus, dessen Gegen¬ 
wart im Altarsakrament, die unbefleckte Empfängnis Marias, die Unfehl¬ 
barkeit des Papstes) glaubt, und die abweichenden Meinungen ausdrücklich 
verdammen. 2 Nicht mit derselben Strenge, aber im selben Sinne wird der 
Glaube als Voraussetzung des Seelenheiles bei allen Gesetzesreligionen ge¬ 
fordert. 3 Augustin rechtfertigt den Brauch, diejenigen, die des ewigen Heiles 
noch nicht teilhaftig sind, zu zwingen, in die Kirche einzutreten, da Gott 
seines eigenen Sohnes nicht geschont und ihn um unseretwegen den Henkern 
überliefert hat. Diesem Prinzip des „compelle intrare“ entspricht beim Islam 
der heilige Krieg (dschihad), der davon ausgeht, daß die muslimische Theo¬ 
kratie die einzig berechtigte Staatsgemeinschaft auf Erden ist. 

Das Willensmäßige im Glauben, jener Faktor der Unterwerfung, der im 
Glauben einen Gehorsamsakt erblickt, dem gegenüber alle Ein wände schweigen, 
stellt das Zwangsmoment dar, das seine Korrelate in den psychischen Be¬ 
sonderheiten der Zwangsidee findet. Dabei müssen wir freilich auf die Unter¬ 
schiede der beiden Erscheinungen hinweisen: beim Zwang des Neurotikers 
handelt es sich um einen Gedanken oder eine Vorstellung eines Einzelnen, 
der gegenüber alle Einwände unterdrückt werden, beim Glauben um eine 
große soziale Erscheinung, die Gehorsam auch entgegen der Kritik des mensch¬ 
lichen Verstandes fotdert. Diese Differenz wird entscheidend für das Ver- 


1) Papst Innocenz III. verkündete: „Die Fides implicita ist, wie einige sagen, so 
wertvoll, daß, wenn jemand, durch seine natürliche Ratio bewogen, fälschlich der 
Ansicht ist, der Vater sei größer oder früher als der Sohn oder die drei Personen 
seien drei voneinander räumlich geschiedene Wesen oder dergleichen mehr, er nicht 
Häretiker ist und keine Sünde tut, wenn er nur diesen Irrtum nicht hartnäckig ver¬ 
teidigt und dieses eben nur deshalb glaubt, weil er glaubt, daß die Kirche so glaube 
und somit seine Meinung dem Glauben der Kirche unterschiebt.“ 

2) „Ego firmiter amplector ac recipio omnis et singula , quae ab inerranti ecclesiae magisterio 
definita , adserta et declarata sunt . 61 (Mirbt: Quellen zur Geschichte des Papsttums, 426.) 
In der professio Tridentina lautet die Formel: n Simulque contrario omnia atque haereses 
quascunque ab Ecclesia damnatas et rejectas et anathematizatas ego pariter damno, rejicio et 
anathematizo (Denzinger: Euchiridion, Nr. 863.) 

3) Auch im Islam z. B. kommt alles auf den Glauben (imdn) an. Auch dort gilt 
der Glaube wie im Katholizismus als eine Gnadengabe Gottes. Freilich entzieht sich 
der Glaube menschlicher Beobachtung, so daß nicht einmal der Gläubige seines 
eigenen Glaubens sicher sein kann, bis er gestorben ist. Aber wer sich im Glaubens¬ 
bekenntnis (schahädah) zum Islam bekennt und die Ergebung (isläm) zeigt, muß als 
Muslim behandelt werden. 


















halten gegenüber der Außenwelt: während der Neurotiker seine Zwan* 
Idee tm allgemeinen für sich behält, sie in seinem Innern freilich 2 
alle eigenen Einwendungen aufrecht erhält, verkündet die Religion i 2 
Lehren sie strebt, eine allgemeine, umspannende (ecclesia catholica) zu werden" 
und scheut m den Perioden ihrer Macht nicht davor zurück, ihre Hemch a ft 
über die Seelen mit Gewaltmaßregeln zu begründen und zu befestigen Der 
wang ist sowohl für den Neurotiker wie für den Theologen ein Versuch 
zur Kompensation des Zweifels. Dieser Versuch wird um so energischer unter 
nommen wer en je starker die Impulse sind, deren sich der Glaube zu er 
wehren hat. Aus der Heftigkeit der Reaktion muß man auf die Intemite 
er ktion schließen. Die Zwangsneurose wird beherrscht von einem fort 
gesetzten Konflikt mit dem Verdrängten, der sich immer mehr zuung^ n 
der verdrängenden Kräfte wendet. In diesem Konflikte sind die Zwangs 
erschwungen jene Abwehrmaßregel, welche den Sieg des Verdrängten f 
erfolgreichsten verhindern, beriehnng.weis, hin.ns.Lehe» .fST Z 

d.?Grf d“ D ° gmaS Mi,,el - ™ d <™ Zweifel den Einbruch in 
Gefüge der Religion unmöglich zu machen. 

Der Strenge des religiösen Glaubens entspricht die Strenge des Über- 

undYltV T ZWangSneUr ° Se 6rSCheint - Es wird d «ch dfe Regression 
etw • / n ^ 1SChUng lm ES beeinflußt und quälerischer und liebloser als 
etwa in der Hysterie. Durch die Regression werden die aggressiven Ten 
denzen der Frühzeit wieder erweckt, aber auch ein größt Z2 Ter 
libidmosen Regungen als feindselige oder grausame in Erscheinung treten 
wird sich auch m der Religion durch den Einfluß der Regression die 

KreuTh g 2 Uehe 2 geWalttäÜger Und ° ft g rausam « Form äußern: die 
uzfahrer, die von heiligem Glaubenseifer beseelt waren, metzelten Türken 

Z Chrten? 1 ' ^ ^ & ^ ^ Uebe ’ in deren Namen 

seV ^ gegl ' Undet wurde - hat dem Haß, der auschließenden Feind¬ 

seligkeit Platz gemacht. > Umschloß früher die Liebe zu Gott die Gemeinde 

n machte sie zu Brüdern in Christo, so wird je später, je mehr die blinde 

Ss CWern Umer die KirChe gef ° rdert Und ^ g " ^ erreicht. 
Das Christentum war eine religiöse Revolution, die sich ursprünglich gegen 

dte Pharisäer und Schriftgelehrten wandte und gegenüber der jüdiSen 
wendig M^lZr ^ Keate ’ der P ^ el * - -t- 

die sechste Seligkeit mit den ® r VoUkol “ menhelt ansah > endigte eine Predigt über 

flog you until you are .“ (Artel The lfte of Sh ’ 11^’ 2 \ W/ F ° T if Vtl 

by Ella d’Arcy lg25 g ) Shelley. By Andite Maurois. Translated 
























Dogma und Zwangsidee 35l 


Gesetzesreligion die Freiheit forderte. Aber der beleidigte und entthronte 
Gott rächte sich: die lex Christi , nicht minder dogmatisch als die Thora, 
tritt ihre Herrschaft an, die alten Imperative werden durch neue und noch 
eindringlichere ersetzt, den Dogmen des Judentums entsprechen bald eine 
Unmenge Dogmen der Kirche. Der Weg geht von der Auflehnung zum 
nachträglichen Gehorsam, ganz wie wir es beim Zwangskranken sehen. 

Mag der Glaube noch so kategorisch gefordert werden und die erste und 
wichtigste Heilsbedingung darstellen, mag die Strenge Gottes zuerst und 
vor allem die Ausschaltung des eigenen Willens und die blinde Unter¬ 
werfung verlangen sowie das überstrenge Über-Ich und das triebhafte Es 
des einzelnen Zwangsneurotikers ihn zur Anerkennung auch der absurdesten 
Vorstellungen zwingen, es gibt doch auch im Bereich der Religion eine 
Spur davon, daß jener Gehorsam nicht das Letzte und seelisch Entscheidende 
sein kann. Das Christentum weiß: der Glaube allein, wenn nicht die Hoff¬ 
nung und die Liebe hinzukommen, „vereinigt weder vollkommen mit Christus, 
noch macht er zum lebendigen Gliede seines Leibes“. (Tridentinum s. 6, c. 7.) 

An die Stelle der drei Schicksals bestimmenden Parzen der Griechen hat 
das Christentum drei andere Schwestern gesetzt: Glaube, Hoffnung, Liebe. 
In analytischer Auffassung erscheinen diese drei Prinzipien als Reaktions¬ 
erscheinungen: der Glaube als Reaktion auf Regungen des Zweifels und 
der Auflehnung, die Hoffnung als Reaktion auf die mit dem unbewußten 
Schuldgefühl verknüpfte Unheilserwartung, die Liebe als Reaktion auf die 
verdrängten feindseligen Regungen. 1 Diese Reihenfolge ist nach katholi¬ 
scher Lehre nicht umkehrbar; die Liebe ist in ihr die höchste Stufe. 
Die Geschichte des Christentums, die ich hier als repräsentativ für jede 
Religion in den Vordergrund stelle, hat gezeigt, daß die religiöse Ent¬ 
wicklung zu einer Umkehrung der Reihenfolge führen muß. Die Liebe 


1) Das Tridentinum führt zuerst den Glauben an, dann die Furcht, wodurch der 
Sünder heilsam erschüttert wird, dann folgt die Hinwendung zur Barmherzigkeit in 
der Hoffnung, daß Gott ihm um Christi willen gnädig sein werde, und endlich die 
anfängliche Liehe zu Gott als dem Quell aller Gerechtigkeit. — Nach der katholi¬ 
schen Dogmatik gilt es als fidei -proximum , daß die drei göttlichen Tugenden: Glaube, 
Hoffnung und Liehe der gerechtfertigten Seele zugleich mit der heiligmachenden 
Gnade eingegossen werden (virtutes morales infusae). Der oben gebrauchte Vergleich 
dieser drei theologischen Tugenden mit den Parzen ist keineswegs willkürlich. Pohle 
(Lehrbuch der Dogmatik. 5. Aufl., 1912, 2. Bd., S. 578) bezeichnet Glaube, Hoffnung 
und Liebe als „erhabene Tugendgesellschaft“. Diese erscheine als heilige Trias in 
1. Kor. 13, 13: „Nunc autem manent fides , spes, caritas , tria haec; maior autem horum est 
caritas.“ Die Personifikation der drei Tugenden erscheint sowohl in der theologischen 
Spekulation als auch in der bildenden Kunst. 















zu dem eingeborenen Sohn Gottes, zu dem Kyrios und Heiland stanH 
beherrschend im Zentrum seiner Anfänge, die Erlösungssehnsucht, die 
Hoffnung auf das Gottesreich bestimmte den Charakter der christlichen 
Frömmigkeit in der Blütezeit und der Glaube oder vielmehr das Glaubens 
bekenntnis wird zum Kriterium der untergehenden Religion. 

Die Religion verlieh den drei großen Schwestergestalten auch nicht den 
gleichen Ausdruck. Laut sprach der Glaube im Credo und im Dogma. Die 

Hoffnung flüsterte und stammelte im Gebete. Doch die dritte, ach die 
dritte, stand daneben und blieb stumm. 


Der latente Inhalt cles D ogmas 

Es ist nicht abzuleugnen, das Zwangselement in der Religion ist ein 
der Religion in bestimmten Entwicklungsstufen immanentes, es geht aus 
ihrem Wesen notwendigerweise hervor ebenso wie Grausamkeit und Into- 
eranz s gibt gewiß auch weniger grausame und intolerante Religionen- 
es sind solche, welche keine nennenswerte Opposition gefunden haben oder 
ihr nicht mehr gewachsen sind. Es steht damit wie mit den Regierungen- 
Sle sind, soianga sie nichts für ihre Vorherrschaft zu fürchten haben, sanft 
und friedfertig gegenüber anderen Staaten. Sie bringen diese Tugend auch 
dann auf, wenn ein Konflikt mit mächtigeren Nationen völlig aussichtslos 

i rt : In UDSerer Zeit gibt es 80 viel humanitäres Geschwätz über Toleranz 
a man die Wahrheit um so herzhafter sagen muß: Toleranz ist in erster 
mie eine Machtfrage. Die schönen Seelen, welche nicht müde werden 
zu verkünden, daß der Mensch gut sei, müßte es eigentlich nachdenklich 
stimmen, daß er nur dann Neigung zur Toleranz zeigen wird, wenn er 
unbeschränkte Macht hat oder ohnmächtig ist. 

Doch nicht vom Zwang im Dogma, der sich aus dessen psychologischen 
Voraussetzungen erklärt, soll hier die Rede sein; der Zwang würde höchstens 
einen Beitrag zur Psychologie des Glaubens an den Widersinn des Dogmas 
liefern können. Was uns hier beschäftigen soll, ist vielmehr die Frage, 
wo er der Glaube an die Realität des Dogmas rührt oder, anders ausge¬ 
druckt, die Frage der psychologischen Natur des Dogmas selbst. Für viele 
ist die Frage schon beantwortet, wenn sie gestellt wird: das Dogma ist 
einfach Priesterbetrug und -mystifikation. Für Popper-Lynkeus etwa ist 
er Kern der Dogmen „nie etwas anderes als unbeweisbare Vernunft- und 
wissenschaftswidrige Einfälle abergläubischer Phantasie, welche Einfälle von 
Ekstatikern (plötzlich) oder von Theologen (allmählich) den Menschen in 


























Dogma und Zwangsidee 


353 


ihrer Schwachheit beigebracht und später durch allerlei Mittel mit solchem 
Nimbus umgeben werden, daß man trotz ihres Nichts, ihrer Willkürlichkeit 
oder ihrer Absurdität gar nicht mehr den geistigen Mut hat, sie a limine 
von sich zu weisen 4 '. (Über Religion S. 69.) Der Menschenfreund, Ethiker 
und Rationalist in diesem Philosophen, der sein Leben lang das Lob des 
hohen Verstandes gepredigt hat, stellt sich die Sache zu einfach vor. Viel¬ 
leicht ist der Schatten Voltaires zu mächtig auf die Seiten gefallen, die 
Popper-Lynkeus zwei Jahrhunderte nach dem großen Befreiungswerke der 
französischen Aufklärung schrieb. Immerhin kommt er der Wahrheit näher 
als die Anschauungen der zünftigen Philosophie, die sich zwar ihrer reli¬ 
giösen Ungebundenheit und ihrer tiefen Einsicht rühmt, aber derzufolge die 
Dogmen „aufzufassen sind als Umwandlungen an sich notwendiger trans¬ 
zendenter Vernunftideen 44 . (W. Wundt: System der Philosophie.) Ein Phi¬ 
losoph unserer Tage 1 spricht von der „transzendenten Überwirklichkeit 44 des 
Dogmas; der Gegenstand des Glaubens sei freilich nicht wirklich wie unser 
Haus, er habe „jedoch in anderem Sinne sogar höhere Realität als dies, 
ja die gewöhnliche Wirklichkeit gilt ja nur als zeitlich-vergänglicher Modus 
jener . . . 44 . Unklare und unsinnige Sätze wie die eben zitierten werden auch 
dadurch, daß sie gleichsam vom Rande des Kosmischen gesprochen werden, 
nicht faßbarer und sinnvoller. So ähnlich sagt’s der Theologe auch, nur mit 
ein bißchen anderen Worten. Die Dogmatik wird gewiß sehr einverstanden 
sein, wenn die Philosophen behaupten, die Kreuzigung Christi sei eine tiefe 
Allegorie, das Sakrament das bedeutungsvollste metaphysische Symbol. Die 
Theologie behauptet freilich zu gleicher Zeit, daß der Heiland, der in der 
Hostie real vorhanden ist, wirklich und wahrhaftig von den Juden hin¬ 
gerichtet worden sei. Sie wünscht, man solle im Hause des Gehenkten nicht 
vom Stricke sprechen, wenn dies nicht in dogmatischer Form geschieht. 
Von hier führt kein Weg zu der großen Masse, die entweder an das Dogma 
glaubt, ohne es zu kennen, oder zu derjenigen, welche zwar die Botschaft 
auch nicht gehört hat, der aber doch der Glaube fehlt. 

Hier soll gerade vom Glauben als einer Art des Fürwahrhaltens die 
Rede sein; es handelt sich um ein intellektuelles Phänomen, welches 
sich in bestimmten Richtungen vom rein Gefühlsmäßigen der Religion 
unterscheidet. Die Kirche betont besonders das Willensmäßige und das 
Intellektuelle im Glaubensakt: er ist eine gedankliche, verstandesmäßige 
Zustimmung zu den von der Kirche gelehrten Offenbarungswahrheiten. 


1) R. Müller-Freienfels: Grundzüge einer Lebenspsychologie. 1924, S. 297. 
Imago XIII. 


23 















35-4 Theodor Reit 


Jede emotionale Fassung, wie sie etwa Schleiermacher zeigt, dem die 
christlichen Glaubenssätze als „Auffassungen der christlich-frommen Gemüts¬ 
zustände in der Rede dargestellt“ erscheinen, 1 wird von der Kirche schroff 
abgelehnt. Es handelt sich gar nicht um die subjektive Seite der Frömmig¬ 
keit, sondern um das Fürwahrhalten des objektiven Dogmeninhaltes, um 
die Anerkennung seiner objektiven Realität. Es handelt sich nicht darum, 
zumindest nicht in erster Linie, — welche religiösen Gefühle in dem 
Einzelnen beim Gedanken an die heilige Trinität wach werden, sondern 
darum, daß er an die Existenz und das im Dogma dargestelhe Wesen 
dieser Dreiheit glaube. 

Was bedeutet nun dieser Glaube? Wie ist es erklärbar, daß die Religion 
die reale Existenz der Trinität behauptet, die Wirkung der Eucharistie als 
die des Genusses von Christi wirklichem Fleisch und Blut erklärt usw.? 
Handelt es sich nur um Priestertrug, um Massenverblendung und Wahn 
oder sollten die Dogmen tatsächlich „Umwandlungen an sich notwendiger, 
transzendenter Vernunftideen“ sein? Ich meine, die Alternative an sich ist 
falsch. Die Frage läßt sich auf dieser Ebene nicht beantworten. Sie wird 
ihre Lösung am ehesten finden, wenn wir sie von psychologischen Gesichts¬ 
punkten aus zu erfassen suchen. Wert oder Unwert des Dogmas braucht 
an dieser Stelle nicht unsere Forschung zu bekümmern; wir wollen wissen, 
was es psychologisch bedeutet. Denn, mag es auch vom Himmel direkt 
kommen, es ist doch für Menschen bestimmt, wird ihnen doch zum 
psychischen Besitz, erfährt im Seelenleben der Menschen Zustimmung oder 
Ablehnung. Es liegt also ein psychologisches Problem vor und wir bedürfen 
keiner Legitimation, wenn wir als Psychologen unsere Methoden bei seiner 
Behandlung anwenden. 2 

Wir kehren zu unserem engeren Arbeitsgebiete, der Psychologie, zurück, 
wenn wir wissen wollen, was dieser Glaube bedeuten soll. Wir finden in 
der Psychologie des Traumes gleich ein verwandtes Element. Es kommt 
manchmal vor, daß nach dem Erwachen aus einem Traume der Glaube 
an die Realität der Traumbilder ungewöhnlich lange anhält, so daß man 
sich schwer von den Traumeindrücken losreißen kann. Aber es wäre un- 

1) Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evange- 
lisehen Religion. 6. Ausgabe, I. Bd., S. 15. 

2) Es sei an dieser Stelle erwähnt, daß man in der älteren Theologie Dogmata 
tkeoretica und Dogmata practica, geoffenbarte Glaubens Wahrheiten und geoffenbarte 
Smenlehren unterschied. Der jetzige Sprachgebrauch beschränkt den Namen Dogma 
aut Glaubenswahrheiten im engeren Sinne. Die vorliegende Arbeit schließt sich 
diesem, jetzt auch von der Theologie angenommenen Sprachgebrauche an. 































Dogma und Zwangsidee 


356 


recht, wollte man annehmen, es liege eine Urteilstäuschung, die durch 
die Lebhaftigkeit des Traumes bedingt sei, vor und dieser Realitätscharakter 
des nachwirkenden Traumes sei völlig bedeutungslos. Es wäre freilich 
ebenso verfehlt, ihn wörtlich als Bestätigung des Trauminhaltes zu nehmen 
und ihn etwa als Zeichen eines prophetischen Traumes, der die Schleier 
der Zukunft gehoben hat, anzuerkennen. Diese beiden Meinungen ent¬ 
sprechen etwa den zwei Haltungen, welche wir früher als typische gegen¬ 
über dem Dogma dargestellt haben. 

Freud hat uns gezeigt, daß dieses Realitätsgefühl nach dem Traume 
ein psychischer Akt für sich ist, eine Versicherung, die sich auf den Traum¬ 
inhalt bezieht, daß etwas wirklich so ist, wie man es geträumt hat. Dabei 
wird es sich oft um Entstellungen durch Verschiebung handeln, welche 
das Bewußtsein von der Erkenntnis abhalten, was es eigentlich war, dem 
dieser Wirklichkeitscharakter zuzuschreiben ist. Ähnlich ist es mit dem 
Wahne: wenn der Kranke fest an seinen Wahn glaubt, so geschieht das 
nicht durch eine Verkehrung seines Urteilsvermögens, sondern weil im Wahne 
ein Körnchen Wahrheit steckt, etwas in ihm verborgen ist, was wirklich 
Glauben verdient. Aber dieses Stück Wahrheit ist lange verdrängt gewesen, 
ein Entstellungsersatz dafür hat sich gebildet und das oft überstarke Über¬ 
zeugungsgefühl haftet nun an diesem. Das Überzeugungsgefühl von den 
zahlreichen Infektionsmöglichkeiten in einem Falle von neurotischem 
Waschzwang ist nicht zu entkräftigen; der Kranke bleibt unerschütterlich 
bei seiner Meinung, weil etwas in ihr auf einem Stücke Erfahrung beruht: 
nämlich auf der unbewußten Erinnerung an die Onanieversuchung. Ähnlich 
muß es auch mit dem Dogma stehen. Es muß seinen Überzeugungs¬ 
charakter, der überstark ist, aus einem verdrängten Stück Wahrheit beziehen, 
das allen Einwänden entgeht und das in der Dogmenformulierung einen 
Entstellungsersatz gefunden hat. Die Form des Dogmas wird uns an dieser 
Stelle ebensowenig stören wie die Form eines Traumes, einer schizophrenen 
Halluzination und einer zwangsneurotischen Symptomengruppe. Wir wollen 
das Wahrheitselement finden, das dem Überzeugungsgefühl der Theologie 
und mit ihm der Gläubigen entspricht. Dabei werden wir von der Hypo¬ 
these des Priesterbetruges absehen: mögen die Priester auch sehr kluge 
Menschen, mit außerordentlicher Kraft zur Suggestion und mit großer 
Autorität ausgestattet, gewesen sein, das Dogma konnte sich durch ihren 
Einfluß allein bei der Masse nicht durchsetzen, wenn ihm nichts im Seelen¬ 
leben der Gemeinde entsprach. Etwas am Dogma muß den Gläubigen 
real und ihren seelischen Bedürfnissen entsprechend erschienen sein. Wir 


23 * 











356 


Tkeodor Reik 


wollen es kurz sagen: das Dogma verwandelt ein Stück alter, primitiver 
Religion in die sanktionierte Form der Glaubensnorm. Mit anderen Worten: 
das Dogma ist ein Teil einer überwundenen, religiösen Anschauung, die zur 
Glaubensnorm umgeprägt und in die Sprache logischer Begriffe übertragen 
wurde. Es ist demnach keine Neuheit im Seelenleben der Frommen, sondern 
ein Stück verdrängter Wirklichkeit; seine Entstehung ist inhaltlich nicht 
als eine Neuerung zu bezeichnen, sondern als eine Erneuerung. Gegen 
diese Bestimmung, die keine Definition geben, sondern das Wesen des 
Dogmas psychologisch erklären will, erhebt sich eine Armee von Bedenken. 
Ich will z. B. nur darauf hinweisen, daß die vielgestaltige, unbestimmte 
phantasiemäßige und weitschweifige Gestalt eines alten Mythus in scharfem 
Gegensatz zu der knappen, präzisen und intellektualistischen Fassung des 
Dogmas steht. Wir wollen uns aber vorläufig nur mit dem Dogmeninhalt 
beschäftigen und schieben die Frage der Form für die spätere Unter¬ 
suchung auf. Auch haben wir ja nicht behauptet, daß z. B. ein alter, 
verdrängter Mythus mit allen seinen charakteristischen Zügen unverwandelt 
und vollständig in das Dogma eingegangen sei. Im Gegenteil, wir betonten, 
daß er eine Umprägung und Umschichtung weitgehender Art, also eine 
Entstellung erfahren hat. Wenn mich nicht alles täuscht, war es gerade 
diese Tatsache, welche es den Religionsforschern bisher verwehrt hat, den 
latenten Inhalt des Dogmas zu erkennen und seinen Zusammenhang mit 
den alten Mythen zu erfassen. Greifen wir auf unser repräsentatives Bei¬ 
spiel zurück: was ist das Christendogma anderes als die begriffliche Hülle 
für den neuerstandenen Mythus vom revolutionären Sohn, der sich gegen 
den Vater erhoben hat und dafür mit dem Tode bestraft wurde? Was ist 
der Kern des Mariendogmas, wenn nicht der Mythus von der großen 
gütigen Liebesgöttin, der umgeformt wurde? 

Das Judentum hatte alle seine Kräfte auf die Bemühung konzentriert, 
diese großen Gestalten uralter Mythen zu unterdrücken: sie sind im Christen¬ 
tum wieder siegreich emporgetaucht. Das Heer der Engel und Heiligen sind 
der Wiedererstehen de Götterhimmel uralter, paganer Religionen, die Teufel 
die degradierten Götter der Vorzeit. Die Vorstellungen über die Eucharistie 
sind die kirchlichen Umformungen der alten totemistischen Anschauungen, 
die der Heiligkeit sind aus den Tabu Vorstellungen erwachsen, die Taufe 
wiederholt die Pubertätsriten der Primitiven in nur oberflächlich veränderten 
Formen, der Exorzismus die uralte Dämonenaustreibung. Die Schöpfungs¬ 
lehre läßt sich auf die kosmologischen Anschauungen der ältesten Zeit zurück¬ 
führen, die Soteriologie auf die untergegangenen Vorstellungen vom Heil- 
























Dogma und >£wangsicle< 


35/ 


bringer, die Eschatologie auf die Meinungen der Ägypter und Babylonier. 
Überall schimmert durch die überlagernden Schichten der Urgrund alter, 
verdrängter Anschauungen durch, gegen welche sich die Kirche solange 
zur Wehr setzte und die sie doch aufnehmen und im Sinne anagogischer 
Umdeutung verarbeiten mußte. So muß der Islam alte arabische Dämonen¬ 
vorstellungen und Riten, der Buddhismus in seiner mahäyanischen Gestalt 
die Volksreligion Indiens sich assimilieren. Doch nicht dies ist das Ent¬ 
scheidende. Die Religionsforschung der neuesten Zeit hat dieses wesentliche 
Element im Leben der Hochreligionen, ihre Durchtränktheit mit den primi¬ 
tiven Vorstellungen oft erkannt und dargestellt, aber sie hat das Problem 
ihrer Beziehungen zum Dogmenprozeß nicht einmal gesehen, viel weniger 
gelöst. Und doch ist hier einer der wesentlichsten Punkte einer neuen 
Religionspsychologie; nur von hier aus sind einige ihrer wichtigsten Fragen 
zu beantworten. Wie entsteht eine neue Religion, wie ihre Glaubensvor¬ 
stellungen und Dogmen? Es ist im wesentlichen ein Prozeß der Regression 
auf uralte verdrängte Anschauungen, die neueren, dem jeweiligen Kultur¬ 
niveau angepaßten hatten weichen müssen. Diese primitiven Vorstellungen, 
aus der Verdrängung wiederkehrend, machen den latenten Inhalt der neuen 
Religion aus und werden nun den intellektuellen Anforderungen der Zeit 
entsprechend umgeformt und ihren sozialen und politischen Bedürfnissen 
angepaßt. Die Wiederkehr verdrängter religiöser Anschauungen innerhalb 
einer organisierten religiösen Gemeinschaft bezeichnet die Entstehung einer 
neuen Religion, die eigentlich die Erneuerung einer untergegangenen 
Religion bildet. Das Judentum war zu einem der Ausgangspunkte seiner 
religiösen Entwicklung gelangt, die Glaubensfrömmigkeit, die Gesetzes¬ 
beobachtung stand in seinem Mittelpunkte, das Dogma war erstarrt, das 
ganze Leben des Gläubigen in ein dichtes Netz von Geboten und Verboten 
verstrickt; das Volk war politisch und sozial geknechtet, den mächtigen Ein¬ 
flüssen einer fremden Kultur unterworfen und doch zäh an den ererbten 
Anschauungen festhaltend. Dies war der Augenblick, da das Christentum 
auftauchte: es brachte das Zurückgreifen auf altes, verdrängtes religiöses 
Gut, einen Entstellungsersatz lange unterdrückter Mythen und verschollener 
Kulte. Doch wie entsteht das Dogma? Wir sind die Wege gegangen, die zu 
seiner Bildung führen. Die neue Religion hat zuerst jene primitiven, aus 
der Verdrängung wiederkehrenden Vorstellungen von denen der alten zu 
differenzieren, sich aus dem Mutterschoße des alten Glaubens loszulösen, 
ihre eigenen Lehren zu präzisieren. Dann aber muß sie diese neuen, eigent¬ 
lich uralten Vorstellungen gegen den Zweifel, der von außen und innen 












368 


TLeoJor R eit 


kommt, sicherstellen, sie einer sekundären Bearbeitung unterziehen welche 
ihre tiefliegenden primären Motive verdeckt und ihnen Zusammenhang Ein¬ 
heitlichkeit und Übereinstimmung mit dem Wissen und Denken der Zeit 
gibt. Der Gegensatz jener aus animistischen Anschauungen stammenden 
bereits überwundenen und wieder zur Herrschaft gelangenden Anschau¬ 
ungen zu den kritischen Anforderungen des Verstandes erzwingt nicht nur 
den Überbau der rationalen Theologie, welche gewaltsam eine Überein¬ 
stimmung dieser beiden widerstrebenden Faktoren erreichen will Jener 
Gegensatz wird auch bestimmend für den an Intensität zunehmenden Zwan. 
der die Einwande des Bewußtseins und des Zweifels unterdrückt und alle 
Widersprüche mit Berufung auf die göttliche Autorität zum Schweigen bringt 
Der Charakter des Dogmas wird uns langsam klar: sein wesentlicher Inhalt 
ist ein Stuck unterdrückter und wiederauftauchender primitiver Religion i m 
Entstellungs- und Verschiebungsersatz. Seine Form ist durch mehrere Faktoren 
estimmt, unter denen die Tendenz zur Synthese und zur Übereinstimmung 
mit dem rationalen Denken besonders hervorzuheben ist. Eines der wesent¬ 
lichen Motive seiner Entstehung ist das Bemühen, Zweifel und Widerspruch 
von den primitiven Mythen und Kulten, denen sich die Kritik einer kulturell 
vorgeschrittenen Zeit widersetzt, fernzuhalten, beziehungsweise diese Gegen¬ 
strömungen zu unterdrücken. An dieser Stelle werden wir bemerken, daß 
es sich um einen eigenartigen religiösen Kreislauf handelt: die weitgehende 
und alles umspannende, allen Widerspruch unterdrückende Entwicklung des 
Dogmas muß wieder zu neuen revolutionären Bestrebungen führen die auf 
seine Aufhebung gerichtet sind und es zersetzen - ganz in Übereinstimmung 
mit den Erscheinungen der Zwangsneurose, in der sich an die entwickelte 
Zwangsidee wieder neue Zweifel heften. Der Realitätscharakter, der dem 
Glauben an das Dogma eigen ist, erklärt sich so: er bezieht sich eben auf 
seine unterirdischen Inhalte, jene alten Mythen und Kulte und die ver¬ 
borgenen unbewußten Triebregungen, die in ihnen ihren verhüllten Aus¬ 
druck gefunden haben. Jener Glaube ist etwa dem eines Zuschauers des 
„Oed lpus r vergleichbar: er fühlt unbewußt, daß auch in ihm die- 
se ben verdrängten Wunsche wie in dem Helden des Dramas wirksam sind 
und befrett sich in der Identifizierung mit dem Heros von ihrer drängenden 
ac t. Auch im Glauben an das Christusdogma zum Beispiel werden jene 
aufrührerischen und sexuellen Regungen, Sohnesstolz, Schuldgefühl und 
trafbedurfms ihren unbewußten Ausdruck finden, im Glauben an das 
Sakrament alle jene uralten kannibalen Tendenzen, die unserem Bewußt¬ 
sein langst fremd geworden sind, in allen tauchen die Tabuanschauungen 


















Dogma und Zwangs ide< 


35g 


auf, denen wir solange entwöhnt sind. Das unbewußte Wissen um diese 
psychischen Inhalte ergibt im Zusammentreffen mit der Darstellung, die 
sie im Dogma gefunden haben, jenes Bekanntheitsgefühl, jene Art der 
Anagnorisis, die wir als Element des Glaubens wiederfinden. Es scheint 
mir nicht zu kühn, anzunehmen, daß so wie der Einzelne im Dogma Stücke 
seiner verdrängten Triebregungen unbewußt wiedererkennt, im Glauben dar¬ 
an längst überwundene Überzeugungen einer vergessenen Kinderzeit auf¬ 
tauchen, ebenso die Gemeinschaft im Dogma unbewußt einen verschollenen 
Nachhall an Ereignisse ihrer Urgeschichte wiederfindet. In den Mythen 
und Kulten lebt ja die unbewußte Erinnerung an jene prähistorische Zeit 
der Menschheitsentwicklung fort, die Erinnerung an den Vatermord der Ur- 
horde, an die Errichtung des Bruderclans, der wieder auftaucht, wenn die 
Gemeinde sich als Brüder in Christo bekennt, an das große Fest der Totem- 
mahlzeit, das in der Eucharistie wiederbelebt wird. Der Wahrheitsgehalt 
des Dogmas ist demnach unbestreitbar; er bezieht sich auf eine psychische 
Realität, die von den Gläubigen als materielle verstanden und geglaubt wird. 

Die Erklärung des Dogmas, seiner Entstehung und Stellung innerhalb 
der religiösen Entwicklung, wie sie hier versucht wurde, ist ohne Verständnis 
der psychischen Prozesse in der Zwangsneurose nicht erreichbar. Sie nimmt 
die dort erlangten Forschungsresultate zum Vorbilde. Auch die Zwangsidee 
erweist sich als ein Stück Verdrängtes, das aus der individuellen Kindheit 
wiederaufgetaucht ist und in entstellter, verschobener, unkenntlich gewordener 
Form die Herrschaft über das Seelenleben des Einzelnen an sich gerissen 
hat. Der Gegensatz einer solchen überwundenen Anschauung und des ver¬ 
nünftigen Denkens des Erwachsenen erklärt ein gutes Stück der Entwicklung 
einer Zwangsvorstellung, die Isolierung vom übrigen Denken, die sekundäre 
Bearbeitung usw. Auch dort haftet die Qualität der Überzeugung an dem 
Verschiebungsersatz wie beim Dogma. Auch dort hat die Zwangsidee ihre 
Überzeugung aus der Quelle, daß ein oder mehrere Elemente in ihr psychi¬ 
sche Realität haben und sich auf wirkliche Ereignisse in der Lebensgeschichte 
des Kranken beziehen. Der Zwang soll die überwertige Idee wie das Dogma 
vor der Kritik und dem Zweifel schützen und isoliert die in der Zwangs¬ 
idee wirksame alte Anschauung so, wie er den primitiven religiösen Kern 
des Dogmas sakrosankt erklärt. Das Wesen Gottes, seine Eigenschaften und 
Attribute, die Schöpfung und die Trinität, der Sündenfall, jene wichtigsten 
Anfangskapitel der Dogmatik lassen sich alle als kollektive Korrelate jener 
seelischen Elemente erfassen, die in der Genese einer Zwangsneurose die 
wesentliche Rolle spielen: der Vater der Familie, das Geheimnis der Zeugung, 









36o 


Theodor Reit 


die Beziehung des Sohnes zu den Eltern, die Äußerungen der infantil 
Sexualität mit ihren bedeutsamen seelischen Reaktionen. 

Das Dogma ist der großartige Dom, der sich über den Glaubensvor¬ 
stellungen und Kulten einer hochorganisierten Religion wölbt, sie ein 
schließt und gegen die rauhe Realität schützt. Die Baumeister des Mittelalter 
glaubten, daß ein solches heiliges Gebäude nur dann gesegnet sei, wenn ein 
ebendiger Mensch unter ihm begraben wurde — auch ein Glaube aus 
der Urzeit der Religionen. Tief unter dem Grunde des riesigen Gebäudes 
welches das Heiligste einer Religion umschließt, ist wirklich ein un¬ 
erkanntes Stuck Realität verborgen. Dort ist jener übermächtige Urhorden- 
auptling bestattet, den einst die vereinigten Söhne ermordet haben und 
der spater zum allmächtigen Gott geworden ist. 1 2 Mögen auch die Spitzen 
des Domes zum Himmel streben, seine Grundfesten reichen bis in jene 
liefen, in denen die stärksten und primitivsten Triebregungen, die sexuellen 
und feindseligen Impulse der Menschheit, ihre Befriedigung gefunden haben. 

Düs Wunder ist des Glaubens liebstes Kind 

Die Tatsachen der übernatürlichen Ordnung sind für die Gotteserkenntnis 
von Bedeutung als Prämissen für einen Vernunftbeweis des Daseins Gottes 
sowie als praeambula fidei für den übernatürlichen Glauben an Gott-* 
„Nicht nur die Natur (Schöpfung), auch die Über-Natur predigt der mensch- 
hchen Vernunft das Dasein Gottes, und zwar noch eindringlicher als die 
sichtbare Welt. Die Gottesbeweise aus der Übernatur — Erfüllung von 
eissagungen, Wunder beider Testamente, Christus und sein Werk — liegen 
i rer Natur nach auf historischem Gebiete, so daß sie am tiefsten dem 
Geschichtsforscher zum Bewußtsein kommen, wenn schon auch der Laie 
1 rer zwingenden Beweiskraft sich nicht entziehen kann.“ Das Wunder 
er Erhaltung Israels, die ganze Geschichte des Alten Testaments, werden 
von der Dogmatik als Gottesbeweise angenommen, die Erscheinung Christi 
ebenso wie die wunderbare Tatsache, daß das Christentum die Völker, die 


Kondoft w. ^ r S / er Renaissance zej gt eine ähnliche Situation: ein tapferer 
ffänfflichen A t Stadt gerettet und man beratschlagte darüber, in welcher unver- 

dranl mt Unerh ° rtes Verdienst belohnt werden könnte. Ein weiser Ratsherr 

Tt T^" de “ Vorschläge durch: „Wir wollen ihn umbringen und 

Der AtW« m ^a™ ^ dGm Sclmtzheill g en unserer Stadt.« (Nach Fritz Mauthner: 
Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. I. Bd. 1920. S. 549.) 

2) Pohle: Lehrbuch der Dogmatik. I. Bd. S. 19. ' 














Dogma und Zwangsidee 


36l 


früher, umhüllt von Todesschatten, die Wege des Bösen gingen, ver¬ 
wandelte. Wie, die Wunder Christi und die Marias sollten nicht wörtlich 
zu nehmen sein, es gebe keine Durchbrechung der Naturgesetze? Wie, es 
se i zwar glaubwürdig zu machen, daß Lahme gingen, Blinde sahen und 
Taube hörten, aber nicht glaubwürdig, daß die Erde in ihrem Lauf still¬ 
gestanden, eine Eselin geredet und ein Seesturm durch ein Wort gestillt 
worden wäre? Aber dies hieße ja die harmonische Einheit der evangelischen 
Berichterstattung, welche im selben Atem von diesen Ereignissen erzählt, 
zerstören! Das hieße mehr: das hieße einen unabwischbaren Schandfleck 
auf den sittlichen Charakter Jesu werfen, ihn zum verächtlichen Charlatan 
oder gemeinen Betrüger herabdrücken! Folglich sind die Wunder wahr. 
Dies ist die typische Logik der Dogmatik. Die signa certissima für die über¬ 
natürlichen Kriterien des Glaubens sind Wunder und Weissagung. Erst 
kraft dieses Glaubens konnte man die wahrhafte, wirkliche und wesent¬ 
liche Gegenwart Christi mit Fleisch und Blut, Leib und Seele, Gottheit 
und Menschheit in der Eucharistie behaupten. Wenn die heilige Hostie 
in Stücke gebrochen oder der Kelch schluckweise getrunken wird, so ist 
Christi Leib in jedem Stückchen und Tropfen ganz gegenwärtig. Die Trans- 
substantiation, jene geheimnisvolle Wesensverwandlung mit ihren Wesens¬ 
zügen, daß die bloßen Gestalten von Brot und Wein ohne die zugehörige 
Brot- und Weinsubstanz fortbestehen können, mit der raumlosen, geistartigen 
Daseinsweise eines menschlichen Leibes, der gleichzeitigen Existenz Christi 
im Himmel und an vielen Orten der Erde sind Wunder. 1 Es ist kinder¬ 
leicht, über den Wunderglauben zu spotten, es ist schwerer, ihn zu erklären. 


1) Wie wir bereits ausgeführt haben, bemüht sich die spekulative Theologie trotz¬ 
dem, das Mysterium zu erklären. Die theologische Tatsache der Multilokation, welche 
dem Naturgesetz widerspricht (jeder Körper ist seiner Natur nach auf einen Ort 
beschränkt), steht fest; aus der Tatsache der Multilokation in der Eucharistie ergibt 
sich für den katholischen Dogmatiker ihre Möglichkeit. Trotzdem wird er beweisen 
können, daß der wahre Leib Christi in jedem Punkte der Hostie anwesend ist (stetige 
Multilokation), daß derselbe Leib nicht nur in einer Hostie, sondern auch in den 
vielen Hostien im Ziborium und auf allen Altären des Erdenrundes wahrhaft zugegen 
ist (unstetige Multilokation). Und endlich, daß der Leib Christi den Himmel nicht 
verläßt, während er zugleich auf tausend Altären im Sakramente wohnt (gemischte 
Multilokation). — Es entspricht ganz der Art der zwangsneurotischen Grübelei, wenn 
aus der Lehre vom Abendmahl z. B. aus der Frage, wie sich der eucharistische Leib 
zu dem verklärten Leibe Christi im Himmel verhalte, ausgedehnte Spekulationen 
über die Natur des Raumes abgeleitet wurden. Da die Neuschöpfung ausgeschlossen 
war, handelte es sich um die Präsenz des im Himmel bereits vorhandenen Leibes 
im Sakrament. Da ferner der Leib als ganzer gleichzeitig in jeder selbständigen 
Partikel des geweihten Brotes erscheint, mußte man eine raumlose Gegenwart lehren. 








V le le Gläubige nehmen das Wunder einfach an und machen sich kein 
Gedanken darüber, und viele Freidenker machen sich keine Gedanke" 
darüber, weil sie sich überhaupt nicht viel Gedanken machen. Tatsächlich 
ist die Zuruckführung des Wunders auf natürliche Erscheinungen nirh, 
geeignet, den Glauben an das Wunder zu erklären/ Es klingt paradoxe 

3 “ Wlr f Ch ist ’ wenn ich s age, daß es notwendiger sei, den Wunder- 

gkuben als das Wunder selbst zu verstehen. Es ist kein Kunststück, die 
c wac e einer Argumentation nachzuweisen, die einen Beweis dafür 
daß der leibhaftige Gott mit Moses auf dem Sinai gesprochen habe, in der 
Tatsache sieht, daß der Sinai noch heute existiert. 

Auch der Hinweis darauf, daß die Überzeugungen der Menschen ihren 
unsc en außerordentlich selten widersprechen, reicht zur Erklärung des 
Wunderglaubens nicht aus. Erst die Psychologie der Zwangssymptome gibt 
den Zugang zur Erklärung frei: die Einsicht in die Phänomene der All¬ 
macht der Gedanken“, die Überschätzung der psychischen Macht” der 
Menschen, wird etwa für das Verständnis jener Berichte, in denen Christi 
Allmacht über die Naturgesetze (Brotvermehrung, Wasserverwandlung) er- 
sc eint, wertvoller als die flachen rationalistischen Auseinandersetzungen 
Die Anerkennung der unbewußten Vorgänge, der Abblendung des Intellekts 
urch die Macht seelischer Prozesse, der unbewußten Korrektur unserer 
ahrnehmungen, der kleinen unbewußten Kunststückchen, welche etwa 
die wunderbaren Geschehnisse und das pünktliche Eintreffen vorausgewußter 
Ereignisse m der Zwangsneurose mitbedingen, erscheint entschieden not¬ 
wendiger als die dogmatisch-materialistische Leugnung aller wirklichen 
Elemente im Wunder. So wie es im Dogma wirklich etwas Wahres gibt 
nämlich eine psychische Realität, so läßt sich auch im Wunderglauben 
ein Stuck seelischer Realität finden, das verschoben und entstellt für 
materielle Realität gehalten wird. 

Der Wunder Marias, der Mutter Gottes, sind viele. „Maria hilf“ ruft 
das Volk und die hohe Himmelsfrau vollbringt Wunder über Wunder an 
en armen Erdenkindern, die sich unter ihren weiten, blauen Schutzmantel 
fluchten. Der Autor dieser kleinen Schrift hatte unlängst Gelegenheit, 

F "" d ' d » “6«.- (Nietzseh e 

„Gedenkt Me ™° rare d ® s Bernhard von Clairvaux beginnt mit den Worten : 

zu dir seine Zuflf Un f fraU ’ 6S n ° Ch “ le erhört worden ist, daß jemand, der 

von dir verlassen word" ’-? T/*™ ^ anrief deine Fürbitte flehte, 

dir verlassen worden sei“ und der Autor der „Glorie di Maria“, Alfons von 
























Dogma und -Zwangsidee 


363 


etwas von der Psychologie des Wunderglaubens zu erraten. Da er selbst 
sich im Stande des Unglaubens (in statu infidelitatis) befindet und der 
zuvorkommenden Gnade (gratia praeveniens) sowie der mitwirkenden Gnade 
(gratia cooperans s. adiuvans s. subsequensj, die zur Erlangung des Glaubens 
n0 twendig sind, nicht gewürdigt wurde, ist er auf seinen Wegen bisher 
dem Wunder selbst noch nicht begegnet. Es mag auch an diesem Umstande 
liegen, daß er noch keinen Beweis der vielen Wunder, welche die Notre 
Dame in Lourdes und die hehre Himmelskönigin in Mariazell vollbracht 
haben, erblickt hat. 

Ich will hier, wo es sich um das analytische Verständnis des Dogmas 
handelt, auch nur einen Beitrag zur Psychologie des Wunderglaubens 
geben und so scheinen mir solche übernatürliche Erfahrungen, die mir 
nicht zuteil wurden, entbehrlich. Es sei vielmehr von einem Drama die 
Rede, dessen wesentlicher Inhalt ein Wunder Marias ist, und dessen tiefer, 
ja zahlreiche Menschen erschütternder Eindruck von vielen Tausenden 
Zusehern bezeugt wurde: ich meine das „Mirakel“ von Karl Vollmöller. * 1 
Ich beabsichtige hier kein Analyse dieser sensationell inszenierten und 
für einen breiten Publikumsgeschmack umgemodelten, alten Legende zu 
geben; es sei nur zum Verständnis das Wesentliche der Handlung in 
großen Zügen wiedergegeben. 2 Im Kloster der weißen Schwestern am Rhein 
stand im Mittelalter das Wunderbild unserer liebe^ Frau, das schon vielen 
Kranken und Bresthaften Heilung gebracht hatte. In diesem Kloster lebte 
die junge, schöne Schwester Megildis, der wegen ihrer Frömmigkeit das 
verantwortungsvolle Amt der Sakristanin übergeben wurde. Die junge 
Nonne verliebt sich in einen schönen Ritter, der mit einer der vielen 
Prozessionen in die Kirche gekommen war. Sie folgt dem Ritter in die weite 
Welt, erlebt hier Abenteuer der Liebe und des Grauens, wandert im Taumel 


Liguori, hat sogar das leise blasphemische Wort ausgesprochen: „Es ist schwer, durch 
Christus, aber leicht, durch Maria selig zu werden.“ 

1) Für die starke Wirkung dieses Festspieles spricht die Tatsache, daß seit der 
Premiöre, die in der Olympia-Hall in London vor 30.000 Menschen 1911 erfolgte, 
das Stück in Stockholm, in New-York (tausend Aufführungen), Los Angeles, Berlin 
und Wien Millionen Zuschauer fand. Das Arbeiten mit den gröbsten Mitteln, die 
riesige Aufmachung und das „playing to the gallery“ müssen sicher teilweise für den 
großen Erfolg mitbestimmend sein, der latente Inhalt aber den wesentlichen Anteil 
daran haben. 

2^ Die schöne Legende, welche Vollmöller in ungewöhnlich verschlechterter und 
vergröberter Form darbietet, findet sich zuerst bei Gaesarius (Dial. 7, 59). Moderne 
Behandlungen des Motivs bei Gottfried Keller: „Die Jungfrau und die Nonne“, 
Maeterlinck: „Soeur Beatrice“ und John Davidsohn „Ballade von der Nonne“ 












von einem Arm zum andern, 


uis sie 


eines in acnts ein Kind gebart G 
brochen und verlassen flieht Megildis in ihr Kloster zurück und fällt 
Füßen der Gottesmutter in die Knie. Ihr in Lumpen gehülltes Kind W T 
der Madonna zu Füßen. Dort findet sie vor dem Bilde unverändert das Kleid" 
den Schleier und das Kreuz liegen, die sie treulos vor langer Zeit abgestreift 
hatte. Die heilige Mutter hatte damals das Äußere der verschwundenen 
onne angenommen, hatte ihr Habit angezogen und die ganze Zeit über 
von der Abtissin und den Schwestern für Megildis gehalten, den Sakristan- 
dienst geleistet. Nun aber belebt sich das Gottesbild noch einmal beugt 
sich über das in Lumpen gehüllte Kind der Sünderin und trägt es in ihren 
Händen wie früher das heilige Jesukindlein. 

Erwuchs der starke Eindruck dieses Spieles nur aus der Umgestaltung 
des Zuschauerraumes in einen Riesendom mit überlebensgroßen Heiligen¬ 
bildern, Fahnen, geschnitztem Chormaßwerk, Krypta, gemalten Fenstern 
Orgel und Kanzel, Kerzen und Weihrauch, mit dem ganzen Gepränge das 
die katholische Kirche dem unerbittlichen Crom well als „the painted harlot“ 
erscheinen ließ? Sicherlich nicht; die alte, schöne Legende wirkte viel¬ 
mehr trotz aller Inszenierungskünste auf die Zuschauer, wirkte durch ihren 
latenten Inhalt, der noch in dieser Talmi-Realität von des Regisseurs 
Gnaden fühlbar wurde. 


Da sich Wunder aus unbekannten Gründen in unseren Tagen so selten 
ereignen, wollen wir an diesem Beispiel im Schauspiel den Wunderglauben 
stu leren. Der Kern der mittelalterlichen Legende ist jenes Wunder, durch 
das sich die leblose Statue der Himmelskönigin in die sündige Nonne 
verwandelt, deren Lebenswandel so den Schwestern verborgen bleibt und 
deren Abwesenheit nicht bemerkt wird. Aber nach analytischen Gesichts¬ 
punkten bedeutet jene Stellvertretung die unbewußte Identität, bedeutet 
daß die reine Gottesmutter und die sündige Nonne eine einzige Frau ist- 
die Übernahme der Gestalt und des Platzes, die Vertauschung des Habits, 
die Annahme des illegitimen Kindes an Stelle des Jesukindleins scheinen 
dem Analytiker Beweise genug für die unbewußte Gleichsetzung der beiden 
estalten. Und doch: hier ist ein Wunder, glaubet nur! Gewiß soll dies 
auch bedeuten, daß die Mutterschaft jede Frau, auch die Dirne zur Mater 
oorosa macht. Aber die verborgene Identität der beiden Gestalten scheint 
noch auf einen anderen, tieferen Sinn hinzuweisen. Die analytische Er¬ 
forschung der Genese jener seelischen Scheidung zwischen reiner Frau Und 
. Liebesieben der Menschen zeigt, daß diese Gegensätze ursprünglich 

wirklich in einem Objekt vereinigt schienen, daß sie mit den libidinösen 






















Dogma und Zwangsidee 365 

Interessen des Knaben Zusammenhängen, die sich auf die Mutter richteten. 1 
pie Rückverwandlung der Sünderin in die Madonna, die wir im latenten 
Inhalte des „Mirakels" finden, ist nicht das Wunder; dahinter erscheint 
Marias jungfräuliche Mutterschaft. 2 * Der starke Eindruck des Zuschauers 
muß sich auch darauf beziehen, daß das Wunder des Dramas ihn regressiv 
einem Stück der verdrängten Kenntnis der wirklichen Natur Marias an¬ 
genähert hat. Dieser Eindruck der Stellvertretung wäre aber unmöglich 
ein wunderbarer, wenn nicht angesichts der dargestellten Beziehung zwischen 
den gegensätzlichen Gestalten in jedem Zuhörer an eine unbewußte Vor¬ 
stellungsgruppe gerührt würde, wenn er nicht durch sie unbewußt an jene 
ursprüngliche Identität erinnert würde. Das, was im Bewußtsein des Mannes 
gewöhnlich als unvereinbarer Gegensatz erscheint, wird in der Darstellung 
der Legende unbewußt zur Einheit. Solche Wiederkehr verdrängter Vor¬ 
stellungen aber ist nur durch die Erweckung jener alten inzestuösen 
Wunschregungen möglich. Darüber hinaus werden wir daran erinnert, daß 
jene beiden, anscheinend unvereinbaren Elemente, das Mütterliche und 
das Dirnenhafte, in jeder Frau wirksam sind. 

Wir nähern uns der psychologischen Erfassung des Wunderglaubens, 
wenn wir sagen: er tritt nur dann auf, wenn eine Situation vorliegt, 
die uns an etwas zu mahnen scheint, an dessen Realität wir seit langem 
nicht geglaubt haben. Dies ist keineswegs eine Banalität; es führt sogar 
zur Betonung einer überraschenden Bedingung für den Wunderglauben. 
Die erste psychologische Prämisse des Wunderglaubens ist der Zweifel. 

. Ohne Zweifel kein Wunder. Dem kleinen Kinde, das dem Animismus noch 
sehr nahe steht, würde es nicht als Wunder erscheinen, wenn eine Statue 
sich plötzlich bewegte. Der Erwachsene, der die animistischen Überzeu¬ 
gungen in sich völlig überwunden hat, wird solche Mobilität auch nicht 
als Wunder empfinden, sondern natürliche Ursachen als Gründe dieser 
Bewegung vermuten. Nur derjenige, dessen animistische Überzeugungen 
noch nicht überwunden sind, der etwa neben seiner freigeistigen An¬ 
schauung noch ein Stück alter Meinungen unbewußt festgehalten hat, 
kann der Gnade des Wunderglaubens teilhaftig werden, wenn seine Realitäts¬ 
funktion versagt oder gehemmt wird. Wenn die Massen, die sich heilung¬ 
suchend vor der Grotte von Lourdes drängen, die volle Überzeugung vom 

1) Freud: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. Ges. Schriften,Bd.V. 

2) Vgl. die sexualsymbolische Studie „Marias jungfräuliche Mutterschaft 4 von 

A. J. Storfer, Berlin 1914, und mein Buch „Der eigene und der fremde Gott“, 

Wien 1923. 













366 


Theodor Reit 


mächtigen Einfluß psychischer Prozesse auf organische Leiden erhielte 
wäre ihr Glaube an das Wunderbare erschüttert, d. h. sie würden <p 
Heilung noch immer als wunderbar empfinden, aber nicht als ein Wunde 16 
Aber die Kenntnis davon muß doch wohl in ihnen enthalten sein sie hat 
sich an die Gestalt der Mutter Gottes geheftet, die für alle unbewußt die 
eigene trostbringende Mutter unserer Kinderzeit vertritt. Der Glaube a 
die Kraft der Liebe, die wir einst von der Mutter empfangen haben, wurde 
auf die advocata verschoben. Das Wesen des Wunders ist also die Wieder¬ 
erweckung eines unbewußt gewordenen, verdrängten Wunsches am Ver¬ 
schiebungsersatz einer bestimmten Situation. Wir haben im Wunderglauben 
drei Elemente scharf zu unterscheiden: eine gegebene Situation, die Wieder¬ 
kehr eines unbewußten Wunsches aus der Verdrängung und die Projektion 
dieses Wunsches auf die Außenwelt kraft der Abtretung der Allmacht der 
Gedanken an höhere Mächte. Es soll hier nicht die triviale Tatsache daß 
der Kern des Wunders ein natürlicher Vorgang ist, betont werden, sondern 
jene bedeutsamere, daß sich eine psychische Instanz im Wunderglauben 
gegen die Anerkennung des natürlichen Charakters einer Situation sträubt 
sie nicht als natürlich akzeptieren will. Die Abhaltung von der Realitäts- 
prufung und die Zurückführung eines Vorganges auf höhere Mächte jene 
beiden wesentlichen Züge des Wunderglaubens, sind also nicht unabhängig 
voneinander. Es ist klar, daß im Wunderglauben animistische und magische 
Vorstellungen wiederbelebt werden, aber diese Vorstellungen dürfen nicht 
mehr an unserer eigenen Person haften. Der Wunderglaube entsteht dem- 
nach erst, wenn die magische Anschauung bereits teilweise überwunden ist 
und die magische Kraft den Göttern abgetreten wurde. Dem Wilden, den der 
Zauberer des Stammes durch Berührung heilt, ist die Genesung kein Wunder, 
sondern eine Selbstverständlichkeit, die sich aus dem Mana des Zauberers 
ergibt. Der Eindruck des Wunderbaren wird durch jenen seelischen Prozeß 
bestimmt, durch den eine Situation ihres natürlichen, naturgesetzlich be¬ 
stimmten Charakters entkleidet und kraft der „Allmacht der Gedanken“ 
in eine übernatürliche verwandelt wird. Die Umdeutung eines gegebenen 
äußeren Vorganges im Sinne jener Wunscherfüllungstendenzen gehört zum 
esentlichen des Wunderglaubens. Es muß bereits als Zeichen einer par¬ 
tiellen Resignation auf die Kraft der eigenen Wünsche gelten, wenn sich 
im under die Wirkung von höheren Mächten manifestiert. 1 Der Wunder¬ 


desser, D a n a l U t nte l SCl v e ? v- deS Wunder S la uhens und der Eindrücke des Unheimlichen, 

ii X) müßt ^ larUng Freud £ e « eben hat ( Das Unheimliche. Ges. Schriften, 

X), mußten sorgfältig untersucht werden. 





















Dogma und Zwangsidee 


367 


glaube ist demnach ein Rückfall in den Kinder glauben an die Allmacht 
der Eltern, nur mit dem Unterschiede, daß wir Gott und die Heiligen 
an deren Stelle gesetzt haben. Wir können resümierend sagen: der Eindruck 
des Wunders kommt zustande, wenn ein äußerer Vorgang in uns die 
Anerkennung des Glaubens an die überwältigende Macht der Eltern (in 
der Verschiebung: Gottes oder göttlicher Personen) wieder hervorzurufen 


scheint . 1 

Die Mitwirkung der menschlichen Wünsche am Wunder ist in den 
Heilungen durch die Fürbitte heiliger Personen am deutlichsten; hier tritt 
die Bedeutung der psychischen Überbesetzung eines äußeren Vorganges im 
Sinne der Wunscherfüllung besonders klar hervor. Der Mutter Gottes zu 
Kevlar bringen die Kranken als Opferspende aus Wachs gebildete Glieder, 
viel wächserne Füß’ und Händ ,K : 


1) Eine köstliche Episode in Wilhelm Büschs „Der heilige Antonius von Padua“ 
deutet an, daß das Wunder manchmal die auf die höheren Mächte verschobene, un¬ 
bewußte Erkenntnis ist, die geheim bleiben sollte. Die Kinder der Welt haben den 
heiligen Antonius, der zu Padua Zeichen und Wunder verübt, heim frommen Bischof 
Rusticus verklagt. Dieser läßt den Heiligen kommen: 

„Ich hab’ von deiner Kunst vernommen! 

Allein, mein Freund, wie.steht der Glaube?“ 

Flugs nimmt Antonio seine Haube 
Und hängt sie wie auf einen Pfahl 
An einen warmen Sonnenstrahl. 

Der Bischof ist noch nicht überzeugt, dies könne ja auch Teufelsblendwerk sein: 

Nun spielte da im Sand herum 
Ein Findelknahe, taub und stumm, 

Und keiner hatte je erfahren, 

Wer Vater oder Mutter waren. 

Antonius sprach: „Sag an, mein Kind, 

Wer deine lieben Eltern sind!!!“ 

O Wunder! Der bis diese Stund 
Nicht sprechen konnte, sprach jetztund: 

Der Bischof Rusticus, der ist . . .“ 

„Ps-s-s-s-st!“ 

Sprach der Bischof. „Es ist schon recht!!! 

Antonius, du hist ein Gottesknecht!!!“ 

Seit dieser Zeit sah groß und klein 
Antonius mit einem Heiligenschein. 

Man erkennt, daß in dieser Darstellung des großen Humoristen die Verschiebung 
des seelischen Akzentes von einer psychischen auf eine materielle Realität als das 
Wunder erscheint. 











368 


Tkeodor Reik 


„Und wer eine Wachshand opfert, 

Dem heilt an der Hand die Wund’; 

Und wer einen Wachsfuß opfert, 

Dem wird der Fuß gesund.“ 

Kein Bericht meldet, daß sich unter den Opfergaben auch wächserne Nach¬ 
bildungen menschlicher Gehirne befinden. 

Wir haben auch im Wunderglauben ein reales Element gefunden, eine 
psychische Realität: die Allmacht der menschlichen Wünsche und Gedanken 
die später den göttlichen Personen abgetreten wurde. 

Oft erscheint im Wunder, wie es das Evangelium oder die Legenden 
berichten, als Gegensätze geschieden, was einst in einer Einheit beisammen 
war. Wie in der Zwangsneurose wird ein einheitliches Ganzes, das Objekt 
der Ambivalenz der Gefühlsregungen geworden ist, in zwei Gegensätzen 
dargestellt. Oft zeigt ein zweites Wunder den verborgenen Reaktionscharakter 
des ersten. Die analytische Erfassung des zweiten Wunders bringt dann den 
Aufschluß über den latenten Sinn des ersten. Wie in den zweizeitigen Hand¬ 
lungen der Zwangsneurose erscheint dann zuerst die Reaktion auf eine ver¬ 
botene Triebregung, der ihre Befriedigung am Verschiebungsersatz folgt. Viel¬ 
leicht kann ich diesen Exkurs über die Psychologie des Wunderglaubens am 
besten abschließen, wenn ich ein schönes Beispiel dieser Art von verviel¬ 
fachtem Wunder hieher setze. Die fromme Legende erzählt: als der heilige 
Antonius den Leichnam des heiligen Paulus begraben wollte, geriet er in 
tiefe Trauer, weil er keinen Spaten hatte. Da eilte aus der Wüste ein un¬ 
geheurer Lowe mit flatternder Mähne herbei und begann, mit seinen Klauen 
eifrig die Erde aufzuscharren. Nach beendigter Arbeit beugte er den Nacken 
vor Antonius und beleckte die Hände und Füße des Heiligen. Dieser strömte 
aus in das Lob Christi, weil sogar die stummen Tiere erkannten, daß ein 
Gott sei, und gab dem Löwen seinen Lohn, indem er ihn segnete. Dies 
hatte die wunderbare Wirkung, daß der Löwe sofort einem Schaf begegnete, 
das er zerriß und auffraß. 


Das Ji^iederheJirend ~ Verdrängte 

Der früher aufgezeigte unbewußte Inhalt des Dogmas wird uns darauf 
hin weisen, daß in der Dogmenbildung dieselben verborgenen Triebkräfte 
wirksam sind wie in den erneuten und entstellten Mythen und Kulten. Ja 
man kann sogar behaupten, daß sie manchmal im Dogma und namentlich 
in der dogmatischen Erklärung oder Diskussion viel klarer zum Ausdruck 





















Dogma und Zwangsidee 


kommen als in jenen primitiven Produkten des Unbewußten. So bricht 
sich oft in einem späten Entwicklungsstadium der Zwangsneurose das Ver¬ 
drängte blitzartig Bahn und erscheint mitten im Verdrängenden. Die be¬ 
ständige Abwehr hat reaktiv auch den Angriff unzweideutiger und schärfer 
gemacht. Mein so häufig zitierter Patient hatte während der analytischen 
Stunde einen blasphemischen Gedanken, der sich darauf bezog, daß seine 
liegende Stellung unehrerbietig gegen Gott sei, über den er gerade sprach. 
Er war also gezwungen, aufzustehen. Der Entschluß, aufzustehen, muß in 
Konflikt mit seiner Bequemlichkeit gekommen sein, denn plötzlich stellte 
sich zu seiner Verzweiflung der Gedanke ein: „Es lohnt sich nicht, wegen 
eines solchen Kerls aufzustehen!“ Ein anderes Mal bemühte er sich, sich 
zur Abwehr Gott beschimpfender Gedanken die erhabenen Eigenschaften 
Gottes vorzustellen. Da ihn aber immer wieder gegensätzliche Strömungen 
störten, beschloß er, nichts über Gottes Eigenschaften mehr zu denken. 
Bei diesem Gedanken stellte er sich eine „0“ als visuelle Bestätigung dieses 
Vorsatzes vor. Diese Vorstellung mußte er natürlich abwehren, weil sie sich 
blasphemisch gegen Gott richten und bedeuten konnte, Gott sei ein Nichts. 
Um diese Vorstellung ungeschehen zu machen, dachte er: zwei Nullen „00“, 
die ihn aber an das Zeichen an Waterclosets erinnerten. 1 Wie hier aus 

1) Ich hoffe, diesen Fall blasphemischer Zwangsvorstellungen an anderer Stelle 
ausführlich darstellen zu können. Es lohnt sich, darauf hinzuweisen, daß dieselben 
Probleme in der Dogmatik erscheinen; natürlich auch dieselben Schwierigkeiten. Man 
hat darauf hingewiesen, daß man von Gott aus Scheu vor Anthropomorphismen nichts 
aussagen dürfe und erwidert, daß die Attribute, die wir Gott zuschreiben (Güte, Weis¬ 
heit, Wahrheit, Gerechtigkeit usw.), natürlich grobe Fälschungen des Gottesbegriffes 
sind, wenn sie im Sinne der Identität verstanden werden, aber notwendig und wahr 
sind, wenn sie im Sinne der Analogie gedeutet werden. Die Dogmatik verweist auf 
drei Wege, wie man von den geschöpflichen Vollkommenheiten zur Bestimmung der 
göttlichen fortschreiten kann. Der Weg der Ursächlichkeit (via causalitatis oder affir- 
mationis) bejaht die geschöpflichen Vollkommenheiten von Gott als ihrer Ursache, da, 
was immer in der Wirkung ist, auch in der Ursache sein muß. Aber die Vernunft wird 
sofort inne, daß die geschöpflichen Dinge mit Unvollkommenheiten behaftet sind 
(z. B. Werden und Vergehen), daher erscheint Gott auf diesem zweiten Wege (via 
negationis) als der reine Gegensatz der Geschöpfe. Es werden ihm demnach alle 
wesentlichen kreatürlichen Unvollkommenheiten abgesprochen. Aber auf diesem Wege 
der Beseitigung alles Endlichen und Beschränkten käme man zur puren Negation. 
(„Es genügt nicht, zu sagen, was Gott nicht sei, sondern wer die Natur des Seienden 
erforschen will, muß auch sagen, was er sei. Denn wer nur ausspricht, was er nicht 
ist, handelt ähnlich wie einer, der auf die Frage: Wieviel ist zweimal fünf? die Ant¬ 
wort gäbe: Nicht eins, nicht zwei usw., dabei aber nicht sagte: Ist zehn.“ Gregor von 
Nazianz: Orat. theol. 2 a.) Nun beschreitet man den dritten Weg, den der Steigerung 
(via superlationis ), auf dem man die geschöpflichen Vollkommenheiten gereinigt und 
gesteigert, bis ins Göttliche verklärt, von Gott aussagt. (Vgl. die übereinstimmenden 


Imago XIII. 


24 

















3^o Theodor Reik 


der Steigerung der Abwehr plötzlich eine „unerhörte“ Blasphemie aufsteigt 
so wird sich auch in der Dogmatik und im Dogmenstreit an unerwarteter Stelle 
ein sakrilegischer Gedanke eindrängen. Die „gynäkologischen Phantasien“ 
(Harnack, III, 308 ) eines Radbertus, eines Hieronymus usw., die sich mit 
den Fragen, worin die „essentia virginatis materialis“ Marias bestanden habe 
wie die natürliche Geburt clauso utero vor sich gegangen, wie es sich mit der 
Ausübung der ehelichen Pflicht Josefs verhalte usw. beschäftigen, gehören 
hieher. Wir haben verfolgt, welchen breiten Raum innerhalb des christologi- 
schen Dogmas von Origenes bis zu den arianischen Kämpfen das Geheimnis 
der Zeugung Christi einnahm. Das Durchbrechen der ursprünglichen Be¬ 
deutung der Eucharistie ist in den dogmatischen Streitigkeiten oft überdeut¬ 
lich zum Ausdruck gekommen — klarer als es in den bereits überarbeiteten 
analogen Kulten der Heidenzeit erscheint. In jenen Spekulationen über Essenz 
und Akzidenzien des Sakramentes, über den Raum des Leibes Christi, in der 
Diskussion der Frage, ob sich das Brechen des Brotes auf den wirklichen Leib 
oder auf die species sacramentalis beziehe , * 1 ob Christus sich selbst gegessen 
habe usw., treten die unterdrückten primitiven Züge zutage. Wenn Gregor 
von Nyssa das Abendmahl beschreibt , 2 worin Christus uns gestattet, „uns an 
seinem Fleisch zu sättigen“ und „unsere Zunge vom schauervollsten Blute 
gerötet wird“, wenn dieser Heilige ausruft: „Den von Nägeln durchbohrten 
Leib hat er uns gegeben, damit wir ihn in Händen halten und essen, zum Be¬ 
weise seiner Liebe, denn die, welche wir sehr lieben, pflegen wir oft zu beißen“, 
so wird die Wiederkehr der verdrängten kannibalen Strebungen klar. 

In der Präzision der dogmatischen Formel, des Symbols und des Glaubens¬ 
bekenntnisses wird sich die Sublimierung analerotischer Komponenten sowie 
die der zwangsneurotischen analoge Gewissenhaftigkeit äußern. Im starren, 
eigensinnigen Festhalten an ihnen wird der anale Trotz, in der harmlosen 
Gewohnheit, anders Denkende zu verbrennen und zu enthaupten, die primi¬ 
tive Grausamkeit ihre Befriedigung finden. 

Bestimmungen dieses dreifachen Erkenntnisweges in den Dogmatiken von Bartmann, 
Simar, Pohle usw.) Man kann also via affirmationis von Gott sagen, er sei weise, via 
negationis , er sei nicht weise, und via superlationis , er sei überweise. Die Ähnlichkeit 
dieses logischen „Läuterungs- und Reinigungsverfahrens“ (Pohle: Lehrbuch der Dog¬ 
matik. I. S. 39) mit aufeinanderfolgenden, kontradiktorischen Gedankenzügen, die 
durch die Ambivalenz bestimmt sind, ist ebenso klar, wie das Durchbrechen blas- 
phemischer Gedanken an bestimmter Stelle (• via negationis: Gott ist nicht weise, nicht 
gut usw.). 

1) Thomas von Acpiino. Summa P. III. Q. 75 (daselbst auch die Abwehr einer 
blasphemischen Vorstellung: „ Corpus Christi non frangitur“). 

2) Hom. 24, in I. ep. ad. Cor. c. 4. 









































Dogma und Zwangsidee 


3 7 1 


Pie sadistischen Triebkomponenten treten aber bereits in der theologi¬ 
schen Gedankenarbeit als solcher hervor. Der Wißtrieb wird diese beherr¬ 
schen, so wie er in vielen Zwangsneurosen als ein intellektualisierter Be¬ 
mächtigungstrieb im Krankheitsbilde dominiert. Das Grübeln erscheint dann 
als Hauptsymptom und zeigt, daß der Denkvorgang in der Sehnsucht, den 
ganzen Glauben inbrünstig zu umfassen, sexualisiert worden ist. So wird 
zuletzt in dem Endstadium des dogmatischen Prozesses die aggressive Kom¬ 
ponente des Wißtriebes Gott und die göttlichen Objekte durch Denkvorgänge 
in Besitz nehmen und sich der unlösbaren Geheimnisse des Glaubens ge¬ 
waltsam bemächtigen. Sie wird sie gewissermaßen zerdenken und gedank¬ 
lich in Atome zerreiben. 

Im Symptomenkomplex der Zwangsneurose kommt es oft vor, daß das 
Verbot mit der Befriedigung verquickt ist und die ursprünglich abwehrende 
Aktion auch zur Trägerin der Befriedigung wird. So wird die Gedankenarbeit, 
welche die Dogmatik zur Ehre Gottes leistet, zugleich zum großen Zerstörungs¬ 
werk, über das die Teufel triumphieren. Der Lobgesang, der feierlich zum 
Himmel emporsteigt, singt ein Requiem aeternam Deo. 


Die Stellung des Dogmas in der R ehgion 

Die Lösung der Fragen, welche die Entstehung und Entwicklung des 
Dogmas betreffen, geben den Weg zu einem anderen Problem frei: welches 
ist die Stellung des Dogmas in der Entwicklung der Religionen? Wir haben 
gesehen, daß das frühe Christentum, die Anfänge des Islams kein Dogma 
kannten. Die Vorstellungen waren schwankend, die Lehren der jungen 
Religion unbestimmt; das praktische, das Gefühls- und Phantasiemoment 
sowie das theoretische Element sind noch verschmolzen. Die verschiedensten 
Ansichten in den wichtigsten Fragen der Christologie haben noch Raum 
nebeneinander, Widersprüche werden noch gut vertragen. Für lange war 
noch die freie Entwicklung der Lehre gestattet. Erst spät kam es zu ernst¬ 
haften Auseinandersetzungen über einzelne Fragen. Immer wieder muß 
man darauf hinweisen, daß die Entscheidungen über etwaige strittige Fragen 
bestimmte historische und psychologische Voraussetzungen haben, denn jede 
Kirche eliminiert den gedanklichen Prozeß, der zur Entstehung des Dogmas 
geführt hat, zerreißt den Zusammenhang mit seiner Ursprungssituation und 
erklärt es als ewig. Sein Ursprung wird in der göttlichen Offenbarung er¬ 
blickt. Dieser Vorgang ist wichtig, weil er wie die Loslösung einer Zwangs¬ 
idee aus ihrer Ursprungssituation die Kausalforschung auf das Wesentlichste 


24 * 











3/2 Theodor Reik 


erschwert. 1 Das Wort Dogma gibt in seinem Bedeutungswandel selbst einen 
Hinweis auf die Veränderungen, welche die Bedeutung der Glaubensvor¬ 
stellungen innerhalb der Religion erfahren hat: von dem Ausdruck SoxeT 
lioi, es scheint mir, führt ein weiter Weg zur Bedeutung des Begriffes 
Dogma, wie wir ihn heute verstehen, d. h. einer starr festgehaltenen, un¬ 
duldsamen Glaubensnorm. Auf dem religiösen Gebiete hat der Begriff des 
Glaubens eine ähnliche Wandlung erfahren: Glauben bedeutete im Unter¬ 
schied vom Wissen eine unsichere Meinung, der die Evidenz abgeht. Der 
Theologie ist der Glaube die fundamentalste, unerschütterliche Gewißheit 
der sich das Wissen unterordnen muß. 

Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß man zwar von primitiver 
Religion, nicht aber von primitivem Glauben sprechen könne, daß man 
von einem Glauben der Maori ebensowenig sprechen könne wie von 
einem Glauben der Griechen und Römer. 2 Tatsächlich ist mit der Be¬ 
tonung des Glaubens und mit dem Dogma etwas Neues in die Welt der 


1) Dorner betont die Wichtigkeit dieses Moments für das christliche Dogma: 
„Daß nun diese Entscheidung nur in kurzen Formeln fixiert werden kann, führt 
für die spätere Zeit, welche den Streitigkeiten ferne steht, die die Entscheidung ver- 
anlaßten und die den Zusammenhang sich nicht mehr vergegenwärtigt, in dem diese 
Formulierung der Lehre hervorgehracht wurde, dazu, diese Formel für sich gleichsam 
in die Zeitlosigkeit zu erheben und so zu einem mehr oder weniger mechanischen 
Autoritätsgesetz zu machen.“ (Dorner: Heilsglaube und Dogma, S. 144.) 

2) Marianne Beth in einem Aufsatze „Zur Psychologie des Glaubens“ (in „Reli¬ 
gionspsychologie“. Veröffentlichungen des Wiener Religionspsychologischen Forschungs¬ 
institutes. Heft II. 1927. S. 125), der mir während der Korrektur dieser Arbeit zu- 
gegangen ist. Die Autorin weist mit Recht darauf hin, daß sich in der Welt der 
Primitiven genug Glaubensinhalte finden, die sich zu Glaubensinhalten eignen würden 
und fragt: „Warum werden sie dennoch nicht zu Glaubensinhalten, warum bleiben 
sie im elastisch-harmonischen Gefüge einer religiösen Stimmung? So sehr man sich 
auch dagegen wehren mag, es scheint angesichts des religionshistorischen Befundes 
nicht viel anderes übrig zu bleiben, als sich zuerst mit der paradox scheinenden 
Antwort zu bescheiden: man spricht von religiösen Vorstellungen und Erkenntnissen 
solange nicht als von den Glaubensinhalten, solange sie jedermann mit Selbst¬ 
verständlichkeit glaubt. Näheres Nachdenken zeigt aber, daß dies keine Paradoxie 
sei. Das primitive, überhaupt das naive Denken, hat Religion noch nicht von Welt¬ 
anschauung getrennt. Es fehlt schriftliche Fixation beider. Eine große Elastizität selbst 
der Sitten und Gebräuche gestatten jede neue religiöse Erfahrung zu verwerten und 
einzufügen, oder Abstriche an dem bisherigen religiösen Bild vorzunehmen. Keine 
Instanz ist da, welche einen normativen Maßstab an neues Erleben heranbringen 
könnte. Es fehlt auch der Maßstab, ja es fehlt das klare Denken, das Bewußtwerden 
von der eigenen Religion, welches Diskrepanzen auch nur merken könnte.“ Ich kann 
den Ausdruck des Bedauerns darüber, daß die Autorin die Methoden der Analyse 
nicht zu kennen scheint, nicht unterdrücken. Ihre schöne Arbeit, von der bisher nur 
der erste Teil vorliegt, wäre durch solche Kenntnis wesentlich vertieft worden. 



























Religion getreten, das vorher nur in Ansätzen vorhanden war. Diese Be¬ 
wertung zeigt nämlich, daß Kultus und Überlieferung, Gebet und Mythus 
nicht mehr genügen; sie zeigt eine bedeutsame Verschiebung, welche das 
Herabsinken der Funktion der Religion überhaupt bezeichnet. Das Dogma 
ist ein Endprodukt der Religion, wo immer es auftritt, mag es auch lange 
seine Resistenz gegenüber der Kritik und dem Widerspruche beweisen. Ich 
habe früher gezeigt, daß es schon dadurch, daß es die Glaubensgeheimnisse 
in die Form der rationalen Vernunft kleidet, bedeutsame Konzessionen macht. 
Es zeigt damit, daß es dem Zweifel innerhalb der Religion Raum gegeben 
hat, die Spekulation an Stelle des Gefühles der „schlechthinigen Abhängig¬ 
keit treten ließ. Nach einem Worte Nietzsches wird, was lange bedacht 
wird, bedenklich. Was erst rational bewiesen werden muß, wird nicht un¬ 
widersprochen geglaubt. Die Verlegung des psychischen Akzentes vom 
dumpfen, aber mächtigen Gefühl auf den Erkenntnisdrang bezeichnet in 
der Religion bereits den Beginn des Absinkens der Glaubensgewißheit, 
denn der Glaube braucht keine Gründe und Argumente. 1 Jeder Beweis 
für einen Glaubenssatz läßt seine Schwäche erkennen. Wir wissen, warum 
dies so sein muß, wir können es aus den psychologischen Resultaten der 
Neurosenpsychologie verstehen, weil in der Zwangsidee die Argumentation 
zeigt, daß die zwanghafte Vorstellung im.Abwehrkampfe gegen die gesund¬ 
gebliebene Vernunft steht. Die Zwangsidee ist auf dem Höhepunkte ihrer 
Stärke und hat die größte Macht über den Einzelnen, solange sie sich in 
unbestimmten Vorstellungen äußert, die geheimnisvoll auftauchen, mit sonder¬ 
baren Gefühlen des Grauens, der Angst oder Befriedigung verknüpft ist, 
welche dem Einzelnen fremdartig und sonderbar Vorkommen. So mißt Pascal 
die Stärke des Glaubens an der Schwäche seiner Begründungen. Er hat das 
„Unrichtige" in bestimmten Dogmen gesehen, das „Abstoßende" ebenso 
wie das „Absurde“, das „an den Haaren Herbeigezogene“ wie das der Er¬ 
fahrung Widersprechende und doch alles angenommen. In der Religion 
gilt für den Gläubigen der Satz: hat er zu zweifeln angefangen, hat er 
zu zweifeln aufgehört. Luther hat den Kampf gegen die „Närrin“, „Hure“, 
„Teufelsbraut“ Vernunft leidenschaftlich geführt; er wußte: 2 „Darum heißt’s 


1) In gleichem Sinne äußert sich Marianne Beth: „Je mehr aber die Glaubens¬ 
gewißheit abnahm, desto mehr glaubte die Dogmatik ihre Bedeutung für das religiöse 
Leben betonen zu müssen, bis schließlich credere = Fürwahrhalten fast ausschließlich 
im populären Bewußtsein wenigstens, für Gott wertvoll galt.“ S. 120. 

2) Luther: Kurzes Bekenntnis vom heiligen Abendmahl. 1545. (Erlanger Aus¬ 
gabe, XXXII. S. 415.) 









rund und rein, ganz und alles geglaubt oder nichts geglaubt.“ So wie j n 
der Fortführung der Zwangsidee der sekundäre Abwehrkampf bereits ein 
Anzeichen für eine beginnende Bewältigung darstellt, so wird das Dogm a 
zum Zerstörungsprodukt des religiösen Glaubens. „Wer darf ihn nennen 
wer ihn bekennen?“ Dies ist der ursprüngliche elementare Glaubensausdruck 
gegenüber der Genauigkeit und dem Bekenntniseifer der rationalen Theo¬ 
logie. 1 Die Aufnahme von Elementen des realitätsangepaßten Denkens, die 
Berücksichtigung realer Momente ist bereits ein Stück primitiven Heilungs¬ 
vorganges, eine Art Korrektur der Zwangsidee und die entsprechenden Prozesse 
in der Dogmenbildung zeigen bereits die Hinneigung zu jenem Reiche, das 
von dieser Welt ist. 

