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Full text of "Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen XIX 1933 Heft 1"

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XIX. Band 


Heft 1 


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33 


IMAGO 

Zeitschrift für psychoanalytische Rychologie 
ihre Grenzgebiete und Anwendungen 

Offizielles Organ der Internationalen Psydioanaly tischen Vereinigung 

Herausgegeben von 

iSigm. Freud 

Redigiert von Ernst Kxis und Robert Wälder 


Hel ene Deutsch . 
Ludwig Jekels . . 
Max Levy- Suh\ 

Hans Kelsen . . . 
Walter ALuschg . 
Imre Hermann . 


jMLütterlichkeit und Sexualität 
Das Problem der doppelten A4otivgestaltung 
Uber die frühkindliche Sexualität des jMLenschen im 
Vergleich mit der Geschlechtsreife bei Säugetieren 
Die platonische Liebe I 
Dichtung als archaisches Erbe 
Zum Triebleben der Primaten 
Besprechungen 















Soeben erschien: 

SIGM. FREUD 


NEUE FOLGE 

DER 

VORLESUNGEN 

ZUR 

EINFÜHRUNG 

IN DIE 


PSYCHOANALYSE 


In Leinen 7 JVtark 


INHALT: 

Xorwort 

XXIX. Revision der Traumlelire 

XXX. Traum und Okkult j sm us 

XXXI, Die Zerlegung der psyditsdien Persönlidikeit 
XXXII. Angst und Trieblehen 
XXXIII. Die Weiblichkeit 

XXXIV. Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen 
XXXV. über eine Weltanschauung 


INTERNATIONALER 

PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN 



IMAGO 

XIX. BAND 
19 33 







INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 











IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYTISCHE 
PSYCHOLOGIE, IHRE GRENZGEBIETE UND 
ANWENDUNGEN 


HERAUSGEGEBEN VON 

SIGM. FREUD 


REDIGIERT VON 

ERNST KRIS UND ROBERT WÄLDER 


XIX. BAND 
(i 9 33) 


INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER 
VERLAG IN WIEN 







Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung, 
Vorbehalten 
* 

Copyright 1935 

by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 
Ges. m. b. H.“, Wien I 


Druck: Christoph Reisser’s Söhne, Wien V 












IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOLOGIE, 
IHRE GRENZGEBIETE UND ANWENDUNGEN 

XIX. Band 1933 Heft 1 


.Mütterlichkeit und Sexualität 

Von 

Helene D eutsck 

Wien 

Die uns bekannten Quellen der Sexualhemmung stammen aus dem 
Kastrationskomplex und dem Ödipuskomplex; das gilt für den Mann ebenso 
wie für das Weib. Das Wort „Sexualhemmung“ soll hier den Zustand be¬ 
zeichnen, der nicht mit neurotischen Symptombildungen einhergeht und 
der die erschwerte Sexualbefriedigung, beziehungsweise eine ganz gestörte 
oder eingeschränkte Liebesfähigkeit beinhaltet. Diese Hemmung kann ver¬ 
schiedene Grade und Formen annehmen, angefangen von völliger Unfähigkeit 
den Sexualtrieb zu befriedigen, ja ihn sogar überhaupt als bewußten Drang und 
als Sehnsucht zu empfinden, bis zu jenen Formen, in denen Empfindungs-und 
Befriedigungsmöglichkeit wohl vorhanden sind, aber nur unter bestimmten 
mehr oder weniger einengenden Bedingungen. Als Beispiel sei hier nur an 
die so häufige Bedingung des erniedrigten Objektes beim Manne erinnert. 

Es liegt nicht im Plane dieser Arbeit, von verschiedenen Formen der 
weiblichen Frigidität zu sprechen. Diese deckt sich in ihren unbewußten 
Determinanten weitgehend mit der Impotenz des Mannes, hat ihre Quelle 
auch in den Schicksalen des Kastrations- und Ödipuskomplexes; ihr häufigstes 
Motiv ist der Protest gegen die weibliche passive Rolle, also jener Teil des 
weiblichen Kastrationskomplexes, den wir Männlichkeitskomplex nennen. 
Ich bin geneigt, die Tatsache der besonderen Verbreitung der Frigidität auf 
die masochistischen Strebun gen der weiblichen Libido zurückzuführen. Die 

1) Aus einem Kuijs über die seelische Entwicklung des Weibes. (Lehrinstitut der 

lener Psychoanalytischen Vereinigung im Sommersemester 1932.) 










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Helene Deutsch 


Angst vor der masochistischen Befriedigung und die Möglichkeit ihrer subli- 
mierenden Befriedigung in der Mütterlichkeit führt die weibliche Sexualität 
häufig von der normalen Befriedigungsform ab. 1 

Wenn sich diese Annahme als richtig erweisen sollte, so müßte man 
die Mütterlichkeit in eine feindliche Konkurrenz zur Sexual Befriedigung 
bringen und sich dadurch in Widerspruch zu anderweitigen vollkommen 
gesicherten Erfahrungen setzen. Wissen wir doch aus den Analysen neuroti¬ 
scher Frauen und Mädchen, wie sehr die neurotische Verleugnung der 
weiblich-libidinösen Einstellung gleichzeitig auch mit einer gestörten Bereit¬ 
schaft zur Mutterschaft einhergeht. Ja, die Erfahrung lehrt uns immer 
wieder, wie häufig die Sterilität denselben Quellen wie die Frigidität ent¬ 
springt und wir erleben oft mit großer Genugtuung, wie die analytische 
Kur die Konzeptionsbereitschaft ermöglicht und wie sich dann auch das 
vorher gestörte Sexualempfinden einstellt, wenn auch häufig erst später als 
die Konzeptionsbereitschaft. 

Sexualbejahung und Mütterlichkeit fallen aber nicht immer zusammen; 
die Loslösung der beiden voneinander kann verschiedene Grade annehmen 
und zu Bedingungen im Liebesieben führen, denen wir einen neurotischen 
Charakter zusprechen müssen. Es gibt hier eine Parallele zur schon erwähnten 
Spaltung des Liebesieben beim Manne, zu jener Liebesbedingung, bei der 
das keusche, treue Weib als Sexualobjekt abgelehnt wird und nur das an¬ 
rüchige, dirnenhafte Weib den Sexualreiz ausüben kann. Freud hat diesen 
Typus und seine verschiedenen Varianten beschrieben und seine Bedingtheit 
durch den Ödipuskomplex aufgedeckt. Aus dem Gegensatzpaar „Mutter 
und „ Dirne w wird durch das Tabugebot nur die Dirne als Sexualobjekt 
akzeptiert und die Mutter ausgeschlossen. Die Analyse deckt dann auf, daß 
diese im Bewußtsein vorgenommene Spaltung in tieferen Schichten des 
Unbewußten dadurch zu einer Einheit zusammenfällt, daß die Mutter selbst 
einmal der Untreue beschuldigt und durch die Entdeckung des sexuellen Ge¬ 
heimnisses entwertet wurde. 

Diese Art der Spaltung beim Manne hat wohl eine Parallele im weib¬ 
lichen Liebesieben, aber mit der Variante, daß hier dem eigenen Ich zukommt, 
was dort am Objekte vollzogen wird. Man ist dann „Mutter“ oder „Dirne 
und der ganze innere Konflikt stellt den Kampf zwischen den zwei scheinbar 
entgegengesetzten Strömungen dar, die auch hier letzten Endes in die Einheit 
der entwerteten Mutter zusammenfließen. 

i) Vgl. H. Deutsch: Der feminine Masochismus und seine Beziehung zur Fri¬ 

gidität. Int. Ztschr. f. PsA., XVI, S. 172 ff., 1930. 














Mütterlichkeit und «Sexualität / 


Die Formel für diesen unbewußten Gedanken lautet etwa: „Meine Mutter 
wurde für mich durch die Aufdeckung ihrer Rolle als Sexualobjekt niedrig 
und schmutzig. Bin ich so wie die Mutter, d. h. identifiziere ich mich 
mit ihr, so bin ich genau so wie sie, schmutzig und niedrig, d. h. eine 
Dirne.“ 

Aus dem Drang zur Identifizierung mit der Mutter sowie auch aus einer 
entgegengesetzten Tendenz, d. h. aus dem Nicht-so-wie-die-Mutter-sein- 
wollen, ergibt sich eine große Anzahl seelischer Konstellationen, die wir 
nun besprechen wollen. 

Gehen wir zunächst von der präödipalen Mutterbeziehung und ihrer 
Bedeutung für das spätere Leben des Mädchens aus. Den Gedankengängen 
Freuds folgend, dürfen wir von einer Identifizierung mit der aktiven 
Mutter sprechen, die noch ganz außerhalb des Ödipuskomplexes steht. In 
dieser Identifizierung trachtet das Kind selbst die Mutterrolle zu übernehmen 
und schiebt dabei seine eigene Kindesrolle auf ein anderes Objekt, etwa 
auf ein jüngeres Geschwister, auf die Puppe oder auf einen Erwachsenen, 
der sich im Spiele zur Übernahme dieser Rolle bereit findet. In diesem 
Spiele läßt das Kind den anderen das erleiden und genießen, was es von 
der Mutter erlitten oder genossen hat, oder verrät seine unerfüllten Wünsche, 
indem es das phantasierte Kind das erleben läßt, was es selbst bei der 
Mutter entbehrt hat. Findet dieses Spiel dadurch seine Fortsetzung im 
späteren Leben, daß die ursprüngliche passive und aktive Rolle in der 
Mutter-Kind-Beziehung libidinös festgehalten wird, so verläuft es unter dem 
Bilde der Homosexualität. In den Analysen weiblicher Homosexueller kommt 
man immer auf die präödipalen libidinösen Komponenten der Mutter-Kind- 
Beziehung zurück, wenn man auch in der Regel — wenigstens bei den 
Fällen, die ich analysiert habe — finden kann, daß das an die Mutter so 
hartnäckig gebundene weibliche Wesen in der Kindheit einen regelrechten, 
manchmal sogar besonders stark ausgebildeten Ödipuskomplex entwickelt 
hatte. Meist sind es eben Schwierigkeiten, die sich aus dem Ödipuskomplex 
ergeben, die das kleine Mädchen zur Rückkehr in die präödipale Mutter¬ 
beziehung drängen. 

Doch soll hier die weibliche Homosexualität nicht weiter erörtert werden ; x 
es sei an dieser Stelle nur betont, daß sie eine der Formen ist, in der die 
präödipale Mutterbeziehung ihre Fortsetzung findet. Obwohl wir, wie oben 
erwähnt, auch hier die Rolle aufdecken können, die der Vater im libidi- 

i) Vgl. H. Deutsch: Über die weibliche Homosexualität. Int. Ztschr. f. PsA., 
XVIII, S. 219 ff., 1932. 












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Helene Deutsch 


nösen Haushalt gespielt hat, so ist diese Situation letzten Endes eine sozu¬ 
sagen mannlose und die Rollenbesetzung in den libidinösen Beziehungen 
bezieht sich auf die Mutter und das Kind mit Verleugnung des Mannes. 

Diese Verleugnung des Mannes kann verschiedene Quellen haben und zu 
verschiedenen Konsequenzen führen. 

Unter den Identifizierungsmöglichkeiten mit der Mutter ist uns in der 
analytischen Arbeit die geläufigste die, die zur normalen weiblichen Ein¬ 
stellung führt. Das kleine Mädchen will so wie die Mutter vom Vater geliebt 
werden und wie die Mutter vom Vater ein Kind bekommen (passive Identi¬ 
fizierung). Das spätere Leben kann ihr eine volle Erfüllung dieses Wunsches 
unter der Voraussetzung bringen, daß sie das infantile Objekt, den Vater, 
zugunsten eines anderen Mannes aufgibt. Gelingt ihr dies nicht, so gerät 
sie in neurotische Schwierigkeiten, zu denen unter anderen auch Erschwe¬ 
rungen der Konzeption, der Schwangerschaft und des Gebärens gehören. 
Statt einer gelungenen Identifizierung mit der Mutter entwickelt sich im 
kleinen Mädchen ein gehässiges Rivalitätsverhältnis, dessen Folge schweres 
Schuldgefühl sein kann. Unter dem Drucke dieses Schuldgefühles verzichtet 
sie auch im späteren Leben auf die mütterliche Rolle, um sie durch Sym¬ 
ptome zu ersetzen, die den Wunsch und seine Unerfüllbarkeit verraten. Einer 
anderen Entwicklungsmöglichkeit entspricht es, daß die Identifizierung mit 
der Mutter aufrecht erhalten, die Erzeugung des Kindes im Phantasieleben 
bejaht und nur das Eingreifen des Mannes verleugnet wird. Das Mädchen 
will Mutter werden und das Kind besitzen, aber in unbefleckter Empfängnis, 
von sich selbst, parthenogenetisch. Ich habe solche Wunschphantasien an anderer 
Stelle beschrieben, 1 doch habe ich zu jener Zeit nur eine Determinante 
dieser Phantasien, die aus dem Männlichkeitskomplex stammende, ver¬ 
standen; ihre Formel lautet: „Ich besitze ein Kind aus mir selbst. Ich bin 
ihm Mutter und Vater. Ich brauche und will keinen Mann zur Zeugung 
meines Kindes .“ Diese Phantasie enthält, wie ich damals zu beweisen ver¬ 
suchte, Wunscherfüllungen nach mehreren Richtungen und verrät durch 
viele Determinanten die Einflüsse des Ödipuskomplexes, indem sie unter 
anderem dadurch der Entlastung des Schuldgefühles dient, daß sie die 
Herkunft des Kindes vom Vater ableugnet. Ihre wichtigste Komponente 
aber lautet: „Was der Mann tun kann, kann ich auch“, und setzt direkt 
an die Stelle des verlorengegangenen Penis eine andere Vergrößerung des 
körperlichen Ichs durch das selbst erzeugte Kind. 

1) H. Deutsch: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen. S. 33 ff. lut. PsA. 
Verlag, Wien 1925. 































Mütterlichkeit und Sexualität 9 


Was ich aber damals in der Auffassung dieser Phantasie vernachlässigt 
habe, möchte ich heute nachholen, denn es gehört zum Thema der Mutter- 
Kind-Beziehung. Unter diesem Gesichtspunkt wird diese Phantasie eine 
Variante der früher erwähnten Fortsetzung der Mutter-Kind-Beziehung in 
der Homosexualität sein. Der störende Mann soll aus dieser Beziehung aus¬ 
geschaltet werden und an dem in der Phantasie selbst geborenen Kind wird, 
wie einst im Puppenspiel, die aktive Rolle der Mutter in der Identifizierung 
fortgesetzt. Auch die ursprüngliche hohe Bewertung der Mutter aber lebt 
hier wieder auf. Diese Phantasie wird zur Expiation der Mutter verwendet; 
sie ist ein Gegenpartner der Dirnenphantasie und eine Variante des Familien- 
romanes, und zwar jenes Teiles des Familienromanes, der besagt: „ich bin 
nicht meiner Mutter Kind, denn meine Mutter macht solche Sachen nicht“. 
Auch in der parthenogenetischen Phantasie macht die Mutter „solche Sachen“ 
nicht, sie hat das Kind nicht nur selbst geboren, sondern auch selbst erzeugt, 
im Gegensatz zum Familienroman, in dem die Mutter nicht geboren hat. 
Die parthenogenetische Phantasie entspricht jener Sehnsucht des männlichen 
und des weiblichen Kindes, aus der auch der Mythos von der unbefleckten 
Empfängnis entstanden ist. Beim Weibe handelt es sich hier also um die 
Identifizierung mit der unbefleckten Mutter, deren Mütterlichkeit im eigenen 
Ich fortgesetzt wird, aber unter Verleugnung der Sexualität, wie diese denn auch 
bei der Mutter verleugnet worden ist. So sehen wir hier wieder eine Möglichkeit 
im Weibe, die Mütterlichkeit zu bejahen, die Sexualität aber zu verleugnen. 

Wir wollen nun zusammenfassend überblicken, auf welchen Wegen das 
Weib zur Bejahung der Mütterlichkeit unter gleichzeitiger Verleugnung 
der normalen Sexualität gelangen kann. 

Der eine führt auf den Spuren der präödipalen Mutter-Kind-Beziehung 
weiter, die ganze in der Identifizierung mit der Mutter verankerte mütter¬ 
liche Libido strömt einem gleichgeschlechtlichen Wesen zu und die Rolle 
des Mannes im libidinösen Haushalt wird zu Null reduziert. 

Die zweite Entwicklungsmöglichkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß 
die starken, in der weiblichen Libido durchwegs vorherrschenden masochi¬ 
stischen Tendenzen so viel Befriedigung in der Mütterlichkeit, im Schicksal 
der „Mater dolorosa finden, daß die Bedeutung der direkten Sexualbefrie¬ 
digung dadurch zurücktritt. 1 

Die dritte Form der Mütterlichkeit ist die oben beschriebene, die par- 
thenogenetische, in ihren verschieden en Varianten. Auch diese letzte Kon- 

1) Vgl. H. Deutsch: Der feminine Masochismus und seine Beziehung- zur 

Frigidität. L. c. ö 













IO 


Helene DeutscJi 


stellation hat, wie paradox es auch klingen mag, starke Beziehungen zum 
Masochismus. Paradox deshalb, weil wir in ihr die starke Bedeutung des 
Männlichkeitskomplexes bereits kennen gelernt haben. Doch habe ich die 
Beobachtung gemacht, daß dort, wo das kleine Mädchen das Sexualerlebnis 
der Mutter besonders masochistisch auffaßt, auch die Verleugnung dieses 
mütterlichen Erlebnisses besonders stark einsetzt. In der Regel bewirkt es 
die besonders starke sadistische Komponente im Kinde selbst, daß der Koitus 
in diesem Sinne aufgefaßt wird. Das Erlebnis der Mutter ist dann ein be¬ 
sonders leidendes und die erniedrigte Situation der Mutter besonders er¬ 
niedrigt. Nunmehr wird entweder die Identifizierung mit der Mutter abge 
lehnt, oder die Rolle der Mutter als Sexualobjekt wird nach dem oben 
beschriebenen Mechanismus verleugnet und das Mädchen identifiziert sich 
mit der unsexuellen Mutter. Ist der passiv-weibliche Wunsch des kleinen 
Mädchens besonders masochistisch geartet, so wird aus Angst vor der gefahr¬ 
bringenden masochistischen Wunscherfüllung die Sexualität abgelehnt, der 
Wunsch des unsexuellen parthenogenetischen Kindes aber beibehalten. 

Dieser von der Sexualität abgespaltenen Mütterlichkeit begegnen wir m 
den Neurosen ebenso häufig wie in der Schicksalsgestaltung. Wir begegnen 
ihr in den eingangs besprochenen Spaltungsphänomenen, in denen in ein 
und demselben Individuum wohl beide Tendenzen vorhanden sind, ohne 
aber eine Symbiose miteinander eingehen zu können. Dabei kann im be¬ 
wußten Leben die eine oder die andere Komponente ganz vorherrschend 
sein und erst der Analyse gelingt es, die im Unbewußten verborgene zu 
entdecken. Was hier die mühevolle analytische Erfahrung aufzudecken 
vermag, hatte das intuitive Genie eines großen Künstlers erfaßt. Diese zwei 
entgegengesetzten Tendenzen der weiblichen Seele hatte Balzac in seinem 
Buche „Zwei Frauen“ meisterhaft gezeichnet. Zwei Frauen schildern in 
einem Briefwechsel ihre Erlebnisse. Sie sind Repräsentanten gegensätzlicher 
Typen; beide aber entdecken in der Belauschung der eigenen Seele die ver¬ 
borgene Sehnsucht nach dem andern, dem entgegengesetzten; diese Sehn¬ 
sucht legt Zeugenschaft dafür ab, daß das andere auch vorhanden, aber 
rudimentär und unterdrückt ist. Ja, es scheint, daß sich Balzac hier eines 
von Dichtern beliebten Mechanismus bedient, entgegengesetzte seelische 
Strömungen in zwei Gestalten zu zerlegen. Die beiden Frauen vertreten 
eigentlich eine Frau mit jenen gegensätzlichen Strömungen der weiblichen 
Seele, die auch dem normalen Seelenleben angehören. Erst das scharfe Über¬ 
wiegen einer der beiden Komponenten führt zu Komplikationen und neuro¬ 
tischen Schwierigkeiten. 



























JVIütterlicLkeit und Sexualität 


ll 


Baronin Louise de Macumere ist der Typus der Kurtisane, der Vestalin 
der Liebe, für die nur die heißen Leidenschaften der Erotik Lebenssinn 
enthalten. Ihre Freundin Renee de l’Estorade geht dagegen ganz in der 
Mutterschaft auf, auch in ihren Beziehungen zum Manne. Louise schreibt: 
„Beide sind wir Frauen, ich die seligste aller Liebesgöttinen, Du die glück¬ 
lichste der Mütter“ . . . „Es gibt nichts, was sich der Wollust der Liebe 
vergleichen ließe“ . . . „Du, meine Freundin, Du mußt mir die Mutterfreuden 
schildern, damit ich Mutter bin durch Dich 66 . 

Doch mitten drin in den Seligkeiten der Liebeserlebnisse erhebt sich 
in ihrer Seele der Schrei: „Eine kinderlose Frau ist eine Ungeheuerlichkeit, 
wir sind dazu geschaffen, Mütter zu sein 6 . . . „Auch ich will mich opfern 
können, und ich versinke jetzt häufg in düstere Gedanken: soll mich niemals 
ein zartes Geschöpf Mutter rufen? 

Doch dieser Schimmer der Mutterschaft erlischt bei Louise im Feuer der 
brennenden Liebeserlebnisse und sie selbst verbrennt in diesem Feuer, ohne 
je Weib im Sinne der Mutterschaft geworden zu sein. 

Die mütterliche Madame de l’Estorade dagegen schreibt: „Meine einzige 
Freude — und sie war himmlisch! — entsprang der Gewißheit, diesem 
armen Mann das Leben neu geschenkt zu haben, noch ehe ich es einem 
Kinde gab ! 66 (Also Mütterlichkeit auch in den Liebesbeziehungen zum 
Manne.) 

Das ganze Gefühlsleben dieser Frau war von Mutterschaft und Sehn¬ 
sucht nach dem Kinde erfüllt. In der Verleugnung der Sexualität kannte 
sie nie ein anderes Gefühl als das der Mütterlichkeit. Und doch schreibt 
sie ihrer erotischen Freundin: „Den Liebesfreuden, den Wonnen der Leiden¬ 
schaft, die ich ersehne und nur durch Dich fühle, den nächtlichen Posten 
auf dem Balkon im Schein der Sterne, den unbändigen Liebesergüssen und 
dem Begehren mußte ich entsagen . 66 

Wie in der erotischen Louise die Sehnsucht nach der Mütterlichkeit, so 
lauert in der tugendhaften Renee die Sehnsucht nach Liebeswonnen. Ja, 
sie verrät uns, daß trotz der asketischen Mutterschaft ein wütender Protest 
und Haß gegen das zu gebärende und neugeborene Kind entstehen kann; 
ein Haß, der in der Entsagung der erotischen Befriedigung, in der Ein¬ 
schränkung des eigenen auf die erotische Erfüllung wartenden Ichs seine 
Quellen hat. Die mütterliche Madame de l’Estorade trägt das Kind in ihrem 
Schoße und schreibt ihrer frivolen Freundin: „Mich aber hat die Ehe zur 
Mutter gemacht, und nun kommt das Glück auch zu mir 66 . . . Aber bald 
nachher: „Jeder spricht mir von dem Glück, Mutter zu werden! Ach, nur 











12 


Helen e D eutsdi 


ich allein spüre nichts davon , und ich schäme mich fast , Dir die ganze Fühl¬ 
losigkeit zu gestehen , in der ich mich befinde“ . . . „Ich möchte wissen , in 
welchem Augenblick das Mutter glück wirklich einsetzt? Lebwohl meine Glück¬ 
liche, Du , in der ich wiedererstehe und genieße jene betörenden Liebeswonnen , 
Eifersucht um eines Blickes willen , heimliches Wort ins Ohr geflüstert . . “ 

Also die Eine leidenschaftssehnsüchtige Mutter, die Andere mutterschafts¬ 
sehnsüchtige Vestalin der Liebe. Kein klinisches Beispiel könnte das Spal¬ 
tungsphänomen Mütterlichkeit und Erotik einleuchtender und packender 
schildern als es der Dichter in diesen zwei entgegengesetzten und sich er¬ 
gänzenden Typen gestaltet hat. 

Natürlich weiß ich nicht, aus welchen Quellen die hartnäckige Mütter¬ 
lichkeit der Madame de PEstorade stammt, ob aus der Identifizierung mit 
der präödipalen Mutter oder aus der Identifizierung mit der späteren Mutter, 
deren Sexualität sie an sich zu verleugnen versucht. 

Von meinen Patienten aber kann ich bestimmtere Aussagen machen. 
Sie waren in ihrer Verdrängung der Sexualität und in der Abspaltung der 
Mütterlichkeit radikaler. Madame de l’Estorade hatte — wenn auch sichtlich 
sexuell unempfindlich — doch Kinder geboren und ihre Mütterlichkeit an 
ihnen, ihren leiblichen Kindern, befriedigt. Die Frauen, von denen ich jetzt 
berichten will, bringen auch diese Lösung nicht zustande. Sie tragen ihre 
Mütterlichkeit anderen Objekten als den eigenen Kindern zu, den Kindern, 
die andere Frauen geboren haben, oder erwachsenen Personen, über die sie 
ihre mütterliche Obhut erstrecken; viele von ihnen wählen einen Beruf, 
in dem sie ihre Mütterlichkeit unterbringen. 

Eine meiner Patientinnen, eine deutsche Hebamme, hatte diesen für ihre 
Gesellschaftsklasse sonderbaren Beruf erwählt, um jedesmal von neuem ein 
Kind zu bekommen, — viele, viele Kinder, — je schwächer und obhut¬ 
bedürftiger, desto lieber. Bei ihr spielte die Entbindungsangst eine wichtige 
Rolle — sie mußte die Gefahrsituation der anderen Frau überlassen, um 
sich dann im Besitz des Kindes mit ihr zu identifizieren. 

Sie war in ihrem Berufe von grenzenloser Opferbereitschaft, eine hoch- 
qualifizierte, wissende Entbinderin, und kam durch folgende sonderbare 
Schwierigkeiten, die sich im Beruf einstellten, in die Analyse: „Ei ne Ent¬ 
bindung ist im Gange“ — war für sie ein Ruf zur Schlacht, zu der sie wie 
die alten Germanen mit einer großen Festlichkeit, allerdings in ihrem 
Innenleben, rüstete. Die Qualen der Entbindung, die die andere Frau 
durchmachte, waren für sie mit einem sonderbaren Gemisch von Angst 
und Freude verbunden. Der Moment der Austreibung des Kindes und das 
































Mütterlichkeit und Sexualität 


i3 


Übernehmen des Neugeborenen in die erste Pflege bildeten für sie ein 
ekstatisches Glückserlebnis. Keine Arbeit war ihr zu viel, keine schlaflose 
Nacht erschöpfend. Nur eines konnte sie nicht ertragen: daß der Akt der 
Entbindung im Kreise ihrer Wirkung ohne sie vor sich gehe. Da diese Be¬ 
dingung in einem Entbindungsheim nicht durchführbar war, verfiel sie in 
einen Zustand der Erregung und der Erschöpfung, der sie in die Analyse führte. 

Schon die Symptome sprechen eine deutliche Sprache. Ihr Beruf sollte 
sie von einem schweren Schuldgefühl der Mutter gegenüber befreien und 
aus der ursprünglichen Tötungsphantasie, nach der die Mutter und das 
neugeborene Kind der Mutter sterben sollten, stammt der Rettungswunsch. 
In ihren Kindheitsphantasien standen das Sterben und das Gebären sehr 
nahe aneinander; hörte sie doch schon damals bei den zahlreichen Ent¬ 
bindungen der Mutter, die sie als Kind miterlebte, von Schmerzen und 
Gefahren. Daher bekam auch ihre ganze Auffassung der weiblichen Rolle 
im Sexualakt einen tief masochistischen Charakter. Ihre eigenen masochi¬ 
stischen Wünsche hatten sich in der Pubertät in schweren blutrünstigen 
Vergewaltigungsphantasien bewußt manifestiert. Die Erfüllung dieser Phanta¬ 
sien hätte für ihr Ich solche Gefahren bedeutet, daß sie auf ihre Sexuali¬ 
tät vollkommen verzichtete und ihre Mütterlichkeit nur in der geschil¬ 
derten Weise erleben konnte. So stand ihre Berufswahl im Dienste zweier 
Herren: ihres Schuldgefühls und ihres Masochismus, den sie durch Identi¬ 
fizierung befriedigte. Ich bewahre eine Photographie, in der sie acht neu¬ 
geborene Kinder in ihren Armen hält — ein Sinnbild der Mütterlichkeit. 

Ich habe viele im Berufsleben stehende Frauen in der Analyse kennen¬ 
gelernt, die ihre wärmste intensivste Mütterlichkeit im Berufe unterbringen 
konnten, die aber die gleichzeitige Verleugnung der Sexualität der Mutter 
und ihrer eigenen Sexualität verhinderte, selbst Mütter zu werden. 

Ein Beispiel verirrter Mütterlichkeit möchte ich noch aus meiner Er¬ 
fahrung anführen: vielleicht wäre Balzacs Louise, hätten wir sie als Patientin 
kennen gelernt, diesem Falle ähnlich gewesen. Es handelt sich um eine 
Patientin, die die Behandlung wegen Nymphomanie aufgesucht hat. Seit 
ihrem fünfzehnten Lebensjahr gab sie sich jedem hergelaufenen Burschen 
hin, immer unbefriedigt, unglücklich, aber sonderbarer Weise trotz der 
sehr puritanischen Erziehung vollkommen reuelos. Aus dieser Kranken¬ 
geschichte soll hier nur einiges vorgebracht werden. Die Patientin wurde 
zweimal durch ihre Freunde, die sie vor dem Dirnenleben retten wollten, 
in solide Burgerehen gedrängt, die natürlich beide mit einem Mißerfolg 
endeten. Sie hatte nie Kinder gehabt, war konzeptionsunfähig und wünschte 









Helene Deutsdi 


auch keine Kinder. Die Worte „Mutterschaft“ und „Mütterlichkeit“ er¬ 
zeugten in ihr Abscheu und Widerwillen, der sich von da aus auf alle 
Worte mit der Endsilbe „schaft“ oder „keit“ ausdehnte: eine durchaus 
unmütterliche Frau. Und doch war sie, wenn ich hier gleichsam das 
Schlüsselwort der langen Analyse verrate, in ihrem Triebleben eben nur 
Mutter. Alle die jungen Burschen, denen sie sich hingab, waren ihre drei 
jüngeren Brüder, denen sie immer etwas geben wollte, die sie in ihre 
Arme aufzunehmen versuchte, um auf dem genitalen Wege in eine Einheit 
mit den kleinen Jungen einzugehen; dabei identifizierte sie sich mit der 
Mutter und nahm ihr zugleich die kleinen Kinder weg. 

Hier konnte man die Vorgänge der präödipalen Phase und eine uber¬ 
starke primäre Mutterbindung für den ganzen neurotischen Vorgang ver¬ 
antwortlich machen. Sechs Jahre lang war sie allein, ein ungemein ver¬ 
hätscheltes und geliebtes Mutterkind. Nach dem sechsten Lebensjahr mußte 
sie in rascher Folge dreimal die Schwangerschaften der Mutter und den 
Entzug der Mutterliebe zugunsten der Neugeborenen erleben. Dabei horte 
sie immer das Märchen von dem Kind unter dem Herzen und füllte ihre 
Seele mit grausamer Enttäuschung und Bitterkeit. Die Beziehung zwischen 
den kleinen Jungen und der Mutter hatte für sie einen libidinös-sexuellen 
Charakter und die Mutter-Kind-Einheit der Mutterleibs- und der Still¬ 
situation, in der sie als Kind eifersüchtig beide Rollen spielen wollte, sollte 
dann im späteren Leben genital befriedigt werden. Sie blieb frigid, weil 
der Inhalt ihrer Phantasien die Sexualität ausschloß, und ihr Schuldgefühl 
blieb dabei deshalb scheinbar so unberührt, weil sie durch das mütterliche 
Geben ihre Feindseligkeit gegen die kleinen Jungen verleugnete und ihr 
Schuldgefühl dadurch entlastete. 

Von dieser Patientin aus führt der Weg zu vielen seelischen Situationen, 
in denen die Mütterlichkeit entweder die Sexualität vollkommen verleugnet 
oder sie, wie in diesem Falle, zu ihren Zwecken benützt und somit die 
sexuelle Befriedigung hemmt; oder aber die Sexualität wird akzeptiert, doch 
nur unter Bedingungen, in denen die Mütterlichkeit abgespalten und ver¬ 
leugnet wird (ich erinnere Sie an die eingangs erörterte Spaltung); oder 
der umgekehrte Fall — diese Bedingungen müssen weitgehend die For¬ 
derungen der Mütterlichkeit befriedigen. Dies drückt sich etwa in der 
Objektwahl aus, indem nur knabenhafte, hilfebedürftige Männer als Liebes- 
objekte gewählt werden. 

Auch hier möchte ich ein Beispiel aus der Literatur anführen, das auf 
mich erschütternd gewirkt hat. 







































Mütterlichkeit und Sexualität 


5 


Es handelt sich um das Buch „Tante Tula“ von dem bekannten spanischen 
Dichter Miguel de Unamuno. 

Tante Tula ist von ihrer Mütterlichkeit besessen. Ihre ganze Beziehung 
zur Welt ist nur Mütterlichkeit. Alles, was der Sinnlichkeit, der Erotik 
nahe steht, wird mit grausamer Verachtung und mit Haß belegt. Den Akt 
der Befruchtung umgibt sie bei einer anderen Frau mit sorgfältigster Pflege, 
wie der Züchter in seinem Arbeitsfelde, wie der Gärtner bei seinen Pflanzen. 
Erst das Produkt, das unter ihrer sorgsamen Pflege entsteht, wird zu ihrem 
Eigentum, dem sie sich restlos widmet und in dem sie aufgeht; so ist sie 
im geistigen Besitz dessen, was ein anderer Körper unter Qualen geboren 
hat. Tante Tula ist eine Zwillingsschwester unserer deutschen Hebamme, 
nur in ihrer unsexuellen Mütterlichkeit gewaltiger und herrschender. Die 
Kinder, die die andere Frau ihr geboren hatte, behält sie zeitlebens und 
läßt die Frau — auch hier konsequenter wie die Hebamme — grausam 
sterben, nachdem sich ihre Rolle als Gebärerin erschöpft hat. Auch den 
Mann macht sie zu ihrem Kinde; sie tötet seine erotische Leidenschaft zu 
ihr und lenkt sie mit eiserner Konsequenz zu einer anderen Frau. 

Mit wunderbarer poetischer Kraft ist es dem Dichter gelungen, diese 
vollkommen von der Erotik abgespaltene Mütterlichkeit darzustellen. Man 
könnte fragen, woher ein Mann soviel Einfühlung in die tiefsten Tiefen 
einer weiblichen Seele nimmt. 

Tante Tula läßt ihre Schwester den Mann heiraten, den sie liebt und 
von dem sie geliebt wird. Sie ist es, die die Ehe vermittelt, die zur Zeu¬ 
gung des Kindes drängt, um sich dann ganz des Kindes zu bemächtigen. 
Sie peitscht die schwache Schwester von einer Entbindung in die andere, 
bis sie an der Erschöpfung des Gebärens stirbt, um der Tante Tula, als 
der geistigen Mutter, ihre Kinder zu überlassen. Die sinnliche Leidenschaft 
des Schwagers, in dessen Hause sie als die Mutter seiner Kinder lebt, lenkt 
sie auf das Dienstmädchen ab, auf das „erniedrigte Sexualobjekt“, um auch 
sie langsam sterben zu lassen, nachdem auch sie ihr, der Tante Tula, Kinder 
geboren hat. Tante Tula betont ihre Rolle der geistigen Mutter und läßt 
auch in der Phantasie ihrer Kinder nicht einen Moment den Glauben ent¬ 
stehen, daß sie die geistige Mutter — sie körperlich empfangen oder 
geboren hat. Das Bewußtsein der körperlichen Mutter muß immer im 
Hause da sein, um die echte, wahre Mütterlichkeit der Tante Tula nicht 
durch den Verdacht zu beschmutzen, sie habe je körperlich an der Mütter¬ 
lichkeit teilgenommen. Hie und da bricht die verdrängte Sehnsucht durch, 
un( ^ Tante Tula läuft aus dem Dorfe weg, in dem sie mit ihrem verwit- 















6 


Deutsch: Mütterlichkeit und Sexualität 


weten Schwager lebt, in die lärmende Stadt zurück. „Nein, auf dem Lande 
gibt es keine wahre Reinheit. Reinheit bildet sich nur aus, wo sich die Menschen 
in einem schmutzigen Knäuel von Häusern zusammenschließen, um sich um so 
besser zu isolieren. Die Stadt ist ein Kloster einsamer Menschen. Hier aber am 
Lande vereinigt sie die Erde, auf die sie sich fast alle niederlegen, wenn sie 
schlafen. Und die Tiere, das sind die alten Schlangen des Paradieses; zurück 
in die Stadt.'“ Von ihm aber, dem Begehrenden, würde sie wünschen, daß 
er „in vielen Dingen noch sehr kindisch “ wäre. „Wie sollte sie ihn zu einem 
Kinde machen? u 

Noch ein andermal bricht aus der geistigen Mütterlichkeit die ungeistige 
Sehnsucht! „Sie nahm ihren kleinen Neffen, der in Hunger wimmerte, und 
schloß sich mit ihm in ein Zimmer ein. Dann zog sie die rechte ihrer 
trockenen, jungfräulichen Brüste hervor, die hochrot war und zitterte, wie 
bei einer Fiebernden, erschüttert von den heftigen Schlägen ihres Herzens, 
und führte die Brustwarze in das blühende, sanftgerötete Mündchen des 
Kleinen ein, der nun noch mehr wimmerte, während er mit seinen bleichen 
Lippen an der trockenen bebenden Brustwarze kaute“ 

Es ist meisterhaft gesehen und unserem analytischen Wissen so nahe, 
daß Tante Tula verleugnete, je einen Vater gehabt zu haben, der sie mit 
der Mutter gezeugt hat. Don Primitivo, der Ziehvater und Bruder der 
Mutter, ist der wahre große und geliebte Vater. Fein wird es unserem 
Verständnis nahegebracht, daß Tante Tula einst in ihrem Phantasieleben 
schon die Keuschheit der Mutter so bewahrt haben wollte, wie sie die eigene 
bewahrt, und daß ihre mütterliche Beziehung zu den Kindern eine Wieder¬ 
holung dessen ist, was in ihrem Verhältnis zu der eigenen Mutter entstanden war. 

Wie verständlich ist es uns, wenn Tante Tula von Don Primitivo zu 


ihrer Schwester sagt: „Er weihte unser ganzes Leben immer still und schweigsam 
und fast ohne uns je ein TVort zu sagen dem Kult der Aller heiligsten Jung¬ 
frau, der Mutter Gottes, und zugleich dem Kult unserer Mutter, seiner 
Schwester, und unserer Großmutter, seiner Mutter. Mit dem Rosenkranz 
schenkte er uns eine Mutter und lehrte er dich, Mutter zu werden. Man 
sieht hier sehr deutlich die Phantasie von der „unbefleckten Empfängnis 
der Mutter, von der Mutterschaft ohne Vater, ja, man findet sogar in dem 
Buche Reminiszenzen an Puppenspiele in der Kindheit der Tante Tula, die 
schon alles spätere in diesem Sinne enthalten. 

So könnte man eigentlich das ganze Buch zitieren, eine Dichtung, die 
hier dem psychoanalytischen Leser warm empfohlen sei. 




























Das Problem der doppelten Motivgestaltung 1 

Von 

Ludwig J e k e 1 s 

Wien 


Auf einen Fehler meines Vortrages muß ich zunächst selbst verweisen; 
die Aufdeckung anderer muß ich wohl Ihnen, meine Damen und Herren, 
überlassen. Aus Gründen, die Sie alsbald hören sollen, muß ich in meine 
Darlegungen eine ältere Studie von mir einfügen, allerdings nicht ohne 
sie durch neue Einsichten zu ergänzen. Aber immerhin ist es eine Arbeit, 
die, wenn überhaupt je gelesen, so gewiß von Ihnen schon längst ver¬ 
gessen wurde, und deren Ergebnisse ich daher gezwungen bin, hier zu 
wiederholen. 2 Halten Sie es mir aber zugute, daß ich mich bemühen werde, 
es so schonend, d. h. so kurz und klar als irgend möglich, zu machen. 

Nun aber zum Thema. Unter doppelter Motivgestaltung verstehe ich den 
Sachverhalt, daß ebenso auf den uns vertrauten Gebieten des Traumes, der 
Neurose, der gehäuften Fehlleistung, wie in dem unseren gewohnten 
Interesse ungleich ferneren der dramatischen Schöpfung eine Tendenz 
obwaltet, einer bedeutenden, sagen wir zentralen seelischen Konstellation 
doppelten Ausdruck zu verleihen, so daß sie in einer doppelten, zumeist von¬ 
einander verschiedenen Gestaltung im Bewußtsein aufscheint. 

Während sie aber in den drei erstgenannten Kompromißbildungen bloß 
mit sehr wechselnder Regelmäßigkeit und sehr variablen Intensität auftritt, 
so daß sie hier nur fallweise oder bloß fragmentarisch zu beobachten ist, 
scheint sie mir im Drama eine durchgehende, ja ausnahmslose, meist mit 
unverkennbarer Deutlichkeit auftretende Regel zu sein. 

Dieser Sachverhalt im Drama trat mir bereits vor vielen Jahren zuerst 
bei einer psychoanalytischen Untersuchung des Macbeth entgegen; die 
doppelte Gestaltung desselben Motivs war mir hier so einprägsam, daß ich 
bereits in dieser Studie die Vermutung wagte, ob wir uns nicht „in dem 
hier aufgezeigten Nebeneinander der verhüllteren und der direkteren Dar¬ 
stellungsweise des Hauptmotivs einem Grundphänomen der dramatischen 
Produktionsweise genähert haben u . Mehrere Jahre später, nach fortgesetzten 
Untersuchungen auf diesem Gebiete, meinte ich: „Dies Phänomen ist so 
regelmäßig festzustellen, daß auch die umgekehrte Fassung: alles, was in 

1) Vortrag am XII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Wiesbaden 
am 4. September 1952. 

2) Vgl. Imago V, S. 170 ff. Dazu Freud, Ges. Sehr., Bd. X, S. 296 ff. 

Imago XIX. 2 







i8 


Tudwig Jeteis 


einem Drama doppelt dargestellt erscheint, ist sein Grundmotiv, mir heute, 
nach reiflicher Nachprüfung, ganz verläßlich erscheint.“ 

Zu dem zwingenden Umstand, daß die Untersuchung einer Erscheinung 
wohl am zweckmäßigsten dort vorgenommen werden soll, wo man ihr am 
deutlichsten und regelmäßig begegnet, kommt also noch, wie Sie sehen, 
ein sozusagen historisches Motiv, um mich zu veranlassen, Sie zunächst 
auf das Gebiet des Dramas zu führen, um dann von hier aus, an der Hand 
der hier gewonnenen Einsichten, dem Phänomen der doppelten Motiv¬ 
gestaltung auch auf anderen Gebieten nachzuspüren. 

Als Untersuchungsobjekt wähle ich hier wieder Shakespeares Macbeth, 
dessen Inhalt ich Ihnen in zwei Sätzen, soweit eben, als es meine Unter¬ 
suchung erheischt, in Erinnerung bringen will. Nach der Prophezeihung 
der Hexen, er, Macbeth, werde König, Banquo aber Vater von Königen 
werden, ermordet Macbeth den bei ihm zu Gaste weilenden König Duncan 
und wird dann zum Könige gekrönt; als solcher ist er ein Wüterich, der 
Banquo und seinen Sohn Fleance ermorden läßt, dieser jedoch entrinnt der 
Mörderhand; ebenso mißlingt der an Macduff geplante Mord, wohl aber 
fällt Macduffs kleines Söhnchen dem Wüterich zum Opfer. Es kommt 
zu einer von Macduff veranlaßten Erhebung gegen den Tyrannen, der von 
Macduff gefällt wird, worauf Malcolm, der vor Macbeths Anschlägen gleich¬ 
falls gerettete Sohn des ermordeten Königs Duncan, zum König erhoben wird. 

In meiner Studie vermochte ich, wie ich meine, beweiskräftig nachzu¬ 
weisen, daß diese Schöpfung zur Grundidee die wehmutsvolle Einsicht 
habe, daß ein schlechter Sohn auch ein schlechter Vater sei und sich dadurch 
der Segnungen der Generationsfolge begäbe. 

Denn entsinnen Sie sich, bitte, an der Hand meiner Bekapitulation, daß 
Macbeth uns in dem Stücke in einer doppelten Funktion entgegen tritt. 
Zunächst als Mörder des Königs Duncan, somit als schlechter, vatermörderi¬ 
scher Sohn. In der zweiten ist er aber selbst König, Vater, und als solcher 
blutiger Verfolger jeglicher Sohnesgestalt. „Nur einer liegt“, meint der erste 
der zum Morde Banquos und seines Sohnes gedungenen Mörder, „Der Sohn 
entfloh , worauf der zweite: „So ist die beste Hälfte unserer Müh’ 
verloren.“ 

Aber ganz derselbe psychologische Sachverhalt, der innigste Zusammen¬ 
hang der beiden Funktionen als Sohn und als Vater, wird uns in dem 
Drama noch in einer zweiten Gestaltung aufgezeigt, in der Figur des 
Macduff. Denn auch er ist ein schlechter, ein widerspenstiger Sohn. Nicht 
nur daß er demonstrativ zur Krönung von Macbeth nicht geht, aber er 






































Das Problem der doppelten Motivgestaltung 


*9 


führt ..dreiste Worte“ gegen ihn, lehnt brüsk des Königs Einladung zur 
Krönungstafel ab; und schließlich ruft er ja zum bewaffneten Aufstand gegen 
Macbeth, in dem er ihn tötet. Aber dieser seiner vaterfeindlichen Gesinnung 
fällt ja, wie bereits erwähnt, sein kleiner Sohn zum Opfer, der vom ge¬ 
flüchteten Macduff verlassen und derart der Mörderhand preisgegeben wird. 

Danach hoffe ich, Ihrem Widerspruche kaum zu begegnen, wenn ich, 
mich wiederholend, behaupte, es liege hier ein ganz deutlicher Fall von 
doppelter Motivgestaltung vor. Nur ist die Ausdrucksform beider Gestaltungen 
eine recht verschiedene; denn während die des Macbeth mit der Wucht 
ihrer Form, dem Wegfall von Nuancen und Abtönungen ungleich mehr den 
Eindruck des Visionären, etwa des Traumhaften, macht, nähert sich die 
Macduffgestaltung mehr der vorbewußten Fassung, erscheint uns menschlich 
näher gerückt, verständlicher. 

Dieser Unterschied aber ebenso wie der vielsagende Umstand, daß der 
Dichter die in seiner Vorlage, der Holinshed-Sage, so dürftig gehaltene 
Gestalt Macduffs herausgehoben, isoliert, und so viel reichhaltiger ausge¬ 
staltet Macbeth an die Seite gestellt hat, — etwa wie eine konkrete, spezielle 
Abwandlung des im Macbeth ungleich allgemeiner gehaltenen Motivs, — 
all dies hat, wie ich seinerzeit nachzuweisen vermochte, eine ganz besondere 
Begründung. Und zwar die, daß genau so wie Macduff durch den Konflikt 
mit Macbeth gezwungen erscheint zu flüchten und die Seinigen zu ver¬ 
lassen, auch der Dichter in seiner Jugend in einem schweren Zerwürfnis 
mit seinem Vater Weib und Kinder fluchtartig verließ, um nach London 
zu ziehen. Die schwere Anklage der Lady Macduff gegen ihren Gatten: 

„Sein Weib und Kinder lassen ... an dem Ort, 

Von dem er selbst entflieht? 

Er liebt uns nicht, 

Ihm fehlt Naturgefühl!“ 

ist darnach eine schwere Selbstanklage des Dichters. 

Lnd in der unmittelbar auf diese Szene folgenden Ermordung des Söhnchens 
von Macduff ist gleichfalls der furchtbare Selbstvorwurf des Dichters dar¬ 
gestellt, dem, als er nach der Flucht, um die Seinigen völlig unbekümmert, 
in London dahinlebte, sein einziger Sohn Hamnet und damit auch die 
Möglichkeit starb, sein Geschlecht und seinen ruhmvollen Namen fortzu¬ 
setzen. Daher der Ausruf: 

„Macduff, für Deine Sünde starben sie! 

Oh, ich Nichts würdig er, nicht um ihre Schuld, 

Um meine eigene traf der Mord ihr Leben!“ 











Ludwig Jekels 


20 


Nun aber dämmert uns bereits die Erkenntnis von der Bedeutung dieser 
zweiten Gestaltung. Sie dient eben als Ausdruck des Schuldgefühls, dessen 
Spuren wir bei der Macbethfigur ohnehin vergeblich suchen und restlos 
vermissen. 

Aber nicht nur ihren Sinn, sondern - auch den Zweck dieser zweiten 
Niederschrift, die psychologische Bedeutung dieser besonderen Hervorhebung 
des Schuldgefühls, können wir nunmehr unschwer in Erfahrung bringen. 
Denn die Geschichte der Entstehung dieses Dramas sowie die Kenntnis 
der sie begleitenden Umstände verschafft uns darüber Aufschluß. 

Es ist nämlich völlig sichergestellt, daß es vom Dichter als Huldigung 
für König James zu dessen Thronbesteigung verfaßt wurde; ein bei Shake¬ 
speare sehr befremdender Umstand, war er doch gegenüber der großen 
Elisabeth, der er soviel dankte, mit Huldigungen so zurückhaltend. 

Als er die Dichtung verfaßte, stand Shakespeare unter dem tiefsten 
Eindruck des Ablebens der Königin, mit der ihn, wie ich bereits vor Jahren 
ausgeführt, vieles von ihm als gemeinsam Empfundene verband, — vor 
allem die ihnen beiden gleichsam als Strafe auferlegte „Unfruchtbarkeit“ 
und der Verzicht auf Generationsfolge. 

Konnte es aber dann anders sein, als daß vom Dichter die sonderbare 
Fügung, daß der Thron der Elisabeth gerade dem Sohne der von ihr ge¬ 
mordeten Mutter (Maria Stuart) zufiel, als ein befreiender, ja erlösender Akt 
der Gerechtigkeit empfunden wurde? 

Darum die huldigende Dichtung, darum diese Konfliktslösung in ihr, 
daß in getreuester Nachbildung der sich vor dem Dichter entrollenden 
Wirklichkeit ebenfalls der Sohn des ermordeten Duncan den Thron besteigt. 

Nunmehr glauben wir aber zu verstehen: dieses Herausheben des Schuld¬ 
gefühls, wie es hier durch die zweite Niederschrift, die Macduffgestalt, 
geschieht, es vor sich klar hingestellt zu haben, ist die Vorbedingung dafür, 
daß das Ich sich mit ihm freimütig auseinandersetzt und es in die sozial 
produktive Form des Gerechtigkeitsgefühls überführen kann. — Jetzt wollen 
wir aber mit diesen der Dramastruktur abgewonnenen Einsichten an die 
Untersuchung der einschlägigen Verhältnisse bei der Neurose herantreten 
und die Frage aufwerfen, ob denn auch bei ihr die dort so evidente 
Tendenz zur doppelten Motivgestaltung vorhanden und irgendwie aufzeig- 
bar sei? Ich glaube diese Frage eindeutig mit Ja und dahin beantworten 
zu können, daß Äußerungen dieser Tendenz in dem Reproduktionsvorgang 
beim analytischen Patienten deutlich hervortreten. Dabei habe ich das 
Erinnern und das Agieren im Auge. Ich weiß nämlich wirklich nicht, 







































Das Problem der doppelten Motivgestaltung 


21 


ob wir nicht allzu schematisierend denken, wenn wir diesen Reproduktions¬ 
vorgang, wie es gewöhnlich geschieht, in die Alternative erinnern oder 
agieren fassen. Ich kann mich auf Grund meiner Erfahrung kaum dem 
Eindruck verschließen, daß der Sachverhalt hier ungleich zutreffender 
so zu formulieren sei, daß im allgemeinen das verdrängte Motiv sowohl 
psychisch reproduziert, d. h. erinnert, als auch motorisch wiederbelebt, 
d. h. agiert wird. Auch Reik scheint mir dieser Ansicht zu sein, wenn er 
meint, „es gäbe verschiedene Übergänge von der erzählten Reproduktion 
zum Agieren 64 . Um diese meine Ansicht durch ein Beispiel zu illustrieren, 
mache ich eine Anleihe bei Sachs, da mir ein gleich plastischer Fall 
eigener Erfahrung zur Zeit nicht gegenwärtig ist. In einer kleinen im 
Jahre 19-29 publizierten Mitteilung schildert er eine Episode aus der Analyse 
einer jungen verheirateten Frau; sie stand unter dem Druck eines stark 
entwickelten Kastrationskomplexes, der in ihrer Kindheit durch den ihrem 
zweieinhalb Jahre jüngeren Bruder geltenden Penisneid geweckt und er¬ 
halten wurde. Unter intensivem sich lange hinziehendem Widerstand rollte 
sie allmählich das Thema der Enuresis auf; es folgten alsbald Erinnerungen, 
wie sie damals, mit etwa vier Jahren, mit dem Bruder in einem Bett 
schlief, wie dieser das Bett näßte, wie sie sich darob bei der Mutter beklagte, 
und diese dann die beschmutzte Wäsche abzog. Nach Hause von der Sitzung 
zurückgekehrt, machte die Patientin ihrem Gatten eine recht unerquickliche 
Szene wegen seines angeblich „hastigen, unreinlichen Essens, bei dem er 
immer Flüssigkeit auf das Tischtuch verspritze 66 . Sachs beschließt die Mit¬ 
teilung mit dem richtigen Hinweis, die Patientin habe aus der Entwertungs¬ 
tendenz heraus in oraler Verschiebung den dem Bruder geltenden Kinder¬ 
vorwurf auf den Mann angewendet, jener (der Bruder) sei ein schmutziges, 
inferiores Wesen, das trotz des Gliedes, das er vor ihr voraus habe, nicht 
einmal seine Urinentleerung beherrsche. 

Ich meine, daß die Doppelgestaltung des Motivs, seine psychische und 
motorische Reproduktion, hier besonders schön zutage tritt. 

Nunmehr tut es uns aber Not, auch hier die beiden Darstellungsweisen 
an der Hand der aus dem Drama geschöpften Einsicht, d. h. unter dem 
Gesichtspunkt ihrer Beziehung zum Schuldgefühl, zu betrachten. 

Diese beiden Vorgänge stehen ja unter dem Drucke der Forderung des 
Über-Ichs. Sollte sich eine eventuelle Polemik gegen diese das Erinnern 
betreffende Auffassung des Argumentes bedienen, sie beinhalte einen Wider¬ 
spruch, denn es sei ja gerade die Verdrängung, die, wie wohl bekannt, im 
Aufträge des Über-Ichs vor sich gehe, — so müßte ich diesen Einwand 










durch den Hinweis erledigen, diese Argumentation beruhe auf einer offen¬ 
kundig mißverständlichen Auffassung des Verdrängungsvorganges, auf einer 
unzulässigen Verwechslung von Verdrängen und Vergessen, während doch 
dieses mit dem Wesen der Verdrängung nichts zu tun habe und bloß 
eines der Mittel sei, deren sich die Verdrängung bedient. 

Indessen scheint mir die Forderung des Über-Ichs nicht der einzige die 
Gestaltung des Reproduktionsvorganges entscheidende Faktor zu sein; es 
kommt vielmehr dabei auch, wie ich meine, auf die sehr variable und 
vielleicht doch nicht nur von der Strenge des Über-Ichs abhängige Größe 
der Angstreaktion des Ichs an. Ist sie übergroß, so kommt es eben zur 
Tatwiederholung, zum Agieren, welches, wie wir wissen, dem Strafbedürfnis 
entspringt, somit seinem Wesen nach eine nach masochistischer Befriedigung 
strebende Triebäußerung ist. Derart erscheint beim Agieren das Ich unter 
dem Drucke seines Über-Ichs völlig der Herrschaft des Es verfallen. 

Ganz anders beim Erinnern. Dieses hat, wie ich meine, zur Voraus¬ 
setzung, daß das Ich seine Angst irgendwie überwinden kann, sich frei 
fühlt von Leidsuche und Strafbedürfnis, daher seinem Gewissen nicht wie 
beim Agieren ausweichen muß, ihm vielmehr freimütig Rede und Antwort 
stehen kann. 

Wir wissen ja, daß die Gestaltung eines solch starken Ichs das ideale 
Ziel unserer therapeutischen Bemühungen ist und daß dies der Grund ist, 
warum wir so eifrig darnach trachten, durch Auflösung des jeglichem 
Agieren zugrunde liegenden Widerstandes dieses nach Möglichkeit zu ver¬ 
hindern und es derart durch Erinnerung zu ersetzen. Beachten Sie doch, 
bitte, wie weit sich in einer derartigen Idealanalyse die Leistung des Ana¬ 
lytikers mit der gestaltenden Kraft des Dramatikers deckt! 

Nun aber zum Traum. Hier scheinen ja die Vorbedingungen für das 
Vorkommen einer Doppelgestaltung insoferne besonders gegeben, als ja, wie 
wir wissen, dem Traum ohnehin zwei Ausdrucksmittel — Sinnesbilder und 
Gedanken — eigen sind. Und doch sind solche doppel-gestaltende Träume 
ein relativ seltenes Vorkommnis. Warum dem so ist, darüber soll uns die 
nachfolgende Analyse gerade eines ausgesprochen doppelt gestaltenden Traumes 
belehren: 

Eine etwa vierzigjährige Patientin mit nicht überwundenem Kastrations¬ 
komplex und dadurch bedingten empfindlichen Störungen ihres Geschlechts¬ 
empfindens sowie mit mannigfachen virilen Einschlägen erzählt nach¬ 
stehenden Traum: „ Sie sieht Josef auf dem Tisch liegen, er hat an den Beinen 
eine schlechte Haut (Ausschlag), ihre Freundin Minna ist dabei. Weiters: 




































Das Problem der doppelten Motivgestaltung 


*3 


Sie hat Willi zweitausend Schillinge genommen; er merkt den Abgang des 
Geldes , sie hat Angst vor Entdeckung und zerreißt das Geld in kleine Stücke , 
die sie wegwirft. u 

Für das auch sonst nicht schwierige Verständnis des Traumes sind nach¬ 
stehende Vorkommnisse, die dem Traum und seiner Deutung vorangingen, 
wichtig: 

1) Die Patientin, die die Analyse mit mir in der Sommerfrische fort¬ 
setzte, war sehr enttäuscht, daß sie auch hier mit mir bloß in einem 
offiziellen Kontakt stand, während doch gerade während des sommerlichen , 
Landaufenthaltes in ihrer Kindheit die Beziehung zwischen ihr und dem 
Vater eine besondere innige war. 

2) Sie hatte ein oder zwei Tage vor dem Traume die Lektüre von 
Wassermanns „Christian Wahnschaffe“ jäh und mit großem Widerwillen 
abgebrochen, als sie unversehens auf die Stelle stieß, wo ein Mädchen er¬ 
mordet — und zwar der Leichnam ohne Kopf — aufgefunden wird. 

5) In den Tagen, da der Traum vorfiel, hatte sich bei der sonst regel¬ 
mäßig menstruierenden Patientin die Periode nur zögernd, bloß für abnorm 
kurze Zeit und unter sehr spärlichen Abgängen eingestellt. 

