XTV. Band
192
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Heft 4
IMAGO
Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse
auf die d^Tatur-r und Geisteswissenschaften
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Sigm. Freud
Red igiert von £ändor Rado, Hanns Sachs und A.. J. iStorfer
Hartmann: Psychoanalyse und \Vertproblem / Lewin: Zur Ge¬
schichte der Gewissenspsyckologie / Zulliger: „Roicktsckäggeteii. a
ut er einen jMlaskenbrauch / Langer: Zur Funktion der jüdischen
Türpfostenrolle / Simonson: über das Verhältnis von Raum und
Zeit zur Traumarbeit / Allendy: Psychoanalyse der Ahnungen /
Friedjung: Der kleine Politiker / Fenidiel: Die „lange Nase“ /
Albredit Sdiaejfer: Geschichte eines Traumes. Tin Gespräch
Internationaler Psychoanalytischer \^rlag
\Vien I, Börsegasse 11
I M A G O
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE NATUR- UND GEISTES WISSENSCHAFTEN
XIV. Band 1928 Heft 4
Psyclioanalyse und Wertpro klein
Fortrag, als Einleitung zu einer Diskussion , gehalten in der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung am 21. März 1928
Von
H ei nz H artinan 11
Wien
Wenn wir versuchen, uns über die mannigfaltigen Fragen Klarheit zu
verschaffen, die sich aus der gegenseitigen Beziehung der Psychoanalyse zu
den Wertproblemen ergeben, so rechtfertigt sich dieser Versuch zunächst
durch das Bedürfnis nach einer theoretischen Besinnung auf die ana¬
lytischen Grundpositionen. Es ist nicht lediglich ein subjektives Bedürfnis,
das in dieser Denkrichtung zum Ausdruck kommt, vielmehr stehen darüber
hinaus eminente sachliche Notwendigkeiten in Frage. Dazu kommt, daß
die Psychoanalyse bisher gerade diesem wichtigen Gedankenkreis nur sehr
selten ihr Interesse zugewendet hat. Die Analyse steht durch ihren Gegen¬
stand mitten drin in Wertungsproblemen. Anders und mehr als bei irgend¬
einer anderen Wissenschaft führt jeder Schritt auf analytischem Gebiet in
Wertprobleme hinein. Die menschlichen Trieb äußer ungen und Interessen
sind ja ihr vornehmstes Arbeitsfeld, und daß ein Zusammenhang zwischen
Trieb- und Willensvorgängen und individuellen Wertsetzungen besteht,
dürfen wir vorweg voraussetzen — wie immer sich uns sonst das Verhältnis
von Psychoanalyse und Werturteil gestalten mag; es kommt hinzu, daß
die Psychoanalyse als Therapie ja auch in das praktische Handeln hinein¬
reicht. Sie tut das aber auch in stets wachsendem Maße in ihrer Anwen¬
dung auf die Pädagogik und wird es vermutlich über kurz oder lang in
politischen, psychotechnischen und anderen Anwendungen tun — daher
Iraago XIV.
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
28
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
irlem^ Hartmann
422
hat es für uns auch eine, wie mir scheint, sehr hoch einzuschatzende
praktische Bedeutung, uns klar zu werden, in welche Beziehungen denn
die analytische Empirie zum Handeln treten kann. Schließlich können uns
diese Überlegungen, wie Sie sehen werden, auch etwas über die geistes¬
wissenschaftlichen Möglichkeiten der Analyse lehren. Ich kann die
Fragen, um die es sich dabei handelt, hier und heute natürlich nur ganz
skizzenhaft andeuten. Es wird wesentlich meine Aufgabe sein, die Probleme
zu umreißen und sie Ihrer Stellungnahme zugänglich zu machen. Dabei
sollen uns von den Wertproblemen vor allem jene interessieren, die sich
aus der Beziehung zu ethischen Fragestellungen ergeben.
Psychoanalyse ist eine empirische Wissenschaft, und zwar ist sie, nach
ihrer Methode klassifiziert, Naturwissenschaft vom Seelischen. Sie ist weiters
als eine wesentlich genetisch verfahrende Disziplin zu kennzeichnen. In
letzter Linie tendiert sie auf eine allgemeine Theorie des menschlichen
Seelenlebens. Stellen Sie sich nun vor, die Analyse hätte zu ihren reichen
bisherigen Ei'gebnissen noch viele andere hinzugefügt: sie könnte dann von
jedem einzelnen seelischen Zustand oder Vorgang die Vorstufen angeben r
aus denen er sich entwickelt hat, ja sie konnte auch — bis zu einem
gewissen Grade wenigstens — menschliche Entwicklungswege prognosti¬
zieren. Nun, manche meinen, daß sich aus einer so vollkommenen Kenntnis
der seelischen Gesetzlichkeiten doch auch ganz neue Zielsetzungen für
die Pädagogik, für die Ethik ergeben müßten. Aber so liegen die Dinge
nicht — und damit kommen wir zu dem ersten der uns heute inter¬
essierenden Probleme, zur Frage nämlich nach der Beziehung von ana¬
lytischer Empirie und Werturteil.
Machen wir uns zunächst klar: wenn wir als Therapeuten oder Päd¬
agogen bewußt handeln, sind wir von Wertungen geleitet. Wir erstreben
ein Gut oder die Verwirklichung eines Wertes, und wo unser Handeln
Mittel zum Zweck ist, wird eben dieser Zweck von uns als wertvoll (im
weitesten Sinne) beurteilt. In solcher Weise aber müssen wir als Therapeuten
wie als Pädagogen unaufhörlich Stellung nehmen. Nun hat man gesagt:
wenn uns die Analyse lehrt, die Heilung eines Menschen sei von einer
bestimmten Voraussetzung abhängig, so ergebe sich daraus mit Notwen¬
digkeit die Forderung, diese Voraussetzung zu schaffen. Oder: die Analyse
hat uns die ungeheure Macht des Sexualtriebs und im besonderen seine
Bedeutung für die seelische Gesundheit kennen gelehrt; also, hört man
oft, dürfe die Sexualmoral die konventionelle Eindämmung des Trieblebens
nicht länger dulden. Nach diesem Schema sind nun alle Ableitungs versuche
Psychoanalyse und Wertproblem
4*3
von ethischen Stellungnahmen aus analytischen Ergebnissen gebaut. Sie
verstehen aber, daß eine solche „Ableitung“ im Grunde ganz unzulässig
ist. Denn das Werturteil, das hier angeblich aus der analytischen Empirie
hergeleitet wird, ist ja tatsächlich als geltend schon vorausgesetzt. Also
z. B. in unserem ersten Fall, daß Gesundheit etwas unbedingt Erstrebens¬
wertes ist, dem andere Werte untergeordnet werden müssen. Ich glaube,
der Sachverhalt geht schon aus diesem Beispiel ganz klar hervor: Wert¬
urteile oder Postulate für das praktische Verhalten können aus Tatsachen -
feststellungen niemals abgeleitet werden. Wo es den Anschein haben mag,
daß eine solche Ableitung stattfindet, liegt tatsächlich die, wie man meint,
zu „beweisende“ Wertung, Forderung usw. immer schon als Voraussetzung
zugrunde. Natürlich sind die Dinge nicht immer so einfach wie in unserem
Beispiel aus der Therapie. Geben wir ein anderes: wir wissen, daß dem infan¬
tilen Schau- und Wißtrieb eine genetische Beziehung zum wissenschaft¬
lichen Denken einerseits, zur Zwangsneurose anderseits zukommt.
Nehmen wir einmal an, wir hätten als Pädagogen die Möglichkeit, ein
Kind in der Richtung auf Triebbefriedigung, auf Verdrängung oder auf
Sublimierung zu beeinflussen. Was tun wir, wenn wir uns für eine dieser
Möglichkeiten entscheiden? Wir entscheiden uns tatsächlich im Sinne einer
bestimmten Rangordnung der Werte, z. B. im Sinne einer höheren
Wertung der Gesundheit, oder der wissenschaftlichen Leistung gegenüber
anderen möglichen, z. B. im engeren Sinne pädagogischen Zielsetzungen (oder
umgekehrt) — aber eine solche Höherwertung, die übrigens empirisch
immer subjektiv sein muß, kann sich durch keinerlei analytische Erfahrung
welcher Art immer legitimieren. Genau so liegt die Sache bei der Frage
der infantilen Onanie. Setzen wir einmal ihre Wirkungen als restlos bekannt
voraus; aber die Frage, ob wir sie verbieten oder gestatten sollen, läßt
sich aus der analytischen Empirie niemals entscheiden. Tatsächlich wurden
ja auch von Analytikern beide Standpunkte vertreten und es wäre ganz
aussichtslos, sie analytisch „beweisen“ zu wollen. Ebensowenig darf sich
natürlich die Forderung nach Polygamie oder nach Monogamie, nach
dieser oder jener politischen oder religiösen Einstellung auf analytische
Ergebnisse berufen. Ob man beim Kinde die Spaltung in Gewissen und
Ich fördern oder hindern soll, ist nur auf Grund einer wertenden Stellung¬
nahme zu entscheiden, nicht aber aus der analytischen Erfahrung zu be¬
antworten; ebenso die Frage, ob ein ethischer Erziehungserfolg, der nur
durch eine neurotische Entwicklung erkauft werden kann, damit zu teuer
bezahlt ist oder nicht. Wo entgegengesetzte Forderungen vertreten werden
28*
Heins Hartmann
4M
und die Analyse zur Entscheidung zu Hilfe gerufen wird, kann es sich
wenn eine solche Diskussion einen Sinn haben soll, immer nur darum
handeln, daß bestimmte Werturteile von beiden Seiten vorausgesetzt werden
— also etwa, im Falle Polygamie oder Monogamie, Gesundheitswerte oder
bestimmte soziale Zustände, die positiv oder negativ bewertet werden _
und daß nur die technischen Wege kontrovers sind, die zu diesen Zu-*
ständen hinführen. In bezug auf solche technische Mittel kann die Analyse
natürlich grundsätzlich eine Entscheidung bringen. Zweitens kann eine
solche Diskussion, was ich hier nur nebenbei anmerken will, — vor allem
Max Weber hat darauf hingewiesen, — den Vorteil bringen, daß die Gegner
sich ihrer letzten Wertstandpunkte klarer bewußt werden. In bezug auf die
Feststellung solcher „technischen Mittel“ haben wir der Analyse für Therapie,
Pädagogik und andere Gebiete mitmenschlicher Einflußnahmen sehr be¬
deutende Fortschritte zu danken.
Die Meinung, es könne die Psychoanalyse uns letzte Zielrichtungen des
praktischen Handelns in Ethik, Pädagogik usw. geben, hat sich also als
irrig herausgestellt. Aus der analytischen Empirie führt kein berechtigter
Weg zur wertenden Stellungnahme. Allgemein: eine Wertordnung kann
niemals aus einer Seinsordnung abgeleitet oder auf ihr aufgebaut werden.
Für jeden, der sich diese Grenze einmal klar durchgedacht hat, sage ich
damit im Grunde etwas Selbstverständliches. Aber die Erfahrung lehrt, daß
dieser grundsätzlich so einfache Sachverhalt in allen Wissenschaften, deren
Gegenstand das menschliche Handeln ist, immer wieder außer acht gelassen
wird, sobald konkrete Fragestellungen in Rede stehen. Der liebende und
der hassende, der fürchtende und der hoffende, der kranke und der gesunde
Mensch kurz der lebendige Mensch, der Gegenstand der analytischen
Forschung ist, ist ja gleichzeitig der vornehmste Gegenstand des Wertens.
Gerade darum ist es bei der analytischen Arbeit praktisch so schwer, Tat¬
sachen und Wertungen reinlich zu sondern. Daß diese Sonderung aber
nicht nur ein Gebot intellektueller Redlichkeit erfüllt, daß vielmehr ihre
Vernachlässigung auch eine Fehlerquelle für unsere tatsächlichen Befunde
bedeutet, wird Ihnen ohne weiteres einleuchtend sein. Als Analytiker ver¬
stehen wir ja am besten, wie sehr offene oder versteckte Wertungen unser
Urteil über die Realität verfälschen können. Damit will ich es rechtfertigen,
wenn ich bei diesem Punkte etwas nachdrücklicher verweilt habe. Nur
anmerken möchte ich hier, daß die Geltung der Werturteile auf keine
Weise empirisch „bewiesen“ werden kann, — wir müssen sie als empirisch
subjektiv ansehen, — und damit sind als empirisch subjektiv auch alle
Psychoanalyse und WertproLlem
Forderungen gekennzeichnet, die letztlich in Werturteilen ihre Legitimation
haben; ich erinnere Sie wieder an unsere Beispiele aus Pädagogik und Therapie.
Eine Bedeutung für das Werturteil kann der Psychoanalyse natürlich
dort zukommen, wo es sich um die Klarstellung faktischer seelischer
Zusammenhänge handelt: Irrtümer über die zu wertenden seelischen Vor¬
gänge können korrigiert werden. Die Frage kann kontrovers sein, aus
welcher seelischen Situation heraus, aus welchen Motiven eine bestimmte
Handlung tatsächlich ausgeführt wird, und mit dem Seinsurteil über den
seelischen Tatbestand kann auch seine Bewertung variieren. Wir sehen
auch oft, daß ethische Systeme ihre Stütze — logisch mit Unrecht — in
einem „Seinsgebiet“ suchen, das dann gewöhnlich zum „Beweismittel“
gewisser ethischer Forderungen zurechtgebogen wird. So sucht Seneca,
dem die Sinnlichkeit verwerflich scheint, ein natürliches Leben aber
erstrebenswert, den Beweis zu erbringen, daß die Sinnlichkeit im Grunde
als Unnatur anzusehen sei. Wo sich also ein Wertsystem auf Urteile über
seelische Gegenstände stützt und die Tatsachen ad majorem gloriam dei
oder irgendeines anderen höchsten Gutes verfälscht werden, da kann die
Psychoanalyse richtigstellen — aber eben wieder nicht die Wertungen, sondern
die im Dienste bestimmter Wertsetzungen verfälschten Sachverhalte. Sie kann
zeigen, daß in die Auffassung von seelischen Vorgängen versteckte Wertungen
eingegangen sind (überall, in den vorwissenschaftlichen Eigenschaftsbezeich¬
nungen wie auch in der wissenschaftlichen Charakterologie findet man solche
versteckte Wertungen), und daß solche Werturteile, die sich hinter der Empirie
verstecken, für die psychologische Erkenntnis gefährlich werden können.
Solche versteckte Wertungen kann die Analyse weiter mit den systemati¬
schen Wertsetzungen des Individuums konfrontieren und damit dem Men¬
schen zu einer besseren Kenntnis seiner faktischen Wertungen verhelfen.
Auf demselben Wege kann der Nachweis gelingen, daß die konkreten Wert¬
schätzungen der Philosophen mit ihren formulierten Systemen nicht im Ein¬
klang stehen. Wendet man diese Methode gegen die eigene Person, so lernt
man, seine eigenen letzten Wertstandpunkte reiner zu erkennen und vielleicht
auch die eigene wissenschaftliche Arbeit von der unerlaubten Einmengung
normativer Gesichtspunkte freizuhalten. In Fällen wie den eben besprochenen
kann die analytische Empirie den konkreten Werturteilen (und auch ihrer
Systematik) Dienste erweisen, niemals aber so, daß diese aus jener abgeleitet
wären.
Bei bestimmten Typen ethischer Systeme, die man als „Zielethik“
zusammenfassen kann, fällt von dem bewerteten Ziel ein Abglanz auf die
Heilig Hartmann
vorbereitenden Stufen, auf die hinleitenden Wege, die „an sich“ relativ
wertindifferent sein können. Mit der besseren Einsicht in Struktur und
Dynamik dieser Wege — und diese Kenntnis kann uns, sofern es sich um
Seelisches handelt, die Analyse vermitteln — kann auch eine Verschiebung
der Wertakzente erfolgen. Aber hier stehen eben nur „abgeleitete“ Werte
in Frage (man hat auch von „technischen“ Werten gesprochen); die Setzung
der End werte, jener Werte also, welche diesen Systemen ihre eigentliche
Prägung geben, kann auch hier auf keinerlei Empirie aufgebaut werden.
Übrigens kann jene Möglichkeit im Rahmen aller anderen Typen von Wert¬
systemen, welche den Zweckcharakter der Werte leugnen, natürlich keine
Rolle spielen.
Sofern endlich das Nebeneinander gegensätzlicher Weltanschauungen nicht
nur ideelle Kämpfe bedeutet, sondern auch Machtkämpfe, versuchen ihre
Vertreter durch „Lustprämien“ oder durch „Verheißungen“ Anhänger an
sich zu ziehen. Jetzt wird die Überlegenheit der Weltanschauung nicht mehr
aus der Geltung der zugrundegelegten Werte gerechtfertigt, sondern durch
die vermeintlichen Folgen, die sich aus ihrer Annahme für ihre Bekenner
ergeben; also etwa: Seelenfrieden, Glück, Lebensgenuß usw. Auch auf diesem
Boden, der ja weit in politisches Gebiet hineinreicht, können :»naivtische
Erfahrungen, soweit die Verheißungen seelische Zusammenhänge betreffen,
grundsätzlich in die Wagschale fallen. Aber diese letzte Anwendung hat
uns weitab geführt von unserem eigentlichen Problem.
Einige Schwierigkeiten und Unsicherheiten der Wertung, von welchen
zumindest die ersten beiden gerade die erweiterte psychologische Erfahrung
der Analyse besonders deutlich hervortreten läßt, will ich kurz streifen. Zu¬
nächst möchte ich von dem „genetischen Irrtum“ sprechen. Man hat
gemeint, der Wert z. B. einer kulturellen Leistung werde vermindert, wenn
man nachweisen könne, daß sie sich genetisch aus Triebquellen — nehmen
wir an: sadistischen herleitet, die im allgemeinen als wertniedrig be¬
urteilt werden. Umgekehrt hat man gesagt: weil aus der Quelle des Sadismus
wertvolle kulturelle Leistungen gespeist werden, müssen wir unser Wert¬
urteil über diesen Partialtrieb revidieren. Beides ist unrichtig. Der Wert
der genetischen Komponenten entscheidet nicht über den Wert einer
Handlung, einer Leistung, eines Vorsatzes usw. Auch uns liegt dieser
Irrtum gelegentlich nahe: wir sagen oft (im übertragenen Sinn) von jemand,
er sei ein narzißtischer, ein sadistischer, ein zwangsneurotischer Mensch; und
wenn wir näher zuhören, können wir oft ganz deutlich aus solchen Äußerungen
ein Werturteil heraushören, das im Grunde einer genetischen Vorstufe gilt.
Psychoanalyse und ertproblem
4*7
die für uns als erklärende Analytiker von besonderer Bedeutung ist — aber dies
Werturteil wird nun eben fälschlich auf das Entwicklungsergebnis über¬
tragen. Dasselbe gilt von dem Urteil: diese Handlung sei „bloßer“ Masochis¬
mus oder „nichts anderes als“ Homosexualität usw. Es ist grundsätzlich un¬
möglich, das Werturteil über menschliches Verhalten aus den Werturteilen
über die genetischen Determinanten dieses Verhaltens herzuleiten.
Damit hängt nun eine andere Schwierigkeit zusammen; wir können sie
als die „topische“ bezeichnen. Wir wissen durch die Analyse, daß im Un¬
bewußten seelische Vorgänge ablaufen, die sehr weitgehend in Analogie zu
den bewußten gedacht werden dürfen und auch den bewußten analog be¬
zeichnet werden. Aber aus der Deutung der unbewußten Vorgänge nach
Analogie der bewußten darf nicht das Recht zu einer analogen Wertung
abgeleitet werden. Wenn wir das Unbewußte in unsere Wertungen ein¬
beziehen, so kann das nur unter der Voraussetzung geschehen, daß wir nicht
auf dem Standpunkt einer Ethik des bewußten „guten Willens“ stehen,
sondern Wert und Unwert der Gesamtpersönlichkeit beurteilen, und dann
bestimmt sich eben der Wert aus dem Teilhaben an der bewerteten „Eigen¬
schaft“. Damit ist schon gesagt, daß hier die strukturelle Stellung entscheidet,
und daß also die psychologische Analogisierung bewußter und unbewußter
Vorgänge nicht zu einer Analogsetzung ihrer Bewertung führen darf. Sie
verstehen, wie unberechtigt es wäre, Heuchelei und Verdrängung gleich zu
werten. Ganz deutlich tritt uns dieser „topische Irrtum“ bei Nietzsche
entgegen, der immer von der „Verlogenheit“ der „guten“ Menschen spricht,
wenn in Wirklichkeit die Verdrängung niedrig bewerteter Regungen in Frage
steht.
Der Wert einer Handlung kann also weder aus dem Wert ihrer geneti¬
schen Determinanten abgeleitet werden, noch auch kann die Bewertung
eines seelischen Vorgangs von der Topik absehen, d. h. es können unbewußte
Regungen nicht so bewertet werden, als ob sie bewußte wären und um¬
gekehrt. Ob ein Mensch mit einem bestimmten Mischungsverhältnis sadisti¬
scher, masochistischer, narzißtischer, oraler, analer Tendenzen, mit einem
bestimmten Verhältnis des Über-Ich zum Ich ein wertvoller Mensch ist
oder nicht — das läßt sich nicht durch Analogie wert ungen konstruieren;
unsere Aufgabe kann nur sein, zu untersuchen, welche analytische Struktur
denn der faktisch — unter Zugrundelegung irgendeines Wertsystems
positiv oder negativ bewertete Mensch zeigt. Hier eröffnet sich der Analyse
ein wichtiges Arbeitsfeld — nur die Analyse wird imstande sein, ihm ge¬
recht zu werden.
4s8
Heinz Hürtmann
Die dritte und letzte Schwierigkeit, die wir besprechen wollen, wollen
wir als die „therapeutische“ bezeichnen. Sie betrifft nicht nur die
Analyse, sondern jede Iherapie, die eingreifende seelische Veränderungen
zu setzen vermag, und besteht darin, daß der Therapeut immer geneigt
ist, die Gesundheitswerte als objektiv den anderen Wertgebieten über¬
geordnet zu beurteilen. Diese Überordnung ist ihm meist so selbstverständ¬
lich, daß ihm das Problem, das hier zugrunde liegt, nicht selten gar
nicht zum Bewußtsein kommt. Aber selbstverständlich ist diese Wertung
nicht; wir müssen sie nicht nur als subjektiv bezeichnen (wieder im
empirischen Sinn), sondern darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, daß
es Menschen, für welche die Gesundheitswerte tatsächlich die höchsten
bedeuten, gar nicht gibt - obgleich diese Möglichkeit theoretisch natürlich
nicht bestritten werden kann. Was hier vorliegt, ist eine Verwechslung
der berufsethischen mit den allgemeinethischen Normen. Für denjenigen,
der das Heilen zu seinem Beruf macht, gilt der „therapeutische Imperativ“;’
er wird von sich verlangen, daß er, soweit es in seiner Macht steht, in der
egel auch dann für die Gesundheitswerte Partei ergreife, wenn dadurch
andere Werte gefährdet werden können, die er selbst außerhalb der thera¬
peutischen Situation als übergeordnet einschätzen würde. Trotzdem werden
wir sagen müssen: es ist durchaus nicht so, daß der Therapeut für seine
Berufsimperative allgemeine höhere Geltung beanspruchen könnte oder
gar diese höhere Geltung als selbstverständlich voraussetzen dürfte. Wir
werden verlangen können, daß der Therapeut die Besonderheit seiner „Berufs¬
ethik von seinen „allgemein“ethischen Stellungnahmen zu scheiden ver¬
steht.
Nun mochten wir gerne wissen, welches denn die faktischen Wirkungen
der Analyse auf die Weltanschauungen unserer Zeit oder der Zukunft sein
mögen? Die Frage geht also jetzt nicht nach der logischen Beziehung
zwischen Empirie und Wertsystem — wir fragen vielmehr, welches der tat¬
sächliche, empirisch feststellbare Einfluß der Analyse ist oder sein kann.
Es versteht sich von selbst, daß diese beiden Problemkreise sich nicht
decken: so haben wir gehört, daß keinerlei logische Berechtigung besteht,
eine Wertung auf einer Tatsachenfeststellung aufzubauen (auf die Ausnahme
der „abgeleiteten“ Werte will ich an dieser Stelle nicht wieder eingehen);
trotzdem unterliegt es keinem Zweifel, daß es Menschen gibt, für welche
z. B. die Zurückführung einer geistigen Haltung etwa auf infantile Sexual¬
erlebnisse eine Entwertung dieser Haltung bedeutet — es steht für uns
fest, daß dies logisch mit Unrecht geschieht, aber daß tatsächlich solche
Psychoanalyse uud Wcrtproblem
4‘~9
Wirkungen Vorkommen, halte ich für unleugbar. Ich will dies Beispiel für
eine mögliche Einflußnahme der Psychoanalyse auf das weltanschauliche
Gebiet deshalb wählen, weil diese Wirkung die heute am meisten umstrittene
ist. Natürlich erschöpft sich damit die tatsächliche Bedeutung der Analyse
für die Weltanschauung unserer Zeit durchaus nicht; sie verändert, wie Sie
alle wissen, in der Regel die Stellung zum Triebleben, sie ist oder kann sein
eine Schule intellektueller Redlichkeit, eine Schule der Konsequenz, sie
kann zu einer Vereinheitlichung des Ich führen, zu einer schärferen Scheidung
von Phantasie und Realität usw. Von allen diesen Punkten her findet eine
formende Wirkung auf die Grundelemente der weltanschaulichen Stellung¬
nahme statt.
Bleiben wir also zunächst einmal bei dieser Möglichkeit einer ent¬
wertenden Wirkung. Nur im Vorübergehen will ich daran erinnern, daß
eine solche Wirkung jeder erklärenden Stellungnahme zum Erleben zu¬
kommen kann: so wird die physikalische und auch die physiologische Theorie
der Farbenempfindung von Gemütern einer bestimmt zu umschreibenden
Beschaffenheit als unberechtigter Eingriff in ihr Erleben beurteilt und als
Entwertung ihrer Empfindungen erlebt. Wir ahnen, daß die „Reduktion
der Qualitäten“ des Erlebens (unter Qualitäten verstehen wir hier: blau,
süß, aber auch angenehm, unheimlich usw.), ihre Zurückführung auf natur¬
gesetzliche Vorgänge immer zu dieser Wirkung führen kann. Wir verstehen
auch, daß ihr diese Bedeutung gerade auf seelischem Gebiet — bei ent¬
sprechend disponierten Menschen — in besonderem Maße zukommt, ins¬
besondere aber dann, wenn die erklärende Betrachtung des Erlebens uns,
wie bei der Psychoanalyse, zu Vorgängen führt, welche recht allgemein als
wertniedrig klassifiziert werden. Aber damit ist sicherlich nur eine Teil¬
ursache jener Wirkung der erklärenden analytischen Methode bezeichnet.
Für den Gesamtbereich dieser Wirkung hat Max Weber den Ausdruck
„Entzauberung der Welt“ gefunden. Nietzsche selbst, auf den man die
Anfänge dieser gemeinten „Entzauberung“ zurückzuführen pflegt, meint
übrigens: „Wer die Natur des Menschen, die Entstehung seines
Höchsten begriffen hat, schaudert vor dem Menschen und flieht
alles Handeln.“ Ich erinnere Sie kurz daran, daß Klages, Prinzhorn,
Seidel jenen Gedanken in den letzten Jahren in den Vordergrund eines
leidenschaftlichen Für und Wider gerückt haben; Seidel spricht auch, wie
Sie wissen, vom „Bewußtsein als Verhängnis“.
Ich will nun versuchen, dies Problem zunächst möglichst frei von jeder
wertenden Stellungnahme vor Ihnen auszubreiten. Daß der seelische Ablauf
Heins Hartmann
jöo
durch Bewußtwerden von früher Unbewußtem abgeändert werden kann, wird
gerade uns als Analytiker nicht wundernehmen. Wir sehen darin heute'nicht
mehr den theiapeutischen Faktor, doch aber ein sehr wesentliches Moment
in der analytischen Behandlung. Die Annahme aber, daß als notwendige
Folge einer durchgemachten Analyse beim Gesunden, um den es sich uns
hier ja handelt, eine wesentliche Beeinträchtigung der Erlebnisfähigkeit
und Erlebnisintensität eintreten sollte, scheint sich mir durch die Er¬
fahrung nicht zu bestätigen — und hier handelt es sich ja um ein Problem
das aus der Erfahrung und nicht deduktiv gelöst werden muß; beim Neurotiker
wissen wir sogar, daß gerade das Umgekehrte die Regel ist. Selbstverständ¬
lich ist es auch nicht so, wie Gegner der Analyse offenbar meinen, daß
der Analysierte sich bei jeder Handlung und bei jedem Gedanken aller
Determinanten dieser Handlung oder dieses Gedankens bis hinunter ins
zweite Lebensjahr bewußt wäre! Ich glaube aber, daß die Stellung zum
eigenen Erleben bei gewissen Menschen in der Tat nicht unwesentlich
verändert werden kann und auch die Erlebnisfärbung, welche diesem oder
jenem Teilgebiet des Lebens zukommt. Nach einem tiefen Wort von Schopen¬
hauer ist Voraussetzung der Objektivität die Fähigkeit, auf den zu er¬
kennenden Gegenstand den „Blick der Entfremdung“ zu werfen; soferne
Objektivität gegenüber seelischem Geschehen zu den Wirkungen der Analyse
gehört, werden wir auch diese veränderte Einstellung zu erwarten haben.
Und schließlich: wir sind gewohnt, ein Plus an „Realitätsangepaßtheit“
als Wirkung der Analyse zu buchen; wenn wir uns zwingen, die Wert¬
akzente auszuschalten, die den einzelnen Wörtern so deutlich anhaften, werden
wir erkennen, daß es im Grunde von hier bis zu dem Begriff der „Ent¬
zauberung“ nicht sehr weit ist. Der Gegensatz besteht hier doch wesent¬
lich in den Wertungen, denen die Tatsachen unterworfen werden. Aber
von diesen Wertungen wollen wir ja absehen lernen!
Extensiv bedeutender als die Wirkung der durchgeführten Analysen ist
natürlich die Wirkung, welche wir dem Eindringen analytischer Erkenntnisse
in das Bildungswissen unserer Tage zuschreiben müssen. Ob wir auch hier
von einem „ernüchternden“ Einfluß sprechen können, der die Realitäts¬
zuwendung, die „Entzauberung“, oder wie immer Sie das nennen wollen,
fordert, ist nicht sicher, aber es ist nicht unwahrscheinlich. Doch handelt
es sich hier nur um unsystemisierte Eindrücke, und ich glaube, es wäre
vorschnell, hier endgültig urteilen zu wollen. Wenn es aber richtig ist,
daß der Analyse eine derartige Bedeutung zukommt, so müssen wir sagen,
daß wir es liier offenbar nicht nur mit einem Einfluß der Analyse auf die
Psychoanalyse und Wertproblem
43i
Gegenwartskultur zu tun haben, daß vielmehr die Möglichkeit analyti¬
schen Denkens und die Verbreitung analytischen Wissens ihrerseits als
Ausdruck bestimmter kultureller Wandlungen anzusehen sind.
Wir haben versucht, uns eine Wirkung der Analyse unter möglichster
Ausschaltung von Werturteilen zu vergegenwärtigen. Wir fragen jetzt, wel¬
ches die Stellung des Analytikers zu diesem Problem sein kann, zur Frage
also nach dem Werte schaffenden (von einer anderen Seite gesehen:
Werte zerstörenden) Einfluß der Psychoanalyse. Man hat gesagt, für uns
als Analytiker könne die Annahme einer entwertenden Wirkung der Analyse
gar nicht in Frage kommen. Nun, das mag taktisch zweckmäßig oder un¬
zweckmäßig sein, wissenschaftlich ist es falsch. Hier stehen wir wieder
vor einer konkreten Anwendung unseres Problems: Psychoanalyse und Wert¬
urteil. Wer sich als Analytiker auf Empirie beschränkt, wer auf der anderen
Seite das Verhältnis von Tatsachenfeststellung und Werturteil richtig erfaßt
hat, kann zu jener Frage wissenschaftlich gar nicht positiv oder negativ
Stellung nehmen. Wenn wir die Veränderungen, die durch die Analyse
gesetzt werden, als wünschenswert, als wertvoll bezeichnen, tun wir das
eben nicht in unserer Eigenschaft als Vertreter der analytischen Wissen¬
schaft. Wir werden weiter erwarten müssen, daß die gemeinten postanalyti¬
schen Veränderungen von verschiedenen Wertstandpunkten aus verschieden
zu beurteilen sind und werden sagen müssen, daß wir, sofern wir als
analytische Empiriker verfahren, nicht befugt sein können, über, die objektive
Geltung oder Nichtgeltung der zugrunde gelegten Wertordnungen zu ent¬
scheiden. Es ist auch gesagt worden, eine Werte zerstörende — oder auf
der anderen Seite, Werte schaffende — Wirkung der Analyse sei wohl
möglich, aber nur dort, wo es sich um uneigentliche, um unechte oder
Schein werte handle. Wir verstehen, daß auch diese Aussage unter dem
Schein einer empirischen Feststellung tatsächlich Gegenstände beurteilt, für
die ein empirischer Beweis grundsätzlich unmöglich ist. Wir können also
als Analytiker wohl sagen, daß bestimmte Folgen der Analyse den faktisch
von einer großen Zahl von Menschen positiv (oder negativ) bewerteten
Verhaltensweisen zuzurechnen sind — wenn aber jemand urteilt, die Folgen
der Analyse „seien“ wesentlich wertvoll oder umgekehrt, so tut er das unter
Verantwortung seines — empirisch subjektiven — Wertsystems und weder
auf die Analyse noch auf sonst eine Tatsachen Wissenschaft kann dafür
rekurriert werden. Anders ausgedrückt: es gibt in dieser Frage keine Stellung¬
nahme „der Analyse“, vielmehr lediglich eine Stellungnahme „des Ana¬
lytikers“.
L
Hein« Hartmann
432
Wir dürfen sagen: die analytische Methode rechtfertigt sich aus ihrem
Erkenntniswert; die analytische Lehre aus ihrem Wahrheitsgehalt; die ana¬
lytische Therapie aus ihrer Tauglichkeit, neurotischen Menschen Gesundheit
zu bringen. Das ist unser wissenschaftlicher und ärztlicher Stand¬
punkt. Nun liegt es mir natürlich völlig ferne, dem Analytiker das Recht
auf Werturteile zu bestreiten oder das Recht auf eine kulturphilosophische
Stellungnahme. Aber ich hoffe, es wird Ihnen klar geworden sein, daß in
diesem Falle der Analytiker nicht mehr als Analytiker urteilt. Wir werden
im Interesse einer rein empirischen Haltung der Analyse fordern dürfen, —
und deswegen habe ich diesen Punkt etwas ausführlicher berührt, — daß
jeder, der sich diesem Problemkreis nähert, ob Analytiker oder Gegner der
Anatyse, die Grenze zwischen seinen Befunden und seiner wertenden Stellung¬
nahme zu diesen Befunden klar bezeichne. Diese Forderung ist theoretisch
unschwer einzusehen, praktisch aber ist es ungemein schwierig, ihr gerecht
zu werden.
Die Entwertungsbefürchtungen eines großen Teiles der übrigen Menschheit
haben die Vertreter der Analyse, hat vor allem Freud als Widerstand gegen
die Aufnahme der analytischen Lehren zu fühlen bekommen. Überlegen
wir, auf welches Wertsystem sich der Analytiker demgegenüber tatsächlich
beruft, so bleiben wir im Rahmen des Empirischen. Die Versuche einer
ethischen Rechtfertigung sind mannigfaltig. Freud findet die Rechtfertigung
in einer besonderen Ethik des wissenschaftlichen Menschen, die es nicht
erlaubt, ein Stück Erkenntnis preiszugeben, wenn auch noch so viele kul¬
turelle Interessen sich seiner Annahme zu widersetzen scheinen. Nietzsche
spricht in diesem Zusammenhang von einer Forderung des „intellektuellen
Gewissens . Bleiben wir uns bewußt, daß dieser Überordnung der Erkenntnis¬
werte über die anderen Wertgebiete nicht von allen iMenschen Geltung
zuerkannt wird. Für den Gelehrten aber ist sie seine Form der „Berufs¬
ethik . Ein Mensch, der wesensmäßig Gelehrter ist, verwirklicht die Gebote
dieser Ethik auch dort, wo sie ihn zu schweren Konflikten mit anderen
Forderungen führt, wo ihm eine Wahrheit als „gefährlich“, als „böse“
erscheint. Wir dürfen übrigens auf der anderen Seite feststellen, daß ihm
die Befolgung seiner Gebote allen Widerständen zum Trotz eine intensive
Befriedigung gewähren kann; wieder bei Nietzsche finden wir den Satz:
„Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel
gesessen zu haben mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück.“ Bedenken
Sie, daß dieser Ausspruch von Nietzsche stammt, für den die lebens¬
feindliche Rolle des Intellekts feststand (und das heißt für ihn, der
Psychoanalyse und V^ertproldem
435
wesentlich nur vitale Werte anerkannte: die Werte gefährdende Kraft des
Intellekts). Es ist sehr wohl möglich, daß sich der Gelehrte des Besonderen
seiner Situation bewußt bleibt und er muß keinesfalls für die im Sinne
seiner Berufsethik gelegene praktische Höherordnung der Erkenntnis werte
allgemeine Geltung in Anspruch nehmen. So meint auch Klages:
v Oh mir gleich die Neigung, ja die Leidenschaft zum Forschen und Er¬
kennen innewohne, notwendig ist es nicht, daß ich darum diese Leiden¬
schaft für das wertvollste Gut des Lebens halte.“ Sie sehen also, daß der
Erkennende zum Problem der möglichen Tragweite seiner Erkenntnisse
eine besondere Stellung einnimmt, die als berufsethische Norm sein
Handeln diktiert; die allgemeine Rangordnung der W 7 erte aber, die derselbe
Forscher als Kulturphilosoph vertritt, kann eine andere sein.
Es gibt hier auch ein taktisches Problem, das von dem wissenschaft¬
lichen scharf gesondert werden muß. Jetzt handelt es sich also um Zweck¬
mäßigkeitsfragen analytischer Politik: ist es etwa von diesem Standpunkt
aus geboten, im Sinne einer bestimmten Weltanschauung Stellung zu nehmen?
Ich denke: nein. Sie wissen, daß Freud selbst gegen das „Fabrizieren'*
von analytischen Weltanschauungen aufgetreten ist. Es scheint mir, daß
das Aufbauen einer psychologischen Disziplin auf einer Weltanschauung,
wie wir es z. B. in der Individualpsychologie vor uns haben, auf die Dauer
weder der Wissenschaft noch der Weltanschauung zum Vorteil gereichen
kann — wenn auch zugegeben sein mag, daß die extensive Wirkung einer
Wissenschaft auf diesem Wege vorübergehend eine Förderung erfahren kann.
Kehren wir zurück. Wir haben gezeigt, daß eine Wertordnung nicht
auf einer Seinsordnung aufgebaut werden darf. Zum Verständnis der wert¬
verwirklichenden Akte — der als „gut“ bewerteten Handlung, des als „böse“
verurteilten Vorsatzes usw. — können wir jedoch von den Ergebnissen der
Psychoanalyse entscheidende Aufklärungen erwarten. W 7 ir wollen uns zu¬
nächst einem Grenzgebiet zuwenden, jenem Problemkreis, der durch den
Begriff „Psychologie der Weltanschauungen“ gekennzeichnet wird,
und wollen gleichzeitig ein freilich nur skizzenhaftes Bild zu gewinnen
trachten, welches denn überhaupt die geisteswissenschaftlichen Möglichkeiten
der Psychoanalyse sein können. Weltanschauungen sind letzte Stellung¬
nahmen gegenüber der Natur, dem Menschen, gegenüber der normativen
Sphäre. In der wissenschaftlichen Erfassung dieses Gebietes zeichnen sich
nun deutlich zwei Wege ab: der eine, psychologische, geht vom Menschen,
von seinem Charakter und von seinem Erleben aus und versucht eine
Zuordnung bestimmter Gruppen weltanschaulicher Systeme zu bestimmten
Heins Hartmann
AM
charakterologischen, oder allgemeiner: psychologischen Typen zu geben. Man
sprichr hier — nicht ganz korrekt — auch von einer „Reduktion“ geistiger
Erscheinungen aiif „Lebensbegriffe“. Bei dem anderen Weg liegt der Schwer¬
punkt nicht auf dem Menschen, der Schöpfer oder überhaupt Träger der
Weltanschauung ist, sondern auf dem geistigen Gehalt des Systems. Hier
werden also, um ein Beispiel zu geben,, die menschlichen Eigenschaften
Schopenhauers, seine Erlebnisse und seine Art, sich mit diesen Erlebnissen
auseinanderzusetzen, unwichtig, wichtig dagegen der ideelle Gehalt seines
Systems und die Struktur und systematische Gliederung der Systeminhalte.
Dieser Gegensatz spiegelt sich auch in den methodischen Streitfragen der
Geisteswissenschaften wider. So ist für die einen Gegenstand der Kunst¬
geschichte der Mensch, sei es ein Einzelner, sei es ein Volk, in seiner
künstlerischen Tätigkeit; für die anderen aber das künstlerische Problem
und seine historischen Gestaltungen. Aber den beiden wissenschaftlichen
Betrachtungsweisen entsprechen auch gesonderte Erkenntnismethoden: man
v\ird vorwiegend erklärend (oder „naturwissenschaftlich“) verfahren müssen,
nenn die Beziehung eines philosophischen Systems zu Anlage und Erleb¬
nissen seines Schöpfers in Rede steht; die logische Gliederung der Inhalte
des Systems erfassen wir aber rational verstehend. Über die Methode
des „psychologischen Verstehens“ und die Grenzen ihres Erkenntniswertes
will ich an dieser Stelle nicht sprechen.
Es ist verständlich, daß auch die Bedeutung von Milieu Wirkungen im
Rahmen dieser beiden Typen geisteswissenschaftlicher Betrachtung eine
verschiedene Beurteilung erfahren muß. Sie wissen, daß die Psychoanalyse
nach Gegenstandsbereich und Methode zur energischesten Vertretung einer
psychologischen Weltanschauungslehre berufen ist. In den geistes¬
wissenschaftlichen Arbeiten der Analytiker wird dem Erlebnis eine domi¬
nierende Stelle eingeräumt. Im schärfsten methodischen Gegensatz hiezu
sehen wir etwa die Werke Gundolfs, für den die historische Gestalt
jenseits von Erlebnis und Milieuwirkung faßbar und darstellbar wird:
„Deutung von Werk und Leben ist keine Auskunftei: wir greifen nicht
hinter die Phänomene, mit der kleinlichen Suche nach einem zufälligen
Woher, wenn das Was und Wie geheimnisvoll offenbar uns vorliegt.“
Ich meine, wir sollten uns bewußt machen, daß diese methodischen
Gegensätze in der Beurteilung und Darstellung geisteswissenschaftlicher
Probleme weitgehend in weltanschaulichen Gegensätzen begründet sind;
darin können wir Rothacker („Logik und Systematik der Geisteswissen¬
schaften ) durchaus beipflichten. Es liegen Gegensätze der Interessen-
Psychoanalyse nncl ^Vcrtproblem
4K
richtung vor, die letztlich in Wertungen begründet sind. Wir dürfen
dann nicht sagen: die Geschichte der Philosophie ist wesentlich Geschichte
seelischer Individualitäten oder — auf der anderen Seite — ist wesentlich
Problemgeschichte, sondern richtiger: meine (empirisch beurteilt subjektive)
wertende Stellungnahme zwingt mich, mein Interesse vorwiegend — in
unserem Falle — der Erlebnis Wirkung zuzuwenden und damit den Gegen¬
stand meiner historischen Untersuchungen so und nicht anders zu um¬
grenzen. Wir werden also statt von einem seelischen „Wesen“ der historischen
Entwicklung richtiger von einer psychologischen Ein stell ung zur Proble¬
matik der Geschichte reden müssen. Denn hinter solchen Aussagen über
das Wesen geisteswissenschaftlicher Entwicklungen verbirgt sich meist
ein: ich will, daß es so sei, und eine Wertung der zugrunde gelegten
Elemente.
Die weltanschauliche Bedingtheit wissenschaftlicher Standpunkte, von der
wir gesprochen haben, kommt dort zum Ausdruck, wo es sich um eine
spezifisch geisteswissenschaftliche Problematik handelt. Für die Analyse
also dort, wo sie, ihr ursprüngliches Forschungsgebiet überschreitend, in
den Dienst geisteswissenschaftlicher Denkziele tritt. Auf ihrem eigentlichen
Arbeitsfeld aber, wo sie nicht angewandte, sondern „reine“ Wissenschaft
ist, müssen wir nicht nur ihre Methode, sondern auch ihre Ziele als natur¬
wissenschaftlich im strengen Sinne bezeichnen. Die Probleme und Lösungs¬
versuche der Naturwissenschaften aber dürfen als sehr weitgehend unab¬
hängig von weltanschaulichen Gesichtspunkten angesehen werden. Was nun
die geisteswissenschaftliche Anwendung betrifft: das Erwachen oder das
Abklingen des Interesses an der geisteswissenschaftlichen Anwendung der
Psychologie überhaupt hat seine besonderen kulturellen Voraussetzungen.
Psychologie bedeutet etwas ganz anderes im Zeitalter des Rationalismus als
im Zeitalter des Entwicklungsgedankens usw. Es wäre eine ungemein reizvolle
Aufgabe, diesen Gedankengang für die Analyse zu verfolgen und ihre geistes¬
wissenschaftlichen Möglichkeiten innerhalb der verschiedenen Weltanschau¬
ungssysteme zu untersuchen. An dieser Stelle muß ich mir leider versagen,
näher darauf einzugehen. Ich möchte nur noch, als Einschränkung unserer
eben gemachten Annahme, hinzufügen, daß offenbar nicht nur die geistes¬
wissenschaftlichen Lösungsversuche von explizite oder implizite zugrunde
liegenden Wertsystemen her bedingt zu sein scheinen, sondern daß um¬
gekehrt wohl auch die tatsächlich erwiesene Fruchtbarkeit einer Methode
das weltanschauliche Gesicht der Geistes Wissenschaften zu verändern vermag
(auch dazu vgl. Rothacker).
Hcms Hartmann
^36
Wir stellen weiter fest, daß den weltanschaulichen Stellungnahmen des
Einzelnen in Wissenschaft, Ethik, Religion, Politik usw. etwas Gemein¬
sames anhaftet, das wir als den „geistigen Stil“ dieser Person bezeichnen
können. Man kann empirisch feststellen, daß Vertreter bestimmter erkenntnis¬
theoretischer Richtungen auch in bezug auf ihre ethischen Anschauungen
häufig übereinstimmen, daß ihre politischen Einstellungen gewisse Gemein¬
samkeiten aufweisen. Auch hinsichtlich dieser Frage möchte ich Sie auf
die ausgezeichnete Studie von Rothacker hinweisen. Es ist sicherlich kein
Zufall, wenn sich Freud, der die analytische Wissenschaft begründet hat
zu einem rationalistischen Atheismus bekennt; leider kann ich auf diese
für uns so wichtige Beziehung an dieser Stelle nur eben hinweisen. Was
uns gegeben ist, ist also zunächst eine gesetzmäßige Beziehung geistiger
Inhalte zueinander, eine Beziehung, welche die verschiedensten Seiten der
Weltanschauung einer Person zusammenhält. Rothacker hat geradezu von
einem „Systemzwang“ gesprochen. Dagegen kann es leicht irreführend
sein, wenn man, wie er es tut, hier von „Konsequenz“ spricht: daß eine
logische Notwendigkeit Wertsystem und Empirie, Erkenntnistheorie und
Ethik nicht verbindet, haben wir ja gesehen. Reden wir also, ohne etwas
zu präjudizieren, von einer „Einheitlichkeit“ des geistigen Stils und fragen
wir, worauf diese zurückgeführt werden kann. Ich denke, hier sollte man
scharf auseinanderhalten: die Tatsache der systematischen Beziehung der
Inhalte zueinander, die als solche natürlich psychologisch nicht auf¬
lösbar ist, und die andere Frage: warum die Zuwendung zu einem be¬
stimmten, z. B. erkenntnistheoretischen System bei ein und derselben Person
empirisch gerade mit dieser ethischen Einstellung verknüpft zu sein pflegt.
Diese Frage scheint mir — trotz der gegenteiligen Meinung bedeutender
Denker — psychologisch zugänglich zu sein. Daß daneben die inhaltlichen
Beziehungen für die Systembildung Bedeutung haben, ist nicht zu leugnen.
Sie wissen, daß großartige Versuche einer psychologischen Deutung von
W eltanschauungen schon in der voranalytischen Epoche gemacht wurden und
ich will Sie nur kurz an die genialen Einsichten Nietzsches und an die
bedeutsamen systematischen Versuche Diltheys, Sprangers und Jaspers’
erinnern. Aber all diesen fehlte die Grundlage einer empirisch belegbaren
psychologischen Typenlehre; diese Möglichkeit hat erst die Psychoanalyse ge¬
schaffen. Dem an der analytischen Neurosenlehre geschärften Blick fällt schon
heute in der genetischen Beziehung von Erlebnis und Weltanschauung manche
Einsicht in den Schoß, die der voranalytischen Psychologie unzugänglich
sein mußte. Die verschiedenen weltanschaulichen Äußerungen (als Lebens-
Psychoanalyse tun! AV ertproblem
außerungen gefaßt) sind nun für die Analyse infolge der spezifisch bio¬
logischen Natur des analytischen Bezugsystems bis vor wenigen Jahren um
so leichter faßbar gewesen, je triebnäher ihr Gegenstand ist. Heute ist das
anders geworden; die Ichpsychologie Freuds stellt uns auch hier vor ganz
neue Aufgaben und eröffnet ganz neue Wege, die noch kaum beschritten
sind. Gegen die voranalytischen Versuche einer Psychologie der Weltanschau¬
ungen muß vor allem der Einwand erhoben werden, daß sie sich die Be¬
ziehung von Seelenleben und Weltanschauung viel zu einfach und (topisch
gesprochen) zu „oberflächlich“ vorgestellt haben (Nietzsche freilich ist auch
hier eine Ausnahme). Die Psychoanalyse befindet sich in einer günstigeren
Situation, weil sie uns den komplizierten Schichtenaufbau der Persön¬
lichkeit und ihre inneren Widersprüche kennen gelehrt hat.
Steht die Psychoanalyse vor der Aufgabe der Darstellung einer konkreten
historischen Person, so zeigen sich uns zwei mögliche Wege, die wieder
zwei Interessenrichtungen entsprechen. Ich bitte Sie, sich einen Augen¬
blick den interessanten Vortrag von Frau Dr. Helene Deutsch über George
Sand zu vergegenwärtigen. Hier wurde das Besondere betrachtet mit der
Tendenz auf das Allgemeine — ich glaube, daß dies auch die bewußte
methodische Absicht der Autorin gewesen ist. George Sand ist ein infolge
des umfangreichen Materials, das von ihrer eigenen Hand über sie vorliegt
und infolge der scharfen Umrisse ihrer Persönlichkeit besonders aufschlu߬
reiches Beispiel, an welchem allgemeine Gesetzlichkeiten des weiblichen
Seelenlebens aufgezeigt werden können. Dieser Forschungsrichtung steht
begrifflich scharf, in Wirklichkeit mit allen Übergängen, eine andere gegen¬
über, für welche gerade nicht das Allgemeine von Interesse ist, sondern
die historische Besonderheit. Also etwa: hier wäre nicht dasjenige wesent¬
lich, was George Sand an seelischen Gesetzlichkeiten mit anderen Frauen
gemein hat, vielmehr das Unterscheidende, besser vielleicht: das Einmalige.