Es ist klar, daß das Dogma letzten Endes nach den Gesetzen des Seelen¬ 
lebens zum Untergänge der Religion führen muß; es trägt alle Keime 
zum Extrem in sich und strenge Herren regieren nicht lange. Die Ge¬ 
schichte aller Religionen beweist, daß sie mit schwankenden, unbestimmten 
Glaubensvorstellungen beginnen und dann ihrer Auflösung entgegengehen, 
wenn sie den Forderungen der Vernunft und der Realität zuviel von ihrem 
geheimnisvollen Inhalt opfern. An Stelle der religiösen Gefühle tritt zuletzt 
das geschichtliche Interesse, die Erforschung der Religionen. Die Entwick¬ 
lung der Menschheit vollzieht sich mit außerordentlicher Langsamkeit und 
doch möchte man sich getrauen, dieses Ende für alle Religionen zu pro¬ 
phezeien. In diesem langsamen Prozeß, der zwischen dem aus unbewußten 
Tiefen aufsteigenden Glauben und der Religionsforschung des Rewußtseins 
spielt, hat das Dogma eine bedeutende Rolle: sein Höhepunkt bezeichnet 
die Schicksalsstunde der Wendung. 2 Die Tenazität des Dogmas im Leben 
der Völker ist gewiß so groß wie die einer großen Zwangsidee im Leben 


1) Die Ambiguität der Dogmatik zeigt ein Bericht über Simon von Toumay, von 
dem erzählt wird, daß er, als er einmal mit einem scharfsinnigen Beweise der 
katholischen Wahrheit im Kolleg lärmenden Erfolg hatte, ausgerufen habe: „Mein 
Jesulein, wieviel habe ich zur Befestigung deiner Lehre beigetragen! Wollte ich als 
Ihr Gegner auftreten, würde ich sie mit noch stärkeren Gründen zu widerlegen 
wissen.“ (Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. I. Bd. S. 266.) 

2) Harnack (Lehrbuch der Dogmatik, Bd. I, S. 20) schreibt über das Dogma 
des Christentums: „Zwischen dem religiösen Glauben, in welcher Theorie und Praxis 
sich decken, und dem historischen kritischen Bericht von der christlichen Religion 
und ihrer Geschichte vermögen wir ein Drittes nicht mehr einzuschieben, ohne mit 
dem Glauben oder mit dem historischen Befunde in Konflikt zu geraten; nur die 
praktische Aufgabe ist übrig geblieben, den Glauben zu verteidigen. Aber in der 
Geschichte, welche die Religion erlebt hat, ist ein Drittes eingeschoben worden, das 
Dogma . . 

























Dogma und Zwangsidee 


3/5 


des Einzelnen, seine Auflösung vollzieht sich allmählich und ohne viel 
Lärm; sie erstreckt sich auf Jahrhunderte. Wenn der Sanctus spiritus ver¬ 
flogen ist, so bleibt das religiöse Phlegma noch lange, aber dieses hat nichts 
mehr mit lebendig gefühlter Religion zu tun. 

Die Regenerationsversuche der Religion gehen von den Reformationen 
aus, die dann auftreten, wenn der religiöse Druck übermächtig geworden 
ist und Dogma und Ritual jede freie Regung zu ersticken suchen. Es ist 
ein paradox anmutender Zug in der Wirksamkeit aller dieser reformatori- 
schen Bestrebungen, daß sie zwar die Enge der Glaubensnormen zeigen 
und die Bürde der Glaubensgesetze verringern, aber entweder zu einer 
schweren Reaktion oder zum Unglauben führen. Der Protestantismus hat 
zwar das Dogma offiziell abgeschafft, aber es lebt unterirdisch weiter. Die 
Verwischung der Grenzen brachte die Gefahr der Schwächung, der Inkon¬ 
sequenz, der vielfachen Konzessionen und Widersprüche. Es gibt, wie bereits 
gesagt, keine Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft. Der liberale 
Protestantismus bedeutet das Ende des Christentums: er ist eigentlich ein 
von einer dünnen Schichte Gottesglaubens bedeckter Atheismus. 1 „Bei Gott 
ist alles möglich, sogar daß er existiert“, hat Renan gesagt. Es sollen die 
Verdienste des Protestantismus um die Erweiterung der gedanklichen Un¬ 
abhängigkeit in der Welt keineswegs geleugnet, sondern nur behauptet 
werden, daß jede Reformbewegung dieser Art, ob sie nun liberaler Pro¬ 
testantismus, Reformjudentum oder Brahmaismus heißt, notwendigerweise 
im Atheismus oder in noch rigoroserer Gesetzesreligion endigen muß. Man 
kann logischerweise nur orthodox sein, wenn man religiös sein will, oder 
man ist nicht mehr religiös. Die Situation, in der sich der liberale Pro¬ 
testantismus befindet, ist derjenigen ähnlich, in die nach dem Bericht des 
Predigers Johannes der Kaiser Trajanus geriet: der heilige Georg weinte 
bei dem Gedanken, daß jener gerechte, aber heidnische Herrscher in 
Ewigkeit verdammt sei. Da erlöste Gott die Seele des Trajanus von den 
ewigen Qualen; die Seele blieb zwar in der Hölle, erlitt aber seit jener 
Zeit nichts Böses mehr. 

Die katholische Kirche hat das Dogma mit Recht als vinculum unitatis 
bezeichnet. Im Protestantismus tanzt der Verstand in den Ketten, die er aus 


1) „Der Protestantismus ist die einzige Religion — der westlichen Welt wenigstens — 
in der man zum Atheisten werden kann, ohne es zu merken und ohne die geringsten 
Gewaltmaßregeln gegen sich anzuwenden.“ (I. M. Guy au: L’irreligion de Pavenir, 
Deutsche Übersetzung, 1910. S. 156.) 










3/6 TlieoJor Reit 


dem Gefängnis mitgeschleppt hat. 1 Auch im Verlaufe der Zwangsneurose 
kommen Erleichterungen, Abschwächungen des Zwanges vor, aber sie führen 
entweder zu einer schweren Reaktion, zur reaktiven Verschärfung des 
Zwanges im Verschiebungsersatz oder sie endigen in der allmählichen 
Auflockerung und schließlich in der völligen Auflösung des Zwanges. 

Einige Unterscheidungen 

Es bleiben uns nur noch einige Fragen zur Beantwortung. Die erste 
wird, da wir so viele Übereinstimmungen und Analogien zwischen Dogma 
und Zwangsneurose aufzuzeigen versuchten, die wesentlichen Unterschiede 
der beiden Phänomene erkunden wollen. Sie werden besonders darauf 
zurückzuführen sein, daß das Dogma ein kollektives, seelisches Produkt ist 
die Zwangsidee aber eine psychische Erscheinung beim Einzelnen. Wenn 
die Zwangsvorstellungen zeigen, daß die Neurose im Abwehrkampfe gegen 
sexuelle Triebregungen entsteht, so beweist die Religionsforschung, daß sich 
das Dogma als Abwehrinstitution gegen die aggressiven und aufrührerischen 
Strebungen konstituiert hat, die hier den Charakter des Wißtriebes ange¬ 
nommen haben. Aus der Differenz zwischen sozialem und individuellem 
seelischen Produkt ergibt sich vielleicht auch die ungleich größere Mannig¬ 
faltigkeit und Verschiedenheit der Zwangsideen gegenüber den eher stereo¬ 
typen, in den Religionen wiederkehrenden Dogmen. 2 Dieser Unterschied 
wird freilich seinen entscheidenden Charakter verlieren, wenn man bedenkt, 


1) Ein nach Sibirien geschickter anglikanischer Missionär erzählte, daß bei seiner 
Ankunft in Irkutsk eine Feuersbrunst drei Viertel der Stadt eingeäschert hatte. In 
dem zerstörten Teil war nur eine Kapelle unversehrt geblieben; die russische Geist¬ 
lichkeit nahm diese Tatsache für ein Wunderzeichen. Der Missionär erklärte es aber 
durch den einleuchtenden Grund, daß die Kapelle allein aus Ziegeln erbaut war, 
während die ganze übrige Stadt aus Holzbauten bestanden hatte. Derselbe Priester, 
der in diesem Falle jede Einwirkung der Vorsehung verneinte, hielt es mit seinen 
Anschauungen vereinbar, sie für einen anderen Fall zugleich in Anspruch zu nehmen. 
Er meinte nämlich, wenn nicht eines seiner Wagenpferde durchgegangen wäre, 
würde er früher in Irkutsk eingetroffen sein und dann wäre sein Gepäck sicherlich 
der Feuersbrunst zum Opfer gefallen. Er dankte Gott für die Inspiration seines 
Pferdes, die Stränge zu zerreißen. (Through Sibiria by Henry Lupsdell. London 
1832 , zitiert nach Guyau: L’irreligion de l’avenir. Deutsche Ausgabe, S. 88.) Man 
sieht, daß der Vorsehungsglaube zwar absurd ist, wenn es sich um eine griechisch- 
orthodoxe Kapelle handelt, aber selbstverständlich und evident, wenn das Eigentum 
eines anglikanischen Missionärs auf dem Spiele steht. 

2) Man vergleiche diese Unterschiede mit den von Freud für „Zwangshandlungen 
und Religionsübungen“ angegebenen. CGes. Schriften, Bd. X.) 

























3 77 


daß die Analyse auch die Mannigfaltigkeit der Zwangsideen auf eine Reihe 
bestimmter gedanklicher Grundformen zurückzuführen vermag. Anderseits 
zeigt das Dogma in den verschiedenen Religionen eine verschiedene, dem 
religiösen und nationalen Charakter entsprechende Ausprägung und Ent¬ 
wicklung. Der zentralen Stellung des Vaters innerhalb der Zwangsideen 
entspricht die dogmatische Hauptfrage der Religion, welche der Gottheit 
gilt. Man könnte auch anführen, daß der Privatcharakter der Zwangsidee, 
die von den Kranken meistens sorgsam geheim gehalten wird, einen schroffen 
Gegensatz zur Gemeinsamkeit der Glaubensvorstellungen bildet. Aber auch 
dieser Unterschied verliert seine Stärke, wenn man bedenkt, daß die Kranken 
ihre Zwangsideen oft äußern ünd besprechen, wenn diese durch ein gewisses 
Maß sekundärer Bearbeitung ihrer Umgebung verständlicher geworden sind 
und die Patienten damit rechnen können, daß ihre Vorstellungen nicht 
auf zu große Verurteilung oder Verhöhnung stoßen werden. Auf der an¬ 
deren Seite bleibt zu betonen, daß der Gemeinsamkeitscharakter der 
Glaubensvorstellungen erst dann hervortritt, wenn die Angehörigen einer 
Religion sicher sind, nicht mehr verfolgt zu werden, wenn sich die Kirche 
vom Märtyrertum zur ecclesia militans entwickelt. Die anfängliche Geheim¬ 
haltung des Symbols und die Arkandisziplin im Christentum sowie die 
analogen Vorgänge in den anderen Religionen bezeugen diesen wesent¬ 
lichen Zug in der religiösen Entwicklung. 

Ich meine, daß auch dem Unterschied zwischen Glaubensvorstellungen, 
Dogmen und den Inhalten der rationalen Theologie (Apologie und Dog¬ 
matik) eine psychologische Würdigung gebührt. Vielleicht hat die voran¬ 
gehende Untersuchung gezeigt, wie sehr eine solche Differenzierung durch 
den schwankenden Charakter dieser religiösen Begriffe und durch den 
beständig wechselnden Gang der Geschichte der Religionen erschwert wird. 1 


1) Dabei wollen wir verstehen, daß Glaubensvorstellungen jene religiösen Inhalte 
sind, an deren Realität eine Gemeinschaft glaubt, ohne daß dieser Glaube feste, 
völlig bestimmte und formulierte Gestalt angenommen hätte oder von der geist¬ 
lichen Autorität als Glaubensnorm gefordert wurde. Das Dogma ist die Gesamtheit 
der „unfehlbaren“ kirchlichen Lehrentscheidungen, Dogmen die einzelnen Glaubens¬ 
sätze dieser Art. Der Inhalt der Dogmatiken sowie der dogmatischen Diskussionen 
wären sowohl die Dogmen als auch die Glaubensmeinungen, aber auch die Zurück¬ 
weisung der Häresien, des Unglaubens und Irrglaubens. Es ist klar, daß der wesent¬ 
liche psychische Inhalt der drei Erscheinungen derselbe ist, so sehr sie auch in ihren 
Absichten und ihren Formen auseinandergehen. So kann z. B. eine Glaubensvor¬ 
stellung in mehr oder minder entstellter Form zum Dogma oder zum Objekt der dog¬ 
matischen Erörterung werden. Die größere Komplexheit des Dogmas, seine Sanktion 
von seiten der göttlichen und kirchlichen Autorität, die begriffsmäßige, präzise Formu- 















Wir dürfen am ehesten hoffen, den entscheidenden psychologischen Unter¬ 
schieden gerecht zu werden, wenn wir die Analogie mit den Erscheinungen 
des Zwangsdenkens weiterführen. Es wäre nicht zu gewagt zu behaupten: di 
Glaubensvorstellungen entsprechen den Zwangsvorstellungen 6 
die Dogmen den Zwangsideen und jene Überlegungen, Begrün¬ 
dungen, Konklusionen, welche die rationale Theologie liefert 
den Delirien der Menschheit in ihrer religiösen Entwicklung 


Glaubensgesetz und Sittengesetz 

Die Verknüpfung zwischen dem Glaubensgesetz und dem Sittengesetz 
scheint den Religionen unlösbar. Die strenge Befolgung des Glaubensgesetzes 
bildet die Voraussetzung für die Haltung des ethischen Lebensgesetzes. Die 
Geltung des Dekalogs hängt von der Anerkennung des einzigen Gottes ab 
die der „fünf Grundpfeiler“ des Islams vom Glauben, daß nur Allah Gott 
sei und Mohammed sein Prophet, die Haltung des buddhistischen pancasüa 
vom Glauben an den Erleuchteten. Nur dann, wenn die Dogmen der Kirche 
göttlich geoffenbarte Wahrheiten sind, sind die ethischen Gebote göttliche 
Sittengebote. Nur derjenige kann das vierte Gebot befolgen, behauptet die 
Kirche, der gelernt hat, das erste zu befolgen. Wenn die dogmatischen 
Lehren falsch sind, so ist kein Grund mehr gegeben, sich die vielfachen 
Einschränkungen und Verzichte aufzuerlegen, welche die Religionen fordern. 


lierung, die größere Resistenz und Tenazität sowie die Abwehr der häretischen 
Meinung werden das Dogma von den Glaubens Vorstellungen abgrenzen. 

Ich meine, es wäre empfehlenswert, auch die Bezeichnungen Zwangsvorstellung, 
Zwangsidee, Delirien auseinanderzuhalten, wenngleich die analytische Praxis zeigt, 
daß solche Differenzierung gegenüber der Erscheinungen Flucht des Zwangsdenkens 
oit nur theoretische Bedeutung haben kann. Freud hat selbst die Bezeichnung De¬ 
inen für jene Bildungen der Zwangsphänomene reserviert, die sich mit den Mitteln 
der Vernunft auf den Boden des krankhaften Denkens stellen. (Bemerkungen über 
einen Fall von Zwangsneurose. Ges. Schriften, Bd. VII, S. 328.) Er hebt auch hervor, 
wie schwierig die Abgrenzung der einzelnen Zwangsgebilde sind, da die Kranken 
„mit der ihnen eigentümlichen Neigung zur Unbestimmtheit die verschiedenartigsten 
psychischen Bildungen als Zwangsvorstellungen zusammenwerfen“. (S. 326.) Dennoch 
scheint es mir richtig, als Zwangsvorstellungen jene Zwangsgebilde anzusehen, die 
von ziemlich unbestimmter, nicht scharf formulierter Art sind, noch keine oder 
geringe sekundäre Bearbeitung erfahren haben und oft nur passagere Formen an¬ 
nehmen. Zwangsideen scheinen mir solche Vorstellungen zu sein, welche im Gedanken 
des Kranken eine präzise Fassung erlangt haben, aus dem sekundären Abwehrkampfe 
bereits deuthche Spuren an sich tragen und geeignet sind, eine dauernde Existenz im 
eeisc en zu begründen. Die Grenzen zwischen Zwangsvorstellung und Zwangsidee 
sind ebenso fließend wie die zwischen Glaubensvorstellung und Dogma. 































Dog ma und ^wangsidei 


379 


r= 

Die Religionen fürchten mit einer gewissen Berechtigung, daß die Auf¬ 
lösung des Glaubens zum Durchbruch der elementaren Triebregungen führen 
muß. Swift erzählt, daß ein Mann, der hörte, daß eine Textstelle, durch 
die bisher die Trinität bewiesen wurde, in einem alten Manuskripte eine 

( verschiedene Lesart aufweise, zu der überraschenden und doch logischen 
Schlußfolgerung eilte: »Why if it be as you say I may safely drink on 
and defy the parson “ 1 

Die Glaubensnorm schützt so die moralische Norm, die von der Väter¬ 
generation aufgerichteten Gebote, welche gegen die elementaren gewalttätigen 
und sexuellen Triebregungen aufgerichtet werden mußte. Wir verstehen das, 
wenn wir uns erinnern, daß es die göttliche Autorität ist, von der sie aus¬ 
gehen und daß der Glaube vor allem auf deren Anerkennung beruht. War 
es in der primitiven Gemeinschaft die Befolgung der Taburegeln und der Ge¬ 
bote des Totemismus, welche das Wesen der Religion ausmachen, so wird es 
in den hochorganisierten Gemeinschaften der Glaube, auf den sich der Haupt¬ 
akzent verschiebt. Wir haben diesen psychischen Verschiebungsvorgang von 
der Verlegung der ursprünglichen aggressiven und grausamen Regungen von 
der Aktion auf die gedankliche Tätigkeit abgeleitet. Da das Denken mit 
fortschreitender Verdrängung immer mehr die Tat ersetzt, mußten auch der 
Gedankentätigkeit Hemmungen auferlegt werden. Wenn der Zweifel über¬ 
mächtig wird, besteht die Gefahr, daß die Schranken des Tabus auch wirk¬ 
lich durchbrochen werden. So verschiebt sich das normative Element von 
dem Gebot oder Verbot der Aktion auf das Gebot des Glaubens. Die Glaubens¬ 
regel wird zum Schutzbau für die Gesetze der Moral. So wird etwa im 
athanasianischen Symbol die Erlangung der Seligkeit viermal von dem genau 
präzisierten Glauben abhängig gemacht. 2 Der unterdrückte, aus der Ver- 

1) Freud weist auf den Roman „When it was dark “ hin, in dem die ungeheure 
moralische Wirkung der Aufhebung einer dogmatischen Glaubensvorstellung geschildert 
wird. Der Roman erzählt wie aus der Gegenwart, daß es einer Verschwörung von 
Feinden der Person Christi und des christlichen Glaubens gelingt, eine Grabkammer 
in Jerusalem auffinden zu lassen, in deren Inschrift Josef von Arimathäa bekennt, 
daß er aus Gründen der Pietät den Leichnam Christi am dritten Tage nach seiner 
Beisetzung heimlich aus seinem Grab entfernt und hier bestattet habe. Damit ist 
die Auferstehung Christi und seine göttliche Natur abgetan und die Folge dieser 
archäologischen Entdeckung ist eine Erschütterung der europäischen Kultur und eine 
außerordentliche Zunahme aller Gewalttaten und Verbrechen, die erst schwindet, 
nachdem das Komplott der Fälscher enthüllt werden kann. 

2) In diesem Vorgang liegt nach Harnack (Lehrbuch der Dogmengeschichte, 

i ll. Bd., S. 315) „die Umbiegung der Trinitätslehre als eines innerlich anzueignenden 
Glaubensgedankens zu einer kirchlichen Rechtsordnung, an deren Beobachtung die 
Seligkeit hängt“. 


J 











drängung wiederkehrende Sadismus, der sich in der sublimierten Form rl 
Zweifels äußert, hat es notwendig gemacht, Gebot und Verbot auch auf 

intellektuelle Gebiet zu übertragen. Als Glaubenszwang ist er dort wieder 
m Erscheinung getreten. 1 aer 

Doch auch dorthin folgt der Zweifel und schiebt sich störend zwischen 
as Gebot und seine Ausführung, das Verbot und seine Einhaltung. Die 
nsaer und Rabbiner des Judentums, die ülemas des Islams, die Moral 
tWogen der katholischen Kirche haben eine außerordentlich ausgestaltete 
oraltheologie geschaffen, welche zur Fernhaltung jener störenden Gedanken 
dienen und entscheiden soll, was gut und was böse sei. (, Eritis sicut dl 
s^tesbonurn etrnalurn.“) So wird etwa in der katholischen Kasuistik enT- 
hieden ob die vorgeschriebene Nüchternheit vor der Kommunion durch 
ein paar Wassertropfen beim Zähneputzen gebrochen wird, ob die Absolutions 
formel noch auf zwanzig Schritte Entfernung wirksam sei. Es wird genau 
festgestellt, wieviel Gramm Fleisch man am Freitag essen dürfe, wieviel 
Seiten eines verbotenen Buches man lesen und wieviel Tage man ein solches 
Buch zu Hause behalten dürfe, ohne eine schwere Sünde zu begehen (Die 

S“ “°xS” " ,WO ' ,e " ! “ ein “ T * 6 ' die «*. 

f 1 0 der Kasuistik aber findet sich zuletzt eine Möglichkeit das 

irchliche Gesetz zu umgehen. So ist das Lesen eines verbotenen Buches 

er aubt, wenn man es nicht im Druck, sondern im Manuskript liest oder 
sich durch einen Diener vorlesen läßt. Die Lehre von der Mentalrestriktion 
ermöglicht es etwa der Ehegattin, welche wegen ihrer Untreue von ihrem 

se r e 'tiT 6 g l Stelh Wird ’ diC SÜnde gktt ZU leu S nen ’ wenn sie die¬ 
selbe mittlerweile gebeichtet und Absolution erlangt hat. Wenn ein Katholik 

gefragt wird ob er zur reformierten Kirche gehört, darf er mit Ja antworten 

weil die katholische Kirche durch das Konzil von Trient „reformiert“ wurde’ 

un viele Kapitel der Konzilsakten die Aufschrift de reformatione tragen 2 Auch 

Mohamm^daner^Tuden^n^Ketz«^ 'auf ^en \ ** 

zu Häupten trostvnll aiJ I , ., Scheiterhaufen brüllten, flatterten ihnen 

cordia et justitia.“ b”“ " helh g en Inquisition mit der Aufschrift: „Miseri- 

Es wL^Ze r/chte^^ 6 ^“, An /^ en naCh Heiler (Der Katholizismus, S. a g6ff.). 
und der durch das Pr' ^ a’ p 6 ^ na ?°S len zwischen zwangsneurotischem Verhalten 
zuzeigen ^“mus geforderten Haltung in der Kirche auf- 

gen. Dieses Prinzip dient als Orientierung in solchen Fällen, in denen Zweifel 


















Dogma und Zwangsidee 


381 


die Moraltheologie, welche das Glaubensdogma zur Grundlage nimmt, muß es 
gestatten, daß eine sonst verbotene Handlung gerade im Namen der Religion 
geboten wird, ja als hoch zu preisende erscheint. So wird in der Zwangs¬ 
neurose oft die verpönte Aktion oder der abgewiesene Gedanke, zu dessen 
Abwehr die Symptome aufgebaut sind, zum Mittelpunkte des Zwanges. Die 
Synthese von verbotener und gebotener Handlung oder Vorstellung in einem 
komprimierten Ausdruck findet sich in der Religion ebenso häufig und 
auffällig wie in der Zwangsneurose. 1 Die katholische Legende erzählt, daß 

bestehen, ob eine Handlung erlaubt oder nicht erlaubt, geboten oder nicht geboten 
sei. In solchen Fällen soll man nach dem Prinzipe des Probabilismus eine Handlung 
mit ruhigem Gewissen ausführen, wenn Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie erlaubt 
ist — auch dann, wenn größere Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie nicht erlaubt ist. („Si 
opinio est probabilis , licet eam sequi , licet opposita sit probabilior .“ Bartholomäus de Medina, 
1577O Es ist dem Analytiker psychologisch verständlich, wieso es zur Konstruktion 
des Probabilismus kommen mußte: gegenüber der zum Extrem gesteigerten Gewissen¬ 
haftigkeit in der Befolgung der Glaubens- und Sittengesetze mußte sich ein Ausweg 
in den Gewissenskonflikten ergeben. Aber diese Erleichterung führte mit psycho¬ 
logischer Notwendigkeit genau wie eine Lockerung des zwangsneurotischen Systems 
zum Triebdurchbruch, der immer größere Ausdehnung annimmt. Kardinal Aquina 
schrieb (vgl. Döllinger-Reus ch, Geschichte der Moralstreitigkeiten in der römischen 
Kirche seit dem 16. Jahrhundert. 1899. I. 121 f.): „In unserer Zeit gibt es fast kein 
göttliches oder menschliches, kein natürliches oder positives Gesetz, dem nicht sehr 
viele unter dem hohlen Schein des Probabilismus, durch allerlei Ausflüchte ausweichen.“ 
Die extreme Form des Probabilismus, der Laxismus, mußte schließlich wegen dieser 
verheerenden Wirkungen seiner Anwendung von Innozenz XI. verurteilt werden. 
(Denzinger, Euchir. Nr. 1020.) Der „gemäßigte Probabilismus“ blieb bestehen, sei es 
in der Form des Äquiprobabilismus (man darf einer weniger sicheren Meinung folgen, 
wenn sie nur gleich wahrscheinlich ist wie die entgegengesetzte), in der des Proba- 
biliorismus (man muß dem Gesetz folgen, wenn nicht die entgegengesetzte, für die 
Freiheit sprechende Auffassung wahrscheinlicher ist) oder des gemäßigten Tutiorismus 
(es ist gestattet, im wahrscheinlichsten Falle der Freiheit zu folgen). Der absolute 
Tutiorismus, welcher fordert, daß man im Zweifelsfalle immer dem Gesetze folge, 
ist von Alexander VIII. in der Fassung der Sinnichius verurteilt worden. (Denzinger, 
Nr. 1160.) Nach dem Promotionsdekret Pius IX. (Mirbt, 570) ist der von Alfons 
von Liguori vertretene Äquiprobabilismus am empfehlenswertesten. Die Analogien des 
Probabilismus mit jenen Lücken in einem zwangsneurotischen System, die der Trieb- 
befriedigung und den Ichinteressen des Kranken Rechnung tragen, werden in der 
Analyse deutlich. 

x) Die Religionen behaupten, Sittengesetz und Glaubensgesetz stammen gleicher¬ 
weise vom Himmel. Der Ankläger bei jenem jüngsten Gericht, vor das Gott von 
seinem Geschöpf geladen werden könnte, würde mit Recht ausrufen: 

„Ein wenig besser würd’ er leben, 

Hätt’st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben.“ 
und hinzufügen können: 

„Er nennt’s Vernunft und braucht allein, 

Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“ 


















38 a 


Reit: Dogma und Zwangsidee 


die heilige Maria aus Ägypterland durch einen tiefen Fluß gehemmt wurde 
als sie zum Grabe des Heilands pilgerte. Da sie keinen Silberling für die 
Fahre hatte, bot sie ihren reinen Leib den Bootsknechten zur Zahlung dar 
und gab durch dieses erhabene Beispiel zu erkennen, wie nichtig alle Sinnes- 
ust ist im Vergleich mit der Sehnsucht nach dem ewigen Seelenheil. 


SAl U fit emertung 


ir sind am Ende unserer Untersuchung angelangt. Unser Blick hat 
das Werden des religiösen Dogmas verfolgt; er darf sich auch auf seine 

ukunft richten. Mit der Zersetzung der Religion in der Kulturmenschheit 
muß auch das Dogma fallen und mit ihm wird die rationale Theologie 
die Apologetik und Dogmatik, verschwinden. Gewiß bedeutet dies nicht 
das Ende des Dogmas überhaupt. An die Stelle des religiösen Dogmas wird 
em anderes, vielleicht das sozialistische oder das wissenschaftliche, treten 
Seme Erscheinungsformen und psychischen Wirkungen werden von denen 
des religiösen nicht wesentlich verschieden sein. 

Harnack sagt einmal: „Der Widersinn und die Autorität sind gewisser¬ 
maßen der Stempel der höheren Wahrheit.“ (Lehrbuch der Dogmen¬ 
geschichte. III. 507.) Es ist dafür gesorgt, daß sich in dieser Richtung nicht 
allzuviel andern wird. Die Fähigkeit, zu zweifeln und insbesondere die, 
en Zweifel längere Zeit zu ertragen, gehört zu den seltensten auf diesem 
laneten. In Wahrheit ist der Mensch jenes Säugetier, das die Ungewißheit 
sehr schlecht verträgt und eine tiefe Sehnsucht nach festen Überzeugungen 
at. Das Bedürfnis nach sofortiger und unumstößlicher Sicherheit und 

ewißheit zeigt, wie wenig sich der Mensch seit Jahrtausenden ent- 
wickelt hat. 

So wird sich der vielleicht imaginäre Fortschritt der Menschheit höchstens 
arm äußern, daß das Objekt des Dogmas durch ein anderes ersetzt wird. 
Die Menschheit ist nicht kapabel, das Dasein ohne Illusion zu ertragen. 
Es ist dabei nicht wesentlich, welchen Inhalt diese Illusion hat. Plus que 
ca c ange, plus c’est la meme chose. Die Heilige Schrift erzählt, Gott habe 
am sechsten Tage alles gesehen, was er geschaffen hatte, und „er sah, daß 
es se r gut sei . (1. Mos. x, 31.) Die Dogmatik, welche die transzendenten 
und absoluten Attribute Gottes genau erkannt und beschrieben hat, hat es 

demnach versäumt, Gott die Eigenschaft erhabener Bescheidenheit zu- 
zuerkennen. 


_ 


























Die Gott -Phantasie bei Kind i 


ern 


Von 

^MLary CkadwicL 

London 


Zu den Merkwürdigkeiten, deren Entdeckung durch die Psychoanalyse 
unser Interesse und, wie wir zugestehen müssen, auch unser Staunen erregt, 
gehört auch die Tatsache, daß wir in den Phantasien kleiner Kinder das¬ 
selbe Material finden wie in den Mythen und Glaubensformen primitiver 
Kulturen, und zwar auch dort, wo die Möglichkeit, daß die Kinderseele 
aus fremden Quellen geschöpft habe, als ausgeschlossen gelten kann. 

Man findet durchaus nicht selten bei Kindern von zwangsneurotischem 
Typus ein Ritual, Glaubensformen und Phantasien, die in überraschender 
Weise mit den Vorstellungen und Riten ihrer Ahnen übereinstimmen; wir 
dürfen annehmen, daß diese Wiederkehr im Seelenleben des Einzelnen nicht 
zufällig ist, sondern dadurch entsteht, daß aus denselben seelischen Quellen 
dieselben Kräfte entspringen. Es soll damit auch derselbe Zweck erreicht 
werden, wie durch jene alten sozialen und religiösen Bräuche, und wenn 
dies mißlingt, so ist die Folge meist der Ausbruch einer ernsten psycho- 
neurotischen Erkrankung mit den charakteristischen Symptomen von Zwangs¬ 
gedanken und Zwangshandlungen, mit erdrückendem Schuldgefühl und nie 
enden wollendem Zweifel, der die gesamte Verstandestätigkeit des Kranken 
zu verschlingen droht. 

Der Wunsch Gott, der Schöpfer zu sein, ruft bei vielen Kindern dieses 
Typus Phantasien hervor; diese haben einen komplizierten Ursprung und 
laufen sowohl in künstlerische Schöpfung wie in neurotische Symptome aus; 
diese beiden Erscheinungen können ab wechseln oder gleichzeitig auftreten, 
als könne das Schuldgefühl, das gerade dieser Phantasie anhaftet, durch die 
künstlerische Sublimierung allein nicht getilgt werden, sondern bedürfe 












noch der Selbstbestrafung durch die Krankheit. In ursächlichem Zusamme 
hang damit scheint die Tatsache zu stehen, daß in beiden Fällen, die i 
folgenden als Beispiele mitgeteilt werden, im Mittelpunkt der ’ seelisch 
wichtigen Ereignisse der Tod des Vaters steht, resp. die Trennung VOn 
ihm und die Zurückweisung der Gottesvorstellung. Beide Fälle zeig 
das Vorhandensein derselben Phantasien bei einem Knaben und ein " 
Mädchen; der Knabe zeigt deutlich weibliche Eigenschaften, das Mädchen 
eine entschieden männliche Einstellung. Beide waren dunkel, zart von 
außerordentlich vorteilhaftem Äußeren und guter Haltung; bei beiden ent¬ 
wickelten sich schon in frühen Jahren zwangsneurotische Symptome, doch 
kamen sie erst nach dem zwanzigsten Lebensjahr in die psychoanalytische 
Behandlung. Beide suchten Trost in schöpferischer Kunstübung, der eine 
als Komponist, die andere als Schriftstellerin, besonders als Dramatikerin- 
beide hofften auf diesem Wege künftiger Taten Unsterblichkeit zu gewinnen’ 
obgleich sie bei der Auswertung ihrer Talente durch die Neurose sehr ge¬ 
hemmt wurden, sowie durch ihre starke Überempfindlichkeit der Kritik 
i ren Leistungen gegenüber, die ihnen den Wunsch eingab, ihre Werke aus 
Angst vor der Lächerlichkeit und aus dem Gefühl der Unvollkommenheit 
völlig geheim zu halten. 


I 

Die Geschichte des Knaben, den wir Guy nennen wollen, ist in Kürze 
folgende: Sein Vater starb, als das Kind dreieinhalb Jahre alt war, nach 
einem langen und schweren Krankenlager. Der Patient besaß nur wenige 
Erinnerungen an den Vater; ein Bild tauchte in den letzten Stadien der 
nalyse auf; er sah den Vater sehr groß aussehend vor dem Feuer stehen 
und sich mit strengem Ausdruck herabneigen. Sein Gefühl bei dieser Er¬ 
innerung war undeutlich, aber es schien, daß der Vater ihn gescholten 
hatte und aufgestanden war, um dies eindrucksvoller zu machen. Worin 
die Schuld des Kindes bestanden hatte, war vergessen, aber zwei Erinnerungen 
sc lossen sich an das Auftauchen dieser Szenen, zwei Formen kindlicher 
Schlimmheit, von denen ihm seine Mutter erzählt hatte; erstens, daß er 
ie Gewohnheit gehabt habe, auf seines Vaters Zehen zu stehen und darauf 
zu stampfen (er konnte sich noch entsinnen, daß dies ihm ein Gefühl großer 
Befriedigung gegeben hatte), und ferner, daß er in des Vaters Lehnstuhl 
ge ettert sei, sobald dieser ihn verlassen hatte. Im übrigen bestand seine 
Erinnerung an den Vater nur darin, daß er für ihn schwere Bücher heran¬ 
geschleppt habe und lieb mit ihm gewesen sei, als der Vater im Bett lag. 






















Die Gott-PLantasie bei Kindern 


385 


Keine Erinnerung an den Tod des Vaters war übriggeblieben, aber ein 
anderes Bild, wie er seine Mutter ans Fenster gelehnt weinen gesehen habe. 
Auf die Frage, was los sei, erhielt er die Antwort: „Sie haben ihn weg¬ 
geholt/* Daran schloß sich ein erster Versuch, das Verhalten der Erwachsenen 
nachzuahmen, der scheiterte. Eine deutliche Erinnerung tauchte auf, daß 
er damals gedacht habe: „Was tun die Leute nur bei einer solchen Ge¬ 
legenheit ? u Er nahm ein Taschentuch und versuchte die Augen seiner 
Mutter zu wischen und ihre Tränen zu trocknen, aber sie strömten weiter 
und er stand hilf- und ratlos. 

Wasserleitungen jeder Art nahmen sein Interesse dauernd in Anspruch, 
ob es sich nun um Röhren, Hähne, Pumpen oder sein eigenes Harnsystem 
handelte. Im Badezimmer versteckt, träumte er sich als Direktor eines Un¬ 
geheuern Wasserwerks, das er mit Hilfe von Griffen und Hebeln lenkte. 
Die Vorstellung, er könnte eine Katastrophe auslösen, deren Beherrschung 
seine Kraft überstieg, wurde zur schrecklichen Wirklichkeit, wenn er auf 
der Toilette die Kette zog. Vor dem herausstürzenden Wasser und dem 
starken Geräusch floh er wie vor einer Lebensgefahr. 

Jede Kraft, die sich seiner Lenkung entzog, erschreckte ihn und ließ 
ihn fühlen, daß er sie zum Bundesgenossen gewinnen müsse, um auf diese 
Weise die Herrschaft wieder zu gewinnen. Als ganz kleines Kind pflegte 
er zu zaubern, meist dadurch, daß er Wasser aus einem Kessel goß oder 
farbige Medizinen zusammenmischte. Wenn das Wetter ihn ärgerte, weil 
es zu naß war, pflegte er ein Papier oder irgendein anderes Abbild herzu¬ 
richten, das den Regen vorstellte, und es zu verbrennen oder zu schlagen, 
oder ein Baum im Garten stellte das unfolgsame Element dar und wurde 
geschlagen. (Der große Vater der sich über ihn beugte und anscheinend 
des Kindes früheste Erinnerung an den scheltenden oder drohenden Vater 
war, der niederfallen und es zur Strafe zerschmettern konnte.) 

Seine Gott-Phantasien traten in einem anderen Spiel unmittelbar zu¬ 
tage, das er als noch ganz kleines Kind erfand. Anscheinend ereignete sich 
dies alles in seinem fünften Lebensjahre, doch war es sehr schwer, Sicheres 
über den Zeitpunkt festzustellen. Er setzte sich auf die Erde, umgab sich 
mit farbigen Glaskugeln und phantasierte nun, dies seien Welten und er 
die Gottheit in ihrer Mitte. Hie und da sah er in seiner Phantasie, daß 
einige Kugeln an der Oberfläche Schatten zeigten, was bedeutete, daß die 
Völker innen rebellisch seien, und dann schlug er sie gegeneinander, um 
ihnen zu zeigen, daß er da sei und sie sich anständig zu benehmen hätten. 
Seine Vorstellung, daß er die Schuld anderer bestrafe und als Gott Gnade 


Imago XIII. 


25 

















und Verzeihen nur dann gewähre, wenn der Sünder Schmerzen gelitten 
und um Erbarmen gebeten hatte, verwirklichte er dadurch, daß er die 
Pfoten des Kätzchens an den heißen Ofen hielt, bis das Tier sich wehrte 
und miaute. Dann begnadigte er es und ließ es laufen. Mit derselben Ab¬ 
sicht neckte er auch seinen kleinen Vetter. 

Als er etwa sieben Jahre alt war, kam er in eine kleine Schule, die 
von zwei unverheirateten Damen geleitet wurde; diese ließen sich von ihm 
nicht beherrschen und bemühten sich, ihn zu demütigen, indem sie immer 
wieder darauf hinwiesen, wie klein und unfähig er im Vergleich mit einem 
anderen Knaben an derselben Schule sei. Nach zwei Semestern wurde er 
infolge seines schlechten Gesundheitszustandes von dort weggenommen und 
nun begann sein Zucken und seine Zwangshandlungen, zum Teil um die 
andern zu veranlassen, ihn zu bedauern und zu zeigen, was er in seinem 
Kopfe ausstand. 

Nach dieser Zeit wandelte sich die Gott-Phantasie vom Spiel zum Tag¬ 
traum und er bildete sich ein, daß er sich wie ein griechischer Gott fühlen 
würde, wenn er nackt durch die Wälder laufen und in sonnendurchleuchteten 
Weihern baden könnte. Die Phantasie des Laufens durch die Wälder stand 
entweder mit einem Traum in Verbindung oder mit einer Erinnerung 
aus seiner Frühzeit, daß er mit der Mutter Verstecken gespielt habe und, 
von ihr verfolgt, davon gelaufen sei; das Eingefangenwerden hatte in ihm 
ein erotisches Gefühl erweckt. Die griechischen Götter, mit denen er sich 
identifizierte, waren Hermes und der junge Apollo, der Schnellfüßige und 
der Musiker. 

Schon als Kind zeigte er ein außergewöhnliches Interesse für Musik, spielte 
Klavier und lehrte sich selbst das Spiel auf jeder Art von Pfeife oder Blas¬ 
instrument, das ihm in die Hand fiel; mit diesem Interesse hing die Er¬ 
innerung zusammen, wie er die verschiedenen Klänge und Tonabstimmungen 
beobachtet habe, die durch den ürinstrom beim Füllen des Gefäßes hervor¬ 
gerufen werden. In späteren Jahren gestattete er sich die Masturbation 
ziemlich einschränkungslos und glaubte dabei kein Schuldgefühl zu emp¬ 
finden ; dies brachte ihn wieder dazu, sich als gottähnlich zu empfinden. 
Er hatte dann das Gefühl, daß er unendlich groß werde (der große Vater) 
und die Höhe dieses ekstatischen Hingerissenseins wurde durch den Ge¬ 
danken an den Ruhm seiner musikalischen Produktionen bezeichnet, sowie 
durch die Hoffnung, daß er ein großes Orchester leiten werde, das seine 
eigenen Kompositionen spiele. Sein neuestes Werk war eine Suite, die 
alte, rituelle Tänze zur Ehre primitiver Gottheiten darstellte. 



























Die Gott-Phantasie hei Kindern 


38 / 


Seine Symptome waren die Abkömmlinge dieser kindlichen Spiele und 
Phantasien, zum Teil mit der Tendenz, die Blasphemie der Infantilzeit, er sei 
selbst Gott, zu sühnen, und zwar durch seine Bitten um Gnade, die ihm 
Gott schließlich auch gewährte. Zuzeiten aber nahm die Idee von ihm Besitz, 
daß Gott nicht existiere, daß niemand existiere außer ihm selber, daß jedes 
andere Ding und jede andere Person nur ein Erzeugnis oder Ausgeburt 
seines Denkens sei; die völlige Einsamkeit dieser Situation, in der er sich 
in alle Ewigkeit nur auf sich selbst angewiesen sah, machte auf ihn einen 
niederschmetternden Eindruck und gab ihm das Gefühl, die äußerste Span¬ 
nung dieses Konfliktes würde irgend etwas in seinem Kopf drinnen aus¬ 
einanderbrechen, so daß er auslöschen müßte wie eine Kerze. Der Gedanke, 
daß es keine zweite Existenz gäbe, war ihm unerträglich, aber die Vor¬ 
stellung der Ewigkeit flößte ihm keinen geringeren Schrecken ein. Die 
Annahme, daß kein Gott sei, der für ihn sorgen könnte, beunruhigte ihn; 
jedoch in seinen Phantasien erschien immer wieder der Wunsch, imstande 
zu sein, Gott zu lenken, „die Macht hinter dem Throne“ zu sein. In seiner 
Phantasie kam er der Quelle seines Schuldgefühls, dem Fluche gegen den 
Vatermörder, sehr nahe und identifizierte sich mit den schottischen Lords, 
die gegen den König rebelliert hatten, dann mittels Namensverwandtschaft mit 
Guy Fawkes, der im Jahre 1606 unter der Regierung Jakobs I. den König 
und das Parlament hatte in die Luft sprengen wollen. Wenn die Dorf¬ 
kinder an jedem 5. November die hergebrachten Spottlieder gegen diesen 
sangen und sein Bild verbrannten, empfand er das schon als Knabe als 
unangenehm und hätte sich gerne versteckt aus Angst, daß sie ihn fangen 
und töten könnten. 

Seine Symptome bestanden unter anderem in dem Zwang, bestimmte Dinge 
zu berühren, ferner sich aus einem hochgelegenen Fenster oder aus einem 
schnellfahrenden Zug zu werfen, weil er sich nicht imstande fühlte, den 
Zug aufzuhalten — vielleicht ein Umkehrungsersatz für die Zeugung: 
seinen eigenen Tod, seine Zerstörung zu bewirken an Stelle seiner Zeugung. 

Er hatte auch mehrere Augensymptome, die mit seinem Zweifel an der 
Wirklichkeit zusammenhingen und interessanterweise dadurch zustande¬ 
kamen, daß er sein Auge mit sich selbst identifizierte (engl. I — ich 
wird gleich ausgesprochen wie eye = Auge). Ursprünglich hatte er ein 
kleines Männchen phantasiert, das in ihm war und durch sein Auge sah. 
Wenn er seine Augen schloß, so hörten die Dinge auf, da zu sein, bis er 
sie durch das Öffnen seiner Augen wieder erschuf. Allein die Dunkelheit 
raubte ihm diese Macht, sie war etwas, was sich seiner Herrschaft entzog, 

25* 











388 


Mary Chadwick 


was Angst und schreckliches Einsamkeitsgefühl hervorrief, die Schrecken 
des Todes. Helles Licht blendete ihn und brachte wieder Unwirklichkeits 
gefühl hervor, ebenso Zwielicht und jeder plötzliche Wechsel von Licht 
zu Finsternis, wegen der Übergangszeit, in welcher er nichts sehen konnte 
Seine Augen versagten und er wurde im Kriege für nicht felddiensttauglich 
erklärt, während er bewußterweise, um den Wert seiner Persönlichkeit zu 
beweisen, irgendein großes Heldenstück ausführen wollte. Als ihm die 
kritische Tätigkeit des Über-Ich erklärt wurde, sagte er sogleich, daß 
dies eine Bibelstelle erkläre, die ihm immer unverständlich gewesen war- 
„Wenn Dein Auge (= Dein Ich, siehe oben) Dich ärgert, so reiße es aus.“ 
Die Vorstellung, in sein Gehirn hinein- oder auf dasselbe herunterzu¬ 
blicken, erschreckte ihn, er meinte, das wäre, als ob seine Gedanken sein 
Gehirn, ihren Schöpfer, kritisieren wollten. Der Gedanke, er könnte auf 
sein Gehirn heruntersehen, schien eine Wiederholung der Szene, wo sein 
Vater tadelnd auf ihn herabsah. Andere Male erschien ihm sein Gehirn 
als eine faulige, verwesende Substanz, die in der Schachtel seines Schädels 
eingeschlossen sei; er verglich es mit seinem schon längst verstorbenen und 
im Sarge liegenden Vater und fügte hinzu, wie unsere Väter in ihrem 
lebendigen Nachwuchs weiter leben, so sei dieser Nachwuchs zum Teil tot 
in seinen verstorbenen Vorfahren. 

Gott, der Schöpfer, war ihm auch mit der Mutter verbunden, mit 
der er sich durch die Schöpfung musikalischer Kunstwerke gleichstellen 
wollte. In einem Traum — vielleicht war es auch nur eine Tagesphantasie 
— war seine ganze Neurose zusammengefaßt dargestellt. Das Symbol waren 
drei Orangenkerne, die an den drei Seiten eines unvollständigen Rechteckes 

D 

mit einer kurzen Linie oben gelegt waren, so: A\Z\C. A war die Mutter, 

B 

aus der B herausgekommen war; B war er selbst, zugleich auch der los¬ 
gerissene Penis der Mutter, den sie geopfert hatte, um ihn zur Welt bringen 
zu können. C ging von ihm aus und war seine Frau oder, wie er meinte, 
möglicherweise sein Kind, oder seine musikalischen Schöpfungen, die mittels 
der Linie oben zurück zur Mutter gelangen, wieder als Wort in ihren 
Mund dringen und ihr beweisen, daß er ihr nun ebenbürtig oder sogar 
überlegen sei, da er etwas Besseres als sie hervorgebracht habe, etwas, was 
sogar größer war als er selbst, etwas, dem er seine göttliche Ekstase verdankte. 

Er wünschte zu heiraten, fühlte, daß seine Mutter große Sehnsucht 
danach habe, vor ihrem Tod noch sein Kind in den Armen zu halten, 


















Die Gott>Phantasie Lei Kindern 389 


fürchtete aber, daß das Eheleben und die Kinderzeugung, die jeder Beliebige 
zu leisten imstande sei, seine musikalische Schöpferkraft zerstören werde 
und meinte, seine Musik sei für die Welt von größerer Bedeutung als 
ein Kind mehr; ferner, daß er sich nicht dazu entschließen könne, seiner 
Frau ein so gewaltiges Geschenk wie seinen Samen, von dem er zu fühlen 
glaubte, daß er von seinem Gehirn durch den Rückenmarkskanal abgeleitet 
wurde, zu gönnen, nur damit sie die Freude an der Erschaffung des Kindes 
habe. Seine zahlreichen Phantasien über den Besitz eines Homunculus oder 
eine eigene Schwangerschaft standen in Beziehung mit der Anschwellung von 
Drüsen am Hals, die aufgeschnitten wurden, mit Blinddarmschmerzen usw.; 
als Kind versuchte er, Eier zu legen wie die Henne. 1 

Worte spielten eine große Rolle bei seiner Symptombildung; er wieder¬ 
holte zwangsmäßig ein Wort — irgendein Wort — wieder und wieder, 
bis es jeden Sinn verlor und er ganz betäubt war (Wortmasturbation); in 
einem früheren Stadium seiner Neurose hatte er wohldurchdachte Blas¬ 
phemien ausgesprochen, in denen er Gott wegen dessen, was er zu erdulden 
hatte, verfluchte; die Fortdauer seiner Leiden hielt er dann für die Strafe 
und Wiedergutmachung dieser Sünde, die in seinen Augen eine Sünde 
gegen den Heiligen Geist war. 

Es ist nicht ohne Interesse, daß dieser Mann den Beruf eines Schul¬ 
lehrers erwählt hat; er wünschte den strafenden und belohnenden Gott für 
seine Schüler zu spielen. Einmal gelang es ihm, sie ganz windelweich zu 
machen, so daß sie um Gnade flehten, und ihnen so zu beweisen, wer 
der Herr und Meister sei. Gegen den Schulleiter wünschte er sich so zu 
halten, daß er die „Macht hinter dem Throne^ wäre, der zweite Befehls¬ 
haber, ohne Verantwortlichkeit, aber mit allen Befugnissen, imstande, die 
ganze Schule durch den Druck auf einen Hebel zu organisieren, und alles, 
was ihm paßte, von einer gesicherten Position aus durchzuführen. Mißlang 
ihm dies, so fühlte er sich besiegt und unglücklich. 

II 

Der zweite Fall, ein Mädchen, bei dem dieselben Phantasien von Gott, 
dem Schöpfer, vorhanden waren, hatte eine ebenso merkwürdige Kindheit; 
da die Analyse aus äußeren Gründen schon nach wenigen Monaten abge¬ 
schlossen wurde, ist das Material leider viel weniger ausreichend. 


1) Siehe auch Chadwick: Über die Wurzel der Wißbegierde. Internationale 
Zeitschrift für Psychoanalyse, 1925. 















390 


JMLa.ry CLaclwick 


Sie war die jüngste von mehreren Geschwistern beiderlei Geschlechtes 
die sämtlich erheblich älter und stärker waren als sie. Das kleine Mädchen 
bekam nicht viel von seinem Vater zu sehen, was teils durch die Inanspruch¬ 
nahme seines Berufes — er war Journalist — teils wohl auch durch eine 
Entfremdung zwischen ihm und seiner Frau begründet war; sie betete ihn 
von ferne an, aber empfand umso tiefer den Konflikt, da sie merkte daß 
er die Mutter, gegen die sie sich mit der Hingabe einer Verliebten benahm 
unfreundlich behandelte. Ihre Geschwister liebten wilde Spiele und allerle' 
Unternehmungen, die körperliche Tüchtigkeit voraussetzten, wie z B oben 
auf der Mauer zu laufen und von der Höhe herunterzuspringen; sie nahm 
an diesen Dingen teil und bemühte sich, die fürchterliche Angst die sie 
dabei fühlte, so gut sie konnte, zu verbergen, um den von ihr aufgestellten 
Gesetzen nachzuleben, die ihr verboten, jemals Angst oder Schmerz zu verraten. 
Oft ging sie durch die Felder oder zwischen den Blumen des Gartens und 
fühlte, daß irgendwie all diese Schönheit für sie geschaffen sei, daß ihre 
Gegenwart sie erst hervorgerufen oder geschaffen habe, daß ihr Vater auf 
irgendeine Weise damit Zusammenhänge oder das alles ebenso empfinden 
wurde wie sie selbst. Ihr bewußtes Minderwertigkeitsgefühl im Vergleich 
mit den stärkeren und körperlich mutigeren Geschwistern scheint sie zu 
kompensatorischen Phantasien veranlaßt zu haben, in denen sie Schöpfer 
und Gottheit war. Sie knetete Lehm in ihrer Hand und verfertigte Männchen 
wobei sie fühlte, daß ihre Hand mit Schöpferkraft begabt sei und daß sie 
eigentlich imstande sein müßte, ihnen den Atem des Lebens einzublasen 
Aber das war nur in der Phantasie möglich, denn zu ihrem größten Schmerze 
wollten sie sich nie von selbst bewegen. Wahrscheinlich enthielt diese Phanta¬ 
sie auch den Wunsch, sich selbst umzuschöpfen, so daß sie ein Mann würde. 

In den spateren Jugendjahren lebte sie bei ihrem Großvater väterlicherseits 
und erfuhr von diesem, daß weder er, noch ihr Vater an Gott glaubten. 

ie Welt fiel für sie in Trümmer und sie kämpfte, ohne Hilfe zu finden 
um die Wiedergewinnung ihres Gleichgewichtes. Sie ging oft bei NacM 
und Mondschein durch das alte Haus und schöpfte Trost aus dem Schatten der 
Baume, die der Mond durch die hohen Fenster in die verlassenen Zimmer 
warf. Sie schienen sich vor ihr zu neigen und ihr zuzuwinken, was sie 
teils tröstete, teils erschreckte. Sie verlor ihren Glauben an Gott und erwartete 
nun daß ihr Tod oder ein schreckliches Unglück als Strafe eintreffen würde. 

Als ihr alter Großvater nicht sehr lange nachher starb, fühlte sie sich 
gezwungen, dies mit ihrem Abfall vom Glauben in Zusammenhang zu 
bringen und sie kehrte zu ihrer Familie wie fluchbeladen zurück. 

























Die Gott-Pkantasie kei Kindern 


391 


Seit ihrer Kindheit hatte sie sich bemüht zu schreiben, um ihrem 
Vater zu beweisen, daß sie ein geistiges Erzeugnis ebensogut wie er hervor- 
bringen könne. Der Vater war gänzlich in Geheimnisse eingehüllt, manch¬ 
mal war er jahrelang verschwunden. Sie sprach von ihm oft wie von einem 
längst Verstorbenen, manchmal wie von einem, der noch lebt, aber in so 
weiter Ferne, daß es zweifelhaft blieb, ob er jemals zurückkommen und 
sie Wiedersehen würde. 

Nach jahrelangem Ringen mit Zwang und Zweifel kam sie zur psycho¬ 
analytischen Behandlung, — „bloß wegen des Interesses w , — später erst 
teilte sie ihre Zwangssymptome mit, unter denen sich der Zwang, bestimmte 
Dinge zu berühren, befand, sowie die Furcht, daß ihre Gedanken andere 
Personen beeinflussen oder schädigen könnten, insbesondere einen kleinen 
Neffen, den sie sehr liebte und mit dem sie sich zweifellos identifizierte. 
Sie hatte das Gefühl, daß sie seinen Geist beeinflusse und forme, was für 
ihn leicht zum Nachteil ausschlagen könnte, da sie eine gefährliche Person 
sei. Die Vorstellung, einem Kind das Leben zu geben, und alles, was mit 
der Sexualität zu tun hat, erfüllte sie mit Abscheu; sie war trotzdem ver¬ 
lobt, was zu den allerschwersten Konflikten Anlaß gab. Sie war eben damit 
beschäftigt, gemeinsam mit ihrem Verlobten einen Roman zu verfassen, 
und zwar so, daß sie auf Grund seiner hingeworfenen Notizen mit der 
Schreibmaschine schrieb, d. h. seine Schöpfung sichtbar machte. Sie be¬ 
trachtete dies als schwere Verantwortlichkeit, weil das, was er sich aus¬ 
dachte, so formlos war und sie dem allen erst eine literarische Gestalt 
geben mußte. Mehr als alles andere wünschte sie sich, Theaterstücke zu 
schreiben, denn dann konnte sie Männer und Frauen hervorbringen und 
sie vor ihren Augen stehen und gehen sehen; sie würden ihre Puppen sein 
und sie könnte als Gottheit die Fäden ziehen oder noch lieber, sie ins 
Leben rufen, so daß sie sich selbständig bewegen konnten. Während sie 
dies erzählte, führte sie Handbewegungen aus, als forme und knete sie die 
Lehmfiguren ihrer Kindheit. 

Infolge einer Reihe von scheinbaren Zufällen verließ sie die Damen- 
Mode-Zeitung, die sie zur Zeit ihres Eintrittes in die Behandlung mit- 
herausgegeben hatte; Frauenkleider, meinte sie, seien ein zu wenig ernstes 
Objekt, obgleich sie gerne das Gefühl hatte, daß sie es sei, die „Moden 
kreieren und den Geschmack formen“ könne. Schließlich erhielt sie einen 
Posten als Sprachlehrerin, insbesondere für Französisch, das sie sehr liebte. 
Darin erblickte sie nun die Beschäftigung, die sie von jeher ersehnt hatte, 
denn nun fühlte sie sich imstande, Seelen zu formen und im Geist ihrer 












Schüler Gedanken zu erzeugen. Sie hatte in ihrer journalistischen Laufbah 
schon einen gewissen literarischen Erfolg errungen; so waren zwei ihre* 
Artikel von „Daily Mail“ angenommen worden, einer, der die Feuer d * 
Topferofen in Shropshire beschrieb, die ihr wie Glutaugen erschienet 
waren, als sie bei Nacht im Zuge an ihnen, vorüberfuhr, der andere übe 
das Wunderbare, Weithinausgewölbte der Bäume in ihrer stolzen Sonnen¬ 
blatterpracht. Ihre Sehnsucht, ein visuelles Bild durch Worte hervorzurufen 
war außerordentlich stark, auch die Wahl, die sie zwischen den Ausdrücken 
traf, bezeugte ihre scharfe Unterscheidungsgabe und ihr liebevolles Verständnis 
für Wohlklang; sowie sie von diesem Begriff — Schöpfung — sprach 
bewegte sich ihre Hand, um die Sätze zu formen, die Worte zu wählen! 
Sie hatte diese Artikel ihrem Vater übersandt in der Hoffnung, seine 

Anerkennung zu gewinnen, aber keine Antwort erhalten, was für sie eine 
bittere Enttäuschung bedeutete. 

Die Analogie der beiden Fälle ist deutlich: das Kind spielt, es sei der 
hebe Gott, der Schöpfer, und nimmt für sich die das höchste Wesen aus¬ 
zeichnenden Eigenschaften in Anspruch, die der Gottheit und den Eltern 
zugehören; es erwartet, zur Strafe zerschmettert zu werden und erfindet 
zur Abwehr dieser Katastrophe verschiedene Riten und Sühnehandlungen 
durch die das Böse ausgemerzt oder durch ein Geschenk wieder gutge¬ 
macht werden soll. Im ersten Fall war dieses Geschenk die Musik, die es 
selbst hervorbrachte, und die anscheinend sowohl das Kind, als auch Urin 
und Samen darstellen sollte. Diese bedeuteten für ihn die höchste Macht 
und waren von der Kindheit her verbunden mit den ersten musikalischen 
Tonen, die er selbst hervorbringen hatte können; durch sein Geschenk 
brachte er sie der Mutter wieder, die er ebenfalls als Gottheit — und 
zwar sowohl mit weiblichen wie . mit männlichen Attributen ausgestattet — 
ansah. (Vater sowohl wie Mutter waren als Musikdilettanten recht tüchtig.) 
In dem zweiten Fall treten die analen Interessen stärker hervor, besonders 
in der Vorstellung, Lehren oder Worte schöpferisch zu gestalten. Da ihr 
Vater, an den sie ihre Schöpfungen gesandt hatte, auch Journalist war 
und seine Werke ebenfalls aus seinem Kopf hervorbrachte, interessierte 
sie sich selbstverständlich sehr für Athene, die aus dem Kopf ihres Vaters 
Zeus hervorgegangen war, ohne Mitwirkung der Mutter; ihre eigene 
Mutter sah sie als ihren Liebhaber an, den zu schützen sie verpflichtet 
sei. Um alle möglichen Schicksalsschläge abzuwehren und für die Sünde 
zu büßen, daß sie den Glauben an Gott ebenso wie ihr Vater und dessen 
Vater aufgegeben hatte, bestrafte sie sich mit ihrer Neurose 
























Die Gott-Phantasie Lei Kindern 


3 9 3 


Die Tendenz, von der Freud in „Hemmung, Symptom und Angst“ spricht, 
Handlungen „durch Wiederholung ungeschehen zu machen“ (S.58), wird in 
beiden Fällen deutlich, und zwar in den Zwangshandlungen, sowie in der 
Wiederholung der Schöpfungsphantasien in der Form der sozial gestatteten 
und anerkannten geistigen Erzeugung von Kunstwerken; in beiden Fällen 
besteht eine Abneigung dagegen, das Werk den Blicken des Publikums 
und der Kritik auszusetzen, aus Angst, daß es unreif oder sonstwie mangel¬ 
haft befunden werden könnte — nicht als ein Kind ohne Tadel und Makel. 

Die Vorstellung, durch das, was man hervorgebracht hat, — als schrift¬ 
stellerische Leistung oder sonstwie, — die begangenen Sünden gutzumachen, 
läßt sich in den Phantasien zwangsneurotischer Kinder oft beobachten. 
Häufig ist sie verbunden mit dem Glauben, daß ihnen der Tod von der 
Hand ihrer Eltern unmittelbar drohe, oder daß sie für eine unbekannte 
Sünde oder für die ihrer Vorfahren mit ihrem Leben zahlen müßten, 
wenn sie sich nicht durch einen Ersatz freikaufen könnten, durch ihr 
Kind oder ihr Erzeugnis. In den Urzeiten der Zivilisation bestand die Sitte 
der Opferung des Erstgeborenen, um dem Stamm Glück und Kraft zu 
bringen, oder des Opfers einer Mißgeburt, die als Beweis für die Sünden 
der Eltern galt, wie Geschlechtsverkehr mit dem Teufel, Inzest u. dgl. 
Das Kind wurde dann geopfert, um die Sünde seiner Zeugung wieder 
gutzumachen, so wie in unseren Fällen die Gottphantasie durch die 
Darbringung des Erzeugten gesühnt werden soll. Der kindliche Erzeuger, 
der seine Schöpfung verstecken muß, weil er fürchtet, daß sie durch den 
Hohn und das Verlachen seitens der anderen zerstört werden würde, er¬ 
innert an das Verhalten der Mutter eines mißgebildeten Kindes, das sie 
zu verbergen wünscht, um ihre Sünde oder ihr Schuldgefühl nicht an 
den Tag kommen zu lassen. Das Kind, das fürchtet, getötet zu werden, 
hat Todeswünsche gegen den Vater gehabt und erwartet infolgedessen vom 
Vater vernichtet zu werden, so wie es erwartet, daß Gott es vernichten 
würde, weil es blasphemisch Gott gespielt und Menschen nach seinem 
eigenen Bilde geschaffen hat. 

Der Knabe hat wohl den Tod des Vaters gewünscht, weil dessen Er¬ 
krankung soviel von der Zeit und dem Interesse der Mutter auf sich zog, 
und fühlte sich deshalb von Schuldgefühlen erdrückt, als die Todeswünsche 
sich erfüllten; das Schuldgefühl des kleinen Mädchens mag durch das fort¬ 
währende Verschwinden des Vaters, von dem sie fühlte, daß er die Mutter 
unfreundlich behandelte, angespornt worden sein und außerdem durch 
den Tod ihres Großvaters, der den Glauben an Gott in ihr ertötet hatte, 








indem er ihr seine Anschauungen übermittelte. Die Einstellung des Mäd 
chens ist uneinheitlich, wie es bei Mädchen mit männlicher Identifikatin 
immer der Fall ist. Sie liebt den Vater, aber als Sohn, ebenso wie 2 
Tochter und empfindet ihn als Rivalen bei der Mutter, die sie sich zum 

Liebesobjekt genommen hat; so stellt sie sich zum Vater passiv-homosexuell 
r , akt "’ S ° Wle dle Mutter hinzutritt, die sie ja gegen die Unfreund- 
ic keit des Vaters in Schutz nehmen will. So wendet sich das Kind den 
Gottphantasien von der Erzeugung zu, die zuzeiten von den Vorstellungen 
der Vernichtung oder Selbstvernichtung begleitet sind und von der Angst 
vor dem Tode. Diese geht auf die befürchtete Rache Gottes oder des Vater 
zuruck aber auch auf das Bestreben, auf diese Weise beiden ebenbürtig 
zu werden und sich den Schmerzen der Opferung zu entziehen - J t 
anderen Worten, das Kind möchte, wenn ihm der Vater seine Liebe ent¬ 
zogen hat, selbst die Aufgabe der rächenden Gottheit übernehmen und 
Gott wieder betrügen, indem es seine Rolle spielt. Einen Faden können 
wir diesem Gewebe noch hinzufügen, nämlich, daß die Angst vor dem 
o in diesen Fallen der Kastrationsangst vorauszugehen scheint, sowie 
bei primitiven Stämmen wirklich die Opferung der Erstgeburt früher auf- 
trm als die durch die Beschneidung symbolisierte Kastration. Die letztere 
spielte übrigens eine wichtige Rolle bei dem ersten der hier behandelten 


Literatur 

1) Freud: Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X. 

2 . ^ re ^ d: Trauer und Melancholie. Ges. Schriften, Bd. V 
J ProUe G ^ m r t Same Tagträume. (Imago-Bücher Nr. V.) Int. PsA. Verlag, i 924 . 
s^ l ° r, Ba T ah totemistlsches Symbol in der Dichtung. Imago fqJ/it 

6 ) Fr ud e H : 6 l '° n alS Ursache des Werdens. Jahrbuch f. PsA iLa. 
7 Freud Hemmung, Symptom und Angst. Int. PsA. Verlag, 1926. 

7) Freud. Das Ich und das Es. Ges. Schriften. Bd. VI. 

^ aZ / r: Golden Bou g h * Adonis, Attis and Osiris. 

9) Chadwick: über die Wurzel der Wißhegierde, Int. Ztschr f PsA Bd YT 
10) Jones: Der Gott-Mensch-Komplex. Int.^Ztschi b Pst Bd l fg^ ’ * 


























Von 

H ermann R orsc kack (f) 


I 


Jok; 


annes 



Johannes Binggeli aus Schwarzenburg, Kanton Bern, stammt aus 
einer Gegend, die seit Jahrhunderten ein reges sektiererisches Leben besitzt, 
und unter allen Sektenträgerfamilien jenes Landteiles ragt vor allem seine 
eigene Familie, die der Binggeli, hervor. Er selbst entstammt einer Ehe 
von Blutsverwandten, auch seine Mutter war eine Binggeli. 

Johannes Binggeli ist am 15. August 1834 geboren. Seine Jugend¬ 
erinnerungen sind Gespenstergeschichten, und im übrigen Not und Ent¬ 
behrung. Eine Zeitlang stand die Familie auf dem Notarmenetat. Er war 
ein kränkliches, schwächliches Kind. Mit vier Jahren verlor er seine Mutter. 
Bald darauf heiratete der Vater wieder, und zwar eine Frau, der Binggeli 
nichts Gutes nachsagt; er dachte sein Leben lang nur mit großer Bitterkeit 
an sie, besonders, weil sie ihn stets wegen seiner Schwächlichkeit verhöhnt 
und ihren eigenen Kindern hintan gestellt hatte. Er war ein wenig begabter, 
aber fleißiger und ehrgeiziger Schüler. Nach der Schule half er zu Hause 
auf dem elterlichen Heimwesen, arbeitete dazwischen auch als Taglöhner. 
Schließlich riet ihm eine alte Frau, den Schneiderberuf zu erlernen; er 
befolgte den Rat, aber er ist nie ein guter Arbeiter geworden. Dafür kam 
er als Schneider, wenn er in den Häusern arbeitete, weit herum und lernte 
die Leute kennen. 

Bis zu seinem vierunddreißigsten Jahre wird von ihm nichts besonderes 
berichtet. Eine alte Frau hatte ihm aber prophezeit, er werde zwischen 











dem dreißigsten und fünfunddreißigsten Jahre eine schwere Anfecht,, 
erleiden. So geschah es denn auch. Halluziniert hatte Binggeli von Kin d u 
an und auch in der Lehrzeit noch. Jetzt aber, in seinem vierunddreiß^ 
sten Lebensjahr, stellten sich die halluzinatorischen Erlebnisse ee bä * 

6m , F hatte Um . S61ne und seines Katers Seele angstvolle, dann abe^r sie 
reic e ampfe mit dem Teufel auszufechten. Diese Erlebnisse bilden d § 
Inhalt von Binggelis erstem Büchlein, der „seltsamen und gan Inj* 

Geister- und Wundergeschichte“, das 1870 in erster Auflage Tel 

am, es hat seitdem eine vierte erlebt. Dieses Jahr 1870 ist für R' 
ub.rh.up, e™ gni „,ich. Besonders durch d.s G.ist.rbüchl.in wurde S 
lok.l. Beruhmth.it, obschou ihn ander, seiner den „„„men (, e „ ück ™ 

gge 1 nannten. Im gleichen Jahre schon wird er wegen Wahrsagern 
un onkubinats mit zwölf Tagen Arrest bestraft. Gewisse Leute in Bern 
hatten ihn zur Arbeit gerufen, aber nicht, damit er seinem Schneiderberuf 
o lege, son ern damit er ihnen gute Lotterienummern erträume Um 
lese Zeit traten auch zum ersten Male schwerere epileptiforme Anfälle 
bei ihm auL Schließlich fällt ins gleiche Jahr 1870 sele Heirat Di 
traumhaften Zustande traten auch weiterhin auf. 

Binggeli, von steigender Berühmtheit getragen, fing an, in verzücktem 

Gotte“ 7 Pr : dlg r n ' ^ k ° nme jeWeils ™-aussagen, wann der Geist 
Go es w^er über hn kommen werde, so daß er sich Zuhörerschaft und 
schließlich eine regelrechte Gemeinde gewann. Er gab in der Folge auch 

noc weitere uchlein heraus, in denen er vom Geist in die Feder diktierte 
Predigten veröffentlichte. datierte 

Bis zum Jahre 1895 bestand und wuchs seine Gemeinde, ohne viel von 
sich reden zu machen. Damals zählte sie dreiundneunzig getreue Mitglieder 
nannte „eh Waldbruder.chaft n„d be.aB ein. Fahne 8 ’ 

In den neunziger Jahren aber tauchten Gerüchte über die Sekt, auf I m 

der 2Le! 9 T„ W h, rd ' 1 . Bi T 1 ‘ “and.'mi, 

wegen Kind R ” , bezichtl g t und uberführt. Eine Waldschwester, die 
wegen Kindesverheimhchung bei Binggelis Vaterschaft eingesperrt wurde 

erzähiten nun 

noch einp * ? IT’ SS mmitten S6iner W aldbruderschaft 

Zt Zri 7 T r ift6t hat: ^ di6Ser '^esoterischen Gemein- 

Temhren la S s t 7 , **“ '^ ^wordene Wort Gottes“ 

PhaUus der vo‘ ft ’f ^ ““»***** **n. aber waren Binggelis 

UHn L als H 1 ^ ^ BÜChSe ChriSti ad ° riert wurde und !ein 

’ immelsbalsam eine sehr vielseitige magische Verwendung fand. 













Zwe 1 schweizerische Sektenstifter 


Binggeli kam in der Folge in die Irrenanstalt Münsingen, wo er bis 
zum Jahre 1901 blieb. Seine Gemeinde blieb ihm zwar teilweise trotz 
allem treu, aber als er wieder frei wurde, wagte er doch nicht mehr recht, 
nach Schwarzenburg zurückzukehren. An seinem neuen Wohnort, in der 
Nähe von Bern, erwies sich die Umgebung wenig günstig zur Gründung 
einer Sekte. Hingegen veröffentlichte er auch später, 1904, noch einmal 
ein Buch mit Beschreibungen seiner Verzückungen. 1903 starb seine Frau. 
Bald darauf heiratete er, über siebzigjährig, noch einmal, und zwar eine 
seiner getreuesten Waldschwestern. 

Wie Ihnen sicher aufgefallen ist, besteht zwischen der Lebensgeschichte 
Binggelis und der Jakob Boehmes, 1 vor allem, was die Jugendjahre betrifft, 
eine sehr weitgehende Ähnlichkeit. Beide entstammen Sektenherden; sowohl 
Schlesien wie Schwarzenburg sind seit Jahrhunderten Sektenländer. Beide 
sind Sprößlinge religiös angeregter Familien. Beide sind schwächlich und 
wählen notgedrungen ein Handwerk, das wenig physische Kräfte verlangt. 
Beide verlieren in der Kindheit ihre Mutter und leiden unter einer Stiefmutter. 
Es wird uns bei diesen Ähnlichkeiten nicht wundernehmen, daß wir in 
den Analysen beider auf die gleichen Komplexe stoßen. Um so mehr Inter¬ 
esse wird die Frage haben, warum aus dem einen der beiden, Boehme, 
der gewaltige Philosophm teutonicus wurde, ein Befruchter geistigen Lebens 
auf Jahrhunderte hinaus, aus dem andern aber, aus Johannes Binggeli, der 
Stifter einer kurzlebigen Sekte, die an der Schwelle des zwanzigsten Jahr¬ 
hunderts einen uralten Priapuskult erneuerte und dann vergessen wurde. 

Die Schriften Binggelis sind sehr ungleichwertig. Sein erstes Werk, die 
„seltsame Geister- und Wundergeschichte“, ist leider nicht ganz von 
ihm selbst, sondern von einem Gläubigen nach seiner Erzählung geschrieben 
worden; trotzdem ist sie die aufschlußreichste, weil ursprünglichste Schrift 
Binggelis. In den späteren Büchern ist sehr vieles, was er für Predigten aus 
dem Jenseits ausgibt, einfach abgeschrieben, aus Andachts- und Lieder¬ 
büchern, Schulbüchern und fliegenden Blättern, wie sie in der abergläubischen 
Bevölkerung verbreitet sind. 

Anderseits fehlt in den Schriften manches, was Binggeli seinen nächsten 
Anhängern zu erzählen pflegte. 

Da ist vor allem eine Traumreise, die Binggeli im Jahre 1871 machte, 
und die seinen Anhängern wohlbekannt ist und von Binggeli besonders 


1) Vgl. Kielholz: Jakob Boehme (Schriften zur angewandten Seelenkunde, Heft 
XVn), Wien. 












hoch bewertet wird. Er hat sie denn auch in seinem Inzestprozeß zu sein 
Verteidigung vorgebracht. U semer 

Ich möchte im folgenden von eben dieser Traumreise ausgehen w •, 
sie wirklich ein zentrales Erlebnis in der Psychologie Binggelis da J n 
und weil sie zudem das Einzige ist, was ich aus Binggelis eigenem Mu 
erfahren habe. Denn diese Beise hat mir Binggeli noch selbst erzählt I c h 
habe ihn vor einigen Jahren aufgesucht. Er war damals schon in seine^ 
achtzigsten Jahre, senil und asthmatisch. Er war ein zwerghaft kle' m 
Männchen, »i, groBem Ko pf. »i, g„ Bem R umpf ™ 

6 ^ en ' r atte em gedunsenes Gesicht und wies im ganzen einen kreti- 
noiden Habitus auf. Affektiv reagierte er bei meinem Besuche durchaus 

3 ^b/r’h ° “v e f 1Che Stelfheit und Sperrung. Er ließ sich sogar ohne 
viel Muhe überreden, sich photographieren zu lassen. 

Seine Traumreise erzählte er in offenbar langgewohnter, festeingeschliffe- 
er Weise stehen wme mit geübtem Pathos, zugleich mit schlau beobach- 
tenden Blicken. Er erzählte also: 

• ” An !f ngs Herbstmonat 1871 bin ich auf den Weg gegangen. Es bah 

Vater 3 t ^ ^ ldl . gin . g ' Am Kreuzw eg kommt mir der verstorbene 

611 geg0n und lst m ein Führer geworden. Er hat mich zuerst narb R 
gdute „ Mto». D, „„ ein «JU G„„ g ™ 

schon, daß ichs unmöglich beschreiben kann, aber dann bin ich gleich fort 
gekommen. Dann hat mich der Vater nach Straßburg geführt. Zu selber Zrit 
haue dm Stadt noch Tore. Ich habe ein Parapluie" bei mir gehabt da ha 
der Vater zu mir gesagt, ich soll ihn nur an das Tor hinsteflen. Das habe 
ch auch getan und dann sind wir in die Stadt hineingegangen Da führte 
imch der Vater in ein schönes Haus. Darin waren drei Jungfe“' die waren 

Jolfenfn Gürtel ”d"" gIÖßer als die beiden and «“und hatte einen 
goldenen Gürtel Alle drei waren unaussprechlich schön, so schön daß man’s 

d S a a L n hab Sag6n W n - Bd ^ JUngfem habe kb mich --sen nackt ausziXn 
irb b b i! le ! Ser “ ein Becken S etan und “lieh damit gewaschen und 
ch habe auch von dem Wasser trinken müssen. Und dann habe ich beTihnen 

müssen 11 SieTaben ü W bei ihnen bleiben und bei ihnen schlafen 
mich ter lann T ? ge ° ffenbart > was kommen werde, ich solle 

Sri soll tb” t n f men; , S ° aUeLeute kö ““en es doch nichl glauben, 

arum soll ich s nicht verlauten lassen. Meine Frau werde 187= eine Tochter 

ge aren und wenn die Tochter so etwa 15 Jahre alt sei, so werde sie von 

Vater hat'mich d“® ™ 68 denn auch gekommen ist. Der 

dabei t at “ 1Ch . dann i Wlede ^ ab g ehol t““ d wieder aus Straßburg hinausgeführt; 

T T i em 0135 g6geben > daS babe ich aber bezahlen müssen! 
pZJZ •“ Sta t T traten ’ da - denken Sie -eh! - da stand mein 

bin EterwaTbT ^ Wie ich ihn hingestellt hatte. Bald darauf 

mn ich erwacht und nach Hause gegangen.“ 















-Zwei schweizerische Sektenstifter 


3 99 

Der prophetische Teil des Traums ist offenbar eine spätere Zutat; es 
ist aber, wie Sie sehen werden, kein Zufall, daß diese Prophezeiung in diesen 
Traum verlegt wurde. 

Nachträge zur Traumerzählung pflegen bei Analysanden Material zu ent¬ 
halten, das besonders starker Verdrängung unterliegt. So auch die Nachträge 
Binggelis, nur mit dem Unterschied, daß nicht die Traumzensur, sondern 
Binggelis bewußte Zensur hier die zensurierende Instanz darstellt. In der 
wiedergegebenen Form mag er die Geschichte weit herum erzählt haben; 
die Nachträge aber waren nur für seine Esoteriker bestimmt. Als ich ihm 
einige seiner Büchlein abgekauft hatte, gab er sie aber auch mir preis: 

„Die Straßburger Jungfern haben das Wasser, mit dem sie ihn wuschen, 
so zubereitet, daß er es sehen konnte. Sie mischten in einer schönen Schale 
ihre eigene Milch, ihren Urin und ihr Reinigungsblut. Mit dem wunderbaren 
Wasser rieben sie ganz besonders seine Geschlechtsorgane ein. Zudem nahmen 
sie die Knöpfe von seinen Kleidern und nahmen seine Uhrkette aus dem 
Hosensack und legten beide in die Zauberschale; da löste sich in dieser Flüssigkeit 
alles auf, aber nachher haben sie Knöpfe und Uhrkette wieder unversehrt 
herausgezogen, und alles glänzte wie Gold, und die Jungfern sagten ihm, das 
werde in Zukunft sein Zeichen sein; von nun an müsse er Knöpfe und Kette 
immer im schönsten Glanze erhalten und also beides fleißig putzen. Denn in 
diesem Glanze liege nun seine magnetische Kraft, sein geistliches Material, mit 
dem er Menschen von Dämonen erlösen könne, und durch das er die Liebe 
der Weiber anfachen und gewinnen werde . u 

Sie sehen, die Ambitionen sind ganz andere als bei Boehme. 

Binggeli hat denn auch, getreu diesen Befehlen, immer nur die alte 
Schwarzenburger Tracht mit den glänzenden Metallknöpfen getragen. Man 
sieht die Knöpfe auch auf der Photographie noch glänzen, sieben auf jeder 
Seite. In vielen seiner späteren Verzückungen wird ihm das Tragen der 
Tracht immer neu von den Geistern ans Herz gelegt. 

Der erzählte Traum, die Straßburger Reise, wie er unter Binggelis An¬ 
hängern hieß, läßt sich nun an Hand der Schriften Binggelis und an Hand 
der Prozeßakten des spätem Inzestprozesses analysieren. Er enthält eine 
Fülle von Symbolik, die in der esoterischen Fassung noch deutlicher ist 
als in der exoterischen. Ich kann hier nur auf die Hauptlinien eingehen. 

Das Eingeführtwerden in die Stadt, der R egen schirm, der am Stadt¬ 
tor aufgestellt wird, das Betreten des Hauses, in dem die drei Jungfern 
wohnen und auf ihn warten — das sind ja alles bekannte Symbole. 1 


1) [Man vgl. zu diesen Symbolen besonders Freud: Traumdeutung, Ges. Schriften, 
Bd. III, S. 66ff. Vorlesungen X, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 150ff. Rank: Symbolik, 
















Hermann RorsctiacL (*f*) 


Dann folgt der Hauptakt: ßinggeli wird von den Jungfern innerlich und 
äußerlich mit einer wunderbaren Flüssigkeit behandelt; Teile von ihm 
wenigstens von seiner Kleidung, seine Knöpfe und seine Uhrkette, beide' 
phallischeSymbole, werden ganz umgeschaffen. Es findet also eine magische 
Wiedergeburt statt, wie es in unzähligen Mythen geschieht. Der Held 
wird zerstückelt, — ein Vorgang, der hier nur an Binggelis Kleidune 
vollfuhrt wird, und in einem Zauberkessel oder dergleichen mit einer 
zauberischen Flüssigkeit wieder erschaffen, herrlicher und weiser, als er 
zuvor war. Die Schale, in der dies geschieht, der mütterliche Leib, enthält 
ein Gemisch von Flüssigkeiten menschlicher Herkunft, mit dem Binggeli 
innerlich genährt und äußerlich umgeben wird durch die Waschung. Zum 

Überfluß muß er, anscheinend vor und nach der Wiedergeburt, noch bei 
den Jungfern schlafen. 

