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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften XIII 1927 Heft 1"

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Redigiert von Sändor R ado 7 Hanns Sacks und A. J. Storf 


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Wien VII, A ndreasgasse 3 





































IMAGO 

XIII. BAND 
1927 



INTERNATIONAL 
&■ PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 











IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER 
PSYCHOANALYSE AUF DIE NATUR- 
UND GEISTESWISSENSCHAFTEN 


HERAUSGEGEBEN VON 

SIGM. FREUD 


REDIGIERT VON 

SÄNDOR RADÖ, HANNS SACHS 
A. J. STORFER 


XIII. BAND 
( 1 9 2 7 ) 


INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 
LEIPZIG / W I E N / ZÜRICH 





Alle Rechte, 

insbesondere die der Übersetzung, Vorbehalten 
* 

Copyright 1927 

by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 
Ges. m. b. H.“, Wien 


Druck: Christoph Reisser’s Söhne, Wien V 










INHALTSÜBERSICHT DES XIII. BANDES 


Seite 

Siegfried Bernfeld: Die heutige Psychologie der Pubertät. i 

Mary Chadwick: Die Gott-Phantasie bei Kindern. 583 

C. D. Daly: Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex. 145 

Sigm. Freud: Nachtrag zur Arbeit über den Moses des Michelangelo... 552 

Erich Fromm: Der Sabbath. 223 

Frieda Fromm-Reichmann: Das jüdische Speiseritual. 235 

/ Imre Hermann: Charles Darwin. 57 

Ernest Jones: Das Mutterrecht und die sexuelle Unwissenheit der Wilden 199 
F. Lowtzky: Bedeutung der Libidoschicksale für die Bildung religiöser 

Ideen. 83 

Theodor Reih: Dogma und Zwangsidee. 247 

Geza Röheim: Mondmythologie und Mondreligion. 442 

Hermann Rorschach f: Zwei schweizerische Sektenstifter. 395 

Hans Zulliger: „Totemmahl“ eines fünfeinhalb]ährigen Knaben. 538 

REFERATE 

Beth: Religionspsychologie. (Reik) 550 

Cohn: Grenzen und Mystizismus in der Psychoanalyse. (Fenichel) 140 

Flügel: Some unconscious factors in the international language movement with 

especial reference to Esperanto. (Fenichel) 137 

Fortune: The symbolism of the serpent. (Fenichel) 143 

Furrer: Der „moralische Defekt“, das Schuld- und Strafproblem in psycho¬ 
analytischer Beleuchtung. (Reich) 141 

Gemünd: Leben und Anpassung. (Bally) 134 

Günther: Begriff und Bedeutung des Zufalls im organischen Geschehen (Fenichel) 137 

Jones: Mother-right and the sexual ignorance of savages. (Fenichel ) 130 

Klages: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches. (Bally) 126 

Levine: Das Unbewußte. (Fenichel) 122 

Meng-Schneider: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik. (Fenichel) 143 


























VI 


Inhaltsübersicht des XIII. Banden 


Muller-Braunschweig: Verhältnis der Psychoanalyse zu Ethik, Religion und 
Seelsorge.. 

Rolfen st ein: Das Problem des psychologischen Verstehens. (Hartmann) 

Röhe im: Australian Totemism. (Bdlint) 

Schroeder: The Psycho-Analytic Method of Observation. (Fenichel) 

Slight: Hypnagogic Phenomena.fj. Glover) 

Utitz: Charakterologie. (Bally) 

Wertheim er: Über Gestalttheorie. (Hermann) 

Wulff: Phantasie und Realität in der Psyche des Kindes. (Lowtzky) 


Seite 

549 

125 

54 1 

1 33 

142 

129 

126 
129 


KUNSTBEILAGEN 

Die indische Göttin Kali. 

Moses-Statue des Nicholas von Verdun 


nach Seite 160 
n n 55 2 


Heft 2/3/4 (S. 145 bis 553) trägt als Sonderheft die Bezeichnung 
„Glaube und Brauch“ 




































































IMAGO 


ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE 
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN 


Heft l 


XIII. Band 


* 9*7 




Berlin 


Auf den folgenden Seiten wird über eine Anzahl von Büchern gesprochen, 
die eine zusammenfassende Darstellung der Psychologie der Pubertät ver¬ 
suchen. Dennoch handelt es sich nicht um ein berichtendes Sammel¬ 
referat. Es kam mir nicht darauf an, den Leser objektiv darüber zu unter¬ 
richten, zu welchen Ergebnissen über die Psychologie des Jugendalters die 
Autoren gelangt sind. Sondern ich habe mich darauf beschränkt, sorgfältig 
einem einzigen Thema durch die besprochenen Bücher hindurch nachzu¬ 
gehen : der Stellungnahme Tumlirz’, Sprangers, Ch. Bühlers, W. Hoffmanns 
und Ziehens zur Psychoanalyse, und habe versucht nachzuweisen, daß diese 
Stellungnahme eine durchaus unwissenschaftliche ist. Ein Nachweis, der 
um so interessanter sein dürfte, als die meisten der genannten Psychologen 
ausdrücklich, alle implizite, ihre Ablehnung mit der zu geringen Wissen¬ 
schaftlichkeit der Psychoanalyse motivieren. Aber die Aufdeckung solcher 
Unkorrektheit würde die verhältnismäßig umfangreiche Kritik um so 
weniger rechtfertigen, als die Abwehrschriften gegen die Psychoanalyse seit 
Jahrzehnten sich dieser und mancher anderen Sonderbarkeiten schuldig 
gemacht haben. Mir erscheint sie aber aus prinzipielleren Erwägungen nicht 
überflüssig. 

Die Psychologie hat sich in Gegenstand, Methoden, Erkenntnisziel und 
Darstellung innerhalb der letzten Jahrzehnte von Grund auf gewandelt. 


Imago XIII. 









Siegfried Bernfeld 


Wir stehen mitten im Aufbau einer neuen Psychologie, zum ersten¬ 
mal einer autonomen Wissenschaft Psychologie. Es läßt sich heute noch 
nicht absehen, welche der Schulen, die mit dem Anspruch auftreten, die 
Psychologie zu sein, zu dem neuen Gebäude bloß ein Detail, welche 
das Fundament abgeben wird. Nur soviel scheint gewiß, daß eine weit¬ 
gehende Konvergenz einige ursprünglich recht scharf voneinander getrennte 
Forschungsrichtungen immer näher aneinander bringt. Bei diesem Bemühen 
der Psychologie um ihre eigenen Ziele, Methoden und Grenzen erwächst 
ihr eine beträchtliche Gefahr daraus, daß, indes sie um ihre Wissenschaft¬ 
lichkeit ringt, sich außerwissenschaftliche Wertungen und Gesichtspunkte 
einmengen, die geeignet sind, die Psychologie als Wissenschaft zu verderben, 
und sie nach Bedürfnissen zu verbiegen, die mit Psychologie so wenig etwas 
zu tun haben als mit Wissenschaft. Die Gefahr ist so lange akut, als nicht 
die Psychologie zu gesicherten Kriterien ihrer Wissenschaftlichkeit gelangt 
ist. Die Stellungnahme zur Psychoanalyse erweist sich als feiner Gradmesser 
für das Maß solcher eingeschlichenen weltanschaulichen Wertungen. Darum 
empfahl es sich, gerade dies Kapitel der referierten Bücher scharf zu prüfen. 

Gewiß darf auch die Psychoanalyse nicht von sich behaupten, das Ganze 
der künftigen Psychologie heute schon dargestellt zu haben. Aber man 
dürfte denVersuch wagen, in ihr eine Anzahl zentraler Stücke einer künftigen 
wissenschaftlichen Psychologie aufzuweisen. Die Psychoanalyse hat sich bis 
zu einem gewissen Grade durchgesetzt. Als Behandlungsmethode, als Neu¬ 
rosenlehre ist sie zwar umstritten, aber ihre Bedeutung wird von jüngeren 
Forschern nicht mehr geleugnet. Eine Reihe von Begriffen und Gesichts¬ 
punkten der Psychoanalyse ist in das Denken der Gebildeten und in den 
Sprachschatz übergegangen. Auch die verschiedenen psychologischen Schulen 
und Richtungen haben, mehr oder weniger umfangreich, Gedankengänge 
Freuds aufgenommen; einige sind ohne Psychoanalyse überhaupt nicht 
denkbar, alle — vielleicht — haben irgendwie, und wäre es unbewußt, 
auf die Tatsache des Bestehens einer Freudschen Lehre reagiert. Mit all 
dem aber hat die Psychoanalyse der Psychologie noch lange nicht all das 
geleistet, was sie ihr — nach meiner Meinung — leisten kann. Viel zu 
wenig ist der wissenschaftliche Gehalt der Psychoanalyse als einer auto¬ 
nomen Psychologie erfaßt. Sie wird noch immer als eine psychopathologische 
Schule gewertet, die zwar dies oder jenes der Psychologie geben kann, nicht 
aber selbst Psychologie ist. Die Aufgabe steht der Psychoanalyse noch bevor, 
sich als Psychologie — wenn auch gewiß nicht als die Ganze und End¬ 
gültige — durchzusetzen. Die folgenden Kapitel möchten hiezu etwas Vor- 


















3 


bereitendes beitragen. Nämlich das etwa: der Vorwurf, den die Psychologie 
gegen uns erhebt, wir seien nicht wissenschaftlich, braucht uns nicht zu 
kümmern, nicht zu hindern. Er entspringt weder einer Prüfung der Wissen¬ 
schaftlichkeit der Psychoanalyse, noch irgendwelchen legitimen Kriterien 
psychologischer Wissenschaftlichkeit, sondern der Unkenntnis, dem Mißver¬ 
ständnis und außerwissenschaftlicher Wertung. So lehren die besprochenen 
Bücher. 

Sie sind nun freilich nicht die wahren Repräsentanten der Psychologie, 
sondern sind ein kleiner Ausschnitt aus der gesamten heutigen Psychologie. 1 
Sie umfassen die gegenwärtige — deutsche — Psychologie der Pubertät, 
also einen sehr wichtigen Teil der Entwicklungspsychologie. Die Pubertät, 
Domäne der erwachenden Erotik, konnte der Prüfstein dafür sein, ob 
eine nicht psychoanalytische Psychologie derzeit ihren Aufgaben gewachsen 
ist. Man bekämpft die Auffassungen der Psychoanalyse über die Triebe 
und den Aufbau der Persönlichkeit. Gerade an der Pubertät muß sich eine 
der psychoanalytischen entgegengesetzte Anschauung bewähren, soll sie 
Glaubwürdigkeit für den Anspruch verdienen, zulänglich zur Verständlichung 
des Seelenlebens — ohne die Freudschen Annahmen — zu sein. Darum 
war für unsere Zwecke gerade die Psychologie der Pubertät zu wählen, 
obzwar sie keineswegs von den Vertretern der bedeutsamsten Forschungs¬ 
richtungen bearbeitet wurde. Aber wir werden zu beachten haben, daß 
nicht alle Ablehnung der Psychoanalyse so einfach zu durchschauen, so leicht 
und nachdrücklich als wissenschaftliche Kritik zu entwerten ist, als etwa 
Sprangers. Nur eine vorbereitende Arbeit durfte sich so in gewissem Sinne 
die leichtesten Aufgaben setzen, an der Peripherie der Psychologie als 
Wissenschaft einige typische Verfälschungen der Wissenschaftlichkeit am 
Beispiel der Psychoanalyse und ihrer Kritik aufzuweisen: die des „Menschen¬ 
verstandes“, der Philosophie, der ahnungslosen „Kühnheit“, der Pädagogik 
und der überwundenen Belastungen. 



Das Buch von Tumlirz 2 zeichnet sich durch eine Reihe erfreulicher 
Eigenschaften aus. Vor allem: es hat keine großen Prätentionen. Es weiß, 
„daß die Reifezeit noch zu wenig durchforscht ist, so daß keine zusammen- 

1) Aber kein zufälliger, sondern ein sehr bedeutsamer. 

2 ) Dr ' 0tto Tumlirz, Die Reifejahre. Untersuchungen zu ihrer Psychologie und 
Pädagogik. Erster Teil: Die seelischen Erscheinungen der Reifejahre. Leipzig 1924. 










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Siegfried Bemfeld 


fassende Darstellung jetzt schon alle Fragen restlos und erschöpfend be¬ 
handeln kann“ (I). Und bescheidet sich, so scheint es, „ein weiterer Beitrag 
zur Kenntnis der Reifejahre“ zu sein. Es ist jedenfalls einer. Der Verfasser 
hat viele treffende Beobachtungen zusammengetragen, manche sehr glücklich 
formuliert und einige Erscheinungen klar und eindeutig geordnet. Er ver¬ 
meidet „erzwungene Theorienbildung“ und lehnt es ab, „von einem ein¬ 
zigen Grundgedanken aus die Fülle der seelischen Erscheinungen der Reife¬ 
zeit zu erklären“. So ist das Buch in der Formulierung des Empirischen 
beträchtlich zulänglicher als in dessen Erklären. Die Erklärungen geschehen 
fallweise. Es ist meistens gegen sie nichts zu sagen, als daß sie theoretisch 
nicht ganz voll genommen werden können. Sie sind unverbindlich. 

Tumlirz ist nicht prüde. Im Gegenteil zeichnet ihn eine muntere Frische 
aus, mit der er die sexuellen Tatbestände, „ohne die falsche Scham vieler 
Pädagogen und Psychologen“ (VI) beim richtigen Namen nennt. Aus dem 
Bemühen heraus, fremdwörterrein zu schreiben, spricht er frei von Bei¬ 
schlaf, Selbstbefleckung usw., ja sogar von Schmerzgeilheit, was glücklicher¬ 
weise in Klammer als Masochismus erklärt wird. Aber man muß nicht 
fürchten, daß dieser Baum in den Himmel des Radikalismus wachsen wird. 
„Begreiflicherweise konnte ich mich mit meinen Schülerinnen nicht über 
geschlechtliche Dinge unterhalten“ (V) — diese wohlanständige Bürgerlichkeit 
des Vorworts und der hymnische Schlußsatz des Buches: „Aber auch die 
Enttäuschung hat ihren erziehenden Wert. Denn der Kampf lehrt, über 
den Idealen und unerreichbaren Zielen nicht das Erreichbare, das für 
Familie und Volk Wertvolle zu versäumen, er stählt und härtet die Charaktere, 
bis aus dem Ringen um höchste Güter Menschen hervorgehen, die ihrer 
Kraft und ihres Könnens voll bewußt sind, die nicht mehr in glühendem 
Überschwang dahinstürmen und bei ihrem Höhenflug abstürzen, sondern 
Schritt für Schritt, dafür sicher, an dem Fortschritt der Kultur arbeiten, 
ohne im Streben nach den reinen Geisteshöhen der Menschheit zu erlahmen, 
die aufrecht, ruhig und sicher durchs Leben schreiten als rechte und treue 
deutsche Männer und Frauen“ (11g) lassen den Autor als jemand erkennen, 
von dem nichts Böses zu erwarten ist. Er vervollständigt das Bild seiner 
geistigen Persönlichkeit, indem er als den Eckpfeiler, an denen die Grenzen 
seines wissenschaftlichen Verstandes angeknüpft sind, auf Seite 105, 106 verrät: 
„Aus den Wirren und Leidenschaften, aus dem trüben Gären der Reifung 
gehen in edler Reinheit der Jüngling und die Jungfrau hervor, schwärmerische 
Idealgestalten, welche auf den geistigen Höhen der Menschheit wandeln 
wollen, die nur klarste Höhenluft atmen können . . .“ Auf Seite 110, 111 1 : 






















5 


Die heutige Psychologie der Pubertät 

„In ihrer freudigen Lebensbejahung grübeln der Jüngling und die Jungfrau 
nicht mehr, sie bejahen Gott . . Auf Seite 97 schließlich: „. . . verstehen 
wir, daß die Arbeiterjugend trotz ihres Strebens nach Selbständigkeit, trotz 
ihres Mißtrauens gegen die Erwachsenen unbesehen und unkritisch die 
Schlagwörter des Marxismus und der roten Internationale übernimmt, daß 
sie sich von den Erwachsenen auf den einseitigen Klassenstandpunkt ein¬ 
engen läßt . . . Die Richtigkeit dieser Anschauung wird wohl erhärtet durch 
die Tatsache, daß die Arbeiterschaft seit sechzig Jahren an den philosophisch, 
soziologisch und psychologisch unhaltbaren Lehren Marx’ festhält, ohne 
deren innere Widersprüche zu erkennen. 44 Nehme ich hinzu, was der Mittel¬ 
schullehrer an Selbstgenügsamkeit bekennt, wenn er schreibt: „Meine Un¬ 
tersuchungen stützen sich vor allem auf die vielseitigen und zahlreichen 
Beobachtungen, die ich in dreijährigem Zusammensein mit einer Klasse 
des hiesigen Realgymnasiums gemacht habe. Zwischen mir und den Mädchen 
und Jünglingen dieser Klasse besteht ein Vertrauensverhältnis, das schon 
äußerlich dadurch zum Ausdruck kommt, daß mich die damals Sechzehn¬ 
jährigen während einer Wanderung ins Gesäuse baten, sie zu duzen. Ich 
habe mit meinen Jungen und Mädchen oft über viele Fragen gesprochen, 
die mir während der Durchsicht des mir erreichbaren Schrifttums über 
die Reifejahre auftauchten, ich habe ihnen einen Fragebogen mit etwa 
sechzig Fragen vorgelegt . . . 44 (IV), so würde ich tiefstes Mißtrauen gegen 
eine Wissenschaft haben, die durch keinerlei methodische Gesetze gestrafft 
— und das gilt für die heutige Jugendpsychologie — in dieser Luft gedieh, 
und würde meinen, die ernsthafte Besprechung des Buches erübrige sich. 
Aber dieser Persönlichkeits- und Weltanschauungshintergrund wird erst 
von Seite 97 an, wo der Autor von den „Jungfrauen- und Jünglingsjahren 44 
spricht, so sichtbar, so gehäuft bemerklich, daß wir ihm zugute halten 
dürfen, hier liege seine Liebe und seine Führerabsicht, und annehmen 
dürfen, in die Trotzjahre und in die der Reifung, denen Liebe und Führer¬ 
schaft nicht gehören, werden diese sich nicht in die affektfreie wissenschaft¬ 
liche Gesinnung störend eingemengt haben. 

Tumlirz vertritt demnach keine der Richtungen der Psychologie, die 
sich heute um eine Anzahl von verschiedenen Grundauffassungen oder 
Persönlichkeiten gruppieren, und versucht, sein Material mit dem Menschen¬ 
verstand, der sich freilich von Seite 97 an als getrübt erweist, zu bewältigen, 
soweit dieser sich nun eben zur Erledigung wissenschaftlicher Probleme 
als ausreichend erweisen will. Diese Sonderstellung des Tumlirzschen 
Buches, das es von andern zu besprechenden unterscheidet, gewinnt für 











I 


6 Siegfried Bernfeld 


uns insofern ein besonderes Interesse, als sie uns deutlich zeigt, wieweit 
die Psychoanalyse dem bloßen Menschenverstand akzeptabel erscheint; daß 
dies nämlich sehr weitgehend der Fall ist und noch ein Stück weiter¬ 
gehend wäre, wenn nicht die „Ideale dem Menschenverstand eine engere 
Grenze zögen, als dieser von selbst einsehen würde. 

Das Namensverzeichnis weist Freud als den am meisten zitierten Autor 
aus, der Quellennachweis bringt Freuds Vorlesungen im Sperrdruck und 
zitiert überdies sein Schriftchen über Psychoanalyse. (Beiläufig: es ist be¬ 
zeichnend, daß man so gern gerade diese drei Bogen zitiert; sollte das 
Heftchen in der Literaturkenntnis unserer Psychologen die elf Bände ge¬ 
sammelter Schriften wirklich repräsentieren?) Nirgends ist auch nur die 
geringste abfällige Bemerkung gegen Freud enthalten, ja nicht einmal immer 
beeilt sich Tumlirz, wo er akzeptiert, hinzuzufügen, „aber sonst protestiere“ 
er; er folgt seinen Gewährsmännern nicht in ihrem Ton, sondern „wir 
begnügen uns mit dem Hinweis auf die Widerlegungen, welche die psycho¬ 
analytische Lehre durch Allers, Moll, Müller, Scheler, W. Stern u. a. ge¬ 
funden hat“. 

Dies ungewöhnliche Verhalten könnte dem sympathisch unproblematischen 
Charakter des Autors und nicht seiner Einsicht entspringen. Erfreulicher¬ 
weise ist das nicht der Fall, wie sich zeigen läßt. Die infantile Sexualität 
wird von Tumlirz als sicheres Ergebnis der Forschung im Prinzip aner¬ 
kannt: „Die Forschungen der Psychoanalyse haben ergeben, daß sich das 
Geschlechtsleben schon lange vor dem Erwachen in der Reifezeit im Unter¬ 
bewußtsein der Kinder vorbereitet und hie und da auch hervortritt.“ (5). 
„Es besteht zu Recht, daß auch bei durchaus regelrechter Entwicklung 
geschlechtliche Erlebnisse in der frühen Kindheit Vorkommen.“ Die Ein¬ 
wendungen Tumlirz’ gegen die Lehre von den infantilen Sexualtheorien 
erstrecken sich auf die seiner Meinung nach unzulässige „Erweiterung und 
Verallgemeinerung“. Der Sinn jeder Theorie, das Faktum, daß eine Theorie 
„Verallgemeinerungen aufstellen muß, und der Zweck dieser theoretischen 
Annahme bei Freud ist Tumlirz nicht deutlich geworden. Seine Beobach¬ 
tungen erzwingen aber sein Zugeständnis zum Tatsachenmaterial dieser 
Theorie. Selbst den Tatbestand des Ödipus-Komplexes, der doch sonst das 
beliebte Ziel der Empörung jugendkundlicher Autoren ist, finden wir von 
Tumlirz nicht allein richtig und ohne allen Affektaufwand dargestellt (31), 
sondern durch eine vorsichtige Fragestellung und durch ausdrückliche Wider¬ 
legung des „denkbaren Einwands, daß blutschänderischen Neigungen schwere 
sittliche Hemmungen entgegenstehen“, gesichert. Er zieht ihn zur Darlegung 





























Die Leutige Psychologie der Pubertät 


7 


eines seiner Hauptgedanken wie selbstverständlich heran (73)- Die Ein¬ 
schränkung, die Tumlirz hiebei bloß macht, trifft nicht das Wesentliche 
und klingt unsicher genug: „Wenn wir das alles zugeben, so ist damit 
noch nicht bewiesen, daß alle Gefühlsbeziehungen zwischen Eltern und 
Kindern geschlechtlicher Beschaffenheit seien. Es ist vielmehr anzunehmen, 
daß es sich neben gelegentlichen Beziehungen mit geschlechtlicher Färbung 
zumeist um Gefühle handelt, die den geschlechtlichen nahe verwandt, aber 
mit ihnen nicht wesensgleich sind. Zumindest dürften die Äußerungen 
des Entladungs-(Detumeszenz-)Triebes gewöhnlich fehlen (32). Eine Ein¬ 
schränkung, die bei dem engen Begriff „geschlechtlich , der ihr zugrunde 
liegt, völlig korrekt ist; denn es ist gewiß nie von Freud oder einem seiner 
Schüler behauptet worden, daß alle Beziehungen der Kinder zu den Eltern 
genitaler Natur seien. Die Lehre von den Partialtrieben wird mehrfach 
ausdrücklich verwendet. Schließlich findet ein so wichtiges Stück der psycho¬ 
analytischen Lehre, wie das der Regression und Fixierung ist, prinzipielle 
Anerkennung und gelegentliche Verwendung: „Es hat die Lehre Freuds 
sehr viel für sich, der die Triebverkehrungen als Entwicklungshemmungen, 
als ein Stehenbleiben der Geschlechtsentwicklung auf einer Stufe unvoll¬ 
kommener Reifung auffaßt.“ 

Wenn ich Tumlirz’ Zustimmungen zur Psychoanalyse so sorgfältig fest¬ 
stelle, so geschieht das, weil hier deutlich wird, wie nunmehr unvoreingenom¬ 
mene Beobachter die von Freud behaupteten Tatsachen auch zu sehen be¬ 
ginnen, wie sie sie festhalten und ins Gebäude ihrer zusammenfassenden Dar¬ 
stellungen aufnehmen. Anfangs wurde Freud wegen dieser Tatbestandsbehaup¬ 
tungen aufs bitterste bekämpft. Die Zeit ist nicht mehr fern, so scheint es, wo 
solche Freudsche Tatsachen, möchte man sagen, z. B. der Ödipus-Komplex, als 
selbstverständliche, immer gekannte, nie bestrittene Fakta gelten werden. 
Und bis zu einem gewissen Grade wird diese falsche Behauptung doch 
auch richtig sein, denn außerhalb der Jugendkunde, außerhalb jeder Wissen¬ 
schaft waren Tatsachen, wie die des Ödipus-Komplexes, immer bekannt, d. h. 
sie waren als Realitäten, und wären es auch verdrängte, erlebt worden. Die 
Psychologie beginnt in jenes Stadium der Resorption der Psychoanalyse 
einzutreten, — so scheint es am Beispiel Tumlirz’, — das dem ausübenden 
Analytiker von seinen Patienten her wohlbekannt ist: wenn dem Patienten, 
oft nach harter Abwehr, eine bisher verdrängte Regung bewußt geworden 
ist, so pflegt er zu behaupten, das habe er eigentlich immer schon gewußt. 
Er hat auch recht mit diesem Gefühl, irgendwie hat er es freilich gewußt, 
nur war ihm jenes Frühere nichts nütze, während die neue, eben durch 












8 


Siegfried Bernfeld 




! 


die Analyse gewonnene Art des Wissens ihm die Herrschaft über die ver¬ 
drängte Regung wiedergibt. Aber er hat mit jenem Gefühl nicht nur recht, 
es erspart ihm auch — die Dankbarkeit. Und in diesem Punkt — so scheint 
es weiters setzt sich die Parallele zwischen Patient und Jugendkunde fort. 
(Freud.) Daß man jene „stets gekannten“ Tatsachen nun auch aussprechen 
muß, daß die Systeme und Theorien sich auch an ihnen bewähren müssen 
und daß dies Freuds Verdienst ist, ist offenbar der Wissenschaft nicht an¬ 
genehm. Muß sie schon die Fakta anerkennen, so will sie doch die Dank¬ 
barkeit ersparen. Der Entdecker solch wichtiger Tatsachen, — und für die 
Wissenschaft sind sie durch Freud entdeckt worden, — sollte man meinen, 
würde Anerkennung finden. Man sucht vergeblich bei Tumlirz ein Adjektiv,’ 
eine Bemerkung, die über das hinausgeht, was er an Lob oder Respekt dem 
Verfasser einer interessanten Dissertation auch zollen würde. Und Tumlirz 
ist, mit den andern hier zu besprechenden Verfassern verglichen, geradezu 
ein tiefer Bewunderer und Verehrer Freuds. 

Von einem Autor, der bewußt das Theoretisieren ablehnt, ist natürlich 
weder Verständnis noch Annahme der Freudschen theoretischen Erweite¬ 
rungen jener Tatbestände zu erwarten. Die Zustimmung zu den Fakten 
und ihrer psychoanalytischen Erklärung ist bei Tumlirz aber darüber hinaus 
noch durch weltanschauliche, also affektive, außerwissenschaftliche Faktoren 
eingeengt. Denn der einzige wesentliche Einwand, den er gegen Freud aus¬ 
drücklich formuliert, ist der Vorwurf der Einseitigkeit, daß „alles“ auf den 
Geschlechtstrieb zurückgeführt wird, „sich das ganze Seelenleben auf den 
Geschlechtstrieb“ aufbaut. Tumlirz geht hier sogar noch ein gutes Stück 
mit: „Es ist, als ob der im Jünglings- und Jungfrauenalter zeitweilig unter¬ 
drückte Geschlechtstrieb sozusagen vergeistigt in hohen geistigen Leistungen 
auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Kunst, der Religion zur Geltung 
komme ... Mit dieser Vermutung gelangen wir wieder zum Sublimierungs¬ 
gedanken Freuds zuruck“ (44). Auf den folgenden Seiten bringt Tumlirz 
dann eine Reihe von Belegen, die für die Sublimierung sprechen, akzep¬ 
tiert im wesentlichen die Sublimierungslehre, findet schließlich sogar das 
Wort Sublimierung akzeptabel als „Sache des Übereinkommens. Nicht zu¬ 
gegeben aber werden kann, daß zwischen Geschlechtstrieb und den geistigen 
Leistungen regelmäßig ein ursächlicher Zusammenhang besteht, nachdem 
es sich oft nur um eine Miterregung des übrigen Gemütslebens handelt; 
nicht zugegeben werden kann ferner, daß alle geistigen Betätigungen auf 
Verwandlungen des Geschlechtstriebes zurückführbar seien“ (48). Dabei 
wäre Tumlirz bereit, diese Verbote für das frühere Jugendalter aufzuheben, 



























Die heutige Psychologie der Pubertät 


9 


aber bei den Jugendlichen (Jünglings- und Jungfrauenalter) „kann es sich bei 
der geistigen Betätigung auf dem Gebiete der Religion, Wissenschaft, Kunst 
usw. nicht um Sublimierungen des Geschlechtstriebes handeln, sondern nur 
um die Auswirkung der an sich geistigen Liebesfahigkeit, um die 
Hingabe an geistige Werte“ (52). Er will daran festgehalten wissen, „daß 
die verschiedenen Arten der Liebe, wie Liebe zu Gott, zur Heimat, zum 
Volk, zur Wissenschaft usw. von der Geschlechtsliebe wesenhaft verschieden 
und auf die Beziehung und Bindung zum Geschlechtlichen offenbar nicht 
notwendig angewiesen sind“ (28). Und warum? Das wird nicht verraten, 
ist Dogma. Offenbar doch, weil diese hehren geistigen Betätigungen und 
Gefühle nun eben doch nicht von der anrüchigen (eben doch) Geschlechts¬ 
liebe direkt abstammen dürfen, wenn schon nicht mehr geleugnet werden 
kann, daß sie irgendwie weitläufig mit ihr verwandt sind. Nun ist aber 
die Frage der „Sublimierung“ für die Psychologie der Pubertät von höchster 
Wichtigkeit. In ihr treten ontogenetisch eine Reihe von geistigen Betäti¬ 
gungen zum erstenmal auf. Der Entwicklungspsychologe wird gezwungen 
sein, sie zu erklären als Verwandlungen, Entwicklungen irgendwelcher Be¬ 
tätigungen und Verhaltungsweisen, die schon vorher da waren. „Wesenhaft“ 
eigenartige Gefühle, die zwischen zehn und vierzehn das erstemal auftauchen, 
kann die Entwicklungspsychologie nicht anerkennen. Sind daher die Fakta der 
infantilen Sexualität, der vor der Pubertät vorhandenen, zugegeben, ist 
ferner die mögliche Verwandtschaft zwischen der Sexualität und der sub¬ 
limierten Libido zugestanden, so scheint eine vernünftigere, selbstverständ¬ 
lichere Annahme gar nicht möglich als die Freudsche: jene der Pubertät 
neuen „Gefühle“ seien nicht rätselhaft durch Urzeugung plötzlich entstan¬ 
dene sui generis, sondern in irgendeiner Weise die Entwicklungsprodukte 
des Vorpubertätszustandes. Zeigen sich Fakta, die dieser Annahme zu wider¬ 
sprechen scheinen, so wird man gewiß geneigt sein, durch gründlichere 
Untersuchung — wie sie etwa die psychoanalytische Methode erlaubt — 
zunächst den Versuch zu unternehmen, diesen Widerspruch als einen bloß 
anscheinenden aufzuheben. Wenn nicht ein außerwissenschaftliches „Es kann 
nicht zugegeben werden“ — weil es nicht sein darf, ist zu ergänzen, — 
dieses methodisch einwandfreie Verfahren verbietet. Solch eindringende 
Untersuchung könnte zeigen, daß tatsächlich manche jener neuen Ver¬ 
haltungsweisen sich nicht von der infantilen Sexualität ableiten lassen, 
nämlich nur, indem sich erweist, woher sonst sie entstanden sind. Dieser 
positive Erweis muß aber erbracht sein, ehe man sich entschließt, eine 
Annahme von so großem heuristischen Wert, wie Freuds Sublimierungs- 










IO 


Siegfried Bernfeld 


theorie, als unzureichend hinzustellen. (Daß solche Untersuchungen not¬ 
wendig sind und mit gewissem Erfolg unternommen werden können, glaube 
ich gezeigt zu haben in „Einige Bemerkungen über Sublimierung“, Imago; 
„Vom Gemeinschaftsleben der Jugend“, Internationaler Psychoanalytischer 
Verlag 1922, und insbesondere in „Vom dichterischen Schaffen der Jugend“, 
Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1924.) 

Daß hier eine Aufgabe vorliegt, der gegenüber die Ablehnung Freuds 
nicht genügt, sieht Tumlirz sehr wohl (48) und findet als Lösung: „Je 
nach der gesamten geistigen Einstellung, nach der Möglichkeit, ein ent¬ 
sprechendes Du oder einen die ganze Seele erfüllenden Wert zu finden, 
wirkt sich die Liebesfähigkeit des Einzelwesens in der Geschlechtsliebe, 
im Kunstschaffen, in religiöser Schwärmerei, in Naturbegeisterung, in der 
wissenschaftlichen Arbeit, in der Hingabe an die menschliche Gesellschaft 
aus ... Die Anwendung der eben dargelegten Auffassung auf die jugend¬ 
liche Entwicklung ergibt sich von selbst. Mit dem Zurücktreten des ziel¬ 
sicher gewordenen Geschlechtstriebes erwacht im Jünglings- und Jungfrauen¬ 
alter die Fähigkeit zur geistigen Liebe. Es ist möglich, aber nicht unbedingt 
notwendig, daß sie ihre Kraft von dem im Verborgenen weiterwirkenden 
Geschlechtstrieb empfängt, doch soll damit nicht gesagt sein, daß die Liebe 
nichts anderes als verdrängter und ,sublimierter' Geschlechtstrieb sei.“ Was 
sie sonst sei, wird nicht gesagt, woher sie ihre Kraft empfängt, wenn nicht, 
wie freilich möglich, aber nicht unbedingt notwendig ist, vom Geschlechts¬ 
trieb, ebensowenig, und schon gar nicht wird gesagt, warum es unbedingt 
notwendig ist, daß es nur möglich sei. Diese Ausführung ist so verlegen 
und unsicher, weil sie genau das besagen müßte, was nicht besagt werden 
soll (darf). Tumlirz’ Zusammenfassung postuliert eine Liebesfähigkeit des 
einzelnen, die offenbar schon vor der Pubertät da ist; ihr untergeordnet 
sind Geschlechtsliebe, Kunstschaffen usw., die einander beigeordnet sind, 
wenigstens in der Hinsicht, daß sie je nach Umständen von jener Liebes- 
fahigkeit erfüllt werden, d. h. im Kunstschaffen oder in der Geschlechts- 
liebe ist dieselbe Liebesfähigkeit wirksam, nur daß sie jeweils auf andern 
Gebieten sich betätigt. Ich finde, das ist eine vorzügliche, treffende und 
fruchtbare Konzeption, allein gerade dies ist Freuds Meinung. Freud postu¬ 
liert ja eine „Liebesfähigkeit“, die allemal im Wesen dieselbe, schon vor 
der Pubertät vorhanden, je nach Umständen sich als Geschlechtsliebe oder 
auch etwa im Kunstschaffen äußern kann. Er nennt diese Liebesfähigkeit 
Libido. Setzen wir diesen Ausdruck in Tumlirz’ Formulierung ein, so ist 
das Neue, das er gegen Freud aufstellen will, völlig zu dem alten Freud- 




































Die Leutige Psychologie der Pubertät 


sehen geworden, das er ablehnt, beziehungsweise nicht voll wenigstens an¬ 
nehmen möchte. Die Differenz reduziert sich daher auf ein terminologisches 
Faktum, also auf Null. Was um so deutlicher ist, als Liebesfähigkeit die 
Übersetzung des Wortes Libido ist, nicht besser, aber auch nicht schlechter 
als Tumlirz’ Verwendung des Wortes Schmerzgeilheit für Masochismus. 
Nichts aber spricht dafür, daß Liebesfähigkeit ein neuer und gar em 
von Libido unterschiedener — Begriff sein soll. Sollte er aber das sein 
wollen, so wäre gegen ihn einzuwenden, daß der Ausdruck „Fähigkeit 
eine gefährliche Regression in eine überwundene Stufe der Entwicklung 
der Psychologie andeuten würde, während Libido diese Liebesfähigkeit als 
das bezeichnet, was sie ist, als eine drängende, imperative Tendenz, und 
in die Gruppe der Triebe einreiht, dadurch allein schon ein Anlaß ist, 
die Aufmerksamkeit auf das Gebiet der Triebe, die nächste Stufe in der 
Entwicklung der Psychologie, zu lenken. 

Tumlirz wirft Freud Einseitigkeit vor. Objektiv mit vollem Unrecht, 
denn in seinen Vorlesungen hat Freud mit genügendem Nachdruck betont, 
daß er der Libido die Ichtriebe gegenüberstelle und aus dem Zusammen¬ 
wirken dieser beiden Triebe erst zum Verständnis der gefragten Erschei¬ 
nungen gelangt werden kann. Er verfällt aber selbst der Einseitigkeit. Denn 
offenbar ist es nicht die Liebesfähigkeit allein, die für die Sublimierungs¬ 
prozesse verantwortlich gemacht werden kann. Hier sind Ichkräfte sehr 
wesentlich im Spiel, und um diese komplizierten Verhältnisse klarzulegen, 
bedarf es einer prägnanten und wohlüberlegten Nomenklatur. Es genügt 
nicht, das neue Wort Liebesfähigkeit. Als Begriff ist es nicht konstituiert, 
während Libido ein wohldefinierter wissenschaftlicher Terminus ist. Ist es 
eine bloße Übersetzung, so beinhaltet es Bejahung der Freudschen Lehre. 
Wie konnte der Autor das übersehen? Gerade dieser Autor, der so viel der 
Psychoanalyse recht zu geben sich gedrängt fühlt. Ich meine, es kann kein 
anderer Grund vorliegen als die bereits erwähnte Einmischung des Wert¬ 
gebietes in die Wissenschaft und die bewußte Ablehnung theoretischen 
Durchdenkens. Erleichtert wurde diese Einmengung durch Sprangers 
Philosophie. 

*) D ie PL ilosophie 

Wir betrachten daher zunächst die Stellungnahme eines Jugendpsycho¬ 
logen zur Psychoanalyse, der im Gegensatz zu Tumlirz das Hauptgewicht 
auf die theoretische Zusammenfassung der Fakta legt, Sprangers. Daß 
seine theoretischen Grundlegungen der Psychologie wertgerichtet sind, 













Siegfried Bernfeld 


wird unsere Aufgabe nicht vereinfachen, aber vielleicht zu um so frucht¬ 
bareren Resultaten führen. Sprangers Buch 1 hat unter den hier bespro¬ 
chenen den größten buchhändlerischen Erfolg gewonnen. Das Vorwort der 
ersten Auflage ist am i 9 . Februar ig 34 gefertigt, am 3 i. Februar 19.5 
das zum siebzehnten Tausend. Diesen Erfolg kann es nicht seinem Thema 
allem verdanken, auch der Name des Verfassers verbürgt ihn kaum, und 
ganz gewiß sind es nicht die Ergebnisse, zu denen es gelangt; denn 
zu ihnen zu gelangen, bedarf es eines gründlichen Studiums des um¬ 
fänglichen Werkes und auch nach solchem Studium mag es manchem Leser 
ge en wie dem Referenten: er vermag sich keine formulierte Rechenschaft 
darüber zu geben, was er nun von der Psychologie des Jugendalters ge¬ 
lernt habe. Eine Fülle von Worten, gelegentlich schönen Worten, eine 
Anzahl einprägsamer Bilder, treffende Bemerkungen, feine Unterschei¬ 
dungen das ist geblieben, aber keine Erkenntnis, keine Antwort auf 
die im I. Abschnitt, „Aufgabe und Methode“, gestellten Probleme. Freilich 
weder den Erziehern noch der Jugend in und aus der deutschen Jugend¬ 
bewegung, die, so darf man annehmen, das Sprangersche Buch gekauft 
und begeistert in ihm gelesen haben, ist an Erkenntnis gelegen; sie wollen 
Führung. Und diese haben sie hier gefunden, An dieser Stelle steht mir 
ein Entscheid darüber zu, ob Spranger der rechte Führer, ob die Jugend 
welche so empfindet, eine rechte Jugend ist. Wir haben nur festzustellen’ 
daß Spranger die Führerrolle dem Forschertum in diesem Buch vorzieht 
daß sie seinen Stil, seinen Aufbau, seinen Inhalt bestimmt oder durch¬ 
dringt. „Als Forscher spreche ich in Begriffen und Kategorien. Aber ich 
spreche nur für die, die das alles wieder in Leben, Tat und Liebe um¬ 
wandeln können. Denn nicht auf dieses oder jenes Einzelfaktum kommt 
es zuletzt an, sondern daß man dies Gebilde von eigener Form und Schön¬ 
en und Wurde als ein Ganzes sehen lerne: den Menschen in seiner 
Jugendzeit (XV). Gewiß, zuletzt kommt es auch dem Forscher nicht auf 
as Einzelfaktum an, aber Spranger kommt es zuerst (auf S. I bereits) auf 
die Fuhrergeste an. Wyneken und dem A. C. S» stand es wohl an, von 
er urde und Schönheit der Jugend als ihrem Wesentlichen zu sprechen, 


i Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters. Leipzig lga4 . 

) In dessen Leitsätzen ich 1913 formulierte: „Kindheit und Jugend sind nicht 
in s,>r iT ^ anSSStadien zum erwachsenen Menschen, sondfm notwendig 

sLdem rt°t Sene Tf ntWiC u klUngSStUfen - Jugend Und Mannheit sind nicht graduell’ 
a Unterschlede - Die Jugend ist also nicht unvollkommen^ unreife’ 
Mannheit, sondern ein vollkommener Zustand für sich.“ (Der Anfang I) ’ 


\ 












































Die heutige Psychologie der Pubertät 


10 


und es soll auch dem Psychologen nicht verwehrt sein, „dem Wunsch, zu 
sehen, wie es ist, einen starken Zug von Liebe“ (XIII) beizumengen, aber 
etwas Sorge muß den Leser befallen, ein erster Verdacht, der sich bei 
fortschreitender Lektüre immer hartnäckiger gestaltet, hier sei vom Wesen 
des Forschers nichts mehr übrig, als daß er — gelegentlich in Be¬ 
griffen und Kategorien spreche, etwa so: „Dem Lebendigen gegenüber nur 
Anatom zu sein, scheint mir fast ehrfurchtslos; und was wichtiger ist: es 
scheint mir, als ob man durch diese Brille das Wesentliche nie zu sehen 
bekäme. Also habe ich es mit Fichte gehalten, der ja gefordert hat, daß 
mit der Erkenntnis des Gegenstandes auch immer etwas von der Liebe 
zum erkannten Gegenstand wachgerufen werden müsse. Ich möchte nicht, 
daß man das, was hier (sciZ. in diesem Buch!) erkannt wird, für etwas 
anderes als für Heiligtümer hielte.“ Führer sind nötig, und wir haben 
mit niemand zu rechten, der es sein will und das Nötige hiezu tut. 
Aber wir werden die Einwände gegen unsere bescheidene Psychoanalyse, 
die nichts als Wissenschaft sein will, nicht sehr ernst zu nehmen geneigt 
sein, welche von einem Denker kommen, der es „gewagt hat, das ganze 
große Objekt mit einem Griff zu packen, aus der Überzeugung heraus, 
daß in der Psychologie eben auf den Sinn fürs Ganze alles ankommt“ (XII), 
und indem er seine „Aufgabe als ein Stück echter Wissenschaft ge¬ 
nommen hat“ (XIII) bekennt, „wie sehr es mir auch bei der Entstehung 
dieses Buches an der zurückgezogenen Stille gefehlt hat, in der allein das 
Ganze eines künstlerisch geformten Bildes reifen kann. Die Zeit, in der wir 
leben, fordert uns von allen Seiten . . . Ich schäme mich nicht zu sagen, 
daß vieles in der gleichen Zeit nach außenhin getan werden mußte, 
während ich mich in dieses Thema versenkte“ (XV). Wir sind dieser 
fehlenden Scham froh, denn so erfahren wir, was wir sonst bloß geahnt 
hätten, wo die Akzente im Werk von Spranger liegen, und werden wissen, 
daß wir hier einem wehleidigen, romantischen und ressentimentalen Be¬ 
griff von Wissenschaft gegenüberstehen, der, so gemäß er einer breiten 
Schichte des heutigen geistigen Deutschland sein, ihm zu Liebe, zur 
Führung geprägt sein mag, von dem unsern so weit absteht wie die dunkle 
Tiefe des Sprangerschen Stils von der hellen Klarheit jedes großen Forschers. 

Vielleicht wird man dieser Kritik vorwerfen wollen, sie sei unsachliche 
Polemik, die ins Persönliche übergreife. Es ist nicht meine Absicht, un¬ 
sachlich zu sein, aber freilich ist es unvermeidlich einem Autor gegen¬ 
über, der seine Person hinter, ja vor seinem Werk sichtbar werden läßt, 
dies Stück des Persönlichen zur Sache zu rechnen. Die Psychologie ist in 












einem rapiden Umwandlungsprozeß begriffen, sie sprengt die Bande, die 
ihr durch Wundt geschmiedet wurden. Es genügt ihr nicht mehr die 
enge Provinz peripherer Erscheinungen, die die Domäne der experimentellen 
Psychologie waren, und sie nimmt als ihr Forschungsgebiet die eigent¬ 
lichen seelischen Phänomene in Besitz. Diesen gegenüber erweisen sich 
die Methoden und das Erkenntnisziel der alten Psychologie als völlig unzu¬ 
länglich. Sie sucht daher mit vollem Recht nach Neuem. Dieser Fort¬ 
schritt war gewiß durch ein Gefühl der Unbefriedigtheit mit den Ergeb¬ 
nissen der alten Methode eingeleitet worden, durch einen Intellektual- 
affekt. Wie das aber mit Mißvergnügten so zu sein pflegt, sie gesellen 
sich nicht nach den Motiven und Zielen ihrer Mißvergnügtheit, sondern 
vermittels dieser selbst. So sind zu Gegnern der alten Psychologie alle 
jene geworden, denen sie zu wenig interessant, zu wenig bedeutsam im 
Wirbel der zeitgenössischen Weltanschauungskämpfe war; jene, die das 
sorgfältige, entsagungsvolle Studium am psychologischen Apparat nicht 
wegen seiner unbefriedigenden Erkenntnisresultate, sondern wegen seiner 
sozialen Belanglosigkeit aufgaben oder gar nicht erst in Angriff nahmen; 
ästhetische, philosophische, religiöse, weltanschauliche Bedürfnisse fordern 
Befriedigung von der Psychologie. Und diese, durch keine strenge Methode 
mehr zur Wissenschaft beengt, ist gelegentlich allzusehr bereit, das Gefallen 
und die Befriedigung jener Mißvergnügten anzustreben. Die Befreiung von 
den alten Methoden und Grenzen hat alle Fragen der Psychologie, die 
Forschungstatigkeit und das Publikumsinteresse, erfreulich belebt, und uns 
scheint, die ersten Umrisse einer neuen Psychologie werden bereits sicht¬ 
bar, mit ihr neue Methoden und Grenzen. Aber man darf sich nicht ver¬ 
heimlichen, daß der gegenwärtige Zustand seine beträchtlichen Gefahren 
hat. Darum ist es Aufgabe der wissenschaftlichen Kritik, die außerwissen¬ 
schaftlichen Einstellungen in jedem Einzelfall scharf zu bezeichnen, nötigen¬ 
falls sie zu erschließen, sie zu erraten. Sie entstammen der Persönlichkeit 
der Forscher, je bedeutender und ungewöhnlicher sie ist, um so bedroh¬ 
licher können die Gefahren sein. Die Kritik darf sich nicht scheuen, in 
den Bezirk des Persönlichen einzudringen, wo die Persönlichkeit in den 
Bereich der Wissenschaft störend eingebrochen ist. Da Spranger die Grenze 
zwischen den Ergebnissen seiner Forschung und dem Bemühen, außer¬ 
wissenschaftliche Bedürfnisse, eigene und fremde, zu befriedigen, nicht selbst 
zieht, da er Führer ist; da er eine Synthese sucht zwischen Wissenschaft 
und Kunst, „Seelengemälde in Begriffen und Kategorien“ anstrebt und im 
Begriff ist, aus seiner Zwiespältigkeit einen neuen Begriff vom Wesen der 














































Wissenschaft zu verkünden, — ist es dreifach dringlich, diese aktuelle 

Forderung an die Kritik zu erfüllen. 

Die Überwindung Wundts in der deutschen Psychologie hat diese in 
den letzten Jahren, auch dort, wo sie es sich und dem Publikum nicht 
eingesteht, der Psychoanalyse Freuds genähert. Es ist nicht zweifelhaft, 
dnü Freud einen großen Anteil am Gelingen der Entfesselung der Psycho 
logie und an der Richtung hat, in der sich die neuen Strömungen in der 
Psychologie bewegen. Freud hat als erster die Befreiung vollzogen und hat 
von Anfang an einen sehr bedeutenden, wenn auch lange von den wenigsten 
bewußt anerkannten Einfluß auf die gesamte psychologische Forschung ge- 
fnbt. Mögen die neuen Richtungen an Dilthey oder an Brentano anknüpfen, 
sirii als Fortsetzer des Wundtschen Werkes empfinden, von der Philosophie 
.Hier von der Biologie herkommen, ihr heutiges So-sein ist ohne die Psycho¬ 
analyse gänzlich undenkbar. Sie gedeihen nur durch die Auflockerung des 
Bodens aller Geisteswissenschaften, die gewiß nicht Freud allein, aber seinem 
Mut als Erstem und seiner Konsequenz als Einzigem zu danken ist; sie 
differenzieren sich voneinander nicht am wenigsten durch die Stellung¬ 
nahme zu den von der Psychoanalyse aufgeworfenen Problemen, ohne selbst 
zu wissen, daß diese es ist, die sie zu sonderbar verschlungenen Störungs¬ 
bahnen zwingt. Und schließlich entnehmen sie eklektisch der Psycho¬ 
analyse diese oder jene Grundauffassung, die eine oder andere Tatsache 
oder Prägung. Man will das Gute und Richtige der Psychoanalyse für den 
zu errichtenden Bau der neuen Psychologie retten. Dabei übersieht man 
eine merkwürdige Tatsache, die für die Zukunft der Psychoanalyse eine 
günstige Prognose erlaubt. Im Gegensatz zu allen neueren Strömungen in 
der Psychologie ist die Psychoanalyse, ähnlich der alten Psychologie, durch 
eine strenge Methode relativ sicher vor autistischen Einschlägen, ist die Be¬ 
vorzugung weltanschaulicher Bedürfnisse vor dem Erkenntnisziel entschieden 
ausgeschlossen. Solange, heißt das, die Methode Freuds eingehalten wird. 
Wer sich von ihr entfernt hat, Jung, Stekel, Adler, ist um ebensoviel in 
die Berücksichtigung religiöser, utilitaristischer, ästhetischer oder sozialer 
Bedürfnisse verfallen. Man kann gewiß der Psychoanalyse Irrtümer nach- 
weisen, kann ihr Verallgemeinerungen vorwerfen, die vermehrter Empirie 
vielleicht nicht standhalten werden, man kann feststellen, daß ihre Methodo¬ 
logie noch nicht formuliert ist; das alles sind typische Mängel jeder jungen 
Wissenschaft. Aber man kann ihr nicht vorwerfen, daß sie an irgendeiner 
Stelle das Interesse der Forschung, der wissenschaftlichen Wahrheit irgend¬ 
einem andern Wert zuliebe geopfert oder auch nur zurückgestellt habe. Sie 












hat bewußt darauf verzichtet, außerwissenschaftliche Bedürfnisse zu be¬ 
friedigen, keinem heteronomen Werterlebnis nachgegeben. Sie will weder 
tief noch schön, weder allumfassend noch vollkommen, sie will in keinem 
Sinn befriedigend sein, als nur in dem der wissenschaftlichen Wahrheit; 
Tatsachen und Zusammenhänge feststellen und mittels bestimmter An¬ 
nahmen, Hypothesen, sie zu einem verstehbaren Ganzen anordnen. Man 
kann solches Bemühen als irrelevant, unheilig, unbefriedigend ablehnen; 
gewiß, aber damit ist die Wissenschaft zugleich abgelehnt. Warum sollte 
nicht ein Schriftsteller oder auch eine Zeit den Mut zu solcher Wertung 
aufbringen? Aber man kann nicht an beliebigem Punkt diese wissenschaft¬ 
liche Einstellung verlassen und gegen eine neue, befriedigendere vertauschen 
und diese Chimäre Wissenschaft oder gar Wissenschaft der Zukunft nennen. 
Und gerade dies ist beinahe völlig Sprangers Verfahren. 

Spranger charakterisiert seine Psychologie als eine vierfältige: 1) Ver¬ 
stehende Psychologie, 2) Strukturpsychologie, 3) Entwicklungspsychologie 
und 4) Typenpsychologie. Der Begriff jedes dieser vier Gesichtspunkte wird 
von Spranger näher erläutert. „Verstehen heißt: geistige Zusammen¬ 
hänge in der Form objektiv gültiger Erkenntnis als sinnvoll auffassen. 
Wir verstehen nur sinnvolle Gebilde“ (3). „Verstehen ist nicht gleich¬ 
bedeutend mit einem getreu abbildenden Nacherleben des subjektiven Seins, 
Erlebens und Verhaltens einer Einzelseele“ (6). „Es gibt übergreifende Sinn¬ 
zusammenhänge, die das subjektive Leben bedingen, ohne in die subjektive 
Sinnerfahrung selbst hineinzufallen“ (8). Auf den Begriff der verstehenden 
Psychologie kann in dieser kleinen Arbeit nicht eingegangen werden. 
Spranger ist bekanntlich nicht der einzige, der ihn vertritt. Und die Psycho¬ 
analyse hat schon vor langer Zeit den Begriff des Verstehens psychischer 
Phänomene angewendet. Aus den bisher zitierten Sprangerschen Sätzen ist 
eine große Annäherung an die Psychoanalyse zu erschließen, die Spranger 
später zu einer großen Kluft aufreißt. Die Psychoanalyse fand ihre ersten 
methodischen Einwände von seiten der Psychologie gerade an diesem Punkt. 
Ihr Grundgedanke ist: die psychischen Erscheinungen und Verhaltungs- 
weisen sind aus den Bewußtseinsphänomenen allein nicht verständlich zu 
machen, es bedarf „übergreifender Zusammenhänge“, um sie verständlich 
zu machen. Und durch die Einordnung in solche Zusammenhänge werden 
scheinbar sinnlose Phänomene wie der Traum z. B. verständlich. Wollten 
wir die Sprangersche verstehende Psychologie verstehen, also aus ihrer Ein¬ 
ordnung in einen größeren Sinnzusammenhang, der künftigen Geschichte 
der Psychologie, begreiflich machen, so könnten wir sagen: ihre Funktion 


























































Die lieutige Psychologie der Puhertat 


*7 


ist, die Psychologie von der Bewußtseinspsychologie zu befreien und so Platz, 
Atmosphäre, Möglichkeit für die Psychoanalyse als Psychologie zu schaffen. 

Zum Gesichtspunkt 2, Strukturpsychologie, erläutert Spranger: „Ge¬ 
gliederten Bau oder Struktur hat ein Gebilde der Wirklichkeit, wenn es 
ein Ganzes ist, in dem jeder Teil und jede Teilfunktion eine für das 
Ganze bedeutsame Leistung vollzieht, und zwar so, daß Bau und Leistung 
jedes Teiles wieder vom Ganzen her bedingt und folglich nur vom Ganzen 
her verständlich sind. Die verstehende Psychologie muß von der Voraus¬ 
setzung ausgehen, daß ihre Gegenstände in diesem Sinne strukturiert sind. . . 
Wir könnten für unsere Psychologie nach der sie beherrschenden metho- 
disrhen Grundvoraussetzung auch den Namen Strukturpsychologie ein- 
1 iihren . . . Strukturpsychologie ist also jede Psychologie, die die seelischen 
I'.inzelerscheinungen aus ihrer wertbestimmten Stellung im einheitlichen 
Ganzen und aus ihrer Bedeutung für solche totalen Leistungszusammen¬ 
hänge versteht“ (9, 10). Die Psychoanalyse ist nach dieser Definition gewiß 
Strukturpsychologie. Nicht allein, daß Freud Begriff und Wort der psychi¬ 
schen Struktur vor Spranger verwendete, das haben auch andere getan, und 
Spranger ist sich dessen bewußt, wenn er sagt: „Der Name (Struktur¬ 
psychologie) wird vielfach für solche psychologische Richtungen gebraucht, 
die sich mit der Erforschung von Teilstrukturen (im Gegensatz zur Psycho¬ 
logie atomisierter Elemente) beschäftigen. Es versteht sich aber von selbst, 
daß das einzelne Seelengebilde nur strukturiert sein kann, wenn auch das 
Ganze eine Struktur hat“ (10). Und nur für diese -— selbstverständliche — 
Erweiterung beansprucht er, so scheint es, Originalität. Nicht mit Recht, 
denn eben diese Erweiterung ganz konsequent und bewußt durchgeführt 
zu haben (und schließlich sogar mit dem Wort „struktureller Gesichts¬ 
punkt“ bezeichnet zu haben) ist eines der Verdienste und der Wesenszüge 
der Psychoanalyse. 

Auch für den 3. Gesichtspunkt, die Entwicklungspsychologie, gilt, was 
sich bei den ersten zwei zeigte. Es ist ein gutes Stück weit kein Wider¬ 
spruch zwischen der Sprangerschen und der Freudschen Psychologie. Die 
Sprangersche bereitet der Freudschen in gewissem Sinn den Boden, in¬ 
dem sie Einwände zerstreut, Gesichtspunkte der offiziellen Psychologie nahe¬ 
legt, die zur Psychoanalyse hinführen, indem sie Richtungen der Psycho- 
logie zu offiziellen zu machen hilft, die in wesentlichen Belangen mit der 
Psychoanalyse übereinstimmen, von ihr weitgehend beeinflußt sind. „Bei 
jeder Entwicklung handelt es sich um eine Veränderungsreihe, die ein 
Subjekt durch das Zusammenwirken von inneren und äußeren Faktoren 


Imago XIII. 













i8 


Siegfried Bernfeld 


erfährt, jedoch so, daß die Richtungsbestimmung vorwiegend auf innere 
Anlagen oder Tendenzen des betreffenden Subjektes zurückgefiihrt wird." 
„Seelische Entwicklung ist also Entfaltung des individuellen Seelenlebens 
von innen heraus zu größerer innerer Gliederung und Wertsteigerung der 
psychischen Leistungseinheit“ (17, 18). „Eine Entwicklungspsychologie hat 
über die allgemeine Aufgabe des Verstehens hinaus noch die besondere 
Aufgabe, gewisse Erscheinungen als Entwicklungserscheinungen zu ver¬ 
stehen und sie damit einer Teleologie einzuordnen, die mindestens nicht 
im subjektiven Erleben des jungen Menschen bewußt wird . . . Gewisse 
Erscheinungen des Seelenlebens werden erst durch die Beziehung auf einen 
„Entwicklungssinn“ verständlich . . . Wir gehen hinter die erlebten Vor¬ 
gänge zurück und verstehen sie „sinndeutend“. Ohne solche Hilfskonstruk¬ 
tionen ist eine Entwicklungspsychologie nicht möglich; ohne sie bliebe es 
bei bloßem positivistischem Konstatieren von unverbundenen Einzelheiten . 
Seelische Entwicklung ist also Hineinwachsen der Einzelseele in den ob¬ 
jektiven und den normativen Geist der jeweiligen Zeit . . .“ Was über den 
so überaus wichtigen, ja für eine Jugendpsychologie wichtigsten Gesichts¬ 
punkt gesagt wird, ist sehr ärmlich, man kann es viel einfacher ausdrücken, 
als Spranger tut, und dann zeigt es sich, daß man es schon oft gelesen hat, 
aber immerhin, es erscheint uns von unserem Standpunkt richtig; es ist 
im wesentlichen die Anschauung der Psychoanalyse, und daher sehr er¬ 
freulich, wenn es beginnt, in die Psychologie, die auf deutschen Univer¬ 
sitäten gelehrt wird, einzugehen. 