Die Komplexheit dieser Aufgabe scheint nicht nur, sondern ist tatsächlich
unendlich; nur Annäherungen sind möglich. Wir stehen hiervor dem Problem
der Erfassung des Individuellen, und Sie wissen, daß auch dies Problem
in Abhängigkeit vom Wertproblem zu losen versucht wurde. Aber ich
will diesen Gedankengang hier abbrechen. Es genügt uns zu wissen, daß
die Psychoanalyse schon durch ihre Methode wesentlich auf den ersten
Weg gewiesen wird.
Mit sehr bedeutsamen Gesichtspunkten kann die Analyse schon heute
in das schwierige Gebiet einer Psychologie der Ethik hineinleuchten.
Wir haben festgestellt, daß ihr zur Frage nach der Geltung oder Nicht¬
imago XIV.
=9
Heins Hartmaxm
438
geltung der Normen kein Weg offensteht — aber die seelischen Vor¬
gänge die sich an Werten orientieren oder die selbst Werte realisieren
werden von ihr mit Recht in ihr Forschungsgebiet einbezogen. So ergibt
sich als Aufgabe eine Psychologie der Wertsetzung und eine Psychologie
der Wertverwirklichung. Wertung ist einerseits seelisches Geschehen, das
die Analyse nach seinen Bedingungen, seinen Wirkungen usw. untersuchen
kann; anderseits aber weist sie über sich hinaus auf den Wert — und
dieser Seite des Problems können wir mit den Mitteln der Psychologie
nicht näherkommen. Anders ausgedrückt: wir wollen und können mit Hilfe
der Psychoanatyse nicht feststellen, was gut und böse ist, sondern lediglich
untersuchen, was für gut und böse tatsächlich gehalten wird, und warum
es dafür gehalten wird. Weiter aber auch, welche seelischen Vorgänge das
tatsächlich bewertete (nicht: zu wertende!) Verhalten, welche das negativ
bewertete fördern oder hemmen. Mit diesem letzten Gesichtspunkt dürfte
eine der wesentlichsten Aufgaben einer künftigen psychoanalytischen Psycho¬
logie der Ethik bezeichnet sein. Bleiben wir zunächst bei der Frage, warum —
woran nicht zu zweifeln ist — dem Sollen und den Wertsetzungen ein so
beherrschender Einfluß auf das menschliche Handeln zukommt und weiter:
was es denn ist, das dem Einzelnen als gesollt gilt? „Alle Handlungen“,
sagt Nietzsche, „gehen auf Wertschätzungen zurück, alle Wertschätzungen
sind entweder eigene oder angenommene, letztere bei weitem die meisten.“
Für die Psychoanalyse, deren wissenschaftlicher Ausgangspunkt unvergleich¬
lich lebensnäher ist als der jeder anderen psychologischen Methode, mußte
dies Problem frühzeitig in den Vordergrund rücken. Tatsächlich finden wir
die Psychologie der Wertungen, wenn auch nicht unter diesem Namen, im
Mittelpunkt der analytischen Theorie. Sie wissen, daß sich für Freud
der Zugang zu diesem Problemkreis im Begriff des psychischen Konflikts
eröffnet hat, dessen* grundlegende Bedeutung für Neurose und Psychose er
erkannte. Ich brauche Sie auch nicht daran zu erinnern, was der Begriff
der Verdrängung, was der Begriff des Über-Ich — beides Begriffe, die
zu unserem Problem die engsten Beziehungen haben — für die Psycho-
analyse bedeuten. Die fruchtbarsten Dienste für unser Verständnis der Genese
der Wertverwirklichung hat Freuds Begriff der Identifizierung geleistet.
Ebenso meine ich, daß die Forschungen Freuds über die Mitwirkung
destruktiver Regungen in der Tätigkeit des Über-Ich einen entscheidenden
Fortschritt für die Psychologie der Ethik bedeuten. Da es heute meine Auf¬
gabe ist, Ihnen über die Problematik der Wertfragen in ihrem Zusammen¬
hang mit der Psychoanalyse Rechenschaft zu geben, muß ich es mir ver-
Psychoanalyse und Wertproblein
sagen, auf das reiche empirische Material, das die Analyse in diesem Um¬
kreis bereits gefördert hat, naher einzugehen. Eine Untersuchung, die von
den tatsächlich im Rahmen der verschiedenen Wertsysteme bewerteten Ver¬
haltensweisen ausgeht und eine vergleichend-systematische Analyse der seeli¬
schen Voraussetzungen dieser Verhaltensweisen gibt, steht leider noch aus.
Noch einen sehr wesentlichen Gedankenkreis will ich kurz berühren.
Die Vielfältigkeit ethischer Systeme läßt sich auf einige Grundtypen redu¬
zieren. Hören Sie den Satz Kants: „Eine Handlung der Pflicht hat ihren
moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden
soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird“, so haben Sie
damit die Kennzeichnung einer typisch imperativischen Ethik. Wir
können ihr eine Ziel- oder Zweckethik gegen überstellen, für welche
der sittliche Wert einer Handlung aus ihrer Beziehung zu einem End¬
zweck sich ergibt, ferner eine Ethik der Persönlichkeitswerte oder
der Seins werte. Man kann versuchen, — und hat es zum Teil getan, —
die verschiedenen Systeme mit bestimmten Klassen- und sonstigen sozialen
Schichtungen in Beziehung zu setzen. Noch weiter gesteckt, aber auch noch
verlockender wäre das Ziel ihrer psychoanalytischen Ableitung. Ganz un¬
mittelbar tritt uns in den ethischen Systemen auf der einen Seite Selbst¬
bejahung, Überfülle und Kraft entgegen, auf der anderen aber seelische
Armut und Schwäche und der Versuch, sich gegen die überwältigende und
unerträgliche Vielfältigkeit des Lebens mit Hilfe der ethischen Normen zu
schützen. Wir fühlen hier besondere Schicksale des Ödipuskonfliktes, nar¬
zißtische, sadistische und zwangsneurotische Züge heraus, ohne daß aber
bisher der Versuch gemacht wäre, diesen Gegenstandsbereich systematisch
zu erfassen.
Damit will ich schließen. Wir sind zu einem im Grunde nicht ein¬
fachen, aber, wie ich hoffe, doch aufklärenden Ergebnis gelangt. Ich will
kurz zusammenfassen: eine Ableitung ethischer (oder anderer) Normen aus
der analytischen Empirie ist wissenschaftlich unmöglich; nur für den
Sonderfall einer Zielethik wäre sie in gewissem Umfang berechtigt, aber
auch hier eben nicht in bezug auf die eigentlichen oder End werte.
Die tatsächlichen Wirkungen der Analyse auf die Weltanschauung sind
nicht mit den logischen Möglichkeiten zu verwechseln und nicht auf sie
beschränkt; ihr Ausmaß ist heute und wird wohl für alle Zeit zum Teil
von kulturgeschichtlichen Tendenzen abhängen. Wenn der Analytiker (oder
sein Gegner) die Wirkungen der Analyse als „gut“ oder „böse“ bejaht oder
verwirft, tut er das nicht als Analytiker, sondern als Kulturphilosoph, als
29*
L
44o
Hartmann: Psychoanalyse und Wertproblem
Politiker usw. Eine Festlegung des Analytikers als Analytiker oder gar
der Analyse auf eine bestimmte Weltanschauung ist abzulehnen. Schließlich:
zu einer Psychologie der Weltanschauungen, zur Psychologie der Wertsetzung
und der Wertverwirklichung hat die Psychoanalyse grundlegende Erkennt-
nisse beizutragen.
Ich glaube, Ihnen gezeigt zu haben, daß den Fragen, die uns heute be¬
schäftigen, auch für das eigentliche Arbeitsgebiet des Psychoanalytikers —
und zwar einerseits für die therapeutische und psychologische Anwendung
der Analyse, anderseits für ihre Beiträge zu den Geisteswissenschaften —
eine entscheidende Bedeutung zukommt. In einem bestimmten Entwicklungs¬
stadium jeder Einzel Wissenschaft wird die Befassung mit solchen Grenz¬
problemen zum Erfordernis. Sie beansprucht ihren Platz in der Entwicklung
unserer Wissenschaft neben der klinischen und anderen Problemstellungen.
Die Synthese verschiedener Wege im Ganzen der Wissenschaft — nicht not¬
wendig in der Arbeitsrichtung einer Person — ergibt die fruchtbarsten
Möglichkeiten.
Wenn ich Sie nun bitte, zu diesen Problemen Stellung zu nehmen,
möchte ich Sie gleichzeitig bitten, eine Frage nicht in die Diskussion zu
ziehen: die nämlich, ob wir berechtigt sind, von einer objektiven Geltung
der Werte zu sprechen, an welchen sich die von uns untersuchten seelischen
Vorgänge orientieren. Diese Frage kann empirisch nicht entschieden werden;
auf empirischem Wege ist die objektive Geltung der Werte weder zu beweisen
noch zu widerlegen. Und ich denke, daß wir die Probleme, welche heute zur
Diskussion stehen, am besten fördern werden, wenn wir dies schwierige Thema
ganz beiseite lassen.
•Zur Geschickte der Gewissenspsyckologie
Von
Bertram D. Levin
New York
In der französischen Sprache des zwölften Jahrhunderts findet man
das Wort „conscience“ , und zwar im moralischen Sinne: Gewissen, Schuld¬
bewußtsein. Dieses Wort wurde ins Mittelenglische übertragen, wo es das
ältere angelsächsische „inwit“ („Innewissen“) vollkommen ersetzte. Was dieses
„inwit“ bedeutete, ist nicht ganz klar. Man sagt, daß es zugleich Bewußt¬
sein und Gewissen bedeutete. Sicher ist, daß man sehr wenig zwischen
diesen Begriffen unterschied. Nach den Philologen Harzfeld und Darm¬
steter bedeutet das französische Wort „ conscience “ zuerst nur „Gewissen“ und
ist im Sinne „la connaissance immediate et directe que Vdme a d'elle meme“
erst seit Malebranche (starb 1715) zu finden. In der englischen Sprache
finden wir bis zu der Zeit John Lock es dieselbe Zweideutigkeit. Dieser
Philosoph war es, der 1678 zuerst das Wort „ consciousness “ definierte als
nthe perception of what passes in a Man’s own mind u , und der 1690 zum
erstenmal die Form „ conscious u (bewußt) gebrauchte im Sinne „ having inter¬
nal perceptions of one's sensations, feelings , thoughts etc.“ (innere Wahr¬
nehmung der eigenen Empfindungen, Gefühle, Gedanken usw.). Nach dieser
Zeit, also ungefähr am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, sind die zwei
Begriffe Gewissen und Bewußtsein, „ conscience “ und „consciousness“ , ziem¬
lich gut getrennt. — In der deutschen Sprache, über die ich mich zurück¬
haltender äußern muß, dürfte das Wort „Bewußtsein“ eine ähnliche Ge¬
schichte haben. Man findet das Wort in der Lutherschen Übersetzung der
Bibel im Sinne von Schuldbewußtsein oder Gewissen; nach dem Philo¬
logen Weigandt wurde es in seiner jetzigen Bedeutung erst im Jahre 1720
von Chr. Wolff benützt. Grimm sagt in seinem Wörterbuch nur kurz:
„Erst im achtzehnten Jahrhundert gebildet und häufig gebraucht.“
Bertram D. Lewm
442
Aus diesen etymologischen Bemerkungen kann man folgendes ersehen:
Der Begriff „Bewußtsein“ ist aus dem Begriff „Gewissen“ entstanden. Be¬
wußtsein war zuerst ein entgöttertes Gewissen. Bis um 1700 diente die
Introspektion zur Erforschung des Gewissens, erst später zu der des Bewußt¬
seins. Der Keim des rationalistischen Bewußtseinsbegriffes war der morali¬
sche kirchliche Gewissensbegriff. Es ist kein Zufall, daß die Worte „Be¬
wußtsein , „consciousness“ , gerade zu dieser Zeit entstanden sind. Es war die
Zeit der großen rationalisierenden englischen und französischen Denker, die
das menschliche Denken vom alten Scholastizismus und der Autorität befreien
wollten. Kurz gesagt, um die Seele überhaupt zu studieren, mußte man sie den
Priestern entziehen; man erinnert sich, in welche Verlegenheiten Descartes
und Hobbes geraten sind, als sie verdächtigt wurden, nicht in toto an die
Bibel zu glauben, man erinnert sich auch an die Geschehnisse anno 1925
zu Dayton, Tennessee. Also: Das „Gewissen“ blieb den Priestern und Moral¬
philosophen überlassen, das „Bewußtsein“ erhielt die Wissenschaft, die dafür
zunächst auf das „Gewissen“, später auf die „Seele“ überhaupt verzichtete.
In der englischen Wissenschaft spricht man heute gar nicht mehr von „ soul “
(Seele)» Dieses Wort ist heute lediglich in theologischem Gebrauch. Man
spricht nur von „ mind eher von „co?isciousness u .
Die Ärzte des späteren siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts,
deren Denken sich in dieser Atmosphäre bewegte, mußten davon beeinflußt
werden; es ist interessant, was in den medizinischen und besonders in den
psychiatrischen Arbeiten davon zu merken ist. Man erkennt, daß die
„Bewußtseins“epoche eine Zeit der virilen Ansichten ist. Die gewöhnlichen
Partial triebe werden nicht erwähnt. Als sexuelle Perversitäten beschreiben
die Ärzte am liebsten die Satyriasis und die Nymphomanie, die bevorzugten
Abnormitäten dieser zwei Jahrhunderte. Die Onanie wird von allen als Laster
und als Ursache von allerlei Symptomen und Krankheiten von Anorexia
bis Epilepsie und Tabes dorsalis betrachtet. Vielleicht das schärfste aller
Bücher über die Schädlichkeit der Onanie ist das von Tissot, geschrieben 1750.
Sauvages (1768) kann das Wort „ mastupratio “ nicht schreiben, ohne gleich
yyinfamum vitium “ hinzuzufügen. Die Impotenz wird von denselben Autoren
sehr sorgfältig und mitleidig geschildert.
Ich möchte eine gewisse Beziehung zwischen der herrschenden Psycho¬
logie und dieser Einstellung zur Sexualität sehen. Man weiß, daß eine
rationalistische Bewußtseinspsychologie das Unbewußte negiert und nur die
Daten des Bewußtseins betont. In diesen rationalistischen Jahrhunderten hat
man den genitalen Trieb gefunden und überbetont. Dies zeigt sich nicht
Zur Geschickte der Gewissenspsydiologie
nur in der Medizin. Auch in der allgemeinen Literatur sieht man es. Es
ist die Zeit von Casanova, von Retif de la Bretonne, von Tom Jones
und von Don Juan. Es ist nicht die Zeit von Rabelais oder Proust.
Bis ungefähr zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts kann man von
der Psychiatrie als einem selbständigen medizinischen Fach kaum reden.
Die Geisteskrankheiten bzw. Krankheitssymptome, denn man machte wenig
Unterschied zwischen Krankheit und Symptom, wurden von den Ärzten
unter dem gleichen Gesichtspunkt wie die sonstigen Krankheiten oder
Symptome betrachtet und gewöhnlich mit derselben Materia medica be¬
handelt, obwohl es, besonders in England, gewisse wirklich psychologische Ärzte
gab. In Deutschland aber waren die Geisteskranken hauptsächlich den Geist¬
lichen überlassen. Kant konnte sogar bestreiten, daß Ärzte überhaupt über
Geisteskranke urteilen könnten; nach ihm war dies das Gebiet der philo¬
sophischen Fakultät. (Die Frage der Laienbehandlung ist also nicht so neu,
wie man denken möchte.)
Um den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts trat zum erstenmal eine
selbständige Psychiatrie auf. Sie schwankte, wie ja auch heute noch,
zwischen Medizin und Philosophie; Arnold, der Engländer, teilte die
Geisteskranken ein nach den „Vermögen“ (faculties) Lockes; Pinel be¬
titelte sein Buch „Traite medico-philosophique “ usw. und zitierte reichlich
Locke und Condorcet. Im allgemeinen kann man von drei Richtungen
sprechen: Erstens die praktische Irrenpflege, hauptsächlich von den Eng¬
ländern vertreten; zweitens die somatische Richtung, hauptsächlich in Frank¬
reich (Pinel, Esquirol, Bayle); und drittens die moralisch-psychologische.
Diese war besonders von einer wichtigen deutschen Schule zur Blüte ge¬
bracht. Ich will damit nicht sagen, daß die drei Richtungen scharf national
waren, denn in allen Ländern gab es Vertreter aller Richtungen. In Deutsch¬
land waren nicht nur die Psychiker, wie sie sich nannten, sondern auch
die Somatiker vertreten.
Die deutschen Somatiker Nasse, Jacobi, Friedreich suchten die Ur¬
sachen aller Geistesstörungen im Körper; sogar Jacobi sah bestimmte Ur¬
sachen in bestimmten Organen und glaubte an eine Magenpsychose, eine
Leberpsychose usw. Gegen diese Schule erhoben sich die Psychiker Beneke,
Heinroth, Ideler u. a., von denen der Hervorragendste Heinroth war.
Wie ich zu Anfang dieser Mitteilung erörterte, war der Bewußtseinsbegriff
ein Abkömmling des Gewissensbegriffes. Man hatte von der Moralphilosophie
(der Ethik) diesen Begriff entlehnt, entheiligt und rationalisiert. Jetzt greifen
die Psychiater zurück: Die Psychiker führen den alten Begriff „Gewissen“
wieder in die praktische und theoretische Psychologie bzw. in die psycho-
logische Medizin ein. ^ y
Ich kann hier alle die verschiedenen Ansichten der Psychiker nicht e
wähnen. Nur die Psychologie und die ätiologischen Ideen Heinroths werde
ich etwas ausführlicher darstellen, und zwar wegen ihrer vielen unverkenn-
baren Analogien zu den neuen psychoanalytischen Lehren
Ich folge hier hauptsächlich dem Text von Heinroths „Lehrbuch der
Seelenstorungen (1818), das er während seiner Professur an der Leipziger
Universität schrieb. Er beginnt mit einer psychologischen Darstellung- er
bildet eine Ichtheorie. Das Bewußtsein sei dem Menschen eigentümlich
es unterscheide ihn von Pflanzen und Tieren. Aber das Bewußtsein sei
nichts Unzerlegbares. Es gebe drei Stufen des Bewußtseins. Ich zitiere:
” U « niedrigsten Stufe des Bewußtseyns, und folglich des Menschen¬
lebens steht das Kind, der rohe Mensch, das rohe Volk. Es ist das Bewußt-
seyn des bloß Äußern, das Weltbewußtseyn. Der Mensch selbst ist auf dieser
Stufe noch bloß Welt, bloß Äußeres, bloß Objekt. Er ist ganz Sinn und
sinn iches W esen, seine Empfindungen, Gefühle und Triebe gehören dem
u ern an, welches je nachdem es dem werdenden Menschen entweder
freundlich oder feindselig entgegentritt, ihn mit Lust oder Schmerz erfüllt
SCin Zie1 ’ ^ ZufaU i$t SCine G ° ttheit -“ Ich brauche kaum
le Ahnhchkeit dieser Schilderung mit der gewöhnlichen analytischen Dar¬
stellung des infantilen Bewußtseins zu betonen. (Herrschaft des Lustprinzips.)
„ ur zweyten Stufe des Bewußtseyns erhebt sich der Mensch, sobald
durch die allgemein entwickelte, mannigfaltig geschäftige Sinnentätigkeit
der Verstand geweckt wird und die Anschauungen zu Begriffen verklärt
werden ... Dem Weltbewußtseyn gegenüber bildet sich ein Selbstbewußt-
seyn . und dieses einzige unzertrennliche Ganze (ist) eben das Ich. So
ist der Mensch Individuum.“ Also in dieser zweiten Stufe tritt das Realitäts-
pnnzip und eine straffere Ichorganisation auf.
„In Wenigen nur entwickelt sich des Bewußtseyns höchste und letzte
Stufe . Wie das Selbstbewußtseyn durch eine Entgegensetzung des Innern
gegen das Außere entsteht: so entsteht auch das höchste Bewußtseyn durch
eine innere Entgegensetzung (siehe Konflikt - Hemmung) im Selbstbewußt¬
seyn selbst Wir erfahren sämmtlich diese Entgegensetzung bey guter Zeit,
schon m der Kindheit. Gegen das Ich und sein Bestreben erhebt sich in
dem Innern des sich selbstbewußten Wesens ein Widerspruch, der wiewohl
im Ich, dennoch nicht von dem Ich, sondern von einer höheren, in das
Ich eintretenden Thätigkeit ausgeht, welche wir das Gewissen zu nennen
m
2/tir Gesdudite cler GewissenspsycLologie
44 $
pflegen. Dieses Gewissen erscheine als ein „Gegner unseres Weltlebens
und Selbstlebens . Es verlange Opfer vom Ich. Aber dieses Opfer ist
„nur ein Einsatz für einen höchsten Gewinn; und sind wir einmal zum
Höheren hingeneigt, so gilt uns das Niedere für nichts“. „Dieses Höhere
aber, was wir nicht außer uns finden, in der Welt und nicht in uns, in
unserem selbstischen Ich, ist nothwendig ein Über-uns, welches sich uns
kund thut im Gewissen und durch das Gewissen, so daß dieses . . . zuletzt
gänzlich dieses Bewußtseyn erfüllt, und auf diese Weise verdrängend alles
tiefere Bewußtseyn, zu einem neuen, eigenthümlichen Bewußtseyn wird,
nicht mehr als etwas Fremdes, als Gewissen, in uns erscheint . . .“ Dieses
höchste Bewußtsein sei die Vernunft. „Wir vernehmen durch die Vernünft
das Höhere, das Über-uns.“
Ich will den auffallenden Vergleich hier nicht weitertreiben: Heinroths
dritte Stufe, das Über-uns, ist das Bewußtsein, das alles Tiefere verdrängt;
es ist gleichzeitig etwas, das introjiziert sein muß. In diesen Sätzen schildert
er eine Instanz, die mit dem analytischen Ichideal oder Über-Ich viel
Gleiches hat.
Es wäre eine Übertreibung zu behaupten, daß man bei Heinroth
auch eine Libidotheorie findet. Und doch gibt es Analogien dazu in seinen
Ideen über die Entstehung der Geistesstörungen. Zwar nennt er die Libido
nicht, aber er behauptet, daß die Geistesstörungen aus Sünde und Laster
entstehen, aus einer Hingabe der Seele zum Bösen. Die Seele ist ursprüng¬
lich frei; nur durch die Sünde wird sie unfrei. Das Wort Unfreiheit braucht
er ohne weiteres als Synonym für Insania oder Vecordia, also Geistes¬
krankheit. Liest man anstatt „Sünde“ „verpönte Wünsche“ und anstatt
„Unfreyheit“ „durch das Verdrängte bedingt“, ist man vielleicht nicht weit
von seiner Meinung. Daß ein Über-uns durch Überstrenge auch die „Un¬
freyheit 1 bedingen könnte, bleibt von Heinroths moralischen Gedanken fern.
Heinroth findet überall die Bestätigung für seine Idee: „ohne Abfall
von Gott gibt es keine Seelenstörung“. Überall sieht er in seinen Fällen
die Folgen von Verbrechen und Laster. Sogar wenn er hervorhebt, daß in
einzelnen Fällen äußere Momente, wie Schreck, Kummer usw. Seelenstörungen
erzeugen könnten, bleibt er bei seiner Theorie konsequent: diese Individuen
waren „schon moralisch verwildert“. Die einzige Vorbeugung des Irreseins
ist der christliche Glaube.
Ich werde nur noch einige Worte hinzufügen, um den Untergang dieser
psychiatrischen Schule zu erklären, denn der Sieg gehörte den Somatikern.
Erstens war diese psychologische Betrachtungsweise an sich zu moralisch, zu
i
44 <>
Le will: Zur Gesdudite der Gewissenspsydiologie
hart für unsere sündige Welt: der Standpunkt war zu übertrieben. Zweitens
schwankte, wie schon erwähnt, die Psychiatrie zwischen Philosophie und
Medizin und die neue medizinische Richtung des neunzehnten Jahrhunderts
war so stark und so fruchtbar (ich denke an Louis und Laennec und ihre
Nachfolger), daß die Psychiatrie mitgehen mußte; mehr und mehr wollte
sie die Geisteskrankheiten so betrachten, als ob sie von derselben Art wären
wie Infektionskrankheiten oder irgendeine sonstige Krankheit der medizini¬
schen Klinik. Erst heute sieht man den Anfang des Untergangs auch dieser
somatischen Richtung.
„Die Roichtschäggeten
Ufcer einen JVia«sltenLraucIi
Von
Hans bulliger
Bern
Das schweizerische Lötschental hat einer transalpinen Bahn von europäi¬
schem Rufe den Namen gegeben, der Lötschbergbahn, die die Verbindung
zwischen Deutschland und Italien auf kürzestem VVege ermöglicht. Vor der
Erbauung dieses Verkehrsstranges mit seinem vierzehneinhalb Kilometer langen
Tunnel blieb Lötschen als hochgelegenes Seitental des Wallis, das man nur auf
einem schmalen Bergpfade und im besten Falle mit einem Maultier erreichen
konnte, völlig unbekannt. In seiner Abgeschlossenheit und Unberührtheit
blieben in ihm allerlei alte Bräuche, die an diejenigen der Primitiven erinnern,
in ihrer Ursprünglichkeit erhalten, und es gelang auch der katholischen Kirche
nicht, sie dauernd auszurotten. Unter ihnen finden die Ethnologen, insbesondere
Rütimeier, 1 die Maskenbräuche als von „der wildesten Art“ und als Über¬
reste einer Kulturschicht, an die nur noch die Fastnachtsgebräuche, die
Perchtellaufe 2 in den bayrischen und österreichischen Alpenländern, dem
Pongau und Pintschgau, in der Schweiz der Silvestermummenschanz
im bernischen Mittellande, der Weihnachtsumzüge im aargauischen Wittwil,
die Klausläufe im Zürcher und St.-Galler Oberland und im Kanton Appen¬
zell und das „Achetringele* 3 inLaupen und Wieden (Bern) in Andeutungen
erinnern.
Im LÖtschentaler Maskenbrauch der „R oichtschäggeten (d. h. „Rauch¬
gescheckte“) ist neben anderem völkerpsychologischen Materiale ein Be-
x) Rütimeier: Urethnographie der Schweiz. Basel 1924.
2) Buschan: Illustrierte Völkerkunde. Bd. „Europa“. Stuttgart.
5) Balmer in „Der Achetringeler“, Nr. 1, Jahrg. 1926. Laupen (Bern).
M 8
Hans 'ZfvAVi
iger
fruchtungszauber inbegriffen, der heute schon verschwunden ist, nach Rüti-
meier jedoch noch vor dreißig bis vierzig Jahren zu Recht bestand, und
dessen besonderes Requisit, eine „Mas¬
kenspritze“, im Museum für Völker¬
kunde in Basel aufbewahrt wird.
Das Maskentreiben der Roichtschäg
geten, das ich selber einmal mitanzu-
sehen Gelegenheit hatte, wird am Mon¬
tag und Dienstag vor Aschermittwoch
an den Nachmittagen gefeiert, insbe¬
sondere in den Dörfern Kippel und
Blatten, und es verläuft folgender¬
maßen : 1
„Die ledigen Burschen springen an
diesen Tagen noch herum, angetan mit
ihren meist vom Eigentümer selbst aus
freier Hand ohne viel Vorzeichnung aus
einem Arvenklotz geschnitzten Masken,
die meist mit einem Gehänge aus Ziegen¬
fell versehen sind, angetan mit schwarzen
oder weißen Schaffellen, in der Hand
einen Stock, wozu oft ein alter Flößer¬
haken dient, um den Leib einen Gürtel,
an den Kuhglocken ~^Treicheln gehängt
werden, die beim Herumspringen der Bur¬
schen, was unter Gebrüll wie der Teufel
oder wie ein ,Muni l (fortpflanzungsfähiger
und zu diesem Zwecke benutzter Stier)
geschieht, laut schellen. Früher schlossen
sich Frauen und Kinder beim Herannahen
der maskierten „Roitscheggeten“ 2 (so ge¬
nannt, weil man den Kindern sagte, sie
Rauch RnR'i in Tr- . . kamen aus rußigen Kaminen, Roich =
s“t Kvitln T T’ }6tZt n ° Ch beS ° nders Kippel zu geschehen
FleSch 'u nd S "TnT “ die Häuser ****** Maskierten dort mit
leisch und .Nullen (Rahm) regahert; gebet telt oder gar geraubt wird nicht,
künde, 'i 78 und H S ’ HwH ßhe fenier StehIer: Schweizer Archiv für Volks-
..nd Mask'enbrätiche“ » M ” k »
deutlich U RoTch 1 ” Roitsche g:&eten« - i„ Blatten aber spricht man sehr
und „gescheckt“ gut Henne,; Ä Bezeichnu "& von „Rauch“ (Ruß
»Die Roichtschagge teilt« 449
wie dies früher bei den höchst interessanten Bräuchen der ,TüfeV der alten
Wiler Fastnacht 1 der Fall war, wo das Putzenrecht anerkannt war, eigent¬
lich ein Recht auf Plünderung durch die Maskierten in Bäcker- und Metzger¬
läden.
Ein sehr interessantes, bis jetzt anscheinend unbekanntes, bei diesen Masken¬
bräuchen zur Verwendung gekommenes Objekt erhielt ich neulich aus dem
Lötschental in Form einer Art von Spritze. Das alte Gerät, welches in seiner
Primitivität zunächst fast als afrikanisches Ethnographikum
imponierte, besteht aus einem konischen, hohlen, sieben¬
undvierzig Zentimeter langen, mit seitlichem Griff ver¬
sehenen Holzstück, in dessen röhrenförmiger Höhlung ein
früher offenbar durch Lederdichtung geführter Spritzen
Stempel in Form eines zylindrischen Holzstabes auf und
ab bewegt werden kann. Die Vorderfläche zeigt sehr
typisch, daß das merkwürdige Objekt zu den Masken¬
bräuchen gehört, eine aus Leder hergestellte Maske, ähn¬
lich den großen, mit Haarschnautz unter der Nase als
Dekor. Die Spritze wurde, nach den mir gewordenen
Informationen, früher ausschließlich bei den Masken-
umziigen gebraucht, um die aus den verschlossenen
Hausern hinausschauenden Frauen und Mädchen zu be¬
spritzen. Es kamen dabei verschiedene Flüssigkeiten zur
Anwendung, wie aufgeschwemmter Kaminruß, Jauche
und, wenn es zu haben war, Blut, welch letzteres wohl
auf sehr alte Erinnerungen hinweist. Es scheint sich hier
wohl um einen Fruchtbarkeitsritus durch Anspritzen der
Frauen gehandelt zu haben, einen Ritus, dessen weite
Verbreitung ja bekannt ist.
Daß die Masken nur getragen werden in Verbindung
mit Schaf- und Ziegenfellen, die die ganze Figur des
Trägers verhüllen, nicht nur sein Gesicht, weist auch
auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurück, daß ihr Träger
in Beziehung tritt zur Dämonen weit, also als Geist auf-
tritt, wie dies Speiser 2 auch von den Maskenbräuchen
auf den Neuen Hebriden berichtet.
Was die Masken selbst betrifft, so konnte ich neben den früher schon be¬
schriebenen Typen einige neue sammeln. So zwei mit Ziegenhörnern versehene,
eine angeblich zirka hundert Jahre alte von besonders sorgfältiger Arbeit und
roter Bemalung . . . Tiermasken, wie im bayrisch-österreichischen Alpenland,
kommen im Lötschental nicht vor.“
1) Baumberger: St.-Galler Land, St.-Galler Volk. Einsiedeln 1905.
2) Speiser: Ethnographische Materialien aus den Neuen Hebriden und den Banks¬
inseln. Berlin 1925. Speiser: Südsee, Urwald, Kannibalen. 2. Aufl., Stuttgart 1926.
Parkinson: Dreißig Jahre in der Südsee. Stuttgart. Wirz: Dämonen und Wilde in
Neuguinea. Stuttgart 1928.
4öo Haus bulliger
Die lokale Geschichte und Überlieferung erklärt die Maskenbräuche der
Roichtschäggeten als Überbleibsel und Erinnerung an eine Räuberbande aus
vorgeschichtlicher Zeit, die „Die geschulten Diebe“ hieß. Es handelte
sich um eine Bande von Männern, in deren Gesellschaft man erst nach
Absolvierung bestimmter Initiationsriten gelangte. Unter anderem mußten
die Novizen mit einer schweren Last an einer bestimmten Stelle über die
Lonza, den reißenden Talbach, springen können. Die Stelle wird noch jetzt
gezeigt. Die Räuber, deren Organisation an die Männerbünde der Primitiven
(Leopardenmenschen 1 an der Guineaküste, Duk-Duk-Gesellschaft 2
auf den Karolinen) und an den modernen Ku-Klux-Clan in den Ver¬
einigten Staaten von Nordamerika erinnert, überfielen die Dörfler in schreck¬
hafter Verkleidung mit Masken, Tierfellvermummungen und mit lärmenden
Instrumenten, und erst im siebzehnten Jahrhundert sollen sie zu existieren
aufgehört haben. Rütimeier bringt die Roichtschäggeten direkt in Zu¬
sammenhang mit den Geheimbünden 3 und Altersklassen, 4 und er hat
wohl recht; als Überrest hat man z. B. in Blatten noch das „Gemeinde¬
haus“ (Männerhaus), zudem, wie man mir berichtete, früher keine Frau
Zutritt hatte, wenn die Männer darin versammelt waren. Der zitierte Autor
spricht dann auch den Gedanken aus, daß die Lötschentaler Maskenbräuche mit
ihrem Drum und Dran „nicht durch Wanderungen und Entlehnungen zu er¬
klären sind, sondern daß sie dem Urgrund allgemein-menschlichen Wesens und
menschlicher Psyche entstiegen, daß sie also zu den sogenannten menschlichen
Elementargedanken gehören, die an verschiedenen anthropo-geographischen
Stellen der Erde in globaler Verbreitung in verschiedener Weise sich aus¬
geprägt haben . , . Die Lötschtaler Bräuche seien zu den Kollektiväußerungen
der Menschheit, und zwar der Menschheit aller Zeitepochen zu zählen.
Wenn wir uns in dieser Arbeit der Mühe unterziehen, einen an einem
bestimmten Orte gebräuchlichen Fruchtbarkeitszauber psychologisch zu er¬
klären, so tun wir es nicht etwa nur in der Absicht, etwas für die Auf¬
hellung der Volkspsychologie dieses Ortes zu leisten. Denn wenn der Brauch
Kollektivbesitz der Menschheit ist, dann trifft unsere Untersuchung nicht
nur zu für das psychische Verhalten eines kleinbegrenzten Gebietes oder eines
1) Buschan, op. cit., Bd. „Afrika“. Schweitzer: Mitteilungen aus Lambarene.
Bern 1925.
2) Buschan, op. cit., „Abschnitt Polynesien und Mikronesien“. Schurtz: Ur¬
geschichte der Kultur. Leipzig und Wien 1912, S. 116.
3) Schurtz: Urgeschichte der Kultur, Abschnitt „Die Gesellschaft“.
4) Schurtz, op. cit., S. 112. Zeller: Die Knabenweihen. Bern 1923.
»Die Roiditschäggeteno: 4^ 1
Menschenschlages, sondern für die Gesamtheit der Menschen überhaupt. Im
Lötschtaler Brauch finden wir einen Zauber samt seinen Begleitumständen,
der vom säkularen Bedeutungswandel noch weniger erfahren hat als irgendein
anderer Brauch aus anderer Gegend, die der Zivilisation näher liegt. Es
erscheint uns also, die Untersuchung sei darum gerechtfertigt, weil sie sich
um etwas Allgemein-Menschlich-Psychisches dreht, und das Material andern-
teils rechtfertige sich daran, weil es mitten unter uns und dennoch recht
ursprünglich und unverbildet ist in seiner Art.
Der Brauch, sich zu maskieren, hängt mit der Identifikation der
Maskierten mit einem Geiste zusammen. Bei den Primitiven glaubt
man, wie Schurtz 1 u. a. berichten, daß sich im Maskierten der Geist
eines Ahnen verkörpere und die ursprüngliche Maske war der Schädel
eines Verstorbenen. Erst später entwickelte sich daraus die aus Holz oder
Faserstoffen hergestellte Maske. Oft spielen, wie auf Neuguinea 2 und anderen
Orten Überreste des Totemismus in die Maskengebräuche hinein: es werden
dann solche Masken verwendet, die den Totem darstellen oder für ihn charakte¬
ristisch sind, so inHolländisch-Neuguinea beispielsweise Krokodilen nach¬
gebildete Masken, bei den Singhalesen 3 solche, die die Krankheitsdämonen
darstellen, z. B. Schlangen, bei den Hopiindianern 4 (Nordamerika) Masken,
die Insignien des Regengottes tragen usw.
Masken europäischer Herkunft, die totemistische Spuren aufweisen, werden
bei den bereits erwähnten Perchtelläufern in den Ostalpen gebraucht. Wenn
die Lötschentaler Roichtschäggeten Ziegen- und Schaffelle zur Vermummung
benutzen, so dürfte man in diesen Materialien nicht allein Requisiten sehen,
die man gleich und leicht zur Hand hat, — die Bauern halten sich zahl¬
reiche Ziegen- und Schafherden, — die Art der Vermummung läßt auf
totemistisch-animistische Überreste schließen. Solches deutet Rütimeier an,
wenn er sagt, daß der Roichtschäggete „in Beziehung tritt zur Dämonen-
welt, also als Geist auftritt“.
Wir können die Verkleidung mit Ziegen- und Schaffellen der Roich¬
tschäggeten in Parallele setzen zu vielen totemistischen Gebräuchen der
Wilden. Es sei hier der Fall der Bakairineger 5 im Nil quellengebiet heraus¬
gegriffen; die Bakairi führen, bevor sie auf Kriegszüge oder auf die Jagd
1) Schurtz, op. cit. nach Bastian, S. 1x7, über den Ogbonibund in Westafrika.
2) Wirz, op. cit.
5) Schurtz, op. cit., Tafel S. 116.
4; Schurtz, op. cit., Tafel S. 1x6.
5) Busch an, op. cit., Bd. „Afrika“.
452
Hans bulliger
ziehen, Maskentänze auf, wobei sie sich in Leopardenfelle kleiden und
glauben, der Ritus des Tanzes und die Verkleidung gebe ihnen die Kraft und
die Eigenschaften des Leoparden. Was Freud
in „Totem und Tabu“, insbesondere in dem
Abschnitt über „Animismus, Magie und
Allmacht der Gedanken“ ausgeführt hat,
kann und braucht hier nicht wiederholt zu
werden. Es sei aus Freuds Abhandlungen
nur daran erinnert, daß bei vielen totemisti-
schen Völkern das Totemtier zu gewissen
Zeiten rituell von der Gesamtheit des Stam¬
mes gejagt, unter Anführung der Priester
oder Medizinmänner geschlachtet, dann ge¬
meinsam verspeist wird, was einer Identi¬
fikation mit dem Urvater auf kannibalisti-
scher Stufe gleichkommt. Und es sei darauf
aufmerksam gemacht, daß das Christen¬
tum im heiligen Abendmahl symbolisch
das Gleiche tut, wie der Primitive, wenn er bei Anlaß einer religiösen
Zeremonie seinen Totem aufißt: 1 die animistische, d. h. die primitivste
Denkstufe ist also auch dem Christenmenschen
nicht ganz fremd.
Die meisten Masken der Roichtschäggeten tragen
nun noch ein weiteres totemistisches Zeichen, sie
sind gehörnt. Bald sind es Hörner, wie sie junge
Rinder tragen und wie man sie etwa an Statuen
des Moses (z. B. Mosesbrunnen in Bern) angebracht
sieht, dann finden sich an den Masken die krummen
Hörner der Widder und Ziegenböcke und die be¬
drohlicheren der Stiere. Manchmal hat man statt der
Hörner mächtige Eberzähne angebracht, die wieder¬
um wie kleine Hörner aussehen und den Masken ein
äußerst wildes Aussehen verleihen. Außer den Kuh¬
schellen zum Lärmmachen verwenden die Roich¬
tschäggeten immer auch Hörner von Kühen und
Stieren, in die sie blasen, um mit den dumpfen Tönen das Unheimliche
ihres Auftretens zu verstärken.
1) Freud: Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X, S. 186,
J
»Die Roiditschaggetene
453
Ihr Auftreten erinnert deutlich an dasjenige der primitiven Maskentänzer
bei Todesfällen. 1 2 Das Lärmmachen hat dort den Sinn, daß der abscheidende
und zum Dämon gewordene Geist aus den Gemarken der Lebenden ver¬
trieben werden soll, denn sein Bleiben, bzw. seine Rückkehr bedeutet Unglück,
Krankheit und Tod." Wenn man über das Verhalten der primitiven Masken¬
tänzer liest oder sie an Ort und Stelle studiert, so erhält man den Eindruck,
daß die Tänzer noch ältere und mächtigere Ahnengeister bedeuten, die, wie
Schurtz 3 aussagt, die Aufgabe haben, die bösgesinnten Geister zu versöhnen
oder zu vertreiben, so eben auch den Geist eines eben Verstorbenen.
Über die Bedeutung der Hörner in der Völkerkunde, im Volksglauben
und im allgemeinen Sprachgebrauchs hat Marie Bonaparte 4 eine aus¬
führliche Arbeit geschrieben. Die Hörner bedeuten im Sinne einer ^Ver¬
schiebung nach oben den Penis des Urvaters und seine Potenz ist durch
die Verdopplung — zwei Hörner — augenfällig dargestellt.
Wenn wir zu den Roichtschäggeten zurückkehren und zugleich Freuds
Ausführungen in „Totem und Tabu“ (S. 18» ff.) im Auge behalten, so
können wir sagen: die jungen Burschen, die sich an zwei bestimmten Nach¬
mittagen des Jahres verkleiden, mit Lärm wie die Teufel (Dämonen) oder wie
Muni (Stiere, die man ausschließlich zur Fortpflanzung verwendet) durchs
Dorf rasen und Frauen und Mädchen mit ihrer merkwürdigen und aus alter
Zeit überlieferten und ererbten Spritze besudeln, benehmen sich so wie die
Sohnesgeneration nach dem Tode des Urvaters, die sich nach voll¬
zogener Identifizierung mit ihm in den Besitz seiner Macht und —
seiner Frauen setzt. 5
Welchen symbolischen Wert die Spritze besitzt, liegt so sehr auf der Hand,
daß er jedermann sofort klar wird, auch wenn er die Traumsymbolik nicht
kennt: ihre Bedeutung scheint auch schon Rütimeier offensichtlich ge¬
worden zu sein.
1) Zulliger: Zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche. Wien 1924.
2) Unglück, Krankheit und Tod werden bei den Primitiven überall bosgesinnten
Dämonen zu ge schrieben. Die Dämonen sind die Geister Abgeschiedener und bedeuten
eine Projektion der Schuldgefühle der Lebendgebliebenen gegenüber dem Verstorbenen.
3) Schurtz, op. cit., S. 116.
4) Über die Symbolik der Kopftrophäen. Imago, Bd. XIV, 1928, Heft 1, S. 100 ff.
5) Freud: Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X, S. 170 ff. Ferner berichtet Wirz
(op. cit.), daß in Neuguinea nach den rituellen Maskentänzen mit deutlichen totemisti-
schen Wesenszügen, denen eine gemeinsame Schlemmerei gefolgt ist, sexuelle Orgien
im Busch stattfinden, wobei, wie angedeutet wird, es äußerst wild zugeht und jede
beliebige Frau jedem beliebigen Manne angehören kann — die Inzestscheu wird also
für die betreffende Festnacht überwunden, der Inzest ist möglich und bleibt ungestraft.
Imago XIV.
30
4&4 Hans 2-ulliger
Bezeichnend sind die Flüssigkeiten, mit denen man die Frauen anspritzt: auf-
geschwemmter Ruß, Jauche und Blut— Ingredienzien, die zum Gedanken¬
kreis der anal-urethral-sadistischen Entwicklungs- und Denkstufe gehören und
für das Unbewußte ein Äquivalent bedeuten für das Sperma.
Der Maskenbrauch der Roichtschäggeten mit seinem Befruchtungszauber
ist aus der Auflehnung der Sohnesgeneration gegen die Vätergeneration ent¬
sprungen, er wendet sich gegen den ersten Besitz der Vätergeneration, das
sind die Frauen, und bedeutet die symbolische Erfüllung der Ödipuswünsche
in einer für Kulturmenschen etwas schmutzigen, bäurisch-derben, jedoch
als Scherz gedachten Handlung.
Rütimeier bezeichnet den Roichtschäggetenbrauch ausdrücklich als einen
„Fruchtbarkeitszauber“. Nach meinem Erachten handelt es sich jedoch
eher um einen Befruchtungszauber oder überhaupt nur um eine Koitus¬
symbolik. — Wenn z. B. der oberbayrische Bauer mit seiner Frau in die
keimende Saat geht, um dort Geschlechtsverkehr vorzunehmen, im Glauben,
daß hernach das Getreide besser gedeihe, so unterscheidet sich dieser eigent¬
liche Fruchtbarkeitszauber wesentlich vom Lotschtalerbrauche: der Zweck
ist bewußt, der Brauch hat den deutlichen Sinn eines Analogiezaubers
und er wird ausgeführt, um ein bestimmtes und klar gewünschtes
Ziel zu erreichen. Die Lötscher wissen jedoch nicht um Sinn und Zweck
ihrer Zeremonie und betrachten sie als einen mutwilligen Scherz, der zum
Auftreten der Maskierten überlieferungsgemäß gehört.
Es ist wiederum Freud, 1 der uns aufgezeigt hat, daß sich das Unbewußte
und die verdrängte Welt der Triebe oft den Scherz, den Witz und das
Humoristische auswählt, um sich durchzusetzen, und wir können sagen,
daß ein solcher Ausweg vom Standpunkte sozialer Wertmessung viel harm¬
loser und deshalb wertvoller ist als die Flucht in die Krankheit. Das will
nun nicht bedeuten, daß bei den streng religiös gesinnten Lötschentalern
keine Neurosen Vorkommen, im allgemeinen jedoch darf gesagt werden,
daß bei ihnen der „Kampf der Generationen“ weniger auffällig tobt als
anderswo, daß man das Alter sehr verehrt und daß auch die wirtschaft¬
lichen Zustände noch äußerst patriarchalisch 2 sind. Vielleicht haben sie es
1) Freud: Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewußten. Ges. Schriften,
Bd, IX. — Der Humor. Ges. Schriften, Bd. XI.
2) Anneler: Lötschen. Bern 1921. — Oft bleiben die Familien auch nach der
Heirat der Kinder beieinander, sie bewirtschaften das Land gemeinsam und auch die
Wohnhäuser und vor allem die Speicher bleiben Gemeinbesitz, ebenso Alp- und Be¬
wässerungsrechte usw.
s>Die Roicktsdiaggetenft
^66
nicht zuletzt darum bleiben können, weil die Bräuche und Sitten es den Tal¬
einwohnern erlauben, den aus der Ödipussituation resultierenden Aggressions¬
tendenzen Abfluß zu verschaffen. 1
Diese Bräuche und Sitten bedeuten für die LÖtscher im Ablaufe ihres
Lebens weit mehr, als etwa die Fastnachts- und andere Gebräuche bei uns,
ihnen haftet noch etwas Mystisches, auch im Scherze Ernsthaftes und Schweres
an. Für die Psychologie der LÖtscher ist charakteristisch, daß neben der
religiösen Gläubigkeit der Aberglaube einen reichlichen Platz einnimmt —
hinter jedem Stein, unter jedem Baume lauert irgendein Geist (Dämon) und
die Leute wissen viel von ihnen in Form von Geschichten, Sagen und
Märchen zu erzählen. 2
Es bleibt schließlich noch übrig, einige Vermutungen über den Namen
„Roichtschäggeten“ bekanntzugeben. Rütimeier sagt uns darüber, daß man
im Lötschentale den Kindern erkläre, die maskierten Leute kämen aus den
Kaminen heraus.
Sie sind also offenbar aus dem Herde entstiegen. Der „väterliche Herd“
hat für das Unbewußte bei allen Völkern den Symbol wert des Mutterleibes.
Auf Formosa werden die Toten, wie Govern 3 erzählt, unterm Herd be¬
stattet, was den Sinn hat, daß sie in die Mutter zurückkehren. 4 Es liegt
nahe, daß die Aussage, die Roichtschäggeten entstiegen den Kaminen, d. h.
für die Verhältnisse im Lötschentale (Sennhütten, ziemlich primitiv gebaute
Häuser) den Rauchfangöffnungen, in die Sprache des Unbewußten übersetzt,
1) Als eine solche Abfuhr, zugleich als ein sozusagen „gemilderter“ Roichtschäggeten-
brauch, dürfte der durch den katholischen Hauptgeistlichen des Tales angeführte, in
der Kirche beginnende und mit einer Prozession verbundene „SegenSonntag“ be¬
zeichnet werden. Die wehrfähige Mannschaft der Dörfer, vorab die jungen Männer,
erscheinen bei dieser farbenprächtigen und imposanten Prozession, die den Zweck hat,
das Tal zu segnen und den himmlischen Schutz für die Kulturen und Wohnstätten
anzurufen, in vererbten Uniformen aus der napoleonischen Zeit, die Köpfe mit mächtigen
und schweren Bärenfelltschakos geziert. Wer keine solche Uniform besitzt, — meist
die Söhne der ärmeren Geschlechter, — erscheint in derjenigen des schweizerischen
Heeres. An gewissen Stellen, wo der Segen über das Land ausgesprochen und das
Allerheiligste gezeigt wird, feuern die jungen Männer ihre Flinten in die Luft ab.
Dabei wenden sich die Gewehrläufe — ob zufällig? — sowohl in Kippel als in Blatten
nach der Richtung des Friedhofes hin. Nach den Zeremonien wird auf Kosten der
Gemeinde getrunken („Gemeindetrank“) und gefeiert. — Der Sinn dieses traditionellen
Brauches scheint bei den Lötschern vergessen zu sein, doch stimmt er genau mit den
Zeremonien der Dämonenaustreibung der Wilden und jnit den mittelalterlichen Teufels¬
austreibungen in unseren Gegenden überein.
2) Siegen: Gletschermärchen. Bern 1921. Anneler, op. cit.
3) Govern: Unter den Kopfjägern auf Formosa. Stuttgart 1923.