Wer sind nun die Straßburger Jungfern, die hier als eine Art 
Liebes- und Geburtsgottheiten erscheinen? Es waren göttliche Engel, 
erläuterte Binggeli noch. Sie erinnern uns an andere Dreiheiten, die Parzen,' 
die Nornen usw., die ebenfalls ursprünglich Gottheiten der Geburt und 
der Liebe sind. Noch mehr erinnern sie an die Abkömmlinge der drei 
Nornen, die heute noch in dem Kinderliede „Rite, rite, Rößli!“ („reite, 
reite, Roßlein!“) fortleben. Dieses uralte Liedchen ist, wie die Philologen 
nachgewiesen haben, ursprünglich nichts anderes als ein Geburtssegen. 
Es findet sich in der Schweiz in überaus zahlreichen Varianten vor, von 
denen manche noch die ursprüngliche Bedeutung durchscheinen lassen in 
einer Symbolik, die Binggelis Symbolen recht nahe kommt; ich nenne nur 
einige Varianten aus Binggelis nächster Umgebung: 

In Grindelwald singt man: 

Hippi, hippi, Resseli, 
z’ Bern steit es Schlesseli, 
z’ Bern steit es Tubehuus, 

Achten drii Jumpferi druus. 

Die eint wie Siide, 
die zweit wie Chride, 
die dritt wie rotes Gold. 


Beitrage zur Mythenforschung, S. soff. Um Städte werben, Internationale Zeitschrift 

£ kIS r «' ’ .f ' r St0rfer: Marias j^gfäuliche Mutterschaft (insbesondere 
SvHnP „Gottgeweihte Jungfrauen«, „Stab, Rute«, „Stadt, Festung«, „Tor, Tür«), 

der^Redak^ rim ] tlVe Ps y choanal J se (Kapitel „Baukunst“). _ Anmerkung 



















Zwei schweizerisdie Sektenstifter 


4oi 


Im Berner Mittelland: 

Rite, rite, Rößli, 

z’ Basel ist es Schlößli, 

z’ Burdlef ist es Summerhuus, 

Luege drei schöne Engeli druus. 

’s eint spinnt Side, 

’s zweit schnetzlet Chride 

’s dritte tuet de Gatter uf; 

flüged drei schöni Tschuppelihüehner drus. 

oder: 

Rite, rite, Rößli, 
z’ Bern steit e Schlößli, 
z’ Thun steit es Tubehus, 
da flüged die chline Chindli drus. 

Im Vargau heißt es: 

Rite, rite, Rößli, 
z’ Bade stoht e Schlößli, 
z’ Solothurn e guldis Huus, 

Lueged drei Mareie drus, 
die erst spinnt Siide, 
die zweit spinnt Floride, 
die dritt tuet de Gatter uf 
und loht die liebi Sunne us. 

Tn Schwarzenburg selbst heißt es: 

Rite, rite, Rößli, 
z’ Bern stiit es Schlößli, 
z’ Friiberg ist es Tuubehuus 
D’ Tuube guggen oben us. 

Die Nornen erscheinen also hier bald als Jungfrauen, bald christianisiert 
als Engel oder als Mareien, als verdreifachte Maria. Ebenso bei Binggeli. 
Er nennt seine Straßburgerinnen bald Jungfrauen, bald Engel; der mittlere 
von drei Engeln ist, wo sonst in seinen Schriften drei Engel Vorkommen, 
immer die Jungfrau Maria. Sie wohnen im Taubenhaus. Mehrere Male 
kündigt eine Taube dem Binggeli seine Verzückungen an oder führt ihn 
auf die Traumreise, so einmal auch nach Freiburg, wo nach der Schwarzen- 
burger Variante das Taubenhaus steht. Die dritte, die wichtigste der drei 
Göttinnen, bringt entweder die Sonne herauf, oder sie geht selbst in Gold, 
oder sie bringt ein goldenes Kind, oder auch einfach ein Kind heraus. In 
Binggelis Traum hat sie einen goldenen Gürtel, schafft seine Knöpfe und 
Uhrkette in Gold um, daß sie heller als die Sonne leuchten, und bildet 
Binggeli selbst wieder neu. Sie ist die eigentliche Muttergottheit; auch im 


Imago XIII. 


26 













Liede druckt sich ihre Bedeutung darin aus, daß die dritte Jungfrau * 
ihrer Rolle in den verschiedenen Varianten am meisten wechselt *** 

Diese Geburtsgöttin ist zweifellos Binggelis Mutter. Nicht nur w '1 
sie ihn im Traume wieder schafft. Er identifiziert sich sehr früh in seine 
Tagtraumen mit Christus und damit seine Mutter mit der Maria In ein^ 
viel späteren Verzückung, im Jahre igoa, erklärt im Gott-Vater selbst 7 
sei darum ein so wunderbarer Mann geworden, weil er den gleichen Planeten 
habe wie seine, Gottes Mutter, und weil überhaupt zwischen ihm und ihr 
merkwürdige Beziehungen beständen. 

Mehrere Verzückungen erlebte Binggeli zu jener Zeit im Münster zu 
Freiburg wohin eine Taube ihn führte. „Z> Friiberg ist es Tuubehuus“ 
sagt die Schwarzenburger Variante des Rößlilieds. Das Wiedergeburtserlebnis 
spielt aber in Straß bürg. Aus seinen Schriften ergibt sich, daß ihn Stra߬ 
burg damals besonders interessierte, und zwar als die Stadt Johann Taulers 
Er bringt in seinem zweiten, etwa um diese Zeit entstandenen Büchlein 
ein langes Gedicht, das von Tauler handelt und beschreibt, wie Tauler von 
einem unbekannten alten Mann - damit kann wohl nur der berühmte 
ottesfreund aus dem Oberland gemeint sein — in die Geheimnisse der 
gottesfreundlichen Mystik eingeweiht wird. Diese Mystik, wie sie hier 
wiedergegeben ist, benimmt sich aber recht verdächtig und nähert sich 
schon mehr derjenigen der Brüder des freien Geistes; sie geht haarscharf 
an der Verleugnung jedes Sittengesetzes vorbei. Ich möchte hier die histo- 
nsche Tatsache betonen, daß diese Art Mystik im Schwarzenburger Lande 
seit Jahrhunderten ihre autochthonen und eingewanderten Vertreter gehabt 
hat. So konnte Straßburg für Binggeli sehr wohl der Ort der unbeschränkten 
sittlichen Freiheit werden, einer Freiheit, die auch den Inzest erlaubt. 

mggeli hat den im Traum vorkommenden Inzest somit auf zwei Arten 
gerechtfertigt, einmal durch die alles erlaubende Moral der Brüder des 
freien Geistes, und dann dadurch, daß er seine Mutter und sich selber 
zu Gottheiten erhebt, denen in allen Mythologien, die christliche 
nicht ausgenommen, der Inzest zugeschrieben wird. 

Er hat sich aber außerdem dadurch salviert, daß ja nicht er den Inzest 
ege t, sondern daß er dabei der passive Teil ist, der Inzest wird ja von 
er Muttergöttin an ihm begangen und der eigene Vater hat dabei die 
Führung übernommen, alles durch die Gnade Gottes, die bei Binggeli 
eine alles überragende Bedeutung hat. 

Wenn im Mythus ein Heros durch eine inzestuöse Wiedergeburt hindurch¬ 
gegangen ist, so pflegt ihm trotz aller der gewonnenen Herrlichkeit und 


















Zwe 1 scLweherisclie Settenstifter 


4o3 


Weisheit ein Mangel anzuhaften. Als Thetis ihren Sohn Achill durch 
Untertauchen im Acheron unsterblich machen wollte, blieb die Ferse, an der 
sie ihn hielt, doch verwundbar. Irgendwo hat die große göttliche Gnade 
eine Lücke. 

An dieser Stelle hat Binggeli später die Prophezeiung seiner Teufels¬ 
anfechtung eingefügt, die zum Inzest mit seiner Tochter führte. Viel¬ 
leicht hat er hier einen früheren Traumteil herausgenommen und durch 
diese Prophezeiung ersetzt. Der Unterschied zwischen dem Mutterinzest im 
Traum und dem Tochterinzest in der späteren Wirklichkeit ist aber klar: 
Im Traum war er der passive Teil, im Verkehr mit der Tochter der aktive. 
Und dann das Wesentliche: das eine war Traum, das andere Wirklichkeit. 
Binggeli hatte sich im Träumen geübt, er hatte das Träumen förmlich 
gepflegt; da hatte sich ihm längst das psychologische Geheimnis erschlossen, 
daß der Mensch sich im Traume Dinge erlaubt, die er in der Wirklich¬ 
keit nicht tun darf. Nur aus dieser Einsicht heraus kann die Antwort 
Binggelis verstanden werden, als er im Inzestprozeß schließlich ein Ge¬ 
ständnis ablegte: „Ja, ich habe es getan, aber nur im Traum!“ Daß 
er es auch in Wirklichkeit getan habe, bekannte er erst, nachdem die 
Aussagen der Tochter ihn soweit belastet hatten, daß es kein Entrinnen 
in die Lizenzen des Traumes hinein mehr geben konnte. 

Die Waschzeremonie mit der wunderbaren Flüssigkeit hat noch eine 
Bedeutung. Binggeli litt damals seit einiger Zeit an epileptiformen An¬ 
fällen. Es ist mehrfach bezeugt, daß es wirkliche Krampfanfälle waren, 
wenn auch mehrere für den epileptischen Anfall wesentliche Züge daran 
fehlen. Die spätere Münsinger Diagnose nahm wirkliche epileptische An¬ 
fälle bei Hysterie an. Binggeli selbst schreibt von einem schwereren Übel 
und er deutet an, daß er darunter physisch leide. Er selbst hielt jedenfalls 
seine Krankheit für das „fallende Weh“ oder die „Gicht“, wie man dort¬ 
zulande etwa die Epilepsie zu nennen pflegt. Es gibt nun im Schwarzen- 
burger Land eine eigentümliche magische Therapie gegen die Epilepsie, 
eine der unzähligen Bluttherapien, wie sie überall besonders gegen die 
Epilepsie praktiziert werden: Wer sich Blut von drei keuschen Mädchen, 
die zum erstenmal ihre Reinigung haben, verschaffen kann, es trinkt und sich 
damit wäscht, der wird vom Weh geheilt werden. Wir finden hier wieder die 
drei Jungfern, die zauberische Flüssigkeit, das Waschen und Trinken; wie 
so viele magische Therapien ist auch diese eine Wiedergeburtsdarstellung. 

Recht deutlich sind in der Behandlung, die die Straßburger Jungfern 
dem Binggeli angedeihen lassen, die infantilen Reminiszenzen. Es bestätigt 


26 * 











Hermann RorscLadi 


4°4 


(+) 


»ch der Muttercharakter der Straßburger Jungfern schon in der zärtliche 
Art mit der sie den Johannes waschen, speisen, pflegen und schlafen w! 
und mit goldenen Knöpfen erfreuen. In einer Verzückung des Jahres l8 7 
also ungefähr zur gleichen Zeit, tut Binggeli auf einer seiner zahlreichen 
Reisen ms Jenseits einen Blick ins Kinderparadies. Dort erscheinen wieder 
die drei Engel. Der mittlere von ihnen ist dort als die Jungfrau Maria 
bezeichnet; mit einem großen offenen Buch in den Händen geht sie der 
Engelschar voran; ihr ist, erfährt Binggeli, im Himmel die Oberaufsicht 
über die Erziehung und Schulung der kleinen Engel anvertraut. Einen 
Bruder seiner Mutter trifft er nach einem elenden Erdenleben ebenfall“ 
a s Lehrer im Himmel wieder. Auf einen Wink der Engellehrerin singen 
die vielen Tausende kleiner Engel dem Binggeli zu Ehren ein Lied: 


„Im Himmel, im Himmel ist lustig zu sein, 
da sitzen wir in der Einsamkeit; 
im Himmel ist ein goldener Tisch, 
da sitzen wir Engelein gesund und frisch 
und in der fröhlichen Einsamkeit 
und in himmlischer Freud ’! u 


Es ist wohl überflüssig zu sagen, wodurch der 
Wortes „Einsamkeit“ begründet ist. 


paradoxe Gebrauch des 


Derartige Infantilismen finden sich bei Binggeli überaus zahlreich. Ich 
habe daraus das Recht abgeleitet, dem Rite-rite-Rößli-Lied eine gewisse 
determinierende Bedeutung zuzusprechen. 

Auch Schulreminiszenzen finden sich oft, aber nie in Form von Examen¬ 
traumen u. dgl. Binggeli antwortet auf die häufigen schulmeistermäßigen 
ragen des Teufels usw. immer mit Glanz und Auszeichnung, so daß er 
sogar dem Teufel gelegentlich ein gemütliches: „Gute Antwort!“ entlockt. 

m nochmals zur Traumreise zurückzukehren: Auffallend ist, daß der 
Vater der Führer zum Inzest ist. Auch bei der erwähnten Reise ins Reich 
der kleinen Engel ist der Vater der Führer. Dort, in den Gefilden einer 
höheren Sublimierung, hält der Vater lange Reden an den Sohn, er ermahnt 
ihn zur innerlichen Reinigung und empfiehlt ihm in Zinzendorfscher 
Weise sich in Jesu Christi blutende Wunde zu legen, um gesund zu werden. 
Was das bedeutet, wissen wir aus der Pfisterschen Analyse Zinzendorfs. 1 
Schon viel unsublimierter fordert der Vater am Straßburger Stadttor den 


zur 'anffewarirft -° le Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. (Schriften 
zur angewandten Seelenkunde, Heft VIII.) Wien 1910. 


















^we 1 sctrweizerisdie Settenstifter 


406 


Sohn auf, sein Parapluie am Tor aufzustellen und führt ihn dann an den 
Ort der inzestuösen Wiedergeburt. 

Bei allen Wiedergeburtsmythen und Inzestphantasien ist sonst der Vater 
der Widersacher, der Feind, der die Tat verhindern will, der Neben¬ 
buhler, mit dem der Sohn heftige, angsterfüllte Kämpfe auszufechten hat. 
Wie kommt er nun im Falle Binggelis dazu, sogar die Führung zu der 
Tat zu übernehmen und nachher den Sohn so seelenruhig wieder abzu¬ 
holen? Die Frage steht im Zusammenhang mit einer andern: Warum fehlt 
überhaupt im ganzen Traum die Angst, die sonst in derartigen Szenen 
nie zu fehlen pflegt? 

Darüber geben nun Binggelis Schriften Auskunft. 

Die Angstphase ist vorausgegangen. Von ihr erzählt das erste Büchlein 
Binggelis. Es berichtet von den schweren Kämpfen, die er zuvor mit dem 
Teufel zu bestehen gehabt hatte. 

Ich lese Ihnen die erste Szene vor: • 

„ „Sonntag, den 6. Weinmonat 1867, abends spät, ging ich mit zwei Personen 
von Schwarzenburg fort und wollte nach der Hofstatt, wo mein Meister 
wohnt, bei dem ich schon etliche Jahre als Schneidergeselle gedient habe. 
Als ich eine Strecke des Weges mit den zweien gegangen war, blieb ich ein 
wenig stehen, um eine nötige Verrichtung zu machen, die anderen zwei gingen 
ihres Weges fort, ich ging auch wieder und wollte ihnen nacheilen; als ich 
aber bei dem Kreuzweg vorbei wollte, kam ein Mann zu mir und redete 
mich also an, indem er mir die Hand geben wollte: „Mein guter Freund, 
Willkomm’ dich!“ Ich stand ein wenig zurück und gab ihm kein Bescheid, 
ich schaute ihn an, er war schwarz angezogen und hatte einen grünen Gurt 
um den Leib und einen Hut auf dem Haupt, und zum Schrecken sah ich 
noch, daß er Geißfüße hatte, er kam wieder näher zu mir und sagte: „Fürchte 
dich nicht, mein guter Freund, du kommst mit mir.“ Ich sagte zu ihm: „Mit 
nichten, laß mich in Gottes Namen gehen.“ Er sagte: „Ich kann nicht, denn 
die Zeit ist ausgelaufen, daß du von deinem Leibe absterben mußt, damit 
ich deine Seele erhasche.“ 

Ich fragte ihn: „Was habe ich getan, daß du mich auf solche Art angreifst?“ 
Er: „Das sage ich dir nicht, oder du gebest mir deine rechte Hand in meine 
Hand.“ Ich: „Das tue ich nicht, denn ich kenne dich nicht.“ Er: „Ich bin 
ein Geist, dessen uns viel zugegeben wird, komm’ du mit mir.“ Ich (mit 
Schauder in den Haaren): „Mit nichten, im Namen Gottes, des Vaters, des 
Sohnes und des Heiligen Geistes laß mich gehen, denn ich bin auf Jesum 
Christum getauft und bin darauf unterwiesen worden und habe das heilige Abend¬ 
mahl genossen, aber du nicht“, also ging ich meinen Weg fort. 

Als ich zwischen der , Schönen Tanne und Schönen Linde war, umleuchtete 
mich eine Klarheit, und bald war eine weiße Gestalt bei mir, die sagte zu mir: 
„Fürchte dich nicht, dein Gebet ist erhört worden.“ Weiter sagte sie zu dem 














Hermann RorscLadi (*f*) 


4o6 


Teufel: „Du Geist, halte dich zurück“, und so blieb der Teufel ein w ■ 
zurück, aber er war bis auf etliche Schritte doch immer uns nahe. DerEneel TJ 

Z T" ”n" St / em TeUfel ein S esetzt worden, um deines Vaters zweite' 
Wedjes willen, und so gehe du unschreckhaft nach Hause, aber wenn d 
nach Hause kommst, so wird noch ein anderer Geist auf dich warten U 
achte ihn nicht, gehe nur gerade in die Stube und nimm das Testament und 
hes die ersten Verse aus dem 4. und 11. Kapitel im Matthäus und das 

‘■•n Tt f m 7 ang f Um Johannes - - Der Engel sagte mir weiter: I ch 
wih dich für den heutigen Tag in Ruhe lassen, aber du sollst dann”am 
heiligen Abend zwischen elf und zwölf Uhr unfehlbar auf dem Kreuzweg 
erscheinen, denn dort muß noch etwas Vorgehen. u u ^ 


Das war, wie Binggeli angibt, seit der Lehrzeit das erste visionäre 
Erlebnis. Auch hier eine Menge geläufiger Symbolismen. Es würde 
viel zu weit fuhren, aufs einzelne einzugehen. Angedeutet ist der Inzest 

wünsch auch hier schon. Rückschließend aus dem schon Gesagten können 

wir in dem Teufel mit dem grünen Gürtel eine Andeutung darauf sehen 
wenn wir an den weißen Engel mit dem Goldgürtel denken. Wichtiger 
ist, daß auch hier schon ein Engel erscheint, der ihn vorläufig vor dem 
Teufel in Schutz nimmt und ihn auf das 4. Matthäuskapitel und das 
1. Johanniskapitel verweist. Das erstere enthält die Geschichte, wie Christus 
vom Satan versucht wurde; das letztere beginnt: Im Anfang war das Wort 
und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Weiter Vers 6- Es 
ward ein Mensch von Gott gesandt, mit Namen Johannes. Derselbe kam 
zum Zeugnis, daß er von dem Lichte zeugete, auf daß sie alle durch ihn 
glaubten. Da liegen schon die Keime des späteren Anomisten, der sich 
für das Fleisch gewordene Wort Gottes erklärte, mit Johannes dem Täufer 
und Christus zugleich identifizierte oder wenigstens seine magisch leuchten¬ 
den Knöpfe als göttliches Licht anbeten ließ. Diese Keime waren nicht 
ganz neu; sie hatten schon eine bedeutende Latenzzeit hinter sich, denn in 
der erwähnten Reise ins Land der kleinen Engel erfahren wir, daß der 
Konfirmationsspruch Binggelis gelautet hatte: „Mache dich auf, werde Licht, 
denn dem Licht kommt und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir.“ 
Wir können nun leicht erraten, welche Phantasien Binggeli in seinen Tag¬ 
traumen pflegte und wissen nun, warum der Engel ihn auf das Johannis¬ 
evangelium verwies. Im Vorbeigehen bemerke ich, daß das Johannis¬ 
evangelium das Lieblingsbuch aller mystischen Schriftsteller gewesen ist, 
daß es aber auch im Aberglauben, auch der Schweiz, eine bedeutende 
olle spielt. Damit die Kinder fromm werden, schreibt man etwa den 
Anfang des Evangeliums auf einen Zettel, zerreißt ihn und gibt die Papier- 















Zwei sckweizerisclie iSektenstiftej 


r 


stücke, mit dem ersten Brei vermischt, den das Kind erhält, ihm zu essen. 
Nach dem 6. und 7. Buch Mosis ist das Johannisevangelium zudem eine wirk¬ 
same Beschwörung der Geister, besonders, wenn es ans Schatzgraben geht. Das 
Schatzgraben hat Binggelis Phantasie sein Leben lang stark beschäftigt. 

Binggeli erzählt, daß er nach dem eben berichteten Erlebnis viel betrübte 
Stunden gehabt habe, so daß manche gemeint hätten, er sei verrückt ge¬ 
worden. Wir können ihm das wohl glauben. Es war zweifellos ein Intro¬ 
versionszustand von depressiver Färbung, der diese Visionen gezeitigt hatte. 

In der heiligen Nacht des Jahres 1867 erfolgte, wie der Engel es vor¬ 
ausgesagt hatte, das zweite Erlebnis. 

Binggeli geht unter starken Hemmungen auf den Weg, zu dem Kreuz¬ 
weg, wo er später gewöhnlich die Seele seines Vaters trifft. Sie kennen die 
vielfältige Bedeutung des Kreuzweges in Mythen und Träumen. Dort an¬ 
gekommen, sieht er vor sich ein großes Tor — für die Torsymbolik hat 
Binggeli wie Boehme eine besondere Vorliebe: 

„Ich ging hinein und da sah ich links und rechts eine Mauer und gerade 
vor mir hinaus sah ich eine kleine Stadt, die war ganz klar. Auf der rechten 
Seite war ein Engel und auf der linken war ein Teufel, in der Gestalt, wie 
er gewöhnlich in den Büchern abgebildet zu sehen ist, mit Hörnern und 
Geißfüßen, er stand bei einem Baume, auf diesem war ein großes offenes Buch 
und eine Feder dabei. 

Ich mußte also die Anrede an ihn tun. Ich sagte: „Was habe ich nun 
hier zu tun, sage du mir’s?“ Er: „Also sollst du hier mit deinem eigenen Blute 
die Unterschrift machen; wenn du mir die Unterschrift gibst, soll dir nichts 
Böses widerfahren, denn du bist mir eingesetzt um viel Geld, was aber bis 
auf vierzig Franken wieder bezahlt ist, wenn du mir die Unterschrift gibst; 
was gilt’s, so soll dir nichts geschehen.“ Ich: „Mit nichten, denn wenn ich 
das tue, was gilt’s, so bin ich ewig verloren.“ Er: „Willst du nicht, so gib 
mir die drei Unterpfänder.“ Ich: „Was, fordere sie von mir?“ Er: „Nur 
eine schneeweiße Henne, eine schwarze Katze und eine Kröte, welche 
letztere sich am Karfreitag, morgens vor Sonnenschein, gezeigt hat; wenn du 
mir das gibst, so sollen beide Seelen, deine und des Vaters, entlassen werden 
von mir.“ Ich: „Mit nichten, denn so ich das tue, fühle ich in meinem Herzen, 
daß ich euer bin, so hoffe ich, du lassest mich gehen im Namen Gottes, des 
Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, denn ich bin auf Jesum Christum 
getauft und habe das heilige Abendmahl genossen, aber du nicht.“ Er: „Ich 
kann mit dir nichts mehr weiter ausrichten. gehe dorthin an den Kirchhof 
und sprich mit deinem Vater selbst.“ 

Da kam der Engel zu mir und nahm mich beim Arm und führte mich 
zu einer Tafel, darauf war ein summarischer Inhalt der Heiligen Schrift, der 
Glaube und Zehn Gebote, und er sagte zu mir, ich solle sie meiner Stief¬ 
mutter geben und sie bitten, daß sie sich mit mir versöhnen wolle, und sie 













Hermann Rorscbadi (f) 


solle für sich und ihren verstorbenen Mann beten, und auch um Vereebun 
der Sunden und sie solle auch die Konfirmationsfragen sprechen.“ S ng 

Wir erfahren hier einmal, daß der Vater Binggelis bereits gestorben ist 
vm daß Binggell mit der noch lebenden Stiefmutter in Feindschaft steht’ 
Vfete ,, bald der Engel, bald der Teufel „n. ihn Whäftig,, !chwa ^ t 

sein Wollen zwischen Gutem und Bösem, seine Stimmung zwischen Er 
lösung und Angst. r 

Binggeli geht dann weiter auf den Kirchhof. 

„Als ich auf den Kirchhof kam, sah ich auf der rechten Seite die selben 
Geister und auf der linken die unseligen; ich sah bei den Seligen und beiden 
Unseligen Geister, die ich bei Leibesleben hier auf Erden gekannt habe aber 
nennen darf ich sie nicht. 7 aöer 

Die Geister waren alle ganz dicht aneinander, es war eine sehr große An 

, lch sah auch bel den Unseligen Geister in Tiergestaltenf ich tah 
alle Ttergestahen, dm auf der Erde sind, außer den Esel, das Schaf und dt 
b ’ dl ® se drel Tiergestalten habe ich nicht gesehen. Es führte ein schmal«. 
Weg zwischen den Seligen und Unseligen hindurch, bis auf meines Vaters 
Grab, denn mein Vater war schon vor etlichen Jahren gestorben, da begegnete 
nur mein Vater der noch bei den Unseligen war, er sah dunkelschwfrz Z 
und hatte einen Mantel an Ich redete ihn an mit den Worten: „Mein Vater- 
as ists daß ich zu euch kommen muß in solcher Stunde?“ Mein Vater 
sagte: „Ich habe dich verkauft dem Satan um vierhundert Franken. Mit dem 
e mg, dich wieder auslosen zu können, nun ist aber die Stunde zu geschwind 
gekommen daß ich dich nicht habe auslösen können, jedoch bis auf vilrzt 
ranken habe ich s wieder zuruckbezahlt. So bitte ich dich, daß du in kurzef 
Zeit es bezahltest aber nicht von deinem verdienten Gelde, du mußt es ent- 
neu und drei Sonntage in den Gottesdienst tragen und den heiligen Segen 
darüber sprechen, sonst gehen wir heute verloren.“ “ ^ 


Also Binggeli ist von seinem Vater dem Teufel verkauft worden. Er er¬ 
zählt ihm die Sache etwas später noch genauer: Er, Vater Binggeli, war 
m großer Verlegenheit wegen einer Summe Geld, die er bald haben sollte 
a erschien ihm der Teufel im Bremgartenwald bei Bern und lehrte ihn! 
mit Worten aus dem sechsten und siebenten Buch Mosis, einen dort ver¬ 
borgen liegenden Schatz zu öffnen. Er entnahm dem Schatz vierhundert 
Franken und bekam sie mit gegen Verpfändung der wertesten Seele, die er 
m seinem Hause hatte, nämlich der Seele unseres Johannes Binggeli. Nach 
und nach zahlte er die Schuld bis auf vierzig Franken wieder zurück; wie 
as gesc ah, das gebühre ihm, dem Johannes, nicht zu wissen. Diese vierzig 
Franken nun sollte er dem Teufel unter den genannten magischen Kautelen 
zuruckerstatten, um ihrer beiden Seelen zu retten. 











4°9 


Zwei schweizerische Sehtenstifter 


Wir werden nach diesen Enthüllungen danach zu suchen haben, die 
Geldschuld des Vaters in eine moralische zu übersetzen. Es muß eine 
Schuld sein, die der Vater auf den Sohn vererbt hat, und die sie beide 
unselig macht. Wir haben nicht lange danach zu suchen. Der Vater hat 
auf verbotene Weise einen Schatz gehoben auf des Teufels Rat: so ver¬ 
kleiden sich Inzestwünsche nicht selten, wie es auch bei Bo eh me Ähn¬ 
liches gibt. Nun hatte ja der Vater Binggelis in Wirklichkeit eine Inzest¬ 
heirat geschlossen; er hatte eine Blutsverwandte geheiratet. Er hatte ja auch 
wirklich die gleiche Schuld auf den Sohn vererbt, nämlich den Inzest¬ 
wunsch. Da der Vater in Wirklichkeit getan, was bei dem Sohn vorläufig 
nur Phantasiespiel ist, ist es leicht begreiflich, daß Binggeli die Schuld 
des Vaters zehnmal höher taxiert als seine eigene. 

Der Satan Binggelis gewinnt dadurch die Bedeutung des Versuchers zur 
Blutschande, einer Projektion des Inzestwunsches. Auch manche der Binggeli- 
Anhänger haben den Inzest, den Binggeli mehr als zwanzig Jahre später 
beging, als „die satanische Anfechtung“ erklärt. 

Die rationalisierende Fassung ist, daß der Vater Geld nötig gehabt hatte. 
Binggeli hat mir selbst erzählt, der Vater habe einen Prozeß führen müssen, 
um das Weibergut seiner zweiten Frau herauszubekommen. Dazu habe er 
die vierhundert Franken gebraucht. Auch der Engel, der Binggeli zuerst 
von der Verpfändungsgeschichte erzählt, sagt ihm, das sei um seines Vaters 
zweiten Weibes willen geschehen. Die moralische Schuld an dem Unselig¬ 
werden von Vater und Sohn wird also der Stiefmutter zugeschoben. Binggeli 
hatte stets unter der Stiefmutter gelitten und war ihr immer übel gesinnt 
gewesen. Er hegte auch zur Zeit der Traumerlebnisse Feindschaft gegen 
sie. Sie hatte ihn ja immer verachtet und verstoßen. Nun soll sie also auch 
noch an seinen Teufelsnöten schuld sein. 

So ganz unbegründet ist diese Beschuldigung nicht. Der Vater hatte sie 
nur des bißchen Geldes wegen geheiratet, obschon sie ein böses Weib war. 
Er hatte also um des Mammons willen seine erste Frau verraten. Darin 
liegt wenigstens eine Determinante der Wahl der Geldsymbolik. 

Zudem war sie nicht fromm. Sie war zänkisch, sie hielt nicht auf Sonn¬ 
tagsheiligung, sie war ohne jegliche Güte. Das gerade Gegenteil war die 
richtige Mutter gewesen. Schon dadurch rückt die Stiefmutter in die Nähe 
des Teufels. Binggeli wirft ihr zudem gelegentlich Hurerei vor. Wahrschein¬ 
lich deswegen, weil er in der zweiten Ehe des Vaters überhaupt eine segen¬ 
lose und unsaubere sah. Aber der tiefste Grund für die Beschuldigung der 
Stiefmutter ist der: Sie hatte ja den Knaben stets mit Hohn und Spott 









verfolgt; ne hatte ihn nicht aufkommen lassen, so daß er sich in • 
Tagtraurne hatte flüchten müssen, in die Introversion wo der W t 86106 
ihn packen mußte. Sie hatte also tatsächlich getan ^s der Teuf i h 
hatte ihn auf den Kirchhof, in den Wald, auf den Kreuzweg usw de 7 ^ 

Zanksucht, Spot, „ na HoTu Z , t u Gele und 

„ Stiefmutter, sind für Btagg.li 

Ä Mui * - ä 

goldenem Gürtei, die S.ief“'« t . W ' i6 '" E ”S»1 »i. 

r . n ■■ . Gneimutter zum schwarzen Teufel mH „ 

Das werteste Wesen^da^er in ^ H 
Pfänden, hatte der Sat’an vom Vate^ B^HetW ^ 
dann den Johannes verkauft F« . , ^ * ^ leser hatte ihm 

auf die ich »ich, nt? Ii»g: h r:l da r h0 7*““ dI ' K »”P»»»^ 
werfe» me, möchte ich nur darauf „»weisen,’ 7J d” vTZtZ 

hä, K 7J kto ^nd^“ 11 “ Ch dai . Wesen im Hau^ 

»eil »ie selbst de, da S lw d 7 “ >bm ^ d “™ -ich,, 

«TÜU f T ™“: “ »—■ ”«h mi, de, Stief¬ 
le zum Teufel, « * «“» T ™"> der 

vierte Forderung Die Fnr^ • j g bitten, eine ganz unmoti- 

rr *»* - * 

Mache du nur daß du m' 7^™“ Am "'° r ‘ mehr i das sagte er mir, 

r* >— - "eh”',: * 

die Stiefmutter den tu & ■ Mit solchen Worten mag 

imutter den jungen Johannes oft genug amreknnrrt Uh 

■» i5A "~ 

Wochen z„,„, wM ihm 7 J 7 fluck2 *“'"><S der vierzig Franken. Sech, 
auch Binggelis ®a erfolg, di. wichtige, 

g.r..„w,,rd:s angZ ” F ^ R<,i “ T »" feI ” 

Jahre später erfolgte. e ^ enstuck ™ Straßburger Erlebnis, das drei 

ge^r- s™. ikm ein. mitfühlend, Seeie wirklich 

















Zwei sdiweizeriscke Sektenstifter 


^11 


In großer Angst pilgerte Binggeli in den Bremgartenwald, wo sein Vater 
den Schatz geholt hatte. Er tut alles, wie ihm die Stimme seines Vaters 
geraten hat. Einem dreimaligen Pfeifen folgend, stößt er im nächtlichen 
Walde auf den Satan; der will zuerst so tun, als wüßte er von nichts, 
dann verlangt er nochmals die Blutunterschrift oder wenigstens das Unter¬ 
pfand, die Henne, die Katze und die Kröte, Binggeli aber wird bei aller 
Angst energisch: „Mit nichten, wenn du das Geld nicht nimmst, so werfe 
ich es auf die Erde.“ Darauf der Satan: „Warum so hart und schroff gegen 
mich gesprochen, daß du mir kein Wort folgen willst, wenn ich dir gut 
will?“ Binggeli entgegnet: 

„Du bist ein Lügner, sage ich, ich gebe dir das Geld im Namen Gottes, des 
Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Satan: „Ich kann dir das Geld 
nicht abnehmen, denn es ist in den Gottesdienst getragen und ist auch der 
heilige Segen darüber gesprochen worden.“ Ich: „Also schmiß ich’s auf die 
Erde und wollte dann gehen.“ Satan: „Keineswegs kannst du davongehen, 
noch kein Tritt, und es soll finster werden, noch siebenmal finsterer werden 
als die Nacht ist, und es soll die Erde zittern.“ Und alsbald kam eine Finsternis, 
daß ich sie fast mit den Händen greifen konnte, und ich konnte kein Tritt 
mehr gehen, und die Erde bewegte sich. Die Finsternis dauerte ungefähr eine 
Viertelstunde lang, da gab es wieder eine Stimme. Der Satan sprach: „Es 
soll wieder helle werden, und es wurde wieder helle wie zuvor“ ; und nun 
sagte er: „Jetzt will ich dir erlauben, weiter zu kommen, nun hast du 
erfahren, wie groß meine Macht ist, der du wirst nicht weiter aus dem 
Walde herauskommen.“ 

Das Wesentliche an dieser Erzählung ist wohl, daß Binggeli das Geld 
auf die Erde schmeißt. Wir wissen aus Träumen zur Genüge, was das 
heißt. Im Falle Binggeli können wir dann im Alten Testament Rat holen: 
Onan ließ seinen Samen auf die Erde fließen, als sein Vater von ihm ver¬ 
langte, daß er in blutschänderischem Verkehr Kinder erzeuge. Die 
Onanie tritt hier, wie in vielen Neurosen, als Notausgang aus Inzest- 
nÖten auf. Aber die Onanie ist ja auch eine Sünde, man kann den Teufel 
damit nicht völlig verblüffen. Er läßt die Strafe auf dem Fuße folgen: 
Finsternis, Zittern der Erde, etwa eine Viertelstunde lang. Das könnte sehr 
gut die Umschreibung eines epileptischen Anfalls sein. Ätiologische und 
therapeutische Spekulationen der Volksmedizin bringen die Epilepsie nicht 
selten mit der Onanie in Zusammenhang. 

Für diesmal ist der Inzest, wenn auch sehr unvollkommen, umgangen. 
Aber der Satan droht: „Du wirst nicht sauber aus diesem Walde heraus¬ 
kommen!“ Es gibt Binggeli-Gläubige, die eben diese Drohung auf die 











Hermann RorscLadi (+) 




spätere satanische Anfechtung beziehen, auf den Inzest R- 
neunziger Jahren beging. ’ Bln ggeli m (j en 

Der Teufel hatte allerdings auch Grund, das Geld nicht zu neh 
Da, Geld war geliehen. Zu magischen Operationen eignen sich ”) h 
d.eme Dinge nicht, weil Selbstverdienten, immer Lh 1 f 
eigenen Peinlichkeit haftet. Es mü ,„„ g,ii, hene „fuZZ ™“ d « 

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versucht es de, *»° 

und verspricht ihm Herrlichkeiten g lne scll one Stadt 

Kapitel „atthdi vertieft, 

auf ganz gleich, Ar. habe versuche» wollen Schließtic'hT 
hämisch-überlegen: Warum denn er der Teufel ^ " ih » 

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mit mir auf den PI,™ dStlriU ^ ““ ch ““> komme mm noch 

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deckung, da soll sich der Boden öffnen“-’ datlt^h ^ gr ° ße Ver ‘ 

einen sehr großen Haufen Geld.“ ’ - tat slch der B °den auf, da sah ich 

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Steile», in der der Va rZ , “ «“« Situation 

der Vater unterlegen war. Der Sohn bleib, standhaft. 

Der Satan fährt weiter: 

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teilen ,„U,e. „ Ml h T u' , “ , I"’"?" “* Hm fragte, weshalb ich es 

wushb°daß S itih d verioien*' 1 ^ien^ e w^ S i n ^ ,l ^ e ^ Cktl 't^-’tslalsnohtlllniliclrfühle 

dich .0 tapfer gesteh, hast, dankeVot, £M 






















.Zwei schweizerische iSehtenstifter 


4x3 


in dein Herz eingehaucht hat. — Du mußt aber jetzt noch etwas anderes er¬ 
fahren“ ; er nahm mich bei dem rechten Arm und drückte mich zu Boden und 
sagte: „Du sollst in eine Verzückung kommen, dein Geist soll von deinem Leibe 
scheiden“; sogleich kam ich in eine Verzückung, wie mir der Satan sagte. 
jy s0 dünkte mich, ich schwebe in die Lüfte, und es kam mich eine Angst an, 
ich kam wieder auf den Boden, auf eine schöne und breite Straße, ich hörte 
ein Rauschen und darauf sah ich eine große Schar Geister kommen, vor¬ 
aus der Schar sah ich ein Tier mit sieben Köpfen, und auf dem Tier saß 
ein Weib, auf die äußerste Hoffart angezogen und hat auf dem Tier auf alle 
Weise Manöver gemacht und mit den Fingern Tänze geklopft, und in der 
anderen Hand hat sie einen Becher gehabt; der Satan kam auch neben dem 
Tier und dem Weibe daher und hatte eine große Geige und hintennach kam 
eine schöne Musik, wie man hier auf Erden keine solche hört. Diese sind alle 
so stolz daher gekommen, als wüßten sie nichts von Pein und Verdammnis; 
der Satan nahm mich bei dem Kleide und zog mich ihm nach, und ich 
wandelte mit ihnen eine Strecke des Weges, endlich sah ich eine unabsehbare 
Fluh, da kamen wir zu einem sehr schönen Tore, das war schön ausge¬ 
schmückt mit Gold; der Satan nahm mich wieder bei dem Kleide und wollte 
mich allerdings zu dem Tore hinziehen, aber er konnte mich keinen Schritt 
mehr weiter bringen; ich sah zu dem Tore hinein — Feuerflammen, und hörte 
ein Wehklagen und einander beschuldigen und verfluchen. Darauf kam wieder 
eine große Finsternis, und es dünkte mich, es führe mich einer (aber ich 
sah doch niemand) durch ein finsteres Tal eine Strecke weit, endlich wurde 
es wieder helle, so helle wie der hellste Tag, ich hörte abermals ein 
Rauschen, und alsbald eine Stimme, die sagte zu mir: „Fürchte dich nicht, 
denn du wirst sehen eine Schar Engel kommen, welches dich erfreuen wird.“ 
Aber ich sah immer noch niemand; ich kam endlich auf einen sehr schmalen 
Weg, der war sehr mühsam zu beschreiten, da kamen Engel auf mich zu, 
einer nach dem anderen, und ich hörte eine sehr schöne Musik und Gesang, 
sie sangen Lieder. 

Nun sah ich hier auch meinen Vater, er war auch schneeweiß angetan, aber 
er redete kein Wort mit mir, denn wir durften nicht miteinander sprechen. 

Ich wandelte mit ihnen eine lange Strecke, da sah ich eine Wand, schön 
blau wie der Himmel, ich sah kein Ende der Wand. In der Wand war ein 
Tor, das war unaussprechlich schön, aber eng, in dem Tore war eine 
Tür, diese Tür ging auf und die Engel gingen hinein, ich hörte ein höchst 
fröhliches Gejubel, ich sah auch ein wenig zu der Türe hinein und sah ein 
wenig von Häusern und eine unaussprechliche Klarheit, es kam auch ein 
sehr angenehmer Geruch zu der Türe heraus. 

Währenddem ich dies alles betrachtete, waren die Engel alle hineingegangen; 
es kam wieder einer heraus und führte mich beiseite und grüßte mich und 
sagte: „Du hast jetzt schon vieles gesehen und erfahren, aber das, was du 
gesehen hast, ist noch ein Kleines; wenn es dir gänzlich wäre gezeigt worden, 
so würdest du nicht wieder erwachen auf diesem Platze, denn es ist unaus¬ 
sprechlich in der Ewigkeit.“ “ 












Die Verzückung, in die der Satan den Binggeli bringt, ist eine Art V 
spiel zur Straßburger Reise. Sie hat noch eine angstvolle Einleitung n 
Teufel erscheint noch einmal, diesmal und mehrere Male später noch ” 
einer großen Geige, und begleitet von seinem weiblichen Gegenstück T 
babylonischen Hure der Offenbarung Johannis. Er packt den Binggeli 
Kleid und zieht ihn mit sich. Er will ihn durch das Höllentor ziehen 
inggeli wehrt sich, und in diesem Moment erfolgt eine Finsternis n ’ 
geht hier zu wie etwa auf dem Theater, wenn eine nicht ganz einwand¬ 
freie Szene folgen würde. Nach der Finsternis treffen wir Binggeli p l öt , 
lieh auf dem beschwerlichen Wege zum Himmel und vermögen ganz und 
gar nicht einzusehen, wie er vom Höllentor weg in einer Verzückung in 

die doch der Satan ihn versenkt hat, plötzlich die schmale Pforte der 
Seligen gefunden hat. 

Diese Finsternis, dieser durch nichts motivierte Übergang, ist nun leider 
ur Bmggelis ganzes Leben charakteristisch. Er hat sich im Leben, wie in 
seinen Traumen, immer wieder auf magische Weise helfen zu können Ge¬ 
glaubt und hat stets auf die Führung der göttlichen Gnade vertraut ohne 
sich durch bewußte ethische Taten den Zugang zum Wege der Seligen zu 
erkämpfen. Die göttliche Gnade, der er sich überließ, war und blieb, für 
ihn nichts anderes, als etwa die magische Formel eines Schamanen. Er ist 

m seinem ganzen bewußten und unbewußten Denken der richtige primitive 
Heide geblieben. 

Im Himm f findet er den Vater, der nun schneeweiß angetan ist, und die 
utter, die ihm hier schon weitere Enthüllungen geheimnisvoller Art ver¬ 
spricht, die in der Straßburger Reise dann wirklich in Erfüllung gegangen ist 
Daß der V.te, „„» schneeweiß i„, das is, des Sehne, VerdteL I» „ ”r 
spateren Verzückung dankt ihm der Vater dafür, daß er ihm das ewige 
Leben gegeben habe durch sein Gebet. Nicht etwa durch die Rückzahlung 
der vierzig Franken, sondern durch sein Gebet. Die Rückzahlung der Schuld 
verschweigt der Vater sogar. 

Indem Binggeli dem Teufel die Seele des Vaters abgekauft hat für vierzig 
ranken, hat er ihm das ewige Leben gegeben. Damit ist doch eigentlich 
der Sohn gar nicht mehr der Sohn, sondern der Vater ist damit sein eigener 
geistiger Sohn geworden. Der Vater hat dem Sohne das irdische Leben ge- 
ge en, er ohn dem Vater das himmlische; damit sind sie einfach quitt. 1 

besonderen SZ/r'nü Ps ychologie des Liebeslebens I: über einen 

yp der Objektwahl beim Manne. Ges. Schriften, Bd. V. — Anm. d. R.] 




















Zwei schweizerisdie iSektenstifter 


41 5 


Ein Hysteriker, den ich einmal behandelte, hatte einen stereotypen Traum: 
er pflegte seinen Vater vom Ertrinken zu erretten. Jemand aus dem 
Wasser ziehen, ist ein bekanntes Geburtssymbol. In den Träumen 
gebar der Sohn den eigenen Vater und warum? Der Vater war ein russi¬ 
scher Kaufmann, ein Gewaltmensch, der den Sohn auf erbärmliche Weise 
tyrannisierte und ihm von klein auf bei jeder Gelegenheit zuschrie: „Halt’s 
Maul, Söhnchen, ich bin dein Vater, ich hab’ dich gezeugt!“ In den Träumen 
machte sich der Sohn mit dem Vater dadurch quitt, daß er ihn erzeugte, 
oder, seiner stark femininen Einstellung dem Vater gegenüber gemäß, gebar. 

Das Quittsein drückt sich bei Binggeli oft in einer Identifikation 
mit dem Vater aus. Teilweise geht allerdings die Identifikation auch auf 
dem Wege über die Vergottung vor sich: „Ich und der Vater sind eins.“ 

Damit wäre endlich die Frage beantwortet, warum der Vater keine Angst 
erregt, und wie der Vater dazu kommt, den Sohn der Mutter zum Inzest 
zuzuführen. Da der Sohn nicht mehr der Sohn ist, ist ja auch der Inzest 
kein Inzest mehr! 

Noch etwas pflegt die wiedergebornen Helden auszuzeichnen: Nach der 
inzestuösen Wiedergeburt erscheinen sie herrlicher und vor allem 
weiser als sie zuvor waren. Die zauberische Flüssigkeit wird zum Weis¬ 
heitstrank, und sie werden zu Kulturheroen, zu Lehrern der Menschheit. 
Auch Binggeli. Er erhält bei seiner Straßburger Reise von seinem Vater ein 
Glas. Was es mit dem Glase für ein Bewandtnis haben kann, zeigt das 
Analogon dazu, das den Abschluß der Bremgartner Reise bildet. Dort befiehlt 
ihm der Mutterengel folgendes: Er solle auf dem Rückweg in Bern in ein 
bestimmtes Gasthaus gehen; er werde dort auf einer Bank drei Schoppen¬ 
fläschchen stehen sehen, aus denen drei heilige Männer während des Gottes¬ 
dienstes getrunken hätten, auf dem mittleren Fläschchen werde ein blauer 
Fleck sein; dieses Fläschchen solle er kaufen, ohne zu feilschen, er solle 
Erde, Wasser und einen Regenwurm hineintun, dann werde er in dem 
Fläschchen allerlei sehen können. 

Natürlich geht alles genau in Erfüllung, und Binggeli kann hinfort aus 
dem Fläschchen allerlei wunderbare Dinge sehen, nämlich wer von seinen 
Nebenmenschen gläubig sei und wer nicht, und weiter, wer von den Ver¬ 
storbenen selig sei und wer nicht. 

Das ist nun seine künftige Weisheit, die ganze Weisheit, die Binggeli 
der Boehmeschen Theosophie gegenüberzustellen hat! Diese Weisheit ent¬ 
spricht aber einem besonderen Ehrgeiz Binggelis, er folgte darin anderen 
heiligen Männern des Landes, seinen Vorgängern im Schamanentum der 














Schwarzenburgischen Heimat, die ebenfalls die rare Kunst besessen hatten 
die lieben Nächsten nach Gläubigen und Ungläubigen, die Verstorbenen 
nach Seligen und Unseligen aufs genaueste zu taxieren. Wichtiger als die 
abstrakte Frage nach Gut und Böse war ihnen die realpolitische: wer gut 
und wer böse sei. Ein Verwandter Binggelis, den er selbst als Kind noch 
gekannt haben muß, war darin sein spezielles Vorbild. 

Um aisgemach zu Ende zu kommen, überspringe ich die weiteren Ver¬ 
zückungen und muß damit auch manches unerwähnt lassen, was vielleicht 
der Erörterung wert wäre, besonders das Verhalten der verschiedenen primär¬ 
sexuellen und der homosexuellen Komponente, die Rolle der Onanie, die 
Eigentümlichkeiten der Binggelischen Symbolik, die fast durchweg die 
Symbolik des lokalen Aberglaubens ist, und gewisse Anklänge an alchemi- 
stische Lehren bei einer fast völligen Unfähigkeit zu anagogischen Gedanken¬ 
bildungen. 

Wir haben im Bremgartenwald die Angstphase, in der Straßburger Reise 
die Erfüllungsphase des Introversionsprozesses gesehen. 1870—1892 
erfahren wir nun fast nichts über Binggeli. Er genießt Berühmtheit und 
sonnt sich in der Bewunderung seiner zunehmenden Gemeinde. Er pflegt 
in seinen Tagträumen die eigene Vergöttlichung und fühlt sich dem Teufel 
auf immer entrissen. Seine Schriftstellerei macht er sich bequem, indem 
er ruhig große Stücke von anderen abschreibt. (Immerhin ist natürlich die 
Auswahl dieser Stücke ganz interessant.) Er hat geheiratet, besitzt Kinder 
und sorgt schlecht und recht für seine Familie. 

Der Introversionszustand scheint gehoben zu sein. Seine Produktion ist 
aber eine sehr stereotype geworden. 

Daran ist wohl nichts anderes schuld, als der äußere Erfolg. Die Intro¬ 
version war krankhaft, aber ihre Produkte hatten ihm doch den äußeren 
Erfolg verschafft, Anhänger, Bewunderer, eine Gemeinde. Der Erfolg kräftigt 
die extraversiven Tendenzen; er heilt die Introversion, aber er vernichtet 
damit auch die Produktivität. Es ist Binggeli gegangen wie einem Roman¬ 
schriftsteller, der nach einem aus tiefer Introversion geschöpften Erstlings¬ 
werk nichts Rechtes mehr zustande bringt, weil der Erfolg des Erstlings¬ 
werkes ihn aus der Introversion herausgerissen hat; seine späteren Produkte 
sind Abklatsche des Erstlingswerkes oder seichte Romane, die ihre haupt¬ 
sächlichsten Determinanten nicht im Innern des Dichters haben, sondern 
in den Launen der Leserwelt. 

So ging es Binggeli. Er kopierte sich selber und wurde stereotypiert. 
Indem er die Wünsche seiner sensationsbedürftigen Waldbrüder und Wald- 




























Schwestern zu erfüllen sich bemühte, wurde er mehr und mehr zum 
Schwindelschamanen. Er erlaubte sich Dinge, wie folgendes: Er praktizierte 
Pulverfrösche in den Ofen, die zu explodieren hatten mitten in einer An¬ 
dacht. Wenn das Geknalle anging, so erklärte Binggeli seinen erschrockenen 
Zuhörern, mitten aus seiner Ekstase heraus, das seien Teufel, die soeben 
das Leben hätten lassen müssen. 

Das ging so bis in die neunziger Jahre hinein. Bis dahin hatte er mit 
seiner Frau im Frieden gelebt; nun schlich sich Unfrieden ein. Binggeli 
behauptet, weil die Frau geizig gewesen sei. Er wurde zu gleicher Zeit 
wieder gedrückt. In den gleichen Jahren wird aber seine Tätigkeit wieder 
produktiver. Wir haben wieder einen Introversionszustand vor uns. In der 
Gegend gingen bereits Gerüchte herum, es sei mit seiner Sekte nicht ganz 
sauber. Auch mit dem Verhältnis zwischen ihm und seiner Tochter sei es 
nicht sauber. Der Prozeß von 1895 zog dann den Vorhang weg: 

Binggeli hatte von 1892 bis 1895 ungezählte Male mit seiner Tochter 
geschlechtlich verkehrt. Eins, wahrscheinlich zwei von ihren drei un¬ 
ehelichen Kindern waren von ihm gezeugt. Der Teufel hatte Becht be¬ 
halten, und es half Binggeli wenig, daß er zu Händen des Gerichtes die 
Straßburger Reise angab, gleichsam als himmlische Legalisierung seines In¬ 
zestes. 

Er habe mit der Tochter verkehren müssen, weil sie von bösen Geistern 
geplagt worden sei. Wir kennen diese bösen Geister zur Genüge, es sind 
Inzestwünsche, die er, wie früher in die Mutter, so jetzt in die Tochter 
zu projizieren sucht. Auch jetzt hatte sich der Zustand wieder bis zur 
Halluzinose gesteigert. Er hatte z. B. gesehen, wie der Sohn eines Nachbarn 
nackt auf die Tochter zuging, und wie dessen Mutter sich in eine Katze und 
dann in eine Maus verwandelte, um in die Tocher hineinzuschlüpfen u. ä. m. 
Ein großer Teil der früheren Symbolik erscheint wieder, ungehemmter als 
damals. 

Bei einer Anbeterin, die acht Tage nicht hatte urinieren können, stellte 
Binggeli die Diagnose, das Wassertor sei verzaubert und heilte sie per coitum. 
Sie wurde dann wegen Geburtsverheimlichung bestraft. Auch mit anderen 
Schwestern der Waldbruderschaft hatte er verkehrt, und manche von ihnen 
wollten von ihm auch prophylaktisch behandelt werden, was er ihnen nicht 
abschlug. 

Diese Generalerfüllung sexueller Wünsche machten auch die infantil¬ 
sexuellen Komponenten mit: Es blieb nicht dabei, daß seine goldenen 
Knöpfe und die wiedergeborne Uhrkette adoriert wurden, Binggeli, „das 


Imago XIII. 


27 













4i8 


Hermann Ror-sdiadi (f) 


wieder Fleisch gewordene Wort Gottes“, wie er sich nannte, ließ seinen 
Penis als „Büchse Christi“ verehren; er urinierte coram publico, seinen 
Urin nannte er „Himmelstropfen“ oder „Himmelsbalsam“ und verteilte 
ihn unter seine Anbeter, die ihn innerlich und äußerlich verwendeten 
gegen Krankheiten und Anfechtungen, ein Gegenstück zu der wunderbaren 
Flüssigkeit im Straßburger Traum. Manchen seiner Anhänger wußte er mächtig 
zu imponieren dadurch, daß er nach Belieben roten, blauen, grünen Urin 
lassen konnte. Ja, Binggeli ließ seinen Urin sogar als Abendmahlswein trinken! 

Die Zeit reicht nicht aus, diesen Phalluskult, der mitten in unserer 
Schweiz vor nur zwanzig Jahren geblüht hat, nach Gebühr zu beleuchten. 
Nur einige Punkte über Binggeli möchte ich noch erwähnen: 

Sie wissen, wie oft Neurotische und Schizophrene mit ihrem Namen 
spielen. Binggis, Binggel, Binggeli, das bedeutet erstens einen kleinen, zwerg¬ 
haften Menschen. Binggeli war also, was sein Name sagt. Zweitens bedeuten 
sie aber auch den Penis. Eine ältere Form des Namens ist Pinkelin und 
Pinkeler. Pinkeln ist gleich urinieren. So war schon der Name Binggelis 
geeignet zur Anknüpfung sexueller, besonders exhibitionistischer Phantasien. 
Durch Name und Leibesgestalt reiht sich Binggeli in ominösester Weise 
den phallischen Zwerggottheiten an, von denen es in den primitiven Mytho¬ 
logien wimmelt, den Zwergen, Daktylen, dem Telesphorus, den ägyptischen 
Harpokrates und Bes, um nur einige zu nennen; so wurde er für primitive 
Psychen zu einem recht vollkommenen Projektionsobjekt. 

Illustrativ wirkt in diesem Zusammenhang auch das Familienwappen 
der Binggeli. Es stellt eine schwarzweiße Speerspitze vor, aus der sieben 
Blumen sprießen. 

Zum Schluß die Diagnose. In der Familie Binggeli kommt die Schizo¬ 
phrenie vor. Trotzdem halte ich die Krankheit Binggelis für eine Neurose, 
die Neurose eines abergläubischen Menschen, der inmitten abergläubischer 
Tradition heranwuchs und sich in seiner Wirksamkeit von den Projektions¬ 
bedürfnissen seiner abergläubischen Umgebung leiten ließ. 

Die Sexualisierung alles Religiösen treffen wir auch bei der Neu¬ 
rose Zinzendorfs an. Da, wo bei Binggeli diese Sexualisierung die Lizenzen 
der Neurose zu durchbrechen scheint, da ist Binggeli nicht ganz original, 
sondern der Nachtreter eines anderen bernischen Sektenhauptes, Anton Unter¬ 
nährers. Dieser war sicher schizophren. Binggeli hat sein Antonianertum 
bis ins Alter geheim gehalten; er hat es wohlweislich auch in seinem 
Prozeß nicht zu seiner Verteidigung benutzt. Er ist aber wahrscheinlich 
sein Leben lang antonianisch gewesen. Ich habe selbst bei ihm antonia- 




























Zwei sdiweiserische Sektenstifter 


4 1 9 


nische Bücher in alter Auflage gesehen und manche Stücke in seinem 
eigenen Büchlein sind ebenfalls dem Anton Unternährer abgeschrieben. 
Das Schwarzenburger Oberhaupt der Antonianer, der sogenannte Sydehus- 
pjnggeli, nach dem die antonianische Lehre dort „Sydehuslehr“ („Seiden¬ 
häusler“) genannt wird, war ebenfalls ein Verwandter unseres Johannes 
Binggeli. 


II 

Anton Unternäk 


rer 


Zehn Jahre vor der Geburt Johannes Binggelis, des Gründers der Wald¬ 
bruderschaft zu Schwarzenburg, war im Turm zu Luzern sein Vorgänger 
Anton Unternährer gestorben. Dieser Unternährer hatte die Antonianersekte 
gestiftet und wie er selbst .eine ganz andere Persönlichkeit als Binggeli war, 
so ist auch ihren beiden Sekten ein ganz verschiedenes Schicksal beschieden 
gewesen. Binggelis Waldbruderschaft, obgleich viel jünger, ist schon fast 
verschollen, die Gemeinschaft Unternährers dagegen, deren Anfänge in das 
Jahr 1800 fallen, existiert auch heute noch, die antonianischen Dienstver¬ 
weigerer haben in den letzten Jahren öfters von sich reden gemacht, und 
gerade in der gegenwärtigen Zeit scheint der Antonianismus wieder lebhaft 
Anhänger zu gewinnen. 

Material über Unternährer gibt es recht viel. Trotzdem werden Sie nicht 
eine so kompakte Analyse erwarten dürfen, wie der Fall Binggeli sie er¬ 
möglichte, und ich muß Sie bitten, sich’s gefallen zu lassen, wenn wenigstens 
im ersten Teil meiner Ausführungen das Analytische fehlen muß. 

Anton Unternährer stammt aus dem Entlebuch, einem der wenigen katho¬ 
lischen Länder, die autochthone Sekten hervorbringen. Die Unternährer 
sind ein alteingesessenes Entlebucher Geschlecht. Ein Unternährer und 
zwei andere Entlebucher hätten im Mittelalter beinahe einen Krieg gegen 
Bern verursacht. Sie hatten den Bernern, um sie zu ärgern, einen Katzen¬ 
kopf auf die Grenze gelegt. Das war eine Anspielung auf den Spitznamen, 
der den Bernern im Mittelalter anhaftete: „Katzenküsser“, ein Ausdruck, 
der Ketzer bedeutete und daher rührte, daß man gewissen Sekten katharisch- 
waldensischen Geistes nachsagte, sie verehrten den Satan, der ihnen in 
Gestalt einer schwarzen Katze erscheine. Ich erinnere hier an Binggelis 
Katzensymbolik. Einer der drei Tellen des Entlebuchs im Bauernkrieg war 
ebenfalls ein Unternährer. 












Unser Anton Unternährer wurde am 5. September 1759 geboren p 
war der mittlere von drei Söhnen einer ehrbaren Pächtersfamilie in SA'! 
hetm. Er wuchs bei den Eltern auf, war im Sommer Hüterbube und Se^ 
später Senne auf den Alpen. Wie viele seiner Landsleute, lernte er sich von 
m auf, auf magische Künste verstehen, besonders auf sympathische Quack 
sa bereten. Bis zu seinem neunundzwanzigsten Jahre lebte der „Mettlentoneli“ 
wie er nach seiner engeren Heimat „Mettlen“ hieß, ruhig zu Hause und genoß 
en Ruf eines gutartigen, gesitteten, aber etwas eingezogenen und stillen 
Burschen. Dann begann die zweite Periode seines Lebens. Mit einem Male 
pac te ihn ein Drang nach Reisen und unruhiger Tätigkeitsdrang. Er ver 
ließ seine Berge und ging auf die Wanderschaft. Zuerst arbeitete er eine 
Zeitlang auf einem Gute im Baselgebiet. Dann faßte er den Plan Maler 
zu werden und begab sich nach Paris, wo er einen Entlebucher, der auch 
Maler war, aufsuchen wollte. Der war aber, als Anton nach Paris kam 
bereits gestorben. Unternährer blieb nun eine unbestimmt lange Zeit in 
Paris und lernte dort unter anderem Barometer und Thermometer fabrizieren 
ann zog es ihn weiter. Er wanderte bis nach Calais und kehrte dann 
aus unbekannten Gründen direkt wieder nach Hause zurück. In Schüpfheim 
erlernte er zuerst die Schreinerei, ließ sie aber bald wieder liegen Dann 
hausierte er mit seinen Barometern im Land herum. Dann eröffnete er 
eine Privatschule, die er aber auch bald wieder auseinandergehen ließ 
1788 hatte er geheiratet. Der Ehe entstammte ein Mädchen, das bald nach 
der Heirat geboren wurde, dem aber keine weiteren Kinder folgten. Schließ- 

er S1Ch . mit Frau und Kind in ein einsames Häuschen oberhalb 
c upfheim zuruck, wo er medizinische Bücher las, Alpenkräuter sammelte 
und als wandernder Krämer in den Häusern verkaufte. So wurde er zum 
Wander- und Wunderdoktor. Er wurde bald ein gesuchter Mann, trotzdem 
trat er aber noch bei einem Arzte der Gegend in die Lehre, um das Doktor¬ 
andwerk zu erlernen, wie sich später seine Frau vor Gericht, ausdrückte, 
on jetzt an nannte er sich Arzt und Wunderarzt. Er machte große Praxis¬ 
reisen im Land herum, und da sich das bernische Publikum als dankbarere 
Klientel erwies, als das luzernische, siedelte er ganz in den Kanton Bern 
über und ließ sich zuerst in der Gegend von Münsingen und dann in 
Amsoldingen bei Thun nieder. Er war ein sehr vielseitiger Kollega und 
machte Wunderkuren an Mensch und Vieh. Die Hauptrolle spielten dabei 
zwar sympathische Praktiken; immerhin aber finden sich in seinem Steige¬ 
rungsrodel von 1799, außer allerlei Zauberhandbüchern, auch 182 Schriften 
medizinischen Inhalts und drei Gebärzangen verzeichnet. 
























Zwei schweizerische Sektenstifter 


4^1 


Im Jahre 1799 kam Unternährer zum ersten Male vor Gericht, und zwar 
vor das Kriegsgericht der helvetischen Republik. Er hatte zur Zeit der 
Oberländer Unruhen falsche Gerüchte ausgestreut und sogar versucht, frisch 
konskribierte Rekruten am Ausmarsch zu verhindern. Laut damaligen 
Gesetzen stand darauf Todesstrafe. Es ist nun auffallend, wie glimpflich 
mit ihm verfahren wurde. Mit einer Ermahnung, künftig nicht mehr der 
Trunksucht zu frönen, wird er nach viereinhalb Monaten Untersuchungs¬ 
haft nach Hause geschickt. Wir erfahren erst durch die Zeugen dieses 
Prozesses, daß Anton ein Wirtshaussitzer geworden war. Dieses milde Urteil 
zeigt, wie wenig ernst der Mann genommen wurde im Gegensatz zu den 
Dingen, die wenige Jahre später folgten. 

Im Jahre 1800 fing Anton an, in seinem Hause zu Amsoldingen 
religiöse Versammlungen abzuhalten. Auch Amsoldingen ist ein Sektierer¬ 
nest von je her. Es ist daher glaubhaft, wenn Anton erklärt, er habe die 
Leute nicht gerufen, sie seien selbst gekommen. In diesen Versammlungen 
erklärte Unternährer die Heilige Schrift, in der ihm Gott einen versteckten 
tieferen Sinn offenbart habe. Er habe von Gott gelernt, die Worte der 
Heiligen Schrift richtig zu teilen und das zusammenzufügen, was zusammen¬ 
gehöre, um jenen versteckten Sinn herauszufinden. 

Die Anhängerschaft nahm im stillen zu, bis es im Frühling 1802 zu 
einer Katastrophe kam. Anton erklärte das Ende der Welt für bevorstehend, 
und seiner Sekte bemächtigte sich große Angst. Es kam zur einer regel¬ 
rechten Massenpsychose, deren einzelne Erscheinungen ich überspringe. In 
dieser Zeit hatte Anton bei der helvetischen Nationaldruckerei sein erstes 
Büchlein drucken lassen, das aber mit Ausnahme weniger Exemplare, die 
er hatte erwischen können, konfisziert wurde. Das Schriftchen hat unter 
den Antonianern den Namen: „Das Gerichtsbüchlein . u Darin tritt Anton 
mit einem Male als der wieder geborene Christus und Richter über die 
Lebendigen und Toten auf. „Ich komme wie der Blitz im Namen des 
Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. “ Staatsgefährlich wurde das 
Büchlein vor allem dadurch, daß es die Fürsten und Gewaltigen dieser 
Welt die Obrigkeit der Finsternis nannte und durch Stellen, wie die 
folgende, beschimpfte: „Die verfluchten falschen Priester haben euch den 
gesegneten Kelch gestohlen, welcher ist die Gemeinschaft Jesu Christi, 
und haben euch des Teufels Kelch gegeben. Die Kinder des Teufels 
haben die Ehe nach dem Gesetz, darum ist ihre Ehe nichts als Ehebruch 
und Hurerei. Geschlechtsregister und Schulhäuser sind abzuschaffen. Nie¬ 
mand soll mehr zum Zahlen seiner Schulden verpflichtet sein. Man soll 












niemanden mehr Vater und Mutter nennen. Alle Kriegsknechte • 
Mörder Christi usw.“ 8 ftte »nd 

Auf den Karfreitag i8o 2 hatte Unternährer prophezeit, es werde V. • 
der großen Kirche zu Bern etwas geschehen. Er hatte auch an den Oberste' 1 
Gerichtshof eine Einladung geschickt, diesem Etwas beizuwohnen Zahl 
retche Amsoldinger kamen nach Bern, und die wildesten Gerüchte schwirrte!' 
durch die Menge. Die einen erwarteten, Anton werde im Münster predigen 
die andern, das Munster werde einstürzen, wieder andere, Anton werde 
m feurigem Wagen zum Himmel fahren. 

Das Resultat des Auflaufs war, daß der ganze Schwarm verhaftet wurde 
In den nun folgenden Verhören sagte Anton auf die Frage, was denn 

hatte geschehen sollen: es sei ja etwas geschehen, nämlich daß sie alle 
verhaftet worden seien. ile 

Vergeblich suchte sich Anton herauszureden, in seinem Büchlein sei 
alles geistig gemeint. Er wurde zwei Jahre ins Blauhaus gesperrt und blieb 
bis 1804 im Gefängnis. Laut Urteil hätte er nach der Entlassung Urfehde 
schworen sollen. Das wurde aber vergessen. Unternährer kehrt nach Am- 
so mgen zuruck, und sogleich sammelten sich die Anhänger wieder um 

?" P "f i0n V ° n Amsoldin g er Hausvätern verlangte schon nach einigen 
Tagen Abhilfe. Darauf wurde die Urphed nachgeholt, wenn auch mit echt 
bernischer Gemächlichkeit. Im April 1805 wurde Unternährer nach Luzern 
spediert und dort im Turm eingesperrt. Auf Verlangen des Regierungsrates 
uchte ihn dort der damalige Leutpriester Taddäus Müller, der dann 

über den Exploranden ein ausgezeichnetes psychiatrisches Gutachten ab- 
geliefert hat. 

Es heißt darin unter anderem: „Unternährer glaubt Erscheinungen zu haben 
in welchen die Stimme Gottes selbst zu ihm spricht, ihm Befehle gibt wie’ 
er sich verhalten und was er tun soll. Was eine solche Stimme oder Er- 
sc einung zu ihm spricht, dem gehorcht er mit aller Aufopferung, mit 
der größten Selbstverleugnung, gegen alle Hindernisse. Er sieht sich an 
für den von Gott bestimmten Mann, durch welchen das Gericht der Welt 
werde offenbar werden. Er bezieht eine Menge von Stellen des Alten Testa¬ 
ments auf sich. Mit außerordentlicher Richtigkeit weiß er die auf seine 
Meinung Bezug habenden Stellen des Alten und Neuen Testaments zu zitieren. 
Fast bewundernswert ist sein Gedächtnis. Alles, was ihm Unangenehmes 
und Hartes begegnet, sieht er als Verfolgung der Wahrheit an. Alle theo¬ 
logischen Magistres würden da ihre Gelehrsamkeit vergeblich erschöpfen, 
einebens zeigt er in seinem Benehmen Anstand, Bescheidenheit, Unter- 
























2we 1 sdrweiseriscke Sektenstifter 


4a3 


werfung und ist frei von rohem, trotzigem Betragen. Auch jenes finstere 
Wesen, womit sonst Religionsschwärmer sich auszeichnen, hat er nicht an 
sich, sondern er ist heiter, freundlich und beredt. In seinem so deutlich 
a j s bestimmten und fertigen Vorträge läßt sich sonst nicht die geringste 
Spur von einer Verwirrung des Verstandes wahrnehmen. Eine harte Behand¬ 
lung, wie etwa die eines Übeltäters, verdient er nicht, und sie würde ihn 
auch nicht heilen.“ 

Auf diesen Bericht hin wurde Unternährer nach Schüpfheim entlassen, aber 
bald berichteten die Schüpfheimer, er erhalte immer wieder Besuch von seinen 
bernischen Anhängern. Darauf mußte Anton wieder in den Turm wandern. 

1807 fanden in Rapperswil bei Aarberg sektiererische Greuelszenen statt. 
Ein alter Mann wurde von einer ekstatischen Horde zu Tode gedrückt. Nach¬ 
träglich läßt sich nachweisen, daß es eine Sekte antonianischer Herkunft 
war; damals gelang jedoch den Gerichten der Nachweis nicht, und es blieb 
beim Verdacht. 

Bis 1811 wurde Anton in Luzern eingesperrt gehalten. Darauf wurde er, 
da er schon lange keine Spur von Irrlehren mehr habe verlauten lassen, 
unter Aufsicht nach Schüpfheim entlassen. Er war nun bis 1819 frei, aber 
die Aufsicht wurde immer laxer ausgeübt. Unterdessen hatte die Berner 
Regierung ihre schwere Not mit den da und dort immer wieder auf¬ 
schießenden Sekten antonianischen Geistes. Es kam Brief auf Brief von 
Bern nach Luzern, man möge doch ja den Untemährer in gutem Gewahrsam 
halten. Die Luzerner antworteten mit Versprechungen und Beschwichtigungen, 
aber eines Tages wurde Anton Unternährer auf Schwarzenburger Gebiet auf¬ 
gegriffen und den Luzernern wieder mit dringlichen Vermahnungen zu¬ 
geführt. Zudem schickten die Berner Belege über Antons gefährliche Wirk¬ 
samkeit, nämlich Verhörsprotokolle, die die bernischen Amtsleute von 
Antonianern, die ihren Führer besucht hatten, aufgenommen hatten. Unter¬ 
nährer hatte ihnen wiederholt, was er schon dem Leutpriester gesagt hatte. 
Zudem hatte er ihnen seine himmlischen Beweise demonstriert. Nämlich 
er habe an seinem Zeugungsgliede drei Steine. Es wird in den Akten viele 
Male bezeugt, daß Unternährer wirklich ein Triorchis war. Dieser dritte 
Stein, das sei der Eckstein, den die Bauleute verworfen haben. Er habe ferner 
einen schwachen Arm und eine lahme Hüfte und eine eingeschlagene 
Rippe und zudem sei ihm der Name Christus auf die Zunge geschrieben. 
Er belegte alle diese Beweise seiner Göttlichkeit mit Bibelstellen. 

Nach diesen schwerwiegenden Befunden wurde Anton wieder eingesperrt. 
Indesssen lehnte sich der Justizrat von Luzern dagegen auf, den Unternährer 











einfach so den Bernern zu Liebe zu internieren und verlangte ™ u • 

Prozeßverfahren. So wurde A„ M „ nochmals vor di, Gericht, ge^w“" 
sein.» sechzigsten Lebensjahr. Er bestätig,, alle „in, frühere» Auss.'T h” 
demonstrierte seine Beweis, und beteuerte. , r sei der auserwählte M.fl 
dem dte Schnft «de, daß man ihn reden höre, aber nicht sehe dt 
,m Gei«, anwesend, und im Geiste neugeboren sei. Er sei desMenl 
Sohn. Er sei das A und O, denn in Anton sei A und O der Anfan ^ ^ 

Ende. Unternährer, das bedeute den untersten der Narren, also den G ^ 
e r IVTenschen, also wieder Christum. Er stamme aus der Mettlen^aT^ 611 
er der Mittler; er sei ein Schüpfheimer, d. h. ein Verschüpfter ZstoZ * 
also wieder Christus. Das Entlebuch sei das Buch des Leben,’ ! ’ 

das folgende Protl'olL wTe 2 .“aZ,», fc’Z^ricZ^Z"’^“ 

zt 

an die Wand, di. Stuhlbein, obwärts hehrend, den Sitz und die Rück n 
lehne auf den Fußboden wendend. Mi, erhobenem Kopf und s.am» Bl C T 

L Tb" die SChr “ k “ - ’»• d «“sch m 

Ton Ich stehe nun vor Gott und nimmermehr vor euch Ich haJd 

weltLch Richter nichts mehr zu antworten und 

der v 0llk0mmen Freihe . tj sQ Jesm chr . stus ^ Kreuz erwo - G-etz 

dem T Un * GenCht an S ekündi gt- Er habe es auch früher schon 

urmwart angekundigt, wenn er bis abends sechs Uhr nicht frei werde 
o werde Unglück und Verdammnis über die Regierung kommen.« 17 ^ 

ergebet und^T^ emStlicher Zur ückweisung setzte er sich jedoch 

rrrr i m r 

kann ich ° hl fit t T eefiMi ° h g ' W '* e ”' B '™“ R ^mn g 

«r alle dem t “r \ h ' lf “- d “™ h <“« Verpflichtung 

zlmlnTi V , ” Ch ü ” ,er ” 5h ” Unkosten J 

«nd u ”S„T, r hri B b A r im Gaf “ 8 "“ ™ hi8 *«<*«■ «*«. 

irgendwelche Besucher schmuggelten sie i„, Berngebie, hinüber. 


















Zwei schweizerische Sektenstifte] 


r 426 


Immer und immer wieder bittet und ermahnt die Berner Regierung die 
lieben Miteidgenossen, auf den erzgefährlichen Anton doch ja gut auf¬ 
zupassen. Bis endlich am 29. Juni 1824 die luzernische Regierung der 
bernischen unter vielen freundeidgenössischen Begrüßungen mitteilt, daß 
der Mettlentoneli i. e. Anton Unternährer, letzthin mit Tod abgegangen sei. 

Die Lebensgeschichte Unternährers ist, wie Sie sehen, vollständiger zu 
erfahren, als die Binggelis, aber sie ist trotzdem viel undurchsichtiger als 
jene. Wir erfahren über das intrapsychische Leben Unternährers sehr wenig 
und gar nichts über die Erlebnisse der Kindheit. Sie enthält, ganz anders 
als die Geschichte Binggelis, fast gar keine Standpunkte, von denen aus 
sich analytische Wege eröffnen ließen. Aber sie erlaubt wenigstens eine 
sichere Diagnose, die in diesem Falle, um weiterzukommen, noch wichtiger 
ist, als bei Binggeli. 

Anton Unternährer ist sicher ein schizophrener Prophet gewesen. Ob 
während des langen Latenzstadiums oder dann während seiner unruhigen 
Zeit der Berufswechsel schizophrene Züge hervorgetreten sind, läßt sich 
nicht mehr nachweisen. Sicher aber bildet er im Frühling 1802 ziemlich 
plötzlich ein System von Größenideen. Sein erstes Büchlein, das staats¬ 
gefährliche Gerichtsbüchlein, enthält schon deutliche Spuren aller späteren 
Lehren. Im Jahre 1805 verfaßte er das eine seiner autobiographischen 
Bücher, auf das ich noch zurückkomme, und einige andere Schriften. In 
dieser Zeit muß sein System schon vollständig ausgebildet gewesen sein, 
wenn auch der geistliche Experte von 1805 über gewisse Punkte noch 
nichts weiß. Nach 1806 ist aller Wahrscheinlichkeit nach nichts Neues 
hinzugekommen, außer schizophrenen Wortspielereien usw,, wie sie im 
Prozeß von 1819 zutage treten. 

Anton hat im ganzen über zwanzig Bücher geschrieben, die anscheinend 
in den dreißiger Jahren zum erstenmal gedruckt erschienen, aber erst in 
den letzten Jahren in Amerika neu herausgegeben worden sind. Da sie 
nicht verkauft, sondern nur innerhalb der Anhängerschaft verschenkt werden 
dürfen, sind sie ziemlich schwer aufzutreiben. 

Weitaus die meisten von ihnen sind Darstellungen seiner Lehre, wobei 
zahllose Wiederholungen Vorkommen. Der Text ist wie die Bibel in 
Kapitel eingeteilt und diese in numerierte Verse. Unter jedem Vers stehen 
mehrere Bibelstellen vermerkt. Das sind diejenigen Stellen, denen Anton 
einzelne Teile, manchmal nur ein bis zwei Worte, entnommen hat, meist 
ohne jede Rücksicht auf den Inhalt der Bibelstellen, um daraus seinen 
Vers zu bilden. 








Antons Lehre ist kurz zusammengefaßt folgende: 

Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen und sein erst 
Gebot an den Menschen war: Seid fruchtbar und mehret euch. Dies 
sein Wille, und die Ausführung dieses Gebots war des Menschen Sakramem 
und Priestertum. Der Sündenfall, der den Menschen aus diesem paradiesT 
sehen Zustande riß, ist nun nach der Lehre Antons etwas ganz anderes 
als nach den Lehren der Kirche. Der Teufel, die alte Schlange, hieß di ’ 
Menschen vom Baum der Erkenntnis essen. Von da an hielten sie d 
Geschlechtliche für sündhaft. Das eigentlich Sündhafte am Sündenfall hl 
nach Anton, daß die Menschen den Sündenfall überhaupt für einen Sünden¬ 
fall hielten. Daher ist auch die Scham teuflisch. Zur Strafe bekleidete 
darauf Gott die Menschen mit Fellen, so daß sie die heiligen Geräte 
an ihrem Körper nicht mehr finden konnten. Als Vorbild und Schatten 
der himmlischen Güter gab er ihnen durch Moses die Stiftshütte, die Vor¬ 
bild und Schatten, sagen wir Symbol, der heiligen Geräte unseres Körpers 
ist. Salomo baute seinen Tempel ebenfalls als Vorbild der himmlischen 
Guter, denn er baute ihn nach dem Vorbilde der Halle der Tochter Pharaos 
die er zum Weibe genommen hatte, wobei Halle wieder das weibliche 
enitale bedeutet. Aber die Menschen verstanden trotzdem diese Vorbilder 
nicht. Sie verstanden selbst Christus nicht, als er mit Wasser, Blut und 
Geist herabkam, ein neuer, zwiegeschlechtiger Adam, denn Wasser ist des 
Mannes Same, Blut ist des Weibes Same, und Christus spricht: Ich bin 
der Same. Sie verstanden es nicht, daß das Zerreißen des Vorhangs im 
empel beim Tode Christi am Kreuz das Zerreißen der Felle bedeutete, 
mit denen Gott die Heiligtümer der Menschen verborgen hatte. Sie lebten 
weiter m teuflischen Erkenntnissen. Sie gaben vor, an Christus zu glauben, 
aber sie glaubten nicht an den wahren Christus, sondern an ein durch den 
Teufel und seine Erkenntnis verzerrtes Bild Christi. Ihre Kirchen sind 
Gotzenhauser und statt des gesegneten Kelches Christi wird den Gläubigen 
dort der Hurenbecher voll Ottergalle gereicht. Ihre Ehe ist teuflisch, denn 
sie ist Gesetz. Jemanden Vater und Mutter zu nennen, ist teuflisch, denn 
alle Menschen sind untereinander Brüder und Schwestern. 

Sie sind weit entfernt von der göttlichen Weisheit; denn die göttliche 
eisheit ist die Liebe und die Liebe bezeichnen sie als teuflisch. 

Erst der zweite Christus, Anton Unternährer, lehrt die Menschen den 
wahren Sinn der Heiligen Schrift verstehen, nämlich, daß es nur ein Gott 

wohlgefälliges Sakrament gibt, nur ein wahrhaftes Priestertum: den Ge- 
schlechtsverkehr. 











Zwei schweizerische Sektenstifter 




Erst er zeigt den Menschen die verborgenen Geräte wieder, die zum 
Werke des Amts nötig sind. Erst er weist ihnen nach, daß die Vereinigung 
des männlichen Samens mit dem weiblichen Samen die wahre, gottgewollte 
Versöhnung Christi in einem Leibe ist, denn Christus ist der Same und 
Christus muß geopfert werden, damit er wieder auferstehen kann in dem 
in Wollust erzeugten Kinde. 

Er, Anton, ist wieder wie Christus mit Wasser, Blut und Geist gekommen, 
er ist wieder der göttliche zweigeschlechtige, der Baum des Lebens, der 
den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen besiegt. 

Dies ist die zentrale Lehre des Antonianismus. Was daraus folgt, ist die 
Verdammung aller bisherigen Kirchen, aller Schulen, die Erkenntnis ver¬ 
breiten, und daran schließen sich kommunistische Grundsätze an, Güter¬ 
und Weibergemeinschaft, schließlich einige andere Gebote: das Verbot des 
Eides und des Waffengebrauches. 

Wie diese Lehre sich entwickelt hat, wird aus Antons Schriften nicht 
klar. Sie ist auf einmal da, wie aus einem Guß. 