Noch weniger ist zum 4. Punkt, der Typenpsychologie, gesagt: „Jedes 
Einzelwesen ist . . . ganz eigenartig, eine Welt für sich, eine Monade, die 
das Universum so spiegelt, wie keine andere es spiegelt. Aber diese letzte 
Tatsächlichkeit ist der Wissenschaft nicht erreichbar: Individuum est inef- 
fabile . . . Wir nennen eine solche Konkretisierung des Allgemeinbegriffes 
einen Typus (wie wir die Konkretisierung der Idee beim Übergang zum 
Anschaulichen ein Ideal nennen). Die Konkretisierung der allgemein¬ 
menschlichen Seelenstruktur nach besonderen Gesetzen führt zu Menschen¬ 
typen und Entwicklungstypen . . . Unsere Psychologie des Jugendalters wird 
Typenpsychologie, sobald wir auf individuelle Unterschiede der Ent¬ 
wicklung und der Struktur dieses Lebensalters achten“ (20). Was sollte 
dagegen eingewendet werden? Es ist, in anderen Worten, Gemeingut des 
modernen psychologischen Denkens. 

Dies also sind die Methoden und Gesichtspunkte der Sprangerschen 
Psychologie. Es sind im wesentlichen von der Psychoanalyse eingeführte 






























































Die heutige Psychologie der Pubertät 


1 9 


Gesichtspunkte in verändertem Zusammenhang und Ausdruck. Es ist er¬ 
staunlich, wie solch vernünftige und fruchtbare Prinzipien zu so geringen 
und banalen wissenschaftlichen Ergebnissen führen können, als welche uns 
di» weiteren 526 Seiten des Buches erscheinen, unbeschadet der außer- 
u issenschaftlichen Werte des Werkes und der zahlreichen Aphorismen, die 
jedem Entwicklungsroman zur Zierde gereichten und in manchem auch 
7.11 finden sind. Der geschickteste Zugang zur Beantwortung dieser Frage ist 
■. ielleicht die Darstellung der Sprangerschen Einstellung zur Psychoanalyse. 
Diese scheint eine solch scharfe Säure zu sein, daß sie als Scheidewasser 
jede wimensenschaftliche Lehre, die sich mit ihr in Zusammenhang bringt, 
sogleich zersetzt und deren wissenschaftliches Gold von der ethischen Le¬ 
gierung trennt. 

Man wird von Spranger nicht erwarten, daß seine Einwendungen gegen 
die Psychoanalyse naiv sind, seine Polemik klar und neutral ist. Zu weit ist 
die Psychoanalyse in das Denken der an Psychologie interessierten Kreise ein- 
^edrungen, zu stark ist die gegen kleinbürgerliche Moral gewendete revolu¬ 
tionäre Haltung in der Jugend — in ihren Worten und ihren Führererwar¬ 
tungen wenigstens — verbreitet, als daß ein Philosoph, der führend wirken 
will, nicht fürchten müßte, altväterlich zu erscheinen, wenn er sich einfach 
mit den Protestkundgebungen von anno 1913 identifizierte. Anderseits vergäbe 
er sich zu viel mit ausführlicher Erörterung. Freud und die Psychoanalyse sind 
ihm nicht kongenial. Die psychoanalytische Theorie hat „richtige Meinungen“, 
di” erst die allgemeinen Gesichtspunkte Sprangers „ganz herausbringen“ (138). 
Spranger ist in seiner Kritik der Psychoanalyse maßvoll und kultiviert. 
Er weiß, daß die Psychoanalyse „eine ganz allgemeine Entwicklungstheorie 
sein will und schon aus diesem Grunde können wir nicht an ihr Vorbei¬ 
gehen" (129). „Ihr größter Vorzug gegenüber älteren Theorien besteht schon 
darin, daß sie stillschweigend jenen auch von uns aufgestellten Grundsatz 
befolgt: Psychologica psychologice: auf dem Gebiete der Psychologie muß, 
soweit wie möglich rein psychologisch verfahren werden . . . Diese Tendenz 
auf sinnvolle Zusammenhänge wird von Freud über das bewußt in der Seele 
Ablaufende hinaus fortgesetzt und die seelische Struktur wird so bis in 
Sinnzusammenhänge hinab verfolgt, die dem Selbsterleben nicht unmittelbar 
zugänglich sind, sondern nur durch Analyse zugänglich gemacht werden 
können . . . Die beiden Tendenzen der Freudschen Psychologie halte ich 
für wesentliche Bereicherungen unserer Methode, und ich gehe bis zu diesem 
Punkte durchaus mit. Nicht so mit der weiteren Durchführung. Sie ist im 
Verhältnis zu unserem sonstigen Wissen von der Seele als primitiv zu be- 














20 


Siegfried Bernfeld 


zeichnen“ (130). Und wir können mit Spranger in dem P un kt durchaus 
mitgehen, wenn er von den Ichtrieben sagt, sie „bleiben nach Art und 
Herkunft völlig unbestimmt. Schon die Bezeichnung ist wenig glücklich 
In der Tat spielen diese Triebe in der Durchführung nicht die Rolle, die 
man erwarten sollte (130), wenn sie auch eine größere Rolle spielen als 
man finden muß, falls man in der Tat sehr wichtige Arbeiten von Freud 
nicht kennt. Auch der Einwand, der von Scheler übernommen wurde, — 
daß die verdrängenden und verdrängten Kräfte nicht beide Libido sein 
können, wäre wohl diskutabel, und vor allem befriedigend ist die Feststellung: 
„die Psychologie hat in der Tat nicht die Aufgabe, das Höhersein oder 
Niedrigersein zu begründen . . . Wir haben als Psychologen kein Recht, 
den naturalistischen Pansexualismus von Freud auf seine Höhenlage in der 
Stufenordnung denkbarer Weltanschauungen hin zu beurteilen. Die Frage 
in unserem Zusammenhänge kann nur sein, ob seine Theorie die wirk¬ 
lichen^ seelischen Erscheinungen von Strukturprinzipien aus verständlich 
macht“ (133). Da Spranger aber offenbar kein Psychologe ist, eröffnet er 
die Erörterung dieser Frage mit den an Freuds Sublimierungslehre an¬ 
knüpfenden Sätzen: „Freud wird sich für seine Auffassung vielleicht auf 
die Sprache der Tatsachen selbst berufen“ (dieses für einen Psychologen 
eigentlich kaum unehrenhaften Verfahrens wird sich Freud in jedem Falle 
nicht nur vielleicht, sondern gewiß, und nicht nur berufend, sondern 
forschend bedienen, wenngleich er fast gewiß nicht so vage Fakta zur 
Stützung eines wichtigen Stückes seiner Lehre heranziehen wird, wie 
Spranger ihm in den Mund legt, fortfahrend): „große geistige Schöpfungen 
gingen m der Regel aus Perioden erotischer Erregung hervor. Jedes Schaffen 
sei eine stille Werbung, jedes Werk sei eine stille Widmung. Wir aber 
werden doch gleich die Beschreibung“ (die allerdings wir selbst gegeben 
haben, zwar in Freuds Namen, aber doch ganz anders als er) „dahin er¬ 
gänzen müssen, daß hiebei nicht immer eine bestimmte Person das eigent¬ 
liche Liebesohjekt sei, sondern daß diese deutlich oft nur das zufällige oder 
gar nachträgliche Erfahrungsgebilde abgebe, an das das Ideale selbst an¬ 
haftet: das Ewig-Weibliche wird geliebt, in seiner immer unzulänglichen 
Erscheinung“. Merkt Spranger wirklich nicht, wie er Freud unrecht tut, 
der ja nie behauptet hat, daß alle großen geistigen Schöpfungen „Subli¬ 
mierung“ einer aktuellen Verliebtheit des Schöpfers sind, sondern vielmehr 
behauptet, daß das riesige Plus an psychischer Leistung, das der produktive 
Mensch an seine Schöpfungen wendet, zum Teil mit jener seelischen Energie 
betrieben wird, die in der Kindheit den sexuellen Trieben entzogen und 






































































Die keutige Psychologie der Pubertät 


21 


nicht-sexuellen Tätigkeiten oder Gedanken zugewendet wurde? Diese Polemik 
„egen eine ganz empirisch gedachte Freudsche Aufstellung wird von Spranger 
fortgesetzt: „Der Sinn des schaffenden Lebens in seiner Ganzheit ist inten¬ 
diert durch das Symbol der einzelnen geliebten Person hindurch. Dies alles 
soll als versetzter Trieb nach Libido ,verstanden 1 werden?“ Das ist rhetorisch 
nicht schlecht gemacht. Der Satz mit Sinn, schaffendes Leben, Ganzheit, 
intendiert, Symbol, hindurch, häuft Tiefe und Klang so heftig, daß es 
genügt, „dies alles“ hinzuzufügen, und der Leser gewinnt wirklich den 
Eindruck von Freudscher Blasphemie, die dies alles, das so schwer und 
vage verständlich ist, einfach mit versetztem Trieb und Libido erklärt. Und 
so vsinl doch die Höhenlage der Freudschen Theorie beurteilt, nicht aber, 
wie Spranger versprach, die Beziehung der Theorie zu den wirklichen seeli 
sehen Erscheinungen nach Strukturprinzipien. Denn jener tiefe Satz „Sinn 
hindurch“ ist nicht eine wirkliche seelische Erscheinung und nicht einmal 
eine Verständlichmachung nach Strukturprinzipien, sondern, nun sagen wir, 
Philosophie. Man lasse diesen philosophischen Satz weg. Dann heißt es: 
„das Ewig-Weibliche wird geliebt.“ Das ist eine wirkliche seelische Er¬ 
scheinung. „Sie soll als versetzter Trieb nach Libido verstanden werden.“ 
Nichts von Blasphemie. Nichts einleuchtender als dies. Spranger selbst lehrt 
es. Das „Alles“ meint nichts anderes als den tiefen Satz. Ihn als versetzten Trieb 
zu verstehen, hat niemand gewagt. Ich bitte hier nicht verärgert einzuwenden, 
es gehe nicht an, in so spitzfindiger Weise stilistische Schwächen — ich 
sage ja Stärken — eines umfangreichen Werkes zu ironisieren. Es handelt 
sich uin keine vereinzelte Schwäche, es handelt sich nicht um den Stil, 
sondern um die Sprangersche Methode der Auseinandersetzung. Denn der 
wörtlich zitierte Absatz, — freilich von meinen Glossen unterbrochen, die 
aber typographisch als solche deutlich sind, — dessen letzter Satz uns eben 
beschäftigte, ist unmittelbar gefolgt von einem Absatz, dessen erster Satz 
lautet: „Eine solche Psychologie ist nicht Tiefenpsychologie, sondern in 
V\ ahrheit Oberflächenpsychologie. Sie hält sich an das sinnlich Greifbare 
und behauptet, es stehe hinter allem als die eigentlich erzeugende Kraft.“ 
Eine solche Psychologie? Was für eine? Nun, eine die „das alles“ so 
schändlich einfach versteht. Ohne jenen tiefen Satz wäre Spranger nicht 
erspart geblieben, bevor er die Freudsche Psychologie schlechthin eine 
„solche nennt, zu argumentieren; er ermöglicht es ihm statt der Argumente 
hier Invektiven vorzubringen, die zwar nicht mehr (wie anno 1913) morali¬ 
scher Natur sind, aber auch nicht wissenschaftlicher, denn eine Oberflächen¬ 
psychologie kann sehr ernste, bedeutende Wissenschaft, und eine Tiefen- 












22 


Siegfried BernfelJ 


Psychologie barer Unsinn sein; aber indem Tiefenpsychologie an tiefsinnig 
und Oberfläche an oberflächlich anklingt, eignen sich diese Termini sehr 
wohl zu Invektiven aus der ästhetisch-ethisch-metaphysischen Sphäre. Soviel 
über den formalen wissenschaftlichen Charakter der Sprangerschen Kritik. 

Das Inhaltliche seiner Kritik, seiner Einstellung zur Psychoanalyse bezieht 
sich im wesentlichen auf zwei Punkte: auf die übergeordneten, aus dem 
objektiven Geist deutbaren Zusammenhänge und auf den Zusammenhang 
von Erotik und Sexualität. Aus dem Zusammenhang dieser Erörterungen 
haben wir eben eine zentrale Stelle besprochen, wir behandeln daher 
diesen Differenzpunkt zuerst. 

Spranger unterscheidet „für die Zwecke meiner Psychologie“ Sexualität 
und Erotik. „Daß sexuelle und erotische Erlebnisse in sehr naher Ver¬ 
bindung miteinander stehen, wird von mir nicht im mindesten geleugnet. 
Wohl aber behaupte ich, daß sie in ihrer gesamten Erlebnisfärbung höchst 
verschieden sind, ja daß sie verschiedenen Schichten der Seele angehören“ (81). 
Bei dieser Unterscheidung befindet sich Spranger in voller Übereinstimmung 
mit der Psychoanalyse, denn diese leugnet keineswegs, daß bewußt (bw), 
— und der Begriff des Erlebnisses gehört ganz und gar in die Vorgänge, 
die wir dem System TV-Bw , Wahrnehmung - Bewußtsein, einordnen — 
zwischen sexuellen und erotischen Erlebnissen unterschieden werden kann. 
Für die Zwecke der Pubertätspsychologie ist die scharfe Hervorhebung dieser 
Unterschiede sehr nützlich, ja notwendig. Zum Begriff der Sexualität be¬ 
merkt Spranger: „Hier zögere ich nicht, die weiteste Bestimmung zugrunde 
zu legen, die überhaupt versucht worden ist. Danach wären sexuelle Er¬ 
regungen und Erlebnisse nicht nur solche, die realiter oder in der Phan¬ 
tasie auf körperliche Berührung und Vereinigung mit Gegenständen 
geschlechtlichen Begehrens gehen, sondern auch alle, die mit einer sinn¬ 
lichen Lusterregung von dem Grundcharakter geschlechtlicher Lust (libido) 
in bewußter Verbindung stehen. Es würde gewiß zu weit gehen, wenn 
man sagte, alles sei sexuell, worin Körperliches als Lustquelle erscheint 
Aber soviel soll zugegeben werden, daß die seelische Gefühls- und Trieb¬ 
struktur, die durch die qualitativ eigentümliche, sinnliche Lustform der 
libido gekennzeichnet ist, über den ihr unmittelbar dienenden physio¬ 
logischen Apparat weit hinaus- und in andere psychologische Teilstrukturen 
des Individuums hinübergreifen kann“ (81). Die „weiteste Bestimmung 
des Begriffes Sexualität“ ist dies nun gewiß nicht. Denn Freud hat eine 
weitere versucht, indem er die Sprangerschen Begriffe Sexualität und Erotik 
unter seinem Begriff des Sexualtriebes eint. Aber die Sprangersche Be- 


































































Stimmung ist unter dem Einfluß der Psychoanalyse entstanden. Sie unter¬ 
scheidet sich von der Freudschen nicht allein in der Enge es egri es, 
sondern vor allem in der Begriffsbildung. Für Spanger ist das Erlebnis, 
der Vorgang im System Bw, das Kriterium, für Freud die Ontogenese 
lieter Erlebnisse, also die Einbeziehung der ^-Prozesse. Bei Spränget 
handelt es sich um Erlebnisse, Gefühle, bei Freud um die Triebe, von 
denen diese Erlebnisse und Gefühle in irgendeiner Weise bestimmt sind. 
Daher i*t Sprangers „libido“ etwas anderes als Freuds Libido: Libido ist die 
dem Sexualtrieb zugeordnete psychische Energie (oder weniger präzis der 
.libido“ ist die geschlechtliche Lust. Sexuelle Phänomene wären 
nach Spranger in der Freudschen Terminologie eine Anzahl jener libidi- 
„ösen Prozesse und Erlebnisse, die sich auf erogene Zonen beziehen und 
den Charakter der geschlechtlichen Lust haben. Diese halbe Anpassung an 
die i reudsche Auffassung hätte sich zu bewähren — in der Deutung kon¬ 
kreter Tatsachen. Von vornherein erscheint diese Abgrenzung sehr will¬ 
kürlich. Denn, um eine Schwierigkeit für viele zu nennen: was ist mit 
Erregungen und Erlebnissen an einer erogenen Zone, z. B. an der genitalen 
die nicht geschlechtliche Lust, sondern Unlust nach sich führen, oder Angst, 
oder die durch keinen bewußten Prozeß repräsentiert sind? Die Freudsche 
Erweiterung des Begriffes der Sexualität war gewagt, aber ihr Umfang 
wurde durch die Notwendigkeit bestimmt, das empirische Material, das 
die Erforschung des Unbewußten bot, einheitlich zu verstehen. Die ängst¬ 
liche Erweiterung, die Spranger vornimmt, erhält ihren Umfang aus der 
Nötigung, den Freudschen Begriff zu akzeptieren, und dennoch die Scheidung 
/wischen Sexualität und Erotik aufrecht zu erhalten, vielleicht nur, weil 


iü gewissen Persönlichkeiten der Unterschied im Erleben von Sexualität 
und Erotik sehr vordringlich ist, vielleicht sprechen noch andere Motive 
mit. Jedenfalls ist der Begriff unsicher und es ist wenig einleuchtend, 
was er zum Verständnis dienen soll, da er die Formulierung einer häufigen 
Erlebnisweise ist, nichts mehr aber. Dies wird deutlich, wenn wir Sprangers 
Gegensatzbegriff zur Sexualität betrachten: 

„Von durchaus abweichender Erlebnisfärbung ist Erotik. Sagen wir 
zunächst kurz und vorläufig: sie ist eine ganz überwiegend seelische Form 
der Liebe, und zwar von ästhetischem Grundcharakter . . . Ästhetische Liebe 
oder Erotik ist also ursprünglich Einfühlung in und Einswerden mit einer 
anderen Seele, vermittelt durch ihre anschauliche Darstellung in der äußeren 
leiblichen Erscheinung . . . Mag dies metaphysisch oder mystisch erscheinen: 
Tatsächlich ,sehen wir alle den Leib als beseelt auch noch in späteren 














3 4 


Siegfried Bernfeld 


Jahren. Es ist das eine nicht weiter ableitbare Grundform des Erlebnisses . . . 
Wir greifen in das tiefste Weltgeheimnis hinein, indem wir dieses Werden 
eines konkreten und plastischen Idealbildes aus der Befruchtung der 
Phantasie in der (zunächst durch das Leibsymbol) vermittelten, rein 
schauenden Verschmelzung zweier Seelen aufdecken. Ohne diese geistige 
Seite scheint auch das leibliche Zeugen, diese vis plastica der Natur nicht 
verständlich“ (81-83). Wo hier die Psychologie versteckt sein mag, ist 
schwer zu sagen. Spranger will Erotik von Sexualität scheiden. Diese wurde, 
angreifbar zwar, aber doch deutlich als Begriff bestimmt. Für jene bleibt 
aber bisher nichts anderes als jener Satz oben „kurz und vorläufig“. Dann 
verliert sich die Psychologie in das weite Feld der Metaphysik, von dem 
aus sich sehr apodiktische psychologische Lehrsätze ergeben: „Es ist eine 
nicht weiter ableitbare Grundform des Erlebens.“ Noch kann man hoffen, 
die apodiktischen Lehrsätze werden in späterem Zusammenhang gewiß ihre 
psychologische Begründung erfahren, wir studieren ja einen Autor, der 
Psychologica psychologice als seinen methodischen Wahlspruch bekennt. 
Und Spranger fährt auch fort: 

„Schon dieser metaphysische Ausblick deutet darauf hin“ (Spranger weiß 
also, daß dies Obige nicht Psychologie ist; noch dürfen wir auf sie hoffen), 
„daß sich der zentralste Sinn der Natur erst erfüllen wird, wenn beides, 
die Seelenverschmelzung und die körperliche Vereinigung, sich zum Ge¬ 
heimnis der Erzeugung eines neuen Lebens verbindet. Aber damit ist nicht 
gesagt, daß jene seelische Erzeugung des Ideals sinnlos sei, wenn keine 
leibliche Zeugung damit verbunden ist. Für unsere Jugendpsychologie aber 
ist es die wichtigste Feststellung, daß die Natur in den Entwicklungsjahren 
beide Seiten für das Erlebnis noch getrennt hält“ (daß sie getrennt sind, 
bei einem häufigen Pubertätstypus, ist allerdings eine wichtige und richtige 
Feststellung, daß es aber die Natur ist, die sich dabei bemühen muß, ist 
eine Erschleichung, die im psychologischen Zusammenhang uninteressant 
wäre, wenn nicht aus solchen eingeschobenen metaphysischen Behauptungen 
psychologische Schlußfolgerungen gezogen würden) „und daß es Reifsein 
bedeutet, wenn beide in voller Reinheit“ (psychologisch ist Reifsein von 
Reinheit völlig unabhängig) „zu einem großen Erlebnis und Zeugungsakt 
zusammenzuklingen vermag. In der Seele des Jugendlichen ist Erotik und 
Sexualität für das Bewußtsein zunächst schroff getrennt. Das ist der wesent¬ 
lichste Satz, der in diesem Zusammenhang zu sagen ist“. Ein Satz, mit 
dem man sich völlig identifizieren kann, wenn er auch in dieser Schärfe 
nur für einen Pubertätstypus gilt. Aber ein Satz der deskriptiven Pubertäts- 






























































pivchologie. Mit einem Aufwand von Metaphysik umgeben, wie ihn, v,ei- 
2S nfcht einmal Imme, unbegabter und primitiver, em iugendhcher 
des geschilderten Typus anwenden würde, um zu erweisen, a seine 
fühle zu seiner „Geliebten“ rein erotischer, völlig unsexueller Natur seien. 
E» Verhalten, das diesem Jugendlichen wohl ansteht, das aber vom Psycho 

... durch ein Suchen nach Verständnis der Erlebnisweise des Jugendlichen 

abgelöst werden müßte. Dieser Aufgabe erinnert sich auch Spranger an dieser 
Stelle und fährt fort: „In dem Abschnitt über die Methode unserer Psyc o- 
logie ist .msgeführt. daß sich Beschreibung des Bewußtseinsverlaufs und A - 
leitung aus Sinnzusammenhängen nicht immer decken. Seelische Erlebnis¬ 
tonen können unterbewußt in tiefer Sinnverbindung stehen^ während sie 
im Bewußtsein nichts voneinander wissen oder wissen wollen.“ (Wir atmen 
u ,f. Das von der unableitbaren Grundform des Erlebens war also bloß die 
Beschreibung des bewußten Erlebens. Dem Jugendlichen — und auch 
manchem Erwachsenen — erscheint die Erotik als unableitbare Grundform, 


der Psychologe ist daran nicht gebunden, er darf versuchen, aus anderen 
Annahmen diese Erlebnisweise zu verstehen? Die Antwort wird uns freilich 
enttäuschen. Sie wird lauten: Nein. Doch vorläufig darf man noch hoffen.) 


„Das gilt von dem Verhältnis zwischen Erotik und Sexualität in der jungen 
Seele. Beide Erlebniskreise können erweckt sein. Aber der Gegenstand des 
Eros ist ein ganz anderer als der der sexuellen Erregung. Und auch zeitlich 
treffen sie noch nicht zusammen. Ohne Zweifel hat dies Auseinanderfallen 
seihst wieder seinen tiefen Entwicklungssinn. Wir können diesen Befund 
(welchen?) „auch so zugespitzt ausdrücken: In diesem Alter würde die Sexuali¬ 
sierung des Erotischen die ideale Liebe zerstören; umgekehrt würde die volle 
Krntisierung des Sexuellen auch nicht gelingen“. (Was offenbar der „tiefe 
Ent wicklungssinn“ ist. Was eine Zeile vorher noch Problem war, avancierte 
still zum „Befund“ und wird sogleich:) „Ein Beweis, daß gerade die sexuelle 
Seite hier noch nicht zur vollen Reife gekommen ist“ (84). Dies ist die 
strenge Methode, der gegenüber die Psychoanalyse freilich ein recht primi¬ 
tives Verfahren, aber immerhin, scheint mir, ein wissenschaftliches ist. „Daß 
in der individuellen Seelentotalität nichts völlig beziehungslos nebeneinander 
stehe, ist schon methodisches Postulat (ein Satz a priori ). Aber wie es im 
Zusammenhang stehe, bedarf näherer Untersuchung. Und mit ihr geht die 
Deskription des Seelischen unvermeidlich in eine Seelentheorie über“ (128). 
Und da ja die Psychoanalyse die einzige kompetente Seelentheorie ist, über 
die die Psychologie derzeit verfügt, geht Sprangers Erörterung unmittelbar 
in jene Polemik gegen die Freudsche Lehre über, von deren formalen Quali- 















täten wir oben sprachen. Die Psychoanalyse kennt nun den Erlebniskreis 
der Erotik, wie ihn Spranger meint, wenn auch nicht definiert (denn: „Es 
ist eine unangenehme Aufgabe, den Eros zu .definieren 1 “) (85). Sie versteht 
die Erotik als zielabgelenkte Strebungen des Sexualtriebes; sie kommt zu 
dieser Anschauung aus der tausendfach bestätigten Erfahrung, daß onto- 
genetisch die im engeren Sinn, dem Sprangerschen, sexuellen Regungen 
und Erlebnisse den erotischen zeitlich vorausgehen, und die erotischen, 
im Sprangerschen Sinne, sich aus den sexuellen unter den verdrängenden 
und zielablenkenden Einflüssen erst der erziehenden Erwachsenen, dann 
des eigenen Ichs, das sich mit den Geboten und Verboten der Umwelt identi¬ 
fizierte, allmählich sondern. Diese Sonderung wird am schärfsten in gewissen 
Formen der Pubertät und wird mit dem Ende der Pubertät je nach dem 
Typus mehr oder weniger wieder aufgehoben. Die Einzelheiten dieser Auf¬ 
fassung gehören in die Theorie von der Pubertät, die in dieser Arbeit nicht 
positiv behandelt werden soll. Diese Deutung des „im Erleben selbst Un¬ 
verbundenen O24) geschieht durch „Aufdeckung unterbewußter Sinn¬ 
zusammenhänge“, was eines der beiden von Spranger gestatteten Verfahren 
ist, das andere bestünde im „Eingehen auf die übergreifenden Zusammen¬ 
hänge^ die der objektiven Geistigkeit des Kultur- oder Naturlebens ange¬ 
boren“ (128). Nun soll keineswegs bestritten werden, daß auch eine in¬ 
haltlich andere Deutung durch Eingehen auf unterbewußte Zusammenhänge 
möglich wäre, als die Psychoanalyse vorschlägt. Aber Spranger gibt sie jeden¬ 
falls nicht. 

Ihm gefällt diese Oberflächenpsychologie und ihr Versuch, den Zu¬ 
sammenhang zwischen dem sexuellen und erotischen Erlebniskreis ver¬ 
ständlich zu machen, nicht. Die „unterbewußte“ Deutung Freuds lehnt 
er ab. Doch muß er sich immer wieder ihr peinlich nahe halten. 

„. . . (Erotik und Sexualität) sind ihrem Wesen nach una eademque res 
erlebt von zwei verschiedenen Seiten oder unter zwei verschiedenen At¬ 
tributen. Im erotischen Erleben erfüllt sich erst der Sinn der Sexualität. 
Aber das ist ein Bild. Und ein unzulängliches Bild.“ Aus dem Metaphy¬ 
sischen ins Psychologische übersetzt heißt es wohl: Sexualität und Erotik 
sind zwei verschiedene Erlebnisweisen für dasselbe Ding, (res). Diese 
Sonderung in zwei streng auseinandergehaltene Erlebnisweisen ist Ergebnis 
der Entwicklung, das im allgemeinen erst in der Pubertät sich vollendet, 
die primitiven Äußerungen der eadem res in der frühen Kindheit zeigen 
prävalierend die sexuelle Komponente, so daß man in gewissem Sinn jene 
res auch Sexualität nennen könnte. In dieser Erwartung stärkt uns der 






























































nächste Satz: -Denn entwicklungspsychologisch betrachtet, ja überhaupt 
psychologisch betrachtet, vermag beides doch auseinanderzutreten. Es rst 

. be Sa< he, die nach dem Auseinandertreten als zwei ganz versc ie 

Sechen erscheint. „Dann haben wir auf der einen Seite die reine Eroti , 
die nicht nur nichts weiß vom Sexuellen, sondern es sich ängstlich lern 
hat“, und wir ahnen, daß eines der besten Mittel, diese ängstlich erwünschte 
baltung zu erreichen, wäre, die Erotik zu einer weiter nicht ableitbaren 
Grundform des Erlebens zu erheben oder wenigstens zu erklären. Aber an 
d «M psychologischen Deutung in der Sphäre der Auffindung un- 
r Sinaxatamwiftn hänge folgt ein schöner Ausdruck: „In unen 
heu und Schamhaftigkeit, weil diese Form und Stufe der Ver¬ 
einigung den höchsten Sinn nicht erfüllen würde.“ Ist dies nun Ver- 
ständlichmac hung auf der Ebene übergeordneter Sinnzusammenhänge oder 
.•in Bild aus der metaphysischen Sphäre? Wir bleiben im unklaren, denn 
drr weitere Verlauf des Absatzes schillert zwischen psychologischer und 
dieser schönen und tiefen Ausdrucksweise. Ich setze ihn ganz hieher wegen 
der Konklusion, die mit „also“ an ihn angeschlossen wird: „Auf dieser 
Stufe finden wir den Jugendlichen. Er fließt über von erotisch zeugenden 
Geisteskräften, aber der Leib ist noch nicht in vollem Sinne mitzeugungs- 
Iähig. —Auf der andern Seite gibt es eine bloße Sexualität, ohne Erotik, 
ohne die Schwungkraft des beseelenden Ideals. Das ist auch ein Natur¬ 
phänomen, aber eine leerlaufende, ihres ausfüllenden Sinnes beraubte 
Sexualität. Der Jugendliche kennt auch auf dieser Seite den unersättlichen 
Trieb, der beiden Erlebniszonen eigen ist; aber solange er noch in einem 
Winkel der Seelentotalität geistig ist, wird ihn diese Sexualität nie be- 
friedigen. Sie zieht ihn in den Kreislauf rein körperlichen Bedürfnisses. 
Sie verurteilt ihn zu einem geteilten Dasein, in dem er nie ganz er selbst 
sein, noch weniger ganz er selbst werden kann. Ahnungen von jenem 
geistigen Gehalt liegen wohl auch noch im sinnlichsten Genuß, aber ver¬ 
hüllt. irreführend und deshalb in Schuld und Reue verstrickend, die immer 
dann auftreten, wenn der Mensch fühlt, daß er nicht ganz ist, was er sein 
könnte und sollte“ (135). 

Mit diesen Sätzen ist ein geistiger Zustand geschildert, in dem sich 
mancher Jugendliche befindet, und sie können einem Jugendlichen, der 
gegen seine sexuellen Erlebnisse und Erregungen vom Erotischen her heftig 
und immer wieder vergeblich ankämpft, sehr viel bedeuten. Er wird sie 
schön, tief, richtig finden, denn er gewinnt an ihnen und ihrem Autor 
eine Stütze im Kampf gegen seine Sinnlichkeit. Wo aber liegt hier ein 













deutender psychologischer Gedanke? Spranger schildert — nach seinerWeise, 
der Weise des Jugendführers — das Phänomen, die Spaltung der Sexualität 
in Zärtlichkeit und Sinnlichkeit, das Freud in einem kurzen Aufsatz als 
Forscher zu deuten versucht. Spranger legt den Akzent auf die Ideologie, 
die aus diesem Zustand folgt. Dies könnte ein dankenswertes Unternehmen 
sein. Wir haben noch nicht genug an phänomenologisch treuer Deskription 
komplizierter psychischer Zustände. Aber er selbst weiß, daß die Deskription 
nicht genügt, er stellt seinem Buch die Aufgabe, ihr die Deutung, wenig¬ 
stens andeutungsweise anzufügen. Diese Deutungen müßten sich von der 
phänomenalen Gegebenheit loslösen, von ihr unabhängig machen, auch 
wenn in ihr eine sehr starke Überzeugung davon mitgegeben ist, daß die 
erlebte Sonderung eine naturhafte, objektive, metaphysische ist. Er selbst 
stellt das Postulat sehr deutlich auf. Er weiß auch: „Metaphysische Aus¬ 
deutungen dienen nur zu einer symbolischen Erläuterung“ (83), können 
also gewiß nicht an Stelle psychologischer Deutungen stehen, sondern 
werden diesen anmerkungsweise, wenn man auf sie aus irgendwelchen 
Gründen schon nicht ganz verzichten kann — an Umfang und Gewicht 
untergeordnet, bloß beizugeben sein; er weiß ferner: „Übrigens treibt diese 
Erlebnisform selbst in solche Weltgedichte hinüber. Eines der größten, die 
Platonische Philosophie, beruht zu einem erheblichen Teil auf erotischem 
Erleben (85). Trotzdem gibt er seinem Weltgedicht unter dem Titel einer 
Psychologie des Jugendalters, hinter einem ersten Abschnitt über Aufgabe 
und Methode einen geradezu verschwenderischen Raum. Man könnte dies 
noch hinnehmen, wenn wenigstens ein Wort über den „Zusammenhang 
von Erotik und Sexualität“ sich aus den Folgen des eigenen erotischen 
Erlebens befreien würde, also nicht Weltgedicht, Seelengemälde, Philosophie, 
sondern Wissenschaft wäre. Es fehlt. Denn alle auf den abschließenden 
Absatz aufgesparten Hoffnungen werden zerstört. Er knüpft an das oben 
Zitierte an und lautet: 

„Das Erotische ist also“ —Also! aus dem Voranstehenden gefolgert! — 
„keine Funktion des Sexuellen, das Sexuelle keine Funktion des Erotischen, 
sondern beide gehören dem Entwicklungssinn nach wesenhaft in einer 
Erlebnistotalität zusammen. Sie differenzieren sich beide aus einem Ein¬ 
heitsgrunde heraus. Sie gehen eine Zeitlang getrennt, um sich im Höhe¬ 
punkt des aufgeblühten Lebens wieder zu vereinen. Anders kann man 
ihre Bezogenheit aufeinander nicht verstehen.“ Ich verstehe überhaupt 
nicht mehr, Einheitsgrund? Das heißt: sie waren vor der Trennung ver¬ 
eint. Als was? Wie nennt man den vor der Pubertät bestehenden Zustand 






























































Die heutige Psychologie der Puhertgt 


29 


Krotik und Sexualität gemeinsam ihre Befriedigung suchen, am 


sprünglichen Objekt? Wie nennt man 


den nach der Pubertät bestehenden 


Zuitall d, wo sie wieder vereint sind? Was bedeuten diese Formulierungen, 
die psychologisch so wenig besagen, anderes, als einen Schimmer von n 
sicht, der schnell verdunkelt wird, im Sinne der Pubertätserlebnisse, die 
in unendlicher Scheu und Schamhaftigkeit erklären, mit der Sexualität 
weder verwandt noch identisch zu sein und doch als Differenzprodukte 
Kiliheitsgrundes wie Geschwister verwandt sind? Das ist Psychologie 
der Pubertät, die dem Pubertätserleben gerecht werden will, gerecht in 
, 1 er Deskription, was ihre Pflicht ist, gerecht aber auch in Wertung, 
Deutung und Formulierung, also Pubertätspsychologie. Sie mag der Jugend 
gefallen, soweit sie nicht Erkenntnisse über sich selbst sucht, sondern Be¬ 
stätigung. Rausch. Urteil, Schönheit, Religion. Dem Psychologen ist sie 
langweilig oder Objekt der Deutung. 

Eingangs seiner Erörterung hat Spranger von Sexualität und Erotik 
erklärt: „Wohl behaupte ich, daß sie in ihrer gesamten Erlebnisfärbung 
höchst verschieden sind, ja daß sie verschiedenen Schichten der Seele an- 
gehören“ (81). Das erstere ist unbestritten, das zweite hätte interessiert zu 
hören. Spranger kam nicht weiter darauf zu sprechen. Wir sind aus der 
Psychoanalyse gewohnt, Worte wie „Schichten der Seele ernst zu nehmen. 
Bei Spranger ist das eben eine facon de -parier. Es ist eine Frage des Stils, 
ob er Schichte, Sphäre oder sonst was sagt, er wollte damit nur sagen, 
was er schon im ersten Satz sagte, daß Sexualität und Erotik nicht das¬ 
selbe sind. Nun sind sie ja, wie wir gesehen haben, doch dasselbe, eadem 
res. und sind es doch nicht. Aber wer wird sich hier in Tifteleien über 
Worte verlieren. Es kommt ja darauf an, „mit einem kühnen Griff die 
Totalität des Seelenlebens zu packen“, und die Methode ist eine schöne 
Sache, die ausführlich in einem eigenen Abschnitt erledigt wird, um 
dann nicht mehr verwendet zu werden. Im Text wird in beliebiger Ab¬ 
wechslung Deskription und Deutung, mit Bildern und metaphysischen 
Ausblicken verknüpft, geboten. Termini verschwimmen, rauschendes Blut 
ist so gut wie Sexualität oder besser noch. Und mit „also“ werden 
schiefe Bilder, die nur Symbolwert und Erläuterungsfunktion haben, zu 
abschließenden Forschungsresultaten erhoben. Versucht aber ein Forscher, 
freilich ohne der Methode ein Einleitungskapitel zu widmen, dafür aber 
in jeder Zeile von elf starken Bänden sorgfältig und streng um sie be¬ 
müht, an Stelle solchen anmutigen Chaos umschriebene Begriffe zu ver¬ 
wenden, einen Sexualtrieb anzunehmen, und zu versuchen, den Wegen 













3o 


Siegfried Bernfeld 


sorgfältig nachzugehen, auf denen die mannigfaltigen Äußerungen der 
eadem res, rauschendes Blut und das Ewig-Weibliche, sich als Wandlungen 
und Äußerungen eines, zweier Grundtriebe nach einer kleinen Zahl, 
einzeln untersuchter, beschriebener, scharf formulierter und eindeutig be¬ 
nannter Gesetze zu verstehen, so ist er (Freud) „ein Verwandlungskünstler 
ersten Ranges. Denn die Umsetzungen und Ersatzauswege, die eine Analyse 
findet (die also da sind, es wird nicht bestritten, daß sie gefunden sind), 
„lassen schließlich das Harmloseste“ (z. B. das Ideal des Ewig-Weiblichen) 
„als irgendwie verkappte sexuelle Wünsche erscheinen“. Was ja dem Harm¬ 
losen nichts schadet, weil die sexuellen Wünsche selbst dem Psychologen 
recht harmlose „Naturphänomene“ sein dürfen. Die Chemiker sind eben¬ 
solche Verwandlungskünstler; aus einer Anzahl von Elementen bauen sie 
die Welt auf, und das berauschendste Parfüm erweist sich als verkappte 
Substanz sehr verdächtiger Niedrigkeit. Da ist Spranger ein anderer Ver¬ 
wandlungskünstler, unter seiner tiefen Feder wird das Niedrigste hoch und 
total. „Die Motive für diese eigenartige theoretische Verwirrung“, nämlich 
die Freudsche, „sind leicht zu erkennen. Ist auch der physiologische Ma¬ 
terialismus bei Freud überwunden: es bleibt ein psychologischer Materialis¬ 
mus bestehen“ (151). In Sprangers Mund ist diese Feststellung ein Vorwurf. 
Aber es fehlt der Erweis, daß nicht gerade diese Betrachtungsweise die 
richtige ist. Dieser Erweis reduziert sich auf die nicht sehr tiefe Bemerkung: 
„Die stillschweigende metaphysische Voraussetzung ist diese: das Vorhanden¬ 
sein des sexuellen Triebes ist selbstverständlich; alle anderen müssen erst 
verständlich gemacht werden.“ Allerdings ist dies die metaphysische Vor¬ 
aussetzung der Psychoanalyse. Nur ist der Psychoanalyse das Wort Trieb 
ernsthafter als Spranger. Das Vorhandensein der Triebe ist ihr in gewissem 
Sinne selbstverständlich. Sie kennt deren zwei, die Sexualtriebe und die - 
wie Spranger so richtig findet nicht glücklich als solche bezeichneten — 
Ichtnebe; (später Eros und Todestriebe). Was sie an ihnen „selbstverständlich“ 
findet, hat sie umschrieben. Nicht: „alle anderen Triebe müssen aus ihnen 
verständlich gemacht werden“, sondern gewisse, nicht ursprüngliche Ver- 
altungsweisen müssen aus den ursprünglichen, den „selbstverständlichen“ 
verstanden werden. Und tatsächlich ist das komplizierte Sexual- und Eros¬ 
verhalten, das^ Spranger an den Jugendlichen so sehr liebt, daß er es gegen 
die „Angriffe“ der Psychoanalyse, die es als „Sublimierung“ erklärt, ver¬ 
teidigt, kein ursprüngliches, kein selbstverständliches. Sondern es ist zu er¬ 
klären als eines, das unter bestimmten Gegebenheiten sich aus dem ur¬ 
sprünglichen entwickelt. „Diesem Zwecke sollen nun die seltsamen Energie- 





































































Die heutige Psychologie der Pubertät_3i 

Formationen dienen, von denen wir gehört haben.“ Die Energietrans¬ 
fonnationen wurden hei dem Bemühen entdeckt, höchst seltsame psyc isc e 
Traum, Neurose, Perversion, den „Menschen mit seinem 
Widerspruch 4 zu enträtseln. Die Seltsamkeit der Tatbestände ist wieder 
kein Vorwurf, der die Theorie trifft, sondern ein Faktum der Erlebnisweise 
jener Jugendlichen, die unter erotischen Erlebnissen Weltgedichte kom¬ 
ponieren und dabei vergessen, daß eine wissenschaftliche Theorie immer 
-■rglichen mit den ästhetisch oder ethisch erlebten Objekten 
1 irie W ie seltsam ist doch die Theorie, eine rote blühende Rose und 
stinkende Algen besäßen dieselbe Substanz und Zellenform. Weniger seltsam, 
mehr tückisch ist die fortsetzende Bemerkung: „Der Hörer aber soll dabei 
diu Beruhigung empfinden, daß die sogenannten höheren Triebe als ,bloße 
Sublimierungen doch auf die primären zurückgeführt werden können. Da 
sind die Sprangerschen Hörer freilich andere Kerle. Sie empfinden Be- 
ruhigtmg. wenn man ihnen klarmacht, und zu diesem Zwecke vorher die 
Psychoanalyse verballhornte, daß der Sinn des körperlichen Zeugungsaktes 
sich im idealistischen Erleben erfülle. Aber daß es einen Forscher geben 
könnte, der weder die Beruhigung des Zynismus noch der Ethik seiner 
Hörer beabsichtigt, wenn er ihnen die Befunde seiner Denkarbeit vorlegt, 
s< heim Spranger unfaßbar, und er wilf nicht begreifen, daß Sublimierung 
ein dynamischer Begriff der Seelentheorie ist, während das Wörtchen „bloß“, 
das er in Anführungszeichen setzt, weil es kein Zitat aus Freud ist, eine 
Bewertung ist. und zwar die Wertung, die ein beleidigter Ethiker den rein 
ps\( hoiugischen Feststellungen und Annahmen unterschieben muß, soll er 
eine Möglichkeit haben, entgegen seiner intellektuellen Einsicht, die Trennung 
/wischen Erotik und Sexualität, die ein Postulat seiner inneren Situation 
ist, ah Postulat der Ethik zuerst, als Befund der Psychologie sodann (durch 
die AIso-Methode) festzuhalten. 

So sehr aus allem Gesagten deutlich wurde, wie Sprangers Auffassungen 
den Boden psychologischer Betrachtung an beliebiger Stelle, je nach den 
religiösen, ethischen, metaphysischen Bedürfnissen, die Befriedigung ver¬ 
langen, fiir eine Weile verlassen, um an beliebiger anderer Stelle zu ihm 
zurückzukehren, hieße es doch, ihm und seiner Betrachtungsweise Unrecht 
tun, wollte man sich nicht vor Augen führen, daß er sich die Berechtigung 
zu solchem Verhalten, aus einer methodischen Erörterung heraus zu geben 
sei sucht. Sein Prinzip der Deutung aus übergeordneten Sinnzusammen¬ 
hängen ermöglicht solche wie uns scheint — wenig wissenschaftliche 
Abschweifungen, und ermöglicht zugleich, sie mit einem Anschein von 
















3 a 


Siegfried Bernfeld 


Wissenschaftlichkeit zu unternehmen. Diesen Anschein gewinnt das Ver¬ 
fahren, weil es ein wirkliches Problem der Psychologie angreift, und zu¬ 
dem eines, an dem die Psychologie — auch die Psychoanalyse — zu rasch 
vorbeigegangen ist. So daß von ihm aus eine Kritik der Psychologie möglich 
ist, und jede Lösung wünschenswert erscheint. 

Spranger sieht — mit der Psychoanalyse — keinen Weg, die bewußten 
psychischen Phänomene aus sich heraus zu verstehen; er lehnt — eben¬ 
falls eines Sinnes mit der Psychoanalyse — die Möglichkeit ab, die psychi¬ 
schen Erscheinungen aus physiologischen Prozessen irgend einer Art zu 
verstehen. Freud hat in dieser Situation den Versuch gemacht, die Deutung 
der bewußten Erscheinungen aus dem Unbewußten zu geben und damit 
eigentlich erst Entwicklungspsychologie konstituiert, denn das Unbewußte 
ist das Resultat der individuellen Entwicklung, wie sie unter dem Zusammen¬ 
treffen phylogenetischer Faktoren und eines bestimmten von außen ein¬ 
wirkenden Schicksals wurde. Spranger anerkennt diesen Weg durchaus. Er 
geht ihn selbst unzählbar oft (freilich in jener unmethodischen Weise, nach 
der die Deutung aus dem Unbewußten wie Apergu oder Bild erscheint, 
unverbindlich sein mag, jedenfalls durch nichts begründet ist.) Aber neben 
diesem Weg fordert er einen anderen: „Wichtiger ist, daß die individuelle 
Seelenstruktur selbst eingelagert ist in größere Sinnstrukturen, die vom 
Naturzusammenhang bis in den objektiv geistigen Zusammenhang der 
geschichtlich-gesellschaftlichen Welt hinaufreichen“ (11). „Die Einzelseele 
ist von vorneherein verschlungen in den objektiven Geist . . . Der objektive 
Geist ist eine überindividuelle Struktur, ein überindividueller Sinn- und 
Wirkungszusammenhang . . . , er ist vor jedem einzelnen Individuum und 
bedeutet für jedes einzelne einen Vorgefundenen Komplex von Lebens¬ 
bedingungen und richtunggebenden Faktoren . . . alles objektiv geistige 
Leben ist getragen von der Gesellschaft und historisches Produkt ihrer 
Schicksale. Man kann den Einzelmenschen nur verstehen, wenn man ihn 
überall in die Verflechtung mit einer Gesellschaft hineinstellt, mit der er 
verbunden ist durch Wechselwirkung und Solidarität, durch Empfangen 
und Geben, durch Suggestion und Nachahmung, durch Führen und Geführt¬ 
werden ... Es muß ganz allgemeine und ewige Sinnrichtungen geben, 
wenn besondere zeitliche Ausprägungen der Sinnenzusammenhänge ver¬ 
standen werden sollen. Diese ideenhaften Richtpunkte sind die beiden — 
sich gegenseitig fordernden — 1) der totalen Lebenseinheit, 2) der inneren 
Differenzierung dieser Einheit nach bestimmten Sinnrichtungen, die immer 
erfüllt werden müssen, wenn überhaupt geistiges Leben sein soll. Wo 




























































alle diese gesonderten Sinnrichtungen in der geistigen Lebenseinhert zu- 
JLenueffen, liegen die religiös-ethischen Werte: die rehgrosen Werte 
ausdrückend den höchsten Sinn der Welt; die ethischen Werte 
den höchsten Sinn des personalen Lebens; jene in Beziehung auf dieses 
und diese in Beziehung auf ein geahntes Weltganzes. Sofern sich das geistige 
] e ben an die«» Werthierarchie ewig und überall orientiert und orientieren 
bilden diese Werte in ihrer strukturellen Bezogenheit aufeinander den 
normativen Geist, der — bildlich gesprochen — über dem jeweils ver¬ 
wirklichten objektiv-historischen Geist richtunggebend schwebt (15, 

So wiren wir denn glücklich beim Weltganzen gelandet, — bildlich 
nd wir auszogen, die Wirkungen der Gesellschaft, 
jei’s d • objektiven Geistes, auf die seelische Entwicklung des Indi- 

V iduums zu studieren. Aber gerade dieses bei Spranger — wie es scheint 
„h I.Hk he Enden im All bringt uns in seinem umfangreichen Buch 
le konkrete Kenntnis dieser Beziehung und läßt seine methodische 
Forderung ein piurn desideratum bleiben. Es sei zu wiederholtem Male erklärt: 
ich leugne nicht, daß der Philosoph tiefe Befriedigung aus seinem Denken 
zieht und einem Publikum vermittelt. Ich bin nicht zuständig zu ent- 
scheiden, welchen Rang die Sprangersche Philosophie einnimmt, was an 
ihr originell, was an ihr zukünftig, wie weit sie naheliegende Fort- und 
Einbildung vorhandenen Gutes ist, wie weit sie Gesichtspunkte enthält, 
die bisheriges Philosophieren revolutioniert. Daß sie aber nicht psycholo- 
gis< he Wissenschaft ist, das ist gewiß. Und darum allein schon, weil sie 
sic h um das Weltganze bemüht, weil sie sich und dem Publikum ästhe¬ 
tisch religiöse Befriedigungen gewährt, die sie — wenigstens noch nicht 
bieten Kann, und daher nicht bieten darf. Die Psychologie hat sich lang- 
sam von der Philosophie befreit, sie hat aber kaum einige Jahrzehnte Zeit 
gehabt, noch im Befreiungskampf stehend, ihre eigene Basis zu gewinnen, 
ais sie mit Haut und Haar der Physiologie verfiel. Sie hat eben jetzt 
begonnen, sich dieser neuen Gefangenschaft zu entziehen, sie macht die 
ersten Schritte, frei und selbständig, und schon soll sie tanzen und beten 
können, daß die Zuschauer erschüttert und erbaut sind; und da sie’s nicht 
können kann und darf, soll sie schnell wieder der Philosophie ausgeliefert 
werden. Bildlich gesprochen. 

Die Ursachen dieser theoretischen Verirrung — wie Spranger sagt — 
sind leicht zu verstehen. Die Psychologie, so gut wie jede Wissenschaft, 
braucht ihre eigene Methode, und zwar Forschungsmethode, was nicht ganz 
das gleiche wie „Methode“ aus dem I. Abschnitt Sprangers ist. Da nun 


Imago XIII. 


3 















Siegfried Bernfeld 


einmal eingesehen ist, daß die Psychologie sich im Kreise um sich selbst 
bewegt, wenn sie die bewußten Phänomene aus bewußten erklärt, bedarf es 
einer Methode, die ihr Material schafft, mit dessen Hilfe sie die bewußten 
Phänomene erklärt, versteht, deutet. Dies Material aber können nicht Ge¬ 
danken des Psychologen über seine Erlebnisse, und nicht die bewußten 
Erlebnisse und die Gedanken über die von fremden Objekten sein. Denn 
dies wären wieder Phänomene derselben Kategorie. Also nicht Material 
dieser Art darf es in erster Linie und ausschließlich sein. Anderseits muß 
dies Material empirisch gewonnen und mit den Kriterien wissenschaftlichen 
Denkens und Forschens geprüft sein. Spranger hat keine solche Methode 
der Forschung. Er verwendet gelegentlich so gefundene neue Fakta. Gelegent¬ 
lich und in jeder Beziehung nach Bedarf. Die Psychoanalyse — als For¬ 
schungsinstrument ist solch eine Methode, die Material zur Deutung 
der bewußten Phänomene schafft, sie lehrt neue Fakta kennen. Und darauf 
kommt es nun einmal bei einem wissenschaftlichen Verfahren an. Ob die 
Psychoanalyse die einzige psychologische Lehre ist, die über eine solche 
eigene psychologische Methode verfügt, sei hier nicht entschieden. Jeden¬ 
falls ist ihre Methode am längsten, am mannigfaltigsten im Gebrauch, sie 
ist sorgfältig nach ihren Grenzen und Möglichkeiten geprüft und erwogen. 

Die zweite Stufe ihrer Entwicklung erreicht die Wissenschaft und ebenso 
die Psychologie, wenn sie ihr Material unter dem Gesichtspunkt einiger 
einfacher Annahmen zu ordnen beginnt, die vor allem die Besonderheiten 
des neuen deutenden Materials berücksichtigen, und wenn sie versucht, es 
selbst zu verstehen, zu erklären und zu deuten, indem sie das anfangs 
deutende Material mit Beziehung auf diese Annahmen deutet. Es bildet 
sich eine Theorie. Spranger bietet keine solche Theorie. Die Psychoanalyse 
legt eine Theorie in ihren Annahmen über Natur und Schicksal der Triebe, 
im Begriff der psychischen Energie und ihrer Ökonomik vor. Hier mag 
noch vieles höchst unsicher sein. Es ist ein Anfang, und, soviel ich sehe, 
der einzige Anfang von Belang. 

In dieser Situation der Psychologie als Wissenschaft findet Spranger, daß 
eine Problemstellung übersehen ist, die nach den Einwirkungen oder Wechsel¬ 
beziehungen der Gesellschaft. Er findet, es sei die wichtigste Fragestellung. 
Dies ist sein gutes Recht. Wir überschätzen unseren eigenen Anteil an der 
Umwandlung des objektiven Geistes. Wissenschaftlich wäre, mit irgend¬ 
einer Methode, aber mit einer wissenschaftlichen (siehe oben) und der ihr 
entsprechenden Theorie, die ersten Schritte zur Klärung des neuen Problems 
zu tun. Eine stille und bescheidene, aber eine sehr nützliche Aufgabe. Das 






































































Die heutige Psychologie der Pubertät 


ist nicht Sprangers Verfahren. Und es ist wieder sein unbestrittenes Recht, 
i verfahren, wie er für gut befindet. Wir aber dürfen bei aller Be- 
v lieidenheit — empfinden und sagen, daß er nicht Wissenschaft, nicht 
Psychologie betreibt, sondern Seelengemälde malt; und daß er den Auf- 
I, 1U einer bescheidenen psychologischen Wissenschaft durch verfrühte Totali- 
iitsforderungen, durch unsichere Methodik und durch „tiefe Gedanken 
stört. 


5) Unkenntnis un d KüJi nJieit 

Neben Tumlirz, der untheoretisch verfährt, und Spranger, dessen Theo¬ 
rien gewiß keine psychologischen sind, unternimmt Charlotte Bühler 1 
den -Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät“. Die 
Analyse, die Bühler gibt, ist zwar nicht sehr tiefgehend und die Theorie 
sehr einfach, beinahe dürftig, wenig ausgebaut und in vielen Punkten 
völlig unzureichend, während sie in anderen — nach meiner Meinung — 
sehr beachtenswerte Ansätze zeigt, aber man kann der Bühlerschen Theorie 
nicht vorwerfen, daß sie im wesentlichen außerpsychologischen Bedürfnissen 
dient. Auch Bühler verfällt der Versuchung, an entscheidenden Stellen päd¬ 
agogisch, sogar ethisch zu sein, aber sie versucht eine reinliche Scheidung, 
die ihr freilich nicht gelingt, und die gerade an den Problemen, welche 
die Psychoanalyse aufwirft, scheitert. Darum betrachten wir auch ihr Buch 
von dem Standpunkt aus, welches ihre Stellung zur Freudschen Lehre ist. 
I nd wir stellen vorweg fest: Bühler gehört zu der seltenen Art wissen- 
schaftlicher Schriftsteller, die zwischen der ersten und zweiten Auflage 
'•ines Bm hes neue prinzipielle Gesichtspunkte zu lernen vermögen. Leider 
gehört sie nicht zu der seltensten Gruppe, die imstande ist, dies Neu- 
golernte auch als erlernt zu bekennen. 

Das Literaturverzeichnis der ersten Auflage kennt Freud nicht, immer- 
iiu das .. Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens“. Freilich erhebt sie 
l'.inwände gegen dieses: „Das von Freud veröffentlichte Tagebuch benutze 
ich mit etwas Vorsicht, da mir niemals Ähnliches begegnet ist und es zwar 
merkwürdig gut zu seinen Ideen, aber nur schlecht zu meiner Kenntnis 
des normalen Mädchens in der Entwicklung paßt.“ Solche Vorsicht steht 
der Forscherin gut; sie sollte sie freilich auch dort anwenden, wo es sich 
um Tagebücher junger Mädchen handelt, deren Inhalt merkwürdig gut 

1) Dr. Charlotte Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse 
und Theorie der psychischen Pubertät. Jena 1922. 


