4) Zulliger, op. cit. S. 51,
30 *
456 Zulliger: »Die Roiditsdaaggeten«
heißen dürfte, sie entsteigen dem Mutterschoße. 1 Wir sind nicht im Besitze
von Indizien, die beweisen konnten, daß damit der Schoß der Urmutter ge¬
meint sei, möchten jedoch auch eine solche Auslegung in den Bereich der
Möglichkeit ziehen und vermuten. Jedenfalls kann mit Sicherheit gesagt
werden, durch die Geburtssymbolik werde deutlich, daß die Roichtschäggeten
eben „Söhne“ sind, dem väterlichen Herd Entstiegene, nicht der Väter-, sondern
der Sohnesgeneration Angehörige. Unter diesem Aspekte will uns die
Bezeichnung für die Lötschentaler Maskierten nicht zufällig erscheinen und
wir werden der nicht uninteressanten Erklärung teilhaft, daß die Roich¬
tschäggeten in ihrer Bekleidung die Insignien des Urvaters, in ihrer Be¬
zeichnung wahrscheinlicherweise einen Hinweis auf die Urmutter an sich
tragen.
1) Eine achtzehnjährige, sehr wohlbehütete Pfarrerstochter, deren sexuelle Auf¬
klärung durch ihre Mutter dahin lautete, daß die kleinen Kinder von einem Engel
gebracht würden, erhält ein Schwesterchen, und fragt in einem Gespräche die Mutter:
„Ich mochte nur wissen, wo kam der Engel herein? Kam er vorn durch die
Küche oder kam er hinten durch die Stube herein? Sag’ mir nur dieses, liebe
Mutter, damit ich wieder schlafen kann ..Hinter dieser Frage steckt das lür die
Tochter brennende Problem, ob die Kinder genital (vorn — durch die Küche) oder
anal (hinten — durch die Stube) zur Welt kommen, und wir finden auch hier die
Küche als Symbol für die weiblichen Geschlechtsteile. (Siehe Zeitschrift für psycho¬
analytische Pädagogik, Jahrg. I, S. 230.)
Zur Funktion der jüdischen Türpfostenrolle 1
Von
Georg Langer
Prag
Die jüdische Türpfostenrolle, Mezuzzah, 2 ist eine kleine Pergamentrolle,
auf der nach den alten traditionellen Vorschriften zwei kurze Absätze aus
dem Pentateuch geschrieben sind, in denen sich die Worte befinden:
„Und schreibe sie (die Bibelverse) auf die Mezuzzoth (Pluralform von
mezuzzah) deines Hauses und in deine Tore!“ (Deut. 6, 9 und 11, 20).
Die Mezuzzah wird also an jedem Türpfosten — rechts beim Eingang, ein
Drittel von oben, in schiefer Lage — befestigt. Auch Frauenwohnungen
müssen mit Mezuzzoth versehen sein, obzwar die Frau sonst von den meisten
Riten befreit ist. Synagogen brauchen hingegen keine Mezuzzoth, da sie nicht
bewohnt sind. Während des Beischlafes müssen die Mezuzzoth, insofern sie
sich innerhalb des Wohnraumes befinden, mit einem Tuch bedeckt werden,
doch wird nachdrücklich verlangt, daß die Mezuzzah vor der Tür, d. h. an der
Außenseite des Einganges, befestigt wird. Abgebrauchte, fehlerhafte Mezuzzoth
werden ähnlich wie die Tephillin (Gebetkapseln) und Gesetzesrollen auf dem
Friedhofe begraben. Im allgemeinen sind aber die Vorschriften über Mezuzzoth
etwas milder als die über Tephillin und Gesetzesrollen (Näheres im §ulhan
Aruk, Joreh Deah II, c. 285—291), da sie eine kleinere Anzahl von Bibel-
versen enthalten als die Tephillin . Eine vorschriftsmäßig verfertigte Mezuzzah
schützt den Hauseingang vor bösen Geistern und vor Sünde.
1) Die vorliegende Arbeit bildet ein Kapitel eines größeren Werkes über „Phalli-
sche Rudimente in jüdischen Riten“.
2) Zur Aussprache der hier transkribierten hebräischen Wörter: z, zz ist gleich dem
deutschen weichen s auszusprechen, wie etwa im Worte lesen; das subpunktierte h
liegt zwischen dem deutschen h und ch . Die subpunktierten Buchstaben t, $, k sind
explosiv auszusprechen, £ ist dem deutschen sch gleich.
458
Georg Langer
Das erwähnte „Schreiben an den Türpfosten“ des Deuteronomisten, das
zunächst allegorisch gemeint zu sein scheint, das aber im Judentum wört¬
lich genommen wird, ist durchaus kein aus der Luft gegriffenes Bild. Es
ist vielmehr einer uralten Tradition entnommen. Beschriebene Türpfosten
wurden z. B. bei den letzten Ausgrabungen eines Tempels des altkanaaniti-
schen Stabgottes Maker in Beth-San (Palästina) gefunden. Freilich ist aus
dieser Inschrift ihr apotropäischer oder sonst kultischer Charakter nicht ganz
klar ersichtlich. Doch werden wir im Verlaufe unserer Untersuchung der
kultischen Verehrung des Türpfostens, beziehungsweise auch der Hausschwelle
und des Querbalkens im altsemitischen Kulturkreise näherkommen.
Wir wollen nun zunächst den Ausdruck „ mezuzzah “ auf seinen ursprüng¬
lichen Sinn untersuchen. Das jüdische Hebräisch (vielleicht nicht ganz über¬
einstimmend mit anderen hebräischen Dialekten) versteht unter dem Worte
„mezuzzah“ erstens den Türpfosten, zweitens die Schriftrolle an diesem Tür¬
pfosten. Man ist geneigt, die letztere Anwendung des Wortes auf einen sprach¬
lichen Übertragungsvorgang von der ersten Bedeutung zurückzuführen. Tat¬
sächlich ist die Annahme dieses Vorganges in der historischen Zeit nicht
kurzerhand abzuweisen. In diesem Falle würde es sich aber lediglich um
ein klassisches Beispiel für sprachliche Rückübertragung der Bedeutung
handeln. Denn ursprünglich bedeutete der Ausdruck „ mezuzzah “ nicht den
Türpfosten, sondern einen gewissen Gegenstand an dem Türpfosten oder
in seiner Nähe, über dessen Beschaffenheit wir zunächst nicht im klaren sind.
Das Wort „ mezuzzah “ ist nicht hebräischer Herkunft und darf keinesfalls,
wie es früher allgemein geschah, von dem hebräischen Verbum zuz (bewegen)
abgeleitet werden. Das Wort „ mezuzzah “ ist ein babylonisches Lehnwort, das
ursprünglich mazzazu oder manzazu , auch muzzazu lautete und vom akkadi-
schen Verbum nanzazu bzw. nazzazu abgeleitet wird (siehe Friedr. Delitzsch:
Assyrisches Wörterbuch). Die Bedeutung dieses Verbums ist: „Stehen, sich
stellen, zum Dienste der Gottheit stets bereit stehend . . . von Göttern, die
kraft ihrer eingravierten Embleme als dauernde Zeugen funktionieren“
(Delitzsch: Assyrische Lesestücke. Glossar). Nach Alfred Jeremias (Altes
Testament, S. 363) bedeutet das babylonische Nomen mazzazu : „Standort
der Gottheit.“ In der babylonischen Astronomie ist dieses Wort ein Terminus
für die Mondstation ebenso wie das Wort isdu, welches Nachtlager bedeutet.
Dementsprechend nennt auch das Chinesische die Mondstation siu, „Nacht¬
asyl“ (A. J eremias: Handbuch, S. 102). Hingegen werden auch die Obelisken,
die vor dem Eingang des Tempels gewöhnlich standen, mazzazu genannt
(A. Jeremias: Altes Testament, S. 487).
Zuv Funktion der jüdischen Ttirpfosteurolle
4$ 9
Bei den Phöniziern gab es heilige Türpfosten, die mit einem Phallus
versehen waren (James Hastings: Encyclopaedia of Religion and Ethics.
Vol. 10, p. 96, unter Poles and Posts).
Bei den Abessiniern, die mit den Semiten auch sonst manchen Charakter¬
zug gemein haben, werden amputierte Genitalien (Skrotum und Penis) als
Kriegstrophäen bzw. Hochzeitsgeschenke im Innern der Häuser über der Tür
aufgehängt, nachdem die Haut geschunden, aufgeblasen und ausgestopft wurde
(Otto Stoll: Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie. Leipzig 1908).
Nebenbei bemerkt: es hat auch bei den Israeliten einen ähnlichen
„Skalpierungsbrauch“ gegeben. So veranlaßt der König Saul den jungen
Helden David (I. Sam. 18, 25), ihm hundert „Vorhäute“ (d. h. Glieder) der
Philister als Brautpreis für seine Tochter Mikal zu überbringen. Über die
weitere Verwendung dieser Kriegstrophäe wird nicht berichtet. Doch wird
erwähnt, daß die Philisterglieder „für den König gefüllt“ wurden (dort,
Vers 27), was zwar vielleicht bloß als eine sprachliche Wendung aufzufassen
ist, anderseits aber ganz sonderbarerweise an den abessinischen Brauch er¬
innert. (Vgl. Rank: Inzestmotiv, S. 308.)
Es scheint daher nicht unwahrscheinlich zu sein, daß die Mazzazu-
obelisken die Nachtlager der Gottheit sind und bereit dastehen, als kraft
ihrer eingravierten Embleme funktionierende Götter, die offenbar die Funktion
der abessinischen Phalli erfüllen, also eine apotropäische, abschreckende Be¬
deutung haben, deren psychologischer Inhalt allerdings noch der Klärung
bedarf.
Über das Wesen und die Beschaffenheit der babylonischen Mazzazu ist
uns nicht viel bekannt. Es dürfte sich daher lohnen, einen Blick in die
Archäologie des nahe verwandten grekoromanischen Kulturkreises zu werfen,
um uns zu überzeugen, ob es nicht auch da ähnliche kultische Objekte
gab, die uns auf die eigentliche Wesenheit der babylonischen Mazzazu mit
einiger Bestimmtheit schließen lassen. Wir werden sehen, daß sich in dieser
Hinsicht der grekoromanische Kult auch mit dem abessinischen in seltsamer
Weise berührt.
Auf Straßen, Grenzen und vor Häusern wurden von den Hellenen die
„Hermen“ aufgestellt. Diese bestanden aus einem Pfeiler, der aus Holz oder
Stein verfertigt und mit einem Phallus versehen war, „denn phallische Dar¬
stellungen waren von jeher von apotropäischer Kraft (Jessen bei Roscher
unter Priapos).
Des Priapos’ ithyphallisches Standbild war ebenfalls ein bewährtes Schutz¬
mittel. Ja es gab sogar schützende Inschriften des Priapos. Zum Beispiel:
„Custos sepulcri pene destricto deus Prüzpus ego sum mortis et vitae locus“
(ibid.). Auch Phallusbilder am Eingänge griechischer und römischer Häuser
sowie einiger alter französischer Kirchen kommen vor (Stoll, Fig. 55 und
S. 673).
Es scheint, daß die grekoromanischen Hermen, bzw. die apotropäischen
Priaposstatuen und -inschriften mit den Obelisken — die übrigens seitens der
Hellenen mitunter „Phalli“ genannt werden (Lucian: De Dea Syria, 16) —
und mit den babylonischen Manzazen tatsächlich wesensverwandt sind.
Man wird wohl bei einer oberflächlichen Betrachtung der jüdischen
Mezuzzah einwenden, daß diese mit den phallischen Hermen und mit den
Manzazen nichts Gemeinsames hat, da sie bloß aus einer nüchternen kleinen
Pergamentrolle besteht, die allerdings an dem Türpfosten befestigt wird, doch
lediglich die heiligen Bibelworte von der Einheit Gottes, von der Liebe zu
ihm und Mahnungen zum Einhalten seiner Gebote enthält. Selbst die Tat¬
sache, daß es auch schützende Priaposinschriften gab, und daß die Abessinier
die erbeuteten Glieder ihrer Feinde über dem Eingang ihrer Wohnungen
befestigen, kann bisher nicht als ausreichendes Argument für die Verwandt¬
schaft unserer Mezuzzah mit der heidnischen phallischen Ideenwelt angesehen
werden.
Nun sind jedoch die schützenden Priaposinschriften als Vervollständigung
oder gar als Ersatz des ithyphallischen Standbildes der Gottheit eine ver¬
hältnismäßig junge Einführung, ein recht spätes Glied in einer langen Ent¬
wicklungskette. Darum müssen wir aber auch — ganz analog — die Frage
stellen, ob nicht etwa auch die jüdische Mezuzzah eine ähnliche Entwicklung
durchgemacht hat, mit anderen Worten, ob ihre heutige Gestalt denn ihre
ursprüngliche ist.
Zuvor sei hier aber zur Entwicklung der grekoromanischen Hermen noch
folgende Stelle aus Roscher (S. 1091) zitiert: „Ein Schritt weiter in der
Entwicklung war es, wenn man auf den entweder noch roh gelassenen oder
viereckig behauenen Stamm einen Knauf setzte, den Schaft mehr oder weniger
mit Gewändern bedeckte und unter dem Kapitäl die Maske des bärtigen Gottes
anbrachte . . . Einen weiteren Fortschritt bedeutet die Sitie, den architektoni¬
schen Abschluß des Pfostens fallen zu lassen und den vollständig als
Rumpfbild ausgeführten Kopf des Gottes (unmittelbar) auf den Pfosten zu
setzen . .
Bei der Mezuzzah spielte sich die Entwicklung, der im Judentum stark
wirkenden Verdrängungskraft gemäß, in einer mit der hellenischen Richtung
parallelen, aber noch viel radikaleren W 7 eise ab. Wir wollen hiezu zwei Talmud-
2<ur lunktion der jüdischen Türpfostenrolle 461
stellen erörtern. In beiden handelt es sich um ziemlich alte Elemente der
talmudischen Tradition, nämlich die Misnah und die Baraitha.
. Hat sie (nämlich die Mezuzzah) jemand auf einen Stab gehängt,
. . « so ist dies eine Gefahr und es hat nichts mit dem (göttlichen) Gebot
gemeinsam. Die Angehörigen des Hofes des Königs Monabaz 1 pflegten es so
zu tun, zum Andenken an die Mezuzzah“ (Menahoth 52b).
Diese Überlieferung stellt also fest, daß es einst einen Brauch gab, die
Mezuzzah nicht an dem Türpfosten selbst, sondern an einem Stab zu be¬
festigen, den man offenbar vor dem Haus- oder Zelteingang in den Boden
steckte oder irgendwie anders am Eingänge aufrichtete. In ähnlicher Weise
verfahren bis heute einige Nomadenstämme der nordamerikanischen Indianer
-mit einem heiligen Stab. Nach F. Starr (American Indians, p. 195 f.) wird
bei diesen Indianern der heilige Pfahl in der Mitte des Dorfes gepflanzt,
bei den nomadischen Stämmen wird er in einer Arche mitgetragen (also
analog der israelitischen Bundeslade) oder eingewickelt (so wie die jüdische
Gesetzesrolle und die hellenischen Hermen) und erst beim Lagern in die
Erde gesteckt, etwa so, wie es der jüdische Nomadenkönig Monabaz mit
seiner Mezuzzah tat. In manchen Fällen steht der phallomorph geschnitzte
Pfahl der Indianer an der Hausfront, in anderen am Hauseingang. Es
sind hiebei Totempfosten (Herkunftspfosten — also ein erotisches Element!)
und Todespfosten zu unterscheiden.
Sehr aufschlußreich ist hier aber der Brauch polyandrischer Araber, bei
denen, laut Strabos Bericht, derjenige Mann, der die Frau besuchte,
seinen Stock vor das Zelt legte (Benzinger: Hebräische Archäologie,
III. AufL, S. 113).
Die Autoren unserer Talmudstelle erklären das Verfahren vom Befestigen
der Mezuzzah rolle an einem Stab für etwas durchaus Unzulässiges, für eine
„Gefahr . Die Gefahr sollte offenbar darin bestehen, daß eine solche Stab-
mezuzzah jeglicher Schutzkraft vor bösen Geistern entbehrt. (Siehe den traditio¬
nellen Rasikommentar zur Stelle.) Eine wirksamere Androhung konnten sich
freilich die alten Rabbineu kaum ausdenken; denn der durchschnittliche
Mensch jener Zeit dürfte dadurch derart beängstigt worden sein, daß er
sich wohl nach solcher Warnung gehütet hat, die Mezuzzahrolle an einem
Stab zu befestigen. Wir werden im folgenden zu der Strenge, mit der die
alten rabbinischen Autoritäten Stabmezuzzoth behandelten, zurückkehren. 2
1) Herrscher zu Adiabene am Tigris, erstes Jahrhundert n. Chr.
2) Vorläufig wollen wir uns darauf beschränken, das von uns erwähnte Talmud¬
zitat zu kommentieren. Die Worte: „Und es hat (eine solche Mezuzzah) mit (der
462
Georg Latiger
Hier sei nur bemerkt, daß diese Gefahr, die der Thorakundige in der Stab-
mezuzzah zu sehen glaubt, eigentlich eine Glaubensgefahr bedeutet (vgl.
dieselbe Erklärung einer solchen „Gefahr“ beim Aussaugen des Blutes aus der
Beschneidungswunde bei H. H.Medini in Sede Hemed, Kuntaros ha-Milah).
Die Frage nach dem Grunde dieser Glaubensgefahr läßt aber nur eine
Antwort zu:
Die Stabmezuzzah war eben ein allzu deutliches „Andenken an den
heidnisch-phallischen Mazzazu der Babylonier und an die grekoromanischen
Hermen, die, wie bereits erwähnt, gleichfalls aus Stäben bzw. Holzpfeilern
bestanden, aber statt einer Schriftrolle mit einem Phallus, später auch mit
einer priapischen Inschrift versehen waren; der fromme Text der Mezuzzäh
ist quasi als Opposition gegen die heidnische Sitte an ihre Stelle getreten.
Doch sei hier darauf hin ge wiesen, daß der jüdische Gott jener Zeiten eben¬
falls einen ziemlich ausgeprägt phallischen Charakter besaß.
Von einer gewissen Verbreitung der Stabmezuzzah noch in der älteren
talmudischen Zeit zeigt auch eine zweite Talmudstelle, derzufolge unter
den aufgezählten Stabarten, die eine eventuelle „Unreinheits“empfänglichkeit
besitzen, von einem Stabe die Rede ist, in welchem sich der Aufnahms¬
raum für eine Mezuzzäh befindet (Kelim XVII, 16); in diesem Falle wurde
also die Schriftrolle in den Mezuzzahstab hineinversenkt, was augenschein¬
lich weniger anstößig war als die oben besprochene Sitte (die Unreinheits¬
empfänglichkeit bedeutet nicht Verbot). Wurde die phallusähnliche Pergament¬
rolle an der Außenseite des Stabes befestigt, so war die Ähnlichkeit mit
der phallischen Herme noch viel deutlicher. Mit diesen archaischen Bräuchen
dürften wohl auch die modernen Sitten Zusammenhängen; die Mezuzzah-
rolle wird entweder in eine Röhre gelegt und an dem Türpfosten be¬
festigt (Menahoth 33 h, äulhan Aruk, Joreh Deah 289, § x), so wird es
heute meistens bei den Westjuden gehandhabt, — oder die Pergamentrolle
der Mezuzzäh wird in den Türpfosten hinein versenkt, wie es meist die
Erfüllung des) dem göttlichen Gebote nichts gemeinsam“, stellen offenbar eine andere
Begründung des jabbinischen Verbotes der Stabmezuzzah dar als die Androhung der
„Gefahr“. Sie gelten wohl jener Kategorie von Menschen, die sich vor bösen Geistern
nicht in dem Maße zu fürchten brauchen wie die Laien. Sie durften eher an ie
Thoragelehrten gerichtet sein, denen es sich mehr um ein Ideal, nämlich um die
Erhabenheit der Erfüllung göttlicher Gebote, handelt. Daß der Thoragelehrte weniger
Furcht vor bösen Geistern hat als der Laie, ist aus einer anderen talmudischen Vor¬
schrift zu ersehen. Er braucht nämlich aus diesem Grunde die schützenden bema-
verse vor dem Schlafe nicht auszusprechen (Berakoth 5 a )* Genau so wie si
Medizinmann der Primitiven vor bösen Geistern weniger fürchtet als ein gewo n-
licher Eingeborener.
Zur Funktion der jüdischen Türpfostenrolle
Ostjuden tun. Der Stab wurde also in beiden Fällen völlig verdrängt und
bloß die heilige Schriftrolle beibehalten, analog wie die Griechen den ur¬
sprünglichen Pfahl fallen ließen und den Götterkopf an den Pfosten be¬
festigten. 1
Auch die babylonischen pfahlförmigen Grenzsteine (Kudurru) waren Phalli.
Oft stehen auf ihnen lange Verwünschungen aufgeschrieben (Alfred
Jeremias: Handbuch, S. 118 ff.). Ähnlichen Charakters waren wohl auch
die ägyptischen Dedpfeiler (A. Moret: Mysteres £gyptiens, Paris 1922, p. 16)
und die bereits erwähnten indianischen Dorfpfähle.
Desgleichen kennen auch die afrikanischen Neger den apotropäischen
Sinn des Steckens: „Der bastumbundene Stecken, der in Akwapim vor
der Haustüre aufgesteckt wird, gilt als Schutz vor bösen Geistern oder
als Träger der gegen Feinde gerichteten Verwünschungen (Frobenius:
Allerlei aus Volks- und Menschenkunde, S. 54).
Bei den Melanesiern gibt es nach R. H. Codrington (The Melanesians,
p. 174) ebenfalls heilige Haustorpfähle (siehe James Hastings: Encyclo-
paedia, Vol. 10, p. 96).
Die südamerikanischen Indianer erzählen, in alten Zeiten hätten die Haus¬
pfosten menschliche Sprache gesprochen. Ein Mann, der entfliehen wollte,
mußte zuerst den Hauspfosten beauftragen, ihn nicht zu verraten (siehe
Th. Koch-Grünberg: Indianermärchen aus Südamerika, S. 24 f.). Das
russische Märchen berichtet vom Speichel eines flüchtenden Mädchens, der
von der Türschwelle aus an Stelle der Flüchtigen antwortete (Bozena
Nemcovd: Märchen; Surina pan kral a Otolienka). Desgleichen spricht
der Speichel an Stelle eines Flüchtlings in einem anderen Indianermärchen
(siehe bei Koch-Grünberg, S. 56). Speichel ist aber, wie aus der Psycho¬
analyse bekannt (siehe die Arbeiten von Abraham und Ferenczi in der
Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. IV, S, 71 f. und Bd. IX,
S. 67) — ein Spermasymbol. Wenn wir nun in Betracht ziehen, daß
das Haus und die Tür — wie wir noch zeigen werden — (auch im Juden¬
tum) ein Symbol des weiblichen Genitales ist, so erscheint wohl der Schluß
berechtigt, daß in den indianischen und slawischen Märchen vom von der
Türe aus sprechenden Speichel Rudimente bzw. Elemente desselben Motivs
vorliegen, das das im mittelalterlichen Europa so sehr beliebte Zotenmärchen
1) Die Untersuchung der phallischen Bedeutung des Stabes, die übrigens von
E. v. Sydow (Primitive Kunst und Psychoanalyse) zur Genüge gezeigt wurde, sei
einer anderen Arbeit Vorbehalten. Siehe auch hei Geza Röheim: Mondmythologie.
Imago XIII, S. 504 f.
„Von der sprechenden Fotze“ unentstellt wiedergibt (siehe Ed. Fuchs: Er¬
gänzungsbände zur Sittengeschichte).
Die kultische Bedeutung des Querbalkens wird aus der Sitte ersichtlich,
nach der die Israeliten den Querbalken ebenso wie die beiden Türpfosten
mit Blut eines geschlachteten Opfertieres bestrichen, um die Häuser vor
dem Betreten des Dämons (Mashith) zu schützen (Ex. 12, 21—30). Der
Sinn dieses bis jetzt in Palästina gehandhabten Brauches ist nach Feststellung
der Vaginabedeutung der Tür klar: Der Dämon empfindet vor dem „Betreten“
des mit Blut bestrichenen Hauses — das hebräische Verbum ba, kommen,
betreten, bedeutet auch begatten (z. B. Gen. 29, 21 b; 35, 16 b, i8bu.a.) —
denselben Abscheu, wie der Primitive vor dem Verkehr mit der Frau in der
Menstruationszeit (über das biblische Verbot des Geschlechtsverkehrs mit einer
Menstruierenden vgl. Leviticus 15, 19—33; 18, 19; 20, 18). Das Blut hat
hier also ähnliche apotropäische Bedeutung wie der drohende Phallus (= Stab)
an dem Eingang und wie die Mezuzzah,
Daß die phallischen Symbole mit besonderer Vorliebe vor das Tor gesetzt
wurden also nicht z. B. an die Front des Hauses oder sonstwo, wie es
bei manchen Indianerstämmen der Fall ist, erscheint jetzt als recht sinn¬
voll, denn die Türe bedeutet im Unbewußten das weibliche Genitale. Der
Talmud kennzeichnet den allzu stürmischen Beischlaf durch folgende Aus¬
drucksweise: „Du hast Tür und Riegel ausgerissen“ (ICethuboth 10 a). —
Ein Bräutigam, der in der Brautnacht findet, daß seine Braut keine Jung¬
frau mehr ist, erhebt seine Klage gegen sie mit den Worten: „Eine offene
Tür habe ich gefunden“ (ibid.).
Die Stabmezuzzah an der Tür würde demzufolge den geschlechtlichen
Akt symbolisieren: den Phallus in der Vagina. Bei der ihres Stabes verlustigen,
„kastrierten‘ Rollenmezuzzah hat die Entstellung des ursprünglichen Sinnes
weitere Fortschritte gemacht. Will man den Mut haben, diese „kastrierende“
Entstellung wirklich als Verweiblichung des phallischen Symbols aufzufassen,
so findet man ethnologisches Material, das diesen Gedanken stützen könnte:
Der Wandel von einem rein männlichen, phallischen Emblem zu einem
Weiblichkeitssymbol durch Kastrierung ist nämlich durchaus kein verein¬
zelter Fall in der Religionsgeschichte. Wir begegnen Ähnlichem in den
Mysterien des Kybelekults (Lucian: „De Dea Syria“), wo der Myste nach
einer Selbstkastrierung Frauentracht anlegt, um sich dann als Hierodul einer
passiven sakralen Päderastie hinzugeben (Ap ul ejus: Metamorphoses, LVIII).
Auch bei den indianischen Mujerados werden ursprünglich starke Männer
von ihren Stammesgenossen entmannt und in Frauenkleider gekleidet, um
2ur Funktion der jüdischen Türpfostenrolle
465
als kultische Lustknaben verwendet zu werden ( 0 . Stoll: Geschlechtsleben
in der Völkerpsychologie, S. 142). Vom ähnlichen Verhalten der indischen
Kastraten berichtet Kama Sutra (Kap. IX, Auparistaka), Ähnliches ist auch
bereits aus der vorgeschichtlichen Zeit zu verzeichnen. So wurde auf der
Insel Marajö (in der Mündung des Amazonenstromes) ein prähistorisches
Tonobjekt gefunden, das einen weiblichen Rumpf darstellt, obzwar es
selbst phallomorph ist (Stoll, S. 801 f., Fig. 61). Hieher gehören auch
die bekannten Priaposstatuen in asiatischer Frauenkleidung. Eine Analogie
bietet schließlich auch die jüdische Gesetzesrolle, deren phallische Stab¬
gestalt in ein Frauenkleid (= Matpahath) gehüllt wird.
Für die geschichtliche Deutung dieses Phänomens liegt folgende Mög¬
lichkeit auf der Hand: Die Phallusverehrung hat ein Janusgesicht. Einer¬
seits ist sie auf die hohe Einschätzung des eigenen Phallus zurückzuführen,
anderseits auf die Scheu vor dem väterlichen Phallus, die die apotropäische
Funktion des Phallus und im erweiterten Sinne der Nacktheit überhaupt zum
Teile motiviert (eine andere Erklärung der „Nacktheit als Schreckmittel“
siehe bei Ferenczi (Bausteine zur Psychoanalyse, II. Bd., S. 222—226.
Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1927).
Es scheint somit möglich zu sein, daß mit der Verdrängung der auch
im israelitisch-jüdischen Kulturkreise nachweisbaren gynäkokratischen Idee,
in deren Epoche die Phallusverehrung ihre Blütezeit gehabt haben dürfte,
der Phalluskult zugunsten einer Weiblichkeitsverehrung (die Frauentracht
des Priapos u. ä.) umgestaltet wurde, wobei der kastrierte Phallus bloß seine
magische abschreckende Gewalt beibehielt. Das Frauengeschlecht blieb aller¬
dings auch in späteren Zeiten der Verehrung des Phallus treu (vgl. Plutarch:
De Iside et Osiride, 36; Herodot: Historiae, II, 48).
Neben den Mezuzzoth und den Querbalken waren es auch die Tür¬
schwellen, die im altsemitischen Kulturkreis eine kultische Bedeutung
hatten. Denn die Gottheit scheint nicht allein an den Mezuzzoth, Manzazu,
Obelisken usw. geruht zu haben, sondern mitunter auch auf den heiligen
Türschwellen. So ist beispielsweise bei dem Propheten Jehezkiel der Gott
Israels als auf der Tempelschwelle lagernd zu finden (Ez. 9, 3; 10, 4, 18): Der
Fürst soll sich vor der Tempelschwelle ehrerbietigst verbeugen (ibid. 46, 2).
Hingegen erscheint dem Propheten Sephaniah die Verehrung der heiligen
Tempelschwelle, auf die das Volk nicht zu treten pflegte, als eine verwerf¬
liche heidnische Sitte. Er bedroht jeden, der die Tempelschwelle verehrungs¬
voll überspringt, mit schweren Strafen (Zeph. 1,9). — Der Stamm des Wortes
miftan , Schwelle, ist: ftn. Im Hebräischen bedeutet dieser Stamm auch eine
L
Giftschlange: pethen. (Die Schlange als Phallussymbol ist bekannt.) Im
Arabischen bedeutet das Verbum fatana (desselben Stammes) verführen,
verlocken, verliebt machen.
Auch den alten Philistern war die Tempelschwelle heilig; sie durfte mit
den Füßen nicht berührt werden (I. Sam. 5, 4—5). Bezeichnend ist die volks¬
tümliche Erklärung, die im alten Israel dieser Philistersitte gegeben wurde
(ibid.). Es heißt nämlich, daß einst die abgeschlagenen Glieder des philisträi-
schen Fischgottes Dagon auf der Tempelschwelle gefunden wurden. (Auch
der Fisch ist ein Phallussymbol.) Diese altisraelitische Erklärung ist daher
offenbar proisraelitisch tendenziös gefärbt und beabsichtigt, die Gottheit der
feindlichen Philister durch die angedeutete Kastration in ihrer Würde herab¬
zusetzen. Sie zeigt uns aber gleichzeitig mit aller Deutlichkeit die Bedeutung
der Tempelschwelle bei den alten Israeliten selbst.
Der Umstand, daß unter die Schwelle Kinder als Bauopfer gelegt
wurden, wie aus Ausgrabungen ersichtlich (vgl. auch I. Regum 16, 34),
zeigt den Uteruscharakter des Hauseinganges (vgl. Hans Zulliger; Be¬
stattungsgebräuche, S. 39 ff.). Desgleichen die etruskische Sitte, an dem Tür¬
pfosten des Grabes das weibliche Spurium abzubilden (Bachofen,
Bd. I, S. 325).
Wir finden ferner, daß selbst die Verehrung, die der Mezuzzah sonst
allgemein gezollt wurde, von den Propheten mitunter als etwas Heid¬
nisches angesehen und perhorresziert wird. Eine solche Stelle befindet
sich in dem Buche Jesajas (Jes. 57, 8): „Du stellst dein Denkmal hinter
der Tür und der Mezuzzah , . als Vorwurf gegen die Israeliten gemeint.
Im ähnlichen Sinne versteht auch Hastings den Bibelvers (Jes. 57, 8):
„Eine Hand sähest du . . . w Unter dieser Hand sei offenbar der Phallus
oder sein Symbol zu verstehen, wie ihn die alten Phönizier — nach
Hastings Meinung — an den Türpfosten zu befestigen pflegten.
Nun darf auch der dunkle Jesajasvers (6, 4) im ähnlichen Sinne gedeutet
werden: „Da erbebten die Zapfen der Türschwellen . . Denn auch unter
diesen „Zapfen“ sind offenbar Phalli zu verstehen. Bemerkenswert ist, daß
der gebrauchte Ausdruck ammoth (Sing, ammah, ein Zapfen) im Hebräischen
auch Penis und ferner ein Längenmaß bedeutet. Ähnlich hatte das eng¬
lische Wort yard, das als Bezeichnung für ein Längenmaß verwendet wird,
ehemals zwei andere geläufige Bedeutungen: a) ein Stab und b) der Phallus.
In letzterem Sinne wird es von englischen Seeleuten noch heute gebraucht
(Ernest Jones: Die Theorie der Symbolik. Internationale Zeitschrift für
Psychoanalyse, Bd, V, S. 257).
Zur Funktion der judisdien Türpfostenroll»
e
Auch bei der Niederschrift des Textes der jüdischen Mezuzzahrolle
scheint man einst erotische Embleme durch die Formierung der Zeilen¬
gruppen dargestellt zu haben. So heißt es im Talmud (Menahoth 31 b): „Es
sagte Rabbi Johanan: Eine Mezuzzah, die man gemacht hat zu zwei, zu
drei, zu einem Wort (pro Zeile) hat Geltung, allein, wenn man sie nicht
wie einen Bauch (oder Zelt) gemacht (d. h. geschrieben) hat, allein, wenn
man sie nicht wie einen Schwanz gemacht hat.“ Wir haben hier bei unserer
wörtlichen Wiedergabe dieses Talmudspruches denselben bereits dadurch dem
Verständnis näher gebracht, indem wir oben nach „zu einem Wort“ die
Worte „pro Zeile“ eingeschaltet haben. Zur näheren Erklärung sei noch
der traditionstreue Talmudkommentar „Ra§i“ herangezogen: „Wie ein
Bauch, d. h. wenn die erste Zeile aus einem, die zweite aus zwei, die
dritte Zeile aus drei Wörtern usw. besteht; wie ein Schwanz, d. h. wenn
umgekehrt die erste Zeile x Wörter zählt, die zweitex—1, die dritte Zeile
x — 2 usw.“ (siehe Rasikommentar zur Stelle). — „Als Bauch“ würden also
diese Buchstaben derart geordnet sein, daß sie ein auf der Hypotenuse
stehendes Dreieck bilden, als „Schwanz“ ein auf der Spitze stehendes. In
beiden Fällen ist sowohl die Ausdrucksweise auffallend — das hier ge¬
brauchte Wort kubbah hat drei Bedeutungen: Bauch, Zelt, Freudenhaus —
als auch das Verbot selbst. R. Johanan hat ja ausdrücklich jede beliebige
Unregelmäßigkeit bei dem Niederschreiben des Mezuzzahtextes für statthaft
erklärt, nur gerade die „Bauch-“ und „Schwanz“form sind verboten.
Wir können also zusammenfassen, daß die unansehnliche Pergamentrolle
an dem Türpfosten, geheiligt durch die in ihr aufgezeichneten Bibel-
verse, ursprünglich als Ersatz des ehedem gebrauchten phallischen Emblems
bzw. als eine Opposition gegen dieses aufzufassen ist, der aber bis in die
ältere Talmudzeit noch einzelne Züge seines anstößigen Vorgängers beibehielt.
Allerdings ist es infolge des langen, intensiven Verdrängungsprozesses nur recht
wenig, was vom ursprünglichen phallischen Charakter übrig blieb: Die apo-
tropäische Kraft, wie sie die römischen Priaposinschriften, die babylonischen
Kudurrugrenzsteine, die afrikanischen und indianischen Totemstäbe und Phalli
am Eingang der Wohnstätten hatten, — und ihre längliche Form.
Der etwaige Einwand, daß die Mezuzzah ihre besondere apotropäische
Bedeutung kraft der heiligen Bibelverse besitzt, die sie enthält, wäre un¬
begründet. Erstens enthält der Inhalt der Mezuzzahverse kein Wort von einem
Schutz, durch welches die Schutzkraft, die der gesamten Thora beigemessen
wird, speziell in diesen Versen konzentriert wäre. Und zweitens spricht das
gesamte von uns hier gesammelte Material für eine andere Herkunft der
468
Langer: Zur Funktion der jüdischen Türpfostenrolle
Schutzkraft. Es ist eher umgekehrt: Die Verse haben deshalb besondere apo-
tropäische Kraft, weil sie auf die Mezuzzahrolle aufgeschrieben werden.
Die Besprechung der eingangs erwähnten Keuschheitsvorschriften, die in
einem Raum, in welchem die Mezuzzah aufgeschlagen ist, zu befolgen sind,
wollen wir uns einer anderen Gelegenheit Vorbehalten. An dieser Stelle sei
bloß auf die Möglichkeit hingewiesen, daß sie desselben Ursprungs sein
könnten wie die apotropäische Gewalt der Mezuzzah: Der drohende Vater¬
phallus mobilisiert die Kastrationsangst und verhindert dadurch die sexuelle
Betätigung.
über Jas Verhält
nis von R
zur Xraumarbeit
aum un
d .Zeit
Vortrag in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft am $. Mai 1927
Von
Emil Simonson
Berlm-Halensee
Was ich Ihnen hier vortragen will, ist ein nach den Bedürfnissen psycho¬
analytischer Fragestellung bearbeiteter Ausschnitt aus einer umfassenderen
Arbeit, die zum Ziele hat, eine Grenzberichtigung erkenntnistheoretischer
Möglichkeiten zu versuchen, die infolge neuer wissenschaftlicher Ergeb¬
nisse des letzten Menschen alters nötig geworden ist. Ich nenne insbesondere
die Wandlungen in der Denk- und Forschungsweise der theoretischen und
kosmischen Physik, ferner die Relativitätstheorie, Freuds Tiefenpsychologie
und Schleichs phylogenetisch fundierte Psychophysik.
Wenn heute ein Psychoanalytiker einen neuen Gedanken in unserer
Wissenschaft bringen zu können glaubt, so wird er vorsichtigerweise erst
nachforschen, ob dieser Gedanke nicht in den Schriften Freuds zumindest
bereits angedeutet ist. Dementsprechend finde ich in „Jenseits des Lust¬
prinzips“ fl) die folgenden Satze: „Ich gestatte mir, an dieser Stelle ein
Thema flüchtig zu berühren, welches die gründlichste Behandlung ver¬
dienen würde. Der Kant sehe Satz, daß Zeit und Raum notwendige Formen
unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser psychoanalytischer Er¬
kenntnisse einer Diskussion unterzogen werden. Wir haben erfahren, daß
die unbewußten Seelenvorgänge an sich ,zeitlos 4 sind. Das heißt zunächst,
daß sie nicht zeitlich geordnet werden, daß die Zeit nichts an ihnen ver¬
ändert, daß man die Zeitvorstellung nicht an sie heranbringen kann. Es
sind dies negative Charaktere, die man sich nur durch Vergleichung mit
Imago XIV.
51
Emil Simonson
47o
den bewußten seelischen Prozessen deutlich machen kann. Unsere abstrakte
Zeitvorstellung scheint vielmehr durchaus von der Arbeitsweise des Systems
JV-Bw herangeholt zu sein und einer Selbstwahrnehmung derselben zu ent¬
sprechen. Bei dieser Funktionsweise des Systems dürfte ein anderer Weg
des Reizschutzes beschritten werden. Ich weiß, daß diese Behauptungen sehr
dunkel klingen, muß mich aber auf solche Andeutungen beschränken.“ —
Der hier angedeutete Gedanke ist bereits von verschiedenen Ausgangspunkten
her berührt worden. Herbert Spencer ( 2 ) kommt im Verlauf seiner psycho¬
logischen Analysen zu dem Ergebnis, „daß die subjektive Auffassung von
Raum nur durch Ansammlung und innige Verknüpfung der Er fahrungen
vom Raume in objektiver Auffassung abgeleitet worden ist“. (Bd. II, S. 180.)
— „. . . und wenn es nun gewisse äußere Beziehungen gibt, die jeder
Organismus in jedem Augenblick seines wachenden Lebens erfährt, — Be¬
ziehungen, die absolut konstant und universell sind, — so müssen sich not¬
wendigerweise entsprechende innere Beziehungen ausbilden, die ebenso ab¬
solut konstant und ebenso absolut universell sind. Solche Beziehungen
haben wir in denen von Raum und Zeit vor uns“. (Bd. I, S. 488.) —
Von einer anderen Seite her ist Einstein zu derselben Ablehnung der
apriorischen Begriffe Kants, insbesondere des Raum-Zeit-Begriffes, gekommen,
Gedankengänge, die im Rahmen unserer Aufgabe hier nur eben gestreift
werden können. In einer Auseinandersetzung mit den Neukantianern (})
führt Einstein aus, Kants System der apriorischen Begriffe und Normen
sei nur so lange zu verteidigen gewesen, wie die spätere Naturwissenschaft
in ihrem für erwiesen gehaltenen Bestände nicht gegen jene Normen ver¬
stoßen habe. Dieser Fall sei aber jetzt mit der Relativitätstheorie unbestreit¬
bar eingetreten. Wenn man nicht behaupten wolle, daß die Relativitäts¬
theorie der Vernunft widerstreite, könne man an Kants System der apriorischen
Begriffe nicht festhalten.
Von Psychoanalytikern haben bisher, soweit mir die Literatur gegen¬
wärtig ist, Spielrein (ij), Stegmann (16) und Fenichel (17) zu dieser
Anregung Freuds Stellung genommen. Spielrein beschränkt sich mehr auf
die ontogenetische Entwicklung beim kleinen Kinde, doch kommen wir
später noch auf die Frage zurück, ob nicht die Entfaltung dieser Vor¬
stellungen beim Kinde als Wiederholung eines entwicklungsgeschichtlich
bereits festgelegten Mechanismus anzusehen ist. — Auch für Stegmann
steht es unter Bezugnahme auf Fenichel fest, daß das Unbewußte der
Empirie angehört. Fenichel hält aber die Kantsche Anschauung fest, daß
wir nur deswegen die Natur der Dinge nicht erkennen können, weil weder
Uber das Verkält nis von Raum und Zeit zur Traumarbeit
47 1
Raum noch Zeit, weder Kausalität noch Finalität der Natur der Dinge an¬
haften, wir vielmehr in aprioristischen, von der Erfahrung unabhängigen
Formen denken.
Von einem vierten Ausgangspunkte her kommen meine Ihnen hier vor-
zutragenden Überlegungen ebenfalls zu einer Ablehnung der Apriorität des
Raum- und Zeitbegriffes, soweit dadurch ihre Unwandelbarkeit bedingt
wäre, und treffen mit Freuds Annahme zusammen, daß unsere abstrakte
Zeitvorstellung durchaus von der Arbeitsweise des Systems W- Bw y mit
anderen Worten von der Erfahrung hergeholt zu sein scheint.
Wenn unser Thema auch nur von Raum und Zeit in der Traum¬
arbeit spricht, so sind wir doch genötigt, vorher auf die Gesamtstellung
der Raum-Zeit-Begriffe in Psychologie und Erkenntnistheorie mit tunlich¬
ster Kürze einzugehen, wie sie sich aus dem von mir unternommenen Ver¬
such, auf der Grundlage der Schl eich sehen phylogenetischen Psychophysik
weiterzubauen, ergibt.
Schleich j) geht von der Irritabilität als der ersten Lebenserscheinung
aus. Sehr bald setzten Differenzierungsvorgänge mit dem Ziele der Arbeits¬
teilung ein, deren Entwicklung bis jetzt noch nicht abgeschlossen ist und
es niemals sein wird. Hier erinnern wir uns, daß in „Jenseits des Lust¬
prinzips“ auch Freud diese Differenzierung und Arbeitsteilung schon für
das reizempfindliche Urbläschen zum Zwecke des Reizschutzes postuliert,
ebenso an späterer Stelle den Verzicht einzelner Zellen und ganzer Organis¬
men auf narzißtische Selbsterhaltung im Dienste der Gesamtorganisation
als Differenzierungsvorgänge hervorhebt. — Die augenblicklich am weitesten
fortgeschrittene Differenzierung, sagt Schleich weiter, spielt sich erkennbar
ab in den Ganglienschichten des obersten Teiles der Hirnrinde, in den
Sphären des Bewußtseins. Wiederum erinnern wir uns, daß auch Freuds
dynamisches Schema das System JV-Bw an die Grenze der Außenwelt ver¬
legt. Dieses unser Bewußtsein, sagt Schleich, ist aber nicht die definitive
Krönung des Baues, sondern es ist nur ein Übergang zu anderen Bewußt¬
seinsformen und -phänomenen. Alles, was jetzt instinktiv, unbewußt, auto¬
matisch vor sich geht, war früher bewußter Vorgang. In jeder Entwick¬
lungsepoche machte immer die jedesmalige letzte Reihe der vorgeschobenen,
jüngst entwickelten nervösen Ganglien zum Zwecke der Orientierung in
der Außenwelt die ganze Bewußtseinssphäre aus. Auch das, was wir jetzt
Bewußtsein nennen, ist nichts als der in der Entwicklung am weitesten
vorgeschobene, in Differenzierung begriffene Teil des nervösen Apparates
überhaupt. Er hat naturgemäß seinen wurzelartigen Anschluß an alle rück-
51*
47 *
Emil iSimonson
wärts gelegenen, mehr oder weniger unbewußten Mechanismen der Psyche
behalten, aber alles ist in fortlaufender Bildung, in immer tätiger Organi¬
sation auf neue Außenreize reagierend begriffen. Hier müssen System¬
regulierungen Platz greifen, hier müssen neue Bahnen induziert werden,
hier muß das einmal Gewonnene, das definitiv Erfahrene, das Zweck¬
mäßigere durch Hemmungen bewahrt und die eingeschleiften Bahnen vor
Entgleisungen und Seitensprüngen gesichert werden. Dieser Teil unserer
Seele ist ihre schwächste, empfindlichste, irrtumsreichste, unsicherste, weil
jüngste Stätte der Evolution. Das Unbewußte, zweckmäßig Gewor¬
dene kann sich nicht irren, es arbeitet mit automatischer Sicher¬
heit. Aber auch hier im Unbewußten war einst dieselbe Unsicherheit
in der Deutung der Außenweltswirkungen, wie sie noch heute in den
obersten Schichten der Menschenhirne herrscht, auch hier mußte die Mensch¬
heit in ihren Kindheitsjahren sehen, fühlen, riechen lernen.
Die hier vorgetragenen Vorstellungen Schleichs sind bei mehreren Vor¬
gängern bereits angedeutet. Schon Herbert Spencer (2) hat ausgeführt, der
geistige Prozeß verrate eine Unvollkommenheit der zerebralen Organisation,
er weise auf eine neue, ungewohnte Tätigkeit hin, die keinen vorbereiteten
Mechanismus finde. Die aktiven Vibrationen gehen nach ihm unbewußt
vor sich bis zu dem Augenblick, wo sie auf Zentralelemente treffen, welche
ihrer weiteren Übertragung einen Widerstand entgegensetzen. In diesem
Augenblicke und unter diesen Bedingungen werden sie bewußt. Der be¬
wußte Prozeß sei im Grunde eine Übergangsstufe von einer niederen Ge¬
hirnorganisation zu einer höheren, er bezeichne die Neuheit, die Ungewi߬
heit, das tastende Zögern, einen Mangel an Schnelligkeit und Genauigkeit
in der Übertragung, die Nervenwege seien nicht genügend gebahnt, um
dem Reize den Durchgang ohne Aufenthalt zu gestatten. Gedächtnis, Ver¬
nunft und Wille verschwinden gleichzeitg in dem Maße, als die psychischen
Veränderungen automatisch werden. — Allerdings scheint Spencer bei diesen
Ausführungen nur an die ontogenetische Entwicklung zu denken. Alexander
Herzen (6), der sich diesen Gedanken anschließt, gibt ihnen die Prägung:
„Das Bewußtsein begleitet immer und notwendig die Urbarmachung des
Hirnterrains, während es das übrige ignoriert, außer es wäre eine neue Kom¬
bination zu bilden . u Dagegen erwägt Du Bois-Reymond in einer seiner
akademischen Reden schon 1881 (j) das Für und Wider der Möglichkeit,
der Übung eine Bedeutung für die Phylogenie zuzuschreiben.
Schleich bemüht sich nicht ohne Erfolg, sein Hypothesenfachwerk mit
den Bausteinen und dem Mörtel gesicherter morphologischer und histo-
Uber Jas Verhältnis von Raum und Zeit zur Traumarbeit
4/3
logischer Tatsachen auszufüllen und zu untermauern, und zwar, indem
er die entwicklungsgeschichtliche Auffassung von einer allmählichen Bio¬
genese auch unserer Zentralapparate auf den Nachweis formativer Er¬
kennungsmerkmale einzelner Phasen der Entwicklung auch im Bau
des Gehirns und seiner Teile einschließlich des Rückenmarks stützt.
Entsprechend der Evolutionstheorie ist auch der Mensch ein Zellstaat,
in welchem die einzelnen, zu seiner Lebensäußerung, Erhaltung und Fort¬
pflanzung zweckdienlichen Organe gebildet sind durch Differenzierung und
Teilung ursprünglich einheitlicher Zellindividuen. Dieser Differenzierungs¬
vorgang, diese Entwicklung ist, wie schon oben von der funktionellen
Seite her gesagt, auch jetzt nicht abgeschlossen, sie wird es niemals sein.
Es sind deutliche Anzeichen vorhanden, daß unser Bewußtsein nur einen
Übergang zu anderen Bewußtseinsformen und -Phänomenen darstellt. Die
anatomisch-histologische Begründung dieser Annahme bilden Untersuchungen
von Golgi, Ramon y Cajal, Waldeyer, Köllicker und Andriezen.
Hiernach vermögen wir in unserer grauen Hirnrinde vier Schichten zu
analysieren. In der periphersten Schicht weisen die Ganglienzellen höchst
unregelmäßige Zeichnung auf, die einzelnen Zellindividuen zeigen eine
auffällige Analogie zu den Urformen des Lebens, den amöboiden Leibern
mit uni- und multipolaren Protoplasmafortsätzen. Hier erscheint kein Typus,
keine Konformität wie in den tieferen Schichten der Rinde, sondern hier
findet sich eine Rückkehr zu einfachen Grundformen des Lebens, welche
eben den Gedanken an eine entwicklungsgeschichtliche Differenzierung
gerade an dieser Stelle nahelegt. An diesen Zellen wird es schwer, hier
und da einen Achsenzylinderfortsatz, den eigentlichen Leitungsdraht, von
anderen Protoplasmafäden zu unterscheiden. Die Ganglienzellen der zweiten
Schicht haben schon einen viel ausgesprocheneren Charakter; sie sind
Pyramiden artig gestaltet, ihre Fortsätze sind schärfer gezeichnet, der Achsen¬
zylinderfortsatz ist viel deutlicher als Einheit und Sonderheit gegenüber
den Protoplasmafortsätzen zu erkennen, man sieht bereits eine Gleichrich¬
tung zu ihrer Stellung, eine gewisse, wenn auch nur in der Gesamtheit
erkennbare Gleichmäßigkeit. Diese gleichartige Lagerung wird noch deut¬
licher in der dritten Schicht, deren Zellen auch größer sind. Die Achsen¬
zylinder beider Schichten gehen zum Teil abwärts in die Tiefe, ihre baum¬
förmigen Verzweigungen aber reichen aufwärts bis in die höchste Zell¬
schicht. Die Zellen der vierten Schicht sind kleiner, mit einem reichen
Netz baumförmiger Fasern und mit deutlichen, in allen Richtungen ver¬
laufenden Achsenzylindern. Diese Achsenzylinder haben das Eigentümliche
Emil jSimonson
474
einer sehr scharfen Zeichnung und lösen sich vor allem sehr bald nach
ihrem Verlauf in ein ungeheuer feines und nach vielen Seiten verfolg¬
bares Netz von Fasern auf, ein Verhalten, welches sie deutlich als organi¬
sierteres Gebilde vor den Zellen, namentlich der obersten Schicht, kenn¬
zeichnet.