4) Die Patientin erging sich in einer sehr detaillierten Schilderung des 
Charakters ihres Vaters, die ausschließlich die Härte und Unzugänglichkeit 
des alten Geschäftsmannes in Geldsachen, nicht allein seinen Angestellten, 
sondern auch ihr, seiner Tochter, gegenüber, zum Inhalt hatte. 

Willi, der in ihren Träumen bereits öfter für den Analytiker figurierte, 
ist angehender Arzt, der zur größten Empörung der Patientin seiner reichen 
Frau die freie Verfügung über ihr eigenes Geld brutal entzieht. Josef 
aber, sein Bruder, ist ein stadtbekannter Frauenoperateur. Um es abzukürzen: 
es ist kein Zweifel, daß sich ein ganzes Bündel triebhafter Strebungen, 
aggressiver, narzißtischer und anderer, in diesem Traume verdichtet hat, 
daß in beiden Szenen vorerst dasselbe Motiv, der Wunsch, den Vater zur 
Vergeltung zu kastrieren, zum Ausdruck gelangt. Denn in der ersten liegt 
ja der Operateur auf dem (Operations-)Tisch; er ist entstellt, zur Minna, 
die wirklich den schlechten Teint hat, d. h. zum Weibe gemacht. Das¬ 
selbe besagt auch die zweite Szene; denn sie nimmt dem Willi ebenso 
das Geld weg, wie er seiner Frau und der Vater ihr. 

Wie ist es aber mit dem Rest des Traumes? Warum verzichtet darin 
die Patientin auf den väterlichen Phallus, den sie sich angeeignet? Wir 
finden die Antwort im Traumtext: Aus Angst vor dem Vater, wegen des 
Einspruchs des Über-Ichs, also aus Schuldgefühl. Für das Ich waren in dieser 










*4 


Ludwig Jekels 


Angstsituation die Möglichkeiten auf die beiden folgenden eingeschränkt: 
entweder auf das Erringen oder auf den Schlaf zu verzichten, aus dem es 
sonst die Angst unzweifelhaft aufgescheucht hätte. Es entschied sich für das 
erste, wodurch die Angst gebannt und das Weiterschlafen ermöglicht wurde. 

Was uns aber hier besonders auffallen muß, ist, daß es auch hier, also 
auch im Traume — ganz analog der im Macbeth-Drama aufgezeigten 
Situation — die zweite Gestaltung ist, die das Schuldgefühl zum Ausdruck 
bringt: bloß daß die Reaktion des Ichs, die Art und Weise, wie es sich 
hier zu seinem Über-Ich stellt, eine ganz verschiedene, nein, eine ganz 
gegensätzliche ist. Denn, während es sich, wie bereits auseinandergesetzt, 
im Drama und auch beim Erinnern freimütig zu seiner Schuld bekennt, 
will es im Traume kaum etwas von ihr wissen, es flieht angstvoll davon. 
Denn der Verzicht der Patientin auf den geraubten väterlichen Phallus 
und das Verwischen der Spuren, ist ja seinem Wesen nach nichts anderes 
als ein Rückzug, nichts als ein Vermeiden der Auseinandersetzung, somit 
eine Flucht vor dem Über-Ich. Dies im Traum außerordentlich überwiegende 
Ausweichenwollen vor dem Über-Ich, dem Urquell der Angst, pflegt sich 
ja im Traume vorerst des Erwachens, überdies aber noch mannigfachster 
Ausdrucksmittel zu bedienen. So stellte mir O. Isakower, dem ich auch 
sonst manch wertvollen Hinweis danke, einige Träume eines seiner Patienten 
zur Verfügung. Jeder von ihnen bestand gleichsam aus einem Hauptstück, 
meist orgiastischen Inhalts, und einer Art von kurzem Nachtrag. Diese 
Nachträge boten die Eigentümlichkeit, daß der Patient niemals sicher war, 
ob dieser Nachtrag noch geträumt war oder dem Wachen entstammte. Wir 
verstehen diese seine Unsicherheit, wenn wir erfahren, daß all diese Nach¬ 
träge Elemente enthielten, die wir kaum anders denn als Drohungen oder 
Mahnungen des Über-Ichs auffassen können, da doch in den meisten der¬ 
selben der Analytiker sogar personaliter aufgetreten ist. So z. B. wenn der 
Träumer in einem solchen einem orgiastischen Traume folgenden Nachtrag 
eine Stimme hört, die ihm zuruft: „Deine Liebesschweinereien werden schon 
herauskommen. u Re vera sind meiner Ansicht nach all diese Nachträge 
tatsächlich geträumt und die Unsicherheit des Patienten, ob sie noch in den 
Traum oder bereits ins Wachleben zu placieren seien, ist nichts anderes als 
ein verräterischer Ausdruck dafür, wie sehr er diese Über-Ich-Stimme im 
Traume nicht wahr haben, wie er sie fliehen wollte. 

Welchem Umstande es zuzuschreiben ist, daß wir im Traume ungleich 
seltener der Situation begegnen, daß die Angst vor dem Über-Ich in ihr 
Wunschgegenteil verwandelt und auf diese Weise beschwichtigt wird, weiß 

















































Das Problem der doppelten Motivgestaltung 


26 


ich nicht anzugeben. Ein derartiger, diesen Sachverhalt plastisch wieder¬ 
gebender Traum, ist der folgende mir von einer Lehranalysandm mit¬ 
geteilte: „ Herr und Frau Doktor Bibring sprechen mit mir und sind sehr 
freundlich mit mir “ — was ihr große Freude bereitet. Der Sinn des Traumes 
wird Ihnen sofort klar, wenn ich hier mitteile, was die Kandidatin assoziierte: 
daß man im Kreise der Analysandin den Namen Bibring scherzhafter Weise 
in Biberich-Über-Ich umgestaltet hat. 

Was schließlich die von uns als Wunschausdruck des Über-Ichs auf¬ 
gefaßten Strafträume anlangt, so stehen sie dank eben dieses Charakters 
sowie dadurch, daß sie gegenüber den anderen in so unverhältnismäßiger 
Minderzahl auftreten, nicht nur in keinem Widerspruch mit dieser Ansicht, 
sondern bestätigen nachhaltig die Auffassung, daß sich im Traume das Ich 
energisch dagegen sträubt, sein Schuldgefühl anzuerkennen, sich von ihm 
.ibwendet, die Flucht vor seinem Über-Ich ergreift. 

Das hier über den Traum gesagte ist gewiß kein Novum, da es sich doch 
geradezu zwangsläufig aus der Freudschen Auffassung über das der Traum¬ 
bildung zugrunde liegende Kräftespiel ergibt. Denn daß sich das dem narzi߬ 
tischen Schlafwunsch verfallene Ich, das den Es-Ansprüchen die Besetzung ver¬ 
weigert und für sie bestenfalls bloß unter sehr bedeutenden Modifikationen zu 
haben ist, gegenüber den Über-Ich-Forderungen bis auf seltene Fälle strikt 
ablehnend verhalten muß, ist wirklich eine bloße Selbstverständlichkeit. 

Wenn wir nun die Ergebnisse unserer Untersuchung der drei hier be¬ 
sprochenen Gebiete aneinanderreihen, so finden wir: im Drama die gefaßte Aner¬ 
kennung des Schuldgefühls, was seine Umgießung in die sozial produktive Form 
erst ermöglicht; in der Neurose seine mißbräuchliche, der Triebbefriedigung 
gemäße Verwendung, im Traume endlich das tunlichste Nichtanerkennen- 
wollen des Schuldgefühls. Während sich also in den beiden letzten Fällen 
die Persönlichkeit in voller Entzweiung befindet, führt wie die korrekte 
Analyse so besonders das Drama zu ihrer Vereinheitlichung. 

Wie intensiv dieser Sachverhalt offenbar unbewußt, intuitiv perzipiert 
wird, spiegelt sich darin, daß wir so oft der — allerdings auf irgendein Detail 
oder ferneres Gebiet verschobenen — Hervorhebung der Einheit in den 
kritischen Besprechungen dramatischer Schöpfungen begegnen. So z. B. wenn 
namhafte Shakespeare-Forscher wie Gervinus und andere vor ihm, wenn 
ich nicht irre, auch Lessing, das Streben dieses Dichters nach der moralischen 
Einheit in der Gestaltung seiner Charaktere so besonders hervorheben. — 
Ich halte auch die Annahme nicht für ganz absurd, daß die als Grund¬ 
eigenschaft eines guten Dramas aufgestellte Forderung nach Einheit der 










»6 


Jekels: Das Problem der doppelten Motivgestaltung 


Zeit, Einheit des Ortes und Einheit der Handlung gleichfalls eine Betrachtung 
in diesem Lichte zuläßt. Der sonderbare Umstand, daß die Konzeption dieser 
Trias jahrhundertelang fälschlich Aristoteles zugeschrieben wurde, während er 
in Wirklichkeit lediglich die Einheit der Handlung gefordert haben soll, das 
Postulieren der beiden anderen Eigenschaften aber — neueren Forschungen 
zufolge — angeblich von französischen Tragikern und Kunstlehrern des acht¬ 
zehnten Jahrhunderts stammt, widerlegt gewiß nicht diese meine Vermutung. 

Nun, dies bloß so nebenbei; zu unserem eigentlichen Thema aber zu¬ 
rückkehrend sehen wir nach alledem, daß sich uns das Drama und eine 
korrekte Analyse als eine gelungene, dagegen Neurose wie Traum als eine 
mißglückte Lösung eines Konfliktes darstellt. 

Meine Damen und Herren! Wie Sie also sehen, bin ich von ganz anderem 
her, von Formalem kommend, zu Ergebnissen gelangt, die schon längst 
zu den gesichertsten, aber vom Materialen und Inhaltlichen her gewonnenen 
Erkenntnissen der Psychoanalyse gehören, was mir immerhin als eine be¬ 
weiskräftige Stütze der Richtigkeit der hier dargelegten Ansicht gilt. 

Sollte ich daher mit dieser Annahme einer Tendenz zur Doppelgestaltung 
im Psychischen nicht einem Irrtum erlegen sein und nicht etwa ein Problem 
dort suchen, wo vielleicht keines vorhanden ist, — worüber nunmehr die 
Entscheidung bei Ihnen liegt, — so müssen wir auf eine Fülle von Fragen 
gefaßt sein, die sich daraus ergeben könnten. Nicht allein wegen der Kürze 
der Zeit, sondern weil diese in mir selbst noch nicht ausgereift sind, will ich 
mich indessen, wenn auch nicht auf die wichtigste, so doch die allgemeinste 
Frage beschränken: welcher Kategorie der uns bekannten Phänomene diese 
Doppelgestaltungstendenz eigentlich zuzusprechen wäre. 

Wie Sie sahen, habe ich hier versucht, dieses Phänomen aus der Struktur 
der Persönlichkeit und der Beziehung einzelner ihrer Anteile zueinander 
abzuleiten. Derselbe Gesichtspunkt erweist sich aber auch als geeignet, die 
eben aufgeworfene Frage zu beantworten. 

Danach müßte die Doppelgestaltung der von Silberer zuerst beobachteten 
und als „Autosymbolik“ bezeichneten Kategorie zugerechnet und etwa dem 
noch lange nicht genügend aufgeklärten funktionalen Phänomen, aller¬ 
dings als die weitaus umfassendere Erscheinungsform desselben, zur Seite 
gestellt werden. Denn, wie erinnerlich, hat Silberer die Autosymbolik gleich¬ 
falls durch zwei antagonistische Strebungen in der Persönlichkeit: den Schlaf¬ 
wunsch und die Selbstnötigung zum Denken erklärt, sohin, strukturell 
gefaßt, aus dem Widerstreit zwischen Ich und Über-Ich abgeleitet. 













































Uber die frühkindlicke 

Sexualität des Menschen im Vergleich mit der 
Geschlechtsreife bei Säugetieren 


Von 

Max Levy~ Sukl 

Berlin 


I 

Im Vorwort der vierten und fünften Auflage der „Drei Abhandlungen 
zur Sexualtheorie“ (1920 und 1925) konnte Freud rückblickend feststellen, 
daß, ungeachtet des wiederholt verkündeten Zusammenbruchs der psycho¬ 
analytischen Lehre, auch nach dem Weltkriege „die rein psychologischen 
Aufstellungen und Ermittlungen der Psychoanalyse“ sich fortschreitender 
Anerkennung und Beachtung, selbst bei prinzipiellen Gegnern, erfreuen. 
„Das an die Biologie angrenzende Stück der Lehre“, fährt Freud fort, 
„dessen Grundlage in dieser kleinen Schrift gegeben wird, ruft noch 
immer unverminderten Widerspruch hervor“. 

Inzwischen sind auch hierin unverkennbar Fortschritte erfolgt, nament¬ 
lich auch auf Seiten der Kinderheilkunde, in der Fried jung seit Jahr¬ 
zehnten als Vorkämpfer wirkte. Aber noch immer treffen wir in weiten 
ärztlichen Kreisen — mehr noch fast als bei Laien — auf einen starken, 
psychoanalytisch leicht verstehbaren Widerstand gegen die Anerkennung 
eben jener biologischen Tatsachen. Insbesondere ist es das Sträuben gegen 
Freuds Feststellung, daß das menschliche Kind etwa vom dritten bis zum 
sechsten Lebensjahr von Triebregungen, Wünschen und Phantasien er¬ 
füllt ist, deren Inhalt wir beim Erwachsenen in den sogenannten Per¬ 
versionen wieder finden und der Sexualpathologie zuzurechnen pflegen. 
(Das kleine Kind ist „polymorph-pervers“ veranlagt.) 

Das Verstehen der psychoanalytischen Theorie und ihre praktische An¬ 
wendung ist aber undenkbar ohne die Erkenntnis und die Inrechnung¬ 
stellung gerade dieser biologischen Tatbestände. Daher wollen wir ver¬ 
suchen, durch den Hinweis auf andere unbestrittene biologische Tatsachen 
den Zweiflern jene Behauptungen der Psychoanalyse leichter annehmbar zu 
machen, den Stein des Anstoßes, den sie für viele bilden, aus dem Wege 
zu räumen, wenigstens für die unter ihnen, die einigermaßen bereit sind, 
auch subjektiv unlustvolle wissenschaftliche Ergebnisse in ihr geistiges 







Blickfeld aufzunehmen. (Wenn wir bei einer solchen Betrachtung uns der 
phylogenetischen Vergleichung bedienen, so dürfen wir uns auf die An¬ 
erkennung und die Fruchtbarkeit berufen, die dieses heuristische Verfahren auf 
zahlreichen Gebieten der Physiologie und Biologie — ungeachtet der neuzeit¬ 
lichen Vorbehalte gegen das schematisch angewandte „biogenetische Grund¬ 
gesetz“ — aufzuweisen hat.) 

II 

Freud selbst hat an zahlreichen Stellen seiner Werke (insbesondere in 
den „Vorlesungen") phylogenetische Hinweise zur Verständlichmachung 
verwendet. Zur Erklärung der frühkindlichen menschlichen Sexualentwick¬ 
lung und ihrer nachfolgenden Latenzzeit bis zur Pubertät hat Freud 
die Umwälzungen herangezogen, die die Eiszeit auf die Pflanzen- und 
Tierwelt innerhalb großer Teile der Erde nachweislich ausgeübt hat. 1 
Vorläufer des Menschen finden sich, wie die paläontologischen Befunde 
beweisen, in unvollkommener Form bereits in den weiter zurückliegen¬ 
den Epochen der Tertiär zeit. Bevor die Eiszeit oder Eiszeiten der 
Diluvialepoche — die erste Eiszeit wird auf 600.000 bis 55 0,000 J a ß re 
v. Chr. geschätzt 2 — ihr Vernichtungswerk und die vielfach aufzeigbaren 
anatomisch-physiologischen Umwandlungen in der Tierwelt ausübten, wurde 
der homo sapiens in einzeitiger Entwicklung in einem für unsere heutigen 
Begriffe sehr frühen Lebensalter geschlechtsreif. Nehmen wir ruhig und 
mit dem Vorbehalt der hier zu gebenden Bestätigung an, daß die Geschlechts¬ 
reife etwa mit vier bis fünf Jahren vollendet war. Der heutige „erste 
Ansatz" der Sexualität wäre hiernach ein phylogenetischer Nachklang, 3 
eine stammesgeschichtliche Rückerinnerung, wie sie die entwicklungs¬ 
geschichtliche Forschung an zahlreichen anderen Erscheinungen kennt und 
zum Verständnis gegenwärtiger Funktionen heranzieht. 

Eine solche „Rekapitulation“ des einstigen Zustandes darf, wie auch sonst, nur 
in unvollständiger abortiver Form vorausgesetzt werden. Und dies um so mehr, als 
ja die sexuelle Entwicklung des menschlichen Kindes in der heutigen Kulturwelt 

1) Vgl. unter anderem Plate: Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung. 
Leipzig 1913* 

2) Vgl. z. B. Olbrich: Klima und Entwicklung. G. Fischer. Jena 1923. 

3) Die verschiedenen Formen der von Freud aufgezeigten frühkindlichen 
Sexualität, insbesonders die orale, anale und genitale Stufe, hat vor allem Abraham 
als abortive Wiederholung von phylogenetisch sehr weit zurückliegenden Vorbildern 
zu erklären versucht. (Vgl. auch Freuds Hinweis auf die „Kloakentheorie“ der Kinder.) 

Ich erwähne noch Sadgers vielfache Verwendung des Prinzips und die sehr 
weitgehenden Hypothesen Ferenczis. Die Konversionssymptome hat neuerdings 
Fenichel in diesem Sinne verständlich zu machen versucht. 






















































Uber die frülrtindlidie Sexualität des McnsAe.i us ».29 


Einschränkungen und Deformationen vom ersten Lebenstage ab unterworfen wird. 
Der von der Psychoanalyse behaupteten Frühblüte der menschlichen Sexualität fehlen 
demgemäß die Vorbedingungen der zweckhaften Verwendung der keimenden Triebe, 
namentlich wegen der Unvollkommenheit der äußeren Zeugungsorgane wie des Ge¬ 
samtorganismus; ferner wegen des noch ganz unvollendeten Zusammenschlusses der 
sexuellen Partialtriebe und mangels ihrer Gerichtetheit auf das physiologische Ziel 
der Zeugung. 

TTT 


Wir wollen hier systematisch untersuchen, ob sich das Auftreten des Ge¬ 
schlechtstriebs beim Menschen in einem so frühzeitigen Alter wie es Freud 
als ..ersten Ansatz“ darstellt, durch Vergleich mit anderen großen Säuge¬ 
tieren physiologisch stützen läßt, ob es theoretisch möglich erscheint, oder 
ob das Auftreten der Sexualität in so unerhört jugendlichem Zustande aus 
dem natürlichen Rahmen der Entwicklung der Säugetiere herausfällt. 

I nsere Beweisfrage lautet demnach: Auf welcher Altersstufe (Lebens- 
stufe) treten bei den verschiedenen Arten von Säugetieren durchschnittlich 
Äußerungen des erwachten Geschlechtstriebs zutage, oder aber, um sicher 
zu gehen, auf welcher Altersstufe tritt bei ihnen notorisch die Ge¬ 
schlechtsreife, d. h. Zeugungsfähigkeit auf? 

Wir müssen dabei selbstverständlich die Altersstufe relativ nehmen, 
also die Jahre der natürlichen Lebensdauer mit den Jahren der Geschlechts¬ 
reife in Vergleich setzen. Dabei wollen wir für den Menschen das biblische 
Alter von siebzig Jahren an setzen. 

Die Zahl der mir zugänglichen sicheren Feststellungen der Altersstufe 
der Geschlechtsreife und zugleich der Lebensdauer größerer Säugetiere ist 
nicht hoch. Sie reicht aber völlig aus für den Zweck unserer Abhandlung, 
die erwähnten theoretischen Zweifel zu widerlegen. 

Wir schicken zunächst eine allgemeinere Darstellung über die Ent¬ 
wicklung der Sexualität der Säugetiere voraus, und zwar aus einer 
der psychoanalytischen Voreingenommenheit völlig unverdächtigen Quelle. 
Es ist das Lehrbuch von R. Schmältz, 1 das ich bereits an anderer Stelle 2 
in gleichem Sinne verwendet habe. 

Hiernach tritt beim Pferde, „dessen gewöhnliche Altersgrenze . . . auf 
etwa dreißig Jahre angenommen werden kann, obwohl es vierzig Jahre und 
darüber leben kann“, schon mit Ablauf des ersten Lebensalters bei beiden 


1) R. Schmaltz: Das Geschlechtsleben der Haussäugetiere. 3. Aufl. Richard 
Schoetz, Berlin 1921. S. 121 ff. 

2) M. Levy-Suhl: Die seelischen Heilmethoden des Arztes. F. Enke, Stuttgart 1950. 












Geschlechtern Geschlechtsreife ein. Es wurden Säugefüllenhengste be¬ 
obachtet, die Erektionen hatten und die Mutter damit „quälten“. „Auch 
von Oettingen betont, daß gleich nach dem Absetzen die Geschlechter 
getrennt werden müssen, da Deckversuche bei gut genährten sechsmonatigen 
Hengstfohlen ganz gewöhnlich seien ...“ „Bei Rindern ist der Eintritt der Ge¬ 
schlechtsreife bei beiden Geschlechtern nach Ablauf des ersten halben 
Jahres in Einzelfällen erwiesen, bei frühreifen weiblichen Tieren im Alter 
von sechs bis neun Monaten häufiger beobachtet . . vom Schwein ge¬ 
wisser Rassen heißt es: „Schon mit zehn bis zwölf Wochen fängt der junge 
Eber an, auf anderen Ferkeln zu ,reiten 4 , was als Erwachen des Ge¬ 
schlechtstriebes angesehen werden muß, gewöhnlich ist er zuchtfähig nach 
Ablauf des ersten Jahres“. Beim Rotwild wird nach demselben Autor die 
schon im ersten Jahre mögliche Sexualbetätigung der Spießerchen und 
Spießer durch die gewalttätige Alleinherrschaft des alten Hirsches verhindert. 

Einige an gleicher Stelle sich findenden tierheilkundigen Beobachtungen über die 
Sexualität mögen, wenn sie auch nicht ganz zu unserem Thema gehören, wegen des 
hohen psychoanalytischen Interesses angefügt sein. 

Von der Sexualität der Säugetiere heißt es allgemein, daß sie sich beim Männchen 
häufig sehr früh verrate, und zwar bevor noch Spermabildung anzunehmen ist. Es 
zeigt nämlich ein Benehmen, das „vielleicht einer noch unbewußten Regung entspringt, 
wie sie beim Vorhandensein einer zentralen Anlage (sc. Gehirn, Geschlechtssinn- 
Anlage) ganz erklärlich ist“. Es sei gewissermaßen ein „Einspielen in den Trieb“. 
Als Beweis gilt dem Autor dafür die Erregung des Männchens durch das Weibchen. 

Die Brunst der Kühe ist daran erkennbar, daß sie — ungedeckt — aufeinander 
steigen, auf der Standwand reiten, sich gewisse Berührungen gerne gefallen lassen, 
wobei die der Klitoris natürlich nicht typisch, sondern natürlich sei, dagegen auf¬ 
fälliger z. B. das Waschen des Euters und die Einführung des Thermometers in den 
After (S. 157). 

Der brünstige Ziegenbock steigert sich durch erregtes Urinlassen, den er fort¬ 
während ausspritzt, bis zur Erektion. Dann „richtet er den Strahl so, daß er ihn mit 
dem Maule auffangen kann, wobei seine Erregung sich immer mehr steigert“. Er be¬ 
rauscht sich selbst an seinem eigenen Urin. (S. 162) 

IV 

In der folgenden tabellarischen Zusammenstellung 1 sind die in ihrem 
Lebensalter und in der Sexualreife außerordentlich verschiedenen Affen¬ 
arten, soweit diese Daten überhaupt zuverlässig bekannt sind, nicht be¬ 
rücksichtigt. 

1) Nach „Brehms Tierleben“, 4. Aufl., 1924—1927? R. Schm alt z, 1 . c. und Tabulae 
biologicae, hsg. von W. Junk, Berlin. 

































































Uber die frühkincllicLe Sexualität des Menschen usw. 3l 


Lebensdauer Eintritt der Geschlechts¬ 
in Jahren reife in Jahren 

Mensch. 70 5 

Pferd. 50 1 

Esel (zahm) ... 40 gilt im 2. Jahr als „erwachsen“ 

Hausrind. 20—30 1V2— 2 

Wildschwein . . 20—30 P/2 

Schwein.18 und mehr 5—6 Monate 

Haushund . . . . 15—20 9—10 Monate 

Nilpferd. 40 im 2., spätestens 3. Jahr 

Kamel. etwa 35 etwa 3 

Ziege. etwa 20 7—9 Monate 

Unter Hochwild etwa 20 iV 4 — 1 1 / 2 Jahr 


Ganz aus drin Rahmen fällt die Altersstufe der Geschlechtsreife des 
Elefanten. Sie entspricht in auffälliger Weise der Pubertät des 
Mensc hen, nämlich bei einem Lebensalter von achtzig bis hunderzwanzig 
Jahren der gezähmten und Arbeitstiere: sechzehn Jahre beim Weibchen, 
zwanzig Jahre beim Männchen; nach einer anderen Angabe noch später. 

Hiervon zunächst abgesehen, ergibt sich somit, daß der von Freud be¬ 
hauptete und phylogenetisch erklärte erste Ansatz der menschlichen 
Sexualität im Alter von etwa zwei bis fünf Jahren durchaus der Alters¬ 
stufe gemäß ist, in der die Natur noch heute zahlreiche große 
Säugetierarten geschlechtsreif und zeugungsfähig werden läßt. 


V 

Freuds Entdeckung erhält von einer anderen neuartigen entwicklungs¬ 
geschichtlichen Theorie aus, ebenfalls in völliger Unabhängigkeit von der 
Psychoanalyse, eine überraschende Bestätigung. Es ist die hormonale Hem¬ 
mungtheorie des holländischen Anatomen L. Bolk. 1 Nach ihm müssen 
wir annehmen, daß die „Urvorfahren des heutigen Menschen, die 
l rhominiden, im fünften Lebensjahr geschlechtsreif wurden“ 
(S. 24). Es sind nach ihm sogenannte „Retardierungs- und Fetalisierungs- 
vorgänge“, die zu dem Hinausschieben der sexuellen Reifung des Menschen 
bis zu dem heutigen Pubertätsalter geführt haben, und die er überhaupt 
als das Charakteristische des homo sapiens erkennt. Einen Beweis dafür 
sieht er m der merkwürdigen, spezifisch menschlich en, starken Diskrepanz 

1/1 L 1 ®°lk ; Das Problem der Menschwerdung. G. Fischer. Jena 1026. Den Hin¬ 

weis auf dieses Buch verdanke ich G. Bally. 


















der Entwicklung des „Germa“ und „Soma“. Unverkennbar läßt sich dieses 
beim weiblichen Menschen aufzeigen. „Das weibliche Germa ist, wenn 
das Mädchen vier oder fünf Jahre alt ist, substantiell fertig.“ Nach dem 
Handbuch von Reibe 1 und Mall ist nämlich das Ovarium mit drei Wochen 
17 mm lang, 5 mm breit; mit ein drei viertel Jahren 20 mm beziehungs¬ 
weise 7 mm; mit vier Jahren 27 mm beziehungsweise 12 mm; mit vier¬ 
zehn Jahren eher etwas kleiner, nämlich 26 mm beziehungsweise 12 mm. 
„Es tritt also“, wie Bolk sagt, „ungefähr im fünften Jahre eine 
Ruhepause ein; die Funktion darf noch nicht anfangen, da das Soma 
der Konsequenz dieser Funktion, der Konzeption, noch lange nicht ge¬ 
wachsen ist. Es muß eine Kraft im Organismus vorhanden sein, die sich 
diesem In-Funktion-Treten entgegensetzt . . . 

Unschwer erkennen wir hierin den biologischen Unterbau der 
Freudschen Lehre von der frühkindlichen Phase der Sexualität und der 
sich daran anschließenden Latenzzeit. 

VI 

Versuchen wir schließlich, eine Erklärung für die dem Menschen analoge 
späte Pubertät des Elefanten zu geben. Diese Tatsache widerlegt zwar 
Bolks Annahme von der Einzigartigkeit der menschlichen Entwicklung in 
der gesamten Tierwelt, aber sie bringt uns zugleich eine neue Bestätigung 
für Freuds Eiszeiterklärung: 

Die Elefanten sind nämlich eine Tierart, die auch in anderer Hin¬ 
sicht „in der heutigen Säugetierwelt“, wie L. Heck sagt, „vollkommen 
allein steht. Wenn man ein lebendiges Säugetier anführen will, von dem 
heute keinerlei nähere Verwandte mehr leben, so darf man nicht etwa 
an den Menschen denken, sondern man muß den Elefanten nennen. 
Elefantenblut gibt mit keinem andern Säugetierblut im Reagensglas eine 
Verwandtschaftsreaktion.“ (Brehm, S. 526.) Daß diese auch in paläontologischer 
Betrachtung sehr eigenartige Tierform die gleiche Hinausschiebung der 
sexuellen Reife hat wie der heutige Mensch, läßt auf gemeinsame äußere 
Ursachen schließen. Während die Mammutformen und andere Vorstufen des 
Elefanten, wie insbesondere das „altterziäre eozäne Moristier“ (Brehm, 
S. 579), untergingen, hat sich die neue Art der heutigen Elefantenfamilie 
mit ihrer charakteristischen Spätpubertät erst in der Eiszeit entwickelt. 
Es ist offenbar der gleiche Anpassungsversuch der Natur, der diese einzig¬ 
artigen Tiere und den damaligen Menschen zu der starken Retardierung 





























































Über die frühkindlidie Sexualität des Mengen usw. 


der 1 ortpflanzungsreife veranlaßte und damit zu dem zweizeitigen Ansatz 
dir menschlichen Sexualität führte. 1 — Für eine tiefere Begründung dei 
wundersamen Übereinstimmung müßten uns die zuständigen natur wissen- 
s( haftlichen Disziplinen oder ein paläontologisch gebildeter Analytiker zu 
Hilfe kommen. 


i Daß etwa auch der Elefant einen atavistischen ersten Ansatz der Sexualität 
habe, ist nicht zu erwarten. Von anderen Faktoren abgesehen, ist er nach Heck 
eine selbständige Tierart und nicht als unmittelbare Fortsetzung der in der Eiszeit 
untergegangenen Mammute anzusehen. 


Imago XIX. 


5 















Die platonische Liebe 


Von 

Hans Kelsen 

Köln 

I. Eros 

Inhalt: § 1. Das Erosproblem in der Platonforschung. — § 2. Der homosexuelle Eros. — § 3. 
Platons Verhältnis zu seiner Familie. — § 4. Platons Stellung zur Frau: a) „Philebos“ und „Timaios“, 
b) „Politeia“, c) Der Mythos des „Politikos“. —■ § 5. Der knabenliebende Eros: a) „Charmides“ und 
„Lysis“, b) „Phaidros“, c) „Politeia“. - § 6. Die Päderastie in Griechenland: a) Der dorische Kultur¬ 
kreis, b) Das Verhältnis von Religion und Dichtung zur Knabenliebe, c) Die Stellung der Philosophie, 
insbesondere Xenophons, d) Die antipäderastische Tendenz der Strafgesetzgebung und der Moral, 
e) Zeugnisse aus Platons Schriften. — § 7. Platons Konflikt mit der Gesellschaft. — § 8. Platons Ideal 
der Keuschheit: Sokrates. — § 9. Der platonische Pessimismus. — § 10. Die optimistische Wendung: Das 
Bekenntnis zum Eros: a) „Lysis“, .b) „Symposion“, c) Der Erosmythos des Aristophanes, d) Die Liebes- 
lehre der Diotima. 

§ 1. Das Erosproblem in der Platonforschung. Mehr noch als jedes 
andere geistige Schaffen ist das der großen Ethiker verwurzelt in ihrem 
persönlichen Leben, entspringt alle Gut-Böse-Spekulation — und Platons 
Philosophie ist im wesentlichen als eine solche zu verstehen 1 — aus dem 
den ganzen Menschen erschütternden ethischen Erlebnis. Und so ist auch 
das gewaltige Pathos, von dem das Werk Platons getragen wird, sein 
tragischer Dualismus und die heroische Anstrengung, ihn zu überwinden, 
zutiefst gegründet in dem besonderen Charakter dieser philosophischen In¬ 
dividualität, in der Eigenart ihres Schicksals und der dadurch bedingten, 
höchst persönlichen Einstellung zum Leben. Die Linie des platonischen 
Lebens aber wird grundlegend bestimmt durch die Leidenschaft der Liebe, 
durch den platonischen Eros. Das Bild, das wir uns vom Menschen 
Platon aus den von ihm hinterlassenen Dokumenten machen können, 
zeigt nicht eine kühl-kontemplative Gelehrtennatur, die ihr Genügen daran 
findet, die Welt erkennend zu erleben, keinen Philosophen, dessen Sinnen 
und Trachten nur darauf gerichtet ist, das Getriebe des menschlichen wie 
außermenschlichen Geschehens zu schauen und zu durchschauen, die ver¬ 
wirrende Fülle des Gegebenen klärend zu erklären; sondern eine von den 
gewaltigsten Affekten erschütterte Seele, in der — verschwistert mit ihrem 
Eros, von diesem nicht zu scheiden — ein nicht zu unterdrückender Wille 
zur Macht, zur Macht über Menschen lebt. Menschen liebend zu bilden, 
bildend zu lieben und ihre Gemeinschaft als eine Liebesgemeinschaft zu 
gestalten, ist die Sehnsucht dieses Lebens, die Form des Menschen und die 

U Dies werde ich in einer demnächst zu publizierenden ausführlichen Unter¬ 
suchung aufzeigen. Dieser ist die folgende Darstellung entnommen. 




















































































Die platonische Liehe 35 

Reform seiner Gemeinschaft sein Ziel. 1 Darum nimmt sein Denken sich nichts 
anderes so sehr zum Gegenstand, wie die Erziehung und den Staat. Und darum 
wird ihm zum höchsten Problem: das Gute, die Gerechtigkeit, die die einzige 
Rechtfertigung für die Herrschaft von Mensch über Mensch, die einzige Legiti¬ 
mation der Paideia nicht weniger als der Politeia ist. Aber die pädagogisch 
politische Leidenschaft Platons strömt aus der Quelle seines Eros. Ist einmal 
erkannt, daß von diesem Eros die Dynamik des platonischen Philosophierens 
ausgeht, dann darf man auch vor der Eigenart dieses platonischen Eros nicht 
die Augen verschließen. Denn die Eigenart dieses Eros ist es, die Platons 
persönliches Verhältnis zur Gesellschaft im allgemeinen und zur athenisch- 
demokratischen Gesellschaft im besonderen, die seine Flucht vor dieser Welt 
und zugleich seine Sehnsucht bestimmt, sie gestaltend zu beherrschen. Die 
Besonderheit dieses Eros ist es, die den platonischen Chorismos und zugleich 
i!> n Drang erklärt, ihn zu überwinden. Ohne diesen besonderen Eros ist 
weder der Mensch noch sein Werk zu verstehen. 

Dieser Eros, der in Platons Leben und Lehre die entscheidende Rolle 
spielt, ist nicht das Gefühl, an das man zunächst zu denken pflegt, wenn 
von Liebe die Rede ist; ist nicht die körperliche und seelische Anziehung, 
die Wesen verschiedenen Geschlechts miteinander verbindet, die das Männ¬ 
liche zum Weiblichen, die Frau zum Manne drängt, und in der wir ein 
Grundgesetz alles Lebens erkennen müssen. Der platonische Eros ist gleich¬ 
sam eine Ausnahme von diesem Gesetz, eine Abweichung von der die große 
Masse der Menschen beherrschenden Norm. Er ist die Liebe zwischen gleich¬ 
geschlechtlichen Wesen, er ist im besonderen der Trieb, der den Mann zum 
Manne treibt und der in der antiken Welt in gewissen gesellschaftlichen 
Schichten als Knabenliebe (jtaiöeQaaua) verbreitet war. Es ist ja noch nicht 
allzu lange her, daß man den Mut gefunden hat, jener falschen Prüderie 
entgegenzutreten, die den platonischen Eros nicht anders denn als eine 
Metapher für den Drang zur Philosophie deuten zu dürfen glaubt. 2 Aber 


1) Vgl. dazu Kurt Singer: Platon der Gründer. 1927. S. 159. 

2) Vgl. etwa Zeller: Die Philosophie der Griechen, II, 5. Aufl., S. 610, oder 
Hob in: La th^orie Platonicienne de l’amour, Paris 1908: „ Neanmoins il est bien certain 
que l'amour des jeunes-gens dut lui sembler plus voisin qu'aucun autre de Vamour philo sophi que, 
pourvu que les inspirations auxquelles il donne Heu conservent un caractere tout moral et n’aient 
nen de commun avec la passion sensuelle. La grande raison qui fit preferer Phomme ä la femme ? 
c cst 9 ue Pimmaterialite de cet amour , qui est tout ideal quand il est ce qu’il doit etre , c’est que 
le culte de la Science , qui en est le moyen , et la connaissance du bon et du beau , qui en est la 
fi n , ne permettent guere qu’il se developpe qu'entre deux philosophes , Pun maitre , Pautre disciple. 
'.Manuel de Philos. anc., II, 104, e). Au reste le seul amour des jeunes-gens auquel les Lois 
consentent ä faire place dans la eite est celui qui a la vertu pour but et qui vise ä rendre 


3 














36 Hans Kelsen 


es ist freilich auch nicht allzu lange her, daß wir den homosexuellen Eros 
richtiger verstehen gelernt haben. Der modernen, auch in die Tiefe des 
Unbewußten dringenden Seelenforschung verdanken wir die Einsicht, daß 
der Gegensatz von gleich- und andersgeschlechtlicher Liebe keineswegs so 
schroff ist, wie man bisher geglaubt hat, daß in den Abgründen jedes 
Menschenherzens unter der manifesten Schichte der heterosexuellen auch 
die homosexuelle Libido schlummert; und daß schon darum allein den 
sogenannten Normalen vom sogenannten Abnormalen keineswegs jene Kluft 
trennt, die zu der empörten Verachtung des einen durch den anderen, die 
den Normalen berechtigen würde, den Abnormalen zu verabscheuen. Eine 
mit feineren Methoden arbeitende Psychologie und Charakterologie lehrt 
uns, daß es gerade das Bewußtsein normwidriger Veranlagung ist, dem die 
stärksten sittlichen Antriebe entspringen. Und die biographische Forschung 
zeigt uns in zunehmendem Maße die sexuell abnormale Veranlagung der 
größten Genies. Schon ein Blick in die Jugendentwicklung gerade der 
bedeutendsten Persönlichkeiten kann darüber belehren, wie vorsichtig man 
in der ethischen Beurteilung erotischer Abweichungen sein muß, wie wenig 
man die sexuelle mit der sittlichen Norm identifizieren darf. Und obgleich 
es heute schon eine Selbstverständlichkeit sein sollte, daß man die schuldige 
Ehrfurcht vor einem ganz Großen im Reiche des Geistes auch nicht im 
entferntesten verletzt, wenn man sich um Verständnis für seinen Eros be¬ 
müht, weil ohne diesen Eros kein Verständnis seiner Persönlichkeit und 
ohne dieses kein volles Verstehen seines Werkes möglich ist, und obgleich 
es sich heute nicht minder von selbst verstehen müßte, daß es der Größe 
und VerehrungsWürdigkeit einer historischen Persönlichkeit keinerlei Ab- 

meilleur celui qui en est Vobjet (VIII, 837 B—D). En resume, Vamour tel que le comprend 
Platon c’est un amour dans lequel la passion n'a point de part: qu'il ait son origine dans 
Vemotion qui donne naissance ä Vamour charnel , soit tel que le veut la nature 7 soit tel que 
Va fait la depravation des mceurs 7 ce n'en est pas moins tout autre chose. C est un amour 
qui , detoume des objets sensibles accoutumes, tend seulement vers la Science et vers la vertu , 
ce qui , d'ailleurs , 7 Vest pour lui qu'un seul et meme but Ferner C. Ritter, Platon, 
sein Leben, seine Schriften, seine Lehre, 1910—1923. L 170: „Jedenfalls verdammt 
Platon aufs schärfste alle widernatürlichen Laster, namentlich die Päderastie in 
dem schlimmen Sinne eines unkeuschen sinnlichen Verhältnisses, in dem das Wort 
gewöhnlich von uns verstanden wird, obwohl es, wie jeder Leser des Symposion 
und Phaidros wissen kann, auch eine ganz andere Bedeutung des Wortes gibt, die 
für das Verhältnis des Sokrates oder des Platon zu ihren Schülern zutrifft: die Be¬ 
deutung eines auf gleiches wissenschaftliches und sittliches Streben gegründeten Zu¬ 
sammenschlusses von Älteren und Jüngeren zum Zweck gegenseitiger Anregung und 
Förderung.“ Vgl. dagegen Kurt Hildebrandt: Übersetzung von Platons Gastmahl 
(Philosoph. Bibliothek, Bd. 81, 2. Aufl.), Einleitung, S. 32. 






































































Die platonische Liehe 3^ 

bruch tun kann, wenn man erkennt, daß ihr Eros nicht den allgemeinen 
Weg allen Fleisches gegangen ist, so hat man doch auch in jenen Kreisen, 
die das größte Verdienst um eine richtige Deutung des Eros und damit des 
ganzen Werkes Platons erworben haben, noch immer nicht volle Klarheit 
über die Eigenart dieses Eros geschaffen und darum auch noch nicht das 
letzte Verständnis für wesentliche Punkte der platonischen Lehre gewonnen. 
Zwar daß Platon Liebe, die wirkliche Liebe und nicht etwas von ihr Wesens¬ 
verschiedenes meint, wenn er von Eros spricht, das wird von dieser neuesten 
Platoninterpretation mit Nachdruck betont. Und so hat sie auch entdeckt, daß 
dieser Eros die Wurzel der ganzen platonischen Philosophie ist. Aber doch 
spricht man auch in diesen Kreisen nur recht allgemein von dem platoni- 
sc hen Eros, ohne seine — hier zweifellos erkannte — Besonderheit ins 
f i< ht zu rücken. Und da man von dieser Seite mehr auf eine Apotheose 
als auf (‘ine objektiv-kritische Deutung Platons und insbesondere seiner 
sozialen Theorie abzielt, bleibt diese dort im Dunkel, wo ihr Verständnis 
sich nicht aus dem Eros überhaupt, sondern nur aus der Besonderheit des 
platonischen Eros ergibt. 1 

.f 2 . Der homosexuelle Eros . Denn gerade für das Verhältnis zur Gesell¬ 
schaft ist eine homosexuelle Anlage von der größten Bedeutung. Das Bewußt¬ 
sein des „Andersseins als die anderen“ drängt in eine schmerzvolle Isolierung 
und damit von vornherein in einen gewissen feindlichen Gegensatz zu der 
für die eigene Art verständnislosen Gesellschaft, die diese besondere Gestalt 
des Eros nicht nur verachtet, sondern seine Äußerungen in der Regel unter 
staatliche Strafe stellt. Die mit der sexuellen Norm Widrigkeit bald mehr, 
bald weniger verbundene Verletzung auch der rechtlichen Norm, ja schon 
das Bewußtsein des Triebes zu solcher Rechtsverletzung erzeugt das Gefühl 
von Schuld und Minderwertigkeit, drängt zu einer pessimistischen Welt¬ 
anschauung und schafft so den Boden für die Sehnsucht nach persönlicher 
Erlösung. Viel stärker noch als in dem normalen Eros ist in der homo¬ 
sexuellen Liebe von Mann zu Mann neben dem Wunsch sich unterordnender, 
ja sich verlierender Hingabe der Wille zur Herrschaft über das geliebte 
Wesen lebendig, zur Macht über Menschen überhaupt. Und so ist es die 
Eigentümlichkeit dieses Eros, daß er zwiespältig, ebenso wie gesellschafts- 

i) für diese Art der Platondeutung besonders charakteristisch und tonangebend: 
einrich Friedemann: Platon. Seine Gestalt. Berlin 1914. Eine übersichtliche Dar- 
steUung dieser Richtung bietet Franz Josef Brecht: Platon und der George-Kreis. 
f ? aS Erb * der ^ten. Schriften über Wesen und Wirkung der Antike. Zweite Reihe. 
Gesammelt und herausgegeben von Otto Immisch. Heft XVII.) Leipzig 1929. 













feindlich, ja weltverneinend, zur Flucht vor der sozialen Welt, so auch 
umgekehrt nach einer erhöhten Stellung in der Gellschaft, nach Macht 
und Herrschaft über sie und so zur Überwindung des Gegensatzes zu ihr, 
des pessimistischen Dualismus überhaupt, drängt. Das Schuld- und Minder¬ 
wertigkeitsgefühl wird durch ein von sozialem Ehrgeiz gesteigertes Selbst¬ 
bewußtsein kompensiert, ja überkompensiert. Es ist gerade der politische 
Trieb und die ihm verwandte pädagogische Leidenschaft, die in dieser 
seelischen Atmosphäre besonders gedeihen; aus der eben darum auch das 
Bedürfnis nach Rechtfertigung und damit das ethische Problem, die Frage 
nach der Gerechtigkeit hervorgeht, die die Legitimation der Herrschaft ist. 

In einer besonderen Spielart zeigt dieser Charaktertypus eine starke 
Bindung an den Vater und die Brüder, Gleichgültigkeit, ja feindliche Ein¬ 
stellung gegen die Mutter. Mitunter liegt gerade in der Beziehung zur 
Mutter die Wurzel der sexuellen Perversion. Der nicht überwundene Inzest¬ 
wunsch läßt den Liebenden in jedem Weibe nur die Mutter lieben und drängt 
daher überhaupt vom Weibe ab und dem eigenen Geschlechte zu. 1 Morali¬ 
sche Motive erzwingen dann immer wieder einen Verzicht auf Befriedigung 
des pervertierten Triebes; und diese seelische Situation liefert der melancholisch¬ 
depressiven Komponente des Charakters, dem durch das hypertrophisch ge¬ 
steigerte Selbstbewußtsein nie ganz kompensierten Gefühl der Minderwertig¬ 
keit und damit seiner Neigung zu pessimistischer Weltanschauung stets neue 
Nahrung. Dabei ist häufig ein gewisser Infantilismus zu beobachten. Es ist 
ein Nichthinauskönnen oder Ni chthin aus wollen über eine bestimmte Stufe 
jugendlicher Erotik. Der „ewige Jüngling ist oft nur ein solcher, der nicht 
wagt, erwachsen zu sein, der sich den Erwachsenen nicht gewachsen fühlt, und 
eben darum seinen Wunsch, über Menschen zu herrschen, anderen seinen 
eigenen Willen aufzuzwingen, auf ein Objekt ablenkt, das er aus irgend¬ 
welchen Gründen für tauglicher hält. Er will in der Knabensphäre bleiben 
und, da er herrschen will, Lehrer werden, erziehen. Der pädagogische Trieb 
ist sehr häufig nur ein in bezug auf das Objekt sich dem Subjekt an¬ 
passender Wille zur Macht. Knabenliebe und Knabenzucht bleiben der Inhalt 
solchen Lebens, das sich seine eigene Situation dadurch ideologisch verhüllt, 
daß es die Welt der Erwachsenen als für zu verdorben erklärt, um über¬ 
haupt noch reformiert werden zu können. Erhebt sich aber solche Haltung 
über den Bereich des bloß Pädagogischen ins allgemein Politische, dann zeigt 
sie ausgesprochen konservative, ja reaktionäre Tendenz. Die Vergangenheit: 

1) Vgl. O. Rank: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. 1912, S. 274 f.; Lager¬ 
borg: Die platonische Liebe. 1926, S. 79, 250. 





































































Die platonische Liehe_9 

das ist für den vom Schuldgefühl Gequälten und davon selbst bei Gewinnung 
stärksten Selbstgefühls niemals ganz Befreiten die reine, vom Vater behütete, 
schuldlose Kindheit. Nur die Erinnerung, das ist die Erinnerung an le 
eigene Kindheit, ist gut und schön und trostreich. Wieder Kind werden, 
zurück zur Kindheit, zurück zum Vater oder den Vätern, der väterlichen Sitte, 
die Wiederaufrichtung der väterlichen Autorität, darauf kommt es auch 
politisch an. Wie denn auch eine ausgesprochen aristokratisch-konservative, 
antidemokratische Grundeinstellung sich aus dieser Art des Eros ergibt. 
Die Eigenart des Homosexuellen muß Ausnahme bleiben, kann und darf 
nicht allgemeine Regel werden, wenn nicht die Gesellschaft zugrundegehen 
weil mssterben) soll. Es muß also ein soziales Schema postuliert werden, 
licht den Grundsatz des gleichen, sondern des ungleichen Rechts dar¬ 
stellt. es m uß ein Sonderrecht, weil eine Sonderstellung für die wenigen, 
geben, die anders sind als die vielen, und die, sofern sie ihr Minderwertig¬ 
keitsgefühl überwinden und sich überhaupt positiv zur Gesellschaft ein¬ 
stellen, dies nur in der Weise tun können, daß sie sich besser als die anderen 
dünken, sich für wertvoller als die große Menge halten. Dem homosexuellen 
Eros kann, angesichts der fundamentalen Ungleichheit, die er mit seiner 
Existenz beweist, nichts verhaßter, nichts widernatürlicher, nichts unge¬ 
rechter scheinen, als die Gleichheit der Demokratie. Und so wie er auf 
der einen Seite zu einer durchaus konservativen, ja reaktionären Gesinnung 
neigt, so muß er sich doch auch auf der anderen Seite — zwiespältig und 
in sich widerspruchsvoll —, sofern er nach Gerechtigkeit sucht, von allen 
ihren Formulierungen gerade zu jener am meisten hingezogen fühlen, die 
— ganz revolutionär — alles Heil nur von einer völligen Umkehr erwartet. 
Mag das nun die innere Umkehr seelischer Wandlung, mag das die radikale 
Umkehrung der bestehenden gesetzlichen Verhältnisse sein, wonach die Ersten 
die Letzten und die Letzten die Ersten, oder gerade die zur Herrschaft berufen 
sein werden, die man jetzt dafür für völlig ungeeignet hält: die Philosophen. 

§ Platons Verhältnis zu seiner Familie . Was wir aus dem Leben Platons 
wissen, ist wenig, und das wenige ungewiß. Sein eigentlicher Name war 
Aristokles. Den Beinamen „Platon“, unter dem er in die Unsterblichkeit 
eingegangen ist, hat er wegen seines breiten Körperbaues erhalten. Sein 
Gesicht darf man sich auf Grund der erhaltenen Überlieferung vielleicht üppig, 
seine Züge weich, ja weichlich vorstellen. 1 Seine Stimme, so wird berichtet, 
soll dünn und schwach geblieben sein; was wohl mit ein Grund für seine 


1) Ritter, a. a. O. S. 180. 










4 o 


Hans Kelsen 


Abneigung gegen den Rednerberuf gewesen sein dürfte. 1 Von seiner Gemüts¬ 
art berichtet Aristoteles, 2 er sei ein Melancholiker gewesen. 3 4 Nicht einmal 
in seiner Jugend habe man ihn übermäßig lachen sehen, erzählt Diogenes 
Laertios, 4, dem wir auch diese Verse des Komikers Dexidemides verdanken: 

„O Platon, daß du doch ewig finster blickst und sonst nichts kennst, 

Der Schnecke gleich die Brauen runzelnd feierlichst.“ 

„Traurig wie Platon“ war denn auch ein schon im Altertum geflügeltes 
Wort. 5 Aber diese Melancholie, deren dunkle Schatten sich immer wieder 
auch auf sein Werk herabsenken, sie weicht immer wieder einem aufs 
höchste gesteigerten Enthusiasmus, der nicht minder deutlich aus seinen 
Dialogen hervorleuchtet. Und gerade dieser Wechsel verleiht dem Ganzen 
der platonischen Philosophie einen überaus jugendlichen Charakter. 6 Von 
Platons Familienverhältnissen ist bekannt, daß er einem sehr wohlhabenden 
Hause entstammte. Den Vater, einen, wie es scheint, stillen und zurück¬ 
gezogenen Mann, hat Platon schon in früher Jugend verloren. Man darf 
vermuten, daß er ihn sehr geliebt hat. Noch als Mann gedenkt er seiner 
in Verehrung, denn seine beiden Brüder Glaukon und Adeimantos, Teil¬ 
nehmer an dem Dialog „Politeia“, läßt er hier von Sokrates — das Gedicht 
eines Liebhabers Glaukons zitierend — mit den Worten apostrophieren: 


1) Diogenes Laertios III, 4/5. Vgl. Karl Steinhart: Platons Leben (Platons sämt¬ 
liche Werke, übersetzt von Hieronymus Müller, mit Einleitungen begleitet von Karl 
Steinhart. IX. Bd., 1873, S. 69 und 72. 

2) Aristoteles: Problemata XXX. 

3) Pohlenz: Aus Platons Werdezeit, 1913, S. 129, bemerkt dazu, daß die Melan¬ 
choliker, zu denen Aristoteles den Platon rechnete, nicht etwa unsere Melancholiker 
seien. „Es sind jreQiTtol dvÖQ£<;, bei denen die schwarze Galle in der Mischung der 
körperlichen Säfte überwiegt und eine Neigung zur Anormalität bedingt, die zum 
Genie wie zum Irrsinn führen kann und sich beim einzelnen Menschen in starkem 
Stimmungswechsel äußert. Daß Platon solchem Stimmungswechsel unterlag, das können 
wir noch bei so manchen seiner Schriften feststellen.“ Platon scheint jenem Typus 
angehört zu haben, den man heute als „manisch-depressiv“ bezeichnet. 

4) Diogenes Laertios III, 26, 28. 

5) Lagerborg, a. a. O. S. 81. 

6) Vgl. dazu Lagerborg, a. a. O. S. 180 ff., 196 ff.; Spranger: Psychologie des 
Jugendalters, S. 193. „Aber für die Jugendpsychologie ist im besonderen hinzuzufügen: 
auf dieser Entwicklungsstufe sieht man gleichsam noch den jenseitigen Ursprung 
der Idee; sie lebt noch ein vom Erfahrungsstoff losgelöstes Leben, unbeirrt von all 
den kleinen Nuancen und Kompromissen, die sich durch Anwendung auf einen be¬ 
stimmten Kulturzustand ergeben. Das xcdqG; der Idee (das Abgesondertexistieren), das 
in Platons mittlerer Periode so stark betont wird, entspricht daher im höchsten Maße 
der Jugendstruktur des Geistes. Platons Philosophie ist eine jugendliche Philosophie.“ 
Lagerborg meint (a. a. O. S. 196), Platons Gemütsart sei gekennzeichnet durch eine 
„wiederholte Pubertät“. 






























































Die platonische Liehe 4 1 

„Sühne Aristons, göttlich Geschlecht eines ruhmvollen Mannes. 1 Viel be¬ 
zeichnender aber noch ist, daß er an einem der Höhepunkte dieses Werkes, 
dort, wo er die Frage nach dem Wesen des Guten bis zur äußersten Grenze 
des noch Aussprechbaren verfolgt, die für alle Metaphysik des Guten charakte¬ 
ristische Verdoppelung desselben nicht anders und nicht besser auszudrücken 
weiß als in dem Gleichnis des Verhältnisses von Vater und Sohn. Nur vom 
Sohne des Guten könne er sprechen, nicht aber vom Guten selbst, dem 
Vater, der liier sichtlich schon Gott selbst ist. 2 * Gerade den Vater aber ver¬ 
sucht der Mythos, der sich Platons Gestalt schon sehr bald nach seinem 
Tode bemächtigte, beiseite zu schieben. Der Held und Heiland hat keinen 
doch keinen irdischen Vater. Und so ist denn auch (gar nicht lange 
nach Platons Tod) in Athen die Rede gegangen, der Philosoph sei von 
^•iner Mutter in unbefleckter Empfängnis gezeugt worden. Nicht Ariston, 
sondern der Gott, Apollon, sei der wahre Vater .3 Das Verhältnis zu den Brüdern 
scheint gut gewesen zu sein, ganz besonders zum jüngeren. 4 Platon zeigt 
das Bestreben, das Andenken der männlichen Angehörigen seiner Familie 
in seinen Werken zu erhalten. Auch seinen Halbbruder Antiphon hat er 
in „Parmenides“) verewigt. Was um so auffallender ist, da Platon die 
Familie, das ist die auf der Geschlechtsverbindung von Mann und Frau 
beruhende Gemeinschaft in seinem Idealstaat radikal aufhebt. 5 Für einen 
seiner Onkel, den glänzenden Kritias, hegt er schwärmerische Verehrung. 6 
Eine Frau dagegen hat in Platons Leben keine Rolle gespielt. 7 Nicht einmal 
das Verhältnis zu seiner Mutter Periktione, die in zweiter Ehe den Politiker 
Pyrilampes heiratete, hat in seinen Werken eine Spur hinterlassen. Es wäre 
denn, daß man Wilamowitz-Moellendorff glaubt 8 und in der einzigen Frau, 
die Platon geschildert, dem ehrgeizigen Weibe, das er im VIII. Buch der 
Politeia beschreibt, 9 ein Porträt der Mutter Platons erblickt. Da ist von 
einem Jüngling, „dem Sohne eines trefflichen Vaters“, die Rede, der, weil 
er „Bürger eines nicht wohlgeordneten Staates ist“, „Ehrenämter, Rechts- 

1) Politeia II, 10 (368 St.). Vgl. dazu auch Wilamo witz-M o ellendorff, Platon, 
2. Aufl. 1920, I, S. 37 ff. 

2) Politeia VI, 18 (506/07 St.). 

5) Diogenes Laertios III, 2. Vgl. auch Steinhart: Das Leben Platons. S. 45. 

4) Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, a. a. O. S. 37. 

5) Vgl. Theodor Gomperz, Griechische Denker, II. Bd., 4. Aufl,, 1925, S. 426. 

6) Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, a. a. O. S. 37. 

7) Karl Steinhart drückt dies a. a. O. S. 166 so aus: daß „selbst die böswillige 
Klatschsucht seiner Gegner von seinen erotischen Beziehungen zu Frauen nichts zu 
fabeln wußte“. Vgl. auch Wilamowitz-Moellendorff, a. a. O. S. 37. 

8) Wilamowitz-Moellendorff, a. a. O. S. 454. 

g) Politeia VIII, 5 (549/550). 