36 


Siegfried Bernfeld 


zu ihren Theorien und schlecht zu den Erfahrungen anderer Forscher paßt. 
Weniger kleidsam ist meines Erachtens für die Forscherin, daß sie sich „da 
vollständig Stern“ (74) und anderen Protestkundgebungen anschließt. Und 
gar nicht muß man, wenn man schon das Bedürfnis fühlt, den Protest 
mit Argumenten zu versehen, eine profunde Unkenntnis der abgelehnten 
Anschauungen decouvrieren, wie Bühler sehr frischweg und harmlos tut: 
„Es gibt Jugendliche, die vor dem Einschlafen, wo ein kurzes Intermezzo 
lebhafter Bilder die Regel ist, von sexuellen Vorstellungen aller Art gepeinigt 
und doch gleichzeitig unwiderstehlich angezogen werden, und zwar wie es 
scheint, unter stärkerem Hervortreten sadistischer und masochistischer Züge. 
Bei den gesunden jungen Menschen sind das vorübergehende Schatten, 
die hei wachem Bewußtsein bedeutungslos geworden sind. Ich vermeide 
absichtlich das Freudsche Wort ,verdrängt 1 . Um eine Verdrängung handelt 
es sich hier meiner Ansicht nach gar nicht“ (und natürlich niemandes An¬ 
sicht nach, am wenigsten Freuds. Er würde hier ganz gewiß das Wort „ver¬ 
drängt“ absichtlich auch vermeiden. Doch scheint es Bühlers Ansicht von 
der Psychoanalyse zu sein, daß sie das Wort „verdrängt“ niemals zu ver¬ 
meiden bereit ist), „sondern es handelt sich um rein periodische Zustände“ 
(einen Ausdruck, den ich vermeiden würde, weil er nichts sagt, am wenigsten 
einen Gegensatz‘zu der Auffassung verdrängt beinhaltet, was ja — fälsch¬ 
lich — Bühler als Freuds Erklärung des Phänomens unterschiebt). „Daß sie 
im kranken und überreizten Bewußtsein überhandnehmen und dann aus 
erwachendem Schuld- und Schamgefühl einen Akt der Verdrängung pro¬ 
vozieren können, bleibt dabei unbestritten.“ (Es bliebe aber noch deutlich 
zu machen, warum das nicht im gesunden Bewußtsein auch der Fall sein 
könnte, und inwieweit nicht das überreizte Bewußtsein in der Pubertät das 
Normale ist.) „Aber was dem Psychiater immerhin alltäglich unter Kranken 
sein mag, ist darum noch längst nicht eine alltägliche normale Erscheinung“ 
(gewiß darum noch längst nicht, aber Freud hat auch nicht behauptet, 
seine Funde gelten darum auch für den Gesunden, weil er sich an sie 
gewöhnt hat). „Hiermit ist gleichzeitig eine Stellungnahme zur Psychoanalyse 
angedeutet. Mag sie immerhin in maßvoller Anwendung eine Methode zur 
Behandlung seelisch Kranker sein“ (was zu entscheiden Bühler, die nicht 
Psychiater ist, auch die Psychoanalyse nicht kennt, nicht befugt ist, wie 
sie wohl selbst anerkennt, aber dann wohl auch nicht befugt ist, durch 
„maßvoll“ das indizierte Quantum von Psychoanalyse zu beurteilen), „als Er¬ 
ziehungsmethode oder Methode zur Analyse Gesunder halte ich sie direkt 
für verhängnisvoll und schließe mich da vollständig Stern und Lindworsky 
























































Die lieutige Psychologie Jer Pubertät 


37 


n - M a g immerhin diese Beurteilung für die Psychoanalyse als Therapie 
und für die psychoanalytischen Erziehungsmethoden gelten, so wäre oc 1 
interessant, auch ein kräftig kleingedrucktes Wörtlein über die Psychoanalyse 
a , s Psychologie zu hören. Dies ist wohl mit angedeutet in den folgenden 
Sätzen: -So wenig das Unbewußte Verdrängungsprodukt zu sein pflegt. 
Es gibt also immerhin ein Unbewußtes und es ist, wenn es das auch nicht 
pflegt, so doch gelegentlich Verdrängungsprodukt, und Frau Buhler druckt 
liier einen sehr schönen Gedanken in recht unzulänglicher Form aus, denn 
das Unbewußte ist tatsächlich bei Freud mit dem Verdrängten nicht identi 
fixiert; und der näheren Überlegung der Beziehung beider hat Freud eine 
hübsche Anzahl von Sätzen gewidmet, und kommt nicht zu so einseitigen 
Anschauungen wie Bühler im folgenden Einschaltesatz: „— im gesunden 
Leben ist es meistens das Vorbewußte, Instinktive, aus dem die gefühls¬ 
sichersten Wertungen hervorgehen und in dem das Schaffen seine unerschöpf¬ 
lichen Quellen hat — so wenig kann eine Bewußtwerdung zweckmäßig 
sein. Sie bedeutet meist nur eine Verflachung des Erlebens und kann in¬ 
sofern ,Affektheilung 1 sein.“ So wenig diese Schlüsse und Antithesen logisch 
sind, so wenig haben sie mit der Psychoanalyse als Psychologie zu tun, sondern 
noch immer mit ihr als Therapie, und noch weniger Kenntnis verraten sie, 
als eben durch die Lektüre der gegnerischen Schriften und heute bereits 
aus populärer Literatur zu erfahren ist, und ebensowenig sollte man sich 
in — immerhin maßvolle — Polemiken einlassen, wenn man Unbewußtes, 
\ urbcwußtes. Verdrängtes nicht voneinander zu scheiden vermag. Die zwei 
noch übrigen Erwähnungen der Psychoanalyse vermögen an diesem Ein¬ 
druck. daß die Verfasserin über eine Lehre urteilt, von der sie nicht 
mehr erfaßt hat als den populären Sinn eines populär gewordenen Schlag¬ 
waldes (Verdrängung), nichts zu ändern; er wird durch sie nur verstärkt. 
>u bringt S. 3 bereits die gründliche Erledigung der Psychoanalyse, lautend: 
„Von erfahrenen Ärzten wird versichert, daß die Jugendlichen der Kultur¬ 
preise offenbar zwei Welten bilden: getrennt und unmittelbar neben den 
kokettierenden, sexuell eingeweihten und sexuell bedürftigen gibt es zu¬ 
versichtlich Jugendliche, die in ihrer ganzen Pubertät niemals vom Sexual¬ 
leben Kenntnis erhalten, niemals sich damit befaßten und nur alle jene 
anderen Übergangserscheinungen erlebten, die man heute vielfach als Pro¬ 
dukt verdrängter Sexualität auffassen will. Dieser Deutung kann ich nach 
bisherigen Kenntnissen nicht beipflichten. Vielmehr gibt es zwei durchaus 
normale Bedingungen sexualferner Pubertät: einmal geringere Trieb¬ 
stärke, infolge deren die Sexualität sich überhaupt nicht aktiv meldet, 













58 


Siegfried Bernfeld 


bis sie zu einem durchaus normalen Dasein geweckt wird, sodann lang¬ 
same Reifung, die ja bei allen Funktionen als etwas Normales bekannt 
ist.“ Man muß schon ungewöhnlich wenig von der Psychoanalyse wissen, 
um den Mut zu finden, so völlig windschiefe Bemerkungen über sie zu 
machen. Denn was mag die geringe Triebstärke und die langsame Reifung 
mit der Verdrängungslehre zu tun haben? Wenn nicht diese beiden Fakten 
das Resultat von Verdrängungen sind. Aber Bühler hat die Vorstellung, 
daß die Psychoanalyse eine Schülerarbeit ist; daß Freud niemals eingefallen 
ist, geringe Triebkräfte und langsame Reifung könnten zu dem gleichen 
Resultat führen, wie Verdrängungen, und es genüge, irgendeinen Einfall 
zu produzieren, um die Psychoanalyse zu erledigen. „Als ein Beispiel solcher 
vollkommener Unberührtheit berichte ich hier anmerkungsweise den Brief 
einer sechzehnjährigen Fortbildungsschülerin . . fügt hier Bühler eine 
lange Anmerkung an, die sie in der zweiten Auflage strich, da sie selbst 
erkannt hat, daß ihr Begriff von Unberührtheit von der Psychoanalyse be¬ 
stritten wird, oder daß wahrhaftig dieser Brief kein Beweis von Unberührtheit 
ist. Und den wir daher in seiner völligen, komischen Deplaciertheit nicht 
erörtern wollen. 

Die zweite Auflage ist in jeder Hinsicht verändert, bereichert und tat¬ 
sächlich beträchtlich verbessert. Auch in bezug auf die Stellungnahme zur 
Psychoanalyse. Die ablehnende Einstellung zum „Tagebuch eines halb¬ 
wüchsigen Mädchens“ wird noch verschärft durch eine Begründung der 
Unglaubwürdigkeit. Der „kühnen Vermutung“, es sei erfunden, schließt 
sich Bühler nicht an, „riskiere aber zu behaupten, daß die darin geschilderte 
Entwicklung schwerlich normal und als Quelle kaum zu verwerten ist“ (47). 
Diese Behauptung ist gar nicht riskiert, denn unnormal kann man natür¬ 
lich ohne weiteres die Verfasserin des „Tagebuches“ nennen. Die Frage 
bliebe offen, ob solches unnormales Verhalten nicht recht häufig ist, was 
nach meinen zufälligen Erfahrungen z. B. unzweifelhaft ist, und wie es 
zu verstehen ist. Ich halte das Tagebuch für ein Dokument jugendlichen 
Seelenlebens, ebenso wie die von Bühler herausgegebenen Tagebücher. Ich 
habe schon 1913 die Herausgabe solcher Dokumente gefordert und bin der 
Überzeugung, daß jedes Tagebuch, ungekürzt und treu publiziert, als Quelle 
zu werten ist. 

Freilich ist weder das im Psychoanalytischen Verlag erschienene, noch 
sind die bei Fischer von Bühler publizierten Tagebücher in dem Sinne 
Dokumente, den Bühler für ihre eigenen Publikationen annimmt. Tage¬ 
bücher lugendlicher sind keine Quellen im Sinne historischer Quellen: 

























































, , es kommt bei ihnen ganz und gar nicht auf die Glaubwürdigkeit 

d r Verfasser an. Und man kann sie nicht als Zeugen für Tatbestan e 
führen «der nur mit kritischer, methodischer Vorsicht, die in gleicher 
U eise gegenüber den glaubwürdigen Verfassern und Fakten wie gegenüber 
den unglaubwürdigen anzuwenden ist. Tagebücher sind durch bewu te un 
unbewußte Tendenzen entstellte Darstellungen, genau so wie Iraume, 
Phantasien, Dichtungen Jugendlicher. Sie leisten uns: 1) die Kenntnis es 
manifesten (also durch Tendenzen mannigfaltig entstellten) Fuhlens, Wun- 
schens und Erlebens der Pubertät; 2) sind sie Quellen für die Deutung 
dieser Tendenzen und des durch sie entstellten psychischen Materials. Solche 
Deutung bedarf der Anhaltspunkte, deshalb ist ein Tagebuch als solches, 
ohne weiteres Material seines Autors von beschränktem Wert für die 
psychologische Erkenntnis des Autors, und man wird sich im allgemeinen 
begnügen müssen, es zur phänomenologischen Bereicherung zu verwenden; 
was darüber hinausgeht, kann nur den Wert von Annahmen und Kon¬ 
struktionen beanspruchen. Keineswegs aber darf man den Tagebüchern 
„glauben“ — weder dem halbwüchsigen Mädchen noch dem jungen Mädchen 
— in dem Sinne, in dem es Bühler tut, die ihren Mädchen glaubt und 
daher dem Hug-Hellmuthschen nicht glaubt, was sehr ungerecht ist und 
auf einem methodischen Grundfehler beruht. Anderseits weiß Bühler natüi- 
lich, daß die Tagebücher eine Deutung, d. h. eine Beziehung auf in ihnen 
nicht enthaltenes Material verlangen, und sie verbindet mit dem „Glauben“ 
an ihre Quellen zahllose Deutungen, die über diese Quellen hinausgehen, 
indem sie sie z. B. als Belege für ihre Theorie des Ergänzungsbedürfnisses 
deutet. Aber diese Deutungen geschehen unmethodisch nach Belieben, von 
keinerlei Prinzipien der Deutung gestört oder eingeschränkt. Dies fühlt zu 


wissenschaftlich recht angreifbaren Verhaltungsweisen. 

Ein Beispiel, das diesen Vorwurf belegt, und zugleich unser aktuelles 
I : rinu: Biihlor und die Psychoanalyse betrifft, lohnt nähere Betrachtung. 
In ihm gestattet sich die Verfasserin ein lustiges Quidproquo. Anschließend 
an die bereits bekannte Ablehnung der Erklärung durch „Verdrängung , 
bemerkt Bühler (128, 129): 

„In Tagebüchern werden gelegentlich ,verrückte“ Träume und Träumereien 
berichtet und mit einigem Staunen oder einem unangenehmen Gefühl ver¬ 
merkt, aber selten mit nachhaltiger Wirksamkeit.“ Hier ist Bühler absolut 
gläubig. Weil der gelegentlich verrückte Traum nicht wiederkehrt, und der 
Tagebuchschreiber auch nicht weiter von einer Wirksamkeit berichtet, 
besteht diese nachhaltige Wirksamkeit für Bühler nicht. Das heißt ent- 













4 ° 


Siegfried Bernfeld 


schieden das glaubwürdige Tagebuch mit einem Notariatsakt verwechseln, 
die beide freilich Dokumente sind, aber von verschiedener Art der Glaub¬ 
würdigkeit. Das Beispiel lautet: „Jetzt will ich noch ein paar verrückte 
Träume hier aufschreiben. Ich träumte, daß ich beim Roehl (Schulfreund) 
wäre, der sagte mir irgend etwas von Geld und fing dann an, mich ab¬ 
zuküssen, und dabei durchströmte mich ein Gefühl von Wärme. Neben 
Roehl saß ein Herr, den ich aus der Ausstellung her kannte. — Ich wollte 
Roehl besuchen, und als ich zu ihm kam, zog er sich gerade zu einer 
Einladung an, wo er als Mädchen auftreten sollte. Ich mußte sofort wieder 
fort. Roehl und ich waren in einem riesigen, kalten und kahlen Zimmer, 
und er zeigte mir lange Gedichte, die er nachts im Bett gemacht hätte, 
auch sah ich sein Tagebuch, in dem fast alles in Versen geschrieben war.“ 
Zu diesem Tagebuchbruchstück meint Buhler neckisch: „Welche Fund¬ 
grube 4 wäre das für den Analytiker! Was würde er hier alles herauslesen!“ 
Da ich wenig Hoffnung habe, Bühler zu überzeugen, könnte ich in Revanche 
sie necken und könnte fragen, warum sie Fundgrube unter Anführungs¬ 
zeichen setzt, ihr zeigen, daß dies nicht das. Zeichen des Zitierens, sondern 
der Ironie ist, und mich sehr über sie lustig machen, daß sie so tiefe 
Deutungen über ihren Widerstand dem Analytiker ermöglicht und über 
die ihr unbewußten Motive ihres Sich-Lustig-Machens. Aber, da ich doch 
die Hoffnung habe, einige Leser zu überzeugen, erkläre ich hier feierlich 
und im Ernst, daß der Psychoanalytiker aus dieser „Fundgrube“ gar kein 
Gold „herauslesen kann. Denn unsere Deutungen verlangen Deutungs- 
material, das über das zu Deutende hinausgeht. Wir brauchen unbedingt 
die Einfälle des Träumers zu seinem Traum, um über ihn irgend etwas 
aussagen zu können. Dieser Traum sagt über sich selbst nichts aus. Ein 
Analytiker, der soviel riskiert wie Bühler auf der nächsten Seite, könnte 
allerbesten Falles vage Vermutungen haben über dieses oder jenes Detail 
des Traumes, Vermutungen, die aber gerade das Individuelle nicht treffen 
könnten, und die überdies erst der Bestätigung bedürften, die uns wieder 
nur der Träumer selbst geben kann. Es tut mir leid, daß das Bild, das 
sich Bühler vom Analytiker gemacht, so völlig unzutreffend ist. Vielleicht 
korrigiert sie es durch Studium der Freudschen Schriften. Wir lesen hier 
nichts heraus. Höchstens werden wir uns sagen: wir wissen zwei Fakta, 
die über den berichteten Traum hinausgehen, und beide vom Träumer 
selbst: Erstens, daß er selbst den Traum für „verrückt“ erklärt. Das heißt 
zweifellos, daß er ihn als einen bezeichnen will, mit dem seine Persönlich¬ 
keit nicht einverstanden ist, für den er nicht verantwortlich ist. Zweitens. 

















































, lU er ihn trotzdem für wert hielt, nicht allein gemerkt, sondern im 
Tagebuch vermerkt zu sein. Aber daraus läßt sich so gut wie nie ts 
Konkretes schließen. Wir würden freilich nur wenig erstaunt sein, wenn 
sich zeigen sollte, daß der Inhalt des Traumes vom sonstigen Verhalten 
T-s Träumers recht weit absteht; wir würden ferner auf einen ziemlichen 
Widerstand des Träumers gegen den Versuch der Deutung gefaßt sein, und 
diese erst dann wagen, wenn wir mehr über den Träumer, sein Verhalten, 
s.-ine Gedanken, den Traumanlaß usw. wüßten. Wollten wir den berichteten 
Traum deuten, ohne daß der Träumer seine Einfälle mitteilte, so müßten 
wir aus dem übrigen Tagebuch uns jene Stellen zusammensuchen, die wir 
mIs „Einfälle“ verwenden könnten. Es ist das ein Verfahren, das natürlich 
sehr beträchtliche Fehlerquellen enthält, aber das sich immerhin recht¬ 
fertigen läßt. Bühler selbst scheint es für einwandfrei zu halten, denn 
nachdem sie durch die neckische Apostrophe verraten hat, daß sie auch 
in der zweiten Auflage noch keine Kenntnis vom analytischen Verfahren 
besitzt, erklärt sie: „Und doch sind faktisch die Beziehungen von V. 
(dem Träumer) zu diesem Freunde sehr ruhige und kindliche. V. steht ihm 
sogar kritisch gegenüber und kommt bald sehr sang- und klanglos mit 
ihm auseinander.“ Für den Versuch der Traumdeutung sind diese Sätze 
von Wichtigkeit. Sie beinhalten, wie V. sein Verhältnis zu Roehl schildert. 
Man muß ihm nicht glauben, daß es wirklich so war; sondern so erschien 
,. s ihm selbst. Und weil der Traum von diesem Verhalten sehr weit ab¬ 
steht, wird er als „verrückt“ bezeichnet. Für Bühler sind die von V. be¬ 
lichteten Einstellungen nicht Fakten, sondern die faktischen Beziehungen. 
Dies aber selbst zugegeben, irrt sie sehr, wenn sie diese faktischen Be¬ 
ziehungen gegen das ausspielt, was nach ihrer Meinung der Analytiker 
. alles herauslesen“ w'ürde, sie teilt ja nicht mit, was sie in dieser Grube 
unter dem Anführungszeichen angeblicher Analytikermeinung gefunden 
hat. es war jedenfalls unkindlich und unruhig. Aber in jedem Fall kann 
natürlich im Traum ein faktisches Verhalten durch ein nie stattgehabtes 
ersetzt sein: und unbewußte Gedanken, die der Träumer als seine nicht 
gelten lassen würde, können sich im Traum Ausdruck verschaffen. Vor der 
Deutung muß der Analytiker wissen, wie V. zu Roehl steht; es kann ihm 
gleichgültig sein, ob ruhig oder wild, die Fakta aber muß er kennen. 
Von diesen gibt Bühler noch ein Stück: „V. charakterisiert ihn unter 
anderen Mitschülern kurz nach dem Traumbericht zweimal folgendermaßen: 
,Roehl ist sehr hübsch, mein bester Freund, hat einen sehr anständigen 
Charakter, hat aber sehr viel Neigung zum unangenehm vornehmen 












Siegfried Bernfeld 


Herrchen. — Roehl ist ein Mensch, der eigentlich sehr anständig ist, aber 
er hat zuviel Freunde und Freundinnen, und diese haben ihn vollständig 
verrückt gemacht. Er ist sehr hübsch, zwar hat sein Gesicht etwas Mädchen¬ 
haftes, er weiß auch zu sehr, daß er hübsch ist, und bis vor kurzem hatte 
er absolut keinen Freund oder Freundin, den er wirklich gern gehabt 
hätte. Aber vorgestern las er mir eine Geschichte, die er gemacht hatte, 
vor, sie hatte ungefähr folgenden Inhalt: Ein Junge ist in den Ferien 
auf dem Lande und trifft dort ein Mädchen, das ihn durch ihr Auge 
zwingt, sie zu küssen. Am nächsten Tage sagte er mir, daß er der Junge 
gewesen sei . 1 Roehl ist mädchenhaft und redet schon viel vom Küssen 
und Dingen aus einer Welt, die den damals noch sehr kindlichen V. sehr 
erstaunen. Diese Züge kehren im Traum wieder. Ich bin so kühn, weiter 
nichts wie dieses als Grundlage des obigen Traumes anzunehmen und die 
Ausgestaltung der Bilder im Traume der im ersten Erregungsbeginn stehenden 
Pubertätsphantasie zuzuschreiben. Weder verkappte Wünsche, noch ver¬ 
kappte Abwehr, noch sonst Geheimnisse enthält dieser Traum für den, 
der die Entwicklung von V. kennt ... Die Freundschaft mit Roehl ist 
nur eine kurze Episode für V. Kurz vor diesen Träumen macht V. eine 
Überlegung über Freundschaft und Liebe, bei der Roehl noch gar nicht 
genannt wird. ,. . . Ich glaube, daß wahre Freundschaft oft Liebe ist. Aber 
während man einen Schuft lieben kann, so kommt bei der Freundschaft 
noch die gegenseitige Achtung. Deshalb ist Freundschaft nur unter An¬ 
ständigen möglich. Eichwald habe ich geliebt, nicht geachtet. Richter 
achtete ich nur. In der Erinnerung liebe ich ihn auch. 1 “ Zu Eichwald 
macht Bühler in Parenthese die Bemerkung: „Dieser wird einmal als ge¬ 
meiner Schuft bezeichnet. Seine Sache hätte weit eher zu Träumen im 
Sinne der Analytiker Anlaß geben können, tat es aber nicht.“ Sic.' O Gläubig¬ 
keit! Weil V. solche Träume nicht berichtet, hatte er auch keine! Nein, 
so darf man Tagebücher nicht als Quellen für die jugendliche Forschung 
benutzen. Noch weniger darf man von „Träumen im Sinne des Analytikers“ 
sprechen. Man verrät dadurch, daß man nicht weiß, daß die Analytiker 
nicht vom manifesten Trauminhalt, sondern von seinen latenten Gedanken 
sprechen, und man zeigt, daß man die Vorstellung der Provinzzeitungen von 
Psychoanalyse teilt, „im Sinne der Analytiker“ sei ein Trauminhalt, der — 
unanständig ist. 

Bühler gibt also eine Deutung, die sie selbst kühn nennt. Ein Ana¬ 
lytiker würde nicht so kühn, aber etwas methodischer verfahren. Wir 
nehmen die Gelegenheit, dies analytische Verfahren an diesem Beispiel zu 











































Die heutige Psychologie Jer PuhertSt 




demonstrieren. Und hoffen zugleich zu zeigen, was der rechte Glaube 
gegenüber Tagebüchern unserer Meinung nach ist. Die von u er au 
geworfene Frage ist, was man aus jenem Traum „herauslesen ann. 
bel ( , !S Tagebuch an Stelle der „Einfälle“ des Träumers stehen muß. Buhler 
,,-lbst sammelt nun „Einfälle“ aus dem Tagebuch, in dem sie teils vor. 
t< i!s nach dem Traumbericht niedergeschriebene Stellen aussucht, die dazu 
zu gehören scheinen. Das ist das richtige Verfahren, aber Bühler ver¬ 
wendet es nicht konsequent. Sie sucht aus, was sie brauchen kann zur 
Polemik gegen die analytische Windmühle, die sie sich errichtet hat. 
Methodisch wäre, konsequent zu verfahren, d. h. alle Tagebuchstellen 
zu verwenden, die sich auf den Traum beziehen können. Natürlich nicht 
nur jene, die sich auf Roehl beziehen, denn der Traum handelt nicht 
bloß von Roehl, es ist fraglich, wie weit er sich auf ihn überhaupt be¬ 
zieht. Die Vollständigkeit ist eine absolut nötige methodische Forderung, 


da ja auch dann längst nicht die wünschenswerte Menge Deutungs- 
material zustande kommt. Nicht alles Gedachte und Erlebte wird ins Tage¬ 
buch aufgenommen, sondern bloß eine Auswahl. Natürlich nicht eine zu 
fällige Auswahl, sondern eine motivierte. Das ist der Glaube, mit dem 
wir an ein Tagebuch herantreten: Es stellt eine streng motivierte Auswahl 
des Erlebten dar; jedes niedergeschriebene und ausgelassene Wort hat seinen 


Sinn. Nur sind uns leider die Kriterien der Auswahl unbekannt; sie waren 
cs auch dem Tagebuchschreiber. Wir werden die Fehler, die aus dieser 
Quelle fließen, nicht vermehren dürfen, indem wir noch eine willkürliche 
Auswahl treffen. Nirgends im Bühlerschen Buch sind Tagebücher in diesem 
Sinn verwendet, nirgends werden sie sorgfältig untersucht und das Ergebnis 
der Untersuchung mitgeteilt, sondern sie werden benutzt, um Belege für 
die liiihlerschen Anschauungen zu liefern, die freilich aus den Tagebüchern 
gewonnen sind, aber nicht anders, als daß diese Lektüre der 'lagebücher 
der Verfasserin Eindrücke gab, die sie je nach ihren sonstigen eigenen 
.1 ugenderfahrungen und Fremdmitteilungen verarbeitete. Was ein impressio¬ 
nistisches Verfahren ist, durch das man niemals zu ernsthafter Analyse und 
Theorie der Pubertät gelangen kann. 

Der gedachte Traum ist Bühler nicht sehr wichtig, trotzdem sie zu sehr 
kühnen Behauptungen bei seiner Deutung gelangt. Er ist nur ein Detail 
und freilich ein typisches, wir wollen daher über die Unvollständigkeit 
der „Einfälle“, die sie zur Deutung präsentiert, nicht rechten. Wir haben 
erklärt, ohne Einfälle als Analytiker nicht deuten zu können. Allerdings 
erweckt der Traum im Analytiker gewisse Erwartungen. Er würde sich 

















44 


Siegfried Bernfeld 


nicht wundern, wenn z. B. der Träumer, falls er nur alle seine Einfälle 
sagen wollte: zu den „langen Gedichten, die er nachts im Bett gemacht 
hatte“, eine Reihe von sexuellen Symboleinfällen brächte, die vielleicht in 
tiefere Schichten führen könnten. Aber ohne Einfälle oder deren Ersatz 
durch Tagebuchstellen ist unmöglich Konkretes auch nur mit einem An- 
schein von wissenschaftlicher Berechtigung zu sagen. Und vielleicht trifft 
sogai die Deutung des Analytikers ungefähr mit der Bühlers zusammen. 
Nur ist Bühler so kühn, auch eine negative Deutung sehr energisch zu 
behaupten. Mit welcher Methode wohl diese gefunden ist: „Weder ver- 
kappte Wünsche, noch verkappte Abwehr, noch sonst Geheimnisse enthält 
dieser Traum ? Nun, ich finde reichlich Geheimnisse. Man muß zwar 
nicht anspruchsvoll sein in den Ergebnissen, aber doch wohl in den Pro¬ 
blemen. Und ich meine, keine Geheimnisse enthält solch unbedeutende 
Tagebuchnotiz erst dann, wenn wir jedes Detail in Determination und 
Sinn verstanden haben, und wenn wir verstehen, was den Schreiber ver- 
anlaßte, gerade dieses Erlebnis gerade in dieser Form niederzuschreiben. 
Und von diesem letzteren Problem, das Bühler nirgends auch nur anmerkt, 
abgesehen, bleibt doch noch viel in diesem Traum völlig ungeklärt: Was 
ist z. B. mit dem Geld, von dem Roehl irgend etwas sagt; was mit dem 
liesigen, kahlen und kalten Zimmer; was mit dem Tagebuch in Versen; 
was mit dem Herrn aus der Ausstellung usw. ? Es bedarf keiner Entschul¬ 
digung, daß Bühler diesen Details nicht nachgeht, es würde den Rahmen 
ihres Buches überschreiten. Aber es muß festgehalten werden, daß sie die 
Methode, die aus dem Tagebuch Forschungsergebnisse brächte, überhaupt 
nicht verwendet. Und es verlangt schärfste Ablehnung, wenn sie ohne jede 
Untersuchung erklärt, hier seien keine Geheimnisse mehr. Woher will sie 
wissen, ob nicht die sorgfältige Untersuchung des Traumes, trotz allem, ent¬ 
stellte Wünsche aufdecken würde? Wie kann dies geleugnet werden, wo 
doch Bühler selbst zugibt, daß dieser Traum wirklich Wünsche darstellt, 
gegen die der kindliche Knabe sich noch in heftiger Abwehrstellung be¬ 
findet? Und da es kaum die Wünsche sind, die deutlich im Traum aus¬ 
gesprochen sind, so dürften sie sich in diesen manifesten Bildern doch „ver¬ 
kappt“ äußern. Die Verfasserin macht sich doch wahrhaftig die Traumpsycho¬ 
logie zu leicht. Sie ist zu kühn. Fast so kühn wie jene Pseudopsycho¬ 
analytiker, gegen die ihre Polemik am Platze sein mag, die aber am besten 
im Namen der Psychoanalyse und nicht mit ihr zugleich bekämpft würden. 

Durchgreifend hat sich demnach das Niveau der Bühlerschen psycho¬ 
analytischen Kenntnisse nicht gebessert. Doch stellenweise. Im Literatur- 

























































45 



, hnis z B„ in das ( 2 . Aufl.) Freud eingezogen ist — mit dem Heft- 
" über Psychoanalyse und mit den „Drei Abhandlungen zur Sexual¬ 
theorie“. Viel ist das nicht, und wie gezeigt wurde, viel Kenntnis und 
Studium der Psychoanalyse verrät auch die zweite Auflage nicht. Dennoc 
l-.ih sie sich für berufen, endgültig Stellung zu nehmen. Sie glaubt in der 
Fra gc Sexualität— Erotik „zwischen Spranger und Freud sachlich abwagend 
ein e klare Position gefunden zu haben. Was Spranger im ,Eros‘ vorschwebt, 
; st Pubertät“ (der erste Abschnitt der Pubertät in der Bühlerschen Termino¬ 
logie), „Adoleszenz“ (der zweite Abschnitt der Pubertät) „im Anfangsstadium 
,„jrr bei sehr hochkultivierter Entwicklung. Was der Gegenpartei“ (in Wahr¬ 
heit ist Spranger die Gegenpartei, da es ja Freud bisher noch nicht einfiel, 
seine Begriffe gegen Sprangers Aufstellungen zu formulieren) „vorschwebt, 
ist durchschnittliche Adoleszenz, niemals aber gesunde, reine Pubertät. In 
ihr ist der seelische Drang noch erdenfrei, noch getrennt von allem Körper¬ 
haften, und wird als Sehnsucht erlebt“. Merkwürdig, daß auch Bühler 
poetisch wird, wenn es gilt, die Beziehung zwischen Sexualität und Erotik 
wissenschaftlich zu bestimmen, trotzdem sie klarer und nüchterner als 
Spranger sieht, daß wenigstens für die späteren Jahre der Pubertät die 
Aufrechterhaltung der Erotik als einer Grundform des Erlebens, die nicht 
weiter ableitbar ist, unmöglich wird. Von einem Verständnis der Freud- 
schen Anschauung freilich ist sie weiter entfernt als Spranger. Ihre klare 
Position zwischen Spranger und Freud, im Grunde die Mollsche, lautet: 
, ln der Adoleszenz haben die Triebe (Annäherungs-und Detumeszenztrieb) 
si< h zwar zum Ganzen geeint, aber unsere kulturellen und wirtschaftlichen 


\ erhältnisse verbieten eine sofortige Eheschließung nach abgeschlossener 
Keife und überlassen es der Selbstbeherrschung des einzelnen, wie er diese 
Wartezeit zubringt. Dieser einfachste Typus dürfte der am weitesten ver- 
breitete sein . . . Mit diesem Kampf des Adoleszenten beginnt das, was 
Freud Sublimierung nannte, die Bemühungen, das Triebhafte in Geistiges 
timzuwandeln, die Aufmerksamkeit auf höhere Ziele abzulenken und mit 
dem Streben nach ihnen die latente Kraft zu sättigen . . . Noch sind beide 
Triebwelten getrennt wie in der Pubertät, der Körpertrieb wird in gar 
keine Verbindung gebracht mit dem vom Annäherungstrieb gewählten, 
verehrten Objekt. Aber doch schon beginnt — und damit die Adoleszenz — 
der Körpertrieb sich mit dem Annäherungstrieb zu neuartiger Objektwahl 
zu verbinden. Und die reine Liebe der Pubertät wird als Hilfe zur Sub¬ 
limierung angerufen. Dies alles hat bereits Moll ähnlich aufgefaßt.“ (Also 
hat eigentlich Moll die klare Position zwischen Spranger und Freud ge- 














46 


Siegfried Bernfeld 


funden?) Diese Erörterung ist uns interessant, nicht so sehr, weil sie zeigt, 
wie Buhler von der Phänomenologie, die ein Jugendtypus aufweist, nicht 
loskann, trotzdem sie weiß, daß der verbreitetste anders strukturiert ist 
und sie durch die Einschränkung: so sei es bei „reiner Jugend“, die 
Kenntnis, daß diese Behauptung nicht die ganze Pubertät, sondern höchstens 
eine Verlaufsform trifft, durch eine ethische Einteilung entwerten möchte, 
obzwar doch kein Grund ist, warum psychologische Feststellungen nicht 
auch für „unreine Jugend gelten sollten. Sie interessiert uns durch die 
Selbstverständlichkeit, mit der Freudsche Begriffe Objekt, Objektwahl, Sub¬ 
limierung verwendet werden ohne die Freudsche Prägnanz, nicht als wissen¬ 
schaftliche Begriffe, sondern als Worte der Umgangssprache. Freud nimmt 
das Wort Trieb als Grundphänomen der Psychologie ernst. Buhler verwendet 
Trieb als ein bequemes Wort zur Bezeichnung von Drängendem; plötzlich 
führt sie einen Körpertrieb ein. Das ist für sie beinahe eine stilistische 
Frage. Nicht aber für die Psychoanalyse, die versucht, eine Wissenschaft 
vom Seelenleben auf den Trieb als eines der — weiter für die Psychologie 
nicht ableitbaren — Grundphänomene aufzubauen. Und nur ein solcher 
Versuch mit diesen formalen Qualitäten verdient den Namen einer Theorie. 
Bühler antwortet auf Freuds Theorie, wie jemand sprechen würde, der 
unter Zelle eine Kloster- oder Gefängniszelle versteht und Schleidens Theorie 
von der Zelle als Baustein alles Lebendigen hörte, und nicht verstehen 
könnte oder wollte, daß Schleidens Zelle ein botanischer Begriff und nicht 
die vage Bezeichnung für kleines Zimmerchen ist. 

Dieses selbe Mißverstehen der Tatsache, daß Freud die Psychologie als 
Wissenschaft mit definierten Terminis und einigen wenigen Grundannahmen 
aufbaut, führt zu den schiefen Erörterungen (59): „Trieb zur gegenseitigen 
Annäherung — das ist eine gemeinsame Wurzel vieler Bedürfnisse der 
Lebewesen, ein Trieb, der schon von Geburt an besteht. Durchaus nicht 
nur das sexuelle und erotische Bedürfnis gipfelt in ihm, vielmehr ist der¬ 
selbe Trieb die Wurzel auch aller“ (bekannte Kühnheit Bühlers) „sozialen 
Bedürfnisse der Lebewesen . . . Wenn wir der Psychoanalyse hier nur einen 
Vorwurf machen, so ist es vor allem der, daß sie von der doppelten Wurzel 
des Annäherungstriebes nichts zu wissen scheint und leichtfertig alles auf 
die sexuelle Seite schiebt. Hier ist Bühler entschieden der Vorwurf zu 
machen, daß sie das Wort Wurzel statt als Begriff der Entwicklungspsycho- 
logie als Bild nimmt und daher sich — und ihre Leser verwirrt, aber 
jedenfalls der Psychoanalyse Vorwürfe macht. Oben heißt es: Annäherungs¬ 
trieb ist die Wurzel von a) Sexualität + Erotik; b) von sozialen Bedürf- 























































unten heißt es: Annäherungstrieb = a) Sexualität + Erotik; b) so- 
ria l e Bedürfnisse. Ferner: Annäherungstrieb von Geburt an. Hier ist bei 
lUeI . Vermengung von Biologie und Psychologie doch zugegeben, daß die 
sexuell-erotischen Phänomene dieselbe Entstehung haben, wie die sozialen. 
Beides behauptet die Psychoanalyse und ist der Psychologie eben durch die 
Psychoanalyse bekannt und schmackhaft geworden. Der Unterschied zwischen 
Biihler und der Psychoanalyse ist nur: 1) Freud nennt die Annaherungs¬ 
triebe nicht so, sondern anders. Und zwar im psychologischen Zusammen¬ 
hang Sexualtriebe, im biologischen Erostriebe. 2) Freud hat sich nicht 
damit begnügt, diese allgemeine Formel aufzustellen (die Bühler ja nicht 
einmal aufstellt, sondern einfach mit anderen Worten übernimmt, allerdings 
ohne vorheriges gründliches Studium und daher mit verwirrenden Entstel¬ 
lungen), sondern hat die Differenzierung der sexuell-erotischen aus der mit 
den sozialen gemeinsamen Wurzel, dem „Annäherungstrieb“, sorgfältigst stu¬ 
diert. Oder wenn die zweite Formel richtig ist: den Anteil der sexuell¬ 
erotischen Wurzel im Sozialen sorgfältig untersucht. 3) Freud hat dieses 
Studium nicht an beliebiger Stelle abgebrochen und sich nicht gescheut, 
sein ihn selbst erstaunendes Ergebnis : daß der Anteil des sexuell-erotischen 
sehr beträchtlich ist, immer aufs neue zu prüfen und, den Regeln der 


empirischen Forschung entsprechend, schließlich selbst anzuerkennen. Leicht¬ 
fertig dürfte die am wenigsten zutreffende Vokabel für einen Gelehrten sein, 
der den Fragenkomplex, welchen Bühler in elf Sätzen erledigt, in elf Bänden 


Forschungsarbeit, zudem erstmalig, studiert hat. 

Aber, wie bezeichnet man das formale Verfahren, das Bühler richtig 
scheint, um dasjenige, was sie von Freud gelernt hat und das sie als 
integrierenden Bestandteil in der zweiten Auflage neu in ihre Theorie 
uifgenommen hat, ihren Lesern mitzuteilen? Bühler ist nämlich in die 
Reihe jener eingetreten, die erfreulicherweise die Freudsche Aufstellung 
der infantilen Sexualität im allgemeinen akzeptieren. Dieser bedeutsame 
Schritt über die offizielle Psychologie hinaus wird leider nicht ohne Mög¬ 
lichkeit der Erweckung von Mißverständnissen getan. Bühler sagt (S. 17): 
„Ich stelle die These auf, daß ein der Pubertät entsprechender Reifungs¬ 
prozeß in kleinerem Maße schon einmal in der Kindheit auftritt, und 
zwar zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr. Auf allen Gebieten 
funktionaler Umgestaltung habe ich Parallelen zwischen der Pubertät und 
dem dritten bis vierten Lebensjahr auffinden können. Sie häuften sich zu 
meinem eigenen Erstaunen von allen Seiten her zusammen, angefangen 
von der Parallele des ersten und zweiten Trotzalters bis zur Parallele ge- 

















48 


Siegfried Bernfeld 


steigerter Zuneigungserlebnisse und Affekte über mehrere andere Überein¬ 
stimmungen hinweg, die an Ort und Stelle zur Sprache kommen. Es muß 
also zwischen Babyalter und Kindheit in kleinerem Maßstab, daher weniger 
bemerkt, einen ebensolchen Schub und Abschnitt schon einmal geben, wie 
ihn die Pubertät später im großen zeigt. Es muß an diesem Zeitpunkt 
auch einen ersten Ruck oder ersten Anfang sexueller Entwicklung geben, 
eine kurz aufflammende Bewegung, die später verebbt und erst in der 
Pubertät wieder aufgenommen wird. So muß ich zu meinem Staunen auf 
Grund zahlreicher Beobachtungen an diesem Punkte mit Freud Zusammen¬ 
treffen, den offenbar ähnliche, wenn auch leider nicht mitgeteilte Beob¬ 
achtungen zur Annahme eines ebenso datierten Entwicklungsabschnittes 
bewogen haben, wie später ausgeführt. Hiemit soll übrigens noch keine 
der sonstigen Freudschen Theorien und am wenigsten seine psychoana¬ 
lytische Methode akzeptiert sein.“ 

Es ist recht kühn, die Freudsche Lehre mit dem Satz einzuleiten: „Ich 
stelle die These auf.“ Vor fünfundzwanzig Jahren mochte jemand so schreiben 
dürfen, weil damals die Möglichkeit einer gleichzeitigen unabhängigen 
Entdeckung bestand. Auch heute noch ist solche unabhängige Nachentdeckung 
möglich; man wird sich aber hüten müssen, sie als solche zu bekennen, 
denn eigentlich sollte ein psychologischer Forscher von Freud und seiner 
Lehre gehört haben. So viel über die reichlich unvorsichtige Formulierung 
der Tatsache durch Bühler, daß sie zwischen der ersten und zweiten Auf¬ 
lage einsehen gelernt hat, daß Freud mit den Aufstellungen der Drei Ab¬ 
handlungen recht hat. Ihre eigenen Beobachtungen bestätigen seine von 
ihr inzwischen im Original zur Kenntnis genommenen Befunde. Erstaunlich 
bleibt, daß Bühler sich so energisch dagegen verwahrt, auch sonst mit 
Freud gemeinsamer Anschauung zu sein. Wer erlebt hat, daß eine bekämpfte 
Theorie in ihrem wesentlichen Stück sich als richtig bewährt, wird nach 
dem ersten Staunen darüber, daß die anderen die Lehre bekämpfen, trotzdem 
leicht zu machende Beobachtungen sie bestätigen, doch wohl das Bedürfnis 
haben, zu prüfen, ob nicht noch mehr Richtiges an dieser Lehre ist, ob nicht 
die Methode, die zur Auffindung dieser Fakten und Thesen führte, wohl 
doch eine gewisse Brauchbarkeit hat, ob nicht die Ablehnung dieser Lehre 
und die Festhaltung der üblichen ihr entgegenstehenden einer Revision 
bedarf. Das wäre heute noch kühn und mutig und wird morgen schon 
selbstverständlich sein. Vielleicht wird Bühler, die zwischen ig22 und tgaß 
soviel von Psychoanalyse gelernt hat, beinahe alles, was aus den zwei von 
ihr genannten Freudschen Schriftchen zu lernen ist, sich bald entschließen, 










































Die heutige Psychologie der Pubertät_ 49 


nuC j, weitere Freudsche Schriften zu lesen: Damit sie nicht länger hei der 
Meinung bleibe, Freud habe ähnliche, wenn auch leider nicht mitgeteilte 
Beobachtungen gemacht wie sie, sondern bemerke, daß Freud seine Beob¬ 
achtungen reichlich mitgeteilt hat. Wir dürfen hoffen, daß die weitere 
1 ektüre Bühler, und wäre es zu ihrem eigenen Staunen, weitere Über¬ 
einstimmungen mit Freud zeigen wird. 


jf) Die PädagogiJc 

W. Hoffmanns Buch 1 ist mehr vom Standpunkt des Pädagogen und des 
Jugendfürsorgers als dem des Psychologen geschrieben. Darum liegt auf 
„dem sechsten Kapitel über die soziale Reifung mit seinen Ausführungen 
über die historische und soziale Bedingtheit der Seelenstruktur geradezu 
das Schwergewicht der ganzen Arbeit“ (V); Hoffmann ist wie Spranger 
führerisch eingestellt. Dies wird nicht allein in dem Abschnitt deutlich, 
von dem er es bekennt: „eigens meinen jungen Freunden zum Danke 
habe ich das Schlußkapitel geschrieben (VI) über Jugendkultur“. Zugleich 
versucht er — ähnlich Ch. Bühler — auf dem allzuschwachen Fundament 
eines einzigen Begriffs, dem Prinzip der seelischen Resonanz, eine einheit¬ 
liche Psychologie der Jugend, ja eigentlich der Psychologie überhaupt auf¬ 
zubauen. Wie wenig dieses Prinzip besagt, kann im Rahmen dieser Sammel¬ 
kritik nicht nachgewiesen werden. Für unser Thema bietet Hoffmans Buch 
neben Spranger und Bühler, die geradezu Typen repräsentieren, keinen 
wesentlichen Beitrag. Doch gibt er ähnlich wie Tumlirz, auf einem anderen 
Niveau als dieser, Belege für das Maß, in dem die Psychoanalyse bereits 
in die Psychologie eingedrungen ist und für die Motive, aus denen von 
einem gewissen Punkt an den Freudschen Lehren die Gefolgschaft ver¬ 
weigert wird. 

Die neuen Gedanken, die die moderne Psychologie beherrschen, und 
die, soweit sie nicht direkt dem Freudschen Werk entstammen, doch zu 
einer großen Annäherung zwischen Psychoanalyse und Psychologie führen, 
sind auch in Hoffmanns Buch lebendig: „Das Ideal der Psychologie wäre, 
seelische Vorgänge möglichst vollständig nach gesetzmäßigen Abhängigkeiten 
(Determinationen) zu ordnen“ ( 5 ). „Die Beobachtung der jugendlichen Ent¬ 
wicklung hat es nahegelegt, die Triebhandlung als fundamentale Form 

1 Lr. Walter Hoffmann, Die Reifezeit. Probleme der Entwicklungspsychologie 
und Sozialpädagogik. Leipzig 1922. 


Imago XIII. 


4 















5o 


Siegfried Bernfeld 


alles Wollens anzusehen ... Es wird damit nichts gewonnen, daß man für 
jeden besonderen Inhalt des Wollens einen eigenen ,Trieb 1 annimmt. So 
wird von einem Spieltrieb, einem Kampftrieb, einem Wissenstrieb ge¬ 
sprochen. Diese Art, das Seelenleben nach Bedarf in Triebe zu zerfasern, 
bedeutet doch nur eine Neuauflage der Lehre von dem ,Seelenvermögen 1 “ (10). 
„Die theoretische Aufgabe ist erfüllt, nachdem die Bedeutung der im 
seelischen Unterbau verlaufenden Prozesse klargestellt und auf die all¬ 
gemeine Gesetzmäßigkeit der Resonanz zurückgeführt worden ist“ (28). 
„Überblickt man das Gesamtbild der geistigen Reifung, so ist es gekenn¬ 
zeichnet durch ein Übermaß an seelischen Konflikten . . . Konflikte be¬ 
deuten Dissonanzen im seelischen Unterbau und jede Dissonanz stört die 
seelische Einheit, die sich als Ich-Bewußtsein spiegelt“ (107). 

Für Hoffmann sind solche Gedanken nicht gelegentlich berührte Hilfen, 
sondern sie sind die konsequent durchgeführten methodischen Grund¬ 
anschauungen seiner Psychologie. Nur daß sein Begriff vom Trieb und der 
Triebhandlung unsicher und blaß ist, völlig unzureichend, um die Welt 
des Trieblebens zu ordnen und zu erklären, und die allgemeine Gesetz¬ 
mäßigkeit im seelischen Unterbau, das Prinzip der Resonanz, kein Funda¬ 
ment für eine umfassende Entwicklungspsychologie ist. Man wird aber gerne 
zugeben, daß in diesen methodischen Gedanken Elemente einer wissen¬ 
schaftlichen Psychologie enthalten sind. Ungeduldige Einbrüche einer außer¬ 
wissenschaftlichen Weltanschauung verderben jedoch an allen für die 
Jugendpsychologie entscheidenden Punkten das wissenschaftliche Konzept. 
Und zwar ist es auch bei Hoffmann immer wieder Auseinandersetzung mit 
der Psychoanalyse, die sonst verborgene Werteinmengungen decouvriert. 

So heißt es: „Hierin finden die von der psychoanalytischen Schule 
benutzten symbolischen Deutungen ihre wissenschaftliche Grundlage; nur 
darf man nicht verkennen, daß sie Resonanzerscheinungen bei kranken 
Seelen betreffen . . . Die psychoanalytische Schule braucht sich nicht zu 
wundern, wenn bei einem normal veranlagten Seelenleben die Zumutung, 
sich auf solche krankhafte Resonanzerscheinungen einzulassen, lebhaft 
widerstrebende Affekte auslöst. Das ist eben in diesem Falle ein Zeichen 
von Gesundheit“ (25). Eben. Punktum. Und woher bezieht dieses Diktum 
seine Überzeugungskraft? Schwerlich aus den wissenschaftlichen Gewi߬ 
heiten, die mit den Worten krank und gesund verkündet werden. Die 
Psychoanalyse hat die banale und naive Bedeutung dieser Worte sehr be- 
trächlich erschüttert, die Grenze zwischen beiden als viel undeutlicher und 
komplizierter erwiesen, wie populärem Meinen entspricht. Die wissen- 



























































Die heutige Psychologie der Pubertät* 

schaftüche Selbstgewißheit des Wortes gesund gegen die Psychoanalyse als 
Argument zu verwenden, ist etwa vom Rang des Einwandes: „Wie töricht 
die Anschauungen der Astronomie über die Größe der Fixsterne sind, er¬ 
weist sich aus ihrer jedermann in sternenklarer Nacht sichtbaren Winzig¬ 
keit !“ 

Aber man muß sich nicht in die Problematik der Wertungen Gesund 
hr.mk begeben, um auch an Hoffmann die gründliche Wissenschaftlich¬ 
keit unserer Jugendpsychologen aufzudecken. Mit der Libidotheorie vermag 
sieh Hoffmann nicht ganz zu befreunden, obwohl er manchen wichtigen 
I .itbestand und einzelne Gesichtspunkte wohl akzeptiert. Seine Einwände 
sind stellenweise durchaus erwägenswert, z. B.: „Aber von dem Freudschen 
•Standpunkte aus werden doch alle anderen Gebiete des Seelenlebens, denen 
beim Gesunden eine gleiche Bedeutung zukommt, in zu weite Ferne ge¬ 
rückt. Insbesondere geraten die Beziehungen zur Außenwelt außer Sicht¬ 
weite, und so erklärt es sich, daß eine Analyse des Vorstellungslebens jenen 
I heorien (sei/. Adler und Freud) fehlt, so daß mit .unbewußten Vor¬ 
stellungen* und symbolischen Deutungen ausgeholfen werden muß, die 
den wissenschaftlichen Kritiker befremden“ (28). Gewiß hätte der wissen¬ 
schaftliche Kritiker sein Studium der Psychoanalyse nicht mit Freuds „Ein¬ 
führung des Narzißmus“ beenden müssen, wie das Literaturverzeichnis aus- 
weist '252); er hätte sonst vielleicht entdeckt, daß die Psychoanalyse all¬ 
mählich auch diese Lücke — die tatsächlich bis vor etlichen Jahren 
empfindlich bestand — zu schließen bemüht ist. Doch fehlt uns einiges 
Zutrauen in seine Beiehrbarkeit, wenn der wissenschaftliche Kritiker auf 
Seite 1 1sich zum gleichen Thema also vernehmen läßt: „Es ist unbedingt 
notwendig, zwischen sexuellen Reizen und Vorgängen auf organischem Ge¬ 
biete und den erotischen Beziehungen auf seelischem Gebiete zu unter- 
m beiden, um ans jener schwülen hysterischen Atmosphäre“ (id est Freuds 
I ibidothenrie 1 ..herauszukommen.“ Also nicht weil die Freudsche Theorie 
nicht ausreicht, tlas Vorstellungsleben zureichend zu erklären, sondern um 
einer peinlichen Atmosphäre zu entrinnen, darf man bestimmte Annahmen 
nicht als wissenschaftliche Hypothesen aufstellen. Und wenn sich diese 
Annahmen als Gewißheiten erweisen sollten, wäre es auch dann unbedingt 
notwendig, sie abzulehnen? Ist das Entrinnen aus jener Atmosphäre oberstes 
hrkenntnisziel der Psychologie ? 

Hoffmann bemüht sich unzweifelhaft — und nicht allenthalben ohne 
l.rfolg um Psychologie als Wissenschaft, Kap. V. „Die geschlechtliche 
Reifung (114 165) aber stellt den Zusammenbruch dieser Bemühungen 


4' 


















52 


Siegfried Bernfeld 


dar. „Die Art des Stoffes hat es mit sich gebracht, daß sich bisher vor¬ 
wiegend Mediziner und namentlich Psychiater damit befaßt haben.“ Hoff- 
mann will dem die Bemühungen des Psychologen hinzufügen, so scheint es, 
aber er flieht mit fliegenden Fahnen ins Lager der Pädagogen. „Sexualität 
und Perversion nehmen leider heute in unserer Kultur einen so breiten 
Raum ein ... (116). „. . . wenn sie ausfallen, so würde eine zynische Auf¬ 

fassung des Geschlechtslebens die höchst unerwünschte Folge sein . . .“ (118). 
„. . . dieser natürliche Übergang zum Wirklichkeitsleben bietet sich in der 
Weise, daß der Jugendliche seine Aufmerksamkeit der Ausbildung und Pflege 
seiner Körperkräfte zuwendet. Turnen und Sport bringen also wiederum den 
nötigen Ausgleich . . (11g). Kein Wort über die Psychologie der Onanie, 

aber deren etliche über ihre Behandlung: „. . . Als wesentlich erscheint mir, 
den Jugendlichen darauf hinzu weisen, was er sich an echter Lebensfreude 
verscherzt . . (123). „. . . ungetrübte Jugend . . .“ (15) usw. Die Päd¬ 

agogik ist gewiß eine interessante Angelegenheit, wenngleich eine höchst 
problematische. Aber sie hat Psychologie zur Voraussetzung. Hoffmanns 
Sexualpädagogik ist in ihren wesentlichen Gedanken nach meiner Meinung 
sehr beachtenswert, sie folgt nur leider nicht aus seiner Sexualpsychologie, 
sondern sie steht an deren Stelle; und so nimmt sie ihr im eigentlichen 
Sinne des Wortes den Platz weg. Der wissenschaftliche Kritiker sollte be¬ 
fremdet sein von diesem Verhalten, das er mit den anderen Jugendpsycho¬ 
logen völlig gemeinsam hat. Insbesondere dürfte sich nicht mit dem An¬ 
spruch auf Wissenschaftlichkeit das sonderbare Quidproquo verbinden, das 
einige für die Psychologie der Jugendpsychologie interessante Seiten des 
Hoffmannschen Buches darbieten. Er vertritt die pädagogische Ansicht, die 
sexuelle Frühreife müsse verhindert, die Sexualabstinenz bis weit in die 
Pubertät hinein aufrecht erhalten werden. Gewiß eine pädagogische Forde¬ 
rung und kein psychologisches Faktum. Die Gegner „berufen sich in 
letzter Linie darauf, daß eine Verdrängung des Geschlechtstriebes zu hyste¬ 
rischen Erkrankungen führe. Sollte wirklich die geistige Höherentwicklung 
auf Kosten der Gesundheit gehen, oder sind es nicht wiederum die schwachen 
Naturen, die solchen Hochspannungen nicht gewachsen sind? Wir müssen 
daher“ (!!) „kurz zu der Frage Stellung nehmen, wie die Erscheinung der 
Hysterie psychologisch zu deuten ist“ (141). Folgen vier Seiten, die das 
„Rätselhafte der Hysterie“ lösen: „Die Hysterie ist letzten Endes eine Auto¬ 
suggestion des Kranken“ und diese Lösung gegen Freuds Hysterielehre 
sichern, um zu gipfeln: „Somit bildet die Erscheinung der Hysterie keinen 
Anlaß, von den vorgetragenen pädagogischen Grundsätzen abzugehen.“ Zu 




















































diesem tröstlichen Ende hätte man einfacher und redlicher (wissenschaft¬ 
liche- gelangen können ohne eine oberflächliche, schiefe und unnc tige 
Hvsterietheorie von zweihundert Zeilen. Denn man kann so gut aus der 
I ronischen wie aus jeder wissenschaftlichen Hysterietheorie schließen „auf 
di( , Notwendigkeit, sexuelle Frühreife zu vermeiden, um das Kind nicht 
v „r Konflikte zu stellen, denen es auf dieser Entwicklungsstufe noch nicht 
gewachsen ist“. Ob die Hysterie Autosuggestion ist oder aus den kompli¬ 
zierteren Prozessen entsteht, die Freud nachwies, dem Pädagogen bleibt es 
unbenommen, die Forderung zu vertreten, das Kind sei vor Frühentwicklung 
se i„er Sexualität zu schützen. Die Frage ist, wieweit dies dem Pädagogen 
gelingen wird. Freuds Meinung ist: jeder Fall von Hysterie beweist, daß 
diese pädagogischen Bemühungen an diesem Individuum mißlungen sind. 
Die Aufstellung einer neuen Hysterietheorie schafft die Fälle nicht aus 
,1er Welt, zu deren Erklärung die alte aufgestellt wurde. Daß es verdrängte 
Triebregungen gibt, daß sie Neurosen zur Folge haben können, — daraus 
folgt keineswegs, daß es keine Verdrängungen geben dürfe. Und wenn der 
Psychoanalytiker mißglückte Verdrängungen korrigiert, so vertritt er nicht 
die pädagogische Anschauung: die Kinder sollen sich sexuell ausleben. Sondern 
,. r verschließt sich bloß nicht der Einsicht, daß die pädagogischen Ma߬ 
nahmen nicht immer ausreichen, den erwünschten Idealeffekt dem Trieb- 
leben aufzuzwingen. Es ist schlimm genug, daß die Sexualpädagogik die 
Jugendpsychologie verdrängt. Ganz böse wird die Situation, wenn die ver¬ 
drängende Sexualpädagogik zu der grenzenlos optimistischen Art gehört. Als 
soh he verrät sich Hoffmanns, in der folgenden Argumentation (die übrigens 
der antipsychoanalytischen Weltliterarur angehört): „Wenn man z. B. den 
Bericht Freuds über die Psychoanalyse eines fünfjährigen Knaben prüft, so 
sieht man, wie durch irgendeinen unglücklichen Zufall die Aufmerksamkeit 
des Kindes auf den „Wiwimacher“ gelenkt worden ist und sich hieraus 
ein ganzer Komplex schmarotzender Ideen entwickelt hatte. Auch scheinen 
Erziehungsfehler vorgekommen zu sein . . (144). Gewiß waren da unglück¬ 

liche Zufälle und ganz gewiß waren da Erziehungsfehler, denn es gibt gar 
kein Kinderleben ohne jene und ganz gewiß keine Eltern und Erzieher, 
die nicht Erziehungsfehler machen. Ein Kind, bei dem Erziehungsfehler 
vorgekommen zu sein scheinen, als sonderbaren, nicht für das Normale 
maßgeblichen Fall betrachten, heißt den, einen wissenschaftlichen Kritiker 
mit Recht befremdenden, Standpunkt der Morgensternschen Philosophie ein¬ 
nehmen, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. 

Nach alledem werden wir wenig erschüttert sein von dem Anathema, 















54 Siegfried Bertifeld 


das Hoffmann der Psychoanalyse im Namen der Wissenschaft zuruft: „Wer 
nicht zwischen Erotik und Sexualität unterscheiden kann, dem wird das 
Liebesieben stets ein Rätsel bleiben, denn es ist erfüllt mit Konflikten 
zwischen sexualer und geistiger Anziehung. Dann sieht man mit Freud 
selbst in den Äußerungen reinster Mutterliebe eine Befriedigung geschlecht¬ 
lichen V erlangens, und die Liebe eines alten Ehepaares wäre nur ein Kenn¬ 
zeichen der Altersverblödung. Wer wie Plato die geistigen Wurzeln der 
Liebe aufdeckt, wird von der Gegenseite als Heuchler gebrandmarkt. Waren 
aber nicht die Griechen in geschlechtlichen Dingen viel offenherziger wie 
wir? Glaubt man wirklich, ein Bild des geistigen Lebens zeichnen zu 
können, wenn man nur zwei Farben auf seiner Palette hat? Gewiß ist 
diese Schnellmalerei überraschend einfach, aber man hat keinen Grund, 
sich darüber zu beschweren, wenn die Wissenschaft das Bild nicht in allen 
Teilen für richtig anerkennt“ (121). Gewiß ist diese Zauber-und Schnell¬ 
malerei, die in jedem Satz ein Faktum fälscht, überraschend, aber Hoff¬ 
mann hat keinen Grund, sich darüber zu beschweren, wenn man sein 
Bild von Wissenschaft in keinem Teil für richtig anerkennen kann. 