Analog diesem histologischen Bilde geht eine Betrachtung des ganzen
Gehirns und des makroskopischen Vergleichs seiner einzelnen Teile. Das
Großhirn bietet den Anblick eines Gesichtes mit wenig Ausdruck. Der schwer
verfolgbaren, mit dem Auge unsicher erfaßbaren, wulstartigen Gestalt des
Großhirns stehen die knolligen, schärfer ausgeprägten und leicht sich charak¬
terisierenden Formen des Mittelkleinhirns und Rückenmarks gegenüber. Hier
ein unsicheres Gewirre von darmschlingenartigen Windungen, deren genaue
Beschreibung der sichersten Feder des Anatomen spottet, ein labyrinthisches
Ineinandergeschobensein, gleichsam wie zufällig abgeknickter und ein¬
gebogener Schläuche, dort eine Genauigkeit der Form, für welche in dem
ganzen organischen Reiche zahlreiche, sehr treffende, bisweilen obszöne
Vergleichsgestaltungen sich geradezu aufdrängen. Da sind Schmetterlings¬
formen, Wurmzeichnungen, Baumumrisse, Schenkel, Geschlechtsteile vor¬
handen, und mehr im innern der Substanz Haube, Pyramide, Streifen, schwarze
Substanzen, Vierhügel, Linsenkerne, Kreuzungen. Mit Leichtigkeit gibt der Stift
des Zeichners die ausgeprägten Formen wieder, während ein durchaus sicheres
Bild des Großhirns eben dieser Unsicherheit der Umrisse wegen nur der
schärfste Blick vermitteln mag. — Diesem Unterschied entspricht die ver¬
hältnismäßige Weichheit, Zartheit, gelatineartige Beschaffenheit der Substanz,
während die festere Form der anderen Teile durch eine größere Derbheit und
Härte des Baumaterials bedingt ist. Das spricht für die Anschauung, daß hier
etwas noch nicht so Fertiges wie jenes Feste schon in der Gestalt des
Großhirns vorliegt. Schleich zieht zum Vergleich zahlreiche ähnliche Vor¬
gänge auch sonst im Körper heran. Der weichen, in der Zeichnung unsicheren
Form der Milz, des Knochenmarks, der Lymphdrüsen mit dein wenig aus¬
gesprochenen inneren Bau, und am meisten des Blutes entspricht ein physio¬
logisch immer erneuter Wandel und Wechsel der Elemente. Er folgert daraus:
Je fester ein Gewebe ist, um so klarer gereift, um so sicherer ausgeprägt, um
so weniger wandlungsfähig erscheint uns auch sein inneres Gefüge
und sein physiologischer Anteil an der allgemeinen Arbeitsteilung des
Organismus. Dieser makroskopische und mikroskopische Parallelismus legt
die Auffassung einer allmählichen entwicklungsgeschichtlichen Differen¬
zierung von der Medulla oblongata her über das Kleinhirn und Mittelhirn
Uber Jas Verhältnis von. Raum unJ 2/eit zur Traumarbeit
47 $
bis zur Hirnrinde nahe. Die Schlußfolgerung zitiere ich wörtlich: „Diese
Tatsache, daß die Anordnung, Gruppierung der Teile mit ihrer mehr
typischen Regelmäßigkeit und Symmetrie in der Medulla oblongata auf¬
wärts zur Großhirnrinde in den gangliösen Partien immer weniger deut¬
lich wird, um in den obersten Hirngraulagern völlig regellos, atypisch und
polymorph zu werden, ist für uns der Ausdruck eines entwicklungs¬
geschichtlichen Faktums von weittragender Bedeutung. Wir lesen
daraus, daß der Übergang von automatischer Koordination der nervösen
Funktionen bis in die Sphäre der Sinnes Wahrnehmungen und jene der
apperzeptiven psychischen Vorgänge ein allmählicher ist, daß also die instink¬
tiven Fähigkeiten des Menschen in die bewußten Empfindungen hinüber¬
reichen, und daß ein prinzipieller Gegensatz zwischen Bewußtem
und Unbewußtem nicht existiert, daß aus den erworbenen, instink¬
tiven und automatischen Fähigkeiten durch immer fortschreitende Differen¬
zierung an der entwicklungsgeschichtlichen Peripherie des nervösen Zentral-,
apparates sich die Bewußtseinsvermittlung herausgebildet hat. Dieser Vorgang
kommt niemals zum Stillstand; auch für das Bewußtsein dieser Menschheits¬
epoche ist es denkbar, ja wahrscheinlich, daß sich sein Problemleben zur
instinktiven Regulation aller augenblicklichen Daseinspostulate umbildet, daß
das, was heute zweifelhaft, strittig, unsicher, ungewiß ist (die Probleme
der Ethik, Religion, Kunst, Politik), dereinst ihre instinktive Lösung, wie
beispielsweise das sozialpolitische Problem bei den Termiten gelöst erscheint,
finden werden/ 4
An dieser Stelle setzen meine Überlegungen ein. Als augenblicklichen
Inhalt unseres gegenwärtigen Problemlebens nennt Schleich die Probleme
der Ethik, Religion, Kunst, Politik, der sozialen Gemeinschaft. Diese Auf-
zählung ist selbstverständlich nicht erschöpfend. Ich möchte nun unter den
Problemen, mit deren Gestaltung und Abgrenzung der Menschengeist noch
ringt, hier die Begriffe des Raumes und der Zeit hervorheben. Sie sind
ja ein Hauptproblem, ja man kann ruhig sagen, das Problem, auf das alles
erkenntnistheoretische Denken irgendwie hinausläuft. Seit Jahrtausenden
gehört es zu jenen Fragen: „Worüber schon manche Häupter gegrübelt,
Häupter in Hieroglyphenmützen, Häupter im Turban und schwarzen Barett,
Perückenhäupter und tausend andere arme, schwitzende Menschenhäupter.“
Eine noch heute so peinvoll empfundene Frage ist selbstverstänlich noch
nicht in den Hafen instinktiver Regulation eingelaufen. Seit Kant, der Raum
und Zeit nur als Projektion des Ich gelten ließ, sind die Berkeleyschen Sub¬
jektivsten, die heutigen Psychomonisten und Solipsisten auf noch radikaleren
Eiml jSimoiison
Bahnen noch nicht weitergekommen. Wenn Vorpostengehirne 1 wie Rie-
mann, Minkowski, Einstein mit neuen seelischen Pseudopodien in das
Dunkel des Problems eine Spanne weit hinaustasten, so zeigt das alles, daß die
Menschheit noch lange mit diesem Problem ringen wird, ehe es das Nirvana
instinktiver Regelung erreicht. Denn auch die Vorstellung der Welt als in
sich gekrümmte vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit kann nur eine
temporäre Erkenntnis sein, vielleicht für lange Zeit ausreichend, aber letzten
Endes doch nur temporär gültig. Unterstellen wir einmal frei nach Schiller:
„Mit der Mathematik steht die Natur im ewigen Bunde, was die eine ver¬
spricht, leistet die andere gewiß.“
Geben wir ferner zu:. Es wird eine Epoche kommen, in der die Zeit als
völlig gleichberechtigte und vertauschbare vierte Dimension des Raumes der
menschlichen Vorstellung so geläufig sein wird, wie schon heute etwa die ja
auch erst erworbene Erkenntnis, daß unsere Antipoden nicht mit dem Kopf
nach unten hängen, obwohl die Erde eine Kugel ist. Aber die Mathematiker
lehren uns, daß ebenso wie die bereits jetzt fertig durchgearbeitete Mathematik
der vierten Dimension auch eine solche der fünften, sechsten, n-ten Dimen¬
sion denkbar und möglich ist. Unterstellen wir weiter, daß die Entwicklung
unserer Raum-Zeit-Anschauung dieser mathematischen Leitschiene parallel
gehen wird. Ein neuer Minkowski, ein neuer Einstein werden nach Äonen
der zukünftigen Menschheit die Erkenntnis einhämmern, die von ihr als
„Zeit“ empfundene Vorstellung sei nichts als die fünfte, völlig gleichberech¬
tigte Dimension des vierdimensionalen Raumes. Denken wir uns diesen Vor¬
gang in der phylogenetischen Entwicklung der Menschenhirne beliebig oft
wiederholt. Was ist gewonnen? n ist niemals = unendlich! In unsere nicht
mathematische Sprache übersetzt: Die Raum-Zeit-Vorstellung bleibt bis in
alle Ewigkeit Inhalt des Problemlebens. Ich muß mich demnach hier korri¬
gieren: Das Raum-Zeit-Problem wird, entgegen dem oben Gesagten, niemals
das „Nirvana instinktiver Regelung“ erreichen. Es wird immer, mögen wir
Schleichs. anatomisch-physiologische oder Freuds logisch-dynamische Lokali¬
sation vor Augen haben, die demnach auf dasselbe hinauslaufen, als Inhalt
des Problemlebens an der Grenze der Außenwelt in den zur jeweiligen Zeit
periphersten Schichten der grauen Rinde seinen Sitz haben. Diese Schichten
sind aber, wenn wir Schleich folgen, stets der entwicklungsgeschichtlich
jüngste, noch am wenigsten widerstandsfähige, daher schonungsbedürftigste
l) Schleich bezeichnet als „Vorpostengehirne“, was man sonst unter „Genie“
versteht, und vermutet bei diesem eine neue periphere Zellschicht der grauen Rinde.
über Jas Verhältnis von Raum und Zeit zur Traumarbeit
477
Teil der Großhirnrinde und bedürfen aus diesen Gründen der periodischen
Ausschaltung durch den Schlaf. Das bereits automatisch arbeitende Herz,
die Lungen, die Drüsen, sie brauchen keinen Schlaf, wohl aber unser schwan¬
kendes, irrtumreiches, in ständigem Ringen mit der Außenwelt begriffenes
Problemleben.
Damit sind wir bei der Erkenntnis angelangt, die uns von der klinisch-
induktiven Seite her die psychoanalytischen Erfahrungen bereits vermittelt
haben: Im Schlaf und also auch im Traume sind die Raum- und Zeit¬
vorstellungen ausgeschaltet, man kann, wie Freud es ausdrückt, „die Zeit¬
vorstellung nicht an die unbewußten Seelenvorgänge heranbringen“. Das¬
selbe muß auch für die Raumvorstellung gelten, denn auch sie ist, wie
die Zeltvorstellung, durchaus noch problematisch, nichts Fertiges, auch ihre
Lokalisation müssen wir daher in den obersten, der Außenwelt nächsten
Ganglienschichten suchen, und das um so mehr, als alle Denker von Kant
bis Einstein die beiden Probleme stets als zusammengehörig empfunden
haben. 1 — Wo die psychoanalytische Erfahrung der Ausschaltung des Raum¬
begriffs im Traume im Gegensatz zum Zeitbegriff etwa zu widersprechen
scheint, werden wir an späterer Stelle noch darauf einzugehen haben.
Ebenso wie im Traum zeigt sich auch in den Ermüdungs-, Inanitions- und
toxischen Psychosen die Raum-Zeit-Vorstellung als vornehmlich schonungs-
1) Die Annahme, daß die Ranmanschauung ebenso wie die Zeitanschauung in den
periphersten Rindenschichten lokalisiert ist, steht nicht im Gegensatz zu der Ver¬
mutung daß das Raumgefühl immerhin älter als das Zeitgefühl sein könnte. Man
kann sich denken, daß schon der Amöbe durch ihre tastenden Pseudopodien etwas
wie ein haptisches Raumgefühl vermittelt wird, während selbst bei höheren Tieren
von Zeitgefühl kaum die Rede ist. Wenn etwa der Hund sich zur Essenszeit pünkt¬
lich im Eßzimmer emstellt, so wird dieses „Zeitgefühl« wohl in jedem Einzelfalle
immer wieder von neuem durch einfache Assoziationen, wie Hunger, Gerüche und
bekannte Geräusche aus der Küche vermittelt. - S. Spielrein (, f ) hat schon gesagt
zuerst werde uns der Raumbegriff vertraut, dann der Kausalitätsbegriff und erst zuletzt
der Zeitbegriff. Daran hätte ich nur die Änderung des Wortes „Begriff“ in An-
schauung« oder „Vorstellung« vorzuschlagen, worauf später noch eingegangen wird
opielrein hat auch treffend daraufhingewiesen: Das Verschwundensein denkt sich, wie
Freud gezeigt hat, das kleine Kind als räumliche Entfernung, „gestorben“ wird im
Traum durch „abgereist“ ausgedrückt. „Es ist die Darstellung des Zeitlichen mittels
des Räumlichen«, wozu ich hinzufügen möchte: Vielleicht, weil die Raumvorstellung
immerhin phylogenetisch älter ist als die Zeitvorstellung und entsprechend wohl auch
ontogenetisch, wenn wir uns die Entwicklung des Kinderhirns nach der Geburt als
Fortsetzung des biogenetischen Grundgesetzes vorstellen, so daß die Grundlagen für
die Aufnahme der Raumerfahrungen früher als die für die Zeiterfahrungen bereit
waren. Auch Ferenczi ( 18 ) sagt schon: „Entsprechend dem biogenetischen Grund-
gesetz wiederholt sich also in der psychischen Entwicklung des Einzelwesens der art-
geschichtliche Entwichlungsiriodus der Psyche überhaupt,“
4/8
Eiml Simonson
bedürftig und wird Zuerst ausgeschaltet. Die akute Verworrenheit wird zwar
jetzt hauptsächlich der Schizophrenie und dem Wahnsinn zugerechnet aber
auch heute noch erkennt die Psychiatrie sie auch als selbständiges Krank-
heitsbild an Sie begegnet wohl dem ärztlichen Praktiker und Kliniker
häufiger als dem Anstaltspsychiater, infolge des akuten Verlaufs, als Folge¬
erscheinung von Erschöpfungskrankheiten, wie Kindbettfieber, Typhus
Erysipel, wenn sie auch vielfach unter der Diagnose „Inanitionsdelirien“’
rTstT r" . , SymPt ° menbild kt ^ UnSCren ZwCCk S6hr chara kte-
nstisch Besonders hervortretend ist die völlige Desorientiertheit in Raum
nd Zeit und die Bevorzugung von kriegerischen Bildern in den Delirien
ie an einem klinischen Beispiel können wir das Bild der akuten Ver¬
worrenheit aus einer genialen Selbstbeobachtung von Hermann Hesse er¬
kennen. In einem Feuilleton „Sommerschreck“ (8) erzählt er mit dichte-
erin'N rt aU In dei ' heißeSten Hochsommerzeit machte
Glmh^ K yem T mehr, ^g e F^vvanderung. Er schildert, wie in der
thitze Körper und Geist mehr und mehr ermatten, bis er nur noch
mechamsch weiterschreitet, um einen bewaldeten, in der Ferne sichtbaren
zitiere ich Törtlkh: “ UnSerem ZuSammenhan g interessierenden Stücke
Himmel die ” Mlttlerwelle bra nnte an dem gleichmäßig milchweiß bedunsteten
weiter, weil ich mußte. Ich war ja verurteilt Ja Ln u l ~ .f° h
♦ tt , , erurceiit. Ja, man hatte mich verurteilt wpfpti
iä«.m S “fe“ äT airTT L c i- rr *' 1 w,r - Nei ”-™»» ■>*«* »>■
S'thrJ, en, J 0h •* hatte „ich” »
etwa, “ililf T d ” freundlichen, weißhfctigen „ nd o(l
über Jas Verhältnis von Raum und Zeit zur Traumarbeit
■479
verspätet. Und jetzt das? Ich wollte ja nicht zurück, ich wollte ,ihnen
mC J\. Fre ude machen und feig sein und um Gnade bitten. Nein, nur das
nicht. Aber war es nicht ungerecht, lächerlich ungerecht und scheußlich? Und
wie weh es tat. Es tat weh, es tat kläglich weh, so durchs Feuer zu gehen.
1 1 konnte tch Gott selber um Rettung bitten, ganz leise, ohne daß die
andern es horten? Ja, das war gut. Und ich sagte leise vor mich hin: ,Gott -
lieber Gott. Aber es war zu spät, und die Flammen schlugen über mir zu-
sammen. ^
Hier sehen wir im Verlaufe einer fortschreitenden Insolation das Bild
einer akuten Verworrenheit mit kriegerischen und feindseligen Handlungen
und vor allem mit Desorientiertheit in Raum und Zeit. Die bayerisch
sprechenden Züricher, die Vermischung neuer Bekannter mit Gestalten der
Jugendzeit, das Plätzevertauschen von Städten und Landschaften, alles das
sind Vorgänge, die uns an die Traumarbeit erinnern. Wir finden also auch
hier bestätigt, daß die Zeit- und Raumvorstellungen frühzeitig bis zur Aus¬
schaltung ermüden und damit ihre Zugehörigkeit zu den entwicklungs¬
geschichtlich jüngsten und noch unfertigen Begriffen bekunden.
Aber nun stellt sich ein Bedenken ein: Wenn es uns mit diesen Dar¬
legungen gelungen sein sollte, einen weiteren Wahrscheinlichkeitsbeweis zu
liefern, daß den Raum- und Zeitbegriffen keine Apriorität zukommt, haben
Wlr uns etwa damit zugleich dafür festgelegt, daß Raum und Zeit im Sinne der
Relativitätstheorie nichts Absolutes sind, da wir uns doch oben auf Einstein
als Zeugen und Bundesgenossen berufen haben? Diese Frage stellt uns vor
ein schwieriges Dilemma, denn ihre Bejahung oder Verneinung würde gleicher¬
weise heißen, den Psychoanalytiker zum Schiedsrichter zwischen Einstein
und Newton einzusetzen. — In dieser schwierigen Lage erinnern wir uns,
daß ich bisher die Bezeichnungen „Begriff“ und „Anschauung“ auf Raum und
Zeit wahllos durcheinander angewendet habe. Und doch müssen sie streng
ausemandergehalten werden. Der in der Philosophie und der Physik gleich
heimische Physiker Moritz Schlick unterscheidet in seinem Buche „Raum
und Zeit in der gegenwärtigen Physik“ (?) zwischen „Raum und Zeit in
jenem ,objektiven Sinne, in dem diese Begriffe in der Naturwissenschaft
auftreten“, und dem „.subjektiven 1 psychologischen Erlebnis räumlicher und
zeitlicher Ausdehnung und Ordnung“. Die psychologische Quelle unserer
Vorstellungen von Raum und Zeit, unserer räumlichen Erfahrungen und
Schlüsse wurzeln unzweifelhaft in gewissen Eigenschaften unserer Sinnes¬
empfindungen, die uns nur durch unmittelbares Erleben bekannt werden._
Dagegen sei der objektive Raum des Physikers nur einer und werde von
unseren Sinneswahrnehmungen unabhängig gedacht. Er sei nicht irgend-
480 Emil Sitnonson
wie mit den Wahrnehmungen gegeben, sondern eine begriffliche Kon¬
struktion unanschaulicher Ordnung, nur durch eine Mannigfaltigkeit von
Zahlen (Koordinaten) begrifflich zu fassen. Ebenso sagt Schlick von der
subjektiven psychologischen Zeit, sie hafte allen Erlebnissen — nicht
bloß den sinnlichen — in gleicherweise an; aber dieses unmittelbare Er¬
lebnis der Dauer, des Früher und Später sei doch ein wechselndes, anschau¬
liches Moment, das uns denselben objektiven Vorgang je nach Stimmung
und Aufmerksamkeit bald lang, bald kurz erscheinen lasse, im Schlafe
ganz verschwinde und je nach der Fülle des Erlebten ganz verschiedenen
Charakter trage, kurz, es sei wohl zu unterscheiden von der physikalischen
Zeit, die nur eine Ordnung von den Eigenschaften eines eindimensionalen
Kontinuums bedeute. Diese objektive Ordnung habe mit dem anschaulichen
Erlebnis der Dauer ebensowenig zu tun wie die dreidimensionale Ordnung
des objektiven Raums mit den anschaulichen Erlebnissen der optischen oder
haptischen Ausdehnung. Entsprechend sieht er die Unvollkommenheit Kants
gegenüber Einstein darin, daß Kant immer nur von „dem“ Raume spreche,
ohne die anschaulichen Räume der verschiedenen Sinne voneinander und
vom Raume der physikalischen Körper zu sondern.
Dieser Raum-Zeit-Begriff geht uns als Psychologen nichts an. Wir haben
es nur mit dem psychologischen Erlebnis der Raum-Zeit-Anschauung zu
tun. Auch Freud vermeidet in den eingangs zitierten, im Vorbeigehen
aphoristisch hingeworfenen Sätzen den Ausdruck „Begriff“ und spricht nur
von Zeit Vorstellung. Wir können uns also im Einklang mit Schlick fühlen,
wenn wir in Übereinstimmung sowohl mit der psychoanalytischen Erfahrung,
als auch mit meinen obigen Folgerungen aus Schleichs phylogenetischer
Psychophysik unserer Raum-Zeit-Anschauung oder -Vorstellung Unwandel¬
barkeit und Apriorität absprechen, sie vielmehr als abhängig von der Arbeits¬
weise des W-Bw ansehen.
Einen scheinbaren Widerspruch zu der hier vertretenen Annahme, man
könne die Raumvorstellung ebensowenig wie die Zeitvorstellung an die
unbewußten Seelen Vorgänge heranbringen, bildet das unzweifelhaft häufige
Vorkommen des Raumfaktors im Traum. Indessen haben wir in der Bedeu¬
tung der direkten Rede im Traum eine willkommene Analogie. Wir nehmen
ja als gesichelte Tatsache schon seit dem Erscheinen von Freuds „Traum¬
deutung an, daß Äußerungen in direkter Rede stets aus dem wachen Leben
fertig in den Traum hinübergenommen sind. Analog liegt die Vermutung
nahe, auch die im Traum vorkommenden Raumgebilde seien etwas aus dem
Wachzustände fertig Übernommenes. Als willkommene Bestätigung dieser
Ul>er Jas Verhältnis von Raum und .Zeit zur Tratunarkeit
481
Annahme kommt soeben die Arbeit von Kulovesi: „Der Raumfaktor in
der Traumdeutung“ (11). Kulovesi hat gefunden, daß im Unbewußten mit
den erlebten Ereignissen auch deren räumliche Verhältnisse treu aufbewahrt
werden, und daß die Traumarbeit diese Raumverhältnisse ungeändert wieder¬
holen kann. Mit anderen Worten: der manifeste Traum und der latente
Traum liegen auf derselben topographischen Basis. Die Traumarbeit ver¬
dichtet große, bisweilen sehr große räumliche Verhältnisse in die kleineren
Maße der Traumszene, jedoch werden auch in dieser kleineren Szene die
räumlichen Richtungen und das Verhältnis der Abstände zueinander auf-
bewahrt.
In dem Vorkommen des Raumfaktors im Traume als etwas fertig Hinüber¬
genommenes liegt also kein Widerspruch gegen die Annahme, es komme dem
Fehlen der Raum- und Zeitvorstellung im Traume die dynamische Bedeu¬
tung zu, daß dadurch eine gewaltige Erleichterung der Traumarbeit
gegeben ist, sei es Verschiebung, Verdichtung oder die Ersetzung der inneren
Assoziationen, wie Ähnlichkeit, Kausalzusammenhang durch die sogenannten
äußeren, wie Gleichzeitigkeit, Kontiguität im Raum. Für das Zustande¬
kommen jeder dieser Arbeiten ist durch das Fehlen von Raum und Zeit
Hindernis oder eine Komplikation aus dem Wege geräumt.
Zusammenfassend können wir als Ergebnis dieser Untersuchung als wahr¬
scheinlich hinstellen: Die Raum- und Zeitvorstellung sind nichts jedem
Denkvorgang apriorisch undunveränderlich Anhaftendes. Das Träu¬
men ist ein solcher Denk-und Vorstellungsprozeß ohne Beteiligung
von Raum und Zeit an der Arbeit dieses Prozesses, weil die Raum-Zeit-
Vorstellungen infolge ihrer phylogenetischen Jugend zeitweilig durch den Schlaf
ausgeschaltet werden. Wo sie trotzdem eine Rolle im Traum zu spielen
scheinen, da nur in der Weise, daß, wie Freud sagt, die Zeit an den
Seelenvorgängen nichts verändert, und daß Raum Verhältnisse nur
als etwas Fertiges übernommen werden, eine Vermutung, die in den Be¬
obachtungen von Kulovesi eine weitere Stütze finden. Das Fehlen von Raum
und Zeit erleichtert die Dynamik der Traumarbeit, ja macht sie vielleicht
überhaupt erst möglich.
Ich möchte mit einigen apologetischen Bemerkungen schließen. Wenn
ich eben gesagt habe, das Ergebnis dieser Untersuchung könne als wahr¬
scheinlich bezeichnet werden, so kann ich dabei nicht die mehrfachen War¬
nungen Freuds vergessen, sich verfrüht auf derartige, mit einem spekulativen
Moment belastete Theorien einzulassen. In „Der Witz und seine Beziehungen
zum Unbewußten“ (12) heißt es z. B. (Ges. Schriften, Bd. IX, S. 165): „Die
Emil jSimonscm
Erfahrungen über die Verschiebbarkeit der psychischen Energie längs gewisser
Assoziationsbahnen und über die fast unverwüstliche Haftung der Spuren
psychischer Vorgänge haben es mir in der Tat nahegelegt, eine solche
Verbildlichung für das Unbekannte zu versuchen. Um dem Mißverständnis
auszuweichen, muß ich hinzufügen, daß ich keinen Versuch mache, Zellen
und Fasern oder die heute ihre Stelle einnehmenden Neuronsysteme als
diese psychischen Wege zu proklamieren, wenngleich solche Wege in noch
nicht angebbarer Weise durch organische Elemente des Nervensystems
darstellbar 1 sein müßten. —Das Mißtrauen gegen die Neuronenlehre WaT
deyers hat sich als wohl begründet erwiesen. Es sind jetzt dreißig Jahre her,
daß ich Schleich im Verlauf einer Unterhaltung einmal sagte, seine Psycho-
physik werde im Gegensatz zu seiner lokalen Anästhesie erst dann Beachtung
finden, wenn die Neuronenlehre verlassen sei, und das werde wohl ein
Menschenalter dauern. Die Zeit ist nun erfüllt, und der Beschäftigung mit
Schleichs Theorie steht nichts mehr im Wege, nachdem die Neuronenlehre
jetzt wohl allgemein verlassen ist. Für manche metapsychologische Probleme
wird sich Schleichs phylogenetische Psychophysik in Verbindung mit seiner
in unserem heutigen Zusammenhänge nicht erwähnten Theorie von der
Neuroglia als Hemmungsorgan vielleicht fruchtbarer erweisen, als man in
der Psychoanalyse heute noch erwartet. Ich erwähne in diesem Zusammen¬
hang Alexanders Arbeit (I)) über das Bewußtmachen längst instinktiv
geregelter, unbewußter Seelenvorgänge durch indische Fakire, das man sich
nach Schleichs Lehre durch Ausschaltung der jüngeren, periphereren, dem
Bewußtsein näherliegenden Schichten erklären könnte, gewissermaßen ein
rückwärts gekehrter Ablauf der phylogenetischen Maschine. Wenn Alexander
als das Gemeinsame in den verschiedenen indischen Versenkungsmethoden
das zielbewußte systematische Einziehen aller libidinösen Besetzungen,
auch des Intellekts, von der Außenwelt, und den Versuch, alle so frei¬
gewordenen Libidoquanten narzißtisch unterzubringen, ansieht, so scheint
er mir von der funktionellen Seite her in der Sprache der Psychoanalyse
dasselbe auszudrücken, als wenn ich sage, alles noch irgendwie Problema¬
tische, mit der libidinösen Beziehung zur Außenwelt Identische wird aus¬
geschaltet, der buddhistische Mönch zieht sich nur auf das Fertige, daher
nur der eigenen Persönlichkeit Gehörige, Vollkommenere, narzißtisch
zurück, wie nach dem von Alexander zitierten buddhistischen Text ein
Teich, der nur von seiner eigenen Quelle, ohne Zufluß von außen, gespeist
1) Von mir gesperrt.
Uber Jas Verhältnis von Raum und Zeit zur Traumarbeit ^83
wird. Auch das von Freud, Simmel, Alexander u. a. gelegentlich gestreifte
Problem des pränatalen Gedächtnisses könnte vielleicht von diesem Boden
aus einer Prüfung zugänglich sein.
Die Frage, wie die Konversionssymptome und andere somatische Er¬
scheinungen von der Psyche her verursacht werden, die in den letzten
Jahren im Anschluß an Groddeck von Simmel, Ferenczi, F. Deutsch,
Schwarz, Bälint, Heyer, M. Siegmann u. a. in Angriff genommen
worden ist, könnte ebenfalls auf dem Boden der Schleichschen Theorie
untersucht werden, mit Vorzugs weiser Berücksichtigung des ja die Gefäße
und die Inkretion beherrschenden Sympathikus. 1 Wenn auf dem letzten
Kongreß für innere Medizin Gaupp (Tübingen) gesagt hat, die Einheit
von Leib und Seele in der Person stehe fest, die Art ihrer Bindung frei¬
lich sei noch unbekannt, so könnten wir demgegenüber auf die über¬
ragende Stellung des Sympathikus bei Schleich hinweisen und eine ehr¬
liche Nachprüfung verlangen. Allerdings hat sich die klinische Medizin
den Zugang zu diesem Problem durch die Wahl des verfehlten Namens
„Vegetatives System“ verbaut, mindestens aber sehr erschwert. Anderseits
möchte ich im entgegengesetzten Sinne nicht so weit wie Stegmann (16)
gehen, deren Standpunkt sich schon dem Psychomonismus nähert, wenn sie
mit Klag es den Körper für den „Ausdruck der Seele“ erklärt. Diese radi¬
kale Vorstellung scheint mir aus der Annahme, daß die organischen Krank¬
heiten „die kranke Seele spiegeln“ nicht notwendig zu folgen. Allerdings
legt auch Stegmann sich die Frage vor, ob im empirischen Unbewußten
1) Auf diesem Boden stehend kann ich auch Ferenczi (18) nicht zus+iinmen,
wenn er sagt: „Jedenfalls ist die organische Anpassung durch eine gewisse Starrheit
charakterisiert, wie sie sich in den gewiß zweckmäßigen, aber unwandelbaren Reflex¬
vorgängen zeigt, während die psychische Anpassungsfähigkeit eine stete Bereitschaft
zur Anerkennung auch neuer Wirklichkeiten und die Fähigkeit zur Hemmung der
Aktion bis zur Beendigung des Denkaktes ermöglicht. Groddeck hat also recht, wenn
er das organische Es für intelligent erklärt; er wird aber parteiisch, wenn er den
Gradunterschied zwischen der Intelligenz des Ich und des Es übersieht.“ — Im Gegen¬
satz hiezu bin ich geneigt, diesen Gradunterschied zwar anzuerkennen, aber im ent¬
gegengesetzten Sinn wie Ferenczi. Wenn wir für das aus dem individuellen Einzel¬
leben stammende Verdrängte den von Freud eingeführten Namen des Unbewußten
reservieren, so werde ich in einem anderen Zusammenhänge vorschlagen, das bereits
phylogenetisch Erworbene — Groddecks Es — als unterbewußt zu bezeichnen. Das
nach Ferenczi „starre“ Unterbewußte beeinflußt, ja leitet in jedem Augenblick die
vorbewußten und die irrtumreichen, schwankenden bewußten Vorgänge durch Regula¬
tion der Blutfüllung in der Hirnrinde, der inneren Sekretion und damit der Ein-
und Ausschaltung bestimmter Teilbezirke des Vorbewußten. Nur so ist verständlich,
warum nicht das gesamte Vorbewußte jederzeit bewußt ist, warum das zeitweise
Vorherrschen vereinzelter Denkvorgänge überhaupt möglich ist.
484 Emil Simonson
sich, wie Freud einmal bemerkt, eine Stelle befindet, von der aus jedes
Individuum mit einer Nabelschnur dem Reich des Wesenhaften, dem An-
sich-Seiendem verbunden ist. Für Schleich ist diese Nabelschnur der Sym¬
pathikus. Sollte diese Nabelschnur existieren, dann könnten wir nicht mehr
uneingeschränkt Fenichel zustimmen, wenn er unter Bezugnahme auf
Alexander sagt, falls die buddhistische Meditation berechtigt sei, so sei
sie es doch keineswegs als Quelle äußerer Erkenntnisse, vom Wesen der
Dinge, sondern höchstens als solche innerer Erkenntnisse vom Wesen des
1 °^* Ferner: Wenn Freud in den eingangs zitierten Sätzen einen anderen
Weg des Reizschutzes ins Auge faßt, so könnte man auch an die über¬
ragende Rolle des „Urvaters Sympathikus“ denken, der durch seine Be¬
herrschung der Gefäßspannung und der Gefäßfüllung, z. B. in der Ohn¬
macht und dem Schlaf, einen Reizschutz auszuüben vermag. Auch hiebei
wird die Rolle der Neuroglia in Schleichs Theorie in Betracht zu ziehen
sein. Schließlich kann auch der Antagonismus der einzelnen Hormone als
Reizschutz durch Verhütung zu starker Wirkung des einzelnen Inkrets
verstanden werden.
Mit dem Versuch einer anatomisch-physiologischen Fundierung und Ab¬
grenzung der Begriffe Vorbewußt, Unbewußt, Unterbewußt, Ich, Es, Über-
Ich auf diesem Wege bin ich zur Zeit beschäftigt. — Aber noch in seinem
jüngsten Werk „Hemmung, Symptom und Angst“ (14) warnt Freud sehr
eindringlich vor der ablenkenden Beschäftigung mit derartigen Theorien,
solange noch so große Lücken in dem vorhandenen klinischen Material
der Ausfüllung harren.
Wir werden uns der Gewalt dieser durch Einzelheiten anschaulich
belegten Begründung schwerlich entziehen können. Aber es liegt im Wesen
der ärztlichen All gemein praxis, daß ihre Vertreter zu dem klinischen
Material nur wenig beitragen können und dadurch vielleicht, sofern sie
überhaupt mitarbeiten wollen, zu derartigen theoretischen Arbeiten legitimiert
sind. Wenn sie sich nur stets bewußt bleiben, daß es sich nur um Arbeits¬
hypothesen handelt und handeln kann, die man fortlaufend an den Tat¬
sachen, insbesondere dem klinischen Material, zu prüfen vermag, die man
aber jederzeit abzuändern oder aufzugeben bereit sein muß, wenn sich
unlösbare Widersprüche ergeben. In dieser Einstellung zu den eigenen
Ergebnissen brauchen wir uns nur nach dem Vorbild unseres Meisters zu
richten. Er, dem von Gegnern oft vorgeworfen wird, er spinne sich immer
mehr in seine vorgefaßten Theoreme ein, hat erst jetzt wieder im biblischen
Lebensalter in „Hemmung, Symptom und Angst“ (14) einige seiner früheren
Uher Jas Verhältnis von Raum ,.„J Zeit zur Traumarbeit
485
grundlegenden Voraussetzungen so ganz unprofessorenhaft in geradezu revolu-
tionarer Weise umgearbeitet, zum Teil sogar gänzlich verworfen. Wenn wir
uns an dieses Vorbild halten, werden wir kaum Gefahr laufen, der in der
Sachverstandxgenpsyche so häufigen konzentrischen Gesichtsfeldeinengung
zu verfallen.
Lit
eratur
i) Sigm. Freud: Jenseits des Lustprinzips. Ges. Schriften, Bd. VI
und 2 i88^ erhert SpenCer: Die Prinzi P ien der Psychologie. Stuttgart, 2 Bände: 1882
3) A. Einstein: Deutsche Literaturzeitung. September 1924
4) C. L. Schleich: Schmerzlose Operationen. Berlin 1906 (5. Auflage)
5) C.L. Schleich: Allgemeine deutsche Universitäts-Zeitung. Berlin 1893, Nr. 1—7
6 ' Herzen: Grundlinien einer allgemeinen Psychophysiologie. Leipzig 1880
7) E. du B01s-Reymond: Über die Übung. Berlin 1881
8) Hermann Hesse: Berliner Tageblatt. 24. Januar 1924
9) Moritz Schlick: Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Berlin 1919
10 ' P- .„ ® nard: Uber Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation. Leipzig 1921
, "2 Jrjo Kulovesi: Der Raumfaktor in der Traumdeutung. Internationale Zeit-
schnft für Psychoanalyse. 1927, Heft 1
o . l ?l Slg “; Preud: Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewußten. Ges.
Schriften. Bd. IX
15) Franz Alexander: Der biologische Sinn psychologischer Vorgänge. (Buddhas
Versenkungslehre.) Imago 1925, Heft 1 ö
H) Sigm. Freud: Hemmung, Symptom und Angst. Ges. Schriften, Bd. XI
15) S. Spielrein: Die Zeit im unterschwelligen Seelenleben. Imago IX, 5
___ ^ Margarete Stegmann: Die Psychogenese organischer Krankheiten und das
Weltbild. Imago XII, 2/5
17) O. Fenichel: Psychoanalyse und Metaphysik. Ibid.
i l8 ^ Ferenczl: Das Problem der Unlustbejahung. Bausteine zur Psycho¬
analyse, Bd. I. J
Imago XIV.
32
Zur Psyckoanalyse der Ahnungen
Von
R. Allendy
Paris
Übersetzt von Gisela Sternfeld , Wien
Die Wahrnehmung einer Ahnung bildet eine bemerkenswerte psycho¬
logische Tatsache, deren Studium einiges Licht auf den Mechanismus des
Unbewußten werfen kann. Es handelt sich vor allem darum, genau fest¬
zustellen, in welchem Sinne wir das Wort Ahnung gebrauchen.
Die Ahnung ist nicht bloß der Vorbote eines gegenwärtigen oder zu¬
künftigen Ereignisses. Der Physiker, der beim Studium einer Kurve eine
Naturerscheinung voraussieht, der Ingenieur, der auf den Bruch einer Kanali¬
sierung schließt aus dem Druck, den sie aushält und dem Widerstand, den
sie besitzt, der Astronom, der eine Finsternis vorausberechnet, der Arzt, der
die Heilung oder den Tod eines Kranken aus einem bestimmten Symptomen-
komplex vorhersagt, selbst der Beobachter, der einen kalten Winter infolge
gewisser meteorologischer und natürlicher Feststellungen ankündigt, nehmen
keineswegs ihre Zuflucht zu Ahnungen, ebensowenig wie der Bankier, der
auf bestimmte Kursschwankungen spekuliert, gemäß der Strömung der politi¬
schen Meinung, und der Spieler, der die Chancen eines Pferdes abschätzt.
In allen diesen Fällen handelt es sich um logische Schlußfolgerungen aus
einer durchdachten Abschätzung der im Spiel befindlichen Faktoren, und
diese Schlußfolgerung erscheint als eine Wahrscheinlichkeit, die auf intellek¬
tuellem Wege gefunden wurde.
Anderseits unternimmt jemand z. B. einen Schritt, von dem seine Stellung
abhängen soll und beim Anlangen tut er einen Fehltritt: sogleich kann sich
die Idee seinem Bewußtsein aufdrängen, daß sein Unternehmen Mißerfolg
haben wird. Vergebens wird ihm die Vernunft beweisen, daß sich die Dinge
aufs beste anlassen und daß keine wie immer geartete Gefahr vorhanden
Zur Psychoanalyse der Ahnungen
48 7
ist; das Gefühl der kommenden Niederlage wird in ihm haften bleiben.
Gerade darin besteht die Ahnung. Es ist eine äußere Tatsache, die eine
mehr oder weniger bestimmte, aber unabweisbare Vorstellung eines noch
unbekannten Ereignisses erweckt. Das bedeutsame Vorkommnis strebt keine
vernünftige Kausalitäts- oder Abhängigkeitsbeziehung zur angedeuteten Idee
an, sondern einzig eine symbolische Beziehung. Die Übereinstimmung zwischen
der bedeutsamen und der angedeuteten Idee ist nicht durch den Verstand ge¬
geben und auf bewußten Wegen vermittelt, sondern durch Gefühle auf un¬
bewußten Wegen. Endlich ist die angedeutete Idee nicht vom Bewußtsein
empfangen als eine unter anderen möglichen und durch neue oder zufällige
Faktoren abänderungsfähige Schlußfolgerung, sondern sie erscheint als vcr-
hängnisvolle und endgültige Gewißheit.
Eine solche Reihe von psychologischen Tatsachen soll also in das For¬
schungsgebiet der Psychoanalyse, das sich mit allen Offenbarungen des Un¬
bewußten befaßt, eintreten. Im übrigen sind solche psychologische Tatsachen
merkwürdigerweise viel häufiger, als man glaubt. Die gleiche Erziehung,
welche die Menschen verhindert, freiwillig ihre sexuellen Vorurteile ein¬
zugestehen, hält sie auch davon ab, von Dingen zu sprechen, die als lächer¬
licher Aberglauben und tadelnswerte Schwäche des Geistes angesehen werden,
doch zeigt eine systematische Umfrage, daß die meisten Menschen das Phänomen
der Wahrnehmung von Ahnungen erfahren haben. Auch hier muß man
die Atmosphäre von Irrtümern und Lügen, in der wir aufgewachsen sind,
reinigen; die Aufgabe ist überaus schwer und die Erforschung der Ahnungen
erweist sich voll von Schwierigkeiten und Fallen. Der größeren Bequem¬
lichkeit wegen ist es gut, zuerst die psychologische Tatsache an sich zu
prüfen und sich die Feststellung des möglichen prophetischen Wertes der
Ahnung vorzubehalten. Über die letztere Ansicht können einstweilen nur
Vermutungen geäußert werden aus Mangel an einer Beobachtungs- und
Untersuchungsmethode, die hinlänglich den wissenschaftlichen Erfordernissen
entsprechen würde.
Wir gestehen also zu, daß Personen (zu Recht oder zu Unrecht ist eine
andere Sache) von Ahnungen ergriffen werden können, anders gesagt, die
Wahrnehmung gewisser äußerer Tatsachen bringt in ihrem Bewußtsein
Gefühle hervor, die bis dahin latent und unausgesprochen waren. Übrigens
ist das, was man Aberglauben nennt, ein zu häufiger und allgemeiner Aus¬
druck der menschlichen Psychologie, um nicht tiefen und gewohnheits¬
mäßigen Mechanismen zu entsprechen, die um so interessanter für uns sind,
je primitiver und spontaner sie erfolgen.
:
32*
488
R. Allendy
Hier muß man bemerken, daß der Mensch immer dazu neigt, das was
sich subjektiv in ihm abspielt, objektiv zu betrachten, demnach einen inneren
Prozeß einem äußeren Einfluß (Geist, Gott oder Teufel) zuzuschreiben. Diese
Tendenz — charakteristisch für den primitiven Gedanken — erscheint deut¬
lich in den Psychosen und den Neurosen (Mechanismus der Projektion). Wir
müssen vor dieser Tendenz auf der Hut sein.
Es scheint, daß bei der Ahnung das bedeutsame Ereignis im allgemeinen
bloß die einfache Enthüllung einer unbewußten und vorher bestehenden
Tatsache ist. Es kommt wirklich vor, daß das in Frage stehende Ereignis,
obwohl von einer Anzahl Personen beobachtet, nur auf einzelne oder sogar
eine einzige affektiv einwirkt. Ich erinnere mich, daß ich als Kind zu einem
Diner geladen war, bei dem im Augenblick, als man sich zu Tische setzte,
die Gaste bemerkten, daß sie dreizehn sind. Ein banaler Aberglaube faßt
dies als ungünstiges Vorzeichen auf, weil Jesus vor seiner Heimsuchung in
Gesellschaft seiner zwölf Jünger gespeist hat. Auf Grund dieses Aberglaubens
lädt man gewöhnlich einen Vierzehnten ein, zufolge einer im Aufbau der
menschlichen Gesellschaft so wichtigen, gewohnheitsmäßigen Nachahmung.
Trotzdem gibt es eigentlich wenige Menschen, die stets davor erschrecken.
Ich habe noch anderen Festessen mit dreizehn Personen beigewohnt, be¬
sonders an einem Freitag, dem dreizehnten, dem metapsychischen Bankett,
und ich habe niemand darüber in Aufregung geraten gesehen.
An jenem Tage jedoch bezeigte eine alte Dame, die keineswegs aber¬
gläubischer als die andern erschien, lebhaftes Entsetzen. Sie verließ plötzlich
den Saal und blieb den ganzen Abend nervös, trotzdem der erwartete Vier¬
zehnte gekommen war. Allerdings starb sie im selben Jahre an einer akuten
Krankheit, die ihren von einer chronischen Nephritis bereits geschwächten
Organismus zerstörte. Nun ist es ziemlich leicht anzunehmen, daß eine
dunkle Allgemeinempfindung (sens coenesthetique) unbewußt den Zustand
der herabgesetzten biologischen Widerstandsfähigkeit vermerkt. Die Ahnung,
die für Alle bedeutungslos war, wurde für sie Offenbarung, die sie auf eine
Todesgefahr aufmerksam machte. Ohne Zweifel hatte dies deshalb eine so
heftige Gemütserregung hervorgerufen. Anstatt sich an eine Ahnung zu
binden, hätte diese unbewußte Annahme in Form eines Traumes ins Be¬
wußtsein treten können. Besonders Meunier und Masselou haben zahlreiche
Beispiele von Träumen dieser Art aufgezeichnet, ebenso Vaschide und Pierron.
Es erweist sich zufolge der Arbeiten von Fdre, Lemaitre, Comar, Bacri,
Sellier als sicher, daß man durch direkte aber noch ungeklärte Mittel von
seinem organischen Zustand Kenntnis erlangen kann. (Phänomene der Auto-
Zur Psychoanalyse der Ahnungen
^89
skopie.) Im allgemeinen bleibt der autoskopische Sinn unbewußt, aber eine
Ahnung kann geradeso wie ein Traum ihm zur Enthüllung dienen. Man
muß nur die symbolische Beziehung zwischen dem bedeutsamen Ereignis
und der hervorgerufenen Idee beachten. Selbstverständlich darf kein Unter¬
schied zwischen der spontanen oder zufälligen Ahnung (wie der Tatsache,
daß dreizehn bei Tische sind) und der provozierten Ahnung, wie bei ge¬
wissen Vorgängen der Wunsch Vorstellungen, bestehen.
Es war in Rußland eine besonders bei jungen Mädchen ziemlich ver¬
breitete Gepflogenheit, in der Neujahrsnacht verschiedene Prozeduren vor¬
zunehmen, um die Zukunft und besonders ihre Heiratsaussichten kennen¬
zulernen. Freunde haben mir folgenden Fall, den sie miterlebt haben,
erzählt. Eines der jungen Mädchen, das bis dahin sehr lustig gewesen und
bei der niemand eine Krankheit vermutet hätte, entdeckte in den zufälligen,
zu wahrsagerischen Zwecken gemachten Kerzenflecken die Form eines Sarges
und erschrak. Offen gestanden war diese keineswegs deutlich erkennbar
und ihre Freunde versicherten aufrichtig, daß man darin auch alles andere
hätte sehen können. Dieses junge Mädchen soll kurze Zeit nachher Sjrm-
ptome einer Lungentuberkulose, von der man bis dahin nichts geahnt hatte,
gezeigt haben, an der sie bald darauf starb. Es bedeutet übrigens wenig,
ob dieser Fall (für den ich nicht einstehe) wahr ist oder nicht; er ist genau
so, wie alle anderen Fälle, die von Tausenden von Zeugen berichtet werden.
Er kann wenigstens als Beispiel für eine ganze Kategorie von Ahnungen
angeführt werden, die durch jene Allgemeinempfindung erklärbar sind und
unter dem Titel des Schemas ist er uns besonders bezeichnend erschienen.
Das unbewußte Gefühl einer biologischen Gefahr wird in die symbolische
Vorstellung des Todes übersetzt.
Ein anderes Argument, auf das man sich zugunsten des vorher bestehenden
Unbewußten und durch die Vorahnung offenbarten Gefühles berufen kann,
wird uns durch die merkwürdige Neigung mancher Menschen erbracht,
unter allen ähnlichen Umständen die analogen Reaktionen zu produzieren.
Die Psychoanalyse beleuchtet oft und in sehr augenfälliger, treffender Weise
diesen Mechanismus des Neurotikers, aber sie kommt auch bei den Normalen
vor, wie in der „Psychopathologie des Alltagslebens“ von Freud beschrieben
wurde. Man stelle sich einen Neurotiker vor, der trotz seiner unbewußten
Widerstände sich bewegen ließ, sich zu verloben. Diese Widerstände werden
bei ihm Fehlhandlungen verschiedener Art bewirken, er wird sich eventuell
im Datum irren und zu seiner Braut erst am folgenden Tag kommen und
nicht an dem er erwartet wurde. Es wird ihm ein Andenken abhanden
49°
R. Allendy
kommen, das diese ihm gegeben, oder er wird ihr Bild fallen lassen und
zerbrechen usw., was alles Vorahnungen sind, um ihn zu warnen, damit
seine Widerstände Mittel fänden, den Abbruch der Beziehung vor der Hoch¬
zeit durchzusetzen. Diejenigen, die mit dieser subtilen Funktion des Un¬
bewußten nicht vertraut sind, werden etwas Wunderbares an der propheti¬
schen Kraft der Ahnung finden, während der Zusammenhang dem Psycho¬
analytiker höchst natürlich erscheinen wird. Es ist bloß für den Augenblick
interessant für ihn, zu sehen, durch welche symbolische Mittel die un¬
bewußte Neigung sich dem Bewußtsein aufdrängen kann zugunsten einer
Ahnung, die sie in allen Stücken selbst bewirkt oder schafft. In gleicher
Weise müßte man alle jene vorausgeahnten Fehler analysieren, die sich zu
Beginn eines Unternehmens, das keinen Erfolg haben soll, einstellen und
von dem der Betreffende im dunkeln Grunde des Unbewußten selbst den
Erfolg nicht wünscht und dessen er sich heimlich unfähig fühlt. Ebenso
könnte man das Verkehrtanziehen eines Unterkleides auch auf ein un¬
bewußtes Gefühl der Unzulänglichkeit zurückführen, das den Mißerfolg
vorbereitet. Das Verhängnis würde hier nur im Unbewußten des Indivi¬
duums bestehen.