4* 


Hans Kelsen 


handel, kurz die ganze Art von Betätigungssucht meidet und lieber hinter 
den anderen zurückstehen als sich mit diesen Widerwärtigkeiten herum¬ 
schlagen will“; und dann von der Mutter, „die sich nicht dareinfinden 
kann, daß ihr Mann nicht zu den Spitzen des Staates gehört und sich 
dadurch zurückgesetzt fühlt hinter den anderen Frauen, auch sieht, daß 
er sich wenig um Gelderwerb kümmert . . ., ihr selbst aber weder mit 
besonderer Achtung, aber auch nicht mit Mißachtung begegnet“ und die 
dann „durch alles dies tief gekränkt, zu ihrem Sohne sagt, sein Vater sei 
unmännlich und über die Maßen schlapp und was sonst dergleichen die 
Weiber in derartiger Lage einem zu hören geben“; und durch deren Ein¬ 
fluß schließlich Vater und Sohn nicht gerade zum Besten geführt werden. 
Und vielleicht darf man auch eine leise Andeutung in der höchst merk¬ 
würdigen Schilderung des tyrannischen Charakters suchen, die Platon im 
IX. Buch der Politeia gibt. 1 Er spricht dort von so intimen Angelegenheiten 
der Seele, daß man selbst dann berechtigt wäre, hier Selbstbekenntnisse zu 
vermuten, wenn Platon uns nicht selbst darauf hinweisen würde, indem 
er sagt, daß diese ganze Darstellung von einem komme, der „mit dem 
Auge seines Geistes in das sittliche Wesen“ dieses Charakters eingedrungen 
sei, „der nicht nur urteilsfähig ist, sondern auch unter einem Dache mit 
einem Tyrannen gewohnt hat“. Gewiß hat Platon, wie aus der unmittel¬ 
bar darauffolgenden Bemerkung hervorgeht, in der Sokrates sich und die 
anderen Teilnehmer am Dialog für Leute erklärt, die schon mit tyranni¬ 
schen Männern zu tun gehabt hätten, auf Erlebnisse zeitgenössischer Ge¬ 
schichte hindeuten wollen, aber doch wohl nur auch auf solche, und in 
zweiter Linie. Der tyrannische Charakter, als dessen verderbliche Wurzel 
er die Leidenschaft des tyrannischen Eros bezeichnet, wird wohl nur das 
eigene, gehaßte und immer wieder unterdrückte zweite Selbst Platons sein, 
von dem nur er wirklich und in tiefstem Sinne sagen kann, daß er mit 
ihm „unter demselben Dache wohnt“. So wie er ja auch im größeren 
„Hippias“, um den Konflikt zwischen einem höheren und einem niederen 
Ich in der Brust des Sokrates darzustellen, diesen von sich wie von einem 
Doppelgänger sprechen und ihn von diesem zweiten Ich sagen läßt: 

„Er ist mein nächster Verwandter und wohnt mit mir in demselben Hause. Wenn 
ich also nach Hause komme, und er hört mich so reden, dann fragt er, oh ich mich 
nicht schäme . . .“ 2 


1) Politeia IX, 4 (577 St.). 

2) Vgl. dazu O. Ap elts Übersetzung des „Hippias major“, Philosophische Bibliothek, 
Bd. 172 a, 2. Aufl., 1921, S. 6; und eine ähnliche Wendung im Dialog „Nomoi“ IX, 




















































Die platonische Liehe 


Von welch anderem Tyrannen als von dem in seiner Brust kann Platon 
sprechen, wenn er ihn vor allem durch seine Träume charakterisiert, die 
so verbrecherisch sind, daß sie nur kennt, wer sie selber träumt. Es sind 

Träume, von denen Platon sagt, daß es 

„keine Unvernünftigkeit und keine Schamlosigkeit gibt, auf die sich der Tyrann 
in ihnen nicht einließe, keine Blutschuld, die er auf sich zu laden nicht bereit wäre . 

l'nd unter allen Verbrechen steht an erster Stelle: 

„Der eigenen Mutter beizuwohnen, oder irgendwelchem anderen Wesen, sei es 
Mensch, Gott oder Tier.“ 

Wäre es nicht die eigene Seele, die Platon damit enthüllt, nicht die ver¬ 
borgensten Wünsche, die er sich selbst zur Strafe preisgibt, wie wäre die 
Bemerkung zu verstehen: 

,\Vir sind damit allerdings etwas weiter gegangen, als unmittelbar nötig war; 
was w ir «ms klar machen wollen, ist doch nur dies, daß einem jeden eine gefährliche, 
wilde und ordnungswidrige Art von Begierden innewohnt, selbst manchen unter uns, die 
vollkommen tugendhaft zu sein scheinen, und dies gibt sich dann in den Träumen kund. * 1 

$ 4 , Platons Stellung zur Frau. Doch bedarf es gar nicht solcher gewiß 
recht schwankender Stützen, um Platons völlig abwegige Einstellung zur 
Frau als Gattin und insbesondere als Mutter zu erkennen. Denn der Wert 
oder Unwert, den ihr Platon zuerkennt, erhellt deutlich daraus, auf welcher 
Seite sie in dem zweigeteilten Weltgebäude der platonischen Gut-Böse- 
Spekulation steht. Wenn es Platon auch nicht ausdrücklich erklärt, so 
kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß er im männlichen Prinzip 
das Gute, im weiblichen das Böse erblickt. 

a) „ Philebos “ und „ Timaios Im „Philebos“, wo der Kampf des Guten 
gegen das Böse als Unterwerfung der Lust unter die Vernunft dargestellt 
wird, tritt diese als männliche, jene aber als weibliche Gottheit auf. Sie 
wird wie dem Bereich des Werdens so dem des Apeiron, des Unbe¬ 
grenzten, zugewiesen, die beide als der Bereich des Bösen im Gegensatz 
zur Idee, dem Guten, stehen. 2 Im Schöpfungsmythos des Dialogs Timaios, 
wo Platon bemüht ist, die empirische Welt des Werdens als eine Mischung 
zwischen dem Seienden der Idee, die für ihn das Gute ist, und der Materie, 
die hier die analoge Rolle spielt, wie in früheren Dialogen das Nicht- 

875 C, wo Platon den Selbstmord mit den Worten umschreibt: „Wie aber soll es 
nun dem ergehen, der seinen allernächsten Verwandten und Geliebten, über den ihm 
nichts geht, umbringt?“ 

1) Politeia IX, 1 (571/72 St.). 

2) Philebos XV (28 St.). Vgl. dazu Friedemann, a. a. O. S. 99. „Als mischung ist 
die lust ein apeiron. Apeiron und lust sind grenzenlos, passiv und weiblich . . .“ 














44 Hans Kelsen 


seiende, das bei Platon der Repräsentant des Bösen ist, vergleicht er das 
Seiende, die Idee oder das „Urbildliche“, mit dem Vater, und die an Stelle 
des Nichtseienden tretende Materie, das, worin das Werdende wird, das 
Substrat des Werdens, mit der Mutter. 1 Und ganz ähnlich sind die Rollen 
in dem Mythos von der Geburt des Eros verteilt, der im „Symposion" erzählt 
wird. Sein Vater ist der Reichtum, der Sohn der Klugheit, seine Mutter 
aber die törichte Armut. Diese listet dem betrunkenen Reichtum den Bei¬ 
schlaf ab, in dem Eros erzeugt wird als Kind eines „weisen und gaben¬ 
reichen Vaters“ und einer „unweisen und unbegabten Mutter“. Nur gegen 
den Willen des Mannes kommt der Geschlechtsakt zustande, dessen Produkt 
alles Gute vom Vater, alles Schlechte von der Mutter hat. 2 Noch deutlicher 
aber drückt sich Platons sexualphilosophische Wertung der Frau in seiner 
Seelenwanderungslehre aus, wie sie im „Timaios“ — an zwei verschiedenen 
Stellen dargestellt ist. In der ersten heißt es, daß bei der Weltschöpfung 
auf jeden Stern eine Seele kam. Die Einkörperung, das ist die irdische 
Geburt, erfolgt in der Weise, daß die Seelen zunächst als Männer auf die 
Welt kommen. Die erste Menschheit ist somit eine männliche; doch gibt 
es in dieser frauenlosen Gesellschaft schon „Liebesleidenschaft“. Wenn 
diese Mann-Menschen über ihre Leidenschaften die Herrschaft behaupten, 
d. h.: ein gerechtes Leben führen, kehren ihre Seelen wieder auf ihren 
Stern zurück; wer aber, von seinen Leidenschaften überwältigt, ein un¬ 
gerechtes Leben führt, der muß 

„bei der zweiten Geburt die Natur des Weibes annehmen und wenn er auch in 
dieser Gestalt sich noch nicht seiner Bösartigkeit entschlagen hätte, dann müßte er 
sich entsprechend der Art seiner Schlechtigkeit jedesmal in ein tierisches Wesen von 
ähnlicher Beschaffenheit verwandeln, wie er sie in sich selbst hätte entstehen lassen, 
und könne dieses leidvollen Wechsels nicht eher ledig werden, als bis er . . . durch 
vernünftige Einsicht Herr geworden und so wieder zu der Form seiner ersten und 
edelsten Beschaffenheit zurückgekehrt wäre“. 3 

Die Existenz des Weibes wird also geradezu gedeutet als Strafe für die 
Sünde des Mannes. Im ersten Unschuldsstande ist der Mensch, der Gottheit 
noch am nächsten, Mann. Im platonischen Paradies gibt es nur Männer. 

1) Timaios 18 (50 St.). „Für jetzt müssen wir drei Gattungen in Betracht ziehen, 
das Werdende, das worin es wird, und das Urbild, von dem das Werdende als Ab¬ 
bild herstammt; und es hat wohl seinen guten Sinn, wenn wir das Aufnehmende 
vergleichen mit der Mutter, das Urbildliche mit dem Vater, und das zwischen beiden 
Stehende mit dem Kinde“. 49 St. wird die Materie als das Substrat des Werdens, 
„als Empfängerin und gleichsam als Amme alles Werdens“ bezeichnet. 

2) Symposion 23 (203/04 St.). 

3) Timaios 14 (41/42 St.). Vgl. auch Lagerborg, a. a. O. S. 25. 
















































Die platonische Liehe 4 ^ 


lm Schlußkapitel des Dialoges von der Weltschöpfung kommt Platon noch 
ein zweitesmal auf diesen Abstieg der Seelen von Mann zum Weib und 
vom Weib zum Tier zurück, und hier sagt er: 

„Von denen, die als Männer geboren waren, wurden alle diejenigen, die feige 
waren, und ein frevelhaftes Leben führten, nach allem, was die Wahrscheinlichkeit 
lehrt, bei der zweiten Geburt in Weiber verwandelt. Und gleichzeitig damit schufen 
die Götter aus diesem Grunde den Zeugungstrieb durch Bildung einer Art beseelten 
Wesens, das sie in uns Männern, und eines anderen, das sie in den Weibern ent¬ 
stehen ließen.“ 

Die Scheidung in zwei Geschlechter und der Trieb zur geschlechtlichen 
Zeugung, der den Mann mit dem eine böse Seele verkörpernden Weibe ver¬ 
bindet. ist hier — nicht die Ursache, sondern — die Folge des Sündenfalles. 

In der nun folgenden Physiologie und -Anatomie der beiden Geschlechter 
betont Platon 

.(iie Unfügsamkeit und Selbstherrlichkeit der männlichen Schamteile, deren rasende 
Begierden keinen Widerstand dulden, unzugänglich wie ein Tier für jeden Zuspruch 
der Vernunft“. 

Von den weiblichen Geschlechtsorganen aber sagt er, daß sie „mit der 
Begierde nach Kindererzeugung“ verbunden seien. Nur bei der Frau, nicht 
aber beim Manne, wird der Sexualtrieb als „Begierde nach Kindererzeugung“ 
gedeutet. Der Weg zum Tier scheint aber hier nicht über das Weib zu 
gehen, denn Platon sagt, nachdem er die Entstehung des Weibes geschildert: 

„So sind also Weiber und alles Weibliche entstanden. Das Geschlecht der Vögel 
aber entwickelte sich, indem es statt der Haare Federn bekam, durch Umgestaltung 
aus solchen Männern, die zwar harmlos, aber leichtsinnig waren und sich zwar mit 
den himmlischen Erscheinungen beschäftigten, aber so einfältig waren zu glauben, 
daß das Gesicht die sichersten Erklärungen dieser Dinge liefere. Das Geschlecht 
der Landtiere sodann entwickelte sich aus solchen, die aller Liebe zur Weisheit har 
waren und sich der Betrachtung der Himmelserscheinungen völlig verschlossen . . . 
Die unverständigsten unter den Männern aber . . . wurden ... zu fußlosen, auf der 
Erde sich fortwindenden Geschöpfen gemacht. Das vierte Geschlecht endlich, die 
Wassertiere, entstanden aus den Allerunvernünftigsten und Unwissendsten ..., die 
zur Strafe für den tiefsten Grad der Unwissenheit auch die tiefsten Wohnsitze an¬ 
gewiesen erhielten. Und auf diese Weise werden denn noch jetzt wie damals alle 
lebenden Wesen ineinander verwandelt, indem sie je nach dem Verlust und Gewinn 
von Vernunft und Unvernunft ihre Gestalt wechseln.“ 1 

Bei dieser Darstellung der Seelenwanderungslehre hat es den Anschein, 
als ob die Wiedergeburt als Weib die Strafe für Frevel und Unsittlichkeit, die 
Wiedergeburt als Tier aber die Strafe für Dummheit und Unwissenheit wäre. 


i) Timaios 44 (90—92 St.). 















46 


Hans Kelsen 


b) „Politeia“. Diese Anschauung Platons von der Identität oder doch 
Affinität des Weihes mit dem Prinzip des Bösen scheint der Stellung zu 
widersprechen, die Platon der Frau im Idealstaat der „Politeia“ einräumt. 
Innerhalb der Ordnung, die dort für die herrschende Klasse der Krieger 
und der aus ihnen hervorgehenden Philosophen gilt, ist die Frau dem 
Manne grundsätzlich gleichgestellt, wird sie zu den gleichen Funktionen 
wie der Mann, insbesondere also zum Militärdienst, herangezogen. Aber 
diese Gleichstellung der Frau beruht nicht darauf, daß Platon dem weib¬ 
lichen Geschlecht den gleichen Wert zuerkennt wie dem männlichen, 
sondern darauf, daß er die Frau als solche ignoriert, daß er ihre geschlecht¬ 
liche Eigenart, für die er kein Empfinden hat, nicht anerkennt, ja geradezu 
verneint. Das zeigt sich deutlich genug, wenn Platon ernstlich den Vor¬ 
schlag macht, 

„daß sich die Frauen in den Ringschulen unbekleidet neben den Männern üben“ 
und daß er dabei besonderer Rechtfertigung nur für nötig hält, daß dies 
nicht nur für die jungen Frauen gelten soll, sondern sogar auch für 

„die schon älteren; wie man es ja auch bei bejahrten Männern sieht, die un¬ 
geachtet ihrer Runzeln und ihres wenig erfreulichen Aussehens dennoch mit Eifer den 
Turnübungen obliegen“. 1 

Die gleiche geschlechtliche Indifferenz der Frau gegenüber geht aus den 
Argumenten hervor, mit denen er die Gleichstellung der Frau gegen nahe¬ 
liegende Einwände begründet. So der eine: Wenn die Männer der herr¬ 
schenden Klasse „gleichsam zu Hütern einer Herde“ gemacht werden sollen 
— darin bestehe im wesentlichen die Funktion des Phylakes —, dann ist 
nicht einzusehen, warum nicht auch die Frauen das gleiche leisten sollen, 
so wie ja auch 

„die weiblichen Schäferhunde den nämlichen Wachedienst mitübernehmen, den die 
männlichen verrichten und mit auf die Jagd gehen und gemeinsam mit ihnen auch 
die übrigen Obligationen verrichten, oder sollen sie nur drinnen das Haus hüten als 
unabkömmlich wegen des Gebärens und Ernährens der Jungen, die Männer aber allein 
den mühseligen Dienst tun und alle Fürsorge für die Herde auf sich nehmen?“ 2 

Wenn Platon diese Frage entschieden verneint, und nur die schwächere 
Konstitution der Frau zu berücksichtigen für nötig erklärt, so ist dabei der 
Gedanke entscheidend, daß auch bei den Hündinnen das Gebären und 
Ernähren der Jungen keine von der Verwendung der männlichen Hunde 
verschiedene Behandlung begründet. Und noch blinder für die geschlecht- 


1) Politeia V, 3 (452 St.). Vgl. auch Lagerborg, a. a. O. S. 13/14. 

2) Politeia V, 3 (451 St.). 








































Die platonische Liebe 4/ 


liehe Wesensverschiedenheit der Frau ist das Argument, daß der Unter¬ 
schied zwischen Mann und Frau kein anderer sei und daher bei der Ein¬ 
stellung der Frau in die soziale Gemeinschaft ebensowenig Berücksichtigung 
verdiene, als der zwischen Kahlköpfigen und Vollbehaarten. 1 Man konnte 
geltend machen, daß die ganze Institution der Weiber- und Kindergemein¬ 
schaft, die Platon für die herrschende Klasse seines Idealstaates vorschreibt, 
einem Doktrinarismus entstammen muß, dem kein tieferes Erlebnis der 
Liebesgemeinschaft mit einer Frau, dem keinerlei innere Anteilnahme an 
Ehe und Familie ein Gegengewicht bietet. Aber eine deutlichere Sprache 
als alle abstrakten Institutionen des platonischen Idealstaates spricht ein 
Detail, das bei der Darstellung der Kindergemeinschaft unterläuft. 

Wenn jemand den Vorschlag macht, „daß die Frauen den Männern 
.dien gemeinsam angehören und keine mit keinem für sich zusammen 
wohnen, und daß auch die Kinder gemeinsam sein sollen“ und daß diese 
Kinder nach ihrer Geburt von den dazu bestellten Behörden übernommen 
werden sollen: auf welchen Einwand muß er gefaßt sein, wenn er bei 
den Frauen kein geringeres Muttergefühl voraussetzt, als es sogar unter 
Tieren zu beobachten ist? Daß die Mütter ihre Kinder bei den staatlichen 
Behörden werden nicht lassen, daß sie zumindest ihre eigenen selbst werden 
säugen wollen. Und der Staatsmann, der diesen Urtrieb sich nicht aus¬ 
wirken lassen will, wird vor allem dafür sorgen müssen, daß die Mütter 
ihre eigenen Kinder nicht kennen dürfen. Aber Platon glaubt nur fordern 
zu müssen, daß „weder der Vater sein Kind, noch das Kind seinen Vater“ 
kenne. 2 Von der Mutter kein Wort. Wer an dieser Stelle von ihr schweigt, 
dem hat die Natur alles Wissen um Mütterlichkeit und damit das Ver¬ 
ständnis für eine der gewaltigsten Triebkräfte des gesellschaftlichen Lebens 
versagt. Daher kommt es, daß Platon in seiner „Politeia“ die Beziehung 
zwischen Mann und Frau nicht anders betrachtet als ein Züchter die 
zwischen männlichen und weiblichen Tieren, daß er auch in seinen „Nomoi“, 
wo er den Gedanken der Weibergemeinschaft fallen und die Ehe wieder 
bestehen lassen hat, diese unter eine staatliche Kontrolle stellt, die jedes 
normale Gefühl verletzen muß. 

Der Mythos des ,,Politikos . Aber sein innerstes Verhältnis zu diesem 
wie zu manch anderem Problem enthüllt er im Mythos. An dem — schon 
früher erwähnten — Mythos des „Timaios“ muß auffallen, daß in dem 
Menschengeschlecht, das aus der ersten Ver körperung der Seelen entsteht, 

1) Politeia V, 4/5 (454 St.). 

2) Politeia V, 7 (457 St.). 














48 


Hans Kelsen 


eine geschlechtliche Fortpflanzung überhaupt nicht möglich ist, da dieses 
Geschlecht nur aus Männern besteht. In dem großen Mythos des „Politikos“ 
aber, der auch eine Weltentwicklung schildert, wird die geschlechtliche 
Fortpflanzung in dem goldenen Zeitalter, in dem für die Bedürfnisse der 
Menschen ohne deren Zutun reichlich gesorgt ist und das ungefähr der 
Periode der Mann-Menschheit des „Timaios“ entspricht, ausdrücklich aus¬ 
geschaltet und für sie ein höchst merkwürdiger Ersatz geschaffen. Es wird 
erzählt, 1 daß die Welt bald unter der Herrschaft der Gottheit stehe, bald 
nur von ihrer eigenen Kraft getrieben werde, dann nämlich, wenn die 
Gottheit das Steuerruder aus den Händen gebe und die Welt ihrem eigenen 
Lauf überlasse. Die unter der göttlichen Leitung sich vollziehende Bewegung 
führe zum Guten, die andere zum Bösen. Ist dieses bis zum Äußersten 
gediehen, ergreift Gott wieder das Regiment und lenkt die Welt in die 
entgegengesetzte Richtung. Der Wechsel der Leitung bedeutet eine völlige 
Umkehr aller Verhältnisse. Unter ihnen spielt die geschlechtliche Fort¬ 
pflanzung eine höchst bemerkenswerte Rolle. Dieses Problem wird von Platon 
hier besonders ausführlich behandelt, es steht eigentlich im Mittelpunkt des 
ganzen Mythos. Und da ist es nun sehr auffallend, daß die geschlechtliche 
Fortpflanzung in die Periode des Bösen fällt, da die Welt, „dem eigenen 
Triebe folgend“, sich bewegt. Und so müssen die Menschen in dieser Periode 
auch „durch eigene Kraft und durch Einfluß des nämlichen Triebes“ 
— der ein Trieb des Bösen und zum Bösen ist — „zeugen und erziehen“; 2 
so wie sie in dieser Periode ja auch nur durch eigene Kraft, durch Arbeit 
für ihre anderen Bedürfnisse sorgen müssen. Da die Wendung, die die 
Wiederaufnahme der Regierung durch die Gottheit herbeiführt, eine Wendung 
vom Bösen zum Guten und damit eine vollkommene Umkehrung aller Ver¬ 
hältnisse in der von Gott verlassenen und ihrer eigenen Kraft, der Kraft 
des Bösen überlassenen Welt bedeutet, kann es unter dem göttlichen Welt¬ 
regiment keine geschlechtliche Fortpflanzung geben. Nicht als Folge des 
Geschlechtsaktes werden die Menschen geboren, sie gehen nicht als Kinder 
aus dem Mutterleib hervor, um allmählich älter zu werden, zu sterben und 
begraben zu werden; sondern es ist gerade umgekehrt: Aus der Erde steigen 
die Menschen als Greise hervor, um allmählich jünger zu werden und 
schließlich als Samen wieder in die Erde zu fallen. Mit der Rückkehr der 
Greise zum Zustand des Kindes hängt zusammen, „daß auch die Gestorbenen, 
die in der Erde liegen, dort wieder Gestalt annehmen, und wieder zum 


1) Politikos XIII ff. (269 St. ff.). 

2) Politikos XVI (274 St.). 





































Die platonische Liehe 


49 


Leben gelangen, indem mit der Umkehrung des Alls auch die Entstehungs¬ 
weise in das Gegenteil umschlug “. 1 Es ist eine Auferstehung der Toten, die hier 
neben der ursprünglichen Entstehung aus der Erde an Stelle der geschlecht¬ 
lichen Fortpflanzung, an Stelle der „Erzeugung untereinander“ tritt. Daß es 
in dem Paradies des „Politikos“-Mythos keine Frauen gibt, das wird zwar 
nicht behauptet, aber sie sind überflüssig: die Fortpflanzung erfolgt ohne sie . 2 

,\ v /. „Der knabenliebende Eros“ Daß Platon nicht nur kein Verständnis 
für die geschlechtliche Eigenart der Frau gehabt hat, sondern daß ihm 
die Liebe zur Frau völlig fremd gewesen sein muß, das geht auch daraus 
hervor, daß er, der so viel von Liebe spricht, der der Liebe im Leben des 
Einzelnen wie im Ganzen des Universums eine so zentrale Stelle einräumt, 
d ibei immer und ausschließlich nur die Knabenliebe im Auge hat. Daß 
dt r F.ros Platons nicht etwa dasjenige ist, was wir heute Freundschaft nennen, 
sondern daß sein Eros auch noch auf der höchsten Stufe der Vergeistigung 
eine ausgesprochen sinnliche Grundlage hat, daß es ein sexueller Eros ist, 
der in seinem Leben und in seiner Lehre die Hauptrolle spielt, kann ernstlich 
nicht bezweifelt werden . 3 * Zu deutlich, kaum in einem anderen Punkte so 
deutlich, ist die Sprache seiner Dialoge. 

a) „Charmides“ und „Lysis“, Nur aus dem eigenen Erleben kann Platon 
im „Charmides“ die realistische Schilderung der Gefühle geben, die den 
Sokrates beim Anblick des schönen Jünglings ergreifen. Schon die Szene, 
die dem Auftreten des Charmides vorangeht, ist voll erotischen Fluidums. 
Als ein guter Dramatiker schickt Platon erst eine Schar von Liebhabern 
des schönen Charmides auf die Bühne. Wie dann er, der Vielgeliebte, selbst 
kommt, will ein jeder ihm Platz machen auf der Bank und „wir hörten 
damit erst auf“, läßt Platon den Sokrates, den reifen Mann unter den ver¬ 
liebten Jünglingen, sagen, 

.,als wir den Letzten auf der einen Seite zum Aufstehen gebracht, den Letzten 
auf der anderen Seite durch den Druck von seinem Sitz auf den Boden befördert 


i ) Politikos XV (271 St.). 

2> Daß die geschlechtliche Fortpflanzung erst mit Beginn der zweiten Weltepoche 
einsetzt, ist alte iranische Lehre. Auch sonst zeigt der Politikos-Mythos Elemente, 
die einen Einfluß altpersischer religiöser Vorstellungen auf Platon wahrscheinlich 
machen. Vgl. Reitzenstein, Platon und Zarathustra. Vorträge der Bibliothek War- 

n 1 j « 5 ’ t ? d * 1927 ' S * 32 Aus diesem Einfluß ließen sich auch gewisse 
auffallende Parallelen erklären, die zwischen dem platonischen Mythos und der jüdisch- 
christlichen Lehre vom messianischen Reiche bestehen, das als ein Zeitalter der 
Gerechtigkeit auf die satanische Periode des Bösen folgen wird. 

sch« M gl ' da2u ® eth * : Die dorische Knabenliebe, ihre Ethik und ihre Idee. Rheini¬ 
sches Museum. Neue Folge. 62. Bd. 1907. S. 458 ff. 

Imago XIX. 


4 













5o Hans Kelsen 


hatten. Er aber trat herzu und ließ sich zwischen mir und dem Kritias nieder. Schon 
da, mein Bester, kam ich aus dem Gleichgewicht und wie mit einem Schlage war 
es nun vorbei mit dem kühnen Selbstbewußt sein, das mich vorher glauben ließ, nichts 
würde mir leichter fallen, als mich mit ihm zu unterhalten. Als er aber nun . . . 
seine Augen auf mich richtete und mir einen ganz unbeschreiblichen Blick zuwarf, 
und sich anschickte, mich zu befragen . .., da, mein edler Freund, fiel mein Blick 
in sein Gewand. Das zündete bei mir wie ein Feuerfunke: ich verlor alle Fassung 
und zweifelte nicht, daß in Liebessachen nichts über die Weisheit des Kydias gehe, 
der, von einem schönen Knaben redend, einem anderen den Rat gab, ,es soll sich 
das Reh hüten, dem Löwen in den Weg zu kommen und unvermögend sich zu retten, 
ihm zur leckeren Beute zu werden 1 . Denn mir kam es vor, als wäre ich selbst in 
die Gewalt eines solchen Ungeheuers gefallen.“ 1 

Sinnlichkeit ist auch der Kern der „Freundschaft“, die das Thema des 
Dialogs „Lysis“ bildet . 2 Diese Freundschaft ist der Eros des „Symposion“ 
und des „Phaidros“, ist die rtaiSepaotia in ihrer ganzen, für Platon so 
schmerzvollen und so beseligenden Eigenart. 

Die Leidenschaft des Hippothales für den schönen Lysis, die den Aus¬ 
gangspunkt des nach dem letzteren benannten Dialoges über die Freund¬ 
schaft bildet, wird in ganz unzweideutiger Weise als sexuell geschildert. 
Der normal Empfindende muß sich anstrengen, in dem Gegenstand der 
Liebe des Hippothales nach den Symptomen, die Platon beschreibt, kein 
Mädchen zu sehen. Der Zustand des verliebten Jünglings zeigt alle typischen 
Merkmale sexueller Bindung: verschämtes Erröten, schüchterne Schwärmerei, 
Wunsch, den begehrten Gegenstand zu beschützen, Unfähigkeit, ihn anders 
als im rosigsten Lichte zu sehen, usw . 3 Das Verhältnis des offenkundig 
sexuell verliebten Hippothales wird in einem deutlichen Gegensatz zu der 
unsinnlichen Beziehung zwischen Lysis und Menexenos als einer echten 
Freundschaft und Hippothales als „echter Liebhaber“ hingestellt. Und dabei 
läßt Platon den Sokrates ausdrücklich sagen: 

„Notwendig muß dem echten und nicht verstellten Liebhaber von seinem Liebling 
liebreiche Freundschaft zuteil werden.“ 

Nach dieser Äußerung des Sokrates 


1) Charmides 4 (155 St.). 

2) P. Friedländer: Platon II (Die platonischen Schriften), 1930, S. 102, bemerkt 
zu diesem Dialog: Er zeigt die „philosophische“ Erotik „auf der Stufe des plato¬ 
nischen Frühwerks. Daß sich hinter der Philia dieses Dialoges wirklich der Eros 
verbirgt — ,wenn Freundschaft heftig wird, heißt es in den , Gesetzen' (837), so 
nennen wir sie Liebe 1 — das verrät sich gleich zu Anfang. Von den ersten Worten 
an wird die Atmosphäre des jtaiöi noc, 8QC05 fühlbar . . .“ 

3) Lysis 1, 2 (203—207 St.). 













































































Die platonische Liebe 


„ließen sich Lysis und Menexenos kaum zu einer Andeutung von Beifall herbei, 
des Hippothales Freude dagegen spielte sich in dem raschen Wechsel seiner Gesichts¬ 
farbe deutlich ab“. 1 

b) „ Phaidros .“ Diese Knabenliebe ist es, zu deren Preis die Teilnehmer 
des „Symposion“ ihre Reden halten und zu der sich Platon im „Phaidros 
rückhaltlos bekennt. Viel deutlicher noch als in allen anderen Dialogen 
tritt hier zu der zweiten dieser beiden Liebesdichtungen die sexuelle Kom¬ 
ponente des platonischen Eros hervor und stellt sich als wesentlicher Be¬ 
standteil, als letzte Grundlage, als der Nährboden gleichsam dar, aus dem 
der vergeistigte Eros emporwächst. Die leidenschaftliche Schilderung des 
beim Anblick eines schönen Knaben vom Liebeswahnsinn Ergriffenen ist 
eine der großartigsten Liebespoesien, eine von Sinnenglut erfüllte, in ihrer 
künstlerischen Schönheit hervorragende Darstellung der sexuellen Erregung. 
Der Eros, den die Schau des schönen Knabenleibes auslöst, wird hier als 
Erinnerung an die Schau des absolut Schönen gedeutet, der die Seele, die 
beflügelte Seele vor ihrer Geburt im Jenseits teilhaftig war. Die Schönheit 
des Knabenleibes ist ein Abglanz der ewigen Schönheit; darum durchrieselt 
den Liebhaber des Geliebten 

„zuerst ein Schauer, und Nachwehen der Angstbeklemmungen von damals be¬ 
schleichen sein Gemüt“. „Und wie er ihn anblickt, befällt ihn wieder nach dem 
Schauer in Wechsel ungewohnte Hitze und Schweiß. Die Ausstrahlungen der Schön¬ 
heit, die er mit seinen Augen aufgenommen hat, haben ihn durchglüht und wie Regen 
fällt es auf das sprossende Gefieder.“ 

In der Liebe zum schönen Knaben beginnen der Seele des Mannes wieder 
die Flügel zu wachsen. 

„Dieser warme Regen schmilzt die längst durch Dürre geschlossene spröde Ober¬ 
schicht, die das Hervorkeimen verhinderte. Und wie jetzt Nahrung zuströmt, schwellen 
und treiben von den Wurzeln aus die Schößlinge der Federn unter der ganzen Ober¬ 
fläche der Seele hin: Denn ganz war sie dereinst befiedert.“ 

Dann wird der Wechsel von Qual und Lust geschildert, den die Liebe erzeugt. 

„Indem beide Gefühle sich mischen, wird ihr (der liebenden Seele) unheimlich 
bei diesem seltsamen Zustand; ratlos wütet sie herum, die wahnsinnige Erregung 
laßt sie weder nachts schlafen noch am Tage ruhig auf der Stelle bleiben, sondern 
sehnsuchtsvoll eilt sie nach den Orten, wo sie den Träger der Schönheit zu erblicken 
vermeint. Erblickt sie ihn, und kann dadurch sich neuen Liebreiz zuleiten, so erweitern 
sich die vorher verstopften Gänge; aufatmend fühlt sie sich frei von Stichen und 
Qu en, und wieder genießt sie so in der Gegenwart die süßeste Lust. Weshalb sie 
auc freiwillig von dem schönen Geliebten sich nicht trennt und niemand höher 
schätzt als ihn, Mutter, Brüder und Freunde hat sie sämtlich vergessen; daß das Ver- 

i) Lysis 17 (222 St.). 


4 * 















Sz 


Hans Kelsen 


mögen, um das sie nicht sorgt, draufgeht, gilt ihr nichts; was Sitte und Anstand 
verlangen, und sie zuvor sich zur Ehre rechnete, verachtet sie alles, bereit, dem 
Gegenstand ihrer Sehnsucht dienstbar zu Sein und so nah als ihr immer gestattet werden 
darf, hei ihm zu schlafen. Denn abgesehen von der Verehrung, die sie für den Träger 
der Schönheit empfindet, hat sie in ihm allein auch den Arzt gefunden für ihre größte 
Pein. Diesen Zustand, mein schöner Knabe, an den meine Rede gerichtet ist, nennen 
die Menschen ,Eros‘; wie ihn aber die Götter bezeichnen, darüber wirst du ver¬ 
mutlich lachen, wenn du es hörst, weil es mutwillig klingt.“ 

Und nun zitiert Platon aus „geheimgehaltenen Gedichten“ einen Vers, in 
dem es heißt, daß nur die Sterblichen den geflügelten Gott Eros, die Un¬ 
sterblichen aber ihn „Pteros“ nennen, „vom Schwingen treibenden Zwange “; 1 
was, wörtlich genommen, vermutlich ein obszöner Ausdruck war. Ja, wenn, 
was nicht unwahrscheinlich, die fraglichen Verse von Platon selbst gemacht 
und nur zum Schein zitiert sind, so kann den Worten, nach Ritter, über¬ 
haupt keine andere Bedeutung zukommen . 2 Zwar wird im „Phaidros“ — wie 
auch sonst, wenn Platon von Eros spricht — die Forderung aufrechterhalten, 
die Befriedigung des sexuellen Triebes sich zu versagen. Aber nicht nur 
ist die schon die Grenzen des Obszönen streifende Darstellung des erotischen 
Gegenstandes selbst fast ein Ersatz solcher Befriedigung, die Darstellung 
Platons wird zu einer durch die Einschaltung retardierender Elemente geradezu 
raffinierten Beschreibung des über alle Hemmungen schließlich doch zum 
Ziele gelangenden Geschlechtsgenusses. Mit einer Lebendigkeit, mit der nur 
Selbsterlebtes ausgesprochen werden kann, wird der Kampf des sittlichen 
Bewußtseins gegen die Wünsche der Geschlechtlichkeit beschrieben. Die 
Seele wird mit einem Gespann verglichen, das von einem guten und einem 
bösen Rosse gezogen wird, wodurch die sittlich gerichtete Vernunft und 
die zur Unsittlichkeit drängenden Begierden symbolisiert werden. 

„Wenn nun der Lenker, nachdem er das Liebesantlitz erblickt, und durch seine 
Anschauung die ganze Seele sich durchwärmt hat, von den Stacheln kitzelnden Ver¬ 
langens gespornt wird, dann hält das dem Lenker gehorsame Roß, das, wie immer, 
auch jetzt durch Scham sich meistern läßt, selbst an sich, um nicht loszuspringen 
auf den Geliebten; das andere aber kehrt sich jetzt nicht länger an Lenkstacheln und 
an Peitsche, sondern in gewaltsamen Sprüngen stürzt es auf sein Ziel zu und zwingt 
den Spanngenossen und den Lenker, denen es alle mögliche Not bereitet, zu dem 
Geliebten hinzugehen und der Liebesgunst Erwähnung zu tun. Anfangs widerstreben 
die Beiden voll Unwillens im Gedanken, daß sie zu etwas Schrecklichem und Bösem 
gezwungen werden sollen: schließlich, aber, wenn des Übels kein Ende ist, nach- 


1) Phaidros XXXI (251—253 St.). 

2) In den Anmerkungen zu Ritters Übersetzung des „Phaidros“. Philosophische 
Bibliothek, Bd. 152, 2. Aufl., 1922, S. 129. 
































































Die platonische Liehe 


53 


gebend und ein willigend, das Gebotene zu tun. Und so kommen sie hin und schauen 
des geliebten Knaben leuchtendes Angesicht.“ 

Wenn es aber dem Wagenlenker gelingt, das Gespann doch noch zurück¬ 
zureißen, benetzt das eine Roß 

„vor Beschämung und Verwirrung die ganze Seele mit Schweiß, das andere aber 
bricht, ... in zorniges Schelten aus und mit vielen Schmähungen gegen den Lenker 
und Spanngenossen, als feige Memmen wären sie ausgerissen und hätten ihr Wort 
gebrochen. Es will sie zwingen, obgleich sie nicht wollen, wieder hinzugehen und 
gibt nur endlich ihren Bitten um Aufschub für später nach. Und wie die verabredete 
Stunde kommt, mahnt es die beiden, die sich stellen, als dächten sie nicht daran, 
und nötigt sie mit Gewalt, wiehernd und vorwärtsziehend, daß sie wieder an den 
Knaben herantreten, ihm dieselben Anträge zu machen, da sie nahe sind, senkt es 
den Kopf, stellt den Schweif, beißt auf den Zaum und zieht mit Schamlosigkeit 
vorwärts“. 

Aber wiederum gelingt es dem Lenker, das böse Roß zu bändigen, so daß es, 
wenn es den schönen Knaben erblickt, „fast vor Furcht vergehen möchte“. Doch 
dieser Sieg des Lenkers und seines edeln Rosses ist kein endgültiger. Jetzt wird 
erst geschildert, wie auch der geliebte Knabe vom Eros ergriffen wird. Wenn 
der Liebende und der Geliebte längere Zeit miteinander verkehren, wenn 

„sie zueinander kommen und sich berühren, bei den Körperübungen und dem 
sonstigen Verkehr, dann ergießt sich die Quelle jenes Stromes, den Zeus als Lieb¬ 
haber des Ganymedes Himeros benannte, im vollen Schwalle gegen den Geliebten: 
Ein Teil dringt ein in ihn, ein anderer fließt, da er erfüllt ist, außen wieder ab. 
Nun ist auch der geliebte Knabe von Liebe erfüllt; er ist nun verliebt, weiß aber 
nicht, in was, und begreift nicht einmal seinen Zustand, noch kann er ihn be¬ 
schreiben . . . und daß er wie in einem Spiegel in seinem Liebhaber nur sich selbst 
sieht, versteht er nicht. Ist der andere anwesend, so hat er genau wie dieser Ruhe 
vor seiner Qual, und ist er abwesend, so empfindet er genau so Sehnsucht und wird 
ersehnt, indem er als Nachbild der Liebe Gegenliebe in sich trägt. Er bezeichnet 
es aber und nimmt es nicht als Liebe, sondern als Freundschaft. Ähnlich wie jener, 
nur in schwächerem Grade, empfindet er das Verlangen, den anderen zu sehen, zu 
berühren, ihn zu küssen und neben ihm zu ruhen. Und wahrscheinlicherweise tut er 
das auch bald darauf. Wenn beide miteinander das Lager teilen, so braucht das 
zügellose Roß des Verliebten nicht nach Worten an seinen Lenker zu suchen, und 
verlangt als Entschädigung für viele Nöte einen kleinen Genuß. Das des Knaben 
aber findet keine Worte, doch voll brünstigen unbekannten Verlangens umfaßt es 
den Liebhaber und küßt ihn, im Gedanken, daß es doch ein gar treuer Freund sei, 
den er liebkose; und wenn sie nebeneinander sich niederlegen, so kann es sein, daß 
er, soviel an ihm liegt, sich nicht weigern würde, dem Liebhaber zu willen zu sein, 
wenn dieser darum bäte. Allein, das Nebenroß im Verein mit dem Lenker sträubt 
sich wieder dagegen mit Scham und Vernunft“. 

Aber vergeblich. Platon endet seine Beschreibung dieses Kampfes — in 
dem nur völlig lebensfremde Stubengelehrtheit oder verlogene Heuchelei 












5 4 


Hans Kelsen 


etwas anderes sehen kann, als den Kampf um die Befriedigung des Ge¬ 
schlechtstriebes — nicht mit dem alleinigen Sieg des guten Rosses. Er faßt 
auch den Fall ins Auge, daß 

„wohl einmal im Rausche oder sonst in einem schwachen Zustande die beiden 
zuchtlosen Gespannspferde ihre Seelen unbewacht überraschen und, indem sie beide 
zusammenführen, das von der Menge gepriesene Teil sich wählen und vollbringen; 
und wenn sie es vollbracht, dann machen sie auch fernerhin davon Gebrauch, doch 
nur selten, da sie damit etwas tun, was nicht der ganzen Seele genehm ist“. 1 

Es ist derselbe Eros, der, die Sinnlichkeit überwindend, einen der „drei 
wahrhaft olympischen Ringersiege“ davonträgt, so „das Höchste erreicht, 
was menschliche Besonnenheit oder göttlicher Wahnsinn einem Menschen 
zu verschaffen imstande ist“ und der „das von der Menge gepriesene Teil 
wählt und vollbringt“. 

c ) „ Politeia .“ Aber auch in der „Politeia“, die nicht wie „Lysis“, 
„Symposion“ und „Phaidros“ ein erotisches Hauptthema hat, verrät sich 
Eros wenn Platon hier von ihm spricht — deutlich als die nur mühsam 
ihre Sinnlichkeit unterdrückende Knabenliebe. Im Rahmen der Vorschriften, 
die den Zweck haben, die Tapferkeit der Krieger im Idealstaat zu heben, 
schlägt Platon — durch den Mund des Sokrates — vor: 

„Wer sich hervorgehoben und rühmlich ausgezeichnet hat, der muß doch wohl, 
wie du zugeben wirst, zunächst noch im Feldzuge von dem mit im Felde stehenden 
Jünglingen und Knaben, von jedem der Reihe nach, einen Kranz erhalten.“ 

Daß dieses Heer des Idealstaates ebenso aus Männern wie aus Frauen ge¬ 
bildet ist, scheint hier vergessen. Sokrates fährt nach einer zustimmenden 
Äußerung des Glaukon fort: 

„Ferner auch durch Händedruck geehrt werden“, darauf Glaukon: „Auch das.“ 
Sokrates: „Aber was nun folgt, wirst du, fürchte ich, nicht mehr gut heißen“ 

was scherzhaft gemeint ist, denn Glaukon wird als „eine besonders 
verliebte Natur“ hingestellt 2 —: 

„Was denn?“ fragt Glaukon; und darauf Sokrates: „Daß er einen jeden küssen 
und wieder geküßt werden soll.“ Worauf Glaukon: „Dies erst recht! Und ich mache 
auch den Zusatz zu dem Gesetz, daß während der ganzen Dauer des Feldzuges keiner, 
den er küssen will, es ihm abschlagen darf, schon deshalb, damit wenn einer etwa 
verliebt ist in einen Jüngling oder in ein Mädchen, sein Eifer, den Preis davonzu¬ 
tragen, um so mehr entfacht werde.“ 3 


1) Phaidros XXXIV ff. (254—256 St.). 

2) Politeia V, 19 (474 St.). 

5) Politeia V, 14 (468 St.). 


































































Die platonische Liebe 55 

Man merkt, wie sehr mühsam dieses „oder in ein Mädchen“ nachhinkt, 
nachdem von Händedruck und Küssen nur zwischen den Jünglingen die 
Rede war; und wird darum auch dem Umstand keine sonderliche Bedeutung 
beimessen können, daß Sokrates, dem Glaukon zustimmend, schließlich auch 
erklärt, daß „dem sich tüchtig Bewährenden mehr Gelegenheit zu ehelichen 
Freuden gegeben werden soll als den anderen“, und dabei auch die Rück¬ 
sicht auf einen guten Nachwuchs hervorhebt. — Wie sehr der platonische 
Eros doch nur die homosexuelle Liebe ist, das zeigt, daß Platon im Zusammen¬ 
hang der Begründung einer seiner Hauptthesen: daß die Philosophen den Staat 
regieren sollen, bei der Erklärung des Wortes qpdöoocpo«;, das den die Weisheit 
Liebenden bezeichnet, die Liebe nur als Knabenliebe darstellt. Sokrates will 
darauf hinaus, daß der Philosoph von einem Verlangen nach der ganzen Weis¬ 
heit erfüllt sei, und nicht etwa nur nach einem Teile, und stellt daher den Satz 
voran: Wenn wir von einem sagen, er liebe etwas (cpiAelv), so bedeute das, daß 
er das Geliebte nicht nur in einer gewissen Beziehung liebe, sondern ganz in 
sein Herz geschlossen habe. Und da Glaukon eine nähere Erklärung verlangt, 
illustriert Sokrates seine Behauptung nicht etwa so, daß er daran erinnert, wie 
sehr doch ein liebender Jüngling sein Mädchen ganz und gar mit all ihren 
Vorzügen und Fehlern ins Herz schließt, sondern damit: 

„daß alle in der Blüte stehenden Knaben den Knabenfreund und Geliebten irgendwie 
reizen und erregen, indem sie seiner Bemühung und zärtlichen Annäherung wert 
scheinen. Oder macht ihr es nicht so mit den Knaben? Der eine wird, weil er ein 
Stumpfnäschen hat von euch liebreizend genannt und gepriesen, des anderen Habichts¬ 
nase, sagt ihr, habe etwas Königliches, und wer zwischen beiden die Mitte hält, der 
übertreffe alle an Ebenmaß; die dunkeln seien von männlichem Aussehen, die blonden 
wären wahre Götterknaben; die honig-blassen aber — meinst du, sie entstammen, 
wie auch ihr Name, dem Hirne irgendeines anderen als eines Liebhabers, der ihre 
Blässe beschönigen will und sich gern mit ihr abfindet, wenn sie nur mit Jugend¬ 
schönheit verbunden ist.“ 1 

Von der „rechten Liebe“ ist im III. Buche die Rede. Und wenn Platon 
den Sokrates fordern läßt, daß diese Liebe, damit sie die „rechte“ sei, von 
aller sinnlichen Lust frei bleiben müsse, so möchte man zunächst glauben, 
daß er die Liebe überhaupt, also auch die zwischen Mann und Frau, meint. 

„Also darf ihr auch nicht diese Lust beigesellt werden, und Liebhaber wie Geliebter 
dürfen bei richtiger Liebe mit ihr nichts gemein haben.“ 

Man merkt sogleich, daß Platon auch hier nur die Knabenliebe im 
Auge hat: Und so heißt es denn weiter, man müsse daher im Idealstaat 
die Bestimmung einführen, 


1) Politeia V, 19 (474 St.). 












„es dürfe der Liebhaber den Geliebten zwar küssen und mit ihm verkehren und 
ihn berühren wie einen Sohn, um des Schönen willen, wenn er ihn dazu bereit findet, 
im übrigen aber müsse sein Umgang mit dem, dem sein Bemühen gilt, derart sein,’ 
daß er niemals auch nur den Schein errege, als ginge er über diese Grenze hinaus“, i 

Es ist in der Tat nur die homosexuelle Liebe, der Platon Enthaltung von 
der Befriedigung des Triebes zumutet. Für die Beziehung zwischen den 
beiden verschiedenen Geschlechtern die ihm überhaupt kein wahrer Eros 
sein kann — liegt ihm solche Forderung völlig fern. Stellt er doch selbst 
den normalen Geschlechtsverkehr, von der Regierung genau geregelt, in 
den Dienst der populationistischen Interessen seines Idealstaates. Die „platoni¬ 
sche Liebe ist soll Platon nicht gröblich mißverstanden sein — wirklich 
nur die Knabenliebe . 1 2 3 4 

§ ^' Die Päderastie in Griechenland, a) Der dorische Kultur kr eis. Zur 
Sublimierung seines Eros wurde Platon vor allem dadurch gedrängt, daß 
dieser sein Eros im Widerspruch zu den sittlichen und rechtlichen An¬ 
schauungen der athenischen Gesellschaft seiner Zeit stand. Die mitunter 
vertretene Meinung, daß die Knabenliebe in der antiken Welt ganz allge¬ 
mein verbreitet gewesen und darum durchaus nicht wie in der christlichen 
Kultur ethisch abgelehnt worden sei, ist unrichtig. Nur für die sogenannten 
dorischen Staaten sind homosexuelle Gebräuche, Liebesverhältnisse zwischen 
alteren und jüngeren Männern als öffentlich anerkannt nachweisbar. Und 
auch hier ist die Päderastie eine nur auf die verhältnismäßig dünne, die 
adelige Oberschicht beschränkte soziale Erscheinung. Als eine spezifisch 
litterliche Sitte oder Unsitte ist sie uns überliefert, die sich vermutlich aus 
der militärischen Funktion dieser Klasse, aus den ständigen Feldzügen, dem 
dauernden Lagerleben erklärt, das die Männer allzulange von den Frauen 
fernhält und sie zur wechselseitigen Befriedigung ihrer geschlechtlichen Be¬ 
dürfnisse zwingt. Aber auch in der dorischen Gesellschaft war die Päderastie 
trotz öffentlicher Anerkennung oder gar religiöser Legitimierung keineswegs 
eine unangefochtene Institution^ 

Auf Lykurg selbst wird ein Gesetz zurückgeführt, das die sexuelle Knaben¬ 
liebe mit Tod und Verbannung bestraft.* Und von dem spartanischen König 

1) Politeia III, 12 (403 St.). 

2) Vgl. Lagerborg, a. a. O. Passim. 

3) Vgl. dazu Bethe, a. a. O. S. 446. 

4) Nach Xenophon: Über den lakonischen Staat, II, 13. Vgl. Symonds: Die Homo¬ 
sexualität in Griechenland, in Havelock Ellis und J. A. Symonds: Das konträre 
Geschlechtsempfinden (Bibliothek für Sozialwissenschaft, herausgegeben von Hans 
Kurella, 7. Bd., 1896), S. 54. 







































































































Die platonische Lieb« 




Agesilaos, dessen Verhalten, wie Theodor Gomperz bemerkt: „als typisch 
für die vornehmen Kreise seiner Heimat gelten darf “, 1 wird erzählt, er 
habe sich heftig gegen die in ihm sehr lebendigen homosexuellen Nei¬ 
gungen gewehrt. Xenophon 2 berichtet von ihm, er habe gesagt: nicht um 
alles Gold der Erde möchte er in einem solchen Kampfe unterliegen. Schon 
einmal habe er ihn siegreich bestanden, als er sich versagte, einen Knaben, 
der ihn durch seine Schönheit entzückte, zu küssen. Daraus geht zumindest 
dies hervor, daß das gesellschaftliche Urteil über die Päderastie auch 
in Sparta zumindest nicht eindeutig war. Über die Gründe, die den Ge¬ 
setzgeber veranlassen konnten, dennoch gewisse homosexuelle Gebräuche 
zu dulden oder gar zu fördern, sind wir nur auf Vermutungen angewiesen. 
Eine allzu starke Vermehrung der auf einen beschränkten Grundbesitz an¬ 
gewiesenen, militärisch organisierten Adelskaste lag jedenfalls nicht im 
staatspolitischen Interesse. Bildet ja überhaupt die Übervölkerung für die 
Kleinstaaten Griechenlands eine ständige Gefahr ; 3 und Maßnahmen dagegen 
sind keine Seltenheit. Unter diesem Gesichtspunkte ist insbesondere auch 
die bekannte spartanische Sitte zu beurteilen, schwächliche oder verkrüppelte 
Kinder auszusetzen. Aristoteles spricht direkt die Ansicht aus, in Kreta sei 
die Päderastie eingeführt worden, um der Übervölkerung zu begegnen . 4 

b) Das Verhältnis von Religion und Dichtung zur Knabenliebe. Außerhalb 
des dorischen Kulturkreises, insbesondere in Jonien und Athen war die 
Päderastie sicherlich niemals bodenständig. Die griechische Religion 5 mit 
ihrem die Frauen nur allzusehr liebenden Götterkönig und ihrer die Liebe 
des Mannes zum Weib verkörpernden Aphrodite ist eine wahre Apotheose 
des normalen Geschlechtstriebs. Die Ehe des Zeus und der Hera steht im 
Mittelpunkt des olympischen Lebens . 6 Denn als heilige Institution gilt die 
Ehe dem griechischen Volke, und Nachkommen zu haben, sich fortzu- 


1) A. a. O. S. 299. 

2) Xenophon, Agesilaos, c. 5, 5. 

3) Theodor Gomperz, a. a. O. S. 402: „Für die kleinen und eng umgrenzten 
Republiken Griechenlands bildete die Übervölkerung eine ständige Gefahr. Bei den 
verhältnismäßig geringen wirtschaftlichen Hilfsmitteln und den primitiven Methoden 
war die Gefahr der Verarmung sehr groß; zumal für die herrschende Klasse, deren 
Einnahmen ausschließlich aus dem keiner Vermehrung fähigen Grundbesitz floß.“ 

4) Aristoteles, Politik, II, 10; 1272 a, 23. 

5) Vgl. Symonds, a. a. O. S. 118. 

6) Die Ganymed-Sage dürfte wohl erst verhältnismäßig spät unter dem Einfluß 
dorischer Sitten eine homosexuelle Umdeutung erfahren haben. Solche Umdeutungen 
mußten sich auch gewisse historische Freundschaftsverhältnisse gefallen lassen, wie 
das zwischen Achilles und Patrokles. Vgl. Symonds, a. a. O. S. 43. 














58 


Hans Kelsen 


pflanzen als eine der vornehmsten vaterländischen Pflichten. Für das durch¬ 
schnittliche Urteil über die Knabenliebe ist nichts bezeichnender als die 
Sage, die die Päderastie auf Laios, den Vater des Ödipus, zurückführt, der 
den schönen Knaben Chrysippos entführt haben soll. Der Mythos deutet 
den Fluch, der auf dem Königshaus der Labdakiden lag, als Rache der Hera, 
der Schützerin der Ehe, und sohin als Strafe für ein Verhalten, das offenbar 
für naturwidrig, für ein Laster angesehen wurde . 1 In den Homerischen 
Gedichten findet sich denn auch keine Spur davon. Die Ehe Hektors mit 
Andromache und Odysseus mit Penelope leuchten hier als unangefochtenes 
Ideal, die Liebe des Menelaus zu Helena setzt das Ganze des heroischen 
Geschehens in Bewegung. Und auch bei den großen Tragikern ist — zu¬ 
mindest in den uns erhaltenen Stücken — nichts von einer besonderen 
Schätzung der Päderastie zu merken. Die Dramen, in denen Aischylos und 
Sophokles das Problem behandelt haben sollen (so Aischylos in den „Myr- 
midonen ‘), sind nicht auf uns gekommen; wir wissen daher nicht, in 
welchem Sinne dieses geschah . 2 Dabei soll Sophoklos persönlich der Knaben¬ 
liebe zugeneigt gewesen sein. Wie man dies aber zu seiner Zeit beurteilte, 
kann man daraus ersehen, daß Jon nicht gerade in freundlicher Absicht 
erzählt, Sophokles habe einmal einem ihm beim Mahl bedienenden schönen 
Knaben durch eine scherzhafte List einen Kuß abgelockt . 3 Euripides — 
auch in diesem Punkte in Übereinstimmung mit den Sophisten — lehnt 
die Päderastie direkt ab. In seinem uns nur in Bruchstücken erhaltenen 
„Chrysippos stellte er die obenerwähnte Laios-Sage, und zwar vermutlich in 
dem Sinn einer Verurteilung des Lasters dar. Ein uns erhaltenes Fragment 
des Dramas „Diktys“ lautet: „Er war mein Freund und niemals führte 
mich meine Liebe zur Torheit oder nach Kypris. Ja, es gibt eine andere 
Art der Liebe, Liebe für die Seele, rechtschaffen, selbstbeherrscht und gut. 
Gewiß hätten die Menschen das Gesetz machen sollen, daß nur der Keusche 
und sich selbst Beherrschende lieben sollte, und Zeus Tochter Kypris hätten 
sie weiterschicken sollen .“ 4 Das läßt über die Anschauung des Dichters 

x ) Vgl. Symonds, a. a. O. S. 42. W. Kroll: Freundschaft und Knabenliebe 
(Tusculum-Schriften, IV. Heft). München 1927. S. 27. 

2) Vgl. Symonds, a. a. O. S. 77, und W. Kroll, a. a. O. S. 29. 

5) Jon, ap. Athen. XIII, 603/04. (Fragm. Hist. gr. II, 46, Müller.) Theodor Gom- 
perz, a. a. O. S. 299, führt dies und die oben erwähnte Äußerung des Agesüaos als 
ein Sympton für die „starken Gegenkräfte“ an, durch die die griechische Liebe „ein¬ 
geschränkt und im Zaune gehalten“ wurde, als einen Beweis dafür, daß die öffent¬ 
liche Meinung gegen jede sexuelle Betätigung, auch die unschuldigste gerichtet war. 

4) Zitiert nach Symonds, a. a. O. S. 71. 




































































Die platonische Liebe 59 


keine Zweifel. Auch ist zu beachten, daß das von ihm wiederholt darge¬ 
stellte Freundschaftsverhältnis zwischen Orest und Pylades keine Spur einer 
homosexuellen Färbung zeigt . 1 Besonders deutlich tritt die ablehnende 
Haltung, die die athenische Gesellschaft gegen die Päderastie einnahm, in 
der realistischeren Komödie, insbesondere des Aristophanes zutage. Seine 
Haltung in dieser Frage ist darum so besonders symptomatisch für Athen, 
weil er mit seiner Dichtung nicht nur dem derben Geschmack der großen 
Masse der Kleinbürger, sondern auch den ethisch-politischen Anschauungen 
der reaktionären Aristokratie Rechnung zu tragen verstand. Und Aristo¬ 
phanes wird nicht müde, seinen Spott über das homosexuelle Treiben ge¬ 
wisser Kreise auszugießen und läßt es auch nicht an ernsten Tönen fehlen, 
die deutlich zeigen, wie sehr man sich der großen Gefahr bewußt war, 
die für die Öffentlichkeit mit einer solchen Verkehrung des Geschlechts¬ 
lebens verbunden ist. So wird in den „Wolken“ vom Dikaios Logos der 
homosexuelle Eros als unsittlich gegeißelt und als „das Allerschlimmste“ 
bezeichnet, was einen treffen kann . 2 Auch in den „Vögeln“ brandmarkt 
Aristophanes die Knabenliebe als Laster, indem er die Wünsche eines Homo¬ 
sexuellen satyrisch darstellt und die Gefahren zeigt, die dem Knaben, nach 
der im Volk verbreiteten Meinung, davon drohen . 3 Gerade die Komödie 
zeigt aber auch, wie stark die Päderastie in gewissen Kreisen verbreitet 
gewesen sein muß. Aus dem dorischen Kultur kreis eingeschleppt, stieß sie 
jedoch in Athen schon im fünften Jahrhundert auf eine starke moralische 
Opposition , 4 deren Träger vor allem die von Platon so leidenschaftlich be¬ 
kämpften Sophisten waren. 

c) Die Stellung der Philosophie , insbesondere Xenophons . Besonders charak¬ 
teristisch für diese Haltung der Aufklärungsphilosophie ist die Stelle aus 
einer Schrift des Prodikos, die das bekannte Thema des „Herakles am 
Scheidewege“ zum Gegenstand hat. Da spricht die Tugend zum Laster: 
„Du Elende, was hast denn Du, was ein Gut wäre oder wie willst Du denn 
wissen, was eine Annehmlichkeit ist, ohne daß Du Dich darum irgend 
bemühen magst. Du wartest ja nicht einmal bis sich die Lust nach einem 
Genuß regt, sondern schon vorher sättigst Du mit allem . . . Den Liebes- 
genuß erzwingst Du, ehe das Bedürfnis danach erwacht durch allerlei künst¬ 
liche Mittel und bedienst Dich dabei der Männer als wären sie 


1) Vgl. Symonds, a. a. O. S. 77. 