Nur auf einem Wege finden sich Zugänge zur Aufhellung der Urgründe 
des Systems: wenn wir von dem fertigen Gebilde ausgehend, und durch 
analytische Erfahrungen geleitet, rückwärtsschreiten. 

Eine Art Kulminationspunkt des antonianischen Systems ist die Be¬ 
schreibung des neuen Jerusalems, des antonianischen Himmels. Sie findet 
sich in dem 1806 entstandenen Buche, das seine Anhänger das große 
Gerichtsbuch nennen. Das neue Jerusalem ist die Stadt der Seligen. Anton 
beschreibt sie durch viele Kapitel hindurch sehr anschaulich, schwelgend 
in Herrlichkeiten der Augenlust und Fleischeslust. Da das Sexuelle nach 
Unternährer der einzig wahre Gottesdienst ist, so werden Sie sich nicht 
wundern; in der Stadt der Seligen eine Fülle sexueller Symbolik anzutreffen. 
Er bezieht Motive aus der Offenbarung Johannis, von der mosaischen Stifts¬ 
hütte, vom Tempel Salomons, aber vieles ist doch noch Architektur eigener 
Phantasie. 

Die Stadt der Seligen steht auf einem Berge. Sie hat die Form eines 
riesenhaften Würfels, denn sie ist 12.000 Feldwegs lang und ebenso breit 
und ebenso hoch. Sie hat 12.000 Stockwerke. Sie hat auf jeder Seite drei 
Tore, die purpurrot und mit goldenen Säulen geschmückt sind. Von Tor 
zu Tor laufen die Hauptgassen rechtwinklig durch die Stadt. In der Stadt 
sind 144.000 Pfeiler, jeder hat auf jedem der 12.000 Stockwerke 4 Türen, 
und durch jeden Pfeiler laufen an allen 4 Ecken Wendeltreppen hinauf. 
Die Pfeiler sind auf jedem Stockwerk durch Bögen miteinander verbunden, 












d,e von Tor eu Tor e ehen. In der Stadt sind überall herrlich, Lustgärten 
An den Ecken de, Garten und Säulen in unendliche, Zahl, jede f 0 ,gtd“ 
maßen gebaut, Aul de, Säule erheb, sich ei» goldener Knopf, der K „ ' , 
.s, von goldenen Ringen umgeben, di. voll goldener Rosen sind. Auf dl 
Knopf hegt eine viereckige Platte, darauf erhebt sich ein goldener Baum 
£er de oh Blumen erstrecken, tu oberst eine große, Lnenfdfl"’ 
Die Lustgarten sind von Gittern umgeben, die wie Fischnetze geflochten 
smd. In jedem Viereck des Netzes steht eine Blume, immer wieder eine 
an ere. Es gibt zahllose Millionen verschiedener Blumen in diesen Rhomben 
des Netzwerks. Auf den Gittern stehen alle Spannen weit Kelche, in denen 

AußH fh 7 TTi ß) St6Ckt ’ Maien V ° m andem Mieden usw 

Außerhalb der Stadt hegen 24.000 Paläste, eine Meile Fußwegs breit und 

^000 Meflen hoch. Zwischen ihnen andere Gebäude, die Vorhöfe der St^ 

alles herum zieht sich eine feurige Mauer, darauf die Engel des Herrn 

auf weißen P erden reiten. An den vier Ecken der Feuermauer sind 7 

ckpalaste, schmal und wieder sehr hoch. Sie enthalten die Eingänge ins 

deTxtm f7‘ Jed6r / Ck P alaSt hat vier T <*e, zwei, die von außen in 
den Turm fuhren und zwei, die aus diesem hinaus in die feurige Mauer 

ren. e er muß so die Mauer durchschreiten, bevor er ins Reich der 
Seligen emtritt. er 

Über der Stadt erheben sich auf einer Riesenplatte aus durchsichtigem 
Jaspts grandiose Turmbauten, die in ähnlichen Gebilden gipfeln wie die 
schon beschriebenen Säulen. Mitten über der Stadt türmt sich erst noch Palast 

Boden sTeh ’ u ^ daS fol g ende - Auf dem obersten 

Boden stehen nochmals 144.000 Pfeiler, die paarweise nach oben zu einem 

reaskreuz zusammengebogen sind. Auf den oberen Kreuzenden liegen 

inge dann ruhen Kugeln mit Reifen und goldenen Rosen, darauf wieder 

^ 17 ’^ Wi6der SäUl6n ’ d6ren je Vi6r eine “ Ring tragen, 

lkh sch bf v eme Kugd mit Reifen Und R0Sen und darübe r end¬ 

lich schwebt eine Krone, die von 144.000 Sternen umgeben ist, jeder 

ern tragt den Namen eines der 144.000 Versiegelten der Offenbarung. 

n den Lustgarten aber sind überall goldene Stühle und Tische. Je ein 

Gefäß 7 T . ShZen einem StuU Und aus goldenen 

bereitet ^d 7 77 dle fur einen i e g lic hen nach seinem Geschmack 
bereitet wird. Sie sind alle nackt und schämen sich nicht 

Bür, g 7 e ; al 77 d “- dCnn dle MaUern > alle Pfeiler und 
GetTß s/berhaupt ist aus spiegelklarem, durchsichtigem Golde, 

iß eine grandiose Voyeurphantasie. 










Zwei sdiweizeriscke Sektenstifter 


4 2 9 


Noch fehlt das Wesentliche: Inmitten der Stadt erhebt sich der Baum 
des Lehens, dessen Wurzeln reichen in alles hinein, durch alle die Blumen 
und Kränze, Bögen und durch das Geländer der Wendeltreppen bis hinauf 
zu den höchsten Sternen. Sie treiben überall selbst Blumen, die mit ihrem 
herrlichen Glanz die Stadt erleuchten. 

Und nun: Dieser Baum des Lebens, das ist Christus und das ist An¬ 
ton Unternährer selbst. Die Wurzel Jesu gehet durch alles mit dem Glanze 
des ewigen Lichts. Licht aber ist Weisheit, und Weisheit ist nur Liebe, 
und Liebe ist Wollust und das Werk des Amts. So wird Anton Unternährer 
zur Libido sexualis des neuen Jerusalems. Das neue Jerusalem ist aber 
nicht irgendwo außer der Welt, sondern inwendig in den Menschen. So 
wird Anton zur Weltlibido überhaupt. 

Und die Stadt Gottes selbst ist unser aller Mutter. Anton ist weit ent¬ 
fernt von der sublimen Symbolik, die diesem Bilde in der Offenbarung 
Johannis zugrunde liegt. Er identifiziert das neue Jerusalem mit Maria, 
der Mutter Gottes, aber auch mit Maria Unternährer, geborenen Schärer, 
seiner leiblichen Mutter. 

Damit wird die Stadt Gottes mit dem Baum des Lebens in der Mitte 
zu einer Projektion des Inzestwunsches, zu dem Bilde eines Coitus sempi - 
ternus mit der Mutter. Das ist die ewige Seligkeit, und durch einen 
kühnen, paranoiden Mechanismus wird dieser Coitus sempiternus des Anton 
mit seiner Mutter zur Erschaffung einer neuen Welt verwendet. Es werden 
Ihnen da mythologische Parallelen in reicher Zahl einfallen. 

Auffallend ist, daß Anton diesen letzten Schluß nicht zieht, obschon 
alle Materialien gegeben sind und obschon er anderswo mehrere Male dem 
gleichen Schlüsse ebenso nahe kommt, überschritt er diese letzte Schwelle 
nicht. Nur in den tiefen Katatonien werden auch die letzten Schwellen 
überschritten. Der Paranoide steht vor ihnen still, und nicht selten hat er, 
wenn er sonst keinerlei Krankheitseinsicht besitzt, doch die Empfindung, 
hinter dieser letzten Schwelle lauere die Geisteskrankheit auf ihn. Bei 
Schizophrenen, die zwischen katatonen und paranoiden Phasen abwechseln, 
läßt sich gelegentlich dieser erbitterte Kampf genau verfolgen, den Wahn¬ 
bildung und Verdrängung, Krankheitsscheu und Krankheitseinsicht vor den 
Schwellen der tiefsten Introversion ausfechten. 

Nicht weniger wichtig als der antonianische Himmel, das neue Jerusalem, 
wird sein Gegenstück, die antonianische Hölle sein. Sie vereinigt natürlich 
alles in sich, was ihm und seiner Lehre feindlich gegenübersteht. Er wird 
nicht müde, die Schrecken dieser Hölle auszumalen. Da schmachten in 















1 


erster Linie alle Regierenden: hier der neue Kaiser Ar r 
Höllenfürstennamen paraphrasiert er Napoleon I hier ^ “ die$em 

'T "7 Richt “- ^ 

Schweiz, die schon in ihrem Namen Rnll- j l. dle S^nz e 

dammung trage, hier stecken vor allem die fT " Slgnum der V er - 
als Bärenanbeter und Sodomiter, weshalb aucWei beZ6ichnet er 

Berra geheißen habe. Hier sind auch all ,c *" ° mg Von ^odom 
Erkenntnis genossen haben, „„ S^J*™*** - 

~ It , Schlangen, Drachen n„ d Nach^iX ^ 

£ S." 1 “ Bhsen 

zur Inzestphantasie d“ d H T a die Er 6 S„z„„. 

H ä he„ird P ei„jr,o a ^i” “'** “* ^“nng di 

Goii r „t u : se^trs ?■ °r “ d ^ - g -« 

Dieser B,„ m sLd »i “ uZe “ G ““ G ”*“* *>* 

dick. Alle Vögel unter dem Him 1 L " ^ " hoch ’ & roß und 

des Feldes hatten Junge unter 7 “” ^ Ästen ’ alIe Ti «e 

-Ohnten dl. Volker anf Erd.nTnT aßl»'™ ^£ 5 ^ T“"” 

“ rr h h d- 

l-ä r t 

erhob.» „„d g e de nte , rlXX^iXm“taltXLlT. H “ 
und meinen Stuhl über den Stuf™ r ++ , Himmel steigen 

den Berg des Stifts Ich ‘11 -k ,t , erheben ' Ich wil1 mic h setzen auf 

dem JeZZZ h ° h “ W »”“» d^h sein 

J£, “mifalw'wmlT U ” d geW,J,i8 “ B “” ™ G «» G »- 

Store, und e.rdo hen “hl 7 *T“ aU!8 “ i! “”- “*<«*»■ 

mit de, Donnentm tslhmiln d” T““* 81 “ 1 *' ™ 

stimmen »„d sieb.» br .n»,„d en Fack “ ° n ^T “ d 


















Zwei sdrweizerisdie jSektenstifter 


43i 


Und hat einen demütigen an seine Stelle gepflanzet, das ist jetzt der 
Baum des Lebens in der heiligen Stadt Gottes, dem himmlischen Jerusalem, 
mit aller Ehre und Herrlichkeit Gottes.“ 

Was sich in diesem Bilde nicht alles ausdrückt: Die Überwindung des 
Satans durch Gott, die Überwindung der Erkenntnis und Zweifel an Gut 
und Böse durch die Libido, die Überwindung des übermütigen Großen 
durch den demütigen Kleinen, die Entmannung des Vaters durch den Sohn, 
zur Rache für die Kastrationsdrohung, eine mächtige paranoide Projektion 
ins Kosmische, das Ganze eine Dichtung fast wie Spittelers Extramundana 
und von gleicher libidinös-visueller Wucht. 

Zum Belege aller dieser Bedeutungen könnte ich zahlreiche Stellen aus 
Unternährers Schriften anführen. Doch ist Ihnen ja aus anderen Arbeiten 
dieses ganze Gedankengebilde in seiner urgedankenhaften mythologischen 
Verwurzelung so vertraut, daß ich wohl nicht weiter darauf einzugehen 
brauche. 

Sich selbst nennt Anton des Menschen Sohn, den zweiten Christus, iden¬ 
tifiziert sich aber direkt mit Jesus Christus und findet in seinem Leben 
zahlreiche Züge des Christuslebens wieder. Charakteristisch für die Schizo¬ 
phrenie ist dabei, daß diese Beziehungen bald sehr inhaltsreich, bald sehr 
banal sind. Der Kreuzigung Christi setzt er entgegen die Kreuzigung, die 
er täglich durch die bösen Zungen seiner Verfolger erleide. 

Christus ist der Kreuzesbaum des Lebens, — die Libido sexualis der Welt 
— der Same. Anton baut diese Gleichsetzungen auf den angeblichen Aus¬ 
sprüchen Christis auf: „Ich bin der Same, ich bin die Liebe, die Weisheit“ usw. 
Die Lehre von der Zwiegeschlechtigkeit Christi stützt er auf die Stellen 
der paulinischen Briefe: „Hier ist kein Weib noch Mann mehr, denn ihr 
seid allzumal nur eines in Christo Jesu“, und im 1. Johannesbrief: „Drei 
sind, die da zeugen auf der Erde, der Geist, das Wasser und das Blut.“ 
Er selbst schließt weiter: „Des Mannes Same ist Wasser und des Weibes 
Same ist Blut, und der Geist des Samens ist Christus. Die Geschlechtsteile 
sind die Tempel, der Geschlechtsakt ist das wahre Abendmahl, die wahre 
Messe, durch die der Leib Christi geopfert wird, um wieder auferstehen zu 
können.“ Im „Buch der Freiheit oder Offenbarung der Heiligen Schrift“ sagt 
Anton darüber: 

„Ihr Töchter des lebendigen Gottes, ihr seid reine Jungfrauen. Euer Leib 
ist der Tempel des lebendigen Gottes. Ihr seid die Hütte Gottes, die ist in 
euch. Das Vorderteil der Hütte ist aufgerichtet, da ist der Leuchter, der Tisch 
und die Schaubrode, d. h. die Heilige, das ist der Eingang und Ausgang in 













4^2 Hermann Rorsckack (f) 


das Mutterhaus, in die Mutterkammer. Also ist euer Leib die wahre Stiftshütte 
und der Ein- und Ausgang ist die Halle. Die Tür vor dem Tempel heißet die 
Schöne, die führt in das Mutterhaus, in die Mutterkammern. Darinnen ist 
das goldene Rauchaltar gesetzt vor die Lade zum Zeugnis, darauf zu opfern 
geistliche Opfer, die Gott angenehm sind durch Jesus Christus. Und das 
geistliche Opfer, das Gott angenehm ist, das ist der Same, welcher ist Christus. 
Denn Christus ist Gott und Gott ist ein Feuer, das ist das wahre Opfer¬ 
feuer. Das Feuer ist aber kein Feuer, sondern ein dickes Wasser erfunden. 
Dessen ist ein Vorbild geschehen, da die Väter aus Persien weggeführt worden 
haben die Priester das Feuer vom Altar in eine tiefe, trockene Grube ver¬ 
steckt und erhalten. Nach etlichen Jahren schickte Nehemias derselben Priester 
Nachkommen, daß sie das Feuer wieder suchten, aber sie haben kein Feuer 
sondern ein dickes Wasser gefunden. Da nun alles zum Opfer zugerüstet 
ward, hat Nehemias befohlen, sie sollten das Wasser über das Holz und über 
das Opfer, das auf dem Holz lag, gießen, als sie dasselbe getan hatten und 
die Sonne voll heraufkommen war, da zündete sich ein großes Feuer an 
dessen verwunderten sich alle. Diese Höhle, in die das Feuer versteckt war’ 
ist jetzt erfunden in denen Töchtern Gottes in ihrem Mutterhaus.“ 

Andere Höhlen, die in der Bibel Vorkommen, besonders diejenige, in 
die sich Adam und Eva nach dem Sündenfall versteckten, erklärt Anton 
ganz gleich. Er fährt dann fort: 

„Denn eben in der Höhle, da sich Adam mit seinem Weib versteckt hat, 
ward ihnen auch versteckt die Hütte des Zeugnisses, die Lade und der 
Altar und das Rauchopfer der himmlischen Güter. Und in der Höhle ward 
verschlossen das Loch in das Mutterhaus, in die Mutterkammern und mit 
Scham zugedeckt. Denn wegen der Scham hat diese Höhle kein Mensch 
können finden noch wissen, nun aber hat es Gott geoffenbaret durch seinen 
Geist, denn der Geist erforschet alles, selbst die Tiefe der Gottheit. Jetzt 
hat Gott den Leib also vermenget und den dürftigen Gliedern am meisten 
Ehre gegeben und die Höhle, darin die Stiftshütte, die Lade und der Altar 
des Brandopfers, geoffenbaret, denn der eingeborne Sohn, der in des Vaters 
Schoß ist, derselbige hat es uns verkündigt. 

Ihr Tochter des lebendigen Gottes, sehet, der Herr in der Herrlichkeit 
Gottes, der ist in euch. Denn eure Brüder, die Söhne des lebendigen 
Gottes, die haben das wahre Opferfeuer, welches ein dickes Wasser erfunden 
ist. Die opfern das geistliche Opfer, welches Gott angenehm ist durch 
Jesus Christus, das ist in ihrem Samen, welcher Christus ist, durch die 
schone Tür hinein auf den Altar. Da entzündet sich ein Feuer der Liebe, 



















Zwei schweizerische iSektenstifter 


4,33 


denn Gott ist die Liebe, das ist das Blut und Flamme des Herrn. Da er¬ 
füllet die Herrlichkeit des Herrn das Haus durch das wahre Opferfeuer. 

Zu der Pforte des Himmels geht der gesegnete Same, welcher ist Christus, 
hinein, zu erscheinen vor dem Angesicht Gottes, dann kommen die Söhne 
und Töchter des lebendigen Gottes heraus. Da wird Jesus Christus, der 
Herr in der Herrlichkeit Gottes des Vaters, — geboren. 

Durch die schöne Tür kommt der kleine Benjamin hinein, das Lieb¬ 
liche des Herrn, denn der kleine Benjamin ist ein Rohr, einem Stecken 
gleich, damit zu messen den Tempel Gottes und den Altar. Der gehet 
ein durch des Tempels Tür, die da heißet die Schöne, wie heilig ist diese 
Stätte, hier ist nichts anderes denn Gottes Haus, hier ist die Pforte des 
Himmels.“ 

In unzähligen Variationen wiederholt Anton diese Dinge und refrain- 
weise flicht er dazwischen ein: „Freuet euch und frohlocket miteinander 

oder: Lasset uns unter einander wahrnehmen mit Reizen zur Liebe 
und guten Werken, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst!“ 

Nach Unternährer ist also Christus die zur Wollust drängende Libido 
sexualis, der in jeder Wollust sich selbst zum Opfer bringende Opferer, 
der in jedem aus dem Opfer hervorgehenden Kinde wiederersteht — ein 
paranoides Mythologem, das die innigste Verwandtschaft mit einem uns 
wohl bekannten wirklichen Mythologem hat: mit dem indischen Agni- 
Mythus: Agni, etwa auch Agni-Soma, der sich stets opfernde und durch 
das Opfer stets neu erzeugende Gott. 

Vergessen wir dabei nie, daß Anton Unternährer sich selbst gleich 
Christus setzt, somit sich selbst für den sich in jeder Wollust opfernden 
Opferer erklärt. Wie im neuen Jerusalem, als Baum des Lebens, so ist er 
auch in dieser Christusrolle die Libido der Welt. 

Fast von selbst ergibt sich die weitere Identifikation mit Adam. Die 
Gleichsetzung von Adam mit Christus kehrt ja in vielen mystischen Systemen 
wieder. Die eingeschlagene Rippe, die Anton als Beweis seiner Göttlichkeit 
zu demonstrieren pflegte, ist sowohl die Rippe Adams, wie Christi Seiten¬ 
wunde. 

Alle diese Beziehungen sind schon im ersten Büchlein in Andeutungen 
vorhanden. In dem sogenannten Berufungsbuch, das etwa 1805 entstanden ist, 
sind sie schon deutlicher, aber dort wird schon auf noch verschwiegene 
Geheimnisse hingewiesen. 

Das Berufungsbuch enthält eine Beschreibung seiner Stimmen und 
Visionen. Aber da diese halluzinatorischen Erlebnisse im Jahre 1792 ge- 

Imago XIII. 


28 










434 


Hermann Rorsckack (*j*) 


schehen sein sollen, die Aufzeichnung also mehr als zwölf Jahre späte 
erfolgte, ist auch diesem autobiographischen Werke nicht so viel analytisch 
Brauchbares zu entnehmen, wie wir erwarten und wünschen möchten denn 
es finden sich da sichere Gedächtnishalluzinationen in großer Zahl 

Das ganze Buch umfaßt nur einige Wochen des Jahres 1792. Die Da¬ 
tierung konnte richtig sein. Sie entspräche etwa der Zeit, wo Anton sich 
mit Weib und Kind in die Einsamkeit zurückzog, also sicher einer Phase 
tieferer Introversion. Ferner ist das Jahr 1792 sein vierunddreißigstes Lebens¬ 
jahr. Die Jahre zwischen dem dreiunddreißigsten und fünfunddreißigsten 
Lebensjahr prädisponieren, wie sehr viele Erweckungsgeschichten zeigen 
zu solchen Phasen tieferer Introversion. Auch der Lauf der äußeren Ereig¬ 
nisse konnte mitwirken: in Paris, dessen Leben ja Anton aus eigener An¬ 
schauung kannte, begannen die Vorspiele der Revolution, der König war 
geflohen, viele Kirchen waren geschlossen und die Religion als Aberglaube 
erklärt worden. Daß Anton in jener Zeit religiöse Interessen pflegte, ist 
ebenfalls bekannt. Er pflog damals regelmäßigen Verkehr mit einem alten 
Manne, namens Johannes; wer dieser Johannes war, wissen wir nicht, aber 
sicher hatte er die Sektenverfolgung miterlebt, die wenige Jahre vor Antons 
Geburt in Entlebuch stattgefunden hatte, und wahrscheinlich ist er es ge¬ 
wesen, der dem katholischen Anton Unternährer die Bibel in die Hand 
gegeben hatte. 

Dieser alte Mann wird in Antons Schriften etwa erwähnt als der alte 
Mann, der menschlich mit ihm war. Noch zwei oder drei andere betagte 
Männer werden mit Ausdrücken erwähnt, die eine gewisse Übertragung 
verraten. Vater und Mutter erwähnt er nur, wo er sie mit Christi Vater 
und Mutter parallel stellt, die Geschwister und ebenso Frau und Kind 
kommen in Antons Schriften gar nie vor. 

Wir werden da eine homosexuelle Komponente vermuten und sehen uns 
in dieser Vermutung bestärkt durch einige Stellen des Berufungsbuches. 
Einmal tritt hier schon der Gedanke der Zwiegeschlechtigkeit auf. Zuerst 
erscheint ihm Christus in unsagbarer Schönheit, dann einige Tage darauf 
erscheint ihm ein wunderschönes Weib, das sich ihm als die reine Jung¬ 
frau Jesus Christus vorstellt, und wenige Tage darauf kommen beide Bilder, 
der männliche und der weibliche Christus gleichzeitig zu ihm; aber in 
kurzem verschwindet das jungfräuliche Bild, indem es in das Herz des 
männlichen Christus hineinschlüpft. Wieder etwas später fließt die Er¬ 
scheinung Christi in ihn, Anton selbst hinein, und künftig erscheint ihm 
Christus nicht mehr, sondern nur noch ein Engel, ein schöner Mann mit 




















Zwei sdiweizerisdie Sektenstifter 


436 


einem goldenen Schwerte; Christi Stimme aber erklingt im Leihe Unter- 
uährers. und fortan ist er Christus selbst. 

Er sieht in den Visionen, zu denen ihn seine himmlischen Führer geleiten, 
immer wieder die Strafgerichte gegen die, die nicht lieben, die Kirchen voll 
Feuer und Blut, die Erde voll Plagen, die Hölle voll Angsttiere; er sieht 
die ganze Schöpfungsgeschichte und vielerlei biblische Bilder, deren Deutung 
er aber noch verschweigen müsse; es wird ihm sein ganzes Leben, bis 1805, 
prophezeit und für später das Jüngste Gericht, das er, Anton, werde halten 
müssen. 

Dazwischen kommen richtige Banalitäten vor. Einmal rühmt sich Gott, 
daß er den Anton zu rechter Zeit in die Herberge geschickt habe, ehe es 
zu regnen begonnen habe. 

Merkwürdig ist die folgende Szene: „Da waren wir plötzlich auf einem 
flachen Felde. Da sah ich zwei Seile in der Grobe (Grobheit) wie Glocken¬ 
seile, die reichten hinauf bis an den Himmel, dort war ein Rad, wie in 
einem Flaschenzug, und auf Erden war ein Brett wie bei einer Waage, 
darauf saß einer und den andern Teil hielt er in der Hand, und wollte 
sich also in die Höhe ziehen, und mochte sich selbst nicht bewegen. Da 
kam ein anderer hinzu und wollte ihn hinaufziehen, aber sie waren beide 
gleich schwer, standen wie in einer Waage mit zwei gleichen Schalen." — 
Nachher, nachdem sie gleich nach dieser Szene besonders erschreckliche Angst¬ 
tiere gesehen haben, kommen Anton und sein Begleiter wieder zu diesen 
zweien zurück, und Christas erklärt ihm, die Männer mit den Seilen, das 
seien die Selbstgerechten, die mit eigner Gerechtigkeit den Himmel erreichen 
wollten. Wenn der antonianische Himmel die Wollust ist, so wird man in 
dem Bilde kaum etwas anderes sehen können, als die Bilder der Mastur¬ 
bation und der Homosexualität, daher auch die Angstbetonung. Ein Punkt 
ist noch übrig. Anton bringt in seinen Schriften viele Male die Worte vom 
Eckstein an, den die Bauleute verworfen haben. Er meint damit wieder 
sich selbst, und zwar deswegen, weil er drei Steine, d. h. drei Hoden hatte. 
In schizophrener Weise gebraucht er den Doppelsinn des Wortes Testis und 
macht aus den drei Hoden drei Zeugen, womit er wieder bei dem unzählige 
Male wiederholten Worte anlangt: Drei sind, die da zeugen auf Erden: das 
Wasser, das Blut und der Geist. 

Aus der großen Bedeutung, die bei Anton den drei Steinen zukommt, 
können wir den Schluß ziehen, daß diese Anomalie der Grund eines gewissen 
Minderwertigkeitsgefühls, wenigstens Abnormitätsgefühls, war, das einerseits, 
weil er sich deswegen verworfen fühlte, zeitweise seine Neigung zur Intro- 


28 * 














version verstärkte, 




Daraus ließe sich wohl der Eh*, 
ausspricht: Hirte — Malpr _ • -r» ^ruisskala sich 

- L, - Prediger ~ 

— Natur war, da, deu Inhal, - 

Wir finden ,a bei ausgebildeten Größenwahnsystemen fast Lmer 
»ach, regelmäßig, daß der Kulminationspunkt de, GtoßenwaZs duT"“ 

Ä:s=r.sia 

Die Lebensgeschichte Unternährers bestätigt dies- Er war A m u 
der Sexualabenteurer als den ihn Hin wj g durchaus nicht 

Tragen des Kreuzes hpr v S ahme Arm komme vom 

gleiche Opfertat laul E ” d “ »' *• 

Sc^u ellhmeut;, 6 "“ 6 '- ™ “' h “ ™ Antons 

folgend. Phase» 3ers*heidL h T,r.n. VOr “ d, “ Sen Leb ™ "° h e,W * 

ers!h U eim hS ' ein ’ ^ “ ** ««Mmer Mensch 

In~™f"r 8 “" S, “ d ' de " PW vertiefter 

die in ihrer Skala ' voraus g ln g- In einer ganzen Reihe von Berufen, 

- nud„ .““Är s rr 

Extraversionsmöglichkeiten. Prediger), sucht er 

der“o»t«”el d ef K ^ Wied . er SCh " b ”” '"“Version, Auftauch,» 

Homosexuellen Komponente, Angst, Halluzinationen. 

zahlreiche übmra 186 BeSS6rUng ’ anscheinen d, weil ihm der Beruf des Arztes 
Übertragungen einträgt, die seine extraversiven Tendenzen kräftigen. 












Zwei sckweizerisdie iSektenstifter 


4?>7 


Dann mit vierzig, einundvierzig, zweiundvierzig Jahren wieder eine Intro¬ 
versionsphase, die innerhalb kurzer Zeit zur Bildung eines großzügigen Wahn¬ 
systems führt, mit welchem eine eigentliche Erfüllungsphase beginnt. 

Von da an Stabilität, und gegen Ende des Lebens immer deutlicheres 
Übergehen in den unproduktiven, passiven Autismus vieler chronischen 
Paranoiden. 

Das vorhandene Material genügt nicht, um die Ursachen der einzelnen 
Phasen zu ergründen, um die in die tiefere Introversion treibenden Stöße 
und die aus der Introversion heraushelfenden Triebkräfte zu erklären. Ich 
glaube aber das liegt nicht am Material, sondern an etwas anderem: an der 
Schizophrenie Unternährers. Ich habe mich nie von der psychogenen Natur 
der schizophrenen Krankheitsformen überzeugen können. Wir werden wohl 
später noch Gelegenheit genug haben, über diese Fragen zu diskutieren. 
Für heute möchte ich mich mit einem Vergleiche erklären. Ein schizo¬ 
phrener Schub kommt wie ein Erdbeben über die Psyche und reißt in die 
Oberfläche der entwicklungsgeschichtlich jüngsten Schichten mehr oder 
weniger tiefe Risse, so daß wir durch diese Risse herauf und an den ent¬ 
standenen Überwerfungen direkt vor die Augen bekommen, was an ent¬ 
wicklungsgeschichtlich älteren Schichten darunter verborgen lag. Nicht das 
Unbewußte, sondern die Risse in den oberen Schichten sind das Wesentliche 
an der Schizophrenie. 

In diesen Rissen erscheinen immer wieder die phylogenetisch und onto- 
genetisch älteren Schichten, immer das gleiche: Inzestkomplex, homosexuelle 
Komponente, Zwiegeschlechtigkeit usw. Das Unterscheidende liegt nur an 
der sekundären Überarbeitung der Risse durch das Wahnsystem. Die Komplexe, 
die der Kranke in seinen noch gesunden Zeiten mit sich getragen hat, 
werden dann eben die Gebilde des Überbaus ebenso mitbestimmen, wie die 
Bildung und die allgemeinen Interessen, die der Kranke vorher besessen hatte. 

Die Risse können so tief gehen oder so zahlreich sein, daß es zu einem 
Abbau der ganzen ontogenetisch aufgebauten Persönlichkeit ihrer fonction 
du reel, ihres Ichs, kommt. Abbau aber nicht im Sinne einer Regression 
auf dem ontogenetisch zurückgelegten Wege, sondern im Sinne eines ordnungs¬ 
losen, sich nicht an ontogenetische Fixierungsstellen haltenden Zusammen¬ 
sturzes der Persönlichkeit. Aus diesem Zustande gibt es für den Kranken 
nur eine Rettung: einfach die ganze Welt Ich zu nennen, und zu sich in 
Beziehung zu setzen. Daraus können verschiedene Wahnideen entstehen, 
am zweckmäßigsten aber ist die Idee des Gottseins, denn Gott ist alles 
und versöhnt alles, er vereinigt beide Geschlechter in sich und alle Alter 














438 


Hermann Rorsdiadi (i*) 


des Menschen und der Menschheit. In ihm herrscht Ruhe und Versöhntheit, 
solange er sich nicht um den Teufel kümmert. Zum Teufel aber wird für 
den Kranken das, was er verdrängen möchte und nicht kann. 

Was der Schizophrene, der in die Introversion hineinstürzt, weil seine 
Jonction du reel , vielleicht kann man sagen: die Kontinenz der Extraversion, 
geschwächt ist, notgedrungen erlebt, das erlebt der Künstler, der Mystiker, 
der Philosoph aktiv. Die Introversion ist in allen Fällen die gleiche und 
gelangt zu gleichen Urgedanken, wie die schizophrene Introversion. Seihst 
die Produkte haben eine enge Verwandtschaft untereinander. Um von zahl¬ 
losen möglichen Beispielen nur einige zu nennen: Auch in Fichtes Ich- 
Gott, in Schellings Weltseele, oder auch etwa in Tolstois oder in Bölsches 
Mystik wird man narzißtische Komponenten finden können. Der Unterschied 
wird wohl darin liegen, daß z. B. der Philosoph auf der Leiter der onto- 
genetischen Fixierungen in die Introversion hinabsteigt und daher auch 
nachdenkbar ist, und deswegen den Weg zur vollen Extraversion wieder 
aktiv zurückfindet, der Schizophrene aber passiv hinuntergeworfen wird, 
und sein ganzes weiteres Leben mehr oder weniger vergeblich darauf ver¬ 
wendet, den Rückweg wieder zu finden. 

Wir können daher meines Erachtens bei einer Schizophrenie nicht psychi¬ 
sche Ursachen aufdecken, sondern nur tiefe Erdbebenrisse kartographieren, 
nur in das aufgedeckte Unbewußte hineinsehen durch das stellenweise ab¬ 
gebaute Bewußte hindurch. 

So bekommen wir immer wieder das gleiche zu sehen, nur in immer neuen 
individuellen Legierungen mit den bewußt aufgenommenen Dingen des 
individuellen Wissens. 

Wir müssen deshalb auch diese Dinge des individuellen Wissens berück¬ 
sichtigen. 

An Anton Unternährers Intelligenz haben wir kaum zu zweifeln. Seine 
Erfolge als Arzt, das Zeugnis Thaddäus Müllers, sowie Antons Schriften 
sprechen für eine nicht geringe ursprüngliche Intelligenz. 

Er lernte sich frühe auf sympathische Künste verstehen, also auf über¬ 
natürliche Dinge. Früh mußten seine Gedanken auch aufs Religiöse gerichtet 
worden sein, denn wenige Jahre vor seiner Geburt hatte in Entlebuch 
die Sekte des Sulzig-Joggi bestanden, eine evangelisch-pietistische Gemein¬ 
schaft, die energisch verfolgt und deren Haupt in Luzern hingerichtet 
worden war. Auf seinen Hausier- und Praxisreisen muß er nicht nur mit 
den Emmentaler Täufern, sondern auch mit Augenzeugen der Brüggler- 
sekte in Berührung gekommen sein, deren Haupt erst 1754 Bern ver " 


















Zwe i scbweizerisdie iSektenstifte: 


4$ 9 


brannt worden war. Hieronymus Köhler und sein Bruder hatten sich für 
Gott-Vater und Gott-Sohn und ein liederliches Weibsbild für den Heiligen 
Geist erklärt und eine weitreichende Massenpsychose verursacht. Sicher ist 
ferner, daß Anton die Versammlungen der Heimberger oder Oberländer 
Brüder besucht hatte, die ihren Ursprung auf Zinzendorf zurückführten. 
In Amsoldingen selbst lebten zahlreiche Erinnerungen an den großen Pietisten¬ 
prediger Samuel Lutz, der ein gewaltiger Lehrmeister der religiösen Intro¬ 
version gewesen war. 

Nicht wenig hat auch die Französische Revolution auf Anton ein gewirkt. 
Beweis dafür ist, daß er in den tatenreichen Wochen des Frühlings 1802 
ein Plakat hatte drucken lassen, — es ist zwar wie das Gerichtsbüchlein 
sogleich konfisziert worden, — das die Aufschrift trug: „Freiheit in Jesu, 
Gleichheit in Gott und Bürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen und 
Erben des Reichs!“ und das einen Aufruf zu einer Art religiös-kommunisti¬ 
scher Anarchie enthielt. 

Anton Unternährer hat ferner Bücher Jakob Böhmes gelesen, wahrscheinlich 
auch die damals vielverbreiteten Prophezeibücher aller Art, die Berleburger 
Bibel und Zinzendorfs Lieder, Berichte über die Sekten und Rotten einer 
Eva Buttlar und eines Elias Eller, die der Brügglersekte ähnlich waren, 
über die Erfolge der Methodisten und der Quäker und was alles an religiösen 
Bildungen und Mißbildungen durch jene Jahrzehnte ging. Nicht unmöglich 
ist, daß auch Rousseau hereinspielt. 

Die Leidenschaftlichkeit, mit der Anton sich von Anfang an gegen die 
teuflischen Früchte der Erkenntnis wandte, bezieht wohl eine bedeutende 
Wurzel auch aus zwei andern Zeiterscheinungen: aus dem revolutionären 
Kultus der Vernunft einerseits und anderseits aus dem damals so hoch¬ 
trabenden A ufklärungsr ationalismus. 

Alle diese Dinge haben auf die Wahngestaltung Unternährers wohl 
wesentlichen Einfluß ausgeübt. 

Sie haben aber zugleich die Lösung des Rätsels in sich, wieso Anton 
Unternährer zum Sektengründer werden konnte. 

Ähnliche Wahnsysteme, wie das Unternährers, finden wir ja öfters in 
unseren Anstalten. Dazu, daß ein solches System Grundlage einer religiösen 
Gemeinschaft werden konnte, war aber eine bestimmte Zeit und eine 
bestimmte Bevölkerung notwendig. 

In jener Zeit stritten miteinander die tiefste Mystik und der oberfläch¬ 
lichste Rationalismus. Alle angelernten Begriffe gerieten ins Schwanken, 
und die Revolutionen wirkten im gleichen Sinne. Die Folge war ein 








mächtiges Bedürfnis nach Projektionsobjekten, in religiös angeregten La ,, 
schäften besonders nach Propheten. Gleichzeitig eine weitverbreitete krasse 
Unfähigkeit, das Gesunde vom Kranken, die Sublimierung von der n 
Sublimierung zu unterscheiden. Wohl nie haben so viele Erwecker P 
pheten, und so viele Schwindler, Anhänger, Gläubige und Gemeind« 
ge unden wie zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 

Dazu kam bei Unternährer eine Bevölkerung, die von jeher in religiöser 
Beziehung gern ihre eigenen Wege gegangen war. 

Trotz alledem bleibt es noch seltsam genug, daß Anton Unternährers 
ehre eine Sekte erwirken konnte. Es ist ja wirklich seine Lehre und 
nicht, wie bei Bmggeli, seine Person, die die Sekte erwirkte, denn Anton 
war ja, als sein Wahnsystem noch kaum entstanden war, schon aus dem 
Milieu seiner Anhänger verbannt worden. 

Sehen wir uns nochmals den antonianischen Mythus auf seine Tauglich- 
eit als Religion hm an! Alles ist bei ihm desublimiert. Die Tendenz die 
sic urch die ganze phylogenetische Entwicklungsgeschichte hindurchzieht 
ie Tendenz der Sexualverdrängung, ist auf den Kopf gestellt: Nur das 
Sexuelle ist Lebenszweck. Auch die archaischsten Religionsformen, die wir 
ennen, sind sublimierter als die antonianische. Selbst in solchen Religionen 
che den kultischen Beischlaf kennen, ist dieser zum Mindesten zeitlich auf 
estimmte Festtage und örtlich an bestimmte kultische Stätten beschränkt 
Die Inzestschranke ist gefallen. Jegliche Erkenntnis und jegliche Bildung 
ist verpönt: die vollkommene Umkehrung des Weisheitsgewinns nach der 
inzestuösen Wiedergeburt anderer Mythen. 

Jeder anagogische Symbolüberbau ist abgedeckt und zu einer katagogi- 
sc en ym o enthullung geworden. Jedes Symbol ist zu einem Vorbild und 
c atten für das allein für wahr Gewollte, das Sexuelle, geworden. Alles 
wird resozialisiert. Die Verdrängung und Sublimierung wird für teuflisch 
r . Himmel und Hölle sind vertauscht. 

Das Ganze ist eine Regression zum Triebleben, die sich durch eine 
recht vollkommene Konsequenz auszeichnet. 

S W u dieSe j SOnderbare Religion, wahrscheinlich die archaischste aller 
e «lehren der Christenheit, hat Anhänger gefunden. Der Trost der 
irc enhistonker, die Anhänger, hätten den eigentlichsten Sinn der antoniani- 
en e re gar nicht verstanden, ist schwach, denn in der ersten Zeit des 
n omanismus gab es Anhänger, die ebenso konsequent waren wie die 

Zf Se St ‘ Unge Madchen ’ die wegen Schwangerschaft vor die Chor¬ 
gerichte kamen, sagten frischweg, sie hätten mit dem oder jenem Abendmahl 
















Zwei schweizerische Sektenstifter 



441 


gefeiert, oder sie hätten mit ihm vom Baum des Lebens genossen. Es wurden 
sexuelle Orgien und Fälle von Weibertausch bekannt. Mehrfach wurden 
Inzeste der Sektierer bestraft. Oft weigerten sich antonianische Eltern nicht 
nur, die Kinder taufen zu lassen, sondern sie sperrten sich auch dagegen, 
sie in die Schule zu schicken, oder wenn sie sie schickten, so durften die 
Kinder wenigstens aus keinem andern Buche lesen als aus der Bibel, denn 
alle andern Bücher seien teuflische Früchte der Erkenntnis. 

Allerdings traten in einigen Jahrzehnten dann sublimierende Modi¬ 
fikationen unter den Antonianern auf, die zu verfolgen für heute zu weit 
führen würde. 

Zum Schlüsse noch ein paar Worte über Binggeli. Schon ganz zu Anfang 
der antonianischen Sekte finden sich unter den Anhängern auch Bürger 
von Schwarzenburg und Seftigen. Ein Binggeli war in der Folge lange 
Jahre das Haupt der Antonianer im Sch warzenburgischen. 

Binggeli hat mit antonianischen Lehren seinen Inzest mir gegenüber 
verteidigt. 

Er hat manches von Unternährer übernommen, vor allem die Sexuali¬ 
sierung des Religiösen. Aber er hat, wie Sie nun nachträglich leicht kon¬ 
statieren werden, die antonianischen Dinge nicht schizophren verarbeitet. 
Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden besteht in der Anpassung an 
die Umgebung. Beide entstammen abergläubischen Bevölkerungen, und beide 
haben den Aberglauben der Umgebung auch weidlich zum Quacksalbern 
benützt. Während aber Binggeli sich auch in seinen Lehren auf Schritt 
und Tritt der Umgangssprache des heimischen Aberglaubens anpaßte, ent¬ 
hält die Lehre Unternährers nicht die geringsten Anklänge an dieselbe. 
Unternährer entfernt sich weit von der niederen Mythologie des Aber¬ 
glaubens und geht vielmehr der hohen Mythologie, den Wegen des 
Menschheitsmythus nach, zurück, bis er bei jener ungeheuerlichen Tiefe 
des Vormenschen anlangt, die sogar vor allen Mythologien liegt. Im Ver¬ 
gleich mit Unternährer ist Binggeli bereits wieder ein anagogisches Phä¬ 
nomen, so gering seine Fähigkeit zu anagogischen Gedankengängen auch 
gewesen ist. 















Mondxnytliologie und Mondreligion 

Von 

Geza. R okeim 

Budapest 


I)D ie TPasserträger im -Monde 


Die Varianten der iS i 


s e 


Die folgende Sagengruppe diene zum Ausgangspunkt eines Versuches, 
in das Wesen der Mondmythologie einzudringen. 


P . Irland - Nach irischem Volksglauben sitzen im Mond zwei Knaben die 
aut einer Stange einen Eimer zwischen sich tragen . 1 

2) Westfalen. Man erblickt ein Kind mit einem Eimer im Mond . 2 

3) ' Mecklenburg. „En mäten het fohroten mit de knechts makt. Ens is 
se mit ehr tohop rut gähn un het den mand utgeiten wullt. Dat mäten hat’n 
emmer vufl water nahmen; as se öwer to geiten will, is de mand dalfollen 
up dat maten un de knechts un het se all verbrennt.“ Mitgeteilt aus Wismar . 5 

4) eutsche Volkssage. Ein Dieb stahl zwei Wassereimer. Als er nach 
Hause wollte, kam ein Mann hinter ihm her und da der Dieb zu laufen 

egann, lief der Mann auch ebenso schnell hinter ihm. Der Dieb drehte sich 
um und sah daß er in Wahrheit nur von seinem eigenen Schatten verfolgt 
wurde. Da fluchte er dem Mond, in dessen Licht er den Schatten warf, füllte 
emen Eimer mit Wasser und schüttete ihn zum Mond hinauf, — aber im selben 
Augenblick flog er mit beiden Eimern in den Mond, wo man ihn noch heute sieht.* 


1) H. Th een: Am Urquell. 1892. 9. 

tr .P T? rt ^f g V ° n M ‘ Bartels: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. 1807. 110. 
(Ohne Quellenangabe.) 

, 3 4 . ) . R ‘ W ° ssidlo: Das Naturleben im Munde des Mecklenburger Volkes. Zeit¬ 
schrift des Vereins für Volkskunde. 1895. V. 429. 

4) W. Wagner; Unsere Vorzeit I. Germanische Göttersagen. (In achter Auflage 

neu bearbeitet von G. H.) 1907. 392, 393. (Ohne Quellenangabe.) 













Mondmythologie und Mondreligion 


443 


r) Rantum. Der Mann im Mond ist ein Riese, der zur Zeit der Flut 
ohiickt steht, weil er dann Wasser schöpft und auf die Erde gießt und da¬ 
durch die Flut hervorbringt. Zur Zeit der Ebbe aber steht er aufrecht un ^ 
ru ht von seiner Arbeit aus, so daß sich das Wasser wieder verlaufen kann. 

6) Die jüngere Edda. Mani leitet den Gang des Mondes und herrscht 
über Neulicht und Vollicht. Er nahm zwei Kinder von der Erde, Bil und 
Hiuki genannt, da sie von dem Brunnen Byrgir kamen und den Eimer auf 
den Achseln trugen; der heißt Sägr und die Eimerstange Simul. Widsinnr 
heißt ihr Vater; diese Kinder gehen hinter dem Monde her, wie man noch 

von der Erde aus sehen kann . 1 2 * . . . 

7 ) Jämteland. Schweden. Im Monde sieht man zwei Greise mit einem 

Eimer voll Wasser; sie wollten den Mond auslöschen, wurden aber dort fest- 
sehalten und müssen nun dort beschämt für die Ewigkeit sitzen bleiben. 

S 8) Södraswerge. Schweden. Noch heute glaubt das schwedische Landvolk 
im Monde zwei Menschen, die einen großen Eimer auf einer Stange zusammen 

tragen, zu erblicken . 4 # 

g ) Gestriktland. Schweden. Im Monde sind zwei Greise mit einer Teer¬ 
kanne. Sie gingen nämlich auf den Mond, um ihn zu teeren damit er sie 
nicht verraten möge, wenn sie ausgingen zu stehlen. Sie wurden aber do 
festeehalten und sitzen nun dort bis an den letzten Tag . 5 

^10) Pite-Lapmark. Kirchspiel Arjepluog: Ein Mann und eine Frau 
wollten des Nachts stehlen gehen, doch schien ihnen der Mond zu hell. Sie 
wollten daher den Mond mit Teer verdunkeln und nahmen eine Teerkanne, 
welche bis an den Rand gefüllt war. Da wurde der Mond sehr böse, daß 
man ihn einteeren wolle und nahm die beiden mit der Teerkanne hinauf, 
wo sie noch heute, vor der ganzen Welt an den Pranger gestellt, sltz ®". 

Il) Oesel. Estnisch. Der Mond schien den Dieben bei ihrem nächtlichen 
Geschäfte zu hell. Um ihn unschädlich zu machen, stiegen sie mit einer Teer utte 
auf eine Leiter; der Mond stand nämlich gerade recht niedrig. Als sie eben hinan 
gingen, ihn zu beteeren, überraschte sie Gott und strafte sie dadurch, " 

Ir immer im Monde stehen ließ mit der Teerbutte Daher sind im Monde 
noch heute schwarze Flecken zu sehen. (Erzählt auf Oesel. Dagden, Mon, Wiek.) 


1) Am Urquell. 1892. 290. K. Möllenhoff: Sagen Märchen und Lieder der 
Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. 1845. 5 o. 

2) K. Simrock: Die Edda. 1896. a 5 5 - Glyfaginn.ng 11. 

.{ Am Urquell. 1895. 55. (Nach Cavallius: Wärend och Wirdame.) 

4 L Grimm: Deutsche Mythologie. II. 1877. 598- R- Hassencamp: Die Mond¬ 
flecken in Sage und Mythologie. Globus 1873. XXIII. 108. 

§ hTaUsz^Svedlapp Nyelv. V. Näpköltäsi Gyüjtemeny. 1893. 3 - (Sprache der 
Schwach™ 

tv + VH a6 Vgl. F. I. Wiedemann: Aus dem inneren und äußeren 

L U eben r der Esten. 1876. 458. Mit etwas künstlichem Aufputz wird die Sage wiederholt 

von H. Jannsen: Märchen und Sagen des Estnischen Volkes. 1888. 19. 174. 













12 ) Zweite estnische Variante. Sonntag abends ging eine Fr» 
um Wasser zu holen. Sie sagte zum Mond: „Was stehst du dort und guS 
mich an, du solltest mir lieber beim Wassertragen helfen Ich muß t 
und du faulenzt dort oben!“ Der Mond harn erzürnt, packte dTe Fra f ^ 
nahm sie zu sich hinauf. Da steht sie „och jetzt mit beiden Eime" 
arnung daß man am Ruhetage nicht arbeiten darf. Der Mond aber W 
kerne Ruhe er muß die Welt durchwandern und überall leuchten > * 

. X V °V^ en ; Eme bose Stlefmutter schickt ein Mädchen in den Tau 
^wischen Weihnachten und dem Heiligen-Drei-Königs-Tag um Wasser D? 

Tod t6re Und W ° Ilte Sich vor iW Verfolgerin L £n 

Tod fluchten. Sie sprang auf den gefrorenen See, um zu ertrinken dol 
sonst, das Wasser wollte sie nicht beherbergen. In ihrem Jammer flehte *!' 
„Oh du mein leuchtend weißer Mond, du siehst meine Leiden; nicht ein' 

£nhI aS M r -7? 6tWaS V ° n ^ ™'“ ” Ich sehe «*. sagte der MondTnd 
hob das Mädchen mit der Eimerstange geräuschlos zu sich empor wo J^ 
sie seitdem bei schönem Wetter sehen kann . 3 P ’ man 

Tsch uwaschen. Eine böse Schwiegermutter zankte fortwährend mit 
o rj U ß 8en FraU ’ blS GOtt Siö aUS MitIeid “ den Mond ver setzte. Manchen 
mit W ß “ an " Ur - * * * 4 S ° I lel ZU berichten: ” Im Mond ste ht eine junge Frau 

2: g 7wZJf r Mond ei ” Ru ‘"” i 

de/pr KaS , an f tataren 'o Dreima l 0der einmal im Jahre öffnen sich die Pforten 
von m t-M? Sekunde und in dieser Sekunde werden alle Wünsche 
von Allah erfüllt* Es war einmal ein Mädchen, das ging mit der EimersZ 

jf d6n Schulte ™’ Wasser zu schöpfen. Sie blickte auf die leuchtend! 

ondscheibe und dachte, wie schön wäre es, dort oben zu sein. Dies war 
Srrt dle wunscherfüllende Sekunde und Allah versetzte das Mädchen 
mit der Wassereimerstange in den Mond, wo sie seither zu sehen ist 5 


H KiJhv Fa Tp Se 7 : Mä r be " Und Sagen des Estnischen Volkes. 1888. Nr. 26. S i 7 r 
H. Kirby: The Hero of Esthonia. II. 1895. 37 . 75 ‘ 

z) B Munkäcsi: Votjdk nepkölteszeti hagyomänyok. 1887. 37 . übersetzt bei 
slocki. Kosmogomsche Sagen der Wotjaken. Globus LXIV. JL 6* 

waschen.) r ° S: A ^ Eml * kei ' ^ 8 *' (U-ligmu der Tschu- 

4 ) Zu den sich öffnenden Pforten des Himmels siehe J. J. m . de Groof Les 
Fetes annueHement celebrees ä Emoui. 1886. I. Musee Guimet XI. 389. _ H Prölrie- 
Unterharzische Sagen. 1856. 88-91. _ J. Marmula: Arvamegy! lengyelaüm lako-' 

Arva [Nordungarnn S Eth Eth yT grai>hiSChe Beschreibun § der Polnischen Einwohner von 
völo- f hn. XI. 454. A. Zubek: A maramarosmegyei Nagy-Ag“ 

4 37 gy _ ^ ledel 7 !i b 7 '' (AUS d6m rUthenischen Volksglauben.) 8 Ethil. VL 1895. 

3 iq _ über die" yi V, f y n Ue 5 m ° nddk - ( Volkssa g en aus Siebenbürgen.) Ethn. XII. 
religiöser Brauch , WUn ^ herfulIende Minute H. von Wlislocki: Volksglaube und 
Mythologie. 1852. agyaren- 1 93 ' 49 ' J- W ' Wolf: Beiträge zur deutschen 

5) Meszaros, loc . dt. 85. 





























Mondmytliologie und Mondreligion 44^ 


j6) Jakuten. Der Häuptling hatte ein Waisenmädchen zu sich genommen, 
das aber von seiner bösen Frau sehr gequält wurde. In einer Mondnacht, als 
der Frost den Hauch des Mundes zu Eis verwandelte, ging das Mädchen zum 
benachbarten See, Wasser zu holen. An der Wuhne zerschlug sie die Eisdecke, 
füllte ihre Borkeimer und machte sich auf den Heimweg. Wie sie an einem 
Gebüsch vorübergeht, verwickelt sich ihr Fuß in einen langen Weidenzweig, 
die Eimer fallen hin und das Wasser läuft heraus. Die Wuhne ist inzwischen 
wieder zugefroren und ohne das Wasser traut sie sich nicht nach Hause zu gehen. 
Sie wendet sich an den Mond: „Errette mich, weißer Mond, vor der Qual, 
die ich auf Erden erdulden muß“ usw. Der Mond fiel ihr sogleich zu Füßen, 
doch auch die Sonne wollte sich um das Mädchen bewerben. Es entspinnt 
sich zwischen den beiden ein Kampf, aber der besiegte Mond beruft sich auf 
seine Rechte als Nachtgestim und darauf, daß die Sonne das Mädchen doch 
versengen würde. Die Sonne sieht dies ein und gibt nach. Der Mond nimmt 
das Mädchen zu sich und zugleich auch den Weidenzweig, den sie in der 
Angst erfaßt hatte, als der Kampf der Brüder entbrannt war. So, das Schulter¬ 
joch mit den Eimern auf der Achsel, ist das Mädchen noch jetzt in hellen 
Nächten auf dem Mond zu sehen . 1 

iy) Zweite jakutische Variante ohne wesentlich abweichende Züge: 
Auch jetzt kann man in stiller Nacht im Monde das Mädchen erblicken, wie 
es mit dem Eimerjoch auf der Achsel sich am Weidenzweig festhält. Die arme, 
auf Erden bedrückte Magd ward der Unsterblichkeit wert befunden und wird 
leben, solange Mond und Himmel bestehen. Doch zu Zeiten stirbt sie für eine 
Weile, dann wird der Mond, der sich innig an seine Gefährtin angeschlossen 
hat, schwarz vor Kummer und die Menschen sagen: „Es ist Mondfinsternis. 
Bald wird aber das schöne Mädchen wieder lebendig und das Antlitz des 
Mondes erstrahlt von neuem in Wonne . 2 3 

18) Dritte Jakutenvariante. „In einer kalten Winternacht wurde einst 
ein Waisenmädchen nach Wasser ausgesandt. Sie stand unter einer Weide und 
weinte. Da erbarmte sich ihrer der Mond und nahm sie zu sich hinauf mit der 
Weide, den Eimern und dem Tragholz. Man kann sie noch heute dort sehen. 

Iy) Den jakutischen steht die burjätische Fassung am nächsten. Sonne und 
Mond haben einen gemeinschaftlichen „Besitzer“ feshinj oder eigentlich eine 
Besitzerin. Die Stiefmutter fluchte einmal ihren beiden Töchtern: „Wenn euch 
doch die Sonne oder der Mond holte!“ Wie die Mädchen um Wasser gehen, 
wollten Sonne und Mond die beiden greifen. Das eine Mädchen klammerte 
sich an einen Busch, die Sonne aber packte das Mädchen und ein Teil des 
Busches riß ab. Die Sonne lieferte das Mädchen dem Monde, der sehr darum 


1) A. C. Winter: Die Mondmythe der Jakuten. Globus. LXXXIV. 383. — W. Ow- 
tshiniko w: Materialien zur Ethnographie der Jakuten. (Iz materialov po ethnografii 
jakutov.) Etnograficeskoje Obozrjenie 1897. III. 

2) A, C. Winter, ibid. 

3) Petri: Neueres über die Jakuten. Petermanns Mitteilungen. 1887. 102. (Nach 
Pripusow: Materialien zum Studium des Schamanismus. 62.) 























bat, aus, und seit jener Zeit sieht man im Monde das Bild eines Mädch 
welches mit einer Hand einen Busch erfaßt. Die Burjaten glauben in A 
Mondflache das eine Mädchen, die Herrin des Mondes zu sehen und zeichnet 
ihr Bild auf die Kisten der Schamanen . 1 

2 °) In einer anderen burjatischen Fassung fehlt die Stiefmutter dafür 
verwünscht hier die leibliche Mutter das Mädchen, da dieses beim Wasser- 
schopfen lange ausbleibt, in Sonne und Mond. Die Sonne überläßt sie -wi«. 

und dem Mond - Das Mädchen hatte im Schrecken, als sie die 
beiden Himmelskörper auf sich losrücken sah, nach den Zweigen eines Busche! 
gegriffen, und als der Mond sie mit sich in die Höhe hob, brach das Blätter 
buschel ab das sie noch jetzt in der Hand hält, während sie in dem andern" 
Arm den Wasserkrug trägt, wie sie im Mond zu sehen ist . 2 * 

2lJ Zwischen den asiatischen und amerikanischen Fassungen findet sich ein* 
Brücke m folgender Erzählung der Ainu .3 Ein Bursche wollte den Eltern 
nicht gehorchen und besonders war ihm das Wasserschöpfen lästig; die Götter 
wurden ihm gram und versetzten den Burschen in den Mond, damit die ganze 
Welt sehe, wie es denen geht, die den Eltern nicht folgen. Wie man ihm 
nämlich auftrug, Wasser zu holen, ging er durch die Türe und schlug den 
Türpfosten: „Wohl dir, du brauchst kein Wasser zu holen!“ Dasselbe sagt er 
einem Meinen Fisch; wie er aber den Lachs begrüßt, packt ihn dieser und 
versetzt ihn, zur Strafe für seine Faulheit, in den Mond . 4 

22y> - T ^ I . i i nkit: Man S ° U sich nicht ^pektlos über den Mond äußern da 
es zwei Mädchen so schlecht ergangen ist. Sie gingen gerade Wasser holen 
da sagte die eine: „The moon looks just like my grandmoihers labret.“ Sofort 
uhren beide empor in den Mond, und die das gesagt hatte, wurde in Stücke 
zerschmettert. Die andere kann man mit dem Wassereimer noch immer im Mond 
er icken. Danach gaben die Leute Feste zu Ehren dieser Mädchen im Monde . 5 

• i- i° S<5n<ie Varlante unseres Stoffes ist mir leider nur aus zweiter Hand 
zugänglich; möglicherweise verzeichnet die eigentliche Quelle den betreffenden 
Stamm. Harley sagt bloß: „ihe native tribes of British Columbia„Ancestral 
vzllage of a tnbe of Indians.“ „Ein Kind, welches der Häuptlingsklasse an- 


und 1 Ch^ngaltfo ^ ^ ^ Schamanentum unter den Burjäten. (Nach Agapito w 

, . 2 l A . d - Bastian , : Geographische und ethnographische Bilder. 1873. Ein Besuch 

^ h<m Sc t“ en ' 396 ' Siehe auch °' Pesch el: Über den Mann im Monde. 
Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde. II. 1878. 329. (Ausland. 1866. 535.) 

5) Hier sollte auch eine tungusische Variante eingeschaltet werden, die ich irgendwo 
aus einer russischen Quelle exzerpiert hatte; doch kann ich die nun schon fünfzehn 
Jahre oder mehr zurückliegende Aufzeichnung nicht finden. 

4) John. Batchelor: The Ainu and their Folklore. 1901. 67, 68. 

Tl,r -1 Swan *°u- Social Condition, Beliefs and Liquistic Relationship of the 

Die"pil k “'n ! eP f B ?, reaU Am - Ethn - 453 - Dasselbe bei Krause, 

”l, • F1 , k n auf dem Monde sollen zwei Kinder bedeuten, welche der Mond einst: 

als sie beim Wasserholen über ihn spotteten, ergriffen und zu sich genommen hat.“ 
A. Krause: Die Thlinkitindianer. 1885. 270, 271 






















Aionclmy tlioloyie tnicl Mondreligion 


AA7 


gehörte, wachte bei Nacht auf und weinte vor Durst. Umsonst schrie das Kind 
um Wasser, die Mutter achtete nicht darauf. Da erbarmte sich der Mond des 
Kindes und stieg vom Himmel herab, um dem Kleinen Wasser zu reichen. Das 
Kind packte den Topf und trank ihn aus, aber nicht genug damit, es folgte 
seinem Wohltäter auch hinauf in sein himmlisches Reich. Im Monde kann man 
dieses Kind noch immer mit dem runden Körbchen, welches es beim Schlafen¬ 
gehen in der Hand hielt, erblicken.“ 1 

24) Kwakiutl. Eine Frau und deren Tochter lebten zusammen in Tlamnos; 
die Tochter war sehr schön und darum beschloß der Mondmann, sie zu rauben. 
Er stieg vom Himmel herab und bat die Mutter um Wasser. Sie schickte ihre 
Tochter zum Brunnen, aber kaum hatte diese den Fuß vor die Türe gesetzt, 
so ergriff sie der Mondmann und nahm sie mit in den Himmel hinauf. Die 
Mutter war traurig und zog nach Nauete. Nun wiederholt sich trotz der Mahnung 
der Mutter der Mädchenraub (Wasserverlangen) des Mondmannes. Das Mädchen 
mit dem Eimer kann man noch heute im Monde sehen. 2 

2,f) Shuswap. Der Mond war ein wunderschöner Mann; seine Frau hieß 
Wala und sie hatten viele Kinder (die Sterne). Beim Wandern ging der Mond 
voraus, um das Haus zu richten, Wäla folgte mit einem riesigen Eimer aus Birken¬ 
rinde auf dem Rücken und einer Schneeschaufel aus demselben Material in der 
Hand. „She used the shovel for filling her buckets with snow to meltfor melted 
water was the orily water they could get in the winter time 66 (Motiv: „Wasser¬ 
schöpfen“, Einfluß der Umgebung). Eines Tages fragte die Frau den Mond: „Wo 
werden wir morgen unser Lager aufschlagen ? “ Sie wiederholte die Frage mehr¬ 
mals, der Mond wurde ärgerlich, worauf sie ihm (beim Wort nehmend) ins 
Gesicht sprang. Dort sitzt sie noch heute mit dem Eimer aus Birkenrinde und 
der Schneeschaufel. 3 4 

26) Zweite Shuswapfassung. Der Mond hatte zwei Frauen, Wa’ela und 
Tsita’eka. Die zweite blieb kinderlos und sie liebte er mehr als Wa’ela. Nun 
fragt ihn Wä’ela: „Wohin soll ich denn mit meinen Kindern gehen? Er war 
zornig und rief: „Setze dich auf meine Augen I“ Da sprang sie auf seine Augen 
und dort sehen wir sie noch heute im Monde sitzen. Dort sieht man auch 
deutlich den Mann, seine Beine und das Bündel, das er auf dem Rücken trägt. 
Aus der Vergleichung mit 2/ und 27 („Setze dich auf meine Augen“)^ ergibt 
sich die Zugehörigkeit zu unserer Gruppe, obwohl das „Wassertragen fehlt. 

27) Thomp son-River-Indian er. Einst war der Mond ein schöner Indianer 
von bleicher Gesichtsfarbe. Der Hase (oder die Kröte) war seine jüngere Schwester. 


1) The Church Missionary Intelligencer. 1865. April. 8. 116. T. Harley: Moon 
Lore. 1885. 56. 

2) F. Boas: Indianische Sagen von der Nordpazifischen Küste Amerikas. 1855* 1 9 1, 
(Auch Globus LIV. 14.) 

5) J. Teit: The Shuswap. Jesup North Pacific Expedition. Vol. II. Part. VII. 655. 

4) F. Boas: Indianische Sagen. 15. — Zu dem Bündel, gewöhnlich ein Bündel Holz, 
das der Mondmann auf dem Rücken trägt, vergleiche O. Dähnhardt: Natursagen. I. 
1907. 254. W. Roscher: Über Selene und Verwandtes. 1890. S. 183. Anm. 34 und 
weiter unten über den Holzdieb. 
















Die Pleiaden waren bei ihm zu Gast und er sandte seine Schwester W« 
zu o en. Nach einiger Zeit kam sie zurück mit einem Eimer voll Wasser 1 
beiden Händen Sie beklagte sich, die Hütte sei voll, es sei kein Platz für ,, 
Dann setz dich auf mein Gesicht!“ sagt ihr Bruder, der Mond. Im Antlitz des 
Mondes ist die Frau mit dem Wassereimer noch immer sichtbar und da sie d ama I 

‘"T« ’» T"”’ “““ d ‘ e PI “ den "“ h “ Gruppe » ffi™* 

2 S) Awity.no,. Ein junge. Midchen Ihre» Bruder, während dl. 

Mutter «usgegang.n w.r, Ol.chen tu f.ngen, D. der Knahe unaufhörlich ,chrie 
schlug ... ihn ,n ihren Mantel ein „„d geh ihm d,„„ 

zum Spielen. Sie drohte ihm, der Mond werde ihn holen, wenn er nicht still 
sein wollte. Der fcd to sie und nhnmt den Jungen mit .ich hinauf ,^ 

k “ n ,““ den Knaben mit de m Eimer in der Hand im Monde sehen * 
29) Haidah. Koong, der Mond zog einmal mit seinen Strahlen einen Mann 
zu sich samt seinem Wassereimer und einem Solalstrauch (Gaultheria shallon) 
an dem er sich festhalten wollte, empor. Den Mann, genannt Eethlinga kann 
man nun oben bei klarem Wetter im Vollmond sehen, und wenn «seinen 
Wassereimer umkehrt, regnet es .3 _ Frobenius gibt auch die Abbildung eine“ 

rnTtexirFilT TO Und WaSSe T imer ' 4 Siehe aUCh Swanton ( loc - <*■ unten), 
Plate XXI, Fig. 5. „The vornan ivho was pulled up to the moon for insultine 

ff /T iT, P T °( ^ WUS getting at the time wo* carried 

off and the salal-bushes she grasped in trying to save herseif“, S. 142 

de/ver Z Tt lte Haidah - Fassun g- Eine Frau pflegte mit dem Finger als Zeichen 
der Verachtung auf einen gewissen Stern hinzudeuten. Zur Strafe wurde sie in 

den Himmel emporgeholt und in das Rauchloch eines Hauses gehängt. Ihre 
Bruder retteten sm, indem sie ein Bild von ihr verfertigten und dies an ihre 
Stelle hangten Nach einiger Zeit zeigte sie jedoch auf den Mond und wurde 
or hm gebracht mit dem Wassereimer, den sie gerade trug, und dem Salal- 
Bush, an. dem sie sich halten wollte. * 2 3 * 5 


_, 1 A J 7 ™ elt: . Tra f t i 0nS of the Thom P son River Indians of British Columbia. 1808 
91, 92. (Memoirs of the American Folklore Society. VI.) 

2) Boas: Indianische Sagen. 217. 

3) Sonst erscheint der Mond als eine Schale, je nach dem Stand der Sichel zu 
Neumond behalt der Mond den Regen oder gießt ihn aus, vgl. Janko- Torda 

und n ToroSk6T 0r i°8 C TTb (D “ “ 1 ^ arische Volk Torda, Aranyosszek 

Volke! 7 e 7 f h' n l U Ab ! kln & : Stern - uud Wetterkunde des portugiesischen 
wandtespto f ^ Volksk -de. 1904. 224. Roscher: Selenfund Ver¬ 

teilung übefdie ff 4 ' (Polltls ) Vergihus Georgicon. I. 427. Meszäros: Mündliche Mit- 

Der Mondin ““ ^ 1 ” ^ I9 ° 9 ' A nyelvhagyomdnyainkhan 

S defLoanfoM t «^Uierlieferungen). 1887.4. Ad. Bastian: Die deutsche Expedition 

Folk L«e Td W 1 1? ; VgLT - Harle y ; Moon Lore 1885. 187. M.Trevelyan: 

roik-Lore and Folk-Stories of Wales. 1909. 4 o. 

Tb 4 f L ' Frobenius: Aus den Flegeljahren der Menschheit. 1901. 277. A. P. Niblack- 

die AhMdung Nr 2 8f OUthern “ NOrthern British C ° lumbia ' S- 5 - Siehe 

Pacff,c J p!; 1 n ant °^ : Contributions t® tbe Ethnology of the Haidah. Jesup North 
p ltion. V. 1905. 217, 218. Mit dem Finger auf den Mond zu zeigen, gilt 



























Mondmythologie und Mondreligion 


449 


jl) Pelau-Inseln. (Zugehörigkeit zum Hauptthema unsicher.) Ein Mann 
geht bei Mondschein fischen. (Ersatz für „Wasserholen“, vgl. unten bei Rona.) 
£)ie Frau hält ihr Kind am Arm und sagt zum Monde: „Komm, nimm dein 
Kind!“ Der Mond steigt nun herunter vom Himmel und fordert das Kind; 
die Frau erschrickt und bittet den Mond zu warten, bis ihr Mann nach Hause 
kommt. Alle drei sind im Monde zu sehen. * 1 

32) Maori. Rona fiel in einen Brunnen, hielt sich aber an einem Baume 
fest. So sieht man ihn noch heute im Mond. 2 

33) Die Maori sagen: „Denke, wie es Rona ging, weil sie dem Mond 
fluchte.“ Rona wollte im Mondschein Wasser holen, der Mond indes trat 
hinter eine Wolke, so daß sie strauchelte. „Verfluchter Mond," rief sie, „kannst 
du nicht scheinen?" Darüber wurde der Mond böse, stieg vom Himmel und 
verfolgte sie. Rasch erstieg sie einen Baum, welcher am Strome wuchs; doch 
der Mond grub ihn aus und nahm ihn samt der darauf sitzenden Rona mit 
sich zum Himmel empor. Noch heute kann man sie im Mond auf dem Baume 
sitzen sehen. 3 

34) Maori. In uralter Zeit, als der Mond den Menschen noch kein Licht 
gab, ging ein Neuseeländer namens Rona einmal bei Nacht aus, um Wasser 
aus einem Teiche zu holen und als er tappelnd den Weg suchte, fiel er und 
wurde lahm, so daß er nicht nach Hause gehen konnte. Als er so ächzend 
dalag, fühlte er, wie der Mond plötzlich über ihn kam. Er versuchte sich 
an einen Baum anzuklammern, doch vergebens. Der Baum wurde mit den 
Wurzeln ausgerissen und ist noch heute mit dem an ihm hängenden Rona im 
Mond zu sehen. 4 

3 j) Ein Häuptling namens Rona wurde bei Nacht sehr durstig, und da 
seine Frau gerade nicht zu Hause war, mußte er sich selbst Wasser holen; 
noch dazu versteckte sich der Mond hinter den Wolken, so daß er stolperte. 
Gekränkt und wütend sprach er: „Wann wird der Mond sein gekochtes Haupt 
hervorstecken?“ Um diese Beleidigung zu rächen, kam der Mond herab. Rona 
samt Wassertopf nahm er mit sich und das ist die Art, wie sie sich die 
Mondflecken erklären. 5 

36a) Maori. Rarawa-Variante. Wie oben. Rona ist eine Frau; sie 
braucht Wasser, um den Ofen zu heizen, da sie das Essen für ihre Familie 
kochen muß. Stolpern. „Rona faied or strangled 6 , Bedeutung des Namens). 


als Beleidigung für ihn; er heißt dem Frechen den Finger ah. (Griechenland, Deutsch¬ 
land, China, Odschibwä.) W. H. R. Roscher: Selene und Verwandtes. 1890. 186. 

1) B asti an: Allerlei ausVolks-und Menschenkunde, 1888.58.DieReligion derPelauer. 

2) Domeny de Rienzi: Ozeanien. 1839. III. 172. 

3) Waitz-G erland: Anthropologie der Naturvölker. VI. 1872. 89, 90. Das Sprich¬ 
wort laut G. Grey: Ko Nga Whakcipepeha me Nga JVhakadhuareka a Nga Tipuna 
o Aotea-Roa. Proverbial and populär sayings of the Ancestors of the New Zealand 
Race. 1857. 50. Die Sage aus Davis: Maori Mementos. Auckland. 1855. 165. 

4) Y. Y. Nicholas: Reise nach Neuseeland. 1819. 39, 

5) R. Taylor: Te ika a Maui or New Zealand ad its inhabitants. 1855. 95. 
Vgl. auch I. S. Polack: Manners and Custom of the New-Zealanders. 1840. 244, 245. 


Imago XIII. 


29 






















G^za Rölieim 


The calabash and a ngaio tree (Mjroporum laetumj zuhich she held for 
tection and the rochs near to which the tree was growing 66 sind alle bei V 
mond sichtbar. 1 v ou- 

36b) Nga-ti-hau-Variante. Einer unserer Ahnen, genannt Rona, war 
sehr durstig, konnte aber seinen Durst nicht befriedigen, da die kleinen Bäche 
der Umgebung ausgetrocknet waren. Er mußte also weitergehen, um Wasse! 
zu holen und wollte warten, bis der Mond aufgeht und den Weg beleuchtet 
In seiner Ungeduld fing er an zu fluchen und sagte: „When will the cooked- 
headed moon shme. Um die Beleidigung zu rächen, zog ihn der Mond ivith 
his tahas or ipus (calabashas) and a ngaio tree he had taken hold of“ emnor* 
n/r j A ” dere Fassung, Nga-i-tahu. Rona ist der Herr der Sonne und des 
Mondes Rona ißt den Mond und der Mond ißt Rona, doch da beide in dem 
allmonatlich wiederkehrenden Kampf erschöpft werden, baden sie im „lebenden 
Wasser des Tane (Wai ora Tane) und verjüngen sich darin. Rona teilt sicj 
m der Herrschaft des Mondes mit Tu-raki (Garb of Heaven.)fi 

Rona, ein fauler Mann, zankt sich mit seiner Frau Hine-horo-matai 
(„the daughter who swallows all she obtains without asking“) und sucht sie 
zu prügeln. Vom Himmel wurde der Gott Hoka („Screen“) zur Frau gesandt 
um ihr Haus zu zertrümmern. Einen Tag später fuhr sie mit ihren Kindern 
nn Boot und Rona rief sie in betrügerischer Art, um sie zu prügeln. Der Gott 
Hoka kommt herab und prügelt Rona. Zu Hause werden aber ihre Kinder 
sehr durstig. „She went with her two calabashes to get water for them but 
as the water dried up as she advanced she went on even dose to the moon 
at which she threw one of the calabashes“ (dort sichtbar). Sie flüchtet vor 
ihrem Manne in die Sonne, dann in den Mond und wieder zurück nach 
Hause. Dort zündet sie ihre Hütte an und verbrennt selbst in den Flammen. 
Kona sucht Frau und Kinder vergebens und bleibt seitdem im Monde. * 2 * 4 

39J Nga-i-tahu-Variante: Rona geht auf die See, seine Frau hintergeht 
1 n mit Hoka. „Who comes so vehemently as to destroy fence and hause“ 
fragt er. Sie antwortet: Der Wind. Er ertappt Hoka, schneidet ihm ein Stück 
Fleisch ab und tischt es seiner Frau auf. Nun schickt er sie um Wasser, 
welches aber vor ihr und ihren beiden Kindern zurückweicht. Sie setzt die 
beiden Kinder aufs Wasser, Rona findet sie und nimmt sie zu sich in sein 
Boot alle kommen aber durch Feuer um, außer Rona. „He determined to go 
to the sun; not being able, to get near it he joined himself to the moon and 

began at once to eat the moon and this he continued to until the moon was 
aii consumed . 5 


40 aj Nga-Puhi-Variante 
with cords . Mondscheinnacht. 


Rona eine Frau. Niame bedeutet „confine 
Geht, um ihren Kindern Essen zu holen. 


tio^ jgg“' The Ancient History of the Maori, his Mythology and Tradi- 

2) White, ibid. II. 21. 

5) White, loc. cit . 

4) White, II. 22. 

5) White, loc. cit. II. 23—26. 

























Mond mythologie und Alondreligion ^ 5 i 


stolpern, Fluch. („Mond mit gekochtem Haupt) wie }3, Jj. Im Monde sichtbar 
V ivith ngaio-tree and gourd“, 1 

40b) Maori, ohne nähere Angabe. Rona geht mit mehreren Eimern Wasser 
schöpfen und verflucht den Mond, der ihr den Weg nicht beleuchten will. 
(Dies war der Ursprung des Fluchens.) Als Strafe ihrer Sünde wird sie vom 
Monde emporgezogen, wo sie mit einer ganzen Anzahl von Wassereimern zu 
sehen ist. Man sagt auch, Rona und ihre Schwester Tangaroa-a-roto seien die 
Frauen des Mondes. 2 

Die iSage und ilire "NA^anclerungswege 

Zunächst handelt es sich natürlich darum, das Verhältnis der einzelnen 
Varianten zueinander, namentlich auf die überall wiederkehrende Grund¬ 
frage der Ethnologie hin (Wanderung oder Elementargedanke?) 
zu untersuchen. Rein formell ordnen sich die Varianten in gewisse Gruppen, 
die aber auch ethnologisch-geographisch natürliche Einheiten bilden. Wir 
wollen die erste „Eddagruppe“ nennen; der gemeinsame Zug ist darin 
zu suchen, daß zwei Menschen, beide meist männlichen Geschlechtes, 
mit dem Eimer im Monde sitzen. So I (Irland: zwei Knaben); 6 (Edda: 
ebenso); 7 (Jämteland: zwei Greise); 8 (Södraswerge: zwei Menschen); 
p (Gestriktland: wie 7); IO (Pite Lapmark: Mann und Frau. Die An¬ 
wesenheit der Frau ist vielleicht dem Einfluß einer anderen Fassung, der 
uralaltaischen Gruppe zugehörig, mit einem Mädchen als Heldin zuzu¬ 
schreiben [siehe unten]). Wahrscheinlich auch II (Oesel: zwei Diebe. Eine 
Untergruppe bildet die Abwandlung „Teerkanne“ an Stelle von Wasser¬ 
eimer 9, IO, II; sicher schwedisches Lehngut bei Lappen und Esten. 
Wie diese Untergruppe aus dem Hauptthema entstanden ist, kann man 
sich unschwer erklären, wenn man j und 7 heranzieht, die Vorstellung 
einer verbotenen lichtscheuen Handlung führt zur Modifikation „Mondlicht 
auslöschen“, und von hier aus wird dann an Stelle des Wassers (Angleichung 
an die dunkle Nacht, ferner Mondflecken, schwarze Hälfte des Mondes) der 
Teer eingeführt. Jedenfalls ist aber diese Gruppe germanisch (auch 2 gehört 
hieher, trotz der Einzahl; j hingegen möglicherweise ganz unabhängig 
entstanden). 

Wir müssen annehmen, daß diese Sagen unter verschiedenen germani¬ 
schen Stämmen zur Zeit der Abfassung des Gylfaginning in Umlauf waren 
und sich mündlich bis auf den heutigen Tag erhielten. Dagegen zwingt 

1) Withe, loc. cit. II. 26. 

2) Elsdon Best: Notes on Maori Mythology. Journal of the Polynesian Society* 
VIII. 100, 101. 


29 * 













uns vorläufig noch nichts zur Annahme eines historischen Zusammenhangs 
mxt der uralaltaischen Gruppe; freilich ist auch die unabhängige Ent 
stehung nicht gesichert. In den Varianten 72 (estnisch); jj (votlakisch) 
14 (tschuwaschisch); 7/ (Kasan-Tataren); 16, 77, 18 (Jakuten), 77, 20 (Bur’ 
jäten) handelt es sich nämlich um die bekannte Märchenformel- Ver 
folgtes Mädchen - böse Schwiegermutter“ im Anschluß an „Wasserholen“ 
und Naturdeutung; Träger dieser Formel sind aber lauter uralaltaische Völker 
denen man demnach wohl auch die Urheberschaft Zutrauen muß. Aus dem 
sten werden es die Esten mitgebracht haben: in Angleichung an andere 
ondsagen, die ihnen von indogermanischer Seite zuflossen, wurde das 
Mädchen aus einer verfolgten Unschuld zur Störerin der Sonntagsruhe» 
uch die Amu werden die Sage (21) aus uraltaischer Quelle empfangen 

3 r“ 6Utet Wenigstens das Motiv des ungehorsamen Kindes und 
auch der Weidenzweig; Motive, die diese ihre Fassungen mit den fest- 
andisch-asiatischen verbinden, wenn auch das Mädchen hier wieder zum 
Knaben geworden ist. 

Bei den Ainu ist aber die Sage nicht stehengeblieben, sie hat, wie so 

Vle , “ ' E1Cmeme asiatischer Kultur, die Beringsstraße passiert, um 

sich m Nordwestamerika festzusetzen. Deutlich bezeugen dies die ameri- 
amschen Fassungen. Wieder wandelt sich das Motiv den gesellschaft- 
f e l ents P re chend; keine böse Stiefmutter wie in Nordasien, 

]e oc Madchenraub (24). Übernatürliches Wesen hat Mitleid mit einem 
1 osen (23). Mond ursprünglich personifiziert, so daß die zweite Personi- 

1 T°T w lm M ° nde “’ sich deu tlich als Überarbeitung des Themas 

und als V\ andergut herausstellt (2 S , 26, 2 7 ). Ungehorsames Kind bestraft 

( wie m Arno 2/ ; vielleicht noch Anklang an Asien) und Übertretung eines 
a us (30) sind hier die Ursachen, welche dazu führen, daß jemand in den 
Mond versetzt wird. Dennoch kann die amerikanische Gruppe nicht unab¬ 
hängig entstanden sein; ein Sonderzug in der Naturdeutung beweist 
den Zusammenhang mit Asien. In den Varianten 16, 7 7 , 18, i 9 , 20 heißt 

s nämlich, daß der Betreffende, der in den Mond versetzt wird, sich an 
einem Strauch festzuhalten versucht, und in den Mondflecken erblickt man 
ann nicht nur den Wassereimer, sondern auch diesen Strauch. Dieser absolut 
nicht naturnotwendige Zug findet sich aber in den Haidevarianten 29, 30 
wieder, womit meines Erachtens die Frage: „Elementargedanke oder Wander¬ 
gut um so mehr zugunsten der zweiten Möglichkeit als entschieden zu 


1) Siehe weiter unten, 











Mond mythologie und Atondreligion 


453 


betrachten ist, da nordostasiatisch-nordwestamerikanische Kulturbeziehungen 
ja auch sonst zu den gesicherten Ergebnissen ethnologischer Forschung ge¬ 
rechnet werden dürfen. Nun findet sich aber diese doppelte Naturdeutung 
der Flecken (Busch und Wassereimer, bzw. Wasserholen) in den Maorifassungen 
33 > 34 -> 3 ^-> 4 ® wieder; und wir müssen uns daher entscheiden, entweder 
unabhängige Entstehung und unabhängige Verquickung der beiden natur¬ 
deutenden Züge anzunehmen oder aber eine asiatische Quelle für Neuseeland 
in den Bereich der V\ ahrscheinlichkeit zu rücken. Dies ist nicht der einzige 
Fall „rätselhafter Sagenverwandtschaften u zwischen dem asiatischen Festlande 
und Ozeanien. Genau wie in unserem Fall, wo wir dieselbe Sage bei Ural- 
altaiern und Maori finden, hat W. Anderson 1 2 den Nachweis geführt, daß 
eine Sage sich in binnenasiatischen Varianten und außerdem noch auf den 
Palauinseln findet. Natürlich könnten die Fälle bedeutend vermehrt werden, 
und es wird sich gewiß herausstellen, daß asiatische Sagenstoffe zu allen Zeiten 
von den verschiedenen Kultur- und Völkerwellen in die Südsee verschleppt 
wurden. 