Ein drittes Argument, das zur Bestärkung dieser Meinung noch wichtiger
ist, wird durch die Irrtümer bei den Ahnungen beigebracht; denn ein
systematisches Studium beweist, daß sie sich nicht alle erfüllen. Dr. Osty,
der mit ganz bedeutendem wissenschaftlichen Geist die Arbeiten des meta¬
physischen Institutes leitet und mit dem ich Gelegenheit hatte, mich lange
über diese Fragen zu unterhalten, meint mit vollem Recht, daß die Irr¬
tümer auf diesem Gebiete, wenn man dazu gelangt sie festzustellen, beinahe
noch wichtiger sind für das Verständnis der auftretenden Erscheinungen
als die Übereinstimmungen. Sicher ist, daß das Phänomen der Ahnung
(voraussehendes Gefühl, gefolgert aus der Wahrnehmung einer äußeren Tat¬
sache) manchmal nicht die direkte Eingebung einer unbewußten Mitteilung,
sondern einen latenten Wunsch wie der Traum überträgt. Ich habe eine
mißgünstige Theosophin gekannt, die jahrelang überall Ahnungen des nahen
Todes eines Erbverwandten erblickte und die auch immer das Verschwinden
des Sekretärs ahnte, der ihre Eifersucht erregte; aber die Jahre vergingen,
ohne daß ihre bösen Wünsche sich erfüllten. Es ist vollkommen klar, daß
die Ahnungen sich nur auf das Subjekt beziehen. Ich erinnere mich auch
an einen Kommandanten meines Bataillons, in das ich als Regimentsarzt
im 155. Infanterieregiment eingerückt war. Er verbrachte eine halbe Nacht
damit, einer kleinen Gruppe, zu der auch ich gehörte, zu erklären, daß er
2ur Psychoanalyse der Ahnungen
491
dessen sicher sei, lebend aus dem Krieg zurückzukehren, indem er alle
günstigen Vorzeichen aufzählte, die er dafür gesammelt hatte; er wurde
am nächsten Morgen bei einem Angriff leicht verletzt und kurz nachher
getötet. Ich weiß nicht, ob die Tatsache, daß man den Tod fürchtet, wenn
man Infanterieoffizier ist, als bemerkenswertes Vorgefühl gelten kann, aber
sicher ist, daß die fraglichen Ahnungen, bloß durch seinen Wunsch zu leben,
eingegeben waren und daß sie einen rein subjektiven Wert hatten. Man
müßte auch feststellen, ob in diesen Fällen die Ahnungen, auf die man
sich beruft, ein Gefühl der Sicherheit zulassen, das ebenso stark, wie
gewöhnlich ist, oder ob sie nicht ein Versuch der Rationalisierung mittels
okkulter Argumente eines abergläubischen Menschen waren, der an den
objektiven Wert der Ahnung glaubt.
Indessen, selbst wenn man sich an die vorausgehenden Erklärungen
halten will, in dem man sich nur auf bekannte und leicht erklärbare
Tatsachen stützt, muß man wohl anerkennen, daß das Unbewußte in den
meisten Fällen Regungen besitzt, die unendlich subtiler sind, als das grobe
Resultat unserer Beobachtung oder Überlegung; das bloße Allgemein¬
empfinden, das eine Krankheit lange vor den ersten Symptomen, die für
unsere gewöhnliche Beobachtung einer entfernten und unvermuteten bio¬
logischen Gefahr vorausgehen, ankündigt, enthüllt ein Durchdringen und
eine Macht, die wohl geeignet ist, uns in Erstaunen zu versetzen. Übrigens
läßt der Instinkt der Tiere auch eigenartige Erkenntnisse zu. Wodurch
wird der Jagd- oder Polizeihund auf eine Fährte geführt und gibt es
vielleicht etwas Gemeinsames, zwischen dessen Witterung und unserem
Geruchsinn? Durch welche Eingebung wird die Flugtaube gelenkt? Und
vor allem, welche Warnung treibt die Vögel, die Tiere, den Ort einer
nahenden Überschwemmung zu fliehen? Diese unmittelbaren Eingebungen
des Bewußtseins, wie es Bergson nennt, überragen unsere induktiven und
deduktiven Möglichkeiten der Vernunft und der klaren Erkenntnis ebenso¬
sehr, wie die Hellsichtigkeit oder Telepathie unsere gewöhnlichen Sinne
übertrifft.
Es ist unmöglich, die Frage der Ahnungen zu erörtern, ohne die der
übernormalen Fähigkeiten zu berühren. Das Studium der Träume, dieser
anderen Äußerung des Unbewußten, führt zum gleichen Problem, wenn¬
gleich auf eine weniger dringliche Art.
Wenn man von dem philosophischen Vorurteil der Willensfreiheit und
des Zufalles absieht und einen allgemeinen Determinismus postuliert,
brauchte es nicht als erstaunlich zu gelten, wenn der Mensch über das belehrt
R. Allendy
werden könnte, was ihn und sein eigenes Leben betrifft, sowohl in bezug
auf die soziale Sphäre, von der er eine Zelle bedeutet, als auf das kosmische
Milieu, von dem er ein Bestandteil ist.
Was das kosmische Milieu betrifft, wissen wir, daß die Tiere sich so
betragen, als wenn sie die Erdbeben, Überschwemmung, den strengen
Winter voraussehen würden; in bezug auf das soziale Milieu zeigen die
Phänomene der Massenpsychologie bis zu welchem Punkt eine gegenseitige
und unbewußte Induktion der Gefühle bei einer Gruppe stattfindet. Was
das individuelle Leben betrifft, sehen wir zu oft, wie vielen Menschen es
immer gelingt, ihren vorgefaßten Plan, die unbewußten Absichten ihrer
Komplexe zu verwirklichen, ohne daß sie erkennen würden, in einem wie
großen Maße sie ihr Schicksal in sich tragen. Hängt nicht selbst die uns
vollkommen zufällig erscheinende Tatsache, ob man im Kriege getötet
wird oder nicht, mit dem mehr oder weniger festen und tiefen Wunsch,
einer Gefahr zu entfliehen, zusammen? Ist es nicht das vorgebildete Gefühl
der persönlichen Minderwertigkeit, des Unglückes, des Mißerfolges, das
kaum merkbar, aber sicher wie ein Tropismus hinführt, wo die Gefahr un¬
vermeidlich, das Verderben gewiß ist? Wir sind berechtigt, dies anzunehmen,
wenn wir das „Unglück“ des pessimistischen Neurotikers betrachten, der
mit Treffsicherheit in die Sackgasse gerät und sich verrennt und besonders
wenn wir die merkwürdige Tatsache sehen, wie dieses „Pech“ schwindet
in dem Maße, als die Psychoanalyse ihm seine Tendenz der Selbstzerstörung
ins Bewußtsein bringt.
In den Memoiren von Bourienne (I, 78) wird von einem Offizier erzählt,
der unter General Bonaparte vor Toulon stand. Als dieser Offizier für einen
Angriff befohlen war, bat seine Frau sehr erregt Bonaparte, ihren Gatten
für diesen Tag vom Dienste zu befreien. Der letztere ließ sich nicht rühren.
Der Augenblick des Angriffes kam und dieser Offizier, der immer von ganz
ungewöhnlicher Tapferkeit gewesen war, empfand das Vorgefühl seines Todes;
er wurde bleich und zitterte. Als er gerade im Augenblick, wo das Feuer
der Stadt sehr heftig geworden war, an die Seite des Generals trat, sagte
ihm Bonaparte: „Achtung, eine Bombe!“ Der Offizier“ — fügte er hinzu —
„hat sich, statt beiseite zu treten, gebückt und wurde zerrissen.“
Solche Tatsachen gäben zu denken, daß das Unglück scheinbar zufällig,
in Wirklichkeit einer Unzulänglichkeit in der Selbstfürsorge des Betreffenden
zuzuschreiben ist. Ebenso wie man beobachten kann, daß eine Seuche gerne
jene heimsucht, die von Furcht vor der Ansteckung bedrückt, in den Zu¬
stand von verminderter Widerstandsfähigkeit versetzt sind, z. B. durch Herab-
Zur Psydxoanalyse der Ahnungen
4 9 3
Setzung der Sympathiekotonie, die selbst psychischen Einflüssen unterliegt.
Was die chronischen Krankheiten anbelangt, gäbe es viel über ihre aus¬
schlaggebenden Vorbedingungen psychischer Natur zu sagen. Wir können
hier nur das Resultat der Arbeiten Maeders in Zürich anführen, besonders
seiner Psychoanalysen der Tuberkulösen. Wir wollen noch später auf diesen
Punkt zurückkommen. Nehmen wir nur vorläufig an, daß dieser unbewußte
psychische Faktor, selbst wenn er nicht der einzige in Frage kommende
ist, auf Leben und Tod eines Menschen Einfluß haben und mit Hilfe einer
Ahnung bewußt werden kann.
Die Kriegsgeschichte ist voll von Anekdoten dieser Art. Einem noch
unveröffentlichten Buche des ausgezeichneten Geschichtschreibers Joseph
Turquan entnehmen wir z. B. folgenden Fall: „Der General Joubert, den
die Regierung des Direktoriums eben zum Kommandanten der italienischen
Armee ernannt hatte, war nach Pont de Vaux ä l’Ain zu seinem Vater ge¬
fahren, um seine Hochzeit mit Fräulein Zephyrine de Montholon, der Nichte
von M. de Sömonville, zu feiern. Die Einwohner von Pont de Vaux bereiteten
ihm den glänzendsten Empfang und während des Hochzeitsmahles feuerten
sie die zwölf Kanonen ab, die der Admiral von Court, der ebefalls aus Pont
de Vaux stammte, den Engländern vor Toulon weggenommen hatte. Nach¬
dem die Salve abgegeben war, bemerkte Joubert ganz laut, daß man ebenso
viele Schüsse abgegeben habe, wie zur Ehrenbezeigung für einen General,
der auf dem Schlachtfeld gefallen war. Die Gäste blickten einander an,
erbleichten, denn Joubert sollte am nächsten Morgen abreisen' um sein
Kommando zu übernehmen. Jeder hatte das Vorgefühl, daß die Kanonen¬
schüsse, die als Freudenzeichen zur Hochzeit des jungen Generals abgefeuert
worden waren, die Salve zu seinem Begräbnis bedeuten sollten. Und wirklich,
kaum in Italien angelangt, wurde Joubert durch eine der ersten Kugeln,
die in der Schlacht von Novi fielen, getötet.
Es gibt auch endlich eigenartige Fälle, wo die Ahnung infolge ihres
Unlustcharakters nicht imstande ist, die Zensurgrenze zu überschreiten, und
nicht verstanden wird, wie es bei den meisten Träumen der Fall ist.
Ich werde hier ein persönliches Erlebnis erzählen, das, wenn man es
nicht vorziehen will, sich hinter das Vorurteil des Zufalles und der Koinzidenz
zu verschanzen, in diese Kategorie eingeordnet werden muß.
In demselben Infanteriebattaillon, in das ich 1915 eingerückt war, hatte
ich als Kameraden einen jungen Hilfsarzt, namens Roger. Dieser wollte eines
Tages photographiert werden, um das Bild seinen Eltern zu schicken (war
das ein Zeichen besonderer Unruhe?). Er bat einen Kameraden darum, der
494 R. AllenJy
in seiner Ausrüstung einen kleinen Kodak hatte. Wir befanden uns damals
zur Erholung in einem Dorf der Champagne, das vollkommen zerstört war.
An einer Stelle war ein Stück Mauer mit einem alten Briefkasten stehen
geblieben und irgend jemand hatte mit Kohle die launige Aufschrift hin¬
geschrieben: „Letzte Post ausgehoben!“ Roger erklärte, daß gerade dieser Um¬
stand sehr lustig wäre und wollte diese Mauer als Hintergrund für sein Bild
und bog sich zurück, um die Inschrift zur Geltung zu bringen. Die Photo¬
graphie wurde gemacht, sofort entwickelt und kopiert und er konnte sie seiner
bamilie schicken, bevor er in den Schützengraben zurückging. Kaum auf
seinem Hilfsplatz angelangt, wurde er getötet und erst einige Zeit nachher,
als ich seine Photographie, von der ich einen Abzug behalten hatte, wiedersah,
habe ich die düstere Bedeutung dieser Inschriftenvorahnung begriffen. Seine
Briefe waren zum letztenmal während dieser Ruhepause ausgehoben worden.
Noch bemerkenswerter sind die gefolgerten Ahnungen der Hellseherinnen
und Kartenaufschlägerinnen. Dr. Osty hat diesbezüglich außerordentlich merk¬
würdige Nachforschungen angestellt, die darauf abzielten, zu beweisen, daß
die Hellseherin ein Bild widerspiegelt, das im Unbewußten des Fragenden
vorhanden ist und daß demnach die Ahnung keine objektive Grundlage hat.
Er hat z. B. eine gewisse Anzahl von Kartenaufschlägerinnen befragt und
sorgfältig nicht nur das, was sie ankündigten, aufgezeichnet, sondern auch
die Gruppierung der Karten, aus der sie ihre Weissagung ableiteten. Diese
Wahrsagerinnen gelangten ohne die geringste Möglichkeit eines Einverständ¬
nisses untereinander oder einer vorhergehenden Information zu erstaunlich
übereinstimmenden Angaben, trotzdem die Anordnung der Karten stets eine
andere war. In diesem Fall erschien die objektive Wirklichkeit der Ahnung
zufällig, nur eine gewisse psychologische, unmittelbare Eingebung (die Weis¬
sagung) spielte eine Rolle dabei.
VVoher konnte diese Eingebung stammen, wenn nicht aus dem einzig
gemeinsamen Element aller Fälle: aus dem unbewußten Seelenleben des
Fragenden, der selbst nichts von seinem Verlangen, seiner Hoffnung, seinem
Vorurteil oder seiner wahrhaft intuitiven Warnung weiß? Auch von diesem
Gesichtspunkt aus sind wieder die Irrtümer überaus lehrreich.
Ich habe eine Dame persönlich gekannt, die über die Gesundheit ihres
Sohnes, der ein skrofulöses Hüftgelenksleiden hatte, eine erste Hellseherin
befragt hatte und der gesagt wurde, daß ihr Sohn im Alter von zwanzig
Jahren sterben werde. Verstört fragte sie eine andere und dann zufällig eine
dritte, wobei sie auch den geringsten Hinweis, der diese auf den Weg ihrer
Befürchtung hätte führen können, vermied, und bemerkenswerter weise hatten
Zur Psychoanalyse der Ahnungen
4 9 5
diese letzteren ganz spontan ebenfalls angekündigt, daß ihr Sohn sein zwanzigstes
Jahr nicht überleben werde. Nun, der letztere hat schon mindestens fünfzehn
Jahre das verhängnisvolle Datum überlebt. Was kann man anderes daraus
schließen, als daß die Wahrsagerinnen ihrer Klientin bloß mitgeteilt haben,
was in deren Unbewußten enthalten war.
In diesem Falle, ich weiß nicht, ob in den drei Spielen Tarock dieselben
Karten gezogen worden waren, aber das ist wenig wahrscheinlich, wurden
von Dr. Osty dieselben Feststellungen gemacht. Angenommen, daß jede
Karte nicht nur eine Bedeutung besitzt, sondern eine Reihe von solchen,
folgt daraus, daß derselbe Schluß aus ganz verschiedenen Stellungen der
Karten gezogen werden kann; anderseits bedienen sich die Kartenaufschläge¬
rinnen einer so großen Anzahl von Karten und aufeinanderfolgenden Kom¬
binationen, daß sie ohne Zweifel immer dazu kommen, hier die unbewußte
Eingebung aufzugreifen, dessen Spiegel und Enthüllung sie sind. Wenn man
das Problem von diesem Punkte aus betrachtet, zeigt die Ahnung die Ten¬
denz, allen objektiven Wert zu verlieren und alle Bedeutung dem subjektiven
Element zu überlassen. Danach käme nur das letztere in Betracht, das sich
an die erste S}unbolische Übereinstimmung heftete, die durch den Zufall
in der Kombination der Dinge gegeben ist.
Indessen ist es möglich, daß es nicht ganz so ist, da ein aktiver und
spontaner Anteil vorhanden ist, mit dem die Wahrsagerin ihre künstlichen
Ahnungen vorbereitet, die Karten mischt (und sie vom Fragenden kupieren
läßt), den Kaffeesatz bestimmt usw. und in vollständiger Freiheit sich dessen
bedient, um die Visionen zu bilden. Wir haben gesehen, wie der Neurotiker
oder selbst der normale Mensch durch unbewußte Reaktionen symbolische
Ahnungen von wichtiger Bedeutung, ohne es zu wissen, herstellen kann.
Derselbe Determinismus kann bei der Bildung von Ahnungen bei den Wahr¬
sagerinnen mitspielen und der sogenannte Zufall wäre nur die Wirkung der
besonderen Fähigkeit des Unbewußten.
Soll das schließlich besagen, daß die Natur selbst unfähig wäre, ihre eigenen .
Ahnungen zu bilden, wie die Neurotiker? Die Alten sagten z. B., daß eine
Sonnenfinsternis den Tod Cäsars und die Wirren, die darauf folgen sollten, vor¬
hergesagt hatte:
Cum caput obscura nitidum ferrugine texit
Impiaque aeternam timuerunt saecüla noctem.
Die modernen Astrologen geben vor, durch Statistiken absolut objektiv
die Übereinstimmung bestimmter Schicksale von Personen oder Gesellschafts¬
schichten mit der Stellung der Gestirne bei ihrer Geburt nachzuweisen.
4g6
R. Allendy
Das würde bedeuten, — und das ist ein Gedanke, den ich schon in
einem Aufsatz über Ahnungen, der im Jahre 1913 erschienen ist, be¬
sprochen habe, — daß in den kosmischen Ereignissen eine merkwürdige
Übereinstimmung bestehe, die auf jenem Gesetze beruht, daß der Teil wie
das Ganze, das Organ wie der Organismus (Beziehungen der Regenbogen¬
haut in der Iris-Diagnostik oder die nasale Beziehung in der Reflexotherapie
von Bounier), der Beginn wie das Ganze, der Zirkel eines Tages wie der
eines Jahres, oder der des Lebens, der menschliche Mikrokosmos wie der
Weltmakrokosmos ist, ein alter Gedanke, der niemals wirklich widerlegt
wurde. Aber das ist eine metaphysische Frage, die uns hier nicht interessiert,
da sie über den Rahmen unseres Aufsatzes hinausginge. Was uns hier
interessiert, ist nur folgendes: ob das Schicksal jedes Menschen einer objek¬
tiven, von der Natur gewollten Übereinstimmung entsprechend oder nicht
auf einer unbewußten Imago beruht, die er vielleicht seit der Stunde
seiner Geburt in sich trägt und die er später umzuformen oder neu zu
gestalten imstande ist. Diese Imago würde eine eigenartige Macht besitzen,
um ihre objektive Verwirklichung gänzlich unbewußt zu erreichen. Mit
einer wunderbaren Genauigkeit und einer Sicherheit, vergleichbar gewissen
hypnotischen Fernwirkungen, die im Versuch ausgeführt wurden, würde
die Imago des Menschen dazu führen, ohne daß er sich dessen bewußt
wird, seine Spannkraft aufzuheben und sich von einer Krankheit über-
wältigen zu lassen und wie ein Automat einer Katastrophe, einem Unglück,
selbst dem Verbrechen entgegenzugehen. Sie würde sich geheimer Kräfte
des Unbewußten bedienen: der Intuition, Telepathie, des Hellsehens, eines
instinktiven Gefühles (flairj. Dazu bestimmt, im Unbewußten verborgen
zu bleiben, würde sie ausnahmsweise, das Bewußtsein berühren, sei es
durch eine Vision, durch einen Traum, eine Vorahnung (und dies würde
den phantastischsten Aberglauben rechtfertigen), aber alles in undeutlichen
Umrissen, gemischt mit latenten Wünschen und unbekannten Befürchtungen
(oberflächlichere und weniger verhängnisvoll unerbittliche Elemente). Diese
Imago würde sich ihrer Natur nach nicht vom infantilen Komplex unter¬
scheiden, der Vater, Mutter, Nahrung usw. umfaßt und das ganze Leben
eines Wesens leitet; sie wäre den Traumatismen der Geburt zu vergleichen,
wir wir sie aus den Arbeiten von O. Rank kennen und insbesondere der
Tendenz, das Leben zu fliehen, oder der Tendenz, an die Mutterbrust
zurückzukehren (Palingenesie von Stekel),
Von diesem Gesichtspunkt aus kann das Studium der Ahnung für den
Psychoanalytiker fruchtbar sein. Es kann das Problem des menschlichen
Zur PsycLonnalyse der Ahnungen
49 7
Schicksals beleuchten und zeigen, ob das letztere von Außen kommt oder
nur eine subjektive Determination ist. In diesem Falle könnte die Psycho¬
analyse darauf Anspruch erheben das Schicksal abzuändern, das Verhängnis
umzuwandeln.
Zwischen denen, die sagen, daß alles durch eine Verkennung von dem
Menschen unbekannten Ursachen bestimmt wird und die Verzicht und
Resignation predigen, und denen, die behaupten, daß der Mensch „sein Leben
selbst formt 44 nach seinem eigenen Willen (entsprechend der vedischen Lehre:
„Was der Mensch denkt, das wird er w ) — könnte die Psychoanalyse durch
angemessene Unterscheidung eine Vermittlung der beiden Thesen weisen,
sie würde z. B. finden, daß der bewußte Wille unwirksam gegen das
Schicksal ist, aber daß der unbewußte, tiefe Wille allmächtig sein kann. Sie
wird vor allem das Mittel geben in diesem Punkte zu wollen und wird das
buddhistische Ideal von der Erkenntnis erfüllen, indem sie den Menschen
vom Verhängnis befreit.
Zur P syckol ogie des kleinen Politik
ers
Von
Josef K. Friedjung
W^en
Beobachtungen, die ich als Zeuge arger Ausschreitungen bei der Sitzung
einer politischen Körperschaft machen konnte, scheinen mir blitzartig einige
psychologische Zusammenhänge des politischen Lebens zu erhellen. Es sei
zunächst der Vorgang geschildert.
In einer angesehenen parlamentarischen Versammlung wird in später
Abendstunde — beim Abendbrote haben nicht wenige der Mitglieder dem
Alkohol zugesprochen — die Minderheit bei der Verlesung eines praktisch be¬
deutungslosen Antrages einiger Mehrheitler ungehalten. Die Zeichen der
Erregung gehen zunächst nicht über Zurufe hinaus, wie sie bei solchen Anlässen
üblich sind. Nur einer der Herren, dessen gerötetes Gesicht die Wirkung der
Mahlzeit zu verraten scheint, schreit zur Mehrheit Beschimpfungen hinüber
und schlägt dabei auf seine Bank. Eine Ermahnung des Vorsitzenden vermag
den Erregten nicht zu beruhigen. Er setzt sein Toben fort und nach etwa
zwei Minuten gesellen sich ihm drei bis vier weniger ernste unter seinen
Parteigängern zu. Einer beginnt mit einem Lineal zu lärmen. Die Zurufe
der anderen werden lauter und erregter. Nach einigen weiteren Minuten
zieht einer jener ersten Lärmmacher die Lade seiner Bank heraus, beginnt
mit ihr zu lärmen, tut dies mit immer größerer Wucht, bis die Lade in
Trümmer geht. Er verteilt die Bruchstücke an seine Nachbarn, die nun
ihrerseits in den Lärm einstimmen. Andere ziehen gleichfalls die Laden
heraus und nach etwa zehn Minuten tobt und lärmt mit Ausnahme einer
Frau und weniger ernster Männer die ganze Opposition: Die einen schreiend,
öfters erregt lachend, andere in sanfterer Form, mit ruhiger Miene, manche
markieren nur leichthin ihre Teilnahme an dem gewaltsamen Protest. Be¬
merkenswerter als der Gesamtvorgang ist aber das Verhalten der Einzelnen.
Zur Psychologie des kleinen Politikers
499
Eine der Frauen zum Beispiel, noch jung, im Besitze reicher Kenntnisse,
auch sonst eine Losgeherin, begnügte sich zunächst mit ihren stets wenig
beherrschten Zurufen. Als der Vortrupp schon eine Weile lärmte, sah man
sie unter der Bank mit der Hand auf der Holzwand trommeln, ängstlich,
daß man es nicht merke, wie man es auch gelegentlich an Schuljungen
beobachtet. Nach einer Weile, da sich der Lärm indes gesteigert hatte,
schlägt sie schon ohne Scheu offen auf ihr Pult. Mit einem Male, da ihr
andere schon mit dem Beispiel vorangegangen sind, zieht sie, herausfordernd
um sich blickend und lachend, die Lade heraus und bearbeitet mit ihr nun
die Bank, mit wenig Temperament zwar und unter Vermeidung eines Sach¬
schadens, aber doch als eine Führerin des seltsamen Chors.
Zur Psychologie der Masse liefert der Vorfall als ganzes die Bestätigung
alter Erfahrungen, die Freud in seinem bekannten Buche meisterhaft ana¬
lysiert hat. Eine Masse kann in ihrem sittlichen Wollen und in ihrem Tun
gelegentlich über sich hinauswachsen, wenn eine ihr sittlich überlegene Per¬
sönlichkeit sie mitreißt und den vielen durch Identifikation mit ihr für eine
kurze Spanne Zeit ein sittlicher Schwung möglich wird, den wir ihnen allein
kaum zugetraut hätten. Häufiger ist die Sache umgekehrt: In einer kleinen
Gesellschaft pflegt gewöhnlich die Höhe der Unterhaltung von dem intellektuell
oder sittlich zu tiefst Stehenden bestimmt zu werden. Gern oder widerwillig
gleiten die anderen auf das Niveau seiner Unterhaltung hinab. Diese typi¬
sche und fast unentrinnbare Regression ist wohl einer der Gründe dafür,
daß erlesene Geister so gern die Einsamkeit suchen. „Der ist der stärkste
Mann auf der Welt, der allein steht“, sagt Ibsens „Volksfeind“. Freilich ver¬
dammt er sich damit zur zeitlichen Einflußlosigkeit; in diesen Tatsachen
ist ein Stück Tragik der großen Menschen beschlossen. Die Fähigkeit, diese
Tragik zu meistern, ist ein Maßstab der wahren Größe eines führenden
Politikers.
Indes, jene Szene gibt keinen Anlaß zur Analyse der Großen auf dem
Gebiete der Politik, sondern der vielen Kleinen. Die Berufswahl ist in
unserer Gesellschaft der Planlosigkeit meistens kein Beweisstück der persön¬
lichen Neigung des Einzelnen: Wirtschaftliche Notwendigkeiten, Über¬
lieferung, stumpfe Ergebenheit sind dabei meist von entscheidender Be¬
deutung. Aber zur Politik kommt natürlich niemand gegen seinen Willen,
hier ist die persönliche Neigung allemal ein wesentlicher Faktor. Der be¬
gabte Mensch, der das, was er als richtig und notwendig erkannt hat,
wenn es schon besteht, in seinem Bestand verteidigen, wenn es in die
Zukunft weist, verwirklichen will, muß in die „Arena“, wie man es gerne
5oo
Josef K. Fried jung
nennt, hinabsteigen. Narzißmus und manche andere Triebregungen werden
dabei auf ihre Rechnung kommen können. Was ist es aber bei den Allzu¬
vielen, die nur mitlaufen, keines selbständigen Gedankengangs beflissen,
nichts Neues vorschlagen, nie das Wort ergreifen, es wäre denn zu Platt¬
heiten, sie, die ein machtbewußter Politiker einmal verächtlich als „Barriere¬
stöcke“ bezeichnet hat? — Auch bei ihnen wird vor allem der Narzißmus
auf die Rechnung kommen: in der Familie, im Wohnorte, bei den Beamten
der sogenannten Hoheitsverwaltungen, bei den Parteiangehörigen erfreut sich
der Mandatar eines gehobenen Ansehens. Aber daneben darf der Politiker
auch vieles, was einem anderen versagt ist. Sonst gilt es für ungezogen,
jemandem ins Wort zu fallen; der Politiker aber macht „Zwischenrufe“,
und sie sind wahrhaftig nicht immer klug und witzig. In einer Auseinander¬
setzung wissenschaftlicher oder sonstiger Natur muß der Sprecher sachlich
bleiben, persönliche Angriffe unterlassen, sich an die Wahrheit halten. In
der politischen Debatte kann der Redner persönlich, er kann boshaft werden,
die Wahrheit darf nicht selten hinter den Parteivorteil gestellt, die Sachlich¬
keit der Demagogie geopfert werden. Der Politiker dieses Schlages sucht
nicht den Beifall aller, sondern nur den seiner Gesinnungsfreunde. Sie aber
bejubeln als Unerschrockenheit, was man sonst schlechte Erziehung nennt,
freuen sich boshaft der Bosheit, die sonst als Zeichen niedriger Gesinnung
gegolten hätte. Hier darf die persönliche Ehre, wenn sie dem Gegner
gehört, ungestraft besudelt, persönliche Ehrlosigkeit, wenn ein Freund
sie bewiesen hat, bedenkenlos verteidigt werden. Mit einem Worte: Der
kleine Politiker erwirbt das Recht auf Regressionen auf den infantilen
Zustand, wie sie nicht leicht ein anderer Beruf gestattet, und er macht
oft genug reichlich Gebrauch davon. In der eingangs geschilderten Szene
tobt zunächst ein Herr, dem anscheinend beim Abendbrot einige Hemmungen
abhanden gekommen sind. Ihm folgen bald einige, deren Infantilismus
auch sonst schlecht genug verhüllt ist. Ihr Beispiel mobilisiert bei einer
immer größeren Zahl ihrer Parteifreunde die mangelhaft gebändigten infan¬
tilen Triebregungen des Sadismus, der „Funktionslust“, und keine Schranke
der Moral, der Scham hemmt sie in ihrem kindlichen Tun: werden sie
doch morgen als Helden ihrer Überzeugung gefeiert werden! Sehr instruktiv
war die Beobachtung der geschilderten Frau: wie sie schrittweise die ihr durch
die Erziehung gezogenen Schranken überwindet, wie sie sich schließlich,
lachend und herausfordernd um sich blickend, aller Hemmungen entledigt
und zu einem Benehmen bekennt, das man milde als knabenhaft bezeichnen
kann, das enthüllt schlagend wichtige Triebfedern politischer Betätigung.
Zur Psychologie des kleinen Politikers
5oi
Ist es also doch richtig, wie so oft behauptet wird, daß Politik den
Charakter verderbe? — Es gibt Charaktere, an denen es nichts zu ver¬
derben gibt, und wenn solche in bewegten Zeiten in den Vordergrund
rücken, dann wächst die Gefahr, die sie auch sonst bedeuten. Es gibt aber
auch viel Durchschnittsmenschen in der Politik: Sie werden sich so be¬
währen, wie die Führung sie will. Überläßt man sie der Verwilderung,
kommen schlechte Beispiele zu hohen Ehren oder gar zu Reichtum, dann
wird der Troß nicht fehlen: Infantilismus, Korruption, Gewissenlosigkeit
werden sich ausbreiten. Sind die Führer sittliche Persönlichkeiten, dann
werden Infantilismen auf keine Förderung rechnen können, dann wird die
Politik den Charakter nicht stehlen, sondern stählen. Entscheidend für diese
Entwicklung sind die Ideale, die eine Gruppe verficht; sie werden das Maß
ihres Tuns sein. Aber wir wissen, daß ein Lamm mit seinen Idealen neben
deneii des Wolfs schwer besteht. Die menschliche Gesellschaft als ganze
wiederholt die Entwicklung des Einzelnen. Wie in diesem die primitive,
egoistische Triebhaftigkeit überwunden und in Bande geschlagen werden
muß von höheren Instanzen menschenverbindender Ethik, immer wieder
bereit, die Bande zu brechen, so steht auch die Menschheit vor der Auf¬
gabe, im Namen ihrer Idee eine selbstsüchtige Minderzahl zu überwinden,
die ihre Triebhaftigkeit auslebt auf Kosten der Mehrzahl. Diesen Verdrängungs¬
und Sublimierungsprozeß nennt man politische Entwicklung. Die Psycho¬
analyse lehrt uns das geschichtliche Geschehen besser begreifen. Da sie
aber auch auf Heilung abzielt, weist sie dem Betrachter überdies den Ort,
wo er, mitverstrickt in den gewaltigen Kampf, zu stehen habe.
Imago XIV,
55
Die „lange l^ase
Von
Otto Fenicliel
Berlin
Die Spottgebärde der „langen Nase“ war vor einiger Zeit einmal Gegen¬
stand einer kleinen Diskussion in der Deutschen Psychoanalytischen Gesell¬
schaft, hei der sie im wesentlichen als eine exhibitionistische Demonstration
des eigenen Penis aufgefaßt wurde; wenn bei Mädchen diese Spottgebärde
beliebter ist als bei Knaben, so läge das im Sinne der Wunscherfüllung:
Knaben, die einen wirklichen Penis besäßen, hätten es nicht nötig, einen
illusionären Penis zu demonstrieren.
Diese Auffassung läßt den Sinn der Gebärde als Spottgebärde gänzlich
unerklärt. Der Sinn: „Sieh meinen Penis!“ könnte — je nachdem — Lüstern¬
heit oder Angst erwecken, aber nie Beschämung, es wäre denn, er setzte
sich fort: „Du aber hast keinen,“ worauf aber in der Gebärde nichts deutet.
Dieselben Überlegungen gelten auch für das Herausstrecken der Zunge, das
eine der „langen Nase“ analoge Gebärde ist.
Überlegen wir uns, daß Gegenstand des Spottes immer die verspottete
Person und ihre Eigenschaften ist, während doch die Eigenschaften der
Subjektperson nur Gegenstände des Protzens, Imponierenwollens, aber nicht
des Hohnes sind. Bekannt und psychologisch ohneweiters verständlich wäre
die Spottbedeutung, wenn man einer Person ihre eigenen Schwächen vor¬
hielte. Kein Problem läge vor, wenn das „Ich habe es, du hast es nicht“
dadurch in der Gebärde markiert würde, daß der Mangel dargestellt wäre,
also etwa wenn man eine „kurze Nase“ machte. Als Nachahmung der
Schwächen der Objektperson sind ja die meisten folkloristischen und kind¬
lichen Spottgebärden zu verstehen. Daß das Nachäffen als Spott aufgefaßt wird,
ist sowohl in der Psychoanalyse wie im täglichen Leben eine Selbstverständ¬
lichkeit, besonders wenn isoliert die Schwächen dargestellt werden (Karikatur).
Die »lange Nasec< öo3
Könnte man nun die Absurdität vertreten, die „lange Nase“, die heraus¬
gestreckte Zunge bedeute die Demonstration des Penis der Objektperson
und wQlle also sagen: „Sieh her, so einen langen Penis hast du!“ obwohl
doch sonst der Besitz eines langen Penis im Unbewußten als Zeichen von
Stärke perzipiert wird?
Wir sind mit dieser Frage zu dem gleichen Problem gekommen, das
Marie Bonaparte bei der Redensart vom „gehörnten Ehemann“, wo gleich¬
falls die Zuschreibung eines Penissymbols jemanden dem Gespött preisgeben
soll, zu lösen gesucht hat. 1 Ihre unter Berufung auf Freud gegebene Antwort
lautete: Es handle sich um eine „Darstellung durch das Gegenteil“. „Die
Darstellung durch das Gegenteil ist der wesentlichste Mechanismus der
Ironie, dieser sozialen Erscheinung, vermöge der man in einem Gespräch
gerade demjenigen gewisse außerordentliche Qualitäten zuschreibt, die er
gerade am wenigsten hat, wodurch der Zuhörer oder die Zuhörer angeregt
werden, jenem in Gedanken wieder das fortzunehmen, was man ihm eben
mit Worten erteilt hat.“
Kein Zweifel: Diese Erklärung trifft auch für die „lange Nase“ und die
gezeigte Zunge zu. Auch diese Gebärden werden gern vor Zuschauern ge¬
macht, wobei der Spötter vermutlich den Wunsch hat, sie mögen dem Ver¬
spotteten den ihm durch die Gebärden zugesprochenen besonderen Penis
wieder abnehmen. — Eine kleine Beobachtung an einer Patientin aber gab
mir die Möglichkeit zu sehen, wieso etwas vor sich geht, in welcher Kon¬
stellation es möglich ist, diese „Darstellung durch das Gegenteil“ anzuwenden
und die sexuelle Unfähigkeit durch das Symbol eines großen Penis auszu¬
drücken .
Es handelt sich um eine vor dem Klimakterium stehende Frau, deren
ganzes Leben unter der Herrschaft des Kastrationskomplexes stand. Eine früh¬
zeitige Vateridentifikation ließ sie ihre Weiblichkeit weitgehend ignorieren,
die Menses bedeuteten ihr die schwerste Erniedrigung und Beschämung. Sie
hatte früher ein sehr reges Sexualleben geführt, das darin bestand, daß sie
in ganz narzißtischer Weise um sich werben ließ, um den Mann schließlich
irgendwie zu enttäuschen. Sie gab sich nur, wenn sie die „stärkere“ war,
z. B. wenn der Mann in Tränen ausgebrochen war. Aktive Kastrations¬
tendenzen standen dabei im Vordergrund, ihr Triumph war es, wenn ein
Mann vorzeitig zur Ejakulation kam und dann „hilflos“ war. Ihr Ziel war,
die Männer als Sexualwesen zu beschämen, sie nicht zuzulassen und dann
i) Marie Bonaparte: Über die Symbolik der Kopftrophäen. Imago XIV, Heft 1.
35 *
5o4
FenicLel: Die »lauge Nase«
zu sagen: „Wenn sie so schwach waren, daß sie mich nicht verführen
konnten, geschieht ihnen ganz recht.“ Natürlich ist ihr in der Übertragung
auch die Analyse ein unausgesetzter Wettstreit um die Vorherrschaft und
sie sucht dauernd Gelegenheiten herzustellen, um den Analytiker zu
blamieren. — Die Männer, die ihr nicht gewachsen sind, sind dann Gegen¬
stand ihres Spottes. Aber nicht nur die Männer; insbesondere der Penis selbst
ist es. Sie findet ihn grotesk, muß lachen, wenn sie ihn sieht, wenn sie
daran denkt, daß Männer darauf stolz sind! Diese Frau pflegt, wenn sie sich
über ihren Marin lustig machen will, ihm zuzurufen: „So einen langen!“ Das
ist zu ergänzen: „Penis hast du und kannst mir trotzdem nicht beikommen!“
Daß diese Frau als Kind fast unausgesetzt — wörtlich und übertragen —
den Erwachsenen lange Nasen gemacht hat, wird man nach dieser kurzen
Charakterisierung glauben.
Hier haben wir nun, scheint es, die Ergänzung gefunden, die der Sinn
der Gebärde der „langen Nase“: „So einen langen Penis hast du!“ bekommen
muß: „und bist trotzdem machtlos!“ Der Spötter demonstriert tatsächlich
nicht seinen eigenen Penis, sondern den des Objektes, um die Inkongruenz
zwischen diesem und den Handlungen zu demonstrieren. „Komm mir doch
mit deinem langen Penis bei, wenn du es kannst!“ ruft der Spötter seinem
Opfer zu, in der Überzeugung, daß es das nicht können wird. Der lange
Penis ist also dann Zeichen der Schwäche und nicht der Stärke, wenn er
nur morphologisch groß, funktionell aber klein ist.
Diese Bedingung erscheint uns auch bei der Redensart vom „gehörnten
Ehemann“ erfüllt. Auch der betrogene Gatte hat sich trotz seines Penis die
Alleinherrschaft über seine Frau nicht bewahren können.
Der Spottende ahmt eine Eigenschaft des Verspotteten nach. Er bedient
sich also der Identifizierung. Wie diese wohl überhaupt nur Objekten gegen¬
über zur Anwendung kommt, zu denen man ambivalent eingestellt ist, scheinen
auch nur Objekteigenschaften, denen man ambivalent gegenübersteht, Gegen¬
stand des Spottes zu werden. Gegenstand der Ambivalenz ist aber der Penis
des anderen im höchsten Maße. Bei unserer Patientin lag hinter dem Spott
Angst. Sie verspottete den Penis, um ihren Neid zu überkompensieren. Sie
verhält sich zum Penis wie der Fuchs zu den saueren Trauben. Sie ver¬
leugnet ihren Wunsch nach dem Besitze eines Penis dadurch, daß sie den
ganzen Penis lächerlich macht oder die Penisträger verachtet. Auch die
beschnittenen Völker verachten alle unbeschnittenen. Die „lange Nase“ ist
ein Spott aus Ressentiment.
REFERATE
„Zeitschrift für Völherpsydiologie und Soziologie“
Die „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie 1 *, heraus¬
gegeben von Prof. Dr. Richard Thurnwald im Verlag C. L. Hirschfeld in
Leipzig, ist 1925 gegründet worden. Sie erscheint viermal jährlich und steht
jetzt im vierten Jahrgang. Von den Beiträgen der bisherigen Hefte, die An¬
spruch auf das Interesse des Psychoanalytikers haben, sollen im folgenden einige
kurz referiert werden.
Thurnwald, Richard: Probleme derVölherpsychologie und *Sozio~
logie. (I. Jg., Heft 1).
In diesem Programmartikel wird zunächst die praktische Frage aufgeworfen,
welche Lücke zwischen den anderen Disziplinen Völkerpsychologie und Sozio¬
logie auszufüllen haben. Die Psychologie sieht es auf den Einzelmenschen
ab, die gesellschaftlichen Zusammenhänge bleiben dabei im allgemeinen unbe¬
achtet. Die Nationalökonomie befaßt sich wohl mit sozialen Vorgängen, doch
überwiegend vom wirtschaftlichen Standpunkte aus, und für die Staatswissen¬
schaft kommen die sozialen Vorgänge nur in Beziehung zum gesatzten Recht
in Betracht. Die Geschichte strebt eine Reproduktion vergangener Vorgänge
und die Aufdeckung singulärer Zusammenhänge an, mit nur wenigem Interesse
für die allgemeinen Grundlagen gesellschaftlicher Gestaltung. „Und doch ist die
Erkenntnis der die menschliche Gesellung bindenden psychischen Kräfte von
der größten Bedeutung für das Wohl der Einzelnen wie der Gemeinschaft.
Dieser Gegenstand soll in den Mittelpunkt der vorliegenden Zeitschrift gerückt
werden . i In seinen methodologischen Ausführungen betont Thurnwald, zu welchen
Fehlern es führen kann, wenn man die menschliche Gesellung, die Gruppe, als
eine isolierte und einheitliche Erscheinung betrachtet. Das gesellige Leben stellt
nur eine Komplementärerscheinung zum individuellen Leben dar. Das, was
Gesellschaftsleben genannt wird, besteht nur in einer Abstraktion von Vorgängen,
die sich in vielen Einzelmenschen abspielen. Daher müssen alle Begriffe von
einer Art sozialer Überseele (Volksgeist, Gruppenseele, Zeitgeist u. dgl.) abge¬
lehnt werden, wenn sie anders als in bildlichem Sinne oder anders als nur
zusammenfassend und vereinfachend gebraucht werden. „Hier scheiden sich
unsere Wege von Steinthal und Lazarus und auch von Wundt.“ Diese
5o6
Referate
grundsätzliche Hervorhebung der Biologie und der Psychologie des Einzel-
menschen in der Untersuchung kollektiver, gesellschaftlicher Erscheinungen und
Vorgänge soll ein besonderes Merkmal dieser Zeitschrift sein.
Malinowski, B. :Forscli ungen in einer mutterreclitliclien Gemein-
»ctaft. (I. Jg., Heft i und 3 .)
Der Verfasser, Dozent der sozialen Anthropologie an der Universität London,
der mehrere Jahre auf den Trobriandinseln, östlich von Neu-Guinea, verbracht
hat, ist den Lesern der „Imago“ nicht unbekannt. (In „Imago“ X, 1924, hat
er eine längere Studie über „Mutterrechtliche Familie und Ödipuskomplex“
veröffentlicht.) Die Schilderung der mutterrechtlichen Gemeinschaft schließt
Malinowski mit der Feststellung ab: „Die Gemeindeorganisation der Trobriand-
insulaner zeigt uns trotz ihrer streng mutterrechtlichen Grundlage und des
großen Einflusses der Frauen auf allen lebenswichtigen Gebieten den Mann
als den Gestalter des Daseins und als Träger der Macht.“
Pr euss, K. TL (Berl in): D ie Erd-' und M^ondgöttin der alten IMexi'-
kaner im lieutigen Mytlius mexikanischer Indianer. (I. Jg., Heft 2.)
Der Verfasser analysiert eine von ihm selbst im Süden des mexikanischen
Staates Durango aufgezeichnete Indianermythe über die schreckliche Mond¬
göttin „ Tepusilam “ (die Alte aus Kupfer). Bemerkenswert ist die Mitteilung,
daß bei den alten Mexikanern die Sterne gegenüber dem Monde als Gro߬
väter, bzw. Väter bezeichnet werden. Die jetzige Sonne und der jetzige Mond
gelten als ganz späte Gebilde, auf Geheiß der älteren Götter entstanden. Auch
die Menschen gelten als Väter des Mondes, was wohl aus der Auffassung über
die Stemnatur der Verstorbenen folgt.
Nieuwenliui s, A. W. (Leiden) : Der primitive JMenscli und seine
Umwelt. (L Jg., Heft 4, und II. Jg., Heft 1.)
Gestützt hauptsächlich auf Beobachtung an Malaien des indischen Archipels
(hauptsächlich an Dajaks auf Borneo), versucht Nieuwenhuis nachzuweisen, daß
man den primitiven Völkern das kausal-logischeDenken nicht ab sprechen
kann. Es führt nur ein verborgenes Dasein im Geistesleben der Primitiven,
weil diesen Völkern die Stütze, die die Naturwissenschaften einer modernen
Lebensgemeinschaft bieten, vollkommen fehlen.
Tliurnwald, Ridiard: Fülirerscliaft undSiekung. (II. Jg., Heft x.)
Das gesellige Leben äußert sich in Vorgängen innerhalb unzähliger größerer
und kleinerer Gemeinschaften, die durch verschiedene Betätigungsaiten des Men¬
schen, wie Sprache (z. B. in der Nation), Recht (im Staat), Beruf (in der Ge¬
werkschaft), Religion (im Konfessionsverband), Sexualität und Fortpflanzung (in
Ehe und Familie), Wohnsitz (in der Stadt), Machtstreben (in der politischen
Partei), ideelle Bestrebung (z. B. in der Alkoholgegnerschaft), Vergnügen (z. B.
im Sportklub) usw., verbunden sind und sich überschichten und überkreuzen.
Referate
5o/
Ein Individuum hat nach verschiedenen Richtungen und in verschiedener Stärke
Anteil an diesen Vorgängen, indem es gleichzeitig einer Nation, einer Partei,
einem Verein usw. angehört. Die Einzelpersonen sind in ihrer Besonderheit
schon je nach Zugehörigkeit zu den verschiedenen Verbänden bis zu einem
gewissen Grade gekennzeichnet. Die Eigenart und Besonderheit der Einzelnen
ist das, was vor allem gesellig „verzahnend“ wirkt. Jede Persönlichkeit wird
durch bestimmte, hervorstehende konstitutionelle Anlagen, Begabungen getragen.
Über der bloß qualitativen Verschiedenheit der Anlagen gibt es auch eine quanti¬
tative. Dementsprechend ergeben sich bei Einzelnen — universelle, häufiger nur
partielle — Überlegenheiten, die Grundlagen der Führerschaft werden. Vor edlem
erscheint die Führung in zwei Grundtypen: in dem Typ der Werke Schaffenden,
der Menschen mit Glanzleistungen, der vorbildlich Wirkenden (die nicht von
Mensch zu Mensch, sondern wesentlich durch ihre Leistungen wirken, dabei
persönlich Einsiedler sein können, der Kunst der Menschenbehandlung nicht
bedürfen); dann aber in dem anderen Typ von Führern, die man „politische“
Führer nennen könnte: es sind Persönlichkeiten von vitaler Überlegenheit oder
doch solche, die den Eindruck derartiger Überlegenheit erwecken. Wesentlich
für sie ist die Fähigkeit des Vordenkens und Vorhandelns, der Übernahme der
Verantwortung gefährlichen Situationen der Masse gegenüber.
Innerhalb der geführten Gemeinschaft machen sich verschiedene Strömungen
geltend. Sie entspringen: 1) der Schichtungstendenz, dem Übereinander und
Untereinander. In der Gemeinde sondern sich ähnlich veranlagte Führerpersön¬
lichkeiten aus, unter denen ein Ringen um die Macht angeht. 2) Möglich gemacht
wird dieser Kampf um die Macht nur durch die willige Gefolgschaft, die jeder der
Kandidaten findet, durch „Kristallisationstendenzen“. Zur Bezeichnung der steten
Verschiebung der Stellung, die die Personen einer Gruppe gegeneinander und
zur Gesamtheit einnehmen, führt Thumwald (in Anlehnung an den biologi¬
schen Begriff der Auslese) den Begriff der „Siebung“ ein. Überlieferungen und
Bindungen stellen gesellschaftliche Schranken dar, zwischen denen sich der Einzelne
hindurch bewegen muß. Leute mit grausamen Anlagen, gegen die sich Para¬
graphen über Mord, Totschläge und Körperverletzung richten, können z. B.
durch Ereignisse, wie Entfeßlung von Bindungen im Kriege in ihrer Ent¬
faltung begünstigt, in den Vordergrund gerückt, „ausgesiebt“ werden. Da der
SiebungsVorgang als der Lebensträger einer Gesellungsform zu betrachten ist,
führt sein Versagen zum Verfall der betreffenden Gesellungsorganisation. Die
Siebung ist ein Prozeß, der wie jeder Lebensprozeß nur bis zu einem gewissen
Grade beeinflußbar ist, im Grunde aber zufolge seiner Kompliziertheit sich der
menschlichen Lenkung in nicht unerheblichem Maße entzieht.
iSclineerÄoIm, Prof. Dr. F., Psychiater und Heilpädagoge in Berlin: Die
Kritik der Lehre von psychischer Infektion (resp. psyclnsclier
Epidemie) und die objektive Aneignungstheorie. (II. Jg., Heft 3.)
Schneersohn kritisiert das gewagte Bild der seelischen Ansteckung; es
habe zu voreiligen Schlüssen in der Soziologie und Psychologie geführt, ins-
5o8
Referate
besondere bei Anhängern der Nachahmungs- und Suggestionstheorie (Le Bon
Bechterew). „Es kann nicht geleugnet werden, daß das Bild mancher Ideen¬
ausbreitung häufig dem Bild der psychischen Infektion auffallend ähnelt. Zu¬
weilen werden Ideen in der Tat seuchenartig rasch und unüberwindlich von
einer Person auf viele andere übertragen. Wie es häufig in der Wissenschaft
der Fall ist, veranlaßt die äußere oder bildliche Ähnlichkeit zweier verschiedener
Erscheinungen, der Bequemlichkeit halber, zu gleicher Wortbezeichnung, die
aber unmäßig ausgiebig und kritiklos gebraucht, in verhängnisvoller Weise das
spezifische Wesen der Erscheinungen verwischt.“ In sporadischen Fällen kommt
wohl eine psychische Infektion zustande. Französische Forscher (Regis, Marandon
de Montye u. a.) unterscheiden drei Formen der psychischen Infektion: i) folie
simultanee: zwei Personen fallen unabhängig voneinander unter der Einwirkung
gleicher Ursachen der gleichen Geisteserkrankung anheim; hier liegt keine An-
steckung vor. 2) folic imposee: die Wahnideen des Geisteskranken A. übergehen
auf seinen moralisch oder intellektuell minderwertigen Wohngenossen B.; hier
hegt bloß eine Beeinflussung, keine Ansteckung vor, bei B. ist keine eigent¬
liche Geisteskrankheit entstanden, der Einfluß ist vorübergehend und hört bei
Trennung von A. und B. auf. 5) Die folie communiquee stellt in der Tat eine
psychische Infektion dar: die Geisteskrankheit von A. geht auf den bisher ge¬
sunden B. über und entwickelt sich bei diesem auch nach der Trennung von A.
fort. Schwerer ist die Untersuchung der angeblichen psychischen Masseninfektionen.