5) Überwundene Belastungen 


Eine der Thesen, derentwegen die ausführliche Kritik der angezeigten 
Bücher hier unternommen wurde, ist sozusagen eine wissenschaftshistorische. 
Die Psychoanalyse mit ihren neuartigen Gesichtspunkten, Methoden, Ent¬ 
deckungen und Hypothesen hat die Revolution, welche seit einigen Jahren 
das gesamte psychologische Forschen und Denken umwälzt, wenn auch 
vielleicht nicht erzeugt, so gewiß katalytisch beschleunigt und vertieft. 
Weder die Fakten, welche unsere Jugendpsychologen beschäftigen, noch die 
Theorien, die sie aufbauen, sind unbeeinflußt von der Psychoanalyse, ob 
diese nun bejaht oder verworfen wird. Im Gegenteil, sie weisen unverwisch¬ 
bare Spuren eines Kampfes mit Freud auf. Im Zusammenhang mit dieser 
Erörterung wird das kleine Buch von Th. Ziehen: „Das Seelenleben der 
Jugendlichen“ 1 zu einem interessanten Beleg. Es ist eine Ausnahme und 
bestätigt die Regel gerade dadurch aufs trefflichste. Ziehen erwähnt Freud 
und die Psychoanalyse mit keinem Wort, er findet auch keinen Anlaß, sich 
anonym mit ihr auseinanderzusetzen. Sein Buch gehört aber auch nicht der 
psychologischen Literatur unserer Zeit an, es ist ein sonderbares Relikt 


1) Langensalza 1925. 












































äUS dem längstvergangenen vorigen Jahrzehnt. Nicht etwa, daß Ziehen prude 
8 ind Jch scheute, Sexualfakta anzuerkennen. Man ist eher erfreut zu 

X da0 er durch keine pseudo-platonische Philosophie getrübt, Tatsachen 
k , „nt und beim Namen nennt, die anderen Jugendpsychologen den Verdac t 
psvchoanalytisch-materialistischer Denkweise erwecken könnten. Zum Beispiel 
h.ißt es schlicht: „Die geschlechtlichen Phantasievorstellungen knüpfen in 

der Kegel an irgendein geschlechtliches Erlebnis im allerweitesten Sinne 
an . das Kind beobachtet oder belauscht zu Hause einen Geschlechtsakt seiner 
Eltern oder . . .“ (78). Schön sagt er es auch Sprangern: „Matthias hat die 
zunächst sehr ansprechende, freilich schwer beweisbare Vermutung aus¬ 
gesprochen, daß die idealische Richtung des puberalen Gefühlslebens eine 
biologische Schutzeinrichtung gegenüber der erwachenden Sinnlichkeit sei. 
Ich muß Sie aber daran erinnern, daß gerade bei solchen schwärmerischen 
Jugendlichen schwere sexuelle, und zwar onanistische Exzesse recht häufig 
sind“ (44). Aber ein wenig Offenheit in sexualibus ist noch lange nicht 
Psychoanalyse, am wenigsten psychoanalytische Psychologie. Von dieser ist 
Ziehen völlig unbeschwert. Höchstens dürfte man stutzig werden bei der 
Anmerkung: „. . . die Hysterie, die nach meiner Theorie gerade durch die 
abnorme Wirksamkeit latenter gefühlsbetonter Vorstellungen charakterisiert 
ist“ (45). Doch heißt latent keineswegs unbewußt, und so fehlt wirklich 
jede Spur von Psychoanalyse — und zugleich jede Spur von Psychologie 
in irgendeinem heutigen Sinne. Dies wird aus einigen wenigen Proben 
genügend deutlich werden. 

„Drei ursächliche Momente wirken in der Regel zusammen, um das 
eigentümliche Seelenleben der Jugendlichen zur Pubertätszeit hervorzurufen. 
1) I)ie anatomische Weiterentwicklung des Zentralnervensystems, . . .; 2) die 
Reifung der Geschlechtsdrüsen . . .; 3) die meistens in die Pubertät fallende 


t mwälzutig der Umwelt und Lebensbedingungen (7). „Besonders scharf 
Tritt dies dritte Moment bei dem Volksschüler und der Volksschülerin hervor. 
Mit <!< r Schulentlassung im vierzehnten beziehungsweise fünfzehnten Lebens¬ 
jahr erweitert sich der Lebenskreis ganz enorm . . . Nach der Schulentlassung 
erlebt der Jugendliche oft in einem Monat mehr, als er früher in einem 
Jahr erlebt hat . . . Nachlaß der Aufsicht. Strafen und Straffurcht treten 
zurück . . . Zufall der Verführung . . .“ (14). Bei den höheren Schülern tritt 
„an Stelle der äußeren Erweiterung der Umwelt eine analoge innere. Durch 
die Lektüre zahlreicher Schriftsteller dehnt sich der Erlebniskreis der Phan¬ 
tasie ... in vielleicht noch höherem Maße aus als bei dem Volksschüler 
durch den Eintritt in das ,wirkliche Leben 1 “ (15). Es ist nicht unsere Auf- 


















56 


Bernfeld: Die Iieutige Psychologie der Pubertät 


gäbe, diese physiologische und Vererbungspsychologie als unfruchtbar zu 
erweisen. Aus ihrer Überwindung ist die moderne Psychologie entstanden, 
die auch jenseits der Psychoanalyse nichts mehr anzufangen weiß mit ab¬ 
schließenden Formulierungen wie die Ziehensche: „Ganz allgemein können 
wir sagen: die Pubertät ist die Klippe, an der namentlich erblich belastete 
Individuen scheitern“ (19). 

Freilich so sehen wir an der Jugendpsychologie — auch die modernen 
Psychologen sind vom Ursprungsland ihrer Wissenschaft der physiologischen 
Psychologie bei weitem noch nicht soweit vorgedrungen wie die Psycho¬ 
analyse, und sie haben noch viel wissenschaftlicher zu werden, um wirklich 
vorwärts zu kommen. Ganz allgemein können wir sagen: die Pubertät ist 
die Klippe, an der namentlich physiologistisch und weltanschaulich belastete 
Psychologen scheitern. 



































Darwin 


Charles 

von 

Imre H ermann 

Budapest 

. Dann erhebt sich aber immer der 
entsetzliche Zweifel, ob die Überzeugungen 
im Geiste des Menschen, welcher sich aus 
dem der niederen Tiere entwickelt hat, von 
irgendwelchem VTerte oder überhaupt zu¬ 
verlässig sind. Würde sich irgend jemand 
auf die Überzeugungen in der Seele eines 
Affen verlassen, wenn in einer solchen Seele 
Überzeugungen vorhanden sind?“ 

(Brief von Ch. Darwin aus dem Jahre 1881, 
Leben, Bd. I, S. 292—295.) 


A 

Biographische Besonderheiten 

Wenn man die Selbstbiographie Darwins 1 liest und die Lebensgeschichte 
mi auf sich wirken läßt, wie die Einfälle des Analysanden während der 
analytischen Behandlung, dann gruppieren sich viele Daten unter ganz 
gewissen Gesichtspunkten. Diese Gesichtspunkte rücken die zerstreuten Daten 
der analytischen Deutungsmöglichkeit viel näher und tragen dadurch zum Ver¬ 
ständnis des Rätselhaften in Darwins Leben wesentlich bei. Daß diese 
Gesichtspunkte mit den wichtigsten Punkten der Darwinschen Theorie ver- 

l j Leben und Briefe von Charles Darwin mit einem seine Autobiographie ent¬ 
haltenden Kapitel. Herausgegeben von seinem Sohne Francis Darwin, übersetzt 
von J. V. Carus. I—III. 1887. (Das Buch wird im folgenden kurz als „Leben“ be¬ 
zeichnet. — Charles Darwin lebte 1809—1882. 
















58 Imre Hermann 


glichen werden können, scheint unsere Deutungsarbeit in Mißkredit zu 
bringen, da man geneigt ist anzunehmen, wir hätten diese Gesichtspunkte, 
im Hinblick auf die bevorstehende Aufgabe, erzwungen. Ich fordere also 
jeden Zweifler auf, selbst die Quelle, die biographischen Daten, zu unter¬ 
suchen; die Bedeutung der von uns hervorgehobenen Gesichtspunkte wird 
ihm dann von selbst, alle Zweifel bezwingend, in die Augen springen. 

I. Achtung vor der Zeit 

Der eine Gesichtspunkt ist der, daß die Zeit, mit ihrem schnellen 
Laufe, eine außerordentlich wichtige Rolle im Denken Darwins einnahm. 
Er hatte eine außergewöhnliche Achtung vor der Zeit, die ihn zu Schnellig¬ 
keit in der Bewegung und zur größten Ausnutzung der Zeit zwang. So 
heißt es in einer Erinnerung ungefähr aus seinem neunten bis zehnten 
Lebensjahre: „Ich lebte ganz in der Schule, so daß ich den großen Vorteil 
genoß, das Leben eines echten Schülers leben zu können; da aber die Ent¬ 
fernung bis zu meinem Vaterhause kaum mehr als eine (englische) Meile 
betrug, so lief ich sehr häufig in den längeren Pausen zwischen dem Auf¬ 
gerufenwerden und vor dem Zuschließen des Abends hinüber . . . Ich er¬ 
innere mich aus der ersten Zeit meiner Schulzeit, daß ich oft sehr schnell 
laufen mußte, um zu rechter Zeit da zu sein, auch war ich, da ich ein 
schneller Läufer war, meistens erfolgreich; war ich aber zweifelhaft, so 
bat ich Gott ernstlich mir zu helfen; und ich erinnere mich sehr wohl, 
daß ich das rechtzeitige Erreichen meinem Gebet und nicht meinem 
schnellen Laufen zuschrieb, und daß ich mich wunderte, wie oft mir ge¬ 
holfen wurde.“ 1 2 Dieselbe Vorliebe für Schnelligkeit zeigt sich auch in 
seiner Leidenschaft für die Jagd, für das Schießen. Dieses Thema wird 
uns noch — als Leitmotiv des zweiten Gesichtspunktes — besonders be¬ 
schäftigen, hier soll nur die Erinnerung aus dem siebzehnten bis neun¬ 
zehnten Jahre Erwähnung finden: „Die Herbstzeit war dem Schießen ge¬ 
widmet . . . Mein Eifer war dabei so groß, daß ich meine Jagdstiefel zum 
Anziehen fertig an mein Bett zu stellen pflegte, wenn ich zu Bett ging, 
damit ich nicht eine halbe Minute Zeit beim Anziehen derselben am 
andern Morgen verlöre; und bei einer Gelegenheit erreichte ich einen 
entfernt gelegenen Teil der Besitzung Maer am 20. August zum Birkhuhn¬ 
schießen, noch ehe man sehen konnte . . .“ z Er war etwa zwanzig Jahre alt, 


1) Autobiographie, Leben, I, S. 29. 

2) Daselbst, S. 39. 












































ls er eine kleine Entdeckung bezüglich der Pollenkörner machte und 
Jnblicklich rannte er zu seinem Professor, um ihm die überraschende 
Entdeckung .nitzuteilen: „Nun vermute ich, daß wohl kein anderer Pro essor 
■ r jb.tanik sich hätte des Lachens erwehren können über die Eile, 
welcher ich zu ihm gelaufen kam, . . . ich entschloß mich aber, bei weiteren 
Entdeckungen mit meinen Mitteilungen nicht so eilig zu sein ie 

Entdeckung war nämlich schon bekannt. 1 Darwin hat sich also in dieser, 
Cambridger Zeit (1828—1831) schon sehr ernst mit Wissenschaften be- 
schäftigt, und doch berichten seine Erinnerungen aus derselben Zeit, er 
habe seine Zeit dort — in Cambridge — „in trauriger Weise vergeudet, 
und schlimmer als vergeudet“; er geriet nämlich in eine Kurzweil treibende 
< •esellschaft, wo es Sitte war, viel zu trinken, heitere Lieder zu singen und 
Karten zu spielen. 2 Der Vater Charles’ „widersetzte sich mit vollem Rechte 
h e ftig der Aussicht“, daß er „ein fauler, nur Kurzweil treibender Mensch 
würde“ 3 * Doch sein Fleiß, sein Bestreben, die Zeit auszunützen, war damals 
sicher schon vorhanden, nur nicht dort, wo der Vater diese Eigenschaften 
g ern gesehen hätte. Er schreibt in einem Briefe aus dem Jahre 1830: 
..Ich hatte mir während der letzten vierzehn Tage stündlich vorgenommen 
zu schreiben, habe aber wirklich keine Zeit gehabt. Ich verließ Shrewsbury 
heute vor vierzehn Tagen und bin seitdem vom Morgen bis zum Abend 
bei der Arbeit gewesen, Fische oder Käfer zu fangen. Dies ist buchstäblich 
der erste faule Tag, den ich für mich gehabt habe: denn an den regnerischen 
Tagen gehe ich aus zum Fischen, an den guten zum Entomologisieren. ' 
Der I leiß erscheint hier also mit dem Tieresammeln vergesellschaftet. 


Seine Beziehung zur Zeit wurde noch viel auffallender anläßlich der 
fünfjährigen Heise auf dem „Beagle“ (1831 —1836). Mit diesem Ereignis 
nahm die wissenschaftliche Laufbahn Darwins ihren Anfang. Interessant 
ist nun, daß er nicht viel Zeit hatte, über die Aufforderung zur Reise 
na. h/udenketi und daß die Kürze der für die Reisevorbereitungen ver- 
liigha ich Zeit eines der Hauptargumente seines Vaters gegen die Reise 
war. „Die sehr kurze Zeit für alle meine Vorbereitungen ist sicherlich ein 
sehr ernstlicher Einwand, da nicht bloß der Körper, sondern auch der 
(reist einer Vorbereitung für ein solches Unternehmen bedarf.“ 5 Und 


1 Daselbst, S. 49. 

2) Daselbst, S. 44. 

3) Daselbst, S. 41. 

4'' Leben, I, S. 165. 

5) Brief vom Jahre 1831, Leben, I, S. 177. 
















Imre Hermann 


diese knappe Zeitspanne wurde ihm dadurch beinahe noch verdorben, 
daß er so Vieles zu bedenken hatte. 1 

Und jetzt der Wendepunkt, die wissenschaftliche Seereise! Nicht um¬ 
sonst schreibt Darwin noch vor dem Antritt der Reise: „Was für ein herr¬ 
licher Tag der 4. November sein wird! Mein Leben wird damit zum zweiten 
Male beginnen, und er wird für mein übriges Leben wie ein Geburtstag 
sein. 2 3 4 Über den Einfluß der Seereise berichtet die Autobiographie: „Die 
oben erwähnten verschiedenartigen Studien waren indessen von keiner Be¬ 
deutung, verglichen mit der Angewöhnung an energischen Fleiß und 
konzentrierte Aufmerksamkeit auf alles das, womit ich nur immer be¬ 
schäftigt war, welches beides ich mir aneignete .“3 Und der Sohn (der 
Biograph) bemerkt: „Mein Vater pflegte zu sagen, daß es die absolute Nötigung 
zur strengsten Ordnung in dem beschränkten Raum an Bord des ,Beagle‘ 
gewesen ist, welche ihm beim Arbeiten die methodischen Gewohnheiten 
beigebracht hat. Auch lernte er, wie er zu sagen pflegte, auf dem ,Beagle‘ 
das, was er die goldene Regel zum Zeitsparen nannte, d. h. auf die Minuten 
zu achten. * Im Jahre 1836 schreibt Ch. Darwin seiner Schwester, daß 
„. . . ein Mensch, welcher eine Stunde von seiner Zeit zu vergeuden wagt, 
den Wert des Lebens noch nicht entdeckt hat“. 5 6 7 

In England wieder angelangt, ist seine Achtung vor der Zeit noch 
im Wachsen begriffen: „die geschäftigste Zeit der ganzen Reise war die 
Ruhe selbst gegen diesen letzten Monat“, schreibt er im November 1836® 
Eine im Jahre 1837 ihm angetragene Ehrenstelle als Sekretär einer wissen¬ 
schaftlichen Gesellschaft will er zurückweisen unter Berufung auf den 
Zeitverlust, den diese Stelle verursachen würde/ „Wenn ich nur dadurch, 
daß ich jegliches Vergnügen aufgebe oder daß ich noch angestrengter, als 
ich getan habe, arbeite, Zeit ersparen könnte, würde ich das Sekretariat 
übernehmen; aber ich berufe mich auf Sie, ob bei meiner langsamen Art 
zu schreiben, mit zwei Arbeiten in der Hand und bei der Gewißheit, daß, 
wenn ich den geologischen Teil nicht innerhalb einer festbestimmten Zeit 
vollenden kann, seine Veröffentlichung für sehr lange aufgeschoben werden 
mu ß ob irgendeine Gesellschaft den Anspruch an mich erheben kann, 

x) Brief vom Jahre 1851, Leben, I, S. 193. 

2) Brief vom Jahre 1831, Leben, I, S. 195. 

3) Autobiographie, Leben, I, S. 57. 

4) Leben, I, S. 200. 

5) Brief, Leben, I, S. 246. 

6) Brief, Leben, I, S. 255. 

7) Brief, Leben, I, S. 263. 

















































,!> f . vierzehn Tage drei Tage lang unangenehme Arbeit zu leisten, 
erfahren wir aus einem Briefe, daß er zwei besondere Tage aus einem 
zu machen pflegt, * 2 dann aus einem anderen, daß er so lebt „wie ein Uhr- 

w crk *", .. 

Wir legen Wert darauf zu betonen, daß ein großer Teil dieser Äußerungen 

noc j, aus der Zeit stammt, in welcher der Entwicklungsgedanke 
nicht umwandelnd auf den Charakter Darwins einwirken konnte. 
\\ könnte jemand den Standpunkt einnehmen, daß die Rückerinnerungen 
des alten Darwin durch den — die Zeit respektierenden — Entwicklungs¬ 
gedanken beeinflußt sein könnten, daß aber die noch vor Aufstellung der 
Theorie geschriebenen Briefe durch diese beeinflußt gewesen wären, wäre 
wohl eine zu kühne Behauptung. Nun wollen wir einige äußere Merk¬ 
male für die Achtung vor der Zeit angeben, um zu zeigen, daß dieser 
< harakterzug Darwins ein tiefeingewurzelter, kein oberflächlicher, schein¬ 
barer Charakterzug war. 

Er W ar bei der Arbeit schnell, beweglich.* „... eine charakteristische Eigen¬ 
tümlichkeit von ihm war seine Achtung vor der Zeit; er vergaß niemals, 
wie kostbar sie ist. Dies zeigte sich z. B. unter anderem auch in der Art 
und Weise, wie er seine Erholungszeiten zu beschneiden suchte, ebenso 
und noch deutlicher in bezug auf kürzere Perioden. Er sagte häufig, Minuten 
7U sparen, sei die beste Art, eine Arbeit zu vollenden; er dokumentierte 
Neigung, Minuten zu sparen, in dem Unterschiede, welchen er zwi¬ 
schen einer Arbeit einer Viertelstunde und einer zehnminutlichen empfand; 
, r verschwendete niemals einige wenige freie Minuten dadurch, daß er 
gemeint hätte, es sei nicht der Mühe wert, erst mit Arbeiten anzufangen. 
Mir ist oft aufgefallen, wie er bis an die Grenze seiner Kräfte arbeitete, 
so daß er mit dem Diktieren plötzlich mit den Worten aufhörte: ,ich 
glaube, ich darf nicht weiter arbeiten. 1 * Derselbe eifrige Wunsch, keine Zeit 
v.i verlieren, wurde auch durch seine schnellen Bewegungen während der 
\rheit offenbar 0 . 5 Auch in der schriftstellerischen Tätigkeit soll er den¬ 
selben Abscheu vor Zeitverlust gehabt haben. 6 Wie er selbst sagt, hatte er in 
früheren Zeiten zuerst über die Sätze, die niedergeschrieben werden sollten. 


i Erief, Leben, I S., 264. 

2' Brief aus dem Jahre 1838, Leben, I, S. 271. 

5 Brief vom Jahre 1844 — 1845?, Leben, I, S. 310, dasselbe in einem Briefe 
aus dem Jahre 1846, S. 295. 

4 Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 97. 

5) Daselbst, S. 131, 132. 

6) Daselbst, S. 133. 















Imre Hermann 


nachgedacht, ehe er sie zu Papier brachte, seit mehreren Jahren habe er 
aber gefunden, daß er Zeit erspare, wenn er in flüchtiger Schrift, die 
Hälfte der Worte abkürzend, ganze Seiten voll so schnell wie möglich 
niederschriebe und erst spater, mit Überlegung, korrigiere. 1 

Noch ehe wir aber versuchen, diese unsere Kenntnis von der Achtung 
vor der Zeit auf die Krankheit Darwins anzuwenden, wollen wir das Augen¬ 
merk auf die auch bei diesem Charakterzug durchbrechende Ambivalenz 
lenken. Neben der Achtung der Zeit ging schon im Knaben Darwin ein 
Hang zum Müßiggang einher. Er war in der Schule nicht gerade fleißig, 
und seine Lehrer und der Vater selbst hielten ihn „für einen sehr ge¬ 
wöhnlichen Jungen, eher etwas unter dem mittleren intellektuellen Maße“. 
Zu seiner „tiefen Demütigung“ sagte der Vater einmal zu ihm: „Du hast kein 
anderes Interesse als Schießen, Hunde und Ratten fangen, und Du wirst 
Dir selbst und der ganzen Familie zur Schande.“ 2 Er hatte auch als ganz 
kleiner Knabe eine große Vorliebe für lange, einsame Spaziergänge. 3 Dann, 
viel später, schreibt er, er führe jetzt ein sehr geschäftiges Leben und 
hoffe immer dabei zu bleiben, „obgleich ein solches Leben Gott weiß auch 
viele ernste Schattenseiten hat; zu diesen gehört obenan die geringe Zeit, 
die es einem läßt, seine natürlichen Freunde zu sehen“. 4 Und er bezweifelt, 
ob sein Werk der Aufwendung von so viel Zeit wert sei! 5 Ein kleiner 
Unfall aus der Jugendzeit hätte ihn tatsächlich jeder Achtung vor der 
Zeit berauben können, um ihn vom anderen Extrem her wieder zur mög¬ 
lichsten Eile zu zwingen. Einmal nämlich, als er ganz versunken spazieren 
ging, fiel er von der alten Festungsmauer etwa sieben oder acht Fuß in 
die Tiefe. „Die Zahl der Gedanken, welche während dieses äußerst kurzen, 
aber plötzlichen und völlig unerwarteten Falles durch meine Seele zogen, 
war erstaunlich groß und scheint kaum mit dem vereinbar zu sein, was 
die Physiologen, wie ich glaube, bewiesen haben, daß jeder Gedanke einen 
durchaus erkennbaren Betrag an Zeit erfordert.“ 6 

Wir werden noch mehrere Beispiele der stärker sich geltend machenden 
Ambivalenz bei Darwin antreffen, an dieser Stelle genügt es uns, die 
ambivalente Natur der „Krankheit Darwins zu erkennen. Diese Krank- 


1) Autobiographie, Leben, I, S. 88, 8g. 

2) Daselbst, S. 31. 

5) Daselbst, S. 30. 

4) Brief aus dem Jahre 1837, Leben I, S. 259. 

5) Leben, I, S. 323. 

6) Autobiographie, Leben, I, S. 30. 








































CLarles Darwin 


63 


ii beherrschte Darwins ganzes späteres Leben, beginnt mit den R 
Vorbereitungen, bricht am Schiffe aus und wütet mit Unterbrechungen 
bi5 zum Tode. Der Sohn sagt: „Will man den Charakter des Lebens meines 
vl lt r : in seiner Arbeit verliehen, so muß man beständig die Verhältnisse 
seiner Kränklichkeit, unter denen er arbeitete, vor Augen haben. Er trug 
seine Krankheit mit einer solchen, sich nie beklagenden Geduld, daß selbst 
seine Kinder, glaube ich, kaum die Größe seines habituellen Leidens sich 
vergegenwärtigen können ... Ich wiederhole es, es ist ein hervortretender 
/ llg in seinem Leben, daß er für nahezu vierzig Jahre nicht einen Tag 
gekannt hat, in dem er gesund wie ein gewöhnlicher Mensch gewesen 
wäre, und daß sein Leben dadurch ein langer Kampf gegen das Abspannende 
und Drückende des Krankseins war 


Worin bestand aber diese Krankheit? Nun, 


ps war 






diesen letzten vierzig Jahren — eben Krankheit. Die Symptome treten 
in den Beschreibungen meistens zurück gegenüber der Erwähnung der 
Folgen; man bekommt den Eindruck, die Krankheit habe sich infolge des 
..sekundären Gewinns“ eingenistet. „Während der drei Jahre und acht 
Monate, in denen wir in London wohnten [1839 1842], habe ich 

weniger wissenschaftlich gearbeitet, obschon ich so anstrengend, wie ich 
« s nur möglicherweise konnte, und so, wie in irgendeiner anderen gleich 
langen Zeit in meinem Leben gearbeitet habe. Dies war die Folge häufig 
wiederkehrenden Unwohlseins und einer langen und ernstlichen Krank 
tu it.“- 1 2 * „Meine hauptsächlichste Freude und meine alleinige Beschäftigung 
während meines ganzen Lebens ist wissenschaftliches Arbeiten gewesen; 
und die mir durch derartige Arbeit werdende Anregung läßt mich für die 
Zeit mein tägliches Unbehagen vergessen oder drängt es wohl auch voll¬ 
ständig zurück.“ 5 Nur hie und da erfahren wir, welche beiläufig die 


Symptome waren, und wann sie exazerbierten: „Es können nur wenig 
Personen ein so zurückgezogenes Leben gelebt haben, wie wir es getan 
iiaben . . . Während der ersten Zeit unseres hiesigen Aufenthaltes [1842—] 
sind wir ein wenig in Gesellschaft gegangen und haben einige wenige 
Freunde bei uns gesehen; meine Gesundheit litt aber immer an den 
Folgen der Aufregung, da heftiger Schüttelfrost und Anfälle von Erbrechen 
dadurch veranlaßt wurden. Ich bin daher für viele Jahre gezwungen 
gewesen, alle Mittagsgesellschaften aufzugeben; und dies ist für mich ein 


1) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 146, 147. 

2) Autobiographie, Leben, I, S. 62. 

5) Daselbst, S. 71. 
















ziemlicher Verlust gewesen, da derartige Gesellschaften mich immer i n 
sehr gute Stimmung brachten.“ 1 Auch beschreibt Darwin, daß er es in 
seinen späteren Jahren nicht ertragen konnte, auch nur eine „ Zeile Po esie 
zu lesen, er fand sogar den früher von ihm verehrten Shakespeare so un- 
| erträglich langweilig, daß ihm davon übel wurde. 2 

Aus diesen Hinweisen kann die sekundäre Funktion der Krankheit schon 
erraten werden: sie hielt ihn ab von Zerstreuungen, entschuldigte ihn vor 
ihm selbst und vor seinen Freunden seiner Zurückgezogenheit wegen, ent¬ 
schuldigte ihn aber auch, wenn er doch ausspannen mußte. Die Zeit mußte 
eben bis zur äußersten Möglichkeit ausgenützt werden, wenn er auch dabei 
doch ein wenig, wenn auch nur ein Körnchen Sehnsucht nach lustigerem 
Zeitvertreib empfand. Man wird jetzt solche Tagebuchsnotizen, wie diese, 
verstehen können: „Während meines Besuches in Maer habe ich ein wenig 
gelesen, wai ich viel unwohl und skandalös faul. Ich habe das Gute daraus 
gelernt, daß nichts so unerträglich ist, wie Faulheit.“ 3 

Die Behauptung, daß die Krankheit, das Unwohlsein Darwins diese auf 
die Achtung vor der Zeit gegründete sekundäre Funktion erworben hat, 
verlangt noch weitere Unterstützung. So schreibt er in einem Briefe: „Ich 
bin körperlich sehr viel kräftiger, bin aber nur wenig besser im Stande, 
geistige Ermüdung oder vielmehr Aufregung zu ertragen, so daß ich nicht 
zu Mittagessen ausgehe oder Besuche empfangen kann, ausgenommen Ver¬ 
wandte, mit denen ich nach dem Essen eine Zeit lang in Stillschweigen 
verbringen kann.“ 4 5 „. . . ich finde aber unglücklicherweise, daß die un¬ 
bedeutende Erregung, welche mir der Durchbruch meiner äußerst ruhigen 
Lebensweise verursacht, mich so allgemein über den Haufen wirft, daß ich, 
wenn ich in London bin, kaum im Stande bin, irgend Etwas zu tun, und 
ich bin auch nicht fähig gewesen, eine einzige Sitzung der Geologischen 
Gesellschaft zu besuchen. Im Übrigen geht es mir ganz gut . . .“ 3 Am 
Ende der Selbstbiographie heißt es ganz ausdrücklich: „Selbst meine Krank¬ 
heit hat mich, obgleich sie mir mehrere Jahre ganz geraubt hat, vor den 
Zerstreuungen der Geselligkeit und der Vergnügungen bewahrt.“ 6 Und der 
Sohn sagt, daß eine halbe Stunde mehr oder weniger Unterhaltung bei ihm 


1) Daselbst, S. 70, 71. 

2) Daselbst, S. 90. 

3) Aus dem Jahre 1839, Leben, I, S. 277. 

4I Aus dem Jahre 1843, Leben, I, S. 299. 

5 ) Brief aus dem Jahre 1843, Leben, I, S. 508. 

6) Autobiographie, Leben, I, S. 95. 






















































CLarles Darwin 


entschied, ob er eine schlaflose Nacht durchmachen und den nächsten 
\rbeitstag fast verlieren würde. 1 

Für das aber, was sich also als sekundäre Funktion der Krankheit an- 
m '„nen läßt, ist „die Achtung vor der Zeit“ ein viel zu milder Ausdruck. 
Das ist auch kein Fleiß, sondern schon starker Zeit geiz, und dieser Aus¬ 
druck wird auch durch die analerotische Grundlage dieser Charakter¬ 
eigenschaft gefordert. Doch verschieben wir die Besprechung dieses Themas 
so lange, bis wir die Krankheitsgeschichte etwas eingehender untersucht 
haben. Wir wollen nun einer anderen Quelle der Achtung vor der Zeit unsere 
Aufmerksamkeit zuwenden, nämlich der Person des Vaters, R. W. Darwin. 
Ch. Darwin hatte, wie der Biograph bemerkt, „ein äußerst lebendiges Gefühl 
der Liebe und der Achtung für das Andenken seines Vaters. . . . Seine 
Verehrung für ihn war grenzenlos und rührend“. 2 Er erwähnt in seiner 
Beschreibung rühmend die Beobachtungsgabe und das Geschick des Vaters 
im Erraten, gibt mehrere Beispiele, in denen der Vater infolge seiner 
Menschenkenntnis Voraussagen konnte, wie sich der oder jener benehmen 
würde, dann führt er weiter aus: „Die Schärfe seiner Beobachtungsgabe 
ermöglichte es, daß er mit merkwürdigem Geschick den Verlauf einer 
jeden Krankheit voraussagte. . . . Mir ist erzählt worden, daß ein junger 
Doktor in Shrewsbury, welcher meinen Vater nicht liebte, von ihm zu 
sagen pflegte, er sei ganz unwissenschaftlich, aber zugab, daß seine Gabe, 
den Ausgang einer Krankheit vorauszusagen, ganz ohne Gleichen sei. 3 4 
Auch eine andere, die Zeit betreffende Eigenschaft R. W. Darwins wird 
von Charles D. beschrieben, nämlich sein außerordentliches Gedächtnis 
besonders für Daten, „so daß er in seinem hohen Alter den Tag der Ge¬ 
hurt. der Hochzeit und des Todes einer Menge von Personen in Shropshire 
wußte; und einmal sagte er mir, daß ihm diese Gabe sehr störend sei, 
denn wenn er ein Datum einmal gehört habe, habe er es nicht wieder 
vergessen können; hierdurch wurde er daher häufig an den Tod vieler 
Freunde erinnert.“ * Wir glauben, in Kenntnis dieser vom Sohne beschrie¬ 
benen Gaben des Vaters, vermuten zu können, die Achtung vor der Zeit 
bedeute die Achtung vor der hervorragenden Gabe des Vaters, der 
sogar die Zeit bezwingen könne, dem die Zeit, sowohl die Zukunft, wie 


x) Leben, I, S. in. 

2) Leben, I, S. 10. 

5) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 15. In der Antwort auf Galtons Frage 
sagt Charles über den Vater: „Große Voraussicht“. (Bd. III, S. 175.) 

4) Leben, I, S. 17—18, auch Bd. III, S. 175 (Antwort auf Galtons Frage). 


Imago XIII. 


5 














I 

I 


66 Imre Hermann 


auch die Vergangenheit, keine unlösbaren geistigen Probleme bieten 
könne. Die Achtung vor der Zeit bedeute also in der Verschiebung die 
Achtung vor dem Vater. Die führt uns aber zu einer anderen Frage, 
zu einer anderen Charaktereigentümlichkeit des jungen Darwin. Hier sei 
nur noch bemerkt, daß, wenn es sich bewahrheiten sollte, daß eine anal¬ 
erotische Grundlage hinter dem Zeitgeiz Darwins wirksam sei, diese Grund¬ 
lage nur unter Anleitung gewisser Inhalte, nach unserer Annahme der 
Vaterachtung, zum Zeitgeiz werden konnte. Es mußte ein Ichideal, der 
Vater als Bezwinger der Zeit, vor den Augen des jungen Darwin schweben . 1 

II. Die Tiere werden geliebt und getötet 

Nicht wir — Darwin selbst hebt sein sonderbares Verhältnis den Tieren 
gegenüber hervor. Er hatte schon als kleiner Knabe große Vorliebe für das 
Angeln, seitdem ihm aber einmal gesagt wurde, daß er die Würmer mit 
Salz und Wasser töten könne, hat er niemals wieder einen lebendigen Wurm 
an die Angel gesteckt . 2 Eine alte Erinnerung aus der ersten Schulzeit oder 
von noch früher her berichtet, wie grausam er einem Hunde gegenüber 
war: „ich schlug ein junges Hündchen, wie ich glaube, einfach in dem 
freudigen Gefühle der Kraft; doch kann das Schlagen nicht derb gewesen 
sein, da das Hündchen nicht heulte, worüber ich ganz sicher bin, da der 
Ort ganz in der Nähe des Hauses war. Diese Tat hat schwer auf meinem 
Gewissen gelegen, wie daraus hervorgeht, daß ich mich genau der Stelle 
erinnere, wo das Verbrechen begangen wurde. Es belastete mich wahr¬ 
scheinlich um so schwerer, als damals und noch lange Zeit nachher meine 
Liebe zu Hunden geradezu eine Leidenschaft war. Hunde schienen dies 
zu wissen; denn ich hatte die Kunst, ihre Liebe ihren Herren zu rauben “. 3 

Er hatte viel Freude am Sammeln von Vogeleiern, aber niemals nahm 

1) Die Betonung der Zeitrelationen hängt nach meiner analytischen Erfahrung 
mit der Betonung der akustischen Orientierung, speziell der Musikalität, zu¬ 
sammen. Diesbezüglich kann die merkwürdige — man möchte fast sagen — „Ambi¬ 
valenz“ Darwins in betreff der Musik erwähnt werden: . . . (Ich erhielt in Cambridge) 
„eine große Neigung für Musik . .. Dies machte mir intensive Freude, so daß es mir 
zuweilen den Rücken hinabschauerte . .. Trotz dem Allen fehlt es mir so gänzlich an 
Gehör, daß ich eine Dissonanz nicht bemerke und weder Tact halten noch eine Me¬ 
lodie correct summen kann; es ist mir ein Geheimnis, wie mir nur Musik möglicher¬ 
weise hat Vergnügen machen können“. (Autobiographie, S. 45. Ähnliche Äußerungen: 
S. 90; Leben, I, S. 111, 154.) 

2) Autobiographie, Leben, I, S. 28. 

5) Daselbst, S. 29. 

































CLarles Darwin 


er mehr als ein einziges Ei aus dem Neste . 1 In der letzten Zeit seines 
Schullebens wurde er ein leidenschaftlicher Jäger und er meint, niemand 
hätte für die heiligste Sache mehr Eifer zeigen können, als er für das 
Schießen von Vögeln. „Wie gut erinnere ich mich noch, als ich meine 
erste Schnepfe geschossen hatte; meine Aufregung war so groß, daß ich 
wegen des Zitterns meiner Hände nur mit Schwierigkeit meine Flinte 
wieder laden konnte. Diese Neigung hielt lange an und ich wurde ein 
sehr guter Schütze. 2 Zur selben Zeit ist Darwin schon ein eifriger Sammler 
von Insekten; er fing aber damit an, alle Insekten, welche er tot fand, 
zu sammeln, denn er kam nach Konsultierung der Schwester zu dem 
Schlüsse, es sei nicht recht, Insekten zum Zwecke einer Sammlung zu 
töten . 3 4 Die Zeit der Jägerleidenschaft (die Zeit von Cambridge) kenn¬ 
zeichnet Darwin durch folgende Worte: „Wie sehr genoß ich doch die 
Freude der Jagd! Ich glaube aber, ich muß doch halb unbewußt über 
meinen Eifer beschämt gewesen sein, denn ich versuchte mich zu über¬ 
reden, daß das Schießen beinahe ein intellektuelles Vergnügen sei; es er¬ 
forderte so viel Umsicht, zu beurteilen, wo das meiste Wild zu finden sei 
und die Hunde gut zu führen.“* Diese Leidenschaft legte er erst während 
der Reise auf dem „Beagle“ ab . 5 

Die Regung des Schuldgefühls ist in diesen Vorkommnissen viel zu 
auffällig, um nicht bemerkt zu werden. Der Sohn (Francis) erzählt eine 
Geschichte, in welcher der Vater (Charles) schon als erwachsener Mann 
einen Kreuzschnabel mit einem Steine totschlug. „Er war so unglücklich 
darüber, daß er den Kreuzschnabel zwecklos getötet hatte, daß er es Jahre 
lang nicht erwähnt hat, und erklärte dann, er würde niemals nach ihm 
geworfen haben, wenn er nicht sicher geglaubt habe, daß er seine alte 
Geschicklichkeit verloren habe .“ 6 Eine Vorstellung mit „gelehrten Hunden“ 
verließ er mit der Bemerkung, er könne den Gedanken nicht länger aus- 
halten, wie diese armen Hunde geprügelt würden . 7 Eine recht auffallende 
Ambivalenz, die sich hier kundgibt und auch Gewissensbisse hervorrufen 
kann, trotzdem auch die Lustbetätigung manchmal zwangsmäßig zur 
Äußerung gelangt. Bemerken wir dazu noch, daß er den Anblick von 

1) Daselbst, S. 28. 

2) Daselbst, S. 52. 

3) Daselbst, S. 33. 

4) Daselbst, S. 40. 

5) Daselbst, S. 57. 

6) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. g8. 

7) Leben, I, S. 152. 


5* 













68 


Imre Hermann 


Blut nicht vertrug, 1 daß er, als er als junger Mediziner bei zwei Gelegen¬ 
heiten den Operationssaal besuchte, beidemal davonlief, noch ehe die 
Operationen zu Ende geführt waren, „die beiden Fälle sind mir viele 
Jahre nachgegangen“. 2 

Was kann wohl die Ursache hievon gewesen sein? In einem Briefe aus 
dem Jahre 1860 lesen wir: „Ich sehe einen Vogel, den ich zur Nahrung 
brauche, nehme meine Flinte und töte ihn; ich tue dies absichtlich. 
Ein unschuldiger und guter Mensch steht unter einem Baume und wird 
durch einen Blitzstrahl erschlagen. Glauben Sie (und ich möchte dies 
wirklich erfahren), daß Gott diesen Menschen absichtlich tötete?“ 3 Soll 
uns die assoziative Folge von Vogel—Mensch nichts für unsere Zwecke 
verraten? Stammt nicht der Wunsch zum Töten, aber auch das Schuld¬ 
bewußtsein nach dem Töten aus menschlichen Relationen? Nun, die 
Mutter Darwins starb, als er acht Jahre alt war (1817); er konnte sich 
aber, was er selbst seltsam findet, an kaum irgend etwas anderes in bezug 
auf sie erinnern, als „an ihr Sterbelager, ihr schwarzes Sammetkleid und 
ihren eigentümlich gebauten Arbeitstisch“. 4 5 Bald nach dieser Stelle wird 
die Erinnerung an das Eiersammeln und das Angeln, dann gleich an den 
Vorfall mit dem Hunde („ich handelte grausam“) berichtet, die mit den 
Worten endigt, „denn ich hatte die Kunst, ihre (sc. der Hunde) Liebe 
ihren Herren zu rauben“, und da bricht plötzlich eine ganz andersartige 
Erinnerung durch: „Aus diesem Jahre, als ich in Mr. Case’s Sammelschule 
war (1817), erinnere ich mich deutlich nur noch eines anderen Ereignisses, 
nämlich des Begräbnisses eines Dragoners. Es ist überraschend, wie deutlich 
ich mich noch des Pferdes mit den leeren Stiefeln und der Carabine des 
Mannes, am Sattel aufgehängt, und des Schießens über das Grab entsinnen 
kann. Diese Scene regte mächtig alles auf, was nur an poetischer Einbil¬ 
dung in mir vorhanden war.“ 3 

An das Begräbnis der Mutter erinnert er sich nicht, an das Begräbnis 
des Dragoners ganz intensiv — und beide sind Vorkommnisse desselben 
Jahres! Wir glauben hier eine Einschaltung in die Erinnerungsreihe ver¬ 
suchen zu dürfen: Es sollte lieber der Vater, der starke, robuste Mann 

1) Erinnerung der Tochter, Leben, I, S. 124. 

2) Autobiographie, Leben, I, S. 35. 

3) Brief, Leben, I, S. 291. 

4) Autobiographie, Leben, I, S. 26. 

5) Daselbst, S. 29. — Es kehrt in den Briefen aus späteren Jahren die Bemerkung 
öfters zurück, daß das Sterben eines alten Mannes nie so viel Leid verursacht, wie 
das eines jungen Kindes. (Bd. III, S. 38, 220.) 
























Cliarles Darwin 


69 


gestorben sein — und dieser Wunsch bezüglich des unschuldigen und 
guten Vaters ist auf die Tiere, die er ebenfalls liebt, verschoben worden. 
Die Gefühlsambivalenz den Tieren gegenüber, sowie das Schuldgefühl 
stamme also aus dem Ödipus-Komplex und die Tiere sind Totemtiere. Es 
ist auffallend genug, daß Darwin beim Begräbnisse des Vaters nicht an¬ 
wesend war, — er war gerade unwohl, krank (1847). 1 Daß Charles 
Darwin in seinen .Tugendjahren unbewußt an des Vaters Tod dachte 
und darauf rechnete, er werde bald sterben, war die vermutliche Ursache 
der Überzeugung, er werde vom Vater Vermögen genug erben, was ihn 
vom ernsten Studium eines Lebensberufes abhielt. 2 

Der (unbewußte) Todeswunsch gegen den Vater, das Schuldgefühl, 
welches daraus folgte, führen uns wieder zur Krankheit Darwins zurück; 
es ist jetzt nötig, sich damit zusammenhängend zu beschäftigen. 


III. D ie Krankheit 

Die Symptome der Krankheit gruppieren sich .im großen und ganzen 
um zwei Kerne. Erstens finden wir Angstsymptome (Herzklopfen, Hände¬ 
zittern, 3 4 Muskelzuckungen, Empfindung der Kälte und Wärme, des Ohn¬ 
mächtigwerdens,^ „fürchterliche Angst, nicht genug Material zum Arbeiten 
zusammenzuhaben“, 5 Furcht vor der Zukunft, vor Krankwerden der Kinder, 6 
Furcht vor erblicher, den Kindern überlieferter Krankheit.) 7 Dann sind hier 
wiederum andere Symptome, welche die Verdauung betreffen: Erbrechen, 
Verdauungsunfähigkeit, 8 vermutlich — darauf weisen die ärztlichen Rat¬ 
schläge, des Morgens spazieren zu gehen, 9 zu reiten 10 — Stuhlbeschwerden. 
Diesen zwei Gruppen entsprechend, beginnt die Krankheit mit zwei Schüben. 
In Cambridge hatte er noch eine ausgezeichnete Gesundheit, 11 die ersten 
Klagen treten anläßlich der Vorbereitungen zur Einschiffung auf: Diese zwe i 
Monate, sagt er, waren die elendesten, welche er je verlebt habe. Über d en 

1) Autobiographie, Leben, I, S. 72. 

2) Daselbst, S. 53, 34. 

3) Leben, I, S. 348. 

4) Daselbst, S. 354. 

5) Daselbst, S. 262. 

6) Daselbst, S. 357, 358. 

7) Daselbst, S. 362. 

8) Daselbst, S. 310, 322, 326, 357, 359. 

9) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 100. 

10) Daselbst, S. 105. 

11) Autobiographie, Leben, I, S. 51. 









7o 


Imre Hermann 


Gedanken, seine ganze Familie und alle seine Freunde auf mehrere Jahre 
zu verlassen, geriet er in eine sehr niedergeschlagene Stimmung, er wurde 
von Herzklopfen und Schmerzen in der Herzgegend beunruhigt und war 
überzeugt, er habe einen Herzfehler. 1 2 

Nun hörten wir bereits, Darwin faßte die Fahrt als eine Wiedergeburt 
auf.” Dieser Gedanke und die Ablösung der Libido von den Lieben konnten 
die Geburtsangst im Bilde der Angstneurose schon reproduzieren. Die 
Geburtsangst ist aber Zwillingsschwester der Todesangst. Hat Darwin 
keinen Grund zur Todesangst gehabt? Wir erfahren, daß das Schiff während 
dieser argen Zeit schon zweimal den Versuch machte auszulaufen, aber 
beide Male durch heftige Stürme zurückgetrieben wurde. Das Schiff war 
eines der ziemlich kleinen, unmodernen Fahrzeuge, welche den Spitznamen 
„Särge hatten, wegen der Leichtigkeit, mit welcher sie bei bösem Wetter 
untergingen. 3 Die Todesangst, angestachelt vom alten Schuldgefühl wegen 
Tötung der Tiere (des Vaters) war also hier am Werke. Eine Anspielung 
darauf gibt Darwin selbst, wenn er beschreibt, in welchem halb toten, halb 
lebendigen Zustand er die letzten wenigen Tage an Bord verbracht hatte. 4 5 

Am Schiffe selbst wurde Darwin von der Seekrankheit übermannt. 
An sich wäre daran vielleicht noch nichts Bemerkenswertes. Zu der un¬ 
schuldigen Natur dieser Krankheit stimmt aber die Erinnerungsfälschung 
Darwins nicht, wonach er nach den ersten drei Wochen nicht mehr faktisch 
seekrank gewesen sei. „Aber nach seinen Briefen zu urteilen“ — sagt der 
Biograph, Francis Darwin — „und nach den Zeugnissen einiger der Offiziere, 
scheint er in späteren Jahren die Größe des Unbehagens, an dem er litt, 
vergessen zu haben.“ 3 „Er litt schrecklich an der Seekrankheit“, sagt z. B. 
ein Reisegefährte. Darwin selbst war also nicht geneigt, die Wichtigkeit 
und die lange Dauer der Seekrankheit anzuerkennen, er führte sein späteres 
Leiden entweder auf Vererbung oder auf eine während der Seereise in Süd¬ 
amerika durchgemachte Krankheit zurück, bei der „sämtliche Absonderungen 
des Körpers affiziert waren“. 6 


1) Daselbst, S. 58. 

2) Die eine Ursache, weshalb diese bevorstehende Seereise so stark auf Darwin 
wirkte, ist uns verborgen; daß aber noch eine Ursache vorhanden war, ist daraus 
zu vermuten, daß Darwins erste Kindheitserinnerung bis zur Zeit zurückgeht, in der 
er, über vier Jahre alt, in ein Seebad ging. (Autobiographie, Leben, I, S. 26.) 

3) Leben, I, S. 19g. 

4) Brief vom Jahre 1856, Leben, I, S. 24g. 

5) Leben, I, S. 204, 205. 

6) Daselbst, S. 20g, 206. 



































Cliarles Darwin 7 1 


Die Symptome der Seekrankheit und dieses letzterwähnten Leidens führen 
uns zum Thema Analerotik. Darwin war seit seiner Kindheit ein leiden¬ 
schaftlicher Sammler und wir sind gewöhnt, in dieser Betätigung eine 
Sublimierung der Analerotik zu erblicken. Die Reise bedeutete für Dar¬ 
win selbst zuerst nichts anderes, als noch eifriger zu sammeln. War aber 
nicht etwas Spezielles vorhanden, wodurch die Analerotik an der weiteren 
Sublimierung gehindert wurde und was dann auch die Erinnerungsfälschung 
Darwins verursacht haben könnte? Ja, man bedenke, Darwin war doch — 
ohne darauf vorbereitet zu sein — während der fünf Jahre Reise in der¬ 
selben Situation, wie die Soldaten während des letzten großen Krieges. 

Was englische Frauen betrifft,“ schreibt er einem Freunde, „so habe ich 
beinahe vergessen, was sie sind, — etwas sehr Engelgleiches und Gutes. 
Was die Frauen in diesen Ländern hier betrifft, so tragen sie Hauben und 
Röcke, und einige sehr wenige haben hübsche Gesichter; damit ist alles 
gesagt.“ 1 Demgegenüber war ein Kapitän vorhanden, mit dem er seine 
Kajüte oft teilen mußte, ein sehr vornehmer, feiner, junger Mann: „ein 
schöner Mann, in auffallendem Grade Gentleman, mit sehr feinen und 
höflichen Manieren“, 2 von dem er sehr viel hielt, mit dem er aber sich 
auch mehrere Male zerzankte. 3 Er setzte eine Art von unwillkürlichem 
Vertrauen in sein „beau ideal eines Capitains“. 4 Vielleicht sagt auch die¬ 
jenige Erinnerung Darwins etwas darüber aus, die berichtet, daß der Kapitän 
Fritzroy Darwin anfangs seiner Nasenform wegen zurückweisen wollte. 5 
Was wir aus dieser Zusammenstellung der Daten folgern, ist also, daß 
Darwin in — unbewußte — homosexuelle Versuchung kam und 
deren Verdrängung eine regressive Anhäufung der Analerotik 
und anale Symptome zur Folge hatte. Diese Schlußfolgerung müssen 
wir dann mit unseren früheren Ausführungen über Darwins Zeitgeiz ver¬ 
binden. Mit der neurotischen Art der späteren Krankheit hängt wohl zu¬ 
sammen, daß, nach dem Urteil des Sohnes, Darwins körperliches Aussehen 
kein Zeichen von dem beständigen Unbehagen, unter dem er litt, darbot. 6 

Von der Todesangst gelangen wir wieder zu einer Quelle der „Achtung 
vor der Zeit“, des Zeitgeizes: der ständig bevorstehende Tod drängt den 

1) Brief vom Jahre 1855, Leben, I, S. 242. 

2) Autobiographie, Leben, I, S. 54. 

5) Daselbst, S. 55. 

4) Brief vom Jahre 1851, Leben, I, S. 188. 

5) Autobiographie, Leben, I, S. 54. — Als Anhänger Lavaters fand er in der Nase 
Darwins Anzeichen einer Energielosigkeit und eines Mangels an Entschlossenheit. 

6) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 99. 











/2 Imre Hermann 


ruhmbegierigen Forscher, alle seine Zeit auszunützen. So wird es auch ver¬ 
ständlich, weshalb er ständig in Sorge war, wie er seine noch unveröffent¬ 
lichten Ideen der späteren Bearbeitung durch fremde Hand hinterlassen 
solle („Die Idee, daß die Skizze von 1844 im Falle seines Todes als das 
einzige Zeugnis seiner Arbeit übrig bleiben könnte, scheint ihm lange 
vor der Seele geschwebt zu haben“.) 1 


B 


Zur Darwinschen Theorie von der „Entstehung der Arten 


Die Mängel unserer Arbeitsweise, aus totem Material, aus Autobiographien, 
Briefen, und nicht aus dem lebendigen Flusse einer Analyse selbst analytische 
Aufklärungen gewinnen zu wollen, werden an dieser Stelle unserer Unter¬ 
suchung besonders fühlbar. Wir empfinden ganz deutlich, daß die Darwinsche 
Theorie Produkt der analytisch-biographisch nachgewiesenen unbewußten 
Tendenzen sein muß und sind doch nicht imstande, dieses Gefühl präzise 
in Worte zu fassen und die Beweise für die vermuteten Zusammenhänge 
darzustellen. Wir fühlen z. B., daß der Großvater, Erasmus Darwin, mit 
seiner „Zoonomia“, die sich mit Entwicklungsgedanken beschäftigte, wie 
Charles es selbst anführt, die Entstehung solcher Ideen beim Enkel später 
begünstigte, — wir erfahren, Charles habe in seinen Jugendjahren die Zoo¬ 
nomia seines Großvaters gelesen, aber ohne daß sie eine besondere Wirkung 
auf ihn gehabt hätte, und fünf Zeilen weiter heißt es, daß er etwas später, 
mit etwa siebzehn Jahren die „Zoonomia“ außerordentlich bewunderte. 2 
Auf Ähnlichkeiten in der Statur und im Charakter beider Gelehrten macht 
uns der Biograph auf Grund der Lebensbeschreibung des Großvaters von 
Seiten des Enkels (Charles) aufmerksam. 3 Hier muß also nur noch ein Glied 
in der Kette der Beweisführung ergänzt werden: Charles empfand Verehrung 
für den gelehrten Großvater, vielleicht, um — unbewußt — das Ideal des 
praktischen Vaters fallen lassen zu können, um also feindliche Regungen 
dem Vater gegenüber auf diese versteckte Art zum Ausdruck bringen zu 
können. 4 Er fühlte sich selbst eher als Abkömmling des Großvaters als des 


1) Leben, II, S. 17. 

2) Autobiographie, Leben, I, S. 36. 

3) Leben, I, S. 4—6. 

4) Zur Bekräftigung dieser Ansicht kann angeführt werden, daß der Sohn (Charles) 
von der veröffentlichten Dissertation des Vaters (Robert W.) zu sagen pflegte, die Arbeit 
stamme tatsächlich von Erasmus Darwin (dem Großvater). Leben, I, S. 8, Anmerkung. 
















































Charles Darwin 


73 


und darin liegt schon ein kleiner Teil der Theorie, ein kleiner Teil 
d Lehre eigentlich der letzte Baustein in ihrem Aufbau: 1 * das Problem, 
j en von einem und demselben Stamme herkommenden organischen Wesen 
f nevvo hnende Neigung, in ihren Charakteren bei ihrer weiteren Modifikation 
u jjyergieren“. Diese Divergenz ist es dann, welche mit Hilfe des „starken 
Prinzips der Erblichkeit“ in der abgeänderten Form der Varietät konserviert 
wird 2 Da scheint aber ein Gegensatz den Sinn zu verschleiern. Divergenz 
mit den großväterlichen Eigenschaften und Erblichkeit scheinen einander ja zu 
widersprechen. Nun sieht aber D ar win in derTatsache, daß das Kind oft gewisse 
Charaktere des Großvaters oder der Großmutter oder noch früherer Ahnen auf¬ 
weist eine der vielen, noch zu erforschenden Gesetzmäßigkeiten der Erblich¬ 
keit 3 und sieht in der Tatsache der „Reversion (Rückkehr zu der 
großelterlichen Bildung)“ 4 eine wichtige, auch für die Entstehung der 
Arten bedeutungsvolle Tatsache, die die Möglichkeit zur Folge hat, daß die 
Abkömmlinge von den unmittelbaren Vorfahren in dieser oder jener 
Eigenschaft differieren. Die Unähnlichkeit vom Vater und die Ähnlichkeit 
mit dem Großvater enthalten also in sich die Tatsache der Variation. Die 
Beobachtung dieser Differenz ergibt sich aus der stark ambivalenten Ein¬ 
stellung zum Vater und führt zur Konstatierung dieser Tatsache. So haben 
wir zur Aufklärung der Genese von zwei Grundpfeilern der Darwinschen 
Theorie: Erblichkeit und Variabilität doch ein klein wenig beigetragen. 

Viel genauer können wir analytisch diejenige Seite der Darwinschen 
Theorie dem psychologischen Verständnis näherbringen, die zwar in den 
einzelnen Mechanismen, die nach Darwin die Entstehung der Arten ver¬ 
ständlich machen sollen, wörtlich nicht enthalten ist, aber dem ganzen 
Ideengebäude als Hintergrund dient und Darwins Anschauungen das cha¬ 
rakteristische Gepräge (auch Lamarck gegenüber) verleiht. Es ist dies eben 
die Achtung vor der Zeit. Ebenso wie wir diese — analytisch zugäng¬ 
liche — Eigenschaft in so manchen Beispielen vorfanden und wie er auch 
selbst die Anerkennung seiner Lehre von der Zeit verlangt („ . . . die Zeit 
wird es zeigen, und nichts als die Zeit“), 5 so muß jeder erst diese Achtung 
vor der Zeit sich verschaffen, um zum Verständnis der Theorie zu gelangen: 


1) Autobiographie, Leben, I, S. 75. 

■ 2) Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der 
bevorzugten Rassen im Kampfe ums Dasein. Übersetzt von E. Hack (Reclam). S. 28. 

3) Daselbst, S. 38. 

4) Daselbst, S. 3g. 

5) Leben, II, S. 309, Brief aus dem Jahre 1860. 