Wir wollen aber nicht zu sehr in die Ferne schweifen und uns zunächst 
lieber, wie unsere Sagenhelden oder -heldinnen, an den Strauch, der im 
Monde sichtbar ist, klammern. Nach einer Bemerkung von Bastian klammert 
sich nämlich Rona nicht an das Myoporum laetum , sondern an einen Zweig 
des Pohutu-Kawa-Ba.\imes . „Das Mädchen Rona, den Mond scheltend, weil 
er beim Wasserholen nicht scheint, wurde mit einem Zweige des Pohutu - 
iGzzz>a-Baumes, woran sie sich festzuhalten versuchte, emporgenommen. u 2 
Nun ist dieser Baum zwar botanisch von ganz anderer Art als das berühmte 
Kawa-kawa, die Gleichheit der Benennung läßt aber doch auf die Zugehörigkeit 
zu demselben Kulturkreis schließen. 3 In Tahiti hielt man den Mond für eine 
Frau, Gattin der Sonne, oder aber man dachte, im Monde sei ein wunderschönes 
Land, in welchem die Aoa wächst. 4 Der Mond badet in dem Lebenswasser des 


1) In dieser Sage will Gott die Menschheit unsterblich machen und gibt deshalb 
einem Vogel den Auftrag, den Menschen „ewiges Wasser“ zu bringen; der Vogel setzt 
sich auf einen Baum, verschüttet aber das Wasser durch die Schuld eines anderen 
Vogels; das ewige Wasser fließt auf den Baum und verleiht ihm dadurch erhöhte 
Lebenskraft, die Menschen aber bleiben sterblich. — W. Anderson: Ein sonderbarer 
Fall von Sagenverwandtschaft. Mitra. 1914. 37—41. Derselbe: Der auf Bäume ver¬ 
schüttete Unsterblichkeitstrank. Z. f. E. LII. 1921. 430. 

2) A. Bastian: Inselgruppen in Ozeanien. 1883. Neuseeland. 208. 

3) Pohutu-Kawa Metrosideros tomentosa. Die Abart ist nur an dem Nordende Neusee¬ 
lands bekannt. Lesson: Les Polynesiens. IV. 1884. 256. Vgl. das Kawa-kawa. Ihid. 242. 

4) W. Ellis: Polynesian Researches. 1830. II. 415. 












Kane und erlangt so die Unsterblichkeit in Hawaii . 1 In seinen wirklich epoche¬ 
machenden Untersuchungen über Kulturschichten in Ozeanien charakterisiert 
Rivers eine der Wellen, die sich über Ozeanien aus dem Malaiischen Archipel 
und mittelbar wohl aus Südasien ergossen haben als die Kawakultur . 2 Einst 
war dieser ozeanische Unsterblichkeitstrank ein Vorrecht der Häuptlinge; das 
Kawatrinken ist ein wichtiges Moment der Häuptlingsweihe und erst nachdem 
der gewöhnliche Sterbliche das himmlische Naß gekostet hat, wird er ein 

Häuptling, d. h. „ein Gott“. Möglicherweise — schließt Hocart 3 weiter_ 

haben wir hier den Schlüssel dazu, wie es in den Veden gemeint ist, wenn 
der Dichter sagt: „ Wir haben Soma getrunken, wir sind unsterblich geworden“ 
und Kawa wäre demnach ein Ersatz des Somas oder beide Pflanzen hätten 
in verschiedenen Abzweigungen desselben Kulturkomplexes die Stelle eines 
Dritten eingenommen.« Nun folgt aber jedenfalls aus den Forschungen 
Hillebrandts, daß der Soma schon frühzeitig in den Mond projiziert wurde , 3 5 
wohl auf Grund eines Elementargedankens, wonach die verjüngende Kraft 
des Mondes überall in Gegensatz zur Vergänglichkeit des Menschenlebens 
tritt. In der Vishnupurana (2, 12) heißt es: „das im Mond befindliche Amrita, 
welches in einem halben Monat aufgesammelt ist, trinken die nektarspeisenden 
Götter, deshalb sind sie unsterblich.“ Den Nektar, den die Götter übrig ge¬ 
lassen haben, trinken die Manen und dadurch erlangen sie volle Befriedigung 
für einen Monat. „So erfreut er in der lichten Hälfte die Götter, in der 
dunklen die Manen und die Pflanzen mit seinen kühlen, aus Wassertomen 
bestehenden Nektarstrahlen .“ 6 7 Wiederum findet sich ein Widerhall in Poly¬ 
nesien. In den Sternen sieht man die Seelen der Toten und denen dient 
der Mond zur Speise, man glaubt, daß sie ihn verzehren, wenn er abnimmt; 
eine Mondesfinsternis, durch welche die Speise der Abgeschiedenen gefährdet 
wird, ist ein großes Unglück, welches man durch ein Opfer von Kokos¬ 
nüssen (em Ersatz für die himmlische Speise?) zu verhüten sucht. Im Monde 
wohnen die Seelen abgeschiedener Häuptlinge/ Noch merkwürdiger ist es, 
daß Rahu, der Dämon der Mondfinsternisse, der seine Unsterblichkeit dem 


1) W. D. Westerveit: Legends of Ma-Ui. 1910. 154. 

2) W. H. R. Rivers: The History of Melanesian Society. 1914. II. 578. 

3) A. M. Hocart: Myths in the Making. Folklore. XXXIII. 1922. 59, 60. Vgl. 
Derselbe: Chieftamship in the Pacific. American Anthropologist. 1915. XVII. 631. 

4) Hocart, loc. cit. Folklore XXXIII. 6i. 

5) Hillebrandt: Vedische Mythologie. 1891. I. 

6) Ebendort, I. 291, 292. 

7) Th. Waitz: Anthropologie der Naturvölker. 1870. V. Zweiter Teil. 197. Nach 
Turner: Nineteen Years in Polynesia. 1861. 529—531. 

















Mondmythologie und JMondreligion 

Trünke von Mondnektar (Amrita) verdankt, zugleich Schutzgott der „Fire- 
walker“ der nordwestlichen Provinzen ist, 1 genau wie die Mondgöttin Hina 
auf den Tongainseln. 2 

Der M ondtaum, der ewige Faden und die Spinnerin 
^Zusammenhänge zwischen Südostasien und Polynesien 

Noch andere Erwägungen helfen die Kluft zwischen Indien und Poly¬ 
nesien zu überbrücken. In Indien sieht man die heilige Somapflanze, 
auf Tahiti den Aoabaum im Monde. Dazwischen liegt Indonesien. Java 
und Minahasa (Celebes) verehren den Waringinbaum (Ficus benjamina). 3 
„Der Rauch ist im Mond in der Gestalt eines Waringinbaumes sichtbar. 
Die Tobaresen und Galeiaresen sehen einen Waringinbaum im Mond. 4 Die 
Redjang auf Sumatra erblicken einen Waringinbaum im Vollmond. 5 Auf 
Menangkabau heißt es, daß totgeborene und jung verstorbene Kinder einen 
Platz unter einer goldenen Wiege unter dem Waringinbaum im Monde 
bekommen. 6 In Timor heißt es: „Unter einem Baum sitzt der Mann im 
Monde und spinnt dort einen Faden, um das Weltall zusammenzuhalten.“ 7 
Bei den Mantra auf der Halbinsel Malakka findet sich dieselbe Kombination 
der Elemente, Mond, Baum, Faden (Schlinge), wie in Timor. Die dunklen 
Flecken im Monde gelten als Baum, darunter sitzt der Mondmann Moyang 
bertang , der ständig seinen Faden flicht, um damit die Menschen zu fangen; 
aber die Mäuse zernagen den Faden und retten die Menschheit vom Unter¬ 
gänge. 8 Genau so erzählen die Mentaweiinsulaner: Im Mond sitzt ein Mann, 
namens Si-ko-but und spinnt ein Tau, an dem er sich zur Erde hinunter- 


1) W. Crooke: The Populär Religion and Folklore of Northern India. 1896. I. 19. 

2) W. D. Westerveit: Legends of Ma-ui, a demigod of Polynesia and of his mother 
Hina. Honolulu. 1910. 169. 

3) Wilken: Verspreide Geschriften. 1912. III. 163. IV. 406. 

4) A. Bastian: Indonesien. 184. I. 102. Die Molukken. 

5) Ebendort. III. Sumatra. 

6 ) R. La sh: Die Verbleibsorte der Seelen der im Wochenbett Gestorbenen. Globus 
LXXX. 1901. 108. 

7) Bastian: Timor. III. 1885. 2. Der Mann Bilano spinnt unter dem Baum 
Nunuk. Die Bimas sehen in den Mondflecken Baumzweige, unter denen ein Vogel¬ 
fänger sitzt, Schlingen verfertigend. Bastian: Reisen im Indischen Archipel. 479. 
Der Vogelfänger ist wohl ein Seelenfänger, und die Seele ... ein Vogel (d. h. der 
Penis). 

8) Skeat and Blag den: Pagan Races of the Malay Peninsula. 1906. II. 319. 
Bastian: Timor. 105. 












456 q 6 

za Rölxemi 


lassen will. Da aber eine Maus das Tau immer wieder anknabbert, wieder 
holt sich dieses Spiel jede Nacht und er kann nicht hinunterkommen. 1 

Lehrreich ist das Variieren eines Grundthemas, sowohl vom ethnologi¬ 
schen wie auch (worüber weiter unten) vom psychologischen Standounkt 
Denn der alte Mann, der die Menschheit vom Untergange rettet, indem 
er durch ständiges Abschneiden der zum Himmel emporschießenden Pflanzen 
das Wiederzusammenwachsen von Himmel und Erde verhindert, 2 ist wohl 
kein anderer als dieser Mondalte. Der Himmel ist ein Topf, ein Faden 
halt ihn aufrecht; reißt der Faden, so zerschmettert der niederfallende 
Himmel alles Lebende auf Erden .3 Hier hätten wir also den Faden der 
das Weltall zusammenhält und der im Monde gesponnen ist* Zum Baum 
im Monde halten wir das Jenseits der Besisi; die Insel der Fruchtbäume 
im Monde, wo der Mondahne Gaffer Enkoh die Seelen vor den Angriffen 
der Tiger und wilden Tiere beschützt .5 Die Mondbäume finden wir in 
Mikronesien wieder; in Palau nähren sich die Menschen im Monde von 
den Fruchten eines Orangenbaumes, * 5 6 * in Nauru klettert das Mädchen auf 
einen Baum in den Mond/ Weitere Analogien finden sich zum Faden und 
der damit verbundenen Tätigkeit des Drehens, Webens, Spinnens in einem 
Verbreitungsgebiet, welches den Gedanken eines historischen Zusammen¬ 
hanges als naheliegend erscheinen läßt. „Die Mondfrau spinnt bei den 
Alfuren den Lebensfaden“ 8 * und, vorgreifend, wollen wir schon jetzt be¬ 
haupten, dieser Lebensfaden sei identisch mit den tödlichen Fallstricken 
des Moyang Bertang .9 In Nuguria und anderen kleinen polynesischen Grenz¬ 
inseln von Melanesien sieht man den Mondgeist, Mataga, im Monde sitzen 
und Kokosfaserschnur drehen. 10 In Samoa heißt es, daß zwei junge Männer, 
Pumfanga und Tafaliu, der eine auf einem Baum, der andere auf einer 


l ei Maaß: Bei h e i> ens würdi g en Wilden (Mentaweiinsulaner.) 

2) Skeat and Blagden, loc. du II. 320, 

3) Dieselben: II. 320. 

4) Siehe oben. 


1902. 93. 


5) Skeat and B lag den: II 298—300; cf. II. 187. 

6) Bastian: Die Molukken. 1884. I. 47. (Kubary) 

a am wm h: Nauru - I914 ' L 455 . - Derselbe: Südseemärchen. (Die 
Märchen der Weltliteratur.) 1916. 220. 

8) A. Bastian: Timor. 1885. 87. 

sie lieißt Z " ^oyang Bertan S ? ehört auch Frau im Monde; 

II 320 dU1 “ ” Gendul “ d ' h - „Großmutter“; Skeat and Blagden: loc. cit. 

ffranhie d!'r a n kl t nSOn T : Drei f S Jahre in der Südsee. 1907. 525. Derselbe: Ethno- 
graphie der Ontong-Javamseln. I. A. E. 1898. 196. 




















AIondmytLologie und Mondreligion 


467 


Rauchwolke in den Mond geklettert sind. 1 Die Annahme eines histori¬ 
schen Zusammenhanges mit den Molukken, wo der Rauch im Mond als 
Raum erscheint, ist hier wohl unabweisbar. In Timor arbeitet eine alte 
Frau im Mond Kleider, 2 in Samoa sieht man die Sina mit Brett und 
Hammer Tapa klopfend. Es war gerade Hungersnot, da erblickt eine Frau 
den Mond, der sie an eine Brotfrucht erinnerte und sie sagte: „Warum 
kannst du nicht herunterkommen, damit mein Kind sich ein Stück heraus¬ 
beiße. u Wütend über die Zumutung, gefressen zu werden (vgl. den Ausruf: 
„Mond mit gekochtem Haupt“, Maori \jj — 40]), eilt der Mond herunter 
und holt Frau, Tapa, Hammer und Kind, die noch jetzt in den Mond¬ 
flecken sichtbar sind, zu sich hinauf. 3 Man achte auf jede Einzelheit; hier 
erscheint der Mond wie eine Brotfrucht, die Mondfrau Hina wird durch 
Tangaroas Brotfruchtbaumblatt 4 (in Tahiti) beschattet und gebiert Oro. 5 In 
Mangaia holt sich der Mond die Ina zur Frau, dort sieht man sie mit einem 
Haufen Blätter, einem unerschöpflichen Ofen, mit den Zacken eines ge¬ 
spaltenen Kokosbaumzweiges (um die glühenden Stücke im Ofen zu packen), 
und dabei noch mit dem Verfertigen der Wolkenstoffe aus Tapa vollauf 
beschäftigt. 6 Von Polynesien führt der Weg über Indonesien rückläufig 
wieder nach Indien. Raka, d. h. Vollmond, arbeitet an einem Kleid mit 
unzerbrechlicher Nadel. 7 In Nordindien erblickt man noch heute eine alte 
Frau in den dunklen Flecken, die dort am Spinnrad arbeitet. 8 

Entstellung der Sage im süd- oder ostasiatiscken 
Kulturlire is 

Unsere unmittelbare Aufgabe wäre bloß eine Lösung für die eigentümliche 
geographische Verbreitung der Sagen von den Wasserträgern im Monde vorzu¬ 
schlagen, die angeführten Belege bezwecken bloß, durch die Übereinstimmung 


1) G. Turner: Samoa a hundred years ago. 1884. 203. 

2) Bastian: Inselgruppen in Ozeanien. 1883. 38. 

3) Turner, loc. eit. 38. 

4) Im Mond wohnt Tangaloa (Samoa); Turner: loc. cit. 53. 

5) Bastian: Ozeanien. 12. 

6) W. W. Gill: Myths and Songs from the South Pacific. 1876. 45, 46. 

7) Prato: Sonne, Mond und Sterne als Schönheitssymbole. Zeitschrift des Vereines 
für Völkerkunde. VI. 1896. 26. Vgl. Weber: Vedische Hochzeitssprüche. Indische 
Studien. V. 228. Hillebrandt: Vedische Mythologie. III. 1902. 410. Max Müller: 
Beiträge zu einer wissenschaftlichen Mythologie. Leipzig. 1899. II. 55. 

81 W. Crooke: Populär Religion and Folklore in Northern India. 1896. I. 14. 


J 












der nebensächlichsten Motive den Nachweis einer einheitlichen Überliefer 
zu bringen. Der Ausgangspunkt kann nur im süd- oder ostasiatischen Kuku^ 
kreis liegen; von hier aus wäre die Wanderung der Sagenelemente sowohl 
nach der Sudsee wie nach Nordasien (und von hier wiederum einerseits nach 
Osteuropa, anderseits nach Nordwestamerika) denkbar. Dieser Eindruck 
wird noch erhöht, wenn wir das indische und chinesische Material heran- 
ziehen. In Indien heißt der Mond „Sasadara“, d. h. der wie ein Hase be¬ 
zeichnet ist. 1 Auch als Reh werden die Mondflecken in Indien gedeutet eine 
Auffassung, die meines Wissens auf Indien beschränkt blieb. Der Mondeott 
wird auf einem Wagen abgebildet, von zwei Antilopen gezogen und einen 
Hasen in der Hand haltend. 2 Dann wiederum in buddhistischer Färbune- 
ein Boddhisat habe sich in einen Hasen verwandelt und sich einem Brahmanen 
als Speise angeboten; zur ewigen Erinnerung an diese Tat habe Indra den 
äsen in den Mond gesetzt.* Wenn in Siam neben dem Mondhasen ein mit 
Reisbau beschäftigtes Ehepaar im Mond erscheint, so haben wir es hier 
wohl schon mit chinesischem Einfluß zu tun. 

Das himmlische Reich hat eine ganze Reihe von Mondbewohnern, mensch¬ 
licher sowohl wie tierischer Gattung aufzuweisen und von hier führt eine 
Kette recht merkwürdiger Analogien,« nach Ost und Süd und Nord. Im achten 
Monat vom Elften bis zum Fünfzehnten wird in China das Mondfest gefeiert. 

er Fünfzehnte ist immer ein Vollmondtag und an diesem wird der Mond 
„beglückwünscht“ oder „belohnt“. In den Bäckerläden wimmelt es von 


Hp/c Crook f; 1 ' 3 ’ V g L über diese Zusammenhänge L. Frobenius: Das Zeitalter 
des Sonnengottes. 1904. 352—556. ter 

2) O. Peschei: Abhandlung. II. 328. 

1Q2 f ^-Lüders Budd bEtische Märchen aus dem alten Indien. 

9 r * * 53- (Aus den Jataka übersetzt.) Ein Abkömmling dieser Sage von der Selbst- 

aufnpferung des Mondes ist nach Sumatra gewandert. T. I. Bezemfr: Volksdichtung 
aus Indonesien, i 9 o 4 . i 79 . (Nach C. M. Pleyte.) Vgl. R. Hassencamp: Die Mond 

^ MoSSd fi„de U t ^ yth °% gie ‘ c G i° bUS XXIIL l8?5 ' 108 ' Die Verbind ™S von Hase 
zitierten Sa» j” Sudwestafnka > und nicht nur in der vielfach 

Smoad 7 °m des Todes. Die Herero nennen den feuerrot aufgehenden 

Der Mond” kat J-brannt den Hasen.« Die Ovaknanjama-Ovambo sagen: 

ä^htnn^' d ’v em 54 dß s Bra nnb° cks « anstatt des Hasen. P. H. Brincker: Beob- 
1800 /vttt^ 61 d -Jf °® sldamome der Eingebornen Deutsch-Südwestafrikas. Globus, 
die wichTJ r 3 ' Unabhmtg^e Entstehung kann hier angenommen werden, es fehlen 
ähnlTcW 9?ff rU !I ( fU ' lg der übereinstimmenden Züge, Nachweis der Wanderung 
anzunehmen 2Wm ^ en würden > eine Wanderung von China nach Mexiko 

d,, 59= m . Mediiin 














jMondmy'tliologie und Afondreligion 4^9 

Gebacken verschiedenster Art, manche rund, in Nachahmung der Vollmond¬ 
scheibe. Andere „Mondkuchen“ zeigen einen weißen Hasen mit einem 
Mörser, die Mondfee, Bäume und Gebüsch. 1 Das Mondopfer findet stets 
unter freiem Himmel angesichts des Vollmondes statt. Auf dem Altar be¬ 
findet sich ein Bild, das einen Hasen darstellt, der auf den Hinterpfoten 
steht, während er in den Vorderpfoten eine Mörserkeule hält, mit der er 
in einem vor ihm stehenden Mörser ein Pulver der Unsterblichkeit bereitet. 2 
Auf dem Opfertische befindet sich ein Bild, in der Regel den Mondhasen 
darstellend. Zu beiden Seiten des Bildes sind Bohnenzweige und Hahnen¬ 
kamm (Chi-kun-hua) angebracht. Die letztgenannte Blume drückt durch das 
Wortspiel kuan-Hut -Mandarin aus, daß es der opfernden Frau beschieden sein 
möge, einen zukünftigen Würdenträger zur Welt zu bringen. Bohnen galten 
als Lieblingsfressen des Hasen. Vor dem Bilde des Mondes befindet sich ein 
Mondkuchen, ein flacher, runder Kuchen von beträchtlicher Größe, der die 
Mondscheibe repräsentiert und ebenfalls mit einer Darstellung des Mond¬ 
hasen verziert zu sein pflegt. In den Papierläden werden auf Papier gemalte 
Bilder des Vollmondes verkauft, auf denen eine Figur mit untergeschlagenen 
Beinen auf einer Lotosblume thront: Das ist der „Boddhisatwa, des überall 
leuchtenden Mondglanzes“. Darunter ist die Mondscheibe gemalt, in der ein 
Hase in dem Palaste „kveitien“ („himmlischer Kassiabaum“), auf den Hinter¬ 
beinen stehend, mit einer Keule in einem Mörser Heilpulver stampft. Auf 
den Kuchen sind Kröte und Hase im Mond abgebildet. 3 Der Hase im Mond 
ist eine sehr populäre Gestalt. Er stößt die Reiskörner oder aber das Lebens- 
elixir. 4 „Neben dem Baume aber stand ein Mörser aus weißem Marmel¬ 
stein. Ein Hase aus Jaspis zerstieß darinnen Kräuter. Das war die dunkle 
Hälfte des Mondes.“ 5 Tibet und die Mongolei kennt den Hasen ebenfalls, 


1) J. Doolittle: Social Life of the Chinese. 1866. II. 65, 66. Siehe auch 
R. F. John ston: Lion and Dragon in Northern China. 1910. 182, 191. (Mondfeste, 
Vollmondgebäck) G. M. Stenz: Beiträge zur Volkskunde Südschantungs. Veröffent¬ 
lichungen des Städtischen Museums für Völkerkunde. Leipzig. 1. 1907. 58. H. ten Kate: 
Aus dem japanischen Volksglauben. Globus XC. 1906. 126. 

2) W. Grube: Religion und Kultus der Chinesen. 1910. 68, 69. 

3) W. Grube: Zur Pekinger Volkskunde. Veröffentlichungen aus dem königlichen 
Museum für Völkerkunde. VII. 1901. 82—84. 

4) R. Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. 1914. 390. 

5) R. Wilhelm: loc. cit. 46 Siehe auch über den Hasen im Mond W. F. Mayers: 
The Chinese Readers Manual. 1874. 95, 219 (bei T. Harley: Moon Lore. 1885. 64). 
Derselbe: in Notes and Queries on China and Japan. III. 123, behauptet auch den 
gemeinsamen Ursprung der chinesischen und europäischen Mondsagen; die Aufzeichner 
dieser Sagen in China, Liu Ngau und der Astronom Chang Heng, sollen Schüler in- 











aber nicht in der chinesischen, sondern in der indisch-buddhistischen F« 

„Als nämlich Bogdo Dschagdschamuni einst die Geburt eines Hasen Tb? 
nahm , heißt es im mongolischen „Weltspiegel“, und sein I eh ^ 
halbverhungerten Wandersmanne dahingab, freute sich der Tat ChurmuT 
Tangari, und damit die ganze Welt einer solchen Tat gewähr würde 
er das Bild eines Hasen in den Mondkreis.“ 1 Der chinesische Ha ’ « 

auf ältere Kultureinflüsse aus Indien zurückgehen, da er a da^ L 
ehxir, wohl die taoistische Form des Somatrunkes (Amrita) stampft" 
Auch in einem japanischen Märchen schenkt die grünbekleidete Mond h ' 
d» Mikado da, Loben*!™,, u „ d auch der 

chinesischen Kuhnrelememe» nach Japan hi„über 8 ew,„de r , DieTan T 

r“T 7 b ihrem Klnde die »d"c Z“ 

er Neu,ahrsnacht will man sogar eine Menge Hasen dort wimmeln 

den"? b r“ ? SCh f Ügt ^ “ d6n Üblichen Sroßen hölzernen Mörsern 
n Reisteig für den Mochi, den Neujahrkuchen, zu stampfen.* 

Wir wollen nun die anderen Mondgestalten Chinas etwas näher betrachten 

^ * J r )U T den “ aUm - 

7 ' - 

erTahTm J T T“ Jagd “ den Kunlunberg und 

am Jaspissee die Königin-Mutter. Von diesem Lebenselixir trank seine 


rrAfiis u Groot: , Les i ***— ***«- 

führt in Stucket.- Aschen g) ^ 75 - I- 6o 7 (ange- 

49, 'LI Bergmann: Streifereien unter den Kalmücken. Riga. 1804. III. 

Büdung gI 17 8Ö 7 9 ! Die GrLdtTaTetTesTh“" 6 ”^ 10 "?--,! 922 - ^Wissenschaft und 
Yogapraxis entstandenen Buddhismus ziemlich ähthch"^ FE A *^ nen des aUsder 
F°. Die religiösen und philosophischen Systeme Ostasiens ['L. ‘ 

4) C. Netto' unTtTwt gettfr TlTnüthet *H ^ Tal6S ' ‘ 91 °' S ' XXXV ‘ 
Kate: Aus dem japanischen Volksglauben Globus joofi 1 ’ 121 ‘. H * ten 

SÄsSÄ-! Sterne 9 )^ M.ll 

XII. 495 . 1883. n. 74 zitierT Hariei / eeS 3 Em ° r U \ l886 - Annales du Musee Grumet. 
einen Raben (W. Williams - Thetvr j” der S ° nne er blicken die Chinesen 

des Mondes, die Raben und die Ha 1 6 , ln | dom -) » Dle Bewohner der Sonne und 

Regen auf die Erde zu Sen « SetTö “ ^ befruchtenden 

außer dem Hasen als Mondtier Z e i er , t *** 1 ™' 54 - Vgl. in Amerika 

des Raben zur Sonne! 6n; auch noch die bekannten Beziehungen 

5 ) Vgl. T. C. Hodson: The Meitheis. 1908. iz 5 . The man who shot the sun. 















Aloudmytliologie und Mondreligion 


461 


Frau Tschang -0 und gleich schwebte sie zum Mond empor. Mit Hilfe zweier 
Zauberer gelangt ein Kaiser aus dem Hause Tang einmal auf den Mond 
hinauf. Da sahen sie ein großes Schloß, darauf stand geschrieben: „Die 
weiten Hallen der klaren Kälte.“ Ein Kassiabaum stand daneben, der blühte 
und duftete, daß die ganze Luft von seinem Duft erfüllt war. Ein Mann 
saß auf dem Baum, der mit einer Axt die Nebenzweige abhieb. Der eine 
Zauberer sprach: „Das ist der Mann im Monde.“ Der Kassiabaum wächst 
so üppig, daß er mit der Zeit den ganzen Glanz des Mondes beschatten 
würde. Darum muß er alle tausend Jahre einmal abgehauen werden. 1 Es 
werden verschiedene Gründe angeführt, warum gerade ein Kassiabaum im 
Mond sein soll; von denen verdient aber nur die Bemerkung Beachtung, 
daß dieser Baum gerade im Herbst zur Zeit des Mondfestes blüht. Ein 
gewisser Wou-Kang, der sich einem übernatürlichen Wesen gegenüber etwas 
zuschulden kommen ließ, ist nun dazu verdammt, den ewig wiederwachsenden 
Baum immerwährend zu fällen. 2 Bei den Primitivvölkern der malaiischen 
Halbinsel haben wir ja auch einen Mann im Mond nebst den Fruchtbäumen, 
nur ist das Motiv der „vergeblichen Arbeit“ von dem Baumfällen auf die 
tödlichen Stricke verschoben. Aber in einer Variante finden wir doch, daß 
der Mann im Mond die immer wieder emporwachsenden Bäume stets ab¬ 
schneidet 3 und somit dürfte der Zusammenhang zwischen Hinterindien und 
China wohl bewiesen sein. Die Todesstricke des Moyang Bertang 4 treten 
ja sonst in Indonesien als Lebensfaden auf; und dementsprechend finden 
wir in China „den Alten im Mond“, der die Füße von Kindern, die er 
zu dereinstigen Ehegatten ausersehen hat, mit roten Fäden miteinander 
verbindet. 5 

Wenn wir hingegen in der neugriechischen Sage dasselbe Motiv von dem 
vergeblichen Holzhacken im Monde finden, 6 so glaube ich vorläufig eher 
an Konvergenz als an historische Zusammenhänge, denn der Holzdieb oder 
Holzhacker im Monde ist ja eine typisch europäische Ausgestaltung des 
Mondmannes und es braucht nur noch das Motiv „ewigdauernde“ (vergeb- 

1) Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. 46. 

2) G. Schlegel: Uranographie chinoise. 1875. I. 608. Stucken: loc. cit. 395. 

3) Siehe Skeat and Blag den, loc. cit. 

4) Vgl. auch P. P. Schebesta: Die Orang Kubu. Anthropos. XX. 1925. 1129. 

5) Grube: 168. „ When this cord has been tied it is impossible to change destiny Die 
Kelche, aus denen die Brautleute heim Hochzeitsmahl trinken, werden mit einem 
roten Faden aneinandergebunden. Doolittle: Social Life of the Chinese. 1866. I. 68. 

6) Roscher: Selene und Verwandtes. 1890. N. G. Politis: Der Mond in Sage 
und Glaube der heutigen Hellenen. S. 181. 










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iokhon de» Danaidenmotivs , uf de» Mond md!““ ZmT f^ 
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raschen, wie aber wenn wir na h • ’ W ° h niemancI über- 

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überall diese Rolle spielen?r iZhd“ °” d versetzt ’ auc b in Amerika 

Wanderungsweg für di, Wassertr^rTm Mond“ “f“**““ 1 ““«*»» 
man wohl die Annah * ^ Mond nachgewiesen haben, wird 

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- B “ de ° Tllom P so n~b) iv erindianern finden wir, daß die Frau mit den 
i) Harley: Moon Lore. 64 . ~--- 

4 ) J 7 t L6o° 8 *’ ^ 

1802 und 1803 . HL n i 8 o 4 °To 4 . 1S Vgl Ed^Stuck '“^a ^ Kalmücken in den Jahren 
. 7 ) Und zwar beinahe Jt Au LIL Z ™''J lstra W*-V 9 ° 7 - 393 - 
Asien und Amerika siehe auch H Kunfke ü 1 ? ^ Uber Mo «dtiere in 

bilder. Mythologische Bibliothek VIII a ,‘c ™ er * kanische und asiatische Mond- 
Mondsagen. Internationales Archiv ar Ethl, Derselbe = Nordamerikanische 
„astralmythologischem“ Standpunkte ausSt ^ 6 ' ^ ^ 2 7 - der aber von 

la Societe des en Amerique. Journal de 

gangsgebiet zwischen Asien und Amerika • ^ k ° mmt auch Ozeanien als Durch¬ 
kröte: Thurnwald: Forschungen au denTf * ^ ™ ^ond- 

Krote auch in Afrika. - G cfsatti- 7 eb Sal ° momseln - lr J^. I. 331 . Mond und 

° asattl - Zehn Jahre m Aquatoria. : 8 9 i. 208 . 




























Mondmytliologie und Mondreligion 4^3 


Wassereimern, die im Monde sichtbar ist, als Hase oder Kröte bezeichnet 
wird (Var. 27). 1 Anschließend an eine Erzählung von „Augenspiel“ zwischen 
^Bladder ‘ und „Rabbit“ heißt es bei den Sioux: „Die Eingeweihten wissen, 
daß der Mond das Auge des Hasen ist, und daß die Gestalt, die wir im 
Antlitz des Vollmondes erblicken, das Bild des Hasen ist, welches sich in 
seinem eigenen Auge spiegelt, so wie wir unser Abbild im Augapfel eines 
Freundes erblicken. “ 2 Ein sich aufrichtendes, Männchen machendes Kaninchen 
sahen die mexikanischen und mittelamerikanischen Stämme in der dunklen 
Zeichnung auf der Scheibe des Mondes, der ja unter den Tropen unter 
einem anderen Gesichtswinkel als bei uns sich darstellt. Und das Kaninchen 
ist dann weiter ein Abbild des Mondes und des Monats überhaupt und vor 
allem der Mondgötter, oder sagen wir — einer besonderen Klasse von Mond¬ 
göttern geworden, der Ernte- und Vegetationsgötter, die Götter des berau¬ 
schenden Getränkes, des Pulques, waren, und die geradezu die centzin 
totochtin, die „einhundert Kaninchen“ genannt wurden. Das achte 
Tageszeichen der Mexikaner war das Kaninchen und die Göttin der Agave¬ 
pflanze, aus deren Saft der berauschende Pulque fabriziert wurde, ist die Ver¬ 
körperung dieses Tageszeichens und zugleich Regent des achten Tonalamatl- 
abschnitts. 3 Hase — Rauschtrank — Mond in Indien, China und Mexiko. 4 

Das andere Mondtier Chinas, die Kröte, ist weit über Amerika gewandert. 
In Brasilien heißt es bei den Ipurina: „Die Mondflecken sind Kröten (krauJ. 5 
Die Karaja bezeichnen die Mondgebirge als Kröte (kräötej. 6 Im Norden er¬ 
zählen die Arapaho ähnlich wie (siehe oben) die Thompson-River-Indianer: 
„Die Kröte wurde wütend auf ihre Schwägerin und sprang dem Mond auf 
die Brust. Dort ist sie geblieben bis auf den heutigen Tag. Doch das Bild, 


1) Siehe auch J. Teit; The Thomson Indians of British Columbia Jesup North 
Pacific Expedition Vol. II. Nr. IV, 341. 

2) Louis L. Meeker: Siouan Mythological Tales. Journal of American Folklore. 
1901. 161. Laut einer anderen Variante entstehen aus den beiden Augen des Hasen 
Sonne und Mond. 

3) Ed. Seler: Die Tierbilder der mexikanischen und Mayahandschriften. Zeit¬ 
schrift für Ethnologie. XLI. 1909. 393, 395. 

4) Der Mond erscheint in Mexiko auch als „ein aus Knochen gebildeter Nasen¬ 
halbmond auf dunklem Felde, mit Wasser gefüllt“. — Seler: Gesammelte Ab¬ 
handlungen. I. 436. III. 249, 315, 318, 337, 489, 490. (Zu den Wasserträgern in 
unserer Sage!) Über Kulturbeziehungen zwischen Mexiko und Südostasien, siehe 
F. Gr ab n er: Alt- und neuweltliche Kalender. Zeitschrift für Ethnologie. LII, 1921. 6. 

5) P. Ehrenreich: Beiträge zur Völkerkunde Brasiliens. Mitteilungen für Völker¬ 
kunde. Berlin 1891. II. 45. 

6) F. Krause: In den Wildnissen Brasiliens. 1911, 339. 
















weicnes mit dem nackten Au^e sichtbar 4 C+ . + _ 

Die Kröte erscheint wie eine schwangere Fr'au ““ ^ 

das Bild der Wasserfrau (Kröte) und p< u r • ” S erscheint im Mond 
Menschengeschlechtes. Es bedeutet auchTe^ ^ Wachsea des 
der Frau. Das Erscheinen der Kröte am Bauch”? f aCbk ° mme «chaft) 

schaft der Frau an. Am Gesicht des Mondes sind die^S ^ Schwan ^ er ' 
Menstruation sichtbar “ 2 Die TTte -ui , „ d d S P uren der ersten 

™<n»n e ,i« s F„sch.s ” JLZ£\‘: M ° nd dürch 

VieHeich, is, der Schildhrh.en»^^““ "t 1 
nur eine lokale Abwandlung der Krötenfrau Die T t i ^ ^ auch 

daß der abnehmende Mond von den Frösch a akelmaindlaner glauben, 
und ebenso erzählen die Luiseno von der“ rltenhe '^ ^ 

ihre Gestalt mißfiel, ihn durch ihre Za»h f h ’ ^ da dem Mond 

Mond kann ebensogut die Flecken wi ? t0t6te ' DaS Dunkle im 

anch die Verfinsterung der Gestirn P 7 d ^beleuchtete Hälfte oder 

Froschungeheuer, welche, Hut d ^TT " 68 ZU «»em 

Sonne und Mond in den Finstern” 1 7 Und Cher °kee 8 

-Ibe Übergang findetsich*** 
heißt es bei Liou Ngan eine Kröte • a** 5 lm Slebenten Kapitel 

(Kapitel siebzehn) sagt: '„La lune Z “ ^ Währ6nd er s Päter 

eclipsee par le cranaud rl ^ 6St S0US et est 

- a» iztrz: den d““””“»r«„ n 

__ maischen Ur sprung der chinesischen Mondkröte“ 

von imem A Kessel!welcW über“einem^^uer "iin erZäWen 

Dance Religion. Bureau Am. Etb Xm T D ™ ^ Moone T : The Ghost 

vornan S he always walks ^ ß ^ £ R J° rt h 8 9 6 . 1006. „The Moon is just Uke a 

ZT 111011 " ^ ^rican Ethnology. 

2 | ^ Dorsey, ebendort 212. 

Of Ethn I'I„° n ui Rep^lgg ^* 6 M y thol W °* *e North American Indians. Bureau 
X53—145- 8 the Lmseno Indians. Univ. Cal. Publ. VIII. 

3 xix r*r m • ®—* *■>. 

9 ) J- J. M. de Groof Les VtoT XX - Ann. R ep . Bureau of Am. Ethn. 1900.257. 
du Musee Guimet. XXII.' 493. ? elIe ™™t celebröes ä Emoui. 1886. Annales 

10) Mi ! Un2UreiChenCien G ™«den angenommen von Groot, Z„ c . A 








































Mondmythologie und Mondreligion 


nicht vergessen zu lassen, erinnern wir daran, wie Rahu und Ketu, die 
Dämonen, welche die Verfinsterung von Sonne und Mond verursachen, im 
indischen Zodiakus dargestellt werden. Der eine steht ohne Kopf auf einer 
Schildkröte, während der andere nur als Kopf aus dem Leibe eines Frosches 
hervorsieht. 1 


II) jMonlmythen uni TPecIträume 

Naturmytkos un<l Elementargedanke o Ä er Psyc kol ogiscke 
JVLytkendeutung und kVan derungstke or ie 

Nach dieser langen Vorbereitung können wir zur psychologischen Deu¬ 
tung unserer Sagen schreiten. Die Übereinstimmungen zwischen Sibirien 
und Neuseeland, China und Mexiko sind wirklich sehr auffallend. Es 
handelt sich, wi*e wir gesehen haben, nicht nur um die allgemeinen Züge, 
um mythische Tendenzen, sondern um eine Übereinstimmung ganz un¬ 
wesentlicher Züge, welche manchmal eine fast wörtliche ist. Zwei Stand¬ 
punkte, deren je zwei Bestandteile sich nach meiner Auffassung logisch 
ergänzen, scheinen mir möglich zu sein. Entweder sind die Sagen, so wie 
wir sie finden, von der Natur abgelesen, d. h. in den Erscheinungen der 
Außenwelt restlos begründet, nun, dann müssen die Sagen ebenso unwandelbar 
einheitlich sein wie die Naturerscheinungen selbst, und dann bestünde hier 
der Elementargedanke im Sinne Bastians zu Recht. Dies ist auch tatsächlich 
die Auffassung der mondmythologischen Schule. Man höre z. B.Ehrenreich: 
„Wenn z.B. Inder und Mexikaner den Mond als ein mit Wasser gefülltes Gefäß, 
seine Flecken als einen Hasen auffassen, so beruht das nicht auf irgendeiner 
mystischen, vielleicht einer gemeinsamen Quelle entspringenden Tradition oder 
einer Symbolisierung, wie oft unberechtigterweise angenommen wird. Die 
Übereinstimmung erklärt sich vielmehr daraus, daß bei der starken Neigung 
der Mondachse in niederen Breiten die Gefäßform in der den Schatten um¬ 
schließenden Mondsichel, die Hasenfigur in den Flecken des Vollmondes 
für jeden unbefangenen Beobachter ohne weiteres gegeben ist.“ 2 * * * 


1) A. Bastian: Geographische und ethnographische Bilder. 1873. 491. 

2) R. Ehrenreich: Die Mythen und Legenden der südamerikanischen Urvölker. 

1 9 ° 5 - 6 9 * v ^- aU(J b die Photographie der Mondflecken aus der kalifornischen Stern¬ 

warte hei Kunike: Amerikanische und asiatische Mondbilder. Myth. Bibi. VIII. 4. 
S. 30. —- Wenn man den Hasen zu sehen erwartet, kann man ihn auch finden, sonst 

aber — was man gerade sucht. 


Imago XIII. 


30 













^66 Gdza Rdlieim 


Wir glauben, nicht jeder unbefangene, sondern nur jeder befangene 
Beobachter, der nämlich im voraus weiß, was er im Monde laut traditio¬ 
neller Auffassung erblicken soll. Man fühlt sich dem gläubigen Mond- 
mythologen gegenüber so ziemlich in die Lage des Polonius in seinem 
Zwiegespräch mit Hamlet versetzt. „Hamlet: Do you see yonder cloud 
thats almost in shape of a camel? Polonius: By the mass and tis like a 
camel indeed. Hamlet: Me thinks it is like a weasel? Polonius: Very 
like a weasel. Hamlet: Or Like a whale? Polonius: Very like a whale. u 
(Hamlet, III., Szene 2.) Freilich, wenn es einem nahegelegt wird, so sieht 
man Mann, Frau, Eimer, Hasen, Kröten und alles mögliche im Mond. 
Aber gerade das ist das Merkwürdige. Die Flecken sind doch so wenig 
deutlich, die Anzahl der möglichen Mythen unbegrenzt und doch bleibt 
es bei einer gewissen nicht sehr hohen Zahl von Mondbildern. Die Über¬ 
einstimmungen überwiegen, starkabweichende Deutungen, die demnach 
sicher als lokal entstanden zu betrachten wären, sind verhältnismäßig selten. 
Demnach werden wir uns der zweiten Alternative nähern, welche bei auf¬ 
fälliger Übereinstimmung einer Motivenreihe Wanderung annimmt und 
die einzelnen Motive als nicht von der Natur abgelesen, sondern als in die 
Natur hineinprojiziert betrachtet. 

Wir wollen die Richtigkeit dieser Auffassung zunächst an einem über 
jeden Zweifel erhabenen Beispiel dartun. Nehmen wir an, wir hätten bloß 
die eine Aufzeichnung und nicht eine ganze Sagengruppe, wie wir sie aus 
Osteuropa kennen. Die Huzulen sehen im Monde den älteren Bruder, der 
den jüngeren auf der Heugabel aufgespießt hält . 1 Welcher Mondmythologe 
würde es sich da entgehen lassen, darauf hinzuweisen, man könne die 
Nacheinander folge der Mondphasen sich gar nicht anders vorstellen, denn 
als ein wechselseitiges Töten und Auferstehen des Mondhelden, beziehungs¬ 
weise als die Ermordung des jüngeren Bruders (Lichtmond) durch den 
älteren (Dunkelmond)? Dazu noch die Heugabel als eine Abart der Neu¬ 
mondsichel! Das ist doch alles augenfällig, ein „Naturmythos“ im echten 
Sinne des Wortes . 2 Und wie erfreut wäre dieser fiktive Mythendeuter, wenn 
er dann noch finden würde, daß die Russen sagen, der eine Bruder sei 
gerecht und darum sichtbar (Lichtmond), der andere ungerecht und darum 
unsichtbar (Dunkelmond)! Das Fatale an der Sache ist nur, daß die Brüder 

1) O. Dahnhardt: Natursagen. 1907. I. 254. 

2) Wir wollen auf den weiteren noch verhängnisvolleren Fehler, nunmehr alle 
auch rein menschlichen Brüdermorde als vom Monde herabgelesen zu betrachten, 
gar nicht eingehen. 











Moiidmy thologie und Mondreligion 


auch Namen haben, nämlich Kain und Abel, 1 womit es dann klar wird, 
daß die Geschichte vom Brudermord in der Überlieferung gegeben war, 
und der Mond bloß die Möglichkeit einer Übertragung zur Bildung der 
Erzählung abgab. Eine nähere Untersuchung würde dann auch zeigen, daß 
die Heugabel nichts mit der Mondsichel zu tun hat, sondern aus der 
Assoziationsreihe Mondflecken Mist-Schmutz abzuleiten ist. 2 

M ondsage un <1 D urstreiztraum 

Wir wollen demnach versuchen, uns in die Lage des Sagenhelden zu 
versetzen. Jemand muß bei Nacht irgendwo hingehen, um Wasser zu 
holen. Könnte das nicht etwa der Traum eines durstigen Menschen sein, 
der lieber im Traum, in der Phantasie Wasser holt, um nicht aufwachen 
zu müssen? Einen solchen Durstreiztraum, den er selbst träumte, finden 
wir in einem aufschlußreichen Aufsatz von Otto Bank. Nachdem der 
Träumer es verabsäumt hatte, sich wie gewöhnlich ein Glas Wasser auf 
dem Nachtkästchen vorzubereiten, träumt er von einem Kurort, wo er sich 
Sauerwasser kauft. Danach siegt aber der Wunsch nach dem Trünke doch 
über den anderen Wunsch, weiterzuschlafen und der Träumer erwacht, 
um sich Wasser zu holen. 3 Irgendwo in einer asiatischen Wüsten- oder 
Steppenlandschaft mag es einst so zugegangen sein, daß der müde Nomade, 
im Freien schlafend, zwei störende Reize empfand: Den Mondschein und 
den Durst. Darauf setzt die Traumarbeit ein: Er (oder sie) wollte Wasser 
holen und ward dabei vom Monde angezogen. 

Besonders charakteristisch und mit dem Traume vergleichbar ist unsere 
Variante 2} von dem kleinen Kinde, welches, vom Schlafe erwachend, um 
Wasser schreit, aber von der Mutter nicht beachtet wird. Darauf — so 
ergänzen wir den Text — schläft das Kind wieder ein, träumt nun, daß 
der Mond an Stelle der Mutter sich seiner erbarmt und ihm Wasser reicht. 4 


1) Potanin: Materiali po narodni verovanijam velikorussov. Etn. Obozr. 1895. 
II. 195. — Dähnhardt: Natursagen. I. 254. — R. F. Kaindl: Zur Volkskunde der 
Rumänen in der Bukowina. Globus. XCII. 1807. 287. 

2) Siehe weiter unten. 

5) O. Rank: Die Symbolschichtung im Wecktraum. Jahrbuch für psychoanalytische 
und psychopathologische Forschungen. IV. 52, 33. 

4) Über unverhüllte infantile Wunschträume vgl. S. Freud: Traumdeutung. 1911. 
(Ges. Schriften. Bd. II.) Man mache mir nicht etwa die Einwendung, daß, wenn ich 
die Sagen aus Asien herleite, ich nun auch nur asiatische Varianten zur Aufdeckung 
der Psychogenese verwenden dürfe! Wir wissen ja vorläufig nicht, ob die von dem 


3 °" 











^68 G^za Rdheim 

Aus dem Traum wird leicht eine Erzählung, deren Traumcharakter — 
da man ja dem Traume gleiche Realität wie dem Wachleben zubilligt — 
im Weitererzählen schon verwischt wird. In den Momenten nach dem 
Erwachen mag dann der Wecktraum weitergesponnen worden sein und 
diese Geschichte, drei Viertel Wecktraum, ein Viertel hypnopompe Hallu¬ 
zination, wird dann als Reise nach dem Monde * 1 weitererzählt. So erzählt 
wohl ein südaustralischer Zauberer, seine Seele habe bei Nacht einen Besuch 
im Himmel abgestattet . 2 Die Sunyerun, die höhere Seele der Burjat, ver¬ 
läßt im Traum den Körper ; 3 aber bei den Schamanen kann das wohl 
auch im Wachleben geschehen, auf dem Regenbogen fahren sie in den 
Himmel, kommen aber wohlbehalten wieder an . 4 Der Körper des Angekoks 
liegt in einem kataleptischen Zustand regungslos in der Hütte, seine Seele 
macht derweilen einen Besuch im Mond. 

„Bei den Nordamerikanern bilden die Traummythen einen integrierenden 
Bestandteil der Mythologie. So sind hier die Sagen über die Stiftung der 
religiösen Gesellschaften, Medizin-Logen ganz unverkennbare Traum¬ 
erzählungen, in denen die Traumsituation meist ausdrücklich angegeben 
ist. Bei den Pirna und Yuma bilden die Träume nach ihrer eigenen An¬ 
gabe sogar die einzige Quelle der Mythologie “. 5 Ja die Wichita nennen 
die Götter im allgemeinen „Träume“ und teilen sie in folgende Gruppen 
ein: „ Dreams that are Above\ „ Dreams down here\ „ Dreams-living-in 
Water“ und „Dreams-closest-to-man“ . 6 Nun hat ja die Freud sehe Schule 
in tiefschürfender Arbeit die Gesetze des Unbewußtpsychischen und besonders 
des Traumlebens mit sicherer Hand aufgedeckt, auch in manchen grund¬ 
legenden Untersuchungen Traum und Mythos miteinander verglichen . 7 
Unrichtigerweise glauben die Fernstehenden, es handle sich dabei um die 
Erklärung aller Mythen aus dem Traum, während es den Vertretern dieser 


Ursprungsort entfernten Sagen nicht der Urform näherstehen, — in älterer Zeit ab¬ 
gewandert sind, — während die näheren durch verschiedene Kultureinflüsse vielfach 
gemodelt sein können. 

1) Vgl. F. Boas: Th. Central Eskimo. Bureau Am. Ethn. VI. Report 1888, 598; 
E. W. Nelson: The Eskimo about Bering Strait. XVIII. Annual Report of the B. A. E. 
1899. 450, 515. 

2) A. W. Howitt: Native Tribes of South East Australia. 1904. 435. 

3) M. A. Czaplicka: Aboriginal Siberia. 1914. 287. 

4) Curtin: A Joumey in Southern Siberia. 1909. 287. 

5) P. Ehrenreich: Die allgemeine Mythologie. 1910. 149. 

6) G. A. Dorsey: The Mythology of the Wichita. 1904. 20. 

7) Die bahnbrechende Arbeit wurde von K. Abraham geleistet (Traum und 
Mythos. 1909). 





























•Mondmytliologie und Mondreligion 469 


Richtung gewöhnlich nur darum zu tun ist, die an dem Studium der 
Träume gewonnene Einsicht in die Werkstätte des Unbewußten auch auf 
die Mythologie anzuwenden. Wie wäre es aber, wenn wir in diesem Fall 
einen Schritt weiter gingen und gerade die Motive der sogenannten 
Mondmythologie nicht aus den vieldeutbar nichtssagenden 
Schicksalen des Gestirnes, sondern aus den uns wohlbekannten 
Situationen des auf den Mond projizierenden Träumers zu er¬ 
fassen suchten? 1 


JVLondsage und Harnreiztraum 

Das Material berechtigt uns ja durch unmittelbare Aussagen diesen 
Weg einzuschlagen. Die im Kindbett verstorbenen Frauen, die Tzitzimime, 
erscheinen in Mexiko als alpdrückende Wesen; aber sie tragen auch als 
Zeichen ihrer Beziehungen zum Monde den Nasenhalbmond. 2 Tsuki yomi 
ist der japanische Mondgott: Tsuki bedeutet den Mond, yo = Nacht, yomi 
= Unterwelt, yume, yome = Traum.3 Den ersten Schritt haben wir ja in 
dieser Richtung getan. Die Vorstellung eines nächtlichen Wasserholens 
läßt sich ungezwungen als Bequemlichkeitstraum eines durstigen Menschen 
begreifen. Wir wollen aber nun die Rolle des Wassers in diesen Sagen etwas 
näher untersuchen und wir werden sehen, daß wir neben dem Durst 
noch andere Traumerreger werden annehmen müssen. In / finden wir 
einen Riesen, der Wasser auf die Erde gießt (dadurch Ebbe und Flut ver¬ 
ursachend). In 16 läuft das Wasser aus dem Eimer heraus. Wenn der 
Mond seinen Wassereimer umkehrt, regnet es (2p). In 31 finden wir eine 
Seefahrt des Mannes (um zu fischen), ebenso in (um seine Frau zu 
prügeln). In ß8 und pp weicht das Wasser vor der Frau, die ihren Kindern 
Wasser holen will, zurück. Sie setzt ihre beiden Kinder aufs Wasser, der 
Mann findet sie und nimmt sie zu sich ins Boot. Otto Rank hat eine 
Reihe von Träumen publiziert, deren gemeinsames Element das Vorkommen 
von Regen, Meerfahrt, Flut, fließendes Wasser usw. war und die sich alle 
als Harnreizträume erwiesen haben (Harndrang nach dem Erwachen). In 
einigen Träumen dieser Reihe war das Urinieren direkt dargestellt, in 
anderen erschien der urethrale Rejz nur symbolisch als fließendes Wasser, 

1) Laut Ehrenreich: loc. cit. 150 kommen vielen Traumdämonen mondmytho¬ 
logische Eigenschaften zu. Der Satz ist umzukehren. 

2) H. Kunike: Sonne, Mond und Sterne im alten Mexiko. Z. f. E. 1911. 928. 

5) K. Florenz: Japanische Mythologie. 1901. 27. 


















47° 


Geza Röheim 


Regen usw. 1 2 Bezeichnend für den Traum ist dabei die Vergrößerung, 
in der ein verhältnismäßig unbedeutender Leibreiz erscheint. So träumte 
z. B. Maury von der Schreckensherrschaft der Französischen Revo¬ 
lution. Er macht schreckliche Mordszenen mit und wird auf den Richtplatz 
geführt. „Er steigt aufs Schafott, der Scharfrichter bindet ihn aufs Bett; 
es kippt um, das Messer der Guillotine fällt herab, er fühlt, wie sein Haupt 
von dem Rumpfe getrennt wird, wacht in der entsetzlichsten Angst auf 
und findet, daß der Bettaufsatz herabgefallen war und seine Halswirbel, 
wirklich ähnlich wie das Messer einer Guillotine, getroffen hatte.Ellis 
erzählt, wie aus einem Mückenstich im Traum eine unübersehbare Zahl 
riesiger Tiere wurde, die sehr an mythische Fabelwesen erinnern. Die Hörner 
der Tiere bohrten sich tief ins Fleisch des Träumers. 3 So wird auch im 
Traum aus dem urethralen Drang eine Wasserfahrt, Regen oder Flut; 
manchmal (wie in unserem Material) wird dabei das Urinieren selbst als 
anstößig von der psychischen Zensur eliminiert, in anderen Fällen bleibt 
es aber im Sagentext erhalten. 


Flutsagen 

Ein Patient erzählt in der Analyse, daß er immer sagte: „Das ist nichts. 
Wenn bei uns jemand uriniert, wird daraus so ein Strom.“ — Der Zu¬ 
sammenhang zwischen Urinieren und Flut 4 ist vollkommen klar in folgen¬ 
der Sage aus Neupommern. Eine Frau Tabui Kor hatte zwei Söhne, Tilik 
und Tarai. Die Welt war damals noch nicht erschaffen und sie wohnten 
an der heiligen Quelle in Kababiai. Die Männer merkten, daß ihr Essen 
sehr schlecht schmeckte und nahmen sich vor, ihre Mutter bei der Zu¬ 
bereitung des Essens zu beobachten. Der eine arbeitete nun mit zwei Äxten, 
um sie zu täuschen, der andere hatte sich versteckt und da sah er, wie 


1) In einem ungarischen Witzblatt erschien der gezeichnete „Traum einer fran¬ 
zösischen Bonne“. Das Kind muß auf die Seite gehen, der Strom wird immer mächtiger, 
ein Bach, ein Fluß entsteht daraus, der dann einen Kahn, ein Segelschiff, einen 
Dampfer usw. zu tragen vermag. — Otto Rank: Die Symbolschichtung im Wecktraum. 
Jahrbuch für Psychoanalyse. Bd. IV. 99. 

2) A. Maury: Le sommeil et les reves. 1878. 161. Angeführt nach Freud: Traum¬ 
deutung. 1911. 18. ^Ges. Schriften. Bd. II. S. 29.) 

3) H. Ellis: The World ofDreams. 1911. 75. — Vgl. auch die Experimente von 
Mourly Vold. Über den Traum. 1912. I. II. 

4) Vgl. O. Rank: Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. Internationale 
Psychoanalytische Bibliothek. IV. 1919. 147. — Die Symbolschichtung im mythischen 
Denken. 2. Aufl., 1922. 82: „Zur Deutung der Sintflutsage.“ 



















AI ondmytliologie und JVIonJreligion 


47 x 


sie in das Kraut, das für ihre Söhne bereitet wurde, hineinurinierte, während 
sie für ihr eigenes Essen reines Seewasser nahm. Sie tauschen nun die 
beiden Portionen und darüber gerät Tabui Kor in eine derartige Wut, daß 
sie weggeht „and rollecL away the stone wich had hitherto kept the sea con - 
fined, and the water and sea poured out in a great flood and this was the 
origin of the sea“. 1 Eine Narrinyeri-Sage (in der unzensurierten Version 
bei Meyer) erzählt, wie dem Nurunduri seine beiden Frauen durchbrennen 
und er sie verfolgt. Wo immer der Riese ankommt, verbreitet er eine 
panische Furcht unter den Menschen. Bei Freemans Knob ließ er Wasser 
und darum heißt die Stelle noch heute Kainjenauld („ kainjamin: to make 
water u ). Müde von der Verfolgung befiehlt er der See emporzusteigen, damit 
seine beiden untreuen Frauen ertrinken sollen. Sie werden in zwei Felsen 
verwandelt und sind noch heute bei niederem Wasserstand sichtbar. 2 

Die Fischer der Bucht von Saint-Brieux erzählen, wie die Sonne dereinst 
die Welt verbrannt hätte. Da sandte Gott die Heiligen und die fingen an 
zu urinieren, bis die Welt mit Wasser bedeckt war und die Sonne beinahe 
ertrank. Aus diesem Urwasser stammen die Meere, daher ist das Meerwasser 
salzig. 3 Eine Heiltsuk-Sage erzählt, wie zwei Brüder mit ihrer Schwester 
zusammen lebten. Sie verfertigen zuerst eine kleine Reuse und fangen 
einen kleinen Fisch, dann immer größere Reusen und fangen größere 
Fische. Sie haben einen Hund, der bellt nachts, das Mädchen schlägt ihn 
und fordert ihn auf, einen größeren Fluß zu machen. Dies geschieht; aber 
die Fische verschwinden jede Nacht aus der Reuse. Um Mitternacht erscheint 
Masmasalaniq, ein großer Mann ohne Kopf, dessen Augen an beiden Seiten 
der Brust standen. Der junge Mann schießt vergebens nach ihm. Nun 
kommt die Verfolgung und die „Reise nach dem Hause des Alps“, 4 denn 
sowohl die mitternächtliche Erscheinung wie sein Äußeres und die ganze 
Situation lassen keinen Zweifel an der Alpnatur dieses Wesens. Es folgt 
nun das Motiv „Geschoß der Menschen, Geistern unsichtbar“, und nach 
der Heilung des Alpwesens erhält er als Lohn die Tochter des Dämonen. 
Sie zimmern sich ein Boot, um nach Hause zu fahren, aber es steht auf 
dem Trockenen. „Da fing sie an zu urinieren und aus ihrem Urin entstand 


1) G. Brown: Melanesians and Polynesians. 1910. 357. 

2) H. E. A. Meyer: Manners and Customs of the Aborigines of the Encounter 
Bay Tribe. J. D. Woods: The Native Tribes of South Australia. 1879. 205. 

3) P. Sebillot: Le Folk-Lore de France. II. 190. S. 7. Vgl. ebenda 97. 176, 327, 
328, 336, 402. 

4) Siehe Laistner: Das Rätsel der Sphinx. 1889. I. II. 















47 1 2 * 4 Gdza Rdheim 


em großer Fluß 1 usw. Reuse und Fisch am Anfang der Erzählung sym¬ 
bolisieren die gefüllte Blase; mit dem Anwachsen des Harnreizes werden 
es immer größere Reusen, Fische, Flüsse, bis zuletzt das Verdrängte die 
Zensurschranke durchbricht und der Reiz in seiner unzensurierten Form 
zur Darstellung gelangt. Folgt, wie in dem „Traum der französischen Bonne“ 
die Schiffahrt auf dem ürinstrom. So wie der Körperteil, der die Flüssig¬ 
keit enthält (Blase), hier als Schiff oder Reuse in der Traumsymbolik er¬ 
scheint, so in einer Gruppe von Flutsagen als Behälter, der aus Unacht¬ 
samkeit usw. entfernt wird (die Sphinkter funktionieren nicht!), worauf 
dann diese Flüssigkeit hervorströmt. 

Ganz handgreiflich ist die Darstellung der Sphinkterfunktion und des 
Hervorströmens in einer Flutsage der Acawoio. Sigu öffnet den übrig¬ 
gebliebenen Stumpf des Weltbaumes, ohne zu wissen, daß darin alles Wasser 
eingeschlossen ist. Schnell verfertigt er einen eng geflochtenen Korb, welcher 
durch seine magische Kraft (hyperbolisierende Darstellung der Körper¬ 
funktion) die steigende Flut zurückhält, bis dann der neugierige Affe Iwarrika 
den Korb entfernt und das Wasser mit unwiderstehlicher Kraft hervorbricht 2 
Hieran schließt sich die Flutsage der Haiti-Insulaner an. „Ein mächtiger 
Kazike erschlug seinen Sohn der sich gegen ihn vergangen hatte. Nach Landes¬ 
sitte bestattete er die Gebeine desselben in einem großen Kruge, in welchem 
sie sich in Fische verwandelten. In dem Kürbiskrug, so rühmte sich Jaia, 
habe er das ganze Meer verschlossen, und als nun eines Tages einer der 
neugierigen Brüder in der Abwesenheit Jaias in den Krug schaute, fiel 
dieser auf die Erde nieder und zerbrach. Da ergoß sich eine endlose Flut, 
welche die ganze Erde überschwemmte, so daß nur die Spitzen der Berge 
daraus hervorsahen, welche die heutigen Antillen bilden .“3 Der von seinem 
Vater getötete Sohn, dessen Gebeine in einen Krug, in dem das Meer ein¬ 
geschlossen ist, getan werden, erinnert auffällig an die Darstellung der 
zehnten Woche in den Codices Borgia S. 70 und Vaticanus Nr. 3773. Das 
Schicksal des Toten besteht darin, in ein Wassergefäß hinabgestoßen zu 
werden. Laut mexikanischer Vorstellung hausen die Toten in der dunklen 
Unterwelt in wassergefüllten Höhlen.* 


1) Boas: Indianische Sagen. 237, 238. 

2) W. H. Brett: The Indian Tribes of Guiana. 1868. 380, 381. 

. ? ^ Andree: Die Flutsagen. 1891. Nach Irwing: Columbus. Book. VI. Chap. X. 

?? 1 °°’^' 3Sl * Anm * Über die-Kürbisschale als Weltall bei den Cora 

siehe K. Th. Preuß: Die Nayarit-Expedition. 1912. S. LXXXII 

4) Preuß: Nayarit. S. XXX. 






















Mondmytliologie und AJondreligion 

Nun müssen wir auch das „ itzompan“ („seine Schädelstätte“) der alten 
Mexikaner und was damit zusammenhängt, heranziehen. Zwar sollten wir 
wohl nach der Auffassung der Buchstabengläubigen es bleiben lassen, eine 
Sage, welche von dem Ab fließen der Gewässer berichtet, im Zusammen¬ 
hänge mit den Flutsagen heranzuziehen, es wird uns aber jeder, der 
etwas Erfahrung in der psychoanalytischen Traumdeutung hat, zugestehen, 
daß trotz dieser Umkehrung der unbewußte Inhalt des Mythos derselbe ist. 
Es wird nämlich erzählt, wie die Mexikaner in ihren Wanderungen auf 
dem „Schlangenberg“ dem Gott Uitzilopochtli „seinen Ballspielplatz“ mit 
einem Loch in der Mitte erbauen und merkwürdigerweise heißt dieses 
Loch „seine Schädelstätte“. Dann grenzen sie die Furchen in der Mitte 
ab, so daß ein Dreieck in der Mitte des Loches bleibt, das man den 
„Brunnen“ 1 nennt, so daß, wenn der Ball aus Kautschuk dorthin fällt, 
der, der ihn dorthin wirft, allen Zuschauern die Kleider wegnimmt, so daß 
alle ein großes Geschrei erheben: „Ein großer Ehebrecher ist er, der von 
den Händen des Gatten eines Weibes oder im Kriege sterben wird.“ Und 
in jenes Loch schütteten sie Wasser „zum Zeichen“ und Uitzilopochtli 
spricht zu ihnen: „Wohlauf, Mexikaner, es ist fertig, der Brunnen, der 
gemacht ist, ist voll Wasser, Taxodiumbäume, Rohr, Binsen weiße und 
gelbe Wasserrosen.“ Nun wird erzählt, wie die Sterngötter auf dem Ball¬ 
spielplatze „ihre Väter fressen“ (die Väter sind Mexikaner) und wie 
Uitzilopochtli in dem Wasserloch, das in der Mitte ist, einer Frau namens 
Coyolxauh den Kopf abschneidet und ihr Herz herausnimmt. Jetzt zerbricht 
Uitzilopochtli die Röhre oder den Fluß des Wasserquells („El cano 6 rio del 
nacimiento del agua“; die Übersetzung von Preuß’ „Geburtswasser“, die 
Sei er zurückweist, ist, wie wir sehen werden, dem Sinne gemäß jedenfalls 
richtig) „den es dort gab nach der geheimnisvollen Bedeutung des Ball¬ 
spieles tlachtli, der zum See geworden war, und als er ein Loch hinein 
gemacht hatte, ging das Wasser heraus und die Vögel, Fische, Bäume und 
Pflanzen alles vertrocknete auf einmal und ging wie in Rauch auf; es 
scheint, daß alles verschwand und daß von einer anderen Welt alles 
erschien, was er dort angelegt hatte.“ 2 Die Deutung dieser Sage wollen 
wir vorläufig aufschieben. 


1) Vgl. Alice B dl int: Die mexikanische Kriegshieroglyphe atl-tlachinolli. Imago IX. 

2) Ed. Sei er: Gesammelte Abhandlungen zur amerikanischen Sprache und Alter¬ 
tumskunde. III. 1908. 323. K. Th. Preuß: Der Kampf der Sonne mit den Sternen in 
Mexiko. Globus. Bd. LXXXVII. 1905. 136. 










Feuer und Wasser 


Wie in der Acawoio-Sage entsteht die Flut (oder eigentlich die See) 
auch bei den Mantra aus einem unvorsichtig geöffneten Baumstumpf. Ein 
gewisser Batin hatte einen Affen gebraten und nun war er durstig (Durst¬ 
reiztraum). Er findet einen alten Baumstumpf, läßt sich mit Hilfe einer 
Liane hinab und findet im hohlen Baum Wasser um seinen Durst zu 
stillen. Mit Hilfe der Liane kriecht er heraus, doch wird er von einer 
riesigen weißen Schildkröte „accompanied by a vast body of water ‘ ver¬ 
folgt. Umsonst versuchen sich verschiedene starke Tiere der Schildkröte 
und der Flut zu widersetze ( n, bis der Zwerghirsch endlich mit Hilfe seiner 
ganzen Sippschaft die Schildkröte tötet. 1 Ein Unhold der Thompson-River- 
Indianer hält das Feuer und das Wasser in Schachteln verwahrt; diese 
werden aus Neugierde geöffnet, ein großer Brand beziehungsweise eine all¬ 
gemeine Flut entsteht. 2 Mit dem Feuer, noch mehr aber mit der Verquickung 
von Feuer und Wasser, 3 hat es aber eine besondere Bewandtnis. Im europäi¬ 
schen Volksglauben finden wir oft, daß es Kindern verboten ist, mit dem 
Feuer zu spielen, da sie sonst Bettnässer werden. 4 In einer Arbeit über 
die Brandstiftung finden wir zwei Bemerkungen. 5 Einerseits daß ein auf¬ 
fallend großer Prozentsatz der Brandstifter sich aus späten Enuretikern 
rekrutiert. Dementsprechend gehört es auch zu den gesichertsten Ergeb¬ 
nissen der Psychoanalyse, daß der brennende Reiz des Harndranges sich im 
Traum in eine Feuersymbolik umsetzt, was besonders deutlich ist, wenn 
es sich um eine Kombination von Feuer und Wasser handelt. 6 Hierher 

1) Skeat and Blagden: Pagan Races of the Malay Peninsula. 1906. II. 340. 

2) I. Teit: Traditions of the Thompson River Indians of British Columbia. 1898. 57,58. 

5) Vgl. über das Zeichen des Krieges in Mexiko. K. Th. Preuß: Die Feuergötter. 

Mitteilung der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. XXXII. Ed. Seler: Die holz¬ 
geschnitzte Pauke von Malinalco und das Zeichen atl-thachinolli. Abhandlungen zur 
amerikanischen Sprache und Altertumskunde. III. 221. P. D. Kreichgauer: Das 
Symbol für Kampf im alten Mexiko. Anthropos. 1914. 381, besonders aber A. Bälint: 
Die mexikanische Kriegshieroglyphe atl-tlachinolli. Imago. IX. 

4) In Göcsej (Westungarn) schlagt man einem Kinde, das ins Bett macht, mit 
einem feurigen Besen den Hinteren. F. Gönczi; Göcsej. 1914. 143. Kinder dürfen 
nicht mit dem Feuer spielen, sonst pissen sie ein (Schlesien, Thüringen, Erzgebirge, 
Voigtland, Rheinland). Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube. 1900,395. K. Bartsch: 
Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg. 1880. II. 54. 

5) H. Schmid: Zur Psychologie der Brandstifter. (Psychologische Abhandlungen 
herausgegeben von C. G. Jung. 1914. I. 85, 86.) 

6) Der feurige Drache des wendischenVolksglaubens entsteht aus einer nassen Henne. 
Edm.Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. 1880. 
387. Vgl. Wlislo cki: Volksglaube und religiöser Brauch der Magyaren. 1893. 120. 
















jMondmytkologie und jMondreligion 47 5 


gehört auch das feurige Naß, das der wilde Jäger aus seinem Fäßlein über 
den Burschen ergießt, der in der schwäbischen Sage zu trinken begehrt. 1 

Besonders häufig finden wir diese Verquickung von Feuer und Wasser 
in der Flutsage. Die Ipurina erzählen, daß die Welt schon einmal von 
einer heißen Flüssigkeit zerstört wurde. 2 Bezeichnend ist folgende Sage der 
Tembe-Indianer: „In alten Zeiten kam einmal ein Mann zu einem Kinde, 
welches spielte. Er gab ihm eine brennende Kerze und befahl ihm, sie im 
Wasser des Flusses auszulöschen und verschwand wieder. (Vgl. die infantile 
Quelle der Enuresis nocturna und den europäischen Volksglauben, wenn 
Kinder mit dem Feuer spielen, bepissen sie sich im Schlafe.) Das Kind 
tauchte die Kerze in den Fluß, der sofort zu brennen anfing. Erst verbrannte 
das Wasser, dann begann auch die Erde zu brennen. Das Feuer fraß sich 
unter dem Boden fort und brach auf einem Dorfplatz an die Oberfläche 
durch. Nun stürzt die Erde an dieser Stelle ein. Eine schwangere Frau 
versteckte sich mit einem Knaben in den Stämmen von Bananenstauden, 
denen kein Feuer etwas anhaben kann. Das Feuer vernichtete die ganze 
Menschheit. Jetzt überschwemmt wieder das Wasser die ganze Erde; die 
beiden kommen aus dem Versteck hervor und pflanzen die Mandiokakerne, 
die sie sorgfältig aufgehoben hatten. Dann gebiert die Frau ein Mädchen, 
die von ihrem Bruder zur Stammutter der Menschheit gemacht wird. 3 

Auch in unserer Sagengruppe findet sich diese Verquickung von Feuer 
und Wasser, womit unsere Deutung Durstreiz Harnreizwecktraum eine 
neue Stütze gewinnt. In Variante 3 werden die Wasserholenden vom Monde 
verbrannt. In den jakutisch-burjätischen Fassungen (16 bis 20) schwebt das 
wasserholende Mädchen in der Gefahr, nicht im Monde zu leben, sondern 
in der Sonne verbrannt zu werden. Endlich in den neuseeländischen Vari¬ 
anten 38,39, zündet die Frau Ronas, die vorher mit ihren Kindern auf 
dem Wasser fuhr, ihre Hütte selbst an und kommt in den Flammen um. 

Ur indrang un d M ondsuclit 

Bei vesikalen Träumen von infantilem Typus kann es auch geschehen, 
daß der Traum in eine Handlung umgesetzt wird: Die Träumer gehen, 


1) O. Rank, loc. cit. 146. Vgl. H. Plischke: Die Sage vom wilden Heere im 
deutschen Volke. 1914. 72. V. Waschnitius: Perht, Holda und verwandte Gestalten. 
Sitzungsber. K. Ak. d. W. 1913. 174. 

2) P. Ehrenreich: Beiträge zur Völkerkunde Brasiliens. V eröff .Kgl.M. f. V. II. 1891.71. 

3) C. Nimuendaj u-Unkel: Sagen der Tembe-Indianer. Z. f. E. XLVII. 288. 









weiter schlafend und träumend, auf den Nachttopf oder sie benetzen ihr 
Bett oder das Zimmer. Ellis berichtet von einer jungen Frau, die ij 
Schlafe aufsteht und auf den Zimmerboden uriniert, wobei sie erst durch 
den Aufschrei ihrer Schwester erweckt wird. 1 Durch dieses Überhandnehmen 
des motorischen Impulses wird auch der Zusammenhang zwischen Urindrang 
und Somnambulismus, der ja gewöhnlich Mondsucht genannt wird, beleuchtet 
Sadgers verdienstvolle Arbeit beruht ja eigentlich nur auf zwei ausführlich 
analysierten Fällen von Mondsucht und in beiden war ein erhöhtes Maß 
von Urethralerotik festzustellen. Eine Hysterika bekam als Kind bei Nacht 
stets heftigen Harndrang und suchte den Nachttopf, vermochte ihn aber 
nicht zu finden, obwohl er stets am gewohnten Platze stand. „Indes wurde 
der Drang stets ärger, so daß sie im Schlafe während des Suchens furchtbar 
zu stöhnen begann. Das ganze Zimmer suchte sie ab, ja kroch selbst unter 
dem Bette herum, ohne an den Topf, der sich dort befand, anzustoßen 
oder ihn zu bemerken. Es passierte ihr ziemlich häufig, daß sie infolge 
des enormen Harndrangs unter dem Suchen das Bett oder das Zimmer 
näßte, worauf es natürlich viele Schläge gab.“ 2 * 4 Nächtelang ist sie bei Mond- 
licht im Hause herumgestiegen, sie ging im Hemde zur Tür hinaus und 
zum Gangfenster, welches sie öffnete. So blieb sie eine ganze Weile sitzen 
fortwährend den Mond betrachtend .3 Sie erzählt: „Wenn ich mit vier, fünf 
Jahren in den Mond schaute, hatte ich oft Lust, über die Häuser in den 
Mond hinaufzusteigen.“ Mit neun, zehn Jahren phantasierte sie viel vom 
Monde, vielleicht sei es dort wie im Paradies, dort könne sie nackt herum¬ 
laufen, mit Buben und Mädchen ein freies Leben führen usw.+ 

Ein achtundzwanzigjähriger Förster erzählt: „In der Nacht hatte der 
Vollmond auf mein Bett geschienen. Wir Jungen hatten dort keinen Nacht¬ 
topf, sondern mußten hinausgehen, was bei meinem häufigen nächtlichen 
Harndrang mir sehr unangenehm war. Nun stand unter meinem Bette 
eine viereckige Schachtel für Strohhut und Krawatten, die hab’ ich in 
der Nacht, als ich schlaftrunken aufstand, für einen Topf gehalten und 
hineinuriniert. Das hat sich dann nochmals wiederholt. Ein andermal 

habe ich, auch bei Vollmond, einem Kollegen in die Schuhe hinein- 
geschifft usw.“ 5 


1) Ellis: The World of Dreams. g 6 . 

Seele„L S de d Xvl. 8 NaChtWandeln Und Mondsucht. Schriften zur angewandten 

5) Sa dg er, loc. cit. 20. 

4) Sa dg er, loc. cit. 27. 

5) Sadger, loc. cit. 37. 





















Alondmytliologie und jMondreligion 477 

In einer Tschimschian-Sage erklärt der Mond einem zum Himmel empor¬ 
gestiegenen Menschen: Höre, was du die Menschen lehren sollst, wenn du 
zur Erde zurückkommst. Ich freue mich daran, die Menschen auf Erden 
zu sehen, denn sonst würde es niemand gehen, der zu mir betet und mich 
verehrt. Ich bedarf und erfreue mich eurer Verehrung. Aber wenn ihr fort¬ 
fährt übel zu tun, werde ich euch vernichten. Mann und Frau sollen ein¬ 
ander treu sein, ihr sollt zu mir beten und ihr sollt den Mond nicht an- 
sehen, wenn ihr am Ufer sitzt und euere Notdurft verrichtet. 1 In der Basse- 
Bretagne heißt es, junge Weiber dürften sich abends, wenn sie ihre Not¬ 
durft verrichten, nicht dem Mond zuwenden, sonst könnten sie vom Mond 
geschwängert werden. 2 Aus der Übertretung eines ähnlichen Tabus (nicht 
auf den Mond hinzudeuten) wird ja in einer Variante das Herauf holen der 
Wasserträgerin in den Mond erklärt (30). Es dürfte demnach als gesichert 
gelten, a) daß unsere Sagen auf Traumerlebnissen beruhen, b) daß 
wir diese Träume auch näher als Weckträume bestimmen können. 
Bei dieser näheren Bestimmung werden wir eingedenk der psychoanalytischen 
Lehre von der vielfachen Überdeterminierung der Traumelemente von den 
bewußtseinsfähigeren Schichten schreitend, die ganze Phylogenese der in 
unseren Sagen enthaltenen Elemente aufzudecken suchen. 

Als erste Schichte ergibt sich: c) das Wasserholen bei Mondschein 
als Durstreiztraum, d) die Elemente des Wasserausgießens, Ver¬ 
brennens, der Wasserfahrt machen es wahrscheinlich, daß wir 
daneben auch einen Harnreiztraum zu supponieren haben, welcher 
einerseits auch physiologisch mit dem Durstreiz verknüpft sein kann, ander¬ 
seits mag aber das letztere Motiv als unanstößig häufig zur Verdeckung 
des Harnreizes verwendet worden sein. So weit das spärliche Erfahrungs¬ 
material über Mondsüchtige reicht, scheint es auch darauf hinzudeuten, 
daß eine erhöhte nächtliche Harntätigkeit und die Tendenz, sich 
vom Monde angezogen zu fühlen, aus verschiedenen Ursachen 
zusammen auftreten, womit die Deutung unserer Mondsagen als 
Harnreizträume aufs beste übereinstimmen würde. Da aber in der 
Traumsymbolik fließendes Wasser häufig als Äquivalent des Urinstromes 
auftritt, wäre es schließlich nicht zu verwundern, wenn die weltweiten 
und vielfach besprochenen Beziehungen des Mondes zu den Wässern, nicht 
bloß auf der Beobachtung kosmischer Erscheinungen, Ebbe und Flut, be- 


1) Boas: Indianische Sagen. 279. 

2) P. Sebillot: Le Folk-Lore de France. I. 1904. 41. 











ruhten sondern auch eine menschliche physiologische Quelle in dem vom 
Mondschein und Harndrang bestimmten Wecktraum hätten. 

M ond und Vasser 

Wir wollen nun diese Beziehungen mit Rücksicht auf unsere Sage kurz 
esprechen. Da wie bekannt, ein Traum dadurch entsteht, daß di! uner- 
e igen Reste der bewußten Tagesgedanken zu Traumerregern werden 
indem es ihnen gelingt, mit analogem, infantil-archaischem Material in 
erbindung zu treten, 1 so werden wir uns vorstellen, daß unsere Traum- 
erzahlung irgendwo entstanden sein wird, wo die Auffassung des Mondes als 

einer wässerigen Substanz oder überhaupt der Beziehung von Mond und 
Wasser gegeben war. 2 

In Hawai heißt es: In seiner Größe und Kleinheit fällt der Mond mit 

'"Sr“ ZUSammen ’ weil er vom Schöpfer (Kai-hanga) aus dem Wasser 
gebildet und darum m sympathischer Verbindung mit dem Wasser ist 3 Es 
ist ein alter und nicht nur indischer Glaube, daß der Mond der Herr des 
Wassers ist. Die Puranas sagen, daß der Wagen des Mondes aus Wasser 
bestehe; aus dem Monde kommt der Regen, heißt es (Ait. Br. VIII 2 8 13 ) 

Z “ ^ 7 ^ iSt d6r M ° nd (R ' V ' 1 10 5 - i)> Wenn König Soma 
(der Mond die Speise der Götter) in der Neumondnacht weder im Osten 
noch nn Westen sichtbar ist, dann dringt er in Wasser und Pflanzen ein 5 
„Es lauft der Mond in den Wassern als ein Vogel am Himmel“* usw In 

de Tr ^ niCht and6rS ' 'r Pa °' P ° h ‘ tSZe heißt es laut de Groot: „l’essence 
de la lune dämme sur l’eau . InF ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung 

schreibt ein chinesischer Philosoph: Der Mond besteht aus Wasser, darin 
efmden sich Hase und Kröte. 8 In einem chinesischen Märchen von der 
ondfee heißt es: „Silbern türmten sich die Stockwerke übereinander. Die 
Säulen und Wände waren alle aus Wasserkristall. Es waren Fische und 

i) S. Freud: Die Traumdeutung. i 9 u. 3 6 9 

* b *; d ”“- «.üw.,« ,„ f 

Tu!’ t Y aUf n0ch Unten zu "örternden Umständen. 

3; ± 5 astian: Inselgruppen. 217. 