Geht man von der üblichen, willkürlich weitgehenden Auffassung der psychischen
Epidemie aus, so läßt sie sich in folgende Formen einteilen: 1) psychopathische
Epidemie — 2) psychopathische Beeinflussung —'5) psychische Massenerkrankung —
4) ungewöhnliche, sozial-historische Vorgänge (wie Krieg, Revolution). Von den
vier genannten Formen kann nach Schneersohn nur die psychopathische Epidemie
unter den Begriff der psychischen Masseninfektion gebracht werden.
Benario, L., Leiter des Instituts für Zeitungskunde an der Handels-
liodisdiule Nürnterg: Zur Soziologie der Zeitung. (II. Jg., Heft 2.)
Die Leserschaft einer Zeitung stellt das dar, was Le Bon eine psychologi¬
sche Masse genannt hat, deren Zustandekommen nicht nur durch die gleich¬
zeitige Anwesenheit mehrerer Individuen an einem einzigen Orte bedingt wird.
Alles, was die Phantasie der Masse erregt, stellt sich in der Form eines
packenden und klaren Bildes dar. Die Masse denkt in Bildern.
Voraussetzung für die Wirkung suggestiver Einflüsse auf die Masse ist, daß
die Zeitung als Autorität auftritt. Triftige Gründe der Zeitung sprechen für
die Aufrechterhaltung der Anonymität der redaktionellen Beiträge.
Eine soziologische Aufgabe bildet die Untersuchung von Einzelmenschen,
ese schaftsgruppen, Nationen, historischen Entwicklungsphasen daraufhin, wie¬
viel von den unendlich verschlungenen Beeinflussungen und Reaktionen auf
fremde „Aktionen“, auf fremde Wirkungen und Einflüsse zurückzuführen ist.
(benario zitiert Freud: „Jeder Einzelne hat Anteil an vielen Massenseelen.“)
Was entfällt davon quantitativ und qualitativ auf die tägliche Zeitungslektüre?
Piof* RoLert E., Chicago: Die Stellung von Gruppe und
Einzel mens cli in der Gesel 1 sclia ft. (II. Jg., Heft 3.)
Park erörtert, welche Bedeutung die räumlichen Beziehungen (z. B. in
einer Stadtgemeinschaft), bzw. die moralischen Beziehungen zwischen den
Linzemen, für die Psychologie der Gemeinschaft haben.
Plaut, Paul: Das soziologische Element in der »Individual-
psycliologie-«. (III. Jg., Heft 1.)
Es ist nach Plaut der Kemfehler der A dl ersehen Individualpsychologie
soziologische und pathopsychologische Momente in einer Theorie derart zu ver¬
schmelzen, daß sich neben der bloßen Theorie auch allgemein gültige, praktische
und therapeutische Gesichtspunkte und Leitlinien ergeben. Die Adlersche Lehre
gehe nach verschiedenen Richtungen auseinander, ohne in irgendeinem Punkte
zur völligen Klarheit der eigenen Ziele zu gelangen. Die Individualpsychologie
uberwerte die Persönlichkeit insofern, als sie zunächst aus der Gemeinschaft
losgelöst wird, um erst nach Durchsetzung individualer Eigenarten in eine
spezifisch geformte Gesellschaft funktionell eingeordnet zu werden. Das eigent¬
lich soziologische Problem, das Wie der Beziehung und Beziehungsmöglichkeit
zwischen Individuum und Gesellschaft werde nicht analysiert. Die Individual¬
psychologie bleibe in bloßer Dialektik stecken.
Busse -"Wilson, Elisabeth: Der russische Mensch. (III. Jg., Heft 2.)
Behandelt eingangs die Psychologie der russischen Feudalen, die nicht nur
Großgrundbesitzer waren, sondern zugleich Großseelenbesitzer. Treten
Menschen dieser von Machtfülle übersättigten Schicht auf das geistige Gebiet
hinüber, so entfalten sie selbst in ihren begabtesten Vertretern einen geistigen
Despotismus und naiven Subjektivismus, eine verblüffende Unfähigkeit zu Selbst¬
kritik , die sich als seelische Erbeigenschaft aus der innerlich erschütterten
Vormachtstellung ergibt. (Wird an Toktoi exemplifiziert, als dessen deutsche
Parallele Keyserling dargestellt wird.) — Im Kapitel „Der Bauer“ wird
auseinandergesetzt, wie die Erlösungssehnsucht des russischen Menschen, die
„Sündenlosigkeit als Ziel seiner Ethik identisch werden mit einer politischen
Frage: das leidende Volk von leiblicher und seelischer Not befreien! Das
Schuldgefühl des Russen wird abgelenkt vom eigenen Ich auf das Kollektiv-
Ich. Der russische Sozialethiker fordert Sühnung der Sozialschuld, die Selbst¬
erniedrigung. Die Übersteigerung des russischen Schuldbewußtseins konnte ent¬
stehen, Weil der Russe der Welt ohne Vermittler gegenübersteht: das griechisch-
orthodoxe Christentum war ohne die geistige Initiative der römischen Kirche
und ohne die ethische Führung des Protestantismus. — Die Staats- und Kultur¬
prinzipien des Bolschewismus (gegen Privateigentum, gegen Familie, gegen
Individualismus) erklärt sich aus dem Tiefenhaß gegen den Gottglauben. Der
antiindividualistische Gotteshaß des revolutionären Russen ist eng verknüpft
mit seiner Urfeindschaft gegen die Monarchie. Der eine unerschütterliche Gott-
Zar-Staat war gemäß dem in der russischen Familienpraxis noch stark leben-
digen Patriarchalismus — der Vater aller Russen. Es gab eine irrationale
Bindung an ihn. „Für den bewußten und intellektuellen Russen war daher
der Herzenshaß gegen den Gott-Vater-Zar das Feuer, aus dem sich seine
geistigen Energien nährten. Seine nationalste Aufgabe war erfüllt, als ihm _
analytisch gesprochen der Vatermord endlich gelungen war“
Der Mann allerdings, der diese Tat für sein Volk vollbrachte, ist nach seinem
Tode zum Gott und zum Heros seines Volkes geworden. So fand das russische
Volk im Helden-Heiligendienst für den Leichnam Lenins seinen Gott-Vater
wieder.
Roffenstein, Gaston (Wien): Zur Psychologie der politischen
Meinung. (III. Jg., Heft 4.)
Das Parteileben ist in doppelter Hinsicht irrational: erstens hinsichtlich der
Ziele, die nicht im Zweckrationalen liegen, zweitens aber auch hinsichtlich der
Sozialtheorien, die jede Parteibestrebung sich aufbaut und deren „katathymer“
Charakter sich aufdrängt. Aber auch die Wahl der Mittel ist irrational. Die
so schlecht realitätsangepaßten extremen Tendenzen von rechts und links, die
überwertigen Ideen des „Siegfriedens“ einerseits und der Weltrevolution ander¬
seits seien Beispiele aus der jüngsten Zeit. — Doch dürfe der Hinweis auf das
Emotionelle des politischen Lebens nicht für dessen Minderbewertung aus¬
genutzt werden: „denn die Leidenschaften des politischen Lebens können wohl
einerseits von Übel sein, anderseits aber verleihen sie ihren Trägern die Mög¬
lichkeit von Betätigung und seelischer Entspannung; manches sonst Unerledigte
fließt in den Strom des politischen Affektes ein.“
M e rzliacli, Dr. Arnold, und Dr. Waltlier Riese: iSpraclrpsy cli o-
logisclie Parallelen zu spracliliclien Iterativliewegungen
(Palilalie). (IV. Jg., Heft a.) S *
Nach Souques und Brissaud bezeichnet man als Palilalie pathologische
M ort- oder Silbenwiederholungen. Zuweilen tritt sie auch in der Schriftsprache
auf als paligraphische Schreibstörung. Die Verfasser haben sich die Aufgabe
gestellt, an Sprachmaterial einer alten Ruitursprache, des Hebräischen, die
balle zu untersuchen, in denen ohne Vorliegen krankhafter Ursache, der spracli-
liche Ausdruck iterative Merkmale annimmt. Es wird zunächst iteriert, wenn
ein außerordentlich starker Affekt vorliegt. So weist z. B. Davids Klage um
Abschaloms Tod zahlreiche Iterationen auf: bnij abschalom bnij bnij abschalom
. . . usw. (mein Sohn Abschalom, mein Sohn, mein Sohn Abschalom usw.).
Als Ausdruck tiefster Entrüstung über eine ungeheuerliche Zumutung finden
wir (2. Sam. 20, 20): chalilah chalildh (fern von mir, fern von mir). Hieher
gehört auch die Dopplung der sonst üblichen Farbenbezeichnungen adorn =
10t und jaraq gelb, bei der von Abscheu begleiteten Beschreibung des Aus¬
sätzigen (Lev. 13 u . 14) zu adamdam und jraqraq (etwa: „rorot“ und „gegelb“).
Des ferneren wird iteriert, wenn durch Wiederholung eines Satzteiles, eines
ortes oder einer Silbe eine Intensivierung des Redeinhaltes erreicht werden
Referate
5n
soH Das peisönüche Erlebnis der Allmacht Gottes findet bei Jes. 6, 3 seinen
Niederschlag in dem bekannten dreifachen qadosch qadosch qadosch (heilig,
heilig, heilig). Resigniert von der Unergründlichkeit der Weisheit sagt der
Prediger (7, 24 )■ iv’amoq amöq (und tief, tief..., wer könnte sie finden).
Originell ist die dem Trunkenen in den Mund gelegte strikte Ablehnung des
Gesetzes bei Jesaja (28, 10 u. 13): zaio lazaw zaw lazaiv qaiv laqaw qaw
iaqau, ser schäm s’er schäm („Gesetz auf Gesetz, Gesetz auf Gesetz, Gebot
auf Gebot, Gebot auf Gebot, da ein bißchen, da ein bißchen“). Jesaja (51, q;
52, 1) lachtet das niedergeschlagene Volk: urij urij (steh auf, steh auf) Das
begehrte Ziel wird intensiviert in Esaus Gier (Gen. 25, 3 o): hetadom haadom
(yorn Roten, vom Roten laß mich doch schlürfen). Die völlige und sichere
Vernichtung Babylons soll die doppelt angewandte Wortneubildung tata wieder¬
geben: „Ich fefege sie hinweg mit dem Fefeger“ (Jes. 14, 23). Schließlich
wird lteriert, wenn ein primitiver Sprachgebrauch vorliegt. Das Primitive dieser
Gruppe besteht darin, daß die Vielzahl einer Erscheinung durch Wort- oder
Silbenverdopplung charakterisiert ist. Durch Wortverdopplung wird z B die
Distribution einer Menge ausgedrückt, z. B. (Ex. 16, 5) baboqer (an jedem
Morgen). In diesem Zusammenhang wird auch auf die reichlichen Iterierungen
der Kindersprache hingewiesen und damit auch der ontogenetisch-primitive
Charakter dieser Sprachbildungen wahrscheinlich gemacht. Das archaische Moment
der Iteration erscheint auch in einer Reihe von Orts- und Personennamen in
der Bibel: z. B. lijlijth, der bekannte Name des Sagenreichen weiblichen Nacht-
dtimons von lij y dem Wortstamm für Nacht.
Eliasberg, Dr. AV. (München): Uber sozialen .Zwang und ab¬
hängige Arbeit mit ßemertungen über die Beziehung von
Psy cb oanalyse und iSozialwissenschaft. (IV. Jg., Heft 2.)
Auf das Referieren dieser Abhandlung kann hier verzichtet werden, da sie
in extenso in dem vor kurzem erschienenen „Almanach 1929 des Internatio-
nationalen Psychoanalytischen Verlages u abgedruckt worden ist.
Serouya, Henri (Paris): Die Rolle von Individuum und Gesell¬
schaft beim Hervorrufen von Kriegen. (IV. Jg., HeftS.)
Um die zu Kriegen führende Leidenschaft innerhalb der Gesellschaft zu ent¬
fachen, muß der Führer oder Organisator Beweggründe Vorbringen, die sich
mit der herrschenden Geistesrichtung in Einklang bringen lassen. Die glühenden
Worte des Kriegshetzers verbergen seine Gewinnsucht, seine Ruhmsucht, seinen
Sadismus. („Die Presse ist dabei oft ein verabscheuungswürdiges Werkzeug in
der Hand nicht minder verabscheuungswürdiger Persönlichkeiten.“) Krieg kann
durch die aktive Intervention des Individuums hervorgerufen werden, indem es
innerhalb des Gesellschaftsrahmens bereits vorhandene Machtfaktoren zu weiterer
Entfaltung bringt. Der Mensch wird durch seine Affekte an der Wahrnehmung
und Erkennung der Wirklichkeit behindert. Die potentiellen Eindrücke beim
Wahrnehmen des Objektes haben so sehr das Übergewicht über die äugen-
012
Referate
blicklichen Eindrücke, daß Wahmehmen „schließlich nichts anderes mehr ist,
ais eine Gelegenheit, sich zu erinnern(Bergson). Die (religiösen, völkischen,
wirtschaftlichen, imperialistischen) Vorwände für Kriege werden auf Grund des
Nichtverstehens der Wirklichkeit und ihrer gefühlsmäßigen Auslegung begreif¬
lich. — Freud wird wiederholt zitiert („erklärt in wundervoller Weise die
Grundursache der ewigen Uneinigkeiten innerhalb der Familien und der Gesell¬
schaftsgruppen “).
*
Von den hier nicht referierten Aufsätzen der ersten vier Jahrgänge der
„Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie“ seien einige noch namentlich
angeführt. Aus dem I. Jahrgang (1925): Delbrück, Das Alkoholverbot in
Amerika: Michels, Zur Soziologie von Paris; Schultz-Ewerth, Die schwarze
Gefahr. — Aus dem II. Jahrgang (1926): Karo, Der geistige Krieg gegen
Deutschland; Kulenkampff-Pauli, Ehe und Familienrecht im heutigen Ru߬
land. Aus dem III. Jahrgang (1927): Savorgnan, Krieg, Auslese und
Eugenik; Rätsch, Der Okkultismus als soziologisches Problem. — Aus dem
laufenden IV. Jahrgang (1928): Eschmann, Zur politischen Struktur des
Mittelalters; Woldt, Die Fabrik als Umwelt des Arbeiters; Karvas, Zur
Soziologie der französischen Inflation.
Der besonders stark ausgebaute und sorgfältig gegliederte Referatenteil der
Zeitschrift (sein Umfang übertrifft den Raum, den die Abhandlungen einnehmen)
muß ausdrücklich erwähnt werden. In der Referatenrubrik sind auch psycho¬
analytische Veröffentlichungen gelegentlich berücksichtigt.
A. J. Störfer (AV^en)
,Zeitschrift für psydioanalytische Pädagogik*'
II. Jahrgang, Heft iSonderlieft »Onanie«.
In „einleitenden Bemerkungen“ teilt die Redaktion mit, Freud habe auf
die Einladung, sich an der Besprechung der Onaniefrage zu beteiligen, geant¬
wortet: „Ich habe meinen Beitrag zur damaligen Onaniediskussion durch-
gesehen und mit Erstaunen bemerkt, daß meine Kenntnisse seither keine Fort¬
schritte gemacht, daß ich also nichts hinzuzufügen habe.“ Er hat im wesent¬
lichen recht. Die Lektüre dieses fast 100 Seiten dicken Büchleins gibt, so wertvoll
sie für den mit der Psychoanalyse noch nicht sehr vertrauten Pädagogen sein
mag, dem psychoanalytisch Gebildeten recht wenig Neues. Wahrscheinlich ist
das aber nicht nur eine Folge der Unzulänglichkeit unseres Wissens, sondern
der immer noch von der alten Pädagogik her beherrschten Problemstellung,
in deren Mittelpunkt die Frage steht: Was soll der Erzieher tun, wenn ein
Kind onaniert? Darauf ist aber prinzipiell keine Antwort möglich, weil Onanie
Referate
5i3
keine psychologische Einheit ist, sondern eine bestimmte Art der Triebabfuhr.
Ihre Bedeutung hängt davon ab, welche Triebe so abgeführt werden, und wie
Triebe uhd Abfuhrmethode in der Gesamtpsyche eingestellt sind. „Psychologie
der Onanie“ fiele deshalb zusammen mit „Sexualpsychologie“ überhaupt.
Am nachdrücklichsten wird von sämtlichen Autoren betont: Die Onanie als
solche ist gewiß nicht so schädlich wie es früher immer und auch heute noch
vielfach dargestellt wird. Während manche Autoren, wie Freud selbst, noch an
einem Zusammenhang von Onanie als Triebexekutive überhaupt und Neurasthenie
festhalten, sind diesmal die Stimmen viel zahlreicher, die, wie seinerzeit St ekel,
die volle Unschädlichkeit der Onanie als solcher lehren; am klarsten vertritt
dies Reich, der seine früher gegebenen Ausführungen über die infantile
Onanie (siehe Referat Imago, Bd. XIV, 1927, S. 408) in übersichtlicher und
einleuchtender Weise wiederholt. Friedjung berichtet, daß er trotz strenger
Beobachtung niemals einen Schaden infantiler Onanie gesehen hätte, auch
Hitschmann spricht von einem „physiologischem Minimum der Onanie“, wie
überhaupt mehrfach betont wird, daß Mangel an Onanie, vor allem Ausbleiben
der Pubertätsonanie, ein Zeichen schwerster früher Verdrängungen und als solches
viel gefährlicher ist als exzessive Onanie (Sadger und Reich). Reich meint:
„Es ist noch immer günstiger, daß eine ahnungslose Erziehung die Onanie fixiert,
als daß sie sie völlig unterbindet oder gar nicht zustande kommen läßt. Versuche
fortschrittlich 4 denkender Erzieher, von der Onanie ,sanft abzulenken 4 , muß
man vorsichtig beurteilen.“ —. Auch die aktualneurotischen (neurasthenischen)
Konsequenzen werden von Hitschmann und Reich nicht als Folgen der
Onanie, sondern nur als Folgen der gestörten Onanie aufgefaßt. — Ist die
Onanie ungefährlich, was ist denn für die schweren psychischen Veränderungen
mancher Onanisten verantwortlich? Auch darauf antworten alle Autoren so wie
die Teilnehmer an der Wiener Diskussion geantwortet hatten: Die Phantasien
und der Abwehrkampf, wie es Meng ausdrückt. Davon, daß es wirklich
so ist, überzeugen besonders die Beispiele von Zulliger und der Fall von
Erwin Hirsch, wo ein Onanieverbot als ganz isolierter Erziehungsfehler eine
Angsthysterie hervorrief. — Der Abwehrkampf ist also in oberflächlicherer Schichte
zunächst abhängig von den Onaniekonflikten der früheren (erziehenden) Generation.
Daß die Frage, warum die Erziehung denn überhaupt sich gegen die Onanie
wendet, das eigentliche psychologische Onanieproblem ist, wird in voller Schärfe
N wieder nur von Reich betont. Doch spricht auch Chadwick von der „all¬
gemeinen Verschwörung zur Verleugnung“, Alfhild Tamm macht interessante
Feststellungen über das Verhalten von Eltern zur Onanie ihrer Kinder, Zulliger
und Schneider betonen die Bedeutung des Unbewußten der Erzieher. Landauer
macht darauf aufmerksam, daß es dafür charakteristisch ist, daß von den zwei
gebräuchlichen Bezeichnungen für Selbstbefriedigung der eine, Onanie, eine Ent¬
stellung des Begriffes, der andere, Masturbation, eine solche der Laute enthält.
Die Erziehungs verböte wecken Kastration sangst und die bedrohten Kinder
haben alle Konflikte eines verstärkten Kastrationskomplexes zu tragen, was unter
anderen Gräber, der verschiedene Beispiele von Drohungswirkungen mitteilt,
Hitschmann, der seinen Beitrag geradezu „Auf der Höhe der Entmannungs-
Referate
Sij
angst“ nennt, Sadger und Reich betonen. — Das geweckte Schuldgefühl ist
in tieferer Schichte abhängig von der Natur der Phantasien, d. h. vom Ödipus¬
komplex, worauf Schneider und Reich besonders hinweisen. Die Onanie
spielt dann die Rolle des „Opferlamms“ (Meng), auf das die Ödipusschuld¬
gefühle verschoben werden, was erklärt, warum so viele Patienten sich nicht
ausreden lassen wollen, daß die Onanie sie ins Verderben gestürzt habe. Von
den Onanieselbstbeschuldigungen der Psychosen weist Landauer nach, daß sie
aus Identifizierungen mit den onanieverbietenden Eltern stammen. Nur Schneider
meint im Gegensatz zu allen anderen Autoren, daß die Onanieschuldgefühle auch
daher stammen, daß das Verharren bei der Onanie biologisch falsch sei, weshalb
der Organismus ein Störungssignal gäbe. — Aufgabe einer neurosenprophylakti-
sehen Erziehung wäre also, diese Konflikte möglichst zu vermeiden. Wie das-
gemacht werden kann, zeigt Zulliger an praktischen Beispielen, Chadwick
hält die möglichste Ausschaltung der libidinösen Beteiligung der Mutter an der
Säuglingspflege für wesentlich, andere Autoren halten ein erzieherisches Ein¬
greifen wegen Onanie überhaupt für gänzlich überflüssig. Mit den Onanie¬
verboten wurde so viel Unheil angerichtet; warum sollte nicht der Versuch mit
der vollen Onanietoleranz gemacht werden, da ja anzunehmen ist, daß mit
Eintritt der Latenzzeit, bzw. mit der Aufnahme des Geschlechts Verkehres die
physiologische Onanie von selbst schwinden werde. Dafür tritt Landauer ein
und dafür scheinen auch die Versuche von Wera Schmidt zu sprechen, obgleich
das Kinderheimlaboratorium in Moskau zweierlei Arten von Onanie unterschied;
nur dort, wo sie Reaktion auf physiologische Reize war, wurde nicht eingegriffen,
wo sie aber Reaktion auf äußere Versagungen zu sein schien, suchte man die
Versagungen wieder aufzuheben.
Leider atmen einige Beiträge noch einen anderen Geist, der nicht allzu ver¬
schieden scheint von dem des von Fried jung zitierten Villinger, der nach
Nachweis der Unschädlichkeit der Onanie dennoch forderte, man müsse „die
Schlange der Onanie abwürgen“. Das gilt schon etwas von der Arbeit von Leon¬
hard Schwarz, der sich sehr um Objektivität bemüht, aber von den alten
Einstellungen nicht ganz loskommt, weit mehr aber von der von Ziegler, von
dessen Nacktkultur- und Diätbegeisterung die Redaktion in einer Vorbemerkung
abrückt. (Warum druckt sie ihn dennoch ab?) Ziegler behauptet unter anderem,
daß „kein Vernünftiger bestreiten kann, daß durch die Onanie wirklicher Schaden
angerichtet werden kann“, daß man nach onanistischen Akten im Gegensatz zu
Geschlechtsakten nicht einschläft, daß man nur nach Diätfehlem oder mechanisch
bedingter Unterleibshyperämie Pollutionen habe, und sagt auf derselben Seite,
auf der er fordert, „man muß bei der Beurteilung der Onanie mit den Worten
Laster und Sünde gänzlich aufraumen“, man solle „Menschen, die auf geschlecht¬
lichem Gebiete sündigen nicht verurteilen, und zwei Seiten vorher: „Der eine
von kraftvollem Körper sündigt viel . . .“ Therapie gegen die Onanie: „Man
wandere, man lese interessante Reisebeschreibungen, musiziere, . « . schließe sich
einem Sport- oder Turnverein an . . .“ usw. Ganz unangenehm ist auch die
Arbeit des Strafanstaltsoberlehrers Fritz Kleist, „Sehnsucht und Erfüllung.
Heilung eines Onanisten“.
Referate
616
Für den Psychoanalytiker interessant sind die Ausführungen von Sadger
über die entsühnende Funktion des Samenverlustes, die Mitteilung Federns,
ca nac Freuds Meinung nur diejenigen ehemaligen Onanisten zu Wahrheits-
anati ein werden, deren Onanie unentcleckt blieb und die die Onanie aus eigener
ra t au gege en haben, und die kasuistischen Beiträge, besonders die von Gertrud
Behn-Eschen bürg, die unter anderem eine Illustration für den primären Penis¬
neid nach Freud bringt und von den Ödipusregungen einer Zweieinhalbjährigen
berichtet, die von Hedwig Schaxel und zwei anonym erschienene. — Manchmal
ist aber auch die Ausdrucksweise etwas verwirrend, so wenn Chadwick von
„Ungeschehenmachen spricht, wo „Verdrängen“ im eigentlichsten Sinne ge-
meint ist.
Da manche Stellen des Heftes davon überzeugen, daß auch heute noch Auf¬
fassungen verbreitet sind, die den von Meng referierten von Kant, bzw. Tissot
nahestehen, so der von Friedjung zitierte Versuch Neters, alle onanierenden
Kinder der Epilepsie zu verdächtigen, oder vor allem die Mitteilungen Zulligers
darüber, daß Kinder wegen Onanie aus Schulen ausgeschlossen, ja der Fürsorge¬
erziehung ubergeben wurden, kann man nicht daran zweifeln, daß auch dieses
Heft eme dankenswerte Aufklärungsarbeit leistet. Es ist zu wünschen, daß es
recht viel in die Hände von von der Psychoanalyse noch unberührten Erziehern
gelange I
II. Jalirgang, Heft 7.
Die alte Frage „Ist Psychoanalyse eine Weltanschauung?“, die ebenso oft
von Psychoanalytikern entschieden verneint, wie von Gegnern bejaht worden
ist, wird endlich von Bernfeld in ausgezeichneter begrifflicher Klärung unter¬
sucht. Sein Resultat lautet: „Die Psychoanalyse ist keine Weltanschauung, sondern
eine Wissenschaft. Aber eine Wissenschaft von so eigenartigem Charakter, daß
sie zwar alle Weltanschauungen mit Fakten versorgt, jedoch bei heutiger
Kampflage der Menschheit für die verschiedenen Weltanschauungslager sehr
verschiedenen Wert hat, dem einen Waffe, dem anderen Angriff bedeutet.“
Ihr an sich bloß wissenschaftlicher Nachweis, daß Religion, Kultur, Kunst.
Moral geworden und bedingt sind, muß bei der gegenwärtigen Klassenlage
als Sprengstoff wirken, muß als gegen die bürgerliche Kultur gerichtet per-
zipiert werden. — Seine Stellungnahme innerhalb der Weltanschauungslager
aber muß jeder einzelne unabhängig von der Psychoanalyse treffen.
Weit weniger klar sind die Untersuchungen von Büttner zur gleichen
Frage, da er, nach dem Nachweis, daß Psychoanalyse als Wissenschaft natura¬
listisch, Ethik aber als wertende Disziplin supranaturalistisch sein muß, doch
eine neue naturalistische Ethik fordert, die die Konsequenz der psychoanaly¬
tischen Moralpsychologie sein könnte, wobei wieder einmal verkannt wird,
daß aus der Psychogenese eines Wertes niemals etwas über seine Gültigkeit
oder Ungültigkeit folgen kann.
Kuendig setzt seine „psychoanalytischen Streiflichter aus der Sekundar-
schulpraxis fort, denen leider, wie auch schon aus ihrem ersten Teile hervor¬
ging (siehe Referat Imago, Bd. XIV, 1928, S. 414), das natürliche unbefangen-
1
d 16
Referate
herzliche Verhältnis zu den Kindern, das etwa aus allen Arbeiten von Zull ig er
spricht, abgeht.
Den hundertsten Geburtstag Ibsens feiert Schneider mit einer psycho¬
analytischen Untersuchung der Mutter-Kind-Beziehungen in seinen Dramen. _
Mannheim berichtet von einem fünfzehnjährigen Mädchen, das nach einem
sexuellen Erlebnis fürchtete, ein Kind zu bekommen, und dabei unter hyste¬
rischen Begleiterscheinungen das Bett mit Kot und Urin beschmutzte.
II. Jahrgang, Heft 8, 9.
Das Heft bringt den Abdruck zweier interessanter Vorträge: Den einen hat
Ferenczi im Juni 1927 in London in der British Psychological Society
gehalten. Er enthält den Leitsatz, daß nicht nur das sich entwickelnde Kind
sich an die Familie anzupassen habe, sondern auch die Familie an das Kind, und
daß diese Anpassung mit dem Verständnis beginne. Den Weg aber zum
Verständnis des Kindes bereite die Psychoanalyse. Trotz der ganz voraus¬
setzungslosen und allgemeinverständlichen Art der Darstellung vermag Ferenczi
in seinem bekannten freundlichen Ton im Rahmen des kurzen Vortrages alles
Wesentliche auseinanderzusetzen, was die Psychoanalyse über Triebleben, Ideal¬
bildungen und den zwischen beiden sich in der Kinderseele abspielenden Kon¬
flikten zu sagen weiß. Erwähnenswert ist, daß Ferenczi von der Rankschen
Theorie vom Geburtstrauma nun schon so weit abrückt, daß er meint, die
Geburt sei für das Kind überhaupt kein so schweres Erlebnis: „Es würde
tatsächlich ein Trauma sein, wären nicht Lungen und Herz so gut ausgebildet;
so aber ist die Geburt eine Art Triumph, der normalerweise für das ganze
Leben vorbildlich bleibt. Nach analytischer Erfahrung seien die Erschütterungen
von Entwöhnung, Reinlichkeitserziehung, Autoerotikverboten, Scheitern des
Ödipuskomplexes unvergleichlich schwerwiegender als die Geburt. — In prakti¬
scher Hinsicht scheint es Ferenczi ganz selbstverständlich, daß man neurotische
Kinder analysieren müsse; für normale Kinder bringe die amerikanische, von
psychoanalytisch gebildeten Lehren geleitete Waldenschool viel Gutes; bezüglich
der Koedukation meint Ferenczi, daß man „eine bessere Art finden“ müsse,
„die Geschlechter zusammenzubringen“, ein Zusammenpferchen mit gleich¬
zeitigem Zwang zur Verdrängung der sexuellen Regungen begünstige nur die
N eurosenbildung^
Furrer hielt im Januar 1928 vor den Schulpflegern des Bezirkes Zürich
einen Vortrag über „heilpädagogische Möglichkeiten beim anormalen Kind“.
Er berichtet nach der Formulierung allgemeiner Grundzüge der Heilpädagogik
über seine eigenen psychologischen und pädagogischen Leitlinien. Die psycho¬
logischen sind die der Psychoanalyse. Die pädagogischen sind Offenheit, Geduld,
Verpönung aller Strafen außer dem Liebesentzug.
Preiswerk schreibt über die neurotische Grundlage des partiellen Ver¬
sagens von Schülern: Von fünfzehn Nachhilfeschülem waren in neun Fällen
die Ursachen der mangelnden Kenntnisse sicher neurotischer Art. „Helfen kann
nur ein psychoanalytisch und, wenn möglich, auch ärztlich ausgebildeter Er¬
zieher.“
Referate
5i?
-ä: w*;r: l 5 h ?v“ xrr “ 7 m **t
Kindheit“) erinnern zwar daran, daß es aus didaktischen S'T “ ^
ist, noch viel mehr solche Beispiele einfacher Verdrän^gsfokTen^berK^H 8
zu sammeln, ihre theoretische Erörterung ist aber bei der Analyse derZwäZ
durchaus unzureichend und zum Teil recht unklar. (Es ist außer vonTef
diangung auch noch von einer ^Annullierung“ die Rede.) — N. Wolffheim
d^S -r^T^; 011 Materfal über « er °tisch gefärbte Freundschaften in
er frühen Kindheit. , die sie zu dem zweifellos richtigen Resultat führt: Ehe
wir nicht über die psychologische Bedeutung solcher Kinderfreundschaften noch
viel genauer Bescheid wissen, „ist es zwecklos und gewagt, irgendwie um-
hchter“ ° de -, V6r f mmelnd B sich einzumengen“. - Kuendig setzt seine „Streif-
1 n/Ttl Tf 1 6r . 01 Reik teilt eine kleine Beobachtung zur Psychogenese
run 1 6 - KS T7 Ut a erzablt von einem kleinen Jungen, dessen Äuße-
Trifb 1 T 6 - FUndg i rUb n e fUr , dle V ° n der Psychoanalyse behaupteten kindlichen
leberlebmsse smd Besonders bemerkenswert ist die ganz primäre Mutter-
entifizierung, die den Zweijährigen sich gegen das stehende Urinieren mit
der Begründung wehren läßt: „Mama macht auch nicht so“, die aber doch
c verhinderte, daß er mit vier Jahren einen vollkommen positiven Ödipus-
komplex m naivster Weise äußert. ^
t .. ° ie . "Umschau“ unterrichtet noch über die erfreuliche rege Propaganda-
Jen!“ d< K Heraus f eber Men g und Schneider, die in den „Ferienkursen
Jena , im Kursus „Jugend und Recht“ in Saarbrücken und in der Ortsgruppe
Stuttgart des deutschen Monistenbundes Vorträge über Psychoanalyse hielten.
II. Jahrgang, Heft io.
Zulliger berichtet daß bereits mehrmals Lehrer, die ihre Schüler sexuell
aufgeldart hatten in schwere Konflikte mit Behörden und Vorgesetzten gekommen
sind. Er halt solche Konflikte für durchaus vermeidbar. Äußerlich könne man
sich schützen indem man vorher die Erlaubnis der Eltern einholt. Weit wichtiger
aber sei das Innerliche: Es gehe nicht darum, schnell Tatsachen mitzuteilen,
sondern die Aufklärung Schritt für Schritt zu geben mit dem Grundsatz, „dem
Kinde nichts zu sagen, was es schon weiß, und nichts aufzudrängen, was es
noch nicht verstehen kann . Ein Beispiel zeigt, wie das gemeint ist. Wenn
ulliger selbst noch niemals die geringsten Schwierigkeiten gehabt habe, so meint
er, sicherlich mit Recht: „Ich glaube, es liegt alles am Wie.“ (Die auch von
u iger vertretene weitverbreitete Meinung, das unbefruchtete Ei gehe mit dem
Menstrualblut durch die Scheide nach außen ab, ist ein biologischer Irrtum) —
Ein zwangsneurotischer Patient von Sterba mußte als kleiner Junge, wenn er
zerbrechliche Gegenstände trug, beten, daß er sie nicht fallen lassen möge; dazu
mußte er aber die Hände falten, was oft genug des Fallenlassen der Gegen-
s ande mr Folge hatte. — Auch der letzte Abschnitt der Kuendigschen „Streif-
lchter vermag mit seiner Methode nicht zu befreunden. Die Schülerunter¬
suchungen die etwa bei Zulliger liebevolles Eingehen bedeuten, muten bei
uendig oft genug wie unangenehme Ausfragerei an; oft hat man den Ein-
Imago XIV.
34 *
5i8
Referate
druck, daß Schüler eine Wahrheit, zu der Kuendig sie führen will, längst
kennen und sie nicht, wie Kuendig meint, vor sich seihst, sondern nur vor
dem Lehrer verschweigen. Wenn Kuendig sich als einen „freien, mit den alten
Erziehungspraktiken brechenden Lehrer“ bezeichnet, so müssen wir nach seinen
Beispielen doch fürchten, daß er diesen Praktiken nicht ganz so ferne steht,
wie er meint, auch wenn er, wie er mit Stolz konstatiert, keine Strafaufgaben
diktiert. — Lili Roubiczek referiert in klarverständlicher Weise über die
„Grundsätze der Montessori-Erziehung“. * t i ^ t* \
° femchel lijerltn)
Jugendpsyckologie, Erziehung, Heil pädagogik
Farrow, E. PicJcwortli: Castration Tlireats Against Cliildren. Journal
of Nervous and Mental Disease. 65 , 1.
Die Arbeit bespricht die Gefährlichkeit von Kindern gegenüber geäußerten
Kastrationsdrohungen in der Hoffnung, ein klein wenig zur Vermeidung solcher
Drohungen beitragen zu können. Der Autor selbst glaubte lange nicht an die
Existenz eines Kastrationskomplexes. Bei Anwendung seiner Methode der Selbst
analyse (Referat siehe diese Zeitschrift, Bd. XH, S. 114) fand er zu seiner Über¬
raschung die Erinnerung an vergessene schwere Kastrationsdrohungen seiner frühen
Kindheit (Referat siehe diese Zeitschrift, Bd. XI, S. 245). Farrow teilt Lesern
ohne entsprechende Erfahrungen die ganzen Lebenskonsequenzen der so ent¬
stehenden Angst mit, die ja, weil verdrängt, keiner späteren nichtanalytischen
Korrektur zugänglich ist, — Er meint, daß Frauen viel häufiger solche Drohungen
aussprechen als Männer. Als prophylaktische Maßnahmen schlägt er vor, alle
Eltern vor dem Aussprechen solcher Drohungen zu warnen, Kinder, wenn
möglich, mit Fremden, besonders mit unverheirateten Frauen, überhaupt nicht
allein zu lassen und den Kindern selbst zu sagen, sie sollten vor Fremden nicht
exhibieren und keinem, der mit Abschneiden drohe, glauben. Gegen den Ein¬
wand, die Bedeutung der Drohungen sei nicht so groß, weil der Kastrations¬
komplex sich auch ohne solche aus phylogenetischen Gründen etabliere, meint
Farrow, daß die Wirkungen von Drohungen der Intensität nach ganz andere
seien als die einer Verschiebung oraler und analer Verlusterfahrungen auf Penis¬
phantasien; die Differenz sei so groß, daß Farrow es für unzweckmäßig hält,
beide Erscheinungen mit demselben Namen zu belegen. Er teilt noch Beispiele
dafür mit, wie die Kastrationsangst seelische „blinde Flecke“ setzen kann und
beruft sich unter anderem auf Simmels Arbeit über „eine Deckerinnerung
in statu nascendi“ (diese Zeitschrift, Bd. XI, S. 77). Jeder Psychoanalytiker wird
dem Autor darin beipflichten, daß Kastrationsdrohungen vermieden werden sollten,
aber leider auch darin, daß die Kastrationskomplexe der Erwachsenen schon
dafür sorgen werden, daß das nicht zu bald geschieht. Er wird deshalb auch
die von Farrow vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen nicht für sehr bedeutungs¬
voll halten und vielleicht auch den phylogenetischen Anteil des Kastrations¬
komplexes doch höher einschätzen. Fenicliel (Berlin)
Referate
619
Low, BaraEara. Tlie Cineina in Education. iSome Psydiological
Considerations. (Contemporary Review, November i 9 s5.)
Die Autorin spricht in diesem Artikel die Hoffnung aus, daß auch eine bloß
allgemeine skizzenhafte Darstellung des Problems“ von Nutzen sein könne, doch
gehngt es ihr innerhalb des begrenzten Raumes, der zu ihrer Verfügung steht,
die Einflüsse des Kinos auf das Seelenleben des Kindes in richtigerWeise zu
analysieren Die Hinweise auf die Berichte pädagogischer Körperschaften und die
daraus angeführten Stellen zeigen sowohl günstige wie schädliche Wirkungen des
Kmos bei der Erziehung des Kindes. Miß Low analysiert diese Wirkungen und
die Pädagogen werden es begrüßen, ihre Probleme mit Hilfe der einzigen Methode,
die tiefer dringt als das Bewußtsein, einer Aufklärung nähergebracht zu sehen.
Das Kino ist eine der stärksten Mächte, die die moderne Gesellschaft be¬
einflussen. Die Autorin bezieht sich auf St. John Ervine, der vor einiger Zeit
von einer neuen Art von Mentalität sprach, die er als Kinoseele („Movie Mind“)
bezeichnet.
™ I ? e f , T 5 T us d er herrschenden Mentalität muß für den Erzieher von höchster
, ^igkeit sein. Daß man sich über diese Bedeutung klar ist, bezeugen die
Berichte aus den verschiedenen Körperschaften über den Wert des Kinos in
der Erziehung. Einige von diesen Folgerungen sind nicht stichhaltig, gewisse
Grundtatsachen, von denen eine Beurteilung des Problems ausgehen müßte,
werden nicht berührt.
Man kann das Kino als Erziehungsfaktor nach zwei Gesichtspunkten be¬
trachten: a) als eine Einrichtung mit ganz bestimmten Wirkungen, wie etwa
die lebensvolle Wiedergabe von Geschehnissen und Vorstellungen, und b) als
eine Methode zur Beeinflussung und Lenkung der menschlichen Seele. Haupt¬
sächlich mit der ersten Seite befassen sich die verschiedenen pädagogischen
Schriften, d. h. mit der Frage nach den konkreten Wirkungen auf den Inhalt
der kindlichen Seele.
Miß Low geht nun an die Behandlung der Frage: Auf welche spezifische
Art und in welcher Hinsicht kann das Kino die Seele des Kindes beeinflussen?
Die moderne Gesellschaft verlangt leichte, rasch ablaufende Unterhaltungs¬
arten mit sensationellen berauschenden Wirkungen. Das Bedürfnis nach dem
Kino ist ein Symptom der herrschenden Einstellung, der Ausdruck einer inneren
Furcht und eines Minderwertigkeitsgefühls in projizierter Form. Außerdem ge¬
währt es die Befriedigung unbewußter Wünsche.
So befriedigt das Kino den Wunsch nach magischer Allmacht, und zwar nicht
durch den Filminhalt, sondern durch die Filmmethode. Es bringt uns die
Lösung von Fragen und Problemen, es vereinfacht und wählt aus, das Leben
aber kennt kein Auswählen und ist etwas Zusammengesetztes.
Auch in Filmen, die eine Darstellung der Wirklichkeit geben, findet Miß
Low das magische Element wirksam; es verrät sich in der Vereinfachung und
in der raschen Lösung der Probleme.
Naturhistorische, geographische und physikalische Filme geben uns falsche
Begriffe, vor allem was die Zeitvorstellung anbelangt.
34 *
520
Referate
Miß Low muß zugeben, daß derartige kritische Einwände bis zu einem
gewissen Grad für die verschiedensten Kunstformen zutreffen, aber überall
arbeitet hier die Schöpferkraft des Künstlers mit einem nichtmechanischen
Medium innerhalb bestimmter Grenzen und stellt seine Anforderungen an den
Zuschauer.
Ein Punkt, wo das Kino sich mit den tiefsten ursprünglichen Trieben ver¬
bindet, ist seine Beziehung zur Zeit. Das Kino unterstützt die Illusion der Zeit-
losigkeit durch den raschen Ablauf der Ereignisse, die mangelnde Ausarbeitung
und die Unmöglichkeit, langsame Entwicklung und allmähliches Wachstum darzu¬
stellen. Das Kino fälscht den Wert der Tatsachen. Der Sinn des Kindes für Pro¬
portion und Wert wird hintangehalten. Der fortwährende Wechsel der Bilder
führt zur Schaffung einer Mentalität, die sich durch mangelnde Konzentrations¬
fähigkeit auszeichnet. Die Befriedigung der infantilen Neugier kann es leicht
gewähren, indem es so gut wie ausschließlich an die visuelle Aufmerksamkeit
appelliert. Ella F. Sliarpe (London)
Baege, F. P.: Cliaralcterf eliler unserer K Inder. Plesse & Becker
Verlag, Leipzig 1927.
Obschon der Verfasser mit viel Umsicht all den akzidentellen Einflüssen zur
Bildung fehlerhafter Charaktere nachgeht, so muß ihm doch der Vorwurf ge¬
macht werden, daß er sie zu sehr als vom Prinzip des „Willens zur Macht“
beherrscht sieht und die eigentlichen Triebkomponenten zu wenig beachtet.
Trotzdem Baege anerkennt, daß die Psychoanalyse „äußerst wertvoll für die
praktische Erziehung ist, weil sie Verständnis schafft für die Geheimnisse der
unterschwelligen Regionen"*, so trägt er doch der Tatsache, daß alle Charakter¬
fehler den größten Antrieb zu ihrer Wucherung aus dem Unbewußten erhalten
und folglich^auch nur durch entsprechende Beeinflussung des Unbewußten korri¬
giert werden können, zu wenig Rechnung. Gräber (Bern)
M atlezo w, Al.: E in grausames Experiment. (Neues üker die
Lage verwahrloster Kinder in iSowjetruljland.) „Die russische iSdiule im
Auslande. 4 ’ Buch 12 . Prag 19s 5 .
Die in Prag erscheinende russische Zeitschrift „Die russische Schule im
Auslande 1 " zeichnet sich durch ihr lebhaftes Interesse für alle Neuerungen
der Pädagogik aus.
Sehr interessant ist der in dieser Zeitschrift erschienene, auf Grund des von der
russischen kommunistischen Presse publizierten Materials verfaßte Aufsatz von
Al. Maklezow über die verwahrloste Jugend in Sowjetrußland. Er ist sehr
lehrreich, .weil er den eklatanten Beweis für die Notwendigkeit der Kennt¬
nisse der Psychoanalyse für die Pädagogik bringt.
Den neuen Anschauungen nach wird das Familienleben im heutigen Rußland
als eine überlebte bürgerliche Institution betrachtet, an deren Stelle eine freie
Vereinigung der Geschlechter eingetreten ist, eine Vereinigung, die solange
dauert, als das Zusammenleben der Vereinigten für sie mit Genuß verbunden
Referate
521
ist. Jeder Partner ist berechtigt, sobald er sich diesen Genuß irgendwo anders
verschaffen will, seinen Partner zu verlassen und eine andere Vereinigung zu
suchen. Derartige Auffassungen haben sich vor allen Dingen die wenig ge¬
bildeten Bevölkerungsklassen angeeignet: bei einundneunzig Prozent der Fälle, die der
Moskauer Kommission in Sachen unmündiger Kinder im Verlaufe von fünf Jahren
Vorgelegen haben, handelte es sich um Kinder von Bauern und Arbeitern. „Es ist das
neue, vagierende Rußland, sagt Al. Maklezow, „das auf Waggonpuffern, unter
Eisenbahnwagen, auf den Dächern der Waggons in der Residenz zusammen¬
strömt. Selbstverständlich ist die Sorge um die Erziehung der Kinder, Liebe
und Zärtlichkeit zu ihnen unter diesen Umständen ganz ausgeschlossen. Und
tatsächlich sind von oben erwähnten Kindern nur neun Prozent vater- und mutterlos,
in der Mehrzahl der Fälle jedoch halb verwaist, d. h. sie haben Vater oder
Mutter, die aber nicht für sie sorgen. Diese Versagung der Liebe in den
zartesten Kinderjahren ist die Ursache der Verwahrlosung, die die Sowjet¬
regierung mit allen Kräften zu bekämpfen sucht. Der Aufsatz von Al. Maklezow
bezieht sich eben auf diesen Kampf der Regierung gegen die immer wachsende
Verwahrlosung der Jugend.
Die minderjährigen Rechtsverletzer werden in Sowjetrußland nicht als Ver¬
brecher, sondern als Opfer der sozialen Verhältnisse und der Umgebung, als
arme, unglückliche Wesen betrachtet, die man durch liebevolle Behandlung auf
den rechten Weg zu führen sucht. Und diese an sich ganz richtige Anschauung
führte zu ganz unerwarteten Ergebnissen: „Nicht nur, daß die Erzieher gar
keinen Einfluß auf die Kinder gewannen und niemals die Herren der Situation
werden konnten, sondern die Kinder waren es, die die Asyle in schmutzige
Häuser verwandelten, in Häuser, wo sie ihre Laster, ihre verbrecherischen
Instinkte, Diebstähle, aggressive Handlungen ganz zynisch, ohne sich im ge¬
ringsten zu genieren, ausübten, jede Gelegenheit ausnützend, um aus den Asylen
zu entwischen. Die Regierung erwies sich diesem Übel gegenüber als machtlos —
die wachsende Zahl der Verwahrlosten in der Sowjetunion nimmt einen drohenden
Umfang an. Die Revisoren, die im Jahre 1924 die Tätigkeit der Moskauer
Kommission in Sachen unmündiger Kinder kontrollierten, haben festgestellt,
daß im Laufe von fünf Jahren der Kommission fünfzigtausend Fälle Vor¬
gelegen haben.
Diese traurigen Ergebnisse der neuen Methode riefen eine Opposition gegen
sie hervor; so verlangt S. Beresnew in seinem im September 1924 in „Prawda“
publizierten Artikel eine Abschaffung der „medico-pädagogischen Methode**,
die Anwendung von unerbittlich strengen Maßregeln, Gefängnis mitinbegriffen
für die minderjährigen Rechtsverletzer. Er meint, daß die Besserung der Ver¬
wahrlosten nicht vermittelst Erziehung und Heilung, sondern nur durch Strafe
und Gericht möglich ist.
Beide Parteien (als Vertreter der entgegengesetzten Erziehungsmethoden)
haben Unrecht, obwohl ihre Fehler entgegengesetzt sind und dennoch aus ein
und derselben Quelle stammen — nämlich: aus dem vollständigen Mangel an
Verständnis für das Seelenleben der Kinder, die Ursache ihrer Verwahrlosung.
Die Versagung der Liebe der Eltern führt zur Verdrängung des Liebesver-
522
Referate
langens des Kindes, die Liebesfähigkeit verwandelt sich in Haß, in Aggression,
in Rachedurst wegen der Entbehrung der Liebe. Das Kind überträgt seine
Gefühle auf die Gesellschaft, wird asozial, verwahrlost. Eine harte Behand¬
lung, strenge Strafe, können nur zur Vergrößerung des Haßgefühles, des Rache¬
bedürfnisses des Kindes führen und es rettungslos zu einem Verbrecher machen.
So ist die von S. Beresnew vorgeschlagene Behandlungsmethode der verwahr¬
losten Kinder eine absolut unzulängliche, die von ihm nur vorgeschlagen werden
konnte, weil ihm die Ursachen der Verwahrlosung gänzlich unbekannt sind.
Die in russischen Asylen angewandte andere Methode der Behandlung ist
im Prinzip eine richtige, nur die Art ihrer Anwendung ist eine falsche. Man
kommt zwar mit Liebe dem Kinde entgegen, aber ohne Verständnis für seinen
seelischen Zustand. Die Versagung der Liebe führt das Kind zur Verwahrlosung,
darum ist es richtig, das Kind mit Liebe zu behandeln, mit derselben Liebe,
deren Entbehrung für dasselbe solche unglückliche Folgen hatte. So findet das
Kind im Erzieher einen liebenden Vater, der aber kein Schwächling sein darf,
denn dann traut ihm das Kind nicht und glaubt, daß er zu ihm nicht aus
Liebe, sondern aus Schwäche gut ist. Diese Schwäche sucht es auszunützen, um
sich für die Entbehrung der Liebe durch Haß und Aggression zu rächen.
Wenn der Erzieher weiß, daß die Verwahrlosung des Kindes die Folge der in
der Phase des Ödipuskomplexes von ihm erlebten Enttäuschungen der Eltern¬
liebe ist, so wird er auch wissen, auf welchem Wege es möglich ist, die
Liebe des Kindes zu gewinnen, für ihn Vater- oder Mutterersatz zu werden.
