XIX. Band
Heft 1
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33
IMAGO
Zeitschrift für psychoanalytische Rychologie
ihre Grenzgebiete und Anwendungen
Offizielles Organ der Internationalen Psydioanaly tischen Vereinigung
Herausgegeben von
iSigm. Freud
Redigiert von Ernst Kxis und Robert Wälder
Hel ene Deutsch .
Ludwig Jekels . .
Max Levy- Suh\
Hans Kelsen . . .
Walter ALuschg .
Imre Hermann .
jMLütterlichkeit und Sexualität
Das Problem der doppelten A4otivgestaltung
Uber die frühkindliche Sexualität des jMLenschen im
Vergleich mit der Geschlechtsreife bei Säugetieren
Die platonische Liebe I
Dichtung als archaisches Erbe
Zum Triebleben der Primaten
Besprechungen
Soeben erschien:
SIGM. FREUD
NEUE FOLGE
DER
VORLESUNGEN
ZUR
EINFÜHRUNG
IN DIE
PSYCHOANALYSE
In Leinen 7 JVtark
INHALT:
Xorwort
XXIX. Revision der Traumlelire
XXX. Traum und Okkult j sm us
XXXI, Die Zerlegung der psyditsdien Persönlidikeit
XXXII. Angst und Trieblehen
XXXIII. Die Weiblichkeit
XXXIV. Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen
XXXV. über eine Weltanschauung
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN
IMAGO
XIX. BAND
19 33
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYTISCHE
PSYCHOLOGIE, IHRE GRENZGEBIETE UND
ANWENDUNGEN
HERAUSGEGEBEN VON
SIGM. FREUD
REDIGIERT VON
ERNST KRIS UND ROBERT WÄLDER
XIX. BAND
(i 9 33)
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER
VERLAG IN WIEN
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung,
Vorbehalten
*
Copyright 1935
by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag,
Ges. m. b. H.“, Wien I
Druck: Christoph Reisser’s Söhne, Wien V
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOLOGIE,
IHRE GRENZGEBIETE UND ANWENDUNGEN
XIX. Band 1933 Heft 1
.Mütterlichkeit und Sexualität
Von
Helene D eutsck
Wien
Die uns bekannten Quellen der Sexualhemmung stammen aus dem
Kastrationskomplex und dem Ödipuskomplex; das gilt für den Mann ebenso
wie für das Weib. Das Wort „Sexualhemmung“ soll hier den Zustand be¬
zeichnen, der nicht mit neurotischen Symptombildungen einhergeht und
der die erschwerte Sexualbefriedigung, beziehungsweise eine ganz gestörte
oder eingeschränkte Liebesfähigkeit beinhaltet. Diese Hemmung kann ver¬
schiedene Grade und Formen annehmen, angefangen von völliger Unfähigkeit
den Sexualtrieb zu befriedigen, ja ihn sogar überhaupt als bewußten Drang und
als Sehnsucht zu empfinden, bis zu jenen Formen, in denen Empfindungs-und
Befriedigungsmöglichkeit wohl vorhanden sind, aber nur unter bestimmten
mehr oder weniger einengenden Bedingungen. Als Beispiel sei hier nur an
die so häufige Bedingung des erniedrigten Objektes beim Manne erinnert.
Es liegt nicht im Plane dieser Arbeit, von verschiedenen Formen der
weiblichen Frigidität zu sprechen. Diese deckt sich in ihren unbewußten
Determinanten weitgehend mit der Impotenz des Mannes, hat ihre Quelle
auch in den Schicksalen des Kastrations- und Ödipuskomplexes; ihr häufigstes
Motiv ist der Protest gegen die weibliche passive Rolle, also jener Teil des
weiblichen Kastrationskomplexes, den wir Männlichkeitskomplex nennen.
Ich bin geneigt, die Tatsache der besonderen Verbreitung der Frigidität auf
die masochistischen Strebun gen der weiblichen Libido zurückzuführen. Die
1) Aus einem Kuijs über die seelische Entwicklung des Weibes. (Lehrinstitut der
lener Psychoanalytischen Vereinigung im Sommersemester 1932.)
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Helene Deutsch
Angst vor der masochistischen Befriedigung und die Möglichkeit ihrer subli-
mierenden Befriedigung in der Mütterlichkeit führt die weibliche Sexualität
häufig von der normalen Befriedigungsform ab. 1
Wenn sich diese Annahme als richtig erweisen sollte, so müßte man
die Mütterlichkeit in eine feindliche Konkurrenz zur Sexual Befriedigung
bringen und sich dadurch in Widerspruch zu anderweitigen vollkommen
gesicherten Erfahrungen setzen. Wissen wir doch aus den Analysen neuroti¬
scher Frauen und Mädchen, wie sehr die neurotische Verleugnung der
weiblich-libidinösen Einstellung gleichzeitig auch mit einer gestörten Bereit¬
schaft zur Mutterschaft einhergeht. Ja, die Erfahrung lehrt uns immer
wieder, wie häufig die Sterilität denselben Quellen wie die Frigidität ent¬
springt und wir erleben oft mit großer Genugtuung, wie die analytische
Kur die Konzeptionsbereitschaft ermöglicht und wie sich dann auch das
vorher gestörte Sexualempfinden einstellt, wenn auch häufig erst später als
die Konzeptionsbereitschaft.
Sexualbejahung und Mütterlichkeit fallen aber nicht immer zusammen;
die Loslösung der beiden voneinander kann verschiedene Grade annehmen
und zu Bedingungen im Liebesieben führen, denen wir einen neurotischen
Charakter zusprechen müssen. Es gibt hier eine Parallele zur schon erwähnten
Spaltung des Liebesieben beim Manne, zu jener Liebesbedingung, bei der
das keusche, treue Weib als Sexualobjekt abgelehnt wird und nur das an¬
rüchige, dirnenhafte Weib den Sexualreiz ausüben kann. Freud hat diesen
Typus und seine verschiedenen Varianten beschrieben und seine Bedingtheit
durch den Ödipuskomplex aufgedeckt. Aus dem Gegensatzpaar „Mutter
und „ Dirne w wird durch das Tabugebot nur die Dirne als Sexualobjekt
akzeptiert und die Mutter ausgeschlossen. Die Analyse deckt dann auf, daß
diese im Bewußtsein vorgenommene Spaltung in tieferen Schichten des
Unbewußten dadurch zu einer Einheit zusammenfällt, daß die Mutter selbst
einmal der Untreue beschuldigt und durch die Entdeckung des sexuellen Ge¬
heimnisses entwertet wurde.
Diese Art der Spaltung beim Manne hat wohl eine Parallele im weib¬
lichen Liebesieben, aber mit der Variante, daß hier dem eigenen Ich zukommt,
was dort am Objekte vollzogen wird. Man ist dann „Mutter“ oder „Dirne
und der ganze innere Konflikt stellt den Kampf zwischen den zwei scheinbar
entgegengesetzten Strömungen dar, die auch hier letzten Endes in die Einheit
der entwerteten Mutter zusammenfließen.
i) Vgl. H. Deutsch: Der feminine Masochismus und seine Beziehung zur Fri¬
gidität. Int. Ztschr. f. PsA., XVI, S. 172 ff., 1930.
Mütterlichkeit und «Sexualität /
Die Formel für diesen unbewußten Gedanken lautet etwa: „Meine Mutter
wurde für mich durch die Aufdeckung ihrer Rolle als Sexualobjekt niedrig
und schmutzig. Bin ich so wie die Mutter, d. h. identifiziere ich mich
mit ihr, so bin ich genau so wie sie, schmutzig und niedrig, d. h. eine
Dirne.“
Aus dem Drang zur Identifizierung mit der Mutter sowie auch aus einer
entgegengesetzten Tendenz, d. h. aus dem Nicht-so-wie-die-Mutter-sein-
wollen, ergibt sich eine große Anzahl seelischer Konstellationen, die wir
nun besprechen wollen.
Gehen wir zunächst von der präödipalen Mutterbeziehung und ihrer
Bedeutung für das spätere Leben des Mädchens aus. Den Gedankengängen
Freuds folgend, dürfen wir von einer Identifizierung mit der aktiven
Mutter sprechen, die noch ganz außerhalb des Ödipuskomplexes steht. In
dieser Identifizierung trachtet das Kind selbst die Mutterrolle zu übernehmen
und schiebt dabei seine eigene Kindesrolle auf ein anderes Objekt, etwa
auf ein jüngeres Geschwister, auf die Puppe oder auf einen Erwachsenen,
der sich im Spiele zur Übernahme dieser Rolle bereit findet. In diesem
Spiele läßt das Kind den anderen das erleiden und genießen, was es von
der Mutter erlitten oder genossen hat, oder verrät seine unerfüllten Wünsche,
indem es das phantasierte Kind das erleben läßt, was es selbst bei der
Mutter entbehrt hat. Findet dieses Spiel dadurch seine Fortsetzung im
späteren Leben, daß die ursprüngliche passive und aktive Rolle in der
Mutter-Kind-Beziehung libidinös festgehalten wird, so verläuft es unter dem
Bilde der Homosexualität. In den Analysen weiblicher Homosexueller kommt
man immer auf die präödipalen libidinösen Komponenten der Mutter-Kind-
Beziehung zurück, wenn man auch in der Regel — wenigstens bei den
Fällen, die ich analysiert habe — finden kann, daß das an die Mutter so
hartnäckig gebundene weibliche Wesen in der Kindheit einen regelrechten,
manchmal sogar besonders stark ausgebildeten Ödipuskomplex entwickelt
hatte. Meist sind es eben Schwierigkeiten, die sich aus dem Ödipuskomplex
ergeben, die das kleine Mädchen zur Rückkehr in die präödipale Mutter¬
beziehung drängen.
Doch soll hier die weibliche Homosexualität nicht weiter erörtert werden ; x
es sei an dieser Stelle nur betont, daß sie eine der Formen ist, in der die
präödipale Mutterbeziehung ihre Fortsetzung findet. Obwohl wir, wie oben
erwähnt, auch hier die Rolle aufdecken können, die der Vater im libidi-
i) Vgl. H. Deutsch: Über die weibliche Homosexualität. Int. Ztschr. f. PsA.,
XVIII, S. 219 ff., 1932.
8
Helene Deutsch
nösen Haushalt gespielt hat, so ist diese Situation letzten Endes eine sozu¬
sagen mannlose und die Rollenbesetzung in den libidinösen Beziehungen
bezieht sich auf die Mutter und das Kind mit Verleugnung des Mannes.
Diese Verleugnung des Mannes kann verschiedene Quellen haben und zu
verschiedenen Konsequenzen führen.
Unter den Identifizierungsmöglichkeiten mit der Mutter ist uns in der
analytischen Arbeit die geläufigste die, die zur normalen weiblichen Ein¬
stellung führt. Das kleine Mädchen will so wie die Mutter vom Vater geliebt
werden und wie die Mutter vom Vater ein Kind bekommen (passive Identi¬
fizierung). Das spätere Leben kann ihr eine volle Erfüllung dieses Wunsches
unter der Voraussetzung bringen, daß sie das infantile Objekt, den Vater,
zugunsten eines anderen Mannes aufgibt. Gelingt ihr dies nicht, so gerät
sie in neurotische Schwierigkeiten, zu denen unter anderen auch Erschwe¬
rungen der Konzeption, der Schwangerschaft und des Gebärens gehören.
Statt einer gelungenen Identifizierung mit der Mutter entwickelt sich im
kleinen Mädchen ein gehässiges Rivalitätsverhältnis, dessen Folge schweres
Schuldgefühl sein kann. Unter dem Drucke dieses Schuldgefühles verzichtet
sie auch im späteren Leben auf die mütterliche Rolle, um sie durch Sym¬
ptome zu ersetzen, die den Wunsch und seine Unerfüllbarkeit verraten. Einer
anderen Entwicklungsmöglichkeit entspricht es, daß die Identifizierung mit
der Mutter aufrecht erhalten, die Erzeugung des Kindes im Phantasieleben
bejaht und nur das Eingreifen des Mannes verleugnet wird. Das Mädchen
will Mutter werden und das Kind besitzen, aber in unbefleckter Empfängnis,
von sich selbst, parthenogenetisch. Ich habe solche Wunschphantasien an anderer
Stelle beschrieben, 1 doch habe ich zu jener Zeit nur eine Determinante
dieser Phantasien, die aus dem Männlichkeitskomplex stammende, ver¬
standen; ihre Formel lautet: „Ich besitze ein Kind aus mir selbst. Ich bin
ihm Mutter und Vater. Ich brauche und will keinen Mann zur Zeugung
meines Kindes .“ Diese Phantasie enthält, wie ich damals zu beweisen ver¬
suchte, Wunscherfüllungen nach mehreren Richtungen und verrät durch
viele Determinanten die Einflüsse des Ödipuskomplexes, indem sie unter
anderem dadurch der Entlastung des Schuldgefühles dient, daß sie die
Herkunft des Kindes vom Vater ableugnet. Ihre wichtigste Komponente
aber lautet: „Was der Mann tun kann, kann ich auch“, und setzt direkt
an die Stelle des verlorengegangenen Penis eine andere Vergrößerung des
körperlichen Ichs durch das selbst erzeugte Kind.
1) H. Deutsch: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen. S. 33 ff. lut. PsA.
Verlag, Wien 1925.
Mütterlichkeit und Sexualität 9
Was ich aber damals in der Auffassung dieser Phantasie vernachlässigt
habe, möchte ich heute nachholen, denn es gehört zum Thema der Mutter-
Kind-Beziehung. Unter diesem Gesichtspunkt wird diese Phantasie eine
Variante der früher erwähnten Fortsetzung der Mutter-Kind-Beziehung in
der Homosexualität sein. Der störende Mann soll aus dieser Beziehung aus¬
geschaltet werden und an dem in der Phantasie selbst geborenen Kind wird,
wie einst im Puppenspiel, die aktive Rolle der Mutter in der Identifizierung
fortgesetzt. Auch die ursprüngliche hohe Bewertung der Mutter aber lebt
hier wieder auf. Diese Phantasie wird zur Expiation der Mutter verwendet;
sie ist ein Gegenpartner der Dirnenphantasie und eine Variante des Familien-
romanes, und zwar jenes Teiles des Familienromanes, der besagt: „ich bin
nicht meiner Mutter Kind, denn meine Mutter macht solche Sachen nicht“.
Auch in der parthenogenetischen Phantasie macht die Mutter „solche Sachen“
nicht, sie hat das Kind nicht nur selbst geboren, sondern auch selbst erzeugt,
im Gegensatz zum Familienroman, in dem die Mutter nicht geboren hat.
Die parthenogenetische Phantasie entspricht jener Sehnsucht des männlichen
und des weiblichen Kindes, aus der auch der Mythos von der unbefleckten
Empfängnis entstanden ist. Beim Weibe handelt es sich hier also um die
Identifizierung mit der unbefleckten Mutter, deren Mütterlichkeit im eigenen
Ich fortgesetzt wird, aber unter Verleugnung der Sexualität, wie diese denn auch
bei der Mutter verleugnet worden ist. So sehen wir hier wieder eine Möglichkeit
im Weibe, die Mütterlichkeit zu bejahen, die Sexualität aber zu verleugnen.
Wir wollen nun zusammenfassend überblicken, auf welchen Wegen das
Weib zur Bejahung der Mütterlichkeit unter gleichzeitiger Verleugnung
der normalen Sexualität gelangen kann.
Der eine führt auf den Spuren der präödipalen Mutter-Kind-Beziehung
weiter, die ganze in der Identifizierung mit der Mutter verankerte mütter¬
liche Libido strömt einem gleichgeschlechtlichen Wesen zu und die Rolle
des Mannes im libidinösen Haushalt wird zu Null reduziert.
Die zweite Entwicklungsmöglichkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß
die starken, in der weiblichen Libido durchwegs vorherrschenden masochi¬
stischen Tendenzen so viel Befriedigung in der Mütterlichkeit, im Schicksal
der „Mater dolorosa finden, daß die Bedeutung der direkten Sexualbefrie¬
digung dadurch zurücktritt. 1
Die dritte Form der Mütterlichkeit ist die oben beschriebene, die par-
thenogenetische, in ihren verschieden en Varianten. Auch diese letzte Kon-
1) Vgl. H. Deutsch: Der feminine Masochismus und seine Beziehung- zur
Frigidität. L. c. ö
IO
Helene DeutscJi
stellation hat, wie paradox es auch klingen mag, starke Beziehungen zum
Masochismus. Paradox deshalb, weil wir in ihr die starke Bedeutung des
Männlichkeitskomplexes bereits kennen gelernt haben. Doch habe ich die
Beobachtung gemacht, daß dort, wo das kleine Mädchen das Sexualerlebnis
der Mutter besonders masochistisch auffaßt, auch die Verleugnung dieses
mütterlichen Erlebnisses besonders stark einsetzt. In der Regel bewirkt es
die besonders starke sadistische Komponente im Kinde selbst, daß der Koitus
in diesem Sinne aufgefaßt wird. Das Erlebnis der Mutter ist dann ein be¬
sonders leidendes und die erniedrigte Situation der Mutter besonders er¬
niedrigt. Nunmehr wird entweder die Identifizierung mit der Mutter abge
lehnt, oder die Rolle der Mutter als Sexualobjekt wird nach dem oben
beschriebenen Mechanismus verleugnet und das Mädchen identifiziert sich
mit der unsexuellen Mutter. Ist der passiv-weibliche Wunsch des kleinen
Mädchens besonders masochistisch geartet, so wird aus Angst vor der gefahr¬
bringenden masochistischen Wunscherfüllung die Sexualität abgelehnt, der
Wunsch des unsexuellen parthenogenetischen Kindes aber beibehalten.
Dieser von der Sexualität abgespaltenen Mütterlichkeit begegnen wir m
den Neurosen ebenso häufig wie in der Schicksalsgestaltung. Wir begegnen
ihr in den eingangs besprochenen Spaltungsphänomenen, in denen in ein
und demselben Individuum wohl beide Tendenzen vorhanden sind, ohne
aber eine Symbiose miteinander eingehen zu können. Dabei kann im be¬
wußten Leben die eine oder die andere Komponente ganz vorherrschend
sein und erst der Analyse gelingt es, die im Unbewußten verborgene zu
entdecken. Was hier die mühevolle analytische Erfahrung aufzudecken
vermag, hatte das intuitive Genie eines großen Künstlers erfaßt. Diese zwei
entgegengesetzten Tendenzen der weiblichen Seele hatte Balzac in seinem
Buche „Zwei Frauen“ meisterhaft gezeichnet. Zwei Frauen schildern in
einem Briefwechsel ihre Erlebnisse. Sie sind Repräsentanten gegensätzlicher
Typen; beide aber entdecken in der Belauschung der eigenen Seele die ver¬
borgene Sehnsucht nach dem andern, dem entgegengesetzten; diese Sehn¬
sucht legt Zeugenschaft dafür ab, daß das andere auch vorhanden, aber
rudimentär und unterdrückt ist. Ja, es scheint, daß sich Balzac hier eines
von Dichtern beliebten Mechanismus bedient, entgegengesetzte seelische
Strömungen in zwei Gestalten zu zerlegen. Die beiden Frauen vertreten
eigentlich eine Frau mit jenen gegensätzlichen Strömungen der weiblichen
Seele, die auch dem normalen Seelenleben angehören. Erst das scharfe Über¬
wiegen einer der beiden Komponenten führt zu Komplikationen und neuro¬
tischen Schwierigkeiten.
JVIütterlicLkeit und Sexualität
ll
Baronin Louise de Macumere ist der Typus der Kurtisane, der Vestalin
der Liebe, für die nur die heißen Leidenschaften der Erotik Lebenssinn
enthalten. Ihre Freundin Renee de l’Estorade geht dagegen ganz in der
Mutterschaft auf, auch in ihren Beziehungen zum Manne. Louise schreibt:
„Beide sind wir Frauen, ich die seligste aller Liebesgöttinen, Du die glück¬
lichste der Mütter“ . . . „Es gibt nichts, was sich der Wollust der Liebe
vergleichen ließe“ . . . „Du, meine Freundin, Du mußt mir die Mutterfreuden
schildern, damit ich Mutter bin durch Dich 66 .
Doch mitten drin in den Seligkeiten der Liebeserlebnisse erhebt sich
in ihrer Seele der Schrei: „Eine kinderlose Frau ist eine Ungeheuerlichkeit,
wir sind dazu geschaffen, Mütter zu sein 6 . . . „Auch ich will mich opfern
können, und ich versinke jetzt häufg in düstere Gedanken: soll mich niemals
ein zartes Geschöpf Mutter rufen?
Doch dieser Schimmer der Mutterschaft erlischt bei Louise im Feuer der
brennenden Liebeserlebnisse und sie selbst verbrennt in diesem Feuer, ohne
je Weib im Sinne der Mutterschaft geworden zu sein.
Die mütterliche Madame de l’Estorade dagegen schreibt: „Meine einzige
Freude — und sie war himmlisch! — entsprang der Gewißheit, diesem
armen Mann das Leben neu geschenkt zu haben, noch ehe ich es einem
Kinde gab ! 66 (Also Mütterlichkeit auch in den Liebesbeziehungen zum
Manne.)
Das ganze Gefühlsleben dieser Frau war von Mutterschaft und Sehn¬
sucht nach dem Kinde erfüllt. In der Verleugnung der Sexualität kannte
sie nie ein anderes Gefühl als das der Mütterlichkeit. Und doch schreibt
sie ihrer erotischen Freundin: „Den Liebesfreuden, den Wonnen der Leiden¬
schaft, die ich ersehne und nur durch Dich fühle, den nächtlichen Posten
auf dem Balkon im Schein der Sterne, den unbändigen Liebesergüssen und
dem Begehren mußte ich entsagen . 66
Wie in der erotischen Louise die Sehnsucht nach der Mütterlichkeit, so
lauert in der tugendhaften Renee die Sehnsucht nach Liebeswonnen. Ja,
sie verrät uns, daß trotz der asketischen Mutterschaft ein wütender Protest
und Haß gegen das zu gebärende und neugeborene Kind entstehen kann;
ein Haß, der in der Entsagung der erotischen Befriedigung, in der Ein¬
schränkung des eigenen auf die erotische Erfüllung wartenden Ichs seine
Quellen hat. Die mütterliche Madame de l’Estorade trägt das Kind in ihrem
Schoße und schreibt ihrer frivolen Freundin: „Mich aber hat die Ehe zur
Mutter gemacht, und nun kommt das Glück auch zu mir 66 . . . Aber bald
nachher: „Jeder spricht mir von dem Glück, Mutter zu werden! Ach, nur
12
Helen e D eutsdi
ich allein spüre nichts davon , und ich schäme mich fast , Dir die ganze Fühl¬
losigkeit zu gestehen , in der ich mich befinde“ . . . „Ich möchte wissen , in
welchem Augenblick das Mutter glück wirklich einsetzt? Lebwohl meine Glück¬
liche, Du , in der ich wiedererstehe und genieße jene betörenden Liebeswonnen ,
Eifersucht um eines Blickes willen , heimliches Wort ins Ohr geflüstert . . “
Also die Eine leidenschaftssehnsüchtige Mutter, die Andere mutterschafts¬
sehnsüchtige Vestalin der Liebe. Kein klinisches Beispiel könnte das Spal¬
tungsphänomen Mütterlichkeit und Erotik einleuchtender und packender
schildern als es der Dichter in diesen zwei entgegengesetzten und sich er¬
gänzenden Typen gestaltet hat.
Natürlich weiß ich nicht, aus welchen Quellen die hartnäckige Mütter¬
lichkeit der Madame de PEstorade stammt, ob aus der Identifizierung mit
der präödipalen Mutter oder aus der Identifizierung mit der späteren Mutter,
deren Sexualität sie an sich zu verleugnen versucht.
Von meinen Patienten aber kann ich bestimmtere Aussagen machen.
Sie waren in ihrer Verdrängung der Sexualität und in der Abspaltung der
Mütterlichkeit radikaler. Madame de l’Estorade hatte — wenn auch sichtlich
sexuell unempfindlich — doch Kinder geboren und ihre Mütterlichkeit an
ihnen, ihren leiblichen Kindern, befriedigt. Die Frauen, von denen ich jetzt
berichten will, bringen auch diese Lösung nicht zustande. Sie tragen ihre
Mütterlichkeit anderen Objekten als den eigenen Kindern zu, den Kindern,
die andere Frauen geboren haben, oder erwachsenen Personen, über die sie
ihre mütterliche Obhut erstrecken; viele von ihnen wählen einen Beruf,
in dem sie ihre Mütterlichkeit unterbringen.
Eine meiner Patientinnen, eine deutsche Hebamme, hatte diesen für ihre
Gesellschaftsklasse sonderbaren Beruf erwählt, um jedesmal von neuem ein
Kind zu bekommen, — viele, viele Kinder, — je schwächer und obhut¬
bedürftiger, desto lieber. Bei ihr spielte die Entbindungsangst eine wichtige
Rolle — sie mußte die Gefahrsituation der anderen Frau überlassen, um
sich dann im Besitz des Kindes mit ihr zu identifizieren.
Sie war in ihrem Berufe von grenzenloser Opferbereitschaft, eine hoch-
qualifizierte, wissende Entbinderin, und kam durch folgende sonderbare
Schwierigkeiten, die sich im Beruf einstellten, in die Analyse: „Ei ne Ent¬
bindung ist im Gange“ — war für sie ein Ruf zur Schlacht, zu der sie wie
die alten Germanen mit einer großen Festlichkeit, allerdings in ihrem
Innenleben, rüstete. Die Qualen der Entbindung, die die andere Frau
durchmachte, waren für sie mit einem sonderbaren Gemisch von Angst
und Freude verbunden. Der Moment der Austreibung des Kindes und das
Mütterlichkeit und Sexualität
i3
Übernehmen des Neugeborenen in die erste Pflege bildeten für sie ein
ekstatisches Glückserlebnis. Keine Arbeit war ihr zu viel, keine schlaflose
Nacht erschöpfend. Nur eines konnte sie nicht ertragen: daß der Akt der
Entbindung im Kreise ihrer Wirkung ohne sie vor sich gehe. Da diese Be¬
dingung in einem Entbindungsheim nicht durchführbar war, verfiel sie in
einen Zustand der Erregung und der Erschöpfung, der sie in die Analyse führte.
Schon die Symptome sprechen eine deutliche Sprache. Ihr Beruf sollte
sie von einem schweren Schuldgefühl der Mutter gegenüber befreien und
aus der ursprünglichen Tötungsphantasie, nach der die Mutter und das
neugeborene Kind der Mutter sterben sollten, stammt der Rettungswunsch.
In ihren Kindheitsphantasien standen das Sterben und das Gebären sehr
nahe aneinander; hörte sie doch schon damals bei den zahlreichen Ent¬
bindungen der Mutter, die sie als Kind miterlebte, von Schmerzen und
Gefahren. Daher bekam auch ihre ganze Auffassung der weiblichen Rolle
im Sexualakt einen tief masochistischen Charakter. Ihre eigenen masochi¬
stischen Wünsche hatten sich in der Pubertät in schweren blutrünstigen
Vergewaltigungsphantasien bewußt manifestiert. Die Erfüllung dieser Phanta¬
sien hätte für ihr Ich solche Gefahren bedeutet, daß sie auf ihre Sexuali¬
tät vollkommen verzichtete und ihre Mütterlichkeit nur in der geschil¬
derten Weise erleben konnte. So stand ihre Berufswahl im Dienste zweier
Herren: ihres Schuldgefühls und ihres Masochismus, den sie durch Identi¬
fizierung befriedigte. Ich bewahre eine Photographie, in der sie acht neu¬
geborene Kinder in ihren Armen hält — ein Sinnbild der Mütterlichkeit.
Ich habe viele im Berufsleben stehende Frauen in der Analyse kennen¬
gelernt, die ihre wärmste intensivste Mütterlichkeit im Berufe unterbringen
konnten, die aber die gleichzeitige Verleugnung der Sexualität der Mutter
und ihrer eigenen Sexualität verhinderte, selbst Mütter zu werden.
Ein Beispiel verirrter Mütterlichkeit möchte ich noch aus meiner Er¬
fahrung anführen: vielleicht wäre Balzacs Louise, hätten wir sie als Patientin
kennen gelernt, diesem Falle ähnlich gewesen. Es handelt sich um eine
Patientin, die die Behandlung wegen Nymphomanie aufgesucht hat. Seit
ihrem fünfzehnten Lebensjahr gab sie sich jedem hergelaufenen Burschen
hin, immer unbefriedigt, unglücklich, aber sonderbarer Weise trotz der
sehr puritanischen Erziehung vollkommen reuelos. Aus dieser Kranken¬
geschichte soll hier nur einiges vorgebracht werden. Die Patientin wurde
zweimal durch ihre Freunde, die sie vor dem Dirnenleben retten wollten,
in solide Burgerehen gedrängt, die natürlich beide mit einem Mißerfolg
endeten. Sie hatte nie Kinder gehabt, war konzeptionsunfähig und wünschte
Helene Deutsdi
auch keine Kinder. Die Worte „Mutterschaft“ und „Mütterlichkeit“ er¬
zeugten in ihr Abscheu und Widerwillen, der sich von da aus auf alle
Worte mit der Endsilbe „schaft“ oder „keit“ ausdehnte: eine durchaus
unmütterliche Frau. Und doch war sie, wenn ich hier gleichsam das
Schlüsselwort der langen Analyse verrate, in ihrem Triebleben eben nur
Mutter. Alle die jungen Burschen, denen sie sich hingab, waren ihre drei
jüngeren Brüder, denen sie immer etwas geben wollte, die sie in ihre
Arme aufzunehmen versuchte, um auf dem genitalen Wege in eine Einheit
mit den kleinen Jungen einzugehen; dabei identifizierte sie sich mit der
Mutter und nahm ihr zugleich die kleinen Kinder weg.
Hier konnte man die Vorgänge der präödipalen Phase und eine uber¬
starke primäre Mutterbindung für den ganzen neurotischen Vorgang ver¬
antwortlich machen. Sechs Jahre lang war sie allein, ein ungemein ver¬
hätscheltes und geliebtes Mutterkind. Nach dem sechsten Lebensjahr mußte
sie in rascher Folge dreimal die Schwangerschaften der Mutter und den
Entzug der Mutterliebe zugunsten der Neugeborenen erleben. Dabei horte
sie immer das Märchen von dem Kind unter dem Herzen und füllte ihre
Seele mit grausamer Enttäuschung und Bitterkeit. Die Beziehung zwischen
den kleinen Jungen und der Mutter hatte für sie einen libidinös-sexuellen
Charakter und die Mutter-Kind-Einheit der Mutterleibs- und der Still¬
situation, in der sie als Kind eifersüchtig beide Rollen spielen wollte, sollte
dann im späteren Leben genital befriedigt werden. Sie blieb frigid, weil
der Inhalt ihrer Phantasien die Sexualität ausschloß, und ihr Schuldgefühl
blieb dabei deshalb scheinbar so unberührt, weil sie durch das mütterliche
Geben ihre Feindseligkeit gegen die kleinen Jungen verleugnete und ihr
Schuldgefühl dadurch entlastete.
Von dieser Patientin aus führt der Weg zu vielen seelischen Situationen,
in denen die Mütterlichkeit entweder die Sexualität vollkommen verleugnet
oder sie, wie in diesem Falle, zu ihren Zwecken benützt und somit die
sexuelle Befriedigung hemmt; oder aber die Sexualität wird akzeptiert, doch
nur unter Bedingungen, in denen die Mütterlichkeit abgespalten und ver¬
leugnet wird (ich erinnere Sie an die eingangs erörterte Spaltung); oder
der umgekehrte Fall — diese Bedingungen müssen weitgehend die For¬
derungen der Mütterlichkeit befriedigen. Dies drückt sich etwa in der
Objektwahl aus, indem nur knabenhafte, hilfebedürftige Männer als Liebes-
objekte gewählt werden.
Auch hier möchte ich ein Beispiel aus der Literatur anführen, das auf
mich erschütternd gewirkt hat.
Mütterlichkeit und Sexualität
5
Es handelt sich um das Buch „Tante Tula“ von dem bekannten spanischen
Dichter Miguel de Unamuno.
Tante Tula ist von ihrer Mütterlichkeit besessen. Ihre ganze Beziehung
zur Welt ist nur Mütterlichkeit. Alles, was der Sinnlichkeit, der Erotik
nahe steht, wird mit grausamer Verachtung und mit Haß belegt. Den Akt
der Befruchtung umgibt sie bei einer anderen Frau mit sorgfältigster Pflege,
wie der Züchter in seinem Arbeitsfelde, wie der Gärtner bei seinen Pflanzen.
Erst das Produkt, das unter ihrer sorgsamen Pflege entsteht, wird zu ihrem
Eigentum, dem sie sich restlos widmet und in dem sie aufgeht; so ist sie
im geistigen Besitz dessen, was ein anderer Körper unter Qualen geboren
hat. Tante Tula ist eine Zwillingsschwester unserer deutschen Hebamme,
nur in ihrer unsexuellen Mütterlichkeit gewaltiger und herrschender. Die
Kinder, die die andere Frau ihr geboren hatte, behält sie zeitlebens und
läßt die Frau — auch hier konsequenter wie die Hebamme — grausam
sterben, nachdem sich ihre Rolle als Gebärerin erschöpft hat. Auch den
Mann macht sie zu ihrem Kinde; sie tötet seine erotische Leidenschaft zu
ihr und lenkt sie mit eiserner Konsequenz zu einer anderen Frau.
Mit wunderbarer poetischer Kraft ist es dem Dichter gelungen, diese
vollkommen von der Erotik abgespaltene Mütterlichkeit darzustellen. Man
könnte fragen, woher ein Mann soviel Einfühlung in die tiefsten Tiefen
einer weiblichen Seele nimmt.
Tante Tula läßt ihre Schwester den Mann heiraten, den sie liebt und
von dem sie geliebt wird. Sie ist es, die die Ehe vermittelt, die zur Zeu¬
gung des Kindes drängt, um sich dann ganz des Kindes zu bemächtigen.
Sie peitscht die schwache Schwester von einer Entbindung in die andere,
bis sie an der Erschöpfung des Gebärens stirbt, um der Tante Tula, als
der geistigen Mutter, ihre Kinder zu überlassen. Die sinnliche Leidenschaft
des Schwagers, in dessen Hause sie als die Mutter seiner Kinder lebt, lenkt
sie auf das Dienstmädchen ab, auf das „erniedrigte Sexualobjekt“, um auch
sie langsam sterben zu lassen, nachdem auch sie ihr, der Tante Tula, Kinder
geboren hat. Tante Tula betont ihre Rolle der geistigen Mutter und läßt
auch in der Phantasie ihrer Kinder nicht einen Moment den Glauben ent¬
stehen, daß sie die geistige Mutter — sie körperlich empfangen oder
geboren hat. Das Bewußtsein der körperlichen Mutter muß immer im
Hause da sein, um die echte, wahre Mütterlichkeit der Tante Tula nicht
durch den Verdacht zu beschmutzen, sie habe je körperlich an der Mütter¬
lichkeit teilgenommen. Hie und da bricht die verdrängte Sehnsucht durch,
un( ^ Tante Tula läuft aus dem Dorfe weg, in dem sie mit ihrem verwit-
6
Deutsch: Mütterlichkeit und Sexualität
weten Schwager lebt, in die lärmende Stadt zurück. „Nein, auf dem Lande
gibt es keine wahre Reinheit. Reinheit bildet sich nur aus, wo sich die Menschen
in einem schmutzigen Knäuel von Häusern zusammenschließen, um sich um so
besser zu isolieren. Die Stadt ist ein Kloster einsamer Menschen. Hier aber am
Lande vereinigt sie die Erde, auf die sie sich fast alle niederlegen, wenn sie
schlafen. Und die Tiere, das sind die alten Schlangen des Paradieses; zurück
in die Stadt.'“ Von ihm aber, dem Begehrenden, würde sie wünschen, daß
er „in vielen Dingen noch sehr kindisch “ wäre. „Wie sollte sie ihn zu einem
Kinde machen? u
Noch ein andermal bricht aus der geistigen Mütterlichkeit die ungeistige
Sehnsucht! „Sie nahm ihren kleinen Neffen, der in Hunger wimmerte, und
schloß sich mit ihm in ein Zimmer ein. Dann zog sie die rechte ihrer
trockenen, jungfräulichen Brüste hervor, die hochrot war und zitterte, wie
bei einer Fiebernden, erschüttert von den heftigen Schlägen ihres Herzens,
und führte die Brustwarze in das blühende, sanftgerötete Mündchen des
Kleinen ein, der nun noch mehr wimmerte, während er mit seinen bleichen
Lippen an der trockenen bebenden Brustwarze kaute“
Es ist meisterhaft gesehen und unserem analytischen Wissen so nahe,
daß Tante Tula verleugnete, je einen Vater gehabt zu haben, der sie mit
der Mutter gezeugt hat. Don Primitivo, der Ziehvater und Bruder der
Mutter, ist der wahre große und geliebte Vater. Fein wird es unserem
Verständnis nahegebracht, daß Tante Tula einst in ihrem Phantasieleben
schon die Keuschheit der Mutter so bewahrt haben wollte, wie sie die eigene
bewahrt, und daß ihre mütterliche Beziehung zu den Kindern eine Wieder¬
holung dessen ist, was in ihrem Verhältnis zu der eigenen Mutter entstanden war.
Wie verständlich ist es uns, wenn Tante Tula von Don Primitivo zu
ihrer Schwester sagt: „Er weihte unser ganzes Leben immer still und schweigsam
und fast ohne uns je ein TVort zu sagen dem Kult der Aller heiligsten Jung¬
frau, der Mutter Gottes, und zugleich dem Kult unserer Mutter, seiner
Schwester, und unserer Großmutter, seiner Mutter. Mit dem Rosenkranz
schenkte er uns eine Mutter und lehrte er dich, Mutter zu werden. Man
sieht hier sehr deutlich die Phantasie von der „unbefleckten Empfängnis
der Mutter, von der Mutterschaft ohne Vater, ja, man findet sogar in dem
Buche Reminiszenzen an Puppenspiele in der Kindheit der Tante Tula, die
schon alles spätere in diesem Sinne enthalten.
So könnte man eigentlich das ganze Buch zitieren, eine Dichtung, die
hier dem psychoanalytischen Leser warm empfohlen sei.
Das Problem der doppelten Motivgestaltung 1
Von
Ludwig J e k e 1 s
Wien
Auf einen Fehler meines Vortrages muß ich zunächst selbst verweisen;
die Aufdeckung anderer muß ich wohl Ihnen, meine Damen und Herren,
überlassen. Aus Gründen, die Sie alsbald hören sollen, muß ich in meine
Darlegungen eine ältere Studie von mir einfügen, allerdings nicht ohne
sie durch neue Einsichten zu ergänzen. Aber immerhin ist es eine Arbeit,
die, wenn überhaupt je gelesen, so gewiß von Ihnen schon längst ver¬
gessen wurde, und deren Ergebnisse ich daher gezwungen bin, hier zu
wiederholen. 2 Halten Sie es mir aber zugute, daß ich mich bemühen werde,
es so schonend, d. h. so kurz und klar als irgend möglich, zu machen.
Nun aber zum Thema. Unter doppelter Motivgestaltung verstehe ich den
Sachverhalt, daß ebenso auf den uns vertrauten Gebieten des Traumes, der
Neurose, der gehäuften Fehlleistung, wie in dem unseren gewohnten
Interesse ungleich ferneren der dramatischen Schöpfung eine Tendenz
obwaltet, einer bedeutenden, sagen wir zentralen seelischen Konstellation
doppelten Ausdruck zu verleihen, so daß sie in einer doppelten, zumeist von¬
einander verschiedenen Gestaltung im Bewußtsein aufscheint.
Während sie aber in den drei erstgenannten Kompromißbildungen bloß
mit sehr wechselnder Regelmäßigkeit und sehr variablen Intensität auftritt,
so daß sie hier nur fallweise oder bloß fragmentarisch zu beobachten ist,
scheint sie mir im Drama eine durchgehende, ja ausnahmslose, meist mit
unverkennbarer Deutlichkeit auftretende Regel zu sein.
Dieser Sachverhalt im Drama trat mir bereits vor vielen Jahren zuerst
bei einer psychoanalytischen Untersuchung des Macbeth entgegen; die
doppelte Gestaltung desselben Motivs war mir hier so einprägsam, daß ich
bereits in dieser Studie die Vermutung wagte, ob wir uns nicht „in dem
hier aufgezeigten Nebeneinander der verhüllteren und der direkteren Dar¬
stellungsweise des Hauptmotivs einem Grundphänomen der dramatischen
Produktionsweise genähert haben u . Mehrere Jahre später, nach fortgesetzten
Untersuchungen auf diesem Gebiete, meinte ich: „Dies Phänomen ist so
regelmäßig festzustellen, daß auch die umgekehrte Fassung: alles, was in
1) Vortrag am XII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Wiesbaden
am 4. September 1952.
2) Vgl. Imago V, S. 170 ff. Dazu Freud, Ges. Sehr., Bd. X, S. 296 ff.
Imago XIX. 2
i8
Tudwig Jeteis
einem Drama doppelt dargestellt erscheint, ist sein Grundmotiv, mir heute,
nach reiflicher Nachprüfung, ganz verläßlich erscheint.“
Zu dem zwingenden Umstand, daß die Untersuchung einer Erscheinung
wohl am zweckmäßigsten dort vorgenommen werden soll, wo man ihr am
deutlichsten und regelmäßig begegnet, kommt also noch, wie Sie sehen,
ein sozusagen historisches Motiv, um mich zu veranlassen, Sie zunächst
auf das Gebiet des Dramas zu führen, um dann von hier aus, an der Hand
der hier gewonnenen Einsichten, dem Phänomen der doppelten Motiv¬
gestaltung auch auf anderen Gebieten nachzuspüren.
Als Untersuchungsobjekt wähle ich hier wieder Shakespeares Macbeth,
dessen Inhalt ich Ihnen in zwei Sätzen, soweit eben, als es meine Unter¬
suchung erheischt, in Erinnerung bringen will. Nach der Prophezeihung
der Hexen, er, Macbeth, werde König, Banquo aber Vater von Königen
werden, ermordet Macbeth den bei ihm zu Gaste weilenden König Duncan
und wird dann zum Könige gekrönt; als solcher ist er ein Wüterich, der
Banquo und seinen Sohn Fleance ermorden läßt, dieser jedoch entrinnt der
Mörderhand; ebenso mißlingt der an Macduff geplante Mord, wohl aber
fällt Macduffs kleines Söhnchen dem Wüterich zum Opfer. Es kommt
zu einer von Macduff veranlaßten Erhebung gegen den Tyrannen, der von
Macduff gefällt wird, worauf Malcolm, der vor Macbeths Anschlägen gleich¬
falls gerettete Sohn des ermordeten Königs Duncan, zum König erhoben wird.
In meiner Studie vermochte ich, wie ich meine, beweiskräftig nachzu¬
weisen, daß diese Schöpfung zur Grundidee die wehmutsvolle Einsicht
habe, daß ein schlechter Sohn auch ein schlechter Vater sei und sich dadurch
der Segnungen der Generationsfolge begäbe.
Denn entsinnen Sie sich, bitte, an der Hand meiner Bekapitulation, daß
Macbeth uns in dem Stücke in einer doppelten Funktion entgegen tritt.
Zunächst als Mörder des Königs Duncan, somit als schlechter, vatermörderi¬
scher Sohn. In der zweiten ist er aber selbst König, Vater, und als solcher
blutiger Verfolger jeglicher Sohnesgestalt. „Nur einer liegt“, meint der erste
der zum Morde Banquos und seines Sohnes gedungenen Mörder, „Der Sohn
entfloh , worauf der zweite: „So ist die beste Hälfte unserer Müh’
verloren.“
Aber ganz derselbe psychologische Sachverhalt, der innigste Zusammen¬
hang der beiden Funktionen als Sohn und als Vater, wird uns in dem
Drama noch in einer zweiten Gestaltung aufgezeigt, in der Figur des
Macduff. Denn auch er ist ein schlechter, ein widerspenstiger Sohn. Nicht
nur daß er demonstrativ zur Krönung von Macbeth nicht geht, aber er
Das Problem der doppelten Motivgestaltung
*9
führt ..dreiste Worte“ gegen ihn, lehnt brüsk des Königs Einladung zur
Krönungstafel ab; und schließlich ruft er ja zum bewaffneten Aufstand gegen
Macbeth, in dem er ihn tötet. Aber dieser seiner vaterfeindlichen Gesinnung
fällt ja, wie bereits erwähnt, sein kleiner Sohn zum Opfer, der vom ge¬
flüchteten Macduff verlassen und derart der Mörderhand preisgegeben wird.
Danach hoffe ich, Ihrem Widerspruche kaum zu begegnen, wenn ich,
mich wiederholend, behaupte, es liege hier ein ganz deutlicher Fall von
doppelter Motivgestaltung vor. Nur ist die Ausdrucksform beider Gestaltungen
eine recht verschiedene; denn während die des Macbeth mit der Wucht
ihrer Form, dem Wegfall von Nuancen und Abtönungen ungleich mehr den
Eindruck des Visionären, etwa des Traumhaften, macht, nähert sich die
Macduffgestaltung mehr der vorbewußten Fassung, erscheint uns menschlich
näher gerückt, verständlicher.
Dieser Unterschied aber ebenso wie der vielsagende Umstand, daß der
Dichter die in seiner Vorlage, der Holinshed-Sage, so dürftig gehaltene
Gestalt Macduffs herausgehoben, isoliert, und so viel reichhaltiger ausge¬
staltet Macbeth an die Seite gestellt hat, — etwa wie eine konkrete, spezielle
Abwandlung des im Macbeth ungleich allgemeiner gehaltenen Motivs, —
all dies hat, wie ich seinerzeit nachzuweisen vermochte, eine ganz besondere
Begründung. Und zwar die, daß genau so wie Macduff durch den Konflikt
mit Macbeth gezwungen erscheint zu flüchten und die Seinigen zu ver¬
lassen, auch der Dichter in seiner Jugend in einem schweren Zerwürfnis
mit seinem Vater Weib und Kinder fluchtartig verließ, um nach London
zu ziehen. Die schwere Anklage der Lady Macduff gegen ihren Gatten:
„Sein Weib und Kinder lassen ... an dem Ort,
Von dem er selbst entflieht?
Er liebt uns nicht,
Ihm fehlt Naturgefühl!“
ist darnach eine schwere Selbstanklage des Dichters.
Lnd in der unmittelbar auf diese Szene folgenden Ermordung des Söhnchens
von Macduff ist gleichfalls der furchtbare Selbstvorwurf des Dichters dar¬
gestellt, dem, als er nach der Flucht, um die Seinigen völlig unbekümmert,
in London dahinlebte, sein einziger Sohn Hamnet und damit auch die
Möglichkeit starb, sein Geschlecht und seinen ruhmvollen Namen fortzu¬
setzen. Daher der Ausruf:
„Macduff, für Deine Sünde starben sie!
Oh, ich Nichts würdig er, nicht um ihre Schuld,
Um meine eigene traf der Mord ihr Leben!“
Ludwig Jekels
20
Nun aber dämmert uns bereits die Erkenntnis von der Bedeutung dieser
zweiten Gestaltung. Sie dient eben als Ausdruck des Schuldgefühls, dessen
Spuren wir bei der Macbethfigur ohnehin vergeblich suchen und restlos
vermissen.
Aber nicht nur ihren Sinn, sondern - auch den Zweck dieser zweiten
Niederschrift, die psychologische Bedeutung dieser besonderen Hervorhebung
des Schuldgefühls, können wir nunmehr unschwer in Erfahrung bringen.
Denn die Geschichte der Entstehung dieses Dramas sowie die Kenntnis
der sie begleitenden Umstände verschafft uns darüber Aufschluß.
Es ist nämlich völlig sichergestellt, daß es vom Dichter als Huldigung
für König James zu dessen Thronbesteigung verfaßt wurde; ein bei Shake¬
speare sehr befremdender Umstand, war er doch gegenüber der großen
Elisabeth, der er soviel dankte, mit Huldigungen so zurückhaltend.
Als er die Dichtung verfaßte, stand Shakespeare unter dem tiefsten
Eindruck des Ablebens der Königin, mit der ihn, wie ich bereits vor Jahren
ausgeführt, vieles von ihm als gemeinsam Empfundene verband, — vor
allem die ihnen beiden gleichsam als Strafe auferlegte „Unfruchtbarkeit“
und der Verzicht auf Generationsfolge.
Konnte es aber dann anders sein, als daß vom Dichter die sonderbare
Fügung, daß der Thron der Elisabeth gerade dem Sohne der von ihr ge¬
mordeten Mutter (Maria Stuart) zufiel, als ein befreiender, ja erlösender Akt
der Gerechtigkeit empfunden wurde?
Darum die huldigende Dichtung, darum diese Konfliktslösung in ihr,
daß in getreuester Nachbildung der sich vor dem Dichter entrollenden
Wirklichkeit ebenfalls der Sohn des ermordeten Duncan den Thron besteigt.
Nunmehr glauben wir aber zu verstehen: dieses Herausheben des Schuld¬
gefühls, wie es hier durch die zweite Niederschrift, die Macduffgestalt,
geschieht, es vor sich klar hingestellt zu haben, ist die Vorbedingung dafür,
daß das Ich sich mit ihm freimütig auseinandersetzt und es in die sozial
produktive Form des Gerechtigkeitsgefühls überführen kann. — Jetzt wollen
wir aber mit diesen der Dramastruktur abgewonnenen Einsichten an die
Untersuchung der einschlägigen Verhältnisse bei der Neurose herantreten
und die Frage aufwerfen, ob denn auch bei ihr die dort so evidente
Tendenz zur doppelten Motivgestaltung vorhanden und irgendwie aufzeig-
bar sei? Ich glaube diese Frage eindeutig mit Ja und dahin beantworten
zu können, daß Äußerungen dieser Tendenz in dem Reproduktionsvorgang
beim analytischen Patienten deutlich hervortreten. Dabei habe ich das
Erinnern und das Agieren im Auge. Ich weiß nämlich wirklich nicht,
Das Problem der doppelten Motivgestaltung
21
ob wir nicht allzu schematisierend denken, wenn wir diesen Reproduktions¬
vorgang, wie es gewöhnlich geschieht, in die Alternative erinnern oder
agieren fassen. Ich kann mich auf Grund meiner Erfahrung kaum dem
Eindruck verschließen, daß der Sachverhalt hier ungleich zutreffender
so zu formulieren sei, daß im allgemeinen das verdrängte Motiv sowohl
psychisch reproduziert, d. h. erinnert, als auch motorisch wiederbelebt,
d. h. agiert wird. Auch Reik scheint mir dieser Ansicht zu sein, wenn er
meint, „es gäbe verschiedene Übergänge von der erzählten Reproduktion
zum Agieren 64 . Um diese meine Ansicht durch ein Beispiel zu illustrieren,
mache ich eine Anleihe bei Sachs, da mir ein gleich plastischer Fall
eigener Erfahrung zur Zeit nicht gegenwärtig ist. In einer kleinen im
Jahre 19-29 publizierten Mitteilung schildert er eine Episode aus der Analyse
einer jungen verheirateten Frau; sie stand unter dem Druck eines stark
entwickelten Kastrationskomplexes, der in ihrer Kindheit durch den ihrem
zweieinhalb Jahre jüngeren Bruder geltenden Penisneid geweckt und er¬
halten wurde. Unter intensivem sich lange hinziehendem Widerstand rollte
sie allmählich das Thema der Enuresis auf; es folgten alsbald Erinnerungen,
wie sie damals, mit etwa vier Jahren, mit dem Bruder in einem Bett
schlief, wie dieser das Bett näßte, wie sie sich darob bei der Mutter beklagte,
und diese dann die beschmutzte Wäsche abzog. Nach Hause von der Sitzung
zurückgekehrt, machte die Patientin ihrem Gatten eine recht unerquickliche
Szene wegen seines angeblich „hastigen, unreinlichen Essens, bei dem er
immer Flüssigkeit auf das Tischtuch verspritze 66 . Sachs beschließt die Mit¬
teilung mit dem richtigen Hinweis, die Patientin habe aus der Entwertungs¬
tendenz heraus in oraler Verschiebung den dem Bruder geltenden Kinder¬
vorwurf auf den Mann angewendet, jener (der Bruder) sei ein schmutziges,
inferiores Wesen, das trotz des Gliedes, das er vor ihr voraus habe, nicht
einmal seine Urinentleerung beherrsche.
Ich meine, daß die Doppelgestaltung des Motivs, seine psychische und
motorische Reproduktion, hier besonders schön zutage tritt.
Nunmehr tut es uns aber Not, auch hier die beiden Darstellungsweisen
an der Hand der aus dem Drama geschöpften Einsicht, d. h. unter dem
Gesichtspunkt ihrer Beziehung zum Schuldgefühl, zu betrachten.
Diese beiden Vorgänge stehen ja unter dem Drucke der Forderung des
Über-Ichs. Sollte sich eine eventuelle Polemik gegen diese das Erinnern
betreffende Auffassung des Argumentes bedienen, sie beinhalte einen Wider¬
spruch, denn es sei ja gerade die Verdrängung, die, wie wohl bekannt, im
Aufträge des Über-Ichs vor sich gehe, — so müßte ich diesen Einwand
durch den Hinweis erledigen, diese Argumentation beruhe auf einer offen¬
kundig mißverständlichen Auffassung des Verdrängungsvorganges, auf einer
unzulässigen Verwechslung von Verdrängen und Vergessen, während doch
dieses mit dem Wesen der Verdrängung nichts zu tun habe und bloß
eines der Mittel sei, deren sich die Verdrängung bedient.
Indessen scheint mir die Forderung des Über-Ichs nicht der einzige die
Gestaltung des Reproduktionsvorganges entscheidende Faktor zu sein; es
kommt vielmehr dabei auch, wie ich meine, auf die sehr variable und
vielleicht doch nicht nur von der Strenge des Über-Ichs abhängige Größe
der Angstreaktion des Ichs an. Ist sie übergroß, so kommt es eben zur
Tatwiederholung, zum Agieren, welches, wie wir wissen, dem Strafbedürfnis
entspringt, somit seinem Wesen nach eine nach masochistischer Befriedigung
strebende Triebäußerung ist. Derart erscheint beim Agieren das Ich unter
dem Drucke seines Über-Ichs völlig der Herrschaft des Es verfallen.
Ganz anders beim Erinnern. Dieses hat, wie ich meine, zur Voraus¬
setzung, daß das Ich seine Angst irgendwie überwinden kann, sich frei
fühlt von Leidsuche und Strafbedürfnis, daher seinem Gewissen nicht wie
beim Agieren ausweichen muß, ihm vielmehr freimütig Rede und Antwort
stehen kann.
Wir wissen ja, daß die Gestaltung eines solch starken Ichs das ideale
Ziel unserer therapeutischen Bemühungen ist und daß dies der Grund ist,
warum wir so eifrig darnach trachten, durch Auflösung des jeglichem
Agieren zugrunde liegenden Widerstandes dieses nach Möglichkeit zu ver¬
hindern und es derart durch Erinnerung zu ersetzen. Beachten Sie doch,
bitte, wie weit sich in einer derartigen Idealanalyse die Leistung des Ana¬
lytikers mit der gestaltenden Kraft des Dramatikers deckt!
Nun aber zum Traum. Hier scheinen ja die Vorbedingungen für das
Vorkommen einer Doppelgestaltung insoferne besonders gegeben, als ja, wie
wir wissen, dem Traum ohnehin zwei Ausdrucksmittel — Sinnesbilder und
Gedanken — eigen sind. Und doch sind solche doppel-gestaltende Träume
ein relativ seltenes Vorkommnis. Warum dem so ist, darüber soll uns die
nachfolgende Analyse gerade eines ausgesprochen doppelt gestaltenden Traumes
belehren:
Eine etwa vierzigjährige Patientin mit nicht überwundenem Kastrations¬
komplex und dadurch bedingten empfindlichen Störungen ihres Geschlechts¬
empfindens sowie mit mannigfachen virilen Einschlägen erzählt nach¬
stehenden Traum: „ Sie sieht Josef auf dem Tisch liegen, er hat an den Beinen
eine schlechte Haut (Ausschlag), ihre Freundin Minna ist dabei. Weiters:
Das Problem der doppelten Motivgestaltung
*3
Sie hat Willi zweitausend Schillinge genommen; er merkt den Abgang des
Geldes , sie hat Angst vor Entdeckung und zerreißt das Geld in kleine Stücke ,
die sie wegwirft. u
Für das auch sonst nicht schwierige Verständnis des Traumes sind nach¬
stehende Vorkommnisse, die dem Traum und seiner Deutung vorangingen,
wichtig:
1) Die Patientin, die die Analyse mit mir in der Sommerfrische fort¬
setzte, war sehr enttäuscht, daß sie auch hier mit mir bloß in einem
offiziellen Kontakt stand, während doch gerade während des sommerlichen ,
Landaufenthaltes in ihrer Kindheit die Beziehung zwischen ihr und dem
Vater eine besondere innige war.
2) Sie hatte ein oder zwei Tage vor dem Traume die Lektüre von
Wassermanns „Christian Wahnschaffe“ jäh und mit großem Widerwillen
abgebrochen, als sie unversehens auf die Stelle stieß, wo ein Mädchen er¬
mordet — und zwar der Leichnam ohne Kopf — aufgefunden wird.
5) In den Tagen, da der Traum vorfiel, hatte sich bei der sonst regel¬
mäßig menstruierenden Patientin die Periode nur zögernd, bloß für abnorm
kurze Zeit und unter sehr spärlichen Abgängen eingestellt.