2) Aristophanes: Die Wolken, 975, 1085/86. 

5) Aristophanes: Die Vögel, 157 ff. Vgl. auch „Die Ritter“ 877, Eklesiazusen 112 

4) Bethe, a. a. O. S. 459. Kroll, a. a. O. S. 27. 











Weiber; so erziehst Du Deine Freunde, indem Du sie bei Nacht mi߬ 
brauchst und sie bei Tag die besten Stunden verschlafen läßt . . .“ 2 So kann 
die Tugend nur sprechen, wenn Päderastie ganz allgemein als Laster gilt! 
Auch von einem heftigsten Gegner Platons, von dem Sokrates-Schüler An- 
tisthenes ist bekannt, daß er gegen die Knabenliebe aufgetreten . 2 Aus 
dem sokratischen Kreis hat sich vor allem Xenophon — und zwar trotz 
seiner offenkundigen Spartanerfreundlichkeit — entschieden gegen die 
Päderastie gewendet. Man kann vielleicht wegen der Unsicherheit des Ab¬ 
fassungsdatums darüber streiten, ob sein Dialog „Das Gastmahl“ eine direkte 
Gegenschrift gegen die gleichnamige Schrift Platons ist, obgleich auch dies 
mehr als wahrscheinlich ist , 3 aber man kann nicht ernstlich bestreiten, daß 
das Xenophontische Symposion seiner ganzen Tendenz nach unzweideutig 
gegen die Knabenliebe gerichtet ist und eine Verherrlichung der ehelichen Ge¬ 
schlechtsliebe sein will. Von den zahlreichen Stellen, aus denen dies deutlich 
hervorgeht, sei nur auf einige verwiesen. So heißt es einmal, von der 
geschlechtlichen Liebe mit einem Manne trage der Knabe „nur Schimpf 
und Schande davon“, und zwar von jeder, also wohl auch der nichtkäuf¬ 
lichen; und wenn jemand einen Knaben durch Überredung gewinnt, „das 
macht ihn noch hassenswerter “. 4 Sehr deutlich spricht die folgende Stelle 
die Ansicht Xenophons und damit wohl die Durchschnittsmeinung in Athen 
aus. „Auch nimmt ja nicht einmal der Knabe mit dem Manne, wie das 

1) Bei Xenophon: Memorabilien II, 1; 21—34. Die Übersetzung nach Nestle: Die 

Vorsokratiker, S. 197. Doch ist im Text das Wort „ußp^ouöa“ mit „mißbrauchst“ 
statt wie hei Nestle mit „mißhandelst“ übersetzt. 

2 ) Diogenes Laertios VI, 18. Vgl. dazu Heinrich Gomperz, Psychologische 
Beobachtungen an griechischen Philosophen, Imago, X. Bd., 1924, S. 45. Bruns, 
Attische Liebestheorien usw. Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, V. Bd., 
1900, S. 29. Kroll, a. a. O. S. 28. Ferner derselbe in dem Art. „Knabenliebe“ in 
Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft, XI. Bd., 
S. 197 ff. 

3) So deutet insbesondere auch Bruns, a. a. O. S. 26, das Xenophontische Gast¬ 
mahl entschieden als Polemik gegen Platons Symposion. „Während Platon die sinn¬ 
liche Päderastie bedingt verteidigt“ - im ,Phaidros‘ — „verdammt sie Xenophon 
schlechtweg.“ Vgl. auch Rettig: Knabenliebe und Frauenliebe in Platons Symposion. 
Philologos, XLI. Bd. 1882. S. 429. 

4) Xenophon: Symposion, VIII, 19. Vgl. auch IV, 52; VIII, 10/11; VIII, 31, 32. 
Karl Steinhart sagt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des platonischen Gast¬ 
mahls von der Tendenz des Xenophontischen: Es habe eine offenbar polemische Be¬ 
ziehung auf Platons Gastmahl, und seine Absicht sei keine andere „als die Bekämpfung 
der Knabenliebe“. (Platons sämtl. Werke, übersetzt von Hieronymus Müller m. Einl. 
begl. von K. Steinhart, IV. Bd. 1854. S. 268.) Steinhart schließt sich dabei der An¬ 
sicht K.F. Hermanns an, daß Xenophon bei seinem Gastmahl das Platonische schon 
vor sich gehabt habe, a. a. O. S. 267. 




























































Die platonisdie Liebe 61 


VVeib, an den Freuden des Liebesgenusses teil, sondern nüchtern sieht er 
dem von Wollust Trunkenen zu, weshalb es nicht zu verwundern ist, wenn 
sich selbst Verachtung gegen den Liebhaber bei ihm einfindet. Wollte aber 
jemand sein Augenmerk darauf richten, so würde er auch finden, daß zwar 
von denen, die sich ihrer Sitten wegen lieben, nichts Verwerfliches aus¬ 
gegangen ist, daß hingegen der unzüchtige Umgang schon viele verab¬ 
scheuungswürdige Taten erzeugt hat .“ 1 Besonders charakteristisch aber ist 
der Schluß des Dialogs. Sokrates hat den Syrakusaner mit seinen Gauklern 
ein Spiel vorbereiten lassen, „woran die Zuschauer am meisten Freude haben 
dürften “. 2 Es wird eine Pantomime von Dionysos und Ariadne. Nach 
dem Anblick des Liebesspiels, das die beiden Schauspieler aufführten, „da 
schworen“, heißt es bei Xenophon „die Unverheirateten zu heiraten, die 
Verheirateten aber schwangen sich auf ihre Pferde und ritten zu ihren 
Frauen, um dieser froh zu werden “. 3 Vollends die nachplatonische Philo¬ 
sophie 4 steht der Päderastie durchaus feindlich gegenüber, erklärt sie für 
ein naturwidriges Laster. Aristoteles, der Schüler Platons, der mit ihm 
jahrelang in innigster Arbeitsgemeinschaft gelebt hatte, spricht in der Niko- 
machischen Ethik 5 von der Knabenliebe im Zusammenhang mit gewissen 
krankhaften Dispositionen. „Ich denke hier einmal an die Erscheinungen 
tierischer Wildheit wie bei jenem Weibe, das die Schwangeren aufgeschlitzt 
und die Kinder verzehrt haben soll, oder wie bei gewissen Völkerschaften, 
die ihre Lust darin finden sollen, rohes Fleisch oder auch Menschenfleisch 
zu fressen und ihre Kinder unter sich zum Schmause zu verschenken, oder 
auch an das, was man von Phalares 6 berichtet. Das sind also Erscheinungen, 
in denen eine tierische Art zutage tritt, andere treten hie und da infolge von 
Krankheiten und Wahnsinn auf, wie es bei jenem Menschen der Fall war, 
der seine Mutter schlachtete und aufaß, oder bei dem Sklaven, der die Leber 
seiner Mitsklaven verzehrte. Wieder andere Abnormitäten haben Ähnlichkeit 
mit krankhaften Zuständen oder kommen von der Gewohnheit her, so das 
Ausraufen der Haare, das Verzehren der Nägel, das Verschlingen von Kohlen 
und Erde. Auch die Päderastie gehört hieher, zu der den einen die 
Neigung von Natur anhaftet, den andern, z. B. solchen die von Jugend auf 
mißbraucht worden sind, infolge der Gewohnheit.“ 

1) Xenophon: Symposion, VIII, 21/22. 

2) A. a. 0 „ VII, 2. 

3) A. a. O. IX. 

4) Vgl. W. Kroll, a. a. O. S. 28; Symonds, a. a. O. S. 106. 

5) VII, 6 (1148 b). 

6) Tyrann von Akragas, war wegen seiner Grausamkeit bekannt. 













62 


Haus Kelsen 


d) Die antipäderastische Tendenz der Strafgesetzgebung und der Moral. 
Auch die athenische Gesetzgebung enthielt Bestimmungen, deren anti¬ 
päderastische Tendenz offenkundig ist. So war die Anwesenheit Unbefugter, 
d. h. von Personen über ein gewisses Alter, in den Ringschulen der Knaben 
bei Todesstrafe verboten. 1 Nach dem sogenannten vö[tO£ Tf)<; eraiprjaecog traf 
den Jüngling, der sich zur Päderastie für Lohn gebrauchen ließ, die Strafe 
der totalen Atimie, d. i. der Verlust aller bürgerlichen Ehrenrechte. Er 
verliert die Fähigkeit, ein öffentliches Amt zu bekleiden, im Rat oder in 
der Volksversammlung das Wort zu ergreifen oder vor Gericht aufzutreten. 
Versucht ein der Atimie Verfallener ein solches Recht auszuüben, kann 
gegen ihn mit der YQoeqprj etaiorjaecix; vorgegangen werden. Auf Verurtei¬ 
lung stand Todesstrafe. Die gleiche Klage richtete sich auch gegen Ver¬ 
mieter und Mieter minderjähriger Knaben. 2 Derartiger Klagen bediente man 
sich auch gar nicht selten im Kampfe gegen politische Gegner. 3 Ein klas¬ 
sisches Beispiel liefert die berühmte Rede des Aischines gegen Timarch. 
Allein wenn auch nur die käufliche und gewerbsmäßige Päderastie 
strafbar war, als moralisch verwerflich galt auch jede andere. Nur 
daß das sittliche Urteil angesichts der tatsächlichen Verbreitung dieser Form 
des Eros in den höchsten Schichten der Gesellschaft kein einheitliches war. 
Offenbar kämpften zwei verschiedene Anschauungen miteinander. Ein typi¬ 
sches Symptom dafür ist die in der Literatur sehr beliebte Unterscheidung 
zwischen einer edlen, unsinnlichen und einer gemeinen, sinnlichen Knaben¬ 
liebe. Der Konflikt innerhalb der öffentlichen Meinung drückt sich in einer 
von Plutarch vermittelten Anekdote aus, die sich an die aus Liebespaaren 
gebildete „heilige Schar“ des Pelopidas knüpft. Als Philipp von Makedonien 
die 300 bei Chaironea Gefallenen erblickte, soll er ausgerufen haben: „Ver¬ 
flucht sei jeder, der meint, daß diese Männer irgend etwas niedriges getan 
oder geduldet haben.“ 4 Diese Meinung muß also doch wohl sehr verbreitet 
gewesen sein. Sehr treffend bemerkt Bruns: „Das päderastische Problem 
irritierte die Gesellschaft. Man hat nie ganz aufgehört, diese Verbindung 

1) Aischines: Rede gegen Timarch, 9—12. Vgl. Symonds, a. a. O. S. 82, 87. 
Licht: Sittengeschichte Griechenlands, II, S. 162. 

2) Vgl. Lipsius: Attisches Recht und Rechtsverfahren, 1915. S. 455h Für die 
Straffälligkeit des Mieters „machte es keinen Unterschied, ob er einen Minderjährigen 
oder Volljährigen mietete. In beiden Fällen traf ihn im Falle der Verurteilung die 
Todesstrafe, ebenso den, der einen Minderjährigen zu dem Zwecke vermietet hatte. 
Aber nur dann unterlagen der Mieter wie der Vermieter dem Gesetze, wenn der 
Gemißbrauchte dem Bürgerstande angehörte.“ 

3) Vgl. Kroll, a. a. O. S. 24. 

4) Vgl. Kroll: Pauly-Wissowa, XI, S. 900. Symonds, a. a. O. S. 61. 























































































Die platonische Liehe 63 


als widernatürlich zu verdammen.“ Er meint, es hätte „eine strenge Familien¬ 
tradition mit einer mehr oder weniger offenen Verteidigung der ernsten 
Verhältnisse dieser Art“ gerungen. 1 Und Bethe stellt fest: Es muß immer 
— auch zur Zeit der höchsten Blüte der Knabenliebe — Sittenprediger ge¬ 
geben haben, „die die Knabenliebe als widernatürliche Unzucht verdammten“. 
„In den nichtdorischen Staaten, in denen allein diese Opposition aufkam 
und Fuß fassen konnte, war die Knabenliebe trotz öffentlicher Anerkennung 
ein Laster ... 2 3 4 Und Symonds betont, wie furchtbar den Griechen jene 
„Verirrung des Gefühls war, die zwar jeder tieferen Art persönlicher Zu¬ 
neigung anhaftet, aber „durch die unvermeidliche Eigenart der Knaben¬ 
liebe gesteigert werden mußte.“ Er macht die sehr zutreffende Beobachtung, 
daß Dichter, die die Knabenliebe offen besangen, sich dabei doch sichtlich 
„gegen die Macht ihrer eigenen Gefühle auflehnten und entrüsteten“, wie 
etwa Theognis, der seinen Eros als „bittersüß und angsterfüllt“ schildert .3 

e) Zeugnisse aus Platons Schriften. Vor allem aber kann man aus Platons 
eigenen Schriften ersehen, wie entschieden die Päderastie auch in der guten 
Gesellschaft Athens verpönt war. Im „Symposion“ ist zu lesen, daß die 
Väter den Knaben Erzieher bestellten, hauptsächlich um zu verhindern, 
„daß sie sich mit ihren Liebhabern unterhalten, und dem Erzieher vor 
allem dies auftragen“ und „daß die Altersgenossen und Gefährten des Knaben 
ihm Vorwürfe machen, wenn sie sehen, daß derartiges geschieht und bei 
diesen Vorwürfen von den Eltern nicht gehindert werden und nicht ge¬ 
tadelt werden, daß sie Unrecht hätten.“* Auch aus der Rede, die Pausanias 
hier zum Lobe des Eros hält, kann man deutlich das abfällige Urteil der 
Gesellschaft über die Knabenliebe herausfühlen. Offenbar um seinen Eros 
aus dem Bereich der schärfsten Angriffe auszuschalten, beeilt sich Platon 
zwischen der wahren Päderastie und der Liebe zu noch im Kindesalter 
stehenden Knaben einen deutlichen Trennungsstrich zu ziehen. Die richtigen 
Päderasten „lieben nicht Kinder, sondern solche, die schon anfangen Ver- 

1) Bruns, a. a. O. S. 25. 

2) Bethe, a. a. O. S. 446. 

3 ) Symonds, a. a. O. S. 63. Er resümiert: „Wenn die griechische Literatur reich 
an Erwähnungen der Päderastie ist und wenn diese Leidenschaft eine bedeutende 
Rolle in der griechischen Geschichte gespielt hat, so darf man doch nicht glauben, 
die Mehrheit des Volkes wäre nicht viel mehr für weibliche Schönheit empfänglich 
gewesen. Im Gegenteil sprechen die besten Quellen von der Päderastie als einer 
Eigentümlichkeit, welche Krieger, Gymnasten, Dichter und Philosophen von der 
großen Masse unterschied. Was uns von Künstleranekdoten erhalten ist, bezieht sich 
im wesentlichen auf ihre Vorliebe für Frauen.“ A. a. O. S. 121. 

4) Symposion 10 (183 St.). 













nunft zu hegen**, solche, denen schon anfängt der Bart zu keimen. Ja, er 
schlägt sogar ein Gesetz vor, das die Liebe mit Kindern verbietet. Die 
Liebhaber von Kindern sind es 

„die die Schande gebracht haben, so daß manche zu sagen wagen, den Liebenden 
zu willfahren sei schimpflich. Sie sagen es mit dem Blick auf jene, da sie deren 
Ungebühr und Unrecht sehen.“ 1 

Von „Schande , „Ungebühr* und „Unrecht** muß also doch wohl im 
Zusammenhänge mit der Päderastie ganz allgemein die Rede gewesen sein ! 2 
Und der Dialog „Phaidros** ist es, aus dem man erfährt, daß das Liebes¬ 
verhältnis eines Knaben zu einem Manne „aus Rücksicht auf die öffent¬ 
liche Meinung** lieber geheimgehalten wird, da man fürchten muß, „es 
möchte Schande daraus entstehen, wenn die Leute davon erfahren**; 3 und 
daß der Liebhaber in den Verwandten und Freunden seines Lieblings „nur 
die Störer und Tadler seines angenehmsten Verkehres mit dem Knaben** 4 
erblickt; und daß, wenn der Verliebte in seiner Raserei dem Gegenstände 
seiner Sehnsucht dienstbar und ihm so nahe als nur möglich zu sein und 
bei ihm zu schlafen wünscht, er „was Sitte und Anstand verlangen und 
alles, was er zuvor sich zur Ehre rechnete, verachtet**. 5 Diese durch den 
knabenliebenden Platon selbst bezeugten Tatsachen zeigen zur Genüge, daß 
man in Athen den homosexuellen Eros, ungeachtet seiner Verbreitung gerade 
in maßgebenden Kreisen, ja vielleicht vor allem deshalb, als eine schwere 
Gefahr für die Jugend und darum als schädlich für den Staat angesehen 
und demgemäß mit einer sittlichen Verurteilung darauf reagiert haben muß. 

Und dies kann auch gar nicht anders sein in einer Gemeinschaft, die 
noch nicht ganz der inneren Auflösung verfallen ist, die sich selbst noch 
nicht ganz aufgegeben hat. Der primitivste Selbsterhaltungstrieb der Gesell¬ 
schaft muß sich gegen eine Form des Eros wehren, die, allgemein ge¬ 
worden, mit dem Versagen der Fortpflanzung zum sozialen Tod, zum Aus¬ 
sterben der Gruppe führt. Aus diesem Instinkt heraus wird die Homo¬ 
sexualität überall dort, wo sie in einem noch lebensfähigen Volke auftritt 
und sich zu verbreiten droht, als wider die Natur gerichtet empfunden und 
darum als Laster stigmatisiert. 

1) Symposion 9 (181/182 St.). 

2 ) Vgl. dazu Rettig: Knabenliebe und Frauenliebe in Platons Symposion. Philo- 
logus, XLI. Bd, 1882, S. 414 ff. „Ein Makel muß also in jedem Falle, selbst nach 
Pausanias, auf dieser Art von Liebe gelastet haben . . .« a. a, O. S. 423. 

5) Phaidros VII (232 St.). 

4) Phaidros XVI (240 St.). 

5) Phaidros XXXII (252 St.). 









































































Die platonische Liehe 65 


„Und wie man diese Dinge auch betrachten zu müssen glaubt, ob im Scherz oder 
im Ernst, so viel muß man sich doch klar machen, daß, was die Vereinigung des 
weiblichen und männlichen Geschlechts zum Zwecke der Zeugung betrifft, die daraus 
erwachsende Lust beiden Teilen eine naturgemäß verliehene zu sein scheint, während 
die Gemeinschaft von Männern mit Männern oder von Weibern mit Weibern wider¬ 
natürlich ist.“ „Aber die widernatürlichen Leidenschaften von Knaben für Knaben 
und Mädchen für Mädchen sowie von Männern für Männer und von Weibern für 
Weiber, diese Quelle unsäglichen Unheils für Einzelne wie für ganze Staaten — wie 
kann man diesen Vorbeugen und welches Gegenmittel läßt sich finden, um einer 
solchen Gefahr zu entrinnen? Das ist wahrlich nichts Leichtes! Denn während bei 
vielen anderen Punkten, wo unsere Gesetzgebung mit den gemeinhin geltenden An¬ 
schauungen in Widerspruch steht, ganz Kreta und Sparta unsere willkommenen und 
vielvermögenden Bundesgenossen sind, sind sie — unter uns gesagt — in Sachen der 
Liebesbegierden unsere ausgesprochenen Widersacher. Denn wenn wir die in dieser 
Beziehung vor dem Laios herrschende naturgemäße Sitte zum Gesetz erheben und 
dafür geltend machen, daß es ganz in Ordnung war, daß Männer und Jünglinge 
nicht miteinander in einem Liebesverkehr wie mit Weibern standen, wobei wir uns 
auf das Beispiel der Tierwelt berufen und darauf hinweisen, daß da keine derartige 
Berührung stattfindet, eben weil sie widernatürlich ist, so wäre das doch ein durchaus 
vernunftgemäßes Vorgehen, das auf allgemeine Beistimmung rechnen müßte.“ 

Denn wer sich der Knabenliebe hingibt, 

„trägt vorsätzlich zum Absterben des menschlichen Geschlechts bei und säet auf 
Fels und Stein, wo der Zeugungskeim niemals feste Wurzel fassen und zu seiner 
natürlichen Entwicklung gelangen kann.“ 

Es ist ein athenischer Schriftsteller, den wir hier zitieren, um ihn als 
Zeugen dafür anzuführen, daß im Athen Platons die Homosexualität als 
staatsgefährlich verabscheut war. Es ist Platon selbst, aus dessen „Nomoi“ 
diese wichtige Anklage gegen die Päderastie stammt, 1 Aber es ist der alte 
Platon, der so spricht, der Greis, dessen Eros schon gestorben und in der 
Erinnerung nur mehr als die „Quelle unsäglichen Unheils“ weiterlebt. Man 
spürt aus diesen Zeilen, wie der Jüngling und Mann unter ihm gelitten 
haben, wie sehr dieser ganz und gar auf Staat und Gesellschaft gerichtete 
Geist das Antisoziale seiner sexuellen Veranlagung erkannt, wie er bei seiner 
politischen Haltung gegen den sittlichen Verfall und für Wiederherstellung 
altväterlicher Sitte als Sünde empfunden haben muß, daß er sich unfähig 

i) Nomoi I, 8 (636 St.), VIII, 5 (836 St.), VIII, 7 (839 St.); vgl. auch VIII, 8 (841 St.), 
wo Platon sagt, daß bei allen den Geschlechtsverkehr betreffenden Gesetzen es ins¬ 
besondere darauf ankomme, daß man mindestens der Päderastie gründlich den Garaus 
mache. Der Widerspruch, der in der Behandlung des Erosproblems zwischen den „Nomoi“ 
und dem „Symposion“ und „Phaidros“ besteht, wurde zwar schon oft bemerkt. Vgl. 
z.B. Symonds, a. a. O. S. 96. Aber eine befriedigende psychologische Erklärung wurde 
bisher nicht gefunden. 


Imago XIX. 


5 










66 Hans Kelsen 


fühlte, dem Vaterland durch Gründung einer Familie und Begründung von 
Nachkommenschaft zu dienen, und wie gewaltig der Kampf war, den er 
gegen seine innerste Natur geführt hat, wenn er sich heroisch den Verzicht 
auf Triebbefriedigung als sittliches Ideal auferlegt hat. 

§ 7. Platons Konflikt mit der Gesellschaft. Diese Veranlagung Platons 
bedingte nicht nur ein Anderssein gegenüber der großen Masse der normal 
empfindenden Menschen, sondern drängte ihn wohl auch in eine gewisse 
Sonderstellung innerhalb der der üblichen Knabenliebe fröhnenden Kreise. 
Man hat durchaus den Eindruck, daß die meisten dieser Männer, die sich 
zu schönen Knaben hingezogen fühlten, auch der Liebe zum anderen Ge¬ 
schlecht fähig waren. Homosexuell waren sie vermutlich nur während einer 
gewissen Periode ihres Lebens, als Jünglinge, die noch mehr mit Knaben 
als mit Frauen Verkehr hatten, und in denen noch die Erotik der Knaben 
lebendig war. Aber, zu Männern geworden, nahmen sie Frauen und zeugten 
Kinder und blickten auf den knabenliebenden Eros als auf eine Jugend¬ 
torheit zurück. Die meisten der Männer, von denen berichtet wird, daß 
sie für Männerschönheit nicht unempfänglich waren — wie Solon, Aischylos, 
Sophokles u. a. —, waren verheiratet und hatten Nachkommenschaft; so 
insbesondere auch Platons Meister und Vorbild Sokrates 1 und dessen Liebling 
Alkibiades, so aber auch Dion, an den Platon in leidenschaftlicher Liebe 
gebunden war. In ihrer gewöhnlichen Erscheinungsform beruhte die Päderastie 
offenbar auf einer bisexuellen Veranlagung und somit nicht eigentlich auf 
einer Verkehrung, sondern auf einer Verdoppelung, einer reicheren Ent¬ 
faltung des Geschlechtstriebes. Sie äußert sich symptomatisch darin, daß die 
Amazone und der Hermaphrodit Lieblingsmotive der darstellenden Kunst 
sind. 2 Sehr bezeichnend ist zum Beispiel, daß Xenophon in seinem „Gast¬ 
mahl“ den Kritobulos als jungen Ehemann und dabei zugleich als in den 
Kleinias verliebt darstellt. Xenophon trägt auch keine Bedenken, diesen 
knabenliebenden Mann sich am Schluß des Dialogs, veranlaßt durch das 
dargestellte Liebesspiel, beeilen zu lassen, ins Ehebett zu kommen. 3 Typisch 

1) H. Gomperz, a. a. O. S. 40 f.: „Böse Zungen des nächsten Jahrhunderts be¬ 
haupteten sogar, in seinen Beziehungen zum weiblichen Geschlecht habe Sokrates eher 
ein Zuwenig als ein Zuviel von Selbstbeherrschung gezeigt. Außer seiner Frau habe 
er sich auch mit öffentlichen Dirnen eingelassen.“ Und S. 62: „An und für sich war 
Sokrates ohne Zweifel für den Reiz beider Geschlechter empfänglich, und diese doppelte 
Empfänglichkeit war ja auch in dem Kreis, in dem sich sein Leben abspielte, im vor¬ 
nehmen athenischen Bürgertum der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts, durchaus 
die Regel.“ 

2) Wie Lagerborg, a. a. O. S. 46 hervorhebt. 

3) Vgl. auch Symonds, a. a. O. S. 85. 




















































































Die platonische Lieb« 


6? 


auch der Bericht des Aristoteles von einem Zwist zwischen zwei vor¬ 
nehmen jungen Männern in Syrakus, der zu einem Yerfassungssturz ge¬ 
führt haben soll: „Der eine nämlich hatte in Abwesenheit des andern 
dessen Geliebten verführt, darüber aufgebracht, verführt ihm nun wieder 
der andere seine Frau.“ 1 Solche Bisexualität ist vom sozialen Standpunkt aus 
viel weniger gefährlich und wurde darum subjektiv durchaus nicht als Minder¬ 
wertigkeit empfunden; 2 denn sie drängt nicht von der Gesellschaft ab, sie 
läßt einen mit der Gesellschaft, der gegenüber man auch die Verpflichtung 
zur Fortpflanzung erfüllt, beinahe doppelt verbunden bleiben. Es scheint, daß 
Platon diese glücklichere Form des Eros nicht beschieden war, daß er, 
der nie an eine Familiengründung gedacht hat, dem tragischen Schicksal 
einseitiger Homosexualität verfallen war; und daß er eben darum in 
einen so tiefen und schmerzlichen Konflikt mit sich selbst, mit der Welt 
und insbesondere mit der Gesellschaft geraten mußte. Mehr noch als 
der Jubel des sich zu sich selbst bekennenden Eros tönt daher die Qual 
des sich seiner selbst schämenden, über sich selbst Gerichtstag haltenden, un¬ 
selig verdammten Eros aus dem „Phaidros“, dem Hohen Lied, das Platon auf 
die Knabenliebe geschrieben. Wie er aber diesen Eros als den Tyrann seiner 
Seele gehaßt haben mag, das verrät das mit leidenschaftlichem Abscheu 
gezeichnete Bild des tyrannischen Charakters im IX. Buch der „Politeia“, 
als dessen tiefstes Geheimnis er den Eros preisgibt, eben jenen Eros, den 
er im „Symposion“ über alles gepriesen. Dadurch wird der Jüngling ver¬ 
dorben, daß ihm in schlechter Gesellschaft „irgendeine Liebesleidenschaft 
(ein Eros) eingepflanzt wird, die über die faulen und den vorhandenen Besitz 
verschleudernden Begierden das Vorsteheramt erhält, so eine rechte, große, 
beflügelte Drohne“. Dadurch wird er zum Tyrannen, daß er seine Seele 
ganz „mit jener eingeschleppten Wahnsinnskrankheit füllt“, die Platon in 
seinem „Phaidros“ als einen „göttlichen“ Wahnsinn gedeutet. „Ist nicht 

1) Politik V, 3, § 1 (1303 b). 

2) Die sexuelle Zuneigung eines Mannes zu einem Manne ist zwar sehr häufig, 
aber durchaus nicht immer Symptom eines femininen Charakters. Es liegt nahe, 
daß sich zum Manne hingezogen, vom Weibe abgestoßen fühlt, wer selbst weiblich 
veranlagt ist. Und diese weibliche Veranlagung eines Mannes galt der offiziellen griechi¬ 
schen Moral als minderwertig, als „krankhafte Unmännlichkeit“ (Symonds, a. a. O. 
S. 59). Aber gerade bisexuelle Anlage ist mit männlichem Charakter vereinbar. Hier 
ist es ja das Mädchenhafte an der Knabenschönheit, das anzieht. Daß das männliche 
und das weibliche Prinzip beim konkreten Menschen in verschiedenen Mischungs¬ 
verhältnissen auftreten kann, daß es daher männliche Weiber und weibliche Männer 
gibt, diese Tatsache hat — wie H. Gomperz, a. a. O, S. 26, hervorhebt — schon 
Parmenides erkannt. 

5* 














~1 


68 Hans Kelsen 


eben dies der Grund, daß Eros schon von altersher ein Tyrann heißt“, 
fragt Sokrates hier bei dieser Verdammung des Tyrannen, in dessen Innern 
„Eros als Tyrann thront und das ganze Reich der Seele leitet“. Ist das 
noch derselbe Eros, den er im „Symposion“ jubelnd zum König, ja zum 
„König der Götter“ 1 ausgerufen? Wie anders als hier und im „Phaidros“ 
hat Platon seinen Eros auch sehen müssen, wenn er diesen Eros, den Eros 
schlechthin, als den Verführer des Jünglings zur Tyrannis brandmarkt. 

„Und bei all diesem Treiben werden die Ansichten, die er bis dahin von Kind 
auf über Tugend und Laster hatte, jene Ansichten, die der gewöhnlichen Anschauung 
über Rechtlichkeit entsprechen, überwältigt werden von den neuerdings erst aus der 
Knechtschaft befreiten, die im Bunde stehen mit Eros, dessen Leibwache sie bilden, 
und die früher nur im Traum, wenn er schlief, sich freimachen konnten, solange er 
noch unter dem Druck der Gesetze und seines Vaters, der demokratischen Richtung 
in seinem Innern treu blieb; seit er aber unter des Eros tyrannische Herrschaft geraten 
und nun für immer in Wirklichkeit ein solcher geworden ist, wie er es früher nur 
ab und zu im Traume war, wird er vor keinem entsetzlichen Mord, vor keiner sünd- 
lichen Speise oder Tat mehr zurückschrecken, sondern der Eros, der als tyrannischer 
Gebieter in voller Ungebundenheit und Gesetzlosigkeit in ihm waltet, wird den, der 
ihn, wie ein Staat seinen Herrscher, in sich hat, jedem Wagnis zuführen, das ihm 
und dem ihn umgebenden lärmenden Schwarme Unterhalt verschafft; jenem Schwarme, 
der teils von außen in ihn eingedrungen ist infolge schlechter Gesellschaft, teils von 
innen aus durch die jenen gleichartigen Triebe, die sich auch in ihm selbst vorfanden, 
entfesselt und in Freiheit gesetzt worden ist.“ 2 

Das ist der böse, teils durch schlechte Gesellschaft von außen ein¬ 
gedrungene, teils schon im Innern angelegte, in seiner Entfesselung 
furchtbare Trieb; das sind die „rasenden Begierden“, „die keinen Wider¬ 
stand dulden, unzugänglich wie ein Tier für jeden Zuspruch der Vernunft“, 
von denen Platon im „Timaios“ spricht; das ist der Eros, gegen den Platon 
seine Seele nicht anders zu wahren vermag als durch das rigorose Ideal 
der Keuschheit. 

§ 8 . Platons Ideal der Keuschheit: Sokrates . Das hat ihn an Sokrates 
gebunden. Auch in diesem dämonischen Manne sah er seinen Eros lebendig, 
sah ihn unausgesetzt den Jünglingen nachstellen, sie mit den glänzenden 
Gaben seines seltenen Geistes locken. Aber er, der wie kein anderer sich 
auf das gefährliche Liebesspiel verstand, der trotz seiner Häßlichkeit wie 
kein anderer die Liebe gerade der Schönsten zu gewinnen vermochte, rein 
und unberührt und niemals besiegt vom irdischen Eros ging er aus all 
seinen Liebeshändeln hervor. Im „Symposion“ hat Platon der Keuschheit 


1) Symposion, C 18 (195 St.). 

2) Politeia IX, 1—3 (571/75 St.). 







































































































Die platonische Liebe 


69 


des Sokrates und damit aller Keuschheit überhaupt das unsterbliche Denkmal 
gesetzt. Von Wein berauscht, verrät Alkibiades das Geheimnis des seltenen 
Mannes; wie er, erst von seinem Geist gefangen, ja erschüttert und über¬ 
wältigt wurde, wie ihm bei seinen Reden das Herz stärker klopfte als den 
korybantischen Tänzern und er bis zu Tränen gerührt wurde, wie er dann 
zu ihm, der sich ihm als Liebender gab, selbst von Liebe ergriffen wurde 
und demütig um seine Liebe buhlte, und wie doch alle Versuche des ver¬ 
führerischen Jünglings vergebens waren. Wohl war es ihm gelungen, den 
Sokrates dazu zu bringen, mit ihm allein in seinem Hause zu schlafen, 
wohl war er mit Sokrates unter einer Decke gelegen und hatte seine Arme 
um ihn geschlungen, eine ganze Nacht, aber „bei Göttern, bei Göttinnen, 
nicht anders stand ich auf, nachdem ich mit Sokrates geschlafen hatte, als 
wenn ich beim Vater oder älteren Bruder geschlafen hätte“. 1 Solche Keusch¬ 
heit mag dem kühleren Sokrates, der überdies zu Hause Weib und Kind 
hatte, leichter gefallen sein als dem leidenschaftlicheren Platon, dem die 
Ehe Zeit seines Lebens fremd blieb. Wohl war auch Sokrates eine erotische 
Natur und sein Rationalismus nur eine Maske, um seine Leidenschaften 
zu verbergen, aber Eros in ihm nicht so stark, als daß er der Vernunft 
hätte ernstlich den Sieg streitig machen können. Als der syrische Physio- 
gnomiker Zopyros aus den Gesichtszügen des Sokrates auf dessen Sinnlichkeit 
schloß, soll dieser — gegen den lebhaften Protest seiner Schüler — erklärt 
haben: „Zopyros hat richtig gesehen; doch bin ich dieser Begierden Herr 
geworden.“ 2 Auch Platon hat, seinem Meister folgend, die Vernunft zum 
Kampf gegen Eros angerufen; aber auf dem Weg zur Tugend ward sie 

1) Symposion 32 (215 St.), G 54 (219 St.). 

2) Vgl. Heinrich Gomperz, a. a. O. S. 37. Gomperz betont, daß bei Sokrates 
im Mittelpunkt seines Lebens- und Gedankenkreises „der Begriff der Selbstbeherr¬ 
schung“ steht und „daß das eigentliche Ziel dieser sokratischen Selbsterziebung die 
Überwindung des Verlangens nach dem körperlichen Besitz schöner Knaben ge¬ 
wesen ist“ (a. a. O. S. 63). Sokrates ist im allgemeinen kein Asket, er duldet Speis 
und Trank und insbesondere auch Geschlechtsverkehr mit Frauen. Aber die einzige 
Selbstbeschränkung, von der er keine Ausnahme zuläßt, ist die sexuelle Knabenliebe 
(a. a. O. S. 65). Als Motiv dieses Liebesverzichtes und der mit ihm verbundenen 
Sublimierung des Eros vermutet H. Gomperz: „Sokrates war in dem Kreis, in dem 
er lebte, nicht geboren. Und dem athenischen Kleinbürgertum, dem er entstammte, 
war w i r sehen es aus der Komödie — die Knabenhebe immer fremd geblieben: 
die ,gute Gesellschaft 1 Attikas hatte diese Gefühls weise von den Dorern übernommen. 
Konnte so nicht das, was Sokrates den Willen und die Kraft gab, sein Verlangen 
nach dem körperlichen Besitz schöner Knaben zu überwinden, der Geist seines Eltern¬ 
hauses, die Umgebung, in der er aufwuchs, gewesen sein? Und wenn er dem Kritias 
vorhielt, das Verlangen nach dem Umgang mit Knaben sei etwas Schweinisches, 
hören wir in diesen Worten etwa den Nachklang des Urteils, das Sokrates von den 










7 ° 


Hans Kelsen 


ihm keine ausreichende Stütze. Über allen sokratischen Rationalismus hinweg 
mußte Platon sein Heil in der Mystik suchen; nur durch sie erhoffte er 
den letzten Schritt zur Schau des sehnsüchtig gesuchten, des Ewig-Guten. 
Und obgleich Platon in der entscheidenden Phase seines Lebens und seines 
Denkens die sokratische Methode der kritischen Verstandesarbeit weit hinter 
sich gelassen, so hat er doch bis in seine Altersdialoge hinein an der Gestalt 
des Meisters festgehalten; hat sie zwar umgedeutet, hat aus dem alten, 
häßlichen einen „jüngeren und schöneren Sokrates“ 1 gemacht, aber er ist 
dem Vorbild seiner Jugend treu geblieben, in dem er bis zu den letzten 
Regungen seines Eros das von ihm selbst nie erreichte Ideal der Keuschheit 
verehrt hat. 

In den Gesprächen, mit denen Sokrates in der von Erotik geschwän¬ 
gerten Atmosphäre der guten Gesellschaft Athens die nach geistiger Kultur 
durstigen Seelen der aristokratischen Jünglinge faszinierte, ging es um die 
Tugend und vor allem um die Gerechtigkeit. Nicht Naturwissenschaft 
oder Soziologie war der Gegenstand der Begriffsspekulationen dieses Seelen¬ 
fängers. Denn mehr als an allem anderen lag ihm an sittlicher Rechtfertigung 
des persönlichen Lebens. 2 Nach der schweren Erschütterung, die das sittliche 

athenischen Kleinbürgern seit seiner Kindheit zu vernehmen gewohnt war?“ (a.a.O.S. 67). 
Das mag sicherlich mitgespielt haben; aber es reicht keineswegs aus, um zu erklären, 
daß der Aristokrat Platon gerade in diesem Punkte seinem Meister zu folgen so 
leidenschaftlich bemüht war. Und gegen die Päderastie war man nicht nur in den 
Kleinbürgerkreisen Athens und daher nicht nur in der Komödie, sondern auch die 
ganze Sophistik und mit ihr die Tragödie des Euripides zeigen die gleiche Tendenz. 
H. Gomperz leugnet es zwar, aber es muß doch so etwas wie eine gegen die Päderastie 
„empörte öffentliche Meinung“ gegeben haben, und in den Kreisen, in denen das 
Leben des Sokrates und der meisten seiner Jünger verlief, kann sich „die unvergeistigte 
oder doch nur wenig vergeistigte Knabenliebe“ durchaus nicht so von selbst verstanden 
haben wie H. Gomperz annimmt. Schon aus Gründen, die er selbst feststellt. Einmal 
weil diese Knabenliebe in der großen Masse des Volkes als Laster galt, eine Auf¬ 
fassung, die unmöglich in der höheren Schichte einer Demokratie ohne Widerhall 
bleiben konnte: dann aber, weil sie aus dem dorischen Kulturkreis kam, dem das 
offizielle und ganz besonders von der „guten“ Gesellschaft repräsentierte Athen stets 
feindlich gegenüber stand. 

1) Briefe II (514 St.). 

2) Heinrich Gomperz schreibt a. a. O. S. 68/69: „Wenn dann in Sokrates’Seele 
schwere sittliche Kämpfe stattfanden, konnte nicht auch die Vorherrschaft sittlicher 
Fragestellungen in seinem Denken eben in ihnen ihren letzten Grund haben? . . . 
Unser Streben nach psychologischem Verständnis jedenfalls würde sich mehr be¬ 
friedigt fühlen, dürften wir die Annahme machen, Sokrates habe sich die Frage: Was 
ist das Gute, das Anständige, das Rechte? nicht aus bloß theoretischer Wißbegierde 
gestellt, vielmehr ursprünglich darum, weil er wirklich nicht wußte, was für ihn 
gut, anständig und recht sei, mit andern Worten, wie er sich verhalten, sein Leben 
gestalten solle ... So darf es also wohl nicht unwahrscheinlich heißen, daß für Sokrates 
































































Die platonische Liehe 


Bewußtsein durch den Relativismus der Naturwissenschaft und der sophisti¬ 
schen Gesellschaftslehre erfahren hatte, sucht Sokrates, als der erste große 
Repräsentant der religiösen und politischen Reaktion, nach einer festen 
Grundlage für den sittlichen Wert; und er glaubt ihn im Verstände des 
Menschen gefunden zu haben. Tugend ist Wissen, das menschliches Ver¬ 
halten nach erkennbaren Begriffen bestimmt, und diese Begriffe Begriffe der 
Tugenden oder der Tugend, Wertbegriffe, sittliche Normen für die Gesell¬ 
schaft. Die rationale Methode seiner ethischen Begriffsspekulation, die, eben 
weil sie rationalistisch ist, nur eine Kritik moralischer Prinzipien aber keine 
positive Moral geben kann, ist durch und durch sophistisch, wenn auch 
sein Ziel: der absolute Wert, durch und durch antisophistisch ist. Um dieses 
Zieles willen ist Platon sein Schüler geworden. Die leidenschaftliche Be¬ 
harrlichkeit, mit der Sokrates immer wieder nach der Gerechtigkeit fragte, 
muß den nach Rechtfertigung seiner selbst und der Welt sehnsüchtig 
suchenden Jüngling Platon mächtig angezogen haben, obgleich ihm das 
Vergebliche der sokratischen Bemühungen, die Unmöglichkeit, auf dem 
Wege rationaler Erkenntnis zu einer befriedigenden Bestimmung der Ge¬ 
rechtigkeit zu gelangen, nicht verborgen geblieben ist. Das zeigen seine 
ersten Dialoge, in denen er die Gestalt des Meisters so liebevoll zeichnet, 
und die doch alle so ergebnislos enden. Aber vielleicht kam es Sokrates 
selbst nicht so sehr darauf an, zu einem bestimmten sachlichen Ergebnis 
zu gelangen, wie es ihm auch im Liebesspiel nicht darauf ankam, die 
reife Frucht zu pflücken; vielleicht war etwas ganz anderes sein Ziel, das 
Ziel seiner Beschäftigung mit den Jünglingen. Was dem jungen Platon 
aus den vielen, mitunter recht krausen Reden seines Lehrers zu hören 
verlangte, das war nicht so sehr die Antwort auf die Frage, was eigentlich 
das Gute und Gerechte sei, sondern daß es überhaupt sei, daß es so etwas 
wie einen sittlichen Wert im Leben des Einzelnen, und daß es eine Ge¬ 
rechtigkeit für die Gesellschaft wirklich gibt. Das aber war es gerade, was 
Sokrates zu beteuern nicht müde wurde und was er besser als durch seine 
logischen Argumentationen durch sein Leben bewies. War dem Sokrates 
auch keine Begriffsbestimmung der Tugend, keine Definition der Gerechtigkeit 
gelungen, in seiner Persönlichkeit selbst konnte Platon die Verwirklichung 
der Tugend, die lebendige Gerechtigkeit sehen. 

die Frage nach dem Wahren und Guten ursprünglich die Bedeutung einer ganz per¬ 
sönlichen Lebensfrage gehabt hat.“ Gomperz spricht es direkt aus, daß hei Sokrates 
zwischen seiner ethischen Problemstellung und seinen päderastischen Regungen ein 
Zusammenhang bestanden haben mag! (a. a. O. S. 70). 












7 % Hans Kelsen 


Darum mußte der Tod des Sokrates für Platon zu der gewaltigsten Er¬ 
schütterung seines Lebens werden. Mit feinem Gefühl hat der russische 
Mystiker Solowjew 1 gesehen, daß Sokrates dem Platon mehr als ein Lehrer, 
daß er dem vaterlosen Jüngling der zweite, der geistige und sittliche Vater 
war. In dem schweren Kampf, den Platon gegen seine eigene Natur zu 
führen hatte, war ihm Sokrates die stärkste Stütze. Fühlte er sich schon 
durch seine eigene Veranlagung in einen feindlichen Gegensatz zu dieser 
demokratischen Gesellschaft gestellt, in der nur die Vielen und Vielzuvielen 
nach dem schnöden Grundsatz der Gleichheit sich breit machten; zu einer 
Flucht vor der Welt gedrängt, in der es nur wenig Hoffnung auf einen 
Sieg des Guten gab, so drohte die Hinrichtung des Sokrates die letzten 
Bande zu zerreißen. Eine Gesellschaft, die den einzig Gerechten zum Tode 
verurteilt, eine Welt, in der der einzig Keusche sterben muß, kann nur 
das Reich des Bösen sein. Für Platon tut sich beim Tode des Sokrates der 
„Abgrund des Bösen“ 2 auf. Das ist der Chorismos, der von nun an sein 
ganzes Denken spaltet; das ist der Dualismus, der sein System beherrscht 
und der unter dem Druck des erschütternden Erlebnisses einen tief pessi¬ 
mistischen Sinn annimmt. 

S p' Der platonische Pessimismus. Diese Stimmung ist es, die aus den 
Dialogen „Gorgias“ und „Phaidon“ spricht. Der wahre Philosoph kehrt 
sich vom Staate, von diesem Staate einer verworfenen Demokratie ab. 
„Eine tiefe Kluft liegt zwischen ihm und dem Staate“, so charakterisiert 
Apelt 3 Platons Haltung im „Gorgias“. Und in der Tat, der platonische 
Chorismos tut sich hier auf zwischen Staat und Philosophie, ja, zwischen 
dieser und dem Leben überhaupt. Der Gedanke taucht auf: Wenn es wahr 
ist, daß diejenigen die Glücklichsten sind, die nichts bedürfen, dann sind 
am glücklichsten die Toten. „Mit dem Leben, so wie es die meisten auf¬ 
fassen, steht es in der Tat schlimm.“ Das düstere Wort des Euripides wird 
zitiert: „Wer weiß, ob nicht das Leben Sterben, das Sterben aber Leben 
ist. Und Platon läßt den Sokrates, ergänzend, hinzufügen: „und ob wir 
in der Tat nicht vielleicht tot sind“. 4 Das wahre Leben ist nicht im Dies¬ 
seits. Und auf eine volle Verwirklichung der Gerechtigkeit kann man nur 
im Jenseits hoffen, in das die Seele nach dem Tode eingehen muß, um 

1) Solowjew: Das Lebensdrama Platons. Aus dem Russischen übersetzt von 
Bertram Schmitt. Religiöse Geister, 23. Bd. 1926. S. 44. 

2) Solowjew, a. a. O. S. 62. 

3) Platons Dialog Gorgias, übersetzt und erläutert von Otto Apelt. 2. Aufl. Philos 
Bibliothek. Bd. 148. Leipzig 1922. S. 8. 

4) Gorgias XLVII (492, 493 St.). 








































Die platonische Liehe 

ihren Lohn und ihre Strafe zu finden. Im „Phaidon“ aber stoßen wir auf 
die Lehre, daß der Leib nur ein Kerker der Seele ist, dem der wahre 
Philosoph so bald als möglich zu entfliehen habe. 1 Der (piÄogoqpos als Lieb¬ 
haber der Weisheit wird in einen schroffen Gegensatz zum (piA,ooco[xato<; 
als Liebhaber des Körpers gesetzt. 2 Eine tiefe Todessehnsucht spricht aus 
diesem Dialog, dessen Szene das Sterben des Sokrates darstellt. 

„Alle, die sich in rechter Weise mit Philosophie befassen, haben es im Grunde 
auf nichts anderes abgesehen, als darauf, zu sterben und tot zu sein.“ 3 

Wie im „Gorgias“, so steht auch hier der gute, den Leib abtötende, die Sinne 
und die Sinnlichkeit unterdrückende, nur der Vernunft lebende „Philosoph“, 
steht die ganze „Philosophie“ in bewußtem Gegensätze zum bösen Leben. 
Der Philosoph muß sich, wenn er seinen Beruf wahrhaft erfüllen will, 
vom Leben und insbesondere von der Liebe abwenden. 

„Die ganze Arbeit der Philosophen ist ja nichts anderes als Lösung und Trennung 
der Seele vom Leib.“ 4 

Denn Philosophie ist auf Erkenntnis des Wahren, des wahren Seins gerichtet 
und dieses kann nur durch das reine Denken, nicht aber durch die sinn¬ 
liche Wahrnehmung erfaßt werden. Durch die Sinne wird die Seele nur 
„irregeführt“. 5 Es ist klar, „daß die Betrachtung durch das Auge voll ist 
von Täuschung, nicht minder die durch das Ohr und die übrigen Sinne“ 
und daß man „davon nichts für wahr zu halten habe“. 6 Etwas durch die 
Sinne betrachten, heißt aber so viel, wie: „durch den Leib etwas betrachten“. 7 

„Beim Betrachten mittels des reinen Denkens scheint uns gewissermaßen die 
Todesgöttin mit sich davonzuführen; denn solange wir mit dem Körper behaftet 
sind und unsere Seele mit diesem Übel verwachsen ist, werden wir niemals in vollem 
Maße erreichen, wonach wir streben.“ 8 

Das ist vor allem die Erkenntnis des Guten und des Gerechten; dessen 
Ansichsein, das die sinnliche Wahrnehmung nicht zu geben vermag, und 
das daher — da seine Existenz als selbstverständlich vorausgesetzt wird — 
nur der Gegenstand des reinen, von aller Körperlichkeit und Sinnlichkeit 
befreiten Denkens sein kann. Wenn Platon immer wieder mit Nachdruck 

1) Phaidon XXIII (82 St.). 

2) Phaidon XIII (68 St.). 

3) Phaidon IX (64 St.). 

4) Phaidon XII (67 St.). 

5) Phaidon X (65 St.). 

6) Phaidon XXXIII (83 St.). 

7) Phaidon XXVII (79 St.). 

8) Phaidon XI (66 St.) 




j 















Hans Kelsen 


betont, daß nur der Verstand, nicht aber die Sinne die Wahrheit, das wahre 
Sein erfassen können, so meint er eben in erster Linie das Sein des Guten, 
Schönen, Gerechten. Und unter den „tausenderlei Unruhen“, die uns der 
Körper verursacht und die uns hindern „in der Jagd nach dem Seienden“, 
d. h. die uns verhindern, zum Guten zu gelangen, wird das „Liebesver- 
langen“ hervorgehoben und besonders betont, daß „auch Kriege, Aufruhr 
und Schlachten“ allein eine Folge des Körpers und seiner Begierden sind. 

„Es ist also für uns in der Tat eine ausgemachte Sache, daß, wenn wir jemals 
eine reine Erkenntnis erlangen wollen, wir uns von ihm freimachen und allein mit 
der Seele die Dinge betrachten müssen. Und nicht eher, scheint es, wird uns das 
zuteil werden, wonach wir streben und was der Gegenstand unserer Seele ist, nämlich 
die Vernünftigkeit, als bis wir gestorben sind — das zeigt sich ganz klar —, solange 
wir leben aber nicht.“ 

Ja, in seinem tiefen Pessimismus in bezug auf das Diesseits, dem ein hoch¬ 
fliegender Optimismus in bezug auf das Jenseits entspricht, versteigt sich 
Platon bis zum Standpunkt eines völligen Agnostizismus; er geht so weit, 
zu behaupten: 

„Entweder ist es überhaupt unmöglich, ein Wissen zu erlangen oder erst nach 
unserem Tode. Denn dann wird die Seele ganz für sich sein, getrennt vom Körper, 
eher aber nicht.“ 1 

Im Diesseits gibt es ebenso wie keine Gerechtigkeit auch keine wahre 
Erkenntnis, die ja nur auf die Gerechtigkeit gerichtet ist. Es ist die Alter¬ 
native gestellt: Agnostizismus oder Transzendenz nicht nur des Objekts, 
sondern auch des Prozesses der Erkenntnis selbst. Dieses von allem Leiblich- 
Sinnlichen losgelöste Erkennen verrät schon deutlich die Tendenz zur Mystik; 
sie ist eine Konsequenz des pessimistischen Dualismus, der im „Phaidon“ 
bis zum Äußersten gesteigert ist. Das drückt sich in der hier zuerst voll 
entfalteten Ideenlehre aus. Der Gegensatz zwischen den ewig unveränder¬ 
lichen unsichtbaren Ideen und den sich stetig wandelnden, sinnlich wahr¬ 
nehmbaren Einzeldingen wird mit dem Gegensatz von Seele und Leib ver¬ 
knüpft, der gerade hier sichtlich den Gegensatz von Gut und Böse dar¬ 
stellt. Die Loslösung der Seele vom Leib wird als eine „Reinigung“, als 
„Befreiung von einem Übel“ bezeichnet . 2 Die Seele entweicht nach dem 
Tode des Leibes „nach einem ihrem Wesen gleichartigen Ort“. Und dieser 
Ort wird als ein „würdiger, reiner“ dargestellt, es ist der Ort „des guten 
und vernünftigen Gottes “. 3 


1) Phaidon XI (66 St.). 

2) Phaidon XI (66/67 St.). 

3) Phaidon XXIX (88 St.). 















































7 S 


Dem Göttlichen und Unsterblichen“ (— was für Platon immer nur das Gute ist —) 
und Übersinnlichen und Einfachen und Unauflöslichen und Immer-sich-Gleich¬ 
bleibenden ist am ähnlichsten die Seele, dem Menschlichen und Sterblichen und 
Mannigfaltigen und Sinnlichen und Auflöslichen und Niemals-sich-Gleichbleibenden 
am ähnlichsten hinwiederum der Leib.“ 1 

Das Wesen der vernünftigen Seele also ist das Gute. Und da der Leib mit 
seinen Begierden ihr entgegengesetzt ist, so kann sein Wesen nur — was 
freilich nicht ausdrücklich gesagt wird — das Böse sein. Der Leib ist ein 
„Körperartiges“ und dieses ist, 

„wie man annehmen muß etwas Niederdrückendes und Belastendes und Erdartiges 
und Sichtbares. Mit ihm behaftet wird denn die eben geschilderte Seele, gehemmt 
und wieder in die sichtbare Welt zurückgezogen“. 2 

Offenbar wird hier durch die Schwerkraft das Böse symbolisiert. Die un¬ 
sichtbare Seele ist den unsichtbaren Ideen verwandt, der Leib aber gehört 
zu den sichtbaren Einzeldingen . 3 Und der Bereich der Ideen muß der Ort 
sein, zu dem die Seele nach dem Tode des Leibes gelangt, der Bereich des 
guten Gottes. Auch das wird nicht direkt gesagt, sondern geht indirekt 
daraus hervor, daß im „Phaidon“ als die erste Idee, das erste „Ding an sich“, 
das erste Objekt der Erkenntnis dessen, „was in Wahrheit ist “, 4 5 6 „das Ge¬ 
rechte an sich“ und sodann das „Schöne und Gute an sich“ bezeichnet 
werden. Das Gute ist zwar noch nicht, wie in der „Politeia“, als die 
Zentralidee erklärt, aber die „Jagd nach dem Seienden “, 5 die Philosophie 
als Erkenntnis der wahren Realität ist auch im „Phaidon“ vor allem und 
in erster Linie Erkenntnis des Gerechten, Guten, Schönen. Wenn Platon 
hier von Ideen als von den Dingen an sich spricht, so ist fast ausschließlich 
von dem Gerechten, dem Schönen, dem Guten, dem Frommen die Rede , 6 
im wesentlichen also von Werten. Der Gegensatz von Idee und Einzelding 
erscheint hier hauptsächlich als Gegensatz von Wert und Wirklichkeit. 

1) Phaidon XXVIII (80 St.). 

2) Phaidon XXX (81 St.). 

5) Phaidon XXV (79 St.). 

4) Phaidon X (65 St.). 

5) Phaidon XI (66 St.). 

6) Vgl. Phaidon XX (75 St.): „Denn unsere jetzige Untersuchung geht nicht bloß 
auf das Gleiche, sondern ebensogut auf das Schone an sich, und das Gute und Ge¬ 
rechte und Fromme an sich, kurz, wie gesagt, dem wir in unseren in Fragen und 
Antworten sich bewegenden Verhandlungen das Siegel des ,an sich 1 aufdrücken“. 
Ferner XX (76 St.): „Wenn dem, was wir immer im Munde führen, dem Schönen und 
Guten und jeder solchen Weisheit, ein wirkliches Sein zukommt ...“ Ferner XX 
(77 St.): „Denn für mich steht nichts so unzweifelhaft fest wie dies, daß all diesen 
Vorstellungen, dem Schönen und Guten und allem, was du sonst eben nanntest, das 
wahrhaftigste Sein zukommt.“ Vgl. ferner L (78 St.). 















Hans Kelsen 


Mit der Maßgabe allerdings, daß den Werten, d. h. dem absoluten Wert 
allein, die Wirklichkeit des wahren Seins zugesprochen, dem, was man 
gewöhnlich Wirklichkeit nennt, den Einzeldingen aber, wahres Sein ab¬ 
gesprochen wird. Und weil die Welt der Ideen im „Phaidon“ eine Welt 
der Werte ist, ist die Weltanschauung, auf die hier Platon abzielt, eine 
durchaus normative, eine Werterkenntnis, die letztlich nur eine Erkenntnis 
von Gut und Böse sein kann; und die er — in der Polemik gegen Anaxa- 
goras — bewußt in Gegensatz zu einer naturwissenschaftlichen Welterklärung 
stellt. Und so wie der Gegensatz von Leib und Seele dadurch verabsolutiert 
wird, daß der Leib ganz und gar das Böse und die — einheitliche — Seele 
ganz und gar das Gute darstellt, wird auch der Gegensatz von Idee und 
Einzelding zu einem absoluten gestaltet, indem nur der mit der Seele ver¬ 
wandten Welt der Ideen, nicht aber der Welt der Einzel dinge, der körperlich¬ 
sinnlichen Erfahrung, wahres Sein zugesprochen wird. Die der Welt der 
Ideen, dem Bereiche des guten Gottes entgegengesetzte nur scheinbare 
Wirklichkeit, sie ist — und auch das wird nicht ausdrücklich gesagt, geht 
aber indirekt aus ihrem Gegensatz zur Welt des Guten hervor — böse und 
wird darum negiert. 

Und auch die antisoziale Tendenz dieses pessimistischen Dualismus tritt 
hier deutlich hervor: „Wer nicht selbst rein ist, soll auch ausgeschlossen sein 
von der Berührung mit dem Reinen,“* Die „richtig Philosophierenden“, 
die „sich standhaft aller körperlichen Begierden enthalten“, „denen es mit 
ihrer Seele ernst ist und die nicht aufgehen in der zärtlichen Pflege des 
Leibes und die daher „schon im irdischen Leben dem Wissen des Guten, 
des Gerechten an sich möglichst nahekommen“, diese „sagen sich los“ 
von den anderen, den „Herrsch- und Ehrsüchtigen“, die ihrem Leib untertan 
sind „und wandeln nicht denselben Weg mit ihnen als mit Leuten, die 
nicht wissen, wohin sie gehen; sie selbst aber, überzeugt, daß sie nicht im 
Widerspruch mit der Philosophie und dem Befreiungs- und Reinigungs¬ 
werk derselben handeln dürfen, wenden sich ihrer Leitung folgend dahin, 
wohin sie den Weg weist “. 1 2 Es ist ein Weg der persönlichen „Befreiung 
und Reinigung“, ein Weg der individuellen Erlösung! Der Philosoph 
sondert sich von der Menge ab und sorgt für sein Seelenheil . 3 So weit 
entfernt ist Platon hier von dem Grundgedanken seiner „Politeia“, daß der 
Philosoph die Gerechtigkeit nicht nur für sich, daß er sie für alle anderen, 


1) Phaidon XI (67 St.). 

2) Phaidon XI (67 St.), XXXII (82 St.). 