74 


Imre Hermann 


„Wer Charles Lyells großes Werk über die Anfänge der Geologie zu lesen 
vermag . . . und dabei nicht zugibt, daß die verflossenen Zeitperioden sehr 
lang waren, der mag nur gleich diesen Band zuklappen.“ 1 Natürlich wird 
versichert, daß der einfache Lauf der Zeit an und für sich weder för¬ 
dernd noch hemmend bei der natürlichen Zuchtwahl wirkte. Es wird dies 
ausdrücklich erwähnt, da einige Kritiker irrtümlich der Ansicht waren, 
das Element der Zeit spiele bei Darwin die wichtigste Rolle: „Der Lauf 
der Zeit ist insofern wichtig, — und in dieser Hinsicht ist seine Wichtig¬ 
keit sehr bedeutend, — als er bessere Aussichten für das Entstehen nütz¬ 
licher Veränderungen bietet und für deren Auswahl, Ansammlung und 
Fixierung. Auch strebt er dahin, die direkte Tätigkeit der physikalischen 
Lebensbedingungen hinsichtlich der Konstitution eines jeden Organismus zu 
vermehren.“ 2 3 Aber doch finden sich zahlreiche Hinweise in dieser Art: 
Die natürliche Zuchtwahl hat „unvergleichlich mehr Zeit“ für ihre Tätig¬ 
keit als die menschliche der Züchter (S. 119). „Wie flüchtig ist des Men¬ 
schen Wünschen und Streben! Wie kurz ist seine Zeit! Wie armselig sind 
daher seine Resultate, verglichen mit denen der Natur, welche sie im Laufe 
ganzer geologischer Perioden angesammelt hat!“ (S. 120). „Wir sehen 
nichts von diesem langsam fortschreitenden Wechsel, bis die Hand der 
Zeit auf das abgelaufene Zeitalter hinweist“ (S. 121). Er glaube, die 
natürliche Zuchtwahl wirke gewöhnlich sehr langsam, nach langen Zeit¬ 
räumen (S. 150), sie habe, je nach der Menge der Zeit, die Tendenz zur 
Rückkehr und weiteren Veränderung, mehr oder minder bemeistert (S. 209). 
Man lasse gewisse Prozesse Millionen von Jahren dauern (S. 242). Nichts 
macht „auf den Geist einen stärkeren Eindruck von der langen Dauer der 
Zeit nach unseren Begriffen von Zeit —“ als aus geologischen Daten 
gewonnene Überzeugung (S. 423). „Die Meinung, daß Arten unverwandel- 
bare Produkte sind, währte fast unvermeidlich so lange, als man wähnte, 
die Geschichte der Erde verkünde nur deren kurzen Bestand . . . Der Geist 
kann unmöglich auch nur die volle Bedeutung des Ausdruckes eine Million 
Jahre fassen (S. 64g). Auch in einem Brief vom Jahre 1856 wird versichert, 
daß das Vermögen der Auslese „in allerdirektester Beziehung zur Zeit“ stehe. 5 

Die „Entstehung der Arten“ hat noch einen analysierbaren psychologi¬ 
schen Hintergrund, an den man eigentlich glauben muß, noch ehe man 
das Buch gelesen hat. Das ist die Annahme, daß der Mensch keine Sonder- 


1) Entstehung, S. 421. 

2) Daselbst, S. 146—147. 

3) Brief, Leben, II, S. 84. 













































Charles Darwin 7'I 


Stellung unter den lebenden Geschöpfen einnehmen kann, also die Los¬ 
trennung vom narzißtischen Wunsch der Götterhaftigkeit des Menschen. 
In der „Entstehung der Arten“ steht darüber nur ein einziger Satz: „Viel 
Licht mag auch noch über den Ursprung des Menschen und seine Geschichte 
verbreitet werden“ (S. 658); erst das spätere Werk befaßt sich mit der Aus¬ 
arbeitung dieses Themas (Die Abstammung des Menschen und die geschlecht¬ 
liche Zuchtwahl, 1871). Doch in einem Notizbuch vom Jahre 1837/38 wird 
schon angemerkt: „Wenn wir unsere Mutmaßungen mit dem Verstand durch¬ 
gehen lassen wollten, dann könnten die Tiere, unsere Brüder und Genossen 
in Schmerz, Krankheit, Tod, Leiden und Hungersnot — unsere Sklaven in 
den mühsamsten Arbeiten, unsere Genossen bei unseren Vergnügungen — 
sie könnten teilhaben [an?] unserem Ursprung von einem gemeinsamen Vor¬ 
fahren,— wir könnten sämtlich miteinander verschmolzen werden.“ 1 Das 
verstehen wir aber schon; der Mensch und die Tiere sind Brüder, sie haben 
Teil an einem gemeinsamen Ursprung — die Tiere sind doch Totemtiere, 
sie sind da statt des Vaters (vielleicht auch des einzigen Bruders), das ist 
ja eben der Sinn des schon besprochenen Verhältnisses, das Darwin in seiner 
Jugend zu den Tieren hatte. Die Tiere standen aus inneren, unbewußten, 
verdrängten Gründen dem Naturforscher Darwin nahe. Er mußte auch die 
Tiere wegen der zahlreichen Leiden, die er ihnen zugefügt hatte, versöhnen, 
und er versöhnte sie, indem er die Schranke zwischen Mensch und Tier mit 
wissenschaftlicher Beweisführung niederriß. 2 Durch diese Wunscherfüllung 
konnte auf die narzißtische Sonderstellung des Menschen verzichtet werden. 

Und nun können wir auch erkennen, weshalb der wissenschaftliche Grund¬ 
pfeiler, der Malthussche „Kampf ums Dasein“, für Darwin so evident war. 
Dieses Malthussche Prinzip ist bei Darwin der Schiedsrichter zwischen Leben 
und Tod geworden. Die Natur, die Mutter der Lebewesen, wählt in diesem 
Kampf die Tüchtigen aus und beschenkt sie mit Weiterleben, die Untüch¬ 
tigen werden aber durch dieselbe Hand — ob es grausam ist oder nicht 
vernichtet. Darwin hebt dieses Doppelgesicht der natürlichen Zuchtwahl 
oft hervor: „wenn neue Formen entstehen, so müssen manche alten er¬ 
löschen“ (Entstehung, S. 151), die natürliche Zuchtwahl wirkt durch Leben 


1) Leben, II, S. 6. 

2) Bezeichnend ist auch, daß Darwin auf die Galtonsche Aufforderung: „Führen 
Sie irgendwelche Interessen an, die Sie lebhaft beschäftigt haben“, antwortet: „Wissen¬ 
schaft und während der Jugend bis zu einem leidenschaftlichen Grade Jagdvergnügen.“ 
(Leben, III, S. 174.) Wie wenn die Wissenschaft an Stelle dieser Leidenschaft ge- 
treten wäre! 










7 6 


Imre Hermann 


und Tod (S. 257), „nach der Theorie der natürlichen Zuchtwahl ist das 
Erlöschen alter und die Hervorbringung neuer, verbesserter Formen aufs 
engste miteinander verbunden“ (S. 461). „Höchst verwundert zu sein, wenn 
Arten aufhören zu existieren: ist ebensoviel, wie . . . über den Tod [des 
Kranken] sich höchst verwundert zeigen und vermuten, daß er ein gewalt¬ 
sames Ende gefunden habe“ (S. 464). Und: „Aus dem Kampf der Natur, 
aus Hunger und Tod geht daher das Höchste, was wir zu erfassen vermögen, 
die Produktion der höheren Tiere, direkt hervor (S. 659). — Wir erinnern 
hier an die bei Darwin festgestellte Einstellung zu den Tieren, die wir 
auch zu analysieren versuchten: Die Tiere werden geliebt und getötet. 
Darwin tat also dasselbe, was er der Natur in seiner wissenschaftlichen 
Theorie zuschreibt. Bei Darwins Verhalten gegen die Tiere handelt es sich 
um einen Kampf (Jagd), wo der Tüchtige entweichen kann, wo die eigene 
Tüchtigkeit (Geschicklichkeit) zu beweisen ist. Es ist auch hier wieder eine 
Entlastung des Schuldgefühls, denn derjenige, der das im kleinen macht, 
was die Natur im großen tut, kann nicht schuldig sein. Interessant genug 
in dieser Beziehung ist es, daß Darwin die Niederschrift seiner Lehre mit 
einer symbolischen Mordtat begann: „Ich habe“, heißt es in einem Briefe 
aus dem Jahre 1844 (Leben, II, S. 23), „Haufen von Büchern über Agrikultur 
und Hortikultur gelesen und habe nie aufgehört, Tatsachen zu sammeln. 
Endlich kamen Lichtstrahlen und ich bin beinahe überzeugt (der Meinung, 
mit welcher ich an die Frage herantrat, völlig entgegengesetzt), daß die 
Spezies nicht (mir ist, als gestände ich einen Mord ein) unveränderlich sind“. 

c 

Die BegahungsgrunJlagen hei Darwin 

Unter den wichtigsten Charakterzügen Darwins, welche ihn zu einem 
wertvollen Menschen prädestinierten, erwähnen wir seinen Ehrgeiz, „unter 
den Männern der Wissenschaft einen anständigen Platz zu erhalten“, 1 seine 
bloße Freude am Forschen, 2 seine Liebe zur Naturwissenschaft, seine Be¬ 
obachtungsgabe, seinen Fleiß im Beobachten und Sammeln^ seine Gewissen¬ 
haftigkeit, auch m der Verfolgung der Einwände und Ausnahmen, seinen 
Reichtum an Phantasien.(Es sei bemerkt, daß er als kleiner Junge sehr 

1) Autobiographie (aus der Zeit der Seereise), Leben, I, S. sq. 

2) Daselbst, S. 5g. a 

3) Daselbst, S. 92. 

4) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 137. 
























’ 


Charles Darwin 77 


geneigt war, unwahre Geschichten zu erfinden, und zwar immer zu dem 
Zwecke, Aufregung in seiner Umgehung hervorzurufen.) 1 Die selbstgewollte 
Verzögerung der Ausgabe seiner Untersuchungen machte eine scharfe Selbst¬ 
kritik möglich. 2 

Man weiß aber ganz gut, daß solche Eigenschaften einen Menschen wert¬ 
voll machen, ihm die Laufbahn eines Gelehrten eröffnen können, ohne die 
Produktivität des Forschers, die Vertiefung seiner Ideenwelt zu ver¬ 
bürgen. Es muß da noch eine spezielle Begabung zur Entfaltung gelangen. 
Wir stellen hier diejenigen Symptome zusammen, welche auf die Begabungs¬ 
grundlagen bei Darwin hinweisen. Selbst der bekannte Satz „Genie ist Fleiß“ 
muß in unseren Begründungen eine Berücksichtigung finden. 3 

1) Mund. Kam er in Verlegenheit, so stotterte er; als Knabe hatte er 
das iv nicht aussprechen können. 4 „Er hatte, zu seinem eigenen Unglück, 
eine knabenhafte Vorliebe für Süßigkeiten, während ihm doch beständig 
verboten wurde, solche zu essen. Im Halten seiner ,Gelübde“, wie er es 
nannte, keine Süßigkeiten mehr zu essen, war er nicht besonders erfolg¬ 
reich, und er hielt dieselben niemals für bindend, wenn er sie nicht laut 
getan hatte.“ 5 Wein trank er sehr wenig, erfreute sich aber auch an dem 
Wenigen. 6 In der Jugendzeit in Cambridge trank er in Gesellschaft ziem¬ 
lich oft und einmal zu viel. 7 Er rauchte, aber nur, wenn er sich ausruhte. 8 
Er litt an einem Ekzem, das die Lippen stark angriff. 9 Er besaß kein 
Sprachtalent. 10 

2) Hand. Er war von Natur ungeschickt mit seinen Händen und konnte 
nicht zeichnen. 11 Er gestikulierte gerne und benutzte häufig die Hände, um 


x) Autobiographie, Leben, I, S. 27. 

2) Daselbst, S. 85. — Als neurotischer Grübler (Winterstein, Psychoanalytische 
Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie. Imago, II, 1915, S. 224) gehörte Darwin 
zu denjenigen Forschem, bei denen die ursprüngliche Beschäftigung mit den Kom¬ 
plexen der infantilen Sexualforschung in ihren Werken noch bemerkbar ist (Geschlecht¬ 
liche Zuchtwahl, Hermaphroditismus, Hybriden, Befruchtung der Orchideen usw.). 

3) Vgl. die Ausführungen dieses ganzen Abschnittes mit des Verfassers Arbeit über 
G. Th. Fechner. Imago, Bd. XI, 1925; auch separat im Internationalen Psychoana¬ 
lytischen Verlag 1926. 

4) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 128. 

5) Daselbst, S. 106. 

6) Daselbst, S. 106. 

7) Daselbst, S. 106, und Autobiographie, S. 44. 

8) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 109. 

9) Brief vom Jahre 1829, Leben, I, S. 162. 

10) Autobiographie, Leben, I, S. 30. 

11) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 97, 98. 










7 8 


Imre Hermann 


irgend etwas zu erklären. „Er tat dies bei Gelegenheiten, in denen die meisten 
Menschen ihre Auseinandersetzungen durch eine rohe Bleistiftskizze erläutern 
würden.“ 1 Er litt vermutlich auch an Handekzem, darauf beziehen sich viel¬ 
leicht die folgenden Zeilen: „Frage meinen Vater, ob er etwas dagegen ein¬ 
zuwenden hat, wenn ich für kurze Zeit Arsenik nehme, da meine Hände 
nicht ganz gut sind, und ich immer beobachtet habe, daß, wenn ich sie 
einmal gut bekommen habe und ich verändere ungefähr zu derselben Zeit 
meine Lebensweise, sie meistens gut bleiben.“ 2 Ein Symptom seiner Nervo¬ 
sität war Händezittern. Er erinnert sich an das Händezittern, das er bekam, 
als er seine erste Schnepfe schoß, — und doch wurde er ein sehr guter Schütze, 
was sicherlich große Anforderungen an die Ruhe der Hand stellt. 

Nehmen wir, laut unserer Theorie, an, daß die eine Grundlage der 
Rede- und Dichtkunst die spezifische Sublimierung der Oralerotik, der 
Handgeschicklichkeit (auch in künstlerischen Auswirkungen) die spezifische 
Sublimierung der Handerotik ist, so erhalten wir folgenden Stammbaum: 

William 
Rechtsanwalt, Mund 

m I 

William 

(?) 


William Robert 

Rechtsanwalt, Mund 


Robert Waring William Alvey John Erasmus 

Hang zur Dichtkunst (?) Pfarrer, Mund Dichter und Philosoph, 

Mund starke Neigung für alle 

Arten von Mechanismen, 
Schriftsteller. Neigung 
zum Stottern. 
Hand, Mund 


Robert Waring 

(Vater). Aß merkwürdig wenig, 
trank nie einen Tropfen alkoho¬ 
lischer Flüssigkeit, hatte großen 
persönlichen Einfluß, „zeigte 
sich in der Unterhaltung mit 
einer Reihe von Leuten während 
des ganzen Tages“. Große Men¬ 
schenkenntnis (Identifizierung?). 

Mund? 


C harles 

starke Neigung zur Wissen¬ 
schaft,zumV ersemachen und 
zu mechanischen Künsten, 
Stottern, legte Sammlungen 
aller Art an. 

Hand, Mund 


Erasmus 

machte Gedichte, Sammler, 
Selbstmord in Geistes¬ 
störung. 

Mund 


1) Daselbst, S. 99. 

2) Brief vom Jahre 1831, Leben, I, S. 188. 

































Charles Darwin 


Darwin selbst bemerkt über den zweiten seiner Söhne, er soll starke Neigung 
zu mechanischen Sachen haben 1 (Hand). Man muß somit ein erbbar stärker 
erotisiertes, der Sublimierung geneigtes, auch nervöse Symptome produzieren¬ 
des Hand-Mund-System bei Darwin annehmen. 2 

5) Nur zu vermuten ist, daß die Riechorientierung einen starken 
Anteil an der Arbeit Darwins für sich beansprucht. Wir haben nämlich 
die Annahme aufgestellt, daß die Arbeitsstereotypien als schwache Reiz¬ 
mittel der in der Regabung wirkenden fakultogenen Grundlagen wirken 
und bei Darwin finden wir, daß er während der Ruhe rauchte (quasi eine 
„Vorlust erzeugende fakultogene Reizung), während der Arbeitsstunden aber 
Schnupftabak sein Reizmittel war. Wenn er das Schnupfen eine Zeitlang 
aufgab, so fühlte er sich „lethargisch, gedankenlos und melancholisch“. 3 4 — 
Eine kleine Bemerkung läßt auch die lustspendende Wirkung gewisser Ge¬ 
rüche erkennen: „ich habe Skelette von zahmen und wilden Enten gemacht 
(o, der Geruch von gut gekochter, mazerierter Ente!!) . . 

4) Das, was wir Seherkomplex nannten, sehen wir in jener Ausprägung, 
in der wir ihn bei Dichtern anzutreffen pflegen, nicht ausgebildet. Wirksam 
war aber dieser Komplex bei dem Vater und — unserer Theorie gemäß — 
beim Großvater (Dichter). Die Beobachtungsgabe und die Gabe, sich an 
Gesichter von Personen, die er früher gekannt hatte, lebhaft zu erinnern, 5 
sowie das Haftenbleiben der Erinnerung an räumlichen Daten („wie gut 
erinnere ich mich noch genau seiner Lage!“; ich erinnere „mich genau der 
Stelle, wo das Verbrechen begangen wurde“; „ich kann mich ganz genau 
des Aussehens gewisser Pfähle, alter Bäume und Uferstrecken erinnern, wo 
ich einen guten Fang gemacht habe“; „ich kann mich selbst noch der Stelle 

1) Brief vom Jahre 1855, Leben, I, S. 360. 

2) Der Großvater, Erasmus, besingt in einem Lehrgedichte die große Rolle der 
Hand und ihres verfeinerten Tastsinnes: 

„. . . The hand , first gift of Heaven! to man belongs: 

JVhence the fine Organs of the touch impart 
Ideal figure, source of every art; 

Time , motion, number, sunshine or the storm, 

But mark varieties in Nature's form.“ 

Aber bei jungen Hunden und ebenso auch bei jungen Menschenkindern seien die 
Lippen die Hauptorgane, mit Hilfe welcher sie sich eine Vorstellung über die 
Dinge verschaffen. (E. Krause, Erasmus Darwin, Nr. 6 der Darwinistischen Schriften. 
1880, S. 170, 233.) 

3) Erinnerungen des Sohnes, Leben, I, S. 109, 110. 

4) Brief vom Jahre 1855, Leben, II, S. 46, Anm. 

5) Lehen, III, S. 231. 












8o Imre Hermann 


erinnern, wo mir, während ich in meinem Wagen saß, die Lösung einfiel“) 1 
zeigen die Betontheit der Organgrundlage dieses Komplexes, des Auges, der 
Schaulust. 2 Die Achtung vor der Zeit haben wir schon als Folge dieses 
Komplexes beschrieben. Doch können wir nicht unerwähnt lassen, daß 
manchmal seihst hei Charles Darwin der Seher-Komplex ebenso wie beim 
Vater und wie es bei den Dichtern zu sein pflegt, sich auswirkte. Er selbst 
schreibt sich „Liehe für Neues und Wunderbares“ zu, 3 was schon eine 
Affinität zum Sehertum darstellt, und dann spricht er es selbst in der 
„Entstehung der Arten“ aus: „Wir vermögen insofern einen prophetischen 
Blick in die Zukunft zu werfen, als wir Voraussagen können, daß es die 
allgemeinsten und weitverbreitetsten der größten und dominierenden 
Gruppen jeder Klasse sein werden, die schließlich vorherrschen und neue, 
dominierende Arten hervorbringen werden.“ 4 Ja, seine wissenschaftliche 
Tätigkeit war stets auf die „Gründe“, auf die Kausalität gerichtet, er duldete 
keine Finalität in der Naturwissenschaft, und doch dient alles Kausale nur 
dazu, um in die Zukunft schauen zu können! Über einen Artikel, die er 
in einer Zeitschrift las, schreibt er auch: „Er ist ausgezeichnet; es finden 
sich darin einige schöne Sätze darüber, daß das eigentliche Wesen der 
Wissenschaft Vorhersage ist . . .“ 5 

5) Der Totenkomplex erscheint wieder nicht in derjenigen Gestalt, 
in welcher er auf Grund der Analyse von Dichtern beschrieben wurde, 
aber bei Darwin gehört die Seelenrichtung zum Totenkomplex, die wir 
unter dem Titel „Die Tiere werden geliebt und getötet“ beschrieben haben. 
Doch, ein Hang zur Melancholie war bei Charles, beim Vater, den auch 
kleine Vorkommnisse sehr verstimmten, vorhanden und erschien ausgeprägt 
bei dessen Bruder Erasmus. Die Ambivalenz dem Leben gegenüber (der 
narzißtische Totenkomplex) war also bei Charles manifest werdend zugegen, 
war aber größtenteils auf die Tiere verschoben in Erscheinung getreten. 
Der Tod selbst spielte als Ereignis durch den frühen Verlust seiner Mutter 
in seinem Leben eine Rolle. 

6) Die übergangs-masochistische Schmerzgrundlage der Ge¬ 
dankenvertiefung ist von Darwin selbst in seltener Klarheit beschrieben 







1) Autobiographie, Leben, I, S. 28, 29, 47, 75. 

2) Über die Verbindung Schaulust—Forschung siehe bei Winterstein, a. a. O., 
S. 185. 

3) Antwort auf Galtons Fragen, Leben, III, S. 17«. 

4) a. a. O. S. 658. 

5) Brief an Lyell, aus dem Jahre 1838, Leben, I, S. 274. 


h 


J 
































Cliarles Darwin 81 


worden. Es sei hier nicht nur davon die Rede, daß Darwin seit einer 
Zeit, die noch vor seiner ernstwissenschaftlichen Laufbahn beginnt, viel 
Schmerz und körperliches Leid zu erdulden hatte, so daß er sich fast täglich 
beklagen mußte, sondern besonders davon, daß er den schmerzlichen Gefühlen, 
dem Unbehagen und der Ermüdung mit Anspannung aller Kräfte durch 
geistige Arbeit entgegen arbeitete; sein Narkotikum war die geistige 
Arbeit. Auf die Frage Galtons „Energie des Körpers, u.s.w.?“ antwortet 
er: „Energie, sich in großer Tätigkeit zeigend und solange ich gesund war, 
Fähigkeit, der Ermüdung zu widerstehen. Ich und noch ein einziger Mann 
waren allein imstande, für eine große Menge von Offizieren und Matrosen, 
die gänzlich erschöpft waren, Wasser zu holen.“ 1 Während der Seefahrt, 
von der Seekrankheit gepeinigt, mußte er sich eine Zeit lang auf der 
einen Seite des Tisches lang ausstrecken, um sich in den Stand zu setzen, 
„seine Arbeit für eine Weile wiederaufzunehmen, worauf er sich dann 
von neuem niederlegen mußte.“ 2 Seine hauptsächlichste Freude und 
alleinige Beschäftigung während seines ganzen späteren Lebens soll wissen¬ 
schaftliches Arbeiten gewesen sein, „und die mir durch derartige Arbeit 
werdende Anregung läßt mich für die Zeit mein tägliches Unbehagen 
vergessen oder drängt wohl auch vollständig zurück“. 3 Das Konzentrieren 
der Gedanken und den energischen Fleiß gewöhnte er sich am „Beagle“ 
an und diese fünfjährige Dressur war es, welche ihn dazu befähigt haben 
soll, in der Wissenschaft das zu leisten, was er eben geleistet hat. 4 Außer 
den bereits in dieser Arbeit herangezogenen und in dem Artikel „Organ¬ 
libido und Begabung“ 5 mitgeteilten Daten soll noch, zur Bekräftigung 
unserer Behauptung, folgende Stelle hervorgehoben werden: „In den Jahren 
1839—1842, in London, habe ich weniger wissenschaftlich gearbeitet, ob¬ 
schon ich so anstrengend, wie ich es nur möglicherweise konnte, und so 
wie in irgendeiner andern gleichlangen Zeit in meinem Leben gearbeitet 
habe. Dies war die Folge häufig wiederkehrenden Unwohlseins und einer 
langen und ernstlichen Krankheit. Den größten Teil meiner Zeit, so oft 
ich nur irgend etwas tun konnte, widmete ich meiner Arbeit über Ko¬ 
rallenriffe ... Es kostete mich doch zwanzig Monate harter Arbeit.“ 6 Es 


1) Leben, III, S. 174. 

2) Leben, I, S. 205, von Lort Stokes beschrieben. 

3) Autobiographie, Leben, I, S. 71. 

4) Daselbst, S. 57. 

5) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. IX, 1923. 

6) Autobiographie, Leben, I, S. 62. 


Imago XIII 


6 













82 Hermann: C f)ar 1 es' Darwin 


sei aber, um Mißverständnisse zu verhüten, ausdrücklich bemerkt, daß die 
Schmerzverhütung durch die Denkarbeit nur bei einem gewissen, milderen 
Grad des Schmerzes möglich ist; vielleicht ist aber eben dieser Grad 
bezeichnend für den Grad der geistigen Vertiefung, der den einzelnen 
Menschen charakterisiert. War Darwin seekrank und fühlte er sich elend, 
dann war es sein größter Trost, sich die Zukunft auszumalen, 1 hier verfehlte 
aber das realangepaßte Denken seine narkotische Wirkung und es mußte 
zur Phantasie gegriffen werden. Infolge der Schwäche und des Kopfschwindels 
war er auch öfters nicht imstande, tiefere Reflexionen anzuknüpfen und 
konnte sich neuen Gegenständen, die viel Nachdenken erfordern, nicht 
hingeben. 2 * Die ambivalente Einstellung schimmerte also auch hier durch. 
Die Krankheit war der Erreger von tiefen Gedanken und auch der Ver- 
scheucher von solchen. Dasselbe sehen wir auch bei Fechner. 

Auch in dem größten Forscher des Entwicklungsgedankens kam somit 
dasjenige System, das sich in der Menschwerdung am meisten von der 
Tiefe erhob, aber auch die allerersten individuellen Entsagungen erdulden 
muß (Lostrennung von der Mutter),^ das Hand-Mund-System, zur pro¬ 
duktiven Kraftentfaltung, vielleicht die ganze Denkweise zu einem Schritt 
des Erhebens zwingend; es gewann zur Hilfe die Nase, ein anderes, von 
der Erde sich erhebendes Organ (Freud), 4 knüpfte sich an eine der größten 
Leistungen des (Vor)bewußten, des Verständnisses des Zeitlaufes; er 
selbst erhob sich über die eigene menschliche Natur, indem er sich über den 
Schmerz erheben konnte. Sollen wir uns aber, nachdem wir den biologi¬ 
schen Sinn dieser Grundlage verstanden haben, wundern, wenn wir bei 
jedem nach etwas Höherem strebenden Forscher dieselben Grundlagen, 
wenn auch anders gruppiert und mit anderen Kräften (mit der Überwin- 
dung des Gedankens an den Tod, in ihren verschiedenen Formen) verwo¬ 
ben, in einer andern einheitlichen Wirkungsgestalt vereinigt vorfinden? 


1) Brief vom Jahre 1833, Leben, I, S. 224. 

2) Leben, I, S. 282, 283. 

5 ) Vgl. mit der Studie über Fechner, S, 49 der Sonderausgabe. 

4) Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Ges. Scliriften, 
Bd. VIII, S. 350. 































Bedeutung der Libidosckicksale für die Bildung 

religiöser id een 

(„Das dritte Testament“ von Anna Nilco lajewna Sek mi dt) 


von 

F. LowtzLy 

Berlin 


Dem über Anna Schmidt vorliegenden biographischen Material ist zu 
entnehmen, daß sie am 30. Juli 1857 als Kind einer adligen Familie ge¬ 
boren wurde. Trotz ihres deutschen Namens waren ihre Eltern doch rein 
russischer Abstammung. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern und wurde 
streng im christlichen Geist erzogen. Ihre Mutter war sehr fromm, kam 
allen religiösen Obliegenheiten genau nach und hielt auch alle Fasten ein. 
Ihr Vater war Jurist und bekleidete eine staatliche Stellung in einer Ge¬ 
richtsinstitution. Sie hatte keine Schule besucht, absolvierte dagegen die Reife¬ 
prüfung am humanistischen Knabengymnasium mit Auszeichnung. Sie be¬ 
herrschte das Französische gut und war drei Jahre lang Lehrerin dieser 
Sprache an einem Mädchengymnasium, das sie aber verlassen mußte, weil sie 
in hohem Grade rheumatisch war. Als sie noch jung war, verlor ihre Familie ihr 
Vermögen, und so war sie darauf angewiesen, sich ihr Brot selber zu ver¬ 
dienen. Ihr war jede Arbeit recht: sie übersetzte aus fremden Sprachen, sie 
arbeitete an Zeitungen, schrieb die Lokalchronik, Theaterrezensionen usw. 

Was ihre religiösen Ideen betrifft, so ist hierin eine große Verwandtschaft 
mit den Ideen des bekannten russischen Philosophen Wladimir Solowjow 
festzustellen. Nicht lange vor dessen Tode hat sie im Briefwechsel mit ihm 
gestanden und ihn auch einmal persönlich getroffen. Dieser Briefwechsel 
hat sich erhalten. Am 8. März 1905 ist sie an Gehirnentzündung gestorben. 

* 


6 * 





84 


F. Lowtsky 


So schmachtet sie lange noch hier auf der Welt, 
Vom wundervoll einzigen Wunsche erhellt, 

Und nie zu ersetzen den himmlischen Klang 
Vermocht ihr der Erde eintöniger Sang. 

M. J. Lerraontow. 

„A. N. Schmidts Schriften müssen nicht nur als Werke betrachtet werden, 
deren Wert bestritten werden kann, sondern auch als biographisches Material, 
und zwar als einzigartiges, durch nichts sonst zu ersetzendes Material. Denn 
auf welche Weise könnte man wohl sonst über ihr Leben berichten, — 
und dürfte man wiederum dieses auf seine Weise ganz außerordentliche, 
bisher unbekannte Leben der Vergessenheit anheimfallen lassen oder es ge¬ 
heimhalten? Mögen denn jene, die auf ihre Ideen nicht eingehen wollen, 
ihre Schriften als biographisches Material betrachten, handelt es sich doch 
dabei natürlich vor allen Dingen nicht um ,Schriften 1 , sondern um eine 
autobiographische Beichte.“ 1 

Tatsächlich sind nun A. N. Schmidts Schriften in dem Sinne eine auto¬ 
biographische Beichte, als sie ihren inneren Erlebnissen Ausdruck geben. 
Diese Erlebnisse liegen in Form von Offenbarungen, „des dritten Testaments“ 
und ihres Tagebuchs vor. Diesen Werken messen die bedeutendsten Ver¬ 
treter des russischen Denkens ungeheure mystische Bedeutung bei. Die Ver¬ 
fasser des Vorwortes zu A. N. Schmidts Werken betrachten „das dritte Testament“ 
nur darum nicht als Offenbarung, weil „eine derartige Bewertung überhaupt 
nicht der individuellen Beurteilung, sondern der kirchlichen Vernunft zu 
unterliegen hat , 2 „Das dritte Testament“, wie auch alle Schriften A. Schmidts 
werden von ihnen dem Typus der Mystik 3 4 des natürlichen . . . Eindringens 
der Menschen in die Tiefen der Welt zugerechnet. Ihm liegt „echte 
Erfahrung, die mitunter durch das Prisma von ,Psychologismen 1 gebrochen 
erscheint, zugrunde, und daher kann es außer wertvollen mystischen Erkennt¬ 
nissen auch zu fehlerhaften Schlüssen führen“.' 1 ' 

Von diesen Fehlern wird noch weiter unten zu reden sein; zunächst ist 
es von Interesse, zu vermerken, was für eine hohe mystische Bedeutung 
dieser Erfahrung zugeschrieben wird. Von der religiösen Bewertung ab¬ 
gesehen, betrachten die Verfasser der Einleitung zu A. N. Schmidts Buch 


1) „Aus A. N. Schmidts Handschriften.“ 1016. S. XV (Vorwort). 

2) Ib. XIV. 

5) Sperrdruck der Verfasser des Vorworts. 

4) Ib. XIV. 




















Bedeutung der I.i mdo.scliicksale für die Bildung religiöser Ideen 


85 


deren Schriften „als eines der bedeutendsten Dokumente des mystischen 
Schrifttums, die den Werken solcher Koryphäen der Mystik wie Dt. Pordag, 
Jakob Boehme, die heilige Theresia, die von der katholischen Kirche kanoni¬ 
siert wurde, Saint-Martin, Svedenborg u. a. zumindest nicht nachstehen; was 
aber ihre Eigenart, das Fehlen jeglicher literarischer Einflüsse, die Eigen¬ 
art des Tones und der Besonderheiten bei der Lösung mystischer Fragen 
betrifft, so dürfte A. N. Schmidt auch unter den berühmtesten Mystikern 
ein ganz besonderer Platz gebühren . . .“ „Wir zweifeln gar nicht daran, 
daß A. N. Schmidts Schriften in literaturhistorischer Hinsicht als Denkmal, 
als eine wertvolle Bereicherung des noch nicht edierten corpus mysticorum 
ornnium Anerkennung finden werden.“ 1 2 Diese außerordentliche Bedeutung, 
die von den hervorragendsten Vertretern des russischen Denkens A. N. Schmidts 
Schriften beigemessen wird, — betrachten sie sie doch „als prophetisches 
Schauen des Menschen in die Tiefen der Welt“, vielleicht sogar als „Offen¬ 
barung“, — dann das Ungewöhnliche ihrer Behauptungen, ihre außer¬ 
ordentliche Phantastik, die so sehr das Maß übersteigt, daß selbst ihre 
Anhänger von einer „Aberration“ sprechen, die als Folgeerscheinung der 
Brechung ihrer Erfahrung „im Prisma von Psychologismen“ zu erklären 
sei, —7 das alles zusammengenommen gibt der Verfasserin der vorliegenden 
Arbeit Anlaß, ihre Aufmerksamkeit A. N. Schmidts Schriften zuzuwenden. 

Was stellen nun diese Schriften eigentlich vor? Handelt es sich wirklich 
um ein prophetisches Schauen des Menschen in die Tiefen der Welt? 
Diese Frage erheben auch die Verfasser der Einleitung zu ihren Schriften. 
„Woher“, — so fragen sie, — „hat A. N. Schmidt ihre Fragen geschöpft, 
um von ihren tiefen und des öfteren wahrhaft weisen Lösungen, von ihren 
tiefdringenden Worten ganz zu schweigen? Und weiter, wie konnte dieses 
vom Schicksal so stiefmütterlich behandelte Wesen mit einer Gewißheit über 
sich selber reden und denken, wie es wohl keine Königin auch in den aller¬ 
kühnsten Träumen nie gewagt hätte, über sich zu denken und zu reden? Ist 
das aber Wahnsinn, wo wären da die Symptome des Wahnsinns?“ 3 

Antwort auf diese Fragen geben A. N. Schmidts Schriften, das „dritte 
Testament“ und ihr Tagebuch. Sie sind eine Beichte nicht nur ihrer be¬ 
wußten, sondern auch ihrer unbewußten Erlebnisse, die in phantastischen 
Bildern und Formen ihren Ausdruck fanden. 

Jede Phantasie wie auch jeder Traum hat nach Freud einen eigenen Sinn. 
Sie sind der Ausdruck der geheimsten Erlebnisse des Menschen, die sich 


1) Ib. XI. 

2) Einleitung XI. Sperrdruck der Verfasser der Einleitung. 












86 


t . Lowtsky 


jenseits der Schwelle seines Bewußtseins befinden, und darum nennt Freud 
Phantasien dieser Art „Tagträume“. Diese unbewußten Erlebnisse haben 
bekanntlich ihre eigene Ausdrucksart, ihre eigene Symbolik der Rede, die 
dem gewöhnlichen Bewußtsein unverständlich ist. Mit Hilfe des von Freud 
gefundenen Schlüssels zur Lösung dieser Sprache hofft die Verfasserin der vor¬ 
liegenden Arbeit zu ermitteln, welchen Sinn A. N. Schmidts autobiographische 
Beichte hat, und welche unbewußte Erlebnisse sie zum Ausdruck bringt. 

Anna Schmidt sagt, sie wäre von Gott erwählt worden, um Seine Offen¬ 
barung und Seinen Willen den Menschen zu verkünden und sie zu Seinem 
Werk zu rufen. Zum erstenmal hat Gott zum Volke Israel durch Moses 
geredet; zum zweitenmal ist Er selber in Israel erschienen; nun will Er 
sich wieder an seine Herde wenden und den Menschen viele Geheimnisse 
durch sie, nämlich durch Anna Schmidt, offenbaren: „Ich aber, der Er 
dieses aufgetragen hat, bin die Kirche Christi, die einige und lebendige 
Kirche, bin der ökumenische und apostolische Geist“ (280). Auch ist sie 
die Weltseele. Ihr Geist besteht aus der vollen Gemeinsamkeit aller mensch¬ 
lichen Geister, der gesamten, materiellen Welt. Indem sie sich selber mit 
der Welt identifiziert, ist sie dennoch nicht eine abstrakte Vorstellung, 
sondern eine Persönlichkeit, die ein lebendiges geistiges Antlitz trägt (25); 
auch ist sie Gottes Tochter — Margarita, „deren Bild bisher in tiefstem 
Geheimnis ruhte und nur dem Himmel bekannt war“ (29). 

Die erste Geist-Familie bestand zu Anfang der Welt aus Gott dem Vater, 
aus Seinem Sohn Christus, dem urewigen Jüngling, in dem Gott Vater 
Sich Selber gebar, und aus der Tochter Gottes — Margarita, der urewigen 
Jungfrau. Diese Tochter Gottes bildet ebenfalls ein „den Sohn Gottes er¬ 
gänzendes Wesen“. „Sie ist ein ,Engel 1 , der die Gestalt einer sehr jungen 
Frau hat (nach irdischer Auffassung ist er vierzehn Jahre alt). Sein Leben 
verleiht ihm die Tochter Gottes“ (31). Anna Schmidt ist nicht nur die 
Tochter Gottes und die Schwester Christi, sondern auch seine Braut, seine 
Geliebte und seine Frau. 

Gott ist die Liebe. Die Liebe ist eine Idee, die dem Sein zugrunde liegt, 
„um derentwillen das Sein eine Seligkeit ist“. „Es gibt nur eine solche 
Idee sagt A. N. Schmidt — „und keine andere Idee könnte aus sich 
selber das Sein schöpfen und es sich nur durch den eigenen Willen ver¬ 
leihen“ (23): 

Die Liebe (die Idee) ist, wofern sie einem jeden Geist gleichermaßen 
angehört, unpersönlich; wenn sie aber jedem einzeln, sich von den andern 
unterscheidend, angehört, wird sie persönlich. 


































Bedeutung der Litidosclncksale für die Bildung religiöser Ideen 87 

Die Liebe ist die persönliche Idee Gottes, die Seele Gottes, d. h. in 
Gott ist sowohl die unpersönliche als auch die persönliche Liebe begründet. 
Die Seele (der Geist) besteht nicht nur aus Idee (Trieb). Sie stellt auch 
eine Verbindung von Gedanken und Empfindungen dar. 

Die Liebe kann zweifacher Art sein, — gerade und ungerade. Die 
gerade Liebe ist eine Liebe, die zu ihrer Verwirklichung der Ergänzung 
durch ein anderes Wesen bedarf. „Bei dem geraden Geist kann seine per¬ 
sönliche Idee nicht nur in seinem Lichte erscheinen . . . Eine solche Er¬ 
gänzung pflegt immer der weibliche Geist für den männlichen zu sein, 
und beide bilden ein Paar“ (25). So eine Liebe gab Gott Adam und Eva, 
als er ihnen sagte: „Seid fruchtbar und mehret euch.“ Er hat sie den Baum 
des Lebens genannt. „Alsdann wurden sie (Adam und Eva)“ — sagt Anna 
Schmidt — „füreinander zum Baume des Lebens, denn ihre Verbindung 
sollte andern Wesen, ihren Kindern, das Leben geben“ (62). Anna Schmidt 
nennt diese Liebe auch „erwachsen“, im Gegensatz zur „kindlichen“, un¬ 
geraden, „jungfräulichen“ Liebe, die zu ihrer Verwirklichung keines andern 
Wesens bedarf. „Jedes Fleisch“ — sagt Anna Schmidt — wird „ungerade, 
jungfräulich geboren und kann so bleiben oder gerade werden, indem es 
sich mit anderem Fleisch verbindet.“ Es gibt Liebe der Eltern zu den 
Kindern und der Kinder zu den Eltern, der Brüder und Schwestern zu¬ 
einander, die Liebe von Mann und Frau. Jeder Art von Liebe hat Gott 
ein bestimmtes Objekt zugewiesen. Dieses Gesetz hat Gott der Welt gege¬ 
ben, und durch dieses Gesetz verlor die Welt die Freiheit in der Wahl 
des Objektes der Liebe. 

Der wesentliche Unterschied des männlichen, ungeraden Geistes von 
dem geraden, sagt Anna Schmidt, besteht in seinen besonderen Licht¬ 
emanationen, deren der ungerade weibliche Geist nicht bedarf. Diese Licht¬ 
emanationen des männlichen Geistes haben die Fähigkeit, sich zu ver¬ 
dichten, wenn der Augenblick des Schaffens gekommen ist. 

Die ganze geistige Welt, „die ganze himmlische Natur hat Gott vor 
allen Zeiten durch alle Seine drei Personen geschaffen, aber als Materie 
dienten ihnen nur die Lichtemanationen des Sohnes, weil sie sich ihrer 
Festigkeit nach am meisten hiezu eigneten“ (38), aber Gott Vater hat 
Sich Selber in der Gestalt Seines Sohnes geboren. Indem er folglich die 
geistige Welt durch drei Personen 1 aus Lichtemanationen des Sohnes erschuf. 


1) „Die Namen der drei Personen Gottes sind: Jehova — Gott Vater; Raphael — Gott 
Sohn; Allelujah — Gott Tochter“ (55). 









88 


F. Lcwtsky 


hat er ihn selber aus seinen eigenen Lichtemanationen zusammen mit 
seiner Tochter Margarita erschaffen. 

Die ganze Geisteswelt war von Geistern, von Wesen bewohnt, die Gott 
durch Margarita geboren hat, und die in der Folge Engel genannt wurden. 
„Das Aussehen eines Geistes , sagt Anna Schmidt, „gleicht ganz dem Aus¬ 
sehen der menschlichen Gestalt, und auch um seinen Kopf wehen Haare, 
die aus ganz feinen Lichtfäden bestehen ... In seinem Kopf bilden sich 
Verflechtungen, die dem körperlichen Hirn entsprechen . . . Der Geist hat 
das Herz an derselben Stelle wie auch der Leib, und es besteht aus ver¬ 
dichtetem Licht in derselben Form, denn ebenso wie das Blut in dem 
Körper, so strömt auch immer das Licht, ständig kreisend, durch die inneren 
Schichtungen des Geistes in das Herz“ (24, 25). 

Margarita gebar Kinder, die ihrerseits andere Kinder zur Welt brachten, 
und auf diese Weise begann eine Vermehrung der Geister, die die Geister¬ 
welt erfüllten. In dem Maße ihrer Vermehrung erschuf Gott neue Wohn¬ 
stätten des Geistes für sie, „ebensolche Welten, wie der Himmel es ist, 
von der nämlichen Größe und an demselben Ort wie die ihnen entsprechen¬ 
den körperlichen Welten. Erst erschienen jene, die mit unserer Sonne und 
mit den Sternen, die sie umkreisen, zusammenfielen . . . Alsdann erschienen 
auch die anderen Geistes weiten, die den unzähligen körperlichen Sternen 
entsprachen“ (40, 41). 

So hat denn Gott durch Margarita zunächst die Geisteswelt erschaffen. 
Er erschuf sie mittels seiner Lichtemanationen, die ebenfalls noch geistiger 
Natur waren und sich keine körperlichen Eigenschaften, die für die Schaffung 
der materiellen Welt erforderlich waren, verschafft hatten. Margarita ist ein 
Weib, eine Person. Die Lichtemanationen Gottes verteilen sich über den 
unendlichen Raum. Auch die Strahlen Margaritas gehen in die Unendlich¬ 
keit, „aber nicht durch sich selber, sondern durch die Strahlen des Sohnes 
getrieben, mit denen sie untrennbar verbunden sind“ (37). Diese Verbindung 
des Vaters (Sohnes) mit der Tochter trägt auch noch den Charakter einer 
geistigen Anhänglichkeit, die einer körperlichen Verbindung sehr ähnlich 
sieht, ihr so ähnlich sieht, wie die von Gott geschaffenen Geisteswelten 
den Körperwelten entsprechen und die von ihnen geschaffenen Geister dem 
Aussehen nach dem menschlichen Körper gleichen. Anderseits ist Margarita 
die Mutter, der „ökumenische“ Geist (gesperrt von A. N. Schmidt): in 
ihr sind die sieben Seelen ihrer Kinder versammelt, und jede dieser Kinder¬ 
seelen besteht aus der Gemeinsamkeit zahlloser Seelen. Sie verkörpert die 
Geisteswelt, die Welt der kindlichen Phantasie, die das Vorhandensein der 

























Bedeutung der Libidosducksale für die Bildung religiöser Ideen 


89 


Geschlechtsliebe nicht kennt oder sich noch unklar vorstellt. „Das Antlitz 
der Mutter-Kirche ist halb kindlich . . . Der Zusammensetzung ihrer Seele 
nach (wahrscheinlich ihrer Erlebnisse) ist sie der schwächste unter allen 
erschaffenen Geistern, sie ist sogar schwächer als ihre Kinder“ (34). Aber 
ihre kindliche Anhänglichkeit an den Vater hat bereits erotischen Charakter. 
Ihre Phantasie ist, wie oben angedeutet wurde, gänzlich nach dem Bilde 
der geschlechtlichen Liebe organisiert. 

Zu dieser ihrer geistigen Anhänglichkeit an den Vater gesellt sich als¬ 
bald ganz deutlich ausgesprochene sinnliche Liebe, „da beginnen nun“, 
sagt sie, „neue Lebensbedingungen: die Liebe Raphaels (so wollen wir den 
Sohn Gottes, nach der göttlichen Natur nennen) zu Margarita begann in 
ihm eine neue innere Wirkung auszuüben: sein Licht emanierte so ver¬ 
dichtet, daß man bereits die Zeit voraussehen konnte, da aus ihm eine 
neue Materie entstehen und zur Schaffung einer neuen Welt dienen 
würde“ (41). Aus dieser Materie bildete sich hernach die körperliche Welt. 
Und eben in diesem Augenblick, da sie der Liebe ihres Vaters voll gewiß 
war, und da sich ihre Sehnsucht ihrer Verbindung mit ihm realisieren 
mußte, regte sich in ihrem Inneren ein Gefühl der Empörung gegen ihn. 
Und gleichzeitig mit ihrer Anhänglichkeit an den Vater erwacht in ihr 
auch ein feindliches Gefühl zu ihm. „Einer der Engel“, sagt sie, „es war 
ein vierzigjähriger, ungerader Geist, der aus dem dreijährigen Urewigen 
heraustrat, war mit dem Lebensprinzip unzufrieden“ (41). Er empörte sich 
dagegen, daß in der Liebeswahl keine Willensfreiheit bestand. Dieses Gesetz 
bestand, wie bereits oben bemerkt, darin, daß „eine jede Schöpfung ihr 
ergänzendes Wesen hatte, mit dem es sich hätte verbinden können, und 
daß ein jedes Paar unverbrüchlich zusammenhielt“ (68), d. h., daß jeder 
der bereits früher genannten vier Liebesarten von Gott ein bestimmtes 
Objekt zugewiesen war. Und dieses Gesetz war unverbrüchlich. 

Der Engel bewies, daß die Engel, wofern ihnen die Willensfreiheit 
in der Liebeswahl fehlt, die echte Seligkeit nicht kennen, „ihre Seligkeit 
ist keine Seligkeit“ (23). Die Seligkeit, die der Engel zu besitzen wünschte, 
konnte ihm also nur die verbotene Liebe — die Inzestliebe 1 — gewähren. 

1) Anna Schmidt mutmaßt natürlich nicht, daß die verbotene Liebe die Inzest¬ 
liebe ist. Sie glaubt, diese Liebe wäre Ehebruch; es genügt aber ihre Definition, 
wie sich ihr der Ehebruch darstellt, zu lesen, um sich davon zu überzeugen, daß er 
nichts anderes als Inzestliebe ist. Eine jede Liebe des Menschen, sagt sie, die nicht 
der natürlichen Paarung zugewendet ist, „ist schädlich und erniedrigt den Menschen“. 
Bei einer derartigen unnatürlichen Liebe sieht der Mensch nicht das volle Ebenbild 
des Geistes dessen, den er liebt, und er erkennt nicht, welch ein verwandtes 









Indem der Vater (Gott) dem Engel diese Liebe verbot, weigerte er sich 
hiedurch, seine Liebe zu erwidern. Die Unzufriedenheit des Engels damit, 
daß er keine Gegenliebe seitens des Vaters, also unzureichende Liebe fand,' 
findet ihren Ausdruck in der Phantasie Anna Schmidts über eine ihrer 
Seinsarten auf der Erde. Sie ist eine arme, heimatlose Waise. Ihr Vater 
mußte in den Krieg und hat sie verlassen; * 1 die Mutter ist vor Kummer 
gestorben. Da hat sie die Gottesmutter bei sich aufgenommen, „ihre wahr¬ 
hafte Mutter , Margarita und Christus, erfüllt von gegenseitiger unbe¬ 
schreiblicher Zuneigung, lieben einander sehr. In dieser Sehnsucht zeigt 
sich nicht nur, daß sie mit der nicht genügenden Liebe des Vaters un¬ 
zufrieden war, sondern auch die Realisierung ihres Wunsches, so von ihm 
geliebt zu werden, wie sie selber ihn liebte. Diese Enttäuschung an der 
Liebe des Vaters läßt sie in den Armen der Mutter Zuflucht suchen. „Der 
Engel“, sagt Anna Schmidt, „beneidete Margarita um ihr Sein von Ewigkeit 
her . Ihn „quälte“ diese ihre Überlegenheit über ihn, weil sie dank 
dieses Seins von Ewigkeit her untrennbar mit Gott verbunden 
war. Hievon abgesehen, konnte er es nicht ertragen, daß er „sein Sein 
einem andern verdanke“, daß er nicht „wie der Vater sich selber verwirk¬ 
lichen könne“ (41). Er wollte wie der Vater sein. Und wie der Vater wollte 
er der Schöpfer des Seins werden, doch wollte er nicht nur darum der 
Schöpfer des Seins werden, um wie der Vater zu sein, vielmehr wollte 
er das tun, um an seine Stelle zu treten, und darum „führte er in der 
Welt ein anderes Sein ein . Das war der Haß. „Es war ihm gleich¬ 
gültig, sagt Anna Schmidt, „wozu das führen könnte, wenn er nur das 
Haupt irgendeines Seins wäre, das nirgends, von keinem früher erschaffen 
war“, d. h. wenn er selber nur an die Stelle des Vaters träte. Er wollte 
wie der Vater im Hinblick auf die Mutter sein, und er wollte seine Stelle 
eben im Hinblick auf sie einnehmen. Als Raphael, 2 „getrieben von glühen¬ 
der Barmherzigkeit, ihn von dem Bösen zurückhalten, ihn zur Vernunft 
bringen wollte,“ sagt Anna Schmidt, „vergalt er es Ihm damit, daß er die 
Tochter Gottes und Margarita (die Mutter) schwer beleidigte“. Er beleidigte 
sie damit, daß er „die künftige Schmach und Sünde Liebe nannte und 

Bild in ihm selber bleibt, macht sich aber aus einigen fehlerhaften Anzeichen ein 
ganz falsches Bild von dem, den er lieht . . . „Wenn sich der Mensch dieser Liebe 
hingibt, so wird er krank.“ 

1) Tatsächlich lebte Anna Schmidts Vater weit von ihr entfernt. Er war in Warschau 
angestellt, während seine Familie in Nishnij-Nowgorod lebte. 

2) „Mein neuer Name ist Raphael, der himmlische Name des Sohnes ... in Seiner 
unendlichen Wesenheit, wie Jesus Sein irdischer Name ist“ (56). 




























Bedeutung der Litidoscliicksale für die Bildung religiöser Ideen 


9 1 


hiedurch die Liebe lästerte“. Die künftige Schmach und Sünde ist, wie 
später gezeigt werden wird, Adams und Evas Sündenfall, der darin bestand, 
daß Eva und dann Adam sich der „verbotenen Liebe“ ergaben. Der Engel 
beleidigte also seine Mutter durch seine erotische Anhänglichkeit an sie. 
Von nun ab wurde er unversöhnlicher Feind einer jeden Liebe, „besonders 
aber“, sagt A. N. Schmidt, „zwischen dem männlichen und weiblichen Geist, 
deren Urbild die gegenseitige Liebe des Sohnes und der Kirche 
ist“ (42, 43) (des Vaters und der Mutter). Nicht also nur infolge des 
Wunsches, an die Stelle des Vaters zu treten, aus Eifersucht zu ihm, hat 
sich der Engel den Haß „erdacht“, sondern ebenfalls aus Liebe zum Vater 
und aus Eifersucht zur Mutter, d. h. aus Eifersucht zu der gegenseitigen 
Elternliebe, die ihn zum Feinde einer jeden, insonderheit aber der ge¬ 
schlechtlichen Liebe machen. 

Der Engel wußte nicht, als er in der Welt außer dem bekannten Sein 
(der Liebe) ein anderes (das des Hasses) einführen wollte, daß es schon 
früher von Gott geschaffen worden war. Nur Gott allein war es bekannt, 
daß der Haß nichts weiter ist als die andere Seite (die Umkehrung) des 
Seins (der Liebe), daß folglich Liebe und Haß die Erscheinungsformen der¬ 
selben Wesenheit der Liebe darstellen. „Die Idee Gottes,“ sagt Anna Schmidt, 
„Gottes Seele ist Liebe“ (23). Folglich ist deren Umkehrung Haß. In der 
Seele des Vaters war außer der Liebe auch von ihm selber erschaffener 
Haß vorhanden. Als der Engel „das andere Sein“ in der Welt einführte, 
konnte er daher nur das schaffen, was schon früher vom Vater erschaffen 
worden war. Das ambivalente Verhalten des Engels zum Vater war somit 
eine Antwort auf ein ebensolches Verhalten des Vaters zu ihm, da aber 
„niemand je den Haß gesehen hatte“ (42), ehe ihn der Engel „erdachte“, 
so muß man glauben, daß die feindlichen Gefühle des Vaters zum Engel 
nur eingebildete waren, hervorgerufen durch das Fehlen der Gegenliebe 
seitens des Vaters. Daher entstand wohl auch bei Anna Schmidt das schon 
vorerwähnte Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit, als wäre sie eine 
arme, obdachlose Waise. 

Als der Engel sich gegen den Vater empörte, war er drei Jahre alt; 
es hatten sich also schon im Alter von drei Jahren bei Anna Schmidt 
Liebe und feindliche Gefühle zum Vater ausgebildet. „Zum erstenmal“, 
sagt Anna Schmidt, „vernahm die Geisteswelt, daß dereinst Schmach und 
Sünde sein würden“, d. h. es erwachte in ihr zum erstenmal die erotische 
Zugehörigkeit zu ihrer Mutter, hervorgerufen durch ihre Enttäuschung in 
der Liebe des Vaters. Folglich muß sie schon damals ein Liebesverlangen 












9 2 F. Lowtsky 


gegenüber dem Vater gehabt haben. Eben um dieselbe Zeit regt sich in ihr 
Protest gegen diese Gefühle. Die Liebe zur Mutter nennt sie „eine schwere 
Beleidigung der Tochter Gottes“ (der Mutter), und die feindlichen Gefühle 
zum Vater — „Bosheit, Scheußlichkeit, Unwahrheit“ (42). Es entsteht in 
ihr ein Konflikt zwischen ihren Gefühlen und Wünschen, ein Kampf 
zwischen ihrem Gewissen, das mächtig eine Vernichtung der unerlaubten 
Gefühle forderte, und ihres andern „Ichs“, das danach strebte, sie zu be¬ 
friedigen. Ihre Persönlichkeit spaltet sich, und der Kampf, der daraus ent¬ 
steht, setzt sich offenbar auch im reifen Alter fort, —- der Engel war auch 
vierzig Jahre alt. 

Die Bildung des Gewissens, des Ichideals, aus der Idealvorstellung, die 
sich der Mensch über seinen Vater bildet, beschreibt Anna Schmidt über¬ 
aus lebhaft und anschaulich in dem Aufsatz „vom Zukünftigen“. „Von 
den Ideen ist aber nur eine gut und fruchtbar“, sagt sie, „das ist die Idee 
unserer Ähnlichkeit und der Notwendigkeit der Wiedervereinigung mit 
dem einen einigen Gott . . . Virtuos, wie ein kunstreicher Schauspieler, 
verkörpert er in sich selber sein Idealbild. Er unterscheidet sich vom Schau¬ 
spieler darin, daß dieser nie vollständig und für immer sich mit seiner Rolle 
identifiziert, während ein Mensch, der sein Ideal ,spielt 1 , sich mit ihm 
identifizieren wird 1 . Immer wieder zeichnet er sich, sich selber ver¬ 
bessernd, das Überflüssige fortwischend, Notwendiges hinzufügend . . . Der 
Mensch strebt danach, so zu werden, wie Christus zum erstenmal auf dem 
Berge Tabor erschien. 1 Das war die Harmonie des Inhaltes und der Form, 
des Geistes mit dem Leibe; ein Gedanke, der auf seinem Fluge nicht ge¬ 
hemmt war, ein Gefühl, das in seiner Seligkeit nicht erkaltete, ein Wille, 
ein unmittelbar Gestalt werdender Gedanke; der Körper, leicht und frisch 
wie der Geist; der Geist — verschmolzen mit dem ganzen Leben des 
Leibes“ (6—8). 

Zugleich mit dem sich bildenden Ich-Ideal in Anna Schmidt erwacht 
in ihr das Schuldbewußtsein wegen ihrer Sündhaftigkeit und das Verlangen, 
dafür bestraft zu werden: Der Engel muß für das begangene Verbrechen 
bestraft werden; er wird aus dem Paradiese vertrieben. Die Vertreibung 
des Engels über die Grenzgebiete des Himmels hinaus hat auch noch eine 
andere Bedeutung (Determinierung) — Vertreibung durch das Gewissen 

, da™ Freud, Das Ich und das Es, 1923, S. 44: „Es ist leicht zu zeigen, 

daH das Ichideal allen Ansprüchen genügt, die an das höhere Wesen im Menschen 
gestellt werden. Als Ersatzbildung für die Vatersehnsucht erhält es den Keim, aus 
dem sich alle Religionen gebildet haben.“ 





















Bedeutung der L1 lii <io.sc!uck,s'a 1 e für die Bildung religiöser Ideen 


9 3 


der ihm unerwünschten Gefühle über die Bewußtseinsgrenzen hinaus. In 
Erwiderung auf die Beleidigung der Tochter Gottes (der Mutter) „schleu¬ 
derte ihn der Vater (das Ich-Ideal) wie ein Blitz vom Himmel herab“, 
d h er unterdrückte in sich die verbotenen Gefühle: die Liebe und den 
Haß zum Vater. Und der verdrängte Haß verwandelt sich in übergroße Liebe: 
die Welt wird zum Paradies, zum Reich der triumphierenden Liebe. 

Gott schafft Himmel, Erde, Wasser, er schafft das ganze Tierreich und 
alle Pflanzen, alles, was auf Erden lebt. Alsdann schafft er die Krone der 
Schöpfung, den Menschen, er schafft Eva, sein Weib. Die Schaffung der 
Frau Adams aus seiner Rippe muß bildlich verstanden werden, meint 
Anna Schmidt: „Er erschuf ihren Geist durch die Kraft der Tochter 
aus der ergänzenden Idee seines Geistes, gleichsam aus seiner Rippe“, 
d. h. der Schöpfer Evas, ihr Vater, ist Gott, ihre Mutter (die Schöpferin) 
_Hie Tochter Gottes 1 (61, 62). Auf Erden herrscht nun Glück und Selig¬ 
keit. Die Eltern wohnen fern im Himmel, die Kinder auf Erden, aber sie 
treffen sich und sie reden miteinander. „Krankheit und Tod waren unbe¬ 
kannt.“ Nirgends und mit niemand gab es Kampf und durch nichts störte 
einer den andern, vielmehr half und unterstützte ein jedes Sein das andere. 
Alles in der Natur stand einander bei, alle ihre Gesetze waren nicht auf 
Kampf und auf Widerstand gerichtet, sondern auf Anziehung, auf Neigung, 
auf Verkettung, auf gegenseitige Hilfe, auf Liebe. (63, 64). 