4) Die Patientin erging sich in einer sehr detaillierten Schilderung des
Charakters ihres Vaters, die ausschließlich die Härte und Unzugänglichkeit
des alten Geschäftsmannes in Geldsachen, nicht allein seinen Angestellten,
sondern auch ihr, seiner Tochter, gegenüber, zum Inhalt hatte.
Willi, der in ihren Träumen bereits öfter für den Analytiker figurierte,
ist angehender Arzt, der zur größten Empörung der Patientin seiner reichen
Frau die freie Verfügung über ihr eigenes Geld brutal entzieht. Josef
aber, sein Bruder, ist ein stadtbekannter Frauenoperateur. Um es abzukürzen:
es ist kein Zweifel, daß sich ein ganzes Bündel triebhafter Strebungen,
aggressiver, narzißtischer und anderer, in diesem Traume verdichtet hat,
daß in beiden Szenen vorerst dasselbe Motiv, der Wunsch, den Vater zur
Vergeltung zu kastrieren, zum Ausdruck gelangt. Denn in der ersten liegt
ja der Operateur auf dem (Operations-)Tisch; er ist entstellt, zur Minna,
die wirklich den schlechten Teint hat, d. h. zum Weibe gemacht. Das¬
selbe besagt auch die zweite Szene; denn sie nimmt dem Willi ebenso
das Geld weg, wie er seiner Frau und der Vater ihr.
Wie ist es aber mit dem Rest des Traumes? Warum verzichtet darin
die Patientin auf den väterlichen Phallus, den sie sich angeeignet? Wir
finden die Antwort im Traumtext: Aus Angst vor dem Vater, wegen des
Einspruchs des Über-Ichs, also aus Schuldgefühl. Für das Ich waren in dieser
*4
Ludwig Jekels
Angstsituation die Möglichkeiten auf die beiden folgenden eingeschränkt:
entweder auf das Erringen oder auf den Schlaf zu verzichten, aus dem es
sonst die Angst unzweifelhaft aufgescheucht hätte. Es entschied sich für das
erste, wodurch die Angst gebannt und das Weiterschlafen ermöglicht wurde.
Was uns aber hier besonders auffallen muß, ist, daß es auch hier, also
auch im Traume — ganz analog der im Macbeth-Drama aufgezeigten
Situation — die zweite Gestaltung ist, die das Schuldgefühl zum Ausdruck
bringt: bloß daß die Reaktion des Ichs, die Art und Weise, wie es sich
hier zu seinem Über-Ich stellt, eine ganz verschiedene, nein, eine ganz
gegensätzliche ist. Denn, während es sich, wie bereits auseinandergesetzt,
im Drama und auch beim Erinnern freimütig zu seiner Schuld bekennt,
will es im Traume kaum etwas von ihr wissen, es flieht angstvoll davon.
Denn der Verzicht der Patientin auf den geraubten väterlichen Phallus
und das Verwischen der Spuren, ist ja seinem Wesen nach nichts anderes
als ein Rückzug, nichts als ein Vermeiden der Auseinandersetzung, somit
eine Flucht vor dem Über-Ich. Dies im Traum außerordentlich überwiegende
Ausweichenwollen vor dem Über-Ich, dem Urquell der Angst, pflegt sich
ja im Traume vorerst des Erwachens, überdies aber noch mannigfachster
Ausdrucksmittel zu bedienen. So stellte mir O. Isakower, dem ich auch
sonst manch wertvollen Hinweis danke, einige Träume eines seiner Patienten
zur Verfügung. Jeder von ihnen bestand gleichsam aus einem Hauptstück,
meist orgiastischen Inhalts, und einer Art von kurzem Nachtrag. Diese
Nachträge boten die Eigentümlichkeit, daß der Patient niemals sicher war,
ob dieser Nachtrag noch geträumt war oder dem Wachen entstammte. Wir
verstehen diese seine Unsicherheit, wenn wir erfahren, daß all diese Nach¬
träge Elemente enthielten, die wir kaum anders denn als Drohungen oder
Mahnungen des Über-Ichs auffassen können, da doch in den meisten der¬
selben der Analytiker sogar personaliter aufgetreten ist. So z. B. wenn der
Träumer in einem solchen einem orgiastischen Traume folgenden Nachtrag
eine Stimme hört, die ihm zuruft: „Deine Liebesschweinereien werden schon
herauskommen. u Re vera sind meiner Ansicht nach all diese Nachträge
tatsächlich geträumt und die Unsicherheit des Patienten, ob sie noch in den
Traum oder bereits ins Wachleben zu placieren seien, ist nichts anderes als
ein verräterischer Ausdruck dafür, wie sehr er diese Über-Ich-Stimme im
Traume nicht wahr haben, wie er sie fliehen wollte.
Welchem Umstande es zuzuschreiben ist, daß wir im Traume ungleich
seltener der Situation begegnen, daß die Angst vor dem Über-Ich in ihr
Wunschgegenteil verwandelt und auf diese Weise beschwichtigt wird, weiß
Das Problem der doppelten Motivgestaltung
26
ich nicht anzugeben. Ein derartiger, diesen Sachverhalt plastisch wieder¬
gebender Traum, ist der folgende mir von einer Lehranalysandm mit¬
geteilte: „ Herr und Frau Doktor Bibring sprechen mit mir und sind sehr
freundlich mit mir “ — was ihr große Freude bereitet. Der Sinn des Traumes
wird Ihnen sofort klar, wenn ich hier mitteile, was die Kandidatin assoziierte:
daß man im Kreise der Analysandin den Namen Bibring scherzhafter Weise
in Biberich-Über-Ich umgestaltet hat.
Was schließlich die von uns als Wunschausdruck des Über-Ichs auf¬
gefaßten Strafträume anlangt, so stehen sie dank eben dieses Charakters
sowie dadurch, daß sie gegenüber den anderen in so unverhältnismäßiger
Minderzahl auftreten, nicht nur in keinem Widerspruch mit dieser Ansicht,
sondern bestätigen nachhaltig die Auffassung, daß sich im Traume das Ich
energisch dagegen sträubt, sein Schuldgefühl anzuerkennen, sich von ihm
.ibwendet, die Flucht vor seinem Über-Ich ergreift.
Das hier über den Traum gesagte ist gewiß kein Novum, da es sich doch
geradezu zwangsläufig aus der Freudschen Auffassung über das der Traum¬
bildung zugrunde liegende Kräftespiel ergibt. Denn daß sich das dem narzi߬
tischen Schlafwunsch verfallene Ich, das den Es-Ansprüchen die Besetzung ver¬
weigert und für sie bestenfalls bloß unter sehr bedeutenden Modifikationen zu
haben ist, gegenüber den Über-Ich-Forderungen bis auf seltene Fälle strikt
ablehnend verhalten muß, ist wirklich eine bloße Selbstverständlichkeit.
Wenn wir nun die Ergebnisse unserer Untersuchung der drei hier be¬
sprochenen Gebiete aneinanderreihen, so finden wir: im Drama die gefaßte Aner¬
kennung des Schuldgefühls, was seine Umgießung in die sozial produktive Form
erst ermöglicht; in der Neurose seine mißbräuchliche, der Triebbefriedigung
gemäße Verwendung, im Traume endlich das tunlichste Nichtanerkennen-
wollen des Schuldgefühls. Während sich also in den beiden letzten Fällen
die Persönlichkeit in voller Entzweiung befindet, führt wie die korrekte
Analyse so besonders das Drama zu ihrer Vereinheitlichung.
Wie intensiv dieser Sachverhalt offenbar unbewußt, intuitiv perzipiert
wird, spiegelt sich darin, daß wir so oft der — allerdings auf irgendein Detail
oder ferneres Gebiet verschobenen — Hervorhebung der Einheit in den
kritischen Besprechungen dramatischer Schöpfungen begegnen. So z. B. wenn
namhafte Shakespeare-Forscher wie Gervinus und andere vor ihm, wenn
ich nicht irre, auch Lessing, das Streben dieses Dichters nach der moralischen
Einheit in der Gestaltung seiner Charaktere so besonders hervorheben. —
Ich halte auch die Annahme nicht für ganz absurd, daß die als Grund¬
eigenschaft eines guten Dramas aufgestellte Forderung nach Einheit der
»6
Jekels: Das Problem der doppelten Motivgestaltung
Zeit, Einheit des Ortes und Einheit der Handlung gleichfalls eine Betrachtung
in diesem Lichte zuläßt. Der sonderbare Umstand, daß die Konzeption dieser
Trias jahrhundertelang fälschlich Aristoteles zugeschrieben wurde, während er
in Wirklichkeit lediglich die Einheit der Handlung gefordert haben soll, das
Postulieren der beiden anderen Eigenschaften aber — neueren Forschungen
zufolge — angeblich von französischen Tragikern und Kunstlehrern des acht¬
zehnten Jahrhunderts stammt, widerlegt gewiß nicht diese meine Vermutung.
Nun, dies bloß so nebenbei; zu unserem eigentlichen Thema aber zu¬
rückkehrend sehen wir nach alledem, daß sich uns das Drama und eine
korrekte Analyse als eine gelungene, dagegen Neurose wie Traum als eine
mißglückte Lösung eines Konfliktes darstellt.
Meine Damen und Herren! Wie Sie also sehen, bin ich von ganz anderem
her, von Formalem kommend, zu Ergebnissen gelangt, die schon längst
zu den gesichertsten, aber vom Materialen und Inhaltlichen her gewonnenen
Erkenntnissen der Psychoanalyse gehören, was mir immerhin als eine be¬
weiskräftige Stütze der Richtigkeit der hier dargelegten Ansicht gilt.
Sollte ich daher mit dieser Annahme einer Tendenz zur Doppelgestaltung
im Psychischen nicht einem Irrtum erlegen sein und nicht etwa ein Problem
dort suchen, wo vielleicht keines vorhanden ist, — worüber nunmehr die
Entscheidung bei Ihnen liegt, — so müssen wir auf eine Fülle von Fragen
gefaßt sein, die sich daraus ergeben könnten. Nicht allein wegen der Kürze
der Zeit, sondern weil diese in mir selbst noch nicht ausgereift sind, will ich
mich indessen, wenn auch nicht auf die wichtigste, so doch die allgemeinste
Frage beschränken: welcher Kategorie der uns bekannten Phänomene diese
Doppelgestaltungstendenz eigentlich zuzusprechen wäre.
Wie Sie sahen, habe ich hier versucht, dieses Phänomen aus der Struktur
der Persönlichkeit und der Beziehung einzelner ihrer Anteile zueinander
abzuleiten. Derselbe Gesichtspunkt erweist sich aber auch als geeignet, die
eben aufgeworfene Frage zu beantworten.
Danach müßte die Doppelgestaltung der von Silberer zuerst beobachteten
und als „Autosymbolik“ bezeichneten Kategorie zugerechnet und etwa dem
noch lange nicht genügend aufgeklärten funktionalen Phänomen, aller¬
dings als die weitaus umfassendere Erscheinungsform desselben, zur Seite
gestellt werden. Denn, wie erinnerlich, hat Silberer die Autosymbolik gleich¬
falls durch zwei antagonistische Strebungen in der Persönlichkeit: den Schlaf¬
wunsch und die Selbstnötigung zum Denken erklärt, sohin, strukturell
gefaßt, aus dem Widerstreit zwischen Ich und Über-Ich abgeleitet.
Uber die frühkindlicke
Sexualität des Menschen im Vergleich mit der
Geschlechtsreife bei Säugetieren
Von
Max Levy~ Sukl
Berlin
I
Im Vorwort der vierten und fünften Auflage der „Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie“ (1920 und 1925) konnte Freud rückblickend feststellen,
daß, ungeachtet des wiederholt verkündeten Zusammenbruchs der psycho¬
analytischen Lehre, auch nach dem Weltkriege „die rein psychologischen
Aufstellungen und Ermittlungen der Psychoanalyse“ sich fortschreitender
Anerkennung und Beachtung, selbst bei prinzipiellen Gegnern, erfreuen.
„Das an die Biologie angrenzende Stück der Lehre“, fährt Freud fort,
„dessen Grundlage in dieser kleinen Schrift gegeben wird, ruft noch
immer unverminderten Widerspruch hervor“.
Inzwischen sind auch hierin unverkennbar Fortschritte erfolgt, nament¬
lich auch auf Seiten der Kinderheilkunde, in der Fried jung seit Jahr¬
zehnten als Vorkämpfer wirkte. Aber noch immer treffen wir in weiten
ärztlichen Kreisen — mehr noch fast als bei Laien — auf einen starken,
psychoanalytisch leicht verstehbaren Widerstand gegen die Anerkennung
eben jener biologischen Tatsachen. Insbesondere ist es das Sträuben gegen
Freuds Feststellung, daß das menschliche Kind etwa vom dritten bis zum
sechsten Lebensjahr von Triebregungen, Wünschen und Phantasien er¬
füllt ist, deren Inhalt wir beim Erwachsenen in den sogenannten Per¬
versionen wieder finden und der Sexualpathologie zuzurechnen pflegen.
(Das kleine Kind ist „polymorph-pervers“ veranlagt.)
Das Verstehen der psychoanalytischen Theorie und ihre praktische An¬
wendung ist aber undenkbar ohne die Erkenntnis und die Inrechnung¬
stellung gerade dieser biologischen Tatbestände. Daher wollen wir ver¬
suchen, durch den Hinweis auf andere unbestrittene biologische Tatsachen
den Zweiflern jene Behauptungen der Psychoanalyse leichter annehmbar zu
machen, den Stein des Anstoßes, den sie für viele bilden, aus dem Wege
zu räumen, wenigstens für die unter ihnen, die einigermaßen bereit sind,
auch subjektiv unlustvolle wissenschaftliche Ergebnisse in ihr geistiges
Blickfeld aufzunehmen. (Wenn wir bei einer solchen Betrachtung uns der
phylogenetischen Vergleichung bedienen, so dürfen wir uns auf die An¬
erkennung und die Fruchtbarkeit berufen, die dieses heuristische Verfahren auf
zahlreichen Gebieten der Physiologie und Biologie — ungeachtet der neuzeit¬
lichen Vorbehalte gegen das schematisch angewandte „biogenetische Grund¬
gesetz“ — aufzuweisen hat.)
II
Freud selbst hat an zahlreichen Stellen seiner Werke (insbesondere in
den „Vorlesungen") phylogenetische Hinweise zur Verständlichmachung
verwendet. Zur Erklärung der frühkindlichen menschlichen Sexualentwick¬
lung und ihrer nachfolgenden Latenzzeit bis zur Pubertät hat Freud
die Umwälzungen herangezogen, die die Eiszeit auf die Pflanzen- und
Tierwelt innerhalb großer Teile der Erde nachweislich ausgeübt hat. 1
Vorläufer des Menschen finden sich, wie die paläontologischen Befunde
beweisen, in unvollkommener Form bereits in den weiter zurückliegen¬
den Epochen der Tertiär zeit. Bevor die Eiszeit oder Eiszeiten der
Diluvialepoche — die erste Eiszeit wird auf 600.000 bis 55 0,000 J a ß re
v. Chr. geschätzt 2 — ihr Vernichtungswerk und die vielfach aufzeigbaren
anatomisch-physiologischen Umwandlungen in der Tierwelt ausübten, wurde
der homo sapiens in einzeitiger Entwicklung in einem für unsere heutigen
Begriffe sehr frühen Lebensalter geschlechtsreif. Nehmen wir ruhig und
mit dem Vorbehalt der hier zu gebenden Bestätigung an, daß die Geschlechts¬
reife etwa mit vier bis fünf Jahren vollendet war. Der heutige „erste
Ansatz" der Sexualität wäre hiernach ein phylogenetischer Nachklang, 3
eine stammesgeschichtliche Rückerinnerung, wie sie die entwicklungs¬
geschichtliche Forschung an zahlreichen anderen Erscheinungen kennt und
zum Verständnis gegenwärtiger Funktionen heranzieht.
Eine solche „Rekapitulation“ des einstigen Zustandes darf, wie auch sonst, nur
in unvollständiger abortiver Form vorausgesetzt werden. Und dies um so mehr, als
ja die sexuelle Entwicklung des menschlichen Kindes in der heutigen Kulturwelt
1) Vgl. unter anderem Plate: Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung.
Leipzig 1913*
2) Vgl. z. B. Olbrich: Klima und Entwicklung. G. Fischer. Jena 1923.
3) Die verschiedenen Formen der von Freud aufgezeigten frühkindlichen
Sexualität, insbesonders die orale, anale und genitale Stufe, hat vor allem Abraham
als abortive Wiederholung von phylogenetisch sehr weit zurückliegenden Vorbildern
zu erklären versucht. (Vgl. auch Freuds Hinweis auf die „Kloakentheorie“ der Kinder.)
Ich erwähne noch Sadgers vielfache Verwendung des Prinzips und die sehr
weitgehenden Hypothesen Ferenczis. Die Konversionssymptome hat neuerdings
Fenichel in diesem Sinne verständlich zu machen versucht.
Uber die frülrtindlidie Sexualität des McnsAe.i us ».29
Einschränkungen und Deformationen vom ersten Lebenstage ab unterworfen wird.
Der von der Psychoanalyse behaupteten Frühblüte der menschlichen Sexualität fehlen
demgemäß die Vorbedingungen der zweckhaften Verwendung der keimenden Triebe,
namentlich wegen der Unvollkommenheit der äußeren Zeugungsorgane wie des Ge¬
samtorganismus; ferner wegen des noch ganz unvollendeten Zusammenschlusses der
sexuellen Partialtriebe und mangels ihrer Gerichtetheit auf das physiologische Ziel
der Zeugung.
TTT
Wir wollen hier systematisch untersuchen, ob sich das Auftreten des Ge¬
schlechtstriebs beim Menschen in einem so frühzeitigen Alter wie es Freud
als ..ersten Ansatz“ darstellt, durch Vergleich mit anderen großen Säuge¬
tieren physiologisch stützen läßt, ob es theoretisch möglich erscheint, oder
ob das Auftreten der Sexualität in so unerhört jugendlichem Zustande aus
dem natürlichen Rahmen der Entwicklung der Säugetiere herausfällt.
I nsere Beweisfrage lautet demnach: Auf welcher Altersstufe (Lebens-
stufe) treten bei den verschiedenen Arten von Säugetieren durchschnittlich
Äußerungen des erwachten Geschlechtstriebs zutage, oder aber, um sicher
zu gehen, auf welcher Altersstufe tritt bei ihnen notorisch die Ge¬
schlechtsreife, d. h. Zeugungsfähigkeit auf?
Wir müssen dabei selbstverständlich die Altersstufe relativ nehmen,
also die Jahre der natürlichen Lebensdauer mit den Jahren der Geschlechts¬
reife in Vergleich setzen. Dabei wollen wir für den Menschen das biblische
Alter von siebzig Jahren an setzen.
Die Zahl der mir zugänglichen sicheren Feststellungen der Altersstufe
der Geschlechtsreife und zugleich der Lebensdauer größerer Säugetiere ist
nicht hoch. Sie reicht aber völlig aus für den Zweck unserer Abhandlung,
die erwähnten theoretischen Zweifel zu widerlegen.
Wir schicken zunächst eine allgemeinere Darstellung über die Ent¬
wicklung der Sexualität der Säugetiere voraus, und zwar aus einer
der psychoanalytischen Voreingenommenheit völlig unverdächtigen Quelle.
Es ist das Lehrbuch von R. Schmältz, 1 das ich bereits an anderer Stelle 2
in gleichem Sinne verwendet habe.
Hiernach tritt beim Pferde, „dessen gewöhnliche Altersgrenze . . . auf
etwa dreißig Jahre angenommen werden kann, obwohl es vierzig Jahre und
darüber leben kann“, schon mit Ablauf des ersten Lebensalters bei beiden
1) R. Schmaltz: Das Geschlechtsleben der Haussäugetiere. 3. Aufl. Richard
Schoetz, Berlin 1921. S. 121 ff.
2) M. Levy-Suhl: Die seelischen Heilmethoden des Arztes. F. Enke, Stuttgart 1950.
Geschlechtern Geschlechtsreife ein. Es wurden Säugefüllenhengste be¬
obachtet, die Erektionen hatten und die Mutter damit „quälten“. „Auch
von Oettingen betont, daß gleich nach dem Absetzen die Geschlechter
getrennt werden müssen, da Deckversuche bei gut genährten sechsmonatigen
Hengstfohlen ganz gewöhnlich seien ...“ „Bei Rindern ist der Eintritt der Ge¬
schlechtsreife bei beiden Geschlechtern nach Ablauf des ersten halben
Jahres in Einzelfällen erwiesen, bei frühreifen weiblichen Tieren im Alter
von sechs bis neun Monaten häufiger beobachtet . . vom Schwein ge¬
wisser Rassen heißt es: „Schon mit zehn bis zwölf Wochen fängt der junge
Eber an, auf anderen Ferkeln zu ,reiten 4 , was als Erwachen des Ge¬
schlechtstriebes angesehen werden muß, gewöhnlich ist er zuchtfähig nach
Ablauf des ersten Jahres“. Beim Rotwild wird nach demselben Autor die
schon im ersten Jahre mögliche Sexualbetätigung der Spießerchen und
Spießer durch die gewalttätige Alleinherrschaft des alten Hirsches verhindert.
Einige an gleicher Stelle sich findenden tierheilkundigen Beobachtungen über die
Sexualität mögen, wenn sie auch nicht ganz zu unserem Thema gehören, wegen des
hohen psychoanalytischen Interesses angefügt sein.
Von der Sexualität der Säugetiere heißt es allgemein, daß sie sich beim Männchen
häufig sehr früh verrate, und zwar bevor noch Spermabildung anzunehmen ist. Es
zeigt nämlich ein Benehmen, das „vielleicht einer noch unbewußten Regung entspringt,
wie sie beim Vorhandensein einer zentralen Anlage (sc. Gehirn, Geschlechtssinn-
Anlage) ganz erklärlich ist“. Es sei gewissermaßen ein „Einspielen in den Trieb“.
Als Beweis gilt dem Autor dafür die Erregung des Männchens durch das Weibchen.
Die Brunst der Kühe ist daran erkennbar, daß sie — ungedeckt — aufeinander
steigen, auf der Standwand reiten, sich gewisse Berührungen gerne gefallen lassen,
wobei die der Klitoris natürlich nicht typisch, sondern natürlich sei, dagegen auf¬
fälliger z. B. das Waschen des Euters und die Einführung des Thermometers in den
After (S. 157).
Der brünstige Ziegenbock steigert sich durch erregtes Urinlassen, den er fort¬
während ausspritzt, bis zur Erektion. Dann „richtet er den Strahl so, daß er ihn mit
dem Maule auffangen kann, wobei seine Erregung sich immer mehr steigert“. Er be¬
rauscht sich selbst an seinem eigenen Urin. (S. 162)
IV
In der folgenden tabellarischen Zusammenstellung 1 sind die in ihrem
Lebensalter und in der Sexualreife außerordentlich verschiedenen Affen¬
arten, soweit diese Daten überhaupt zuverlässig bekannt sind, nicht be¬
rücksichtigt.
1) Nach „Brehms Tierleben“, 4. Aufl., 1924—1927? R. Schm alt z, 1 . c. und Tabulae
biologicae, hsg. von W. Junk, Berlin.
Uber die frühkincllicLe Sexualität des Menschen usw. 3l
Lebensdauer Eintritt der Geschlechts¬
in Jahren reife in Jahren
Mensch. 70 5
Pferd. 50 1
Esel (zahm) ... 40 gilt im 2. Jahr als „erwachsen“
Hausrind. 20—30 1V2— 2
Wildschwein . . 20—30 P/2
Schwein.18 und mehr 5—6 Monate
Haushund . . . . 15—20 9—10 Monate
Nilpferd. 40 im 2., spätestens 3. Jahr
Kamel. etwa 35 etwa 3
Ziege. etwa 20 7—9 Monate
Unter Hochwild etwa 20 iV 4 — 1 1 / 2 Jahr
Ganz aus drin Rahmen fällt die Altersstufe der Geschlechtsreife des
Elefanten. Sie entspricht in auffälliger Weise der Pubertät des
Mensc hen, nämlich bei einem Lebensalter von achtzig bis hunderzwanzig
Jahren der gezähmten und Arbeitstiere: sechzehn Jahre beim Weibchen,
zwanzig Jahre beim Männchen; nach einer anderen Angabe noch später.
Hiervon zunächst abgesehen, ergibt sich somit, daß der von Freud be¬
hauptete und phylogenetisch erklärte erste Ansatz der menschlichen
Sexualität im Alter von etwa zwei bis fünf Jahren durchaus der Alters¬
stufe gemäß ist, in der die Natur noch heute zahlreiche große
Säugetierarten geschlechtsreif und zeugungsfähig werden läßt.
V
Freuds Entdeckung erhält von einer anderen neuartigen entwicklungs¬
geschichtlichen Theorie aus, ebenfalls in völliger Unabhängigkeit von der
Psychoanalyse, eine überraschende Bestätigung. Es ist die hormonale Hem¬
mungtheorie des holländischen Anatomen L. Bolk. 1 Nach ihm müssen
wir annehmen, daß die „Urvorfahren des heutigen Menschen, die
l rhominiden, im fünften Lebensjahr geschlechtsreif wurden“
(S. 24). Es sind nach ihm sogenannte „Retardierungs- und Fetalisierungs-
vorgänge“, die zu dem Hinausschieben der sexuellen Reifung des Menschen
bis zu dem heutigen Pubertätsalter geführt haben, und die er überhaupt
als das Charakteristische des homo sapiens erkennt. Einen Beweis dafür
sieht er m der merkwürdigen, spezifisch menschlich en, starken Diskrepanz
1/1 L 1 ®°lk ; Das Problem der Menschwerdung. G. Fischer. Jena 1026. Den Hin¬
weis auf dieses Buch verdanke ich G. Bally.
der Entwicklung des „Germa“ und „Soma“. Unverkennbar läßt sich dieses
beim weiblichen Menschen aufzeigen. „Das weibliche Germa ist, wenn
das Mädchen vier oder fünf Jahre alt ist, substantiell fertig.“ Nach dem
Handbuch von Reibe 1 und Mall ist nämlich das Ovarium mit drei Wochen
17 mm lang, 5 mm breit; mit ein drei viertel Jahren 20 mm beziehungs¬
weise 7 mm; mit vier Jahren 27 mm beziehungsweise 12 mm; mit vier¬
zehn Jahren eher etwas kleiner, nämlich 26 mm beziehungsweise 12 mm.
„Es tritt also“, wie Bolk sagt, „ungefähr im fünften Jahre eine
Ruhepause ein; die Funktion darf noch nicht anfangen, da das Soma
der Konsequenz dieser Funktion, der Konzeption, noch lange nicht ge¬
wachsen ist. Es muß eine Kraft im Organismus vorhanden sein, die sich
diesem In-Funktion-Treten entgegensetzt . . .
Unschwer erkennen wir hierin den biologischen Unterbau der
Freudschen Lehre von der frühkindlichen Phase der Sexualität und der
sich daran anschließenden Latenzzeit.
VI
Versuchen wir schließlich, eine Erklärung für die dem Menschen analoge
späte Pubertät des Elefanten zu geben. Diese Tatsache widerlegt zwar
Bolks Annahme von der Einzigartigkeit der menschlichen Entwicklung in
der gesamten Tierwelt, aber sie bringt uns zugleich eine neue Bestätigung
für Freuds Eiszeiterklärung:
Die Elefanten sind nämlich eine Tierart, die auch in anderer Hin¬
sicht „in der heutigen Säugetierwelt“, wie L. Heck sagt, „vollkommen
allein steht. Wenn man ein lebendiges Säugetier anführen will, von dem
heute keinerlei nähere Verwandte mehr leben, so darf man nicht etwa
an den Menschen denken, sondern man muß den Elefanten nennen.
Elefantenblut gibt mit keinem andern Säugetierblut im Reagensglas eine
Verwandtschaftsreaktion.“ (Brehm, S. 526.) Daß diese auch in paläontologischer
Betrachtung sehr eigenartige Tierform die gleiche Hinausschiebung der
sexuellen Reife hat wie der heutige Mensch, läßt auf gemeinsame äußere
Ursachen schließen. Während die Mammutformen und andere Vorstufen des
Elefanten, wie insbesondere das „altterziäre eozäne Moristier“ (Brehm,
S. 579), untergingen, hat sich die neue Art der heutigen Elefantenfamilie
mit ihrer charakteristischen Spätpubertät erst in der Eiszeit entwickelt.
Es ist offenbar der gleiche Anpassungsversuch der Natur, der diese einzig¬
artigen Tiere und den damaligen Menschen zu der starken Retardierung
Über die frühkindlidie Sexualität des Mengen usw.
der 1 ortpflanzungsreife veranlaßte und damit zu dem zweizeitigen Ansatz
dir menschlichen Sexualität führte. 1 — Für eine tiefere Begründung dei
wundersamen Übereinstimmung müßten uns die zuständigen natur wissen-
s( haftlichen Disziplinen oder ein paläontologisch gebildeter Analytiker zu
Hilfe kommen.
i Daß etwa auch der Elefant einen atavistischen ersten Ansatz der Sexualität
habe, ist nicht zu erwarten. Von anderen Faktoren abgesehen, ist er nach Heck
eine selbständige Tierart und nicht als unmittelbare Fortsetzung der in der Eiszeit
untergegangenen Mammute anzusehen.
Imago XIX.
5
Die platonische Liebe
Von
Hans Kelsen
Köln
I. Eros
Inhalt: § 1. Das Erosproblem in der Platonforschung. — § 2. Der homosexuelle Eros. — § 3.
Platons Verhältnis zu seiner Familie. — § 4. Platons Stellung zur Frau: a) „Philebos“ und „Timaios“,
b) „Politeia“, c) Der Mythos des „Politikos“. —■ § 5. Der knabenliebende Eros: a) „Charmides“ und
„Lysis“, b) „Phaidros“, c) „Politeia“. - § 6. Die Päderastie in Griechenland: a) Der dorische Kultur¬
kreis, b) Das Verhältnis von Religion und Dichtung zur Knabenliebe, c) Die Stellung der Philosophie,
insbesondere Xenophons, d) Die antipäderastische Tendenz der Strafgesetzgebung und der Moral,
e) Zeugnisse aus Platons Schriften. — § 7. Platons Konflikt mit der Gesellschaft. — § 8. Platons Ideal
der Keuschheit: Sokrates. — § 9. Der platonische Pessimismus. — § 10. Die optimistische Wendung: Das
Bekenntnis zum Eros: a) „Lysis“, .b) „Symposion“, c) Der Erosmythos des Aristophanes, d) Die Liebes-
lehre der Diotima.
§ 1. Das Erosproblem in der Platonforschung. Mehr noch als jedes
andere geistige Schaffen ist das der großen Ethiker verwurzelt in ihrem
persönlichen Leben, entspringt alle Gut-Böse-Spekulation — und Platons
Philosophie ist im wesentlichen als eine solche zu verstehen 1 — aus dem
den ganzen Menschen erschütternden ethischen Erlebnis. Und so ist auch
das gewaltige Pathos, von dem das Werk Platons getragen wird, sein
tragischer Dualismus und die heroische Anstrengung, ihn zu überwinden,
zutiefst gegründet in dem besonderen Charakter dieser philosophischen In¬
dividualität, in der Eigenart ihres Schicksals und der dadurch bedingten,
höchst persönlichen Einstellung zum Leben. Die Linie des platonischen
Lebens aber wird grundlegend bestimmt durch die Leidenschaft der Liebe,
durch den platonischen Eros. Das Bild, das wir uns vom Menschen
Platon aus den von ihm hinterlassenen Dokumenten machen können,
zeigt nicht eine kühl-kontemplative Gelehrtennatur, die ihr Genügen daran
findet, die Welt erkennend zu erleben, keinen Philosophen, dessen Sinnen
und Trachten nur darauf gerichtet ist, das Getriebe des menschlichen wie
außermenschlichen Geschehens zu schauen und zu durchschauen, die ver¬
wirrende Fülle des Gegebenen klärend zu erklären; sondern eine von den
gewaltigsten Affekten erschütterte Seele, in der — verschwistert mit ihrem
Eros, von diesem nicht zu scheiden — ein nicht zu unterdrückender Wille
zur Macht, zur Macht über Menschen lebt. Menschen liebend zu bilden,
bildend zu lieben und ihre Gemeinschaft als eine Liebesgemeinschaft zu
gestalten, ist die Sehnsucht dieses Lebens, die Form des Menschen und die
U Dies werde ich in einer demnächst zu publizierenden ausführlichen Unter¬
suchung aufzeigen. Dieser ist die folgende Darstellung entnommen.
Die platonische Liehe 35
Reform seiner Gemeinschaft sein Ziel. 1 Darum nimmt sein Denken sich nichts
anderes so sehr zum Gegenstand, wie die Erziehung und den Staat. Und darum
wird ihm zum höchsten Problem: das Gute, die Gerechtigkeit, die die einzige
Rechtfertigung für die Herrschaft von Mensch über Mensch, die einzige Legiti¬
mation der Paideia nicht weniger als der Politeia ist. Aber die pädagogisch
politische Leidenschaft Platons strömt aus der Quelle seines Eros. Ist einmal
erkannt, daß von diesem Eros die Dynamik des platonischen Philosophierens
ausgeht, dann darf man auch vor der Eigenart dieses platonischen Eros nicht
die Augen verschließen. Denn die Eigenart dieses Eros ist es, die Platons
persönliches Verhältnis zur Gesellschaft im allgemeinen und zur athenisch-
demokratischen Gesellschaft im besonderen, die seine Flucht vor dieser Welt
und zugleich seine Sehnsucht bestimmt, sie gestaltend zu beherrschen. Die
Besonderheit dieses Eros ist es, die den platonischen Chorismos und zugleich
i!> n Drang erklärt, ihn zu überwinden. Ohne diesen besonderen Eros ist
weder der Mensch noch sein Werk zu verstehen.
Dieser Eros, der in Platons Leben und Lehre die entscheidende Rolle
spielt, ist nicht das Gefühl, an das man zunächst zu denken pflegt, wenn
von Liebe die Rede ist; ist nicht die körperliche und seelische Anziehung,
die Wesen verschiedenen Geschlechts miteinander verbindet, die das Männ¬
liche zum Weiblichen, die Frau zum Manne drängt, und in der wir ein
Grundgesetz alles Lebens erkennen müssen. Der platonische Eros ist gleich¬
sam eine Ausnahme von diesem Gesetz, eine Abweichung von der die große
Masse der Menschen beherrschenden Norm. Er ist die Liebe zwischen gleich¬
geschlechtlichen Wesen, er ist im besonderen der Trieb, der den Mann zum
Manne treibt und der in der antiken Welt in gewissen gesellschaftlichen
Schichten als Knabenliebe (jtaiöeQaaua) verbreitet war. Es ist ja noch nicht
allzu lange her, daß man den Mut gefunden hat, jener falschen Prüderie
entgegenzutreten, die den platonischen Eros nicht anders denn als eine
Metapher für den Drang zur Philosophie deuten zu dürfen glaubt. 2 Aber
1) Vgl. dazu Kurt Singer: Platon der Gründer. 1927. S. 159.
2) Vgl. etwa Zeller: Die Philosophie der Griechen, II, 5. Aufl., S. 610, oder
Hob in: La th^orie Platonicienne de l’amour, Paris 1908: „ Neanmoins il est bien certain
que l'amour des jeunes-gens dut lui sembler plus voisin qu'aucun autre de Vamour philo sophi que,
pourvu que les inspirations auxquelles il donne Heu conservent un caractere tout moral et n’aient
nen de commun avec la passion sensuelle. La grande raison qui fit preferer Phomme ä la femme ?
c cst 9 ue Pimmaterialite de cet amour , qui est tout ideal quand il est ce qu’il doit etre , c’est que
le culte de la Science , qui en est le moyen , et la connaissance du bon et du beau , qui en est la
fi n , ne permettent guere qu’il se developpe qu'entre deux philosophes , Pun maitre , Pautre disciple.
'.Manuel de Philos. anc., II, 104, e). Au reste le seul amour des jeunes-gens auquel les Lois
consentent ä faire place dans la eite est celui qui a la vertu pour but et qui vise ä rendre
3
36 Hans Kelsen
es ist freilich auch nicht allzu lange her, daß wir den homosexuellen Eros
richtiger verstehen gelernt haben. Der modernen, auch in die Tiefe des
Unbewußten dringenden Seelenforschung verdanken wir die Einsicht, daß
der Gegensatz von gleich- und andersgeschlechtlicher Liebe keineswegs so
schroff ist, wie man bisher geglaubt hat, daß in den Abgründen jedes
Menschenherzens unter der manifesten Schichte der heterosexuellen auch
die homosexuelle Libido schlummert; und daß schon darum allein den
sogenannten Normalen vom sogenannten Abnormalen keineswegs jene Kluft
trennt, die zu der empörten Verachtung des einen durch den anderen, die
den Normalen berechtigen würde, den Abnormalen zu verabscheuen. Eine
mit feineren Methoden arbeitende Psychologie und Charakterologie lehrt
uns, daß es gerade das Bewußtsein normwidriger Veranlagung ist, dem die
stärksten sittlichen Antriebe entspringen. Und die biographische Forschung
zeigt uns in zunehmendem Maße die sexuell abnormale Veranlagung der
größten Genies. Schon ein Blick in die Jugendentwicklung gerade der
bedeutendsten Persönlichkeiten kann darüber belehren, wie vorsichtig man
in der ethischen Beurteilung erotischer Abweichungen sein muß, wie wenig
man die sexuelle mit der sittlichen Norm identifizieren darf. Und obgleich
es heute schon eine Selbstverständlichkeit sein sollte, daß man die schuldige
Ehrfurcht vor einem ganz Großen im Reiche des Geistes auch nicht im
entferntesten verletzt, wenn man sich um Verständnis für seinen Eros be¬
müht, weil ohne diesen Eros kein Verständnis seiner Persönlichkeit und
ohne dieses kein volles Verstehen seines Werkes möglich ist, und obgleich
es sich heute nicht minder von selbst verstehen müßte, daß es der Größe
und VerehrungsWürdigkeit einer historischen Persönlichkeit keinerlei Ab-
meilleur celui qui en est Vobjet (VIII, 837 B—D). En resume, Vamour tel que le comprend
Platon c’est un amour dans lequel la passion n'a point de part: qu'il ait son origine dans
Vemotion qui donne naissance ä Vamour charnel , soit tel que le veut la nature 7 soit tel que
Va fait la depravation des mceurs 7 ce n'en est pas moins tout autre chose. C est un amour
qui , detoume des objets sensibles accoutumes, tend seulement vers la Science et vers la vertu ,
ce qui , d'ailleurs , 7 Vest pour lui qu'un seul et meme but Ferner C. Ritter, Platon,
sein Leben, seine Schriften, seine Lehre, 1910—1923. L 170: „Jedenfalls verdammt
Platon aufs schärfste alle widernatürlichen Laster, namentlich die Päderastie in
dem schlimmen Sinne eines unkeuschen sinnlichen Verhältnisses, in dem das Wort
gewöhnlich von uns verstanden wird, obwohl es, wie jeder Leser des Symposion
und Phaidros wissen kann, auch eine ganz andere Bedeutung des Wortes gibt, die
für das Verhältnis des Sokrates oder des Platon zu ihren Schülern zutrifft: die Be¬
deutung eines auf gleiches wissenschaftliches und sittliches Streben gegründeten Zu¬
sammenschlusses von Älteren und Jüngeren zum Zweck gegenseitiger Anregung und
Förderung.“ Vgl. dagegen Kurt Hildebrandt: Übersetzung von Platons Gastmahl
(Philosoph. Bibliothek, Bd. 81, 2. Aufl.), Einleitung, S. 32.
Die platonische Liehe 3^
bruch tun kann, wenn man erkennt, daß ihr Eros nicht den allgemeinen
Weg allen Fleisches gegangen ist, so hat man doch auch in jenen Kreisen,
die das größte Verdienst um eine richtige Deutung des Eros und damit des
ganzen Werkes Platons erworben haben, noch immer nicht volle Klarheit
über die Eigenart dieses Eros geschaffen und darum auch noch nicht das
letzte Verständnis für wesentliche Punkte der platonischen Lehre gewonnen.
Zwar daß Platon Liebe, die wirkliche Liebe und nicht etwas von ihr Wesens¬
verschiedenes meint, wenn er von Eros spricht, das wird von dieser neuesten
Platoninterpretation mit Nachdruck betont. Und so hat sie auch entdeckt, daß
dieser Eros die Wurzel der ganzen platonischen Philosophie ist. Aber doch
spricht man auch in diesen Kreisen nur recht allgemein von dem platoni-
sc hen Eros, ohne seine — hier zweifellos erkannte — Besonderheit ins
f i< ht zu rücken. Und da man von dieser Seite mehr auf eine Apotheose
als auf (‘ine objektiv-kritische Deutung Platons und insbesondere seiner
sozialen Theorie abzielt, bleibt diese dort im Dunkel, wo ihr Verständnis
sich nicht aus dem Eros überhaupt, sondern nur aus der Besonderheit des
platonischen Eros ergibt. 1
.f 2 . Der homosexuelle Eros . Denn gerade für das Verhältnis zur Gesell¬
schaft ist eine homosexuelle Anlage von der größten Bedeutung. Das Bewußt¬
sein des „Andersseins als die anderen“ drängt in eine schmerzvolle Isolierung
und damit von vornherein in einen gewissen feindlichen Gegensatz zu der
für die eigene Art verständnislosen Gesellschaft, die diese besondere Gestalt
des Eros nicht nur verachtet, sondern seine Äußerungen in der Regel unter
staatliche Strafe stellt. Die mit der sexuellen Norm Widrigkeit bald mehr,
bald weniger verbundene Verletzung auch der rechtlichen Norm, ja schon
das Bewußtsein des Triebes zu solcher Rechtsverletzung erzeugt das Gefühl
von Schuld und Minderwertigkeit, drängt zu einer pessimistischen Welt¬
anschauung und schafft so den Boden für die Sehnsucht nach persönlicher
Erlösung. Viel stärker noch als in dem normalen Eros ist in der homo¬
sexuellen Liebe von Mann zu Mann neben dem Wunsch sich unterordnender,
ja sich verlierender Hingabe der Wille zur Herrschaft über das geliebte
Wesen lebendig, zur Macht über Menschen überhaupt. Und so ist es die
Eigentümlichkeit dieses Eros, daß er zwiespältig, ebenso wie gesellschafts-
i) für diese Art der Platondeutung besonders charakteristisch und tonangebend:
einrich Friedemann: Platon. Seine Gestalt. Berlin 1914. Eine übersichtliche Dar-
steUung dieser Richtung bietet Franz Josef Brecht: Platon und der George-Kreis.
f ? aS Erb * der ^ten. Schriften über Wesen und Wirkung der Antike. Zweite Reihe.
Gesammelt und herausgegeben von Otto Immisch. Heft XVII.) Leipzig 1929.
feindlich, ja weltverneinend, zur Flucht vor der sozialen Welt, so auch
umgekehrt nach einer erhöhten Stellung in der Gellschaft, nach Macht
und Herrschaft über sie und so zur Überwindung des Gegensatzes zu ihr,
des pessimistischen Dualismus überhaupt, drängt. Das Schuld- und Minder¬
wertigkeitsgefühl wird durch ein von sozialem Ehrgeiz gesteigertes Selbst¬
bewußtsein kompensiert, ja überkompensiert. Es ist gerade der politische
Trieb und die ihm verwandte pädagogische Leidenschaft, die in dieser
seelischen Atmosphäre besonders gedeihen; aus der eben darum auch das
Bedürfnis nach Rechtfertigung und damit das ethische Problem, die Frage
nach der Gerechtigkeit hervorgeht, die die Legitimation der Herrschaft ist.
In einer besonderen Spielart zeigt dieser Charaktertypus eine starke
Bindung an den Vater und die Brüder, Gleichgültigkeit, ja feindliche Ein¬
stellung gegen die Mutter. Mitunter liegt gerade in der Beziehung zur
Mutter die Wurzel der sexuellen Perversion. Der nicht überwundene Inzest¬
wunsch läßt den Liebenden in jedem Weibe nur die Mutter lieben und drängt
daher überhaupt vom Weibe ab und dem eigenen Geschlechte zu. 1 Morali¬
sche Motive erzwingen dann immer wieder einen Verzicht auf Befriedigung
des pervertierten Triebes; und diese seelische Situation liefert der melancholisch¬
depressiven Komponente des Charakters, dem durch das hypertrophisch ge¬
steigerte Selbstbewußtsein nie ganz kompensierten Gefühl der Minderwertig¬
keit und damit seiner Neigung zu pessimistischer Weltanschauung stets neue
Nahrung. Dabei ist häufig ein gewisser Infantilismus zu beobachten. Es ist
ein Nichthinauskönnen oder Ni chthin aus wollen über eine bestimmte Stufe
jugendlicher Erotik. Der „ewige Jüngling ist oft nur ein solcher, der nicht
wagt, erwachsen zu sein, der sich den Erwachsenen nicht gewachsen fühlt, und
eben darum seinen Wunsch, über Menschen zu herrschen, anderen seinen
eigenen Willen aufzuzwingen, auf ein Objekt ablenkt, das er aus irgend¬
welchen Gründen für tauglicher hält. Er will in der Knabensphäre bleiben
und, da er herrschen will, Lehrer werden, erziehen. Der pädagogische Trieb
ist sehr häufig nur ein in bezug auf das Objekt sich dem Subjekt an¬
passender Wille zur Macht. Knabenliebe und Knabenzucht bleiben der Inhalt
solchen Lebens, das sich seine eigene Situation dadurch ideologisch verhüllt,
daß es die Welt der Erwachsenen als für zu verdorben erklärt, um über¬
haupt noch reformiert werden zu können. Erhebt sich aber solche Haltung
über den Bereich des bloß Pädagogischen ins allgemein Politische, dann zeigt
sie ausgesprochen konservative, ja reaktionäre Tendenz. Die Vergangenheit:
1) Vgl. O. Rank: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. 1912, S. 274 f.; Lager¬
borg: Die platonische Liebe. 1926, S. 79, 250.
Die platonische Liehe_9
das ist für den vom Schuldgefühl Gequälten und davon selbst bei Gewinnung
stärksten Selbstgefühls niemals ganz Befreiten die reine, vom Vater behütete,
schuldlose Kindheit. Nur die Erinnerung, das ist die Erinnerung an le
eigene Kindheit, ist gut und schön und trostreich. Wieder Kind werden,
zurück zur Kindheit, zurück zum Vater oder den Vätern, der väterlichen Sitte,
die Wiederaufrichtung der väterlichen Autorität, darauf kommt es auch
politisch an. Wie denn auch eine ausgesprochen aristokratisch-konservative,
antidemokratische Grundeinstellung sich aus dieser Art des Eros ergibt.
Die Eigenart des Homosexuellen muß Ausnahme bleiben, kann und darf
nicht allgemeine Regel werden, wenn nicht die Gesellschaft zugrundegehen
weil mssterben) soll. Es muß also ein soziales Schema postuliert werden,
licht den Grundsatz des gleichen, sondern des ungleichen Rechts dar¬
stellt. es m uß ein Sonderrecht, weil eine Sonderstellung für die wenigen,
geben, die anders sind als die vielen, und die, sofern sie ihr Minderwertig¬
keitsgefühl überwinden und sich überhaupt positiv zur Gesellschaft ein¬
stellen, dies nur in der Weise tun können, daß sie sich besser als die anderen
dünken, sich für wertvoller als die große Menge halten. Dem homosexuellen
Eros kann, angesichts der fundamentalen Ungleichheit, die er mit seiner
Existenz beweist, nichts verhaßter, nichts widernatürlicher, nichts unge¬
rechter scheinen, als die Gleichheit der Demokratie. Und so wie er auf
der einen Seite zu einer durchaus konservativen, ja reaktionären Gesinnung
neigt, so muß er sich doch auch auf der anderen Seite — zwiespältig und
in sich widerspruchsvoll —, sofern er nach Gerechtigkeit sucht, von allen
ihren Formulierungen gerade zu jener am meisten hingezogen fühlen, die
— ganz revolutionär — alles Heil nur von einer völligen Umkehr erwartet.
Mag das nun die innere Umkehr seelischer Wandlung, mag das die radikale
Umkehrung der bestehenden gesetzlichen Verhältnisse sein, wonach die Ersten
die Letzten und die Letzten die Ersten, oder gerade die zur Herrschaft berufen
sein werden, die man jetzt dafür für völlig ungeeignet hält: die Philosophen.
§ Platons Verhältnis zu seiner Familie . Was wir aus dem Leben Platons
wissen, ist wenig, und das wenige ungewiß. Sein eigentlicher Name war
Aristokles. Den Beinamen „Platon“, unter dem er in die Unsterblichkeit
eingegangen ist, hat er wegen seines breiten Körperbaues erhalten. Sein
Gesicht darf man sich auf Grund der erhaltenen Überlieferung vielleicht üppig,
seine Züge weich, ja weichlich vorstellen. 1 Seine Stimme, so wird berichtet,
soll dünn und schwach geblieben sein; was wohl mit ein Grund für seine
1) Ritter, a. a. O. S. 180.
4 o
Hans Kelsen
Abneigung gegen den Rednerberuf gewesen sein dürfte. 1 Von seiner Gemüts¬
art berichtet Aristoteles, 2 er sei ein Melancholiker gewesen. 3 4 Nicht einmal
in seiner Jugend habe man ihn übermäßig lachen sehen, erzählt Diogenes
Laertios, 4, dem wir auch diese Verse des Komikers Dexidemides verdanken:
„O Platon, daß du doch ewig finster blickst und sonst nichts kennst,
Der Schnecke gleich die Brauen runzelnd feierlichst.“
„Traurig wie Platon“ war denn auch ein schon im Altertum geflügeltes
Wort. 5 Aber diese Melancholie, deren dunkle Schatten sich immer wieder
auch auf sein Werk herabsenken, sie weicht immer wieder einem aufs
höchste gesteigerten Enthusiasmus, der nicht minder deutlich aus seinen
Dialogen hervorleuchtet. Und gerade dieser Wechsel verleiht dem Ganzen
der platonischen Philosophie einen überaus jugendlichen Charakter. 6 Von
Platons Familienverhältnissen ist bekannt, daß er einem sehr wohlhabenden
Hause entstammte. Den Vater, einen, wie es scheint, stillen und zurück¬
gezogenen Mann, hat Platon schon in früher Jugend verloren. Man darf
vermuten, daß er ihn sehr geliebt hat. Noch als Mann gedenkt er seiner
in Verehrung, denn seine beiden Brüder Glaukon und Adeimantos, Teil¬
nehmer an dem Dialog „Politeia“, läßt er hier von Sokrates — das Gedicht
eines Liebhabers Glaukons zitierend — mit den Worten apostrophieren:
1) Diogenes Laertios III, 4/5. Vgl. Karl Steinhart: Platons Leben (Platons sämt¬
liche Werke, übersetzt von Hieronymus Müller, mit Einleitungen begleitet von Karl
Steinhart. IX. Bd., 1873, S. 69 und 72.
2) Aristoteles: Problemata XXX.
3) Pohlenz: Aus Platons Werdezeit, 1913, S. 129, bemerkt dazu, daß die Melan¬
choliker, zu denen Aristoteles den Platon rechnete, nicht etwa unsere Melancholiker
seien. „Es sind jreQiTtol dvÖQ£<;, bei denen die schwarze Galle in der Mischung der
körperlichen Säfte überwiegt und eine Neigung zur Anormalität bedingt, die zum
Genie wie zum Irrsinn führen kann und sich beim einzelnen Menschen in starkem
Stimmungswechsel äußert. Daß Platon solchem Stimmungswechsel unterlag, das können
wir noch bei so manchen seiner Schriften feststellen.“ Platon scheint jenem Typus
angehört zu haben, den man heute als „manisch-depressiv“ bezeichnet.
4) Diogenes Laertios III, 26, 28.
5) Lagerborg, a. a. O. S. 81.
6) Vgl. dazu Lagerborg, a. a. O. S. 180 ff., 196 ff.; Spranger: Psychologie des
Jugendalters, S. 193. „Aber für die Jugendpsychologie ist im besonderen hinzuzufügen:
auf dieser Entwicklungsstufe sieht man gleichsam noch den jenseitigen Ursprung
der Idee; sie lebt noch ein vom Erfahrungsstoff losgelöstes Leben, unbeirrt von all
den kleinen Nuancen und Kompromissen, die sich durch Anwendung auf einen be¬
stimmten Kulturzustand ergeben. Das xcdqG; der Idee (das Abgesondertexistieren), das
in Platons mittlerer Periode so stark betont wird, entspricht daher im höchsten Maße
der Jugendstruktur des Geistes. Platons Philosophie ist eine jugendliche Philosophie.“
Lagerborg meint (a. a. O. S. 196), Platons Gemütsart sei gekennzeichnet durch eine
„wiederholte Pubertät“.
Die platonische Liehe 4 1
„Sühne Aristons, göttlich Geschlecht eines ruhmvollen Mannes. 1 Viel be¬
zeichnender aber noch ist, daß er an einem der Höhepunkte dieses Werkes,
dort, wo er die Frage nach dem Wesen des Guten bis zur äußersten Grenze
des noch Aussprechbaren verfolgt, die für alle Metaphysik des Guten charakte¬
ristische Verdoppelung desselben nicht anders und nicht besser auszudrücken
weiß als in dem Gleichnis des Verhältnisses von Vater und Sohn. Nur vom
Sohne des Guten könne er sprechen, nicht aber vom Guten selbst, dem
Vater, der liier sichtlich schon Gott selbst ist. 2 * Gerade den Vater aber ver¬
sucht der Mythos, der sich Platons Gestalt schon sehr bald nach seinem
Tode bemächtigte, beiseite zu schieben. Der Held und Heiland hat keinen
doch keinen irdischen Vater. Und so ist denn auch (gar nicht lange
nach Platons Tod) in Athen die Rede gegangen, der Philosoph sei von
^•iner Mutter in unbefleckter Empfängnis gezeugt worden. Nicht Ariston,
sondern der Gott, Apollon, sei der wahre Vater .3 Das Verhältnis zu den Brüdern
scheint gut gewesen zu sein, ganz besonders zum jüngeren. 4 Platon zeigt
das Bestreben, das Andenken der männlichen Angehörigen seiner Familie
in seinen Werken zu erhalten. Auch seinen Halbbruder Antiphon hat er
in „Parmenides“) verewigt. Was um so auffallender ist, da Platon die
Familie, das ist die auf der Geschlechtsverbindung von Mann und Frau
beruhende Gemeinschaft in seinem Idealstaat radikal aufhebt. 5 Für einen
seiner Onkel, den glänzenden Kritias, hegt er schwärmerische Verehrung. 6
Eine Frau dagegen hat in Platons Leben keine Rolle gespielt. 7 Nicht einmal
das Verhältnis zu seiner Mutter Periktione, die in zweiter Ehe den Politiker
Pyrilampes heiratete, hat in seinen Werken eine Spur hinterlassen. Es wäre
denn, daß man Wilamowitz-Moellendorff glaubt 8 und in der einzigen Frau,
die Platon geschildert, dem ehrgeizigen Weibe, das er im VIII. Buch der
Politeia beschreibt, 9 ein Porträt der Mutter Platons erblickt. Da ist von
einem Jüngling, „dem Sohne eines trefflichen Vaters“, die Rede, der, weil
er „Bürger eines nicht wohlgeordneten Staates ist“, „Ehrenämter, Rechts-
1) Politeia II, 10 (368 St.). Vgl. dazu auch Wilamo witz-M o ellendorff, Platon,
2. Aufl. 1920, I, S. 37 ff.
2) Politeia VI, 18 (506/07 St.).
5) Diogenes Laertios III, 2. Vgl. auch Steinhart: Das Leben Platons. S. 45.
4) Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, a. a. O. S. 37.
5) Vgl. Theodor Gomperz, Griechische Denker, II. Bd., 4. Aufl,, 1925, S. 426.
6) Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, a. a. O. S. 37.
7) Karl Steinhart drückt dies a. a. O. S. 166 so aus: daß „selbst die böswillige
Klatschsucht seiner Gegner von seinen erotischen Beziehungen zu Frauen nichts zu
fabeln wußte“. Vgl. auch Wilamowitz-Moellendorff, a. a. O. S. 37.
8) Wilamowitz-Moellendorff, a. a. O. S. 454.
g) Politeia VIII, 5 (549/550).
4*
Hans Kelsen
handel, kurz die ganze Art von Betätigungssucht meidet und lieber hinter
den anderen zurückstehen als sich mit diesen Widerwärtigkeiten herum¬
schlagen will“; und dann von der Mutter, „die sich nicht dareinfinden
kann, daß ihr Mann nicht zu den Spitzen des Staates gehört und sich
dadurch zurückgesetzt fühlt hinter den anderen Frauen, auch sieht, daß
er sich wenig um Gelderwerb kümmert . . ., ihr selbst aber weder mit
besonderer Achtung, aber auch nicht mit Mißachtung begegnet“ und die
dann „durch alles dies tief gekränkt, zu ihrem Sohne sagt, sein Vater sei
unmännlich und über die Maßen schlapp und was sonst dergleichen die
Weiber in derartiger Lage einem zu hören geben“; und durch deren Ein¬
fluß schließlich Vater und Sohn nicht gerade zum Besten geführt werden.