3) Phaidon LXIV (115 St.). 



















































Die platonische Liehe 


und sei es auch gegen deren Willen und sei es auch mit Zwang, zu ver¬ 
wirklichen habe, daß der Philosoph, und nur er, zur Herrschaft im Staate 
berufen sei. 

§ 10. Die optimistische Wendung: Das Bekenntnis zum Eros. Aber dieser 
Pessimismus in bezug auf das Diesseits, diese Tendenz, den Gegensatz 
zwischen sich und der Welt und den in ihr erkannten Dualismus zu ver¬ 
absolutieren, diese Abkehr von der Gesellschaft, diese Flucht vor dem Leben 
und vor allem vor dem Eros ist durchaus keine Grundstimmung, die das 
g^nze Leben und das ganze Werk Platons beherrscht. Gerade auf dem Höhe¬ 
punkt beider siegt eine entgegengesetzte Tendenz, siegt der Wille zum Leben 
und zur Liebe. Soll Platon den Weg zurückfinden zur Welt und vor allem 
zur Gesellschaft, soll sich der Abgrund schließen, der seine Philosophie 
von dem irdischen Dasein und insbesondere vom Staate trennt, soll der 
Philosoph zum Herrscher werden können, dann muß vor allem die Kluft 
in seinem eigenen Innern, muß die diese Kluft allererst aufreißende anti¬ 
erotische, asketisch-selbstzerstörerische Verzweiflung überwunden werden, 
Platon muß den Mut finden, sich zu sich selbst, d. h. zu seinem Eros, 
zu bekennen. Und diesen Mut hat er gefunden. Eines seiner herrlichsten 
Werke, eine der schönsten Dichtungen, die je geschaffen wurde, der Dialog 
„Symposion“ gibt davon Zeugnis. 

a) Lysis. Schon aus den etwas dunklen Gedankengängen des Dialogs, der 
dem Wesen der Freundschaft gewidmet ist, schon aus der nicht sehr harmoni¬ 
schen Musik des „Lysis“ hört man deutlich das Motiv heraus, das dann in 
gewaltigen Akkorden aus dem „Symposion“ ertönt: Die Rechtfertigung des 
platonischen Eros. Es ist nicht leicht, in den zum Teil völlig leeren Begriffs¬ 
spekulationen dieses äußerlich ganz ergebnislos endenden Gespräches, das 
Sokrates mit zwei Freunden, Menexenos und Lysis, in Gegenwart des 
Hippothales in deutlicher Beziehung auf diesen führt, der der Liebhaber 
des Lysis ist, die eigentlichen Anschauungen Platons herauszufinden. Denn 
kaum wird eine These aufgestellt, wird sie wieder fallen gelassen. Doch 
tauchen dabei Meinungen auf, zu denen sich Platon in späteren Dialogen, 
insbesondere im „Symposion“ und „Phaidros“, rückhaltlos bekennt. Und 
so bietet der Vergleich mit diesen beiden Gesprächen die Möglichkeit, auch 
in den beinahe nebelhaft schwankenden Gestaltungen des „Lysis“ zu er¬ 
kennen, worauf Platon hinauswill. Aus dem Labyrinth des Wortstreits, durch 
den „man in die Irre geraten“, 1 sucht Platon einen Ausweg, indem er „die 


1) Lysis X (215 St.). 










7 8 


Hans Kelsen 


Betrachtung an Hand der Dichter“ fortführen will. Denn „diese sind uns 
gleichsam Väter und Lehrmeister der Weisheit“. Die Auskunft nun, die sie 
uns über das etwaige Zustandekommen von Freundschaften geben, ist gar 
nicht übel: „Der Gott selbst nämlich“, sagen sie, „mache sie zu Freunden, 
indem er sie einander zuführe .“ 1 Also auch diese Ehen werden im Himmel 
geschlossen. Mit Berufung auf die Dichter wird der — von Platon auch 
sonst häufig verwendete — Grundsatz aufgestellt, „das Gleiche sei mit 
dem Gleichen notwendig immer befreundet“, ein Grundsatz, der sich mehr 
als jeder andere zur Rechtfertigung des platonischen Eros eignet. Zumal 
dann, wenn er, wie im „Lysis“, in dem Sinne verstanden sein will, daß 
„nur die Guten einander gleich und befreundet seien, die Bosen dagegen 
entsprechend auch dem gangbaren Urteil über sie, niemals gleich, nicht 
einmal mit sich selbst, sondern flatterhaft und unberechenbar “ 2 und daher 
zur Freundschaft gänzlich ungeeignet. Als das erste Ergebnis darf man 
also — obgleich es im Gespräch nicht festgehalten wird — annehmen: 
„Daß einzig und allein der Gute dem Guten Freund sei, der Böse jedoch 
weder mit dem Guten noch mit dem Bösen jemals zu wahrer Freund¬ 
schaft gelange.“ Freunde — wie Lysis und Menexenos oder Lysis und 
Hippothales — können nur Menschen sein, die gut sind. 

Und auch die Freundschaft selbst, von der das Gespräch ein Beispiel 
in dem unsinnlichen Verhältnis des Menexenos wie in dem ganz und gar 
sinnlichen des Hippothales zu Lysis gibt, ist etwas Gutes; auch die Freund¬ 
schaft, deren Grund die Begierde ist. Denn selbst wenn das Böse aus der 
Welt verschwände, gäbe es noch immer, so wie Hunger und Durst und 
die sonstigen Begierden, so auch Freundschaft und Liebe, und das könnte 
nicht der Fall sein, wenn Freundschaft oder Liebe, auch die auf der Be¬ 
gierde beruhende Freundschaft oder Liebe, etwas Böses wäre. Das ist der 
Grundgedanke, den man wohl aus der folgenden Partie des Dialogs heraus¬ 
hören kann. 

„Gibt es nun etwa, fuhr ich fort, heim Zeus, wenn das Schlechte geschwunden 
ist, auch keinen Hunger mehr und keinen Durst und was dergleichen mehr ist? Oder 
wird es auch weiter Hunger geben, so lange es Menschen und sonstige lebendige 
Wesen gibt, nur daß er nicht (mehr) schädlich ist? Und auch weiter Durst und die 
sonstigen Begierden, nur eben nicht mehr mit Schlechtigkeit behaftet, da ja das 
Schlechte entschwunden ist? Oder ist es überhaupt lächerlich zu fragen, was dann 
sein wird oder nicht sein wird? Denn wer weiß es? Aber das wissen wir bestimmt, 
daß auch jetzt schon ein Hungernder zuweilen Schaden, zuweilen aber auch Nutzen von 


1) Lysis X (213/14 St.). 

2) Lysis X (214 St.). 



























































Die platonische Liehe 79 

diesem seinem Zustand hat; nicht wahr? — Sicherlich. — Und auch mit den Durstenden 
und allen nach etwas sonst Begierigen steht es so: Zuweilen ist ihre Begierde nützlich, 
zuweilen schädlich, zuweilen keines von beiden. — Allerdings. —Wenn also das Schlechte 
verschwindet, verdient dann etwa auch dasjenige, was nicht schlecht ist, mit dem 
Schlechten zu verschwinden? — Nein. — Die weder guten noch schlechten 
Begierden werden also weiter bestehen, auch wenn das Schlechte verschwunden 
— Offenbar. — Ist es nun möglich, daß ein von Begierde und Liebe Erfüllter 
demjenigen, was er begehrt und liebt, nicht befreundet sei? — Meiner Meinung 
nach nicht. — Es gibt also nach dem Verschwinden des Schlechten, wie es scheint, 
noch Befreundetes. — Ja. — Das würde aber nicht der Fall sein, wenn das Schlechte 
die Ursache davon wäre, daß irgend etwas (einem anderen) befreundet ist. Ist näm¬ 
lich das Schlechte verschwunden, so könnte dann nichts mehr einem anderen be¬ 
freundet sein. Denn wenn der Grund davon weggefallen ist, so konnte unmöglich 
dasjenige noch vorhanden sein, was die Folge dieses Grundes war. — Du hast recht. — 
Wir waren aber doch darüber einverstanden, daß das Befreundete mit irgend etwas 
befreundet sei, und zwar wegen irgend eines DingeS; und wir waren damals wenigstens 
des Glaubens, wegen des Schlechten sei das Gute dem weder Guten noch Schlechten 
befreundet. Nicht wahr? — Allerdings. — Jetzt aber, scheints, drängt sich uns ein 
anderer Grund für das Begehren und Genießen der Freundschaft auf. — Allem An¬ 
schein nach. — Ist nun in Wahrheit, wie wir vorher behaupteten, die Begierde der 
Grund der Freundschaft, und ist das Begehrende dem fremd, wonach es begehrt, 
und dann, wenn es begehrt?“ 1 

Die Begierde, die „der Grund der Freundschaft“ ist, d. h. aber: der 
Leib, den man wohl wird im Sinne der Anschauungen, die Platon ins¬ 
besondere im „Phaidon“ ausgesprochen, als den Begierden verwandt, den 
Begierden wird gleichsetzen dürfen, ist — hier im „Lysis“ — nicht das Böse, 
ist nicht mehr als das Böse der Seele als dem Guten, absolut entgegen¬ 
gesetzt. Er ist zwar auch nicht das Gute: 

„Der Körper ist, rein als der Körper betrachtet, etwas weder Gutes noch 
Schlechtes.“ 2 

So charakterisiert Platon später im „Symposion“ den Trieb des Eros. 
Und wie noch viel deutlicher im „Symposion“, so ist schon im „Lysis“ der 
Gegensatz zwischen Gut und Böse aus der Starre seiner Absolutheit gelöst, 
er ist relativiert. Es gibt etwas Weder-Gutes-Noch-Böses und das ist der 
Leib. Als das Weder-Gute-Noch-Böse ist er — nicht wie im „Phaidon“ 
der Kerker der Seele, sondern — ein durchaus berechtigtes Element der 
Freundschaft; denn gerade als solches ist er die Wurzel des Strebens nach 
dem Guten. Denn anstreben, begehren kann man nur, was man selbst 
nicht ist oder hat. „So behaupte ich denn ahnenden Geistes“ — diese 


1) Lysis XVII (221 St.). 

2) Lysis XIV (217 St.). 











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Hans Kelsen 


Ahnung wird im „Symposion“ zur Gewißheit, — „dem Schönen und Guten 
sei das Weder-Gute-Noch-Böse befreundet .“ 1 Und darum ist es das Weder- 
Gute-Noch-Böse, das dem Guten Freund wird . 2 Die Begierde, die der Grund 
der Freundschaft ist, wird als otxsiov, d. h. wörtlich: das Angehörige, das 
Einem-angehörig-Sein (daß der Freund, der Geliebte einem angehörig sei) 
bezeichnet. Dieses otxsiov ist im Grunde das Gute. „Wenn wir das Gute 
und das sich Angehörige als ein und dasselbe anerkennen, ist da nicht einzig 
der Gute dem Guten Freund?“, fragt Sokrates unter Zustimmung seines 
Partners . 3 Das aber ist der tiefste Sinn der Freundschaft, darauf ist der in 
den Freunden lebendige Drang, ihr Streben gerichtet: auf das wahrhaft Gute. 
„Alle anderen Dinge, die wir als lieb“ — das ist als den Gegenstand unseres 
Liebens — „bezeichneten, sind gleichsam nur Abbilder desselben, die uns 
täuschen, jenes Ursprüngliche dagegen ist das wahrhaft Liebe .“ 4 Platon 
spricht es nicht ausdrücklich aus, aber es kann nur das absolut Gute sein, 
das um seiner selbst willen und um keines anderen willen geliebt wird . 5 

„Alles, was wir befreundet nennen, um eines Befreundeten willen, nennen wir 
offenbar nur mit uneigentlichem Ausdruck so; das wahrhaft und eigentlich Befreun¬ 
dete dagegen ist aller Wahrscheinlichkeit nach dasjenige, auf das alle diese sogenannten 
Freundschaften hinweisen, als auf ihr letztes Ziel.“ 6 

Ist dieses letzte Ziel aber die Idee des Guten, dann ist solche Deutung 
des Eros seine höchste Rechtfertigung. 

Doch der Dialog „Lysis“ ist nur der erste tastende Versuch einer philo¬ 
sophischen Verklärung des Eros, der hier noch als cpiAia auftritt, sich noch 
lieber Freundschaft nennt. Aber es ist schon dieselbe Grundhaltung, die 
uns im „Symposion“ so kraftvoll entgegentritt . 7 

1) Lysis XIII (215 St.). 

2) Lysis XI-XIII (216-218 St.). 

3) Lysis XVIII (222 St.). 

4) Lysis XVI (219 St.). 

5) Treffend bemerkt Apelt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Lysis 
(Philosoph. Bibliothek, Bd. 177, 2. Auf!., 1922, S. 71): „Der Hauptpunkt, auf den es 
ankommt, die Beziehung auf die Idee des Guten, tritt erkennbar aus der Nebel¬ 
umhüllung hervor, und wenn sich auch bald wieder Gewölk sammelt, so hat der 
aufmerksame Leser doch das deutliche Gefühl, daß damit der Schlüssel zur Lösung 
des Rätsels gegeben ist: Wahre Freundschaft ist nur zwischen guten Menschen möglich; 
denn sie ist nichts anderes als Einheit in der Liebe zum Guten.“ 

6) Lysis XVI (220 St.). 

7) Schon darum halte ich es für ganz unwahrscheinlich, daß der „Lysis“ nach 
dem „Symposion“ geschrieben wurde. Vergleicht man die Haltung, die Platon in 
beiden Dialogen zum Problem des Eros einnimmt, kann nur das umgekehrte Ver¬ 
hältnis in Frage kommen. Vgl. dazu Rae der: Platons philosophische Entwicklung, 
2. Aufl. 1920. S. 154 ff; und insbes. Lagerborg, a. a. O. S. 92. 





























































Die platonische Lieh» 


8 l 



b) Symposion . Eine Apologie des besonderen platonischen Eros, eine Ver¬ 
teidigung der homosexuellen Liebe gegen die üblichen Vorwürfe, die im 
Dialog nicht ausgesprochen, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden, 
eine Verteidigung vor allem gegen die Anklage des antisozialen Charakters 
dieses Eros ist diese unsterbliche Dichtung und ist nicht, wie man wohl 
meist annimmt und wie es nach den in der Einleitung zitierten Worten 
des Phaidros scheinen mag, eine Lobpreisung der Liebe überhaupt, der 
Liebe in all ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen. „Ist es nicht un¬ 
erhört, daß den anderen Göttern Hymnen und Danklieder von den Dichtern 
gedichtet sind, dem Eros aber, dem so großen, so mächtigen Gotte, kein 
einziger der Dichter, soviele schon gelebt haben, einen Lobgesang ge¬ 
dichtet hat? 1 Denn der Eros, auf den jeder der zum Gelage vereinten 
Freunde — „rechts herum“ — eine Lobrede halten soll, ist kein anderer als 
der knabenliebende Eros. Darüber läßt schon Phaidros selbst, von dem der 
Vorschlag ausgeht, keinen Zweifel. Mit einer Selbstverständlichkeit, als ob 
es eine andere als homosexuelle Liebe gar nicht gäbe, beginnt er diesen 
Eros als ältesten Gott und zugleich als der größten Güter Urheber zu preisen. 
Er beruft sich auf Hesiod, Parmenides und Akusilaos und fährt fort: 

„Wie der älteste, so ist er uns der größten Güter Urheber; ja ich wüßte kein 
größeres Gut zu nennen, als schon dem Jüngling ein wahrer Liebender und dem 
Liebenden ein Liebling.“ 2 

Das ist der Eros, den Phaidros und mit ihm auch alle anderen Redner 
meinen. Und gleich in dieser ersten Rede ist Platon darauf bedacht, die 
gesellschaftsfördernde Funktion dieses Eros hervorzuheben: Ohne ihn könne 
weder der Einzelne noch vor allem der Staat große und schöne Werke 
wirken. Denn das Verhältnis zwischen dem Liebhaber und dem Geliebten 
erwecke und erhalte Ehrgefühl, Mut, Aufopferungsbereitschaft, alles Eigen¬ 
schaften, die den Bestand der Gesellschaft garantieren. Aus den Beispielen, 
die Phaidros bringt: Alkestis, die für ihren Gatten zu sterben bereit ist, 
Orpheus, der für seine Gattin in den Hades steigt, Achill, der den Pa- 
troklos rächend stirbt, geht hervor, daß zwar auch die Liebe zwischen 
Mann und Frau nicht ohne sittlichen Wert ist , 3 aber sie zeigen deutlich, 
daß Platon hoch über sie die gleichgeschlechtliche stellt, und zwar gerade 


1) Symposion 5 (177 St.). 

2) Symposion 6 (178 St.). 

3) An dem Beispiel der Alkestis fällt in diesem Zusammenhänge auf, daß die Frau 
hier nicht die ihr naturgemäße Rolle der passiv Geliebten, sondern — umgekehrt — 
die des — aktiven — Liebhabers spielt. Vgl. Rettig, a. a. O. S. 424. 

Imago XIX. g 




J 














8a 


Hans Kelsen 


was ihren Wert für die Gesellschaft betrifft: mehr als Alkestis ehrten die 
Götter den Achill, und entrückten ihn auf die Insel der Seligen . 1 

Und auch die zweite Lobrede, die des Pausanias, gilt nur der Knaben¬ 
liebe und hebt noch viel deutlicher als der Gesang des Phaidros diese über 
die Liebe zwischen Mann und Frau. Auch in dieser Rede wird mit Nach¬ 
druck der staatsbejahende Charakter der Homosexualität betont. Pausanias 
deutet die — damals wohl schon geläufige — Unterscheidung zwischen 
einer höheren geistig-himmlischen und einer niederen, bloß irdischen Liebe, 
zwischen dem Eros Uranios und dem Eros Pandemos ganz einseitig zu¬ 
gunsten der homosexuellen. Schon dadurch, daß von der Aphrodite, der 
der Eros Uranios beigesellt ist, gesagt wird, sie, des Uranos Tochter, sei 
„älter und mutterlos“, zeigt sich das homosexuelle Ideal mutterloser Zeugung 
an. Und eben daraus wird abgeleitet, daß dieser Eros Uranios, diese höhere 
Form geistiger Liebe, nur die Knabenliebe sei, daß nur die Liebe von Mann 
zu Mann, die homosexuelle Liebe, sich zu dieser höheren Form entfalten 
könne. Dieser Eros stammt nämlich 

„von der Himmlischen, welche erstens an Weiblichem nicht teil hat, sondern an 
Männlichem allein; — und er ist der Eros zu Knaben — welche ferner älter ist, 
frei von Ausschweifungen; daher sich zu Männlichem wendet, wen dieser Eros an¬ 
haucht, indem er das von Natur stärkere und mehr Vernunft Enthaltende gern hat.“ 2 

Nichts ist wohl bezeichnender für Platon, als daß er den Eros Uranios nur 
in der Knabenliebe sieht, nichts zeigt deutlicher den Abstand, der in diesem 
Punkte — aber nur in diesem — zwischen ihm und der Welt des Christen¬ 
tums besteht, dessen himmlische Liebe der Jungfrau-Mutter gilt, nichts ist 
bezeichnender für die Tendenz des ganzen Dialogs als dies: daß er nur 
die gleichgeschlechtliche, nicht aber die andersgeschlechtliche Liebe für 
fähig erklärt, sich aus den Niederungen des bloß Sinnlichen zu erheben, 
sich zu vergeistigen. Die Wendung, daß die Knabenliebe ihrer Natur nach 
eine höhere geistige Liebe sei, daß sie — ganz anders als die zu Frauen — 
zu einer solch himmlischen Form sich zu veredeln die innere Tendenz 
habe, dient im wesentlichen dem Beweis, daß dieser Eros mit der atheni¬ 
schen Sitte in Einklang stehe. Diese scheint, so wird ausgeführt, da sie 
den Knaben den Verkehr mit Liebhabern verbiete, die Homosexualität zu 
verpönen . 3 Platon läßt nun den Pausanias versuchen, diese Sitte — um sie 
mit seinem Eros doch in Einklang zu bringen — so zu deuten, daß sie 


1) Symposion, C 7 (180 St.). 

2) Symposion, G 9 (181 St.). 

3) Symposion, C 10 (182/83 St.) 

































































Die platonische Liebe 83 


nur die sinnliche, nicht aber auch die geistige Liebe verbiete. Der Eros 
wird spiritualisiert, um gesellschaftsfähig zu werden. Und er unterstützt 
diese Deutung dadurch, daß er auch den Pausanias den gesellschaftsfördernden 
Charakter dieser Liebe in den Vordergrund stellen läßt. Die — geistige — 
Knabenliebe habe den Zweck, den geliebten Knaben zu ertüchtigen . 1 Daher 
könne man auch im Sinne der athenischen Sitte — obgleich diese den 
Knaben jeden Verkehr mit den Liebhabern verbiete — zu dem Ergebnis 
kommen: „Es sei schön, daß der Geliebte dem Liebenden zu willen sei ;“ 2 
man müsse eben nur das Gesetz, das die Knabenliebe verbietet, und das 
Gesetz, das Tüchtigkeit fordert, miteinander verbinden, 

„wenn sich ergeben soll, es sei schön, daß der Geliebte dem Liebenden zu willen 
sei.“ „So ist es überall schön, um Tüchtigkeit willen sich hinzugehen. Dies ist der 
himmlischen Göttin Eros, er seihst himmlisch und hoch zu würdigen, für Staat und 
Einzelne, da er große Sorge auf die Tüchtigkeit zu wenden zwingt, den Liebenden 
um seiner seihst willen und den Geliebten.“ 3 

Hoch zu würdigen vor allem: für den Staat! Denn daß er dem Staat ge¬ 
fährlich sei, dagegen gilt es vor allem Stellung zu nehmen. Ja, Pausanias 
scheut nicht einmal davor zurück, parteipolitische Interessen für die Homo- 

1) Nach Bethe, a. a. O. S. 462 ff., rechtfertigen die Dorer auch den homosexuellen 
Geschlechtsakt durch die Vorstellung, daß der Mann dem Knaben mit seinem Samen 
in magischer Weise seine Seele und damit seine Tüchtigkeit mitteile und „spiri- 
tualisieren“ so auf ihre Weise die Päderastie. In dieser Ideologie der Homosexualität 

wird dem männlichen Samen — so wie sonst dem Blut oder dem Hauch _ der 

Charakter oder die Kräfte der Seele zugesprochen (Bethe, a. a. O. S. 466). Das heißt, 
er wird als sittliche Substanz angesehen, so wie ja die Seele seihst in erster Linie' 
als Substanzialisierung ethischer Werte in Betracht kommt. Im übrigen findet sich 
auch bei Platon die Vorstellung, daß der männliche Same beseelt sei. Im „Timaios“ 
vertritt er die Meinung, daß der Same aus dem Rückenmark hervorquelle, 
daß also das Rückenmark die Samensubstanz enthalte beziehungsweise darstelle (41' 
86 St.). Hier (44, 91 St.) sagt er: Die Götter schufen den Zeugungstrieb „durch Bildung 
einer Art beseelten Wesens, das sie in uns Männern und eines anderen, das sie in 
den Weibern entstehen ließen, und zwar jedes von beiden in folgender Weise. Dem 
Kanal für Getränke gaben sie da, wo sie die aufgenommene Flüssigkeit ... in die 
Blase führt, und sich ihrer unter dem Druck der Luft entäußert, eine Öffnung nach 
dem Marke, das sich als zusammenhängender Strang vom Kopfe am Nacken herunter 
durch das Rückgrat zieht, und dem wir früher die Bezeichnung ,Samen 4 gaben. 
Dies Mark, weil beseelt, und nun der Atembewegung teilhaftig geworden, macht 
eben die Stelle, wo diese Bewegung erfolgt, zum ,Zeugungstrieb‘, indem es ihr die 
Leben erweckende Begierde na< h Ausströmung einpflanzt. Daher denn auch die Un¬ 
fügsamkeit und Selbstherrlichkeit der männlichen Schamteile . . .“ Platon hat offenbar 
die Vorstellung, daß der männliche Same „Markkörperchen“ sind, „die sich von der 
Hauptmasse ablösen“ (Ritter, Platons Dialoge I, 1903, S. 144/45). 

2) Symposion, G 11 (184 St.). 

3) Symposion, C 11 (185 St.). 


6 * 










1 


8 * 


Hans Kelsen 


Sexualität zu verwerten, wenn er sie dem athenischen Demos — als demo¬ 
kratisch empfiehlt. Der männliche Eros sei tyrannenfeindlich, führt er aus, 
das beweise Harmodios und Aristogeiton, deren Liebe der Tyrannis das 
Ende bereitet habe. „Wo also bestimmt ist, die Hingabe an den Liebenden 
sei häßlich, da beruht es auf der Schlechtigkeit der Bestimmenden: auf 
der Gewinnsucht der Herrschenden, auf der Feigheit der Beherrschten, Wo 
es aber einfach als schön geachtet wird“, das heißt wohl, wo nicht 
gefordert wird, daß „der Liebling dem Liebenden nur in schöner“, d. h. 
geistiger Weise, „um der Tüchtigkeit willen zu Willen “ 1 sein soll, „da 
geschieht es durch Seelenträgheit der Bestimmenden “. 2 Die Milde dieses 
Urteils über den knabenliebenden Eros Pandemos ist angesichts der energi¬ 
schen Tendenz, ihn durch seine Spiritualisierung zu rechtfertigen, bemerkens¬ 
wert . 3 

Und diese Milde tritt noch deutlicher im „Phaidros“ hervor. Dort ist 
nach dem Schicksal die Frage, das die Freunde, die in einem schwachen 
Augenblick „das von der Menge gepriesene Teil sich wählen und voll¬ 
bringen“, im Jenseits erwartet. Und es heißt: 

„Am Ende gehen sie zwar unbeschwingt, doch mit dem Triebe zum Wachsen der 
Schwingen aus dem Körper, so daß sie keinen geringen Lohn für den Wahnsinn der 
Liebe davontragen. Denn in Finsternis zu kommen, und den unterirdischen Wandel 
anzutreten, ist denen nicht mehr bestimmt, die schon den himmlischen Wandel be¬ 
gonnen haben, sondern sie dürfen ein Leben im Lichte führen und miteinander dahin¬ 
wandelnd glücklich sein, um dann, wenn dereinst die Zeit kommt, miteinander zu¬ 
gleich beschwingt zu werden um ihrer Liebe willen.“ 4 

In der Rede des Arztes Eryximachos macht sich die Bevorzugung des 
homosexuellen gegenüber dem heterosexuellen Eros begreiflicherweise am 
wenigsten fühlbar. Platon begnügt sich hier, den Eros, bei dem man auch 
in dieser Rede an den knabenliebenden denken muß, vom medizinischen 
Standpunkt rechtfertigen zu lassen, von dem aus man wohl auch Einwände 

1) Symposion, C 10 (184 St.). 

2) Symposion, G 9 (182 St.). 

3) Die Rede des Pausanias macht in der Tat — wie Jo wett (in seiner Ausgabe 
des Symposion, S. 182) konstatiert — einen recht verwirrten Eindruck. Aber der 
Widerspruch, in dem sie sich bewegt, lost sich, wenn man in ihr die Absicht erkennt, 
den päderastischen Eros mit der ihn verpönenden Sitte Athens doch irgendwie in 
Einklang zu bringen. Aber man kann verstehen, wenn Symonds gerade im Hinblick 
auf diese Partie des Symposions von einer „Verwirrung des Gewissens der Athener“ 
spricht (a. a. O. S. 73b Das sittliche Urteil war tatsächlich gespalten. Und der mora¬ 
lische Konflikt, in den das Problem der Päderastie die Gesellschaft gerissen, er wird 
zum tragischen Konflikt in der Brust Platons. 

4) Phaidros, XXXVII (256 St.). 



























































Die platonische Liehe 


85 


erhoben haben mochte. Das Fazit der Rede des Arztes ist, daß Eros, wenn 
er nicht „ausschweifend“ ist, nicht schadet und — was besonders bezeichnend 
• st — kein Unrecht tut. „Denn wenn . . . der edle Eros waltet, . . . dann 
kommt er und bringt Fruchtbarkeit und Gesundheit den Menschen und 
allen Tieren und Pflanzen, und er tut kein Unrecht. Wenn aber jener 
ausschweifende Eros in den Gezeiten des Jahres überhand nimmt, so ver¬ 
dirbt er viel und tut Unrecht .“ * 1 Auch hier wird der soziale Standpunkt 
nicht vergessen. 

c) Der Erosmythos des Aristophanes. Am aufschlußreichsten für die Natur 
des Eros, dem die Reden beim Gastmahl des Phaidon gelten, ist wohl 
die des Aristophanes. Denn der Mythos, den Platon dem Komödiendichter 
in den Mund legt, soll der homosexuellen Männerliebe, und zwar auch in 
ihrer irdischen Form 2 nicht nur ihren Rang gegenüber jedem anders¬ 
artigen Eros sicherstellen, sondern von ihr den Schimpf abwehren, sie sei 
wider die Natur. Die mehr als paradoxe Phantasie dieses Mythos läßt 
sich kaum anders erklären; denn worauf kann wohl Platon mit der schon 
an das Grotesk-Komische streifenden Vorstellung der drei Arten von Kugel¬ 
menschen hinauswollen, die vier Beine und vier Arme, ein doppeltes Ge¬ 
sicht und insbesondere ein doppeltes Geschlechtsorgan haben? Nirgends 
drückt er seine Überzeugung von der Höherwertigkeit der männlichen 
Homosexualität gegenüber jeder anderen Art von Erotik so drastisch aus 
wie hier, wo er den kugeligen Doppelmann von der Sonne, das Doppel¬ 
weib von der Erde, das Mannweib aber vom Mond stammen läßt, und 
dieses — gewiß nicht ohne Absicht — zu dem Hermaphroditismus in 
Beziehung setzt, wenn er von dem aus Männlichem und Weiblichem zu¬ 
sammengesetzten Doppelmenschen sagt: „Jetzt ist aber der Name ins Schimpf¬ 
liche gewendet .“ 3 Da Zeus die Kugelmenschen zur Strafe für ihre Hybris 
spaltet , 4 entstehen aus der minderwertigsten Sorte, den Mannweibern, die 

% 

1) Symposion 13 (188 St.). 

2) Vgl. Symposion 15 (191 St.). 

3) Symposion, C 14 (189 St.). 

4) Gerade bei dieser Spaltung der Kugelmenschen treten in der Darstellung des 
Aristophanes die grotesk-komischen Züge besonders kraß hervor. Zeus zerschneidet 
sie in zwei Hälften, „wie man Birnen zerschneidet, um sie einzumachen, oder wie 
man Eier mit einem Haar zerschneidet“. Jetzt müssen sie sich auf zwei Beinen fort¬ 
bewegen, während vordem ihr Lauf wie sie selbst „rund“ war, d. h. daß sie sich 
radartig rollend fortbewegten, weil sie ihren Eltern, nämlich Sonne, Mond, Erde, 
ähnlich waren. (C 14, 190 St.) Zeus droht, er werde, wenn sie nicht Ruhe halten, 
sie noch einmal entzwei schneiden, so daß sie sich auf einem Bein fortbewegen, wie 
beim Sackhüpfen“. Die durch Halbierung entstandenen Menschen hatten jeder nur 













86 


Hans Kelsen 


jetzt für normal geschlechtlich gehaltenen, einander gegenseitig erotisch an¬ 
ziehenden Männner und Frauen. Platon weiß von ihnen nichts anderes 
zu sagen, als: „Die Ehebrecher und die Frauen, die den Mann lieben“ 
— daß auch Männer die Frauen lieben, wird gar nicht erwähnt — „und 
ehebrecherisch sind, entstammen diesem Geschlecht .“ * 1 Von denen aber, die 
aus einem Doppelmann entstanden sind, und das sind die Männer, die nur 
Männer lieben können, weil Liebe im Sinne dieses Mythos nur bedeutet, 
sich nach seiner anderen Hälfte sehnen und mit ihr vereint sein wollen, 
heißt es: 

„Alle, die Stücke des Männlichen sind, folgen dem Männlichen, und als Knaben 
liehen sie, weil sie ja Teile von Männlichem sind, die Männer, und sind froh, wenn 
sie bei den Männern liegen und sich umarmen; und diese sind die Besten unter den 
Knaben und Jünglingen, weil sie von Natur die mannhaftesten sind. Manche sagen, 
sie seien schamlos, aber das ist Lüge; denn sie tun nicht aus Schamlosigkeit so, 
sondern aus Mut und Mannheit und Männlichkeit: das ihnen Ähnliche haben sie gern. 
Das ist sicher bewiesen: denn diese allein landen, wenn sie zu Männern gereift sind, 
im Staatslehen. Nachdem sie erwachsen sind, lieben sie Knaben, und auf Ehe und 
Kindererzeugung lenken sie nicht von Natur den Sinn, sondern sie werden durch 
das Gesetz genötigt; sie selbst wären zufrieden, miteinander ehelos zu leben.“ 2 

An dieser Charakteristik ist besonders bedeutsam, daß die Homosexuellen 
allein für das Staatsleben prädestiniert sind. Das entscheidende Wort aber, 

einen Geschlechtsteil. Den trugen sie aber hinten und waren daher unfähig, ihren 
Geschlechtstrieb aneinander zu befriedigen. „Und sie befruchteten und zeugten nicht 
ineinander, sondern in die Erde wie die Zikaden.“ Da erbarmte sich Zeus ihrer und 
„versetzte ihre Zeugungsglieder nach vorn und machte, daß sie ineinander zeugten, 
das Männliche im Weiblichen; deswegen, damit in der Umarmung ein Mann, wenn 
er mit einem Weib zusammenkommt, zeugt und Nachkommenschaft entsteht; wenn 
aber Männliches mit Männlichem, ihnen wenigstens Sättigung würde aus der Ver¬ 
einigung und sie sich beruhigten und zum Werke wendeten und auf das andere 
Leben bedacht seien“. G 15 (191 St.). Damit die Menschen glücklich werden sollen, 
muß Zeus an ihren Geschlechtsteilen eine Umkehrung vornehmen, er muß sie von 
außen nach innen kehren. Es ist dieselbe Vorstellung einer radikalen „Umkehrung“, 
die auch im „Politikos“-Mythos eine entscheidende Rolle spielt und für die Psycho¬ 
logie der Homosexuellen sehr charakteristisch ist. 

1) Symposion, C 16 (191 St.). Reitzenstein, a. a. O. S. 24, verweist darauf, daß 
die Vorstellung eines Doppelmenschen, der die Vereinigung eines Mannes mit einer 
Frau darstellt und von Gott zu Beginn der zweiten Weltperiode in zwei geschlecht¬ 
verschiedene Menschen aufgelöst wird, zum Ideenkreis der altpersischen Religion 
gehört. Er hält für möglich, daß der Aristophanes-Mythos aus dieser Quelle schöpft. 
Aber das Schwergewicht in der Darstellung, die Platon dem Aristoteles in den Mund 
legt, liegt nicht auf dem mann-weiblichen, sondern auf dem mann-männlichen Doppel¬ 
menschen. Dieser ist wohl ein höchst persönliches Produkt der platonischen Phantasie, 
denn mit dieser Erfindung soll die homosexuelle Liebe gerechtfertigt werden. 

2) Symposion, G 16 (192 St.). 




















































Die platonische Liehe 


das den eigentlichsten und tiefsten Sinn dieses wohl seltsamsten aller platoni¬ 
schen Mythen enthüllt, ist dies: 

„Wenn Hephaistos, sein Werkzeug in der Hand“ — läßt Platon den Aristophanes 
sagen — „zwei liebende Männer beisammenliegen sähe und sie fragte: Was ist es, 
ihr Menschen, was ihr voneinander haben wollt? und sie wüßten es nicht und er 
fragte wieder: Begehrt ihr wohl dies, so sehr als möglich in eines zusammenzugehen, 
so daß ihr Tag und Nacht voneinander nicht ablaßt? Denn wenn ihr das begehrt, 
so will ich euch in eines zusammenschmelzen und schweißen, so daß ihr, die zwei. 
Einer geworden seid, und solange ihr lebt, beide als Einer gemeinsam lebt, und 
wenn ihr gestorben, auch dort im Hades Einer statt Zweien seid; gemeinsam im 
Tode? Wohlan, so seht, oh ihr das erstrebt und euch diese Erfüllung zufrieden macht! 
— Wir wissen, das hörend, würde nicht einer nein sagen oder einen anderen Wunsch 
verraten, sondern würde meinen, genau das gehört zu haben, was er von je begehrte: 
Vereint und verschweißt mit dem Geliebten aus zweien Einer zu werden. Daran ist 
schuld, daß unsere ursprüngliche Natur so war und wir ganz waren. Nun trägt 
die Begierde und Jagd nach der Ganzheit den Namen Eros,“ 1 

Schon früher hat Aristophanes gesagt, daß die knabenliebenden Männer 
„von Natur“ ihren Sinn nicht auf Ehe und Kindererzeugung lenken, 
sondern durch das Gesetz genötigt. Jetzt spricht er es auch positiv aus, 
daß es die „ursprüngliche Natur“ ist, die den Mann zum Manne drängt. 
Die Frage des Hephaistos ist, wie aus dem Zusammenhänge unzweideutig 
hervorgeht, nur an die sich gegenseitig liebenden Männer gerichtet. Ihr 
Eros wird vor allem als die „Jagd nach der Ganzheit“ gedeutet. Erst im 
weiteren Verlaufe wird die Rede des Aristophanes so allgemein, daß sie auch 
auf die anderen Formen des Eros bezogen werden kann. Wenn er am Ende 
in alle Welt hinausruft: „Wir alle, Männer und Frauen, unser ganzes 
Geschlecht kann nur glücklich werden, wenn wir die Liebe vollenden und 
jeder den im eigenen Geliebten gewinnt, rückkehrend zur alten Natur“, 
und diese Rede mit der Bitte an Eros schließt, „daß er uns in die uralte 
Natur zurückversetze und uns heile, und selig und glücklich mache , 2 so 
will er mit besonderem Nachdruck dafür plädieren, daß die gleichgeschlecht¬ 
liche Liebe ebenso wie die andersgeschlechtliche durchaus nicht wider die 
Natur ist, wie man ihr vorhält und wie ihr selbst Platon in seinem späten 
Alter wieder vorgehalten hat; daß sie das gerade Gegenteil davon ist, weil 
sie zur ursprünglichen Natur erst zurückführt. Dies zu zeigen, hat Platon 
den Mythos vor allem erdacht; von dem Vorwurf der Widernatürlichkeit 
die Knabenliebe zu reinigen, ist er bis zum äußersten des ästhetisch noch 
Möglichen, ist seine Darstellung bis zu einem Punkte gegangen, wo das 


1) Symposion, C 16, (192 St.). 

2) Symposion, G 16 (195 St.). 










88 Hans Kelsen 


Tragische fast schon an das Komische streift und der Ernst vom Scherz 
nicht mehr zu unterscheiden ist. Vielleicht nicht ohne Absicht; vielleicht 
haben wir es in der Tat hier mit einer Äußerung jener rätselhaften platoni¬ 
schen Ironie zu tun, in der dieser eigenartige Geist gerade das auszudrücken 
pflegt, womit es ihm am ernstesten ist. Und vielleicht zeigt sich gerade 
hier die tiefste Wurzel dieser Ironie: die nur aus dem Erotischen stammende 
Scham, die Scham, sein Letztes zu entblößen, diese beinahe rührende Geste 
der Verlegenheit, den Ernst mit Scherz zu verhüllen, sich scherzend zu geben, 
wo man sich schämt Ernst, d. h. sich selbst, sein Innerstes nackt zu zeigen. 

d) Die Liebeslehre der Diotima. Das letzte Wort freilich, das Platon zur 
Verteidigung seines Eros zu sagen hat, ist des Aristophanes ironischer Mythos 
nicht. Es ist des Sokrates Bericht über die Liebeslehre der Diotima, dem 
die Rede des Agathon das Stichwort zu liefern hat. Aber auch in dieser 
relativ bescheidenen Rolle sagt Agathon zur Rechtfertigung der Knaben¬ 
liebe vom Standpunkt Platons Wichtiges genug. Und es ist wiederum der 
Vorwurf der Staatsfeindlichkeit, gegen den sich die Rede des schönen und 
vielgeliebten Jünglings richtet. Indem er den mann-männlichen Eros als 
Ausdruck eines höchsten Gesetzes darstellt: daß Ähnliches Ähnlichem immer 
zustrebt , 1 will er ihn selbst als gesetzgeberische, gesellschaftsordnende, staats¬ 
erhaltende Kraft aufzeigen. Freundschaft und daher Friede herrscht, „seitdem 
Eros König unter den Göttern ist “. 2 Das Größte, was von ihm zu sagen ist: 

„daß Eros Unrecht weder tut noch leidet, weder gegen Götter noch von Göttern, 
weder gegen Menschen noch von Menschen, denn nicht leidet er durch Gewalt, 
wenn er etwas leidet, denn Gewalt berührt den Eros nicht, noch bedient er sich 
ihrer. Denn willig sind alle dem Eros in allem zu Diensten; was man aber willig dem 
Willigen zugesteht, das erklären die Gesetze, die Könige sind des Staates, für gerecht“. 3 

Das ist der Kern der Rede des Agathon. Und sie kommt zu dem Schlüsse, 
daß Eros, der Eros, von dem in diesem Kreise gesprochen wird, gut und 
darum auch schön sei. 

„So scheint mir, o Phaidros, Eros zuerst selber der Schönste und Beste zu sein, 
dann aber dasselbe auch den anderen zu verleihen.“ „Schönster und bester Führer, 
dem jeglicher Mann folgen muß.“ 4 

Hier setzt nun der Gedankengang ein, mit dem Platon, wie gewöhnlich 
unter der Maske des Sokrates, die Apotheose seines Eros vollzieht, ihn vor 
sich selbst und vor der Welt rechtfertigt, indem er ihn verklärt. 

1) Symposion, C 18 (195 St.). 

2) Symposion, C 18 (195 St.). 

3) Symposion, C 19 (196 St.). 

4) Symposion, C 19 (197 St.). 

























































Die platonische Liehe 89 


Zwar, die Brücke, über die Platon den Dialog von der Position des 
Agathon zu der des Sokrates führt, steht logisch auf recht schwachen Stützen. 
Es ist ein Trugschluß, wenn Sokrates zu beweisen sucht, daß Eros weder 
gut noch schön sein könne, weil er Begehren jemandes nach etwas sei; 
und da man nicht begehren könne, was man besitzt, Eros als Begehren 
nach Gutem und Schönem nicht selbst gut und schön sein könne. Denn 
Eros ist das Begehren, nicht der Begehrende, und das Begehren nach Gutem 
und Schönem könnte gut und schön sein, wenn es der Begehrende selbst 
nicht wäre. Ganz abgesehen von dieser Verschiebung des Subjektes vom 
Begehren zum Begehrenden — erleichtert durch die Personifikation des 
Begehrens, die im Eros dargestellt ist —, ist die Liebe zu einem Menschen, 
von der bisher allein die Rede war, etwas anderes, als das Begehren einer 
Sache; selbst wenn man jene mit der „Liebe“ zu einer Tugend, dem Guten 
oder Schönen, identifiziert. Was von dem Begehren einer Sache gilt: daß 
man nur begehren kann, was man nicht hat, gilt nicht von der Liebe 
eines Menschen zu einem Menschen oder zu einer Tugend. Wird dem 
Eros Güte und Schönheit darum abgesprochen, weil er das Begehren nach 
Gutem und Schönem sei, so liegt kein logischer Schluß, sondern höchstens 
eine Analogie und noch dazu eine falsche vor. Aber Platon kommt es 
offenbar gar nicht auf eine logische Beweisführung an . 1 Worauf er abzielt, 
ist die sittliche Rechtfertigung seines Eros* Vor die furchtbare Alternative 
des absoluten Gegensatzes von Gut und Böse gestellt, konnte er — das 
fühlte Platon zutiefst — nicht bestehen. Daß dieser Recht und Sitte zu¬ 
widerlaufende Trieb absolut gut, daß er zur Gänze und in allen seinen 
Äußerungen rein, daß er in keiner Weise und mit keiner seiner Regungen 
den bösen, den dunklen Mächten verhaftet, das kann der unter dieser Leiden¬ 
schaft Leidende, sie immer wieder zu überwinden Suchende guten Gewissens 
nicht zu behaupten wagen. Aber was Menschliches, was dem Menschen 
erfahrungsgemäß Gegebenes in dieser Welt kann denn überhaupt vor dem 
absoluten Gegensatz des Guten und Bösen bestehen? Dieser muß relativiert 
werden, wenn der Mensch, wenn seine ganze Welt nicht sittlich verloren 
sein soll. Nicht als gut oder böse, sondern nur als gut und böse zugleich 

1) Sehr treffend bemerkt Kurt Hildebrandt in der Einleitung zu seiner Über¬ 
setzung von Platons Gastmahl (Phil. Bibi., Bd. 81, 5. Aufl., 1912, S. 16): „Daß aber 
Sokrates nach unseren Begriffen nicht sehr logisch verfährt, kann aus seiner Rede 
leicht entnommen werden. Daraus kann man schließen, daß für Sokrates die logische 
Beweisführung nicht das allerletzte Ziel ist. Er will die neue, größere Idee vom Eros 
bringen . . . Ihm ist die Logik nur ein Mittel, und ein kleiner Mangel daran ist ihm 
nicht gar so wichtig; Urgrund und Ziel seines Wesens liegen anderswo.“ 

















9° 


Maas Kelsen 


muß der Mensch und diese ganze Welt der Erfahrung begriffen werden. 
Man muß auf den Versuch verzichten, beide nur für das eine zu halten, 
um nicht gezwungen zu sein, in beiden bloß das andere zu erkennen. Nicht 
nach dem Sein, dem Gut- oder Bösesein des Menschen oder der Welt darf 
man fragen, dann wären beide verloren. Nur nach einem Werden, das vom 
Bösen zum Guten, in der Richtung zum Guten führen kann. Dann sind 
sie gerettet. Vom Sein zwar, der Existenzform des absolut Guten, bleiben 
sie ausgeschlossen. Aber das Werden, dem sie an gehören, ist Bewegung zum 
Guten hin, birgt die Möglichkeit des Aufstiegs zum Sinn des Absoluten. 
Das ist die Lösung des furchtbaren Chorismos, der die platonische Welt 
zerspaltet, und zugleich eine Erlösung von dem Konflikt zwischen dem als 
Sünde empfundenen, von der Gesellschaft abdrängenden Trieb und der sitt¬ 
lichen Forderung der Gesellschaft in der eigenen Brust. Der platonische 
Dualismus nimmt eine optimistische Wendung, das platonische Problem 
eine Richtung, die wieder in das Diesseits weist. 

Es ist Diotima, die diese Lösung bringt. Sie ist das sozial-sittliche Be¬ 
wußtsein, das den sich über sich selbst Rechenschaft gebenden Sokrates- 
Platon zu dem Eingeständnis zwingt, daß sein Eros nicht gut und schön 
sei. Aber auf die bange Frage: „Wie meinst du das, Diotima? Häßlich also 
ist Eros und böse?“ wird ihm die Antwort: „Lästere nicht! Oder glaubst 
du, was nicht schön ist, sei notwendig häßlich? . . . Oder was nicht weise, 
das töricht? Oder hast du nicht bemerkt, daß etwas ist zwischen Weisheit 
und Torheit?“ Zwischen Gut und Böse, denn das Gute und das Wissen 
um das Gute sind für Sokrates eins und das Böse nur ein Nichtwissen des 
Guten, nur Torheit. Es gibt, lehrt Diotima, etwas, das 

„mitten zwischen Erkenntnis und Torheit“ ist, „das Richtig-Vorstellen“. „Fordere 
also nicht, was nicht schön ist, sei häßlich und was nicht gut ist, sei schlecht. Und 
so glaube auch nicht, daß Eros, wenn du selbst zugibst, er sei nicht gut und nicht 
schön, darum schon häßlich und schlecht sein müsse, sondern etwas zwischen beiden.“ 1 

Das, gerade das ist die Lösung und Erlösung! Und nun ist der Weg 
freigemacht zur höchsen Rechtfertigung des Eros. Nachdem der für Platon 
so wichtige, so befreiende Gedanke, daß sein Eros eine Mischung von Gut 
und Böse, ein Zwischending zwischen Irdischem und Himmlischem, ein 
Mittler zwischen Menschlichem und Göttlichem, wenn auch kein Gott also, 
so ein Dämon sei, noch einmal, und zwar mythologisch dargestellt, indem 
Eros als Kind des männlich-weisen Reichtums und der weiblich-törichten 
Armut gedeutet wird, steuert der Dialog in rascher, zielsicherer Fahrt auf 


1) Symposion 22 (202 St.). 




















































Die platonische Liehe 91 


den schwersten Einwand zu, der gegen die mann-männliche Liebe erhoben 
w j r d — und auch diesen hat Platon selbst als Greis in seinen „Nomoi“ 
erhoben —: Daß sie keine fortpflanzende, keine zeugende Liebe sei. Und 
gerade darin verrät sich das „Symposion“ als Verteidigungsschrift, daß es 
auf seinem Höhepunkt nichts anderes zeigen will, nichts anderes mit dem 
allergrößten Aufwand von Geist und Temperament zu beweisen sucht: als 
daß der platonische Eros, ganz ebenso wie die Liebe zwischen Mann und 
Frau, eine zeugende, ja mehr noch und in einem höheren Sinn als diese, 
eine befruchtende und gebärende Liebe sei. Zu diesem Zweck muß Platon 
zunächst den Begriff des Eros in der Weise erweitern, daß die geschlecht¬ 
liche Liebe nur der Spezialfall eines Eros wird, den er als Begierde nach 
dem Guten und dem Glücklichsein bestimmt. So glaubt er, den Fehler gutzu¬ 
machen, den wir begehen, „wenn wir von der Liebe eine Form heraus¬ 
nehmen, und ihr den Namen des Ganzen geben .“ 1 Das Ziel aller Liebe ist 
Glücklichsein. Da Glücklichsein aber nur möglich ist als Gutsein: „so gibt 
es nichts anderes, was Menschen lieben, als das Gute .“ 2 Auch hier wird 
man nicht auf die Logik des Schlusses sehen, sondern nur das Ziel der Ge¬ 
dankenführung im Auge behalten müssen, die schon im „Lysis“ angedeutet 
ist: Wie aller Liebe, ist auch des platonischen Eros Ziel das Gute. 

Die Erweiterung des Erosbegriffs über das unmittelbar Sexuelle hinaus, 
seine — schon in der Rede des Pausanias versuchte — Spiritualisierung 
ist die notwendige Voraussetzung dafür, den Eros mit einer anderen als 
einer bloß physischen Zeugung in Verbindung zu bringen. Platon stellt — 
und das ist für die hier in Betracht kommende Beweisführung der ent¬ 
scheidende Schritt — neben die „Zeugung im Leib“ die „Zeugung in der 
Seele“, neben die körperliche die seelische Fortpflanzung, neben die materielle 
die geistige Unsterblichkeit. Diese Wendung nimmt hier das Gespräch 
zwischen Diotima und Sokrates: 

„Wohlan, ich will es dir sagen. Es ist nämlich — die Liebe — ein Zeugen im 
Schönen, sei es im Leibe, sei ts in der Seele. — Man bedarf der Seherkunst für den 
Sinn deiner Worte, sprach ich. Und ich begreife nicht. — So will ich deutlicher 
sagen, nämlich brünstig sind alle Menschen, Sokrates, an Leib und Seele, und wenn 
sie in ihr Alter gekommen sind, so begehrt unsere Natur zu erzeugen. Doch im Hä߬ 
lichen vermag sie nicht zu zeugen, aber im Schönen. Denn des Mannes und Weibes 
Gemeinschaft ist Zeugung. Dieser Vorgang aber ist göttlich, und dies ist im sterb¬ 
lichen Wesen das Unsterbliche: die Befruchtung und die Geburt . . . Wenn das Rei¬ 
fende einem Schönen naht, so wird es heiter und von Freude durchströmt, und es 


1) Symposion 24 (205 St.). 

2) Symposion 24 (206 St.). 


















zeugt und befruchtet. Wenn es aber dem Häßlichen naht, so zieht es sich unwillig 
und trauernd in sich zurück und wendet sich ab und sinkt zusammen und zeugt nicht, 
sondern behält und trägt schwer seine Bürde. Daher wird im Keifenden und schon 
Geschwellten soviel Eifer um das Schöne, weil es dem, der es besitzt, von großen 
Wehen befreit. Denn die Liebe, Sokrates, gilt nicht dem Schönen, wie du glaubst. — 
Aber wem denn? — Der Zeugung und dem Gebären im Schönen. — So mag es sein, 
sagte ich. — Und sie: Sicherlich. — Warum denn nur der Zeugung? — Weil das 
Ewige und Unsterbliche im Sterblichen die Zeugung ist. Mit dem Guten aber Un¬ 
sterblichkeit zu begehren, ist notwendig, wenn wir doch fanden, daß Liebe das Gute 
für immer zu besitzen trachtet. Notwendig ist nach dieser Lehre, daß Liebe auch 
nach der Unsterblichkeit trachtet.“ 1 

Indem als Sinn der Zeugung die Unsterblichkeit behauptet wird, ist der 
geistigen Zeugung, auf die dieser ganze Gedankengang zielt, schon der 
Vorrang vor der körperlichen gesichert. Denn bei dieser kann von „Un¬ 
sterblichkeit u nur in einem sehr uneigentlichen Sinn die Rede sein. Gerade 
die geistige Zeugung aber ist mit dem platonischen Eros und nur mit ihm, 
nicht aber mit der — schon darum niederen — Form der Liebe zum anderen 
Geschlecht verbunden. Daß es aber ein „Zeugen “ und „Gebären“ sei, durch 
das die geistige Unsterblichkeit bewirkt wird, das glaubt Platon mit dem 
allergrößten Nachdruck und immer wieder betonen zu müssen. Zu diesem 
Zweck wird, wie früher der Begriff der Liebe, so jetzt der Begriff der auf 
Unsterblichkeit zielenden Zeugung in eigenartiger Weise bestimmt. Alles 
Sterbliche, sagt Diotima, werde erhalten, 

„nicht dadurch, daß es in jeder Beziehung immer dasselbe bleibet wie das Gött¬ 
liche, sondern indem das Verschwindende und Alternde ein Anderes, Neues von der 
Art, wie es selbst war, zurückläßt. Durch diese Einrichtung, Sokrates, hat Sterbliches 
an der Unsterblichkeit teil, der Leib und alles übrige; niemals durch eine andere.“ 2 

Dadurch also wird man unsterblich, daß man etwas zurückläßt, was von 
der eigenen Art ist. Das trifft ebenso wie auf ein Kind auf ein geistiges 
Werk zu. Und so führt denn Diotima als Beispiel für solche Zeugung zum 
Zwecke der Unsterblichkeit die „Liebe“ der Menschen an, 

„berühmt zu werden und für immer einen unsterblichen Namen zu erwerben. 
Und dafür sind sie bereit, sich in allen Gefahren zu gefährden, mehr als für ihre 
Kinder . . . Denn, meinst du, Alkestis sei für Admet gestorben oder Achilleus dem 
Patroklos in den Tod gefolgt oder euer Kodros voraus für das Königtum der Kinder 
gestorben, wenn sie nicht geglaubt hätten, unsterbliches Gedenken ihrer Tüchtigkeit 
werde um sie sein, welches wir nun auch bewahren. Nein, weit entfernt, sondern 
ich glaube, für unsterbliche Tugend und solchen hochklingenden Namen tun alle 


1) Symposion 25 (206 St.). 

2) Symposion 26 (207 St.). 



































































Die platonische Liehe 9^ 

Alles um so mehr, je edler sie sind, denn das Unsterbliche lieben sie. Welche nun 
körperlich reif sind, die wenden sich mehr den Frauen zu und hier sind sie verlieht, 
durch Kinderzeugen erwerben sie sich Unsterblichkeit und Andenken und Glück¬ 
seligkeit, wie sie glauben, für alle folgende Zeit. Welche aber in der Seele — denn 
es gibt solche, die in den Seelen noch mehr zeugen als in den Leibern was der Seele 
zu zeugen und zu empfangen gemäß ist . . . 4<1 

Die aber in der Seele reif werden und darum in der Seele zu zeugen 
begehren, das sind die Männer, die sich nicht den Frauen zuwenden, sondern 
den Männern. Das wird mehr als selbstverständlich vorausgesetzt denn aus¬ 
drücklich betont. 

„Wenn einem nun von Jugend auf dies in der Seele reift, da er göttlich ist und 
er, da seine Zeit kommt, nun mehr zu befruchten und zu zeugen begehrt, schweift 
dieser umher — nicht wahr? Und sucht das Schone, in dem er zeugen könnte; denn 
im Häßlichen wird er niemals zeugen. Zu den schönen Leibern fühlt er sich mehr 
hingezogen als zu den häßlichen, wenn er brünstig ist, und wenn er dabei auf eine 
schöne und edle und wohlgewachsene Seele trifft, so fühlt er sich heftig hingezogen 
zur Vereinigung dieser zwei,“ 

daß es aber Leib und Seele eines Jünglings ist, zu dem sich dieser 
in der Seele gereifte Mann, der nicht im Leib sondern in der Seele zeugen 
will, hingezogen fühlt, das geht daraus hervor, daß es im folgenden heißt: 

„Und zu diesem Menschen ist er sogleich voll von Reden über Tüchtigkeit und über 
das, was Not ist, damit ein Mann gut sei und wonach man streben muß, und bemüht 
sich, ihn zu erziehen. Denn, glaube ich, indem er den Schönen anfaßt und mit ihm 
umgeht, zeugt und gebiert er, womit er längst trächtig ist. Und anwesend und ab¬ 
wesend daran denkend, zieht er gemeinschaftlich mit jenem das Erzeugte auf, so daß 
sie viel engere Gemeinschaft als die durcjj Kinder miteinander haben und festere 
Freundschaft, weil sie durch schönere und unsterblichere Kinder miteinander ver¬ 
bunden sind. Und jeder würde sich lieber solche Kinder geboren sehen als die mensch¬ 
lichen, wenn er auf Homer schaut und Hesiod und die anderen tüchtigen Dichter, 
sie beneidend, daß sie solche Kinder zurücklassen, die ihnen unsterblichen Ruhm und 
Gedächtnis bereiten, da sie ja selbst so sind.“ a 

Indem also Platon die geistige Produktion in Parallele zur körperlichen 
Zeugung stellt, kann er jene wie diese als eine Funktion des Eros deuten. 
Nur durch Liebe kann man zeugen. Und wie die Liebe zwischen Mann 
und Frau zum Zeugen und Gebären leiblicher Kinder, so führt die Liebe 
von Mann zu Mann — deren sexueller Charakter gerade an dieser Stelle 
ziemlich deutlich hervortritt — zum Zeugen und Gebären von geistigen 
Kindern, von unsterblichen Werken. Die Liebe zum schönen Jüngling löst 


1) Symposion 27 (208 St.). 

2) Symposion 27 (209 St.). 















gleichsam das schöpferische Schaffen in dem liebenden Manne aus, läßt 
ihn gebären, „womit er längst schon trächtig ist“. Deutlich geht schon 
aus der eben zitierten Stelle hervor, daß Platon es nicht dabei bewenden 
läßt, daß sein Eros ebenso wie der zwischen Mann und Frau ein zeugender, 
gebärender Eros sei, sondern daß er überzeugt ist und auch die anderen 
davon überzeugen will, sein Eros stehe gerade als zeugende und gebärende 
Liebe hoch über der normalgeschlechtlichen Beziehung. Geistige Werke 
sind mehr wert als leibliche Kinder. Denn wegen ihrer geistigen Kinder 
hat man großen Männern, schon Denkmale, ja Heiligtümer gesetzt, „wegen 
menschlicher Kinder aber noch keinem “. 1 

Gerade in diesem Punkte ist Platon — wie in manchen anderen seiner 
Erostheorie im „Phaidros“ noch einen Schritt weiter gegangen. Hier 
ist Eros nicht bloß Daimon, sondern Gott, obgleich Eros auch hier als 
ein Mittleres zwischen Gut und Böse gesehen wird. Nur liegt hier das 
Übergewicht sichtlich auf dem Guten, das Böse an ihm, die sinnliche 
Komponente, wiegt noch weniger schwer als im „Symposion“, wird noch 
milder beurteilt, die geistige Komponente noch höher gehoben als dort. 
Der Liebeszustand wird als „Wahnsinn“ bezeichnet; dieser Wahnsinn keines¬ 
wegs als etwas absolut Schlechtes, sondern als etwas relativ Gutes, als ein 
göttlicher Wahnsinn dargestellt. 