Hillebrandt: Vedische Mythologie. 1891. I. 355 , 35 6. 

5 ) Hillebrandt, loc. cit. I. 2 94 . ° ° 60 

6) Hillebrandt, loc. cit. I. 344 . 

MuS/gu”^,* ?a° 8 5i. hM F “'' Annales du 

8) Groot, loc. cit. 495. 


























Mondmyüiologie und Mondreligion 


479 


Vögel, die bewegten sich wie lebend. Die ganze Welt schien aus Glas zu 
sein.“ 1 So auch bei den von China beeinflußten Randvölkern. „Der Mond 
ist nach dem tibetanisch - mongolischen System ein Wasserglas, welches 
gleichfalls von einem glänzenden Tangäri bewohnt wird. Der nächtliche 
Tau ist eine Wirkung des Mondes.“ 2 Die Sonne besteht aus Glas und Feuer, 
der Mond aus Glas und Wasser. 3 Ein aus Knochen gebildeter Nasenhalbmond 
auf dunklem Felde, mit Wasser gefüllt und ein weißes Kaninchen oder 
ein Steinmesser enthaltend ist die mexikanische Hieroglyphe des Mondes. 4 

Uns interessiert besonders die direkte Verbindung zwischen Mond und 
Flutsagen. Bei den Muysca ist die Mondgöttin Chia auch Herrin der Ge¬ 
wässer, die eine große Flut verursacht. 5 Die Osseten sehen im Monde den 
angeketteten Dämon Arnauths, dessen Losreißen große Überschwemmungen 
verursachen würde. 6 Wie in unserer Variante 29 (Haidah) finden wir oft 
die Vorstellung „wenn der Mond seinen Wassereimer umkehrt, dann regnet 
es“. 7 Wie sich die Bauernregel über Mond und Wetter und ähnliches zu 
den Tatsachen verhält, bleibe dahingestellt; jedenfalls sind die Beziehungen 
des Mondes zur Ebbe und Flut eine überall beobachtete Tatsache. Wir glauben 
aber, daß die menschliche Aufmerksamkeit regelmäßig von unbewußten 
Motiven bestimmt ist, daß daher die Traumerlebnisse somnambulistisch- 
vesikaler Art dazu beigetragen haben werden, die Ideenassoziation Mond 
und Wasser hervorzurufen und zu fixieren. 


iS y m L o lit der Fl ut sagen 

Die Untersuchung Ranks hat aber auch gezeigt, daß der Harndrang 
eigentlich nur in seiner Verlötung mit anderen unbewußten Faktoren als 
Traumerreger gelten darf. Es ließ sich nämlich feststellen, daß die Harn 
drangträume häufig in erotische Wunschtraumszenen (Hochzeitsreise, Schwan- 


1) R. Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. 1914. 45, 46, 

2) Bergmann: Nomadische Streifereien unter den Kalmücken. III. 1804. 59. 

5) P. S. Pallas: Reise durch verschiedene Provinzen des russischen Reiches. 1801. 
I.534. LG. Georgi: Beschreibung aller Nationen des russischen Reiches. 1776. 415. 

4) Sei er: Gesammelte Abhandlungen. Bd. IV. 1914. 1, 171. 

5) D. G. Brinton: The Myths of the New World. 1905. 156. Vgl. eine Sintflut, 
vom Mond hervorgerufen, wobei aber heftige Zyklone an Stelle des Wassers treten 
bei den Nasoi. E. Frizzi: Ein Beitrag zur Ethnologie von Bougainville und Buka. 
Baessler Archiv. 1904. Beiheft VI. 9. 

6) A. Bastian: Geographische und ethnologische Bilder. 1875. 74. 

7) Siehe die Anmerkung oben. 













gerschaft) übergehen. 1 In Verbindung mit dem Harnreiz tritt eine Pollution 
auf. 2 3 Dann weist aber Rank auch nach, teilweise an Hand des völker¬ 
psychologischen Materials, daß das strömende Wasser in diesen Träumen 
auch als Geburtswasser, das Hervorkommen aus einem Schiff usw. als Ge¬ 
borenwerden aufzufassen ist. „Die gleichen Symboldarstellungen, die i m 
infantilen Sinne dem vesikalen Traum zugrunde liegen, erscheinen i m 

rezenten Sinne in exquisit sexueller Bedeutung: Wasser — Urin — Sperma_ 

Geburtswasser; Schiff schiffen (urinieren) — Fruchtbehälter (Kasten) naß 
werden Enuresis — Koitus — Gravidität usw.“3 

Wir wollen nun, an die Deutung der mexikanischen Sage von Uitzilo- 
pochtli und Coyolxauh auf dem Ballspielplatz anknüpfend, zeigen, daß diese 
Geburts- und Koitussymbolik auch in unseren urethralen Flutsagen als 
Unterschichte aufzudecken ist, um dann zu sehen, inwiefern dies auch 
für die oben behandelte Gruppe der Mondsagen gilt. Wir haben ja bereits 
gehört, daß dem Ballspiel eine geheime, mystische Bedeutung zukommt. 
Seler bemerkt: „Eine vergleichende Betrachtung endlich lehrt, daß das 
Ballspiel der Mexikaner mit anderen unter den amerikanischen Stämmen 
weit verbreiteten Spielen in Verbindung zu bringen ist, mit dem Ring- 
und Speerspiel der nordamerikanischen Indianer. Bei dem letzteren kam 
es darauf an, einen Speer durch einen rollenden Ring zu werfen, bei dem 
Ballspiel der Mexikaner den Ball durch den in der Ballspielwand befestigten 
Ring zu treiben. Von dem Ring- und Speerspiel der nordamerikanischen 
Indianer steht es fest, daß es mit der Weiblichkeit und mit der Befruchtung 
in Zusammenhang gebracht wurde. Es bildet z. B. einen wesentlichen Zug 
bei den im Herbst stattfindenden Weibertänzen der Ifopi. " 4 Dem glück¬ 
lichen Spieler, der den Ball durch den tlachtemalacatl warf, riefen die 
Mexikaner zu: „Das muß ein großer Ehebrecher sein.“ Demnach wäre die 
Bedeutung des Loches oder Brunnens in der Mitte des Ballspielplatzes ganz 
klar: es bedeutet die Scheidenöffnung am weiblichen Körper. Das Wasser¬ 
gießen in das Loch wäre die Befruchtung; danach hätten wir das Leben 
des Uitzilopochtli im Mutterleib und mit dem Abfließen der Gewässer seine 
Geburt. Die Geburtsbedeutung dieser Flutsage hat ja schon Preuß erkannt: 
„Nun zerbricht Uitzilopochtli das Rohr oder den Geburtsfluß“, in dem 


1) O. Rank: Die Symbolschichtung im Wecktraum. Jahrbuch. IV. 78. 

2) O. Rank: Symbolschichtung. Jahrbuch. IV. 8s, 84. Vgl. S. 88. 

3) O. Rank, loc. cit. 95. 

4) Ed. Seler: Gesammelte Abhandlungen zur amerikanischen Sprach- und Alter¬ 
tumskunde. III. igo8. 323. 






















jMondmytliologie und JMondreligion 


481 


er offenbar bis dahin gefangen war, wendet sich nach dem großen See 
um, und als er ihn anbohrt, verläuft das Wasser, alles vertrocknet und 
und verschwindet plötzlich. „Diese Flut, die so oft bei der Geburt des 
Sonnengottes und bei dem Herauskommen der Menschen aus der Erde in 
so vielen Mythen allenthalben erzählt wird, ist das Meer der Morgenröte, 
das sofort versiegt, sobald die Geburt vollendet ist.“ 1 

Für unsere Auffassung bleiben die naturalistischen Beziehungen (Sonne, 
Morgenröte) das Sekundäre, und das Rein-Menschliche das Primäre. Die 
Projektion der Flutsage auf die Morgenröte wäre indessen auch von unserem 
Standpunkt aus leicht verständlich, haben wir es ja mit einem Harnreiz¬ 
wecktraum zu tun, wobei die innere Flut leicht eine Projektion auf den 
himmlischen Weckreiz erfahren haben mag. Uns interessiert aber noch der 
Umstand, daß dieses Brunnenloch, dessen Bedeutung als weibliches Genitale 
so über allen Zweifeln steht, auch itzompan („seine Schädelstätte“) heißt, 
wie das Gerüst, wo die Mexikaner die Schädel der Geopferten auf einer 
durch die Schläfengegend gestoßenen Stange aufbewahrten. 2 Wenn also ein 
Vaginasymbol mit dem Opfergerüst identifiziert wird, so ist das nur ein 
Sonderfall jenes auch sonst nachweisbaren und einerseits tief im Organischen, 
anderseits aber in der Vorgeschichte der Menscheit begründeten Zusammen¬ 
hanges von Zeugen und Töten, welcher in Mexiko besonders deutlich zu 
beobachten ist. Der enge Zusammenhang zwischen Zeugen und Töten (Schädel¬ 
stätte = Vagina) kann natürlich mehrfach determiniert sein. Es wird aber 
wohl kein Zufall sein, wenn im Gesang des unsichtbaren Gottes gesagt wird, 
die Centzon uitznaua „fressen ihre Väter“, wofür sie dann auch den Opfer¬ 
tod erleiden. Nun hilft uns die herangezogene Sage aus Haiti und bestätigt 
unsere Deutung; hier bricht ja die Flut aus einer Kalebasse los, in welche 
ein Vater die Gebeine seines von ihm getöteten Sohnes gelegt hat. Dieselben 
Elemente finden wir aber in der oben angeführten Tembe-Sage. Denn während 
die aus kindlichem Spiel entstandene Feuer- und Wasserflut die ganze Erde 
verwüstet, versteckt sich doch eine schwangere Frau in die Bananenstaude 
und überdies endet noch die Sage mit einem Inzest. Auch in der Flutsage 
der Mantra läßt sich auf Grund nicht nur allgemein-psychologischer, sondern 
spezifisch malaiischer Tatsachen das genitale Element nachweisen. Die Flucht 
vor dem Wasserstrom und dem Riesentier erinnert nämlich daran, daß die 
Malaien „männliche“ und „weibliche“ Fluten unterscheiden und der An- 

1) K. Th. Preuß: Der Kampf der Sonne mit den Sternen in Mexiko. Globus. 1905. 
LXXXVn. 137. 

2) Preuß, l.c. 


Imago XIII. 


51 









sicht sind, daß diese jene verfolgen. 1 Es wäre ja die Deutung möglich, daß 
der Baumstumpf Symbol des weiblichen Körpers ist und die Flucht die Ge¬ 
burt darstellt. Das wäre ja schließlich sehr begreiflich und dann wäre die Ent¬ 
stehungsage des Meeres eine Geburtssage, während das verfolgende Unge¬ 
heuer teilweise als eine Objektivation der bei der Geburt regelmäßig auf¬ 
tretenden Angstaffekte aufzufassen wäre. Hinter dieser „Objektivation“ stecken 
nun freilich wieder jene Gestalten, welche die Geburt und damit auch die 
Affekte verursachen die Eltern. Es kommt nämlich der Liane und dem 
Baumstumpf in den Mythologien der austronesischen Völker eine ganz be¬ 
stimmte Bedeutung zu. 2 

Die Kayan erzählen von dem hölzernen Schwertgriff, der von der Sonne 
herunterfiel, sich in den Urfels einbohrte und so zu einem Riesenbaum 
emporwuchs, der sich über die ganze Insel ausdehnte. Vom Monde fiel eine 
Ranke, schlang sich um den Baum und wurde die Gemahlin des Baumes 
und die Mutter eines menschenähnlichen Zwillingspaares .3 

Laut einer zweiten Variante fällt der große Baum vom Himmel. Ein 
Rotang windet sich an dem Baum hinauf bis zu dessen Vagina, wodurch 
dieser sehr groß wurde. 4 

In der dritten Variante haben wir wieder die Entstehung des Baumes 
aus dem Schwertgriff (Schwertgriff und Weberschiffchen bedeuten in diesen 
Schöpfungssagen Mann und Frau), dann aber die Erklärung, daß die Ranke, 
der Mann und der Baum das Weib in dieser Ehe war.« 

Halten wir uns nun an diese Erklärung, indem wir vorläufig darauf ver¬ 
zichten, das Schwanken zwischen den Geschlechtern in diesen Sagen zu 
erklären, so werden uns die tieferen Schichten in der Flutsage der Mantra, 
die wir oben mitgeteilt und auf den Durstreiz bezogen haben, sofort klar 
werden. An der Ranke (d. h. an dem eigenen Penis) läßt sich der Mann 
in die große mütterliche Vagina hinab. Indem die Sage den genitalen Drang 
als Durstreiz darstellt, regrediert sie von der genitalen zur oralen Objekt- 
bindung. In der zweiten Hälfte der Sage erweist sich nun diese Regression, 
wie nicht anders zu erwarten, ganz deutlich als Abwehrmechanismus. 6 Aus 
dem Loch bricht eine weiße Schildkröte (Muttersymbol) und eine große 

1) W. Skeat: Malay Magic. 1900. 10. 

2 2 7 gl : P \ W - Schmidt: Grundlinien einer Vergleichung der Religionen und 
Mythologien der austronesischen Völker. 1910. 

3) W. H. Furness: Folk-Lore in Borneo. 1901. 6. 

4) A. W. Nieuwenhuis: Quer durch Borneo. I. 1904. 129—131. 

v h i I l° Se “ d W - M ° Dou S all: Pagan Tribes of Borneo. 1912. II. 137, 138. 

b) Vgl. Freud: Hemmung, Symptom und Angst. 1926. 48. 




























483 


Wassermasse hervor und die Verfolgung setzt ein. Daß es sich in dieser 
Verfolgung um eine Angstumkehrung der männlich-genitalen Angriffslust 
handelt, 1 wird dadurch ganz deutlich, daß der Mann lauter Tiere, deren 
Bedeutung als Symbole der Männlichkeit nicht miß zuverstehen ist, um ihre 
Hilfe anruft (Tiger, wilder Stier, Rhinozeros) und daß diese Hilfe ihm dann 
endlich vom Zwerghirsch, dem Penissymbol dieses Sagengebietes, 2 * gewährt 
wird. 



III) Danaidenarbeit 



Deutung der neuseelandisclien Varianten 


neusee 


So gerüstet und vorbereitet können wir daran gehen, die Maorigruppe 
unserer Mondsagen zu deuten, und zwar so zu deuten, wie wir dies etwa 
mit einem Traume in der Analyse tun würden. In Var. zankt Rona 
mit seiner Frau. Nun ist aber in infantiler Auffassung der elterliche Koitus 
ein Zank und die Eklipse werden entweder als ein Kampf oder als ein 
Geschlechtsverkehr der beiden Himmelslichter gedeutet. 5 Während er sie 
auf hoher See (urethral-erotisch) sucht, kommt ein Gott und zerstört ihr 
Haus. Selbst wenn wir nicht wüßten, daß in Mangaia ein galanter Ehe¬ 
mann seine Frau well thatched house“ nennt, 4 daß in Neuguinea „unter 
fremde Häuser gehen“ soviel heißt wie fremden Frauen nachlaufen, 5 und 
daß z. B. in Celebes (und sonst) die Öffnung des Männerhauses mit Dar¬ 
stellungen der weiblichen Genitalien verziert ist, 6 würden wir dennoch aus 
Var. 39, wo der Geschlechtsverkehr zwischen dem Gotte und der Frau Ronas 
belegt ist, auf die symbolische Identität von Haus und Weib schließen. 

Rona rächt sich auf eine durchaus typische Weise an dem lüsternen 
Gott. Er schneidet ein Stück von seinem Fleische ab und bietet es seiner 


1) Siehe die Deutung der magischen Flucht. Rank: Psychoanalytische Beiträge 
zur Mythenforschung. 1919. 114, 6. 

2) Röheim: Die wilde Jagd. Imago XII. 475. 

5) Siehe Röheim: Spiegelzauber. 1919. S. 251. Anm. 4. 

4) W. W. Gill: Myths and Songs from the South Pacific. 1876. 63. 

5) „Das Gebot: Stell’ dich nicht unter anderer Leute Häuser bedeutet: 
Verführe nicht fremde Frauen.« — G. Bamler: Tami Neuhauß: Deutsch-Neu¬ 
guinea. III. 1911. 504. Über Mutterleib als Zimmer in Amerika, siehe W. H. R. Rivers: 
The Symbolism of Rebirth. Folk-Lore. 1922. XXXII. 30. 

6) P. u. F. Sarasin: Reisen in Celebes. 1905. II. 217. Schurtz: Altersklassen und 
Männerbünde. 1902. 261. 


31 1 



















4^4 G6za Röheim 


Frau zum Essen an. Im Sinne des Talionsprinzips kann das abgeschnittene 
Stück nur denjenigen Körperteil bedeuten, an dem der Gott gesündigt hatte 
d. h. den Penis. Wir erinnern an die Inzestsagen, in denen das Mädchen 
em abgeschnittenes Stück von ihrer Brust dem Verfolger (Vater, Bruder) 
anbietet 1 und führen auch als Beweis dessen, daß es sich hier um die 
weiblichen Äquivalente der Kastration handelt, an, daß, während die männ¬ 
lichen Mitglieder der Skopzensekte sich kastrieren, die Frauen ihre Brüste 
abschneiden. 2 * * Rona kastriert demnach den Buhlen seiner Frau und bietet 
ihr das abgeschnittene Glied zum Essen an: eine Wiederholung des ver¬ 
botenen Geschlechtsverkehrs mit Verschiebung nach oben. Wir vermuten 
aber, daß in der unbewußt-latenten Niederschrift dieser Traumerzählung 
Rona nicht der Strafende, sondern derjenige gewesen sein mag, der als 
Strafe für verbotenen Geschlechtsverkehr kastriert wird. 

Nun ziehen wir die Mondsage der Hawaiinsulaner heran. Die göttliche 
Hina hatte ihren irdischen Gemahl sowie dessen Kinder schon sattbekommen 
und will zurück in ihre himmlische Heimat. Der Sonne kann sie sich 
wegen der großen Hitze nicht nähern, da erblickt sie den Vollmond und 
entscheidet sich für diesen. Ihr Mann versucht sie zurückzuhalten, doch 
sie will zu ihrem neuen Gatten, dem Mond, gehn. Noch einen Sprung 
macht ihr Gemahl und packt dabei ihren Fuß; sie schüttelt ihn ab, aber 
das Bern bleibt in seiner Hand. Hinkend gelangt sie mit ihrer Kalebasse 
m der sie ihre wertvollste Habe aufbewahrt hat, in den Mond. Bei Voll¬ 
mond ist sie mit der Kalebasse noch immer im Monde sichtbar und da 
ihr Gatte ihr ein Bein abgerissen hat, heißt sie von nun ab Lono-Muku 
„tke crippled or maimed Lono“? Die Kalebasse ist ja der Wassereimer, 
vielleicht ist dann das Ganze bloß eine abweichende sekundäre Bearbeitung 
desselben Grundthemas? Da fällt vor allem der Name des Helden oder der 
Heldin auf. Da das Wort ripo (Maori) = lipo (Hawai),* reo (Maori) == leo 
(Hawai), 5 rapa (Maori) = lapa (Hawai) 6 7 usw. ist und auch „o“ und a“ 
als Endung wechseln/ wäre Lono-Rona, wie dies schon von Bastian er- 


1) Ed. Stucken: Astralmythen. 1896—1907. 490. 

2) K K. Graß: Die russischen Sekten. II. 1914. 706, 71*5. 

OzeliT n e l3x. rWelt: ° f 191 °* l68 ’ ^ -Bastia: 

tl ^ Tre # ear: The Maori-Polynesian Comparative Dictionai 

5) iregear, loc . dt. 409. 

6) Tregear, loc . dt. 396. 

7 ) Tregear, loc. dt. XVIII. 


Inselgruppen in 
N. D. 417. 





J 
















Mondmythologie und .Mondreligion 


486 


kannt wurde. 1 Der Mondgöttin (das Geschlecht ist schwankend: Rona ist 
eine Frau Var. ßß, ß6 , 40 — oder ein Mann — ß4, ßj, ßj, ß8, ßp —) 
wird ein Bein abgerissen, ebenso wie dem ebenfalls lunaren Tezcatlipoca, 
von dem jaLoewenthal gezeigt hat, daß der abgerissene Fuß als Symbol 
der Kastration zu verstehen ist. 2 Dann haben wir aber auch unabhängig 
von dieser Untersuchung den Nachweis führen können, daß das Armaus- 
reißen der Feuergöttin (oder des Feuergottes) in den Mauisagen die Kastration 
bedeutet; die Göttin, die von Maui so mißhandelt wird, ist aber keine 
andere als die Heldin unserer Sagen, Hina. 3 4 Wohl auf Grund nächtlicher 
Traumerlebnisse wurden Geschlechtsverkehr (Sünde) und Kastration auf den 
Mond projiziert; ein dunkles Fragment der hawaiischen Kosmogonie scheint 
auf eine Sage anzuspielen, worin der Verkehr des Mondes mit einer Frau, 
wohl als Ursache der Kastration, erzählt wurde. Es heißt: „Es schleudert 
den Samen umher Makalii, den Samen der Gott (. Akua , atua = Geist), 
schleudert den Samen der Mond (Hina) getäuscht durch Lono-muku.“* Die 
Sage spielt jedenfalls auf die Sünde des Onan an; das „getäuscht“ kann 
nicht anders in dem Zusammenhang verstanden werden als wenn wir 
einen Text annehmen, in welchem erzählt wird, daß einer der Ehegenossen 
den Koitus zu früh abbricht, worauf der andere zu keiner Befriedigung 
gelangt. Weiter sollte es heißen, „der Täuschende“ wird zu Lono-muku, 
d. h. zum kastrierten Lono zur Strafe für sein Verbrechen. Da Hina trotz 
des „Samen ‘schleuderns (vielleicht als Vaginalsekret zu verstehn) jedenfalls 
ein Weib ist, muß wohl Lono mit dem abgerissenen Fuß hier ein Mann 
sein und richtig lesen wir ja in Var. ^4, daß Bona vom Fall lahm wurde. 

Bäeßler berichtet uns die tahitischen Namen für die einzelnen Monate, 
d. h. Monde, welche zeigen, daß wir mit der Annahme eines derartigen 
Mondmythos durchaus stilgemäß-polynesisch denken. „Den Mondwechsel 
sah man als eine Neuvermählung des Mondes an; jeder neue Mond wurde 
anders benannt als sein Vorgänger und bekam eine neue Gattin zugeteilt; 


1) Ad. Bastian: Die heilige Sage der Polynesier 1881. 276. 

2) Loewenthal: Zur Mythologie des jungen Helden. Z. f. E. 1918. 

3) Das Material siehe bei Wester weit: The Legend of Ma-ui. 1910. Meine 
Auseinandersetzung der Mauisage bildet einen Abschnitt einer größeren unveröffent¬ 
lichten Arbeit. 

4) Ad. Bastian: Heilige Sage der Polynesier. 275. Vgl: In the Fourteenth Era we 
find the account of the stars „Strewed the seeds , finest seeds of stars in the heavens , Strewed 
fine seeds of gods , the sun became a god , Strewed the seeds from Hina , Lonomuku wasformed 
like a jelly“ — E. Tregear: The Creation Song of Hawaii. Journal of the Polynesian 
Society. IX. 43. 












486 G^za Röheim 


man sprach nicht von Monaten, sondern von Mondehen. Die Namen der 
beiden Gatten waren derartig, daß sich aus ihnen schon auf die Art und 
Weise schließen ließ, wie Mann und Frau zusammen lebten; je nachdem 
dies geschah, wurden Menschen, Tiere, Pflanzen und Winde davon beein¬ 
flußt. “ In der ersten Mondehe koitiert der Mond und deshalb auch die 
Menschen von vorne, in der zweiten von hinten. Leider unterläßt es 
Bäeßler alle zwölf Sprüche, die immer doppelsinnig sind, zu erläutern. 1 
In dem zweiten Monat entsteht auch Zwietracht zwischen den Menschen 
im Zusammenhang mit der Art des lunaren Koitus; sowohl in unserer 
Sagengruppe, wie auch sonst, mangelt es nicht an Sagen, die unglückliche 
Eheverhältnisse in den Schicksalen der Himmelslichter erblicken. Mit ihrem 
Manne streitend, gelangt Lono-muku in den Himmel, Rona streitet mit 
der Frau usw. Wir haben ja schon darauf hingewiesen, daß der Koitus 
für die infantile Auffassung einem Raufen der Erwachsenen entspricht; 
im Traum könnte diese infantile Vorstellung regressiv belebt werden, wenn 
damit zugleich ein Quantum freischwebender Libido, ein Unlustmoment 
dargestellt werden soll. Wir erinnern an den „geschleuderten“ Samen in 
dem oben angeführten Sagen fragmen t und fragen uns, was es hiermit für 
eine Bewandtnis haben mag. Um dies zu erklären, müssen wir aber etwas 
weiter ausholen. 


Danaidenarbeit 

Ewig flicht Moyang Bertang seinen Faden im Mond, doch ebenfalls 
ewig wird er von den Mäusen zernagt. Die Pflanzen schießen zum Himmel 
empor; ein alter Mann muß sie immer wieder abschneiden (siehe oben). 
Der Holzhacker im Monde ist ewig an der Arbeit, den Kassiabaum zu 
fällen, doch stets wächst dieser nach (siehe oben). Die Iroquois erzählen, 
daß eine alte Frau, die Sehergabe besaß, sich unglücklich fühlte, weil sie 
eines nicht wußte: Nämlich den Zeitpunkt des Weitendes. „ For this she 
was transported to the moon where to this day she is clearly to he seen 
weaving a forehead strap. Once a month she stirs the boiling kettle of hominy 
before her (vgl. oben Mond als Wassereimer, Kessel, Hitze) during which 
occupation the cat , ever by her side unravels her net and so she must con- 
tinue until the end of time for never until then will her work be finished. “ 2 


1) Bäeßler: Fischen in Tahiti. Z. f. E. 1905. 924. 

2) E. A. Smith: Myths of the Iroquois. Bureau Am. Ethn, II. 81. 


















Mondmythologie und Mondreligion 4&7 

Laut den Potawatomi sitzt im Mond eine Frau und flicht einen Korb. 
Wenn sie dies vollendet, geht die Welt unter, aber ein Hund kämpft mit 
ihr während der Verfinsterung und dieser zerreißt den Korb. 1 In Ungarn heißt 
es: Die heilige Cäcilie hatte von Gott verlangt, daß sie am liebsten ewig 
tanzen und der heilige David, daß er ohne Ende musizieren möchte. Dar¬ 
um sind beide in den Mond versetzt worden. 2 Dieses mythische Motiv der 
„vergeblichen, ewigdauernden Arbeit“ findet sich freilich auch vielfach in 
rein menschlicher Umgebung gedacht. Ein Anhänger der „lunaren“ Mytho¬ 
logie, der „vergleichenden Mythenforschung“, würde nun so zu Werke gehen, 
daß er die Naturerklärung in den Vordergrund rückte und aus dem ewigen 
Phasenwechsel des Mondes die ewige Arbeit erklärend, die irdischen Fälle 
als vom himmlischen Substrat abgeleitet und losgelöst erklärte. Für uns 
empfiehlt es sich, aus allgemeiner und methodologischer Überzeugung den 
umgekehrten Weg einzuschlagen und, das Menschliche zuerst als Mensch¬ 
liches verstehen wollend, zu versuchen, ob sich aus den so gewonnenen 
Ergebnissen die Projektion auf den Mond erklären läßt. 

Das Los der alten Jungfern 

In Patschkau glaubt man, daß die alten Jungfern nach ihrem Tode den 
Knopf des Patschkauer Kirchturms scheuern oder waschen müssen und die 
alten Junggesellen müssen ihnen das Wasser im Siebe dazu tragen. 3 In 
Breslau fegen die alten Jungfern nach ihrem Tode die Magdalenenbrücke. 4 
Nahe beim Sterzinger Moos erhebt sich der Roßkopf. Auf diesem Berg 
müssen die Hagestolzen jahraus, jahrein Wolken schieben und Nebel schobern, 
d. h. häufeln wie man das Heu häufelt; wenn sie nun denken, sie hätten 
ihre Sache gut gemacht, so kommt die Sonne, die Nebel fahren auseinander 
und die Arbeit fängt von neuem an. Außerdem gehört zu ihren Beschäfti¬ 
gungen noch das Einsalzen der Steinblöcke; sie müssen den kleinsten Ameisen 
einen Drahtring durch das Maul ziehen; Linsen wie Scheitholz klaftern, 
schwarzen Gänsekot so lange kauen, bis er weiß wird usw. Die alten Jung- 


1) Th. Waitz: Anthropologie der Naturvölker. III. 224. Vgl. L. Frobenius: Zeit¬ 
alter des Sonnengottes. 1904. 355. 

2) L. Kdlmdny: A hold nyelvhagyomänyainkban. 1887. 17, 18. Wlislocki: 
Volksglaube und religiöser Brauch der Magyaren. 1893. 53. 

3) P. Drechsler: Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien. 1903. I. 282. 
Kühnau : Schlesische Sagen. 1913. III. 46. 

4) Kühnau: Schlesische Sagen. 1913. III. 77. 














488 


G&za Rölieim 


fern haben wieder den Boden des Sterzinger Mooses bis zum Jüngsten 
Tage mit den Fingern nach Spannen auszumessen. 1 In Straßburg müssen 
die alten Jungfern die Zitadelle einbändeln helfen, in Wien den Stephans¬ 
turm von unten bis oben abreiben, in Frankfurt und Basel den Pfarrturm 
wischen. 2 Moscherosch schreibt den alten Jungfern die Aufgabe zu, in 
der Holle Schwefelhölzlein und Zünder feilzubieten .3 In Nürnberg heißt 
es, sie mußten mit den Bärten alter Junggesellen den weißen Turm fegen. + 
m Wallis tragen die Seelen der Hagestolze in durchlöcherten Körben Sand 
aus der Rhone nach dem Berge.® Damit sind wir schon der Aufgabe der 
Danaiden ganz nahe gekommen. In Anbetracht dieser Parallelen aus dem 
eutschen Volksglauben werden wir Was er getrost in der Annahme folgen 
dürfen, daß das Wassertragen in durchbrochenen Krügen, durchlöcherten 
Fässern nicht als Strafe für die Mißachtung der eleusinischen Weihen, sondern 
als Los der ayap,oi im Jenseits gemeint ist: „ewiges ktutpocpepsiv (Wassertragen 
zum Hochzeitsbad) galt eben dem Volk als das Los der Unvermählten in der 
Unterwelt. Auch das fruchtlose Bemühen der Danaiden ist nicht die Strafe 
für ihre Bluttat an sich, sondern vielmehr ihr Schicksal als dyapoi. 6 7 

Die Bedeutung des durchlöcherten Kruges oder Fasses läßt sich aus 
einer sudindischen Legende ermitteln. Die Pockengöttin Mari war so heilig, 
daß sie keinen Topf mitzunehmen brauchte, wenn sie zum Fluß ging 
Wasser zu schöpfen, denn der Flußsand formte sich von selbst unter ihren 
Händen zum Topf. Eines Tages erblickte sie aber das Spiegelbild eines 
Gandharven im Wasser und sie dachte: „Wie schön sind sie“ (die Gand- 
harven nämlich). Hiemit hatte sie schon gesündigt und darum rann der 
and ihr nun durch die Hand und bildete keinen Topf/ Wir glauben 
daher richtig zu raten, wenn wir im durchlöcherten Krug, Sieb usw das 
Symbol des perforierten Hymens, der verlorenen Jungfräulichkeit erblicken. 
Die Tim in Togo erzählen, daß ein Mädchen für die Spinne, da sich im 


1) Alpenburg: Mythen und Sagen Tirols. 350, 351. 

2) Aug\ Stöber: Sagen aus dem Elsaß. Z. f. d. D. M. I. 405. 

bei 3 * Stfb°er CherOSCh: Wunderliche und wah Aaffte Geschichten. 1656. I. 484, zitiert 


t ' T a rT* : y oIksmedlzln und medizinischer Aberglaube in Bayern. 1869. 153. 
C HabeJl’ Deutscher Glaube und Brauch. 1867. I. i 55 „ beides laut 

L ?fb lai V d , :Alt) Ä nSChlCkSal ^ d6m Tode ‘ Gl0bus XXXIV. 205. Siehe auch 

t Glaube S “\ ZUr Volks - und Sprachkunde. 1897. Die alten Jungfern 

im Glauben und Brauch des deutschen Volkes. 136, 147. 

AmJ ^ aSe , r: Über . die Äußere Erscheinung der Seele. A. R. W. XVI. 373. Vgl. 
Anm Roschers Lexikon. I. 950. A. Dietrich: Nekyia. 1893. 70. Anm. 

7) • Fröhlich: Tamulische Volksreligion. J. 22. 























Mondmythologie und Mondreligion 4&9 


Hause kein Gefäß findet, in ihrer Scheide Wasser bringen soll, was ihr 
immer wieder mißlingt. 1 Dann wäre die Strafe so aufzufassen, daß den 
Danaiden der Krug im Jenseits durchlöchert wird zur Strafe dafür, daß 
sie es auf Erden nicht durchlöchern haben lassen und daß sie dann im 
Jenseits das Versäumte nachholen müssen, aber nachholen in einer frucht¬ 
losen oder sagen wir unfruchtbaren Art. Die Arbeit dieser Büßer im Jenseits 
soll das Wassertragen zum Hochzeitsbade anderer bedeuten; sie tragen 
Wasser, feiern aber keine Hochzeit, wobei wir natürlich „Hochzeitsbad“ 
als einen Ersatz für „Hochzeit“, „Geschlechtsverkehr“ betrachten. Da die 
Meineidigen, Grenzverrücker und sonstige typische Sünder des Volksglaubens 
stets eine Strafe erleiden, welche eigentlich eine Wiederholung, aber grenzen¬ 
lose Wiederholung ihrer Sünde ist 2 , so wäre es nur natürlich, wenn sich 


1) Frobenius: Der schwarze Dekameron. 266. Angeführt von W. Schultz: Ein¬ 
leitung in das Popol Wuh. 1913 (Mythologische Bibliothek, VI, Heft 2) 79. 

2) „Wer seinem Nachbar ein Stück Acker abgepflügt hat, muß es nach seinem 
Tode wieder anpflügen (Ostfriesland). Wer Grenzsteine verrückt hat, muß sie 
tragen (Thüringen, Böhmen), wer unrecht Gut sich angeeignet, hat nicht eher Ruhe, 
als bis es wieder an den Eigentümer gekommen.“ — Wuttke: Der deutsche Volks¬ 
aberglaube. 1900. 476. „Die Feuermänner . . . müssen den Grenzstein, den sie ver¬ 
rückt, zur Strafe immer mit sich herumtragen“, ebenda 477. Grenzsteinverrücker 
müssen den Grenzstein, den sie weggenommen, tragen und sie rufen immer: „Wo 
tue ich ihn hin?“ — Fr. Schönwerth: Aus der Oberpfalz. Sitten und Sagen. 1858. 
II. 91, „Wer in seinem Leben ein leidenschaftlicher Jäger war und sogar Sonntag 
während des Hochamtes . . . jagte, der muß zur Warnung für andere nach seinem 
Tode unaufhörlich „hinter einem Wild herjagen“. — A. Wrede: Rheinische Volkskunde. 

1919. 104. „Die Geister der Mädchen, welche die Tanzwut hatten und infolge der¬ 
selben starben, fahren unruhig um die Wirtshäuser herum, sobald dort ein Tanz 
stattfindet, sie können aber nicht ins Haus hinein, wenn nicht jemand sie auffordert, 
in den Saal führt und mit ihnen tanzt.“ — H. Runge: Volksglauben in der Schweiz. 
Zeitschrift für deutsche Mythologie. IV. 6. „Ein Bauer ließ allemal beim Umackern 
den Pflug ein paar Furchen im Grunde des Nachbars machen; auf diese Weise stahl 

er ihm mit der Zeit einen Strich Bodens ab. Zur Strafe mußte er nach seinem Tode 

mit einem feurigen Pflug über das gestohlene Äckerlein auf- und abfahren.“ — Ignaz 

O. Zingerle: Sagen aus Tirol. 1891. 224. — Vgl. Langer: Deutsche Volkskunde aus 
dem östlichen Böhmen. VI, 1906. 177. Sagen aus dem deutschen Osten. — M. Toeppen: 
Aberglauben aus Masuren. 1867. 115. — Edm. Veckenstedt: Wendische Sagen. 1880, 

33 2— * * * * * * 335- —M.Toeppen: Aberglauben aus Masuren. 1867.115. —J ohn: Sitte, Brauch und 

Volksglaube im deutschen Westböhmen. 1905. 179, 180. — Th. Vernaleken: Mythen 
und Bräuche des Volkes in Österreich. 1859. 273. — R. Kühnau: Schlesische Sagen. I. 

1 9 10 * 33 2 — 337 ? 4 21 ’ 4 2 ^? 4 2 7 - — Rochholz: Schweizer Sagen aus dem Aargau. 1856. 
II. 74—87. 307. — Gräber: Sagen aus Kärnten. 1914. 171, 172. —L. Strackerjan: 
Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. 1909. I. 195—276. (S. 195: 
„unaufhörliche und fast immer fruchtlose Bemühungen die Ruhe zu gewinnen.“ 

S. 214: „Der Vatermörder aber muß nach seinem Tode umgehen und erschreckt die 
Leute mit denselben gräßlichen Tönen, welche sein Vater sterbend ausgestoßen 












1 


49o 


Geza Rohem 


die Strafen der Ehelosen im Jenseits ebenfalls auf diejenige Sphäre beziehen 
sollten, in welcher sie gesündigt haben, nämlich auf die Sexualsphäre 
Schon Laistner war auf der richtigen Spur, blieb aber in seiner Nebel' 
mythologie befangen. Er schreibt nämlich: „Die Strafe des Hosenflickens 
und Eatzheilens (Fromm, Ztschr. XI. 235) ist für alte Jungfern ersonnen 
welche dabet der irdtschen Versäumnis gedenken müssen. Junggesellen sind 
verurteilt, Beerameisen zu ringeln (siehe oben), d. h. der kleinsten Ameisenart 
Ringe durch die Rüsseln zu ziehen, wohl mit dem Nebensinn infibulare 
jormicabile ÜLud vulvae (vgl. in mhd. berbluot) i. e. cristam.“' Wenden 
wir nun diesen Gesichtspunkt an, so wird uns der Sinn der Strafen bald 
in allen Einzelheiten als verständlich und determiniert erscheinen. Der 
Kirchturm (genau wie die Brücke), den die alten Jungfern scheuern ist 
ebenso ein typisches männliches Genitalsymbol (vgl. den Bart der Jung¬ 
gesellen in Walles) wie das Sieb, in welchem die Hagestolze Wasser tragen * 2 * 
nichts anders als eine entjungferte Vagina aufzufassen ist. Auffallend häufig 
haben wir es mit einem vergeblichen Putzen, Scheuern, Reinmachen zu 

“ K ' ® artsch: Sa gen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg-, 1870. I. 

45 • - 4 - Aug. Stöber: Die Sagen des Elsasses. 1892. I. 49. („Feldmesser 

T**o en J n r nBerg a ;; smessen '“) - F - Rank: Die deutschen Volkssagen.' 

Nr 28^-287 Die~N Z mm: u Sagen. I. 299-303. (Ausgabe G. Müller.) 

S . /' e »Nachtfrauen , die bei Nacht immerfort waschen, sind Wäsche¬ 

rinnen, die den armen Leuten aus Faulheit die Wäsche verdorben haben. — A le Braz- 
La Legende de la Mort chez les Bretons Armoricains. 1902. II. 263. - Vgl. Sebillot'- 
Le Folk-Lore de France. 1904. I. 145. et passim. - M Trevelyan: Folk-Lore and 

iq°i^ 36 r -E m 1 D 9 * ° 9 ü 4 r “ ^ M ' Leather: The Folk - Lor e of Herefordshire. 
1014' 172 l' s ! f ° s ; Guernesey Folk-Lore. 1903. 275 ff. _ Gönczi: Göcsej. 
80t 11 7 T y: , Beltrage ZUm Volksaberglauben der Palöczen. Ethnographia. 

und abe 7 liubl 5 ch” S* ° 7 ' Mythologia. 1854.361,362-Berze: Aberglauben 

mid abergläubische Brauche in Besenyötelke. Ethnographia. 1910. 29. - J Na«- 

Märchen und Sagen aus dem Komitat Bdcs, Ethnographia 1898 135. 7 p. S Krauß- 

SelZ l 11 4 - „Während des kurzen Aufenthaltes im Yama-' 

ftrlfe dS e s- d , le n 80 manches ^eressante erspähen; sie gewahrte die 

IW f 7 ’ W6 l Che m Gmben ^ eworfen wurd “b di« mit Mist gefräßigem 

^fhe 7 7777 ^ an ? efÜllt Waren ’ Sie sah wie Ehebrech« das fot- 

fchlinffen 6 * * «! ßt’^ 61 jY Waibes “marmen, andere feurig erhitzte Kugeln ver- 

Indischen v 7 ' ^ 7 ' ~ L ‘ ScWman: Materialien zur Geschichte der 

Se nil 77 7 92 ; 91 - - V * ! - M - Landau: Hölle und Fegfeuer in Volks- 

glaube, Dichtung und Kirchenlehre. 1909. 141_180. 

T ai \\7 LaiStner l . ; Nebelsagen. 1879. 229. An anderer Stelle freilich ist es gerade 

der sX.«788g. I. 28 V” Danaidenarheit “ AlptraUm erklärt ' ” Das RätSel 

5 o 6 2 \J 7 Sl S ' Eitre m: Opferritus und Voropfer der Griechen und Römer. 1915. 


















Mondmythologie und Mondreligion 


491 


tun. Hier hilft uns unsere Kenntnis des Traumlebens. Im Traum bedeutet 
das vergebliche Putzen eines Wasserhahns usw. gewöhnlich die Onanie. 
Dies würde uns die fruchtlose Arbeit erklären, denn eine solche ist die 
Onanie ohne Zweifel, im Gegensatz zum normalen Sexualverkehr. Und 
auf diesen Gegensatz kommt es ja hier eben an, handelt es sich ja um 
alte Jungfern respektive Junggesellen im Gegensatz zu Verheirateten. Darum 
ist die Strafe im gewissen Sinne auch eine Entschädigung; für den ent¬ 
behrten Phallos bekommen die Jungfern einen Kirchturm, die Männer 
statt der Vagina ein durchlöchertes Sieb. Die Strafe ist auch eine Ironie; 
die Unverheirateten haben ja die Selbstbefriedigung dem normalen Ge¬ 
schlechtsleben vorgezogen, nun mögen sie fortsetzen, dies in hyperbolisti- 
scher Weise zu tun. Der Kirchturm ist ein riesengroßer Phallos, die ewig 
dauernde Arbeit eine Lust ohne Entspannung, die dadurch zur Qual wird. 
Die alten Junggesellen und die alten Jungfern des Volksglaubens haben 
eben die volle genitale Objekfbesetzung nie erreicht, sie sind in der phal- 
lischen, bzw. Klitorisphase der Entwicklung stecken geblieben. Das Aus¬ 
bleiben dieser Objektbesetzung verwandelt dann die Lust in eine Qual, 
in eine ewig dauernde Arbeit, da eine richtige Entspannung zwar me 
erreicht, jedoch stets wieder angestrebt wird . 1 2 * * Die Vorstellung der end¬ 
los lange dauernden, vergeblich fruchtlosen Arbeit oder der unlösbaren 
Aufgabe findet sich auch in anderem Zusammenhang. Eine Zipser Sage 
erzählt, daß ein gewisser Kasparek nach seinem Tode in dem Turm des 
Stadthauses die Mohnkörner zählen muß, er wäre schon beinahe fertig 


1) Die alten Jungfern haben den Boden des Sterzinger Mooses (ihr eigenes Genitale) 

mit den Fingern abzumessen („fingerin«!) Die Junggesellen salzen Felsblöcke. 
Über endlose Arbeit im Traum als Onanie siehe V. Tausk: Zur Psychologie des 
alkoholischen Beschäftigungsdelirs. Zeitschrift. III. 213. Zur sexuellen Bedeutung des 
Salzes. — E. Jones: Das Salz im Glaube und Brauch der Völker. Imago. I. 361. — 
S. Eitrem: Opferritus und Voropfer der Griechen und Römer. 1915. (Videnskapssel- 
kapets Skrifter. II. Hist.-Filos. Klasse 1914, Nr. 1.) 329. — A. J. Storfer: Marias 
jungfräuliche Mutterschaft. 1914. 97 , 9 »- - Stekel: Die S P rache Traumes. 

Ion S 261. „Leicht zu deutende Träume einer kinderlosen und nicht befriedigten 
Patientin, . . . deren schwerster Konflikt durch die Onanie hervorgerufen wurde. 
Solche Kranke träumen immer, daß sie den Salon räumen, weil er nicht in Ordnung 

ist usw.« v 

2) Vgl. die allegorisierende Darstellung der Ewigkeit. „In Hmterpommem liegt 

der Demantberg . . dahin kommt alle hundert Jahre ein Vöglein und wetzt sein 

Schnäblein daran und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde 
von der Ewigkeit vorbei.“ - R. Köhler: Ein Bild der Ewigkeit, Germania VIII. 

305. Kleinere Schriften. II. 1900. 3 7 . - Bolte-Polivka: Anmerkungen zu den K.-u. 
H.-M. 1918. m. 232. (Vogel = Penis, Sandkörner = Samen.) 












492 


Gäza Reihern 


damit, da kommt eine Hexe und zerstreut das Ganze. Die endlose Arbeit 
geht wieder an. 1 

Im Fiebigtal (Riesengebirge) ist es nicht recht geheuer, dort geht eine 
Frau um, die nur erlöst werden kann, wenn es ihr gelingt, mit einem 
Eimer ohne Boden das Fiebigtalchen auszuschöpfen. 2 Im Walchenbusche 
muß eine Frau sämtliche Fichtennadeln im Busche zählen. Ein anderer 
Geist wird in der Weise gebannt, daß man ihm einen bodenlosen Korb 

mitgibt, in dem er die Tannenholznadeln im Walde einiesen soll bis er 
voll sei. 3 * 

In Lerbach bei Klaustal hat die Frau Holle oben am Kahkolsklippen 
ein Faß ohne Boden stehn, von elf bis zwölf Uhr trägt sie Wasser in 
zwei Eimern aus dem Bach herauf. Sie wird erlöst, wenn das Faß voll ist ♦ 
Zwei Frauen treffen die zwölf Frauberten, sie befehlen den Frauen Wasser¬ 
eimer zu holen, doch da diese wissen, daß sie darin gesotten werden sollen 
bringen sie zwei Körbe.5 Die Kaukie sind Wesen, die nachts durchs Schlüssel¬ 
loch kommen und den Träumer würgen, man wird sie los, indem man 
sie auffordert, Wasser im Siebe zu tragen. 6 * Im Wildenloh spukt ein ehe¬ 
maliger Bürgermeister von Oldenburg, der wegen eines Meineides umgehen 
mußte und nach dem Wildenloh verbannt ist, wo er einen Brunnen mit 
einem Eimer ohne Boden ausschöpfen oder — wie andere sagen — sämt¬ 
liche Bähnthalme des Moores zählen muß 7 Nach anderen Varianten befiehlt 
der bannende Pater dem Geist, „die Heidsträucher, alle Blätter und Zweige“ 
und endlich „alle Sterne am Himmel“ zu zählen. Die Bedingung des 
Geistes, jedesmal wenn er mit dem Zählen fertig sei, einen Hahnen¬ 
schritt näher kommen zu dürfen, 8 zeigt uns, daß wir es in diesen Sagen 
mit einem sekundär bearbeiteten Material — das sich ursprünglich auf 
nächtliche Traumerlebnisse bezieht — zu tun haben. In Morbihan schützt 
man sich gegen den Alp in folgender Weise: Ein Gefäß wird mit Hirse 


1) Matirko. Egy szepesi nepmonddröl. Ethnographia I. 272. 

2) R. Kühn au: Schlesische Sagen. 1910. I. 445. 

5) Kühn au, loc. cit . 446. 

T « PrÖ ^w H T Sagen - L J 55 - - L. Laistner: Das Rätsel der Sphinx. 1889. 
, v • Y: Waschmtius: Perht, Holda und verwandte Gestalten. Sitzungsberichte 
der Kais. Ak. d. Wiss. Bd. 174. 2. Abh. 1913. n 3 . S 

5) Waschnitius: 45. 

6) Laistner: Sphinx. I. 288. 

nnfcli/Y 1 ' TV-? V ? °- Rank in ( £ine Neurosenanalyse in Träumen. 1924. 15) 
** I er ? aR uber den Zusammenhang von Zählzwang und Masturbation. 

) . Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. I. 

257, 258, 260. s 6 














jMoncLmythologie und Mondreligion 49 ^ 

gefüllt, der Alp kommt und stößt es um. Nun muß der „lutin“ die Korner 
alle auf klauben und wieder zurücklegen, doch diese Arbeit kann er nicht 
beenden, ehe der Hahn kräht. 1 Und nun kommen wir zur unerwarteten 
Bestätigung unserer Theorien. Denn in all den zahlreichen Sagen, in denen 
der Alp eine endlose Arbeit verrichten muß, in der er durch die Morgen¬ 
dämmerung oder den Hahnenschrei gestört wird, handelt es sich ganz 
evident um einen Traum, und zwar einen Wecktraum. 2 Wir müssen nur 
annehmen, daß der Träumer seine eigene onanistische Tätigkeit (Körner, 
Samen usw. zählen) auf den Alp projiziert, 3 daß er von dem Hahnenschrei 
oder von einem Lichtstrahl darin verhindert wird, die Traumonanie zu 
beenden, und die ganze Erzählung wird sofort verständlich. Denn es handelt 
sich ja am häufigsten um kleine Körner, Sandkörner, Pflanzensamen, die 
gezählt werden müssen; diese kleinen Körner und Samen bedeuten aber 
den menschlichen Samen. In der Auvergne schützt Hanfsamen vor dem 
bösen Blick, weil der Zauberer die männlichen Samen von den weiblichen 
nicht zu unterscheiden vermag. In der Gironde schützen Hirsenkörner, die 
in die Schuhe getan werden, vor dem Unterbinden der Manneskraft. In 
Perigord sichern die Hirsenkörner, in die rechte Tasche (Vagina) der Frau 
getan, den erwünschten Ablauf der Hochzeitsnacht. 4 Und heißt es nicht 
in der parallelisierenden Art der Bibel: „Kann ein Mensch den Staub auf 
Erden zählen, der wird auch deinen Samen zählen.“ 5 Wenn es sich dem¬ 
nach um eine Samenzählenonanie im Traum handelt, so werden wir daran 


1) P. Sebillot: Le Folk-Lore de France. 1906. III. 486. 

2) Das Material siehe bei Röheim: Adal6kok a magyar nephithez. 1920. 246, 247. 

3) Aschenputtel klaubt Linsen aus der Asche, erscheint dann prächtig geschmückt 
(Wunschtraum) auf dem Ball. — Vgl. Bolte und Polivka: Anmerkungen zu den 
K. u. H.-M. 1915, 185. M. R. Cox: Cinderella. 1893. — Eine isländische Sage zeigt 
sehr schön, daß es sich um die Projektion der Onanie auf eine Angstgestalt handelt, 
indem sich die Handlung doppelt abspielt. Eine Dienstmagd soll im Zimmer des 
Zanberers aufräumen (vgl. Putzen, Zimmeraufräumen als Onanie im Traum), er hatte 
ihr aber verboten (Onanie ist die verbotene Handlung!), irgendetwas anzurühren. 
Sie entdeckte eine kleine Pfeife (Penissymbol) und konnte natürlich nicht lassen, 
dieselbe zu versuchen; augenblicklich stand der Teufel vor ihr. Zehn Schlafstellen 
lagen auf dem Boden. Sie sagt nun dem Teufel, er soll die Haare daran zählen und 
würde er mit seiner Arbeit eher fertig als sie mit dem Aufräumen, dann möge 
er sie holen. — Feilberg: Die Zahlen im dänischen Brauch und Glauben. Z. d. V, f. Vk. 
IV. 381. Die Lust schlägt für die Frau in Unlust um, wenn der Mann eher „fertig“ 
wird. Sowohl die Magd (die Träumende), als der Dämon haben hier eine „Arbeit“ 
zu verrichten. 

4) Sebillot, loc. cit. III. 486, 487. 

5) Moses: I. i 3 , 16. 













Ci cz:i Rdteim 


494 


erinnern, daß der Träumer erfahrungsgemäß den Akt im Traum meistens 
nicht beendet, sondern durch irgendetwas gestört wird, wie der Alp in 
unseren Sagen. Diese Störung deutet einen Gegenwillen an und ermöglicht 
uns eine umfassendere Deutung, wobei den Beziehungen zur Onanie bloß 
die Bedeutung der vorbewußten Äquivalente eines tieferliegenden Konfliktes 
zukommen würde. Wenn Kasparek im Turm die Mohnkörner sammelt 
oder wenn man Samen, Blätter usw. zählt, so dürfen wir wohl dieses 
Zählen als Schwanken zwischen dem Hergeben- und Nichthergebenwollen 
deuten, wobei in den Mohnkörnern die Beziehung zum Zurückhaltenwollen 
zum Analen, noch besonders betont ist. 

Die Sagen beweisen deutlich, daß das Zählen nur dazu dient, Zeit zu 
gewinnen, wobei dann der Dämon im Alptraum sich als Abspaltung des 
Träumers erweist. Die Katastrophe, die durch das Zählen hintangehalten 

wird, ist eben die Hingabe des Samens. Daß wir es tatsächlich mit der 

Kastrationsangst (Angst vor der Ejakulation, vgl. Ferenczi: Genitaltheorie) 
zu tun haben, wird durch die Rolle der gewaltsam die Körner zerstreuenden 
Hexe, beziehungsweise durch die Vorstellung des unfüllbaren Fasses, des 
bodenlosen Eimers oder Korbes und des Koitus als unerfüllbarer Aufgabe 

gekennzeichnet. Ähnlich verhält es sich mit dem Hemmungstraum, mit 

dem typischen Gefühl, daß man im Traum etwas ausführen möchte, es 
aber dennoch nicht kann. Tantalos schmachtet in der Unterwelt nach dem 
labenden Trunk, aber das Wasser weicht jedesmal zurück, er kann es nicht 
erreichen. So auch in unserer Var. 38 : die Frau Ronas kann das Meer 
nicht erreichen, es weicht immer weiter von ihr zurück. 

Die jSonntagsscliänder und ilire ewige Arleit. 

Das Motiv der ewig dauernden Arbeit findet sich auch in einer anderen 
Gruppe von Mondsagen, deren psychologischer Aufbau bisher ganz undurch¬ 
sichtig blieb. In Var. 12 wird eine Frau zur Warnung dafür, daß man 
am Sonntag nicht arbeiten darf, in den Mond geholt. Damit verrät diese 
Variante den Einfluß der größten Gruppe europäischer Mondsagen, welche 
regelmäßig davon ausgehen, daß im Monde ein Wesen zu sehen sei, welches 
dorthin zur Strafe für die Übertretung der Sabbatruhe versetzt wurde. Hier¬ 
her gehören vor allem die europäischen Varianten der Spinnerin im Monde. 
Im Dithmarschen heißt es z. B., eine Frau spann immer des Sonntags, 
da kam der Herrgott zu ihr und sprach: „Weißt du nicht, daß heute 
Sonntag ist? Du sollst von jetzt ab im Monde sitzen.“ Und so sitzt sie seit- 
























r 


Monclmytliologie und Mondreligion 

dem dort am Spinnrade und spinnt. 1 In Ostpreußen sitzt im Mond eine 
Frau, die beim Vollmondscheine spann, oder es sitzt ein Fuhrmann darin, 
der am Sonntag fuhr, ein armer Mann, der am Sonntag Holz sammelte. 2 
Die Südslawen erzählen: Ein Mädchen pflegte am Sonnabend spät im 
Mondenschein zu spinnen. Da zog sie einmal der Mond am Vorabende des 
Sonntags im Neumonde zu sich herauf und nun sitzt sie im Monde und 
spinnt und spinnt. Wenn im Spätherbste der Altweibersommer sich ein¬ 
stellt, so fliegen in der Luft weiße Fäden umher. Diese Fäden sind das 
Gespinst der Spinnerin im Monde. 3 In anderen Varianten ist es gerade 
eine, die nicht spinnen wollte, sondern tanzen; sie wird von ihrer Mutter 
verwünscht und kommt so in den Mond. 4 Oder aber die Spinnerin, da 
sie den Sonntag entheiligt hat, kommt nicht in den Mond, sondern in die 
Sonne. 5 

Im Kreise Berent erblickt man Adam und Eva im Mond; Adam streut 
Mist und Eva sitzt am Spinnrad. 6 Zwischen Weihnachten und Neujahr darf 
kein Dung aus den Viehställen gebracht werden, wer es dennoch tut, wird 
nach dem Tode zur Strafe auf den kalten Mond versetzt 7 ; die vielfachen 
Überlieferungen von den Mistausbreitern auf dem Monde dürfen als Bruch¬ 
stücke einer vollständigeren Erzählung gelten, in der sie dorthin versetzt 
wurden, weil sie an einem Feiertage sich mit dem Mist abgaben. 

Im Kreise Berent, Westpreußen, sieht man Adam und Eva im Monde, 
Adam mit der Heugabel und Eva mit der Mistforke. 8 In den verschiedensten 
Variationen klingt das Motiv „verbotene Arbeit — ewig dauernde Arbeit im 
Mond“ an. In Bärnau heißt es, die schwarzen Flecken im Monde sollen 


1) Am Urquell. 1893. 54. 

2) Am Urquell. 1894. 285. 

3) F. S. Krauß: Volksglaube und religiöser Brauch der Südslawen. 1890. 13. Sehr 
richtig sagt übrigens Krauß: „Vielleicht in Anlehnung an die volkstümliche Gestalt 
der als böser Geist herumspukenden zena srijeda (Frau Mittwoch), die durch Spinnen 
den Mittwoch entheiligte . . . wird eine Spinnerin in den Mond versetzt.“ 

4) SchÖnwerth: Aus der Oberpfalz. II. 69. 

5) Schambach-Müll er: Niedersächsische Sagen und Märchen. 1855. 67. — 
K. Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg. I. 1879. 460. — 
U. Haas: Rügensche Sagen imd Märchen. 1903. 146. 

6) Urquell: 1893. 121. 

7) O. Knoop: Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben und Märchen aus dem öst¬ 
lichen Hinterpommern. 1885. 177. 

8) A. Treichel: Urquell: 1893. 21. Mondflecken als Kuhmist oder Kot. — 
N. G. Po litis: Der Mond in Sage und Glauben der heutigen Hellenen. 179. — In 
Roscher: Selene und Verwandtes. 1890. Wörtlich übereinstimmend mit den Neu¬ 
griechen in Göcsej Gönczi. 187. 


1 











496 Gi za Rdlieim 


der Bauer sein, der früher auf Erden gelebt und an einem Feiertage auf 
seiner Wiese Kronawittstauden ausgehauen hat. Zur Strafe für die Ent¬ 
heiligung des Feiertages muß er nun im Monde an einer solchen Staude 
unaufhörlich hauen . 1 Im Dithmarschen ist der Mann im Mond ein Fischer 
der am Sonntag gefischt hat und zur Strafe für diesen Frevel mit seinem 
Fischernetz im Monde sitzen muß . 2 Am häufigsten finden wir jedoch einen 
Menschen, der auf Erden am Sonntag, Weihnachts- oder Ostertag Holz 
gehackt (Holz gestohlen) hat und dafür nun im Monde durch ewiges Holz¬ 
hacken (Reisigbündeltragen) büßen muß . 3 4 5 Möglicherweise beruht die Vor¬ 
liebe der Legende für das Holzlesen am Sabbat darauf, daß sich hier eine 
Anknüpfung an den Bibeltext und somit eine Art Beglaubigung finden 
läßt, jedoch handelt es sich, wie Basset betont, nur um eine Kontamination 
der Bibelstelle mit einer unabhängigen Mondsage, da das Fortleben des 
Holzlesers im Mond sich in der Bibel nicht nachweisen läßt.* Um die 
Kontamination zu ermöglichen muß auch die ursprüngliche Mondlegende 
das Motiv der verbotenen und darum ewigdauernden Arbeit in irgendeiner 
Form enthalten haben. 

Unsere Aufmerksamkeit beanspruchen einige Varianten des Themas, in 
denen die verbotene Tätigkeit eigentlich nicht eine dem Realitätsprinzip, 
sondern dem Lustprinzip dienende Handlung ist. In den Ardennen (Belgien) 
erzählt die Sage von einer jungen Spinnerin, die am Feiertage der Ver¬ 
suchung des Tanzes nicht .widerstehen kann (doppelte Übertretung des Ver¬ 
botes: Spinnen und Tanzen), da sie aber ihr Versprechen bricht und nicht 
beizeiten zur Mutter nach Hause kommt (sondern beim Mondschein im 
Friedhof weiter tanzt), wird sie in den Mond versetzt. „C’est eile qu’on 
voit la haut, filant sans relache les fils de la Vier ge. 11 In einer anderen 
Variante „la fileuse eternelle est une jeune fille qui a jure ä sa mere de 
ne pas danser apres minuit parce que c’est le jour Notre-Dame.“ 3 In 
Oberbernried dasselbe Motiv; die Mutter sucht das Mädchen, die nicht 


1) Schönwerth: II. 68. Weitere Varianten. Ebenda. 69, 70. 

2) Am Urquell: 1982. 290. 

3) P. Sebillot. Le Folklore de France. I. 10—12. — S. O. Addy: Household 
Tales. 59. 

4 ) Numeri XV. 32 36. Vgl. Sebillot: Le Folk Lore de France. 1904. I. 25. — 

" Revue Trad - P °P- XVI1 - 3 * 5 - - S. Baring-Gould: Curious Myths. of 

the Middle Ages. 1877. ,91. _ E. M. Trevelyan: Folk Lore and Folk Stories of 

a es. 1909. 39. T. Harley: Moon Lore. 1885. 21. — J. Grimm: Deutsche 
Mytiiologie n 598. O. Dähnhardt: Natursagen. 1907. I. 254, 3*9- 5*°- 

5) oebillot: Folklore. I. 18. 


























Mondmytliologie und Alondreligion 


spinnen, sondern tanzen will, und verwünscht das Kind in den Mond 
hinein . 1 Und nun die ungarische Volkssage: Cziczelle und David wurden 
von der Mutter in die Kirche geschickt, sie aber gingen ins Wirtshaus. 
Die Mutter verwünscht die beiden in den Mond, wo sie nun ewig weiter 
tanzen . 2 3 

Wir wollen zunächst eine andere Gruppe von Sagen anführen, in denen es 
sich ebenfalls um die Strafe für Vergehen gegen die Sabbatruhe handelt. In 
Kronau spannen die Mädchen an einem verbotenen Tage und tanzten mit 
den Burschen nach getaner Arbeit. Ein dreijähriges Mädchen bemerkte, 
daß die Tänzer glühende Augen und Feuer im Munde hatten. Es floh mit 
seiner Mutter und gleich darauf verbrannte das Haus mit allen, die noch 
darin waren. Pertha hatte die Burschen und das Unglück entsendet . 5 In 
Lerbach heißt es: Um zehn Uhr abends kommt die Frau Holle aus dem 
Walde, sie hat glühende Augen und einen roten, feurigen Mund. Wo sie 
noch Licht sieht, schaut sie in die Fenster und tut übel, von elf bis 
zwölf Uhr aber trägt sie Wasser in zwei hellen Eimern aus dem Bach 
herauf . 4 Bei den Rumänen in Siebenbürgen ist das Arbeiten am Dienstag¬ 
abend verboten und denen, die gegen dieses Verbot verstoßen, erscheint ein 
gespensterhaftes weibliches Wesen, die Marti seara (Dienstag-Abend). Eine 
Frau, die Dienstag abends spinnt, erscheint die Marti seara, zündet ihr 
den Rocken an, betäubt sie, stößt ihren Wassereimer um, stülpt es 
ihr obendrein noch auf den Kopf . 5 Auffallend ist es jedenfalls, daß wir 
wieder wie im urethralen Weckraum Wasser und Feuer nebeneinander 
finden; wir glauben, das Anzünden der Rocken bedeute dasselbe wie die 
ebenfalls häufig vorkommende Besudelung. Am Sonnabende vor Weih¬ 
nachten, so sagen viele, sollen die Weiber abgesponnen haben, sonst kommt 
die Murawa und besegt den Wocken. Von Weihnachten bis Heilige-Drei- 
Könige soll niemand spinnen, denn wessen Wocken dann nicht abgesponnen 
ist, den besegt die Murawa . 6 Die Hexe besegt den Wocken denen, die 
zwischen Weihnachten und Neujahr spinnen . 7 Wir wollen es gleich hier 
aussprechen, daß wir auch in diesen Sagen Spuren des Wecktraumerleb¬ 
nisses erblicken. Die Frau schläft bei der verbotenen Arbeit ein, erwacht 

1) Schönwerth, loc. cit. II. 69. 

2) Kälmäny: A hold nyelvhagyomanyainkban. 1887. 17. 

3) Waschnitius, loc. cit. 28. 

4) Waschnitius, loc. cit. 113. 

5) Szahö: Az olähok kedd asszonya. Ethnograpia. 1910. 167. 

6) Schulenburg: Wendische Volkssagen und Gebräuche. i88q. 250. 

7) Schulenburg: Wendisches Volkstum. 1882. 134. 


Imago XIII. 


32 










mit einem Harnreiz und träumt in der kurzen Zeitspanne vor dem Erwachen 
davon, daß ein übernatürliches Wesen ihr Rocken anzündet oder, wenn es 
sich um einen exkrementeilen Weckreiz handelt, daß sie es mit Kot besudelt. 
In einer rumänischen Sage erscheint einer Frau, die am Dienstag abends 
arbeitet, die Dienstagsfrau in Gestalt eines grauen Hundes und läßt ihren 
Kot im Zimmer . 1 Wir wollen gleich hier darauf eingehen, daß auch die 
Spuren des exkrementeilen Wecktraumes in unserem Sagenmaterial, wenn 
auch nur in nebensächlichen Zügen nachzuweisen sind. In Var. p, io, n 
haben wir ja Teer, eine schwarze Masse, an Stelle des Wassers, wohl eine 
Kontamination der Wecktraumerlebnisse verschiedenen Ursprunges. Wer 
diese Auffassung etwa als eine willkürliche Hineindeutung bezeichnen wollte, 
sei daran erinnert, daß, wie wir oben bereits erwähnten, die Mondflecken 
als Kot oder Mist gedeutet wird; im Monde ist ein Mann mit der Mist¬ 
gabel zur Strafe, daß er auch Sonntag Mist ausbreitete . 2 Daß wir aber, vom 
richtigen Gefühl geleitet, Mondsagen und Strafesagen wegen verbotener 
Feiertagsarbeit als Einheit behandeln, beweist die Angabe, daß zwischen 
Weihnachten und Neujahr kein Dung aus dem Stall geführt werden soll 
(die Ruhezeit der Frau Holle); wer es tut, wird nach dem Tode zur Strafe 
auf den kalten Mond versetzt 3 und wer in den Zwölften spinnt, kommt 
mit dem Spinnrad in den Mond . 4 

Unsere Deutung als Wecktraum wird durch eine eigentümliche formel¬ 
hafte Wendung dieser Sagen bestätigt. In Brahlsdorf kamen die Unter¬ 
irdischen zur Bauersfrau, die ihren Flachs und ihre Heede nicht auf¬ 
gesponnen kriegen konnte und boten ihr ihre Dienste an. Sogleich fangen 
sie an zu arbeiten, es werden ihrer aber immer mehr und mehr. Sie ver¬ 
langen einen großen Kessel, um das Garn zu kochen und zu waschen. 
Doch wollen sie eigentlich die Frau selbst darin sieden und die Nachbars¬ 
frau rät ihr, vor die Tür zu treten und zu rufen „Der Butterberg brennt, 
der Bütterberg brennt“ und richtig laufen alle hinaus, denn der Butter¬ 
berg ist der Ausgang der Unterirdischen . 5 Bei ihrer Arbeit ist die Frau 
eingeschlafen und sie träumt einen mit Angst untermischten Wunsch träum, 
worin sich ihr vorbewußter Wunsch, „es möchte die Arbeit fertig werden“, 

1) Szabö: Az olahok kedd asszonya. Ethnographia. 1910. 170. 

2) Schulenburg: Wendische Volkssagen und Gebräuche aus dem Spreewald. 
1880. 58. 

3) O. Knoop: Volkssagen, Erzählungen usw. aus dem östlichen Hinterpommem. 
1885. 177. 

4) K. Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg. 1880. II. 243. 

5) Bartsch, loc. cit. I. 48. 



















r 


Mondmythologie und Mondreligion 499 


durch das Erscheinen der zahllosen Helferinnen als erfüllt darstellt. In den 
früher behandelten Sagen wird das brennende Gefühl des Harnenwollens 
durch den angezündeten Wocken dargestellt, hier tut sie bloß den Ausruf 
„Der Butterberg brennt“ und es verschwinden die Traumwesen, sie erwacht. 
Was es aber für eine Bewandtnis mit diesem Berg hat, zeigt die Bemerkung, 
daß sich hier der Ausgang aus der Unterwelt befindet. Es ist ein Berg 
am eigenen Körper, und zwar die Grenze der Unterwelt am Körper der 
Träumerin. Wenn die Erdweiblein in die Spinnstube kommen und die 
fremde Stimme vor der Tür ausruft „Der Heuchelberg brennt“, worauf 
die Antwort ertönt: „O weh, o weh meine armen Kinder“, da müssen 
wir annehmen, der brennende Berg sei eben die Stelle des Kinderkriegens 
am weiblichen Körper. 

Es wäre eine eigene Untersuchung nötig, um ausführlich im Lichte 
unserer psychoanalytischen Erfahrungen nachzuweisen, daß Laistner alle 
die Perthen, Hollen und ähnliche nächtliche Spukgestalten mit vollem 
Recht auf die Erlebnisse des Träumers zurückführte . 1 Ich will nur auf das 
Vorkommen solcher typischer Traum Situationen, wie Hemmungsgefühl, 
Nacktsein, rasches Fliegen in diesen Sagen hinweisen. Wir finden dies 
aber auch direkt bezeugt in unseren Sagen, indem die Stubenfrau die 
Personifikation des Arbeitsverbotes direkt als Drud oder Alp bezeichnet 
wird. Die Holda hockt auf . 2 In Tiefenbach sagt man, wenn die Dirnen 
den Rocken nicht fertig gebracht haben, so kommt nachts die Drud und 
drückt sie, es wäre denn, daß sie nackt zu Bette gehen . 3 Bei den Rumänen 
in Siebenbürgen heißt es: Eine Frau spann am Dienstagabend. Nach dem 
Spinnen schlief sie ein, doch sie erwacht mit dem Gefühl, daß die Marti 
seara ihr die Kehle zuschnürt . 4 Hat eine Frau am Abend vor Weihnachten 
ihren Flachs nicht abgesponnen, so speit ihr die Murawa auf den Rocken, 
setzt sich ihr auf die Brust und drückt sie . 5 

Nackarl eiten 

Nachdem wir uns aber überzeugt haben, daß es sich wirklich um Traum¬ 
sagen handelt, fassen wir diejenigen Sagen näher ins Auge, die sich um 

1) Laistner: Sphinx. I. 210. — R oheim: Adalekok. I. 37. II. 183. 

2) Waschnitius: loc. cit. 176. 

3) Schönwerth: loc . cit. 417. 

4) Szabö: Ethn. 1910. 169. 

5) Veckenstedt: Wendische Märchen, Sagen und abergläubische Gebräuche. 
1880. 136. 


32 J 














5oo Giza. Röheim 


das Thema „verbotene . . . fortgesetzte Arbeit“ drehen. Zu Feistritz, in der 
Nähe des großen Pfarrdorfes St. Jakob in Kärnten, war eine Bäuerin, die 
einst am Freitag des Winterquatembers, ohne daran zu denken, eine be¬ 
deutende Menge von Strähnen aussieden und schwemmen wollte: „Und 
wenn es bis Mitternacht dauert,“ rief sie, „fertig muß es werden.“ Da 
kam auf einmal ein Weib ins Haus und bot sich ihr zur Hilfe an. Kaum 
hatte sich die Fremde an die Arbeit gemacht, so ging das Werk noch ein¬ 
mal so gut vonstatten. Nun verlangt die Fremde aber (wie oben) eine 
Waschwanne, darin sollen aber nicht die Strähne, sondern die Träumerin 
selbst gebrüht werden . 1 In den Sagen, die zu diesem Typus gehören, unter¬ 
scheiden wir zunächst ein Element, welches, obwohl der Wunscherfüllung 
dienend, doch mehr dem psychischen Leben des Tages als der eigentlichen 
Traumarbeit zuzurechnen ist. Es handelt sich um den vorbewußten Wunsch, 
es möge die lästige Arbeit mit fremder Hilfe rasch fertig werden. Vom 
Standpunkt des Realitätsprinzips und des Vorbewußten müßten wir dem¬ 
nach eigentlich einen Wunsch des Nacharbeitens erwarten, wo wir 
eine Angst vor dem Nacharbeiten 2 3 finden. In Kärnten muß die Schnur 
jeden Abend vom Rad gelöst werden, sonst spinnen die armen Seelen. In 
Schottland: n if the band had not been taken off a fairy set to work and 
spun with might and main the whole night .“ 5 Die spinnende Helferin ist 
natürlich eine Abspaltung der träumenden Frau oder eigentlich eine Ver¬ 
treterin der Mutter-Imago auf welche das „Spinnen“ projiziert wird. Der 
Angst vor diesen Wesen („gesiedet im Kessel“) entspricht eine andere Form 
des Motivs: Die Spinnstubenfrau spinnt nicht, vielmehr ist sie es, die der 
Frau, die zu Unrechter Zeit gesponnen hat, als Strafe eine übermäßige 
Wiederholung oder Fortsetzung ihrer Sünde auferlegt. Wenn die Laumen 
(Alpwesen) des Abends nach noch zwölf Bäuerinnen beim Spinnen treffen, 
legen sie diesen eine Mulde voll Spindeln vor, mit dem Auftrag, sie in 
einer Stunde abzuspinnen . 4 Den Huzulen in Galizien erscheint die „Negilja“ 
(Sonntag) und wirft der Frau die Spindeln ins Zimmer, die sie vollspinnen 
muß. Wie gewöhnlich wird sie durch den guten Rat gerettet, nur einen 
Faden um jede Spule zu drehen . 5 Deutlich klingt dabei die Empfindung 


1) G. Gräber: Sagen aus Kärnten. 1914. 94. 

2) „INacharbeit“ nennt Waschnitius das Motiv der Geisterhilfe in diesen Sagen. 

3) Waschnitius, loc. cit. 165. 

4) Waschnitius, loc. cit. 131. 

5) Röheim: Adalökok a magyar nephithez. 1913» 36. 1920. 181. Waschnitius, 
loc. cit. passim. 













JMonclmytliologie und JMondreligion 5oi 

durch, daß es sich eben um eine verbotene Tätigkeit handelt, und darum 
wird die Verantwortung in beiden Fällen einem übermenschlichen Wesen 
aufgebürdet. Ferner: dieses übermenschliche Wesen ist dasselbe, gegen 
dessen Verbot man ja gerade mit dem Spinnen verstößt. Wir wollen es 
gleich sagen, daß wir in all diesen Sagen das Spinnen als eine der Traum¬ 
technik entsprechende Symbolisierung des Geschlechtsverkehrs auffassen. 
Den Regeln der Traumdeutung entsprechend geht jeder Traum auf infantile 
Quellen zurück: damit wäre die alte Frau, die das Spinnen am Feiertage 
verbietet, als eine Darstellung der Mutter charakterisiert, von der doch 
das infantile Onanie- und Koitusverbot ausgegangen ist. Diese angstvoll 
betonte Vertreterin der Mutter im Traume will ja die Träumerin in einem 
Kessel (Mutterleib sy mb ol) zu Tode sieden; Ist es ja — um auch den Anschluß 
an die Mondsagen nicht zu verlieren — die Mutter, die das tanzende 
Mädchen in den Mond verwünscht, wo es jetzt in aller Ewigkeit spinnen 
muß. Es wird wohl immer dieselbe Spinnerin sein, im Monde wie auf 
Erden. Es heißt in der neugriechischen Sage: die Heilige Freitag erschien 
einer Frau, die Donnerstag abends beim Mondschein spann und sagte ihr. 
„Warte, wir spinnen zusammen .“ 1 In Neukirchen hatte eine Bäuerin die 
Gewohnheit, die Samstagnächte fleißig bei Mondschein zu spinnen. Da 
warf ihr der Mond einmal sechs Spindeln zu mit dem Gebote, sie binnen 
einer Stunde voll zu spinnen. Das Weib spann um jede Spindel nur einen 
Faden; wie der Mond das sieht, endigt er nun mit der Mahnung: »Der 
Tag gehört dein, die Nacht mein .“ 2 Um unsere Deutung noch mehr 
sicher zu stellen, sei noch eine rumänische Variante zum Thema „Nach¬ 
arbeit“ angeführt. Wir behaupten ja: die ewige Arbeit (im Monde) ist die 
verbotene Arbeit (Geschlechtsverkehr) am Feiertage 3 und beides beruht auf 
einer Traumdarstellung des Verdrängten. Nun hören wir die Sage. Eine 
Frau spinnt am Dienstagabend. Die Marti seare hilft ihr. Eine Wahrsagerin 
rät ihr, eine Schüssel Weizen im Zimmer zu verschütten und die Dämonin 
zu bitten, diese erst aufklauben zu dürfen. Natürlich gewährt die Dämonin 
diese Bitte, sagengeschichtlich bleibt ihr ja keine andere Wahl übrig, da 
dies ja eigentlich die ihr zugedachte Aufgabe ist. Aber psychologisch läßt 

1) Roheim: Adalekok. 1920. 182. 

2) Schönwerth: Aus der Oberpfalz. Sitten uud Sagen. 1857. I. 118. 

3) Pertha (Spinnen am Perchtentag verboten!) ist die Tochter des Herodes. Aus 
Fürwitz tanzte sie auch zur Winter zeit auf einem übereisten See; das Eis brach ein, 
Pertha ertrank, kam tanzend in die Hölle und nun muß sie zur Strafe in jeder Perchtel- 
nacht die Welt tanzend umkreisen. — Gräber : Sagen aus Kärnten. 19I4. 95. Vgl. die 
ewige Tänzerin im Monde in der ungarischen Sage (oben). 









5o2 G6za. Roheim 


sich diese Rückwendung des Motivs von der Dämonin auf die Sterbliche 
wohl verstehen; sie pickt ja die Körner auf, d. h. den Samen des Mannes. 
Natürlich schlägt die Stunde während dieser Beschäftigung, die Dienstags¬ 
frau muß verschwinden , 1 ... die Träumerin erwacht. Dasselbe Thema 
anders gewendet: die Stiefmutter zwingt das Mädchen, am Dienstagabend 
zu spinnen, doch sie vertreibt die Marti seara durch die Stimme des ver¬ 
steckten Hahnes; d. h. indem sie erwacht, aber auch indem der Penis 
(Hahn) die Angst vor der Mutter (Stiefmutter, Dienstagsfrau) beim Mädchen 
verscheucht . 2 

Die Kultur schreitet parallel mit der Verdrängung fort, d. h. sie ist 
ein Produkt verdrängt-sexueller Kräfte. In den verschiedenen Feiertagsver¬ 
boten auf germanisch-romanischem Boden wird das Sexuelle nicht einmal 
erwähnt, die Verbote beziehen sich alle auf Arbeitstätigkeiten, die aber 
ihre Verwandtschaft mit der libidinösen Sphäre nicht ganz verleugnen können. 
Ist ja die Spinnstube, wie allbekannt, der Ort, wo sich die Jugend, Knecht 
und Magd trifft, wo die Liebesorakel befragt, wo Verhältnisse „gesponnen“ 
werden, was natürlicher, als daß die Spinntätigkeit im Traume als Ersatz 
jener viel tiefer ins Menschenleben greifenden Tätigkeit auftritt. Im slawi¬ 
schen Osten finden wir eine direkte Bestätigung unserer Annahme. Hier 
finden wir Sagen, die erzählen, daß der Jüngling am Feiertage trotz des 
Verbotes an Sexuelles denkt und darauf als „Strafe“ mit der Marti seara 
buhlt. Ein Bursche dachte an seine Geliebte am Dienstag-Abend (wir 
ergänzen: vor dem Schlafengehen). Da erschien die Marti seara und buhlte 
mit ihm jede Nacht (Ergänzung: im Traum), so daß sie ihn beinahe zu 
Tode quälte . 3 Aus dem verbotenem Spinnen wird im Traum ebenso ein 

„ewig dauerndes Spinnen wie hier aus den verbotenen Gedanken ein über¬ 
mäßiger nächtlicher Sexualverkehr. 

Wenn wir demnach zu der Behauptung gelangen, die ewigdauernd, 
fruchtlose Tätigkeit im Monde, an welcher noch dazu meistens die Vor¬ 
stellung einer begangenen Sünde haftet, sei nicht von der Natur abgelesen, 
sondern aus dem Traumleben des Menschen in den Mond projiziert, so 
können wir uns ja eigentlich auf den Wortlaut unserer Sagentexte berufen, 
welche regelmäßig berichten, wie der Betreffende von der Erde auf den 
Mond versetzt wird, wo er ein irdisches Vergehen durch ewig dauerndes 


1) Ethn. 1910. 171. 

2) Ethn. 1910. 167. 

3) Ethn. 1910. Röheim: Adal6kok. II. 187. 










Mondmythologie und MonJreligton bo3 

Wiederholen desselben büßt. Im Traume ist, wie wir aus reichlicher Er¬ 
fahrung wissen, eine nicht enden wollende Arbeit stets der inzestuöse und 
deshalb nie vollzogene Geschlechtsverkehr und es ließen sich verschiedene 
Bestätigungen dieser Annahme aus dem Sagenmaterial holen. Wem dies 
etwa unmöglich erscheint, daß die verschiedenen Tätigkeiten im Monde 
alle auf den Koitus zurückgehen sollen, der möge etwa die Reihe der 
Tätigkeitswörter, deren Ableitbarkeit aus dem Sexualverkehr Sperber 
nachweist, durchblicken 1 oder aber an Hand der Materialsammlungen 
(Wörterbücher der erotischen Sprache) in der „Anthropophyteia sich von 
den weiten Möglichkeiten auf diesem Gebiete überzeugen. 