Und vielleicht darf man auch eine leise Andeutung in der höchst merk¬
würdigen Schilderung des tyrannischen Charakters suchen, die Platon im
IX. Buch der Politeia gibt. 1 Er spricht dort von so intimen Angelegenheiten
der Seele, daß man selbst dann berechtigt wäre, hier Selbstbekenntnisse zu
vermuten, wenn Platon uns nicht selbst darauf hinweisen würde, indem
er sagt, daß diese ganze Darstellung von einem komme, der „mit dem
Auge seines Geistes in das sittliche Wesen“ dieses Charakters eingedrungen
sei, „der nicht nur urteilsfähig ist, sondern auch unter einem Dache mit
einem Tyrannen gewohnt hat“. Gewiß hat Platon, wie aus der unmittel¬
bar darauffolgenden Bemerkung hervorgeht, in der Sokrates sich und die
anderen Teilnehmer am Dialog für Leute erklärt, die schon mit tyranni¬
schen Männern zu tun gehabt hätten, auf Erlebnisse zeitgenössischer Ge¬
schichte hindeuten wollen, aber doch wohl nur auch auf solche, und in
zweiter Linie. Der tyrannische Charakter, als dessen verderbliche Wurzel
er die Leidenschaft des tyrannischen Eros bezeichnet, wird wohl nur das
eigene, gehaßte und immer wieder unterdrückte zweite Selbst Platons sein,
von dem nur er wirklich und in tiefstem Sinne sagen kann, daß er mit
ihm „unter demselben Dache wohnt“. So wie er ja auch im größeren
„Hippias“, um den Konflikt zwischen einem höheren und einem niederen
Ich in der Brust des Sokrates darzustellen, diesen von sich wie von einem
Doppelgänger sprechen und ihn von diesem zweiten Ich sagen läßt:
„Er ist mein nächster Verwandter und wohnt mit mir in demselben Hause. Wenn
ich also nach Hause komme, und er hört mich so reden, dann fragt er, oh ich mich
nicht schäme . . .“ 2
1) Politeia IX, 4 (577 St.).
2) Vgl. dazu O. Ap elts Übersetzung des „Hippias major“, Philosophische Bibliothek,
Bd. 172 a, 2. Aufl., 1921, S. 6; und eine ähnliche Wendung im Dialog „Nomoi“ IX,
Die platonische Liehe
Von welch anderem Tyrannen als von dem in seiner Brust kann Platon
sprechen, wenn er ihn vor allem durch seine Träume charakterisiert, die
so verbrecherisch sind, daß sie nur kennt, wer sie selber träumt. Es sind
Träume, von denen Platon sagt, daß es
„keine Unvernünftigkeit und keine Schamlosigkeit gibt, auf die sich der Tyrann
in ihnen nicht einließe, keine Blutschuld, die er auf sich zu laden nicht bereit wäre .
l'nd unter allen Verbrechen steht an erster Stelle:
„Der eigenen Mutter beizuwohnen, oder irgendwelchem anderen Wesen, sei es
Mensch, Gott oder Tier.“
Wäre es nicht die eigene Seele, die Platon damit enthüllt, nicht die ver¬
borgensten Wünsche, die er sich selbst zur Strafe preisgibt, wie wäre die
Bemerkung zu verstehen:
,\Vir sind damit allerdings etwas weiter gegangen, als unmittelbar nötig war;
was w ir «ms klar machen wollen, ist doch nur dies, daß einem jeden eine gefährliche,
wilde und ordnungswidrige Art von Begierden innewohnt, selbst manchen unter uns, die
vollkommen tugendhaft zu sein scheinen, und dies gibt sich dann in den Träumen kund. * 1
$ 4 , Platons Stellung zur Frau. Doch bedarf es gar nicht solcher gewiß
recht schwankender Stützen, um Platons völlig abwegige Einstellung zur
Frau als Gattin und insbesondere als Mutter zu erkennen. Denn der Wert
oder Unwert, den ihr Platon zuerkennt, erhellt deutlich daraus, auf welcher
Seite sie in dem zweigeteilten Weltgebäude der platonischen Gut-Böse-
Spekulation steht. Wenn es Platon auch nicht ausdrücklich erklärt, so
kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß er im männlichen Prinzip
das Gute, im weiblichen das Böse erblickt.
a) „ Philebos “ und „ Timaios Im „Philebos“, wo der Kampf des Guten
gegen das Böse als Unterwerfung der Lust unter die Vernunft dargestellt
wird, tritt diese als männliche, jene aber als weibliche Gottheit auf. Sie
wird wie dem Bereich des Werdens so dem des Apeiron, des Unbe¬
grenzten, zugewiesen, die beide als der Bereich des Bösen im Gegensatz
zur Idee, dem Guten, stehen. 2 Im Schöpfungsmythos des Dialogs Timaios,
wo Platon bemüht ist, die empirische Welt des Werdens als eine Mischung
zwischen dem Seienden der Idee, die für ihn das Gute ist, und der Materie,
die hier die analoge Rolle spielt, wie in früheren Dialogen das Nicht-
875 C, wo Platon den Selbstmord mit den Worten umschreibt: „Wie aber soll es
nun dem ergehen, der seinen allernächsten Verwandten und Geliebten, über den ihm
nichts geht, umbringt?“
1) Politeia IX, 1 (571/72 St.).
2) Philebos XV (28 St.). Vgl. dazu Friedemann, a. a. O. S. 99. „Als mischung ist
die lust ein apeiron. Apeiron und lust sind grenzenlos, passiv und weiblich . . .“
44 Hans Kelsen
seiende, das bei Platon der Repräsentant des Bösen ist, vergleicht er das
Seiende, die Idee oder das „Urbildliche“, mit dem Vater, und die an Stelle
des Nichtseienden tretende Materie, das, worin das Werdende wird, das
Substrat des Werdens, mit der Mutter. 1 Und ganz ähnlich sind die Rollen
in dem Mythos von der Geburt des Eros verteilt, der im „Symposion" erzählt
wird. Sein Vater ist der Reichtum, der Sohn der Klugheit, seine Mutter
aber die törichte Armut. Diese listet dem betrunkenen Reichtum den Bei¬
schlaf ab, in dem Eros erzeugt wird als Kind eines „weisen und gaben¬
reichen Vaters“ und einer „unweisen und unbegabten Mutter“. Nur gegen
den Willen des Mannes kommt der Geschlechtsakt zustande, dessen Produkt
alles Gute vom Vater, alles Schlechte von der Mutter hat. 2 Noch deutlicher
aber drückt sich Platons sexualphilosophische Wertung der Frau in seiner
Seelenwanderungslehre aus, wie sie im „Timaios“ — an zwei verschiedenen
Stellen dargestellt ist. In der ersten heißt es, daß bei der Weltschöpfung
auf jeden Stern eine Seele kam. Die Einkörperung, das ist die irdische
Geburt, erfolgt in der Weise, daß die Seelen zunächst als Männer auf die
Welt kommen. Die erste Menschheit ist somit eine männliche; doch gibt
es in dieser frauenlosen Gesellschaft schon „Liebesleidenschaft“. Wenn
diese Mann-Menschen über ihre Leidenschaften die Herrschaft behaupten,
d. h.: ein gerechtes Leben führen, kehren ihre Seelen wieder auf ihren
Stern zurück; wer aber, von seinen Leidenschaften überwältigt, ein un¬
gerechtes Leben führt, der muß
„bei der zweiten Geburt die Natur des Weibes annehmen und wenn er auch in
dieser Gestalt sich noch nicht seiner Bösartigkeit entschlagen hätte, dann müßte er
sich entsprechend der Art seiner Schlechtigkeit jedesmal in ein tierisches Wesen von
ähnlicher Beschaffenheit verwandeln, wie er sie in sich selbst hätte entstehen lassen,
und könne dieses leidvollen Wechsels nicht eher ledig werden, als bis er . . . durch
vernünftige Einsicht Herr geworden und so wieder zu der Form seiner ersten und
edelsten Beschaffenheit zurückgekehrt wäre“. 3
Die Existenz des Weibes wird also geradezu gedeutet als Strafe für die
Sünde des Mannes. Im ersten Unschuldsstande ist der Mensch, der Gottheit
noch am nächsten, Mann. Im platonischen Paradies gibt es nur Männer.
1) Timaios 18 (50 St.). „Für jetzt müssen wir drei Gattungen in Betracht ziehen,
das Werdende, das worin es wird, und das Urbild, von dem das Werdende als Ab¬
bild herstammt; und es hat wohl seinen guten Sinn, wenn wir das Aufnehmende
vergleichen mit der Mutter, das Urbildliche mit dem Vater, und das zwischen beiden
Stehende mit dem Kinde“. 49 St. wird die Materie als das Substrat des Werdens,
„als Empfängerin und gleichsam als Amme alles Werdens“ bezeichnet.
2) Symposion 23 (203/04 St.).
3) Timaios 14 (41/42 St.). Vgl. auch Lagerborg, a. a. O. S. 25.
Die platonische Liehe 4 ^
lm Schlußkapitel des Dialoges von der Weltschöpfung kommt Platon noch
ein zweitesmal auf diesen Abstieg der Seelen von Mann zum Weib und
vom Weib zum Tier zurück, und hier sagt er:
„Von denen, die als Männer geboren waren, wurden alle diejenigen, die feige
waren, und ein frevelhaftes Leben führten, nach allem, was die Wahrscheinlichkeit
lehrt, bei der zweiten Geburt in Weiber verwandelt. Und gleichzeitig damit schufen
die Götter aus diesem Grunde den Zeugungstrieb durch Bildung einer Art beseelten
Wesens, das sie in uns Männern, und eines anderen, das sie in den Weibern ent¬
stehen ließen.“
Die Scheidung in zwei Geschlechter und der Trieb zur geschlechtlichen
Zeugung, der den Mann mit dem eine böse Seele verkörpernden Weibe ver¬
bindet. ist hier — nicht die Ursache, sondern — die Folge des Sündenfalles.
In der nun folgenden Physiologie und -Anatomie der beiden Geschlechter
betont Platon
.(iie Unfügsamkeit und Selbstherrlichkeit der männlichen Schamteile, deren rasende
Begierden keinen Widerstand dulden, unzugänglich wie ein Tier für jeden Zuspruch
der Vernunft“.
Von den weiblichen Geschlechtsorganen aber sagt er, daß sie „mit der
Begierde nach Kindererzeugung“ verbunden seien. Nur bei der Frau, nicht
aber beim Manne, wird der Sexualtrieb als „Begierde nach Kindererzeugung“
gedeutet. Der Weg zum Tier scheint aber hier nicht über das Weib zu
gehen, denn Platon sagt, nachdem er die Entstehung des Weibes geschildert:
„So sind also Weiber und alles Weibliche entstanden. Das Geschlecht der Vögel
aber entwickelte sich, indem es statt der Haare Federn bekam, durch Umgestaltung
aus solchen Männern, die zwar harmlos, aber leichtsinnig waren und sich zwar mit
den himmlischen Erscheinungen beschäftigten, aber so einfältig waren zu glauben,
daß das Gesicht die sichersten Erklärungen dieser Dinge liefere. Das Geschlecht
der Landtiere sodann entwickelte sich aus solchen, die aller Liebe zur Weisheit har
waren und sich der Betrachtung der Himmelserscheinungen völlig verschlossen . . .
Die unverständigsten unter den Männern aber . . . wurden ... zu fußlosen, auf der
Erde sich fortwindenden Geschöpfen gemacht. Das vierte Geschlecht endlich, die
Wassertiere, entstanden aus den Allerunvernünftigsten und Unwissendsten ..., die
zur Strafe für den tiefsten Grad der Unwissenheit auch die tiefsten Wohnsitze an¬
gewiesen erhielten. Und auf diese Weise werden denn noch jetzt wie damals alle
lebenden Wesen ineinander verwandelt, indem sie je nach dem Verlust und Gewinn
von Vernunft und Unvernunft ihre Gestalt wechseln.“ 1
Bei dieser Darstellung der Seelenwanderungslehre hat es den Anschein,
als ob die Wiedergeburt als Weib die Strafe für Frevel und Unsittlichkeit, die
Wiedergeburt als Tier aber die Strafe für Dummheit und Unwissenheit wäre.
i) Timaios 44 (90—92 St.).
46
Hans Kelsen
b) „Politeia“. Diese Anschauung Platons von der Identität oder doch
Affinität des Weihes mit dem Prinzip des Bösen scheint der Stellung zu
widersprechen, die Platon der Frau im Idealstaat der „Politeia“ einräumt.
Innerhalb der Ordnung, die dort für die herrschende Klasse der Krieger
und der aus ihnen hervorgehenden Philosophen gilt, ist die Frau dem
Manne grundsätzlich gleichgestellt, wird sie zu den gleichen Funktionen
wie der Mann, insbesondere also zum Militärdienst, herangezogen. Aber
diese Gleichstellung der Frau beruht nicht darauf, daß Platon dem weib¬
lichen Geschlecht den gleichen Wert zuerkennt wie dem männlichen,
sondern darauf, daß er die Frau als solche ignoriert, daß er ihre geschlecht¬
liche Eigenart, für die er kein Empfinden hat, nicht anerkennt, ja geradezu
verneint. Das zeigt sich deutlich genug, wenn Platon ernstlich den Vor¬
schlag macht,
„daß sich die Frauen in den Ringschulen unbekleidet neben den Männern üben“
und daß er dabei besonderer Rechtfertigung nur für nötig hält, daß dies
nicht nur für die jungen Frauen gelten soll, sondern sogar auch für
„die schon älteren; wie man es ja auch bei bejahrten Männern sieht, die un¬
geachtet ihrer Runzeln und ihres wenig erfreulichen Aussehens dennoch mit Eifer den
Turnübungen obliegen“. 1
Die gleiche geschlechtliche Indifferenz der Frau gegenüber geht aus den
Argumenten hervor, mit denen er die Gleichstellung der Frau gegen nahe¬
liegende Einwände begründet. So der eine: Wenn die Männer der herr¬
schenden Klasse „gleichsam zu Hütern einer Herde“ gemacht werden sollen
— darin bestehe im wesentlichen die Funktion des Phylakes —, dann ist
nicht einzusehen, warum nicht auch die Frauen das gleiche leisten sollen,
so wie ja auch
„die weiblichen Schäferhunde den nämlichen Wachedienst mitübernehmen, den die
männlichen verrichten und mit auf die Jagd gehen und gemeinsam mit ihnen auch
die übrigen Obligationen verrichten, oder sollen sie nur drinnen das Haus hüten als
unabkömmlich wegen des Gebärens und Ernährens der Jungen, die Männer aber allein
den mühseligen Dienst tun und alle Fürsorge für die Herde auf sich nehmen?“ 2
Wenn Platon diese Frage entschieden verneint, und nur die schwächere
Konstitution der Frau zu berücksichtigen für nötig erklärt, so ist dabei der
Gedanke entscheidend, daß auch bei den Hündinnen das Gebären und
Ernähren der Jungen keine von der Verwendung der männlichen Hunde
verschiedene Behandlung begründet. Und noch blinder für die geschlecht-
1) Politeia V, 3 (452 St.). Vgl. auch Lagerborg, a. a. O. S. 13/14.
2) Politeia V, 3 (451 St.).
Die platonische Liebe 4/
liehe Wesensverschiedenheit der Frau ist das Argument, daß der Unter¬
schied zwischen Mann und Frau kein anderer sei und daher bei der Ein¬
stellung der Frau in die soziale Gemeinschaft ebensowenig Berücksichtigung
verdiene, als der zwischen Kahlköpfigen und Vollbehaarten. 1 Man konnte
geltend machen, daß die ganze Institution der Weiber- und Kindergemein¬
schaft, die Platon für die herrschende Klasse seines Idealstaates vorschreibt,
einem Doktrinarismus entstammen muß, dem kein tieferes Erlebnis der
Liebesgemeinschaft mit einer Frau, dem keinerlei innere Anteilnahme an
Ehe und Familie ein Gegengewicht bietet. Aber eine deutlichere Sprache
als alle abstrakten Institutionen des platonischen Idealstaates spricht ein
Detail, das bei der Darstellung der Kindergemeinschaft unterläuft.
Wenn jemand den Vorschlag macht, „daß die Frauen den Männern
.dien gemeinsam angehören und keine mit keinem für sich zusammen
wohnen, und daß auch die Kinder gemeinsam sein sollen“ und daß diese
Kinder nach ihrer Geburt von den dazu bestellten Behörden übernommen
werden sollen: auf welchen Einwand muß er gefaßt sein, wenn er bei
den Frauen kein geringeres Muttergefühl voraussetzt, als es sogar unter
Tieren zu beobachten ist? Daß die Mütter ihre Kinder bei den staatlichen
Behörden werden nicht lassen, daß sie zumindest ihre eigenen selbst werden
säugen wollen. Und der Staatsmann, der diesen Urtrieb sich nicht aus¬
wirken lassen will, wird vor allem dafür sorgen müssen, daß die Mütter
ihre eigenen Kinder nicht kennen dürfen. Aber Platon glaubt nur fordern
zu müssen, daß „weder der Vater sein Kind, noch das Kind seinen Vater“
kenne. 2 Von der Mutter kein Wort. Wer an dieser Stelle von ihr schweigt,
dem hat die Natur alles Wissen um Mütterlichkeit und damit das Ver¬
ständnis für eine der gewaltigsten Triebkräfte des gesellschaftlichen Lebens
versagt. Daher kommt es, daß Platon in seiner „Politeia“ die Beziehung
zwischen Mann und Frau nicht anders betrachtet als ein Züchter die
zwischen männlichen und weiblichen Tieren, daß er auch in seinen „Nomoi“,
wo er den Gedanken der Weibergemeinschaft fallen und die Ehe wieder
bestehen lassen hat, diese unter eine staatliche Kontrolle stellt, die jedes
normale Gefühl verletzen muß.
Der Mythos des ,,Politikos . Aber sein innerstes Verhältnis zu diesem
wie zu manch anderem Problem enthüllt er im Mythos. An dem — schon
früher erwähnten — Mythos des „Timaios“ muß auffallen, daß in dem
Menschengeschlecht, das aus der ersten Ver körperung der Seelen entsteht,
1) Politeia V, 4/5 (454 St.).
2) Politeia V, 7 (457 St.).
48
Hans Kelsen
eine geschlechtliche Fortpflanzung überhaupt nicht möglich ist, da dieses
Geschlecht nur aus Männern besteht. In dem großen Mythos des „Politikos“
aber, der auch eine Weltentwicklung schildert, wird die geschlechtliche
Fortpflanzung in dem goldenen Zeitalter, in dem für die Bedürfnisse der
Menschen ohne deren Zutun reichlich gesorgt ist und das ungefähr der
Periode der Mann-Menschheit des „Timaios“ entspricht, ausdrücklich aus¬
geschaltet und für sie ein höchst merkwürdiger Ersatz geschaffen. Es wird
erzählt, 1 daß die Welt bald unter der Herrschaft der Gottheit stehe, bald
nur von ihrer eigenen Kraft getrieben werde, dann nämlich, wenn die
Gottheit das Steuerruder aus den Händen gebe und die Welt ihrem eigenen
Lauf überlasse. Die unter der göttlichen Leitung sich vollziehende Bewegung
führe zum Guten, die andere zum Bösen. Ist dieses bis zum Äußersten
gediehen, ergreift Gott wieder das Regiment und lenkt die Welt in die
entgegengesetzte Richtung. Der Wechsel der Leitung bedeutet eine völlige
Umkehr aller Verhältnisse. Unter ihnen spielt die geschlechtliche Fort¬
pflanzung eine höchst bemerkenswerte Rolle. Dieses Problem wird von Platon
hier besonders ausführlich behandelt, es steht eigentlich im Mittelpunkt des
ganzen Mythos. Und da ist es nun sehr auffallend, daß die geschlechtliche
Fortpflanzung in die Periode des Bösen fällt, da die Welt, „dem eigenen
Triebe folgend“, sich bewegt. Und so müssen die Menschen in dieser Periode
auch „durch eigene Kraft und durch Einfluß des nämlichen Triebes“
— der ein Trieb des Bösen und zum Bösen ist — „zeugen und erziehen“; 2
so wie sie in dieser Periode ja auch nur durch eigene Kraft, durch Arbeit
für ihre anderen Bedürfnisse sorgen müssen. Da die Wendung, die die
Wiederaufnahme der Regierung durch die Gottheit herbeiführt, eine Wendung
vom Bösen zum Guten und damit eine vollkommene Umkehrung aller Ver¬
hältnisse in der von Gott verlassenen und ihrer eigenen Kraft, der Kraft
des Bösen überlassenen Welt bedeutet, kann es unter dem göttlichen Welt¬
regiment keine geschlechtliche Fortpflanzung geben. Nicht als Folge des
Geschlechtsaktes werden die Menschen geboren, sie gehen nicht als Kinder
aus dem Mutterleib hervor, um allmählich älter zu werden, zu sterben und
begraben zu werden; sondern es ist gerade umgekehrt: Aus der Erde steigen
die Menschen als Greise hervor, um allmählich jünger zu werden und
schließlich als Samen wieder in die Erde zu fallen. Mit der Rückkehr der
Greise zum Zustand des Kindes hängt zusammen, „daß auch die Gestorbenen,
die in der Erde liegen, dort wieder Gestalt annehmen, und wieder zum
1) Politikos XIII ff. (269 St. ff.).
2) Politikos XVI (274 St.).
Die platonische Liehe
49
Leben gelangen, indem mit der Umkehrung des Alls auch die Entstehungs¬
weise in das Gegenteil umschlug “. 1 Es ist eine Auferstehung der Toten, die hier
neben der ursprünglichen Entstehung aus der Erde an Stelle der geschlecht¬
lichen Fortpflanzung, an Stelle der „Erzeugung untereinander“ tritt. Daß es
in dem Paradies des „Politikos“-Mythos keine Frauen gibt, das wird zwar
nicht behauptet, aber sie sind überflüssig: die Fortpflanzung erfolgt ohne sie . 2
,\ v /. „Der knabenliebende Eros“ Daß Platon nicht nur kein Verständnis
für die geschlechtliche Eigenart der Frau gehabt hat, sondern daß ihm
die Liebe zur Frau völlig fremd gewesen sein muß, das geht auch daraus
hervor, daß er, der so viel von Liebe spricht, der der Liebe im Leben des
Einzelnen wie im Ganzen des Universums eine so zentrale Stelle einräumt,
d ibei immer und ausschließlich nur die Knabenliebe im Auge hat. Daß
dt r F.ros Platons nicht etwa dasjenige ist, was wir heute Freundschaft nennen,
sondern daß sein Eros auch noch auf der höchsten Stufe der Vergeistigung
eine ausgesprochen sinnliche Grundlage hat, daß es ein sexueller Eros ist,
der in seinem Leben und in seiner Lehre die Hauptrolle spielt, kann ernstlich
nicht bezweifelt werden . 3 * Zu deutlich, kaum in einem anderen Punkte so
deutlich, ist die Sprache seiner Dialoge.
a) „Charmides“ und „Lysis“, Nur aus dem eigenen Erleben kann Platon
im „Charmides“ die realistische Schilderung der Gefühle geben, die den
Sokrates beim Anblick des schönen Jünglings ergreifen. Schon die Szene,
die dem Auftreten des Charmides vorangeht, ist voll erotischen Fluidums.
Als ein guter Dramatiker schickt Platon erst eine Schar von Liebhabern
des schönen Charmides auf die Bühne. Wie dann er, der Vielgeliebte, selbst
kommt, will ein jeder ihm Platz machen auf der Bank und „wir hörten
damit erst auf“, läßt Platon den Sokrates, den reifen Mann unter den ver¬
liebten Jünglingen, sagen,
.,als wir den Letzten auf der einen Seite zum Aufstehen gebracht, den Letzten
auf der anderen Seite durch den Druck von seinem Sitz auf den Boden befördert
i ) Politikos XV (271 St.).
2> Daß die geschlechtliche Fortpflanzung erst mit Beginn der zweiten Weltepoche
einsetzt, ist alte iranische Lehre. Auch sonst zeigt der Politikos-Mythos Elemente,
die einen Einfluß altpersischer religiöser Vorstellungen auf Platon wahrscheinlich
machen. Vgl. Reitzenstein, Platon und Zarathustra. Vorträge der Bibliothek War-
n 1 j « 5 ’ t ? d * 1927 ' S * 32 Aus diesem Einfluß ließen sich auch gewisse
auffallende Parallelen erklären, die zwischen dem platonischen Mythos und der jüdisch-
christlichen Lehre vom messianischen Reiche bestehen, das als ein Zeitalter der
Gerechtigkeit auf die satanische Periode des Bösen folgen wird.
sch« M gl ' da2u ® eth * : Die dorische Knabenliebe, ihre Ethik und ihre Idee. Rheini¬
sches Museum. Neue Folge. 62. Bd. 1907. S. 458 ff.
Imago XIX.
4
5o Hans Kelsen
hatten. Er aber trat herzu und ließ sich zwischen mir und dem Kritias nieder. Schon
da, mein Bester, kam ich aus dem Gleichgewicht und wie mit einem Schlage war
es nun vorbei mit dem kühnen Selbstbewußt sein, das mich vorher glauben ließ, nichts
würde mir leichter fallen, als mich mit ihm zu unterhalten. Als er aber nun . . .
seine Augen auf mich richtete und mir einen ganz unbeschreiblichen Blick zuwarf,
und sich anschickte, mich zu befragen . .., da, mein edler Freund, fiel mein Blick
in sein Gewand. Das zündete bei mir wie ein Feuerfunke: ich verlor alle Fassung
und zweifelte nicht, daß in Liebessachen nichts über die Weisheit des Kydias gehe,
der, von einem schönen Knaben redend, einem anderen den Rat gab, ,es soll sich
das Reh hüten, dem Löwen in den Weg zu kommen und unvermögend sich zu retten,
ihm zur leckeren Beute zu werden 1 . Denn mir kam es vor, als wäre ich selbst in
die Gewalt eines solchen Ungeheuers gefallen.“ 1
Sinnlichkeit ist auch der Kern der „Freundschaft“, die das Thema des
Dialogs „Lysis“ bildet . 2 Diese Freundschaft ist der Eros des „Symposion“
und des „Phaidros“, ist die rtaiSepaotia in ihrer ganzen, für Platon so
schmerzvollen und so beseligenden Eigenart.
Die Leidenschaft des Hippothales für den schönen Lysis, die den Aus¬
gangspunkt des nach dem letzteren benannten Dialoges über die Freund¬
schaft bildet, wird in ganz unzweideutiger Weise als sexuell geschildert.
Der normal Empfindende muß sich anstrengen, in dem Gegenstand der
Liebe des Hippothales nach den Symptomen, die Platon beschreibt, kein
Mädchen zu sehen. Der Zustand des verliebten Jünglings zeigt alle typischen
Merkmale sexueller Bindung: verschämtes Erröten, schüchterne Schwärmerei,
Wunsch, den begehrten Gegenstand zu beschützen, Unfähigkeit, ihn anders
als im rosigsten Lichte zu sehen, usw . 3 Das Verhältnis des offenkundig
sexuell verliebten Hippothales wird in einem deutlichen Gegensatz zu der
unsinnlichen Beziehung zwischen Lysis und Menexenos als einer echten
Freundschaft und Hippothales als „echter Liebhaber“ hingestellt. Und dabei
läßt Platon den Sokrates ausdrücklich sagen:
„Notwendig muß dem echten und nicht verstellten Liebhaber von seinem Liebling
liebreiche Freundschaft zuteil werden.“
Nach dieser Äußerung des Sokrates
1) Charmides 4 (155 St.).
2) P. Friedländer: Platon II (Die platonischen Schriften), 1930, S. 102, bemerkt
zu diesem Dialog: Er zeigt die „philosophische“ Erotik „auf der Stufe des plato¬
nischen Frühwerks. Daß sich hinter der Philia dieses Dialoges wirklich der Eros
verbirgt — ,wenn Freundschaft heftig wird, heißt es in den , Gesetzen' (837), so
nennen wir sie Liebe 1 — das verrät sich gleich zu Anfang. Von den ersten Worten
an wird die Atmosphäre des jtaiöi noc, 8QC05 fühlbar . . .“
3) Lysis 1, 2 (203—207 St.).
Die platonische Liebe
„ließen sich Lysis und Menexenos kaum zu einer Andeutung von Beifall herbei,
des Hippothales Freude dagegen spielte sich in dem raschen Wechsel seiner Gesichts¬
farbe deutlich ab“. 1
b) „ Phaidros .“ Diese Knabenliebe ist es, zu deren Preis die Teilnehmer
des „Symposion“ ihre Reden halten und zu der sich Platon im „Phaidros
rückhaltlos bekennt. Viel deutlicher noch als in allen anderen Dialogen
tritt hier zu der zweiten dieser beiden Liebesdichtungen die sexuelle Kom¬
ponente des platonischen Eros hervor und stellt sich als wesentlicher Be¬
standteil, als letzte Grundlage, als der Nährboden gleichsam dar, aus dem
der vergeistigte Eros emporwächst. Die leidenschaftliche Schilderung des
beim Anblick eines schönen Knaben vom Liebeswahnsinn Ergriffenen ist
eine der großartigsten Liebespoesien, eine von Sinnenglut erfüllte, in ihrer
künstlerischen Schönheit hervorragende Darstellung der sexuellen Erregung.
Der Eros, den die Schau des schönen Knabenleibes auslöst, wird hier als
Erinnerung an die Schau des absolut Schönen gedeutet, der die Seele, die
beflügelte Seele vor ihrer Geburt im Jenseits teilhaftig war. Die Schönheit
des Knabenleibes ist ein Abglanz der ewigen Schönheit; darum durchrieselt
den Liebhaber des Geliebten
„zuerst ein Schauer, und Nachwehen der Angstbeklemmungen von damals be¬
schleichen sein Gemüt“. „Und wie er ihn anblickt, befällt ihn wieder nach dem
Schauer in Wechsel ungewohnte Hitze und Schweiß. Die Ausstrahlungen der Schön¬
heit, die er mit seinen Augen aufgenommen hat, haben ihn durchglüht und wie Regen
fällt es auf das sprossende Gefieder.“
In der Liebe zum schönen Knaben beginnen der Seele des Mannes wieder
die Flügel zu wachsen.
„Dieser warme Regen schmilzt die längst durch Dürre geschlossene spröde Ober¬
schicht, die das Hervorkeimen verhinderte. Und wie jetzt Nahrung zuströmt, schwellen
und treiben von den Wurzeln aus die Schößlinge der Federn unter der ganzen Ober¬
fläche der Seele hin: Denn ganz war sie dereinst befiedert.“
Dann wird der Wechsel von Qual und Lust geschildert, den die Liebe erzeugt.
„Indem beide Gefühle sich mischen, wird ihr (der liebenden Seele) unheimlich
bei diesem seltsamen Zustand; ratlos wütet sie herum, die wahnsinnige Erregung
laßt sie weder nachts schlafen noch am Tage ruhig auf der Stelle bleiben, sondern
sehnsuchtsvoll eilt sie nach den Orten, wo sie den Träger der Schönheit zu erblicken
vermeint. Erblickt sie ihn, und kann dadurch sich neuen Liebreiz zuleiten, so erweitern
sich die vorher verstopften Gänge; aufatmend fühlt sie sich frei von Stichen und
Qu en, und wieder genießt sie so in der Gegenwart die süßeste Lust. Weshalb sie
auc freiwillig von dem schönen Geliebten sich nicht trennt und niemand höher
schätzt als ihn, Mutter, Brüder und Freunde hat sie sämtlich vergessen; daß das Ver-
i) Lysis 17 (222 St.).
4 *
Sz
Hans Kelsen
mögen, um das sie nicht sorgt, draufgeht, gilt ihr nichts; was Sitte und Anstand
verlangen, und sie zuvor sich zur Ehre rechnete, verachtet sie alles, bereit, dem
Gegenstand ihrer Sehnsucht dienstbar zu Sein und so nah als ihr immer gestattet werden
darf, hei ihm zu schlafen. Denn abgesehen von der Verehrung, die sie für den Träger
der Schönheit empfindet, hat sie in ihm allein auch den Arzt gefunden für ihre größte
Pein. Diesen Zustand, mein schöner Knabe, an den meine Rede gerichtet ist, nennen
die Menschen ,Eros‘; wie ihn aber die Götter bezeichnen, darüber wirst du ver¬
mutlich lachen, wenn du es hörst, weil es mutwillig klingt.“
Und nun zitiert Platon aus „geheimgehaltenen Gedichten“ einen Vers, in
dem es heißt, daß nur die Sterblichen den geflügelten Gott Eros, die Un¬
sterblichen aber ihn „Pteros“ nennen, „vom Schwingen treibenden Zwange “; 1
was, wörtlich genommen, vermutlich ein obszöner Ausdruck war. Ja, wenn,
was nicht unwahrscheinlich, die fraglichen Verse von Platon selbst gemacht
und nur zum Schein zitiert sind, so kann den Worten, nach Ritter, über¬
haupt keine andere Bedeutung zukommen . 2 Zwar wird im „Phaidros“ — wie
auch sonst, wenn Platon von Eros spricht — die Forderung aufrechterhalten,
die Befriedigung des sexuellen Triebes sich zu versagen. Aber nicht nur
ist die schon die Grenzen des Obszönen streifende Darstellung des erotischen
Gegenstandes selbst fast ein Ersatz solcher Befriedigung, die Darstellung
Platons wird zu einer durch die Einschaltung retardierender Elemente geradezu
raffinierten Beschreibung des über alle Hemmungen schließlich doch zum
Ziele gelangenden Geschlechtsgenusses. Mit einer Lebendigkeit, mit der nur
Selbsterlebtes ausgesprochen werden kann, wird der Kampf des sittlichen
Bewußtseins gegen die Wünsche der Geschlechtlichkeit beschrieben. Die
Seele wird mit einem Gespann verglichen, das von einem guten und einem
bösen Rosse gezogen wird, wodurch die sittlich gerichtete Vernunft und
die zur Unsittlichkeit drängenden Begierden symbolisiert werden.
„Wenn nun der Lenker, nachdem er das Liebesantlitz erblickt, und durch seine
Anschauung die ganze Seele sich durchwärmt hat, von den Stacheln kitzelnden Ver¬
langens gespornt wird, dann hält das dem Lenker gehorsame Roß, das, wie immer,
auch jetzt durch Scham sich meistern läßt, selbst an sich, um nicht loszuspringen
auf den Geliebten; das andere aber kehrt sich jetzt nicht länger an Lenkstacheln und
an Peitsche, sondern in gewaltsamen Sprüngen stürzt es auf sein Ziel zu und zwingt
den Spanngenossen und den Lenker, denen es alle mögliche Not bereitet, zu dem
Geliebten hinzugehen und der Liebesgunst Erwähnung zu tun. Anfangs widerstreben
die Beiden voll Unwillens im Gedanken, daß sie zu etwas Schrecklichem und Bösem
gezwungen werden sollen: schließlich, aber, wenn des Übels kein Ende ist, nach-
1) Phaidros XXXI (251—253 St.).
2) In den Anmerkungen zu Ritters Übersetzung des „Phaidros“. Philosophische
Bibliothek, Bd. 152, 2. Aufl., 1922, S. 129.
Die platonische Liehe
53
gebend und ein willigend, das Gebotene zu tun. Und so kommen sie hin und schauen
des geliebten Knaben leuchtendes Angesicht.“
Wenn es aber dem Wagenlenker gelingt, das Gespann doch noch zurück¬
zureißen, benetzt das eine Roß
„vor Beschämung und Verwirrung die ganze Seele mit Schweiß, das andere aber
bricht, ... in zorniges Schelten aus und mit vielen Schmähungen gegen den Lenker
und Spanngenossen, als feige Memmen wären sie ausgerissen und hätten ihr Wort
gebrochen. Es will sie zwingen, obgleich sie nicht wollen, wieder hinzugehen und
gibt nur endlich ihren Bitten um Aufschub für später nach. Und wie die verabredete
Stunde kommt, mahnt es die beiden, die sich stellen, als dächten sie nicht daran,
und nötigt sie mit Gewalt, wiehernd und vorwärtsziehend, daß sie wieder an den
Knaben herantreten, ihm dieselben Anträge zu machen, da sie nahe sind, senkt es
den Kopf, stellt den Schweif, beißt auf den Zaum und zieht mit Schamlosigkeit
vorwärts“.
Aber wiederum gelingt es dem Lenker, das böse Roß zu bändigen, so daß es,
wenn es den schönen Knaben erblickt, „fast vor Furcht vergehen möchte“. Doch
dieser Sieg des Lenkers und seines edeln Rosses ist kein endgültiger. Jetzt wird
erst geschildert, wie auch der geliebte Knabe vom Eros ergriffen wird. Wenn
der Liebende und der Geliebte längere Zeit miteinander verkehren, wenn
„sie zueinander kommen und sich berühren, bei den Körperübungen und dem
sonstigen Verkehr, dann ergießt sich die Quelle jenes Stromes, den Zeus als Lieb¬
haber des Ganymedes Himeros benannte, im vollen Schwalle gegen den Geliebten:
Ein Teil dringt ein in ihn, ein anderer fließt, da er erfüllt ist, außen wieder ab.
Nun ist auch der geliebte Knabe von Liebe erfüllt; er ist nun verliebt, weiß aber
nicht, in was, und begreift nicht einmal seinen Zustand, noch kann er ihn be¬
schreiben . . . und daß er wie in einem Spiegel in seinem Liebhaber nur sich selbst
sieht, versteht er nicht. Ist der andere anwesend, so hat er genau wie dieser Ruhe
vor seiner Qual, und ist er abwesend, so empfindet er genau so Sehnsucht und wird
ersehnt, indem er als Nachbild der Liebe Gegenliebe in sich trägt. Er bezeichnet
es aber und nimmt es nicht als Liebe, sondern als Freundschaft. Ähnlich wie jener,
nur in schwächerem Grade, empfindet er das Verlangen, den anderen zu sehen, zu
berühren, ihn zu küssen und neben ihm zu ruhen. Und wahrscheinlicherweise tut er
das auch bald darauf. Wenn beide miteinander das Lager teilen, so braucht das
zügellose Roß des Verliebten nicht nach Worten an seinen Lenker zu suchen, und
verlangt als Entschädigung für viele Nöte einen kleinen Genuß. Das des Knaben
aber findet keine Worte, doch voll brünstigen unbekannten Verlangens umfaßt es
den Liebhaber und küßt ihn, im Gedanken, daß es doch ein gar treuer Freund sei,
den er liebkose; und wenn sie nebeneinander sich niederlegen, so kann es sein, daß
er, soviel an ihm liegt, sich nicht weigern würde, dem Liebhaber zu willen zu sein,
wenn dieser darum bäte. Allein, das Nebenroß im Verein mit dem Lenker sträubt
sich wieder dagegen mit Scham und Vernunft“.
Aber vergeblich. Platon endet seine Beschreibung dieses Kampfes — in
dem nur völlig lebensfremde Stubengelehrtheit oder verlogene Heuchelei
5 4
Hans Kelsen
etwas anderes sehen kann, als den Kampf um die Befriedigung des Ge¬
schlechtstriebes — nicht mit dem alleinigen Sieg des guten Rosses. Er faßt
auch den Fall ins Auge, daß
„wohl einmal im Rausche oder sonst in einem schwachen Zustande die beiden
zuchtlosen Gespannspferde ihre Seelen unbewacht überraschen und, indem sie beide
zusammenführen, das von der Menge gepriesene Teil sich wählen und vollbringen;
und wenn sie es vollbracht, dann machen sie auch fernerhin davon Gebrauch, doch
nur selten, da sie damit etwas tun, was nicht der ganzen Seele genehm ist“. 1
Es ist derselbe Eros, der, die Sinnlichkeit überwindend, einen der „drei
wahrhaft olympischen Ringersiege“ davonträgt, so „das Höchste erreicht,
was menschliche Besonnenheit oder göttlicher Wahnsinn einem Menschen
zu verschaffen imstande ist“ und der „das von der Menge gepriesene Teil
wählt und vollbringt“.
c ) „ Politeia .“ Aber auch in der „Politeia“, die nicht wie „Lysis“,
„Symposion“ und „Phaidros“ ein erotisches Hauptthema hat, verrät sich
Eros wenn Platon hier von ihm spricht — deutlich als die nur mühsam
ihre Sinnlichkeit unterdrückende Knabenliebe. Im Rahmen der Vorschriften,
die den Zweck haben, die Tapferkeit der Krieger im Idealstaat zu heben,
schlägt Platon — durch den Mund des Sokrates — vor:
„Wer sich hervorgehoben und rühmlich ausgezeichnet hat, der muß doch wohl,
wie du zugeben wirst, zunächst noch im Feldzuge von dem mit im Felde stehenden
Jünglingen und Knaben, von jedem der Reihe nach, einen Kranz erhalten.“
Daß dieses Heer des Idealstaates ebenso aus Männern wie aus Frauen ge¬
bildet ist, scheint hier vergessen. Sokrates fährt nach einer zustimmenden
Äußerung des Glaukon fort:
„Ferner auch durch Händedruck geehrt werden“, darauf Glaukon: „Auch das.“
Sokrates: „Aber was nun folgt, wirst du, fürchte ich, nicht mehr gut heißen“
was scherzhaft gemeint ist, denn Glaukon wird als „eine besonders
verliebte Natur“ hingestellt 2 —:
„Was denn?“ fragt Glaukon; und darauf Sokrates: „Daß er einen jeden küssen
und wieder geküßt werden soll.“ Worauf Glaukon: „Dies erst recht! Und ich mache
auch den Zusatz zu dem Gesetz, daß während der ganzen Dauer des Feldzuges keiner,
den er küssen will, es ihm abschlagen darf, schon deshalb, damit wenn einer etwa
verliebt ist in einen Jüngling oder in ein Mädchen, sein Eifer, den Preis davonzu¬
tragen, um so mehr entfacht werde.“ 3
1) Phaidros XXXIV ff. (254—256 St.).
2) Politeia V, 19 (474 St.).
5) Politeia V, 14 (468 St.).
Die platonische Liebe 55
Man merkt, wie sehr mühsam dieses „oder in ein Mädchen“ nachhinkt,
nachdem von Händedruck und Küssen nur zwischen den Jünglingen die
Rede war; und wird darum auch dem Umstand keine sonderliche Bedeutung
beimessen können, daß Sokrates, dem Glaukon zustimmend, schließlich auch
erklärt, daß „dem sich tüchtig Bewährenden mehr Gelegenheit zu ehelichen
Freuden gegeben werden soll als den anderen“, und dabei auch die Rück¬
sicht auf einen guten Nachwuchs hervorhebt. — Wie sehr der platonische
Eros doch nur die homosexuelle Liebe ist, das zeigt, daß Platon im Zusammen¬
hang der Begründung einer seiner Hauptthesen: daß die Philosophen den Staat
regieren sollen, bei der Erklärung des Wortes qpdöoocpo«;, das den die Weisheit
Liebenden bezeichnet, die Liebe nur als Knabenliebe darstellt. Sokrates will
darauf hinaus, daß der Philosoph von einem Verlangen nach der ganzen Weis¬
heit erfüllt sei, und nicht etwa nur nach einem Teile, und stellt daher den Satz
voran: Wenn wir von einem sagen, er liebe etwas (cpiAelv), so bedeute das, daß
er das Geliebte nicht nur in einer gewissen Beziehung liebe, sondern ganz in
sein Herz geschlossen habe. Und da Glaukon eine nähere Erklärung verlangt,
illustriert Sokrates seine Behauptung nicht etwa so, daß er daran erinnert, wie
sehr doch ein liebender Jüngling sein Mädchen ganz und gar mit all ihren
Vorzügen und Fehlern ins Herz schließt, sondern damit:
„daß alle in der Blüte stehenden Knaben den Knabenfreund und Geliebten irgendwie
reizen und erregen, indem sie seiner Bemühung und zärtlichen Annäherung wert
scheinen. Oder macht ihr es nicht so mit den Knaben? Der eine wird, weil er ein
Stumpfnäschen hat von euch liebreizend genannt und gepriesen, des anderen Habichts¬
nase, sagt ihr, habe etwas Königliches, und wer zwischen beiden die Mitte hält, der
übertreffe alle an Ebenmaß; die dunkeln seien von männlichem Aussehen, die blonden
wären wahre Götterknaben; die honig-blassen aber — meinst du, sie entstammen,
wie auch ihr Name, dem Hirne irgendeines anderen als eines Liebhabers, der ihre
Blässe beschönigen will und sich gern mit ihr abfindet, wenn sie nur mit Jugend¬
schönheit verbunden ist.“ 1
Von der „rechten Liebe“ ist im III. Buche die Rede. Und wenn Platon
den Sokrates fordern läßt, daß diese Liebe, damit sie die „rechte“ sei, von
aller sinnlichen Lust frei bleiben müsse, so möchte man zunächst glauben,
daß er die Liebe überhaupt, also auch die zwischen Mann und Frau, meint.
„Also darf ihr auch nicht diese Lust beigesellt werden, und Liebhaber wie Geliebter
dürfen bei richtiger Liebe mit ihr nichts gemein haben.“
Man merkt sogleich, daß Platon auch hier nur die Knabenliebe im
Auge hat: Und so heißt es denn weiter, man müsse daher im Idealstaat
die Bestimmung einführen,
1) Politeia V, 19 (474 St.).
„es dürfe der Liebhaber den Geliebten zwar küssen und mit ihm verkehren und
ihn berühren wie einen Sohn, um des Schönen willen, wenn er ihn dazu bereit findet,
im übrigen aber müsse sein Umgang mit dem, dem sein Bemühen gilt, derart sein,’
daß er niemals auch nur den Schein errege, als ginge er über diese Grenze hinaus“, i
Es ist in der Tat nur die homosexuelle Liebe, der Platon Enthaltung von
der Befriedigung des Triebes zumutet. Für die Beziehung zwischen den
beiden verschiedenen Geschlechtern die ihm überhaupt kein wahrer Eros
sein kann — liegt ihm solche Forderung völlig fern. Stellt er doch selbst
den normalen Geschlechtsverkehr, von der Regierung genau geregelt, in
den Dienst der populationistischen Interessen seines Idealstaates. Die „platoni¬
sche Liebe ist soll Platon nicht gröblich mißverstanden sein — wirklich
nur die Knabenliebe . 1 2 3 4
§ ^' Die Päderastie in Griechenland, a) Der dorische Kultur kr eis. Zur
Sublimierung seines Eros wurde Platon vor allem dadurch gedrängt, daß
dieser sein Eros im Widerspruch zu den sittlichen und rechtlichen An¬
schauungen der athenischen Gesellschaft seiner Zeit stand. Die mitunter
vertretene Meinung, daß die Knabenliebe in der antiken Welt ganz allge¬
mein verbreitet gewesen und darum durchaus nicht wie in der christlichen
Kultur ethisch abgelehnt worden sei, ist unrichtig. Nur für die sogenannten
dorischen Staaten sind homosexuelle Gebräuche, Liebesverhältnisse zwischen
alteren und jüngeren Männern als öffentlich anerkannt nachweisbar. Und
auch hier ist die Päderastie eine nur auf die verhältnismäßig dünne, die
adelige Oberschicht beschränkte soziale Erscheinung. Als eine spezifisch
litterliche Sitte oder Unsitte ist sie uns überliefert, die sich vermutlich aus
der militärischen Funktion dieser Klasse, aus den ständigen Feldzügen, dem
dauernden Lagerleben erklärt, das die Männer allzulange von den Frauen
fernhält und sie zur wechselseitigen Befriedigung ihrer geschlechtlichen Be¬
dürfnisse zwingt. Aber auch in der dorischen Gesellschaft war die Päderastie
trotz öffentlicher Anerkennung oder gar religiöser Legitimierung keineswegs
eine unangefochtene Institution^
Auf Lykurg selbst wird ein Gesetz zurückgeführt, das die sexuelle Knaben¬
liebe mit Tod und Verbannung bestraft.* Und von dem spartanischen König
1) Politeia III, 12 (403 St.).
2) Vgl. Lagerborg, a. a. O. Passim.
3) Vgl. dazu Bethe, a. a. O. S. 446.
4) Nach Xenophon: Über den lakonischen Staat, II, 13. Vgl. Symonds: Die Homo¬
sexualität in Griechenland, in Havelock Ellis und J. A. Symonds: Das konträre
Geschlechtsempfinden (Bibliothek für Sozialwissenschaft, herausgegeben von Hans
Kurella, 7. Bd., 1896), S. 54.
Die platonische Lieb«
Agesilaos, dessen Verhalten, wie Theodor Gomperz bemerkt: „als typisch
für die vornehmen Kreise seiner Heimat gelten darf “, 1 wird erzählt, er
habe sich heftig gegen die in ihm sehr lebendigen homosexuellen Nei¬
gungen gewehrt. Xenophon 2 berichtet von ihm, er habe gesagt: nicht um
alles Gold der Erde möchte er in einem solchen Kampfe unterliegen. Schon
einmal habe er ihn siegreich bestanden, als er sich versagte, einen Knaben,
der ihn durch seine Schönheit entzückte, zu küssen. Daraus geht zumindest
dies hervor, daß das gesellschaftliche Urteil über die Päderastie auch
in Sparta zumindest nicht eindeutig war. Über die Gründe, die den Ge¬
setzgeber veranlassen konnten, dennoch gewisse homosexuelle Gebräuche
zu dulden oder gar zu fördern, sind wir nur auf Vermutungen angewiesen.
Eine allzu starke Vermehrung der auf einen beschränkten Grundbesitz an¬
gewiesenen, militärisch organisierten Adelskaste lag jedenfalls nicht im
staatspolitischen Interesse. Bildet ja überhaupt die Übervölkerung für die
Kleinstaaten Griechenlands eine ständige Gefahr ; 3 und Maßnahmen dagegen
sind keine Seltenheit. Unter diesem Gesichtspunkte ist insbesondere auch
die bekannte spartanische Sitte zu beurteilen, schwächliche oder verkrüppelte
Kinder auszusetzen. Aristoteles spricht direkt die Ansicht aus, in Kreta sei
die Päderastie eingeführt worden, um der Übervölkerung zu begegnen . 4
b) Das Verhältnis von Religion und Dichtung zur Knabenliebe. Außerhalb
des dorischen Kulturkreises, insbesondere in Jonien und Athen war die
Päderastie sicherlich niemals bodenständig. Die griechische Religion 5 mit
ihrem die Frauen nur allzusehr liebenden Götterkönig und ihrer die Liebe
des Mannes zum Weib verkörpernden Aphrodite ist eine wahre Apotheose
des normalen Geschlechtstriebs. Die Ehe des Zeus und der Hera steht im
Mittelpunkt des olympischen Lebens . 6 Denn als heilige Institution gilt die
Ehe dem griechischen Volke, und Nachkommen zu haben, sich fortzu-
1) A. a. O. S. 299.
2) Xenophon, Agesilaos, c. 5, 5.
3) Theodor Gomperz, a. a. O. S. 402: „Für die kleinen und eng umgrenzten
Republiken Griechenlands bildete die Übervölkerung eine ständige Gefahr. Bei den
verhältnismäßig geringen wirtschaftlichen Hilfsmitteln und den primitiven Methoden
war die Gefahr der Verarmung sehr groß; zumal für die herrschende Klasse, deren
Einnahmen ausschließlich aus dem keiner Vermehrung fähigen Grundbesitz floß.“
4) Aristoteles, Politik, II, 10; 1272 a, 23.
5) Vgl. Symonds, a. a. O. S. 118.
6) Die Ganymed-Sage dürfte wohl erst verhältnismäßig spät unter dem Einfluß
dorischer Sitten eine homosexuelle Umdeutung erfahren haben. Solche Umdeutungen
mußten sich auch gewisse historische Freundschaftsverhältnisse gefallen lassen, wie
das zwischen Achilles und Patrokles. Vgl. Symonds, a. a. O. S. 43.
58
Hans Kelsen
pflanzen als eine der vornehmsten vaterländischen Pflichten. Für das durch¬
schnittliche Urteil über die Knabenliebe ist nichts bezeichnender als die
Sage, die die Päderastie auf Laios, den Vater des Ödipus, zurückführt, der
den schönen Knaben Chrysippos entführt haben soll. Der Mythos deutet
den Fluch, der auf dem Königshaus der Labdakiden lag, als Rache der Hera,
der Schützerin der Ehe, und sohin als Strafe für ein Verhalten, das offenbar
für naturwidrig, für ein Laster angesehen wurde . 1 In den Homerischen
Gedichten findet sich denn auch keine Spur davon. Die Ehe Hektors mit
Andromache und Odysseus mit Penelope leuchten hier als unangefochtenes
Ideal, die Liebe des Menelaus zu Helena setzt das Ganze des heroischen
Geschehens in Bewegung. Und auch bei den großen Tragikern ist — zu¬
mindest in den uns erhaltenen Stücken — nichts von einer besonderen
Schätzung der Päderastie zu merken. Die Dramen, in denen Aischylos und
Sophokles das Problem behandelt haben sollen (so Aischylos in den „Myr-
midonen ‘), sind nicht auf uns gekommen; wir wissen daher nicht, in
welchem Sinne dieses geschah . 2 Dabei soll Sophoklos persönlich der Knaben¬
liebe zugeneigt gewesen sein. Wie man dies aber zu seiner Zeit beurteilte,
kann man daraus ersehen, daß Jon nicht gerade in freundlicher Absicht
erzählt, Sophokles habe einmal einem ihm beim Mahl bedienenden schönen
Knaben durch eine scherzhafte List einen Kuß abgelockt . 3 Euripides —
auch in diesem Punkte in Übereinstimmung mit den Sophisten — lehnt
die Päderastie direkt ab. In seinem uns nur in Bruchstücken erhaltenen
„Chrysippos stellte er die obenerwähnte Laios-Sage, und zwar vermutlich in
dem Sinn einer Verurteilung des Lasters dar. Ein uns erhaltenes Fragment
des Dramas „Diktys“ lautet: „Er war mein Freund und niemals führte
mich meine Liebe zur Torheit oder nach Kypris. Ja, es gibt eine andere
Art der Liebe, Liebe für die Seele, rechtschaffen, selbstbeherrscht und gut.
Gewiß hätten die Menschen das Gesetz machen sollen, daß nur der Keusche
und sich selbst Beherrschende lieben sollte, und Zeus Tochter Kypris hätten
sie weiterschicken sollen .“ 4 Das läßt über die Anschauung des Dichters
x ) Vgl. Symonds, a. a. O. S. 42. W. Kroll: Freundschaft und Knabenliebe
(Tusculum-Schriften, IV. Heft). München 1927. S. 27.
2) Vgl. Symonds, a. a. O. S. 77, und W. Kroll, a. a. O. S. 29.
5) Jon, ap. Athen. XIII, 603/04. (Fragm. Hist. gr. II, 46, Müller.) Theodor Gom-
perz, a. a. O. S. 299, führt dies und die oben erwähnte Äußerung des Agesüaos als
ein Sympton für die „starken Gegenkräfte“ an, durch die die griechische Liebe „ein¬
geschränkt und im Zaune gehalten“ wurde, als einen Beweis dafür, daß die öffent¬
liche Meinung gegen jede sexuelle Betätigung, auch die unschuldigste gerichtet war.
4) Zitiert nach Symonds, a. a. O. S. 71.
Die platonische Liebe 59
keine Zweifel. Auch ist zu beachten, daß das von ihm wiederholt darge¬
stellte Freundschaftsverhältnis zwischen Orest und Pylades keine Spur einer
homosexuellen Färbung zeigt . 1 Besonders deutlich tritt die ablehnende
Haltung, die die athenische Gesellschaft gegen die Päderastie einnahm, in
der realistischeren Komödie, insbesondere des Aristophanes zutage. Seine
Haltung in dieser Frage ist darum so besonders symptomatisch für Athen,
weil er mit seiner Dichtung nicht nur dem derben Geschmack der großen
Masse der Kleinbürger, sondern auch den ethisch-politischen Anschauungen
der reaktionären Aristokratie Rechnung zu tragen verstand. Und Aristo¬
phanes wird nicht müde, seinen Spott über das homosexuelle Treiben ge¬
wisser Kreise auszugießen und läßt es auch nicht an ernsten Tönen fehlen,
die deutlich zeigen, wie sehr man sich der großen Gefahr bewußt war,
die für die Öffentlichkeit mit einer solchen Verkehrung des Geschlechts¬
lebens verbunden ist. So wird in den „Wolken“ vom Dikaios Logos der
homosexuelle Eros als unsittlich gegeißelt und als „das Allerschlimmste“
bezeichnet, was einen treffen kann . 2 Auch in den „Vögeln“ brandmarkt
Aristophanes die Knabenliebe als Laster, indem er die Wünsche eines Homo¬
sexuellen satyrisch darstellt und die Gefahren zeigt, die dem Knaben, nach
der im Volk verbreiteten Meinung, davon drohen . 3 Gerade die Komödie
zeigt aber auch, wie stark die Päderastie in gewissen Kreisen verbreitet
gewesen sein muß. Aus dem dorischen Kultur kreis eingeschleppt, stieß sie
jedoch in Athen schon im fünften Jahrhundert auf eine starke moralische
Opposition , 4 deren Träger vor allem die von Platon so leidenschaftlich be¬
kämpften Sophisten waren.
c) Die Stellung der Philosophie , insbesondere Xenophons . Besonders charak¬
teristisch für diese Haltung der Aufklärungsphilosophie ist die Stelle aus
einer Schrift des Prodikos, die das bekannte Thema des „Herakles am
Scheidewege“ zum Gegenstand hat. Da spricht die Tugend zum Laster:
„Du Elende, was hast denn Du, was ein Gut wäre oder wie willst Du denn
wissen, was eine Annehmlichkeit ist, ohne daß Du Dich darum irgend
bemühen magst. Du wartest ja nicht einmal bis sich die Lust nach einem
Genuß regt, sondern schon vorher sättigst Du mit allem . . . Den Liebes-
genuß erzwingst Du, ehe das Bedürfnis danach erwacht durch allerlei künst¬
liche Mittel und bedienst Dich dabei der Männer als wären sie
1) Vgl. Symonds, a. a. O. S. 77.