„Ja, wenn einfach der Satz gälte, der Wahnsinn sei etwas Schlimmes, dann wäre 
jene Vorschrift (daß man dem Nichtverliebten eher zu Willen sein solle als dem 
Verliebten) richtig. In Wirklichkeit jedoch vermittelt uns Wahnsinn die wertvollsten 
unserer Güter: ein Wahnsinn eben, der als göttliches Geschenk uns verliehen wird.“ 2 

Ein solches göttliches Geschenk ist der Liebeswahnsinn. Geschenk ist das 
Symbol der Vermittlung zwischen Gottheit und Mensch; Eros, der den 
Menschen in den Zustand göttlichen Wahnsinns versetzt und so der Gottheit 
annähert, ganz ähnlich wie im „Symposion“ ein Mittleres zwischen Gött¬ 
lichem und Menschlichem. Den Liebeswahnsinn deutet Platon rechtfertigend 
im „Phaidros“ als Erinnerung an das ewig Schöne, das absolut Gute, das 
die Seele vor ihrer körperlichen Existenz im Jenseits gesehen hat. Er stellt 
ihn so auf eine Stufe mit der wahren Erkenntnis, die er — im „Menon“ — 
als Wiedererinnerung an das von der Seele in ihrer Präexistenz geschaute 
wahre Wesen der Dinge erklärt. Der Anblick des schönen und darum 
geliebten Menschen erinnert den Liebenden „an die wahre Schönheit“, 
deren er im Jenseits vor seiner Geburt teilhaftig war. 


1) Symposion, C 27 (209 St.). 

2) Phaidros XXII (244 St.). 
















































Die platonische Liebe 


„Jede Menschenseele hat von Natur das Seiende geschaut, sonst wäre sie nicht 
in diese Lebensform eingegangen. Doch wird es nicht einer jeden leicht, von den 
Dingen hienieden aus sich an die droben zu erinnern .“ 1 

Platon unterscheidet zwei Arten der Liebe je nach dem Grad dieser 
Wiedererinnerung: 

„Wer nun nicht frisch geweiht ist oder wer verdorben ist, der dringt nicht rasch 
von hier dorthin vor zur Schönheit selbst, wenn er betrachtet, was hier den gleichen 
Namen trägt. So wird er nicht zur Verehrung gestimmt durch den Anblick, sondern, 
der Sinnenlust hingegeben, sucht er, gleich dem Vieh, mit körperlichem Umfassen 
Kinder zu zeugen, und, der Ausgelassenheit vertraut, fürchtet und schämt er 
sich nicht, wider die Natur der Lust nachzugehen. Der jüngst Geweihte dagegen, 
der vormals viel erschaut hat: Wenn er ein göttergleiches Angesicht erblickt, das 
die Schönheit gut widergibt, oder eine solche Körpergestalt, dann durchrieselt ihn 
zuerst ein Schauer, und Nachwehen der Angstbeklemmungen von damals beschleichen 
sein Gemüt; dann aber verehrt er den, den er vor sich sieht, wie einen Gott, und scheute 
er nicht den Schein hochgradigen Wahnsinns, so opferte er seinem Geliebten . ..“ 2 

Der Geliebte ist, wie aus dem folgenden unzweideutig hervorgeht, ein 
Knabe. Nur der „Blick auf die Schönheit des Knaben“ treibt bei dem 
Liebenden das Gefieder heraus, läßt seiner Seele die Flügel wachsen. Es 
ist der homosexuelle Eros, den Platon hier meint, und dessen sinnliche 
Glut er — wie wir schon früher gesehen — im „Phaidros“ ebenso leiden¬ 
schaftlich schildert wie nachsichtig beurteilt. Es kann keinem Zweifel 
unterliegen, daß Platon hier der homosexuellen Liebe als der Liebe dessen, 
der sich leichter und besser erinnert an das im Jenseits Geschaute, der 
Liebe zu einem schönen Knaben, die vom Standpunkt dieser Erinnerungs¬ 
theorie die höhere Liebe ist, die normalgeschlechtliche Liebe als die Liebe 
desjenigen entgegenstellt, der sich weniger und schlechter erinnert, der 
nicht rasch von hier dorthin zur Schönheit selbst Vordringen kann, dem 
es schwerer fällt, von den Dingen hienieden aus sich an die droben zu 
erinnern. Ja, mit einer beispiellosen Kühnheit kehrt er das landläufige 
Werturteil in sexuellen Dingen geradezu um und setzt die heterosexuelle 
Liebe als viehisch und wider die Natur gerichtet gegenüber der homo¬ 
sexuellen Liebe herab. 3 

1) Phaidros XXX (250 St.). 

2) Phaidros XXXI (250/51.). 

5) Bruns, a. a. O. S. 21 f., stellt in bezug auf den „Phaidros“ „mit Befremden“ 
fest, daß Platon hier das Wesen der Liebe überhaupt behandelt, aber nur von dem 
homosexuellen Eros spricht. „Wir können nur die Lücke feststellen und den Schluß 
ziehen, daß die Liebe zwischen den verschiedenen Geschlechtern, bei den Erwägungen 
Plaions, die zu der Theorie des „Phaidros“ führten, vollkommen ignoriert wurde. — 
Diese Einseitigkeit ist historisch wohl verständlich. Auch Pausanias und Phaidros im 











9 6 


Hans Kelsen 


Daß die „echte Liebe zu Knaben “ 1 eine im höchsten Sinne des Wortes 
„zeugende“ und „gebärende“ Liebe sei, daß soll nach Platons „Symposion“ 
nicht einmal ihre höchste Rechtfertigung sein. Denn erst nachdem Diotima 
dies eröffnet, schickt sie sich an, das letzte Geheimnis des Eros zu enthüllen. 
Sie deutet die Stufen des Weges an, der zum obersten Ziele aller wahren 
Philosophie, zum höchsten Gipfel echter Erkenntnis, zur Schau des absolut 
Guten führt. Und die erste Stufe dieses Weges ist die liebende Schau des 
schönen Knabenleibes! 

„Denn wer in der rechten Weise dieser Sache nachgeht, der muß jung beginnen, 
den schönen Leibern nachzugehen und zuerst, wenn der Geführte richtig geführt 
wird, einen schönen Leib lieben und ihm schöne Worte zeugen.“ 2 

Von der liebenden Schau des schönen Knabenleibes aber führt der Weg 
über die Liebe zur schönen Gestalt als solcher, und die sich anschließende 
Erkenntnis der schönen, d. i. der guten Lebensweise zur letzten Stufe der 
Schau: der Schau des ewig Schönen, das hier — in einer für die Liebes- 
philosophie des „Symposion“ überaus bezeichnenden Weise — mit dem 
absolut Guten gleichgesetzt wird ; 3 und das zu schauen nur dem vergönnt 
ist, der auf dem Weg des knabenliebenden Eros aufzusteigen versucht. 

Symposion und später Xenophon meinen über den Eros an sich zu sprechen, handeln 
aber nur von dem päderastischen. Nur die Knabenliebe gab jenen Männern zu denken, 
die Liebe zur Frau stellte ihnen kein Problem.“ Im „Symposion“ aber, das Bruns für 
das spätere Werk hält, habe Platon die Lücke des „Phaidros“ ausgefüllt. Als er im 
„Symposion“ der Frage zum zweiten Mal nähergetrften sei, habe er mit seiner ersten 
Erklärung in vielen Stücken gebrochen. Insbesondere baue er jetzt die Theorie der 
Liebe, „nicht mehr auf der Betrachtung der Männerliebe, sondern der Liebe zwischen 
den verschiedenen Geschlechtern“ auf. Das trifft nicht zu. Im „Phaidros“ wird die 
normalgeschlechtliche Liebe keineswegs ignoriert, sondern — wie oben im Text 
gezeigt wird — ausdrücklich erwähnt, nur daß sie eben als tierisches Begehren 
disqualifiziert wird. Xenophon erwähnt sie nicht nur, sondern er läßt sogar sein 
Symposion geradezu in einer Apotheose dieses Eros gipfeln. Gerade darin liegt die 
Spitze gegen Platons „Einseitigkeit“, die freilich nicht „historisch“, sondern nur 
psychologisch erklärt werden kann. Diese macht sich in seinem „Symposion“ nicht 
weniger bemerkbar wie im „Phaidros“. Zwar erkennt er hier die Zeugungsfunktion 
als für die Liebe wesentlich an und geht so scheinbar von dem normalgeschlecht¬ 
lichen Eros aus; aber nur zu dem Zweck, um den homosexuellen als die höhere 
Form der zeugenden Liebe zu rechtfertigen. Auch im „Symposion“ ist Platons Eros 
mit der Knabenliebe identisch. 

1) Symposion, G 29 (211 St.). 

2) Symposion, C 28 (210 St.). 

5) Es ist Diotima, die diese Identität des Guten mit dem Schönen ausspricht. 
In ihrem Gespräch mit Sokrates ist die Einsicht gereift, Eros sei Liebe zum Schönen. 
„Was aber liebt Eros am Schönen?“, müsse man fragen. „Wer das Schone liebt, was 
liebt er?“ Worauf Sokrates: „daß es ihm werde“. Und nun fragt Diotima: „Was 



















































Die platonische Liehe 


„Wenn aber einer von diesem anderen aufsteigend durch die echte Liehe zu 
Knaben jenes Schöne zu schauen beginnt, dann berührt er fast das Ziel. Denn dies 
heißt richtig zum Erotischen gehen oder geführt werden, daß man von diesen schonen 
Dingen beginnend, jenes Schönen wegen immer hinaufsteige, gleichsam auf Stufen 
steigend, von einem zu zweien und von zweien zu allen schönen Leibern, und von 
den schönen Leibern zur schönen Lebensführung, und von der schönen Lebensführung 
zu den schönen Erkenntnissen, bis man von den Erkenntnissen endlich zu jener Er¬ 
kenntnis gelangt, welche die Erkenntnis von nichts anderem als jenem Schönen selbst 
ist, und man am Ende jenes Selbst, welches schön ist, erkenne.“ 1 

Welcher Wandel der Anschauung liegt zwischen dem „Gorgias“ und 
dem „Phaidon“ auf der einen Seite, und dem „Symposion“ und „Phaidros“ 
auf der anderen! Der Leib mit seiner Sinnlichkeit, das ist nicht mehr das 
schlechthin Irdisch-Böse, der Kerker der himmlischen Seele, der Leib, den 
der Philosoph abzutöten, dem er sobald als möglich zu entfliehen hat, um 
zu seinem Ziele zu gelangen. Das ist jetzt die unumgängliche Voraussetzung 
dafür, dies Ziel zu erreichen; die Liebe zu ihm schon der erste, der be¬ 
deutsamste Schritt auf dem Wege zum Guten, ein Schritt, mit dem schon 
auf Erden der „himmlische Wandel“ beginnt , 2 weil mit ihm das Beste im 
irdischen Leben: die echte Erkenntnis ein setzt, die nur die Wiedererinnerung 
der Seele ist an die Schau der ewigen Wesenheiten im Jenseits. Das ist 
wohl die höchste Verklärung, deren jemals die Liebe teilhaftig geworden 
ist: Höher noch als das spätere Christentum, das die Liebe des Mannes zur 
Frau und Mutter geheiligt hat in der Gestalt der jungfräulichen Mutter 
des Heilands, hat hier Platon die Liebe des Mannes zum Mann in den 
Himmel metaphysischer Erkenntnis erhoben. Er hat seinen Eros, unter 
dem er mehr gelitten haben mag, als die Dialoge verraten, vor sich selbst 
und der Welt, und hat damit die Welt vor sich selbst sittlich gerechtfertigt. 
Zu dieser Rechtfertigung der Welt war ihm Eros Brücke und Weg; Eros, 
den ihm Diotima als den dämonischen Mittler zwischen Gott und der Welt, 


geschieht jenem, dem das Schöne wird?“ Die Antwort soll lauten: Daß er glücklich 
wird. Um sie leichter zu gewinnen, schlägt Diotima vor, an Stelle des Schönen vom 
Guten zu sprechen, da sie offenbar voraussetzt, daß beide identisch seien. „Aber“, 
sagte sie, „wenn jemand statt des Schönen das Gute einsetzte und fragte: Sprich, 
Sokrates, wer das Gute liebt, was liebt er? — Daß es ihm werde, sagte ich. — Und 
was geschieht jenem, dem das Gute wird? — Das habe ich leichter zu beantworten, 
sagte ich: daß er glücklich sein wird. — Denn, sagte sie, durch den Besitz des Guten 
sind die Glücklichen glücklich. Und weiter zu fragen, bedarfs nicht, weshalb denn, 
der glücklich sein will, der es will, sondern die Beantwortung scheint vollendet zu 
sein“. G 24 (204/05 St.). 

1) Symposion, G 29 (211 St,). 

2) Phaidros XXXVII (256 St.). 


Imago XIX. 


7 















Kelsen: Die platonische Liehe 


zwischen dem Guten und dem Bösen enthüllt. Auf die Frage des Sokrates, 
was eigentlich Eros sei, antwortet sie: 

„Ein großer Dämon, o Sokrates, denn alles Dämonische ist mitten zwischen Gott 
und Sterbling ... In der Mitte von beiden ist es erfüllend, so daß das All selbst 
in sich selbst gebunden ist.“ 1 

Was die platonische Welt gespalten, verbindet sie wieder. Eros hat den 
Chorismos erzeugt, Eros hebt ihn wieder auf. 

Damit erhält der platonische Dualismus eine optimistische Wendung. 
Die platonische Philosophie nimmt — mit der Tendenz, den Gegensatz 
von Gut und Böse zu relativieren — eine Richtung, die wieder in das 
Diesseits weist, und dann auf ein einheitliches Weltbild zielt, das auch die 
— nicht mehr nur ethisch gedeutete, sondern als seiend begriffene, weil 
nicht schlechthin böse — Natur umfaßt; eine Richtung, die vor allem zu 
Staat und Gesellschaft zurückführt. 


1) Symposion 23 (202 St.). 


































Dichtung als archaisches Erb« 


Von 

Walt er M usckg 

Zi inch 


Ein Kind wächst auf in dieser Welt, den Eltern vertrauend, Nahrung 
und Spiele genießend, der Menschen und des Lichtes froh. Eines Tages zum 
erstenmal, dann immer öfter und unzweifelhafter wird es die schwankende 
Fragwürdigkeit des Menschendaseins schmecken: die Nähe von Schmerz 
und Tod, die blutig brutalen Zwecke hinter dem freundlichen Anschein 
der Welt. Es stehen seit alters die Tore offen, in die der zur Reife erwachende 
Mensch sich vor dem Grauen der Erkenntnis retten kann. Das offenste und 
einladendste von allen ist in Europa seit dem Zerfall der Kirche die Kunst. 

Ein Mensch hat sich, dieser breiten Straße folgend, dem liebhaberischen 
Genuß, der wissenschaftlichen Erforschung der Literatur, vielleicht sogar 
der Schriftstellerei ergeben (von den Schöpfern im strengsten Sinn ist hier 
nicht die Rede). Was wird er darin suchen und willkommen heißen? 
Eben die keusche Reinheit und Gefahrlosigkeit des Lebensaspekts, deren 
Fehlen in der Realität ihn so tief zurückschreckte und in das Reich der 
Phantasie hinein trieb. Kunst und Dichtung, so verstanden, sind herrliche 
Zufluchtsorte vor der grausam handelnden Welt, die schönste Entschädigung 
für das verlorene Paradies. Kein Wunder, daß sie so fanatisch als das Reich 
des Schönen, des Maßes, der sichtbaren Harmonie gepriesen werden; immer 
wieder haben ganze Epochen in diesem unschuldigen Glanz das einzige 
Recht der Dichtung gesehen. Aber er ist nur das Idol einer neuen Un¬ 
wissenheit, die Kulisse einer höheren Unreife. Auch hier wird einmal das 
Erwachen unabwendbar sein. Nur daß sich dieser Bruch selten im Rahmen 
des Einzellebens, — man denke an Tolstoi, — meist im größeren Zu¬ 
sammenhang der allgemeinen Entwicklung vollzieht, als Revolution eines 
Zeitstils, die, wenn sie tief greift, aus einer solchen Umdeutung der Kunst 
selber hervorgeht. Dann bricht die tröstliche bessere Welt, das Elysium 
der blut- und schreckenlosen Beseligungen, das eine ganze Epoche in der 
Dichtung besaß, als eine bloße Wunschgewißheit unversehens so gänzlich 
zusammen, daß die Neuerer gar nicht begreifen, was mit ihr verloren 
gehen soll, während die Alten den Sinn ihres ganzen Daseins angegriffen 
sehen und den Künstlern, wie politischen Rebellen, mit Gewehrläufen 
drohen. So stehen heute die Dinge — teilweise schon im Bewußtsein des 
Publikums, dem die sichere Freude an Theatern, Konzertsälen, Galerien 


* 


7 * 










lOO 


Walter Musckg 


vergällt ist, und ausnahmslos im Geist jener wenigen, auf denen das Schicksal 
der Kunst zu jeder Zeit geruht hat. Die meisten von ihnen haben schon 
bezeugt, daß sie den Glauben an jene unverbindliche Idealität der Kunst 
nicht teilen, daß ihn nach ihrer Meinung stets nur die abgeleiteten Talente 
vertreten haben. Es ist der Standpunkt, von dem wir hoffen, daß ihm die 
Zukunft gehöre. 

Blickt man unvoreingenommen, nicht durch die Brille des nachklassisch¬ 
bürgerlichen Historikers auf die Geschichte der Literatur zurück, dann be¬ 
fällt einen zunächst ein Staunen über die Verschiedenartigkeit der Phänomene, 
die in den kursierenden Handbüchern unter dem gleichen Titel verarbeitet 
werden. Es ist da ein biederes Neben- und Nacheinander von Lebensläufen 
und Leistungen, eine Bilderbuchlandschaft für erwachsene Leute, die wahr¬ 
haftig verdient, eine Welt für sich zu heißen. Das Lebensgeräusch dringt 
nicht in den abgeschlossenen Raum dieses Pantheons, dieser Stil- oder geistes¬ 
geschichtlichen Wandelgänge, in denen ein kultivierter Mann nach getanem 
Lebenswerk, eine geistvolle Dame der Gesellschaft sich heimisch fühlen 
können wie nirgends sonst. Ein wirklicher Dichter, die Geburt eines echten 
Kunstwerks sehen freilich so völlig anders aus, daß die Verfasser dieser 
Lehrbücher und ihre Leser ahnungslos an ihnen vorübergehen, sofern sie 
ihnen je begegnen. Zieht man einen Faden aus dem malerisch komponierten 
Teppich der geschriebenen Historie, geht man einem ihrer Fakten, dann 
einem zweiten, dann vielen in die realen Voraussetzungen nach, so ver¬ 
ändert sich das Bild unabsehbar. Es wird zu einem Konglomerat von un¬ 
gelösten, weil unlösbaren Problemen, ja von finster erregenden Katastrophen, 
denen nur die geschichtliche Einreihung das Entsetzliche, Aufwühlende, 
Moral und Gesellschaft Aufhebende nehmen kann. Wo hängt in der Wirk¬ 
lichkeit der furchtbare Kriminalfall von Kleists Selbstmord am Wannsee 
mit Hebbels Untreue an Elise Lensing, mit der Pathologie von Flauberts 
Einsamkeit oder Dostojewskis Martergram zusammen? Noch rätselhafter ist, 
welche wechselnden Funktionen die Dichtung in der Geschichte erfüllt 
hat: Dionysosfeier und Ahnenkult der attischen Tragödie, — wer wagt zu 
sagen, daß er dies versteht, — Vagantengesang der mittelalterlichen Volks¬ 
epik, provengalische Minnelyrik, die luxuriösen Spiele in Rokoko-Schlössern: 
wie läßt sich dies alles in einem Atem nennen? Ist der Name Dichtung 
Band genug dafür? Muß er nicht reißen, wenn man ihn über solche Berge 
und Abgründe der Fremdartigkeit spannt? Am merkwürdigsten aber kon¬ 
trastiert der Gehalt, die Substanz der Dichtung mit der geltenden Meinung 
von ihr. Es wäre nicht möglich, daß die Extravaganz jeder neu auftretenden 










































Dichtung als archaisches Erb« 


101 


Dichtergeneration als abscheuliche Tempelverunreinigung abgelehnt würde, 
wenn nicht ein so einseitiges Vorurteil über die Dichtung in Kraft stünde. 
Ich meine, jeder vollsinnige Mensch, den man mit den großen Werken 
der Weltliteratur ohne viele Phrasen bekannt macht, müßte umgekehrt 
Ekel und Aberwillen vor so viel Blut, Verbrechen, Wollust und Perversität 
empfinden. Vergewaltigung, Blutschande, Flucht vor dem Doppelgänger, 
Aufruhr gegen Gesetz und Sitte, ein grelles Überschreiten aller Grenzen, 
dessen geringste Anzeichen in der Realität mit allen Machtmitteln der Justiz, 
des Staates, der sittlichen und geistigen Autorität unterdrückt werden, sind 
das tägliche Brot und Handwerkszeug der Dichtung. Wer diese nächtige 
Seite an ihr einmal gewahrt hat, fragt sich im Ernst, wie es möglich ist, 
daß ehrliche Männer seit langem mit Vorliebe solchen Greuel und Wahn¬ 
sinn registrieren, ohne ihn ganz abnorm zu finden. Wer näher zusieht, 
bemerkt allerdings rasch, daß dieses Dunkel von der Geschichtsschreibung 
mit absichtlicher oder unbewußter Konsequenz an die Peripherie geräumt, 
in ästhetischen oder moralischen Bann getan oder verschwiegen wird. Der 
Psychologe erkennt überdies, daß sich in der beliebten Herabsetzung des 
einen Dichters gegen den andern — etwa Kleists gegen Goethe, Goethes 
gegen Schiller — viel unbewußter Haß gegen den Dichter schlechthin 
verrät. Es gibt kaum einen großen Schöpfer, der in der Literaturgeschichte 
nicht schon geschmäht oder von einem andern Stilideal her verkleinert 
worden wäre. In der ganzen Kleist-Literatur spielt Goethe die Rolle des ver¬ 
ständnislosen olympischen Bonzen, den Aposteln Weimars sind die Romantiker 
ein Literatengelichter geblieben, für die Hölderlin-Forschung ist Schiller 
der Widersacher des lyrischen Genies. Wir verstehen nur schwer, welche 
glückliche Norm öffentlicher Übereinkunft die Historiker gehindert hat, 
eine so unsaubere Materie fahren zu lassen, ja sie vielmehr in Stand setzt, 
sie volksbildend und erhebend zu finden. Wir verstehen es deshalb nicht, 
weil wir in diesen Hintergründen nicht mehr bloß peinliche Begleitumstände, 
sondern das Wesen der Sache sehen. 

Ein großes Beispiel für die befremdliche Natur des Dichters ist Öster¬ 
reichs Klassiker: Franz Grillparzer. Wenige haben sie so sorgfältig und 
erfolgreich verhüllt wie er, bei wenigen widerspricht die tiefere Erkenntnis 
ihrer Gestalt so deutlich der Legende, die von ihnen umgeht. Das biographi¬ 
sche Märchen weiß hier von dem ängstlichen Untertan Metternichs, dem 
verbitterten Archiv dir ektor zu erzählen, der von Zeit zu Zeit der uner¬ 
träglichen inneren Spannung in Unbotmäßigkeiten gegen Vorgesetzte und 
Obrigkeit Luft verschafft: wer schloße jedoch daraus auf „der Phantasie 









102 


Walter Musch g 


verworrne Riesenträume“, die in seinem Werk gestaltet sind? Dies Werk 
selbst zerfällt wieder in zwei Sphären, die den Zwiespalt des Lebens in 
der dichterischen Ebene wiederholen: in einen Traum von unendlicher 
Schönheit und Schmerzverklärung, — „Sappho“, „Des Meeres und der Liebe 
Wellen“, — der Grillparzer berühmt gemacht hat, und eine Vision sinn- 
raubenden Grauens und lähmender Gefahr, — „Ahnfrau“, „Das goldene 
Vließ“, „Ein treuer Diener seines Herrn“, — vor der man erst begreifen 
lernt, aus welchen Quellen jene kristallische Flut von Wohllaut und Schön¬ 
heit entsprang. Es ist kein Zufall, daß Grillparzers größtes, mythisches 
Werk, „Das goldene Vließ“, in der öffentlichen Schätzung so weit hinter 
seinen lichteren Träumen zurücksteht. Seine Medea läßt sich als erotische 
Wunsch- und Schreckgestalt nur mit Kleists Konzeptionen vergleichen, der 
Name Liebe reicht nicht zu für die Gefühle, die um sie entfesselt sind. 
Ihre Heimat Kolchis: ein giftiger Zauberboden, ein Acheron, wo unter 
einer Falltür in der Erde das von der Schlange bewachte Vließ mit Ver¬ 
derben droht. Dieses Vließ: bei allem Glanz eine ganz irreale Scheußlich¬ 
keit, Hände verbrennend, mit Blut besudelnd. Medea zeigt dem Geliebten 
den Weg zu ihm. 

Medea (wild lachend). 

Bebst du? Schauert dir das Gebein? 

Hast’s ja gewollt, warum gehst du nicht? 

Starker, Kühner, Gewaltiger! 

Nur gegen mich hast du Mut? 

Bebst vor der Schlange? Schlange! 

Die mich umwunden, die mich umstrickt, 

Die mich verderbt, die mich getötet! 

Blick hin, blick’s an, das Scheusal, 

Und geh und stirb! 


Jason. 

Haltet aus, meine Sinne, haltet aus! 

Was bebst du, Herz? Was ist’s mehr, als sterben? 

Medea. 

Sterben? Sterben! Es gilt den Tod! 

Geh hin, mein süßer Bräutigam, 

Wie züngelt deine Braut! 


Kein Götterauge seh es, 
Dunkel hülle die Nacht 
Unser Tun und uns! 




















Dicktung als archaisches Erbe 


Jason erholt sich nicht von dieser Tat, das Erbeben darüber bleibt in 
ihm ohne daß er Worte dafür fände; er beschwört nur die Zauberin, von 
den wilden Bräuchen ihrer Heimat abzulassen, und zieht sie mit sich in 
sein helles Griechenland. Sie folgt ihm widerstrebend, sie gräbt bei der 
Ankunft ihr „Blutgerät“, die Requisiten ihrer Macht in die Erde — dorthin, 
wo auch das Vließ hätte bleiben sollen, da es offenbar mit schwarzem Stab 
und rotem Schleier eines Sinnes ist: ein Attribut des Weibes als Dämon. 

Dennoch ist das Unheil unvermeidlich. Die zaubernde Geliebte, die in ihrer 
Heimat dem Räuber als ein Lichtstrahl im Finstern erschien, steht in der 
hellenischen Tageshelle ganz dunkel da. Sie ist in Nacht und Graus ge¬ 
wonnen, die Menschen Korinths begegnen ihr mit Abscheu — aber nur 
ihr; den Jason nähmen alle auf, wenn er sie von sich täte. Und dieser sucht 
sie loszuwerden, verleugnet sich in ihr, der Geschwächten, Betrogenen — 
welcher Alptraum von Schuld, welche Mystik der Liebe. Der Mann ein 
Opfer der Verführung: dies ist Grillparzers besondere Wendung des Mythus. 

Sein Jason wendet sich von Medea, die nicht die Leier spielen, nur jagen, 

Spieße werfen und Tränke mischen kann, der Jugendgeliebten Kreusa zu: 
der Unberührten, Nie Befleckten, Reinen ... Ist nicht dies alles erregender, 
vielsagender als Medeas rächender Kindermord? Wie wird diese Sphinx über 
die Grenze zwischen Nacht- und Tagwelt hin- und hergezogen, wie schön 
und furchtbar zugleich verkörpert sie die Unterwelt, mit der man nicht 
in Frieden leben kann. Der Wurm in der Höhle blinkt Jason aus ihrem 
Auge entgegen. „Und nur mit Schaudern nenn ich sie mein Weib.“ Wer 
sieht nicht die Ähnlichkeit dieses drachenhaften Urweibes mit Brünhilde 
vor und nach der Bändigung? Wer nicht den Zusammenhang solcher Bilder 
mit den Entscheidungen, die Grillparzers Leben bestimmten: dem Gram 
über den Selbstmord der Mutter, mit der er zusammenwohnte, dem un¬ 
erhörten Verzicht auf die schöne Kathi Fröhlich, die er als seine ewige 
Braut neben sich verwelken ließ? 

Die Wahrheit ist: fast niemand sieht dies, niemand will es sehen oder 
mag es gelten lassen. Die unheimlichen Mysterien des Argonauten-Zyklus 
— um nur von ihm zu reden — sind aus dem Antlitz Grillparzers, das 
der Gebildete kennt, wie fortgewischt. Sie haben keinen wesentlichen Anteil 
an seinem Ruhm und seiner Gestalt. Dies rührt von jener Übereinkunft 4 

her, auf Grund deren die Kunst in der Zivilisation als ein Hort der Be¬ 
ruhigung, des Schönheitsgenusses gilt. Sie ist der zauberhafte Ersatz für 
die amorphe, bedrückend mit Häßlichkeit vermischte Realität. Was heißt 
das aber anderes, als daß die Kategorien einer als unerträglich empfundenen 









Wirklichkeit, wenn euch gegensätzlich, auf si. übertragen werden» Ihr 
ganzes Anderssein «oll in der Abwesenheit jener Kategorien bestehen. Si, 
W„d ai,. tndtrekt, unbewußt durch die Bewertung der ,ußerkü„s.I„isch,„ 
Wtrkhchk,,, besttmmt. S ,e wird „ich. den, Namen »ach, aber faktisch 
dem Real«atsbegr.ff gemessen, den „an in ihr außer Kraft sehen will 
Da, eme rem »egati.e, „nschöpferi.ehe Bestimmung der Kunst Man 
darf sie mch, .„fach verlogen ihr die Tragödie einer Epoche 

zugrunde hegt^ Sie hat aber, wegen ihrer Unreife und Blindheit, zur Folge 
daß auf den Bahnen der Verdrängung jener selbe Realitätsbegriff gleich-’ 
w oh alle Urteile über die Dichtung trägt. Sie ist mit ihrer Leere auch 
schuld daran, daß die lebendige Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft 
ngem so heillos zerfallt. Denn dieser Begriff von Wirklichkeit ist 
seinerseits falsch Es ist der platt rationale, utilitarische Naturalismus! der 
mo erne eit verseucht und ihr zum vornherein den Zutritt in die 

der K^d n d DiC t tUn , g VerW6hrt NUr die k< ™ ioneI1 * Schätzung 
der Kunst die wieder ihre besondere Geschichte hat, verhindert die Wahr 

Leism™! r er r aChe Un<1 V6rSUCht Statt deSSen> an den künstlerischen 

und D cht 51 ™ r en ’ ^ ™ r6tten iSt WaS die Größe von 

Natur^ SiCh V ° m Standpunkt des neuzeitlichen 

den nth? US mCht ; rkennen ’ S esc üweige denn rechtfertigen. Ihm muß, was 
Dichter am tiefsten bewegt, absurd oder monströs erscheinen. Die Auf- 

Kritiker 3 d 3 er fi UrSPr T Ung ? hen GeStaltUngen durch das P «bHkum und seine 
Kritikei, das äußere Los der Dichter zeigt es kraß genug. Eine Zeit des 

triumphierenden Materialismus, der moralischen Sekurität sichtet den Dichter 
notwendig aus einer falschen, feindlichen Perspektive. Sie schätzt seinen 
ert am Maßstab des Intellekts, der politischen Vernunft und Humanität 
er bestenfalls seinen Wirkungen angemessen ist. Goethes Bild hat darunter 
bis zur grotesken Verzerrung gelitten. 

Ihr^eha'lt^ ^ m ° dernen VOn Realität nichts ™ schaffen, 

he J 1 m T er ganZ andern Weise konkret ’ als der Mensch von 
Ma“ sch n Stem " ? Ubt ' Der VernUnftmensch nimmt die Handlung eines 

im Grund“ .f™"“ t erfabelteS ° der P hantasie ™P verfärbtes, 

Grund aber in seinem Sinn reales Geschehen. Die preußischen Offiziere 

der Louisen-Zeit sabotieren die Aufführung des „Prinzen von Homburg“ 
wei m dem Stuck ihre Standesehre durch die Todesangst des Helden an¬ 
getastet sei; die Schweizer begeistern sich am „Wilhelm Teil“ dessen 

vetuX en Grül * W **F™°* Mützen; der österreichische Kaiser 
versucht Grillparzer den „Treuen Diener seines Herrn“ abzukaufen und 
















Dickttmg als ardiaisckes Erl>< 


e io5 


a ls Manuskript aus der Welt zu schaffen, weil er das Werk als politisch 
gefährlich taxiert. Dies alles sind Episoden aus der Wirkung von Kunst¬ 
werken auf die Außenwelt; sie berühren sich nirgends mit dem Wesent¬ 
lichsten der Werke, mit dem Geheimnis ihrer Entstehung. Und doch zeigt 
schon der formale Anblick etwa eines klassischen Dramas die Irrealität 
seines Gehalts. Seine Jamben, seine Monologe, sein Beiseitesprechen, die 
Personen, die nicht sehen und hören, wie zwei Schritte abseits ihre Er¬ 
mordung ausgemacht wird: dies alles ist nicht real, sondern Spiel, es ist 
einer Mozartschen Spieloper verwandter als unserer Wirklichkeit. Dennoch 
benimmt sich im gegebenen Augenblick der Theaterbesucher oder Ästhetiker 
ganz so, wie wenn hier Realitäten zu würdigen wären, weil ihm jedes 
Unterscheidungsvermögen in dieser Richtung verloren gegangen ist. Er weiß 
nicht mehr mit dem Blut, was das heißt: Verwandlung, Spiel, und trägt 
einen trostlos verkehrten Ernst in das Ereignis hinein, der teils zu schwer, 
teils noch viel zu sorglos ist. Selbst wenn die Aufführung von Grillparzers 
Bancban-Tragödie einen Österreichisch-ungarischen Krieg veranlaßt hätte, 
wäre dadurch nicht das Geringste über die Entstehungsmöglichkeit des 
Stückes ausgesagt gewesen. Der Krieg wäre irrelevant gewesen im Vergleich 
zu der verborgenen Tatsache, daß Grillparzer in der Bancban-Handlung 
ein weiteres ungeheuerliches Gleichnis seiner eigenen Existenz geschaffen 
hat. Auch sie ist einer der verworrnen Riesenträume, in denen er Schuld 
und Sühne seiner Seele in geisterhafter Vergrößerung durchlebte. Die ganze 
Reihe seiner geschichtlichen Tragödien, zum Stolz und Rückhalt eines 
staatlichen Systems geworden, steht, wie das Werk jedes anerkannten Dichters, 
in diesem Doppellicht: sie ist die welthistorische Projektion von Konflikten 
in des Schöpfers Brust. Wer dieses gewaltige Schauspiel wahrhaft verstehen 
will, wird seine öffentliche Seite den klatschenden oder pfeifenden Theater¬ 
besuchern überlassen. Er wird die unermeßlich ragenden Strahlenbündel 
der Dichterphantasie an ihren Brennpunkt zurückverfolgen und ihr geheimes 
Urbild in der Seelenkammer des Schöpfers suchen. Was dort draußen Wirkung 
war, ist hier Ursache, was dort Stoff, hier Erregung, was dort der Soziologie, 
der Weltgeschichte angehört, fordert hier, im Innern, Psychologie. 

Die herrschende Meinung wehrt sich aufs äußerste gegen eine solche 
Umkehrung der Dinge, die den schöpferischen Menschen und sein Tun als 
das Erstgegebene nimmt. Tatsächlich muß sie die populäre Auffassung über 
den Dichter zerstören. Denn sein Weg durch die Geschichte, die Summe 
seiner sittlichen Wirkungen auf den Einzelnen und auf die Nation, also 
eben jene Brauchbarkeit, die man ihm zuschreibt, stellt sich, soweit sie 







nicht rückstrahlend sein Schaffen beeinflußt hat, als eine Erscheinung zweiten 
Ranges dar. Es entspricht dieser Überzeugung, daß sich in der Betrachtung 
der Kunst heute ein soziologischer Gesichtspunkt von einem psychologischen 
abspaltet die Sauberkeit der Forschung kann von dieser Trennung nur 
gewinnen und setzt das primäre Phänomen für den Sehenden desto klarer 
ins Licht. Diese primäre Erscheinung liegt in der Hervorbringung des Werks 
durch den Dichter: in einem Geschehen, einem nie ganz zu durchschauenden 
Prozeß, während für den, der nur die Wirkungen betrachtet, das Vorhanden¬ 
sein des Werks die selbstverständliche Voraussetzung ist. Tatsächlich gerät 
also auch der Begriff des Werkes für uns in wunderbare Bewegung. Nicht das 
Werk allein oder der Dichter allein, sondern das Zusammenbestehen beider 
ist das Urphänomen: die Bewegung des Dichtens selber. Das Schöpferische, 
nicht die öffentliche Meinung über seine Vorzüge und Schwächen steht uns 
in Frage. Es gibt kein wichtigeres geistiges Problem als dieses, aber auch kein 
gefährlicheres. Zu viele Interessen, die mit dem Urphänomen Dichtung nichts 
zu schaffen haben, aber sich auf seine Wirkungen beziehen, werden durch 
die Unterscheidung betroffen — man denke allein an die Schule, die Staats¬ 
räson. Ob die neue Auffassung sich durchzusetzen vermag, ob dieses oder 
das kommende Jahrhundert ihre Vorstellung von der Problematik des Dichters 
bis zu jener Ursprünglichkeit revidieren werden, die wir in früheren Zeiten 
ganz offensichtlich und erschütternd in Kraft sehen, ist nicht vorauszusagen. 
Die konventionelle Übereinkunft über das Wesen der Kunst wurzelt so tief, 
die Überzeugung von der vernünftigen Grundlage des Daseins und also auch 
der künstlerischen Gestaltung gibt sich so unantastbar, daß wir alle — die 
Gegenwart beweist es weit eher in Klagen über die unaufhaltsame 
Rationalisierung und Entzauberung der Erde ausbrechen, als daß wir uns zur 
Erkenntnis vom Vorhandensein des Wunderbaren bekehren ließen. Jeder 
schärft seinen Blick bereitwilliger für das rettungslose Verschwinden alles 
altertümlichen Menschheitserbes als für die Unbegreiflichkeit der Dichtung, 
obschon, wenn die Technik wirklich den Sieg erringt, den alle fürchtend 
oder hoffend kommen sehen, die Zukunft mit demselben Kopfschütteln die 
Existenz von Dichtern im zwanzigsten Jahrhundert feststellen wird, mit dem 
wir heute von Menschen lesen, die Götterbesuch empfingen oder vor Sauriern 
fliehen mußten. Niemand wundert sich darüber, daß es heute noch Dichter 
gibt, keiner weiß, was das in Wahrheit bedeutet. 

Die Kunst steht in einer uralten Tradition. Nichts, was wir in der Buntheit 
der Welt erblicken können, ist mit einem Maler oder Bildhauer so verwandt 
wie ein afrikanischer Wilder, der ein Bild von seinem Vorfahren oder seinem 























Diditung als archaisches Erlx 


e 107 


Jagdtier verfertigt, um seiner Herr zu werden. Was immer für Strecken der 
Entwicklung dazwischen liegen mögen: diese Ahnenschaft des Künstlers ist 
die offenkundigste, und sie ist unmittelbar gegeben, da in der Kindheit 
des einzelnen Menschen jene frühe Stufe noch immer wirksam ist. Auch der 
Dichter macht sich ein Bild von der Welt — diese Übereinstimmung über¬ 
schattet alle Unterschiede im Gebrauch der Mittel. Nur unter diesem Vor¬ 
zeichen ist heute noch eine Grundlegung der Kunst- und Literaturwissenschaft 
möglich. Die Hingabe des Schöpfers an sein Werk, seine Art des Umgangs 
mit der Welt und ihrer Verwendung für seine Absichten sind zu lächerlich 
oder unheimlich von den Gebräuchen des aufgeklärten Bürgers verschieden, 
hängen zu durchsichtig mit jener Vergangenheit zusammen, als daß dieser 
Satz sich widerlegen ließe. Wir wissen durch Freud, wo die wichtigste Brücke 
liegt, die uns mit der archaischen Welt verbindet: im Traum. Freud hat 
auch die Fingerzeige für den Traumcharakter der Dichtung gegeben. Ich 
halte deshalb seine „Traumdeutung“, über alles Spezielle ihrer Methode 
hinaus, für die vornehmste Urkunde einer neuen Betrachtung der Literatur. 
Am Traum ist mehr über das Wesen der Dichtung, über das Verfahren der 
dichterischen Intuition abzulesen als aus irgendeiner andern Erscheinung, 
die sich uns innerhalb der Kulturwelt zeigt. Der Professorenstreit über die 
Kunst als Nachahmung der Natur, der noch heute in etwas geschmeidigeren 
Begriffen geführt wird, erledigt sich im Hinblick auf die Gesetze der Traum¬ 
bildung, selbst wenn sie uns nur oberflächlich zugänglich wären. Die 
Dichtung als Urphänomen hat am ehesten die Realität des Traums, sie 
ist durch und durch symbolisch wie er, naturalistisch wie er, geordnet und 
genau innerhalb rätselhafter Voraussetzungen wie er. Ihre Vorliebe für ge¬ 
schichtliche und mythologische Räume z. B. ist nicht würdiger zu erklären 
als mit den Besonderheiten der Traumszenerie, ihr Grundgesetz der Meta¬ 
morphose nicht tiefer als mit den Verwandlungen der Traumgestalten, ihre 
Tiefe nicht schöner zu deuten als durch jene, die der Traum im schlafenden 
Menschen noch erschließt. Es gibt keine große Dichtung ohne die überwäl¬ 
tigende Beziehung zum archaischen Grund, aus dem auch der Traum sich 
nährt. Dies ist das Furchtbare und Berückende an ihr, dies die Unwirklichkeit, 
die man an ihren Gebilden wahrnimmt. Sie ist ein Rückfall in diesen Grund, 
ein Relikt aus ihm. Deshalb paßt der Dichter nicht in seine Zeit, erweist er 
sich in seiner sozialen Verwendbarkeit jedem Buchhalter unterlegen. Er ist 
minderwertig, weil er gänzlich andersartig ist; er geht unter, weil er so 
unsinnig ist, das Gebilde von seiner Hand vollkommen ernst zu nehmen, 
ernster als irgend etwas um ihn her. Er zieht aus dieser wahnsinnigen Anlage 












Walter Alusdig 


108 


jede Konsequenz: er mißhandelt Menschen, läßt sich selber mißhandeln, 
steigt auf Barrikaden, läuft wie ein Tropf herum, schlägt Vorteile aus, zieht 
sich in Wälder zurück, tötet andere oder sich selber. Seine Verwandtschaft 
mit dem Verbrecher, dem Geisteskranken ist unverkennbar, was ja nur seine 
archaische Richtung in anderer Weise bestätigt. Das Ziel, um dessen willen 
er sich so verhält, — natürlich ist mit alldem nicht der Literatentyp, sondern 
der seltene schöpferische Gestalter gemeint, — ist ein fast verschollenes 
Ziel. Dinge, die niemand mehr kennt und glaubt, stehen dahinter und sind 
seine ehrwürdigste Legitimation — man muß nur bereit sein, die Linien 
seines Tuns weit genug nach der Seite zu verlängern, nach der sie zeigen. 
Hinter jedem Theaterstück spukt vorzeitliche Frühlingsfeier, Opferhandlung, 
perverser Maskentaumel alter Naturreligionen. Hinter einem Roman: der 
Gesang heidnischer fahrender Rhapsoden. Hinter einem Gedicht: der orgia- 
stische Taumel exotischer Tänzer, die in tagelanger Orgie ihre Rhythmen 
schreien, bis sie sich schäumend am Boden wälzen. Nur wenige Dichter 
wissen um diese Vergangenheit und wecken sie in sich auf, aber diese 
wenigen sind die großen und ketten die gezähmten Kräfte wieder los. Ein 
Zacharias Werner ist nicht wegen seiner Hymnen auf Ausschweifung und 
Verwesung weniger mächtig als Kleist, — nur der Spießer glaubt dies, und 
selbst darin übertrifft die „Penthesilea“ Werners Dramen, — sondern weil 
er diese Gesichte aus geringerer Tiefe heraufholt. Wer die erotische Zügel¬ 
losigkeit Rabelais’ oder der orientalischen Märchen, die Unflätigkeit spät¬ 
mittelalterlicher Fabulierer verachtet, sagt sich von breiten Epochen der 
Dichtung los. Dasselbe gilt von der zeitgenössischen Kunst: nur wer Grill¬ 
parzers Behandlung des Stoffes blind gelesen hat, verwirft Hans Henny 
Jahnns atridenhafte „Medea“ wegen ihrer steinernen Greuelhaftigkeit. Er 
mißt Dichtung an der kümmerlich-zufälligen Realität, in der er zu Hause 
ist, nicht an ihrer eigenen. Er fürchtet sich vor einer Abgründigkeit, die 
vor ihm war, ohne die es kein fruchtbares Schaffen gibt, die das Sein erhält. 
Da diese Furcht allmächtig ist, kann man vermuten, daß sie auch die offene 
Anerkennung der dichterischen Dämonie verhindern wird. Ohne Zweifel 
liegt hier, jenseits der sachlichen Auseinandersetzung, der Widerstand, der 
die Aufnahme der modernen Forschungsprinzipien erschwert. Das Verständnis 
für die Tiefendimension der Lebensvorgänge, das nicht aus reinem Regi¬ 
strieren oder bloß denkerischer Beschäftigung resultiert, ist die seltenste, 
im Grund eben dichterische Begabung, weil sie selber Tiefe und Leiden¬ 
schaft erfordert. Ein Mensch des ordnenden Intellekts wird immer nur 
konkrete Tatsachen, niemals dämonische Bewegung konstatieren. Man sehe 





























Dichtung als ardiaiscLes ErL 


e 109 


sich die Stoffhuberei der meisten Kunst- und Literaturgeschichten daraufhin 
an. Nicht nur die Darstellung der schöpferischen Persönlichkeit, auch die 
Erfassung der ästhetischen Teilprobleme verrät fast durchwegs die unbewußte 
Verneinung des Dichterischen. Ich greife irgendein Beispiel heraus — sei 
es die vieldiskutierte Frage der historischen Treue in der Kunst. Es ist 
Tatsache, daß kein großer Dichter die geschichtliche Überlieferung, wenn 
er sie aufgreift, ohne willkürliche Veränderung behandelt. Man nennt dies 
seine poetische Freiheit und streitet über ihre Berechtigung — schon aus 
dem Namen spricht die bloß negative Wertung. Vom Standpunkt der ge¬ 
schichtlichen und politischen Vernunft ist sie auch das einzig Mögliche und 
Erlaubte, was daraus hervorgeht, daß wir dem Dichter bei einer Gestalt 
der aktuellen Geschichte — nennen wir Hindenburg oder Stalin — unter 
keinen Umständen die Souveränität zubilligen würden, mit der Goethe den 
Egmont, Kleist den Prinzen von Homburg, Schiller die Elisabeth umgebildet 
haben. Der Dichter selbst wird schaffend diese Unterscheidung nie aner¬ 
kennen, da sie sein Hoheitsrecht beleidigt, das der wissenschaftlich-rationalen 
Haltung unversöhnlich entgegensteht. Was uns an ihm als poetische Lizenz 
auffällt, ist nur ein aus dem Dunkel ins Tageslicht ragendes kleines Stück 
Kontur seiner wahren Geistigkeit. Wischen wir den Sand davon, so ahnen 
wir bald, welchem Ganzen es angehört: dem Mythus, der da verschüttet, 
riesengroß im Boden ruht. Dichterische Freiheit gegenüber den Gescheh¬ 
nissen ist ein Rest der mythischen, geschichtslosen Geistesverfassung. Ge¬ 
schichtliche Dichtung kann in ihrer Gesamtheit nur als das Fortleben dieses 
offiziell geächteten Vergangenheitsbildes voll gewürdigt werden. Der spät¬ 
bürgerliche Novellist vom Schlag C. F. Meyers, der Archive durchsieht, sich 
aber trotzdem im Einzelnen kleine Abweichungen von den Quellen gestattet, 
steht in sehr lockerer Beziehung zu diesem vorwissenschaftlichen Prinzip, 
aber in Kleists „Penthesilea“ oder in Gotthelfs „Schwarzer Spinne“ trium¬ 
phiert es noch ungebrochen und kann nicht mehr kritisch abgeurteilt 
werden, ohne daß die Werke selbst verworfen werden. Und was vom Ver¬ 
halten des Dichters gegenüber der Geschichte gilt, haftet der dichterischen 
Welterfassung als solcher an. Sie hängt aufs engste mit jenem zugleich 
Primitivsten und Größten zusammen, das wir kennen: der Mythenbildung, 
deren Gehalt eine visionäre Wahrheit, nicht rationale Richtigkeit, deren 
Mittel das Symbol, nicht die logische Verbindung ist. Auch dafür gibt es 
keine in Form und Bedeutung reichere Parallele als den Traum. 

Die Abwehr, die diese Behauptungen zu gewärtigen haben, erklärt sich 
daraus, daß sie dem dichterischen Werk die Wirklichkeit, d. h. die bisher 











HO 


Walter Alusdig 


an ihm geschätzte und gepflegte Wirksamkeit rauben. Sie befreien es tat¬ 
sächlich von jenem falschen Anspruch auf Realität, der ihm in unserer Zeit 
unterschoben wird. Die reine Imagination, das spielende Strahlungswunder, 
als welches es nach Abzug der handgreiflichen Konkretheit übrig bleibt, 
ist keine Lebensluft für den heutigen Durchschnittsmenschen mehr. Nun, 
diesem revoltierenden Liebhaber wäre ein Trost entgegenzuhalten, der ihn 
freilich kaum versöhnen wird. Die dichterischen Phantasien fallen allerdings 
mit einer Wirklichkeit zusammen, aber nicht mit der neuzeitlichen, sondern 
mit einer archaischen. In sehr alter Zeit ist wahrscheinlich der Held einer 
Tragödie wirklich gemordet, ist jeder gesungene Exzeß wirklich begangen 
worden. Das sind die frühesten, verlorenen Hintergründe jedes künstlerischen 
Spiels. Nur daß sie einst bestanden, kann die Dauer der Kunst erklären. 
Noch trifft man ja im Osten und Süden die kultischen Institutionen an, 
in denen sie weiterleben. Es regt sich nichts auf Erden, was nicht ein¬ 
mal die Autorität des Realen besessen hätte. Kein Kinderspiel, das nicht 
einmal blutig ernst, kein Zeitvertreib, der nicht einmal tödlich schwer ge¬ 
wesen wäre. Die Inspirationen der Dichter sind Erinnerungen daran, je 
älter desto bezaubernder, je ernster desto größer. Ihre Werke haben seither 
diesen Charakter preisgegeben. Aber die Dichter selber verfallen ihm zu¬ 
weilen noch, — auf katastrophalen Höhepunkten der Literaturgeschichte, 
die diese nach Möglichkeit zu verwischen sucht, — indem sie jenen alten 
Weg in traumhaftem Zwang zu Ende gehen. 

Diese Einschränkung ist die einzige Erleichterung, die die große Dichtung 
in historischer Zeit durchgeführt hat. Die Katharsis, auf die sie abzielt, 
bedeutet noch immer die Bedrohung unseres gewohnten Lebensgefühls. 
Man sieht, diese These vom Wesen der Kunst führt nicht zu ihrer Ver¬ 
flüchtigung ins bloß Geträumte, sondern zu einer Steigerung ihres Charakters 
bis zur Furchtbarkeit. Das Spiel, das sie treibt, ist noch immer gefährlicher 
als der meiste Ernst des Lebens, dem wir uns widmen. Seine Tragweite 
ist so ungeheuer, daß wir allen Widerspruch und Spott, den es hervorruft, 
auf sich beruhen lassen können: den Widerspruch jener, die es nie fassen 
werden, daß in der Dichtung die Tiefe des Seins selber widerhallt, und das 
Lachen jener, die zwar Hölderlin in den Literaturgeschichten einen großen 
Dichter nennen, aber in der Wirklichkeit die Partei des Bankiers Gontard 
ergreifen, der den Sänger Diotimas aus seinem Hause wies. Es handelt sich 
darum, ob man die Dichtung ernst nimmt und bis wohin man ihr im Ernst 
zu folgen vermag. Sie ist entweder ein Organon des Lebens oder ein Ärgernis 
und eine Torheit. 


























Diditung als ardiaisdies ErL 


lli 


Der archaische Charakter der Dichtung ist ihre höchste Würde und die 
wahre, echte Magie, die ihr innewohnt. Sie entschleiert das Alter der Welt, 
die meerhafte Tiefe, die das Heute trägt und die Zukunft verbürgt. Ver¬ 
legen wir den Sinn ihrer Gebilde nicht weiter dorthin, wo er nicht sein 
kann: in die klare Vernünftigkeit, in die strahlende Eignung für die rast¬ 
lose Zweckhaftigkeit des Tages. In einem nach konsequenten Vernunft¬ 
prinzipien geordneten Leben haben die Dichter keinen Raum. Plato ver¬ 
bannte sie aus seinem Staat, in Nietzsches wissenden Augen logen sie zu viel. 

Beide vertraten den Standpunkt der Utopie, der wahren Antithese zur 
dichterischen Schau. Der heutige Zustand der europäischen Kultur, deren 
Basis sich nicht so bald verschieben wird, erfordert eine ganz andere Ein¬ 
ordnung der Kunst. Dieser Zustand ist so geartet, daß künstlerische Schöpfung 
in ihm noch immer den obersten Rang alles Schaffens behauptet: deshalb 
nämlich, weil diese Kultur ihrerseits archaisch gebunden ist und ihr tiefster 
Ausdruck nur in ihrer eigenen Richtung liegen kann. Erst wenn diese 
Richtung umgewälzt würde, wäre der Grundcharakter der Dichtung selbst 
in Frage gestellt — die Lage der Dichtung im heutigen Rußland rührt 
an dieses Problem. Mit der Aufhebung der archaischen Bindungen fällt 
wahrscheinlich die Kunst selbst dahin; es ist kaum möglich, sie in ein 
vergangenheitsloses Leben zu verpflanzen. Damit müssen wir uns begnügen. 

Wir können auf die Frage nach dem Sinn der künstlerischen Schöpfung 
nur diese Antwort geben: 

Es gibt Lebewesen in der Natur, die in Reaktion auf einen Defekt, einen 
schmerzhaften Eingriff in ihren Organismus Perlen produzieren. Der Zauber 
dieser Gebilde liegt nicht nur in ihrer Form und in ihrem Material, sondern 
in dem unbewußten Grauen des Menschen über ihre Herkunft, über die 
Geschichte ihrer Entstehung. Dies ist die Schönheit, die der Mensch seiner 
Vernunft zum Trotz am höchsten schätzt und am liebsten sammelt — im 
Grund gibt es keine, die nicht so beschaffen wäre. In der Menschenwelt 
leben ähnlich rätselhafte Geschöpfe, die eine gramvolle Störung ihrer Existenz 
mit der Bildung von Schönheit erwidern: einem Wert, der ursprunghaft 
verbunden ist mit Krankheit und Bedrohung des Lebens. Nur die verborgene 
Schicksalsverwandtschaft kann es erklären, daß diese Frucht des Leides und 
der Todesnähe so hohe Würdigung erfährt. Wer dies verneint, leugnet die 
großartigste Legitimität der Kunst: ihre lebenstiefe Unergriindlichkeit. Etwas 
anderes ist es, ob man den Marktwert ihrer Gestaltungen für nebensächlich 
hält; er hat mit dem mysteriösen Sinn ihres Wachstums nichts zu tun. Ihr t 

ganzes Geheimnis liegt in jener anfänglichen Doppelwirkung: der Ver- 













112 


Musdig: Dichtung als archaisches Erh« 


sehrung eines Menschen und der Hervorbringung des heilenden Werks. 
Nur das Gesetz dieser Urerscheinung kann eine auf das Wesentliche blickende 
Kunstforschung interessieren. Sie lehnt schon die Kinderfrage nach dem 
Wert der beteiligten Schicksalsträger ab: ob dem Dichter oder seinem Werk 
mehr Ehre gebühre. Grillparzer, der seiner irdischen Braut das Glück vor- 
enthält und sie statt dessen in so mancher Königin seiner Dichtung erhöht, 
ist über eine so befangene Alternative erhaben. Es ist nicht damit getan, 
daß man die verklärte Gestalt mit dem privaten Urbild identifiziert; sie 
läßt sich ja nicht „wirklich “ auf dieses reduzieren, und selbst wenn es 
möglich wäre, hätte man nur einen Lebensvorgang rückgängig zu machen 
versucht und ihn überdies nur zur Hälfte nachgezeichnet. Das Neben- und 
Ineinander beider Größen ist das letztlich Sichtbare. Es spottet jeder ver¬ 
nünftigen Ableitung der einen aus der andern, weil der archaische Lebens¬ 
grund dazwischen liegt und beide rechtfertigt, indem er sie trägt. Wir 
sehen nur dieses: ein Menschenschicksal — die Schale, und die Perle — 
das Werk. 






















MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN 


^um Triebleben der Primaten 

Bemerkungen zu S. ZuAerman: iSocial life of monL 


monkeys and apes 


Von 

Imre H ermann 

Budapest 


Das Triebleben der Affen kann der Psychoanalyse für das Verständnis des 
Trieblebens des Menschen ein wichtiges Vergleichsmaterial bieten, wichtiger 
vermutlich als physikalische Erscheinungen oder biologische Verläufe an ein¬ 
zelligen Lebewesen. Die Affen stehen den Menschen am nächsten, und daß 
dieser Umstand wissenschaftlich nicht genügend verwertet wird, liegt wohl an 
dem „Narzißmus der kleinen Unterschiede“. 

Soeben erschien ein Buch zur Psychologie der Affen, das an Ausführlichkeit 
und Verläßlichkeit der Beobachtungen wohl einzig dasteht; S. Zuckermans 
„Social life of monkeys and apes . 1 2 Die nachstehenden Ausführungen stützen 
sich zum größten Teil auf das dort dargebotene Material; vieles davon wird 
auch von anderen Forschern bestätigt, manches ergänzt. Das Material von 
Zuckerman bezieht sich hauptsächlich auf Paviane, die teilweise freilebend 
in Südafrika mittels starker Ferngläser, teilweise zwei Jahre hindurch am 
sogenannten „Monkey Hill des Londoner Zoologischen Gartens, einer Affen - 
kolonie, wie sie jetzt an einigen zoologischen Gärten bestehen, von ihm be- 
beobachtet wurden: An einem künstlichen Felsengebilde bedeutenden Umfanges 
lebt eine größere Anzahl von Affen verschiedenen Geschlechts und Lebensalters 
unter Verhältnissen, die den natürlichen so nahe wie möglich kommen. Die 
Londoner Affenkolonie wurde im Jahre 1925 gegründet; den ursprünglichen 
Stock bildeten etwa hundert Paviane, mit Ausnahme von sechs Exemplaren 
alle männlichen Geschlechts, denen zwei Jahre später dreißig Weibchen zu¬ 
gesellt wurden. Diese Zahl schrumpfte im Verlauf der nächsten Jahre stark 
zusammen, teils durch Krankheiten, teils infolge erbitterter Kämpfe. 