Die gerade und die ungerade Liebe erhält nun wieder Bürgerrechte. 
Das Gesetz der fehlenden Freiheit in der Liebeswahl besteht unver¬ 
brüchlich. 

Inmitten des Paradieses im Garten Eden pflanzte Gott unter anderen 
Bäumen den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis des Guten 
und Bösen. Auch in diesen Worten der Heiligen Schrift erblickt Anna 
Schmidt einen bildlichen Ausdruck. „Der Baum des Lebens und der Baum 
der Erkenntnis des Guten und Bösen“, sagt sie, „war der nämliche (von 
A. N. Schmidt gesperrt) Baum, und das war Adam selber“ (60). Das heißt, 
der Baum der Erkenntnis war also Baum des Lebens, die geschlechtliche 
Liebe, nur war sie verboten, da Gott den Menschen verboten hatte, von 
diesem Baum zu essen. 

Die Seligkeit im Paradiese dauerte aber nicht lange. Satan versucht Eva, 
sie solle vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen essen, und er 
gibt ihr das ein, was dereinst der Engel gesagt hatte, „daß ihr Glück 


1) Vgl. S. 72: Margarita — die Mutter Evas. 










9 4 F. ILowtzlty 


nicht vollständig und nicht wahrhaft sei, da ihm die Freiheit zu wählen 
gebricht, denn sie ist glücklich, weil sie es nicht anders sein kann, weil 
sie nichts anderes kennt, als ihres Mannes Liebe“ (68). Die verbotene Liebe 
unterscheidet sich somit von der erlaubten durch die freie Wahl des Be- 
friedigun gsobj ektes. 

Die unterdrückten Gefühle regen sich wieder bei A. N. Schmidt in ihrem 
Unbewußten; sie quälen sie und verlangen nach Befriedigung. „Eva wollte 
scheinen , sagt Anna Schmidt, „daß sie das alles selber dachte, aus eigenem 
Antriebe, daß diese Gedanken aus ihrem eigenen Innern aufsteigen, während 
sie doch unter dem äußeren, aber unsichtbaren Einfluß des bösen Geistes 
stand , d. h. ihres Unbewußten. 

Und da errichtete der böse Geist vor ihren Augen, um sie zu versuchen, 
das Wahrzeichen der Schlange, „die als erste das Lebensgesetz übertreten 
hatte“. Er zwang sie (die Schlange) „sich in ihrer Natur zu versehen“ 1 (68). 

Das Beispiel der Schlange, „die als erste das Gesetz der Natur durch¬ 
brach“, war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Koitus der Eltern, den Anna 
Schmidt in ihrer Kindheit belauscht hatte und der auf sie einen nie wieder 
auszulöschenden Eindruck machte. „Sie, nämlich Eva“, sagt A. N. Schmidt, 
„war zu allem bereit, selbst zu Unbekanntem und Gefährlichem, nur um 
diese aufdringliche Frage nach irgendeinem unerbittlichen Geheimnis los¬ 
zuwerden , indessen konnte sie sich von dieser Erinnerung nicht mehr 
lösen. Von diesem Augenblick an, da sie dieses Geheimnis erfahren hatte, 
obwohl sie es schon „nicht mehr brauchte“ und obwohl sie sich dazu 
„gleichgültig verhielt , und „es ihr schließlich sogar widerlich geworden 
war“, empfand sie dennoch, daß sich etwas Neues in ihr regte, das nach 
Befriedigung verlangte. Dieses „gewisse Etwas ist es, das unbarmherzig und 
ununterbrochen fragt und sie nicht loslassen will, ehe sie eine Antwort 
gefunden hat“ (68, 6g). Dieses gewisse Etwas, das unerbittlich und unauf¬ 
hörlich in ihr wirkte, war die offenbar unter dem Einfluß der von ihr 
belauschten Szene des elterlichen Koitus erwachte Liebe zum Vater, Ge¬ 
schlechtsliebe, die an Stelle der infantilen Liebe getreten war und gebie¬ 
terisch Befriedigung heischte. Und nun beginnt der Kampf zwischen ihr 
(dem Ich) und dem Ichideal, das ihr sein Veto entgegenhält. Der alte 
Konflikt lebt wieder auf. Dieser Kampf endet mit dem vollen Siege des 

i) Es ist bezeichnend, daß sie die Geschlechtsliebe des Vaters zur Mutter als 
eine Durchbrechung des Grundgesetzes des Leibes betrachtet: die „Schlange“ selber 
konnte sich aus eigenem Antriebe „in ihrer Natur nicht versehen“ (die Eltern können 
das nicht tun — Preudl. 
































Bedeutung der JLilndoscliicItsale für die Bildung re l>s löscr Ideen 


9 5 


bösen Geistes: Eva schmeckt von dem Baume der Erkenntnis des Guten 
und Bösen. Der empörte Adam, voller „Eifersucht, Zorn und Rachgier“ 
(70) folgt ihrem Beispiel. So kam es zum ersten Sündenfall. 

Diesen Triumph ihrer Liebe, das Erleben der erotischen Emotionen der 
n ersten“ (infantilen) und der sie dann ablösenden „zweiten“ (geschlecht¬ 
lichen) verbotenen Liebe beschreibt A. N. Schmidt mit ungemeiner Kraft 
und Hingabe in ihrem Tagebuch, das ihre intimsten Erlebnisse zum Aus¬ 
druck bringt. Es gibt, so sagt sie, eine Liebe zweifacher Art, — die 
eine Liebe (die erste) ist passiv, untätig, nicht produktiv, „sie vergaß 
sich in Träumereien und wirkte nicht. Die Tränen zitterten an 
ihren Wimpern, ihre Lippen brannten im Verlangen und infolgedessen 
verlöschte ihr Leben“. Die Intensität der von ihr durchlebten Wonne 
hinderte sie daran, schöpferisch zu werden. Anna Schmidt nennt sie darum 
„eine abstrakte Idee“, „ein Nichts“. „Die flammende, wilde, unersättliche, 
bis zum Schmerz süße und bis zur Erschlaffung starke Liebe dieser Art“, 
sagt sie, „konnte ihr Sein nicht hervorbringen.“ Das heißt, sie konnte nicht 
produktiv werden. „Sie hätte ihr Sein hervorbringen können, doch wollte 
sie sich nicht verringern, um ihre Wonnen nicht zu vermindern“ (247). 
„Hätte sie sich in eigener Person an das Schaffen gemacht, so hätte sie 
hiedurch ihre Kraft geschwächt“, d. h. die Intensität des Genusses. „Für 
das Schaffen“, sagt sie an einer andern Stelle, „hätte weder ihre Selbst¬ 
beherrschung noch ihre Ruhe hingereicht ..." „Infolge übermäßiger Kraft 
(des Genusses) war sie unfähig (schöpferisch zu werden) . . .“ „Der Sturm 
ihrer Flamme ließ sie nicht einmal verstehen, wessen sie bedurfte.“ Ge¬ 
genstand ihrer Liebe war sie selber. Das, was die erste Liebe mit solcher 
Leidenschaft geliebt hatte . . ., war ein Teil ihrer selbst (248). Damit 
diese Liebe hätte schöpferisch werden können, hätte sie „aus sich selber 
heraustreten“, den Gegenstand ihrer Liebe „außerhalb ihrer selbst“ 
erschaffen müssen. 

Diese Liebe der Anna Schmidt zu sich selber ist nicht nur narzißtische, 
autoerotische Liebe: sie begreift auch eine andere Art Liebe in sich. Das, 
was ihre erste Liebe mit solcher Leidenschaft in sich selber geliebt hatte, 
sagt sie, war nicht sie selber, obwohl es ein Teil ihrer selbst war, 
(248), sondern ihre introjizierte Mutter: „Ihr Antlitz (Mariens Antlitz) . . . 
hatte die Züge und die ganze Gestalt der Tochter Gottes Allelujah, 
nur mit dem Unterschied des Ruhmes und der Schönheit . . . Darum war 
diese weibliche Gestalt . . ., die ein solches Antlitz hatte, fähig, mit der 
Tochter des Geistes dasselbe Wesen zu bilden.“ Und weiter: „Und 












9 6 


F. Ijo wtckv 


kaum hatte der Erzengel ausgeredet, da ließ sich der Geist der Tochter 
in ihr nieder und verkörperte sich in ihr, und die Tochter und 
Maria wurden zu einem Wesen des zweifachen, untrennbaren, unteil¬ 
baren, in einer Person verschmolzenen Geistes“ (121, 122). 

Was Anna Schmidt außer ihrem „Ich“ an sich liebte, war also ihre 
Mutter. Ihre Liebe zu sich, die autoerotische Liebe, ist ohne Zweifel 
sexueller Art, und denselben Charakter trägt auch ihre Liebe zur Mutter. 
„Gott Vater“, sagt Anna Schmidt, „geht aus Sich Selber aus ... in 
Gestalt Seiner dritten Seele, und diese Gestalt der dritten Seele Gottes, 
die bislang ganz geheim gehalten wurde, keinem auf Erden bekannt war, 
und von der man nur im Himmel wußte, das war die Gestalt der 
Tochter Gottes, der Jungfrau von Ewigkeit her (nach irdischer Vor¬ 
stellung einundzwanzig Jahre alt)“ (29). 

Der Vater geht in der Gestalt der Tochter aus sich selber aus, er und 
die Tochter sind dasselbe, wiewohl sie nur einen Teil seiner dreifachen 
Seele bildet. Indem A. N. Schmidt in sich selber ihre Mutter liebt, sich 
mit dem Vater identifiziert, nimmt sie des Vaters Stelle im Hinblick auf 
die Mutter ein und liebt ihre Mutter mit echter sinnlicher Liebe. 

„Die erste Liebe“, sagt A. N. Schmidt weiter, „wollte das Sein erlangen, 
d. h. zu schöpferischer Liebe werden, und sie gelangte auch zum Sein, indem 
sie nichts von den Wonnen (ihrer Leidenschaft) dank dem Umstande verlor, 
daß sie sie (d. h. die Wonnen) nicht an einem Ort, sondern an zweien (Liebe 
zu sich selber und zur Mutter) erlangte, doch genügte das nicht, um zur 
schöpferischen Liebe zu gelangen.“ Indem sie sich ganz der ersten Lebens¬ 
aufgabe zuwandte, begab sie sich zur Lösung der zweiten „aus sich 
selber heraus an einen dritten Ort . . . Alsdann trat der Gebärende 
(Christus) aus Sich Selber, durch Sich heraus und erschien an einer dritten 
Stelle“. Dieses tat Er, um ein neues Leben nach Seinem eigenen Bilde zu 
schaffen. Und am dritten Ort erschuf die äußerste, höchste Stufe der 
Liebe das niederste Wesen, nach seinem eigenen Bilde, „einen Geist, wie 
er in Frauen lebt“ (248). 

Die Braut, die Geliebte, das Weib des Gebärenden (Christus) ist sie 
auch, sie, die Braut Wladimir Solowjows und des „Juden“, den sie in 
der Kapelle traf; doch war sie nicht ihre Braut, sondern die Braut des 
in ihnen reinkarnierten Christus. 

Indem Anna Schmidt ihre Liebe auf das eingebildete Objekt überträgt, 
stattet sie es mit ihren eigenen Empfindungen aus: „Der Gedanke an eine 
nichtschöpferische Liebe“, sagt sie, „war für Christus furchtbar. Wenn Er 



































Bedeutung der Libidosclucisale für die Bildung religiöser Ideen 


9 7 


mitunter einige Augenblicke lang die Möglichkeit des ,Verweilens der Liebe 
nicht im Sein 1 zugibt, so nur darum, damit dieser für Ihn qualvolle Ge¬ 
danke Seine Liebe desto intensiver gestaltete. Keinen Augenblick der Ver¬ 
zweiflung wegen des Nichtseins duldete der Sohn . . . Der Gedanke, die 
Vorstellung allein, nicht zu sein, bringt Ihn in Verzweiflung, in Entsetzen 
(für einen Augenblick), doch ruft Er selber ununterbrochen in Sich 
und in der Geliebten eine solche Verzweiflung hervor, weil in¬ 
folgedessen die Freude (Liebe) noch stürmischer in ihnen entbrennt, ihr 
Wunsch wird noch stärker (angespannter), die Liebe (Liebkosungen) noch 
feuriger, und der gegenseitige Hunger (quälender Hunger) wird reichlicher 
befriedigt, der gegenseitige (brennende) Durst wird kühler gelöscht“ (249, 
250). Ebenso stark masochistisch ist auch die Liebe Anna Schmidts zu 
ihrer Mutter: die Mutter quälte sie, zwang sie unverdienterweise stunden¬ 
lang zu knien, entzog ihr die Freiheit und verbot ihr sogar die harm¬ 
losesten Vergnügungen; nichtsdestoweniger vergötterte sie ihre Mutter und 
küßte ihr demütig die Hände. 

Der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen ist somit die Inzest¬ 
liebe, deren Befriedigung — Sünde (Sündenfall). Und diese Sünde wurde 
zur Erbsünde, wurde auf das ganze Menschengeschlecht übertragen. „Die 
Materie ihres (Adams und Evas) Geistes“, sagt Anna Schmidt, „hat sich 
verändert . . . Das war eine neue Art Geist, ein kranker, menschlicher 
Geist. Diese Veränderung seines Lichtes ereignete sich infolge eines bösen 
Keims, der in seine Idee (Liebe) eingedrungen war, und mit dieser Bei¬ 
mengung der Ansteckung des Bösen mußte er sich weitervererben, sich 
auch auf deren Kinder übertragen. Den Keim des Bösen in sich zu ver¬ 
nichten, dazu waren weder sie selber noch ihre Kinder aus eigenen Kräften 
imstande; selbst um ihn nur im keimhaften Stadium zu erhalten und zu 
verhüten, daß er überhand nehme und das Gute in ihnen überwucherte, 
selbst dazu war ein ununterbrochener Kampf gegen ihn und unermüdliche 
Wachsamkeit erforderlich; dieses allein genügte, um ihr ganzes Leben zu 
vergiften und all ihr Glück zu untergraben“ (70). 

Und da begann der Mensch zu sündigen, ererbtermaßen infolge der ersten 
Sünde, „unbewußt, ohne zu verstehen, was er tat“ (75), sagt A. N. Schmidt. 1 
So wurde denn diese Sünde sein Verhängnis, sein unvermeidliches Schicksal, 


0 »Und ihrer (der bösen Geister) Werk war es,“ sagt sie an einer anderen Stelle 
des ,dritten Testaments 1 , „daß der Mensch aufhörte, die Gesetze seines Geistes zu 
kennen und sich dem Fleische nach von ihnen (den Engeln) entfernte, nachdem er 
von dem Baume der Erkenntnis geschmeckt hatte, der für alle Nachfahren Adams 


Imago XIII 


7 








9 8 


F. Lo-wtzky 


das Sophokles mit so unnachahmlicher Kunst im Ödipus geschildert hat, 
der seinen Vater tötet, ohne zu wissen, daß es sein Vater ist, und seine 
Mutter heiratet, ohne seine Verwandtschaft mit ihr zu mutmaßen. * 1 

Zur Strafe für ihre Sünden vertrieb Gott Adam und Eva aus dem Paradiese. 
Er sandte ihnen und zugleich mit ihnen der ganzen Menschheit Not, Ent¬ 
behrung, Leiden, Krankheit und Tod. 

Gleich nach dem Sündenfall erwachte in Eva Reue, Gewissenshisse und 
das Gefühl „brennender Scham“ wegen des begangenen Fehltrittes, „und 
Scham, aber diesmal schon echte Scham,“ sagt A. N. Schmidt, „die sich 
verwirklichte, und es peinigte sie nicht nur eine Warnung des Gewissens 
wegen möglichenfalls eintretender Scham“ (6g). Voller Verzweiflung und 
Kummer beschließen Adam und Eva, ihrem Leben ein Ende zu machen, um 
sich wieder die Unsterblichkeit zu erringen und in das Paradies zurück¬ 
zukehren, aber der Cherub mit dem Flammenschwert hindert sie daran, 
das zu tun. „Er mußte“, sagt A. N. Schmidt, „jeden Versuch Adams und 
Evas, sich das Leben zu nehmen, verhindern“ (74). 

Die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradiese hat man bildlich 
zu verstehen, meint A. N. Schmidt. Einen Garten Eden als Paradies gibt 
es nicht und hat es nie gegeben. Jener Fleck Erde, der für sie das Paradies 
war, hörte es auf zu sein, als nach dem Sündenfall das Paradies vom Bösen 
angesteckt wurde. Der Cherub mit dem Flammenschwert war unsichtbar 
und hütete nicht irgendeine bestimmte Stelle der fleischlichen (d. h. der 
körperlichen) Welt, sondern den Eingang in die nicht fleischliche (d. h. in 
die geistige) Welt, „den Weg zum Baum des Lebens“. Mit anderen Worten, 
Evas Vertreibung aus dem Paradiese und ihr Wunsch, in die Welt, „die 
ihr als die einzige erschien, in der es für den Menschen ein Glück geben 
konnte“ (74), zurückzukehren, ist ihr innerer Kampf mit sich selber, mit 
ihrem Unbewußten, mit dem „unsichtbaren Cherub mit dem Flammen¬ 
schwert“, mit ihren unbewußten Inzestwünschen. 

Das Schwert erscheint als Symbol des Penis, das flammende Schwert als 
Symbol des erigierten Gliedes. Der Cherub mit dem erigierten Gliede hin¬ 
dert sie — wie einst die Schlange (der Vater) Eva mit dem Bruch des 
Gesetzes der Liebeswahl versuchte — auf dem Wege weiterzugehen, der 
zum Baum des Lebens, zu der erlaubten Geschlechtsliebe, hinführt. 

zum Baum tiefer Nichterkenntnis (von A. N. Schmidt gesperrt) ihrer selbst ge¬ 
worden war“ (97). 

1) Bekanntlich hat Freud auf diese Bedeutung der Ödipus-Tragödie in seiner 
„Traumdeutung“ hingewiesen. 





































Bedeutung der 1,inidoscliick,s;;!e für die Bildung religiöser Ideen 


99 


Er hält sie in der Welt des Bösen zurück, dem sie sich ergeben muß, 
dem sie nicht entrinnen kann, da die Sünde nach dem Sündenfall zum 
Verhängnis, zum unvermeidlichen Schicksal eines jeden Menschen geworden 
war. So ist denn Evas Vertreibung aus dem Paradiese ein Kompromiß, der 
zwischen zwei in ihr einander widerstreitenden feindlichen Kräften ge¬ 
schlossen wird, der so aussieht, als wäre es ein Sieg des Ichideals, während 
es in Wirklichkeit aber eine Befriedigung des Wunsches des „Ich“, der 
Inzestliebe ist. Dieser Kampf des Ichideals mit dem Ich, sein scheinbarer 
Sieg, der die Befriedigung der Wünsche des Ich verbirgt, zieht sich als 
roter Faden durch das ganze „dritte Testament“, das in symbolischer Form 
den unbewußten Erlebnissen A. N. Schmidts Ausdruck verleiht. 

Ein solcher Kompromiß zwischen Ichideal und Ich ist der Kampf Gottes 
mit dem Engel, wenn der Engel, unzufrieden „mit dem Anfang des Lebens“, 
sich gegen Seine Autorität erhebt. Er hat Margarita schwer beleidigt, die 
Liebe gelästert, indem er kommende Scham und Sünde Liebe nannte. Der 
Vater (das Über-Ich) stürzte wie ein Blitz den Engel vom Himmel, d. h. 
er unterdrückte in sich die Inzestliebe. Und in der Welt begann das Pa¬ 
radies, der Triumph des Ichideals, — Gottes schöpferische Arbeit, die Er¬ 
schaffung des Himmels, der Erde, alles Lebens auf der Erde, — aber 
Gottes schöpferische Arbeit wurde nicht von ihm allein, sondern zusammen 
mit Seiner Tochter Margarita vollbracht (42). 

„Auf diese Weise“, sagt Anna Schmidt, „erzeugte der Sohn Gottes, der 
durch Margarita der Stammhalter jeglichen Geistes war, und aus dessen 
Licht die ganze lebende und tote Natur erschaffen war, aus Sich Selber 
auch die Materie, die dann in der Folge die körperliche Welt bildete . . . 
Der Vater erschuf alles Erschaffene durch Seinen Sohn aus dessen Licht¬ 
emanationen, alles Geborene aber gebar Er durch Seinen Sohn und verlieh 
Ihm das Leben durch Seine Tochter, welche die weiblichen, geraden Geister 
aus der Idee (der Liebe) der erzeugten männlichen erschuf.“ 

Der augenscheinliche Triumph des Ichideals gewährt somit völlige Be¬ 
friedigung der erotischen Anhänglichkeit der Tochter an den Vater, ihrer 
Inzestliebe zu ihm. 

Anna Schmidt identifiziert sich mit der Welt. Sie und die ganze Mensch¬ 
heit ist ein und dasselbe. Nach Adams und Evas Sündenfall wächst das 
Böse in der Welt und erreicht riesenhaftes Ausmaß: „Jedes Fleisch geht 
irre auf seinem Wege.“ Da sandte Gott (das Ichideal) die Sintflut zur 
Strafe der Menschheit. Nur Noah rettet sich in die Arche mit einem Teil 
der Menschheit, mit den „Überresten alles Lebens“, d. h. der Teil des 


7 * 








lOO 


F. Lowtzky 


„Ich“ der Anna Schmidt wird gerettet, der dem Bösen nicht erlag. „Der 
erste Mensch“, sagt Anna Schmidt, „durch den das Gute den Sieg in der 
Welt errang, war Noah“ (no). Und Gott schloß mit ihm (mit Noah) eine 
Versöhnung in Seinem Regenbogen (Urbild der Kirche), d. h. in 
Margarita ereignete sich die Versöhnung ihres Ichideals mit ihrem Ich. 
Noah wird zum Stammvater der vom Bösen gereinigten Erde, aber der 
Triumph des Guten dauert nicht lange: wieder reckt das Böse seinen Kopf 
hoch, und wieder beginnt der Kampf mit ihm. „Da die Menschen fühlten, 
daß ihr Lehen auf Erden nicht gut ist, beschlossen sie, das frühere 
Paradies einzurichten, einen Turm und eine Stadt bis an den Himmel 
zu bauen; aber Gott (der Vater) hinderte sie an diesem Vorhaben. Er zer¬ 
streute sie über die ganze Erde, und sie mußten mit dem Bau der Stadt 
und des Turmes aufhören. Dieses tat Gott,“ sagt A. N. Schmidt, „weil 
dieses Paradies nicht ein geistiges Paradies, sondern ein fleischliches Paradies 
war, da das Fleisch darin über den Geist triumphierte“ (107). 1 Wie dereinst 
der Cherub mit dem Flammenschwert (der Vater mit dem erigierten Penis), 
so hält Gott, d. h. wiederum der Vater, es in der Welt des Bösen zurück. 
Mit dem scheinbaren Triumph des Über-Ichs, welches das Ich von seinem 
Übergang in das „fleischliche Paradies“ zurückhält, wird der Triumph des 
Ich, der Inzestliebe, verdeckt. 

Und wieder beginnt der Kampf des Guten mit dem Bösen, derselbe 
unermüdliche Kampf, der Anna Schmidts Worten zufolge ausreicht, um 
das ganze menschliche Leben zu vernichten und ihm sein ganzes Glück 
selbst dann zu vergällen, wenn das Böse nur erst keimhaft da ist. Um 
diesen Keim des Bösen zu vernichten, muß man ihn, sagt Anna Schmidt, 
da er erblich ist, ebenfalls „erblich“ vernichten durch die Geburt einer 
neuen Menschheit von Raphael 2 und Margarita. Diese Wiedergeburt der 
Menschheit ist ihre Taufe. Die Taufe auf Erden durch Eintauchen in 
Wasser 3 ist das Urbild der Wiedergeburt des Menschen, die in der Ver¬ 
senkung des Geistes und der Seele des Menschen in Margarita — der 
Kirche — durch Christus besteht . . . „Das Erscheinen des kindlichen 
Geistes und der Seele des Neugeborenen im Inneren Margaritas erfolgt 


1) Dieses frühere Paradies, das A. N. Schmidt „den Weg zum Baum des Lebens“ 
genannt hat, die einige Welt, in der das menschliche Glück wohnt, nennt sie nun 
das „fleischliche Paradies“, indem sie hiedurch offenbar ihren Wunsch, in der Welt 
des Bösen zu bleiben, rationalisiert. 

2) Raphael und Jesus sind dasselbe Wesen (81). 

5) Vgl. „Traumdeutung“ — Bedeutung des Wassers als Symbol der Mutterschaft. 
































Bedeutung der LilndoschicLsale für die Bildung religiöser Ideen lol 

durch ihre Verbindung mit Christus“ (82). Sie (Margarita) war seine 
angestammte Frau wie auch seine urewige Wesenheit, ebenso wie . . . der 
menschliche Geist. „Wäre Margarita nicht ein solcher Mensch wie Er 
mit menschlichem Geist außer ihrem Sein, das von Ewigkeit her da 
war, und mit einer tierischen Seele, so hätte Er nicht durch sie nur in 
dem Urewigen allein die ganze Natur des Menschen wiedergebären können, 
er kann aber seine Kinder nur wiedergebären, wie er sie auch nur gebären 
kann durch Seine Frau . . (81). 

Die Taufe ist folglich eine Reinigung der Menschheit vom Bösen, der 
Sieg des Ichideals über das Ich, ein Kompromiß, den die beiden in Anna 
Schmidt miteinander kämpfenden feindlichen Mächte eingegangen sind, 
indem bei scheinbarem Triumph des Ichideals die Befriedigung der eroti¬ 
schen Bindung des Ich an den Vater verborgen wird. Die Taufe hat aber nicht 
alles Böse vernichtet: sie hat es nur im Neugetauften getilgt, außerhalb 
seiner fährt es fort zu existieren, darum hat das Böse den Menschen wieder 
angesteckt, und er begann wieder zu sündigen, „nicht aber erblich,“ sagt 
Anna Schmidt, „sondern persönlich auf seine eigene Rechnung“ (87), d. h. 
vermutlich nicht unbewußt wie in der Kindheit, sondern bewußt, indem er 
sich von seinen Gefühlen Rechenschaft ablegt. 1 

Und aufs neue beginnt der Kampf des Guten gegen das Böse. Gott, der 
die von Ihm dem Menschen verliehene Willensfreiheit nicht stören will, 
und der nur das Gute schätzt, „das frei von Seinen Kindern gewählt wird“, 
mischte sich nicht ein in den Kampf des Menschen mit dem Bösen; da 
aber die Neigung zum Bösen von der Erbsünde her in dem 
Menschen auch nach der Rechtfertigung noch wirksam, und das 
Böse noch sehr mächtig war, war Gott „überzeugt“, daß, wenn er es dem 
Menschen anheim gäbe, allmählich gegen das Böse anzukämpfen, das Böse 
triumphieren und die ganze Welt überschwemmen würde. So war denn 
Gottes beständige Sorge, sagt Anna Schmidt, von zweifacher Art: dem 
Bösen nicht das Übergewicht zu geben und danach zu streben, daß der 
Kampf gegen das Böse zu einer Zerstörung und Umgestaltung der Welt 
führe. Darum auch muß der Mensch dem Bösen ein so starkes Übergewicht 
verleihen, „damit infolge seines hartnäckigen Kampfes gegen das Böse die 
Welt in ihre Bestandteile zerreißt“ (102, 103). 


1) Der abgefallene Engel war vierzig Jahre, und er war auch drei Jahre alt; es 
ist möglich, daß Anna Schmidt in reiferen Jahren Augenblicke gehabt hat, da sie 
ihre Gefühle verstand und bewußt dagegen ankämpfte. 









103 


F. Lowtsky 


Schon die Sintflut war ein Vorbote des Todes, aber damals ereilte der 
Tod nur beseelte und unbeseelte Wesen, jetzt aber sollte der Tod die 
Welt selbst, die ganze Welt in ihrer Gesamtheit treffen. Der Kampf 
des Guten und des Bösen sollte in der „Weltmaterie“ stattfinden, die durch 
die Lichtemanationen des Menschen „in den einfachsten Bestandteilen“, in 
„verdichteten, geistigen Lichten“ weitergegeben wird. „In ihnen muß“, so 
sagt Anna Schmidt, „der wahnsinnige Zusammenprall zweier Prinzipien 
des Denkens, des Guten und des Bösen, aus dem es sich zusammensetzt, 
erfolgen, und infolge dieses inneren Zusammenpralls wird die Welt zer¬ 
fallen“ (103). Gott aber schuf aus dem verdichteten geistigen Licht und 
aus den Lichtemanationen Margaritas die körperliche Welt; folglich ist 
„die Weltmaterie, die durch Lichtemanationen des Menschen übertragen 
wird“, die Geschlechtsliebe überhaupt, die auch die Geschlechtsliebe des 
Menschen in sich schließt. In der Geschlechtsliebe des Menschen sind 
also „zwei Elemente des Denkens“, das Gute und das Böse, der Baum 
des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, die er¬ 
laubte und die verbotene Liebe, mitinbegriffen. Nach der Zerstöruhg der 
Welt wird „das verdichtete geistige Licht“, „das einfachste Element der 
Welt“, die Geschlechtsliebe „von der Ansteckung gereinigt sein“ — vom 
Bösen, von der verbotenen Liebe, und aus dem Guten, das nun vom Bösen 
gesondert ist, „erschafft Gott ein neues irdisches Paradies, das reiner und 
herrlicher ist als das erste“ (103). Aber der Kampf der beiden Prinzipien 
des Denkens ist ebenfalls ein Kampf Gottes gegen den Satan, der Finsternis 
mit dem Licht; — die Finsternis ist aber des Lichtes „Umkehrung“ (87 
und 42). „Jeder lichte Geist von engelhafter Natur“, sagt A. N. Schmidt, 
„hat in der Welt der Finsternis seine Umkehrung.“ Finsternis und Licht, 
Haß und Liebe, sind Erscheinungsformen derselben Wesenheit — der Liebe. 
Und in dieser Wesenheit hat der Haß (der Destruktionstrieb) das Über¬ 
gewicht über die Liebe (den Erhaltungstrieb); infolge „dieses inneren Zu¬ 
sammenpralls zweier Prinzipien des Denkens“ muß die Welt bis in ihre 
tiefsten Tiefen zerfallen und zerstört werden (103). Dieser Desexualisierung 
des Triebes durch Umbildung der erotischen Regung in eine sadistische 
bedient sich das Über-Ich zwecks schonungloser Verfolgung des armen 
„Ich“: die Welt „muß zerplatzen“, sie muß in Teile zerfallen. Der Tod 
muß jetzt „die Welt selbst“, die ganze Welt in ihrer Totalität ereilen. 

Anna Schmidt fürchtet den Tod aber nicht; im Gegenteil, sie erwartet 
ihn voller Ungeduld. „Nicht jeder“, sagt sie, „kann eine solche Sehnsucht 
nach dem Tode empfinden, wie Margarita . . . Jeden Tag, jede Stunde 
































Bedeutung der Li 1 m!os eil ick sa 1 c für die Bildung religiöser Ideen 1 0.1 


ihres Lebens auf Erden quält sich Margarita in Sehnsucht, und sie trägt 
ihr Leben wie ein schweres Kreuz aus Gehorsam gegen Gott, aber keinen 
Augenblick wünschte sie es noch mehr zu verlängern, als erforderlich ist, 
um zum Tode bereit zu sein; der Tod ist für sie die Krone ihrer irdischen 
Wünsche, der strahlende Tag, an dem ihre Vertreibung und ihre Trennung 
von Gott ein Ende hat . . A. N. Schmidt sehnt sich nach dem Tode und 
kann sich nicht genug tun in dieser Erwartung, weil der Tod für sie die 
symbolische Ausdrucksform der Realisierung ihres Wunsches, mit Christus 
vereinigt zu werden, ist. „Der Tod ist der Weg in jene Welt, wo Christus 
lebt, und das Mittel zur Vereinigung mit ihm . . (205). Und nicht nur 

ihr eigener Tod, sondern auch der Tod eines jeden Menschen hat für sie 
die Bedeutung ihrer Vereinigung mit Christus: bestand doch ihr Geist aus 
der völligen Totalität aller menschlichen Geister. 

Als am 31. Juli 1900 Wladimir Solowjow — in dem, wie Anna Schmidt 
glaubte, Christus inkarniert war — starb, verfiel sie in völlige Verzweiflung. 
Sie dachte, nun wäre alles verloren, aber ihre Verzweiflung währte nicht 
lange. Sie beruhigte sich bald bei dem Gedanken, daß Wladimir Solowjow 
„im unverweslichen Leibe lebt“, folglich nicht sterben kann. In einer 
mystischen Offenbarung erfuhr sie, daß am Todestage Wladimir Solowjows, 
am 31. Juli 1900, ihr Geliebter empfangen worden war, und daß er nach 
neun Monaten vom Tode Solowjows an gerechnet, am 30. April 1901 ge¬ 
boren werden würde. „Bald darauf aber“, sagt Anna Schmidt, „offenbarte 
mir Gott, daß mein Geliebter zum letztenmal vor dem Ende der Welt 
neun Monate nach Wladimir Solowjows Tode geboren werden würde. Das 
bedeutet, daß er am 31. Juli 1900 empfangen war.“ Der Akt des Todes 
Wladimir Solowjows wird von A. N. Schmidt als ein Geschlechtsakt, den 
sie mit ihm eingegangen ist, aufgefaßt. Aus dieser Verbindung, so sagt sie, 
muß ihr Geliebter geboren werden. Sie ist aber Braut und Geliebte Christi. 
Wenn aus ihrer Verbindung mit Wladimir Solowjow Christus geboren 
werden soll, so identifiziert sie diesen, sofern sie Wladimir Solowjow mit 
dem Bilde des Sohnes identifiziert, mit dem Vater. 

Diese Verbindung der Tochter mit dem Vater ist auch das von Gott 
erschaffene, „von jeder Ansteckung“ gereinigte, „neue irdische Paradies, 
reiner und herrlicher als das erste“. Wie jede fixe Idee, so erscheint die 
unterdrückte Inzestliebe immer wieder, und jedesmal endet der Kampf mit 
dem Ichideal mit einem Kompromiß, dem scheinbaren Siege des Über- 
Ichs, der die völlige Befriedigung der Wünsche des Ichs verbirgt. 

Dieser Kampf „der beiden Prinzipien des Denkens“ in der „Weltmaterie" 









hat noch eine andere Determinierung: es ist das der Kampf der auto¬ 
erotischen Liebe mit der in Anna Schmidt erwachten Geschlechtsliebe 
„Das Nichtsein“, „die untätige Liebe“, die Liebe, die außer sich selber 
keine andern Objekte der Liebe finden kann, die erste Liebe, die sich selber 
nicht verwirklichen, um so weniger aber das erschaffen konnte, worauf ihr 
Wünschen gerichtet war (248), diese auf sich selber konzentrierte, von 
der Welt der Objekte abgewichene Liebe, die eine Welt ohne Objekte 
erschaffen hat, vernichtet die Welt, zerstört sie, — das ist der Sinn der 
Lehre A. N. Schmidts über den Weltuntergang. 

In einer Reihe mit diesem Gedanken über die Weltkatastrophe findet 
sich ein paralleler Gedanke: der Wunsch, daß diese Welt untergeht, daß 
die Welt, die dank der Konzentration der ersten Liebe auf sich selber, der 
Abkehr der Libido von den Objekten der Außenwelt erschaffen ward, zu¬ 
grunde geht. „Je schneller die Welt zerstört wird,“ sagt sie . . . „desto besser. 
Die baldige Vernichtung der Welt ist eine große Gnade.“ Die Vernichtung 
dieser Welt ist für sie auch Vernichtung „der ersten Liebe“, eine Möglich¬ 
keit des Überganges in eine andere Welt, in eine andere Liebe. „Ich wieder¬ 
hole euch: betet für mich, arbeitet für mich, zerschlagt den Deckel des 
Sarges, in dem ich lebendig eingeschlossen bin, damit ich froh die Luft 
der Lebenden einatmen kann . . .“, sagt sie (258). 

Wie bereits oben vermerkt war, identifiziert Anna Schmidt sich selber 
mit der Welt. Die Welt und sie — das ist ein und dasselbe. Sie hat in 
sich den unwiderleglichen Beweis dafür gefunden, schreibt sie dem Priester 
Johann von Kronstadt, daß sie der ökumenische Geist ist, d. h. daß ihr 
Geist aus der vollen Totalität aller menschlichen Geister besteht, die in den 
Bestand der Kirche Christi eintreten können . . . „Nicht für irgendeine 
Repräsentantin der Kirche im menschlichen Sinne hält sie sich selber, 
sondern für die Kirche, für die lebendige und personifizierte Mutter ihrer 
Kinder selbst . . . Die Kirche ist nicht nur eine abstrakte Vorstellung. — 
sie hat ein lebendiges Geistantlitz, ist Geistleib... Die Kinder 
der Kirche sind ebenfalls alle in eins versammelt im lebendigen Leibe 
ihrer Mutter . . . (241). „Die Sophia (ebenfalls sie selber), sagt sie an 

einer anderen Stelle, „...begreift als Weltseele in sich auch den 
ganzen wahrhaften Gehalt der materiellen Welt und die ganze 
niedere Menschennatur, deren Christus teilhaft war, damit aber begreift 
sie auch Ihn Selber, als Menschen, in sich“ (20). Anna Schmidt identifiziert 
sich mit der Welt, und die Wesenheit der Welt, sagt sie, ist die Liebe, 
„der Engel der Kirche in Philadelphia ist Margarita, der Geist Gottes; 



































Bedeutung der Libidosclucksale für die Bildung religiöser Ideen 


lo5 


Seine Idee ist die Liebe der Braut und der Frau . . (175). Die 

Welt ist sie, die Wesenheit der Welt, ihre Wesenheit ist Liebe, die Liebe 
der Braut“ und „der Frau“, die Erlösung der Welt ist ihre Erlösung, die 
Erlösung ihrer Liebe, der Liebe „der Braut und der Frau , der „fleisch¬ 
lichen (zweiten) Liebe“. 

Die erste Liebe vermochte „ihr Sein nicht hervorzubringen“, und „in¬ 
folgedessen erlosch ihr Leben“. Die auf sich selber konzentrierte, auto¬ 
erotische Liebe (erste Liebe) entfernt sich von der Welt; infolgedessen wird 
die Erde leer und geht zugrunde. Die Welt (d. h. sie selber) muß gerettet 
werden; sich (d. h. die Welt) retten kann man nur durch Erschaffung einer 
neuen Welt, der Welt einer neuen Liebe, „der Liebe der Braut und der 
Frau“, d. h. der zweiten Liebe (der Genitalliebe); darum ist A. N. Schmidts 
Verzweiflung bei dem Gedanken an die Möglichkeit einer Nichtverwirk¬ 
lichung dieser Liebe so groß: „Das war auch der äußerste, höchste Grad 
der Verzweiflung, über den hinaus es gar keine Verzweiflung gibt“ (248). 
Und diese Liebe nun entschließt sich „zu sein“. Die Libido reißt sich von 
sich selber los, geht auf das eingebildete Objekt, auf Christus, über und 
gelangt, um mit Freud zu reden, unter den Primat der Genitalzone, deren 
Ziel Fortpflanzung ist. An Stelle der untergegangenen Welt wird eine neue 
Welt der Liebe der Braut und Frau erschaffen, eine Welt der zweiten Liebe, 
eine Welt des Himmelreichs. Nun kommt es zu einer „Auferstehung“ alter, 
kindlicher Phantasien, zu einer Verwirklichung infantiler Wünsche, — zu 
der Verbindung der Tochter mit dem Vater (mit dem Sohne Gottes). „Der 
Sohn Gottes und Seine Frau“, sagt sie, „sind miteinander nach dem all¬ 
gemeinen Gesetz des geistigen Paares durch Verlobung und Taufe des Einen 
im Andern mittels Seiner Schichten verbunden. Die Schichten des Sohnes 
Gottes sind zwiefacher Art, und in ihre Mitte ist je eine Schicht 
des Vaters und Seiner Schwester (d. h. Anna Schmidts) eingebettet. 
Und jede dieser zwiefachen Schichten wird abgelöst durch ein Verlöbnis 
mit einer Schicht seiner Frau“ (32), (d. h. wieder mit ihr selber). „Sein 
Name aber (des Heiligen Geistes), bislang verborgen — ist die 
Tochter Gottes (inkarniert in Maria bei der Verkündigung des 
Erzengels)“ (274) *, sagt sie an einer anderen Stelle. „Aus dieser Ver¬ 
bindung wird eine unabsehbare Zahl von Kindern geboren. Sie (Margarita), 
die einzige der auferstandenen Frauen, wird einen Sohn noch vor der 
völligen Vereinigung ihres Fleisches mit ihrem Mann gebären; darum 


1) Anna Schmidts Sperrdruck. 











lo6 F. Lowtzky 


wird sie als einzige von ihnen nach der völligen Verbindung mit ihm 
solche Kinder gebären, die sie vor ihrer Auferstehung nicht empfangen 
hatte.“ 

„Ihr Erstgeborener wird nur aus ihrer Verbindung dem Blute nach 
geboren, während die andern Kinder aus der Verbindung sowohl von Fleisch 
als von Blut geboren werden. Sie wird deren zwölf haben . . .“ (100). 

„Der erste Mensch, der in der Auferstehung geboren wird, wird der 
Sohn Jesu Christi sein . . .“ 

„Dieser ihr Sohn wird der Stammhalter der künftigen Menschen¬ 
geschlechter sein“ (98). 

„. . . Die geistige Natur des Paradieses Gottes wird verschmelzen mit 
der fleischlichen Natur des Paradieses der Menschen, und Himmel und 
Erde werden an einer Stelle sein, und Gott wird an einer Stelle sein mit 
den Menschen . . .“ „Wohnstätte der auferstandenen Menschheit wird eben 
dieselbe Erde sein . . . aber ... sie wird gleich sein dem jetzigen Himmel, 
dem Paradiese Gottes, mit dem sie ganz verschmelzen wird . . .“ 

Diese Erde, dieses himmlische Paradies ist wiederum sie selber, aber nun 
schon als Mutter, die Kinder hat. „Diese künftige Erde“, sagt sie, „. . . ist 
die Kirche — Margarita selber mit ungezählten Tausenden von Kindern 
in ihrem Inneren“ (99). 

Auf diese Weise hat die erste Liebe ihren Wunsch „zu sein“, d. h. zur 
Geschlechtsliebe zu werden, deren Ziel Fortpflanzung ist, verwirklicht: das 
Reich Gottes auf Erden und das Himmelreich sind nichts anderes als Ver¬ 
wirklichung in der Phantasie der kindlichen Sehnsucht einer Verbindung 
der Tochter mit dem Vater (Christi mit Margarita) und Realisierung der 
Sehnsucht nach Mutterschaft. 

Augenblick, geschwundener, nahte uns unhörbar, 

Streifte alles Hüllende von dem Aug’ zurück . . . 

Sichtbar ward das Ewige und das Unzerstörbare, 

Und das Jahre Währende ward zum Augenblick. 1 

* 

Verständlich wird nun, warum A. N. Schmidt von sich selber so redet, 
„wie keine Königin über sich zu denken wagen würde“. Sie spricht so 
von sich selber, weil sie krank ist, und weil ihre Krankheit echter Wahn¬ 
sinn ist, Paranoia. 


1) Wladimir Solowjows Gedicht: „Les revenants“. 







































Bedeutung der Bibidoscliicksale für die Bildung religiöser Ideen 


107 


Die normale Entwicklung ihrer Libido wurde bereits in ihrer Kindheit 
gestört. In sehr jungen Jahren, vermutlich als sie drei Jahre alt war (der 
Engel war drei Jahre alt), bildete sich in ihr der vollständige Ödipus-Komplex: 
erotische Anhänglichkeit, Eifersucht und feindseliges Gefühl zum Vater und 
eine ebensolche Anhänglichkeit an die Mutter. Das Über-Ich verdrängt in 
ihr die verbotenen Gefühle: „der Vater stürzte wie ein Blitz den Engel 
vom Himmel“. Bereits als sie drei Jahre alt war, ereignete sich bei Anna 
Schmidt ein Konflikt zwischen ihren Gefühlen und Wünschen, der dann 
zu einer Spaltung ihrer Persönlichkeit führte. Es bilden sich in ihr 
zwei miteinander kämpfende seelische Instanzen: das Ich-Ideal und das 
Ich. Und von nun ab wird sie ein unversöhnlicher Feind einer jeden 
Liebe, besonders einer solchen Liebe, deren „Urbild“ „die gegenseitige 
Liebe des Sohnes Gottes und der Kirche ist“, einer solchen Liebe, wie 
sie zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geist zu bestehen 
pflegt. 

Folglich ist das Urbild der gegenseitigen elterlichen Liebe (des Sohnes 
Gottes und der Kirche), „das Beispiel der Schlange, die zum erstenmal 
das Gesetz des Lebens durchbrach“, der elterliche Koitus, jenes Trauma, 
das zwar Eva versucht hatte, aber auch als Ursache ihrer Erkrankung diente. 
Es nötigte Anna Schmidt, nicht nur ihre Inzestliebe, sondern auch die 
Geschlechtsliebe zu unterdrücken, nötigte sie dazu, eine unversöhnliche 
Feindin jeder Liebe, besonders aber der Geschlechtsliebe zu werden, „einer 
solchen Liebe, welche zwischen dem männlichen und weiblichen Geist zu 
bestehen pflegt“, und wurde die Ursache der Entziehung der Libido von 
den Objekten der Außenwelt. 

Dank diesem Umstande auf eine infantile Stufe der Entwicklung regre- 
dierend, speichert sich die Libido auf, ohne einen Ausweg zu haben, erreicht 
ein gewaltiges Ausmaß und ungewöhnliche Intensität, wird „flammend, 
wild, unersättlich“, wie Anna Schmidt sie selber schildert. Gegenstand dieser 
Liebe ist das eigene Ich. Es ist natürlich, daß dieses Ich sich vergrößert 
und ebenso ein gewaltiges Ausmaß annimmt wie die darauf gerichtete 
Leidenschaft. Hier ist der Ursprung ihres Größenwahns. „Gott hat mich 
zu seinem Werkzeug erwählt,“ sagt Anna Schmidt, „um durch mich zum 
drittenmal Seine Offenbarung und Seinen Willen Seinen Menschen zu 
verkünden und sie zu Seinem großen Werke aufzurufen. Zum erstenmal 
hat Er zu Seinem Volke Israel durch Moses geredet . . . Zum zweitenmal 
ist Er selber in Israel erschienen . . . Nun will Er durch mich wieder Sich 
an die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel und auch an die anderen 









lo8 F. Lowtzky 


Schafe wenden . . darum hat Er mir auch den Auftrag erteilt, den 
Menschen viele Geheimnisse zu enthüllen . . . Ich aber, der Er dieses 
aufgetragen hat, ich bin die Kirche Christi, die einige und lebendige, der 
ökumenische und apostolische Geist“ usw. 

Anna Schmidts Libido ist narzißtisch an ihre eigene Person fixiert, der 
Übertragung auf Objekte nicht fähig. Ihr Leben ist (was die biographischen 
Nachrichten über sie bestätigen) ohne Herzensneigungen abgelaufen; sie 
zeichnete sich durch große Keuschheit und sittliche Reinheit aus. Jeder 
Wunsch, zu gefallen, ging ihr ab, und daher verhielt sie sich überaus 
nachlässig gegen ihr Äußeres und interessierte sich gar nicht für ihr 
Aussehen. So begab sie sich beispielsweise auf einen Ball im Konservatorium 
in einfachen Nachtpantoffeln, und es war unmöglich, sie zu bewegen, sich 
was Besseres anzuziehen. Als sie einmal in eine andere Stadt zu einer 
Versammlung reisen mußte und sie nicht gleich ihren Hut finden konnte, 
setzte sie das Hütchen der kleinen Tochter ihrer Bekannten auf und reiste 
so ab. Wenn ihr die Schuhe von den Füßen fielen, pflegte sie sie mit 
einer Schnur festzubinden. Ihre Kleider steckte sie mit Stecknadeln zu¬ 
sammen, weil ihr das bequemer erschien usw. 

Trotz dieser extremen Abwendung der Libido von der Außenwelt blieb 
die Inzestliebe in ihrem Unbewußten erhalten. Sie sucht nach einem 
Ausweg; da sie den nicht findet, wächst sie ebenfalls, wird größer, wächst 
zu riesenhaften Maßen an und läßt in ihr eine andere krankhafte Idee der 
Erotomanie entstehen. 

Die für das Bewußtsein unerträgliche, unterdrückte Inzestliebe kann nur 
in einer völlig unkenntlichen Form wieder bewußt werden und eine solche 
Ausdrucksform unbewußten Erlebens der Anna Schmidt sind ihre Tag¬ 
träume. Ganz wie die Träume bedienen sie sich der Ideen und Vorkomm¬ 
nisse der Realität als eines Mittels zur Darstellung der Inhalte ihres un¬ 
bewußten Ich. Die Wirklichkeit dient ihnen als Material, aus dem Sym¬ 
bole und Bilder geprägt werden, die die Erlebnisse des Unbewußten wieder¬ 
geben derart, wie Maeterlinck in seinem Drama „Die Blinden“ sich der 
Wirklichkeit bedient, — des Waldes und der darin verirrten Menschen, 
die verzweifelt und hoffnungslos nach einem Ausgang suchen, um Vor¬ 
stellungen über das menschliche Leben zu vermitteln, das sich jahrtausende¬ 
lang in der Umklammerung seiner Beschränktheit windet. Anna Schmidt 
sieht „den Juden in der Kapelle; sie hört über Wladimir Solowjow reden, 
und sie zieht sie in ihre Phantasie hinein und inkarniert in den beiden 
das Bild Christi, d. h. ihres Vaters, ihres Geliebten, ihres Bräutigams und 










































Bedeiitung der XdLidoscliicksale für die Bildung religiöser Ideen 


109 


Gatten. 1 Auf diese Weise findet die „Konkretheit“, mit der Anna Schmidt 
ihre Idee auf Wladimir Solowjow Bezug nehmen läßt, die nach Meinung 
der Verfasser des Vorwortes zu ihren Schriften ihrer Lehre „eine ganz 
besondere Eigenart und Kraft“ verleihen, eine ganz natürliche Erklärung. 

Eine gleiche Ausdrucksform unbewußten Erlebens der Anna Schmidt ist 
auch ihre Liebe zu Christus: „GottVater“, sagt sie, „gebiert Sich Seiher im 
Bilde Seines Sohnes, durch den Seine zweite Seele personifiziert wird . . . 
Sein Leib oder Licht ist dasselbe wie der Leib oder das Licht des Vaters 
aus eben derselben dreifachen Seele . . .“ (27). Sein Alter ist, menschlichen 
Vorstellungen angepaßt, fünfzig Jahre, Christi Alter — einundzwanzig Jahre. 
Christus ist der Sohn. Sie selbst ist die Tochter Gott Vaters; folglich ist sie 
die Schwester Christi. Sie liebt den Bruder, da aber das Objekt ihrer Liebe 
eingebildet ist, so legt sie in ihn, worauf schon oben hingewiesen wurde, 
jene Gefühle hinein, die sie selber für ihn empfindet: „In Seiner Liebe 
zur Schwester“, sagt sie in ihrem Tagebuch, „ist nichts vom Gefühl eines 
Freundes der Geburt nach (dieses wäre nur die Liebe eines Bruders zum 
andern), sondern Anbetung des geheimnisvollen Elements (d. h. Gott 
Vaters), dem er ,das Sein der Geliebten 1 verdankt, d. h. ihre Liebe zum 
Bruder ist Anbetung ihres Vaters, dem sie ,das Sein der Geliebten* — 
das Vorhandensein der schöpferischen Liebe in ihr verdankt.“ 

„Der Gedanke der Kirche läßt für keinen Augenblick vom Sohne ab“, 
fährt sie weiter fort. „Aber mit diesem unersättlichen Gedanken (d. h. mit 
dieser Liehe zu ihm) paart sich das Bewußtsein, daß sie ohne Tochter 
überhaupt nicht wäre (nämlich diese Liebe wäre nicht), und sie 
könnte Ihm nicht angehören,“ d. h. damit sie dem Sohne angehören 
kann, muß sie Tochter sein, muß sie den Sohn mit der gleichen Liebe 
lieben, die sie für den Vater hegt. Indem sie ihre Neigung vom Vater auf 
den Sohn überträgt, identifiziert sie ihn mit dem Vater. „Die Furcht vor 
dem Nichtsein“ (das Fehlen der geschlechtlichen Liebe) nötigt Anna Schmidt 
„oft in ein zarteres und hilfloseres Kind sich zu verwandeln“, „den glühenderen 
Schoß ihrer Mutter zu suchen“ (Tagebuch, 250), d. h. sie nötigt sie, im 
Inneren ihrer Mutter während des Koitus dieser letzteren mit ihrem Vater 


1) Sie gibt allerdings zu, es wäre verfehlt gewesen zu glauben, ihr Geliebter sei Jude 
und ein Mann aus dem Volke; Wladimir Solowjow habe sie eines andern belehrt; offenbar 
ist sie aber mehr als einmal wieder zu diesem Gedanken zurückgekehrt oder hat doch 
diesen Gedanken jedenfalls lange gehegt. „Die Episode in der Kapelle — sagt sie — 
hat (mir) eingegeben zu glauben, daß mein Geliebter auch jetzt wieder Jude ist, wieder 
ein Mann aus dem schlichten Volk. Lange habe ich das geglaubt, aber Wladimir 
Solowjows Brief nötigte mich dazu, diesen Gedanken fallen zu lassen“ (266). 










iio 


F. Lowtsty 


zu sein: „Nach der Verkündigung Gabriels“, sagt sie, „erfolgte ihre (Mariens) 
Empfängnis in ihr nicht direkt und unmittelbar, sondern durch 
Margarita, die in ihr wiedergeboren wurde.“ 

Diese Mutterleibphantasie Anna Schmidts ist der Ausdruck des in ihr 
stattfindenden Kampfes der Genitallibido (Furcht vor dem Nichtsein) mit 
der narzißtischen Liebe und der Wunsch der Befriedigung ihrer Inzestliebe 
zum Vater. Darum bemächtigt sich ihrer auch „glühende Dankbarkeit“ zur 
Mutter, Dankbarkeit wohl dafür, daß sie in „ihrem glühenden Schoß“ einen 
Platz im Hinblick auf ihren Vater einnehmen kann. 

Die Erotomanie Anna Schmidts ist — ebenso wie ihr Größenwahn — 
im letzten Grunde darauf zurückzuführen, daß ihre Libido in der Ödipus¬ 
phase der Entwicklung fixiert blieb und im Abwehrkampfe des Ichs einer 
regressiven Erniedrigung zum Narzißmus unterlag. 

Die Libido macht verzweifelte Anstrengungen, um sich von dem eigenen 
Ich zu lösen und auf ein anderes Objekt überzugehen, um aus narzißtischer 
zu geschlechtlicher Liebe zu werden. 

Wie stark in Anna Schmidt die narzißtische Liebe war, ist aus ihrer 
Phantasie „die Bedingungen des geistigen Lebens im Fleische nach der 
Auferstehung“ zu entnehmen. Obwohl die „Auferstehung“ für sie eine Reali¬ 
sierung ihres Wunsches einer Verbindung mit ihrem Vater — der Empfängnis 
(in der Phantasie) einer unübersehbaren Zahl von Kindern von ihm, also 
völliger Triumph ihrer Genitalliebe ist, fährt die narzißtische Liebe dennoch 
fort, in ihrem Triebleben eine bedeutende Rolle zu spielen. „Wie der Geist 
gerade und ungerade von Geburt an ist,“ sagt sie, „so werden auch die 
Leiber sein; die jetzigen Geschlechtsorgane werden nicht in die Struktur 
des Menschen hineingehören, und die Stelle, die sie einnehmen, wird auf 
andere Weise, mit einer andern Bestimmung ergänzt und aus auferstandenen 
Partikeln dieser Glieder eingerichtet werden: das Gerade oder Ungerade des 
menschlichen Geistes aber wird sich seinem ganzen Fleisch und Blut 
in allen seinen Partikeln mitteilen“ (Drittes Testament, 95). Der ganze 
menschliche Leib muß sich somit in eine einzige erogene Zone verwandeln, 
muß zu einer Quelle der Betätigung der autoerotischen Liebe werden. 

Dieser Kampf der Inzestlibido mit der narzißtischen, ihr Streben zur 
Wiederherstellung der normalen Liebe ist das, was Freud den Heilungs¬ 
versuch nennt. Er ist bezeichnend für den Paranoiker. 

Und dieser Versuch der Anna Schmidt ist offenbar erfolgreich gewesen. 
Wie bereits oben vermerkt, erblickte sie in dem Akt des Todes Wladimir 
Solowjows ihren eigenen Geschlechtsakt, den sie mit ihm beging. Wie der 












































Bedeutung der Libidoscliicksale für die Bildung religiöser Ideen 


lll 


Einleitung der Verfasser zu den Schriften Anna Schmidts zu entnehmen 
ist, versiegt ihr eigenes Schaffen merklich, ja, es hört fast vollständig auf 
nach ihrer Bekanntschaft mit Wladimir Solowjow, auf die dann bald sein 
Tod folgte, — d. h. sie beginnt zu genesen. 

Freuds Behauptung, daß viele Ideen der Paranoia Heilungsversuche des 
Kranken sind, finden im vorliegenden Fall eine bemerkenswerte Bestätigung. 

Diese Erlebnisse der Inzestlibido Anna Schmidts befinden sich außerhalb 
ihres gewöhnlichen Bewußtseins, jenseits der Grenzen ihres normalen Ich. 

Der die Verfasser des Vorwortes zu Anna Schmidts Schriften betroffen 
machende Widerspruch „zwischen dem kosmischen Schwung ihres inneren 
Erlebens“ und „ihrem kleinbürgerlichen Provinzdasein“ findet eine natür¬ 
liche Erklärung. Das kleinbürgerliche Provinzdasein: „eine häßliche Pro¬ 
vinzlerin, niedergedrückt vom Kampf um das tägliche Brot, unter dem 
Druck ganz wirklicher Not“; „der kosmische Schwung“: „die Braut Christi, 
seine Geliebte, die Tochter Gottes, die Weltseele“. Zwei einander wider¬ 
sprechende Persönlichkeiten, zwei gleichsam einander ausschließende Wesen 
in ein und demselben Menschen. Eine derartige Dissoziation der Persön¬ 
lichkeit ist in der psychopathologischen Literatur des öfteren anzutreffen. 
Hiedurch erklärt es sich, daß „die Reinheit der Heldin dieses so kühnlichen 
Romans weder durch Zweifel, noch durch Hoffart aufgeregt wurde“ (XI). 
Sie kannte diesen Roman nicht: ihre zweite Persönlichkeit hatte ihn ge¬ 
schaffen. 