2) Aristophanes: Die Wolken, 975, 1085/86.
5) Aristophanes: Die Vögel, 157 ff. Vgl. auch „Die Ritter“ 877, Eklesiazusen 112
4) Bethe, a. a. O. S. 459. Kroll, a. a. O. S. 27.
Weiber; so erziehst Du Deine Freunde, indem Du sie bei Nacht mi߬
brauchst und sie bei Tag die besten Stunden verschlafen läßt . . .“ 2 So kann
die Tugend nur sprechen, wenn Päderastie ganz allgemein als Laster gilt!
Auch von einem heftigsten Gegner Platons, von dem Sokrates-Schüler An-
tisthenes ist bekannt, daß er gegen die Knabenliebe aufgetreten . 2 Aus
dem sokratischen Kreis hat sich vor allem Xenophon — und zwar trotz
seiner offenkundigen Spartanerfreundlichkeit — entschieden gegen die
Päderastie gewendet. Man kann vielleicht wegen der Unsicherheit des Ab¬
fassungsdatums darüber streiten, ob sein Dialog „Das Gastmahl“ eine direkte
Gegenschrift gegen die gleichnamige Schrift Platons ist, obgleich auch dies
mehr als wahrscheinlich ist , 3 aber man kann nicht ernstlich bestreiten, daß
das Xenophontische Symposion seiner ganzen Tendenz nach unzweideutig
gegen die Knabenliebe gerichtet ist und eine Verherrlichung der ehelichen Ge¬
schlechtsliebe sein will. Von den zahlreichen Stellen, aus denen dies deutlich
hervorgeht, sei nur auf einige verwiesen. So heißt es einmal, von der
geschlechtlichen Liebe mit einem Manne trage der Knabe „nur Schimpf
und Schande davon“, und zwar von jeder, also wohl auch der nichtkäuf¬
lichen; und wenn jemand einen Knaben durch Überredung gewinnt, „das
macht ihn noch hassenswerter “. 4 Sehr deutlich spricht die folgende Stelle
die Ansicht Xenophons und damit wohl die Durchschnittsmeinung in Athen
aus. „Auch nimmt ja nicht einmal der Knabe mit dem Manne, wie das
1) Bei Xenophon: Memorabilien II, 1; 21—34. Die Übersetzung nach Nestle: Die
Vorsokratiker, S. 197. Doch ist im Text das Wort „ußp^ouöa“ mit „mißbrauchst“
statt wie hei Nestle mit „mißhandelst“ übersetzt.
2 ) Diogenes Laertios VI, 18. Vgl. dazu Heinrich Gomperz, Psychologische
Beobachtungen an griechischen Philosophen, Imago, X. Bd., 1924, S. 45. Bruns,
Attische Liebestheorien usw. Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, V. Bd.,
1900, S. 29. Kroll, a. a. O. S. 28. Ferner derselbe in dem Art. „Knabenliebe“ in
Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft, XI. Bd.,
S. 197 ff.
3) So deutet insbesondere auch Bruns, a. a. O. S. 26, das Xenophontische Gast¬
mahl entschieden als Polemik gegen Platons Symposion. „Während Platon die sinn¬
liche Päderastie bedingt verteidigt“ - im ,Phaidros‘ — „verdammt sie Xenophon
schlechtweg.“ Vgl. auch Rettig: Knabenliebe und Frauenliebe in Platons Symposion.
Philologos, XLI. Bd. 1882. S. 429.
4) Xenophon: Symposion, VIII, 19. Vgl. auch IV, 52; VIII, 10/11; VIII, 31, 32.
Karl Steinhart sagt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des platonischen Gast¬
mahls von der Tendenz des Xenophontischen: Es habe eine offenbar polemische Be¬
ziehung auf Platons Gastmahl, und seine Absicht sei keine andere „als die Bekämpfung
der Knabenliebe“. (Platons sämtl. Werke, übersetzt von Hieronymus Müller m. Einl.
begl. von K. Steinhart, IV. Bd. 1854. S. 268.) Steinhart schließt sich dabei der An¬
sicht K.F. Hermanns an, daß Xenophon bei seinem Gastmahl das Platonische schon
vor sich gehabt habe, a. a. O. S. 267.
Die platonisdie Liebe 61
VVeib, an den Freuden des Liebesgenusses teil, sondern nüchtern sieht er
dem von Wollust Trunkenen zu, weshalb es nicht zu verwundern ist, wenn
sich selbst Verachtung gegen den Liebhaber bei ihm einfindet. Wollte aber
jemand sein Augenmerk darauf richten, so würde er auch finden, daß zwar
von denen, die sich ihrer Sitten wegen lieben, nichts Verwerfliches aus¬
gegangen ist, daß hingegen der unzüchtige Umgang schon viele verab¬
scheuungswürdige Taten erzeugt hat .“ 1 Besonders charakteristisch aber ist
der Schluß des Dialogs. Sokrates hat den Syrakusaner mit seinen Gauklern
ein Spiel vorbereiten lassen, „woran die Zuschauer am meisten Freude haben
dürften “. 2 Es wird eine Pantomime von Dionysos und Ariadne. Nach
dem Anblick des Liebesspiels, das die beiden Schauspieler aufführten, „da
schworen“, heißt es bei Xenophon „die Unverheirateten zu heiraten, die
Verheirateten aber schwangen sich auf ihre Pferde und ritten zu ihren
Frauen, um dieser froh zu werden “. 3 Vollends die nachplatonische Philo¬
sophie 4 steht der Päderastie durchaus feindlich gegenüber, erklärt sie für
ein naturwidriges Laster. Aristoteles, der Schüler Platons, der mit ihm
jahrelang in innigster Arbeitsgemeinschaft gelebt hatte, spricht in der Niko-
machischen Ethik 5 von der Knabenliebe im Zusammenhang mit gewissen
krankhaften Dispositionen. „Ich denke hier einmal an die Erscheinungen
tierischer Wildheit wie bei jenem Weibe, das die Schwangeren aufgeschlitzt
und die Kinder verzehrt haben soll, oder wie bei gewissen Völkerschaften,
die ihre Lust darin finden sollen, rohes Fleisch oder auch Menschenfleisch
zu fressen und ihre Kinder unter sich zum Schmause zu verschenken, oder
auch an das, was man von Phalares 6 berichtet. Das sind also Erscheinungen,
in denen eine tierische Art zutage tritt, andere treten hie und da infolge von
Krankheiten und Wahnsinn auf, wie es bei jenem Menschen der Fall war,
der seine Mutter schlachtete und aufaß, oder bei dem Sklaven, der die Leber
seiner Mitsklaven verzehrte. Wieder andere Abnormitäten haben Ähnlichkeit
mit krankhaften Zuständen oder kommen von der Gewohnheit her, so das
Ausraufen der Haare, das Verzehren der Nägel, das Verschlingen von Kohlen
und Erde. Auch die Päderastie gehört hieher, zu der den einen die
Neigung von Natur anhaftet, den andern, z. B. solchen die von Jugend auf
mißbraucht worden sind, infolge der Gewohnheit.“
1) Xenophon: Symposion, VIII, 21/22.
2) A. a. 0 „ VII, 2.
3) A. a. O. IX.
4) Vgl. W. Kroll, a. a. O. S. 28; Symonds, a. a. O. S. 106.
5) VII, 6 (1148 b).
6) Tyrann von Akragas, war wegen seiner Grausamkeit bekannt.
62
Haus Kelsen
d) Die antipäderastische Tendenz der Strafgesetzgebung und der Moral.
Auch die athenische Gesetzgebung enthielt Bestimmungen, deren anti¬
päderastische Tendenz offenkundig ist. So war die Anwesenheit Unbefugter,
d. h. von Personen über ein gewisses Alter, in den Ringschulen der Knaben
bei Todesstrafe verboten. 1 Nach dem sogenannten vö[tO£ Tf)<; eraiprjaecog traf
den Jüngling, der sich zur Päderastie für Lohn gebrauchen ließ, die Strafe
der totalen Atimie, d. i. der Verlust aller bürgerlichen Ehrenrechte. Er
verliert die Fähigkeit, ein öffentliches Amt zu bekleiden, im Rat oder in
der Volksversammlung das Wort zu ergreifen oder vor Gericht aufzutreten.
Versucht ein der Atimie Verfallener ein solches Recht auszuüben, kann
gegen ihn mit der YQoeqprj etaiorjaecix; vorgegangen werden. Auf Verurtei¬
lung stand Todesstrafe. Die gleiche Klage richtete sich auch gegen Ver¬
mieter und Mieter minderjähriger Knaben. 2 Derartiger Klagen bediente man
sich auch gar nicht selten im Kampfe gegen politische Gegner. 3 Ein klas¬
sisches Beispiel liefert die berühmte Rede des Aischines gegen Timarch.
Allein wenn auch nur die käufliche und gewerbsmäßige Päderastie
strafbar war, als moralisch verwerflich galt auch jede andere. Nur
daß das sittliche Urteil angesichts der tatsächlichen Verbreitung dieser Form
des Eros in den höchsten Schichten der Gesellschaft kein einheitliches war.
Offenbar kämpften zwei verschiedene Anschauungen miteinander. Ein typi¬
sches Symptom dafür ist die in der Literatur sehr beliebte Unterscheidung
zwischen einer edlen, unsinnlichen und einer gemeinen, sinnlichen Knaben¬
liebe. Der Konflikt innerhalb der öffentlichen Meinung drückt sich in einer
von Plutarch vermittelten Anekdote aus, die sich an die aus Liebespaaren
gebildete „heilige Schar“ des Pelopidas knüpft. Als Philipp von Makedonien
die 300 bei Chaironea Gefallenen erblickte, soll er ausgerufen haben: „Ver¬
flucht sei jeder, der meint, daß diese Männer irgend etwas niedriges getan
oder geduldet haben.“ 4 Diese Meinung muß also doch wohl sehr verbreitet
gewesen sein. Sehr treffend bemerkt Bruns: „Das päderastische Problem
irritierte die Gesellschaft. Man hat nie ganz aufgehört, diese Verbindung
1) Aischines: Rede gegen Timarch, 9—12. Vgl. Symonds, a. a. O. S. 82, 87.
Licht: Sittengeschichte Griechenlands, II, S. 162.
2) Vgl. Lipsius: Attisches Recht und Rechtsverfahren, 1915. S. 455h Für die
Straffälligkeit des Mieters „machte es keinen Unterschied, ob er einen Minderjährigen
oder Volljährigen mietete. In beiden Fällen traf ihn im Falle der Verurteilung die
Todesstrafe, ebenso den, der einen Minderjährigen zu dem Zwecke vermietet hatte.
Aber nur dann unterlagen der Mieter wie der Vermieter dem Gesetze, wenn der
Gemißbrauchte dem Bürgerstande angehörte.“
3) Vgl. Kroll, a. a. O. S. 24.
4) Vgl. Kroll: Pauly-Wissowa, XI, S. 900. Symonds, a. a. O. S. 61.
Die platonische Liehe 63
als widernatürlich zu verdammen.“ Er meint, es hätte „eine strenge Familien¬
tradition mit einer mehr oder weniger offenen Verteidigung der ernsten
Verhältnisse dieser Art“ gerungen. 1 Und Bethe stellt fest: Es muß immer
— auch zur Zeit der höchsten Blüte der Knabenliebe — Sittenprediger ge¬
geben haben, „die die Knabenliebe als widernatürliche Unzucht verdammten“.
„In den nichtdorischen Staaten, in denen allein diese Opposition aufkam
und Fuß fassen konnte, war die Knabenliebe trotz öffentlicher Anerkennung
ein Laster ... 2 3 4 Und Symonds betont, wie furchtbar den Griechen jene
„Verirrung des Gefühls war, die zwar jeder tieferen Art persönlicher Zu¬
neigung anhaftet, aber „durch die unvermeidliche Eigenart der Knaben¬
liebe gesteigert werden mußte.“ Er macht die sehr zutreffende Beobachtung,
daß Dichter, die die Knabenliebe offen besangen, sich dabei doch sichtlich
„gegen die Macht ihrer eigenen Gefühle auflehnten und entrüsteten“, wie
etwa Theognis, der seinen Eros als „bittersüß und angsterfüllt“ schildert .3
e) Zeugnisse aus Platons Schriften. Vor allem aber kann man aus Platons
eigenen Schriften ersehen, wie entschieden die Päderastie auch in der guten
Gesellschaft Athens verpönt war. Im „Symposion“ ist zu lesen, daß die
Väter den Knaben Erzieher bestellten, hauptsächlich um zu verhindern,
„daß sie sich mit ihren Liebhabern unterhalten, und dem Erzieher vor
allem dies auftragen“ und „daß die Altersgenossen und Gefährten des Knaben
ihm Vorwürfe machen, wenn sie sehen, daß derartiges geschieht und bei
diesen Vorwürfen von den Eltern nicht gehindert werden und nicht ge¬
tadelt werden, daß sie Unrecht hätten.“* Auch aus der Rede, die Pausanias
hier zum Lobe des Eros hält, kann man deutlich das abfällige Urteil der
Gesellschaft über die Knabenliebe herausfühlen. Offenbar um seinen Eros
aus dem Bereich der schärfsten Angriffe auszuschalten, beeilt sich Platon
zwischen der wahren Päderastie und der Liebe zu noch im Kindesalter
stehenden Knaben einen deutlichen Trennungsstrich zu ziehen. Die richtigen
Päderasten „lieben nicht Kinder, sondern solche, die schon anfangen Ver-
1) Bruns, a. a. O. S. 25.
2) Bethe, a. a. O. S. 446.
3 ) Symonds, a. a. O. S. 63. Er resümiert: „Wenn die griechische Literatur reich
an Erwähnungen der Päderastie ist und wenn diese Leidenschaft eine bedeutende
Rolle in der griechischen Geschichte gespielt hat, so darf man doch nicht glauben,
die Mehrheit des Volkes wäre nicht viel mehr für weibliche Schönheit empfänglich
gewesen. Im Gegenteil sprechen die besten Quellen von der Päderastie als einer
Eigentümlichkeit, welche Krieger, Gymnasten, Dichter und Philosophen von der
großen Masse unterschied. Was uns von Künstleranekdoten erhalten ist, bezieht sich
im wesentlichen auf ihre Vorliebe für Frauen.“ A. a. O. S. 121.
4) Symposion 10 (183 St.).
nunft zu hegen**, solche, denen schon anfängt der Bart zu keimen. Ja, er
schlägt sogar ein Gesetz vor, das die Liebe mit Kindern verbietet. Die
Liebhaber von Kindern sind es
„die die Schande gebracht haben, so daß manche zu sagen wagen, den Liebenden
zu willfahren sei schimpflich. Sie sagen es mit dem Blick auf jene, da sie deren
Ungebühr und Unrecht sehen.“ 1
Von „Schande , „Ungebühr* und „Unrecht** muß also doch wohl im
Zusammenhänge mit der Päderastie ganz allgemein die Rede gewesen sein ! 2
Und der Dialog „Phaidros** ist es, aus dem man erfährt, daß das Liebes¬
verhältnis eines Knaben zu einem Manne „aus Rücksicht auf die öffent¬
liche Meinung** lieber geheimgehalten wird, da man fürchten muß, „es
möchte Schande daraus entstehen, wenn die Leute davon erfahren**; 3 und
daß der Liebhaber in den Verwandten und Freunden seines Lieblings „nur
die Störer und Tadler seines angenehmsten Verkehres mit dem Knaben** 4
erblickt; und daß, wenn der Verliebte in seiner Raserei dem Gegenstände
seiner Sehnsucht dienstbar und ihm so nahe als nur möglich zu sein und
bei ihm zu schlafen wünscht, er „was Sitte und Anstand verlangen und
alles, was er zuvor sich zur Ehre rechnete, verachtet**. 5 Diese durch den
knabenliebenden Platon selbst bezeugten Tatsachen zeigen zur Genüge, daß
man in Athen den homosexuellen Eros, ungeachtet seiner Verbreitung gerade
in maßgebenden Kreisen, ja vielleicht vor allem deshalb, als eine schwere
Gefahr für die Jugend und darum als schädlich für den Staat angesehen
und demgemäß mit einer sittlichen Verurteilung darauf reagiert haben muß.
Und dies kann auch gar nicht anders sein in einer Gemeinschaft, die
noch nicht ganz der inneren Auflösung verfallen ist, die sich selbst noch
nicht ganz aufgegeben hat. Der primitivste Selbsterhaltungstrieb der Gesell¬
schaft muß sich gegen eine Form des Eros wehren, die, allgemein ge¬
worden, mit dem Versagen der Fortpflanzung zum sozialen Tod, zum Aus¬
sterben der Gruppe führt. Aus diesem Instinkt heraus wird die Homo¬
sexualität überall dort, wo sie in einem noch lebensfähigen Volke auftritt
und sich zu verbreiten droht, als wider die Natur gerichtet empfunden und
darum als Laster stigmatisiert.
1) Symposion 9 (181/182 St.).
2 ) Vgl. dazu Rettig: Knabenliebe und Frauenliebe in Platons Symposion. Philo-
logus, XLI. Bd, 1882, S. 414 ff. „Ein Makel muß also in jedem Falle, selbst nach
Pausanias, auf dieser Art von Liebe gelastet haben . . .« a. a, O. S. 423.
5) Phaidros VII (232 St.).
4) Phaidros XVI (240 St.).
5) Phaidros XXXII (252 St.).
Die platonische Liehe 65
„Und wie man diese Dinge auch betrachten zu müssen glaubt, ob im Scherz oder
im Ernst, so viel muß man sich doch klar machen, daß, was die Vereinigung des
weiblichen und männlichen Geschlechts zum Zwecke der Zeugung betrifft, die daraus
erwachsende Lust beiden Teilen eine naturgemäß verliehene zu sein scheint, während
die Gemeinschaft von Männern mit Männern oder von Weibern mit Weibern wider¬
natürlich ist.“ „Aber die widernatürlichen Leidenschaften von Knaben für Knaben
und Mädchen für Mädchen sowie von Männern für Männer und von Weibern für
Weiber, diese Quelle unsäglichen Unheils für Einzelne wie für ganze Staaten — wie
kann man diesen Vorbeugen und welches Gegenmittel läßt sich finden, um einer
solchen Gefahr zu entrinnen? Das ist wahrlich nichts Leichtes! Denn während bei
vielen anderen Punkten, wo unsere Gesetzgebung mit den gemeinhin geltenden An¬
schauungen in Widerspruch steht, ganz Kreta und Sparta unsere willkommenen und
vielvermögenden Bundesgenossen sind, sind sie — unter uns gesagt — in Sachen der
Liebesbegierden unsere ausgesprochenen Widersacher. Denn wenn wir die in dieser
Beziehung vor dem Laios herrschende naturgemäße Sitte zum Gesetz erheben und
dafür geltend machen, daß es ganz in Ordnung war, daß Männer und Jünglinge
nicht miteinander in einem Liebesverkehr wie mit Weibern standen, wobei wir uns
auf das Beispiel der Tierwelt berufen und darauf hinweisen, daß da keine derartige
Berührung stattfindet, eben weil sie widernatürlich ist, so wäre das doch ein durchaus
vernunftgemäßes Vorgehen, das auf allgemeine Beistimmung rechnen müßte.“
Denn wer sich der Knabenliebe hingibt,
„trägt vorsätzlich zum Absterben des menschlichen Geschlechts bei und säet auf
Fels und Stein, wo der Zeugungskeim niemals feste Wurzel fassen und zu seiner
natürlichen Entwicklung gelangen kann.“
Es ist ein athenischer Schriftsteller, den wir hier zitieren, um ihn als
Zeugen dafür anzuführen, daß im Athen Platons die Homosexualität als
staatsgefährlich verabscheut war. Es ist Platon selbst, aus dessen „Nomoi“
diese wichtige Anklage gegen die Päderastie stammt, 1 Aber es ist der alte
Platon, der so spricht, der Greis, dessen Eros schon gestorben und in der
Erinnerung nur mehr als die „Quelle unsäglichen Unheils“ weiterlebt. Man
spürt aus diesen Zeilen, wie der Jüngling und Mann unter ihm gelitten
haben, wie sehr dieser ganz und gar auf Staat und Gesellschaft gerichtete
Geist das Antisoziale seiner sexuellen Veranlagung erkannt, wie er bei seiner
politischen Haltung gegen den sittlichen Verfall und für Wiederherstellung
altväterlicher Sitte als Sünde empfunden haben muß, daß er sich unfähig
i) Nomoi I, 8 (636 St.), VIII, 5 (836 St.), VIII, 7 (839 St.); vgl. auch VIII, 8 (841 St.),
wo Platon sagt, daß bei allen den Geschlechtsverkehr betreffenden Gesetzen es ins¬
besondere darauf ankomme, daß man mindestens der Päderastie gründlich den Garaus
mache. Der Widerspruch, der in der Behandlung des Erosproblems zwischen den „Nomoi“
und dem „Symposion“ und „Phaidros“ besteht, wurde zwar schon oft bemerkt. Vgl.
z.B. Symonds, a. a. O. S. 96. Aber eine befriedigende psychologische Erklärung wurde
bisher nicht gefunden.
Imago XIX.
5
66 Hans Kelsen
fühlte, dem Vaterland durch Gründung einer Familie und Begründung von
Nachkommenschaft zu dienen, und wie gewaltig der Kampf war, den er
gegen seine innerste Natur geführt hat, wenn er sich heroisch den Verzicht
auf Triebbefriedigung als sittliches Ideal auferlegt hat.
§ 7. Platons Konflikt mit der Gesellschaft. Diese Veranlagung Platons
bedingte nicht nur ein Anderssein gegenüber der großen Masse der normal
empfindenden Menschen, sondern drängte ihn wohl auch in eine gewisse
Sonderstellung innerhalb der der üblichen Knabenliebe fröhnenden Kreise.
Man hat durchaus den Eindruck, daß die meisten dieser Männer, die sich
zu schönen Knaben hingezogen fühlten, auch der Liebe zum anderen Ge¬
schlecht fähig waren. Homosexuell waren sie vermutlich nur während einer
gewissen Periode ihres Lebens, als Jünglinge, die noch mehr mit Knaben
als mit Frauen Verkehr hatten, und in denen noch die Erotik der Knaben
lebendig war. Aber, zu Männern geworden, nahmen sie Frauen und zeugten
Kinder und blickten auf den knabenliebenden Eros als auf eine Jugend¬
torheit zurück. Die meisten der Männer, von denen berichtet wird, daß
sie für Männerschönheit nicht unempfänglich waren — wie Solon, Aischylos,
Sophokles u. a. —, waren verheiratet und hatten Nachkommenschaft; so
insbesondere auch Platons Meister und Vorbild Sokrates 1 und dessen Liebling
Alkibiades, so aber auch Dion, an den Platon in leidenschaftlicher Liebe
gebunden war. In ihrer gewöhnlichen Erscheinungsform beruhte die Päderastie
offenbar auf einer bisexuellen Veranlagung und somit nicht eigentlich auf
einer Verkehrung, sondern auf einer Verdoppelung, einer reicheren Ent¬
faltung des Geschlechtstriebes. Sie äußert sich symptomatisch darin, daß die
Amazone und der Hermaphrodit Lieblingsmotive der darstellenden Kunst
sind. 2 Sehr bezeichnend ist zum Beispiel, daß Xenophon in seinem „Gast¬
mahl“ den Kritobulos als jungen Ehemann und dabei zugleich als in den
Kleinias verliebt darstellt. Xenophon trägt auch keine Bedenken, diesen
knabenliebenden Mann sich am Schluß des Dialogs, veranlaßt durch das
dargestellte Liebesspiel, beeilen zu lassen, ins Ehebett zu kommen. 3 Typisch
1) H. Gomperz, a. a. O. S. 40 f.: „Böse Zungen des nächsten Jahrhunderts be¬
haupteten sogar, in seinen Beziehungen zum weiblichen Geschlecht habe Sokrates eher
ein Zuwenig als ein Zuviel von Selbstbeherrschung gezeigt. Außer seiner Frau habe
er sich auch mit öffentlichen Dirnen eingelassen.“ Und S. 62: „An und für sich war
Sokrates ohne Zweifel für den Reiz beider Geschlechter empfänglich, und diese doppelte
Empfänglichkeit war ja auch in dem Kreis, in dem sich sein Leben abspielte, im vor¬
nehmen athenischen Bürgertum der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts, durchaus
die Regel.“
2) Wie Lagerborg, a. a. O. S. 46 hervorhebt.
3) Vgl. auch Symonds, a. a. O. S. 85.
Die platonische Lieb«
6?
auch der Bericht des Aristoteles von einem Zwist zwischen zwei vor¬
nehmen jungen Männern in Syrakus, der zu einem Yerfassungssturz ge¬
führt haben soll: „Der eine nämlich hatte in Abwesenheit des andern
dessen Geliebten verführt, darüber aufgebracht, verführt ihm nun wieder
der andere seine Frau.“ 1 Solche Bisexualität ist vom sozialen Standpunkt aus
viel weniger gefährlich und wurde darum subjektiv durchaus nicht als Minder¬
wertigkeit empfunden; 2 denn sie drängt nicht von der Gesellschaft ab, sie
läßt einen mit der Gesellschaft, der gegenüber man auch die Verpflichtung
zur Fortpflanzung erfüllt, beinahe doppelt verbunden bleiben. Es scheint, daß
Platon diese glücklichere Form des Eros nicht beschieden war, daß er,
der nie an eine Familiengründung gedacht hat, dem tragischen Schicksal
einseitiger Homosexualität verfallen war; und daß er eben darum in
einen so tiefen und schmerzlichen Konflikt mit sich selbst, mit der Welt
und insbesondere mit der Gesellschaft geraten mußte. Mehr noch als
der Jubel des sich zu sich selbst bekennenden Eros tönt daher die Qual
des sich seiner selbst schämenden, über sich selbst Gerichtstag haltenden, un¬
selig verdammten Eros aus dem „Phaidros“, dem Hohen Lied, das Platon auf
die Knabenliebe geschrieben. Wie er aber diesen Eros als den Tyrann seiner
Seele gehaßt haben mag, das verrät das mit leidenschaftlichem Abscheu
gezeichnete Bild des tyrannischen Charakters im IX. Buch der „Politeia“,
als dessen tiefstes Geheimnis er den Eros preisgibt, eben jenen Eros, den
er im „Symposion“ über alles gepriesen. Dadurch wird der Jüngling ver¬
dorben, daß ihm in schlechter Gesellschaft „irgendeine Liebesleidenschaft
(ein Eros) eingepflanzt wird, die über die faulen und den vorhandenen Besitz
verschleudernden Begierden das Vorsteheramt erhält, so eine rechte, große,
beflügelte Drohne“. Dadurch wird er zum Tyrannen, daß er seine Seele
ganz „mit jener eingeschleppten Wahnsinnskrankheit füllt“, die Platon in
seinem „Phaidros“ als einen „göttlichen“ Wahnsinn gedeutet. „Ist nicht
1) Politik V, 3, § 1 (1303 b).
2) Die sexuelle Zuneigung eines Mannes zu einem Manne ist zwar sehr häufig,
aber durchaus nicht immer Symptom eines femininen Charakters. Es liegt nahe,
daß sich zum Manne hingezogen, vom Weibe abgestoßen fühlt, wer selbst weiblich
veranlagt ist. Und diese weibliche Veranlagung eines Mannes galt der offiziellen griechi¬
schen Moral als minderwertig, als „krankhafte Unmännlichkeit“ (Symonds, a. a. O.
S. 59). Aber gerade bisexuelle Anlage ist mit männlichem Charakter vereinbar. Hier
ist es ja das Mädchenhafte an der Knabenschönheit, das anzieht. Daß das männliche
und das weibliche Prinzip beim konkreten Menschen in verschiedenen Mischungs¬
verhältnissen auftreten kann, daß es daher männliche Weiber und weibliche Männer
gibt, diese Tatsache hat — wie H. Gomperz, a. a. O, S. 26, hervorhebt — schon
Parmenides erkannt.
5*
~1
68 Hans Kelsen
eben dies der Grund, daß Eros schon von altersher ein Tyrann heißt“,
fragt Sokrates hier bei dieser Verdammung des Tyrannen, in dessen Innern
„Eros als Tyrann thront und das ganze Reich der Seele leitet“. Ist das
noch derselbe Eros, den er im „Symposion“ jubelnd zum König, ja zum
„König der Götter“ 1 ausgerufen? Wie anders als hier und im „Phaidros“
hat Platon seinen Eros auch sehen müssen, wenn er diesen Eros, den Eros
schlechthin, als den Verführer des Jünglings zur Tyrannis brandmarkt.
„Und bei all diesem Treiben werden die Ansichten, die er bis dahin von Kind
auf über Tugend und Laster hatte, jene Ansichten, die der gewöhnlichen Anschauung
über Rechtlichkeit entsprechen, überwältigt werden von den neuerdings erst aus der
Knechtschaft befreiten, die im Bunde stehen mit Eros, dessen Leibwache sie bilden,
und die früher nur im Traum, wenn er schlief, sich freimachen konnten, solange er
noch unter dem Druck der Gesetze und seines Vaters, der demokratischen Richtung
in seinem Innern treu blieb; seit er aber unter des Eros tyrannische Herrschaft geraten
und nun für immer in Wirklichkeit ein solcher geworden ist, wie er es früher nur
ab und zu im Traume war, wird er vor keinem entsetzlichen Mord, vor keiner sünd-
lichen Speise oder Tat mehr zurückschrecken, sondern der Eros, der als tyrannischer
Gebieter in voller Ungebundenheit und Gesetzlosigkeit in ihm waltet, wird den, der
ihn, wie ein Staat seinen Herrscher, in sich hat, jedem Wagnis zuführen, das ihm
und dem ihn umgebenden lärmenden Schwarme Unterhalt verschafft; jenem Schwarme,
der teils von außen in ihn eingedrungen ist infolge schlechter Gesellschaft, teils von
innen aus durch die jenen gleichartigen Triebe, die sich auch in ihm selbst vorfanden,
entfesselt und in Freiheit gesetzt worden ist.“ 2
Das ist der böse, teils durch schlechte Gesellschaft von außen ein¬
gedrungene, teils schon im Innern angelegte, in seiner Entfesselung
furchtbare Trieb; das sind die „rasenden Begierden“, „die keinen Wider¬
stand dulden, unzugänglich wie ein Tier für jeden Zuspruch der Vernunft“,
von denen Platon im „Timaios“ spricht; das ist der Eros, gegen den Platon
seine Seele nicht anders zu wahren vermag als durch das rigorose Ideal
der Keuschheit.
§ 8 . Platons Ideal der Keuschheit: Sokrates . Das hat ihn an Sokrates
gebunden. Auch in diesem dämonischen Manne sah er seinen Eros lebendig,
sah ihn unausgesetzt den Jünglingen nachstellen, sie mit den glänzenden
Gaben seines seltenen Geistes locken. Aber er, der wie kein anderer sich
auf das gefährliche Liebesspiel verstand, der trotz seiner Häßlichkeit wie
kein anderer die Liebe gerade der Schönsten zu gewinnen vermochte, rein
und unberührt und niemals besiegt vom irdischen Eros ging er aus all
seinen Liebeshändeln hervor. Im „Symposion“ hat Platon der Keuschheit
1) Symposion, C 18 (195 St.).
2) Politeia IX, 1—3 (571/75 St.).
Die platonische Liebe
69
des Sokrates und damit aller Keuschheit überhaupt das unsterbliche Denkmal
gesetzt. Von Wein berauscht, verrät Alkibiades das Geheimnis des seltenen
Mannes; wie er, erst von seinem Geist gefangen, ja erschüttert und über¬
wältigt wurde, wie ihm bei seinen Reden das Herz stärker klopfte als den
korybantischen Tänzern und er bis zu Tränen gerührt wurde, wie er dann
zu ihm, der sich ihm als Liebender gab, selbst von Liebe ergriffen wurde
und demütig um seine Liebe buhlte, und wie doch alle Versuche des ver¬
führerischen Jünglings vergebens waren. Wohl war es ihm gelungen, den
Sokrates dazu zu bringen, mit ihm allein in seinem Hause zu schlafen,
wohl war er mit Sokrates unter einer Decke gelegen und hatte seine Arme
um ihn geschlungen, eine ganze Nacht, aber „bei Göttern, bei Göttinnen,
nicht anders stand ich auf, nachdem ich mit Sokrates geschlafen hatte, als
wenn ich beim Vater oder älteren Bruder geschlafen hätte“. 1 Solche Keusch¬
heit mag dem kühleren Sokrates, der überdies zu Hause Weib und Kind
hatte, leichter gefallen sein als dem leidenschaftlicheren Platon, dem die
Ehe Zeit seines Lebens fremd blieb. Wohl war auch Sokrates eine erotische
Natur und sein Rationalismus nur eine Maske, um seine Leidenschaften
zu verbergen, aber Eros in ihm nicht so stark, als daß er der Vernunft
hätte ernstlich den Sieg streitig machen können. Als der syrische Physio-
gnomiker Zopyros aus den Gesichtszügen des Sokrates auf dessen Sinnlichkeit
schloß, soll dieser — gegen den lebhaften Protest seiner Schüler — erklärt
haben: „Zopyros hat richtig gesehen; doch bin ich dieser Begierden Herr
geworden.“ 2 Auch Platon hat, seinem Meister folgend, die Vernunft zum
Kampf gegen Eros angerufen; aber auf dem Weg zur Tugend ward sie
1) Symposion 32 (215 St.), G 54 (219 St.).
2) Vgl. Heinrich Gomperz, a. a. O. S. 37. Gomperz betont, daß bei Sokrates
im Mittelpunkt seines Lebens- und Gedankenkreises „der Begriff der Selbstbeherr¬
schung“ steht und „daß das eigentliche Ziel dieser sokratischen Selbsterziebung die
Überwindung des Verlangens nach dem körperlichen Besitz schöner Knaben ge¬
wesen ist“ (a. a. O. S. 63). Sokrates ist im allgemeinen kein Asket, er duldet Speis
und Trank und insbesondere auch Geschlechtsverkehr mit Frauen. Aber die einzige
Selbstbeschränkung, von der er keine Ausnahme zuläßt, ist die sexuelle Knabenliebe
(a. a. O. S. 65). Als Motiv dieses Liebesverzichtes und der mit ihm verbundenen
Sublimierung des Eros vermutet H. Gomperz: „Sokrates war in dem Kreis, in dem
er lebte, nicht geboren. Und dem athenischen Kleinbürgertum, dem er entstammte,
war w i r sehen es aus der Komödie — die Knabenhebe immer fremd geblieben:
die ,gute Gesellschaft 1 Attikas hatte diese Gefühls weise von den Dorern übernommen.
Konnte so nicht das, was Sokrates den Willen und die Kraft gab, sein Verlangen
nach dem körperlichen Besitz schöner Knaben zu überwinden, der Geist seines Eltern¬
hauses, die Umgebung, in der er aufwuchs, gewesen sein? Und wenn er dem Kritias
vorhielt, das Verlangen nach dem Umgang mit Knaben sei etwas Schweinisches,
hören wir in diesen Worten etwa den Nachklang des Urteils, das Sokrates von den
7 °
Hans Kelsen
ihm keine ausreichende Stütze. Über allen sokratischen Rationalismus hinweg
mußte Platon sein Heil in der Mystik suchen; nur durch sie erhoffte er
den letzten Schritt zur Schau des sehnsüchtig gesuchten, des Ewig-Guten.
Und obgleich Platon in der entscheidenden Phase seines Lebens und seines
Denkens die sokratische Methode der kritischen Verstandesarbeit weit hinter
sich gelassen, so hat er doch bis in seine Altersdialoge hinein an der Gestalt
des Meisters festgehalten; hat sie zwar umgedeutet, hat aus dem alten,
häßlichen einen „jüngeren und schöneren Sokrates“ 1 gemacht, aber er ist
dem Vorbild seiner Jugend treu geblieben, in dem er bis zu den letzten
Regungen seines Eros das von ihm selbst nie erreichte Ideal der Keuschheit
verehrt hat.
In den Gesprächen, mit denen Sokrates in der von Erotik geschwän¬
gerten Atmosphäre der guten Gesellschaft Athens die nach geistiger Kultur
durstigen Seelen der aristokratischen Jünglinge faszinierte, ging es um die
Tugend und vor allem um die Gerechtigkeit. Nicht Naturwissenschaft
oder Soziologie war der Gegenstand der Begriffsspekulationen dieses Seelen¬
fängers. Denn mehr als an allem anderen lag ihm an sittlicher Rechtfertigung
des persönlichen Lebens. 2 Nach der schweren Erschütterung, die das sittliche
athenischen Kleinbürgern seit seiner Kindheit zu vernehmen gewohnt war?“ (a.a.O.S. 67).
Das mag sicherlich mitgespielt haben; aber es reicht keineswegs aus, um zu erklären,
daß der Aristokrat Platon gerade in diesem Punkte seinem Meister zu folgen so
leidenschaftlich bemüht war. Und gegen die Päderastie war man nicht nur in den
Kleinbürgerkreisen Athens und daher nicht nur in der Komödie, sondern auch die
ganze Sophistik und mit ihr die Tragödie des Euripides zeigen die gleiche Tendenz.
H. Gomperz leugnet es zwar, aber es muß doch so etwas wie eine gegen die Päderastie
„empörte öffentliche Meinung“ gegeben haben, und in den Kreisen, in denen das
Leben des Sokrates und der meisten seiner Jünger verlief, kann sich „die unvergeistigte
oder doch nur wenig vergeistigte Knabenliebe“ durchaus nicht so von selbst verstanden
haben wie H. Gomperz annimmt. Schon aus Gründen, die er selbst feststellt. Einmal
weil diese Knabenliebe in der großen Masse des Volkes als Laster galt, eine Auf¬
fassung, die unmöglich in der höheren Schichte einer Demokratie ohne Widerhall
bleiben konnte: dann aber, weil sie aus dem dorischen Kulturkreis kam, dem das
offizielle und ganz besonders von der „guten“ Gesellschaft repräsentierte Athen stets
feindlich gegenüber stand.
1) Briefe II (514 St.).
2) Heinrich Gomperz schreibt a. a. O. S. 68/69: „Wenn dann in Sokrates’Seele
schwere sittliche Kämpfe stattfanden, konnte nicht auch die Vorherrschaft sittlicher
Fragestellungen in seinem Denken eben in ihnen ihren letzten Grund haben? . . .
Unser Streben nach psychologischem Verständnis jedenfalls würde sich mehr be¬
friedigt fühlen, dürften wir die Annahme machen, Sokrates habe sich die Frage: Was
ist das Gute, das Anständige, das Rechte? nicht aus bloß theoretischer Wißbegierde
gestellt, vielmehr ursprünglich darum, weil er wirklich nicht wußte, was für ihn
gut, anständig und recht sei, mit andern Worten, wie er sich verhalten, sein Leben
gestalten solle ... So darf es also wohl nicht unwahrscheinlich heißen, daß für Sokrates
Die platonische Liehe
Bewußtsein durch den Relativismus der Naturwissenschaft und der sophisti¬
schen Gesellschaftslehre erfahren hatte, sucht Sokrates, als der erste große
Repräsentant der religiösen und politischen Reaktion, nach einer festen
Grundlage für den sittlichen Wert; und er glaubt ihn im Verstände des
Menschen gefunden zu haben. Tugend ist Wissen, das menschliches Ver¬
halten nach erkennbaren Begriffen bestimmt, und diese Begriffe Begriffe der
Tugenden oder der Tugend, Wertbegriffe, sittliche Normen für die Gesell¬
schaft. Die rationale Methode seiner ethischen Begriffsspekulation, die, eben
weil sie rationalistisch ist, nur eine Kritik moralischer Prinzipien aber keine
positive Moral geben kann, ist durch und durch sophistisch, wenn auch
sein Ziel: der absolute Wert, durch und durch antisophistisch ist. Um dieses
Zieles willen ist Platon sein Schüler geworden. Die leidenschaftliche Be¬
harrlichkeit, mit der Sokrates immer wieder nach der Gerechtigkeit fragte,
muß den nach Rechtfertigung seiner selbst und der Welt sehnsüchtig
suchenden Jüngling Platon mächtig angezogen haben, obgleich ihm das
Vergebliche der sokratischen Bemühungen, die Unmöglichkeit, auf dem
Wege rationaler Erkenntnis zu einer befriedigenden Bestimmung der Ge¬
rechtigkeit zu gelangen, nicht verborgen geblieben ist. Das zeigen seine
ersten Dialoge, in denen er die Gestalt des Meisters so liebevoll zeichnet,
und die doch alle so ergebnislos enden. Aber vielleicht kam es Sokrates
selbst nicht so sehr darauf an, zu einem bestimmten sachlichen Ergebnis
zu gelangen, wie es ihm auch im Liebesspiel nicht darauf ankam, die
reife Frucht zu pflücken; vielleicht war etwas ganz anderes sein Ziel, das
Ziel seiner Beschäftigung mit den Jünglingen. Was dem jungen Platon
aus den vielen, mitunter recht krausen Reden seines Lehrers zu hören
verlangte, das war nicht so sehr die Antwort auf die Frage, was eigentlich
das Gute und Gerechte sei, sondern daß es überhaupt sei, daß es so etwas
wie einen sittlichen Wert im Leben des Einzelnen, und daß es eine Ge¬
rechtigkeit für die Gesellschaft wirklich gibt. Das aber war es gerade, was
Sokrates zu beteuern nicht müde wurde und was er besser als durch seine
logischen Argumentationen durch sein Leben bewies. War dem Sokrates
auch keine Begriffsbestimmung der Tugend, keine Definition der Gerechtigkeit
gelungen, in seiner Persönlichkeit selbst konnte Platon die Verwirklichung
der Tugend, die lebendige Gerechtigkeit sehen.
die Frage nach dem Wahren und Guten ursprünglich die Bedeutung einer ganz per¬
sönlichen Lebensfrage gehabt hat.“ Gomperz spricht es direkt aus, daß hei Sokrates
zwischen seiner ethischen Problemstellung und seinen päderastischen Regungen ein
Zusammenhang bestanden haben mag! (a. a. O. S. 70).
7 % Hans Kelsen
Darum mußte der Tod des Sokrates für Platon zu der gewaltigsten Er¬
schütterung seines Lebens werden. Mit feinem Gefühl hat der russische
Mystiker Solowjew 1 gesehen, daß Sokrates dem Platon mehr als ein Lehrer,
daß er dem vaterlosen Jüngling der zweite, der geistige und sittliche Vater
war. In dem schweren Kampf, den Platon gegen seine eigene Natur zu
führen hatte, war ihm Sokrates die stärkste Stütze. Fühlte er sich schon
durch seine eigene Veranlagung in einen feindlichen Gegensatz zu dieser
demokratischen Gesellschaft gestellt, in der nur die Vielen und Vielzuvielen
nach dem schnöden Grundsatz der Gleichheit sich breit machten; zu einer
Flucht vor der Welt gedrängt, in der es nur wenig Hoffnung auf einen
Sieg des Guten gab, so drohte die Hinrichtung des Sokrates die letzten
Bande zu zerreißen. Eine Gesellschaft, die den einzig Gerechten zum Tode
verurteilt, eine Welt, in der der einzig Keusche sterben muß, kann nur
das Reich des Bösen sein. Für Platon tut sich beim Tode des Sokrates der
„Abgrund des Bösen“ 2 auf. Das ist der Chorismos, der von nun an sein
ganzes Denken spaltet; das ist der Dualismus, der sein System beherrscht
und der unter dem Druck des erschütternden Erlebnisses einen tief pessi¬
mistischen Sinn annimmt.
S p' Der platonische Pessimismus. Diese Stimmung ist es, die aus den
Dialogen „Gorgias“ und „Phaidon“ spricht. Der wahre Philosoph kehrt
sich vom Staate, von diesem Staate einer verworfenen Demokratie ab.
„Eine tiefe Kluft liegt zwischen ihm und dem Staate“, so charakterisiert
Apelt 3 Platons Haltung im „Gorgias“. Und in der Tat, der platonische
Chorismos tut sich hier auf zwischen Staat und Philosophie, ja, zwischen
dieser und dem Leben überhaupt. Der Gedanke taucht auf: Wenn es wahr
ist, daß diejenigen die Glücklichsten sind, die nichts bedürfen, dann sind
am glücklichsten die Toten. „Mit dem Leben, so wie es die meisten auf¬
fassen, steht es in der Tat schlimm.“ Das düstere Wort des Euripides wird
zitiert: „Wer weiß, ob nicht das Leben Sterben, das Sterben aber Leben
ist. Und Platon läßt den Sokrates, ergänzend, hinzufügen: „und ob wir
in der Tat nicht vielleicht tot sind“. 4 Das wahre Leben ist nicht im Dies¬
seits. Und auf eine volle Verwirklichung der Gerechtigkeit kann man nur
im Jenseits hoffen, in das die Seele nach dem Tode eingehen muß, um
1) Solowjew: Das Lebensdrama Platons. Aus dem Russischen übersetzt von
Bertram Schmitt. Religiöse Geister, 23. Bd. 1926. S. 44.
2) Solowjew, a. a. O. S. 62.
3) Platons Dialog Gorgias, übersetzt und erläutert von Otto Apelt. 2. Aufl. Philos
Bibliothek. Bd. 148. Leipzig 1922. S. 8.
4) Gorgias XLVII (492, 493 St.).
Die platonische Liehe
ihren Lohn und ihre Strafe zu finden. Im „Phaidon“ aber stoßen wir auf
die Lehre, daß der Leib nur ein Kerker der Seele ist, dem der wahre
Philosoph so bald als möglich zu entfliehen habe. 1 Der (piÄogoqpos als Lieb¬
haber der Weisheit wird in einen schroffen Gegensatz zum (piA,ooco[xato<;
als Liebhaber des Körpers gesetzt. 2 Eine tiefe Todessehnsucht spricht aus
diesem Dialog, dessen Szene das Sterben des Sokrates darstellt.
„Alle, die sich in rechter Weise mit Philosophie befassen, haben es im Grunde
auf nichts anderes abgesehen, als darauf, zu sterben und tot zu sein.“ 3
Wie im „Gorgias“, so steht auch hier der gute, den Leib abtötende, die Sinne
und die Sinnlichkeit unterdrückende, nur der Vernunft lebende „Philosoph“,
steht die ganze „Philosophie“ in bewußtem Gegensätze zum bösen Leben.
Der Philosoph muß sich, wenn er seinen Beruf wahrhaft erfüllen will,
vom Leben und insbesondere von der Liebe abwenden.
„Die ganze Arbeit der Philosophen ist ja nichts anderes als Lösung und Trennung
der Seele vom Leib.“ 4
Denn Philosophie ist auf Erkenntnis des Wahren, des wahren Seins gerichtet
und dieses kann nur durch das reine Denken, nicht aber durch die sinn¬
liche Wahrnehmung erfaßt werden. Durch die Sinne wird die Seele nur
„irregeführt“. 5 Es ist klar, „daß die Betrachtung durch das Auge voll ist
von Täuschung, nicht minder die durch das Ohr und die übrigen Sinne“
und daß man „davon nichts für wahr zu halten habe“. 6 Etwas durch die
Sinne betrachten, heißt aber so viel, wie: „durch den Leib etwas betrachten“. 7
„Beim Betrachten mittels des reinen Denkens scheint uns gewissermaßen die
Todesgöttin mit sich davonzuführen; denn solange wir mit dem Körper behaftet
sind und unsere Seele mit diesem Übel verwachsen ist, werden wir niemals in vollem
Maße erreichen, wonach wir streben.“ 8
Das ist vor allem die Erkenntnis des Guten und des Gerechten; dessen
Ansichsein, das die sinnliche Wahrnehmung nicht zu geben vermag, und
das daher — da seine Existenz als selbstverständlich vorausgesetzt wird —
nur der Gegenstand des reinen, von aller Körperlichkeit und Sinnlichkeit
befreiten Denkens sein kann. Wenn Platon immer wieder mit Nachdruck
1) Phaidon XXIII (82 St.).
2) Phaidon XIII (68 St.).
3) Phaidon IX (64 St.).
4) Phaidon XII (67 St.).
5) Phaidon X (65 St.).
6) Phaidon XXXIII (83 St.).
7) Phaidon XXVII (79 St.).
8) Phaidon XI (66 St.)
j
Hans Kelsen
betont, daß nur der Verstand, nicht aber die Sinne die Wahrheit, das wahre
Sein erfassen können, so meint er eben in erster Linie das Sein des Guten,
Schönen, Gerechten. Und unter den „tausenderlei Unruhen“, die uns der
Körper verursacht und die uns hindern „in der Jagd nach dem Seienden“,
d. h. die uns verhindern, zum Guten zu gelangen, wird das „Liebesver-
langen“ hervorgehoben und besonders betont, daß „auch Kriege, Aufruhr
und Schlachten“ allein eine Folge des Körpers und seiner Begierden sind.
„Es ist also für uns in der Tat eine ausgemachte Sache, daß, wenn wir jemals
eine reine Erkenntnis erlangen wollen, wir uns von ihm freimachen und allein mit
der Seele die Dinge betrachten müssen. Und nicht eher, scheint es, wird uns das
zuteil werden, wonach wir streben und was der Gegenstand unserer Seele ist, nämlich
die Vernünftigkeit, als bis wir gestorben sind — das zeigt sich ganz klar —, solange
wir leben aber nicht.“
Ja, in seinem tiefen Pessimismus in bezug auf das Diesseits, dem ein hoch¬
fliegender Optimismus in bezug auf das Jenseits entspricht, versteigt sich
Platon bis zum Standpunkt eines völligen Agnostizismus; er geht so weit,
zu behaupten:
„Entweder ist es überhaupt unmöglich, ein Wissen zu erlangen oder erst nach
unserem Tode. Denn dann wird die Seele ganz für sich sein, getrennt vom Körper,
eher aber nicht.“ 1
Im Diesseits gibt es ebenso wie keine Gerechtigkeit auch keine wahre
Erkenntnis, die ja nur auf die Gerechtigkeit gerichtet ist. Es ist die Alter¬
native gestellt: Agnostizismus oder Transzendenz nicht nur des Objekts,
sondern auch des Prozesses der Erkenntnis selbst. Dieses von allem Leiblich-
Sinnlichen losgelöste Erkennen verrät schon deutlich die Tendenz zur Mystik;
sie ist eine Konsequenz des pessimistischen Dualismus, der im „Phaidon“
bis zum Äußersten gesteigert ist. Das drückt sich in der hier zuerst voll
entfalteten Ideenlehre aus. Der Gegensatz zwischen den ewig unveränder¬
lichen unsichtbaren Ideen und den sich stetig wandelnden, sinnlich wahr¬
nehmbaren Einzeldingen wird mit dem Gegensatz von Seele und Leib ver¬
knüpft, der gerade hier sichtlich den Gegensatz von Gut und Böse dar¬
stellt. Die Loslösung der Seele vom Leib wird als eine „Reinigung“, als
„Befreiung von einem Übel“ bezeichnet . 2 Die Seele entweicht nach dem
Tode des Leibes „nach einem ihrem Wesen gleichartigen Ort“. Und dieser
Ort wird als ein „würdiger, reiner“ dargestellt, es ist der Ort „des guten
und vernünftigen Gottes “. 3
1) Phaidon XI (66 St.).
2) Phaidon XI (66/67 St.).
3) Phaidon XXIX (88 St.).
7 S
Dem Göttlichen und Unsterblichen“ (— was für Platon immer nur das Gute ist —)
und Übersinnlichen und Einfachen und Unauflöslichen und Immer-sich-Gleich¬
bleibenden ist am ähnlichsten die Seele, dem Menschlichen und Sterblichen und
Mannigfaltigen und Sinnlichen und Auflöslichen und Niemals-sich-Gleichbleibenden
am ähnlichsten hinwiederum der Leib.“ 1
Das Wesen der vernünftigen Seele also ist das Gute. Und da der Leib mit
seinen Begierden ihr entgegengesetzt ist, so kann sein Wesen nur — was
freilich nicht ausdrücklich gesagt wird — das Böse sein. Der Leib ist ein
„Körperartiges“ und dieses ist,
„wie man annehmen muß etwas Niederdrückendes und Belastendes und Erdartiges
und Sichtbares. Mit ihm behaftet wird denn die eben geschilderte Seele, gehemmt
und wieder in die sichtbare Welt zurückgezogen“. 2
Offenbar wird hier durch die Schwerkraft das Böse symbolisiert. Die un¬
sichtbare Seele ist den unsichtbaren Ideen verwandt, der Leib aber gehört
zu den sichtbaren Einzeldingen . 3 Und der Bereich der Ideen muß der Ort
sein, zu dem die Seele nach dem Tode des Leibes gelangt, der Bereich des
guten Gottes. Auch das wird nicht direkt gesagt, sondern geht indirekt
daraus hervor, daß im „Phaidon“ als die erste Idee, das erste „Ding an sich“,
das erste Objekt der Erkenntnis dessen, „was in Wahrheit ist “, 4 5 6 „das Ge¬
rechte an sich“ und sodann das „Schöne und Gute an sich“ bezeichnet
werden. Das Gute ist zwar noch nicht, wie in der „Politeia“, als die
Zentralidee erklärt, aber die „Jagd nach dem Seienden “, 5 die Philosophie
als Erkenntnis der wahren Realität ist auch im „Phaidon“ vor allem und
in erster Linie Erkenntnis des Gerechten, Guten, Schönen. Wenn Platon
hier von Ideen als von den Dingen an sich spricht, so ist fast ausschließlich
von dem Gerechten, dem Schönen, dem Guten, dem Frommen die Rede , 6
im wesentlichen also von Werten. Der Gegensatz von Idee und Einzelding
erscheint hier hauptsächlich als Gegensatz von Wert und Wirklichkeit.
1) Phaidon XXVIII (80 St.).
2) Phaidon XXX (81 St.).
5) Phaidon XXV (79 St.).
4) Phaidon X (65 St.).
5) Phaidon XI (66 St.).
6) Vgl. Phaidon XX (75 St.): „Denn unsere jetzige Untersuchung geht nicht bloß
auf das Gleiche, sondern ebensogut auf das Schone an sich, und das Gute und Ge¬
rechte und Fromme an sich, kurz, wie gesagt, dem wir in unseren in Fragen und
Antworten sich bewegenden Verhandlungen das Siegel des ,an sich 1 aufdrücken“.
Ferner XX (76 St.): „Wenn dem, was wir immer im Munde führen, dem Schönen und
Guten und jeder solchen Weisheit, ein wirkliches Sein zukommt ...“ Ferner XX
(77 St.): „Denn für mich steht nichts so unzweifelhaft fest wie dies, daß all diesen
Vorstellungen, dem Schönen und Guten und allem, was du sonst eben nanntest, das
wahrhaftigste Sein zukommt.“ Vgl. ferner L (78 St.).
Hans Kelsen
Mit der Maßgabe allerdings, daß den Werten, d. h. dem absoluten Wert
allein, die Wirklichkeit des wahren Seins zugesprochen, dem, was man
gewöhnlich Wirklichkeit nennt, den Einzeldingen aber, wahres Sein ab¬
gesprochen wird. Und weil die Welt der Ideen im „Phaidon“ eine Welt
der Werte ist, ist die Weltanschauung, auf die hier Platon abzielt, eine
durchaus normative, eine Werterkenntnis, die letztlich nur eine Erkenntnis
von Gut und Böse sein kann; und die er — in der Polemik gegen Anaxa-
goras — bewußt in Gegensatz zu einer naturwissenschaftlichen Welterklärung
stellt. Und so wie der Gegensatz von Leib und Seele dadurch verabsolutiert
wird, daß der Leib ganz und gar das Böse und die — einheitliche — Seele
ganz und gar das Gute darstellt, wird auch der Gegensatz von Idee und
Einzelding zu einem absoluten gestaltet, indem nur der mit der Seele ver¬
wandten Welt der Ideen, nicht aber der Welt der Einzel dinge, der körperlich¬
sinnlichen Erfahrung, wahres Sein zugesprochen wird. Die der Welt der
Ideen, dem Bereiche des guten Gottes entgegengesetzte nur scheinbare
Wirklichkeit, sie ist — und auch das wird nicht ausdrücklich gesagt, geht
aber indirekt aus ihrem Gegensatz zur Welt des Guten hervor — böse und
wird darum negiert.
Und auch die antisoziale Tendenz dieses pessimistischen Dualismus tritt
hier deutlich hervor: „Wer nicht selbst rein ist, soll auch ausgeschlossen sein
von der Berührung mit dem Reinen,“* Die „richtig Philosophierenden“,
die „sich standhaft aller körperlichen Begierden enthalten“, „denen es mit
ihrer Seele ernst ist und die nicht aufgehen in der zärtlichen Pflege des
Leibes und die daher „schon im irdischen Leben dem Wissen des Guten,
des Gerechten an sich möglichst nahekommen“, diese „sagen sich los“
von den anderen, den „Herrsch- und Ehrsüchtigen“, die ihrem Leib untertan
sind „und wandeln nicht denselben Weg mit ihnen als mit Leuten, die
nicht wissen, wohin sie gehen; sie selbst aber, überzeugt, daß sie nicht im
Widerspruch mit der Philosophie und dem Befreiungs- und Reinigungs¬
werk derselben handeln dürfen, wenden sich ihrer Leitung folgend dahin,
wohin sie den Weg weist “. 1 2 Es ist ein Weg der persönlichen „Befreiung
und Reinigung“, ein Weg der individuellen Erlösung! Der Philosoph
sondert sich von der Menge ab und sorgt für sein Seelenheil . 3 So weit
entfernt ist Platon hier von dem Grundgedanken seiner „Politeia“, daß der
Philosoph die Gerechtigkeit nicht nur für sich, daß er sie für alle anderen,
1) Phaidon XI (67 St.).