Er wird verstehen, daß erst, wenn er die Liebe des Kindes gewonnen hat,
seine erzieherische Arbeit einsetzen darf, die erst dann unerbittlich und streng
sein muß. Dasselbe Kind, welches in seiner Verwahrlosung die aggressivsten
und allerschlimmsten Handlungen ihm gegenüber auszuüben suchte, wird ge¬
fügig und macht aus freien Stücken alles, was der Vaterersatz von ihm ver¬
langt. Der glänzende Beweis für die Richtigkeit dieser Anschauung sind die
Erfahrungen, die Aichhorn mit Verwahrlosten gemacht hat.
Aus dem Dargelegten ergibt sich von selbst, daß die Unmöglichkeit der
Bekämpfung der Verwahrlosung in Sowjetrußland in der Unkenntnis der Psycho¬
analyse ihre Begründung findet, die den Schlüssel zum Verständnis des infantilen
Seelenlebens gibt, und die Aichhorn die Möglichkeit gab, die verwahrlosten
Jugendlichen zu sozial empfindenden Menschen zu erziehen. Lowtzky (Berlin)
Franc Le, HerLert: «Tugen tlverwalirl osung und ilire Bekämpfung.
F. A. Hering. Berlin 1926.
Knapp und doch nicht abstrakt gibt hier der bekannte Berliner Jugend¬
richter auf Grund langjähriger Erfahrung einen sehr beachtenswerten Über¬
blick über das Problem und die erprobten Methoden zu seiner Bewältigung.
Die philosophische Zielsetzung (Plato-Spranger) hindert Francke nicht, die
Wirklichkeit und die in der gegebenen Ordnung ruhenden Grenzen aller päd¬
agogischen Maßnahmen zu sehen. Die Ursachen der Verwahrlosung sieht er in
inniger Verschlingung sozialer und psychischer Faktoren. Die Bedeutung der
Referate
523
Sexualität (und allem Anschein auch der Ödipussituation) wird voll anerkannt
und den psychoanalytischen Versuchen der Verwahrlostenerziehung freundlich
zugestimmt, wahrend die individualpsychologischen Einseitigkeiten bestimmt
abgelehnt werden. Die kleine, aber sehr reichhaltige Schrift sei wärmstens
empf ° hlen - Hemfeld (Berlin)
S
eeling, Otto: Das Pro
Be rüclcsichtigung d
Abhandlungen. Heft I.
klein der Suggestion in der Erziehung mit
er Heilpädagogik. Pädagogisch - medizinische
Pyramidenverlag Dr. Schwarz & Co., Berlin 1936.
Wenig übersichtliche Zusammenstellung von Äuß erungen verschiedener Autoren
über die Möglichkeit einer Anwendung der Suggestion und Hypnose in der Er¬
ziehung, unter Mitberücksichtigung psychoanalytischer Schriften, und gleichzeitiger
Ablehnung der Psychoanalyse für die Erziehung. Wie wenig durchdacht diese
Frage bisher wurde, wird aus den widerspruchsvollen und unverbindlichen An¬
schauungen der zitierten Autoren eindringlich sichtbar. Bernfeld (Berlin)
Lazar, Erwin: Medizi n ischeG run dl agenderHeil pädagogik, für Er¬
zieher, Lehrer, Richter und Fürsorgerinnen. Wien, Julius Springer, 19^5.
Aus diesem kleinen Lehrbüchlein spricht viel aufrichtige Menschenliebe, die
den Zöglingen der Heilpädagogik helfen will. Da aber der Autor die Ergebnisse
der Psychoanalyse außer acht läßt, führt ihn sein guter Wille nicht weit in
die Tiefe und neben der Beschreibung der geringen somatischen Grundlagen
von Verwahrlosung und Dissozialität kommt über Seelisches nur Allerober¬
flächlichstes zur Sprache. Das komplizierte Zusammenspiel verschiedenster Faktoren
in der Ätiologie der „Schwererziehbark eit“ wird in erstaunlichem Grade simpli¬
fiziert. Die Schwierigkeiten im häuslichen Milieu der Dissozialen werden so
besprochen, wie sie sich dem mit gewöhnlicher psychiatrischer Exploration
arbeitenden wohlwollenden Beobachter zeigen; auch die infantile Sexualität, die
ja einem solchen Wohlwollenden nicht verborgen bleiben kann, wird anerkannt.
Vom Ödipuskomplex allerdings meint Lazar, daß er nur bei neuropathischen
Kindern auftrete (S. 35). Ein Mißverständnis besteht bezüglich der „Latenzzeit* 4 ,
von der Lazar meint, sie liege zwischen Pubertät „und der Zeit, in der die
geschlechtliche Betätigung vor sich gehen soll“, (S. 35) und in der Geschlechts¬
verkehr „charakterologisch schädigend 4 wirke. Die Masturbation „gehört wohl
zu den ^lästigen, . . . nicht aber zu den gefährlichen Betätigungen des Geschlechts¬
triebes (S. 37). Es ist wohl ein Irrtum, wenn Lazar meint, daß Koprophilie
in spaterem Kindesalter „als ein Symptom schwerster Entartung“ zu werten sei.
Kindliche Ungezogenheit, Dissozialität und Kriminalität werden deskriptiv
besprochen, wobei der psychoanalytische Leser bedauert, daß so viele solcher
Typen analytisch noch nicht untersucht sind, und dann nach üblichem psychiatri¬
schen System eingeteilt. Im Kapitel über „neurotische Erscheinungen“ werden
diese nach Janet eingeteilt und von Freud nur gesagt, daß seine Meinung über
den Zusammenhang zwischen Neurosen und Sexualität zwar insofern richtig
sei, als Neurosen sich im Gebiet des Sexuellen manifestieren, es aber fraglich
624
Refera te
bleibe, ob für die Ätiologie der Neurosen „nicht doch in letzter Linie konsti-
tutionelle Momente bestimmend sind“ (S. 68). Auch an die Sinnhaltigkeit der
Träume glaubt Lazar nicht (S. 79). Ein Schlußkapitel berichtet über Ver¬
suche, die Ergebnisse der Konstitutionsforschung in der Fürsorgeerziehung prak¬
tisch zur Gruppeneinteilung der Zöglinge zu benutzen, die scheinbar zu Erfolgen
fÜhrtetl - Feuieliel (Berlin)
Reininger, Karl: Uber soziale Verhaltungsweisen in der Pubertät.
Aus dem psychologischen Institut Wien. Deutscher Verlag für Jugend
und Volle. len, Leipzig, Ueuyorh 192^.
Verfasser hat über ein Jahr lang „sorgfältige Beobachtungen“ an einer Volks¬
schulklasse mit fünfunddreißig durchschnittlich elfjährigen Knaben „sowohl im
Unterricht wie in den Pausen und nach Möglichkeit auch außerhalb der Schule
studiert, wobei planmäßige Maßnahmen, wie Wechsel der Sitzordnung, Aufsatz -
lemen, Spielanregung unauffällig die Arbeit unterstützten“. Die festgestellten
Sachverhalte verdienen Interesse. Die Bildung einer festen Rangordnung unter
den Schülern, ihre Gruppierung um Führer, das typische Verhalten der Rang¬
obersten und Ranguntersten untereinander, die Qualitäten der Führer — dies
alles wird durch die systematische Bearbeitung der gemachten Beobachtungen
plastisch herausgearbeitet. Die Ergebnisse entsprechen im wesentlichen den Be¬
funden, die Hoffer [Bemfeld, Vom Gemeinschaftsleben der Jugend] beschrieb —
eine Arbeit, die übrigens dem Verfasser entgangen zu sein scheint. Die Deutun-
£ en i gänzlich auf Adlers Lehre vom Drang „nach oben“ aufgebaut, vermögen
das beigebrachte Material nicht zu bewältigen; wenn sie auch jeweils ein Stück
weit reichen. Vergessen hat der Verfasser seine eigene Rolle — als Klassen¬
lehrer der beobachteten Kinder — bei der Gruppenbildung zu erfassen und
in Rechnung zu stellen; der Vernachlässigung dieses wichtigen Faktors dankt
er die Möglichkeit, die libidinösen Fundamente der Gruppe nicht sehen zu
mi ’ !SSen - BernfelJ (Berlin)
Kriminologie
Döblin, Alfred: Die beiden Freundinnen und ilir Giftmord.
Außenseiter der Gesellschaft. BI. I. Verlag Die iSdimiede, Berlin.
Nicht immer pflegt man in Berichten über große Kriminalfälle dem Um¬
stande gerecht zu werden, daß auch der Verbrecher — ein Mensch ist, also
auch er eine seelische Entwicklung haben könnte. Darum ist schon die Idee
dieser Schriftenreihe (herausgegeben von Rudolf Leonhard), bedeutende Ver-
bieenen der Gegenwart mit namhaften Schriftstellern darstellen zu lassen, ver-
dienstvoi.. Die Ausführung gewinnt an Bedeutung dadurch, daß die Sammlung
mit der soi "faltigen, klaren, in ihrer schlichten Objektivität schlechthin über¬
zeugenden Am eit. von Alfred Döblin eingeleitet wird.
Referate
5z5
Sie berichtet über den Fall der beiden Freundinnen Ella Link und Margarete
Bende, die in Berlin im Jahre 1922 den Tischler Link vergiftet haben. Ein
glücklicher Umstand, daß in Döblin der Arzt und Dichter in einer Person ver-
einigt sind. Er sieht mit dem Auge des Arztes, mit sicherem Blick erfaßt er
die Dynamik der Triebe, die entscheidenden Konflikte, die kritischen Situationen.
Und er hat die Einstellung des Arztes für das Herausfinden des Verschobenen,
Veränderten im Seelischen. Was der Arzt gesehen hat, das erzählt hier der
Dichter mit der blitzartig beleuchtenden Präzision seiner großen, sicheren Sprach-
kraft. Mit Recht zieht er in die Darstellung auch den sozialen Hintergrund des
Falles hinein: die Gerichtsverhandlung, die Gutachten des psychiatrischen Sach¬
verständigen, die kommentierenden Zeitungsnotizen. Nur von diesem Hintergrund
abgehoben wird der Sinn des individuellen Schicksals deutlich sichtbar. Und darüber
hinaus sind sie ein Stück Zeitgeschichte, wert, festgehalten zu werden.
Gerade diese Art Kriminalfälle durchzuleuchten scheint dazu berufen zu sein,
eine Wandlung der Anschauungen herbeizuführen. Durch eine nicht allzu dozierende,
mehr berichtende Darstellung, die aber das ganze Stück Welt, um die es sich
hier handelt, umfaßt, gestützt auf psychoanalytische Erkenntnisse, auch die Hinter¬
gründe des Geschehens aufleuchten läßt, Schicksalslinien nachziehen kann, kann
man diese Dinge am ehesten ins rechte Licht rücken. Vielleicht darf man hoffen,
daß solche Arbeiten mit dazu beitragen werden, das kriminalpsychologische
Denken umzuwälzen. Gero (Wien)
T ö 11 e n, Prof . Dr. Pleinridi (JM/ünster 1. W.) : FT euereBeo Lacht ungen
üher cliePsycliologie der zu lehenslängliclierZuchtliaus-
strafe verurteilten oder Begnadigten Verhreclier. Deuticke,
Leipzig und "Wien 1927.
Többen bringt sechsundfünfzig Fälle von im Titel bezeichneten Rechtssprechern,
hauptsächlich aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die Untersuchung erstreckt
sich im wesentlichen auf Heredität und Umwelt; direkte, indirekte und kol-
laterale erbliche Belastung, Geisteszustand, insbesondere die Intelligenz, das
Gemüts-, Triebs- und Willensleben, sowie das Alter zur Zeit der Tat sind unter¬
sucht, ebenso die Einflüsse von Verwaisung, unehelicher Geburt und sonstiger
Entwurzelung, der Erziehung, des Alkohols und vor allem des Zeitgeistes.
Was die Stellung Többens zur analytischen Methode anlangt, betont er gleich
im Vorwort, daß „es nicht notwendig zu sein schien, sich des Zauberschlüssels
des Unbewußten im Sinne moderner Seelenzergliederung zu bedienenMan
kann nur bedauern, daß sich der Verfasser dieses Schlüssels nicht bedient hat.
Denn schon die von ihm gebrachten Daten geben in einigen Fällen interessanten
Aufschluß über die Genese des Verbrechercharakters. So hätten Hinweise auf
die kausale Wirksamkeit der Odipussituation, auf die charakterologische Wirkung
der Versagungen in der Kinderzeit, besonders bei Diebstählen und Raubmorden,
auf den Einfluß der Kastrationsangst und -lust und auf die Rolle, die die Homo¬
sexualität bei manchen Morden spielt, die psychologische Deutung vertieft. Ebenso
hätte sich in mehreren Fällen über die Beziehungen von Geständnis und Straf-
5*6
Referate
bedürfnis (Reik) einiges sagen lassen. Das beigebrachte Material stellt vor allem
eine wichtige Fundgrube zur Erforschung des triebhaften Charakters (Reich)
und dessen genetische Voraussetzungen dar. Eine auf tiefenpsychologische Ziele
abgestellte Untersuchung ähnlicher Art könnte die noch so wenig bearbeitete
Psychoanalyse des Verbrechers wesentlich fördern. Walter Weisskopf (Wien)
Buttersack, Dr. F.: Wider die Minderwertigkeit! (Die Vorbedingung
für Deutsdilands Gesundung.) Curt Kabitssdi’ Verlag, Leipzig 1926'.
Wenn der Richter den Verbrecher, wenn der Regierende seinen politischen
Gegner psychologisch zu verstehen beginnt, dann geht der Staat zugrunde. Darum
empfiehlt der Verfasser dem Regenten, auf dieses Verständnis zu verzichten und
wieder verbundenen Auges im Sinne des Gemeinwohls zu richten. Man müsse,
meint er, wieder mehr unschädlich machen, hinrichten, sterilisieren, und er
widmet sein Buch Hindenburg. Es gäbe sicher viele, die für die Staatsidee, die
ihnen vorschwebt, das schwere Opfer bringen möchten, das der Verfasser von den
Funktionären seines Vaterlandes vergeblich fordert, aber jene würden vielleicht
ihre Bücher mit solchen Widmungen versehen, daß Herr Buttersack sie zu sterili¬
sieren empfehlen würde, und da fängt die Schwierigkeit an. Bally (Berlin)
Charakter, Handschrift, JViimik, Geste
M.endelssolin, Anja und Georg: Der jMLenscli in der Handschrift.
Leipzig 1928.
Das vorliegende Buch stellt die Graphologie in neuen, äußerst vielversprechenden
Zusammenhängen dar. Das wertende Vorurteil, die Bestimmung des Formniveaus
einer Schrift, das Ludwig Klages als Grundlage der graphologischen Analyse
postuliert, ist von den Verfassern als zu eng erkannt worden. Die Hinweg¬
setzung über diese und andere, die freie Forschertätigkeit hemmenden Schranken,
das Heranziehen lange verkannter Resultate der französischen Graphologie und
endlich eine lebendige Kenntnis des Wesens der Psychoanalyse haben die
Verfasser Problemen gegenübergestellt, deren Vielgestaltigkeit und Fülle dieses
Buch außerordentlich anregend macht. Im wesentlichen will die Schrift den großen
Problemreichtum aufzeigen, der sich einem unvoreingenommenen Auge enthüllt.
Damit aber fordert das Büchlein letzten Endes eine neue psychologische Be¬
gründung der Graphologie, die — das dürfte bereits feststehen, — sich in
wesentlichen Punkten auf psychoanalytische Ergebnisse wird stützen müssen.
Eine historische Einführung in die Symbolbedeutung des europäischen Schrift¬
elementes, des Buchstabens, führt über einen Abriß über die Schriftentwicklung
zum vierten Kapitel, das dem Kernproblem gewidmet ist. An Hand einiger
ausgezeichnet durchgeführter Analysen tritt uns hier der ganze Reichtum neuer
psychologischer Möglichkeiten vor Augen.
In den nächsten Kapiteln werden die wichtigsten Ergebnisse in zusammen¬
gefaßter Form dargestellt, nachdem ihr Wert bereits in der praktischen An¬
wendung der vorangegangenen Analysen zur Anschauung gelangt ist. So wird
die Bedeutung der Zonen (Ober-, Mittel- und Unterlängen) gewürdigt. In höchst
anschaulicher Form werden auf zwölf Seiten die wichtigsten Erkenntnisse der
klassischen französischen Autoren sowie derjenigen Graphologen, die sich von
Klages nicht beeinflussen ließen, zusammengefaßt.
Von ganz besonderer Bedeutung scheint uns ein hier zum erstenmal erwähntes
Anschauungsprinzip, das in seiner lapidaren Selbstverständlichkeit vermutlich auf
die graphologische Forschungsmethode von erheblichem Einfluß sein wird: Die
dreidimensionale Auffassung der Schreibbewegung.
In seiner Lebendigkeit und seinem Problemreichtum gehört dieses kleine
Buch wohl zum anregendsten, was seit langem auf diesem Gebiet geleistet
Worden ist. Bally (Berlin)
Klages, Ludwig: Handsclirtft und Cliarakter. 8. Aufl. Verlag
«Toll. Amt>rosius Bartli, Leipzig 1^2(5.
Diese Neuauflage rühmt sich im Vorwort, trotz aller seit der ersten Aus¬
gabe dieses Werkes erschienenen Arbeiten über denselben Gegenstand nach
wie vor die vollständigste zu sein und leitet daraus das Recht her, unverändert
zu erscheinen.
Es könnte als verfehlt angesehen werden, vom psychoanalytischen Stand¬
punkt aus zu den psychologischen Problemen Stellung zu nehmen, die aus der
Beschäftigung mit der Handschriftdeutung erwachsen; verzichten wir doch
darauf, uns systematisch mit der Analyse der Ausdrucksbewegungen als solcher
zu befassen; aber anderseits leitet sich das Recht zu einer Kritik her von
der Gleichheit des Endziels jeder am Individuum orientierten Psychologie: Der
Erfassung der Gesamtpersönlichkeit.
In bezug auf dieses Ziel begeht Klages einen heuristischen Fehlgriff, der
ihn von vornherein in eine Sackgasse führen mußte: Statt daß er seine Theorien¬
bildung an die Erscheinungen anlehnt, jederzeit bereit, sie an neuen Erfah¬
rungen zu modifizieren, tritt er an jene mit einer metaphysisch rationalisierten
ethischen Wertung heran.
Nirgends zeigt sich die Gefahr solchen Vorgehens deutlicher als in der vor¬
liegenden Schrift, die sich am unmittelbarsten von allen Klages sehen Arbeiten
mit den Erscheinungen auseinandersetzt.
Aber es ist geboten, bevor wir auf diese Gefahren zu reden kommen, die
Vorteile zu erwähnen, die die Graphologie der Klag es sehen Methodik ver¬
dankt. Es ist ihm unzweifelhaft als Erstem gelungen, die vollkommen unsyste-
matisierte Zeichendeuterei unter einem brauchbaren psychologischen Gesichts¬
punkt zu ordnen.
Dieser Brauchbarkeit aber sind Grenzen gesteckt: Der Angelpunkt der
Klages sehen Graphologie ist das „Formniveau“. Der Schriftdeuter ist gehalten,
zu allererst dieses festzustellen, d. h. festzustellen, in welchem Grade das
5 2 8
Referate
Schriftbild ursprünglich . sei, wie weit es sich fernhalte von Überlieferung und
Schablonenhaftigkeit. Wir würden nach diesen präliminaren Feststellungen,
unserer Arbeitsmethode gemäß, eine immer mehr sich differenzierende Analyse
der einzelnen, den Gesamteindruck gestaltenden Elemente erwarten; wissen
wir doch, daß die Sublimierungen, die die Höhe des Formniveaus bestimmen,
nur von ihrem Triebgrund her erfaßbar sind, wie dieser wiederum nur durch
die Sublimierungen geschaut werden kann. Anders Klages. Für ihn wird das
Fonnniveau Wertungsindikator. Hohes Formniveau bedeutet ihm Lebensfülle
und unter dem Einfluß dieser positiven Wertung erhalten alle Einzelformen
der Schrift nun eindeutig positiven Wertcharakter. Was bedeutet das aber?
Es bedeutet, daß dort, wo differenzierte Sublimierungsmöglichkeiten vorliegen,
die Genese dieser Sublimierungen unter den Tisch fällt (wird sie als entwertend
empfunden?). An die Stelle dieser fruchtbaren Vertiefung aber tritt — eine
metaphysische Auskunft.
Ein Beispiel mag veranschaulichen, wo die Grenzen von Klages’ System
liegen: In einer Schrift mit hohem Formniveau seien die Oberlängen größer
als die Unterlängen. Nicht nur, daß, entsprechend dem anfangs festgestellten
guten Formniveau die Oberlängen positiv gewertet werden; nein! Die Analyse
der Unterlängenformen wird überhaupt nicht durchgeführt. Diese werden nur
in ihrer Bezogenheit auf die Oberlängen betrachtet. Aus dem so gewonnenen
Bild werden also alle in den Unterlängen sich dokumentierenden charaktero-
logischen Anzeichen ausfallen. Wir wissen aber seit den Franzosen, daß sich
in ihnen gerade das Triebleben in seinen nicht auf die Sublimierungen be¬
zogenen Formen zeigt.
So kann uns das Klagessche System bei aller Anerkennung seiner Verdienste
um die Zusammenfassung des empirischen Materials nicht befriedigen; denn
es erfaßt nicht, wie sein Schöpfer vorgibt, den Charakter, sondern allein dessen
höchste Spitze: Reichtum und Artung der ichgerechten Gestaltungsmöglichkeiten.
Klages begeht einen Grundirrtum, wenn er die „Lebensfülle“ diesen Quali¬
täten gleichsetzt. Er vernachlässigt damit deren Voraussetzung, das libidinöse
Substrat, das er durch eine metaphysische Kosmogonie ersetzt. Klages’ Grund¬
irrtum zeigt mit Deutlichkeit, daß nur eine an den psychoanalytischen Er¬
fahrungen orientierte psychologische Systematik imstande sein kann, die Schrift
im eigentlichen Verstand charakterologisch zu erfassen. Bally (Berlin)
Rolieim, Gera: Tlie Pointing Bone. (Journal of tlie Antliropological
Institute I9a5 7 Vol. LV.)
Im Zusammenhang damit, daß es in europäischer Gesellschaft als ungehörig
angesehen wird, auf eine Person, von der die Rede ist, mit dem Finger zu
weisen, führt der Autor australische Gebräuche vor, bei denen der „Zeige¬
knochen (pointing bone ) magisch verwendet wird und weist besonders auf
die Einflüsse hin, die diese Gebräuche durch die Berührung mit der Kultur
und infolge von Einwanderungen erfahren haben. Aus dem Material geht hervor,
daß der Gebrauch des Zeigeknochens gewöhnlich mit Menschenfresserei und
Referate
629
„verzögeitein Begräbnis zugleich auftritt; der Knoclien wurde ursprünglich
\ on der Leiche des Vaters genommen. I11 der praktischen Durchführung verrät
sich, wie zu erwarten., eine ambivalente Einstellung zum Vater: Auf der einen
Seite stellen Kannibalismus und Zerstückelung die feindlichen Komponenten
dar wahrend andererseits der Knochen des Toteü als magisches Werkzeug zur
Rache an seinem Mörder verwendet wird. Eine bedeutungsvolle soziale Ent¬
wicklung dieser Ambivalenz, auf die der Autor aufmerksam macht, lieot in
der Projektion der feindlichen Gefühle auf ein Gebiet jenseits der Stammes¬
grenzen, in Form von Jagdexpeditionen gegen fremde Häuptlinge, — vielleicht
findet sich hier eine der wichtigsten psychologischen Grundlagen für den Krie«-
in seinen primitivsten Formen. F. Flügel (London) *
Buistendy k un J Plessner: ULer die Deutung des mimisclien
Ausdrucks. (Pliilosopliisdier Anzeiger, I. Jg., Heft 1, 1925.)
Diese Arbeit rollt einen Fragenkreis auf, der in der neueren Entwicklungs¬
periode der Psychologie zu Theorien führte, die unter den Schlagworten: Analogie¬
schlußtheorie, Einfühlungslehre und neuestens als direkte Wahrnehmungstheorie
des Ausdrucks bekannt sind. Es handelt sich hier um das Problem: Wie kommt
es, daß wir Gesten und Mimik hei Mitmenschen und Tieren verstehen oder
wenigstens zu verstehen glauben, daß in Mimik und Geste uns unmittelbar Zorn,
Angst, Freude gegeben sind; auf welche Daten stützt sich dieses Verstehen?
Buistendyk und Plessner packen das Problem von einer neuen Seite an,
indem sie die grundlegende Frage stehen; was wird denn eigentlich im Aus¬
druck des anderen verstanden. Und sie antworten, — diese Antwort klingt
zuerst gewiß überraschend, — Psychisches werde im Akt des Verstehens über¬
haupt nicht getroffen. „Wenn man sagt: Ich sehe ihm an, daß er sich schämt,
daß er bereut, wütend ist, sich grämt, so heißt das nicht, daß nur das Sein
und die Weise seines Scham-, Reue-, Zorn-, Gramerlebens gegeben ist, sondern
nur, daß die spielenden Formen seines Verhaltens gegeben sind, die in bezug
zur Umgebung eine bestimmte Haltung festlegen, . . /dem Verständnisdrang ist
Genüge geschehen, wenn in diese abwechselnden Haltungen Zusammenhang
kommt und die Einheit der Situation zwischen dem betrachteten Leib und
seiner Umgebung im Fortgang des Ganzen gewahrt bleibt.“ Erst das psycho¬
logische Verstehen forscht nach den Motiven, fragt nach den seelischen Gründen,
die in solchen Entladungen, wie sie uns im Ausdruck unmittelbar entgegen-
treten, führen könnten. Das primäre, vorwissenschaftliche, im Leben des Tages
vorherrschende Ausdrucksverständnis erfaßt nicht mehr als den Sinn, der in
Gesten und Mimik aufleuchtet. „Sinn bedeutet hier die Bezugsform zwischen
den Ausdrucksbildern und der Umwelt. Voraussetzung dieses, wie gesagt vor¬
wissenschaftlichen und spontanen Ausdrucksverstehens ist die Tatsache, daß uns
Lebewesen von vornherein — wie die Verfasser es sagen — als „sich verhaltende“,
d. h. auf eine Umwelt einspielende gegeben sind.
Es ist nicht so, daß jeder sich selbst als „Leib“ (d. h. als lebender Körper,
von innen durchfühlter, beherrschter) erscheint, die anderen Lebewesen aber
55o
Referate
als bloße „Körper“, die erst durch einen Prozeß der Projektion oder der Ein¬
fühlung belebt werden, sondern Lebewesen, Menschen wie Tiere, sind uns eben
a priori in die Seins- und Anschauungssphäre des Verhaltens, als Leiber gegeben.
Und nicht die Durchfühlbarkeit von innen, die Beherrschbarkeit konstituiert
zu allererst den Leib, sondern, nach den Verfassern, seine „Umweltintentio¬
nalität , die Tatsache seiner gegensinnigen Beziehung zu einer Umwelt. Diese
Umweltintentionalität des Leibes aber erleben wir nicht nur an uns, sondern
wir erfassen alle Lebewesen ebenso ursprünglich als „sich verhaltende“ wie
uns selbst.
Die früheren Theorien des Ausdrucksverstehens — und darin sind die Forscher
von Darwin bis Klages einig — gingen stets davon aus, daß die Deutung
des mimischen Ausdrucks auf die nicht unbedingt reflexiv bewußte — Ent¬
rätselung einer Bildersprache beruht, auf das Vorhandensein einer „ Ausdrucks-
grammatik*, welche das sachliche Zusammengehören von Affektzustand und
seiner Ausdrucksweise enthält.
Die Verfasser meinen dagegen, daß zwar ein solcher sachlicher Zusammen¬
hang zwischen Ausdrucksgehalt und Ausdrucksform wirklich besteht, die Gestalts¬
charaktere der Ausdrucksbilder nichts Zufälliges sind, aber das allein genügt nicht
zur Erklärung des Problems. Wir würden diese Bildersprache doch nicht ver¬
stehen, wenn wir sie nicht a priori als Kundgabe von Leibern, die auf eine
Umwelt bezogen sind, auffassen würden. „Am anderen Menschen braucht gar
nicht mehr als Bilder gegeben zu sein, um ihn sinnvoll, verstehend, ausdrucks¬
voll zu erfassen. Liegen doch diese Bilder in der Schicht des Verhaltens, wes¬
halb ihre Einheitsform, das also, was ihre gestaltmäßige Einheit ausmacht, zugleich
Bezugsform zwischen den Bildern und der Umwelt ist.“
Em Beispiel zeigt, daß Ausdrucks verstehen ohne die Voraussetzung der Umwelt¬
intentionalität des Leibes geradezu sinnlos ist: „Der Hund mit vorgestrecktem
am Boden gehaltenem Kopf, der unruhig hin und her läuft, bald hier, bald
dort plötzlich stehen bleibt, stark in Absätzen den Bewegungsfluß akzentuiert,
bietet uns das typische Bild des Suchens. Isolieren wir aber den Organismus
und sehen wir nur das an, was eigentlich mit ihm geschieht, so sagt das Wort
,suchen^ schon zu viel.“
Man darf die Schwierigkeiten reiner Ausdrucksdeutung nicht zu gering schätzen.
Experimente, die die Verfasser ausgeführt haben, haben gezeigt, daß die Deutungen
beträchtlichen Schwankungen unterliegen. Diese Tatsache findet ihre Erklärung
darin, daß die mimischen Bilder mehreren Ausdruckskreisen zugleich angehören.
Einem Ausdrucksbild gehört nicht ein bestimmter Sinn zu, wie Darwin und
Klages meinten, sondern ihm sind mehrere Sinne konform. Das hängt wohl
damit zusammen, daß die Formenmannigfaltigkeit körperlicher Bewegungen
äußerst beschränkt ist. Auf eine sehr wichtige Bedingung des Ausdrucksverstehens
weisen die Verfasser hin, wenn sie betonen: „Allein die konkrete Situation mit
ihren bestimmten Möglichkeiten engt die Ausdrucksdeutung ein/ 4 Die Deutung
bleibt, wenn sie nur das Ausdrucksbild zur Verfügung hat, oft unsicher. „Sie
ergibt sich eben erst aus der Situation und ihrem zweckhaft, zielmäßig oder
in welchen Intentionen immer begründeten Sinn.“
Referate
63x
Die Bedeutung dieser neuen Theorie des Ausdrucksverstehens scheint darin
zu liegen, daß die Verfasser auf eine Tatsache eindringlich hingewiesen haben,
die bisher nicht genug betont wurde: Daß uns Lebewesen als sich verhaltende
gegeben sind, ist in der Tat die notwendige Voraussetzung des Ausdrucks¬
verstehens.
Auf diese naive form des Wissens vom Anderen baut sich auch die feinere
psychologische Erkenntnis auf. Gero (Wien)
Heimsotk, K. G.: Cliaralcter-Konstellation. Mit besonderer Berück-
siditigung der GleidigesdilednUdilceit. O. W. Barth, München 1928.
Astrologie ist dem Autor „eine Wissenschaft, vielleicht die objektivste —
oder sagen wir besser die einzig objektiv psychologische 1 '. So wird aus
der Konstellation der Gestirne bei der Geburt des K. H. zum Beispiel ge¬
schlossen, daß er folgendes psychische Bild gebe: „Eine intellektuell-theore¬
tische und weniger impulsiv-praktische Natur, der (sic!) sich dabei gerade
durch seine halbscheue Zurückhaltung mit Beliebtheit auch beruflich gut
durchsetzen wird, individuell nicht so sehr beruflich als metaphysisch inter¬
essiert, von nicht sehr prägnanter Persönlichkeit, aber von freier bis ex¬
zentrischer Weltanschauung, nicht sehr praktisch, zum Teil von Brüdern
irritiert, erhebliche Nervosität, unfähig, aus sich herauszugehen und weit¬
gehende Hemmungen, leider auch gerade im Guten und so zeitweilig eine
Sphäre von Streitigkeit und Möglichkeit von Verlusten.“
All dies aus dem Horoskop ohne weiters abzulesen, also gleichsam das
psychologische Gras wachsen zu hören, sei keine Zauberei, sondern exakte
Forschung, die zur Ergänzung der durch die Psychoanalyse und Konstitutions¬
forschung erreichten begrenzten Resultate imentbehrlich sei.
Wir mühsam und langwierig Analysierenden bekommen manchen kritischen
Hieb vom Autor und haben nur den einen Trost: er rechnet sich nicht zu
den „orthodoxen" Psychoanalytikern.
Das astrologische Bedürfnis als Teil des mystischen harrt noch der psycho¬
analytischen Deutung. Hilsckmann (Wien)
Hoffinsun, Prof. Pfermann: Cliaralstcr und Umwelt. ,Tulius iSpnnger,
Berlin 1928.
Der Verfasser bemüht sich mit feiner Beobachtung, mit gründlichen Über-
legungen und vertiefender Problemstellung um die Ursachen der Charakterentwick-
lung, um die Frage „Anlage oder Umwelt und redet der Bedeutung einer trieb-
und tendenzmäßig orientierten Charakterologie das Wort. Die Einstellung zu
den Mitmenschen einerseits, zu den Gegenständlichkeiten anderseits wird breit
erörtert. Wir sind gewohnt, in Arbeiten aus der Tübinger Klinik die Psycho¬
analyse herangezogen zu finden, aber es geschieht dies hier nicht mit Genauig¬
keit und Gerechtigkeit. Die Theorie des Vaterkomplexes versage, wenn eine
Tochter in ihrer Liebeswahl einen Partner bevorzuge, der der Wesensart des
Vaters gerade entgegengesetzt, vielleicht dem Typus der Mutter angenähert
532
Referate
sei: hier wird also vom Autor die von der Psychoanalyse behauptete Möglich¬
keit der Identifizierung ganz vernachlässigt. Impotenz und Frigidität hätten
ihre Ursache in der Fixierung der Libido an Mutter (Schwester) beziehungs¬
weise .an den Vater, behaupte die Psychoanalyse; daß dies nur eine der
Kranicheitsquellen sei, wird nicht erwähnt, obwohl die Psychoanalyse hier eine
ganze Reihe anderer Erklärungen beigebracht hat. Nicht die zu starke Fixierung
an die Mutter sei die wesentliche Ursache der Spaltung des Liebes Objektes
in ein zärtlich und ein sinnlich geliebtes, sondern eine Anlage sei Voraussetzung;
Anlage sei auch die Voraussetzung zu den zu starken Fixierungen. Darauf ist
zu sagen, daß solche Anlagen nicht beweisbar sind, die Psychogenese jener
Haltungen aber wohl.
Auch wird die Psychoanalyse noch immer dahin beschuldigt, daß sie dem
sexuellen Trauma in der Jugend die schwersten Folgen für die psychische Gesund¬
heit nachsage, obwohl doch diese Theorie längst wieder zurückgenommen wurde.
Der Verfasser glaubt, durch Zergliederung der „Ichtriebe“, durch größere
Beachtung „der Struktur, des Aufbaues der Tendenzen und des Triebgefüges“
sowie der Anlagen der Triebe zu einer der Psychoanalyse überlegenen und ihr
wesensfremden Persönlichkeitsanalyse zu kommen. Die Psychoanalyse hat aber
noch nirgends versucht, komplette Persönlichkeitsanalysen zu liefern, sondern
solche nur durch ihr Spezialstudium bereichern wollen.
Die Zurückführung einer Reihe komplizierterer seelischer Einstellung und
Funktionen auf das Tiefste, Letztauffindbare: die Triebanlagen nämlich, wird
vom Autor vielfach vernachlässigt.
Auch sei das Ideal-Ich nicht von den Eltern oder sonstigen imponierenden
Persönlichkeiten übernommen, sondern gehe sein Gehalt auf bestimmte Anlagen¬
kräfte zurück. Als ob die Psychoanalyse je die Anlagen geleugnet hätte!? Als
ob sie nicht dem Biologischen, d. i. dem Psychophysischen, immer Gerechtigkeit
widerfahren ließe!? Aber ihre eigentliche Betätigung ist psychologisch, psycho¬
analytisch, und sie begnügt sich, zur Persönlichkeitsforschung Beiträge zu liefern.
Hier ist noch lange Detailarbeit notwendig. In der Verwertung der
Resultate psychoanalytischer Detailarbeit liegt der beste Fortschritt der Per¬
sönlichkeitsforschung. Die Anlagenforschung ist noch wenig fruchtbar. Die
„Anlage muß sich mit einer respektvollen Verbeugung begnügen, wie das
„Ding an sich“, mit dem es aber unmöglich ist, Physik zu betreiben.
f II 1 1 sc L m a 11 li (Wien)
Literatur und Kunst
jMüller-Freienf eis: Psychologie und xSoziologie der modernen
K unst. Verlag Carl JVtarliold, Halle a. d. S . lgaG.
Ein antithetischer Grundgedanke, der schematisch ausgebaut ist, durchzieht
die Schrift: Die moderne Zivilisation, die stark rationalisiert, mechanisiert und
unpersönlich ist, erzeugt das Bedürfnis nach dem Religiösen, Transzendenten
Referate
533
und Metaphysischen. Der Verfasser gibt eine Formel für die neue Kultur; „Mit
Bewußtsein gesuchtes unbewußtes Leben, Mystik durch den Verstand ergriffen,
Irrationalismus, der durch den Rationalismus hindurchgegangen . u
Man erhält den Eindruck, daß der Verfasser vieles weiß, aber vieles ver-
men ^‘ Gräber (Bern)
Taylor, jML P.: A Fatlier Pleads for tlie Deatli of His iSon. Inter¬
national Journal of PsA. VIII, 1.
Shakespeare hat in sein Drama Richard II. eine merkwürdige Episode
eingefügt: Der Herzog von York entdeckt, daß sein Sohn an einer Verschwörung
beteiligt war, die den unlängst gestürzten Richard wieder auf den Thron bringen
wollte. Er bittet nun den Usurpator Heinrich IV., seinen Sohn töten zu lassen. —
Der Herzog selbst hatte aber vorher seinen Herrn Richard verraten, an seinem
Sturz mitgewirkt und Heinrich auf den Thron verholfen. — Taylor deckt
nun in sehr überzeugender Analyse die Motive für das unmenschliche Verhalten
des Vaters auf: Er hat das ganze Schuldgefühl, das in ihm wegen seines Ver¬
rats an Richard wirksam ist, auf den Sohn projiziert, an dem er sein eigenes
Verbrechen bestrafen kann, ohne sich bewußt zu machen, daß es sein eigenes
Verbrechen ist, das zur Bestrafung kommt. Fenicbel (Berlin)
Rank, Otto: Das Inzestmotiv in Dich tung und iSage. Zweite, wesent¬
lich vermelirte und verbesserte Auflage. Deuticke, Leipzig und AVien 1926.
Rank sieht sich, wie er im Vorwort sagt, bei der zweiten Auflage seines
bekannten verdienstvollen Werkes vor die Aufgabe gestellt, „das Thema mit
meiner eigenen gereifteren Auffassung in Einklang zu bringen* 4 , was in den
Augen des Psychoanalytikers dem Buche nicht zum Vorteil gereicht. — Obwohl
es für Rank „zwar verlockend“ wäre, „dem Vorbild Nietzsches folgend, dieses
Problem der eigenen Entwicklung einleitend aufzurollen“, begnügt er sich mit
Zusätzen und Änderungen im Sinne seiner programmatischen Erklärung: „Mit
richtiger Einschätzung der im Mutterkomplex ruhenden präödipalen Entwick¬
lung des Kindes ist auch klar geworden, daß das Schuldgefühl, das uns in der
Dichtung als tragische Schuld entgegentritt, nicht aus dem Ödipuskomplex
stammt, sondern aus einer früheren Entwicklungsphase, und sich nur deutlich
auf der Ödipusstufe manifestiert.“ „Vielleicht ist es bald Zeit, in die Zukunft
zu blicken und zu fragen, ... ob es nicht möglich ist, den Ödipuskomplex,
der so lange verleugnet und endlich anerkannt wurde, auch wirklich zu über¬
winden.“ Fenicliel (Berlin)
Rutter, George JM.: iSlips of tlie Tongue in Mediaeval Englisli
Literatu re. International Journal of PsA. VIII, 3.
Einige Beispiele von sinnvoller Verwendung des Versprechens in Dramen des
Mittelalters. Fenicbel (Berlin)
Imago XIV.
35
534
Referate
De 1 iu s, R.: Tanz unJ Erotik Delpliin-Verlag, Muindien.
Der Tanz, das höchste Spiel, sei die adäquate Ausdrucksform des sich be¬
freienden (weiblichen) Eros, und — wie der schwärmende Verfasser meint —
das einzige Mittel, ihn frei von aller traditionellen Bedingtheit darstellerisch zu
erfassen und zu erleben. Bally (Berlin)
Elster, Dr. Alexander: Musik und Erotik. Betrachtungen zur /Sexual¬
soziologie der Musik. (iSoncf erat druck aus der zweiten Auflage des »Hand-
wörtertucks der iSexualwissensdiaft«.) A. Marcus u.E.Weter, Bonn 1926.
In seinem Aufsatz behandelt der Autor sein Thema auf einer breiten sexual-
soziologischen und sozialbiologischen Basis und sucht seine Behauptungen sowohl
psychologisch zu fundieren als auch philosophische Erklärungen zu geben. Er
verrät dabei die Kenntnis einzelner Arbeiten psychoanalytischer Autoren, an¬
erkennt z. B. die Rolle des Narzißmus, des Vorlustmechanismus, doch möchte
er ihre Wirksamkeit auf die ausübenden Musiker beschränken. Mit anderen
Behauptungen setzt er sich auseinander, besonders widerspricht ihm die Aus¬
sage Ferenczis über die analerotischen Grundlagen der Freude an der Musik.
Dadurch wird allerdings eine der bedeutungsvollen unbewußt-erotischen Wurzeln
des Musikgenusses ausgemerzt.
So kommt notwendig auch die Tatsache der Sublimierung etwas zu kurz.
Es stellen sich metaphysisch gefärbte Gedankengänge ein, um das Problem
zu umgehen. Der Autor betrachtet die euphorische Wirkung der Musik als die
primäre und leitet davon die erotischen Wirkungen sekundär ab. Die Rausch¬
wirkung der Musik schreibt er aber einer Vermittlung zwischen zwei Arten
der Ekstase zu: x) „der organischen Ekstase (sexueller Orgasmus als Grund¬
lage der höheren Zeugung und Fortpflanzung); 2) der transorganischen Ekstase
(religiös-mystische Verzückung,' Trancezustand u. dgl.)‘\ Allerdings wird diese
Formel durch die Anmerkung (S. 14) sehr vereinfacht, daß „transorganisch 44
mit „seelisch gleichbedeutend sei. Demnach soll Musik die Vermittlerin zwischen
körperlich-sexueller und seelisch-asexueller Ekstase sein. Dabei bleibt die Frage
der Sublimierung unerörtei't und die Lösung dieser Seite des Rätsels des Musik¬
genusses nur wenig gefördert.
Während so einerseits ein Widerstand vorherrscht, selbst die Tatsache der Sub¬
limierung und damit die Wesensgleichheit der sublimierten mit der unsublimierten
Libido anzunehmen, erfahren anderseits gewisse Erscheinungen, wie so oft, eine zu
kühne und nicht genügend begründete Deutung. So wird z. B. der „abstrakte Cha¬
rakter der absoluten Musik 4 * mit der Impotentia coeundi verglichen und gedeutet.
Eine andere Behauptung des Verfassers über die musikalische Darstellbarkeit
der Empfindungen des Liebesspiels und des Koitus erscheint von vornherein
evidenter. Hier hätte sich Verfasser auch auf die von ihm angeführte Arbeit
des Referenten stützen können, insbesondere über die funktionelle Darstell¬
barkeit der Libidobewegungen durch die Musik, auch solcher während des
Koitus.
Referate
535
Die eigentliche Stärke des Aufsatzes liegt in Verfassers reichem Wissen über
Musikkunde, dem weiten Horizont und dem philosophisch erhöhten Stand¬
punkt, von welchem aus sein wissenschaftlich geschärfter Blick eine große
Zahl verwandter Erscheinungen auf dem Gebiete der Sexualsoziologie der
Musik, z. B. Verwendung der Musik zu erotischen Zwecken, erotische Massen¬
erscheinungen auf dem Gebiete der Musik, in anziehender Weise zusammen¬
fassen kann. Im ganzen ein sehr lesenswertes Buch auf diesem spärlich be¬
arbeiteten Gebiet. Pfeifer (Budapest)
Jo eye, James: Jug e n dl) 1 1 d n i s. Rhein Verlag, Basel.
Die Selbstbiographie des irischen Dichters, der mit seinem. Roman „Ulysses“
die Aufmerksamkeit der literarischen Welt auf sich zog, ist jetzt auch deutsch
erschienen. In diesem Buch wird die Geschichte einer Seele erzählt, die Kämpfe
eines jungen Menschen um seine innere Befreiung. Das Stärkste ist vielleicht der
Anfang. Wie hier die Angst, die Nöte, auftauchende Phantasien, Fieberträume,
kaum faßbare Gefühle eines Knaben dargestellt werden, ist ganz große Kunst. Die
Welt des Vorbewußten, die gleitende Grenze zwischen Bewußtem und Unbewußtem
wird mit einer so unübertrefflichen Genauigkeit erfaßt, wie das in der modernen
Literatur seit Dostojewsky kaum je geschehen ist. Wie das Auftauchen von schein¬
bar sinnlos nebeneinandergereihten Gedankenreihen, wie das Auf blitzen von Erinne¬
rungen, wie die um Symbole kreisenden Phantasien hier geschildert werden, ent¬
spricht haarscharf den Erlebnissen, die wir in Augenblicken hemmungslosen „Dösens“
an uns beobachten können, wie sie in der Analysestunde aus den Selbstberichten
der Patienten erschaubar werden. Nur wird das bei Jocye immer künstlerisch
geformt, gerundet zu einer echten, intensiven Epik des seelischen Geschehens.
Am stärksten packt einem der Ton dieser Bekenntnisse, diese letzte, vor nichts
zurückscheuende Aufrichtigkeit. Hier weht eine frische Luft! Es wird nicht
ästhetisierend, mit einer falschen Schöntuerei Nebensächliches aufgebauscht, breit
ausgelegt, sondern die brutalen, aber entscheidenden Erlebnisse werden heraus¬
gegraben und mit einem wissenden Ernst dargestellt.
Dem Psychoanalytiker bleibt um das Aufklären dieses Künstlerschicksals —
(das seine Lösung in der Erkenntnis des heranreifenden Jünglings findet: „Ich
will dem nicht dienen, an das ich nicht länger glaube, ob es nun Heimat, Vater¬
land oder Kirche heißt; und ich will versuchen, mich in irgendeiner Art des
Lebens oder der Kunst auszudrücken, und zwar so frei wie ich kann und so
vollständig wie ich kann . . .“) — nicht viel zu tun übrig. Er könnte wohl die
Linien der Triebdynamik deutlicher nachzeichnen, aber was uns Jocye lehren
kann, ist viel entscheidender. Er zeigt nämlich, daß die künstlerische Selbst¬
biographie einen unersetzlichen Wert haben kann, indem sie uns einen „An-
schauungsuntenücht“ über die Dinge der Seele gibt. Der Forscher und Prak¬
tiker der Wissenschaft kann zwar einen starken und auch künstlerischen Ein¬
druck von der Realität haben, aber — wenn er Wissenschaft treibt — es nicht
adäquat spiegeln. Und das nicht wegen irgend subjektiver Gründe oder Mängel,
sondern weil Kunst und Wissenschaft anderen Formgesetzen unterstehen und
den gleichen Gegenstand auf verschiedene Weise darzustellen haben. (Es gibt
55*
freilich Ausnahmen, die diese Regel durchbrechen: man denke an die unver¬
gleichliche Plastizität der Freudschen Krankheitsgeschichten.) Aber eben weil die
Wege der Kunst und Wissenschaft sich notwendig trennen, bedeutet das Werk
der Dichter eine so wesentliche Ergänzung zu unserer Arbeit. Indem sie die
seelische Welt m ihrer ganzen Vielfältigkeit, in ihrer konkreten Tiefe dar¬
zustellen vermögen tragen sie oft dazu bei, und zumal für Fernerstehende, die
Ergebnisse der Psychoanalyse in einer direkten Art „glaubwürdiger“ zu machen.
Mir scheint, die Bedeutung solch starker, unverhüllter Selbstbiographien wie
die Jocyesche ist, liegt nicht nur darin, daß sie zur Psychologie der Künstler bei¬
tragen sondern auch dann, daß sie unser Wissen von der Psychologie des
Menschen vertiefen helfen. Und wie heute die medizinische Wissenschaft, die
Anatomie etwa, durch die Mitarbeit von Zeichnern und Malern in ihren Lehr-
uchem m den Unterricht Belebung zu bringen sucht, so könnte die Psycho¬
analyse m den Dichtern ihre besten Mitarbeiter finden. Gerö (Wien)
Zur Psyckologie Je« Okkultismus
Brucl, Dr. mecl. Carl: Experimentelle Telepatliie. Neue Versudie
zur telepatli.sdien Übertragung von Zeidinungen. Julius Püttmann
V erlag, Stuttgart 1925.
In diesem ziemlich umfassenden Buch berichtet der Verfasser über die von
ihm in Hypnose und Wachzustand gemachten interessanten Experimente über
telepathische Übertragung von Zeichnungen. Sie sind eben deshalb interessant
Rpsultatp dem EXP f nme v at01 u g6lungen ist ’ unter st «nger Kontrolle positive
esultate zu erreichen. Von hundertelf Versuchen sind ungefähr achtzehn voll-
an lg ge ungen (die Zeichnungen der Versuchsperson gleichen dem Original)
und etwa zehn geben die Hauptmotive und Einzelheiten des Originals wieder
dle ” Slmultan versuche “, die Einstellung zweier Personen in
gleichzeitiger Hypnose auf dasselbe Original. So wird z. B. das Original (eine
Leiter) von einer Versuchsperson, die guter Zeichner ist, ganz genau, von der
MerhT- nUr f 1 " a ' e e ™ eln f Motiv wiedergegeben. Einiges Licht auf den
Mechanismus der Gedankenübertragung werfen die „Serienversuche“, die Ein¬
stellung der Versuchsperson ohne ihr Wissen in eine Serie von Versuchen auf
Aff’S SSe n-° r T n ^' JedC Etappe bringt eine mehr oder weniger große
ffimtat zum Original, bis schließlich das Original selbst genau wiedergegeben
dlT OriLT Sen ] F if e V>fr J tappenVerSUChe reproduzierte die Versuchsperson
das Original nach der Schließung der Sitzung. Es geht bei diesen Versuchen
so zu, wie wenn man sich auf ein Wort nicht besinnen kann, welches man
fanz SS. A da l aber bei fortgesetzter Bemühung erst entstellt und dann
ganz richtig aus der Erinnerung auftaucht. Es liegt die Vermutung nahe, anzu-
ehmen, daß die bei Gedankenübertragung wirkenden psychischen Energien
dem Experimentator zuerst in das Unbewußte der Versuchsperson ge-
Referate
S5?
langen und von da aus erst in das Bewußtsein derselben den Weg finden;
a er die Ähnlichkeit beim Besinnen auf ein vergessenes Wort und beim Be¬
mühen, das telepathisch Erfaßte wiederzugeben.