Ihre bewußte Persönlichkeit läßt eine Verschmelzung der Persönlichkeit 
der Maria und Margaritas nicht zu. Nicht einmal den Gedanken läßt sie 
aufkommen, daß zwischen Sophia (Maria) und Gott dem Wort (Christus) 
eheliche Beziehungen bestehen könnten, da derartige Beziehungen „sowohl 
ethisch als auch ästhetisch“ zwischen Mutter und Sohn nicht statthaft sind, 
sie „widersprechen jedem noch nicht verbildeten, gesunden Menschenver¬ 
stände“ (20). Ihre unbewußte Persönlichkeit aber hört nicht auf zu wieder¬ 
holen, daß sie die Geliebte und die Frau Christi sei, aus deren Verbindung 
mit ihm ihr zahlreiche Kinder geboren werden, daß die Empfängnis Christi 
in ihr, nicht aber in Maria stattgehabt hat, und daß von diesem Augen¬ 
blick an „die Tochter und Maria“ „zu einem W r esen des zwiefachen Geistes 
werden, der unteilbar und untrennbar in der einen Person ver¬ 
schmolzen ist“ (122, gesperrt von Anna Schmidt). 

„Die in gewissem Sinne keiner Erklärung zugängliche Gesetzmäßigkeit“ 
dieses Widerspruchs im Innenleben der A. N. Schmidt ist das von Freud ent¬ 
deckte Gesetz, demzufolge jede Abweichung der Libido von ihrer normalen 








112 


F. Lowtrky 


Entwicklung zur Erkrankung führt, deren Erscheinungsformen ihre bestimmte 
Gesetzmäßigkeit haben. 

Bekanntlich können die Paranoiker jenseits des Gebietes ihrer Wahn¬ 
ideen und alles dessen, was mit ihnen verbunden ist, normale Menschen 
mit vollkommen einwandfreiem, logischem Denken sein. Während Anna 
Schmidts zweite Persönlichkeit krank war, war der seelische Zustand ihrer 
ersten Persönlichkeit intakt. Das Zusammenfallen glänzender, oft genialer 
Fähigkeiten mit psychischen Abnormitäten dieser Art ist für die Paranoia 
sehr bezeichnend. Die den Verfassern der Einleitung zu den Schriften 
Anna Schmidts so unfaßlich scheinende „Tiefe (ihres) Denkens“ und 
„der Glanz (ihrer) schriftstellerischen Darstellung“ und „der Reichtum 
(ihrer) philosophisch-mystischen Eingebung“, und ihre „tiefen und nicht 
selten weisen Lösungeh“ komplizierter religions-philosophischer Fragen 
werden so begreiflich. Wie die meisten Kranken, die an dieser Form 
von Wahnsinn leiden, war sie mit hervorragendem Verstände und durch¬ 
aus nicht alltäglichen Fähigkeiten begabt, was ihre Biographen bezeugen. 
Der Redakteur der Zeitung, deren Reporter Anna Schmidt war, sagte von 
ihr, daß sie sich rasch in jeder Frage orientierte und in der Rede eines 
jeden das eigentlich Wesentliche zu fassen wußte. Sie hatte ein vortreff¬ 
liches Gedächtnis; „was die Genauigkeit der Wiedergabe betrifft, so unter¬ 
schieden sich ihre Berichte nicht von stenographischen, ja sie übertrafen 
sie sogar, da in ihnen das Zufällige bei Seite geschoben wurde, während 
das Wesentliche blieb“. Ihre Musikbesprechungen und Theaterrezensionen 
ragten über das übliche Niveau hinaus. Den Worten desselben Zeugen 
zufolge verfügte sie über großen Verstand, feinen Geschmack, eigenartiges 
künstlerisches Verständnis, und ihre Rezensionen wurden daher mit be¬ 
sonderem Interesse gelesen. „Das war ein Gebiet“, sagt er, „auf dem 
Anna Nikolajewna über ihre Sphäre als erstaunlich guter Reporter hinaus¬ 
ging und ihren Geist und Geschmack zu Worte kommen ließ.“ 1 

Das arbeitsreiche Leben, das Anna Schmidt führte, gab ihr nicht die 
Möglichkeit, an ihrer Bildung weiterzuarbeiten; da sie mittellos war, konnte 
sie sich keine Bücher kaufen, aber die Art ihrer Betätigung konnte ihr 
bei ihrer Begabung, bei dem vortrefflichen Gedächtnis und bei ihrer Fähig¬ 
keit, alles im Fluge zu erhaschen, als Quelle für das mannigfaltigste Wissen 
dienen, besonders, wenn man noch die Intensität, mit der sie zu arbeiten 
pflegte, ins Auge faßt. Als Reporter, Korrespondentin und Kritikerin hatte 


1) „Aus Anna Schmidts Manuskripten.“ VII. 


































■ 


Bedeutung der LitidoscLictsale für die Bildung religiöser Ideen ll3 


sie an Semstwo-Versammlungen, an verschiedenen gesellschaftlichen und 
kulturellen Veranstaltungen, Konzerten, Aufführungen von Opern und 
Schauspielen teilzunehmen. Sie hatte so viel zu tun, daß sie nicht einmal 
einen Augenblick Zeit hatte, zu Hause zu Mittag zu speisen, und bis spät 
in die Nacht hinein war sie „auf Arbeit“. 

Daß bei derartigen Lebensbedingungen und bei ihren großen Fähigkeiten 
sich kein Einfluß auf das Schaffen Anna Schmidts geltend gemacht haben 
sollte, kann kaum angenommen werden; dennoch wird trotz der unzweifel¬ 
haften Verwandtschaft ihrer Lehre mit den Ideen Wladimir Solowjows, sein 
Einfluß auf ihre Werke von ihren Apologeten bestritten, da sie, „wie sie 
selber gesteht, von der Existenz Wladimir Solowjows ... bis 1900 nichts 
gewußt hat.“ 1 Die Verfasser des Vorwortes folgern daraus, daß „ihr ganzes 
mystisches Schauen durchaus ihre eigene Schöpfung war, oder auf Ein¬ 
wirkung geheimnisvoller Inspiration erfolgte, der sie sie selber zuschrieb“. 

Daß Anna Schmidt glaubte, ihr Wissen um Wladimir Solowjow habe 
sie auf übernatürliche Weise, wie sie sich ausdrückt, „auf wunderbare, 
unirdische Weise“ empfangen, stimmt schon. Daß sie aber nichts von 
Wladimir Solowjows Existenz wußte, als sie ihre Schriften schrieb, ent¬ 
spricht nicht ganz den Tatsachen. Sie hat ihn „fast“ (283) nicht gekannt, 
aber jemanden fast nicht kennen, ist nicht gleichbedeutend mit — ihn 
gar nicht kennen; es bedeutet nur, daß man ihn wenig kennt. Dieses 
Kennen genügte aber vollauf, um jede übernatürliche Erklärung für die 
Verwandtschaft ihrer Ideen mit den Ideen Wladimir Solowjows völlig aus¬ 
zuschalten, um davon ganz zu schweigen, daß ihre Behauptung, sie habe 
Wladimir Solowjows Ideen wenig gekannt, — ebenfalls Zweifeln unter¬ 
liegt, wenn man dabei die Spaltung ihrer Persönlichkeit in Betracht zieht. 
Der Ursprung dieses Wissens kann zweifacher Art sein: selbständige Auf¬ 
nahme der Eindrücke des „Unbewußten“, die nicht bis zum Bewußtsein 
gedrungen sind, oder aber eigene Eindrücke dieses letzteren, die es unter¬ 
drückt oder vergessen hat, die sich aber in den für das Bewußtsein un¬ 
erreichbaren Tiefen der Seele erhalten haben. 

Aus dem Gesagten erhellt, daß man, um eine Erklärung für die Ver¬ 
wandtschaft der Lehren Anna Schmidts mit Wladimir Solowjows Ideen zu 
finden, weder zu einer „höheren Inspiration“ Zuflucht zu nehmen braucht, 
noch dazu, daß „Anna Schmidts Eingebungen in gewissem Sinne . . . die 


1) Den Anfang ihrer Offenbarungen verlegt A. N. Schmidt, laut eigenen Angaben, 
etwa auf das Jahr 1886. Siehe Vorwort zu ihren Schriften. VIII. 


Imago XIII. 


8 













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11 4 

Frucht unsichtbarer telepathischer Einwirkungen auf gleichklingende Saiten 
ihrer Seele gerade seitens Wladimir Solowjows waren“. Die Forschungen 
über das Unbewußte bieten eine natürliche Erklärung für diese Erscheinung. 

Wladimir Solowjow illustriert sehr anschaulich in einem Traum, den 
eine ihm bekannte alte Frau träumte, sein eigenes Verhältnis zu der Ver¬ 
wandtschaft seiner Ideen mit den Ideen Anna Schmidts. 

Die alte Frau träumte, daß man ihr einen Brief Wladimir Solowjows 
brachte, der mit seiner gewöhnlichen Handschrift geschrieben war, die er 
selber patte d’araignee zu nennen pflegte. Nachdem sie den Brief gelesen 
hatte, bemerkte sie, daß darin noch ein anderer, auf wunderschönem Papier 
geschriebener Brief enthalten war. Sie öffnete diesen Brief und sah nun 
mit wundervoller Handschrift und mit goldener Tinte geschriebene Worte 
und vernahm in diesem Augenblick auch seine Stimme: „Dieses ist mein 
echter Brief, warten Sie aber damit, ihn zu lesen“, sprach diese Stimme, 
und nun sah sie, wie Wladimir Solowjow, gebückt unter der Last eines 
gewaltigen Sackes voll Kupfermünzen eintrat und sagte: „Wenn alles Kupfer 
verausgabt ist, wird man auch bis zu den goldenen Worten Vordringen“. 

Er rät nun, Anna Schmidt möge diesen Traum auf sich selber beziehen, 
und fügt hinzu, er habe ihre Beichte nicht nur vorsichtshalber, sondern 
auch zum Zeichen dessen, daß sie Asche sei, verbrannt; unter der Asche 
aber wäre etwas Wertvolles verborgen. Im Traum schleppt er einen Sack 
voll Gold heran; im Sack liegt auch Kupfer, er wirft es hinaus, wie er 
auch die Beichte verbrannte, aber unter dem Kupfer, d. h. unter der Asche, 
„liegt sein echter Brief“, den er mit seiner wunderbaren Handschrift 
geschrieben hat, „goldene Worte“, und bis zu diesen, sagt er, muß man 
durchdringen. 

Somit läßt die Fixierung der Libido in der Entwicklungsperiode des 
Ödipus-Komplexes in Anna Schmidt Größenwahn und Erotomanie ent¬ 
stehen. 

Abweichung der Libido von ihrer normalen Entwicklung führt sie auch 
noch zu einer anderen Regression, zu der Regression auf die orale Stufe 
ihrer Entwicklung. 

Anna Schmidt nennt die Geschlechtsliebe bildlich den Baum des Lebens, 
d. h. den Quell der Speisung, den Sündenfall — die Befriedigung der Inzest¬ 
liebe — das Schmecken vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen. 
„Das Schmecken des Leibes und Blutes Christi (im Abendmahl)“, sagt 
sie, „ist die Verbindung Christi und der Kirche“ (142). „Das urewige 
































Bedeutung der Litidoscticisale für die Bildung religiöser Ideen 


ll 5 


Paar — der Sohn und die Kirche nähren sich aneinander. Darauf 
beruht auch ihre Verbindung, aus der Kinder geboren werden“ (252). 
So ersetzt denn Anna Schmidt den Geschlechtsakt durch einen anderen 
Lebensakt die Speisung. Und dieses „Verlegen nach oben“ charakterisiert 
sie selber in ihrem Tagebuch mit folgenden Worten: „Beim Menschen“, 
sagt sie, „geht die wahrhafte Liebe der Frau, die beste, stärkste Liebe, 
von unten nach oben, sie schaut aufwärts . . .“ (255). „Das verborgene 
Manna ist der Leib Christi , sagt sie an anderer Stelle, „geheimnisvoll 
eingeschlossen vom Tage der allgemeinen Auferstehung ab in dem Leib 
Margaritas, und das man schmecken wird, d. h. man wird es in sich 
fühlen, sowohl sie selber als auch durch sie alle ihre Kinder, in ihrem 
ihnen allen gemeinsamen Leibe der Mutter — der Kirche“ (100). 

Diese Einverleibung des Liebesobjektes auf dem Wege des Fressens 
(Kannibalismus) erzeugt in Anna Schmidt einen dritten Wahn, nämlich 
Verfolgungswahn. 

Die Menschheit, mit der sie sich selber identifiziert, wird von drei Rossen, 
auf denen Reiter sitzen, verfolgt: „Die Rosse“, sagt sie, „sind ein Mittel 
zur Verbreitung der Ideen, da sie dazu dienen, im Raum schnell von einer 
Stelle zur anderen zu rücken“ (179). Das rote Roß und der Reiter auf 
ihm, ist Empörung gegen die Gesetze und gegen die Staatsgewalt („die 
rote, soziale Revolution ). Sie wird der Menschheit Krieg und gegenseitige 
Vernichtung bringen. Das schwarze Roß und der Reiter auf ihm ist die 
Ketzerei; sie wird Verfolgungen und Foltern bringen. Das falbe Roß und 
der Reiter auf ihm ist Gottlosigkeit; sie wird an Grausamkeit der Ver¬ 
folgungen und Foltern alle vorherigen Foltern übertreffen. Diese Ideen, 
die von den Rossen weitergetragen werden, treten an Stelle des wahrhaften 
Glaubens: sie verheißen auch der Welt Glück und Freude, aber im Gegen¬ 
sätze zum Glauben geben sie ihr nichts als Kummer und Leid. „Weder 
vom roten, noch vom schwarzen, noch vom falben Roß“, sagt sie, „wird 
es gleichviel wo auf Erden Sicherheit geben, denn das alles wird in der 
ganzen Welt, in allen Völkern und in allen, auch den geringsten Winkeln 
der Erde geschehen“ (17g). „Und für lange wird die Erde“, sagt sie in 
ihrem Tagebuch aus diesem Anlaß, „erstarren in ihrem Stöhnen, und für 
lange vielleicht wird das ersehnte Morgenrot hinausgeschoben werden“ (25g), 
das Morgenrot der Wiederkunft Christi. Diese Ideen -— „das gefährliche 
Hinaus verzögern“, „das Hinausschieben des Anbruches des strahlenden 
Tages , der Krönung aller ihrer Wünsche, sind ihre Verbindung mit Christus. 
So ist denn die soziale, häretische und atheistische Idee nichts anderes als 


8 * 









, , (, F. Lowtsky 


die Umbildung einer anderen Idee — der Idee einer dritten Offenbarung 
„des wahren Glaubens“ der Anna Schmidt, ihrer Liebe zu Christus (dem 
Vater). 

Und diese Umbildung ihrer Liebe zum Vater, welche die Verwirklichung 
ihres Wunsches sich mit ihm zu vereinigen, verhinderte, die für sie der 
Quell so vieler Leiden war, ist ihre Anhänglichkeit an die Mutter. Die 
drei Rosse mit den Reitern auf ihnen — sind die Umbildungen des weißen 
Rosses mit seinem Reiter. „Das weiße Roß“, sagt Anna Schmidt, „ist das 
Mittel, durch welches der letzte Glaube der dritten Offenbarung verbreitet 
wird. Es ist die neuisraelitische Offenbarung, die Margarita gebracht hat, 
deren Symbol die weiße Blume ist . . . Der Reiter auf dem Roß ist diese 
dritte Offenbarung selber“ (178). Alle drei Rosse, welche die Menschheit 
verfolgen, sind somit Umbildungen des weißen Rosses, Umbildungen ihrer 
Liebe zum Vater; ihre Liebe zur Mutter — alle drei Reiter — sind Um¬ 
bildungen der dritten Offenbarung, d. h. Umbildungen ihrer selbst. 

Indem Anna Schmidt den Vater liebt und die Stelle der Mutter im 
Hinblick auf ihn einzunehmen wünscht, identifiziert sie sich mit dieser 
letzteren. Und dieses introjizierte Liebesobjekt, ihre eigene Umbildung, 

— ist das Bild ihrer Mutter in ihr. Den bekannten Mechanismen der 
Paranoia folgend, projiziert sie dieses von ihr einverleibte Inzestliebesobjekt 
in die Außenwelt, und so wird es zu ihrem Feinde und Verfolger. 

Außer den Rossen, von denen Margarita verfolgt wird, verfolgt sie auch 
noch der Antichrist — der Drache und das Tier, er verfolgt sie überall 
auf Erden und im Himmel. „Wollte man die persönliche Idee des Anti- 
christs selber und aller seiner Nachfolger auf Erden in einer Person ver¬ 
wirklichen“, sagt Anna Schmidt, „und alle ihre einzelnen Ideen in einem 
Geiste sammeln, so hätte dieser Geist weibliche Gestalt.“ 1 „Und diese 
weibliche Gestellt, dieses tote Gespenst aus der Welt der Finsternis“, sagt 
sie, „entspricht dem ökumenischen Geist der Kirche — der Mutter in der 
Welt des Lichts“ (190), aber da „jeder lichte Geist von engelhafter Natur 
in der Welt der Finsternis seine Umkehrung hat“, so ist die Umkehrung 
Margaritas „ihres lichten Bildes“ — der Antichrist. 

Die persönliche Idee 2 des Antichrists, „die Umkehrung“ 3 der Liebe 

— Haß und Inzestliebe — ist folglich ihre Idee, und diese Idee in ihr 
ist so groß, daß sie der Idee des Antichrists selber und aller seiner Nach- 

1) Anna Schmidts Sperrdruck. 

2) Die persönliche Idee Gottes, die Seele Gottes, ist Liebe. 

3) Vgl. oben, Seite 11. 










































Bedeutung der Libido Schicksale für die Bildung religiöser Ideen 


folger „gleich ist“. Die gesammelten und in einer Person verwirklichten 
Ideen sind das in ihr inkarnierte weibliche Bild — das Bild ihrer Mutter. 
Darum auch wird dieses Bild „ein Geheimnis genannt“ (Sperrdruck 
von A. N. Schmidt) — es bildet „das abstrakte Geheimnis der Scharen 
des Antichrists“, und darum auch kann es niemals „sich klar verwirk¬ 
lichen“. „So einen weiblichen Geist“, sagt Anna Schmidt, „gibt es in 
Wirklichkeit nicht und wird es auch niemals geben“ (gesperrt von 
A. N. Schmidt). Diese Abstraktheit oder das Gespenst ist möglich „nur 
in einem beispielhaften Gesicht“ (190), d. h. in ihrer Phantasie. In 
ihrer Phantasie verwandelt es sich in den Antichristen, in den Drachen, 
in das Tier, — in ihren Feind und Verfolger. 

So bildet sich in ihr aus der homosexuellen Liebe, dem unbewußten, 
gewaltigen Haß Anna Schmidts zu ihrer Mutter, der in überströmender 
Liebe zu ihr bewußt zum Ausdruck kam, dank der Regression der Libido 
auf die orale Stufe ihrer Entwicklung — Verfolgungswahn. 

Diese ihre Anhänglichkeit an die Mutter zeigt sich auch in ihrer Be¬ 
ziehung zu ihr. Wie ihre Biographen bezeugen, war ihre Mutter eine 
despotische, harte, alte Frau. Die Tochter ertrug ohne Widerspruch alle 
ihre widersinnigen Forderungen und Launen. War es draußen heiß, ließ 
die Mutter sie ein warmes Kleid anziehen, sich einhüllen, weil sie fürchtete, 
sie könne sich erkälten; wenn sie sprechen wollte, hieß sie sie schweigen. 
Wenn Anna Schmidt in ihren Kinder] ahren sich das Geringste zuschulden 
kommen ließ, bestrafte sie die Mutter, sie ließ sie stundenlang knien 
und um Verzeihung bitten. Die Patin ihrer Mutter teilt mit, daß sich 
dieselben Szenen mit dem Knien genau so wie in der Stadt auch auf 
dem Lande wiederholten, als sie dort zusammenlebten. Aber ihre Qualen 
hatten damit ihr Ende noch nicht erreicht. Im Walde duldete die Mutter 
nicht, daß die Kinder sich von ihr weiter als zehn Schritte entfernten. 
Gingen sie tiefer in den Wald, so pflegte die Mutter ihr eine Schnur an 
die Hand zu binden; auch ihre Freundin wurde so angebunden. Sie durften 
wohl Erdbeeren sammeln, aber verboten war es, sie zu essen. Die Freun¬ 
din aß heimlich Erdbeeren, während Anna Schmidt „keine einzige Beere 
aß . Die Mutter verbot ihr, abends zu schreiben, und sie mußte ihre 
Schreibereien vor ihr verheimlichen. Ihr Gehorsam zu der Mutter war 
wirklich erstaunlich. „Einmal fühlte ich mich für Anna Nikolajewna ge¬ 
kränkt“, berichtet dieselbe Zeugin ihres Familienlebens. „Damals schon 
setzte mich ihr demütiger Gehorsam zu der Mutter in Erstaunen, — sie 
weinte nur (wenn die Mutter sie strafte) und küßte ihre Hände. Als sie 











l 28 F. Lowtzky 


bereits erwachsen war, an einer Zeitung arbeitete und unterrichtete, sprang 
die Mutter doch so mit ihr um, wie es ihr paßte. Anna Schmidt war 
bereits fünfundvierzig Jahre alt, durfte aber nicht, wenn sie müde nach 
Hause kam, Brot nehmen, ehe es ihr die Mutter gab. Ohne zu widersprechen, 
kam sie allen Launen der Mutter nach.“ Diese vollständige Hörigkeit (nach 
Freud) zur Mutter ist bezeichnend für die erotische Bindung überhaupt. 
Ein derartiges Ertragen unsinniger Forderungen des Liebesobjekts, die 
Unterwerfung, selbst wenn es sich um die aberwitzigsten Forderungen 
handelt, kann an verliebten Menschen des öfteren beobachtet werden. 

Die homosexuelle Liebe kann nach Freud zu einem sozialen Gefühl, 
zu einem Gefühl der Liebe zur Menschheit umgebildet werden. 

Eine derartige Sublimierung ihrer erotischen Neigung zur Mutter er¬ 
folgte auch bei Anna Schmidt. Alle, die sie näher gekannt haben, berichten, 
sie habe sich durch ungemeine Selbstverleugnung ausgezeichnet. „Ich 
glaube“, berichtet ein Augenzeuge ihres Lebens, „es ist nicht zu kühn, 
wenn man die entschlafene Anna Schmidt den nahen, sozusagen dem 
Geiste nach Blutsverwandten des heiligen Doktor Haas 1 zuzählt. Sie tat 
in Nishnij-Nowgorod dasselbe, was der berühmte Arzt seinerzeit in Moskau 
getan hatte: mit Wort und Tat half sie allen Notleidenden unermüdlich. 
Sich selber vergaß sie vollständig, sie überarbeitete sich, war stets aufgeregt, 
hatte es immer eilig, irgendwohin zu kommen, und zwar stets in den 
Angelegenheiten anderer Leute. Man konnte sie beim Erzbischof antreffen 
und beim Staatsanwalt, ebenso in der Gendarmerieverwaltung. Man schlug 
ihr ihre Bitten ab, man machte sich lustig über sie, manchmal ließ man 
sich sogar verleugnen, aber hartnäckig wußte sie immer durchzusetzen, 
was sie wollte; viele Tränen sind nicht geweint worden, eben weil sie 
so beharrlich war. Lange wird man mit dem Gefühl warmer Dankbarkeit 
an A. N. Schmidt zurückdenken . . .“ (VI). Ihre Anhänglichkeit an die 
Mutter wird sublimiert und geht in das Gefühl der Nächstenliebe über. 

Die Erschütterung, die Anna Schmidt erlebt hatte, hervorgerufen durch 
die Szene des elterlichen Koitus, konnte nicht allein die Ursache ihrer 
schweren Erkrankung sein. Diese Erschütterung hatte in ihr zu einer 
Spaltung der Persönlichkeit geführt, hatte sie in psychischer Hinsicht 
nicht widerstandskräftig genug gemacht und ihren Organismus zu Krank¬ 
heiten dieser Art disponiert. Damit ihre Libido auf die infantile Entwick- 


1) Doktor Haas war ein in ganz Rußland durch seine aufopfernde Tätigkeit 
berühmter Gefängnisarzt. 




























Bedeutung der Ltlndo.scl:ick.sale für die Bildung religiöser Ideen 


119 


lungsstufe regredierte, mußte sie noch andere schwere Erlebnisse erfahren, 
und andere psychische Ursachen mußten sich einstellen. 

Tatsächlich hatte sie in ihrem Lehen einen großen Schmerz zu 
ertragen. Ihr Vater lebte in Warschau, während sie mit der Mutter in 
Nishnij-Nowgorod lebte; die Mittel für ihren Unterhalt wurden ihnen vom 
Vater zugeschickt. Ganz unerwartet stellte der Vater die Geldsendungen 
ein. Da sie keine Subsistenzmittel hatten, gerieten sie in eine verzweifelte 
Lage. Sie reisten nach Warschau, aber da wartete ihrer ein neuer, harter 
Schlag. Sie erfuhren, daß der Vater eine Fälschung vorgenommen hatte, 
um sich größere Barmittel zu verschaffen. Er hatte sich das Alter und die 
Kurzsichtigkeit der Schwester seiner Frau zunutze gemacht, um sie zu 
betrügen. Die Sache kam heraus, ihm wurde der Prozeß gemacht und er 
wurde nach Archangelsk verbannt, wohin ihm seine Familie folgte. Anna 
Schmidt mußte nun für alle drei arbeiten und, „sich selber vergessend“, 
gab sie sich ganz ihren Eltern hin. 

Dies war eine große Erschütterung für sie, ein Unglück, mit dem sie 
sich nicht abzufinden vermochte. Es genügt, zu lesen, mit welch außer¬ 
ordentlicher Kraft des Unwillens sie jene angreift, die, wie ihr Vater, daran 
denken, Reichtümer zu erwerben, die sich um ihres Lebens Notdurft be¬ 
kümmern, „um die Aufbesserung der eigenen Verhältnisse und der Ver¬ 
hältnisse ihrer Familie, um Mehrung ihrer Mittel“ (207) — und man wird 
das verstehen. Hier fühlt man echtes Erleben. Es ist natürlich, daß sie 
sich bemühte, ihren Kummer zu vergessen, ihn zu unterdrücken; doch 
einmal unterdrückt, sucht er nach einem Ausweg. Er kann das Bürger¬ 
recht in ihrem Bewußtsein nur dann wieder erlangen, wenn er eine 
Maske trägt, die ihn ganz unkenntlich macht: hieraus ergibt sich die In¬ 
karnation des sittlich tief gesunkenen Vaters in sein absolutes Gegenteil, 
in das Ideal der Reinheit und Selbstlosigkeit, in Christus. Es ist eine 
Darstellung durch das Gegenteil — eine Überkompensation. 

Nicht nur, um dem unannehmbaren, für sie sehr unangenehmen Er¬ 
lebnis die Möglichkeit zu nehmen, in ihr Bewußtsein zu dringen, inkar¬ 
niert Anna Schmidt das Bild Christi in ihren Vater, vielmehr findet hier 
noch ein anderer Vorgang statt, der für Paranoia sehr bezeichnend ist. 
An dieser Form des Wahnsinns leiden gewöhnlich Menschen, die zu schwach 
sind, um Mißerfolge im Leben zu ertragen, und denen die Kraft fehlt, 
gegen die rauhe Wirklichkeit anzukämpfen. Sie retten sich in die Krank¬ 
heit (Krankheitsgewinn nach Freud). Aus der für sie unerträglichen Welt 
der Wirklichkeit flüchten sie in die herrliche Welt der Phantasie, wo ihre 










120 


E. Lowtzky 


Träume Erfüllung finden; sie retten sich in die Krankheit. In ihrer 
Phantasie stellt Anna Schmidt Menschen, wie ihren Vater, die sich nur 
um ihr eigenes Wohlergehen kümmerten, Christus gegenüber, d. h. den 
Vater so, wie sie sich gewünscht hätte, daß er wäre. „Während seines 
Erdenlebens , sagt sie, „hatte Er (Christus) nicht, wo er sein Haupt hin¬ 
legen konnte . . . Und da machen sich jene, die sich Christen nennen, 
alle Güter dieser Welt unbesorgt zunutze und denken sonst an nichts, als 
wie sie ihren Anteil an diesen Gütern vermehren könnten, während 
Christus hungert und dürstet, nackt und bloß, gefangen ist 
und krank darniederliegt . . . Er Selber hatte allen alles hingegeben, 
mit Seinem ganzen Herzen, mit Seinem ganzen Wesen . . .“ (211). 

Aber in die Welt der Wachträume flüchtet sie nicht nur wegen des 
großen Kummers, der ihr durch ihren Vater widerfahren war, vielmehr 
auch wegen ihres eigenen unsagbar schweren Lebens. Aus einer „häßlichen 
Provinzlerin , die ihr Leben lang der Kampf ums tägliche Brot nieder¬ 
drückte . . ., „die ihr Leben lang mit wirklicher Not zu kämpfen hatte, die 
weder Bücher, noch freie Zeit hatte 1 *, wird sie in ihrer Phantasie zu Christi 
Braut, zu Seiner Geliebten, zur Tochter Gottes, zur „Weltseele 11 : eben weil sie 
ein vom Schicksal stiefmütterlich behandeltes armes Mädchen war, und weil 
sie mit ungewöhnlichen Verstandesgaben, mit nicht alltäglichen Fähigkeiten 
und einer fein empfindenden, aufnahmebereiten Seele begabt war, konnte 
sie sich nicht mit der schweren Wirklichkeit aussöhnen, und da es ihr 
an Kräften gebrach, sich aus ihr emporzureißen, erschuf sie sich statt dessen 
ihre wunderbare, phantastische Welt. Natürlich war die Ursache ihrer Er¬ 
krankung nicht nur die Inkongruenz ihrer Ansprüche und ihres Lebens, 
und die völlige Unmöglichkeit, davon freizukommen, sondern es hat sich 
bei ihr auch eine Regression der Libido vollzogen. Durch das erlebte Trauma 
wird in der zu psychischer Erkrankung disponierten Person die Libido¬ 
regression zu den unbewußten Fixierungsstellen eingeleitet und dieser 
Prozeß führt bei ihr zu Größenwahn, Erotomanie und Verfolgungswahn. 
Und hierauf beruht auch das Geheimnis des Übergangs vom „spießigen 
Provinzlertum zu „universalem Schwung des inneren Lebens 11 , hier liegt 
auch die Antwort auf die Frage, wie sie es wagte, „unvermittelt über 
sich selber so zu denken, wie keine Königin wann je auch nur in den 
kühnsten Träumen zu denken wagen würde 11 . 

Die Quelle ihres eigenen Schaffens (Anpassung Christi an Wladimir 
Solowjow und ihre eigene Inkarnation in Maria) ist somit in der Ab¬ 
weichung der Libido von ihrer normalen Entwicklung zu suchen. Sie 


















121 


Bedeutung der Li[udo.scruck.salr für die Bildung religiöser Ideen 


bedient sich seiner (des Schaffens) ebenso wie der religiösen Ideen als 
einer symbolischen Ausdrucksform für ihre unbewußte Bindung an den 
Vater und die Mutter. 

So findet denn Freuds Theorie über die Bedeutung der Libido für die 
Bildung religiöser Ideen in Anna Schmidts Schriften eine wahrhaft glänzende 
Bestätigung. 










REFERATE 


Levine, Israel: Das Unbewußte. Übersetzung aus dem Englischen 

von Anna Freud. (Internationale Psychoanalytische Bibliotheh XX.) 

Internationaler Psychoanalytischer V erlag 1926. 

Zum erstenmal ergreift ein Fachpsychologe das Wort, um die Freudsche 
Lehre, rückhaltlos für sie eintretend, seinen Fachgenossen und einem größeren 
Publikum darzustellen und ihre umwälzende Bedeutung — besonders für Phi¬ 
losophie und Psychologie — klar zu machen. Das Buch beweist in seiner An¬ 
lage wie in allen Einzelkapiteln, wie genau der Autor die Freudschen Schriften 
kennt und wie tief er sich in seine Gedankenwelt hineingearbeitet hat. Wenn 
die Darstellung der psychoanalytischen Theorienbildung sich im allgemeinen 
damit begnügt, ein genaues Referat und einen vortrefflichen Kommentar zu 
Freuds metapsychologischen Aufsätzen „Triebe und Triebschicksale“, „Das 
Unbewußte , „Die Verdrängung“ und „Metapsychologische Ergänzung zur 
Traumlehre zu geben, die neueren Forschungsergebnisse weniger berücksichtigt 
und nicht überall auf die ganze Tiefe und den vollen Umfang der sich er¬ 
gebenden Probleme eingeht, so ist das eine Einschränkung, die sich der Autor 
im Sinne seiner Zielsetzung auferlegen mußte. 

Wie der Titel des Buches sagt, ist seine eigentliche Absicht, die Lehre vom 
Unbewußten darzustellen. Da für den Psychoanalytiker die Lehre vom Unbe¬ 
wußten fast mit der von der Psyche überhaupt zusammenfällt, („Das Unbewußte 
ist das eigentlich reale Psychische. Das Attribut des Bewußtseins kann noch 
hinzutreten oder auch nicht“) (S. 129), muß die gesamte psychoanalytische 
Theorie behandelt werden. Eine Einleitung spricht über das „Unbewußte vor 
Freud*, dann werden wir über das „Unbewußte“ bei Freud, dessen Recht¬ 
fertigung und Theorie belehrt; zum Schluß wird die Bedeutung des Unbewußten 
für die Geisteswissenschaften übersichtlich gewürdigt. 

Leibniz, Schopenhauer, Maine de Biran, E. v. Hartmann, Fechner, 
Nietzsche und Butler haben vom „Unbewußten“ gesprochen, jeder hat etwas 
anderes darunter verstanden; eine kurze Übersicht über diese Lehren zeigt, 
daß sie alle „das Gepräge eines verschwommenen Produkts der theoretischen 
Spekulation (S. 37) tragen. Levine streut dabei gelegentlich mehr aphoristi¬ 
sche Bemerkungen zur Psychoanalyse dieser Philosophen ein, wie z. B. den 
Hinweis, daß die „Spaltung der Persönlichkeit“ bei Fechner (in Fechner und 

























Referate 


ia 3 


Dr. Mises) durch den Verdrängungsmechanismus verständlich gemacht werden 
könne. 

Levine betont immer wieder den empirischen Charakter der Freud- 
schen Lehre. „Freud ist seinem Wesen nach medizinischer Psychologe und 
alles eher als der Begründer eines metaphysischen Systems“ (S. 43). Sein 
„Unbewußtes“ ist das Ergebnis naturwissenschaftlicher Induktion. Das Gedächtnis 
beweist die Existenz unbewußter Vorstellungen, der posthypnotische Auftrag 
und das Phänomen des Widerstandes ihre dynamische Wertigkeit, Inhalt und 
Charakter des Unbewußten wurden bei der Untersuchung von Traum, Fehlhand¬ 
lung, Witz und Neurose erkannt. Für den Traum werden die Begriffe „mani¬ 
fester Trauminhalt“ und „latente Traumgedanken“, die Wunscherfüllungstheorie, 
die Zensur, die Traumarbeit und ihre Leistungen diskutiert, für die Fehlhand¬ 
lung die Interferenz der Tendenzen; Freuds „Witz“theorie wird kurz dar¬ 
gestellt, aus der Neurosenlehre werden Fixierung, Sinnhaltigkeit, Aufbau und 
Genese der Symptome, die Verdrängung, die Libidotheorie, die infantile Sexu¬ 
alität, die Regression, speziell der Ödipus-Komplex und der Gegensatz von psy¬ 
chischer und faktischer Realität behandelt. 

Die „Rechtfertigung“ des Unbewußten wird durch eine Polemik gegen 
Williams und Semon eingeleitet, die die Psychologie des Unbewußten für 
entbehrlich halten und glauben, sie durch Erkenntnis physiologischer Fakta 
ersetzen zu können. Williams meine, die wirkliche Erklärung des unbewußten 
Seelenlebens liege in der Tätigkeit der innersekretorischen Drüsen. Dagegen 
rechtfertigt Levine zuerst die naturwissenschaftliche Psychologie überhaupt, — 
die Selbstbeobachtung sei genügender Beweis für die Existenz einer physiolo¬ 
gischer Erfassung unzugänglichen Psyche, — sodann die der Annahme des Un¬ 
bewußten, indem er nach Ablehnung der Bewußtseinstheorien von Field, 
James, Abot, Watson, Rüssel und vorurteilsfreier Untersuchung einer ein¬ 
fachen bewußten Handlung (Mitschreiben eines Studenten im Kolleg) auf die 
Argumente Freuds für das Unbewußte zu sprechen kommt und sie einzeln 
diskutiert. 

Die „Theorie“ des Unbewußten bringt das eingehende Referat der meta¬ 
psychologischen Arbeiten Freuds. In allerengstem Anschluß an diese werden 
ausführlich behandelt: Der Gegensatz Lustprinzip—Realitätsprinzip, die Auffassung 
des seelischen Apparates als eines komplizierten Reflexapparates, das Konstanz¬ 
prinzip, die drei psychischen Polaritäten („Triebe und Triebschicksale“), die 
Wandlung des Lust-Ichs über das purifizierte Lust-Ich zum Real-Ich, die Pro¬ 
jektion, die Ambivalenz (dabei neue Beispiele für den „Gegensinn der Urworte“ 
aus der englischen Sprache), die Gesichtspunkte der Ökonomik, Topik und 
Dynamik, der Mechanismus der Verdrängung (mit besonderer Betonung der 
Arbeit dieses ^lechanismus im Sinne des Realitätsprinzips), die Unterscheidung 
Urverdrängung—Nachdrängen, die Abkömmlinge des Verdrängten, die Gegen¬ 
besetzung, die Vorstellungs- und Affektschicksale, die Reaktionsbildungen, der 
Primärvorgang, der Gegensatz zwischen äußerem Reiz und Triebreiz, die Inhalte 
des Unbewußten (phylogenetischer Kern + Verdrängtes), das Verhältnis von 
Sach- und Wortvorstellungen, der Verkehr der Systeme Ubiv und Vbiv (Zen- 








12 ^ 


Referate 


suren, Gegensatz und Kooperation der Systeme), Natur und Topik des Systems 
Bw , Bewußtwerdung und Erinnerung (System W und Er-Systeme, Bewußtsein 
„an Stelle einer Erinnerungspur“), die Trieblehre („Jenseits des Lustprinzips“ 
nur in einer Fußnote; im Text Ich- und Sexualtriebe). 

Der letzte Teil will kurz einige Anwendungsmöglichkeiten für die Geistes¬ 
wissenschaften zeigen. Für die Pädagogik ist Psychoanalyse durch ihren 
„Sublimierungs“begriff und die von ihr angebahnte Charakterlehre bahn¬ 
brechend geworden (Vermeidung sexueller Geheimniskrämerei vor den Kindern 
sei erste Forderung). Für die Massenpsychologie wird der wesentliche 
Inhalt des einschlägigen Buches Freuds ganz kurz dargestellt, die Lehre von 
der Persönlichkeit kann aus der Psychoanalyse den Gewinn ziehen, nunmehr 
Rätsel wie das der „multiplen Persönlichkeit“ lösen zu können; ein „unter¬ 
bewußtes Ich (Myers) gibt es nicht. Die Existenz der Symbolik spricht für 
ein „kollektives Unbewußtes“; dennoch sei die Lehre Jungs „mystisch und 
spekulativ“. 

Den Ausführungen über Ethik wird man vielleicht formal nicht ganz zu¬ 
stimmen können. Es ist nicht allgemein üblich, „ die Wissenschaft, welche Sitten 
und Gesetze des menschlichen Zusammenlebens sammelt und einer Würdigung 
unterwirft , als „Ethik" zu bezeichnen (S. 168, 16g). Was wäre dann Soziologie? 
Es ist natürlich richtig, daß die psychologische Untersuchung nur über den mensch¬ 
lichen Rahmen aufklärt, innerhalb dessen das moralische Handeln statthat; nicht 
aber, daß jedes Sollen ein Können voraussetze. Die Psychoanalyse kann die Tat¬ 
sache „Moral“ als psychologisches Phänomen in ihrem Gehalt und in ihrer 
Genese untersuchen, nicht aber durch Erkenntnis realer menschlicher Handlungs¬ 
möglichkeiten ethische Ziele selbst bestimmen helfen. Es ist richtig, daß die 
Psychoanalyse nur lehre, alles Handeln sei Ausdruck eines Luststrebens, nicht, die 
Herstellung von Lust sei erstrebenswertes Ziel, aber es ist üblich, nur die zweite 
Lehre, nicht die erste, „Hedonismus“ zu heißen. Auch die Ausführungen über die 
„Verantwortlichkeit“ sind nicht ganz überzeugend. Es bleibt doch noch Problem, 
ob und wie der wissenschaftliche Determinismus mit einer „moralischen Willens¬ 
freiheit in Einklang zu bringen ist. (Siehe den seither erschienenen Aufsatz von 
Freud: „Die sittliche Verantwortung für den Inhalt der Träume“, Ges. Schriften, 
Bd. III.) Levine glaubt, die moralische „Freiheit“ aufrecht erhalten zu sollen, 
obwohl er selbst sehr beachtenswerte Bemerkungen zur Psychoanalyse der Sehn¬ 
sucht nach moralischer Freiheit macht. 

Auch die Ästhetik gewinnt viel durch die psychoanalytische Kunst- und 
Künstlerpsychologie. Erörterungen über die Differenz zwischen Tagtraum und 
Kunstwerk, über die Natur der Tragik, über die „künstlerische Vereinfachung“ 
zeigen die Vielgestaltigkeit der einschlägigen Probleme. 

Aus dem Gebiete der Philosophie werden zwei Problemkreise herausgegriffen: 
Das Problem der „Bedeutung erhält durch Freuds Unterscheidung von Sach- 
und Wortvorstellungen eine neue Beleuchtung; die „Vernunft“ fällt nach Levine 
mit dem „Realitätsprinzip“ zusammen, ihr Gegensatz ist nicht das „Irrationale“, 
sondern das „Prärationale“. 

Versichert uns der Autor, er habe „Vertiefung und Detailarbeit im Interesse 




























Referate 


ia 5 


eines Eindruckes von Weite und Umfang geopfert“, seine Absicht sei nicht ge¬ 
wesen, „eine erschöpfende Darstellung der Psychoanalyse“ zu geben, sondern 
die „Untersuchung der ihr zugrunde liegenden reinen Theorie“ (S. 206), so 
ist kein Zweifel, daß ihm diese beschränkte Aufgabe sehr glücklich gelungen ist. 

F e 111 c li e 1 (Berlin) 

Rolfen stein, Gaston: Das ProLlem des psychologischen Ver~ 

steliens. Stuttgart 1926. 

Jede Psychologie, welche das komplexe seelische Geschehen begrifflich zu 
erfassen sucht, sieht sich vor der Frage nach Bedeutung und Erkenntniswert 
des psychologischen Verstehens. Diese Frage zielt auch nach einer der ent¬ 
scheidenden methodischen Voraussetzungen der Psychoanalyse als Wissenschaft. 
Für die Psychoanalyse, welche — wenn wir ihre Abkömmlinge hier außer 
Betracht lassen — die Psychologie seelischer Zusammenhänge xax’ e|ojpjv ge¬ 
nannt werden darf, muß die Auseinandersetzung mit dem Wesen des „Zusammen¬ 
hängens“ auf psychischem Gebiet und mit der Art, in welcher es erkannt wird, 
ein dringliches Problem sein; die Frage nach der Dignität des psychologischen 
Verstehens als eines Erkenntnismittels ist wissenschaftstheoretisch eine ihrer 
Grundfragen. Von der Stellungnahme zu diesem Fragenkomplex hängt nicht nur 
die Entscheidung für oder gegen den naturwissenschaftlichen Charakter der 
Psychoanalyse, sondern auch die viel wichtigere über die Geltung ihrer Beweis¬ 
methoden ab. 

In der seit der Arbeit Diltheys — er hat als erster das Problem greifbar 
herausgestellt — immer breiter anschwellenden Literatur über das Verstehen 
in der Psychologie kommt der Arbeit Roffensteins eine hervorragende Stellung 
zu. Er befreit den Begriff von den Unklarheiten, welche ihm in der Fassung 
durch Jaspers u. a. anhaften — Jaspers war zu dem Resultat gekommen, 
daß auch die Psychoanalyse im Wesen keine kausal gerichtete, sondern eine 
„verstehende Methode sei! — und weist die sogenannte geisteswissenschaft¬ 
liche Psychologie, welche im Verstehen die adäquate Methode zur Erfassung 
des „höheren Seelenlebens sieht, in die ihr angemessenen Schranken. Seine 
Kritik zeigt eindringlich und klar die Mängel einer solchen Erkenntnisweise 
für jede Psychologie, die Wissenschaft vom realen Seelenleben sein und nicht — 
in metaphysischer Wendung, wie etwa bei Spranger — Zusammenhänge des 
„objektiven Geistes“ aufzeigen will; er erweist weiter die Annahme eines Aus- 
einanderfallens verständlicher und kausaler Zusammenhänge (und damit die Un¬ 
zulänglichkeit der bloß verstehenden Methode) als notwendig für jeden psycho¬ 
logischen Standpunkt, der mit der Einführung des unbewußten Seelenlebens 
und des somatischen Einbruchs Ernst macht. 

Hierin und in der scharfen Betonung der Notwendigkeit induktiver Kontrolle 
für alle verständlichen Zusammenhänge vertritt Roffenstein jenen Standpunkt, 
welcher auch der der Psychoanalyse sein muß. Auch seine Tendenz zur Fun¬ 
dierung der Psychologie auf die Biologie steht im Einklang mit psychoanalyti¬ 
schen Gedankengängen; Schlußfolgerungen wie: „Jede Psychologie muß letzten 











126 


Referate 


Endes zum Trieb führen und somit notwendig in die Biologie einmünden“ werden 
von jedem Analytiker unterschrieben werden. Um so überraschender wirkt es 
dann freilich, wenn Roffenstein, nachdem er die naturwissenschaftliche Auf¬ 
fassung des Psychischen konsequent durchgedacht und die methodischen Mängel 
der verstehenden Psychologie nach allen Richtungen auseinandergelegt hat, in 
seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse doch wieder dem Einsichts¬ 
erlebnis als Kriterium wirklichen Zusammenhängens „ein gewisses Maß von 
Wertigkeit zuspricht, beziehungsweise sein Fehlen als Einwand gegen die 
Richtigkeit bestimmter Fr eudscher Lehren über das Unbewußte geltend macht. 

H artmann ( Wien) 

V^ertke imer, Max: Uter Ge stalttkeorie. Sonderdrucke des Sym¬ 
posion, Heft 1. Verlag der Pliilosoplnsclien Akademie. Erlangen 1925. 

Inhaltsvoll, schön geschrieben, aufklärend für diejenigen, welche sich über 
das Problemgebiet der „Gestalttheorie“ kurz orientieren wollen. „Es gibt 
Zusammenhänge“ — so wird das Grundproblem formuliert — „bei denen 
nicht, was im ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke 
sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo -— im prägnanten Fall — 
sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von 
inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen.“ Diese Formulierung 
läßt noch nicht durchblicken, welche innere Berührungspunkte zwischen der 
Gestalttheorie und der Psychoanalyse bestehen. Es muß aber einem auffallen, 
wie sehr im Laufe der Schrift statt der Frage der „Gestalt“ immer mehr die Frage 
vom Sinn, von Sinnlosem und Sinnvollem in den Vordergrund tritt. Einmal 
wird die Frage aufgeworfen, was an der Grundeinstellung der früheren Wissen¬ 
schaft sie für die Fragen des Lebens blind macht; hier wird nicht auf die Verdrän¬ 
gung hingewiesen, die unseres Erachtens auch an der Zerstückelung der einheitlichen 
Erfahrung mitschuldig ist. Auch beim Hinweis auf das Dynamische der seelischen 
Beziehungen vermissen wir ein Wörtchen über die Psychoanalyse. Allerdings wurde 
von psychoanalytischer Seite das Methodische der Ganzheitsauffassung nicht so 
zusammenfassend herausgearbeitet, wie man es beim Verfasser vorfindet. 

H ermann (B udapest) 


Kl ages, Ludwig: Die psycliologisclien Errungenscliaften Nietz- 

sckes. Leipzig 1926. 

Hier kann es sich nicht darum handeln, den Psychologen Klages in den 
einzelnen Punkten, die ihn mit der Psychoanalyse verknüpfen, zu würdigen, 
obwohl das vorliegende Buch dazu verführen könnte. Nur so viel: Es wird 
gesagt, Klages lehne die Psychoanalyse ab. (Daß er das Wesen der Psychoanalyse 
verkennt, zeigt die Bemerkung, die er an das Nietzsche-Zitat, „alle guten Dinge 
waren ehemals schlimme Dinge“ knüpft: das sei beiläufig das Thema der 
Psychoanalyse von heute.) Wie dem aber sei, tatsächlich dürfen wir seinen 
















Referate 


12/ 

Geist, zwar nicht dem Herkommen, aber dem Ziele nach, gleichgerichtet mit 
dem der Psychoanalyse halten. 

Aus innerster Wesensverwandtschaft — das spricht aus jeder Zeile _ ist 

dieses Nietzschehuch entstanden. Es führt darum auch nicht nur einen neuen 
Aspekt Nietzsches vor, es führt in Nietzsches persönliche Problematik, analytisch 
tiefer und tiefer schreitend, hinein, auf diese Weise all das Schillernde, das 
dieser reich facettierte Denker jedem bot, der sich mit ihm befasste, auflösend 
und zurückführend in einen unheilvollen Selbstwiderspruch: „Der Selbstwider¬ 
spruch ... er ist fundamentalster, um nicht zu sagen furchtbarster, Art 
betrifft nicht die Abfolge, Wandlung und Entwicklung seiner Gedanken, sondern 
mehr oder minder jeden Hauptgedanken selbst, und spaltet alle seine Werke, 
die frühesten nicht minder als die spätesten, ja oft sogar die einzelne Seite, 
sogar nicht selten den einzelnen Satz“ (15). Der Versuch, diesen Widerspruch 
mit zwei Worten zu umreißen, gipfelt in dem Satz: „Er war der Kampfplatz 
des Orgiasten, den er uns geschildert, mit dem asketischen Priester, den er 
uns entlarvt, oder, in der kürzeren Sprache des Mythos — der Schauplatz 
des Kampfes zwischen Dionysos und Jahwe.“ „Daß eine und dieselbe Persön¬ 
lichkeit zugleich dem Dionysos und dem Jahwe gehöre, ist ein seltenster und 
furchtbarster Fall. Vom Stundpunkt des Jah-tfdsten bedeutet er einen entgleisten 
Priester. Vom Standpunkt des Bakchen einen Orgiasten, der verwunschen wurde 
,in Ketten zu tanzen , vom Standpunkt des Lebens unabwendbare Selbstvemichtung, 
vom Standpunkte aber der Erkenntnis einen tragischen Glücksfall ersten 
Ranges (21 o). 

Nietzsches Kampf, durch den das Buch in klassischem Aufbau hindurchführt, 
gipfelnd in der für ein bewußtseins- und wahrheitsstolzes Zeitalter vernich¬ 
tenden Relativierung des Bewußtseinswertes und seiner Wahrheit bezogen auf 
die Ganzheit des Lehens 5 dieser Kampf wird von einer Position aus geführt, 
die auch uns die gesichertste erscheint: Nietzsche basiert auf den „nächsten 
Dingen , welche, um es kurz zu sagen, nichts anderes sind, als die trieb- 
tragende Körperlichkeit. Ihr will er zu ihrem geistigen Rechte verhelfen, 
wenn er sagt: „Schreibe mit Blut, und du wirst erfahren, daß Blut Geist sei.“ 
„Es ist die Lebensabhängigkeit, ja, darüber hinaus, in engster Bedeutung die 
Leibesabhängigkeit seines Geistes gewesen, was ihn zu seinen folgerichtigsten Be¬ 
funden befähigt hat (7g). In Nietzsche verläuft die Kluft zwischen „Leibes¬ 
gefühl und Sittlichkeitspathos . „Er wird zum Richter der Wbrtansprüche der 
Vernünftigkeit, aus martervoll von ihm erlittener Auflehnung gegen Wert¬ 
ansprüche der Sittlichkeit, und er wird zum grimmigsten Feind der Sittlichkeits¬ 
werte, weil gegen den Felsen der Moralität, an die er selbst geschmiedet, der 
Geist seines Leibes sich auf bäumt.“ 

Hier würde psychoanalytische Betrachtung tiefer führen können: Der Pastoren¬ 
sohn bekämpft den Vater in der Welt der moralischen Werte, um schließlich 
am introjizierten Vater doch unheilvoll zugrunde zu gehen, am „Gott, der einen 
von hinten angreift“, wenn man ihn von Angesicht zu Angesicht überwältigt 
hat. Als besiegter Sieger geht Nietzsche an der schuldzerfressenen Körperlich¬ 
keit, für die er sich einsetzte, zugrunde. — Eine in dieser Richtung zielende 










128 


Referate 


Vertiefung ist nicht geschehen. Zu größerm Nachteil gereicht aber der Arbeit 
die Vermeidung (oder Unkenntnis) des Begriffs der Sublimierung. Zwar hat 
Klages recht, wenn er Nietzsche vorwirft, keinen Unterschied gemacht zu haben, 
zwischen Trieben und Willensimpulsen, und daß dadurch die unheilvolle Formel 
des „Willens zur Macht“ für ihn zur Klippe wurde. Dagegen aber — wie 
es übrigens Klages in all seinen Arbeiten tut —■ den Trieben trieb unabhängige 
„Triebfedern“ gegenüberzustellen, „dispositionelle Vorbedingungen einer gattungs¬ 
mäßig abzugrenzenden Willensrichtung halten wir für unzweckmäßig. Uns ist 
die historische Triebidentität dieser Sublimierungen so augenfällig, daß uns der 
Fehler Nietzsches tiefere Berechtigung zu haben scheint, als derjenige Klages’, 
wenn auch dieser wohl für Nietzsches Geschick weniger unheilvoll gewesen wäre. 

Dort, wo das Wort vom Willen zur Macht, zur starren Formel wird, wo 
sich Nietzsche an die Stelle des entlarvten Priestergottes setzt und predigt: 
„Das Leben (selbst) ist der Wille zur Macht“, dorthin folgen wir ihm mit 
Klages nur unter äußerstem Vorbehalt. Dort wird auf Schritt und Tritt auf¬ 
gezeigt, wie sich Nietzsche selbst in das Netzwerk der Seins- und Wahrheits¬ 
lügen verstrickt, das er seinen Feinden zerrissen hatte. Überall leuchtet hier 
der tragische Vaterkonflikt durch: „Hier sind Priester — und wenn es auch 
meine Feinde sind, geht mir still an ihnen vorüber und mit schlafendem Schwerte. 
. . . Mein Blut ist mit dem ihren verwandt; und ich will mein Blut auch 
noch in dem ihren geehrt wissen . . . und als sie vorübergegangen waren, fiel 
Zarathustra der Schmerz an.“ 

Gerade an dieser Stelle wäre bei Kenntnis der Psychoanalyse der unheilvolle 
Konflikt in letzter Klarheit zu verdeutlichen gewesen: 

Die Ichabhängigkeit vom Trieb hat Nietzsche zum erstenmal erkannt. In 
seiner Bedeutung verkannt hat er die Ichabhängigkeit vom Über-Ich, dessen 
triebeinschränkende Macht er glaubt überwunden zu haben, wenn er den 
Willen zur Macht in der Maskerade des Über-Ichs als kategorischen Imperativ 
auftreten läßt. 

Wir können uns auch der Ansicht nicht erwehren, daß bei der Wahl der Ein¬ 
schränkungen, zu denen die Fülle Nietzschescher Problematik jeden zwingt, der 
sich mit ihr befaßt, Motive bei Klages mitsprachen, die tiefere psychoanalytische 
Einsicht in Nietzsches Wesen verwehren. So, wenn er „seine Psychologie der 
Geschlechtscharaktere (nicht berücksichtigt), die ungeachtet erstaunlich hell¬ 
sichtiger Einzelheiten alles in allem mehr von persönlichen Geschmackseigen¬ 
tümlichkeiten ihres Schöpfers als von der Sache selbst verrät“, oder wenn er 
„kaum berührt, was er (Nietzsche) vom Wesen der Liebe und des Mitleids 
glaubt erkundet zu haben“. Gerade von diesen Seiten her könnte sich ein 
neuer Aspekt des unheilvollen Verhältnisses Nietzsches zu der in seinen Händen 
erstarrten Formel vom „Willen zur Macht“ gewinnen lassen. — Aber gegenüber 
dem, was Klages in diesem Buche unternommen hat, sind diese Einwände, so 
wichtig sie uns scheinen, von sekundärem Belang. Nichts weniger ist hier 
geglückt, als den archimedischen Punkt zu erreichen und zu behaupten, von 
dem aus wir einzig der Welt Nietzsches gerecht werden können. 

Bally (Berlin) 





















Referate 


139 


Utitz, Emil: Cliarakterologie. CLarlottenLurg 1936. 

Utitz unternimmt in diesem Buche das Wagnis, aus den bisher gewonnenen 
psychologischen Erfahrungen eine wissenschaftliche Charakterkunde zu umreißen 
— Ein ungeheures Material wird herangetragen. Gemacht wird daraus ver¬ 
zweifelt wenig. All die hundert Wege, auf denen Utitz für eine Charaktero¬ 
logie gültige Kategorien zu gewinnen sucht, haben nur in einem beschränkten 
Raume Gültigkeit, dann werden sie — ein Spiel, das in eintöniger Weise das 
ganze Buch durchzieht von andern Wegen gekreuzt und relativiert. Oh es 
sich um,.Richtungsbestimmtheit“, „Dimensionalität“, „Dynamik“, „Rhythmik“, 
ob es sich um Ansprechbarkeit, Nachhaltigkeit, Bewußtseinsgrad,” ob es sich 
endlich um Ziel- oder Willens- oder Künstlercharaktere handelt, überall wird 
an der Vielgestaltigkeit des Einzelfalles die Absolutheit des Idealfalls oder der 
idealen Strebung endlich doch unmöglich. Vor dieser Tatsache flieht Utitz 
in die Geste der Bescheidenheit. Wir empfehlen ihm, diesen Schritt noch einmal 
zu prüfen, nachdem er seinen Widerstand gegen die psychoanalytische Forschung, 

hauptsächlich die der letzten Jahre, aufgegeben und sich in „die _zum Teil 

ergreifende — Mystik der Greisenjahre Freuds“ vertieft hat. Er braucht diese 
„Mystik um so weniger zu fürchten, als sie ja seiner Ansicht nach „eher aus 
der Psychoanalyse heraus, als in sie hinein“ führt. — Dort wird er die drei 
Arten der psychologischen Betrachtungsweise vorfinden, die dynamische, die 
ökonomische und die topische. Dort wird er endlich auf eine Gliederung 
der Persönlichkeit stoßen; macht doch die Einführung der im Unbewußten 
verankerten Persönlichkeitsinstanzen, des Es und des Überichs und die Kenntnis 
ihrer Wirkungsmöglichkeiten auf das Bewußtsein Charakterologie erst möglich. 