2) Phaidon XI (67 St.), XXXII (82 St.).
3) Phaidon LXIV (115 St.).
Die platonische Liehe
und sei es auch gegen deren Willen und sei es auch mit Zwang, zu ver¬
wirklichen habe, daß der Philosoph, und nur er, zur Herrschaft im Staate
berufen sei.
§ 10. Die optimistische Wendung: Das Bekenntnis zum Eros. Aber dieser
Pessimismus in bezug auf das Diesseits, diese Tendenz, den Gegensatz
zwischen sich und der Welt und den in ihr erkannten Dualismus zu ver¬
absolutieren, diese Abkehr von der Gesellschaft, diese Flucht vor dem Leben
und vor allem vor dem Eros ist durchaus keine Grundstimmung, die das
g^nze Leben und das ganze Werk Platons beherrscht. Gerade auf dem Höhe¬
punkt beider siegt eine entgegengesetzte Tendenz, siegt der Wille zum Leben
und zur Liebe. Soll Platon den Weg zurückfinden zur Welt und vor allem
zur Gesellschaft, soll sich der Abgrund schließen, der seine Philosophie
von dem irdischen Dasein und insbesondere vom Staate trennt, soll der
Philosoph zum Herrscher werden können, dann muß vor allem die Kluft
in seinem eigenen Innern, muß die diese Kluft allererst aufreißende anti¬
erotische, asketisch-selbstzerstörerische Verzweiflung überwunden werden,
Platon muß den Mut finden, sich zu sich selbst, d. h. zu seinem Eros,
zu bekennen. Und diesen Mut hat er gefunden. Eines seiner herrlichsten
Werke, eine der schönsten Dichtungen, die je geschaffen wurde, der Dialog
„Symposion“ gibt davon Zeugnis.
a) Lysis. Schon aus den etwas dunklen Gedankengängen des Dialogs, der
dem Wesen der Freundschaft gewidmet ist, schon aus der nicht sehr harmoni¬
schen Musik des „Lysis“ hört man deutlich das Motiv heraus, das dann in
gewaltigen Akkorden aus dem „Symposion“ ertönt: Die Rechtfertigung des
platonischen Eros. Es ist nicht leicht, in den zum Teil völlig leeren Begriffs¬
spekulationen dieses äußerlich ganz ergebnislos endenden Gespräches, das
Sokrates mit zwei Freunden, Menexenos und Lysis, in Gegenwart des
Hippothales in deutlicher Beziehung auf diesen führt, der der Liebhaber
des Lysis ist, die eigentlichen Anschauungen Platons herauszufinden. Denn
kaum wird eine These aufgestellt, wird sie wieder fallen gelassen. Doch
tauchen dabei Meinungen auf, zu denen sich Platon in späteren Dialogen,
insbesondere im „Symposion“ und „Phaidros“, rückhaltlos bekennt. Und
so bietet der Vergleich mit diesen beiden Gesprächen die Möglichkeit, auch
in den beinahe nebelhaft schwankenden Gestaltungen des „Lysis“ zu er¬
kennen, worauf Platon hinauswill. Aus dem Labyrinth des Wortstreits, durch
den „man in die Irre geraten“, 1 sucht Platon einen Ausweg, indem er „die
1) Lysis X (215 St.).
7 8
Hans Kelsen
Betrachtung an Hand der Dichter“ fortführen will. Denn „diese sind uns
gleichsam Väter und Lehrmeister der Weisheit“. Die Auskunft nun, die sie
uns über das etwaige Zustandekommen von Freundschaften geben, ist gar
nicht übel: „Der Gott selbst nämlich“, sagen sie, „mache sie zu Freunden,
indem er sie einander zuführe .“ 1 Also auch diese Ehen werden im Himmel
geschlossen. Mit Berufung auf die Dichter wird der — von Platon auch
sonst häufig verwendete — Grundsatz aufgestellt, „das Gleiche sei mit
dem Gleichen notwendig immer befreundet“, ein Grundsatz, der sich mehr
als jeder andere zur Rechtfertigung des platonischen Eros eignet. Zumal
dann, wenn er, wie im „Lysis“, in dem Sinne verstanden sein will, daß
„nur die Guten einander gleich und befreundet seien, die Bosen dagegen
entsprechend auch dem gangbaren Urteil über sie, niemals gleich, nicht
einmal mit sich selbst, sondern flatterhaft und unberechenbar “ 2 und daher
zur Freundschaft gänzlich ungeeignet. Als das erste Ergebnis darf man
also — obgleich es im Gespräch nicht festgehalten wird — annehmen:
„Daß einzig und allein der Gute dem Guten Freund sei, der Böse jedoch
weder mit dem Guten noch mit dem Bösen jemals zu wahrer Freund¬
schaft gelange.“ Freunde — wie Lysis und Menexenos oder Lysis und
Hippothales — können nur Menschen sein, die gut sind.
Und auch die Freundschaft selbst, von der das Gespräch ein Beispiel
in dem unsinnlichen Verhältnis des Menexenos wie in dem ganz und gar
sinnlichen des Hippothales zu Lysis gibt, ist etwas Gutes; auch die Freund¬
schaft, deren Grund die Begierde ist. Denn selbst wenn das Böse aus der
Welt verschwände, gäbe es noch immer, so wie Hunger und Durst und
die sonstigen Begierden, so auch Freundschaft und Liebe, und das könnte
nicht der Fall sein, wenn Freundschaft oder Liebe, auch die auf der Be¬
gierde beruhende Freundschaft oder Liebe, etwas Böses wäre. Das ist der
Grundgedanke, den man wohl aus der folgenden Partie des Dialogs heraus¬
hören kann.
„Gibt es nun etwa, fuhr ich fort, heim Zeus, wenn das Schlechte geschwunden
ist, auch keinen Hunger mehr und keinen Durst und was dergleichen mehr ist? Oder
wird es auch weiter Hunger geben, so lange es Menschen und sonstige lebendige
Wesen gibt, nur daß er nicht (mehr) schädlich ist? Und auch weiter Durst und die
sonstigen Begierden, nur eben nicht mehr mit Schlechtigkeit behaftet, da ja das
Schlechte entschwunden ist? Oder ist es überhaupt lächerlich zu fragen, was dann
sein wird oder nicht sein wird? Denn wer weiß es? Aber das wissen wir bestimmt,
daß auch jetzt schon ein Hungernder zuweilen Schaden, zuweilen aber auch Nutzen von
1) Lysis X (213/14 St.).
2) Lysis X (214 St.).
Die platonische Liehe 79
diesem seinem Zustand hat; nicht wahr? — Sicherlich. — Und auch mit den Durstenden
und allen nach etwas sonst Begierigen steht es so: Zuweilen ist ihre Begierde nützlich,
zuweilen schädlich, zuweilen keines von beiden. — Allerdings. —Wenn also das Schlechte
verschwindet, verdient dann etwa auch dasjenige, was nicht schlecht ist, mit dem
Schlechten zu verschwinden? — Nein. — Die weder guten noch schlechten
Begierden werden also weiter bestehen, auch wenn das Schlechte verschwunden
— Offenbar. — Ist es nun möglich, daß ein von Begierde und Liebe Erfüllter
demjenigen, was er begehrt und liebt, nicht befreundet sei? — Meiner Meinung
nach nicht. — Es gibt also nach dem Verschwinden des Schlechten, wie es scheint,
noch Befreundetes. — Ja. — Das würde aber nicht der Fall sein, wenn das Schlechte
die Ursache davon wäre, daß irgend etwas (einem anderen) befreundet ist. Ist näm¬
lich das Schlechte verschwunden, so könnte dann nichts mehr einem anderen be¬
freundet sein. Denn wenn der Grund davon weggefallen ist, so konnte unmöglich
dasjenige noch vorhanden sein, was die Folge dieses Grundes war. — Du hast recht. —
Wir waren aber doch darüber einverstanden, daß das Befreundete mit irgend etwas
befreundet sei, und zwar wegen irgend eines DingeS; und wir waren damals wenigstens
des Glaubens, wegen des Schlechten sei das Gute dem weder Guten noch Schlechten
befreundet. Nicht wahr? — Allerdings. — Jetzt aber, scheints, drängt sich uns ein
anderer Grund für das Begehren und Genießen der Freundschaft auf. — Allem An¬
schein nach. — Ist nun in Wahrheit, wie wir vorher behaupteten, die Begierde der
Grund der Freundschaft, und ist das Begehrende dem fremd, wonach es begehrt,
und dann, wenn es begehrt?“ 1
Die Begierde, die „der Grund der Freundschaft“ ist, d. h. aber: der
Leib, den man wohl wird im Sinne der Anschauungen, die Platon ins¬
besondere im „Phaidon“ ausgesprochen, als den Begierden verwandt, den
Begierden wird gleichsetzen dürfen, ist — hier im „Lysis“ — nicht das Böse,
ist nicht mehr als das Böse der Seele als dem Guten, absolut entgegen¬
gesetzt. Er ist zwar auch nicht das Gute:
„Der Körper ist, rein als der Körper betrachtet, etwas weder Gutes noch
Schlechtes.“ 2
So charakterisiert Platon später im „Symposion“ den Trieb des Eros.
Und wie noch viel deutlicher im „Symposion“, so ist schon im „Lysis“ der
Gegensatz zwischen Gut und Böse aus der Starre seiner Absolutheit gelöst,
er ist relativiert. Es gibt etwas Weder-Gutes-Noch-Böses und das ist der
Leib. Als das Weder-Gute-Noch-Böse ist er — nicht wie im „Phaidon“
der Kerker der Seele, sondern — ein durchaus berechtigtes Element der
Freundschaft; denn gerade als solches ist er die Wurzel des Strebens nach
dem Guten. Denn anstreben, begehren kann man nur, was man selbst
nicht ist oder hat. „So behaupte ich denn ahnenden Geistes“ — diese
1) Lysis XVII (221 St.).
2) Lysis XIV (217 St.).
8o
Hans Kelsen
Ahnung wird im „Symposion“ zur Gewißheit, — „dem Schönen und Guten
sei das Weder-Gute-Noch-Böse befreundet .“ 1 Und darum ist es das Weder-
Gute-Noch-Böse, das dem Guten Freund wird . 2 Die Begierde, die der Grund
der Freundschaft ist, wird als otxsiov, d. h. wörtlich: das Angehörige, das
Einem-angehörig-Sein (daß der Freund, der Geliebte einem angehörig sei)
bezeichnet. Dieses otxsiov ist im Grunde das Gute. „Wenn wir das Gute
und das sich Angehörige als ein und dasselbe anerkennen, ist da nicht einzig
der Gute dem Guten Freund?“, fragt Sokrates unter Zustimmung seines
Partners . 3 Das aber ist der tiefste Sinn der Freundschaft, darauf ist der in
den Freunden lebendige Drang, ihr Streben gerichtet: auf das wahrhaft Gute.
„Alle anderen Dinge, die wir als lieb“ — das ist als den Gegenstand unseres
Liebens — „bezeichneten, sind gleichsam nur Abbilder desselben, die uns
täuschen, jenes Ursprüngliche dagegen ist das wahrhaft Liebe .“ 4 Platon
spricht es nicht ausdrücklich aus, aber es kann nur das absolut Gute sein,
das um seiner selbst willen und um keines anderen willen geliebt wird . 5
„Alles, was wir befreundet nennen, um eines Befreundeten willen, nennen wir
offenbar nur mit uneigentlichem Ausdruck so; das wahrhaft und eigentlich Befreun¬
dete dagegen ist aller Wahrscheinlichkeit nach dasjenige, auf das alle diese sogenannten
Freundschaften hinweisen, als auf ihr letztes Ziel.“ 6
Ist dieses letzte Ziel aber die Idee des Guten, dann ist solche Deutung
des Eros seine höchste Rechtfertigung.
Doch der Dialog „Lysis“ ist nur der erste tastende Versuch einer philo¬
sophischen Verklärung des Eros, der hier noch als cpiAia auftritt, sich noch
lieber Freundschaft nennt. Aber es ist schon dieselbe Grundhaltung, die
uns im „Symposion“ so kraftvoll entgegentritt . 7
1) Lysis XIII (215 St.).
2) Lysis XI-XIII (216-218 St.).
3) Lysis XVIII (222 St.).
4) Lysis XVI (219 St.).
5) Treffend bemerkt Apelt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Lysis
(Philosoph. Bibliothek, Bd. 177, 2. Auf!., 1922, S. 71): „Der Hauptpunkt, auf den es
ankommt, die Beziehung auf die Idee des Guten, tritt erkennbar aus der Nebel¬
umhüllung hervor, und wenn sich auch bald wieder Gewölk sammelt, so hat der
aufmerksame Leser doch das deutliche Gefühl, daß damit der Schlüssel zur Lösung
des Rätsels gegeben ist: Wahre Freundschaft ist nur zwischen guten Menschen möglich;
denn sie ist nichts anderes als Einheit in der Liebe zum Guten.“
6) Lysis XVI (220 St.).
7) Schon darum halte ich es für ganz unwahrscheinlich, daß der „Lysis“ nach
dem „Symposion“ geschrieben wurde. Vergleicht man die Haltung, die Platon in
beiden Dialogen zum Problem des Eros einnimmt, kann nur das umgekehrte Ver¬
hältnis in Frage kommen. Vgl. dazu Rae der: Platons philosophische Entwicklung,
2. Aufl. 1920. S. 154 ff; und insbes. Lagerborg, a. a. O. S. 92.
Die platonische Lieh»
8 l
b) Symposion . Eine Apologie des besonderen platonischen Eros, eine Ver¬
teidigung der homosexuellen Liebe gegen die üblichen Vorwürfe, die im
Dialog nicht ausgesprochen, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden,
eine Verteidigung vor allem gegen die Anklage des antisozialen Charakters
dieses Eros ist diese unsterbliche Dichtung und ist nicht, wie man wohl
meist annimmt und wie es nach den in der Einleitung zitierten Worten
des Phaidros scheinen mag, eine Lobpreisung der Liebe überhaupt, der
Liebe in all ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen. „Ist es nicht un¬
erhört, daß den anderen Göttern Hymnen und Danklieder von den Dichtern
gedichtet sind, dem Eros aber, dem so großen, so mächtigen Gotte, kein
einziger der Dichter, soviele schon gelebt haben, einen Lobgesang ge¬
dichtet hat? 1 Denn der Eros, auf den jeder der zum Gelage vereinten
Freunde — „rechts herum“ — eine Lobrede halten soll, ist kein anderer als
der knabenliebende Eros. Darüber läßt schon Phaidros selbst, von dem der
Vorschlag ausgeht, keinen Zweifel. Mit einer Selbstverständlichkeit, als ob
es eine andere als homosexuelle Liebe gar nicht gäbe, beginnt er diesen
Eros als ältesten Gott und zugleich als der größten Güter Urheber zu preisen.
Er beruft sich auf Hesiod, Parmenides und Akusilaos und fährt fort:
„Wie der älteste, so ist er uns der größten Güter Urheber; ja ich wüßte kein
größeres Gut zu nennen, als schon dem Jüngling ein wahrer Liebender und dem
Liebenden ein Liebling.“ 2
Das ist der Eros, den Phaidros und mit ihm auch alle anderen Redner
meinen. Und gleich in dieser ersten Rede ist Platon darauf bedacht, die
gesellschaftsfördernde Funktion dieses Eros hervorzuheben: Ohne ihn könne
weder der Einzelne noch vor allem der Staat große und schöne Werke
wirken. Denn das Verhältnis zwischen dem Liebhaber und dem Geliebten
erwecke und erhalte Ehrgefühl, Mut, Aufopferungsbereitschaft, alles Eigen¬
schaften, die den Bestand der Gesellschaft garantieren. Aus den Beispielen,
die Phaidros bringt: Alkestis, die für ihren Gatten zu sterben bereit ist,
Orpheus, der für seine Gattin in den Hades steigt, Achill, der den Pa-
troklos rächend stirbt, geht hervor, daß zwar auch die Liebe zwischen
Mann und Frau nicht ohne sittlichen Wert ist , 3 aber sie zeigen deutlich,
daß Platon hoch über sie die gleichgeschlechtliche stellt, und zwar gerade
1) Symposion 5 (177 St.).
2) Symposion 6 (178 St.).
3) An dem Beispiel der Alkestis fällt in diesem Zusammenhänge auf, daß die Frau
hier nicht die ihr naturgemäße Rolle der passiv Geliebten, sondern — umgekehrt —
die des — aktiven — Liebhabers spielt. Vgl. Rettig, a. a. O. S. 424.
Imago XIX. g
J
8a
Hans Kelsen
was ihren Wert für die Gesellschaft betrifft: mehr als Alkestis ehrten die
Götter den Achill, und entrückten ihn auf die Insel der Seligen . 1
Und auch die zweite Lobrede, die des Pausanias, gilt nur der Knaben¬
liebe und hebt noch viel deutlicher als der Gesang des Phaidros diese über
die Liebe zwischen Mann und Frau. Auch in dieser Rede wird mit Nach¬
druck der staatsbejahende Charakter der Homosexualität betont. Pausanias
deutet die — damals wohl schon geläufige — Unterscheidung zwischen
einer höheren geistig-himmlischen und einer niederen, bloß irdischen Liebe,
zwischen dem Eros Uranios und dem Eros Pandemos ganz einseitig zu¬
gunsten der homosexuellen. Schon dadurch, daß von der Aphrodite, der
der Eros Uranios beigesellt ist, gesagt wird, sie, des Uranos Tochter, sei
„älter und mutterlos“, zeigt sich das homosexuelle Ideal mutterloser Zeugung
an. Und eben daraus wird abgeleitet, daß dieser Eros Uranios, diese höhere
Form geistiger Liebe, nur die Knabenliebe sei, daß nur die Liebe von Mann
zu Mann, die homosexuelle Liebe, sich zu dieser höheren Form entfalten
könne. Dieser Eros stammt nämlich
„von der Himmlischen, welche erstens an Weiblichem nicht teil hat, sondern an
Männlichem allein; — und er ist der Eros zu Knaben — welche ferner älter ist,
frei von Ausschweifungen; daher sich zu Männlichem wendet, wen dieser Eros an¬
haucht, indem er das von Natur stärkere und mehr Vernunft Enthaltende gern hat.“ 2
Nichts ist wohl bezeichnender für Platon, als daß er den Eros Uranios nur
in der Knabenliebe sieht, nichts zeigt deutlicher den Abstand, der in diesem
Punkte — aber nur in diesem — zwischen ihm und der Welt des Christen¬
tums besteht, dessen himmlische Liebe der Jungfrau-Mutter gilt, nichts ist
bezeichnender für die Tendenz des ganzen Dialogs als dies: daß er nur
die gleichgeschlechtliche, nicht aber die andersgeschlechtliche Liebe für
fähig erklärt, sich aus den Niederungen des bloß Sinnlichen zu erheben,
sich zu vergeistigen. Die Wendung, daß die Knabenliebe ihrer Natur nach
eine höhere geistige Liebe sei, daß sie — ganz anders als die zu Frauen —
zu einer solch himmlischen Form sich zu veredeln die innere Tendenz
habe, dient im wesentlichen dem Beweis, daß dieser Eros mit der atheni¬
schen Sitte in Einklang stehe. Diese scheint, so wird ausgeführt, da sie
den Knaben den Verkehr mit Liebhabern verbiete, die Homosexualität zu
verpönen . 3 Platon läßt nun den Pausanias versuchen, diese Sitte — um sie
mit seinem Eros doch in Einklang zu bringen — so zu deuten, daß sie
1) Symposion, C 7 (180 St.).
2) Symposion, G 9 (181 St.).
3) Symposion, C 10 (182/83 St.)
Die platonische Liebe 83
nur die sinnliche, nicht aber auch die geistige Liebe verbiete. Der Eros
wird spiritualisiert, um gesellschaftsfähig zu werden. Und er unterstützt
diese Deutung dadurch, daß er auch den Pausanias den gesellschaftsfördernden
Charakter dieser Liebe in den Vordergrund stellen läßt. Die — geistige —
Knabenliebe habe den Zweck, den geliebten Knaben zu ertüchtigen . 1 Daher
könne man auch im Sinne der athenischen Sitte — obgleich diese den
Knaben jeden Verkehr mit den Liebhabern verbiete — zu dem Ergebnis
kommen: „Es sei schön, daß der Geliebte dem Liebenden zu willen sei ;“ 2
man müsse eben nur das Gesetz, das die Knabenliebe verbietet, und das
Gesetz, das Tüchtigkeit fordert, miteinander verbinden,
„wenn sich ergeben soll, es sei schön, daß der Geliebte dem Liebenden zu willen
sei.“ „So ist es überall schön, um Tüchtigkeit willen sich hinzugehen. Dies ist der
himmlischen Göttin Eros, er seihst himmlisch und hoch zu würdigen, für Staat und
Einzelne, da er große Sorge auf die Tüchtigkeit zu wenden zwingt, den Liebenden
um seiner seihst willen und den Geliebten.“ 3
Hoch zu würdigen vor allem: für den Staat! Denn daß er dem Staat ge¬
fährlich sei, dagegen gilt es vor allem Stellung zu nehmen. Ja, Pausanias
scheut nicht einmal davor zurück, parteipolitische Interessen für die Homo-
1) Nach Bethe, a. a. O. S. 462 ff., rechtfertigen die Dorer auch den homosexuellen
Geschlechtsakt durch die Vorstellung, daß der Mann dem Knaben mit seinem Samen
in magischer Weise seine Seele und damit seine Tüchtigkeit mitteile und „spiri-
tualisieren“ so auf ihre Weise die Päderastie. In dieser Ideologie der Homosexualität
wird dem männlichen Samen — so wie sonst dem Blut oder dem Hauch _ der
Charakter oder die Kräfte der Seele zugesprochen (Bethe, a. a. O. S. 466). Das heißt,
er wird als sittliche Substanz angesehen, so wie ja die Seele seihst in erster Linie'
als Substanzialisierung ethischer Werte in Betracht kommt. Im übrigen findet sich
auch bei Platon die Vorstellung, daß der männliche Same beseelt sei. Im „Timaios“
vertritt er die Meinung, daß der Same aus dem Rückenmark hervorquelle,
daß also das Rückenmark die Samensubstanz enthalte beziehungsweise darstelle (41'
86 St.). Hier (44, 91 St.) sagt er: Die Götter schufen den Zeugungstrieb „durch Bildung
einer Art beseelten Wesens, das sie in uns Männern und eines anderen, das sie in
den Weibern entstehen ließen, und zwar jedes von beiden in folgender Weise. Dem
Kanal für Getränke gaben sie da, wo sie die aufgenommene Flüssigkeit ... in die
Blase führt, und sich ihrer unter dem Druck der Luft entäußert, eine Öffnung nach
dem Marke, das sich als zusammenhängender Strang vom Kopfe am Nacken herunter
durch das Rückgrat zieht, und dem wir früher die Bezeichnung ,Samen 4 gaben.
Dies Mark, weil beseelt, und nun der Atembewegung teilhaftig geworden, macht
eben die Stelle, wo diese Bewegung erfolgt, zum ,Zeugungstrieb‘, indem es ihr die
Leben erweckende Begierde na< h Ausströmung einpflanzt. Daher denn auch die Un¬
fügsamkeit und Selbstherrlichkeit der männlichen Schamteile . . .“ Platon hat offenbar
die Vorstellung, daß der männliche Same „Markkörperchen“ sind, „die sich von der
Hauptmasse ablösen“ (Ritter, Platons Dialoge I, 1903, S. 144/45).
2) Symposion, G 11 (184 St.).
3) Symposion, C 11 (185 St.).
6 *
1
8 *
Hans Kelsen
Sexualität zu verwerten, wenn er sie dem athenischen Demos — als demo¬
kratisch empfiehlt. Der männliche Eros sei tyrannenfeindlich, führt er aus,
das beweise Harmodios und Aristogeiton, deren Liebe der Tyrannis das
Ende bereitet habe. „Wo also bestimmt ist, die Hingabe an den Liebenden
sei häßlich, da beruht es auf der Schlechtigkeit der Bestimmenden: auf
der Gewinnsucht der Herrschenden, auf der Feigheit der Beherrschten, Wo
es aber einfach als schön geachtet wird“, das heißt wohl, wo nicht
gefordert wird, daß „der Liebling dem Liebenden nur in schöner“, d. h.
geistiger Weise, „um der Tüchtigkeit willen zu Willen “ 1 sein soll, „da
geschieht es durch Seelenträgheit der Bestimmenden “. 2 Die Milde dieses
Urteils über den knabenliebenden Eros Pandemos ist angesichts der energi¬
schen Tendenz, ihn durch seine Spiritualisierung zu rechtfertigen, bemerkens¬
wert . 3
Und diese Milde tritt noch deutlicher im „Phaidros“ hervor. Dort ist
nach dem Schicksal die Frage, das die Freunde, die in einem schwachen
Augenblick „das von der Menge gepriesene Teil sich wählen und voll¬
bringen“, im Jenseits erwartet. Und es heißt:
„Am Ende gehen sie zwar unbeschwingt, doch mit dem Triebe zum Wachsen der
Schwingen aus dem Körper, so daß sie keinen geringen Lohn für den Wahnsinn der
Liebe davontragen. Denn in Finsternis zu kommen, und den unterirdischen Wandel
anzutreten, ist denen nicht mehr bestimmt, die schon den himmlischen Wandel be¬
gonnen haben, sondern sie dürfen ein Leben im Lichte führen und miteinander dahin¬
wandelnd glücklich sein, um dann, wenn dereinst die Zeit kommt, miteinander zu¬
gleich beschwingt zu werden um ihrer Liebe willen.“ 4
In der Rede des Arztes Eryximachos macht sich die Bevorzugung des
homosexuellen gegenüber dem heterosexuellen Eros begreiflicherweise am
wenigsten fühlbar. Platon begnügt sich hier, den Eros, bei dem man auch
in dieser Rede an den knabenliebenden denken muß, vom medizinischen
Standpunkt rechtfertigen zu lassen, von dem aus man wohl auch Einwände
1) Symposion, C 10 (184 St.).
2) Symposion, G 9 (182 St.).
3) Die Rede des Pausanias macht in der Tat — wie Jo wett (in seiner Ausgabe
des Symposion, S. 182) konstatiert — einen recht verwirrten Eindruck. Aber der
Widerspruch, in dem sie sich bewegt, lost sich, wenn man in ihr die Absicht erkennt,
den päderastischen Eros mit der ihn verpönenden Sitte Athens doch irgendwie in
Einklang zu bringen. Aber man kann verstehen, wenn Symonds gerade im Hinblick
auf diese Partie des Symposions von einer „Verwirrung des Gewissens der Athener“
spricht (a. a. O. S. 73b Das sittliche Urteil war tatsächlich gespalten. Und der mora¬
lische Konflikt, in den das Problem der Päderastie die Gesellschaft gerissen, er wird
zum tragischen Konflikt in der Brust Platons.
4) Phaidros, XXXVII (256 St.).
Die platonische Liehe
85
erhoben haben mochte. Das Fazit der Rede des Arztes ist, daß Eros, wenn
er nicht „ausschweifend“ ist, nicht schadet und — was besonders bezeichnend
• st — kein Unrecht tut. „Denn wenn . . . der edle Eros waltet, . . . dann
kommt er und bringt Fruchtbarkeit und Gesundheit den Menschen und
allen Tieren und Pflanzen, und er tut kein Unrecht. Wenn aber jener
ausschweifende Eros in den Gezeiten des Jahres überhand nimmt, so ver¬
dirbt er viel und tut Unrecht .“ * 1 Auch hier wird der soziale Standpunkt
nicht vergessen.
c) Der Erosmythos des Aristophanes. Am aufschlußreichsten für die Natur
des Eros, dem die Reden beim Gastmahl des Phaidon gelten, ist wohl
die des Aristophanes. Denn der Mythos, den Platon dem Komödiendichter
in den Mund legt, soll der homosexuellen Männerliebe, und zwar auch in
ihrer irdischen Form 2 nicht nur ihren Rang gegenüber jedem anders¬
artigen Eros sicherstellen, sondern von ihr den Schimpf abwehren, sie sei
wider die Natur. Die mehr als paradoxe Phantasie dieses Mythos läßt
sich kaum anders erklären; denn worauf kann wohl Platon mit der schon
an das Grotesk-Komische streifenden Vorstellung der drei Arten von Kugel¬
menschen hinauswollen, die vier Beine und vier Arme, ein doppeltes Ge¬
sicht und insbesondere ein doppeltes Geschlechtsorgan haben? Nirgends
drückt er seine Überzeugung von der Höherwertigkeit der männlichen
Homosexualität gegenüber jeder anderen Art von Erotik so drastisch aus
wie hier, wo er den kugeligen Doppelmann von der Sonne, das Doppel¬
weib von der Erde, das Mannweib aber vom Mond stammen läßt, und
dieses — gewiß nicht ohne Absicht — zu dem Hermaphroditismus in
Beziehung setzt, wenn er von dem aus Männlichem und Weiblichem zu¬
sammengesetzten Doppelmenschen sagt: „Jetzt ist aber der Name ins Schimpf¬
liche gewendet .“ 3 Da Zeus die Kugelmenschen zur Strafe für ihre Hybris
spaltet , 4 entstehen aus der minderwertigsten Sorte, den Mannweibern, die
%
1) Symposion 13 (188 St.).
2) Vgl. Symposion 15 (191 St.).
3) Symposion, C 14 (189 St.).
4) Gerade bei dieser Spaltung der Kugelmenschen treten in der Darstellung des
Aristophanes die grotesk-komischen Züge besonders kraß hervor. Zeus zerschneidet
sie in zwei Hälften, „wie man Birnen zerschneidet, um sie einzumachen, oder wie
man Eier mit einem Haar zerschneidet“. Jetzt müssen sie sich auf zwei Beinen fort¬
bewegen, während vordem ihr Lauf wie sie selbst „rund“ war, d. h. daß sie sich
radartig rollend fortbewegten, weil sie ihren Eltern, nämlich Sonne, Mond, Erde,
ähnlich waren. (C 14, 190 St.) Zeus droht, er werde, wenn sie nicht Ruhe halten,
sie noch einmal entzwei schneiden, so daß sie sich auf einem Bein fortbewegen, wie
beim Sackhüpfen“. Die durch Halbierung entstandenen Menschen hatten jeder nur
86
Hans Kelsen
jetzt für normal geschlechtlich gehaltenen, einander gegenseitig erotisch an¬
ziehenden Männner und Frauen. Platon weiß von ihnen nichts anderes
zu sagen, als: „Die Ehebrecher und die Frauen, die den Mann lieben“
— daß auch Männer die Frauen lieben, wird gar nicht erwähnt — „und
ehebrecherisch sind, entstammen diesem Geschlecht .“ * 1 Von denen aber, die
aus einem Doppelmann entstanden sind, und das sind die Männer, die nur
Männer lieben können, weil Liebe im Sinne dieses Mythos nur bedeutet,
sich nach seiner anderen Hälfte sehnen und mit ihr vereint sein wollen,
heißt es:
„Alle, die Stücke des Männlichen sind, folgen dem Männlichen, und als Knaben
liehen sie, weil sie ja Teile von Männlichem sind, die Männer, und sind froh, wenn
sie bei den Männern liegen und sich umarmen; und diese sind die Besten unter den
Knaben und Jünglingen, weil sie von Natur die mannhaftesten sind. Manche sagen,
sie seien schamlos, aber das ist Lüge; denn sie tun nicht aus Schamlosigkeit so,
sondern aus Mut und Mannheit und Männlichkeit: das ihnen Ähnliche haben sie gern.
Das ist sicher bewiesen: denn diese allein landen, wenn sie zu Männern gereift sind,
im Staatslehen. Nachdem sie erwachsen sind, lieben sie Knaben, und auf Ehe und
Kindererzeugung lenken sie nicht von Natur den Sinn, sondern sie werden durch
das Gesetz genötigt; sie selbst wären zufrieden, miteinander ehelos zu leben.“ 2
An dieser Charakteristik ist besonders bedeutsam, daß die Homosexuellen
allein für das Staatsleben prädestiniert sind. Das entscheidende Wort aber,
einen Geschlechtsteil. Den trugen sie aber hinten und waren daher unfähig, ihren
Geschlechtstrieb aneinander zu befriedigen. „Und sie befruchteten und zeugten nicht
ineinander, sondern in die Erde wie die Zikaden.“ Da erbarmte sich Zeus ihrer und
„versetzte ihre Zeugungsglieder nach vorn und machte, daß sie ineinander zeugten,
das Männliche im Weiblichen; deswegen, damit in der Umarmung ein Mann, wenn
er mit einem Weib zusammenkommt, zeugt und Nachkommenschaft entsteht; wenn
aber Männliches mit Männlichem, ihnen wenigstens Sättigung würde aus der Ver¬
einigung und sie sich beruhigten und zum Werke wendeten und auf das andere
Leben bedacht seien“. G 15 (191 St.). Damit die Menschen glücklich werden sollen,
muß Zeus an ihren Geschlechtsteilen eine Umkehrung vornehmen, er muß sie von
außen nach innen kehren. Es ist dieselbe Vorstellung einer radikalen „Umkehrung“,
die auch im „Politikos“-Mythos eine entscheidende Rolle spielt und für die Psycho¬
logie der Homosexuellen sehr charakteristisch ist.
1) Symposion, C 16 (191 St.). Reitzenstein, a. a. O. S. 24, verweist darauf, daß
die Vorstellung eines Doppelmenschen, der die Vereinigung eines Mannes mit einer
Frau darstellt und von Gott zu Beginn der zweiten Weltperiode in zwei geschlecht¬
verschiedene Menschen aufgelöst wird, zum Ideenkreis der altpersischen Religion
gehört. Er hält für möglich, daß der Aristophanes-Mythos aus dieser Quelle schöpft.
Aber das Schwergewicht in der Darstellung, die Platon dem Aristoteles in den Mund
legt, liegt nicht auf dem mann-weiblichen, sondern auf dem mann-männlichen Doppel¬
menschen. Dieser ist wohl ein höchst persönliches Produkt der platonischen Phantasie,
denn mit dieser Erfindung soll die homosexuelle Liebe gerechtfertigt werden.
2) Symposion, G 16 (192 St.).
Die platonische Liehe
das den eigentlichsten und tiefsten Sinn dieses wohl seltsamsten aller platoni¬
schen Mythen enthüllt, ist dies:
„Wenn Hephaistos, sein Werkzeug in der Hand“ — läßt Platon den Aristophanes
sagen — „zwei liebende Männer beisammenliegen sähe und sie fragte: Was ist es,
ihr Menschen, was ihr voneinander haben wollt? und sie wüßten es nicht und er
fragte wieder: Begehrt ihr wohl dies, so sehr als möglich in eines zusammenzugehen,
so daß ihr Tag und Nacht voneinander nicht ablaßt? Denn wenn ihr das begehrt,
so will ich euch in eines zusammenschmelzen und schweißen, so daß ihr, die zwei.
Einer geworden seid, und solange ihr lebt, beide als Einer gemeinsam lebt, und
wenn ihr gestorben, auch dort im Hades Einer statt Zweien seid; gemeinsam im
Tode? Wohlan, so seht, oh ihr das erstrebt und euch diese Erfüllung zufrieden macht!
— Wir wissen, das hörend, würde nicht einer nein sagen oder einen anderen Wunsch
verraten, sondern würde meinen, genau das gehört zu haben, was er von je begehrte:
Vereint und verschweißt mit dem Geliebten aus zweien Einer zu werden. Daran ist
schuld, daß unsere ursprüngliche Natur so war und wir ganz waren. Nun trägt
die Begierde und Jagd nach der Ganzheit den Namen Eros,“ 1
Schon früher hat Aristophanes gesagt, daß die knabenliebenden Männer
„von Natur“ ihren Sinn nicht auf Ehe und Kindererzeugung lenken,
sondern durch das Gesetz genötigt. Jetzt spricht er es auch positiv aus,
daß es die „ursprüngliche Natur“ ist, die den Mann zum Manne drängt.
Die Frage des Hephaistos ist, wie aus dem Zusammenhänge unzweideutig
hervorgeht, nur an die sich gegenseitig liebenden Männer gerichtet. Ihr
Eros wird vor allem als die „Jagd nach der Ganzheit“ gedeutet. Erst im
weiteren Verlaufe wird die Rede des Aristophanes so allgemein, daß sie auch
auf die anderen Formen des Eros bezogen werden kann. Wenn er am Ende
in alle Welt hinausruft: „Wir alle, Männer und Frauen, unser ganzes
Geschlecht kann nur glücklich werden, wenn wir die Liebe vollenden und
jeder den im eigenen Geliebten gewinnt, rückkehrend zur alten Natur“,
und diese Rede mit der Bitte an Eros schließt, „daß er uns in die uralte
Natur zurückversetze und uns heile, und selig und glücklich mache , 2 so
will er mit besonderem Nachdruck dafür plädieren, daß die gleichgeschlecht¬
liche Liebe ebenso wie die andersgeschlechtliche durchaus nicht wider die
Natur ist, wie man ihr vorhält und wie ihr selbst Platon in seinem späten
Alter wieder vorgehalten hat; daß sie das gerade Gegenteil davon ist, weil
sie zur ursprünglichen Natur erst zurückführt. Dies zu zeigen, hat Platon
den Mythos vor allem erdacht; von dem Vorwurf der Widernatürlichkeit
die Knabenliebe zu reinigen, ist er bis zum äußersten des ästhetisch noch
Möglichen, ist seine Darstellung bis zu einem Punkte gegangen, wo das
1) Symposion, C 16, (192 St.).
2) Symposion, G 16 (195 St.).
88 Hans Kelsen
Tragische fast schon an das Komische streift und der Ernst vom Scherz
nicht mehr zu unterscheiden ist. Vielleicht nicht ohne Absicht; vielleicht
haben wir es in der Tat hier mit einer Äußerung jener rätselhaften platoni¬
schen Ironie zu tun, in der dieser eigenartige Geist gerade das auszudrücken
pflegt, womit es ihm am ernstesten ist. Und vielleicht zeigt sich gerade
hier die tiefste Wurzel dieser Ironie: die nur aus dem Erotischen stammende
Scham, die Scham, sein Letztes zu entblößen, diese beinahe rührende Geste
der Verlegenheit, den Ernst mit Scherz zu verhüllen, sich scherzend zu geben,
wo man sich schämt Ernst, d. h. sich selbst, sein Innerstes nackt zu zeigen.
d) Die Liebeslehre der Diotima. Das letzte Wort freilich, das Platon zur
Verteidigung seines Eros zu sagen hat, ist des Aristophanes ironischer Mythos
nicht. Es ist des Sokrates Bericht über die Liebeslehre der Diotima, dem
die Rede des Agathon das Stichwort zu liefern hat. Aber auch in dieser
relativ bescheidenen Rolle sagt Agathon zur Rechtfertigung der Knaben¬
liebe vom Standpunkt Platons Wichtiges genug. Und es ist wiederum der
Vorwurf der Staatsfeindlichkeit, gegen den sich die Rede des schönen und
vielgeliebten Jünglings richtet. Indem er den mann-männlichen Eros als
Ausdruck eines höchsten Gesetzes darstellt: daß Ähnliches Ähnlichem immer
zustrebt , 1 will er ihn selbst als gesetzgeberische, gesellschaftsordnende, staats¬
erhaltende Kraft aufzeigen. Freundschaft und daher Friede herrscht, „seitdem
Eros König unter den Göttern ist “. 2 Das Größte, was von ihm zu sagen ist:
„daß Eros Unrecht weder tut noch leidet, weder gegen Götter noch von Göttern,
weder gegen Menschen noch von Menschen, denn nicht leidet er durch Gewalt,
wenn er etwas leidet, denn Gewalt berührt den Eros nicht, noch bedient er sich
ihrer. Denn willig sind alle dem Eros in allem zu Diensten; was man aber willig dem
Willigen zugesteht, das erklären die Gesetze, die Könige sind des Staates, für gerecht“. 3
Das ist der Kern der Rede des Agathon. Und sie kommt zu dem Schlüsse,
daß Eros, der Eros, von dem in diesem Kreise gesprochen wird, gut und
darum auch schön sei.
„So scheint mir, o Phaidros, Eros zuerst selber der Schönste und Beste zu sein,
dann aber dasselbe auch den anderen zu verleihen.“ „Schönster und bester Führer,
dem jeglicher Mann folgen muß.“ 4
Hier setzt nun der Gedankengang ein, mit dem Platon, wie gewöhnlich
unter der Maske des Sokrates, die Apotheose seines Eros vollzieht, ihn vor
sich selbst und vor der Welt rechtfertigt, indem er ihn verklärt.
1) Symposion, C 18 (195 St.).
2) Symposion, C 18 (195 St.).
3) Symposion, C 19 (196 St.).
4) Symposion, C 19 (197 St.).
Die platonische Liehe 89
Zwar, die Brücke, über die Platon den Dialog von der Position des
Agathon zu der des Sokrates führt, steht logisch auf recht schwachen Stützen.
Es ist ein Trugschluß, wenn Sokrates zu beweisen sucht, daß Eros weder
gut noch schön sein könne, weil er Begehren jemandes nach etwas sei;
und da man nicht begehren könne, was man besitzt, Eros als Begehren
nach Gutem und Schönem nicht selbst gut und schön sein könne. Denn
Eros ist das Begehren, nicht der Begehrende, und das Begehren nach Gutem
und Schönem könnte gut und schön sein, wenn es der Begehrende selbst
nicht wäre. Ganz abgesehen von dieser Verschiebung des Subjektes vom
Begehren zum Begehrenden — erleichtert durch die Personifikation des
Begehrens, die im Eros dargestellt ist —, ist die Liebe zu einem Menschen,
von der bisher allein die Rede war, etwas anderes, als das Begehren einer
Sache; selbst wenn man jene mit der „Liebe“ zu einer Tugend, dem Guten
oder Schönen, identifiziert. Was von dem Begehren einer Sache gilt: daß
man nur begehren kann, was man nicht hat, gilt nicht von der Liebe
eines Menschen zu einem Menschen oder zu einer Tugend. Wird dem
Eros Güte und Schönheit darum abgesprochen, weil er das Begehren nach
Gutem und Schönem sei, so liegt kein logischer Schluß, sondern höchstens
eine Analogie und noch dazu eine falsche vor. Aber Platon kommt es
offenbar gar nicht auf eine logische Beweisführung an . 1 Worauf er abzielt,
ist die sittliche Rechtfertigung seines Eros* Vor die furchtbare Alternative
des absoluten Gegensatzes von Gut und Böse gestellt, konnte er — das
fühlte Platon zutiefst — nicht bestehen. Daß dieser Recht und Sitte zu¬
widerlaufende Trieb absolut gut, daß er zur Gänze und in allen seinen
Äußerungen rein, daß er in keiner Weise und mit keiner seiner Regungen
den bösen, den dunklen Mächten verhaftet, das kann der unter dieser Leiden¬
schaft Leidende, sie immer wieder zu überwinden Suchende guten Gewissens
nicht zu behaupten wagen. Aber was Menschliches, was dem Menschen
erfahrungsgemäß Gegebenes in dieser Welt kann denn überhaupt vor dem
absoluten Gegensatz des Guten und Bösen bestehen? Dieser muß relativiert
werden, wenn der Mensch, wenn seine ganze Welt nicht sittlich verloren
sein soll. Nicht als gut oder böse, sondern nur als gut und böse zugleich
1) Sehr treffend bemerkt Kurt Hildebrandt in der Einleitung zu seiner Über¬
setzung von Platons Gastmahl (Phil. Bibi., Bd. 81, 5. Aufl., 1912, S. 16): „Daß aber
Sokrates nach unseren Begriffen nicht sehr logisch verfährt, kann aus seiner Rede
leicht entnommen werden. Daraus kann man schließen, daß für Sokrates die logische
Beweisführung nicht das allerletzte Ziel ist. Er will die neue, größere Idee vom Eros
bringen . . . Ihm ist die Logik nur ein Mittel, und ein kleiner Mangel daran ist ihm
nicht gar so wichtig; Urgrund und Ziel seines Wesens liegen anderswo.“
9°
Maas Kelsen
muß der Mensch und diese ganze Welt der Erfahrung begriffen werden.
Man muß auf den Versuch verzichten, beide nur für das eine zu halten,
um nicht gezwungen zu sein, in beiden bloß das andere zu erkennen. Nicht
nach dem Sein, dem Gut- oder Bösesein des Menschen oder der Welt darf
man fragen, dann wären beide verloren. Nur nach einem Werden, das vom
Bösen zum Guten, in der Richtung zum Guten führen kann. Dann sind
sie gerettet. Vom Sein zwar, der Existenzform des absolut Guten, bleiben
sie ausgeschlossen. Aber das Werden, dem sie an gehören, ist Bewegung zum
Guten hin, birgt die Möglichkeit des Aufstiegs zum Sinn des Absoluten.
Das ist die Lösung des furchtbaren Chorismos, der die platonische Welt
zerspaltet, und zugleich eine Erlösung von dem Konflikt zwischen dem als
Sünde empfundenen, von der Gesellschaft abdrängenden Trieb und der sitt¬
lichen Forderung der Gesellschaft in der eigenen Brust. Der platonische
Dualismus nimmt eine optimistische Wendung, das platonische Problem
eine Richtung, die wieder in das Diesseits weist.
Es ist Diotima, die diese Lösung bringt. Sie ist das sozial-sittliche Be¬
wußtsein, das den sich über sich selbst Rechenschaft gebenden Sokrates-
Platon zu dem Eingeständnis zwingt, daß sein Eros nicht gut und schön
sei. Aber auf die bange Frage: „Wie meinst du das, Diotima? Häßlich also
ist Eros und böse?“ wird ihm die Antwort: „Lästere nicht! Oder glaubst
du, was nicht schön ist, sei notwendig häßlich? . . . Oder was nicht weise,
das töricht? Oder hast du nicht bemerkt, daß etwas ist zwischen Weisheit
und Torheit?“ Zwischen Gut und Böse, denn das Gute und das Wissen
um das Gute sind für Sokrates eins und das Böse nur ein Nichtwissen des
Guten, nur Torheit. Es gibt, lehrt Diotima, etwas, das
„mitten zwischen Erkenntnis und Torheit“ ist, „das Richtig-Vorstellen“. „Fordere
also nicht, was nicht schön ist, sei häßlich und was nicht gut ist, sei schlecht. Und
so glaube auch nicht, daß Eros, wenn du selbst zugibst, er sei nicht gut und nicht
schön, darum schon häßlich und schlecht sein müsse, sondern etwas zwischen beiden.“ 1
Das, gerade das ist die Lösung und Erlösung! Und nun ist der Weg
freigemacht zur höchsen Rechtfertigung des Eros. Nachdem der für Platon
so wichtige, so befreiende Gedanke, daß sein Eros eine Mischung von Gut
und Böse, ein Zwischending zwischen Irdischem und Himmlischem, ein
Mittler zwischen Menschlichem und Göttlichem, wenn auch kein Gott also,
so ein Dämon sei, noch einmal, und zwar mythologisch dargestellt, indem
Eros als Kind des männlich-weisen Reichtums und der weiblich-törichten
Armut gedeutet wird, steuert der Dialog in rascher, zielsicherer Fahrt auf
1) Symposion 22 (202 St.).
Die platonische Liehe 91
den schwersten Einwand zu, der gegen die mann-männliche Liebe erhoben
w j r d — und auch diesen hat Platon selbst als Greis in seinen „Nomoi“
erhoben —: Daß sie keine fortpflanzende, keine zeugende Liebe sei. Und
gerade darin verrät sich das „Symposion“ als Verteidigungsschrift, daß es
auf seinem Höhepunkt nichts anderes zeigen will, nichts anderes mit dem
allergrößten Aufwand von Geist und Temperament zu beweisen sucht: als
daß der platonische Eros, ganz ebenso wie die Liebe zwischen Mann und
Frau, eine zeugende, ja mehr noch und in einem höheren Sinn als diese,
eine befruchtende und gebärende Liebe sei. Zu diesem Zweck muß Platon
zunächst den Begriff des Eros in der Weise erweitern, daß die geschlecht¬
liche Liebe nur der Spezialfall eines Eros wird, den er als Begierde nach
dem Guten und dem Glücklichsein bestimmt. So glaubt er, den Fehler gutzu¬
machen, den wir begehen, „wenn wir von der Liebe eine Form heraus¬
nehmen, und ihr den Namen des Ganzen geben .“ 1 Das Ziel aller Liebe ist
Glücklichsein. Da Glücklichsein aber nur möglich ist als Gutsein: „so gibt
es nichts anderes, was Menschen lieben, als das Gute .“ 2 Auch hier wird
man nicht auf die Logik des Schlusses sehen, sondern nur das Ziel der Ge¬
dankenführung im Auge behalten müssen, die schon im „Lysis“ angedeutet
ist: Wie aller Liebe, ist auch des platonischen Eros Ziel das Gute.
Die Erweiterung des Erosbegriffs über das unmittelbar Sexuelle hinaus,
seine — schon in der Rede des Pausanias versuchte — Spiritualisierung
ist die notwendige Voraussetzung dafür, den Eros mit einer anderen als
einer bloß physischen Zeugung in Verbindung zu bringen. Platon stellt —
und das ist für die hier in Betracht kommende Beweisführung der ent¬
scheidende Schritt — neben die „Zeugung im Leib“ die „Zeugung in der
Seele“, neben die körperliche die seelische Fortpflanzung, neben die materielle
die geistige Unsterblichkeit. Diese Wendung nimmt hier das Gespräch
zwischen Diotima und Sokrates:
„Wohlan, ich will es dir sagen. Es ist nämlich — die Liebe — ein Zeugen im
Schönen, sei es im Leibe, sei ts in der Seele. — Man bedarf der Seherkunst für den
Sinn deiner Worte, sprach ich. Und ich begreife nicht. — So will ich deutlicher
sagen, nämlich brünstig sind alle Menschen, Sokrates, an Leib und Seele, und wenn
sie in ihr Alter gekommen sind, so begehrt unsere Natur zu erzeugen. Doch im Hä߬
lichen vermag sie nicht zu zeugen, aber im Schönen. Denn des Mannes und Weibes
Gemeinschaft ist Zeugung. Dieser Vorgang aber ist göttlich, und dies ist im sterb¬
lichen Wesen das Unsterbliche: die Befruchtung und die Geburt . . . Wenn das Rei¬
fende einem Schönen naht, so wird es heiter und von Freude durchströmt, und es
1) Symposion 24 (205 St.).
2) Symposion 24 (206 St.).
zeugt und befruchtet. Wenn es aber dem Häßlichen naht, so zieht es sich unwillig
und trauernd in sich zurück und wendet sich ab und sinkt zusammen und zeugt nicht,
sondern behält und trägt schwer seine Bürde. Daher wird im Keifenden und schon
Geschwellten soviel Eifer um das Schöne, weil es dem, der es besitzt, von großen
Wehen befreit. Denn die Liebe, Sokrates, gilt nicht dem Schönen, wie du glaubst. —
Aber wem denn? — Der Zeugung und dem Gebären im Schönen. — So mag es sein,
sagte ich. — Und sie: Sicherlich. — Warum denn nur der Zeugung? — Weil das
Ewige und Unsterbliche im Sterblichen die Zeugung ist. Mit dem Guten aber Un¬
sterblichkeit zu begehren, ist notwendig, wenn wir doch fanden, daß Liebe das Gute
für immer zu besitzen trachtet. Notwendig ist nach dieser Lehre, daß Liebe auch
nach der Unsterblichkeit trachtet.“ 1
Indem als Sinn der Zeugung die Unsterblichkeit behauptet wird, ist der
geistigen Zeugung, auf die dieser ganze Gedankengang zielt, schon der
Vorrang vor der körperlichen gesichert. Denn bei dieser kann von „Un¬
sterblichkeit u nur in einem sehr uneigentlichen Sinn die Rede sein. Gerade
die geistige Zeugung aber ist mit dem platonischen Eros und nur mit ihm,
nicht aber mit der — schon darum niederen — Form der Liebe zum anderen
Geschlecht verbunden. Daß es aber ein „Zeugen “ und „Gebären“ sei, durch
das die geistige Unsterblichkeit bewirkt wird, das glaubt Platon mit dem
allergrößten Nachdruck und immer wieder betonen zu müssen. Zu diesem
Zweck wird, wie früher der Begriff der Liebe, so jetzt der Begriff der auf
Unsterblichkeit zielenden Zeugung in eigenartiger Weise bestimmt. Alles
Sterbliche, sagt Diotima, werde erhalten,
„nicht dadurch, daß es in jeder Beziehung immer dasselbe bleibet wie das Gött¬
liche, sondern indem das Verschwindende und Alternde ein Anderes, Neues von der
Art, wie es selbst war, zurückläßt. Durch diese Einrichtung, Sokrates, hat Sterbliches
an der Unsterblichkeit teil, der Leib und alles übrige; niemals durch eine andere.“ 2
Dadurch also wird man unsterblich, daß man etwas zurückläßt, was von
der eigenen Art ist. Das trifft ebenso wie auf ein Kind auf ein geistiges
Werk zu. Und so führt denn Diotima als Beispiel für solche Zeugung zum
Zwecke der Unsterblichkeit die „Liebe“ der Menschen an,
„berühmt zu werden und für immer einen unsterblichen Namen zu erwerben.
Und dafür sind sie bereit, sich in allen Gefahren zu gefährden, mehr als für ihre
Kinder . . . Denn, meinst du, Alkestis sei für Admet gestorben oder Achilleus dem
Patroklos in den Tod gefolgt oder euer Kodros voraus für das Königtum der Kinder
gestorben, wenn sie nicht geglaubt hätten, unsterbliches Gedenken ihrer Tüchtigkeit
werde um sie sein, welches wir nun auch bewahren. Nein, weit entfernt, sondern
ich glaube, für unsterbliche Tugend und solchen hochklingenden Namen tun alle
1) Symposion 25 (206 St.).
2) Symposion 26 (207 St.).
Die platonische Liehe 9^
Alles um so mehr, je edler sie sind, denn das Unsterbliche lieben sie. Welche nun
körperlich reif sind, die wenden sich mehr den Frauen zu und hier sind sie verlieht,
durch Kinderzeugen erwerben sie sich Unsterblichkeit und Andenken und Glück¬
seligkeit, wie sie glauben, für alle folgende Zeit. Welche aber in der Seele — denn
es gibt solche, die in den Seelen noch mehr zeugen als in den Leibern was der Seele
zu zeugen und zu empfangen gemäß ist . . . 4<1
Die aber in der Seele reif werden und darum in der Seele zu zeugen
begehren, das sind die Männer, die sich nicht den Frauen zuwenden, sondern
den Männern. Das wird mehr als selbstverständlich vorausgesetzt denn aus¬
drücklich betont.
„Wenn einem nun von Jugend auf dies in der Seele reift, da er göttlich ist und
er, da seine Zeit kommt, nun mehr zu befruchten und zu zeugen begehrt, schweift
dieser umher — nicht wahr? Und sucht das Schone, in dem er zeugen könnte; denn
im Häßlichen wird er niemals zeugen. Zu den schönen Leibern fühlt er sich mehr
hingezogen als zu den häßlichen, wenn er brünstig ist, und wenn er dabei auf eine
schöne und edle und wohlgewachsene Seele trifft, so fühlt er sich heftig hingezogen
zur Vereinigung dieser zwei,“
daß es aber Leib und Seele eines Jünglings ist, zu dem sich dieser
in der Seele gereifte Mann, der nicht im Leib sondern in der Seele zeugen
will, hingezogen fühlt, das geht daraus hervor, daß es im folgenden heißt:
„Und zu diesem Menschen ist er sogleich voll von Reden über Tüchtigkeit und über
das, was Not ist, damit ein Mann gut sei und wonach man streben muß, und bemüht
sich, ihn zu erziehen. Denn, glaube ich, indem er den Schönen anfaßt und mit ihm
umgeht, zeugt und gebiert er, womit er längst trächtig ist. Und anwesend und ab¬
wesend daran denkend, zieht er gemeinschaftlich mit jenem das Erzeugte auf, so daß
sie viel engere Gemeinschaft als die durcjj Kinder miteinander haben und festere
Freundschaft, weil sie durch schönere und unsterblichere Kinder miteinander ver¬
bunden sind. Und jeder würde sich lieber solche Kinder geboren sehen als die mensch¬
lichen, wenn er auf Homer schaut und Hesiod und die anderen tüchtigen Dichter,
sie beneidend, daß sie solche Kinder zurücklassen, die ihnen unsterblichen Ruhm und
Gedächtnis bereiten, da sie ja selbst so sind.“ a
Indem also Platon die geistige Produktion in Parallele zur körperlichen
Zeugung stellt, kann er jene wie diese als eine Funktion des Eros deuten.
Nur durch Liebe kann man zeugen. Und wie die Liebe zwischen Mann
und Frau zum Zeugen und Gebären leiblicher Kinder, so führt die Liebe
von Mann zu Mann — deren sexueller Charakter gerade an dieser Stelle
ziemlich deutlich hervortritt — zum Zeugen und Gebären von geistigen
Kindern, von unsterblichen Werken. Die Liebe zum schönen Jüngling löst
1) Symposion 27 (208 St.).