Die Familie besteht beim Pavian — aber auch bei vielen anderen Affen¬ 
arten, so unter den Menschenaffen beim Gorilla — aus folgenden Mitgliedern: 
dem Männchen, das Herrscher und Gebieter in der Familie ist, einem oder 
mehreren Weibchen, deren Zahl von der „Dominanz“-Fähigkeit des Männchens 
abhängt, den Jungen, um die sich beim Pavian nur die Mutter, bei anderen 
Arten eventuell auch das Männchen kümmert, und in vielen Fällen noch aus 

1) Vortrag in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung am 5. Februar 1932. 

2) International Library of Psychology, Philosophy and Scientific Method. % 

London 1932. 




Imago XIX. 


8 







Imre Hermann 


114 


einem sogenannten „Junggesellen“, der etwas loser als die anderen Mitglieder, 
aber doch ziemlich beständig an die Familie attachiert ist. Wahrscheinlich 
knüpft ihn die sexuelle Anziehungskraft des Weibchens an die Familie; dabei kann 
er aber auch homosexuelle Beziehungen zum Männchen und Geschlechtsbeziehungen 
beider Art zu den Jungen der Familie unterhalten. Dasselbe Bild bietet die 
Familie auch im Freien; an beiden Orten gibt es außer den Familienverbänden 
noch eine Anzahl alleinstehender Junggesellen, die sich infolge der Dominanz 
der stärkeren Tiere kein Weibchen erwerben konnten. Ihr Geschlechtsleben be¬ 
schränkt sich auf Onanie, auf homosexuellen Verkehr und auf Verkehr mit 
noch unreifen Tieren. Homosexualität ist übrigens auch unter den „Ehemännern“ 
(„Ehemann“ und „Junggeselle“) und unter den Weibchen desselben Harems 
verbreitet. Heterosexuelle Promiskuität gehört — den Verkehr mit noch un¬ 
reifen Tieren abgerechnet — zu ziemlich seltenen Ausnahmen: die Dominanz 
der „Ehemänner“ wacht über die „geregelten“ sexuellen Beziehungen, in denen 
sich eine Änderung nur auf dem Wege scharfer und tödlicher Kämpfe ein¬ 
stellen kann. 

Eine der wichtigsten das Geschlechtsleben betreffenden Feststellungen besagt, 
daß es beim Affen keine Brunstzeit gibt. Das bezieht sich auf Anthropoide 
ebenso wie auf Affen niederer Art und darf auf Grund zahlreicher Beobach¬ 
tungen (z. B. Uterusbefunde gleichzeitig erlegter Weibchen, die alle Phasen des 
Fortpflanzungsverlaufs aufwiesen) als gesichert angesehen werden. Der sexuelle 
Verkehr findet das ganze Jahr hindurch statt, ist während der Zeit der Trächtig¬ 
keit und des Stillens zwar seltener, doch nie vollständig abgebrochen. Dabei 
unterliegt die Stärke des sexuellen Begehrens und Begehrtseins beim Weibchen 
einer periodischen Schwankung, die mit den monatlich wiederkehrenden Ver¬ 
änderungen im weiblichen Sexualapparat zusammenhängt und sich auch äußerlich 
sichtbar an der Schwellung oder Rötung der ano-genitalen Schleimhaut (sexual 
skin) kundgibt. Dieses Oestrum des Weibchens fällt zwischen zwei Men¬ 
struationen; beim Pavian fängt die Schwellung und Rötung der äußeren 
Genitalteile bald nach der Menstruation an und erreicht den Höhepunkt nach 
etwa zwei Wochen — also auch zwei Wochen vor der nächsten Menstruation. Ob¬ 
wohl das Affenweibchen das Männchen auch sonst ausnahmslos annimmt, benimmt 
es sich während der Zeit des Anschwellens sexuell viel herausfordernder und 
wird auch vom Männchen öfter bestiegen. In einer polygamen Familie gehört 
die Vorzugsstellung stets dem Weibchen, dessen ano-genitale Zone angeschwollen 
ist; es weicht um diese Zeit nicht von der Seite des Männchens und wagt 
es auch eher, vom gemeinsamen Futter zu nehmen. 

Die herausfordernde sexuelle Gebärde des Weibchens (bei passiv-homo¬ 
sexuellen Beziehungen auch des Männchens) ist das sogenannte „Präsentieren“. 
Das Weibchen stellt sich mit dem hinteren Teil dem Manne gegenüber, spreizt 
die Hinterbeine, biegt den Körper ein, fixiert dabei manchmal, den Kopf rück- 




























TrieLleb en der Primaten 


li 5 


wärts gewendet, das Männchen und gibt hohe, wimmernde Töne von sich. 
Das Männchen antwortet auf das Präsentieren des Weibchens mit schnellen, 
schnalzenden Lippenbewegungen, mit manueller, manchmal oraler Berührung 
ihrer Genitalteile und endlich mit ihrer Besteigung, worauf, während der Zeit 
des Oestrums, das Weibchen sofort wieder präsentiert. Die ganze Szene — Präsen¬ 
tieren und Besteigen — kann sich binnen einigen Minuten vier- bis fünfmal 
wiederholen; jedenfalls sind die Besteigungen manchmal ganz kurz, es scheint 
sich um nicht ganz vollzogene Kopulationsakte zu handeln. 

Was uns dabei auffallen kann, ist die herausfordernde Aktivität des 
Weibchens. Das unersättliche, wiederholte Präsentieren widerspricht ziemlich 
deutlich der so viel berufenen „sexuellen Passivität“ des Weibes. Die unvoreinge¬ 
nommene — einfache und analytische — Erfahrung zeigt jedenfalls, daß „weiblich“ 
und „passiv“ keineswegs koordinierte Begriffe sind. Die weiblich-sexuelle Akti¬ 
vität kommt nur in anderen Phasen des Verlaufs und in anderen Erscheinungs¬ 
formen zum Durchbruch als die männliche. Passiv wäre höchstens das Sozial- 
Weibliche. 1 

Sehr interessant ist die Beobachtung, daß der Affengemahl auf das wieder¬ 
holte Präsentieren seines Weibchens manchmal mit Aggression reagiert; anstatt sie 
zu besteigen, fällt er sie mit Händen und Zähnen an, zieht sie am Haar und 
beißt sie in den Nacken. Aber auch homosexuelle Fortsetzungen sind zu beob¬ 
achten: Nachdem ein Weibchen mehrmals präsentiert und das Männchen sie 
mehrmals bestiegen hat, wendet sich das Männchen von dem noch immer präsen¬ 
tierenden Weibchen ab und besteigt einen Junggesellen. 

Zuckerman weiß nicht zu entscheiden, ob die sadistischen Attacken als 
Ermüdungsreaktionen oder als Transformationen der Sexualität zu deuten 
sind. Uns scheint die zweite Deutung um so einleuchtender, als auch der um¬ 
gekehrte Weg, die Umkehrung einer Aggression ins Sexuelle, beschrieben 
worden ist. Hat ein Tier Ursache, sich vor einem stärkeren, „dominanteren“ 
Tier zu fürchten, hat es z. B. vom Futter genommen, so präsentiert es schnell 
vor ihm, um seine Aggression sexuell abzuleiten. 2 Dasselbe wiederholt sich in 
den übrigens ziemlich seltenen Fällen der weiblichen Untreue. Zuckerman 
beobachtete am JS/Iorikey Hill insgesamt drei Weibchen, bei denen sexuelle 
„Untreue“ vorkam. In allen Fällen geschah es hinter dem Rücken des Gemahls, 
zumeist während der Ruheperiode des sexual skin , wo das Weib sich vom Mann 
etwas entfernter auf hält. Die „illegitimen“ Kopulationen sind ganz kurz, auf 

1) Vgl. die in einer Fußnote geäußerte Ansicht von Freud, wonach „wir allzu 
unbedenklich die Aktivität mit der Männlichkeit, die Passivität mit der Weiblichkeit 
zusammenfallen lassen, was sich in der Tierreihe keineswegs ausnahmslos bestätigt.“ 
(Das Unbehagen in der Kultur, S. 72 h) 

2) Auch die Wendung einer gegen äußere Objekte gerichteten Aggression gegen 
die eigene Person wird beschrieben. 


8* 











n6 


Im re Hermann 


Augenblicke beschränkt; sie werden manchmal, doch nicht immer, mit dem 
an die Familie attachierten Junggesellen vollzogen. Erscheint nun der Gemahl 
wieder auf der Szene, so präsentiert ihm das Weibchen sofort und macht dabei 
drohende Gesten gegen den vorigen Partner (der übrigens nur auf ihr Präsentieren hin 
zum „Verführer“ wurde). Präsentieren vor dem Mann nach begangener Untreue 
wurde in mehreren Fällen beobachtet. Sexuelle Annäherungen — von gegen¬ 
seitiger genitaler Betrachtung an bis zur Kopulation — mit noch unreifen 
Tieren werden nicht als Untreue betrachtet und vollziehen sich vor den Augen 
des Gemahls. 

Eine uns interessierende sexuell anregende Wirkung kommt der Sonnen¬ 
wärme zu. Kommt die Sonne zum Vorschein, so wird sie mit denselben 
brummenden Tönen begrüßt, wie sie in Begleitung der ebenfalls sexuellen Be¬ 
tätigung des „Lausens“ Vorkommen. Sie regt ebenso zum Lausen wie zur direkten 
sexuellen Aktivität an. 

Die Ansätze des späteren Sexuallebens 1 melden sich bereits in den 
ersten Lebenstagen. Den ersten äußeren Anreiz — wie den ersten Eindruck 
von der Außenwelt überhaupt — bietet dem Affenkind das Fell der Mutter, 
an das es sich klammert, und in dem es vom ersten Tage an herum wühlt. 
Ein Rhesusaffe wurde beobachtet, der im Alter von zwei Monaten beim Herum¬ 
suchen im Fell der Mutter und Hantieren an ihren Genitalteilen eine Erektion 
bekam. Ein Paviankind vollzog rhythmische Beckenbewegungen am dreizehnten 
Tage seines Lebens, am selben Tage, an dem es zu laufen begann. Ein männ¬ 
liches Schweinsaffenbaby, das, vom Vater isoliert, in einem Käfig mit der Mutter 
aufwuchs, wurde von Zuckerman selbst beobachtet. Das Herumwühlen im 
Fell der Mutter, das von häufigem Anstarren der ano-genitalen Zone unter¬ 
brochen war, begann zu gleicher Zeit wie die Koordination der Bewegungen 
überhaupt. Beim Herumklettem am mütterlichen Körper blieb das Affenkind 
oft an den Hinterschenkeln der Mutter stehen, die Füsse um ihre Lenden legend 
und sich an beiden Seiten ihres Körpers festhaltend; es verharrte ein bis zwei 
Minuten in dieser Position. Das Kind war sechs Monate alt, als es die Mutter, 
in Beantwortung ihres wiederholten Präsentierens, zum erstenmal bestieg; einen 
Monat später war dieses Verfahren schon von rhythmischen Beckenbewegungen 
und Erektion begleitet. Um diese Zeit präsentierte es auch selbst der Mutter 
und den Tieren des Nachbarkäfigs. Bei der Besteigung der Mutter wurde es 
manchmal von ihr abgeschüttelt; manchmal wieder schien die Initiative von 
ihr auszugehen. Das um diese Zeit acht Monate alte Junge (nach dem Stand 
des Zahndurchbruchs entspricht dieses Alter dem eines Menschenkindes von 
etwa zwei Jahren) war eigentlich ein richtiger „Gemahl“ seiner Mutter, wobei 


1) Zuckerman beruft sich bei der Beschreibung der sexuellen Entwicklung des 
Affen für die Analogien mit der infantilen Sexualität selbst auf Freud. 





















-Zum Triebleben der Primaten lipr 

es noch an der Brust trank, zeitweise in der ursprünglichen Position des Neu¬ 
geborenen Anklammem am Fell ihres Bauches — von der Mutter herum¬ 
geschleppt wurde und stets in den Armen der Mutter schlief. Zuckerman 
hält den beschriebenen Entwicklungsgang insofern für atypisch, als Mutter und 
Junges vom Männchen isoliert waren: die Gegenwart des Vaters hätte das Affen¬ 
kind zweifellos mehr eingeschüchtert. Das intime sexuelle Verhältnis zwischen 
Mutter und Affenkind wurde übrigens beim weiblichen Affenkind derselben Mutter 
— aber auch bei den sich sexuell langsamer entwickelnden Menschenaffen — 
beobachtet. Ein achtzehn Monate altes Schimpansenkind nahm z. B. die Geni¬ 
talien der Mutter in den Mund, ein Benehmen, das unter Schimpansen bei 
hetero- und homosexuellen Annäherungen gleichermaßen vorkommt. 

Das in der Affengesellschaft heranwachsende Junge unterhält allerhand sexuelle 
Beziehungen zu seinen Genossen. So war ein junger weiblicher Pavian vom 
sechsten Monat an mit unreifen männlichen Tieren, mit Junggesellen und weib¬ 
lichen Tieren aus verschiedenen Harems befreundet. Besonders starke Annähe- 
rungen fanden zwischen ihr und dem zur Familie gehörenden Junggesellen 
statt. Später wurde sie von mehreren männlichen Tieren als erwachsenes 
Weibchen behandelt und vom achtzehnten Monate an schloß sie sich einem 
Junggesellen an. Ihr Verhältnis schien sich in nichts vom Sexualleben erwachsener 
Tiere zu unterscheiden, obwohl richtige Kopulation den Größen Verhältnissen 
zufolge nicht möglich war. Junge Tiere — männliche ebenso wie weibliche — 
genießen sehr viel sexuelle Freiheit; sie werden nicht als Rivalen betrachtet 
und es scheint, als ob ihnen jedes hetero- und homosexuelle Verhältnis offen 
stünde. 

Alle diese Beobachtungen besagen, daß in der Entwicklungslinie der Sexuali¬ 
tät des Affen an irgendeinem Punkt ein Bruch entstehen muß, der der größeren 
sexuellen Freiheit ein Ende macht und die Versagung wirksam werden läßt, 
die von ^ der durch die Dominanzkraft stärkerer Tiere geregelten „Gesellschafts¬ 
ordnung“ gefordert wird. Bevor sich das Tier kraft seiner eigenen Dominanz 
nicht selbst Platz in dieser Gesellschaftsordnung schafft, ist ihm nun der normale 
und regelmäßige Sexualverkehr verschlossen. Diese Zwischenzeit kann man, 
worauf ich schon hingewiesen habe , 1 der menschlichen Latenzperiode ver¬ 
gleichen. 

Auch „Modelle“ zum menschlichen Ödipuskomplex bei Affen wurden in 
derselben Arbeit aufgezeigt. Eine neuere Beobachtung von Pfungst stellt 
„die starke Besorgnis junger Affen für ihre Mutter bei deren Kopulation mit 
dem Männchen“ fest . 2 


1) Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen, Imago XII, 1926. 

2) Pfungst: Über Verhaltungsweisen junger Alfen (Vortrag in der Berliner Ge¬ 
sellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, gehalten am 9. Februar 1931). 














n8 


Imre Hermann 


Pfungst berichtet auch über drei von ihm aufgezogene mutterlose Affen. 
Ihr Benehmen bringt interessante Belege für die Bedeutung des Mutter-Kind- 
Verhältnisses bei Affen, auf dessen Wichtigkeit ich ebenfalls schon hinge¬ 
wiesen habe. Das Affenbaby klammert sich bekanntlich von Geburt an am 
Fell des Bauches der Mutter fest. Die Dauer dieser innigen Verbindung mit 
dem mütterlichen Körper ist bei den einzelnen Affenarten verschieden. Das von 
Allesch beschriebene Schimpansenkind 1 verließ drei Monate lang nicht den 
mütterlichen Körper; beim Pavian dauert die ungelöste Verknüpfung zwei bis 
sechs Wochen, nach deren Ablauf aber das Junge noch immer bei vielen Ge¬ 
legenheiten (Fortbewegung der Gruppe, Gefahrsituation usw.) von der Mutter 
aufgelesen und getragen wird. Das postnatale Anklammern an die Mutter dürfte 
neue Ausblicke auf den Kastrationskomplex und die infantile Sexualentwick¬ 
lung eröffnen: man könnte darauf hinweisen, daß das menschliche Kind im 
Verhältnis zu seiner Triebentwicklung vom Körper der Mutter frühzeitig los¬ 
gerissen wird, 2 ein phylogenetisches Trauma, das dem ontogenetischen der Geburt 
vergleichbar ist. Meine Vermutung, daß hier eine egoistische Tat des urzeit- 
lichen Vaters wirksam war, wird durch direkte Beobachtungen von Zucker¬ 
ln an bestätigt, der in zwei Fällen sah, daß das Affenkind von einem männ¬ 
lichen Tier angegriffen wurde; beide Kinder sind dem Angriff zum Opfer 
gefallen. 

Die von Pfungst aufgezogenen mutterlosen Affen zeigten deutlich, in welch 
tiefen Triebschichten das körperliche Verhältnis zur Mutter verankert ist: Zwei 
Tiere lutschten am Finger und das dritte drückte allerhand Stoffetzen an sich; 
Pfungst selbst betrachtet dieses Verhalten als Ersatz für Handlungen, die der 
Mutter gelten. 

Es gibt aber auch im normalen Affenleben einen Ersatz und eine direkte 
Fortsetzung des Mutter-Kind-Verhältnisses: das sogenannte „Lausen^, das nach 
gesicherten Feststellungen seinen Namen zu Unrecht führt. Läuse sind bei freien 
sowie bei gefangenen Tieren gleichmäßig selten; als Ergebnis des Herumsuchens 
werden nur schuppige Hautteilchen, Hautexkremente, Splitter oder andere 
Fremdkörper gefunden und zum Mund geführt. Das Lausen, diese wichtige 
Beschäftigung der Affengemeinschaft habe ich schon früher als Wiederherstellung 
des Mutter-Kind-Verhältnisses gedeutet. 3 Zuckerman faßt es nun als gerad¬ 
linige Fortsetzung des physiologischen Herumsuchens (Suchen der Brustwarze 
und Anklammern) am Fell der Mutter auf. Die Ähnlichkeit mit dem mütter¬ 
lichen Fell verleiht später jedem behaarten Geschöpf oder Objekt einen be- 


1) J. A. von Allesch: Bericht über die drei ersten Lehensmonate eines Schim¬ 
pansen. Sitzungsbericht d. Preuß. Akad. d. Wissensch. 1921. 

2) Zur Psychologie der Schimpansen. Internat. Zeitschrift f. Psychoanalyse, IX, 
S. 84!. 1925. 

3) A. a. O. S. 85. 



























Zum Triebleben der Primaten 119 


sonderen Anreiz. Auch zwei weitere Erkenntnisse hält Zuckerman durch 
seine Beobachtungen für erwiesen — Erkenntnisse, die uns nach dem Gesagten 
jedenfalls nicht überraschen. Die eine ist die deutlich sexuelle Natur des 
Lausens, das sehr oft in ano-genitale Manipulationen und auch in Kopulation 
übergeht (in der Entwicklung des Affenkindes ist dies auch in seiner Genese 
zu beobachten), — die zweite seine gemeinschaftsbildende Funktion. Auch nach 
der Meinung anderer Forscher ist das Lausen einer der wichtigsten Faktoren, 
der die Gesellschaft der Affen zusammenhält. Somit wäre das Mutter-Kind- 
Verhältnis Ausgangspunkt und Vorbild jeder sozialen Beziehung. 

Eine Reihe oraler Reaktionen der Mutter ziehen ihrerseits unsere Aufmerk¬ 
samkeit auf sich. Die Plazenta wird ausnahmslos aufgefressen, die Nabelschnur¬ 
reste werden vom Säugling abgebissen. 1 Der Kopf des von Alle sch beobachteten 
Schimpansenkindes wurde von der Mutter in den Mund genommen, ein Ver 
halten, das entweder symbolisch, als Einverleibungsersatz, zu deuten ist (die 
verstorbenen Säuglinge werden von der Mutter wahrscheinlich verzehrt) — oder 
aber einen Realsinn durch die Annahme eines Forschers erhält, nach der die 
Mutter Luft in den Mund des Neugeborenen bläst; 2 es würde sich danach 
darum handeln, die Lungenatmung in Gang zu setzen. Das neugeborene Affen¬ 
kind wird von der Mutter mit großer Aufmerksamkeit betrachtet, mit Lippen, 
Zunge und Fingern examiniert, überall beleckt und betastet. Dieses Verhalten 
dauert längere Zeit an; es scheint, als ob das Kind für die Mutter lediglich 
„ein Ding zum Beobachten“ wäre. Sonst bezeigt die Mutter dem Jungen nicht 
viel Zärtlichkeit; der Ruhm der „Affenliebe“ beruht auf anekdotischem Material. 
Zuckerman beobachtete mehrere Junge, die durch das zu starke Andrücken 
der Mutter (im Kampfe) erstickt worden sind, und eines, das infolge der Un¬ 
achtsamkeit der Mutter zugrunde ging. Bei der Nahrungsaufnahme herrscht 
ein sichtbares Dominanz Verhältnis zwischen Mutter und Kind; die Mutter ist 
die stärkere, die das Futter selbst aus der Hand oder aus dem Mund des Jungen 
nimmt. 

Wir haben bereits mehrmals die Kämpfe erwähnt, die in der Affengesell- 
schaft toben; ihre Beschreibung gehört zum Interessantesten in dem Buch von 
Zuckerman. 

Von den alltäglichen Zwistigkeiten, die oft ohne besonderen Anlaß, etwa 
auf das Aufquieken eines Tieres hin, entstehen, unterscheiden sich die ernsten, 
blutigen Kämpfe, die ausschließlich sexueller Natur sind: die Männchen kämpfen 
um das Weibchen. 

Die sexuellen Relationen sind, wie erwähnt, durch die Dominanz der „Ehe¬ 
männer“ geregelt; ihre Kraft bestimmt die Zahl der Weibchen, die sie besitzen; 


1) Letzteres nach E. A. Ho oton: Up from the Ape, 1931. 

2) Hooton, a. a. O. 










120 


Imre Hermann 


alle reifen Weibchen sind „besetzt“ und die Gemeinschaft hat sich mit dieser 
Tatsache abzufinden. 

Dieser Ruhezustand dauert nun so lange, bis das Gleichgewicht in der Ge¬ 
meinschaft gestört wird. Tritt eine Störung ein, so bricht unvermittelt der 
Kampf aus. Eine solche Störung ergab die Ansiedelung der dreißig Weibchen am 
Monkey Hill; die älteren Männchen begannen sofort einen Kampf um ihren Besitz 
dem von dreißig Weibchen fünfzehn zum Opfer fielen. Eine Gleich¬ 
gewichtsstörung anderer Art bietet der Tod eines Männchens: sofort bricht der 
Kampf um seine Frau oder seine Frauen aus. In einem Falle, wo ein ver¬ 
storbenes Männchen zwei stillende Weibchen hinterließ, gingen in dem darauf¬ 
folgenden Kampfe beide Jungen und das eine Weibchen zugrunde; das andere 
ging in den Besitz eines bisherigen Junggesellen über — übrigens der einzige 
Gattenwechsel, der in der Geschichte von Monkey Hill vorkam: Eine dritte 
Art von Gleichgewichtsstörung ist die Schwächung der Dominanz des einen 
oder anderen „Ehemannes . Zeichen dieser Schwächung lassen sich nach Zucker¬ 
ln an schon Monate vor dem Ausbruch des Kampfes beobachten: der zur Familie 
gehörende Junggeselle wagt sich mehr in die Nähe des Weibchens, beobachtet auch 
stärker die Bewegungen des „Gemahls“ und bedroht ihn endlich. In allen diesen 
Fällen ändert sich plötzlich die Atmosphäre der Gemeinschaft; die gewöhnliche 
passive Indifferenz der Junggesellen macht einer starken Aufregung Platz, es 
scheint, als ob alle Männchen der Gruppe sich um jeden Preis ein Weibchen erobern 
wollten. Der eine wird vom andern angesteckt, gewöhnlich nehmen alle am 
Kampfe teil. Sichert sich der eine das umkämpfte Weibchen, so kann er sich 
seines Besitzes nicht lange freuen, denn sofort wird er von einem andern an¬ 
gegriffen. Das Weibchen, um das der Kampf tobt, spielt während des Gefechtes 
eine völlig passive Rolle. Sobald der Kampf beginnt, wird sie vom Tiere, in 
dessen Besitz sie sich gerade befindet, bestiegen; er kämpft in dieser Position, 
während die Gegner (im Kampf stehen gewöhnlich alle gegen einen) ihm das 
Weibchen wegzuziehen trachten. Gelingt es einem, so übernimmt er die Stellung 
am Weibchen, das alles über sich ergehen läßt und von allen Tieren, in deren 
Besitz es für eine Zeit übergeht, bestiegen wird. Während des zwei bis drei 
Tage dauernden Kampfes muß es arge Zerrungen und Schläge erfahren und 
kann sich wahrscheinlich auch nicht nähren. In den Pausen des Gefechtes wird 
es vom jeweiligen Besitzer gelaust und bestiegen. Interessanterweise erregen die 
anderen Weibchen der Gemeinschaft, die an der Seite ihrer am Kampfe teil¬ 
nehmenden Männer eine Kampfstellung einnehmen — wahrscheinlich eben 
deshalb nicht die Begierde der übrigen Männer. 

Was ist nun der Ausgang dieser Kämpfe? Die diesbezügliche Erfahrung ist 
wohl eine der überraschendsten. Die von Zuckerman am Monkey Hill beob¬ 
achteten Kampfe endeten mit der einen schon erwähnten Ausnahme sämtlich mit 
dem Tod des umstrittenen Weibchens. Das im Kampfe getötete Weibchen 

















Zutn Triebleben der Primaten 


131 


wird noch so lange umstritten und als sexuelles Objekt benutzt, bis der Kadaver 
entfernt wird. Was das weitere Los des getöteten Kadavers unter natürlichen 
Verhältnissen betrifft, so verweist Zuckerman auf einige Beschreibungen, 
wonach die Affen ihre Toten auffressen. (Bei Kinderleichen scheint dies ziemlich 
sicher zuzutreffen.) Erst, nachdem der gleichgewichtsstörende Faktor ausgeschaltet 
ist, stellt sich wieder Ruhe ein. Die seltsame Erfahrung von Zuckerman 

_ seine Beobachtungen beschränken sich auf zwei Jahre aus dem Leben des 

Monkey Hill — wird durch die Todesursachenstatistik der Kolonie bestätigt: Von 
insgesamt einundsechzig Männchen gingen dreiundfünfzig durch Krankheit und 
acht durch im Kampf erlittene Wunden ein, von dreiunddreißig Weibchen 
erlagen dreißig im Kampf und nur drei fanden ein natürliches Ende. Die Leichen¬ 
befunde der im Kampf Verendeten zeigten die verschiedensten Verletzungen — 
Bein-, Rippen- und Schädelbrüche und in vielen Fällen schwere Verletzungen 
der ano-genitalen Region. 

Der tragische Ausgang der Kämpfe, der die Leitung des Tierparks bewog, 
die noch übriggebliebenen Weibchen vom Monkey Hill zu entfernen, ist wohl 
nur zum geringeren Teil den nicht ganz natürlichen Verhältnissen der Affen¬ 
kolonie zuzuschreiben. Nach den Beobachtungen von Zuckerman und vielen 
andern Forschern wird auch im Freien scharf gekämpft; Zuckerman selbst, 
der auch an mehreren Affenjagden teilnahm, ist noch nie in den Besitz einer 
Leiche gekommen, die nicht Spuren von Kämpfen aufgewiesen hätte. Da kein 
Grund zur Annahme besteht, daß die Kampfart im Freien andersartig sei, glauben 
wir das Resultat des Kampfes — daß in ihm nämlich eher das Weibchen als 
das Männchen unterliegt — verallgemeinern zu dürfen. Versuchen wir uns in 
die Kampfessituation einzufühlen, so finden wir es auch einleuchtend, daß das¬ 
jenige, worum gekämpft wird, im Mittelpunkt des Kampfes stehen muß, und 
die uns seltsam berührende Tatsache, daß das umkämpfte Weibchen dem Kampf 
zum Opfer fällt, findet eine situationsbedingte Erklärung. 

Natürlich paßt diese Tatsache nicht recht in das Bild, das die Psychoanalyse 
von der Entwicklung der Ödipussituation und von den Geschehnissen in der 
Urhorde entworfen hat. Doch möchte ich das hier gewonnene Material nicht 
zur Seite schieben, obwohl ich mir auch dessen voll bewußt bin, wie gefährlich 
die Nebeneinanderstellung zweier verschiedener Erfahrungsgebiete aus metho¬ 
dologischen Gründen ist. 

Gewisse analytische Erfahrungen lehrten mich diese Einsicht schätzen. Aus 
dem Verlauf dieses ursprünglichen Sexualkampfes kann man, meiner Meinung 
nach, Unterlagen für das Verständnis wenn auch nicht des Ödipuskonfliktes, 
so doch des Kastrationskomplexes gewinnen. 

Meine Erfahrungen, die sich besonders in einem Gedankenaustausch mit Frau 
Dr. K. Rotter klärten, beziehen sich zunächst auf die weibliche Sexualentwicklung. 
In einigen von mir analysierten Fällen ergab es sich, daß das kleine Mädchen 









Hermann 


sehr wohl die Wirkung merkt, die es bei Männern und Knaben hervorruft- 
es betrachtet dann in seiner magischen Denkart den Mann und das männliche 
Genitale als sein Eigentum, als ergänzenden Teil seines eigenen Körpers. 
„Kastration bedeutete in diesen Fällen — und meiner Annahme nach kommt 
dieser Auffassung allgemeinere Bedeutung zu — den Verlust des männlichen 
Genitales, und zwar nicht in dem uns geläufigen Sinne, des Genitales, das 
anatomisch zum Körper gehört hätte oder gehören sollte, sondern des Genitales 
des Partners, das im Unbewußten mit dem eigenen eine (Dual-) Einheit bildet 
dessen Besitz ja auch real das eigene Genitale erst funktionsfähig macht. 1 Jeder 
Verlust des sexuellen Partners bringt den Verlust des Genitales, die Kastration 
des Weibes. 

Freud selbst bezieht die traumatische Wirkung der Kastrationsangst auf 
das Trauma des Objektverlustes. Unserer Meinung nach handelt es sich hier 
um ein und dasselbe. Wie das Dualverhältnis von Mutter und Kind auch post¬ 
natal eine biologische Einheit darstellt und als solche empfunden wird, so 
empfindet das weibliche Individuum auch die Einheit des männlichen Genitales 
mit dem eigenen und betrachtet den Verlust des männlichen Genitales als 
Kastration. Das vom Sexualpartner isolierte Weib fühlt sich kastriert. 

Obwohl ich diese Annahme über die Genese des weiblichen Kastrations¬ 
komplexes für einigermaßen gesichert ansehe, — in einem Fall, in dem diese 
Zusammenhänge im Mittelpunkt des Krankheitsbildes standen, wurde ich auch 
durch den seit Jahren andauernden Heilerfolg in meiner Ansicht bestärkt, — 
so wagte ich es dennoch nicht, den nächsten Schritt der Verallgemeinerung 
zu unternehmen und auch den männlichen Kastrationskomplex in diesem Sinne 
zu deuten. An solcher Deutung hinderte hauptsächlich die Erwägung, daß der 
Mann ja nicht wie die Frau deutliche äußere Anzeichen der sexuellen Er¬ 
regung beim Partner wahrzunehmen und daher auch nicht dessen Zugehörig¬ 
keit zu sich selbst entsprechend zu empfinden vermag. Allerdings könnte uns 
die Angst nachdenklich machen, die Knaben bei Zwistigkeiten der Eltern, also 
in Situationen empfinden, die sie auf Grund der reinen Ödipuseinstellung 
eigentlich angenehm berühren sollten. Im besonderen erinnere ich mich eines 
Falles, bei dem ich damals die ständig wiederkehrenden Versuche des Knaben, 
die Eltern miteinander zu versöhnen, auf ein dem Ödipuskomplex entstammendes 
Schuldgefühl bezog. Heute würde ich auch hier eher an die Angst vor dem 
Verlust der Mutter denken, besonders da wir um die Angst des Kindes wissen, 
die Mutter könnte beim Koitus getötet werden. 

Die Geschehnisse in der Affenhorde geben nun hier weiter zu denken. 
Der Mann wird durch den Verlust des Weibes „ kastriert“: der Verlust der 


1) Man vergegenwärtige sich, daß es bereits eine Abstraktion ist, die nicht der 
Denkweise des Unbewußten entspricht, wenn wir vom isolierten Genitalorgan sprechen. 























M tter wird durch den Ausgang der Sexualkämpfe auf zweiter Stufe wieder- 
VoTdcr analytischen Auffassung, daß der Verlust der Mutter bet der 
rt und bei der Entwöhnung das Modell zum späteren Kastrationskomp 
abgibt, unterscheidet sich der hier vorgetragene Deutungsvorsc ag 
daß hier nicht eine Analogie, sondern eine Identität vermu e w 
Objektverlust wird das eigene Genitale in seiner Funktion entwertet. 

Wir haben zwar bisher nicht ausdrücklich von der sozialen Einrichtung 
der Affengesellschaft gesprochen; aber alles diesbezüglich Bedeutsame hat den- 
ooch in dem bisher Gesagten bereits Erwähnung gefunden. Wie Zuckerman 
• scharf und bestimmt feststellt und auch im Aufbau seines Buches zum 
Amdruck bringt, ist .das gegenseitige Verhältnis der Individuen innerhalb 
einer Gruppe durch den physiologischen Mechanismus der Fortpflanzungs- 
funktion in primärer Weise geregelt“. Zwei Faktoren sind es, die die Gruppe 
Zusammenhalten: die sexuelle Anziehungskraft der Weiber, die — wie wir 
sahen — nicht nur den sexuellen Partner, d. h. das Oberhaupt des Harems, 
in ihrem Bannkreis hält, sondern auch männliche Individuen, die diese Nähe 
nur ausnahmsweise oder überhaupt nicht ausbeuten dürfen — und das Lausen, 
dessen sexuelle Natur von Zuckerman erkannt und gewürdigt wird. Die 
soziale Rangordnung der Tiere wird durch die auf Körperkraft beruhende 
Dominanz der einzelnen Individuen bestimmt; die Generalprobe dieser Dominanz 
wird im sexuellen Machtbereich geliefert. Wie schon erwähnt, hängt es von 


der Doininanzfähigkeit der Männchen ab, ob und wieviel Weibchen sie erobern 
können — und sie verlieren ihre dominante Position, sobald sie die Weibchen 
nicht mehr behalten dürfen. Im Kampf um das Futter kann ein dominanter 
Besitzer eines Weibchens hin und wieder einem Junggesellen weichen, ohne 
daß damit seine Position gefährdet wäre: wird er aber im sexuellen Kampf 
geschlagen, so ist es mit seiner Dominanz zu Ende. 1 

In der Dominanz liegt eine große, aber nicht unumschränkte Macht. Ein 
schwächeres Tier wagt vor einem dominanteren nicht vom gemeinsamen Futter 
zu nehmen oder Besitz von irgend etwas zu ergreifen, die Dominanz des Familien¬ 
oberhauptes entzieht den Weibern das Futter (nur die Bevorzugte mit den 
jeweils geschwollenen Genitalteilen kann hievon eine Ausnahme machen) und 
versperrt ihnen auch den Verkehr mit anderen Tieren. Beschränkt ist die 
Macht des dominanten Tieres aber insofern, als es einerseits die Dominanz 
der anderen Tiere respektiert, — ein Familienoberhaupt wird nicht die Weibchen 
eines andern Harems verfolgen, — sodann dadurch, daß diese Dominanz an 


i) Es könnte gefragt werden, wo eine größere individuelle Freiheit bestehe, in 
der Affengemeinschaft oder in der Kulturgemeinschaft. Ich wäre versucht, den Satz 
Freuds, die individuelle Freiheit sei am größten vor jeder Kultur (Das Unbehagen 
in der Kultur, S. 56), anzuzweifeln. 











i M 


Hermann 


seine körperliche Gegenwart gebunden ist. Hinter seinem Rücken kommen 
wie wir gesehen haben, auch Fälle sexueller Treubrüche vor. 

Die erste dieser Beschränkungen erlaubt es vielleicht, von der Dominanz 
Ordnung in der Affengesellschaft als von einer Art „allgemeinen Moral“ 
zu sprechen, die zweite unterscheidet diese Moral aber von der Über-Ich-Moral 
menschlicher Individuen. Zum Wesen der Über-Ich-Moral gehört es, daß die 
Abwesenheit der Autoritätsperson den Befehl eher verstärkt als schwächt- das 
ist es, was wir in der Affengesellschaft vermissen. 

Wie steht es aber diesbezüglich in der menschlichen Gesellschaft? Ist sie 
wirklich durchaus durch die Über-Ich-Moral geregelt? Wir müssen auf die 
anscheinend noch zu wenig beachteten Einschränkungen Freuds verweisen 
denen zufolge die meisten Menschen eher im Zustand einer sozialen Furcht 
eben die sie vor als unmoralisch geltenden Handlungen zurückhält, und außer- 
em ie Frau ein der Kastrationsangst entstammendes eigentliches Über-Ich 
überhaupt nicht besitzen kann. 


Ich versuchte nun auf Grund von klinischem Material den Nachweis eines 
Fseudo-Uber-Ichs, das sich aus Erziehungseinflüssen gebildet hat und das auf 
einem durch einen einheitlichen Libidostrahl zusammengehaltenen „Kollektiv¬ 
schema beruht . 1 Dieses Pseudo-Über-Ich läßt sich schon eher mit der Dominanz¬ 
moral der Affengesellschaft vergleichen, so daß deren Genealogie auch menschlich 
verwertbare Aufschlüsse verschaffen könnte. 

Wenn wir die „Güter“ nennen, die durch die Dominanz dem dominierten 
Tiere entzogen werden: Nahrung und Verkehr mit fremden Tieren - so 
imponieren sie als Verzichte, die bei dem geschädigten Tier eine depressive 
Emsteilung hervorrufen können. Und hier denken wir an die Ausdrücke, mit 
denen verschiedene Beobachter Mimik und Haltung des lausenden Affen schildern: 
„ernstes Nachdenken , „gespannte Miene“, „vollständiges Stillhalten“, — Aus¬ 
drucke, die ebenso geeignet wären, eine depressive Stimmungslage zu beschreiben. 
Es scheint, als ob wir unsere Deutung des Lausens ergänzen müßten: es dürfte 
sich hier nicht nur um die Herstellung des Mutter-Kind-Verhältnisses, sondern 
auch um die gefühlsmäßig depressive Stabilisierung der Trennung handeln 
Auf die Dominanzmoral übertragen, hieße das, daß hier eine Kompromiß- 
bildung stattfindet: Die Mutter wird ersetzt, doch auch die Trauer der Trennung 
wtrd in der durch den dominanzbedingten Entzug hervorgerufenen Depression 
stabilisiert. Es wäre wieder ein Verzicht, der im Grunde der Dominanzmoral 
angenommen werden muß: der Verlust und das Vermissen der Mutter Und 
wir wollen auch darauf hinweisen, daß es sich bei der Bildung des echten 


i) Die Zwangsneurose und ein historisches Moment in der Über-Ich-Bildumr 





























Zum Tnebleben der Primaten 


ia5 


Mut Ichs ebenfalls um ein Kompromiß zwischen Entfernen und Verinnerlichen 

des \ iters handelt. . 

Endlich sei noch etwas Prinzipielles zur Massenpsychologie emer 
Wir sind seit Freud gewohnt, unser Augenmerk auf die Identifizierungen 
innerhalb der Masse zu richten. Ichpsychologische Erwägungen führten mich 
7.11 r Annahme einer Alterifikationsfunktion. 1 2 Jetzt werden wir von einer anderen 
Seite her gewarnt, die AVichtigkeit dieser Alterifikation, der Gegenüberstellung 
des eigenen Bereichs und anderer Individuen und Massen, nicht zu unterschätzen. 
Anders: Eine Masse kann nur gegenüber einer anderen bestehen. Nur mit 
der Abgrenzungsbetonung kann sich eine „Einheit vom fließenden „All ab- 
lu-ben. Die Alterifikation kann ebenso als Produkt des Aggressionstriebes auf¬ 


gefaßt werden wie die Identifikation als Produkt des Eros. Mit anderen Worten: 
An der Massenbildung selbst ist bereits der Aggressionstrieb beteiligt, wie er 
auch späterhin, mit Freud gesprochen, eine zweite Masse zur Auswirkung ver¬ 
langt.“ Doch in der Affengemeinschaft haben wir die Massenauswirkung des 
Aggressionstriebes historisch als Wiederholungssituation der deprimierenden (post¬ 
natalen) Trennung von der Mutter gedeutet. Verlangt diese Deutung nicht etwa 
eine verallgemeinerte Anwendung? 


1) Das Ich und das Denken. A. a. O. S. 29. 

2) Das Unbehagen in der Kultur. S. 85. 














BESPRECHUNGEN 

Aus der psydioanalytisdien Literatur 

Bernfeld, £., Der Begriff der Deutung in der Psyckoanalyse. 

Ztsiir. f. angew. Psychologie. Bd. 42, S. 448—497, 1932. 

Methodologische Untersuchungen gehören nicht an den Anfang einer Wissen¬ 
schaft. Die Erfahrung lehrt, daß die methodologische Besinnung erst in relativ 
späten Entwicklungsstadien der Wissenschaften einsetzt. Es ist deshalb nicht 
erstaunlich, daß eine so junge Wissenschaft wie die Psychoanalyse bisher kaum 
an di© Aufgabe herangetreten ist, in einer Art der Selbstbesinnung sich ihrer 
Eigenart als Wissenschaft bewußt zu werden. Es scheint aber, daß in dem 
jetzigen Entwicklungsstadium der Psychoanalyse, solche methodologische oder 
besser gesagt wissenschaftstheoretische Untersuchungen notwendig sind und 
fruchtbar werden können. Deshalb ist die Arbeit von Bernfeld, die an einem 
speziellen Gebiet eine solche Untersuchung durchführt, außerordentlich zu be¬ 
grüßen. B. schlägt den richtigen Weg ein, indem er nicht von unfruchtbaren 
Verallgemeinerungen ausgeht, sondern die wirkliche Forschungspraxis der Psycho¬ 
analyse untersucht, die Eigenart ihrer Begriffsbildung freilegt. Er beschäftigt 
sich in dieser Arbeit nicht mit der psychoanalytischen Deutung als einem Be¬ 
standteil der Therapie. Deshalb geht er den Problemen der Einfühlung, des 
Aus drucks verstehens u. dgl. m. in dieser Arbeit nicht nach. Sondern was B. 
interessiert, ist die spezifische Logik der Psychoanalyse als Wissenschaft, insbe¬ 
sondere der Deutung in der Psychoanalyse als wissenschaftlichem Verfahren. 

In der Psychoanalyse werden recht verschiedene Verfahren als Deutung 
bezeichnet. Erste Aufgabe einer methodologischen Untersuchung ist die Sonde¬ 
rung dieser verschiedenen Bedeutungen des Begriffes Deutung. 

Die erste allgemeinste Charakterisierung der Deutung in der Psychoanalyse 
lautet nach B.: „Den Sinn eines Traumes deuten, heißt für Freud und für 
die Psychoanalyse: ihn in einen personalen Zusammenhang einordnen und 
ebenso heißt neurotische Symptome, Tagträume, Fehlhandlungen oder Kunst¬ 
werke psychoanalytisch deuten, nichts anderes als sie in den Gesamtzusammen¬ 
hang der Person einordnen. Als erster Typ der Deutung in der Psychoanalyse 
ergibt sich somit die finale Deutung. Final deuten heißt Handlungen in einen 
Absichtzusammenhang einzuordnen. Dieser Art von Deutung begegnen wir auch 
in der vorwissenschaftlichen Psychologie. Der Menschenkenner deutet so, indem 
er einen „durchschaut , verborgene Absichtzusammenhänge aufdeckt, verstehen 
lernt wie eine Handlung aus undurchsichtigen Motiven folgt. 

Aus dieser vorwissenschaftlichen Kunst wurde eine wissenschaftliche Methode 
durch die Entdeckung Freuds, daß verdrängte Absichten und Vorsätze lange 
nachwirkende Kraft haben, daß solche Absichten und Vorsätze menschliches 
Tun im weiten Umfange bestimmen. 

Eine wissenschaftstheoretische Untersuchung kann darüber nichts aussagen, 
ob die finalen Deutungen Freuds und seiner Schule richtig sind. Was eine 
solche Untersuchung leisten kann und muß, ist: nach Kriterien zu suchen, die 
die Zulässigkeit finalen Deutens beurteilen lassen. B. kommt zu dem zunächst 





















ira(iox scheinenden Resultat, daß Voraussetzung finalen Deutens ist, daß der 
Vonatz oder die Absicht von vornherein festgestellt sind. Damit korrigiert er 
fi '„ irrigen Ansichten, die außerhalb der Psychoanalyse über die anä mische 
Deutungsmethode verbreitet sind. Man denkt sich das Verfahren es na y 1 ers 
to daß er einen Traum, eine Fehlleistung „deutet , indem er spontan aus em 
immanenten Zusammenhang des Traumes verdrängte Wünsche ableUet o er aus 
der bloßen Tatsache einer Fehlleistung unbewußte Absichten herausliest B. wider¬ 
legt diese Meinung und stellt fest, daß „. . . die Fehlleistung als solche über¬ 
haupt keine Deutung ermöglicht ... Erst muß durch Einfälle, Kenntnis der 
Ihn stünde oder äquivalente Fakten genügend Indizienmatenal herangeschart 
ehe eine Deutung vorgenommen werden kann; die Indizien erst ent¬ 
scheiden, ob sie als final zulässig sein mag; dies ist der Fall, wenn im Einfalls- 
material entsprechende Absichten auftauchen . 

Durch die Feststellung, daß finale Deutungen die Kenntnis des Absicht¬ 
zusammenhanges, den sie erdeuten wollen, schon voraussetzen, ist der Wert 
dieses Verfahrens sehr in Frage gestellt. B. meint auch: die Schwierigkeit besteht 
darin, . . daß finale Deutungen so schwer verifizierbar sind, während sie so 
sehr plausibel sind“. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der Erkenntnis, 
daß die Aufdeckung eines Absichtzusammenhanges noch keine kausale Erklärung 
ist. r Den zwischen den Gliedern eines Absichtzusammenhanges besteht nicht 
notwendig die Relation Ursache und Wirkung . . .“ Diese Überlegungen klingen 
vielleicht überraschend. Man darf aber nicht vergessen, daß B. nicht über die 
therapeutische Deutung spricht. Sonst wäre auch die Behauptung kaum ver¬ 
ständlich: „. . . im ganzen der Psychoanalyse hat der Typus der finalen Deutung 
überhaupt kaum einen Platz.“ Damit will B. sagen, daß die Psychoanalyse als 
Wissenschaft nicht personale Zusammenhänge feststellen will, sondern die Gesetze 
des psychischen Geschehens aufzufinden sucht. Die Traumformel Freuds: der 
Traum sei der Hüter des Schlafes, ist z. B. eine funktionelle Aussage. Sie 
formuliert die allgemeine Funktion des Traumes im biologisch-physiologischen 
Zusammenhang der Person. Wenn dagegen ein konkreter Weckreiztraum ge¬ 
deutet wird als Erfüllung des Wunsches weiterzuschlafen, so handelt es sich 
dabei um eine finale Deutung, um die Feststellung eines personellen Absicht- 
yusaminenhanges. Die finalen Deutungen der Psychoanalyse müssen aber von 
ihren funktionellen Aussagen getrennt werden. Aus solchen funktionellen Aus- 
sagen baut sich, so meint B., die psychoanalytische Psychologie hauptsächlich 
.uif. sie *ind das Gerüst jener Wissenschaft, die Psychoanalyse heißt. Unter 
funktionellen Aussagen versteht B. vor allem jene Erklärungen, die in der 
Psychoanalyse mit dem Namen „ökonomischer Gesichtspunkt“ bezeichnet werden. 
Die ökonomischen Erklärungen haben für B. innerhalb der Psychoanalyse eine 
bestimmte Vorzugsstellung. Und zwar jene, daß sie die möglichst größte An¬ 
näherung an die Denkweise der exakten Naturwissenschaften repräsentieren. 
Denn, führt B. aus, Freud dokumentiert mit der Bezeichnung „ökonomischer 
Gesichtspunkt die Absicht „. . . die qualitativen Aussagen an Beziehungen 
zwischen Quanten irgendeiner — noch unbekannten — physiologisch-physi¬ 
kalischen Größe, die er Libido, Besetzungsenergie usw. nennt, zu binden. Die 











a8 


Freudschen funktionellen Aussagen sind qualitative. Sie tendieren aber nach 
der Bedeutung hin, die das Wort Funktion in der Mathematik hat.“ B. spricht 
in solchem Fall von funktionaler Beziehung. „Funktionale Beziehung meint 
die Zuordnung von Quantitäten, im Gegensatz zur funktionellen Beziehung, die 
Qualitäten zwischen Teilen und ihrem Ganzen meint.“ 

Die Psychoanalyse tendiert letzten Endes nach B.s Meinung auf eine Psycho- 
logie, die funktionale Aussagen macht. Das Streben der Psychoanalyse, qualitative 
Aussagen an quantitative zu binden, ist ja bekanntlich ein Zukunftsideal. Gleich¬ 
wohl bedeutet für B. schon diese Tendenz einen Maßstab, an dem, sozusagen 
der wissenschaftliche Ernst der Psychoanalyse abzulesen ist. Und zwar deshalb' 
weil nach seiner Ansicht die qualitativen Aussagen der Psychoanalyse nur durch 
Messung, nur durch Feststellung der quantitativen Änderungen verifizierbar 
sind. Die funktionellen Aussagen der Psychoanalyse sind vieldeutig. „Freud 
bestimmt die Funktionen eines Phänomens für das Über-Ich, das Ich, das Es, 
oder für die Libidobindung, der Angstabwehr usw. Er befolgt das Prinzip der 
Uberdeterminierung oder, wie man auch sagte, der mehrfachen Funktion. Die 
Person, die der Gegenstand der psychoanalytischen Forschung ist, wird als so 
sehr vielfach geschichtetes, reich strukturiertes Gefüge vorgestellt, daß kaum von 
einem Element die Funktion in der Person schlechthin ausgesagt werden kann, 
sondern immer nur in einem Unterganzen dieses umfassendsten Ganzen.“ Wie 
wird nun geprüft, fragt B., ob eine behauptete funktionelle Beziehung richtig 
statt hat? Wenn etwa ein bestimmtes Geschehen als Angstersparnis erklärt 
wird, so ist dies eine funktionelle Aussage, bezogen auf den Libidozusammen¬ 
hang, dasselbe Geschehen kann auch in anderen Zusammenhängen eine andere 
funktionelle Bedeutung haben. Aber wie stellt man fest, ob die Behauptung: 
„Angstersparnis tatsächlich den funktionellen Wert des Geschehens für den 
Libidozusammenhang zutreffend feststellt? Innerhalb der funktionellen Be¬ 
trachtung — meint B. — ist darüber ein sicherer Entscheid nicht möglich. 
„Nur wenn es Quanta gibt, die bestimmten Angstzuständen äquivalent sind, 
sagen wir Libidoquanta, bekommt der Begriff der Angsterspamis einen präzisen 
verifizierbaren Sinn. Die an sich sinnvolle funktionelle Aussage wird erst als funk¬ 
tional e zu nichtigen“ oder falschen“.“ 

Die These B.s, daß funktionelle Aussagen nur durch Messung verifizierbar 
sind führt zu den schwierigsten wissenschaftstheoretischen und philosophischen 
Problemen. Mir will es scheinen, daß B. „exakt“ und „meßbar“ als äquivalente 
Begriffe verwendet. Er meint, wenn wir bloß qualitativ angeben, in welcher Be¬ 
ziehung ein Teilgeschehen zu einem Gesamtkomplex des Geschehens steht, so mag 
das sinnvoll sein, aber niemals scharf beweisbar oder widerlegbar. Es bleibt immer 
eine gewisse Willkür bei dieser Art der Charakterisierung. Jede Willkür ist hin¬ 
gegen ausgeschlossen und jede Behauptung wird scharf als wahr oder falsch 
ausweisbar, wenn es gelingt, die Beschreibung in Quantitätsbegriffe zu kleiden. 
Dann haben wir nämlich bloß die in Frage kommenden Größen nachzumessen 
und aus der Messung erweist sich automatisch Wahrheit oder Falschheit 
unserer Behauptung. In dieser B.schen Auffassung liegt meines Erachtens eine 
unzulässige Vereinfachung und eine willkürliche Scheidung der Wissenschaft- 

























Besprechungen 


129 


Uc hen Operationen. Man könnte mit ebensoviel Recht behaupten, daß rem 
quantitative Aussagen, zumal in der Psychologie, sinnlos sind ohne Erfüllung 
, qualitative Begriffe. Ferner ist es nicht gesagt, daß eine rem quantita- 
tive Aussage als solche immer eindeutig verifizierbar ist. Denn wenn eine 
Messung einer Behauptung widerspricht, so bedeutet das keineswegs immer, 
rUl 3 die betreffende qualitative Behauptung falsch war, sondern es kann se r 
wohl sein, daß die Inkongruenz auf den besonderen Bedingungen der Messungs¬ 
operation beruht. Und wenn man die Praxis der Wissenschaften ansieht: hat 
etwa die experimentelle Psychologie an Exaktheit und Bedeutung ihrer Er- 
gebnisse gewonnen, seitdem sie mathematische Methoden anwendet, sorgfältige 
Messungen durchführt? Selbst in der Physik ist „Exaktheit“ nicht identisch 
(Genauigkeit der Messung bis auf die soundsovielte Dezimale, wie das z. B. 
win |n feiner schönen Arbeit „Der Übergang ^von der aristotelischen zur 
galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie 1 zeigt. 

IJ. «ilst zwar zu, daß die Psychologie auf funktionelle Aussagen nicht Ver¬ 
zichtern kann, aber er schränkt die Richtigkeit seiner Behauptung selber ein, 
wenn er meint, daß funktionelle, d. h. qualitative Beschreibung nur „sinnvoll“, 
aber nicht im wissenschaftlichen Sinn verifizierbar ist. Mir will dagegen scheinen, 
daß für die logische Eigenart der Psychologie und der Psychoanalyse gerade 
der Zusammenhang zwischen qualitativen und quantitativen, funktionellen und 
funktionalen Aussagen entscheidend ist. Was anders formuliert heißt, daß die 
Psychologie und die Psychoanalyse nicht mit physikalischen Systemen zu tun 
haben, ihre Aufgabe daher nicht auf eine messende Feststellung von Wachsen 
oder Abnehmen von „Energien“ beschränkt sein kann, sondern Gegenstand 
der Psychologie und der Psychoanalyse ist der Mensch, in Beziehung zu seiner 
Umwelt, d. h. als handelndes, empfindendes, leidendes Wesen, das einer Welt 
von Objekten, sinnvollen Situationen gegenübersteht. Und Aufgabe einer 
wissenschaftstheoretischen Untersuchung kann nur sein, herauszufinden, durch 
welche begriffliche Bemühungen eine Wissenschaft ihr spezifisches Objekt am 
adäquatesten erfassen kann. Denn die Kriterien der Exaktheit und Verifizier¬ 
barkeit liegen in der Beziehung der einzelnen Wissenschaften zu ihrem Gegen¬ 
stand und können nicht an den Methoden der anderen Wissenschaften gemessen 
werden. Uns scheint ein Irrtum B.s darin zu liegen, daß er, stillschweigend, 
das Exaktheitsideal der Physik auch für die Psychologie als bindend zugrunde legt. 

In dem zweiten Teil der Arbeit hingegen, in dem sich B. mit der genetischen 
Deutung beschäftigt, finden wir jenes Gebot der Gegenstandsnähe, das für eine 
wissenschaftstheoretische Untersuchung verpflichtend ist, wirklich bewahrt. In 
diesem Teil der Arbeit untersucht B. jene Voraussetzungen der psychoanalyti¬ 
schen Forschung, jene Methoden und Verfahrungsweisen, durch die die Psycho¬ 
analyse ihre eigensten Aufgaben realisiert. 

Denn nicht die finale und funktionelle Deutung, meint B. mit Recht, ist 
das wesentlichste Verfahren, das die Psychoanalyse anwendet und dem sie ihre 
Resultate verdankt. Sondern die wesentlichste Zielsetzung der Psychoanalyse ist 

1) Erkenntnis, Bd. I, S. 421 ff., 1930/31. 


SM 7 / ~ 


Imago XIX. 


9 













i3o 


Besprechungen 


die Rekonstruktion eines konkreten, abgelaufenen, seelischen Vorganges. „Als 
Rekonstruktion vergangener personaler Geschehnisse, aus den Spuren, die sie 
selbst hinterlassen haben, wäre . . . das zentrale Forschungsverfahren der Psycho¬ 
analyse zu charakterisieren. Es hieße Rekonstruktion besser als Deutung . . .“ 

Die Möglichkeit einer solchen Rekonstruktion ist an zwei Voraussetzungen 
gebunden. Erstens: der Vorgang, um dessen Rekonstruktion es geht, muß Spuren 
hinterlassen haben. Zweitens:/ zwischen bestimmten seelischen, personalen Ge¬ 
schehnissen und den Spuren, die sie hinterlassen, muß eine regelhafte gesetz¬ 
mäßige Beziehung bestehen, damit jene aus diesem „deutbar“ werden. Mit 
anderen ^Worten: erst eine Theorie über bestimmte Geschehenstypen ermöglicht 
es, aus den Spuren den wirklichen Vorgang zu rekonstruieren. Traumarbeit, Kon¬ 
version, Sublimierung, Verdrängung sind Begriffe, die solche eigentümliche Ge¬ 
schehenstypen bezeichnen. B. zeigt, daß alles, was der Psychoanalytiker unter¬ 
nimmt, um den Geschehenstyp zu erkennen, dem ein bestimmtes Phänomen 
angehört, alles, was er versucht, um den Vorgang zu rekonstruieren, gelegentlich 
Deutung heißt. Aber dieser gemeinsame Name deckt sehr verschiedene Opera¬ 
tionen. Daß das komplexe Verfahren der Rekonstruktion so oft als Deutung 
bezeichnet wird, hat einen guten Sinn. Denn bei der Rekonstruktion handelt 
es sich um die Einordnung in einen konkreten Zusammenhang, um die Er¬ 
gänzung von konkreten Bruchstücken zu einem Ganzen, um die deutliche Ab¬ 
grenzung von Zusammenhängen gegeneinander. Und B. hat sicher recht, daß 
es dieser Akt ist, den die Sprache als Deutung heraushebt. Darum bezeichnet 
B. die psychoanalytischen Rekonstruktionen als genetische Deutungen. 

Wie steht es mit der Verifizierbarkeit der psychoanalytischen Rekonstruktionen? 
B. glaubt, daß die Verifikation nicht mit genügender Sicherheit möglich ist. 
„Es gibt kein Kriterium dafür, daß der rekonstruierte Vorgang auch wirklich 
so ablief wie die Deutung ergab . . .“ Diese Unsicherheiten bestehen für die 
Psychoanalyse ebenso wie für die anderen geschichtlichen Wissenschaften. B. ist 
der Ansicht, daß man eigentlich sagen müßte: wir rekonstruieren nicht den 
Vorgang, sondern bauen ein Modell von ihm. Gewöhnlich werden deren mehrere 
möglich sein, die Entscheidung zwischen diesen Modellen bleibt meist offen. 