Da Utitz aber die Psychoanalyse verschmäht, weiß er nur von „Ichmasken“ 
zu reden, mißt er nur immer wieder das Ich am Ich, und sieht nicht daß 
das Problem der Ichgestalt nicht und nie auf dem Boden der Ichgestalten 'selbst 
gelost werden kann. Nirgends wird ihm klar, daß auf Formen, in denen das 
Ich erscheint, keine charakterologischen Bezogenheiten zulässig sind, und daß 
Milieu und Disposition ungenügende Kategorien abgeben, weiß Utitz selbst. 
Der einzige Charakterologe, der bisher — abgesehen von der Psychoanalyse — 
zu fruchtbaren Resultaten gelangte, der von Utitz so überaus geschätzte Klages, 
konnte das nur in der strengen Bezogenheit des Geschauten auf die Dreiheit 
Geist—Seele—Körper. Warum Utitz sich nicht wenigstens dieser — unserer 
Ansicht nach antiquierten, aber immerhin in weitesten Grenzen zu praktischen 
Resultaten führenden Gliederung grundlegend bediente, ist unverständlich. 

Es bleibt bei einer fleißigen Häufung von hundert Möglichkeiten. Man legt 
das Buch aus der Hand mit dem Bedauern, daß so riesige Arbeit sich aus Mangel 
an Einsicht in das Wesen der Psyche vergeudet hat. Bai l y (Berlin) 

Wulff, Dr. M. W.: Pliantasie und Realität in der Psyclie des 

Kindes. Odessa 193h. (Russiscli.) 

In seinem in der Moskauer Psychoanalytischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag 
„Phantasie und Realität in der Psyche des Kindes“ sucht der Verfasser zu zeigen, 


Imago XIII. 


9 










1 ÖO 


Referate 


wie wichtig die Kenntnisse der Freud sehen Theorie des kindlichen Seelenlebens 
für die Erziehung sind. Das Denken des Kindes ist wie das der Primitiven 
im Gegensatz zum begrifflichen Denken des Erwachsenen symbolisch (archaisch). 
Da das Seelenleben des Kindes durch das Lustprinzip geleitet und die Wahr¬ 
nehmung der Außenwelt für es mit Unlust verbunden ist, steht es überdies 
noch der Außenwelt feindselig gegenüber. Der Erzieher muß diese Kinder¬ 
psychologie verstehen, um nicht nur zu vermeiden, durch Fehlgriffe die nega¬ 
tive Einstellung des Kindes zur Außenwelt etwa noch zu fördern, sondern um 
es mit ihr zu versöhnen. Da das Denken des Kindes symbolisch und seine Ein¬ 
stellung zur Welt negativ ist, bleibt ihm die Außenwelt verschlossen. An Stelle 
dieser für ihn fremden Welt schafft es sich eine andere Welt, die Welt der 
Phantasie, die nichts anderes als die wiederholende Darstellung seiner Erleb¬ 
nisse ist. Es erlebt sie gleich intensiv wie die Realität, darum sind ihm seine 
Phantasien ebenso real wie die Wirklichkeit dem Erwachsenen. Diese Bedeutung 
der Phantasie für das Innenleben des Kindes ist bei der Erziehung besonders 
zu beachten. Wie dem Primitiven sind dem Kinde der Animismus und der 
Glaube an die Allmacht der Gedanken eigen. Wegen dieser Übereinstimmung 
hat das Kind großes Interesse für Märchen, Mythen, Sagen und Legenden. 
Diese archaischen Phantasien sind eben seinen eigenen ähnlich. 

Der Verfasser meint, daß die Märchen nebenbei auch noch deshalb das 
Interesse des Kindes erwecken, weil sie seinen moralischen Anforderungen genüge 
tun. So befriedige z. B. „Das Rotkäppchen“ in Tolstois Umarbeitung, der das 
übliche Ende — das Erscheinen des Jägers, der dem Wolf den Bauch aufschneidet 
und die Großmutter mit dem Kinde befreit, fehlt, — das Kind nicht, weil 
dabei das Gute besiegt und das Böse unbestraft bleibe. Der Verfasser hat recht, 
wenn er meint, daß der Sinn dieses Märchens die Darstellung der infantilen 
Sexualtheorie über die Einverleibung des Kindes auf dem Wege des Essens 
sei, aber es ist zu beachten, daß dieses Märchen, wie jede Phantasie, nicht 
nur Darstellung der Anschauungen und Erlebnisse des Kindes, sondern Verwirk¬ 
lichung seiner Wünsche ist. Das übliche Ende des Märchens, das Ausschneiden 
der Frau und des Kindes aus dem Bauche des Wolfes, enthält die Realisierung 
der infantilen Inzestwünsche. Wenn dieses Ende fehlt, bleibt das Kind un¬ 
befriedigt, weil ihm die Erfüllung seiner intimsten Wünsche fehlt. Im übrigen 
ist Wulffs Darstellung der Theorie Freuds über das Seelenleben des Kindes, 
speziell über das Verhältnis von Phantasie und Realität in der Psyche des 
Kindes, sicherlich gelungen. F. Lowtzky (Berlin) 

Jones, Ernest: (Motker-riglit and tlie sexual ignorance ol savages. 

Int. Journal of PsA. Vl/a. 

Seit Bachofen steht das Problem des „Mutterrechtes“ im Mittelpunkt des 
Interesses. Die Annahme eines einstigen „Frauenstaates“ mit extremer Vertauschung 
der Geschlechtsrollen (Vaerting) läßt sich anthropologisch kaum stützen. So 
betont Frazer ausdrücklich, daß die häufige Berechnung der Verwandtschaft 
nach der mütterlichen Linie nicht mit Mutterherrschaft zusammenfällt. Die 
































r 


Referate 


i3i 


Behandlung dieser Fragen wird erstens durch affektive Vorurteile erschwert, 
weiters aber durch die Kompliziertheit des Materials selbst. So muß selbst bei 
Völkern mit mütterlicher Verwandtschaftsberechnung das Kind nicht immer dem 
gleichen Clan angehören wie die Mutter, der Totem, der die Mutter schwängerte, 
muß mit ihrem eigenen Totem nicht identisch sein. Von „Matriarchat“ sollte man 
aber nur dort sprechen, wo die Mutter willkürlich über die Kinder verfügen 
kann, was außerordentlich selten ist. Wo die „Potestas“ über die Kinder nicht 
vom Vater ausgeübt wird, hat sie meist der Onkel, der Bruder der Mutter 
inne — oder Vater und mütterlicher Onkel teilen sich nach komplizierten Vor¬ 
schriften in die Ausübung dieses Rechtes. Oft folgt der Sohn im Range dem 
mütterlichen Onkel, aber in Melanesien gibt es z. B. auch väterliche Erbfolge 
bei mütterlicher Verwandtschaftsberechnung, in Torres Straits wieder mütter¬ 
liche Potestas bei väterlicher Erbfolge und väterlicher Verwandtschaftsberechnung; 
gelegentlich wohnt der Mann am Wohnort der Frau, es gibt aber auch männliche 
Wohnortsbestimmung bei mütterlicher Verwandtschaftsberechnung. 

Manche Autoren halten die mütterliche Verwandtschaftsberechnung allgemein 
für die primitivere und begründen dies mit der ewigen Unsicherheit der Bestimmung 
des Vaters (obwohl es mütterliche Berechnung bei Völkern gibt, die weibliche 
Untreue mit dem Tode bestrafen, und väterliche bei solchen mit sexuell freien 
Sitten) und damit, daß das Mutterrecht ein Überrest aus einer Zeit sei, in der 
man über die Rolle der männlichen Zeugung noch nichts wußte. Dazu würde 
stimmen, daß man bei den Völkern, die diese Unkenntnis noch heute besitzen, 
tatsächlich Mutterrechtsinstitutionen findet. Am ausführlichsten wurde solch ein 
primitiver Stamm, die Trobriander in Neuguinea, von Malinowski untersucht. 
Die Schwangerschaft gilt als Werk eines „Baloma“, eines (meist weiblichen) Geistes 
eines Verstorbenen, der ein geistiges Kind, „Waiwaia “, in den Mutterleib einführt. 
Voraussetzung dafür ist aber, daß vorher die Vagina durch Sexualverkehr geöffnet 
wurde. Es gibt auch australische Eingeborene, die von der Rolle des Vaters 
beim Menschen nichts wissen, sie aber beim Tiere kennen. Die angeblich un¬ 
wissenden Trobriander sind entsetzt, wenn sie ihrer Mutter ähnlich sehen, und 
freuen sich über Ähnlichkeit mit ihrem ' — ihnen nicht verwandten — Vater. 
In alten Sitten und Glauben verraten sie symbolisch eine unbewußte Kenntnis 
von der Vaterschaft: Der Geist kommt in Form einer Schlange, eines Vogels 
in die Frau, während sie im Meere badet. Man darf nicht vergessen, daß der 
primitive Kausalitätsbegriff von dem unsrigen verschieden ist; auch die hellenischen 
Frauen betrieben Fruchtbarkeitszauber und hielten die Schwangerschaft für ein 
Göttergeschenk; und doch kannten sie die Rolle des Vaters. 

Die Psychoanalyse kennt die Verbindung von realer Unkenntnis oder Halb¬ 
kenntnis eines Materials mit Handlungen, die von einer genauen Kenntnis zeugen, 
als Werk der Verdrängung. Es ist anzunehmen, daß auch die Befruchtung 
durch den Baloma eine Ersatzbildung ist, die ein unbewußtes besseres Wissen 
verleugnen soll. Schon Carveth Read hat an eine Verdrängung sexuellen 
Wissens bei Primitiven geglaubt. 

Jones nimmt nun an, daß ein enger Zusammenhang besteht zwischen dieser 
Verdrängung und den Mutterrechtsinstitutionen. Das Motiv für beide Erschei- 


9 * 








Referate 


102 


nungen wäre das Bestreben, den Haß der heranwachsenden Söhne gegen den 
Vater unschädlich zu machen. Die Trennung der Begriffe „Verwandtschaft“ 
und „Erbfolge“ dienen der gleichen Tendenz, wie Reik durch seine Analyse 
der Pubertätsriten gezeigt hat. In ihnen soll die Geburt durch die Mutter 
aufgehoben und durch eine durch den Vater ersetzt werden. Die umgekehrte 
Idee, der Vater sei an der Zeugung unbeteiligt, diese spiele nur zwischen Mutter 
und Kind, findet man häufig bei der Analyse von Neurotikern; die jungfräuliche 
Mutter ist die verbreitetste Mythenfigur. Die Kombination solcher sexueller 
Unwissenheit mit Mutterrechtsinstitutionen schützt Vater und Sohn vor ihrer 
gegenseitigen Feindseligkeit. 

Es ist z. B. merkwürdig, daß das Thema des Sexualverkehrs bei den Tro- 
briandern trotz ihrer Unwissenheit als höchst anstößig gilt; es soll eben verdrängt 
werden. Das Verdrängte kehrt aber wieder: Denn nichts anderes als der Vater 
kann im Unbewußten mit dem Baloma gemeint sein, der gelegentlich auch 
als „Stammvater“ bezeichnet wird. Der reale Vater, gegen den der abzuleitende 
Haß gerichtet war, ist nun — bei seiner sozialen Rechtlosigkeit — ein gutmütiger 
Freund seiner Kinder, weil der Geist alle feindlichen Affekte auf sich genommen 
hat und die Autoritätseigenschaften des Vaters auf den mütterlichen Onkel 
abgelenkt sind. Die Vaterimago ist — wie oft bei Neurotikern — „gespalten“ 
in den mächtigen, gefürchteten Onkel (und Geist) und in den harmlosen, freundlich 
geliebten Vater — ähnlich wie in England Premierminister und König einander 
gegenüberstehen. Dazu stimmt, daß in Loango Vater und Onkel als „Vater“ 
bezeichnet werden. Es ist sicher kein Zufall, daß bei den Trobriandern der 
Inzest zwischen Bruder und Schwester ganz besonders verpönt ist. Der Onkel 
ist also der unbewußte Liebhaber der Mutter und als solcher besonders geeignet, 
als Vatervertreter zu fungieren; und tatsächlich tritt gelegentlich — dem Ödi¬ 
pus-Komplex der Mutter entsprechend — der mütterliche Großvater als Ausüber 
der Potestas an Stelle des Onkels. 

Aus all dem ergibt sich, daß die Verwandtschaft vom Vater, Mutter und 
Kind doch das Prototyp ist, von dem die anderen Verwandtschaftsauffassungen 
derivieren. Jones hofft, im Gegensatz zuMalinowski, die mütterliche Verwandt¬ 
schaftsberechnung als Abwehrmaßnahme gegen den Ödipus-Komplex in unserem 
Sinne nachgewiesen zu haben, nimmt also an, daß dieser für die Psychoanalyse 
trotz Malinowski „fons et origo“ bleibe. Die Frage, ob Matriarchat oder 
Patriarchat im heutigen Sinne primärer seien, wäre dann falsch gestellt. Primär 
wäre die „Urhorde“ Freuds, in der der Ödipus-Komplex erworben wurde. 
Seine Folge wäre das Matriarchat. Es läßt sich nicht ohne weiteres sagen, ob 
kulturgeschichtlich dieses ein Durchgangsstadium auf dem Wege zu unserem 
Patriarchat war; denknotwendig ist das nicht. Jedenfalls ist das Mutter¬ 
recht ein Mittel, um ein Zusammenleben mit dem leiblichen Vater, das einem 
primitiven Ödipus-Komplex unmöglich war, zu ermöglichen. Die Wieder- 
Übemahme der „Potestas“ durch den Vater ist sicher eine wichtige Stelle 
der Kulturentwicklung. So weit wir sehen, wurde sie ermöglicht durch 
Ersetzung des ursprünglichen Hasses durch sublimierte homosexuelle Liebe 
und der Mordgedanken durch Kastrationsgedanken; der Preis, der dafür 






















Referate 


l 33 


gezahlt werden mußte, war die Verminderung der Potenz des zivilisierten 
Mannes. 

Die Lektüre dieser Arbeit, die so bedeutende originelle Gedanken enthält, 
ist nicht nur für den Ethnologen, sondern sicher auch für den ethnologisch 
nicht weiter gebildeten Psychoanalytiker außerordentlich interessant. 

Fenicliel (Berlin) 

iScliroeder, Tlieodore: Tite Psyclio-Analytic ALetliod of Otser- 

vatiou. Int. Journal of PsA. Vl/2. 

Da die bisheriger Psychologie fremden Resultate der Psychoanalyse auf ihrer 
bisheriger Psychologie fremden Methode beruhen, könnte auch nur eine metho¬ 
dologische Kritik sie treffen. Eine solche — einzig sachliche — Kritik der 
Psychoanalyse ist nach der Ansicht des Autors bis jetzt noch nicht geleistet 
worden. Um sozusagen Kritiker in das rechte Gleis zu bringen, versucht der 
Autor eine Darstellung der psychoanalytischen Beobachtungsmethode und betont 
ausdrücklich, daß diese nicht mit der psychoanalytischen therapeutischen Technik 
zusammenfällt. 

Der hochdifferenzierte Prozeß der „Einfühlung“ in einen fremden Menschen 
ist mehr als eine bloße Projektion eigener seelischer Empfindungen in ein 
Objekt, wie es ungefähr Lipps und Wundt meinten und wie es bei einer 
„Einfühlung“ in Unbelebtes der Fall sein dürfte; sie verdient durch eine eigene 
Bezeichnung („empathy' J von primitiveren Einfühlungsarten unterschieden zu 
werden. Sie ist die Grundlage der Psychoanalyse. Sie ist jeder äußerlichen 
Beobachtung absolut inadäquat, wie eine aufschlußreiche Gegenüberstellung 
der beiden Methoden zeigt; während sonst naturwissenschaftliche Beobachtung 
alle Affekte des Beobachters ausschalten muß, können Affektvorgänge nur voll 
beobachtet werden, wenn man seine eigenen analogen Affektvorgänge spielen 
läßt. Der Psychoanalytiker muß bei der Arbeit Erinnerungen aus der eigenen 
psychischen Vergangenheit reproduzieren und sie mit dem Beobachtungsmaterial 
vergleichen. Er muß deshalb zunächst Logik und Kritik ausschalten, (woran 
ihn keine eigenen Verdrängungen hindern dürfen), um dann erst beim nach¬ 
folgenden Vergleichen die nötigen Korrekturen anzubringen, (woran der unter 
Verdrängungen Leidende gleichfalls gehindert wäre). Er sieht die Versuchsperson 
gleichsam von innen her, benutzt die Kenntnis der eigenen unbewußten Deter¬ 
minanten zum Verständnis der fremden. Wer die „empathy“ nicht kennt, 
kritisiert, die Psychoanalyse baue ihre Schlüsse auf „vage Analogien“ auf; 
dieser Eindruck entsteht, weil das eigentliche psychoanalytische Erleben in 
Worten nicht ganz wiedergegeben werden kann; die Worte der psycho¬ 
analytischen Literatur täuschen Analogien vor, wo in Wahrheit unbezweifelbare 
Identitäten vorliegen. 

Die Tatsachen, daß der Psychoanalytiker nicht nur Einfühlungsfähigkeit be¬ 
sitzen, sondern auch seine für gewöhnlich unbewußten Regungen (z. B. prägenitale) 
zur bewußten Verfügung haben muß, daß er seine Arbeit ohne ein lebendiges 
Verständnis für seelische Entwicklungsprozesse nicht leisten kann, daß er seine 










Referate 




I 

, 

! 


* 3 * 


Vergangenheit nach Fakten, Gefühlstönungen, Genesen und wirksamen psy¬ 
chischen Mechanismen kennen muß, daß die dazu nötige Introspektion von 
allem was bisher so genannt wurde, wesensverschieden ist, macht für den 
Psychoanalytiker die vollendete eigene Analyse zur unumgänglichen Voraussetzung. 
Die neue von Widerständen befreite Introspektion läßt die Seele als organische 
Einheit, als dynamisches und sich entwickelndes Ganzes erfassen. Die nötige 
Korrektur bringt hier der technische Kunstgriff der „induktiven Introspektion“, 
d. h. die Anwendung der Freudschen Regel, alle seelischen Erscheinungen, 
die man nicht mit bewußten Motiven erklären kann, so anzusehen, als ob sie 
Erscheinungen einer anderen Person wären. 

Die für psychoanalytische Forschungsarbeit notwendigen Voraussetzungen 
werden am Ende zusammengefaßt: l) Unwirksamkeit der eigenen Widerstände, 
2) Geschicklichkeit im Unterscheiden unbewußten Materials von bewußtseins¬ 
nahem, g) Fähigkeit, das unbewußte Material des anderen sofort mit dem ent¬ 
sprechenden nunmehr bewußten eigenen Material in Verbindung zu bringen. — 
Für therapeutische Arbeit müssen außerdem noch weitere Vorbedingungen 
erfüllt sein, z. B. eine gewisse pädagogische Begabung, wesensverschieden von 
der von Dubois. 

Sicher ist diese dankenswerte Darstellung in allen Punkten durchaus richtig. 
Und doch meldet sich bei der Lektüre der Verdacht, daß die nachdrückliche 
Betonung der Einfühlungsgrundlage der Analyse und die relativ oberflächliche 
Behandlung der nachherigen kritischen Korrektur dem, der die Psychoanalyse 
nicht kennt, nicht den richtigen Eindruck von der naturwissenschaftlichen 
Legitimität unserer Methode vermitteln könnte. Fenicliel (Berlin) 

Gemünd, Dr. ’Wdllielm: Beten und Anpassung. Bonn igsA 

Daß logisch einwandfreies Durchdenken des biologischen Geschehens zu Resul¬ 
taten führen kann, denen sich die Psychoanalyse auf dem Wege der Empirie 
genähert hat, zeigt Gemünds Schrift. Sie bearbeitet ein Gebiet, das unsere 
Beachtung in hohem Grade auf sich zieht: Das der Organisierung und Ver¬ 
erbung erworbener Eigenschaften und damit der Anpassung an die Realität. 

Gemünd ist ein konsequenter Schüler Semons, dessen in „Die Mneme 
und „Die mnemischen Empfindungen 1 niedergelegte Gedankengänge er in vollem 
Umfange auf das Gebiet der Anpassung anwendet: 

Daß die lebende Substanz im gegenwärtigen Zeitpunkt auf einen aus der Außen¬ 
welt wirkenden Reiz» überhaupt anspricht, hat sie ihrer spezifischen Struktur zu 
verdanken, die dadurch erklärt ist, daß die reizauslösenden Elemente des aktuellen 
Reizkomplexes in anderer und eventuell immer wieder anderer Ordnung im phylo¬ 
genetischen oder ontogenetischen Vorleben erfahren wurden. Dadurch muß sich 
schließlich die lebende Substanz in bezug auf diese Reizelemente im Sinne 
einer durch Generationen immer fester werdenden „molekularen “ reaktiven 
Umgruppierung verändern. 

„So wurzelt der ganze ungeheure Engrammschatz, der unsere Gegenreaktionen 
auf die momentanen Reize der Umwelt bewirkt und beeinflußt, und dadurch unser 











. 
















Referate 


i 35 


jeweiliges Verhalten in der Gegenwart regelt, dem wir unsere Art-, Rassen- und 
Charaktereigenschaften, kurz, unser allgemein menschliches und individuelles Ge¬ 
präge verdanken, in den Geschehnissen, Erlebnissen und aus ihnen sich ab¬ 
leitenden, in ebenso zahlreichen Engrammen und Engrammsystemen verankerten 
Erfahrungen der Vergangenheit in unserem eigenen Leben und dem unserer 
Vorfahren. Auf diese Weise unterliegt unser derzeitiges Verhalten, natürlich nicht 
nur auf dem Gebiete der psychischen, sondern auch dem der motorischen, sekre¬ 
torischen, nutritiven, plastischen Reaktionen, also im Bereiche sämtlicher Organ¬ 
funktionen, ständig dem regulierenden, sichtenden, gleichsam prüfenden und 
alle bisherigen Erfahrungen und Erwerbungen in unser gegenwärtiges Verhalten 
einbeziehenden Einfluß unseres historischen Bildungs- und Entwicklungsganges“ 
(S. 100). 

Aber wir reagieren zu verschiedenen Zeiten auf denselben Reizkomplex nicht 
in gleicher Weise. Es muß also in der Zwischenzeit eine reaktive Umformung 
innerhalb der leb. S. (= lebenden Substanz) geschehen sein, die demzufolge unter 
einer in ihr selbst begründeten Reizwirkung stehen muß. Es sind dies die „topo- 
genen Erregungen S emo ns, Reize, die „mit der gegenseitigen Lagebeziehung 
der verschiedenen Gewebe und Gewebsteile und dem Druck, den sie aufeinander 
ausüben, Zusammenhängen“ (S. 18). „Demtiach ist auch der Ruhestoffwechsel 
ein Reizstoffwechsel beziehungweise Erregungsstoffwechsel, aber ein Reizstoff¬ 
wechsel, der charakterisiert ist durch ein dauernd bestehendes Stoffwechsel¬ 
gleichgewicht ohne stärkere, vom Mittelwert sich allzuweit entfernende Aus¬ 
schläge“ (S. 18). 

Es ergibt sich, daß nur Reize aufgenommen werden können, für die in der 
leb. S. ein Resonanzvermögen besteht. „Dieses und die ihm zugrunde liegenden 
spezifischen Strukturen können sie (die relativ primitiven Strukturelemente des 
kindlichen Gehirns) aber im bisherigen eigenen Leben des Kindes nicht erworben 
haben. Dieselben müssen sich also auf die Erlebnisse der Vorfahren und die 
Vererbung der von ihnen erworbenen Eigenschaften (Struktureigentümlichkeiten) 
zurückführen“ (S. 92). 

Mit diesen Überlegungen tritt Gemünd an das Problem der aktiven An¬ 
passung heran. Er folgert aus ihnen, daß „jeder als Erfolg eines Reizeinfalles 
schließlich resultierende und nach der Zahl seiner Komponenten unter Um¬ 
ständen äußerst komplizierte Erregungskomplex im allgemeinen mit der weit 
überwiegenden Mehrzahl seiner Komponenten in der Vergangenheit, dem Vor¬ 
leben des betreffenden Organismus und seiner Ahnen wurzelt und hiedurch in 
erster Linie sein Ablauf und die ihn schließlich manifestierende Reaktion bestimmt 
wird. Die Reizeinwirkungen des gegenwärtigen Augenblicks stellen eigentlich 
nur die auslösenden Momente für diese mnemischen Komponenten dar, während 
sie nur mit einem ganz geringen Bruchteil der von ihnen bewirkten Erregung 
in der Gegenwart wurzeln“ (S. 110). 

So stellt sich Gemünd der auf einen äußeren Reiz erfolgende Erregungs¬ 
ablauf als die „energetische Resultante all der Einzelerregungen dar, wie sie 
sich aus den Gesetzen der Superposition und Interferenz von Schwingungen 
ergibt, oder wie sie, wenn wir weniger an die Erregungsabläufe (Schwingungen) 










i 36 


Referate 


als an die in ihnen sich ausdrückenden Kräfte und Strebungen denken, unter 
dem Bilde eines Kräfteparallelogramms, beziehungsweise da es sich um mehr 
als zwei Kräfte handelt, eines Kräftepolygons vorgestellt werden kann“ (S. 1x3). 

Es ist nun ohne weiteres einleuchtend, daß die phylogenetisch und ontogenetisch 
ältesten Strukturelemente entsprechend ihrer größeren Erfahrung auch weit 
größere energetische Komponenten abgeben als die jüngeren, deren Äußerung 
Willens- und Bewußtseinsphänomene entsprechen. Darum „können wir diese . . 
also völlig außer acht lassen, und unser Interesse lediglich den supponierten zu¬ 
geordneten Vorgängen im materiellen Substrat unseres Geisteslebens zuwenden. 
Diese, beziehungsweise die dort sich vollziehenden Homophonien von Er¬ 
regungen, die Bildung der energetischen Resxxltanten, der abstrahierenden 
Sammelengramme usw. sind die Ursachen der Anpassungen und Selbsti-egu- 
lationen auch unseres Geisteslebens, nicht unser Bewußtsein und unser Wille. 
Damit entfällt dann aber auch jede prinzipielle Schranke gegenüber den Er¬ 
regungsvorgängen und entsprechenden Folgezuständen jedweder anderen Form 
der leb. S. Die Unterschiede sind nur solche des Grades und der Komplikation. 
Und die Fähigkeit der Reizbewahrung usw. sind auch dort (in der leb. S. 
schlechthin, nicht allein in der nervösen Substanz) die Ursachen der Anpassuxig 
und der Selbstregulationen. Hier wie dort unterstellen sie das gegenwärtige Ge 
schehen dem regulierenden und sichtenden Einfluß der Vergangenheit“ (S. 145 f.). 

Wir sehen hier einen Biologen Probleme behandeln, die auch uns ange¬ 
sichts des Wiederholungszwanges, der Gestaltung des Über-Ichs, des Axiftauchens 
archaischer Inhalte u. ä. Erscheinungen entgegentreten. 

Wir finden in dieser Schrift vor allem zwei wichtige Gesichtspunkte erörtert 
und vorläufig mehr oder weniger im Sinne unserer Forschung beantwortet: 

Erstens enthält sie den Versuch einer prinzipiellen Gleichsetzung von phylogeixe- 
tischem und individualhistorischem Geschehen für die aktuellen Reaktionsformen. 

Der zweite bedeutungsvolle Punkt ist dxe konsequente Parallelsetzung des 
psychischen Geschehens mit jedem anderen biologischen Vorgang. Die Psyche 
wird nie isoliert, sondern nur unter ständiger Berücksichtigung der Gesamt¬ 
situation der leb. S. gesehen, sozusagen als zugänglichster Spezialfall des gesamten 
Reaktionskomplexes. Denn die Psyche ist letzten Endes nie eine Einheit, der 
man eine Einheit „Körper“ gegenüb erstellen könnte, sondern höchstens ein 
Aspekt, durch den die biologische Einheit „lebende Substanz“ wahrgenommen 
werden kann (was natürlich nicht ausschließt, daß sie praktisch oft isoliert 
betrachtet werden muß). — Die in der Großhirnrinde lokalisierte Psyche ist 
eben die phylogenetisch jüngste Reaktionsweise der leb. S. und infolgedessen die 
der äußeren Einwirkung zugänglichste und darum am unmittelbarsten verstehbare 
Schicht einer Hierarchie, deren ältere (nur künstlich aus der Gesamtheit „leb. S.“ 
zu trennende) Anteile weniger und immer weniger auf die Reizeinwirkungen 
der Außenwelt plastisch reagieren, da ihren immensen Erfahrungsinhalten 
gegenüber der einzelne Reiz von außen immer weniger ausmacht und so im 
extremen Fall höchstens auslösend, nicht mehr richtunggebend wirken kann. 
In unserer Sprache: Je phylogenetisch älter eine Schicht der leb. S. ist, 
desto narzißtischer reagiert sie. 













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137 


Die Freude an der Einschlägigkeit dieser Gedankengänge kann uns aber 
nicht hindern, den prinzipiellen Nachteil der Art des Vorgehens von Gemünd 
wahrzunehmen: In seinem Bestreben, sein System lückenlos zu schließen, verfällt 
Gemünd einem konstruktiven Atomismus, mit dessen Hilfe er jeden beliebigen 
Reiz auf eine der Empirie nirgends zugängliche Kombination hypothetischer Reiz¬ 
elemente zurückführen kann. Damit hat er sich den Boden empirischer Forschung 
zugunsten eines spekulativen Systems entzogen. Bai ly (Berlin) 

Güntlier, Just: Begriff und Bedeutung des Zufalls im organischen 

Geschehen. J. Springer, Berlin 1925. 

Der „Zufalls“begriff kann zweierlei Bedeutungen haben. Einmal wird als 
„zufällig“ ein Geschehen bezeichnet, bei dem eine individuelle Beziehung 
zum Kausalen fehlt, das also nicht der kausalen Analyse des Einzelfalles, nur 
der statistischen und wahrscheinlichkeitsmathematischen Erfassung zugänglich 
ist; die kausale Geschlossenheit der Welt wird durch solchen Zufall nicht durch¬ 
brochen, die Möglichkeit der Analyse der für die Einzelfälle unberechenbaren 
Massenerscheinungen beweist sie vielmehr erst recht. Zweitens gilt als „zufällig“ 
das Phänomen, dem bei geschlossener Kaugalkette — eine finale Beziehung 
fehlt; in diesem Sinne wäre die Entstehung der zweckmäßigen biologischen 
Formen nach Darwin zufällig. — Der Autor untersucht besonders die Beziehung 
der Mutationen zu den beiden Zufallsarten und kommt zum Resultat, daß es 
neben in beiden Sinnen zufälligen Mutationen auch solche, die kausal, und 
solche, die final gerichtet sind, geben dürfte. Fenicliel (Berlin) 

Fl üge 1, J. c iSome unconscious factors in tlie international 

language movement witli especial reference to Esperanto. 

Int. Journal of PsA. Vl/2. 

Flügel bietet uns eine sehr aufschlußreiche gründliche Studie über die 
unbewußten Grundlagen der Esperantobewegung, die auch für die allgemeine 
Sprachpsychologie von Bedeutung ist. Er geht bei seiner Untersuchung von 
dem fast religiösen Charakter dieser Bewegung aus. Nicht die Sprache, sondern 
ihre „innere Idee“, die Idee der internationalen Verbrüderung, ist der Gegenstand 
der Begeisterung der Esperantisten. Die Sprache ist das Symbol dieser Idee 
und hat — wie alle Symbole — hohen Gefühlswert („la karo lingual) Diese 
Differenz gegenüber anderen künstlichen Hilfssprachen wird verständlich durch 
die Persönlichkeit ihres Gründers Zamenhof, dem selbst seine Sprache nur 
ein Mittel zum Ziel der uneingeschränkten Menschenliebe bedeutete. Es ist 
kein Zweifel, daß er für die meisten Esperantisten die Stelle eines Idealvaters 
einnimmt, gleichermaßen ausgezeichnet durch seine Schöpferkraft und seine 
umfassende Liebe, denn seine Schöpfung, das Esperanto, gab er allen Menschen 
in gleicher Weise. Sein- Verzicht darauf, als „Eigentümer“ seiner Sprache zu 
gelten, ist, da die Sprache („Muttersprache“) mütterliche Bedeutung hat, von 
hervorragender symbolischer Bedeutung für die Ödipus-Wünsche seiner Anhänger. 











i 38 


Referate 


Trotzdem hat sich auch hier das Inzestverbot durchgesetzt, freilich an anderer 
Stelle, nämlich im sogenannten „netusebleco “, d. h. in der Regel, das „funda- 
mento“, die Grundgesetze der Grammatik, dürften niemals und von niemand 
geändert werden. Diese Bestimmung, heilig für alle echten Esperantisten, war 
immer der Stein des Anstoßes für alle Aufrührer, z. B. bei der Gründung der 
„Ido“bewegung. Es wird im einzelnen gezeigt, wie alle Schritte Zamenhofs 
immer dazu geeignet waren, ihn als gütigen Vater erscheinen zu lassen, so 
wie die Esperantisten sich in ihrer Hymne auch selbst expressis verbis „una 
granda rondo familia“ nennen. 

Vom Sozialismus, der ja auch Liebe und Frieden will, unterscheidet sich die 
Esperantobewegung durch das Fehlen des wirtschaftlichen Moments in ihrem 
Programm und durch den Mangel an gewalttätig-revolutionären Elementen. 
Man kann sie eher mit dem Urchristentum vergleichen, mit dem sie die 
prävalente Vaterhebe, die Brüderlichkeit zu allen Menschen, die engen Bande 
zwischen den Mitgliedern und den sozial niedrigen Stand ihrer Anhänger gemein 
hat. Eine durch den letzten Umstand bedingte gewisse Roheit der Propaganda 
stößt heute manchen Kultivierten ebenso von der Esperantobewegung ab, wie 
seinerzeit manchen Römer vom Christentum. Die Persönlichkeit Zamenhofs 
selbst verleitet zu diesem Vergleich: Er scheint sich zu Beginn der Bewegung 
geradezu für das Wohlergehen seiner Anhänger persönlich verantwortlich gefühlt 
zu haben. Aufgewachsen in Bialystok, wo Polen und Russen, verschiedene 
Sprachen sprechend, einander haßten, hat er früh ein tiefes Empfinden für 
fremdes Leiden gehabt, das ihm die Überwindung der Rassenstreitigkeiten zum 
Ziele setzte. Seine Liebe, Selbstlosigkeit, Geduld und Toleranz entsprachen 
mütterlichen Eigenschaften, seine linguistische Begabung, sein Pflichtgefühl, 
seine Ausdauer väterlichen. Zamenhof war in seiner Jugend sehr gläubig 
(beide Eltern waren fromme Juden) und setzte nach einer schweren Depression 
nach Verlust seines Kinderglaubens das Ideal der Menschenliebe an die Stelle 
Gottes. Die Bildung der charakterlichen Synthese aus Eigenschaften beider 
Eltern kann ihm nicht leicht gefallen sein, da der Vater von einer außer¬ 
ordentlichen, oft grausamen moralischen Strenge war, so daß er einmal sogar in 
der Abwesenheit des Sohnes sein Manuskript mit dem Schema für eine inter¬ 
nationale Hilfssprache vernichtete, weil er in den Sprachstudien seines Sohnes 
nur Zeitvergeudung sah. Die daraus stammende Feindseligkeit gegen den Vater 
verrät sich gelegentlich in der sonst so friedliebenden Bewegung bei der 
Propaganda. 

Hinter den Ödipus-Regungen verbergen sich in der Esperantobewegung pri¬ 
mitivere prägenitale und narzißtische Regungen. Die phallische und die Flatus- 
bedeutung der Sprache, die von Jones nachgewiesen wurde, kommt auch dem 
Esperanto zu. Sprachliches Können wird im Unbewußten sexuellem Können 
gleichgesetzt, sprachliches Versagen der Impotenz; die Sprache selbst ist das 
Produkt der Sublimierung sexueller Kräfte, was mit der Theorie von Sperber 
übereinstimmt, der sich neuerdings hervorragende Philologen wie Jespersen 
angeschlossen haben. Beim Reden in der Muttersprache wird der Ursprung 
freilich nur deutlich, wenn die Sprache besonders „sexualisiert“ ist. Das Reden und 




















Referate 


i3g 


Verstehen von fremden Sprachen aber ist von hohen Affektwerten durchsetzt, 
ein Versagen macht schwere Impotenzgefühle, ein Erfolg inadäquat hohes 
Machtgefühl. Da es sich mit Esperanto hierin nicht anders verhält als mit 
natürlichen Sprachen, geben sich auch die philologisch Interessierten gern mit 
Esperanto ab, die sehr viele Sprachen beherrschen, das Erlernen einer Hilfs¬ 
sprache rational also gar nicht nötig hätten. Das Potenzgefühl kann aber infolge 
mehrerer Umstände durch Esperanto noch mehr geweckt werden als durch 
natürliche Sprachen: Erstens ist Esperanto viel leichter zu erlernen; zweitens 
kann innerhalb des unantastbaren fundamento jedermann selbst neue sprachliche 
Formen schaffen; drittens ist bei den natürlichen Sprachen der, dessen Mutter¬ 
sprache sie ist, in unausgleichbarem Vorteil, bei Esperanto ist die Basis für 
alle gleich. Sprachliche Fehler erscheinen endlich hier nie so lächerlich wie 
bei den natürlichen Sprachen. 

Das Ziel der Hilfssprachen, die Überwindung der Sprachenverwirrung, ruft 
den Mythos vom Turmbau zu Babel in Erinnerung, der nach Lorenz ein 
Ausdruck des Ödipus-Komplexes, des Kampfes gegen den Vater ist. Ist das richtig, 
so ist die strafende Sprachenverwirrung ein Symbol der Kastration. Dazu stimmen 
andere Varianten des Mythos, die den Kastrationscharakter der göttlichen 
Unterbrechung des Turmbaues deutlich erkennen lassen. Andere Mythen, die 
von einer plötzlichen Verständigung verschiedensprachiger Menschen erzählen, 
die Erscheinung der Glossolalie (Pfister) wollen diese durch die Sprachverwirrung 
gesetzte Kastration wieder aufheben. Die Hilfssprache ist also die Erfüllung 
eines alten Sehnsuchtstraumes der Menschheit, eine angenommene Urkastration 
wieder wettzumachen. 

Jones hat die analen Regungen, die bei sprachlichen Angelegenheiten 
immer hinter den genitalen stecken, deutlich gemacht. Bei der Freude, sprachlich 
schöpferisch tätig zu sein, wird das besonders deutlich. Das lustvolle Spielen 
mit dem Kot findet sein sprachliches Gegenstück im „Spielen mit der Sprache“, 
im Ausdenken neuer Phrasen und Redeweisen, wozu Esperanto reichlich 
Gelegenheit bietet. Wie immer sind anale Regungen auch hier enge mit sadistischen 
verbunden, wie die revolutionäre Idobewegung zeigt, die gleichzeitig Vatermord 
(Aufstand gegen Zamenhof), Mutterinzest (Veränderung der Sprache) und anale 
Beschäftigung darstellt. Im „netusebleco“ ist neben dem Inzestverbot auch das 
Verbot analer Spielereien enthalten. 

Der Widerstand gegen das Esperanto beruht auf einem richtigen Verständnis 
seiner unbewußten Grundlagen. Oft wird die Hilfssprache einfach „ekelhaft“ 
empfunden — wie sonst anale Angelegenheiten. Oft wird der Idee der Hilfs- 
Sprache die „Heiligkeit der Sprachen“ (Mutter) als Argument entgegengehalten. 
Bei der sexuellen Bedeutung des Sprachenstolzes leiden die, die fremde Sprachen 
beherrschen, immer an Minderwertigkeitsgefühlen, die überkompensiert werden 
müssen, und lehnen die Hilfe der künstlichen Sprachen so ab, wie etwa ein 
alter Mann es ablehnt, sich beim Anziehen des Rockes helfen zu lassen. — 
Man kann auch noch zeigen, eine wie große Rolle anale Momente bei der 
Entstehung der Hilfssprachen gespielt haben: So schuf Urquart 1653 den 
Entwurf einer Sprache mit 11 Kasus, 4 Numeri (Singular, Dual, Trial, Plural), 









lifo 


Referate 


11 Geschlechtern, 7 Modus und 11 Tempora. Molenaar publizierte 190g den 
Entwurf einer in entgegengesetzter Weise ganz besonders „sparsamen“ Sprache. 

Zusammenfassend wird noch einmal gezeigt, wie in der Esperantobewegung 
zahlreiche unbewußte Mechanismen am Werke sind (Ödipus-Komplex, Narzi߬ 
mus, Analerotik), von denen die meisten auch der Beschäftigung mit natürlichen 
Sprachen zukommen müssen, so daß die Beschäftigung mit Psychoanalyse den 
Philologen zu neuen Einsichten wird verhelfen können. F^;n i cli c 1 (Berlin) 

C o li n, Max: G r e 112 e 11 u n d M ystizismus in cler Psychoanalyse. 

Abhandlungen aus dem Gebiete der Psychotherapie und medizinischen 

Psychologie, herausgegehen von Albert Moll. Enlce, Stuttgart 1936. 

Man ist von Autoren, die sich für berufen halten, gegen die Psychoanalyse 
zu Felde zu ziehen, mancherlei gewohnt; aber ein so merkwürdiges Werk wie 
das vorliegende ist dem Referenten bisher noch nicht in die Hände gelangt. In 
affektreicher, nach den meisten Sätzen Rufzeichen benötigender, völlig unüber¬ 
sichtlicher und ungeordneter Schreibart werden die Resultate der Psychoanalyse 
angegriffen, wobei die Argumentation in der Anekdote vom Topf, der erstens 
schon zerbrochen gewesen sei, als man ihn ausborgte, zweitens noch ganz sei, 
weit übertroffen wird, indem Freudsche Funde einmal als gültige Selbstver¬ 
ständlichkeiten behandelt, dann wieder wie des Autors Funde dargestellt, dann 
wieder als längst vor Freud anerkannte Tatsachen nachgewiesen werden, um 
schließlich eine ausdrückliche „Widerlegung“ und Zurückweisung als barer 
Unsinn zu erfahren. Die zu widerlegenden Freudschen Ansichten selbst sind 
oft recht merkwürdige: So werden wir unter anderem darüber belehrt, daß 
die Psychoanalyse Ethnologie, Soziologie, Religion und Kunst „in sich ein¬ 
beziehen“ wolle, daß die Triebe nach Freud weder physisch noch psychisch 
seien, sondern ein drittes Reich darstellen, den Ideen Platos vergleichbar, daß 
Freud „das Physiologische nur als ein verzerrtes Psychisches gelten* lasse, 
daß „den Beweis für den Ödipus-Komplex Freud die Ödipus-Sage liefere“, 
daß die Lehre von der Verdrängung aufgegeben und durch eine Lehre von 
der Verurteilung ersetzt sei, daß Freud der Telekinese verständnisvoll gegen¬ 
überstehe; das Gleichnis von den Räumen, das in den „Vorlesungen“ die 
topische Auffassung erläutert, bringt den Autor zur Formulierung über die 
Freudsche Theorie: „An diesen Raum des Unbewußten läßt Freud einen 
weiteren . . . sich anschließen, den er als ,Salon* bezeichnet.** Die Inhaltsangaben 
von „Jenseits des Lustprinzips“ und „Das Ich und das Es“ werden demgemäß 
reine Karikaturen. Der Inhalt des „Jenseits“ z. B. sei, daß Freud, der bisher 
die Alleinherrschaft des Lustprinzips gelehrt hätte, nunmehr auch ein Realitäts¬ 
prinzip gelten lasse, der Unfallskranke erspare sich durch eine körperliche Ver¬ 
letzung eine Neurose, weil „durch die Wunde das Physiologische gleichsam 
einen Schlitz bekommen habe**, wobei die Übereinstimmung zwischen Freud 
und Bergson, der schon alles vorher gewußt hätte, sich bis auf den gemein¬ 
samen Gebrauch des Wortes „Schlitz** erstrecke; (Referent hat die einzig in 
Betracht kommende Stelle im „Jenseits“, Ges. Sehr. Bd. VI, S. 221/222, nach- 





















Referate 


l^l 


gesehen, ohne das Wort „Schlitz 1 ' finden zu können); den Satz im „Ich und 
Es“ „Das Ich ist vor allem ein körperliches“ (Ges. Sehr. Bd. VI, S. 369) faßt 
der Autor dahin auf, daß das Ich als körperliches Wesen, etwa als Tierchen, 
gedacht sei. — Die Gegenargumente des Autors sind, soweit sie verständlich 
sind, die gewohnten: Das Unbewußte sei metaphysisch, nur logisch erschlossen 
und deshalb ohne Wahrheitswert (sic), das Es mysteriös, nach der Analyse sei 
eine Synthese nötig, in der Seele gäbe es keine Energie, das Sexualleben werde 
in „fast unerträglichem Maße bewertet“; die Traumlehre wird durch den Hin¬ 
weis widerlegt, daß Träume Phantasieprodukte seien, was Freud übersehen 
hätte. — Neu und beachtenswert ist nur der Stil, in dem das alles vorgebracht 
wird, die Wiederholungen, Widersprüche, Pleonasmen, die von einer unvorstell¬ 
baren Nachlässigkeit zeugen. Behauptungen, wie daß etwas „Umgestaltungen, 
Veränderungen und Modifikationen“ erleide, finden sich in jedem Satz. Den 
Satz z. B. „Diese Potentialitäten oder Möglichkeiten (Bereitschaften) werden 
gebildet auf Grund der physiologischen Faktoren, mit denen sie in der physisch¬ 
psychischen Organisation als ihrer und der stofflichen Faktoren Trägerin Ein¬ 
heit und Ordnung verknüpft sind, und durch ihre eigenen Antezedentien“ hat 
Referent nicht verstanden; er kann deshalb seinen Inhalt nicht referieren und 
setzt ihn lieber in extenso hieher. — Während.Freuds „Hauptfehler“ in seiner 
Trieblehre liegt, faßt der Autor die seine zusammen: „Die Triebe sind einfache 
Handlungen des lebenden Organismus, die häufig durch einen einzigen Eindruck 
ausgelöst, ohne das Antezedens der Überlegung oder der Wahl, impulsiv und 
selbst ohne das Gefühl der Selbsttätigkeit (Spontaneität) zu Handlungen sich 
umsetzen. Im engeren Sinne sind sie Strebungen, die auf Grund der verschie¬ 
densten Bedürfnisse des Organismus als gleichsam dessen Nicht-Ich (primärer, 
sekundärer, körperlicher und geistiger Bedürfnisse) sich äußern.“ 

Der Kuriosität halber sei noch erwähnt, daß nach dem Autor die Säuglings¬ 
sexualität bis zum dritten oder vierten Lebensjahr währe, das Denken bis zum 
vierten Lebensjahr vorbewußt, später erst bewußt sei, das Bewußtsein „stets 
nur ein Abgeleitetes, eine Abstraktion, nichts Unmittelbares“ und die Kausalität 
eine unbewiesene Hypothese sei. 

Wir hätten über dieses Werk nicht so viel Worte verloren, wäre es nicht 
in einer vielgelesenen Sammlung psychotherapeutischer Arbeiten erschienen; es 
ist doch wohl gut, da wieder einmal festzustellen, was in dieser Beziehung 
auch 1926 noch möglich ist. Fenichel (Berlin) 

F urrer 7 A.: D er »moralische Defefct«, das iSchuld- und Straf- 

prohl em in psy chanalytischer Beleuchtung. Orell Füssli-Verlag, 

-Zürich 192 6 . 

In dieser verdienstvollen kleinen Arbeit wird gezeigt, wie groß die Bedeutung 
der liebevollen Erziehung für die Herstellung der moralischen Hemmungen ist. 
„Je weniger zärtliche Liebe einem kleinen Kinde geschenkt wird, desto weniger 
wird es geneigt sein, auf primitive Triebbefriedigungen zu verzichten und die 
Libido ... in gesellschaftsgerechte Bahnen hineindrängen zu lassen.“ Die 


J 












.Referate 


1-42 


Bedeutung der Milieuwirkungen für die Entwicklung der Sublimierungsfähigkeit 
wird mit Recht besonders hervorgehoben. Die Angst, die im Schuldgefühl gefunden 
wird, sei erst in zweiter Linie Straffurcht, im Kern sei sie Angst vor drohendem 
Liebesverlust. 

Für nicht zutreffend halten wir die Ansicht, daß „hochgradige Liebes- 
unfähigkeit, das Unvermögen, zärtliche ,Objektbindungen 1 herzustellen, die 
konstitutionelle Grundlage des moralischen Defektes“ sei. Die Analysen „moralisch 
Defekter“ — der weniger wertende Begriff „triebhafter Charakter“ wäre 
vorzuziehen —- zeigen, daß die als angeboren imponierende Liebesunfähigkeit 
ein Erfolg allzu brutaler oder (seltener!) zuviel gewährender Erziehung ist. 
Davon abgesehen ist schwer vorzustellen, wie Liebesunfähigkeit angeboren sein 
sollte, da doch nur die Libido, an erogene Zonen gebunden, mitgebracht wird 
und die Objektliebe, wie Freud gefunden hat, sich erst relativ spät entwickelt; 
auf die Art dieser Entwicklung hat einzig das Erlebnis Einfluß. 

Richtig ist, daß das Schuldgefühl von der Liebesfähigkeit abhängt, aber daraus 
ergibt sich noch nicht, daß die moralisch Defekten kein Schuldgefühl entwickelt 
hätten. Im Gegenteil: wir sehen, daß bei Fällen von moral insanity ein verdrängtes 
Schuldgefühl mit am Werke ist und daß das mit dem Ich im Konflikt stehende 
Über-Ich nicht imstande ist, die Impulse zu hemmen. 

Der Autor tritt dafür ein, „daß das Hauptziel der Erziehung in der Weckung, 
Förderung und Erhaltung der Liebesfähigkeit bestehen muß“, und berührt 
das Kernproblem der Erziehung, indem er schreibt: „. .. Die Störungen des Liebes- 
lebens der Eltern verdienen die gleiche Beachtung wie diejenigen des Kindes.“ 
An die Stelle der Strafen, die „ihren Sinn verloren haben“, weil es zufolge 
der Determiniertheit alles Geschehens keine Schuld gäbe, sollten treten: Schutz¬ 
maßnahmen, Erziehung der besserungsfähigen Delinquenten, Freiheitsentzug, 
Analyse von Rechtsbrechern etc. — Hierzu wäre nur zu bemerken, daß aus 
der Negierung der Willensfreiheit noch nicht folgt, daß das Individuum für 
sein unbewußt determiniertes Handeln nicht verantwortlich sei. Ob man für 
sein Unbewußtes einzustehen hat, ist eine Sollfrage, die durch die Feststellung 
der Determiniertheit des Handelns nicht entschieden werden kann. Die Frage, 
ob die Strafen abzuschaffen seien, ist mit dem Autor zu bejahen, aber nicht 
deshalb, weil „es überhaupt keine Schuld gibt“, sondern weil sie das Gegen¬ 
teil von dem erzielen, was beabsichtigt wurde: sie werden Ursachen neuer Schuld. 

'W. Reicli ("\V len) 

Sliglit, David: Hypnagogic Pli enomena. (Journal of abnormal Psycho- 
logy and Social Psydiology, Vol. XIX, p. 274. 

Der Autor sieht sich auf Grund seiner Untersuchungen über hypnagogische 
Erscheinungen zu einer weitgehenden Anerkennung der „funktionalen Symbolik“ 
Silber er s veranlaßt und unterschätzt daher, wie zu erwarten, die Symbol¬ 
bedeutung im psychoanalytischen Sinne und die Tätigkeit der Traumzensur. Er 
führt eigeneErlebnisse als Beispiele an und gehört offenbar zu den nicht sehr häufigen 
Personen, bei denen Silberers Phänomene eine hervorragende Rolle spielen. 



























Referate 


1^3 


Die Beweismittel, die er anwendet, um die Richtigkeit funktionaler Deutungen 
hervorzuheben und tiefergehende psychoananalytische Deutungen als zweifelhaft 
darzustellen, verraten eine überraschende Unkenntnis der Psychoanalyse. So 
behauptet er, die Freudsche Schule begnüge sich mit der willkürlichen Deutung 
einzelner aus dem Traumzusammenhang herausgerissener Symbole, und weiß 
nicht, daß der einzige Wert von Symboldeutungen bei der Traumanalyse darin 
besteht, nicht bloß den Traumzusammenhang, sondern auch das Unbewußte 
des Patienten aufzudecken, und daß man nur dann nach eigener Willkür ein 
Symbol deutet, wenn die Einfälle des Träumers versagen und wenn dadurch ein 
sonst sinnloser Vorgang klar verständlich wird. J ames Glover (London) 

Fortune, R. F.: Tlie symtolism of tbe serp ent. Int. Journal of PsA. 

1926, VII, 2. 

Wohlgemuth hat unlängst wieder angezweifelt, daß die Schlange ein Sexual¬ 
symbol sei, sie stelle nur ein Symbol der Unsterblichkeit dar. Demgegenüber 
zitiert der Autor eine bei den Maoris Neu-Seelands verbreitete Variante des 
Sündenfallmythos, bei der die Frau durch einen Aal zu sexuellem Verkehr mit 
dem Mann verführt wird. Der Aal ist nicht nur'der Schlange ähnlich, sondern 
auch etymologisch mit ihr verbunden. Auch zahlreiche Dichterstellen offenbaren 
unzweideutig die sexuelle Natur des Schlangensymbols. Fenicliel (Berlin) 

Zeitschrift für psy choanaly tisclie Pädagogik. Herausgegeben von 

Dr. Heinrich ALeng und Professor Dr. Ernst /Schneider, Hippolcrates- 

Verlag, Stuttgart - Berlin - .Zürich, 1. Jahrgang, Heft 1. 

Freud hat wiederholt auf die Bedeutung hingewiesen, die der psychoana¬ 
lytischen Forschung für die Pädagogik zukommt. Die von ihr vertretene Neu¬ 
orientierung der Rinderpsychologie, die zum erstenmal die kardinale Stellung 
des Trieblebens in der Kinderseele berücksichtigt, bedingt auch eine Neuorien¬ 
tierung aller Pädagogik, die mehr als Intuition sein will. Man braucht nur 
Namen wie Bernfeld, Friedjung, Hug-Hellmuth, Klein, Pfister, Wera 
Schmidt zu nennen, um daran zu erinnern, daß die Freudschen Anregungen 
auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Aber wie wenig Widerhall fand das Wirken 
dieser Einzelnen bisher in der pädagogischen Literatur, obwohl der Widerstand 
gegen die Psychoanalyse unter den jungen Pädagogen zweifellos viel geringer 
ist als unter den jungen Ärzten! Unter solchen Umständen ist es außerordent¬ 
lich erfreulich, wenn eine Zeitschrift auftaucht, die sich ausschließlich den Be¬ 
ziehungen von Analyse und Pädagogik widmen will, sowohl der wissenschaftlichen 
Forschung als auch der Verbreitung analytischer Denkweise in pädagogischen 
Kreisen. Die Persönlichkeit der Herausgeber garantiert dafür, daß psychoana¬ 
lytisch Inhalt und Niveau der Zeitschrift einwandfrei sein werden. Das Programm, 
das sie sich stellen, hat keinen geringen Umfang: Kinderanalysen, Analysen an 
Erwachsenen, soweit sie auch Probleme der Kinderpsychologie behandeln, ana- 









lytisch orientierte Erziehung in Schule und Haus, Heil- und Fürsorgeerziehung 
Lehrerbildung, Erziehungs- und Berufsberatung, Psychologie des Erziehers und 
der Erziehung, Charakterologie, Pathopsychologie, Methodologie der Erziehung 
Gruppen- und Massenpsychologie sollen erörtert werden. 

Der erste Jahrgang will nur Aufsätze bringen, „die auch von den wenig 
Eingeweihten verstanden werden können“. Das erste Heft ist in diesem Sinne 
zusammengestellt und bringt ausschließlich dem Psychoanalytiker gut bekannte 
Autorennamen. Schneider eröffnet die Zeitschrift mit einem programmati¬ 
schen Aufsatz „Geltungsbereich der Psychoanalyse für die Pädagogik“, Zulliger 
bringt ausgezeichnete Beobachtungen zur Genese des kindlichen Gewissens, 
Nunberg teilt einen Ödipus-Traum eines kleinen Mädchens mit, Aichhorn 
eröffnet eine Artikelserie „Zum Verwahrlosten-Problem“ und Härnik referiert 
über die „therapeutische Kinderanalyse“ (Kleiner Hans und „Wolfsmann“). 

Fenicliel (Berlin) 

















































IMAGO, Band XIII ( 192 7), Heft 1 

(Ausgegeben Ende Januar 1927) 

Siegfried Bernfeld: Die heutige Psychologie der Pubertät. 

Imre Hermann: Charles Darwin. 


Seite 

1 



F. Lowtzky: Bedeutung der Libidoschicksale für die Bildung religiöser Ideen.83 


REFERATE 

Levine, Das Unbewußte (Fenichel) 122. — Roffenstein, Das Problem des psychologischen Ver¬ 
stehens (Hartmann) 125. — Wertheimer, Über Gestalttheorie (Hermann) 126. — Klages, Die psycho¬ 
logischen Errungenschaften Nietzsches (Bally) 126. — Utitz, Charakterologie (Bally) 129. — Wulff, 
Phantasie und Realität in der Psyche des Kindes (Lowtzhy) 129. — Jones, Mother-right and the 

sexual ignorance of savages (Fenichel) 150. — Schroeder, The Psycho-Analytic Method of ~ ~ation 
(Fenichel) 153. — Gemünd, Leben und Anpassung (Bally) 134. — Günther, Begriff unu üecieutung 
des Zufalls im organischen Geschehen (Fenichel) 137. — Flügel, Some unconscious factors in the 
international language movement with especial reference to Esperanto (Fenichel) 137. — Cohn, Grenzen 
und Mystizismus der Psychoanalyse (Fenichel) 140. — Furrer, Der „moralische Defekt“, das Schuld- 
und Strafproblem in psychoanalytischer Beleuchtung (Reich) 141. — Slight, Hypnagogic Phenomena 
(Glover) 142. — Fortune, The symbolism of the serpent (Fenichel) 143. — Meng-Schneider, Zeit¬ 
schrift für Psychoanalytische Pädagogik (Fenichel) 143. 


Mit diesem Heft beginnt der Jahrgang 1927 (Bd. XIII) 

Abonnement 192 7 (4 Hefte im Ges amtumfang von 5 — 600 Seiten) 20 JMLarlc 


Gleichzeitig beginnt der Jahrgang 1927 (Bd. XIII) der „Internationalen Zeitsdirift 
für Psychoanalyse‘ \ (Heft x enthält u. a. folgende Beiträge: Ferenczi: Zur Kritik 
derR ankschen Technik der Psychoanalyse /L an da u er: Automatisinen, Zwangs¬ 
neurose u• Paranoia /Al exan der: TI. eorie der Zwangsneurosen u. der Pho- 
Lien / K ulo vesi: Der R au mfaht or 111 der Traumdeutung / Harnik: Forcie¬ 
rung hlasphemischer Phantasien / Fenic Lei: D ie ökonomische Funktion der 
Deckerinnerung / Liepmann: Deutung und Heilung einer Zwangsneurose und 
einer hysterischen FTeurose / Diskussion üher Taienanalyse usw.) — Abonnement 
der v Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ für 1927 (Bd, XIII) 24 fMarh 


All e redaktionellen Zusdinften und iSendungen bitte zu richten an: 

Dr. Sandor Rado ? Berlin W i 5 , -Mleierottostraije 4? 

alle geschäftlichen Zusdinften und ^Sendungen an: 

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