2) Symposion 27 (209 St.).
gleichsam das schöpferische Schaffen in dem liebenden Manne aus, läßt
ihn gebären, „womit er längst schon trächtig ist“. Deutlich geht schon
aus der eben zitierten Stelle hervor, daß Platon es nicht dabei bewenden
läßt, daß sein Eros ebenso wie der zwischen Mann und Frau ein zeugender,
gebärender Eros sei, sondern daß er überzeugt ist und auch die anderen
davon überzeugen will, sein Eros stehe gerade als zeugende und gebärende
Liebe hoch über der normalgeschlechtlichen Beziehung. Geistige Werke
sind mehr wert als leibliche Kinder. Denn wegen ihrer geistigen Kinder
hat man großen Männern, schon Denkmale, ja Heiligtümer gesetzt, „wegen
menschlicher Kinder aber noch keinem “. 1
Gerade in diesem Punkte ist Platon — wie in manchen anderen seiner
Erostheorie im „Phaidros“ noch einen Schritt weiter gegangen. Hier
ist Eros nicht bloß Daimon, sondern Gott, obgleich Eros auch hier als
ein Mittleres zwischen Gut und Böse gesehen wird. Nur liegt hier das
Übergewicht sichtlich auf dem Guten, das Böse an ihm, die sinnliche
Komponente, wiegt noch weniger schwer als im „Symposion“, wird noch
milder beurteilt, die geistige Komponente noch höher gehoben als dort.
Der Liebeszustand wird als „Wahnsinn“ bezeichnet; dieser Wahnsinn keines¬
wegs als etwas absolut Schlechtes, sondern als etwas relativ Gutes, als ein
göttlicher Wahnsinn dargestellt.
„Ja, wenn einfach der Satz gälte, der Wahnsinn sei etwas Schlimmes, dann wäre
jene Vorschrift (daß man dem Nichtverliebten eher zu Willen sein solle als dem
Verliebten) richtig. In Wirklichkeit jedoch vermittelt uns Wahnsinn die wertvollsten
unserer Güter: ein Wahnsinn eben, der als göttliches Geschenk uns verliehen wird.“ 2
Ein solches göttliches Geschenk ist der Liebeswahnsinn. Geschenk ist das
Symbol der Vermittlung zwischen Gottheit und Mensch; Eros, der den
Menschen in den Zustand göttlichen Wahnsinns versetzt und so der Gottheit
annähert, ganz ähnlich wie im „Symposion“ ein Mittleres zwischen Gött¬
lichem und Menschlichem. Den Liebeswahnsinn deutet Platon rechtfertigend
im „Phaidros“ als Erinnerung an das ewig Schöne, das absolut Gute, das
die Seele vor ihrer körperlichen Existenz im Jenseits gesehen hat. Er stellt
ihn so auf eine Stufe mit der wahren Erkenntnis, die er — im „Menon“ —
als Wiedererinnerung an das von der Seele in ihrer Präexistenz geschaute
wahre Wesen der Dinge erklärt. Der Anblick des schönen und darum
geliebten Menschen erinnert den Liebenden „an die wahre Schönheit“,
deren er im Jenseits vor seiner Geburt teilhaftig war.
1) Symposion, C 27 (209 St.).
2) Phaidros XXII (244 St.).
Die platonische Liebe
„Jede Menschenseele hat von Natur das Seiende geschaut, sonst wäre sie nicht
in diese Lebensform eingegangen. Doch wird es nicht einer jeden leicht, von den
Dingen hienieden aus sich an die droben zu erinnern .“ 1
Platon unterscheidet zwei Arten der Liebe je nach dem Grad dieser
Wiedererinnerung:
„Wer nun nicht frisch geweiht ist oder wer verdorben ist, der dringt nicht rasch
von hier dorthin vor zur Schönheit selbst, wenn er betrachtet, was hier den gleichen
Namen trägt. So wird er nicht zur Verehrung gestimmt durch den Anblick, sondern,
der Sinnenlust hingegeben, sucht er, gleich dem Vieh, mit körperlichem Umfassen
Kinder zu zeugen, und, der Ausgelassenheit vertraut, fürchtet und schämt er
sich nicht, wider die Natur der Lust nachzugehen. Der jüngst Geweihte dagegen,
der vormals viel erschaut hat: Wenn er ein göttergleiches Angesicht erblickt, das
die Schönheit gut widergibt, oder eine solche Körpergestalt, dann durchrieselt ihn
zuerst ein Schauer, und Nachwehen der Angstbeklemmungen von damals beschleichen
sein Gemüt; dann aber verehrt er den, den er vor sich sieht, wie einen Gott, und scheute
er nicht den Schein hochgradigen Wahnsinns, so opferte er seinem Geliebten . ..“ 2
Der Geliebte ist, wie aus dem folgenden unzweideutig hervorgeht, ein
Knabe. Nur der „Blick auf die Schönheit des Knaben“ treibt bei dem
Liebenden das Gefieder heraus, läßt seiner Seele die Flügel wachsen. Es
ist der homosexuelle Eros, den Platon hier meint, und dessen sinnliche
Glut er — wie wir schon früher gesehen — im „Phaidros“ ebenso leiden¬
schaftlich schildert wie nachsichtig beurteilt. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß Platon hier der homosexuellen Liebe als der Liebe dessen,
der sich leichter und besser erinnert an das im Jenseits Geschaute, der
Liebe zu einem schönen Knaben, die vom Standpunkt dieser Erinnerungs¬
theorie die höhere Liebe ist, die normalgeschlechtliche Liebe als die Liebe
desjenigen entgegenstellt, der sich weniger und schlechter erinnert, der
nicht rasch von hier dorthin zur Schönheit selbst Vordringen kann, dem
es schwerer fällt, von den Dingen hienieden aus sich an die droben zu
erinnern. Ja, mit einer beispiellosen Kühnheit kehrt er das landläufige
Werturteil in sexuellen Dingen geradezu um und setzt die heterosexuelle
Liebe als viehisch und wider die Natur gerichtet gegenüber der homo¬
sexuellen Liebe herab. 3
1) Phaidros XXX (250 St.).
2) Phaidros XXXI (250/51.).
5) Bruns, a. a. O. S. 21 f., stellt in bezug auf den „Phaidros“ „mit Befremden“
fest, daß Platon hier das Wesen der Liebe überhaupt behandelt, aber nur von dem
homosexuellen Eros spricht. „Wir können nur die Lücke feststellen und den Schluß
ziehen, daß die Liebe zwischen den verschiedenen Geschlechtern, bei den Erwägungen
Plaions, die zu der Theorie des „Phaidros“ führten, vollkommen ignoriert wurde. —
Diese Einseitigkeit ist historisch wohl verständlich. Auch Pausanias und Phaidros im
9 6
Hans Kelsen
Daß die „echte Liebe zu Knaben “ 1 eine im höchsten Sinne des Wortes
„zeugende“ und „gebärende“ Liebe sei, daß soll nach Platons „Symposion“
nicht einmal ihre höchste Rechtfertigung sein. Denn erst nachdem Diotima
dies eröffnet, schickt sie sich an, das letzte Geheimnis des Eros zu enthüllen.
Sie deutet die Stufen des Weges an, der zum obersten Ziele aller wahren
Philosophie, zum höchsten Gipfel echter Erkenntnis, zur Schau des absolut
Guten führt. Und die erste Stufe dieses Weges ist die liebende Schau des
schönen Knabenleibes!
„Denn wer in der rechten Weise dieser Sache nachgeht, der muß jung beginnen,
den schönen Leibern nachzugehen und zuerst, wenn der Geführte richtig geführt
wird, einen schönen Leib lieben und ihm schöne Worte zeugen.“ 2
Von der liebenden Schau des schönen Knabenleibes aber führt der Weg
über die Liebe zur schönen Gestalt als solcher, und die sich anschließende
Erkenntnis der schönen, d. i. der guten Lebensweise zur letzten Stufe der
Schau: der Schau des ewig Schönen, das hier — in einer für die Liebes-
philosophie des „Symposion“ überaus bezeichnenden Weise — mit dem
absolut Guten gleichgesetzt wird ; 3 und das zu schauen nur dem vergönnt
ist, der auf dem Weg des knabenliebenden Eros aufzusteigen versucht.
Symposion und später Xenophon meinen über den Eros an sich zu sprechen, handeln
aber nur von dem päderastischen. Nur die Knabenliebe gab jenen Männern zu denken,
die Liebe zur Frau stellte ihnen kein Problem.“ Im „Symposion“ aber, das Bruns für
das spätere Werk hält, habe Platon die Lücke des „Phaidros“ ausgefüllt. Als er im
„Symposion“ der Frage zum zweiten Mal nähergetrften sei, habe er mit seiner ersten
Erklärung in vielen Stücken gebrochen. Insbesondere baue er jetzt die Theorie der
Liebe, „nicht mehr auf der Betrachtung der Männerliebe, sondern der Liebe zwischen
den verschiedenen Geschlechtern“ auf. Das trifft nicht zu. Im „Phaidros“ wird die
normalgeschlechtliche Liebe keineswegs ignoriert, sondern — wie oben im Text
gezeigt wird — ausdrücklich erwähnt, nur daß sie eben als tierisches Begehren
disqualifiziert wird. Xenophon erwähnt sie nicht nur, sondern er läßt sogar sein
Symposion geradezu in einer Apotheose dieses Eros gipfeln. Gerade darin liegt die
Spitze gegen Platons „Einseitigkeit“, die freilich nicht „historisch“, sondern nur
psychologisch erklärt werden kann. Diese macht sich in seinem „Symposion“ nicht
weniger bemerkbar wie im „Phaidros“. Zwar erkennt er hier die Zeugungsfunktion
als für die Liebe wesentlich an und geht so scheinbar von dem normalgeschlecht¬
lichen Eros aus; aber nur zu dem Zweck, um den homosexuellen als die höhere
Form der zeugenden Liebe zu rechtfertigen. Auch im „Symposion“ ist Platons Eros
mit der Knabenliebe identisch.
1) Symposion, G 29 (211 St.).
2) Symposion, C 28 (210 St.).
5) Es ist Diotima, die diese Identität des Guten mit dem Schönen ausspricht.
In ihrem Gespräch mit Sokrates ist die Einsicht gereift, Eros sei Liebe zum Schönen.
„Was aber liebt Eros am Schönen?“, müsse man fragen. „Wer das Schone liebt, was
liebt er?“ Worauf Sokrates: „daß es ihm werde“. Und nun fragt Diotima: „Was
Die platonische Liehe
„Wenn aber einer von diesem anderen aufsteigend durch die echte Liehe zu
Knaben jenes Schöne zu schauen beginnt, dann berührt er fast das Ziel. Denn dies
heißt richtig zum Erotischen gehen oder geführt werden, daß man von diesen schonen
Dingen beginnend, jenes Schönen wegen immer hinaufsteige, gleichsam auf Stufen
steigend, von einem zu zweien und von zweien zu allen schönen Leibern, und von
den schönen Leibern zur schönen Lebensführung, und von der schönen Lebensführung
zu den schönen Erkenntnissen, bis man von den Erkenntnissen endlich zu jener Er¬
kenntnis gelangt, welche die Erkenntnis von nichts anderem als jenem Schönen selbst
ist, und man am Ende jenes Selbst, welches schön ist, erkenne.“ 1
Welcher Wandel der Anschauung liegt zwischen dem „Gorgias“ und
dem „Phaidon“ auf der einen Seite, und dem „Symposion“ und „Phaidros“
auf der anderen! Der Leib mit seiner Sinnlichkeit, das ist nicht mehr das
schlechthin Irdisch-Böse, der Kerker der himmlischen Seele, der Leib, den
der Philosoph abzutöten, dem er sobald als möglich zu entfliehen hat, um
zu seinem Ziele zu gelangen. Das ist jetzt die unumgängliche Voraussetzung
dafür, dies Ziel zu erreichen; die Liebe zu ihm schon der erste, der be¬
deutsamste Schritt auf dem Wege zum Guten, ein Schritt, mit dem schon
auf Erden der „himmlische Wandel“ beginnt , 2 weil mit ihm das Beste im
irdischen Leben: die echte Erkenntnis ein setzt, die nur die Wiedererinnerung
der Seele ist an die Schau der ewigen Wesenheiten im Jenseits. Das ist
wohl die höchste Verklärung, deren jemals die Liebe teilhaftig geworden
ist: Höher noch als das spätere Christentum, das die Liebe des Mannes zur
Frau und Mutter geheiligt hat in der Gestalt der jungfräulichen Mutter
des Heilands, hat hier Platon die Liebe des Mannes zum Mann in den
Himmel metaphysischer Erkenntnis erhoben. Er hat seinen Eros, unter
dem er mehr gelitten haben mag, als die Dialoge verraten, vor sich selbst
und der Welt, und hat damit die Welt vor sich selbst sittlich gerechtfertigt.
Zu dieser Rechtfertigung der Welt war ihm Eros Brücke und Weg; Eros,
den ihm Diotima als den dämonischen Mittler zwischen Gott und der Welt,
geschieht jenem, dem das Schöne wird?“ Die Antwort soll lauten: Daß er glücklich
wird. Um sie leichter zu gewinnen, schlägt Diotima vor, an Stelle des Schönen vom
Guten zu sprechen, da sie offenbar voraussetzt, daß beide identisch seien. „Aber“,
sagte sie, „wenn jemand statt des Schönen das Gute einsetzte und fragte: Sprich,
Sokrates, wer das Gute liebt, was liebt er? — Daß es ihm werde, sagte ich. — Und
was geschieht jenem, dem das Gute wird? — Das habe ich leichter zu beantworten,
sagte ich: daß er glücklich sein wird. — Denn, sagte sie, durch den Besitz des Guten
sind die Glücklichen glücklich. Und weiter zu fragen, bedarfs nicht, weshalb denn,
der glücklich sein will, der es will, sondern die Beantwortung scheint vollendet zu
sein“. G 24 (204/05 St.).
1) Symposion, G 29 (211 St,).
2) Phaidros XXXVII (256 St.).
Imago XIX.
7
Kelsen: Die platonische Liehe
zwischen dem Guten und dem Bösen enthüllt. Auf die Frage des Sokrates,
was eigentlich Eros sei, antwortet sie:
„Ein großer Dämon, o Sokrates, denn alles Dämonische ist mitten zwischen Gott
und Sterbling ... In der Mitte von beiden ist es erfüllend, so daß das All selbst
in sich selbst gebunden ist.“ 1
Was die platonische Welt gespalten, verbindet sie wieder. Eros hat den
Chorismos erzeugt, Eros hebt ihn wieder auf.
Damit erhält der platonische Dualismus eine optimistische Wendung.
Die platonische Philosophie nimmt — mit der Tendenz, den Gegensatz
von Gut und Böse zu relativieren — eine Richtung, die wieder in das
Diesseits weist, und dann auf ein einheitliches Weltbild zielt, das auch die
— nicht mehr nur ethisch gedeutete, sondern als seiend begriffene, weil
nicht schlechthin böse — Natur umfaßt; eine Richtung, die vor allem zu
Staat und Gesellschaft zurückführt.
1) Symposion 23 (202 St.).
Dichtung als archaisches Erb«
Von
Walt er M usckg
Zi inch
Ein Kind wächst auf in dieser Welt, den Eltern vertrauend, Nahrung
und Spiele genießend, der Menschen und des Lichtes froh. Eines Tages zum
erstenmal, dann immer öfter und unzweifelhafter wird es die schwankende
Fragwürdigkeit des Menschendaseins schmecken: die Nähe von Schmerz
und Tod, die blutig brutalen Zwecke hinter dem freundlichen Anschein
der Welt. Es stehen seit alters die Tore offen, in die der zur Reife erwachende
Mensch sich vor dem Grauen der Erkenntnis retten kann. Das offenste und
einladendste von allen ist in Europa seit dem Zerfall der Kirche die Kunst.
Ein Mensch hat sich, dieser breiten Straße folgend, dem liebhaberischen
Genuß, der wissenschaftlichen Erforschung der Literatur, vielleicht sogar
der Schriftstellerei ergeben (von den Schöpfern im strengsten Sinn ist hier
nicht die Rede). Was wird er darin suchen und willkommen heißen?
Eben die keusche Reinheit und Gefahrlosigkeit des Lebensaspekts, deren
Fehlen in der Realität ihn so tief zurückschreckte und in das Reich der
Phantasie hinein trieb. Kunst und Dichtung, so verstanden, sind herrliche
Zufluchtsorte vor der grausam handelnden Welt, die schönste Entschädigung
für das verlorene Paradies. Kein Wunder, daß sie so fanatisch als das Reich
des Schönen, des Maßes, der sichtbaren Harmonie gepriesen werden; immer
wieder haben ganze Epochen in diesem unschuldigen Glanz das einzige
Recht der Dichtung gesehen. Aber er ist nur das Idol einer neuen Un¬
wissenheit, die Kulisse einer höheren Unreife. Auch hier wird einmal das
Erwachen unabwendbar sein. Nur daß sich dieser Bruch selten im Rahmen
des Einzellebens, — man denke an Tolstoi, — meist im größeren Zu¬
sammenhang der allgemeinen Entwicklung vollzieht, als Revolution eines
Zeitstils, die, wenn sie tief greift, aus einer solchen Umdeutung der Kunst
selber hervorgeht. Dann bricht die tröstliche bessere Welt, das Elysium
der blut- und schreckenlosen Beseligungen, das eine ganze Epoche in der
Dichtung besaß, als eine bloße Wunschgewißheit unversehens so gänzlich
zusammen, daß die Neuerer gar nicht begreifen, was mit ihr verloren
gehen soll, während die Alten den Sinn ihres ganzen Daseins angegriffen
sehen und den Künstlern, wie politischen Rebellen, mit Gewehrläufen
drohen. So stehen heute die Dinge — teilweise schon im Bewußtsein des
Publikums, dem die sichere Freude an Theatern, Konzertsälen, Galerien
*
7 *
lOO
Walter Musckg
vergällt ist, und ausnahmslos im Geist jener wenigen, auf denen das Schicksal
der Kunst zu jeder Zeit geruht hat. Die meisten von ihnen haben schon
bezeugt, daß sie den Glauben an jene unverbindliche Idealität der Kunst
nicht teilen, daß ihn nach ihrer Meinung stets nur die abgeleiteten Talente
vertreten haben. Es ist der Standpunkt, von dem wir hoffen, daß ihm die
Zukunft gehöre.
Blickt man unvoreingenommen, nicht durch die Brille des nachklassisch¬
bürgerlichen Historikers auf die Geschichte der Literatur zurück, dann be¬
fällt einen zunächst ein Staunen über die Verschiedenartigkeit der Phänomene,
die in den kursierenden Handbüchern unter dem gleichen Titel verarbeitet
werden. Es ist da ein biederes Neben- und Nacheinander von Lebensläufen
und Leistungen, eine Bilderbuchlandschaft für erwachsene Leute, die wahr¬
haftig verdient, eine Welt für sich zu heißen. Das Lebensgeräusch dringt
nicht in den abgeschlossenen Raum dieses Pantheons, dieser Stil- oder geistes¬
geschichtlichen Wandelgänge, in denen ein kultivierter Mann nach getanem
Lebenswerk, eine geistvolle Dame der Gesellschaft sich heimisch fühlen
können wie nirgends sonst. Ein wirklicher Dichter, die Geburt eines echten
Kunstwerks sehen freilich so völlig anders aus, daß die Verfasser dieser
Lehrbücher und ihre Leser ahnungslos an ihnen vorübergehen, sofern sie
ihnen je begegnen. Zieht man einen Faden aus dem malerisch komponierten
Teppich der geschriebenen Historie, geht man einem ihrer Fakten, dann
einem zweiten, dann vielen in die realen Voraussetzungen nach, so ver¬
ändert sich das Bild unabsehbar. Es wird zu einem Konglomerat von un¬
gelösten, weil unlösbaren Problemen, ja von finster erregenden Katastrophen,
denen nur die geschichtliche Einreihung das Entsetzliche, Aufwühlende,
Moral und Gesellschaft Aufhebende nehmen kann. Wo hängt in der Wirk¬
lichkeit der furchtbare Kriminalfall von Kleists Selbstmord am Wannsee
mit Hebbels Untreue an Elise Lensing, mit der Pathologie von Flauberts
Einsamkeit oder Dostojewskis Martergram zusammen? Noch rätselhafter ist,
welche wechselnden Funktionen die Dichtung in der Geschichte erfüllt
hat: Dionysosfeier und Ahnenkult der attischen Tragödie, — wer wagt zu
sagen, daß er dies versteht, — Vagantengesang der mittelalterlichen Volks¬
epik, provengalische Minnelyrik, die luxuriösen Spiele in Rokoko-Schlössern:
wie läßt sich dies alles in einem Atem nennen? Ist der Name Dichtung
Band genug dafür? Muß er nicht reißen, wenn man ihn über solche Berge
und Abgründe der Fremdartigkeit spannt? Am merkwürdigsten aber kon¬
trastiert der Gehalt, die Substanz der Dichtung mit der geltenden Meinung
von ihr. Es wäre nicht möglich, daß die Extravaganz jeder neu auftretenden
Dichtung als archaisches Erb«
101
Dichtergeneration als abscheuliche Tempelverunreinigung abgelehnt würde,
wenn nicht ein so einseitiges Vorurteil über die Dichtung in Kraft stünde.
Ich meine, jeder vollsinnige Mensch, den man mit den großen Werken
der Weltliteratur ohne viele Phrasen bekannt macht, müßte umgekehrt
Ekel und Aberwillen vor so viel Blut, Verbrechen, Wollust und Perversität
empfinden. Vergewaltigung, Blutschande, Flucht vor dem Doppelgänger,
Aufruhr gegen Gesetz und Sitte, ein grelles Überschreiten aller Grenzen,
dessen geringste Anzeichen in der Realität mit allen Machtmitteln der Justiz,
des Staates, der sittlichen und geistigen Autorität unterdrückt werden, sind
das tägliche Brot und Handwerkszeug der Dichtung. Wer diese nächtige
Seite an ihr einmal gewahrt hat, fragt sich im Ernst, wie es möglich ist,
daß ehrliche Männer seit langem mit Vorliebe solchen Greuel und Wahn¬
sinn registrieren, ohne ihn ganz abnorm zu finden. Wer näher zusieht,
bemerkt allerdings rasch, daß dieses Dunkel von der Geschichtsschreibung
mit absichtlicher oder unbewußter Konsequenz an die Peripherie geräumt,
in ästhetischen oder moralischen Bann getan oder verschwiegen wird. Der
Psychologe erkennt überdies, daß sich in der beliebten Herabsetzung des
einen Dichters gegen den andern — etwa Kleists gegen Goethe, Goethes
gegen Schiller — viel unbewußter Haß gegen den Dichter schlechthin
verrät. Es gibt kaum einen großen Schöpfer, der in der Literaturgeschichte
nicht schon geschmäht oder von einem andern Stilideal her verkleinert
worden wäre. In der ganzen Kleist-Literatur spielt Goethe die Rolle des ver¬
ständnislosen olympischen Bonzen, den Aposteln Weimars sind die Romantiker
ein Literatengelichter geblieben, für die Hölderlin-Forschung ist Schiller
der Widersacher des lyrischen Genies. Wir verstehen nur schwer, welche
glückliche Norm öffentlicher Übereinkunft die Historiker gehindert hat,
eine so unsaubere Materie fahren zu lassen, ja sie vielmehr in Stand setzt,
sie volksbildend und erhebend zu finden. Wir verstehen es deshalb nicht,
weil wir in diesen Hintergründen nicht mehr bloß peinliche Begleitumstände,
sondern das Wesen der Sache sehen.
Ein großes Beispiel für die befremdliche Natur des Dichters ist Öster¬
reichs Klassiker: Franz Grillparzer. Wenige haben sie so sorgfältig und
erfolgreich verhüllt wie er, bei wenigen widerspricht die tiefere Erkenntnis
ihrer Gestalt so deutlich der Legende, die von ihnen umgeht. Das biographi¬
sche Märchen weiß hier von dem ängstlichen Untertan Metternichs, dem
verbitterten Archiv dir ektor zu erzählen, der von Zeit zu Zeit der uner¬
träglichen inneren Spannung in Unbotmäßigkeiten gegen Vorgesetzte und
Obrigkeit Luft verschafft: wer schloße jedoch daraus auf „der Phantasie
102
Walter Musch g
verworrne Riesenträume“, die in seinem Werk gestaltet sind? Dies Werk
selbst zerfällt wieder in zwei Sphären, die den Zwiespalt des Lebens in
der dichterischen Ebene wiederholen: in einen Traum von unendlicher
Schönheit und Schmerzverklärung, — „Sappho“, „Des Meeres und der Liebe
Wellen“, — der Grillparzer berühmt gemacht hat, und eine Vision sinn-
raubenden Grauens und lähmender Gefahr, — „Ahnfrau“, „Das goldene
Vließ“, „Ein treuer Diener seines Herrn“, — vor der man erst begreifen
lernt, aus welchen Quellen jene kristallische Flut von Wohllaut und Schön¬
heit entsprang. Es ist kein Zufall, daß Grillparzers größtes, mythisches
Werk, „Das goldene Vließ“, in der öffentlichen Schätzung so weit hinter
seinen lichteren Träumen zurücksteht. Seine Medea läßt sich als erotische
Wunsch- und Schreckgestalt nur mit Kleists Konzeptionen vergleichen, der
Name Liebe reicht nicht zu für die Gefühle, die um sie entfesselt sind.
Ihre Heimat Kolchis: ein giftiger Zauberboden, ein Acheron, wo unter
einer Falltür in der Erde das von der Schlange bewachte Vließ mit Ver¬
derben droht. Dieses Vließ: bei allem Glanz eine ganz irreale Scheußlich¬
keit, Hände verbrennend, mit Blut besudelnd. Medea zeigt dem Geliebten
den Weg zu ihm.
Medea (wild lachend).
Bebst du? Schauert dir das Gebein?
Hast’s ja gewollt, warum gehst du nicht?
Starker, Kühner, Gewaltiger!
Nur gegen mich hast du Mut?
Bebst vor der Schlange? Schlange!
Die mich umwunden, die mich umstrickt,
Die mich verderbt, die mich getötet!
Blick hin, blick’s an, das Scheusal,
Und geh und stirb!
Jason.
Haltet aus, meine Sinne, haltet aus!
Was bebst du, Herz? Was ist’s mehr, als sterben?
Medea.
Sterben? Sterben! Es gilt den Tod!
Geh hin, mein süßer Bräutigam,
Wie züngelt deine Braut!
Kein Götterauge seh es,
Dunkel hülle die Nacht
Unser Tun und uns!
Dicktung als archaisches Erbe
Jason erholt sich nicht von dieser Tat, das Erbeben darüber bleibt in
ihm ohne daß er Worte dafür fände; er beschwört nur die Zauberin, von
den wilden Bräuchen ihrer Heimat abzulassen, und zieht sie mit sich in
sein helles Griechenland. Sie folgt ihm widerstrebend, sie gräbt bei der
Ankunft ihr „Blutgerät“, die Requisiten ihrer Macht in die Erde — dorthin,
wo auch das Vließ hätte bleiben sollen, da es offenbar mit schwarzem Stab
und rotem Schleier eines Sinnes ist: ein Attribut des Weibes als Dämon.
Dennoch ist das Unheil unvermeidlich. Die zaubernde Geliebte, die in ihrer
Heimat dem Räuber als ein Lichtstrahl im Finstern erschien, steht in der
hellenischen Tageshelle ganz dunkel da. Sie ist in Nacht und Graus ge¬
wonnen, die Menschen Korinths begegnen ihr mit Abscheu — aber nur
ihr; den Jason nähmen alle auf, wenn er sie von sich täte. Und dieser sucht
sie loszuwerden, verleugnet sich in ihr, der Geschwächten, Betrogenen —
welcher Alptraum von Schuld, welche Mystik der Liebe. Der Mann ein
Opfer der Verführung: dies ist Grillparzers besondere Wendung des Mythus.
Sein Jason wendet sich von Medea, die nicht die Leier spielen, nur jagen,
Spieße werfen und Tränke mischen kann, der Jugendgeliebten Kreusa zu:
der Unberührten, Nie Befleckten, Reinen ... Ist nicht dies alles erregender,
vielsagender als Medeas rächender Kindermord? Wie wird diese Sphinx über
die Grenze zwischen Nacht- und Tagwelt hin- und hergezogen, wie schön
und furchtbar zugleich verkörpert sie die Unterwelt, mit der man nicht
in Frieden leben kann. Der Wurm in der Höhle blinkt Jason aus ihrem
Auge entgegen. „Und nur mit Schaudern nenn ich sie mein Weib.“ Wer
sieht nicht die Ähnlichkeit dieses drachenhaften Urweibes mit Brünhilde
vor und nach der Bändigung? Wer nicht den Zusammenhang solcher Bilder
mit den Entscheidungen, die Grillparzers Leben bestimmten: dem Gram
über den Selbstmord der Mutter, mit der er zusammenwohnte, dem un¬
erhörten Verzicht auf die schöne Kathi Fröhlich, die er als seine ewige
Braut neben sich verwelken ließ?
Die Wahrheit ist: fast niemand sieht dies, niemand will es sehen oder
mag es gelten lassen. Die unheimlichen Mysterien des Argonauten-Zyklus
— um nur von ihm zu reden — sind aus dem Antlitz Grillparzers, das
der Gebildete kennt, wie fortgewischt. Sie haben keinen wesentlichen Anteil
an seinem Ruhm und seiner Gestalt. Dies rührt von jener Übereinkunft 4
her, auf Grund deren die Kunst in der Zivilisation als ein Hort der Be¬
ruhigung, des Schönheitsgenusses gilt. Sie ist der zauberhafte Ersatz für
die amorphe, bedrückend mit Häßlichkeit vermischte Realität. Was heißt
das aber anderes, als daß die Kategorien einer als unerträglich empfundenen
Wirklichkeit, wenn euch gegensätzlich, auf si. übertragen werden» Ihr
ganzes Anderssein «oll in der Abwesenheit jener Kategorien bestehen. Si,
W„d ai,. tndtrekt, unbewußt durch die Bewertung der ,ußerkü„s.I„isch,„
Wtrkhchk,,, besttmmt. S ,e wird „ich. den, Namen »ach, aber faktisch
dem Real«atsbegr.ff gemessen, den „an in ihr außer Kraft sehen will
Da, eme rem »egati.e, „nschöpferi.ehe Bestimmung der Kunst Man
darf sie mch, .„fach verlogen ihr die Tragödie einer Epoche
zugrunde hegt^ Sie hat aber, wegen ihrer Unreife und Blindheit, zur Folge
daß auf den Bahnen der Verdrängung jener selbe Realitätsbegriff gleich-’
w oh alle Urteile über die Dichtung trägt. Sie ist mit ihrer Leere auch
schuld daran, daß die lebendige Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft
ngem so heillos zerfallt. Denn dieser Begriff von Wirklichkeit ist
seinerseits falsch Es ist der platt rationale, utilitarische Naturalismus! der
mo erne eit verseucht und ihr zum vornherein den Zutritt in die
der K^d n d DiC t tUn , g VerW6hrt NUr die k< ™ ioneI1 * Schätzung
der Kunst die wieder ihre besondere Geschichte hat, verhindert die Wahr
Leism™! r er r aChe Un<1 V6rSUCht Statt deSSen> an den künstlerischen
und D cht 51 ™ r en ’ ^ ™ r6tten iSt WaS die Größe von
Natur^ SiCh V ° m Standpunkt des neuzeitlichen
den nth? US mCht ; rkennen ’ S esc üweige denn rechtfertigen. Ihm muß, was
Dichter am tiefsten bewegt, absurd oder monströs erscheinen. Die Auf-
Kritiker 3 d 3 er fi UrSPr T Ung ? hen GeStaltUngen durch das P «bHkum und seine
Kritikei, das äußere Los der Dichter zeigt es kraß genug. Eine Zeit des
triumphierenden Materialismus, der moralischen Sekurität sichtet den Dichter
notwendig aus einer falschen, feindlichen Perspektive. Sie schätzt seinen
ert am Maßstab des Intellekts, der politischen Vernunft und Humanität
er bestenfalls seinen Wirkungen angemessen ist. Goethes Bild hat darunter
bis zur grotesken Verzerrung gelitten.
Ihr^eha'lt^ ^ m ° dernen VOn Realität nichts ™ schaffen,
he J 1 m T er ganZ andern Weise konkret ’ als der Mensch von
Ma“ sch n Stem " ? Ubt ' Der VernUnftmensch nimmt die Handlung eines
im Grund“ .f™"“ t erfabelteS ° der P hantasie ™P verfärbtes,
Grund aber in seinem Sinn reales Geschehen. Die preußischen Offiziere
der Louisen-Zeit sabotieren die Aufführung des „Prinzen von Homburg“
wei m dem Stuck ihre Standesehre durch die Todesangst des Helden an¬
getastet sei; die Schweizer begeistern sich am „Wilhelm Teil“ dessen
vetuX en Grül * W **F™°* Mützen; der österreichische Kaiser
versucht Grillparzer den „Treuen Diener seines Herrn“ abzukaufen und
Dickttmg als ardiaisckes Erl><
e io5
a ls Manuskript aus der Welt zu schaffen, weil er das Werk als politisch
gefährlich taxiert. Dies alles sind Episoden aus der Wirkung von Kunst¬
werken auf die Außenwelt; sie berühren sich nirgends mit dem Wesent¬
lichsten der Werke, mit dem Geheimnis ihrer Entstehung. Und doch zeigt
schon der formale Anblick etwa eines klassischen Dramas die Irrealität
seines Gehalts. Seine Jamben, seine Monologe, sein Beiseitesprechen, die
Personen, die nicht sehen und hören, wie zwei Schritte abseits ihre Er¬
mordung ausgemacht wird: dies alles ist nicht real, sondern Spiel, es ist
einer Mozartschen Spieloper verwandter als unserer Wirklichkeit. Dennoch
benimmt sich im gegebenen Augenblick der Theaterbesucher oder Ästhetiker
ganz so, wie wenn hier Realitäten zu würdigen wären, weil ihm jedes
Unterscheidungsvermögen in dieser Richtung verloren gegangen ist. Er weiß
nicht mehr mit dem Blut, was das heißt: Verwandlung, Spiel, und trägt
einen trostlos verkehrten Ernst in das Ereignis hinein, der teils zu schwer,
teils noch viel zu sorglos ist. Selbst wenn die Aufführung von Grillparzers
Bancban-Tragödie einen Österreichisch-ungarischen Krieg veranlaßt hätte,
wäre dadurch nicht das Geringste über die Entstehungsmöglichkeit des
Stückes ausgesagt gewesen. Der Krieg wäre irrelevant gewesen im Vergleich
zu der verborgenen Tatsache, daß Grillparzer in der Bancban-Handlung
ein weiteres ungeheuerliches Gleichnis seiner eigenen Existenz geschaffen
hat. Auch sie ist einer der verworrnen Riesenträume, in denen er Schuld
und Sühne seiner Seele in geisterhafter Vergrößerung durchlebte. Die ganze
Reihe seiner geschichtlichen Tragödien, zum Stolz und Rückhalt eines
staatlichen Systems geworden, steht, wie das Werk jedes anerkannten Dichters,
in diesem Doppellicht: sie ist die welthistorische Projektion von Konflikten
in des Schöpfers Brust. Wer dieses gewaltige Schauspiel wahrhaft verstehen
will, wird seine öffentliche Seite den klatschenden oder pfeifenden Theater¬
besuchern überlassen. Er wird die unermeßlich ragenden Strahlenbündel
der Dichterphantasie an ihren Brennpunkt zurückverfolgen und ihr geheimes
Urbild in der Seelenkammer des Schöpfers suchen. Was dort draußen Wirkung
war, ist hier Ursache, was dort Stoff, hier Erregung, was dort der Soziologie,
der Weltgeschichte angehört, fordert hier, im Innern, Psychologie.
Die herrschende Meinung wehrt sich aufs äußerste gegen eine solche
Umkehrung der Dinge, die den schöpferischen Menschen und sein Tun als
das Erstgegebene nimmt. Tatsächlich muß sie die populäre Auffassung über
den Dichter zerstören. Denn sein Weg durch die Geschichte, die Summe
seiner sittlichen Wirkungen auf den Einzelnen und auf die Nation, also
eben jene Brauchbarkeit, die man ihm zuschreibt, stellt sich, soweit sie
nicht rückstrahlend sein Schaffen beeinflußt hat, als eine Erscheinung zweiten
Ranges dar. Es entspricht dieser Überzeugung, daß sich in der Betrachtung
der Kunst heute ein soziologischer Gesichtspunkt von einem psychologischen
abspaltet die Sauberkeit der Forschung kann von dieser Trennung nur
gewinnen und setzt das primäre Phänomen für den Sehenden desto klarer
ins Licht. Diese primäre Erscheinung liegt in der Hervorbringung des Werks
durch den Dichter: in einem Geschehen, einem nie ganz zu durchschauenden
Prozeß, während für den, der nur die Wirkungen betrachtet, das Vorhanden¬
sein des Werks die selbstverständliche Voraussetzung ist. Tatsächlich gerät
also auch der Begriff des Werkes für uns in wunderbare Bewegung. Nicht das
Werk allein oder der Dichter allein, sondern das Zusammenbestehen beider
ist das Urphänomen: die Bewegung des Dichtens selber. Das Schöpferische,
nicht die öffentliche Meinung über seine Vorzüge und Schwächen steht uns
in Frage. Es gibt kein wichtigeres geistiges Problem als dieses, aber auch kein
gefährlicheres. Zu viele Interessen, die mit dem Urphänomen Dichtung nichts
zu schaffen haben, aber sich auf seine Wirkungen beziehen, werden durch
die Unterscheidung betroffen — man denke allein an die Schule, die Staats¬
räson. Ob die neue Auffassung sich durchzusetzen vermag, ob dieses oder
das kommende Jahrhundert ihre Vorstellung von der Problematik des Dichters
bis zu jener Ursprünglichkeit revidieren werden, die wir in früheren Zeiten
ganz offensichtlich und erschütternd in Kraft sehen, ist nicht vorauszusagen.
Die konventionelle Übereinkunft über das Wesen der Kunst wurzelt so tief,
die Überzeugung von der vernünftigen Grundlage des Daseins und also auch
der künstlerischen Gestaltung gibt sich so unantastbar, daß wir alle — die
Gegenwart beweist es weit eher in Klagen über die unaufhaltsame
Rationalisierung und Entzauberung der Erde ausbrechen, als daß wir uns zur
Erkenntnis vom Vorhandensein des Wunderbaren bekehren ließen. Jeder
schärft seinen Blick bereitwilliger für das rettungslose Verschwinden alles
altertümlichen Menschheitserbes als für die Unbegreiflichkeit der Dichtung,
obschon, wenn die Technik wirklich den Sieg erringt, den alle fürchtend
oder hoffend kommen sehen, die Zukunft mit demselben Kopfschütteln die
Existenz von Dichtern im zwanzigsten Jahrhundert feststellen wird, mit dem
wir heute von Menschen lesen, die Götterbesuch empfingen oder vor Sauriern
fliehen mußten. Niemand wundert sich darüber, daß es heute noch Dichter
gibt, keiner weiß, was das in Wahrheit bedeutet.
Die Kunst steht in einer uralten Tradition. Nichts, was wir in der Buntheit
der Welt erblicken können, ist mit einem Maler oder Bildhauer so verwandt
wie ein afrikanischer Wilder, der ein Bild von seinem Vorfahren oder seinem
Diditung als archaisches Erlx
e 107
Jagdtier verfertigt, um seiner Herr zu werden. Was immer für Strecken der
Entwicklung dazwischen liegen mögen: diese Ahnenschaft des Künstlers ist
die offenkundigste, und sie ist unmittelbar gegeben, da in der Kindheit
des einzelnen Menschen jene frühe Stufe noch immer wirksam ist. Auch der
Dichter macht sich ein Bild von der Welt — diese Übereinstimmung über¬
schattet alle Unterschiede im Gebrauch der Mittel. Nur unter diesem Vor¬
zeichen ist heute noch eine Grundlegung der Kunst- und Literaturwissenschaft
möglich. Die Hingabe des Schöpfers an sein Werk, seine Art des Umgangs
mit der Welt und ihrer Verwendung für seine Absichten sind zu lächerlich
oder unheimlich von den Gebräuchen des aufgeklärten Bürgers verschieden,
hängen zu durchsichtig mit jener Vergangenheit zusammen, als daß dieser
Satz sich widerlegen ließe. Wir wissen durch Freud, wo die wichtigste Brücke
liegt, die uns mit der archaischen Welt verbindet: im Traum. Freud hat
auch die Fingerzeige für den Traumcharakter der Dichtung gegeben. Ich
halte deshalb seine „Traumdeutung“, über alles Spezielle ihrer Methode
hinaus, für die vornehmste Urkunde einer neuen Betrachtung der Literatur.
Am Traum ist mehr über das Wesen der Dichtung, über das Verfahren der
dichterischen Intuition abzulesen als aus irgendeiner andern Erscheinung,
die sich uns innerhalb der Kulturwelt zeigt. Der Professorenstreit über die
Kunst als Nachahmung der Natur, der noch heute in etwas geschmeidigeren
Begriffen geführt wird, erledigt sich im Hinblick auf die Gesetze der Traum¬
bildung, selbst wenn sie uns nur oberflächlich zugänglich wären. Die
Dichtung als Urphänomen hat am ehesten die Realität des Traums, sie
ist durch und durch symbolisch wie er, naturalistisch wie er, geordnet und
genau innerhalb rätselhafter Voraussetzungen wie er. Ihre Vorliebe für ge¬
schichtliche und mythologische Räume z. B. ist nicht würdiger zu erklären
als mit den Besonderheiten der Traumszenerie, ihr Grundgesetz der Meta¬
morphose nicht tiefer als mit den Verwandlungen der Traumgestalten, ihre
Tiefe nicht schöner zu deuten als durch jene, die der Traum im schlafenden
Menschen noch erschließt. Es gibt keine große Dichtung ohne die überwäl¬
tigende Beziehung zum archaischen Grund, aus dem auch der Traum sich
nährt. Dies ist das Furchtbare und Berückende an ihr, dies die Unwirklichkeit,
die man an ihren Gebilden wahrnimmt. Sie ist ein Rückfall in diesen Grund,
ein Relikt aus ihm. Deshalb paßt der Dichter nicht in seine Zeit, erweist er
sich in seiner sozialen Verwendbarkeit jedem Buchhalter unterlegen. Er ist
minderwertig, weil er gänzlich andersartig ist; er geht unter, weil er so
unsinnig ist, das Gebilde von seiner Hand vollkommen ernst zu nehmen,
ernster als irgend etwas um ihn her. Er zieht aus dieser wahnsinnigen Anlage
Walter Alusdig
108
jede Konsequenz: er mißhandelt Menschen, läßt sich selber mißhandeln,
steigt auf Barrikaden, läuft wie ein Tropf herum, schlägt Vorteile aus, zieht
sich in Wälder zurück, tötet andere oder sich selber. Seine Verwandtschaft
mit dem Verbrecher, dem Geisteskranken ist unverkennbar, was ja nur seine
archaische Richtung in anderer Weise bestätigt. Das Ziel, um dessen willen
er sich so verhält, — natürlich ist mit alldem nicht der Literatentyp, sondern
der seltene schöpferische Gestalter gemeint, — ist ein fast verschollenes
Ziel. Dinge, die niemand mehr kennt und glaubt, stehen dahinter und sind
seine ehrwürdigste Legitimation — man muß nur bereit sein, die Linien
seines Tuns weit genug nach der Seite zu verlängern, nach der sie zeigen.
Hinter jedem Theaterstück spukt vorzeitliche Frühlingsfeier, Opferhandlung,
perverser Maskentaumel alter Naturreligionen. Hinter einem Roman: der
Gesang heidnischer fahrender Rhapsoden. Hinter einem Gedicht: der orgia-
stische Taumel exotischer Tänzer, die in tagelanger Orgie ihre Rhythmen
schreien, bis sie sich schäumend am Boden wälzen. Nur wenige Dichter
wissen um diese Vergangenheit und wecken sie in sich auf, aber diese
wenigen sind die großen und ketten die gezähmten Kräfte wieder los. Ein
Zacharias Werner ist nicht wegen seiner Hymnen auf Ausschweifung und
Verwesung weniger mächtig als Kleist, — nur der Spießer glaubt dies, und
selbst darin übertrifft die „Penthesilea“ Werners Dramen, — sondern weil
er diese Gesichte aus geringerer Tiefe heraufholt. Wer die erotische Zügel¬
losigkeit Rabelais’ oder der orientalischen Märchen, die Unflätigkeit spät¬
mittelalterlicher Fabulierer verachtet, sagt sich von breiten Epochen der
Dichtung los. Dasselbe gilt von der zeitgenössischen Kunst: nur wer Grill¬
parzers Behandlung des Stoffes blind gelesen hat, verwirft Hans Henny
Jahnns atridenhafte „Medea“ wegen ihrer steinernen Greuelhaftigkeit. Er
mißt Dichtung an der kümmerlich-zufälligen Realität, in der er zu Hause
ist, nicht an ihrer eigenen. Er fürchtet sich vor einer Abgründigkeit, die
vor ihm war, ohne die es kein fruchtbares Schaffen gibt, die das Sein erhält.
Da diese Furcht allmächtig ist, kann man vermuten, daß sie auch die offene
Anerkennung der dichterischen Dämonie verhindern wird. Ohne Zweifel
liegt hier, jenseits der sachlichen Auseinandersetzung, der Widerstand, der
die Aufnahme der modernen Forschungsprinzipien erschwert. Das Verständnis
für die Tiefendimension der Lebensvorgänge, das nicht aus reinem Regi¬
strieren oder bloß denkerischer Beschäftigung resultiert, ist die seltenste,
im Grund eben dichterische Begabung, weil sie selber Tiefe und Leiden¬
schaft erfordert. Ein Mensch des ordnenden Intellekts wird immer nur
konkrete Tatsachen, niemals dämonische Bewegung konstatieren. Man sehe
Dichtung als ardiaiscLes ErL
e 109
sich die Stoffhuberei der meisten Kunst- und Literaturgeschichten daraufhin
an. Nicht nur die Darstellung der schöpferischen Persönlichkeit, auch die
Erfassung der ästhetischen Teilprobleme verrät fast durchwegs die unbewußte
Verneinung des Dichterischen. Ich greife irgendein Beispiel heraus — sei
es die vieldiskutierte Frage der historischen Treue in der Kunst. Es ist
Tatsache, daß kein großer Dichter die geschichtliche Überlieferung, wenn
er sie aufgreift, ohne willkürliche Veränderung behandelt. Man nennt dies
seine poetische Freiheit und streitet über ihre Berechtigung — schon aus
dem Namen spricht die bloß negative Wertung. Vom Standpunkt der ge¬
schichtlichen und politischen Vernunft ist sie auch das einzig Mögliche und
Erlaubte, was daraus hervorgeht, daß wir dem Dichter bei einer Gestalt
der aktuellen Geschichte — nennen wir Hindenburg oder Stalin — unter
keinen Umständen die Souveränität zubilligen würden, mit der Goethe den
Egmont, Kleist den Prinzen von Homburg, Schiller die Elisabeth umgebildet
haben. Der Dichter selbst wird schaffend diese Unterscheidung nie aner¬
kennen, da sie sein Hoheitsrecht beleidigt, das der wissenschaftlich-rationalen
Haltung unversöhnlich entgegensteht. Was uns an ihm als poetische Lizenz
auffällt, ist nur ein aus dem Dunkel ins Tageslicht ragendes kleines Stück
Kontur seiner wahren Geistigkeit. Wischen wir den Sand davon, so ahnen
wir bald, welchem Ganzen es angehört: dem Mythus, der da verschüttet,
riesengroß im Boden ruht. Dichterische Freiheit gegenüber den Gescheh¬
nissen ist ein Rest der mythischen, geschichtslosen Geistesverfassung. Ge¬
schichtliche Dichtung kann in ihrer Gesamtheit nur als das Fortleben dieses
offiziell geächteten Vergangenheitsbildes voll gewürdigt werden. Der spät¬
bürgerliche Novellist vom Schlag C. F. Meyers, der Archive durchsieht, sich
aber trotzdem im Einzelnen kleine Abweichungen von den Quellen gestattet,
steht in sehr lockerer Beziehung zu diesem vorwissenschaftlichen Prinzip,
aber in Kleists „Penthesilea“ oder in Gotthelfs „Schwarzer Spinne“ trium¬
phiert es noch ungebrochen und kann nicht mehr kritisch abgeurteilt
werden, ohne daß die Werke selbst verworfen werden. Und was vom Ver¬
halten des Dichters gegenüber der Geschichte gilt, haftet der dichterischen
Welterfassung als solcher an. Sie hängt aufs engste mit jenem zugleich
Primitivsten und Größten zusammen, das wir kennen: der Mythenbildung,
deren Gehalt eine visionäre Wahrheit, nicht rationale Richtigkeit, deren
Mittel das Symbol, nicht die logische Verbindung ist. Auch dafür gibt es
keine in Form und Bedeutung reichere Parallele als den Traum.
Die Abwehr, die diese Behauptungen zu gewärtigen haben, erklärt sich
daraus, daß sie dem dichterischen Werk die Wirklichkeit, d. h. die bisher
HO
Walter Alusdig
an ihm geschätzte und gepflegte Wirksamkeit rauben. Sie befreien es tat¬
sächlich von jenem falschen Anspruch auf Realität, der ihm in unserer Zeit
unterschoben wird. Die reine Imagination, das spielende Strahlungswunder,
als welches es nach Abzug der handgreiflichen Konkretheit übrig bleibt,
ist keine Lebensluft für den heutigen Durchschnittsmenschen mehr. Nun,
diesem revoltierenden Liebhaber wäre ein Trost entgegenzuhalten, der ihn
freilich kaum versöhnen wird. Die dichterischen Phantasien fallen allerdings
mit einer Wirklichkeit zusammen, aber nicht mit der neuzeitlichen, sondern
mit einer archaischen. In sehr alter Zeit ist wahrscheinlich der Held einer
Tragödie wirklich gemordet, ist jeder gesungene Exzeß wirklich begangen
worden. Das sind die frühesten, verlorenen Hintergründe jedes künstlerischen
Spiels. Nur daß sie einst bestanden, kann die Dauer der Kunst erklären.
Noch trifft man ja im Osten und Süden die kultischen Institutionen an,
in denen sie weiterleben. Es regt sich nichts auf Erden, was nicht ein¬
mal die Autorität des Realen besessen hätte. Kein Kinderspiel, das nicht
einmal blutig ernst, kein Zeitvertreib, der nicht einmal tödlich schwer ge¬
wesen wäre. Die Inspirationen der Dichter sind Erinnerungen daran, je
älter desto bezaubernder, je ernster desto größer. Ihre Werke haben seither
diesen Charakter preisgegeben. Aber die Dichter selber verfallen ihm zu¬
weilen noch, — auf katastrophalen Höhepunkten der Literaturgeschichte,
die diese nach Möglichkeit zu verwischen sucht, — indem sie jenen alten
Weg in traumhaftem Zwang zu Ende gehen.
Diese Einschränkung ist die einzige Erleichterung, die die große Dichtung
in historischer Zeit durchgeführt hat. Die Katharsis, auf die sie abzielt,
bedeutet noch immer die Bedrohung unseres gewohnten Lebensgefühls.
Man sieht, diese These vom Wesen der Kunst führt nicht zu ihrer Ver¬
flüchtigung ins bloß Geträumte, sondern zu einer Steigerung ihres Charakters
bis zur Furchtbarkeit. Das Spiel, das sie treibt, ist noch immer gefährlicher
als der meiste Ernst des Lebens, dem wir uns widmen. Seine Tragweite
ist so ungeheuer, daß wir allen Widerspruch und Spott, den es hervorruft,
auf sich beruhen lassen können: den Widerspruch jener, die es nie fassen
werden, daß in der Dichtung die Tiefe des Seins selber widerhallt, und das
Lachen jener, die zwar Hölderlin in den Literaturgeschichten einen großen
Dichter nennen, aber in der Wirklichkeit die Partei des Bankiers Gontard
ergreifen, der den Sänger Diotimas aus seinem Hause wies. Es handelt sich
darum, ob man die Dichtung ernst nimmt und bis wohin man ihr im Ernst
zu folgen vermag. Sie ist entweder ein Organon des Lebens oder ein Ärgernis
und eine Torheit.
Diditung als ardiaisdies ErL
lli
Der archaische Charakter der Dichtung ist ihre höchste Würde und die
wahre, echte Magie, die ihr innewohnt. Sie entschleiert das Alter der Welt,
die meerhafte Tiefe, die das Heute trägt und die Zukunft verbürgt. Ver¬
legen wir den Sinn ihrer Gebilde nicht weiter dorthin, wo er nicht sein
kann: in die klare Vernünftigkeit, in die strahlende Eignung für die rast¬
lose Zweckhaftigkeit des Tages. In einem nach konsequenten Vernunft¬
prinzipien geordneten Leben haben die Dichter keinen Raum. Plato ver¬
bannte sie aus seinem Staat, in Nietzsches wissenden Augen logen sie zu viel.
Beide vertraten den Standpunkt der Utopie, der wahren Antithese zur
dichterischen Schau. Der heutige Zustand der europäischen Kultur, deren
Basis sich nicht so bald verschieben wird, erfordert eine ganz andere Ein¬
ordnung der Kunst. Dieser Zustand ist so geartet, daß künstlerische Schöpfung
in ihm noch immer den obersten Rang alles Schaffens behauptet: deshalb
nämlich, weil diese Kultur ihrerseits archaisch gebunden ist und ihr tiefster
Ausdruck nur in ihrer eigenen Richtung liegen kann. Erst wenn diese
Richtung umgewälzt würde, wäre der Grundcharakter der Dichtung selbst
in Frage gestellt — die Lage der Dichtung im heutigen Rußland rührt
an dieses Problem. Mit der Aufhebung der archaischen Bindungen fällt
wahrscheinlich die Kunst selbst dahin; es ist kaum möglich, sie in ein
vergangenheitsloses Leben zu verpflanzen. Damit müssen wir uns begnügen.
Wir können auf die Frage nach dem Sinn der künstlerischen Schöpfung
nur diese Antwort geben:
Es gibt Lebewesen in der Natur, die in Reaktion auf einen Defekt, einen
schmerzhaften Eingriff in ihren Organismus Perlen produzieren. Der Zauber
dieser Gebilde liegt nicht nur in ihrer Form und in ihrem Material, sondern
in dem unbewußten Grauen des Menschen über ihre Herkunft, über die
Geschichte ihrer Entstehung. Dies ist die Schönheit, die der Mensch seiner
Vernunft zum Trotz am höchsten schätzt und am liebsten sammelt — im
Grund gibt es keine, die nicht so beschaffen wäre. In der Menschenwelt
leben ähnlich rätselhafte Geschöpfe, die eine gramvolle Störung ihrer Existenz
mit der Bildung von Schönheit erwidern: einem Wert, der ursprunghaft
verbunden ist mit Krankheit und Bedrohung des Lebens. Nur die verborgene
Schicksalsverwandtschaft kann es erklären, daß diese Frucht des Leides und
der Todesnähe so hohe Würdigung erfährt. Wer dies verneint, leugnet die
großartigste Legitimität der Kunst: ihre lebenstiefe Unergriindlichkeit. Etwas
anderes ist es, ob man den Marktwert ihrer Gestaltungen für nebensächlich
hält; er hat mit dem mysteriösen Sinn ihres Wachstums nichts zu tun. Ihr t
ganzes Geheimnis liegt in jener anfänglichen Doppelwirkung: der Ver-
112
Musdig: Dichtung als archaisches Erh«
sehrung eines Menschen und der Hervorbringung des heilenden Werks.
Nur das Gesetz dieser Urerscheinung kann eine auf das Wesentliche blickende
Kunstforschung interessieren. Sie lehnt schon die Kinderfrage nach dem
Wert der beteiligten Schicksalsträger ab: ob dem Dichter oder seinem Werk
mehr Ehre gebühre. Grillparzer, der seiner irdischen Braut das Glück vor-
enthält und sie statt dessen in so mancher Königin seiner Dichtung erhöht,
ist über eine so befangene Alternative erhaben. Es ist nicht damit getan,
daß man die verklärte Gestalt mit dem privaten Urbild identifiziert; sie
läßt sich ja nicht „wirklich “ auf dieses reduzieren, und selbst wenn es
möglich wäre, hätte man nur einen Lebensvorgang rückgängig zu machen
versucht und ihn überdies nur zur Hälfte nachgezeichnet. Das Neben- und
Ineinander beider Größen ist das letztlich Sichtbare. Es spottet jeder ver¬
nünftigen Ableitung der einen aus der andern, weil der archaische Lebens¬
grund dazwischen liegt und beide rechtfertigt, indem er sie trägt. Wir
sehen nur dieses: ein Menschenschicksal — die Schale, und die Perle —
das Werk.
MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN
^um Triebleben der Primaten
Bemerkungen zu S. ZuAerman: iSocial life of monL
monkeys and apes
Von
Imre H ermann
Budapest
Das Triebleben der Affen kann der Psychoanalyse für das Verständnis des
Trieblebens des Menschen ein wichtiges Vergleichsmaterial bieten, wichtiger
vermutlich als physikalische Erscheinungen oder biologische Verläufe an ein¬
zelligen Lebewesen. Die Affen stehen den Menschen am nächsten, und daß
dieser Umstand wissenschaftlich nicht genügend verwertet wird, liegt wohl an
dem „Narzißmus der kleinen Unterschiede“.