Nun zur Abwechslung einen Traum aus einer Analyse. „Ich gehe auf 
einen Berg am Plattensee mit der Geliebten spazieren. Wir kommen zu 
einem Baum , ich will ihr einen Zweig mit roten Beeren abreißen. Eine alte 
Frau , scheinbar die Besitzerin oder Wächterin des Baumes , will es nicht 
zulassen“ Dazu bringt der Träumer als Assoziationsmaterial eine ergötz¬ 
liche Geschichte, die ihm sein Onkel erzählte. Er war auf seinem Gut 
und wollte, da er Durst hatte, sich ein paar Pflaumen von einem Baum 
abschütteln, da erschien eine alte Frau und machte einen Mordsskandal, 
daß er ihr e Pflaumen stehle. Das heißt der Baum, von dem der Träumer 
die roten Beeren abreißen und der Geliebten anbieten wollte, ist sein eigener 
Baum, sein Phallos. Allerdings auch die Mutter, die alte Frau. Sie behaup¬ 
tet, die Besitzerin seines Baumes (Penis) zu sein, d. h. allein ein Anrecht 
auf seine Genitaltätigkeit zu besitzen. Er will aber auch Pflaumen von 
ihrem Baum pflücken, d. h. mit ihr verkehren. ,Das Kostbare soll von 
einem Tabubaume gepflückt oder abgerissen werden (Paradiesbaum, Hespe- 
riden), was eine verbotene und gefährliche Handlung ist. Am klarsten in 
jeder Hinsicht ist der altbarbarische Gebrauch im Dienste der Diana von 
Aricia: „Priester der Göttin kann nur werden, wer in ihrem heiligen Hain 
einen Ast abzureißen wagt. Das ,Abreißen hat sich in der Vulgärsprache 
erhalten .“ 2 3 4 Die alte Frau, die das Abreißen nicht zugeben will, bedeutet 
i m Traum natürlich die Mutter. In den von St ekel mitgeteilten Onanie¬ 
träumen kommt die Symbolik des Astabreißens oder ähnliches sehr häufig 
vor; z. B.: „ Ich sah zwei rote Hände an einem Baum . Da dachte ich mir: 
du wirst nicht lange leben V „Herbert hatte drei Christbäume geputzt usw. V 


1) Sperber: Imago. I. 405. 

2) C. G. Jung: Wandlungen und Symbole der Libido. 1912. 164. 

3) W. Stekel: Die Sprache des Traumes. 1911. 202. 

4) Stekel, ebenda 203. 










„Ich bin in dem Garten eines alten Bauern, der Roman Reisiger heißt 
Onkel und Tante sind oben in der Wohnung und lassen mich rufen. Ich 
will noch rasch einige Tannenzweige herunterreißen. Sie rufen mich immer 
lauter und ich erwache mit Angst und Herzklopfen. Damit ist nun aber 
eigent ich wenig gesagt. Die Frage müßte eigentlich so gestellt werden- 
Warum wird die Onanie im Traum als Abreißen symbolisiert? Die Am 
wort bei einer tiefergehenden Analyse dieser Träume müßte etwa lauten- 

T 7 eil „ eS S1CH Um dne g6StÖrte ektbesetzung (Onanie) handelt 
muß das Hingeben des Samens als Gewaltakt, als Abreißen, d. h. als 
Kastraktion empfunden werden. 


Tke Gold e n B o u g li 

Im Haine der Diana zu Nemi herrschte, mit dem Schwert in der Hand 
der König des Waldes (Rex Nemorensis), der Priester, der seinen Vorgänger 
erschlug und dessen Mörder sein Nachfolger wurde. Da stand einst ein 
Baum, von dem durfte kein Zweig gebrochen werden. Übertreten wurde 
as Verbot nur von dem, der sich im Kampf mit dem König des Waldes 
messen wollte. Laut alter Überlieferung war es solch ein Zweig, den 

neas brechen mußte, um mit diesem Zauberstab die Pforten der Unter¬ 
welt zu öffnen . 2 

Der ! rSte ReX Nemoremis war aber ein gewisser Virbius, der Gatte der 
Muttergottin Diana, die von Seneca als „regina Nemorum “ bezeichnet wird. 

irbius sei aber der in Italien wieder auferstandene Hippolytos. Hippolytos 
wollte stets nur mit Artemis jagen 3 und verschmähte die Liebe der Frauen 
Insbesondere verschmähte er aber die Phaidra-Aphrodite (Stiefmutter — 
uttergottin) und wurde daher von seinen eigenen Pferden in Stücke 
gerissen. Es kann als eine Regel der Mythendeutung angesehen werden, 
daß die Zerstücklung als Darstellung der Kastration aufzufassen ist. Die 
age mußte natürlich in der Umkehrungsform lauten, Hippolytos liebt die 
Mutter und wird deshalb vom Vater - Stier (Intervention des Poseidon) 
oder Vater - Pferd kastriert. Daß diese Deutung zu Recht besteht, kann 
wiederum von einem andern Gesichtspunkt aus gestützt werden. Denn es 
war Sitte in Troezen, daß Jünglinge sowie Mädchen vor Eingehung der 

1) Stekel, ebenda 220, 221. 

angäen. 6 ' PraZer ‘' ^ ^ (The G ° lden Bou S h )- 19». I- n, mit Quellen- 

3) Vgl. Röhe im: Die wilde Jagd. Imago XII. 













Mondmythologie und .Mondreligion 606 


Ehe ihre Haare dem Hippolytos opferten; 1 in Delphi wird derselbe Brauch 
mit Theseus, dem Vater des Hippolytos, in Zusammenhang gebracht. 2 
Demnach ist Hippolytos ein Dämon der Pubertätsweihe, 3 und daher ver¬ 
steht es sich beinahe von selbst, daß seine Sage sich um den Kern Ödipus- 
und Kastrationskomplex herauskristallisiert. 

Virbius gehört aber zu Diana wie Hippolytos zu Artemis. In der Kult¬ 
stätte zu Nemi sind weibliche und männliche Genitalien als Votivgegen¬ 
stand gefunden worden 4 und wenn die Uteri den Wunsch des Kindersegens 
und der gefahrlosen Entbindung andeuten, so können wir die Phalloi viel¬ 
leicht mit der Herstellung der männlichen Potenz in Zusammenhang bringen. 
Virbius „der Grüne“ (viridis — grün, verbena — ein heiliger Zweig) wäre 
demnach der phallische Ast 5 und das Abreißen des Eichenzweiges würde 
die Kastration andeuten, worauf dann der Kampf mit dem Vater folgen 
muß. Das Wesentliche an Virbius ist aber laut antiker Auffassung und 
Volksetymologie, daß er der trotz Zerstücklung wiederauferstandene Hippo¬ 
lytos ist (vir bis jactus). 6 Der Kult mit den Genitalien als Votivgegen¬ 
ständen wäre demnach als eine Art Darstellung und Verleugnung der 
Kastration zu verstehen. Demnach liegt die eigentliche Bedeutung des 
Abreißens als eines Onaniesymboles in der Darstellung der Kastration. Ver¬ 
mutlich kommt dem abgerissenen Zweig in unseren nordasiatischen, ameri¬ 
kanischen und polynesischen Varianten dieselbe Bedeutung zu. Für die poly- 
nesische Variantengruppe haben wir ja diese Deutung schon aus dem Material 
abgelesen. 

Dietstakl un Ä M ondversetzung 

Als weitere Bestätigung unserer Auffassung wollen wir nun aber auch 
auf die in unseren Varianten vertretene europäische Sagenauffassung ein- 
gehen, derzufolge die Mondversetzung als Strafe eines Diebes erscheint. 
Laut norddeutscher Sage ist im Mond ein Mann mit einem gestohlenen 
(und demnach auch abgerissenen) Büschel Kohl sichtbar. 7 Wir ahnen, daß 
es irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Stehlen und dem Abreißen 

1) Lucian: De dea Syria. Plutarch 5. 

2) Athenäus: XIII. 83. 

3) J. E. Harrison: Themis. 1912. 336. 

4) Frazer: Magic Art. I. 12. 

5) Frazer: Magic Art. II. 379. 

.6) Vgl. Wissowa: Virbius. Roschers Lexikon. VI. 1925. 330. 

7) H. Volksmann: Mondglaube aus Dithmarschen. Am Urquell. 1890. I. 85.— 
U. Haas: Rügensche Sagen und Märchen. 1903. 145. —K. Müllenhoff: Sagen, Märchen 
und Lieder der Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg. 1845. 359, 360. 







GoG Gäsa Rdheim 


geben muß und daß beide kaum zufällig in Verbindung mit der Mond¬ 
versetzung gebracht werden. In Preußen heißt es: „Ein Bäuerlein schlich 
sich nachts in Nachbars Garten, um Kohl zu stehlen. Kaum aber hatte 
er die Staude umgebrochen, als ihn der Mond ergriff und samt dem Raube 
hinaufzog. Die dunklen Flecken sind der Dieb und der Kohlstrunk.“ 1 In 
Mürow erzählt man, es sei am Weihnachtstage (Kontamination mit den 
Sagen von den Feiertagsschändern) weit und breit in der Uckermark Sitte, 
einen Schweinskopf mit grünem Kohl zu essen; das wollte auch einmal 
ein Mann tun und da ihm zu dem Gericht der Kohl fehlte, ging er in 
seines Nachbars Garten und stahl ein paar Köpfe; aber dafür, daß er das 
hohe Fest so entheiligt, hat ihn der Herr in den Mond versetzt und da 
sitzt er noch. Am Weihnachtsabend fleht der Mann im Mond zum Herrn, 
daß ihm seine Sünde verziehen werde. 2 Nun nach Lothringen; Jean des 
Choux oder Jean de la Lune war einer, der seine ganze Zeit damit zu¬ 
brachte, Kohl zu stehlen; einmal bekam er Angst vor dem helleuchtenden 
Mond, er dachte, der Schubkarren, der schon ganz voll mit Kohl war, 
zieht gewiß infolge des knarrenden Geräusches die Aufmerksamkeit des 
Mondes auf sich und er urinierte auf die Räder, damit sie sich ge¬ 
räuschlos drehen sollten; aber der Mond blickte ihn unverwandt an und 
das Ende davon war, daß er zum Mond hinaufgezogen wurde, wo er nun 
m aller Ewigkeit seinen Karren fährt. 3 * 5 Freilich ist es nicht der Mond, 
der den Nachtwandler anstiert, sondern umgekehrt und Sadger hat ja 
gezeigt, daß der Harndrang häufig ein mitbestimmender Faktor des Som¬ 
nambulismus ist. Die Sage ist demnach eine willkommene Bestätigung 
unserer urethralerotischen Deutung der Wasserträger im Monde. Was hat 
es aber für eine Bewandtnis mit dem Kohl? „Der Kohl spielt häufig eine 
Rolle in den Hochzeitsbräuchen. In der Castrais brechen die jungen Leute 
Kohl, um ihn den jungen Eheleuten beim Hochzeitsmahl zu servieren; es muß 
gestohlener (wie oben) Kohl sein, sonst wäre es nicht der Sitte gemäß: 
in der Creuse . . . wird den jungen Eheleuten ein Huhn mit Kohl ins 
Hochzeitsbett gereicht. Am Tag nach der Hochzeit spannte man alle Ochsen 
(Maine et Loire), die zu haben waren, in den besten Karren und die ganze 


U Urquell. 1895. 21. Nach A. Treichel: Volkstümliches aus der Pflanzenwelt, 
besonders Westpreußens. 

2) Kuhn und Schwartz: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche. 1848. 

52. (Ebendort eine zweite Variante; das Stehlen am Weihnachtsabend auch bei 

Müllenhoff.) 

5) Sebillot: Folk-Lore de France. I. 18. Vgl. 21. 
















Alonclmytliologie und Alondreligion 

Gesellschaft begab sich auf das Kohlfeld. Man wählte die schönste Staude 
aus und grub in gewisser Entfernung einen Graben herum. Nun beginnt 
man sich der Staude zu nähern und tut dabei, wie wenn das eine sehr 
schwer zu bewältigende Arbeit wäre.“ „ Lorsque le chou etait dechausse, 
chaque homme de la noce essayait de Varracher avec des ejforts simule, et, 
bien entendu, n'en pouvait venir a bout . Cet honneur etait reserve au marie 
qui apres avoir feint une grande peine, parvenait a Varracher “ Im Triumph- 
zuge geht es nun nach Hause. In Berry, sagt Sebillot, pflanzt man den 
Kohl als Symbol der Fruchtbarkeit am zweiten oder dritten Ehetag. 1 Prä¬ 
ziser ausgedrückt würden wir sagen, die Kohlstaude ist ein Symbol des 
weiblichen Genitalorgans. Mit Mühe nähern sich alle Gäste, doch das 
Abreißen bleibt dem Helden der Hochzeitsnacht Vorbehalten. Darum müssen 
wir auch sagen, daß, wenn man den Kindern sagt, daß sie im Kohl ge¬ 
funden wurden, vor der Geburt im Kohl gelebt hätten, man ihnen in 
symbolischer Weise die Wahrheit sagt. 2 3 Der gestohlene oder abgerissene 
Kohl wäre demnach ein tabuiertes Weib. Wahrscheinlich bedeutet aber 
der Kohl auch den Penis, denn bei den Masuren heißt es, daß die Annahme 
des Kohlkopfes die Annahme der Werbung bedeutet .3 Dazu kommt noch, 
daß es sich beim Monddieb meistens um Gegenstände handelt, die eindeutig¬ 
männliche Sexualsymbole sind, so z. B. Dornen, 4 Rüben, 5 Heugabeln, 6 
wahrscheinlich auch Holz, Reisig. 7 

Die psychoanalytische Literatur über Kleptomanie ist wenig umfangreich. 
Pfister berichtet den Fall eines Lehrlings, der in seinem Geschäft einen 
Gummireifen entwendet, damit in größter Erregung einige Minuten spielt 
und ihn dann ganz gleichgültig einem Kameraden schenkt. Der Reifen 
wird als Ersatzobjekt des männlichen Gliedes, das Spielen damit natürlich als 
Onanie zu deuten sein. In einem anderen Fall handelt es sich um ein 
weibliches Sexualsymbol. 8 Unlängst hörte ich, daß die jungen Burschen in 
den äußeren Bezirken von Budapest einen Geheimbund organisierten, um 
Nägel und ähnliches von den Bauten zu entwenden. Die Nägel wurden 
verkauft und mit dem Erlös gingen dann die Führer ins Bordell. 

1) Sebillot: Le Folk-Lore de France. III. 516. 

2) Sebillot, loc. eit. III. 474. 

3) Aigremont: Volkserotik und Pflanzenwelt. 1908. I. 131. 

4^ Harley: Moon-Lore. 1885, 25, 28. — Dähnhardt: Natursagen. I. 256. 

5) Urquell: 1892. 35. 

6) Dähnhardt, loc. cit. 254. 

7) Urquell: 1892. 290. 1893. 67. 1894. 285. 

8) Pfister: Anwendung der Psychoanalyse in der Pädagogik. Imago. I. 60. 















Gäza RüLeim 


Es fragt sich wieder wie bei der „ewigen Arbeit“, ob wir uns mit der 
Onaniedeutung begnügen sollen. Abraham erzählt den Fall eines Patienten 
dessen lustvollste Phantasie darin bestand, einem kurzsichtigen (womög¬ 
lich einäugigen) Mädchen das Pincenez wegzunehmen oder einer Ampu¬ 
tierten ihr künstliches Bein zu rauben und sie auf diese Weise hilflos zu 
machen. Die Einfälle des Patienten ließen den Sinn dieser Phantasie als 
einer verschobenen Kastrationsphantasie mehr und mehr erkennen. In einem 
Traume erschien die Einäugigkeit eines solchen Mädchens damit begründet, 
daß das fehlende Auge vom Vater ausgeschlagen worden war. „Von hier 
führten die Faden weiter zu der Angst des Patienten vor dem Verlust des 
eigenen Auges. 1 Wahrscheinlich hätte die Analyse auch in dem von Pfister 
angeführten Fall die Kastrationsangst aufgedeckt und es würde sich eine 
Gruppe von Fallen auf die Formel zurückführen lassen: Die Kastrationsangst 
wird als Versuch des Kastrierens maskiert. Der Dieb will durch den 
Besitz eines neuen, unzerstörbaren Gliedes (Gabel, Dorn) die 
eigene Kastrationsangst verleugnen. 2 3 4 

Versuchen wir es nun wieder mit der Deutung eines so typischen Mond- 
motives wie die „ewige Arbeit“. „Moyang Bertang flicht ewig denselben 
Faden, um damit die Menschen zu fangen, doch die Mäuse zernagen immer 
wieder den Faden und retten die Menschheit. “3 An diesem Tau will sich 
der Mondalte zur Erde hinunterlassen, wird jedoch daran durch die Mäuse 
immer wieder verhindert.* Oder aber: Der Himmel ist ein großer Topf, 
der an einem Faden über der Erde schwebt. Von der Erde sprießen stets 
Baume empor, die den Himmel erreichen würden, wenn der alte Mann 
sie nicht stets abschnitte. 5 Im Mond ist ein Beringinbaum, darunter sitzt 
ein buckliger Alter und flicht Stricke, um damit die Menschen zu fangen. 
Stets wieder werden diese Stricke von den Ratten zernagt, trotz der Katze, 
die diese Ratten töten möchte. 6 Ein Kassiabaum sprießt üppig im Mond, 
muß aber alle tausend Jahre wieder abgehackt werden. 7 Nach peloponne- 
sischen Sagen sind die im Monde sichtbaren Schatten ein Baum, den der 


1) K. Abraham: Klinische Beiträge zur Psychoanalyse. 1921. 177. 

2) »Zur Zeit des tsu kimi , eines der dem Monde geweihten Festtage, stiehlt man 
eine Art längliche Kalebasse.“ H. ten Kate: Aus dem japanischen Volksglauben. 
Globus. XC. 1906. 127. 

3) Skeat and Blagden: Pagan Races. 1906. II. 319. 

4) Maaß: Bei liebenswürdigen Wilden. 1902. 93. 

5) Skeat and Blagden, loc. dt. II. 320. 

6) W. Skeat: Malay Magic. 1900. 13. 

7) R. Wilh elm: Chinesische Volksmärchen. 1914. 46. 




















Mondmytkologie und Mondreligion ^°9 

Satan oder Kain das ganze Jahr mit einer Axt umzuhauen sucht, damit 
durch seine Zerstörung auch die Erde vernichtet werde. Wenn er aber schon 
nahe am Ziele ist und nur noch ein Streich nötig ist, um das höllische 
Werk zu vollenden, setzt er sich ganz ermattet hin, um noch einen Augen¬ 
blick zu rasten, bevor er aufs neue zuhaut. Dann richtet sich der Baum 
wieder in riesiger Größe auf und der Teufel muß seine Arbeit vor vorne 
beginnen. Offenbar handelt es sich um denselben Baum, den die Kalli- 
kantzari umzusägen suchen, welches Werk sie aber in den Zwölften unter¬ 
brechen. 1 

Der Baum, der sich zur Weihnachtszeit in Riesengröße aufrichtet, kann 
aber kein anderer sein als der Christbaum, der ja laut christlicher Auf¬ 
fassung mit dem ebenfalls im Mond sichtbaren Baum der Erkenntnis 2 
identisch ist. Der Baum der Erkenntnis, des Lebens und des Todes ist aber 
der Penis. 3 

Die ewige Arbeit 

Es würde demnach der eine Typus der ewigen Arbeit, den wir den 
männlichen Typus nennen werden, den folgenden „Traumgedanken 
ausdrücken. Es gibt keine Kastration; der Baum wächst stets wieder empor. 
Oder auch: Man kann den Samen im Geschlechtsakt hergeben, denn da¬ 
nach kommt doch stets wieder eine neue Erektion. Wenn wir ferner daran 
denken, daß die Kastrationsangst im Bewußtsein häufig als Todesangst 
erscheint, so ließe sich wohl annehmen, daß auch die Sagen vom Ursprung 
des Todes 4 ursprünglich gerade umgekehrt Unsterblichkeitssagen waren, in 
denen der wieder auferstehende Mond = Schlange = Phallos den unbesieg¬ 
baren Gott, den Lebenstrieb, symbolisierte. 

In manchen Varianten scheint aber die Weltkatastrophe nicht im Ab¬ 
schneiden, sondern im Emporsprießen des Baumes zu bestehen. Der „Alte 
darf sich an seiner Liane (Penis, siehe oben) nicht auf die Erde nieder¬ 
lassen, Vater-Himmel und Mutter-Erde sich durch den „Baum“ nicht 
wieder vereinigen, die Urszene nicht wiederholen. Die rettende Tätigkeit 
der Mäuse und Ratten bedeutet demnach in diesem Zusammenhang etwa: 

1) N. G. Politis: Der Mond in Sage und Glauben der heutigen Hellenen. Roscher: 
Selene. 1890. 181, 

2) Urquell. 1893. 35. 

5) Vgl. Levy: Sexualsymbolik in der biblischen Paradiesgeschichte. Imago. V. 1917. 

4) Über die Rolle des Mondes und der Schlange in den Sagen vom Ursprung des 
Todes. Vgl. J. G. Frazer: Folk-Lore in the Old Testament. I. 1919- 44 - The Belief 
in Immortality. 1915. I. 59. 













G$za RöLeim 


Glücklicherweise haben wir die Kastrationsangst, sonst wären Inzest mit 
der Mutter und Kampf mit dem Vater unvermeidlich. 

Neben dieser „männlichen“ gibt es aber auch eine „weibliche“ Form 
der „ewigen Arbeit . Die Danaiden, d. h. die Jungfrauen, die ihre Männer 
in der Brautnacht ermordet haben, schöpfen Wasser in ein durchlöchertes 
Faß. Die Mondfrau mit dem durchlöcherten Faß, mit dem unerschöpflichen 
Ofen, die mit dem Spinnen nie fertig wird (Polynesien, siehe oben), die, 
beim Buttern ertappt, dort oben ewig buttert, 1 symbolisiert die Angst vor 
der Unstillbarkeit weiblichen Verlangens, sie ist eine „unfüllbare“ Vagina. 
Daß diese Angstvorstellung ebenfalls dem Kastrationskomplex des Mannes 
(Tod in der Brautnacht) entspringt, bedarf wohl kaum eines Beweises. 
Dann wäre aber auch der Strauch im Mond, ob sich nun ein Mann daran 
festhält (beziehungsweise ihn abreißt) oder eine Frau, jedenfalls ein Sym¬ 
bol des männlichen Gliedes. Die Sage beschreibt jedenfalls eine Handlung 
(Wasserschöpfen, Trinken, verbotenes Tun), die in Kastrationsangst ab¬ 
gebrochen wird und an deren Stelle dann die Mondversetzung tritt. 

IV) Die Mondmutter und der Mondluit 

Hier müssen wir nun die vielfachen Beziehungen des Mondes zum 
Sexualleben besprechen; um dies aber tun zu können, wollen wir einen 
bisher unbeachteten, beziehungsweise nur gestreiften Zug dieser Sagen 
scharfer herausstreichen. Die Stiefmutter (iß, 16—20), Schwiegermutter (14), 
Eltern ( 21 ), die Mutter ( 2ß , 24) sind in einigen Varianten die eigentlichen 
Ursachen der Mondversetzung der Heldin. Eine Mutter ging, um ihren 
Kindern Wasser zu holen (ß6). In den germanischen Fassungen (/, 2, 6) 
handelt es sich um Kinder im Mond. In 7 und 9 sind es allerdings Greise. 
Wir wissen aber, daß keine Einzelheit zu unbedeutend ist, um eine Ursache 
zu haben und daß diese Varianten nicht nur ethnisch, sondern auch psycho¬ 
logisch im engsten Zusammenhang mit den „Kinder“-Varianten stehen. 2 


1) H. Volksmann: Mondglaube aus Dithmarschen. Am Urquell. 1800. I. 85. 

2) Die Greise gehen in den Mutterleib zurück und von dort aus erblicken die 
Kinder das Licht der Welt. In Bulgarien glauben die Kinder, Augen, Nase und 

und eines Gesichtes im Monde zu entdecken. Sie meinen, das wäre das Gesicht 
eines jungst verstorbenen alten Mannes, und glauben, daß der Mondschein immer 
wie er von den ältesten Leuten, die versterben, erneuert werde. — P. S. Krauß: 
, ° 1 K i .r* ube " nd religiöser Brauch der Südslawen. 1890. 13. — Vgl. auch den alten, 
kahlköpfigen Gott der Maya-Handschriften Ed. Seler: Gesammelte Abhandlungen zur 
Amerikanischen Sprach- und Altertumskunde. I. 499. III. 593-595. _ Ich habe seiner- 






















Mondmythologie und .Mondreligion 'S 11 

In der Urzeit hat der Mond kleine Kinder gefressen, darum sieht man 
kleine Kinder im Mond, heißt es bei den Wogulen. * 1 2 Die Teton sehen den 
Schildkrötenmann im Mond. „ The Tetons do not like to gaze at the moon 
because at some past time a woman who was carrying a child on her 
back gazed a long time at the moon and feil senseless“ 2 Im Monde sind 
Kinder; Mondanstarren — Mutter und Kind; die Motive klingen an hei 
den Arapaho. „Im Mond ist eine Kröte und die Kröte erscheint wie eine 
schwangere Frau.“ „Das Erscheinen der Kröte an dem Bauch des Mondes 
deutet die Schwangerschaft der Frau an“ (siehe oben), d. h. Kröte bedeutet 
hier Gebärmutter und deshalb ist dann diese Kröte auch eine Wasser- (Frucht¬ 
wasser-) Frau, in China sowohl wie in Amerika. „Ausdrücklich erwähnt wird 
in den Sagen, daß die Bärmutter auf- und absteige in Bayern, wie in 
Tirol, ja die im Weibe sitzende Kröte, die Mutter, kann den Körper des 
Weibes verlassen und wieder in ihn zurückkehren.“ 3 In der Bäcka heißt 
es, wer einen Frosch erschlägt, dem stirbt die Mutter, bei den Huzulen 
Mutter und Vater und bei den Szeklern in Udvarhely erscheint die Mutter 
bei Nacht dem Froschtöter in Ketten. 4 Sollte nun der Mond in diesen 
Sagen oder eigentlich Traumerzählungen die Mutter und die Versetzung 
in den Mond letzten Endes die Regression in den Fötalzustand (der Frosch ^ 
im Monde: das Kind im Bauche der schwangeren Frau; „im Monde sind 
kleine Kinder“) bedeuten, so würde das mit vielen uns unabhängig von 
der Sagendeutung bekannten Tatsachen übereinstimmen und* auch wichtige 
weiterführende Schlüsse erlauben. Jedenfalls stehen wir mit einer solchen 
Annahme auf gut mythologischem Boden; es gilt bloß, die durchaus 
unpsychologische Erklärungstechnik der Mythologen umzukehren und vom 
Menschlichen ins Kosmische anstatt vom Kosmischen ins Menschliche zu 
deuten. 

In den altmexikanischen Handschriften ist die Meerschnecke das Charak¬ 
teristikum des Mondes; „gleichwie die Schnecke aus dem Gehäuse hervor¬ 
kommt, so kommt der Mensch aus dem Bauche seiner Mutter hervor , 


zeit zu erweisen gesucht, daß der Lebensfaden die mythische Umschreibung der 
Nabelschnur ist (Röheim: Adalekok. 1920. 278), in der Umkehrungsform erhalten 
wir die Todesstricke des Mondalten. 

1) Munkäcsi: Vogul Nöpköltesi Gyujtemeny. Eletkepek (Sammlung wogulischer 
Volksdichtungen. Bilder aus dem Volksleben). 1896. IV. 414. 

2) J. O. Dorsey: Teton Folklore. Journal of American Folklore. 1889. II. 156. 

5) R. Andree: Votive und Weihegaben. 1904. 130. 

4) Röheim: Adalökok a magyar nöphithez. (Beiträge zum ungarischen Volks¬ 
glauben.) 1920. 219, 220. 











5l2 


Gesa Rdheim 


heißt es im Kommentar des Cod. Telleriano Remensis, Fol. 13, bei dem 
Bilde des Mondgottes Tecciztecatl, d. i. „der aus der Meerschnecke“. 1 
Diesem Gott entspricht ein alter Gott in den Maya-Handschriften, dessen 
Hieroglyphe als Hauptbestandteil das Bild eines Schildkrötenpanzers ent¬ 
halt. 2 3 Dieser alte, kahlköpfige Mondgott der Maya-Handschriften 3 erinnert 
uns einerseits an die Mondgreise unserer schwedischen Varianten und durch 
seine Beziehungen zur Schildkröte an den Schildkrötenmann im Monde 
bei den Teton. 4 Die Projektion der allgemein menschlichen Vorstellung 
einer Muttergöttin in den Mond läßt sich bei den verschiedensten 
Völkergruppen nachweisen. Bei den Wichita ist die Mondgöttin zugleich 
Schutzgeist der Frauen, da sie im Besitze aller Zauberkräfte ist, welche die 
Frauen begehren. Sie zeigt den Frauen, „indem sie ihr Gesicht beobachten“, 
den Zeitpunkt sowohl ihres Monatsflusses wie des Gebärens und sie ordnet 
an, daß das Kind „must be offered to her by passing the hands over the 
childs body and raising it aloft offering it to the moon“, damit es, wie sie 
selbst, rasch wachsen möge. Sie regelt die Vermehrung bei Menschen, 
Tieren und Pflanzen. Es ist noch hervorzuheben, daß einer anderen Mutter¬ 
göttin, „der Frau, die im Wasser Macht besitzt“, ähnliche Funktionen 
zugeschrieben werden .5 Hieher gehört auch „die alte Frau, die nie stirbt 
oder die alte Spinne“ (vgl. „Spinnerin im Monde“) der Mandan. Nach 
der Sundflut ist sie das einzige errettete Wesen, welches die Fortexistenz 
des Stammes ermöglicht. Sie ist „Mutter der Lebensmittel“, ihrem Ein¬ 
fluß wird das Wachsen der Feldfrüchte zugeschrieben und ihr zu Ehren 
wird im Herbst der Tanz, welcher die Bisonherden herbeilocken soll, 
gefeiert. 6 Die Pawnee erzählen, wie die Spinnenfrau alle Buffalo in ihrer 
Höhle (Uterus) einsperrte, so daß eine Hungersnot entstand. Der junge 


1) J. Loewenthal: Zur Mythologie des jungen Helden und des Feuerbrinffers. 

Z. f. E. i 9 r8. S. 48. S 

2) E. Sei er: Die Tierbilder der mexikanischen und der Maya-Handschriften. 
Z. f. E. 1910. 284. 

3) E. Sei er, loc . cit. 1910. 50. 

4) „Die mannigfaltigen Zwischenformen zwischen den Kröten und Schildkröten 
und Eidechsen haben zu der Vermutung Anlaß gegeben, daß die Schildkröte das 
Urbild des Gebärmuttervotivs gewesen.“ (Andree: Votive. 133.) Jedenfalls 
kann ein Tier in der Schale (Schildkröte, Schnecke) sehr wohl als Symbol des 
Embryos im Mutterleib gelten. 

5 ) G. A. Dorsey: The Mythology of the Wichita. 1904. 19, 28. 

6) Ed. Seler: Die Lichtbringer bei den Indianerstämmen der Nord Westküste. 
Globus LXI. 1892. 214. — Nach Prinz zu Neuwied: Reise in das innere Nord¬ 
amerika. II. 182 — 184. — Siehe auch G. F. Will and H. I. Spinden: The Mandans. 
1906. 136. 





















Mondmythologie und JMondreligion 


5i3 


Morgenstern schießt seine Pfeile auf das Spinnenweib. „The young man 
shot an arrow and when it struck the rohe the new moon disappeared and 
there was a quarter of a moon“ 

Zuletzt erscheint der Vollmond auf dem Mantel. Wieder schießt der 
Jüngling; der Vollmond fällt herab und verwandelt sich in eine Spinne. 
Nun tötet er die Spinne mit Pfeil und Bogen, setzt das Tier auf die 
Spitze des Pfeiles und schießt es hinauf in den Himmel. Der Pfeil bohrte 
sich ins Himmelsgewölbe und blieb mit der Spinne oben als Mond stecken; 
die alte Frau fiel tot nieder. 1 Nun kommen wir zu den Schlußsätzen der 
Sage; in ihnen spiegelt sich die negative Einstellung (Kampf: Töten) gegen 
die Mutter-Imago. Anstatt als Prototyp aller Gebärerinnen galt die alte 
Frau als diejenige, die das Gebären hindert. „From that time the people 
multiplied and had plenty to eat. They were saved from starvation hy this 
young man , and because the spider-woman was killed the women gave birth, 
By getting her out of the way the people increasedf 2 

Die Sage muß mehrschichtig gedeutet werden. Erstens: Die Menschen 
können sich nur dann vermehren, wenn der junge Mann sich von der 
Mutter losmacht, sie „tötet“ oder — was hier dasselbe bedeutet — „in 
den Mond“ projiziert („die Spinnenfrau soll nicht den Versuch machen, 
unter den Menschen zu wohnen“), siehe q.}, und sich ganz der Frau zu¬ 
wendet. Dann aber: Das Töten ist im Unbewußten gleichbedeutend mit 
dem Geschlechtsverkehr und deshalb die Sage eine Darstellung des urzeit- 
lichen Inzestes, in welchem, als Prototyp jeder Libidofixierung, die letzte 
Ursache der Fruchtbarkeit im allgemeinen zu suchen ist. Gehemmte Liebe 
wird in Angst verwandelt und so wird aus der sorgenden Mondmutter ein 
Schreckgespenst der Kinder bei den Uitoto. Die Kinder riefen einst im 
Scherze einen hanai (Gespenst) herbei, da taucht ein altes Weib auf, die 
auch „Vollmond“ (taife) hieß. Sie hatte rote Augen, glänzende Beine und 
riesige Krallen an den großen Händen. Sie streckt sich in eine Hängematte 
und läßt die Knaben alles Brennholz unter ihr verbrennen, während sie 
schlief und schnarchte. Als die Eltern kamen, mußten die Kinder sie auf 
die Beine schlagen, um sie zu wecken. Schnell blies sie das Feuer fort 
und verschwand. 3 

Diese kleine Sage bildet wiederum eine Bestätigung unserer Auffassung 

1) G. A. Dorsey: The Pawnee. Mythology. I. 1906. 45. 

2) Derselbe. Ebenda. 44. 

5) K. Th. Preuß: Religion und Mythologie der Uitoto (Quellen der Religions¬ 
geschichte). 1921. Nach dem Auszug S. 78, vgl. den Text auf S. 545. 


Imago XIII. 


55 












Giza RöLeim 


von der ausschlaggebenden Bedeutung des Traumes, und zwar besonders 
des Wecktraumes, als eigentlichen Grundstoffs der Mondmytho¬ 
logie. Die Alte erscheint den Kindern im Traum, vielleicht als hypna- 
goges Schreckbild, 1 die dann im Traum weiterwirkt. In der Sage schläft 
das Gespenst, eine Projektion des Schlafzustandes von dem traumbildenden 
Subjekt auf das vorgestellte Objekt. Daher werden wir auch annehmen, 
daß das Feuer eigentlich unter den Kindern brennt; es ist das wohlbekannte 
Brennen des urethralen Weckreizes. Die Eltern kommen; das Kind erwacht, 
Mondalte und Feuer sind verschwunden. Ihr Stock wird vom Stamm der 
Möneidiahurama (Hurama des Tagens oder Entstehens) verspeist. Wenn 
wir einen Wecktraum bei Tagesanbruch annehmen, so wird uns dieser 
Name recht verständlich erscheinen. Nach zwei Tagen erschien die Alte 
wieder mit Brennesseln 2 3 und jagte die Kinder von einer Hütte zur andern, 
bis sie in die eine Tür einen großen Korb hinstellte und von der andern 
aus in ihn hineintrieb, so daß ihnen die Eingeweide herausquollen. Ein 
Knabe entkam aus dem Korb und sah, wie die Alte die Kinder nach 
einer Höhle schleppte. Die Väter verfolgten die Alte, sie machten ein Feuer 
vor der Höhle an, um sie herauszutreiben. Viele Gespenster kommen in 
Tiergestalt und werden getötet. In der Nacht zogen zwei übriggebliebene 
Gespenster an dem Dorfe vorbei und sagten: „Nachdem unsere Hütte ver¬ 
brannt ist, ziehen wir fort.“ 5 Der Korb oder die Höhle, in welche die 
Kinder hineingetrieben werden, sind wohl mit der Höhle, aus »welcher sie 
bei der Geburt herauskamen 4 - (vgl. oben die Höhle der Spinnenfrau), 
identisch. In einer Pawneesage symbolisiert der Korb den Mond, 5 wir 
setzten nur hinzu, daß der „Korb“ mit Kindern gefüllt ist. Es ist wiederum 
das „Feuer“, welches die Nachtgespenster vertreibt. 

Wie diese „Alte im Mond“, tötet auch die Ataensic der Huronen die 
Menschen; wenn sie nicht wäre, würden die Menschen überhaupt nicht 
sterben. Die Sonne ist das Herz ihres Gatten, sie gehört jedenfalls in eine 


1) Vgl. über den Fratzentraum W. Wundt: Völkerpsychologie. II. Mythus und 
Religion. II. Teil. 1906. 114. 

2) Zu dem Schlagen mit Brennesseln vgl. M. C. Stevenson: The Zuni Indians. 
XXIII. Report. B. A. E. 1904. 195. 

3) Preuß, loc . du 79. 351 — 355 - 

4) Rivers: The Symbolism of Rebirth. Folklore. 1922. 30, spricht von der 
Uterusbedeutung des Zimmers in Amerika. — Material zur Geburtshöhle in Amerika 
siehe Röhe im: Primitive Man and Environment. International Journal of Psycho^ 
Analysis. 1921. II. 170, 171. 

5) Dorsey, loc . dt. 45. 
























Mondmytliologie und Mondreligion 


616 


Reihe von übernatürlichen Wesen, bei denen Mondbeziehungen nachweisbar 
sind. 1 2 n As representing water , the universal mother , the moon was the pro - 
tectress of women in childbirth , the goddess of love and babes the patroness 
°f women in marriage . 2 Bei den Mandan wohnt die „alte Frau, die nie 
stirbt , im Mond. 3 Ihr entspricht bei den Hidatsa eine Göttin, die einfach 
„Großmutter heißt, und die den Hidatsa zwei Kessel geschenkt hat, welche 
zum Angedenken der großen Flut mit Wasser gefüllt werden. 4 * Bezeichnend 
für die mütterliche Bedeutung des Mondes ist die Art und Weise, in 
welcher amerikanische Urvölker die christliche Lehre assimilieren. Bei den 
quichuasprechenden Indianern in Peru werden Christus, Maria und die 
Heiligen ganz in altheidnischer Weise gefeiert. Am Fest des Kreuzes wird 
eine Papierlaterne, welche die Sonne darstellt, von einem Mann, eine andere, 
welche den Mond bedeutet, von einer Frau getragen. 5 Die Tarahumare 
sprechen von dem Vater = Sonne und der Mutter = Mond, diejenigen unter 
ihnen, die nominell zu den Christen zählen, identifizieren diese himm¬ 
lischen Mächte mit dem „Dios“ und der „Maria“ der Mexikaner. 6 So ge¬ 
langt die Muttergöttin zurück in den Mond, ein Zusammenhang, welcher 
mittelalterlichem Denken als Erbe der Antike und des Orients ebenfalls 
nicht fremd war. 7 Statt vieler Angaben — denn wohl alle Göttinnen des 
klassischen Altertums und des Orients wurden entweder im Volksglauben 
oder wenigstens von den Mythendeutern mit dem Mond identifiziert — 
wollen wir nur die treffende Zusammenfassung des Grafen Baudissin 
anführen: „Die Göttin erscheint speziell unter dem Namen Aschtarte 
ohne eine engere Verbindung mit einem Gott wie jungfräulich und gilt 
demnach als Mutter des Lebendigen. Ihre ältesten bildlichen Darstellungen 
bringen den Charakter der gebärenden und nährenden Mütterlichkeit deut- 


1) Brinton: The Myths of the New World. 1905. 156. — Fr. G. Sagard: 
Dictionnaire de la Langue Huronne. 1652. Seiten unnumeriert, siehe die vorletzte 
und letzte Seite. 

2) Brinton, loc . cit. 155. 

3) J. O. Dorsey: A Study of Siouan Cults. B. A. E. XI. 506, 507. 

4) Derselbe: Ebenda. 513. 

5) Nordenskiöld: Über quichuasprechende Indianer. Globus.LXXXVIII. 1905.101. 

6) Lumholtz: Unknown Mexico. 1903. I. 295. Vgl. auch in Europa: „In der 
Sonne hat Jesus Christus seinen Thron; am Ostermorgen kann man beim Sonnen¬ 
aufgänge Lamm und Kreuz in der glühenden Scheibe erblicken.“ — Gulgowski: 
Sonne, Mond und Sterne im Volksglauben der Kaschuben. Globus. 1908. XCIII. 145. 
— Vgl. W. Henderson: Folklore of the Northern Counties. 1879. 83. 

7 ) Vgl. V. J. Mansikka: Über Russische Zauberformeln. Annales Academiae 
Scientiarum Feunicae. Ser. B. Tom. I. 1909. 134, 135. 


53’ 











lieh zum Ausdruck. In der besonderen Gestalt der kartaginischen Tanit 
führt die Göttin das Prädikat: die große Mutter“. 1 Die griechischen Er¬ 
klärer phönizischer Gottesvorstellungen haben sie vielfach als den Mond 
verstanden, der im Altertum allgemein als „das Prinzip der Feuchtigkeit 
und Fruchtbarkeit“ galt. Sie ist im letzten Grund identisch mit der baby¬ 
lonischen Istar, ohne daß sich bis jetzt entscheiden läßt, wo das Urbild zu 
suchen ist. „Istar-Astarte ist zunächst keine siderische Potenz, sondern ganz 
allgemein die gebärende Kraft der Natur.“ 2 * 4 Doch ist auch diese Anschauung 
noch zu sehr im Geist der „Natur“mythologie befangen; affektgebunden 
ist der Urzeitmensch an die eigene menschliche Mutter und es ist nur 
eine grandiose Introjektion des Allerallgemeinsten in das Begrenzt-Mensch- 
liche, wenn die Mutter mit der Natur gleichgesetzt wird. 

Die analytische Deutung der M ondsuckt 

Sadger ist in der einzigen Arbeit, in der die Psychoanalyse sich mit 
der Frage der sogenannten „Mondsucht“ beschäftigt, zur Schlußfolgerung 
gelangt, die Bedeutung des Mondes gehe wenigstens zum Teil darauf zurück, 
daß das himmlische Licht an das Licht in der Hand der Mutter erinnert, die 
nächtlich den Schlaf der Kinder überwacht, d. h. die Anziehungskraft des 
Mondes ist eigentlich die Anziehungskraft der Mutter. 5 Ich fragte einmal 
eine bekannte Dame: „Was sehen Sie in den Flecken des Mondes?“ und 
sie antwortete darauf: „Ein Frauenantlitz,“ und nach einer kleinen Pause, 
„das Bild meiner Mutter . (Die Mutter der Dame ist seit einigen Jahren 
tot.) Eine Patientin von Sadger sagt: „Die leuchtende Mondscheibe er¬ 
innert mich nämlich an den Frauenleib, an den Bauch und vor allem an 
den Popo. * Demnach wäre der Wunsch, „sich in den Mond zu verkriechen“, 5 
eigentlich eine kosmische Projektion jenes menschlichen Urtriebes in den 
Mutterleib zurückzukehren und die höchste ungestörte Glückseligkeit des 
Embryonallebens wieder zu genießen. Wir hätten somit das Recht, in 
unseren Sagen die Entrückung in den Mond einerseits mit der Rückkehr 
in den Intrauterinzustand, anderseits mit dem Tode gleichzusetzen. Vielfach 


1) W. W. Baudissin: Adonis undEsmun. 1911. 18. — Vgl. auch W. H. R. Roscher: 
Selene und Verwandtes. 1890. 

2) Baudissin: Adonis und Esmun. 1911. 19. 

5) J. Sadger: Über Nachtwandeln und Mondsucht. 1914. 54, 170. 

4) J. Sadger, loc. cit. 27. 

5) J. Sadger, loc. cit. 45. 






















Mondmytliologie und jMondreligion 5 1/ 

wird ja die Entrückung direkt als Tod bezeichnet . 1 „Eine Erinnerung an 
die Vorstellung von der Erde als allgebärender Mutter ist im Alten Testa¬ 
ment am deutlichsten wohl zu erkennen in der Gleichsetzung der Erde 
oder Unterwelt, wohin der Mensch nach dem Tode kommt, mit dem Mutter¬ 
leib, aus dem er hervorgeht .“ 2 Besonders nahe Beziehungen zu unserem 
Material scheint ein von Freud mitgeteilter Traum einer Patientin zu 
haben: „ In ihrem Sommer auf enthalt am X-See stürzt sie sich ins dunkle 
Wasser , dort , wo sich der blasse Mond im Wasser spiegelt .“ „Träume dieser 
Art sind Geburtsträume; zu ihrer Deutung gelangt man, wenn man die 
im manifesten Traume mitgeteilte Tatsache umkehrt, also anstatt sich ins 
Wasser stürzen, aus dem Wasser herauskommen, d. h. geboren werden. Die 
Lokalität, aus der man geboren wird, erkennt man, wenn man an den 
mutwilligen Sinn von la lune im Französischen denkt. Der blasse Mond 
ist dann der weiße Popo, aus dem das Kind hergekommen zu sein bald 
errät .“ 3 Vielleicht dürften wir, den Mond als Mutter fassend, nun ergänzend 
hinzufügen, das Wasser im Monde ist das Fruchtwasser, der Be¬ 
hälter (Eimer) eine Umschreibung des Mutterleibes, genau wie 
die Kröte am Monde eine schwangere Frau bedeutet. Wie stimmt 
das aber dazu, daß wir diese Sagen als Weckträume betrachten? In der von 
Rank veröffentlichten Serie von urethralen Weckträumen ließ sich regel¬ 
mäßig eine zweite Deutungsschichte nachweisen, in welcher das Wasser 
als Fruchtwasser, das Herauskommen aus dem Wasser als Geburt usw. 
nachzuweisen war. Der Schlafzustand selbst ist ja eine Regression in die 
Fötallage, wozu dann noch die Regression von dem Angstaffekt, der in der 
Struktur dieser Weckträume liegt , 4 auf die Geburtsangst als Prototyp aller 
Angstaffekte kommen mag. 

Hätten wir somit unsere Traumerzählungen in der Geburtssymbolik 
restlos gedeutet, so bliebe uns noch immer ein Problem zu lösen. Wie 
kommt es, daß der Mond, als Mutterleibssymbol aufgefaßt wird? 
Die von Sadger vorgeschlagene Lösung, wonach die Gespenstervisionen 
der Mondscheinnacht auf die nächtlichen Besuche der in weißer Kleidung 
(Hemd) erscheinenden Eltern zurückzuführen wären , 5 mag ja für Europa 
eine gewisse Geltung als akzessorisches Motiv beanspruchen, wir können 


1) Vgl. oben die Spinnensage der Pawnee und SchÖnweth, loc. cit. II. 70. 

2) Baudissin, loc. cit. 70. 

3) Freud: Traumdeutung. 1911- 207, 208. Vgl. oben über die Mondflecken als Kot. 

4) Nämlich: Konflikt zwischen Wollen und Angst vor dem „Naßwerden“. 

5) J. Sadger, loc. cit. 36. 












^*8 G^za RdLeim 


aber dem Ethnologen nicht zumuten, nunmehr auch die nackten Ur¬ 
einwohner Australiens in ein weißes Hemd zu kleiden, wenn er auch 
in Ländern, die keine weißen Unterkleider kennen, sowohl Gespenster in 
der Mondscheinnacht, wie die Projektion der Mutterimago in den Mond 
findet. Ich glaube, die Ursache wird viel tiefer zu suchen sein, und zwar 
in der Mondperiodizität welchem der weibliche Organismus unter¬ 
worfen ist. 

.M.onJ und JMenstruation 

Sonne und Mond, erzählen die Arekuna, waren gute Freunde. Mond 
verliebte sich in eine Tochter von Sonne und gab sich jede Nacht mit ihr 
ab. Dies wollte Sonne nicht haben, daher befahl er der Tochter, dem Monde 
Menstruationsblut in das Gesicht zu schmieren; bis auf den heutigen Tag 
sind diese Flecken am Mond zu sehen . 1 Wir wollen gleich zwei besonders 
bemerkenswerte Züge an dieser Sage hervorheben: a) Obwohl sie selbst 
nichts von einem Inzest berichtet, gehört sie doch sagengeschichtlich in 
eine Kette von Inzestsagen, die, von den Eskimos bis Brasilien verbreitet, 
regelmäßig von dem Liebesverhältnis des Mondes mit seiner Schwester 
Sonne erzählen und damit enden, daß das Mädchen dem nächtlichen Lieb¬ 
haber, um ihn auch bei Tag zu erkennen, mit schwarzer oder roter Farbe 
das Gesicht beschmutzt, und so die Mondflecken erklärt. Es läßt sich leicht 
nachweisen, daß die Sage sich ursprünglich auf ein irdisches Paar bezieht; 
nehmen wir aber an, daß die rote Farbe dem Urtext näher steht und 
eigentlich als Substitut des Menstruationsblutes aufzufassen ist, so dürften 
wir vielleicht die Projektion auf den Mond (und dann erst sekundär auf 
die Sonne) gerade aus diesem Umstand ableiten. Die Ursage berichtete 
wahrscheinlich, wie ein Bruder mit seiner Schwester Geschlechtsverkehr 
hatte und so die erste Menstruation entstand. Dann wurde der inzestuöse 
Liebhaber, der die Menstruation verursacht, mit dem Mond identifiziert . 2 


, 1 l T k; Koch -Grünberg: Vom Roroima zum Orinoco. II. Mythen und Lebenden 
der Taulipang und Arekuna-Indianer. 1916. 55. 

., 2 ' ! , LaUt emer Sa # e 3111 unteren Fraser River schläft ein Mädchen mit dem Hund 

ihres Vaters (Hund als Penissymbol). Sie beschmiert ihren nächtlichen Liebhaber, 
um ihn bei Tag wieder zu erkennen mit roter Farbe. — F. Boas: Indianische 
Sagen von der Nordpazifischen Küste Amerikas. 1895. 27. Der nächtliche Besucher, 
er an der Farbe (hier schwarz) wiedererkannt wird, ist der Bruder. Nach Aufdeckung 
des Inzestes verbrennen sie sich. — Boas, loc. cit. 37. (Vgl. oben die urethralen Weck- 
traume) Hammer und Spähne als Liebhaber der Frau durch rote Farbe gezeichnet. — 
.Boas, loc. cit. 41. Ein Häuptling hat einen Hund, seine Tochter, die gerade men- 
















Mondmytliologie und Mondreligion _ ^ 1 9 

Der Sonnentanz der Arapaho kulminiert in dem Akt der sakralen Begattung. 
Einer, der in bezug auf den Veranstalter des Festes den Titel „Großvater 
führt, übt dabei den Beischlaf mit der Frau des Festgebers aus. Dies ge¬ 
schieht, nachdem am vorhergehenden Tage die Kaninchenhütte errichtet 
worden ist. „ The Grandfather represents the JVheel or Man-Above whilst 
the woman represents the mother of the tribe .“ 1 Beinahe noch wichtiger als 
der früher tatsächlich ausgeübte Beischlaf erscheint uns aber die abgeschwächt¬ 
rituelle Form, die jetzt üblich ist. Heute geschieht nur so viel „ the woman 
threw her blanket to the ground thus exposing her body to the moon“. Zweimal 
wiederholte sie dies und ging darauf zurück mit dem „Großvater . 2 Ein 
anderer Bericht lautet: „Der Beischlaf findet statt, indem die Frau sich 
dem Monde zuwendet. Es bedeutet den Koitus und verleiht dem Stamme 
Kraft und Nachkommenschaft, da auf diese Weise die Wesen dieser Welt 
gezeugt wurden.“ Der Psychoanalytiker findet auch Längstbekanntes in der 
Erklärung der Wurzel als „Samen des Großvaters“ und der geraden Pfeife 
als „ the penis or root of man“. „Der Mond ehelichte die erste Frau und 
so fand der erste Geschlechtsverkehr statt“, aber anderseits heißt es 
auch, der Mond sei unsere Mutter. Am Monde ist der Monatsfluß des 
Weibes oder die Kröte als schwangere Frau sichtbar. »The first menstruation 
happened with the woman who eloped with the moon by their connection. 
The flow or menstruation means the child. The sweat-water is the blood 
shed by the woman: that water is made of Vegetation. Wir essen Tiefe 


struiert, sagt: „Lasset den Hund nicht in mein Zimmer kommen, denn ich mag 
ihn nicht sehen, während ich esse. w Um Mitternacht schleicht sich ein Mann zu ihr 
und legt sich zu ihr ins Bett. Sie bestreicht ihn am Kopf und Rücken mit roter 
Farbe und am nächsten Morgen ist der Hund rot beschmiert. — Boas, loc. cit. 263. 
(Vgl. auch 25, 93, 114, 263.) — A. Krause: Die Tlinkit-Indianer. i 885 . 270. — 
F. Nansen: Eskimoleben. 1903. 243. — E. W. Nelson: The Eskimo about Bering 
Strait. B. A. E. XVIII. 481, 482. — F. Boas: The Eskimo of Baffin Land and Hudson 
Bay. Bull. Am. Mus. Nat. Hist. XV. 1901 173. 306. — D. Cranz: Historie von Grön¬ 
land. 1770. III. 295. — P. Egede: Nachrichten von Grönland. 1790. 75. — T. T. Water- 
man: The Explanatory Element in the Folk Tales of the North American Indians. 
Journal of American Folk-Lore. XXVII. 1914. 28, 29. — I. Mooney: Myths of the 
Cherokee. B. A. E. XIX. 1900. 256, 441. — P. Ehrenreich: Mythen und Legenden 
der südamerikanischen UrvÖlker. 1905. 36, 37. — W. E. Roth: An Inquiry into the 
Animism and Folk Lore of the Guiana Indians. XXX. Report. 1915* 256. 

P. F. Pierini: Mitologia de los Guarayos de Bolivia. Anthropos. V. 704, 705. — 
C. Nimuendajü-Unkel: Religion der Apapocuva Guarani. Z. f. E. 1914. 331. Eine 
ausführliche Besprechung dieser Sage bleibt Vorbehalten. 

1) G. A. Dorsey: The Arapaho Sun Dance. 1903. 173. 

2) Dorsey 175. 










5ao Göza Röheim 


und Pflanzen, die diese Substanz enthalten und deshalb wohnt uns der 
Trieb inne, unsere Art zu vermehren. Am Anfang waren Gebären und 
Menstruieren dasselbe, später wurde die Geburt verschoben : 1 2 * „The face 
of the moon bears the mark of the first menstruation. u 2 Hier entsteht also 
die Menstruation und das Geschlechtliche überhaupt durch den Koitus des 
„Großvaters“ -Mond mit der Urahnin der Menschheit . . . daher die Mond¬ 
flecken. In der Menomini Sage wird die Menstruation ebenfalls auf einen 
Inzest zurückgeführt, diesmal aber zwischen Großmutter und Enkel. Mana- 
bozho, der Große Hase, lebte mit seiner Großmutter Nokomis. Er merkte 
aber, daß der Bär sie häufig in seiner Abwesenheit besuchte, und versteckte 
sich einmal, um die beiden zu überraschen. „Then Mänäbush got a piece 
of dry bark and lit one end of it , making a fierce blaze; he then went 
quietly up to the doorway of the wigwam , and pulling aside the cover saw 
the Bear with his grandmother“ Mänäbush wirft die brennende Birkenrinde 
auf den Bären und trifft ihn gerade über die Lenden. Vom Schmerze rasend 
stürzt der Bär hinaus und eilt durch die Wälder zum Fluß hinab. „ Before 
reaching the water however , the flames had burnt the hair from the bears 
back y because the bark was still adhering to his body and he feil dead“ 
Mänäbush holt die Leiche und zeigt sie seiner Großmutter. „Nun, Gro߬ 
mutter, ich habe einen Bären getötet, jetzt werden wir genug zum Essen 
haben / 4 Er bietet ihr ein Stück Bärenfleisch an, sie weigert sich, indem 
sie gesteht, daß der Bär ihr Gatte war. „Mänäbush then took up a clot of 
the Bears blood and ihrew it at his grandmother , hitting her upon the 
abdomen , saying yThere take that‘.“ Worauf sie antwortet: „For that act 
your aunts will always have trouble every moon , and will give birth to just 
such clots as this .“ 5 Anscheinend sind ja in dieser Sage von der Entstehung 
der Menstruation keine Beziehungen zum Mond vorhanden. Doch erfahren 
wir auch, daß Nokomis die Tochter oder die Frau des Mondes war; 4, und 
siehe da, sie ist es, die von allen Frauen zuerst menstruiert. Vielleicht 
steckt diesmal doch etwas hinter der Deutung der Mondmythologen, daß 
der „Große“ oder „Weiße“ Hase (Mänäbush) eben der Hase im Mond sei; 
ethnologisch ließe sich ja dieses Mondtier bei den Algonquinstämmen recht 

1) Dorsey, loc. cit. 175. 

2) Dorsey, loc. cit. 212. 

5) W. J. Hoffman: The Menomini Indians. XIV. Annual Report Bureau of 
Ethnology 1896. 175. Dieselbe Sage berichtet Ploss-B artels: Das Weib. 1908. I. 
512, von den Omaha. In Indien hängt die Entstehung der Menstruation auch mit den 
Schuldgefühlen nach einem Mord (Brahmanenmord) zusammen. Ebenda 511. 

4) H. R. Schoolcraft: The Myth of Hiawatha. 1856. 15. 












jMonJmytliologie und Mondreligion 


5ai 


wohl annehmen . 1 Die Sage berichtet vom Inzest des Kulturheroen mit 
seiner Großmutter, die natürlich als Ersatzfigur der Mutter aufzufassen ist . 2 
Dementsprechend hören wir auch vom Kampfe zwischen Manabozho und 
seinem Vater, dem Westwind. Der Kampf geht auf Leben und Tod, Mana¬ 
bozho tritt als Rächer der Mutter auf, und der Kampf endet mit einem 
Ausgleich . 3 In unserer Fassung vertritt der Bär die Stelle des Vaters; es 
ist eine Erzählung von der Eifersucht des Knaben, der die Mutter allein 
besitzen will und ihren Mann, den Vater, aus dem Wege räumt. Denn 
Mudjekeewis wird wohl ein Bär sein, da er mit seinen Brüdern eine Bärin, 
die Mishe-Mokwa tötet (töten = Geschlechtsverkehr haben). Die Brüder 
stehlen den Wampum der Bärin und fliehen vor ihr. Unterwegs versucht 
ein alter Mann, der Hilfsgeist des Mudjekeewis, die Bärin aufzuhalten. Er 
besitzt zwei magische Keulen, die anfangs ganz klein sind, bald aber riesen¬ 
groß werden, und zwei magische Hunde, die er aus einem Medizinsack 
hervorholt, Anfangs sind sie ganz klein, wie er sie jedoch streichelt, wachsen 
sie zur Riesengröße und kämpfen mit der Bärin. Die wachsenden Keulen 
und Hunde, die aus dem Sack (Beutel) kommen, sind eben der Penis im 
Erektionszustand, und ihr Kampf mit der Bärin ein Koitus. Doch der alte 
Mann wird besiegt und die Flucht geht weiter, „Mudjekeewis, sagt er, 
hat ja noch einen Traum u (die Manitus erscheinen, wie bekannt, dem 
Nordamerikaner im Pubertätsträum), den er jetzt herbeizaubert. Sofort ent¬ 
steht ein See mit einem Canoe in der Mitte, den sie besteigen. Die Biesen¬ 
bärin kommt zum Ufer und beginnt den See auszutrinken, es scheint, daß 
sie alle durch den Strom in ihren Rachen hinabgleiten (Walfischmythe) 
müssen und Mudjekeewis holt mit seiner Keule zum Schlag gegen die 
Riesin aus. Die Bärin erbricht alles Wasser und vom Strome werden sie 
auf das entgegengesetzte Ufer fortgeschwemmt. Die Flucht geht weiter. 
Nun nimmt Mudjekeewis Zuflucht zu seinem letzten Traum. Dies ist der 
Schädel des toten Zauberers Iamo. Iamo lebte mit seiner Schwester, 
da sie jedoch ihn mit ihrem Menstruationsblut berührte, verbrannte 
sein Körper und nur der Schädel blieb übrig. Durch die Zauberkraft dieses 
Schädels wird die Bärin bewußtlos und die Brüder töten sie. Aus den 
Stücken der zerstückelten Bärin entstehen die kleinen schwarzen Bären von 


1) „In one form of the myth he is the grandson of the Moon — D. G. Brinton: 
American Hero Myths. 1882. 4, 47. — Vgl. H. Kunike: Nordamerikanische Mond¬ 
sagen. Internationales Archiv für Ethnographie. 1920. XXV. 27, 28. 

2) Vgl. J. C. Flügel: The Psycho-Analytic Study of the Family. 1921. 29. 

3) H. R. Schoolcraft: The Myth of Hiawatha. 1856. 20. 







Gdza Röheim 


heute . 1 Die See, die auf der Flucht der Helden entsteht, sowie die Ver¬ 
folgung deuten auf einen urethralen Wecktraum. Die Geburtsschichte ist 
m der Jonasepisode (in den Rachen der Bärin ) 2 3 erhalten, während die 
genital-erotische Bedeutung der Flucht im Kampf mit den wachsenden 
Keulen (Hunden) ganz deutlich ist. Der Held erklärt ja selbst die Sage 
als Traum, ruft ja seine Traumbilder an, die auch erscheinen. In zwei 
derselben, in dem alten Mann, der mit der Bärin kämpft (i. e. koitiert) 
und in dem Zauberer, der mit der Schwester lebt, sehen wir Personifikationen 
des Helden. Dieser Zauberer (beziehungsweise sein Schädel = Verschiebung 
nach oben) besiegt dann zuletzt die Bärin, d. h. er „besiegt“ die Mutter. 
Merkwürdigerweise klingt die Todesart des Zauberers, die er durch die 
inzestuöse Berührung mit dem Menstruationsblut erleidet, ganz an die 
Symbolik der Enuresis nocturna an: Er wird verbrannt. Dieselbe Traum¬ 
symbolik herrscht ja auch in der Erzählung von Manabozho, dem Sohne 
des Mudjekeewis, und seiner Großmutter. Der Bär rennt brennend zum 
Fluß; also Feuer und Wasser, nebst Verschwinden des Traumgesichtes, 
wenn wir nämlich voraussetzen können, daß der Große Hase den verhaßten 
Rivalen eigentlich im Traum bei der Mutter erblickt. Nun hat uns ja 
Freud darauf aufmerksam gemacht, daß das Kind häufig Gelegenheit hat, 
den Geschlechtsverkehr der Eltern zu belauschen. In den Träumen, welche 
diese Szenen in überarbeiteter Form reproduzieren, erscheint der Vater sehr 
häufig als Tier (hier Bär), und die Kastrationsangst spielt dabei eine große 
Rolle. Hier finden wir die Kastrationsangst als Wunsch, den Vater zu 
kastrieren (töten) und die Mutter ganz allein zu besitzen. Der Bär wird 
ja gerade über den Lenden verwundet; die symbolische Substitution Lende = 
Phallos dürfte jedem Bibelkenner geläufig sein. 

Es ist nicht weiter verwunderlich, warum wir einen gesetzmäßigen 
Zusammenhang zwischen dem Inzestkomplex und dem urethralerotischen 
Wecktraum konstatieren müssen; wie Rank bemerkt^ ist ja die Enuresis 
nocturna eine Art Vorläufer der nächtlichen Pollutionen und die einzige 
halbwegs genitale Sexualbetätigung des noch unentwickelten männlichen 
Kindes. Diese Sexualbetätigung fällt nun in eine Periode, in der das libidi- 
nöse Interesse des Kindes noch nicht über den Rahmen der Familie hinaus¬ 
geht, es also eigentlich nur die Eltern als Sexualobjekte kennt. Die Ver- 

1) Schoolcraft, loc. cit. 142—153. 

2) Bär bei den kontinentalen Völkern Nordamerikas häufig an Stelle des Wal¬ 
fisches! — Vgl. Frobenius: Das Zeitalter des Sonnengottes. 1904. 90. 

3) O. Rank: Die Symbolschichtung im Wecktraum. Jahrbuch. IV. 



















jMondmytliologie und jMLondreligion 

drängung dieser Wünsche bedingt die Angst vor dem Naßwerden im Weck¬ 
traum und die Schamreaktion, welche regelmäßig mit der Enuresis ver¬ 
bunden ist. Dieselbe Schamreaktion tritt beim Mädchen regelmäßig bei der 
ersten Menstruation auf, die regelmäßig als Folge des Geschlechtsverkehres, 
und zwar im Sinne der Vaterfixierung des Mädchens, des inzestuösen 
Geschlechtsverkehres, gedeutet wird. Es ist ja wiederum ein symbolischer 
Koitus, wenn Manabozho seine Mutter (ich setze dies an Stelle von „Gro߬ 
mutter“) mit dem Blute ihres Mannes bewirft und so die Menstruation 
entstehen läßt. Nach dem Tode des Vaters erfolgt hier — wie in der 
Manabozho-Sage vom Kampf mit dem Westwind — eine Art von Kompromiß 
mit dem Vater; denn der Sohn bewirft (koitiert) ja die Mutter mit dem 
Blut (Samen) des Vaters . 1 

Laut dem Bundehesch entsteht aber die Menstruation dadurch, daß 
Ahriman seine Tochter Geh am Kopf (Verschiebung nach oben) küßt, und 
laut jüdischer Überlieferung entstand die Menstruation des Weibes, als die 
Schlange „die Eva beschlafen hat“, denn die Schlange ist Ahriman und 
„küssen am Kopf“ ist beschlafen, „der Flecken, welcher in dem Mond 
gefunden wird und nimmermehr von demselben weichet, ist diejenige 
Unflätigkeit, welche die alte Schlange in den obersten Mond geworfen 
hat “. 2 Wenn wir aber Sagen antreffen, in denen die Mondflecken als die 
Spuren des Menstruationsblutes aufgefaßt werden, so liegt es nahe, anzunehmen, 
daß auch hinter dem „unschuldigen“ Symbol des Wassers im Monde sich 
außer dem Urin und Fruchtwasser auch die Menstrualflüssigkeit verbirgt. 
An der Torresstraße heißt es, die Menstruation entstehe dadurch, daß 
Waiet oder der Mond periodisch alle Weiber in Besitz nimmt und sie mit 
seinem übergroßen Penis beschlafend verwundet . 3 Die Sinaugalo erzählen 
von dem Beischlaf einer erwachsenen Frau mit einem kleinen Kinde 
(Mutter-Imago); der beleidigte Gatte zündet das Haus an (Feuer!) und der 

1) Zur urethralerotischen Bedeutung der Sage: „Manabozho ist das Feuer.“ 
Hoffman, loc. cit. 87. — Vgl. auch die Sagen, in denen Manabozho seinen Bruder, 
den Feuerstein, mit dem gelben Feuerstein verfolgt, Kunike: Nordamerikanische 
Mondsagen. J. A. f. E. 1920. 28, 29. — Außerdem ist Manabozho der Held der Flut¬ 
sage. Siehe Frazer: Folklore in the Old Testament. I. 302. — Vgl. auch den Kampf 
des Hasengottes Ta-wäts mit der Sonne und seine Flucht vor dem Sindbrand bei den 
Ute. J. W. Po well: Mythology of Noth American Indians. Bureau Am. Ethn. 
1879/80. I. 25. 

2) Ed. Stucken: Astralmythen. 1896—1907. 393. — J. A. Eisenmenger: Ent¬ 
decktes Judentum. 171-1. I. 833. 

3) A. C. Hadelon: Cambridge Expedition. VI. III. 279. — Siehe auch Beaver: 
Unexplored New Guinea. 1920. 68. 














5*4 G<s za RöLeim 


Knabe wird getötet. Sein Blut wird zum Mond, der nun verkündigt die 
jungen Weiber sollten alle zur Strafe bluten, wenn er erscheint, ’ aber 
Schwangere sollen ausgenommen sein, da er ja für ihren Zustand ver¬ 
antwortlich ist . 1 Überall finden wir also das Schuldgefühl infolge des 
Ödipus-Komplexes als Bestandteil der Menstruationssagen. Anderseits wird 
ja die Menstruation gewöhnlich aus dem Geschlechtsverkehr mit einem 
Ahnengeist oder Gott, jedenfalls aber eines Vertreters der Vaterimago erklärt . 2 3 
Dies ist ja auch vollkommen richtig, nur wird dadurch noch die Wahl 
des Mondes als Symbol für die verdrängte Vorstellung „Vater“ nicht erklärt. 
Wir haben es hier mit einem besonders deutlichen Fall der phylogene¬ 
tischen Regression zu tun, indem das verdrängte Ubw sich mit anderen 
ubw Spuren, die wir kurz „organisch unbewußte“ nennen wollen, verquickt, 
und diese dann in den höheren Systemen die Vertretung auch der ver¬ 
drängten Komplexe übernehmen. Verlangen wir nämlich von der Biologie 
Auskünfte über die Menstruation, so bekommen wir die Aufklärung, daß 
wir es mit einem Überbleibsel der weiblichen Brunstzeit zu tun 
haben. Und zwar sagt Hesse-Doflein: „Aus der Unbrunst geht das weib¬ 
liche Saugetier durch ein besonderes Stadium in den eigentlichen Brunst¬ 
zustand über. Dieser Übergangszustand wird als das Prooestrum oder die 
Vorbrunst unterschieden. Dieses Stadium ist deswegen von besonderem 
Interesse, weil es der Menstruation, den monatlichen Blutungen beim 
menschlichen Weibe, entspricht. Es ist dadurch gekennzeichnet, daß während 
seines Verlaufes meist die in den sogenannten Graafsehen Follikeln des 
Eierstockes eingeschlossenen Eier beträchtlich wachsen, Eileiter und Uterus 
schwellen, mit Blut stark erfüllt werden, daß bei vielen Formen die Schleim¬ 
haut des Uterus von sehr sich vermehrenden Blutgefäßen durchzogen ist, deren 
Wände Blut austreten lassen, ja in vielen Fällen zerreißen.“» „Auch beim 
Menschen pflegt das Weib in der Hochbrunst, also kurz nach dem Auf¬ 
horen des Menstruationsflusses, am begehrlichsten zu sein, und zu dieser 
Zeit ist die größte Aussicht auf erfolgreiche Begattung .“ 4 

Wenn die Menstruation eine Brunstzeit ist, so dürfen wir die spezifi¬ 
schen Formen der weiblichen Erogeneität, die sich um diese Zeit mani- 


1) C. G. Seligmann: The medicine, surgery and midwifery of the Sinaugolo. 
Journ. Anthr. Inst. 1902. XXXII. 300. 

2) Vgl. Ploß-Bartels: Das Weib. 1908. I. 511. — Crawley: The Mystic Rose. 
1902. — Freud: Kleine Schriften zur Neurosenlehre. IV. 1918. 229. 

3) Hesse-Doflein: Tierbau und Tierleben. 1914. II. 4 q 7 . 

4) Hesse-Doflein, loc. dt. II. 498. 












JMondmytliologie und Mondreligion 


S26 


festieren, gewiß ebenfalls als sehr archaische Formen ansprechen. Es dürfte 
anzunehmen sein, daß sich in diesen Menstruationssagen jene Objekt¬ 
bindungen neu beleben, die zur Periode der Stammesgeschichte, in welcher 
die Fortpflanzung ebenfalls an eine Mondperiode gebunden war, die allein 
vorherrschenden waren. Es stimmt demnach auch vollkommen mit unseren 
Erwartungen überein, wenn wir in den Sagen einen Zusammenhang 
zwischen Inzest und Menstruation finden. In bezug auf die kosmischen 
Einflüsse wollen wir uns aber wieder der Führung von Hesse-Do fl ein 
an vertrauen. „In der Nachbarschaft einiger Inseln des Stillen Ozeans, vor 
allem bei den Fidji-Samoa, Tonga- und Gilbert-Inseln, aber auch in einigen 
anderen Gegenden der Erde, treten die mit Geschlechtsprodukten beladenen 
epitoken Hinterenden gewisser mariner Anneliden zu bestimmten Zeiten 
des Jahres in ungeheuren Massen auf. Bei den Samoainseln ist es im 
Oktober oder November, und zwar acht Tage vor Vollmond, im Morgen¬ 
grauen, daß die Schwärme sich zeigen, wie den Eingeborenen dort seit 
alters her bekannt zu sein scheint.“ „Da, was man Palolo nennt, nur die 
zur Verbreitung der Geschlechtsprodukte eigenartig umgewandelten Hinter¬ 
enden von Borstenwürmern sind, suchen wir an diesen Bildungen ver¬ 
geblich nach einem Kopf.“ Übereinstimmend geben alle Beobachter einen 
Zusammenhang zwischen dieser Erscheinung und den Mondphasen an ; die 
„Palolo“ stoßen Sperma und Eier in das umgebende Meerwasser aus und 
gehen dabei selbst zugrunde . 1 „Auch für den Kokosnußräuber Birgus 
latro L. wird ein Zusammenhang der Wanderungen zum Meer mit den 
Mondphasen angegeben. Es ist sehr bemerkenswert, daß es sich um drei 
Formen landbewohnender Krebstiere handelt, welche ihre Eier am Hinter¬ 
leib tragen und von denen zum Teil mit Sicherheit bekannt ist, zum Teil 
angenommen wird, daß sie ihre Larven zur weiteren Entwicklung ins 
Meerwasser bringen. Bei all diesen Formen würde es sich also um Wan¬ 
derungserscheinungen handeln, welche mit geschlechtlichen Prozessen, 
beziehungsweise mit Fortpflanzungserscheinungen Zusammenhängen.“ Auch 
sonst läßt sich ein Zusammenhang zwischen Mondphasen und 
Sexualleben bei Meerestieren beobachten. Hesse und Doflein 
unterlassen es nicht, in diesem Zusammenhang auf die Menstruation bei 
Menschen und Affen aufmerksam zu machen. Wir erfahren auch, daß 
G. Bohn interessante Versuche an Aktinien der normannischen Küste an- 


1) Vgl. W. U. Wood worth: Vorläufiger Bericht über die Untersuchung des 
gesammelten Materials in A. Krämer: Die Samoainseln. 1903. II. 399. 









Gäza Rdheim 


gestellt hat. Es stellte sich heraus, daß diese Tiere sich hei Ebbe einziehen, 
um nicht zugrunde zu gehen, und sich dann bei Flut wieder ausdehnen, 
ferner daß sie diesen Rhythmus auch im Aquarium bewahren . 1 

Da aber der genitale Trieb jedenfalls auch mit den Wachstums- und 
Ausdehnungserscheinungen zusammenhängt, da wir ferner wissen, daß das 
Organische in einer Umgebung entstanden sein muß, welche ungefähr dem 
Meerwasser entspricht, liegt es nahe, anzunehmen, daß die Urzelle sich 
mit Ebbe und Flut, d. h. der Anziehungskraft des Mondes zufolge aus¬ 
dehnte und kontrahierte und diesen Rhythmus auch später bei der sexuellen 
„Ausdehnung“ und „Kontraktion“ bewahrte . 2 Das Weib zeigt also in ihrem 
Organismus besonders archaische Züge, welche' auf die organische Erinne¬ 
rung („Mneme“) an die Meerwasserperiode der menschlichen Phy¬ 
logenese zurückgehn . 3 Diese Periode der Phylogenese wiederholt sich 
in der Ontogenese, denn der Embryo lebt eine Zeitlang in einer flüssigen 
Umgebung. Nun haben wir aber das Wasser im Monde als Fruchtwasser 
gedeutet; wie, wenn wir nun die Projektion dieses ontogenetischen Stadiums 
m den Mond phylogenetisch deuten wollten und sagten, die Sagen von 
der Anziehungskraft des Mondes, welcher Wasserträger zu sich 
zieht, deuten auf eine Periode in der Stammesgeschichte des 
Menschen, in der unsere entferntesten Urahnen im Wasser lebten 
und tatsächlich der Anziehungskraft des Mondes unterworfen 
waren? 

Es ist demnach anzunehmen, daß der Ansatz zur mythologisch-religiösen 
Symbolbedeutung des Mondes vom weiblichen Geschlecht aus gegeben war. 
Weiterentwickelt wurde dieser Ansatz aber, anderen Gesichtspunkten ent¬ 
sprechend, von den Männern. Wenn die Mondmutter als Urbild der men¬ 
struierenden Frau erscheint , 4 so ist es wahrscheinlich, daß die Einstellung 
der Männer zur menstruierenden Frau bei den Primitiven auch bezüglich 
der Entstehung oder Weiterentwicklung der Mondmythologie irgendwelche 
Aufschlüsse enthält. 


1) G. Bohn: La persistance du rhythme des marees chez l’Actinia equina. 
C. R. Soc. biol. Vol. LX 1 . 1906 (angeführt laut Hesse und Do fl ein). 

2 ) »Les Chinois pretendent que tout ce qvi vit dans Veau , comme les coquilles , les crabes, 
les huitres-ä-perle et les tortues , croit et decroit avec la lune , teile etait aussi la croyance des 
anciens Romains .“ G. Schlegel: Uranographie chinoise. 2875. I. 607. 

3) Siehe Ferenczi: Versuch einer Genitaltheorie. 1924. 

4) Vgl. z. B. G. A. Dorsey: The Mythology of the Wichita. 1904. 19. 


. 












Monämythologie und Mondreligion 


S27 


Die JMlenstruation 

Die jungen Leute des Encounter Stammes haben große Angst vor Frauen¬ 
blut, der bloße Anblick genügt, um ein rasches Altern und Hinsiechen 
herbeizuführen . 1 Die Mannes des Booandik-Stammes glauben, daß Frauen¬ 
blut sie kampfunfähig macht . 2 3 Was die Kampfunfähigkeit bedeutet, darüber 
können wir aber wenigstens eine begründete Vermutung aufstellen. Wenn 
die Kiwai in den Krieg ziehen, kauen sie erst eine Ingwerwurzel, die ihre 
Frau erst eine Zeitlang in der Scheide gehalten hat. Beim Ausspucken wird 
folgender Zauberspruch hergesagt: „My wife all same lightning straight 
where vulva I go“, d. h. „wie der Blitz greife ich die Vulva der Frau und 
den Feind in der Schlacht an". Oder aber: „All same I go for wife straight 
for thing belonging wife all same I go for that fighting place body belong 
me all same lightning he go .“ 5 Es wird auch ein Probekoitus veranstaltet, 
und nur wenn dieser gut gelingt, wird auch der Feldzug siegreich ablaufen . 4 
Wenn also der Geist des Krieges 5 eigentlich die Erektion bedeutet, so können 
wir auch die Vorstellungen des Hinsiechens, der Feigheit und der Kampf¬ 
unfähigkeit nur im Sinne der Kastrationsangst auffassen. Die Blutungen 
des Weibes bilden eben eine schlagende Bestätigung der infantilen Auf¬ 
fassung der Vagina als einer Wunde, deshalb heißt die erste Menstruation 
kunjoulu (kurzer, spitzer Holzspeer) die zweite kadji. (Speer mit Steinspitze ). 6 
Ein australischer Eingeborener erschrak dermaßen, als er entdeckte, daß 
seine Frau während ihrer Periode auf seiner Decke schlief, daß er die Frau 
sofort tötete und bald nachher selbst vor lauter Schreck gestorben ist . 7 

Wenn man die Materialsammlungen bei Frazer, Ploss-Bartels, 
Crawley usw. durchliest und auch sonst in der Literatur einigermaßen 
bewandert ist, so fällt es zunächst auf, daß die Angst vor der menstru¬ 
ierenden Frau (Kastrationsangst) beiweitem schärfer betont und allgemeiner 
verbreitet ist als die Angst vor der Gebärenden (Geburtsangst). Es läßt 


1) H. E. A. Meyer: Manners and Customs of fhe Aborigines of the Encounter 
Bay Tribe in J. D. Woods: Native Tribes of South Australia. 1879. 186. 

2) J. Smith: The Booandik Tribe of South Australian Aborigines. 1880. 5. 

3) G. Landtman: The Magic of the Kiwai Papuans in Warfare. Journal of the 
Royal Anthropological Institute. 1916. XLVI, 325. 

4) Landtman: Ebenda. 328. 

5) Vgl. Röheim: Der Ursprung des Krieges. Pester Lloyd. 1925. Nr. 58. 

6) B. Spencer: Native Tribes of the Northern Territory of Australia. 1914. 328. 

7) W. E. Armit: Customs of the Australian Aborigines. Journal of the Royal 
Anthr. Inst. IX. 1880. 459. Cf. Frazer: Taboo. 1911. 145. 








628 Gäza Rdkeim 


sich sogar vermuten, daß es sich bei den Tabus der Kreißenden und des 
Wochenbettes eigentlich auch um die Kastrationsangst handelt. 

Bei einigen Stämmen Südafrikas scheint der Blutfluß bei der Geburt 
als eigentliches Angstobjekt zu gelten. Die Ba-Pedi glauben, daß eine Frau, 
die einen Abortus gehabt hat, den Mann, der mit ihr verkehrt, unbedingt 
tötet . 1 Es heißt ebenfalls bei den Thongastämmen, daß ein Mann, der die 
Mädchen bei der Mädchen weihe (d. h. bei der ersten Menstruation) erblickt, 
sein Augenlicht verliert. Den Mädchen wird bei dieser Gelegenheit ein- 
geschärft, „that they must not reveal anything about the blood of the menses 
to a man“ } Wenn eine Sulkafrau gebiert, so hat das in den Augen der 
Eingeborenen zur Folge, daß die Männer feige werden, daß die Waffen 
ihre Kraft verlieren, und daß den zum Pflanzen bestimmten Taroablegern 
ihre Keimfähigkeit genommen wird . 2 Die Gebärende verliert eben einen 
Bestandteil ihres Körpers und damit wird die Realität der Kastrations¬ 
drohung ad oculos demonstriert . 3 


Der Traumgedanie und die Entstellung 

Wenn wir demnach, da die Bedeutung des Mondes überall eng mit der 
Menstruation zusammenhängt, die Kastrationsangst in das Zentrum der 
Mondmythologie rücken, so finden wir einerseits die Bestätigung der oben 
schon gegebenen Deutung der Wasserträger und anderer Mondentrückungs¬ 
sagen, anderseits wird uns aber auch ein tieferer Einblick in den Mecha¬ 
nismus dieser Sagenbildungen ermöglicht. 

Die Sage berichtet nämlich stets wieder, wie eine verbotene Handlung 
durch die Mondentrückung unterbrochen und vereitelt wird. Der Faden 
ist an einem gewissen Punkt abgebrochen, beziehungsweise Kastrationsangst 
setzt ein und verschiebt die ganze Tendenz der Sage. An Stelle der 
verbotenen Handlung (Koitus) tritt infolge der Kastrationsangst 
die Uterusregression und der Held, der an der Kastration ge¬ 
storben wäre, erhält nun im Mond ewiges Leben. 