Ist aber die Psychoanalyse bei ihren Rekonstruktionen wirklich in der gleichen 
Lage wie etwa die Archäologie oder Paleontologie? Oder ist das Verhältnis 
von Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und Aktualität, das sie vorfindet, 
ein anderes, wie sonst in der Historie? Für den neurotischen Menschen, der 
das ursprüngliche Objekt der psychoanalytischen Forschung ist, ist die Ver- 
gangenheit noch ein Stück Aktualität. Und jenes Phänomen, das man Über¬ 
tragung nennt, gibt eine solche Möglichkeit, die Vergangenheit zu aktivieren, 
wie Forscher anderer historischen Wissenschaften sie nicht haben und die ihren 
Neid erwecken könnte. Mir scheint, erst eine eingehende Analyse der methodo¬ 
logischen Bedeutung des Phänomens der Übertragung und der durch sie erweckten 
Erinnerungen könnte über die Verifizierbarkeit der genetischen Deutungen der 
Psychoanalyse Aufklärung geben. 

B. führt weiter aus, welcher Methoden sich die Psychoanalyse bedient, um 
ihre wesentlichsten Aufgaben, den genetischen Zusammenhang der seelischen 





























Besprechungen 


Geschehnisse aufzudecken, zu erfüllen. Die Technik der Psychoanalyse ist, aus 
diesem Gesichtspunkte betrachtet, eine Technik der Rekonstruktion. B. be¬ 
schäftigt sich vor allem mit der „Methode der freien Einfälle und zeigt, daß 
ihr Sinn darin besteht, gewohnte Zusammenhänge umzubrechen, um eine neue 
Ordnung des Materials, etwa nach Affektwerten, zu ermöglichen. Man wird 
dieser Methode nicht gerecht, wenn man sie mit den Mitteln der Assoziations- 
Psychologie erfassen will. Sehr viel eher kommt man der Tatsache nahe, die 
igrunde liegt, wenn man die „freien Einfälle als neue Zusammenhangs¬ 
bildungen auslegt, die ihre innere, „personale“ Logik haben. 

B.s Arbeit bedeutet einen Vorstoß in ein bisher unbearbeitetes Gebiet. Es 
gilt, die Eigenart einer Wissenschaft herauszuarbeiten, die ein Tatsachengebiet, 
das sie neu gesehen und dessen wirkliche Bedeutung sie erst entdeckt hat, 
mit teilweise ganz neuartigen methodologischen Mitteln, aufzuarbeiten sucht. 
Die Pulle und Schwierigkeit der Probleme, die sich für eine solche Unter¬ 
st hung ergeben, macht es selbstverständlich, daß dabei noch keine erschöpfenden 
warten sind. Die Arbeit B.s bringt aber schon eine Reihe wichtiger 
und zweifellos gültiger Erkenntnisse. B. hat in dieser Arbeit die Bedingungen 
und die Zulässigkeit der finalen Deutungen aufgezeigt, den Unterschied zwischen 
finalen Deutungen und funktionellen Aussagen in der Psychoanalyse deutlich 
gemacht, die Arbeitsweise jener „SpurenWissenschaft“, die Psychoanalyse heißt, 
schärfer beleuchtet. Uns scheint namentlich der Nachweis bedeutungsvoll, wie 
die Theorie über die Geschehenstypen die Rekonstruktion eines abgelaufenen 
seelischen Vorganges aus ihren Spuren ermöglicht. 

Diese Arbeit hat die wissenschaftliche Selbsterkenntnis der Psychoanalyse 
ein Stück weit gefördert. 

Die Meinungen über den Wert solcher methodologischen Untersuchungen 
sind verschieden. Unseres Erachtens kommt ihnen eine hohe Bedeutung zu. 
Denn sie zeigen uns, wo unsere wirklichen wissenschaftlichen Aufgaben liegen, 
und welche Wege wir einschlagen müssen, wenn wir sie adäquat lösen wollen. 

G. Gero (Berlin) 

Sclijeld erup, Harald und Knstiaan: üter die drei Haupttypen 
der religiösen Erletnisformen und lkre psycliologisclie 
Grundlage. Berlin und Leipzig, AV^alter de Gruyter & Co., 1 gSz, 
180 /Seiten. 

Von den drei Haupttypen religiösen Erlebens erwächst die erste aus der Be¬ 
ziehung zur Mutter. Er zielt auf die mystische Vereinigung mit Gott. Der 
zweite Typus ist durch Schuldgefühl, Furcht und Sühneverlangen charakterisiert 
und stammt vorwiegend aus dem Verhältnis zum Vater. Der dritte Typus zeigt 
die Tendenz zur Selbstvergöttlichung und stammt aus dem infantilen Narzißmus. 
Die Verfasser bezeichnen die drei Typen als Mutter-Religion, Vater-Religion und 
Selbst-Religion. Die in der Analyse von Neurotikern gefundenen Typen lassen 
sich auch an Gesunden und in der Religionsgeschichte wiederfinden. Die Ver¬ 
fasser belegen sie durch Betrachtung des indischen Mystikers Ramakrishna, 


9 " 












i3a 


Besprechungen 


Martin Luthers und des Zen-Mönches Bodhidharma. „Ganz allgemein könnte 
man sagen, daß der Hinduismus seiner ganzen Grundtendenz nach als Mutter- 
Religion, der ursprüngliche Buddhismus als Selbst-Religion und Christentum wie 
Mohammedanismus ihren ursprünglichen Intentionen nach als ausgesprochene 
Vater-Religion anzusprechen seien.“ (S. 99.) 

Die Verfasser sehen ihre Arbeit als eine Weiterführung und Ergänzung von 
Freuds Untersuchungen an: Neben dem „Vatermotiv“ spielen eine ebenso 
wichtige, ja vielleicht noch wichtigere Rolle das „Muttermotiv“ und das 
narzißtische „Selbstmotiv . Auf diese beiden ergänzenden Motive hatten bereits 
hingewiesen: Pfister, Jones, Storfer, Lorenz, Dietrich, Fromm, Silberer, Alexander. 
Während es sich bei den Arbeiten dieser Autoren aber im wesentlichen nur 
um Symboldeutungen und um die Beleuchtung von Einzelproblemen der Reli¬ 
gionsgeschichte handelt, versuchen die Autoren der vorliegenden Schrift eine 
auf direkte empirische Analyse von Einzelfällen religiöser Menschen ge¬ 
gründete Klarlegung der Motive der Religionsentwicklung. Die Kasuistik dieser 
Fälle nimmt die erste Hälfte der 100 Seiten langen Schrift ein und zeigt ebenso 
wie der theoretische Teil eine gründliche Kenntnis der psychoanalytischen Funde 
und ihre fruchtbare Anwendung auf den Gegenstand des religiösen Erlebens. 
Die letzten Schriften Freuds, in denen er selbst über das „Vatermotiv“ hinaus¬ 
geht, insbesondere die Bemerkungen über das „ozeanische Gefühl“ im „Unbehagen 
in der Kultur ‘ und in der „Neuen Folge der Vorlesungen u 9 sind den Verfassern 
wohl nicht mehr zugänglich gewesen. G. M.üller-Braunscliweig (Berlin) 

Aus der Literatur der Grenzgebiete 

Alverdes, Friedridi: Die Xierpsycliologie in lliren Beziehungen 

zur Psychologie des Menschen. Leipzig, C. L- Hirschfeld, 1932. 

120 iSeiten. 

Die bedeutsame, weite Ausblicke gewährende Vortragsreihe steht unter den 
Aspekten des „Fiktionalismus in der Erkenntnis und der „ganzheitlichen u Er¬ 
scheinungsweise der Lebewesen. Ich weise im Folgenden auf die Berührungs¬ 
punkte mit der Psychoanalyse hin. 

Mehr programmatisch aufgestellt als einzeln durchgeführt wird die Rolle 
der trieb mäßigen Komponenten auch an einsichtigen Handlungen. Die ver¬ 
stehende, einfühlende Methode der medizinischen Psychologie wird immer 
wieder als Vorbild hingestellt. Unter Berufung auf Erfahrungen der Tiefen¬ 
psychologie wird die, auch von mehreren tierpsychologischen Richtungen ver¬ 
tretene Auffassung angenommen, die Bewußtseinsqualität einer Handlung sei 
für ihre Erforschung irrelevant. Damit gelangt das Unbewußte sozusagen von 
seiner negativen Seite her in die Ideengänge des Verfassers. Die positiv be¬ 
stimmten Arbeitsweisen des menschlichen Unbewußten auch in der Tier¬ 
psychologie zu untersuchen, scheint dem Verfasser nicht vorgeschwebt zu haben. 
Auch die Plastizität der Triebe wird beschrieben, — ohne die in der menschlichen 
Sexualität sich äußernde Plastizität als Vorbild zu betrachten. 































Bespreuungen 


l33 


Wichtig scheint mir der Hinweis auf das, was die Psychoanalyse aus der 
ulogie von Alverdes lernen kann. Das güt ganz besonders für die 
Reih^ der ererbten Triebe des Neugeborenen: Saugen, Schlucken und le 
eigentümliche Klammerreaktion — offenbar ein uraltes Erbgut, das beim 
jetzigen Menschen sehr an Bedeutung verloren hat. Für den Vorfahren des 
Menschen war diese Reaktion jedoch gewiss von Wichtigkeit, wie sie es ur 
die heute lebenden Affen jetzt noch ist, denn sie führt hier dazu, daß der Säugling 
«ich an dem Mutterindividuum festklammert.“ Hier sei nur bemerkt, daß diese 
Reaktion an Bedeutung nicht verloren hat; sie ist in den Gefuhlsbeziehungen 
• 1 « p, nd für die Verhaltungsweise des Menschen außer- und innerhalb 

r und oft ZU beobachten. I. Hermann (Budapest) 


Bericht über Jen XII. Kongreß Jer Deutschen Gesellschaft 

für Psychologie in Hamburg vom 12. his x 6 . April i 9 3 i. 

Herausgegeben von Gustav Kafka. Jena, G. Fischer, i 9 3 a. 480 Seiten. 

Mit 14 ALhilJungen unJ 2 Tafeln. 

Di.- große Anzahl von Vorträgen und Sammelreferaten erlauben nicht, sie 
auf igbaren Raum inhaltlich zu kennzeichnen. Weygandt stellt fest, 

daß im Gegensatz zu Amerika, Sowjetrußland und Japan — nur in zwei 
deutschen psychiatrischen Kliniken psychologische Laboratorien 
bestehen. Er fordert, daß Psychologie Unterrichts- und Prüfungsfach für 
Mediziner werden müsse, er stellt fest, daß vor allem Psychiater eine psycho- 
I»»irische Ausbildung dringend benötigen, denn es sei bisher üblich gewesen, 
daß jeder Psychiater seine eigene Psychologie konstruiere. 

Über die Grundaxiome der Sprachtheorie sprachen Forscher der ver¬ 
schiedensten psychologischen und philosophischen Schulen. Cassirer und 
Strauß sehen die Sprache an als symbolische Form, als autochthone Schöpferin 
ihrer Welt im Sinne eines Kantschen oder Humboldtschen Idealismus. N. Ach 
fordert von jeder Sprachforschung die Durchführung des psychologischen Ex¬ 
periments, um von hier aus ihre Bedeutung zu klären. K. Bühl er vertritt 
den Standpunkt: „Man kann die These von der Zeichennatur der Sprache als 
eine höchste Induktionsidee der Sprachforschung betrachten und nachforschen, 
welche Zeichenfunktionen die Sprache erfüllt. Auf diese Weise gewinnt man 
einen systematischen Einblick in das, was man die Struktur der Sprache nennen 
kann. Die Psychologie ist nicht als einzige Einzel Wissenschaft berufen, diese 
Induktionsidee zu verifizieren. Wir können, auch wenn wir die Sprachentwick¬ 
lung beim Kind verfolgen, nur festlegen, wann, d. h. in welchen Stadien der 
Reife und in welcher Reihenfolge diese Zeichenfunktionen auftreten und aus¬ 
gestaltet werden. Das konsequente Durchdenken der Tatsachen von der höchsten 
Induktionsidee aus ist eine Angelegenheit, die nur der Logik, nicht der Er¬ 
kenntnistheorie untersteht/ 4 

S. Bernfeld behandelte das Thema „Über den Begriff der Deutung in der 
Psychoanalyse“. „Das Wort Deutung hat in der Psychoanalyse keinen ein¬ 
deutig bestimmten Sinn. Es sind recht verschiedenartige Verfahren und Ope- 













i3^ 


Besprechungen 


rationen, die mit ihm bezeichnet werden. Insbesondere wären die therapeutisch¬ 
diagnostische, die finale und die funktionelle Deutung voneinander zu unter¬ 
scheiden. Für die Forschungsmethode der Psychoanalyse und für ihre Ergeb¬ 
nisse ist aber keiner dieser Deutungstypen bezeichnend und bedeutsam. Die 
psychoanalytische Forschung ist vielmehr aufgebaut auf einem Verfahren, in 
dessen Mittelpunkt die genetische beziehungsweise historische Rekonstruktion 
steht. So wie der Detektiv (im Roman) aus den Spuren, die ein kriminelles 
Geschehnis hinterlassen hat, den vergangenen und nur in seinen Spuren vor¬ 
handenen Vorgang rekonstruiert, so verfährt der Psychoanalytiker, indem er 
aus den Spuren abgelaufener personaler Prozesse diese selbst zu rekonstruieren 
versucht. Auch die Archäologie und jede genetische, beziehungsweise historische 
Wissenschaft bedient sich dieser Methode der Rekonstruktion. Nach der Ter¬ 
minologie, die Stern vorgeschlagen hat, wäre der wesentlichste Anteil der 
psychoanalytischen ,Deutungen nicht zu den Deutungen zu rechnen. “ 

Aus der Kretschmerschen Klinik wird durch Enke auf die Rorschach- 
schen Formdeute versuche als eines der Mittel tiefenpsychologischer Diagnostik 
eingehend verwiesen. Durch diese und andere tiefenpsychologische Versuche 
wurden hei verschiedenen Konstitutionstypen folgende Grundhaltungen experi¬ 
mentell diagnostiziert: „Die affektive Ansprechbarkeit oder Irritierbarkeit auf 
ganz bestimmte äußere Reize körperlicher wie seelischer Natur, die Denk-, 
Auffassungs- und Verarbeitungsarten, theoretische oder praktische Arbeitsweisen, 
Arbeitstempo, geistige und motorische Umsteilbarkeit oder Beharrlichkeit, Ein- 
und Unterordnungsfähigkeit, Eigenarten der Körperbewegungen und Hand¬ 
fertigkeiten sowie ihrer verwandten Funktionen.“ 

Erismann nimmt Stellung zu den psychologischen Problemen im Fall 
Halsmann, der in der psychoanalytischen Literatur durch Freud und Fromm 
behandelt wurde. Der Autor lehnt — auch auf Grund seiner Versuche am 
Tatort die Annahme ab, daß Philipp Halsmann der Mörder seines Vaters sei. 

Iwai und Volk eit stellen in ihrer Arbeit über den Umgang des Kindes 
mit verschieden geformten Körpern im neunten bis zwölften Lebensmonat fest, 
daß der Ring der am meisten bevorzugte, der Würfel der am wenigsten be¬ 
vorzugte Gegenstand des Kindes sei. Daneben wird auch die Schale verhältnis¬ 
mäßig stark beachtet. 

Schmeing verweist unter anderem auf Arbeiten von Freud und Bernfeld 
über Pubertätsperioden. Er nimmt neben der Kindheitspubertät (um das vierte 
Lebensjahr) und der Jugendpubertät eine dritte Reifungsstufe (Erwachsenen¬ 
pubertät) im Anfang der Zwanzigerjahre an. — Über den Vortrag von Felix 
Krueger, der auch als Sonderabdruck erschienen ist, wird gesondert berichtet. 
Kurze Referate über die Aufgaben einzelner Fachgruppen beschließen den Band. 
Sie fordern, daß für den Psychologieunterricht in der neuen Lehrerbildung 
die Methoden und Ergebnisse der Selbst- und der Fremdbeobachtung vermittelt 
werden und in der forensischen Psychologie die bestehenden Möglichkeiten 
und Notwendigkeiten für das Wiederaufnahmeverfahren in ähnlichen Fällen wie 
im Prozesse Halsmann bearbeitet werden. Um diese Aufgaben zu lösen, ist aber 
die Heranziehung der Psychoanalyse notwendig. H. Meng (Frankfurt a. M.) 




































Besprechungen 


i35 


Dorer, M.r Hiotoriretr GrurrJl.gen J«r P,yclo.n,ly.« 
Leipzig» Felix Meiner, 1932. 184 Seiten. 


Die historischen Grundlagen der Psychoanalyse aufzuzeigen ist eine Aufgae, 
die — voll ausgeschöpft — die Problemgeschichte der Psychologie und Ph.0- 
•ophie überschreiten müßte. Verfasserin schränkt ihre Arbeit bewußt aut den 
psychologisch-philosophischen Untergrund der Psychoanalyse em und läßt somit 
eine Reihe von medizinhistorischen (aber auch von soziologischen und anderen; 
Fragen außer Betracht, die für eine Geschichte des psychoanalytischen Gedanken- 
B-lang sein könnten. Trotz dieser Einschränkung — die übrigens 
schon durch den Fortfall des bestimmten Artikels im Titel des Buches ange¬ 
deutet scheint — verdient die Arbeit als erste umfassende und ernste Spezial- 
n nichtanalytischer Seite zu diesem Thema vorliegt, unser 
volles Interesse. Ais Anfangspunkt für die Untersuchung der historischen Gründ¬ 
ern nimmt die Autorin das Begriffsgerüst der Freudschen Psychologie; sie 
fU .]lt I reuds Auffassung vom „Mechanismus des psychischen Apparates m den 
Vordergrund (unter vornehmlicher Berücksichtigung der früheren Schriften). Im 
einzelnen werden Freuds Eintreten für den psychophysischen Parallelismus, seine 
Fortbildung ih r Aphasielehre, sein Verhältnis zum Sensualismus, zur Assoziations- 
theorit*. zur Frage der Quantifizierbarkeit im Seelischen, seine Auffassung des 
Mechanismusbegriffes und des Unbewußten, schließlich die Beziehungen analyti¬ 
scher Grundbegriffe zum Reflexschema und überhaupt zur Physiologie geschickt 
und — soweit ein Querschnitt durch Freuds frühere Werke gemeint ist — auch 
zutreffend skizziert; die (anhangsweise) Darstellung der späteren Funde und Ge¬ 
danken Freuds ist freilich allzu dürftig ausgefallen. Nach einer kurzen Charakte¬ 
ristik der Persönlichkeit Freuds (die sich im wesentlichen auf seine Selbst¬ 
zeugnisse stützt) geht dann Verfasserin auf Grund jener Skizze des analytischen 
Begriffsgerüstes den Einflüssen und Anregungen nach, welche die Psychoanalyse 
aufgenommen und verarbeitet hat. Aus der Einstellung Freuds zu Philosophie 
und Psychologie entnimmt die Autorin, daß von einem direkten umfassenden 
Einfluß von Psychologen oder Philosophen auf ihn nicht gesprochen werden 
kann (vielleicht mit einziger Ausnahme von Fechner). Dennoch ergibt eine 
vergleichende Untersuchung weitgehende (und nicht nur äußerliche) Überein¬ 
stimmungen mit bestimmten psychologischen Theorien; zunächst mit Herbart 
(und Fechner). Der nun folgende, sachliche und gründliche Beitrag zur ver¬ 
gleichenden Psychologiegeschichte macht wohl den wertvollsten Abschnitt des 
Buches aus; sein Inhalt kann hier natürlich nur andeutend wiedergegeben werden. 
Theoretische Übereinstimmungen zwischen Herbart und Freud sieht die Autorin 
zunächst in beider Intention auf naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit und in 
der Betonung des quantitativen Moments. Beide Theorien sind einerseits „mecha¬ 
nistisch , anderseits „individualistisch**; beide können als „Energetismus“ und 
„Dynamismus“ bezeichnet werden. „Die Grundkonzeption des ,psychischen Mecha¬ 
nismus , der nach Art physikalischer Gebilde gebauten ,Maschine* beziehungs¬ 
weise des ,Apparates*, dessen einzelne Glieder als selbständige ,Kräfte* ihre ,Energie* 
allmählich ,aufarbeiten*, ist demnach bei Herbart und Freud dieselbe.** Der wesent- 













136 


Besprechungen 


lichste Unterschied ergibt sich in der Auffassung beider über das Verhältnis von 
Affekt und Vorstellung: „Herbarts Psychologie ist nur VorsteUungsdynamik: Freuds 
Psychologie entwickelt sich aus einer Vorstellungs- zu einer Affektdynamik.“ Das 
zweite psychologische System, mit welchem Dorer die Lehre Freuds kon¬ 
frontiert, ist dasjenige G. Th. Fechners; hier hat ja bekanntlich Freud selbst 
schon verwandte Gedankengänge gefunden. 

Um den konkreten historischen Wegen nachzuspüren, die von jenen beiden 
Systemen der Psychologie zu Freud hinüberleiten, gibt Verfasserin eine kurze 
Übersicht über die wissenschaftliche Umwelt, in der die Psychoanalyse erwachsen 
ist. Es wird die bedeutende Rolle aufgezeigt, die Herbarts Lehre gerade an 
der Wiener Universität (und darüber hinaus im österreichischen Bildungswesen 
überhaupt) gespielt hat. Aus dem Kreis der Lehrer und Freunde Freuds werden 
Brücke, Breuer, Fleischl und insbesondere Meynert hervorgehoben und in 
ihrer wissenschaftlichen Stellung Umrissen. Meynerts Gehimmechanik aber weist 
in ihren psychologischen Grundlagen unmittelbar auf die Psychologie Herbarts 
und die Psychophysik Fechners zurück. 

In Meynerts Lehre findet nun Dorer die nächsten, unmittelbar wirk¬ 
samen Einflüsse, die für die Entwicklung der Freudschen Gedanken von 
Belang gewesen sind; wie in Herbart und Fechner die „historisch früheren 
Schichten . An einer Reihe von Beispielen wird die Parallelisierung Freud¬ 
scher und Meynertscher Begriffe durchgeführt. Daß manche Begriffsbildungen 
verwandte Merkmale erkennen lassen, ist in der Tat unbestreitbar und offen¬ 
sichtlich; doch möchte Referent diesen Analogien keine so zentrale Bedeutung 
für die Psychoanalyse einräumen, wie es die Autorin tut. Etwas von dieser 
wissenschaftlichen Ahnenreihe ist sicherlich in die Form des Freudschen Denkens 
übergegangen — aber im einzelnen klingen alle diese analogen Bildungen bei 
Freud doch ganz anders als bei Meynert und die Übereinstimmungen im Begriff¬ 
lichen und gelegentlich auch im sprachlichen Ausdruck dürfen nicht darüber 
täuschen, daß ihr wissenschaftlicher Stellenwert da und dort ein verschiedener ist. 

Mit der allzu betonten Herausarbeitung dieser einen Ahnenreihe der Psycho- 
analyse hängt es auch zusammen, daß in der Darstellung der Verfasserin andere 
historische Linien entschieden zu kurz kommen; so die Bedeutung Charcots — 
vor allem aber die ideengeschichtlich sehr interessanten Beziehungen zu Nietzsche 
und Schopenhauer und zur deutschen Romantik. Freilich, sofern die Autorin 
sich auf ihr Programm beschränkt, nicht mögliche geschichtliche Zusammen¬ 
hänge, sondern nur konkret nachweisbare Einflüsse herauszustellen, dürfen wir 
ihr aus dieser Unterlassung kaum einen Vorwurf machen; trotz allen weit¬ 
gehenden inhaltlichen Übereinstimmungen, vor allem mit Gedanken Nietzsches, 
liegt hier — wie Freud selbst gelegentlich erklärt hat — ein direkter Ein¬ 
fluß nicht vor. Da aber Dorer zum Schluß eine Kritik der Psychoanalyse auf 
deren Stellung in der Geschichte der Psychologie aufbauen will, hätte sie — 
selbst zugegeben, daß ein solches Verfahren gegenüber der Psychoanaly se uns 
mehr als nur partielle Einsichten eröffnen könnte — jene anderen Elemente 
des Freudschen Gedankenbaues nicht vernachlässigen dürfen, die in der Reihe 
Herbart-Fechner-Meynert keine Entsprechung haben. 





































Diese Kritik nun erscheint als eine Art Draufgabe (sie umfaßt 5 Seiten von 4), 
,r„. ,.u.vh .las ««entliehe Thema des Buches nicht gefordert ist. Sie achtet sich 
rster Linie gegen Freuds Darstellung des Seelischen als Mechanismus oder 
Apparat: »es gibt darüber hinaus noch Seelisches, es gibt Geistiges, eson er 
ungesunden Menschen, das nicht ,mechanisch* funktioniert, das nicht ,Appara 
Seelisch-Geistige kann die Psychoanalyse nicht fassen; es entzieh sic 
ihren .wenigen psychologischen Formeln*.“ Und: es kann „auch nie it angenommen 
werden, daß die Energietransformationen im Innern des mit der Umwelt korre¬ 
spondierenden psychophysischen Apparates das Letzte seien, von dem die Psycho- 
logic habe. Damit ist aber implicite eine prinzipielle Kritik der 

Affekttheorie überhaupt wie von hier aus auch wichtiger 
robleme choanalyse gegeben“. Wir wollen uns jedoch an dieser 

kritis 1 en Anmerkungen der Verfasserin, die zum Teil offen ar 
rin Mißverstehen der analytischen Grundpositionen zur Voraussetzung haben, 
lersetzen, möchten vielmehr zum Schluß das Buch, weil es eine 
Fülle ehrlicher positiver Arbeit enthält, und weil es eine erste und weitgehend 
gegluckte Antwort auf Fragen gibt, die affe Analytiker interessieren, ausdrücklich 
rur Lektüre empfehlen. H. Hartmann (Wien) 


Herbert, 5 .; Tlie Unconscious in Life and Art. London, Allen & 

Unwin, 1932. 

Herbert gibt eine populäre Darstellung einiger Anwendungen psychoanaly¬ 
tischer Erkenntnisse auf Fragen der menschlichen Kultur. Die Darstellung bleibt, 
teils infolge des Bestrebens zur Popularität, teils infolge der Eigenart des Autors 
überhaupt, bedauerlich oberflächlich. Was über die Psychoanalyse ausgesagt 
wird, ist zwar durchwegs richtig und zeugt von der Belesenheit des Autors, 
bleibt aber trotz des ehrlichen Enthusiasmus Herberts für die „neue Psycho¬ 
logie reichlich unzulänglich und naiv. (So unterscheidet er unter anderem nicht 
genügend zwischen der von der Psychoanalyse in den Äußerungen des Unbewußten 
aufgedeckten „Symbolik“ und dem, was man sonst unter diesem Wort verstand, 
/. B. dem „symbolischen“ Gehalt eines musikalischen Themas.) Die Jungsche 
Unterscheidung von extro- und introvertierten Menschen wird den Ergebnissen 
der Psychoanalyse zugerechnet und als Schlüssel zum Verständnis von Kunst- 
und Kulturgeschichte hingestellt. In moralischer Hinsicht werden liberale Ideale 
verfochten, in soziologischer denkt der Autor extrem psychologistisch, und zwar 
etwa so: „Liebe ist gegenüber dem Haß sekundär und kann ihn nur nach 
einer langen Periode der Gewöhnung an Fremde übertreffen. Das kann uns 
das merkwürdige Paradoxon erklären, daß, während jedermann vom Frieden 
redet, die Völker sich für den Krieg rüsten.“ Oder: „Es ist die Vernachlässigung 
der aufs höchste spezialisierten sexuellen Funktionen, was zu den Eheschwierig- 
koiten der Gegenwart geführt hat.“ 


O. Fenidiel (Berlin) 












i38 


Kotier, Ridiard: Der W eg des Menscten vom Linlts- zum Rectts- 
tander. Ein Beitrag zur Vor- und Kulturgesctidite des Menscten. 
Wien, Moritz Perles, ig 3 a. IX u. i^a »Seiten. 

Der Autor macht in der vorliegenden Schrift den Versuch, die Geschichte 
des Funktionswechsels und -wandeis der Hände als ein wesentliches Moment 
der Gestaltung der menschlichen Kultur darzustellen. Die Auffassung einer 
ursprünglichen Gleichwertigkeit der beiden Hände sowohl als auch die Er¬ 
gebnisse der biologisch-physiologischen Forschungen über die Ursachen der 
Rechtshändigkeit lehnt er ab und stellt die These auf, daß die Überwertigkeit 
einer Hand vor der anderen ein Urgut des Menschen bilde. Er nimmt es auf 
Grund von Befunden an steinzeitlichen Werkzeugen als erwiesen an, daß in 
der Urzeit des Menschen die Linkshändigkeit vorgeherrscht habe, die dann 
durch das Aufkommen des Waffengebrauches von der Rechtshändigkeit ab¬ 
gelöst worden sei. Dann werden in Verwertung der Forschungen von Fließ 
die Beziehungen der Linkshändigkeit zur Bisexualität und zum Künstlertum 
erörtert und schließlich an der Entwicklungsgeschichte der Kulte gezeigt, wie 
die linke Seite einen Bedeutungswandel vom Guten zum Bösen erfahren habe. 
Die Bemühungen um das hochbedeutsame Problem der Rechts- und Links¬ 
händigkeit haben mit dieser Schrift einen Beitrag in Gestalt einer Hypothese 
erhalten, die Interesse verdient. o. hakower (Wien) 

Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. Leipzig, Alfred Kröner, 
193a. 186 iSeiten. 

Das klassische Werk zur Massenpsychologie liegt hier in einer sauberen und 
wohlfeilen (fünften) deutschen Auflage vor, die auf der alten Eislerschen Über¬ 
setzung beruht, deren zahlreiche stilistische Fehler und Unkorrektheiten jedoch 
glücklicherweise ausgemerzt hat. Dem Buch ist die Übersetzung des Vorworts 
zur achtunddreißigsten französischen Auflage vorausgeschickt, das der Autor 
kurz vor seinem Tode im Jahre 1931 geschrieben hat. Die Einführung von 
Moede weist auf die Bedeutung des Werkes für die praktische Psychologie, 
insbesondere für die moderne Psychotechnik hin, vergißt aber leider zu er¬ 
wähnen, welch wesentlichen Anteil an der Fortbildung und Verbreitung der 
Le Bonschen Gedankengänge Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ 
gehabt hat. ]■'. Schottlaender (Stuttgart) 

Liclit, Hans. »Sexual Life in Ancient Greece. London, George 
Routledge & »Sons, Ltd. »Seiten. 

Dieses glänzend geschriebene Buch enthält eine leicht zugängliche Zusammen¬ 
stellung all dessen, was Über das Sexualleben der alten Griechen bekannt ist. 
Es ist, vielleicht zu seinem Schaden, in zwei Hauptabschnitte unterteilt, von 
denen der erste es mit der Erotik im allgemeinen zu tun hat, und unter 
anderem die Themen: Ehe, das Leben der Frauen, das Verhältnis zum Körper 

































. -h mdelt während der zweite das Sexualleben in einem engeren Sinne des 
Wortes betrifft. Das Buch bespricht ausführlich die versch^denen Perversmnen 
und stellt natürlich mit besonderer Genauigkeit die eigenartig , . ’ flpr 

der die Homosexualität in Griechenland verbreitet war. Von ihr 
Verfasser mit Recht, daß sie keinesfalls ausschließlich grob-sexuellen Impulsen 
rang, sondern daß sie auch ein Mittel war, gewisse, den Griechen teuere 
Ideale zu verwirklichen, insbesondere das einer kameradschaftlichen Bindung 
zwischen den Männern. Das Material, das er hiefür beibringt, wird gewiU 
vor allem die Analytiker interessieren und sie anregen, es vom Standpunkt 
rer gegenwärtigen Auffassung vom Ursprung der sexuellen Inversion zu 
betracht.•». Di r Verfasser hat aus den ursprünglichen Quellen geschöpft und 
bl Im »deren Kapiteln die betreffende Literatur besprochen. Das Buch ist mit 
\ ausgestattet. ^ (-^ on on ) 


Roggc, Christian: Der Notstand der Iieutigen SpracWissenschaft. 

Eine’ Einführung in die Psydiologie des spradisdiaflenden Mensdien. 

München, Max Hueher Verlag, 1929. 224 iSeiten. 

Kogges Schrift unternimmt eine umfassende Kritik an der modernen Sprach¬ 
forschung. Sie ist einer jener Aufrufe zur Revision überlebter Begriffe, wie sie 
in unserer Zeit auf allen Arbeitsgebieten auftauchen, und basiert auf Er¬ 
kenntnissen, die dem Fachmann ein Staunen, dem Psychoanalytiker größtes 
Interesse abnötigen müssen. 

In der modernen Linguistik herrscht offiziell eine grundsätzlich mechanistische, 
materialistische Auffassung des sprachlichen Geschehens. Sie hat sich aus dem 
Historismus mit seinem Post hoc, propter hoc zur seelenlosen Lautphysiologie 
verfeinert, die einen (gut darwinistisch gemeinten) Daseinskampf der Laute 
untereinander mit immer raffinierteren Methoden beobachtet. Ein j hatte 
einmal die Fähigkeit, den allmählichen Übergang des voraufgehenden Vokals 
in den Umlaut zu bewirken, gewisse konsonantische Elemente, die dazwischen 
standen, vermochten diesen Übergang zu verhindern. Ein System unzähliger 
solcher „Lautgesetze“ ergibt insgesamt die Richtung, in der die Sprachentwicklung 
ohne Zutun des Menschen abläuft. Rogge sieht in ihm nur den Apparat von 
Hebeln und Schrauben, der die Beschreibung der Vorgänge für ihre Erklärung 
ausgibt, eine Mythologie, die dem Bewegten die Ursache der Bewegung zu¬ 
schreibt. Die Allmählichkeit der Übergänge ist ihm bloß ein anderer Name 
für ihre faktische UnVorstellbarkeit, das Operieren mit astronomisch aufge¬ 
blähten Zeiträumen ein Entweichen ins Unerreichbare, wo doch Sprache, als 
stets lebendige Gegenwart, vom Nächsten her sollte erklärt werden können. 

Was ist dieses nächstliegende Objekt der Sprachforschung? Der sprechende 
Mensch. Sprache ist kein Werk (keine Materie), sondern eine Tätigkeit. Dieser 
geniale Satz Wilhelm von Humboldts ist Rogges Ausgangspunkt. Einzig der 
biologische Habitus des Menschen und seine jeweiligen kulturgeschichtlichen 
Erlebnisse können das Sprachgeschehen erklären. Der Anstoß zum Wandel 









l^o 


Besprechungen 


ist immer nur psychologisch, erst die Auswirkung ist physiologisch faßbar. 
Nicht in den Lauten, im Menschen liegt das Dasein der Sprache. Der Sprache 
selber wohnen keine Gesetze inne, ihre vermeintliche Auswirkung ist nur 
Reflex des menschlichen Erlebens. Von Zeit zu Zeit erlebt der Mensch die 
Welt der Dinge neu, und daraufhin verändern sich auch die zugehörigen 
Worte. Wenn der Sinn eines Wortes andern Assoziationen ruft, schließt sich 
eine Lautveränderung an, die von dem neu assoziierten Begriff, d. h. einem 
unbewußt anklingenden Wort, bestimmt sein wird. Aller Lautwandel, aller 
Formwandel, schlechthin alles sprachliche Leben (also auch Wortbildung, Wort¬ 
zusammensetzung und -ableitung, Flexion usw.) ist Bedeutungswandel, ist Ver¬ 
schmelzung sinnhaft sich nähernder Worte. Das Gesetz, nach dem sie sich voll¬ 
zieht, ist die Angleichung, die Analogie. Wenn sich sunne und mäne in Sonne 
und Mond verändern, so haben hier nicht Laute ihre Kraft geltend gemacht, 
sondern die beiden Wörter haben sich gegenseitig — sprunghaft — ange 
glichen, weil sie in einem bestimmten Zeitpunkt sachlich äs Paar erlebt 
wurden. Der sein Sprechen ändernde Mensch verfährt überdies niemals logisch, 
sondern unbewußt. Die Grammatik unterschiebt ihm eine Zielstrebigkeit und 
Abhängigkeit vom „Paradigma“, die ihm völlig fremd ist. Woher kommt es 
denn, daß sinngleiche Wörter so häufig ähnliche Lautgestalt zeigen? Warum 
steht zupfen neben rupfen? Weil zupfen aus einer assoziativen Verschmelzung 
von ziehen und rupfen hervorgegangen ist, ebenso etwa schwanken aus der 
von schweben und wanken. Die sachlichen Anlässe dieses assoziativen Spiels 
kann nur die Kulturgeschichte aufdecken, die Formen, in denen es sich voll¬ 
zieht, nur die Psychologie. Sprachwandel ist Wandel des Denkens. Sprach¬ 
forschung ist psychologisch fundierte Geistesgeschichte. 

Es verrät ein unerschöpfliches psychologisches Feingefühl, wie Rogge diesen 
Gedanken durch alle Kategorien der historischen Grammatik abwandelt und 
dabei häufig die Gebräuche der lebenden Alltagssprache heranzieht. Ich habe 
nie ein geistvolleres linguistisches Buch gelesen. Seine Gesichtspunkte — sie 
sind nur im Allerwichtigsten angedeutet worden —, sind, so sicher sie die 
offene Ketzerei darstellen, nicht durchaus neu. Rogge setzt sich eingehend mit 
so bedeutenden Philologen wie Schuchhardt, Noreen, Vossler auseinander, mit 
denen er sich vielfach berührt. Indem er die Angleichung zum Grundcharakter 
des Sprachlebens erhebt, verbindlich für die Urzeit wie für die kontrollier¬ 
baren Geschichtsepochen, gelangt er zu einer radikalen, umfassenden Um¬ 
stellung. Lautgesetze sinken zur glücklichen Statistik gleichartiger Fälle von 
unbewußter Analogie herab, die der psychologischen Durchleuchtung erst noch 
bedürfen. Eine Unmenge von Beispielen und glänzenden Apercus belegt, daß 
auch die Veränderung des Akzents, der Eigennamen oder etwa die Einführung 
der Zeitformen in der Konjugation auf solcher Angleichung beruhen könnten. 
Der geltende Begriff der Flexion, die Einteilung der Wortklassen fallen vor 
dieser Betrachtungsweise dahin. 

Rogg e verteidigt, wohl mit Recht, nicht jede seiner kühnen Kombinationen, 
wohl aber das Prinzip. Wenn es richtig ist, dann schließt sich die Sprach¬ 
forschung als eine unabsehbare Domäne jenen Erscheinungen an, die Freud 


































7Ul . rst in der „Psychopathologie des Alltagslebens“ untersucht hat. Das Material, 
Zs Jogge aus der indogermanischen Grammatik vorlegt, yord zur großartigen, 
weltgeschichtlichen IUustration der dort umschriebenen Psychologie und 
Sprachforschung zu ihrem legitimen Arbeitsgebiet. 






Schmitz. Oskar A. H.: Märchen aus dem Unkewußten. Mit 

einem Vorwort von C. G. Jung. München, Carl Hanser Verlag, i 9 3 a. 

221 Seiten. 

„Nach der Jungschen Lehre ist das persönliche Unbewußte des Menschen, 
das Freud zuerst erforscht hat, in ein viel tieferes kollektives Unbewußtes ein- 
oet.nicht und gehört zu ihm, so wie unsere bewußte Person ein Teil der äußeren 
Kollektivität ist“, heißt es im Vorwort zu einem der drei Märchen. In den 
leihst ▼ersucht der kürzlich verstorbene Autor etwas wie einen gefuhls- 
gen Beweis für die Existenz dieses kollektiven Unbewußten, wie Jung es 
h hrt. Er beruft sich auf die Wirkung des Beginnes eines der Märchen auf 
literarisch erfahrene Personen. Seine Sekretärin z. B. habe danach die Nacht 
schlecht geschlafen vor Unruhe, wie die Geschichte weiterginge. Und daß das 
Märchen so wirke, ohne verstanden worden zu sein — es stammt aus Einfällen, die 
wie frei dem absichtslos sich ihnen hingebenden Autor kamen, durfte also auf 
Verständnis nicht gefaßt sein —, daß es also so wirkte, lasse sich uns dadurch 
erklären, „daß hier Vorgänge des kollektiven Unbewußten so weit ins Helle 
oder wenigstens in die Dämmerung gerückt wurden, daß darin allgemeine, 
viele angehende und von manchen schon geahnte un- und vorbewußte Zeit¬ 
probleme berührt worden sind“. Aber die Wirkung — sie war auf den Referenten 
nicht sehr stark und hat seinen Schlaf nicht zu stören vermocht — bedarf zu 
ihrer Erklärung nicht eines kollektiven Unbewußten. Es genügt, Freuds Aufsatz 
über „Das Unheimliche“ zu kennen und man weiß, woher sie kommt. Die 
Märchen strotzen von Sexual-, besonders Kastrationssymbolen. Das Großteil der 
unheimlichen Wirkung ist ihrer Verwendung unter animistischen Bedingungen 
zuzuschreiben. C. G. Jung versucht in seinem Vorwort zu dem Büchlein, vor¬ 
sichtig im Urteil über seinen literarischen Gehalt, eine Deutung des ersten 
Märchens als eines rührenden und bescheidenen Ausdrucks einer alles ergreifenden 
und verwandelnden Initiation. Man kann leicht finden, daß dies der ober¬ 
flächlichste Gehalt des Märchens ist, prospektiv gedeutet und anagogisch hervor¬ 
gehoben. Sein weit stärkerer Erlebnisgehalt liegt in der tragischen Entthronung 
des Vaters in Gestalt eines Königs, dem die drei letzten Fische entschwimmen 
und dessen Thron ein Fischotter einnimmt, durch einen langen, auffälligen 
Schwanz nach einer beigegebenen Zeichnung Kubins gekennzeichnet. — Der 
literarische Wert der Produktionen leidet durch den Versuch, das kollektive 
Unbewußte deutlich werden zu lassen. Man merkt diese Absicht und sie ver¬ 
schüttet durch ihre Gewaltsamkeit an vielen Stellen die Wirkung, die unter 
einfacherer Klarheit möglich gewesen wäre. 


R. Sterba (Wien) 
















1 4 * 


Besprechungen 


iSiekert, Karl: Fehlleistung und Traum. (Neue Wege wissenschaft¬ 
licher Traumdeutung.) Wien u. Leipzig, W. Braumüller, ig3a. VIII u. 
179 /Seiten. 

Hier wird wieder einmal dem Unbewußten die Sinnhaltigkeit abgesprochen: 
Man „beweist“, Unbewußtes sei lediglich „undiszipliniert“, indem man das 
Entstehen von Fehlleistungen und Träumen — aus den Unvollkommenheiten 
der psychischen Funktionen (mangelnde Aufmerksamkeit, Unklarheit der Willens¬ 
entschlüsse, Ausschaltung der Urteilsfähigkeit usw.) ableitet. Warum der Autor 
nicht merkt, daß er die Armut mit der Pauvrete erklärt und sich damit in 
grotesker Weise um das eigentliche Problem herumdrückt, verrät er uns sehr 
hübsch in einer seiner „Traumanalysen“ : 

„Ich befinde mich in einem Universitätshörsaal in München und habe den 
Eindruck der Vorlesung eines mir bekannten Professors, des Saales und der Studenten, 
so zuie ihn mir damals alltäglich die Wirklichkeit bot . Plötzlich höre ich einige 
Studenten vor der Tür pfeifen. Ich gehe darauf zur Türe und schließe sie . Ich 
bemerke hier, daß diesem Traum kein wirkliches Erlebnis entsprach. Das 
einzige von wirklichen Erlebnissen, woran bei diesem Traum zu denken war, 
war eine Bemerkung Freuds, die ich in seinen „Vorlesungen zur Einführung 
in die Psychoanalyse gelesen hatte. Er verglich dort störende Studenten vor 
dem Hörsaal mit den andrängenden Komplexen. Wie der gewöhnliche Mensch 
andrängende Komplexe einfach verdrängt, so würde auch der Naive die Türe 
vor den lärmenden Studenten zusperren, ohne davon einen Erfolg zu haben, 
statt hinauszugehen und mit ihnen zu verhandeln . . .“ G. Bai ly (Zürich) 

Velikovsky, Immanuel: Uter die Energetik der Psycke und die 
pkysikaliscke Existenz der Gedankenwelt. JMit Geleitwort von 
E. Bleuler. Bd. i 33 , Heft 3 und 4 der .Zscfir. f. d. ges. Fleurologie u. 
Psydiiatrie. Berlin ig 3 i. 

Eine weltanschauliche Betrachtung, die die parapsychischen Phänomen mit 
Hilfe des Energiebegriffes unserem Verständnisse näherbringen will. Der Ver¬ 
fasser betont die gemeinsame physikalische Natur der Gedanken als Energie 
und der Körper als materialisierte Energie. Die Telepathie hält er für experi¬ 
mentell bewiesen und versucht, durch sie auch die Erscheinungen des physika¬ 
lischen Mediumismus zu erklären. Die Psychoanalyse wird nicht erwähnt, wenn 
auch vom „Unterbewußtsein die Rede ist. Manche Gedankengänge des Autors 
berühren sich mit Annahmen der Tiefenpsychologie. A. Winterstein (Wien) 

Vergin, Fedor: Das unt ewu^te Europa. Psychoanalyse der europäischen 
Politik. V^ien u. Leipzig, Hei} & Co. Verlag, 1931 . 3 f 3 /Seiten. 

Der Verfasser behandelt eines der interessantesten und aktuellsten Themen 
analytischer Sozialpsychologie. Die neugierige Erwartung des Lesers wird noch 
erhöht, wenn er außer vom Titel auch noch vom Inhaltsverzeichnis Kenntnis 









































Besprechungen 


43 


nimmt . Militarismus, Monarchismus, religiöse Politik, Parlamentarismus, deutscher 
V or „„d Xachkriegsnationalismus, Nationalismus anderer Volker, Zionismus, 
Faneuropa, Bolschewismus, Sozialismus sollen auf ihre verborgenen psychisc en 
■ünde hin untersucht werden. Die Analyse Mussolinis, Poincares, Mac- 
tl imIiF. Masaryks und noch eine Reihe anderer Politiker wird uns versprochen 
und in einem Schlußkapitel „Prognose und Therapie“ soll ein Ausweg aus 
allen politischen Schwierigkeiten gezeigt werden. 

Wie geht der Verfasser vor? Er beginnt mit einer ganz richtigen Feststellung. 
„Da die Politik sich mit Menschen beschäftigt, ist es wichtig, in Erwägung zu 
lifthtm. inwieweit die Psyche des Menschen in der Politik entscheidend wirkt 
Anschließend an diesen Satz überrascht er uns mit einer fulminanten 
taDnog: „Pur die Politik ist fast alles aus den Lehren der Psychoanalyse 
bcde hl wissenschaftlich, also theoretisch, als auch praktisch wird 

die Politik gänzlich umlernen müssen, sowie die Psychoanalyse in die politische 
Betrachtungsweise Einsang gefunden hat. Dies ist in diesem Buch auf verkürzter 
Basis geschehen“ (S. 12). Und weiter: „Seele, im Sinne der Psychoanalyse, 
bedeutet die Summe der Kräfte, die den lebenden Zellen des menschlichen 
(Jesamtorganismus entstammen und die sich durch Symptome allein kundgeben" (!) 
S. 1 -j . Nachdem noch einige mit ähnlichem psychologischen Tiefsinn angefüllte 
Seiten folgen, kommt der Autor zu einem Versuch, etwas über die Methode 
seiner Untersuchung zu sagen. Er unterscheidet „äußere Einflüsse und Bedin¬ 
gungen“, die „durch die Wirtschaftsform für jeden und alle gegeben sind“ und 
andrerseits die ebenso „hart fixierte und gesetzmäßig gegebene“ psychische Ein¬ 
stellung. Der Verfasser erhebt die Forderung, daß „die politischen Erscheinungen 
in ihren übertriebenen Symptomen als seelisch krankhaft erkannt und anerkannt 
werden. Weiters müßte das politische Leben von seelisch Todkranken, wie 
von körperlich Schwerkranken befreit werden“ (S. 17). V. kommt dann kurz 
auf die Rolle wirtschaftlicher Faktoren zu sprechen. Er sagt: „Von Wichtig¬ 
keit bei dieser Beurteilung sind allerdings alle rein materiellen, rein wirtschaft¬ 
lichen Ursachen. Diese wurden, wenn auch vielfach stillschweigend, in Rechnung 
gestellt“ (S. 17). V. verrät uns dann weiter, was er sich unter den „wirtschaft¬ 
lichen Ursachen“ vorstellt. Er versteht darunter die „Propaganda des Geldes“, 
die Finanzierung der Politik durch das internationale Kapital, und die einzige 
Quelle, die er für die Frage der wirtschaftlichen Ursachen der Politik angibt, 
ist das Buch von Lewinsohn-Morus. Auf den nächsten Seiten seiner Einleitung 
spricht V. von den Idealen, hinter denen die Kraft des Triebes stehe und die 
daher zu gefährlichen, meist todbringenden Waffen werden. Weiter über Massen¬ 
wahn und über Rechtsgefühl. Soweit in diesen Bemerkungen über Rechtsgefühl 
Richtiges enthalten ist, ist es schon in der Arbeit von Alexander und Staub 
über den Verbrecher und seine Richter zu lesen. 

Durch diese Einleitung vorbereitet, kann der Leser durch das nun Folgende 
kaum noch sehr erschreckt werden. Da es nicht möglich ist, zusammenhängend 
den Inhalt anzugeben, begnügen wir uns damit, aus einigen Kapiteln heraus¬ 
gegriffene Stellen zu zitieren, ziemlich gleich aus welchen, man trifft überall 
auf die gleiche Methode und das gleiche Niveau. Hatten wir bisher gedacht, 











*44 


Besprechungen 


Manöver dienten dem Zweck der militärischen Ausbildung der Truppe, so 
belehrt uns V. auf Seite 32, daß ihre Zwecke magische Amtshandlungen seien. 

Über seine Meinung von den in der Politik wirksamen Kräften gibt der 
Verfasser folgende Auskunft: „Seine (Mussolinis) Symptome sind von schicksals¬ 
schwerer Bedeutung für das Leben und Wohlergehen von Millionen Europäern. 
Bricht durch einen verhältnismäßig winzigen Umstand bei Mussolini eine neue 
Phase seiner Neurose aus, so ist der Friede gefährdet . . .“ (S. 180). Es wundert 
uns auch nicht, wenn erklärt wird: „Der Nachahmungstrieb bewirkte eine 
faszistische Welle über halb Europa“ (S. 191). Selbstverständlich erfahren wir 
auch über den Bolschewismus ganz überraschende Dinge. Er ist „der moderne 
Ersatz für die magische Kultform der alten Aramäer“. 

Verfasser schließt mit einem „Vermächtnis w an „die künftigen Erforscher 
der europäischen Wüste“. „So Ihr in einigen Jahrzehnten die europäische Wüste 
durchforscht, nachdem die Giftgase des letzten Krieges sich zersetzt haben, und 
findet dies Büchlein, wisset, daß die Europäer sich selbst zugrunde gerichtet 
haben, daß sie sich mit allen Mitteln der Wissenschaft einfach, praktisch und 
realistisch gegenseitig ausgerottet haben“ (S. 342). Referent fürchtet, daß, wenn 
dieses Büchlein auf den Trümmern gefunden werden sollte, jene Gelehrten 
tatsächlich keine große Meinung von den „Mitteln der Wissenschaft“ bekommen 
werden. 

Aber warum von diesem Buch überhaupt so ausführlich Notiz nehmen? 
Zunächst einmal, weil es nötig ist, klar und deutlich zu erklären, daß es sich 
hier nicht um das Werk eines Psychoanalytikers handelt, und zu verhindern, 
daß die Psychoanalyse mit diesen „Theorien" belastet werde, sodann auch, 
weil das Verginsche Buch uns sehr geeignet scheint, als Paradigma einer sozial¬ 
psychologischen Methode, wie sie nicht sein darf, zu dienen. Hätte V. die Ab¬ 
sicht gehabt, eine stark übertreibende und vergröbernde Parodie jener psycho¬ 
logischen Soziologie zu schreiben, wie sie auch von manchen analytischen 
Autoren verwendet wird, die Absicht wäre ihm geglückt. Er zeigt bis zum 
Extrem, wohin es führt, wenn man sozialpsychologische Erscheinungen nicht 
mehr, wie dies der klassischen Methode der Freudschen Personalpsychologie 
entspricht, aus der Einwirkung der Lebensbedingungen, d. h. aber bei der 
Gesellschaft der sozialökonomischen Situation, auf die mitgebrachte Triebstruktur 
erklärt, sondern wenn man durch wilde Analogien zwischen sozialpsychischen 
und personalpsychischen Tatbeständen scheinbar analysiert, aber den Boden 
völlig unter den Füßen verliert und sich auf einem Niveau bewegt, welches 
etwa dem vergleichbar ist, wo Träume als Gesellschaftsspiel, ohne jede weitere 
Kenntnis des Träumers oder auch nur seiner Einfälle „analysiert“ werden. 

Sein negativer didaktischer Wert mag dem Buch also als Verdienst angerechnet 
werden, wenngleich 343 Seiten für diesen Zweck etwas reichlich sind. 

E. Fromm (Berlin) 












































\V lr machen luemit unsere Autoren auf folgende Bestimmungen aufmerksam : 

Binnen einer einjährigen Sdiutzfrist vom Erscheinen jeder Arbeit an geredinet, kann über die 
betreffenden Verlagsrechte (Wiederabdruck und Übersetzungen) nur mit Genehmigung des Verlages 
verfügt werden. Es steht jedoch auf Grund eines generellen Übereinkommens, das wir mit dem „Inter¬ 
national Journal of Psydioanalysis getroffen haben, jedem Autor frei, ohne ausdrückliche Genehmigung 
des Verlages der letztgenannten Zeitsdirift Rechte zur Übersetzung und zum Wiederabdruck ein- 
zuräumen. 

Ansudien um die Genehmigung einer Wiederveroffentlichung oder Übersetzung in einem anderen 
Organ müßten zugleich mit Übersendung des Manuskriptes gestellt werden, um Berücksichtigung finden 
zu können. 


1) Die in der »Imago« veröffentliditen Beiträge werden mit Miark 25.— per sedizehnseitigen 
D ruckbogen honoriert. 

2 ) Die Autoren von Originalbeiträgen sowie von Mitteilungen im Umfange über zwei Druckseiten 
erhalten nach Wahl zwei I reiexemplare des betreffenden Heftes oder i5 iSeparatabdrucke ihres Beitrages. 

3) Die Kosten der Übersetzung von Beiträgen, die die Autoren nidit in deutsdier Spradie zur 
Verfügung stellen, werden vom Verlag getragen; die Autoren soldier Beiträge erhalten kein Honorar. 

4 ) Die Manuskripte sollen gut leserlidi sein, möglidist 111 Schreibmasdnnensdirift (einseitig und 
ni dit eng geschrieben). Es ist erwünsdit, dafj die Autoren eine Kopie ihres Manuskriptes behalten. 
Zeidinungen und Tabellen sollen auf das unbedingt notwendige Mal) besdiränkt sein. Die Zeichnungen 
sollen tadellos ausgeführt sein, damit die Vorlage selbst reproduziert werden kann. 

5) Mehrkosten, die durdi Autorkorrekturen, das heifjt durch I extänderungen, Einschaltungen, 
Streichungen, Umstellungen während der Druckkorrektur verursadit werden, werden vom Autorenhonorar 
in Abzug gebradit. 

6 ) Mehr als i 5 Separata werden nur auf ausdrücklidien Wunsch und auf Kosten des Autors 
angefertigt. Die Kosten (clnsdiliefjlidi Porto der Zusendung der Separata) betragen für Beiträge 



bis 

8 Seiten für 

2 Ö Exemplare 

Mark i5. —, für 5o Exemplare 

Mark 20 .— 

von 9 

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Mehr als 5 o Separata werden nicht angefertigt. 


Preis des Heftes M_ark 6 .—, Jahresabonnement M.ark 22.— 

Jährlich 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa 56o Seiten 

Einbanddecken zu dem abgesddossenen XVIII. Band (19S2) sowie zu allen früheren Jahr¬ 
gängen: in Halbleinen Mark 2. So, in Halbleder Mark S .— 


Bei Adressenänderungen 

bitten wir freundlich, audi den bisherigen Wohnort bekanntzugeben, denn die Abonnentenkartei wird 
nadi dem Ort und nidit nach dem Namen geführt. 








IMAGO, Band XIX (i 9 33 ), Heit i 


(Ausgegeben im Februar 1933) 


Seite 


Helene Deutsch: Mütterlichkeit und Sexualität . 

Ludwig Jekels: Das Problem der doppelten Motivgestaltung 


5 

*7 


Max Levy-Suhl: Über die frühkindliche Sexualität des Menschen im Vergleich mit 

der Geschlechtsreife bei Säugetieren... 27 

Hans Kelsen: Die platonische Liebe I. 34 

Walter Muschg: Dichtung als archaisches Erbe. gg 

MITTEILUNGEN 

Imre Hermann: Zum Triebleben der Primaten. Bemerkungen zu S. Zuckerman: Social 
life of monkeys and apes.113 

BESPRECHUNGEN 

Aus der psychoanalytischen Literatur: Bernfeld: Der Begriff der Deutung in der Psychoanalyse 
(Gero) 126. — Schjelderup: Über die drei Haupttypen der religiösen Erlebnisformen und ihre psycho¬ 
logische Grundlage (Müller-Braunschweig) 131. 

Aus der Literatur der Grenzgebiete: Alverdes: Die Tierpsychologie in ihren Beziehungen 
zur Psychologie des Menschen (Hermann) 132. — Bericht über den XII. Kongreß der Deutschen Gesell¬ 
schaft für Psychologie in Hamburg (Meng) 133. — Dorer: Historische Grundlagen der Psychoanalyse 
(Hartmann) 135. — Herbert: The Unconscious in Life and Art (Fenichel) 137. — Kobler: Der Weg des 
Menschen vom Links- zum Rechtshänder (Isakower) 138. — Le Bon: Psychologie der Massen (Schott - 
laender) 138. — Licht: Sexual Life in Ancient Greece (E. J.) 138. — Rogge: Der Notstand der heutigen 
Sprachwissenschaft (Muschg) 139. — Schmitz: Märchen aus dem Unbewußten (Sterba) 141. — Siebert: 
Fehlleistung und Traum (Bally) 142. —Velikovsky: Über die Energetik der Psyche und die physikalische 
Existenz der Gedankenwelt (TVinterstein) 142. — Vergin: Das unbewußte Europa (Fromm) 142. 



FRAU DR. HELENE DEUTSCH , Wollzelle 33 , Wien I 
DR. IMRE HERMANN, Filler ucca 2 , 5 , Budapest II 
DR. LUDWIG JEKELS , LoLLowitzplatz 1, Wien I 

PROF. DR. HANS KELSEN, o. ö. Prof. a. d. Universität Köln, Melilemerstr. 26, Köln 
DR. MAX LEVY-SUHL, Kaiserallee 56 , Berlin-Wilmersdorf 

DR. WALTER MUSCHG, Privatdozent an der Universität Zu ricli, Wlttelikerweg 18, 


Zollikon-Züricli 


Wir Litten zu riditen: 



Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Gesellschaft m.b. H., Wien I, Börsegasse 11 
Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Robert Wälder, Wien II, Obere Donaustraße 35 
Gedruckt bei Christoph Reisser’s Söhne, Wien V, Arbeitergasse 1 — 7