Soeben erschien ein Buch zur Psychologie der Affen, das an Ausführlichkeit
und Verläßlichkeit der Beobachtungen wohl einzig dasteht; S. Zuckermans
„Social life of monkeys and apes . 1 2 Die nachstehenden Ausführungen stützen
sich zum größten Teil auf das dort dargebotene Material; vieles davon wird
auch von anderen Forschern bestätigt, manches ergänzt. Das Material von
Zuckerman bezieht sich hauptsächlich auf Paviane, die teilweise freilebend
in Südafrika mittels starker Ferngläser, teilweise zwei Jahre hindurch am
sogenannten „Monkey Hill des Londoner Zoologischen Gartens, einer Affen -
kolonie, wie sie jetzt an einigen zoologischen Gärten bestehen, von ihm be-
beobachtet wurden: An einem künstlichen Felsengebilde bedeutenden Umfanges
lebt eine größere Anzahl von Affen verschiedenen Geschlechts und Lebensalters
unter Verhältnissen, die den natürlichen so nahe wie möglich kommen. Die
Londoner Affenkolonie wurde im Jahre 1925 gegründet; den ursprünglichen
Stock bildeten etwa hundert Paviane, mit Ausnahme von sechs Exemplaren
alle männlichen Geschlechts, denen zwei Jahre später dreißig Weibchen zu¬
gesellt wurden. Diese Zahl schrumpfte im Verlauf der nächsten Jahre stark
zusammen, teils durch Krankheiten, teils infolge erbitterter Kämpfe.
Die Familie besteht beim Pavian — aber auch bei vielen anderen Affen¬
arten, so unter den Menschenaffen beim Gorilla — aus folgenden Mitgliedern:
dem Männchen, das Herrscher und Gebieter in der Familie ist, einem oder
mehreren Weibchen, deren Zahl von der „Dominanz“-Fähigkeit des Männchens
abhängt, den Jungen, um die sich beim Pavian nur die Mutter, bei anderen
Arten eventuell auch das Männchen kümmert, und in vielen Fällen noch aus
1) Vortrag in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung am 5. Februar 1932.
2) International Library of Psychology, Philosophy and Scientific Method. %
London 1932.
Imago XIX.
8
Imre Hermann
114
einem sogenannten „Junggesellen“, der etwas loser als die anderen Mitglieder,
aber doch ziemlich beständig an die Familie attachiert ist. Wahrscheinlich
knüpft ihn die sexuelle Anziehungskraft des Weibchens an die Familie; dabei kann
er aber auch homosexuelle Beziehungen zum Männchen und Geschlechtsbeziehungen
beider Art zu den Jungen der Familie unterhalten. Dasselbe Bild bietet die
Familie auch im Freien; an beiden Orten gibt es außer den Familienverbänden
noch eine Anzahl alleinstehender Junggesellen, die sich infolge der Dominanz
der stärkeren Tiere kein Weibchen erwerben konnten. Ihr Geschlechtsleben be¬
schränkt sich auf Onanie, auf homosexuellen Verkehr und auf Verkehr mit
noch unreifen Tieren. Homosexualität ist übrigens auch unter den „Ehemännern“
(„Ehemann“ und „Junggeselle“) und unter den Weibchen desselben Harems
verbreitet. Heterosexuelle Promiskuität gehört — den Verkehr mit noch un¬
reifen Tieren abgerechnet — zu ziemlich seltenen Ausnahmen: die Dominanz
der „Ehemänner“ wacht über die „geregelten“ sexuellen Beziehungen, in denen
sich eine Änderung nur auf dem Wege scharfer und tödlicher Kämpfe ein¬
stellen kann.
Eine der wichtigsten das Geschlechtsleben betreffenden Feststellungen besagt,
daß es beim Affen keine Brunstzeit gibt. Das bezieht sich auf Anthropoide
ebenso wie auf Affen niederer Art und darf auf Grund zahlreicher Beobach¬
tungen (z. B. Uterusbefunde gleichzeitig erlegter Weibchen, die alle Phasen des
Fortpflanzungsverlaufs aufwiesen) als gesichert angesehen werden. Der sexuelle
Verkehr findet das ganze Jahr hindurch statt, ist während der Zeit der Trächtig¬
keit und des Stillens zwar seltener, doch nie vollständig abgebrochen. Dabei
unterliegt die Stärke des sexuellen Begehrens und Begehrtseins beim Weibchen
einer periodischen Schwankung, die mit den monatlich wiederkehrenden Ver¬
änderungen im weiblichen Sexualapparat zusammenhängt und sich auch äußerlich
sichtbar an der Schwellung oder Rötung der ano-genitalen Schleimhaut (sexual
skin) kundgibt. Dieses Oestrum des Weibchens fällt zwischen zwei Men¬
struationen; beim Pavian fängt die Schwellung und Rötung der äußeren
Genitalteile bald nach der Menstruation an und erreicht den Höhepunkt nach
etwa zwei Wochen — also auch zwei Wochen vor der nächsten Menstruation. Ob¬
wohl das Affenweibchen das Männchen auch sonst ausnahmslos annimmt, benimmt
es sich während der Zeit des Anschwellens sexuell viel herausfordernder und
wird auch vom Männchen öfter bestiegen. In einer polygamen Familie gehört
die Vorzugsstellung stets dem Weibchen, dessen ano-genitale Zone angeschwollen
ist; es weicht um diese Zeit nicht von der Seite des Männchens und wagt
es auch eher, vom gemeinsamen Futter zu nehmen.
Die herausfordernde sexuelle Gebärde des Weibchens (bei passiv-homo¬
sexuellen Beziehungen auch des Männchens) ist das sogenannte „Präsentieren“.
Das Weibchen stellt sich mit dem hinteren Teil dem Manne gegenüber, spreizt
die Hinterbeine, biegt den Körper ein, fixiert dabei manchmal, den Kopf rück-
TrieLleb en der Primaten
li 5
wärts gewendet, das Männchen und gibt hohe, wimmernde Töne von sich.
Das Männchen antwortet auf das Präsentieren des Weibchens mit schnellen,
schnalzenden Lippenbewegungen, mit manueller, manchmal oraler Berührung
ihrer Genitalteile und endlich mit ihrer Besteigung, worauf, während der Zeit
des Oestrums, das Weibchen sofort wieder präsentiert. Die ganze Szene — Präsen¬
tieren und Besteigen — kann sich binnen einigen Minuten vier- bis fünfmal
wiederholen; jedenfalls sind die Besteigungen manchmal ganz kurz, es scheint
sich um nicht ganz vollzogene Kopulationsakte zu handeln.
Was uns dabei auffallen kann, ist die herausfordernde Aktivität des
Weibchens. Das unersättliche, wiederholte Präsentieren widerspricht ziemlich
deutlich der so viel berufenen „sexuellen Passivität“ des Weibes. Die unvoreinge¬
nommene — einfache und analytische — Erfahrung zeigt jedenfalls, daß „weiblich“
und „passiv“ keineswegs koordinierte Begriffe sind. Die weiblich-sexuelle Akti¬
vität kommt nur in anderen Phasen des Verlaufs und in anderen Erscheinungs¬
formen zum Durchbruch als die männliche. Passiv wäre höchstens das Sozial-
Weibliche. 1
Sehr interessant ist die Beobachtung, daß der Affengemahl auf das wieder¬
holte Präsentieren seines Weibchens manchmal mit Aggression reagiert; anstatt sie
zu besteigen, fällt er sie mit Händen und Zähnen an, zieht sie am Haar und
beißt sie in den Nacken. Aber auch homosexuelle Fortsetzungen sind zu beob¬
achten: Nachdem ein Weibchen mehrmals präsentiert und das Männchen sie
mehrmals bestiegen hat, wendet sich das Männchen von dem noch immer präsen¬
tierenden Weibchen ab und besteigt einen Junggesellen.
Zuckerman weiß nicht zu entscheiden, ob die sadistischen Attacken als
Ermüdungsreaktionen oder als Transformationen der Sexualität zu deuten
sind. Uns scheint die zweite Deutung um so einleuchtender, als auch der um¬
gekehrte Weg, die Umkehrung einer Aggression ins Sexuelle, beschrieben
worden ist. Hat ein Tier Ursache, sich vor einem stärkeren, „dominanteren“
Tier zu fürchten, hat es z. B. vom Futter genommen, so präsentiert es schnell
vor ihm, um seine Aggression sexuell abzuleiten. 2 Dasselbe wiederholt sich in
den übrigens ziemlich seltenen Fällen der weiblichen Untreue. Zuckerman
beobachtete am JS/Iorikey Hill insgesamt drei Weibchen, bei denen sexuelle
„Untreue“ vorkam. In allen Fällen geschah es hinter dem Rücken des Gemahls,
zumeist während der Ruheperiode des sexual skin , wo das Weib sich vom Mann
etwas entfernter auf hält. Die „illegitimen“ Kopulationen sind ganz kurz, auf
1) Vgl. die in einer Fußnote geäußerte Ansicht von Freud, wonach „wir allzu
unbedenklich die Aktivität mit der Männlichkeit, die Passivität mit der Weiblichkeit
zusammenfallen lassen, was sich in der Tierreihe keineswegs ausnahmslos bestätigt.“
(Das Unbehagen in der Kultur, S. 72 h)
2) Auch die Wendung einer gegen äußere Objekte gerichteten Aggression gegen
die eigene Person wird beschrieben.
8*
n6
Im re Hermann
Augenblicke beschränkt; sie werden manchmal, doch nicht immer, mit dem
an die Familie attachierten Junggesellen vollzogen. Erscheint nun der Gemahl
wieder auf der Szene, so präsentiert ihm das Weibchen sofort und macht dabei
drohende Gesten gegen den vorigen Partner (der übrigens nur auf ihr Präsentieren hin
zum „Verführer“ wurde). Präsentieren vor dem Mann nach begangener Untreue
wurde in mehreren Fällen beobachtet. Sexuelle Annäherungen — von gegen¬
seitiger genitaler Betrachtung an bis zur Kopulation — mit noch unreifen
Tieren werden nicht als Untreue betrachtet und vollziehen sich vor den Augen
des Gemahls.
Eine uns interessierende sexuell anregende Wirkung kommt der Sonnen¬
wärme zu. Kommt die Sonne zum Vorschein, so wird sie mit denselben
brummenden Tönen begrüßt, wie sie in Begleitung der ebenfalls sexuellen Be¬
tätigung des „Lausens“ Vorkommen. Sie regt ebenso zum Lausen wie zur direkten
sexuellen Aktivität an.
Die Ansätze des späteren Sexuallebens 1 melden sich bereits in den
ersten Lebenstagen. Den ersten äußeren Anreiz — wie den ersten Eindruck
von der Außenwelt überhaupt — bietet dem Affenkind das Fell der Mutter,
an das es sich klammert, und in dem es vom ersten Tage an herum wühlt.
Ein Rhesusaffe wurde beobachtet, der im Alter von zwei Monaten beim Herum¬
suchen im Fell der Mutter und Hantieren an ihren Genitalteilen eine Erektion
bekam. Ein Paviankind vollzog rhythmische Beckenbewegungen am dreizehnten
Tage seines Lebens, am selben Tage, an dem es zu laufen begann. Ein männ¬
liches Schweinsaffenbaby, das, vom Vater isoliert, in einem Käfig mit der Mutter
aufwuchs, wurde von Zuckerman selbst beobachtet. Das Herumwühlen im
Fell der Mutter, das von häufigem Anstarren der ano-genitalen Zone unter¬
brochen war, begann zu gleicher Zeit wie die Koordination der Bewegungen
überhaupt. Beim Herumklettem am mütterlichen Körper blieb das Affenkind
oft an den Hinterschenkeln der Mutter stehen, die Füsse um ihre Lenden legend
und sich an beiden Seiten ihres Körpers festhaltend; es verharrte ein bis zwei
Minuten in dieser Position. Das Kind war sechs Monate alt, als es die Mutter,
in Beantwortung ihres wiederholten Präsentierens, zum erstenmal bestieg; einen
Monat später war dieses Verfahren schon von rhythmischen Beckenbewegungen
und Erektion begleitet. Um diese Zeit präsentierte es auch selbst der Mutter
und den Tieren des Nachbarkäfigs. Bei der Besteigung der Mutter wurde es
manchmal von ihr abgeschüttelt; manchmal wieder schien die Initiative von
ihr auszugehen. Das um diese Zeit acht Monate alte Junge (nach dem Stand
des Zahndurchbruchs entspricht dieses Alter dem eines Menschenkindes von
etwa zwei Jahren) war eigentlich ein richtiger „Gemahl“ seiner Mutter, wobei
1) Zuckerman beruft sich bei der Beschreibung der sexuellen Entwicklung des
Affen für die Analogien mit der infantilen Sexualität selbst auf Freud.
-Zum Triebleben der Primaten lipr
es noch an der Brust trank, zeitweise in der ursprünglichen Position des Neu¬
geborenen Anklammem am Fell ihres Bauches — von der Mutter herum¬
geschleppt wurde und stets in den Armen der Mutter schlief. Zuckerman
hält den beschriebenen Entwicklungsgang insofern für atypisch, als Mutter und
Junges vom Männchen isoliert waren: die Gegenwart des Vaters hätte das Affen¬
kind zweifellos mehr eingeschüchtert. Das intime sexuelle Verhältnis zwischen
Mutter und Affenkind wurde übrigens beim weiblichen Affenkind derselben Mutter
— aber auch bei den sich sexuell langsamer entwickelnden Menschenaffen —
beobachtet. Ein achtzehn Monate altes Schimpansenkind nahm z. B. die Geni¬
talien der Mutter in den Mund, ein Benehmen, das unter Schimpansen bei
hetero- und homosexuellen Annäherungen gleichermaßen vorkommt.
Das in der Affengesellschaft heranwachsende Junge unterhält allerhand sexuelle
Beziehungen zu seinen Genossen. So war ein junger weiblicher Pavian vom
sechsten Monat an mit unreifen männlichen Tieren, mit Junggesellen und weib¬
lichen Tieren aus verschiedenen Harems befreundet. Besonders starke Annähe-
rungen fanden zwischen ihr und dem zur Familie gehörenden Junggesellen
statt. Später wurde sie von mehreren männlichen Tieren als erwachsenes
Weibchen behandelt und vom achtzehnten Monate an schloß sie sich einem
Junggesellen an. Ihr Verhältnis schien sich in nichts vom Sexualleben erwachsener
Tiere zu unterscheiden, obwohl richtige Kopulation den Größen Verhältnissen
zufolge nicht möglich war. Junge Tiere — männliche ebenso wie weibliche —
genießen sehr viel sexuelle Freiheit; sie werden nicht als Rivalen betrachtet
und es scheint, als ob ihnen jedes hetero- und homosexuelle Verhältnis offen
stünde.
Alle diese Beobachtungen besagen, daß in der Entwicklungslinie der Sexuali¬
tät des Affen an irgendeinem Punkt ein Bruch entstehen muß, der der größeren
sexuellen Freiheit ein Ende macht und die Versagung wirksam werden läßt,
die von ^ der durch die Dominanzkraft stärkerer Tiere geregelten „Gesellschafts¬
ordnung“ gefordert wird. Bevor sich das Tier kraft seiner eigenen Dominanz
nicht selbst Platz in dieser Gesellschaftsordnung schafft, ist ihm nun der normale
und regelmäßige Sexualverkehr verschlossen. Diese Zwischenzeit kann man,
worauf ich schon hingewiesen habe , 1 der menschlichen Latenzperiode ver¬
gleichen.
Auch „Modelle“ zum menschlichen Ödipuskomplex bei Affen wurden in
derselben Arbeit aufgezeigt. Eine neuere Beobachtung von Pfungst stellt
„die starke Besorgnis junger Affen für ihre Mutter bei deren Kopulation mit
dem Männchen“ fest . 2
1) Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen, Imago XII, 1926.
2) Pfungst: Über Verhaltungsweisen junger Alfen (Vortrag in der Berliner Ge¬
sellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, gehalten am 9. Februar 1931).
n8
Imre Hermann
Pfungst berichtet auch über drei von ihm aufgezogene mutterlose Affen.
Ihr Benehmen bringt interessante Belege für die Bedeutung des Mutter-Kind-
Verhältnisses bei Affen, auf dessen Wichtigkeit ich ebenfalls schon hinge¬
wiesen habe. Das Affenbaby klammert sich bekanntlich von Geburt an am
Fell des Bauches der Mutter fest. Die Dauer dieser innigen Verbindung mit
dem mütterlichen Körper ist bei den einzelnen Affenarten verschieden. Das von
Allesch beschriebene Schimpansenkind 1 verließ drei Monate lang nicht den
mütterlichen Körper; beim Pavian dauert die ungelöste Verknüpfung zwei bis
sechs Wochen, nach deren Ablauf aber das Junge noch immer bei vielen Ge¬
legenheiten (Fortbewegung der Gruppe, Gefahrsituation usw.) von der Mutter
aufgelesen und getragen wird. Das postnatale Anklammern an die Mutter dürfte
neue Ausblicke auf den Kastrationskomplex und die infantile Sexualentwick¬
lung eröffnen: man könnte darauf hinweisen, daß das menschliche Kind im
Verhältnis zu seiner Triebentwicklung vom Körper der Mutter frühzeitig los¬
gerissen wird, 2 ein phylogenetisches Trauma, das dem ontogenetischen der Geburt
vergleichbar ist. Meine Vermutung, daß hier eine egoistische Tat des urzeit-
lichen Vaters wirksam war, wird durch direkte Beobachtungen von Zucker¬
ln an bestätigt, der in zwei Fällen sah, daß das Affenkind von einem männ¬
lichen Tier angegriffen wurde; beide Kinder sind dem Angriff zum Opfer
gefallen.
Die von Pfungst aufgezogenen mutterlosen Affen zeigten deutlich, in welch
tiefen Triebschichten das körperliche Verhältnis zur Mutter verankert ist: Zwei
Tiere lutschten am Finger und das dritte drückte allerhand Stoffetzen an sich;
Pfungst selbst betrachtet dieses Verhalten als Ersatz für Handlungen, die der
Mutter gelten.
Es gibt aber auch im normalen Affenleben einen Ersatz und eine direkte
Fortsetzung des Mutter-Kind-Verhältnisses: das sogenannte „Lausen^, das nach
gesicherten Feststellungen seinen Namen zu Unrecht führt. Läuse sind bei freien
sowie bei gefangenen Tieren gleichmäßig selten; als Ergebnis des Herumsuchens
werden nur schuppige Hautteilchen, Hautexkremente, Splitter oder andere
Fremdkörper gefunden und zum Mund geführt. Das Lausen, diese wichtige
Beschäftigung der Affengemeinschaft habe ich schon früher als Wiederherstellung
des Mutter-Kind-Verhältnisses gedeutet. 3 Zuckerman faßt es nun als gerad¬
linige Fortsetzung des physiologischen Herumsuchens (Suchen der Brustwarze
und Anklammern) am Fell der Mutter auf. Die Ähnlichkeit mit dem mütter¬
lichen Fell verleiht später jedem behaarten Geschöpf oder Objekt einen be-
1) J. A. von Allesch: Bericht über die drei ersten Lehensmonate eines Schim¬
pansen. Sitzungsbericht d. Preuß. Akad. d. Wissensch. 1921.
2) Zur Psychologie der Schimpansen. Internat. Zeitschrift f. Psychoanalyse, IX,
S. 84!. 1925.
3) A. a. O. S. 85.
Zum Triebleben der Primaten 119
sonderen Anreiz. Auch zwei weitere Erkenntnisse hält Zuckerman durch
seine Beobachtungen für erwiesen — Erkenntnisse, die uns nach dem Gesagten
jedenfalls nicht überraschen. Die eine ist die deutlich sexuelle Natur des
Lausens, das sehr oft in ano-genitale Manipulationen und auch in Kopulation
übergeht (in der Entwicklung des Affenkindes ist dies auch in seiner Genese
zu beobachten), — die zweite seine gemeinschaftsbildende Funktion. Auch nach
der Meinung anderer Forscher ist das Lausen einer der wichtigsten Faktoren,
der die Gesellschaft der Affen zusammenhält. Somit wäre das Mutter-Kind-
Verhältnis Ausgangspunkt und Vorbild jeder sozialen Beziehung.
Eine Reihe oraler Reaktionen der Mutter ziehen ihrerseits unsere Aufmerk¬
samkeit auf sich. Die Plazenta wird ausnahmslos aufgefressen, die Nabelschnur¬
reste werden vom Säugling abgebissen. 1 Der Kopf des von Alle sch beobachteten
Schimpansenkindes wurde von der Mutter in den Mund genommen, ein Ver
halten, das entweder symbolisch, als Einverleibungsersatz, zu deuten ist (die
verstorbenen Säuglinge werden von der Mutter wahrscheinlich verzehrt) — oder
aber einen Realsinn durch die Annahme eines Forschers erhält, nach der die
Mutter Luft in den Mund des Neugeborenen bläst; 2 es würde sich danach
darum handeln, die Lungenatmung in Gang zu setzen. Das neugeborene Affen¬
kind wird von der Mutter mit großer Aufmerksamkeit betrachtet, mit Lippen,
Zunge und Fingern examiniert, überall beleckt und betastet. Dieses Verhalten
dauert längere Zeit an; es scheint, als ob das Kind für die Mutter lediglich
„ein Ding zum Beobachten“ wäre. Sonst bezeigt die Mutter dem Jungen nicht
viel Zärtlichkeit; der Ruhm der „Affenliebe“ beruht auf anekdotischem Material.
Zuckerman beobachtete mehrere Junge, die durch das zu starke Andrücken
der Mutter (im Kampfe) erstickt worden sind, und eines, das infolge der Un¬
achtsamkeit der Mutter zugrunde ging. Bei der Nahrungsaufnahme herrscht
ein sichtbares Dominanz Verhältnis zwischen Mutter und Kind; die Mutter ist
die stärkere, die das Futter selbst aus der Hand oder aus dem Mund des Jungen
nimmt.
Wir haben bereits mehrmals die Kämpfe erwähnt, die in der Affengesell-
schaft toben; ihre Beschreibung gehört zum Interessantesten in dem Buch von
Zuckerman.
Von den alltäglichen Zwistigkeiten, die oft ohne besonderen Anlaß, etwa
auf das Aufquieken eines Tieres hin, entstehen, unterscheiden sich die ernsten,
blutigen Kämpfe, die ausschließlich sexueller Natur sind: die Männchen kämpfen
um das Weibchen.
Die sexuellen Relationen sind, wie erwähnt, durch die Dominanz der „Ehe¬
männer“ geregelt; ihre Kraft bestimmt die Zahl der Weibchen, die sie besitzen;
1) Letzteres nach E. A. Ho oton: Up from the Ape, 1931.
2) Hooton, a. a. O.
120
Imre Hermann
alle reifen Weibchen sind „besetzt“ und die Gemeinschaft hat sich mit dieser
Tatsache abzufinden.
Dieser Ruhezustand dauert nun so lange, bis das Gleichgewicht in der Ge¬
meinschaft gestört wird. Tritt eine Störung ein, so bricht unvermittelt der
Kampf aus. Eine solche Störung ergab die Ansiedelung der dreißig Weibchen am
Monkey Hill; die älteren Männchen begannen sofort einen Kampf um ihren Besitz
dem von dreißig Weibchen fünfzehn zum Opfer fielen. Eine Gleich¬
gewichtsstörung anderer Art bietet der Tod eines Männchens: sofort bricht der
Kampf um seine Frau oder seine Frauen aus. In einem Falle, wo ein ver¬
storbenes Männchen zwei stillende Weibchen hinterließ, gingen in dem darauf¬
folgenden Kampfe beide Jungen und das eine Weibchen zugrunde; das andere
ging in den Besitz eines bisherigen Junggesellen über — übrigens der einzige
Gattenwechsel, der in der Geschichte von Monkey Hill vorkam: Eine dritte
Art von Gleichgewichtsstörung ist die Schwächung der Dominanz des einen
oder anderen „Ehemannes . Zeichen dieser Schwächung lassen sich nach Zucker¬
ln an schon Monate vor dem Ausbruch des Kampfes beobachten: der zur Familie
gehörende Junggeselle wagt sich mehr in die Nähe des Weibchens, beobachtet auch
stärker die Bewegungen des „Gemahls“ und bedroht ihn endlich. In allen diesen
Fällen ändert sich plötzlich die Atmosphäre der Gemeinschaft; die gewöhnliche
passive Indifferenz der Junggesellen macht einer starken Aufregung Platz, es
scheint, als ob alle Männchen der Gruppe sich um jeden Preis ein Weibchen erobern
wollten. Der eine wird vom andern angesteckt, gewöhnlich nehmen alle am
Kampfe teil. Sichert sich der eine das umkämpfte Weibchen, so kann er sich
seines Besitzes nicht lange freuen, denn sofort wird er von einem andern an¬
gegriffen. Das Weibchen, um das der Kampf tobt, spielt während des Gefechtes
eine völlig passive Rolle. Sobald der Kampf beginnt, wird sie vom Tiere, in
dessen Besitz sie sich gerade befindet, bestiegen; er kämpft in dieser Position,
während die Gegner (im Kampf stehen gewöhnlich alle gegen einen) ihm das
Weibchen wegzuziehen trachten. Gelingt es einem, so übernimmt er die Stellung
am Weibchen, das alles über sich ergehen läßt und von allen Tieren, in deren
Besitz es für eine Zeit übergeht, bestiegen wird. Während des zwei bis drei
Tage dauernden Kampfes muß es arge Zerrungen und Schläge erfahren und
kann sich wahrscheinlich auch nicht nähren. In den Pausen des Gefechtes wird
es vom jeweiligen Besitzer gelaust und bestiegen. Interessanterweise erregen die
anderen Weibchen der Gemeinschaft, die an der Seite ihrer am Kampfe teil¬
nehmenden Männer eine Kampfstellung einnehmen — wahrscheinlich eben
deshalb nicht die Begierde der übrigen Männer.
Was ist nun der Ausgang dieser Kämpfe? Die diesbezügliche Erfahrung ist
wohl eine der überraschendsten. Die von Zuckerman am Monkey Hill beob¬
achteten Kampfe endeten mit der einen schon erwähnten Ausnahme sämtlich mit
dem Tod des umstrittenen Weibchens. Das im Kampfe getötete Weibchen
Zutn Triebleben der Primaten
131
wird noch so lange umstritten und als sexuelles Objekt benutzt, bis der Kadaver
entfernt wird. Was das weitere Los des getöteten Kadavers unter natürlichen
Verhältnissen betrifft, so verweist Zuckerman auf einige Beschreibungen,
wonach die Affen ihre Toten auffressen. (Bei Kinderleichen scheint dies ziemlich
sicher zuzutreffen.) Erst, nachdem der gleichgewichtsstörende Faktor ausgeschaltet
ist, stellt sich wieder Ruhe ein. Die seltsame Erfahrung von Zuckerman
_ seine Beobachtungen beschränken sich auf zwei Jahre aus dem Leben des
Monkey Hill — wird durch die Todesursachenstatistik der Kolonie bestätigt: Von
insgesamt einundsechzig Männchen gingen dreiundfünfzig durch Krankheit und
acht durch im Kampf erlittene Wunden ein, von dreiunddreißig Weibchen
erlagen dreißig im Kampf und nur drei fanden ein natürliches Ende. Die Leichen¬
befunde der im Kampf Verendeten zeigten die verschiedensten Verletzungen —
Bein-, Rippen- und Schädelbrüche und in vielen Fällen schwere Verletzungen
der ano-genitalen Region.
Der tragische Ausgang der Kämpfe, der die Leitung des Tierparks bewog,
die noch übriggebliebenen Weibchen vom Monkey Hill zu entfernen, ist wohl
nur zum geringeren Teil den nicht ganz natürlichen Verhältnissen der Affen¬
kolonie zuzuschreiben. Nach den Beobachtungen von Zuckerman und vielen
andern Forschern wird auch im Freien scharf gekämpft; Zuckerman selbst,
der auch an mehreren Affenjagden teilnahm, ist noch nie in den Besitz einer
Leiche gekommen, die nicht Spuren von Kämpfen aufgewiesen hätte. Da kein
Grund zur Annahme besteht, daß die Kampfart im Freien andersartig sei, glauben
wir das Resultat des Kampfes — daß in ihm nämlich eher das Weibchen als
das Männchen unterliegt — verallgemeinern zu dürfen. Versuchen wir uns in
die Kampfessituation einzufühlen, so finden wir es auch einleuchtend, daß das¬
jenige, worum gekämpft wird, im Mittelpunkt des Kampfes stehen muß, und
die uns seltsam berührende Tatsache, daß das umkämpfte Weibchen dem Kampf
zum Opfer fällt, findet eine situationsbedingte Erklärung.
Natürlich paßt diese Tatsache nicht recht in das Bild, das die Psychoanalyse
von der Entwicklung der Ödipussituation und von den Geschehnissen in der
Urhorde entworfen hat. Doch möchte ich das hier gewonnene Material nicht
zur Seite schieben, obwohl ich mir auch dessen voll bewußt bin, wie gefährlich
die Nebeneinanderstellung zweier verschiedener Erfahrungsgebiete aus metho¬
dologischen Gründen ist.
Gewisse analytische Erfahrungen lehrten mich diese Einsicht schätzen. Aus
dem Verlauf dieses ursprünglichen Sexualkampfes kann man, meiner Meinung
nach, Unterlagen für das Verständnis wenn auch nicht des Ödipuskonfliktes,
so doch des Kastrationskomplexes gewinnen.
Meine Erfahrungen, die sich besonders in einem Gedankenaustausch mit Frau
Dr. K. Rotter klärten, beziehen sich zunächst auf die weibliche Sexualentwicklung.
In einigen von mir analysierten Fällen ergab es sich, daß das kleine Mädchen
Hermann
sehr wohl die Wirkung merkt, die es bei Männern und Knaben hervorruft-
es betrachtet dann in seiner magischen Denkart den Mann und das männliche
Genitale als sein Eigentum, als ergänzenden Teil seines eigenen Körpers.
„Kastration bedeutete in diesen Fällen — und meiner Annahme nach kommt
dieser Auffassung allgemeinere Bedeutung zu — den Verlust des männlichen
Genitales, und zwar nicht in dem uns geläufigen Sinne, des Genitales, das
anatomisch zum Körper gehört hätte oder gehören sollte, sondern des Genitales
des Partners, das im Unbewußten mit dem eigenen eine (Dual-) Einheit bildet
dessen Besitz ja auch real das eigene Genitale erst funktionsfähig macht. 1 Jeder
Verlust des sexuellen Partners bringt den Verlust des Genitales, die Kastration
des Weibes.
Freud selbst bezieht die traumatische Wirkung der Kastrationsangst auf
das Trauma des Objektverlustes. Unserer Meinung nach handelt es sich hier
um ein und dasselbe. Wie das Dualverhältnis von Mutter und Kind auch post¬
natal eine biologische Einheit darstellt und als solche empfunden wird, so
empfindet das weibliche Individuum auch die Einheit des männlichen Genitales
mit dem eigenen und betrachtet den Verlust des männlichen Genitales als
Kastration. Das vom Sexualpartner isolierte Weib fühlt sich kastriert.
Obwohl ich diese Annahme über die Genese des weiblichen Kastrations¬
komplexes für einigermaßen gesichert ansehe, — in einem Fall, in dem diese
Zusammenhänge im Mittelpunkt des Krankheitsbildes standen, wurde ich auch
durch den seit Jahren andauernden Heilerfolg in meiner Ansicht bestärkt, —
so wagte ich es dennoch nicht, den nächsten Schritt der Verallgemeinerung
zu unternehmen und auch den männlichen Kastrationskomplex in diesem Sinne
zu deuten. An solcher Deutung hinderte hauptsächlich die Erwägung, daß der
Mann ja nicht wie die Frau deutliche äußere Anzeichen der sexuellen Er¬
regung beim Partner wahrzunehmen und daher auch nicht dessen Zugehörig¬
keit zu sich selbst entsprechend zu empfinden vermag. Allerdings könnte uns
die Angst nachdenklich machen, die Knaben bei Zwistigkeiten der Eltern, also
in Situationen empfinden, die sie auf Grund der reinen Ödipuseinstellung
eigentlich angenehm berühren sollten. Im besonderen erinnere ich mich eines
Falles, bei dem ich damals die ständig wiederkehrenden Versuche des Knaben,
die Eltern miteinander zu versöhnen, auf ein dem Ödipuskomplex entstammendes
Schuldgefühl bezog. Heute würde ich auch hier eher an die Angst vor dem
Verlust der Mutter denken, besonders da wir um die Angst des Kindes wissen,
die Mutter könnte beim Koitus getötet werden.
Die Geschehnisse in der Affenhorde geben nun hier weiter zu denken.
Der Mann wird durch den Verlust des Weibes „ kastriert“: der Verlust der
1) Man vergegenwärtige sich, daß es bereits eine Abstraktion ist, die nicht der
Denkweise des Unbewußten entspricht, wenn wir vom isolierten Genitalorgan sprechen.
M tter wird durch den Ausgang der Sexualkämpfe auf zweiter Stufe wieder-
VoTdcr analytischen Auffassung, daß der Verlust der Mutter bet der
rt und bei der Entwöhnung das Modell zum späteren Kastrationskomp
abgibt, unterscheidet sich der hier vorgetragene Deutungsvorsc ag
daß hier nicht eine Analogie, sondern eine Identität vermu e w
Objektverlust wird das eigene Genitale in seiner Funktion entwertet.
Wir haben zwar bisher nicht ausdrücklich von der sozialen Einrichtung
der Affengesellschaft gesprochen; aber alles diesbezüglich Bedeutsame hat den-
ooch in dem bisher Gesagten bereits Erwähnung gefunden. Wie Zuckerman
• scharf und bestimmt feststellt und auch im Aufbau seines Buches zum
Amdruck bringt, ist .das gegenseitige Verhältnis der Individuen innerhalb
einer Gruppe durch den physiologischen Mechanismus der Fortpflanzungs-
funktion in primärer Weise geregelt“. Zwei Faktoren sind es, die die Gruppe
Zusammenhalten: die sexuelle Anziehungskraft der Weiber, die — wie wir
sahen — nicht nur den sexuellen Partner, d. h. das Oberhaupt des Harems,
in ihrem Bannkreis hält, sondern auch männliche Individuen, die diese Nähe
nur ausnahmsweise oder überhaupt nicht ausbeuten dürfen — und das Lausen,
dessen sexuelle Natur von Zuckerman erkannt und gewürdigt wird. Die
soziale Rangordnung der Tiere wird durch die auf Körperkraft beruhende
Dominanz der einzelnen Individuen bestimmt; die Generalprobe dieser Dominanz
wird im sexuellen Machtbereich geliefert. Wie schon erwähnt, hängt es von
der Doininanzfähigkeit der Männchen ab, ob und wieviel Weibchen sie erobern
können — und sie verlieren ihre dominante Position, sobald sie die Weibchen
nicht mehr behalten dürfen. Im Kampf um das Futter kann ein dominanter
Besitzer eines Weibchens hin und wieder einem Junggesellen weichen, ohne
daß damit seine Position gefährdet wäre: wird er aber im sexuellen Kampf
geschlagen, so ist es mit seiner Dominanz zu Ende. 1
In der Dominanz liegt eine große, aber nicht unumschränkte Macht. Ein
schwächeres Tier wagt vor einem dominanteren nicht vom gemeinsamen Futter
zu nehmen oder Besitz von irgend etwas zu ergreifen, die Dominanz des Familien¬
oberhauptes entzieht den Weibern das Futter (nur die Bevorzugte mit den
jeweils geschwollenen Genitalteilen kann hievon eine Ausnahme machen) und
versperrt ihnen auch den Verkehr mit anderen Tieren. Beschränkt ist die
Macht des dominanten Tieres aber insofern, als es einerseits die Dominanz
der anderen Tiere respektiert, — ein Familienoberhaupt wird nicht die Weibchen
eines andern Harems verfolgen, — sodann dadurch, daß diese Dominanz an
i) Es könnte gefragt werden, wo eine größere individuelle Freiheit bestehe, in
der Affengemeinschaft oder in der Kulturgemeinschaft. Ich wäre versucht, den Satz
Freuds, die individuelle Freiheit sei am größten vor jeder Kultur (Das Unbehagen
in der Kultur, S. 56), anzuzweifeln.
i M
Hermann
seine körperliche Gegenwart gebunden ist. Hinter seinem Rücken kommen
wie wir gesehen haben, auch Fälle sexueller Treubrüche vor.
Die erste dieser Beschränkungen erlaubt es vielleicht, von der Dominanz
Ordnung in der Affengesellschaft als von einer Art „allgemeinen Moral“
zu sprechen, die zweite unterscheidet diese Moral aber von der Über-Ich-Moral
menschlicher Individuen. Zum Wesen der Über-Ich-Moral gehört es, daß die
Abwesenheit der Autoritätsperson den Befehl eher verstärkt als schwächt- das
ist es, was wir in der Affengesellschaft vermissen.
Wie steht es aber diesbezüglich in der menschlichen Gesellschaft? Ist sie
wirklich durchaus durch die Über-Ich-Moral geregelt? Wir müssen auf die
anscheinend noch zu wenig beachteten Einschränkungen Freuds verweisen
denen zufolge die meisten Menschen eher im Zustand einer sozialen Furcht
eben die sie vor als unmoralisch geltenden Handlungen zurückhält, und außer-
em ie Frau ein der Kastrationsangst entstammendes eigentliches Über-Ich
überhaupt nicht besitzen kann.
Ich versuchte nun auf Grund von klinischem Material den Nachweis eines
Fseudo-Uber-Ichs, das sich aus Erziehungseinflüssen gebildet hat und das auf
einem durch einen einheitlichen Libidostrahl zusammengehaltenen „Kollektiv¬
schema beruht . 1 Dieses Pseudo-Über-Ich läßt sich schon eher mit der Dominanz¬
moral der Affengesellschaft vergleichen, so daß deren Genealogie auch menschlich
verwertbare Aufschlüsse verschaffen könnte.
Wenn wir die „Güter“ nennen, die durch die Dominanz dem dominierten
Tiere entzogen werden: Nahrung und Verkehr mit fremden Tieren - so
imponieren sie als Verzichte, die bei dem geschädigten Tier eine depressive
Emsteilung hervorrufen können. Und hier denken wir an die Ausdrücke, mit
denen verschiedene Beobachter Mimik und Haltung des lausenden Affen schildern:
„ernstes Nachdenken , „gespannte Miene“, „vollständiges Stillhalten“, — Aus¬
drucke, die ebenso geeignet wären, eine depressive Stimmungslage zu beschreiben.
Es scheint, als ob wir unsere Deutung des Lausens ergänzen müßten: es dürfte
sich hier nicht nur um die Herstellung des Mutter-Kind-Verhältnisses, sondern
auch um die gefühlsmäßig depressive Stabilisierung der Trennung handeln
Auf die Dominanzmoral übertragen, hieße das, daß hier eine Kompromiß-
bildung stattfindet: Die Mutter wird ersetzt, doch auch die Trauer der Trennung
wtrd in der durch den dominanzbedingten Entzug hervorgerufenen Depression
stabilisiert. Es wäre wieder ein Verzicht, der im Grunde der Dominanzmoral
angenommen werden muß: der Verlust und das Vermissen der Mutter Und
wir wollen auch darauf hinweisen, daß es sich bei der Bildung des echten
i) Die Zwangsneurose und ein historisches Moment in der Über-Ich-Bildumr
Zum Tnebleben der Primaten
ia5
Mut Ichs ebenfalls um ein Kompromiß zwischen Entfernen und Verinnerlichen
des \ iters handelt. .
Endlich sei noch etwas Prinzipielles zur Massenpsychologie emer
Wir sind seit Freud gewohnt, unser Augenmerk auf die Identifizierungen
innerhalb der Masse zu richten. Ichpsychologische Erwägungen führten mich
7.11 r Annahme einer Alterifikationsfunktion. 1 2 Jetzt werden wir von einer anderen
Seite her gewarnt, die AVichtigkeit dieser Alterifikation, der Gegenüberstellung
des eigenen Bereichs und anderer Individuen und Massen, nicht zu unterschätzen.
Anders: Eine Masse kann nur gegenüber einer anderen bestehen. Nur mit
der Abgrenzungsbetonung kann sich eine „Einheit vom fließenden „All ab-
lu-ben. Die Alterifikation kann ebenso als Produkt des Aggressionstriebes auf¬
gefaßt werden wie die Identifikation als Produkt des Eros. Mit anderen Worten:
An der Massenbildung selbst ist bereits der Aggressionstrieb beteiligt, wie er
auch späterhin, mit Freud gesprochen, eine zweite Masse zur Auswirkung ver¬
langt.“ Doch in der Affengemeinschaft haben wir die Massenauswirkung des
Aggressionstriebes historisch als Wiederholungssituation der deprimierenden (post¬
natalen) Trennung von der Mutter gedeutet. Verlangt diese Deutung nicht etwa
eine verallgemeinerte Anwendung?
1) Das Ich und das Denken. A. a. O. S. 29.
2) Das Unbehagen in der Kultur. S. 85.
BESPRECHUNGEN
Aus der psydioanalytisdien Literatur
Bernfeld, £., Der Begriff der Deutung in der Psyckoanalyse.
Ztsiir. f. angew. Psychologie. Bd. 42, S. 448—497, 1932.
Methodologische Untersuchungen gehören nicht an den Anfang einer Wissen¬
schaft. Die Erfahrung lehrt, daß die methodologische Besinnung erst in relativ
späten Entwicklungsstadien der Wissenschaften einsetzt. Es ist deshalb nicht
erstaunlich, daß eine so junge Wissenschaft wie die Psychoanalyse bisher kaum
an di© Aufgabe herangetreten ist, in einer Art der Selbstbesinnung sich ihrer
Eigenart als Wissenschaft bewußt zu werden. Es scheint aber, daß in dem
jetzigen Entwicklungsstadium der Psychoanalyse, solche methodologische oder
besser gesagt wissenschaftstheoretische Untersuchungen notwendig sind und
fruchtbar werden können. Deshalb ist die Arbeit von Bernfeld, die an einem
speziellen Gebiet eine solche Untersuchung durchführt, außerordentlich zu be¬
grüßen. B. schlägt den richtigen Weg ein, indem er nicht von unfruchtbaren
Verallgemeinerungen ausgeht, sondern die wirkliche Forschungspraxis der Psycho¬
analyse untersucht, die Eigenart ihrer Begriffsbildung freilegt. Er beschäftigt
sich in dieser Arbeit nicht mit der psychoanalytischen Deutung als einem Be¬
standteil der Therapie. Deshalb geht er den Problemen der Einfühlung, des
Aus drucks verstehens u. dgl. m. in dieser Arbeit nicht nach. Sondern was B.
interessiert, ist die spezifische Logik der Psychoanalyse als Wissenschaft, insbe¬
sondere der Deutung in der Psychoanalyse als wissenschaftlichem Verfahren.
In der Psychoanalyse werden recht verschiedene Verfahren als Deutung
bezeichnet. Erste Aufgabe einer methodologischen Untersuchung ist die Sonde¬
rung dieser verschiedenen Bedeutungen des Begriffes Deutung.
Die erste allgemeinste Charakterisierung der Deutung in der Psychoanalyse
lautet nach B.: „Den Sinn eines Traumes deuten, heißt für Freud und für
die Psychoanalyse: ihn in einen personalen Zusammenhang einordnen und
ebenso heißt neurotische Symptome, Tagträume, Fehlhandlungen oder Kunst¬
werke psychoanalytisch deuten, nichts anderes als sie in den Gesamtzusammen¬
hang der Person einordnen. Als erster Typ der Deutung in der Psychoanalyse
ergibt sich somit die finale Deutung. Final deuten heißt Handlungen in einen
Absichtzusammenhang einzuordnen. Dieser Art von Deutung begegnen wir auch
in der vorwissenschaftlichen Psychologie. Der Menschenkenner deutet so, indem
er einen „durchschaut , verborgene Absichtzusammenhänge aufdeckt, verstehen
lernt wie eine Handlung aus undurchsichtigen Motiven folgt.
Aus dieser vorwissenschaftlichen Kunst wurde eine wissenschaftliche Methode
durch die Entdeckung Freuds, daß verdrängte Absichten und Vorsätze lange
nachwirkende Kraft haben, daß solche Absichten und Vorsätze menschliches
Tun im weiten Umfange bestimmen.
Eine wissenschaftstheoretische Untersuchung kann darüber nichts aussagen,
ob die finalen Deutungen Freuds und seiner Schule richtig sind. Was eine
solche Untersuchung leisten kann und muß, ist: nach Kriterien zu suchen, die
die Zulässigkeit finalen Deutens beurteilen lassen. B. kommt zu dem zunächst
ira(iox scheinenden Resultat, daß Voraussetzung finalen Deutens ist, daß der
Vonatz oder die Absicht von vornherein festgestellt sind. Damit korrigiert er
fi '„ irrigen Ansichten, die außerhalb der Psychoanalyse über die anä mische
Deutungsmethode verbreitet sind. Man denkt sich das Verfahren es na y 1 ers
to daß er einen Traum, eine Fehlleistung „deutet , indem er spontan aus em
immanenten Zusammenhang des Traumes verdrängte Wünsche ableUet o er aus
der bloßen Tatsache einer Fehlleistung unbewußte Absichten herausliest B. wider¬
legt diese Meinung und stellt fest, daß „. . . die Fehlleistung als solche über¬
haupt keine Deutung ermöglicht ... Erst muß durch Einfälle, Kenntnis der
Ihn stünde oder äquivalente Fakten genügend Indizienmatenal herangeschart
ehe eine Deutung vorgenommen werden kann; die Indizien erst ent¬
scheiden, ob sie als final zulässig sein mag; dies ist der Fall, wenn im Einfalls-
material entsprechende Absichten auftauchen .
Durch die Feststellung, daß finale Deutungen die Kenntnis des Absicht¬
zusammenhanges, den sie erdeuten wollen, schon voraussetzen, ist der Wert
dieses Verfahrens sehr in Frage gestellt. B. meint auch: die Schwierigkeit besteht
darin, . . daß finale Deutungen so schwer verifizierbar sind, während sie so
sehr plausibel sind“. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der Erkenntnis,
daß die Aufdeckung eines Absichtzusammenhanges noch keine kausale Erklärung
ist. r Den zwischen den Gliedern eines Absichtzusammenhanges besteht nicht
notwendig die Relation Ursache und Wirkung . . .“ Diese Überlegungen klingen
vielleicht überraschend. Man darf aber nicht vergessen, daß B. nicht über die
therapeutische Deutung spricht. Sonst wäre auch die Behauptung kaum ver¬
ständlich: „. . . im ganzen der Psychoanalyse hat der Typus der finalen Deutung
überhaupt kaum einen Platz.“ Damit will B. sagen, daß die Psychoanalyse als
Wissenschaft nicht personale Zusammenhänge feststellen will, sondern die Gesetze
des psychischen Geschehens aufzufinden sucht. Die Traumformel Freuds: der
Traum sei der Hüter des Schlafes, ist z. B. eine funktionelle Aussage. Sie
formuliert die allgemeine Funktion des Traumes im biologisch-physiologischen
Zusammenhang der Person. Wenn dagegen ein konkreter Weckreiztraum ge¬
deutet wird als Erfüllung des Wunsches weiterzuschlafen, so handelt es sich
dabei um eine finale Deutung, um die Feststellung eines personellen Absicht-
yusaminenhanges. Die finalen Deutungen der Psychoanalyse müssen aber von
ihren funktionellen Aussagen getrennt werden. Aus solchen funktionellen Aus-
sagen baut sich, so meint B., die psychoanalytische Psychologie hauptsächlich
.uif. sie *ind das Gerüst jener Wissenschaft, die Psychoanalyse heißt. Unter
funktionellen Aussagen versteht B. vor allem jene Erklärungen, die in der
Psychoanalyse mit dem Namen „ökonomischer Gesichtspunkt“ bezeichnet werden.
Die ökonomischen Erklärungen haben für B. innerhalb der Psychoanalyse eine
bestimmte Vorzugsstellung. Und zwar jene, daß sie die möglichst größte An¬
näherung an die Denkweise der exakten Naturwissenschaften repräsentieren.
Denn, führt B. aus, Freud dokumentiert mit der Bezeichnung „ökonomischer
Gesichtspunkt die Absicht „. . . die qualitativen Aussagen an Beziehungen
zwischen Quanten irgendeiner — noch unbekannten — physiologisch-physi¬
kalischen Größe, die er Libido, Besetzungsenergie usw. nennt, zu binden. Die
a8
Freudschen funktionellen Aussagen sind qualitative. Sie tendieren aber nach
der Bedeutung hin, die das Wort Funktion in der Mathematik hat.“ B. spricht
in solchem Fall von funktionaler Beziehung. „Funktionale Beziehung meint
die Zuordnung von Quantitäten, im Gegensatz zur funktionellen Beziehung, die
Qualitäten zwischen Teilen und ihrem Ganzen meint.“
Die Psychoanalyse tendiert letzten Endes nach B.s Meinung auf eine Psycho-
logie, die funktionale Aussagen macht. Das Streben der Psychoanalyse, qualitative
Aussagen an quantitative zu binden, ist ja bekanntlich ein Zukunftsideal. Gleich¬
wohl bedeutet für B. schon diese Tendenz einen Maßstab, an dem, sozusagen
der wissenschaftliche Ernst der Psychoanalyse abzulesen ist. Und zwar deshalb'
weil nach seiner Ansicht die qualitativen Aussagen der Psychoanalyse nur durch
Messung, nur durch Feststellung der quantitativen Änderungen verifizierbar
sind. Die funktionellen Aussagen der Psychoanalyse sind vieldeutig. „Freud
bestimmt die Funktionen eines Phänomens für das Über-Ich, das Ich, das Es,
oder für die Libidobindung, der Angstabwehr usw. Er befolgt das Prinzip der
Uberdeterminierung oder, wie man auch sagte, der mehrfachen Funktion. Die
Person, die der Gegenstand der psychoanalytischen Forschung ist, wird als so
sehr vielfach geschichtetes, reich strukturiertes Gefüge vorgestellt, daß kaum von
einem Element die Funktion in der Person schlechthin ausgesagt werden kann,
sondern immer nur in einem Unterganzen dieses umfassendsten Ganzen.“ Wie
wird nun geprüft, fragt B., ob eine behauptete funktionelle Beziehung richtig
statt hat? Wenn etwa ein bestimmtes Geschehen als Angstersparnis erklärt
wird, so ist dies eine funktionelle Aussage, bezogen auf den Libidozusammen¬
hang, dasselbe Geschehen kann auch in anderen Zusammenhängen eine andere
funktionelle Bedeutung haben. Aber wie stellt man fest, ob die Behauptung:
„Angstersparnis tatsächlich den funktionellen Wert des Geschehens für den
Libidozusammenhang zutreffend feststellt? Innerhalb der funktionellen Be¬
trachtung — meint B. — ist darüber ein sicherer Entscheid nicht möglich.
„Nur wenn es Quanta gibt, die bestimmten Angstzuständen äquivalent sind,
sagen wir Libidoquanta, bekommt der Begriff der Angsterspamis einen präzisen
verifizierbaren Sinn. Die an sich sinnvolle funktionelle Aussage wird erst als funk¬
tional e zu nichtigen“ oder falschen“.“
Die These B.s, daß funktionelle Aussagen nur durch Messung verifizierbar
sind führt zu den schwierigsten wissenschaftstheoretischen und philosophischen
Problemen. Mir will es scheinen, daß B. „exakt“ und „meßbar“ als äquivalente
Begriffe verwendet. Er meint, wenn wir bloß qualitativ angeben, in welcher Be¬
ziehung ein Teilgeschehen zu einem Gesamtkomplex des Geschehens steht, so mag
das sinnvoll sein, aber niemals scharf beweisbar oder widerlegbar. Es bleibt immer
eine gewisse Willkür bei dieser Art der Charakterisierung. Jede Willkür ist hin¬
gegen ausgeschlossen und jede Behauptung wird scharf als wahr oder falsch
ausweisbar, wenn es gelingt, die Beschreibung in Quantitätsbegriffe zu kleiden.
Dann haben wir nämlich bloß die in Frage kommenden Größen nachzumessen
und aus der Messung erweist sich automatisch Wahrheit oder Falschheit
unserer Behauptung. In dieser B.schen Auffassung liegt meines Erachtens eine
unzulässige Vereinfachung und eine willkürliche Scheidung der Wissenschaft-
Besprechungen
129
Uc hen Operationen. Man könnte mit ebensoviel Recht behaupten, daß rem
quantitative Aussagen, zumal in der Psychologie, sinnlos sind ohne Erfüllung
, qualitative Begriffe. Ferner ist es nicht gesagt, daß eine rem quantita-
tive Aussage als solche immer eindeutig verifizierbar ist. Denn wenn eine
Messung einer Behauptung widerspricht, so bedeutet das keineswegs immer,
rUl 3 die betreffende qualitative Behauptung falsch war, sondern es kann se r
wohl sein, daß die Inkongruenz auf den besonderen Bedingungen der Messungs¬
operation beruht. Und wenn man die Praxis der Wissenschaften ansieht: hat
etwa die experimentelle Psychologie an Exaktheit und Bedeutung ihrer Er-
gebnisse gewonnen, seitdem sie mathematische Methoden anwendet, sorgfältige
Messungen durchführt? Selbst in der Physik ist „Exaktheit“ nicht identisch
(Genauigkeit der Messung bis auf die soundsovielte Dezimale, wie das z. B.
win |n feiner schönen Arbeit „Der Übergang ^von der aristotelischen zur
galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie 1 zeigt.
IJ. «ilst zwar zu, daß die Psychologie auf funktionelle Aussagen nicht Ver¬
zichtern kann, aber er schränkt die Richtigkeit seiner Behauptung selber ein,
wenn er meint, daß funktionelle, d. h. qualitative Beschreibung nur „sinnvoll“,
aber nicht im wissenschaftlichen Sinn verifizierbar ist. Mir will dagegen scheinen,
daß für die logische Eigenart der Psychologie und der Psychoanalyse gerade
der Zusammenhang zwischen qualitativen und quantitativen, funktionellen und
funktionalen Aussagen entscheidend ist. Was anders formuliert heißt, daß die
Psychologie und die Psychoanalyse nicht mit physikalischen Systemen zu tun
haben, ihre Aufgabe daher nicht auf eine messende Feststellung von Wachsen
oder Abnehmen von „Energien“ beschränkt sein kann, sondern Gegenstand
der Psychologie und der Psychoanalyse ist der Mensch, in Beziehung zu seiner
Umwelt, d. h. als handelndes, empfindendes, leidendes Wesen, das einer Welt
von Objekten, sinnvollen Situationen gegenübersteht. Und Aufgabe einer
wissenschaftstheoretischen Untersuchung kann nur sein, herauszufinden, durch
welche begriffliche Bemühungen eine Wissenschaft ihr spezifisches Objekt am
adäquatesten erfassen kann. Denn die Kriterien der Exaktheit und Verifizier¬
barkeit liegen in der Beziehung der einzelnen Wissenschaften zu ihrem Gegen¬
stand und können nicht an den Methoden der anderen Wissenschaften gemessen
werden. Uns scheint ein Irrtum B.s darin zu liegen, daß er, stillschweigend,
das Exaktheitsideal der Physik auch für die Psychologie als bindend zugrunde legt.
In dem zweiten Teil der Arbeit hingegen, in dem sich B. mit der genetischen
Deutung beschäftigt, finden wir jenes Gebot der Gegenstandsnähe, das für eine
wissenschaftstheoretische Untersuchung verpflichtend ist, wirklich bewahrt. In
diesem Teil der Arbeit untersucht B. jene Voraussetzungen der psychoanalyti¬
schen Forschung, jene Methoden und Verfahrungsweisen, durch die die Psycho¬
analyse ihre eigensten Aufgaben realisiert.
Denn nicht die finale und funktionelle Deutung, meint B. mit Recht, ist
das wesentlichste Verfahren, das die Psychoanalyse anwendet und dem sie ihre
Resultate verdankt. Sondern die wesentlichste Zielsetzung der Psychoanalyse ist
1) Erkenntnis, Bd. I, S. 421 ff., 1930/31.
SM 7 / ~
Imago XIX.
9
i3o
Besprechungen
die Rekonstruktion eines konkreten, abgelaufenen, seelischen Vorganges. „Als
Rekonstruktion vergangener personaler Geschehnisse, aus den Spuren, die sie
selbst hinterlassen haben, wäre . . . das zentrale Forschungsverfahren der Psycho¬
analyse zu charakterisieren. Es hieße Rekonstruktion besser als Deutung . . .“
Die Möglichkeit einer solchen Rekonstruktion ist an zwei Voraussetzungen
gebunden. Erstens: der Vorgang, um dessen Rekonstruktion es geht, muß Spuren
hinterlassen haben. Zweitens:/ zwischen bestimmten seelischen, personalen Ge¬
schehnissen und den Spuren, die sie hinterlassen, muß eine regelhafte gesetz¬
mäßige Beziehung bestehen, damit jene aus diesem „deutbar“ werden. Mit
anderen ^Worten: erst eine Theorie über bestimmte Geschehenstypen ermöglicht
es, aus den Spuren den wirklichen Vorgang zu rekonstruieren. Traumarbeit, Kon¬
version, Sublimierung, Verdrängung sind Begriffe, die solche eigentümliche Ge¬
schehenstypen bezeichnen. B. zeigt, daß alles, was der Psychoanalytiker unter¬
nimmt, um den Geschehenstyp zu erkennen, dem ein bestimmtes Phänomen
angehört, alles, was er versucht, um den Vorgang zu rekonstruieren, gelegentlich
Deutung heißt. Aber dieser gemeinsame Name deckt sehr verschiedene Opera¬
tionen. Daß das komplexe Verfahren der Rekonstruktion so oft als Deutung
bezeichnet wird, hat einen guten Sinn. Denn bei der Rekonstruktion handelt
es sich um die Einordnung in einen konkreten Zusammenhang, um die Er¬
gänzung von konkreten Bruchstücken zu einem Ganzen, um die deutliche Ab¬
grenzung von Zusammenhängen gegeneinander. Und B. hat sicher recht, daß
es dieser Akt ist, den die Sprache als Deutung heraushebt. Darum bezeichnet
B. die psychoanalytischen Rekonstruktionen als genetische Deutungen.
Wie steht es mit der Verifizierbarkeit der psychoanalytischen Rekonstruktionen?