Nicht ohne Interesse für Libidotheorie ist die übereinstimmende Beob¬
achtung der Experimentatoren, daß die Unlustgefühle der Versuchsperson zum
voru erge enden Versiegen der telepathischen Fähigkeiten, die Pubertät, das
ima terium, Krankheiten anscheinend zu dauerndem Versiegen derselben
V l • dagegen eine „affektive Fixierung“ der Versuchsperson an den
S eiter in der Hypnose „eine gewisse telepathische Konstellation“ schafft
Lowtcky (Berlin)
»Zeitschrift für die Parapsychologie«. I, Heft i, Januar t 9 a6.
Die am l. Januar 1926 an Stelle der „Psychischen Studien“ erschienene
” .ei sc ur die Parapsychologie“ will die mediumistischen Erscheinungen
wissenschaftlich studieren, das Problemgebiet der neuen Wissenschaft in seinem
ganzen m ange behandeln, in erster Linie aber den Beweis für die Echtheit
er parapsychologischen Vorgänge liefern. Die große Zahl der Gelehrten, die
die Zeitschrift zu unterstützen bereit ist, läßt hoffen, daß es ihr gelingen wird
das gestellte Ziel zu erreichen.
Der Inhalt dieses Heftes der „Zeitschrift für die Parapsychologie“ bringt
m Mitteilungen von F. W. Pawlowsky („Die Mediumschaft
es ran us 1 önnten von Interesse sein, wenn sie glaubwürdig wären.
Die Redaktion selbst hält es für nötig, darauf hinzuweisen, daß der Verfasser
le alleinige Verantwortung für seine Berichte zu tragen hat. Prof. H Driesch
in semen Meditationen über die Unsterblichkeit („Weltanschauliches und Theoreti¬
sches ) halt die spiritistische Theorie wohl für logisch berechtigt, weiß aber,
ati deren Richtigkeit nicht bewiesen werden kann, weil die angeblichen Kund¬
gebungen der Verstorbenen auch durch Telepathie oder Hellsehen erklärt werden
können. Obwohl er zugibt, daß Spiritismus keine bewiesene Lehre ist, verwirft
er ihn nicht gänzlich, und nimmt mit W. James an, daß ihr „ein gewisser
rad der Wahrscheinlichkeit zugebilligt werden kann“, und zwar aus dem
Gründe, weil es Tatsachen gibt, für welche die Spiritisten eine einfachere Er¬
klärung geben als alle anderen. Die Tatsache, daß „das Medium alle seine
ubernormalen Kenntnisse, welche aus verschiedensten Quellen stammen, so an-
ordnet, daß sie von einer und derselben Person zu kommen scheinen,
namheh von einem Verstorbenen“ . . ., diese Tatsache erlaubt ihm nicht die
spiritistische Hypothese vollständig zu verwerfen, obwohl er sie auch nicht
annimmt. Dieses „seltsame Phänomen der Parapsychologie“ — die Vereinigung
aller Einzelheiten zum Schema einer „Persönlichkeit“, welches Prof. Driesch
so unerklärlich vorkommt und ihn zum Freunde des Spiritismus macht, ist der
Psychoanalyse wohl bekannt. Es ist die Identifizierung, das Vermögen des Un-
bewußten, sich zu personifizieren, das mit der Unsterblichkeit nichts zu tun hat.
Das übrige Material dieses Heftes bringt Berichte über parapsychologische
Phänomene, deren Tatsächlichkeit noch nicht bewiesen ist, oder Diskussionen
über einzelne Fälle. Lo W ,zk y (Berlin)
538
Referate
Brulin, Cliristian: Geleinte in Hypnose. Zur Psychologie der Über¬
zeugungen und des Traumdenlcens. Verlag Parus, Hamburg 3b.
Bruhn nimmt in diesem Buche weniger Stellung zur okkultistischen Lehre
seihst als zu ihren Forschern und Anhängern und der Art der Forschung. Er
kritisiert die Urteilsfähigkeit der okkultistischen Autoren, und zwar, um die
Frage radikal zu erledigen, gleich die ihrer bedeutendsten Vertreter. Männer
wie Driesch, Willstetter, Thomas Mann, Klages und noch über fünfzig
weitere Persönlichkeiten von geistigem Rang unterzieht er — im übrigen ihren
Wert anerkennend — in bezug auf ihre Einstellung zum Okkultismus seiner
Kritik. Er bringt Stellen aus ihren Gutachten und sonstigen Äußerungen und
weist immer wieder nach, daß die Forscher von vornherein eine affektive Ein¬
stellung zum Okkulten haben, von vornherein ihm mit Wünschen und Er¬
wartungen entgegentreten, dementsprechend auch keine exakten wissenschaft¬
lichen Experimente anstellen, sondern sich unkontrollierbaren oder mangelhaft
kontrollierten Beobachtungen wunderbarer Begebenheiten hingeben. Er ver¬
gleicht sie Hypnotisierten, denen aber niemand sagt, daß sie hypnotisiert
sind, und die niemand weckt. Er spricht vom „hypnotischen Unfall“, der
entsteht, wenn man — und zwar meint Bruhn jedermann — das gefähr¬
liche Gebiet nur betritt; dann weiche das wache kritische Denken der Macht
der Hypnose, die von der Persönlichkeit des Mediums und seines Versuchs¬
leiters, unterstützt durch wiederholte mündliche und gedruckte Beteuerungen
anderer — von Bruhn ebenfalls als „hypnotisiert“ bezeichneter — Gewährs¬
männer, ausgeht. Es gibt nur eine Errettung aus diesem Zustand, eine Heilung,
das ist wenn möglich — die Selbstbesinnung auf diesen „hypnoti¬
schen Unfall , und bei Menschen, die dies aus eigener Kraft nicht können,
Hilfe durch andere Menschen, die die Hypnotisierten aus ihrer Hypnose er¬
wecken. Hier und an einer früheren Stelle nimmt Bruhn Bezug auf die
Psychoanalyse. Ehe ich darauf näher eingehe, möchte ich zu dem bisher Referierten
Stellung nehmen.
In der Anschauung, daß beim heutigen Stand des Okkultismus das Okkulte
und zu Erforschende in der Psyche des Forschers und nicht in der Außenwelt
liege, stimmen wir mit dem Verfasser überein. Seinem Vorwurf betreffs der affek¬
tiven Einstellung der Autoren müssen wir ebenfalls zustimmen. Seine Forderung
einer wissenschaftlichen, d. h. einer affektfreien Einstellung — wir fügen hinzu
einer auch von unbewußten Affekten freien — müssen wir insofern erweitern,
als sie durchaus nicht nur an die Forscher des Okkultismus zu stellen ist, sie
vielleicht nur in besonders hohem Maße gegen sie verstoßen. Bis heute ist eine
streng wissenschaftliche Einstellung — der obigen Definition entsprechend —
bei wissenschaftlichen Forschern selten genug anzutreffen, ich brauche nur auf
die Art der Widerstände, die der psychoanalytischen Forschung entgegengebracht
wurden, hinzuweisen, aber auch das ist nur ein Beispiel unter vielen. Wenn
wir aber dem Verfasser selbst seinen eigenen, wie gesagt berechtigten, Vorwurf
nicht auch machen, so geschieht es nur in der Annahme, daß er selbst nicht
den Anspruch darauf macht, ein wissenschaftliches Buch geschrieben zu haben; es
Referate
53 9
ist im Gegenteil ein sehr affektvoller Mahnruf eines selbst Gefährdeten: „*.. sagte
plötzlich eine innere Stimme in mir: Du kennst zur Genüge die Unzuläng¬
lichkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse; maßest du dir an, zu wissen, was
,unmöglich 4 ist? Gehorsam lenkte ich ein und versuchte nun, mich einmal in
die Vorstellung zu versenken, als ob gerade die Okkultisten — deren Urteils¬
fähigkeit von vornherein zu bezweifeln ich ja durchaus keinen Grund hatte —
die Wahrheit sähen, mein Blick aber durch eingewurzelte Vorurteile und lange
geübte Denkgewohnheiten getrübt sei. In diesem Versunkensein erschien mir
bald alles Behauptete in anderem Lichte — aber plötzlich fühlte ich erschreckend,
daß ich mich ohne Verzug diesem träumenden Zustand entreißen müßte, wenn
nicht eine gründliche Veränderung in mir eintreten sollte. Mein persönlichstes
Denken, mein selbstverständliches Gleichheits- und Ähnlichkeitsgefühl wollte
sich verlieren zugunsten meines willkürlichen ,Als ob 4 . Es war mir jetzt, wie
wenn ich in einen dunklen Gang gelockt sei, wie wenn hinter meinem Rücken
im nächsten Augenblick eine Tür einschnappen und für mich unaufschließbar
bleiben würde. Ich habe voll Schrecken den Gedankengang abgebrochen und
werde es nie wieder wagen, mich ihm hinzugeben. 44 Wenn er es selbst sagt,
wird er wohl gut daran tun; wie weit er in bezug auf die bisherigen For¬
scher Recht hat, ist bereits gesagt worden, doch ist ebenso zu betonen, daß
es kein Forschungsgebiet gibt, demgegenüber eine wissenschaftliche Einstellung
nicht möglich wäre; diese hängt vom Forscher, nicht vom Forschungsgebiet
ab. Wenn wir die Affektlage berücksichtigen, in der das Buch geschrieben ist,
werden wir nicht mehr überrascht sein, auf Mißverständnisse und Widersprüche
zu stoßen. So z. B. zitiert der Autor unter den okkultistischen Dokumenten eine
Stelle aus einer Analyse Groddecks.
Worin das Gemeinsame zwischen Okkultisten und Psychoanalytikern liegen
soll, will ich den Autor mit eigenen Worten sagen lassen: „Dr. Groddeck
ist Psychoanalytiker. Er führt die Krankheiten des Körpers auf frühe seelische
Erlebnisse zurück. Den Weg findet er aus Einfällen, d. h. Gedankenverbindungen,
die sich auf Grund irgendeiner Ähnlichkeit, die sich ja für alles findet, anbieten.
Meistens sind es nur Ähnlichkeiten in den Bezeichnungen. Die Gewohnheit,
sich solchen Gedankenverbindungen hinzugeben, muß ich als gefährlich ansehen,
denn sie kann leicht zum Zwang, zur Hypnose werden. Alsdann dient sie aber
nicht mehr dazu, nur den Weg zu finden zu weit zurückliegenden, verborgenen
Erinnerungen, sondern sie führt zu hypnotischen, unhaltbaren Urteilen.
Dafür aber an anderer Stelle, nämlich als er von der Heilung der in bezug
auf den Okkultismus Hypnotisierten spricht: „Auf das gleiche Ziel hin strebt
der Psychanalytiker (sollte die verschiedene Schreibweise kein Zufall sein?). Er
tastet an scheinbar belanglosen Merkmalen die in hypnotischer Willenlosigkeit her¬
vortauchenden Erinnerungen ab und findet den dunklen Weg durch das Gedächtnis
des Hörigen bis an den Punkt, da der Zwang entstand. Der Schaden wird ins
Bewußtsein gehoben und geheilt.“ Naef (Berlin)
bjo
Referate
Riese, Walther, Dr. med.: Seele und -Schicksal. Hesse & Beier Ver-
lag, Leipzig 1927.
Stark von Kretschmer und Freud beeinflußt, darf Rieses Buch als eine gute
populäre Arbeit bezeichnet werden. Man erhält wertvolle Aufschlüsse über Erb¬
masse, innere Sekretion, traumatische Wandlungen, Anlage und Umwelteinflüsse.
* ii A , U 1 A ^ lsfu5iri - in g en lm zweiten Teil des Buches über Schädigungen (Gifte
Alkohol, Prostitution), Heilswirkungen („Schicksalsbildende Kraft der Psycho¬
analyse ) Körperkultur, rhythmische Gymnastik, Ernährung sind für die breite
Masse sehr aufschlußreich.
Zur Psychoanalyse hat der Verfasser eine eigenartige Einstellung. Man ge-
winnt den Eindruck, daß er ihr eigentlich mehr zugetan ist und mehr von
ihr übernommen hat, als er selber weiß. Er widmet ihr ein eigenes Kapitel
und betitelt es: „Psychoanalyse als schicksalsbildende Kraft.“ Er will die Psycho¬
analyse die ein künstlicher Vorgang an Stelle eines natürlichen bedeute, nur
„in Fallen von Krankheit und Lebensunfähigkeit aus krankhafter Ursache“
angewendet wissen. Den übrigen Lebenskämpfern könne die Psychoanalyse den
„Strom der Welt nicht ersetzen. - Von diesem Ehrgeiz war die Psychoanalyse
auch me besessen. Trotzdem kann sie — wie es übrigens, nach dem Buche
zu schließen, auch für Riese zutrifft — das „Mitschwimmen“ erleichtern helfen.
Gänzlich fehl geht der Verfasser, wenn er sich gegen die Annahme der
mfantden Erotik sträubt, wenn er schimpft, daß man „gar von geschlechtlichen
Wünschen des Kmdes und seinen Träumen von Geschlechtsverkehr redet und
so eine Entzauberung herbeizuführen sucht“. Gerade die vielseitige wissen¬
schaftlich wertvolle Arbeit der Kinderanalytiker bewies in letzter Zeit einwand-
rei die Richtigkeit der Freudschen These. Seltsam berührt auch die Idee des
Verfassers, es sei „oft genug besser ... die seelischen Schädigungen“ zu be¬
lassen . . . „das Verdrängte ruhen zu lassen und den krankmachenden Herd
nic “A zu berühren ... die Lügen des Lebens“ nicht aufzudecken.
Ablehnen müssen wir die Auffassung des Verfassers, „die von der psycho-
ana ytischen Schule vermittelten Einsichten seien aus der Behandlung begüterter
Volksschichten hervorgegangen. Nur dort spielten die Sexualangelegenheiten eine
derart bedeutende Rolle . Riese versteigt sich zur abstrusen Behauptung: „Beim
Proletarier ist aber alles ganz anders ... für Entwicklungen von Libidofixierungen
und Komplexen ist keine Zeit . . ., wenn ein älteres Geschwister die Aufzucht
des jüngeren übernimmt, ist so gut wie keine Gelegenheit zur Entfaltung eines
gefahrdrohenden Ödipuskomplexes vorhanden.“ - Das ist sicher Kurzsichtigkeit
wenn nicht Tendenz. Der pädagogische Kinderanalytiker findet seine Haupt¬
arbeit gerade bei niederen Volksschichten. Die Erfahrung lehrt ihn in dieser
Hinsicht tagtäglich das Gegenteil von Rieses Ansicht. Gräber (Bern)
Baudouin, Cliarles: Untergang oder Wiedergeburt? Aus dem Fran¬
zösischen von Paul Amann. Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen.
Der Titel paßt schlecht zu der gediegenen Abhandlung. Es läßt sich in der
Frage der Menschheitsentwicklung nicht wohl ein Entweder-Oder aufstellen.
Referate
5^1
Baudouin, der Verfasser der „Autosuggestion“, sieht in der Autorität des
Wissens die Aussicht auf Ordnung und damit auf Rettung. Er nennt zwei
Beispiele aus dem Bereich der „rettenden“ Wissenschaften unserer Zeit: Die
Reformpädagogik und was uns an dem Coueisten verwundert — die Psycho¬
analyse. Er führt über letztere aus:
„Aber alle Witze und alles Mißverstehen schaffen sie nicht aus der Welt,
und wer immer sie gewissenhaft und ohne Vorurteil studiert, den gewinnt sie . . .
ist nicht in Wahrheit diese freilich noch tastende Wissenschaft eine kolonisatori¬
sche Kraft, die zum Reich des Bewußten noch manche unbekannte Länder
hinzutut, die von je das Gebiet des Unbewußten gebildet haben? Und dieses
kann sicherlich noch erstaunlichere Folgen nach sich ziehen, als die Ent¬
deckung Amerikas und alle wirklichen und sinnbildlichen Weltumseglungen der
Renaissance“ (S. 50) Gräber (Bern)
jMl ii 11 e r- 1 4 r e 1 e n f e 1 s, Ridiard: Gell eitnnisse cf er iSeele. Delplunverlag,
jMündien.
Mit „Geheimnissen der Seele geheim zu tun, bliebe besser ungetan. Jeden¬
falls der Wissenschaft dient man damit nicht. Zudem: der Titel paßt im Grunde
herzwenig zum Inhalt des Buches, aus dem hervorgeht, daß der Verfasser alles
psychische Geschehen doch eigentlich recht oberflächlich geschaut hat und nun
möglichst viele banale Alltäglichkeiten mit großem Tamtam vorträgt.
Der Psychoanalyse glaubt er ein Kränzchen winden zu müssen, „daß sie
in die(se) dunkle Welt der verdrängten und verkappten Erlebnisse hineingeleuchtet
hat . Trotzdem: Verfasser mag sein Verhältnis zu den Eltern „noch so rück¬
haltlos ins Gedächtnis zurückrufen, er (ich) finde(t) nicht eine Spur von Sexualität
den Eltern gegenüber“. Die Eltern waren ihm, wie er sich äußert, „völlig
tabu .(!) Er gibt zu, daß die Bindung an den Vater von „Ressentiment“, „Furcht“,
„Unterdriicktheitsbewußtsein“, dumpfer „Rachestimmung“ begleitet war, während
diejenige an die Mutter mehr Zärtlichkeit aufwies. Er sagt: „So konnte man
sich mit der Mutter im Bunde fühlen, wie in einer Verschwörung gegen die
strenge Autorität des Vaters: das durch Sexualität und Ödipusinstinkte zu motivieren,
ist völlig falsch,“
Es scheint, daß der Verfasser noch wenig Gelegenheit fand, die Psychoanalyse
auch in „die dunkle Welt“ seiner „verdrängten und verkappten Erlebnisse
hineinleuchten“ zu lassen. Gräber (Bern)
S e 1 i g m a 11, C. G.: A ntliropology ancf Psy cliology. A iStudy of *Some
Points of Contact. (Journal of tlie Royal Antbropological Institute 1924?
Bd. UV, 5 , i 3 .)
An dieser Arbeit lassen sich zwei Teile unterscheiden. Im ersten Teil be¬
handelt der Autor die extrovertierten und introvertierten psychologi¬
schen Typen Jungs im Zusammenhang mit dem Problem der künstlerischen
Produktion, der Vererbung und der Rassenpsychologie. In bezug auf die Kunst
werden einige Gedanken von Thornton und Gordon wiedergegeben, wonach
Maler wie Rubens, Delacroix und Signac solchen wie Poussin, Ingres und
Marchaud gegenübergestellt werden, und zwar die erste Gruppe als Beispiel
vornehmlich extrovertierter, die zweite vornehmlich introvertierter Charaktere.
Analoge Unterschiede lassen sich — wie angenommen wird — aufzeigen,
wenn man die Schnitzereien von der Westküste Afrikas mit den Schnitzarbeiten
mancher Stämme aus Zentralafrika vergleicht. Von biologischer Seite her lassen
einige (zugestandenermaßen zu solcher Annahme allein nicht ausreichende) Tat¬
sachen vermuten, daß die Vererbung eines psychologischen Typus mit der Ver¬
erbung gewisser physischer Merkmale zusammenhängt. Rassenmäßig verhält es
sich .wahrscheinlich so, daß die meisten Primitiven mehr zum extrovertierten
Typus neigen als die zivilisierten Völker. Unter diesen gibt es bedeutende Unter¬
schiede innerhalb einer Rasse; so sind unter den europäischen Rassen (nach
McDougall und Lenz) die nordischen Völker mehr introvertiert als die Mittel¬
meervölker, unter den asiatischen Rassen die Chinesen und Hindus mehr intro¬
vertiert als die Japaner. Bei diesen Überlegungen finden die Unterteilungen der
introvertierten und extrovertierten Typen, die Jung in seiner letzten Arbeit
vomahm, keine Berücksichtigung.
Der zweite Teil der Arbeit berichtet von dem Beginn einer Forschungsarbeit
an den Träumen nichteuropäischer Rassen. Im allgemeinen zeigt das bisher noch
spärlich gesammelte Tatsachenmaterial dieselben Traummechanismen am Werk, die
bei Europäern funktionieren. Es scheint überdies, daß die Träume überall als etwas
angesehen werden, das einer gewissen Erklärung oder Analyse bedarf, ohne welche
ihr Sinn nicht verstanden werden kann. Das Volk, bei dem die Untersuchungen
angestellt wurden, gab diese Erklärungen entweder in mehr oder weniger kon¬
ventioneller Form (oft durch „Gegenteils“deutung) oder durch Assoziationen,
d. h. „durch eine elementare Selbstanalyse*. Auch die „typischen* Träume der
Europäer kommen bei Primitiven häufig vor und bei allen Rassen legt man
ihnen anscheinend die gleiche oder eine sehr ähnliche Bedeutung bei. So heißt
es vom Traum des Zahnverlust es, er bedeute den Tod eines nahen Verwandten
oder Freundes, der Flugtraum verheißt Glück, langes Leben oder Wachstum, der
Klettertraum hingegen bedeutet Erfolg auf sexuellem oder anderem Gebiet. Der
Autor ist der Ansicht, daß „man, wenn man zeigen kann, daß die gleiche Sym¬
bolik . . . sich in den Träumen nichtverwandter Rassen findet, die tiefe Unter¬
schiede in Zivilisation und Gesellschaftsordnung aufweisen, zugeben muß, daß
das Unbewußte der verschiedensten Rassen qualitativ so sehr gleich sei, daß
es einen allgemeinen Vorrat an Vorstellungen für die Phantasietätigkeit bildet;
wir sehen uns daher genötigt, diesen Tatsachen voll Rechnung zu tragen bei
unseren Arbeiten über die Entstehung der Mythen, Religionen, ja vielleicht
auch bei der Erklärung der Erfindung der einfacheren Werkzeuge und tech¬
nischen Vorgänge.* J. C. Flügel (London)
Allwolin, Axlolf: Die E-lie des Proplieten Hosea in psyclioana.-
lytisclier Beleuclitung. Verlag Alfred Xöpelmann, Giefjen 19 zG.
Allwohn versucht mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse eine neuartige
Deutung der seltsamen Eheschicksale des Propheten Hosea zu geben. Hosea
Referate
5^3
erhielt bekanntlich von Jahwe den Befehl, eine Dirne zu heiraten. Nachdem
sie ihm drei Kinder geboren hatte, verstieß er sie, nahm sie aber später wieder an.
Allwohn ist ängstlich bemüht — er betont es mehrmals — nur diejenigen
Forschungsergebnisse der Psychoanalyse zu verwerten, die auch von den Gegnern
der Tiefenpsychologie anerkannt werden. Er verrät deshalb eine starke Un¬
sicherheit und verwickelt sich auch in Widersprüche. Er lehnt vor allem aus¬
drücklich ab, „die Manier der Freudschen Schule, alles, auch die Religion,
auf Sexuelles zurückzuführen“. Dabei führt er aber aus: „Hoseas Sexualität
verlief im Unbewußten; . . . und kommt so im Hoseabuch auch nicht in klarer
Ungebrochenheit, sondern in gewisser verschrobener Weise zum Ausdruck. “ Ferner:
„So suchte die eingeklemmte Sexualität des Hosea eine Stelle, an der sie in plötz¬
lichem, unregulierbarem Aufstieg zur Entspannung gelangen konnte. Und diese
Stelle fand sich in der von Hosea in der Ekstase von 1, 2 erlebten Verpflichtung,
um der Größe seines Gottes willen das ,Huren‘ des Landes irgendwie anzupacken
und seinen Volksgenossen als Sünde zum Bewußtsein zu bringen. Hier konnte
sich die Sexualität aus dem Unbewußten heraus äußern, allerdings in der Form
einer , Affektverschiebung 4 , d. h. nicht die zur Entspannung gelangende Wunsch¬
regung wurde mit aller Leidenschaftlichkeit betont und mit den intensivsten
Gefühlen (Affekten) begleitet, sondern die Unterwerfung unter die Forderung
Jahwes. Der Affekt wurde vom Sinnlichen auf das Religiöse verschoben."
Allwohn führt also, entgegen seiner Versicherung, selber das Religiöse auf
das Sexuelle zurück. Bei den Deutungsversuchen gelingt es ihm auch nicht,
den Kern des seelischen Konfliktes bei Hosea herauszuschälen, da ihm die stark
inzestuösen Triebregungen des Propheten verborgen blieben.
Die Dirnenehe ist eine Darstellung der Ehe Jahwes mit dem hurerischen
Land. Das Land aber „hurt“ von Jahwe weg. Allwohn führt selbst aus, daß
die Kinder Hoseas „als Repräsentanten des Volkes, der Kinder der hurerischen
Gattin Jahwes, angesehen werden“. In diesem Falle wäre also Hosea in ehe¬
licher Verbindung mit dem „Weibe“ Gottes, des projizierten Vaters, gestanden.
Hurenweib und Land sind identisch. Hosea heiratet also seine „Mutter“, die
vom Vater weg hurt. Daher auch der unlösbare Konflikt in Hosea und daher
das Gebot (in Identifikation mit Gott = Vater) und das Verbot der Dirnenehe von
seiten Jahwes. Gräber (Bern)
Penrose, L. 5 .: Some Psyclio-'Analytical Notes on Negation.
International Journal of PsA. VIII, l.
Der Autor versucht die triebpsychologische Untersuchung der Urteilsfunktion,
die Freud in „Die Verneinung“ angebahnt hat, spekulativ zu ergänzen: Wie
die Verneinung einer Behauptung das Anzeichen einer affektiven Abwehr ist,
so zeigt auch eine besondere Betonung an, daß ein Widerspruch im Un¬
bewußten vorliegt. Eine solche Betonung kann sich im besonderen Nachdruck,
der auf eine Behauptung gelegt wird, in ihrer Wiederholung oder in Tauto¬
logien (versteckten Wiederholungen) zeigen. Die Verneinung drückt letzten Endes
die primitive orale Unzufriedenheit aus. (Der Buchstabe N, der im „Nein“
aller indogermanischen Sprachen vorkommt, benötige dieselbe Zungenstellung,
*44
Referate
die sich bei Trockenheit des Mundes und bei Durst einstellt.) Die betonte
Bejahung wäre entsprechend die Vorwegnahme der Lust, die entstehen würde
wäre das bejahte Ding da. - Die Sprache hat noch kein besonderes Affir-
mationszeichen das einem Urteil beigesetzt, seine Richtigkeit unterstreichen
wurde, wie es Nachdrücklichkeit und Wiederholung des Urteils tun, nur manche
logischen und mathematischen Systeme haben sich ein solches Symbol geschaffen. —
Freud hat ausgeführt, daß die Verneinung ein Mittel ist, ohne wirkliche Auf¬
hebung der Verdrängung verdrängte Inhalte dem Bewußtsein bekannt werden
™J2Z A ’ ** dn S ° lcheS Affi ™ationssymbol besäße, könnte auf
gk che VV eise doppelt so gut die Nachteile der Verdrängung wettmachen. Penrose
SnrTrh C aß . 6S damlt ’ daß Mathematik und Logik schon solche fortgeschrittenen
Sprachen sind, Zusammenhänge, daß die Gültigkeit ihrer Urteile unabhängig
von der Realität ist, und daß ihre rein deduktive Methodik für die Erfassung
der äußeren Welt ungeeignet ist . Die Deduktion kann Intrapsychisches mit
Sicherheit finden, die Induktion, die Methode der Erfahrung imd des prakti¬
schen Lebens will Dinge m der Außenwelt wiederfinden — und kann das
iSt abS ° 1Ut **** 6ine --enschaftliche
suchte Obiekt ' w ‘, ; kt ! Ve Urteil muß die An S st > man könnte das ge-
suchte Objekt nicht wiederfinden, überwinden; die Erregung, wenn man es
‘° C W1C y flndet > lst die eigentliche Bejahung, die von der Gültigkeitsbetonung
unterscheiden ist von der bisher die Rede war; die Mundstellung beim Worte
„ soll einem kindlichen Freudenschrei entsprechen. — Penrose führt weiter
aus, er halte also nicht wie Alexander die Logik für introjizierte Naturgesetze
(was auch zu einem unlöslichen Widerspruch zu Kant führte), sondern eher für
(le projizierten Mechanismen des psychischen Apparates. Für die Wirklichkeit
b dar es der unlogischen Induktion. Reine Deduktion verhindert die soziale
d h £ hat r r Vn 1 ' r ß n ? len Psyche nur die Funktion der .Intelligenz“,
tird Z F f Z l \r daB d8S ErWartete in der A nßenwelt nicht gefunden
liehe t ErfahrUtlge i n der Vergangenheit zu Hilfe zu bringen. Die vom ursprüng-
ftl emanZi ? ier ‘ ere Deduktion gehört d em Ich, die Induktion
weh * I B T intlonale Einstellung ohne Erkenntnis einer Außen¬
welt, die wir dem Es zuschreiben müssen, kann wohl noch nicht „Induktion“
^ nann wer en; unseres Erachtens gehören Induktion wie Deduktion als Denk¬
methoden dem Ich an, nur ist die Induktion archaischer.) - Während die Ver-
neinung einen Ruckzug von der Außenwelt darstellt, bedeutet die betonte Gültig-
ke tsbehauptung eine intentionale, ja sadistische Einstellung zur Außenwelt h£;
eide zeigen einen Konflikt zwischen Bewußtem und Unbewußtem an, während
talenTf^ M Be,ab '^ g der Harmonie beider Systeme entspricht und der geni-
n Entwicklungsstufe zugeordnet ist. Fenictel (Berlin)
Beeter, Erich: Metaphysik und Naturwissenschaften. Duncter
Of Humblot, München und Leipzig 1926.
j 1 '^°iS,,' ^ r , SU f^ 1 nackzuw eisen, daß die Naturwissenschaften, die Teil-
gebiete der Wirklichkeit untersuchen („Partialrealwissenschaften“), und Meta¬
physik, die die Gesamtwirklichkeit oder Teilgebiete der Wirklichkeit in ihrer
J
Referate
54S
ihrem CW ZU f ^ ser esa mtheit untersucht („TotalrealWissenschaft“), nicht nur
GnS & naC ^ verwandt sind, sondern auch dieselben Methoden und
Kantc^ 18 ^ ^ a ^ erij a ^ so en ?e zusammengehören. Der Versuch, die
. ' f 6U lrr ^ an e £ e g en die Möglichkeit einer Metaphysik zu widerlegen,
erscheint uns nicht gelungen. Auf die Psychoanalyse wird nicht Bezug ge¬
Fenicliel (Berlin)
HilcleLrandt, Kurt: Gesundheit und Krankheit in Nietzsches
Lehen und Werk. S. Karger Verlag, Berlin x 9 a6.
Der Nachweis, daß Möbius’' bekanntlich auf progressive Paralyse lautende
p.'f,^ n ° Se ietzsches Geisteskrankheit zweifelhaft ist, daß aber auf alle
ralle der Einfluß eines organischen Gehirnleidens für die vor 1888 entstandenen
e ^ e Tvf C * ^ ^ etra f^ lt ^ om mt, ist dem Verfasser, wie uns scheint, gelungen,
ie 1 otive aber, die ihn dazu bewegen, diese Untersuchung durchzuführen,
bewirken ein bedauerliches Versagen auf psychologischem Gebiet: Hildebrandt
vermeidet es nämlich, Nietzsche anders als in der Identifizierung mit seiner
ee zu sehen. Darum weist er den fruchtbaren Gedanken Stekels, als habe
m der unglücklichen Leidenschaft für Wagner die homosexuelle Komponente
eine ausschlaggebende Rolle gespielt, empört zurück. Aber er schreibt: „Nun hat
Nietzsche zwar keinen Trieb zur lauten und aufdringlichen Geselligkeit; aber
noch weniger hat er einen Trieb zur Einsamkeit. Angeboren ist ihm der Trieb
des Predigers zur Gemeindebildung.“ Sind „Andeutungen von Zwangsideen“ da,
so „fallen sie bei seiner exzentrischen Lebensweise nicht schwer ins Gewicht“.
Nietzsche wird zum harmonischen Menschen mit „gesunden Leidenschaften“ ge¬
stempelt, und die Motive, die ihn unglücklich machen, gehören nicht ihm, sondern
seinem Schicksal an.
Man sieht, das Buch wendet sich an einen Kreis, der nur einen geretteten
und gereinigten Nietzsche erträgt und ist daher für den Psychologen kaum
von großer Bedeutung. Bally (Berlin)
WoMiold, Hans: Aty sterienweislieit. Atensdilieltsentwicklung vom
Atytlios zum Christentum. Delpliinverlag, Atündien.
Das Buch ist in fesselnder Sprache geschrieben, nur ist zu bedauern, daß
Wohlbold zu sehr anthroposophisch orientiert, die Mysterien zu „geistig“ deutet
und zu wenig mit dem Naturgeschehen in Einklang bringt. Es gehört zum
Typischen des Verfassers, dem gewiß eine ungewöhnliche Schau in die Genese
der Menschheit gegeben ist, daß er diesen lückenlos zu sehen glaubt und deshalb
die Geschehnisse manchmal gewaltsam in das erdachte System einzwängt.
In der Deutung der Symbole hätte der Verfasser bei J. J. Bachofen und ganz
besonders auch bei der Psychoanalyse viel lernen können. Gräber (Bern)
GESCHICHTE EINES TRAUMES
GESPRÄCH
von
ALBRECHT SCHAEFFER
KLEMENS: So wäre es denn Abend geworden, und du kannst mich nun
wissen lassen, was dich den Tag über im Innern so spürbar bewegt hat. Oder
ist’s noch zu früh?
n\ENE: Nein, ich ließ es ja Abend werden, um es zu sagen. Es ist nur
ein Traum. Aber heute morgen war ich noch zu ergriffen, um davon sprechen
zu können, und darum hatte ich all den Tag zu tun, ihn innerlich zu wieder¬
holen, um ihn in Nichts zu vergessen. Mitten in der Nacht erwachte ich aus
ihm; mein Gesicht und das Kissen war ganz naß von seinen Tränen. Nun hat
seine Kraft durch den langen Tag doch abgenommen, und ich kann ihn noch
weniger verstehn als zu Anfang.
KLEMENS: Wenn es wahre Tränen waren, in denen du erwachtest, muß
er auch wahr gewesen sein.
IRENE: Meinst du? Dann will ich von vorn anfangen .
Es war spater Abend in meinem Traum. Die Lichter brannten schon in
meiner Vaterstadt, durch die ich zum Bahnhof ging, weil ich die alte Frau
Bechlarn besuchen wollte, die Vorsteherin des Pensionats, in dem ich als
Mädchen war. Sie war die gütigste alte Frau, besonders für mich hatte sie
viel Verstehn und Verzeihen, aber sie ist schon lange tot. Im Dahingehn ge¬
staltete sich erst dieser Besuch in mir als eine Pflicht, ja ein Geschenk für
die einsam gewordene Alte; aber auf einmal ward mir bewußt, daß in diesem
Augenblick meine Mutter davor war, sich das Leben zu nehmen.
KLEMENS: Oh! Deine seit drei Jahren tote Mutter. Dieser Traum scheint
sehr echt zu werden.
IRENE. Meinst du? Höre weiter. Je näher ich dem Bahnhof kam — er
a b nun auf freiem Felde im Dunkel, ein langes Gebäude mit unzähligen
547
GesdiiJitc
T ^ m Um . S ° an & stv °Uer spürte ich, daß ich zu Mutter zurück mußte,
c wo e es mir ausreden, — und wie unsinnig war es auch: Mutter, diese
ubergerade unerschütterliche Natur, über die gewiß von Jenseits nie ein
ru en er c atten gefallen ist . . . Aber es zerrte nur glühender an mir, ich
widerstand wieder mit der Pflicht gegen die alte Bechlam, ich löste die Fahr-
ar e am c a ter. Der Zug stand schon da, ich setzte den Fuß auf das Tritt-
\ f Wa J" S ai ^ S * drehte im Wirbel um und rannte durch den Bahnhof
zuruc in so ch einer Angst, wie ich im Leben für Mutter niemals empfunden
a e. c 1 lef, denn es stand kein Auto am Bahnhof; da war nur das leere,
sc warze Feld und ganz fern die Lichter der Stadt. Nun, ich habe sie wohl
c och erreicht, und auf einmal stand da ein Auto. Im Dunkel drin saßest du
und sagtest. „Endlich! Wo bliebst du nur?“ Du wußtest es also schon, und
ich dachte, wie wir dahinfuhren, inständig: Wenn wir nur gleich Doktor Rosen
trafen! Richtig sah ich ihn dastehn, ließ gleich halten und rief ihm zu, und
er war auch sofoit bereit mitzukommen, obgleich ich sagte, es wäre ja nur
eine Ahnung von mir. Er ließ sogar bei einer Apotheke halten und holte
einen von diesen großen Zylindern mit Sauerstoff zur Wiederbelebung heraus.
Ich weiß nicht, wie lange diese entsetzliche Traumfahrt gedauert hat; endlich
erschien in der dunklen Gartenstraße das Haus, auch ganz dunkel, und ich
wußte, es war schon geschehn. Statt Mutters war aber in diesem Traum Vater
schon lange gestorben. Es war also niemand im Haus. Nun liefen wir durch
den Vorgarten, die Haustür war unverschlossen. Doktor Rosen sagte: „In den
Keller! und wir stiegen hinunter; er leuchtete mit einer Taschenlampe. Unten
war es so, wie hier in Bayern die Kuhställe sind, niedrige, flache Gewölbe
auf Säulen, und da hing Mutter, vor einer Säule, als ob sie stand; sie war
ganz blau ach, entsetzlich! Aber Doktor Rosen sagte: „Sie lebt noch“, und
ei nahm, sie herab und legte sie hin, bewegte ihre Arme und gab Anweisungen,
schalt und fluchte auf seine bäurische Art, weil du mit dem Sauerstoffapparat
nicht schnell genug fertig wurdest. Ich sah nun auch, daß sie noch lebte, meine
Tränen liefen stromweis, und ich sagte immer wieder: „Muttchen, mein Muttchen! 4 *
Dann nahm es ein Ende.
KLEMENS: Aber das war ein sehr schöner, vielmehr ein sehr guter Traum.
Ebenso wahr gewiß, wie klar und befriedigend. Findest du nicht?
IRENE: Nein. Klar, das gewiß —
KLEMENS: Ja, und von einer Klarheit, die nur die Folge von Wahrheit
sein kann. Er scheint sie dir nur zu verbergen, indem er sie dir gestaltet.
IRENE: Ich verstehe freilich so gut wie nichts. Zum Beispiel: wieso war
es im Keller?
KLEMENS: Darauf würde dir ein Seelenarzt antworten, das sei ein Traum¬
symbol für Mutterleib, aber ich bin kein Seelenarzt.
648
Albredit jSdiaeffer
IRENE: Und was soll es bedeuten, daß ich zuerst im Begriff war, die
alte Bechlarn zu besuchen, * an die ich seit Jahr und Tag nicht gedacht habe,
und wieso lebte Mutter im Traum auf, die doch gestorben ist? Woher über¬
haupt dieser ganze Traum von Selbstmord — bei Mutters Lebensfestigkeit,
da sie gestorben ist, ohne den Tod nur zu ahnen? Schließlich: daß ich sie
„Muttchen nannte, was ich gewiß im Leben niemals gesagt habe. Du weißt,
wie ich mit ihr stand. Hassen kann man seine Mutter wohl nicht, aber auch
nicht ihi fremder sein als ich ihr, wie sie mir. Solange ich Kind war, bin
ich ihr gleichgültig gewesen. Später kamen die furchtbaren Zerwürfnisse, als
ich ihr ins Kloster entlief, und nur während meiner Ehe mit Otto war es
eine Weile zwischen uns gut, weil ich vernünftig in ihren Augen war und
er reich. Aber dann kamst du, kam meine in ihren Augen heillose Unver¬
nunft und die Ehe mit dem Habenichts, der du warst — bis, ja bis endlich
zu Agathes Geburt . . .
KLEMENS: Wo sie allerdings zu dir reiste, um dir beizustehn.
IRENE: Ja, immer sicher in ihren Pflichten.
KLEMENS: Wie sie sagte.
IRENE: Welch ein Tohuwabohu von Traum und Wahrheit!
KLEMENS: Aber nein!
IRENE: Getraust du dir, es zu ordnen?
KLEMENS: Von der wissenschaftlichen Traumdeutung verstehe ich das
wenigste; wir werden aber auch, glaube ich, das wenigste brauchen. Zuerst
muß ich dich etwas fragen. Du warst noch im Anfang deiner Erzählung, als
mir etwas einfiel, von dem du selber mir freilich erst sagen mußt, ob es
hieher gehört. Erinnere dich, bitte: als ich vor vierzehn Tagen einige Wochen
lang verreist war, schriebst du mir, deine Nichte Klara habe dich besucht.
IRENE: Klemens! Wie kommst du jetzt darauf?
KLEMENS: Ah, merkst du schon etwas? Sie habe dir, schriebst du, etwas
Schauriges erzählt, das du nicht wiedergeben könntest; ich sollte dich daran erinnern,
wenn ich zurückkäme. Du ahntest also schon, daß du es vergessen würdest,
und wie es so geht, habe ich es auch vergessen.
IRENE: Daß ich das konnte! So schrecklich, wie es war — es machte
mich nächtelang schlaflos. Höre es nur: Du erinnerst dich wohl, daß ich dir
von einer entfernten Verwandten erzählte, die Frau eines Vetters von Papa.
Sie lebten in der glücklichsten Ehe zusammen, so daß sie bei allen Leuten als
Muster galt, und es hieß, die beiden seien in dreißig Jahren keine zwei Tage
getrennt gewesen und niemals entzweit. Aber im Laufe der Jahre fiel sie in
Schwermut; es waren Anfälle, die sie ganz verschatteten und stumm machten.
Was es im Kern war, sagte sie niemand, sie bat nur alle in ihrer Nähe, ihr
Geschichte eines Traumes
5^9
zu helfen und sie vor ihr selber zu schützen. In den letzten Jahren bekam
sie eine Pflegerin, die sie nie verließ. Und nun, zuletzt, wollte das Ehepaar
auf einer Reise an die See, von Berlin aus, die Eltern von Klara besuchen.
Im letzten Augenblick mußte der Mann, aus geschäftlichen Gründen glaube
ich, Zurückbleiben; statt seiner fuhr die Pflegerin mit im Schlafwagen. Die
erwachte früh am Morgen; sie konnte nicht wieder einschlafen, kleidete sich
leise an, weil meine Tante zu schlafen schien, und trat auf den Gang hinaus.
Der Schaffner bot ihr Kaffee an, sie trank, und als sie das Abteil wieder
öffnete, war es leer. Auf dem Bett lag ein Zettel, mit den Worten bekritzelt:
sie könne nun nicht mehr widerstehn, sie müsse sich töten . . .
Oh, du verstehst, Klemens, was mir so grauenvoll war! Das eine, daß die
Pflegerin in das leere Abteil kam; und das andere, daß der Mann sie ein
einziges Mal allein reisen ließ.
KLEMENS: Ein einziges Mal, ja, wenn etwas geschehen soll, müssen die
Menschen sich fügen. Aber für dich war die Vorstellung des Unheils so
schaurig, daß du sie vergessen mußtest; und ohne dein Vergessen hätte sie
dein Traum nicht ergreifen können, um dir eine Tiefe deines Lebens zu
öffnen.
IRENE: Ja, begreifst du denn, Klemens, was diese so viel Jahre lang zum
Sterben genötigte Frau gemein hat — mit meiner lebenswilligen Mutter?
KLEMENS: Denke daran, wie dir deine Mutter gestorben ist. Anderthalb
Jahre lang war ihr, ohne daß sie es ahnte, der Tod sicher, den alle in ihrer
Nähe ihr verheimlichten, und sie hat so gelitten, daß alle so wie du ihr nur
'die eine Erlösung wünschten und aufatmeten, als sie kam. Rechnest du hiezu
die Fremdheit von ihr und dir, so ergibt sich, daß deine Mutter, oder sagen
wir klarer: daß eine Mutter starb, ohne Schmerz, ohne Trauer der eigenen
Tochter. Ja, scheint dir das recht? Scheint dir das natürlich?
IRENE: Wie sollte es, Klemens!
KLEMENS: Darum hat nun dein Traum es ins Rechte gelenkt. Er hat
seine Pflicht als Traum erfüllt, die darin besteht, uns alles vollenden zu
lassen. Er läßt uns alles nachholen, was wir im Wachen versäumten, frei¬
willig oder unfreiwillig, das Vergessene, Unterlassene, Verhinderte. Die volle
Angst und das Mitleid, das du am Krankenbett nicht empfinden konntest, im
Traum empfandest du’s endlich.
IRENE: Aber sie lebte im Traum, warum lebte sie denn?
KLEMENS: Ja, hast du nicht, als sie damals starb, die Todeserlösung nur
deshalb gewünscht, weil du keine andere wußtest? Wäre es dein Wunsch heute
nicht, daß sie noch lebte?
Schweigen.
Imago XIV.
36
66o
Albredit iSdiaeller
IRENE: Aber daß ich sie „Muttchen“ nannte ... Verzeih, ich muß beinah
lachen, es ist so undenkbar.
KLEMENS: Dann hast du es im Leben vielleicht einmal gesagt, als du nicht
denken konntest.
IRENE: Was sagst du da!
KLEMENS: Nun? Fällt dir etwas ein?
IRENE: Als Agathe geboren wurde, da kam sie .
KLEMENS: Immer sicher in ihren Pflichten.
IRENE: Sie saß am Bett so gerade wie immer, und jedes Mal, wenn ich
schreien wollte, sagte sie: „Nimm dich zusammen! Manschreit nicht, ich habe
auch nicht geschrien.“ Nur als es vorüber war, da sah ich, daß ihre Nase ganz
weiß an der Spitze war, und da wußte ich —, da sagte ich: Muttchen.
KLEMENS: Geburt und Tod, Leben und Sterben — dein Traum sah sie
m eins, m der Tiefe.
Schweigen.
IRENE: Warum wollte ich die alte Bechlarn besuchen?
KLEMENS: Dein Traum wußte es wohl. Wie sagtest du doch von ihr’
„ F ur mich hatte sie viel Verstehn und Verzeihn.“ Deine Mutter hatte das
nicht für dich, darum fand sie dein Traum bei seinem Tasten in der Tiefe
nach deinen ältesten Vergessenheiten, nach einer Gestalt deines Lebens, einer
alten, wahren Verbundenheit, an die er dich knüpfen wollte, um dich dann
loszureißen, aus der Mutterferne heraus in die Mutternähe. Denn — weißt
du es nicht? Nichts was entsteht in der Schöpfung, entsteht allein aus sich
selber. Es braucht einen Widerstand, um die Kraft zu gewinnen, die es recht
111 ? AT L ? en trClbt ' W ° kdn Widerstand ist > da ist Willenlosigkeit, da kann
noch Nichts werden; Leben ist Überwindung.
Und - um den Schmerzenstod einer Ungeliebten mitzusterben, darum tauchte
dem Traum dich in den untersten Grund deiner Natur: in das eigene Sterben,
in deinen Schoß, in dein Kind, in deine Mutter zurück.
NAC HVORT
Der Aufforderung Herrn Professor Freuds folge ich gern, der vorstehenden
Darstellung eines Traums und seiner Auslegung ein Wort über die realen Lebens-
ezie ungen nachzuschicken. Bündig kann ich zunächst sagen, daß dieser .Traum
so geträumt und bald danach im Gespräch so untersucht und aus dem Leben
a geleitet wurde, wie es in meiner Darstellung zu sehen ist. Denn gerade die
n ac e idnung und Klarheit des Traumes und seiner Lebenszusammenhänge,
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Geschickte eines Traumes
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dazu die schönen seelischen und Schicksalstiefen, in die er hinableuchtet, diese
verlockten und bewogen mich, die zarte, flüchtige und dennoch so tief und
kräftig gebundene Erscheinung mit geringer Anwendung von Kunst in festere
Form zu fassen. Die Anwendung von Kunst hatte denn freilich ein paar gering¬
fügige, das Wesen der Dinge nicht verletzende Veränderungen zur Folge, insofern
eine Kardinaleigenschaft jeglicher Kunstübung Vereinfachung ist. Also wurde
das untersuchende Gespräch in Wirklichkeit nicht in so geradlinig einfacher
Weise geführt, und im Traum war es so, daß die Träumende „Klemens“ nicht
gleich im Auto, sondern erst später unterwegs traf; auch der Bahnhof verlangte
eine etwas sinnfälligere, traumhafter anmutende Beschreibung. Klemens und Irene
selber sind keine für dieses Gespräch erfundene Figuren, sondern entstammen
ursprünglich meinem Boman „Helianth“ und wurden seither schon mehrmals von
mir — als in mir lebendige, in guter seelischer und geistiger Gemeinschaft
stehende Gestalten — zur Formung von ähnlichen Gesprächen benutzt. Zur Folge
hatte dies, daß die Beziehungen der Träumenden zur Mutter nicht ihrem eigenen,
sondern dem Leben Irenens, aus dem „Helianth“, gewonnen wurden, d. h. daß
die Wirklichkeit nur in anderen Bildern vorgeführt wird, ohne hierdurch eine
Wesensänderung zu erleiden. Noch sei bemerkt, daß der Arzt des Traums keiner
von den Ärzten war, welche die Mutter in ihrer Krankheit behandelten, sondern
der jetzige Hausarzt der Träumenden.
Eine einzige Abweichung von gewichtigerer Art betrifft die „alte Bechlam“,
die im Traum selber nicht die Institutsvorsteherin der Träumenden war und
überhaupt zu ihr in keiner tieferen Beziehung stand. Auch hier war es ein
künstlerischer Grund, der mich veranlaßte, die Beziehung zu vertiefen, um die
Evidenz der Erscheinung zu erhöhen. Für den Wahrheitswert des Traumes
genügte es ja, daß die Träumende, um zu ihrer Mutter den Pflichtweg zu finden,
aus einer anderen Lebensrichtung, von einem eigenen Willensziel abgewendet
werden mußte, und ich habe, wie gesagt, diesem Ziel nur mehr Gestalt und
Farbe gegeben für das Auge des Lesers, indem ich eine Jugendfreundin der
Träumenden an eine Stelle fügte, wo im wirklichen Traum eine — trotz allerlei
Bemühungen des Nachforschens - gleichgültige Erscheinung stand. Es war in
Wirklichkeit nur eine der Träumenden gutbekannte alte Dame, Mutter einer
Freundin, zu der sie aber niemals in persönliche Beziehung getreten ist.
IMAGO, BanJ XIV (1928), Heft 4
(Ausgegeben Ende Dezember 1928)
Heinz Hartmann: Psychoanalyse und Wertproblem.
Bertram D. Lewin: Zur Geschichte der Gewissenspsychologie.
Hans Zulliger: „Die Roichtschäggeten.“ Über einen Maskenbrauch ....
Georg Langer: Zur Funktion der jüdischen Türpfostenrolle.
Emil Simonson: Über das Verhältnis von Raum und Zeit zur Traumarbeit
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Otto Fenichel: Die „lange Nase“.
Albrecht Schaeffer : Geschichte eines Traumes.
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498
502
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REFERATE
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Zur Psychologie des Okkultismus:
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Bruhn: Gelehrte in Hypnose (Naef) 538.
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Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m.b. H., Wien I, Börsegasse 11
Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortl. für die Redaktion: Dr. Paul Federn, Wien I, Riemergasse 1
Gedruckt bei Christoph Reisser’s Söhnen, Wien V, Arbeitergasse 1—7