Die Sage arbeitet demnach mit dem Mechanismus der Regression. 
Wir vermuten ferner, daß die regressive Entstellung schon im ersten Satz 


1) H. A. J unod: Les Gonceptions physiologiques des Bantou sud-africains et leurs 
tabous. Revue d’Ethnographie. I. 1910. 139. 

1) H. A. Junod: The Life of a South-African Tribe. 1915. I. 178. 

2) R. Parkinson: Dreißig Jahre in der Südsee. 1907. 180. 

5 ) Vgl. Alice Bdlint: Die mexikanische Kriegshieroglyphe. Imago. IX. 









Mondmytliologie und jMondreligion 5^9 


der Sagenbildung am Werk ist, daß nicht der Durst, sondern ein ganz 
anderer Reiz sich hinter der Sehnsucht des Kindes nach der Mutter birgt. 
Es ist uns ja gelungen, hinter dem Durstreiz den Harnreiz und hinter 
dem Harnreiz den genitalen Trieb aufzudecken . 1 Nun haben wir endlich 
alle Fäden in der Hand. Erzählt wird eigentlich der Inzestwunsch des 
Sohnes. So steht es ausdrücklich in einer Sage der Wadaba in Neuguinea. 
Sagome wollte seine Mutter heiraten; als sie ihn aber nicht annehmen 
wollte, ward er wütend und kroch auf einer Sagopalme, die unter ihm 
bis zum Himmel wuchs, in den Mond . 2 Die äußere Versagung ist der 
Ausgangspunkt einer regressiven Symbolbildung, wobei an Stelle des Inzestes 
die Mutterleibsregression tritt. Der Baum aber, der infolge des Inzest¬ 
wunsches unter dem Helden in den Himmel wächst, ist ebenso deutlich 
der Penis wie der abgerissene Baum in den Wasserträgersagen. 

Infolge der Kastrationsangst (der abgebrochene Baum) setzt aber die 
Entstellung des latenten Gedankens ein. Im Dienste der Entstellung steht 
die Regression, durch die vermutlich erst die ganze Erzählung ins Infantile 
zurückgeschraubt wird. So wird der Held zum Kind, das Genitale zum 
Oralen und zur Intrauterinphantasie. Am Mond bleibt aber nur Ausgangs¬ 
punkt und Endpunkt der Entstellung sichtbar, der abgebrochene Zweig 
(Kastration) und • das Wasser im Eimer (Fruchtwasser), denn das Gestirn 
gewinnt seine Bedeutung eben nur in der sekundären Bearbeitung 
des entstellten Sageninhaltes. 

Der zweite Typus der Mondsagen läßt sich, wie wir oben schon ausein¬ 
andergesetzt haben, unter dem Titel der „ewigen Arbeit u zusammenfassen. 
Es handelt sich hier ebenfalls um die Kastrationsangst, nur daß sich hier 
die Abwehr in der Form der Überkompensierung durchsetzt. Wir haben 
es hier mit einem Mechanismus zu tun, den wir im Sinne der genitalen 
Objektwahl eher als progressiv, nicht als regressiv auffassen könnten, denn 
hier wird die Ejakulation nicht mehr als Kastration aufgefaßt und es wird 
gleichsam am Mond die ewige Möglichkeit einer neuen Erektion nach der 
Ejakulation demonstriert. 

Nun noch eine Andeutung bezüglich der Projektion, die ja für die 
Entstehung dieser Sagen grundlegend ist. Wir finden in den untersuchten 
Fällen ein Nebeneinander von psychophysischen AutotomieVorgängen (Koitus, 


1) Aus demselben Teich „trinken“ heißt „mit derselben Frau verkehren“. H. A. 
Junod: The Life of a South African Tribe. 1913. I. 194. 

2) W. N. Beaver: Unexplored New Guinea. 1920. 150, 151. 


Imago XIII. 


34 










53o 


Q^za Rdheim 


Kastration ) 1 mit der Projektion, mit dem Hinaus verlegen einer Vorstellung 
in die Realität, und sind daher geneigt, die Projektion als rein psychisch 
gewordenes Derivat der Autotomie- und Exkretionsvorgänge (insbesondere 
der genitalen) anzusehen. Doch darauf soll hier nicht näher eingegangen 
werden, da die Beweisführung und Auseinandersetzung an anderer Stelle 
erfolgen wird. 

Kidclus letana 

Versuchen wir nun noch kurz das Wesen der Mondreligion beziehungs¬ 
weise der Mondriten anzudeuten. 

Kiddus lebana heißt Heiligung des Neumondes. In dem offiziellen 
jüdischen Ritus ist dieser uralte Brauch der, wie so mancher Bestandteil 
des jüdischen Kultus 2 Berührungspunkte mit dem hamitischen Kulturkreis 
aufweist, noch ganz gut erhalten. Beim Anblick des Neumondes wird drei¬ 
mal gehüpft und dabei folgende Gebetsformel hergesagt: „Erneuere dich, 
du Krone und Zierde (d. h. der Mond), für die von der Geburt an Gott 
Getragenen (d. h. Israel), denn sie werden erneuert so wie der Mond sich 
erneuert, um zu loben den Schöpfer ob seiner ruhmvollen Herrschaft, ge¬ 
lobt seist du, der die Monde erneuert.“ Und beim Hüpfen heißt es dann: 
„So wie ich dir entgegenhüpfe und dich nicht erreichen kann, so sollen 
auch meine Feinde mich nicht zum Bösen erreichen.“ „David, König Israels, 
lebt und besteht.“ Die Formel „David, König Israels, lebt und besteht“ 
soll angeblich eine Geheimformel sein, womit man den Eingeweihten das 
Erscheinen des Neumondes andeuten wollte . 3 

Die Sprüche mit ihrem Hinweis auf den Feind scheinen anzudeuten, 
daß irgendeine Gefahr im Anrücken war und daß diese Gefahr nun 
glücklich überwunden ist. In Nord-Abessinien wird der Neumond in ganz 
ähnlicher Art und Weise angekündigt. Die Männer flehen den neuen 
Mond um Segen an, die Frauen klopfen an die Türpfosten und sagen.* 
„Der Mond bringt so viel Glück! Sei Du uns ein Bote des Glückes und 
des Wohlstandes, möge es uns besser gehen durch Dich! Mögen unsere 
Bedrängten erleichtert werden, unsere Wanderer glücklich ankommen, 
unsere Leute zu Hause in Sicherheit aufwachen, unsere Schwangeren ge- 


0 Vgl. Ferenczi: Versuch einer Genitaltheorie. 1924. 

2 ) Vgl. Frazer: Folk-Lore in the Old Testament. 1919. 

3) Rosch-haschanah 22 h. ebenda 25 a. Sofrim 19. 9. 20. 2. (Professor Heller 
vom Budapester Rabbiseminar hatte die Freundlichkeit, mir die einschlägigen Talmud¬ 
stellen zu übersetzen). 











Mond mythologie und Mondreligion ^3i 

baren, unsere jungen Leute groß werden usw. durch Dich! 0 Gott, das 
Unheil von Kalla und Balla (feindliche Völker), das Unheil des Neiders, 
das Unheil des Räubers usw. halt fern von uns! w Nach dem Gebet nehmen 
die Frauen mit den Fingerspitzen ein paar Körner Salz und schütten sie 
ins Feuer. Wenn die Salzkörner knisternd zerspringen und hochfliegen, 
sagen sie: „Möge der Neider unserer Herden und unserer Kinder also zer¬ 
springen!“ Knaben und Mädchen raufen Grashalme aus und bringen den 
Männern und Frauen der Nachbarschaft je zwei Grashalme. Die Leute 
sagen dann den Kindern: „Möge das Gras des Hauses deines Vaters und 
des Hauses deiner Mutter kräftig sein.“ 1 

Wiederum beweist der ganze Ritenkomplex sowie die Anspielung auf 
das Unheil und die Gefahren, daß es sich um eine Periode des Entronnen¬ 
seins aus irgendeiner Angstsituation handelt. Welcher Art diese Gefahr ist, 
wird vielleicht angedeutet, wenn man im Nyassaland beim Neumond sagt: 
„Morgen wird der Mond sichtbar sein, heute ist er ein Geist.“ 2 Jeder 
Mond ist tatsächlich ein neuer Mond, der alte Mond ist ja gestorben. 3 
Die Boloki begrüßen den Neumond mit Freudenschüssen, die Kranken 
bitten ihn, ihr Unwohlsein wegzunehmen und ihnen Gesundheit zu spenden. 4 
Die Thonga vergleichen den Kranken nach der magischen Reinigung mit 
dem Neumond, auch er ist aufs neue geboren. 5 Am Kongo heißt es: 
„Möge ich mein Leben erneuern, wie du das deine". 6 Als Prototyp des 
Menschenschicksals wird der sich stets erneuernde Mond stellenweise auch 
zum sorgenden Vater und die Eweer beten zum Vollmond: „O Mond! Als 
deine andern Brüder voll waren, da war ich gesund und es ist mir nie 
etwas Schlimmes zugestoßen. Nun bist auch du voll und wenn mir etwas 
Schlimmes zustößt, wird man es von dir fordern. Ich bitte dich, hab’ 
recht acht auf mich, daß ich gesund bleibe und keine Schmerzen bekomme.“ 1 
Mit dem abnehmenden Mond schwebt demnach der Mensch in einer 
Gefahr, Vermutlich handelt es sich (wie der folgende Abschnitt zeigen 
wird) um die Angst, es könnten mit dem Abnehmen des Mondes auch die 


0 E. Litt mann: Sternensagen und Astrologisches aus Nord-Abessinien. Archiv 
für Religionswissenschaft. 1908. XI. 515, 314. 

2) C. H. Stigand: Natives of Nyassaland. Journal of the Royal Anthropological 
Institute. 1907. 131. 

3) H. A. Junod: The Life of a South African Tribe. 1913. I. 51. 

4) John H. Weeks: Among Congo Cannibals. 1913. 142. 

5) H. A. Junod: The Life of a South African Tribe. 1913. II. 283, 451. 

6) A. Bastian: Die deutsche Expedition an der Loangoküste. 1874. II. 227. 
(Nach Merolla.) 


54 * 








G&sa Röheim 


Kräfte des Mannes schwinden. Denn daß ein Zusammenhang zwischen dem 
Anwachsen des Mondes und dem Geschlechtstrieb angenommen wird 
beweist das Material ganz deutlich. Bei den Pangwe heißen die zwei ersten 
Tage nach dem Erscheinen des neuen Mondes „kalter Mond“. An diesen 
Tagen ist aller Fortpflanzungstrieb kaltgestellt, Werden und Fruchtbarkeit 
ausgeschaltet. Es wird auch nichts unternommen, nicht weil ein Verbot 
besteht, sondern weil man kein besonderes Glück haben würde. 1 2 * 4 Die Riten 
des Mondtotems beziehen sich alle auf den Zeugungsakt. 3 Am Kongo 
wurde in mondhellen Nächten das „mbele “-Spiel gespielt, welches sehr 
häufig zum Ehebruch führte.« In Loango wird der zunehmende Mond als 
Symbol der Befruchtung, des Gedeihens und des Wachstums betrachtet; 
daher die Freude am Neumond, dessen Anrufen durch junge Frauen und 
die Mondscheintänze. „Muese“ ist der alles erzeugende Mondschein, und 
„muesi oder auch „esi“ bedeutet den Stammvater, den Erzeuger. 5 Wenn 
daher die Weiber in Angola beim ersten Erblicken des Neumondes ihm 
den Hintern zuwenden, so geschieht das wohl kaum — wie Bastian meint 
„zum Trotze , da sie ihre Regeln seinem Einflüsse zuschreiben, 6 7 sondern 
als sexueller Gruß, der dem neuerstandenen Phallos am Himmel gilt. Und 
wenn eine schwangere Masai-Frau den Neumond erblickt, so melkt sie ein 
wenig Milch und indem sie es, sich dem Monde zuwendend, ausgießt, 
sagt sie: „Mond, steh’ mir in meiner Stunde bei.“ Die Männer werfen 
einen Zweig oder Stein mit der linken Hand nach dem Mond und sagen: 
„Gib mir langes Leben“ oder „Gib mir Kraft“/ Da die Kinder am Kili¬ 
mandscharo vom Monde verlangen, „das Rind des Vaters möge ein Kuh¬ 
kalb werfen, das Rind des Oheims möge ein Stierkalb werfen“, 8 kann man 
sich ja leicht vorstellen, welche Art von Kraft die Männer vom Mond 
verlangen. Das Verschwinden des Mondes deutet die Möglichkeit 
der Kastration an, aber der neue Mond erscheint am Himmel 
gleichsam als unzerstörbarer Phallos, als Beweis der Irrealität 
der Kastrationsdrohung. 


1) J. Spieth: Die Religion der Eweer in Süd-Togo. 1911. 52. 

2) G. Tessmann: Die Pangwe. 1913. II. 202. 

5) R. P. H. Trilles: Le totemisme chez les Fan. 1912. 155. 

4) J. H. Weeks; Among the Primitive Bakongo. 1914. 121. 

5 ) E. Pechuel-Lo es che: Die Loango-Expedition. 1907. II. 136. 

) A. Bastian: Die deutsche Expedition an der Loango-Küste. 1874. II. 277. 

7) Hollis: The Masai. 1905. 274. ^ U 

8) J.Raum: Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro. A.R. W. iqn. 

XIV. 199. * 














Mondmytliologie und Mondreligion 533 

Eine Einzelheit des jüdischen Ritus scheint aber durch diese Deutung 
noch nicht erklärt zu sein. Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem 
Mond und dem typischen Vertreter judäischen Königtums? Denn daß der 
Heldenkönig Jerusalems, wie sein Sohn Salomo im Hohelied, 1 eigentlich 
den König bedeutet, läßt sich wohl annehmen. Der Sinn der Formel wäre 
dann, „das Leben des Königs erneuert sich mit dem Neumond“. Diese 
Vorstellung gehört dem babylonisch-assyrischen Kulturkreis des Altertums 
an. So betet der König Samsu-iluna: „Mögen mir die Götter ein Leben 
geben, das sich wie Sin (Mondgott) allmonatlich erneuert.“ Asur-ah-iddin, 
der Liebling des Mondgottes, sagt: „Mögen die Götter Sin und §amas 
(Mond und Sonne) bei ihrer Erscheinung allmonatlich die Götter verjüngen 
und mein Priesterkönigtum befestigen.“ Der Mondgott heißt auch der Herr, 
der König mit der Krone und wird als Vorbild irdischer Königsmacht 
betrachtet. Der Gott, auf den die Könige ihre Macht zurückführen, ist 
gewöhnlich der Mondgott und der König heißt „Sohn der Gottheit, der 
wie der Glanz des Mondgottes dem Lande Leben spendet“. 2 Es wird immer 
klarer, daß die Kulturformen des alten Orients im heutigen Afrika fort¬ 
leben. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang, wenn wir die Bräuche 
des afrikanischen Königtums mit denen des alten Orients vergleichen. Bei 
den Banyoro steht die Wache auf einem Berggipfel vor dem Königshaus 
und erwartet das Erscheinen des Neumondes. Endlich erscheint die Sichel 
des neuen Mondes am Himmel. Der Häuptling der heiligen Garde besucht 
hierauf den König und sagt ihm: „You have outlived the moon and your 
people are fighting people and rejoice with you. May you conquer /“ Der 
König schreitet hierauf zum Eingang des Thronsaales und spricht dort 
einen Segen über das Land. Dann sendet er einen Priester mit der Bot¬ 
schaft, daß die Musik und die Festlichkeiten anfangen sollen. In jener 
Nacht, in der man mit Angst und Bangen das Erscheinen der Mondsichel 
erwartete, wird aber ein Mann gefangen und im geheimen geopfert. Mit 
dem Blut werden die königlichen Fetische bestrichen. 3 

Wenn man sich darüber freut, daß der Mond wiedererschienen und 
auch der König noch am Leben ist, so muß man doch annehmen, daß 


1) Kautzsch: Die Heilige Schrift. 1910. II. 357. 

2) Et. Combe: Histoire du Culte de Sin en Babylonie et en Assyrie. 1908. 25—30. 

3) J. Roscoe: The Northern Bantu. 1915. 107, 108. — Über König und Mond 
in Afrika vgl. H. Rehse: Explorations and Adventures in Equatorial Africa. 1862. 
141. — Blackman: The Pharaos Placenta and the Moon God Chons. J. E. A. 1918. 
— E. Pechuel-Loesche: Die Loango-Expedition. 1907. II. 137. 









4 


53^ Gdza Rdkeim 


eine besondere Ursache zu dieser Gratulation besteht, daß die Periode der 
mondlosen Nächte, der Tod des Mondgottes auch für den König eine ganz 
bestimmte Gefahr bedeutete, der er nun glücklicherweise entronnen ist. 
Wenn wir einerseits wissen, daß das sakrale Königtum des alten Orients 
und der heutigen afrikanischen Völker aufs engste mit dem Ritus des 
Königsmordes zusammenhängt, anderseits aber auch nach weisen können, 
daß alle Opfer, die den Fetischen des königlichen Hauses gebracht werden, 
eigentlich Ersatzopfer, Stellvertreter des Königs sind, so wäre der latente 
Sinn der ganzen Veranstaltung, daß der König allmonatlich als Vertreter 
des Mondes bei abnehmendem Mond getötet wird. 1 Man darf aber mit Recht 
vor der weiteren Schlußfolgerung warnen, derzufolge dieser latente Gedanke 
je auch in der Realität durchgeführt worden wäre. Am Himmel stirbt der 
Mond, auf Erden aber ein Stellvertreter des Königs, damit dann König 
und Neumond ihr Wiederaufleben feiern können. Nun ist aber der König 
nicht nur der Urvater, sein Tod nicht nur die Wiederholung des* Ver¬ 
brechens der Urhorde, sondern der König ist auch der Phallos des gesell¬ 
schaftlichen Organismus. Dann müßten wir aber den Königsmord als eine 
Art Autotomie oder Selbstkastration der Gesellschaft auffassen, die Einsetzung 
des neuen Königs bedeutet aber die Erektion nach der Erschlaffung, die Ver¬ 
leugnung der Kastration. Und tatsächlich ist der Mondgott, der himmlische 
Vertreter des Königtums, auch „der junge und mächtige Stier des Himmels“, 
„der Erzeuger der Götter und Menschen“, der „Lebensspender“, mit einem 
Wort der Phallos. 2 

Der jMondLult 

Wir hätten also den Mondkult ebenso auf die Kastrationsangst zurück¬ 
geführt wie die Mondmythologie. Auch bezüglich der Entstellung des 
latenten Sinnes ist der erste Schritt in beiden Fällen identisch: Es ist die 
Projektion. Im Ritus folgt der Projektion aber ein zweiter Zug, 
durch den allerdings die Tendenz des ersten teilweise wieder 
aufgehoben wird. Nachdem das Traumatisch-Lustvolle in der 
Projektion vom Ich entfernt wurde, erfolgt die Identifikation 
bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Projektion, wodurch 
einerseits das Mitgenießen ermöglicht, anderseits doch das 
Traumatische durch die Projektion abgewehrt wird. 

1) Die Auffassung des sakralen Königtums soll in einer Arbeit „Animism, Magic 
and the Divine King a bewiesen werden. Vgl. vorläufig „Psyche 4 s a tdrsadalom a . 
„Szdzadunk.“ 1926. 

2) Combe: Histoire du Gülte des Sin. 1908. 25. 


















535 


Die 1 


unar e 



Daß die irdischen Dinge in ihrem Gedeihen und Vergehn vom Monde 
abhängig sind, war einst in Europa eine so allgemeine und angeblich 
erfahrungsgemäße Ansicht, daß selbst Bacon daran glaubte: „ Videmus 
enim in plantationibus et seminationibus et insitionibus aetatum lunae obser- 
vationes non esse res omnino frivolas.“ 1 Alles nimmt mit dem Monde zu und 
wieder ab. Hat man aber die Geduld, die Unmengen des Materials durchzu¬ 
lesen, so bemerkt man bald, daß sich der Einfluß * des Mondes doch nicht 
im ganz gleichen Maße auf alles Irdische erstreckt. Denn einerseits finden 
wir, daß der Mond vornehmlich in Liebesangelegenheiten angerufen wird, 
anderseits handelt es sich aber sehr oft um Haare, Nägel, Zähne und 
Geschwülste aller Art, also um Gegenstände, deren Penisbedeutung fest 
steht. So spricht mau z. B. in der Grafschaft Ruppin bei Zahnschmerzen, 
den Mond anschauend: 


Ich schaue dich, du helles Licht, 
Dreierlei Fleisch eß ich nicht. 

Von Katz, von Ratz, von Hund, 

Ach Gott! Nimm mir die Schmerzen 
Aus dem Mund. 1 2 3 


Ähnlich lautet der Spruch in Szeged (Ungarn): 


Neuer Mond, neuer König! 

Ich begrüße dich. 

Mit einem lebenden Zahn, 

Mit totem Gewürm. 

Mög’ ich dann Zahnschmerzen haben, 
Wenn ich Frösch’ und Schlangen esse. 4 


In weiteren Sprüchen wird erwähnt, daß der Mond seinen Sohn ver¬ 
heiratet, „ich gehe nicht, schicke aber meine Krankheit“. 5 Oft findet sich 


1) Bacon: De Aug. Scient. Lib. III. cap. 4 (angeführt von Payne; History of 

the New World called America. 1892. I. 494). 

2) Vgl. F. S. Krauß: Sitte und Brauch der Südslawen. 1885. 174. Schroeder: 
Hochzeitsbräuche der Esten. 1888. 50. W. Henderson: Folk-Lore of the Nothern 
Counties. 1879. 115. Weiteres Material siehe bei Frazer: Adonis, Attis, Osiris. 1907. 
369—577. Webster: Rest Days. 1916. Chapter V. 

5) K. Ed. Haase: Volksmedizin in der Grafschaft Ruppin und Umgebung. Zt. d. 

V. f. Vk. 1898. 202. 

4) Kälmäny: A hold nyelvhagyomänyainkban. 1887. 10. 

5) Kdlmdny: Ebenda. 11 —15. 










^36 G^za Röheim 


eine Anspielung auf den dritten Zahn, beziehungsweise die nicht vor¬ 
handene dritte Zacke des Mondes. 1 Die lunare Sympathie läßt sich dem¬ 
nach vom Standpunkt des Ubw wohl als eine phallozentrische Welt¬ 
anschauung bezeichnen. Der Mond symbolisiert den Penis in dem Wechsel 
der Erektion und Schlaffheit. Aber allerdings auch die Mutter, die in der 
Menstruationsperiode besonders „kastriert“ ist, um dann wieder, weniger 
gefährlich, zugänglich zu werden. Im Vollmond ist sie schwanger und nach 
dem Vollmond wird dann das Kind geboren. 2 So heißt es bei den Luiseno, 
daß der Mond am Himmel zwar alles Irdische beherrscht, besonders aber 
die Weiber mit ihren Perioden. Jedoch gibt es auch Männer, deren Kraft 
mit dem Mond zu- und abnimmt. 3 In Guiana heißt es, daß der Mond 
nach einer Verfinsterung nur den Frauen zuliebe erscheint.* „Aus solchen 
wie wir bei ihrer großen Einfachheit und Natürlichkeit voraussetzen 
dürfen — gewiß uralten Anschauungen ist es zu erklären, daß wir fast 
überall die Mondgöttinnen als Entbindungsgöttinnen sehen, und umgekehrt, 
bei einer Göttin, welche den Entbindungen und Geburten vorsteht, ur¬ 
sprüngliche Mondbedeutung annehmen dürfen.“ 3 5 Während der Held der 
Mondentrückungssage oft ein Mann ist, ist das Gestirn selbst gewöhnlich 
die Mutter. Daß die ersten Grundlagen des Mondkultes in einer weiblichen 
Idealbildung zu suchen sind, haben wir ja bereits hervor gehoben. Dann wird 
diese Grundlage vornehmlich im Sinne des Kastrationskomplexes vom Manne 
weiterentwickelt. Nun ist aber noch ein Umstand wichtig. Die Weiter¬ 
entwicklung eines weiblichen Kultes setzt doch eine gewisse psychosexueile 
Konstitution beim Manne voraus und dementsprechend finden wir, daß in 
Nordamerika der Mond überall als Symbol der Homosexualität erscheint. 6 

1) Haase, loc. cit. 201. — Frischbier: Hexenspruch und Zauberbann. 1870. 100. 

Volksmann: Mondglaube aus Dithmarschen Urquell. 1890. 186. 18. 1891. 176. 

2) P. G. van der Wolk: Das „Tri-theon“ der alten Inder. Imago. VII. 413. 

5) C. G. Dubois: The Religion of the Luiseno Indians of Southern California. 
Univ. Cal. Publ. XIII. 1908. 164. 

4) W. E. Roth: An Inquiry into the Animism and Folklore of the Guiana Indians 
XXX. Report. 1915. 258. 

5) W. H. Roscher: Über Selene und Verwandtes. 1890. 159. — Vgl. W. Grube: 
Religion und Kultus der Chinesen. 1910. 168. 

6) Vgl. das Material in meiner Arbeit „Das Selbst“. Imago. VII. 490. In den 
Diebstahlssagen steht der Mond an Stelle des Gewissens; dies würde etwa einer 
mütterlichen Ich-Idealbildung entsprechen. — Vgl. E. Jones: Der Ursprung und 
Aufbau des Über-Ichs. Int. Zschr. f. PsA. XII. 255. Mond als Anus, Flecken als 
Exkremente. (J. H. Hutton: Some Astronomical Beliefs in Assam. Folklore. 1925. 116) 
deuten auf den Zusammenhang zwischen Analerotik, Homosexualität und Kastrations¬ 
komplex, 












Mondmytliologie und Mondreligion 


Auch von weiblicher Seite sind die Grenzen zwischen Mutteridentifizierung 
und Mutterobjektliebe schwankend, wie denn auch unsere nordasiatischen 
Varianten in der Einstellung des Mädchens zur Mutter als Verfolgerin einen 
entschieden paranoiden Mechanismus zeigen. 1 

Während die weiblichen Mondgestalten als Mütter ganz unverkennbar 
sind, zeigen die männlichen weniger deutliche Spuren der Vaterbedeutung. 
Sie sind mehr auf der phallischen Stufe, es fehlt ihnen die volle genitale 
Objektbesetzung und von der Ichseite die Vateridentifizierung. Wir ver¬ 
muten, daß der Urvater sich mehr in den Sonnen- und Himmelsgöttern 
der primitiven Mythenwelt spiegelt. 


1) Var. 12—20. Vgl. den Fall bei Sadger: Über Nachtwandeln und Mondsucht- 
1 9 1 4* 2 7* 








„TotemmaU eines fünfemlialtjälirigen KnaLen 

Von 

Hans Zulliger 

Ittigen bei Bern 

Ein Knabe meines Dorfes hat sich als Fünfeinhalb)ähriger den Über¬ 
namen „Güggelimetzger “ (Hahnenmetzger) erworben. Darauf ist er noch 
heute sehr stolz. Von seinen Geschwistern und Kameraden ist er mehr 
gefürchtet als geliebt. Er besitzt unter ihnen immer eine Führerrolle, 
trotzdem er (oder weil er!) eigensinnig, jähzornig, starrköpfig und oft grob 
und gewalttätig mit ihnen ist. Der Vorfall, der ihm seinen Übernamen 
einbrachte, wurde mir seinerzeit unmittelbar von seiner Schwester berichtet, 
nun auch von ihm selber, er ist unterdessen dreizehnjährig geworden. Die 
Berichte decken sich; der Knabe erzählt seine Tat wie ein Renommierstück. 

An einem Mittag hatten zu Hause Vater und Mutter einen Streit. Die 
Eltern sind ungebildet und besitzen eine zahlreiche Kinderschar; die Familie 
lebt in ärmlichen Verhältnissen in einem kleinen Häuschen weit abseits 
des Dorfes. Der Vater ist Fabriksarbeiter und Kleinbauer. Bei dem Streite 
ging es tätlich zu. Die Folge davon war, daß beide Eltern aus dem Hause 
fortliefen. Unser Bub, Alfred, war vor Zorn und Verzweiflung über den 
elterlichen Streit hinter das Haus gelaufen, wo er sich auf den Dangel- 
stock setzte und laut weinte. Auf einmal sah er den Hahn, wie er eine 
Henne „traktierte 1 . Bei diesem Anblick wurde es ihm plötzlich „rot vor 
den Augen“, ohne Überlegung sprang er auf, packte den Hahn, lief mit 
ihm in den Holzschopf und schlug ihm mit dem Gertei den Kopf weg. 
Den Kopf warf er in die Jauchegrube. Dann rupfte er den Hahn, schnitt 
ihm die Beine ab und die Eingeweide heraus und ließ die Abfälle dem 
Kopfe nachwandern. Die Blutspuren wurden mit Sägemehl zugedeckt; 
hierauf lief der Knabe in die Küche. Dort machte er Feuer, setzte den 
ehernen Topf auf den Herd, tat Fett darein und briet den Hahn. Die 








»TotemmaLle eines fünfeinltalhjälirigen Knaken 


53 9 


Federn wurden verbrannt. Als der Hahn gebraten war, begann Alfred mit 
dem Mahle und zwang seine jüngeren Geschwister, auch davon zu essen. 
Die Knochen wurden auf den Mist geworfen. Im Verlaufe des Nachmittags 
kamen die Eltern wieder zurück, die Tat wurde bald ruchbar und Alfred 
erhielt tüchtig Prügel. Aber auch die Mitesser wurden bestraft. Alfred 
hatte trotz der Strafe eine so große Freude an dem Heldenstück, daß er 
überall davon erzählte, wobei ihm seine Geschwister, auch die älteren, die 
während des Geschehnisses in der Schule weilten, kräftig mithalfen. Die 
Dorfkinder hatten nicht geringe Freude an Alfreds Tat, und sie nannten 
ihn von dieser Zeit an den „Güggelimetzger“. 

Auf meine Frage, warum die Geschwister mitzuessen gezwungen worden 
seien, führte der Knabe zwei Gründe an: sie sollten mitschuldig sein, 
damit sie ihn vor den Eltern nicht verrieten, und er hätte den Hahn nicht 
allein zu verspeisen vermocht. Der Braten mußte jedoch vor dem Erscheinen 
der Eltern verschwunden sein. 

Es scheint nicht zweifelhaft, daß Alfred den Hahn mit dem Vater 
identifizierte. Der Vater „traktierte“ die Mutter, gleich wie der Hahn die 
Henne: das steigert die Wut des zuschauenden Kindes so sehr, daß es seine 
Tat ohne Nachdenken vollbringt. Die Reflexion setzt erst mit dem Zudecken 
der Blutspuren wieder ein und besonders dann, als die Geschwister zum 
Mitessen gezwungen werden. Alfred betrachtet offenbar den Geschlechtsakt 
als sadistische Überwältigung, wie er sie bei den Hühnern beobachtet. Das 
Abschlagen des Kopfes dürfte als Kastration aufgefaßt werden. Zugleich 
bedeutet sie die Tötung der Vater-Imago (Totemtier) nach dem Vorbilde 
der Kastration. In Erinnerung an die Abhandlungen Freuds, Reiks und 
Röheims über die rituellen Handlungen der Primitiven könnten wir den 
Hahn als Totemtier und die Mahlzeit als Totemmahl betrachten. Warum 
müssen die Geschwister mithelfen, hätten die Reste des Hahnes nicht 
begraben, wie Kopf und Gedärme ins Jaucheloch und wie die Knochen 
auf den Mist geworfen werden können? Alfred beantwortet uns die Frage 
selber. Nicht darum mußten die Geschwister mitessen, damit der ganze 
Hahn beseitigt werden konnte, sondern weil sie dadurch zu Mitschuldigen 
gemacht wurden. Auch bei den Wilden müssen alle Stammesbrüder am 
Totemmahl teilnehmen, dort wie hier handelt es sich um das Mitschuldig¬ 
werden am Tode des Totemtieres; Strafe und Sühne für die Untat trifft 
dann alle, der Strafende ist gezwungen, die Strafe gleichsam auf viele zu 
verteilen und der einzelne zu Strafende wird weniger stark getroffen; zu¬ 
gleich verbündet und verbrüdert die gemeinsam erlittene Strafe und Sühne 







Zulliger: »Totemmalil« eines fünfeinhalbjährigen Knaben 


die Bestraften. Bei den Primitiven ist es der Medizinmann, Priester oder 
Häuptling, der die Tötung des Totemtieres übernimmt, jedenfalls immer 
ein Führer. Alfred wird durch die Tötung des Tieres zum Führer und 
Anführer der Geschwister und Schulkameraden. Ursprünglich, bevor bei 
den Primitiven die Führerschaft erblicher Familienbesitz geworden war 
mag der Vorgang des Führerwerdens in gleicher Weise geschehen sein 
wie bei Alfred: der zukünftige Häuptling tötete das Totemtier (beziehungs- 
weise den Vater oder den alten Häuptling). Geschwister und Schulkameraden 
reds verhalten sich in ihrer Gefühlseinstellung zu ihrem Führer genau 
so, wie die Wilden zu ihren Häuptlingen und Priestern: sie trauen ihnen 
Kräfte zu, die ihnen gefährlich werden könnten; so sehr sie den Schutz 
der Mächtigen und Kühnen verlangen, ebensosehr fürchten sie deren Macht 
und Aggression. Die Gefühlsbeziehung ist sehr ambivalent, mehr oder weniger 
unbewußte Wünsche nach Beseitigung des Mächtigen werden wach, und 
die Primitiven schützen sich gegen die Machtpersonen (Vatersurrogate) und 
gegen ihre Beseitigungswünsche durch das Tabu. In unserem Falle besteht 
die Parallele dann, daß Alfred von Geschwistern und Kameraden mit Ge¬ 
fühlen von Furcht und Unheimlichkeit empfunden wird. Ihm selber gefällt 
es in seiner Rolle, durch seine unberechenbare Affektivität verstärkt er 
seine Macht und erhält den Respekt der Genossen aufrecht. 

Die Primitiven übernehmen den Namen des Totemtieres als Stammes¬ 
name, sie nennen sich die Adler, Tiger, Wölfe usw. Es ist nicht uninter¬ 
essant, daß Alfred den Namen des getöteten Tieres auch übernimmt; er 
wird ihm zwar von seinen Genossen angehängt, aber er ist stolz darauf 

wahrend sich doch in der Regel die Kinder gegen Übernamen erbittert 
wehren. 

Der Knabe wirft Kopf, Beine und Eingeweide des Hahnes ins Jaucheloch 
die Knochen auf den Mist. Vielleicht faßt er sie in ihrer Beziehung als 
” falle und zum Teil als Penissymbole nach der Gleichung Penis = Kot 
als anale Dinge auf und darum befördert er sie dorthin, wo die Exkremente 
hinkommen. Mit Sicherheit läßt es sich jedoch nicht behaupten. — Daß 
er die Knochen nicht auch in das Jaucheloch wirft, sondern auf den Mist, 
wo sie gesehen werden können, sieht wie eine Fehlhandlung aus: er möchte 
och seine Tat verbergen, indem er ihre Spuren vertilgt. Die Fehlhandlung 
steht im Dienste einer Selbstverrat- und Sühnetendenz, sein Unbewußtes 
verlangt nach Strafe und Erleichterung des Gewissens. 











REFERATE 


Rolieim, Dr. G.: Australian Totemism. A Psyclioanalytic Study in 

Antliropology. London, G. Allen & XJnwin. 1925. 

Roheims großes Werk über den australischen Totemismus bedeutet den 
Anfang einer neuen Phase in der Entwicklung der pychoanalytischen Ethno¬ 
logie. Bis zur adlerletzten Zeit stand die psychoanalytische Erforschung ethno¬ 
logischer Probleme auf der Stufe der Symptomanalyse und so viel sie auch zum 
Verständnis der verschiedensten völkerpsychologischen Fragen beitrug, ließ sie 
doch Lücken offen, die sich mit der Entwicklung unserer Wissenschaft immer 
fühlbarer machten. Die Analyse einzelner Kulturelemente gab uns kein Bild 
davon, was diese für die Libidoökonomie innerhalb des betreffenden Volkes 
bedeuten. Wir konnten uns z. B. wundern, wie es kommt, daß bei primitiven 
Völkern so manches klar zutage zu liegen scheint, was in der Analyse des 
Einzelnen mühselig erschlossen werden muß, mit anderen Worten: Wir ge¬ 
wannen keinen Eindruck davon, welchen Grad der Verdrängung irgendein 
Symbol vertritt. Röheim macht nun in seinem Buche den Fortschritt von der 
Symptomanalyse, die sich in der Deutung einzelner Symbole erschöpft, zur 
Analyse der gesamten Persönlichkeit, d. h. einer Kultureinheit im Rahmen der 
historischen Realität. Neben den sehr interessanten Ergebnissen ist dies sicher 
eines der Hauptverdienste des Röheim sehen Buches und muß wegen seiner 
allgemeinen Bedeutung besonders hervorgehoben werden. 

Freuds grundlegendes Werk „Totem und Tabu 44 deckte die allgemeine Be¬ 
deutung des Ödipus-Komplexes für die Entstehung und Entwicklung der mensch¬ 
lichen Kultur auf und ergaben so den Gesichtspunkt, der das psychologische Ver¬ 
ständnis der menschlichen Einrichtungen überhaupt erst ermöglicht. Es ist nur 
selbstverständlich, daß anfänglich die Bestätigung der Allgemeingültigkeit der 
Freudschen Funde das Hauptinteresse auf sich zog, doch mit der Entwick¬ 
lung der Psychoanalyse eröffneten sich neue Möglichkeiten der Anwendung, 
denen der Autor gerecht zu werden sucht. Da wir bereits darüber belehrt 
wurden, daß die Menschen, welcher Rasse oder Kultur sie auch angehören, 
in ihrem Wesen, d. h. in ihrem Ubio, einander gleich sind, konnten wir uns 
wieder dem Problem der Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern zu¬ 
wenden. Die Frage nach dem Woher dieser Unterschiede, wie es z. B. zu¬ 
geht, daß das eine Volk im Zustand der Primitivität stecken bleibt, während 
ein anderes Herrscher über die ganze Erde wird, ist ja das, was uns eigent- 





Referate 


6^2 


lieh interessiert. Es ist das Problem der psychischen Entwicklung oder, man 
könnte auch sagen, der psychischen Gesundheit oder Neurose der Völker 
Diesem Problem können wir nur dann beikommen, wenn wir individuell 
arbeiten und ein Volk wie eine Person analysieren. Dies ist eben das, was 
im eigentlichen Sinne des Wortes eine Anwendung der Psychoanalyse auf die 
Ethnologie genannt werden kann. In dieser Richtung liegt ein Arbeitsgebiet 
vor uns, das nicht so bald erschöpft sein wird. Wir müssen auch nicht be¬ 
fürchten, daß bei einer Einzelanalyse der Kulturen der Blick für das All¬ 
gemeine verloren geht. Es ist ja gerade ein Vorzug der psychoanalytischen 
Betrachtungsweise, daß sie die Dinge intensiv erfaßt und eben deshalb auch 
an Hand verhältnismäßig weniger Daten weitgehende Schlüsse zu ziehen 
erlaubt. Ein Vorzug der Individualanalyse der Völker ist, daß sie es ermög¬ 
licht, der Vieldeutigkeit des Materials Herr zu werden. Ein Haupteinwand 
gegen die psychoanalytische Deutung ethnologischer Phänomene — auch von 
analytischer Seite — ist ja, daß wir keine Gewähr für die tatsächliche Richtig¬ 
keit unserer Deutungen haben, daß wir also über bloße Wahrscheinlichkeiten 
nicht hinauskommen; es gäbe für uns kein Forum, welches die unrichtigen 
Deutungen zurück wiese, wie das bei dem behandelnden Analytiker der Fall 
ist, für den die Veränderungen im Verhalten des Analysanden die Tragweite 
seiner Deutungen anzeigen. Diese ohne Zweifel bestehende Unsicherheit wird 
in hohem Grade vermindert, wenn es z. B. gelingt, die wichtigsten Elemente 
einer Kultur auf eine bestimmte Erledigungsform des Ödipus-Komplexes zurück¬ 
zuführen, wodurch eine ziemlich sichere Grundlage für die Deutungen im 
Einzelnen gewonnen wird. Und umgekehrt: Hat man die ubiu Grundlage einer 
Kultur im allgemeinen herausgefunden, so spielen bei der weiteren Arbeit die 
Detailerscheinungen dieselbe kontrollierende Rolle, wie die Symptome im 
Einzelfalle. Sie dienen als Wegweiser, je nachdem sie zwanglos im Sinne 
der Hauptidee gedeutet werden können, oder Umgestaltung und Vertiefung 
fordern. Auf diese Weise stützen die einzelnen Deutungen einander gegen¬ 
seitig und führen zu einem Ergebnis, dessen organische Einheitlichkeit zugleich 
für seine Richtigkeit bürgt. 

Diesen Erfordernissen wird Röheims Buch in vollstem Maße gerecht. 
Verfasser teilt den australischen Totemismus in zwei Gruppen, und zwar in 
einen negativen und einen positiven Totemismus. Der negative Totemis¬ 
mus ist bei den Stämmen des Südens und Ostens, der positive bei den Zentral¬ 
stämmen und den Völkern des Nordens und Westens verbreitet. Diese 
zwei Arten des Totemismus entsprechen zwei aufeinanderfolgenden Einwande- 
rungswellen, durch welche Australien besiedelt wurde. Die ersten Einwanderer 
waren die Stämme mit dem negativen Totemismus, die in der Folge durch 
die aus dem Norden hereinbrechenden Stämme mit positivem Totemismus 
nach Süden gedrängt wurden. Der psychologische Unterschied zwischen den 
beiden Formen des Totemismus liegt in der Verschiedenheit der Libidositua¬ 
tion, die sie verkörpern. Der negative Totemismus, der in erster Reihe durch 
eine Anzahl Verbote charakterisiert wird, ist als eine gelungene Verdrängung 
des Ödipus-Komplexes zu betrachten. Die Mythen und Zeremonien des posi- 













Referate 


5^3 


tiven Totemismus lassen sich hingegen als Wiederkehr verdrängter Elemente 
erklären. Letzterer Umstand macht diese Form des Totemismus zum geeignet¬ 
sten Ausgangspunkt der Erforschung der menschlichen Urgeschichte. 

Die drei wichtigsten Elemente der zentralaustralischen Kultur sind die 
Alcheringasagen, der konzeptionale Totemismus und die Intichiumariten. 

„Alcheringa“ bedeutet eigentlich „Traumzeit“. So wird jenes Zeitalter ge¬ 
nannt, in dem die Totemahnen lebten. Diese Traumzeit ist (ganz der 
Freud sehen Traumtheorie entsprechend) die Zeit der unbegrenzten Wunsch¬ 
erfüllung. Den Alcheringaahnen war alles erlaubt, was den heutigen Einge¬ 
borenen verboten ist. Die Helden der Alcheringasagen nähren sich von 
ihrem eigenen Totem und haben geschlechtlichen Verkehr mit den Frauen 
ihres Totems. Eine eingehende Analyse der Mythen, ergibt, daß die Alcheringa- 
helden eine Verdichtung der Vater-Imago und des Embryo sind. Das Nicht¬ 
vorhandensein der zwei grundlegenden totemistischen Tabus (Speise- und 
Heiratsverbot) zeigt schon allein, daß diese Überlieferungen Reste einer frühen 
infantilen Entwicklungsphase der Menschheit sind, in der die Verdrängungen noch 
nicht ihre ganze Kraft entfalteten. Die Analyse der Mythen läßt erkennen, 
daß die zwei Wunscherfüllungen, entsprechend der Annahme Freuds, sym¬ 
bolische Äquivalente der Befriedigung des Inzestwunsches sind, denn der Totem 
symbolisiert den Vater und die Totemgenossinnen sind Vertreter der Mutter- 
Imago. Die Mythen zeigen auch sonst infantile Züge. Die Alcheringaahnen 
besitzen die Allmacht der Gedanken. Sie erschaffen z. B. allerhand lebendige 
und leblose Dinge durch bloßes Denken oder Wollen. Und endlich enden alle 
diese Helden der Alcheringazeit ihre Wanderungen, indem sie „müde werden“ 
und in Erd- oder Wasserlöcher versinken. Dort hausen sie dann als unfertige 
Wesen mit roten Körpern, woraus leicht zu erraten ist, daß die unterirdischen 
Höhlen Uterussymbole und die darin wohnenden Ahnenseelen Vertreter des 
Embryos sind. An den Stellen, wo ein Totemahn in die Erde verschwand, 
erhebt sich der Nanjastein oder -bäum, der ebenso wie der ganze Ort 
Mutterbedeutung hat; auf die sonstige Bedeutung des Nanjasteins werden 
wir noch zurückkommen. Doch neben ihrer embryonalen Natur zeigen die 
Alcheringaahnen auch jene Züge, die ihnen als Vertretern der Vater-Imago zukom¬ 
men. Sie sind in erster Reihe der Urquell aller Fruchtbarkeit. Die Stellen, wo sie 
in die Erde versanken, werden zu Totemzentren. Hier hausen die ihren Körpern 
entströmenden Kinderseelen, die eigentlich Vervielfältigungen des betreffenden 
Totemahnen sind, und durch die Frauen des Stammes wiedergeboren werden. 
An diesen Stellen sind auch die Churingasteine zu finden, die den Körper 
der versunkenen Alcheringahelden symbolisieren und eine so bedeutsame 
Rolle in den totemistischen Fruchtbarkeitszeremonien (Intichiuma) und der 
Liebesmagie spielen. Als Kulturhelden sind die Alcheringaahnen sicherlich 
Vertreter jener Rolle, die der Vater im Leben des Individuums spielt; von 
diesem lernt ja das Kind alle notwendigen Fertigkeiten und die Stammesregeln, 
die es beobachten muß. Die Helden der Alcheringasagen stammen also aus 
jener Entwicklungsphase, wo bereits ein Teil des embryonalen Allmachtsgefühls 
aufgegeben und auf den Vater projiziert wird. Eine andere Wurzel der Ver- 








Referate 


S44 


dichtung von Vater Imago und Embryo ergibt sich aus der Analyse des kon 
zeptionalen Totemismus. 

Der sogenannte konzeptionale Totemismus wurde am vollkommensten bei 
den Arunta entwickelt. Bei diesem Volk ist das Wissen um den Zusammenhang 
zwischen Koitus und Geburt scheinbar nicht vorhanden. Jedes Kind wird vieh 
mehr als eine Reinkarnation irgendeines Totemahnen betrachtet und erbt daher 
seinen Totem nicht von seinen Eltern, sondern gehört zu dem Totem jenes 

ns, der in ihm auferstanden ist. Die Schwängerung der Frauen stellen sich 
diese Leute folgendermaßen vor: Wenn eine Frau in die Nähe eines Totem- 
zentrums (Oknamkilla) kommt, so schlüpft eines der dort hausenden Kinder¬ 
geister (Ratapa) in ihren Leib. Will man feststellen, zu welchem Totem das 
Kind gehört, so fragt man die Mutter, wo sie die ersten Kindsbewegungen 
verspürt hat. Dieser Moment wird nämlich als der Zeitpunkt der Schwängerung 
betrachtet. Das Kind entstammt dem zunächstliegenden Totemzentrum. Wenn 
der Geist in die Mutter eingeht, läßt er ein Churinga fallen, der dann an dem 
von der Frau beschriebenen Ort, vom väterlichen oder mütterlichen Großvater 
gefunden (d. h. verfertigt) wird. Dieses Churinga ist das mystische Bindeglied 
zwischen dem Individuum und dem Totemahn. Es symbolisiert nämlich einer¬ 
seits den väterlichen Penis, anderseits das Kind selbst. 

Roheim zeigt, daß das Nichtwissen der Eingeborenen ein Werk der Ver¬ 
drängung ist, da wir in den, mit der Geburt verknüpften Vorstellungen, den 
Koitus in symbolischer Form immer wieder antreffen. Sehr lehrreich ist in 
dieser Beziehung die Erzählung einer Aruntafrau, namens Kaltia. Nach ihrer 
Darstellung träumte zuerst der Ehemann, daß einer der Totemahnen naht 
Da dies die Geburt eines Kindes bedeutet, träumt der Mann eigentlich von 
der Schwangerschaft der Frau. „Am nächsten Tag sieht die Frau, als sie bei 
Arkoronnja an dem Felsen vorübergeht, in den sich der Alcheringaahn ver¬ 
wandelt hat, einen Mann stehn, der mit einer Kopfbinde geschmückt ist und 
ein „Namatuna (eine Art Schwirrholz) in der Hand hält. Der Eidechsenahn 
wirft das Namatuna an die Hüfte der Frau und verschwindet in die Erde: 
das Namatuna geht in den Leib der Kaltia ein und nimmt menschliche Form an. 
Das Namatuna und der Eidechsenahn sind in Wirklichkeit ein und dasselbe; 
das nämliche wird hier zweimal erzählt: Erst wird die Frau durch ein Symbol 
— die Muttererde — vertreten, dann der Mann durch das Schwirrholz (Namatuna). 

lr sahen, daß das Verschwinden des Totemahns eigentlich sein Verschwinden 
in Kaltias Leib bedeutet: So finden wir unsere Ansicht glänzend bestätigt, daß 
nämlich das Versinken in die Erde, mit der die Totemahnen ihre Laufbahn 
beenden, eine Regression in den Mutterleib bedeutet.“ Das Namatuna ist eine 
einere Form des Churinga und wird insbesondere bei der Liebesmagie benützt; 
es ist daher in noch höherem Grade Penissymbol als das Churinga, bei welchem 
nach Ansicht des Autors mehr die Embryobedeutung im Vordergrund steht. 
(Daß jedoch auch den Churingasteinen Penisbedeutung zukommt, erhellt aus 
ihrer Rolle bei den Intichiumazeremonien, auf die wir noch zurückkommen.) 
Daß das Werfen des Namatuna ein symbolischer Koitus ist, braucht nach 
alldem kaum besonders hervorgehoben zu werden. Wir merken nun, was die 



















Referate 


5^5 


Verdichtung von Vater (Penis) und Embryo, die uns an den Totemahnen auffiel, 
zu bedeuten hat. Diese Verdichtung dient dem Zweck der Verdrängung der 
Rolle des Vaters bei der Zeugung. Der auf Grundlage dieser Verdrängung ent¬ 
standene Reinkamationsglaube ermöglicht die Befriedigung der aus dem Ödipus- 
Komplex stammenden inzestuösen Wünsche in der Phantasie. (Darin liegt ihr 
libidinöser Wert.) Nach diesem Glauben lebte jeder Arunta irgend einmal in 
der Alcheringa — d. h. Traumzeit, als man noch keine Verdrängung kannte, 
und jeder Wunsch erfüllbar war; er selbst war es, der jene wunderbaren 
Taten vollbrachte, von denen die Alcheringasagen erzählen, und was das Wichtigste 
ist: Er ist selbst jener Totemahn, der in seine Mutter einging und durch sie 
wiedergeboren wurde. Jeder Arunta ist also sein eigener Vater und so ist jede 
Geburt die Folge eines Inzestes. Für die Frauen ermöglicht dieselbe Theorie 
die Befriedigung der auf den Vater (Totemahn) und den Sohn bezüglichen 
inzestuösen Phantasien. 

Der Ödipus-Komplex, der, wie wir sehen, diesem ganzen Vorstellungskomplex 
zugrunde liegt, kommt am vollständigsten in den Intichiumazeremonien zum 
Ausdruck. Der Zweck dieser Zeremonien ist die Vermehrung und Erhaltung 
der Totemgattung. Die Intichiumariten werden in der allgemeinen Brunstperiode 
der Natur an den Totemzentren gefeiert, die bereits im Zusammenhang mit 
den Alcheringamythen als Uterussymbole erkannt wurden. Die wichtigsten 
Elemente des Ritus sind: das Blutlassen (das Blut läßt man auf den Nanjastein 
fließen), das Werfen oder Reiben der Churingasteine an den Nanjafelsen, und 
das zeremonielle Essen von dem zu vermehrenden Totem. Autor zeigt, daß 
das Intichiuma eigentlich ein symbolischer Koitus ist, dessen Zweck ursprünglich 
die Vermehrung des menschlichen Geschlechtes war und erst später mit dem 
Stärkerwerden der Verdrängung auf die Totemtiere und -pflanzen übertragen 
wurde. Der Nanjafelsen ist ein Muttersymbol, das Blut, das auf ihn fließt, 
vertritt das Sperma, die Koitussymbolik des Werfens ist uns schon aus den mit 
der Empfängnis verknüpften Vorstellungen bekannt. Durch die Zeremonie wird 
das Herausströmen der Tierkindergeister aus dem Felsen verursacht, die dann 
in die Muttertiere eingehn und so zu Fleisch und Blut werden. Die heutigen 
Intichiumariten sind jedoch anerkannter weise Wiederholungen jener heiligen 
Zeremonien, durch die die Totemahnen Kindergeister entstehen ließen. Die 
anthropischen Totems der Zentralstämme und die Kindertotems des Westens 
können sicherlich als Überbleibsel des ursprünglichen Ritus betrachtet werden, 
bevor die Verschiebung auf eine Tier- oder Pflanzenart vor sich ging. Röheim 
nimmt an, daß in den Intichiumariten die Erinnerung an eine menschliche 
Brunstperiode bewahrt worden ist. Den Keim des heutigen Rituale bilden die 
Reste jener aus der Brunstperiode stammenden Bewegungen, die zur Einleitung 
und Steigerung der sexuellen Aktivität dienten. Mit der Deutung der Intichiuma¬ 
riten als symbolischer Koitus ist jedoch ihre ubiv Bedeutung beiweitem nicht 
erschöpft. Durch den Vergleich mit den Initiations- und Trauerzeremonien 
dieser Völker gelingt es, die Spuren der Urhordenkämpfe in den Intichiuma¬ 
riten nachzuweisen. Der Stein, auf den das Blut gespritzt und an den die 
Churingasteine geworfen werden, ist nicht bloß Muttersymbol, sondern ein- 


Iraago XIII 


35 







5<6 


Referate 


gestandenerweise der zu Stein gewordene Ahnherr selbst. Der Blutritus ist 
also ein Zeichen der Selbstbestrafung wegen der Schuldigkeit am Tode des 
Urvaters. Anderseits ist derselbe Ritus die neurotisch gehemmte, in die Form 
von Selbstbestrafung gekleidete Wiederholung des Urverbrechens. Der ganze 
Intichiumaritus kann als das Trauerfest des getöteten Totemahnen aufgefaßt 
werden, wobei das Bündnis zwischen den Alten und Jungen durch das Ein¬ 
gestehn der gemeinsamen Schuld gefestigt wird. Das Fließen des Blutes auf 
das Grab des Alcheringaahnen repräsentiert auch die homoerotischen Gefühle 
und ist ein Mittel der Vereinigung der Totemmitglieder untereinander und mit 
dem Totemahn. Da der Prototyp jeder Vereinigung die libidinöse Vereinigung 
(Koitus) ist, kann die letztere Deutung mit der Koitussymbolik des Blutspritzens 
in Einklang gebracht werden. In dem Ritus des Bewerfens des Felsens, der 
den Totemahn repräsentiert, und dem Zerstreuen der abgespaltenen Stücke, 
dessen bewußter Zweck eben die Vermehrung des Totems ist, kommt der 
Geist der Auflehnung weit unverhüllter zum Ausdruck. Es besteht ein formaler 
Unterschied zwischen diesem und dem Blutritus. Das Öffnen der Adern ist 
eine Reaktionsbildung, der Streich, der den Felsen trifft, eine direkte Wieder¬ 
holung der sündigen Tat. Auch das Schlagen des Felsens kann mit Elementen 
der Trauerzeremonie (ein Speer wird auf den Toten geschleudert) in Parallele 
gestellt werden. Die Mitglieder des Totemclan wiederholen also die Urtat an 
eben dem Fest, das zu seinen Ehren gefeiert wird. Beide Riten sind Verdich¬ 
tungen des Vatermordes und des durch ihn ermöglichten Koitus. Denn da für 
das Ubiv jeder Koitus ein Inzest ist, kann er nur nach dem Tode des Urvaters 
erfolgen. Dieselbe Verquickung erotischer Elemente mit den Repräsentanten 
des aus dem Ödipus-Komplex stammenden Vater-Sohn-Konflikts finden wir auch 
in den Initiationsriten, nur daß in den Intichiumazeremonien in erster Reihe 
die Fortpflanzungsfunktion, in den Initiationsriten hingegen der Ödipus-Konflikt 
repräsentiert wird. Die Wurzel dieser Parallele liegt in der Tatsache, daß das 
Intichiuma ein Überbleibsel der Brunstperiode ist, welche aber sicher zugleich 
auch die Zeit des Kampfes zwischen den Alten und Jungen um den Besitz 
der Weiber war. Genauer gesprochen, enthalten diese Riten nicht die Reste 
der Brunstperiode; was in ihnen erhalten blieb, ist vielmehr der Prozeß, der 
am Ende zum Verschwinden der menschlichen Brunstperiode geführt hat. 
Roh ei m nimmt nach dem Beispiel der Biologen an, daß das Verschwinden 
einer besonderen Brunstperiode durch die Besserung der Lebensumstände ver¬ 
ursacht wurde, er meint, daß dieses Verschwinden durch die Vermengung der 
beiden Perioden des tierischen Lebens zustande gebracht wurde, und zwar so, 
daß die Spur der nichtsexuellen Periode als die Fähigkeit zur Verdrängung 
erhalten blieb, durch die sich das Ich gegen die ständigen Ansprüche der 
Libido verwahrt. Ja, Röheim geht noch weiter und meint, es wäre nicht 
unmöglich, daß das Realitätsprinzip als solches im Anoestrum, das Lustprinzip 
hingegen im Oestrum wurzelt. Nach der Vermengung der beiden Perioden 
hätte also das Realitätsprinzip (mit Hilfe der Verdrängung) erst die Herrschaft 
über das Lustprinzip erlangt. 

Daß bei der Bildung der Intichiumazeremonie die Verdrängung am Werke 












Referate 


Sj? 


war, ist klar, fehlt doch in dieser Zeremonie, die in erster Reihe die Fort¬ 
pflanzungsfunktion veranschaulicht, fast gänzlich das weibliche Element, bis auf 
die schwach angedeutete Muttersymbolik des Ortes der Zeremonie. Unter dem 
Druck derselben Verdrängung wurde statt des wirklichen Zwecks (Menschen¬ 
vermehrung) ein fiktiver (Vermehrung des Totems) gesetzt, die magische Wirk¬ 
samkeit des Ritus stammt also aus seiner ursprünglichen realen Wirksamkeit. 

Die Zeremonie ist eine Kompromißbildung zwischen Libido und Verdrängung. 
Diese kommt im Ritus des Totemessens sehr klar zum Ausdruck. Dieser 
Ritus ist zweizeitig, zum Teil erfolgt er am Anfang der Zeremonie als notwendige 
Vorstufe der Vermehrungsriten, zum Teil nach diesen, wodurch der Totem 
für die Mitglieder der übrigen Totemclans freigegeben wird. Das Totemessen 
vor dem Intichiuma bedeutet die Auflehnung gegen den Vater: Ohne Rebellion 
kein Koitus, das Essen von dem Totem ist jedoch nur in ganz beschränktem 
Grade erlaubt, denn wäre dies nicht der Fall, so hätten wir keine Verdrängung 
und statt des symbolischen (Intichiuma), könnte der reale Koitus erfolgen. 

In dem Ritual des Totemessens ist auch die Ablösung des Sohn-Vater-, 
durch den Vater-Sohn-Konflikt sehr deutlich zu erkennen: Nachdem der Vater 
in dem ersten Totemessen besiegt wird, werden die Rollen vertauscht und die 
Vatereinstellung des Ödipus-Komplexes gewinnt die Oberhand; das Mitglied 
des Totemclans wird nämlich in der weiteren Folge der Zeremonie der (magische) 
Vater des Totem und verspeist im zweiten Totemessen den Sohn, den er selbst 
gezeugt hat. Da das Rituale zumeist von den alten Männern gefeiert wird, ist 
es zu verstehen, warum das Totemessen nach dem Intichiuma weit allgemeiner 
erhalten blieb. 

Die Hauptphasen in der Entwicklung der Intichiumazeremonien werden von 
Röheim folgenderweise aufgestellt: Die erste Phase repräsentieren jene aus 
der Brunstzeit stammenden Bewegungselemente, deren Ziel die Aufstachelung 
des sexuellen Verlangens war. In dieser Phase wurzelt jenes Gefühl der Einheit 
mit der gesamten Natur, welches die Grundlage der späteren „Projektion ins 
Tierische“ bildet. In der zweiten Phase ist das Intichiuma noch immer mit 
der Brunstperiode identisch, doch die Spuren des Konflikts zwischen alt und 
jung lassen sich bereits in der Zeremonie erkennen. Die dritte Phase re¬ 
präsentiert das, was wir den Anfang der menschlichen und das Ende der vor¬ 
menschlichen Entwicklung nennen können. Mit dem Sieg der Brüderhorde 
verbessern sich die Lebensumstände, die Brunstzeit verschwindet und die Ver¬ 
drängung tritt auf. Da die Objektwahl noch völlig von dem Inzestwunsch 
beherrscht wird, richtet sich die Verdränguug vornehmlich gegen diesen. Das 
weibliche Element wird ausgeschaltet, die einleitende Phase der den Koitus 
vorbereitenden Bewegungsserie bleibt unabhängig erhalten, doch der ursprüng¬ 
liche Zweck wird von einem symbolischen abgelöst. Die Zeremonie ist nunmehr 
vorwiegend Sache der Männer, das verdrängte inzestuöse Begehren kommt 
jedoch wieder zum Ausdruck in der Mutterbedeutung des Festplatzes. Die 
vierte Phase steht unter dem Zeichen der Vergeltungsangst und die Ent¬ 
wicklung der Zeremonie geht Hand in Hand mit der Ausgestaltung des Zwei- 
Phratrien-Systems und der Initiationsriten vor sich. (Die beiden letzteren 


35 ’ 






648 


Referate 


Einrichtungen sind nämlich in erster Linie Erledigungsformen des Vater-Sohn- 
Konflikts, sie bezwecken unter dem Drucke der Vergeltungsangst die Aussöhnung 
der Generationen teils durch Überlassung eines Teils der Frauen [exogame 
Phratrien], teils durch Abreagierung der feindseligen Gelüste [Initiationsriten].) 
Diese Phase wird insbesondere durch die „Freigabe“-Bedeutung des Totem¬ 
essens repräsentiert. Nach der Theorie des Verfassers erfolgte die Freigabe des 
Totemtieres ursprünglich an die jüngeren Mitglieder desselben Totems (doch 
nur in beschränktem Grade), mit dem Fortschritt der Verdrängung wird der 
Totem an die Mitglieder der anderen Phratrie freigegeben, d. h. die neurotische 
Eßhemmung wird in den Dienst der homosexuellen Libido (Altruismus) gestellt. 
Durch die Zeremonie wird fortan das Totemtier zum Nutzen der anderen 
Stammeshälfte „gemacht“. Die fünfte Phase ist durch fortschreitende Des¬ 
integration und Integration gekennzeichnet. Die totemistischen Phratrien spalten 
sich in die heutigen Totemclans und diese wieder vereinigen sich zu einem 
Stamm. Jeder Clan hat seine eigene Intichiumazeremonie und entsprechenden 
Mythus; der Totem wird für die Mitglieder der übrigen Totemclans freigegeben. 

Zusammenfassend können wir also sagen: Die Intichiumazeremonien sind 
der Rest einer menschlichen Brunstperiode und enthalten gleichzeitig die Er¬ 
innerung an die Urhordenaufstände, die sich in diesen Perioden abgespielt 
haben mußten. Diese auf rein psychologischem Wege gefundene Lösung wird 
durch die geschichtliche Forschung aufs schlagendste bestätigt. Die Arunta- 
traditionen deuten auf den nördlichen Ursprung dieser Stämme und wirklich 
können die Elemente der zentralaustralischen Kultur bis nach Neu-Guinea 
verfolgt werden. Mit dieser zentralaustralischen Kultur id est positivem Totem¬ 
ismus ist eine spezifische Steinkultur verbunden, die in der rituellen Bedeutung 
heiliger Steine (Churinga, Nanja usw.) zum Ausdruck kommt. (P. W. Schmidt.) 
In Anbetracht des nördlichen Ursprungs der Arunta kann angenommen werden, 
daß wir es hier mit einem Zweig jener großen Wanderung zu tun haben, 
die nach den Untersuchungen W. J. Perrys die Steinkultur in die pazifische 
Inselwelt eingeführt hat. Den Ausgangspunkt dieser Steinkultur fand Perry 
in Indonesien. In Indonesien finden wir den Kultus rundlicher Steine, die 
mit den Gräbern in Beziehung stehn und auf Wanderungen anstatt der Leiche 
mitgenommen werden. Es ist wohl möglich, daß dieser Brauch auch bei den 
Arunta bestand, und daß ihre heiligen Steine (Churinga) direkte Abkömmlinge 
dieser die Leiche symbolisierenden Steine sind. Die Alcheringaahnen sind also 
wirklich Tote und der Nanjastein ihr Gedenkstein, der auf dem Grab auf¬ 
geschichtet wurde. In den Mythen wird der Anteil der Menschen an der 
Entstehung dieser Steinhaufen mit Stillschweigen übergangen, mußte also aus 
irgendeinem Grunde verdrängt werden. Die indonesischen sogenannten Straf¬ 
märchen geben uns hier eine Handhabe: Ihre Analyse ergibt, daß der Held 
wegen eines Inzestvergehens gesteinigt wird. In den entsprechenden australischen 
Versteinerungsmythen fehlt das Strafmotiv, im Einklang mit dem positiven 
Aspekt dieser ganzen Kultur wird hier der Inzest des Helden als etwas Na¬ 
türliches betrachtet und der Steinhaufen soll nur mehr der Verherrlichung des 
Toten dienen. Daß wir es aber auch hier mit der Steinigung des Helden zu 







5 49 


Referate 


tun haben, erhellt aus der Analyse der entsprechenden Elemente der Intichiuma- 
zeremonie. Nach der Annahme des Autors war der geworfene Stein jene Waffe, 
die für die jungen Männer, die sich sowohl aus physischen wie psychischen 
Gründen dem Hordenführer nicht zu nähern trauten, am geeignetsten zur Be¬ 
siegung dieses mächtigen Gegners. Der Steinhaufen, unter dem er seinen Tod 
fand, sollte zugleich auch seine Rückkehr verhindern (Verdrängung des Schuld¬ 
gefühls), doch derselbe Stein wird in der Folge zum Abbild des Toten, ja 
infolge der Wiederkehr des Verdrängten wird er das Symbol des lebenspendenden 
Penis und verrät so den sexuellen Ursprung der Urhordenkämpfe. Alles, was 
dem lebendigen Urvater geraubt wurde, wird dem Toten wieder geschenkt. 
Sein toter Körper, über den die Jungen zu den Frauen der Horde gelangten, 
wird zur Quelle alles Lebens. Die lebenden Männer entsagen, wie wir wissen, 
ihrer Vaterrolle, sie schwängern nicht ihre Frauen, sondern vermehren Tiere 
durch ein magisches Zeremoniell. Durch diese fiktive Selbstentäußerung entlasten 
sie ihr Schuldgefühl. Auch die Theorien, die den Ursprung der Kinder erklären 
sollen, sind wiederum nichts anderes als die Wiederkehr des Verdrängten, da 
ja im Sinne des konzeptionalen Totemismus alle Frauen dem Ahnengeist ge¬ 
hören, er befruchtet sie, er allein wird durch sie wiedergeboren, sein Sperma 
füllt die Felsen und Steine und kehrt in den Frauen wieder als Embryo. 

Wir sehen also, daß der vom Autor sogenannte positive Totemismus ein 
einheitliches Ganzes bildet, in dem jedes Element der gleichen Wunscherfüllungs¬ 
tendenz dient. Alcheringamythen, konzeptionaler Totemismus und Intichiuma 
sind auf folgenden zwei unbewußten Gleichungen aufgebaut: Vater (Penis) = 
Kind (Embryo) und Tod = Rückkehr in den Mutterleib. Mit Hilfe dieser beiden 
Gleichungen wurde das aus dem Vaterkomplex stammende Schuldbewußtsein 
verarbeitet und die erstaunlich weitgehende symbolische Wunscherfüllung er¬ 
möglicht. 

Diese Übersicht gibt bei weitem kein erschöpfendes Bild von dem Gedanken- 
und Materialreichtum des Roh eimsehen Buches, das in bezug auf die ver¬ 
schiedensten hieher gehörigen Probleme (Zweiklassensystem, vater- und mutter¬ 
rechtliche Organisation, Trauerzeremonien usw.) viel Interessantes enthält. 
Hoffentlich werden die Ergebnisse des Buches dazu beitragen, der psycho¬ 
analytischen Ethnologie jene Anerkennung zu verschaffen, die sie unseres 

Erachtens mit Recht beansprucht. t -wt* m t \ 

r Alice -Dalint (.Budapest) 

Müller-Braunschweig, Carl: Das Verhältnis der Psyclioanalyse 

zu Ethifc, Religion und iSeelsorge. Arzt und iSeelsorge. Heft II. 

Verlag Friedrich Bahn, 1927. 

Innerhalb einer Schriftenreihe, welche die Beziehungen zwischen Arzt und 
Seelsorge behandelt und sich schon in zwei vorausgehenden Heften kritisch 
mit der Analyse auseinandergesetzt hat, erhält nun Müller-Braunschweig 
als einer ihrer Vertreter das Wort. Der Versuch, das Verhältnis der Psycho¬ 
analyse zu Ethik, Religion und Seelsorge auf beschränktem Raum Lesern 
klarzustellen, welche mit der theoretischen und praktischen Psychoanalyse nicht 










55o 


Referate 


vertraut sind, ist sicherlich ein Wagnis. Man kann nicht behaupten, daß es 
dem Autor restlos gelungen ist. Uneingeschränktes Lob verdient nur die trotz 
ihrer Kürze besonders klare Darstellung der Libidotheorie, der analytischen 
Prozesse, der Entwicklungsgeschichte und der Funktionen des Über-Ichs und des 
Gewissens. Hier tritt wie in anderen Arbeiten die besondere Begabung Müller- 
Braunschweigs zur scharfen, begrifflichen Fassung und Darstellung kompli¬ 
zierter Relationen hervor. Unser Widerspruch erwacht aber sofort, wenn der 
Autor beteuert, daß die Psychoanalyse, weit entfernt, den religiösen Glauben 
zu schädigen, geeignet ist, „ihn in seiner Ursprünglichkeit und Unantastbarkeit 
nur noch reiner hervortreten zu lassen und daß die Psychoanalyse, trotzdem 
sie als Wissenschaft sich auf einer ganz anderen Ebene befindet als die Reli¬ 
gion, sozusagen latent ganz entsprechend ihrer Richtung auf die Gesamtpersön¬ 
lichkeit die Linien der religiösen Struktur in sich enthält oder vorsichtiger: 
in der Form und Ausdrucksweise einer empirischen Wissenschaft gleichsam 
widerspiegelt“ (S. 6). Müller-Braunschweig legt das persönliche Bekennt¬ 
nis ab, daß ihm „das Gebilde der Psychoanalyse als ein religiöses imponiert“; 
findet, daß der Glaube an den Sieg des Guten Religion und Psychoanalyse 
gemeinsam sei, und behauptet charakteristisch, religiöse Züge in den Grund¬ 
haltungen der Psychoanalyse wiederzuerkennen. Der Referent legt das persön¬ 
liche Bekenntnis ab, daß ihm das Gebilde der Psychoanalyse unter anderem 
auch deshalb imponiert, weil es sich von aller Religion femgehalten hat wie 
jede Wissenschaft, neigt eher zu dem Glauben an den Sieg des Schlechten — 
doch was ist gut und was schlecht? — und behauptet, daß sich die Haltung 
der Psychoanalyse prinzipiell von der des Religiösen unterscheidet. Über das 
Verhältnis von Wissenschaft und Religion äußert Müller-Braunschweig 
bedeutsam klingende Anschauungen, welche ihre Vereinbarkeit, ja ihre gegen¬ 
seitige Hilfe zu bezeichnen scheinen. Wir meinen, jener Unterschied, daß 
Religion heteronom, Wissenschaft autonom ist, schließt jede Verwandtschaft 
der angedeuteten Art aus. Tk. Reit (Wien) 

Religionspsyctologie. Veröffentlickungen des Wiener Religions- 

psychologischen Forschungsinstitutes. Herausgegeten von Karl Bett. 

Heft x, 2, 3. Wilhelm Braumüller, ^W^ien und Leipzig 19 26, 1927. 

In diesen Heften, so verspricht der Herausgeber, soll keine bestimmte Einzel¬ 
erscheinung der Religion, sondern ihre ganze Fülle in Geschichte und Gegenwart 
behandelt werden, und zwar nach den Methoden und mit den Fragestellungen, 
welche moderne Wissenschaft kennt. Die Mannigfaltigkeit ist sicher da, es fehlt 
fast jede psychologische Methode. Was über die Erscheinungen der Religion 
gesagt wird, sind zum großen Teile kluge Beobachtungen und mehr oder minder 
zutreffende Verallgemeinerungen, fast durchwegs vom Standpunkt der Bewußtseins¬ 
psychologie. Im übrigen sicherlich gut gemeinte Programme; Menukarten statt 
Speisen. Dort, wo Tatsächliches ohne psychologische Zutat geboten wird, ergibt 
sich eine Menge interessanten psychologischen Materials. Wir heben etwa die 
Aufsätze „Die Religion der Industriearbeiter“ vonFrühauf, „The Pueblo Indian 






Referate 


55i 


Religion von Sizer, „Arbeiter und Religion in England" von Küssner, „Kind 
und Religion“ von Fel den usw. hervor. Der Wert von Beobachtungen und 
Anamnesen, wie der, die Professor Beth in einigen Arbeiten bietet, soll keines¬ 
wegs bestritten werden, aber diese Arbeiten stellen nichts anderes als ein — 
keineswegs ausreichendes — Substrat für die analytische Forschung dar; sie geben 
nur die Darstellung des Materials, nicht seine Bearbeitung. Es wäre etwa so, 
wie wenn sich ein Bildhauer einen Marmorblock kommen ließe, den er ober¬ 
flächlich behaut, und den er als vollendetes Werk den überraschten Beschauern 
anbietet. 

Der Psychoanalyse wird gelegentlich gedacht, aber wo dies geschieht, ge¬ 
schieht es in so mißverständlicher oder oberflächlicher Art, daß Vergessen als 
der mildere Weg erscheint. Wunderle rühmt Jung, weil bei ihm das „Ge¬ 
schlechtliche der Libido“ nicht in der „aufdringlichen Art wie etwa bei Freud“ 
erscheint; J. H. Schultz läßt nachlässig ein Wort über die „jetzt so viel dis¬ 
kutierte und leider von nicht ärztlicher Seite so viel mißbrauchte Psychoanalyse“ 
fallen, Vorbrodt erwähnt auch Freud, wenn er die Individualpsychologie als 
den alleinseligmachenden Weg für die zukünftige Religionspsychologie empfiehlt, 
Spunda, der die Religiosität des Paracelsus untersucht, findet, daß dieser un¬ 
möglich seine Sexualität verdrängt habe, weil gerade seine theologischen Schriften 
„so absolut sexuell indifferent, so ganz fern von aller schwülen Mystik“ sind. 
Beth unterscheidet, von einer individuellen Beobachtung ausgehend, einen 
„Josephkomplex“, bringt Analogien aus Märchen, Folklore und Sagen, und geht 
zu einer kurzen Untersuchung des Wesens des Traumes über. Dabei kommt 
die Rolle der somatischen Reize im Traume zur Sprache, die während des 
Schlafes in der Psyche reproduziert werden und einen Bestandteil des Traumes 
bilden. „Wie das geschieht, hat noch niemand erforschen können“ (Heft II, 
S. 182). Gegenüber Freud kann es sich Beth „nicht versagen, zu behaupten, 
daß es viele Träume gibt, die einen solchen Erreger aus den Ereignissen des 
letzten Tages nicht aufweisen“. In seinen weiteren Ausführungen und Bedenken 
gegen die Freud sehe Traumtheorie spielt das endogene Ethos eine große Rolle; 
sie sind im allgemeinen beherrscht von einer mit bemerkenswerter Energie 
festgehaltenen Verwechslung von latentem und manifestem Trauminhalt, aus 
der sich eine ganze Reihe von unberechtigten Einwänden und Argumenten 
erklärt. Der einzige analytische Aufsatz in den drei Heften stammt von Schilder; 
er behandelt „Religionspsychologische Probleme in psychiatrischer Beleuchtung“. 
Leider ist die Arbeit zu kurz und zu allgemein gehalten, als daß sie dem mit 
der Psychoanalyse nicht vertrauten Leser eine Vorstellung vom Wert und von 
der Wichtigkeit der analytischen Methode in ihrer Anwendung auf die Religions¬ 
psychologie geben könnte. 

Der Gesamteindruck ist, daß hier mit unzulänglichen Mitteln große Ziele 
verfolgt werden; der Erfolg bleibt das Vordringen zu den Tiefen der Ober- 

flSChe ’ Tk Reit (Wien) 












Nachtrag zur Arbeit über d 
JSÄ-oses des jMiicbelangelo 


en 


Von 

>Sigm. Freud 

Dieser „ Nachtrag “ ist der soeben im 
1 . Heft der neuen „Revue Franqaise de Psych- 
analyse “ erschienenen französischen Über¬ 
setzung der Arbeit über den „Moses“ hinzu- 
gefügt worden. (Anm. der Redaktion.) 

Mehrere Jahre nach dem Erscheinen meiner Arbeit über den Moses des 
Michelangelo, die 1914 in der Zeitschrift „Imago“ — ohne Nennung 
meines Namens — abgedruckt wurde, geriet durch die Güte von E. Jones 
eine Nummer des „Burlington Magazine for Connoisseurs“ in meine Hand 
(Nr. CCXVII, Vol. XXXVIII., April 1921), durch welche mein Interesse 
von neuem auf die vorgeschlagene Deutung der Statue gelenkt werden mußte. 
In dieser Nummer findet sich ein kurzer Artikel von H. P. Mitchell über 
zwei Bronzen des zwölften Jahrhunderts, gegenwärtig im Ashmolean Museum, 
Oxford, die einem hervorragenden Künstler jener Zeit, Nicholas von 
Verdun, zugeschrieben werden. Von diesem Manne sind noch andere Werke 
in Tournay, Arras und Klosterneuburg bei Wien erhalten; als sein Meister¬ 
werk gilt der Schrein der heiligen drei Könige in Köln. 

Eine der beiden von Mitchel] gewürdigten Statuetten ist nun ein Moses 
(über 23 Zentimeter hoch), über jeden Zweifel gekennzeichnet durch die 
ihm beigegebenen Gesetzestafeln. Auch dieser Moses ist sitzend dargestellt, 
von einem faltigen Mantel umhüllt, sein Gesicht zeigt einen leidenschaft¬ 
lich bewegten, vielleicht bekümmerten Ausdruck und seine rechte Hand 
umgreift den langen Kinnbart und preßt dessen Strähne zwischen Hohl¬ 
hand und Daumen wie in einer Zange zusammen, führt also dieselbe 
Bewegung aus, die in Figur 2 meiner Abhandlung als Vorstufe jener 






‘ 


Beilage zu »Imago«, Bel. XIII (1927) 

[Zu „Nachtrag zur Arbeit über den Moses 
des Michelangelo “ von Sigm. Freud] 













Nachtrag zur Arbeit über den Moses des Michelangelo 


553 


Stellung supponiert wird, in welcher wir jetzt den Moses des Michelangelo 
erstarrt sehen. 

Ein Blick auf die beistehende Abbildung läßt den Hauptunterschied der 
beiden, durch mehr als drei Jahrhunderte getrennten Darstellungen erkennen. 
Der Moses des lothringischen Künstlers hält die Tafeln mit seiner linken 
Hand bei ihrem oberen Rand und stützt sie auf sein Knie; überträgt man 
die Tafeln auf die andere Seite und vertraut sie dem rechten Arm an, so 
hat man die Ausgangssituation für den Moses des Michelangelo hergestellt. 
Wenn meine Auffassung der Geste des In-den-Bart-Greifens zulässig ist, 
so gibt uns der Moses aus dem Jahre 1180 einen Moment aus dem Sturm 
der Leidenschaften wieder, die Statue in S. Pietro in vincoli aber die 
Ruhe nach dem Sturme. 

Ich glaube, daß der hier mitgeteilte Fund die Wahrscheinlichkeit der 
Deutung erhöht, die ich in meiner Arbeit 1914 versucht habe. Vielleicht 
ist es einem Kunstkenner möglich, die zeitliche Kluft zwischen dem Moses 
des Nicholas von Verdun und dem des Meisters der italienischen Renaissance 
durch den Nachweis von Mosestypen aus der Zwischenzeit auszufüllen. 


























IMAGO, Band XIII (1927), Heft 2 /S/j („Glaube und Brauch“) 


(Ausgegeben Ende August 1927) 

Seite 

C. D. Daly: Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex. . 45 

Ernest Jones: Das Mutterrecht und die sexuelle Unwissenheit der Wilden.igg 

Erich Fromm: Der Sabbath. ... .223 

Frieda Fromm-Reichmann: Das jüdische Speiseritual.235 

Theodor Reik: Dogma und Zwangsidee .247 

Mary Chadwick: Die Gott-Phantasie bei Kindern.. 583 

Hermann Rorschach (f): Zwei schweizerische Sektenstifter.395 

Geza Roheim: Mondmythologie und Mondreligion.442 

Hans Zulliger: „Totemmahl“ eines fünfeinhalb]ährigen Knaben.538 

REFERATE 

Roheim: Australian Totemism (A. Bdlint) 541. — Müller-Braunschweig: Das Verhältnis der 
Psychoanalyse zu Ethik, Religion und Seelsorge (Reik) 549. — Beth: Religionspsychologie (Reik) 550. 

Sigm. Freud: Nachtrag zur Arbeit über den Moses des Michelangelo.552 


Mit diesem Heft schließt der Jahrgang 192 j (Bl XIII) 


Diesem Hefte sind Prospekte des Verlags C. L. Hirschfeld in Leipzig (über,. Völkerpsycho¬ 
logische Charakterstudien“), des Verlags Felix Meiner in Leipzig (über Schriften von 
Richard Müller-Freienfels) u. der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“ beigelegt 


Einbanddecken zum Band 1927 (XIII) der „Imago“ können vom Verlag 
bezogen werden: in Halbleinen AI. 2'So, in Halbleder AI. 5 .- 


Alle redaktionellen Zuschriften und iSendungen bitte zu richten an: 

Y ) C ✓ 1 X> 1 ✓ bis i 5 . Oktober 1927: Berlin W i 5 , MeierottostraJ^e 4 

7 ab 1 5 . Oktober 1927: Berlin-Grunewald, Ilmenauer 5 l 

alle geschäftlichen Zuschriften und ^Sendungen an: 

Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien VII, Andreasgasse 3 


• iStra^e 


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