B. glaubt, daß die Verifikation nicht mit genügender Sicherheit möglich ist.
„Es gibt kein Kriterium dafür, daß der rekonstruierte Vorgang auch wirklich
so ablief wie die Deutung ergab . . .“ Diese Unsicherheiten bestehen für die
Psychoanalyse ebenso wie für die anderen geschichtlichen Wissenschaften. B. ist
der Ansicht, daß man eigentlich sagen müßte: wir rekonstruieren nicht den
Vorgang, sondern bauen ein Modell von ihm. Gewöhnlich werden deren mehrere
möglich sein, die Entscheidung zwischen diesen Modellen bleibt meist offen.
Ist aber die Psychoanalyse bei ihren Rekonstruktionen wirklich in der gleichen
Lage wie etwa die Archäologie oder Paleontologie? Oder ist das Verhältnis
von Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und Aktualität, das sie vorfindet,
ein anderes, wie sonst in der Historie? Für den neurotischen Menschen, der
das ursprüngliche Objekt der psychoanalytischen Forschung ist, ist die Ver-
gangenheit noch ein Stück Aktualität. Und jenes Phänomen, das man Über¬
tragung nennt, gibt eine solche Möglichkeit, die Vergangenheit zu aktivieren,
wie Forscher anderer historischen Wissenschaften sie nicht haben und die ihren
Neid erwecken könnte. Mir scheint, erst eine eingehende Analyse der methodo¬
logischen Bedeutung des Phänomens der Übertragung und der durch sie erweckten
Erinnerungen könnte über die Verifizierbarkeit der genetischen Deutungen der
Psychoanalyse Aufklärung geben.
B. führt weiter aus, welcher Methoden sich die Psychoanalyse bedient, um
ihre wesentlichsten Aufgaben, den genetischen Zusammenhang der seelischen
Besprechungen
Geschehnisse aufzudecken, zu erfüllen. Die Technik der Psychoanalyse ist, aus
diesem Gesichtspunkte betrachtet, eine Technik der Rekonstruktion. B. be¬
schäftigt sich vor allem mit der „Methode der freien Einfälle und zeigt, daß
ihr Sinn darin besteht, gewohnte Zusammenhänge umzubrechen, um eine neue
Ordnung des Materials, etwa nach Affektwerten, zu ermöglichen. Man wird
dieser Methode nicht gerecht, wenn man sie mit den Mitteln der Assoziations-
Psychologie erfassen will. Sehr viel eher kommt man der Tatsache nahe, die
igrunde liegt, wenn man die „freien Einfälle als neue Zusammenhangs¬
bildungen auslegt, die ihre innere, „personale“ Logik haben.
B.s Arbeit bedeutet einen Vorstoß in ein bisher unbearbeitetes Gebiet. Es
gilt, die Eigenart einer Wissenschaft herauszuarbeiten, die ein Tatsachengebiet,
das sie neu gesehen und dessen wirkliche Bedeutung sie erst entdeckt hat,
mit teilweise ganz neuartigen methodologischen Mitteln, aufzuarbeiten sucht.
Die Pulle und Schwierigkeit der Probleme, die sich für eine solche Unter¬
st hung ergeben, macht es selbstverständlich, daß dabei noch keine erschöpfenden
warten sind. Die Arbeit B.s bringt aber schon eine Reihe wichtiger
und zweifellos gültiger Erkenntnisse. B. hat in dieser Arbeit die Bedingungen
und die Zulässigkeit der finalen Deutungen aufgezeigt, den Unterschied zwischen
finalen Deutungen und funktionellen Aussagen in der Psychoanalyse deutlich
gemacht, die Arbeitsweise jener „SpurenWissenschaft“, die Psychoanalyse heißt,
schärfer beleuchtet. Uns scheint namentlich der Nachweis bedeutungsvoll, wie
die Theorie über die Geschehenstypen die Rekonstruktion eines abgelaufenen
seelischen Vorganges aus ihren Spuren ermöglicht.
Diese Arbeit hat die wissenschaftliche Selbsterkenntnis der Psychoanalyse
ein Stück weit gefördert.
Die Meinungen über den Wert solcher methodologischen Untersuchungen
sind verschieden. Unseres Erachtens kommt ihnen eine hohe Bedeutung zu.
Denn sie zeigen uns, wo unsere wirklichen wissenschaftlichen Aufgaben liegen,
und welche Wege wir einschlagen müssen, wenn wir sie adäquat lösen wollen.
G. Gero (Berlin)
Sclijeld erup, Harald und Knstiaan: üter die drei Haupttypen
der religiösen Erletnisformen und lkre psycliologisclie
Grundlage. Berlin und Leipzig, AV^alter de Gruyter & Co., 1 gSz,
180 /Seiten.
Von den drei Haupttypen religiösen Erlebens erwächst die erste aus der Be¬
ziehung zur Mutter. Er zielt auf die mystische Vereinigung mit Gott. Der
zweite Typus ist durch Schuldgefühl, Furcht und Sühneverlangen charakterisiert
und stammt vorwiegend aus dem Verhältnis zum Vater. Der dritte Typus zeigt
die Tendenz zur Selbstvergöttlichung und stammt aus dem infantilen Narzißmus.
Die Verfasser bezeichnen die drei Typen als Mutter-Religion, Vater-Religion und
Selbst-Religion. Die in der Analyse von Neurotikern gefundenen Typen lassen
sich auch an Gesunden und in der Religionsgeschichte wiederfinden. Die Ver¬
fasser belegen sie durch Betrachtung des indischen Mystikers Ramakrishna,
9 "
i3a
Besprechungen
Martin Luthers und des Zen-Mönches Bodhidharma. „Ganz allgemein könnte
man sagen, daß der Hinduismus seiner ganzen Grundtendenz nach als Mutter-
Religion, der ursprüngliche Buddhismus als Selbst-Religion und Christentum wie
Mohammedanismus ihren ursprünglichen Intentionen nach als ausgesprochene
Vater-Religion anzusprechen seien.“ (S. 99.)
Die Verfasser sehen ihre Arbeit als eine Weiterführung und Ergänzung von
Freuds Untersuchungen an: Neben dem „Vatermotiv“ spielen eine ebenso
wichtige, ja vielleicht noch wichtigere Rolle das „Muttermotiv“ und das
narzißtische „Selbstmotiv . Auf diese beiden ergänzenden Motive hatten bereits
hingewiesen: Pfister, Jones, Storfer, Lorenz, Dietrich, Fromm, Silberer, Alexander.
Während es sich bei den Arbeiten dieser Autoren aber im wesentlichen nur
um Symboldeutungen und um die Beleuchtung von Einzelproblemen der Reli¬
gionsgeschichte handelt, versuchen die Autoren der vorliegenden Schrift eine
auf direkte empirische Analyse von Einzelfällen religiöser Menschen ge¬
gründete Klarlegung der Motive der Religionsentwicklung. Die Kasuistik dieser
Fälle nimmt die erste Hälfte der 100 Seiten langen Schrift ein und zeigt ebenso
wie der theoretische Teil eine gründliche Kenntnis der psychoanalytischen Funde
und ihre fruchtbare Anwendung auf den Gegenstand des religiösen Erlebens.
Die letzten Schriften Freuds, in denen er selbst über das „Vatermotiv“ hinaus¬
geht, insbesondere die Bemerkungen über das „ozeanische Gefühl“ im „Unbehagen
in der Kultur ‘ und in der „Neuen Folge der Vorlesungen u 9 sind den Verfassern
wohl nicht mehr zugänglich gewesen. G. M.üller-Braunscliweig (Berlin)
Aus der Literatur der Grenzgebiete
Alverdes, Friedridi: Die Xierpsycliologie in lliren Beziehungen
zur Psychologie des Menschen. Leipzig, C. L- Hirschfeld, 1932.
120 iSeiten.
Die bedeutsame, weite Ausblicke gewährende Vortragsreihe steht unter den
Aspekten des „Fiktionalismus in der Erkenntnis und der „ganzheitlichen u Er¬
scheinungsweise der Lebewesen. Ich weise im Folgenden auf die Berührungs¬
punkte mit der Psychoanalyse hin.
Mehr programmatisch aufgestellt als einzeln durchgeführt wird die Rolle
der trieb mäßigen Komponenten auch an einsichtigen Handlungen. Die ver¬
stehende, einfühlende Methode der medizinischen Psychologie wird immer
wieder als Vorbild hingestellt. Unter Berufung auf Erfahrungen der Tiefen¬
psychologie wird die, auch von mehreren tierpsychologischen Richtungen ver¬
tretene Auffassung angenommen, die Bewußtseinsqualität einer Handlung sei
für ihre Erforschung irrelevant. Damit gelangt das Unbewußte sozusagen von
seiner negativen Seite her in die Ideengänge des Verfassers. Die positiv be¬
stimmten Arbeitsweisen des menschlichen Unbewußten auch in der Tier¬
psychologie zu untersuchen, scheint dem Verfasser nicht vorgeschwebt zu haben.
Auch die Plastizität der Triebe wird beschrieben, — ohne die in der menschlichen
Sexualität sich äußernde Plastizität als Vorbild zu betrachten.
Bespreuungen
l33
Wichtig scheint mir der Hinweis auf das, was die Psychoanalyse aus der
ulogie von Alverdes lernen kann. Das güt ganz besonders für die
Reih^ der ererbten Triebe des Neugeborenen: Saugen, Schlucken und le
eigentümliche Klammerreaktion — offenbar ein uraltes Erbgut, das beim
jetzigen Menschen sehr an Bedeutung verloren hat. Für den Vorfahren des
Menschen war diese Reaktion jedoch gewiss von Wichtigkeit, wie sie es ur
die heute lebenden Affen jetzt noch ist, denn sie führt hier dazu, daß der Säugling
«ich an dem Mutterindividuum festklammert.“ Hier sei nur bemerkt, daß diese
Reaktion an Bedeutung nicht verloren hat; sie ist in den Gefuhlsbeziehungen
• 1 « p, nd für die Verhaltungsweise des Menschen außer- und innerhalb
r und oft ZU beobachten. I. Hermann (Budapest)
Bericht über Jen XII. Kongreß Jer Deutschen Gesellschaft
für Psychologie in Hamburg vom 12. his x 6 . April i 9 3 i.
Herausgegeben von Gustav Kafka. Jena, G. Fischer, i 9 3 a. 480 Seiten.
Mit 14 ALhilJungen unJ 2 Tafeln.
Di.- große Anzahl von Vorträgen und Sammelreferaten erlauben nicht, sie
auf igbaren Raum inhaltlich zu kennzeichnen. Weygandt stellt fest,
daß im Gegensatz zu Amerika, Sowjetrußland und Japan — nur in zwei
deutschen psychiatrischen Kliniken psychologische Laboratorien
bestehen. Er fordert, daß Psychologie Unterrichts- und Prüfungsfach für
Mediziner werden müsse, er stellt fest, daß vor allem Psychiater eine psycho-
I»»irische Ausbildung dringend benötigen, denn es sei bisher üblich gewesen,
daß jeder Psychiater seine eigene Psychologie konstruiere.
Über die Grundaxiome der Sprachtheorie sprachen Forscher der ver¬
schiedensten psychologischen und philosophischen Schulen. Cassirer und
Strauß sehen die Sprache an als symbolische Form, als autochthone Schöpferin
ihrer Welt im Sinne eines Kantschen oder Humboldtschen Idealismus. N. Ach
fordert von jeder Sprachforschung die Durchführung des psychologischen Ex¬
periments, um von hier aus ihre Bedeutung zu klären. K. Bühl er vertritt
den Standpunkt: „Man kann die These von der Zeichennatur der Sprache als
eine höchste Induktionsidee der Sprachforschung betrachten und nachforschen,
welche Zeichenfunktionen die Sprache erfüllt. Auf diese Weise gewinnt man
einen systematischen Einblick in das, was man die Struktur der Sprache nennen
kann. Die Psychologie ist nicht als einzige Einzel Wissenschaft berufen, diese
Induktionsidee zu verifizieren. Wir können, auch wenn wir die Sprachentwick¬
lung beim Kind verfolgen, nur festlegen, wann, d. h. in welchen Stadien der
Reife und in welcher Reihenfolge diese Zeichenfunktionen auftreten und aus¬
gestaltet werden. Das konsequente Durchdenken der Tatsachen von der höchsten
Induktionsidee aus ist eine Angelegenheit, die nur der Logik, nicht der Er¬
kenntnistheorie untersteht/ 4
S. Bernfeld behandelte das Thema „Über den Begriff der Deutung in der
Psychoanalyse“. „Das Wort Deutung hat in der Psychoanalyse keinen ein¬
deutig bestimmten Sinn. Es sind recht verschiedenartige Verfahren und Ope-
i3^
Besprechungen
rationen, die mit ihm bezeichnet werden. Insbesondere wären die therapeutisch¬
diagnostische, die finale und die funktionelle Deutung voneinander zu unter¬
scheiden. Für die Forschungsmethode der Psychoanalyse und für ihre Ergeb¬
nisse ist aber keiner dieser Deutungstypen bezeichnend und bedeutsam. Die
psychoanalytische Forschung ist vielmehr aufgebaut auf einem Verfahren, in
dessen Mittelpunkt die genetische beziehungsweise historische Rekonstruktion
steht. So wie der Detektiv (im Roman) aus den Spuren, die ein kriminelles
Geschehnis hinterlassen hat, den vergangenen und nur in seinen Spuren vor¬
handenen Vorgang rekonstruiert, so verfährt der Psychoanalytiker, indem er
aus den Spuren abgelaufener personaler Prozesse diese selbst zu rekonstruieren
versucht. Auch die Archäologie und jede genetische, beziehungsweise historische
Wissenschaft bedient sich dieser Methode der Rekonstruktion. Nach der Ter¬
minologie, die Stern vorgeschlagen hat, wäre der wesentlichste Anteil der
psychoanalytischen ,Deutungen nicht zu den Deutungen zu rechnen. “
Aus der Kretschmerschen Klinik wird durch Enke auf die Rorschach-
schen Formdeute versuche als eines der Mittel tiefenpsychologischer Diagnostik
eingehend verwiesen. Durch diese und andere tiefenpsychologische Versuche
wurden hei verschiedenen Konstitutionstypen folgende Grundhaltungen experi¬
mentell diagnostiziert: „Die affektive Ansprechbarkeit oder Irritierbarkeit auf
ganz bestimmte äußere Reize körperlicher wie seelischer Natur, die Denk-,
Auffassungs- und Verarbeitungsarten, theoretische oder praktische Arbeitsweisen,
Arbeitstempo, geistige und motorische Umsteilbarkeit oder Beharrlichkeit, Ein-
und Unterordnungsfähigkeit, Eigenarten der Körperbewegungen und Hand¬
fertigkeiten sowie ihrer verwandten Funktionen.“
Erismann nimmt Stellung zu den psychologischen Problemen im Fall
Halsmann, der in der psychoanalytischen Literatur durch Freud und Fromm
behandelt wurde. Der Autor lehnt — auch auf Grund seiner Versuche am
Tatort die Annahme ab, daß Philipp Halsmann der Mörder seines Vaters sei.
Iwai und Volk eit stellen in ihrer Arbeit über den Umgang des Kindes
mit verschieden geformten Körpern im neunten bis zwölften Lebensmonat fest,
daß der Ring der am meisten bevorzugte, der Würfel der am wenigsten be¬
vorzugte Gegenstand des Kindes sei. Daneben wird auch die Schale verhältnis¬
mäßig stark beachtet.
Schmeing verweist unter anderem auf Arbeiten von Freud und Bernfeld
über Pubertätsperioden. Er nimmt neben der Kindheitspubertät (um das vierte
Lebensjahr) und der Jugendpubertät eine dritte Reifungsstufe (Erwachsenen¬
pubertät) im Anfang der Zwanzigerjahre an. — Über den Vortrag von Felix
Krueger, der auch als Sonderabdruck erschienen ist, wird gesondert berichtet.
Kurze Referate über die Aufgaben einzelner Fachgruppen beschließen den Band.
Sie fordern, daß für den Psychologieunterricht in der neuen Lehrerbildung
die Methoden und Ergebnisse der Selbst- und der Fremdbeobachtung vermittelt
werden und in der forensischen Psychologie die bestehenden Möglichkeiten
und Notwendigkeiten für das Wiederaufnahmeverfahren in ähnlichen Fällen wie
im Prozesse Halsmann bearbeitet werden. Um diese Aufgaben zu lösen, ist aber
die Heranziehung der Psychoanalyse notwendig. H. Meng (Frankfurt a. M.)
Besprechungen
i35
Dorer, M.r Hiotoriretr GrurrJl.gen J«r P,yclo.n,ly.«
Leipzig» Felix Meiner, 1932. 184 Seiten.
Die historischen Grundlagen der Psychoanalyse aufzuzeigen ist eine Aufgae,
die — voll ausgeschöpft — die Problemgeschichte der Psychologie und Ph.0-
•ophie überschreiten müßte. Verfasserin schränkt ihre Arbeit bewußt aut den
psychologisch-philosophischen Untergrund der Psychoanalyse em und läßt somit
eine Reihe von medizinhistorischen (aber auch von soziologischen und anderen;
Fragen außer Betracht, die für eine Geschichte des psychoanalytischen Gedanken-
B-lang sein könnten. Trotz dieser Einschränkung — die übrigens
schon durch den Fortfall des bestimmten Artikels im Titel des Buches ange¬
deutet scheint — verdient die Arbeit als erste umfassende und ernste Spezial-
n nichtanalytischer Seite zu diesem Thema vorliegt, unser
volles Interesse. Ais Anfangspunkt für die Untersuchung der historischen Gründ¬
ern nimmt die Autorin das Begriffsgerüst der Freudschen Psychologie; sie
fU .]lt I reuds Auffassung vom „Mechanismus des psychischen Apparates m den
Vordergrund (unter vornehmlicher Berücksichtigung der früheren Schriften). Im
einzelnen werden Freuds Eintreten für den psychophysischen Parallelismus, seine
Fortbildung ih r Aphasielehre, sein Verhältnis zum Sensualismus, zur Assoziations-
theorit*. zur Frage der Quantifizierbarkeit im Seelischen, seine Auffassung des
Mechanismusbegriffes und des Unbewußten, schließlich die Beziehungen analyti¬
scher Grundbegriffe zum Reflexschema und überhaupt zur Physiologie geschickt
und — soweit ein Querschnitt durch Freuds frühere Werke gemeint ist — auch
zutreffend skizziert; die (anhangsweise) Darstellung der späteren Funde und Ge¬
danken Freuds ist freilich allzu dürftig ausgefallen. Nach einer kurzen Charakte¬
ristik der Persönlichkeit Freuds (die sich im wesentlichen auf seine Selbst¬
zeugnisse stützt) geht dann Verfasserin auf Grund jener Skizze des analytischen
Begriffsgerüstes den Einflüssen und Anregungen nach, welche die Psychoanalyse
aufgenommen und verarbeitet hat. Aus der Einstellung Freuds zu Philosophie
und Psychologie entnimmt die Autorin, daß von einem direkten umfassenden
Einfluß von Psychologen oder Philosophen auf ihn nicht gesprochen werden
kann (vielleicht mit einziger Ausnahme von Fechner). Dennoch ergibt eine
vergleichende Untersuchung weitgehende (und nicht nur äußerliche) Überein¬
stimmungen mit bestimmten psychologischen Theorien; zunächst mit Herbart
(und Fechner). Der nun folgende, sachliche und gründliche Beitrag zur ver¬
gleichenden Psychologiegeschichte macht wohl den wertvollsten Abschnitt des
Buches aus; sein Inhalt kann hier natürlich nur andeutend wiedergegeben werden.
Theoretische Übereinstimmungen zwischen Herbart und Freud sieht die Autorin
zunächst in beider Intention auf naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit und in
der Betonung des quantitativen Moments. Beide Theorien sind einerseits „mecha¬
nistisch , anderseits „individualistisch**; beide können als „Energetismus“ und
„Dynamismus“ bezeichnet werden. „Die Grundkonzeption des ,psychischen Mecha¬
nismus , der nach Art physikalischer Gebilde gebauten ,Maschine* beziehungs¬
weise des ,Apparates*, dessen einzelne Glieder als selbständige ,Kräfte* ihre ,Energie*
allmählich ,aufarbeiten*, ist demnach bei Herbart und Freud dieselbe.** Der wesent-
136
Besprechungen
lichste Unterschied ergibt sich in der Auffassung beider über das Verhältnis von
Affekt und Vorstellung: „Herbarts Psychologie ist nur VorsteUungsdynamik: Freuds
Psychologie entwickelt sich aus einer Vorstellungs- zu einer Affektdynamik.“ Das
zweite psychologische System, mit welchem Dorer die Lehre Freuds kon¬
frontiert, ist dasjenige G. Th. Fechners; hier hat ja bekanntlich Freud selbst
schon verwandte Gedankengänge gefunden.
Um den konkreten historischen Wegen nachzuspüren, die von jenen beiden
Systemen der Psychologie zu Freud hinüberleiten, gibt Verfasserin eine kurze
Übersicht über die wissenschaftliche Umwelt, in der die Psychoanalyse erwachsen
ist. Es wird die bedeutende Rolle aufgezeigt, die Herbarts Lehre gerade an
der Wiener Universität (und darüber hinaus im österreichischen Bildungswesen
überhaupt) gespielt hat. Aus dem Kreis der Lehrer und Freunde Freuds werden
Brücke, Breuer, Fleischl und insbesondere Meynert hervorgehoben und in
ihrer wissenschaftlichen Stellung Umrissen. Meynerts Gehimmechanik aber weist
in ihren psychologischen Grundlagen unmittelbar auf die Psychologie Herbarts
und die Psychophysik Fechners zurück.
In Meynerts Lehre findet nun Dorer die nächsten, unmittelbar wirk¬
samen Einflüsse, die für die Entwicklung der Freudschen Gedanken von
Belang gewesen sind; wie in Herbart und Fechner die „historisch früheren
Schichten . An einer Reihe von Beispielen wird die Parallelisierung Freud¬
scher und Meynertscher Begriffe durchgeführt. Daß manche Begriffsbildungen
verwandte Merkmale erkennen lassen, ist in der Tat unbestreitbar und offen¬
sichtlich; doch möchte Referent diesen Analogien keine so zentrale Bedeutung
für die Psychoanalyse einräumen, wie es die Autorin tut. Etwas von dieser
wissenschaftlichen Ahnenreihe ist sicherlich in die Form des Freudschen Denkens
übergegangen — aber im einzelnen klingen alle diese analogen Bildungen bei
Freud doch ganz anders als bei Meynert und die Übereinstimmungen im Begriff¬
lichen und gelegentlich auch im sprachlichen Ausdruck dürfen nicht darüber
täuschen, daß ihr wissenschaftlicher Stellenwert da und dort ein verschiedener ist.
Mit der allzu betonten Herausarbeitung dieser einen Ahnenreihe der Psycho-
analyse hängt es auch zusammen, daß in der Darstellung der Verfasserin andere
historische Linien entschieden zu kurz kommen; so die Bedeutung Charcots —
vor allem aber die ideengeschichtlich sehr interessanten Beziehungen zu Nietzsche
und Schopenhauer und zur deutschen Romantik. Freilich, sofern die Autorin
sich auf ihr Programm beschränkt, nicht mögliche geschichtliche Zusammen¬
hänge, sondern nur konkret nachweisbare Einflüsse herauszustellen, dürfen wir
ihr aus dieser Unterlassung kaum einen Vorwurf machen; trotz allen weit¬
gehenden inhaltlichen Übereinstimmungen, vor allem mit Gedanken Nietzsches,
liegt hier — wie Freud selbst gelegentlich erklärt hat — ein direkter Ein¬
fluß nicht vor. Da aber Dorer zum Schluß eine Kritik der Psychoanalyse auf
deren Stellung in der Geschichte der Psychologie aufbauen will, hätte sie —
selbst zugegeben, daß ein solches Verfahren gegenüber der Psychoanaly se uns
mehr als nur partielle Einsichten eröffnen könnte — jene anderen Elemente
des Freudschen Gedankenbaues nicht vernachlässigen dürfen, die in der Reihe
Herbart-Fechner-Meynert keine Entsprechung haben.
Diese Kritik nun erscheint als eine Art Draufgabe (sie umfaßt 5 Seiten von 4),
,r„. ,.u.vh .las ««entliehe Thema des Buches nicht gefordert ist. Sie achtet sich
rster Linie gegen Freuds Darstellung des Seelischen als Mechanismus oder
Apparat: »es gibt darüber hinaus noch Seelisches, es gibt Geistiges, eson er
ungesunden Menschen, das nicht ,mechanisch* funktioniert, das nicht ,Appara
Seelisch-Geistige kann die Psychoanalyse nicht fassen; es entzieh sic
ihren .wenigen psychologischen Formeln*.“ Und: es kann „auch nie it angenommen
werden, daß die Energietransformationen im Innern des mit der Umwelt korre¬
spondierenden psychophysischen Apparates das Letzte seien, von dem die Psycho-
logic habe. Damit ist aber implicite eine prinzipielle Kritik der
Affekttheorie überhaupt wie von hier aus auch wichtiger
robleme choanalyse gegeben“. Wir wollen uns jedoch an dieser
kritis 1 en Anmerkungen der Verfasserin, die zum Teil offen ar
rin Mißverstehen der analytischen Grundpositionen zur Voraussetzung haben,
lersetzen, möchten vielmehr zum Schluß das Buch, weil es eine
Fülle ehrlicher positiver Arbeit enthält, und weil es eine erste und weitgehend
gegluckte Antwort auf Fragen gibt, die affe Analytiker interessieren, ausdrücklich
rur Lektüre empfehlen. H. Hartmann (Wien)
Herbert, 5 .; Tlie Unconscious in Life and Art. London, Allen &
Unwin, 1932.
Herbert gibt eine populäre Darstellung einiger Anwendungen psychoanaly¬
tischer Erkenntnisse auf Fragen der menschlichen Kultur. Die Darstellung bleibt,
teils infolge des Bestrebens zur Popularität, teils infolge der Eigenart des Autors
überhaupt, bedauerlich oberflächlich. Was über die Psychoanalyse ausgesagt
wird, ist zwar durchwegs richtig und zeugt von der Belesenheit des Autors,
bleibt aber trotz des ehrlichen Enthusiasmus Herberts für die „neue Psycho¬
logie reichlich unzulänglich und naiv. (So unterscheidet er unter anderem nicht
genügend zwischen der von der Psychoanalyse in den Äußerungen des Unbewußten
aufgedeckten „Symbolik“ und dem, was man sonst unter diesem Wort verstand,
/. B. dem „symbolischen“ Gehalt eines musikalischen Themas.) Die Jungsche
Unterscheidung von extro- und introvertierten Menschen wird den Ergebnissen
der Psychoanalyse zugerechnet und als Schlüssel zum Verständnis von Kunst-
und Kulturgeschichte hingestellt. In moralischer Hinsicht werden liberale Ideale
verfochten, in soziologischer denkt der Autor extrem psychologistisch, und zwar
etwa so: „Liebe ist gegenüber dem Haß sekundär und kann ihn nur nach
einer langen Periode der Gewöhnung an Fremde übertreffen. Das kann uns
das merkwürdige Paradoxon erklären, daß, während jedermann vom Frieden
redet, die Völker sich für den Krieg rüsten.“ Oder: „Es ist die Vernachlässigung
der aufs höchste spezialisierten sexuellen Funktionen, was zu den Eheschwierig-
koiten der Gegenwart geführt hat.“
O. Fenidiel (Berlin)
i38
Kotier, Ridiard: Der W eg des Menscten vom Linlts- zum Rectts-
tander. Ein Beitrag zur Vor- und Kulturgesctidite des Menscten.
Wien, Moritz Perles, ig 3 a. IX u. i^a »Seiten.
Der Autor macht in der vorliegenden Schrift den Versuch, die Geschichte
des Funktionswechsels und -wandeis der Hände als ein wesentliches Moment
der Gestaltung der menschlichen Kultur darzustellen. Die Auffassung einer
ursprünglichen Gleichwertigkeit der beiden Hände sowohl als auch die Er¬
gebnisse der biologisch-physiologischen Forschungen über die Ursachen der
Rechtshändigkeit lehnt er ab und stellt die These auf, daß die Überwertigkeit
einer Hand vor der anderen ein Urgut des Menschen bilde. Er nimmt es auf
Grund von Befunden an steinzeitlichen Werkzeugen als erwiesen an, daß in
der Urzeit des Menschen die Linkshändigkeit vorgeherrscht habe, die dann
durch das Aufkommen des Waffengebrauches von der Rechtshändigkeit ab¬
gelöst worden sei. Dann werden in Verwertung der Forschungen von Fließ
die Beziehungen der Linkshändigkeit zur Bisexualität und zum Künstlertum
erörtert und schließlich an der Entwicklungsgeschichte der Kulte gezeigt, wie
die linke Seite einen Bedeutungswandel vom Guten zum Bösen erfahren habe.
Die Bemühungen um das hochbedeutsame Problem der Rechts- und Links¬
händigkeit haben mit dieser Schrift einen Beitrag in Gestalt einer Hypothese
erhalten, die Interesse verdient. o. hakower (Wien)
Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. Leipzig, Alfred Kröner,
193a. 186 iSeiten.
Das klassische Werk zur Massenpsychologie liegt hier in einer sauberen und
wohlfeilen (fünften) deutschen Auflage vor, die auf der alten Eislerschen Über¬
setzung beruht, deren zahlreiche stilistische Fehler und Unkorrektheiten jedoch
glücklicherweise ausgemerzt hat. Dem Buch ist die Übersetzung des Vorworts
zur achtunddreißigsten französischen Auflage vorausgeschickt, das der Autor
kurz vor seinem Tode im Jahre 1931 geschrieben hat. Die Einführung von
Moede weist auf die Bedeutung des Werkes für die praktische Psychologie,
insbesondere für die moderne Psychotechnik hin, vergißt aber leider zu er¬
wähnen, welch wesentlichen Anteil an der Fortbildung und Verbreitung der
Le Bonschen Gedankengänge Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“
gehabt hat. ]■'. Schottlaender (Stuttgart)
Liclit, Hans. »Sexual Life in Ancient Greece. London, George
Routledge & »Sons, Ltd. »Seiten.
Dieses glänzend geschriebene Buch enthält eine leicht zugängliche Zusammen¬
stellung all dessen, was Über das Sexualleben der alten Griechen bekannt ist.
Es ist, vielleicht zu seinem Schaden, in zwei Hauptabschnitte unterteilt, von
denen der erste es mit der Erotik im allgemeinen zu tun hat, und unter
anderem die Themen: Ehe, das Leben der Frauen, das Verhältnis zum Körper
. -h mdelt während der zweite das Sexualleben in einem engeren Sinne des
Wortes betrifft. Das Buch bespricht ausführlich die versch^denen Perversmnen
und stellt natürlich mit besonderer Genauigkeit die eigenartig , . ’ flpr
der die Homosexualität in Griechenland verbreitet war. Von ihr
Verfasser mit Recht, daß sie keinesfalls ausschließlich grob-sexuellen Impulsen
rang, sondern daß sie auch ein Mittel war, gewisse, den Griechen teuere
Ideale zu verwirklichen, insbesondere das einer kameradschaftlichen Bindung
zwischen den Männern. Das Material, das er hiefür beibringt, wird gewiU
vor allem die Analytiker interessieren und sie anregen, es vom Standpunkt
rer gegenwärtigen Auffassung vom Ursprung der sexuellen Inversion zu
betracht.•». Di r Verfasser hat aus den ursprünglichen Quellen geschöpft und
bl Im »deren Kapiteln die betreffende Literatur besprochen. Das Buch ist mit
\ ausgestattet. ^ (-^ on on )
Roggc, Christian: Der Notstand der Iieutigen SpracWissenschaft.
Eine’ Einführung in die Psydiologie des spradisdiaflenden Mensdien.
München, Max Hueher Verlag, 1929. 224 iSeiten.
Kogges Schrift unternimmt eine umfassende Kritik an der modernen Sprach¬
forschung. Sie ist einer jener Aufrufe zur Revision überlebter Begriffe, wie sie
in unserer Zeit auf allen Arbeitsgebieten auftauchen, und basiert auf Er¬
kenntnissen, die dem Fachmann ein Staunen, dem Psychoanalytiker größtes
Interesse abnötigen müssen.
In der modernen Linguistik herrscht offiziell eine grundsätzlich mechanistische,
materialistische Auffassung des sprachlichen Geschehens. Sie hat sich aus dem
Historismus mit seinem Post hoc, propter hoc zur seelenlosen Lautphysiologie
verfeinert, die einen (gut darwinistisch gemeinten) Daseinskampf der Laute
untereinander mit immer raffinierteren Methoden beobachtet. Ein j hatte
einmal die Fähigkeit, den allmählichen Übergang des voraufgehenden Vokals
in den Umlaut zu bewirken, gewisse konsonantische Elemente, die dazwischen
standen, vermochten diesen Übergang zu verhindern. Ein System unzähliger
solcher „Lautgesetze“ ergibt insgesamt die Richtung, in der die Sprachentwicklung
ohne Zutun des Menschen abläuft. Rogge sieht in ihm nur den Apparat von
Hebeln und Schrauben, der die Beschreibung der Vorgänge für ihre Erklärung
ausgibt, eine Mythologie, die dem Bewegten die Ursache der Bewegung zu¬
schreibt. Die Allmählichkeit der Übergänge ist ihm bloß ein anderer Name
für ihre faktische UnVorstellbarkeit, das Operieren mit astronomisch aufge¬
blähten Zeiträumen ein Entweichen ins Unerreichbare, wo doch Sprache, als
stets lebendige Gegenwart, vom Nächsten her sollte erklärt werden können.
Was ist dieses nächstliegende Objekt der Sprachforschung? Der sprechende
Mensch. Sprache ist kein Werk (keine Materie), sondern eine Tätigkeit. Dieser
geniale Satz Wilhelm von Humboldts ist Rogges Ausgangspunkt. Einzig der
biologische Habitus des Menschen und seine jeweiligen kulturgeschichtlichen
Erlebnisse können das Sprachgeschehen erklären. Der Anstoß zum Wandel
l^o
Besprechungen
ist immer nur psychologisch, erst die Auswirkung ist physiologisch faßbar.
Nicht in den Lauten, im Menschen liegt das Dasein der Sprache. Der Sprache
selber wohnen keine Gesetze inne, ihre vermeintliche Auswirkung ist nur
Reflex des menschlichen Erlebens. Von Zeit zu Zeit erlebt der Mensch die
Welt der Dinge neu, und daraufhin verändern sich auch die zugehörigen
Worte. Wenn der Sinn eines Wortes andern Assoziationen ruft, schließt sich
eine Lautveränderung an, die von dem neu assoziierten Begriff, d. h. einem
unbewußt anklingenden Wort, bestimmt sein wird. Aller Lautwandel, aller
Formwandel, schlechthin alles sprachliche Leben (also auch Wortbildung, Wort¬
zusammensetzung und -ableitung, Flexion usw.) ist Bedeutungswandel, ist Ver¬
schmelzung sinnhaft sich nähernder Worte. Das Gesetz, nach dem sie sich voll¬
zieht, ist die Angleichung, die Analogie. Wenn sich sunne und mäne in Sonne
und Mond verändern, so haben hier nicht Laute ihre Kraft geltend gemacht,
sondern die beiden Wörter haben sich gegenseitig — sprunghaft — ange
glichen, weil sie in einem bestimmten Zeitpunkt sachlich äs Paar erlebt
wurden. Der sein Sprechen ändernde Mensch verfährt überdies niemals logisch,
sondern unbewußt. Die Grammatik unterschiebt ihm eine Zielstrebigkeit und
Abhängigkeit vom „Paradigma“, die ihm völlig fremd ist. Woher kommt es
denn, daß sinngleiche Wörter so häufig ähnliche Lautgestalt zeigen? Warum
steht zupfen neben rupfen? Weil zupfen aus einer assoziativen Verschmelzung
von ziehen und rupfen hervorgegangen ist, ebenso etwa schwanken aus der
von schweben und wanken. Die sachlichen Anlässe dieses assoziativen Spiels
kann nur die Kulturgeschichte aufdecken, die Formen, in denen es sich voll¬
zieht, nur die Psychologie. Sprachwandel ist Wandel des Denkens. Sprach¬
forschung ist psychologisch fundierte Geistesgeschichte.
Es verrät ein unerschöpfliches psychologisches Feingefühl, wie Rogge diesen
Gedanken durch alle Kategorien der historischen Grammatik abwandelt und
dabei häufig die Gebräuche der lebenden Alltagssprache heranzieht. Ich habe
nie ein geistvolleres linguistisches Buch gelesen. Seine Gesichtspunkte — sie
sind nur im Allerwichtigsten angedeutet worden —, sind, so sicher sie die
offene Ketzerei darstellen, nicht durchaus neu. Rogge setzt sich eingehend mit
so bedeutenden Philologen wie Schuchhardt, Noreen, Vossler auseinander, mit
denen er sich vielfach berührt. Indem er die Angleichung zum Grundcharakter
des Sprachlebens erhebt, verbindlich für die Urzeit wie für die kontrollier¬
baren Geschichtsepochen, gelangt er zu einer radikalen, umfassenden Um¬
stellung. Lautgesetze sinken zur glücklichen Statistik gleichartiger Fälle von
unbewußter Analogie herab, die der psychologischen Durchleuchtung erst noch
bedürfen. Eine Unmenge von Beispielen und glänzenden Apercus belegt, daß
auch die Veränderung des Akzents, der Eigennamen oder etwa die Einführung
der Zeitformen in der Konjugation auf solcher Angleichung beruhen könnten.
Der geltende Begriff der Flexion, die Einteilung der Wortklassen fallen vor
dieser Betrachtungsweise dahin.
Rogg e verteidigt, wohl mit Recht, nicht jede seiner kühnen Kombinationen,
wohl aber das Prinzip. Wenn es richtig ist, dann schließt sich die Sprach¬
forschung als eine unabsehbare Domäne jenen Erscheinungen an, die Freud
7Ul . rst in der „Psychopathologie des Alltagslebens“ untersucht hat. Das Material,
Zs Jogge aus der indogermanischen Grammatik vorlegt, yord zur großartigen,
weltgeschichtlichen IUustration der dort umschriebenen Psychologie und
Sprachforschung zu ihrem legitimen Arbeitsgebiet.
Schmitz. Oskar A. H.: Märchen aus dem Unkewußten. Mit
einem Vorwort von C. G. Jung. München, Carl Hanser Verlag, i 9 3 a.
221 Seiten.
„Nach der Jungschen Lehre ist das persönliche Unbewußte des Menschen,
das Freud zuerst erforscht hat, in ein viel tieferes kollektives Unbewußtes ein-
oet.nicht und gehört zu ihm, so wie unsere bewußte Person ein Teil der äußeren
Kollektivität ist“, heißt es im Vorwort zu einem der drei Märchen. In den
leihst ▼ersucht der kürzlich verstorbene Autor etwas wie einen gefuhls-
gen Beweis für die Existenz dieses kollektiven Unbewußten, wie Jung es
h hrt. Er beruft sich auf die Wirkung des Beginnes eines der Märchen auf
literarisch erfahrene Personen. Seine Sekretärin z. B. habe danach die Nacht
schlecht geschlafen vor Unruhe, wie die Geschichte weiterginge. Und daß das
Märchen so wirke, ohne verstanden worden zu sein — es stammt aus Einfällen, die
wie frei dem absichtslos sich ihnen hingebenden Autor kamen, durfte also auf
Verständnis nicht gefaßt sein —, daß es also so wirkte, lasse sich uns dadurch
erklären, „daß hier Vorgänge des kollektiven Unbewußten so weit ins Helle
oder wenigstens in die Dämmerung gerückt wurden, daß darin allgemeine,
viele angehende und von manchen schon geahnte un- und vorbewußte Zeit¬
probleme berührt worden sind“. Aber die Wirkung — sie war auf den Referenten
nicht sehr stark und hat seinen Schlaf nicht zu stören vermocht — bedarf zu
ihrer Erklärung nicht eines kollektiven Unbewußten. Es genügt, Freuds Aufsatz
über „Das Unheimliche“ zu kennen und man weiß, woher sie kommt. Die
Märchen strotzen von Sexual-, besonders Kastrationssymbolen. Das Großteil der
unheimlichen Wirkung ist ihrer Verwendung unter animistischen Bedingungen
zuzuschreiben. C. G. Jung versucht in seinem Vorwort zu dem Büchlein, vor¬
sichtig im Urteil über seinen literarischen Gehalt, eine Deutung des ersten
Märchens als eines rührenden und bescheidenen Ausdrucks einer alles ergreifenden
und verwandelnden Initiation. Man kann leicht finden, daß dies der ober¬
flächlichste Gehalt des Märchens ist, prospektiv gedeutet und anagogisch hervor¬
gehoben. Sein weit stärkerer Erlebnisgehalt liegt in der tragischen Entthronung
des Vaters in Gestalt eines Königs, dem die drei letzten Fische entschwimmen
und dessen Thron ein Fischotter einnimmt, durch einen langen, auffälligen
Schwanz nach einer beigegebenen Zeichnung Kubins gekennzeichnet. — Der
literarische Wert der Produktionen leidet durch den Versuch, das kollektive
Unbewußte deutlich werden zu lassen. Man merkt diese Absicht und sie ver¬
schüttet durch ihre Gewaltsamkeit an vielen Stellen die Wirkung, die unter
einfacherer Klarheit möglich gewesen wäre.
R. Sterba (Wien)
1 4 *
Besprechungen
iSiekert, Karl: Fehlleistung und Traum. (Neue Wege wissenschaft¬
licher Traumdeutung.) Wien u. Leipzig, W. Braumüller, ig3a. VIII u.
179 /Seiten.
Hier wird wieder einmal dem Unbewußten die Sinnhaltigkeit abgesprochen:
Man „beweist“, Unbewußtes sei lediglich „undiszipliniert“, indem man das
Entstehen von Fehlleistungen und Träumen — aus den Unvollkommenheiten
der psychischen Funktionen (mangelnde Aufmerksamkeit, Unklarheit der Willens¬
entschlüsse, Ausschaltung der Urteilsfähigkeit usw.) ableitet. Warum der Autor
nicht merkt, daß er die Armut mit der Pauvrete erklärt und sich damit in
grotesker Weise um das eigentliche Problem herumdrückt, verrät er uns sehr
hübsch in einer seiner „Traumanalysen“ :
„Ich befinde mich in einem Universitätshörsaal in München und habe den
Eindruck der Vorlesung eines mir bekannten Professors, des Saales und der Studenten,
so zuie ihn mir damals alltäglich die Wirklichkeit bot . Plötzlich höre ich einige
Studenten vor der Tür pfeifen. Ich gehe darauf zur Türe und schließe sie . Ich
bemerke hier, daß diesem Traum kein wirkliches Erlebnis entsprach. Das
einzige von wirklichen Erlebnissen, woran bei diesem Traum zu denken war,
war eine Bemerkung Freuds, die ich in seinen „Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse gelesen hatte. Er verglich dort störende Studenten vor
dem Hörsaal mit den andrängenden Komplexen. Wie der gewöhnliche Mensch
andrängende Komplexe einfach verdrängt, so würde auch der Naive die Türe
vor den lärmenden Studenten zusperren, ohne davon einen Erfolg zu haben,
statt hinauszugehen und mit ihnen zu verhandeln . . .“ G. Bai ly (Zürich)
Velikovsky, Immanuel: Uter die Energetik der Psycke und die
pkysikaliscke Existenz der Gedankenwelt. JMit Geleitwort von
E. Bleuler. Bd. i 33 , Heft 3 und 4 der .Zscfir. f. d. ges. Fleurologie u.
Psydiiatrie. Berlin ig 3 i.
Eine weltanschauliche Betrachtung, die die parapsychischen Phänomen mit
Hilfe des Energiebegriffes unserem Verständnisse näherbringen will. Der Ver¬
fasser betont die gemeinsame physikalische Natur der Gedanken als Energie
und der Körper als materialisierte Energie. Die Telepathie hält er für experi¬
mentell bewiesen und versucht, durch sie auch die Erscheinungen des physika¬
lischen Mediumismus zu erklären. Die Psychoanalyse wird nicht erwähnt, wenn
auch vom „Unterbewußtsein die Rede ist. Manche Gedankengänge des Autors
berühren sich mit Annahmen der Tiefenpsychologie. A. Winterstein (Wien)
Vergin, Fedor: Das unt ewu^te Europa. Psychoanalyse der europäischen
Politik. V^ien u. Leipzig, Hei} & Co. Verlag, 1931 . 3 f 3 /Seiten.
Der Verfasser behandelt eines der interessantesten und aktuellsten Themen
analytischer Sozialpsychologie. Die neugierige Erwartung des Lesers wird noch
erhöht, wenn er außer vom Titel auch noch vom Inhaltsverzeichnis Kenntnis
Besprechungen
43
nimmt . Militarismus, Monarchismus, religiöse Politik, Parlamentarismus, deutscher
V or „„d Xachkriegsnationalismus, Nationalismus anderer Volker, Zionismus,
Faneuropa, Bolschewismus, Sozialismus sollen auf ihre verborgenen psychisc en
■ünde hin untersucht werden. Die Analyse Mussolinis, Poincares, Mac-
tl imIiF. Masaryks und noch eine Reihe anderer Politiker wird uns versprochen
und in einem Schlußkapitel „Prognose und Therapie“ soll ein Ausweg aus
allen politischen Schwierigkeiten gezeigt werden.
Wie geht der Verfasser vor? Er beginnt mit einer ganz richtigen Feststellung.
„Da die Politik sich mit Menschen beschäftigt, ist es wichtig, in Erwägung zu
lifthtm. inwieweit die Psyche des Menschen in der Politik entscheidend wirkt
Anschließend an diesen Satz überrascht er uns mit einer fulminanten
taDnog: „Pur die Politik ist fast alles aus den Lehren der Psychoanalyse
bcde hl wissenschaftlich, also theoretisch, als auch praktisch wird
die Politik gänzlich umlernen müssen, sowie die Psychoanalyse in die politische
Betrachtungsweise Einsang gefunden hat. Dies ist in diesem Buch auf verkürzter
Basis geschehen“ (S. 12). Und weiter: „Seele, im Sinne der Psychoanalyse,
bedeutet die Summe der Kräfte, die den lebenden Zellen des menschlichen
(Jesamtorganismus entstammen und die sich durch Symptome allein kundgeben" (!)
S. 1 -j . Nachdem noch einige mit ähnlichem psychologischen Tiefsinn angefüllte
Seiten folgen, kommt der Autor zu einem Versuch, etwas über die Methode
seiner Untersuchung zu sagen. Er unterscheidet „äußere Einflüsse und Bedin¬
gungen“, die „durch die Wirtschaftsform für jeden und alle gegeben sind“ und
andrerseits die ebenso „hart fixierte und gesetzmäßig gegebene“ psychische Ein¬
stellung. Der Verfasser erhebt die Forderung, daß „die politischen Erscheinungen
in ihren übertriebenen Symptomen als seelisch krankhaft erkannt und anerkannt
werden. Weiters müßte das politische Leben von seelisch Todkranken, wie
von körperlich Schwerkranken befreit werden“ (S. 17). V. kommt dann kurz
auf die Rolle wirtschaftlicher Faktoren zu sprechen. Er sagt: „Von Wichtig¬
keit bei dieser Beurteilung sind allerdings alle rein materiellen, rein wirtschaft¬
lichen Ursachen. Diese wurden, wenn auch vielfach stillschweigend, in Rechnung
gestellt“ (S. 17). V. verrät uns dann weiter, was er sich unter den „wirtschaft¬
lichen Ursachen“ vorstellt. Er versteht darunter die „Propaganda des Geldes“,
die Finanzierung der Politik durch das internationale Kapital, und die einzige
Quelle, die er für die Frage der wirtschaftlichen Ursachen der Politik angibt,
ist das Buch von Lewinsohn-Morus. Auf den nächsten Seiten seiner Einleitung
spricht V. von den Idealen, hinter denen die Kraft des Triebes stehe und die
daher zu gefährlichen, meist todbringenden Waffen werden. Weiter über Massen¬
wahn und über Rechtsgefühl. Soweit in diesen Bemerkungen über Rechtsgefühl
Richtiges enthalten ist, ist es schon in der Arbeit von Alexander und Staub
über den Verbrecher und seine Richter zu lesen.
Durch diese Einleitung vorbereitet, kann der Leser durch das nun Folgende
kaum noch sehr erschreckt werden. Da es nicht möglich ist, zusammenhängend
den Inhalt anzugeben, begnügen wir uns damit, aus einigen Kapiteln heraus¬
gegriffene Stellen zu zitieren, ziemlich gleich aus welchen, man trifft überall
auf die gleiche Methode und das gleiche Niveau. Hatten wir bisher gedacht,
*44
Besprechungen
Manöver dienten dem Zweck der militärischen Ausbildung der Truppe, so
belehrt uns V. auf Seite 32, daß ihre Zwecke magische Amtshandlungen seien.
Über seine Meinung von den in der Politik wirksamen Kräften gibt der
Verfasser folgende Auskunft: „Seine (Mussolinis) Symptome sind von schicksals¬
schwerer Bedeutung für das Leben und Wohlergehen von Millionen Europäern.
Bricht durch einen verhältnismäßig winzigen Umstand bei Mussolini eine neue
Phase seiner Neurose aus, so ist der Friede gefährdet . . .“ (S. 180). Es wundert
uns auch nicht, wenn erklärt wird: „Der Nachahmungstrieb bewirkte eine
faszistische Welle über halb Europa“ (S. 191). Selbstverständlich erfahren wir
auch über den Bolschewismus ganz überraschende Dinge. Er ist „der moderne
Ersatz für die magische Kultform der alten Aramäer“.
Verfasser schließt mit einem „Vermächtnis w an „die künftigen Erforscher
der europäischen Wüste“. „So Ihr in einigen Jahrzehnten die europäische Wüste
durchforscht, nachdem die Giftgase des letzten Krieges sich zersetzt haben, und
findet dies Büchlein, wisset, daß die Europäer sich selbst zugrunde gerichtet
haben, daß sie sich mit allen Mitteln der Wissenschaft einfach, praktisch und
realistisch gegenseitig ausgerottet haben“ (S. 342). Referent fürchtet, daß, wenn
dieses Büchlein auf den Trümmern gefunden werden sollte, jene Gelehrten
tatsächlich keine große Meinung von den „Mitteln der Wissenschaft“ bekommen
werden.
Aber warum von diesem Buch überhaupt so ausführlich Notiz nehmen?
Zunächst einmal, weil es nötig ist, klar und deutlich zu erklären, daß es sich
hier nicht um das Werk eines Psychoanalytikers handelt, und zu verhindern,
daß die Psychoanalyse mit diesen „Theorien" belastet werde, sodann auch,
weil das Verginsche Buch uns sehr geeignet scheint, als Paradigma einer sozial¬
psychologischen Methode, wie sie nicht sein darf, zu dienen. Hätte V. die Ab¬
sicht gehabt, eine stark übertreibende und vergröbernde Parodie jener psycho¬
logischen Soziologie zu schreiben, wie sie auch von manchen analytischen
Autoren verwendet wird, die Absicht wäre ihm geglückt. Er zeigt bis zum
Extrem, wohin es führt, wenn man sozialpsychologische Erscheinungen nicht
mehr, wie dies der klassischen Methode der Freudschen Personalpsychologie
entspricht, aus der Einwirkung der Lebensbedingungen, d. h. aber bei der
Gesellschaft der sozialökonomischen Situation, auf die mitgebrachte Triebstruktur
erklärt, sondern wenn man durch wilde Analogien zwischen sozialpsychischen
und personalpsychischen Tatbeständen scheinbar analysiert, aber den Boden
völlig unter den Füßen verliert und sich auf einem Niveau bewegt, welches
etwa dem vergleichbar ist, wo Träume als Gesellschaftsspiel, ohne jede weitere
Kenntnis des Träumers oder auch nur seiner Einfälle „analysiert“ werden.
Sein negativer didaktischer Wert mag dem Buch also als Verdienst angerechnet
werden, wenngleich 343 Seiten für diesen Zweck etwas reichlich sind.
E. Fromm (Berlin)
\V lr machen luemit unsere Autoren auf folgende Bestimmungen aufmerksam :
Binnen einer einjährigen Sdiutzfrist vom Erscheinen jeder Arbeit an geredinet, kann über die
betreffenden Verlagsrechte (Wiederabdruck und Übersetzungen) nur mit Genehmigung des Verlages
verfügt werden. Es steht jedoch auf Grund eines generellen Übereinkommens, das wir mit dem „Inter¬
national Journal of Psydioanalysis getroffen haben, jedem Autor frei, ohne ausdrückliche Genehmigung
des Verlages der letztgenannten Zeitsdirift Rechte zur Übersetzung und zum Wiederabdruck ein-
zuräumen.
Ansudien um die Genehmigung einer Wiederveroffentlichung oder Übersetzung in einem anderen
Organ müßten zugleich mit Übersendung des Manuskriptes gestellt werden, um Berücksichtigung finden
zu können.
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Zeidinungen und Tabellen sollen auf das unbedingt notwendige Mal) besdiränkt sein. Die Zeichnungen
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Streichungen, Umstellungen während der Druckkorrektur verursadit werden, werden vom Autorenhonorar
in Abzug gebradit.
6 ) Mehr als i 5 Separata werden nur auf ausdrücklidien Wunsch und auf Kosten des Autors
angefertigt. Die Kosten (clnsdiliefjlidi Porto der Zusendung der Separata) betragen für Beiträge
bis
8 Seiten für
2 Ö Exemplare
Mark i5. —, für 5o Exemplare
Mark 20 .—
von 9
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Mehr als 5 o Separata werden nicht angefertigt.
Preis des Heftes M_ark 6 .—, Jahresabonnement M.ark 22.—
Jährlich 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa 56o Seiten
Einbanddecken zu dem abgesddossenen XVIII. Band (19S2) sowie zu allen früheren Jahr¬
gängen: in Halbleinen Mark 2. So, in Halbleder Mark S .—
Bei Adressenänderungen
bitten wir freundlich, audi den bisherigen Wohnort bekanntzugeben, denn die Abonnentenkartei wird
nadi dem Ort und nidit nach dem Namen geführt.
IMAGO, Band XIX (i 9 33 ), Heit i
(Ausgegeben im Februar 1933)
Seite
Helene Deutsch: Mütterlichkeit und Sexualität .
Ludwig Jekels: Das Problem der doppelten Motivgestaltung
5
*7
Max Levy-Suhl: Über die frühkindliche Sexualität des Menschen im Vergleich mit
der Geschlechtsreife bei Säugetieren... 27
Hans Kelsen: Die platonische Liebe I. 34
Walter Muschg: Dichtung als archaisches Erbe. gg
MITTEILUNGEN
Imre Hermann: Zum Triebleben der Primaten. Bemerkungen zu S. Zuckerman: Social
life of monkeys and apes.113
BESPRECHUNGEN
Aus der psychoanalytischen Literatur: Bernfeld: Der Begriff der Deutung in der Psychoanalyse
(Gero) 126. — Schjelderup: Über die drei Haupttypen der religiösen Erlebnisformen und ihre psycho¬
logische Grundlage (Müller-Braunschweig) 131.
Aus der Literatur der Grenzgebiete: Alverdes: Die Tierpsychologie in ihren Beziehungen
zur Psychologie des Menschen (Hermann) 132. — Bericht über den XII. Kongreß der Deutschen Gesell¬
schaft für Psychologie in Hamburg (Meng) 133. — Dorer: Historische Grundlagen der Psychoanalyse
(Hartmann) 135. — Herbert: The Unconscious in Life and Art (Fenichel) 137. — Kobler: Der Weg des
Menschen vom Links- zum Rechtshänder (Isakower) 138. — Le Bon: Psychologie der Massen (Schott -
laender) 138. — Licht: Sexual Life in Ancient Greece (E. J.) 138. — Rogge: Der Notstand der heutigen
Sprachwissenschaft (Muschg) 139. — Schmitz: Märchen aus dem Unbewußten (Sterba) 141. — Siebert:
Fehlleistung und Traum (Bally) 142. —Velikovsky: Über die Energetik der Psyche und die physikalische
Existenz der Gedankenwelt (TVinterstein) 142. — Vergin: Das unbewußte Europa (Fromm) 142.
FRAU DR. HELENE DEUTSCH , Wollzelle 33 , Wien I
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DR. WALTER MUSCHG, Privatdozent an der Universität Zu ricli, Wlttelikerweg 18,
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